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Geschichte
der deutschen
Kinder- und
Jugendliteratur
3. Auflage
Geschichte der
deutschen Kinder-
und Jugendliteratur
unter Mitarbeit von
Otto Brunken, Bernd Dolle-Weinkauff, Hans-Heino
Ewers, Carsten Gansel, Gabriele von Glasenapp,
Dagmar Grenz, Petra Josting, Helga Karrenbrock,
Matthis Kepser, Thomas Möbius, Irmgard Nickel-Bacon,
Hans-Ulrich Pech, Steffen Peltsch, Rüdiger Steinlein,
Gudrun Stenzel, Ines-Bianca Vogdt, Annegret Völpel,
Gisela Wilkending
herausgegeben von Reiner Wild
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
IV
ISBN 978-3-476-01980-6
ISBN 978-3-476-00038-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-00038-5
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
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Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Inhaltsverzeichnis
Aufklärung 43
(Reiner Wild)
Romantik 96
(Hans-Heino Ewers)
Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg 171
(Gisela Wilkending)
Entwicklungen von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1918 260
Jüdische Literatur in der Weimarer Republik 263
Jüdische Literatur unter nationalsozialistischer Herrschaft 270
Faschismus 276
(Petra Josting)
Exil 295
(Petra Josting)
Vorbemerkung 343
(Reiner Wild)
Historische und zeitgeschichtliche Literatur 347
(Gabriele von Glasenapp)
Der Adoleszenzroman 359
(Carsten Gansel)
Mädchenliteratur 379
(Dagmar Grenz)
Fantastische Literatur 393
(Irmgard Nickel-Bacon)
Lyrik für Kinder 405
(Ines-Bianca Vogdt)
VIII Inhaltsverzeichnis
Bibliographie 497
Personenregister 516
Bildquellen 533
IX
In den beinahe zwei Jahrzehnten seit dem Erscheinen der ersten Auflage
wurde die historische Erforschung der deutschsprachigen Kinder- und Ju-
gendliteratur beträchtlich ausgeweitet. In den 70er und 80er Jahren galt das
literaturhistorische Interesse vornehmlich dem 18. Jahrhundert, dazu der
frühen Neuzeit und der Romantik sowie spezifischen Abschnitten des 20.
Jahrhunderts, wie etwa der Weimarer Republik. Hingegen wurde in den zu-
rückliegenden Jahren vornehmlich das auch in der Kinder- und Jugendlitera-
tur ›lange‹ 19. Jahrhundert seit der Romantik bis zum 1. Weltkrieg intensiv
bearbeitet, ebenso die anschließenden Jahrzehnte bis zum Ende des 2. Welt-
kriegs. Mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand hat sich manche Einschät-
zung der Entwicklung nach 1945, in der Bundesrepublik wie – bis 1989/90
– in der DDR, verändert; seit den neunziger Jahren sind zudem neue Ten-
denzen in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur zu beobachten. Diese
Veränderungen sind in dieser dritten Auflage der Geschichte der deutschen
Kinder- und Jugendliteratur umfassend berücksichtigt. Sie bietet den Ertrag
der historischen Forschung und präsentiert damit den aktuellen Forschungs-
stand.
Die daraus resultierenden Änderungen gegenüber den beiden ersten Aufla-
gen sind in den einzelnen Abschnitten der historischen Abfolge freilich unter-
schiedlich. Die Kapitel zu den ersten Jahrhunderten, von den Anfängen bis
zur Romantik, mussten nur in geringem Maße überarbeitet werden, deutlich
stärker hingegen bereits die Darstellung der folgenden Jahrzehnte des Bieder-
meier und des Realismus. Gründlich überarbeitet und über weite Strecken
hinweg neu verfasst wurden die Kapitel zum Wilhelminismus und zur ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts; die jüdische Kinder- und Jugendliteratur wird
jetzt in einem eigenen Beitrag vorgestellt. Auch die Darstellung der bundesre-
publikanischen Entwicklung bis in die 60er Jahre wurde neu geschrieben;
hingegen war das Kapitel zur DDR lediglich zu überarbeiten. Gänzlich neu
konzipiert wurde die Darbietung der Entwicklung seit den 70er Jahren. Statt
der nach Dekaden geordneten Kapitel erscheinen nunmehr Längsschnitte,
die an Genres der Kinder- und Jugendliteratur und an Problemfeldern orien-
tiert sind; damit werden die herausragenden Tendenzen und Neuerungen aus
der Vielfalt und den Differenzierungen der letzten Jahrzehnte markiert und
hervorgehoben. Der Beitrag zu den Medien für Kinder und Jugendliche, der
wiederum den Abschluss bildet, wurde neu geordnet und neu geschrieben.
Bei all diesen Änderungen blieb die grundsätzliche Ausrichtung der Dar-
stellung erhalten. Die historische Erforschung der Kinder- und Jugendlitera-
tur ist weiterhin der im Vorwort zur ersten Auflage skizzierten »sozial- oder
– weiter gefasst – kulturhistorischen Orientierung« verpflichtet; die wissen-
schaftliche Auseinandersetzung mit der Kinder- und Jugendliteratur war,
angeleitet durch ihren Gegenstand, immer schon und bevor in der Literatur-
wissenschaft dieses Paradigma (wieder-)entdeckt wurde, kulturwissenschaft-
lich ausgerichtet. So gelten die im früheren Vorwort dargelegten Grundsätze
X Vorwort zur dritten Auflage
auch für die neue Auflage. Dies bedeutet im Übrigen auch, dass die Beiträge
der ersten und zweiten Auflage auch dort Bezugstexte der Neubearbeitung
geblieben sind, wo der wissenschaftliche Fortgang Revisionen nötig machte,
etwa in den Abschnitten zum 20. Jahrhundert. Erhalten blieb im Weiteren
auch die äußere Gestalt, mit Illustrationen und Marginalien; Auswahlbiblio-
graphie und Register folgen den Grundsätzen der früheren Auflagen.
Ein Buch wie dieses ist ein Gemeinschaftswerk, nicht allein von Beiträge-
rinnen, Beiträgern und Herausgeber. So bleibt die angenehme Pflicht zu
danken. Vorrangig gilt mein Dank den beiden Lektoren des Metzler-Verlags,
Uwe Schweikert für seinen Rat und Beistand bei der Neukonzeption dieser
dritten Auflage, Oliver Schütze für die vertrauensvolle Zusammenarbeit
und kompetente Begleitung, zudem für seine Unterstützung im Auf und Ab
herausgeberlicher Zwänge und Sorgen. Hans Heino Ewers danke ich für
seine profunden Ratschläge für die Neukonzeption der Darstellung seit den
70er Jahren. Zu danken habe ich vor allem auch Sandra Beck, Niels Hook
und Veronika Schreck, ebenso Kerstin Koblitz und Jennie Steuer für ihre
tatkräftige Mithilfe bei der Redaktion und Korrektur der Beiträge sowie bei
der Erstellung des Registers. Ebenso danke ich meiner Tochter Bettina für
ihre Hilfe bei der Korrektur und, nicht zuletzt, meiner Frau für ihre wie im-
mer hilfreichen und konstruktiven Ratschläge.
In den letzten beiden Jahrzehnten hat die Kinder- und Jugendliteratur ver-
stärktes literaturwissenschaftliches Interesse gefunden; im Zuge der Auswei-
tung des Forschungsbereichs seit den sechziger Jahren wurde sie zum Gegen-
stand der Literaturwissenschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter
nicht wenige Dissertationen und Habilitationsschriften, größere Unterneh-
mungen wie das von Klaus Doderer herausgegebene »Lexikon der Kinder-
und Jugendliteratur« oder die »Handbücher zur Kinderliteratur«, die in der
von Theodor Brüggemann begründeten, jetzt von Bettina Hurrelmann gelei-
teten Kölner ›Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendliteraturforschung‹ erar-
beitet werden (zwei sind erschienen, ein drittes ist im Druck, ein viertes wird
vorbereitet) und eine Reihe von Textsammlungen zur Geschichte dieser Lite-
ratur dokumentieren diesen Wandel. Er ist mitbegründet in dem gleichfalls
verstärkten wissenschaftlichen und auch allgemeinen Interesse an der Ge-
schichte von Familie, Erziehung, Kindheit und an den historischen Verände-
rungen im Bild des Kindes. Dieses Interesse ist seinerseits im Zusammenhang
mit den aktuellen Veränderungen familialer Strukturen zu sehen, insbeson-
dere mit dem Wandel in der Einstellung zu Kindheit und Erziehung, der ge-
rade auch in der Kinderliteratur seit den sechzigen Jahren sichtbar wird und
zu dem diese Literatur ihren Teil beigetragen hat und noch beiträgt. Eine
wichtige Rolle spielt auch die immer stärker werdende Bedeutung der ›neuen
Medien‹ in der Kinder- und Jugendkultur, deren Analyse im übrigen, wie
auch der hier aufgenommene Beitrag zu ihrer Entwicklung zeigt, andere me-
thodische Zugangsweisen als allein literaturwissenschaftliche verlangt (wie
weit diese auch gefasst sein mögen).
Vor allem die historische Forschung wurde stark intensiviert. Bestimmte
Abschnitte der Kinder- und Jugendliteratur fanden dabei bevorzugtes Inter-
esse, voran das 18. Jahrhundert und die Aufklärung sowie, hinter diese Epo-
che zurückgehend, die frühe Neuzeit. Verstärkt untersucht wurde auch die
Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Zeit und des Faschismus und,
über die Epochen hinweg, die Entwicklung des Mädchenbuchs. In jüngerer
Zeit wandte sich das Interesse stärker der Romantik und den von ihr ausge-
henden kinderliterarischen Impulsen zu, ebenso der Biedermeierzeit. Weniger
erforscht als andere Epochen ist, trotz mancher Einzelstudien, die zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vergleichbares gilt, wiederum trotz einer Reihe
von Einzelstudien, für die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur nach
1945, wobei hier zudem die Annäherung an die Gegenwart die historisch-
distanzierte Analyse erschwert.
Vorrangig bestimmt ist diese historische Forschung durch ihre sozial- oder
– weiter gefasst – kulturhistorische Orientierung; psychohistorische, zivilisa-
tions- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze bilden die methodischen und
theoretischen Grundlagen, die Geschichte der Familie und – vor allem – der
Kindheit den historischen Rahmen. In jüngerer Zeit wird stärker nach der
besonderen ästhetischen Qualität dieser Literatur gefragt. Allerdings ist die
XII Vorwort zur ersten Auflage
lung ausgezogen; ihr Zusammenhang über die Zeiten hinweg wird dabei
ebenso berücksichtigt wie die Besonderheiten ihrer einzelnen Abschnitte. Das
20. Jahrhundert – und darin auch die Ausbildung der ›neuen‹ Medien und
deren immer mehr zunehmende Bedeutung – bildet den Schwerpunkt. Die
Darstellung ist nicht beschränkt auf die deutschsprachige Literatur; auch
nichtdeutsche Literatur, soweit sie in Übersetzungen Einfluß auf die Entwick-
lung hatte, ist berücksichtigt. Weitgehend ausgespart bleibt dagegen die Ent-
wicklung des Bilderbuchs (für die eine umfassende Darstellung bereits vor-
liegt). Die dem Band beigegebenen Illustrationen geben jedoch ein anschau-
liches Bild der in der Kinder- und Jugendliteratur seit jeher großen Bedeutung
der visuellen Ergänzung des Geschriebenen. Es ist nicht das primäre Ziel
dieses Bandes, abschließende Urteile über die historische Entwicklung der
Kinder- und Jugendliteratur zu präsentieren, sondern Einblicke zu geben und
Einsichten zu vermitteln in einen Teilbereich der Literaturgeschichte, der en-
ger noch als die Literatur für Erwachsene mit den sozialen und historischen
Veränderungen verbunden ist, Anregungen zu geben für die weitere Beschäf-
tigung mit einer Literatur, in der in oft bemerkenswerter Weise die historische
Dimension heutiger Gegebenheiten, etwa in Kindheit oder Erziehung, sicht-
bar und erkennbar wird, die allzu leicht als selbstverständliche gelten oder
dafür ausgegeben werden.
Ein Wort zur Benutzung des Buches. Kolumnentitel und die Stichworte am
Rand bieten die Möglichkeit rascher Orientierung. Ein Autorenregister, in
dem die vollständigen Namen und die Lebensdaten angeführt sind, erschließt
den Band; auf die Verzeichnung der Werke in einem eigenen Register wurde
verzichtet. Die Auswahlbibliographie gibt Hinweise auf weiterführende Lite-
ratur; die Primärliteratur ist nicht eigens verzeichnet, hierfür sei auf die in
der Bibliographie aufgeführten Hilfsmittel verwiesen.
Es ist mir eine angenehme Pflicht, denen zu danken, die am Zustandekom-
men dieses Bandes mitgewirkt haben. Mein Dank gilt Maria Michels-Kohl-
hage von der Kölner ›Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendbuchforschung‹
und Barbara Schoone vom Frankfurter ›Institut für Jugendbuchforschung‹
für ihre Hilfe bei der Bereitstellung der Illustrationen; besonders danke ich
Theodor Brüggemann für seine Bereitschaft, Illustrationen aus seiner Samm-
lung zur Verfügung zu stellen, und für seine Hilfe bei der Auswahl. Danken
möchte ich den studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Karls-
ruhe Silke Arnold, Michael Duchard, Sabine Kamuf, Arnolt Kassel, Jia Ma,
Jürgen Oppermann sowie meinem Sohn Thomas für die Hilfe bei der Kor-
rektur und der Erstellung des Registers. Mein besonderer Dank aber gilt Uwe
Schweikert vom Metzler-Verlag, der an der Konzeption des Bandes von An-
fang an beteiligt war, für seine Geduld, seine Hilfe, wenn es galt, Schwierig-
keiten zu überwinden, und für die gute Zusammenarbeit.
Karlsruhe 1990
1
Otto Brunken
»Deßhalb so ist es gar ein gut ding/ das man kynder jn jrer jugent zur schule
tuge/ die bücher der wyßen zu lernen/ vnnd vnderrichtung jrs heiles zu selen
vnd zu libe«, so meinte in der zweiten Hälfte des 14. Jh.s der französische
Adelige Geoffroy Chevalier de Latour-Landry (Der Ritter vom Turn). Ob-
wohl er ansonsten eher rückwärtsgewandte Ideale vertrat, war der Ritter
seiner Zeit doch in manchem voraus, und so ergriff er entschieden Partei ge-
gen diejenigen, die Wissen als ein Privileg für Männer zu behaupten trachte-
ten und jegliche weibliche Bildung als unnütz verwarfen. Selber Vater dreier
Töchter, um deren Seelenheil er sehr besorgt gewesen zu sein scheint, sah er
einen – zumindest elementaren – Unterricht auch für Mädchen als notwendig
an. Es sei gut, wenn sie lesen lernten, denn dadurch könnten sie im Glauben
fester werden und ihr Seelenheil desto besser erkennen. Durch die Lektüre
der Heiligen Schrift prägten sich ihnen die Exempel besser ein, die ihnen zur
Nachahmung dienlich seien. Er selbst schrieb seinen kleinen Töchtern ein
Exempelbuch, das ihnen den Weg zeigen sollte, wie sie zu Ehre und Ansehen
gelangen und wohltätiges Handeln erlernen könnten. Durch Beispiele nach-
ahmenswerten Handelns und guter Gesinnung lobwürdiger Frauen bzw. der
ins Verderben führenden Taten ihrer Geschlechtsgenossinnen sollten die
Mädchen dazu bewegt werden, Gutes zu tun und sich vor dem Bösen in Acht
zu nehmen. Mit seinem Buch, das als Der Ritter vom Turn in einer deutschen
Übersetzung des Mömpelgarter Landvogts Marquart vom Stein zuerst 1493
in Basel gedruckt wurde, wollte er sie zu demütiger, gottergebener Frömmig-
keit und zu einem sittsamen, ihrem Stand gemäßen Betragen erziehen.
Das kleine Beispiel zeigt, dass Kinder- und Jugendliteratur nicht erst eine
›Erfindung‹ des ›aufgeklärten‹, des ›pädagogischen‹ Zeitalters ist, sondern
ihre Spuren bis in das Mittelalter zurückreichen. Es macht überdies deutlich,
dass die frühe Kinder- und Jugendliteratur vor allem religiös ausgerichtet ist
und vorwiegend lehrhafte Züge trägt, wobei die jeweilige Lehre gerne in
Form eines Exempels, eines sogenannten ›Beispiels‹ (d. h. ›Bei-Erzählung‹, in
der noch etwas mitzuverstehen ist) – einer zur Belehrung erdichteten Ge-
schichte, einer Fabel, eines Gleichnisses oder Sprichworts – präsentiert wird.
Vermutlich würde man sich heute hüten, ein Werk wie Der Ritter vom
Turn einem Kind zuzumuten – nicht nur wegen der durch moralische Beleh-
rungen häufig nur notdürftig verdeckten Schlüpfrigkeit mancher Beispielge-
schichte, sondern auch wegen der drastischen Abschreckpädagogik, die das
Werk prägt: Grausame Höllenstrafen, so der Ritter, hätten die Mädchen zu
gewärtigen, besonders dann, wenn sie sich den Lastern des weiblichen Ge-
schlechts hingäben. Um ihnen dies eindrucksvoll vor Augen zu stellen, erzählt Der Ritter vom Turn.
er z. B. das als tatsächlich geschehen hingestellte Schicksal einer putzsüch- Holzschnitt, vermutlich
tigen Frau, die mit brennenden Röcken und unter elendem Geschrei von Sa- von Albrecht Dürer
2 Mittelalter und frühe Neuzeit
tan in die Hölle geschleppt worden sei, oder von jener Dame, der die Teufel
mit feurigen Nadeln Wangen, Augenbrauen und die Stirn bis auf das Gehirn
durchstechen, weil sie sich zu Lebzeiten ständig geschminkt habe.
Im heutigen Sinne ist diese Art von Literatur sicherlich nicht kindgeeignet
– und schon gar nicht ›kindertümlich‹. Genauso wenig entsprechen die sich
in dieser Literatur manifestierenden Vorstellungen von ›Kindheit‹ und ›Ju-
gend‹ unseren modernen Auffassungen, und so ist denn auch die frühe Kin-
der- und Jugendliteratur in der ihr eigentümlichen Prägung immer auf dem
Hintergrund des jeweiligen historischen Verständnisses von Kindheit, Jugend
und Erziehung zu sehen.
Wie wenig man mit heutigen Kategorien der frühen Kinder- und Jugendli-
teratur beikommen kann, wird bereits darin deutlich, dass es eine exakte
Begrifflichkeit dessen, was unter ›Kindheit‹ und ›Jugend‹ zu verstehen ist, in
der frühen Neuzeit noch gar nicht gibt. Beide Begriffe werden in der Regel
synonym benutzt, und erst in der Mitte des 18. Jh.s beginnt man, diese bei-
den Lebensphasen deutlicher zu unterscheiden. Wenn bis dahin von der ›Ju-
gend‹ die Rede ist, so können darunter kleinere Kinder im Alter von sechs
oder sieben Jahren oder noch jünger verstanden werden, aber auch bereits
Erwachsene von über zwanzig Jahren. Wiederum sind mit den ›Kindern‹
nicht immer Kinder in unserem heutigen Verständnis gemeint. Mancher Au-
tor begreift darunter die ›Kinder Gottes‹, die durch die Taufe sich zu Christus
Bekennenden, oder auch die ›Kinder im Geiste‹, das unmündige und ›einfäl-
tige‹ Volk; schreibt ein Pastor von seinen ›Kindern‹, so meint er häufig damit
die ihm zur Seelsorge anvertrauten Glieder seiner Gemeinde, die ›Pfarr-‹ oder
›Beichtkinder‹, und wenn in Bezug auf einen Handwerksmeister von ›Kin-
dern‹ die Rede ist, so sind darunter nicht nur dessen leibliche Kinder, sondern
›Kindheit‹ und ›Jugend‹ häufig auch seine Gesellen zu verstehen. Die Begriffe sind also sehr weit ge-
als Nicht-Erwachsen- fasst, und so soll denn im Folgenden unter ›Kindheit‹ und ›Jugend‹ im enge-
sein ren Sinne eine Lebensperiode verstanden werden, die in Opposition zum Er-
wachsensein steht, auch wenn sie altersmäßig nicht scharf umrissen ist.
Dass ›Kindheit‹ und ›Jugend‹ begrifflich so wenig voneinander unterschie-
den sind, weist bereits darauf hin, dass bis weit in die frühe Neuzeit hinein
Kindheit und Jugend nicht als eigenwertige Lebensphasen begriffen, sondern
jeweils nur als Vorbereitungsphasen auf das Erwachsensein hin definiert
wurden. Daher bietet die Kinder- und Jugendliteratur dieser Zeit nahezu
ausschließlich Modelle für künftiges Rollenverhalten in Familie und Gesell-
schaft, nicht aber altersbezogene Verhaltensmuster für die konkrete gesell-
schaftliche Erfahrung von Kindern und Jugendlichen. Sofern dem Kind
überhaupt spezifisch ›kindliche‹ Verhaltensweisen vermittelt werden sollen,
sind diese fast ausschließlich auf Kindheit nicht als Lebensphase, sondern als
Verwandtschaftsverhältnis bezogen. Besonders deutlich sieht man dies an all
den Mahnungen und Beispielgeschichten, die zur Befolgung des vierten Ge-
botes anhalten.
Wenn Merian gegen Ende des 15. Jh.s in einer Randleistengravur zu seiner
Tabula Cebetis die kleinen Kinder in einer Art Übergangszone darstellt zwi-
schen der Erde, aus der sie hervorgehen, und dem Leben, in das sie durch
einen Portikus mit der Aufschrift »Introitus ad vitam« – Eintritt zum Leben
– hineingehen werden, so verdeutlicht dies treffend, dass dem Kindesalter in
früheren Jh.en vor allem die Bedeutung einer Vorbereitung auf das spätere
Leben zukommt, dass es für sich selber aber noch keine Existenzberechti-
gung hat. Das Kind wurde früher in der Regel nicht als ›eigenes Wesen‹ be-
trachtet, wie wir es heute zu tun pflegen, sondern es war immer definiert als
Nicht-Erwachsener, der auf den Status des Erwachsenseins und auf den
Tendenzen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 3
›Stand‹, den das Kind später im Leben einzunehmen hatte, hin erzogen wer-
den sollte.
Werke, die mit ausdrücklichem Bezug auf ein jugendliches Publikum zusam- Anfänge
mengestellt wurden, sind in größerer Zahl schon in althochdeutscher Zeit der lateinischen
nachweisbar. Es handelt sich hierbei um Glossen – das sind den Wörtern la- Kinderliteratur
teinischer Texte beigeschriebene Verdeutschungen –, die früh zu Wörterbü-
chern zusammengestellt und als Unterrichtshilfen in Dom- und Klosterschu-
len eingeführt wurden. Das berühmteste dieser Glossare ist wohl der nach
seinem ersten lateinischen Stichwort so genannte Abrogans (zweite Hälfte
des 8. Jh.s), ein spätlateinisches Synonymenlexikon, das zu jedem Stichwort
eine Reihe von bedeutungsgleichen Wörtern aufführt. In der Domschule von
Freising übertragen, ist er das älteste uns bekannte Schriftwerk in deutscher
Sprache. Auch das frühe Mittelalter kennt zunächst noch keine andere spezi-
fisch für Schüler entwickelte Literatur. Dies hat seinen Grund vor allem
darin, dass Erziehung zu der Zeit nicht im Sinne von ›Allgemeinbildung‹
verstanden wurde, sondern vielmehr als Einbindung des Zöglings in eine
bestimmte Lebensform. Dem Erzieher oblag weniger die Weitergabe von
Wissen als vielmehr die Pflicht, durch sein eigenes beispielhaft gelebtes Leben
seinem Zögling ein Vorbild zu geben, denn er war vor allem für das Seelen-
heil des ihm Anvertrauten verantwortlich. Die Form der Wissensvermittlung
und -aufnahme war im Wesentlichen durch zwei Prinzipien bestimmt: die
lectio (Vorlesung, Predigt) und die confabulatio (Gespräch) – beides münd-
liche Formen, die der schriftlichen Fixierung im Prinzip nicht bedurften.
Erst mit der karolingischen Renaissance (›Renovatio‹, ab dem Ausgang Karolingische
des 8. Jh.s), die das System der ›Sieben freien Künste‹ – das Trivium mit der Renaissance
zur elementaren und wichtigsten Disziplin erklärten Grammatik, der das lo-
gische Denken übenden Dialektik und der Rhetorik sowie das Quadrivium
mit Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie – aktualisierte und zur
Grundlage der gelehrten Bildung machte, setzt eine reichhaltigere Produktion
von lateinischen bzw. lateinisch-deutschen Lehrwerken und Unterrichtshilfen
für Schüler ein, vor allem von Erklärungen und Kommentierungen zu den
Schulautoren sowie von Schriften, die in die Disziplinen vornehmlich des
Triviums einführten. Berühmt sind in diesem Zusammenhang die Werke
Notkers von St. Gallen (gen. Teutonicus bzw. Labeo), der um die Wende zum
ersten Jahrtausend u. a. wichtige Schulschriftsteller (Boethius, Vergil, Terenz
sowie die Disticha Catonis, s. u.) für Unterrichtszwecke übersetzte, auslegte
und kommentierte. Im Schulbetrieb auch dieser Zeit hatte das gesprochene
Wort, hatte die mündliche Unterweisung eine dominante Funktion, und so
treten denn viele Unterrichtsschriften in der Form des Lehrgesprächs auf.
Auch die – scholastisch geprägte – lateinische Schulliteratur späterer Zeit
präsentiert sich ganz vorwiegend als schriftliche Fixierung des mündlichen
Unterrichts.
Eine – im Vergleich zur lateinischen immer noch kleine – deutschsprachige
Kinder- und Jugendliteratur entwickelt sich erst nach 1200 in der Stauferzeit,
in der die lateinisch-geistliche Vorherrschaft in der Literatur gebrochen wird
4 Mittelalter und frühe Neuzeit
und eine neue ritterlich-höfische Standesliteratur entsteht. Sie ist auf dem
Ritterlich-höfische Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen seit der Salierzeit zu
Standesliteratur sehen, in deren Verlauf die Ritterbürtigen – das sind in erster Linie die Rei-
terkrieger und Ministerialen (unfreie Dienstleute im Hofdienst) – mit den
Resten des alten freiherrlichen Adels zum niederen Adel verschmolzen, so
dass sich unterhalb des ›Herrenstands‹ ein ›Ritterstand‹ etablierte. Ausweis
adeligen Seins war nicht mehr allein die edelfreie Geburt; Kennzeichen der
Zugehörigkeit zur Adelsschicht wurde nun auch das erlernte Verhalten. Die
tugenden, d. h. die ritterlichen Standesideale, die hövescheit, d. h. das fein ge-
bildete und gesittete Wesen und Handeln, die höfische Etikette als der Stan-
dard an Manieren und Konventionen des gesellschaftlichen Umgangs und
auch die Galanterie des Frauendienstes wurden als durch sorgfältige Erzie-
hung an einem Hof lehr- und erlernbar hingestellt. Durch eigene Leistung,
durch Üben und Lernen, so die Maxime der ritterlichen Aufsteiger, kann der
tüchtige Hofmann seine Zugehörigkeit zur Adelsgesellschaft beweisen. Von
diesem Gedanken ist auch die Lehrdichtung geprägt, die sich an die Jugend
dieser Aufsteigerschichten wendet – meist in Form des Rates, denn auch in
der höfischen Literatur ist die mündliche Unterweisung, die Ermahnung, die
Ermunterung, der Appell das wesentliche Erziehungsmittel. »Höre auf wei-
sen Rat!« – diese Maxime steht über all diesen Werken. Sie folgt ganz der auf
die alten Kirchenväter und Thomas von Aquin zurückzuführenden Auffas-
sung, dass jeder Mensch die Möglichkeit zu Wissen und Erkenntnis als na-
türliche Anlage in sich trage, und dass es die Aufgabe des Erziehers sei, diese
natürlichen Anlagen zu wecken und durch Ratschläge die Aktivität des Zög-
lings in richtige Bahnen zu lenken.
Humanistische Das Mittelalter sah den Menschen vor allem als Glied der Kirche und als
Bildungsideale Eigentum Christi an und wies daher der Erziehung die vorrangige Aufgabe
des Heilserwerbs des Kindes zu. Diese Vorstellung wurde durch die Huma-
nisten revolutioniert. Sie stellten den Einzelmenschen in das Zentrum ihrer
Überlegungen. Er ist für sie nicht mehr einfach nur Teil eines Ganzen, son-
dern wird für sich als Mikrokosmos gesehen, als ein zur Vernunft fähiges
Individuum. Den Menschen zur Vernunft zu bilden, ihn zur Autonomie des
erkennenden und handelnden Vernunftmenschen zu führen – das ist das neue
Ziel der Erziehung. Ihr messen die Humanisten größte Bedeutung bei. Durch
sie sollen die dem Kind innewohnenden positiven Eigenschaften zur Blüte
und Reife gebracht, soll das Kind zu Sittlichkeit und Vernunft geführt wer-
den. Die persönliche, freie, von der Vernunft bestimmte Lebensgestaltung ist
das neue Bildungskonzept, das die Humanisten am besten in Quintilians
Ideal eines vollkommenen Redners verkörpert sehen, in dem sich sittliche
Lebensführung, Wissen, Beredsamkeit und Gewandtheit im äußeren Auftre-
ten harmonisch verbinden.
Die Humanisten räumten daher nicht mehr der Grammatik, sondern der
(lateinischen) Rhetorik, der Redekunst, den ersten Platz unter den Wissen-
schaften ein. Sie wurde zur Grundlage jeder auf höhere Bildung zielenden
Erziehung und die gelehrte Basis auch jeder literarischen Beschäftigung. Aus
diesem Grund ist nahezu die gesamte Kinder- und Jugendliteratur bis in das
letzte Drittel des 18. Jh.s hinein an rhetorischen Prinzipien orientiert, und der
klassische Dreischritt der rhetorischen Unterweisung – praecepta (Regeln) –
exempla (Beispiele) – imitatio (Nachahmung) – war geradezu die Standard-
formel für kinder- und jugendliterarisches Schaffen.
Durch das Wirken der Humanisten, die ihre Ideen gegen den teilweise er-
bitterten Widerstand der alten, scholastisch geprägten Fächer und Universi-
täten überhaupt erst einmal durchsetzen und behaupten mussten, begann
Tendenzen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 5
sich das Gepräge der Kinder- und Jugendliteratur ab dem Ende des 15. Jh.s Gestaltwandel der
entscheidend zu verändern. Dies hatte zum einen damit zu tun, dass die Hu- Kinder- und Jugend-
manisten bei der Erziehung des Kindes auf dessen Disposition Rücksicht literatur durch den
nehmen und natürliche Neigungen wie den Spiel- und Nachahmungstrieb Humanismus
des Kindes dem Erziehungsprozess nutzbar machen wollten. Beispielhaft
sind hier sicherlich die Vorschläge des Erasmus von Rotterdam: Er sieht in
dem Spiel eine phasengerechte Lebensform und empfiehlt daher spielerische
Lernformen wie den Gebrauch von Bildern, gebackenen und geschnitzten
Buchstaben beim Erstleseunterricht oder den von Fabeln, Sagen, Liedern und
Lustspielen bei der Beschäftigung mit Philosophie. Nicht der Stock soll den
Willen des Kindes brechen, sondern mit Milde und Freundlichkeit soll sich
der Lehrer um das Vertrauen seines Schülers bemühen. Erasmus fordert vom
Lehrer, dass er sich ganz auf seinen Schüler einstellt, dessen Fähigkeiten und
Möglichkeiten richtig einschätzt und von daher Stoffauswahl und Unter-
richtsschritte festlegt. Von diesen Vorstellungen bestimmt, bemühte man sich
um eine didaktische Aufbereitung des Lehrstoffes. Doch auch inhaltlich än-
derte sich das Gepräge der Kinder- und Jugendliteratur. Zwar hatte man
schon im lateinischen Mittelalter die Fabel, die Grammatik oder das Zucht-
buch der Kindererziehung dienstbar gemacht und durch Kommentare, Scho-
lien (erklärende Randbemerkungen sprachlichen oder sachlichen Inhalts)
und Glossen den Kindern die Lektüre und Erklärung der Schulautoren zu
erleichtern versucht, aber diese Texte waren nicht in ihrer autonomen Exis-
tenz von Interesse gewesen, sondern nur insoweit sie der theologischen Aus-
bildung nutzbar gemacht werden konnten. Erst im Humanismus bekommen
auch die nichtreligiösen Lehrwerke einen Bildungswert an sich zugesprochen
– ebenso wie die für den Schulgebrauch herausgegebenen Werke eines Terenz,
Ovid oder Vergil, die nun als nachahmenswerte Zeugen eines eleganten latei-
nischen Stils gelesen wurden. Zugleich schufen die Humanisten zur rheto-
rischen Schulung der Kinder und ihrer Einübung in die fließende Beherr-
schung des Lateinischen Schülergespräche und Schuldramen – eine Gattung,
die bis zum Ende des 17. Jh.s zu den quantitativ wichtigsten der Kinder- und
Jugendliteratur gehören sollte. Die Herausgabe und Bearbeitung antiker
Fachliteratur, später die Erarbeitung zeitgemäßer naturwissenschaftlicher,
geographischer und historischer Schriften, die Zusammenstellung praktischer
Lehr- und Anweisungsbücher etwa zur Schreib-, Rechen- und Messkunst,
vor allem aber auch die Kodifizierung der sich allmählich profilierenden
Normen gesellschaftlichen Umgangs in Verhaltenslehrbüchern, diese ganze
neue Fülle sprach- und wissensvermittelnder, normen- und bewusstseinsprä-
gender sowie ethisch-erzieherischer Literatur verdeutlicht, dass die Huma- Adressaten
nisten mit ihren Schriften die geistig-kulturellen Bedürfnisse vor allem des humanistischer Kinder-
aufstrebenden städtischen Bürgertums im Auge hatten, während die latei- und Jugendliteratur
nische bzw. lateinisch-deutsche Kinder- und Jugendliteratur des Mittelalters
zunächst vor allem aus den Bedürfnissen der Ausbildung des Klerikernach-
wuchses entstanden war.
Die zunehmende Orientierung der humanistischen Autoren auf aktuelle
gesellschaftliche Bedürfnisse steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der
Umstellung des Literaturbetriebs von der Handschriftenabfassung auf die
Buchproduktion, die aber erst gegen Ende des zweiten Drittels des 16. Jh.s
weitgehend abgeschlossen war. Die Erfindung des Buchdrucks leitete eine
kulturelle Revolution ein: Durch die praktisch unbegrenzte Möglichkeit der
Vervielfältigung des geschriebenen Wortes konnte das gedruckte Werk als
Buch, Flugblatt oder Flugschrift zu einem gesellschaftlichen Kommunikati-
onsmittel mit größter Breitenwirkung werden. Dies hatte seine Auswirkungen
6 Mittelalter und frühe Neuzeit
natürlich auch auf die Kinder- und Jugendliteratur. Schon der Humanismus
brachte eine reichhaltige kinderliterarische Produktion hervor. Sie war je-
doch zunächst und ganz überwiegend lateinischsprachig und damit ihr Ge-
brauch auf diejenigen beschränkt, die des klassischen Lateins mächtig waren
oder sich in dieser Sprache ausbildeten. So war denn die Kinder- und Jugend-
literatur des Humanismus Literatur für eine kleine, exklusive Bildungselite,
die im Erwerb umfangreichen Wissens ein Mittel zum gesellschaftlichen Auf-
stieg sah.
Reformatorische Eine Entwicklung in die Breite nahm die Kinder- und Jugendliteratur, be-
Erziehungs- einflusst durch die volkserzieherischen Bestrebungen Luthers und dessen
bestrebungen Forderung nach einem Elementarunterricht für die Allgemeinheit, erst in der
Reformationszeit. Luthers Plädoyer für allgemeine Erziehung ist, und damit
steht er in betontem Gegensatz zu den Auffassungen der Humanisten, nahezu
ausschließlich religiös begründet. Sprachen die Humanisten dem Kind die
Integrität natürlicher Anlagen zu und wollten allenfalls seine ›Geneigtheit
zum Bösen‹ in ihre pädagogischen Entwürfe einbeziehen, so konstatiert Lu-
ther die grundsätzliche Verderbtheit der menschlichen Natur. Erziehung muss
daher auf einen völligen Bruch des Menschen mit der ihm eignenden bösen
Natur ausgerichtet sein, auf eine vollständige Änderung der Gesinnung und
Lebensrichtung. Das Ziel, auf das hin das Kind wie der Erwachsene zu erzie-
hen ist, ist die bewusste und persönliche Aneignung des Christentums. Die-
sem Ziel sind Luthers volkserzieherische Bestrebungen, seine Bemühungen
um eine elementare Bildung untergeordnet. Ihre wesentliche Aufgabe soll es
sein, den Einzelnen zur selbständigen Lektüre der Heiligen Schrift zu befähi-
gen. Die allgemeine Bildung beschränkt sich auf die Muttersprache und ist
thematisch auf das Religiöse eingegrenzt; so bilden Katechismus, Kirchen-
lieder und Bibelsprüche den hauptsächlichen Unterrichtsgegenstand, erwei-
tert nur noch um elementare Grundbegriffe im Schreiben und Rechnen.
Hiermit sind auch die wesentlichen Themen der reformatorischen Kinder-
und Jugendliteratur (Kernzeit: ca. 1520 bis 1570, Ausläufer weit darüber
hinaus) bezeichnet. Erziehung hat im Verständnis Luthers jedoch noch eine
zweite Aufgabe: Sie hat den Einzelnen zu befähigen, dass er seiner Berufs-
pflicht und seinem ›Stand‹ genügt, d. h. seinen Pflichten und Befugnissen im
gesellschaftlichen Leben, in Ehe, Familie und bürgerlicher Ordnung nach-
kommt. Die Erziehung soll das Kind mit den Aufgaben seines zukünftigen
Standes vertraut machen, auf diesen Stand vorbereiten und es anhalten, ihn
willig zu akzeptieren und in ihm auszuharren. Nicht nur die katechetische
und die Erbauungsliteratur, auch das Schuldrama hält zahlreiche Exempel
für das richtige Verhalten im jeweiligen Stand bereit: Eva erscheint als Vor-
bild für mütterliche Erziehung, Tobias ist das Muster für einen frommen
Ehemann, und der seinem Vater willig folgende Isaak gibt allen Kindern ein
Beispiel für freudigen Gehorsam.
Merkmale reformato- Drei Merkmale prägen diese protestantische Kinder- und Jugendliteratur
rischer Kinder- und besonders. Das ist einmal die aus dem Interesse an der allgemeinen (religi-
Jugendliteratur ösen) Volkserziehung resultierende Adressierung vieler Schriften an die im
weitesten Sinne Unkundigen, d. h. an das gemeine Volk, die Laien, die ›Einfäl-
tigen‹ und die Kinder, die mithin nur eine Adressatengruppe unter anderen
darstellen. Neu und für lange Zeit wegweisend ist die Bevorzugung des fami-
liären Gebrauchs der Literatur, die vom ›Hausvater‹ seiner ›Hausgemeinde‹,
die neben der Familie auch das Gesinde und die übrigen Hausgenossen um-
fasst, vorgetragen und ausgelegt werden soll. Die reformatorische Kinder-
und Jugendliteratur ist daher nicht nur zur Eigenlektüre des Kindes gedacht,
sondern vor allem zur Vermittlung durch Dritte, insbesondere Eltern und äl-
Tendenzen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 7
tere Geschwister. Das dritte Charakteristikum ist das Insistieren auf Auswen-
diglernen und Wiederholen. Durch das Auswendiglernen sollen die Kinder
(und unkundigen Erwachsenen) die elementaren Lehren des Glaubens verin-
nerlichen und so zur Richtschnur ihres Lebens machen können; andererseits
ist dieses Prinzip durch die historische Situation zu erklären, musste doch der
neue reformatorische Geist in den Köpfen verankert werden, um seine An-
hänger für die Auseinandersetzungen mit der alten Kirche zu wappnen. Dem
gleichen Ziel diente auch die Wiederholung, zum einen verstanden als be-
ständige Stoffwiederholung zum besseren Einprägen und Verstehen der
Lehre, zum anderen als immer wiederkehrende Bearbeitung stets gleicher
Themen zur Bekräftigung reformatorischer Positionen.
Da die Ausbreitung der Reformation bald die Herausbildung einer brei- Auswirkungen der
teren Führungselite notwendig machte, ohne die weder die ideologische Ab- Melanchthonschen
sicherung des neuen theologischen Lehrgebäudes, noch die machtpolitische Pädagogik
Absicherung des neuen weltlichen ›Regiments‹ möglich gewesen wäre, musste
zusätzlich ein gelehrtes Bildungswesen aufgebaut werden. Für dieses wurde
die Verbindung des humanistischen Bildungsanspruchs mit der von Luther
gelehrten Form der Frömmigkeit charakteristisch. Das neue Bildungsideal,
wie es am prägnantesten wohl Philipp Melanchthon vertrat, war der in den
drei Bibelsprachen Bewanderte, der in sich Frömmigkeit, umfassende Bil-
dung, Urteilsfähigkeit und Beredsamkeit vereinigte. Dies setzte auch Sach-
kenntnisse voraus, deren Erwerb eine Ergänzung des Sprachunterrichts um
den Unterricht in den ›Realien‹ (vornehmlich Mathematik und Geschichte)
erforderlich machte. Für die Kinder- und Jugendliteratur bedeuteten diese
pädagogischen Bestrebungen zunächst wieder eine Verstärkung des ›ge-
lehrten‹ lateinischen Elements und eine erneute Eingrenzung auf eine zahlen-
mäßig kleine Bildungselite. Sie wurde vor allem geschrieben für die »jugent,
die als der kern zum studiren ausgelesen worden vnd in allen emptern in der
itzt regierenden fusstapffen allmehlich treten wirdt«, wie Georg Rollenhagen
in der Vorrede zu seinem Schuldrama Tobias von 1576 bemerkt. Das Schwer-
gewicht verschob sich in dieser Literatur wieder vom Religiösen zum Rheto-
rischen, wobei versucht wurde, die formale Bildung mit religiösen Inhalten
zu koppeln und die Realien entsprechend zu berücksichtigen. Diese Gewich-
tung blieb auch erhalten, als im letzten Drittel des 16. Jh.s das lateinische
Element in der protestantischen Kinder- und Jugendliteratur spürbar zurück-
trat und vermehrt Bücher in deutscher Sprache erschienen, zuerst häufig
Übersetzungen aus dem Lateinischen, zunehmend aber auch deutschspra-
chige Originaltexte.
Erst nach dem Abschluss des Tridentinischen Konzils (1563), das den An- Die Jesuiten und das
stoß zur katholischen Reform gab und die Voraussetzungen für ein Wieder- Entstehen einer
aufblühen der durch die Glaubensspaltung in ihren Grundfesten erschüt- spezifisch katholischen
terten Kirche schuf, setzte eine gezielte Produktion von katholischen Kinder- Kinder- und Jugend-
und Jugendschriften ein. Insbesondere die Beschlüsse über den Unterricht literatur
und die Erziehung des Klerus sowie die Einrichtung von sog. Knabensemina-
rien sowie die Ausarbeitung eines eigenen Konzilskatechismus beförderten
das Entstehen einer spezifisch katholischen Kinder- und Jugendliteratur, die
jedoch zunächst ausschließlich religiös orientiert war. Den wichtigsten Anteil
an ihrer Entwicklung hatte zweifelsohne die ›Gesellschaft Jesu‹, waren doch
die Jesuiten als Bannerträger der Gegenreformation die Hauptstütze der
Kirche bei der Neufundierung eines gelehrten Schulwesens. Der Aufbau der
sich rasch ausbreitenden Jesuitenkollegien, 1599 in der berühmten Ratio
studiorum (Studienordnung) für den gesamten Orden verbindlich geregelt,
ähnelte in vieler Hinsicht dem der protestantischen Gelehrtenschulen; wie
8 Mittelalter und frühe Neuzeit
Religiöse Erziehung Eine primäre Aufgabe der frühen Kinder- und Jugendliteratur ist es, mit der
und Belehrung Heiligen Schrift bekannt zu machen. Hierzu dienen Bibelauszüge und -bear-
beitungen, Perikopenerklärungen, Hilfsmittel zur Einführung in die Bibel,
Funktionen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 11
Belehrung über das rem Stand bekannt zu machen. Diese Aufgabe erfüllten bereits die in die
richtige Verhalten in mittelalterlichen Epen integrierten Lehrgespräche, die in ihrem Kontext zwar
der Welt und im Stand auf die Unterweisung des jeweiligen Helden abzielen, in ihrer Allgemeinheit
aber immer auch Belehrungen besonders für ein jugendliches Publikum mit-
transportieren, indem sie ethische Wertvorstellungen und höfische Hand-
lungsnormen vermitteln und so den Weg zu höfischer Vollkommenheit und
zur Beherrschung der ritterlichen Tugenden weisen. Teilweise werden die
Belehrungen aber auch in selbständigen Lehrgesprächen vorgetragen, wie
z. B. in Der Winsbecke, der ersten volkssprachlichen Erziehungslehre, ent-
standen zwischen 1210 und 1220. In die Traditionsreihe des Winsbecke ge-
hören auch Der magezoge oder meizoge (»Der Erzieher«), das junge Herren
und Damen über tugendhafte Gesinnung belehrende Gedicht Diu mâze und
die bereits in das 14. Jh. datierenden Väterlichen Lehren des Andreas, wäh-
rend das Lehrgedicht von Tirol und Vridebrant (Mitte des 13. Jh.s) eine, nur
fragmentarisch erhaltene, Herren- und Regentenlehre für einen jungen Ade-
ligen bietet.
Wirkungsmächtiger als diese Lehrgedichte war eine aus dem 3./4. Jh.
stammende gnomische Spruchsammlung (gr. gnome = Sentenz, Sinnspruch)
eines unbekannten spätantiken Didaktikers, die unter dem Namen Cato oder
Disticha Catonis in ganz Europa berühmt war und noch bis weit in das 19.
Jh. Verbreitung fand. Der Cato, eingekleidet in ein Lehrgespräch zwischen
Vater und Sohn, vermittelt, ganz auf das tägliche Leben ausgerichtet, Lebens-
maximen, Klugheitslehren und Anstandsregeln, deren Befolgung materielles
Glück, Ansehen und Ehre bescheren soll. Der Wertmaßstab des im Cato pro-
pagierten Verhaltens ist die Zweckmäßigkeit, der Kern der Lebenslehre die
Gelassenheit. Arbeitsamkeit und Mäßigung, Bedachtsamkeit im Urteilen und
Älteste deutsche
Übersetzung der Disticha Handeln, Geduld und Entschlusskraft, Zurückhaltung im Umgang und Ver-
Catonis. Augsburg 1487, schwiegenheit werden ebenso gepriesen wie Sparsamkeit und Lernbereit-
mit einem Magister-cum- schaft. Der Cato galt zugleich als Muster vorbildlichen lateinischen Stils;
discipulo-Holzschnitt deshalb fand er früh Eingang in den lateinischen Schulunterricht und blieb
über Jahrhunderte neben der Grammatik Donat das Anfängerlehrbuch
schlechthin. Die gesamte Kinder- und Jugendliteratur hat nie wieder ein
Werk ähnlichen Charakters hervorgebracht, das auch nur annähernd die
Bedeutung des Cato erlangt hätte.
Es ist nicht von ungefähr, dass Luther in seinen Tischreden behauptet,
»nechst der Bibeln/ keine bessere Bücher denn des Catonis Scripta/ vnd die
Fabulas Aesopi« zu kennen. Nach der Auffassung der Zeit entsprechen der
Wahrheit göttlicher Schrift auf weltlicher Ebene Cato und Aesop; beide gel-
ten als vorzügliche Instrumente, die Jugend Weltklugheit zu lehren. Andere
Träger dieser Unterweisung sind u. a. die humanistischen Erziehungslehren
(z. B. Jakob Wimpfelings vielfach aufgelegte Adolescentia, 1500), die Zucht-
und Sittenbücher (beispielhaft Huldrych Zwingli: Quo pacto ingenui adole-
scentes formandi sint, 1523, dt. u. d. T. Herr Ulrich Zwingli leerbiechlein wie
man die Knaben Christlich unterweysen vnd erziehen soll/ mit kurtzer an-
zayge aynes gantzen Christlichen lebens, 1524; als Unterweisung durch das
Gegenteil: Der jungen Leute Lasterspiegel von Lukas Martini, 1592), die
Lebensregeln, Klugheits- und Tugendlehren (bedeutend vor allem Erhard
Weigels Wienerischer Tugend=Spiegel, 1687, und Christian Weises Ausführ-
liche Fragen über die Tugend=Lehre, 1696) sowie die elterlichen Räte und
Vermächtnisse, unter denen besonders die Insomnis cura parentum (»Die
ruhelose Sorge der Eltern«, 1643) Johann Michael Moscheroschs herausragt.
Die elterlichen Räte haben nahezu immer auch eine Unterweisung über die
Standespflichten zum Inhalt, und wenn der ratgebende Verfasser adeliger
Funktionen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 13
Herkunft ist, so tritt der elterliche Rat häufig in Form der Standeslehre (z. B.
Johann Kasimir Kolbes von Wartenberg Getreu=Vätterliche Instruction,
1674) oder auch des Fürstenspiegels auf; besonders bekannt sind die 1730
veröffentlichten Monita Paterna (»Väterliche Ermahnungen«), die Maximi-
lian I. von Bayern 1639 für seinen damals dreijährigen Sohn Ferdinand Ma-
ria abfasste.
Eine besondere Form der Standesunterweisung stellt die Literatur für Von jungfräulichen
Mädchen dar, die ebenfalls bis in die Zeit des Mittelalters zurückreicht und Pflichten
sich als zusammenhängende Mädchenbelehrung bereits in Ulrichs von Lich-
tenstein Vrouwen Buoch (1257) und als eigenständige Schrift für Mädchen
mit der Winsbeckin (zwischen 1210 und 1220) nachweisen lässt. Zahlreiche
Werke der religiösen, insbesondere der Erbauungs- und hier wieder der Ge-
betsliteratur, aber auch etliche Werke der erzählenden Literatur sind ganz
überwiegend oder sogar exklusiv für Mädchen verfasst oder herausgegeben
worden. Den Tenor auch der mehr weltlich orientierten Belehrungen für
Mädchen gibt das angeblich von Antonio de Guevara verfasste Schreiben
vnd vnterrichtung für die Frawen vnnd Weiber/ die jhre Töchter gern zur
zucht und Erbarkeit ziehen und anhalten wollen (1598) deutlich zu erken-
nen: Orientiert am traditionellen Bild idealer Jungfernschaft, fordert der
Verfasser unter Heranziehung biblischer Beispiele und kirchlicher Autori-
täten die Mädchen dazu auf, sich schicklich zu bewegen, bescheiden, ver-
schwiegen, zurückhaltend und demütig zu sein, sich züchtig und einfach zu
kleiden, keine Eitelkeit zu zeigen, sich körperlich und seelisch rein zu halten,
keine erdichteten Geschichten anzuhören, den Umgang mit alten Frauen und
Kupplerinnen zu meiden und jeglicher Gelegenheit zur Verführung aus dem
Wege zu gehen. Andere Schriften rücken mehr praktische Fragen in den Vor-
dergrund wie Probleme der zukünftigen Verheiratung, der richtigen Gatten-
wahl, des schicklichen Verhaltens gegenüber Junggesellen und der angemes-
senen Kleidung (z. B. Jacob Cats: Neu eröffnete Schule/ vor das noch ledige
Frauenzimmer, ca. 1720). Beliebt sind auch jene Schriften, die die dem weib-
lichen Geschlecht traditionell zugeschriebenen Laster verurteilen, wie dies
z. B. in der kleinen Flugschrift Ein schön newes Lied/ von Junckfraw tracht
Hoffart und pracht (zwischen 1572 und 1613) der Fall ist, die insbesondere
die Putz- und Prunksucht der Mädchen und ihre mangelnde Bescheidenheit
geißelt.
Eine weitere Aufgabe sieht die frühe Kinder- und Jugendliteratur in der Anstandsunterweisung
Erziehung der Kinder zu Anstand und ›gutem‹, d. h. maßvollem, mit Freund-
lichkeit und Höflichkeit gepaartem Benehmen. Träger dieser Unterweisung
sind vor allem Zucht- und Sittenbücher, gnomische Spruchsammlungen,
Verhaltenslehren, Komplimentierbücher, Anstandslehren und Tischzuchten.
Eine erste größere deutsche Anstandsunterweisung findet sich bereits 1215
bei Thomasin von Zerklaere in seinem Lehrgedicht Der welhisch Gast (Der
welsche Gast, d. h. der Fremdling aus Italien – Thomasin war italienischer
Geistlicher und Domherr in Aquileia), in dessen erstem Teil eine ›Hofzucht‹
die adelige Jugend mit genauen Verhaltensvorschriften und Anstandsregeln
instruiert. Die erste eigenständige Anstands- und Verhaltenslehre für die Ju-
gend bietet knapp ein Dreivierteljahrhundert später Konrad von Haslau mit
seinem Edelknabenspiegel Der Jüngling. Wichtiger ist aber auch hier die la-
teinische Tradition, repräsentiert in der gnomischen Spruchsammlung Face-
tus (= fein, zierlich, ansprechend im Äußeren und im Benehmen), einer als
Ergänzung zum Cato gedachten Anstandslehre aus dem 12. Jh., die in unsys-
tematischer Folge Lehren für ein Betragen vermittelt, das von Sitte, Zucht
und Vernunft geprägt ist und im ›Maß‹, der sittlichen Mäßigung und Be-
14 Mittelalter und frühe Neuzeit
Desiderius Erasmus:
De civilitate morum.
Titelblatt der ersten
deutschen Übersetzung.
Frankfurt 1531
Anstandsschrift des Humanismus, die schon ein Jahr später ihre erste deut- Erasmus von
sche Übersetzung erlebte (Züchtiger Sitten/ zierlichen wandels/ vnd höfflicher Rotterdam: »De
Geberden der Jugent/ Jn alle weg vnd nach Ordenung des gantzen leibs/ Den civilitate morum«
Jungen/ sich darinn zu üben/ Den Alten/ jre Kind nach solichem ebenbild/ in
zucht zu erziehen/ Ein nützlich Büchlin). Erasmus behandelt in sieben Ab-
schnitten allgemein das gesittete Äußere, die Kleidung, das Verhalten in der
Kirche, die Tischzucht, richtiges Verhalten bei Begegnungen und im Schlafge-
mach. Im Gegensatz zu früheren Anstandswerken trägt Erasmus seine Lehren
nicht mehr als einfache Vorschriften vor, sondern sucht sie ausführlich zu
begründen und so detailliert darzustellen, dass die Kinder sie bewusst anneh-
men können. Vor allem aber zielt seine Schrift darauf ab, die Urteilskraft und
-fähigkeit der Kinder auszubilden, damit diese von sich aus entscheiden kön-
nen, welches Verhalten im Sinne der ›civilitas‹ (= Leutseligkeit, Herablassung,
Höflichkeit, gewinnendes Benehmen) wünschenswert und notwendig ist. Die
Civilitas morum, mit der Erasmus den sich wandelnden Formen des gesell-
schaftlichen Umgangs Ausdruck verlieh, blieb über Generationen hinweg das
Referenzwerk schlechthin für Fragen des Anstands. Alle nacherasmischen
Anstandsschriften des 16. und 17. Jh.s – besonders auch der berühmte Gro-
bianus von Friedrich Dedekind (1549, Neubearbeitungen 1552 und 1554),
eine als parodistische Satire angelegte ›umgekehrte‹ Anstandslehre, die der
studierenden Jugend die Anstandsgebote in Form von Regelverletzungen
präsentiert – gehen hinsichtlich des Regelkodexes, teilweise auch der Form
auf die Civilitas morum zurück, wenngleich sie auch, mit Ausnahme Dede-
kinds, die literarische und pädagogische Qualität des Originals nicht errei-
chen.
Als einziges Werk von Rang ist nur noch die deutsche Jugendbearbeitung Giovanni Della Casa:
des zwischen 1551 und 1552 geschriebenen Galateo des italienischen Kir- »Galateo«
chenpolitikers Giovanni Della Casa zu nennen (dt. von Nathan Chytraeus u.
d. T. Galateus. Das ist/ Das Büchlein von erbarn/ höflichen vnd holdseligen
Sitten, 1597), die zwar vom italienischen Original erhebliche Abstriche macht
und teilweise gravierende – meist konfessionell motivierte – Umdeutungen
vornimmt, in der aber doch das Bemühen erkennbar ist, die schon bei Eras-
mus anzutreffenden Überlegungen zu einer systematischen Lehre von der
zwischenmenschlichen Kommunikation zu erweitern. Della Casa geht es da-
bei eigentlich aber nicht mehr um die Formung guter Sitten, sein Augenmerk
gilt vielmehr der Vervollkommnung der feinen Manieren, die dem sozialen
Handeln einen gefälligen Anstrich geben sollen, und er beschränkt sich so
bewusst nur auf das äußere Erscheinungsbild zwischenmenschlicher Kom-
munikationsakte, das im Hinblick auf seine anziehende bzw. abstoßende
Wirkung beurteilt wird. Der deutsche Galateus trägt die Anstandslehren für
Kinder in ihrer wohl systematischsten Zusammenschau vor, gleichzeitig stößt
damit aber die Anstandsunterweisung auch an die Grenzen der Gattung.
Dies wird besonders darin deutlich, dass sie in der Folgezeit häufig auf das
kurze, knappe Regelwerk beschränkt wird, das nicht selten komprimiert auf
Einblattdrucken oder in schmalen Heftchen angeboten wird. Erst mit den
Verhaltenslehren, den Galanterie-, Komplimentier- und Konversationsbü-
chern des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jh.s, die dem jungen ›Politi-
cus‹ Anleitung und Beispiel geben wollen, sich durch ›galante‹, ›manierliche‹
und ›artige‹ Aufführung bei Hofe und in der Gesellschaft zu rekommendie-
ren, wird der umfassenden Anstandsunterweisung wieder eine zentrale Be-
deutung zugeschrieben.
Dem grundlegenden Stellenwert entsprechend, der der rhetorischen Schu- Von richtiger Rede
lung im Erziehungsprozess der Zeit zukommt, bringt die Kinder- und Ju-
16 Mittelalter und frühe Neuzeit
Erzählende Literatur
tasie an, ziehen das Denken der Jugend auf unnütze, ja sündige Dinge und
sind zeitverderberisch. Die durch die Lektüre überhitzte Fantasie macht es
schließlich unmöglich, zwischen Wahrem, Faktischem und eingebildeten Be-
gebenheiten zu unterscheiden. Der Gymnasiast missversteht nämlich seine
›Historien‹, seine ›Geschichten‹, als ›Historia‹, als ›Geschichte‹. Hiermit ist
ein wesentliches Element des zeitgenössischen Verständnisses von ›Historie‹
berührt. ›Historie‹, ›Historia‹ oder ›hystory‹ ist im Grunde genommen ein
Allerweltsbegriff, der auf unterschiedlichste Gattungen angewandt werden
kann und daher weder eine spezifische Form, noch einen bestimmten Inhalt
Der ›Wahrheitsgehalt‹ hat. Immer ist damit aber die – der erfundenen ›Fabel‹ entgegengesetzte –
der Historie Schilderung einer wahrhaften oder einer als wahr behaupteten Begebenheit
gemeint und immer muss sie einen belehrenden Kern enthalten. Die Beteue-
rung der Wahrheit des Geschehens, die Berufung auf Augenzeugen oder per-
sönliche Erfahrung, das Abheben auf die Appellfunktion des Textes (der Leser
soll sich die Lehren zu eigen machen und auf sein Leben anwenden), die
moralisierenden Züge, der Einschub von Erklärungen, Belehrungen oder
auch Sprichwörtern sind daher grundlegende Züge jeder ›Historie‹. Dadurch
steht sie immer im Spannungsverhältnis von Nutzen und Lehre einerseits
und Kurzweil andererseits, soll sie doch vor Melancholie bewahren und die
Langeweile vertreiben. Ob und in welchem Maße nun die erzählenden Ele-
mente dieser Texte als Zugeständnis an einen bevorzugten Rezeptionsmodus
des jugendlichen Lesers statthaft sind, oder ob nicht diese erzählenden Ele-
mente die nützliche Lehre verdecken, überwuchern und schließlich zum Alibi
verkommen lassen – diese Diskussion prägt die Auseinandersetzung über
Form, Inhalt und Charakter der erzählenden Jugendliteratur bis weit in das
18. Jh. hinein.
Jugendliche Das Für und Wider in dieser Diskussion wird schlaglichtartig deutlich in
Romanlektüre: einer Auseinandersetzung im ersten Teil der Frauenzimmer Gesprechspiele
Für und Wider (1644) des Nürnberger Patriziers Georg Philipp Harsdörffer. Die Gesprech-
spiele, vor allem in den ersten beiden Teilen bevorzugt an die Jugend adres-
siert, wollen – in der Tradition des Salongesprächs und in Anlehnung an ita-
lienische und französische Vorbilder – Modelle zwanglos-galanter Konversa-
tion bieten, wobei belehrende und unterhaltende Momente miteinander
verbunden werden. Im Rahmen eines solchen Modellgesprächs kommen die
Teilnehmer auch auf Bücher zu sprechen, »so auß fremden Sprachen/ von
Schäfereyen/ Liebsgedichten/ Heldengeschichten/ u. d. g. in unsere Teutsche
übersetzet worden«. Spielweise soll Julia von Freudenstein, »ein kluge Ma-
tron«, gegen die Romane Stellung beziehen, während Reymund Discretin,
»ein gereist= und belesener Student«, aufgefordert wird, sie zu verteidigen.
Die Ausgangsposition der Diskutanten wird in den beiden Sätzen »jch bin
vergewissert/ daß solche Bücher nicht ohne Gefahr/ und unwiderbringliches
Nachtheil der Jugend verstattet werden können« (so Julia) bzw. »So bin ich
versichert, daß solche Bücher mit Lust und Nutzen können gelesen werden«
(so Reymund) zusammengefasst. Im Verlauf der Diskussion bezeichnet Julia
diese Bücher als »Lustgedichte/ so […] sich häuffig in junger Leute Händen
befinden«, sie seien Fabeln, die der Wahrheit am wenigsten ähnlich seien. Die
Figuren seien ohne jeden Realitätsbezug, alle seien sie »verliebet/ alle bestän-
dig voller Tugend/ und bedörffen des Geldes so wenig/ als die Christen deß
Alcorans. Diese Büchergrillen erregen dergestalt unsere Gedanken/ daß wir
mit ihnen weinen/ lachen/ trauren/ Verlangen tragen/ und allen ihren Begier-
den gleichsam würcklich beypflichten/ ob sie woln nur erdichtet/ und niemals
gewesen/ noch seyn werden«. Durch diese Art Bücher werde die Liebeslust
gereizt, die Leser würden angehalten, ihr ganzes Sinnen und Trachten auf die
Erzählende Literatur 21
Suche nach dem Bösen abzustellen, weshalb denn auch der »Geist der Lü-
gen« die unbedachte Jugend berede, »es werden durch solche Bücher ihre
Augen aufgethan/ zu sehen was gut oder böß ist«. Man solle daher diese
Bücher nicht mehr drucken und sie ins Feuer werfen, bevor sie andere an-
steckten. Die Lektüre dieser Bücher sei reine Zeitverschwendung.
Die Julia in den Mund gelegten Worte – ihnen entgegnet Reymund, dass Verdammung
die Werke, selbst wenn reine Fiktion, lehrreich seien, sie stellten auf ange- der Romanlektüre
nehme Art den Unterschied zwischen Gut und Böse dar und erwiesen, wie bei Vives
glückselig die Tugenden, wie gefährlich aber das Laster und seine Folgen
seien, und so existiere bei deren Lektüre keinerlei Gefahr für zur Tugend er-
zogene junge Leute – greifen Argumentationsmuster auf, die seit Juan Luis
Vives’ De institutione foeminae (1523; dt. von Christoph Bruno u. d. T. Von
underweysung ayner Christlichen frauwen, 1544) gang und gäbe waren. Im
fünften Kapitel seiner Schrift setzt sich Vives mit der Frage auseinander, wel-
che Lektüre Mädchen und Frauen zuträglich sei. Er empfiehlt die Evangelien,
die Apostelgeschichte, die apostolischen Briefe, die geschichtlichen und mo-
ralischen Erzählungen des Alten Testaments, die maßgeblichen Kirchen-
schriftsteller sowie die antiken Schriftsteller Plato, Cicero und Seneca (wie-
wohl nur nach Rat verständiger Männer) und warnt vor Werken, die nur
geschrieben seien, um von Müßigen, von Mädchen und Frauen gelesen zu
werden, und keinen anderen Stoff als Streit und Liebe böten. Auch er spricht
sich für eine Radikalkur aus – das Verbot: »Derhalben gezympte es sich/ das
man solche schantpare vnd vnzüchtige lieder/ dem gmainen pöfel/ mit aim
strengen gsatz/ auß dem maul neme [...]. mich gedunckt/ diejänigen/ die sol-
che liedlin machen/ befleyssen sich kayns dings mer/ dann das sie die gemay-
nen sitten der jugent verderben/ nicht anders als wölche die gmaynen brunnen
vergifften.« Derartige Schriften, die Nahrung böten für allerlei Laster, habe
das weibliche Geschlecht wie Schlangen und Skorpione zu meiden. Falls ein
Mädchen durch die Lektüre eines solchen Werkes gefesselt werde, möge man
ihm das Buch nicht nur entwinden, sondern falls es andere, schickliche Lek-
türe ablehne, danach trachten, es durch Aussetzen der Lektüre ganz zu ent-
wöhnen – bis zu dem Grade, dass es das Lesen völlig verlerne: »dann besser
ists/ ayns guten dings gar mangeln/ dann dasselb vbel gebrauchen«.
Vives hat mit seinem Verdikt zwar vornehmlich das weibliche Geschlecht
im Auge, doch liefert er zugleich ein allgemeineres Argumentationsmuster,
das bis in das 18. Jh. hinein vor allem von Pfarrern und Pädagogen benutzt
wurde, um vor der Romanlektüre von Kindern und Jugendlichen zu warnen:
Die Jugend, so der Pastor Christian Gerber in seiner Abhandlung Unerkannte
Sünden der Welt (51708), habe »von Natur mehr Neigung und Lust zu den
Lastern dieser Welt/ als zur wahren Gottesfurcht«, und am schlimmsten sei
das Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren, in dem die »Jugend=Hitze«
Liebesgedanken oder ähnliche Regungen verursache, die die jungen Leute
dazu brächten, sich mit der Lektüre von Romanen zu beschäftigen. Er fordert
daher ein Verbot all solcher Bücher, die die Jugend »zur Geilheit und anderer
Leichtfertigkeit verführen können«, und will als geeignete Lektüre nur die
Bibel und geistliche Schriften gelten lassen.
Die Frontstellung gegen diese Bücher, die ›erdichtet‹ waren und damit als Romanadressierungen
›unwahr‹ galten, verhinderte bis zum Ende des 18. Jh.s die Herausbildung an die Jugend
des Romans als einer eigenständigen jugendliterarischen Gattung. Wenn die
Verfasser und Verleger von Romanen ein jugendliches Publikum ansprechen,
dann bildet dieses häufig nur eine Adressatengruppe neben anderen, auch
wenn für die jungen Leute teilweise besondere Lehren gezogen werden. Häu-
fig werden aber auch Werke, die ursprünglich exklusive Erwachsenenlitera-
22 Mittelalter und frühe Neuzeit
zeigen, was für Sitten sie annehmen, wie sie ihre Paßionen unterdrücken, [...]
wie sie reden, und sich aufführen müssen, damit sie weder unglücklich noch
lächerlich werden«. Bezeichnenderweise soll der erzieherische Auftrag des
Don Quijote auch einen Bereich einschließen, den nicht nur die geistlichen
Kritiker ganz aus der Jugendliteratur fernhalten wollten: den der Liebe. Es
sei, so der Übersetzer, »höchstnötig [...], daß junge Personen, insonderheit,
welche in der grossen Welt leben sollen, diese Paßion kennen und wohl beur-
teilen lernen, wenn solche tugendhaft, oder strafbar, ordentlich oder aus-
schweiffend, glücklich oder unglücklich sey, auch allen Nachstellungen und
Versuchungen zu begegnen geschickt gemacht werden«. Der Roman zeigt die
Welt so, wie sie tatsächlich ist; er liefert ein lehrhaftes Abbild der Realität,
und da der Jugendliche auf diese Realität hin erzogen werden und sich ihr
geschickt anzupassen lernen soll, erübrigt sich eine wie auch immer geartete
Adaption, sei es hinsichtlich der Stoffauswahl, der Sprache oder auch mora-
lischer Belange. Es gibt mithin keine substantiellen Unterschiede zwischen
dem Erwachsenen- und dem auch an Jugendliche gerichteten Roman.
Dieses Dilemma hatte zwei Entwicklungen zur Folge: Einerseits begüns- Der Publikumswechsel
tigte es das ›Wandern‹ eines häufiger gedruckten Romans zwischen verschie- eines ›Volksbuchs‹:
denen Adressatengruppen und führte dadurch zu mitunter gravierenden Pu- »Pontus und Sidonia«
blikumswechseln. Dies ist zum Beispiel der Fall bei einem Ritter Pontus oder
auch Pontus und Sidonia genannten Werk, das vermutlich der Chevalier de
Latour-Landry 1387 verfasste. 1485 kam es in einer deutschen Übersetzung
Eleonores, der Tochter König Jakobs I. von Schottland und Gattin Erzherzog
Sigmunds von Tirol und Vorderösterreich, auf den Markt und gehörte zu den
beliebtesten weltlichen Büchern im Deutschland des 16. und auch noch 17.
Jh.s. Dieser Ritterroman ist der haus- und sippengebundenen Literatur zuzu-
Geoffroy Chevalier de
Latour-Landry: Histori
von dem Ritter Ponto.
Straßburg 1539
24 Mittelalter und frühe Neuzeit
rechnen, ist es doch sein ursprüngliches Anliegen, die Verdienste der Familie
Latour-Landry zu verherrlichen. Sein Held Pontus verkörpert geradezu idea-
lisch einen jungen christlichen Ritter, der in sich Tugend, Frömmigkeit,
Schönheit und Bildung vereinigt und so das Vorbild für das angemessene
Verhalten eines Königssohnes abgibt. So bietet das Werk zugleich eine hö-
fisch-aristokratische Tugendlehre in Romanform. Auch Eleonore möchte mit
ihrer Übersetzung vornehmlich der männlichen Jugend bei Hofe eine unter-
haltsame Tugendunterweisung an die Hand geben; entsprechend heißt es in
dem langen Titel, das Werk sei »ein schöne historj« – und mit dieser Kenn-
zeichnung ist wiederum auf ›verbürgte‹, angeblich stattgehabte Begeben-
heiten rekurriert –, »daraus vnd dauon man vil guter schöner lere vnd vnter-
weisunge vnd geleichnuß mag nemen, vnd besunder die jungen so sy hören
vnd vernemen die guttat vnd groß ere vnd tugent so ir eltern vnd vordeen
gethan vnnd an in gahabtt haben«. In dem Maße, in dem später vor allem
besitzende bürgerliche Schichten das Kaufpublikum des Ritter Pontus bilden,
geht der Aspekt adeliger Tugendunterweisung verloren, kann doch der Ro-
man mit seinen überholten Standesidealen für die Gestaltung bürgerlicher
Lebenspraxis in keiner Weise mehr relevant sein. In den Vordergrund treten
nun die unterhaltenden Momente. Mit seinen Turnier- und Schlachtengemäl-
den und vor allem seiner Schilderung der durch Intrigen bedrohten, aber
schließlich siegreichen Liebe des unbezwingbaren Helden zur schönen Kö-
nigstochter Sidonia avanciert die exempelgebende Tugendunterweisung zur
spannenden Unterhaltungslektüre. Damit einher geht eine Umschichtung des
Lesepublikums: Ritter Pontus wird zur bevorzugten Lektüre eines weiblichen
Publikums. Als Liebesroman bleibt er bis zum Ende des 18. Jh.s populärer
Lesestoff, aber die ursprüngliche Adressierung an ein vornehmlich junges
Publikum geht dabei verloren.
Auf der anderen Seite hatte die Tatsache, dass zwischen dem Erwachse-
nen- und dem an die Jugend gerichteten Roman keine wesentlichen Unter-
schiede bestanden und beide – nicht nur von der Warte ihrer kirchlichen
Kritiker aus – in ihrer so weltlichen Orientierung mit dem Odium der vani-
tas, der Eitelkeit und Vergänglichkeit menschlichen Lebens, – mehr noch: der
Lüge – behaftet waren, zur Folge, dass Romanstoffe uminterpretiert, in einen
neuen Zusammenhang gestellt wurden und die so ihres ursprünglichen Zu-
sammenhangs entkleideten Werke als erlaubte, ja sinnvolle und nützliche
Lektüre gelten konnten. Dieses Verfahren führte im Extremfall zur völligen
Auflösung der Romanform, bei weniger rigiden Eingriffen zumindest zur
Umkehrung der Romanaussage.
Die Uminterpretation Als ein Beispiel dafür kann die französische Prosaromanhistorie vom Rit-
eines ›Volksbuchs‹: ter Peter mit den silbernen Schlüsseln gelten, die in einer Übersetzung Veit
»Magelona« Warbecks, eines mit einflussreichen Ämtern am Hofe Friedrichs des Weisen
bekleideten Lutheranhängers, und mit einem Vorwort des lutherischen Theo-
logen Georg Spalatin versehen, 1535 unter dem Titel Die Schön Magelona
im Druck erschien. Warbeck hatte die Übersetzung für seinen frischvermähl-
ten Schüler, den Kurprinzen Johann Friedrich, und dessen Gattin, Prinzessin
Sibylle von Jülich-Cleve, zur Zerstreuung während der Wintermonate
1527/28 verfertigt. Durch seine höfischen Motive und die Liebesthematik
war der Roman für das fürstliche Paar wie geschaffen, um sich mit seinen
Helden und dem von ihnen verkörperten Standesethos moralisch identifizie-
ren zu können. Zudem hielt er mit seiner Schilderung einer alle Konventionen
sprengenden Liebe, die zu selbstverschuldetem Unglück führt, für die Jung-
vermählten eine zentrale Lehre bereit: wie wichtig und notwendig die Kon-
trolle und Beherrschung der Affekte ist.
Erzählende Literatur 25
Eine ganz andere Stoßrichtung hat der von Spalatin besorgte Druck. Nicht
mehr Prinz Peter als das Muster ritterlicher Tapferkeit, Zucht und Ehre steht
hier im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern – wie schon der Titel signali-
siert – die Königstochter Magelona. Das »seer lustig vnnd lieblich büchlein«
wird von Spalatin allen Frauen und Jungfrauen zur Lektüre anempfohlen –
einem exklusiv weiblichen Lesepublikum mithin. Gleichzeitig wird die Ge-
schichte der Magelona pädagogischen Zwecken dienstbar gemacht, indem
sie Eltern als Handleitung der Mädchenerziehung und den Mädchen als war-
nendes Exempel empfohlen wird, das vierte Gebot zu befolgen. Beide, Eltern
und Kinder, sollen durch den so uminterpretierten Roman »verwarnt« wer-
26 Mittelalter und frühe Neuzeit
den: »Zu dem dienet diß büchlein auch dazu/ das die Eltern auch ein fleyssigs
aug vnd achtung auff die kinder/ beuor auff die töchter haben/ Dann die ju-
gend beuor ein meidlein ist fast [= sehr] fürwitzig/ vnd man erferet täglich an
vilen orten vil vnrats wann man vbel zusiehet/ Wie dann diß büchlein mit der
schönen Magelona auch fein anzeigt/ Dann wiewol es ye rain vnnd züchtig
gehet/ so würt die doch dennoch entfüret/ vnnd folget dem Ritter mit den
silberin schlüsseln in Gottes/ vnnd jrer eltern vngehorsam wider das vierdte
gepott Gottes/ wölchs dann sehr fehrlich ist/ Gerät auch selten wol wa also
zwey leut zusamen kommen/ So sind die eltern auch vor Gott nicht entschul-
digt/ jrer vnachtsamkeyt/ das also billich beide Eltern vnd kinder durch dise
schrifft verwarnet sein sollen.« – Die Liebesthematik dient hier nicht mehr
der Identifikation eines jungen höfischen Publikums, sondern wird im Ge-
genteil negativ umgedeutet: Spalatin unterstellt der Jugend und vor allem
den jungen Mädchen einen ausgeprägten Hang zum »Fürwitz«, d. h. zur
Sinnlichkeit und Leidenschaft, und als Beispiel eines solchen Mädchens, das
seiner Leidenschaft freien Lauf lässt, darüber ins Unglück stürzt und wider
Gottes Gebot handelt, wird Kindern und Eltern zur Warnung Magelona
vorgeführt. Die Geschichte wird zu einem Negativexempel umgedeutet, und
aus einem Beispiel für nachzueiferndem Tugendadel wird ein auf Warnung
und Abschreckung hin angelegter Modellfall kindlichen Ungehorsams. Der
Roman ist so durch Spalatins Rezeptionsvorgaben in seiner als heikel emp-
fundenen Dimension entschärft und kann nunmehr als unbedenkliche, ja
pädagogisch nützliche Jugendlektüre passieren.
Belehrende Auslegung Versucht Spalatin, durch eine ›Leseanleitung‹ die Aufmerksamkeit seines
im ›Volksbuch‹ vom jugendlichen Lesepublikums in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken,
Doktor Faust so bedienen sich andere Autoren der belehrenden Auslegung des Erzählten.
Ein Beispiel dafür ist die von dem Theologen Georg Rudolf Widmann be-
sorgte, zuerst 1599 erschienene und mit zwanzig Auflagen doch recht erfolg-
reiche Bearbeitung des ›Volksbuchs‹ vom Doktor Faust: Wahrhaftige Histo-
rien von den grewlichen und abschewlichen Sünden und Lastern, auch von
vielen wunderbarlichen und zeltzamm Abentheuren, so Dr. Johannes Faus-
tus, ein weitberuffener Schwartzkünstler und Ertzzauberer hat getrieben.
Ziel der vor allem aus der protestantisch-orthodoxen ›Teufelliteratur‹ des 16.
Jh.s und den Luther’schen Tischreden schöpfenden Bearbeitung ist es, die
»liebe jugendt« vor den Nachstellungen und Stricken des als allgegenwärtig
beschriebenen Teufels zu warnen, so dass sie sich vor dessen Anschlägen
vorzusehen und zu hüten wisse. Zu diesem Zweck ist jedem Kapitel eine
ausführliche »Erinnerung« beigegeben, in der jeweils, autoritativ abgesichert
durch eine Vielzahl von mehr oder weniger passenden Bibelstellen und
Sprichwörtern, zahlreiche, hauptsächlich religiöse, Lehren gezogen und mo-
ralische Ermahnungen aller Art zum Besten gegeben werden – und dies in
einem Umfang, der die eigentlichen Erzählteile bei weitem übersteigt. Die –
Der selen trost. Holz- häufig mit Sottisen gegen die römische Kirche gespickte – Punkt-für-Punkt-
schnittillustration zum Auslegung, die sich von Kapitel zu Kapitel fortsetzt und das Volksbuch zu
4. Gebot. Augsburg 1478 einem voluminösen Werk von fast siebenhundert Seiten Länge aufschwemmt,
ist ganz in Anlehnung an den zeitgenössischen lutherisch-orthodoxen Pre-
digtstil gehalten und betont gerade durch diesen Zusammenhang seine er-
bauliche Qualität und seine Eignung besonders für ein jugendliches Lese-
publikum.
Der ritterliche Held Während Widmanns Wahrhaftige Historien den »Ertzzauberer« Faustus
als Vorbild und dessen schreckliches Ende dem Publikum »zur Lehr vnd Warnung«, so
der Untertitel, vorführen und auch die Magelona in der spalatinschen Aus-
gabe zu einer Warn- und Abschreckgeschichte umgedeutet wird, gilt der Rit-
Erzählende Literatur 27
Erbauliches und Etwas später als der Seelentrost, um 1371/72, entstand ein französisches
Unterhaltendes für Pendant zu diesem Werk, der besonders in Deutschland erfolgreiche, bereits
Mädchen: »Der Ritter erwähnte Ritter vom Turn von Geoffroy Chevalier de Latour-Landry. Auch
vom Turn« der Ritter vom Turn ist ein zur Unterweisung, Erbauung und Unterhaltung
abgefasstes Exempelbuch, das den herkömmlichen Zeitvertreib ersetzen will.
Anders als der Seelentrost, der dem Typus der Exempelsammlungen nach
logischer Ordnung zuzurechnen ist, stellt der Ritter vom Turn jedoch eine
eher locker aneinandergereihte Sammlung teils lose miteinander verbunde-
ner, teils thematisch nebeneinander stehender Exempel dar: Unterweisungen
und Vorschriften zu Sitte, Anstand, äußerlichem Betragen, innerer Haltung
und religiösen Pflichten wechseln mit Anekdoten aus der Bibel, Beispielen
aus der Geschichte sowie Exempeln aus den Volkserzählungen, den sog. Fab-
liaux und Contes, und aus der Predigtliteratur. Ganz wesentlich schöpft das
im zeitgenössischen Kanzelrednerstil vorgetragene Werk dabei aus der fran-
ziskanischen Exempelsammlung Miroir des bonnes femmes (»Spiegel der
guten Frauen«) aus der zweiten Hälfte des 13. Jh.s. Ein anderer wesentlicher
Unterschied zum Seelentrost besteht im Adressatenbezug des Ritters vom
Turn: Er ist exklusiv für ein jugendliches Publikum bestimmt – für Mäd-
chen.
Die Jungfrau Maria Ist der Seelentrost als Lehrgespräch gestaltet, so bedient sich der Ritter
als Verkörperung vom Turn der zweiten großen Form der didaktischen Literatur der Zeit: des
weiblicher Tugenden Rates, der hier in der Form des väterlichen Vermächtnisses auftritt. Latour-
Landry will seinen Töchtern Unterricht geben »von den gutteten wysen vnnd
geberden«, damit sie sich »jn steter guter übung vnd zymlichem wesen« hal-
ten könnten. Hauptsächlich vermittelt er seine Lehren durch die Beispiele
›böser‹ und ›guter‹ Frauen. Streng getadelt werden Hochmut, Neid, Hab-
sucht, Zorn, Ungehorsam gegen den Ehegatten, die Verspottung des Ehe-
manns, Eifersucht in der Ehe, Streitsucht, mangelnde Verschwiegenheit,
unziemliche Bitten und Betrug, Schmeichelei, Übereilung, Naschhaftigkeit,
modische Putzsucht, kokette Zurschaustellung des Körpers, sexuelle Aus-
schweifungen sowie insbesondere Buhlerei und Unzucht in der Kirche; als
erstrebenswert gelten Keuschheit, Schamhaftigkeit, Mäßigung, Bescheiden-
heit und Zucht im äußeren Auftreten, Zurückhaltung bei Gesellschaften,
Sanftmut, häusliche Eingezogenheit, Schweigsamkeit, Güte, Nachgiebigkeit,
Unterordnung unter den Willen des Mannes, aufopferungsvolle Gatten- und
Kindesliebe, sich in guten Werken erweisende Frömmigkeit sowie Ausharren
und Gottvertrauen in Krankheit und Not. Das von Latour-Landry propa-
gierte, bereits konventionelle Frauenideal findet seine Symbolgestalt in der
Heiligen Jungfrau als der vollkommenen Verkörperung von Glauben, Demut,
Gehorsam, Dankbarkeit, Besinnlichkeit, Klugheit, Milde, Einfachheit und
Reinheit; ihr Gegenpol ist – auch dies ganz traditionell – die Figur der sündi-
gen Eva. Mit dem steten Hinweis auf die Verursacherrolle Evas beim Sün-
denfall der ersten Eltern entwickelt Latour-Landry den Mädchen seine Vor-
stellungen über ihre künftige Rolle als Ehefrau: Die Frau bedarf danach der
steten Führung und Anleitung des Mannes, ohne dessen Rat und lenkende
Hilfestellung sie unweigerlich auf den falschen Pfad geriete. Die Frau schul-
det ihrem Ehemann aber nicht nur absoluten Gehorsam, sondern sie soll
seinem Begehren auch willig und freudig, d. h. unter Zurückstellung eigener
Vorstellungen und Wünsche nachkommen; sie soll sich vollständig mit dem
von ihr Erwarteten und Gewünschten identifizieren, um eine größtmögliche
Harmonie und Eintracht unter den Eheleuten zu ermöglichen, deren Zustan-
dekommen sie durch Sanftmut, Hingabe und ihre Auslieferung an den Willen
des Gatten zu bewerkstelligen verpflichtet ist. Das bewusste Brechen des Ei-
Erzählende Literatur 29
genwillens ist die Bedingung aber nicht nur für das gedeihliche Zusammenle-
ben der Eheleute, sondern letzten Endes auch die Voraussetzung für die Frau,
vor Gott Gnade zu erlangen.
1536 erschien der Ritter vom Turn in einer völlig veränderten Gestalt auf Die protestantische
dem Markt, die ein treffendes Beispiel für den Funktionswandel ist, dem zu Bearbeitung des
dieser Zeit zahlreiche Werke unterliegen. Sein neuer Titel lautet: Der Ritter »Ritters vom Turn«:
vom Thurn/ Zuchtmeister der Weiber vnd Junckfrawen. Anweisung der Eine Historienbibel
Junckfrawen vnd Frawen/ weß sich eyn jede in jrem standt/ gegen jderman in für das weibliche
dieser arglistigen welt/ mit geberden/ sitten vnd worten/ halten sol/ Auß bei- Geschlecht
den Testamenten/ Altem vnd Neuwem/ historien/ von frummen vnd bösen
Weibern hierin/ zusammen gesetzt/ die bösen zufliehen/ vnnd die guten zu
eym Ebenbildt anzunemmen. Der protestantische Bearbeiter, der an Latour-
Landrys Werk vor allem die Vermengung biblischer Historien mit weltlichen
Erzählungen und die Ausstaffierung des Ganzen mit »so vil faule[n] fablen
von der menschen vasten vnd betten« kritisiert, hat die pointierten – von
Latour-Landry häufig für seine Zwecke zurechtgebogenen – biblischen Ex-
empel durch einen ausführlichen Vortrag des entsprechenden Bibeltextes er-
setzt, die Historien z. T. zu thematischen Gruppen zusammengestellt, zusätz-
liche biblische Geschichten sowie Anekdoten vor allem aus den Gesta Roma-
norum (»Taten der Römer«) eingefügt, einer gegen Ende des 13. oder Anfang
des 14. Jh.s verfassten und als volkstümliches Lesebuch beliebten Sammlung
von Sagen, Anekdoten, Fabeln und Märchen aus der römischen Geschichte
und aus mittelalterlichen Legenden; zudem hat er alles beseitigt, was auch
nur entfernt an katholische Lehren oder Frömmigkeitsübungen erinnern
könnte. Herausgekommen ist dabei eine konfessionelle Tendenzarbeit im
protestantisch-polemischen Sinn, die, so der Bearbeiter, wie die Bibel ohne
jeden Anstoß zu lesen sei. Da in der Bearbeitung häufig der Begründungszu-
sammenhang verloren geht, warum eine biblische Geschichte überhaupt er-
zählt wird, andererseits auch keine besonderen Erkenntnisabsichten oder
Nutzanwendungen mehr formuliert werden, stellt der ›protestantische‹ Ritter
vom Thurn kein Exempelbuch mehr im eigentlichen Sinne dar, sondern eine
auf ein weibliches Publikum zugeschnittene Historienbibel, in der, ergänzt
um einige weltliche Texte, jene Geschichten versammelt sind, die über die
von einer Frau zu beobachtenden Tugenden, zu vermeidenden Laster und
auszubildenden Charaktereigenschaften Auskunft geben und in ihrer Zu-
sammenstellung als Handleitung für die im praktischen Leben des Mädchens
und der Ehefrau zu meisternden Situationen richtungweisend sein können.
In dieser neuen Funktion als Historienbibel und Hausbuch der evangelischen
Hausmutter und ihrer Tochter konnte das Werk noch lange Zeit Wirksam-
keit entfalten. In der Tat folgen alle Drucke bis weit über das nächste Jahr-
hundert hinaus dieser Bearbeitung, die es verstand, das herkömmliche, schon
in den Paulinischen Briefen formulierte, von Latour-Landry noch einmal be-
schworene und dem androzentrisch-patriarchalischen Verständnis Luthers
so nahestehende Frauenbild mit der Einhaltung des ›Schriftprinzips‹ zu ver-
binden, und dadurch eine im protestantischen Sinne ›nützliche‹ Lektüre für
das weibliche Geschlecht darstellen konnte. So betonen denn auch die Verle-
ger in ihren Titelformulierungen und Vorworten immer wieder die Nützlich-
keit des Werks für Frauen und Jungfrauen, denen damit eine Alternative zur
Lektüre närrischer und unzüchtiger Schriften – der Frankfurter Verleger Da-
vid Zöpfel versteht darunter in seiner Ausgabe von 1560 ausdrücklich auch
die erwähnte Geschichte von Pontus und Sidonia! – geboten werde.
Ein in der Substanz ähnliches Frauenbild wie der Ritter vom Turn entwi-
ckelt der zwischen 1518 und 1521 vor allem wohl für adelige Mädchen ge-
30 Mittelalter und frühe Neuzeit
»Frau Tugendreich«: schriebene Mädchen- und Frauenspiegel Fraw Dugentreich (»Frau Tugend-
die erste durchgängige reich«), eine im Spannungsfeld der Gattungen Zeitroman, Liebesgeschichte
Prosaerzählung für und Erziehungstraktat stehende – nicht vollständig und nur in einer Hand-
Mädchen und Frauen schrift überlieferte – Prosaerzählung aus der Zeit Kaiser Maximilians. Der
ungenannte (schwäbische?) Verfasser hat sich vorgenommen »zu beschrey-
ben das leben vnnd wesen ainer frommen vnnd wolgebornen frawen, deren
nam gott der allmechtig wol wayßt« und der in der Erzählung der Name
Tugendreich beigegeben werden soll: »Das will ich geben zu ainer vnderwey-
sung allenn frawen vnnd junckfrawenn vnnd will jnenn setzen das leben
vnnd wesen Dugenttreich mit gutter hoffnung, sy söllendt das buch durch
kurtz weyl lesen vnnd hören lesen, dar jnn vil gutter ebenbild nemmen, dar
mit vil langer weyl vertreyben.« Das Buch selbst wird zum Schluss der Frau
Tugendreich überantwortet und ihr zur Erziehung ihrer beiden Töchter, »der
jaren jung vnnd noch kind sennd«, empfohlen, damit die Mutter es »jnenn,
so es zeyt wirtt, mit sampt ir guttenn zuchtt vnd lerr wol geben vnnd vnder-
weysen wirt«. Frau Tugendreich erzählt im Hauptteil die Geschichte einer
überaus schönen, frommen und gebildeten Grafentochter, die wegen ihrer
großen Tugenden an den Hof Kaiser Maximilians geholt wird, wo sie von
zwei jungen Adligen, Glückwart und Fridfrey, umworben wird. Obwohl Tu-
gendreich sich sehr bedeckt hält – sie zieht, gegen den Willen ihres Vaters, die
Einsamkeit der Klosterzelle dem ehelichen Leben vor –, überreicht sie bei
einem Hoffest dem im Duell über Glückwart siegreichen Fridfrey den Kranz.
Als Kaiser Maximilian zum Feldzug gegen Julius II. und die venezianische
Republik rüsten muss – eine historisch nicht ganz einwandfreie Anspielung
auf den Austritt des Roverepapstes aus der Liga von Cambrai im Frühjahr
1510 –, verspricht er Fridfrey, ihm bei der Rückkehr Tugendreich zur Frau zu
geben. Während Glückwart bei dem Feldzug sein Leben lassen muss, bewährt
sich Fridfrey bei der Eroberung der venezianischen Bastion Padua. Tugend-
reich ist inzwischen jedoch bereits gegen ihren Willen von ihrem Vater, der
einer Verehelichung seiner Tochter mit dem wenig begüterten Fridfrey zuvor-
kommen wollte, mit dem Sohn eines groben, wenngleich reichen alten Ritters
verheiratet worden; wie der Vater ist auch er hässlich, ungebildet und von
bäurischem Wesen, ja »grob vnnd thirannisch«. Das weitere Schicksal Tu-
gendreichs bleibt durch den Blattverlust des Manuskripts unklar. Die Über-
schrift zum letzten Kapitel »Wie der breyttiger zu der schönen Tugentreych
kam. etc.« und der erhaltene Schluss – Tugendreich lebt an der Seite ihres
Ehemanns noch lange in Ehre und Frieden – legen jedoch die Vermutung
nahe, dass sie nach dem vorzeitigen Tod ihres ungeliebten ersten Mannes
doch noch Fridfrey (?) zum Gatten bekommt.
Bemerkenswert an Frau Tugendreich sind nicht nur die erstmalige Aus-
richtung des Erzählgeschehens an der unmittelbaren Gegenwart (detaillierte
Schilderungen des Lebens am Hofe Maximilians, Darstellung der Stadt, Be-
schreibung des Kriegsverlaufs), die auf die Werke Maximilians I. (Teuerdank,
Weißkunig) verweisende Schlüsselromanfiktion und die auf eine Zentralfigur
hin konzipierte Erzählstruktur – das Werk stellt damit im deutschen Raum
die erste durchgängige Prosaerzählung für Mädchen und Frauen dar –, son-
dern auch die Einkleidung der Liebes- und Werbungserzählung in ein Streit-
»querelles des femmes« gespräch im Stil der mittelalterlichen querelles des femmes, in denen Frauen-
schelte und Frauenverteidigung miteinander konkurrieren. In dem von einer
teilweise komischen Rollenumkehr bestimmten Meister-Schüler-Gespräch
steht dem höfischen Lobspruch der Frau, vorgetragen von dem noch jungen
Erzähler, die frauenfeindliche Position eines erfahrenen »magysters« gegenü-
ber, der noch einmal die sich im Zentralbild der »sündigen Eva« manifestie-
Erzählende Literatur 31
Der Autor des Werks, Jörg Wickram, wurde um 1505 in Colmar geboren,
wo er zunächst wohl als Handwerker, dann als Gerichtsschreiber und Rats-
diener tätig war und 1549 eine Meistersingerschule begründete. 1555 wurde
der Protestant in Burgheim Stadtschreiber und starb dort vor 1562. Wick-
ram, der sich auch als Dramatiker einen Namen machte (Die zehen Alter
nach gemainem Lauff der Welt, 1531; Ein schönes vnd Euangelisch Spil von
dem verlornen Sun, 1540; Ein schön vnd nutzlichs Biblischs Spil von dem
heyligen vnd gottsförchtigen Tobia, 1551 – sie alle zumindest unter anderem
auch an die Jugend gerichtet) und Verfasser der auch heute noch immer wie-
der aufgelegten Schwanksammlung Das Rollwagenbüchlin (1555) ist, gilt als
Begründer des deutschen Prosaromans, und mit seinen an die Jugend gerich-
teten Werken ist er sicherlich der bedeutendste Erzähler, den die deutsche
Kinder- und Jugendliteratur bis gegen Ende des 18. Jh.s hervorbringt.
»Der Goldtfaden« Wickrams Prosawerke spielen in der Mehrzahl, wie Gabriotto und Rein-
hard und bereits früher die »History« vom Ritter Galmy vß Schottland
(1539), zumindest überwiegend im höfischen Milieu, zwei andere sind dage-
gen ganz auf das bürgerliche Leben zugeschnitten. Zur ersten Gruppe zu
rechnen ist noch Der Goldtfaden. Ein schöne liebliche vnd kurtzweilige His-
tori von eines armen hirten son/ Lewfrid genant/ welcher auß seinem flei-
ßigen studieren/ vnderdienstbarkeyt/ vnd Ritterlichen thaten eines Grauen
Tochter vberkam/ allen jungen knaben sich der tugendt zubefleissen fast [=
sehr] dienstlich zu lesen (1557). Erzählt wird die Geschichte des Hirtensohnes
Lewfrid, der, in einer Kaufmannsfamilie gut erzogen, als Küchenjunge in den
Dienst des Grafen von Merida tritt und durch seine Begabung rasch am Hofe
Karriere macht. Als seine Liebe zur Grafentochter Angliana ruchbar wird,
trachtet ihm deren Vater nach dem Leben. Lewfrid verlässt den Hof, tritt in
den Dienst des Königs, bewährt sich durch seine Tapferkeit im Kriege, wird
zum Ritter geschlagen, rettet schließlich noch dem Vater Anglianas, der das
Opfer eines Raubüberfalls wird, das Leben und erringt so, bewährt durch
Können und Tapferkeit, die Hand der Geliebten. In den Text eingestreute
Belehrungen und moralische Reflexionen empfehlen den jungen Lesern Ge-
horsam gegen die Eltern, Ehrfurcht vor ihnen, Freundestreue und Beschei-
denheit, Güte und Hilfsbereitschaft gegen Arme und Gottesfurcht. Zu den im
bürgerlichen Milieu angesiedelten Werken zählt der Prosaroman Von guten
vnd bösen Nachbaurn (1556), der von den Schicksalen einer erst in Antwer-
pen, später in Lissabon ansässigen Kaufmannsfamilie berichtet. Anknüpfend
an die verschiedenen Ereignisse, die das Abenteuerliche betonen und Span-
nungsmomente (u. a. Mordanschläge, Verkauf in die Sklaverei, Raubüberfall)
in den Vordergrund spielen, werden die jungen Leser ermahnt, den Eltern
und Lehrherren gehorsam zu sein, sich vor allem auf Reisen vor schlechter
Gesellschaft zu hüten, bescheiden zu sein, die Zunge im Zaum zu halten, sich
Bediensteten gegenüber höflich zu verhalten usw.
»Der Jungen Knaben Anders als etwa dem beliebten Goldtfaden, den 1809 noch Clemens Bren-
Spiegel« tano bearbeitete, war dem Nachbaurn-Roman mit nur einer weiteren Auflage
kein Erfolg beschieden. Bekannter, auch bedeutender ist der zwei Jahre zuvor
(1554) erschienene andere ›bürgerliche‹ Prosaroman Wickrams, ein von dem
zentralen reformatorischen Thema des verlorenen Sohnes ausgehender Erzie-
hungsroman in der Form einer didaktischen Beispielerzählung mit dem Titel
Der Jungen Knaben Spiegel. Ein schön Kurztwyligs Büchlein/ Von zweyen
Jungen Knaben/ Einer eines Ritters/ Der ander eines bauwren Son/ würt in
diesen beiden fürgebildt/ was grossen nutz das studieren/ gehorsamkeit gegen
Vatter und Muter/ schul und lermeistern bringet/ Hergegen auch was grosser
geferligkeit auß dem widerspyl erwachsen/ die Jugent darin zu lernen/ und zu
Erzählende Literatur 33
einer warnung für zuspieglen. Das Werk will, wie bereits der Titel andeutet,
unterhalten und vor allem anhand kontrastierender Exempel sittlich-mora-
lisch belehren und die jungen Leser vom Nutzen von Fleiß und Gehorsam
überzeugen, sie vor dem Gegenteil und seinen schlimmen Folgen warnen und
sie bewegen, dem positiven Beispiel nachzueifern. Erzählt wird die Geschichte
des adeligen Wilbald, der unter dem Einfluss des bösen Metzgersohns Lota-
rius, der schließlich am Galgen endet, auf die falsche Bahn gerät, verarmt, ins
Elend sinkt und schließlich, veranlasst durch seinen bürgerlichen Ziehbruder
Fridbert, dessen Fleiß durch Betreuung mit höchsten Ämtern belohnt worden
ist, reumütig nach Hause zurückkehrt, wo er – der Aufsicht Fridberts unter-
stellt – durch anhaltenden Fleiß und innere Umkehr die Gunst des preu-
ßischen Hochmeisters erringt. Dieser verheiratet ihn schließlich mit einer
reichen, adelig geborenen Kaufmannswitwe und ernennt ihn zu einem »ob-
risten Hoffmeister des gantzen hoffs zu Preüssen«. Am Beispiel Wilbalds und Soziale Mobilität
seiner positiven Antipoden Fridbert und Felix, des jungen Erziehers der bei- und bürgerliches
den Ziehbrüder, verdeutlicht Wickram, dass nicht Geburt und Stand eines Aufstiegsdenken
Menschen entscheidend sind, sondern die eigene Tüchtigkeit und die Leis-
tung, die er als nützliches Glied der Gesellschaft erbringt. Die Monopolstel-
lung des Geblütsadels verliert dadurch ihre Gültigkeit, gefordert ist vielmehr
soziale Mobilität, gestützt auf das Recht des Einzelnen, seinen Platz im ge-
sellschaftlichen Gefüge aufgrund eigener Anlagen und Neigungen und seiner
sich in Leistung und Erfolg manifestierenden gesellschaftlichen Nützlichkeit
selbst zu finden. Grundbedingung des sozialen Aufstiegs des Bürgerlichen ist
der Erwerb umfangreichen Wissens, das erst den Weg zu Ämtern und Ehren
öffnet, wie der junge »Pedagoge« Felix den kleinen Fridbert belehrt: »ge-
denck was dir nutz sey/ vnd hang nit böser geselschaft nach/ biß in deiner
lernung geflissen/ so magstu noch zu hohem stand kummen/ on angesehen
deiner nidrigen geburt.« Der soziale Aufstieg setzt jedoch nicht nur Leistung
und Erfolg des Bürgerlichen voraus, sondern auch seine Bereitschaft, die
überlieferte ständische Ordnung anzuerkennen und sich ihr widerspruchslos
einzupassen. Wie grundlegend Arrangement und Anpassung sind, wird im
Knaben Spiegel deutlich an den Konvenienzehen, die Fridbert und Felix auf
Veranlassung ihres Herrn einzugehen haben.
In vielem ist Wickrams Erzählkunst früheren Vorbildern verpflichtet. Am
deutlichsten tritt dies wohl in einem Exempelbuch zutage, das er – in Anleh-
nung übrigens an den Ritter vom Turn – für die Söhne eines Colmarer Stadt-
meisters schrieb und 1556 veröffentlichte: Die Siben Hauptlaster/ sampt jren »Die Siben
schönen früchten vnnd eygenschafften. EJn schönes vnd kurztweiliges Hauptlaster«
Büchlin/ Jnn welchen begriffen werden die Siben Hauptlaster/ sampt jhrem
vrsprung/ was grosser geferligkeit aus einem yeden entsprungen/ vnd noch
erwachsen mügen. Durch schöne alte Exempel vnd Historien angezeigt. Die
55 Exempel, für die Wickram außer der Bibel u. a. Josephus, Herodot, Plut-
arch, Cicero, Petrarca und Erasmus als Vorlage benutzte, sind nach dem
Ordnungsschema der Hauptsünden Hoffart, Geiz, Neid, Zorn, Völlerei,
Trägheit und Unkeuschheit arrangiert und wollen der »weichen zarten ju-
gendt« Unterhaltung und Belehrung bieten. Das Ganze ist nach Anspruch,
Aufbau und Aussage höchst konventionell und in der Durchführung ohne
originelle Züge. Auch in seinen übrigen Prosawerken bedient sich Wickram
zum großen Teil überlieferter Motivik, herkömmlicher Erzähltechniken und
auch des bekannten Formelrepertoires. Besonders im Knaben Spiegel aber Wickrams neuer
wird die allmähliche Abkehr vom traditionellen linearen Erzählstil der Pro- Erzählstil
saromanhistorien – die einsträngige Aneinanderreihung von Erzählgliedern
zu einer schlichten, auf das Geschehensergebnis ausgerichteten Kette, deren
34 Mittelalter und frühe Neuzeit
Fénelon: Die Begeben- Mann.« Durch seine meist pädagogisierenden Anmerkungen hebt Neukirch
heiten der Prinzen von das allgemein erzieherische Anliegen des Werks hervor, so dass es in seinen
Jthaca. Kupferstichfron- Aussagen nicht auf die Prinzenerziehung beschränkt bleibt – obwohl Neu-
tispiz von Charles Nicolas
kirch die Übertragung während seiner Tätigkeit als Erzieher des Erbprinzen
Chochin d. Ä. nach
Sébastien Leclerc.
Karl Wilhelm von Ansbach bewerkstelligte –, sondern ganz allgemein als
Ansbach 1727 Handleitung zur richtigen Erziehung der Jugend begriffen werden kann.
Noch deutlicher wird diese Tendenz in der Übertragung des Pietisten Philip
Jakob Bidermann: Utopia. Balthasar Sinold von Schütz, die nicht nur Fürstenspiegel, sondern vor allem
Kupferstichfrontispiz mit allgemeine Tugend- und Lebenslehre sein soll (Die seltsame Begebenheiten
der »wahrhaften des Telemach, 1741). Neben diese beiden Rezeptionsmodelle des Fénelon’-
Darstellung Utopias«. schen Romans tritt ein drittes, das schließlich im 19. Jh. zum einzigen werden
Dillingen 1670 sollte: Telemach als Schulbuch. Die wohl am meisten verbreitete Telemach-
Schulausgabe stammt aus dem Jahre 1732 und wurde von Josef Anton von
Ehrenreich besorgt (Les avantures de Télémaque, fils d’Ulysse). Das Werk
stellt eine Sprachlehre für junge Leute dar. Daneben spielt aber auch die
moralische Unterweisung eine wichtige Rolle. Der Schüler soll nicht nur die
französische Sprache lernen, sondern auch die »darinnen enthaltene sehr
nützliche und Lehr=reiche Moralien, sich bekannt machen, explicieren, auch
vollkommen verstehen und verteutschen«. Zum besseren Verständnis ist
dem französischen Text eine Fülle von Vokabelübersetzungen, grammatika-
lischen Erklärungen und sprachlichen Erläuterungen beigegeben, ergänzt vor
allem um Bemerkungen zur antiken Mythologie. Noch grundlegender viel-
leicht als die Wirkung des Telemach als Fürstenspiegel, Erziehungslehre und
Schulbuch waren die Anregungen, die von der formalen Gestaltung des
Fénelon’schen Romans ausgingen. Seine Erzieher-Zöglings-Konzeption gab
Erzählende Literatur 37
tik und das Respektieren des Üblichen und mahnen zur Beachtung von Er-
fahrungen zum eigenen Nutzen. Grundlegend für die Geschichte der Fabel
als literarische Gattung ist auch die lateinisch-deutsche Sammlung des Früh-
humanisten Heinrich Steinhöwel, die erstmals um 1476/77 gedruckt wurde
und unter dem Titel Vita et fabulæ Aesopi (»Leben und Fabeln Aesops«) ge-
führt wird. Ihre Bedeutung liegt vor allem darin, dass Steinhöwel erstmalig
ein Korpus von Fabeln und Schwänken verschiedener Autoren zusammen-
stellte, das in dieser Form die Grundlage für die meisten späteren – auch au-
ßerdeutschen – Fabelsammlungen unter dem Namen Aesops wurde. Gering-
fügig gekürzt, wurde der Steinhöwel’sche Aesop der Urtyp insbesondere für
die zahlreichen Aesop-Ausgaben für die Jugend, wie sie bis weit in das 18. Jh.
hinein gedruckt wurden.
Die literarischen Fabelsammlungen bis zum Ende der 1580er Jahre sind
charakterisiert durch die Verwendung der deutschen Sprache, die reiche Il-
lustrierung, die weitgehende formale Stabilisierung des didaktischen Aufbau-
schemas (Überschrift, Illustration als eidetische Unterweisungshilfe, Fabeler-
zählung und Pro- oder Epimythion) und die Einbettung der Fabel in Sprich-
wörter, Gleichnisse, Exempel und volkstümlich-schwankhafte Formen mit
lehrhaftem Anliegen. Die Nähe zum Schwankhaften belässt der Fabel noch
ein – neben der schulischen Zweckbindung – weiteres dominantes Merkmal:
mündlich vorgetragen zu werden. Luther (Etliche Fabeln aus Esopo, gedruckt
1557) denkt dabei daran, dass der Hausvater die Fabel abends zur nützlichen
Kurzweil »Weib/ Kind/ Gesind« vorzulesen und sie ihnen auszulegen habe,
um sie »zu warnen vnd vnterweisen auff jr zukünfftiges Leben vnd Wandel«
und so durch die »lüstige Lügenfarbe« zur Wahrheit zu betrügen. Die Nähe
zur häuslichen Katechese und zur Bibelunterweisung der ›Hausgemeinde‹ ist
offenkundig, und so stellt denn auch Luther die Weltweisheit der Fabel in
Analogie zur Wahrheit der Heiligen Schrift. Die Fabelauslegungen des 16.
Jh.s laufen jedoch nicht primär auf ethische Unterweisung hinaus, die Fabel
will vielmehr Spiegel des Weltlaufs sein und Verhaltensbeispiele und Vor-
bilder für zweckmäßiges, das heißt vor allem auch: erfolgreiches Handeln
bieten. Sie gibt Belehrungen, Verhaltens- und Klugheitsregeln für das tägliche
40 Mittelalter und frühe Neuzeit
Leben und will z. T. die Augen öffnen über die wahren Verhältnisse der
menschlichen Gesellschaft, gesehen im Spannungsgefüge zwischen Oben und
Unten. Erasmus Alberus benutzt in seiner Sammlung Etliche fabel Esopi
(1534), in einer erweiterten Fassung 1550 als Das buch von der Tugent vnd
Weißheit erschienen, die Fabel als zusätzliches Bildungsmittel, indem er ihr
ausführliche Schilderungen seiner hessischen Heimat beifügt, um so geogra-
phische Kenntnisse zu vermitteln und die Realitätsfiktion der Fabel zu erhö-
hen. Seine zeitnahen religiös-politischen Polemiken weisen die Fabel, die den
»einfeltigen« und dem »albern [= schlichten, naiven] volck« zur Besserung
dienen soll, zugleich als reformatorisches Kampfinstrument aus. Als umfang-
reichste und zugleich letzte bedeutende Fabelsammlung des 16. Jh.s gilt der
Esopus des zum Luthertum konvertierten ehemaligen Franziskaners Burk-
hard Waldis (1548). Die Fabeln, in Reimform gehalten, sind bei aller Beto-
nung des Lehrhaften – die Moral wird häufig in Form eines Sprichworts
präsentiert – von großer sprachlicher Bildhaftigkeit und manchmal derber
Komik; den Unterhaltungswert steigert Waldis, indem er die Fabelszene
durch Lokalisierung in deutschen Landschaften in die Gegenwart rückt, und
die Distanz zum Leser verringert er, indem er sich selbst, Persönliches und
Biographisches mit ins Spiel bringt. Ganz neu ist vor allem die Adressierung
der Sammlung: Waldis betont, er habe sein Werk nicht herausgegeben für
»die gelerten/ vnd die es besser können«, sondern für »die liebe jugent/ kna-
ben vnd jungfrawen zu dienste vnd fürderung«. Auf dem Höhepunkt ihrer
Verbreitung, in der Hochzeit des reformatorischen Fabelgebrauchs wird da-
mit die Fabel ihres allgemeinen Belehrungsanspruchs entkleidet und in ihrer
Wirkungsabsicht auf ein exklusiv jugendliches Publikum eingeschränkt.
Stagnation der Doch diese Entwicklung dürfte nicht der vorrangige Grund sein, weshalb
Fabeldichtung nach Waldis’ Esopus bis hin zu den neuen Sammlungen ›moralischer Fabeln‹
im Barock der Aufklärungszeit – beginnend mit Daniel Stoppes Neue Fabeln oder mo-
ralische Gedichte (2 Teile, 1738 und 1740) und Daniel Wilhelm Trillers Neue
Aesopische Fabeln (1740) – kaum nennenswerte Neudichtungen zu verzeich-
nen sind und die Verbreitung des Fabelgebrauchs ganz allgemein stark zu-
rückgeht, sieht man von den dem Sprachunterricht dienenden – immer noch
zahlreichen – Schulausgaben und dem Einsatz der Fabel als veranschauli-
chendes Exempel in der Barockpredigt (vor allem bei Abraham a Sancta
Clara) einmal ab. Zwar spielt für die Minderbewertung, ja Verachtung der
Fabel in der Barockzeit auch deren vermeintlicher Exklusivbezug auf »Kin-
der und alte Weiber« (so Harsdörffer, der allerdings 1650 selber eine Fabel-
sammlung, Nathan und Jotham, herausgab) und »sonderlich den gemeinen
Pövel« (Opitz) eine Rolle, doch die Gründe dürften tiefer liegen. Genannt
werden neben der nicht zeitgemäßen anti-elitären Wendung der Fabel ›an die
Masse‹ vor allem ihre schlichte Form, die ebenfalls dem Zeitgeschmack ent-
gegensteht, der Widerstand der lutherischen Orthodoxie, den Fabelgebrauch
– wie bei Alberus – mit dem Hinweis auf die Gleichnisreden Jesu zu rechtfer-
tigen, aber auch die Sättigung des Marktes durch hohe Auflagenzahlen der
bekannten Sammlungen. Gravierender dürfte sein, dass sich das Literaturbe-
dürfnis wandelt: Nicht die statische Lehre der an sich zeitlosen Fabel ist mehr
gefragt, sondern die Befriedigung eines neuen Informations- und Nachrich-
tenbedürfnisses, das in den sogenannten ›neuen Zeitungen‹, den Flugblättern,
den Kalender- und Wundergeschichten seinen Ausdruck findet. Die Konse-
quenz dieser Entwicklung ist, dass die Fabel bis hin zu ihrer großen Renais-
sance im aufklärerischen 18. Jh. im Wesentlichen wieder auf den engen Wir-
kungskreis der Schule eingeschränkt wird, aus dem sie seit der Mitte des 14.
Jh.s herausgetreten war.
Erzählende Literatur 41
Die Blüteperiode der Fabel im Reformationszeitalter ist zugleich, leicht Das Tierepos
zeitversetzt, diejenige einer der Fabel verwandten Gattung: des Tierepos. In
die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur ist weniger der berühmte
Reineke Fuchs eingegangen – er kam erst spät in Fassungen für die Jugend
heraus, sieht man einmal von den von Hartmann Schopper besorgten latei-
nischen Schulausgaben ab, die ab 1567 zahlreiche, später mit dem spre-
chenden Vortitel Speculum vitae aulicae (= »Spiegel des Hoflebens«) verse-
hene Auflagen erlebten (u. d. T. Opus Poeticum de admirabili fallacia et astu-
tia Vulpeculae Reinikes) – als vielmehr der Froschmeuseler des Magdeburger
Schulrektors, Pädagogen und Predigers Georg Rollenhagen. Der Frosch- Rollenhagens
meuseler, zuerst 1595 erschienen, ist eine erweiternde Umbildung und Di- »Froschmeuseler«
daktisierung der fälschlich Homer zugeschriebenen Ilias-Parodie Batracho-
myomachia (»Froschmäusekrieg«), die bis weit in das 19. Jh. hinein in zahl-
reichen – für den Griechischunterricht bestimmten – Schulausgaben verbreitet
war und noch einmal 1637 von dem Jesuiten Jakob Balde mit deutlichen
Bezügen zum Dreißigjährigen Krieg in einer lateinischen Fassung für die
studierende Jugend als Ersatz für den »erotischen Schnickschnack« seiner
Zeit bearbeitet wurde. Rollenhagen hat die 800 Verse zählende Epenparodie
zu einer ca. 20 000 Verse zählenden umfassenden Klugheitslehre für die Ju-
gend des gebildeten Mittelstands überformt, in deren beiden ersten Büchern
sich der Mäuseprinz Bröseldieb und der Froschkönig Bausback in langen
Monologen über die richtige Führung des bürgerlichen Lebens und das rich-
tige Staatsregiment auslassen, bevor im dritten Buch der Kampf der Mäuse
und Frösche geschildert wird. Rollenhagens Bestreben ist es, mit dem Frosch-
meuseler eine »Contrafactur dieser vnser zeit« zu liefern und Modelle zur
anschauenden Erkenntnis von Handlungsregeln zur Verfügung zu stellen.
Das Ziel ist auch bei ihm das Erkennen des »Weltlauffs«, den man im
Froschmeuseler »als im Spiegel« sehen könne. Das Erkennen des »Welt-
lauffs« richtet sich im Wesentlichen auf drei Ziele:
» [...] lehret wie man sol Haußhalten/
Vnd Weltlich Regiment verwalten.
Was rahtsam sey in Kriges noth.
Vnd das der außgang stehe bey Gott.«
Ganz in der Tradition der allegorischen Homerauslegung stehend, will Rol- Der Scherz als Mantel
lenhagen diese Lehre als bildliche Rede vortragen. Sein Froschmeuseler, so der ›bitteren Wahrheit‹
Rollenhagen, sei daher »voller Fabulen vnd Mehrlein/ aber also/ das mit
denselbigen als in einer Comoedien, die reine lautere/ vnd sonsten wie man
sagt/ bittere warheit Poetischer weise vermummet/ vnnd in einer frembden
Personen Namen/ auff den Schawplatz gefuhret/ vnd der rechte ernst/ im
schertz vnd mit lachendem munde/ ausgesprochen/ vnd beschrieben wird«.
Die unterhaltenden Momente des Werks sind für Rollenhagen jedoch ledig-
lich Vehikel der Belehrung, wie bereits seine Eindeutschung der Maxime des
Horaz zeigt: »Poeten wollen schertz verehren// Vnd damit etwas nutzlichs
lehren.« Die didaktisierende Erweiterung der Ilias-Parodie führt im Frosch-
meuseler zu einem Zwittercharakter: In seinen didaktischen Passagen ist er
mit teilweise satirischen Zügen ausgestattete Zeitkritik und zum richtigen
individuellen und gesellschaftlichen Handeln anleitende Klugheitslehre, in
den aus der Batrachomyomachia entlehnten Handlungssträngen steht er da-
gegen ganz in der Tradition des komischen Epos und damit der an die studie-
rende Jugend adressierten komischen Tierdichtung. Rhetorisch brillant
komponiert, bietet der Froschmeuseler nicht nur unterhaltsamen Lesestoff –
vor allem Rollenhagens vergnüglich-ironisches Spiel mit den klassischen
42 Mittelalter und frühe Neuzeit
Georg Rollenhagen:
Froschmeuseler. Hand-
kolorierter Titelholz-
schnitt. Magdeburg 1596
Formen und Motiven in den aus der Ilias-Parodie entlehnten Passagen ist
auch für den heutigen Leser immer noch reizvoll –, sondern zeichnet wie in
einem Vexierspiegel auch ein späthumanistisch gefärbtes Bild des ausge-
henden 16. Jh.s: Rollenhagen schildert den »Weltlauff« nicht nur so, wie sich
die Welt darstellt, sondern er nutzt die Abkonterfeiung einer korrumpierten
Welt zugleich als individuellen Sünden- und umfassenden Gesellschaftsspie-
gel, der dem Leser vorgehalten wird, um ihn hinzuführen zur Erkenntnis des
Richtigen, Gottgewollten, Ordo-Gemäßen, vor allem aber: seiner selbst. Der
Mensch, der in den Spiegel sieht und ein Tier erblickt, erkennt im Frosch-
meuseler seine eigene lächerliche und verkehrte Natur. Gleichsam unter ent-
gegengesetzter Gestalt soll er durch das Lachen zur Selbsterkenntnis geführt
werden.
Durch diese Erkenntnisfunktion sieht Rollenhagen den didaktischen Wert
seiner Dichtung auch für die Jugend begründet; so empfiehlt er seinen
Froschmeuseler geradezu als Lektüreersatz für den Eulenspiegel »oder auch
andere Schandbücher/ der Pfaff vom Kalenberg/ Katziporus/ Rollwagen/
etc.«, für die als Jugendlektüre beliebten und nur auf Unterhaltung abzielen-
den ›Volks-‹ und Schwankbücher mithin. Zwei Formen der Bearbeitungen
des Froschmeuseler, der in der Originalfassung noch bis 1730 häufig ge-
druckt wurde, kennzeichnen treffend die Unterschiede zwischen der älteren
und neueren Kinder- und Jugendliteratur: 1627 veröffentlichte Johann von
Spornberg seine Flores Froschmeuseleriani, mit der er der Jugend eine Blü-
tenlese ausgesuchter Sittensprüche, Sentenzen und Moralen aus Rollenha-
gens Tiereops bot, um sie so, unter Vernachlässigung des unnötigen Beiwerks,
direkt auf den Kern der nützlichen Lehre des Werks zu stoßen. Ab Beginn des
19. Jh.s erschienen dann – bis 1924 – Auswahlbearbeitungen unter gänzlich
anderen Vorzeichen: Nicht mehr die Lehre des Rollenhagen’schen Werkes
war gefragt, sondern einzig seine unterhaltenden und belustigenden Teile
waren von Interesse, und so bieten denn diese Fassungen im Kern nur Aus-
züge aus dem dritten Buch mit der erheiternd-komischen Erzählung des ›Ti-
tanenkampfes‹ zwischen den einander wacker abmordenden Mäusen und
Fröschen.
43
Aufklärung
Reiner Wild
In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s veränderte sich das literarische Leben in Veränderungen im
Deutschland tiefgreifend. Die Buchproduktion stieg sprunghaft an; ihre Zu- literarischen Leben
sammensetzung veränderte sich. Während der Anteil theologischer Schriften
zurückging, weitete sich der Bereich der ›schönen Wissenschaften‹, wozu
auch die Literatur zählte, beträchtlich aus, ebenso der Bereich der pädago-
gischen Literatur und in ihm der Anteil der Literatur für Kinder. Für einige
Zeitgenossen war diese Zunahme eine eher erschreckende Erfahrung; so
spricht Friedrich Gedike 1787 von der »Büchermacherei für die Jugend«, die
»wie die Flut des Meers eine zahllose Menge Bücher [...] ans Ufer« spüle.
Der mit der Metapher erweckte Eindruck, es habe eine überwältigende Zahl
von Büchern für Kinder gegeben, ist allerdings zu relativieren. Im gesamten
18. Jh. dürften wenig mehr als dreitausend Bücher für Kinder erschienen
sein, die Schulbücher mitgerechnet. Gegen Ende des Jahrhunderts machte die
Literatur für Kinder etwa anderthalb bis zwei Prozent der Gesamtproduk-
tion aus; heute beträgt der Anteil, ohne Schulbücher, etwa fünf Prozent.
Gleichzeitig veränderten sich Verlagswesen und Buchhandel. Die traditio-
nellen Formen der Herstellung und Verteilung von Büchern wurden durch
modernere, kapitalistische abgelöst; Verlagswesen und Buchhandel wurden
kommerzialisiert. Die Zahl der Autoren nahm beträchtlich zu; da literarische
Tätigkeit weitgehend eine männliche Domäne war, blieb die der Autorinnen
allerdings weiterhin gering. Zugleich veränderte sich der soziale Status der
Autoren; sie wurden zu ›freien Schriftstellern‹, die für den literarischen Markt
produzierten und von dessen Gesetzen abhängig waren. Auch im Publikum
gab es Veränderungen; neue Leserschichten wurden erschlossen. Literatur
wurde zum zentralen Medium der Information, der Verständigung, der Kri-
tik und zu einem immer wichtiger werdenden Medium der Erziehung; es
bildete sich eine literarische Öffentlichkeit. Zugleich veränderte sich das Le-
severhalten. Bis weit ins 18. Jh. war es üblich, nur wenige Bücher, voran die
Bibel und religiöse Schriften, und diese immer wieder zu lesen. Allmählich Leseverhalten
wurde diese ›intensive Lektüre‹ durch ein anderes Leseverhalten, die ›exten-
sive Lektüre‹, abgelöst: Es wurde zur Regel, immer neue Bücher und Schriften,
diese aber nur einmal zu lesen.
Allerdings konnte auch am Ende des 18. Jh.s der größte Teil der Bevölke-
rung noch kaum lesen. Erst in dieser Zeit beginnt, mit der allmählich sich
durchsetzenden Schulpflicht, der Prozess der allgemeinen Alphabetisierung.
Zwar gibt es zunehmend Bemühungen, auch den unteren sozialen Schichten
die Literatur zu erschließen, gelesen aber wird im 18. Jh. im Wesentlichen
vom Bürgertum (und vom Adel). Die genaue Bestimmung von ›Bürgertum‹,
›Bürger‹ oder ›bürgerlich‹ im 18. Jh. bereitet allerdings einige Schwierigkeiten. Die Bürgerlichen
Sie ergeben sich vor allem daraus, dass diese Zeit eine Epoche des Übergangs
44 Aufklärung
den Degen heraus; und thut, als ob er mit jemanden spräche.) Ah! ich glaube,
Bürschchen, du moqirst dich? – Wart, ich will dir geben, was dir gehört – (er
flankirt mit dem Degen umher,) hier eins – da eins – Ritz, Ratz, Ritz, Ratz –
Du willst dich wehren? stirb Canaille = = = «. Zur Geburtstagsfeier sind vier
bürgerliche Knaben eingeladen; Ludwig provoziert sie durch barsche Reden,
in denen er den Standesunterschied herausstreicht. Dagegen verhalten sich
die Besucher höflich und entgegenkommend, weisen allerdings die Provoka-
tionen Ludwigs zurück. Schließlich nennt ihn einer der Besucher ein »unge-
hobeltes, unbescheidenes Junkerchen, das sich mehr einbildet, als es ist«. Es
kommt zu dem von Ludwig gewünschten Eklat, der für ihn jedoch zum
Reinfall wird: »Ludwig. Wart! ich will Euch Jungen = = = (er zieht den Degen
heraus, und statt der Klinge steckt eine Truthahnsfeder drinnen. Er steht wie
versteinert: die Knaben aber fangen ein lautes Gelächter an, umgeben ihn,
und zischen ihn aus)«. Der Vater, der den Degen mit der Feder vertauscht
hatte, verweist Ludwig auf sein Zimmer und schenkt den Degen einem der
Besucher: »Sie sind ein braver junger Mensch, und verdienen eher ein solches
Ehrenzeichen zu tragen, als dieser«. Nicht durch adlige Geburt, sondern
durch das Verhalten wird das ›Ehrenzeichen‹ erworben; dies hatte der Vater
– immerhin selbst ein Adliger! – schon am Beginn des Schauspiels gesagt:
»Mir sind gemeine Jungen nur die, die gemein denken, und niederträchtig
handeln; [...] und so ist mancher Junker der gemeinste Junge, und mancher
gemeine Knabe seinen Verdiensten nach ein Junker.« Trotz der deutlichen
Kritik an adligem Standesdünkel wird die ständische Ordnung nicht in Frage
gestellt. Ihr wird aber eine Werteordnung entgegengesetzt, die an den »Ver-
diensten« des Einzelnen orientiert ist. Sie ist der Maßstab, an dem das Ver-
halten des Einzelnen gemessen und sein ›Wert‹ abgelesen wird.
Abgrenzung ›nach Die bürgerlichen Werte dienen gleichermaßen der Abgrenzung ›nach un-
unten‹ ten‹, von der bäuerlichen Bevölkerung und von den klein- und unterbürger-
lichen städtischen Schichten. Von ihnen grenzen sich die Bürgerlichen – wie
vom Adel – durch die Orientierung an Tugend und Moral ab, vor allem aber
durch die Betonung der eigenen (akademischen) Ausbildung und durch den
Verweis auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung, insbesondere auf den Unter-
schied zwischen körperlicher und nicht-körperlicher Arbeit. Auch diese Ab-
grenzung wird den kindlichen Lesern und Leserinnen nahegebracht. Immer
wieder wird dargestellt, wie Kinder auf Spaziergängen und Ausflügen, bei
Landaufenthalten oder auf Reisen arbeitenden Handwerkern oder Bauern
begegnen. Eines der Ziele solcher Ausflüge, schreibt Christian Gotthilf Salz-
mann, sei es, die Kinder daran zu »gewöhnen [...] mit Menschen aus allerley
Ständen umzugehen«. Vor allem sollen sie die Bedeutung der Arbeit kennen-
lernen, die von den unteren Schichten verrichtet wird. In den Reisen der
Zöglinge zu Schnepfenthal berichtet Johann Wilhelm Ausfeld von der Be-
sichtigung eines Eisenhammers; er erläutert, wo überall »bearbeitetes Eisen
nöthig« sei, und spricht dann die kindlichen Leser und Leserinnen unmittel-
bar an: »Lernt lieben Freunde, aus dieser kurzen Betrachtung den großen
Werth der niederen Stände noch mehr schätzen! Müßten wir nicht tausend
Bequemlichkeiten des Lebens, unzählige Mittel zu unserer Belehrung, zu un-
serer Ausbildung entbehren, wenn nicht Menschen da wären, die sich den
beschwerlichen, ja oft mit großer Gefahr verbundenen Geschäften unterzö-
gen, ohne die wir jene Vortheile nicht erhalten könnten?«
In der Begegnung mit den Handwerkern und Bauern sollen die bürger-
lichen Kinder nicht zuletzt ihre Abhängigkeit von deren Arbeit und damit die
Arbeitsteilung gesellschaftliche Arbeitsteilung kennenlernen. Deshalb wird ihnen auch ein-
geschärft, sich nicht über die ›niederen Stände‹ zu erheben. Insbesondere
Bürgertum und Aufklärung 47
wird auf die körperliche Arbeit der Handwerker und Bauern hingewiesen; so
beginnt Ausfeld seine Anrede an die Leser mit der Frage: »[...] ist das nicht
ein äußerst beschwerliches Geschäft, dem sich gewiß keiner von Euch, meine
jungen Leser, gern widmen möchte?« Die ›jungen Leser‹ können sicher sein,
nicht in einem Eisenhammer arbeiten zu müssen; sie erfahren in den Berich-
ten von Handwerkern und Bauern auch die Besonderheiten des eigenen Sta- Handwerker
tus in der arbeitsteiligen Gesellschaft. In die Anerkennung der handwerk- und Bauern
lichen und bäuerlichen Arbeit mischt sich deshalb Herablassung. Auf die von
ihm selbst gestellte Frage »Und wir sollen diese Menschen, unsere Wohlthä-
ter, gering schätzen?« antwortet Ausfeld: »Laßt uns vielmehr keine Gelegen-
heit versäumen, sie bey ihrem mühevollen Beruf durch freundliche Begeg-
nung, Unterstützung, guten Rath aufzuheitern; laßt uns ihnen den verdienten
Lohn der Arbeit nicht aus Kargheit schmälern«. Er spricht von den »man-
cherley Mängeln«, die bei diesen »Menschen« zu »entdecken« seien, ermahnt
jedoch seine Leser, »dieselben mit Schonung« zu beurteilen und zu bedenken,
dass die Handwerker und Bauern »in der Jugend nicht die gute Gelegenheit
hatten sich auszubilden, wie Ihr sie genießt«. Erziehung und Ausbildung sind
Merkmale, in denen sich die Bürgerlichen nach ihrem Selbstverständnis von
den ›niederen Schichten‹ unterscheiden; nicht zuletzt wird damit die Tren-
nung zwischen körperlicher und nicht-körperlicher Arbeit legitimiert. In der
Begegnung mit Handwerkern und Bauern erfahren die bürgerlichen Kinder
diese Trennung als Auszeichnung ihres sozialen Status.
Zu den ›niederen Schichten‹ gehören auch die Armen und Bedürftigen. Die Arme und Bedürftige
Einstellung zu ihnen ist ein gewichtiges Thema der Literatur für Kinder. Ge-
fordert werden Mitleiden und Wohltätigkeit. In zahlreichen Texten wird
dargestellt, wie Kinder sich in diesen im Wertekanon der Bürgerlichen des
18. Jh.s sehr hoch angesiedelten Tugenden üben, etwa auf ihr Taschengeld
verzichten, oder es wird erzählt, wie Kinder, die sich der Wohltätigkeit ver-
weigern, mit nicht selten harten Sanktionen belegt werden. In dem Kinder-
schauspiel Der ungezogene Knabe von Weiße wird der Knabe Ludwig, der
einem armen Musikanten jede Hilfe verweigert, ihm den Kuchen wegisst,
den er von anderen Kindern erhalten hatte, und schließlich gar die Geige
zerbricht, vom Vater aus dem Hause gewiesen und »einer strengern Zucht«
überstellt, um »Zeit zur Besserung [zu] haben«. Wohltätigkeit ist für die
Bürgerlichen soziale Verpflichtung. In Weißes Kinderfreund sagt der Vater
der Rahmenhandlung den Lesern und Leserinnen, dass er in ihnen »Men-
schen zu sehen hoffe, die Gott zu Ehren, ihren Aeltern zur Freude, ihren Ne-
benmenschen zum Nutzen, und sich selbst zur Glückseligkeit leben werden«.
Mitleid mit den Armen und Wohltätigkeit sind Ausdruck der Bereitschaft,
dem ›Nebenmenschen zum Nutzen‹ zu leben; wer dieser sozialen Verpflich-
tung nicht folgt, verstößt gegen seine eigene Menschlichkeit, hört – wie der
›ungezogene Knabe‹ Ludwig – gewissermaßen auf, ein Mensch zu sein, und
schließt sich selbst aus der Gesellschaft aus. Die hohe Bedeutung der Wohltä- Mitleid und
tigkeit wird am Leipziger Wochenblatt für Kinder von Johann Christoph Wohltätigkeit
Adelung, der ersten deutschen Kinderzeitschrift, erkennbar. In ihr wird zu
Spenden aufgerufen, mit denen im von den Missernten der Jahre 1771 und
1772 stark betroffenen Erzgebirge ein Waisenhaus eingerichtet werden soll.
Die Aktion, über die in der Zeitschrift ausführlich berichtet wird, ist erfolg-
reich; in den zwei Jahren, in denen die Zeitschrift erscheint, werden knapp
900 Taler gesammelt (die monatlichen Kosten für die Unterbringung und
Verpflegung eines Kindes im Waisenhaus betrugen etwa 2 Taler). Wie bei den
Berichten von Handwerkern und Bauern wird den bürgerlichen Kindern
auch in der Darstellung wohltätiger und mitleidender Haltung zu den Armen
48 Aufklärung
Pädagogik
Im 18. Jh., das oft auch das ›Jahrhundert der Pädagogik‹ genannt wurde,
wird die Erziehung als eigenständige Wissenschaft ausgebildet. Die Erörte-
rung pädagogischer Grundsätze ist ein wichtiger Bestandteil der öffentlichen
Diskussion über Aufklärung, nicht zuletzt deshalb, weil darin anthropolo-
gische Grundvorstellungen zur Sprache kommen. Die in der ersten Hälfte
des Jahrhunderts entwickelten pädagogischen Vorstellungen lassen sich als
›rationalistische‹ kennzeichnen – wobei ›Rationalismus‹ in Unterscheidung
von sensualistischen Tendenzen die in Deutschland dominante Tendenz von
Aufklärung meint, für die die logische Ableitung aus Begriffen Vorrang vor
der sinnlichen Erfahrung hat und deshalb richtige Erkenntnis nur gegeben
ist, wenn die Erfahrung unter Begriffe subsumiert werden kann. Von maß-
geblichem Einfluss war der englische Philosoph John Locke, dessen 1693
erschienener Essay Gedanken über Erziehung (Some Thoughts Concerning
Education) ein Grundbuch aufgeklärter Pädagogik war; eine nicht geringe
Rolle spielte auch der französische Theologe und Prinzenerzieher François
Fénelon und sein 1699 erschienener ›Erziehungsroman‹ Les aventures de
Telemaque. Für Locke bedarf die Vernunft, die er nicht nur als Erkenntnis-
vermögen, sondern zugleich als Instanz der Tugend versteht, der systemati-
schen Ausbildung und Übung; deshalb ist bei Kindern, deren Eigenart Locke
vor allem darin sieht, noch ganz von ihren Trieben und von den Sinnen be-
herrscht zu sein, eine frühe Erziehung der Vernunft und zur Vernunft erfor- Erziehung zur Vernunft
derlich. Diese Vorstellungen werden in Deutschland – gegen den sensualisti-
schen Ausgangspunkt Lockes – mit der rationalistischen Erkenntnistheorie
verbunden, für die sich der Erkenntnisprozess in einer geordneten Stufen-
folge, von verworrenen Vorstellungen hin zu klaren und deutlichen Begriffen,
vollzieht. Diese Stufenfolge der Erkenntnis wird gewissermaßen auf die Aus-
bildung der Vernunft beim Kind übertragen. Die Konsequenzen sind eine
frühe Vermittlung umfassender Kenntnisse und eine frühe Vernunfteinübung,
die darauf ausgeht, den Kindern die ›richtigen‹ Begriffe zu lehren.
Zugleich ist die Pädagogik in der ersten Hälfte des 18. Jh.s noch eng mit
der Theologie verbunden. Im Zusammenhang mit aufklärungstheologischen Theologische
Konzeptionen wird eine in ihrer Breitenwirkung nicht hoch genug einzu- Pädagogik:
schätzende Verbindung von Theologie und rationalistischer Pädagogik aus- Der Kampf gegen
gebildet, für die, neben der religiösen Unterweisung, die Einübung ›richtiger‹ das ›Böse‹
Moralbegriffe im Vordergrund steht; ein wichtiger Vertreter war Johann Pe-
ter Miller. Eine vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte stark hervortre-
tende Differenz zwischen theologisch orientierter und genuin aufgeklärter
Pädagogik liegt im unterschiedlichen anthropologischen Ausgangspunkt. In
christlicher Tradition ist die in die Erbsündevorstellung gefasste Überzeu-
gung, dass das Trachten des menschlichen Herzens böse sei von Jugend auf
(1. Mose 8,21), Basis jeder Erziehung; deshalb sei es nötig, den angeborenen
Hang zum Bösen in den Kindern zu bekämpfen. So heißt es im Vorwort des
Übersetzers Johann Gottfried Gellius der 1763 auf deutsch erschienenen,
ursprünglich englischen Sittenlehre Bibliothek für Jünglinge: »Die Untugend
in jungen Herzen bedarf eines unaufhörlichen Widerstandes«. Der Kampf
der Erzieher gilt insbesondere dem ›Eigensinn‹ des Kindes, in dem sich der
Hang zum Bösen zeige und gegen den mit Sanktionen, nicht zuletzt auch mit
körperlichen Strafen, vorzugehen sei; so stellt J. P. Miller fest, »daß ganz
kleine Kinder […] nicht ohne Ruthe vom Eigensinne, der besonders zwischen
dem dritten und vierten Jahre am stärksten ausbricht, befreyet werden kön-
50 Aufklärung
nen«. Diese Absicht wird immer wieder – so etwa von Gellius – in die altü-
berlieferte Formel gebracht, der Wille des Kindes müsse (weil er Wille zum
Bösen sei) gebrochen werden: »Alle Welt ist darinne einstimmig, daß man
der Kinder Willen brechen […] müsse, und daß man, wenn es nicht durch
gelinde Mittel dahin zu bringen ist, ohne Bedenken zu schärfern greifen
sollte«. Zur ›Kinderzucht‹, wie der gängige zeitgenössische Begriff heißt, ge-
hört deshalb die Konditionierung von Furcht: »Sie widerstreitet allem Bösen
in unsrer Seele […]. Wenn man Kindern etwas auferlegt, das ihrem Geschma-
cke entgegenstreitet, so ist die Furcht das geschickteste Mittel, diesen Befehl
Aufgeklärte Kritik an zu unterstützen«. Diesen Grundsätzen ›schwarzer Pädagogik‹ hat die aufge-
›schwarzer Pädagogik‹ klärte Pädagogik vehement widersprochen, ebenso hat sie die daraus gefol-
gerten Erziehungsmittel nachdrücklich verworfen. Sehr deutlich benennt
Salzmann im Ameisenbüchlein, einem Lehrbuch für Erzieher, den anderen
anthropologischen Ausgangspunkt aufgeklärter Pädagogik: »Der neugebo-
rene Mensch kann noch nicht gehen, und das Prinzip seiner Handlungen
sind seine Empfindungen. Was ihm angenehme Empfindungen verursacht,
begehrt, was unangenehme Empfindungen bewirkt, das flieht er. Da ist keine
Rücksicht auf Religion und Moral sichtbar«. Von einem »moralischen Ver-
derben« der menschlichen Natur, so Salzmann weiter, könne keine Rede sein;
deshalb fordert er: »Schafft die moralischen Gängelwagen und Laufzäume
ab, und der moralische Mensch wird sich eben so gut von selbst entwickeln
und erst gut, dann edel zu handeln anfangen«. Die Maxime, in die Salzmann
das Prinzip seiner Erziehungskonzeption fasst, zeigt den Unterschied zwi-
schen aufgeklärter und theologisch orientierter Pädagogik: »Man lasse daher
das Kind immer seinen eigenen Willen tun, so wird es gut werden«.
Etwa seit der Jahrhundertmitte vollziehen sich im Zusammenhang stärke-
rer Berücksichtigung sensualistischer Konzepte Veränderungen in der aufge-
klärten Pädagogik. Epochemachend wurde dann Jean Jacques Rousseaus
Jean Jacques Rousseau: Erziehungsroman Emile ou de L’Education, der 1762 erschien. Entscheidend
Natürliche Erziehung, für die enorme Wirkung waren vor allem zwei Momente: Die Konzeption
eigenständige Kindheit einer ›natürlichen‹ Erziehung, die nicht zuletzt dem Prinzip folgte, dass die
Ausbildung der Natur des Kindes, weil die Natur gut sei, notwendig – ›na-
türlicherweise‹ – zur Tugendhaftigkeit führe, und die Behauptung der Eigen-
ständigkeit des Kindes, mit der Kindheit als eine von eigenen Bedingungen
und Gesetzmäßigkeiten bestimmte Lebensphase vom Erwachsensein unter-
schieden wird. Zwar sind Pädagogik und Kinderliteratur in Deutschland den
mit radikaler Konsequenz durchgeführten Vorstellungen Rousseaus keines-
wegs vollständig gefolgt und haben konträre Konzepte entwickelt, dennoch
markiert das Erscheinen dieses Romans eine Zäsur in der Geschichte der
Pädagogik und der Kinderliteratur auch in Deutschland. Von zentraler Be-
deutung war vor allem, dass Kinder nicht mehr lediglich als kleine Erwach-
sene angesehen wurden, die möglichst früh an Kenntnisse herangeführt wer-
den sollten. Mit der Differenzierung zwischen Kindheit und Erwachsensein
veränderte sich die erzieherische Zuwendung und mit ihr die Literatur für
Kinder. Insofern lassen sich in der Entwicklung der aufgeklärten Kinderlite-
ratur in Deutschland zwei Phasen unterscheiden – eine erste, in der die kin-
derliterarische Produktion an der rationalistischen Pädagogik orientiert ist,
und eine zweite, die etwa mit der Jahrhundertmitte einsetzt, vor allem in den
70er und 80er Jahren des Jahrhunderts ihren Höhepunkt hat und nachhaltig
durch die Auseinandersetzung mit Rousseau geprägt ist.
Diese Auseinandersetzung durchzieht die pädagogische Diskussion im letz-
ten Drittel des 18. Jh.s; sie hat auch zu nicht unerheblichen Differenzierungen
innerhalb der aufgeklärten Pädagogik beigetragen. Trotz solcher Unter-
Familie und Kindheit 51
schiede lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, die in der Pädagogik der Philanthropismus
Philanthropen gebündelt sind. Der Philanthropismus, der mit Namen wie
Johann Bernhard Basedow, der 1774 in Dessau die Modellschule des Philan-
thropins gründete, Joachim Heinrich Campe, Christian Gotthilf Salzmann,
Isaak Iselin oder Ernst Christian Trapp verbunden ist, verkörpert die domi-
nante Tendenz aufgeklärter Pädagogik in Deutschland, an der sich auch ori-
entierte, wer nicht in allem mit ihren Grundsätzen und Vorstellungen über-
einstimmte. Kennzeichnend für die philanthropische Pädagogik ist die Aus-
richtung an einer zugleich vernunft- und naturgemäßen Erziehung. Die
erzieherische Zuwendung soll sich der Eigenheit der Kinder anpassen, sich
zu ihnen ›herablassen‹. Wahrnehmungsmöglichkeiten und Erfahrungshori-
zont der Kinder werden berücksichtigt; spielerische Elemente werden in den
Lernvorgang integriert. Die Ausbildung praktischer Fähigkeiten und körper-
liche Betätigung nehmen größeren Raum ein; dagegen tritt die Vermittlung
enzyklopädischer Kenntnisse zurück. Kennzeichnend ist weiter das Ziel, die
individuelle Ausbildung des Kindes mit sozialer Erziehung zu verbinden; Johann Bernhard
darin unterscheiden sich die philanthropische und überhaupt die aufgeklärte Basedow. Lithographie
Pädagogik in Deutschland von Rousseau und seinem radikal individualisti- von F. W. Wenig nach
schen Erziehungskonzept; Emile soll allein, isoliert von der Gesellschaft auf- Daniel Chodowiecki
wachsen. Die Verbindung von individueller und sozialer Erziehung prägt
auch die Pädagogik Johann Heinrich Pestalozzis, der eine eigenständige Posi-
tion innerhalb der aufgeklärten Pädagogik einnimmt und für die weitere
Geschichte von Erziehung und Pädagogik von erheblicher Bedeutung war.
Wie der Pädagogik der Philanthropen kommt auch der in ihrem Umkreis Philanthropische
entstandenen Literatur für Kinder eine beherrschende Stellung zu; sie setzt Kinderliteratur
im letzten Drittel des 18. Jh.s die Maßstäbe für kinderliterarische Bemü-
hungen in Deutschland und bildet so deren maßgeblichen Kern. Zur ge-
naueren Charakterisierung der beiden Phasen aufgeklärter Kinderliteratur in
Deutschland kann deshalb, wenn auch mit einiger Verkürzung, zwischen der
vor-philanthropischen und der philanthropischen Kinderliteratur unterschie-
den werden, wobei zudem die Letztere in mehrfacher Hinsicht als die eigent-
lich aufgeklärte Kinderliteratur gelten kann. In ihr finden die pädagogischen
und die kinderliterarischen Vorstellungen der Aufklärung ihren umfassenden
Ausdruck; die vorangehenden kinderliterarischen Bemühungen erscheinen in
dieser Perspektive eher als Vorstufen. Die Ausbildung der philanthropischen
Kinderliteratur korrespondiert mit den Veränderungen im literarischen
Markt und ist zudem mit dem gleichzeitigen Wandel in der Erwachsenenlite-
ratur verbunden. Die literarischen Tendenzen der Empfindsamkeit und dann
des Sturm und Drang bilden sich in zeitlicher Parallelität zur philanthro-
pischen Kinderliteratur aus; zwischen den Autoren, die fast alle der gleichen
Generation angehören, gibt es zahlreiche persönliche Verbindungen.
Der Wandel in der Einstellung zur Kindheit, die Veränderungen in der Päda-
gogik, ebenso die Ausbildung der aufgeklärten Kinderliteratur sind nur zu
verstehen vor dem Hintergrund des Wandels der Familie, der sich in der
Schicht der Bürgerlichen vollzieht. In ihr wird im Verlauf des 18. Jh.s die Fa-
milienstruktur ausgebildet, die dann im 19. Jh. in den europäischen Gesell-
52 Aufklärung
Wandel zur bürger- schaften zur dominanten Form der Familie wird und bis in die Gegenwart
lichen Kleinfamilie geblieben ist: die bürgerliche Kleinfamilie, die im Wesentlichen aus der häus-
lichen Gemeinschaft von Eltern und Kindern besteht und insofern als Eltern-
Kinder-Figuration bezeichnet werden kann. Sie löst die für die traditionelle
europäische Gesellschaft kennzeichnende und im 18. Jh. in den nichtbürger-
lichen Schichten fortbestehende Figuration der großen Haushaltsfamilie ab.
Die beiden Familienformen unterscheiden sich vor allem in ökonomischer
Hinsicht. Die große Haushaltsfamilie ist eine Produktions- und Erwerbsge-
meinschaft; die gemeinsame, unter den Mitgliedern aufgeteilte Arbeit bildet
ihre Basis. Zur häuslichen Gemeinschaft der Familie gehören nicht nur Eltern
und Kinder, sondern alle an der familiären Arbeit Beteiligten, die Knechte
und Mägde in der Bauernfamilie ebenso wie die Gesellen und Lehrlinge in
der Handwerkerfamilie. Dagegen ist die bürgerliche Kleinfamilie keine Er-
werbs- und Produktionsgemeinschaft; ihr Unterhalt wird nicht durch gemein-
schaftliche Arbeit der Familienmitglieder, sondern durch außerfamiliäre Tä-
Trennung von Familie tigkeit gewährleistet. Die Trennung von Familie und Beruf kennzeichnet die
und Beruf Ökonomie der modernen bürgerlichen Gesellschaft; die Ausbildung außerfa-
miliärer Berufstätigkeit gehört zu den Voraussetzungen des familialen Wan-
dels. Im 18. Jh. (und weit bis ins 20. Jh. hinein) ist außerfamiliäre Berufstätig-
keit allerdings nahezu ausschließlich den Männern vorbehalten. Damit wird
die Familie von der Berufstätigkeit des Mannes abhängig. Davon ist insbe-
sondere die Beziehung zwischen den Geschlechtern betroffen. Die bürgerliche
Frau wird zwar von Arbeit (als Erwerbstätigkeit für den Unterhalt der Fami-
lie) entlastet, zugleich jedoch auf den innerfamiliären Bereich eingeschränkt;
sie gerät in die nahezu vollständige ökonomische Abhängigkeit vom (Ehe-)
Mann. Eine weitere Folge der Trennung von Arbeit und Familie ist die Aus-
Ausgliederung des gliederung des Gesindes. Die für die bürgerliche Familie tätigen ›Dienstboten‹
Gesindes verrichten ihre Arbeit nicht mehr in der Familie und für den gemeinsamen
Erwerb, sondern im Dienst der Familie; an die Stelle der familiären Aufnahme
tritt ein Lohnverhältnis. Die Familie wird zur Eltern-Kinder-Figuration.
Mit dem Wandel der Familienstruktur verändern sich die Beziehungen
zwischen den Familienmitgliedern. Durch die Trennung von Familie und Be-
ruf wird die Familie zu einem privaten Binnenraum, der ›nach außen‹ abge-
grenzt ist. Von Arbeit entlastet, werden die Beziehungen in der Familie per-
sönlicher, intimer und emotionaler; im Binnenraum des Privaten begegnen
sich die Mitglieder der Familie – jedenfalls der Idee nach – als Menschen und
nicht, wie im öffentlichen Bereich von Staat und Gesellschaft, als Träger der
ihnen zukommenden Funktionen, als Arbeitende oder als Untertanen. Für
die Ausbildung des bürgerlichen sozialen Habitus ist dieser Sachverhalt von
kaum zu überschätzendem Gewicht. In ihm ist auch die hohe Bedeutung be- Der private
gründet, die der Darstellung der Familie in der bürgerlichen Literatur des 18. Binnenraum: Familie
Jh.s zukommt – in den Moralischen Wochenschriften, die bis zur Jahrhun- als Modell
dertmitte eine wichtige Form der Zeitschriften sind, im Drama, so in den
Komödien, die im Umkreis der Schule Gottscheds geschrieben werden, und
vor allem im ›bürgerlichen Trauerspiel‹, etwa bei Lessing, oder im Familien-
roman, der im letzten Drittel des Jahrhunderts zu einer beliebten Gattung
wird. Das familiäre Zusammenleben, das auf Vernunft und Tugend, auf Sym-
pathie, Zärtlichkeit und Mitleiden gegründet ist, wird zum Modell sozialer
Beziehungen überhaupt; die literarischen Darstellungen der Familie, in denen
die neuen familiären Gegebenheiten reflektiert und zugleich überhöht wer-
den (denn die ›Wirklichkeit‹ in den bürgerlichen Familien stimmt mit dem
Ideal der literarischen Darstellung durchaus nicht immer überein!), werden
zu Bildern eines möglichen menschlichen Zusammenlebens und möglicher
sozialer Ordnung. Auch in der aufgeklärten Kinderliteratur kommt der Dar-
stellung des familiären Zusammenlebens hohe Bedeutung zu. So ist für die
Kinderzeitschriften der Aufklärung eine Rahmenhandlung typisch, in der
von einer Familie erzählt wird; die Behandlung der unterschiedlichen The-
men und die Präsentation der verschiedenen literarischen Genres ist in die
Darstellung dieser Familie und ihres Zusammenseins eingebettet. In Weißes Familie in der
Kinderfreund, der für die Kinderzeitschriften der Aufklärung modellbildend Kinderliteratur
war, besteht diese Familie aus dem Vater Mentor und seinen vier Kindern
Charlotte, Karl, Fritz und Luise – die Mutter spielt nur am Rande eine Rolle;
vier Hausfreunde kommen dazu, die vor allem als Lehrende auftreten. Die
Themen, die in der Zeitschrift behandelt werden, erwachsen aus dem famili-
ären Zusammenleben oder sind Gegenstände des familiären Gesprächs. Die
literarischen Genres, die Weiße aufnimmt – und es sind im Kinderfreund
vom Kinderlied über Fabel, moralische Erzählung und sachlich-berichtende
Formen bis zum Kinderschauspiel nahezu alle Genres der aufgeklärten Kin-
derliteratur vertreten –, werden in der Familie verwendet, von den Kindern
gelesen, gesungen oder, wie die Kinderschauspiele, aufgeführt. Andere Kin-
derzeitschriften und andere Genres folgen diesem Modell. Den kindlichen
Leserinnen und Lesern wird in diesen Texten familiäres Zusammenleben und
damit auch stets die Erziehungssituation vorgestellt.
Mit dem Wandel der Familie verändert sich notwendigerweise auch die Wandel der Kindheit
Kindheit. Mehrfach ist die These vertreten worden, in der Aufklärung sei
Kindheit überhaupt erst ›entdeckt‹ worden; dies würde bedeuten, dass den
vorangehenden Epochen Kindheit unbekannt gewesen sei. Sinnvoller ist es
wohl, statt von der Entdeckung der Kindheit im 18. Jahrhundert von einem
– allerdings tiefgehenden – Wandel im Status und in den Gegebenheiten von
Kindheit zu sprechen, der in der frühen Neuzeit beginnt und im 18. Jh. eine
Beschleunigung erfährt. Die Einstellungen der Erwachsenen zur nachwach-
senden Generation, und damit die Beziehungen zwischen den Generationen,
verändern sich und mit ihnen die Lebensweisen und Lebensmöglichkeiten
der Kinder (ebenso die der Erwachsenen). Im 18. Jh. kommt es zur Ausbil-
dung einer ersten Form bürgerlicher Kindheit, zu der eine Reihe von Merk-
54 Aufklärung
malen gehört, die zusammen mit anderen, die in der weiteren historischen
Entwicklung ausgebildet werden, in den europäischen Gesellschaften in allen
sozialen Schichten bis heute die lebensgeschichtliche Phase vor dem Eintritt
in das Erwachsensein bestimmen. Eines dieser Merkmale ist die heute un-
trennbar erscheinende Verknüpfung von Kindheit und Schule, die auch im
18. Jh. bereits bestand, allerdings allein für die bürgerlichen (und auch die
adligen) Jungen (bei noch immer hoher Bedeutung des häuslichen Unter-
richts). Für die bürgerlichen Mädchen und für die Kinder der bäuerlichen
und der unter-bürgerlichen Schichten war sie bestenfalls im Ansatz gegeben.
Von zentraler Bedeutung für die Ausbildung bürgerlicher Kindheit war die
Entlastung von Arbeit Entlastung der Familie von Arbeit. In den älteren Familienformen wurden
die Kinder ihren Fähigkeiten entsprechend zu der für den Unterhalt der Fa-
milie notwendigen Arbeit herangezogen, damit in die familiäre Erwerbsge-
meinschaft integriert und deshalb auch tendenziell wie Erwachsene behan-
delt. Für die bürgerlichen Kinder besteht hingegen weder die Notwendigkeit
noch – da Beruf und Familie getrennt sind – die Möglichkeit zu solcher in-
nerfamiliärer (Erwerbs-)Arbeit. Keineswegs wurde damit Kindheit zu einer
Zeit freier Betätigung oder des Spiels; vielmehr werden die bürgerlichen Kin-
der stets zu ›nützlichen‹ Beschäftigungen angehalten, zu handwerklichen Ar-
beiten oder zur Gartenarbeit. So erscheinen sie auch in den Texten der Kin-
derliteratur. Immer wieder wird in der Kinderliteratur die bürgerliche Hoch-
schätzung der Arbeit herausgestellt; die Variationen des Sprichworts, dass
Müßiggang aller Laster Anfang sei, sind zahlreich. In Weißes Kinderfreund
heißt es: »Leben heißt wirksam seyn, seine Zeit mit nützlichen Dingen nach
den Umständen unsers Stands und Berufs anfüllen; Müßiggang, wir mögen
schlafen oder wachen, ist also moralisches Nichtleben«. Die Entlastung von
notwendiger Erwerbsarbeit führt zwar, da der Eintritt in das Berufsleben
zeitlich hinausgeschoben wird, zur Verlängerung von Kindheit, zugleich je-
doch wird bürgerliche Kindheit im 18. Jh. zu einer Lebenszeit der Gewöh-
nung an Arbeit und Tätigkeit.
bensphase verstanden. Dennoch bleibt sie weiterhin eng auf das (künftige)
Erwachsensein bezogen und gilt vor allem als Vorbereitung darauf; sie wird
als eine Übergangszeit verstanden. Dieses Verständnis prägt die aufgeklärte
Kinderliteratur. So ist, verglichen mit späterer Kinderliteratur, die Zahl der
Erwachsenenfiguren in den Texten auffällig hoch; die Kinderfiguren sind in
der Regel von Erwachsenen umgeben. Die noch immer enge Beziehung von
Kindheit und Erwachsenenstatus wird darin deutlich. Auch die Darstellung
der Kinderfiguren geschieht letzten Endes aus dieser Perspektive des künf-
tigen Erwachsenseins. Moralische Erzählungen etwa, deren Hauptfigur ein
Kind ist, schließen häufig mit dem Blick auf das künftige Erwachsensein; die
Kinderfigur wird gleichsam in eine Erwachsenenfigur transformiert. In die-
sen Schlusswendungen werden die Konsequenzen der Tugend oder des Las-
ters, die das Thema der Erzählung bilden, im Erwachsensein benannt. So
endet etwa eine moralische Erzählung von Georg Carl Claudius, in der von
dem kleinen Paul erzählt wird, der lernt, fleißig zu sein: »Er blieb 50 als
Jüngling, und auch so als Mann. Gottes Segen unterstützte alles, was er un-
ternahm, und er ward ein Muster rechtschaffner, kenntnißvoller und allge-
mein beliebter Männer«. Die Erzählung vom »wilden Sylvester« von Johann
Balbach schließt mit der Feststellung, »daß er nicht nur immer mehr verwil-
derte, sondern auch endlich von der ganzen Welt vergessen wurde; so daß er
nach dem Tod seiner Eltern und Verwandten ein äußerst kümmerliches und
elendes Leben zu führen hatte«.
In Weißes Kinderfreund sagt der Vater Mentor, dass er Kinder »als Pflan-
zen ansehe, die einst zu Bäumen erwachsen«. In dieser, auch sonst häufig
gebrauchten Metapher ist das Verständnis von Kindheit als eines Übergangs
bezeichnet. Zugleich ist in ihr die erzieherische Haltung ausgesprochen, mit
der die Erwachsenen den Kindern begegnen; so sagt Mentor seinen Kindern:
Kindheit als »Itzt seyd ihr wie die jungen Bäumchen, die einen schiefen Hang bekommen:
Übergangszeit mit wenig Mühe lassen sie sich noch zurücke an einen Pfahl binden, und
schön und gerade ziehen. Dieser Pfahl muß Euch eure Pflicht seyn«. Die
Ausrichtung von Kindheit auf das Erwachsensein verlangt im Verständnis
der Aufklärung eine grundsätzlich erzieherische Haltung der Erwachsenen
zu den Kindern. Deshalb ist die aufgeklärte Kinderliteratur in erster Linie
erzieherische Literatur und hat primär didaktische Funktion. Die Ausrich-
tung an der Belehrung ist allerdings nicht allein eine Konsequenz des grund-
sätzlich erzieherischen Verhältnisses zur Kindheit; sie entspricht zugleich der
Poetik der Aufklärung und den Grundsätzen, denen auch die Literatur für
Erwachsene verpflichtet war. Für die Aufklärung war es, in Anlehnung an die
Bestimmung des römischen Dichters Horaz, die Aufgabe der Literatur, zu
erfreuen und zu nützen (»aut delectare aut prodesse«), wobei ›nützen‹ vor
allem als ›belehren‹, als Didaxe, verstanden wurde.
Im Wandel der familiären Beziehungen verändert sich die Zuwendung zu
den Kindern. Zwar ist die Auffassung, erst mit der Ausbildung bürgerlicher
Familienstrukturen gäbe es emotional bestimmte Beziehungen zu Kindern,
während sie in den vorangehenden Epochen vor allem sachlicher Art gewe-
sen seien, zu differenzieren; in die Personalisierung und Emotionalisierung
im privaten Bereich der Familie ist jedoch gerade die nachwachsende Gene-
ration einbezogen. Auch hier ist die Entlastung der Familie von Arbeit zen-
tral; durch sie wird es möglich, die Beziehungen zu den Kindern in weitaus
höherem Maße an der Person zu orientieren (statt an der ›Sache‹ der gemein-
samen Arbeit), sie individueller und emotionaler zu gestalten. Zudem findet
mit der aufgeklärten Hochschätzung von Erziehung die Ausbildung der
nachwachsenden Generation stärkere Aufmerksamkeit. Der utopische Cha-
Familie und Kindheit 57
rakter des aufgeklärten Erziehungsbegriffs wird auf Kinder und Kindheit Utopie der Erziehung
übertragen: Richtig, also aufgeklärt erzogen wird die nachwachsende Gene-
ration zum Garanten weiterer Vervollkommnung und zum Träger aufgeklär-
ter Hoffnungen; an deren Erfüllung arbeitet die ältere, die Elterngeneration
durch richtige Erziehung mit. Auffällig häufig wird in den pädagogischen
Schriften seit der Jahrhundertmitte von dem ›Wert‹ der Kinder gesprochen,
der, wie etwa Christian Gottfried Böckh schreibt, »den Werth aller ihrer [der
Eltern] Habseligkeiten weit übersteigt«.
Der Wandel in der Bewertung von Kindheit wird auch in der sich verän-
dernden Einstellung zur Kindersterblichkeit sichtbar, die im 18. Jh., selbst in
den bürgerlichen Schichten, noch immer sehr hoch war. Bisher war die hohe
Kindersterblichkeit als von Gott verhängtes Schicksal hingenommen worden.
Auch deshalb war die emotionale Bindung vor allem an kleinere Kinder ge-
ringer, deren Tod ein gleichsam alltägliches Schicksal war. Dies gilt im 18. Jh.
in den bürgerlichen Schichten – und im Adel – nicht mehr in der gleichen
Weise. Diese Einstellungsveränderung ist eng verbunden mit dem Säkulari-
sierungsprozess, in dessen Folge der Kindestod nicht mehr ohne weiteres als Kindersterblichkeit
gottgewollt hingenommen wird, und mit den Veränderungen in der Medizin und Tod
und im hygienischen Verhalten, in deren Folge die Sterblichkeitsrate, auch
die der Kinder (und die der Mütter!), in den materiell besser gestellten
Schichten allmählich zurückging. Zugleich veränderte sich in diesen Schich-
ten das generative Verhalten; die Zahl der Schwangerschaften und Geburten
ging zurück. Damit erhält das einzelne Kind gleichsam einen höheren Rang;
es wird ›unersetzlich‹ und die Beziehung der Eltern zu ihm persönlicher und
emotionaler. In den Darstellungen familiären Zusammenseins in der aufge-
klärten Kinderliteratur bilden die Geschwister stets eine altershomogene
Gruppe, in die der Tod keine Lücke gerissen hat. Gleiches gilt für die Darstel-
lung nicht geschwisterlich verbundener Kindergruppen. Gemessen an der
Realität bürgerlicher Familien sind diese Darstellungen Wunschbilder. In ih-
nen kommt zum Ausdruck, dass die hohe Sterblichkeit nicht mehr hinge-
nommen wird. Dies wird umso deutlicher, als das Thema des Todes keines-
wegs tabuisiert ist. Tod und Sterben sind vielmehr Gegenstände der familiären
Gespräche; auch der Tod von Kindern wird dargestellt. Allerdings handelt es
sich dann zumeist um ein Kind, das nicht zur Familie gehört, etwa um ein
Nachbarkind; die Geschwistergruppe selbst ist in der Regel vom Tod nicht
unmittelbar betroffen.
Das Thema Tod ist ein realistisches Moment der aufgeklärten Kinderlite-
ratur; die reale Gegenwärtigkeit des Todes im Erfahrungsbereich der Kinder
wird in die Texte aufgenommen. Der Kontrast zwischen der Thematisierung
des Todes und dem Wunschbild der lückenlosen Geschwistergruppe zeigt je-
doch, dass die aufgeklärte Kinderliteratur nicht als ›realistisch‹ im Sinne der
Abbildung einer gegebenen Wirklichkeit verstanden werden darf. Zwar sind
die Texte, wie beim Thema des Todes, auf die realen Gegebenheiten bezogen,
zugleich jedoch werden in ihnen, wie in den lückenlosen Geschwistergrup-
pen, mögliche Gegebenheiten, mögliche Verhaltensweisen vorgestellt. Die
Texte haben den Charakter von Entwürfen, in denen die realen Gegeben-
heiten überhöht, in fiktiver Darstellung weitergedacht werden. Kindheit und
Erziehung in den Texten sind als Modelle zu verstehen, in denen nicht so sehr
die realen Gegebenheiten ›abgebildet‹, als vielmehr dargestellt wird, wie
beide beschaffen sein sollten.
Als Modelle sind auch die Kinderfiguren zu verstehen. Sie sind Vorbilder Kinderfiguren
und Identifizierungsangebote für die kindlichen Leserinnen und Leser, die als Vorbilder
das richtige, vernünftige und tugendhafte Verhalten der Kinderfiguren nach-
58 Aufklärung
vollziehen und sich zu eigen machen sollen. Umgekehrt soll die Darstellung
des falschen, unvernünftigen und lasterhaften Verhaltens, dessen böse Folgen
etwa in den moralischen Erzählungen vorgeführt werden, abschreckend wir-
ken. Die Intention, Vorbilder und Identifizierungsfiguren zu präsentieren,
wird immer wieder ausgesprochen; so schreibt etwa Salzmann: Die Kinder
»haben aber eine Nachahmungsbegierde, die sie geneigt macht, alles, was
ihnen an andern gefällt, nachzutun. Diese muß in Anspruch genommen wer-
den. Man muß ihnen in wahren und erdichteten Erzählungen von der Hand-
lungsart, zu welcher man sie bringen will, Muster vorstellen und sie so lebhaft
schildern, daß sie dieselben glauben, vor sich stehen zu sehen, und so gefällig,
daß in ihnen der Entschluss entsteht, ebenso zu handeln«.
Familiäre In gleicher Weise haben die Darstellungen der Familie Modellcharakter.
Gemeinschaft Familie erscheint als der gleichsam ›natürliche‹ Ort, an dem vernünftiges und
tugendhaftes Verhalten verwirklicht wird. Besondere Tage wie die Geburts-
tage der Kinder und – häufiger – die der Eltern werden zu Festen der famili-
ären Gemeinschaft. In nicht wenigen Kinderschauspielen wird vorgestellt,
wie die Geschwistergruppe die Geburtstagsfeier für den Vater, seltener für
die Mutter vorbereitet. Es folgt die freudige Überraschung der Eltern über
ihre so wohlgeratenen Kinder; das Drama schließt mit dem Bild der in Zu-
neigung und Liebe vereinigten familiären Gemeinschaft. Die Hochschätzung
dieser Gemeinschaft wird auch im Motiv der Trennung und Wiedervereini-
gung der Familie deutlich. Auf die Darstellung des Verlustes, den die Tren-
nung von einem Familienmitglied – zumeist vom Vater – mit sich bringt,
folgt wie bei den Geburtstagen die Feier der (wieder-)vereinigten familiären
Gemeinschaft. So beginnt Das Friedensfest 1779 von Georg Carl Claudius,
in dem erzählende Passagen mit Dialogszenen abwechseln, mit einem Brief
des Vaters, eines Herrn von Hohburg, an den Hauslehrer der Kinder, in der
er seine Rückkehr für den Abend ankündigt; der Hauslehrer verschweigt
diese Nachricht und führt die Kinder abends dem Vater entgegen. Auf einer
Anhöhe bleiben sie stehen; eines der Kinder beschreibt den Ausblick: »[…]
wie man sich da umsehn kann. Dort guckt ein Kirchturm – – drübernaus
noch einer. Wie ruhig sich das Dörfchen die Fluren längs schlängelt! Wie die
Sonne sich auf dem dort rauschenden Fluß spiegelt.« Da erblicken die Kinder
ihren Vater. Sie »fliegen von der Anhöhe herab ihrem Vater entgegen«, er
»eilt auf seine Kinder zu, küßt und drückt sie an seine Brust«. Die Kinder
können nur noch »O! mein Vater, mein bester Vater!« ausrufen; der Vater
gibt seiner Wiedersehensfreude deutlicheren Ausdruck: »Meine Kinder! – –
Gott seys gedankt, herzlich gedankt, daß ich euch wieder habe, euch wieder
umarmen kann. – – […] (küßt sie alle) ich habe euch wieder, hab’ euch wie-
der. Seht, ich weine für Entzücken, weine für lauter Freude. – –«.
Umarmungen, Küssen und Weinen, die am Beginn der Szene hervorgeru-
Empfindsamkeit fene Abendstimmung sind Kennzeichen empfindsamer Literatur. Es folgt die
Begrüßung zwischen Vater und Mutter; beide äußern ihre Freude im Voka-
bular der Empfindsamkeit:
Titelvignette von C. L.
Crusius, aus: Lesebuch
für Kinder. Bremen 1776
des Ziels, das er mit seiner Konzeption einer radikal individualisierten Erzie-
hung außerhalb von Gesellschaft verfolgt. Rousseaus Bemerkungen haben
Campe zu seiner Bearbeitung des Defoeschen Romans angeregt. Die Art sei-
ner Bearbeitung widerspricht jedoch in entscheidenden Punkten den Vorstel-
lungen Rousseaus; im Vorbericht zu Robinson der Jüngere hat Campe diese
Unterschiede auch benannt. Rousseau folgend lässt Campe seinen Robinson
»ohne alle europäischen Werkzeuge« auf der Insel stranden. Mit der Entfer-
nung aller zivilisatorischer Hilfsmittel soll dem Leser – in Übereinstimmung
mit Rousseau – gezeigt werden, »wie viel Nachdenken und anhaltende Streb-
samkeit zur Verbesserung unsers Zustands auszurichten vermögen«, zugleich
jedoch – abweichend von Rousseau – »wie hülflos der einsame Mensch« sei.
Campe verknüpft Ausbildung des Individuums und Erziehung zur Gesell-
schaft: Die Entfernung der Hilfsmittel biete den »Vortheil [...], dem jungen
Leser die Bedürfnisse des einzelnen Menschen der ausser der Geselschaft
lebt, und das vielseitige Glük des gesellschaftlichen Lebens, recht anschaulich
Joachim Heinrich Campe zu machen«. Die Verbindung von individueller und sozialer Erziehung hat
Campe veranlasst, die Geschichte Robinsons in »drei Perioden« aufzuteilen.
Auf die erste Periode der Einsamkeit und der Entfernung von allen Hilfsmit-
teln folgt die des Zusammenseins mit Freitag; er habe, schreibt Campe, Ro-
binson einen »Gehülfen« zugesellt, »um zu zeigen, wie sehr schon die bloße
Geselligkeit den Zustand des Menschen verbessern könne«. Die dritte Peri-
Campes »Robinson«: ode beginnt mit dem Stranden eines Schiffes auf der Insel, um Robinson
Verknüpfung von »dadurch mit Werkzeugen und den meisten Nothwendigkeiten des Lebens
individueller und zu versorgen, damit der große Werth so vieler Dinge, die wir gering zu schät-
sozialer Erziehung zen pflegen, weil wir ihrer nie entbehrt haben, recht einleuchtend würde«.
Die Verknüpfung von individueller und sozialer Erziehung ist auch der
Grund für die gravierendste Änderung, die Campes Bearbeitung vom Defoe-
schen Original unterscheidet. Robinson der Jüngere hat eine Rahmenhand-
lung, die denen der Kinderzeitschriften analog ist. Ein väterlicher Erzieher
erzählt einer Gruppe von Kindern die in Episoden aufgeteilte Geschichte
Robinsons; Vorbild war übrigens die Schülergruppe, die Campe Ende der
70er Jahre in Hamburg unterrichtete. Die Episoden werden zum Anlass aus-
führlicher Gespräche, in denen sachliche Belehrungen gegeben werden, vor
allem aber die Kinder gemeinsam mit dem Vater darüber nachdenken, wel-
che Konsequenzen sie aus den Abenteuern Robinsons ziehen können. Weiter
wird erzählt, wie die Kinder die Geschichte Robinsons nachspielen; sie bas-
teln einen Sonnenschirm, flechten Körbe, üben sich in mäßiger Lebensweise,
indem sie fasten oder für eine Nacht auf den Schlaf verzichten. Diese Nach-
ahmung des Erzählten geschieht gemeinsam; die Isolierung Robinsons wird
in einer Gemeinschaft aufgehoben. Bei Rousseau hingegen bleibt Emile in
der Nachahmung des Inseldaseins wie sein Vorbild Robinson allein.
Die in Robinson der Jüngere vorgestellte Konstellation ist repräsentativ
für die aufgeklärte Kinderliteratur in Deutschland. Campe selbst wählt auch
für andere Texte die Einkleidung in eine seinem Robinson nachgebildete
Rahmenhandlung, so in der dreibändigen Entdekkung von Amerika; ebenso
spielt diese Konstellation in seiner Kleinen Seelenlehre für Kinder oder in
seinem Sittenbüchlein für Kinder eine wichtige Rolle. Ausgangspunkt aufge-
klärter Erziehung ist nicht – wie bei Rousseau – die Idee des allein sich selbst
genügenden Individuums, des (mit einem Begriff von Norbert Elias) ›homo
clausus‹, sondern die Vorstellung des von vornherein geselligen und verge-
sellschafteten Menschen. Die Erziehung ist auf Gesellschaft ausgerichtet;
deshalb geschieht sie in einer sozialen Institution, im Beisammensein der
Kinder in der Gruppe und in der Familie, und nicht, wie die Emiles, in radi-
Familie und Kindheit 63
Kupfertafel von J. G.
Wagner, aus: Samuel
Richardson’s Sittenlehre
für die Jugend. Leipzig
1806
der Kinder und der Zuordnung von Mutter- oder Vaterfiguren exemplarisch
deutlich. In seiner Anthologie Kleine Kinderbibliothek unterscheidet er drei
Altersabschnitte, »deren erster bis ans siebende, der andere bis ans zehnte,
und der dritte endlich bis ans zwölfte Jahr des Kindes und darüber reicht«.
In der Abfolge der familiären Szenen und Lehrgespräche lässt sich eine deut-
liche Abnahme der Mutterfiguren und entsprechend eine Zunahme der Va-
terfiguren feststellen. Entsprechendes gilt für die Anordnung der 1807–1809
erschienenen Gesamtausgabe von Campes Kinder- und Jugendschriften. Sie
beginnt mit dem Abeze- und Lesebuch und der Kleinen Kinderbibliothek; es
folgen die Seelenlehre für Kinder und das Sittenbüchlein für Kinder, die beide
für etwa sechs- bis siebenjährige Kinder gedacht sind. In der durchgängig in
Gesprächsform gehaltenen Seelenlehre ist der Vater der Gesprächspartner
der Kinder, in der Rahmenhandlung des Sittenbüchleins die Vaterfigur Gott-
lieb Ehrenreich (die Campe bereits in der Kinderbibliothek auftreten ließ).
Robinson der Jüngere und Die Entdekkung von Amerika, die beide die vä-
terlichen Gespräche als Rahmenhandlung haben, schließen sich an. In den
Reisebeschreibungen, die als nächste Bände folgen, hat Campe die Ge-
sprächsform nicht mehr verwendet.
Die Mütter ›verziehen‹ Die Mütter stehen unter dem generellen Verdacht, die Kinder aus zu
die Kinder großer Liebe zu verziehen. In Weißes Kinderfreund wird bei einem Besuch,
den Mentor mit seinen Kindern bei einem benachbarten Freund macht, ein
Beispiel schlechter Erziehung vorgeführt. Die Kinder des Freundes gehorchen
nicht, achten nicht auf Sauberkeit, sind wild, betragen sich schlecht beim
Essen. Der Freund selbst gibt die Begründung: »Mein Freund« (berichtet
Mentor) »gestund mir nach Tische insgeheim, daß die übertriebene Liebe der
Mutter sie [die Kinder] ganz verdürbe, daß, wenn er sie strafen wolle, sie al-
lezeit eine Beschützerinn in ihr fänden«. Von dem Bösewicht Ludwig in
Weißes Kinderschauspiel Der ungezogene Knabe sagt seine Schwester, sie
könne sagen, »wer ihn so verzogen« habe: »Unsre gute selige Mama. Sie
liebte ihn mit übertriebener Zärtlichkeit«. Mit ihrer Liebe und Zärtlichkeit
gefährden die Mütter die Erziehung der Kinder zu angemessenem, vernünf-
tigem Verhalten. Allein die Dominanz des Vaters kann das Erziehungsziel der
Vernünftigkeit sichern. In dem Kinderschauspiel Das Rondo von Johann
Georg Beigel feiern vier Brüder den Geburtstag ihres Vaters; einer von ihnen
gibt seiner Freude über den Festtag in einer emphatischen Rede Ausdruck,
»O Vater! süsser – die mit dem Ausruf schließt: »O Vater! süsser – süsser Name!« Dieser Ausruf
süsser Name!« könnte als Motto über der aufgeklärten Kinderliteratur stehen; sie ist eine
zutiefst patriarchalische Literatur.
Den Vätern (oder den Vaterfiguren) kommt zunächst die Rolle eines Ver-
mittlers zu. Der Vater ist Vermittler des Wissens, indem er die Kinder sachlich
belehrt, Kenntnisse und Informationen an sie weitergibt, sie bei ihren Ausflü-
gen oder Reisen begleitet, auf denen sie Erfahrungen im außerfamiliären Be-
reich machen. Der Vater ist Vermittler des richtigen Denkens, indem er die
Kinder bei den Gesprächen anleitet, ihnen die richtigen Begriffe beibringt
Die Väter als und so ihr Erkenntnisvermögen schult. Schließlich ist der Vater Vermittler
Vermittler des richtigen Verhaltens, wiederum infolge seiner maßgebenden Rolle im
Gespräch und indem er Urteile über richtiges oder falsches Verhalten aus-
spricht und Verhaltensregeln weitergibt. Da die Literatur – als Medium der
Erfahrungserweiterung und als anschauliches Exemplum im Gespräch – eine
vergleichbare vermittelnde Rolle spielt, bestimmt der Vater auch über die
Lektüre der Kinder. Umgekehrt kann die Literatur als Vaterersatz fungieren.
Der väterliche Herausgeber des Abendzeitvertreibs berichtet, er habe vorge-
sorgt, dass bei seiner Abwesenheit seine »Person ersetzt werde«: »Ich habe
Familie und Kindheit 67
eine Schwester [...]; diese vertrat meine Stelle, und las ihnen vor, was ich
aufgeschrieben habe«. In direkter Anrede an die Leser und Leserinnen fährt
er fort: »Nun weiß ich, liebe Kinder, daß der Fall gar wohl eintreten kann,
der auch Eure Eltern von Euch trennt. Da dachte ich: vielleicht verdanken
dirs die Kleinen doch, wenn du Ihnen ein Büchelchen in die Hände giebst,
wodurch sie sich die langen Abende vertreiben können, und ich entschloß
mich, diese Aufsätze drucken zu lassen, damit Ihr auch daran Theil nehmen Literatur als
könntet«. In der Teilnahme der Leser und Leserinnen an der vorgestellten Vaterersatz
väterlichen Erziehung begründet auch Vater Mentor in Weißes Kinderfreund
die Herausgabe der Zeitschrift; er lässt sie mit der Frage zu Wort kommen
»Wr preisen die Kinder glücklich, die [...] einen Vater haben, der so sehr für
seiner Kinder Vergnügen sorgt; was hilft das aber uns, wenn wir keinen Theil
daran nehmen?« und antwortet darauf: »Das aber eben ist mein Wille. Ich
will die Unterhaltung meiner Kinder [...] euch mitteilen«. Entsprechend heißt
es dann im Brief eines Kindes an Weiße, den G. C. Claudius mitteilt: »Sie
sorgen für uns Kinder so väterlich«.
Die Rolle des Vermittlers geht allerdings über die Weitergabe von Kennt-
nissen und die Einübung von Fähigkeiten hinaus. Als konkrete Figuren ver-
körpern die Väter, was sie vermitteln – Wissen, richtiges Denken, angemes-
senes Verhalten. Sie sind Vorbilder und damit für die Kinderfiguren und über Die Väter als
sie für die kindlichen Leser und Leserinnen die maßgeblichen Identifizie- Vorbilder: väter-
rungsfiguren. Für die Leser und Leserinnen gilt dies in doppelter Weise. Ihnen liches ›Ichideal‹
wird in den Vätern die Personifikation des Erziehungsziels und in den Kin-
derfiguren zugleich der Identifizierungsprozess mit dem Vater vorgestellt.
Die Erweiterung der Kenntnisse, die Einübung des richtigen Denkens und
des angemessenen Verhaltens, die damit verbundene Stärkung des kindlichen
Ich gehen mit der Identifizierung mit dem Vater zusammen; in der Verinner-
lichung des väterlichen Vorbildes wird ein Ichideal aufgerichtet, dem sich die Die Väter als
Kinder angleichen sollen. Kontrolleure:
Die Väter sind jedoch auch Kontrolleure und Richter. Sie überwachen das väterliches ›Über-Ich‹
Verhalten der Kinder, sprechen Lob oder Tadel aus, verhängen Sanktionen
und achten auf deren Durchführung. Die Identifizierung mit dem Vater ist
verbunden mit Autorität. In der Angleichung an das väterliche Vorbild wird
die im Vater erfahrene Autorität verinnerlicht; sie wird in die psychische
Instanz eines väterlich bestimmten Über-Ich transformiert, das die vom Vater
ausgesprochenen und von ihm vorbildhaft vorgelebten Verhaltensgebote
enthält und so – als verinnerlichte Instanz des Gebietens und Verbietens – das
Denken und Verhalten kontrolliert. Ausbildung des Ich – vor allem in der
Übung der Erkenntnisvermögen – und Aufrichtung des Ichideals wie des
Über-Ich – in der Identifizierung mit der väterlichen Autorität – sind komple-
mentär aufeinander bezogen. Ihre Verknüpfung in der vom Vater geleiteten
Erziehung garantiert, dass das Erziehungsziel der Vernünftigkeit erreicht
wird. Besonders deutlich wird diese Verknüpfung in einer für die aufgeklärte
Kinderliteratur kennzeichnenden erzieherischen Maßnahme. Um den Kin-
dern ein bestimmtes Verhalten einzuüben oder um zu überprüfen, ob sie aus
eigenem Antrieb, also selbständig, zu angemessenem Verhalten in der Lage
sind, werden sie in eine vom Vater arrangierte Situation geführt, in der sie die
Richtigkeit des zuvor im Gespräch behandelten Verhaltensgebots erfahren.
Eine solche pädagogische Inszenierung gebraucht etwa der Vater in Weißes Johann Gottlieb
Kinderschauspiel Der Geburthstag, als er den Degen Ludwigs mit einer Trut- Schummel: Kinderspiele
hahnfeder vertauscht und damit eine Situation herbeiführt, in der Ludwig und Gespräche. Titel-
wegen seines Standesdünkels beschämt wird. In der moralischen Erzählung kupfer von D. Chodo-
Der bestrafte Schwätzer von G. C. Claudius wird von Anton erzählt, dem es wiecki. Leipzig 1776
68 Aufklärung
Der Gehorsam
Ich sollte nicht gehorsam seyn?
Nicht auf der Tugend Stimme merken?
O stets soll sie mein Herze stärken,
Und nie soll Leichtsinn es zerstreun.
Ich bin ein Kind, ich weiß noch nicht
Mich selbst zu bilden, und zu bessern!
Gehorsam kann mein Herz vergrössern,
Und Freuden werden aus der Pflicht!
O du, mein Schöpfer! laß mich nie
Durch Ungehorsam häßlich werden!
Zu meiner Eltern Lust auf Erden
Sey ich gehorsam spat und früh.
Die Kinder müssen gehorchen, weil sie zu richtigem Verhalten noch nicht
fähig sind. In Bernhard Christoph Fausts Gesundheits-Katechismus wird
1794 auf die Frage »Warum müssen Kinder ihren Aeltern gehorchen?«
geantwortet : »Weil Kinder unverständig sind, weil sie nicht wissen, was an-
ständig, gut und sittlich ist«. Zugleich hat die Gehorsamsforderung transito-
rischen Charakter. Das Kind erwirbt Vernünftigkeit, indem es den Anforde-
rungen folgt und sich damit vernünftig und tugendhaft verhält; indem es
lernt, seine Vernunft zu gebrauchen, wird es befähigt, sich aus eigener Ein- Vernunft und
sicht richtig zu verhalten. Gehorsam ist damit eine notwendige Bedingung Disziplinierung
für die Transformation der väterlichen Autorität in die psychische Instanz
des Über-Ich. So dient die Gehorsamsforderung vor allem dazu, den Kindern
Selbstdisziplin und Selbstkontrolle einzuüben. In Fausts Gesundheits-Kate-
chismus heißt es: »Kinder, die ihren Aeltern gehorchen, lernen ihre Begierden
und Lüste beherrschen und denselben zu entsagen, und sie werden dadurch
Meister über sich selbst«.
Die Disziplinierung durch Gehorsam gilt zunächst dem Denken; es soll
Ordnung im ›Kopf‹ hergestellt werden. Die Rahmenerzählung im Versuch Ordnung ›im Kopf‹
einer kleinen praktischen Kinderlogik von Karl Philipp Moritz beginnt mit
dem Satz: »Fritz war ein unordentlicher Knabe«. Jeden Morgen muss er
Kleider und Schulsachen zusammensuchen: »Und da es nun vollends an das
Büchersuchen ging, so steckte die lateinische Grammatik in einem Stiefel, das
Schreibebuch lag zu den Füßen im Bette, die Schreibfedern lagen auf dem
Feuerheerde, und das Dintefaß stand zwischen dem weißgewaschnen lei-
nenen Zeuge –«. Ermahnungen und Drohungen helfen nichts: »Die Mutter
schalt, der Vater drohte, aber alles half nichts. Es ging so einen Tag und alle
Tage«. Doch der Hauslehrer weiß Rat. Er fängt »seine Lektionen mit Fritzen
damit an, daß er ihn bey jeder Gelegenheit zusammenlegen und zusammen-
stellen ließ, was zusammengehörte, und von einander absondern ließ, was
nicht zusammen gehörte«. Er schafft eine Reihe von Kupfertafeln an, auf
denen verschiedene Gegenstände abgebildet sind; die Beschäftigung mit ih-
nen (die dann im Text der Kinderlogik vorgeführt wird) soll dazu dienen,
»die große Kunst des Eintheilens und Ordnens, des Vergleichens und Unter-
scheidens, worauf die ganze Glückseligkeit des vernünftigen Menschen beru-
het, dadurch auf eine angenehme und spielende Art zu lehren«.
70 Aufklärung
Kontrolle der Affekte Vor allem richtet sich die Disziplinierung auf die Kontrolle der Affekte,
der »Begierden und Lüste«. Tugendhaftes Verhalten verlangt ihre vernunft-
geleitete Kontrolle. Auch sie wird im gehorsamen Befolgen der Anordnungen
eingeübt, um durch Selbstkontrolle abgelöst zu werden. In zahlreichen mora-
lischen Erzählungen und in anderen Texten, etwa in Kinderschauspielen,
wird vorgeführt, welche fatalen Folgen sich einstellen, wenn die Affekte nicht
kontrolliert werden, sich als Wut, Zorn oder Neid äußern, wenn die vernünf-
tige Selbstliebe in Egoismus oder in Eitelkeit ausartet, wenn Bedürfnisse nicht
beherrscht werden und etwa der Wunsch nach Süßigkeiten zur Naschsucht
wird. Erzieherisches Ziel ist die Dämpfung der Affekte, die Einübung der
bürgerlichen Tugend des Maßes. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Sexuali-
tät. Da die aufgeklärte Kinderliteratur vorwiegend für Leser und Leserinnen
vor der Pubertät gedacht ist, die Kinderfiguren deshalb nur in wenigen Fällen
älter als vierzehn Jahre sind, spielt allerdings die Beziehung zwischen den
Kontrolle der Geschlechtern nur eine geringe Rolle. Rigoros bekämpft aber wird die Ona-
Sexualität: das Laster nie, das Laster der Selbstbefleckung und Selbstschwächung, wie die gängige
der ›Selbstschwächung‹ Bezeichnung lautet. Den medizinischen Vorstellungen der Zeit folgend, ins-
besondere der 1760 erschienenen Schrift L’Onanisme des französischen
Arztes Tissot, werden die angeblichen Folgen der Masturbation ausgemalt:
körperlicher Verfall, geistige und psychische Degeneration, früher Tod. »In
einer gewissen Stadt starb ein neunjähriger Junge an den Folgen dieses Las-
ters, nachdem er schon geraume Zeit vorher völlig blind geworden war«,
heißt es in der Höchstnöthigen Belehrung und Warnung für Jünglinge und
Knaben, einem Separatdruck aus der preisgekrönten Anti-Masturbations-
schrift von Johann Friedrich Oest Versuch einer Beantwortung der pädago-
gischen Frage: wie man Kinder und junge Leute vor dem Leib und Seele
verwüstenden Laster der Unzucht überhaupt, und der Selbstschwächung in-
sonderheit verwahren, oder, wofern sie schon angesteckt waren, wie man sie
davor heilen könne?, die auf die von Campe gestellte Frage antwortet und in
der Allgemeinen Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesen 1787
erschien. Ein weiterer Separatdruck trägt den Titel Höchstnöthige Belehrung
und Warnung für junge Mädchen zur frühen Bewahrung ihrer Unschuld.
»Verwelkt und abgemattet seufze ich nun, ich, der ich sonst gleich einer Rose
geblüht«, lässt Oest einen der ›Selbstschwächer‹ reuevoll sagen. Seine Schrift
enthält Beispielgeschichten, ›Fallberichte‹; sie werden in zahlreiche Texte für
Kinder übernommen. Die Anti-Masturbations-Kampagne im letzten Drittel
des 18. Jh.s gehört in den Zusammenhang der Ausbildung bürgerlicher Sexu-
almoral; dass diese erst noch durchgesetzt werden musste, ist einer der
Gründe für die Rigorosität der Kampagne. Ein weiterer ist darin zu sehen,
dass die Masturbation den Rückzug der Person auf sich selbst bedeutet und
so in ihr die Gesellschaftlichkeit des Menschen negiert wird, die zu den
Grundüberzeugungen der Aufklärung gehörte.
Nicht zuletzt richtet sich die Disziplinierung auf die Kontrolle der Körper-
Kontrolle des Körpers sprache. In der moralischen Erzählung Die kleine lustige Gesellschaft, die
G. C. Claudius in seinem Kinderalmanach mitteilt, stellt Herr Weinhold, die
Vaterfigur der Erzählung, fest, dass sich die vier Kinder, die ihn jede Woche
besuchen, beim Lachen nicht »gesittet und artig zu betragen wissen«. Er
greift zum Mittel der pädagogischen Inszenierung, indem er den Kindern
eine besonders lustige Geschichte, ein »Geschichtchen zum Todlachen«, er-
zählt, zuvor allerdings jedes Kind einzeln und insgeheim auffordert, die an-
deren beim Vortrag zu beobachten und die Beobachtungen mitzuteilen. Das
gemeinsame Gespräch über diese Beobachtungen bildet die Erzählung; das
»Geschichtchen zum Todlachen« selbst wird nicht mitgeteilt! Drei Formen
Familie und Kindheit 71
Unterhaltende Schriften
Zeitschriften In der literarischen Öffentlichkeit des 18. Jh.s kam den Zeitschriften eine
wichtige Rolle zu; dies gilt auch für die Kinderliteratur. Die erste deutsche
Zeitschrift für Kinder war das Leipziger Wochenblatt für Kinder, das seit
Oktober 1772 erschien und von dem Sprachwissenschaftler und Lexiko-
graphen Johann Christoph Adelung herausgegeben wurde. In lockerer An-
ordnung sind Märchen, Erzählungen und Fabeln, Rätsel, Kinderschauspiele,
erbauliche Betrachtungen und sachlich belehrende Beiträge versammelt. Das
Angebot unterschiedlicher Genres ist typisch für die Kinderzeitschriften; sie
haben den Charakter von Lesebüchern und wurden deshalb in der Regel
nach dem Abschluss oder noch während ihres periodischen Erscheinens auch
in Buchform veröffentlicht. Dem Leipziger Wochenblatt folgte ab Oktober
Johann Christoph 1776 im gleichen Verlag Christian Felix Weißes Kinderfreund. Weiße inte-
Adelung grierte die verschiedenen Genres in eine familiäre Rahmenhandlung und
schuf damit ein in seiner Wirkung kaum zu überschätzendes Modell des vä-
terlichen Gesprächs. Dem Kinderfreund ließ Weiße den Briefwechsel der Fa-
milie des Kinderfreundes (1784 – 1792) folgen. In ihm ist die Familie räum-
lich getrennt; die Briefe ersetzen das familiäre Gespräch. Im Kinderfreund
schloss Weiße an die Tradition der Moralischen Wochenschriften an, die er
gekonnt weiterentwickelte. Zu seinen Vorbildern gehörte auch das Magasin
des enfans (London 1756) der französischen Erzieherin und Schriftstellerin
Jeanne-Marie LePrince de Beaumont, in dem biblische Geschichten, Erzäh-
lungen, Märchen, sachliche und moralische Belehrungen in Gespräche inte-
griert sind. Unter dem Titel Lehrreiches Magazin für Kinder zu richtiger Bil-
dung des Verstandes und Herzens war es von Johann Joachim Schwabe, der
auch andere Texte LePrince de Beaumonts übertrug, 1758 ins Deutsche
übersetzt worden.
Nicht wenige Kinderzeitschriften, etwa der Neue Kinderfreund von Engel-
hardt und Merkel, dem Engelhardt 1799 – 1802 auch die Fortsetzung Brief-
wechsel der Familie des neuen Kinderfreunds folgen ließ, übernehmen die
Form der familiären Rahmenhandlung, wobei wie in Benzlers Niedersäch-
sischem Wochenblatt (das 1774 – 1776 und damit vor Weißes Kinderfreund
erschien) nicht unbedingt alle Texte damit verbunden sein müssen. Manchen
fehlt auch eine Rahmenhandlung; sie enthalten jedoch Gespräche, in die
kleinere Texte integriert sind. Die meisten Kinderzeitschriften richten sich an
alle Kinder; daneben gibt es auch einige auf bestimmte Adressatengruppen
oder Inhalte spezialisierte – für Mädchen wie Sophie von La Roches Pomona
(1783/84), für bestimmte Altersgruppen wie Böckhs Kinderzeitung und die
Chronik für die Jugend (1780 – 1783) oder für bestimmte Sachgebiete wie
der Physikalische Kinderfreund.
Den Kinderzeitschriften verwandt sind die zahlreichen Textsammlungen,
›Unterhaltende‹ die als ›unterhaltende Lesebücher‹ bezeichnet werden können. Dazu gehören
Lesebücher die meist zur Herbstmesse erscheinenden Almanache, mit denen eine in der
Erwachsenenliteratur beliebte Veröffentlichungsform übernommen wurde,
und die unter Titeln wie ›Kinderbibliothek‹, ›Unterhaltungen für Kinder‹,
›Beschäftigungen für Kinder‹ herausgegebenen Sammlungen, von denen ei-
nige, wie etwa der 1795 anonym erschienene Abendzeitvertreib, eine Rah-
menhandlung haben. Beispiele solcher ›Lesebücher‹ sind Campes Kinder-
bibliothek (1778 – 1784), die zuerst unter dem Titel Hamburgischer Kinder-
almanach erschien, die Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde
(1778 – 1787) von Christian Gotthilf Salzmann, Johann Diederich Leydings
Unterhaltende Schriften 73
Handbibliothek für Kinder und junge Leute (1770) oder von Georg Carl
Claudius die Kleinen Unterhaltungen (1780 – 1783) und die Neuen Unter-
haltungen für Kinder (1793 – um 1795).
Neben den unterhaltenden Lesebüchern, in denen verschiedene Genres Anthologien
versammelt sind, erscheinen auch Anthologien einzelner Genres, von Ge-
dichten und Liedern, Rätseln, moralischen Erzählungen und Anekdoten, Fa-
beln, Schauspielen oder Briefen. Nicht selten werden die aufgenommenen
Texte, darunter auch solche, die ursprünglich für Erwachsene geschrieben
waren, von den Herausgebern bearbeitet. Solche Bearbeitungen sind in einer
Zeit, in der die Autorenrechte noch unzureichend geschützt sind und erfolg-
reiche Bücher bedenkenlos nachgedruckt werden, nicht ungewöhnlich. Zu-
dem wurden Texte für Kinder als eine Art Gemeinschaftsgut betrachtet, das
jedem, der sich kinderliterarisch betätigen wollte, zur Verfügung stand.
Eine für die aufgeklärte Kinderliteratur kennzeichnende Gattung sind die
moralischen Erzählungen oder Beispielgeschichten; ihre Ausgestaltung ge-
hört zu den kinderliterarisch wichtigen Leistungen der Epoche. Ihr Ziel ist
die Vermittlung eines moralischen Grundsatzes oder einer Verhaltensregel. Moralische
Einleitend werden die Hauptfigur, zumeist ein Kind, oder eine bestimmte Si- Erzählungen
tuation vorgestellt: »Rudolph war ein gutes Kind. Seine Eltern hatte er lieb«
(Salzmann: Moralisches Elementarbuch); »Amalie gieng mit ihrem Bruder
vor einem jungen starken Bettler vorbey, der sie um eine Gabe ansprach«
(G. C. Claudius : Neues Wochenblatt). Es folgt die Erzählung einer Begeben-
heit, in der sich die Hauptfigur erfolgreich bewährt und damit richtiges Ver-
halten, eine ›Tugend‹, zeigt oder ein Fehlverhalten, ein ›Laster‹, offenlegt. In
der erzählten Begebenheit werden der moralische Grundsatz oder die Verhal-
tensregel den kindlichen Lesern zur Anschauung gebracht. Abgeschlossen
wird die Erzählung häufig mit einem allgemeinen Satz, in dem die vorge-
stellte Maxime formuliert ist; sie kann auch bereits in der Überschrift er-
scheinen. Ihre Erfüllung findet die Intention der moralischen Erzählungen
jedoch vor allem im Gespräch, in dem das Dargestellte erörtert und begriff-
lich gefasst wird.
In vielen moralischen Erzählungen werden die Folgen falschen Verhaltens
drastisch ausgemalt; sie können als ›Abschreckgeschichten‹ bezeichnet wer-
den. Die Elemente ›schwarzer Pädagogik‹ sind nicht zu verkennen; zu den
erzieherischen Mitteln gehört die Furcht. So endet etwa Johann Balbachs
Erzählung vom »verwegenen oder unbesonnenen Roland«, der durch seine
Unbesonnenheit schon einige Unfälle erlitten hat: »und da er sich endlich
einmal […] allzuweit über das Fenster hinaus gelehnt hatte, stürzte er herun-
ter, und zerschmetterte sich den Kopf so jämmerlich, daß er daran sterben
mußte«. Die beigegebene Illustration zeigt den herunterfallenden Roland
und unterstützt die Drastik dieser Folgen des Fehlverhaltens. »Das verwegene Kind«
Eine von den Zeitgenossen hoch gelobte Sammlung moralischer Erzäh-
lungen war Christian Gotthilf Salzmanns Moralisches Elementarbuch (1782/
83). Die Texte für sechs- bis achtjährige Kinder sind zum Vorlesen mit sich
anschließendem Gespräch bestimmt; im ersten Teil sind die Erzählungen in
eine Rahmenhandlung integriert, in der von der Kaufmannsfamilie Herr-
mann erzählt wird; im zweiten fehlt eine Rahmenhandlung, dafür sind die
Erzählungen thematisch geordnet. In freier Übertragung einer französischen
Vorlage schrieb Johann Karl Musäus, der neben einigen Romanen die (für
Erwachsene gedachten) Volksmärchen der Deutschen (1782 – 86) veröffent-
licht hatte, sechzehn moralische Erzählungen, die nach seinem Tod von
Friedrich Johann Justin Bertuch unter dem Titel Moralische Kinderklapper
(1788) herausgegeben wurden.
74 Aufklärung
Fabeln Sehr beliebt war im 18. Jh. die Fabel; sie galt als Musterbeispiel einer
Dichtart, in der Belehren und Erfreuen vereinigt sind. In seinen Abhand-
lungen über die Fabel (1759) hatte Gotthold Ephraim Lessing dargelegt, dass
die Fabel in der Abfolge von Tiergeschichte und Lehre eine exemplarische
Verbindung von anschauender und begrifflicher Erkenntnis biete; nicht zu-
letzt diese Struktur begründet die Beliebtheit der Gattung im 18. Jh.. Aller-
dings ist die Fabel im 18. Jh. noch ein selbstverständlicher Bestandteil der
Erwachsenenliteratur, gilt jedoch zugleich als geeignete Lektüre für die nach-
wachsende Generation. Ihre Zuordnung allein zur Kinderliteratur ist eine
Folge des literaturhistorischen Wandels am Ende des 18. Jh.s.
In den familiären Gesprächen werden Fabeln als ›Exempla‹ verwendet; in
großer Zahl erscheinen sie in den Sammlungen. Bekannte Fabelautoren des
18. Jh.s wie Hagedorn, Gellert, Gleim, Lessing, Lichtwer oder Pfeffel sind
ebenso vertreten wie heute nahezu vergessene; Übersetzungen vor allem aus
dem Französischen kommen hinzu. Unter dem Einfluss Rousseaus, der im
Emile die Fabel als kindliche Lektüre abgelehnt hatte, bemühen sich die Au-
toren um kindgemäßere Fassungen. Zunehmend werden spezielle Fabelantho-
logien für Kinder zusammengestellt, die häufig auch für den Schulgebrauch
gedacht sind. So erscheinen Sammlungen der antiken Fabeln von Äsop oder
Phädrus; bekannte und mehrfach aufgelegte Fabelausgaben für Kinder haben
Johann Lorenz Benzler (Fabeln für Kinder. 1771) und August Gottlob Meiß-
ner (Aesopische Fabeln. 1791) herausgegeben. Zumeist handelt es sich dabei
um ursprünglich für Erwachsene gedachte Texte; Sammlungen von speziell
für Kinder verfassten Fabeln wie etwa die von Christian Gottlieb Göz (Be-
lustigungen für die Jugend. 1778) oder von Johann Jacob Ebert (Fabeln und
Erzählungen. 1798) sind noch eher die Ausnahme.
Zu den kleineren epischen Formen der aufgeklärten Kinderliteratur gehö-
ren die Rätsel, mit denen der Scharfsinn der Kinder geübt und ihnen Wissen
vermittelt wird. Mitunter werden sie auch in den Gesprächen dazu genützt,
Rätsel die ›richtigen‹ Begriffe zu finden. Das Lösen von Rätseln und Scherzfragen ist
zudem Teil der geselligen Unterhaltung der Kinder, wofür Sammlungen wie
die Vierhundert neuen Räthsel zur Unterhaltung für junge Gesellschaften
(1781) oder die Achthundert neuen noch nie gedruckten Räthsel von einem
Kinderfreunde (1791) die Vorlagen bieten. Weiter gehören dazu Anekdoten
und Historien, die auch als historische Beispielgeschichten bezeichnet werden
können. Den moralischen Erzählungen vergleichbar bieten sie Beispiele rich-
tigen oder falschen Verhaltens; für manche Autoren haben sie den Vorzug,
›wahre‹ Begebenheiten darzustellen und nicht wie die moralischen Erzäh-
Historien lungen ›erdichtet‹ zu sein. Der Übergang zur sachlich belehrenden histo-
rischen Literatur ist fließend; die Historien dienen auch einer ersten Einfüh-
rung in Geschichte. Beispiele solcher Sammlungen sind Christian Jakob Wa-
genseils Historische Unterhaltungen für die Jugend (1781 – 1783), Jakob
Christian Welands Sittenlehren, durch Beispiele aus der Weltgeschichte er-
läutert (1795–1799), David Christoph Seybolds Historisches Handbuch auf
alle Tage im Jahre, hauptsächlich den Jünglingen gewiedmet (1788) und
Ernst Christian Trapps Tägliches Handbuch für die Jugend (1794).
Briefe und Weiter sind in den Kinderzeitschriften und Lesebüchern auch Briefe und
Briefwechsel Briefwechsel zu finden. So enthält das Leipziger Wochenblatt eine Reihe von
Kinderbriefen zu dem Waisenhausprojekt, die unter dem Titel Briefe von
Kindern an Kinder auch gesondert veröffentlicht wurden (1773); der Erlös
war für das Waisenhaus bestimmt. Gelegentlich wird die Form des Brief-
wechsels zur Gestaltung der Rahmenhandlung verwendet, so Weißes Brief-
wechsel der Familie des Kinderfreunds (1784 – 1792) oder in der anonym
Unterhaltende Schriften 75
Beispiel ist Campes Robinson der Jüngere (1779/80), das mit Abstand erfolg-
reichste Kinderbuch des 18. Jh.s und eines der erfolgreichsten Kinderbücher
überhaupt. Bis zum Ende des Jahrhunderts gab es sechs Auflagen der recht-
mäßigen Ausgabe und einige Nachdrucke. Im 19. Jh. setzte sich der Erfolg
fort. Die rechtmäßige Ausgabe erschien 1884 in der 109. Auflage; hinzu ka-
men zahlreiche Nachdrucke und bearbeitete Ausgaben. Bereits im 18. Jh.
wurde Robinson der Jüngere ins Französische, Englische und Italienische
übersetzt, im 19. Jh. kamen Übersetzungen in weitere Sprachen hinzu.
Im Zentrum der Handlung steht Robinsons Inselaufenthalt: einsames In-
seldasein ohne Werkzeuge, Zusammensein mit Freitag, Stranden eines
Schiffes mit Werkzeugen, Koloniebildung mit befreiten Europäern und Ab-
reise sind die Stationen. Bei der Rückkehr erleidet Robinson – er stammt aus
Hamburg – erneut Schiffbruch und verliert das auf der Insel erworbene Ver-
mögen; er erlernt das Tischlerhandwerk und eröffnet mit Freitag eine Werk-
statt. In der Struktur von Ausbruch und Rückkehr in die Gesellschaft ist
Robinson der Jüngere eine Initiationserzählung; die Insel wird zum Ort der
Die ›pädagogische Erziehung, zur ›pädagogischen Insel‹. Die Konzentration des Robinson-Stof-
Insel‹: Robinsonaden fes auf eine Initiations- oder Erziehungsgeschichte ist zweifellos einer der
wichtigsten Gründe für den Erfolg von Campes Robinson. Dieser Struktur
folgen auch die vor allem im 19. Jh. zahlreichen Bearbeitungen von Defoes
Roman und die noch zahlreicheren ›Robinsonaden‹. Johann Christian Lud-
wig Haken kann am Beginn des 19. Jh.s in seiner Bibliothek der Robinsone
(1805 – 1808) bereits 27 solche Robinsonaden versammeln. Aus dem philan-
thropischen Umkreis sind Christian Friedrich Sanders Roman Friedrich Ro-
binson. Ein Lesebuch für Kinder (1784) zu nennen und die der Robinson-
Struktur folgende Bearbeitung der Insel Felsenburg von Johann Gottfried
Schnabel, einer zwischen 1731 und 1743 erschienenen Inselutopie, die Chris-
tian Karl André unter dem Titel Felsenburg, ein sittlich unterhaltendes Lese-
buch (1788/89) herausbrachte. André veröffentlichte im ersten Teil seiner
Lustigen Kinderbibliothek (1787/88) auch die erste deutschsprachige Ju-
gendbearbeitung des Don Quijote von Miguel Cervantes. Als eine Warnung
vor Robinsonaden veröffentlichte Georg Carl Claudius den Roman Ludwig
Helmann, eine Geschichte zur Beherzigung für die Jugend (1788), in dem das
klägliche Scheitern des Titelhelden in Übersee erzählt wird. Anlass war der
Ausreißversuch einiger Leipziger Jungen, die, angeblich verführt durch die
Lektüre von Campes Robinson, von zu Hause wegliefen, um nach Amerika
zu fahren, allerdings bald eingeholt wurden. Als Robinsonade kann auch die
in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh.s erfolgreiche Romanerzählung Gumal
und Lina. Eine Geschichte für Kinder (1795 – 1800) von Kaspar Friedrich
Lossius gelten, in der die Geschichte zweier Kinder in einer Kolonie in Afrika
erzählt wird. Zentrale Intention der an dem berühmten Roman Paul et Virgi-
nie von Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre (1788) orientierten Erzäh-
lung ist die Vermittlung christlicher Religions- und Moralvorstellungen.
Zeitgleich mit Campes Robinson dem Jüngeren erschien Johann Karl We-
zels Robinson Krusoe. Neu bearbeitet (1779/80). Im ersten Teil folgt Wezel
weitgehend Defoe. Der zweite Teil, in dem die weitere Geschichte der Insel
erzählt wird, ist ein eigenständiger Text. Wezel führt verschiedene Gesell-
schaftsformationen und ihre Konflikte vor, die in einem Desaster enden. Die
Robinson-Erzählung biete, schreibt Wezel in der Vorrede zum ersten Teil,
»eine Geschichte des Menschen im Kleinen«; seine Bearbeitung gebe im ers-
ten Teil »Beispiele von den Veränderungen […] in dem Zustande des Men-
schen«, im zweiten »Beispiele von den Veränderungen in dem Zustande der
Gesellschaft«. So bietet insbesondere der zweite Teil eine – fast allegorisch zu
Unterhaltende Schriften 77
J. H. Campe: Robinson
der Jüngere. Titelkupfer
von A. Stöttrup zum
1. Teil. Hamburg 1779
J. K. Wezel: Robinson
Krusoe. Kupferstich-
Frontispiz. Leipzig 1779
des Märchens ist die aufgeklärte Kinderliteratur seit der Romantik heftig
kritisiert worden; sie diente dazu, ihr mangelnde Kindgemäßheit, rationalis-
tische Beschränkung, bloßes Nützlichkeitsdenken und allein am Verstand
orientierte Belehrung vorzuwerfen. Es ist jedoch zu differenzieren. Die Skep-
sis der Aufklärung richtet sich vor allem gegen die Märchen, die gängiger-
weise als ›Volksmärchen‹ bezeichnet werden (und für die heute als beispiel-
haft die Grimmschen Kinder- und Hausmärchen gelten). Die Ablehnung
dieser Märchen aber ist eng mit der aufgeklärten Bekämpfung des Aberglau-
Kampf gegen bens verbunden; sie gelten als Zeugnisse abergläubischer Vorstellungen. Mit
Aberglauben dem Vorwurf, Märchen reizten zu sehr die Einbildungskraft, ist auch ge-
meint, dass sie Furcht und Angst hervorriefen. Und es ist daran zu erinnern,
dass in einer Zeit, in der abergläubische Vorstellungen noch weit verbreitet
waren, den ›märchenhaften‹ Erzählungen ein weitaus größerer ›Realitätsge-
halt‹ zugesprochen wurde als dies heute vorstellbar erscheint.
Aberglaube widerspricht für die Aufklärung nicht nur der wissenschaft-
lichen Erkenntnis natürlicher Vorgänge, er widerstreitet vor allem dem auf
Vernunft gegründeten Selbstvertrauen, der Mündigkeit des sich seines eige-
nen Verstandes bedienenden Menschen. Deshalb erscheinen solche Märchen
in der aufgeklärten Kinderliteratur in der Regel nur als Beispiele – als ›Lü-
genmärchen‹, wie sie denn zumeist genannt werden –, an denen abergläu-
bische Vorstellungen aufgedeckt, ihre fatalen Folgen demonstriert oder die
›natürliche‹ Erklärung fantastischer Begebenheiten vorgeführt werden. Die
Ablehnung dieser Märchen hat zudem eine soziale Dimension. Die Abwehr
richtet sich vor allem gegen das Märchenerzählen durch das Gesinde; nicht
›Ammenmärchen‹ von ungefähr heißen Märchen dieser Art im 18. Jh. ›Ammenmärchen‹. Sie
gelten als eine Gattung des ›Volks‹, das noch immer von Aberglauben be-
herrscht wird. Davor sollen die bürgerlichen Kinder bewahrt werden.
Eine andere Haltung nimmt die aufgeklärte Kinderliteratur zu den Feen-
märchen ein, den ›Contes des Fées‹ in der Tradition der französischen Kunst-
märchen von Marie Catherine d’Aulnoy (Contes des fées, 1697 – 98) und
Charles Perrault (Contes de ma mère l’Oye, 1697), ebenso zu den ›morgen-
ländischen‹ Erzählungen etwa in der Tradition der arabischen Märchen-
›Feenmärchen‹, sammlung Tausendundeine Nacht, die durch die französische Übersetzung
›morgenländische‹ von Jean-Antoine Galland (Les mille et une nuits, contes arabes, 1704 – 1717),
Erzählungen der ersten in eine europäische Sprache, bekannt wurde. Die Feenmärchen
wurden als Kinderlektüre akzeptiert, weil sie als Kunstmärchen artifizieller
gestaltet sind und deshalb (verglichen mit den ›Volksmärchen‹) die Fiktiona-
lität des Wunderbaren deutlicher sichtbar wird. Allerdings gelten sie primär
als Erwachsenenliteratur. So vermerkt etwa Friedrich Johann Justin Bertuch,
dass die von ihm herausgegebene Sammlung französischer und auch orienta-
lischer Feenmärchen Die Blaue Bibliothek aller Nationen (1790 – 96) vom
»Kinde an bis hinauf zum Greise« bestimmt sei; einen besonders für Kinder
gedachten Auszug aus dieser Sammlung veröffentlichte Bertuch unter dem
Titel Die Blaue Bibliothek für Kinder (1802). Die morgenländischen Erzäh-
lungen kommen aufgeklärten Vorstellungen durch ihren moralisch beleh-
renden Charakter entgegen; so konnten sie den moralischen Erzählungen
angeglichen und wie diese gebraucht werden.
Als Ausnahmeerscheinung in der Kinderliteratur des 18. Jh.s gelten ge-
meinhin die unter dem Titel Palmblätter. Erlesene morgenländische Erzäh-
lungen für die Jugend erschienenen Nachdichtungen orientalischer Erzäh-
lungen von August Jacob Liebeskind (1786 – 1800). Die Anregung hatte Jo-
hann Gottfried Herder gegeben, der zum ersten Teil auch eine Vorrede
schrieb; von ihm stammen möglicherweise auch die Erzählungen des dritten
Unterhaltende Schriften 79
Das Veilchen
Warum, geliebtes Veilchen, blühst
Du so entfernt im Thal?
Versteckst dich untern Blättern, fliehst
Der stolzern Blumen Zahl?
Und doch voll Liebreiz duftest du,
So bald man dich nur pflückt,
Uns süßre Wohlgerüche zu,
Als manche, die sich schmückt.
Du bist der Demuth Ebenbild,
Die in der Stille wohnt
Und den, der ihr Verdienst enthüllt,
Mit frommem Dank belohnt.
Ch. A. Overbeck:
Als Autorinnen und Autoren solcher intentionalen aufgeklärten Kinderlyrik
Fritzchens Lieder.
seien – neben Weiße und Burmann – noch genannt: Johann Michael Arm-
Titelvignette von
J. A. Rosmaesler. bruster, Friedrich Johann Justin Bertuch (Wiegenliederchen, 1772), Magda-
Hamburg 1781 lene Philippine Engelhard (Neujahrsgeschenk für liebe Kinder, 1787), Ru-
dolph Christoph Lossius (Lieder und Gedichte, 1787), Johann Heinrich Rö-
ding und Karoline Rudolphi. Spielerischer, auch weniger belehrend als die
gängigen Texte sind die von der Anakreontik und der Lyrik des Göttinger
Hains beeinflussten Lieder in Christian Adolf Overbecks Band Frizchens
Lieder (1781). Allerdings erinnert Overbecks Frizchen, dem er auch Liebes-
lieder An Lotte in den Mund legt, eher an einen Rokokoputto oder einen
kleinen anakreontischen Schäfer als an ein Kind. Von Overbeck stammt auch
das Lied An den May (›Komm, lieber May, und mache‹), eines der wenigen
lebendig gebliebenen Beispiele intentionaler aufgeklärter Kinderlyrik, das
sein Überleben allerdings eher der Vertonung durch Mozart als Overbecks
Text verdankt. Lebendig geblieben sind auch die Kinderlieder von Matthias
Claudius. Realitätsnäher als die moralischen Gedichte und Lieder, kommt
ihnen eine Sonderstellung in der Kinderlyrik der Zeit zu; vor allem zeichnen
sie sich in ihrer bewusst gesetzten Einfachheit in Sprache, Stil und Form
durch eine hohe Kunstfertigkeit aus.
Unterhaltende Schriften 81
Ein Lied
hinterm Ofen zu singen
Der Winter ist ein rechter Mann,
Kernfest und auf die Dauer;
Sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an,
und scheut nicht Süß noch Sauer.
War je ein Mann gesund, ist er’s;
Er krankt und kränkelt nimmer,
Weiß nichts von Nachtschweiß noch Vapeurs,
Und schläft im kalten Zimmer.
Er zieht sein Hemd im Freien an,
Und läßt’s vorher nicht wärmen;
Und spottet über Fluß im Zahn
Und Kolik in Gedärmen.
Aus Blumen und aus Vogelsang
Weiß er sich nichts zu machen,
Haßt warmen Drang und warmen Klang
und alle warmen Sachen.
Doch wenn die Füchse bellen sehr,
Wenn’s Holz im Ofen knittert,
Und um den Ofen Knecht und Herr
Die Hände reibt und zittert;
Wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht
Und Teich und Seen krachen;
Das klingt ihm gut, das haßt er nicht,
denn will er sich totlachen. –
Sein Schloß von Eis liegt ganz hinaus
Beim Nordpol an dem Strande;
Doch hat er auch ein Sommerhaus
Im lieben Schweizerlande.
Da ist er denn bald dort bald hier,
Gut Regiment zu führen.
Und wenn er durchzieht, stehn wir
Und sehn ihn an und frieren.
Allerdings ist die Kinderlyrik der Aufklärung nicht auf die intentionalen,
belehrenden Gedichte und Lieder zu beschränken. Mehr als bei anderen
Gattungen, vergleichbar nur der Fabel, werden die Kinder auch mit ur-
sprünglich für Erwachsene geschriebenen Texten bekannt gemacht. Lieder
und Gedichte von Gellert, Gleim, von Hagedorn und anderen Anakreonti-
kern, von Autoren des ›Göttinger Hains‹ wie Voß, Hölty, den Brüdern Stol-
berg sind, zum Teil bearbeitet, in den Anthologien zu finden. Sie gehören zur
Kinderlyrik der Aufklärung. Zu beachten ist auch, dass die Lyrik für Kinder,
auch die intentionale und belehrende, dazu bestimmt war, vertont und ge- Vertonungen
sungen zu werden. Das Singen dieser Lieder gehört zum geselligen Umgang
der Kinder und zur familiären Geselligkeit. Weißes Lieder wurden mehrfach
vertont; sehr verbreitet waren die Vertonungen von Johann Adam Hiller
(1769), einem damals bekannten Komponisten vor allem deutscher Sing-
spiele. Der bedeutendste Komponist von Kinderliedern im 18. Jh. war Johann
82 Aufklärung
tungen oder Traktaten an. Die moralisch belehrenden Schriften sind – verg-
lichen mit den unterhaltenden – stärker systematisch gegliedert. Dies gilt
auch, wenn die anschauende Erkenntnis eine größere Rolle spielt und damit
Exempla, moralische Erzählungen etwa, stärker berücksichtigt sind; Salz-
manns Moralisches Elementarbuch (1782/83) ist dafür ein Beispiel. Häufig
ist die Dreiteilung in ›Pflichten gegen sich selbst‹, ›Pflichten gegenüber ande-
ren Menschen‹, ›Pflichten gegen Gott‹, innerhalb derer weiter nach einzelnen
Pflichten und Tugenden unterteilt wird.
Lehrgespräche Eine große Rolle spielt in den moralisch belehrenden Schriften die Form
des Gesprächs. Zu ihnen gehören deshalb die zahlreichen Lehrgespräche und
lehrreichen Unterredungen; gerade hier sind die Grenzen zu den unterhalten-
den Schriften nur schwer genau festzulegen. Die stärker belehrend ausgerich-
teten ›Unterredungen‹ sind zumeist an ältere Kinder gerichtet, die einen ersten
Moralunterricht bereits hinter sich haben. Als Beispiele (neben den früher
angeführten) seien hier noch Ernst Christian Trapps Unterredungen mit der
Jugend (1775), die Unterhaltungen mit meinen Schülern von Karl Philipp
Moritz (1780) und Gutwills Gespräche mit seinem Wilhelm (1792) von Jo-
hann Heinrich Gottlieb Heusinger genannt, wobei Heusinger sich als einer
der ersten Autoren im kinderliterarischen Bereich an der Philosophie Imma-
nuel Kants orientierte.
Biographien Den Historien verwandt sind die Biographien, die in der Darstellung vor-
bildlichen Verhaltens und nachahmenswerter Lebensführung der moralischen
Belehrung dienen. Zu unterscheiden sind Biographien, in denen das Leben
bekannter Personen erzählt, und solche, in denen allein die Kindheit bekann-
ter und auch weniger bekannter Personen vorgestellt wird. ›Kinderbiogra-
phien‹ sind etwa zu finden in dem anonym erschienenen Band Kinderbiogra-
phie bis an die Jahre ihres Bestimmungsstandes (1783), in dem von der
Kindheit dreier in ihrem Erwachsenenleben erfolgreicher Personen berichtet
wird, oder in der aus dem Französischen übersetzten Sammlung Lebensbe-
schreibung merkwürdiger Kinder oder Muster der Nachahmung für das ju-
gendliche Alter (1799; ihr Autor ist Anne Francois Joachim Fréville), in der
Kindergestalten der Antike, der Renaissance sowie des 17. und 18. Jh.s vor-
gestellt werden. Eine umfangreiche Sammlung von ›Erwachsenenbiogra-
phien‹ waren die Skizen aus dem Leben und Karakter grosser und seltener
Männer unserer und älterer Zeiten (1785 – 1789). Der Übergang von der
moralischen Biographie zu historischer Sachliteratur ist fließend; zumeist
gelten die Biographien als erste Einführungen in die Geschichte, etwa für
Christian Jakob Wagenseil, der in den Historischen Unterhaltungen für die
Jugend (1781 – 1783) eine Reihe von Kurzbiographien und in den Biogra-
phien für die Jugend (1790/92) sechs moralische Biographien, unter anderem
von James Cook und Moses Mendelssohn, veröffentlichte.
Einen Kernbereich der moralisch belehrenden Schriften bilden die Sitten-
oder Tugendlehren. Hier hat die Aufklärung, insbesondere bei den meist
›Sittenbüchlein‹ ›Sittenbüchlein‹ genannten Einführungen in die Grundbegriffe der Moral
für kleinere Kinder, eine Reihe unterschiedlicher Formen entwickelt. Johann
Georg Schlosser verwendet in seinem Katechismus der Sittenlehre für das
Landvolk (1771), der ab 1773 unter dem Titel Sittenbüchlein für die Kinder
des Landvolks erschien, die Form des Katechismus. An Schlosser orientiert,
hat Campe in seinem Sittenbüchlein für Kinder aus gesitteten Ständen
(1777) die Katechismusform zur Gesprächsform weiterentwickelt. Dem von
Campe gegebenen Modell folgen zahlreiche Sittenbüchlein; Karl Traugott
Thiemes Gutmann oder der Sächsische Kinderfreund (1794) oder Salzmanns
Erster Unterricht in der Sittenlehre für Kinder (1803), auch sein Moralisches
Moralisch belehrende Schriften, religiöse Schriften 85
Bis zum Beginn des 19. Jh.s kann zwischen Kinderliteratur und Schulbuch Lehr- und Schulbuch
kaum sinnvoll unterschieden werden – jedenfalls bei deutschsprachigen Tex-
ten (für antike Autoren gab es seit längerem besondere Schulausgaben). Erst
mit der endgültigen Etablierung des Schulwesens und dem Verschwinden des
häuslichen Privatunterrichts ist eine solche Trennung sinnvoll. Die aufgeklär-
ten Pädagogen haben sie bewusst vermieden, nicht zuletzt in der Absicht, den
Unterricht spielerischer zu gestalten und ›Belehren‹ mit ›Unterhalten‹ zu ver-
knüpfen. Auch die Unterscheidung zwischen Lehrbuch und Sachbuch ist
problematisch. Ein großer Teil der sachlich belehrenden Literatur kann zu
Unterrichtszwecken, schulischen wie privaten, verwendet werden und wird
in den Vorreden auch dafür bestimmt. Zugleich hat jedoch die aufgeklärte
Pädagogik den Bereich des Lehr- und Sachbuchs tiefgreifend verändert; neue
Sachgebiete wurden erschlossen und neue Formen der Präsentation ausgebil-
det.
88 Aufklärung
J. H. Campe: Neue
Methode, Kinder auf eine
leichte und angenehme
Weise Lesen zu lehren.
Altona 1778
ABC-Bücher, Fibeln Beim Lehrbuch sind an erster Stelle die ABC-Bücher und Fibeln zu nennen.
Nahezu jeder der aufgeklärten Pädagogen hat ein solches Leselernbuch vor-
gelegt und dabei neue Methoden entwickelt, den Kindern das Lesen beizu-
bringen. Die bis in die zweite Hälfte des 18. Jh.s hinein ziemlich gleichför-
migen ABC-Bücher und Fibeln erfahren eine erhebliche Variation. Drei
Momente sind prägend: Der Leselehrteil wird methodischer gestaltet; insbe-
sondere durch reichere Illustrierung wird das Lesenlernen spielerischer; bei
den Lesestücken werden die traditionell religiösen Texte durch der Aufklä-
rung entsprechende, meist moralisch belehrende ergänzt oder ersetzt. Den
Anfang machte auch hier Weiße mit seinem, auf Anregungen Basedows zu-
rückgehenden, 1773 erschienenen Neuen A, B, C, Buch.
Fünf Jahre später brachte Campe sein Leselernbuch Neue Methode Kin-
dern auf eine leichte und angenehme Weise lesen zu lehren heraus; völlig neu
bearbeitet erschien es 1807 unter dem Titel Abeze- und Lesebuch als erster
Band seiner Sämmtlichen Kinder- und Jugendschriften. Basedow, Carl Georg
Claudius, Lavater, Moritz, Salzmann und auch Herder haben ABC-Bücher
und Fibeln verfasst, ebenso sonst unbekannt gebliebene Lehrer. Nicht wenige
Leselernbücher erschienen anonym; viele von ihnen hatten nur regionale
Bedeutung.
Lesebücher Den ABC-Büchern und Fibeln sind kleinere Lesestücke beigegeben, Sprich-
wörter, Gedichte, Fabeln, kleine moralische Erzählungen. Solche Texte er-
schienen auch in gesonderten Sammlungen, in ›Lesebüchern‹, die für die
weitere Übung im Lesen gedacht waren. Die Grenze zu den ›unterhaltenden
Lesebüchern‹, die immer auch als Übungsbücher gedacht waren, ist fließend.
Sehr verbreitet war Johann Georg Sulzers Lesebuch Vorübungen zur Erwe-
ckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens, das erstmals 1768 erschien
und 1780/82 von Johann Heinrich Ludwig Meierotto beträchtlich erweitert
wurde. Überaus erfolgreich und im Schulunterricht epochemachend war das
Lehr- und Schulbücher, Sachliteratur 89
Christian Gotthilf
Salzmann: Reisen der
Salzmannischen Zöglinge.
Titelvignette von G. G.
Endner zu Band 1. Leipzig
1784
J. H. Campe: Vaeterlicher
Rath für meine Tochter.
Frontispiz. Braunschweig
1789
Frontispiz von G. L.
Crusius zu: Der Frau
Maria LePrince de
Beaumont lehrreiches
Magazin. Leipzig 1760
Literatur für Mädchen 93
›Gattin, Mutter, sei. Die Ausrichtung auf die männliche Dominanz spricht Campe unbeschö-
Hausfrau‹ nigt aus: Als Gattin hat die Frau die Pflicht, dem Mann »durch zärtliche
Theilnehmung, Liebe, Pflege und Fürsorge das Leben zu versüßen«, als Vor-
steherin des Hauswesens soll sie die »häusliche Ruhe und Glückseligkeit des
erwerbenden Gatten sicher stellen«, und als Mutter wird sie nur erfolgreich
sein, wenn sie in der Erziehung der Kinder »die Anordnungen und Pläne be-
folgt«, die der Ehemann ihr vorschreibt. Die Vorstellung vom ›natürlichen‹
weiblichen Geschlechtscharakter, in deren Konsequenz für Mädchen eine
andere Erziehung als für Jungen und eine ihrer ›Natur‹ angemessene Litera-
tur verlangt sind, hat die weitere Entwicklung der Mädchenliteratur nach-
haltig geprägt.
Diese Vorstellung bestimmt auch die relativ spät, in den 80er Jahren, be-
ginnende und in den 90er Jahren verstärkte Ausdifferenzierung einer für
Mädchen gedachten Literatur im Bereich der unterhaltenden Schriften. Den
Anfang machen Zeitschriften für Mädchen wie die Wochenschrift Für deut-
sche Mädchen von Paul Friedrich Achat Nitsch (1781/82). Sophie von La
Roches Monatsschrift Pomona für Teutschlands Töchter (1783/84) oder
Marianne Ehrmanns Monatsschrift Amaliens Erholungsstunden. Teutsch-
lands Töchtern geweiht (1791). Es folgen unterhaltende Lesebücher wie Der
Mädchenfreund von Christian Carl André (1789/91) oder die vermutlich
von Karl von Eckartshausen stammende Bibliothek für Mädchen, nach den
Stuffen des Alters eingerichtet (1791). Vorrangig vertreten sind moralische
Moralische Erzählungen oder Beispielgeschichten, in denen Muster weiblichen Verhal-
Erzählungen tens vorgestellt werden; Sophie von La Roche hat einige ihrer zuerst in der
Pomona erschienenen moralischen Erzählungen auch als Einzeldrucke veröf-
fentlicht. Aus diesen moralischen Erzählungen hat sich die für die Mädchen-
literatur des 19. Jh.s typische Form der Erzählung entwickelt. So steht etwa
Jakob Glatz mit seinen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh.s sehr erfolg-
reichen Büchern für Mädchen in dieser Tradition.
Nur bedingt zur Mädchenliteratur zu zählen sind die empfindsamen Ro-
mane in der Tradition Samuel Richardsons, in denen in den Vorreden oder
schon in den Titeln Mädchen oder ›junge Frauenzimmer‹ als Adressaten ge-
nannt werden und die – wie Friederike Helene Ungers Roman Julchen
GrünthaI. Eine Pensionsgeschichte (1784), der Briefroman Für Töchter edler
Romane für Herkunft (1787) von Johann Timotheus Hermes oder auch Sophie von La
›Frauenzimmer‹ Roches Roman Rosaliens Briefe an ihre Freundinn Marianne in St* (1780 –
1781) – in älteren historischen Darstellungen als Beginn der Mädchenlitera-
tur gelten. Abgesehen davon, dass die moralisch belehrenden Schriften für
Mädchen bereits vor solchen Romanen erschienen, sind diese auch kaum für
Mädchen gedacht, richten sich vielmehr in erster Linie an erwachsene Frauen.
Der Hinweis auf Mädchen als mögliche Leserinnen dient dazu, den Verkauf
des Buches zu fördern, zeigt aber immerhin auch, dass sie am Ende des Jahr-
hunderts als eine eigene Gruppe im Lesepublikum verstanden wurden.
Nach 1790 wird die dominante Position, die der aufgeklärten Kinderlitera-
tur, insbesondere ihrer philanthropischen Ausprägung, vor allem in den bei-
den Jahrzehnten zwischen 1770 und 1790 zukam, immer mehr in Frage ge-
stellt; im Zusammenhang mit den Veränderungen in der Erwachsenenlitera-
tur vollzieht sich ein struktureller Wandel. Er wird darin sichtbar, dass die
Form des väterlichen Gesprächs an Bedeutung verliert. In Salzmanns Hein-
rich Gottschalk in seiner Familie (1804) vollzieht sich dieser Wandel inner-
halb eines Buches. Es beginnt in Gesprächsform; ein Hauslehrer und der
Großvater Gottschalk sind die Gesprächspartner der Kinder. Der Großvater
Literatur für Mädchen 95
Romantik
Hans-Heino Ewers
Auch auf dem Feld der Kinder- und Jugendliteratur tritt die Romantik als
Gegenströmung zur Aufklärung auf. Die im späten 18. Jh. etablierte didak-
tische Kinder- und Jugendliteratur vermag sie freilich nicht zu verdrängen. Es
kommt vielmehr zu einer Ausdifferenzierung polar entgegengesetzter litera-
turpädagogischer Standpunkte. Der im Gegeneinander von aufgeklärt-di-
daktischer und romantischer Kinder- und Jugendliteraturauffassung erstmals
sich manifestierende Antagonismus wird im Laufe der weiteren geschicht-
lichen Entwicklung in unzähligen Verkleidungen wiederkehren. Während die
aufgeklärte Kinder- und Jugendliteratur Deutschlands zu einem beträcht-
lichen Teil französischen, teils auch englischen Vorbildern folgte und allen-
falls in der Rezeption rousseauistischer Gedanken ab dem Ende der 70er
Jahre eine gewisse Eigenständigkeit zeigte, darf die deutsche romantische
Kinderliteratur der ersten zwei bis drei Jahrzehnte des 19. Jh.s als die erste
ihrer Art gelten. Vergleichbares tritt in anderen europäischen Ländern erst
Jahrzehnte später, ja teils erst im späten 19. Jh. in Erscheinung.
Zur Vorgeschichte der romantischen Kinderliteratur gehört die bereits im
späten 18. Jh. sich vollziehende Ausbildung einer Kindheitsauffassung, die
sich von der aufgeklärten Anthropologie des Kindes absetzt und in ihrem
Kern als mystisch bezeichnet werden kann. Für diese an neuplatonische Leh-
ren anknüpfende Kindheitsvorstellung sind Kinder ›heilige‹, dem Göttlichen
noch unmittelbar verbundene Wesen. In neuplatonischer Sicht ist die Seele
des Menschen vor der Geburt mit der Weltseele vereint; die verhängnisvolle
Trennung von der Weltseele tritt nicht etwa mit dem Akt der Geburt, sondern
erst mit dem Verlust der Kindheit ein. Diese neuplatonische Tradition ist
Mitte des 18. Jh.s bei Johann Georg Hamann präsent, der wiederum auf den
jungen Johann Gottfried Herder eingewirkt hat.
Herders Kindheits- In seinen sprach- und geschichtsphilosophischen Schriften der 1770er
auffassung Jahre hat Herder freilich einen anderen, genuin aufklärerischen, anthropolo-
gisch-immanenten Weg zu einer neuen Kindheitsauffassung beschritten.
Seine neue Kindheitstheorie ist gleichsam ein Nebenprodukt seiner neuen
Sicht des Wilden, des primitiven Menschen, der rohen Völker und ihrer ur-
kräftigen Poesie. Abstoßungspunkt ist Jean Jacques Rousseaus Kulturanth-
ropologie, insbesondere dessen Lehre vom Naturzustand, vom Wilden als
dem noch nicht entfremdeten Menschen, die Herder scharfsinnig als selbst
noch aufklärerische Wunschprojektion entlarvt. Für Rousseau wie für Her-
der ist das Kind, das man Kind sein lässt, eine Inkorporation des Wilden,
Kindheit eine Wiederholung des Naturzustandes bzw. des kindlichen Zu-
standes der Menschheit; beide aber sehen im Wilden bzw. im kindlichen
Menschen ganz unterschiedliche Wesen. Im Sinne der Vermögenspsychologie
des 18. Jh.s sind Kinder für Rousseau Wesen, in denen sich neben den kör-
Vorgeschichte und Voraussetzungen 97
Romantische Gegen Ende des 18. Jh.s werden die moderne Anthropologie Herderschen
Kindheitsmetaphysik Typs als unbefriedigend und die anthropologische Definition des Menschen
als eines Naturwesens als herabwürdigend empfunden; ein Wiedererstarken
metaphysischer Denkansätze ist die Folge. Herders Kindheitsentwurf wird in
seinen inhaltlichen Bestimmungen von Autoren wie Jean Paul, Ludwig Tieck
oder Novalis mehr oder weniger vollständig aufgegriffen; seine rationale
Erklärungsart, seine rein anthropologische Vorgehensweise dagegen werden
Die romantische Kindheitsphilosophie 99
durch eine metaphysische Deduktion ersetzt. An diesem Punkt gerät der von
Johann Georg Hamann hochgehaltene neuplatonisch-mystische Kindheits-
gedanke wieder ins Spiel. Aus seiner Verschmelzung mit der Herderschen
Kindheitsanthropologie geht die romantische Kindheitsphilosophie im enge-
ren Sinne hervor. Das dunkle und verworrene, das heftig bewegte und fanta-
sievolle Innere des primitiven und des kindlichen Menschen erscheint in me-
taphysischer Sichtweise nun als ein göttlicher Kern, der sich im Geburtsakt
von der Weltseele getrennt und in einen Körper, einen ›Erdenkloß‹ Einlass
gefunden hat, der hierin zunächst eingehüllt bleibt, dann aber hervorblickt
und sein ›Licht‹ oder seine ›Wärme‹ über die begegnende Welt ausstrahlen
lässt.
Mag der göttliche Kern einmal als ein geistiger Enthusiasmus begriffen Fantasie
werden wie bei Jean Paul, das andere Mal als Liebe, als unendliches Fühlen
und Sehnen wie bei Tieck oder als eine poetische Genialität wie bei Novalis
– in allen Fällen ist die Fantasie das Organ, das dem göttlichen Kern Aus-
druck verschafft. Die Fantasie versieht alles Wahrgenommene mit einem
göttlichen Abglanz, verklärt, idealisiert, romantisiert die Welt. Den Romanti-
kern ist bewusst, dass Kinder die Welt nicht wahrnehmen, wie sie ist. Doch
ist das gegenwärtige Sosein der Welt deren eigene Unwahrheit; erst in der
kindlich-fantastischen Verzerrung und Verkehrung ihres Soseins findet sie zu
ihrer Wahrheit zurück. Gleiches gilt für die kindlich-animistische Beseelung
und Personifizierung der Natur; sie spricht in den Augen der Romantiker
deren Wahrheit aus, denn diese ist recht besehen selbst ein Geistiges, das sich
gegenwärtig nur abhanden gekommen ist.
Im Übergang von der Anthropologie zur Metaphysik hat sich das roman-
tische Kindheitsmuster selbst wenig verändert; es bleibt in Grundzügen seit
Herder gleich. Die Kindheit hat lediglich eine andere Wertung, eine immense
Aufwertung erfahren. Der kraftgenialische, wahrnehmungsverzerrende Sub-
jektivismus des Primitiven und des Kindes bedeutete, so poetisch reizvoll er Das Kind als Wider-
auch immer war, für Herder doch eine zu überwindende Entwicklungsstufe. schein des Göttlichen
Wird das Innere, das Gemüt des ersten Menschen bzw. des Kindes dagegen
als ein ungetrübter Widerschein des Göttlichen begriffen, kann von Subjekti-
vismus nicht mehr die Rede sein; es muss dann im Gegenteil als eine höhere
Objektivität gelten. Kinder vermögen »mit ihrer Weisheit, mit ihrem hohen
geheimnisvollen Ernst« selbst Greise zu beschämen, heißt es bei Tieck. »Sie
sind so wahrhaft ernst und erhaben […], weil sie dem Quell des Glanzes noch
so nahestehen, der immer dunkler sich entfernt, je mehr das Leben in die
Jahre rückt.« »Dieser Ätherschimmer, diese Erinnerungen der Engelswelt le-
ben und regen sich noch hell und frisch im Kindergeiste, der dunkle Schatten
der Erdgegenstände ist noch nicht verfinsternd in den Glanz hineingerückt
[…]: und darum stehn die Kinder wie große Propheten unter uns, die uns in
verklärter Sprache predigen, die wir nicht verstehen.« Der kindliche Geist
wird zu einer letzten Wahrheitsinstanz erhoben, sein Blick in die äußere Welt
zu einem zurechtrückenden, die Dinge aus ihrer Entfremdung erlösenden.
Der Erwachsene muss folglich zu Kindern aufblicken, verkörpern sie doch
ein Maximum, von dem der Mensch mit wachsendem Alter sich nur entfer-
nen kann. »Denn sind die Menschen nicht verdorbene, ungeratene Kinder?
Sie sind nicht vorwärts-, sondern zurückgegangen; das Kind ist die schöne
Menschheit selbst.« Wie könnte der Erwachsene sich da eine eingreifende
Erziehung anmaßen? In Novalis’ Heinrich von Ofterdingen wird vom Er-
wachsenen verlangt, dass er »das Aufblühen eines Kindes mit demütiger
Selbstverleugnung zu betrachten« habe; hier sei ein »Geist« geschäftig, der
»frisch aus der unendlichen Quelle« komme und noch unmittelbar einer
100 Romantik
teilen. Jetzt steht mehr auf dem Spiel: Es geht um die Rettung einer folkloris-
tischen Tradition, zu der mittlerweile auch weite Teile des ›einfachen‹ Volkes
keinen lebendigen Kontakt mehr haben und die auch den Kindern der ›gebil-
deten‹ Schichten so ohne weiteres nicht mehr zugänglich ist. »Es war viel-
leicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewah-
ren sollten, immer seltner werden«, so heißt es in der Vorrede von 1812 zu
den Kinder- und Hausmärchen. Die Adressierung an die Gebildeten bleibt
bestehen; diese sollen mittels solcher folkloristischer Editionen die Bekannt-
schaft mit einem Kapitel »der Geschichte der Poesie« machen. Daneben aber
tritt in der Spätromantik die »Ansicht, daß die Poesie selbst, die darin leben-
dig ist, wirke: erfreue, wen sie erfreuen kann, und darum auch, daß ein ei-
gentliches Erziehungsbuch daraus werde«, wie es in der Vorrede der Brüder
Grimm von 1814 heißt. Erst in der Spätromantik werden also folkloristische
Sammlungen ausdrücklich auch als intentionale Kinderliteratur begriffen,
die dazu beitragen soll, dass Kinder zu ›ihrer‹ Poesie finden.
Beide Romantikergenerationen teilen ein und dieselbe Kindheitsauffassung: Kindheit und
Nähe zum Unendlichen, Selbstverständlichkeit des Wunderbaren, Einblick in Ursprung
die Geheimnisse der Natur und Reichtum der Fantasie – auch für die Spätro-
mantiker sind dies die Kennzeichen der kindlichen Geistesart. Auch die Ver-
knüpfung der Kindheit mit den mythischen Anfangsstadien der Menschheit
bzw. der Völker ist bei den Spätromantikern geläufig. So schreibt Jacob
Grimm: »der Anfang des einzelnen Menschen steht auf gleicher Linie mit dem
Anfang des Volkes.« Was er über die »alten Menschen« notiert, gilt uneinge-
schränkt auch für Kinder: »Die alten Menschen sind größer, reiner und heili-
ger gewesen, als wir, es hat in ihnen und über sie noch der Schein des gött-
lichen Ausgangs geleuchtet.« Diese Kindheitsauffassung aber steht bei den
Spätromantikern in einen gänzlich veränderten geschichtlichen Kontext: Der
frühromantische Utopismus, die chiliastische Endzeiterwartung haben sich
bei ihnen weitgehend verloren. Zum aufgeklärten Zeitalter haben sie deshalb
nicht schon ein besseres Verhältnis: Auch die Spätromantiker sehen in ihm
einen Abfall von der Höhe der geschichtlichen Anfänge. Sie zweifeln jedoch
daran, dass die Völker zur Größe ihrer mythischen Anfänge jemals zurückfin-
den könnten. Der Höhepunkt eines jeden Volkes liegt für sie in der Vergan-
genheit; alle Fortentwicklung kann ihnen nur ein Absinken bedeuten. Dies
muss keineswegs zu Resignation und Passivität führen. Auch wenn es nicht
mehr um die Realisierung einer radikalen Utopie geht, so kann einem wei-
teren Absinken der Zeit doch aktiv entgegengewirkt werden. Voranzutreiben
sind eine Rückbesinnung auf die Anfänge wie Festigung all der politischen,
sozialen und kulturellen Verhältnisse, die noch von ihnen zeugen. Herbeige-
führt werden müssten eine Abkehr vom aufgeklärten, traditionszersetzenden
Fortschrittsbegriff und eine Respektierung des historisch Gewachsenen.
Mit dem Verlust der Endzeitorientierung fällt auch die Vorstellung einer Kindheit als
zweiten Kindheit, der der Erwachsene entgegenstreben soll. Mit dem Austritt Mittlerinstanz
aus der Kindheit hat der Mensch eine Nähe zum Unendlichen aufgegeben,
die ihm fortan prinzipiell versagt bleibt. Im spätromantischen Denken ist der
Erwachsene aus dem Anspruchsbereich des Kindheitsideals entlassen, das für
ihn ein zu hochgestecktes Ziel darstellt. Die Kindheit – und zwar die erste –
bleibt ihm dennoch von höchster Bedeutung: Die in der Erinnerung verge-
genwärtigte eigene Kindheit wie die angeschaute, miterlebte Kindheit der
nachwachsenden Generation werden dem Erwachsenen zu einer Art Mittler-
instanz. Er partizipiert gleichsam am Transzendenzbezug eines anderen We-
sens und gewinnt so für sich doch noch eine, wenn auch mittelbare Verbin-
dung mit dem Göttlichen. Im Übergang von der Früh- zur Spätromantik
104 Romantik
wendet sich alle Aufmerksamkeit weg von der zweiten und hin zur ersten
Kindheit.
Dies schärft nicht zuletzt den Blick für die reale Situation der Kinder am
Beginn des 19. Jh.s. Wie es schon bei der nationalen Folklore der Fall war, so
erscheint der Spätromantik nun auch die Kindheit als gefährdetes Gut. Sie
sieht die Kinder frühzeitig schon in eine Verstandeskultur integriert und
einem Erziehungswesen unterworfen, die ihrem Wesen zuwider sind. Die
Bedrohung der Kindheit durch einen geisttötenden Rationalismus haben
Ludwig Tieck in Die Elfen (1811) und E.T.A. Hoffmann in Das fremde Kind
Romantische (1817) exemplarisch gestaltet. Die Entstellung der Kindheit durch den Zeit-
Pädagogik geist raubt in der Sicht der Spätromantiker dem Menschen einen nur als
Kind zu erlebenden Höhepunkt irdischen Daseins und liefert ihn damit voll-
ends einer transzendentalen Obdachlosigkeit aus. Die Erfahrung, dass auch
die Kindheit einer Rettung bedarf, treibt die Spätromantiker zu pädago-
gischer Aktivität. Dies ist die Geburtsstunde einer genuin romantischen
Pädagogik, die zunächst freilich ›negative Erziehung‹ in dem Sinne bleibt,
dass sie sich auf die Abwehr der äußeren Einflüsse der Verstandeskultur be-
schränkt, die den kindlichen Geist, seine Religiosität und seinen Wunder-
glauben zu zerstören drohen.
ersten Jahrzehnt des 19. Jh.s der Volkspoesie ihre Aufmerksamkeit widmen.
Für Arnim und Brentano ist eine Rettung der vom Untergang bedrohten na-
tionalen Folklore nur wirksam zu vollziehen, wenn sie einer freien dichte-
rischen Bearbeitung unterzogen wird. Wiederbelebung bedeutet hier schöp-
ferische Nachdichtung durch einen zeitgenössischen Autor, wie dies schon
bei Ludwig Tieck dichterische Praxis war. Die volksliterarische Überlieferung
vermag in ihrer auffindbaren, fragmentarischen und beschädigten Gestalt die
zeitgenössischen erwachsenen wie kindlichen Leser nicht wirklich mehr zu
ergreifen, so lautet diese Position; sie bedarf einer poetischen Aktualisierung,
die in das überkommene und aufgegriffene folkloristische Gut moderne
kunstpoetische Elemente mischt, es auf behutsame Weise mit einem Stück
Zeitgeist versieht.
Im zweiten Jahrzehnt macht sich Achim von Arnim in Auseinandersetzung Arnim und Brentano
mit den Brüdern Grimm zum Verteidiger des dichterischen Lagers. Dass zwi-
schen der Volks- bzw. Naturpoesie und der Kunstpoesie, wie die Grimms
behaupten, eine unüberwindbare Kluft herrsche, bestreitet Arnim entschie-
den. Alle wirkliche Poesie sei eine Mischung aus beiden Elementen, und so
weise schon die archaische Volksdichtung kunstpoetische Züge auf, wie um-
gekehrt selbst die neueste Dichtung, soweit sie wahre Poesie sei, einen natur-
poetischen Kern in sich berge. Es ist, so Arnim 1813 in einem Brief an Jacob
Grimm, »keine absolute Naturpoesie vorhanden, es ist immer nur ein mehr
oder weniger in der Entwicklung beider«. Darüber hinaus seien beide die
Manifestation einer positiven schöpferischen Kraft. Auch wenn sie ohne
Rückgriff auf das kollektive Schaffen keine Poesie hervorbringen kann, so ist
die individuelle Kunstleistung bei Arnim doch nicht wie bei den Grimms ab-
gewertet. Deshalb muss Arnim auch die neueren Zeiten, in der Letztere ja
dominiert, nicht für poetisch gänzlich unproduktiv erklären. Nicht nur die
mythischen, sondern alle Zeitalter verfügen in seinen Augen, wenn auch in
unterschiedlichem Maße, über poetische Produktivkräfte. »So lange Gott
und seine Gedanken größer sind als der Mensch, wird es immer eine Poesie
geben und eine Möglichkeit der Erfindung, und eine Nothwendigkeit dazu.«
Wenn also ein zeitgenössischer Autor seinen individuellen Kunstverstand an
der überkommenen Folklore erprobt, dann fügt er ihr nichts Fremdes hinzu,
dann verunreinigt er sie nicht; er erzeugt für Arnim vielmehr die Balance
zwischen natur- und kunstpoetischen Elementen, die allein wahre Lebendig-
keit bedeutet und die in jedem Zeitalter aufs Neue herzustellen ist.
Arnims kinderliterarische Intention ist dementsprechend eine zweifache:
Es kann ihm nicht bloß darum gehen, das noch greifbare folkloristische
Lied-, Märchen- und Sagengut Kindern wieder zugänglich zu machen. Ihm
ist gleichzeitig daran gelegen, deren individuelle Schöpferkraft zu aktivieren,
deren Erfindungsgabe oder »Erfindsamkeit« anzuregen. »Die Hauptsache
ist, daß das erfindende Talent immerfort geweckt werde; denn nur darin geht
den Kindern eine freudige Selbstbeschäftigung auf.« Wie den Dichtern, so
muss auch den Kindern die Gelegenheit zu einer schöpferischen Aneignung
der folkloristischen Tradition gegeben werden. »Fixierte Märchen würden«,
so hält Arnim den Grimms entgegen, »endlich der Tod der gesamten Mär-
chenwelt sein.« Überlieferungstreue gehe allemal an der kindlichen Erzähl-
wirklichkeit vorbei: »das Kind erzählt schon anders, als es im selben Augen-
blick von der Mutter gehört«.
Zwischen freier kindlicher und freier dichterischer Aneignung der folklo-
ristischen Tradition ergibt sich allerdings ein Unterschied. Achim von Arnim
hat darauf kein sonderliches Augenmerk, doch wird dies in der Märchen-
dichtung Brentanos, später auch in der E.T.A. Hoffmanns, greifbar. Während
106 Romantik
Clemens Brentano.
Radierung Ludwig
Emil Grimm (1837)
Kinderlyrik
Mannigfaltigkeit eher auf den erwachsenen Leser, dem ein Panorama kinder-
literarischer Bräuche mit gelegentlichen Erläuterungen dargeboten wird. Von
einer strengen Anordnung kann keine Rede sein; dennoch lassen sich einzelne
Kreise ausmachen, in die sich freilich stets wieder anderes mischt. Nach
einem Eingangspart mit zwei Titel- und zwei ABC-Gedichten folgt ein Teil
mit vorwiegend jahreszeitlichen Brauchtumsliedern: Winteraustreibung,
Fastnacht, Sonntag Laetare, Johannistag, St. Nikolaus, Weihnachten und
Dreikönig (bis etwa S. 40 der Originalausgabenpaginierung = KL 40). Da-
zwischen ist manch anderes gestreut: etwa die Kinderpredigt »Ein Huhn und
ein Hahn,/ Die Predigt geht an« (KL 22), das Abendgebet »Abends wenn ich
schlafen geh,/ Vierzehn Engel bei mir stehn« (KL 27b), das übrigens Wilhelm
Grimm beisteuerte, und der bekannte Reim »Lirum Larum Löffelstiel« (KL
37). Der nächste Teil (bis KL 58) enthält Spielerisches wie Schwell- oder La-
winenreime, Parodistisches und Scherzhaftes wie die Kinderpredigt »Quibus,
Quabus,/ Die Enten gehen barfuß« (KL 53) und einige historische Reime.
Der dann folgende Part (bis KL 69) bringt vorwiegend eigentliche Kinderstu-
benreime: Wiegenlieder, Kniereiterverse, Kosereime, Morgen- und Abend-
lieder, darunter »Schlaf, Kindlein, Schlaf,/ Der Vater hüt die Schaf« (KL 59),
dessen Folgestrophen eine Eigendichtung Brentanos nach Motiven münd-
licher und schriftlicher Tradition darstellen, die Ammen-Uhr (KL 62), eben-
falls eine Eigendichtung Brentanos, das Wiegenlied »Eio popeio, was rasselt
im Stroh« (KL 66) und das Abendlied »Guten Abend, gute Nacht,/ Mit Ro-
sen bedacht« (KL 68c), das durch die Brahms’sche Vertonung populär ge-
worden ist. Es schließt sich ein Part mit Reimen aus dem Alltag der Kinder
an, untermischt mit Naturliedern (bis KL 83a). Hier finden sich »O Tanne-
baum, o Tannebaum!/ Du bist ein edler Reis« (KL 70b), »Kling, kling Glöck-
chen,/ Im Haus steht ein Böckchen« (KL 71 b), »Es tanzt ein Butzemann/ In
unserm Haus herum di bum« (KL 77c) und »Storch, Storch, Langbein« (KL
82a). Der letzte der erkennbaren Kreise bietet vornehmlich Spiellieder, Ab-
zählverse, Ringelreihen, Tanzlieder, Liebeslieder und schließt mit Scherzrei-
men und Gelegenheitsversen.
Kinderliterarischer Betrachtet man den Kinderliederanhang nicht unter volkskundlichen, son-
Paradigmenwechsel dern unter kinderliteraturgeschichtlichen Gesichtspunkten, dann zeigt sich,
dass mit ihm ein kinderlyrischer Paradigmenwechsel eingeleitet ist. Die
volkstümliche Kinderlyrik des Wunderborn ist primär eine laut- und sprach-
spielerische Lyrik, bei der die Sinnvermittlung eine untergeordnete, eine
zweitrangige Rolle spielt. »Die Herrschaft der Form und der Formel über
den Sinn«, so Emily Gerstner-Hirzel, »ist wohl das Hauptmerkmal des von
Kindern oder für Kinder gedichteten Volksliedes«. Das imitierende oder freie
Spiel mit Lauten ist einer der Ursprünge des Kinderreims; er kennt unzählige
Schall- und Geräuschimitationen, Nachahmungen von Tierstimmen, die sich
in ihm zu feststehenden Lautformeln verdichten. Einen weiteren Ursprung
stellen rhythmische Bewegungen und Tätigkeitsabläufe dar, die sich im
Sprachrhythmus des Liedes reproduzieren und von hier aus stabilisierend auf
die körperlichen Bewegungsabläufe zurückwirken; man denke nur an die
Wiegenlieder, an Kniereiter- und Schaukelreime, an Tanzlieder und
Marschreime. In beiden Fällen sind die Körperlichkeit, die lautlich-rhyth-
mische Materialität der Sprache selbst das entscheidende Ausdrucksmedium;
es ist dies ein Umgang mit Sprache, der dem Kleinkind schon geläufig ist.
Auch auf höheren Ebenen bleibt die Sprache in ihrer Materialität Thema des
Kinderreims: Im Schnellsprechvers geht es um die Gelenkigkeit des Ausspre-
chens, im Neckmärchen um das Spiel mit den elementarsten narrativen
Schemata, in den verschiedensten Parodien um den spielerischen Umgang
Kinderlyrik 109
mit Redeformen wie etwa der Predigt. Deutlich wird, wie mit der roman-
tischen Entdeckung des volkstümlichen Kinderreimes das Kleinkind als kin-
derliterarischer Adressat erobert wird. Es ist das Kind, das mit dem Spra-
cherwerb beschäftigt ist und noch ein vieldeutiges, spielerisches Verhältnis
zur Sprache hat. Die Wörter gelten der neuen Kinderlyrik nicht mehr primär
als Zeichen, sondern als farbige Lautkörper, Sprache als buntschillerndes
Material, in dem etwas abgebildet, mit dem etwas imitiert, musikalisch
gleichsam dargestellt, mit dem schließlich ganz zwecklos gespielt werden
kann.
Eine weitere kinderliteraturgeschichtlich bedeutsame Publikation am Be- Friedrich Rückert
ginn des Jahrhunderts sind Friedrich Rückerts Fünf Mährlein zum Einschlä-
fern für mein Schwesterlein, 1813 in Coburg erschienen. Hier wird roman-
tische Zersetzungsarbeit an Mustern aufgeklärter Kinderliteratur betrieben.
Das Mährlein vom Büblein, das überall mitgenommen hat seyn wollen, ist
recht besehen eine moralische Abschreckgeschichte. Doch bereits die volks-
liedartige Vortragsweise mit ausgeklügeltem Doppelrefrain lässt dies ganz
zurücktreten. Der Refrain erweist sich als das eigentliche lyrische Zentrum;
jede neue Situation scheint nur erfunden zu sein, um erneut in den Refrain
einzustimmen: »Es sagt: Ich kann nicht mehr;/ wenn nur was käme,/ Und
mich mitnähme!« Endlos könnte es weitergehen: Abrupt und drastisch ist
deshalb der Schluss: das Büblein wird gehängt. Ob es auch tot sei, fragt das
zuhörende Kind in Erwartung einer Abschreckgeschichte. Es erhält zur Ant-
wort: »Nein! es zappelt noch:/ Morgen gehn wir ’naus und thuns runder.« Es
war also nichts als ein Spaß! Direkter noch wird in einem anderen Stück das
althergebrachte fabula docet unterlaufen und parodiert: »Das Mährlein ist
aus./ Was ist denn das? Ein Weihnachtsspaß«. Die Rückertschen Mährlein
sind eben nicht zur moralischen Belehrung, sondern bloß zum »Einschlä-
fern« gedacht. Nicht auf das Was und Wozu kommt es hier an, sondern auf
110 Romantik
Märchensammlungen
Die Gleichzeitigkeit von volkskundlicher und kinderliterarischer Intention Die »Kinder- und
ist charakteristisch auch für die Kinder- und Hausmärchen (1812/15, 2. Aufl. Hausmärchen« und
1819) von Jacob und Wilhelm Grimm. Die streng volkskundliche Haltung die kinderliterarische
der Brüder Grimm erwächst aus ihrem geradezu religiösen Enthusiasmus für Position der Brüder
die »Naturpoesie«. »Ist es aber nicht ein großer Trost«, so Jacob, »daß wir Grimm
Bibel, Geschichte und alte Denkmäler haben?« Der »Schatz unserer Ge-
112 Romantik
schichte und Poesie« sei unersetzbar. Die Grimm’sche ›Treue‹ der Wiedergabe
darf nicht an den Aufzeichnungspraktiken der modernen Folkloristik gemes-
sen werden. Das von den Grimms Gemeinte lässt sich in drei Maximen aus-
drücken: In die episch-fiktionale Welt der überlieferten folkloristischen Texte
dürfen erstens keine modernen, märchenfremden Elemente eingefügt wer-
den; das Handlungsschema des Märchens müsse zweitens in seiner Einfach-
heit respektiert, es dürfe nicht über die Maßen erweitert und verästelt wer-
den; die Geschichte müsse schließlich drittens der Zweck bleiben und nicht
zu einem bloßen Anlass eines Erzählens herabsinken, das sich in seiner Virtu-
osität zum Selbstzweck wird. Innerhalb dieses Rahmens ist es für die Brüder
Grimm durchaus denkbar, dass ein und dasselbe Märchen unterschiedlich
vorgetragen wird.
Märchen als Je treuer die »alten Märchen« aufbewahrt werden, umso mehr enthalten
Naturpoesie sie für die Grimms an »Kinderwahrheit«; denn »diese Wahrheit ist am Ende
eine der alten Menschen«. Die Kindheit kenne wie die Anfangsstadien des
Volkes noch keinerlei Vereinzelung und Individuation; es handele sich beide
Male um ein Leben aus dem Geist des Ganzen. Die Kinder und die Menschen
der Urzeit seien noch ganz von der Sitte getragen. Ihr Agieren sei bar jeder
individuellen Kunstabsicht; es trage Züge eines »Sich-von-selbst-Machens«
und gewinne durch diese Art von Unwillkürlichkeit seine Gültigkeit und
Festigkeit. In eben diesem Sinne ist für Jacob auch die Naturpoesie ein »Sich-
von-selbst-Machen«; bei ihr gebe es keine »Zubereitung«, könnten »keine
Werkstätten oder Überlegungen einzelner in Betracht kommen«. Die »alte
Poesie hat eine innerlich hervorgehende Form von ewiger Giltigkeit«. Die
alten Märchen, so heißt es in der Vorrede von 1812, leben, wo sie noch da
sind, »so, daß man nicht daran denkt, ob sie gut oder schlecht sind, poetisch
oder abgeschmackt, man weiß sie und liebt sie, weil man sie eben so empfan-
gen hat, und freut sich daran ohne einen Grund dafür, so herrlich ist die
Sitte.« »Was so mannigfach und immer wieder von neuem erfreut, bewegt
und belehrt hat, das trägt seine Nothwendigkeit in sich, und ist gewiß aus
jener ewigen Quelle gekommen, die alles Leben bethaut.« Es sei die »selig«
in sich ruhende, selbstvergessene und absichtslose Daseinsform, die die alten
Märchen Kindern wesensgemäß sein lasse. »Innerlich geht durch diese Dich-
tungen dieselbe Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und
seelig erscheinen.«
Blütenumrahmter Titel
zum 1. Band, von
Ludwig Emil Grimm
Märchensammlungen 113
In der Vorrede zu den Deutschen Sagen von 1816 suchen die Grimms
zwischen Märchen und Sage zu differenzieren und ordnen dabei jene der
Kindheit, diese dem Jugendalter zu. Jede dieser volkstümlichen Erzähl-
gattungen habe ihren eigenen Kreis: »Das Märchen ist poetischer« und damit
der selbst poetischen Daseinsweise der Kinder verwandt. Es »stehet beinahe
nur in sich selber fest, in seiner angebotenen Blüte und Vollendung«. Dem
korrespondiert die romantische Auffassung, dass Kinder, mit der Wirklich-
keit noch wenig vertraut, ganz aus ihrem inwendigen, auf die Erde mitge-
brachten Reichtum leben. Diese kindliche Abgehobenheit vom diesseitigen
Leben, dieses »selige« Verklärtsein spiegeln sich für die Grimms im Märchen Doppelbildnis Jacob und
wider. »Die Mährchen also sind theils durch ihre äußere Verbreitung, theils Wilhelm Grimm.
ihr inneres Wesen dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen Radierung von Ludwig
Weltbetrachtung zu fassen, sie nähren unmittelbar, wie die Milch, mild und Emil Grimm (1834)
lieblich, oder der Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere.« Die
Sage hingegen sei »historischer«, dabei »von einer geringeren Mannichfaltig-
keit der Farbe«, ihr Spezifikum bestehe darin, »daß sie an etwas Bekanntem
und Bewußtem hafte, an einem Ort oder einem durch die Geschichte gesi-
cherten Namen«. Dem entspreche das zunehmende Vertraut-Werden der aus
der Kindheit Herauswachsenden mit Lebensraum, Geschichte und Gesell-
schaft. Die Sagen dienen in den Augen der Grimms »schon zu einer stärkeren
Speise«, tragen »eine einfachere, aber desto entschiedenere Farbe« und for-
dern »mehr Ernst und Nachdenken«. Gemeinsam jedoch ständen Märchen
und Sagen als Gattungen des Wunderbaren der Geschichtsschreibung gegen-
über. »Der Geschichte stellen sich beide, das Mährchen und die Sage, gegen-
über, insofern sie das sinnliche natürliche und begreifliche stets mit dem un-
begreiflichen mischen, welches jene, wie sie unserer Bildung angemessen er-
scheint, nicht mehr in der Darstellung selbst verträgt.«
Jacob und Wilhelm Grimms Idee einer absichtslosen, naturpoetischen Naturpoetische
Kinderliteratur stellt zwei Grundelemente der Kinderliteratur des 18. Jh.s in Kinderliteratur
Frage: ihren belehrenden Zug und ihren Charakter als spezifische Kinderlite-
ratur. »Die alte Poesie ist unschuldig und weiß von nichts; sie will nicht leh-
ren, d. h. aus dem einzelnen auf alle wirken, oder fühlen, d. h. die Betrachtung
des weiten Ganzen der Enge des Einzelnen unterstellen.« Zurückgewiesen
wird hier die moderne Form der Belehrung, die sich von der Lebenspraxis
separiert hat und zum ausgeklügelten Geschäft eines hierauf spezialisierten
Berufsstands geworden ist. Die Rede ist vom modernen, gesellschaftlich aus-
differenzierten und spezialisierten Erziehungs- und Bildungswesen. Lehrhaft
ist für die Grimms freilich auch die überlieferte Naturpoesie: Aus den alten
Märchen ergebe sich »leicht«, so heißt es in der Vorrede von 1812, »eine
gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart«. Allerdings war es »weder
ihr Zweck, noch sind sie darum erfunden, aber es erwächst daraus, wie eine
gute Frucht aus einer gesunden Blüthe ohne Zuthun der Menschen. Darin
bewährt sich jede ächte Poesie, daß sie niemals ohne Beziehung auf das Le-
ben seyn kann, denn sie ist aus ihm aufgestiegen und kehrt zu ihm zurück.«
Gemeint ist hier eine Form der Belehrung, die vom Ganzen, vom in der Sitte
wurzelnden Lebensprozess selbst ausgeht und die in der unmittelbaren Teil-
nahme an diesem gleichsam wie von selbst empfangen wird. Die Grimms
haben hier unverkennbar etwas dem mittelalterlichen Lehrverhältnis Ana-
loges im Auge, eine Form des Lernens durch direkte Teilnahme am Lebens-
vollzug.
Mit der Idee einer vom sittlichen Ganzen ausgehenden Belehrung unver-
einbar ist die Vorstellung einer nach Zielgruppen aufgefächerten und spezia-
lisierten Unterweisung. Die Ausrichtung auf einen bestimmten Adressaten-
114 Romantik
kreis widerstreitet einer Naturpoesie, wie sie die Grimms begreifen, von
Grund aus. In einem Brief an Achim von Arnim vom 28. Januar 1813 schreibt
Jacob: »Sind denn diese Kindermärchen für Kinder erdacht und erfunden?
ich glaube dies so wenig, als ich die allgemeinere Frage nicht bejahen werde:
ob man überhaupt für Kinder etwas eigenes einrichten müsse?« Auch für
Kinder sei echte Belehrung nur denkbar als erwachsend aus der uneinge-
schränkten Teilhabe am Ganzen und allen seinen Überlieferungsweisen.
»Was wir an offenbarten und traditionellen Lehren und Vorschriften besit-
zen, das erfragen Alte wie Junge, und was diese davon nicht begreifen, über
das gleitet ihr Gemüth weg, bis dass sie es lernen.«
Von hier aus lässt sich der im Titel der Sammlung enthaltene doppelte
»Hausmärchen« Zusatz begreifen, der von den Grimms nicht disjunktiv verstanden wird. Ar-
nim schlug mit Blick auf die kindlichen Rezipienten einen Zusatz auf dem
Titelblatt vor: »für Ältern zum Wiedererzählen nach eigener Auswahl«; denn
nicht alle »Hausmärchen« seien auch »eigentliche Kindermärchen«. Jacob
lehnt dies ab: »Der Unterschied zwischen Kinder- und Hausmärchen und der
Tadel dieser Zusammenstellung auf unserem Titel ist mehr spitzfindig als
wahr, sonst müßten streng genommen die Kinder aus dem Haus gebracht,
wohin sie von jeher gehört haben, und in einer Cammer gehalten werden.«
Mit der Rede vom »Haus« ist ganz offenkundig die alteuropäische große
Haushaltsfamilie gemeint, in der die Kinder noch nicht eine separate Gruppe
bilden, in der sie vom Wirtschaften und Feiern, von der gemeinsamen Unter-
haltung noch nicht ausgeschlossen sind. Wie diese Hausgemeinschaft ein
Ganzes ist, so soll auch die Märchensammlung ungeteilt allen im Hause zu-
kommen.
Die Rezeptionssituation, wie sie sich die Grimms hier vorstellen, ist zu
Beginn des 19. Jh.s jedoch längst im Untergang begriffen. Was die beiden
Herausgeber als Schreckensbild an die Wand malen, die Separierung der
Kinder in »Cammern«, hat längst schon begonnen. Wer sich vor »Mißver-
ständnissen, Mißbräuchen« fürchte, so Jacob, der »binde dem Kinde die
Augen zu und hüte seiner den ganzen Tag, daß es seine unschuldigen Blicke
nicht auf alles andere werfe, was es ebenso verkehrt oder schädlich nachah-
men würde«. So einnehmend das Vertrauen der Grimms in den »mensch-
lichen Sinn« des Kindes, der es vor allen Gefahren bewahren werde, auch ist,
ihre Märchensammlung haben sie dennoch auf eine letztlich utopische Re-
zeptionssituation hin konzipiert. Die faktische Entwicklung der bürgerlichen
Gesellschaft zu Beginn des 19. Jh.s gibt nicht ihnen, sondern Arnim recht, so
sehr man dies aus heutiger Sicht bedauern mag.
Dass sie den Zeitläuften zuwider handeln, spüren die Grimms durchaus;
Bearbeitung der doch bleiben sie standhaft – für eine Weile jedenfalls. Den Grundsatz, dass
Märchen die überlieferten Märchen als ein naturpoetischer Schatz ganz und ungeteilt,
d. h. auch: unbearbeitet, unzensiert und ungeglättet, Kindern in die Hände
gelegt werden sollen, sind sie vorerst in allen Konsequenzen zu tragen bereit.
Eingriffe lehnen sie auch bei zotigen Stellen, bei derben erotischen oder sexu-
ellen Anspielungen ebenso ab wie bei Passagen von mitunter ungeheuerlicher
Grausamkeit. Bereits Anfang 1813 beschwert sich Arnim brieflich: »Schon
habe ich eine Mutter darüber klagen hören, daß das Stück, wo ein Kind das
andere schlachtet, darin sei, sie könnt es ihren Kindern nicht in die Hand
geben.« Wilhelm antwortet: »ich glaube man darf nicht anders hier denken,
als daß den reinen alles rein sei und fruchtbringend, ganz allgemein genom-
men.« Später repliziert er in Bezug auf ein zotiges Stück: »Was das Märchen
von dem Fuchs mit den neun Schwänzen betrifft, so glaub ich, daß es Kinder
ebenso unschuldig hören, als Frauen erzählen.« Auch Jacob bleibt fest: »Ich
Märchensammlungen 115
glaube, daß alle Kinder das ganze Märchenbuch in Gottes Namen lesen und
sich dabei überlassen werden können.«
Diese Position ist zu Beginn des 19. Jh.s kinderliterarisch schlicht nicht zu
halten. Sie wird denn auch Schritt für Schritt aufgegeben, je mehr Jacob sich
zurückzieht und Wilhelm allein die weitere Betreuung der Märchensamm-
lung überlässt. Mit der Vorrede zur zweiten Auflage von 1819 setzt das
Rückzugsgefecht ein: »Wir suchen [...] nicht jene Reinheit, die durch ein
ängstliches Ausscheiden alles dessen, was Bezug auf gewisse Zustände und
Verhältnisse hat, wie sie täglich vorkommen und auf keine Weise unverbor-
gen bleiben können und sollen, erlangt wird, und wobei man in der Täu-
schung ist, daß was in einem gedruckten Buche ausführbar, es auch im
wirklichen Leben sey.« Ein nochmaliges Auflehnen zweifelsohne, doch folgt
stehenden Fußes die Kapitulation: »Dabei haben wir jeden für das Kindesal-
ter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage gelöscht. Sollte man
dennoch einzuwenden haben, daß Eltern eins und das andere in Verlegenheit
setze, und ihnen anstößig vorkomme, so daß sie das Buch Kindern nicht ge-
radezu in die Hände geben wollten, so mag für einzelne Fälle die Sorge recht
seyn, und dann von ihnen leicht ausgewählt werden, im Ganzen, das heißt,
für einen gesunden Zustand, ist sie gewiß unnöthig.« Wilhelm bleibt keine
andere Wahl, als aus den aufgezeichneten Volksmärchen nach und nach »ei-
gentliche Kindermärchen« zu machen. Mit der »Kleinen Ausgabe« von 1825,
die 50 speziell für Kinder geeignete Stücke enthält, ist schließlich auch die
grundsätzliche Ablehnung aller speziellen Kinderliteratur praktisch zurück-
genommen. Auch äußerlich hat sich die »Kleine Ausgabe« dem Kinderbuch
des frühen 19. Jh.s angepasst: Sie ist mit sieben Kupferstichen nach Entwür-
fen des Bruders Ludwig Emil Grimm versehen.
Wie das Wunderhorn, so sind auch die Kinder- und Hausmärchen stil- Nachfolger der
und gattungsbildend geworden. Von den im 19. Jh. erschienenen Märchen- »Kinder- und
sammlungen, die in der Tradition des Grimm’schen Werkes stehen, seien an Hausmärchen«
dieser Stelle nur einige genannt. Als »das erste norddeutsche Märchenbuch«
verstehen sich Heinrich Pröhles 1853 in Leipzig erschienene Kinder- und
Volksmärchen. Der Herausgeber hat die Märchen »meist auf dem Oberharze
im Volke gesammelt«, ansonsten aus »benachbarten niedersächsischen Or-
ten« erhalten. Ein Jahr später erschienen in Halle Pröhles Märchen für die
Jugend, versehen mit einer Widmung an Wilhelm Grimm und einer Abhand-
lung Über den ethischen Gehalt der Märchen. Ebenfalls 1854 erschienen in
Regensburg die Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, gesammelt
von den Südtiroler Brüdern Ignaz Vinzenz und Joseph Zingerle. 1869 kamen
in Aarau die von Otto Sutermeister gesammelten Kinder- und Hausmärchen
aus der Schweiz heraus. Die Kontroverse um das Märchen als Kinderlektüre
hält auch in der zweiten Jahrhunderthälfte an. Sutermeister sucht den Mär-
chengegnern die Harmlosigkeit des kindlichen Märchenkonsums zu bewei-
sen: »Das Kind glaubt eben an jene Feen, Zauberer und Waldmenschen, wie
es an Steckenpferd und Puppe glaubt [...]; aber wenn es wieder entlassen ist
aus diesem Zauberkreis und dem gewöhnlichen Thun des Tages zurückgege-
ben, da verblassen diese Bilder vor anderen Eindrücken im Bewußtsein.«
In diese Traditionslinie wird gemeinhin Ludwig Bechsteins Märchenbuch
eingerückt. Es erschien 1845 unter dem Titel Deutsches Märchenbuch in
Leipzig. Nach 10 Stereotyp-Ausgaben kam es 1853 als Ludwig Bechstein’s
Märchenbuch heraus, um zahlreiche Stücke erweitert und mit 171, 1857
dann mit 187 Holzschnitten nach Originalzeichnungen von Ludwig Richter
versehen. In dieser Aufmachung gewann es in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s
eine außerordentlich große Popularität, die übrigens die Wirkung der Kin-
116 Romantik
Ludwig Bechstein’s
Märchenbuch.
Holzschnitt von
Ludwig Richter
für die Ausgabe 1853
der- und Hausmärchen weit übertraf. Erst zu Beginn des 20. Jh.s trat die
Bechstein’sche wirkungsmäßig hinter die Grimm’sche Märchensammlung
zurück. Die landläufige Einordnung von Bechsteins Märchenbuch ist jedoch
höchst problematisch. So groß die volkskundlichen Leistungen Bechsteins
auf dem Gebiet der Sagenaufzeichnungen auch sind, ein Märchensammler ist
er ganz und gar nicht. Unter seinen zahlreichen folkloristischen Editionen
ragt das Märchenbuch dadurch heraus, dass es überwiegend nach litera-
rischen Quellen – Sammlungen des 16. und 17. Jh.s wie zeitgenössische
Volksmärcheneditionen – gearbeitet ist und zudem noch zahlreiche Eigen-
dichtungen von Zulieferern enthält. Auch stilistisch hat die Bechstein’sche
Kunst des Märchenerzählens mit der von den Grimms ausgehenden roman-
tisch-folkloristischen Traditionslinie wenig gemein: Seine Erzählweise zielt
auf den komischen Effekt ab, ist durch und durch witzig; sie entfaltet sich in
den Schwankmärchen am freiesten. Hinzu kommen gelegentliche amüsante
Anspielungen auf Historisches und Zeitgeschichtliches, die für Desillusionie-
rung sorgen. In Bechstein lebt das witzige Märchenerzählen des späten 18.
Jh.s, insbesondere das von J. K. A. Musäus, fort, über dessen leicht spöttischen
Umgang mit der Gattung die Grimms so erbost waren. Doch während bei
Musäus das witzige Spiel mit dem Märchen nahezu keine Grenzen kannte,
bleibt es bei Bechstein gebändigt, ja dezent. Er respektiert dem Zeitgeist fol-
gend das Märchen durchweg als einfache, kurze Erzählform und lässt auch
sonst seine Vorlagen weitgehend intakt.
Eine gewisse Berühmtheit hat Bechsteins Vorrede mit ihrer an die Grimms
anknüpfenden Unterscheidung von Märchen und Sagen erlangt. »Das Mär-
chen ist dem Kindesalter der Menschheit vergleichbar; ihm sind alle Wunder
möglich, es zieht Mond und Stern vom Himmel und versetzt Berge. Für das
Märchen giebt es keine Nähe und keine Ferne, keine Jahreszahl und kein
Datum, nur allenfalls Namen, und dann entweder sehr gewöhnliche, oder
sehr sonderbare, wie sie Kinder erfinden. Die Sage ist dem Jugendalter zu
Märchendichtungen und Märchennovellen 117
vergleichen; in ihr ist schon ein Sinnendes, Ahnungsvolles, ihr Horizont ist
enger, aber klarer, wie der des Märchens […]; sie strebt in gewissen Zügen
doch schon dem Alter der Reife, der Geschichte, zu.« Mit einem Deutschen
Sagenbuch für die »reifere Jugend« wartet Bechstein 1853 auf. Im Vorwort
heißt es: »Einfachheit im Ton der Erzählung ist beim Wiedergeben der Sagen
unerläßliche Bedingniß, keine novellistische, romanhafte Verwässerung,
keine blümelnde Schreibweise [...]; wohl aber darf der Erzählungston wech-
seln je nach dem Stoff, ja selbst nach der Zeit, der dieser Stoff angehört.«
durchweg moderne Thematik: Novalis etwa dient das Märchen als bildliche
Darstellung seiner Geschichtsphilosophie. Bei dieser Ausprägung roman-
tischer Kunstmärchendichtung deutet sich als Möglichkeit ein gänzliches
Auseinandergehen von kindlicher und erwachsener Rezeption an: Während
der Erwachsene die Märchengeschichte als nicht eigentlich Gemeintes er-
kennt und sich so die moderne Thematik erschließt, haftet der kindliche Re-
zipient am Märchengeschehen als solchem, ohne etwas von der ganz anders-
gearteten, vom Dichter eigentlich intendierten Aussage zu ahnen.
Ludwig Tieck Ein drittes Modell bilden die dualistischen Märchennovellen etwa eines
»Die Elfen« Ludwig Tieck, der mit seinen Elfen-Märchen aus dem ersten Band des Phan-
tasus von 1812 zugleich auch die erste kinderliterarische Ausprägung dieses
Erzählmusters vorgelegt hat. Waren die märchenhaft-archaischen und die
modernen Elemente bislang auf verschiedene Schichten des literarischen
Werkes verteilt, so erscheinen sie nun auf ein und derselben Ebene, auf der
des Märchengeschehens. Die dualistische Märchennovelle der Romantik
handelt von dem oft tragisch endenden Zusammenstoß zweier, von Grund
aus verschiedener Welten. Tieck radikalisiert das vom Volksmärchen her ge-
läufige unproblematische Nebeneinander von Diesseits- und Jenseitswelt zu
einem konfliktträchtigen Gegeneinander. Die Diesseitssphäre ist hierbei un-
schwer als Repräsentation der christlich-modernen Welt zu erkennen, wäh-
rend die Sphäre des Jenseitig-Wunderbaren heidnisch-polytheistische Züge
trägt. Der Protagonist ist ein Grenzgänger beider Welten, an deren unver-
söhnlichem Streit er bei Tieck tragisch scheitert. Eine weitere dualistische
Märchennovelle für Kinder liegt in E.T.A. Hoffmanns Fremden Kind von
1817 vor, dessen Nähe zum Tieckschen Elfen-Märchen unübersehbar ist.
Hoffmann wandelt das Tiecksche Modell insofern ab, als er den Gegensatz
von Märchenhaft-Poetischem und Prosaischem nicht eigentlich als den Zu-
sammenstoß einer Diesseits- und einer Jenseitswelt gestaltet, sondern als je-
weils in beiden Welten parallel sich vollziehenden Kampf – als Kampf zwi-
schen der Landadels- und Stadtadelswelt auf dem diesseitigen, zwischen der
Feenkönigin und dem Gnomenkönig Pepser auf dem mythisch-jenseitigen
Parkett.
Dualistische Märchen Die kinderliterarische Aktualisierung dieses Erzählmodells durch Tieck
und E.T.A. Hoffmann läuft praktisch auf eine Revision der romantischen
Kinderliteraturprogrammatik hinaus – eine Revision, die für die weitere Ent-
wicklung der europäischen Kinderliteratur von nachhaltiger Bedeutung ist.
Hier nämlich kommt es zu einer Einschränkung des romantischen Axioms,
dass Kindern einzig reine Volkspoesie gemäß sei. Die Autoren realisieren
nun, dass Kinder von einem bestimmten Alter an die Erfahrung machen, dass
zwischen ihrer Vorstellungs- und Spielwelt und der Welt der Erwachsenen
eine tiefe Kluft herrscht. Diese Erfahrung führt zu nachhaltigen Irritationen
und schweren Spannungen, die nicht zu verdrängen, sondern von Kindern
durchzustehen sind. Hieraus entsteht das Bedürfnis nach einer Literatur, die
diese moderne kindliche Differenzerfahrung artikuliert und im Sinne eines
imaginären Probehandelns zu Ende spielt. Das Erzählmodell des dualisti-
schen Kunstmärchens ist hierfür wie kein anderes prädestiniert: Im Gegen-
satz von Poetisch-Märchenhaftem und Prosaischem ist der von Kindheits-
und Erwachsenenwelt immer schon mitgedacht.
Das literarische Durchspielen der kindlichen Differenzerfahrung kann ein
sehr unterschiedliches Ende nehmen: Die Erfahrung kann in ihrer erdrücken-
den Schwere den kindlichen Protagonisten in den Tod treiben, wie es in
Tiecks Elfen-Märchen der Fall ist; dies ergibt eine tragische Kinderliteratur
mit kathartischer Wirkung. Es können sich am Ende aber auch mittels einer
Märchendichtungen und Märchennovellen 119
lichen Schlacht zwischen den Spielzeugfiguren und Puppen auf der einen,
den Mäusescharen auf der anderen Seite. Doch schnell schaltet sich der auk-
toriale Erzähler ein und bekräftigt das von Marie Wahrgenommene als wirk-
lich. Alle Ungewissheit scheint beseitigt zu sein; wir haben es anscheinend
mit einer Erzählung des Wunderbaren zu tun. Maries Eltern freilich gehen
nicht grundlos davon aus, dass Marie unter Fieberträumen und Wahnvor-
stellungen leidet, und halten bis zum Schluss an dieser Auffassung fest. Wem
soll der Leser da Glauben schenken? An dieser Stelle deutet sich die Möglich-
keit des Auseinandergehens einer kindlichen und einer erwachsenen Rezep-
tion des Märchens an: Für kindliche Leser bzw. Zuhörer liegt es nahe, der
Wahrnehmungsperspektive Maries zu folgen und dem auktorialen Erzähler
zu trauen, zumal sie selbst immer dort ausdrücklich angesprochen sind, wo
der Erzähler die Wunderdinge als wirklich bekräftigt. Gerade diese auffäl-
ligen Wendungen an die kindlichen Zuhörer aber lassen den Erwachsenen
aufhorchen: Spielt der Erzähler hier nicht bloß eine Rolle, die des Kinderer-
zählers? Verhält er sich hier nicht letztendlich ironisch? Es gibt tatsächlich
eine Reihe von Anzeichen dafür, dass der Erzähler eigentlich nicht sehr viel
anders als die Eltern über die Ereignisse denkt. Der erwachsene Leser jeden-
falls bleibt ziemlich im Ungewissen, wobei es ihm insgesamt näher liegt, sich
auf die Seite der Eltern zu schlagen und deren Deutung der Ereignisse Glau-
ben zu schenken. Sie hätten es dann nicht mit einem heiteren Kindermärchen,
sondern mit einer düsteren Krankheitsgeschichte zu tun, nämlich der Dar-
stellung einer kindlichen Bewusstseinsspaltung mit tragischem Ausgang –
vergleichbar durchaus mit der Geschichte des Nathanael aus Hoffmanns
Nachtstück Der Sandmann. Denn die Schlusspointe, in der der junge Dros-
selmeier in Prinzengestalt Marie zur Hochzeit ins Wunderreich abholt wie
der Erlkönig das Kind, könnte der Erwachsene mit gutem Grund als euphe-
mistische Umschreibung ihres Todes auffassen. Der kindliche Leser dagegen
dürfte das Märchen als eine Erzählung des Wunderbaren mit heiterem Aus-
Illustration von
Theodor Hosemann
zu Das fremde Kind
von E.T.A. Hoffmann
Märchendichtung des Biedermeier 121
gang wahrnehmen, für ihn bedeutet das Ende eine Stärkung des kindlichen
Wunderglaubens, der über alle Angriffe seitens der Erwachsenen, über allen
nüchternen Wirklichkeitssinn den Sieg davon trägt.
Mit den von Tieck und E.T.A. Hoffmann entwickelten Erzählmodellen hat
die romantische Kinderliteratur eine bedeutsame Erweiterung erfahren: Ne-
ben die reine Volkspoesie, besser gesagt: an diese sich anschließend tritt mit
dem dualistischen Märchen und dem Wirklichkeitsmärchen eine Kinderlitera-
tur, die frühe kindliche Modernitätserfahrungen artikuliert. Diese thematisiert Modernitäts-
den Gegensatz zwischen romantisch definierter Kindheit und sie umgebender erfahrungen
Erwachsenenwelt, wie ihn Kinder von einem gewissen Zeitpunkt an unwei-
gerlich wahrnehmen. Sie verarbeitet die hieraus sich ergebenden kindlichen
Irritationen und Bewusstseinskonflikte; sie übt die kindlichen Leser in ein
komplexeres Wirklichkeitsverhältnis ein, weist ihnen Möglichkeiten des Zu-
rechtfindens in einer gespaltenen Welt. Damit ist vom Thematischen wie vom
Funktionalen her ein literarischer Spielraum eröffnet, der sich im literaturge-
schichtlichen Weitblick als derjenige der anspruchsvollen modernen bürger-
lichen Kindererzählung des 19. und 20. Jh.s überhaupt erweist. E.T.A. Hoff-
manns Nußknacker und Mausekönig stieß bei seinem Erscheinen überwiegend
auf Befremdung und Ablehnung. Erst ein halbes Jh. später wird das im Nuß-
knacker-Märchen entwickelte kinderliterarische Erzählmodell von Lewis
Carroll in Alice’s Adventures in Wonderland (1865) wieder aufgegriffen, um
von dort aus einen wahren Siegeszug anzutreten. E.T.A. Hoffmanns kinderli-
terarische Innovation ist zu früh gekommen und blieb deshalb isoliert – im
Kontext deutschsprachiger Kinderliteratur sogar bis weit hinein ins 20. Jh.
Andersen und das Hans Christian Andersens frühe Märchenerzählungen stießen im deut-
biedermeierliche schen Sprachraum schnell auf eine große Resonanz, so dass ihnen ein Platz
Kunstmärchen für auch in einer Geschichte der deutschen Kinderliteratur gebührt. Dass dessen
Kinder Anknüpfungen an Tieck und E.T.A. Hoffmann, aber auch an die Brüder
Grimm aus deutscher Sicht im Vordergrund standen, ist nur zu verständlich.
Tatsächlich hat der frühe Andersen nahezu alle von der Romantik gepflegten
Erzählmuster aufgegriffen. Im Folgenden sei dargestellt, was bei Andersen
aus dem am weitesten vorausweisenden Erzählmodell der kinderliterarischen
Romantik, dem Wirklichkeitsmärchen wird. Die frühe Erzählung von den
Blumen der kleinen Ida ist strukturell von der Art des Nußknacker-Mär-
chens. Ausgangspunkt ist auch bei Andersen eine realistisch gezeichnete All-
tagswelt städtischen Charakters. Zur Wunderwelt hat Ida, ein ebenso artiges
Bürgermädchen wie Marie Stahlbaum, wie diese Zugang durch eigenes
nächtliches Erleben und durch Erzählungen eines Erwachsenen. Der Student,
der ihr das wahre Leben der Blumen enthüllt, ist ein Sonderling wie Pate
Drosselmeier. Auch Andersen lässt schließlich den erwachsenen Leser in Un-
Hans Christian Andersen sicherheit darüber, ob Idas nächtliches Erlebnis des Blumenballs nicht doch
ein bloßer Traum gewesen ist. Im Unterschied zu Hoffmann aber verliert die
Entscheidung hinsichtlich des Realitätscharakters der Wunderwelt bei An-
dersen an Ernst und Dringlichkeit. Ob Traum oder Wirklichkeit, ob »dummes
Zeug«, bloße »Weismacherei« oder Wahrheit, ist gar nicht mehr entschei-
dend angesichts dessen, dass diese Wunderwelt so überaus amüsant, so »lus-
tig« und so »drollig« ist.
Anders als bei Hoffmann nimmt sich auch die Erwachsenenwelt aus:
Zwar gibt sie ihre Missbilligung der Fantastereien deutlich zu verstehen,
doch geht ein nennenswerter Druck von ihr nicht aus. Die Gestalt, die das
Realitätsprinzip verkörpert, der »mürrische Kanzleirat«, ist eher eine ko-
mische Figur; ihr fantastisches Ebenbild wird auf dem nächtlichen Blumen-
ball der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Eltern wiederum bleiben ganz und
gar im Hintergrund; sie treten Ida nicht fordernd gegenüber. Dem kontradik-
torischen Weltentwurf des Wirklichkeitsmärchens sind in Die Blumen der
kleinen Ida alle Konfliktpotentiale genommen. Entmachtet ist bei Andersen
insbesondere das Realitätsprinzip; doch sind auch auf Seiten der Wunderwelt
die Mächte des Dämonischen verschwunden, die Hoffmann so reichhaltig
ins Spiel brachte. Bei Andersen entfaltet sich eine unbeschwerte Kindheits-
idylle, eingebettet in eine Welt, die unübersehbar gespalten, zerrissen ist und
moderne Züge trägt, die jedoch vorübergehend zum Stillehalten gebracht
ist.
Zu den Wirklichkeitsmärchen zählt auch der Standhafte Zinnsoldat, was
schon auf der Motivebene deutlich wird: die bürgerliche Familie samt ihrer
Kinder- und Spielzeugkultur, die städtische Umwelt, die Straßenjungen, die
Kanalisation und dergleichen mehr. Doch entfernt sich Andersen hier noch
um einen weiteren Schritt von E.T.A. Hoffmann. Der Protagonist, der Zinn-
soldat, ist keine Gestalt der Wirklichkeit mehr, sondern ein Wunderwesen.
Überhaupt ist das Verhältnis der beiden Welten auf den Kopf gestellt: Die
Wunderwelt ist hier das unmittelbar Gegebene, geradezu Normale, in das
eine zweite, fremd und unbegreifbar bleibende Welt hereinbricht, die mo-
derne Wirklichkeit. Diese Umdrehung der Perspektive ist von unerhörtem
Reiz und dürfte nicht wenig zum weltweiten Ruhm dieses Märchens beige-
tragen haben. Formgeschichtlich jedoch ist damit das Wirklichkeitsmärchen
in seiner Modernität noch einmal abgeschwächt: Die moderne Wirklichkeit
als Teilschauplatz ist perspektivisch so an den Rand gedrängt, dass sie kaum
mehr als einen Horizont darstellt, der sich um eine tendenziell wieder selbst-
Märchendichtung des Biedermeier 123
Die Einholung des Wunderbaren in die Alltagswelt der Kinder wird vom Poetischer Anschau-
Kindergedicht des Biedermeier aufgegriffen und hier zu einer Art von »poe- ungsunterricht im
tischem Anschauungsunterricht« (Ludwig Göhring) für das Vorschulkind in Kindergedicht
Anwendung gebracht. An erster Stelle sind Wilhelm Heys Funfzig Fabeln für
Kinder zu nennen, die 1833 mit Illustrationen von Otto Speckter erschienen,
gefolgt 1837 von Noch Funfzig Fabeln für Kinder. Als »Hey-Specktersche
Fabeln« sind sie zu einem der großen Kinderbucherfolge des 19. Jh.s gewor-
den. Die ›Helden‹ dieser »für Kinder von vier bis sieben Jahren« bestimmten
Gedichtsammlungen sind die nahen Gefährten der Kinder. Deren Lebens-
raum freilich ist nicht mehr städtischen, sondern ländlich-dörflichen Geprä-
ges. Spielsachen wie Puppen, Schaukel- und Steckenpferd, Papierdrachen
und Buch stehen wie etwa auch der Schneemann, der Wind, Kuchen und Wilhelm Hey
Brot mehr am Rande; den größten Raum nehmen die Tiere ein, die des
Hauses – Katze, Hund, Pferd, Ochse, Sau, Ziegenbock, Lamm, Federvieh –,
sodann die frei lebenden Tiere, sofern sie die Aufmerksamkeit des Kindes
erregen: die Vögel allen voran, dann Eichhorn, Schmetterling, Fledermaus,
Storch, Fuchs und Hirsch. Sie alle reden mit dem Kind und untereinander,
ohne doch Fabeltiere zu sein. Mit ihnen soll nicht eine menschliche Eigen-
schaft dargestellt werden; es geht um ihre jeweilige Eigentümlichkeit als
Naturwesen. Geboten wird eine kleine poetische Tierkunde, und insofern ist
die in den Titeln der Sammlungen anzutreffende Rede von Fabeln verwir-
rend.
Kinderlyrisch beachtlich ist, wie Hey den literarischen Erzieher als Spre-
cher zurücknimmt und dem Rollengedicht mit Kindern, redenden Gegen-
ständen und Tieren als Sprechern Raum gibt. Wilhelm Hey sind einzelne
Kindrollenverse bestechend gelungen: »Eichhörnchen auf dem Baum!/ Bist
so hoch, seh’ dich kaum,/ Komm’ doch und spiel mit mir.« Seltener freilich
hält sich eine solche Übereinstimmung durch das ganze Gedicht wie im Falle
von Kind und Buch:
Was die Tiergedichte angeht, so ist oft ein vom Kind beobachtetes Verhalten
der Ausgangspunkt: »Ei Ochse, worüber denkst du nach,/ Daß du da liegst
fast den halben Tag,/ Und machst so gar ein gelehrt Gesicht?« In seiner Ant-
wort fällt der Ochse nun keineswegs in eine Lehrerrolle: »Hab’ Dank für die
Ehre! So schlimm ist’s nicht./ Die Gelehrsamkeit, die muß ich dir schenken;/
Ich halte vom Kauen mehr als vom Denken.« Zu eigentlichen Handlungen
kommt es nicht; in Rede und Gegenrede expliziert sich eine Situation, tritt
Zeichnung von Otto eine charakteristische Verhaltensweise oder Eigenschaft sinnfällig hervor.
Speckter zu Wilhelm Heys Das Poetische dieser Texte besteht in der immer wieder sich bestätigenden
Fabel Sau (1836) Einheit von Kind und Welt, die übrigens an keiner Stelle thematisch wird.
Das Kind stößt in den Gegenständen und Tieren seiner Umgebung auf art-
und geistesverwandte Wesen und fühlt sich dadurch heimisch in der Welt.
Die ernsthaften Anhänge zu beiden Sammlungen enthalten vorwiegend reli-
giöse Kindergedichte. Erstaunlich ist, wie der Autor von »Weißt du, wieviel
Sterne stehen/ An dem blauen Himmelszelt?« Kindern eine Vorstellung von
der erhabenen Weite der Schöpfung zu geben weiß: Hey wird an solchen
Stellen zum Novalis der Kinderliteratur.
Friedrich Güll Das Kindergedicht des Biedermeier erreicht mit Friedrich Güll einen zwei-
ten Gipfelpunkt. Dessen erste und zugleich bedeutendste Gedichtsammlung
erschien 1836 unter dem Titel Kinderheimath in Bildern und Liedern mit Il-
lustrationen von Julius Nisle, 1846 in stark erweiterter Auflage mit Illustra-
tionen von Franz Pocci. Gülls Dichtungsvermögen hat sich an zwei lyrischen
Publikationen entzündet: am Wunderhorn und an den Rückert’schen Fünf
Mährlein. Unter den zahlreichen Kinderdichtern der Epoche hat Güll sich
am weitestgehenden vom volkstümlichen Kinderreim, von dessen Laut- und
Formelhaftigkeit, dessen Unlogik und Sprachspiel inspirieren lassen. Er dich-
tet Kettenreime rein sprachspielerischen Charakters (Wenn das Kind nicht
schlafen will), Kinderstubenverse wie das Kletterbüblein oder Will das Kind
ein wenig warten, Abzählverse wie »Wir wollen uns verstecken/ In ein, zwei,
drei, vier Ecken« oder Kinderreimgeschichtchen wie die vom Hirten: »Mor-
gens in der Fruh/ Treibt der Hirt die Kuh;/ Morgens in der Frühe/ Treibt er
aus die Kühe:/ Treibt sie über’n Steg/ Auf den langen Weg ...« Das Spiel mit
Geräuschsimitationen und das lautmalende Erzählen im Gedicht (etwa Vom
Pelzemärtel die ganze Geschicht’) beherrscht in dieser Zeit niemand so wie
Güll.
Mit einer größeren Zahl von Gedichten betreibt auch Güll »poetischen
Anschauungsunterricht«. Das Stück »Über’s Böcklein« und sein »Zottel-
röcklein« ist als Rede und Gegenrede von Kind und Tier gestaltet; auch das
Gedicht Vom Kühlein auf der Wiesen bleibt bei der einfachen Gegenüberstel-
lung von menschlicher Eigenschaft und der eines Tieres stehen. Von Wilhelm
Hey setzt Güll sich in den meisten Fällen jedoch dadurch ab, dass er das Ei-
gentümliche seines Gegenstandes mittels einer Geschichte über ihn hervor-
treten lässt. Als Beispiele seien hier die Gedichte Vom Hund, Der Mann von
Schnee und Vom argen Wind und vom armen Nußbaum genannt. Bei einer
anderen Gruppe von Gedichten macht sich der Einfluss der Rückert’schen
Mährlein noch stärker bemerkbar: es sind dies Erzählgedichte wie das vom
Büblein auf dem Eis, das beginnt mit: »Gefroren hat es heuer/ noch gar kein
festes Eis«. Auch hier schimmert noch wie bei Rückert das alte Muster der
Abschreckgeschichte hindurch, die freilich zu einem puren Spaß umfunktio-
niert wird: »Das Büblein hat getropfet,/ Der Vater hat geklopfet/ Es aus,/ Zu
Kinderreime und -lieder 127
Haus.« Der heutige Zugang zu Hey und Güll wird erschwert durch die
Nachgeschichte, in der ihrer kinderlyrischen Motive eine starke Abnutzung
erfahren haben; das Gespür für die Originalität beider Autoren sollte man
sich dennoch bewahren.
Neben Hey und Güll ist Heinrich Hoffmann von Fallersleben zu nennen.
Sein publizistisches Schaffen auf diesem Feld setzt 1827 mit dem Siebenge-
stirn gevatterlicher Wiegen-Lieder für Frau Minna von Winterfeld ein und
erreicht in den 40er und 50er Jahren mit mehreren Sammlungen seinen Hö-
hepunkt, die meisten davon versehen mit Vertonungen und Klavierbeglei-
tungen (u. a. von Mendelssohn-Bartholdy, Nicolai, Schumann und Spohr).
Auch für Hoffmann von Fallersleben ist das Wunderhorn die entscheidende
Inspirationsquelle – weniger freilich der Kinderliedanhang mit seinen form-
geschichtlich vorwärtsweisenden lyrischen Techniken, sondern mehr der
Volksliedteil. Das singbare Volkslied bildet mit seiner eigentümlichen Reim-, Zeichnung von Ludwig
Strophen- und Refraintechnik das Muster der Hoffmann’schen Kinderlyrik- Richter zu ABC-Buch für
produktion. Die Imitation des Volksliedtones ist ihm streckenweise so perfekt große und kleine Kinder
von Robert Reinick
gelungen, dass viele seiner Kindergedichte eine Art Folklorisierung erfahren
(1845)
haben. Die Nennung einiger Gedichtanfänge mag hier als Beleg ausreichen:
»Winter, ade!/ Scheiden tut weh«; »Der Winter ist vergangen«; »Kuckuck,
Kuckuck ruft aus dem Wald«; »Alle Vögel sind schon da«; »Wer hat die
schönsten Schäfchen?«; »Ein Männlein steht im Walde«; »Summ, summ,
summ!/ Bienchen summ herum«; »Der Kuckuck und der Esel« und »Morgen
kommt der Weihnachtsmann«.
Von größerer Vielgestaltigkeit ist die Kinderlyrik Robert Reinicks, die Robert Reinick
weitgehend frei ist von der Sentimentalität seiner Märchendichtung und in
einzelnen Stücken noch heute lebendig wirkt. Reinick lieferte die Texte zu
dem von Dresdner Künstlern ausgestatteten Abc-Buch für kleine und große
Kinder (1845); unter den 15 lyrischen Stücken befinden sich »Was thut der
Fuhrmann?/ Der Fuhrmann spannt den Wagen an« und das berühmte Nacht-
wächterlied »Hört ihr Kinder und laßt euch sagen:/ Die Glock hat Neun ge-
schlagen!«. Weitere Gedichte erschienen in der Anthologie Lieder und Fabeln
für die Jugend. 2. verb. Aufl. mit vielen neuen Beiträgen von R. Reinick
(Leipzig 1849) und im Deutschen Jugendkalender, den Hugo Bürkner teil-
weise zusammen mit Reinick zwischen 1847 und 1853 herausgab. Eine
große Rolle spielt auch hier die vom Kind wahrgenommene Natur; in Sachen
›poetischer Anschauungsunterricht‹ steht Reinick den anderen nicht nach,
wie etwa sein Käferlied (»Es waren einmal drei Käferknaben,/ Die täten mit
Gebrumm, brumm, brumm«) oder sein Kaninchen-Gedicht (»Kaninchen,
Karnickelchen,/ Was bist du doch so stumm!«) beweisen. Auch die Personifi-
kation von Naturwesen und Tieren gelingt Reinick bisweilen auf faszinie-
rende Weise. Das Wiegenlied für den Herbst gibt hierfür ein gutes Beispiel
ab:
Sonne hat sich müd’ gelaufen, spricht: »Nun laß ich’s sein!«
Geht zu Bett und schließt die Augen und schläft ruhig ein.
[…]
Bäumchen, das noch eben rauschte, spricht: »Was soll das
sein?
Will die Sonne nicht mehr scheinen, schlaf’ ich ruhig ein!«
[…]
Vogel, der im Baum gesungen, spricht: »Was soll das sein?
Will das Bäumchen nicht mehr rauschen, schlaf’ ich ruhig
ein!«
[usw.]
128 Romantik
Romantischer Karne- Die romantische Wiederentdeckung der Folklore erzeugte schließlich auch
val: Franz Poccis eine neue Aufmerksamkeit für das volkstümliche Figuren- und Puppenthea-
Kasperliaden und ter. Auf dem Feld des Kasperl- und Puppenspiels für Kinder ist Franz Pocci
Märchenspiele die überragende Gestalt. Zugleich Zeichner und Illustrator, Dichter von ro-
mantisch-frommen Kindergedichten, -märchen und -legenden, fand er erst
spät zu dem, was ihn berühmt machte: zum Kasperl- und zum Marionetten-
theater. Zwischen 1846 und 1849 gab er auf Ammerland, seinem Sommer-
sitz, Kasperlvorstellungen mit improvisierten Stücken; doch erst 1855 drang
davon etwas auf den Buchmarkt (Neues Kasperl-Theater, in Stuttgart er-
schienen). 1858 gründete Joseph Leonhard Schmid in München eine stehende
Puppenbühne, das »Münchener Marionettentheater«; Franz Pocci avancierte
zum Hausdichter. Eröffnet wurde die Bühne am 5. Dezember 1858 mit Poc-
Kasperl- und Puppenspiel 129
cis Märchenspiel Prinz Rosenroth und Prinzessin Lilienweiß. Dieses und die
weiteren Stücke erschienen von 1859 bis 1871 in sechs Bänden unter dem
Titel Lustiges Komödienbüchlein in einem Münchner Verlag.
In gewisser Weise kann man auch Pocci einen ›entlaufenen Romantiker‹
nennen; die romantische Literatur jedenfalls, ihre Bilderwelt, ihre Motive,
Formen und Gattungen bilden das Material, mit dem er in parodistischer
Manier spielt. Doch ist seine Romantik-Parodie von ganz anderer Art als die
Heinrich Heines, des eigentlichen ›entlaufenen Romantikers‹. Heines Parodie
ist, so sehr in ihr eine gewisse Faszination für das Romantische auch noch
stecken mag, letztendlich doch destruierenden Charakters; sie bewirkt eine
teils lust-, teils schmerzvolle Desillusionierung. Pocci dagegen ist aller Welt-
schmerz fremd. Die romantisch-poetische Bilderwelt bildet für ihn eine lite-
rarische Überlieferung, in der er sich mit größter Selbstverständlichkeit
bewegt, die radikal und endgültig aus den Angeln zu heben ihm jedoch
schlechterdings nicht einfiele. Wie immer man diese unangefochtene Traditi-
onsverhaftung Poccis auch bewerten mag, sie ist jedenfalls die Voraussetzung
seiner besonderen Form der Komik. Sein sicheres Wurzeln in der roman-
tischen Überlieferung erst erlaubt ihm deren vollständige karnevaleske Um-
kehrung und Aufhebung, die sein eigentliches poetisches Geschäft bilden.
Da gibt es in Kasperl’s Heldenthaten. Ein Ritterstück aus dem finsteren
Mittelalter in dem Band von 1855 einen Eremiten, der ein Schleckermaul
und Vielfraß ist und in seiner Klause einen guten Vorratskeller führt. Pocci
will das Eremitentum damit keineswegs entlarven; ihm geht es allein um den
komischen Effekt, der sich aus dem Kontrast zwischen Hohem und Nied-
rigem, Geistigem und Körperlichem ergibt. Der Eremit als verkappter Fein- Franz Pocci
schmecker ist eine karnevaleske Erscheinung, die einen zum Lachen bringt.
Alle Figuren dieses Stückes sind karnevaleske Umkehrungen: Der Ritter
Kuno ist Inbegriff des Unheroischen, Memmenhaften wie weiland Sancho
Pansa; Kasperl wiederum, versessen aufs Niedrigste, auf Schnaps und gutes
Essen, feige und faul obendrein, begeht, ohne zu wissen, wie ihm geschieht,
Heldentaten reihenweise. In diesem Stück ist alles aufs drastischste in sein
Gegenteil verkehrt; nichts entgeht dem karnevalesken Gelächter. Weder das
Rittertum, noch die christlich-mittelalterliche Welt als poetischer Schauplatz,
noch das romantische Märchenwesen sind damit angegriffen – im Gegenteil.
Dass all dies komisch verkehrt werden kann, zeigt, wie unangefochten diese
Traditionselemente bei Pocci in Geltung sind. Hinzu tritt die elementare
Sprachkomik, von der Pocci reichhaltig Gebrauch macht. Ein Missverständ-
nis reiht sich ans andere und bringt die haarsträubendsten Wortverdrehungen
hervor. Keineswegs sind diese Missverständnisse schon Anzeichen einer
Sprachkrise. Sie decken nur zu oft einen überraschenden, witzigen Hintersinn
des zuvor Gesagten auf, sind in Wahrheit also unfreiwillige Klugheiten und
eben deshalb so komisch.
In den ab 1858 entstehenden Märchenspielen für das Marionettentheater
wird das karnevalesk-komische Element auf einen Seitenstrang der Hand-
lung eingeschränkt. Bei Prinz Rosenroth handelt es sich durchaus um ein
ernstes Märchendrama; Pocci selbst spricht von einem »romantischen Zau-
berspiel«. Die für die Märchenhandlung zentralen Figuren, Prinz und Prin-
zessin, die Fee, der König, Ritter Hugo von Felseck und sein Fräulein, sind
keine komischen Figuren mehr. Kasperl bleibt dies selbstverständlich, wobei
nun allerdings der komische Kontrast aus ihm hinausverlagert wird. Komisch
ist er jetzt nur noch im Kontrast zu dem Hohen, das sich im Prinzen verkör-
pert; gelacht wird über ihn als dummen Esel, in den er am Ende gar leibhaftig
verwandelt wird. In die Gestaltung anderer Nebenfiguren mischen sich sati-
130 Romantik
Klaus-Ulrich Pech
Endlich waren die unruhigen Jahre vorüber! Vorbei jene Jahrzehnte zuvor
nie gesehener Umstürze, Änderungen und Kriege, vorbei die Unruhe in der
Welt und in den Köpfen der Menschen. »Alte Regenten, von Napoleon vom
Throne gestoßen, kehrten zu ihren frohlockenden Unterthanen wieder zu-
rück […] überall kam die alte Ordnung neu zurück, alles athmete freyer,
überall waren Jubel, Dank und Gebethe«, schrieb der österreichische Kinder-
buchautor Leopold Chimani 1818. Vorüber das lange Vierteljahrhundert
von »Schrecknissen und Gräueln dieser Staatsempörung«; es gab wieder
Herrscher, erfüllt mit tiefer Religiosität, und über ihnen galt wieder Gott,
»Herr der Herrschenden« und allen Volkes.
Doch war wirklich alles wieder beim Alten? War wirklich wieder alles Ruhe und
zufriedenstellend geordnet, wie es viele Kinderbücher jener Epoche vorga- Zerrissenheit
ben, die man, nimmt man nur ihre Schauseite von Ruhe, Idylle, Zurückgezo-
genheit und Behaglichkeit, die Biedermeierzeit nennt? Auch wenn in den
dreißig deutschen Staaten wieder Frieden eingekehrt war, so sorgten doch die
in den Jahrzehnten zuvor eingeleiteten Reformen, die Versprechungen und
Hoffnungen weiterhin für Unruhe. Doch davon wollte die Kinderliteratur
nichts wissen: Napoleon war »von der großen Schaubühne der Welt« ver-
trieben und mit ihm die umstürzlerischen Ideen, die aus Frankreich herüber-
gedrungen waren: »Nun erscholl das Segenswort: Friede! durch alle deutsche
Gauen, und nach jahrelanger trüber Knechtschaft schlug jedes deutsche Herz
wieder freier in dem Bewußtseyn der ruhmreich wieder erkämpften Unab-
hängigkeit. Und wohl uns, daß die gütige Vorsehung uns Fürsten zu Führern
gab, die mit Weisheit erkannten, was uns Noth that; dies war die Erhaltung
des Friedens.« (Maukisch, 1839) Nach außen herrschte Frieden, aber im In-
neren konnten Brüche nicht mehr verdeckt, Änderungen nicht immer wieder
rückgängig gemacht werden. In der Landwirtschaft wie im Bildungswesen,
in der Staatsverwaltung wie in den Arbeitsverhältnissen war zu viel auf den
Weg gebracht, was sich nicht mehr aufhalten ließ.
Es entwickeln sich eigenständige bürgerliche Lebensanschauungen und Soziale
Verkehrsformen, die in ihrer Offenheit, Zukunftsorientierung und in ihrem Differenzierungen
nichtständischen Selbstbewusstsein mit traditionalen Vorstellungen nicht
mehr viel gemein haben. Tendenziell spielt Geburt nicht mehr länger die
entscheidende Rolle im Lebensweg, sondern die eigene Leistung, das selbst
Erarbeitete, spezialisiertes Fachwissen und allgemeine Bildung. Das Bildungs-
bürgertum bildet eine neue, betont privilegierte gesellschaftliche Gruppe, die
in kulturellen Fragen tonangebend wird. Für diese Gruppe spielt ihre enge
Beziehung zu allem Kulturellen, zur Bildung besonders neuhumanistischer
Prägung, spielt ihr wenn schon nicht politischer, so wenigstens ideologischer
Führungsanspruch eine wichtige Rolle. Infolge wirtschaftlicher und gesell-
132 Vom Biedermeier zum Realismus
Auswanderer – Illustra-
tion von Theodor
Hosemann zu Blumen-
Erzählungen und
Märchen für Kinder von
12 bis 14 Jahren. Berlin
1840
Moral in Geschichten
Äußerlich war Ruhe, aber im Inneren – der Menschen wie der Staatsverwal-
tungen – herrschte Unruhe: Zerrissenheit zwischen Aufbruchstimmung und
Angst vor dem Neuen, starrköpfiges Anklammern an das in den Händen
zerrinnende Alte und hoffnungsfrohes Vorausschauen auf die vielverspre-
chende Zukunft, ausgeprägte Revolutionsfurcht und Hoffnungen auf ein
geeintes Deutschland.
In solchen Zeiten fehlender Selbstgewissheit und Sicherheit spielt die Beto-
nung von Normen und Werten eine wichtige Doppelrolle. Die Vermittlung Wertesysteme
von Tugenden soll einerseits das Bewährte weitergeben, alte Werte und Be-
stehendes bewahren, der Errettung des vom Untergang Bedrohten dienen.
Andererseits dient die Tugendvermittlung der Vorbereitung der Zukunft: Das
Neue soll gestärkt, Hoffnungen sollen unterstützt und künftige Aufgaben
ethisch vorbereitet werden. So stehen in der biedermeierlichen Kinder- und
Jugendliteratur beharrende Tugendvorstellungen neben vorausgreifenden.
134 Vom Biedermeier zum Realismus
aus den religiösen abgeleitet werden. Gottvertrauen hilft aus jeglicher Not,
auch wenn gelegentlich auf das jenseitige Leben vertröstet werden muss. Be-
liebt sind unschuldig Verfolgte, die Eltern ehrende Kinder und scheinbare
Bösewichte, die sich zum Christentum bekehren lassen.
Warum waren Schmids Für den Erfolg von Schmids Büchern lässt sich zunächst ein äußerer Grund
Bücher so erfolgreich? angeben: Anfangs erschienen seine Erzählungen in Heftchenform, auf
schlechtem Papier billig gedruckt, niedrig im Preis, so dass auch unterbürger-
liche Schichten sie kaufen konnten. Erst später erschienen die besser aufge-
machten, illustrierten Gesamtausgaben und die aufwendigen, das gehobene
Bürgertum ansprechenden Prachtbände. Inhaltliche Gründe sind mehrere zu
nennen. Charakteristisch ist die einfache soziale Schichtung der Protagonis-
ten: arm – reich, vornehm – bescheiden, Palast – Hütte, gebildet – ungebildet.
Es dominiert das patriarchalische Weltbild einer gegenwartsfernen Idylle, die
so lange bestehen kann, wie alle mit ihrem Stand zufrieden sind. Zur ein-
fachen sozialen Schichtung gehört die einfache moralische: gut – böse, sitt-
sam – unsittlich, tugendhaft – lasterhaft, gottgefällig – des Teufels. Immer
kommt es zur schnellen Bestrafung des Bösen und der nicht zuletzt materiel-
Ludwig Richter: len Belohnung des Guten. Das starre Normensystem, das keine fließenden
Genoveva (1858) Übergänge, keine Änderungen, auch keine Konflikte zwischen konkur-
rierenden Wertvorstellungen kennt, entsprach nicht nur den Konzepten der
biedermeierlichen Erziehung, sondern auch der gesellschaftlichen, ja poli-
tischen Vorstellung der Restaurationsepoche.
Einfachheit, Einfältigkeit und Überschaubarkeit kommen dem Verständnis
der Kinder entgegen; dieser Wunsch nach einer einfach gegliederten, sta-
tischen Welt kann nur in der Beschreibung vergangener Zeiten erfüllt werden.
Der Rückgriff auf eine nur vage bestimmte mittelalterliche Vorzeit ist ein
Reflex auf die vielfältigen Modernisierungsprozesse. In der Schilderung alter
Feudal- und Agrargesellschaften liegt der Vorwurf, allein wegen ihrer Neu-
heit und Unüberschaubarkeit sei die Moderne zu verwerfen.
Entscheidend für den Erfolg war das religiöse Moment. Charakteristisch
ist das aus der religiösen Grundströmung der Zeit heraus entwickelte Kind-
heitsbild, das bei Schmid seinen kennzeichnendsten Ausdruck findet: Kinder
sind rein und lieb, nahezu engelgleich, unverdorben und zu unvergleichlicher
Religionsseligkeit fähig, voller unverbildeter Natürlichkeit und nicht mit kalt
beobachtender Vernunft, sondern nur durch die Sinne zu erfassen, vornehm-
lich mit dem Geschmackssinn: süß.
Auch die literarischen Elemente der Romantik, die Schmid verarbeitete,
trugen zum Erfolg bei. Die Sehnsucht nach vermeintlich besserer vergangener
Zeit, aber auch die Lust am Geheimnisvollen und Spannenden konkretisieren
sich in der gehäuften Verwendung von Szenerie-Elementen wie Burgen, Ka-
pellen und ausführlich geschilderter Natur, unstet schwankend zwischen
bergender Idylle und drohend-finsterer Fremdheit. Zu diesen effektvollen
Versatzstücken gesellt sich ein Spannung versprechendes Personal: Ritter
und geheimnisvolle Fremde, Zigeunerinnen und leutselige Adlige, vom Tod
Gezeichnete und vom Glauben gänzlich Durchdrungene. Es fehlt die ›Nacht-
seite‹ alles Naturhaften, das Grausige, aber auch das Ironische der ja noch
zeitgenössischen Romantiker.
Schmids Werke sind Schmids Werke sind direkter Gegenpol zur aufklärerischen Kinder- und
Gegenpol zur Jugendliteratur. Auch wenn sie sich genuiner Elemente der Aufklärung bedie-
aufklärerischen nen, werden diese mit anderen Funktionen belegt. Erziehungsziel ist nicht
Kinderliteratur mehr der mündige, selbstbewusste Bürger, der für sich und die Gesellschaft
Glück, Wohlstand und stete Verbesserung erarbeiten will. Erziehungsziel ist
nicht mehr die Anerkennung der Vernunft als oberste leitende Instanz, son-
Moral in Geschichten 137
dern des Gefühls. Schmids Schriften sind gegen den ›Räsonniergeist‹, für
wohlwollenden Glauben und kindlichen Dank. Seine Erzählungen kennen
nur die kollektive Rührseligkeit, nicht die individuelle Leidenschaft; diese
wird als zu eigenwillig, zu selbständig abgelehnt. Erwünscht ist bedingungs-
loses Unterwerfen unter die christliche Lehre, unter die ritualisierte Form ei-
ner emotionalisierten Frömmigkeit.
Doch man muss auch sehen: Durch Schmid ist die Entwicklung der Mora-
lischen Geschichte zur langen Erzählung, gar zum Roman entscheidend for-
ciert worden. Dies hatte wichtige Folgen für den Handlungsaufbau, die Ge-
staltung der Szenerie, die Vermehrung der Protagonisten und für die Glaub-
würdigkeit einer Erzählung. Folgerichtiger Einsatz der Motivik, weniger
konstruiert wirkende Dialoge, auch psychologisch begründete Handlungs-
führung sind Bedingungen, die nach und nach erfüllt wurden.
In der Tradition Schmids stehen zahlreiche Autoren. Wilhelm Bauberger
widmete ihm sein erstes Buch Die Beatushöhle (1830), eine Nachahmung
von Schmids Rosa von Tannenburg, die noch weitaus stärker aufträgt als das
Vorbild. Deutlicher als bei Schmid ist die sittlich-religiöse Belehrung katho-
lisch geprägt; dies ist auch bei Wilhelm Herchenbach und Theophilus Nelk
(d. i. Alois Adalbert Waibel) der Fall. Herchenbach führte die religiöse Tradi-
tion der Moralischen Geschichte bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jh.s
hinein. Er verfasste mehr als 250 Bücher, neben Moralischen Geschichten
auch Sagenbearbeitungen, vaterländische Erzählungen und Gespensterge-
schichten. Im Zentrum steht immer ein beispielhaftes christliches Leben. Ob
nun Königin Hildegard oder Der Sieg der Unschuld über die Bosheit (1858), Illustration von Allanson
zu Dies Buch gehört
Bruno und Lucy, oder: Die Wege des Herrn sind wunderbar (1869), Die
meinen Kindern von
Goldkinder, oder: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß du lange lebest Ferdinand Schmidt.
auf Erden (1865) oder die Erzählungssammlung Neue Erzählungs-Abende Leipzig 1851
(1860), immer endet die Geschichte mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit
eines tugendhaften, gottesfürchtigen Lebens. Nelks über hundert Kinder-
schriften waren vornehmlich bei der katholischen süddeutschen Bevölkerung
verbreitet. Einfältig im Inhalt, anspruchslos in der Ausstattung, sprachen sie
gleichermaßen Kinder und das ›einfache Volk‹ an. Das protestantische Ge-
genstück zu den Werken Schmids waren die Schriften Christian Gottlob
Barths, der ebenfalls einer der populärsten Autoren des 19. Jh.s war. Strenger Christian Gottlob
Pietismus, der Wunsch, sozial tätig zu werden, und missionarischer Eifer auf Barth
dem Gebiet der Volksliteratur führten Barth dazu, für Kinder und Jugendli-
che zu schreiben; er schrieb mehrere Dutzend Kinder- und Jugendschriften.
Am erfolgreichsten war ein betont religiöses Werk, das er gemeinsam mit
einem Pfarrer Hochstetter verfasste: Zweimal zweiundfünfzig biblische Ge-
schichten für Kinder (1832). Bis zum Ende des 19. Jh.s erschien dieses Werk
allein in deutscher Sprache in zwei Millionen Exemplaren; Übersetzungen in
68 Sprachen sind nachgewiesen. Gleichfalls weit verbreitet waren Der arme
Heinrich oder die Pilgerhütte am Weißenstein (1828), Die Rabenfeder (1832)
und Die Flucht des Camisarden (1840).
Als ›österreichischer Christoph von Schmid‹ wurde häufig Leopold Chi- Leopold Chimani
mani bezeichnet, der produktivste Kinderschriften-Autor Österreichs im 19.
Jh.. Einen Großteil seiner weit über hundert, oft mehrbändigen Bücher ma-
chen die Moralischen Geschichten aus, in denen der junge Leser die Abhän-
gigkeit der weltlichen Tugenden von der religiösen Moral vorgeführt be-
kommt. Ausgangspunkt der Moralischen Geschichten Chimanis ist immer
ein weltlicher Vorgang, ein konkretes Ereignis. Er berichtet von Naturkatas-
trophen und merkwürdigen Vorfällen im Alltagsleben, von Tieren und unge-
horsamen Kindern, von sensationellen Unglücksfällen und immer wieder
138 Vom Biedermeier zum Realismus
Ausweg zu finden; und das Fatale ist, dass dies die Moralischen Geschichten
sowohl inhaltlich als auch formal propagieren, als sittliches wie literarisches
Gesetz.
Die Weiterentwicklung der Moralischen Geschichte durch Fiktionalisie-
rung wird wesentlich durch eher weltlich orientierte moralische Belehrungen
vorangetrieben. Vorhanden waren diese weltlichen Elemente auch schon in
den Moralischen Geschichten der bisher vorgestellten Autoren, als histo-
rische Themen – alltägliche Begebenheiten, Kriegsereignisse, kleine Abenteuer
– oder als Tugenden und Laster – Sparsamkeit, Arbeitsfreude, Geiz, Putz-
sucht. Doch den entscheidenden Anstoß zur endgültigen Säkularisation der
Moralischen Geschichte gaben seit den 30er und 40er Jahren Autoren, die
nicht aus pädagogischem Impetus Kinderschriften verfassten, sondern sich
am ökonomischen Erfolg orientierten, genauer: orientieren mussten. Diese Volksschullehrer
weltliche Moralliteratur wurde weniger von Theologen als von Pädagogen als Autoren
geschrieben, vor allem von Volksschullehrern, niederen sozialen Schichten
entstammend, dürftig in Seminaren ausgebildet, schlecht bezahlt und mit
nach wie vor niederem sozialen Status. Neben diese Lehrer treten zunehmend
häufiger die Kinderbuchautoren aus Profession.
Im Zuge der Modernisierung des gesamten Buchmarktes, zu dem neue
Maschinen bei der Papierherstellung wie beim Druck, neue gewerberecht-
liche Regelungen ebenso beitrugen wie die Zunahme des Lesepublikums
aufgrund starken Bevölkerungswachstums und steigender Lesefähigkeit,
entdeckten viele Verleger und Autoren, dass sich mit Kinderliteratur Geld
verdienen ließ. Es kam vor allem darauf an, marktgängige Ware anzubieten.
Dadurch war die Professionalisierung der Schriftstellerei von einem stets
vorhandenen Produktionsdruck begleitet. Da die Honorare zumeist nach der
Auflagenhöhe festgelegt wurden, bestimmten die Verkaufserfolge, also die
Bereitschaft, den Publikumsgeschmack zu treffen, das Einkommen. Deshalb Vielschreiber
das schier unübersehbare Ausufern von Moralischen Geschichten à la
Schmid, verfasst von Vielschreibern wie Gustav Nieritz, Franz Hoffmann,
Philipp Wolfgang Körber, Rosalie Koch und vielen anderen Autoren. Doch
da die Honorare, auch bei außerordentlicher Popularität, äußerst niedrig
blieben, musste die Masse der Produktion das Einkommen sichern: ein zwei-
ter Grund für das Ausufern und die oft nur geringe Variation der Moralischen
Geschichten. Wie in der zeitgenössischen Literatur für Erwachsene, betraten
auch in der Kinder- und Jugendliteratur die Vielschreiber die Bühne. Bereits
1828 kritisierte Wolfgang Menzel: »Jetzt ist Deutschland mit einer unermeß-
lichen Kinderliteratur überschwemmt, und Wien und Nürnberg sind die
großen Fabrikstätten derselben. Im Augenblick der ersten pädagogischen
Wuth suchte man den Kindern alles Wissenswürdige einzupfropfen, und man
schrieb aus Liebe für dieselben, was das Zeug halten wollte. In der neuern
Zeit sucht man wieder, wenigstens die Schulbücher zu vereinfachen und aus
der Masse das Beste zu sondern. Leider aber ist der literarische Unterricht
den Pädagogen von den Buchhändlern aus den Händen gewunden, und die
letztern überschwemmen Deutschland mit ihren lüderlichen, von außen glei-
ßenden, von innen hohlen Fabrikaten. Sie können dies, weil unter den Päda-
gogen keine Einigkeit ist, und weil die Modesucht so weit geht, daß man so-
gar den Kindern nur neue Sachen geben will. Um die Weihnachtszeit wimmelt
es in den Läden der Buchhändler von Eltern und Kinderfreunden, die alle die
brillanten Sächelchen aufkaufen, welche die neue Messe geliefert. Die Alten
greifen, wie die Kinder selbst, am liebsten nach den neuen Flittern.«
Der charakteristischste Vertreter dieser Richtung, neben Schmid und Barth Gustav Nieritz
der Dritte im Triumvirat der erfolgreichsten Autoren des 19. Jh.s, war Gustav
140 Vom Biedermeier zum Realismus
Illustration zu Hundert-
fünfzig moralische
Erzählungen von Franz
Hoffmann. Stuttgart 1842
Illustration zu Eigensinn
und Buße von Franz
Hoffmann. Stuttgart 1855
Nieritz. »Trotz meiner fast übergroßen Leselust«, berichtet er, »würde ich
selbst die Feder zum Erzählen niemals ergriffen haben, wenn die Not [...]
mich nicht dazu getrieben hätte. Ich war Lehrer an einer öffentlichen Volks-
schule Dresdens und erhielt nach 14 sauren Dienstjahren eine jährliche Be-
soldung von 150 Thlrn. […] Es war in dem harten Winter 1829 – 30, als ich
in meinem niederen Dachstübchen, von meinen munteren Kleinen umtobt,
[…] zu schreiben begann.« Von dem Verleger Gubitz erhält er für jede Erzäh-
lung zunächst 20, dann 25 Taler. Seit 1840 gibt Nieritz die Jugend-Bibliothek
heraus, für die er jährlich für 200 Taler drei Romane schreiben muss. Insge-
samt hat Nieritz innerhalb von drei Jahrzehnten, neben zahlreichen kurzen
Geschichten für Zeitschriften und Sammelbände, 117 längere Erzählungen
verfasst, also durchschnittlich vier Bücher pro Jahr. Seine bekanntesten wur-
den Der kleine Bergmann oder Ehrlich währt am längsten (1834), Alexander
Menzikoff oder: Die Gefahren des Reichtums (1834), Der junge Trommel-
schläger, oder: Der gute Sohn (1838), Mutterliebe und Brudertreue, oder:
Die Gefahren einer großen Stadt (1844), Gustav Wasa, oder: König und
Bauer (1846), Die Türken vor Wien im Jahre 1683 (1855) und Der Gold-
koch, oder: Die Erfindung des Porzellans (1863). Alle diese Bücher erlebten
im gesamten 19. Jh. zahlreiche Auflagen – Alexander Menzikoff beispiels-
weise im Jahre 1900 die neunzehnte – und wurden in die gängigsten europä-
ischen Sprachen übersetzt. Rückblickend erinnert sich Nieritz: »›Hüten Sie
sich vor Vielschreiberei!‹ hat man warnend mir zugerufen. Aber mein Fürst,
geehrtes Publikum, lieber Herr Verleger, setzen Sie denn durch ihre Groß-
muth einen armen Autor in den Stand, daß er nicht um’s liebe Brot zu schrei-
ben gezwungen ist, sondern nur dann die Feder führen soll, wenn hohe Be-
geisterung ihn mächtig dazu treibt?«
Realismus Dass Nieritz’ Werk auffallend häufig auf Kritik und Ablehnung stieß, liegt
vor allem am Realismus und der Gegenwartsbezogenheit vieler seiner Ro-
mane, die damit an der Schwelle von der Biedermeierzeit zum Realismus
stehen. Sie richten sich, wie viele andere moralisierende Romane auch, an
kleinbürgerliche Leser, aber sie schildern zugleich wie kaum ein anderes
Werk das Leben dieser Schichten. Nieritz verarbeitet die Erfahrungen jener
Moral in Geschichten 141
lungen haben seitdem – mit einem Höhepunkt in den 1970er Jahren – nicht
nachgelassen.
Der Struwwelpeter vermittelt Erziehungsvorstellungen, Normen und
Werte des Bürgertums im 19. Jh.. Aber das ist nur die eine, die Schauseite des
Buches. Denn diese Wertvorstellungen werden durch Übertreibung, über-
drehte Komik und Ironie relativiert oder in einer spannungsvollen Schwebe
gehalten. Zu dieser Relativierung tragen auch die bewusst dilettantische Il-
lustrierung, die übertrieben theatralische Gestik und Mimik, die eingängigen,
oft zynisch formulierten Verse und die nicht immer deckungsgleichen Aussa-
gen von Text und Bild bei. So werden Ordentlichkeit und Sauberkeit als
wichtige Tugenden propagiert, doch der Struwwelpeter scheint selbstbewusst
und erfolgreich dagegen aufzubegehren. Aber es scheint auch die Deutung
möglich, dass die infantile Lust an Aggression, Drastik und Grausamkeit
durch den Struwwelpeter in Lust an Selbstzerstörung und masochistischer
Unterwerfung gewandelt wird.
Dass lange Zeit als wesentliches Moment des Struwwelpeter die Prügel-
pädagogik angesehen wurde, wird durch die Tendenz zahlreicher Struwwel-
petriaden bestätigt, den Nachahmungen des Struwwelpeter, die sich zumeist
dicht an Personal, Staffage, Inhalt, Versstruktur und Abbildungsstil anschlie-
ßen. Sie erschienen schon seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts und Struwwelpetriaden
versuchten, von der außerordentlichen Popularität des Vorbilds zu profitie-
ren. Die meisten Struwwelpetriaden forcieren Demütigung, Bestrafung und
Quälerei des Kindes. Sadistische Straffantasien von Erwachsenen werden
eindrucksvoll in Text und vor allem ins Bild gesetzt: Kinder werden brutal
geschlagen, in Keller gesperrt, von Ärzten gequält, von Fremden entführt,
von Tieren zerfleischt oder mit Werkzeugen gefoltert. Ziel aller Geschichten
ist die ausführlich und lustvoll-sadistisch geschilderte Bestrafung. Die bei
Hoffmann noch zu erschließenden Distanzierungs- und Relativierungsme-
chanismen sind nicht mehr zu erkennen.
Wilhelm Busch
144 Vom Biedermeier zum Realismus
Wilhelm Busch Dem Struwwelpeter ähnelt in mehreren Elementen das Werk Wilhelm
Buschs. Da gibt es moralische Belehrung, die aber in der Schwebe bleibt zwi-
schen eindringlich vorgetragener Ernsthaftigkeit und kritischer Distanz; gibt
es bis zur Übertreibung unrealistische, oft sadistische Strafen, überhaupt eine
groteske Übersteigerung des Schemas von guter Tat und Lohn, von böser Tat
und Strafe; erzählt wird in einer Vers-Bildergeschichte. Mit dem Struwwelpe-
ter vergleichbar sind auch die große Auflagenhöhe, die zahlreichen Überset-
zungen, eine ungebrochene Popularität bis hin zur Volkstümlichkeit einiger
Geschichten oder einzelner Verse, dazu die vielen Nachahmungen, bei Max
Bildgeschichten und Moritz sogar Verfilmungen. Außerdem gibt es direkte Anlehnungen beim
Struwwelpeter, am deutlichsten in Fips der Affe (1879). Doch enthalten die
Bildgeschichten Buschs auch so viel Eigenständiges, dass sie als originelle,
authentische Werke anzusehen sind. Sie sind durchgehend humorvoll und
satirisch, üben Kritik an kleinbürgerlicher Idylle, gefallen sich in breitem und
lustvollem Ausspielen von Kinder-Boshaftigkeiten. Nicht zuletzt sind viele
Geschichten auch, wenn nicht sogar ausschließlich, an Erwachsene adres-
siert.
Welche Geschichten Buschs der intentionalen Kinderliteratur zugeordnet
werden können, ist umstritten; zur Kinderlektüre sind sie fast alle geworden.
Zwei zunächst als Beiträge zu den Fliegenden Blättern und den Münchener
Bilderbogen erschienene Geschichten wurden 1862 – eine damals im Kinder-
literatur-Bereich häufig geübte Praxis – anonym vom Münchner Verlag
Braun & Schneider herausgegeben. Dieses Bändchen Münchener Bilderbü-
cher, in »bunten Umschlägen kartoniert«, Die kleinen Honigdiebe und Die
Maus enthaltend, kann als erstes Kinderbuch Buschs gelten. Von den gleich
in Buchform erschienenen Werken zählen dann vor allem die Bilderpossen
(1864) – darin am berühmtesten Der Eispeter –, Max und Moritz (1865) und
die beiden späteren Werke Stippstörchen für Äuglein und Öhrchen (1880)
und Der Fuchs. Der Drachen. Zwei lustige Sachen (1881) zur Kinderliteratur.
Auch Hans Huckebein, der Unglücksrabe, 1867 in der Familienzeitschrift
Über Land und Meer, 1870 als Buch veröffentlicht, ist noch zur Kinderlitera-
tur zu rechnen.
Zumeist geht es in den Geschichten Buschs um eine Zerstörung der alltäg-
lichen, spießigen Umwelt. Geliefert werden Karikaturen von selbstzufriede-
nen und bequemen Kleinbürgern, denen es zunächst recht geschieht, dass mit
Humor und ihnen – oft übler – Schabernack getrieben wird. Die mit sadistischer Fantasie
Situationskomik ausgeschmückten Strafen können als Zugeständnis an die moralischen An-
forderungen des gerade kritisierten und verspotteten Bürgertums angesehen
werden. Auch Eigentum und Autorität der Erwachsenen werden – wie etwa
bei Max und Moritz – angegriffen. Der Text besteht aus sentenzartigen
Zweizeilern, mal eine in der Literatur unübliche Alltagssprache verwendend,
mal eine bis ins Pathetische gesteigerte Literatursprache, vor allem bei der
Schilderung alltäglicher Handlungen. Lakonisch vorgetragener Humor, bis
zur Situationskomik gesteigerter Witz und eine bildliche Vermischung von
Mensch und Ding – markant in Szene gesetzt im Ende von Max und Moritz
und dem Eispeter – sind weitere charakteristische Eigenarten.
Des kritischen, zynischen und auch grausamen Tons wegen stießen Buschs
Werke bei den meisten Pädagogen rasch auf Ablehnung. 1883 notierte Fried-
rich Seidel: »Die für den ersten Anblick ganz harmlos und belustigend er-
scheinenden Caricaturen auf manchen Münchener Bilderbogen, in Max und
Moritz und andern Büchern von W. Busch u. dgl. sind eins von den äußerst
gefährlichen Giften, welche die heutige Jugend, wie man überall klagt, so
naseweiß, unbotmäßig und frivol machen.«
Die Welt: kein System, sondern Geschichte 145
Das Urteil über die Werke Buschs wie ihre Einordnung als Kinder- oder Parodistisches
Erwachsenenbuch werden erschwert durch das parodistische Spiel Buschs Spiel mit moralischer
mit den Elementen moralischer Belehrung, den traditionellen Vorstellungen Belehrung
von Kinderliteratur, Märchen- und Schwankstoffen und Warngeschichten.
Dazu sind Text und Bild oft gegenläufig in ihren Aussagen, so dass in der
steten Ambivalenz die Beurteilungsschwierigkeiten, aber auch der besondere
Reiz liegen. Stark verknappt ließe sich sagen: Buschs Geschichten sind Paro-
dien der moralischen Beispielerzählung. Gemeinsam ist nahezu allen Figuren
Buschs ein abgrundtief böser Charakter. Die Darstellung von abgründiger Negatives Kinderbild
kindlicher Bosheit in diesem Ausmaß ist in der Kinderliteratur etwas Neues.
Busch war dies bewusst, wie ein Brief zeigt: »Haben Sie jemals den Ausdruck
von Kindern bemerkt, wenn sie dem Schlachten eines Schweines zusehen? –
Nein? – Nun, so rufen Sie sich das Medusenhaupt vor die Seele. Tod, Grau-
samkeit, Wollust – hier sind sie beisammen. – Muß ich Ihnen sagen, nachdem
was ich so oft gesagt, wie das kommt? – Der gute und der böse Dämon
empfangen uns bei der Geburt, um uns zu begleiten. Der böse Dämon ist
meist der stärkere und gesundere; er ist der heftige Lebensdrang.« (6. 11.
1875) Kindheit ist nicht mehr Bild einer besseren Zukunft, weshalb auch
Busch in seinen Geschichten am Erfolg jeglicher Erziehung zweifelt. Zu dem
aufklärerischen und dem romantischen Kindheitsbild tritt mit Hoffmanns
und Buschs Werken das Bild des bösen Kindes – damit durchaus Erkennt-
nisse der wenige Jahrzehnte später formulierten Psychoanalyse vorwegneh-
mend.
und Einheit der Stämme –, dann gelte für das deutsche Volk: »Von solch ei-
ner Nation, wenn sie nur immer Vertrauen zu sich selbst und zu ihrer Kraft
hat und dabei von dem großen Geiste der Einheit und Eintracht beseelt wird,
der keinen Unterschied unter Brandenburgern und Bayern, unter Sachsen
und Franken und den verschiedenen germanischen Völkerstämmen, der nur
ein deutsches Volk und dessen allmächtige Kraft kennt, von solch einem Volk
kann und muß man noch viele der glorreichsten Taten mit Recht erwarten«.
Ein anderer Aspekt des Hofmann’schen Kinderfreundes befasst sich mit dem
wahren Patriotismus, der sich nicht nur im Krieg, sondern auch und vor-
nehmlich im Frieden zeigen müsse. Zu ihm gehören eminent bürgerliche
Vorstellungen wie Arbeit, Bildung, selbständige Leistung und friedlicher
Wettstreit.
Mit gleicher Intention wie Hofmann schrieb der sächsische Pastor Johann Christian Ludwig
Christian Ludwig Niemeyer den Deutschen Plutarch, enthaltend die Ge- Niemeyer
schichten ruhmwürdiger Deutscher (1811) und verfasste der Berliner Theo-
loge und Pädagoge Friedrich Philipp Wilmsen erst ein Heldengemälde aus
Roms, Deutschlands und Schwedens Vorzeit, der Jugend unseres kriege-
rischen Zeitalters aufgestellt (1814), dann Der Mensch im Kriege oder Hel-
denmuth und Geistesgröße in Kriegsgeschichten aus alter und neuer Zeit
(1815). Im Vorwort der Neuen Winterabende für die deutsche Jugend (1815)
schreibt Niemeyer – zugleich die Produktionsanlässe von Kinderliteratur
kennzeichnend – über die Intention dieses Buches: »Dem Verfasser dieser
neuen Winterabende wurden sieben Kupfertafeln vorgelegt, mit dem Auf-
trage, Erzählungen damit zu verbinden, welche der Jugend nützlich und an-
genehm sein könnten. Was aber ist nützlicher und was ist angenehmer zu le-
sen, als die großen Thaten unserer Helden, in der gegenwärtigen Zeit voll-
bracht? Dieses hat den Verfasser bestimmt, über die engen Schranken jener
sieben Kupfer hinauszuschreiten, und die jungen deutschen Leser mit sich
hinauszuführen in das Ehrenfeld, wo die vaterländischen Helden Ruhm,
Freiheit und Glück erkämpft haben.« Waren zuvor die Schilderungen von
Kriegsszenen nur ein Mittel, um letztendlich ganz andere – friedliche – Zwe-
cke zu erreichen, so werden sie seit Niemeyers Neuen Winterabenden zum
Selbstzweck. Kriegsvorbereitungen, Scharmützel, Schlachten, Heldentaten
von Schlagetots nehmen in den entsprechenden jugendliterarischen Werken
einen immer breiteren Raum ein.
Kriegsszenen sind mehrfach determiniert für die Verwendung in der Kin- Kriegsszenen
derliteratur. Ideologisch dienen sie dem jeweiligen Herrschaftssystem zur
Propagierung abstrakter Vaterlandsliebe und der Bereitschaft, die bestehende
Gesellschaftsordnung gegen äußere Feinde zu verteidigen. Moralisch können
alle traditionellen Tugenden wie Treue, Opfermut, Gehorsam und Unterord-
nung durch sie betont werden. Und literarisch sind sie so sehr geeignet, weil
sie Dramatisches, Abenteuerliches und Spannendes liefern.
Blücher und Gneisenau, Schill, Körner und Lützows wilde Jagd: das waren Partikularstaatliche
die Helden der jungen deutschen Leser, der Jungen. Doch seit dem Ende des Interessen
Wiener Kongresses mit seiner Wiederherstellung fürstlicher Herrschaft, spä-
testens seit der Ermordung Kotzebues (1819) und den Karlsbader Beschlüs-
sen ist es vorbei mit allen nationalstaatlichen Ideen, die noch mit den Helden
der ›Befreiungskriege‹ verbunden wurden. Jetzt gelten landespatriotische In-
teressen vor nationaler Einigung; die nationale Begeisterung wurde umgebo-
gen in Partikularstaatsverherrlichung. Außerdem hatten die nun entstehen-
den nationalerzieherischen Schriften die Aufgabe, die Untertanen neugewon-
nener Gebiete für das alte Kernland zu interessieren und Verehrung für das
neue Herrscherhaus hervorzurufen. Es erscheinen zahlreiche, thematisch oft
148 Vom Biedermeier zum Realismus
marschall Blücher (1834) von W.O. von Horn (d.i. Wilhelm Oertel), eine
Mischung aus sachlichem Bericht, spannender Erzählung und kennzeich-
nender Anekdote. Auch sei auf den in zahlreichen Auflagen erschienenen
Roman Der große König und sein Rekrut. Lebensbilder aus der Zeit des sie-
benjährigen Krieges (1861) von Franz Otto (d.i. Johann Christian Spamer)
hingewiesen. Welche Intention mit diesen Schilderungen verfolgt wird, legt
das Vorwort offen dar: »Der Verfasser dieses Buches will unserm Volke und
insbesondere der vaterländischen Jugend geschichtlich treu, aber im leichten
Gewande der Erzählung einen bedeutenden Abschnitt aus Preußens Helden-
zeit darstellen und zeigen, was der norddeutsche Großstaat – heute die Hoff-
nung so vieler patriotischer Herzen – vor kaum mehr als hundert Jahren
leistete, als er nur ein Schatten von dem war, was er heute ist«.
Zu den eifrigen Propagandisten von Preußens Größe und Herrlichkeit ge-
hörte der schlesische Pastor und Verwaltungsbeamte Richard Baron, dessen
Werk von dem populären König und Kronprinz (1852) über Preußens Krieg
gegen Österreich und dessen Verbündete im Jahre 1866 (1866) bis zu Ein
Landwehrmann. Eine Erzählung aus dem Sommerkriege von 1866 (1867)
reicht. Ebenfalls betont preußisch sind viele Bücher des niederrheinischen
Lehrers Philipp Jakob Beumer, der u. a. Das Haus Hohenzollern (1839), Das
Preußenbüchlein (1840) mit den »schönsten Erzählungen aus der Branden-
burgisch-Preußischen Geschichte«, Borussia. 45 Lieder. Allen Vaterlands-
freunden, namentlich aber Preußens Jugend gewidmet (1842) und die Cha-
rakterzüge und Anekdoten aus dem Leben der Könige von Preußen und deren
Generale (1846) verfasste.
Dass so viele betont preußische Bücher zur ›vaterländischen Geschichte‹
erschienen, hat mehrere Gründe: Die Niederlage Preußens im vierten Koali-
tionskrieg 1806/07 hatte zu einer bis in den Alltag hineinreichenden Erschüt-
terung traditioneller Werte und seit langem sorgsam aufgebauter Mythen
von militärischem Glanz, exaktester Disziplin und verantwortungsvoller
Staatsführung geführt. Dieses ehemals stolze Selbstbewusstsein sollte wieder
erneuert werden. Neu hinzugekommen war die Aufgabe, im Deutschen Bund
den Führungsanspruch gegen Österreich durchzusetzen. Und welcher Staat,
außer wiederum Österreich, konnte eine deutsche Einigung vorantreiben,
wenn nicht Preußen?
Doch neben den partikularstaatlich orientierten Kinderschriften erschie- Deutschlands Ruhm
nen auch Werke, die das Gemeinsame von Deutschen und Deutschland her- und Größe
vorheben. Die Betonung von Deutschlands Tradition und Größe ist im Zu-
sammenhang mit den sich ausbreitenden Nationalismen in Europa zu sehen,
im Besonderen ist ihr eine stark anti-französische Stoßrichtung eigen. Durch
die ›Befreiungskriege‹ hatte die Nationalerziehung die fatale Akzentuierung
bekommen, gegen alles Französische vorgehen zu müssen. Kultur, Sprache,
Literatur, Grundideen der Aufklärung sowie der Französischen Revolution
verfallen einem ablehnenden und oft diffamierenden Verdikt.
Ein besonders typisches Exemplar ist das von dem Pädagogen Georg The-
odor Dithmar verfasste Deutsche Historienbuch (1855), das die gesamte
deutsche Geschichte von Arminius an als Behauptungs- und Überlebens-
kampf des Deutschtums interpretiert. Die aktuelle Aufgabe historischer Er-
zählungen sei es, das Nationalbewusstsein »zu bilden und zu stärken […],
wenn nicht deutsches Wesen und deutscher Sinn im großen Ocean des Welt-
bürgerthums verschwimmen und untergehen soll«. Ganz der aktuellen Situ-
ation entsprechen die 1870 erschienenen Geschichtsbilder von Ferdinand
Schmidt zu dem Thema »Gewalt und List Frankreichs gegen Deutschland
seit dreihundert Jahren«. Selbst in Büchern zur Geschichte technischer Erfin-
150 Vom Biedermeier zum Realismus
König Wilhelm,
Ministerpräsident
Bismarck und
Generalstabschef Moltke
beobachten den Sieg
Preußens über Österreich
bei Königgrätz am 2. Juli
1866 – Illustration zu
Unser Heldenkaiser
Wilhelm von Johannes
Wille. Gera 1875
Wie eng die biedermeierliche Welt auch gewesen sein mag, so gab es doch
Gattungen, die über alles Einschränkende hinausführten und die jungen Le-
ser Blicke auf die weite Welt werfen ließen. Diese Aufgabe erfüllten vor allem
Reiseliteratur und Abenteuerliteratur. Oft bedeuteten diese Werke eine di-
rekte Konfrontation traditionaler Werte mit liberalen Anschauungen, von
Begrenzung, Bindung und Statik mit Weiträumigkeit, Maßlosigkeit und Be-
wegung, von Stillem, Bescheidenem und Philiströsem mit Unruhigem, Kos-
mopolitischem und Aufbegehrendem.
Woanderssein und Wo-Anderssein und Anderssein sind eng miteinander verwoben. Die Reise
Anderssein wird oft zum Abenteuer, jede Reise ist tendenziell abenteuerlich, jeder Reise-
bericht also tendenziell schon Abenteuerliteratur. Dabei ist kaum zu entschei-
den, wo reale Vorgaben und wo Leseerwartungen diesen Übergang forcierten.
Die Reiseliteratur stellt Material zusammen, das Grundlage für Abenteuerli-
teratur wird: Faktisches, subjektive Eindrücke und Erfahrungen. Die Reiseli-
teratur liefert ja nicht nur Informationen über andere Länder, Naturen, Völ-
ker und Kulturen, sondern auch über das Unheimliche, Bedrohliche und zu-
gleich Verlockende der Fremde; sie liefert also bis ins Unbewusste reichende
Eindrücke und Reaktionsbildungen.
Zum einen gibt es die direkte Verwertung dieses Materials in der Reiselite-
ratur. Zum anderen schaffen die Reiseberichte Anknüpfungspunkte für reine
Fiktionen von Abenteuern überall in Fremde und Ferne. Das Panorama der
Welt legt – bewusst und unbewusst – ein immenses Bilderreservoir physischer
und psychischer Zustände an, unüberschaubar literarisch (aber auch male-
risch, bühnendramatisch) ausgebeutet, zum Ende des Jahrhunderts dann
virtuos gehandhabt von Karl May.
Panorama: Statisches Der Begriff des Panoramas, in zahlreichen Buchtiteln vornehmlich der
in einer dynamischen 20er und 30er Jahre verwendet – gemeinsam mit Derivaten wie Kosmorama,
Gattung Diorama und den oft benutzten Bildern und Gemälden –, spiegelt das Be-
dürfnis nach Überblick und Ausbruch aus dem Alltag, der jedoch nicht un-
kontrolliert, sondern in bestimmten Grenzen und strukturiert vor sich gehen
soll. Panoramen liefern viel, aber doch nur eine Auswahl von Ansichten – der
Natur, der Völker, von Lebensentwürfen und Handlungsmöglichkeiten. Und
ein Panorama ist auch eine Bestandsaufnahme. Zur literarischen Präsenta-
tion muss eine Sache still gestellt werden; erweitender Überblick und ein-
schränkende Auswahl gehören zusammen. Was nicht aufgenommen wurde,
verfällt der Vergessenheit. Dies hat zur Folge, dass eine Reise- und Abenteu-
erliteratur, die sich panoramatisch versteht, auch zur Standardisierung, gar
Kanonisierung von Themen, Motiven und Topoi führen kann. Die Literatur
führt Betrachtungsregie.
Panorama der Welt: Reisen und Abenteuer 153
Es ist selbstverständlich, dass sich die Reiseliteratur eng an die jeweils ak- Moderne Wahr-
tuellen geographischen Entdeckungs- und Forschungsschwerpunkte an- nehmungsweisen
schließt, ebenso an die Entwicklung von Transport- und Kommunikations-
systemen. Diese blieben der Sache nicht äußerlich, sondern prägten ganz
entscheidend die neue moderne Wahrnehmungs-, dann auch Denkweise. Am
offensichtlichsten ist die Veränderung der Sehweisen durch die neuen, Raum
und Zeit zusammendrängenden Fortbewegungsmittel, die sich von Vorgaben
der Natur lösen wie Dampfschiff und Eisenbahn (1819 erste Atlantiküber-
querung mit kombinierter Segel- und Dampfkraft, 1827 erster regelmäßiger
Dampfschiff-Liniendienst zwischen Mainz und Köln, 1839 die erste, 116 km
lange Eisenbahnfernverbindung in Deutschland zwischen Leipzig und Dres-
den). Der Wandel der Wahrnehmung wird auch durch die immer häufigere
und vielfältigere Verwendung neuer Reproduktionstechniken wie Stahlstich,
Holzstich und Lithographie hervorgerufen, die zu Trägern moderner Ikono-
graphie werden. Es entstehen neue bildnerische Stereotypen von Ferne und
Abenteuer: ins Dramatische gesteigerte Natur, ob Alpen oder Eismeer, be-
drohliche Wilde, Schrecknisse und Katastrophen aller Art.
Die Kanonisierung von Themen und Motiven, die Veränderung der Seh-
weisen und die starke Zunahme von Abbildungen führen zu einer Lenkung
des Lesers, wie er Fremdes und Fernes wahrzunehmen habe. Die komple-
mentär verlaufenden Bewegungen – Erweiterung des Gesichtskreises und
Anlage eines Bilderreservoirs einerseits, Strukturierung und Kontrolle dieses
Reservoirs durch die Betrachtungsregie andererseits – verhelfen zunächst der
Reiseliteratur zu einem Platz unter den populärsten Gattungen gerade im
kinderliterarischen Bereich. Kein literaturpädagogisches Bücherverzeichnis,
keine Empfehlungsschrift und keine Schulbibliothek, in der sie nicht breiten
Raum eingenommen hat. Ihre Wertschätzung ist oft eine direkte Fortsetzung
aufklärerischer Tradition, jetzt noch erhöht durch die dem rationalen Den-
ken subversiv erscheinenden Angriffe romantischer Kinderliteratur.
154 Vom Biedermeier zum Realismus
In dem breiten Spektrum der Sachliteratur für Kinder zeigen sich zum einen
die Auswirkungen der Modernisierungsprozesse: naturwissenschaftlich,
technisch und ökonomisch, wie auch der immer deutlicher spürbaren sozi-
alen Veränderungen: politisch, sozial und bildungstheoretisch. Diesen Teil
kann man als modifizierte Fortführung aufklärerischer Traditionen auffas-
sen. Zum anderen existiert lange Zeit parallel dazu eine nichtrational oder
religiös bestimmte Sachliteratur, in der Belehrendes über die Natur nur zum
Lobe Gottes vorgetragen wird. In diesem Teil zeigt sich die einige Jahrzehnte Illustration aus Neuer
andauernde Dominanz deutscher Naturphilosophie und vor allem roman- Orbis Pictus für die
tischer Wissenschaftskonzeptionen, die auf der Einheit aller Naturphäno- Jugend von J. E. Gailer.
mene und wissenschaftlichen Erklärungsversuche bestanden. Leitend waren Reutlingen 1835
Anschauung und Intuition, durchsetzt mit religiösen Elementen und spekula-
tiven Ausführungen – dies kam kinderliterarischen Bestrebungen um so mehr
entgegen, je stärker sich alle Erziehungskonzeptionen auf eine nichtrationale
Hinführung des Kindes zu Gott verstanden.
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jh.s ist eine außerordentliche Zunahme Sachinteresse und
sachliterarischer Werke zu beobachten. Sie nimmt oft mehr als ein Drittel der gewandelte Bildungs-
Kinderbuchproduktion ein. Gründe dafür sind in der allgemeinen Wendung konzeptionen
zur Wirklichkeit zu finden, in einem gerade in bürgerlichen Schichten erwa-
chenden Sachinteresse. Die Beschäftigung mit Forschungsergebnissen der
Naturwissenschaften nimmt zu. Technischer Fortschritt wird auch im Alltag
sichtbar, wenn auch zunächst nicht so deutlich wie die Änderungen von Han-
del, Handwerk und Gewerbe, wie der Wandel in der Arbeitswelt.
Gründe für die Zunahme sachliterarischer Werke sind auch in gewandelten
Bildungskonzeptionen zu finden. Dem Realienunterricht wird immer mehr
Platz eingeräumt. Anforderungen der sich modernisierenden Arbeitswelt wir-
ken auf die Lehrinhalte ein. Die Entwicklung von Realschulen, von gewerb-
lichen und beruflichen Schulen wird nicht nur von pädagogischer Seite aus
vorangetrieben; auch die Staaten, voran Preußen und die südwestdeutschen
Länder, hatten ein Interesse daran, durch die Förderung einer naturwissen-
schaftlich-technischen Ausbildung ihre Produktivkraft zu steigern. Es entstan-
den technische Bildungseinrichtungen unterschiedlichster Art, darunter Poly-
technische Schulen als Vorläufer der Technischen Hochschulen. Wien 1815,
Dresden 1822, Hannover 1831 und Darmstadt 1836 sind einige der markan-
testen Gründungen von Fachschulen, spezialisiert auf technische Bildung.
Insgesamt besaß das Sachwissen für das Bürgertum zwei positive Funkti-
onen. Zum einen trug es bei zur sozialen Identität und zur Legitimation ihres
bisher noch nicht verwirklichten Führungsanspruchs. Eine sich modernisie-
rende Gesellschaft braucht in allen Bereichen kompetente, gut und vielseitig
ausgebildete Mitglieder; sie muss sich auf eine große Zahl professionell ar-
beitender Bürger stützen. Zum anderen bot es die Möglichkeit, soziale Gren-
zen in der Gesellschaft, besonders nach unten, zu ziehen. Sachwissen wurde
160 Vom Biedermeier zum Realismus
ein wesentlicher Teil des symbolischen Kapitals des Bürgertums. Nicht nur
die gemeinsamen Normen, nicht nur die gemeinsamen Fantasie-, sondern
auch die Wissensstoffe formten die Kinder der bürgerlichen Schichten und
waren so am Aufbau der kulturellen Hürden beteiligt.
Das Sachbuch will das Wissen von den Dingen der Welt, von den Men-
schen und deren Beziehungen vermitteln, wobei es nicht nur um die objektive
Belehrung, sondern auch um spezifische Klasseninteressen geht. Durch Aus-
wahl, Betonung, Auslassungen, Zusammenstellung und andere Mittel wird
mit der sachlichen Information immer schon eine Deutung der Welt mitgelie-
fert. Darüber hinaus tritt das Sachbuch nicht als Lehr- oder Fachbuch auf,
sondern als ein für die private, die freiwillige Lektüre geeignetes Werk. Ent-
scheidend ist deshalb die immer wieder neu zu beantwortende Frage nach
dem richtigen Verhältnis von Belehrung und Unterhaltung, sind vor allem
Eingängigkeit und Anschaulichkeit von Text und Bild.
Bedeutung der Einen qualitativen wie quantitativen Sprung machte die Sachliteratur in
Abbildungen den dreißiger Jahren mit der Einführung der Lithographie. Diese deutlich
billigere Drucktechnik als Ersatz für den teuren Kupferstich erlaubte eine
Massenproduktion von gemalten und gezeichneten Bildern in gleich blei-
bender Qualität. Eingeleitet wurde diese Industrialisierung der Bildproduk-
tion durch einige Verlage, die sich auf das Herstellen von Kinderliteratur
spezialisierten.
Als Beispiel sei der von dem Lithographen Jacob Ferdinand Schreiber
1831 in Esslingen gegründete J. F. Schreiber Verlag genannt, der zahlreiche,
oft aufwendig ausgestattete Sachbücher naturwissenschaftlicher oder gewer-
bekundlicher Art für unterschiedliche Altersgruppen herausbrachte. Zu den
eindrucksvollsten Werken gehören die verschiedenen Bände einer Naturge-
schichte, die, herausgegeben von einer Anzahl von Fachgelehrten, von denen
der Erlanger Professor für Naturgeschichte Gotthilf Heinrich von Schubert
zu den bekanntesten gehörte, seit 1840 erschien und bis zum Ende des Jahr-
hunderts in zehn und mehr Auflagen herausgegeben wurde. Vögel, Säuge-
tiere, Reptilien, Fische und andere Gattungen des Tierreichs, dazu das Pflan-
Illustration zu zen- sowie das Mineralreich fanden ausführliche Behandlung.
Tiergeschichten von Seit es zu Beginn des 19. Jh.s möglich wurde, xylographische Druckstöcke
L. Oland.
zu stereotypieren und so von einem Bild auf mehreren Druckpressen gleich-
Braunschweig 1846
zeitig Abbildungen herzustellen, wurde der Holzstich (Xylographie) das
wichtigste Verfahren zur Illustration von Büchern, bald auch von Zeit-
schriften. Zudem ermöglichte dieses Verfahren die gleichzeitige Vervielfälti-
gung von Letternsatz und xylographischen Druckstöcken, so dass die Sachli-
teratur auf einfache Weise an der jeweils richtigen Textstelle mit Abbildungen
ausgestattet werden konnte.
Spamer-Verlag Besonders der 1847 gegründete Otto Spamer Verlag in Leipzig bediente
sich in großem Stil dieser Technik. Er brachte in den folgenden Jahrzehnten
zahlreiche Bände zu allen gängigen Sachthemen der Zeit heraus, zumeist in
immer wieder aktualisierten Bearbeitungen. Jeder Band enthielt mindestens
hundert Abbildungen, manche Bücher wurden auch mit über 500 Abbil-
dungen ausgestattet. Die außergewöhnlich aufwendige Aufmachung, der Se-
riencharakter, der zur ständigen Komplettierung anregte und die Fiktion
nährte, sich eine Hausbibliothek des gesamten Wissens anlegen zu können,
sowie die Förderung durch Pädagogen ließ den Spamer Verlag zwischen
1860 und 1880 eine führende Stellung bei der Produktion von Sachbüchern
für jugendliche Leser einnehmen.
Aus der über dreihundert Bücher umfassenden Produktion sei hier nur auf
zwei besonders charakteristische Werke verwiesen. Der Lehrer Louis Thomas
Die Welt als Teil, die Welt als Ganzes 161
gab 1853 Das Buch wunderbarer Erfindungen. In Erzählungen für die reifere Tafel Luft aus Der
Jugend heraus, in dem in bunter Reihenfolge über die Erfindung und die Be- Mensch und die Elemente.
deutung von Buchdruck und Schießpulver, Uhren, Montgolfière und Char- Kempten 1846
lière, Mikroskop, Teleskop und anderem mehr erzählt wurde. Aus diesem
Tafel aus Unterhaltende
Buch entwickelte sich im Laufe der Jahre eine achtbändige Ausgabe für Er-
Naturgeschichte für die
wachsene Das große Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien und Jugend von L. K. Iselin
die zweibändige Ausgabe für junge Leser Die denkwürdigsten Erfindungen, [d. i. Johann Heinrich
wovon der erste Band bis zum Ende des 18. Jh.s reichte und der zweite das Meynier]. Nürnberg 1827
19. Jh. umfasste. Besonders der zweite Band erfuhr ständige Umarbeitungen
und Aktualisierungen, wobei nicht nur technische Entwicklungen, sondern
auch geänderte gesellschaftliche Verhältnisse berücksichtigt wurden. So ent-
halten die Auflagen nach 1870 neben der Schilderung ›klassischer‹ Erfin-
dungen wie Eisenbahn, Telegraphie, Fotographie und Telephonie zunehmend
stärker Beschreibungen von Kriegsgerät aller Art. Wenn auch einzelne Ver-
fasser oder Herausgeber aus der Produktion des Spamer Verlages heraus-
ragten, so besaßen doch dessen Bücher weniger eine Schriftsteller- als viel-
mehr eine Verlagsidentität. Mit den Sachbüchern des Spamer Verlags setzt in
den 1860er Jahren eine Entwicklung ein, die zu den anonymen Reihenwer-
ken der heutigen Sachbuchproduktion führt.
Noch deutlich autorenbestimmt waren die Sachbücher in den Anfangsjahr- Johann Heinrich
zehnten, auch wenn sie schon zu einer Art von Reihe zusammengestellt Meynier
wurden. Einer der vielseitigsten und auch markantesten Sachbuchautoren
des 19. Jh.s war Johann Heinrich Meynier, ein Lehrer, der zunächst Lehr-
werke verfasste. Dann entwarf er didaktische Spiele für Unterrichtszwecke,
162 Vom Biedermeier zum Realismus
aber auch für die Familie, wie Teutschland, oder der Reisende Kaufmann
oder das Historisch-chronologische Kartenspiel zur deutschen Geschichte.
Nachdem er zahlreiche Moralische Geschichten produziert hatte, begann er
um 1815 mit dem Schreiben von Sachbüchern aller Art, wobei seine Schwer-
punkte Geographie, die drei Reiche der Natur und Ethnologie waren. Schon
bald bediente sich Meynier eines runden Dutzends von Pseudonymen, viel-
leicht, um nicht der Vielschreiberei aus Erwerbsgründen bezichtigt zu wer-
den; immerhin veröffentlichte er rund 250 Bücher und gehörte zu den ersten
Kinderbuchautoren Deutschlands, die von dieser schriftstellerischen Tätig-
keit leben konnten. Kennzeichnend für Meyniers Stil ist der zumeist humor-
volle, gelegentlich sogar ironische Ton, in dem er einerseits sehr kindgemäß
schreibt, sich jedoch zugleich von dieser Schreibweise distanziert. Auch wo er
gänzlich sachlich schreibt, verfällt er nur selten in eine trockene belehrende
Sprache. Neben den oft aufgelegten Reisebeschreibungen schrieb er unter
anderem die Belehrende Bilderlust für fleißige Knaben und Mädchen (1824),
in der Küchengeräte, Werkzeuge und andere Alltagsgegenstände in Bild und
Text vorgestellt werden, eine umfangreiche Naturgeschichte für die Jugend
(1818) und in Anlehnung an Georg Christian Raff die Unterhaltende Natur-
geschichte für die Jugend (1825). Am umfangreichsten und vielfältigsten war
der Wissenschaftlicher Hausbedarf für die Jugend oder kleine Handbiblio-
thek derjenigen Kenntnisse, welche jeder gebildete Mensch wissen muß (21
Bde., 1821). Zu den für Gebildete notwendigen Kenntnissen rechnet Meynier
Geologie, Geographie, Geschichte, Anthropologie, Naturgeschichte der
Pflanzen und Tiere, auch etwas Physik und Astronomie sowie Mythologie.
Dass der naturwissenschaftlich-technische Bereich so auffallend gering ver-
treten ist, liegt weniger an einem noch gering entwickelten Interesse jener
Zeit an diesen Dingen als vielmehr an Meynier, der die Beschäftigung mit
dieser für ihn fremden Materie mied.
Was bei Meynier fehlt, findet sich im Werk eines anderen ebenfalls außer-
Johann Heinrich Poppe ordentlich populären Sachbuchautoren des 19. Jh.s: Johann Heinrich Moritz
Poppe, zunächst Lehrer, seit 1818 Professor für Technologie, Maschinen-
kunde, Mathematik und Experimentalphysik in Tübingen. In mehreren um-
fangreichen Werken führt er junge Leser – und Leserinnen! – in Physik,
Chemie, Technologie und verwandte Gebiete ein. Nach den bereits 1802 er-
schienenen Physikalische Unterhaltungen für die Jugend, die sich auf noch
recht kurzgefasste Weise mit physikalischen Grundphänomenen beschäf-
tigten, veröffentlichte Poppe das achtbändige Werk Physikalischer Jugend-
freund (1811 – 21). Er wollte eine »faßliche und unterhaltende Darstellung
der Naturlehre, mit der genauesten Beschreibung aller anzustellenden Expe-
rimente, der dazu nöthigen Instrumente, und selbst mit Beifügung vieler be-
lustigenden physikalischen Kunststücke« geben. Hier wie in weiteren ähn-
lichen Werken für junge Leser – genannt sei nur noch der erstaunlich früh
mit Lithographien ausgestattete Der magische Jugendfreund oder faßliche
und unterhaltende Darstellungen der natürlichen Zauberkünste und Ta-
schenspielereyen (3 Bde., 1817) – setzt Poppe vor allem auf das eigenständige
Erarbeiten des Neuen in Experiment, Beobachtung oder gar öffentlicher Vor-
führung sogenannter Kunststückchen. In wohlhabenden bürgerlichen Schich-
ten – die notwendigen physikalischen Apparate und chemischen Materialien
waren äußerst teuer – gehörte das dilettierende Experimentieren zu einer
beliebten Beschäftigung zunächst von Erwachsenen, später auch von Kin-
dern. Experimentierbücher als anschauliche Einführungen in die Naturwis-
senschaften wurden auch von anderen Autoren verfasst und in stets modifi-
zierten Auflagen das ganze Jahrhundert über aufgelegt. Sehr produktiv war
Die Welt als Teil, die Welt als Ganzes 163
In einer Gesellschaft, die bis in den Alltag und bis in die psychischen
Strukturen hinein in Bewegung geraten ist, wird alles, was neu ist, interes-
sant. Das Neue, besonders deutlich in Industrialisierung und Technisierung
vor Augen geführt, wird zum Zeichen eines besseren Zeitalters – wenigstens
dem Bürger, der voller Fortschrittsglaube in die Zukunft sehen kann. Auf
vergangene Epochen zurückblickend, kannte der Optimismus keine Schran-
ken mehr. So heißt es in einem Kinderbuch von 1866: »Es ist seitdem Vieles
anders geworden im Lande, sicher aber nicht schlechter!«
Mindestens ebenso deutlich und ebenso vielschichtig wie bei den bisher be-
handelten Gattungen sind die Modernisierungen auch in den periodisch er-
scheinenden Werken abzulesen. In den Zeitschriften und Jahrbüchern vermi-
schen sich pädagogische Ambitionen mit kommerziellen Interessen. Das
Spektrum reicht von den religiös-missionarischen Jugend-Blättern des evan-
gelischen Theologen und Kinderschriftstellers Christian Gottlob Barth, die
dieser von 1836 bis 1862 redigierte, bis zum Pfennig-Magazin für Kinder,
gegründet als Zweit- oder gar Drittverwertung xylographischer Druckstöcke
und in schneller Anlehnung an den großen Erfolg des Pfennig-Magazins für
Erwachsene, 1834 bis 1838 erschienen im Verlag F.A. Brockhaus, Leipzig.
In dem hier behandelten Zeitraum stieg das Zeitschriftenangebot kontinu-
ierlich an. Insgesamt sind ca. 250 Titel nachzuweisen. Viele der während der
1820er bis 1840er Jahre gegründeten Zeitschriften erlebten allerdings nur
ein bis zwei Jahrgänge. Erst nach Ende dieser als Experimentierphase anzu-
sehenden Jahrzehnte wurden auch länger erscheinende Zeitschriften gegrün-
det, sozusagen in der Konsolidierungsphase, die bis Ende der 1870er Jahre
reichte und dann von einer Phase zahlreicher Neugründungen abgelöst
wurde: die Boomphase des kinderliterarischen Zeitschriften-Marktes. Zu
den Longsellern des 19. Jh.s gehören Der neue Deutsche Jugendfreund
(1842 – 1918), lange Zeit redigiert von Franz Hoffmann, das Missionsblatt
für Kinder (1842 – 1918) und die von Isabella Braun gegründeten und von
ihr jahrzehntelang redigierten Jugendblätter (1855 – 1916).
Das monatliche oder wöchentliche Erscheinen ermöglichte stete Wieder-
holung moralischer Belehrung und eine in Zeiten raschen Wandels nicht zu
unterschätzende Aktualität, was sowohl auf die Berichte über den neuesten
Kenntnisstand verschiedener Wissenschaften und Techniken zu beziehen ist
als auch auf die schnelle Anpassung an sich wandelnde Leserinteressen.
Schließlich ermöglicht das häufige Erscheinen von strukturell ähnlichen Pro-
dukten (äußere Aufmachung, innere Einteilung, ständig wiederkehrende
Protagonisten) zusammen mit Fortsetzungsgeschichten, Preis- und Rätselfra-
gen etc. eine enge Leserbindung. Diese war notwendig, um die Kontinuität
hoher Auflagen über möglichst lange Zeiträume zu sichern. Gelang der rich-
tige Mittelweg zwischen Flexibilität und Gewöhnung schaffender Gleichheit,
zwischen Neuem und Bekanntem, dann konnte eine Kinderzeitschrift über
mehrere Jahrzehnte hin erscheinen, so dass sie mehrere Generationen er-
reichte. Das periodische Erscheinen beeinflusste auch Grundmuster des Le-
sens: Vorangetrieben wurde die Entwicklung vom mehrmaligen Lesen eines
literarischen Produktes zum einmaligen Lesen mehrerer literarischer Pro-
Die periodische Welt 165
Umfang von sechs Seiten und enthielt kurze Artikel zu Geographie, Völker-
kunde, Technik, Geschichte und Architektur: Englisches Fuhrwerk, Tele-
graph, Die babylonischen Mauern, Künstliche Kälte zu verursachen oder Der
bischöfliche Palast in Würzburg. Auch die eher der Vermittlung von Normen
und Werten dienenden Artikel entsprechen mehr Sachberichten als fiktio-
nalen Texten: Ungehorsam aus Pflicht, Geschwisterliebe und zärtliche Sorg-
falt älterer Geschwister für ihre jüngern oder Ein ehrliches Dienstmädchen.
Bei hoher Auflage und niedrigem Preis – eine Nummer kostete ungefähr die
Hälfte des Portos für einen Brief von Dresden nach Leipzig – erreichte das
Abbildungswandel Pfennig-Magazin eine breite Leserschicht. So konnten nicht nur gehobene,
wohlhabende Schichten ihr Bildungsbedürfnis befriedigen, sondern auch so-
zial tiefer stehende Gesellschaftsgruppen ihr Interesse an der Welt auf kurz-
gefasste, aber nahezu enzyklopädische Weise stillen. Zudem verbreitete das
Pfennig-Magazin in einer für viele Menschen bilderarmen Zeit in großer
Zahl Ansichten von Tieren, Pflanzen, Bauwerken der näheren wie der exo-
Die gespielte Welt 167
tigen Leben entgegen, dass Eltern und Kinder zusammen mit Verwandten
und Freunden sich gemeinsam beschäftigten: Familienfeste und Ausflüge,
Experimentieren und Wohltätigkeitsveranstaltungen, Bälle und vor allem
Theater.
Theaterleidenschaft Die Theaterbegeisterung nicht nur des Biedermeiers, sondern des gesamten
19. Jh.s, war sehr groß. Da es kaum noch Schultheateraufführungen gab und
erst Ende der 60er Jahre die öffentlichen Bühnen auch Kinderschauspiele ins
Programm aufnahmen, war es nicht ungewöhnlich, dass im Bildungsbürger-
tum schon Kinder in Theater- oder Opernaufführungen für Erwachsene
mitgenommen wurden. Auch die hohe Zahl von Papiertheatern, seit den
20er Jahren in großem Umfang vor allem in Wien und Düsseldorf hergestellt,
mit denen Erwachsene und Kinder gleichermaßen spielten, ist Ausdruck die-
ser Theaterleidenschaft.
Die Lust am Theaterspiel hat vielfältige Wurzeln: zeitweise Rollenüber-
nahme, Erproben anderer sozialer und psychischer Identitäten, Lust an Kon-
zentration auf Guckkastenbühne, abzulesen auch an den beliebten Laterna-
magica-Vorführungen, später an den Panorama-Besuchen. Theater ist die
ganze Welt im Kleinen, inszeniert und damit befreit von allem Überflüssigen
und Irritierenden. Auch Kindern, vor allem älteren, gestand man diese Lust
schon zu, soweit sich damit eine moralische Belehrung verbinden ließ. In ei-
ner 1844 erschienenen Empfehlungsschrift heißt es: »Ebensowenig wie von
Fabeln und Mährchen hat man von den Kinderschauspielen zu fürchten, und
bei richtiger Auswahl wird weder das Lesen derselben, noch das Aufführen
verderblichen Einluß ausüben. Man muß sie vielmehr als Mittel zur Beförde-
rung eines guten Vortrags, als erleichternde Uebung der Gedächtnißkraft, ja
als Mittel der Erweckung edler Gefühle und Gesinnungen empfehlen, wobei
natürlich vorausgesetzt wird, daß kein hohler Pathos in ihnen herrscht, kein
affectirtes Wesen sich widerlich ziert und dehnt, vielmehr daß sie in kind-
licher Sprache das Kindergemüth ergreifen, und damit es auch veredeln.«
Moralisches Schauspiel Kinderschauspiele werden durchweg mit moralischen Schauspielen gleichge-
setzt, mit »dramatisierten Sprichwörtern«, mit dramatischen Bearbeitungen
von »Gegenständen der Erziehung«.
In diesem Sinne schrieben viele Autoren ihre Kinderschauspiele. Sie setzten
damit eine schon lange bestehende Tradition fort, doch reicherten sie zu-
gleich die Stücke mit zeittypischen Elementen an: Rührseligkeit, Familien-
kult, unglaubwürdige Zufälle, unnatürliche Dialoge, sentimental-religiöse
Grundstimmung. Beispielhaft dafür sind die im Buch für Kinder gebildeter
Stände (3 Bde., 1819) von Ernst von Houwald veröffentlichten Schauspiele
wie etwa Der Weihnachts-Abend oder das von Kitty Hofmann herausgege-
bene Theater für Kinder (1824), in dessen Vorwort es heißt: »Nicht die An-
sprüche auf Kunsthöhe, nur der Wunsch, die kleinen Weltbürger für sittliches
Vergnügen aufzuregen und sie dadurch moralisch zu bilden, hat veranlaßt,
diese dramatische Arbeit herauszugeben.« Moralische Belehrung in betont
christlich-katholischer Akzentuierung bieten die zahlreichen Schauspiele
Isabella Brauns. So enthält der erste Band ihrer Reihe Kleine Theaterstücke
für die Jugend (um 1860) folgende Stücke: Das Namenstags-Geschenk, Der
St. Nikolaus-Abend, Die Heimkehr, Zur Jubelfeier einer geistlichen Instituts-
Oberin, als dessen Steigerung Zur Namenstags-Feier einer Oberin des Insti-
tuts St. Maria und als Höhepunkt der niemals fehlende Mutter-Geburtstag.
Neben der moralischen Belehrung schätzte man am Kindertheater und der
Kinderschauspielerei auch die Möglichkeiten, richtiges Sprechen und ein-
drucksvolles, selbstsicheres Vortragen einzuüben. Auch die deutliche Aus-
drucksweise von Gefühlen und die Sicherheit in der Bewegung sollten durch
Die gespielte Welt 169
das Spielen gefördert werden. Diese Elemente sind notwendig für eine spä-
tere gesellschaftlich bedeutsame Stellung des Bürgers, aber auch, um sich von
sozial tiefer stehenden Schichten deutlich absetzen zu können. Im Titel eines
von dem Schriftsteller und Theaterdirektor Ludwig von Alvensleben heraus-
gegebenen Buches werden diese Zusammenhänge angesprochen: Die kleinen
Schauspieler oder neuestes Kindertheater. Zugleich als Benutzung zur
Sprachübung deutsch und französisch. Enthält 1 Stück für Knaben und Mäd-
chen, 2 für Knaben und 2 für Mädchen. Nebst Andeutungen über Darstel-
lung, Requisiten, Scenierung und Costüm (1851).
Auch beim Kinderschauspiel sind Veränderungen zu beobachten. Das Unterhaltendes
Vergnügliche und Unterhaltsame, bisher nur als hilfreiches Vehikel zum Schauspiel
Transport der Moral geduldet, drängt immer mehr in den Vordergrund. Im
Laufe des Jahrhunderts entstehen vermehrt Unterhaltungsstücke mit allen
Elementen des volkstümlichen und des französischen Boulevard-Theaters,
der Komödien- und Schwanktradition, nicht zuletzt auch beeinflusst von den
Puppenspielen im Stil Poccis. Im Kindertheater entstehen nun gänzlich an-
dere Orientierungsmuster: leitend ist nicht mehr das pädagogisch Traktat-
hafte, sondern die Bühnenwirksamkeit. Handlungsabläufe werden glaub-
würdiger und realistischer, die Dialoge natürlicher, auch wenn es um fiktive,
märchenartige Inhalte geht. Überraschungsmoment und Höhepunkt der
Handlung ist nicht mehr eine Bekehrung zum Guten, sondern die Auflösung
einer komödienhaften Verwicklung oder eines spannungsreichen Geheim-
nisses. Die von Aurelie (d.i. Sophie Gräfin von Baudissin) im Theater-Alma-
nach für die Jugend (2 Bde., 1849) versammelten Stücke sind für diese Ten-
denz ein gutes Beispiel. Bezeichnenderweise bekennt sich Aurelie im Vorwort
vor allem zur Komödien-Tradition, wie sie bei Berquin und Weiße bereits
anzutreffen sei. Außerdem bemerkt sie: »Kleine dramatische Aufführungen
im Familienkreise werden unter der Jugend immer üblicher, und gelten mit
Recht für eine Unterhaltung die zugleich nützlich und anregend ist. Sie übt
das Gedächtniß und fördert die äußere Haltung. [...] Der nächste Zweck den
Illustration zu Kleine
wir mit der Herausgabe des Büchleins verbinden, ist unsre Leser zu unterhal- Theaterstücke für die
ten: weder haben wir’s auf Belehrung abgesehn, noch liegt jedem Stück eine Jugend von Isabella
bestimmte moralische Nutzanwendung zum Grunde. Wurmkuchen und ver- Braun. Schaffhausen ca.
goldete Pillen giebts ohnehin genug in der Kinderlitteratur.« 1860
Exemplarisch für die im 19. Jh. einsetzende Kommerzialisierung des Kin-
derschauspiels ist die Anlehnung an bekannte und erfolgreiche Vorbilder auf
der ›Erwachsenen-Bühne‹. So bietet Moritz Thieme Der kleine Freischütz
(1823) an und Jeremias Gotthelf Der Knabe des Tell, 1846 zugleich in Zü-
rich und Berlin erschienen. Gotthelfs Stück ist zudem ein Beispiel für die
Verbindung von Nationalerziehung und Unterhaltung. Der Sohn Tells wird
darin zur Hauptfigur. Er wird in der Schlacht in Morgarten gegen Österreich
verletzt und stirbt, nicht ohne noch einmal die Gemeinschaft freier und glei-
cher Männer beschworen zu haben, den Heldentod.
Eine wichtige Rolle bei der Weiterentwicklung und vor allem Kommerzia- Kommerzialisierung
lisierung des Kindertheaters spielte der zumeist als Theaterdirektor tätige
Carl August Görner. Nach großen Erfolgen mit Komödien für Erwachsene
wandte er sich dem Kindertheater zu, verfasste mehrere sogenannte Kinder-
komödien – am bekanntesten wurden davon Die drei Haulemännchen oder
das gute Liesel und’s böse Gretel und Die Prinzessin von Marzipan und der
Schweinehirt vom Zuckerland, beide 1855 –, um dann das neue Genre
›Weihnachtsmärchen‹ zu begründen. Sich nur äußerlich an die Grimm’schen
Vorlagen haltend, entwickelte Görner einen spezifischen Kindertheaterstil
der Märchendramatisierung, der bei den Schauspieldirektionen wie beim
170 Vom Biedermeier zum Realismus
Gisela Wilkending
»Schon öfter wurde über den Literaturramsch der Warenhäuser Klage ge-
führt. [...] Schon lange hat auf dem Gebiete der Jugendliteratur eine Groß-
industrie Platz gegriffen, die, lediglich auf das roheste Lesebedürfnis der
Kinder spekulierend, alle feineren Ansprüche sowohl an den Text wie an die
Ausstattung in dem heranwachsenden Geschlecht tötet.« So schreibt der
prominenteste Jugendschriftenkritiker und Literaturpädagoge dieser Epoche,
der Hamburger Volksschullehrer Heinrich Wolgast, in einem Zeitungsbeitrag Heinrich Wolgast:
des Jahres 1901. Schon einige Jahre zuvor hatte er mit seiner Kampfschrift »Das Elend unserer
Das Elend unserer Jugendlitteratur (1896) großes Aufsehen erregt. »Die aller- Jugendlitteratur«
meisten Leser der gangbaren Jugendschriften«, heißt es dort, »sind für die
ernste Kunst verdorben«. Nur konsequent scheint daher seine generelle Ab-
lehnung der spezifischen, »eigens für die Jugend geschaffene[n]« Jugendlite-
ratur. »Die Jugendschrift in dichterischer Form muß ein Kunstwerk sein«,
lautet Wolgasts erstes Gebot. Und als Kunstwerk gehöre ein Text ohnehin
der allgemeinen Literatur an. Kaum ein Lichtstreif am Horizont ist für ihn
vorerst sichtbar: höchstens Theodor Storms »köstliche Novelle« Pole Pop-
penspäler, die – anfangs wenig beachtet – bereits 1874 in der Zeitschrift
Deutsche Jugend erschienen war und die im Jahre 1899 vom Westermann-
Verlag, »in enger Abstimmung mit Wolgast«, wie es in einem Brief des Ver-
lags heißt, in 27 000 Exemplaren neu auf den Markt gebracht wird – als
Billigausgabe für 50 Pfennig! Viele Schülergenerationen aller Schularten wer-
den künftig die Geschichte der Liebe zwischen der Puppenspielertochter Lisei
und dem Handwerkersohn Paul, die als Liebe zwischen Kindern beginnt, im
Literaturunterricht lesen.
In aller Schärfe fasst Wolgast mit seiner Klage über den »Literaturramsch«
den Übergang des kinder- und jugendliterarischen Marktes in den kaiserzeit-
lichen Massenmarkt ins Auge, den v.a. Literaturpädagogen schon seit länge-
rem angstvoll und misstrauisch beobachtet hatten – ein Prozess, in dem sich
das klassische bürgerliche Lesepublikum transformiert, teilweise auflöst und
mit unterbürgerlichen Leserschichten verschmilzt. Um 1900 baut sich aber
auch eine andere Konstellation auf: Die Möglichkeit der Verflechtung von
Kunst und Kommerz, auch mit dem Ziel, die Massen ›konsumfähig‹ zu ma- Kunst und Kommerz
chen, wie es bei Wolgast und vielen anderen Kunsterziehern immer wieder
heißt, zeichnet sich ab. Davon zeugen die neuen Billigreihen ›guter Literatur‹,
wie sie Wolgast und Westermann mit der Herausgabe des Pole Poppenspäler
initiiert haben. Im Jahre 1900 erscheint aber auch, von Kunsterziehern be-
geistert begrüßt, das Bilderbuch Fitzebutze, mit Gedichten von Paula und
Richard Dehmel und Bildern von Ernst Kreidolf. Eine Reihe anderer Künst-
ler-Bilderbücher, darunter Paula Dehmels Rumpumpel (1903), mit Bildern
von Karl Hofer, und das von Richard Dehmel betreute Der Buntscheck
(1904) schließt sich an. Dichter schreiben Kunstmärchen für Kinder oder
gelangen mit ihren Texten in Anthologien spezifisch adressierter Kinder- und
172 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
Jugendliteratur, etwa in den von Ernst Weber veranstalteten Band der Neuen
Märchen für die Jugend (1900). Gerlachs Jugendbücherei (1900 ff.) mit Illus-
trationen teils bedeutender Künstler wird zu einem herausragenden Doku-
ment österreichischer Jugendstilkunst. Und mit Ilse Frapans Hamburger Bil-
der für Hamburger Kinder (1899) zieht sogar eine moderne Großstadtprosa
in die Kinderliteratur ein. Ja, selbst Entwicklungen im Bereich der Alltags-
künste, wie die aus Stollwercks Schokoladenautomaten gezogenen Reklame-
bildchen, an denen um 1900 auch bedeutende Künstler und Künstlerinnen
wie Paula Modersohn-Becker mitgearbeitet haben und deren Rückseiten als
Träger von Gedichten und Reimprosa fungieren, finden zeitweilig die Zu-
Kinderliteratur einer stimmung von Kunst- und Literaturpädagogen. Für einen kurzen Zeitraum
Kunstmodere laufen so im Feld der Kinderliteratur verschiedene Strömungen der Kunst-
moderne zusammen. Dennoch: Die Markterfolge gerade der hoch gelobten
Titel und deren Repräsentanz im Feld der gesamten Kinder- und Jugendlite-
ratur bleiben relativ gering. Selbst dem bekannten, 1894 gegründeten Kölner
Schaffstein-Verlag, in dem viele der neuen ›Künstler-Bücher‹, teils in gewagten
Auflagen von 5 000 bis 10 000 Stück veröffentlicht werden, bleibt ein wirt-
schaftlicher Erfolg letztlich versagt. Nur seine verbilligten Volksausgaben
und v.a. die kleinformatigen Blauen und Grünen Bändchen, die Eingang in
den Schulunterricht finden können, erweisen sich als profitabel. Im Übrigen
sind die künstlerisch anspruchsvollen Bücher, wie der Verleger Hermann
Schaffstein selbst bemerkt, nicht für die Masse geeignet. Das breite Publikum
sucht offenkundig nicht den ›ästhetischen Genuss‹, wie Wolgast ihn wünscht.
Es sucht Information, Orientierung, v. a. aber spannende Unterhaltung. Die-
sen Bedürfnissen kommt der literarische Markt vorzüglich entgegen. Erst-
mals werden nun auch, im Zuge der erfolgreich verlaufenden Alphabetisie-
rung im letzten Drittel des Jahrhunderts, die Kinder und Jugendlichen aller
sozialen Schichten als Adressaten der Literatur angesprochen.
Von der Kinder- und Jugendliteratur dieser Epoche lässt sich kein einfaches
Bild zeichnen, denn ihr Hauptcharakteristikum ist gerade eine irritierende
Vielfalt, in der sich widersprüchliche Epochentendenzen spiegeln: Beharrung,
Konservierung, Restauration, aber auch Dynamik, Modernisierung, Innova-
tion. Zum ersten Mal in der Geschichte – und vermutlich später nie mehr mit
dieser Intensität – wird die Kinder- und Jugendliteratur zudem ein zentraler
Vielfalt Gegenstand des öffentlichen Interesses, nicht nur des pädagogischen und
verlegerischen, sondern auch des Interesses kultureller und politischer Orga-
nisationen, bis hin zu den Kolonial- und Flottenvereinen des Deutschen
Reiches. Die Kinder- und Jugendliteratur ist Thema der modernen Kunstbe-
wegung, der Kunsterziehungsbewegung, der pädagogischen Reformbewe-
gung, der Jugendbewegung, der Arbeiterbewegung und der Frauenbewegung.
Sie wird damit zum Aspekt all jener Diskurse, die den gesellschaftlichen Um-
bruch in dieser letzten Phase der Hochindustrialisierung prägen und be-
gleiten. Und das alles vollzieht sich vor dem Hintergrund der politischen
Nationsbildung, die seit der Gründung der Österreichisch-Ungarischen Dop-
pelmonarchie (1867) und des Deutschen Reiches (1871) sowie der Neukons-
tituierung der Schweiz (1848/1874) auch die Ausdifferenzierung nationaler
Literaturen begünstigt. Die historische Konstellation ist gegenüber früheren
und späteren Konstellationen auch insofern unvergleichbar, als in dieser
Phase bei Kindern und Jugendlichen der Höchststand der Alphabetisierung
erreicht ist, ohne dass sich schon der Übergang in die moderne, von audio-
visuellen und digitalen Medien geprägte Gesellschaft vollzogen hat. Schon
wenig später wird ein Teil des potenziellen Lesepublikums auf diese Medien
übergehen.
Markt, Gesellschaft, Politik 173
Der Buchmarkt, der sich – nach dem großen Entwicklungsschub der 1830er Expansion des
und 1840er Jahre – seit 1948 in einer schweren Absatzkrise befand, hatte Buchmarkts
sich seit den 1860er Jahren langsam erholt. Politisch-ökonomische Rahmen-
bedingungen, wie die Einführung der Gewerbefreiheit und die Lockerung
des Urheberschutzes, vor allem aber Möglichkeiten der Beschleunigung und
Verbilligung der Literaturherstellung, etwa durch die Einführung moderner
Setzmaschinen (ab 1872), durch die Erfindung der Rotationsmaschine (1873)
und den Einsatz der Drahtheftmaschine (seit 1878), dazu Entwicklungen im
Farbdruck, Modernisierungen im Vertrieb und Verkauf und nicht zuletzt das
wachsende Lesepublikum kurbeln nun die Konjunktur an. Erst jetzt kommt
es zum Durchbruch der ›zweiten Leserevolution‹. In ihr erlangt die Kinder-
und Jugendliteratur einen hohen Rangplatz auf dem literarischen Markt.
Viele etablierte und viele neue Verlage bauen, teilweise in Kombination mit
dem Schulbuchgeschäft, ein entsprechendes Segment zur tragenden Säule ih-
res Geschäfts aus. Marktbeherrschend wird schließlich die Union Deutsche
Verlagsgesellschaft, ein aus dem Zusammenschluss mehrerer Verlage ent-
standener Großverlag, in dem u. a. so erfolgreiche Periodika wie Der gute
Kamerad, Das Kränzchen und Das neue Universum, dazu die beiden Roman-
reihen Kränzchen-Bibliothek und Kamerad-Bibliothek sowie die kleinforma-
tige Universalbibliothek für die Jugend herausgebracht werden. Die Kinder- Buch- und
und Jugendliteratur ist allerdings auch von der allgemeinen Erosion des Heftchenmarkt
Buchmarkts in dieser Phase des Medienumbruchs betroffen: Wie Wittmann
in seiner Geschichte des Buchwesens mitteilt, sind im Jahre 1908 nur noch
»gut die Hälfte aller Titel« im Bereich der Jugendschriften »Bücher im ei-
gentlichen Sinn«; die übrigen sind Hefte. Schon früh platziert sich in diesem
Feld der Mülheimer Bagel-Verlag mit seiner von Gustav Nieritz veranstalte-
ten Jugendbibliothek, später mit seiner Bibliothek Interessanter Erzählungen,
der Neuen Jugend-Bibliothek sowie einer Kinder-Bibliothek. Im ersten Jahr-
zehnt des 20. Jh.s erscheinen dann die noch heute marktgängigen großfor-
matigen Heft-Serien, unter Seriennamen wie Jungens-Streiche, Prinzessin
Übermut oder Backfischstreiche. Auch die teils aus Amerika übernommenen
Serien wie Buffalo-Bill, Nick Carter, Detective Sherlock Holmes und Texas
Jack dürften ein großes jugendliches Lesepublikum gefunden haben. Im Jahr
1916 listet die Jugendschriften-Warte bereits über 200 entsprechende Serien
auf. Auch typische Kolportageverlage gewinnen in dieser Epoche an der Kin-
der- und Jugendliteratur Interesse. Den größten Markterfolg erzielt wohl der
Berliner Verleger Weichert, um 1900 der erfolgreichste ›Volksschriftenverlag‹
Schmuckleiste von
Der gute Kamerad 4
(1889/90)
174 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
Hinter der Forderung nach künstlerischer Qualität der Kinder- und Ju-
gendliteratur – wie sie insbesondere die Hamburger Kunsterzieher um Hein-
rich Wolgast, aber auch dezidiert sozialdemokratische Kritiker oder Autoren
von Kinder- und Jugendliteratur wie beispielsweise Karl Kautsky oder Hein-
rich Schulz vertreten – steht alles andere als ein unpolitischer Standpunkt
und auch mehr als ein ästhetisches Glaubensbekenntnis. Die Forderung, die
für Wolgast und seine Anhänger die Ablehnung jeglicher pädagogischer, po-
litischer oder religiöser Tendenz in der Kinder- und Jugendliteratur ein-
schließt, dient ihnen vielmehr als Argumentationsbasis im Kampf gegen
große Teile der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur, die in ihrer Sicht nichts
anderes sind als Instrumente ideologischer Beeinflussung und politischer
Herrschaft. So lehnt Wolgast beispielsweise die spezifische Mädchenliteratur
in Bausch und Bogen schon deswegen ab, weil sie der für ihn fortschrittlichen
Tendenz widerspricht, »die Unterschiede zwischen der Erziehung der beiden
Geschlechter fallen zu lassen«. Seine ganz besondere Kritik gilt aber der
»beängstigende[n] Hochflut der patriotischen Erzählungsliteratur«, wie er
1892 schreibt, die im Gefolge der Reichsgründung die deutsche Nation über-
schwemmt habe. Wolgast ist erklärter Gegner des preußischen Militarismus
und Autoritarismus. Er engagiert sich in der Friedensbewegung. Dass er, der
von seiner Grundposition eher radikaldemokratisch gesinnt war, sich früh
auf die Seite der Sozialdemokratie gestellt hat, wurde von den Angegriffenen,
v.a. von einflussreichen Verlegern und Buchhändlern, sofort bemerkt. Bis in
die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg reicht der Dauerkonflikt, in dem die geg-
nerische Seite, darunter auch der mit seinen Reihen Das deutsche Bilderbuch
(1904 ff.), Mainzer Volks- und Jugendbücher (1908 ff.) und Bunte Bücher
(1909 ff.) erfolgreiche Verlag Jos. Scholz sowie sein Hausautor Wilhelm
Kotzde, Wolgast eine sozialistische und vaterlandsfeindliche Tendenz vorhält.
1913 wird die Hamburger Jugendschriftenbewegung unter diesen Vorzeichen
sogar zu einem Verhandlungsthema im preußischen Abgeordnetenhaus.
Gesellschaft, Staat, Es sind also zwei große Komplexe des gesellschaftlichen Wandels, die den
Nation kinder- und jugendliterarischen sowie den entsprechenden literaturkritischen
Diskurs dieser Epoche wesentlich bestimmen: die tendenzielle Auflösung des
Buchmarkts in einen Massenmarkt, der Kinder und v. a. Jugendliche so weit-
gehend wie nie zuvor der Einwirkung durch die traditionellen pädagogischen
Instanzen Familie und Schule zu entziehen droht, und der organisierte und
forcierte Zugriff von Interessensvereinigungen und -verbänden, Kirchen und
Parteien auf die Literatur, und damit auf Kinder und Jugendliche, Familie und
Schule. Auch der Staat greift im Übrigen – auf dem Wege der Lehrmittelzulas-
sung, des Ausbaus von Schülerbibliotheken und der Stiftung von Buchprä-
mien – direkt in diese Interessenspolitik ein. Dabei ist zu bedenken, dass alle
drei Staaten des deutschsprachigen Raums in der Zeit zwischen 1870 und
dem Ersten Weltkrieg innenpolitisch durchaus fragile Gebilde sind. Dies be-
trifft einmal die sozialen und politischen Kernprobleme, die in allen drei
Ländern aus dem extrem beschleunigten ökonomischen Wandel folgen. Dies
betrifft aber auch das in den drei Ländern unterschiedlich konflikthafte Ver-
hältnis von religiöser und nationaler Identität sowie die Frage nach dem
Umgang mit ethnischen und sprachlichen Minderheiten. Und dies betrifft
schließlich, seit dem ausgehenden Jahrhundert vermehrt, auch expansionisti-
sche, imperialistische Interessen, v. a. des Deutschen Reiches. Alle diese As-
pekte haben in der Kinder- und Jugendliteratur der Zeit ihren Niederschlag
gefunden. Denn ein Teil dieser Literatur will die Leser – direkt oder indirekt
– zur Identifikation mit Gesellschaft und Staat bewegen. Dennoch bleiben die
deutschsprachigen nationalen Buchmärkte hoch durchlässig. Eine Reihe von
Expansion und Pluralisierung 177
In dieser Epoche wird also die Kinder- und Jugendliteratur Teil der sich im
Medienwandel neu formierenden, tendenziell alle Klassen und Schichten
einschließenden populären Unterhaltungskultur. Der Prozess wird begleitet
und mitgesteuert von heftigen öffentlichen Debatten, Initiativen für konkur-
rierende Literaturprojekte und eine zunehmend über Verbände und Vereine
organisierte Literaturkritik und Lektürekontrolle, auch im Kontext des seit
der Jahrhundertwende weitgehend verrechtlichten Kinder- und Jugend-
schutzes. Vor diesem Hintergrund wird v.a. seit Beginn des 20. Jh.s ein breit
organisierter ›Schundkampf‹ geführt. Andererseits löst sich das Gefüge kin-
der- und jugendliterarischer Gattungen, wie es sich im Rahmen der bieder-
meierlichen und frührealistischen Kinder- und Jugendliteratur ausdifferen-
ziert hatte, keineswegs vollständig auf. Auffällig sind in einigen Bereichen
sogar ausgesprochen beharrende Tendenzen, die sich bis weit ins 20. Jh. hin-
ein halten. In einigen Genres kommt es aber auch zu bemerkenswert produk-
tiven und teils literarisch innovativen Entwicklungen, etwa im Bereich des
Bilderbuchs sowie in der Erzählprosa für Kinder und für ›junge Mädchen‹.
Dies betrifft etwa neue, über den poetischen Realismus hinausgehende Ent-
wicklungen realistischen Schreibens, die Herausbildung erster Ansätze einer
jugendliterarischen Adoleszenzprosa sowie literarische Entwicklungen, die
aus der engen Einbindung einiger Autorinnen und Autoren in Strömungen
der Reformpädagogik sowie der Kunstmoderne der Jahrhundertwende re-
sultieren. Insgesamt zeigt der Blick auf die Kinder- und Jugendliteratur dieser
Epoche eine höchst komplexe und dynamische literarische Situation im
Spannungsfeld der verschiedenen, gegeneinander gerichteten Zeittendenzen.
Versucht man nun das gesamte Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur Periodische Literatur
dieses Zeitraums zu strukturieren, so fällt – neben dem gerade für die Entste-
hung des Massenmarkts quantitativ wie funktional äußerst wichtigen, aber
heute kaum noch angemessen rekonstruierbaren Sektor der ›seriellen Heft-
chenliteratur‹ – zunächst die große Titelmenge der periodisch erscheinenden
Literatur, also der Zeitschriften, Jahrbücher, Almanache, Kalender u. Ä. ins
Auge. Schätzungsweise 400 Periodika für Kinder und Jugendliche hat es in
diesem Zeitraum gegeben. Sie repräsentieren ein breites Spektrum religiöser,
politischer, pädagogischer und literarisch-kultureller Interessensgruppie-
rungen, wenden sich an Kinder verschiedener Altersgruppen sowie an ›die
Jugend‹, teils speziell an ›Mädchen‹, teils an ›Knaben‹. Großenteils ist diese
Literatur immer noch der Tradition einer bürgerlichen literarischen Famili-
enkultur zuzurechnen, zumal wenn man bedenkt, dass auch erfolgreiche
Wochen- und Monatsschriften nicht nur konsumiert‚ sondern als Jahrgangs-
178 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
von Wörtern, und dabei als Spielfigur »Bleisoldat, Knopf oder dergl.« ein-
führt. In seinem Ostermärchen machen die Hasen vor dem Hasenkönig
›Männchen‹, was dasselbe ist »wie bei unseren Soldaten das Salutieren«. Und
in einer gereimten Geschichte Vom Alten Fritz wird ein Husar wegen seines
Wortwitzes vom König zum Leutnant erhoben.
Sachliteratur Auch im Bereich der Sachliteratur gewinnt nun ein Periodikum das beson-
dere Interesse der Leser: Das neue Universum, die einzige periodische Schrift
dieser Epoche, die noch heute auf dem Markt ist. Das Jahrbuch ist zwar als
›Familienbuch‹ breit adressiert, will aber besonders die ›reifere Jugend‹, und
implizit, wie die Sachliteratur überhaupt, v. a. die männliche Jugend anspre-
chen. Länder- und Völkerkunde, Verkehrswesen, Militärwesen, Industrie,
Technik, Physik und Chemie sind seine Schwerpunkte. Damit repräsentiert
es jene »offene, interessierte und fortschrittsorientierte Einstellung gegenüber
Naturwissenschaften und Technik« (Pech), wie sie für Teile des Bürgertums
typisch ist. Wie die vielen anderen Schriften zu Naturwissenschaften und
Technik kann das Jahrbuch aber auch zur Kompensation einer zumindest im
ausgehenden 19. Jh. immer noch mangelhaften Schulbildung in Naturwis-
senschaft und Technik beitragen, die von dem geringeren Prestige der natur-
wissenschaftlichen gegenüber den humanistischen Fächern im höheren Kna-
benschulwesen und von der groben Vernachlässigung dieser Fächer auch im
Expansion und Pluralisierung 181
In solchen Büchern sind Texte der seit der Mitte des Jahrhunderts kanoni-
sierten Schulautoren zusammengestellt, von Klopstock und Herder über
Schiller, Goethe, Ernst-Moritz-Arndt, Uhland, Chamisso, Fallersleben, Lenau
u. a. bis zu in der Regel nicht gerade herausragenden Autoren der Gegen-
wartsliteratur. Auswahl und Komposition der Texte sowie ihre Vereinheitli-
chung und Trivialisierung durch den Buchschmuck machen solche Antholo-
gien zu einem Medium der Metaphorisierung der Frau als geschichtsloser
Natur und der Idealisierung traditioneller bürgerlicher Frauenrollen, was im
Übrigen auch der Aufnahme einzelner vaterländischer Texte nicht wider-
spricht. Als Beispiel mag Hugo Klemmerts besonders erfolgreiche Anthologie
Duftige Blüten (1887) genannt sein, die nach dem Willen des Herausgebers
als »poetisches Festgeschenk« zu Weihnachten, zur Kommunion oder Kon-
firmation, speziell für Mädchen, gedacht ist. Mehr als in jeder anderen kin-
der- und jugendliterarischen Buchgattung manifestiert sich in solchen Antho-
logien ein Gegendiskurs zum Diskurs der bürgerlichen Frauenbewegung und
ihrer Anhänger. Nur ausnahmsweise kommt in Anthologien auch die andere
Seite einmal zu Wort, wie in dem von Emma Laddey herausgegebenen, auch
Mädchen zugedachten Frauen-Album (1880), einer Anthologie mit Texten
verschiedener Genres, an der mit Marie Calm, Jenny Hirsch, Louise Otto-
Peters u. a. besonders Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung sowie
männliche Vertreter einer erweiterten Mädchenbildung mitgearbeitet haben.
Einen starken Kontrapunkt zu den marktgängigen Lyrikanthologien für die
Jugend setzt erstmals die im Umfeld der Hamburger Kunsterziehungsbewe-
gung entstandene, von Jakob Loewenberg herausgebrachte Anthologie Vom
goldenen Überfluß (1901), die – völlig ungewöhnlich – mit einer Reihe von
Droste-Gedichten beginnt, darunter sogar Ich steh’ auf dem hohen Balkone
am Turm, mit Gedichten von Lulu von Strauß und Torney endet und in der
im Übrigen – wieder untypisch – auch eine große Anzahl an Gedichten von
Mörike, Hebbel, Storm, Groth, Keller, Fontane, C. F. Meyer, von Liliencron,
ja auch von Holz und R. Dehmel abgedruckt ist. Auch Alwin Freudenbergs
Sammlung Was der Jugend gefällt (1904), für Kinder ab zehn Jahren gedacht,
fällt aus dem Rahmen, insofern sie fast ausschließlich Lyrik und Reimprosa
lebender Dichter in einer breiten Auswahl enthält.
Ratgeber Ratgebende Literatur im Buchformat, die üblicherweise zu besonders fest-
lichen Anlässen, wie der Kommunion oder der Konfirmation, verschenkt
wird und die den Übergang des Jugendlichen ins Erwachsenenleben anleiten
will, ist – vermutlich aus ähnlichen Gründen wie die Lyrikanthologien – in
großer Zahl erschienen. Ratgeber für Jungen gibt es dagegen, wenn man von
wenigen Texten mit dezidiert religiöser Tendenz, wie Gottlieb Weitbrechts
Heilig ist die Jugendzeit (1878), absieht, kaum noch. In den Ratgebern für
Mädchen geht es nun – anders als in den Lyrikanthologien – gänzlich unver-
blümt um die Bestimmung der Frau. Auch diese Bücher zeigen ein zwar
konservatives Gepräge, insofern es um ›Anstand und Sitte‹, um die Stilisie-
rung ›holder Weiblichkeit‹, um die Frau als Garantin für Moralität und Reli-
giosität und um die neuerliche Bestätigung ihrer dreifachen Bestimmung als
Hausfrau, Gattin und Mutter geht, wie sie Heinrich Joachim Campe in sei-
nem Väterlichen Rath für meine Tochter (1789) begründet hatte. Die domi-
nant konservative Funktion dieser Ratgeber spiegelt sich auch in der Tatsa-
che, dass die beiden schon in den 1850er Jahren erschienenen Ratgeber,
Henriette Davidis’ Der Beruf der Jungfrau (1856) und Julie Burows Herzens-
Worte (1859), mit sehr hohen Auflagen immer noch am besten auf dem
Markt platziert bleiben. Aber: Selbst wenn diese beiden Ratgeber ganz auf
das Idealbild einer christlichen Hausfrau abheben, kommen auch sie nicht
mehr umhin, der Frage nach den Erwerbsmöglichkeiten unverheirateter Bür-
ger-Töchter und damit der Frauenfrage zumindest ein Kapitel zu widmen.
Neben traditionalistisch ausgerichteten Ratgebern gibt es aber auch einige
wenige, deren Herausgeberinnen und Autorinnen kämpferisch für Stand-
punkte der Frauenbewegung eintreten. Das gilt insbesondere für die Begrün-
derin der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland, Luise Otto-Peters,
die in ihrem auch an Mädchen mitadressierten Buch Der Genius der Mensch-
heit (1870), Fortsetzung von Der Genius des Hauses (1869), trotz der Ideali-
sierung einer ›schönen Häuslichkeit‹ doch auch für die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie im Frauenleben eintritt und die damit eine im Rahmen des
Bürgertums außergewöhnliche Position einnimmt. Marie Calm, ebenfalls
Aktivistin der Frauenbewegung, plädiert in Ein Blick ins Leben (1877) für
eine frühe Berufsvorbereitung der Mädchen und fordert die Konzentration
aller Kräfte gegenüber der Zersplitterung in »kleine Details eines berufslosen
Lebens«. Amalie Baischs Von der Töchterschule ins Leben (1889) und Anna
Klapps Unsere jungen Mädchen und ihre Aufgaben in der Gegenwart (1892),
beides Mädchenratgeber in Form von Anthologien, konzentrieren sich auf
das ganze Spektrum der Frauenberufe für bürgerliche Töchter des ausge- Marie Calm
henden 19. Jh.s. Dass nun solche und ähnliche Ratgeber, trotz teils hoher
Auflagen, vermutlich nicht eben zu den Lieblingslektüren lesender Mädchen
dieser Epoche gehörten, ist zu vermuten. Ab und an erfahren wir etwas über
solche Vorlieben in Leseszenen der Mädchenliteratur selbst. Da ist von der
Lust am Lesen von Romanen und Gedichten, auch von Theaterleidenschaft
die Rede. Manche Mädchen begeistern sich für ›klassische‹ Texte. Manche
verschlingen auch »Indianerbücher von den Jungens«. Indizien für eine be-
geisterte Lektüre von ratgebender Literatur finden sich nirgends, wohl aber
gelegentlich für einen negativen Affekt, wie etwa in Frida Schanz’ kleiner
Erzählung Erste Liebe (1894), in der die Protagonistin Ada »mit starren und
finsteren Blicken vor dem Buch vom guten Ton [sitzt], das ihr der Vater vor
kurzem zu ihrem 16. Geburtstag geschenkt« hat.
Das eigentliche Expansionszentrum der Kinder- und Jugendliteratur dieser Erzählprosa
Epoche ist die fiktionale Erzählprosa, von der nicht nur die Heftchenliteratur
und die periodische Literatur, sondern auch der Buchmarkt im engeren Sinn
beherrscht wird. Das deckt sich auch mit Epochentendenzen des Realismus,
die – gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur – noch weit ins 20.
Jh. hinein wirken. Innerhalb dieses Bereichs ist die Mädchenliteratur der
größte expandierende Sektor, wie Umbau und Ausbau von Verlagsprogram-
men, Auflagenhöhe vieler Titel sowie die Wiederbelebung, Neuakzentuierung
und Aufheizung des in der Epoche der Aufklärung etablierten Diskurses über
184 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
Kinderliteratur, Kindheitsliteratur
In der Kinderliteratur, damit sind hier Texte für nichtlesende jüngere Kinder
und für Selbstleser bis ca. zwölf Jahren gemeint, haben sich biedermeierliche
Traditionen der Moraldidaxe und der Idyllisierung von Kindheit und Familie
am längsten erhalten. Noch in dieser Epoche finden sich zahlreiche Kinder-
bücher, die, wie etwa Julius Sturms Dies Buch für meine Kinder (1877), fast
vollständig von diesen Traditionen geprägt sind. Wohl beginnen sich bereits
seit der Jahrhundertmitte vereinzelt realistische Züge auszubilden. So öffnet
sich Ottilie Wildermuth, deren erfolgreiche Erzählungssammlungen Kinder-
gruß (1859) oder Aus Schloß und Hütte (1861) die Kinderwelt als heile oder
doch immer heilbare Welt zeigen, bisweilen für brisante Gegenwartsthemen.
Erst seit den 1870er und besonders seit den 1880er Jahren breiten sich aber
Humor und Fabulierlust stärker aus und mildern die Moraldidaxe. Die All-
tagswelt außerhalb der Familie nimmt gleichzeitig einen größeren Raum ein.
Die Konjunktur der Ferien-, Freizeit-, Schul- und Schülergeschichten für
Kinder unterschiedlichen Alters setzt ein, so z. B. mit Franz Wiedemanns
Schulfrühling (1871), Emma Billers Heinz der Lateiner (1884), Tony Schu-
machers Schulleben (1897), Frida Schanz’ Schulkindergeschichten (1901), H.
Realistische Tendenzen Scharrelmanns Berni. Aus seiner ersten Schulzeit (1912). In dieser Epoche
beginnt sich aber auch ein neuer, psychologischer Realismus in der Kinderli-
teratur auszuprägen: Kindliche Protagonisten können nun auch Züge eigen-
williger, individualisierter Charaktere annehmen, die sie zu modernen litera-
rischen Helden machen. Genau in diesem Sinne ist Johanna Spyris Heidi,
trotz der ausgeprägt religiös-moralischen Tendenzen dieses Buches, ein
Markstein in der Entwicklungsgeschichte des deutschsprachigen realistischen
Kinderromans. Spyri öffnet Blicke in das Innere eines Kindes, auf seine
Ängste und Wünsche. Clementine Helm, Emma Biller, Tony Schumacher und
Agnes Sapper etablieren das Genre Familienroman in der Kinderliteratur.
Mit Frapans Hamburger Bilder für Kinder (1899) wird ein völlig neuer, ganz
auf die Beobachtung von Realität eingestellter nüchterner Schreibstil in die
Kinderliteratur eingeführt. Zunehmend, besonders im Zuge neoromantischer
Strömungen, kommt es aber auch zu neuen Impulsen im Bereich von Mär-
chendichtung, Tiergeschichte und fantastischer Erzählung, bis hin zu Otto
Julius Bierbaums Pinocchio-Nachdichtung Zäpfel Kerns Abenteuer (1905),
Peterchens Mondfahrt (1912 als Märchenspiel und 1915 als Erzählung er-
schienen) und dem Bestseller Die Biene Maja (1912) von Waldemar Bonsels.
Auch das traditionsreiche Genre Puppengeschichte hat an dieser Entwick-
Kinderliteratur, Kindheitsliteratur 187
lung Anteil, wie etwa Emma Billers Puppengeschichten Im Reich der Hein-
zelmännchen oder Reise-Abenteuer einer Puppe und eines Nußknackers
(1883) und Im Puppenparadies (1896) belegen, die beide an E.T.A. Hoff-
manns Nußknacker und Mausekönig (1816) erinnern. Das von R. und P.
Dehmel im Fitzebutze allerdings vorgeführte ›Puppenspiel‹, das die ener-
gische kleine Detta mit ihrem Hampelmann inszeniert, lässt sich eher als
Kontrapunkt zu neoromantischen Kindheitskonstruktionen auslegen. Mit
Nauckes Luftreise und andere Geschichten (1908) von Robert Grötzsch
schließlich werden Fabulierlust und Humor auch in die sozialistische Kinder-
literatur hineingetragen. Trotz vielfältiger innovativer Tendenzen und einer
Reihe herausragender Einzeltitel bleibt die überwiegende Mehrheit der kin-
derliterarischen Texte dennoch der Didaxe verhaftet oder tendiert zum Nied-
lichen, Harmlos-Gefälligen, das sich im Zuge der Konjunktur des pädago-
gisch-ästhetischen Konzepts der Kindertümlichkeit seit dem Beginn des 20.
Jh. besonders in der Kinderliteratur ausbreiten kann. Auch H. Scharrelmanns
berühmten Berni-Geschichten haftet etwas Bemüht-Kindliches an. Ganz be-
sonders gilt das aber für Texte des Reformpädagogen Berthold Otto in soge-
nannter Kindermundart, mit denen Otto das Stilideal einer grammatisch und
semantisch unentfalteten Alltagssprache kultivieren möchte. Wie leicht ein
solch schlichter Stil auch in den Imperativ des autoritären Erziehers umschla-
gen kann, ist an Ottos selbstverfasstem Vorlesebuch (1903) leicht erkennbar:
»Kleine Mädchen spielen gern mit Puppen.« Eine schlechte »Puppenmutter«
»bekommt ganz gewiß keine neue Puppe zum Geburtstag und auch keine zu
Weihnachten«. »Die Jungen spielen nicht mit Puppen.« »In der Stube spielen
die Jungen mit Zinnsoldaten« usw.
Einerseits ist es also ein breites Spektrum literarischer Kindheitsbilder und Kindheitsbilder
literarisch-ästhetischer Kindheitskonstruktionen, die die Kinderliteratur die-
ser Epoche zwischen Realismus und literarischer Moderne bereithält. Trotz
der Modernisierungstendenzen bleibt die spezifische Kinderliteratur als
ganze eingespannt in den Rahmen einer traditionalistischen bürgerlichen
Familien- und Erziehungskultur. In einem großen Teil dieser Literatur ist die
Tendenz ausgeprägt, das Kind im Prozess der gesellschaftlichen Modernisie-
rung nicht nur gegen die Auflösungstendenzen der traditionellen Erziehungs-
institution bürgerliche Familie zu schützen, sondern diesen Raum auch
weitgehend gegenüber anderen sozialen Räumen abzuschließen. Damit kann
die Kinderliteratur dieser Zeit auch zu einem kräftigen Motor der Gegen-
Modernisierung werden. Schon spätestens seit dem Überhandnehmen von
Modernisierungsängsten in der Romantik bildete die Kinderliteratur als Pro-
jekt der bürgerlichen Gesellschaft ein Feld der Projektionen vor-moderner
oder auch anti-moderner Gegenwirklichkeiten und der Eröffnung ästhe-
tischer Fluchträume – häufig bei gleichzeitiger Fixierung des Kindes auf an-
erkannte moralische Standards. In dieser Spätphase der bürgerlichen Gesell-
schaft, mit ihren Auflösungstendenzen und den sie begleitenden Zukunfts-
ängsten, mit ihrer Komplexität und Undurchsichtigkeit, wird Kindheit aber
nun in allen nur denkbaren Facetten zu einem Projektionsraum, in dem ge-
sellschaftliche Erlösungshoffnungen zusammenfließen. Das kann sich in der
Kinderliteratur in unterschiedlichen Ausprägungen niederschlagen: nicht
etwa nur in neo-romantischen Projektionen eines Kindheitsparadieses, son-
dern auch in der Idealisierung des letztlich verfügbaren Kindes oder auch des
Kindes, das Licht in eine sozial ungerechte Welt bringt. Selbst die Figur des
wilden, anarchischen Kindes lässt sich als Aspekt dieses Projektionsraums
auffassen. Niemand kann sich um 1900, als Ellen Key das »Jahrhundert des
Kindes« ausruft, aus dieser Konstellation herausreflektieren. Auch der Sozia-
188 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
Seereise
Pitsch – patsch – Badefaß,
Rumpumpel plantscht die Stube naß;
ist ein junger Wasserheld,
segelt durch die ganze Welt
im Wipp – im Wapp – im Schaukelkahn
über den großen Ozean!
Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik 191
der Mutter mit der Naschhand ins Gesicht geschlagen hat, verzweifelt im
Weltraum herumfliegen, um die in der Nacht verloren gegangene Hand zu
suchen. Als er endlich beim »lieben Gott« ankommt, steht ein Engel vor dem
Thron und sagt: »Mit dieser Hand hat ein Kind seine Mutter geschlagen«.
Als die Hand von einem »Strafengel« mit einem glühenden Eisen gebrannt
werden soll, stürzt sich ein dritter Engel – es ist die Mutter – vor den Thron
Gottes, mit den Worten: »Gebt mir die Hand meines Kindes, ich will die
Strafe auf mich nehmen, ich will die Schuld meines Kindes tragen.« Erst um
1900 beginnt die programmatische Abkehr von solchen Prägungen. Das
zeigt Emil Webers Sammlung Neue Märchen für die Jugend (1900), eine
Auswahl von Zaubermärchen und Naturmärchen, die ohne moralische Ten-
denzen, wenn auch nicht ganz ohne Sentimentalität auskommen, die viel-
mehr auf unterschiedliche Weise Fabulierlust, Tiefgründigkeit und Polyvalenz
des Märchens als dessen eigentliche Gattungsqualitäten zur Geltung bringen.
Die Sammlung enthält auch Richard Dehmels berühmtes Märchen vom
Maulwurf, in dem von der grenzenlosen Sehnsucht nach Licht erzählt wird.
Naturmärchen Das Zentrum der genuin kinderliterarischen Entwicklungen, die im Zuge
der neuen Konjunktur von Märchen und Fantastik in Gang kommen, liegt
im Feld des Naturmärchens im weitesten Sinne, also solcher Geschichten, in
denen alle Gegenstände der belebten und unbelebten Natur, aber auch Ele-
mente wie Wasser, Sonne und Wind oder auch ›Kunstdinge‹ wie Nadeln,
Streichhölzer oder Stiefel, anthropomorphe Züge annehmen und in einem
sozialen Raum, zu dem auch Menschen und menschenähnliche Wesen Zu-
gang haben können, zusammenleben. Solche Texte sind schon in den Kinder-
und Hausmärchen der Brüder Grimm enthalten. Populär wurden sie mit
Andersens Märchen. Man denke nur an seine Geschichte Der Tannenbaum,
die von dem kleinen Baum auf der Tannenlichtung erzählt, der sich wünscht
größer zu werden und, als er endlich groß ist, abgeschlagen wird, einen ein-
zigen Tag lang – seinem schönsten im Leben – als Weihnachtsbaum strahlt,
um dann weggeworfen und schließlich verbrannt zu werden. Schon gegen
Ende des Jahrhunderts haben sich Naturmärchen bzw. Züge der Anthropo-
morphisierung der Natur immer mehr in der spezifischen Kinderliteratur,
besonders auch in der Bilderbuchliteratur ausgebreitet. Seit der Jahrhundert-
wende nun kommt es zu einer regelrechten Konjunktur solcher Geschichten.
1898 erscheinen Oskar Dähnhardts Sammlung Naturgeschichtliche Volks-
märchen, 1910 mit Mutter Natur erzählt der erste Band der großen deutsch-
sprachigen Ausgabe der Märchen Carl Ewalds und 1909 die erste deutsch-
sprachige Kinderbuch-Ausgabe von Selma Lagerlöfs Wunderbare Reise des
kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Lewis Carrolls Alice’s Adven-
tures in Wonderland (1865) wird erst jetzt, unter dem Titel Liese im Wunder-
land (1912), in einer deutschsprachigen Ausgabe speziell für Kinder heraus-
gebracht. Gleichzeitig werden aber auch im deutschsprachigen Raum selbst
Entwicklungen im Feld der Tiergeschichte, der märchenhaft-fantastischen
Kindergeschichte, des Märchenspiels und des märchenhaft-fantastischen
Kinderromans angestoßen. Speziell die märchenhaften Tiergeschichten sind
dabei bisweilen auch durch eine darwinistische Naturauffassung getönt, wie
dies in Bonsels Die Biene Maja der Fall ist – in einem Kinderroman, der auch
typische Züge der Mädchenliteratur, der Abenteuerliteratur und der Kriegsli-
teratur integriert hat, was vermutlich den Erfolg des Buches begründet.
Hermann Löns wiederum erfindet mit seinen Geschichten Was da kreucht
und fleucht (1909) literarische Hybriden zwischen anthropomorphisierender
Tiergeschichte und naturwissenschaftlicher Belehrung, ebenfalls darwinis-
tisch grundiert. Die in Ulenbrook (1910) versammelten Briefe aus der Heide
Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik 193
von Jürgen Brand wiederum, – unter diesem Pseudonym schreibt der Bremer
Reformpädagoge Emil Sonnemann –, wollen aus sozialdemokratischer Per-
spektive sogar explizit in die darwinistische Weltanschauung einführen.
Auch das Märchenspiel bzw. die Märchennovelle Peterchens Mondfahrt »Peterchens
schwimmt auf der Welle der Konjunktur der Naturmärchen mit. Denn es Mondfahrt«
geht ja um die Maikäferfamilie Sumsemann und ihren ›erworbenen Defekt‹
– das fehlende sechste Bein –, den die Familie von Generation zu Generation
weitervererben muss, wenn sie nicht von tierliebenden Kindern erlöst wird.
Der spielerische Umgang mit der Vererbungslehre, dazu die Entfaltung des
Tiermärchens als fantastische Abenteuergeschichte, mit kindlichen Helden
im Zentrum, und die Anreicherung mit Zügen einer ›Science Fiction‹ heben
diesen Text aber aus dem Gros der Naturmärchen heraus. Zum Wirkungs-
potential gehört natürlich auch die Attraktivität des Motivs der Mondfahrt,
das nicht nur tief im Unbewussten des Menschen verankert, sondern in die-
ser Epoche auch zu einem der Kristallisationspunkte technischer Zukunftsvi-
sionen geworden ist. So war 1865 Jules Vernes De la terre à la lune (1863) in
Übersetzungen und Bearbeitungen in die deutschsprachige Literatur einge-
führt worden. Die »Mondkanone« in Peterchens Mondfahrt ist eine Erfin-
dung Jules Vernes. Auch das 1896 im Verlag des Simplicissimus erschienene,
aber schon 1879 entstandene ›Kinderepos‹ Der Hänseken von Frank und
Armin Wedekind erzählt – im humoristischen Stil der zeitgenössischen Bil-
derbogenkunst und nicht ohne kleine, mehr oder weniger versteckte Obszö-
nitäten – von einer Mondfahrt. – Ein Unikum im Feld der märchenhaft-fan-
tastischen Abenteuererzählung ist Bierbaums Zäpfel Kerns Abenteuer (1905),
eine Umdichtung von Collodis Pinocchio, in der die Kasperlefigur, wie es im »Pinocchio«
Vorwort heißt, in ›ausgesprochen deutsche‹ Verhältnisse hineinversetzt wird.
Das gelingt besonders dadurch, dass Bierbaum mehrere doppelte Böden in
seine launig-humoristische Kasperlegeschichte einzieht, die freilich in der
Regel wohl nur die erwachsenen Vor- oder Mitleser betreten werden: Da
sind einmal die Begegnungen des Kasperle mit der Fee, die Bierbaum zu einer
Liebesgeschichte ausbaut, wobei das Bild der Fee Frau Dschemma in merk-
würdigen Metamorphosen mit dem einer Schwester oder Mutter ver-
schwimmt. Und so ist es die »Mama«, zu der Zäpfel am Ende seiner Aben-
teuer glücklich heimkehrt. Zum andern ist der Text voller kleiner satirischer,
teils auch gewagter Anspielungen auf die kaiserzeitliche Gesellschaft, die – ein
besonderer Clou der ganzen Geschichte – auf eine völlig neu erfundene Szene
hinauslaufen, in der sich Zäpfel im »Spielimmerland« selbst als König in-
thronisiert und die Reichsinsignien anlegt. Die Krönungsfeierlichkeiten wer-
den gerahmt durch Fackelzug, Zapfenstreich, tausendstimmige Rufe, und als
Chorlied erklingt eine Parodie von Heil dir im Siegerkranz, also der soge-
nannten Kaiserhymne: »Heil, König Zäpfel, dir, / Spielimmerlandes Zier,
Heil, Zäpfel, dir! ...«. Dass Zäpfel ausgerechnet am Morgen nach der Krö-
nung mit Eselsohren aufwacht, gibt diesem, wiederum von Collodi über-
nommenen Moment eine neue Pointe.
In märchenhaft-fantastischen Geschichten wird das Prinzip der Anthropo-
morphisierung häufig so weit getrieben, dass dadurch die ›Dinge‹ ins Un-
heimliche verfremdet werden. Das ist auch bisweilen bei der ungemein er-
folgreichen Autorin Sophie Reinheimer der Fall, deren leichter, harmloser,
immer an Kinder gerichteter Plauder- und Erzählton leicht über diese Quali-
tät der Texte hinwegtäuschen kann. Aus des Tannenwald Kinderstube (1909),
ein Buch, das offenkundig durch Andersens schon erwähntes Märchen Der
Tannenbaum angeregt ist, und insbesondere ihr Bestseller Von Sonne, Regen,
Schnee und Wind und anderen guten Freunden (1907) zeigen diese Charak-
194 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
teristik. Einige der Geschichten oder Szenen des zweiten Buchs sind, bedingt
durch extreme Formen der Vermenschlichung und ungewöhnliche Zusam-
menstellungen des Figurenrepertoires, skurril, fast schon grotesk – ein Ein-
druck, der durch die Zeichnungen Adolf Ambergs noch einmal verstärkt
wird. Besonders merkwürdig sind die Geschichten vom Sonnenstrahl, der
Pate werden soll oder der sich eine Frau sucht, und insbesondere solche Sze-
nen, in denen weggeworfene Gegenstände gemeinsam in einem Kehrichtkas-
ten landen oder auch als Schwemmgut im »Wirtshaus zum Weidenbusch«
zusammentreffen: eine zerbrochene Kaffeekanne, Gemüseabfall, eine Blech-
büchse, ein Gurkentopf, ein Strohhut, ein Stiefel usw. Ähnlich skurrile Züge
hat auch die Rahmenerzählung zu Robert Grötzschs Nauckes Luftreise und
andere Wunderlichkeiten (1908). Hier treffen in einem Waldstück die Figuren
der im Folgenden erzählten Geschichten zusammen – ein Kater, ein Gaul, ein
Zwerg, ein Affe, ein Stöckchen, ein Finger, ein paar Kinder –, um einen
›Zweibeiner‹ zu finden, der ihre Geschichten aufschreibt. Singulär in ihrer
verfremdenden Wirkung bleiben aber die Zwei sonderbaren Geschichten
vom Sterben, die Robert Walser zu dem von R. Dehmel zusammengestellten
Bilderbuch Der Buntscheck beisteuert. Die eigenartige, grotesk-fantastische
Geschichte von dem Mann, der »statt eines Kopfes einen hohlen Kürbis auf
den Schultern« trägt, verdankt sich ebenso dem Prinzip der radikalen An-
thropomorphisierung. Sie bleibt aber, bis zu Kurz- und Kürzestgeschichten in
der Gegenwartsliteratur, etwa Peter Bichsels Kindergeschichten (1969) und
Franz Hohlers Der Granitblock im Kino (1981), ein ›Fremdkörper‹ in der
Kinder- und Jugendliteratur.
Den Schwerpunkt der Kinderliteratur dieser Epoche bildet jedoch nicht die
fantastische, sondern eine am Realismus orientierte Erzählprosa. Volkslitera-
rische und genuin kinderliterarische Traditionsstränge verbinden sich hier
und fließen mit jüngeren allgemeinliterarischen Strömungen zusammen, aus
denen sich die zeitgenössische Dorfgeschichte und der Heimatroman, die
Kindheitsprosa und der Gesellschaftsroman speisen. Zunehmend will diese
Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik 195
durch Exotik und Abenteuer, mit dem auch die realistische Kinderliteratur
den Wunsch nach Ausbruch aus der Alltagswelt aufnimmt, wird besonders
an Schumachers Romanen offenkundig, die ihre Romanhandlungen – trotz
der Orientierung an einem bürgerlichen Wertesystem – häufig auch in unbür-
gerliche, exotische Milieus versetzt hat und mit entsprechenden Titeln, wie
Reserl am Hofe (1898), Cirkuskinder (1907), Komteßchen und Zigeunerkind
(1914), um das Unterhaltung suchende Publikum wirbt. Die äußerste Konse-
quenz dieses Grundrezepts der Verknüpfung von Elementen der Alltagsge-
schichte und des Abenteuerromans ist eine Art literarisches ›Switching‹ zwi-
schen märchenhaft-fantastischer Tiergeschichte und ins Abenteuerliche ge-
steigerter Umweltgeschichte in ein und demselben Roman, wie wir es in
Josephine Siebes Joli (1913) finden, ein Roman, der unter dem Titel Bimbo
noch bis in die 1950er Jahre hinein verlegt wird. Erzählt wird, so ließe sich
sagen, die Geschichte von der Heimkehr des Affen Joli in eine Affenhorde
des Brasilianischen Urwalds, aus der er früher einmal herausgefangen wurde.
Erzählt wird aber auch die Geschichte zweier Kinder, die den misshandelten
und verletzten Affen auf einem kleinstädtischen Jahrmarkt in Deutschland
kaufen, in ihrer Familie gesund pflegen und bei der Umsiedlung der Familie
auf ihr Farmland im Brasilianischen Urwald mitnehmen, wo er seiner alten
Affenhorde wiederbegegnet. Der Leser nun muss von Kapitel zu Kapitel aus
dem Modus einer märchenhaft-fantastischen Affengeschichte in den einer
›realistischen‹ Umweltgeschichte ›hineinspringen‹ und umgekehrt. Wie Paral-
lelgesellschaften leben Menschen und Affen nebeneinander und beäugen sich
misstrauisch. Nur Joli kennt beide Sprachen und entscheidet sich am Ende
schweren Herzens, im Urwald zurückzubleiben, als seine Menschenfamilie
Brasilien wieder verlässt. Alle diese Romane, die natürlich auch vor dem
zeitgeschichtlichen Hintergrund des Kolonialismus interpretiert werden
müssen, leben also geradezu von den exotischen Figuren, die den bürger-
lichen Horizont durchkreuzen und als ›das Fremde‹ den familialen Raum
interessant machen.
Mit einer entsprechenden Tendenz zur Exotisierung der Familie lässt sich »Die Familie Pfäffling«
der große Erfolg von Agnes Sappers Roman Die Familie Pfäffling (1907),
nach Heidi der erfolgreichste Kinderroman dieser Epoche, allerdings nicht
erklären. Denn Sappers Roman ist vielmehr von Angst vor dem Einbruch des
Fremden in die Familie durchzogen. Er enthält, in dezidiert kulturkritischer
Absicht, einen Gegenentwurf zu der auf Unterhaltung eingestellten moder-
nen Gesellschaft, die ›das Fremde‹ integriert und auch trivialisiert hat. Das
entspricht auch der pietistischen Prägung des Stuttgarter Gundert-Verlags,
der den Roman herausgebracht hat. Die größten Markterfolge hatte der
Roman im Übrigen in der Weimarer Republik, der NS-Zeit und der Zeit
nach dem Zweiten Weltkrieg, bis Anfang der 1960er Jahre. Die neunköpfige
Musiklehrer-Familie Pfäffling, in der es sparsam, arbeitsam, fromm und sehr
geregelt zugeht, ist sich selbst genug. Die Geschwistergruppe ist eine kleine
Arbeits-, Spiel- und Gesprächsgemeinschaft. Das Glück der Kinder liegt
darin, sich um die Geschwister und die Eltern zu sorgen; das Glück der El-
tern liegt in der liebenden Sorge um die Kinder. Die Familie ist ein »kleiner
Staat«, wie der Onkel sagt, aus dem einmal »tüchtige Staatsbürger hervorge-
hen« werden. Es ist aber auch eine spätbiedermeierlich anmutende Welt, die
hier »der deutschen Familie« der Gegenwart, wie Sapper im Vorwort schreibt,
vorgeführt werden soll. Der Roman ist Erinnerungsprosa, bezogen auf Sap-
pers eigene Kindheit in einer kinderreichen Familie, gewidmet der eigenen
Mutter: »Du hast uns vor Augen geführt, welcher Segen die Menschen durchs
Leben begleitet, die im großen Geschwisterkreis und in einfachen Verhältnis-
198 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
sen aufgewachsen sind, unter dem Einfluß von Eltern, die mit Gottvertrauen
und fröhlichem Humor zu entbehren verstanden, was ihnen versagt war.«
Dass der Verlag und die Autorin das Buch weniger als Kinderbuch denn als
Familienbuch verstehen, sagen nicht nur die Vorwörter zu verschiedenen
Auflagen, auffällig ist auch, dass sich im Roman innenperspektivisches Er-
zählen vornehmlich im Blick auf den Vater und die Mutter, höchstens noch
auf das Problemkind Frieder entfaltet. Der rückwärtsgewandten Utopie
dieses Familienromans haftet aber auch etwas Bedrängendes an: Denn in
dieser Geschichte einer durch das Band der Liebe zusammengehaltenen Fa-
milie geht es unentwegt um Selbsterforschung des Gewissens, um Selbstbe-
zwingung, um die Ausforschung der Wünsche des Andern, um freiwillige
Entschuldigung auch der kleinsten Übertretung, um ständige Rücksicht-
nahme aufeinander. Wirklich bedrohlich ist aber die Situation für den kleinen
Frieder, der es nicht schafft, seine Musikleidenschaft zu bezwingen. Zweimal
droht ihm der Vater an, ein »fremdes Kind« zu werden, weil er sich nicht in
das gebotene Zeitmaß für sein Geigenspiel einfügen kann: »›So behalte du
deine Geige!‹ rief nun lebhaft der Vater, ›hier hast du auch den Bogen dazu,
du kannst spielen, so lange du magst. Aber unser Kind bist du erst wieder,
wenn du sie uns gibst‹, und indem er die Türe zum Vorplatz weit aufmachte,
rief er laut und drohend: ›Geh hinaus, du fremdes Kind!‹ Da verließ Frieder
das Zimmer.« Wie ein Bettelkind soll Frieder gehalten werden, draußen vor
der Tür, bis ihn »Liebe« und »das Gewissen« in die Familie zurücktreiben.
Und Frieders Widerstand wird gebrochen. Besonders an der Härte dieser
Szene zeigt sich, wie viel Gewaltsamkeit in Sappers Familienidylle lauert.
James Krüss, der Sappers erzählerisches Talent durchaus bewundert, hat
wohl recht, wenn er meint, dass das Buch nicht »ein Weg in die Welt, sondern
eine Flucht vor der Welt« ist, und wenn er hinzufügt: »Womit der Erfolg in
Deutschland erklärt wäre.«
Der ganz überwiegende Teil der im Buchformat erschienenen Kinderlitera-
tur dieser Epoche, zielt – trotz des tendenziellen Ausgreifens auf breitere Le-
Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik 199
serschichten – noch weitgehend auf ein bürgerliches Lesepublikum ab. Die Reformpädagogik und
Kindergeschichten dagegen, die im Umfeld der reformpädagogischen Bewe- Großstadtliteratur
gung ›vom Kinde aus‹, teils als kleinformatige Heftchen entstehen und die
am Ende der Epoche fest etabliert sind, wenden sich besonders an städtische
Unter- und Mittelschichtkinder; sind sie doch vor allem zum Gebrauch an
Volksschulen gedacht, die vorwiegend von Schülern dieser Schichten besucht
werden. Damit gehört diese Literatur auch in dasjenige Kooperationsfeld
von Schule und Familie, das von den Jugendschriftenausschüssen der Lehrer
aufgebaut wurde. Der Markterfolg einiger der in diesem Kontext entstande-
nen Schriften verdankt sich also mit Sicherheit nicht der Privatlektüre von
Kindern, sondern der Tatsache, dass die Texte jahrelang in Schulen eingeführt
waren. Im Falle der erfolgreichen Berni-Bücher Scharrelmanns im Übrigen
trifft dies – mit den zeitüblichen Veränderungen – bis zum Ende der national-
sozialistischen Ära und im Falle der ebenso erfolgreichen Klein-Heini-Bücher
(1912/15) von Richard Henning sogar bis in die 1960er Jahre hinein zu.
Solche Texte sollen, wie Scharrelmann schon 1903 in der Jugendschriften-
Warte schreibt, dem Gespräch zwischen Alt und Jung dienen und dabei »ein
Stück Welt vom Standpunkt des Kindes aus geben«. Vorausgesetzt wird eine
besondere Professionalität der Lehrer als Kenner der ›Kindesseele‹. Das Neue
an diesem Typ der Kindergeschichte ist, dass es hier, wie Fritz Gansberg in
seinen Streifzügen durch die Welt der Großstadtkinder (1905) schreibt, um
die Eroberung der »städtischen Kultur« durch »Stadtkinder« geht. Man
müsse heraus »aus dem Naturgeschichtlichen, Ländlichen und Dörflichen, in
dem wir jetzt noch bis über die Ohren stecken«. So sind die in diesem Umfeld
entstandenen Texte charakterisiert durch eine breitere Erfassung der räum-
lichen und sozialen Umwelt städtischer Kinder, was selbstverständlich auch
exotische Dimensionen der Stadterfahrung (Zoo, Märkte, Hafen usw.) ein-
schließt. Es geht aber nicht nur um Inhalte, sondern vielmehr noch um eine
neue Konzeptualisierung des Schreibens. Gleich, ob mehr erlebnisorientiert
oder eher sachlich erzählt wird, immer ist der Sprachgestus der Texte pro-
grammatisch durch das Prinzip der Beobachtung geprägt, ein Prinzip, das für
die reformpädagogische Didaktik und Methodik mit ihrer Fundierung in
einem entsprechenden Anschauungsunterricht ohnehin zentral ist. Hier lie-
gen auch die innovativen Potentiale der im Rahmen der reformpädagogischen
Bewegung entstandenen kinderliterarischen Texte. Allerdings bleiben gerade
die erfolgreichsten Schriftsteller, Scharrelmann und in seiner Nachfolge Hen-
nings, in ihren Geschichten über die kleinen Jungen Berni und Heini letztlich Fritz Gansberg: Streifzüge
in einer konventionellen, an den zeitgenössischen Erlebnisaufsatz erinnernden durch die Welt der
Großstadtkinder.
Schreibweise und gleichzeitig in einer idyllisierenden Perspektive auf die
Lebensbilder und
städtische Welt mit ihrem sozialen Beziehungsgefüge befangen. Das gilt ganz Gedankengänge für den
besonders für Scharrelmann, dessen Texten auch die erzählerische Dynamik Anschauungsunterricht in
abgeht, die bei Hennings zu finden ist. Mit Ilse Frapans Kurzprosa-Samm- Stadtschulen. 2. Aufl.
lung Hamburger Bilder für Hamburger Kinder (1899) liegt allerdings ein Leipzig 1907
Werk von außerordentlicher literarästhetischer Modernität vor. Auch dieses
Werk gehört, obwohl Frapan zur Zeit seiner Entstehung schon lange nicht
mehr Lehrerin, sondern freie Schriftstellerin war, in den engen Zusammen-
hang der reformpädagogischen Bewegung; es entstand auf Anregung des
Hamburger Jugendschriftenausschusses. Sie sollte »kleine Bilder aus dem
Hamburger Straßenleben« schreiben, heißt es 1899 in der Pädagogischen
Reform. Die meisten dieser Texte lassen sich als Moment- und als Situations-
aufnahmen bezeichnen, die durch ein (meist kindliches) Ich produziert wer-
den, das von Bild zu Bild oder von Szene zu Szene ein anderes ist. Die Formel
›da sah ich‹ (bisweilen auch: roch ich, hörte ich, fühlte ich) zieht sich gera-
200 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
Lebensgeschichten, Liebesromane –
vornehmlich für ›junge Mädchen‹
›Backfischliteratur‹ Eine der auffälligsten Erscheinungen im Bereich der Kinder- und Jugendlite-
ratur dieser Epoche ist die Etablierung, Ausdifferenzierung und extrem hohe
Marktbedeutung einer speziell an ›junge Mädchen‹ adressierten Literatur, für
die sich schon im 19. Jh. der Begriff der ›Backfischliteratur‹ einbürgert. Diese
Entwicklung schlägt sich in verschiedenen Buchgattungen quantitativ und
qualitativ nieder: im Zeitschriftensektor, im Feld der Jahrbücher, Antholo-
gien und Ratgeber; der eigentliche Bereich der Backfischliteratur ist aber die
romanhafte Erzählprosa. Hier kommt es zu einer auch zeitdiagnostisch be-
sonders interessanten Dynamik. Denn es bildet sich nun die Typik einer
mädchenliterarischen Entwicklungsgeschichte heraus, die sich als ›Pubertäts-
literatur‹ charakterisieren lässt, insofern die Erzählungen auf den häufig als
Krise erlebten Übergang aus der Mädchenkindheit ins Erwachsenenleben
konzentriert sind. Bestimmt ist diese Literatur anfänglich nur für Mädchen
aus gehobenen Schichten, für sogenannte ›höhere Töchter‹. Im Verlauf der
generellen Ausweitung des kindlichen und jugendlichen Lesepublikums wer-
den, wie bereits erläutert, aber auch breitere Schichten angesprochen. Die
Expansion der mädchenliterarischen Erzählprosa auf dem Markt ist signifi-
kant: Sie lässt sich nicht nur aus der Anzahl von etwa 200 Autorinnen able-
sen, die in diesem Zeitraum Romane und Erzählungen für junge Mädchen
schreiben. Sie ist auch aus den hohen Auflagenzahlen vieler Romane sowie
aus der Entwicklung von Verlagsprogrammen zu rekonstruieren, die mit Be-
ginn der 1870er Jahre Mädchenliteratur zunehmend in eigenen Sparten aus-
weisen. So sind es in den 1890er Jahren bereits ca. 30 Verlage, die Erzähl-
prosa für ›junge Mädchen‹ bzw. für die ›reifere weibliche Jugend‹ in einem
eigenen Programmteil anbieten.
Lebensgeschichten, Liebesromane – vornehmlich für ›junge Mädchen‹ 201
kundig geworden ist, dass sich hinter Goerths Invektiven gegen die weib-
lichen »Schmierer« von Mädchenliteratur auch eine antisemitische Attacke
gegen die Aktivistin der Frauenbewegung und Mädchenbuchschriftstellerin
Lina Morgenstern verbirgt, gibt es von literaturpädagogischer Seite kaum
eine Distanznahme. Überhaupt fällt die scharfe, auch mit Straffantasien auf-
geheizte Sprache dieser Debatten ins Auge, die sich gegen die Autorinnen
richtet. Geredet wird von ›an den Pranger stellen‹, ›peitschen‹, ›ausmerzen‹
und von der Backfischliteratur als »Spülwasser«. Überschaut man die Back-
fischliteratur dieser Epoche, sind die Vorwürfe auf den ersten Blick mehr als
erstaunlich. Denn Sexualität ist in diesen Büchern kein Thema. Vielmehr
halten die Mädchenbuchautorinnen an der Idealisierung des unwissenden,
sexuell unschuldigen Mädchens im Grunde durchgängig fest. Allenfalls las-
Clementine Helm, nach
sen sich in einigen Pensionsgeschichten kleine Anspielungen finden, wie in
einer zeitgenössischen
Bleistiftzeichnung Helms Lilli’s Jugend (1871), wo die erfahrene Pensionärin Sidonie ihre Straf-
versetzungen von einer Pension zur anderen damit erklärt, dass einmal »ein
bleichsüchtiger Unterlehrer meine Augen sehr blau« und ein anderes Mal sie
selbst »die Augen eines jungen Oberlehrers sehr blau« fand, oder in Helene
Fabers Pensionsbriefe eines enfant terrible (nach 1897), einem Roman, in
dem schon offenkundiger auf die sexuelle Neugier der Leserinnen spekuliert
wird. Wo aber Elsa Asenijeff in ihrer Skizzensammlung Unschuld (1901) –
einem Ausnahmetext im Spektrum der Mädchenliteratur – Sexualität thema-
tisiert, da dient dies der Anklage gegen die Doppelmoral der bürgerlichen
Gesellschaft. Ein hinreichender Grund zur Aufregung ist für die Kritiker
letztlich, dass die Texte das Interesse der Leserin überhaupt auf das Thema
Liebe und Heirat hin anspannen – was in der Tat der Fall ist – und der Lese-
rin damit einen unkontrollierten Fantasieraum eröffnen. Besonders interes-
sant ist auch, dass sich die Kritik an der Sinnlichkeit und Selbstbezüglichkeit
des Mädchenlesens und der Mädchenliteratur mit der Ablehnung all derjeni-
gen Genres und Schreibmodi verbindet, die den Traditionen eines sogenann-
ten ›weiblichen Schreibens‹ zugerechnet werden: Briefroman, Tagebuchro-
man oder Ich-Erzählung mit eingestreuter Lyrik, Briefen und Tagebuchaus-
zügen. Göhring, der für den Mädchenroman in polemischer Absicht den
Begriff ›hysterisch-empfindsamer Roman‹ geprägt hat, behauptet sogar, sol-
che Texte zeigten, dass die Frau geschlechtsbedingt nicht zum Romanschrei-
ben tauge. Sie sei eben für die Zeichnung »energischer Linien« nicht geschaf-
fen. Brief- und Tagebuchroman seien überhaupt zur »Bogenschinderei« wie
erfunden.
»Backfischchen’s Einer der Backfischromane, auf den sich die zeitgenössische Kritik schon
Leiden und Freuden« früh einschießt, zeigt eine solche Charakteristik. Es ist Clementine Helms
Backfischchen’s Leiden und Freuden, bereits 1863 erschienen, der erste Best-
seller und der erste Liebesroman in der Mädchenliteratur. Er erreicht 1897
die 50. und 1918 die 78. Auflage. Im Zentrum des Romans stehen zwei
Mädchen, die ein gemeinsames Erziehungsjahr bei ihrer Tante in Berlin ver-
leben: die 15-jährige Grete, ein Naturkind aus wohlhabender, intakter, kin-
derreicher Familie, von tadellosem Charakter, der nur noch der gesellschaft-
Strukturen und Funktionen der mädchenliterarischen Erzählprosa 205
liche Schliff fehlt, den der Aufenthalt bei der Tante verspricht, und auf der
anderen Seite die etwas ältere Eugenie, verwöhnt, eigensinnig, spitzzüngig,
intelligent, schön – eine »Amazone«, wie sie im Roman genannt wird. Ge-
sellschaftlichen Schliff bringt sie schon mit, problematisch sind allerdings
Hochmut und Spottsucht. Als das Jahr zu Ende ist, vergeht nicht viel Zeit,
bis beide glücklich in den Stand der Ehe eintreten. Die Figurenkonstellation,
die dieser Roman anbietet, ist auf den ersten Blick alles andere als innovativ.
Wir finden sie nicht nur in empfindsam-didaktischen Romanen, wir stoßen
sogar schon in der Mädchenerziehungsliteratur der Frühen Neuzeit, etwa in
der seinerzeit sehr populären, auch ins Deutsche übersetzten Schrift des Nie-
derländers Jacob Cats, Maedchenplicht ofte ampt der ionckvrouven (1618),
auf eine ähnliche Gegenüberstellung zweier Mädchen. Neu ist allerdings die
Perspektivierung der beiden Figuren, neu ist v. a. das milde Licht, mit dem die
Ich-Erzählerin die glänzende Eugenie beleuchtet. Hier werden nicht, entspre-
chend der literarischen Tradition, zwei Mädchen vorgestellt, von denen die
eine vorbildlich und die andere abschreckend sein soll. Beide – so unter-
schiedlich sie sind – repräsentieren vielmehr, auch wenn sie sich im Laufe des
Erziehungsjahres gegenseitig ein wenig ›abschleifen‹ müssen – gleichwertige
Mädchentypen. Besonders interessant ist, dass mit dieser Kontrastierung
auch zwei verschiedene Liebes- und Ehemodelle vorgestellt werden. Das eine
Modell entspricht dem traditionell patriarchalen, bürgerlichen Grundmuster,
das andere deutet auf eine Beziehung ›in Augenhöhe‹ hin. Denn Helm legt
die Liebesromanhandlungen im Roman so an, dass die unsichere Grete mit
Dr. Hausmann einen etwas älteren Mann heiratet, einen Geschäftsfreund des
Vaters, der weiß, was er will. Die selbstbewusste Eugenie dagegen heiratet
einen sehr schüchternen, unentschlossenen Mann, einen jungen Baron. Und
während die ›natürliche Grete‹ bis zum Heiratsantrag Hausmanns – unschul-
dig, wie sie ist – in ihrer melancholischen Stimmung nicht einmal den eigenen
Liebeskummer erkennt, nimmt Eugenie dem schüchternen Baron die Liebes-
werbung ab und erklärt ihm selbst ihre Liebe. Hier liegt vermutlich das im
Zeitrahmen besonders Skandalöse und für viele Leserinnen gleichzeitig At-
traktive dieses Mädchenromans, zumal die Erzählerin den Schritt Eugenies
ausdrücklich legitimiert: »Das Lebensglück zweier Menschen beruhte auf
einem einzigen Worte, und da er dieses Wort nicht auszusprechen wagte,
warum sollte sie es nicht thun, und dadurch die Pforten ihres Glückes öff-
nen.« Helm plädiert hier also – wenngleich nur in einem einzigen Punkt – für
eine Entpolarisierung der Geschlechtscharaktere von Mann und Frau. Be-
denkt man noch, dass die selbstbewusste Ich-Erzählerin des Romans das
einstige ›Naturkind‹ Grete ist, die ihren »lieben Freundinnen« die Geschichte
ihrer eigenen Jugend erzählt und die insbesondere diejenigen aus dem »Ge-
schlecht der Backfischchen« trösten und unterhalten möchte, denen es in ih-
rer »15jährigen Haut ebenso unbehaglich« ist wie der einstigen Grete, dann
beginnt das Bedeutungsgefüge des Textes noch weitergehend zu changieren.
Es finden sich viele weitere Einzelzüge des Romans, die zu dessen Polyvalenz
beitragen und die freilich penetrante Anstands- und Erziehungslehre durch-
brechen, die diesen Text von Anfang bis Ende durchzieht.
Was Backfischchen’s Leiden und Freuden von den ›moderneren‹ Mäd- Die ›Frauenfrage‹ in
chenromanen der Folgezeit unterscheidet, ist die Tatsache, dass hier die sozi- der Mädchenliteratur
ale und psychische Situation der höheren Bürgertochter auch nicht in Andeu-
tungen kenntlich gemacht wird. Dabei ist Helm mit ihr vertraut. Früh ver-
waist, wächst sie bei Verwandten in Berlin auf, hat vor Lehrerin zu werden,
ist als Erzieherin tätig. Mit 23 Jahren, also im Epochenrahmen noch relativ
früh, heiratet sie allerdings, und zwar einen jungen Gelehrten, der später als
206 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
Clementine Helm:
Backfischchen’s Leiden
und Freuden. Eine
Erzählung für junge
Mädchen. Frontispiz.
Leipzig 1863
grob vereinfacht gesagt – zwei literarische Typen herausgebildet: Der eine ist Zwei Typen des
dadurch charakterisiert, dass in ihm die Entwicklungsgeschichte der Heldin Mädchenromans
als psychisch schwierige Passage, als Entwicklungsdrama erzählt wird, in
dem die Ablösung von den Eltern, die Umwandlung des ›Geschlechtscharak-
ters‹ der Heldin und der Aufbau neuer Bindungen im Mittelpunkt stehen.
Solche Geschichten sind – wie Der Trotzkopf – in allen Aspekten Liebesge-
schichten oder auch »Herzensgeschichten«, wie die Autorinnen selbst sagen.
Die gesellschaftlichen Dimensionen des zeitgenössischen Töchterlebens wer-
den in ihnen weitgehend verdrängt. Folgt man dem typischen Handlungs-
schema und den expliziten Erziehungstendenzen solcher Texte, dann muss
man allerdings auch sagen, dass diese Geschichten in unzähligen Varianten
von den anziehenden Seiten einer patriarchal strukturierten Gesellschaft er-
zählen, und zwar sogar zunehmend. Daneben gibt es aber auch Lebens- und
Entwicklungsgeschichten, die – in größerer Nähe zum zeitgenössischen Ge-
sellschaftsroman – direkt um die Frauenfrage kreisen. Zwar haben auch sol-
che Geschichten in der Regel die für den Liebesroman übliche Schlussgebung;
Liebe und Ehe werden hier aber – anders als im ersten Typus – selbst zu
einem gesellschaftlichen Thema. Diese eher ›realistische‹ Variante des Mäd-
chenromans, die z. B. auch durch die beiden im 19. Jh. sehr erfolgreichen
Autorinnen Clara Cron und Clementine Helm repräsentiert wird, ist nun
offenbar bereits gegen Ende des Jahrhunderts relativ unattraktiv geworden.
Das Erscheinungsjahr 1885 von Der Trotzkopf lässt sich als Wendemarke
bezeichnen. Insgesamt verstärkt sich in der Mädchenliteratur seither die Ten-
denz zur Enthistorisierung des Geschehens, zur immer blasseren und kli-
scheehaften Zeichnung von Milieus und Figuren, bei gleichzeitiger Zuspit-
zung der Entwicklungsdramatik. Damit korrespondiert eine Tendenz zur
Erotisierung der Heldin als ›Kindfrau‹, die auch aus Bezeichnungen wie
›Trotzkopf‹, ›Tollkopf‹, ›Brausekopf‹, ›Wildfang‹, ›Wildling‹, ›Wildkatze‹,
›wilde Hummel‹, ›Hexe‹, ›Kobold‹ oder ›Irrwisch‹ und aus der Metaphorisie-
rung junger Mädchen als ›frische Blumen‹ ablesbar ist. Mit der Enthistorisie-
rung verstärkt sich gleichzeitig die Tendenz zur Exotisierung des sozialen
Milieus, das nun auch häufiger ein Adelsmilieu oder ein adelsnahes Milieu
ist. Manchmal wird die Heldin auch in eine fast exotische Ferne gerückt, wie
in Marie Beegs Otholie, das Polenmädchen (1896), ein Roman, der von
einem »wilden Mädchen« aus dem polnischen Adel erzählt, das »unter den
Händen eines allzu nachsichtigen Vaters wie ein wildes Unkräutlein empor-
wuchs«, bis es sich zur »lieblichen Jungfrau« wandelt.
Ein fast durchgängiges Strukturelement dieser Liebesromane ist die Ideali- Liebesromane
sierung von Liebe und Ehe im Sinne eines emotional hoch positiv besetzten
Vater-Tochter-Verhältnisses. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass
viele dieser Texte überhaupt durch den Vater-Tochter-Plot strukturiert wer-
den, dass auch in der Ablösungsgeschichte der Protagonistin der Vater das
emotionale Zentrum bildet. Es lässt in diesem Kontext sogar von einer ›Spra-
che der Liebe‹ sprechen, die sich in der Mädchenliteratur ausgeprägt hat.
»›O, Papa‹, heißt es in Trudchens Tagebuch (1889) von Stöckert, als der Va-
ter wieder heiraten will, ›Bin ich denn nicht dein alles? Habe ich nicht allei-
nige Rechte an deine Liebe!‹« Und weiter: »›O, Gott, nur keine Stiefmutter,
ich kann mich in Papas Liebe mit keiner zweiten Frau teilen.‹« »Ich mag
nicht teilen«, sagt auch die Heldin von Kochs Evchen der Eigensinn (1911)
in derselben Situation. Lilli, die Protagonistin in F. Schanz’ Feuerlilie (1901),
hat das Wort ›Vater‹ »vor jeden Satz gestellt«, »als könne sich ihr Mund gar
nicht genugtun in der Wiederholung des geliebten Klangs«. Und für die Frie-
del, die Heldin in Kochs Bestseller Papas Junge (1905), ist zunächst klar: Frida Schanz
212 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
»›Ich brauch keinen Mann. Ich bin Papas Junge, das weißt Du ja, und ich
bleib’s auch, immer und ewig.‹« Überhaupt ist Koch besonders versiert im
Umgang mit dem Trotzkopf-Modell und allen möglichen backfischbuchty-
pischen Motiven und Situationen, die sie teils auch erfrischend ins Komische
wendet. In ihren Romanen wird aber nicht nur die Sentimentalisierung der
Vater-Tochter-Liebe weiter getrieben als in allen Romanen zuvor; hier wird
auch besonders deutlich, wie wichtig für die Väter die Jungenhaftigkeit ihrer
Töchter sein kann, wie sehr sie es oft sind, die die Ablösung der Töchter er-
schweren. In Papas Junge hilft nicht der übliche Weg der Tochter in die
Fremde, um das enge Verhältnis aufzulösen. Erst eine lebensgefährliche Situ-
ation, ein drohender Absturz in den Bergen, lässt Friedel in die Arme eines
anderen Mannes übergleiten. Am Ende steht Friedels Vater »vor Erstaunen
einen Augenblick der Atem still und der Mund offen«, als er erfährt, dass
Papas Junge sich mit Herrn von Rödern verlobt hat. In Kochs Evchen der
Eigensinn ist die Loslösung vom Vater noch schwerer, weil der Vater wieder
geheiratet hat und Eva aus Eifersucht schwer krank wird. Es gibt aber auch
Strukturen und Funktionen der mädchenliterarischen Erzählprosa 213
einige wenige Texte, die sichtbar machen, wie sehr die unauflösbar schei-
nende, jede andere Beziehung ausschließende Vater-Tochter-Bindung auf ei-
nen krank machenden Gesellschaftszustand verweist. Solche Texte gehören Anfänge einer
in die Nähe einer modernen Adoleszenzprosa, wie sie sich im allgemeinlitera- Adoleszenzprosa
rischen Feld etwa mit Lou Andreas-Salomés Novellen Im Zwischenland
(1902) oder ihrem Roman Ruth (1895) zeitgleich herausbildet. Sie lassen
sich aber auch vor dem Hintergrund solcher ›Novellen‹ einer weiblichen Ju-
gend lesen, wie sie im Rahmen der zeitgenössischen Theorie und Praxis der
frühen Psychoanalyse gedichtet wurden, nämlich der ›Krankengeschichten‹
junger Mädchen, die Sigmund Freud und Josef Breuer unter dem Titel Stu-
dien über Hysterie im Jahre 1895 herausbringen.
Mädchenliterarische Novellen können sogar Gegenlesarten anbieten. Das
gilt für einige der Texte von F. Schanz, einer der erfolgreichsten Kinder- und
Mädchenbuchautorinnen des frühen 20. Jh.s. Ihr Roman Feuerlilie, aber
auch einige Texte ihrer Novellensammlungen Mit sechzehn Jahren (1891),
Junges Blut (1894), Maiwuchs (1899) und Morgenrot (1902) thematisieren
die krank machende Vater-Tochter-Liebe. Ein spezifisch autobiographischer
Hintergrund – eine unbefriedigte Vatersehnsucht, von der sie in ihrer Auto-
biographie Fridel (1920) erzählt – mag zur Schärfung dieser Perspektive
beigetragen haben. In ihrer Novelle Erste Liebe (1894) erzählt sie von dem
Trotzkopf Ada, einem »langgeschossenen, zum Erbarmen hageren und ecki-
gen Backfisch«, dem die unbändige Liebe zu ihrem Vater selbst eine Qual ist.
Kein Pensionsaufenthalt hilft mehr, um aus dem wilden Mädchen eine Braut
zu machen, denn nun wird sie krank, in blinder, schwärmerischer Liebe zu
einem Literaturlehrer, der ihre Zuneigung nur als Belästigung empfindet. Al-
lerdings gibt es auch hier letztlich wieder den für die Mädchenliteratur ty-
pischen Ausgang. In Gustas Kur wird die übliche Schlussgebung erstmals
aufgebrochen. Die Novelle erzählt, wie Gusta, die mit ihrem ›weichherzigen‹
Vater zusammenlebt, nach einem Gliederrheumatismus bis zur Unbeweglich-
keit krank wird, was zur Folge hat, dass Vater und Tochter noch enger als
schon zuvor zusammengeschweißt sind. Erst eine radikale ›Trennungskur‹,
als ›letzter Versuch‹ vom Arzt verordnet, bringt Hilfe, und zwar nicht, wie
üblich, durch einen Mann, sondern durch ihre Kurbegleiterin, ein junges
Mädchen, das sich – gleichsam als Therapeutin – intensiv auf die Geschichte
Gustas einlässt. Wenngleich die Tendenz der Autorin zu Sentiment und teils
ausschweifendem Erzählen dem Stoff dieser Novelle viel an literarischer Po-
tenz nimmt: Schanz erzählt mit Gustas Kur eine Pubertätsgeschichte, die den
üblichen Zirkel durchbricht und zudem erkennen lässt, dass in jeder Ge-
schichte einer nicht auflösbaren Vater-Tochter-Liebe auch die Geschichte der
fehlenden Mutter miterzählt wird. Ein Blickwechsel auf die Mutter-Tochter-
Beziehung lässt sich auch in einigen anderen kürzeren Prosatexten finden,
die von Liebe erzählen. Helene Böhlaus ›türkische Novelette‹ Ferdös entwirft
in einer Momentaufnahme das Bild einer vertrauten und verlässlichen Bezie-
hung zwischen Mutter und Tochter: Der Text, der in Bertha von Suttners
Anthologie Frühlingszeit (1896) veröffentlicht wurde, erzählt von einem
Moment des Wartens der jungen Ferdös, in dem Kindheitserinnerungen und
erotische Wünsche zusammenfließen. Denn die Mutter ist unterwegs zu
einem jungen Mann, mit dem Ferdös bis zu ihrer Verschleierung vor einigen
Jahren gespielt, den sie nie wieder gesehen hat – bis vor einigen Tagen, wo sie
sich zufällig wiederbegegnet sind und erkannt haben. Seitdem hat sie »ange-
fangen sich zu verzehren, wie die Flamme das Licht«. Und die Mutter holt
nun Antwort für die Tochter. Wieder anders, vielfältig und literarisch innova- Helene Böhlau
tiv perspektiviert Elsa Asenijeff das Thema Liebe in Unschuld. Ein modernes (al Raschid Bey)
214 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
Mädchenbuch (1901), das sie denjenigen Mädchen widmet, denen »die Frage
an das Schicksal sich einkrallt«. Unbeantwortete Fragen werden aufgewor-
fen, und bisweilen wird in einem einzigen, schrecklichen Moment Wirklich-
keit entschleiert: »Warum sagt man uns nichts vom Leben«, fragt Helene, die
völlig unaufgeklärt an der Geburt des unehelichen Kindes einer Nachbarin
und an deren elenden Tod teilnimmt. In anderen ›Geschichten‹ entdecken
Mädchen plötzlich, was sie immer schon als Kinder dumpf geahnt haben,
nämlich eheliches Unglück und doppelte Moral. In Ehe sieht Maria im
Wohnzimmerspiegel, wie der Vater mit dem Stubenmädchen schäkert. Und
sie fühlt »Mamas gefolterten Blick« auf sich gerichtet: »Hat meine Tochter
gesehen?« Da blickt »sie in schamhaftem Mitleid auf die Tischdecke«. Aseni-
jeffs Buch ist randständig in der Mädchenliteratur und im Grunde eine Pro-
vokation. Auf dem Mädchenbuchmarkt kann es nicht Fuß fassen.
Lebensgeschichten Neben der großen Masse an Liebesgeschichten und den wenigen Texten,
die bereits Züge einer modernen Adoleszenzprosa zeigen, gibt es ein breiteres
Spektrum solcher Lebensgeschichten, in denen extensiv und intensiv von
dem Versuch junger Mädchen erzählt wird, ins Berufsleben einzutreten. Das
ganze Feld der damaligen Frauenberufe für höhere Töchter rückt hier ins
Zentrum: der Beruf der Lehrerin (auch der Musik- und Zeichenlehrerin), der
Erzieherin, der Gesellschafterin, des Kindermädchens, der Diakonisse oder
Nonne, aber auch der Künstlerin (Schriftstellerin, Musikerin, Malerin); sogar
um neuere Frauenberufe kann es gehen. So erzählt Morgenstern in Die Plau-
derstunden (1874) bereits die Geschichte einer jungen Fotografin. In Clé-
ments Die Heimchen (1906) geht es um die Berufsausbildung zur Fotografin
im berühmten Lettestift in Berlin. In Verwaist (1880) von F. Brunold, einem
der wenigen männlichen Autoren im Feld der Mädchenliteratur, erlernt die
Protagonistin sogar mit Erfolg das Bankwesen und in Mädchenfreundschaft
(1882) die Schriftsetzerei. Die Heldin in Augustis Unter Palmen (1893) ist
sogar Missionarin. Kurz vor der Jahrhundertwende schließlich erscheinen
mit Vor Tagesanbruch (1896) von S. Stein und Fräulein Doktor (1897) von
Marie Mancke bereits die ersten Studentinnen- bzw. Ärztinnenromane, die
nun – anders als Spyri in ihrem Roman Sina (1884) und selbst noch Ury in
Studierte Mädel (1906) – Studium und Beruf als Ärztin nicht nur positiv
sehen, sondern ihre Heldinnen auch berufstätig werden lassen. In Regina
Himmelschütz (1913) von Helene Raff geht es um eine Bauerntochter. Und
im weitesten Sinne gehört auch Adelheid Popps autobiographische Lebens-
geschichte einer Arbeiterin (1909) in diesen Kontext. In ihr wird erzählt, wie
sich Popp, später eine führende Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Ös-
terreichs, aus ihrem Elend als Proletariermädchen herausringt. Dieser Text,
der zunächst anonym, mit einem Vorwort von August Bebel versehen heraus-
kommt, ist zwar keine Mädchenliteratur, – eine solche Literatur kann es im
Rahmen der sozialdemokratischen Literaturpolitik jener Zeit gar nicht ge-
Helene Raff
ben –, aber doch für Frauen, und damit auch für junge Arbeiterinnen, als
Lektüre gedacht. Die große Anzahl und das breit ausdifferenzierte Spektrum
von Lebensgeschichten, in denen es um Berufsfindung und überhaupt um
eine offenere Zukunftsorientierung geht, verweisen darauf, dass ein großer
Teil der Autorinnen sich hinter – freilich unterschiedliche – Positionen der
Frauenbewegung gestellt hat. Tatsächlich haben einige der Schriftstellerinnen
auch aktiv in der Frauenbewegung mitgearbeitet, wie beispielsweise Marie
Calm, Hedwig Dransfeld, Emma Laddey, Lina Morgenstern, Adelheid Popp
und Helene Raff. Calm ist sogar Mitbegründerin des Vereins deutscher Leh-
rerinnen und gehört zu dessen radikaldemokratischem Flügel. Dransfeld
wiederum, die längere Zeit Lehrerin bei den Ursulinen gewesen war, wird
Strukturen und Funktionen der mädchenliterarischen Erzählprosa 215
Anfänge einer reich an eindrücklichen Einzelszenen. Als ganze Texte sind sie wenig über-
emanzipatorischen zeugend oder gar innovativ. Unter den Romanen ist immerhin Steins Studen-
Mädchenliteratur tinnenroman Vor Tagesanbruch hervorzuheben, der den mädchenbuchty-
pischen Plot aufbricht: Die Protagonistin Elisabeth kehrt, nach einer harten
Zeit der Vorbereitung auf das Studium und nach Jahren des Studiums in
Zürich, promoviert nach Deutschland zurück, um in der Landarztpraxis des
Vaters mitzuarbeiten. Nach dessen Tod muss sie Deutschland erneut in Rich-
tung Schweiz verlassen, weil es in Deutschland für sie als Frau keine Appro-
bation gibt. Der Roman endet mit einer bewegenden Bahnhofsszene, in
der die Heimatlosigkeit der akademisch gebildeten Frau im Deutschland je-
ner Zeit – ganz ähnlich wie in Frapans Wir Frauen haben kein Vaterland
(1899) – sichtbar gemacht wird. Der Roman hat seinerzeit eine vernichtende,
in der Jugendschriften-Warte veröffentlichte Kritik provoziert, und zwar von
Goerth, dem aggressivsten Gegner von Backfischromanen, den nun aber
nicht etwa eine ›sinnliche Tendenz‹ des Romans ärgert, sondern dass Elisa-
beth einem von ihr »hochgeachtete[n] wackere[n] junge[n] Arzt«, der sich
»um ihre Hand bewirbt«, das Ja-Wort verweigert, weil sie sich nur mit einem
»Regina Mann verheiraten will, wenn sie ihn liebt. Auch in Raffs Regina Himmel-
Himmelschütz« schütz, einem Roman, der die Frauenfrage, gemessen an der übrigen Mäd-
chenliteratur, in äußerster Verfremdung aufnimmt, ist die Heimatlosigkeit
der Frau ein zentrales Thema. Die Handlung ist zurückverlegt in die Zeit des
Norddeutschen Bundes und des deutsch-französischen Kriegs. Zudem ist
Regina keine Bürger-, sondern eine Bauerntochter. Nicht nur im Sujet, auch
in der Erzählweise steht das Buch in der Tradition von Dorfgeschichte und
Heimatroman. Alles in allem scheint es also auf den ersten Blick keine Be-
rührungspunkte mit dem typischen Mädchenroman zu geben. Es wird eine
Geschichte erzählt, die sich geradezu wie ein Gegentext zum Backfischroman
liest. Denn auch Regina ist eine Art Trotzkopf, »eine, die ihren Kopf für sich
hat«. Aber sie wird nicht verwöhnt von ihrem Vater, sondern misshandelt
und missachtet, weil ein schwaches Mädchen auf einem Bauernhof nicht ge-
braucht werden kann. Schon als sie geboren wird, tobt und wettert der Vater,
»was er mit dem letscheten Fratz anfangen sollte? Er wollte nur Buben ha-
ben; ein Mädel, schalt er, sei soviel wie nichts. Darum ging er ins Wirtshaus
und trank sich einen Rausch vor lauter Verdruß. Erst der demütige Hinweis
der Bäuerin, daß mit dem Töchterl späterhin eine Dienstdirn erspart sei, be-
sänftigte ihn etwas.« Und so geht es in dieser Geschichte des Erwachsenwer-
dens für Regina um die Überwindung des Schuldgefühls, ›nur eine Tochter‹,
›nur ein Mädchen‹ zu sein. Die Erzählung verfolgt Reginas Weg über lange
Jahre der ›Wanderschaft‹, als Dienstmagd, als Haustochter und als ungeliebte
Schwiegertochter, bis endlich die Auflösung des Knotens gelingt und Liebe
über Hass siegt. In der Jugendschriften-Warte wird der Roman mit Recht als
Ausnahmetext im Feld der Mädchenromane gelobt. Dennoch bleibt er auf
dem Markt relativ erfolglos. Böhlaus literarisch herausragende Rathsmädel-
geschichten (1888) schließlich, auch ein Text, der den Mädchen von Vertre-
tern der Jugendschriftenbewegung zur Lektüre empfohlen wird, sind zwar
ausgesprochen erfolgreich, haben aber zu keiner Zeit eine spezifisch mäd-
chen- oder jugendliterarische Adressierung. In den launig-witzigen Ge-
schichten, die von dem wilden Geschwisterpaar Röse und Marie erzählen,
die im Weimar der Goethezeit aufwachsen, will die Autorin auch der eigenen
Zeit, der gegenwärtigen Jugend einen Spiegel vorhalten. »Wie bedrückt und
unfrei«, so die Erzählerin, ist die »Jugend in unseren Tagen«: »O du arme
heutige Jugend! Ahntest Du, welchen Reichthum ›Jugend‹ im Anfang unseres
Jahrhunderts umschloß, welchen Ueberschwall von Leben! Du könntest
Nur marginal: Lebensgeschichten mit männlichen Protagonisten 217
Dich bitter beklagen, gekränkt und betrogen würdest Du Dir erscheinen, von
Anfang an gealtert [...].« Mit dieser Erzählintention fügen sich die Rathmä-
delgeschichten wohl kaum in den zeitgenössischen mädchenliterarischen
Markt ein.
auf weibliche Passivität und männliche Aktivität und die Kontrastierung von
Liebe und Abenteuer abheben. Und noch in Ernst Blochs Prinzip Hoffnung
(1959) verweist das »urtümliche Schiffsbild«, das »den Willen zur Ausreise,
den Traum von fahrender Rache und exotischem Sieg« bezeichne, auf
einen juvenilen, männlichen Tagtraum. Auch Blochs Winnetou-Leser ist ein
»Knabe«. Der Abenteuerroman bietet dem erwachsenen wie dem jugend-
lichen Leser (oder auch der Leserin) im Idealfall einen in exotischer Ferne
liegenden Fantasieraum, der ihn vom Gewöhnlichen weg ins Außergewöhn-
liche hineinzieht und ihn – möglicherweise – im Nachvollzug lebensgefähr-
licher Situationen und in der Identifikation mit dem abenteuernden Helden
den Traum vom Ich träumen lässt. Damit wäre diese Literatur, ganz unab-
hängig von der Adressierung an Jugendliche, eine Pubertäts- oder auch eine
Initiationsliteratur. Reflektiert man die spezifische Lektüresituation des ju-
gendlichen Lesers dieser Epoche, dann wird man allerdings davon ausgehen,
dass die Romane nicht einfach mit der von Göhring u. a. unterstellten puber-
tären, männlichen Aktionslust korrespondieren, sondern auch Fluchtfanta-
sien von Lesern und Autoren aufnehmen, die traumatischen Erfahrungen der
Enge und der autoritären Zurichtung von Jungen in Familie und Schule ent-
springen.
Aus der Masse der Autoren von Abenteuerliteratur können nur einige
wenige herausgehoben werden: Wörishöffer als Autorin von Reise- und See-
abenteuerromanen, Pajeken und May als Autoren von Reise-, Indianer- und
Wildwestromanen und Falkenhorst als Vertreter des Reise- und Kolonialro-
mans. Wegen des ungeheuren Markterfolgs wird auch auf Peter Moors Fahrt
nach Südwest (1906) von Gustav Frenssen eingegangen.
Die Romane S. Wörishöffers, – der Vorname wurde von ihrem Hauptver- Reise-Abenteuer-
lag Velhagen & Klasing nicht öffentlich bekannt gegeben –, sind Auftragsar- romane
beiten, die einem genauen Konzept des Verlags entsprechen, der sich einer-
seits an die beginnende Konjunktur von Abenteuererzählungen in Kolporta-
geverlagen anhängen, andererseits aber mit einem Programm aufwendig
aufgemachter und Solidität ausstrahlender, dickleibiger, gut illustrierter
Werke ein bildungsorientiertes Lesepublikum ansprechen will. Die elf Ro-
mane Wörishöffers, die der Verlag zwischen 1877 und 1891 herausbringt,
kosten immerhin jeweils neun Mark – ein außergewöhnlich hoher Preis – und
haben zwischen 460 bis 680 Seiten. »Geschichtlich-patriotisch« und »geo-
graphisch-naturwissenschaftlich«, »unanstößig« und »pädagogisch korrekt«
sollen die Romane für die »reifere Knabenwelt« nach dem Willen des Verlags
sein. Da Wörishöffer bis dahin unerfahren in diesem literarischen Feld ist,
soll sie vom Verlag als eine Art Grundausstattung Brehms Tierleben, Annie
Brasseys Berichte über ihre Weltumseglung sowie Reinhold von Werners Das
Buch von der deutschen Flotte (2. Aufl., 1874) erhalten haben. Für jedes
Romanprojekt liefert ihr der Verlag zudem eine Kiste systematisch zusam-
mengestellter Literatur. Ihre erste Auftragsarbeit ist die Neufassung des von
Max Bischoff geschriebenen und 1873 veröffentlichten Romans Robert des
Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegs-
flotte, der kein Lesepublikum gefunden hatte. Gegen 100 Mark waren Bi-
schoff vom Verlag alle Rechte an dem Titel abgekauft worden. Aus der bei
Bischoff nur 207 Seiten umfassenden »Robinsonade« – so der Verlag – wer-
den nun 680 Seiten. Wolgast hat durchaus recht, wenn er die schier endlose,
zusammenhanglose Verkettung von Schifffahrts-, Walfang- und Schiffbruchs-
episoden, Insel- und sonstigen Landaufenthalten sowie die vielen unwahr-
scheinlichen Wiederbegegnungen aller Art in diesem 1877 erschienenen
Roman kritisiert. Erstaunlich ist auch, wie wenig der Text dem Anspruch des
222 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
aber alle seine Selbstinszenierungen als fantastische Projektionen entlarvt. In Karl May
heftigen, im Jahr 1899 von der Frankfurter Zeitung angestoßenen öffent-
lichen Debatten wird ihm ein »Kultus der Unwahrheit« zum Vorwurf ge-
macht. – Noch ein anderer wichtiger Gegensatz zwischen May und Pajeken
fällt ins Auge: Pajeken versteht sich ausdrücklich als Erzieher der Jugend, wie
seine Bob-Trilogie (1890–94) und Bill der Eisenkopf (1899) zeigen, die sich
auf die Entwicklung eines Jungen zum ›Jüngling‹ und Mann konzentrieren
und durchzogen sind von der Vater-Sohn-Thematik. Die Anziehungskraft,
die Mays Texte auf junge Leser ausüben, gründet sich dagegen gerade nicht
auf solche Intentionen. Zwar hat auch May eine Reihe von Erzählungen und
Romanen speziell für Jungen geschrieben, die in Der gute Kamerad und spä-
ter in der Kamerad-Bibliothek veröffentlicht werden, darunter so populäre
Werke wie Die Sklavenkarawane (1893), Der Schatz im Silbersee (1894),
Das Vermächtnis des Inka (1895) und Der Oelprinz (1897). Die Texte zeigen
durchaus auch Züge einer pädagogischen Überformung der spannenden
Handlung, etwa durch die Einführung jugendlicher Protagonisten und die
Intention, Bildungswissen zu vermitteln. Sie dokumentieren, dass May hier
»gelegentlich ein Didaktiker von Rang war« (Schmiedt). Mays frühe, in Der
gute Kamerad erschienene Erzählung Der Sohn des Bärenjägers (1887) ent-
hält sogar eine Zuspitzung auf die Vater-Sohn-Thematik. Zudem taucht in
ihr erstmals Winnetou – eine Figur, die May schon sehr früh in seine Erzäh-
lungen einführt – in derjenigen Gestalt auf, wie sie May später in der Winne-
tou-Trilogie bzw. tetralogie (1893 ff.) ausgearbeitet hat, nämlich als ›roter
Edelmensch‹, als Repräsentant humaner und christlicher Werte. Dass gerade
die Winnetou-Trilogie (1893), also keine spezifische Jugendliteratur, schließ-
lich zu dem Abenteuerroman der Jugend avancierte, dass May heute über-
haupt als der bedeutendste deutschsprachige Autor von Abenteuerliteratur
gilt, verdankt sich aber einer anderen literarischen Charakteristik. Unabhän-
gig von seinen heute weitgehend anerkannten Qualitäten als Erzähler ist es
wohl eher die Tatsache, dass May besonders in Winnetou I, dem ›Schlüssel-
werk‹ Mays und seinem erfolgreichsten Text überhaupt, die der Idee des
Abenteuers inhärente Initiationsdramatik voll ausschöpft und dabei auch
Tiefenschichten des (jugendlichen) Lesers intensiv anspricht. Der Text ist
nicht nur handlungsreich und voller Spannung, er modelliert die Initiation
seines Helden Old Shatterhand gleichzeitig in idealtypischer Weise und in
symbolisch verdichteter Form. Dabei gerät die Verherrlichung des Freundes
Winnetou durch den Ich-Erzähler Old Shatterhand am Ende zur narziss-
tischen Selbstglorifizierung. Old Shatterhand, der sich aus der Heimat
Deutschland nach Amerika aufgemacht hat, um dort sein Glück zu suchen,
muss im ›Wilden Westen‹ gefährliche Proben durchlaufen. Er wird begleitet
von Helfern, von dem Freund Winnetou und dem gemeinsamen ›Lehrer‹
Klekih-petra, der ihn sterbend auf sein »Testament« der Rettung der Mensch-
heit verpflichtet. Und als Winnetou, in der Todesstunde bekehrt zum Chris- Karl May posiert im
tentum, stirbt, macht sich der Ich-Erzähler letztlich selbst zum Retter der Kostüm Old Shatterhands
›roten Rasse‹, indem er verspricht, erzählend das Gedächtnis der Apatschen
und v.a. Winnetous, des »edelste[n] der Indianer« zu wahren. Überhaupt ge-
hört die Darstellung der unbedingten, vom Ich-Erzähler immer wieder auch
als »Liebe« bezeichneten innigen Freundschaft zwischen den ›Blutsbrüdern‹
Winnetou und Old Shatterhand, an die auch die Liebe der Winnetou-Schwes-
ter Nscho-tschi zu Old Shatterhand nicht heranreichen kann, zum Faszinie-
renden der Winnetou-Trilogie. In der May-Forschung wurde oft darauf auf-
merksam gemacht, welch wichtige Rolle homoerotisch aufgeladene Männer-
freundschaften in Mays Werk spielen. Arno Schmidt hat in diesem Sinne
224 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
setzung. Bei Weise kommt Vom Kap nach Deutsch-Afrika (1888) von Egin-
hard Barfus heraus, einem Autor, der sich im Übrigen mit seinen Abenteuer-
romanen durch ein breites Spektrum bürgerlicher Verlage und der Verlage
des ›neuen Markts‹ der Heftchen-Literatur und Billigbücher hindurch-
schreibt. Auch O. Höcker veröffentlicht bei Hirt & Sohn mit Der Schiffsjunge
des großen Kurfürsten (1890) eine ausgesprochen propagandistische, histo-
rische Kolonialerzählung über die westafrikanischen Schutzgebiete des
Großen Kurfürsten um Fort Groß-Friedrichsburg im heutigen Ghana. Der Afrika-Romane
interessanteste, allerdings gänzlich unbekannt gebliebene Titel in diesem
Umfeld ist wohl Emil Steurichs Johann Kuny, der erste brandenburgisch-
preußische Negerfürst (1900), ein flüssig erzählter Roman, der dieselbe his-
torische Situation wie Höcker aufnimmt, der aber die historische Figur des
Aschanti-Häuptlings Jan Cunny in den Mittelpunkt stellt, den er als einen
dem Hause Brandenburg in unbedingter Treue zugetanen, immer jung blei-
benden edlen Wilden, eine Art ›schwarzer Winnetou‹ stilisiert. Vor dem Hin-
tergrund dieser Figur, die der Idealisierung des brandenburgischen Kolonisie-
rungsunternehmens gilt, das niemals dem Sklavenhandel gedient habe, erfolgt
die Mahnung an die Leser, »in der Fürsorge für unsere heutigen Kolonien
nicht nachzulassen«. Am bekanntesten ist Falkenhorsts zehnbändige Reihe
Kolonialerzählungen für jung und alt, Jung-Deutschland in Afrika, die von
1894–1900 bei Köhler herauskommt. Falkenhorst, unter dem Eigennamen
Stanislaus von Jezewski Autor und Redakteur von Die Gartenlaube, kann
für diese Unternehmung auf eigene Vorarbeiten zur Kolonialgeschichte Afri-
kas zurückgreifen, die er zuvor in der Bibliothek denkwürdiger Forschungs-
reisen (1890) und in der Reihe Schwarze Fürsten (1891/92) herausgebracht
hat. Die Erzählungen, die besonders der »Verbreitung naturwissenschaft-
licher Kenntnisse« sowie der »Förderung der deutschen Kolonialbewegung
dienen« wollen, wie es in der Verlagswerbung und im Vorwort zur Gesamt-
reihe heißt, sind – und das ist das eigentlich Interessante an dieser Reihe –
keine Abenteuerromane im typischen Sinn. Sie sind vielmehr besonders akti-
onsarm, dafür angereichert mit geographischen, biologischen und kultur-
kundlichen Belehrungen, pathetischen Naturschilderungen, Gesprächen usw.
Die Bekundung Falkenhorsts, die »leicht empfängliche Phantasie« des Lesers
nicht durch die Erzählung »märchenhafter Abenteuer« erhitzen zu wollen,
ist mehr als eine rhetorische Formel; sie ist Programm. Der Baumtöter, Band
1 der Reihe, lässt sich geradezu als Anti-Abenteuererzählung lesen. Denn der
Held, der junge Kunstgärtner Hans Ruhl, der im Jahr 1880 – nach einem
kurzen Zwischenstopp in der Republik Liberia – auf eine Kakaopflanzung
ins Hochgebirge Kameruns geht, muss am Ende – nun überhaupt zum ersten
Mal in ein ›echtes Abenteuer‹ verwickelt – erfahren, dass sein eigener Unter-
nehmergeist und seine Aktionslust, seine Unzufriedenheit mit dem langwei-
ligen Leben auf der Kakaoplantage in die nicht zivilisierbaren Bergstämme
Aufruhr und Blutvergießen gebracht haben. Und so kehrt er reumütig, als
der ›verlorene Sohn‹, zu seinem sympathischen Mentor Baumtöter auf dessen
wohlgeordnete, Sicherheit bietende Plantage, die »Waldburg«, zurück und
beginnt mit ihm zusammen eine neue Rodung und Pflanzung. Er hat erkannt,
dass er von seinem Weg »abgewichen war, daß er sich auf Abenteuer begeben
hatte«, und akzeptiert nun Baumtöters Weg, ohne Missionsinteresse und
Ausbeutung der Natur in der Region der Bergstämme, in der Alltagswelt ei-
ner Kakaoplantage zu leben. Ein harmloser Text, sogar mit zivilisationskri-
tischen Untertönen und anderen Ambivalenzen, wäre nicht das Ende, nämlich
ein Nachtrag des Erzählers, der den Leser in die aktuelle Gegenwart der Ko-
lonie Kamerun zurückholt, wo das Land nun »blüht und wächst«, wo Händ-
226 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
ler und Pflanzer die Unterstützung der deutschen Heimat gefunden haben,
wo endlich die deutschen Schutztruppen eingezogen sind, um den »übermü-
tigen Dorfkönige[n]« Einhalt zu gebieten und dermaleinst auch die »wilden
Herren der Berge« zu zivilisieren. Der Abenteurer als Einzelkämpfer in der
Wildnis hat ausgedient, will der Text sagen. Damit schließt sich auch ein
Kreis zum Anfang der Erzählung, wo genau dieses Thema diskutiert wird.
Gustav Frenssen Auf Anhieb ein großer Erfolg wird Gustav Frenssens Peter Moors Fahrt
nach Südwest (1906), die fiktiv autobiographische Erzählung über einen
jungen Handwerkersohn, der als Freiwilliger an dem Feldzug gegen die auf-
ständischen Hereros in den Jahren 1904/1905 teilnimmt, bis er nach mehre-
ren Gefechten, in denen er auch verwundet wird, am Ende herzkrank in die
Heimat zurückkehrt. Diese Erzählung, die Frenssen, später überzeugter An-
hänger der Nationalsozialisten und Hitler-Verehrer, zu einem der populärsten
Vertreter der Kolonialliteratur macht, wird bis zum Ersten Weltkrieg in etwa
200 000 und bis zum Zweiten Weltkrieg in etwa 500 000 Exemplaren ver-
kauft. Allerdings ist der Text, auch wenn Frenssen ihn der »deutsche[n] Ju-
gend, die in Südwestafrika gefallen ist«, widmet, im strengen Sinne keine
spezifische Jugendliteratur. Denn er gehört – ebenso wie seine beiden früheren
Erfolgsromane Jörn Uhl (1901) und Hilligenlei (1905) – in die Grote’sche
Sammlung zeitgenössischer Schriftsteller, in die u. a. Titel von Autoren wie
Julius Wolff, Theodor Fontane und Wilhelm Raabe aufgenommen wurden.
Dennoch zeigt die Erzählung auf den ersten Blick eine ›klassisch‹ jugendlite-
rarische Struktur: Typisch ist die Situation des Jungen, der von Kindheit an
Auszugsfantasien im Kopf hat, typisch ist auch die Kette von Initiationser-
lebnissen, angefangen mit der Seekrankheit beim ersten schweren Sturm bis
zu einer Reihe lebensgefährlicher Verletzungen des Helden in den Gefechten
mit den Hereros. Dass Peter Moor allerdings nicht etwa verwundet, sondern
von den Anstrengungen herzkrank und müde geworden zurückkehrt, ist eine
untypische Schlussgebung. Es ist zu vermuten, dass gerade die für Frenssens
Text charakteristischen Widersprüche und Untertöne ein breites Lesepubli-
kum angezogen haben, das die Militäraktion gegen die Hereros ja seinerzeit
keineswegs einhellig bejahte. Auch das wird im Text im Übrigen angespro-
chen. Das Anziehende und Verführerische dieser Erzählung liegt womöglich
gerade darin, dass sie eben keine schlichte, rassistisch-darwinistische Propa-
gandaschrift für den ›weißen Imperialismus‹ ist, sondern dass Frenssen
Zweifel und Gegenstimmen laut werden lässt, wie etwa die eines älteren
Mannes, der schon lange im Land ist und der den Herero-Aufstand mit dem
antinapoleonischen »Befreiungskampf« von 1813 vergleicht. Auch lässt
Frenssen den Helden selbst ab und an am Sinn der ganzen Unternehmung
zweifeln. Und schließlich wird für das bürgerliche Lesepublikum auch wich-
tig gewesen sein, dass er sich, trotz der Anhäufung von Schlachtenszenen, in
der Darstellung von Brutalitäten besonders zurückhält, womit er allerdings
gleichzeitig den Charakter dieses Vernichtungskriegs gegen die Hereros voll-
ständig verschleiert. Das Buch wird – wegen der Art der Kriegsdarstellung –
auch in die Empfehlungsliste der Vereinigten Jugendschriften-Ausschüsse
aufgenommen.
Weibliche Motivik und Thematik der exotischen Fremde dringen zunehmend auch
Protagonisten in die Mädchenliteratur ein, wobei die Fremde, wie sich an den erwähnten
Künstlerinnen-, Studentinnen-, Lehrerinnen- und Ärztinnen-Romanen zeigen
ließe, sogar der entscheidende Entwicklungsraum der Protagonistin sein
kann. Eine wichtige Wegmarke in der Geschichte einer solchen Mädchenlite-
ratur ist der vierbändige Zyklus von Reiseerzählungen An fremdem Herd
(1889–1894) von Augusti, in denen Berufsfindung und Bildung junger Mäd-
Reise- und Abenteuerromane – vornehmlich für die ›männliche Jugend‹ 227
chen und Frauen im Mittelpunkt stehen und die damit auch dem Bildungs-
diskurs der bürgerlichen Frauenbewegung angehören. Daneben gibt es seit
der Jahrhundertwende aber auch einige wenige mädchenliterarische Afrika-
romane, die – ähnlich wie jungenliterarische Kolonialromane – den Gedan-
ken der Kulturmission der Deutschen in den Mittelpunkt stellen, die ihn aber
vor dem Hintergrund der Konzeption polarer Geschlechtscharaktere von
Mann und Frau aufbrechen und durch die Idee einer Kulturmission der Frau
gleichsam übertrumpfen, wie dies an Beekers Heddas Lehrzeit in Südwest
(1909), Elise Bakes Schwere Zeiten (1913) und Kochs Die Vollrads in Süd-
west (1916), erstmals 1913/14 in Das Kränzchen erschienen, ablesbar ist.
Die weiße Frau repräsentiert in diesen Romanen einerseits Haus und Heimat;
sie ist damit auch Garantin für Ordnung am Rand der Wildnis. Das wird vor
allem im Kontrast mit den Jungenromanen deutlich, in denen oftmals ein
männlicher Blick auf die schwarze Frau thematisiert wird. Besonders schil-
lernd, und für den jungen Hans Ruhl ebenso anziehend wie abstoßend, ist
die Figur der jungen Mundinde in Der Baumtöter, die – eine heimliche
Hauptfigur – von Anfang bis zum Ende der Erzählhandlung, bis zu ihrer Er-
mordung, dessen Weg kreuzt. Diese Figur repräsentiert unausgesprochen ei-
nen Aspekt, der seinerzeit längst zu einem brisanten öffentlichen Thema ge-
worden ist, nämlich den der sexuellen Attraktion schwarzer Frauen für weiße
Männer. In den Kolonialromanen für Mädchen nun steht die weiße Frau
nicht nur für Haus und Heimat. Der Aufenthalt in der Fremde, angesichts
ständiger Bedrohungen, hat ihren Aktionsradius erweitert. Gerade die jungen
Heldinnen vereinen typisch weibliche Eigenschaften mit ›männlicher Aktivi-
tät‹ und rücken damit auch dem kolonialen Wunschbild der exotischen Frau
näher. Die Protagonistinnen in den Romanen Bakes und Kochs greifen in ei-
ner Extremsituation sogar zur Waffe und schießen auf ihre Feinde. Solche
Mädchenbilder finden sich auch in der zeitgleichen historischen Literatur
228 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
Schon seit dem ausgehenden 18. Jh. hatten sich in der Sachliteratur wie in
der Belletristik, in Ansätzen sogar in der spezifischen Mädchenliteratur, nati-
onalerzieherische Tendenzen ausgebreitet. Noch bis in die zweite Hälfte des
19. Jhs. hinein blieb aber selbst die patriotische Kinder- und Jugendliteratur
etwa von Nieritz, Hoffmann oder Horn weitgehend durch moralische Di-
daxe überformt. Scharfe nationalistische Tendenzen waren vor 1870 relativ
selten, wenn man von einigen Texten Ferdinand Schmidts oder von Franz
Kühns teils ausgesprochen aggressiven, preußisch-deutsch orientierten Er-
zählungen in der Reihe Spiegelbilder aus der Geschichte des deutschen Vater-
landes (1859 ff.) absieht. Seit der Gründung der Österreichisch-Ungarischen
Doppelmonarchie und des Deutschen Reiches wird die Kinder- und Jugend-
literatur zum spezifischen Medium einer dezidiert auf den modernen Staat
bezogenen Nationsbildung und damit auch zum Moment einer kollektiven
Nationalistische Erinnerungskultur, wie sie die Nationen inszenierten, um dem Legitimations-
Tendenzen bedarf der innerlich durchaus ungefestigten und brüchigen neuen Staatsge-
bilde zu entsprechen. Gleichzeitig expandiert dieser Bereich der Jugendlitera-
tur – im Zusammenhang mit massenliterarischen Entwicklungen und geför-
dert durch staatliche Vorgaben zum Geschichtsunterricht – mächtig. Aber
auch in allen anderen kinder- und jugendliterarischen Genres gibt es natio-
nalistische Tendenzen. Bemerkenswert ist die große Präsenz vaterländischer
Lieder in Anthologien. Seit dem Ende des Jahrhunderts ist zudem die Reise-
und Abenteuerliteratur in der Regel von nationalistischen Tönen durchzogen.
Aber auch im Feld der eher ›unpolitischen‹ Lebensgeschichten sowie in der
Erzählprosa für Kinder lassen sich entsprechende Züge ausmachen. In der
Kinderliteratur finden sich z. B. Texte zum Sedanstag, wie Gansbergs Die
Schlacht bei Sedan in seinen Streifzügen durch die Welt der Großstadtkinder
und – als ein Gegentext zum politischen Mainstream – Ernst Almslohs Sedan
in Clara Zetkins Kinderbeilage zur Gleichheit (1906). Seit dem ausgehenden
19. Jh. können sich radikalnationalistische (imperialistische, chauvinistische,
deutsch-völkische) Tendenzen immer stärker ausbreiten. Es erscheinen Texte,
die unverhüllt programmatisch die Heeres- und Flottenpolitik des Deutschen
Reiches stützen wollen, wie die Romanzyklen Preußens Heer – Preußens
Ehr! (1883 ff.) und Unsere deutsche Flotte (1890 ff.) von Oskar Höcker oder
Taneras und Bernstorffs Heeres- und Flottenromane. Auch Lohmeyers Vater-
ländische Jugendbücherei will ausdrücklich bewirken, dass die Kinder und
Jugendlichen »ihr ganzes Sein für die Sache des Vaterlandes einsetzen« und
auch als »Pioniere ihres Volkes im Auslande« wirken wollen, wie es in der
Verlagswerbung heißt. Der Kulminationspunkt dieser Entwicklung liegt kurz
vor bzw. zu Beginn des Ersten Weltkriegs. In den ersten Weltkriegsjahren ist
dann nicht nur die Literatur für Jungen, sondern auch die für Mädchen von
zeitgeschichtlicher Kriegsliteratur vollständig dominiert. Hinzu kommen
große Mengen einer entsprechenden seriellen Heftchenliteratur mit Titeln
Nation, Geschichte, Krieg in der Kinder- und Jugendliteratur 229
Julisus Pederzani-Weber:
Kynstudt. Die Siege der
Helden der Marienburg
über die Heiden des
Ostens. Buchdeckel.
Leipzig 1888
wie Helden in der Luft, Im Kugelregen oder Krieg und Liebe. Gleichzeitig
erscheinen Kriegsromane und Kriegserzählungen für Kinder, etwa Thea von
Harbous Gute Kameraden (1916), Ernst Lorenzens Was der kleine Heini
Will vom Weltkrieg sah und hörte (1915), Hulda Micals Wie Julchen den
Krieg erlebte (1916), Agnes Sappers Kriegsbüchlein für unsere Kinder (1914)
und Ohne den Vater (1915), Tony Schumachers Wenn Vater im Krieg ist
(1915) und Vater noch im Kriege (1916), Else Urys Nesthäkchen und der
Weltkrieg (1916) und Flüchtlingskinder (1917). Selbst kleine Kinder sollen
von der Kriegspropaganda erreicht werden, wie z. B. das Bilderbuch Vater ist
im Kriege (1915) und Arpad Schmidhammers Lieb Vaterland magst ruhig
sein! (1914) eindrücklich belegen. Anti-Kriegsliteratur gibt es, abgesehen von
einigen Texten in der Kinderbeilage zur Gleichheit sowie in Anthologien so-
zialdemokratischer Herausgeber so gut wie gar nicht. Nur Hedwig Pöttings
Bearbeitung von Bertha von Suttners Die Waffen nieder! (1888) gelangt un-
ter dem unverfänglichen, an typische Backfischliteratur erinnernden Oberti-
tel Martha’s Tagebuch (1897) auf den jugendliterarischen Markt. Die expres-
sive Anti-Kriegserzählung Das Menschenschlachthaus (1912) von Wilhelm
Lamszus wird zwar von Vertretern der Hamburger Jugendschriftenbewegung
als Lektüre empfohlen, ist aber keine spezifische Jugendliteratur.
Insbesondere die fiktionale geschichtserzählende Literatur, so die erklärte Lektüreziel
Zielsetzung von Verlagen und Autoren dieser Epoche, soll eine größere Vaterlandsliebe
›Empfänglichkeit‹ der jungen Leser für das auch für den Geschichtsunterricht
geltende Ziel der Erweckung und Vertiefung der Vaterlandsliebe bewirken.
Dabei werden die Identifizierung des jungen Lesers mit den nationalen
Helden der Vergangenheit und der Antrieb zum politischen Handeln in der
Gegenwart häufig ›kurzgeschlossen‹: So will z. B. der österreichische (!)
Schriftsteller Julius Pederzani-Weber mit Kynstudt (1888), einer Erzählung
über den Deutschen Orden, die aktuelle Polenpolitik des Deutschen Reiches
stützen: Durch den Heldenmut der Vorfahren bestärkt, gelangten die Leser
nach Meinung des Autors zur Überzeugung, dass das »Deutschtum, welches
230 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
für Mädchen, die nun, anders als in der vorhergehenden Epoche, ebenfalls
forciert in die vaterländische Erziehung einbezogen werden, gilt das kultur-
geschichtliche Erzählen als ›pädagogisch wertvoll‹. Viele der kulturgeschicht-
lich relevanten Stoffe sind zudem für eine historisch verfremdende Aufnahme
des virulenten Geschlechterdiskurses besonders gut geeignet, denn die für
solche Erzählungen typische Konzentration der Handlung auf die private
Sphäre eines ›großen Hauses‹, gar einer Burg oder eines Kaufmannshauses
zur Blütezeit der Reichsstädte, ermöglicht es, autonomes Frauenhandeln zu
zeigen, das sich zumal bei der kriegs- und berufsbedingten häufigen Abwe-
senheit der Männer als ›natürlich‹ und notwendig erweist. Das trifft v.a. für
Texte Augustis, aber auch für einige Texte männlicher Autoren zu. Zwar
stellt Augusti in ihren literarisch relativ komplexen, quellenbasierten Roma-
nen das traditionelle dichotome Geschlechtermodell nicht andauernd infrage.
Sie verleiht aber dem Widerspruch gegen dieses Modell immerhin mehrfach
eine sympathische Stimme, etwa wenn es die junge Jutta von Scharfeneck in
Edelfalk und Waldvöglein (1885) ungerecht findet, dass »die Frauen still
daheim sitzen und geduldig warten müssen«, und wenn sie nicht verstehen
kann, wie das zur Frauenverehrung des Minnesangs passt. Zudem entwirft
Augusti eine Reihe atypischer Mädchen- bzw. Frauencharaktere, die – wieder
im historisch verfremdenden Blick – tatkräftig und mutig sind und die auch
bewusst eine zur Ehe alternative Lebensform ergreifen können. In Das Pfarr-
haus zu Tannenrode (1886) begleitet die junge, katholische Lenore von Ro-
tenhahn, eine ›Wildkatze‹, sogar als Mann verkleidet ihren Vater auf einen
Feldzug. Dieser Roman über den Dreißigjährigen Krieg zeigt noch einen an-
deren Zug einer Reihe von kulturgeschichtlichen Romanen, nämlich eine
versöhnliche Tendenz. Er ist zwar konfessionell parteiisch, aber dennoch
weniger scharf polarisierend. Alle positiv gezeichneten Protagonisten der
beiden Kriegsparteien sind sich charakterlich ähnlich und formulieren von
Anfang bis Ende die Hoffnung, dass der Bruderkrieg bald enden möge.
Gleichfalls protestantisch orientiert, aber konfessionell versöhnlich ist Car-
lowitz’ Luther-Erzählung Aus dem Zeitalter der Reformation (1894). Münch-
gesangs bei Bachem erschienener Roman über den Dreißigjährigen Krieg
Nach schwerer Zeit (1900) kommt sogar ganz ohne eine konfessionelle Pole-
mik aus. Durchgängiges Thema ist vielmehr die allgemeine demoralisierende
Macht des Krieges.
Höckers fünf Zyklen kulturgeschichtlicher Erzählungen, die zwischen Oskar Höckers
1879 und 1896 erscheinen und bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit Erfolg kulturgeschichtliche
auf dem jugendliterarischen Markt bleiben, sind in der Geschichte der Kin- Romane
der- und Jugendliteratur insofern ein einzigartiges Unternehmen, als sich hier
buchhändlerisches Geschick und schriftstellerisches Talent in einem Groß-
projekt zur Legitimation der Führungsrolle des protestantischen Preußen im
Deutschen Reich zusammenfinden. Auf den engen Bezug zu Freytags Die
Ahnen verweisen nicht nur Verleger, Autor und die Titelgebung des ersten
Zyklus Das Ahnenschloß (1879 ff.); er erschließt sich auch bei der Lektüre
weiterer Zyklen, insbesondere von Der Sieg des Kreuzes (1884 ff.) und Merk-
steine des Bürgertums (1886 ff.). Bis in die Spätantike zurückgreifend und in
der jüngsten Gegenwart, der Flottenpolitik Kaiser Wilhelms II. endend, wer-
den teils miteinander vernetzte Geschichten erzählt, die auf die Führungsrolle
Preußens vorausweisen, diese legitimieren und als gleichsam natürliches Ent-
wicklungsziel der deutschen Geschichte erscheinen lassen sollen. Mit dieser
Funktionsbestimmung fügt sich das Projekt exakt in den allgemeinen Rah-
men der reichsdeutschen Erinnerungskultur ein. Die Romane sind – auch
dies ist zeittypisch – voller nationaler und rassistischer Klischees und Feind-
232 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
stürzt sich unter düsteren und grausigen Prophezeiungen aus einer Felsspalte
auf den Druiden und reißt ihn mit sich in die Tiefe. Die verwaisten Häupt-
lingskinder dagegen, die Geschwister Kando und Welda einerseits und Rula-
man andererseits, bilden einen Freundschaftsbund fürs Leben. Kando wird
die Herrschaft der Druidenkaste ablösen, und Rulaman und Welda – so deu-
tet sich an – werden später einmal heiraten. Entsprechend lautet denn auch
der versöhnliche Schluss des Romans: »Drüben auf dem Rufaberge wächst
ein uralter Epheu an den Burgruinen. Und der Epheu malt in großen Zügen
auf dem grauen Gestein seltsam verschlungene Zeichen. Und wer sie zu deu-
ten versteht, liest: Rulaman, Welda und Kando.« Auch diese Lesart ist im
Übrigen mit Darwins Evolutionismus vereinbar.
Aus der Masse der ereignisgeschichtlichen Kriegsromane fallen – neben
Titeln zu bereits in der vorherigen Epoche marktgängigen Themen wie dem
Dreißigjährigen Krieg, den Türkenkriegen und den Feldzügen der napoleo-
David Friedrich Weinland
nischen Ära – insbesondere die vielen historischen und historisch-biogra-
phischen Erzählungen zum deutsch-französischen Krieg, zu Bismarck und zu
Kaiser Wilhelm I. auf; dazu gehören etwa Höckers Soldatenleben im Kriege
Themen der (1871), Wilhelm Lackowitz’ Aus dem Jahre 1870/71 (1887), Hermann
Kriegsromane Jahnkes Kaiser Wilhelm der Siegreiche (1888), Taneras Hans von Dornen
(1891), Albert Kleinschmidts Welscher Frevel, deutscher Zorn (1897), Kotz-
des Die Geschichte des Stabstrompeters Kostmann (1910), dann die Bis-
marck-Romane und -Erzählungen von Felseneck, Höcker, Ohorn, Jahnke
u. a. Aber auch die zahlreichen Texte zu den Feldzügen der Jahre 1806–1813
und zu Königin Luise erhalten gegenüber der früheren Epoche neue Akzente,
entwerfen bisweilen sogar, wie z. B. in Felsenecks Königin Luise (1898), Züge
der Militarisierung des ›preußischen Engels‹. Mit dem Sieg der Deutschen
über Frankreich und dem Erwerb der Kaiserkrone durch Luises Sohn Wil-
helm ist, so der Tenor, die ›preußische Schmach‹ der Jahre 1806/07, als das
Königspaar von Berlin ins Exil ging, endgültig gerächt. Als 1913 im Vorfeld
und Umfeld der Jahrhundertfeiern der Völkerschlacht von Leipzig noch ein-
mal eine große Menge an Erinnerungstexten auf den Markt geworfen wird,
fließt bereits eine Vorkriegsstimmung in eine Reihe von Texten mit ein. Die
zeitgeschichtliche Weltkriegsliteratur schließlich konstruiert, in Übereinstim-
mung mit dem seinerzeit führenden Historiker Karl Lamprecht, eine Linie
der deutschen ›Einigungskriege‹, mit den Spitzendaten 1813, 1870/71 und
1914. Besonders attraktiv für jugendliche Leser scheint aber auch die Figur
des Major Schill, der ohne einen entsprechenden Aufruf des preußischen
Königs ein Corps gegen Napoleon bildet und im Kampf stirbt, eine Ge-
schichte, die von Kühns Ferdinand von Schill (1862), über Glücksbergs Im
Jahre 1809 (1882), verschiedene Texte Höckers u. a., bis zu Kotzdes Der
Schillsche Zug (1908) immer wieder erzählt wird. »Ein Parteigänger zu wer-
den, meinem Vaterlande, wenn es unter tausend Wunden stöhnen würde wie
ein gebunden Tier, durch kühne Wagnisse Stützen zu geben, der Wunsch hat
mich nie verlassen.« So sagt auch der Erzähler in Detlev von Liliencrons
Kriegsnovellen (Jugendauswahl 1899) in der Erinnerung an entsprechende,
ihn als Knaben faszinierende Jugendlektüren. Aber auch die Figur der jungen
Kriegsheldin taucht nun mehrfach in der Jugendliteratur auf, etwa in einer
Reihe von Texten, die auf die ›Schwertjungfrauen‹ der Befreiungskriege kon-
zentriert sind. Auf demokratische Traditionen bezogene Freiheitskämpfe
oder Revolutionen werden in der Jugendliteratur dieser Epoche nur aus-
nahmsweise, in der Regel sehr verhalten thematisiert. Einige interessante
Texte, wie Jakob Novers Wilhelm Tell und die Freiheitskämpfe der Schweiz
(1899), Agnes Willms-Wildermuths Renée oder im Sturm erprobt (1896), ein
Krieg und Geschlecht in der jugendliterarischen Erzählprosa 235
In den Kriegserzählungen und Romanen wird in der Regel ein Männerraum ›Männerräume‹
in Szene gesetzt. Er kann zwar familienähnlich ausgestaltet werden, insofern der Kriegsliteratur
etwa Beziehungen zwischen höherrangigen, älteren Offizieren und jungen
Soldaten auch Vater-Sohn-Verhältnisse abbilden, wie z. B. in Fogowitz’ Durch
Kampf zum Sieg (1880), Zobeltitz’ Unter dem eisernen Kreuz (1895) oder V.
Schultz’ (d. i. Veronika Lühe!) Auf der Wacht im Osten (1915). Auch die
häufig dargestellten Situationen des Biwakierens, etwa in Höckers Kriegsro-
manen, erinnern an heimelige Familienszenen. So heißt es auch in Scherls
Jungdeutschland-Buch 1915, beim Biwak sollten sich die Jungen »ebenso
wohl fühlen wie im behaglichen Elternhause«. Letztlich geht es aber in dieser
Literatur um das Vertrautwerden mit dem Sozialziel der ›Mannwerdung‹,
das in dieser Epoche zunehmend militaristisch ausgelegt wird. Das bedeutet
die Identifizierung mit dem Ideal eines Kriegers und Soldaten, dessen Körper
stark und belastbar ist, der Disziplin und Gehorsam in einer hierarchischen
Ordnung akzeptiert, der Mut, Aufopferungsbereitschaft und Kameradschaft-
lichkeit entwickelt. Einjährig-Freiwilligen-Romane wie Wolf von Baudissins
Ein Jahr in Waffen (1911) oder eben Kriegsromane lassen sich in diesem
Sinne als Initiationsromane auslegen. Von klassischen Abenteuerromanen
unterscheiden sie sich – in idealtypischer Betrachtung – dadurch, dass die
jungen Helden dieser Romane keine Einzelkämpfer sind, sondern dass sie
ihre Grandiositätsfantasien vom Ich auf die Gemeinschaft verlagern, dass es
für sie eine Lust ist, Glied eines funktionierenden Ganzen zu sein. Es komme
darauf an, heißt es im schon erwähnten Jungdeutschland-Buch, die typischen
›Knabenfantasien‹ vom tapferen, stürmenden, siegenden Soldaten aufzuneh-
men, um sie in die militärische Haltung des Sich-Einfügens und der Opferbe-
reitschaft zu überführen. Genau in diesem Sinne wird in der Kriegsliteratur
der sittlich läuternde, entwicklungsfördernde Einfluss des Krieges auf die
Jungen immer wieder betont. Allerdings finden wir in der Jugendliteratur
durchaus unterschiedliche Konzeptionierungen junger Kriegshelden. So er-
zählt Fogowitz in Durch Kampf zum Sieg die – gemessen an dem militaristi-
schen Ideal der Mannwerdung – etwas ›altmodische‹ Geschichte eines vom
Erzähler so genannten »Trotzkopfs«, der seinen Eigensinn nicht aufgeben
will. In der breitenwirksamen, häufig zynischen ›Kriegs-Schundliteratur‹, wie
in Lackowitz’ Aus dem großen Jahre 1870/71 (1887), erscheint der Kriegs-
236 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
schauplatz auch als eine Art Raufplatz für Gruppen- und Zweikämpfe, mit
Todesfolge. Daneben ist die Verknüpfung von jugendlicher Grandiositätsfan-
tasie und Technikfaszination zu finden, etwa in der Erzählung über einen
technikbegeisterten Primaner, dem im Weltkrieg die besondere Aufgabe
übertragen wird, mit dem Motorrad Patrouille durch die feindlichen Trup-
pen hindurch zu fahren (Scherls Jungdeutschland-Buch, 1915). Überhaupt
scheint, folgt man der Literatur, der Dienst im Bereich der außerordentlich
zerstörerischen modernen Kriegstechnik, v.a. der Kriegsschiffe, Flugzeuge,
Zeppeline und ihrer schweren Geschütze, von besonderer Anziehungskraft
auf die Jugend. Entsprechende Jugendbücher jedenfalls, wie Hugo Waldeyers
Ran an den Feind (1915) oder Walter Heichens Mit Zeppelin und Flugzeug
(1915), setzen mit ihren Bildern sinkender Schiffe, brennender Städte und
Ortschaften, über denen deutsche Luftgeschwader und das Luftschiff als
neuer »Riesenmörder der deutschen Artillerie« »Strafgerichte« vollziehen,
offenkundig auf diese Faszination.
›Moderne‹ Kriegsprosa Der ›moderne‹ Held der Kriegsliteratur, der dem militärischen Ideal der
Mannwerdung vollständig entspricht, wird bereits in Taneras Hans von Dor-
nen (1891), einem Roman über den deutsch-französischen Krieg, entworfen.
Tanera, der mit 16 Jahren in den Militärdienst eingetreten war und als junger
Mann an den Schlachten des deutsch-französischen Kriegs teilgenommen
hatte, zeitweilig in der kriegsgeschichtlichen Abteilung der preußischen Mili-
tärakademie tätig war und eine Reihe militärischer Schriften verfasst hat,
darunter Offiziersleben im Krieg und Frieden (1889), war mit diesem Ideal
genauestens vertraut. Hans von Dornen ist auch insofern ein besonderer
Text, als in ihm bereits die Härten eines ›absoluten Kriegs‹ in einer Weise
idealisiert und ästhetisiert werden, die schon auf die Weltkriegsliteratur und
sogar auf Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920) vorausweist. Es ist ein Ro-
man, der ganz und gar in Bezug auf das Schlachtgeschehen durchrhythmisiert
ist. Marsch (mit Gesang), Biwak oder Einquartierung, Schleichpatrouille,
Belagerung, Schlacht, Ende des Kampfes und – in Ruhepausen – Verwundete
und Tote bergen und versorgen: das sind die von einem Höhepunkt, dem
Schlachtgeschehen selbst, zum anderen sich wiederholenden Handlungsele-
mente. Und der 16-jährige Held erlebt dabei, dass er letztlich keinen indivi-
duellen Ruhm sucht, sondern dass ihm das Höchste ein geradezu instinktar-
tiges Aufgehen im ›Truppenkörper‹ ist, der das Kriegsgeschehen trägt. Er er-
fährt, was »Schlachtahnungen« sind und das damit verbundene Gefühl,
»sich rücksichtslos selbst zu opfern«: »Wie mit Magneten zieht es die seit-
und rückwärts marschierenden Truppen nach den Hauptteilen ihres Corps;
es überkommt jeden, man kann sagen instinktartig, das Gefühl, daß nur im
festen Zusammenhalten, in gegenseitiger treuer Unterstützung der Erfolg
liegt.« Auch Taneras Held in Der Freiwillige der ›Iltis‹ (1900) ist Element ei-
ner sich wie eine »Maschine« unaufhaltsam bewegenden, »unwiderstehli-
chen Masse«. Die Untergangsszene des Kanonenboots »Iltis«, das nicht etwa
in einem Seegefecht unterliegt, sondern im Sturm auf einen Felsen aufläuft,
inszeniert Tanera als eine von »Manneszucht«, Gesängen und Hurrarufen
für den Kaiser geprägte Szene, wie sie ebenso in Romanen über den Unter-
gang deutscher Schiffe im Ersten Weltkrieg stehen könnte. Die Herausbil-
Johanna Klemm: Die wir
dung eines auf das Schlachterlebnis konzentrierten, geradezu bannenden Er-
mitkämpfen. Erzählung
für junge Mädchen und zählens finden wir auch in einigen der Kriegsnovellen Liliencrons, wobei
ihre Mütter. Silhouetten dessen mimetisches, impressionistisch verknapptes Erzählen eine besondere
auf Innenumschlag und Erlebnisdichte erzeugt, wie ein Ausschnitt aus einer Schleichpatrouille an-
Vorsatzblatt. Leipzig deuten mag: »Los... Schst... Katzen auf dem Raubzug... Kein Geklirr... Vor-
1916 sichtig, vorsichtig, langsam schleichend [...]. Was war das? Langer Halt. War
Krieg und Geschlecht in der jugendliterarischen Erzählprosa 237
nichts... wieder weiter...«. Zur ›Schlachtästhetik‹, die sich im Feld der ereig-
nisgeschichtlichen Kriegserzählungen dieser Epoche herauszubilden beginnt,
gehört aber auch die konkretisierende Darstellung der Mühen endloser Mär-
sche sowie des Schlachtfelds, mit schrecklich Verwundeten und qualvoll
Sterbenden. Hier sind wieder Liliencron, aber auch Tanera zu nennen, die
wenigstens die Augen vor dieser Seite des Kriegs nicht verschließen. Das wird
auch deutlich, wenn man diese Texte mit dem von Generationen Jugendli-
cher seit dem Ersten Weltkrieg gelesenen Kultbuch von Walter Flex, Der
Wanderer zwischen beiden Welten (1917), vergleicht, in dem der Blick des
Ich-Erzählers auf den getöteten Freund nur einen »feiertäglich große[n] Aus-
druck geläuterter Seelenbereitschaft und Ergebenheit in Gottes Willen«
wahrnimmt.
Analog zu der an Jungen adressierten Literatur dienen die historischen ›Frauenräume‹ der
und zeitgeschichtlichen Kriegserzählungen und Romane für junge Mädchen, Kriegsliteratur
die sich in dieser Epoche als eigene Genres auf dem Markt etablieren, der
nationalen ›Mobilmachung‹ für den immer wieder als ›heilig‹ bezeichneten
Krieg und entwerfen gleichzeitig Bilder der ›Frauwerdung‹. Expliziter noch
als in der Jungenliteratur versteht diese Literatur den Krieg als ›Entwick-
lungshilfe‹. Der Krieg ›reift‹ den Menschen – das wird in allen Texten, die in
der Regel die Gattungsstrukturen der Backfischromane, mit der für den Lie-
besroman typischen Schlussgebung modifizieren, formelhaft wiederholt.
Gleichzeitig wird aber die zeitgenössische Dynamisierung der traditionellen
Geschlechtsrollen und Geschlechtscharaktere in ihnen auf vielschichtige
Weise widergespiegelt: Denn der Krieg fordert eine größere Selbständigkeit
von Mädchen und Frauen. Er führt das junge Mädchen klar umrissenen und
wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben zu, wertet es auf: »Jetzt wissen wir
Mädchen doch, wozu wir auf der Welt sind [...]. Früher wußten wirs ja
nicht«, heißt es in Nieses Barbarentöchter (1915). Andererseits wird aber der
Geschlechterdualismus im Krieg radikalisiert. Denn die Frau soll in besonde-
rer Weise auf die ihrer vorgeblich mütterlichen Natur entsprechenden sozi-
alen Friedensdienste festgelegt sein, und sie soll Söhne als künftige Krieger
gebären, während der als Krieger idealisierte Mann seine destruktive Natur
auslebt und gleichzeitig das ›Privileg‹ hat, im Krieg den Heldentod für das
Vaterland zu sterben. Dass die »wunderbare Größe des Heldentodes« den
Mann der Frau prinzipiell überlegen mache, wird von Gertrud Bäumer, der
Vorsitzenden des 1894 gegründeten Bundes deutscher Frauenvereine, die zu
Kriegsbeginn ein umfassendes Netzwerk sozialer Frauendienste aufbaut, im-
mer wieder beteuert. In dieser Perspektive ist die ›Heldenmutter‹, die ihr
Liebstes, den Sohn, opfert und deren Bild die Kriegspropaganda und ebenso
die Kriegsliteratur durchzieht, eine ›aufgewertete Frau‹, weil sie am Opfertod
des Sohns teilhat. Auch in der Mädchenliteratur wird dieses Bild immer wie-
der aufgenommen und in Else Hofmanns Deutsche Mädel in großer Zeit
(1916) sogar ins Zentrum der Romanhandlung gerückt.
In den mädchenliterarischen Kriegsromanen, die fast ausnahmslos den für
Ambivalenzen durchlässigeren Typus des kulturgeschichtlichen, nicht des
ereignisgeschichtlichen Erzählens variieren, spiegelt sich das skizzierte Frau-
enbild allerdings keineswegs ungebrochen. Das hängt auch damit zusammen,
Johanna Klemm: Die wir
dass die Autorinnen dieser Texte viel häufiger als ihre für Jungen schrei-
mitkämpfen. Erzählung
benden männlichen Kollegen Strategien polyphonen und polyperspekti- für junge Mädchen und
vischen Erzählens entwickeln. Besonders auffällig ist, wie oft die jungen ihre Mütter. Silhouetten
Protagonistinnen der Romane zumindest den Wunsch formulieren, das für auf Innenumschlag und
die Frau umgrenzte Tätigkeitsfeld zu durchbrechen. Nieses erfolgreicher Vorsatzblatt. Leipzig
Roman über den Dreißigjährigen Krieg Das Lagerkind (1914), Kochs Ro- 1916
238 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg
man über die Zeit des Schlesischen Kriegs Die Patentochter des alten Fritz
(1916) sowie Harbous Weltkriegsroman Gold im Feuer (1916) figurieren
besonders mutige Mädchen, die die Nähe zum Kriegsschauplatz nicht fürch-
ten. Grete Hallberg stellt in Eine Kriegsheldin (1916) die historische Figur
der polnischen Kriegsfreiwilligen des Ersten Weltkriegs Stanislawa Ordinska
ins Zentrum, die – ähnlich wie die Protagonistinnen in Bakes und Kochs
Kolonialromanen – sogar das Tötungstabu der Frau bricht. In Helms Das
vierblättrige Kleeblatt (1878), einer Erzählung über die Befreiungskriege,
zieht eine der Protagonistinnen als Mann verkleidet ins Feld, um den gefan-
genen Geliebten zu retten. Die Protagonistin in Kochs erfolgreichem Roman
über den deutsch-französischen Krieg Aus großer Zeit (1908) – ein Schlüssel-
text dieses Genres, auch in Bezug auf die Weltkriegsliteratur und die natio-
nalsozialistische Mädchenliteratur – findet es ungerecht, dass nur ihr Bruder
in den Krieg darf. In einer mutigen Aktion holt sie einen Verwundeten vom
Schlachtfeld, der später ihr Mann wird. Auch Lotte in Wanda Gellerts Welt-
kriegsroman Stilles Heldentum (1916) beneidet die Männer, die »hinauszie-
hen können und dreinschlagen«. In Klemms Die wir mitkämpfen (1916) will
die Offizierstochter Ruth »ran an den Feind«, und in Kloerss Im heiligen
Kampf (1915) seufzt der Backfisch Maria »Ich wollte, ich könnte auch mit!«
und beruft sich auf die Heldenjungfrauen der Freiheitskriege. Auch Renate in
Augustis Jugendfreunde (1916) empfindet die Trennung von ihrem Jugend-
freund Arnold als Zurücksetzung. Auch sie möchte hinausziehen und an sei-
ner Seite gegen die »Feinde des Vaterlandes kämpfen«; als Frontkranken-
schwester wird sie am Ende bei dessen Tode dabei sein. Aber auch in umge-
kehrter Richtung können sich Tendenzen einer Entpolarisierung der
Geschlechtscharaktere in dieser Literatur ausprägen: Zwar wird bisweilen,
etwa in Lilly Braumann-Honsells Ein deutsches Herz in großer Zeit (1915)
und in Marga Rayles durch und durch zynischem Buch Majors Einzige im
Kriegsjahr (1915) der Krieg als Medium der Wiederherstellung des virilen
Mannes bzw. als Ende der ›Verweichlichung‹ des Mannes gefeiert. Andere
Autorinnen, etwa Helm und Kloerss, führen in ihre Romane aber Figuren
junger Ärzte ein, die nicht dem Idealtyp des Kriegers, sondern eher einer
weiblichen Geschlechtscharakteristik entsprechen. In Cléments Sturmgebraus
(1915) und Kloerss’ In heiligem Kampf wird zudem teilnehmend von ver-
wandten und bekannten jungen Soldaten erzählt, die die Härte des Kriegs
nicht ausgehalten haben und von der Schlacht bei den masurischen Sümpfen
in tiefer Depression, nervlich zerrüttet zurückgekehrt sind.
Die eigentliche Kriegsheldin ist allerdings das junge Mädchen, das pflegt,
heilt und tröstet. Fast kein Kriegsroman, jedenfalls fast keiner der zahlreichen
Weltkriegsromane kommt ohne das Motiv des Pflegens und Heilens durch
die Frau und ohne die Figur der jungen Krankenschwester oder Pflegerin
aus. Auch Mädchen, die anfangs mit in den Krieg ziehen möchten, entwi-
ckeln sich in diese Richtung. Am Ende verloben sie sich häufig oder heiraten
den verwundet heimgekehrten Soldaten. Es scheint damit auf den ersten
Blick so, als modelliere diese Kriegsliteratur – dem Handlungsmodell des
Mädchen-Liebesromans entsprechend – also letztlich das traditionelle Weib-
lichkeitsbild, in dem Rollen und Geschlechtscharakter der Frau lediglich an
die Extremsituation des Kriegs angepasst sind. Schaut man allerdings ge-
nauer darauf, wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in dieser Lite-
Krankenschwester und ratur in Szene gesetzt oder auch diskutiert wird, dann wird gleichzeitig die
Soldat – Illustration zu Unterhöhlung dieses Bildes sowie eine Tendenz zur ›Verkehrung‹ der auf der
Hilde Stirner von Amalie Oberfläche ›funktionierenden‹ traditionellen Geschlechterdichotomie be-
Baisch. Berlin 1909 merkbar. Denn die zu Beginn des Kriegs noch formulierte schwärmerische
Krieg und Geschlecht in der jugendliterarischen Erzählprosa 239
Sophie Kloerss: Im
heiligen Kampf. Eine
Erzählung für junge
Mädchen aus dem
Weltkrieg. Buchdeckel.
Stuttgart 1915
Seite, die in der kleinen Ilse gelegen hatte und die jetzt in der großen Ilse er-
wacht war.« Bisweilen ist es nun auch die Frau, die wie in Nasts Mit Waffen
der Nächstenliebe (1915) den Heiratsantrag stellt, weil der heimkehrende
Mann keinen Mut dazu hat. In Felsenecks Trotzkopfs Erlebnisse im Welt-
krieg (1916) gerät eine entsprechende Situation geradezu zur selbstentlar-
venden Karikatur, wenn Ilse Macket dem an Bein und Arm zerschossenen
Verlobten, der meint, er könne ihr Mann nicht mehr werden, in Bibelworten
zuspricht: »O, Leo, dann führe ich dich. [...] Mein Arm leitet dich. O, Leo,
was gibt es Herrlicheres für ein liebend Weib auf Erden, als Schutz und Stab
ihres Gatten zu sein?« Ausnahmsweise kann die durch den Krieg bedingte
Geschlechter-Konstellation aber auch einen ernsthaften und differenzierten
Diskurs über die Gleichheit von Mann und Frau provozieren, wie in Clé-
ments Morgenrot (1916), wo die Frage, ob ein Soldat, der in den Krieg zieht,
überhaupt heiraten darf, als Generationenkonflikt, als Gegensatz zwischen
›alter Zeit‹ und ›neuer Zeit‹, zwischen militaristischem und ›neuem‹ Männ-
lichkeitsbild und einem entsprechenden Liebes- und Ehekonzept diskutiert
wird. Nur in der Erzählung der religiösen Schriftstellerin Helene Christaller
Fürchte Dich nicht! (1918), einem Text, der erscheint, als die Konjunktur der
Mädchen-Kriegsromane schon ausgelaufen ist, werden Motiv- und Figuren-
repertoire sowie die typische Handlungsführung dieser Genres durchgängig
konterkariert. Der Haupthandlungsort dieser Erzählung ist weder Familie
noch Lazarett, sondern die Munitionsfabrik, in der im Weltkrieg auch fak-
tisch viele junge Mädchen und Frauen gearbeitet haben. Schon mit dieser
direkten Einbeziehung der Frau in die Tötungsmaschinerie wird die in den
übrigen Mädchenromanen jedenfalls oberflächlich noch vertretene Opposi-
tion von zerstören und heilen, Männerwerk und Frauenwerk im Kriege ad
absurdum geführt. Auch Gebärpropaganda und das ›Mutteropfer‹, das
Christaller selbst in Die unsere Hoffnung sind (1916) noch verherrlicht hatte,
werden in einer expressiven Szene, durch die Fieberrede eines sterbenden
Soldaten ›verkehrt‹ und zu einer Anklage gegen die Mütter, die ihre Söhne
mit in den Krieg hineingetrieben haben: »Jetzt aber sind die Brüste der Müt-
ter welk und unfruchtbar geworden, Söhne fluchen dem Leib, der sie getra-
gen, dem Arm, der sie geleitet, denn das Leben wurde namenlose Qual, und
die sie hineingeboren hatten, wurden zu Schuldnern ihrer Knaben.«
241
Weimarer Republik
Helga Karrenbrock
Der Erste Weltkrieg »war das Epochenereignis, vor dem sich die Weimarer
Kultur profilierte und das alle zu Zeitgenossen machte«, formuliert die Han-
ser-Literaturgeschichte bündig. Galt das auch für die Kinder, den Diskurs
über Kindheit und die kinderliterarischen Verhältnisse?
Die bürgerlich-parlamentarisch verfasste Weimarer Republik, ein Ergebnis Materielle
des verlorenen Krieges und der Novemberrevolution, war eine »Republik Bedingungen
ohne Gebrauchsanweisung« (Döblin), sie wurde in den 14 Jahren ihres Be-
stehens nicht zum »Normalfall« (Weyergraf), wie ihre deutlich akzentuierten
drei Phasen zeigen: 1919–24 revolutionäre Nachkriegskrise; 1925–29 Phase
der relativen Stabilisierung; 1930–33 Weltwirtschaftskrise und Faschisie-
rung.
Die Weimarer Republik stand vor enormen Aufgaben: Sie hatte die Hypo-
thek des Wilhelminismus zu tragen, die Kriegsfolgen zu bewältigen und
gleichzeitig die politischen und sozialen Verhältnisse im Sinne eines demo-
kratischen Staatswesens neu zu ordnen. Mit der Einführung des allgemeinen
und gleichen Wahlrechts, der rechtlichen Gleichstellung der Frau und der
Einführung des Achtstundentages, der Anerkennung der Gewerkschaften als
Tarifpartner sowie der Presse- und Versammlungsfreiheit waren formalrecht-
lich elementare demokratische Rechte erreicht, weitergehende Forderungen
des revolutionären Flügels der Arbeiterbewegung nach Sozialisierung der
Schlüsselindustrien blieben erfolglos. Eine Lösung der schon aus dem Kaiser-
reich übernommenen ›sozialen Frage‹ stand weiterhin aus; sie blieb die ge-
samte Zeit der Weimarer Republik über virulent und zeitigte vom linken bis
zum rechten Spektrum unterschiedlichste politische Antworten: von der
›Diktatur des Proletariats‹ und rätedemokratischen Vorstellungen über bür-
gerlich-republikanische Positionen bis hin zur nationalsozialistischen Ideolo-
gie der Volksgemeinschaft.
In dem Machtvakuum, das die alten, abgedankten Autoritäten zunächst
hinterließen, wurden mit den politischen Verhältnissen auch die Familien-
und Generationsverhältnisse neu vermessen. Nachkriegszeit, Inflation und
Weltwirtschaftskrise lassen Familienkindheit nicht unberührt. Erfahrungen
von Hunger und latenter Gewalt gehören zum Nachkriegsalltag. Eine große
Zahl von Kindern wächst mit invaliden Vätern oder ganz ohne Väter auf. Die
Inflation hat die kollektive Verarmung – und Politisierung – breiter Mittel-
schichten zur Folge. Diese Tendenzen verschärfen sich in der krisenhaften
Endphase der Republik. Deklassierungsängste, Hunger, abwesende oder ar-
beitslose Väter und berufstätige, alleinerziehende Mütter stellen das bürgerli-
che Projekt der Familienkindheit als umhegte Schutzsphäre infrage; auch
bürgerliche Kindheit wird, wie die proletarische seit je, jetzt tendenziell als
krisenhafte und krisenanfällige erfahren. Das pädagogische Wunschbild von
242 Weimarer Republik
der heilen Kinderwelt und der glücklichen Kindheitsidylle, das die Folie für
das ›Jahrhundert des Kindes‹ und die Bewegung ›vom Kinde aus‹ seit der
Jahrhundertwende abgab, lässt sich nun auch für die bürgerliche Kindheit
allenfalls noch einklagen.
Auf der anderen Seite führt die Einrichtung der vierklassigen allgemeinen
Grundschule für alle Kinder durchaus zu einem Aufschub der sozialen Privi-
legierung der Bürgerkinder und zu einer möglichen Annäherung proleta-
rischer Kindheit an die bürgerlichen Kindheitsschonräume, ebenso wie sozi-
alstaatliche Modernisierungsgesetze, etwa das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz
(1922). Zumindest auf Gesetzesebene wurde versucht, allen Kindern einen
einzigen ›Status Kindheit‹ zu garantieren. Dennoch ist es zutreffender, weiter-
hin von ›Kindheiten‹ zu sprechen: Bürgerliche und proletarische Kindheiten
nähern sich zwar gerade in der Stabilisierungsphase der Republik einander
an, das bürgerliche Konstrukt der ›Kinderkindheit‹ trifft aber auf Letztere
nur in Ausnahmefällen zu. Für die Mehrzahl der Arbeiterkinder in der Groß-
stadt bedeuten die 14 Jahre der Weimarer Republik Entbehrungen und sozi-
ale Unsicherheit. Sie wohnen in Mietskasernen mit Ein- bis Zweizimmer-
wohnungen ohne sanitäre Einrichtungen; in diesen Wohnungen leben in der
Regel vier bis fünf Personen, die Hälfte der Kinder hat kein eigenes Bett. Ihre
unmittelbare Lebenswelt ist nicht das traute Heim und der Garten, sondern
die Straße. Dort spielen sie oder betätigen sich auf der Suche nach zusätz-
lichem Einkommen als Straßenhändler, Zeitungsverkäufer, Bettler oder sogar
als Diebe.
Weimarer Kultur: Vor allem die Stabilisierungsphase hat das Bild der demokratischen ›Wei-
›Modernisierungs- marer Kultur‹, der sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre, geprägt. Die
prinzip Sachlichkeit‹ amerikanische Finanzhilfe des Dawes-Plans ermöglichte den wirtschaftlichen
Wiederaufstieg Deutschlands und die Modernisierung der Produktion durch
den Einsatz der fortgeschrittensten amerikanischen Produktionsmethoden
wie Standardisierung, Rationalisierung und Massenproduktion. Die Arbeits-
losigkeit sank, Löhne und Gehälter erreichten das Vorkriegsniveau; im ›bes-
ten Jahr‹ der Weimarer Republik, 1927, übertraf die Industrieproduktion
erstmals die der Kaiserzeit. Im Bereich der neuen Verkehrs- und Massenkom-
munikationsmittel und im tertiären Sektor entstanden neue Berufssparten,
die auch für Frauen Erwerbsmöglichkeiten jenseits der traditionellen sozial-
pflegerischen Tätigkeiten boten: Die Angestellten, gerade auch die weib-
lichen, trugen fortan einen erheblichen Teil der großstädtischen industriellen
Massengesellschaft.
Für den Lebensstil in dieser kurzen Zeitspanne, in der »die Republik in
einer zivilen Sphäre der Sicherheit zu sich selbst kommen konnte« (Lethen),
hat sich die Kennzeichnung ›Neue Sachlichkeit‹ eingebürgert. Als eine Art
»Verdoppelung der Zweiten Industriellen Revolution in Alltagswelt, Kultur
und Psyche« (Sloterdijk) entwickelt sich der Habitus der Neuen Sachlichkeit
vor allem auf der Basis des Einverständnisses mit den gesellschaftlich-tech-
nischen Modernisierungsphänomenen und dem kulturell Neuen, an dem die
neuen Medien Fotographie, Illustrierte, Reklame, Rundfunk – und vor allem
der Film – ihren besonderen Anteil haben. Ebenso wie der rasant wachsende
Auto- und Flugverkehr prägen sie die neue großstädtische Massenkultur
speziell der Metropole Berlin. Um ›Weekend‹, Sport, Kino, Jazz und Unter-
haltung dreht sich ein »Kult der Zerstreuung«, der nach Siegfried Kracauers
bekanntem Diktum ein »homogenes Weltstadt-Publikum« formt, »das vom
Bankdirektor bis zum Handlungsgehilfen, von der Diva bis zur Stenotypistin
eines Sinnes ist«. Im Rahmen dieser Demokratisierung großstädtischer All-
tagskultur entsteht auch das Leitbild der berufstätigen ›Neuen Frau‹, die sich,
Kindheiten in der Weimarer Republik 243
sein. Allerdings differenzierte sich die Rede von der ›Kindertümlichkeit‹ mit
der ›psychologischen Wende‹ der Jugendschriftenbewegung nach 1918, die
sich zunehmend an den Ergebnissen der Entwicklungspsychologie orientierte.
Neues Paradigma für die Jugendschriftenbewegung wurde die von Charlotte
Bühler entwickelte Theorie der Lesealter, die – im Zirkelschluss – ausgehend
von den Lesebedürfnissen und der Lieblingslektüre eines bestimmten Alters
ganz spezifische Entwicklungsbedingungen eben dieses Alters konstruiert.
Diese Entwicklungsbedingungen gelten der Theorie als anthropologische
Konstanten, auf welche die je unterschiedlichen Lebensbedingungen keinen
Einfluss haben. Als »Verwissenschaftlichung der Jugendschriftenfrage« wer-
tete einer der maßgeblichen Wortführer der Jugendschriftler, Wilhelm Frone-
mann, die Übernahme der Bühler’schen Gliederung der Kindheitsphasen in
das »Struwwelpeteralter«, das »Märchenalter« und das »Robinsonalter«,
der sich die »Reifezeit« anschließt, für die der Übergang zur »großen Dich-
tung« vorgesehen ist. In der Konsequenz wurde das Schlagwort von der
Kindertümlichkeit durch das der Kindgemäßheit ersetzt. Damit schien zu-
nächst einer modernisierten Vorstellung der Weg geebnet, für die Kindheit
nicht mehr nur eine Form des Interesses der Erwachsenen bedeutet, sondern
die sich am tatsächlichen Kinderleben selbst orientiert. Ob sich aber damit
auch eine modernisierende Rationalität durchsetzte, ist zumindest in Frone-
manns Charakterisierung der Lesealtertheorie die Frage.
Deutlicher noch als Bühler parallelisiert Fronemann auf recht fragwürdige
Weise ontogenetische Entwicklungsstufen mit »geistigen Entwicklungsstu-
fen« der Menschheit, die er zudem ausschließlich auf die nordisch-germani-
sche Tradition reduziert. Der Aufstieg vom einfachen, ›primitiven‹ (›unter-
geistigen‹!) zum komplexen, vollwertigen Menschen wird so zur Hauptauf-
gabe einer Leseerziehung erklärt, die darauf angelegt ist, das »Echte«,
»Wesentliche« und »Kernhafte« der deutschen Seele durch ihre Dichtung
vor dem »Ungeist« der republikanischen neuen Zeit zu retten.
Im Rückblick lässt sich dieser völkisch-nationale Antimodernismus von
großen Teilen der literaturpädagogischen Intelligenz durchaus als Verarbei-
tungsform der gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche lesen, als Vertei-
digung ihres symbolischen Kapitals – der Kultur, der Bildung – auf dem
jugendliterarischen Feld, das man zunehmend von einem durchkapitalisier-
ten Medienmarkt bedroht sah. Freilich gab es innerhalb der Weimarer
Jugendschriftenbewegung auch fortschrittlichere Positionen, wie die in der
Jugendschriften-Warte ausgetragenen Diskussionen zeigen. Aber dass die
Lesealtertheorie mehrheitlich unhinterfragt als wissenschaftlich begründete
und feststehende Tatsache gelten konnte und in der Praxis mit den wider-
sprüchlichsten ästhetischen, erziehungspraktischen und politischen Vorstel-
lungen kombiniert wurde, verweist einmal mehr auf die verzwickte Gemen-
gelage von Krisenbewusstsein und Reformorientierung, wie sie nicht nur für
die kinderliterarischen Verhältnisse der Weimarer Republik typisch ist.
Für die Jugendschriftenbewegung hatte die Sammelbezeichnung »Jugend- Ausdifferenzierung
schrifttum« so lange getaugt, wie es sich um die Bewertung der Literatur für von Kinderliteratur
Nicht-Erwachsene insgesamt handelte. Diese Zusammenfassung von Kind- und Jugendliteratur
heit und Jugend war durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht erst
ermöglicht worden. Seit der Jahrhundertwende hatte sich aber die begeisterte
erwachsene Aufmerksamkeit fast ausschließlich der Kindheit zugewandt und
die ästhetischen Prinzipien der spezifischen Literatur für Kinder aus einem
neuromantischen Kindheitsmythos heraus entwickelt. Diesem Mythos war
die Jugend, die sich unter dem Zeichen des Wandervogels selbständig zu
machen begann, entwachsen. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene hatte sich
246 Weimarer Republik
der Jugenddiskurs, auch durch die bürgerliche und die proletarische Jugend-
bewegung, vom Kindheitsdiskurs der Reformpädagogik und den neuen
›Kinderwissenschaften‹ abgekoppelt. Zwar verklammerte der neue psycholo-
gische Ansatz der Jugendschriftenbewegung die Lebenswelten von Kindheit
und Jugend mit seiner ganzheitlich gefassten Entwicklung von Lesealtern
noch einmal; in der Praxis legte die Einbeziehung der ›Jungleserpsychologie‹
aber schon wegen der unterschiedlich akzentuierten Lesebedürfnisse von
Kindern und Jugendlichen die Ausdifferenzierung in eine jeweils eigenstän-
dige Kinderliteratur einerseits und Jugendliteratur andererseits nahe. Den-
noch hielten die Bewertungsinstanzen der Jugendschriftenbewegung der
Weimarer Republik mehrheitlich am Sammelbegriff ›Jugendschrifttum‹ oder
›Jugendschriften‹ fest, obwohl es sich bei der Mehrzahl der beurteilten Bü-
cher um spezifische Kinderliteratur handelte. Die begriffliche Unterscheidung
blieb in den Beurteilungen der Jugendschriftler insgesamt uneinheitlich und
so verschwommen wie die Lesealtertheorie selbst.
Eine junge Generation von Autoren und Verlage mit neuen, ausgesprochen
modernen Programmen waren die ersten, die die Ausdifferenzierung in Kin-
der- und Jugendliteratur praktizierten. Es lag in ihrem Interesse, ihre Adres-
saten konkreter vor Augen zu haben, über ihre Vorlieben Bescheid zu wissen
und ihren jungen Leserkreis altersmäßig und auch soziologisch genauer zu
verorten. Vom Lesealterkonzept wurden allein die ungefähren Altersangaben
übernommen, im Übrigen spezialisierte man sich und schrieb und veröffent-
lichte explizit ›Romane für Kinder‹. In diesem Umkreis entsteht die moderne
Weimarer Kinderliteratur, eine Literatur, die aus dem traditionellen Kind-
heitsgetto ausbricht und ihren literarischen Fundus mit der kindlichen All-
tagswahrnehmung der 20er Jahre synchronisiert.
Das neue Interesse an Diese neue Kinderliteratur ist ohne das Placet der Jugendschriftler auf den
den jungen Lesern Markt und an ihre Leser gekommen; sie ist Ausdruck und zugleich auch
Anlass für das veränderte Interesse an der Kindheit im Prozess der Moderni-
sierung. Dieses Interesse zeigt sich in der Stabilisierungsphase darin, dass
bedeutende Zeitungen und Zeitschriften wie die Frankfurter Zeitung, die
Literarische Welt und die Weltbühne sich in ihren Feuilletons verstärkt dem
Kindheitsthema zuwenden. In Reflexionen und Rezensionen setzen sich hier
so wichtige Vertreter der republikanischen Weimarer Intelligenz wie Rudolf
Arnheim, Walter Benjamin, Franz Hessel, Siegfried Kracauer, Alice Rühle-
Gerstel mit Fragen von zeitgenössischer Kindheit, Kinderkultur und Kinder-
literatur auseinander und eröffnen neue Perspektiven. Die in den 20er Jahren
florierende ›Jungleserkunde‹ fragt mit empirischen Methoden nach der pri-
vaten Lieblingslektüre der jungen Leser. Was tatsächlich gelesen wurde,
wurde so erstmals auf der Basis von Befragungen sowie Ausleihstatistiken in
Bibliotheken und ›Kinderlesehallen‹ erfasst – mit dem wenig überraschenden
Ergebnis, dass gerade die von der Jugendschriftenkritik als ›minderwertig‹
angesehenen literarischen Formen wie Mädchenbücher, Heftchen- und Zei-
tungsromane oder Witzblätter sich größter Beliebtheit erfreuten. Auch war
die Zeitungslektüre wesentlich stärker verbreitet als angenommen (75 % der
14-Jährigen lasen täglich eine Zeitung!), quantitativ rangierte sie bei den 10-
bis 14-Jährigen neben Heftchenliteratur an der Spitze der Lektüre.
Medienkonkurrenz Von der Kulturkritik argwöhnisch betrachtet, konkurrierten vor allem die
neuen Massenmedien Rundfunk und Kino mit den Schriftmedien um die
Gunst des jungen Publikums. Regelmäßige Rundfunksendungen gab es seit
1924, in der Stabilisierungsphase etablierte sich ein vielfältig gegliederter
täglicher Kinderfunk, der, einem Bericht von 1929 zufolge, »alle Erlebnis-
sphären der Kinder zu umschließen« trachtete. Der Schriftsteller Alfons Pa-
Kindheitsdiskurs und das kinderliterarische Feld in der Weimarer Republik 247
quet resümierte 1930: »Das Märchen, das Rätsel, die Erzählung, das Lied,
das Spiel – diese Dinge, die einst das Elternhaus dem Kind fast ausschließlich
vermittelte, sind Rubriken der Zeitung und des Rundfunks geworden. Die
Erziehung hat eine Tendenz zur Öffentlichkeit.« Weit davon entfernt, in die
kulturkritischen Warnungen vor dem neuen Medium einzustimmen und die
unhintergehbare »allmähliche Angleichung des Kindes an die Erfahrungs-
und Wissenswelt der Erwachsenen, an die öffentliche Sphäre« zu verdam-
men, verweist Paquet auf die vielfältigen Möglichkeiten, über die der Rund-
funk verfüge.
Auch das Liebesverhältnis der Kinder zum Kino wurde weiterhin mit Ar-
gusaugen beobachtet. Die wesentlichen Argumente waren schon vor dem
Krieg gefallen: Für die Jugendschriftenbewegung war das »Kinounwesen«
ein der ›Schundliteratur‹ vergleichbares Übel, das die Jugend verrohe, ihre
Konzentrationsfähigkeit störe und überhaupt zur Nachahmung der haar-
sträubendsten Untaten anrege. Neben diesen Abgrenzungsstrategien gab es
aber auch Anschlussversuche, z. B. in den Initiativen des frühen Hamburger
›Reformkinos‹, für das sich Filmtheaterbesitzer freiwillig verpflichteten, nur
solche Filme zu zeigen, die man als für das junge Publikum geeignet ansah:
Filme, die unterhaltende Wissensvermittlung boten und keine bloße Unter-
haltung. Das Reichslichtspielgesetz von 1920 löste die jugendschützerischen
Forderungen der Kinoreformer ein: Kindern unter sechs Jahren, die vorher
wohl auch im Kino von ihren Aufsichtspflichtigen abgestellt wurden, war
nun der Kinobesuch grundsätzlich verboten; Jugendlichen unter 18 Jahren
waren nur für sie speziell freigegebene Filme gestattet.
Die Amerikanisierung der Filmindustrie und der Wandel des Kinos zum
reinen Unterhaltungsmedium machte es zu einem der wesentlichen Faktoren
der großstädtischen Massenunterhaltung, an der, dem überwachenden Auge
des Gesetzes zum Trotz, auch die Kinder teilhatten. In der Ära des Stumm-
films waren es Slapsticks wie die Filme von Buster Keaton und vor allem
Charlie Chaplin, die Klein und Groß begeisterten; spätestens seit der Einfüh-
rung des Tonfilms ab 1930 gab es auch sorgfältig gemachte spezifische Filme
für Kinder: Gerhard Lamprechts Emil und die Detektive von 1931 gilt bis
heute nicht nur als eine der besten Verfilmungen eines Kästner-Buches, son-
dern auch als einer der bedeutendsten Filme der frühen Tonfilmzeit.
248 Weimarer Republik
Aber die Schriftmedien konkurrieren ihrerseits mit den durch die neuen
audiovisuellen Medien geprägten Wahrnehmungsformen. »Der Filmsehende
liest Erzählungen anders. Aber auch, der Erzählungen schreibt, ist seinerseits
ein Filmsehender«, so Bertolt Brecht 1931. Das galt nicht nur für die ›große‹
Literatur, auch die Kinderliteratur übernimmt jetzt ›filmische‹ Erzählweisen
und orientiert sich an den schnellen, gleichzeitigen Mustern der Rundfunkre-
portage.
Kinder- und Jugend- Das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels weist für die Zeit von 1919–
buchmarkt der 1933 20.247 Titel im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur aus; die Ge-
Weimarer Republik samtproduktion des Buchmarkts betrug ca. 380.750 Titel. Die Anzahl der
Erstauflagen lag bei 13.521, die der Neuauflagen bei 5.215. Das Spitzenjahr
der kinderliterarischen Produktion ist 1927, für das knapp über 2.000 Titel
errechnet wurden, wobei das Verhältnis von Ersterscheinungen zu Neuaufla-
gen bei drei zu eins lag.
Wiederholte Neuauflagen erlebten vor allem die von der Jugendschriften-
bewegung propagierten ›guten Jugendschriften‹ aus dem Bereich des ›litera-
rischen Volksguts‹ wie Märchen, Sagen, Volksbücher, Kinderlieder und Balla-
den ebenso wie die für Kinder bearbeiteten Romane der Weltliteratur wie
Don Quichote, Robinson Crusoe, Gullivers Reisen sowie Erzählungen des
bürgerlichen Realismus. Einen größeren Raum nahmen die ›Longseller‹ aus
der Kaiserzeit ein: Heidi, Biene Maja, allen voran aber spezifische Mädchen-
bücher wie die Trotzkopf-Serie und die Abenteuerbücher Karl Mays und
Friedrich Gerstäckers.
Aussagekräftiger für die kinderliterarischen Trends ist der Bereich der
Neuerscheinungen und Erstauflagen. Auffällig ist nicht nur die große Zahl
von Übersetzungen zeitgenössischer realistischer Erzählungen aus dem eng-
lischsprachigen und dem skandinavischen Raum (wie Jack Londons Wolfs-
blut, Jón Svenssons Nonni-Bücher, Marie Hamsuns Langerudkinder und vor
allem die Bibi-Bücher von Karin Michaelis) und, allerdings in bescheidenerem
Ausmaß, aus Sowjetrussland (etwa Grigori Bjelych/Leonid Pantelejews
Schkid, die Republik der Strolche und Pantelejews Die Uhr), die den Kindern
einen anderen Blick auf die größer werdende Welt erlauben. Auch für die
deutschen Neuerscheinungen lassen sich entsprechende Trends und Genre-
präferenzen feststellen. So erscheinen bis etwa 1925 fast ausschließlich neue
Märchen; ab 1926 beginnt sich dann im Zeichen des ›Modernisierungsprin-
zips Sachlichkeit‹ auch in der Kinderliteratur ein Paradigmenwechsel abzu-
zeichnen, der ihre überkommenen Muster gründlich durcheinanderbringt.
Die Märchenwelle der unmittelbaren Nachkriegszeit wird von einer Flut
›realistischer‹ Geschichten abgelöst, erfolgreiche kinderliterarische Genres
wie Abenteuerbücher, Backfischbücher, selbst Tiergeschichten werden zeitge-
mäß umgebaut; neue Genres wie Kinderromane und Kinderdetektivge-
schichten entstehen; neue Motive schieben sich in den Vordergrund. Der be-
vorzugte Handlungsort dieser neuen Kinderbücher ist nicht mehr das Land,
sondern die Großstadt – mit Vorliebe die Metropole Berlin, die damalige
Hauptstadt der Moderne. Das bedeutet mehr als einen bloßen Wechsel des
Neue Trends in der Weimarer Kinder- und Jugendliteratur 249
Die Krise zeigt sich auf andere Weise in Ina Seidels Das Wunderbare Geiß-
leinbuch. Neue Geschichten für Kinder, die die alten Märchen gut kennen
(1925). In diesem Märchenpuzzle tummelt sich das jüngste Geißlein bei-
spielsweise im Wald bei den Bremer Stadtmusikanten, die just das Katherlies-
chen zu Besuch haben. Weniger dem Dichterwort trauend als der Kombina-
tionslust der Kinder, organisiert Seidel so ein Spiel mit dem alten Märchenin-
ventar und seinen Figuren.
Eine eigene Märchenszenerie erfindet der in den 20er Jahren hochge-
schätzte Wilhelm Matthießen in seinen Märchenbänden Das alte Haus
(1923), Deutsche Hausmärchen (1927) und Die Grüne Schule (1931), die in
sprachlich modernisierter Fassung bis heute auf dem Kinderbuchmarkt prä-
sent sind. In seiner zunächst für die eigenen Kinder zum Hausgebrauch er-
fundenen Märchenwelt »Mythikon« ist alles belebt: Sprechende Tiere,
Zwerge, Hexen und Kobolde scharen sich um die Kinderhelden Peter und
Gretel und wissen ihnen längst vergessene Geschichten zu erzählen. Über-
deutlicher Regisseur des Erzählkosmos ist aber der Zauberer »Groffi Wenti-
lator«. Als Stellvertreter für den erzählenden Vater ist er nicht nur in der
Lage, immer neue Wesen zu erschaffen, sondern sie auch umstandslos wieder
zum Verschwinden zu bringen. Mythikon, ein von agrarischen Strukturen
geprägtes Paradies, in dem die Arbeit ausschließlich und gerne von Wichteln
und Zauberern erledigt wird, bleibt so als augenzwinkernde Erfindung eines
vertrauten Erzählers transparent. Das ändert sich, wenn Matthießen den
ernsthaften Versuch macht, das Maschinenzeitalter in die bodenständige
Idylle hereinzuholen. Da halten dann moderne Großstadtgeister Einzug in
die mythisierte Welt, etwa in Gestalt von Kanal- und Heizungskobolden oder
gar elektrischen Männlein wie dem »Drähtchen Knips«, seines Zeichens Di-
rektor des Rundfunks. Matthießens spätere Märchenerzählungen (etwa
Kauzenberg, 1933) geraten in fatale Nähe zu den völkisch-nationalen Mär-
chen mit ihren Maschinengeistern, für die der spätere Nationalsozialist Hans
Friedrich Blunck (Märchen von der Niederelbe, 1923) gefeiert wurde. Hier
signalisiert die Wichtelstaffage nicht nur die Märchenhaftigkeit des Erzähl-
ten, sie beschwört auch die ›urdeutsche‹, bessere Tradition. Nur mit der
deutschen ›Tiefe‹ konnte dem Zweifel an der behaupteten Verwurzelung des
Märchens im Kindermythischen und Volkstümlichen begegnet werden, vor
allem angesichts der Unzahl neuer Märchen, die versuchten, durch moderni-
sierte Requisiten mit der Zeit zu gehen, jene »aufgeputzten, zugestutzten,
hochfrisierten modernen Märchen, die doch nichts anderes als kinomäßiger
Abklatsch der guten alten sind«, wie ein Kritiker in der Jugendschriften-
Warte 1925 klagt.
Es wird einmal – In der Arbeiterbewegung der Vorkriegszeit hatten Märchen zunächst als
soziale Märchen Anpassungs- und Beschwichtigungsliteratur gegolten. Arbeiterkindern
konnte kaum der Schonraum einer ›heilen Kinderwelt‹ geboten werden, er
war allenfalls erst zu erkämpfen: »Hunderttausende von ihnen stehen in des
Lebens Notdurft und Sorge; ihnen fehlt die Stimmung für die alte Märchen-
welt, die einst das Herz der Kinder, die im Frieden und Schutz des elterlichen
Hauses aufwuchsen, mit süßem Zauber umsponnen hat«, so Franz Mehring.
In den Debatten um eine neu zu schaffende sozialistische Kinderliteratur
ging es immer wieder darum, ob sie von der bürgerlichen grundverschiedene,
nämlich proletarische Werte und Normen zu vermitteln habe oder ob sie, im
Sinne der Kunsterziehungsbewegung, der individuellen Persönlichkeitsbil-
dung dienen solle. In der Weimarer Republik stehen sich diese beiden Positi-
onen mit der Spaltung der Arbeiterbewegung unversöhnlich gegenüber: Sozi-
alistische Kultur ist im sozialdemokratischen Verständnis nun nicht mehr
Neue Trends in der Weimarer Kinder- und Jugendliteratur 251
Nicht nur als gelebte Umwelt, sondern als eigentlicher Motor des Gesche-
hens fungiert die Großstadt in Wolf Durians Kai aus der Kiste (1927). Im
Wettbewerb mit professionellen Erwachsenen um den lukrativen Posten
eines »Reklamekönigs« gewinnen der Straßenjunge Kai und seine Bande,
weil sie es schaffen, in kürzester Frist ihr Zeichen, die »Schwarze Hand«, an
allen möglichen Stellen Berlins zu hinterlassen. Sie sind schneller, gewitzter
und gegenwärtiger als ihr Konkurrent, der diplomierte Reklameagent Kubal-
ski. Die »Fabrikjungen, Zeitungsjungen, Laufjungen, Schuljungen, Kaminfe-
gerjungen, Bäckerjungen« kennen die Stadt wie ihre Westentasche. Sie wissen,
wie hier die Menschen-, Verkehrs-, Waren- und Informationsströme verlau-
fen und wie sie vernetzt sind. Dabei machen sie sich die Besonderheit groß-
städtischer Wahrnehmung zunutze, in der nicht das Auge den Gegenstand,
sondern der Gegenstand das Auge wählt. Sie führen buchstäblich »einen
Krieg mit den Augen und Gedanken der Menschen« (Durian) und heizen den
Wolf Durian: Kai aus der schockförmigen Takt der Metropolenwahrnehmung mit einem Tempo auf,
Kiste. Cover der bei dem die Alten nicht mehr mithalten können.
Erstausgabe. Berlin 1927 Diese »ganz unglaubliche Geschichte« (Untertitel) transportiert den ame-
rikanischen Traum vom ›Tellerwäscher zum Millionär‹ in den kollektiven
Horizont einer Horde von umherschweifenden Stadtindianern, die im souve-
ränen und angstfreien Umgang mit den neuen Verkehrs- und Kommunikati-
onsmitteln die Generationsverhältnisse geradezu umkehren. Temporeich ge-
schrieben und strikt an der Oberfläche der Geschehnisse bleibend, liefert Kai
Slapsticks über das Funktionieren der Aufmerksamkeit in der großen Stadt.
Ganz auf Simultaneität, Sichtbarkeit und ›action‹ hin berechnet, gilt er als
der Kinderroman der Neuen Sachlichkeit – er wird zum Prototyp einer an-
schwellenden kinderliterarischen Mode von Großstadtgeschichten mit Wett-
kampfcharakter um Spiel, Sport und Abenteuer, wie sie in der Spätphase der
Weimarer Republik vor allem vom Franz Schneider-Verlag gepflegt wurde.
Allerdings kommen diese an Tempo und Respektlosigkeit des Vorbilds nicht
heran und beschränken sich in der Regel darauf, dass sich die Kinder die
Aufmerksamkeit von Presse, Rundfunk und Film erobern und zu Medienstars
werden. Immerhin verweisen sie auf die wachsende Akzeptanz aktueller,
spannender Kinderunterhaltung.
Revolution im Auch im Werk des bedeutendsten Modernisierers der Weimarer Kinderli-
Bücherschrank der teratur, Erich Kästner, hat Durians Roman Spuren hinterlassen. Kästners
Kinder erster Kinderroman Emil und die Detektive (1929) lässt sich durchaus als
Anti-Kai, als demokratische Antwort auf den anarchischen Vorläufer lesen.
Die Großstadt funktioniert hier nicht mehr als Spielfeld und Energiezentrale,
sondern als urbaner Bewährungsraum. Der Topos ›Verkehr‹ steht auch hier
für den angstfreien Umgang mit Phänomenen wie Masse, Tempo, Beschleu-
nigung, dies aber im Sinne von Ordnung statt Chaos, als urbane Zirkulation,
in der sich Gleichberechtigte an für alle gleichermaßen geltende Regeln hal-
ten. Fair Play gilt ebenso für die Verkehrsformen der Kinder untereinander
wie für das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen. Die souverän han-
delnden Kinder in Emil sind keine ›wilde Clique‹, sondern bilden für die Jagd
nach dem Dieb von Emils Taschengeld eine Art räsonierendes Kinderparla-
ment, in dem argumentiert, abgestimmt und delegiert wird. Beide Romane
thematisieren das Phänomen großstädtischer Wahrnehmung. Während aber
diese Wahrnehmung bei Durian als zerstreutes Vermögen erscheint, auf rasch
wechselnde Bilder schnell und effektiv zu reagieren, erfordert Kästners Ver-
fahren eine bedächtigere, nicht mehr massen-, sondern wieder subjektorien-
tierte Form der Aufmerksamkeit: detektivische Spurensuche. Wie sich das
großstädtische Kino Durians in einen Erfahrungs- und Handlungsraum für
Neue Trends in der Weimarer Kinder- und Jugendliteratur 255
die Kinder verwandelt, ist das eigentlich Neue des Emil-Romans. Kästner
geht es um Urbanität als zivile Verhaltensform. Folglich ist seine Stadt auch
keine Zirkulationsmaschine, die von Kindern außer Kontrolle gebracht wer-
den kann, sondern ein aufgeräumter, öffentlicher Raum, der sich vernünftig
gebrauchen lässt und es auch den Kindern möglich macht, sich ihre eigene
demokratische Kinderöffentlichkeit selbst zu organisieren, republikanische
Tugenden in Aktion vorzuführen und das an Emil begangene Unrecht aus
der Welt zu schaffen. Das neue Kindheitsmuster aber und den Generations-
bruch, der bei Durian aufscheint, revidiert auch Kästner nicht: Auch ihm
sind die Kinder die Besseren, aber nicht die besseren Großstadtspezialisten,
sondern die besseren Demokraten. In Kästners Wunschperspektive einer
»klassenlosen Gesellschaft unter Kindern« (Doderer) fungiert die eigenstän-
dig und solidarisch handelnde Kindergruppe als positiver, utopischer Gegen-
entwurf zur Erwachsenenwelt.
In Pünktchen und Anton (1931) scheint das Konzept der vernünftigen
Stadt nicht mehr umstandslos aufzugehen. Ihre Straßen sind nicht mehr aus-
schließlich Flaniermeilen eines urbanen Weltstadtpublikums, sondern auch
Ort von Bettelei und Kinderarbeit. Sie legen Distanzen zwischen die Villa
Pogge im reichen Berliner Westen und Antons Mietstube in Mitte; aber es
gibt immerhin noch die Brücke, auf der Pünktchen und Anton als Repräsen-
tanten von Arm und Reich zusammentreffen. Sehr genau nimmt Kästner die
unterschiedlichen Lebensbedingungen der beiden Kinder in den Blick, an ih-
nen demonstriert er soziale Widersprüche, an ihrer Kinderfreundschaft aber
die fiktive Möglichkeit ihrer Aufhebung – eine Aufgabe, die er letztlich den
lesenden Kindern zuschreibt. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise
kann die Stadt offensichtlich die Funktion, Lernort lebendiger Demokratie
zu sein, nicht mehr ohne Weiteres erfüllen, auch ihre Erzählung braucht die
moralische Unterstützung der eingeschobenen auktorialen »Nachdenkereien«.
Seinen Ausflug in die Alltagswirklichkeit sozialer Klassenkindheiten hat
Kästner nicht wiederholt. In Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee
Das Kästner-Modell und der Kästner-Stil sind schon von den Kinderbuch-
autoren der Weimarer Zeit oft adaptiert worden; seit der Weltwirtschaftkrise
treten aber zunehmend Versuche auf, seiner Wunschperspektive urbaner
Kindheit realistischere Konturen zu geben. Bei Autorinnen wie Lisa Tetzner,
Anni Geiger-Gog oder Ruth Rewald wird damit ein Gewinn an Authentizität
erreicht, die an die sozialen Klassenmilieus gebunden bleibt. Hier sind es vor
allem die eigenen Straßen im ›Kiez‹, die als Schauplätze einer proletarischen
Kinderöffentlichkeit fungieren und die für die Kinder der Mietskasernen
nicht nur die einzige Möglichkeit bieten, den engen Wohnungen zu entkom-
men. Sie sind darüber hinaus Handlungsorte von eingeschworenen Kinder-
freundschaften, aber auch von Kinderbanden (Geiger-Gog: Fiete, Paul und
Co. Die von der Webergasse, 1932), deren aggressive Aktivitäten zumeist in
sinnvolles, solidarisches Handeln überführt werden, etwa in das mühsame
Geldverdienen für einen Fußball, mit dem alle spielen können (Tetzner: Der
Fußball, 1932) oder im kollektiven Schreiben und Inszenieren eines Vaga-
bunden-Theaterstücks während der Ferienzeit, in der eben nicht verreist
werden kann (Rewald: Müllerstraße, 1932). Bergender Raum sind hier nicht
das Zuhause, sondern Hinterhöfe, Dachböden, Sportplätze. Vom ›Kiez‹ aus
wird auch hier die Stadt erobert, werden Räume angeeignet und für die eige-
nen Zwecke umgewidmet, aber vorkommende Ausflüge in die Bezirke des
Überflusses und des Geldes (auffällig ist das immer wiederkehrende Motiv
des Warenhauses) enden nicht, wie bei Kästner, als Konstruktion gehäuften
Glücks im Happy End, sie bleiben als mobile und nomadische Grenzüber-
schreitungen deutlich. Bezeichnenderweise handeln diese Kinder zwar selb-
ständig, sie sehen sich aber nicht als autonom und unabhängig von den Er-
Alex Wedding: Ede und
wachsenen ihrer Klasse. Das gilt besonders für die proletarisch-revolutio- Unku. Berlin 1931
nären Versuche einer Großstadtliteratur für Kinder wie Alex Weddings Ede
und Unku (1931), die in deutlicher Opposition zu Pünktchen und Anton
nicht nur die Freundschaft zwischen einem Arbeiterjungen und einem Sinti-
Mädchen thematisiert und die gängigen Vorurteile gegen die ›Zigeuner‹ kri-
tisch hinterfragt, wie es vor ihr schon Jo Mihaly in Michael Arpad und sein
Kind (1930) unternommen hatte. Sie entwirft auch ein explizit kinderlitera-
risches Klassenkampfmodell, in dem Kinder und Erwachsene für ihre ge-
meinsamen politischen Interessen an einem Strang ziehen.
An kaum einem Genre lässt sich die Modernisierung von Familienverhält- ›Neue Mädchen‹
nissen, Generations- und Geschlechterrollen so deutlich verfolgen wie in der
Mädchenliteratur der 20er Jahre. Hier ist die Gleichzeitigkeit des Ungleich-
zeitigen mit Händen zu greifen. In der Mehrzahl der Mädchenbücher wird
weiterhin die Rolle der Frau als Hüterin von Heimat und Familie festge-
schrieben, aber der Nachdruck, mit dem das geschieht, zeigt, dass hier weni-
ger frühere Selbstverständlichkeiten am Werk sind als Harmoniebestrebun-
gen und Illusionsbedürfnisse. Eine Erfolgsschriftstellerin wie Josephine Siebe
versucht mit kuscheligen Puppen- und Bärengeschichten (Sechs Bärenbrüder,
1927; Das lustige Puppenbudi, 1929) gegenzusteuern und gibt weiter das
Töchteralbum nach bewährtem Muster heraus. Aber sie verfasst auch die
witzigen Kasperle-Bände (1921–30), in denen die respektlosen »lustigen
Streiche« des kleinen Kerls von der Sehnsucht nach einem fehlenden mütter-
lichen Zuhause grundiert werden. Weiterhin werden auch Serien nach dem
Backfischmuster verfasst, so von Magda Trott und vor allem von Else Ury,
deren Nesthäkchen-Serie (1913–25) zu den meistgelesenen Mädchenbüchern
der Weimarer Republik gehörte (bis 1933 wurden zwei Millionen Exemplare
abgesetzt). Aber auch bei Nesthäkchen, die schon 1925 »mit weißem Haar«
auf ihre Enkel blicken kann, halten die neuen Zeiten Einzug, gilt die Heirat
258 Weimarer Republik
nicht mehr als letzte Erfüllung und werden auch Berufswünsche der Mäd-
chen akzeptiert.
Nesthäkchens freche Daneben beginnt sich bei der jungen emanzipierten Autorinnengeneration,
Enkel die ihr literarisches Debüt in den 20er Jahren hatte, ein völlig neues Mäd-
chenbild durchzusetzen. Wie in den Bibi-Bänden der dänischen Schriftstelle-
rin Karin Michaelis (ab 1929 zeitgleich auf dänisch und deutsch erschienen)
durchbrechen die Heldinnen der neuen Mädchenbücher traditionelle ge-
schlechtsspezifische Verhaltensmuster, zeigen rollenflexible Charaktereigen-
schaften und erobern sich Handlungs- und Bewegungsmöglichkeiten, die
bisher nur den Jungen vorbehalten waren. »Nickelmann ist ein Mädchen«,
so eröffnet z. B. Tami Oelfken ihren Roman Nickelmann erlebt Berlin (1931).
Bezeichnenderweise ist das aus dem Titel nicht ersichtlich und auch der Un-
tertitel, ein »Großstadtroman für Kinder und deren Freunde«, verweigert
sich der Klassifizierung als konventionelles Mädchenbuch. Nesthäkchens
freche Enkel wachsen eher in vaterlosen als in kompletten Familien auf, ihre
Mütter sind in der Regel berufstätig und mehr Freundinnen als Autoritäts-
personen, ausgestattet mit großem Verständnis für die Bestrebungen ihrer
Töchter, sich aus der engen Fixierung an den privaten familiären Raum zu
lösen und ihren Aktionsradius in die Großstadt hinein zu erweitern. So weiß
Nickelmanns Mutter, dass nach dem »Puppenwagenjahr« die »Rollerjahre«
folgen und für ihre Tochter »jedes Jahr die Welt ein Stück größer« und kon-
fliktreicher wird.
Diese erste Generation selbständiger Mädchen in der Kinderliteratur ist
klug, aufmüpfig, aktiv und unabhängig und in ihrer androgynen Erscheinung
deutlich dem Typ der ›Neuen Frau‹ der 20er Jahre nachgebildet. Sie wehren
sich gegen eine ein für allemal festgelegte Identität und klagen ihre Gleichbe-
rechtigung z. B. auch mit geschlechtsunspezifischen, einsilbigen Namen ein:
»Karl klingt dunkelgrün und Emil ist ein Brechmittel«, meint Elisabeth, die
Protagonistin von Lotte Arnheims Lusch wird eine Persönlichkeit (1932) in
deutlicher Anspielung auf Kästners Emil: »Ich heiße für fremde Leute Ellen,
aber so manchmal Ellusch und meistens Lusch. Lusch klingt sehr sachlich
[...]. Wenn man mich ruft, kann ich doch auch viel schneller da sein als mei-
netwegen Elisabeth.« Während die kleine Nickelmann (ein Gegenbild zu
Werner Bergengruens Zwieselchen, 1931) den Typus des kinderliterarischen
Flaneurs vertritt, der Erfahrungen durch Beobachtung des Geschehens auf
der Straße macht, sich aber kaum einmischt, nimmt die ältere Lusch ange-
sichts der prekären finanziellen Lage, der sich die Eltern hilflos ausgeliefert
fühlen, das Wohlergehen der Familie aktiv und kompetent in die eigene
Hand. Die ›Neuen Mädchen‹ sind stärker und flexibler als ihre Elterngenera-
tion, vor allem sind sie aktiver und näher am zeitgenössischen Leben. Sie
bewähren sich auch in bisher nur von Jungen dominierten Positionen, treten
als Anführerinnen von gemischten Kindergruppen in Erscheinung oder füh-
ren sogar Kriege. Ihr unübertroffenes Vorbild scheint die gekränkte Amazone
Daniela aus Wilhelm Speyers Kampf der Tertia zu sein, die als einziges Mäd-
chen der Tertia ihr ureigenes Territorium gegen die Jungen mit zwei Doggen
und dem Warnschild verteidigt: »Halt! Wer weitergeht, wird erschossen! Ich,
Daniela!« Speyers Schulstaat wird in Kadidja Wedekinds Kalumina. Roman
eines Sommers (1933) durch das Spielmodell eines Kaiserreichs refeudali-
siert, dessen 15-jährige Kaiserin Carola mit unbegrenzter Macht über ihre
sämtlich männlichen Untertanen ausgestattet ist. Anders als in dieser ein-
fachen Verkehrung der üblichen Herrschaftsverhältnisse macht Grete Berges
in Liselott diktiert den Frieden (1932) einen vernünftigen Vorschlag: Hier
gründet die Heldin einen Mädchenbund zum Selbstschutz und zur Verteidi-
Neue Trends in der Weimarer Kinder- und Jugendliteratur 259
gung von Mädchenrechten. Mit Mut und Köpfchen gehen die Mädchen
siegreich aus dem Kräftemessen mit ihren Konkurrenten, einer Jungenclique,
hervor und schaffen es, ihnen den Frieden der Geschlechter zu diktieren.
Die moderne Kinderliteratur der 20er Jahre reflektiert nicht nur die Ver- Jugend und Welt
änderung von Kindheit, sie trägt auch ihrerseits zu deren Modernisierung
bei. Der Akt der Synchronisation, den sie vollzieht, greift über die nationalen
Grenzen weit hinaus: Wie die Wochenschauen und Rundfunkreportagen
möchten neue Kinderzeitschriften und Jahrbücher den Kindern »die Augen
für die Welt öffnen« und sie einbeziehen in das, was auf der Welt passiert.
Aber auch fiktionale Texte tragen ihren Teil dazu bei, den kindlichen Hori-
zont zu erweitern. In der Tendenz erfolgt dabei ein Wechsel der Perspektive
vom kolonialen Erobererblick der früheren Abenteuerbücher hin zur neugie-
rigen Erkundung auch anderer Lebensmöglichkeiten. In Wie Franz und Grete
nach Rußland kamen (1926) preist Berta Lask in agitatorischer Absicht die
Errungenschaften der jungen Sowjetunion, während in den neusachlichen
Kinderbüchern die Reise mit Vorliebe in Richtung Westen geht. So nutzt
Erika Mann (Stoffel fliegt übers Meer, 1932) das Motiv des kindlichen Aus-
reißers, um u. a. das Großstadtleben New Yorks vorzustellen. Die Thematik
des Eigenen und des Fremden im Sinne von Völkerfreundschaft und Rassen-
versöhnung entwickeln auch Hans Leip in Ein Nigger auf Scharhörn (1927)
und Balder Olden in Madumas Vater. Eine Knabenerzählung aus Afrika
(1928). Deutliche Opposition zu Kriegsverherrlichung und Militarismus be-
zieht schließlich Rudolf Frank in Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua
(1931).
Mit dieser Art von Weltoffenheit machte der Sieg des Nationalsozialismus
gründlich Schluss. Die Zäsur 1933 bedeutete für viele der Autoren und Auto-
rinnen Vertreibung, Exil, Innere Emigration; ihre Bücher wurden verboten
und verbrannt. Die wichtigste Institution der Jugendschriftenbewegung, die
Jugendschriften-Warte, ließ sich gleichschalten und stellte sich in den Dienst
der Propaganda völkischer Gesinnung. Die neuen Geistigen Grundlagen der
Arbeit am Jugendschrifttum lauteten nun: »Was diesem ersten und wichtigs-
ten Ziele schädlich ist, was überwundene liberalistische, individualistische
und pseudosozialistische Tendenzen an die Jugend heranträgt, was artfremd
ist und undeutsch, das wird ausgemerzt werden aus dem Erziehungsgut der
deutschen Jugend« (Jugendschriften-Warte, 1933).
260
Annegret Völpel
Definition und Unter jüdischer Kinder- und Jugendliteratur sind diejenigen Texte zu verste-
Grundzüge hen, die an jüdische Heranwachsende adressiert waren und von der jüdischen
Gemeinschaft als ihre kultureigene Literatur angesehen wurden. Die Träger-
schaft wies ihr die Funktion zu, die Leser in ihrer Zugehörigkeit zum Juden-
tum zu bestärken – wobei die Majorität der deutschen Juden dafür eintrat,
jüdisches Selbstbewusstsein als Bestandteil der deutschen Gesellschaft zu
fördern. Der sozialhistorischen Situation der deutschen Juden entsprechend,
waren diese Kinder- und Jugendschriften eine Minoritätenliteratur, der am
Kulturaustausch gelegen war, die sich jedoch auch der jüdischen Kulturwah-
rung verschrieb. In jüdischer Kinder- und Jugendliteratur fand eine Kommu-
nikation über die mehrfache Kulturzugehörigkeit und deren Austarierung zu
einer deutsch-jüdischen Identität statt. Hierbei war Literatur nicht nur ein
Medium des interkulturellen Austausches mit der nichtjüdischen Umwelt,
sondern diente auch der binnenkulturellen Auseinandersetzung mit innerjü-
dischen Strömungen. Insgesamt gesehen trat die jüdische Kinder- und Ju-
gendliteratur im deutschen Sprachraum daher als eine multiterritoriale und
mehrsprachige (deutsche, jiddische, hebräische) Minderheitenliteratur in Er-
scheinung. Im Verlauf ihrer wechselhaften Geschichte äußerte sich in dieser
Literatur eine Vielzahl jüdischer Selbsteinschätzungen, die sowohl dem sozi-
alhistorischen Wandel als auch der geistigen Heterogenität des deutschen
Judentums entsprach.
Entwicklungsphasen In der Geschichte der deutschsprachigen jüdischen Kinder- und Jugendli-
bis 1918 teratur lassen sich von der Mitte des 18. Jh.s bis 1918 vier Entwicklungsab-
schnitte benennen: die Aufklärung, die Reformpädagogik, die Neo-Orthodo-
xie und die Jahrhundertwende. Mit diesem Phasenverlauf partizipierte die
deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis zum Ende des 19. Jh.s mehr
an den Entwicklungsrhythmen der jüdischen Erwachsenenliteratur als an
denen der nichtjüdischen deutschen Literaturgeschichte.
Frühe Formen der literarischen Mitansprache von Kindern sind bereits für
den Zeitraum seit 1100 nachweisbar, da man bestrebt war, Kinder in den
religiösen Kanon (vor allem in den Tenach) einzuführen. Seit dem 14. Jh.
wurden für Schüler hebräische Kompendien mit religionsgesetzlichem Inhalt
verfasst, die Pessach-Haggada wurde für Kinder didaktisch umgestaltet, und
im 16. Jh. kamen doppelt adressierte jiddische Bücher hinzu.
Aufklärung Der Umbruch zu einer spezifischen Kinder- und Jugendliteratur vollzog
sich jedoch erst im Verlauf der jüdischen Aufklärung, der Haskala, im Zu-
sammenhang mit der sozialen und mentalen Entgettoisierung der Juden. Mit
der Haskala entstand ein Interesse an der Schaffung und adressatengemäßen
Entwicklungen von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1918 261
Seit 1918 erlebte die jüdische Kinder- und Jugendliteratur eine Hochblüte. Hochphase jüdischer
Die zuvor entwickelten Maximen einer selbstbewusst zu vertretenden kultu- Kinder- und Jugend-
rellen Differenz zur nichtjüdischen Umwelt sowie die Forderung nach künst- literatur
lerisch wertvollen Kinder- und Jugendschriften wurden in der literarischen
Praxis der Weimarer Republik erstmals breitenwirksam umgesetzt. Gemäß
den theoretischen Forderungen nach einer dezidierten Zurückweisung anti-
semitischer Literatur und nach der Entwicklung einer modernen jüdischen
264 Jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis 1945
Thematisch vom
Judentum geprägte
Kindermärchen
Zionistische
Kindermärchen
Jüdische Literatur in der Weimarer Republik 269
Illustration von
Hans Baluschek zu
Cheskel Zwi Klötzels
Erzählung BCCü
derne und spezifische Kinder- und Jugendliteratur eine zweite Hochblüte er- Literarische Hochblüte
lebte. Dieser Entwicklungsschub lässt sich daran verdeutlichen, dass in diesen im Kulturgetto
sechs Jahren nicht nur Neuausgaben, sondern auch eine Vielzahl an Neuer-
scheinungen jüdischer Kinder- und Jugendliteratur veröffentlicht wurden. Im
Verlauf dieser Hochphase äußerte sich in allen Gattungen eine radikale Des-
illusionierung über die bis zur Existenzbedrohung verschärften Lebensbedin-
gungen jüdischer Kinder. Symptomatisch ist der Anstieg warnender Auffor-
derungen zur Auswanderung, die keineswegs mehr nur in zionistischen Tex-
ten vorkamen.
Der Produktionsschub erfasste auch die Lehrschriften. Um administrati-
ven und sozialen Schikanen zu entgehen, wechselten viele Kinder auf jüdische
Schulen. Diese sahen sich durch den Zulauf mit einem Mangel an geeigneten
Lehrbüchern konfrontiert, die sowohl behördlichen Auflagen genügen muss-
ten als auch für eine jüdische Sozialisation geeignet sein sollten. Infolgedessen
wurden neue Lehrbücher geschaffen, wobei insbesondere die Reihe Jüdische
Lesehefte (1934–1938) hervorzuheben ist, die Adolf Leschnitzer im Auftrag
der ›Reichsvertretung der Juden in Deutschland‹ herausgab.
Auch in der unterhaltenden Kinder- und Jugendliteratur gab es weiterhin
erhebliche Veränderungen. In der Lyrik wurden nun verstärkt zionistische
Auffassungen vertreten; dies schlug sich in Gedichtsammlungen von jungen
Lyrikern wie Ludwig Strauß und in Liederbüchern der Jugendbewegung wie
Hawa Naschira! (1935) nieder. Beim Kinderschauspiel wurden neben der
fortgesetzten familiären und schulischen Aufführungspraxis etliche Neuin-
szenierungen und Puppenspiele durch die Kinder- und Jugendbühnen des
›Kulturbundes deutscher Juden‹ realisiert, bis dieser 1941 seine Tätigkeit
einstellen musste. Das vom Kulturbund getragene Figurentheater offerierte
u. a. entlastende Unterhaltung, indem es Kasperlkomödien von Franz Graf
von Pocci aufführte. Dieser Rückgriff auf renommierte Werke der Dramen-
geschichte war ebenso für die Kinder- und Jugendschauspiele des Kulturbun-
des kennzeichnend. Die Programmgestaltung der Jugendbühnen war erkenn-
bar von der Intention bestimmt, die Jugend in jüdische und weltliterarische
Dramen einzuführen und einer durch die gesellschaftliche Ausgrenzung dro- Emigrationsaufforderung
henden mentalen Isolation entgegenzuwirken. Einen besonderen Aufschwung im Kinderbuch
erlebte die gegenwartsorientierte jüdische Kinder- und Jugenderzählung. Zu
ihr gehörten Mädchenerzählungen, die von Setta Cohn-Richter (Mirjams
Wundergarten, 1935), Josefa Metz (Eva, 1937), Meta Samson und Gertrud
Kolmar (Susanna, verf. 1939/40, veröff. 1959) weiterentwickelt wurden. In
den Erzählungen hob man anfangs noch die deutsch-jüdischen Kulturbezie-
hungen hervor, spätestens seit 1935 jedoch überwog die ausschließliche Be-
zugnahme auf jüdische Religion, Geschichte und Kultur. Da der Zionismus
die nunmehr wichtigste Zukunftsperspektive eröffnete, bereitete man mit
Kinderbüchern wie Die Zauberdrachenschnur von Ludwig Strauß, Jakob
Simons Die Vier von Kinnereth oder Irma Mirjam Berkowitz’ Benni fliegt ins
gelobte Land (alle 1936) [[Abb. 7]] die Leser mental auf die Emigration nach
Palästina vor. Überwiegend für männliche Leser wurden neuartige zionisti-
sche Abenteuererzählungen geschaffen. Den Kernbereich dieses neuen Genres
bildeten Elieser Smollys Der Retter von Chula (1934/35), Salo Böhms Hel-
den der Kwuzah (1935/36), Bernhard Gelbarts Die Jungen vom ›Gusch‹ und
Jakob Simons Lastträger bin ich (beide 1936). Für die zionistische Literatur
waren diese erzählenden Kinder- und Jugendbücher eine Innovation; mit ih-
nen setzte sich neben den informativen Sachschriften erstmals Unterhaltung
als gleichberechtigtes Anliegen zionistischer Kinder- und Jugendliteratur Zionistische Abenteuer-
durch. Um das neue Genre zeitgemäß zu gestalten und seine Akzeptanz zu erzählung
274 Jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis 1945
Faschismus
Petra Josting
fende RJF, die sich beide für die Erziehung, insbesondere auch für die litera-
rische Erziehung der Jugend verantwortlich fühlten. Zur Begutachtung und
Förderung der auf dem Markt vorhandenen Kinder- und Jugendliteratur
richtete die RJF im Sommer 1933 eine Abteilung ein, deren Buchbestand sich
anfänglich aus der etwa 12000 Bände umfassenden Kinder- und Jugend-
buchsammlung von Karl Hobrecker zusammensetzte. Diese Abteilung hatte
ab Dezember 1934 wie die Jugendschriftenstelle des NSLB die Funktion
eines Vorlektorates für das Hauptreferat Schrifttum der Reichsstelle zur För-
derung des Deutschen Schrifttums. Im Jahr 1935 gelang es der RJF aber, ein
selbständig arbeitendes Jugendschriftenlektorat einzurichten, mit dessen
Leitung Fritz Helke betraut und das in den folgenden Jahren mehrfach um-
strukturiert wurde, bis es 1941 den Status einer Reichsschrifttumsstelle be-
kam. Der Organisationsapparat des NSLB war hingegen nur wenigen Um-
strukturierungen unterworfen. Durch geschicktes Taktieren erreichten seine
Funktionäre, die seit 40 Jahren von den Vereinigten Deutschen Prüfungsaus-
schüssen für Jugendschriften geleistete Begutachtungstätigkeit zu überneh-
men; dies bedeutete auch die Übernahme der Zeitschrift Jugendschriften-
Warte. Unter der Führung von Eduard Rothemund baute der NSLB bereits
im Sommer 1933 ein Sachgebiet Jugendbuch auf, das man unter dem Namen
›Unterabteilung Jugendschrifttum‹ Ende 1935 in die neu gegründete Abtei-
lung Schrifttum verlagerte. Rothemund hate die Leitung sowohl der Jugend-
schriftenstelle als auch der 1938 neu eingerichteten Unterabteilung Schüler-
zeitschriften bis zur ›Stilllegung‹ des NSLB im Jahr 1943 inne.
Entsprechend der NS-Devise, eine ›positive Schrifttumspolitik‹ zu betrei- ›Positive‹
ben, zielten die meisten öffentlichen Aktivitäten im Kinder- und Jugendlitera- Schrifttumspolitik
tursektor wie im gesamten Literaturbetrieb darauf ab, diejenige Literatur zu
fördern, die den Grundsätzen der NS-Literaturpolitik entsprach. Diskussi-
onen über ›unerwünschte‹, ›ungeeignete‹ oder ›schädliche‹ Literatur wurden
in der Öffentlichkeit insbesondere nach der Aufhebung des aus der Weimarer
Republik stammenden Schmutz- und Schundgesetzes im Jahr 1935 weitge-
hend vermieden. Ziel dieser Politik war es, die Selbstzensur im Buchhandel
und Verlagswesen zu verstärken, die Öffentlichkeit erst gar nicht auf ›uner-
wünschte‹ Literatur aufmerksam zu machen und dem Ausland gegenüber
den Schein der Liberalität zu wahren.
Grundlage für die Förderung ›guter‹ Kinder- und Jugendliteratur, die man
offiziell in den Mittelpunkt der literaturpolitischen Arbeit stellte, war die
Beurteilung der auf dem Buchmarkt zur Verfügung stehenden Literatur, d. h.
alle Neuerscheinungen und Neuauflagen, aber auch der ältere, in Biblio-
theken und Büchereien vorhandene Buchbestand sollten einer Prüfung unter-
zogen werden. Es wurden Schulungswochen wie auch Tagungen zu spezi- Verzeichnisse und
fischen Themen der Kinder- und Jugendliteratur veranstaltet. Die positiv be- Listen
werteten Titel wurden zum Teil im Karteiteil der monatlich erscheinenden
Jugendschriften-Warte angezeigt, in der Mehrzahl aber in die jährlich publi-
zierten, zwischen 600 und 1200 Titel umfassenden Jugendbuchverzeichnisse
Das Buch der Jugend 1934/35 oder Das Buch der deutschen Jugend 1939/40
aufgenommen, die man nicht nur Verlegern, Bibliothekaren und Buchhänd-
lern als Ratgeber empfahl, sondern gleichermaßen Eltern und den Heran-
wachsenden selbst. Zudem wurden thematisch ausgerichtete Listen empfeh-
lenswerter Kinder- und Jugendliteratur zusammengestellt, wie z. B. die ›Hei-
matliste‹ Das Sachsenland in der Jugendschrift (1934), die Liste szenischer
Texte Für Fest und Feier (1935) oder das ausschließlich preiswerte Bücher
enthaltende Verzeichnis Deutsches Wesen und Schicksal (1936). Der Zusam-
menstellung der Verzeichnisse und Listen ist zu entnehmen, dass man sich bei
278 Faschismus
der Begutachtung nicht auf die spezifische Kinder- und Jugendliteratur be-
schränkte, sondern auch Literatur für Erwachsene einbezog, die primär den
Ausstellungen Jugendlichen empfohlen wurde. Seit 1934 organisierte man im Kontext der
und Preise jährlich im Herbst in ganz Deutschland durchgeführten ›Woche des deut-
schen Buches‹ Ausstellungen mit Kinder- und Jugendbüchern. Erwähnens-
wert sind außerdem die beiden ab 1936 jährlich veranstalteten Ausschrei-
bungen des Hilf-mit-Preises (für noch unveröffentlichte Erzählungen, Ge-
schichten und Gedichte) und des Hans-Schemm-Preises (für Neuerscheinungen
des Vorjahres), mit denen namhafte, aber auch noch unbekannte Schriftstel-
ler zum Schreiben ›guter‹ Kinder- und Jugendliteratur für Heranwachsende
im Alter bis zu 14 Jahren animiert werden sollten.
NSLB an, nachdem sie sich eingestehen musste, dass die alleinige Forderung
nach der ›richtigen‹ Gesinnung eine Flut von Büchern auf den Markt ge-
bracht hatte, die in keiner Weise der Vorstellung von ›guter‹ Kinder- und Ju-
gendliteratur entsprach.
Für die konkrete Begutachtungsarbeit waren die genannten Bewertungs-
kriterien jedoch wenig hilfreich, so dass der NSLB sich dazu entschloss, sys-
tematisch für alle Genres der Kinder- und Jugendliteratur unter Berücksichti-
gung literarästhetischer Aspekte eine bewertungsleitende Theorie zu entwi-
ckeln. Die Ergebnisse dieser theoretischen Arbeit fielen – sofern sie bis zum
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges fertiggestellt waren – ausgesprochen
dürftig aus, da sie wieder rein programmatischer Art waren und in keiner
Weise literarästhetische Fragestellungen aufgriffen. Zum einen wurde stets
nur Authentizität reklamiert, die in den Begriffen ›Erlebnisnähe‹ und ›Echt-
heit‹ ihren Ausdruck fand; zum anderen sollte die Kinder- und Jugendlitera- Zentrale Tugenden
tur jene Tugenden und Einstellungen vermitteln – ›Heldentum‹, ›Kampfes-
mut‹, ›Opferbereitschaft‹, ›Lebensbejahung‹, ›Treue‹, ›Mut‹, ›Pflichtbewusst-
sein‹ und ›Vaterlandsliebe‹ –, die für das NS-Herrschaftssystem funktional
waren.
Bei dem Versuch einer Gesamteinschätzung der in der NS-Zeit auf dem
Buchmarkt vorhandenen Literatur hat vor allem Ketelsen in verschiedenen
Studien darauf aufmerksam gemacht, dass die Tendenz, von der Literatur des
›Dritten Reiches‹ zu sprechen, den Blick sehr verenge, weil darunter nur jene
Werke fielen, die unübersehbar nationalsozialistische Ideologeme verkünde-
ten und die sich propagandistisch in den Dienst des NS-Staates stellten. Eine
solche Propagandaliteratur dominierte aber weder den gesamten Literatur-
markt noch das Subsystem Kinder- und Jugendliteratur. Zwar sind keine ge-
nauen Zahlenangaben möglich, doch macht die Propagandaliteratur inner-
halb des Gesamtspektrums nur einen kleinen Teil aus. Die Literatur, die den
Kindern und Jugendlichen in der NS-Zeit in Buchhandlungen sowie in öf-
fentlichen und privaten Bibliotheken und Büchereien zur Verfügung stand,
ist also nicht nur daraufhin zu untersuchen, ob und in welchem Grad sie
NS-Ideologie transportiert. Zu untersuchen ist vielmehr vorrangig – und erst
daran ist ihre unterschiedlich ausgeprägte NS-Affinität festzumachen –, in- NS-Affinität
wiefern sie die oben genannten, für das NS-System funktionalen Einstellun-
gen und Tugenden zu vermitteln vermochte. Nur so ist zu erklären, warum in
die Vielzahl von Listen und Katalogen mit empfohlener Kinder- und Jugend-
literatur Bücher aufgenommen wurden, die in nicht unerheblicher Zahl aus
der Zeit der Weimarer Republik, dem Kaiserreich oder sogar noch früheren
Epochen stammen, die als traditionelle Literatur einzustufen sind und die in
einigen Fällen noch heute zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur
zählen.
Bei den Texten zeigt sich im Blick auf das Gesamtspektrum wie in der
Vergangenheit eine Dominanz von Erzählungen und Romanen; daneben gab
es szenische und lyrische Texte, Märchen, Sagen, Bilderbücher, Sach- und
Ratgeberliteratur, Biographien, Jahrbücher, Zeitschriften, Kalender etc. In
thematischer Hinsicht kristallisieren sich verschiedene Bereiche heraus. Bü-
280 Faschismus
heit, Kameradschaft und Ehre sichtbar werden. Die harte und saubere Gestalt
des Wolf Renner ist das Vorbild des Jungenführers. Unsere Jungen spüren,
ein Kamerad erzählt aus vollem Herzen.«
Ein Bestseller der Bücher zur ›Kampfzeit der Bewegung‹ war Karl Aloys
Schenzingers schon 1932 publizierter Roman Hitlerjunge Quex, eine Auf-
tragsarbeit des damaligen HJ-Führers Baldur von Schirach, der zunächst als
Fortsetzungsroman im Völkischen Beobachter erschienen war. Bereits ein
Jahr später präsentierte die UFA den gleichnamigen Film mit dem Untertitel
Vom Opfergeist der deutschen Jugend (1933). Der Regisseur Hans Steinhoff
setzte die modernsten technischen Errungenschaften ein; sowohl das Buch
als auch der Film stellen Propagandaklassiker des ›Dritten Reiches‹ dar.
Schenzinger beschreibt die allmähliche Wandlung des 15 Jahre alten Heini
Völker vom Kommunismus-Anhänger zum überzeugten HJ-Mitglied, der
wie das historische Vorbild Herbert Norkus den Tod eines modernen Märty-
rers stirbt. Heini ist im beengten und von finanziellen Nöten gekennzeichne-
ten Arbeitermilieu der Weimarer Republik groß geworden; mit dem Vater,
den die Arbeitslosigkeit in den Alkoholismus getrieben hat, versteht er sich
zunehmend schlechter. Diese Verhältnisse möchte er hinter sich lassen, etwas
Neues und Besseres beginnen. In dieser Situation lernt er den aus bürgerli-
chem Milieu stammenden Gymnasiasten Fritz Dörries kennen, der Mitglied
der HJ ist. Doch ist es nicht Fritz, der Heini bekehrt, die Bekehrung vom Bekehrung als ›inneres‹
Kommunismus zum Nationalsozialismus vollzieht sich als ein ›inneres‹ Er- Erlebnis
lebnis: Als Heini mit seiner kommunistischen Jugendgruppe auf einer Wan-
derfahrt unterwegs ist, deren Gemeinschaft ihm immer weniger zusagt,
nimmt er des Nachts in der Ferne einen Lichtschein wahr, dem er folgt. Er
stößt schließlich auf ein Lagerfeuer, umgeben von einer großen Zahl von
singenden Hitler-Jungen, die alle gleich aussehen. Schenzinger arbeitet in
dieser Szene geschickt mit Lichtmetaphern. Heini lässt die Dunkelheit und
damit den Kommunismus hinter sich, bewegt sich auf das Licht, d. h. die
282 Faschismus
Gemeinschaft der Hitler-Jungen zu, die das Bild der Gleichheit symbolisieren.
»Ich bin auch ein Deutscher«, entfährt es ihm, und »er fühlte, daß er mit
diesen Jungen gehen möchte, daß hier das gerade Gegenteil war von dem,
was in der Clique vor sich ging, daß hier Ordnung war, Ordnung«. Heinis
Bekehrungserlebnis, die von den HJ-Mitgliedern jederzeit hoch gehaltenen
Tugenden Ordnung, Disziplin, Tapferkeit und Kameradschaft und natürlich
nicht zuletzt Heinis Blutopfer für die ›Bewegung‹ entsprachen den Vorstel-
lungen der NS-Ideologen. Die Tatsache aber, dass das Buch während der
NS-Zeit geradezu zum Muster und Vorbild wurde – bis 1942 erreichte es
eine Auflage von 324000 Exemplaren –, liegt u. a. darin begründet, dass
Schenzinger bei der literarischen Gestaltung des Themas ›Geschichte der Be-
wegung‹ auf platte propagandistische Parolen verzichtete. Ein weiterer
Grund für die Popularität des Buches ist sicherlich die frühe Verfilmung und
damit die Verbreitung des Textes im Medienverbund.
Erziehung zum Krieg Quantitativ nahm die historische Literatur in der Kinder- und Jugendlitera-
tur des ›Dritten Reiches‹ den größten Raum ein, die wiederum in ihrer Mehr-
zahl Kriegsliteratur ist. Wie schon im Kaiserreich dient die Kriegsliteratur
der literarischen Mobilmachung und Wehrerziehung. Propagiert werden
Pflichterfüllung und Disziplin, vor allem aber Kampf- und Opferbereitschaft
bis hin zum heldischen Tod. Das Epochenspektrum reicht von der Steinzeit
bis zum Zweiten Weltkrieg; bevorzugt dargestellt werden jene Kriege, die für
die Deutschen eine ›schicksalhafte‹ Bedeutung hatten. Entsprechend dem of-
fiziellen Geschichtsbewusstsein, demzufolge das deutsche Volk bzw. seine
nordisch-germanischen Vorfahren schon immer ums Überleben hatten
kämpfen müssen, ist als Führergestalt und Befreier von römischer Herrschaft
Hermann bzw. Arminius der Cherusker besonders beliebt. Welche überra-
gende Rolle ihm darüber hinaus zuteil wurde, ist dem Titel von Hjalmar
Kutzlebs Roman zu entnehmen: Der erste Deutsche: Roman Hermann des
Cheruskers (1934). Auch Widukind, Herzog der Sachsen, wird zum vorbild-
Vorkämpfer der lichen ›Vorkämpfer der Bewegung, während Heinrich der Löwe als Vorbild
Bewegung für die Gewinnung von Raum im Osten dient. Die sich dahinter verbergende
›Volk ohne Raum‹-Ideologie, wie sie in Hans Grimms gleichnamigen Roman
aus dem Jahre 1926 zum Ausdruck kommt, der nicht nur Erwachsenen, son-
dern auch Jugendlichen als herausragendes literarisches Werk angepriesen
wurde, war allerdings vorrangig ein Thema der Kolonialliteratur. Deren An-
fänge reichen bis ins 18. Jh. zurück, doch erlebte die Produktion von Koloni-
alliteratur für Kinder und Jugendliche vor allem im Kaiserreich einen Auf-
schwung. Auf jene Literatur griff man in der NS-Zeit über Jahre hinweg zu-
rück – so z. B. auf Die Helden der Naukluft (1912) von Maximilian Bayer
oder Peter Moors Fahrt nach Südwest (1906) von Gustav Frenssen –, da
Neuerscheinungen auf diesem Gebiet erst mit Beginn des Zweiten Weltkriegs
in größerem Umfang auf den Markt kamen.
Neben Büchern über Kriegsführer dominierten solche, die den Bauern-
krieg, den Dreißigjährigen und den Siebenjährigen Krieg sowie die Napoleo-
nischen Kriege thematisieren. In öffentlichen Verlautbarungen beklagten so-
wohl Helke als auch Rothemund die Unbrauchbarkeit vieler dieser Titel,
Historische Literatur – Kriegsliteratur 283
weil sich offenbar auch auf diesem Sektor viel ›Konjunkturliteratur‹ breit
machte. Man schätzte es nicht, wie es in Rothemunds Vortrag Das Jugend-
buch in der deutschen Schule (1939, abgedruckt in der Broschüre Das deut-
sche Jugendbuch, 1942) nachzulesen ist, wenn die Protagonisten nationalso-
zialistisch ›auffrisiert‹ waren und das halbe Parteiprogramm herunterbeteten.
Unzufrieden war man auch mit der Produktion von Büchern über den Ersten Erster Weltkrieg
Weltkrieg. Kritisiert wurde die Überproduktion von Romanen und Erzäh-
lungen über die deutsche Luftwaffe und Flotte, während Bücher über die
Aufgaben des Heeres und die einzelnen Waffengattungen sehr vernachlässigt
würden. Dass Autoren und Verleger aber grundsätzlich die Darstellung des
Geschehens im Ersten Weltkrieg favorisierten, fand bei allen Literaturinstan-
zen ein positives Echo, denn in diesem Krieg sah man die Wurzeln der na-
tionalsozialistischen Bewegung, weil er mit der sogenannten Schmach von
Versailles endete, die es zu beseitigen galt. Zur Lektüre für Jugendliche wur-
den bevorzugt preiswerte Ausgaben mit Auszügen aus den Werken berühm-
ter Kriegsschriftsteller empfohlen, wie z. B. Der Wanderer zwischen bei-
den Welten (1916) von Walter Flex oder In Stahlgewittern (1920) von Ernst
Jünger.
Unter den nach Kriegsschauplätzen zu differenzierenden spezifischen Kin-
der- und Jugendbüchern ist die Zahl derer, die vom Kampf an der Westfront
erzählen, besonders groß, wozu z. B. Wir fordern Reims zur Übergabe auf
(1935) von Rudolf G. Binding gehört. Neben den Handlungs- bzw. Kriegs-
räumen West-, Ost- und Südfront spielen in etlichen Büchern auch ferne Ge-
biete wie die arabische Wüste oder Afrika eine wichtige Rolle. Während man
in Fritz Steubens [d.i. Erhard Wittek] Buch Karawane am Persergolf (1934)
die gelungene Mischung von Kriegs- und Abenteuerbuch lobte, war es in der
in Ostafrika spielenden Geschichte Heia Safari! (1920) von Paul von Lettow-
Vorbeck (1920) der ›deutsche Kolonialgeist‹, der besonders von der Kritik
hervorgehoben wurde. In kleinerer Zahl gab es ebenso Kriegsbücher, die von
Flucht und Gefangenschaft erzählten, denn auch auf dieses Schicksal sollten
die jungen Leser und Leserinnen vorbereitet werden.
In großer Zahl erschienen Seekriegsbücher. Sie erhielten die ungeteilte
Zustimmung der Literaturinstanzen, sofern die viel beschworene ›echte‹ und Umschlagbild zu Heia
›wirklichkeitsnahe‹ Schilderung des Kriegsgeschehens durch in den Gang der Safari! von Paul von
Handlung eingeflochtene Darstellungen über den Bau und die Technik der Lettow-Vorbeck
Boote oder über die Geschichte der Reichsmarine ergänzt wurde, wie z. B. in
den Büchern U-Bootsfahrten (1934) und Helden der See (1934) von Fritz O.
Busch. Diese und andere Bücher von Busch sind darüber hinaus Beispiele für
die neue Vorstellung von Sachliteratur, die nicht nur Wissen vermitteln, son-
dern auch einer ›Erlebnisschrift‹ gleichen sollte. Ein weiterer Teil der Litera-
tur über den Ersten Weltkrieg erzählt vorzugsweise von den Kämpfen der
Jagdflieger. Die neuen Komponenten, die diese Literatur kennzeichnen, sind Einswerden
die Verlebendigung des technischen Materials einerseits und die Verdingli- von Mensch und
chung des Soldaten andererseits. Beispielhaft anzutreffen sind diese neuen Maschine
Momente in Werner Chomtons Kriegsbuch Soldat in den Wolken (1933), zu
dem es in einer Kritik in der Jugendschriften-Warte heißt, das Kamerad-
schaftserlebnis bleibe dem Fliegersoldaten zwar versagt, doch erlebe er statt
dessen das »Einswerden von Mensch und Maschine«, das »tote Flugzeug«
werde seiner »Stofflichkeit entkleidet«, es verwandele sich in einen »Riesen-
vogel, auf dessen Herzschlag der Flieger aufmerksam lausche«.
Ein weiteres Kennzeichen der NS-Kriegsliteratur ist eine neue Form des
Heroismus. Nicht unkritisch und naiv glorifizierend bewegen sich die Helden
in den Schlachten des Krieges, wie man es vom ›Hurra-Patriotismus‹ des
284 Faschismus
Kaiserreichs kennt, sondern reflektiert und sachlich. Gleichwohl ist die Ge-
samtsicht auf den Ersten Weltkrieg verklärend, wozu die Vereinigten Deut-
schen Prüfungsausschüsse bereits in der Vergangenheit ihren Teil beigetragen
hatten. Angesichts der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges wandten sie sich
von Wolgasts Position, die Kinder- und Jugendliteratur dürfe nicht von poli-
tischen, konfessionellen oder patriotischen Interessen vereinnahmt werden,
ab und trugen zur Verbreitung ›guter‹ Kriegsliteratur bei, indem sie ab 1914
entsprechende Bücher empfahlen und in Listen publizierten.
Zweiter Weltkrieg Nur wenige Wochen nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wird auch
dieser Krieg Thema der Kinder- und Jugendliteratur, die in Buchlisten oft
unter der Rubrik ›Großdeutschlands Freiheitskampf‹ empfohlen wird. Es
entstehen literarische Texte, die wie jene über den Ersten Weltkrieg das Ge-
schehen an allen Kriegsschauplätzen und in allen Waffengattungen aufgrei-
fen. Was viele Neuerscheinungen jedoch von den älteren Texten unterschei-
det, ist ein völliger Verzicht auf literarästhetische Gestaltungsmomente.
Exemplarisch ist die von der RJF u. a. in Verbindung mit dem Oberkom-
mando des Heeres herausgegebene Reihe Die Kriegsbücherei der deutschen
Jugend. Im Mittelpunkt der von 1939 bis 1944 herausgegebenen 156 Hefte
steht wie in der noch wenige Jahre zuvor vehement von den Literaturinstan-
zen abgelehnten ›Schundliteratur‹ ein omnipotenter Held, der allein und eben
nicht wie offiziell gefordert in Gemeinschaft und für die Gemeinschaft hero-
ische Großtaten vollbringt. Die RJF unterstützte damit eine Produktions-
form, der Helke noch kurz vor Ausbruch des Krieges entschieden den Kampf
angesagt hatte. Mit dieser billigen Heftchenliteratur verfolgte man ähnlich
wie mit der im parteieigenen Eher-Verlag von 1940 bis 1942 produzierten
Reihe Kleine Kriegshefte offiziell das Ziel, den Leser über das aktuelle Kriegs-
geschehen zu informieren. De facto aber ist hinter allen Reihentiteln das Be-
mühen zu vermuten, die Überfälle der deutschen Wehrmacht als spannende
und abenteuerliche Expeditionen zu verkaufen, auf denen sich deutsche Sol-
daten heroisch bewährten.
Abenteuerliteratur
Titel wie Atlantikfahrt nach Süden (1939) von Georg Wurzel und Auf, nach
der Kokusinsel! (1934) von Wolf Durian ebenso wie die Klassiker von Karl
May, wie Daniel Defoes Robinson oder Jonathan Swifts Gullivers Reisen.
Öffentlich anerkannt wurden diese Klassiker, weil die Literaturkritik in ih-
nen immerhin eine Vorform des ›heldisch-erhöhten Lebens‹ zu erkennen
glaubte. Ausschlaggebend jedoch mag gewesen sein, dass es in der klassischen
Abenteuerliteratur häufig darum geht, fremdes Land einzunehmen, zu besie-
deln und stets die Überlegenheit der Weißen zu demonstrieren, womit zen-
trale Momente der NS-Rassenideologie erfüllt wurden.
Offenbar war das Genre der Abenteuerbücher umstritten, denn man be-
tonte ausdrücklich, dass seine große Beliebtheit eine theoretische Auseinan-
dersetzung erfordere. Zudem erhob man den Anspruch, sich mit ›echter‹
Abenteuerliteratur zu beschäftigen, die unter keinen Umständen als zweit-
rangige Gattung verstanden werden dürfe. Konsens bestand darin, die ju-
gendliche Vorliebe für die abenteuerliche Literatur als etwas Natürliches an-
zusehen. Der jugendliche Drang in die Ferne, die Sehnsucht der Jugend nach
Eroberung der Welt, ihre Suche nach dem Fremden, den Gefahren und den
Überraschungen des Lebens wurden als ›echtes‹ Lebensgefühl interpretiert,
das jedem Deutschen ›im Blute‹ liege. In der öffentlichen Diskussion um
›gute‹ Abenteuerliteratur nahm Fritz Steuben, der noch heute für seine
Kriegs- und Indianerbücher bekannt ist, gewissermaßen als Fachmann eine
federführende Position ein. Mit seinem Kriegsbuch Durchbruch anno acht-
zehn (1933), das er noch unter seinem Namen Erhard Wittek veröffentlichte
und das er ausdrücklich als Gegendarstellung zu Erich Maria Remarques
Anti-Kriegsroman Im Westen nichts Neues (1929) verstand, hatte er einen
immensen Erfolg. 1938/39 zeichnete man ihn, der für seine Jugendbücher
das Pseudonym Fritz Steuben benutzte, beim Hans-Schemm-Preisausschrei-
ben mit dem ersten Platz aus. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als England
und die USA in den Krieg eintraten, hatte Steuben keine Probleme damit, in
der klassischen angelsächsischen Abenteuerliteratur eine nationalsozialisti-
sche und damit ›deutsche Haltung‹ zu erkennen, wie ein in der Jugendschrif-
ten-Warte unter dem Titel Das Abenteuerbuch (1938) publizierter Aufsatz
zeigt. Defoes Robinson mit seiner Disziplin und Willensstärke zeigte seiner
Ansicht nach dem jugendlichen Leser, dass man alles selbst erarbeiten, wenn
nicht gar erzwingen müsse. James Fenimore Coopers Lederstrumpf, in dem
zwei Rassen schicksalhaft um ihr Recht auf Leben stritten, überzeugte ihn
aufgrund seiner Denk-, Sprach- und Gestaltungskraft. Das Schicksalhafte
spüre man in Swifts Gullivers Reisen, das ›Herrenrecht der weißen Rasse‹
veranschaulichten die Romane Jack Londons. Da die literarische Erziehung
der Jugend jedoch vorrangig mit ›volkseigenem‹ Schrifttum erfolgen sollte,
plädierte Steuben dafür, die genannten positiven Momente der angelsäch-
sischen Abenteuerliteratur zukünftig in der deutschen Kinder- und Jugendli-
teratur stärker herauszustellen.
Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass in der NS-Zeit Indianerlite- Indianerliteratur
ratur weitgehend positiv bewertet wurde, schließlich handelte es sich bei den
Indianern aus nationalsozialistischer Sicht um eine den ›Ariern‹ unterlegene
Rasse. Man versuchte sämtliche Zweifel gegenüber diesem Genre aus dem
Weg zu räumen, indem man darauf hinwies, dass der Indianer der Gegenwart
nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinen tapferen Ahnen habe, deren Ver-
zweiflungskämpfe große Parallelen zum ›germanischen Heldentum‹ aufwie-
sen und der Jugend deshalb alle Ideale böten, die sie in der Abenteuerliteratur
suche. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass bei aller ›Heldenhaftigkeit‹,
die die Indianer vorgeblich in den positiv bewerteten Indianergeschichten
286 Faschismus
Illustration zu
Der strahlende Stern von
Fritz Steuben
Sportliteratur 287
sind ein weißes Volk. Wir sind das Kern- und Hauptvolk der weißen Rasse.
Die weiße Rasse ist in Gefahr.« Zwei Jahre später erscheint ein Aufsatz von
Wilhelm Schuhmacher unter dem Titel Erhard Wittek. Das Werk des ost-
deutschen Dichters für Jugend und Volk.
Kaminski zufolge widerlegen Schuhmachers Ausführungen die Behaup-
tungen von Vesper im Hinblick auf die Indianerliteratur. Im Gegensatz zu
Vesper sei es Schuhmachers Absicht, den nationalsozialistischen Kern der
Tecumseh-Bände herauszuarbeiten, obschon dieser exotisch verhüllt sei. Er
betrachte die Trilogie als einen »Volksroman«, in dem sich »unter dem Druck
der überlegenen ›Zivilisation‹ […] trotz der umfassenden rassisch-völkisch
verwurzelten Erneuerungsbewegung Tecumsehs der entscheidende tragische
Zusammenstoß der Indianer mit den angelsächsischen Gewalten und der
geschichtliche Untergang der indianischen Macht vollzieht.« Mit »Selbster-
neuerung und Wiedergeburt« eines Volkes erläutere Schuhmacher den Ge-
genstand von Witteks Durchbruch anno achtzehn und beziehe dies ebenso
auf die Tecumseh-Bände.
Sportliteratur
Mädchenliteratur
Die traditionelle Mädchenliteratur beherrschte den Markt wie vor 1933 und
nach 1945. In dieser Literatur agieren die Protagonistinnen im Kreise der
Familie oder Gleichaltriger innerhalb und auch außerhalb der Schule, in der
Regel handelt es sich um Familien-, Schul- und Freundschaftsgeschichten.
Mit Beginn der ›Reifezeit‹ begegnet den Mädchen oft die große Liebe, so dass
Traditionelle im Mittelpunkt der Handlung eine Liebesgeschichte steht, die wie in der Ver-
Mädchenliteratur gangenheit entsexualisiert ist und ein Happy End hat. Im Grunde seines
Herzens ist jedes Mädchen gut, kleine Fehltritte werden ihm zugestanden,
außerdem ist es freundlich und sozial engagiert, sein ganzes Streben läuft
darauf hinaus, einst eine gute, d. h. aufopferungsbereite Hausfrau, Mutter
und Ehefrau zu sein. Dieses traditionelle Mädchenbild findet sich in der so-
wohl während der NS-Zeit sehr beliebten als auch heute noch gern gelesenen
Backfischliteratur. Dazu gehören z. B. die Nesthäkchen-Bände von Else Ury
(die von den Nazis im KZ ermordet wurde) oder die Goldköpfchen-Serie von
Magda Trott, deren Pucki-Bände zu einem großen Teil erst nach 1933 er-
schienen und von den Literaturinstanzen abgelehnt wurden. Aber auch
Schifferkinder (1937) von Käthe Miethe, Evchen Springenschmitt und ihre
Geschwister (1938) sowie Hanne wird fünfzehn (1934) von Gertrud Bohn-
hof und Junge Mutter Randi (1939) von Lise Gast sind Beispiele der in der
NS-Zeit nach traditionellem Muster geschriebenen Bücher, die in der Bun-
Mädchenliteratur 289
schriften-Warte positiv begutachteten Titel sagen: Bücher für die 10- bis
14-Jährigen thematisieren mehrheitlich alltägliche Lebens- und Erfahrungs-
zusammenhänge gleichaltriger Protagonistinnen, mit denen sich die Lese-
Das einsatz- und rinnen identifizieren konnten. Sie erfahren Familie als einen zentralen Hort
opferbereite Mädchen der Gemeinschaft, der ihnen Geborgenheit schenkt, aber auch schon früh
›Opfer‹, ›Einsatzbereitschaft‹ und ›Verzicht‹ abverlangt. Als Vorbereitung zur
Eingliederung in die ›Volksgemeinschaft‹ wird die Einordnung in die Ge-
meinschaft von Freunden und Freundinnen vorgeführt. ›Kameradschaft‹
wird in diesem Kontext als oberste Maxime herausgestellt, d. h. man steht
füreinander ein und zeigt sich auch außerhalb der familiären Zusammen-
hänge ›einsatz‹- und ›opferbereit‹. Im Sinne der ›Blut-und Boden‹-Ideologie
leben die meisten Protagonistinnen im ländlichen Raum oder in einer Klein-
stadt; es herrscht Verbundenheit mit der Natur, die Liebe zu Pflanzen und
Tieren. Zu diesen Büchern gehören z. B. Die Doktorsfamilie im hohen Nor-
den (1906) von Aagot Gjems-Selmer und Grita wächst heran (1939) von
Grete Westecker. Die genannten Verhaltensmuster durchziehen sowohl die
vor als auch während des Krieges empfohlenen Bücher, nur gewinnen sie ab
1940 angesichts der politischen und ökonomischen Verhältnisse ein Viel-
faches an Bedeutung. Um den Zusammenhalt und das Überleben der Fami-
lien zu garantieren, werden von den Mädchen jetzt Selbstüberwindung und
Verzicht zugunsten der Familie noch extremer gefordert als zuvor, und ›Tap-
ferkeit‹ tritt als weitere Verhaltenskategorie hinzu. In nahezu allen Büchern
aber steht die Mutterschaftsideologie an erster Stelle.
Die junge Frau: Die für die 14- bis 18-Jährigen empfohlenen Bücher propagierten nicht
opferbereit und mehr nur ein bestimmtes Mädchenbild, sondern verwiesen überwiegend auf
heldisch-kämpferisch die zukünftige Rolle als Frau. Dieses Frauenbild impliziert wie das Mädchen-
bild ›Einsatz‹- und ›Opferbereitschaft‹, aber auch ›Heldentum‹ und ›Kampfes-
mut‹. Im Unterschied zum Mädchenbild weist das Frauenbild also typisch
männliche Züge auf, es ist um eine ›heldisch-kämpferische‹, die ›Volksge-
meinschaft‹ unmittelbar einbeziehende Komponente erweitert und findet
sich in den ab 1936 empfohlenen Büchern für Mädchen vom 14. Lebensjahr
an. Dominant ist der ›heldisch-kämpferische Wesenszug‹ der Frau gegenüber
dem ›mütterlichen‹ dennoch erst in der ab 1939 empfohlenen Mädchenlite-
ratur, die den ›Kriegseinsatz‹ von jungen Frauen an der Front und in der
Heimat thematisierte, damit einen aktuellen politischen Bezug aufwies und
sich für die weibliche ›Wehrerziehung‹ instrumentalisieren ließ. Diese Litera-
tur führt den ›Dienst für Volk und Vaterland‹ in einer wesentlich direkteren
Form vor als jene, in der die Frau als Garantin für die ›Reinerhaltung der
Rasse‹ sowie als liebevolle Mutter und treue Lebenskameradin ihre viel be-
schworene Pflicht erfüllt. Die von den neuen ›Lebensformen‹ erzählende
Mädchenliteratur, die während des Zweiten Weltkrieges bevorzugt den
Reichsarbeitsdienst und das ›Pflichtjahr‹ thematisiert, ist in besonderem
Maße NS-affin. Tüchtige, zupackende ›Mädel‹ verrichten ihre Arbeit und
opfern sich gelegentlich bis an den Rand der Erschöpfung auf, wie beispiels-
weise in Dies Mädel ist Hanne – später bist Du es (1937) von Maria Kra-
marz. Ohne jegliche Glorifizierung wird hier die Arbeit dargestellt, deren
Härte Hanne aber erträgt, weil sie um die Bedeutung ihres Einsatzes für die
Gemeinschaft weiß. Nicht zuletzt die realistische Beschreibung des strapazi-
ösen Arbeitseinsatzes wird dazu beigetragen haben, dass das Buch von Kra-
Illustration aus Dies marz in der offiziellen Kritik auf sehr viel Zustimmung stieß. Man kann den
Mädel ist Hanne – später in vielen Texten der ausgeprägt NS-affinen Mädchenliteratur propagierten
bist Du es von Maria Einsatz für die Gemeinschaft als Element der Modernität werten. Dennoch
Kramarz sind die Protagonistinnen hier in doppelter Hinsicht unterdrückt, durch
Bilderbücher 291
Bilderbücher
Umschlagbild zu
Das Zwergenbuch
von Rudolf Kreßner und
Friedrich Bochmann
sonsten sehr gelobten Buch Das Rehlein (1939) von Rudolf Kreßner/Fried-
rich Bochmann. Dass diese und andere Bilderbücher trotz der genannten
Mängel in die Empfehlungsliste Das deutsche Bilderbuch aufgenommen
wurden, liegt daran, dass sich alle Texte für die NS-Ideologeme vereinnah-
men ließen. Unter diesen Bedingungen war man bereit, Defizite im Bereich
der künstlerischen Gestaltung zu akzeptieren. Die empfohlenen Bilderbücher
entsprachen den Forderungen Rothemunds, in »das ganze Leben des Kindes,
des Volkes, der Natur« einzuführen, sie stellten die Tierwelt ›artgerecht‹ und
nicht vermenschlicht dar, oder aber sie machten schon Kinder mit dem
›wehrhaften deutschen Mann‹ vertraut, wie das Bilderbuch vom deutschen
Heer (1935) von Albert Benary/Helmut Skarbina und das Liederbuch Wer
will unter die Soldaten (1934) von Fritz Kredel. Beide Bücher richteten sich
an ältere Kinder und Jugendliche, die in der NS-Zeit über das klassische Bil-
derbuchalter hinaus auch mit diesem Genre weiterhin literarisch erzogen
werden sollten, weil man darin die einzige Möglichkeit sah, Kunst unter das
Volk zu bringen.
Exil
Petra Josting
In der Mehrzahl verließen die zur Kinder- und Jugendliteratur des Exils zäh-
lenden Autoren Deutschland bereits im Jahr 1933 und Österreich unmittel-
bar nach der Annexion 1938. Sie wurden entweder aufgrund ihrer Mitglied-
schaft in SPD, KPD oder beiden Parteien nahe stehenden Organisationen
oder aber wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt. Viele kehrten nach dem
Ende der NS-Herrschaft nicht in ihre Heimat zurück. Neben Österreich (bis Fluchtländer
1938) waren zunächst die Schweiz, die Tschechoslowakei und Frankreich die
bevorzugten Fluchtländer. Nachdem die deutschen Truppen 1938 die Tsche-
choslowakei und ab 1940 Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und
Nordfrankreich besetzt hatten, wanderten viele in die USA aus, andere lebten
bereits in England, Schweden, Spanien, Argentinien, Mexiko, der UdSSR
oder auch in China. Exilautoren waren demnach über die ganze Welt ver-
streut, so dass ihre Literatur in vielen Ländern publiziert wurde.
Wer aber gehört überhaupt zur Gruppe der Exilschriftsteller im Bereich Wer ist Exilautor/in?
der Kinder- und Jugendliteratur? Zieht man formale Kriterien heran, kann
man sieben, zum Teil sich überschneidende, Kategorien unterscheiden: Auto-
ren, die
1. im Exil Kinder- und Jugendbücher schrieben und diese Literatur dort auch
veröffentlichten,
2. mangels Publikationsmöglichkeiten im Exil nur Manuskripte verfassten,
die erst nach dem Krieg oder auch gar nicht veröffentlicht wurden,
3. nach 1933 noch in ihrer Heimat Manuskripte verfassten, sie dort aber
nicht mehr veröffentlichen konnten, sondern erst im Exil,
4. ins Exil gingen und deren in Deutschland bis 1933 aufgelegte Bücher im
Exil publiziert wurden,
5. ins Exil gingen und fortan keine Kinder- und Jugendbücher mehr schrie-
ben,
6. als Kinder ins Exil gingen, dort blieben und ihre Exilerfahrungen in der
Kindheit später für Kinder und Jugendliche literarisch verarbeiteten,
7. als Erwachsene ins Exil gingen, dort blieben und erst im Exil mit dem
Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern begannen.
Nur wenige Erkenntnisse liegen bisher über die fünfte Kategorie vor. Zu
nennen ist u. a. der Schriftsteller und Theaterdirektor Rudolf Frank, der 1931
gemeinsam mit Georg Lichey den Antikriegsroman Der Schädel des Neger-
häuptlings Makaua veröffentlichte. Erst 1979 wurde das Buch unter dem
Titel Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß. Ein Roman gegen den Krieg
neu aufgelegt und mit mehreren Jugendliteraturpreisen ausgezeichnet. Zu
dieser Kategorie gehören ebenfalls Anna Siemsen und Jo Mihaly. Siemsen,
die in den 1920er Jahren gleichermaßen als Politikerin, Frauenrechtlerin,
Pädagogin und Autorin bekannt war, floh im März 1933 in die Schweiz,
296 Exil
nachdem man ihr die Lehrberechtigung in Jena entzogen hatte. Ihre proleta-
risch-pazifistischen Jugendbücher, die sie in der Zeit der Weimarer Republik
publiziert hatte, wurden weder im Exil noch nach 1945 neu aufgelegt. Die
Tänzerin und Schriftstellerin Mihaly emigrierte 1933 nach Zürich und betei-
ligte sich dort am antifaschistischen Widerstand. Ihr Kinderbuch Michael
Arpad und sein Kind (1930) wurde nach 1945 mehrfach wieder aufgelegt.
Grundlegende Forschungen, die sich auf die sechste Kategorie beziehen, feh-
len ebenfalls; zu ihr gehören beispielsweise Judith Kerr und Inge Deutsch-
kron. Zur siebten Kategorie zählt der Drehbuchautor Frederick Kohner, der
1936 nach Hollywood ging. Wie viele andere Exilanten wurde Kohner ame-
rikanischer Staatsbürger und blieb in den USA, wo er in den 1950/60er Jah-
ren mit seinen Gidget-Büchern, die später verfilmt und u. a. ins Deutsche
übersetzt wurden, großen Erfolg hatte.
In der folgenden Liste sind die Autoren und Autorinnen genannt, die aus
rassistischen Gründen und/oder politischen Gründen verfolgt wurden (und
also unter die ersten vier Kategorien fallen):
Namensliste Exilautor/ Béla Balázs, Grete Berges, scha Kaléko, Kuba (d.i. Rosenfeld, Felix Salten,
innen Bertolt Brecht, Willi Bre- Kurt Barthel), Egon Lar- Helene Scheu-Riesz, Kurt
del, Elisabeth Castonier, sen, Berta Lask, Auguste Schmeltzer, Bruno Schön-
Max Colpet, Bettina Ehr- Lazar, Joe Lederer, Jella lank, Walter Schönstedt,
lich, Irmgard von Faber Lepman, Lilo Linke, Julius Oskar Seidlin, Anna Se-
du Faur, Rudolf Frank, Ernst Lips, Mira Lobe, ghers, Hans Siemsen, Wil-
Friedrich R. Franke, Ma- Kurt Loewenstein, Erika helm Speyer, Margarete
ria Gleit, Robert Gottlieb Mann, Paul Mathias, Ma- Steffin, Lisa Tetzner, Adri-
Groetzsch, Kurt Held (d.i. rie Neurath, Maria Osten, enne Thomas, Walter Trier,
Kurt Kläber), Elsa-Margot Karl Otten, Kurt Pahlen, Alex Wedding, Friedrich
Hinzelmann, Hans Jahn, Hertha Pauli, Richard Wolf, Max Zimmering,
Anna Maria Jokl, Hilde- Plant, Walther Pollatschek, Otto Zoff, Hermynia Zur
gard Johanna Kaeser, Ma- Ruth Rewald, Friedrich Mühlen
Hoffmann dazu. Ihr Roman Pauline aus Kreuzburg (1935) wurde 1937 ver-
boten, Veröffentlichungen von ihr erschienen erst wieder nach 1945.
Eine Sonderstellung nehmen Tami Oelfken, Georg W. Pijet und Irmgard
Keun ein, die sich nur vorübergehend im Exil befanden. Oelfken lebte von
1934 bis 1939 im Exil, wo sie weder Kinder- und Jugendliteratur schrieb
noch publizierte. In Deutschland konnte 1933 noch ihr fantastisches Kinder-
buch Peter kann zaubern erscheinen; das Märchenspiel Matten fängt den
Fisch wurde nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1940 in Berlin als Büh-
nenmanuskript veröffentlicht. Ihr Roman Tine (1940) wurde unmittelbar
nach Erscheinen verboten und die Autorin aus der Reichsschrifttumskammer
ausgeschlossen. Der proletarische Schriftsteller Pijet floh nach der NS-
Machtübernahme nach Dänemark, kehrte aber einige Zeit später nach
Deutschland zurück. Er wurde sofort verhaftet, kam jedoch mangels konkre-
ter Anschuldigungen wieder frei. Seine proletarischen Jugendbücher Die
Straße der Hosenmätze (1929) und Wiener Barrikaden (1930) aus der Wei-
marer Republik durften während der NS-Zeit nicht wieder aufgelegt werden;
seine Hundegeschichte Struppi (1937) erschien dagegen in mehreren Aufla-
gen. Irmgard Keun, die in der Weimarer Republik mit ihrem ersten Roman
Gilgi, eine von uns (1931) berühmt geworden war, lebte nach der endgülti-
gen Ablehnung ihres Aufnahmeantrags in die Reichsschrifttumskammer von
1936–1940 in Belgien und Holland. Im holländischen Exil erschien u. a. ihr
Jugendroman Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften
(1936) in deutscher und holländischer Sprache. Geschützt durch Falschmel-
dungen über ihren angeblichen Suizid, kehrte sie 1940 nach Deutschland
zurück und lebte hier bis zum Ende des Krieges in der Illegalität.
Die Mehrheit der Exilautoren und Exilautorinnen hielt an der deutschen Das Spektrum
Sprache fest. Überwiegend wurden Erzählungen, Romane und Märchen ge- der Gattungen
schrieben; daneben gibt es Bilder- und Sachbücher und, ähnlich wie in der
Exilliteratur für Erwachsene, einige wenige dramatische und lyrische Texte.
So verfasste z. B. Bertolt Brecht den Zyklus Kinderlieder, die in den Svend-
borger Gedichten (1939) enthalten sind, und auch an dem unvollendeten
Stück Leben des Konfutse arbeitete er bereits im Exil. Theaterstücke schrie-
ben ebenfalls Anna Maria Jokl, Lilo Linke und Margarete Steffin, Brechts
langjährige Mitarbeiterin. Ihr Stück Die Geisteranna (1934/35) erschien
erstmalig 1994 im Brecht-Jahrbuch. Das um dieselbe Zeit entstandene Stück
Wenn er einen Engel hätte druckten teilweise die Moskauer Exilzeitschriften
Das Wort (1936) und Internationale Literatur (1937) ab, doch wurde der
gesamte Text erst in der Nachlass-Sammlung Steffins, Konfutse versteht
nichts von Frauen (1991), publiziert. Gedichte veröffentlichten auch Mascha
Kaléko und Bruno Schönlank. Kaléko, die in Deutschland seit Beginn der
1930er Jahre als Lyrikerin bekannt war und 1938 in die USA floh, schrieb im
Exil für ihren Sohn das Versbuch Der Papagei, die Mamagei und andere ko-
mische Tiere, das 1961 in der BRD erschien. Während sie in der Kinderlyrik
soziale und persönliche Probleme ausblendet, schildert sie in ihren Versen für
Zeitgenossen (1945) die schwierige Situation der Exilanten in den USA.
298 Exil
Modernes Kinderbild Außer in den Tiergeschichten stehen meistens Kinder im Mittelpunkt, die
selbständig, zielgerichtet und ausdauernd die unterschiedlichsten Aufgaben
bewältigen, die ihnen der Alltag stellt. Dieses moderne Kinderbild ist für viele
Bücher der Exil-Kinder- und Jugendliteratur symptomatisch. Damit werden
einerseits Verbindungslinien zur progressiven Kinderliteratur der Weimarer
Republik sichtbar, die Kinder als Menschen ernst nimmt und ihnen zutraut,
ihre Probleme und Aufgaben selbst in die Hand zu nehmen. Andererseits
entspricht dieses Kinderbild aber auch der realen Situation der Exilkinder,
denn Flucht und Exil bedeuteten häufig, sich ohne den gewohnten Schutz der
Familie in einer fremden Umgebung zurechtfinden zu müssen. Die Frage, ob
dieses Kinderbild als Fortsetzung einer innovativen Strömung zu interpretie-
ren ist oder eher als bewusste Reaktion auf die Exilsituation von Kindern,
muss unbeantwortet bleiben. Auffällig ist indessen, dass selbständig agie-
rende Kinder in vielen Genres zu finden sind, so in der Mädchenliteratur
(Berges: Liselott diktiert den Frieden, 1932), in historischen Erzählungen
(von Faber du Faur: Die Pilgerkinder, 1940), in Detektivgeschichten (Plant:
Die Kiste mit dem großen S, 1936), in der fantastischen Literatur (Rosenfeld:
Der Flug ins Karfunkelland, 1938), in märchenhaften Erzählungen (Tetzner:
Hans Urian, 1931) oder in Sachbüchern (Jokl: Die wirklichen Wunder des
Basilius Knox, 1935).
Themenvielfalt Die Kinder- und Jugendliteratur des Exils zeigt hinsichtlich der Themen
eine große Vielfalt; zudem sind Stilhaltung, Schreibweise und die Art der Be-
arbeitung der Themen sehr heterogen. Man trifft auf Themen wie Flucht,
Exil, Krieg, Heimatlosigkeit, Antifaschismus, Pazifismus oder Antisemitismus
– also auf Themen, die zweifellos nach 1933 höchst aktuell waren. Aber
ebenso finden sich Bücher, die eher zeitunabhängige Themen aufgreifen, wie
soziale Unterschiede, Armut, Solidarität, Kriminalität oder Adoleszenz. Ob
jedoch die Unterscheidung in aktuelle und zeitunabhängige Themen für die
Kategorisierung der Texte und ihrer Autoren sinnvoll ist, erscheint fraglich.
Gerade für die im Exil lebenden Kinder und Jugendlichen können scheinbar
zeitlose Themen wie Armut oder Solidarität von existentieller Bedeutung
gewesen sein; Adoleszenzprobleme, wie etwa Identitätsfindung und erste
Liebe, trafen Heranwachsende im Exil möglicherweise härter als Gleichalt-
rige, die in ihrer vertrauten Umgebung und in der Obhut intakter Familien
aufwuchsen. Insofern können solche Themen für die damaligen Leser und
Leserinnen sehr aktuell gewesen sein. Zudem sind die auf den ersten Blick
für die Zeit nach 1933 aktuell erscheinenden Themen keineswegs nur zeitab-
hängig.
Die Kinder- und Jugendliteratur des Exils unterscheidet sich, jedenfalls in
Teilen, von der in nationalsozialistischen Deutschland publizierten durch ih-
ren politisch aufklärerischen Charakter. Während die NS-Literaturpolitik die
Publikation etwa der proletarischen Kinder- und Jugendliteratur verbot,
konnte diese Tradition im Exil fortgesetzt werden, und zwar sowohl mit
Neuauflagen von aus der Weimarer Republik stammenden Märchen und
Politisch Kinderbüchern, als auch mit Neuproduktionen. Aufklärerischen Anspruch
aufklärerischer hat vor allem die antifaschistische Literatur, die sich auf die politischen Ver-
Charakter hältnisse und den Widerstand in Deutschland bezieht (z. B. Béla Balázs:
Karlchen, durchhalten!, 1936, oder Max Zimmering: Die Jagd nach dem
Stiefel, 1936). Solche aufklärerischen Intentionen verfolgte aber ebenso ein
Sachbuch wie Die wirklichen Wunder des Basilius Knox von Anna Maria
Jokl, das nicht nur in physikalische und chemische Gesetzmäßigkeiten ein-
führt, sondern soziale Unterschiede mit der Marxschen Mehrwerttheorie er-
klärt. Dieses Buch verdient an dieser Stelle mehr Aufmerksamkeit, weil seine
Erscheinungsformen von Exilliteratur 299
formale Gestaltung genau den Forderungen entsprach, die von den NS-Lite-
raturpädagogen und auch von den nach 1945 tätigen Kinder- und Jugendli-
teratur-Kritikern an Sachliteratur erhoben wurden. Jokl war es gelungen,
den herkömmlichen trockenen und belehrenden Sachbuchstil zu überwinden,
indem sie Erläuterungen der Lichtgeschwindigkeit, Elektrizität etc. in eine
spannend geschriebene Geschichte über den Wissenschaftler Basilius Knox
einfließen ließ, der von Kindern aus seiner Einsiedelei herausgeführt wird.
Hätte Jokl in ihrem Sachbuch nicht auf Marx zurückgegriffen und wäre sie
zudem aufgrund ihrer jüdischen Religion nicht verfolgt worden, hätten Die
wirklichen Wunder des Basilius Knox in NS-Deutschland als ein innovatives
Sachbuch gefeiert werden können. Nicht geduldet wurde im nationalsozialis-
tischen Deutschland die Literatur, die sich mit dem Themenkomplex Flucht,
Exil und Verfolgung auseinandersetzte, dem sich z. B. Lisa Tetzner in der
Kinderodyssee und Walter Pollatschek in der Erzählung 3 Kinder kommen
um die Welt (1947) annahmen.
Während die Literaturpädagogen und Literaturpolitiker im NS-Staat eine
den Krieg glorifizierende Literatur favorisierten, setzen sich einige Exil-Titel
kritisch mit den Folgen des Krieges auseinander oder stellen seinen Sinn aus-
drücklich in Frage (z. B. Brecht: Der verwundete Sokrates, 1936, oder Karl
Otten: Der ewige Esel, 1946). Prosowjetische Äußerungen, wie man sie etwa
in Tetzners Hans Urian oder Huberts Reise ins Wunderland von Maria Osten
antrifft, wurden innerhalb Deutschlands ebenso wenig geduldet wie kritische
Aussagen zum Antisemitismus, wie man sie z. B. in Richard Plants The Dra-
gon in the Forest (1948) findet. Ebenso wenig erwünscht war Kritik an den
Jugendorganisationen, wie sie Hans Siemsen in der Geschichte des Hitlerjun-
gen Adolf Goers übt.
Es gibt in der Kinder- und Jugendliteratur des Exils eine Vielzahl von Tex-
ten, deren Erscheinen im nationalsozialistischen Deutschland durchaus
denkbar gewesen wäre, wenn ihre Autoren oder Autorinnen nicht aus poli-
tischen oder religiösen Gründen verfolgt worden wären. Dazu gehören bei-
spielsweise die oben genannten Kindergedichte von Mascha Kaléko und etli-
che Abenteuer- und Detektivgeschichten (z. B. Erika Mann: Muck, der Zau-
beronkel, 1934; Richard Plant: Die Kiste mit dem großen S, 1936). Insofern
ist auch der Aussage, die Kinder- und Jugendliteratur des Exils zeige ein »ein-
deutiges oppositionelles Engagement« und habe eine »durchgehende, be-
wusst politisch-didaktische Intention« (Stern), entschieden zu widersprechen.
Vielmehr ist das zentrale Spezifikum der im Hinblick auf Genres, Themen
und Schreibweisen heterogenen Kinder- und Jugendliteratur des Exils darin
zu sehen, dass sie aus unterschiedlichen Gründen nicht im NS-Staat erschei-
nen konnte.
es ins Tschechische übersetzt und erschien 1936 unter dem Titel Honba za
batou. Da das Manuskript beim Überfall der deutschen Armee auf die soge-
nannte Resttschechei im März 1939 verlorenging, ließ Zimmering die tsche-
chische Ausgabe nach dem Krieg ins Deutsche zurück übersetzen. Im Vorwort
zur Auflage von 1954 gibt er an, mit der Rückübersetzung sehr unzufrieden
gewesen zu sein, weshalb er die Geschichte noch einmal neu geschrieben
habe. Inzwischen ist bekannt, dass diese Neufassung schon 1946 vorlag, nur
verweigerte ihr der ›Kulturelle Beirat‹ der DDR lange Zeit die Zustimmung,
so dass die deutsche Erstveröffentlichung bis 1953 auf sich warten ließ. Wie
Zimmerings Die Jagd nach dem Stiefel wurde auch Anna Maria Jokls Manu-
skript Die wirklichen Wunder des Basilius Knox in der Tschechoslowakei
übersetzt und dort 1935 publiziert, bevor es 1948 in der DDR in deutscher
Sprache erschien. Es war das erste Kinderbuch der 1911 geborenen Österrei-
cherin Jokl, die als 17-Jährige nach Berlin kam, wo sie nach dem Besuch der Umschlagbild zu Die Jagd
Piscator-Schule beim Rundfunk und für die UFA arbeitete. nach dem Stiefel von Max
Zimmering
Exilmanuskripte, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
erschienen oder unveröffentlicht blieben
Auffallend viele der im Exil entstandenen Manuskripte wurden in der DDR
und teilweise auch schon in der SBZ aufgelegt. Ihre Verfasser galten als Ver-
treter der antifaschistischen und sozialistischen Literatur. Angesichts der Er-
kenntnisse, die inzwischen über die Publikationsschwierigkeiten von Zimme-
rings Die Jagd nach dem Stiefel vorliegen, wäre es eine wichtige Aufgabe der
weiteren Exilforschung, auf der Basis der mittlerweile zugänglichen Verlags-
archivalien zu untersuchen, ob die Manuskripte in ihrer ursprünglichen Fas-
sung veröffentlicht wurden oder ob grundlegende Veränderungen vorgenom-
men werden mussten, damit die Bücher den kulturpolitischen Zielvorstellun-
gen der DDR entsprachen. Zu diesen Werken gehören z. B. Bertolt Brechts
Der verwundete Sokrates (entstanden 1938, gedruckt 1949), Willi Bredels
Peters Lehrjahre (entstanden 1942/43, gedruckt 1976) und Berta Lasks Otto
und Else (entstanden 1934, gedruckt 1956).
Unter welchen Umständen manche Manuskripte überhaupt erhalten blie-
ben, zeigt beispielhaft die Rettung von Anna Maria Jokls Manuskript Die
Perlmutterfarbe (entstanden 1937, gedruckt 1948). Als Jokl 1939 vor den
Deutschen nach Polen floh, wo sie in einem Massenlager auf ein englisches
Visum wartete, besaß sie nicht mehr als ihre Kleider am Leib, wie sie in Es-
senzen (1993) berichtet. Das Manuskript hatte sie in der französischen Bot-
schaft in Prag zurückgelassen, in der man ihr vorübergehend Asyl gewährt
hatte. Ein tschechischer Fluchthelfer, der Jokl über die Grenze nach Polen
gebracht und dem sie von dem Verbleib ihres Manuskripts erzählt hatte,
entschloss sich ohne ihr Zutun, das Manuskript aus der Botschaft zu holen
und ihr ins polnische Lager zu bringen. Die Aktualität dieses Buches ist daran
abzulesen, dass es bis in die Gegenwart hinein regelmäßig neu aufgelegt
wurde. Themen sind der Konflikt zweier Schulklassen, der zu psychischer
und moralischer Korrumpierung führt, und die Frage der sogenannten Kol-
lektivschuld.
Einige Manuskripte wurden auch in der Bundesrepublik veröffentlicht, so
etwa die Arbeiten von Mascha Kaléko, Ruth Rewald und Margarete Steffin,
jedoch meist erst viele Jahre nach ihrer Entstehung. Von Steffin wurde nicht
nur das bereits genannte Theaterstück Wenn er einen Engel hätte (entstanden
1934/35) erst in der Nachlasssammlung Konfutse versteht nichts von Frauen
(1991) vollständig veröffentlicht, auch ihre vier Kindergeschichten (Purk;
302 Exil
Illustration aus
Die Perlmutterfarbe
von Anna Maria Jokl
Maria; Barbara; Geschichte von Mary Miller und ihrem Hund Yo-Yo, alle
entstanden 1940) erschienen hier erstmals. Ähnlich lange dauerte die Publi-
kation von Rewalds Buch Vier spanische Jungen (entstanden 1938, gedruckt
1987). Ihr Manuskript Kinder aus China (entstanden 1937), das die Schwei-
zer Zeitschrift Der öffentliche Dienst auf Initiative von Lisa Tetzner 1937 in
Fortsetzungen druckte, liegt dagegen bis heute nicht in Buchform vor. Dar-
über hinaus gelten einige Manuskripte als verschollen, so etwa szenische
Texte von Anna Maria Jokl und Lilo Linke, von denen bekannt ist, dass sie
aufgeführt wurden. Dasselbe Schicksal ereilte Kubas Kinderroman Zak: Die
Prager Zeitschrift Die Welt am Morgen veröffentlichte im Oktober 1938
drei Fortsetzungen; als nach der deutschen Besetzung das linksorientierte
Blatt sein Erscheinen einstellen musste, ging das Manuskript verloren.
Erscheinungsformen von Exilliteratur 303
Biographien und des Jugendbuches Das Tigerschiff (1923). Wie vielen ande-
ren Exilanten gelang es ihm nach der Rückkehr aus dem Exil nicht, an seine
Erfolge in der Weimarer Republik anzuknüpfen.
Film die Hauptrollen. Die Kinder sind nicht nur filmbegeistert, sondern sie
drehen ohne Wissen der Erwachsenen einen Film, in dem nur Kinder mitspie-
len und der ein Riesenerfolg wird. Reale und fantastische Elemente werden
in diesem Buch miteinander verwoben. In Hildegard J. Kaesers Geschichte
Das Karussell (1942) bestimmt die reale Ebene dagegen nur die Rahmen-
handlung; im Mittelpunkt steht die Entdeckungsreise zweier Jungen durch
den Weltraum, die sich am Ende als Traum erweist. Die Erzählung von der
Entdeckungsreise ist verbunden mit vielen sachkundlichen Einschüben, bei
denen die Autorin auf Kenntnisse zurückgreift, die sie in ihren ebenfalls in
der Schweiz erschienenen Sachbüchern Die Wunderlupe (1938) und Der
Zauberspiegel (1939) eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte. Adrienne
Thomas veröffentlichte 1937 in der Schweiz ihr Jugendbuch Viktoria, die
Fortsetzung des im selben Jahr in der Schweiz und in Übersetzung auch in
den Niederlanden erschienenen Buches Andrea. In Viktoria fahren Jungen
und Mädchen, die im Ferienlager Freundschaft geschlossen hatten, auf ein
Salzburger Gut. An der Grenze erfahren die Kinder, wie willkürlich Einwan-
derungs- und Passbestimmungen gehandhabt werden und wie schwierig es
ist, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Insofern machen sie Erfahrungen,
die an die von Exilanten erinnern, insgesamt aber ist das Buch der traditio-
nellen Mädchenliteratur zuzurechnen. Von Bruno Schönlank, der 1933 in die
Schweiz floh, erschienen neben der Lyriksammlung für Kinder Mein Tierpa-
radies (1949) nur die Sammlung Schweizer Märchen (1938) und seine Über-
setzung der Erzählungen und Märchen (1947) von Leo Tolstoj. Da Schönlank
mit seinen in den 1920er Jahren publizierten Märchen, Gedichten und Chor-
werken für Kinder und Jugendliche zu den Wegbereitern der proletarisch-
revolutionären Kinder- und Jugendliteratur gehörte und der Arbeitersprech-
chorbewegung eng verbunden war, hatte der einst sehr produktive Schrift-
steller in der bürgerlichen Schweiz wenig Veröffentlichungsmöglichkeiten.
Forschungssituation Die Kinder- und Jugendliteratur des Exils ist nach wie vor ein vernachlässi-
gtes Forschungsgebiet. Die ersten Studien stammen aus der DDR, wo man
sich jedoch nur denjenigen Autoren widmete, die zu den Wegbereitern der
proletarisch-revolutionären Kinder- und Jugendliteratur zählen (u. a. Berta
Lask, Auguste Lazar, Alex Wedding und Max Zimmering); in der BRD kon-
zentrierte sich das Interesse lange Zeit nur auf Lisa Tetzner und Kurt Kläber.
Auch wenn seit den 1980er Jahren (Hansen 1985, Krüger 1989) und vor
allem durch die im Jahr 1995 von der Deutschen Bücherei Leipzig organi-
sierte und in einem Katalog dokumentierte Ausstellung Kinder- und Jugend-
literatur im Exil: 1933–1950 (1995, 2. überarb. Aufl. 1999) und das Biele-
felder Forschungsprojekt Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945 (Hopster/
Josting/Neuhaus 2001, 2005) ein großer Fundus an Namen und Titeln zu-
sammengetragen wurde, sind doch noch viele auf Autoren ausgerichtete De-
tailstudien sowie komparatistisch und interdisziplinär angelegte Gesamtun-
tersuchungen zu leisten. In Anbetracht der vielen Desiderate können im Fol-
genden einige Fragekomplexe nur ansatzweise behandelt werden. Die
Ausführungen konzentrieren sich auf die Rezeption innerhalb des national-
Rezeption der Exilliteratur innerhalb und außerhalb Deutschlands 309
Lesepublikum zu finden, wenn sie ihre Bücher in der Sprache des Asyllandes
publizierten. Der Einschätzung Weiskopfs, dass Kinder sich schnell der neuen
Umgebung anpassten und leicht die Sprache des Exillandes erlernten, ist zu-
zustimmen; ob aber ihre Schriftsprachenkenntnisse ebenso schnell Fort-
schritte machten, ist fraglich. Deshalb mögen sie, sofern sie am Lesen interes-
siert waren und schon die deutsche Schriftsprache beherrschten, gern Bücher
in deutscher Sprache zur Hand genommen haben.
Die im Exil verfassten Manuskripte, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Rezeption nach
der DDR verlegt wurden, werden in Westdeutschland größtenteils bis in die 1945 in Ost- und
Gegenwart aus ideologischen Gründen mehrheitlich nicht rezipiert. Ähnlich Westdeutschland
verhält es sich mit vielen im Exil aufgelegten Büchern, die bis 1933 noch in
Deutschland erschienen und die zur proletarischen Kinder- und Jugendlitera-
tur zählen. Auf dem westdeutschen Literaturmarkt war Sozialkritik in der
Literatur bis Ende der 1960er Jahre nur erwünscht – wie das Beispiel Kästner
zeigt –, sofern sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse unangetas-
tet ließ und sich auf die Beschreibung sozialer Missstände beschränkte, die
mit dem Aufruf zu einem veränderten individuellen Verhalten verbunden
war.
Auch die Rezeption der im Exil erstmalig aufgelegten Kinder- und Jugend-
literatur verlief in den beiden deutschen Staaten sehr unterschiedlich. Wäh-
rend die Bücher von Autoren und Autorinnen, die der KPD nahe standen
(z. B. Béla Balázs’ Heinrich beginnt den Kampf oder Auguste Lazars Sally
Bleistift in Amerika) in der DDR mehrfach aufgelegt wurden, konzentrierte
sich die BRD in der Adenauer-Ära auf religiöse Kinderbücher wie Irmgard
von Faber du Faurs Kinderarche, auf den altbekannten Wilhelm Speyer oder
auf Detektivgeschichten wie Jella Lepmans Das Geheimnis vom Kuckucks-
hof. Politisch-agitatorische Jugendliteratur, die von der Endphase der Wei-
marer Republik handelt und von Autoren stammt, die sich im Laufe ihres
Lebens vom Kommunismus lossagten, hatten – wie das Beispiel Walter
Schönstedt zeigt – weder auf dem ostdeutschen noch auf dem westdeutschen
Buchmarkt eine Chance. Dass die Kinder- und Jugendliteratur des Exils nicht
gänzlich in Vergessenheit geraten konnte, ist auch der Tatsache zu verdanken,
dass in Österreich und in der Schweiz nach Kriegsende zumindest einige Titel
publiziert wurden, für die sich in Deutschland keine Verleger fanden. Dazu
gehören etwa die heute noch lesenswerten Bücher Der Flug ins Karfunkel-
land von Friedrich Rosenfeld, Das süße Abenteuer von Anna Maria Jokl und
Muck, der Zauberonkel von Erika Mann. Ihnen und vielen anderen Kinder-
und Jugendbüchern des Exils sind Neuauflagen zu wünschen.
312
Neubeginn, Restauration,
antiautoritäre Wende
Rüdiger Steinlein
Nach dem 9. Mai 1945 etablieren sich in den vier Besatzungszonen, in die
das besiegte ›Dritte Reich‹ aufgeteilt wurde, zwei unterschiedliche politische
und auch literarische Kulturen mit Auswirkungen bis hinein in den Sonder-
bereich der Kinder- und Jugendliteratur. Die Spaltung teilt das ehemalige
Reichsgebiet in die drei westlichen Besatzungszonen und die sowjetische,
woraus 1949 dann die beiden deutschen Teilstaaten BRD und DDR hervor-
gehen. Die in diesem Kapitel gebotene Darstellung berücksichtigt nur die
Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur in den drei Westzonen und der
Bundesrepublik bis Ende der 1960er Jahre, als es im Zeichen der antiautori-
tären Bewegung zu grundlegenden Veränderungen in der Kinder- und Ju-
gendliteratur kam. Mit einem gewissen Recht kann man von einer gemein-
samen Entwicklung der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur
westlich des Eisernen Vorhangs sprechen. Sie umfasst auch – trotz einiger
historischer und mentalitätsgeschichtlicher Besonderheiten – Österreich und
die Deutschschweiz. »Die Literaturmärkte und -traditionen dieser Länder
sind seit Jahrhunderten mit den deutschen eng verbunden und sind es nach
1945 noch oder wieder. Viele ihrer Nationalität nach österreichische oder
schweizerische Autoren müssen als bis zu einem gewissen Grad bundesdeut-
sche Schriftsteller angesehen werden« (Fischer). Das bedeutet nicht, dass die
kinder- und jugendliterarische Produktion dieser deutschsprachigen Länder
umstandslos als bundesdeutsch ›eingemeindet‹ wird: Das Hauptaugenmerk
liegt auf der genuin bundesdeutschen Entwicklung bis Ende der 1960er
Jahre.
Die Situation Deutschlands im Frühsommer 1945 war durch eine weithin
desolate materielle Lage der Bevölkerung (v.a. in den meisten Mittel- und
Großstädten) gekennzeichnet, durch einen hohen Grad an Zerstörung von
Wohnraum und Infrastruktur. Mindestens ebenso gravierend aber waren die
Verwüstungen im Bewusstseins- und Seelenhaushalt der deutschen Bevölke-
rung, nicht zuletzt der Kinder und Jugendlichen; und zwar je älter sie waren
und je länger sie der NS-Ideologie und -Propaganda ausgesetzt waren, desto
stärker. Eben diese sollte nun samt ihren Medien, worunter auch die entspre-
chende Literatur zählte, nach dem Willen der alliierten Autoritäten möglichst
rasch beseitigt und durch geeignete neue Angebote im Geist westlicher de-
mokratischer Werte ersetzt werden. Das Aus für NS-Herrenmenschen-,
Kriegs- und Rassenpropaganda sollte auch über den (Wieder-)Einzug christ-
licher, humaner Wertvorstellungen in literarischem Gewand unterstützt wer-
den. Das zumindest war in Umrissen das Bemühen und das Programm v.a.
der amerikanischen und britischen Besatzungsmächte, dem diese mit einer
Reihe von Erlassen Wirkung zu verleihen suchten.
Keine »Stunde Null« – Neubeginn im Vorgestern 313
Allerdings erwies sich die konkrete Umsetzung als schwierig und von nur Verharmlosungen und
begrenzter Wirksamkeit. Im Gegensatz zur Allgemeinliteratur, in der eine Ausweichmanöver
Reihe von engagierten Literaten und Publizisten darum rang, »die richtigen,
also die historisch notwendigen Konsequenzen aus der bereits eingetretenen
›Katastrophe‹ zu ziehen« (Fischer), einen Neubeginn durch Verarbeitung der
jüngsten Vergangenheit zu wagen, fand dergleichen auf dem Gebiet der Kin-
der- und Jugendliteratur so gut wie überhaupt nicht statt. Der Neuanfang,
wo er unternommen wurde, erwies sich (von wenigen Ausnahmen wie z. B.
Erich Kästner abgesehen) als Rückzug ins Altbewährte bzw. als Ausweichen
ins Harmlose. Pädagogischer und literarischer Konservativismus beherrschte
das Feld der ohnehin zunächst sehr eingeschränkten Produktion von Kinder-
und Jugendliteratur.
Grundlage für die Nicht-Auseinandersetzung der Bevölkerungsmehrheit
in Deutschland und in Österreich mit dem Nationalsozialismus und seinen
Verbrechen war die Überzeugung, dass im Wesentlichen Hitler und seine an
den Schalthebeln der Macht befindlichen Helfershelfer die Schuld trügen
und die Bevölkerung selbst in ihrer übergroßen Mehrheit auch Opfer des
Regimes und seiner Politik gewesen sei. Man wollte nur – wenn überhaupt
– von den eigenen Leiden hören. »Nach dem 2. Weltkrieg kam die Tradition
[Rückzug aus Realität und Politik] dem Interesse einer moralisch und poli-
tisch kompromittierten Generation entgegen« (Mattenklott).
Hinter der Ȇberakzentuierung von Wohlverhalten, Sitte und Anstand in
den 1950er Jahren« wurde zu Recht der »Versuch« vermutet, »sich auf diese
Weise von den vorangegangenen Jahren der Barbarei zu distanzieren. Als
wollte man damit indirekt zum Ausdruck bringen, daß jeder, der aus der
Mitte einer dermaßen ordentlichen und wohlerzogenen Gesellschaft kommt
und eine so ›gute Kinderstube‹ genossen hat, solche Greueltaten nicht getan
haben konnte, wie sie den Deutschen zur Last gelegt wurden und auf dem
Gewissen der ganzen Nation lasteten« (Staudacher). Eben dies findet auch
seinen Niederschlag in der Kinder- und Jugendliteratur jener Jahre; viele der
damals publizierenden Autoren erwecken den Eindruck, »sie seien [...] gar
keine Zeitgenossen ihrer Gegenwart gewesen und als hätte es keine national-
sozialistische Vergangenheit gegeben« (Kaminski).
Auch die Literaturpädagogik und Jugendschriftenkritik der 1950er Jahre Schund und Schmutz
ist von diesem restaurativen Grundzug geprägt. Er äußert sich v.a. in der
heftig geführten Kampagne gegen ›Schmutz und Schund‹, die sich v.a. gegen
Heftchenliteratur und Comics richtete und ihrerseits auf eine längere Vorge-
schichte zurückblicken konnte, die bis in die Weimarer Republik zurück-
reichte, aber auch – gestützt auf personelle Kontinuitäten wie das einfluss-
reiche Wirken etwa Eduard Rothemunds vor und nach 1945 – in konserva-
tiven Tendenzen innerhalb der Jugendliteraturpolitik des ›Dritten Reichs‹
Anknüpfungspunkte hatte. Kinder- und Jugendliteratur sollte lesehygienisch
›sauber‹, ›sittlich wertvoll‹ und bildungswirksam sein – allerdings nicht in
einem primär gegenwartsorientierten und demokratischen Sinn. Diese litera-
turpädagogischen Positionsbestimmungen waren geprägt vom »Jargon der
Eigentlichkeit« (Adorno), ihr Wertekanon für die Jugend war christlich-
abendländisch und vermeintlich unpolitisch. Die wenigen linksdemokra-
tischen oder gar sozialistischen Stimmen der Jugendliteratur(-kritik) jener
Jahre wie Anna Siemsen oder John Barfaut – Redakteur der Jugendschriften-
Warte – drangen demgegenüber nicht durch.
314 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende
Auch die Kinder- und Jugendliteratur selbst nach 1945 orientiert sich an
pädagogischen Vorstellungen und literarischen Traditionen, die – um es mit
einem Schlagwort der Zeit zu charakterisieren – ›unbelastet‹, zumindest
weltanschaulich unverdächtig erscheinen, ferner der forcierten Inanspruch-
nahme und Zurschaustellung weltanschaulicher (christlich-abendländischer)
Korrektheit entsprechen. Auffallend ist die Betonung eines konservativen
Wertekanons, der Verlässlichkeit und Sicherheit verspricht; Inbegriff ist das
Wertekonglomerat ›christliches Abendland‹, für dessen Geltung jene Politi-
kergeneration steht, der auch Adenauer angehört. Zudem schreiben die Au-
toren und Autorinnen auch stark im Bann ihrer persönlichen Entwicklung,
ihrer biographischen Präferenzen und Erfahrungen.
Die ›alte Garde‹ Die ›alte Garde‹ der bereits vor 1933 auf diesem Gebiet Hervorgetretenen
ist kontinuierlich oder mit nur geringen Unterbrechungen präsent. Ungebro-
chen, und auch über den Nationalsozialismus hinweg, der ihre Verbreitung
und Rezeption nicht hinderte, setzen bürgerliche Autoren ohne dezidierte
weltanschauliche Tendenz wie Wilhelm Matthießen ihre Karriere als Kinder-
und Jugendbuch-Autoren fort; ein anderes Beispiel ist Wolf Durian (d.i.
Wolfgang Bechtle), der in der DDR lebt, aber auch in der Bundesrepublik
präsent ist. Hierher ist auch die wenige Tage nach Ende des Zweiten Welt-
kriegs verstorbene Magda Trott mit ihren zahlreichen trivialen Mädchenbü-
chern zu zählen, die seit den 1920er Jahren erschienen, während des ›Dritten
Reichs‹ stets präsent waren und in der Bundesrepublik v.a. der 1950er Jahre
zu den unverwüstlichen Longsellern zählten (Pucki- und Goldköpfchen-Se-
rie). Auch Hertha von Gebhardt beginnt mit Mädchenbüchern in den 1930er
Jahren (Bettine, 1937; Brigittes Kameraden, 1938 und Pack zu, Gisela, 1939)
und ist bereits 1947 wieder mit Die Kinderwiese präsent. Von da an legt sie
alle ein bis zwei Jahre einen weiteren Titel vor. Auch diese Autorin zählt in
der Bundesrepublik zu den Älteren, den über 50–70-Jährigen, die vorzugs-
weise für Kinder schreiben, obwohl sie von deren Realwelt weit entfernt sind
und ab den 1950er Jahren der Großelterngeneration dieser Kinder angehö-
ren. Man kann sie mit ihrer frühen Nachkriegsproduktion auch als Vertrete-
rin einer moralisch-weltanschaulich präskriptiven Soll-Bild-Literatur im
(schein-)realistischen Gewand der moralischen und rührenden Beispielge-
schichte bezeichnen.
Sonderfälle stellen Karl Aloys Schenzinger, der Autor des berüchtigten HJ-
Romans Der Hitlerjunge Quex (1932), und Hjalmar (d.i. Hermann) Kutzleb
dar. Unbeschadet des nach 1945 verbotenen Quex konnte Schenzinger als
Verfasser von populärwissenschaftlichen Jugendbüchern, die z. T. ebenfalls
bereits im ›Dritten Reich‹ erstmals publiziert worden waren (Anilin, 1936,
Neuausgabe 1949; Metall, 1939, Neuausgabe 1949), auch nach 1945 höchst
erfolgreich in Erscheinung treten, obwohl beide Bücher ungebrochen ›deut-
sche‹ Wissenschaft feiern. Anilin erreichte eine Gesamtauflage von 500 000
und Metall bis 1951 eine Gesamtauflage von einer Million Exemplaren.
Auch der nationalsozialistische Jugendbuchautor Kutzleb, dessen Spezialität
Germanen- und Geschichtsstoffe aus der preußisch-brandenburgischen Ge-
schichte waren, die er im altrenommierten Hermann Schaffstein-Verlag pu-
blizierte, brachte es zwischen 1949 und 1956 auf 13 neue Titel.
Zu dieser NS-Schriftstellergruppe zählen auch Angehörige der etwas jün-
Repräsentanten der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 315
Anfänge: 1945–1949
Unpolitische Literatur Die kinder- und jugendliterarische Textproduktion in den ersten Nachkriegs-
jahren bis zur Gründung der Bundesrepublik 1949 (einem Ereignis, das kei-
nesfalls als eine deutliche Zäsur im Profil der Kinder- und Jugendliteratur
und der ihr zugrunde liegenden Mehrheitsmentalität verstanden werden
darf, sondern nur als eine Orientierungsgröße dienen soll) ist aufs Ganze ge-
sehen stark konservativ und von Nichtbeachtung der jüngsten Vergangenheit
– besonders aber der deutschen Schuld an der säkularen Katastrophe – ge-
prägt. Sie weist aber auch einige aufschlussreiche Besonderheiten auf, die
zwar nicht die tatsächliche Rezeption und Wirkung der damals neu entste-
henden oder nach Westdeutschland gelangenden Kinder- und Jugendliteratur
widerspiegeln, aber doch ein Spektrum an Möglichkeiten zeigen, die in dem
Mehrheitskorpus betont harmlos-gutmütig-humoristisch bzw. ›abendlän-
disch-eigentlich‹ und dabei realitätsverleugnend sich erweisender Texte auf-
fallen und eigene Akzente setzen.
Das Verfahren, nach 1945 unpolitisch und ohne Bezug auf die allerjüngste
Vergangenheit oder unter bewusster Ausklammerung von ihr Kinder- und
Jugendliteratur weiterzuschreiben, war weit verbreitet und über seine An-
wendung herrschte stillschweigender Konsens. So kreierte man mehrheitlich
Kinderfiguren in einer Umgebung, die auf eine falsche, unglaubwürdige und
heute mehr denn je verlogen wirkende Weise ›zeitlos‹ war, deren Konstruk-
tion aber jenes fatale Vakuum, um das herum diese Kinderwelten konstruiert
wurden, nicht einfach verleugnen konnte. Die Flucht ins Harmlos-Idyllische
war erkauft um den Preis des Schweigens über so viele Untaten und der Ta-
buisierung jeglicher Verweise auf jene Welt, aus der sie hervorgegangen wa-
ren und in deren Fortdauer die jungen Leserinnen und Leser von Kinder- und
Jugendliteratur zwangsläufig lebten. Der französische Germanist Robert
Minder hat diesen Sachverhalt am Beispiel einer vergleichenden Analyse der
Texte in deutschen und französischen Lesebüchern im Jahr 1953 für Deutsch-
Anfänge: 1945–1949 317
land so beschrieben: Das deutsche Kind erfahre auch nach 1945 viel zu viel
von »Scholle« und »Volkstum«, von »Pflege des Gemüts und der Weltan-
schauung«, lerne »das spießige Winkelglück der zahllosen Boden- und Schol-
lendichter des 20. Jh.s, deren Welt mit den Brettern des Untertanengehorsams
vernagelt ist«, kennen. Und Minder zieht ein berühmt gewordenes Fazit, das
auch auf das Gros der westdeutschen Kinderliteratur dieser Jahre zutrifft:
»Fielen dem Mann vom Mond solche Lesebücher [man kann dafür auch
einsetzen: Kinderbücher] in die Hände, er dächte: ein reiner Agrarstaat muß
dieses Deutschland sein, ein Land von Bauern und Bürgern, die in umhegter
[zumeist kleinstädtischer] Häuslichkeit schaffen und werkeln und seit Jahr-
hunderten nicht mehr wissen, was Krieg, Revolution, Chaos ist.«
Der 1949 in Wien erschienene Kinderroman Die Spatzenelf von Karl Enthistorisierung
Bruckner, der von einer Gruppe von etwa 8–12-jährigen fußballbegeisterten der Schauplätze
Volksschülern erzählt, verwendet bekannte kinderliterarische Ingredienzien: und Handlungs-
Prächtige (Laus-)Bubentypen schlagen sich durch; einige müssen mitverdie- zusammenhänge
nen, weil das Familienbudget der alleinerziehenden Mutter nicht reicht. Sie
gründen gegen alle möglichen Widerstände eine eigene Fußballmannschaft.
Das Motiv der Solidarität der Mitglieder der Spatzenelf mit einem ihrer Ka-
meraden, den sie durch freiwillige Dienstleistungen ›freikaufen‹, hat seine
Entsprechung bereits in Alfred Weidenmanns NS-Kindererzählung Jungzug
2. Im Grunde bewegt sich die natürlich glücklich endende Handlung im Be-
reich des von Erich Kästner Vorgegebenen. Trotz des Milieus gibt es keine
politischen Implikationen wie in der linksproletarischen und Exil-Kinder-
und Jugendliteratur.
Ein erfolgreiches Seitenstück zu Karl Bruckners Spatzenelf bildet Henry
Winterfelds deutlich an Kästner geschulte Verkehrte-Welt-Geschichte Timpe-
till. Die Stadt ohne Eltern (1948). Den Handlungsraum bildet auch hier das
beliebte, so zeit- wie ortlose Kleinstadt-Ambiente – mit einer deutschen
Kleinstadt von einer komisch-idyllischen Gegenwärtigkeit, die durch Aus-
sparen aller konkreten zeitgeschichtlichen Problembezüge erreicht wird. Der
Roman stammt von dem Autor der seinerzeit bekannten Caius-Kinderro-
mane, die im antiken Rom spielen, und fällt dadurch auf, dass er noch fast
25 Jahre nach seinem ersten Erscheinen in einer gänzlich gewandelten Bun-
desrepublik 1972 eine fünfte Auflage erlebte. Winterfelds Kinderroman be-
ginnt wie eine der üblichen Lausbubengeschichten. Dann erweist er sich als
eine pädagogisierte Version des Verkehrte-Welt-Motivs: Die Eltern verlassen
geschlossen die Stadt, um die anders nicht mehr zu bändigenden Kinder auf
diese drastische Weise mittels Entzug der erwachsenen Kompetenzen im All- Henry Winterfeld:
tag und im Sozialen zur Räson zu bringen. Die Kinder, die zwar nach anfäng- Timpetill. Die Stadt ohne
lichen Schwierigkeiten mit den ungewohnten Anforderungen, die das soziale Eltern (1948)
Management an sie stellt, ganz gut klarkommen und v.a. die Störenfriede
und Bösewichter unter ihren Altersgenossen ausschalten oder zur Rechen-
schaft ziehen, sind doch froh, als die Erwachsenen nach einigen Tagen wieder
das Ruder übernehmen, und wollen am Ende das, was sie nach den Vorstel-
lungen der Erwachsenen auch wollen sollen. Die Asozialen – zwischen z. T.
bösartigen Lausbubenstreichen à la Max und Moritz und schon in den Be-
reich des Kriminellen hinüberspielenden Aktivitäten – sind die Gruppe der
sogenannten Piraten, die zunächst auch die Mehrheit hat. Man kann die
Geschichte auch als eine verdeckte kinderliterarische Parabel auf das Auf-
kommen des Faschismus lesen, als eine kleinbürgerliche Rettungsparabel:
Die Anständigkeit der vernünftigen, gutbürgerlichen Kinder siegt über Chaos
und Gemeinheit der »Piraten«, die – auch von der sozialen Zusammenset-
zung her – wie eine Art SA wirken. Diese Gruppierung wird am Ende aber
318 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende
doch durch die cleveren Guten ausgeschaltet und auf den richtigen Weg ge-
bracht. Das Wiederauftauchen der Erwachsenen besiegelt die durch die guten
Kinder selbst errungene, wiederhergestellte Ordnung im Städtchen, das alle
charakteristischen Merkmale der Kleinstädte in der Kinder- und Jugendlite-
ratur der Nachkriegszeit aufweist: Es ist ein merkwürdig zeitloser, vormo-
dern-biedermeierlich wirkender Ort mit wohlmeinend-behäbigen oder auch
kauzigen Honoratioren (Lehrer, Apotheker, Briefträger, Bürgermeister) und
fleißig vor sich hinwerkelnden Handwerksmeistern (Schuster, Fleischer etc.),
der als Bühne für die Streiche und Ungezogenheiten der Kinder dient; Arbei-
ter, Industrie u.ä. kommen nicht vor; das Höchste an zivilisatorischem Fort-
schritt ist eine alte Straßenbahn sowie ein Elektrizitätswerk. Der vergleichs-
weise große Erfolg dieses Erzählmodells liegt wohl in der an Kästner ge-
schulten flotten, humoristischen Erzählweise Winterfelds (mit einem etwa
13-jährigen Ich-Erzähler aus der Gruppe der Guten, der Anti-Piraten) sowie
im Reiz des Motivs der verkehrten Welt.
Ähnliches kann auch für Rosemarie Ditters Kinderroman O diese Rassel-
bande (1953, 9. Aufl. 1965) gelten, der im Übrigen für die in den 50er Jahren
in der Bundesrepublik führende Kinder- und Jugendzeitschrift Rasselbande
titelgebend war. Es handelt sich um eine Schul-, genauer Gymnasialgeschichte
mit den genreüblichen Streichen und Ingredienzien: die Klassengemeinschaft
einer Untertertia (= 8. Klasse) und die mehr oder weniger sympathisch-re-
spektheischend dargestellten Studienräte; Pennälerscherze in Deutsch: Schil-
lerverballhornung (Der Taucher), Indianer-Identifikation auf der Ebene von
Karl-May-Winnetou-und-Old-Shatterhand-Gehabe (Marterpfahl) und der-
gleichen mehr – in Anlehnung an Speyer (Kampf der Tertia), aber auch Käst-
ner (Das fliegende Klassenzimmer). Insbesondere geht es um die Anerken-
nung des Mädchens Silke, der Tochter des neuen Forstmeisters des Klein-
städtchens Walsrode, in einer ansonsten reinen Jungenklasse. Auch die
sozialen Differenzen spielen wie bei Speyer eine Rolle. Das Erfolgsrezept von
Ditters Roman besteht darin, dass die Autorin – wie der Klappentext ver-
merkt – ihre eigenen Schülerinnenerlebnisse literarisiert. Und die müssen bei
einer Frau, die 1953 etwa 40 Jahre alt war, in die Zeit der Weimarer Repu-
blik gefallen sein. Das wird aber allenfalls daran erkennbar, dass sich die
Autorin an den Traditionen kinder- und jugendliterarischer Inszenierung von
Schülerleben in einem Typus von deutscher Kleinstadt orientiert, wie er für
die 20er und frühen 30er Jahre noch existent gewesen sein mochte – mehr
noch: wie er sich als kinder- und jugendliterarischer Topos erhalten hatte.
Zwischen Idyllik und Margot Benary-Isbert thematisiert v.a. in Die Arche Noah (1948) das
Problemdarstellung Elend der Nachkriegssituation sehr deutlich – aber als Elend der Deutschen,
der Flüchtlinge. Was dem vorausgegangen war, wird nicht erkennbar ge-
macht, die Situation ist Schicksal, der Krieg ein Verhängnis. Ansonsten ist die
Handlung von mehr oder weniger wohlmeinenden Menschen bevölkert. Die
Guten und Hilfsbereiten sind dabei in der Überzahl, sie spielen im Vorder-
grund der Handlung. Das gilt insbesondere für Mutter Lechow und für die
prächtige Frau Almut, welche die Vertriebenenfamilie Lechow auf ihrem Hof
aufnimmt. Das Land und die ländliche Überschaubarkeit erscheinen als ret-
tender Rahmen für die Familie Lechow. Es geht hier überaus freundlich und
gesittet zu; zudem herrscht eine auffallende Frömmigkeit, die christlichen
Feste werden in ihrem religiösen Zusammenhang gefeiert (v.a. natürlich
Weihnachten), einige fromme Lieder werden rezitiert und gesungen, Gottes-
dienste besucht etc. Die Autorin inszeniert eine kleine heile in der unheilen,
zerstörten großen Welt, die aber gegenüber der ersteren zunehmend zurück-
tritt.
Trümmerbewältigung 319
Diese Tendenz prägt auch den 1949 erschienenen zweiten Band Der Eber-
eschenhof, in dem die weiteren Schicksale der Familie Lechow in den ersten
Nachkriegsjahren erzählt werden. Alle – einschließlich des aus russischer
Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Vaters, des Arztes Dr. Lechow – sind
auf dem rettenden Ebereschenhof von Frau Almut untergekommen. In die
kleineren und größeren Alltagsprobleme sind auch immer wieder Bezüge auf
die aktuelle und für viele schwierige Lebenssituation eingestreut; es finden
sich Bezugnahmen auf den Krieg und die Kriegsfolgen (v.a. die Zerstörungen
und das Flüchtlingselend, gefallene Männer und Söhne etc.). Allerdings wird
alles letztlich als schweres Schicksal dargestellt, das es zu tragen und mit
Zukunftsoptimismus zu meistern gilt. Die Schuldfrage wird nicht zur Spra-
che gebracht, auch wenn dessen aktuelle Folgen durchaus dargestellt werden.
Auch die Teilung Deutschlands wird thematisiert; im Osten sind die Russen,
und Grenzübertritte sind gefährlich. Die Handlung zielt ganz darauf ab, den
Wiederaufbau ins Zentrum zu rücken; so wird beispielsweise von der durch
den kriegsversehrten jungen Neulehrer Christoph Hühnerbein angestoßenen
Aktion erzählt, mit den Schülern seiner Volksschule einen bombenzerstörten
Bauernhof wieder herzurichten und zur Unterkunft für Flüchtlinge auszu-
bauen.
Trümmerbewältigung
der Welt den Platz der Kinder ein – um den Menschenkindern behilflich sein
zu können, weil diese selbst zu schwach dazu sind und die Erwachsenen zu
unfähig oder nicht willens (wie Politiker und Militärs, die um ihre Macht
und ihre Pfründe bangen). Kästners anthropologische Konzeption ist durch-
aus in der Nachfolge Rousseaus zu sehen; zugleich aber ist er auch Aufklärer,
von den Möglichkeiten der Vernunft und ihrer unkonventionell-listigen An-
wendung überzeugt. Und deren Agent sind die Tiere der Welt. Ihnen gelingt
es, nachdem sie alle Kinder dieser Welt zur Rettung von deren bedrohter
Zukunft sozusagen ›fürsorglich entführt‹ haben, die verantwortlichen Staats-
männer und Militärs zur Unterschrift unter einen weltweit geltenden Frie-
dens- und Freundschaftsvertrag, gewissermaßen eine utopische UN-Charta
zum Besten der derzeitigen und zukünftigen Kindergenerationen, zu veran-
lassen. Kästner greift also ein höchst aktuelles politisches Thema auf: den
Erhalt des Friedens und gleichzeitig die Unmöglichkeit, diesem Ziel auf den
üblichen diplomatischen Wegen näherzukommen. Der Kalte Krieg, die Er-
fahrungen mit Ereignissen wie der Potsdamer Konferenz und dergleichen
werfen ihre Schatten. Zugleich wird die Gründung der UNO aufgenommen:
Die Tiere organisieren zum Schutz der Welt, zu dem sich die Berufspolitiker
als unfähig erweisen, und zum Schutz der Kinder eine eigene Weltkonferenz
und zwingen am Ende die Politiker und Militärs, die Weltfriedens- und Ver-
nunftcharta zu unterzeichnen. Diese ist zugleich eine wahrhaft kinderpoliti-
sche Charta. Und die Tiere sind – so Kästners witzig inszeniertes Credo – zu-
sammen mit den Kindern die besseren, vernünftigeren Menschen. Ein Kom-
plementärtext zur Konferenz der Tiere ist der Abschlussband Der neue Bund
von Lisa Tetzners Kinder aus Nr. 67; er bietet eine utopische Perspektive auf
Völkerverständigung, die von der Jugend dieser Welt ausgeht und in der
Schweiz ihr Zentrum hat.
Kästners Das doppelte Lottchen, sein zweiter Kinderroman nach 1945 »Das doppelte
(die Idee war bereits um 1942 in einem Exposé für ein Filmdrehbuch ange- Lottchen«
legt), ist insofern höchst aufschlussreich, als der Autor zwar eine Welt ent-
wirft, in der es von Seiten und durch die Schuld der Erwachsenen zu ernst-
haften Spannungen und Verwerfungen kommt und nicht die Kinder als die
›Schuldigen‹ dastehen; andererseits aber entgeht auch dieser kinderliterari-
sche Problemroman nicht der Gefahr einer Verharmlosung. Kästner lädt den
kinderliterarischen Kindheitsdiskurs zwar realitäts- und problembezogen
auf, er moralisiert ihn jedoch zugleich und entschärft ihn durch das Entwer-
fen einer merkwürdig zeitbezugslosen, wenn auch moderneren kindlichen
Lebenswelt, als sie in den üblichen Kinderwelt-Erzählungen der Nachkriegs-
jahre präsentiert wird. »Das Buch spielt in einer ahistorischen Welt« (Ruth
Klüger), die als solche als besonders kinderliteraturkonform gelten konnte,
weil alle realen zeitgeschichtlichen Bezüge daraus getilgt sind. Das verbindet
Das doppelte Lottchen mit anderen Kinderbüchern der Zeit. Bei näherer
Betrachtung des Realitätsbezugs dieses Scheidungsromans zeigt sich, dass er
seiner Handlungslogik nach im Deutschland der 40er Jahre spielen müsste –
dies jedoch auf eine verwirrende Weise zugleich tut und nicht tut. So weist
Kästners kinderliterarische Gegenwartswelt einerseits keinerlei direkte Be-
züge zur zeitgeschichtlichen Realität auf, in der sie eigentlich zu verorten ist;
andererseits gibt es aber doch Spuren dieser ansonsten so strikt ausgeblende-
ten Realität. Sie finden sich allerdings nicht auf der Ebene der narrativ-fiktio-
nalen ›Karte‹ des Textes, die keinerlei erkennbare Beziehungen zum ›Refe-
renzterritorium‹ Deutschland/Österreich zwischen etwa 1939 bzw. 1945 und Illustration aus Kästners
1949 enthalten, sondern in der erzählerischen Anlage und der Lösung des Das doppelte Lottchen
Konflikts selbst: Die Kinder sind den Folgen des Tuns der Erwachsenen aus- (1949)
322 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende
geliefert und von ihnen betroffen, bekommen von Kästner aber die Fähigkeit
und Möglichkeit zugesprochen, dagegen vorzugehen, in den unguten Zu-
sammenhang bessernd und heilend einzugreifen. Diese Botschaft findet sich
auch bei Astrid Lindgren und in anderen modernen und fortschrittlichen
kinderliterarischen Manifestationen jener Nachkriegsjahre. Kästners Kind-
heitskonzept ist zudem weiterhin dem der 20er Jahre und der Neuen Sach-
lichkeit verpflichtet, insofern er die kindlichen Helden als Korrektiv für die
Erwachsenen inszeniert: Die aus den Fugen geratene Erwachsenenwelt kann
am besten durch ›authentische‹ Kinder wieder in Ordnung gebracht werden.
In den 1950er Jahren allerdings scheint Kästners kinderliterarisches Ge-
staltungs- und gar Modernisierungspotenzial ausgereizt zu sein. Er bringt
seine aufklärerischen Qualitäten, humorvoll-vernünftig und in zum Nach-
denken anregender Weise mit seinem kindlichen Publikum zu sprechen, noch
einmal nachhaltig in seiner Kindheits- und Jugendautobiographie Als ich ein
kleiner Junge war (1957) zur Geltung. Sein Roman für Kinder Der kleine
Mann (1953) und dessen Fortsetzung Der kleine Mann und die kleine Miß
(1967) sind nur mehr unterhaltsam gekonnte Nachlesen zum früheren Werk.
Und es dürfte kaum ein Zufall sein, dass Kästner sich nach 1950 kinderlite-
rarisch, von den genannten Texten abgesehen, im Wesentlichen als Nacher-
zähler von Klassikern der komischen und humoristischen oder auch satiri-
schen (Welt-)Literatur betätigte: Der gestiefelte Kater. Nacherzählt, 1950;
Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Reisen und Abenteuer zu Was-
ser und zu Lande. Nacherzählt, 1951; Die Schildbürger. Nacherzählt, 1954;
Leben und Taten des scharfsinnigen Ritters Don Quichotte. Nacherzählt,
1956; Gullivers Reisen. Nacherzählt, 1961.
Auch mit seiner aufklärerisch-demokratischen Kinderzeitschrift Pinguin
(1945–1949) blieb Kästner nach 1945 der Vertreter einer Minderheitsten-
denz in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Das trifft auch auf das
weiterhin in der Schweiz lebende und arbeitende Autorenehepaar Lisa Tetz-
Walther Pollatschek ner und Kurt Held sowie auf Walther Pollatschek zu. Auch dessen erster
Kinderroman 3 Kinder kommen durch die Welt (1947) gehört wie der ein
Jahr später erschienene Roman Die Aufbaubande hinsichtlich seines Potenzi-
als an Zeitgenossenschaft zweifellos zu den bemerkenswerten Ausnahmetex-
ten. In seinem Erstling unternimmt Pollatschek es, Kindern von Nationalso-
zialismus, Krieg, Emigration und von der Judenverfolgung bis hin zum Holo-
caust sehr offen und mit engagiert antifaschistischer politischer Perspektive
zu erzählen. Seine im nur kurzlebigen westdeutschen Verlag Die Wende er-
schienene Emigrationserzählung steht in der Tradition linker, jedoch nicht
proletarisch-revolutionärer Kinderliteratur und erscheint wie ein Seitenstück
zu Lisa Tetzners den nämlichen Zeitraum thematisierenden Bänden ihrer
Kinderodyssee oder auch zu Irmgard Keuns Kind aller Länder (1938). Pol-
latschek versucht, die schwierige Materie kindlichem Verständnis entspre-
chend aufzubereiten und darzubieten. Die Geschichte der Familie der drei
titelgebenden Mädchen Doris, Silvia und Konstanze wird vom Vater als Ich-
Erzähler berichtet, hinter dem unschwer der Autor selbst zu erkennen ist. Die
Erzählung präsentiert sich als eine Sammlung von Reiseabenteuern unter den
Bedingungen der Emigration mit den Stationen Frankreich, Spanien und
Schweiz. Pollatschek versucht hier so etwas wie die Quadratur des Kreises,
nämlich das Schicksal der Familie des kritischen Journalisten-Vaters und Ich-
Erzählers vom Ende der Weimarer Republik bis zum Kriegsende 1945 zu
erzählen und in diese Erzählung zugleich Erläuterungen zur weltpolitischen
Situation einzuflechten, die ja den Hintergrund und Motor für dieses Schick-
sal bildet. Die Grenzen dieses Verfahrens zeigen sich darin, dass der Ich-Er-
Die 50er Jahre 323
Die 50er Jahre, die Anfangsjahre der alten Bundesrepublik mit dem Bestäti-
gungsschub durch die gewonnene Fußballweltmeisterschaft im Jahr 1954
und dem Wirtschaftswunder, sind kinder- und jugendliterarisch durch eine
Differenzierung und Diversifizierung der Themen, Genres und Schreibstile
gekennzeichnet, nicht zuletzt aufgrund eines nunmehr wieder intakten Lite-
raturmarkts. Dabei dominiert die Programmatik des ›guten Jugendbuchs‹.
Daneben allerdings lassen sich in den 50er Jahren auch verschiedene Schübe
von Neuorientierung, von ›Modernisierung‹ ausmachen, die mehr als nur
vereinzelte Ansätze bleiben, auch wenn diese Neuansätze nicht immer frei
von Restbeständen älterer Schreibkonzepte und ideologischer Perspektivie-
rung sind. Dies kann sich im Thematischen, aber auch im Erzählkonzept
oder in beiden Dimensionen zugleich bemerkbar machen.
Zu denjenigen, die v.a. thematisch umdenken und einen Neuanfang in ei-
nem moralkritischen Diskurs suchen, der die Verwüstungen des Nationalso-
zialismus und seiner Herrschafts-, Macht- und Überwältigungsideologie re-
flektiert, zählt in erster Linie Hans Baumann mit seinen historischen Jugend-
büchern Der Sohn des Columbus (1951), Steppensöhne (1954), Die Barke
der Brüder (1956) und Ich zog mit Hannibal (1960). Er gehört zu den Auto-
ren der ersten Stunde in der Bundesrepublik. Während der 50er und 60er
Jahre publiziert er neben seinen wenigen Jugendbüchern eine Fülle von Kin-
derbüchern; einschließlich seiner Gedichtbände sind es über dreißig. Begon-
nen hat seine Karriere als Kinder- und Jugendbuchautor während des ›Dritten
Reichs‹ v.a. mit seinen Fahrten- und Kampfliedern der Hitlerjugend; nach Hans Baumann
324 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende
eigenen Angaben wandte sich Baumann 1941, nach dem Überfall auf die
Sowjetunion, von der Kriegs- und Herrenmenschenideologie des Nationalso-
zialismus ab. Steppensöhne trägt deutlich die Spuren des Wiedergutma-
chungs- und Versöhnungswillens des Autors nach seinen Verstrickungen in
den Nationalsozialismus. Baumann entfaltet in dem Roman eine spannende
und aktuelle Auseinandersetzung um Welteroberungs- und Unterwerfungs-
pläne mächtiger Kriegsherren wie Dschingis Khan, des Großkhans der Mon-
golen. Konkretisiert wird dies an der Geschichte zweier Enkel Dschingis
Khans, der sich gegensätzlich entwickelnden Brüder Arik-Buka und Kubilai,
im Kontext der Eroberungs- und Zerstörungszüge in das Reich des Schahs
von Persien, nach Russland und bis nach Mitteleuropa. Dschingis Khan wird
– im Gegensatz zu Hitler und Stalin, welche die zeitgeschichtlichen Referenz-
größen des Romans bilden – von einem chinesischen Weisen, Yelui, beraten,
auf dessen konstruktive, friedensstiftende Ratschläge er auch weitgehend
hört und dem er größten Einfluss auf den Enkel Kubilai einräumt. Der Ro-
man liest sich wie eine nachträgliche Kritik am nationalsozialistischen Unter-
jochungs- und Vernichtungskrieg im Osten. Es gelingt Baumann dabei aber
sehr überzeugend, seine Botschaft ohne unglaubwürdige Schwarzweiß-Male-
rei durch spannende Handlungsführung und konfliktträchtige Figurenkon-
stellation zu vermitteln, in deren Zentrum das ungleiche prinzliche Brüder-
paar steht, auch wenn die zentrale Figur des Beraters und Prinzenerziehers
Yelui zu einer Art chinesischem Nathan der Weise stilisiert erscheint. Ähnlich
angelegt und um zwei Brüderpaare, die beiden Infanten von Portugal und
zwei Söhne eines Fischers, gruppiert ist die Handlung von Die Barke der
Brüder, die zur Zeit Heinrichs des Seefahrers in der Mitte des 15. Jh.s spielt.
Auch hier geht es um Macht, Eroberung, Intrigen, Entdeckerlust, Treue zu
einem charismatischen Führer. Auch hier gibt es die Figur eines älteren Man-
Hans Baumann: nes, des Padre Pio, der die Herrscher ermahnt, nicht aus Eroberungslust
Steppensöhne (1954) Krieg zu führen und das Leben vieler aufs Spiel zu setzen.
Neben dieser Leistung einer Neuordnung der realistischen, auch die Berei-
che des abenteuerlichen Sachbuchs mit einbeziehenden Jugendliteratur, be-
reitet Baumann auch als äußerst produktiver Kinderschriftsteller und Lyriker
die Wende zu einer ›Literatur der Kindheitsautonomie‹ vor und prägt, etwa
mit seinen abenteuerlich-fantastischen Erzählungen wie Das Karussell auf
dem Dach (1961), diese Entwicklung mit, die dann seit Mitte der 50er Jahre
v.a. mit den Namen Krüss, Preußler und Ende verbunden ist.
Alfred Weidenmann Tendenzen zur Modernisierung repräsentiert auch Alfred Weidenmann
mit seinen Jugendbüchern Kaulquappe, der Boß der Zeitungsjungen (1951)
und der in sich abgeschlossenen Fortsetzung Kaulquappe und die Falsch-
münzer (1953) sowie dem auch verfilmten Erfolgsbuch Gepäckschein 666
(1953). Von seinen Anfängen an ist Weidenmann der Kinder- und Jugendlite-
ratur der Weimarer Republik, der Neuen Sachlichkeit und ihrer auf Span-
nung, Tempo, Schlagkraft der Darstellung angelegten Erzählstrategie ver-
pflichtet. Das zeigen seine durchaus nationalsozialistischen Kinder- und Ju-
gendromane, etwa die Trilogie Jungen im Dienst (1936–1938) und Jakko
(1939), sowie seine starke Beeinflussung durch den Film, also kinematogra-
phisches Erzählen. Dabei vertritt er in seinen Nachkriegsromanen, v.a. in
Kaulquappe, der Boß der Zeitungsjungen und ebenso ausgeprägt in Gepäck-
schein 666 eine ersichtlich an Kästners Emil und die Detektive orientierte
Moral der Anständigkeit und des solidarischen Handelns, gepaart mit Tüch-
tigkeit und Gewitztheit der kindlichen oder jugendlichen Akteure. Er greift
also auf fortschrittliche Traditionen der Kinder- und Jugendliteratur der Wei-
marer Republik zurück, die er allerdings während des Nationalsozialismus
Realismus in der Kinder- und Jugendliteratur der 1950er Jahre 325
durchaus auch in den Dienst von dessen Ideologie zu stellen wusste. Inhalt-
lich handelt es sich um Jungenabenteuer-, Aktivitäts- und Detektivgeschich-
ten, die in einem unhistorisch-gegenwärtigen Handlungsraum angesiedelt
sind; diese Inszenierungscharakteristika teilt Weidenmann mit vielen anderen
Kinder- und Jugendliteratur-Autoren der Zeit. Als Regisseur von gleichzeitig
entstehenden und hochgelobten Erwachsenenfilmen wie Der Stern von
Afrika oder Canaris zeigt er sich für zeitgeschichtliche Aspekt durchaus auf-
geschlossen, bleibt allerdings allen Fragwürdigkeiten und Begrenztheiten des
Aufarbeitungsdiskurses der frühen und mittleren 50er Jahre verhaftet. Be-
merkenswert ist Weidenmanns Versuch in Völkerverständigung; zuerst in
Winnetou junior fliegt nach Berlin (1952), worin er einen jungen Indianer,
den 15-jährigen Sohn eines Apachenhäuptlings, ins Zentrum der Handlung
rückt und in Berlin unter deutschen Jungs agieren lässt. Und in Gepäckschein
666 gibt es eine Art Alibi-Schwarzen (wobei die Bezeichnungen ›Neger‹ und
– immerhin ironisch gebrochen – ›Nigger‹ noch ganz selbstverständlich ver-
wendet werden).
Mit den beiden Kaulquappe-Bänden meldet sich Weidenmann nach seiner
Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft in der eben erst gegründeten Bun-
desrepublik als Jugendbuchautor zurück. Die flott geschriebene, spannend
erzählte Jungenbanden-Geschichte im Zeitungsmilieu bedient sich der Tradi-
tionen der neusachlichen Großstadterzählung; das Konkurrenzmotiv zwi-
schen den beiden Abendzeitungen und den jeweiligen jugendlichen Austrä-
gern erinnert in seiner Anlage an Durians Kai aus der Kiste. Figurenkonstel-
lation und Handlungsführung unterscheiden sich strukturell nicht wesentlich
von Weidenmanns HJ-Erzählungen, etwa von der Trilogie Jungen im Dienst;
auch gibt es Kontinuitäten zum Film Junge Adler. Selbstverständlich gibt es
jetzt keine HJ-Gruppen mehr und alle Bezüge zum ›Dritten Reich‹ sind weg-
gefallen; aber die Handlungsstereotypen sind geblieben: Jungenskamerad-
schaft, Wettkampf, clevere Schachzüge gegenüber Konkurrenten, die Bemü-
hung um Außenseiter und deren Integration in die Gruppe. Wie in Junge
Adler geht es auch in Kaulquappe um die Konkurrenz zweier Jungen um die
Führung in der Zeitungsausträgergruppe: Der angestammte Führer Kaul-
quappe spürt die Überlegenheit des neu und auf Wunsch des Vaters inkognito
dazugekommenen Harald Madelung. In ihrer Sportlichkeit und Härte ent-
sprechen Harald und Kaulquappe durchaus auch dem NS-Jugend-Ideal. Re-
flexionen über die Macht der Massenpresse, verbunden mit einer warnenden
Bezugnahme auf den Propagandaapparat von Joseph Goebbels (dessen Teil
Weidenmann gewesen war), verraten politisch-moralische Intentionen.
gik. Fantasie und Psychologie, die den Kinderfiguren aus der Verpflichtung
auf Wohlanständigkeit und strikte Anpassung an die von den Erwachsenen
gesetzten Verhaltensnormen heraushelfen, werden zu wichtigen Elementen.
Diese Entwicklung, die sich auch in der wachsenden Beliebtheit der ansons-
ten recht konservativen Werten verpflichteten Kinderbücher von Enid Blyton
mit ihren gleichwohl selbstbewusst agierenden Kinderfiguren widerspiegelt,
machen auch Autoren und Autorinnen mit, die sich bis dahin der Stärkung
einer Erziehung zur Wohlanständigkeit verschrieben haben. Das gilt etwa für
Hertha von Gebhardt mit ihren erfolgreichen Kinderbüchern Absender Ni-
kolaus Stuck (1954) und Das Mädchen von irgendwoher (1956); Absender
Nikolaus Stuck ist eine an Kästner orientierte, glücklich zu Weihnachten en-
dende Familienzusammenführungsgeschichte im Theatermilieu. Und Henry
Winterfeld gestaltet in Kommt ein Mädchen geflogen. Eine fast unglaubliche
Geschichte für Kinder (1956) kindlichen Zusammenhalt und kindliches Ver-
ständnis für Fremdartiges, das die Erwachsenen nicht gelten lassen wollen.
Zu den Schwellen- oder Vorläufertexten einer »Literatur der Kindheitsau- Schwellentexte zu
tonomie« (Ewers) zählt nicht zuletzt Heinrich Maria Denneborgs Jan und einer Literatur der
das Wildpferd (1957). Diese Erzählung bildet ein realistisches Komplement Kindheitsautonomie
zu Preußlers Der kleine Wassermann. Im Mittelpunkt steht der etwa fünfjäh-
rige Bauernsohn Jan aus dem Westfälischen, der großes Interesse an den in
der Gegend noch lebenden Wildpferden hat und dabei eine ganz besondere
Zuneigung zu dem schwarzen Hengstfohlen Balthasar entwickelt. Das ist,
weil es lahmt, als gewissermaßen lebensunwert, weil wirtschaftlich nicht an-
ders zu verwerten, aus der Wildpferdherde ausgesondert und soll zum
Schlachten freigegeben werden. Dagegen kämpft Jan mit Hilfe des alten
Knechtes Natz, der über einen besonderen »Pferdeverstand« sowie sehr viel
Fantasie und Verständnis für seinen kleinen Freund verfügt und sein Wissen
auch an diesen weitergibt. Es gelingt Natz, den jungen Hengst vor dem
Schlachter zu retten und ihm damit zur Freude Jans ein Weiterleben in der
Wildpferdherde zu ermöglichen. Die Erwachsenen der Elterngeneration, die
das Leben bestimmen, zeichnen sich durch eine gewisse Härte und Unnach-
giebigkeit aus. Diese Charakterisierung fällt umso mehr auf, als nur der alte
Knecht Natz, eine weise und gütige, aber auch lebenstüchtig-schlaue Groß-
vaterfigur, das Ideal humaner Fantasiefähigkeit und Empathie repräsentiert;
er vertritt ein humanes pädagogisches Gegenprinzip zu einer Erziehung der
Härte und Unterordnung und zur Ausmerzung des Schwachen. Das Thema
›Rettung lebensunwerten Lebens‹ war in diesen Jahren, als die sogenannte
Euthanasie, wie die berüchtigte NS-Praxis der Ermordung behinderter Men-
schen auch genannt wurde, noch in frischer Erinnerung war, durchaus heikel.
Jan und das Wildpferd wurde 1958 in der Sparte Kinderbuch mit dem Deut-
schen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Aufschlussreich ist, dass die Begrün-
dung der Jury für die Preisvergabe auf diesen zentralen Aspekt der Erzählung
gar nicht eingeht und darin lediglich ein humor- und liebevoll erzähltes Pfer-
debuch sieht.
Ein neuer Ton und eine märchenhaft-fantastische, zugleich mit Komik verse-
hene Nuance kommt durch die ersten Erzählungen Otfried Preußlers in die
westdeutsche Kinderliteratur. Vor allem zwei Erzählungen begründen Preuß-
lers Bekanntheit und Beliebtheit: Der kleine Wassermann (1956) und Die
kleine Hexe (1957). In den 60er Jahren wird noch die Räuber Hotzenplotz-
Trilogie hinzukommen (1962, 1969, 1973), die zu den modernen Klassikern
der Kinderliteratur zählt. Preußler eröffnet dem Kinderbuch und der Kind-
heitsinszenierung Bereiche, die bislang als wenig kindheitskompatibel galten
und – außerhalb des Märchens oder der Fantastik – entsprechend auch nicht
positiv konnotiert waren: die Sphären der Wasserwesen und der Hexen. Dieses
Grenzen überschreitende Hereinholen neuer Themen hat bei Preußler einer-
seits durchaus antiautoritäre Implikationen, indem kindliche Freiräume ent-
stehen, in denen noch nicht alles von vornherein reglementiert ist. Andererseits
entkommt auch sein Kindheitsdiskurs nicht den unaufhebbaren Forderungen
der pädagogischen Intentionen solcher Texte; der kleine Wassermann wie die
Otfried Preußler
kleine Hexe sind – bei aller Neigung zu lustvollem Schabernack und zum
Ausloten und Überschreiten von Grenzen – als von Grund auf gutartige Wesen
konzipiert, die letztlich stets auf den Pfad der pädagogischen Tugend gelenkt
werden können oder sich gar selbst darum bemühen, diesen zu erreichen. So
sind der kleinen Hexe pädagogische Vernunft und Norm auf ebenso vergnüg-
liche wie nachhaltige Weise in Gestalt des sprechenden Raben Abraxas beige-
geben; er ist, der Grille im Collodis Pinocchio vergleichbar, deren unüberhör-
bare Stimme. Beiden frühen Erzählungen Preußlers gemeinsam ist ihre Lokali-
sierung in einer vor- oder besser außerindustriellen, dörflich-handwerklich
bestimmten Welt; damit partizipieren sie – wie auch die etwas spätere Räuber
Hotzenplotz-Trilogie – an der Tendenz zu einer vorherrschend idyllisierenden
Kinderweltdarstellung in der damaligen westdeutschen Kinderliteratur. Aller-
dings wird diese Tendenz durch Preußlers humoristischen Erzählstil und durch
sein Geschick kompensiert, seine Figuren in durch ihre Ungewöhnlichkeit
reizvollen Zusammenhängen anzusiedeln. Strukturell kommt ihm dabei der
Rekurs auf das verfremdende Verkehrte-Welt-Motiv zugute, das ja stets für
komische Effekte und eine fröhliche Stimmung beim Rezipienten sorgt.
Die ›Großen Drei‹: Otfried Preußler, James Krüss und Michael Ende 329
Illustrationen aus
Otfried Preußlers
Der kleine Wassermann
(1956) und Die kleine
Hexe (1957)
330 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende
würdigem‹ Verhalten zwingen. Dieses Erzählung liest sich, ersetzt man die
rebellischen und sich solidarisch gegen ihre ›Bestimmer‹ zusammentuenden
Esel durch ein solidarisches Kinderkollektiv, wie ein Vorgriff auf bestimmte
Texte der antiautoritären Kinderliteratur; allerdings werden die Herrschafts-
und Abhängigkeitsverhältnisse hier nicht radikal umgestürzt, sondern sozu-
sagen sozialpartnerschaftlich erträglich gestaltet.
»Jim Knopf« Einen Höhepunkt der frühen westdeutschen Kinderliteratur der Kind-
heitsautonomie bilden sicher Michael Endes Jim Knopf und Lukas, der Lo-
komotivführer (1960) und dessen Fortsetzung Jim Knopf und die wilde 13
(1962). Ungewöhnlich an Jim Knopf ist nicht nur die schwarze Hautfarbe
der Titelfigur, sondern mindestens genauso deren Lebensumfeld: Das Minia-
tur-Ozean-Insel-Königreich Lummerland mit seinem König Alfons, dem
Viertel-vor-Zwölften, mit Herrn Ärmel und Frau Waas und mit Lukas, dem
Lokomotivführer, der mit seiner Tenderlokomotive Emma nur sich selbst
transportiert, scheint eher dem englischen Nonsense-Humor entsprungen zu
sein als deutscher Märchenfantasie mit Dorfteich, Mühle, Handwerkern und
Wald. Jim Knopf gehört zum Typus der komisch-fantastischen Abenteuer-
reise. Der etwa 14-jährige, also am Ende der Kindheit stehende Titelheld
verlässt mit seinem väterlichen Freund Lukas notgedrungen die von Überfül-
lung bedrohte Heimatinsel und begibt sich auf eine Fahrt ins Ungewisse. Die
Jim Knopf und Lukas, der beiden haben sich nun in den verschiedensten, allesamt der Alltagserfahrung
Lokomotivführer. enthobenen, märchenhaft-fantastischen, exotischen Zusammenhängen und
Zeichnung von F.J. Tripp den überraschendsten Herausforderungen zu stellen. Die Handlung folgt
dem mythischen Modell des allmählichen Erwachsenwerdens durch Bewäh-
rung, wobei der jugendliche Held hier nicht völlig allein agieren muss und
nur auf sich selbst gestellt ist wie exemplarisch Robinson Crusoe, sondern
einen überlegenen, hilfreichen Begleiter hat, auf den er sich verlassen kann.
Dabei geht es jedoch nicht lediglich um das Absolvieren einer Reihe von
›aventiuren‹, sondern um die Rettung und Erlösung von Kindern, die an ei-
nem Ort des Bösen, in der Drachenstadt, festgehalten werden; in Jim Knopf
und die wilde 13 geht es dann überhaupt um die Möglichkeit, das Böse mit
Hilfe zweier Kinder wieder zurückzuverwandeln in seinen ursprünglich gu-
ten Zustand, was zum rundum zufriedenstellenden, guten Ende natürlich
auch gelingt. Das entscheidende Moment des Ende’schen Kindheitskonzepts
besteht darin, dass Kinder heilsbringende Wirkungen in der moralisch in
Unordnung geratenen Welt ausüben können; er greift damit auf ein Motiv
zurück, das mythologisch-religiösen Ursprungs ist und in säkularisierter
Form seit der Romantik häufiger in der Kinderliteratur genützt wird.
Siedelt Michael Ende seinen Kindheits- und Kinderdiskurs von vornherein
in einem mehr und mehr fantastisch-exotischen, märchenhaft-mythischen
Michael Ende Raum an, so verhält es sich bei einem anderen erfolgreichen Kinderbuch in
der zu Ende gehenden Adenauerära, in James Krüss’ Roman Timm Thaler
oder das verkaufte Lachen (1962), doch deutlich anders. Nicht nur die Rah-
menerzählung ist konkret in der Mangelsituation der ersten Nachkriegsjahre
in Deutschland verortbar, auch die Binnengeschichte lokalisiert den kindli-
chen Titelhelden in einem großstädtisch-realistisch gezeichneten Milieu eher
ärmlichen Charakters. Entsprechend trägt das erste Kapitel (das hier erster
Bogen genannt wird) die eher sozialromantisch klingende Überschrift Ein
armer kleiner Junge. Allerdings entwickelt sich daraus weder eine Oliver
Twist-Erzählung noch ein kinderliterarischer Sozialrealismus in der Art der
20er Jahre, sondern ein Intrigen-, Verstrickungs- und Errettungsszenario um
den jugendlichen Titelhelden mit geheimnisvollen und z. T. auch agentenhaft-
kriminalistischen Zügen. Aber auch die erzählerische Anlage von Timm
Die ›Großen Drei‹: Otfried Preußler, James Krüss und Michael Ende 333
Gegen Ende der 50er Jahre bahnt sich in der westdeutschen Kinder- und Ju-
gendliteratur eine zunächst vorsichtige, dann deutlichere Wende an: weg von
einer ›Verdrängungsliteratur‹ hin zu dem, was man allererst ›Wiedergutma- ›Wiedergutmachungs-
chungsliteratur‹ nennen könnte (in Parallele zur damals in der Bundesrepub- literatur‹
lik geführten ›Wiedergutmachungsdebatte‹). Diese Wende ist mit einer auf-
fallenden Zunahme von Kinder- und Jugendbüchern zum Thema ›Judenver-
folgung‹ verbunden. Diese Veränderungen, die sich um 1960 im Bereich der
Kinder- und Jugendliteratur abzeichnen, sind als Folge des Drucks zu verste-
hen, der von einigen für das westdeutsche Ansehen sehr abträglichen poli-
tischen Ereignissen ausging, wie dem international unliebsamen und pein-
liches Aufsehen erregenden Erstarken rechtsradikaler Parteien wie der NPD,
von Hakenkreuzschmierereien und Schändungen jüdischer Einrichtungen.
Überhaupt verstärkt sich Ende der 50er Jahre, nach der ersten Welle des
›Wirtschaftswunders‹, auch in solchen politischen Kreisen, die auf diesem
Ohr bisher eher taub gewesen waren, der Eindruck, dass zu wenig für die
politische und zeitgeschichtliche Bildung der Jugend getan worden sei, be-
sonders im Hinblick auf die jüngste deutsche Vergangenheit. Die Entwick-
lung der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur erreicht also um 1960
nicht nur mit märchenhaft-fantastischen Konzeptionen glückverheißender
und rettender Kindheitsautonomie einen ihrer Höhepunkte, sondern gleich-
zeitig avancieren Kinder innerhalb weniger Jahre zu Zentralfiguren zeitge-
schichtsbezogener und das heißt die jüngste, die NS-Vergangenheit themati-
sierender Problemliteratur. Michael Endes oder James Krüss’ Märchenro-
manhelden Jim Knopf bzw. Timm Thaler etwa bekommen in wachsendem
Maße beklemmend realistische Gesellschaft; z. B. von dem verfolgten
deutsch-jüdischen Jungen Friedrich Schneider (Hans Peter Richter: Damals
war es Friedrich, 1961), von jüdischen Sternkindern oder Toten Engeln des
Warschauer Gettos (Clara Asscher-Pinkhof: Sternkinder, 1946/61; Winfried
Bruckner: Die toten Engel, 1963) – um nur einige der Kinderfiguren und Ti-
tel aus diesen Jahren zu nennen. Es geht in diesen Erzählungen um Extrem-
bedingungen von Kindsein und Kindheit unter der ständigen Todesdrohung,
die vom NS-Regime gegenüber aus rassistischen oder politischen Gründen
Ausgegrenzten oder Verfolgten ausging. Es geht in diesen Texten um eine
notwendig gewordene thematische Erweiterung der Kinder- und Jugendlite-
ratur, die natürlich indirekt bzw. mittelbar durchaus Auswirkungen auf das
kinderliterarische Schreiben, insbesondere auf den kinderliterarischen Rea-
lismus haben sollte.
Die ersten Kinder- und Jugendbücher, die sich in der Bundesrepublik mit Thema ›Juden-
dem Thema Judenverfolgung im ›Dritten Reich‹ als dessen unmenschlichster verfolgung‹
Ausdrucksform befassen, erscheinen Ende der 50er Jahre, also erst nachdem
die Kinder- und Jugendliteratur der DDR sich dieses Themas angenommen
hatte. Vorausgegangen war der durchschlagende Erfolg des Tagebuchs der
Anne Frank, 12. Juni 1942 – 1. August 1944 (dt. erstmals 1950), das v.a.
auch durch die Bühnenversion von 1956/57 allgemein bekannt wurde. Es
handelt sich bei diesen frühen Beiträgen sowohl um Übersetzungen wie Sally
Watsons Wir bauen ein Land (1961) oder Jan de Vries’ Jaap findet das ge-
lobte Land (1958) als auch um deutsche Originaltexte wie Alfred Müllers
Die Verfolgten (1959) oder Walter Gronemanns Geheime Freundschaft
336 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende
(1960). Was so bis 1960 vorlag, war nicht sehr viel. Die Übersetzungen the-
matisieren die Judenverfolgung und den Holocaust meist aus der Perspektive
der Überlebenden, die in Israel ein neues Land, ihren Staat aufbauen. So ge-
hört der Holocaust in Jaap findet das gelobte Land zur Vorgeschichte des
Helden, der als Junge mit seiner Familie aus den besetzten Niederlanden vor
den Deutschen fliehen kann. Die Jugenderzählungen von Müller oder Gro-
nemann, die etwa zur selben Zeit erscheinen, haben einen anderen Charakter.
Wesentlich für die Handlungs- und Konfliktführung ist hier das Motiv der
rettenden Freundschaft zwischen deutschen und verfolgten jüdischen Kin-
dern. Die deutschen Kinder tun mit ihren Familien alles, um die bedrohten
Juden, die zumeist frühere Mitschüler sind, vor dem Zugriff der Naziböse-
wichter von SA, SS oder Gestapo zu retten. Dabei gehören auch mehr oder
weniger sadistische Lehrer vom Typ 150-prozentiger Nazistudienrat samt
gefährlich fanatisiertem HJ-Schläger zum festen Figurenbestand. Dank der
mutigen Hilfsaktion vieler wohlmeinender und guter Deutscher, von denen
es in diesen Erzählungen nur so wimmelt, – die Nazis bilden (folgt man der
Darstellungslogik dieser Texte) eine kleine radikale Minderheit in Deutsch-
land – können die bedrohten jüdischen Familien in letzter Minute – Gott sei
Dank! – gerettet werden, indem man ihnen über die Grenze hilft; das Böse in
Gestalt der Nazis und ihrer Schergen hat das Nachsehen.
Modelle jugend- Um 1960 erscheinen in der alten BRD die ersten Titel der Kinder- und Ju-
literarischer Holocaust- gendliteratur, die besonders die Judenverfolgung im ›Dritten Reich‹ zum Ge-
erzählungen genstand literarischer Darstellung machen; und zwar angesichts eines unge-
in der BRD um 1960 brochenen bzw. wiedererstarkenden (neo)nazistischen Potenzials, das wie die
Hakenkreuzschmierereien und die Synagogenschändung in Köln an Weih-
nachten 1959 immer wieder international unangenehmes Aufsehen erregte.
Zu dieser Öffnung trug ferner die Erkenntnis bei, dass gerade unter Jugend-
lichen eine bedenkliche Unwissenheit im Hinblick auf das ›Dritte Reich‹ und
den Nationalsozialismus herrschte. Schulische Fördermaßnahmen wurden
beschlossen, um diese Wissensdefizite zu beseitigen, und ein Jugendliteratur-
Sonderpreis wurde ausgelobt. Clara Asscher-Pinkhofs Sternkinder liegen
zwar bereits 1946 in der niederländischen Originalausgabe vor, erscheinen
aber erst 1961 in einer deutschen Ausgabe. Sie sind die erste kinderliterari-
sche Verarbeitung jüdischer Kinderschicksale, wenngleich der Text nicht ex-
klusiv an ein kindliches Lesepublikum adressiert ist. Vorausgegangen war
Michel del Castillos Elegie der Nacht (1958), die 1959 den Jugendbuchpreis
erhielt. Der nächste dieser neuen Titel ist Hans Peter Richters Episodenerzäh-
lung Damals war es Friedrich, die ebenfalls 1961 erschien und bis heute zur
empfohlenen Schullektüre zählt. Es folgen Frederik Hetmanns Blues für Ari
Loeb (1962) und schließlich der Getto- und Holocaustjugendroman des
Österreichers Winfried Bruckner Die toten Engel (1963).
Untrennbar verbunden mit der deutschen Erstausgabe der Sternkinder
und mitverantwortlich für die Zuerkennung des Jugendbuchpreises 1962 ist
Erich Kästners Eintreten für dieses Buch. In seinem Vorwort macht er in der
ihm eigenen Mischung aus Leichtigkeit und Eindringlichkeit auf die Ver-
säumnisse der 15 Jahre seit Kriegsende in Sachen Aufarbeitung der Vergan-
genheit des Nationalsozialismus aufmerksam. »Diese Sternkinder sind so
wichtig, so erschütternd und so schrecklich wie das Tagebuch der Anne
Frank. Die Erwachsenen und die Halbwüchsigen müssen es lesen […] Und
auch die Schulkinder, wenigstens die älteren, sollten erfahren, wie damals
Kindern mitgespielt wurde. Sie werden Fragen stellen und von den Eltern
und Lehrern Auskunft erwarten. Die Aufgabe ist schwer. Aber sie ist unab-
wendbar. Den Abgrund der Vergangenheit zu verdecken, hieße den Weg in
Das Thema NS(-Verbrechen)/Holocaust/Widerstand 337
die Zukunft gefährden. Wer die Schuld aus jenen Jahren unterschlüge, wäre
kein Patriot, sondern ein Defraudant. Wer aus der schuldlosen Jugend eine
ahnungslose Jugend zu machen versuchte, der fügte neue Schuld zur alten.«
Asscher-Pinkhof schildert in Sternkinder mit autobiographischem Hinter-
grund die Leidensgeschichte jüdischer Familien und v.a. von deren Kindern
in den seit 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzten Niederlanden. Im
Mittelpunkt der vier großen Abschnitte Sternstadt, Sternhaus, Sternwüste,
Sternhölle, wobei Stern auch in symbolischer Bedeutung gemeint ist, steht
der Leidensweg der holländischen Juden mit der Steigerung der Gefahr von
der Gettoexistenz (Sternstadt) über die Sammlung der bei Razzien Verhafte-
ten in der Amsterdamer ›Schauburg‹ (Sternhaus), ihre Deportation in das
Sammellager Westerbork (Sternwüste) und von dort aus in das Vernichtungs-
lager Bergen-Belsen (Sternhölle). Aus ihr gibt es dann am Ende – ohne dass Clara Asscher-Pinkhof:
dies als unangemessenes Happy End missverstanden werden könnte – die Sternkinder (1946/61)
zufällig-willkürliche ›positive Selektion‹ der Kindergruppe, mit der die Auto-
rin nach Palästina gelangte.
Die episodenartigen Schilderungen der meist nur wenige Seiten umfassen-
den Unterabschnitte sind nüchtern, fast emotionslos und verzichten völlig
auf eine explizite Anklage, aber gerade dies macht ihre eindringliche Wir-
kung aus. Sie entsteht oft aus dem Widerspruch zwischen dem Wissen, das
die Erwachsenen hatten und über das wir heute als Leserinnen und Leser
dieser Erzählungen verfügen, und der Ahnungslosigkeit der Kinder, die in all
der Unterdrückung und dem Grauen immer noch Nischen für ihre Interes-
sen, Sehnsüchte und Spiele finden. Hintergrundwissen über den Holocaust
kann und will dieses Buch, das überwiegend aus kindlicher Bewusstseinsper-
spektive heraus geschrieben ist, nicht vermitteln. Vielmehr gehören Vagheit
und Verschlüsseltheit der Informationen zu seinen Stilmitteln, um damit die
Unverständlichkeit der Situation besonders für die betroffenen Kinder sinn-
fällig werden zu lassen.
Das Pendant zu Asscher-Pinkhofs Sternkinder bildet in gewisser Hinsicht
Richters Damals war es Friedrich, ebenfalls ein Stück intentionaler Kinderli-
teratur, das für das Lesealter von etwa 12 bis 14 Jahre gedacht ist und das –
episodenartig aufgebaut – von der Judenverfolgung im nationalsozialisti-
schen Deutschland erzählt. Allerdings handelt es sich hier im Unterschied zu
Sternkinder um eine Darstellung in eindeutig pädagogischer Absicht. Die
Erzählung folgt didaktischen Zielen: Es soll möglichst viel möglichst an-
schaulich und nachvollziehbar von der damaligen Atmosphäre, den An-
schauungen und dem Lebensgefühl der Menschen vermittelt werden. Rich-
ters Episodenerzählung ist in erster Linie und darin fundamental von As-
scher-Pinkhofs durch und durch literarischem Ansatz unterschieden
›erzählend-aufklärender Geschichtsunterricht‹; das Narrative ist anschau-
ungsfördernde Einkleidung, mit der die größtmögliche Erlebnisunmittelbar-
keit erreicht werden soll.
Frederik Hetmanns Blues für Ari Loeb (1961) ist ein Stück gegenwartsbe-
zogener Jugendliteratur, ein Jugendroman, der die Vergangenheit unter dem
Schuldaspekt im Kontext des zeittypischen Umgangs mit diesem heiklen
Thema ins Spiel bringt, konkretisiert in der Gestalt des jüdischen Titelhelden
Ari Loeb. Die Unterschiede zur sonst üblichen Kinder- und Jugendliteratur,
v.a. der Modernitätsschub in der Schreibweise werden deutlich, wenn man
seinen Roman mit dem Handlungsmodell und Schreibstil der meisten ande-
ren thematisch einschlägigen Texte vergleicht, die den Standards konventio-
nellen, pädagogisch unanstößigen Erzählens für Jungen und Mädchen der
50er Jahre entsprechen.
338 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende
Mit dem Ende der Adenauer-Ära und ihrem konservativen Welt- und Gesell-
schaftsverständnis, das unübersehbar Mitte der 60er Jahre erreicht war, setzt
sich auch im pädagogischen wie kinder- und jugendliterarischen Bereich eine
gewisse Liberalisierung der Anschauungen fort, die sich bereits Ende der
50er Jahre angebahnt hatte. Sie ist gepaart mit einer zunehmenden Infrage-
stellung bislang dominierender Positionen etwa bei der Frage der Qualität
von Kinder- und Jugendliteratur. Die Berücksichtigung drängender Zeitpro- Gegenwarts-
bleme wird nun von fortschrittlichen Pädagogen und Kinder- und Jugendlite- bezogenheit
ratur-Fachleuten gegenüber überholten Konzepten verstärkt eingefordert.
Texte, die dem Thematisierungs- und Erzählmodell einer Autonomisierung
von Kindheit im Zeichen von befreiender Fantasietätigkeit und Eigenwertig-
keit von Kindsein folgen, gehören zu Beginn der 60er Jahre zum festen Be-
stand der bundesrepublikanischen Kinderliteratur. Daneben zeigt sich zwar
zögernd, aber unübersehbar eine realistische, gegenwartsbezogene und v.a.
auch die Zeitgeschichte berücksichtigende Jugendliteratur, deren Hervor-
bringungen von sehr unterschiedlicher Qualität sind. Schließlich kündigt sich
die antiautoritäre Wende an.
Die so bezeichnete neuerliche – man könnte auch sagen: sekundäre – Mo-
dernisierung der Kinder- und Jugendliteratur, ihres Kindheits- und Gesell-
schaftsbilds sowie ihres pädagogischen Selbstverständnisses steht in engem
Zusammenhang mit der antiautoritären Wende im politischen und gesell-
schaftlichen Klima der Bundesrepublik in den späten 60er Jahren: Es kommt
340 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende
Die sekundäre zu einer Revolte gegen die Wertewelt der Elterngeneration und der Politiker
Modernisierung der dieser Generation, die immer noch diejenigen waren, die den Nationalsozia-
Kinder- und Jugend- lismus miterlebt und mitgetragen hatten. Damit einher geht ein Mentalitäts-
literatur wandel, der sich in Politik und Erziehungsverständnis abzeichnet. Dies führt
zu einer Infragestellung der Wertewelt jener Erwachsenengenerationen, die
in den Nationalsozialismus und seine immer deutlicher thematisierten Unta-
ten involviert waren. Kernpunkt für die Analyse der Verstrickung der Deut-
schen in den Nationalsozialismus war das Syndrom ›autoritärer Charakter‹:
der sprichwörtliche deutsche Gehorsams- und Untertanengeist, die Pflichter-
füllung bis zum bitteren Ende, egal wofür – und sei es für die verbrecheri-
schen Ziele des Nationalsozialismus. Theodor W. Adornos Gesellschaftsana-
lysen, die Erklärungsmodelle der Psychoanalyse, ebenso Alexander S. Neills
menschenfreundliche ›Summerhill‹-Utopie einer repressionsfreien, freilassen-
den Erziehung und anderes mehr waren bestimmende Momente dieser Jahre
des antiautoritären Auf- und Umbruchs zu einer menschenfreundlicheren,
friedlicheren Gesellschaft. Politische Komplementärfigur war Willy Brandt
mit seiner berühmt gewordenen Devise »Mehr Demokratie wagen«.
Die Auswirkungen, welche die antiautoritäre Bewegung durch ihre Kritik
der autoritären Politik- wie Mentalitätsstrukturen in Deutschland auf die
Pädagogik und damit auch auf einen Bereich wie die Literatur- und Medien-
produktion für Kinder hatte, sind nicht zu unterschätzen. Argwöhnte man
doch, dass die herrschende Kinder- und Jugendliteratur, ihr Kindheitsbild
und ihr Kindheitsverständnis auf weitere Anpassung an die gegebenen Ver-
hältnisse abziele und der Aufrechterhaltung, mehr noch: der Perpetuierung
autoritärer Charakterstrukturen bei den Angehörigen der nachwachsenden
Generationen diene. In diesem Zusammenhang flammte auch eine heftige
Kritik an den meisten der als Kinderliteratur klassisch gewordenen Märchen
auf, vorab denen der Brüder Grimm, und an deren Kindheits- und Gesell-
schaftsbild mit seiner vermeintlichen Gehorsams- und Untertanenmoral. Die
Wende zu einer nicht-kapitalistischen, auf Solidarität und Emanzipation
gründenden, basisdemokratischen und wirklich ›freien‹ Gesellschaft als As-
soziation befreiter Subjekte sollte denn auch mit den Mitteln einer entspre-
chend antiautoritär-befreienden Kinderliteratur befördert werden. Program-
matisch war ihr das Mutmachen und der Aufstand gegen die verstockte,
verstaubte, unterdrückerische Erwachsenenwelt eingeschrieben, bestehend
aus (unbelehrbaren) Eltern, Lehrern, Arbeitgebern und anderen gesellschaft-
lichen wie politischen Autoritäten.
Aufmüpfige Im Mittelpunkt der antiautoritären Kinderliteratur stehen Fantasiekon-
Kinderfiguren strukte des kessen, aufmüpfigen, ja revolutionären (kleinen) Mädchens oder
Jungen. Archetypen und Vorläufer dieser Kinderfiguren sind neben anderen
Lewis Carrolls Alice, Kästners Pony Hütchen und Luise Pogge, genannt
Pünktchen, sowie natürlich Astrid Lindgrens Supermädchen Pippi Lang-
strumpf. Die Erfindung dieser weltberühmten Mädchenfigur fällt bereits in
die Mitte der 1940er Jahre. Damals stieß sie wegen ihres lustvoll anarchisch-
subversiven Charakters bei konservativen Literaturpädagogen auf entschie-
dene Kritik als schlechtes Vorbild für die kindlichen Leser. Sie ist jedoch
auch bei Anhängern der antiautoritären Bewegung umstritten, weil sie zwar
explizit antiautoritäre Verhaltensweisen an den Tag legt und vielfach gegen
Normen und Regeln der Erwachsenenwelt verstößt, aber, wie das resigna-
tive Ende zeigt, trotzdem und trotz ihrer Freundschaft zu den ›Normalkin-
dern‹ Thomas und Annika am Ende allein, ein ewiges Kind bleibt und die
Welt, in der sie als Außenseiterin lebt, (sich) nicht verändert.
Sozusagen als deren späte Schülerin zeigt sich die Figur der kleinen Elfriede
Konstellationen der 60er Jahre – Vom ›guten‹ zum antiautoritären Jugendbuch 341
Illustration aus
Astrid Lindgrens Pippi
Langstrumpf
Vorbemerkung
Reiner Wild
Historische Literatur von 1945 bis zum Beginn der 80er Jahre
Im Unterschied zur übrigen Kinder- und Jugendliteratur beginnt die Ge-
schichte der historischen Erzählungen nach 1945 mit einer deutlich markier-
ten Zäsur. Während es in den anderen Gattungen zu zahlreichen Wiederauf-
348 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
lagen älterer Werke kommt, ist dies bei der geschichtserzählenden Literatur
Zäsur nach 1945 eher die Ausnahme. Ein Großteil der vor 1945 publizierten historischen Er-
zählungen eignete sich aufgrund ihrer Inhalte und in nicht wenigen Fällen
wegen ihrer Ideologie nicht mehr für die Nachkriegsgeneration, und das
meint nicht nur in der NS-Zeit veröffentlichte Texte, sondern auch jene, die
bereits im 19. Jh. publiziert worden waren. Daher bildeten Neuauflagen äl-
terer historischer Werke eher eine Ausnahmeerscheinung und können nicht
als repräsentativ für die geschichtserzählende Literatur der ersten Nach-
kriegsjahre angesehen werden. Wieder aufgelegt wurden hingegen vielfach
die internationalen Klassiker der geschichtserzählenden Jugendlektüre, wie
etwa die Romane von Wilhelm Hauff, Walter Scott, Alexandre Dumas, Vic-
tor Hugo, Lewis Wallace, Edward Bulwer-Lytton und Henryk Sienkiewicz.
Romane der 50er Jahre Erst im Verlauf der 50er Jahre kam es zu einer grundlegenden Wende in-
nerhalb der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur. Eine neue
Generation deutschsprachiger Autoren – unter ihnen Hans Baumann, Inge-
borg Engelhardt, Barbara Bartos-Höppner und Kurt Lütgen – wandte sich
dem brachliegenden Genre zu. Damit begann eine neue Epoche der ge-
schichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur, die sich bis zum Ende der
60er Jahre erstrecken sollte. Kennzeichnend für die historische Kinder- und
Jugendliteratur dieser Epoche ist zum einen, dass es sich – anders als in der
übrigen Kinder- und Jugendliteratur – zu einem überwiegenden Teil um
deutschsprachige Titel handelt. Der Anteil der Übersetzungen blieb im Ver-
lauf der nächsten beiden Jahrzehnte zunächst erstaunlich gering. Eine Aus-
nahme bildeten die seit dem Ende der 50er Jahre in Deutschland veröffentli-
chten historischen Romane der englischen Autorin Rosemary Sutcliff über
die römisch-britannische und über die englische Geschichte (u. a. Drachen-
schiffe drohen am Horizont, 1962; Simon der Kornett, 1963; Der Adler der
Neunten Legion, 1964; Der silberne Zweig, 1965; Das Hexenkind, 1972),
deren Einfluss vor allem auf das Werk von Hans Baumann und Ingeborg
Engelhardt unübersehbar ist. Weitere solche Einzelfälle sind die Romane
Botschaft für Hadrian von Geoffrey Trease (1956), Die Kinderkarawane von
Cover des Erfolgsbuchs Ann Rutgers (1957) und Die Abenteuer des Robin Hood von Howard Pyle
von Howard Pyle (2002) (1963).
Betrachtet man historisch-narrative Texte als Teil des kulturellen Gedächt-
nisses eines Volkes, so ist zu fragen, inwieweit dies auch für die geschichtser-
zählende Jugendliteratur der 50er und 60er Jahre zutrifft. Denn ein weiteres
Charakteristikum dieser Literatur besteht darin, dass sie, anders als die Ge-
schichtserzählungen vor 1945, deutsche Geschichte nur selten thematisiert.
Vorherrschend sind fernere Epochen der außerdeutschen (Welt-)Geschichte,
Historismus, ›Führer- vor allem aus der Vorzeit, der Antike oder der Epoche der Wikinger. Aller-
persönlichkeiten‹ dings behält auch in den neuen Texten das alte Prinzip des Historismus
Gültigkeit, wonach Geschichte von bedeutenden Männern gleichsam ›ge-
macht‹ wird, also die Favorisierung personaler Geschichtsbilder. So erfreuten
sich auch in der Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit Herrscher
wie Friedrich der Staufer, Entdecker wie Marco Polo, Christoph Kolumbus
oder Hernando Cortés, Eroberer wie Alexander der Große, Hannibal oder
Dschingis Khan einer besonderen Beliebtheit, wenngleich diese ›Führerper-
sönlichkeiten‹ nun mitunter Brüche aufweisen und in ihren Bestrebungen
nicht selten als Zweifelnde und Scheiternde dargestellt werden, so etwa in
den Romanen von Hans Baumann Der Sohn des Columbus (1951), Steppen-
söhne. Vom Sieg über Dschingis-Khan (1954) und Ich zog mit Hannibal
(1959), in Heinrich Bauers Cortez erobert Mexiko (1954), Peter Zuckmantls
Marco Polo. Abenteuerliche Entdeckungsfahrt nach China (1956) oder Inge-
Historische und zeitgeschichtliche Literatur 349
erschienen Erzählungen, die sich mit den jeweils aktuellen politischen und
sozialen Fragen und mit den vielfältigen Problemen jugendlicher Heran-
wachsender auseinandersetzten. In der Wahl ihrer Themen zeigte sich diese
problemorientierte Literatur in hohem Maße abhängig von den jeweiligen
die Öffentlichkeit beschäftigenden Fragen, wozu nicht zuletzt auch die Aus-
einandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit, der Zeitge-
schichte also, zählte. So gewann innerhalb weniger Jahre die zeitgeschicht-
liche Kinder- und Jugendliteratur stark an Bedeutung, während die ge-
schichtserzählende Jugendliteratur fast zur Bedeutungslosigkeit herabsank,
wobei sich diese Tendenz auch an der zeitgenössischen Forschung ablesen
lässt. Die 70er Jahre stehen jedoch nicht nur für einen Paradigmenwechsel
innerhalb der geschichtserzählenden Jugendliteratur, ihm vorausgegangen
war auch ein grundlegender Auffassungswandel über die Rolle und Aufgabe
von Geschichtsschreibung. Auf dem Historikertag von 1972 war es zu einem
offenen Schlagabtausch zwischen den Vertretern einer Historiographie, die
Geschichte wie bisher als das Produkt der ›großen Einzelnen‹ bestimmt sehen
wollten, und einer mehr und mehr erstarkenden Gruppe jüngerer Historiker
gekommen, die die Prozesshaftigkeit von Geschichte und die historischen
Zusammenhänge aus den sozialen, politischen und ökonomischen Bedin-
gungen einer Epoche zu erklären versuchten. Diese neue Auffassung von der
Geschichte als historischer Sozialwissenschaft sollte sich – wenngleich mit
einiger Verzögerung – auch in narrativen Texten niederschlagen.
Als Vorreiter einer den neuen Maximen verpflichteten historischen Kin-
der- und Jugendliteratur muss der Roman Der Bleisiegelfälscher (1977) von
Dietlof Reiche betrachtet werden. Fernab von den großen Ereignissen und
Persönlichkeiten der Geschichte beschwört Reiche in seinem Roman den
Mikrokosmos der Freien Reichsstadt Nördlingen zu Beginn des 17. Jh.s. Vor
dem Hintergrund des Niedergangs der Zünfte erzählt er von den gesell-
schaftspolitischen Machenschaften und Verflechtungen der einzelnen Stände,
denen das Individuum – anders als in den historischen Romanen der 50er
und 60er Jahre – auf Gnade und Verderb ausgeliefert ist. Ganz offensichtlich
jedoch traf der Roman den Nerv seiner Zeit, wie an der Auszeichnung mit
dem Jugendliteraturpreis im Jahre 1978 sowie an den zahlreichen Neu- und
Nachauflagen abzulesen ist.
Erinnerung an den deutsche, und das heißt hier vor allem auch nichtjüdische Geschichte, ge-
Holocaust wann in den letzten Jahrzehnten die Darstellung und Erinnerung des Holo-
caust immer mehr an Bedeutung. Dies resultiert zum einen auf einem ver-
stärkten Interesse gerade an diesen Ereignissen, ist zum anderen aber auch
darauf zurückzuführen, dass der Anteil an Übersetzungen bei der zeitge-
schichtlichen Kinder- und Jugendliteratur kontinuierlich zunahm; denn in
den übersetzten Texten stehen mehrheitlich die Ereignisse des Holocaust im
Zentrum der Darstellung.
Von ähnlicher Popularität wie Richters Werk sind auch die autobiogra-
phisch basierten Romane von Judith Kerr Als Hitler das rosa Kaninchen
stahl (1973), Warten bis der Frieden kommt (1973) und Eine Art Familien-
treffen (1979). Die Tochter des bekannten Theaterkritikers Alfred Kerr
schildert darin ihre Vertreibung aus Deutschland und die sich anschließende
Odyssee der Familie durch mehrere Exilländer. Als weitere literarische ›Mei-
lensteine‹ in der Darstellung des Holocaust sowie seiner physischen und
psychischen Folgen sind der Roman Sternkinder (1961) der niederländischen
Autorin Clara Asscher-Pinkhof, die Erzählungen Der gelbe Vogel (1981) des
amerikanischen Autors Myron Levoy und Der Sommer von Aviha (1990)
der israelischen Autorin Gila Almagor sowie die Werke des israelischen Au-
tors Uri Orlev, der niederländischen Autorin Ida Vos und der schwedischen
Autorin Annika Thor zu nennen.
Tochter eines prominen- Viele dieser Werke haben einen mitunter auch offen markierten biogra-
ten Vaters: Judith Kerr phischen oder autobiographischen Hintergrund; dies gilt auch für die Ro-
mane deutscher Autoren, etwa für ...aber Steine reden nicht (1987) und Im
Vorhof der Hölle (1991) von Carlo Ross, in denen der Autor sein Schicksal
als Sohn einer jüdischen Mutter in einer deutschen Kleinstadt und nach sei-
ner Deportation im KZ Theresienstadt schildert. Als herausragende litera-
rische Werke der letzten Jahre über den Holocaust müssen schließlich die
Romane Reise im August (1992) von Gudrun Pausewang sowie Malka Mai
(2001) von Mirjam Pressler hervorgehoben werden. Während Pausewang,
die mit den drei Romanen über die Rosinkawiese (1980–93) bereits mehrere
autobiographische Werke über den Nationalsozialismus verfasst hatte, in
ihrem Werk die Verfolgung, Deportation und Ermordung deutscher Juden in
den Mittelpunkt stellt, die sie im individuellen Schicksal ihrer 12-jährigen
Protagonistin Alice spiegelt, erzählt Pressler das Schicksal eines 8-jährigen
jüdischen Mädchens, das ohne seine Mutter den nationalsozialistischen Ver-
folgern ausgeliefert ist.
Ins Blickfeld der zeitgeschichtlichen Literatur sind aber mittlerweile auch
andere von den Nationalsozialisten verfolgte Minderheiten geraten, so das
Schicksal der Fremdarbeiter, etwa in Irina Korschunows Erzählung Er hieß
Verfolgung von Jan (1979) oder die Verfolgung von Sinti und Roma; dieses Thema wurde
Minderheiten außer von Ursula Wölfel u. a. auch von Anja Tuckermann in Muscha (1994)
und ›Denk nicht, wir bleiben hier!‹ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo
Höllenreiner (2005) bearbeitet. Eine besondere Rolle nehmen in diesem
Kontext auch die historischen Romane Lutz van Dijks ein, mit denen nicht
nur in Der Partisan (1991) die Existenz der jüdischen Partisanen, sondern in
Verdammt starke Liebe (1991) auch die Verfolgung männlicher Homosexu-
eller erstmals ins Bewusstsein der jugendlichen Leserinnen und Leser gerückt
wurden. Dijk ist auch einer der wenigen Autoren, der den Widerstand von
jüdischen Jugendlichen gegen die Nationalsozialisten in einem Roman aufge-
griffen hat (Der Attentäter. Herschel Grynszpan und die Vorgänge um die
›Reichskristallnacht‹, 1988). Zuvor hatte lediglich Hermann Vinke das Leben
Sophie Scholls in einer viel beachteten und vielfach aufgelegten Biographie
Historische und zeitgeschichtliche Literatur 357
behandelt (Das kurze Leben der Sophie Scholl, 1980). Die jüngsten Werke
über den Nationalsozialismus, die oftmals gleichermaßen an Jugendliche
und an Erwachsene gerichtet sind, thematisieren in unterschiedlichen Varia-
tionen den Prozess des Erinnerns, etwa in Form von Kindheitsschilderungen,
in denen nicht selten die Bewältigung der traumatischen Ereignisse während
des Holocaust oder während des Krieges reflektiert wird. Dabei sind an ers-
ter Stelle die Erinnerungen Weiter Leben von Ruth Klüger (1992) und Von
Zuhause wird nichts erzählt von Laura Waco (1996), einer Vertreterin der
zweiten Generation, zu nennen. In beiden Werken wird die Vergangenheit als
ein die eigene Gegenwart vielfältig berührender Prozess evoziert.
Weitaus weniger als das Dritte Reich und der Holocaust wird die unmit- Nachkriegsgeschichte
telbare Nachkriegsgeschichte in Kinder- und Jugendliteratur behandelt.
Zwar wird in allen neueren Romanen akzentuiert, dass 1945 weniger als
deutsche Niederlage, sondern als Chance eines Neuanfangs verstanden wer-
den muss, im Zentrum steht jedoch das durch die Wirren der letzten Kriegs-
tage, durch die Unsicherheit der politischen Situation sowie der ungewissen
Zukunft hervorgerufene Gefühl, einer Zeit des Übergangs und des Umbruchs
beizuwohnen. Von diesem Gefühl der äußeren, aber auch der inneren Unsi-
cherheit sind die jugendlichen Protagonisten in besonderem Maße betroffen,
etwa die Mädchen in Christine Nöstlingers autobiographischen Romanen
Maikäfer flieg (1973) und Zwei Wochen im Mai (1981), die Jungen in Peter
Härtlings mehrfach aufgelegten Romanen Krücke (1986) und Reise gegen
den Wind. Wie Primel das Ende des Krieges erlebt (2000), das Flüchtlings-
kind in Rudolf Herfurtners Roman Mensch Karnickel (1990) oder die Her-
anwachsende in Paul Maars Kartoffelkäferzeiten (1990). Vielfach wird die
Darstellung der Nachkriegszeit in direkten Bezug zu den vorangegangenen
Ereignissen während des Nationalsozialismus gesetzt, so auch als ein zen-
trales Thema in Klas E. Everwyns Autobiographie Jetzt wird alles besser
(1989).
Weitaus häufiger werden Kriegsende und Nachkriegszeit jedoch bis heute Flucht und Vertreibung
in einen direkten historischen Kontext mit Flucht und Vertreibung gebracht.
Zwar geschieht dies in den Romanen und Erzählungen der letzten beiden
Jahrzehnte – zu nennen sind hier etwa Annelies Schwarz’ Wir werden uns
wiederfinden (1981), Elfie Donnellys Peters Flucht (1986), Gudrun Pause-
wangs Fern von der Rosinkawiese (1989) oder Wir sehen uns bestimmt
wieder (1999) von Sigrid Schuster-Schmah – nicht mehr wie oftmals in den
50er und 60er Jahren losgelöst von der nationalsozialistischen Vorgeschichte.
Doch eine Akzentsetzung, meist mit autobiographischem Hintergrund, auf
das genuin deutsche Leid, für das ausnahmslos andere verantwortlich ge-
macht werden und ›die Deutschen‹ nicht selten als Verführte und Opfer des
eigentlichen Verbrechers Adolf Hitler erscheinen, lässt sich in vielen dieser
Texte nicht übersehen. Nicht selten kollidiert hier die unbestrittene Notwen-
digkeit, sich durch historische Literatur auch an diesen Teil der deutschen
Geschichte zu erinnern, mit einer gewissen Eindimensionalität in der Dar-
stellung. Als Ausnahmen, in denen das herannahende Kriegsende und die
ständige Bedrohung durch Bombenangriffe mit dem Leid der Zwangsarbei-
ter verknüpft werden, müssen die Romane Flucht durch den Winter (2002)
von Hermann Schulz und Marek und Maria (2004) von Waldtraut Lewin
erwähnt werden.
Kennzeichnend für die neuere zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendlitera-
tur ist auch ein neues Verhältnis zwischen den Generationen, wobei das
klassische Eltern-Kind-Verhältnis mit zunehmender zeitlicher Distanz zu den
beschriebenen Ereignissen oftmals durch ein Verhältnis zwischen Großeltern
358 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
Generationsromane und Enkeln abgelöst wird. An zentraler Stelle steht dabei die Vielfältigkeit
des Erinnerns, der Blick auf die in vieler Hinsicht divergierenden Vergangen-
heiten sowie die Frage, was von diesen Vergangenheiten den kommenden
Generationen übermittelt wird. Dabei wurden in früheren Darstellungen von
Mehr-Generationen-Verhältnissen meist die Interessen der sogenannten El-
tern-, also der Opfergeneration ins Zentrum der Handlung gerückt, während
die Interessen der jugendlichen Akteure vielfach dahinter zurücktraten. Den-
noch lassen sich auch in diesem Kontext neue Akzentsetzungen ausmachen.
Zu nennen ist in diesem Zusammenhang etwa die Erzählung der österrei-
chischen Autorin Renate Welsh Besuch aus der Vergangenheit (2001), in der
die Protagonistin erfahren muss, dass das Haus, in dem sie aufgewachsen ist,
einer jüdischen Familie gehört hat, oder der Jugendroman Marie (2000) von
Renate Günzel-Horatz, in dem die Protagonistin ebenfalls mit den vielfäl-
tigen Verstrickungen ihrer Familie in die deutsch-jüdische Geschichte kon-
frontiert wird. Analoge Szenarien, in denen sich nichtjüdische, deutsche Ju-
gendliche mit dem historisch schwer belasteten Erbe ihrer Großeltern ausein-
andersetzen müssen, entwerfen auch Cornelia Franz in ihrer Erzählung
Verrat (2000) und zuletzt Mirjam Pressler in ihrem Mehrgenerationenroman
Die Zeit der schlafenden Hunde (2003).
Der Adoleszenzroman
Carsten Gansel
»Natürlich Jeans! Oder kann sich einer ein Leben ohne Jeans vorstellen?
Jeans sind die edelsten Hosen der Welt. Dafür verzichte ich doch auf die
ganzen synthetischen Lappen aus der Jumo, die ewig so tiffig aussehen. Für
Jeans konnte ich überhaupt auf alles verzichten, außer auf die schönste Sache
vielleicht. […] Ich meine Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen. Ich »Natürlich Jeans«
hab überhaupt manchmal gedacht, man dürfte nicht älter werden als sieb-
zehn, achtzehn. Danach fängt es mit dem Beruf an oder mit irgendeinem
Studium oder mit der Armee, und dann ist mit keinem mehr zu reden. Ich
hab jedenfalls keinen gekannt.«
Ulrich Plenzdorfs bereits 1967/68 entstandener Text Die neuen Leiden des
jungen W. (1973) wurde in Ost und West zu einem Kultbuch. In der Folgezeit
funktionierte die Erzählung wie eine Art Verstärker. Offenbar wurde näm-
lich, dass es inzwischen eine Reihe von Romanen gab, in denen mit jugendli-
chem Elan gegen etablierte Autoritäten angegangen wurde und die Phase der
Adoleszenz im Mittelpunkt stand. Die Jeans bei Plenzdorf standen dabei
keineswegs nur als Metapher für eine Abgrenzung von der etablierten Gene-
ration im Outfit. Mit dem Jungen W. rebellierte ein Junger gegen das Esta-
blishment. Dies ist wohl ein Grund dafür, warum der DDR-Text auch in
westeuropäischen Ländern identifikatorisch gelesen werden konnte. Denn
letztlich war das ›westliche 1968‹ eine Rebellion der jungen Generation, eine
Revolte der Adoleszenten und Postadoleszenten. Die Jugend erschien als
Jugend als Avantgarde Avantgarde einer sozialen, politischen, kulturellen Evolution. Von daher ist
›1968‹ im ›Westen‹ eng mit einer neuen Jugendkultur verbunden. Die jugend-
lichen Sub- und Gegenkulturen wurden zu einer Herausforderung für die
etablierten politischen Instanzen und führten zu einschneidenden Verände-
rungen, weniger der politischen und sozialen Verhältnisse, als vielmehr in
dem, was man ›Lifestyle‹ nennen kann. Es ging um Musik, um lange Haare,
Kleidung, zunächst also um das antiautoritäre Ausleben von Lust. Daher
kommt in allen Texten, die über Adoleszenz erzählen, den ›Äußerlichkeiten‹
die Funktion zu, den Protest gegen etablierte und herrschende Hierarchien
symbolisch auszutragen.
Adoleszenz
Der Gattungsname ›Adoleszenzroman‹ wurde erst in den 80er Jahren ge-
prägt. Gleichwohl signalisierte bereits der Gebrauch von Hilfsbegriffen wie
›Jeansliteratur‹ oder ›emanzipatorische Mädchenliteratur‹ die Existenz einer
Gruppe von Texten, die sich in besonderer Weise der Jugendphase annah-
men. Schließlich setzte sich in Anlehnung an den angloamerikanischen Be-
griff ›adolescent novel‹ die Bezeichnung ›Adoleszenzroman‹ durch. Mit dem
Adoleszenz-Begriff Begriff der Adoleszenz ist ein Bezug zu Disziplinen hergestellt, die sich mit
den Lebensphasen am Ende der Kindheit und beim Übergang zum Erwachse-
nenalter beschäftigen, zu Medizin, Anthropologie, Jugendforschung, Sozio-
logie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Psychoanalytische
Entwicklungstheorie, Empirische Sozialforschung, Gender- und Generatio-
nenforschung. Von Einfluss auf die Diskussion um Adoleszenz war Charlotte
Bühlers Arbeit Das Seelenleben des Jugendlichen (1921). Anregend für die
Diskussion ab den 70er Jahren wurden Untersuchungen insbesondere zur
angloamerikanischen Literatur u. a. von Peter Freese und Arno Heller, später
dann Arbeiten von Mario Erdheim, Jürgen Zinnecker, Werner Helsper oder
Vera King. Besondere Bedeutung erlangte Peter Blos’ bereits 1962 erschie-
nene psychoanalytisch orientierte Studie Adoleszenz. Für Blos bezeichnet
Pubertät die »körperlichen Manifestationen der sexuellen Reifung«, wäh-
rend Adoleszenz »für die psychologische Anpassung an die Verhältnisse der
Pubeszenz gebraucht« wird. Die Geschlechtsreifung wird als biologisches
Ereignis, als ein »Werk der Natur« gesehen, die Adoleszenz mit ihrem psy-
chischen wie sozialen Hintergrund als ein »Werk des Menschen«. Dabei wird
der Adoleszenzbegriff zumeist dort genutzt, wo es um ›moderne‹ Jugend
geht, es sich also um eine Art ›psychosoziales Moratorium‹ handelt (Erikson),
einen Aufschub vor dem Schritt ins Erwachsenendasein. Die Spezifik von
Adoleszenz in modernen Gesellschaften liegt in ihrer »relativen Unbestimmt-
heit«, und dies gilt für die »zugehörigen Altersgruppen, Kontexte, Rahmen-
bedingungen und Verlaufsformen« (V. King). Im Unterschied zu traditionalen
Der Adoleszenzroman 361
junger Leute, kann also von der Vorpubertät bis in die Postadoleszenz rei-
chen. Die jugendlichen Hauptfiguren können in einer »existenziellen Er-
schütterung« oder einer »tiefgreifenden Identitätskrise« angetroffen werden;
unter (post)modernen Bedingungen ist es aber ebenso möglich, dass die
Adoleszenz lustvoll und offen erlebt wird, als Chance, sich zu erproben, und
als Gewinn bei der Sinn- und Identitätssuche. Insofern geht es im Adoles-
zenzroman neben einer möglichen Identitätskrise grundsätzlich um das
Spannungsverhältnis zwischen Individuation und sozialer Integration in ei-
ner eigenständigen Lebensphase. Als Problembereiche, die in Adoleszenztex-
ten auftreten, lassen sich benennen: die Ablösung von den Eltern, die Ausbil-
dung eigener Wertvorstellungen (Ethik, Politik, Kultur usw.), das Erleben
erster sexueller Kontakte, das Entwickeln eigener Sozialbeziehungen, das
Hineinwachsen oder das Ablehnen einer vorgegebenen sozialen Rolle. Dabei
sind die Texte zumeist durch ein offenes Ende gekennzeichnet, die Protago-
nisten bleiben auf der Suche; eine Identitätsfindung im Sinne eines festen
Wesenskerns muss in neueren Texten nicht erfolgen und auch nicht an-
gestrebt sein.
Als markante Ausprägungen des Adoleszenzromans können Johann Wolf-
gang Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774) und Karl Philipp Mo-
ritz’ Anton Reiser (1785–1790) gelten. Hartmut Böhme hat mit Recht darauf
verwiesen, dass Kindheit und Adoleszenz über einen längeren historischen
Zeitraum »nicht in den ihnen eigenen Dynamiken und Entwicklungsabläu-
fen« bekannt gewesen seien. Von Ausnahmen wie Werther und Anton Reiser
abgesehen, habe »keine Sprache emphatischer Rekonstruktion, sondern nur
der pädagogischen Durchdringung von Kindheit und Jugend« existiert. Erst
Karl Philipp Moritz’
ab 1800 sind zunehmend Texte entstanden, die sich durch eine solche »Spra-
Roman Anton Reiser – che emphatischer Rekonstruktion« auszeichneten. Insbesondere die Roman-
zeitgenössische Gestal- tiker haben zur Darstellung von Adoleszenz »komplexe symbolische Topo-
tung für die Hörbuch- graphien, räumliche Grenzziehungen, Raumbewegungen, Zeitordnungen
Ausgabe (2007) sowie Mittlerfiguren« entwickelt. So ist offensichtlich, dass sich seit dem
ausgehenden 18. Jh. die Gestaltung von adoleszenten Entwicklungsprozessen
zunächst im Kunstmärchen vollzieht. Es nimmt daher nicht wunder, wenn
bei Wieland, Novalis, E.T.A. Hoffmann oder später bei Wilhelm Hauff die
Darstellung von adoleszenten Übergangsphasen eine gewichtige Rolle spielt.
Auch E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen lassen sich als Adoleszenzerzäh-
lungen lesen, wobei neben der »ironisierend-komisierenden Brechung« ein
Typus von adoleszenten jungen Männern entworfen wird, die zwar auf ihre
Weise vielversprechend, aber mental und psychisch gefährdet sind. Im Sinne
des (Bildungs)Moratoriums handelt es sich zumeist um poesieverfallene Stu-
Adoleszenzdarstellung denten, die von der Hauptlinie zeitgenössischer Männlichkeitskonstrukte
im Kunstmärchen insofern abweichen, als der Konflikt zwischen dem Entwurf Bürger/Beamter
vs. Künstler/Poet in fantastisch-märchenhafter Form zugunsten der dichte-
rischen Existenz entschieden wird (R. Steinlein). Auch bei den Hauffschen
Märchen handelt es sich um ›Pubertätsgeschichten‹. Im Märchen von Zwerg
Nase etwa wird über eine Zeit erzählt, die »wesentlich die der Pubertät und
frühen Adoleszenz« ist. Die vielfältigen Verwandlungen, Verwechslungen,
Verkleidungen können als »›Abbildungen‹ der für Pubertät und frühe Ado-
leszenz typischen Identitätsproblematik« interpretiert werden (R. Wild). Um
1900 ist die Adoleszenzproblematik vor allem in den Schulromanen und
Schulromane um 1900 Schulerzählungen präsent; zu nennen sind Emil Strauß’ Freund Hein (1902),
Rainer Maria Rilkes Turnstunde (1904), Hermann Hesses Unterm Rad
(1906) oder Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906).
Die Rezeption von Jerome D. Salingers Der Fänger im Roggen (1951), der
Der Adoleszenzroman 363
1956 in einer abgeschwächten Übersetzung von Heinrich Böll auf den deut-
schen Buchmarkt kam, bewirkte eine Zäsur in der Entwicklung des Adoles-
zenzromans in der deutschen Literatur. Der Roman wurde in der Bundesre-
publik wie in der DDR vor allem in den 60er Jahren mit Begeisterung rezi-
piert, weil er dem Lebensgefühl einer jungen Generation Ausdruck verlieh,
die zunehmend gegen die etablierten gesellschaftlichen Instanzen revoltierte,
überkommene Rollenbilder angriff und auf der Suche nach sich selbst war.
Günter Grass’ Novelle Katz und Maus (1961), Peter Weiss’ Abschied von Neue Entwicklungen
den Eltern (1961) wie auch Uwe Johnson noch in der DDR geschriebener, ab 1950
aber erst postum erschienener Roman Ingrid Babendererde (1956/1985)
sind frühe Beispiele der Gestaltung von Adoleszenz in der deutschen Litera-
tur nach 1945. Zu einem Kultbuch in Ost und West wurde dann Ulrich
Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1973). Freilich handelte es sich
bei diesen wie bei weiteren Texten, etwa aus den 70er Jahren, nicht um spe-
zifische Jugendliteratur; die Adressaten waren nicht vordergründig Jugendli-
che.
Held ist bei seiner Suche nach dem ›wahren Ich‹ erfolgreich. Dies wird als
›Erkenntnis‹ im Text direkt präsentiert; der Protagonist selbst stellt fest:
»Aber ich habe Dir jetzt etwas voraus; einen Vorsprung, den du so bald nicht
aufholen wirst: Ich weiß jetzt, daß man bei allem, was man tut, versuchen
muß, man selbst zu bleiben, weil man sonst zu einem leeren Gefäß wird, in
das andere Leute Farbe gießen können. Ganz wie es ihnen gefällt. Mal blau,
mal gelb, mal rot. Ich laß mich nicht mehr von mir isolieren. Laß mir nicht
mehr euren Mist als meine Bedürfnisse verkaufen. Ich bin ich. Rainer Röm-
bell.« Klaus Peter Wolfs Neonfische zeigt, wie schwer es für die Kinder- und
Jugendliteratur ist, sich von der Allgemeinliteratur zu emanzipieren und wel-
che literarischen Wege dabei zunächst gegangen werden. Auf der Oberflä-
chenstruktur bezieht sich der Text auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der
70er und 80er Jahre; sämtliche alternative Szenen, Alternativbewegungen,
Bürgerproteste sind erfasst. Aber die Tiefenstruktur mit dem ›implizierten
Autor‹ verweist auf die 50er und 60er Jahre. Der frühexpressionistische Va-
terkonflikt wie auch die Form des Erzählens will nicht so recht zu dem pas-
sen, was erzählt wird.
Auch Rudolf Herfurtners Rita, Rita (1984) zielt darauf ab, über die Dar-
stellung von jugendlichen Subkulturen die Phase der Adoleszenz ins Zentrum
des Erzählens zu rücken. Der etwa zeitgleich mit Herfurtners Neonfische
entstandene Text führt schon eher zur für die Kinder- und Jugendliteratur
neuen Gattung des Adoleszenzromans, weil er authentisch zeigt, wie es zu
einem Wandel der Jugendkultur und damit der Adoleszenz gekommen ist.
Offensichtlich wird nämlich, wie sich für junge Leute ein Wechsel von der
Appellfunktion zur Ausdrucksfunktion vollzieht. Nicht mehr die Agitation
und Überredung sind maßgeblich, sondern Phänomene einer Mediengesell-
schaft gewinnen für die Phase der Adoleszenz an Bedeutung. So ordnet die
Protagonistin Rita, durchaus ironisierend, ihren ›Traummann‹ nach seinem
äußeren Erscheinungsbild in das vermutete jugendkulturelle Milieu ein: »Du
hast eine Matratze in einer WG. Zum Frühstück gibt’s Müsli – Kern und Rudolf Herfurtner
Korn aus dem Ökoladen. Gelesen wird die TAZ. Abends: Teestube oder linke
Musikkneipe – Schickis raus! Und zum einschlafen: Michael Ende. Ja, und
am Wochenende: Infostand auf dem Stadteilfest. Noch was? fragte er. Ja,
sagte sie: Friedensdemo mit Friedens-Rock und Friedensmüsli.« Auch das Sozialkritik im
humorvolle Anspielen auf die Kultbücher Michael Endes ist ein Symptom für Adoleszenzroman
das verblassende Bedürfnis nach globalen Sinnangeboten und Utopien. Das
Lebensgefühl von Adoleszenten findet seinen Ausdruck weniger im gemein-
samen Lesen eines Kultbuches, es neigt sich vielmehr optischen Signalen zu
(Video-Clips, Filmen, Bars, Kleidung, Frisuren). Die Faszination, die für Rita
vom Flipper-Automaten ausgeht, ist nur ein Ausdruck dafür. Der Abstand
der jugendlichen Protagonistin zur Alternativ-Szene ist keineswegs nur als
Vorurteil einer ›yuppisierenden‹ Flipper-Queen interpretierbar. Die Krise
eines gegenkulturellen Images wird mit der Alternativ-Figur Rollo angedeu-
tet. Er, der nachts Graffitis an die Betonwände der Fußgängerzone sprayt,
gesteht ein: »Ist doch Scheiße, wir Alternativen sind ja dafür bekannt, daß
wir ewig problematisieren wie die Weltmeister...«. Damit ist eine Tendenz
reflektiert, mit der es junge Leute in der Adoleszenz ab Mitte der 1970er
Jahre zu tun bekommen: Mit den Zersplitterungstendenzen in der ›Linken
Bewegung‹ nimmt die Faszination des soziologischen Diskurses ab. Rollo
will dies nicht wahrhaben und hält trotzig-vereinfacht an seinen Idealen fest.
Dies wird in einer fast didaktisch zu nennenden Rede auch explizit ausge-
drückt. »Es gibt Leute«, notiert er, »die wollen dich totmachen. Und trotz-
dem arbeitest du für die Aufgabe, die du hast: Aufklärung. Die müssen ja alle
366 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
hier durch, wenn sie tagsüber konsumieren, tagsüber. Ist ein riesiger Platz
zum Sprayen. Hier kannst du echt Gegenöffentlichkeit schaffen, wenn alle
Medien gleichgeschaltet sind.« Für einen Teil der jugendlichen Rezipienten,
auf die der Text abzielt, sind solche Aussagen des Protagonisten ein Grund
dafür, ihn als ›vergreist‹ einzuschätzen. Wo die Hochzeit von alternativen
Szenen, Basisbewegungen, Utopien verblasst oder an die Stelle von sozialem
Engagement zunehmend selbstbezogener Lebensgewinn tritt, kann die ›Vi-
sion‹ von Rollo antiquiert wirken. Denn in den Augen einer ›postmodernen‹
Jugend sind alle Formen kollektiven Widerstands gescheitert.
Obwohl Herfurtners Roman auf sensible Weise mögliche Bewusstseinszu-
stände Jugendlicher erfasst, ist auch bei ihm die in der Tiefenstruktur des
Textes erfolgte Wertsetzung nicht zu übersehen. Der Autor arbeitet mit der
Erzähler- und Figurenanlage gegen eine ›feeling-Dominanz‹ (Ritas Eingangs-
haltung) ebenso an wie gegen radikalen Aktivismus. Das Misslingen der
Spray-Aktion mit Sprüchen wie »Gegen alle Väter und Betonierer der Welt!
... Gegen den Beton der Väter!« mag auf der einen Seite das ›Überlebte‹,
Überzogene oder Aussichtslose dieser Art jugendlichen Protestes andeuten.
Festgehalten wird andererseits mit dem dargestellten Entwicklungs- und Be-
wusstwerdungsprozess am Modell des ›soziologischen Diskurses‹ und der
Vorstellung vom notwendigen gemeinschaftlichen Engagement und von Auf-
klärung. Der Text betreibt damit eine Art ›Doppelspiel‹, das dem jugend-
lichen Leser wie einem möglichen erwachsenen Vermittler Signale zur Kon-
kretisierung bietet.
Die Texte von Herfurtner und Wolf zeigen, wie schwer es ist, Zugang zu
den veränderten Jugendkulturen mit ihren Denk- und Verhaltensweisen zu
bekommen und über moderne Adoleszenz zu erzählen. Einmal selbst jung
gewesen zu sein, ist keine Garantie dafür, spätere Jugend zu verstehen und
literarisch erfassen zu können. Dagmar Chidolues Romane Lady Punk
(1985), der mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde, und
Magic Müller (1992) sind zwei Texte, die im ›Was‹ und ›Wie‹ des Erzählens
zeigen, dass der Adoleszenzroman im ›System‹ der Kinder- und Jugendlitera-
tur ›angekommen‹ ist. Die Struktur von Magic Müller folgt dem Erzählmus-
ter des amerikanischen Initiationsromans und ist episodisch aufgebaut. Zu
einer Identitätsfindung im klassischen Sinne kommt es nicht mehr. Zudem
Musik und Medien zeigt der Text, in welchem Maße Musik und Medien seit den 90er Jahren die
Ausbildung der Ich-Identität von jungen Leuten bestimmen. In Form einer
Rückwendung erinnert die Ich-Erzählerin sich an ihre Erlebnisse während
und nach der Abiturabschlussfahrt nach Italien. Bereits am Textanfang ist
erkennbar, dass das Erzählte rückblickend bewertet wird: »Das Leben ist
schon verrückt. Ich weiß jetzt Bescheid.« Und am Ende notiert die Ich-Erzäh-
lerin: »An dem Tag begriff ich. Das Leben ist verrückt. Nichts ist in Ordnung.
Aber alles hat seinen Sinn.« Dazwischen liegen die Erlebnisse der adoles-
zenten Ich-Erzählerin, erste sexuelle Erfahrungen, Medienbestimmtheit, die
Abgrenzung von den Eltern und Lehrern und vor allem die erfahrene Orien-
tierungslosigkeit. Zum Ende des Romans kommt Magic Müller, der vom
Außenseiter zum Klassenclown avanciert, beinahe unter die Räder. Er trinkt
sich bei der letzten Klassenfeier ins Koma und stirbt fast. Die Ich-Erzählerin
reflektiert das Geschehene so:
»Er war doch bloß den Spielen der Erwachsenen auf den Leim gegangen und hatte
nicht gerafft, daß es kein Kino war, das Leben, die Liebe, nicht so groß, nicht so allge-
waltig. Es war live. M. M. hatte sich in den Stricken der Freiheit verfangen und gedacht,
daß die erbarmungslos softgewaschenen und katalysierten Rituale Halt geben würden.
What’s the name of game? April, April. Vielleicht hatte er sich bei dem Sturz nur die
Der Adoleszenzroman 367
Nase aufgeschlagen. Ich wünschte ihm das so sehr. Uns allen. Aber aufgepasst, mein
Freund, you only live twice.
Ich betrachtete die Pflanzen in der Gartenanlage vor dem Krankenhaus. Der Sommer
kam mit Macht. Die Bäume und Sträucher krachten und platzten aus allen Nähten.
An dem Tag begriff ich. Das Leben ist verrückt. Nichts ist ohne Ordnung. Aber alles
hat seinen Sinn.«
zeichnen wie Breat Easton Ellis’ Unter Null (1985/1986), Einfach unwider-
stehlich (1987/88) und Glamorama (1998/1999), Christian Trautmanns Die
Melancholie der Kleinstädte (1990), Dagmar Chidolues Lady Punk (1985)
und Magic Müller (1992), Christian Krachts Faserland (1995), Blake Nel-
sons Cool Girl (1994/1997), Banana Yoshimotos Kitchen (1988/1992) und
N.P. (1993), Irvine Welshs Trainspotting (1993/1996) und Ecstasy
(1996/1997), Giuseppe Culicchias Knapp daneben (1994/1997), Alexa Hen-
nig von Langes Relax (1998) oder Enrico Remmerts Loove Never Dies
(1998). Eine Suche nach der eigenen Identität wie in den traditionellen Ado-
leszenzromanen findet allerdings nicht mehr statt; vielmehr geht es um die
immer wieder neue Suche nach Erlebnissen. Vor allem die Texte des amerika-
nischen Autors Bret Easton Ellis haben prägend gewirkt; kennzeichnend ist
das Motto seines Romans Einfach unwiderstehlich (1987, dt. 1988): »Auch
wenn sie wie Perlen auf eine Kette gezogen waren, so fehlte den Fakten die
rechte Ordnung. Die Ereignisse strömten nicht dahin. Die Fakten waren se-
parat und wahllos und zufällig, auch als sie eintraten, episodisch, gebrochen,
ohne sanfte Übergänge, ohne Sinn für Ereignisse, die sich aus früheren Ereig-
nissen entwickeln.« Im Weiteren werden verschiedene Ich-Perspektiven der
jugendlichen Protagonisten – »separat«, »wahllos«, »zufällig« – nebeneinan-
der gereiht, ohne dass eine Geschichte erzählt würde; im Zusammenspiel der
Reihung ergibt sich einzig der Sinn, dass es keinen Sinn gibt. Die Figuren Cover mit Fotoporträt der
selbst sind nur noch Zeichen und Oberfläche, nicht autonome Charaktere, Autorin
die ihr Leben selbstbewusst zu gestalten suchen. Es zählt allein die Gegen-
wart: das Leben als Endlosparty und die Welt als Erlebnispark.
Christian Trautmanns Die Melancholie der Kleinstädte (1990) kann als
frühes Beispiel für den postmodernen Adoleszenzromans im deutschen
Sprachraum gelten. Von der früheren Provokation ist nicht viel mehr geblie-
ben als Lähmung und Apathie; der jugendliche Protest ist zur Konvention
geworden, und alles ist schon bis zur Langeweile durchgelebt: Partys, Knei-
pen, endlose Diskussionen, Drogen. »Life ist xerox, we are just a copy«: Al-
les ist schon einmal da gewesen, das Subjekt erscheint als Dutzendware. Und
Sinnzuweisung wird von den Protagonisten nicht einmal mehr angestrebt.
Diese »Entmächtigung des Subjekts« (W. Helsper) ist auch bei Texten zu
finden, deren Erzählhaltung eher humorvoll, ironisch, ja zynisch ist und in
denen locker-witzig, mit ›Coolness‹ durchaus krisenhafte Prozesse erzählt
werden, etwa in Celine von Brock Coles, in Cool Girl von Blake Nelson
oder in Relax von Alexa Hennig von Lange. Im Zentrum dieser drei Texte
stehen weibliche Hauptfiguren. Sie sind mit den postmodernen Verände- Weibliche Adoleszenz
rungen von Kindheit und Jugend konfrontiert, und sie nehmen die Plurali-
sierung von Familien- und Geschlechterrollen, die Entdramatisierung des
Generationenkonflikts, das Leben in verschiedenen Realitäten, die Mediati-
sierung von Kindheit und Jugend gelassen und ohne Trauer oder Weltschmerz
zur Kenntnis. So berichtet etwa die 16-jährige Ich-Erzählerin in Celine mit
Witz und Ironie von den Problemen in Schule und Familie. Bereits zu Beginn
des Textes wird die Differenz zum traditionellen, partiell auch zum moder-
nen Adoleszenzromanen deutlich. Der Schulaufsatz über Salingers Der Fän-
ger im Roggen macht Celine Probleme: »Das Aufsatzthema ist mir von An-
fang an komisch vorgekommen. Es schien mir nicht richtig, ›Der Fänger im
Roggen‹ als Klassenlektüre lesen zu müssen. Es geht um diesen Jungen, der
wahnsinnig feinfühlig ist und mit der Welt nicht zurechtkommt. Er heißt
Holden Caulfield, und er ist mir nicht sehr sympathisch, denn ich finde er
jammert zuviel, und manchmal, wenn er diesen wirklich rührenden Kitsch
von sich gibt, habe ich das Gefühl, er gratuliert sich, daß er ein so süßer
370 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
»Obgleich, wenn ich es mir überlege, hätte ich gerne mit ihm geredet und ihm gesagt,
daß ich auch auf Demonstrationen gehe, nicht, weil ich glaube, damit würde man auch
nur einen Furz erreichen, sondern weil ich die Atmosphäre liebe. Es gibt nämlich nichts
besseres als den Moment, in dem die Polizei sich überlegt loszuschlagen, weil wieder
ein paar Flaschen geflogen sind, und dann gibt es einen Adrenalinrausch bei der Polizei
und auch einen bei den Demonstranten, und dann rennt die Polizei los, eine Leucht-
spurrakete fliegt über die Straße und ein paar Flaschen fliegen hinterher, und dann
stolpert ein Demonstrant, irgend so ein armes Schwein, der sich die Schnürsenkel an
seinen blöden Doc Martens nicht gescheit zugebunden hat, und dann fallen ungefähr
achtzig Polizisten über den her und prügeln auf ihn ein. Davon gibt es dann Fotos in
der Zeitung […]. Aber das würde der Taxifahrer nicht verstehen, weil er sonst ja auch
ein Kiton-Jackett tragen würde, sich die Haare anständig schneiden und kämmen und
seinen Regenbogen-Friedens-Nichtraucher-Ökologen-Sticker von seinem Amaturen-
brett reißen würde.«
Der politische Protest ist zum Pop-Ereignis geworden und wird als eine Art
ästhetisches Erlebnis genossen. Der Selbstdarstellung, der Inszenierung, der
Bricolage und der Regelverletzung kommen entscheidende Funktionen zu.
Markenprodukte wie ein Kiton-Jackett, rahmengenähte Schuhe und vor
allem die Barbourjacke stehen für den Markenfetischismus.
Für postmoderne Gesellschaften ist kennzeichnend, dass für größere
Gruppen offenere Optionen für die Lebensplanung entstehen und der Zeit-
raum der Erprobung sich verlängert. Insofern gewinnt zunehmend die soge-
nannte Postadoleszenz an Bedeutung, die mitunter bis in das vierte, fünfte
Lebensjahrzehnt hineinreicht und die daher für einzelne Adoleszenz- oder
Popromane von Bedeutung ist. So geht es etwa in Nick Hornbys Roman
High Fidelity (1999) um die Geschichte eines Postadoleszenten. Rob Fleming,
die Hauptfigur des Romans, ist bereits Mitte 30, Mitinhaber eines schlecht
laufenden Plattenladens in London, der weder Ambitionen noch Kraft hat,
sich beruflich zu verändern oder Karriere zu machen. Rob gerät in eine Le-
benskrise, als seine Freundin Laura ihn ohne erkennbaren Grund verlässt.
Szenen im Schallplatten-
laden – Verfilmung des
Erfolgsroman High
Fidelity von Nick Hornby
(Regie: Stephen Frears,
nach dem Drehbuch des
Autors, 2000)
372 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
bezeichnen können. Nur wäre es verfehlt, dies als Vorwurf an die Autorin
und den Text zu formulieren. Im Gegenteil: Man mag im ›Inventarisieren‹ ein ›Inventarisieren‹
auffälliges Merkmal der neuen Popliteratur sehen. Aufwachsen im Westen als Prinzip
Deutschlands war eben nur vermeintlich konfliktfrei, weswegen sich bei der
literarischen Verarbeitung ›Abgründe‹ auftun und sich ein offensichtlicher
Mangel an Werten und Orientierungen zeigt. Eine moderne Suche nach Iden-
tität erfolgt bei Hennig von Lange nicht oder nur verdeckt, stattdessen gibt
es ein lockeres Spiel mit den Angeboten, die eine Erlebnisgesellschaft zur
Selbstinszenierung des Ichs zur Verfügung stellt. Deshalb müssen in den Tex-
ten der ›profane Raum‹ und die Oberflächen einer Erlebnisgesellschaft prä-
sentiert werden. Dies macht das ›Neue‹ der Texte aus und prägt ihre Schreib-
weisen. Das trifft besonders für die Popromane von Benjamin von Stuckrad-
Barre zu, für die das Prinzip des Sammelns, Inventarisierens und Archivierens
zentrale Bedeutung besitzt. Auch in Soloalbum geht es um einen
(Post)Adoleszenten. Katalysator für seine Aufzeichnungswut ist die Trennung
von der Freundin, die ihn nach vierjähriger Beziehung verlassen hat. Neben
dem Verlust selbst erschüttert den Ich-Erzähler vor allem die Art der Aufkün-
digung der Beziehung. Mit »The killer in me is the killer in you« kritzelt die
Verflossene eine Zeile aus dem »Smashing Pumpkins«-Song Disarm auf das
Fax mit dem Abschiedsbrief. Damit ist einmal mehr auf die Bedeutung ver-
wiesen, die Popmusik für das Alltagsleben des Postadoleszenten besitzt. Es
geht dabei nicht nur um Anspielungen, intertextuelle Bezüge, Referenzen;
vielmehr erhält Pop(Musik) symbolische Bedeutung und wird zum Wer- Pop und seine
tungsraster, mit dem der Protagonist (mediale) ›Wirklichkeit‹ kategorisiert symbolische Bedeutung
und deutet. Songs der Britpop-Band »Oasis« bilden leitmotivisch die Über-
schriften der einzelnen Kapitel. Sie sind nicht zufällig gewählt, sondern ent-
sprechen der Stimmungslage und der Werthaltung des Protagonisten. Inso-
fern ist der Bezug zu Hornby offensichtlich, doch Stuckrad-Barre interessiert
anderes. Denn: »Der Liebeskummer ist nichts als die Lizenz für das enzyklo-
pädische Verfahren« (M. Basler). Ausgeschritten wird in Soloalbum der
Raum der Medien- und Jugendkultur der 90er Jahre, und entsprechend wer-
den auch hier Adoleszenzerfahrungen markiert, gesammelt, archiviert. Es
geht um das ganze Spektrum von Pubertäts-, Jugend- und Lebensbewälti-
gungen. Von einer adoleszenten Identitätssuche im klassischen Sinn kann
nicht die Rede sein, im Gegenteil, genau genommen werden vom Ich-Erzäh-
ler beständig Defizite auch im Hinblick auf die eigenen Person notiert.
nun mal kein Yogi, 1975), Hans Weber (Bin ich Moses, 1976), Benno Pludra
(Insel der Schwäne, 1985), Jutta Schlott (Roman und Juliane, 1985), Gunter
Preuß (Feen sterben nicht, 1987) eine Rolle. Sie alle erschienen in Jugend-
buchverlagen. In den späten 70er Jahren knüpfte Lutz Rathenow in einigen
kurzen Erzählungen wieder an Fries an und nahm zugleich Pop-Elemente des
Westens auf. In der Sammlung Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet
– 1980 nur in der Bundesrepublik erschienen – findet sich die Kurzgeschichte
Ohne Anfang; Janis Joplin, Jimi Hendrix und ihre Songs werden zitiert und
zur Grundlage für die Inszenierung jugendlicher Rebellion gegen den Staat.
Mit Jurij Kochs Augenoperation (1988) und Cordt Berneburgers (d.i.
Thomas Brussig) Wasserfarben (1990) liegen zwei Romane vor, die zu Ende
der DDR den für den ›Real-Sozialismus‹ brisanten Fragen nach Adoleszenz-
krisen Jugendlicher nachgehen. Wasserfarben bietet eine DDR-typische Vari-
ante des ›selektiven Moratoriums‹ am Ende der 80er Jahre. Schon zu Beginn Adoleszenz in der
des Romans wird aus der Sicht des jugendlichen Protagonisten Anton Glieni- späten DDR
cke die Institution Schule bewertet und festgestellt, dass es sich um eine
»ziemlich durchschnittliche EOS« (Erweiterte Oberschule) handle, die
»nichts Außergewöhnliches darstellt«. Dagegen suggeriert der Direktor, hier
werde die »Elite der Nation« und die »Führungsgarde von morgen herange-
zogen«. Ein Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern gibt es
kaum. Wer wie Anton politische Maßgaben zur Ableistung eines längeren
Wehrdienstes nicht erfüllen will und noch keinen Studienwunsch hat, ist für
den ›real-sozialistischen‹ Direktor Schneider ein »Luftikus«. Die im Bildungs-
moratorium unter modernen Verhältnissen anerkannte Suche nach dem eige-
nen Ich wird unter den selektiv modernen Bedingungen des Staatssozialismus
als »nicht normal« eingestuft.
Hinzu kommt, dass anders als im westdeutschen Bildungsmoratorium in
der DDR die jugendliche Teilhabe an Öffentlichkeit nur begrenzt möglich ist;
jugendliche Öffentlichkeit wird vielmehr durch Kontrollinstanzen (Schule,
Pionierorganisation, FDJ) reglementiert. Die Erfahrung von Beengung und
Begrenzung und der sich daraus ergebende Ausbruchsversuch – zumeist in
Form einer unvermittelten Reise oder Flucht – sind deshalb symptomatisch
für jugendliterarische Adoleszenz in der DDR. Ein weiteres Merkmal der
Adoleszenztexte in der DDR ist die Politisierung des Alltags. Entsprechend Politisierung
sind die Konflikte, die die jugendlichen Protagonisten in der Adoleszenz er- des Alltags
fahren, Folge einer militanten Politisierung des Lebens, der staatlichen Kon-
trolle und Beschneidung individueller Lebensstile sowie autonomer jugendli-
cher Welten. Dadurch werden selbst privateste Probleme zu politischer Be-
deutsamkeit aufgebläht. Das Besondere am Ende der 80er Jahre besteht nun
darin, dass ein Protagonist wie Anton Glienicke in Brussigs Wasserfarben
das Wissen um seine Machtlosigkeit bereits als gegeben hinnimmt und weiß,
wie hilflos er dem ausgeliefert ist. Aus diesem Grunde verzichtet er auf Ge-
genbewegung, Rebellion, Konfrontation; es erscheint ihm nützlicher, sich
beobachtend in die Nische zurückzuziehen. Das geht allerdings nur, wenn
man »unauffällig« bleibt und nicht »aneckt«. Jugendliche Spontaneität ist
seine Sache nicht, weil er nüchtern die Möglichkeiten analysiert. In dieser
Hinsicht sind Antons Wertorientierungen hedonistisch-materialistisch orien-
tiert, deuten Veränderungen in der Mitte der 80er Jahre an und nehmen das
Ende der DDR vorweg.
376 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
Mädchenliteratur
Dagmar Grenz
Mädchenliteratur 1918–1970
In Anlehnung an Emmy von Rhodens gattungsprägenden Mädchenroman
Der Trotzkopf (1885) entstehen in den 20er und 30er Jahren die großen
Mädchenbuchserien, die die Protagonistin von der Kindheit bis zum Groß-
mutteralter begleiten und sich teilweise bereits an jüngere Mädchen wenden
(Else Ury: Nesthäkchen, 10 Bde., 1918–25; dies.: Professors Zwillinge, 5
Bde., 1927–30; Magda Trott: Goldköpfchen, 11 Bde., 1928–39; dies.: Pucki,
12 Bde., 1935–41; dies.: Pommerle, 6 Bde., 1926–39). Fortgeführt werden
ebenso die nationalistischen und militaristischen Tendenzen der Mädchenli-
teratur des Ersten Weltkriegs (Nesthäkchen und der Weltkrieg). Eine konser-
vative Entsagungs- und Verzichtsideologie nimmt den ›heroischen Realismus‹
der nationalsozialistischen Literatur vorweg. In Urys Jugend voraus! (1933)
wird der Nationalsozialismus sogar als politischer Retter begrüßt.
Die spezifische NS-Mädchenliteratur präsentiert ein Frauenbild, das im NS-Mädchenliteratur
Unterschied zur Backfischliteratur zunächst auf eine größere Wirklichkeits-
nähe und eine tendenzielle Auflösung des weiblichen Geschlechtscharakters
hindeutet. Allerdings erfolgt dies im Kontext einer »reaktionären Moderne«
(Nassen). Das ideologisch festgefügte Frauenbild – die Frau als Mutter und
unbezahlte Arbeitskameradin des Mannes – wird lediglich insoweit für als
männlich konnotierte Eigenschaften geöffnet, wie es den jeweiligen poli-
tischen und ökonomischen Erfordernissen der NS-Herrschaft entsprach. Bis
1939 wurde auch die bürgerliche Mädchenliteratur weiterhin verlegt. Einige
Mädchenbuchserien wurden weitergeschrieben oder entstanden erst in dieser
Zeit, wobei sie Züge der NS-Ideologie übernehmen.
Neben diesem breiten Strom der Mädchenliteratur gibt es auch eine Reihe
neuer Ansätze. So entsteht nach 1918 eine größere Anzahl von kommunisti-
schen und sozialdemokratischen Mädchenbüchern. Die dänische Autorin
Karin Michaelis stellt in den Gunhild- (4 Bde., 1925–1931) und den Bibi-
380 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
Emanzipatorische Mädchenliteratur
Der Begriff der emanzipatorischen Mädchenliteratur bezieht sich auf die
Themen, die unter dem Einfluss der Frauenbewegung in die Mädchenlitera-
tur aufgenommen wurden, und auf die Intentionen, mit denen diese Literatur
verfasst wurde, also dem expliziten oder impliziten Anspruch, die Emanzipa-
tion der Leserinnen zu befördern oder sie auf dem Weg der Emanzipation zu
unterstützen.
Die kritische Hinterfragung von Vorstellungen, wie das Mädchen und die
Frau zu sein haben, erfolgt vor allem in Lesebüchern, Anthologien und Jahr-
büchern; sie schreiben gezielt gegen das an, was eine wichtige Funktion des
bisherigen Mädchenbuchs war: die Vermittlung des weiblichen Geschlechts-
charakters (Heike Doutiné u. a.: Mädchenbuch auch für Jungen, 1975; Hedi
Wyss, Isolde Schaad: Rotstrumpf, 1975–1982; Ingrid Bachér: Das war doch
immer so, 1976; Hedi Wyss: Das rosarote Mädchenbuch, 1976). In Mäd-
chenromanen wird offen über erotisch-körperliche Gefühle und Erfahrungen
gesprochen und lustvoll erlebte Sexualität mit sich selbst oder dem jungen
Mann dargestellt (Christine Nöstlinger: Stundenplan, 1975; Helma Fehr-
mann, Peter Weismann: Und plötzlich willste mehr, 1979; Mirjam Pressler:
Bitterschokolade, 1980; Nöstlinger: Pfui Spinne!, 1980). In Pfui Spinne! er-
lebt die 15-jährige Christine ihren ersten Beischlaf mit einer faszinierenden
Urlaubsliebe und wendet sich anschließend wieder dem etwas unbeholfenen
Freund aus der Heimat zu. Ihr wird das Recht zugestanden, in zwei junge Cover-Rückseite von
Männer gleichzeitig verliebt zu sein und zwischen ihnen wählen zu können, Christine Nöstlingers Pfui
ein von Nöstlinger auch sonst, in Stundenplan und der Gretchen-Sackmeier- Spinne! (1980)
Trilogie (1981, 1983, 1988), gern genutztes Motiv. Oder die Protagonistin
382 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
nimmt sich wie in Und plötzlich willste mehr das Recht, mit einem anderen
Begleiter als dem Freund zu einem Fest zu gehen. Mit der Darstellung der
Sexualität wird gleichzeitig die Fixierung des traditionellen Mädchenbuchs
auf Liebesehe und Liebesbeziehung gelockert – ein Motiv, das die Mädchen-
literatur seit dem Backfischbuch entscheidend geprägt hat. Sexuelle Erfah-
rungen, Verliebtheit und Liebe erscheinen nun als wichtige Erfahrungen der
weiblichen Adoleszenz, ohne an eine dauerhafte Beziehung oder zukünftige
Ehe gekoppelt zu sein. Das Mädchen trennt sich – vorübergehend oder end-
gültig – von seinem Freund, weil es in der Beziehung mit ihm sich selbst zu
sehr vernachlässigt hat, und entscheidet sich für eine bessere Schulbildung,
Weiterbildung oder einen Berufswechsel (Wolfgang Körner: Ich gehe nach
München, 1977; Irina Korschunow: Anruf von Sebastian, 1981; Dagmar
Chidolue: Aber ich werde alles anders machen, 1981). Auch ungewollte
Schwangerschaft wird thematisiert (Gunnel Beckman: Drei Wochen über die
Zeit, 1974; Karin Bolte: Ulla, 16, schwanger, 1979; Gun Jacobson: Peters
Baby, 1979), wobei auch die Möglichkeit der Abtreibung erwogen, letztlich
Familienkonflikte aber verworfen wird. Die Familie erscheint nicht mehr als Ort der Geborgen-
heit und Harmonie; es werden Spannungen, Konflikte, Hilflosigkeit beschrie-
ben, freilich auch emotionale Wärme. Autoritäre Verhältnisse werden in
Frage gestellt wie in Nöstlingers Ilse Janda (1974) oder Korschunows Anruf
von Sebastian (1981) und kleinbürgerliche Familienidyllen kritisch beleuch-
tet, so bei Nöstlinger, Pressler oder Chidolue. Die Mutter ist aufgrund ihres
Lebens als Hausfrau, Ehefrau und Mutter keine Identifikationsfigur mehr.
Die adoleszente Tochter begegnet ihr bisweilen sogar mit Verachtung und
Hass: »Die Hinterseite der Mutter ist scheußlich […]. Der Hintern ist kariert.
Ein karierter Breitarsch, plattgedrückt am Sessel, quillt kariert unter den
Armlehnen durch« (Nöstlinger: Stundenplan). In anderen Büchern wird, wie
in Nöstlingers Gretchen-Sackmeier-Trilogie oder Korschunows Anruf von
Sebastian, von einer parallelen Emanzipation von Tochter und Mutter er-
zählt.
Gesellschaft Die emanzipatorische Mädchenliteratur befasst sich kritisch mit sozialen,
und Geschichte gesellschaftspolitischen und historischen Themen. So werden autoritäre
Strukturen in Schule und Gesellschaft in Frage gestellt, Vorurteile gegenüber
Fremden (Renate Welsh: Ülkü das fremde Mädchen, 1973) oder die men-
schenunwürdigen Unterkünfte von Gastarbeitern angeprangert (Mira Lobe:
Die Räuberbraut, 1974). Etwa um 1980 kommen Mädchenbücher hinzu, die
von der Friedens- und Ökologiebewegung beeinflusst sind oder Lebenszu-
sammenhänge innerhalb der Frauenbewegung darstellen (Wyss: Welt hinter
Glas, 1979; Karin Bolte: Ulla, 16, schwanger; Dagmar Scherf: Trau dich und
träum’, 1983; Korschunow: Anruf von Sebastian, 1981; Willem Capteyn:
Sanne, 1984). Historisch ausgerichtet sind Johanna (1979) von Welsh, eine
Erzählung aus dem Leben eines Dienstmädchens aus den 20er und 30er Jah-
ren in Österreich, und Biographien über bedeutende Frauen wie Rosa L. Das
Leben der Rosa Luxemburg und ihrer Zeit von Frederik Hetmann (1976).
Diese beiden Titel zeigen einen neuen Zugang zur Geschichte: Erzählt wird
Geschichte ›von unten‹ und von Frauen gemachte Geschichte.
Das emanzipatorische Mädchenbuch ist zwar weitgehend an der bürger-
lichen Mittelschicht orientiert, öffnet sich aber auch für Hauptfiguren aus
der unteren Mittelschicht (Heike Hornschuh: Ich bin dreizehn, 1974), der
Unterschicht (Welsh: Johanna) und auch aus sozialen Randgruppen (Inge-
borg Bayer: Die vier Freiheiten der Hanna B., 1974; Bolte: Einweisung für
drei Mädchen, 1975; Dagmar Kekulé: Ich bin eine Wolke, 1978). Auch die
Darstellung der Arbeitswelt und ihrer Konflikte nimmt einen deutlich größe-
Mädchenliteratur 383
ren Raum ein als zuvor (Angelika Kutsch: Man kriegt nichts geschenkt,
1976; Körner: Ich gehe nach München; Ann Ladiges: Blaufrau, 1981).
Der emanzipatorischen Mädchenliteratur geht es um Aufklärung, Be- Funktionen
wusstmachung und Wissensvermittlung, um die Ermutigung, sich von über- und Genres
holten gesellschaftlichen Vorstellungen zu befreien und selbstbestimmt den
eigenen Weg zu gehen, sowie um die Weckung von Empathie mit sozial Be-
nachteiligten und die Sensibilisierung für gesellschaftliches Unrecht. In die-
sem Sinne ist die emanzipatorische Mädchenliteratur weitgehend eine ein-
greifende, auf Veränderung abzielende Literatur. Eng damit verbunden ist die
Hinwendung zur zeitgenössischen oder historischen Realität, wodurch ein
neuer Realismus entsteht. Für eine solche Literatur steht in der Erwachse-
nenliteratur der Begriff der littérature engagée, in der Kinder- und Jugendlite-
ratur der inzwischen negativ besetzte Begriff der Problemliteratur.
Die Genres der emanzipatorischen Mädchenliteratur sind vielfältig. Die
dokumentarische Richtung kennt zum einen Lesebücher mit einer Fülle von
Textformen und Stilarten, die zwischen fiction und non-fiction angesiedelt
sind: Geschichten, Gedichte, Fotos, Briefe, Zeitungsausschnitte, Reportagen,
z. T. montageartig zusammengesetzt. Daneben gibt es anspruchsvolle, aber
spröde, nur auf Information abzielende Anthologien. Zum anderen finden
sich Schilderungen vom Leben eines Mädchens im Sinne einer Sozialrepor- Cover von Ingrid Bachérs
tage, ausgestattet mit dokumentarischen Fotos, Geschichten mit dokumenta- Merk-Buch (1976)
rischem Charakter und (historische) Erzählungen und Biographien, die auf
Milieukenntnis oder Recherchen beruhen. Verschiedene Erzählstrategien
können dazu dienen, dass eine allzu rasche Identifikation mit der Hauptfigur
verhindert wird.
Die Problemerzählungen können Abstiegsgeschichten sein, insbesondere
von sozial benachteiligten jungen Frauen, oder umgekehrt Emanzipationsge-
schichten, die den Weg des (bürgerlichen) Mädchens von der Anpassung an
das traditionelle Weiblichkeitsbild hin zur Befreiung davon darstellen. Von
Nöstlinger und auch von Chidolue stammen Titel, die keine modellhaft-nor-
mative Struktur haben; in ihnen wird weibliche Adoleszenz im Sinne eines
sozialen und psychologischen Realismus dargestellt. Bei Nöstlinger ist es ein
drastischer Realismus, der sich mit komischen und grotesken Zügen verbin-
det, bei Chidolue ein kühler, ironischer, fast beklemmender Realismus. Trotz
der Entkopplung von erster Liebeserfahrung und dauerhafter Beziehung
oder Ehe lebt auch das Handlungsmuster der trivialen Liebesgeschichte fort,
entweder mit anderen Vorzeichen versehen wie in Korschunows Anruf von
Sebastian (1981) oder strukturell nicht dominant wie in Nöstlingers Stun-
denplan (1975). Bei vielen anderen Texten erscheint dagegen der emanzipa-
torische Diskurs lediglich der Liebesgeschichte aufgesetzt; von emanzipato-
rischer Mädchenliteratur kann hier nicht mehr gesprochen werden.
In einigen Titeln finden sich bereits Übergänge zum psychologisch orien- Übergänge
tierten Mädchenbuch, wenn Gefühlsambivalenzen stärkeres Gewicht be-
kommen und auch entsprechende Erzähltechniken angewandt werden, so
zum Beispiel Susanne Kilian in Lenakind (1980). Einige Romane von Chido-
lue (etwa Das Fleisch im Bauch, 1980; Diese blöde Kuh, 1984) bewegen sich
noch innerhalb des emanzipatorischen Diskurses, zeigen aber zugleich dessen
Grenzen auf. Die dreibändige, auf spannende Unterhaltung ausgerichtete
Serie Alanna von Trebonds Abenteuer von Tamora Pierce (1985–1988) be-
nutzt die neue Gattung der Fantasy und stattet die weibliche Hauptfigur
nicht nur im emanzipatorischen Sinne mit den ›männlichen‹ Eigenschaften
einer siegreichen Ritterin aus, sondern auch mit der Gabe der Zauberkraft,
einer im Kontext des Differenzfeminismus spezifisch weiblichen Fähigkeit.
384 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
Psychologische Mädchenliteratur
Der Begriff der psychologischen oder psychologisch orientierten Mädchenli-
teratur bezieht sich auf die Intentionen, Themen und Darstellungsweisen, die
unter dem Einfluss des Differenzfeminismus und der psychologischen Weib-
lichkeitsforschung etwa ab Mitte der 80er Jahre in die Mädchenliteratur
Mädchenliteratur 385
von der Mutter vertreten, während sich die Tochter von der mütterlichen
Lebensorientierung distanziert. Der Erziehungsstil in der Schule ist ähnlich
liberal geworden wie in der Familie. Eine Auseinandersetzung mit Schule,
Gesellschaft und Politik spielt keine entscheidende Rolle mehr. Wenn es noch
gesellschaftliches Engagement gibt wie beispielsweise bei Herfurtner, so rückt
es in den Hintergrund der Beziehungsgeschichte.
Liebe und Sexualität Die Darstellung der ersten Liebesbeziehungen nimmt breiten Raum ein.
Im Unterschied zur emanzipatorischen Mädchenliteratur wird Sexualität al-
lerdings nicht mehr nur als lustvoll dargestellt; vielmehr findet sich auch, wie
schon in Chidolues Aber ich werde alles anders machen von 1981, unbefrie-
digende Sexualität, die der jungen Frau das Gefühl gibt, innerlich zu verbren-
nen (Edelfeldt: Kamalas Buch, 1988), oder sie, weil sie Nähe nicht zulassen
kann, nur Kälte empfinden lässt (Chidolue: Lady Punk, 1985). Die Liebesbe-
ziehungen sind komplexer und komplizierter geworden. Sie verändern sich,
auf eine Phase der Nähe folgt eine Phase der Distanz; das Mädchen oder die
junge Frau empfinden leidenschaftliche, z. T. verzehrende Liebe zu einem
Mann, der sie nach kurzem Zusammensein verlässt (Hanne-Vibeke Holst:
Nächsten Sommer, 1992; Eide: Östlich der Sonne – Westlich des Monds,
1994); die junge Frau betreibt aktiv die Realisierung ihrer erotisch-sexuellen
Wünsche und verführt den Freund ihrer älteren Schwester (Norma Mazer:
Na, Schwesterchen, 1983) oder ihren Lehrer (Barbara Wersba: Alles wegen
Harold, 1985). Und schließlich gibt es – nach frühen Anfängen in den 70er
Jahren (Bayer: Dünensommer, 1977; Auszüge aus Verena Stefans Häutungen
in dem Jahrbuch Rotstrumpf, 1977) – die Erweiterung des bipolaren Modells
der Heterosexualität; die junge Frau entdeckt ihre lesbische Identität und
wendet sich der gleichgeschlechtlichen Liebe zu (Jenny Pausacker: Was bist
du?, 1990; Doris Meißner-Johannknecht: Amor kam in Leinenschuhen,
1993). In allen Fällen erkundet die junge Frau ihr sexuelles Begehren und
ihre ambivalenten Gefühle; sie macht auch negative Erfahrungen, aber diese
werden als notwendiger Teil ihrer Identitätssuche dargestellt.
Funktionen Die psychologische Mädchenliteratur hat nicht die Intention, auf gesell-
schaftliche Veränderungen hinzuwirken. Allerdings ist auch sie insofern Ge-
brauchsliteratur, als sie sich durch einen pädagogischen oder pädagogisch-
psychotherapeutischen Gestus auszeichnet: Sie bietet den jungen Leserinnen
Unterstützung bei der weiblichen Identitätsfindung an. Deshalb endet die
weibliche Identitätssuche fast immer so, dass eine Entwicklung – oder zu-
mindest die ersten Schritte – hin zur Identitätsfindung vollzogen wird. Wenn
die junge Frau zum Beispiel schmerzhafte Erfahrungen in der Liebe gemacht
hat, so endet der Roman mit der Fähigkeit der Frau, diese Erfahrung in ihre
Ich-Entwicklung zu integrieren. In Eides In Östlich der Sonne – Westlich des
Monds gibt es zwei Erzählebenen: zum einen die Geschichte der Mutter als
junger Frau, die wegen einer unglücklichen Liebe in den Tod geht, zum ande-
ren – in der Erzählgegenwart – die der Tochter, die die Lebensgeschichte der
Mutter zu rekonstruieren versucht und dabei einen Prozess der Selbstfindung
durchläuft. In Lady Punk kann die Protagonistin ihre Identitätskrise nicht
bewältigen; aufgrund des angebotenen psychologischen Deutungsmusters
kann die Leserin aber erkennen, welche Entwicklungsschritte die Hauptfigur
zu einer gelungenen Identitätsfindung führen würden.
Grenzen der psychologischen Mädchenliteratur sind dann gegeben, wenn
sie in dem psychologischen Diskurs, von dem sie beeinflusst ist, restlos auf-
geht. Daneben finden sich Titel mit einer deutlichen Diskrepanz zwischen
Oberflächen- und Tiefenstruktur, wodurch widersprüchliche Lesarten ange-
boten werden: die offizielle der Identitätsfindung und die inoffizielle der
Mädchenliteratur 387
Liebesgeschichte, bei der erotische Fantasien, die von der Vernunft ›verboten‹
sind, ausagiert werden können (Otti Pfeiffer: Zwischen Himmel und Hölle,
1986). Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Titel, die sich dem er-
wachsenenliterarischen Adoleszenzroman annähern und die teilweise auch
zunächst als Erwachsenenliteratur erschienen sind, so Kamalas Buch (1988)
von Edelfeldt, Gwendolins Erdreich (1988) von Hans-Gerd Krogmann und
Hand aufs Herz (1991) von Vigdis Hjorth. Kamalas Buch stellt eine nicht
gelingende Identitätsfindung dar und entzieht sich nicht nur dem Erklärungs-
muster des emanzipatorischen, sondern auch des psychologischen Diskurses,
womit es bereits auf die postmoderne Mädchenliteratur vorausweist.
rische Grundhaltung der Postmoderne ist die Aufgabe der großen Erzäh-
lungen (Lyotard). Diese werden verabschiedet zugunsten von Individualisie-
rung, Vielfalt, Heterogenität‚ ›fröhlicher Relativität‹ und dem Darstellungs-
prinzip der Fragmentarisierung. Dazu gehören u. a. Gattungsmischungen,
Intertextualität, die Aufhebung der Grenze zwischen Hoch- und Alltagskul-
tur, die Vielfalt der Stile, das Spielerische und das weltanschaulich Offene.
Mädchenliteratur und Postmoderne. – Der Einfluss der Postmoderne auf
die Mädchenliteratur zeigt sich am stärksten in einer (relativ überschaubaren)
Gruppe von Texten, die als postmoderne Mädchenliteratur oder weiblicher
Adoleszenzroman bezeichnet und teilweise auch der Popliteratur zugerech-
net wird. Sowohl der emanzipatorische als auch der psychologische Diskurs
(und damit das Ziel der Identitätsbildung im modernen Sinne) sind als Erklä-
Komik, Ironie, rungsmuster oder Modell der Sinngebung verabschiedet. Stattdessen bewegt
Coolness sich das Erzählen in witzig-komischem, schnoddrig-coolem, ironischem oder
sarkastischem Ton an der Oberfläche; er bleibt – gleichgültig, was dargestellt
wird, ob Sex, Liebe, Drogen oder das richtige Outfit – stets von derselben
Wertigkeit. Die Figuren haben keine Tiefe. Leiden wird erwähnt, aber nicht
in seiner Intensität dargestellt, heftiger Liebeskummer z. B. durch Komik ge-
brochen (Bjarne Reuter: Lola, 1994). Problematische Familienverhältnisse
werden witzig erzählt, psychische Auffälligkeiten wie Schreikrämpfe oder
Symptome der Magersucht werden beiläufig erwähnt (Alexa Hennig von
Lange: Ich habe einfach Glück, 2001) – im Unterschied zum psychologischen
Mädchenroman, wo solche Störungen psychisch ausgeleuchtet würden. Der
Erzählstil ist von dem Prinzip der Fragmentarisierung bestimmt und an die
Videoclip-Ästhetik angelehnt. Merkmale sind schnelle Schnitte, Wechsel der
Erzählperspektiven, sprunghaft-assoziatives Erzählen, Montage unterschied-
licher Textteile, Dynamik und Tempo. Intertextualität findet sich in Brock
Coles Celine (1989, dt. 1996), das zahlreiche Verweise auf Salingers Der
Fänger im Roggen (1951, dt. 1956) enthält. Gattungsmischungen zeigen sich
in der Verwischung der Grenzen zwischen realistischem und fantastischem
Erzählen (Reuter: Lola), in der Verbindung von realistischer Familiendarstel-
lung mit Versatzstücken des trivialen Liebesromans (Hennig von Lange: Ich
habe einfach Glück) oder der Vermischung von idyllisch-märchenhaften
Zügen, Anklängen an die Gothic Novel und dem Mädchenbuchmotiv der
zärtlichen Vater-Tochter-Liebe (Francesca L. Block: Weetzie Bat, 1996).
Auf der thematischen Ebene finden sich allerdings, wenn auch in verän-
derter Form, die bekannten Motive weiblicher Adoleszenz: Familie, Peer-
group, Freundinnen, erste Liebeserfahrungen und die Herausbildung der
Geschlechterrolle. Die Mädchenfiguren leben häufig in Zweitfamilien, zum
Beispiel mit der nur wenige Jahre älteren Stiefmutter in Celine, während der
Vater auf Vortragsreise im Ausland ist, oder mit dem Vater und dessen Freun-
din in Cornelia Kurths Frederikes Tag (1998). Den Eltern wird nicht grund-
sätzlich mit Ablehnung oder Hass begegnet, auch wenn die Töchter es nicht
einfach mit ihnen haben; mit genauem Blick für ihre Fehler und Schwächen
werden sie letztlich hingenommen, wie sie sind, und die Töchter sind auch zu
realistisch, um große Erwartungen an sie zu stellen oder Kämpfe mit ihnen
auszutragen. Allerdings grenzen sie sich von den Eltern und den von ihnen
vertretenen Werten der 68er Generation ab: von der lässigen, unmodischen
Kleidung, dem Glauben an die Möglichkeit der Problemlösung durch verbale
Bemutternde Tochter Kommunikation oder der politischen Haltung. Die Eltern-Kind-Beziehung
kann sich teilweise umkehren: Das Mädchen übernimmt die traditionelle
Funktion der Mutter, indem sie zwischen den einzelnen Familienmitgliedern
für Ausgleich sorgt (Lola); die Tochter ist die einzige, die noch mit den ande-
Mädchenliteratur 389
Postmoderner Mädchen-
roman – Cover von Lola
und Celine (1994 und
1996)
gibt Serien mit Mädchenfiguren, die sich »for girls only« zum Motto ge-
macht haben, und andere, in denen das Sich-Verlieben wichtiges Handlungs-
ziel ist (Chaos, Küsse, Katastrophen; Voll verliebt). In ihrer Tiefenstruktur ist
die Girlie-Literatur von dem Prinzip der Vorhersehbarkeit und Wiederholung
geprägt. Als Muster liegen z. B. die triviale Liebesgeschichte und die Inter-
natsgeschichte zugrunde, jetzt erzählt als (Schul-)Geschichte einer Mädchen-
gruppe. Beide Muster finden sich bereits im Trotzkopf; neu ist, dass die
Wandlungs- und Anpassungsgeschichte nun fehlt. Das Mädchen darf andro-
gyne Züge haben; allerdings begeht es, gemessen am zeitgenössischen Dis-
kurs, keine Normverletzungen.
Weitere Genres sind die Kinderbandengeschichte (Cornelia Funke: Die
wilden Hühner, 6 Bd., 1993–2001), die sich mit der Girlie-Literatur verbin-
det, und das ältere, aber immer noch sehr erfolgreiche und wandlungsfähige
Pferdebuch (mit Reihen bis zu 36 Bänden). Auch diese Serien zeichnen sich
durch Voraussagbarkeit der Handlung und Stereotypie der Figuren aus, ein
Liebe … ganz schön durchaus charakteristisches Merkmal der Lektüre der frühen Adoleszenz, die
peinlich von Bianka von Mädchen (und Jungen) bedürfnisorientiert gelesen und verschlungen
Minte-König wird. Seit etwa 2000 finden sich – offensichtlich im Gefolge des Harry-Pot-
ter-Booms – verstärkt fantastische Elemente und Fantasy-Literatur. Das
Spektrum reicht von Girlie-Figuren, die über Zauberkräfte verfügen, bis hin
zu umfangreichen Fantasy-Epen für ältere Mädchen. Die Protagonistin darf
Abenteuerheldin sein und die Welt vor dem Bösen retten, ohne auf Bindungen
verzichten zu müssen; an ihrer Seite findet sich als Berater, Helfer und Freund
mindestens eine männliche Figur von etwa gleichem Alter (Stuart Hill: Die
Herrscherin der Eismark, 2006). Stärker der Realität verpflichtet sind, schon
aus Gattungsgründen, die Ratgeberliteratur, die allerdings meist auf die The-
men sexuelle Aufklärung, Liebe, Schönheit und Aussehen verkürzt ist, und
die Sachbücher; unter ihnen finden sich Anknüpfungen an die Biographien
historisch bedeutender Frauen der 70er Jahre.
Problemorientierung Einen wichtigen Teil der Mädchenliteratur stellen die Titel dar, die, mit je
unterschiedlicher Akzentuierung, Problemorientierung (mit didaktischer In-
tention), psychologisches Erzählen und Unterhaltung miteinander verbinden
(für Mädchen ab 12 oder 14 Jahren). Bei der Darstellung des in der Jugend-
literatur neuen Themas der Transsexualität in Julie A. Peters’ Luna (2006)
geht es zum Beispiel um die Identitätssuche eines transsexuellen Jungen und
seiner Schwester, um Information und Aufklärung, um spannende Unterhal-
tung, die Lösbarkeit des Problems und nicht zuletzt um die In-Frage-Stellung
des Modells der Zweigeschlechtlichkeit. Die Mischung verschiedener Ebenen
macht offensichtlich den Reiz dieser Bücher für jugendliche Leserinnen aus.
Charakteristisch für eine Mädchenliteratur, die mehr an entwicklungsspezi-
fische Bedürfnisse anknüpft als an aktuelle Themen, ist Tanz aus der Reihe
von Tracey Porter (2004), auf der manifesten Ebene eine Entwicklungs- und
Anpassungsgeschichte mit didaktischem Grundtenor, auf der latenten Ebene
die Darstellung der ambivalenten Gefühle von Mädchen bei der Ablösung
von der Mutterfigur.
Liebesgeschichte Das Genre der Liebesgeschichte kennt zwei Grundformen. Bei der einen
erlebt die Protagonistin eine leidenschaftliche Liebe mit einem jungen Mann,
der sich aber als charakterlich schlecht erweist; am Ende gelingt es ihr, sich
von ihm zu lösen. Die Entwicklungsgeschichte ist lediglich der Rahmen für
die Darstellung der ambivalenten Faszination des Mannes, der erotischen
Spannung und des Begehrens der jungen Frau; beispielhaft ist etwa Broken
Wings – Gefährliche Liebe von Martina Dierks (2005). Der andere Typus
erzählt von einer romantischen Liebe und folgt dem Handlungsmuster ›erste
Fantastische Literatur 393
Fantastische Literatur
Irmgard Nickel-Bacon
Janoschs Figuren
aler Vermarktung, erläutert Paul Maar auf gut verständliche Weise, welche
Techniken einen fantastischen Film ermöglichen und worin er sich vom Buch
unterscheidet.
Mit der stärkeren Besinnung auf das Individuum ist auch eine Tendenz zur
Ästhetisierung verbunden. Ein epochentypisches Beispiel im Bereich der Il-
lustration sind die Klassiker und Weltbestseller von Janosch (eig. Horst
Eckert), allen voran Oh, wie schön ist Panama (1978), das 1979 den Deut-
schen Jugendbuchpreis erhielt und in den 80er Jahren Teil der Fernsehserie
Janoschs Traumstunde (WDR 1986 ff.) wurde. Die Geschichten um den klei-
nen Tiger und den kleinen Bär zeigen eine heiter idyllische Welt mit Kinderfi-
guren in Tiergestalt, die immer wieder auf fundamentale Werte wie Liebe
und Freundschaft verwiesen werden. Märchenhafte Elemente werden kon-
terkariert durch die Grenzen des Faktischen, die auch in der fantastischen
Welt gelten, der Einzelne wird orientiert auf den privaten Binnenraum und
die hier gegebenen Möglichkeiten. So entsteht die konkrete Utopie einer Anarchie im Kleinen
kindlich-anarchischen Parallelwelt, in der sich Chaos und Ordnung die
Waage halten. Mit Janoschs Aquarellen liegen Bilder von großer Leuchtkraft
und zahlreichen Identifikationsangeboten für Kinder vor; sie gleiten niemals
ins Kitschige ab und sind daher so populär, dass sie breit vermarktet werden
– als Plüschtiere oder Alltagsgegenstände für den Gebrauch der Kinder.
Während Janosch die Anarchie im Kleinen erprobt und zugleich die Gren-
zen des privaten Idylls sichtbar macht, entwirft Michael Ende in seinem
Kultbuch Momo (1973) die Utopie einer menschlich und ökologisch intak- Kultbuch »Momo«
ten Parallelwelt, in der die Menschen noch Zeit füreinander haben und krea-
tiv sein können. Endes Protagonistin und Vorbildfigur ist ein altersloses
Waisenkind aus dem Nirgendwo, das ganz selbstbezogen zu leben vermag
und seiner Umgebung Gutes tut, indem es auf besonders intensive Weise zu-
hört. Momo verbreitet Freundlichkeit unter den Erwachsenen und regt die
Kinder zu fantasievollen Spielen an, ohne die Konsumgüter der Spielwaren-
industrie. Der Frieden dieser intakten, in vielerlei Hinsicht vorindustriellen
Märchenwelt wird empfindlich gestört, als die fantastischen grauen Herren
das Prinzip der Rationalisierung von Zeit verbreiten. Da Momo sich dem
beharrlich entzieht, beginnen sie, Jagd auf das Mädchen zu machen. Mit
398 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
magischer Hilfe rettet sie sich ins Stundenhaus zu dem fantastischen Gegen-
spieler der Zeit-Diebe, Meister Hora. Er vermittelt Momo Einsichten in ein
metaphysisches Verständnis von Zeit. Die Zeitrechnung der grauen Herren
entlarvt er als kapitalistisches Prinzip, von dem eigentlich nur diese profitie-
ren, denn ihr Leben erlischt, sobald sie den Menschen keine Zeit mehr stehlen
können. Das romantische Konzept des magischen Kindes spielt für Momo
eine ebenso zentrale Rolle wie das Motiv des Kampfes zwischen guten und
bösen Mächten. Auch im Untertitel ›Ein Märchenroman‹ knüpft Ende expli-
zit an romantische Erzählformen an. Im Nachwort inszeniert er sich als Rei-
sender, der lediglich die Geschichte eines Mitreisenden niederschreibt, und
erhebt so den Anspruch zeitloser Gültigkeit. In einem Interview weist Ende
die parabolische Lesart als Kritik an der Industriegesellschaft zurück und
stellt den Roman in überzeitliche Koordinaten. Dennoch wird Momo Ende
der 70er Jahre zum Kultbuch der abflauenden Studentenbewegung und be-
gleitet deren Rückzug in die Neue Innerlichkeit. Zu einem Klassiker der
Kinderliteratur wurde es in den 80er Jahren durch ein Hörspiel (1984, Regie:
Heinz-Günter Stamm, Deutsche Grammophon), den Kinofilm (1986, Regie:
Johannes Schaaf), der auch als DVD zugänglich ist (2000), vor allem aber
durch die Zeichentrickversion (2001/02, Regie: Enzo d’Aló), die als Vor-
abendserie im Kinderfernsehen läuft.
klärung für den Sog, der von den Romanen um Harry Potter ausgeht und das
Erscheinen jedes neuen Bandes zum Happening werden lässt, bei dem kind-
liche Hexen und Zauberer massenhaft in die Buchhandlungen einfallen und
brav Schlange stehen, um den neuesten Titel zu erwerben. Eine andere wich-
tige Stärke des Harry-Potter-Projekts ist das brillante narrative Kalkül der
Autorin, die die wichtigen Figuren und Ereignisse aller Bände en détail be-
reits im ersten Band angelegt hat, so dass sich die Geschichte wie von selbst
zu entwickeln scheint. Ein dichtes Netz von Metaphern und Symbolen run-
det das von einer allwissenden Erzählinstanz präsentierte Romanwerk poe-
tisch ab: In den sprechenden Namen findet sich ebenso eine semantische Sprechende Namen
Vertiefung wie in bildlichen Symbolen, z. B. für die verschiedenen Fraktionen
der Zaubererwelt, die in scheinbar nebensächlichen Alltagsgegenständen wie
etwa der Kleidung wiederkehren. So findet sich beispielsweise das Schlan-
gensymbol der feindlichen Slytherins vielfältig gespiegelt – etwa in dem Tur-
ban, in dem Voldemorts Anhänger sein Doppelgesicht verbirgt – und erlaubt
eine zweite Lesart der Romane, die weniger auf ›Action‹ abgestellt ist denn
auf ästhetischen Genuss.
Neben der bereits als Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur zu be-
zeichnenden Harry-Potter-Reihe erscheinen seit den 90er Jahren andere
Fantasy-Serien, die durchaus auch eine breite internationale Fan-Gemeinde
um sich scharen und mit jedem neuen Band ganz vorne auf den Bestseller-
Listen landen: Eoin Colfers Artemis Fowl-Serie (seit 2001), die Eragon-Reihe
(seit 2003) von Christopher Paolini oder Jonathan Strouds Bartimäus-Trilo-
gie (seit 2003). Diese Serien sind alle auf die eine oder andere Weise dem
›großen Tolkien‹ verpflichtet und doch entwirft jede einen eigenen, durchaus
originellen Kosmos.
(1998), der vor allem deshalb Beachtung verdient, weil er vom klassischen
Zwei-Welten-Schema abweicht und seinen Protagonisten auf eine medial in-
Zeitreise spirierte fantastische Zeitreise schickt, die ihn aus der Alltagswelt zu sieben
historischen Wirklichkeiten führt – chronologisch zurückschreitend von den
50er Jahren in Sibirien bis ins Jahr 1621. Robert sammelt historisches Erfah-
rungswissen, durchlebt aufregende Abenteuer, doch immer, wenn die Situa-
tion zu bedrohlich wird, hilft ihm ein zeitgenössisches Medium – vom Fern-
sehen über den Kinofilm, die Schwarz-Weiß-Fotografie bis zum Kupferstich
– zurück in eine andere Zeit und an einen anderen Ort mit ihren jeweiligen
Möglichkeiten und Gefahren. Wie schon in seinem Zahlenteufel (1997) ge-
lingt ihm Edutainment auf höchstem Niveau, denn er entfaltet ein postmo-
dernes Spiel mit der Simultaneität historischer Wirklichkeiten, das die Aben-
teuerlust ebenso befriedigt wie den Wissensdurst. Enzensberger hat damit
wohl das traditionelle Motiv der Zeitreise auf die originellste und informa-
tivste Weise ausgestaltet. Andere, eher auf Unterhaltung fixierte Beispiele
finden sich insbesondere in der Justin Time-Serie von Peter Schwindt, die
2004 mit Justin Time – Zeitsprung einsetzt. Der Protagonist mit dem spre-
chenden Namen, »Zeitwaise« aus dem Jahr 2377, dessen Onkel das erste
Zeitreisebüro der Welt betreibt, befriedigt mit seinen Irrfahrten in vergan-
gene Zeiten und touristisch durchaus attraktive Gegenden vor allem das In-
teresse jüngerer Leserinnen und Leser an Technik und Science Fiction.
Auf die kreative Kraft fiktiver Welten und die Lust am Fabulieren vertraut
hingegen die als ›deutsche Joanne K. Rowling‹ gepriesene Cornelia Funke.
Sie zählt zu den vor allem quantitativ produktivsten und erfolgreichsten
deutschen Autorinnen; 2005 liegt die Gesamtauflage ihrer Bücher weltweit
bei 10000 Exemplaren. Der große Durchbruch gelang ihr 2002 im anglo-
amerikanischen Raum, als ihr fantastischer Venedig-Roman Herr der Diebe
(2000) auf Englisch erschien, anschließend in 23 Sprachen übersetzt und
2005 als Film in die Kinos kam. Die Filmrechte des fantastischen Kinderro-
mans Drachenreiter (1997) erwarb der Produzent Mark Ordesky, der auch
den Herrn der Ringe produziert hatte, so dass Funke zumindest filmisch in
der Tradition des großen Tolkien steht. Während Funkes Romane in Groß-
Bestseller britannien, Kanada und den USA weit oben auf den Bestsellerlisten stehen,
sind die Jugendbuch-Juroren in Deutschland zurückhaltender; für den deut-
schen Jugendbuchpreis erhielt sie lediglich Nominierungen. Dies mag daran
liegen, dass ihre Figuren vergleichsweise flächig gezeichnet sind und die
Handlung so einsinnig angelegt ist, dass sie von vornherein einem Drehbuch
nahe kommt.
Literaturhistorische Beachtung verdient allerdings der 2003 erschienene
Roman Tintenherz, der Elemente des postmodernen Erzählens aufgreift. Er
wurde mit dem Fantastik-Preis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet und für den
Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. 2005 folgt der zweite Band Tin-
tenblut, 2007 – zeitgleich mit dem letzten Band der Harry-Potter-Serie – der
dritte Band Tintentod. Die Trilogie ist im Kern vor allem eine Liebeserklä-
rung an das Buch und all jene Künste, die mit ihm zusammenhängen: das
Schreiben wie die Illustration (oder Illumination), das Buchbinderhandwerk
ebenso wie die Kunst des Vorlesens. Lediglich vom Verkauf ist nicht die Rede.
Magisch sind nicht Zauberstäbe oder -formeln, sondern Bücher, so magisch,
dass ihre fiktiven Welten – gekonnt vorgetragen – Wirklichkeit werden kön-
nen. Während im ersten Band noch eine italienisch anmutende Alltagswirk-
lichkeit dominiert, entführt uns Funke im zweiten Band in eine mittelalter-
Cornelia Funkes liche Welt voller Wunder und Schrecken. Dabei werden unterschwellig auch
Tintenherz Jenseitserfahrungen thematisiert, eine weitere Parallele zur Serie um Harry
Lyrik für Kinder 405
Auf den ersten Blick bieten die 70er Jahre keine Höhepunkte, die es nahele-
gen, von einer historischen Zäsur zu sprechen. Kaum noch in Erinnerung:
das zögerliche Ende des Vietnamkrieges, die Ölkrise, der Militärputsch in
406 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
sprechen schon die Kinder Christian Felix Weißes zu ihren Büchern. Weitere
wichtige Subjekte sind: Kasperle, Riese, Hampelmann, starker August und
jede Tierart. Die Themen sind nicht neu, aber auch formal lassen sich keine
Unterschiede erkennen zu Gedichten von Friedrich Rückert (1834) oder
James Krüss (1959). Dann gibt es die besinnlichen und die zeitkritischeren,
vom Optimismus der 68er Jahre gezeichneten Gedichte. Hier findet sich
dann auch die offene Form, gepaart mit thematischer Aktualität. Als Beispiel
sei Rainer Schnurres Kinder genannt, das so endet:
»Wir Kinder
mit gelber roter weißer und schwarzer Hautfarbe
Auch wenn wir uns einmal streiten
Wir vertragen uns immer wieder
Wir die Kinder auf der ganzen Welt.«
Kritisch und fast grotesk schließt die Sammlung (beinahe) mit einem Gedicht
von Ernst Meister über einen Knaben, der im Krieg ein Bein und zwei Eltern
verlor und nun immer wieder zu deren Grab ›krückt‹: Kleines Einbein. Weil
das aber doch zu erschütternd wäre, wird mit der launigen Teppichlitanei
von Christa Reinig abgefedert. Hübsch klingen sie, die vielen Teppichnamen,
aber neu ist sie nicht, die bunte Reihe.
Zusammenfassend kann man sagen: Der Sprung in die 70er Jahre ist in
der Kinderlyrik ebenso gebremst wie in der Politik – das Neue soll entstehen,
aber die langen ›Biedermeierjahre‹ lasten noch schwer auf Themen und For-
men.
Veränderungen nach Der eigentliche Neubeginn gelingt erst im Verlauf der 1970er Jahre. In
›68‹ Gelbergs erstem Jahrbuch der Kinderliteratur mit dem Titel Geh und spiel
mit dem Riesen aus dem Jahr 1971 trägt das zweite Gedicht von Hans Adolf
Halbey den Titel Trotzdem. Es endet mit den Worten:
»Rülpsen, Spucken, Nasebohren,
Nägelkauen, schwarze Ohren,
schlimme Worte jede Masse –
Klasse!
verdeutlicht, wie sehr die modernen ›68er‹ – nicht nur beim sozialen Woh-
nungs- und Schwimmbadbau – ›Renaissance‹ sein können: Süverkrüp führt
in der letzten Strophe von Baggerführer Willibald aus:
»Wie Willibald das sagt, so wird es auch gemacht.
Die Bauarbeiter legen los und bauen Häuser, schön und groß,
wo jeder gut drin wohnen kann, weil jeder sie bezahlen kann.
Der Baggerführer Willibald baut eine neue Schwimmanstalt.
Da spritzen sich die Leute naß, das macht sogar dem Bagger Spaß.«
Der große Erfolg des Willibald beruht nicht auf dem kritischen Inhalt. Er »Der Baggerführer
bedient sich der wirksamen Mittel der Lyrik und entwirft einen Mythos. Da Willibald«
gibt es den eingängigen Endreim und das musikalische Wechselspiel von
gleichlautenden oder sich widersprechenden Vokalen und Alliterationen im
Binnenraum, wie es besonders der Name des Helden zeigt. Der ›Baggerfüh-
rer‹ ist der ›Jung Siegfried‹ der Post-68er-Zeit. In morgendlicher Kälte und
Einsamkeit besteigt er das Ungeheuer ›Bagger‹, eines der technischen Geräte,
die Kinder noch faszinieren, weil seine Wirkung laut und gut sichtbar ist.
Wie er die Erdmassen bewegt, ist er ein Inbegriff von Kraft und Macht, wer
ihm gebietet, muss wahrhaftig ein ›Führer‹ sein. Und so gibt Willibald auch
den Menschen gegenüber den Ton an – was er sagt, das tun seine Bauarbeiter.
Natürlich zu ihrem eigenen Wohlergehen. Auf Logik wird verzichtet, es wird
einfach gemacht, was Willibald will. Schließlich wird der Bagger personifi-
ziert und so in einen harmlosen Kinderzimmerdrachen verwandelt. Gefähr-
liche Anachronismen der Botschaft gehen unter. In derselben Sammlung be-
schwört Peter Maiwald in Was ein Kind braucht, die Aufgabe des Menschen,
für das Wohlergehen aller Kinder zu sorgen, Gert Heidenreich verlangt, dass
»Gut und Geld allen gleich« gehören soll, »weil die Reichen sonst die Welt
und auch dich zerstören«. Trotz der propagierten Modernität sind diese
Texte tapfer gereimte Lehrgedichte.
›Dialektik‹ ist einer der Lieblingsbegriffe der Zeit, und mit dem dialek-
tischen Umschlagen von progressiver, emanzipatorischer Botschaft in kon-
servative, entmündigende Formen hat Gelberg auch noch in seinem pro-
grammatischen Werk mit dem Titel Überall und Neben Dir von 1986 zu
kämpfen. Mit dem deutungsoffenen Titel wird das Streben nach Poetizität
betont. Eine Leseanleitung, die gerade für seine umfangreichen ›Kompendien‹
wichtig ist, fordert auf, nicht alles auf einmal zu lesen, Einzelnes zu »drehen
und zu wenden«. Für das Ausnahmeereignis ›Gedicht‹ eigentlich selbstver-
ständlich, aber da Bücher wie Spielzeug seit den 1970er Jahren sintflutartig
über die Kinderzimmer hereinbrechen, besteht auch in den überfüllten Lyrik- Programmatisches Werk –
Archen die Gefahr, dass Gedichte sich erdrücken. So auch hier. Ein Viertel Überall und Neben Dir
der Gedichte hat appellativen Charakter und dient der Vermittlung aktueller
gesellschaftlicher Normen. Neben einer Aufwertung der Gefühle, dem Stre-
ben nach Gleichberechtigung für Frauen und Mädchen, Kinder und Farbige,
dem Ringen um den Weltfrieden und einen besseren Umwelt- und Tierschutz
wird vor allem Kritikfähigkeit und allgemeines ›Problembewusstsein‹ ver-
langt. Die Formenvielfalt entspricht immer mehr den Möglichkeiten der ›Er-
wachsenendichtung‹. Sie reicht vom klassischen Lehrgedicht bis hin zum Lehrgedichte des
›One-image-poem‹. Als Beispiel für das erste sei Julius Beckes Maria schickt 20. Jahrhunderts
den Michael auf den Schulweg genannt. In der Hauptstrophe fordert die
Mutter – im Kommandoton – dazu auf, Kommandos zu überhören und Ge-
fühle zu zeigen:
410 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
»Überhöre Kommandos
und schlage dich nicht
mit den Verschlagenen.
Abkehr vom Anders als in den kritischen Gedichten und Geschichten des ersten Jahrbuchs
politischen Lied werden jetzt keine politischen Lösungswege mehr angedeutet. Die Kohl-Ära
hat begonnen, ein allgemeines Missvergnügen an der Politik macht sich breit.
Dies zeigen auch die vielen Gedichtchen, die hier vertreten sind und die alle
mehr oder weniger gelungene Variationen von Krüss’ Spiel- und Nonsensge-
dichten darstellen. Das Kind wird wieder in die harmlose Spaßwelt verbannt.
Typisch fürchterlich ist das schlecht gebaute und noch im Mutterklischee
befangene Pfützenlied von Günter Ullmann:
»Mutter, Mutter bring mir die Mütze,
koche Kartoffeln und decke den Tisch,
der Regen ist heim, ich spring in die Pfütze
und fang dir gleich einen ganz großen Fisch.«
Es gibt jedoch auch Gedichte von zarter Schönheit, wie den Faksimiledruck
Japanischer Holzschnitt von Günter Eich, der freilich kein Kinderdichter ist:
»Ein rosa Pferd,
gezäumt und gesattelt, –
für wen?
Wie nah der Reiter auch sei,
er bleibt verborgen.
Schon Jahre zuvor bestand grundsätzliche Einigkeit darüber, dass nur ein
gutes Gedicht auch ein gutes Kindergedicht sein kann. Und unter dieser Prä-
misse wurden aus der spezifischen Kinderlyrik und der allgemeinen Lyrik
Werke ausgewählt, deren Kunstcharakter ebenso wenig zu bestreiten ist, wie
ihr ›Gebrauchswert‹ für Kinder und Erwachsene. Guggenmos und Celan
finden sich hier mit Jandl vereint, James Krüss mit Rose Ausländer. Volks-
tümlich Russisches und tagesaktuell Kurdisches, aber auch neue Kinderdich-
terinnen und -dichter dürfen reimen. Sicher geht es hier aber, zum ersten Mal
in der Geschichte der ›Kinderlyrik‹, um die Freude an der Sprache selbst,
oder wie es F.W. Bernstein in dieser Sammlung in dem Gedicht Obst formu-
liert um: »Die Sprache an und Pfirsich«.
Noch kompromissloser sind die Herausgeber der Anthologie Zum Teufel,
wo geht’s in den Himmel? vorgegangen. Das Taschenbuch ist durch die Ein-
bandgestaltung an Jugendliche adressiert, es enthält keine Illustrationen. Die
Autoren kommen aus der ganzen Welt, aus vielen Zeiten der Welt. Heute Anthologie Zum Teufel
Unbekannte sind dabei, wie Friedrich Spee von Langenfeld, und Klassiker wo geht’s in den Himmel?
wie Schiller oder Hölderlin, aber keine ›Kinderdichter‹. Viele Gedichte sind
ausgesprochen sperrig und schwer verständlich, sie scheuen nicht zurück vor
Vulgaritäten. Es sind Gedichte für Jugendliche, weil sie auf die existentiellen
Fragen eingehen, die so hart nur in diesem Alter gestellt werden. Und weil sie
keine Lösungen anbieten. Pädagogische Antworten brauchen sie nicht – die
haben sie lange genug in ihren Lesebüchern bekommen. Dann schon lieber
William Carlos Williams, der diesen Band beschließt:
»El Hombre
Es ist ein seltsamer Mut,
den du mir gibst, alter Stern:
Wie Gelberg, vielleicht der wichtigste Wegbegleiter einer modernen Lyrik für Gestaltung und
Kinder, richtig bemerkt, spielt bei der Präsentation von Dichtung für Kinder Ausstattung
die Gestaltung eine entscheidende Rolle. Sie kann den grundsätzlich konser-
vativen Charakter des Genres unterstreichen, wie in seiner eigenen Samm-
lung von 1966, sie kann den zaghaften Versuch spiegeln, aus den engen
Grenzen auszubrechen, wie in Die Stadt der Kinder, wo die respektlosen
Tuschezeichnungen von Janosch den heiligen Ernst, der auch den spaßigsten
Gedichten hier noch anhaftet, genießbar machen. In beiden Fällen sind die
Gestaltungen Illustrationen – d. h. sie setzen ins Bild, was das Gedicht sagt,
sie sind Wiederholung. Das moderne Kindergedicht lebt jedoch oft gerade
von einer ›zweiten Stimme‹. Dies ist ein Wirkungsprinzip von Großer Ozean,
jedes einzelne große und winzige Bild fordert zu einem neuen Gedicht heraus
oder gibt den Blick frei auf eine Vielzahl möglicher Interpretationen. Der
›erwachsene‹ Kunstanspruch dieses Werkes äußert sich im klassischen Buch-
format mit hochwertigen 267 Seiten, strengem Hardcover, distinguiert blass-
grau und weinrot gestaltetem Schutzumschlag. Für Kinder und Erwachsene
eine genussreiche Alternative ist das leichte, fast quadratische bunte Bänd-
chen Dunkel war’s der Mond schien helle, herausgegeben von Edmund Ja-
coby. Kein Thema fehlt: Liebe und Nonsens, Tod und Lirumlarum. Alles ist
vertreten: alte Volksreime, Claudius, Dadaistisches von Hugo Ball, Ringel-
natz, Kästner, H.C. Artmann, Goethe, Rilke und andere Klassiker, aber auch
›Kinderdichter‹ wie Franz Wittkamp mit dem schönen Vierzeiler Gestern:
412 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart
weise entsprach dem die Editionspolitik nicht. So wurden die Märchen der
Brüder Grimm zunächst nur in Bearbeitungen herausgegeben.
Neuer Auch die Abenteuerliteratur war Gegenstand kritischer Überprüfung, wo-
Abenteuerroman bei insbesondere die Tradition eines Karl May als problematisch empfunden
und zurückgewiesen wurde. Anerkennung fanden sehr früh einige Werke,
deren historisch-objektivierender Anspruch den Forderungen der Kritiker
nach Authentizität und nichtrassistischer Darstellung genügte und die durch
äußere Spannung, exotisches Kolorit und markante Konfrontationen der
Handlung wesentliche, von den Lesern geschätzte Eigenschaften der Gattung
fortzuschreiben verstanden. Neben Pablo, der Indio (1950) des österrei-
chischen Autors Karl Bruckner zählen dazu Blauvogel. Wahlsohn der Iroke-
sen (1950) von Anna Jürgen (d. i. Anna Müller-Tannewitz) und vor allem die
1951 begonnene Romanfolge Die Söhne der großen Bärin von Liselotte
Welskopf-Henrich, die den Kampf der Dakota gegen das Vordringen der
Weißen und die neue Selbstdefinition der Unterlegenen in der US-Gesellschaft
behandelt. Welskopf-Henrichs Werk gilt – so der Kritiker Günter Ebert – als
eine »Pionierleistung auf dem Gebiet des sozialistisch-realistischen Abenteu-
erromans« und fand im gesamten deutschsprachigen Raum beachtliche Re-
sonanz. In den 60er Jahren setzte die Autorin in einem dreiteiligen Erzähl-
werk (Nacht über der Prärie, 1966; Licht über weißen Felsen, 1967; Stein
mit Hörnern, 1968) ihre historische Darstellung mit Bildern vom Leben der
Indianer in der modernen nordamerikanischen Gesellschaft fort.
Eine neue Qualität der kinderliterarischen Entwicklung kündigt sich Mitte
der 50er Jahre an. Zwei Autoren, der bereits international bekannte Ludwig
Renn und der Nachwuchsschriftsteller Erwin Strittmatter, wurden 1955 mit
dem Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur ausgezeichnet. Dem
Jüngeren wurde der Preis zuerkannt für seinen 1954 erschienenen Roman
Tinko, dem Vertreter der aus dem Exil zurückgekehrten Generation für sein
Gesamtwerk, allerdings unter besonderer Hervorhebung seines ebenfalls im
Jahr zuvor erschienenen Kinderbuchs Trini. Zusammen mit den Werken von
Alex Wedding bilden diese beiden Bücher den eigentlichen Ausgangspunkt
der erzählenden Kinderliteratur der DDR.
Ludwig Renns Trini bietet in vier Kapiteln eine episch aufbereitete Ver-
laufsgeschichte des mexikanischen Bauernkriegs von 1910 bis 1920, ein
Stoff, der ihm während des Exils in Mittelamerika (1939 bis 1947) nahege-
bracht worden war. In der Haltung des Chronisten, geschult am neusach-
lichen Stil seiner bekannten Romane Krieg (1928) und Nachkrieg (1930),
berichtet er von dem Indio-Jungen Trini als einem von vielen, die am histo-
rischen Prozess beteiligt sind. Wie selbstverständlich wachsen Trini und seine
Altersgenossen in den Befreiungskampf hinein, finden jeweils ihren Fähig-
keiten entsprechende Möglichkeiten der Mitwirkung: von der Kundschafter-
tätigkeit bis hin zum – im Falle Trinis – Amt eines »Pressereferenten« des
Bauerngenerals Emiliano Zapata. Dabei bildet sich ein Kollektiv von Jungen
und Mädchen, das – die nichtindividualistische Note der Erzählung unter-
streichend – Raum bietet für eigenständige Initiativen der Kinder. So sind sie
es, die sich an die Einrichtung eines Unterrichtswesens machen und es verste-
hen, die Erwachsenen von dessen Sinn zu überzeugen. Wenn Trini überhaupt
– wie von manchen Rezensenten nahegelegt – als Entwicklungsroman be-
zeichnet werden darf, so sicher nicht im Hinblick auf die individuelle Akzele-
ration, sondern auf den erzählerisch vermittelten Prozess kollektiv-revolutio-
närer Geschichtsgestaltung. Renn enthält sich des tiefen Blicks in die Psyche
Trinis oder anderer Handelnder; ihre subjektiven Regungen kommen wenig
zum Tragen. Den überredenden wie den emotionalisierenden Gestus ver-
Bekehrung und Wandlung 417
meidend, lässt der auktoriale Erzähler scheinbar die Fakten für sich selbst
sprechen und gewinnt damit umso wirksamere Überzeugungskraft – ein
agitatorisches Meisterstück, das die vielfach einer pathetischen Rhetorik
verpflichteten konventionellen Werke des ›Sozialistischen Realismus‹ weit
überflügelt.
Während Renn in seinem ersten Kinderbuch von einer historisch und geo- Gegenwartsroman
graphisch fernen Revolution unter Hervorhebung aktueller Bezüge erzählte,
schuf Erwin Strittmatter mit Tinko einen Gegenwartsroman der DDR der
frühen 50er Jahre, dessen Zeitthematik mittlerweile zur Historie geronnen
ist. Gegenstand der in den Jahren zwischen 1948 und 1950 angesiedelten
Handlung ist die Veränderung von Menschen und Verhältnissen in einem
Dorf der Niederlausitz, gesehen mit den Augen des zehnjährigen Martin
Kraske, der Tinko genannt wird. Seine Brisanz erhält der Stoff nicht nur
durch die Einbeziehung der Problematik bestimmter Kriegsfolgen wie der
Familientrennung, der Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten, der Ver-
sorgungsprobleme, sondern vor allem durch die Beobachtung der sozialen
Umwälzungen.
Trotz eines gewissen Schematismus im Aufbau des Figurenensembles bie-
tet Strittmatters Roman ein differenziertes Bild des durch Bodenreform und
beginnende sozialistische Umgestaltung in einer Landgemeinde hervorgeru-
fenen Konfliktpotenzials. Dass er die Problematik nicht in ungebührlicher
Weise auf Kinderwelt-Format verkleinert, tragische Komponenten hervortre-
ten lässt und eine angemessene erzählerische Lösung findet, stellt ihn mit
Abstand über die nicht wenigen kinderliterarischen Versuche am Sujet der
Umgestaltung auf dem Land. Die Vorgänge um den selbständig gewordenen
alten Bauern Kraske und seinen Sohn, den »Heimkehrer«, der die Idee kol-
lektiver Bewirtschaftung propagiert, werden aus der Sicht des Jungen Tinko
berichtet, der unter dieser Konfrontation leidet. Den Kinderblick ergänzt
Strittmatter um – gleichwohl in der naiven Diktion seines Erzählmediums
gehaltene – Autorenkommentare. Im Gegensatz zu Ludwig Renn, der be-
schreibend und kommentierend Ereignis und Aktion in den Vordergrund
418 Kinder- und Jugendliteratur der DDR
häufig das von Schule und Medien oft platt und einschichtig vermittelte Bild
zu differenzieren. Sie ergänzten die plakativ vorgetragene Doktrin über die
politisch-gesellschaftlichen Ursachen des Nationalsozialismus um konkrete
Spiegelungen im Privaten, in der Familie, in den Charakteren und Motiven.
Insbesondere in den 80er Jahren wurde korrigierend darauf hingewiesen,
dass nicht nur Kommunisten Opfer des Faschismus oder Widerstandskämp-
fer waren.
Erinnerungsliteratur Vor allem Peter Abrahams Pianke und Fünkchen lebt, Bodo Schulenburgs
Markus und der Golem, Vera Friedländers Späte Notizen – alle Bücher er-
schienen in den 80er Jahren – erinnern an Judenverfolgung und Holocaust.
Und es ist nicht zufällig, dass zeitgleich Clara Asscher-Pinkhofs Sternenkinder
in hoher Auflage im Kinderbuchverlag herausgebracht wurde, freilich mit
über vierzigjähriger Verzögerung (die niederländische Erstausgabe erschien
1946). Ursachen für diese Konjunktur liegen in den politischen Realitäten –
eine Beziehungsform, die bei der Kommentierung von DDR-Literatur immer
mitzudenken bleibt, war doch die DDR-Führung in diesen Jahren vorsichtig
bemüht, ihr Verhältnis zu Israel neu zu gestalten.
Bis 1988 lagen über 200 Erzähl- und Sachbuchtitel vor, die sich mit dem
Themenfeld Faschismus und Widerstand befassten. Dabei ist die Vielheit der
Sujets und Genres in ihren Wandlungen und Proportionen von Interesse. Sie
spiegelt über die Jahrzehnte einen Zuwachs an differenzierter Figuren- und
Figurengruppengestaltung wie eine markantere Motivierung wider, geht von
der Würdigung des antifaschistischen Widerstandes und seiner bedeutends-
ten Repräsentanten (Die erste Reihe von Stephan Hermlin, 1951; Käte von
Eberhard Panitz, 1955; Olga Benario von Ruth Werner, 1961; Vom Rosen-
kranz zur Roten Kapelle von Greta Kuckhoff, 1972) Ende der 70er und in
den 80er Jahren zur Schilderung von Kindheitsmustern unter der NS-Herr-
schaft über, wobei etwa bei Joachim Nowotny, Paul Kanut Schäfer oder Gi-
sela Karau unverfremdet Autobiographisches eingebracht wird; hervorzuhe-
ben sind Schäfers Wie wir die Welt vergessen wollten (1977) und Karaus
Loni (1982). Zweifellos handelt es sich hier, wie auch in Gerhard Holtz-
Baumerts Die pucklige Verwandtschaft (1985), um zeitverschobene Nach-
wirkungen, die von Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster (1976) ausgingen,
in dem die Autorin der Frage nachgeht, wie denn zu erklären sei, als Kind in
Unschuld und glückhaft gelebt zu haben, obwohl Terror und Barbarei
herrschten.
In jüngeren Publikationen, so bei Gerhard Holtz-Baumert in Dawid – ein Schuldanalysen
glückliches Kind (1981) oder im Debütband Jürgen Jankofskys Ein Montag
im Oktober (1985), wird sichtbar, dass sich couragierte Autoren an die lite-
rarische Prüfung eines Dogmas heranschreiben, das zur DDR-Selbstdarstel-
lung gehörte: Ehemalige Nazis oder noch jetzt chauvinistisch Denkende
treffe man allenfalls in der Bundesrepublik. In Jankofskys Erzählung wird
demgegenüber ein Mädchen mit dem Vorleben des geliebten Großvaters
konfrontiert, der Aufseher in einem Arbeitslager war. Am Exempel der le-
bensbedrohenden Krise, in die das Kind gerät, manifestiert sich die Mahnung
an den Leser, dass die gelernte, gleichsam schulmäßige Faschismusbewälti-
gung nicht schützen kann vor zu leistender individueller Auseinandersetzung.
Mit den wägenderen, nachfragenden und weniger auf Kontrast, eher auf Er-
klärung und Schuldanalyse orientierenden Texten – so Dieter Schubert in O
Donna Klara (1981) – tauchen auch vergleichsweise spät Sachbücher auf, die
neben zahlreichen Dokumenten zur Erhellung von Ursachen und Wirkungen
auch den Alltag im faschistischen Deutschland und insbesondere den von
Kindern illustrieren. Zu nennen sind Wera und Claus Küchenmeisters Bilder
aus dunkler Zeit und Helga Gotschlichs Als die Faschisten an die Macht ka-
men (beide 1984). Vier Jahre später brachte der Verlag ›Neues Leben‹ Erika
Manns Zehn Millionen Kinder, schon 1938 in den USA unter dem Titel
School for Barbarians erschienen, heraus. Die Ursachen für diese späte Edi-
tion dürften darin liegen, dass bestimmte Praktiken der NS-Erziehung, die
die Autorin schildert, zum Vergleich mit DDR-Phänomenen herausforderten;
der Leser wurde zumindest verunsichert, was Literatur für Kinder oder Ju-
gendliche in der DDR nach dem Willen der Kulturstrategen am wenigsten
leisten sollte. So war die späte Herausgabe ein verlegerisches Risiko, wenn
auch kein geschäftliches; und mit Erika Manns Buch ist zugleich auf ein Di-
lemma verwiesen, das den Beitrag der DDR-Kinderliteratur zur Vergangen-
heitsaufarbeitung und Herkunftsbewältigung relativiert. Die Artikulierung
von Antifaschismus fand im Übrigen bei gleichzeitigem Negieren der Stalin-
schen Verbrechen statt, über die allenfalls Kinder älterer Jahrgänge bei der
Behandlung sowjetischer Gegenwartsliteratur im Unterricht etwas erfuhren.
Unstrittig bleibt indes, dass mehrere Generationen von Stephan Hermlins
Die erste Reihe (1951), Dieter Nolls Die Abenteuer des Werner Holt (1960),
Karl Neumanns Das Mädchen hieß Gesine (1966) oder Horst Beselers Käuz-
chenkuhle (1965) Anregungen zur emotionalen und gedanklichen Beschäfti-
gung mit deutscher Historie erfahren haben dürften. In lesersoziologischen
Untersuchungen tauchen diese Werke noch bis weit in die 80er Jahre als be-
vorzugte Lektüre auf. Hermlin vermochte in Die erste Reihe – Porträts junger
Antifaschisten, die hingerichtet wurden oder in den Lagern umkamen – die
422 Kinder- und Jugendliteratur der DDR
trifft dies auch auf Gerhard Holtz-Baumerts Alfons Zitterbacke (1958) zu.
Es ist hier schlicht die verschmitzt ausgespielte Optik des Pechvogels, die sich
mit augenzwinkerndem Fatalismus gegen wohlfeile Anerkennung sichernde
Verhaltensmuster sträubt. Der Autor der mit einem weiteren Band fortge-
setzten (Alfons Zitterbacke hat wieder Ärger, 1962), außerordentlich popu-
lären Geschichten begegnet den Malaisen des Alltags weniger mit pädago-
gischer Beflissenheit als mit Humor und bietet dem Leser an, sich mit Lachen
darüber hinwegzusetzen. Die ins Groteske verlängerte Naivität Eulenspiegel-
scher Prägung lässt dem noch so bemühten erzieherischen Verweis auf den
Eigenwert des Kindes und jugendliche Selbstbestimmung 425
Verläufe, die sich stets als Abschied von bekannten, geliebten Personen und
Verhältnissen und Ankunft in fremder, ungewohnter, häufig feindlicher Um-
gebung darstellen, auf das Moment der Großstadt.
›Umzugsliteratur‹ Die für diese Erscheinung zuweilen ironisch ins Spiel gebrachte Formel
von der ›Umzugsliteratur‹ verkennt Entscheidendes: Handelt es sich doch
zum wenigsten um eine Autorenattitüde, sondern vielmehr um einschnei-
dende Veränderungen im Leben von Kindern, Jugendlichen und Erwachse-
nen, die sich unter den Entwicklungsbedingungen der DDR in den 70er und
80er Jahren äußerlich als lokale und soziale Mobilitätsprozesse darstellen.
Dass nicht die Migration selbst den Konflikt ausmacht, sondern die sie aus-
lösenden Umstände und die Bedingungen, Erwartungen und Forderungen,
die sie nach sich zieht, zeigt bereits eine der ersten und bekanntesten Erzäh-
lungen, in denen diese Konstellation wirksam wird. Günter Görlichs Den
Wolken ein Stück näher (1971) nimmt einen Topos auf, der beharrlich in al-
len einschlägigen Werken wiederkehren wird: die Figur des den Entschei-
dungen der Erwachsenen unterworfenen, unfreiwillig aus der alten Umge-
bung gerissenen Kindes. Verschieden dagegen sind Verläufe und Intensitäts-
grade der sich dadurch anbahnenden Konflikte. Für Görlichs Helden, den
13-jährigen Schüler Klaus Herper, tritt der Ausgangstopos alsbald hinter
Probleme der schulischen Verhältnisse zurück, die mit der Neuorientierung
notwendig verbunden sind – Konflikte, die nicht weniger bedeutsam sein
mögen, jedoch in einem eigenen Feld angesiedelt sind. Edith Bergners Erzäh-
lung Das Mädchen im roten Pullover (1974) dagegen vertieft die – von den
Erwachsenen ignorierte oder leichtfertig überspielte – Konflikthaltigkeit von
Abschied und Ankunft. Das Mädchen Jella, das sich durchaus anpassungsbe-
reit zeigt, wird in seinem Bedürfnis, sich gleichsam in die neue Umgebung
einzupflanzen, durch das Unverständnis der Erwachsenen behindert. Doch
geht es der Autorin offensichtlich nicht allein um die Unzulänglichkeiten
Einzelner: Das triste Milieu einer typischen DDR-Neubaustadt und dessen
soziale Begleitumstände machen es schwer, heimisch zu werden.
Versehrte Kindheit Gewendet gegen die – so der Autor – »Normalität, die wir dulden« hat
Alfred Wellm in seiner 1977 erschienenen Erzählung mit dem unverhohlen
sarkastischen Titel Karlchen Duckdich die Verletzungen der Kinder in einer
kommunikationsfeindlichen Umgebung ausgebreitet. Die Fremdheit des Kin-
des, von Wellm in einer späteren Erzählung noch einmal aufgegriffen und
kompromisslos-parabolisch verallgemeinert (Das Mädchen mit der Katze,
1983), steht wie bei kaum einem anderen Kinderbuchautor der DDR gegen
das propagandistische Postulat der Geborgenheit des jungen Menschen in
der sozialistischen Gemeinschaft. Dass die Kinder, Karlchen und seine kleine
Schwester, ihr Dasein in der Zurückgezogenheit einer Märchenfantasie zu
bewältigen verstehen, markiert den Grad der Entfremdung mit aller Schärfe.
Eine andere Akzentuierung dieser Thematik strebt Benno Pludra in Insel der
Recht auf Utopie Schwäne (1980) an. Deutlicher als Wellm zielt Pludra auf Bewusstseins- und
Handlungsstereotype, welche teilweise selbst die gutwilligeren Repräsentan-
ten der Erwachsenengesellschaft kennzeichnen. Auf den ersten Blick eher
subjektiver, privater Natur, weiten sich die Konflikte hin zu paradigmatischen
gesellschaftlichen Dimensionen; in ihrer Relevanz weisen sie über die unmit-
telbare Betroffenheit des im Mittelpunkt der Handlung angesiedelten 12-
jährigen Stefan Kolbe hinaus. Trauernd ist dieser in eine der gewaltigen,
hochgeschossenen Neubauburgen bei Berlin umgesiedelt; er hat Freunde und
eine vertraute Umgebung, ein Stück Land an der Alten Oder, verloren, das
einen Teil seiner Identität bildet und nur als erinnernder Traum von der »In-
sel der Schwäne« mitgenommen werden konnte. Anfangs ein so im Wesent-
Umweltkritik 433
lichen regressives Moment, scheint sich die Kraft der Erinnerung als Mög-
lichkeit der Aneignung und Mitgestaltung der neuen Umwelt zu erweisen.
Das Projekt eines Spielplatzes wird geboren aus der Inspiration der »Insel
der Schwäne«. Doch allzu bald stoßen diese schöne Vorstellung und das aus
ihr erwachsene Engagement auf Schranken. Eine im Selbstlauf funktionie-
rende Planungsbürokratie behauptet sich mit Hilfe subalterner Kreaturen;
jedoch auch – und dies ist schmerzhafter – der Vater erweist sich als einge-
bunden in diese Mechanismen. Eine Auseinandersetzung mit ihm lässt Stefan
verzweifeln und begründet seinen Entschluss, mit dem Ziel Alte Oder davon-
zulaufen.
Zu den Stoffgebieten, in deren literarischer Verarbeitung sich die wach- Konfliktfeld Schule
sende Distanz der Autoren zu Fehlentwicklungen innerhalb der DDR-Gesell-
schaft markant reflektiert, zählt das Konfliktfeld Schule. Auch hier, in der
Befragung pädagogischer Praxis für die Lebensbefähigung der Schüler, in der
Kritik an Formalismus und Meinungsnormierung, haben sowjetische Schrift-
steller wirkungsvolle Anstöße geliefert. Tendrjakows Novelle Die Nacht nach
der Abschlußfeier (1974, auch dramatisiert) hat unter DDR-Schülern zu
heftigen Diskussionen geführt und nicht zuletzt dadurch literarischen Hand-
lungsbedarf signalisiert. In frühen ›Schulerzählungen‹, wie Kubschs Die Stö-
renfriede (1953), dominierte die rasche Integration sogenannter Außenseiter
in eine harmonisch überhöhte Gemeinschaft. In extremer Ausprägung tritt
dies in Alex Weddings Das eiserne Büffelchen (1952) hervor. Dagegen setzte
sich seit den 60er Jahren eine Wertverschiebung durch, die das Individuum
betonte und – als Leser – ermunterte. Dieser Wandel ging einher mit einem
Aufbrechen des monolithischen Lehrerbildes. Negative Figuren, befangen in
starren Denkweisen, unfähig zur Zuwendung und zur Anerkennung anderer
Meinungen, bekamen die undankbare Funktion, als Literaturpersonen die
Prügel hinnehmen zu müssen, die eigentlich dem Bildungssystem galten. Wi-
derpartner waren meist junge, auch von den Jahren her schülernähere Lehrer.
Görlichs Eine Anzeige in der Zeitung (1978) bezieht Substanz und Brisanz
aus der Gegenüberstellung der Lehrer Just und Strebelow, wobei Strebelow
die starre, auf Unterordnung und Disziplinierung verpflichtete, Just die zum
Schüler hin partnerschaftliche, kreative pädagogische Variante vertritt.
In Erik Neutschs Zwei leere Stühle (1979) wird die Frage nach dem Sinn
opportunistischer und von der Schule honorierter Verhaltensmuster aufge-
worfen. Hans Weber erzählt in Bin ich Moses? (1976), geschult an Salingers
Fänger im Roggen, vom Suchweg eines Schülers, dem Probleme daraus er-
wachsen, dass er zu leben versucht, wie er es gelernt hat. In Gabriele Herzogs
Das Mädchen aus dem Fahrstuhl (1985) und in Petra Seedorffs Hörspiel
Robert J. (1988) wird darauf verzichtet, die Kritik an einer negativen Lehrer-
figur festzumachen; die Einwände beider Autorinnen gegen eine auf ›For-
mung‹ ausgerichtete Schule zielen auf Ursachen, nicht auf Repräsentanten.
Die Entstehungszeiten zwangen mitunter zu Konsequenzen, welche die äs-
thetische Ausgewogenheit lädierten. Die Verlagerung des sozialkritischen
Tenors auf die Schülerfiguren hatte eine Überakzentuierung dieser Gruppe
zur Folge.
tem Tun. Ähnlich verfährt er in seiner Erzählung Tiefer blauer Schnee (1976),
die im Zentralereignis bescheidener bleibt, in der Fabelführung aber spekta-
kulärer ist. Eine Kindergruppe bemüht sich um ein verletztes Reh, vermag
das Tier schließlich von dem Drahtgeflecht zu befreien, das ihm Qual be-
reitet.
Für diese Geschichten, die Anfänge markieren, war ein schließlich obwal- Harmonieprinzip
tendes Harmonieprinzip kennzeichnend. Durch Tatkraft war der frühere
Zustand wiederherstellbar. Zwei Jahre nach Tiefer blauer Schnee kam der
Bilderbuchtext Der Klappwald von Edith Anderson heraus, mit dem eine
höhere ästhetische und somit auch realistischere Qualität erreicht wird.
Nicht ein Ereignis eigener und dennoch typischer Art ist literarischer Gegen-
stand, sondern ein Zustand, den die Autorin visionär aus einer schlimmen
Zukunft in die Gegenwart holt. Menschen drohen in Müll zu ersticken; an
Wald erinnert man sich, aber man hat ihn nicht mehr. Ein Wald aus Pappe,
aufklappbar wie Theaterkulissen, wird installiert; der aber verfällt und zer-
matscht beim nächsten großen Regen: Das Übel wird unbeherrschbar. Auf-
klärung auch hier, aber unter negativem, warnendem Aspekt; Harmonie lässt
sich bei diesem Ansatz nicht mehr erreichen. Diese suggestive, mahnende
Utopie ist in der DDR-Kinderliteratur ohne adäquate Nachfolge geblieben.
Mit der sich verschärfenden Umweltproblematik in der DDR und dem
andauernden problemabstinenten Verhalten der Medien konnten die ideali-
sierenden Erzählperspektiven nicht mehr aufrechterhalten werden. Nach wie
vor aber erfolgte die Spiegelung der tatsächlichen katastrophalen Lage aus-
schließlich in der Kinderliteratur. Gerhard Holtz-Baumert machte einen we-
sentlichen Schritt, als er in Kilian im Kiefernwald (1979, in dem Band Sieben
und dreimal sieben Geschichten) den DDR-weit praktizierten Umgang mit
der Natur als rüden Pragmatismus und plattes Nutzdenken anprangerte. Er
lässt ausgerechnet einen Förster, eine Figur also, die im traditionellen Kinder-
buch ganz anders besetzt war, zum Verkünder des ökologischen Utilitarismus
werden und macht so, erkennbar auch für seine kindlichen Leser, auf den
Werteverfall aufmerksam. Noch einen Schritt weiter ging Holtz-Baumert in
der Erzählung Die Hecke (in dem Band Erscheinen Pflicht, 1981). Ein Junge
wird Zeuge, als eine Feldhecke aus menschlicher Unachtsamkeit abbrennt.
Sein Bemühen, andere zur Brandbekämpfung zu mobilisieren, findet keine
Beachtung. Holtz-Baumert reflektiert hier DDR-Realität, indem er im Grunde
gütige und nette Leute als Versager vor einem Weltproblem vorführt und
eine Haltung darstellt, die nicht zuletzt aus Uninformiertheit und aus dem
wachsenden Desinteresse an allgemeinen Angelegenheiten resultierte.
Um die Wende von den 70er zu den 80er Jahren entdeckte die DDR-Lite- Sozialkritik
ratur für Kinder und Jugendliche einen Landstrich, in dem der Widerspruch
zwischen ökonomischen Zwängen und dem Unvermögen enger Strukturen,
sie alternativ zu lösen, sichtbar wird: die Niederlausitz. Alte, gewachsene
Sozialgemeinschaften, wie in den sorbischen Dörfern mit ihrer eigenen At-
mosphäre, kollidieren harsch mit den Verwüstungen, die die Tagebaue in der
Landschaft anrichten. Neben zahlreichen Hörspieltexten für Kinder, die die
Betroffenheit von Kindern durch Aussiedlungen, Heimatverlust, Abschied
und Ankunft in normierter Wohnumgebung gestalten, war es zunächst Joa-
chim Nowotny, der sich – wie schon in seinem Roman Der Riese im Paradies
(1969) – dieser brisanten Thematik zuwandte. In seiner jugendlichen Lesern
zugedachten Novelle Abschiedsdisco (1981) wägt er die vermeintlichen öko-
nomischen Gewinne gegen die irreparablen ethisch-moralischen und zwi-
schenmenschlichen Verluste ab und plädiert, über den elegischen Gestus sei-
ner Erzählweise hinausgehend, in der Aussage für Konsequenzen zugunsten
436 Kinder- und Jugendliteratur der DDR
der Offenen Kanäle findet hier auch Medienpraxis ihren Platz. Träger ist die
RADIJOJO! gGmbH, ein Träger der freien Jugendhilfe, angesiedelt im Haus
der Jugend in der Reinickendorfer Str. in Berlin. Im Angebot der öffentlich- Mehrfachadressierung
rechtlichen Radiosendungen für Kinder sind nach wie vor Hörspiele und der anspruchsvollen
szenische Lesungen, die auf aktueller und häufig preisgekrönter oder zumin- Kindersendungen
dest in der Kinder- und Jugendliteratur-Kritik beachteter Kinderliteratur ba-
sieren. So stellt eine Lesung mit Hörspielpassagen von Jutta Richters Hecht-
sommer, gesendet 2006 in Mikado, der sonntäglichen Kindersendung auf
NDR Info (früher NDR 4), hohe Ansprüche an die kleinen Hörer, befriedigt
aber sicherlich auch Hörinteressen von Erwachsenen. Ähnliches gilt für die
Hörspielfassung von Philip Pullmans Trilogie His Dark Materials, die in
Fortsetzungen ebenfalls in Mikado gesendet wurde und deren Buchfassung
bereits durch die Doppeladressierung auch Erwachsene als Leser gewinnen
konnte. Die Mehrfachadressierung ist sicherlich in den Magazinen der Kin-
derprogramme nicht zentral: Hier gibt es, ähnlich wie in den Kindermaga-
zinen des KI.KA, Mischformen aus Quiz, Informationen, Spielen, Musik und
kurzen Geschichten, wobei die im Studio anwesenden Kinder kaum noch
wie bis in die 70er Jahre hinein belehrt werden, sondern als kleine Experten
und Expertinnen und als kompetente Gesprächspartner angesprochen wer-
den, die ihre eigenen Belange und Bedürfnisse vertreten können.
Auf ihren Webseiten bieten einige der Kinderfunkredaktionen (z. B. Lilipuz
vom WDR) Zusatzmaterial und, wie die Fernsehsender, Spiele und Informa-
tionen zu diversen Themen an. Austauschmöglichkeiten mit anderen Hörern Hörerbindung durch
und die Möglichkeit, Rückmeldungen zu geben, sollen Zuhörer binden. Ver- Internetangebote
passte Sendungen können im Internet gehört werden. Medienpädagogische
Angebote sollen die Kinder zum Hören motivieren und in die Lage versetzen,
mit dem Medium Hörfunk selbstbestimmt und kompetent umzugehen. So
bietet der Norddeutsche Rundfunk ›Hörnächte‹ an, die im gesamten Sende-
gebiet samstagnachts empfangen werden können und die live in einer Schule
442 Medien und Medienverbund
sich in den Wünschen und Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen wi-
der: Bereits unter den Sechs- bis Siebenjährigen sind doppelt so viele Kinder,
die schon einmal Erfahrung mit Videopraxis gemacht haben, als Kinder, die
Hörmedienpraxis vorweisen können. Diese Tendenz setzt sich durch die Al-
tersstufen fort; auch der Wunsch nach Videopraxis ist bei den Heranwach-
senden wesentlich häufiger anzutreffen als der nach Audiopraxis.
Spezielle Jugendsendungen bieten die Radiosender kaum noch an. Jugend- Jugendliche Hör-
liche und junge Erwachsene hören auf ihren Musikgeschmack und ihre gewohnheiten und
Nutzungsgewohnheiten abgestimmte Sender, die 24 Stunden am Tag senden. Entwicklungsaufgaben
Fast alle öffentlich-rechtlichen Sender bieten mittlerweile einen solchen Sen-
der auf einer gut zu empfangenden Frequenz. Freilich kann es darum auch
heftige Auseinandersetzungen geben. So plante der Bayrische Rundfunk die
Jugendsendung Zündfunk abzuschaffen und einen speziellen Jugendsender
nur auf digitaler Frequenz senden zu lassen; Proteste haben dies vorerst ver-
hindert.
Soziologische Untersuchungen (wie z. B. die Hörfunkstudie der TU Chem-
nitz Zwickau, 1995/96) ergeben, dass für Jugendliche das Hören von Musik
in den Medien zahlreiche entwicklungspsychologische Funktionen erfüllt,
insbesondere die Stimmungslagen beeinflusst und die Suche nach einem Platz
in der Peergroup unterstützt. Dabei ist zu beachten, dass es schon lange nicht
mehr die eine ›Jugendkultur‹ gibt, dass also verschiedene Jugendliche unter-
schiedliche Sender mit unterschiedlichen Musikrichtungen und Wegen der
Hörerbindung nutzen. Reine Wortsendungen werden nur von einem eher
kleinen Teil der Jugendlichen gehört. Dabei übernimmt das Radio nicht nur
die Funktion einer Hintergrundkulisse, je nach jeweiliger Situation und Akti-
vität wird das Radioprogramm mit seiner Magazinstruktur auch bewusst
und gezielt wahrgenommen.
Allerdings verliert das Radio als Hörmedium im Laufe der letzten Jahre Bedeutungsverlust
auch für die Jugendlichen an Bedeutung: Gaben 2000 noch 26 % der in der des Radios im
JIM-Studie (eine jährlich vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Medienangebot
Südwest durchgeführte Untersuchung zu Mediennutzungsgewohnheiten der
12- bis 19-Jährigen) befragten Jugendlichen an, am wenigsten von allen Me-
dien auf das Radio verzichten zu können, so waren es 2004 nur noch 19 %.
Diese Entwicklung verläuft etwa parallel zu der schwindenden Bedeutung
von Fernsehen und Büchern für Jugendliche; wachsende Bedeutung erhält
nur der Computer. Über das Internet hören bislang wenige Jugendliche Ra-
dio, aber in langsamen Schritten steigt der Anteil derer, die diese Möglichkeit
zumindest gelegentlich nutzen.
Bereits Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts werden erste Schall-
platten für Kinder produziert. Hörspiele und für Kinder geeignete Musik
werden auf Schallplatte überspielt. Bereits in dieser Frühphase arbeiten die
Schallplattenproduzenten mit dem Hörfunk zusammen; ausgehend von der
Popularität der Kinderhörfunkprogramme übernehmen die Produzenten
Hörfunkproduktionen. Ein Schwerpunkt liegt auf Märchenadaptionen, etwa
444 Medien und Medienverbund
Blümchen erscheinen nach wie vor bei Kiosk, TKKG bei Europa. Andere
Serien waren zeitweilig vor allem durch den Medienverbund beliebt und
verbreitet, so Knight Rider und Masters of the Universe (beide Europa) oder
Alf (Karussel).
Diese Serien sind nicht zuletzt durch den Medienverbund erfolgreich. Vor
allem Fernsehserien werden zweitverwertet, indem der Soundtrack, mit ge-
ringem Aufwand bearbeitet, als Kassette verkauft wird. Zwar gilt dies nicht
für alle der dauerhaft populären Hörserien (so wurden beispielsweise Die
drei ??? im Verbund mit der Printversion erfolgreich), aber die Verstärkung
durch die Präsenz im bei Kindern alltäglich genutzten Fernsehen ist etwa bei
Alf oder Knight Rider deutlich. Allerdings funktioniert diese Verstärkung
auch in der anderen Richtung: Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg, die
beiden beliebten Serien der Autorin Elfie Donnelly, waren als Hörspielserien Idol von inzwischen
bekannt, bevor die Zeichentrickserien entstanden. Und gerade bei Bibi vielen Kinderjahrgängen –
Benjamin Blümchen
Blocksberg haben die (wesentlich origineller und niveauvoller erzählten) Ki-
nofilme neue Impulse für die Popularität gegeben. In ähnlicher Weise scheint
seit Herbst 2006 das Detektivquartett TKKG durch den Kinofilm auch im
Hörbereich neuen Aufwind zu erhalten.
Der Kindertonträgermarkt wird auch in den 90er Jahren des 20. Jh.s und Massenmarkt
zu Beginn des 21. Jh.s durch die in Kaufhäusern, Spielzeugläden und auch und anspruchsvolle
Supermärkten verkauften Produkte der großen Medienkonzerne bestimmt. Angebote
Vor allem an Klein- und Vorschulkinder gerichtete Serien wie Bibi Blocks-
berg oder Bob der Baumeister sind schon früh bei den Kindern bekannt.
Doch der stetig und zügig wachsende Hörbuchmarkt hat auch dem an-
spruchsvollen Kindertonträgermarkt neuen Auftrieb gegeben. Hörbuchver-
lage oder Kindertonträgerverlage bieten sowohl Lesungen als auch aufwän-
dig produzierte Hörspiele an. Diese sind zwar deutlich teurer als die Kauf-
hausangebote der Marktriesen, doch wachsen im Hörbuchsegment des
Buchhandels die Umsätze auffällig schnell: Im August 2005 erzielten nach
Angaben des Arbeitskreises Hörbuchverlage im Börsenverein des Deutschen
Buchhandels die Hörbücher im Vergleich zum Vorjahresmonat ein Umsatz-
plus von 33 %, im August 2006 von 23,1 %. Hörmedienverlage wie Jumbo
(gegr. 1991, mittlerweile mit einem umfangreichen Programm für alle Alters-
stufen von Babys über Kinder bis, unter dem Label GoyaLit, zu Jugendlichen
und Erwachsenen) und Kinderbuchverlage mit einem traditionell verankerten
Hörbuchprogramm wie Patmos sind Vorreiter und Wegbereiter. Mittlerweile Traditionelle
haben einige traditionelle Kinder- und Jugendbuchverlage wie Oetinger (seit Hörverlage und
2005, mit Neuauflagen von bei anderen Anbietern früher publizierten Hör- Neugründungen
fassungen z. B. von Astrid-Lindgren-Geschichten und mit Hörfassungen ak-
tueller eigener Titel) und Beltz & Gelberg eigene Hörbuchprogramme. An-
dere Verlage haben sich als Gesellschafter im bereits 1993 gegründeten
Hörverlag zusammengetan, um ihre Erfolgstitel möglichst zeitnah und ohne
Reibungsverluste als Hörbücher zu veröffentlichen. Kleine Labels (z. B.
Headroom Sound Production, Igel Records, Hörcompany) bringen vielbe-
achtete und teils ungewöhnliche Produktionen heraus. Der Schwerpunkt
liegt auf Lesungen, die zum Teil bereits zeitgleich zur Printfassung angeboten
werden. So erschien Wolfram Eickes Roman Das silberne Segel 2006 als
Buch bei Rowohlt und gleichzeitig als Hörfassung bei Jumbo; beide Versi-
onen wurden in einer gemeinsamen Präsentation auf dem historischen Segel-
schiff Rickmer Rickmers vorgestellt. Diese Lesungen, meist durch genau
ausgewählte Musik eingerahmt und begleitet, bestechen durch die Interpre-
tation, die die lesenden Schauspieler anbieten. Hörspiele werden in Zusam-
menarbeit mit den Hörfunksendern produziert. Diese aufwändigen Produk-
446 Medien und Medienverbund
raum im Handel, was sicherlich die eher bescheidenen Auflagen zum Teil
kompensieren.
Auch Jugendliche werden als Zielgruppe von Hörfassungen der aktuellen Zielgruppen:
Jugendliteratur entdeckt. Das gilt nicht zuletzt für Klassiker der Schullektüre, Jugendliche
so ist etwa Damals war es Friedrich von Hans Peter Richter, als Buch 1961 und Schüler
erschienen, seit 2006 als Hörbuch bei Ucello erhältlich und Die Große Flat-
ter von Leonie Ossowski, als Buch 1977 erschienen, wurde 2001 von der
Hörcompany als Hörbuch produziert. Diese Titel wurden sicherlich mit Blick
auf den Unterricht produziert; entsprechend wird in der Reihe Texte.Medien
von Schroedel z. B. für die Faust-Bearbeitung von Paul Maar und Christian
Schidlowsky (2006) gezielt mit dem Zusatz »für Ihren Literaturunterricht«
geworben. Ob Jugendliche überhaupt zu Hörfassungen greifen, z. B. zu denen
von Hermann Schulz’ Auf dem Strom (Hörcompany, 2000) oder von Jerry
Spinellis East End, West End und dazwischen Maniac Magic (Hörcompany,
2001), ist nicht bekannt; in Mediennutzungsuntersuchungen wurde bislang
nicht nach Hörbüchern oder Hörspielen gefragt, sondern getrennt einerseits
nach Büchern, andererseits nach CDs oder anderen Tonträgern, wobei bei
Letzteren nicht zwischen Literatur und Musik unterschieden wurde. Zumin-
dest unter jungen Erwachsenen scheinen freilich die Hörspielfassungen der
seit Jahrzehnten populären Kinderkrimiserie Die drei ??? Kultstatus gewon-
nen zu haben.
Wachsende Bedeutung erlangt seit Ende der 90er Jahre die Sachliteratur Sachliteratur
zum Hören. Hier wird u. a. an Hörfunkformate wie das Feature angeknüpft, zum Hören
aber auch an Schulfunktraditionen und an die Traditionen des ›belehrenden‹
Kinderfunks. Verschiedene Elemente wie O-Ton, Fiktion in kurzen Hör-
spielszenen zur Veranschaulichung, Musik sowie konzentrierte Sachinforma-
tionen in Moderationen und Berichten können zu einem Hörerlebnis mon-
tiert werden, das die Entwicklung eigener Vorstellungsbilder fördert und
fordert. Die Spanne reicht von Biographien (Goethe von Gertrud Fusseneg-
ger, Langen Müller Audio Books, 1999) und Berichten über fremde Kulturen
(Fliegende Feder von Josephine Kronfli und Pit Budde, Ökotopia, 1998) hin
zu Verkehrserziehung (Rot heißt stehen – Grün heißt gehen von Rolf Kren-
zer, Burckhardthaus-Laetare, 2000), zu Quiz-CDs (KinderQuiz Was wisst
ihr? Englisch, Moving Mind bei Hörcompany, 2004) oder zur Kinder-Uni
(Der HörVerlag, 2004). Auch Die Sendung mit der Maus (Universal, seit
2001) und Peter Lustigs Löwenzahn (Universal, seit 2000) werden als Hör-
fassungen im Medienverbund erfolgreich vermarktet. Der Medienverbund
mit dem Kindersachbuch ist besonders erfolgreich etwa in Jumbos Produkti-
onen der Vorschulserie Wieso? Weshalb? Warum? (Ravensburger Buchver-
lag); hier ist es gelungen, die Aufklappbilderbücher in eine Hörfassung zu
übertragen, die als Ergänzung funktioniert.
Das Kinderlied, das analog zu Entwicklungen in der Kinderliteratur seit Liedermacher und
den 70er Jahren der betulichen Niedlichkeit entweichen konnte, macht einen Chansoniers
recht großen Teil des Kindertonträgermarktes aus. Frederick Vahle repräsen-
tiert den engagierten und Kinder zur Emanzipation ermunternden Liederma-
cher, Rolf Zuckowski den populären Sänger, der eingängige Melodien und
gelegentlich simple Texte zum Teil mit kindlicher Unterstützung vorträgt.
Fast philosophisch oder als Chansoniers präsentieren sich Künstler wie
Zaches & Zinnober, und die Gruppe Randale macht Rockmusik für Kinder.
Auf vielen Hörbüchern für Kinder sind die Zwischenmusiken Lieder von
herausragender Qualität, und Theatergruppen wie Theatro Piccolo bieten
Musicals für Kinder an. Das Angebot ist breit, aber populär sind neben
Zuckowski auch bei Kindern vor allem Popgruppen (Girl-Groups und Boy-
448 Medien und Medienverbund
Groups) oder Sampler mit auf Kinder zugeschnittenen Popsongs und Schla-
gern.
Tonträgercharts Unter den beliebtesten Kindertonträgern finden sich 2002 die tradierten
Serien wie Bibi Blocksberg sowie Bibi und Tina (beide Kiddinx), TKKG
(BMG Ariola Miller), Tabaluga (BMG Ariola Miller), die Walt Disney-Reihe
(edel) und Die drei ??? (BMG Ariola Miller). Aus dem Bereich der Kinderli-
teraturklassiker hat es nur die Otfried-Preußler-Reihe bei Universal Familiy
Ent. in die Tonträgercharts des Instituts für angewandte Kindermedienfor-
schung an der Hochschule der Medien Stuttgart (IfaK) geschafft, aus dem
Bereich der typischen Hörbuchverlage nur die Harry-Potter-Reihe beim
Hörverlag.
Doch die anspruchsvolleren Hörfassungen anerkannter, z. T. klassischer
Kinder- und Jugendliteratur finden in der Kritik mittlerweile weitgehende
Beachtung. Die ›CD/MC des Monats‹, verliehen als undotierte Auszeichnung
des IfaK, wird seit 1998 vergeben und im Bulletin Jugend + Literatur veröf-
fentlicht, worin sich auch weitere regelmäßige Rezensionen von Kinderton-
trägern meist aus dem Bereich der anspruchsvolleren Hörbuchproduktionen
Auszeichnungen finden. Die Hörbuchbestenliste, eine gemeinsame Auszeichnung des Hes-
und Kritik sischen Rundfunks (HR2) und dem Börsenblatt des deutschen Buchhandels
zeichnet monatlich Hörbücher (nicht nur für Kinder und Jugendliche) aus,
aus denen wiederum Jahrespreisträger ausgewählt werden. Der 1985 erst-
mals vergebene Kinderhörspielpreis von Terre des Hommes ist seit 1994 als
Deutscher Kinderhörspielpreis umdotiert angesiedelt bei der Filmstiftung
Nordrhein-Westfalen. Alle zwei Jahre wird ein herausragendes Kinderhör-
spiel ausgezeichnet. So wurde beispielsweise 1996 Gestrandet vor Guade-
loupe von Hans Zimmer prämiert (Produktion DLR Berlin, 1995), 2006 er-
hielt den Preis das Hörspiel An der Arche um Acht von Ulrich Hub (Produk-
tion: hr/NDR 2006). Der Rundfunkrat des Mitteldeutschen Rundfunks
(MDR) vergibt alle zwei Jahre einen Kinderhörspielpreis, der an mehrere
Produktionen in gestaffelter Dotierung verliehen wird. 2006 erhielt ihn u. a.
Von der Kinderschallplatte zum MP3-Player 449
das Hörspiel Dakota Pink von Dagmar Schnürer nach dem gleichnamigen
Buch von Philip Ridley. Der ›Leopold‹ ist der Medienpreis des Verbands
deutscher Musikschulen, mit dem seit 1997 alle zwei Jahre herausragende
Musikproduktionen für Kinder ausgezeichnet werden. Mit dem ›Poldi‹
zeichnet die entsprechende Kinderjury seit 2001 aus. Diese Kinderjury ist
angesiedelt bei der Musikredaktion von WDR 3. Die Deutsche Schallplatten-
kritik publiziert viermal jährlich Empfehlungslisten, die auch Kinder- und
Jugendtonträger berücksichtigen. 2003 stand u. a. das auch mit anderen Prei-
sen ausgezeichnete Hörspiel Angstmän von Hartmut El Kurdi (Patmos,
2003; Produktion DLR Berlin, 2000) auf der Liste. Ein Hörer-Preis ist der
›Hörkules‹ des Deutschen Buchhandels, der seit 2001 jährlich aus einer Vor-
schlagsliste von 100 Titeln durch Voten des Hörbuchpublikums ausgewählt
und auf der Leipziger Buchmesse verliehen wird.
Seit 2000 bietet die Leipziger Buchmesse einen besonderen Hörbuch-Be- Aufschwung der
reich, u. a. mit dem ARD-Hörbuchforum. Die Zeitschriften zur Kinder- und Hörmedien
Jugendliteratur und die Feuilletons berücksichtigen seit Ende der 90er Jahre
den Bereich Hörbuch. Der Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V. publiziert seit
2001 in mehrjährigen Abständen Empfehlungskataloge zu Medienfassungen
von Kinder- und Jugendliteratur, in denen unter dem Titel Sehen, Hören,
Klicken neben Verfilmungen und Computerspielen empfehlenswerte Hörfas-
sungen vorgestellt werden. In Seminaren, so unter dem Titel »Hör zu!« (Ar-
beitskreis für Jugendliteratur e.V. 2003), werden von Theoretikern und
Praktikern aus der Kinder- und Jugendliteratur-Vermittlung verschiedene
Aspekte der Hörmedien diskutiert. Von 1988 bis 1997 gab es unter dem Titel
Lesen – Hören – Lesen eine von den Vereinigten Schriftenausschüssen der
GEW (später Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW)
herausgegebene umfangreiche Empfehlungsliste von Literaturadaptionen auf
Hörmedien. Initiator dieser Publikation war Konrad Kallbach. Seit 1999 er-
scheint alle zwei Jahre als Nachfolgepublikation Töne für Kinder, eine u. a.
von Heide Germann vorgelegte umfassende kommentierte Liste von Kinder-
tonträgern, die im Internet unter www.toene-fuer-kinder.de einsehbar ist.
Am Beginn des ›Hörbuch-Booms‹ etwa 2000 gab es kritische Stimmen, die
befürchteten, nun würde kaum ein Kind noch selbst lesen, sondern sich alle
Literatur vorlesen lassen. Zudem existiert die Sorge, dass das Vorlesen in ei-
ner geborgenen und sehr persönlichen Situation von den immer zur Verfü-
gung stehenden Tonträgern ersetzt würde. Direkte Untersuchungen dazu gibt
es nicht. Deutlich sind aber zwei Tendenzen: Kinder können Tonträger nut-
zen, um sich das Lesenlernen und das Lesen zu erleichtern. Sie können über
die Hörfassungen allgemein einen Zugang zur Schriftsprache, zu unter-
schiedlichen Sprechweisen und zu vielschichtigen literarischen Ausdrucks-
weisen erhalten, der ihnen den Umgang mit und das Verständnis von ge-
druckter Literatur erleichtern kann. Spezieller noch können sie im parallelen
Gebrauch der Hörfassung und des Buches das Lesen einfacher bewältigen.
Da Kinder weit bis in die Grundschule hinein gerne Geschichten wiederholt
hören oder lesen, wird diese Ergänzung von Print und Audio auch tatsächlich
genutzt. Auf der anderen Seite aber ist mittlerweile offensichtlich, dass die
persönliche, intime Vorlesesituation auch bis ins Grundschulalter hinein von
großer Bedeutung für die Entwicklung des Kindes ist und nicht durch das
Hören der Tonträger ersetzt werden kann. Die Tonträger in ihrer unter-
schiedlichen literarischen und performativen Qualität, ihrem unterschied-
lichen Anspruch an die kindliche Rezeption können das Ohr und die innere
Vorstellungsbildung fordern und fördern und sind somit vor allem als ein
eigenständiges literarisches Medium zu sehen. Hören – und Schauen
450 Medien und Medienverbund
Thomas Möbius
Kinderfilm
Begriffliche Unter ›Kinderfilm‹ werden audiovisuelle Texte für Kinder und Jugendliche
Bestimmungen verstanden, »die inhaltlich und formal auf Verständnis, Auffassungsvermö-
gen und Bedürfnisse von Kindern [und Jugendlichen] besondere Rücksicht
nehmen und mit der Absicht konzipiert und produziert wurden, der Unter-
haltung, Entspannung, Information, Bildung und Erziehung […] zu dienen«
(Wolf, 1977). Seit 2005 werden die früheren Kategorien ›Kinderfilm‹ und
›Jugendfilm‹ bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises in der einen Kate-
gorie ›Kinderfilm‹ zusammengefasst; in diesem Sinne wird der Begriff hier
verwendet.
Kinderfilme werden entweder als eher realistische oder eher fantastische
Spielfilme, als Dokumentarfilme oder als Animationsfilme (mit Zeichnungen,
Puppen, Knetfiguren, Scherenschnitten) medial realisiert; weiter gibt es in-
zwischen computergenerierte Kombinationsfilme, in denen die Grenzen
zwischen den medialen Realisierungen aufgehoben sind. Mit Berücksichti-
gung dieser Unterscheidungen finden sich in der Empfehlungsliste des Kin-
der- und Jugendfilmzentrums in Deutschland (KJF) der besten 19 Filme des
Jahres 2005 6 Animationsfilme, 13 Filme, die sich mit den Themen ›Krank-
heit‹, ›Adoleszenz‹, ›Politik/Zeitgeschichte‹ befassen und die auch einen mehr
oder weniger ausgeprägten unterhaltenden Anteil aufweisen, lassen sich der
Kategorie ›realistischer Problemfilm‹ zurechnen; die letzten sieben Preisträ-
ger des Deutschen Filmpreises in der Kategorie ›Kinderfilm‹ sind zwei Ani-
mationsfilme, drei realistische Filme und zwei fantastische Filme.
Im Jahre 2002 betrug der Anteil der Kinderfilme an allen Kinofilmen
6,7 %; die Gesamtzahl der ur- und erstaufgeführten Langfilme lag 2002 bei
375. Der literarische Kinderfilm geht auf eine gedruckte Vorlage aus dem
Bereich der Kinder- und Jugendliteratur zurück und ist für das Kino oder das
Fernsehen produziert. Ruckriegl und Koebner schätzen den Anteil von Lite-
raturverfilmungen an der gesamten Filmproduktion auf etwa 50 %, beim
Kinderfilm ist dieser Anteil nach Sahr noch höher. Der Kinderfilm ist somit
ein attraktives Medium, dessen Verbreitung zudem schon lange nicht mehr
auf das Kino beschränkt ist, sondern das sich des Fernsehens sowie analoger
und digitaler Vertriebsmedien bedient. Zu Beginn der Entwicklung indes war
der Kinderfilm ganz auf das Kino angewiesen.
Die Anfänge Von Beginn an hat der Kinderfilm auf literarische Stoffe zurückgegriffen.
In seinen Anfängen an der Wende zum 20. Jh. faszinierte der Film Kinder und
Erwachsene mit seinen ›lebenden Fotographien‹ in den Schaubuden der Jahr-
märkte oder in Ladenkinos wie bis dahin kein anderes Medium. In den ersten
Filmproduktionen wurden Märchenstoffe gestaltet; sie wandten sich in den
Nachmittagsvorstellungen besonders an Kinder, gleichzeitig waren sie für
das erwachsene Publikum produziert, dem sie abends vorgeführt wurden.
Der deutsche Kinderfilm begann ab 1910 mit der Inszenierung von tradi-
tionellen Märchen- und Sagenstoffen: Bereits 1916 spielte Asta Nielsen die
Rolle des Aschenbrödel, seit demselben Jahr wirkte Paul Wegener als Produ-
zent, Regisseur, Tricktechniker und Hauptdarsteller in Filmen wie Rübezahls
Hochzeit (1916), Dornröschen (1917), Hans Trutz im Schlaraffenland
(1917), Das kalte Herz (1918) und Der Rattenfänger von Hameln (1918).
Kinderfilm und Kinderfernsehen 451
Zu diesen frühen Realfilmen kamen erste animierte Filme wie etwa die Sil-
houetten- und Scherenschnittmärchenfilme Lotte Reinigers, die von 1923 bis
1926 mit Die Abenteuer des Prinzen Achmed den ersten abendfüllenden
Trickfilm produzierte.
Noch während der Stummfilmzeit entwickelte sich der Film zu einem be-
deutenden Wirtschaftsfaktor. Für die Zielgruppe der Kinder und Jugend-
lichen wurden Märchenfilme bald durch amerikanische Unterhaltungspro-
duktionen, etwa durch die von der Keystone Company seit 1912 gedrehten
Slapstick-Komödien mit Komikern wie Charly Chaplin (seit 1915), Buster
Keaton (ab 1920), Stan Laurel und Oliver Hardy (ab 1921) ergänzt. Auch
wenn es sich dabei nicht um intentionale Kinderproduktionen handelte, so
formulierten diese Filme durch Kinderstars wie Mary Pickford (seit 1909)
oder Jacky Coogan (seit 1917) attraktive Identifikationsangebote. Standar- Lotte Reiniger –
disierte Serienunterhaltung, Cowboyfilme, Western-Serials mit Tom Mix (seit Trick- und Scheren-
schnitt-Filmpionierin
1910) oder mit den Schäferhunden Strongheart (seit 1921) und Rin Tin Tin
(seit 1922), der weitaus berühmter wurde, lockten die Kinder in großer Zahl
in die Vorstadtkinos. Das Kino, allen voran die Hollywood-Produktionen
der Stummfilmzeit, bediente die Affekte des Publikums, bot Großstadtkin-
dern komisch-spannende Unterhaltung und vermittelte soziale Differenzer-
fahrungen; Stoffe, die diese affektive Ansprache mit allgemeinverständlicher
Darstellung und der Bestätigung von Erwartungen verbanden, stellten den
Rahmen solcher Erfahrung der Unterschiedlichkeit von fiktiver Filmrealität
und sozialer Alltagsrealität. ›Antischundkämpfer‹, Lehrer und Politiker mit
tradiertem bildungsbürgerlichen Werte- und Kulturkanon, reagierten in be-
sonderer Weise kritisch auf die vom neuen Medium Film ausgehende Faszi-
nation. Sie forderten den ›moralisch sauberen‹ deutschen Märchenfilm und
verstanden darunter die Inszenierung vorindustrieller Idyllen in einer heilen,
harmonischen Welt sowie die Vermittlung eines autoritären, konservativen
Weltbildes. Produktionsfirmen wie die von Alf Zengerling, den Gebrüdern
Diehl und Hubert Schonger bedienten diese Wünsche, indem sie zahlreiche
Märchenstreifen, vorwiegend Scherenschnitt- und Puppentrickfilme, produ-
zierten, die zumeist als ›Unterrichtsfilme‹ über staatliche Bildstellen vertrie-
ben wurden.
Ende der 1920er Jahre begann in Deutschland die Distanzierung von den Kindergruppen-
amerikanischen Filmimporten; es wurden intentionale Kinderfilme produ- abenteuer
ziert, zumeist in der Form realistisch inszenierter Kindergruppenabenteuer,
etwa Die Räuberbande (1928) nach Leonhard Frank oder Der Kampf der
Tertia (1929) nach Wilhelm Speyer. Ein erster Klassiker und echter Kassener-
folg war die nah an der Vorlage orientierte Verfilmung von Erich Kästners
Emil und die Detektive (1931) durch Gerhardt Lamprecht, in der Großstadt-
realität widergespiegelt und mit kindgemäßen Abenteuern verbunden
wurde.
In der Zeit des Nationalsozialismus war der Film ein zentrales Medium
der Massenbeeinflussung, in ihm wurden die proklamierten ›Tugenden‹, wie
Treue, Ehre, Opfermut und Heldentum, visuell manifestiert. Das präferierte
Genre für die Vermittlung dieser ›Werte‹ war der Märchenfilm; vereinzelt
dienten dafür auch ›Jugendfilme‹ wie Hitlerjunge Quex (1933). Im Rahmen
von ›Jugendfilmstunden‹ wurden Kinder und Jugendliche an den Film heran-
geführt und auf den späteren Kriegseinsatz eingestimmt oder zum Durchhal-
ten motiviert. Es ist nicht verwunderlich, dass insbesondere während der
Kriegszeit die Zahl der Kinoveranstaltungen sprunghaft stieg: In der Spielzeit
1937/38 zählte man gerade einmal 3 500 Veranstaltungen, 1942/43 waren es
über 43 000 mit mehr als elf Millionen jungen Zuschauern.
452 Medien und Medienverbund
Nach Kriegsende und nach der Gründung der Bundesrepublik blieb die
Beliebtheit des Kinos ungebrochen, die westdeutsche Kinoindustrie blühte zu
Beginn der 1950er Jahre regelrecht auf. Im Jahr 1955 etwa entstanden elf
Kinderfilme, was 10 % der damaligen Spielfilmproduktion ausmachte. Pro-
duziert wurden in erster Linie Märchenstoffe, die in einem konservativ-idyl-
lischen Ambiente angesiedelt wurden und Platz für moralische Lehrinhalte
boten; beispielhaft seien die sich wiederholenden Rotkäppchen-Verfilmungen
von Fritz Genschow (1942 und 1953) und Hubert Schonger (1948 und
1954) genannt. Eine Ausnahme bildeten realitätsnähere Stoffe wie Erich
Kästners Pünktchen und Anton (1953) und Das fliegende Klassenzimmer
(1954). In der DDR sollten Märchenfilme weniger der Harmonisierung als
vielmehr der Erziehung der Kinder im Geiste des Antifaschismus und der
Werbematerial des Kora- sozialen Gerechtigkeit dienen; dies galt auch für den ersten gezielt für Kinder
Filmverleihs aus den 50er produzierten realistischen Film Die Störenfriede (1953) von Wolfgang
Jahren Schleif, in dem zwei kritische Jungen zu vorbildlichen Pionieren erzogen
werden. Die 1946 gegründete DEFA produzierte seit den 50er Jahren quali-
tativ hochwertige Märchenfilme, etwa Paul Verhoevens Das kalte Herz
(DDR 1950), Wolfgang Staudtes Die Geschichte vom kleinen Muck (DDR
1953), Aleksandr Ptushkos in Cannes prämierte Märchenverfilmung Die
steinerne Blume (Frankreich/UdSSR 1946), Gennadi Kasanskis Die Schnee-
königin (DDR 1967), Jürgen Brauers Gritta von Rattenzuhausbeiuns (DDR
1985), BoĜivoj Zemans Die stolze Prinzessin (Tschechoslowakei 1952) und
Václav Vorlíþeks Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (Tschechoslowakei
1973), der einer der bekanntesten tschechisch-(ost)deutschen Märchenfilme
überhaupt ist und nach wie vor regelmäßig gesendet wird.
Ende der Märchenfilm- Mitte der 50er Jahre lag das Durchschnittsalter der Märchenfilmbesucher
zeit im Kino unter sechs Jahren. Für den Märchenfilm, damit aber für den intentionalen
Kinderfilm der Bundesrepublik überhaupt, bedeutete es daher auf etliche
Jahre das Ende, als 1957 das ›Gesetz zum Schutze der Jugend‹ novelliert und
Kindern unter sechs Jahren der Besuch von Filmtheatern grundsätzlich – auch
in Begleitung Erziehungsberechtigter – untersagt wurde. Ein Jahr zuvor hatte
das Fernsehen damit begonnen, ein tägliches, zunächst einstündiges Kinder-
programm zu senden, das 1958 potenziell von über zwei Millionen Men-
schen empfangen werden konnte. Von diesem Zeitpunkt an begann die Ver-
lagerung des Kinderfilms vom Kino in die privaten Haushalte; gleichzeitig
setzte auch ein großes Kinosterben ein, zumal die unter 6-Jährigen keinen
Eintritt mehr erhielten.
Die Filmindustrie versuchte dem Kinosterben Einhalt zu gebieten, indem Amerikanische
sie die Filme für eine größere Zielgruppe auswies: In den Kinos wurden nun Familienfilme als
nicht-intentionale Kinderfilme amerikanischer Provenienz wiederholt wie Kinderfilmersatz
etwa das Western-Serial mit Alfred St. John als Fuzzy (z. B. Prairie Rustlers,
USA 1945, dt. Fuzzy, der Ritter vom Drahtesel) oder die zahlreichen Zorro-
Filme (z. B. Zorro Rides Again, USA 1937, dt. Zorro reitet wieder mit John
Carroll in der Titelrolle), daneben Slapstick mit Charly Chaplin, Stan Laurel
und Oliver Hardy, Abenteuerfilme mit einfacher dualistischer Welt- und
Wertestruktur, wie W.S. van Dykes Tarzan the Ape Man (dt. Tarzan, der Af-
fenmensch, USA 1932) mit Johnny Weissmüller und Maureen O’Sullivan in
den Hauptrollen oder Richard Thorpes Tarzan Finds a Son! (dt. Tarzan und
sein Sohn, USA 1939). Die Abenteuer Robin Hoods wurden zwischen 1908
(Robin Hood and His Merry Men von Percy Stow) und 2006 (13-teilige
Fernsehserie der BBC) immer wieder verfilmt; Klassiker ist der 1938 gedrehte
The Adventures of Robin Hood mit Errol Flynn in der Titelrolle. Zu nennen
sind weiter Piratenfilme wie Captain Blood (USA 1935) von Michael Curtiz
mit Errol Flynn in der Titelrolle oder Against All Flags (USA 1952) unter der
Regie von George Sherman mit Errol Flynn als Brian Hawke und Anthony
Quinn als Roc Brasiliano (Remake: The King’s Pirat, USA 1967, dt. Der Pirat
des Königs) und vor allem Tierfilme wie Lassie Come Home (USA 1943) von
Fred M. Wilcox (weitere fünf Verfilmungen bis 1949, TV-Serie Lassie von
1954–74, Remake des ersten Lassie-Films im Jahr 2005 von Charles Stur-
ridge), Fury von Ray Nazarro (USA, als 116-teilige TV-Serie von 1955–60),
Flipper (USA 1963) unter der Regie von James B. Clark, 1964–67 als TV-
Serie mit Luke Halpin in der Rolle des Sandy (Remake 1996 von Alan Sha-
piro mit Elijah Wood in der Rolle des Sandy). Für die ganze Familie war vor
allem der neue, aufwändig produzierte Unterhaltungsfilm gedacht, Verfil-
mungen von Karl May- und Edgar Wallace-Vorlagen, ›Lümmel- und Pauker-
filme‹ und in besonderer Weise der moralisch einwandfreie Familienfilm, zu
dessen Protagonisten in den USA vor allem die Walt Disney Company mit
folgenden Produkten gehörte: Robert Stevensons The Absent Minded Pro-
fessor (USA 1961, dt. Der fliegende Pauker 1961), The Love Bug (USA 1967,
dt. Ein toller Käfer), Wolfgang Reithermans Pongo und Perdita (USA 1961)
und sein Film The Jungle Book (USA 1967, dt. Das Dschungelbuch), Sidney
Sheldons I Dream of Jeannie (USA 1965 als Kinofilm, 1965–79 als TV-Sit-
com, dt. Die bezaubernde Jeannie). Insbesondere die letztgenannten ameri-
kanischen Produktionen entwickelten sich zum eigentlichen Kinderfilm der
60er Jahre; es sind allesamt recht schlichte Unterhaltungsfilme für Kinder
und Erwachsene, die keinen ausgeprägten Bezug zur realen Lebenswelt ha-
ben.
In der DDR fand sich in den 50er und 60er Jahren der oben beschriebene DDR-Kinderfilme
Märchenfilm mit staatsaffirmativer Tendenz; Kinderfilme wurden seit Ende
der 60er Jahre auch als Möglichkeiten gesehen, auf verdeckte Weise Kritik
an einem autoritären System zu äußern. In Märchenfilmen wie Wie heiratet
man einen König (DDR 1969) und Sechse kommen durch die Welt (DDR
1972) sind zahlreiche ironische Anspielungen auf das Alltagsleben in der
DDR versteckt.
Im realistischen DDR-Kinderfilm wurde Wert auf die wirklichkeitsgetreue
Darstellung der Lebensumgebung von Kindern gelegt. In Filmen wie Gerhard
454 Medien und Medienverbund
Kleins Alarm im Zirkus (DDR 1954) oder Heiner Carows Sheriff Teddy
(DDR 1957) werden sozialistische Ideale in die Geschichten von Kindern aus
West- und Ostberlin verwoben. In den 60er und 70er Jahren schwächte sich
die politische Aussage etwas ab; beispielhaft stehen dafür Filme wie Rolf
Losanskys Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen (DDR 1964) oder
Konrad Petzolds Lausbubengeschichte Alfons Zitterbacke (DDR 1966), Er-
win Strankas Susanne und der Zauberring (DDR 1973), Egon Schlegels Das
Pferdemädchen (DDR 1979) und Ulrich Weiß’ Blauvogel (DDR 1979). In
den 80er Jahren verschaffte auch der realistische Film den Regisseuren Gele-
genheit, sich kritisch zu den sozialistischen Idealen zu äußern, etwa in Hel-
mut Dziubas Sabine Kleist, sieben Jahre (DDR 1982), Jörg Foths Das Eismeer
ruft (DDR 1984) sowie in Rolf Losanskys Filmen Der lange Ritt zur Schule
(DDR 1982), Moritz in der Litfaßsäule (DDR 1983) und Das Schulgespenst
(DDR 1986).
Kinderfilm In der politischen Umbruchzeit der späten 60er Jahre wurden auch die bis
und Fernsehen dahin gültigen Konzepte des Kinderfilms in Frage gestellt. Hatten die Verfas-
ser des Oberhausener Manifests im Jahr 1962, mit dem der zeitkritische
junge deutsche Autorenfilm programmatisch befestigt wurde, noch kein In-
teresse am Kinder- und Jugendfilm, so wurden am Ende der 60er Jahre im
realistischen Problemfilm aktuelle gesellschaftliche Missstände für die ju-
gendliche Zielgruppe entlarvt und das Ideal einer besseren, humaneren Welt
formuliert. Dabei war es zunächst insbesondere das Fernsehen, das Kinder
als Zuschauer ernst nahm und engagierte Vorschulprogramme mit realisti-
scher Kinderunterhaltung verband. Das Fernsehen schaffte es auch, Kinder
wieder ins Kino zu bekommen: Aus dem Material einer 13-teiligen deutsch-
schwedischen Pippi Langstrumpf-Fernsehserie (1968/69) entstanden an-
schließend zwei Kinderfilme, die erstmals wieder ein größeres jugendliches
Publikum ansprachen und in die Kinos lockten. Die Verfilmung von Max
von der Grüns politisch-emanzipatorischem Kinderbuch Die Vorstadtkroko-
dile (1977) unter der Regie von Wolfgang Becker wurde zunächst für das
Fernsehen produziert; der Film gelangte danach in die Kinos. Die Teilfinan-
zierung der Filmproduktion durch Fernsehsender, die nach Fertigstellung
zugunsten einer Kinoauswertung zwei bis drei Jahre auf die Ausstrahlung
verzichteten, half dem realistischen deutschen Kinderfilm in den 70er Jahren
entscheidend. Hark Bohm, seinem Selbstverständnis nach gerade kein Filme-
macher für Kinder und Jugendliche, wandte sich mit Tschetan, der Indianer-
junge (1972) diesem Genre zu und gestaltete darin die Beziehung des Titel-
helden zu einem Erwachsenen, das stetige Kämpfen um gegenseitige Aner-
kennung und Freundschaft. Der Erfolg des Films ermöglichte es Bohm, im
Auftrag und mit Mitteln des Fernsehens das realitätsnahe Kinderabenteuer
Ich kann auch ’ne Arche bauen (1973) zu drehen und den Roman Wir pfei-
fen auf den Gurkenkönig von Christine Nöstlinger zu verfilmen (1974). Da-
neben gab es auch selbstfinanzierte Produktionen, etwa Sigrun Koeppes
Novemberkatzen (1986) nach dem Roman von Mirjam Pressler. Eigenstän-
digen wirtschaftlichen Erfolg an der Kinokasse hatten einzelne Verfilmungen
bereits erfolgreicher literarischer Vorlagen, so Räuber Hotzenplotz (1974)
und Neues vom Räuber Hotzenplotz (1979) nach den Romanen von Otfried
Preußler unter der Regie von Gustav Ehmck und Die unendliche Geschichte
(BRD/USA 1984) nach dem Roman von Michael Ende unter der Regie von
Wolfgang Petersen.
Förderung In der Bundesrepublik entstanden bis zum Beginn der 90er Jahre jährlich
des Kinderfilms etwa drei Spielfilme für das Kinderkino, während in der DDR, wo die staat-
liche DEFA seit den 50er Jahren eine eigene Kinder- und Märchenfilmtra-
Kinderfilm und Kinderfernsehen 455
dition entwickelte, acht bis zehn Filme produziert wurden. Der Grund für
diesen deutlichen Unterschied liegt in der Förderungspolitik: Der politisch
engagierte oder künstlerisch ambitionierte Kinderfilm hatte es in der Bundes-
republik trotz wohlwollender Kritiken schwer, sein Publikum zu finden, so
dass für die normalen Erstaufführungskinos die aktuellen Erwachsenen- und
auch die Familienfilme rentabler waren. Auch blieb der Kinderfilm durch das
1979 novellierte Filmförderungsgesetz benachteiligt, da höchstmögliche För-
dermittel für nicht kindgerechte längere Erwachsenenfilme vergeben wurden
und da das Prinzip der ›Referenzförderung‹ bislang erfolglose oder unbe-
kannte Regisseure benachteiligte.
Einen anderen Weg zur Zielgruppe schlug das 1977 gegründete Kinder-
und Jugendfilmzentrum in Deutschland (KJF) in Remscheid ein, indem es
den neuen Kinderfilm zunächst über nichtkommerzielle Abspielstätten wie
Jugendzentren, schulische und kirchliche Einrichtungen, kommunale Kinos
und Kinderkinoinitiativen an sein Publikum gelangen ließ. Das KJF liefert
seit seiner Gründung insbesondere für die nichtkommerzielle Kinderfilmar-
beit wichtige Anregungen. Im Jahr 2006 verfügte es nicht nur über den größ-
ten Archivbestand an Kinder- und Jugendfilmen in Deutschland, es gibt dar-
über hinaus Empfehlungen für die besten Produktionen im Bereich des Kin-
der- und Jugendfilms heraus und verleiht den Deutschen Jugendvideopreis,
den bedeutendsten Wettbewerb für Video und Multimedia.
Das 1979 gegründete Festival ›Goldener Spatz‹ für Kinderfilme der DDR
wurde 1993 von MDR, RTL, ZDF und der Stadt Gera in der Stiftung Gol-
dener Spatz fortgeführt; später kamen noch die Thüringer Landesmedienan-
stalt, die Mitteldeutsche Medienförderung und die Landeshauptstadt Erfurt
hinzu. Zweck der Stiftung ist die Förderung von Kinderfilm und -fernsehen
in Deutschland. Die Stiftung ist Trägerin des gleichnamigen Deutschen Kin-
der-Film&Fernseh-Festivals, das in zweijährigem Rhythmus in Gera und Er-
furt stattfindet – im Wechsel mit dem in Frankfurt ausgerichteten, 1974 ge- Festivalplakat »Goldener
gründeten Lucas – Internationales Kinderfilmfestival. Außerdem veranstaltet Spatz«
456 Medien und Medienverbund
Tab. 1: Preisträger der wichtigsten deutschen Filmpreise im Bereich Kinder- und Jugendfilm seit 2000
GS = Goldener Spatz, L = Lucas (+ CIFEJ seit 1991), DF = Deutscher Filmpreis, PKH = Preis Dt.
Kinderhilfswerk, GB = Gläserner Bär,
A = Animationsfilm, R = Realistischer Film, F = Fantastischer Film
Genres des Kinderfilms Der Blick auf die Liste der Preisträger der bedeutendsten deutschen Kin-
derfilmpreise seit 2000 lässt bereits eine grobe Unterteilung in Animations-
film (20 % der ausgezeichneten Filme), realistischer (72 %) und fantastischer
Film (8 %) zu; auf der Grundlage der bearbeiteten Themen und der Art der
Umsetzung lässt sich noch genauer differenzieren in realistisch-sozialkritische
Kinderfilme, zeitgeschichtliche Kinderfilme, realistisch-abenteuerliche Kin-
derfilme, parabelhaft-fantastische Kinderfilme sowie unterhaltende realisti-
sche und fantastische Familienfilme (wobei diese Einteilung keineswegs
trennscharf sein kann, sondern eher die Grundtendenz des jeweiligen Films
beschreibt).
Realistisch-sozial- Der realistisch-sozialkritische Kinderfilm, der in den 70er Jahren entstand,
kritische Kinderfilme will das kritische Bewusstsein fördern. Die Filme lassen sich thematisch bün-
deln. Mit der Rolle in der Gesellschaft befasst sich etwa Wolfgang Tumlers
Außenseitergeschichte Der rote Strumpf (1981), der auf einem Roman von
Elfie Donnelly basiert. Das Thema Familie beschäftigt Karola Hattop in Wer
küsst schon einen Leguan? (2003), in dem sie sich mit dem Zwang der Neu-
definition von Vaterrollen auseinandersetzt; Andrei Kravchuks Italianetz –
Kinderfilm und Kinderfernsehen 459
Der Italiener (Russland 2005), der den Preis des 28. Kinderfilmfestes im
Rahmen der Berlinale 2005 gewann, erzählt die Geschichte eines Jungen auf
der Suche nach seiner Mutter. Häufig gestaltete Themen sind Krankheit und
Behinderung, etwa in Wolfram Deutschmanns Der Zappler (1982) mit der
Geschichte eines spastisch gelähmten 12-Jährigen oder in Karl-Heinz Lotz’
Rückwärtslaufen kann ich auch (DDR 1990); in Almuth Gettos Fickende
Fische (2002) geht es um Aids bei Jugendlichen, Verrückt nach Paris (2001)
von Pago Bahlke und Eike Besuden ist als Roadmovie angelegt und erzählt
die Geschichte von drei Behinderten auf ihrem Weg nach Paris, Bernd Sah-
lings Die Blindgänger (2004), Träger des Deutschen Filmpreises 2004 und
des Goldenen Spatzes 2005, vermittelt ein realitätsnahes Bild über die Le-
benssituation Blinder, Robert Schwentkes Eierdiebe (2003) setzt sich auf zu-
weilen skurrile Weise mit dem Tabuthema Krebs auseinander, Shona Auer-
bachs Dear Frankie (Großbritannien 2004, dt. Lieber Frankie) behandelt am
Beispiel der Geschichte eines Taubstummen, wie das Zusammenleben Behin-
derter und Nichtbehinderter funktionieren kann. Die Auseinandersetzung
mit Fremdheit wird zum Beispiel in dem von Jürgen Haase inszenierten Film
Gülibik (BRD/Türkei 1982/83) thematisiert, in dem es um Alltagserlebnisse
eines Jungen mit seinem Hahn in Zentralanatolien geht; Arend Agthes Kara-
kum (D/Turkmenistan 1992/93) gestaltet die Begegnung mit einer fremden
Kultur, Hans-Christian Schmids Lichter (2002/03) konfrontiert deutsche
und polnische Alltagswelten miteinander.
Naturgemäß sind Adoleszenzprobleme außerordentlich beliebte Themen Verfilmungen von
des Kinderfilms; auch in der DDR wird Adoleszenzliteratur mit den typischen Adoleszenzliteratur
Problemen Heranwachsender verfilmt, gleichzeitig wird die Einordnung des
Individuums in das sozialistische Gesellschaftssystem idealtypisch beschrie-
ben, so etwa 1964 in der TV-Verfilmung Egon und das 8. Weltwunder (DDR
1964) von Christian Steinke, später dann in Wolfgang Hübners Filmen
Trampen nach Norden (DDR 1977) und Das Mädchen und der Junge (DDR
1982) sowie in Karola Hattops Jan Oppen (DDR 1986/87). Um die Liebe
zwischen Heranwachsenden geht es auch in dem preisgekrönten Film Die
Farbe der Milch (Norwegen/Schweden 2004) von Torun Lian. Homosexuali-
tät und ihre gesellschaftliche Bewertung spielen in Marco Kreuzpaintners
Sommersturm (2004) eine zentrale Rolle; beschrieben wird das Coming-Out
eines jungen Mannes während des Aufenthalts in einem sommerlichen Ru-
dercamp. Unter den Filmen, die das Kinder- und Jugendfilmzentrum in
Deutschland (KJF) im Januar 2006 als die besten 19 Kinofilme empfahl, die
im Jahr 2005 auf DVD erhältlich waren, sind immerhin sechs Filme, die sich
mit Adoleszenzproblemen auseinandersetzen: Nimród Antals Kontroll (Un-
garn 2003) ist ein Actionthriller, in dessen Mittelpunkt Selbstfindungs-
probleme ungarischer Jugendlicher stehen; Jacob Aaron Estes’ Mean Creek
(USA 2004) regt zum Nachdenken über Mobbing an. Walter Salles’ The
Motorcycle Diaries – Die Reise des jungen Che (USA 2004) stellt am Beispiel
des jungen Che Guevara Selbstfindung und Erwachsenwerden dar; diesem
Thema widmet sich auch Agnès Jaouis Film Schau mich an! (Frankreich
2004). Anno Sauls Kebab Connection (2004) thematisiert das Zusammenle-
ben verschiedener Kulturen in Deutschland und beleuchtet kulturspezifische
Männer- und Frauenrollen; Rhythm is it! (2004) von Thomas Grube und
Enrique Sánchez Lansch zeigt, wie sich Musik als Mittel eignet, eigene Pro-
bleme in den Griff zu bekommen.
Im zeitgeschichtlichen Kinderfilm wird die jüngere Vergangenheit, auch Zeitgeschichtliche
die deutsche, kindgerecht aufbereitet. Leonie Ossowskis Roman Stern ohne Kinderfilme
Himmel, der 1980 von Ottokar Runze verfilmt wurde, thematisiert Kriegs-
460 Medien und Medienverbund
ßen Falken (2006) geht es um eine Schatzsuche, bei der sich die Freundschaft
der suchenden Kinder erweist.
Parabelhaft-fantastische Kinderfilme verbinden Fantasie, Unterhaltung Parabelhaft-
und Realitätsnähe mit einem emanzipatorischen Ansatz, so etwa Claudia phantastische
Schröders Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Erziehungs- und Ge- Kinderfilme
sellschaftskonzepten in der Romanverfilmung Konrad aus der Konserven-
büchse (1982). Blueprint. Blaupause nach dem Roman von Charlotte Kerner,
2004 von Rolf Schübel mit Franka Potente in der Doppelrolle Iris und Siri
verfilmt, befasst sich mit dem Thema ›Klonen‹. Auch Märchenverfilmungen
sind hier zu nennen, etwa Rolf Losanskys Hans im Glück (1998). In Anima-
tionsfilmen spielt Unterhaltung eine wichtige Rolle. In dem mit dem Großen
Filmpreis des Deutschen Kinderhilfswerkes für den besten Kurzfilm des Jah-
res 2005 ausgezeichneten Schweinchen fliegt (Schweden/Dänemark 2004)
von Alicja Jaworski geht es um ein Schwein, das das Fliegen erlernen möchte.
Der kleine Eisbär (2001) von Piet de Rycker und Thilo Rothkirch erzählt die
Geschichte der Freundschaft eines jungen Eisbären und eines Walrosses und
thematisiert dabei Werte wie Toleranz und gegenseitige Achtung; der Film
war auch an der Kinokasse ein Erfolg. Basierend auf den Bilderbüchern von
Klaus Baumgart drehten Rothkirch und de Rycker den in den Jahren 2004
und 2005 vielfach preisgekrönten Zeichentrickfilm Lauras Stern (2004) über
die Freundschaft zwischen einem Mädchen und einem auf die Erde gefal-
lenen Stern. In Udo Steinmetzens Animationsfilm Nulli & Priesemut (2002)
kommen bereits Lebensfragen der jüngsten Zuschauer zur Sprache; Jean-
François Laguionie inszeniert in seinem Zeichentrickfilm Die Pirateninsel
von Black Mor (Frankreich 2003) die abenteuerliche Geschichte einer
Schatzsuche; in dem Animationsfilm Tokyo Godfathers (Japan 2003) von
Satoshi Kon begeben sich drei Obdachlose auf die Suche nach der Mutter Lauras Stern – Werbe-
eines ausgesetzten Babys; Brad Birds Die Unglaublichen – the Incredibles plakat für den Film
(USA 2004) beschäftigt sich mit der Frage, was Superhelden tun, wenn sie
einmal nicht die Welt retten – ein Film, der Rollenstereotype in Frage stellt
und zum Nachdenken und Lachen anregt.
In dieser Gruppe finden sich die kommerziell erfolgreichen Produktionen Unterhaltende
wieder, vor allem Hollywood-Produktionen wie The Rescuers (USA 1977, realistische und
dt. Bernard und Bianca – Die Mäusepolizei) von John Lounsbery, Wolfgang phantastische
Reitherman, Art Stevens oder Stephen Sommers’ The Jungle Book (USA Familienfilme
1994, dt. Das Dschungelbuch), Steve Trenbirths The Jungle Book 2 (USA/
Australien 2003, dt. Das Dschungelbuch 2), Ron Clements’ und John Mus-
kers The Little Mermaid (USA 1989, dt. Arielle, die Meerjungfrau), und
Aladdin (USA 1992), Mike Gabriels und Eric Goldbergs Pocahontas (USA
1995), Andrew Stantons Finding Nemo (USA 2003, dt. Findet Nemo), Her-
cules (USA 1997) von Ron Clements und John Musker sowie Tarzan (USA
1999) von Chris Buck und Kevin Lima. Deutsche Produktionen, die dem
Disney-Genre nacheifern, sind beispielsweise Wolfgang Urchs’ In der Arche
ist der Wurm drin (BRD 1988) und Peterchens Mondfahrt (1990). Diese
Filme verbinden zum Teil spannende Unterhaltung mit dem generationsüber-
greifenden Traum der jugendlichen und erwachsenen Zuschauer von einer
sinnhaften, besseren Welt im Gegensatz zu der undurchschaubar und be-
drohlich wirkenden Alltagsrealität. In den 80er und 90er Jahren erfüllten vor
allem Steven Spielberg und George Lucas diese Träume und nährten sie mit
populären Familienfilmen, die überwiegend Kombinationsfilme mit zuneh-
mend computergenerierter Tricktechnik sind. Zu nennen sind etwa Steven
Spielbergs E.T. the Extra-Terrestrial (USA 1982), die Indiana Jones-Trilogie
(USA 1981, 1984, 1989) und Jurassic Park (USA 1993, 1997); Robert Zeme-
462 Medien und Medienverbund
ckis’ Who Framed Roger Rabbit (USA 1988), die Back to the Future-Trilogie
(USA 1985/1989/1990) und The Polar Express (USA 2004); Joe Dantes
Gremlins (USA 1984) sowie die sechs Folgen von Star Wars (USA 1977–2005),
gedreht von Richard Marquand, Irvin Kershner und vor allem George Lucas:
Episode I – The Phantom Menace (USA 1999, dt. Die dunkle Bedrohung),
Episode II – Attack of the Clons (USA 2002, dt. Angriff der Klonkrieger),
Episode III – Revenge of the Sith (USA 2005, dt. Die Rache der Sith), Episode
IV – A New Hope (USA 1977, dt. Eine neue Hoffnung), Episode V – The
Empire Strikes Back (USA 1980, dt. Das Imperium schlägt zurück), Episode
VI – Return of the Jedi (USA 1983, dt. Die Rückkehr der Jedi-Ritter).
Computeranimierte Kombinationsfilme mit immer ausgefeilterer Trick-
technik wie Joe Pytkas Space Jam (USA 1996) und Literaturverfilmungen
wie die bislang fünf Harry Potter-Filme: Harry Potter and the Sorcerer’s
Auch der vierte Harry Stone (USA 2001, dt. Harry Potter und der Stein der Weisen), Harry Potter
Potter-Film Harry Potter
and the Chamber of Secrets (USA 2002, dt. Harry Potter und die Kammer
und der Feuerkelch steht
wie die anderen drei vor des Schreckens), Harry Potter and the Prisoner of Azkaban (USA 2004, dt.
ihm an der Spitze der am Harry Potter und der Gefangene von Askaban), Harry Potter and the Goblet
meisten besuchten Filme of Fire (USA 2005, dt. Harry Potter und der Feuerkelch), Harry Potter and
eines Jahres the Order of the Phoenix (USA 2007, dt. Harry Potter und der Orden des
Phönix) bestimmen zu Beginn des 21. Jh.s den deutschen Kinomarkt und
erzielen hohe Zuschauerwerte.
In die Kategorie des realistischen unterhaltsamen Familienfilms zählen
etwa Chris Columbus’ Home alone (USA 1990, dt. Kevin allein zu Haus)
und Home Alone 2: Lost in New York (USA 1992, dt. Kevin allein in New
York) sowie die beiden Folgen von Crocodile Dundee (Australien 1986/1988)
von Peter Faiman. Deutsche Produktionen der Kategorie sind etwa die zahl-
reichen Otto-Filme (Otto – Der Film, 1985; Otto – Der Neue Film, 1987;
Otto – Der Außerfriesische, 1989; Otto – Der Liebesfilm, 1992; Otto – Der
Katastrofenfilm, 2000) und Joachim Masanneks Die Wilden Kerle – Alles ist
gut, solange du wild bist! (2003). Kombinationsfilme, die Realfilm und Zei-
chentrick mischen, sind Ulrich Königs Meister Eder und sein Pumuckl (1982)
und Hatschipuh (1987). Zu den unterhaltenden realistischen Familienfilmen
können schließlich auch die Verfilmungen postmoderner Kinder- und Ju-
gendliteratur gezählt werden; Leander Haußmanns Film Herr Lehmann
(2003) auf der Grundlage des Romans von Sven Regener und Gregor
Schnitzlers Film Soloalbum (2002) nach der Romanvorlage von Benjamin
von Stuckrad-Barre unterhalten mit inter- und intramedialen Systemrefe-
renzen.
Preisträger des Bei den Preisträgern des Deutschen Filmpreises der letzten Jahre, immer-
Deutschen Filmpreises hin der renommiertesten Auszeichnung für den deutschen Film, sind die ge-
nannten Genres durchweg vertreten, und zwar in einer gleichgewichtigen
Verteilung von Animationsfilm, unterhaltendem und sozialkritisch-realisti-
schem Film (vgl. Tabelle 1). Zu den unterhaltenden fantastischen Kinderfil-
men zählen der Animationsfilm Käpt’n Blaubär (1999) von Hayo Freitag,
Preisträger des Jahres 2000; Uli Edels fantastischer Kinderfilm Der kleine
Vampir (D/Niederlande/USA 2000), Preisträger des Jahres 2001; Lauras
Stern (D/Bulgarien 2004) von Piet De Rycker und Thilo Rothkirch, Preisträ-
ger des Jahres 2005. Ben Verbongs Das Sams (2001), Preisträger des Jahres
2002, gehört zu den realistisch-fantastischen Kombinationsfilmen. Zum rea-
listischen Kinderfilm mit leisen sozial-kritischen Tönen zählen Die Blindgän-
ger von Bernd Sahling, Preisträger des Jahres 2004; Die Höhle des gelben
Hundes (D/Mongolei 2005) von Byambasuren Davaa, Preisträger des Jahres
2006; sowie Tomy Wigands Kästner-Verfilmung Das fliegende Klassenzim-
Kinderfilm und Kinderfernsehen 463
mer (2003), Preisträger des Jahres 2003, der im Jahre 2003 auf dem 3. Platz
der am meisten besuchten Kinofilme landete, mithin also auch wirtschaftlich
erfolgreich war.
Die Kinderfilmszene zu Beginn des 21. Jh.s ist äußerst vielfältig. Es gibt Kinderfilmszene des
eine große Zahl anspruchsvoller Kinderfilme, zumal erfolgreiche Kinder- und 21. Jahrhunderts
Jugendbuchverfilmungen, wie die Preisträger in den Wettbewerben zeigen,
auch wirtschaftlich erfolgreich sind; das Bedürfnis nach Spannung oder au-
ßergewöhnlichen Tricks wird durch amerikanische Produktionen wie Harry
Potter oder Der Herr der Ringe befriedigt. Gleichwohl hat das Kino im Ver-
gleich mit dem Beginn des 20. Jh.s an Attraktivität unter Kindern und Ju-
gendlichen verloren. Nach den JIM-Studien – Jugend, Information, (Multi-)
Media von 1998 und 2005 liegt Ins-Kino-Gehen mit 1 % bzw. 1,5 % auf dem
letzten Platz der Medien, die Jungen und Mädchen zwischen 6 und 19 Jahren
mindestens einmal in der Woche nutzen. Dies bedeutet aber nicht, dass zu-
464 Medien und Medienverbund
gleich die Attraktivität von Filmen für Kinder und Jugendliche nachgelassen
hat; die Ravensburger Jugendmedienstudie ermittelte vielmehr, dass der Film
bei Jungen und Mädchen auf dem dritten Platz der bevorzugten Medien an-
gesiedelt ist. Zu den Gründen gehört neben der Unterhaltung der Sachver-
halt, dass Kinder und Jugendlichen in Filmen Vorbilder finden. So ergab die
KIM-Studie – Kinder + Medien, Computer + Internet von 2005, dass auf die
Frage nach vorbildhaften Persönlichkeiten immerhin ein Drittel der Befragten
Figuren oder Schauspieler aus Film und Fernsehen nennt; Vorbilder aus dem
Bereich des Sports nennen rund 20 %. Dabei bleibt, verglichen mit den Vor-
gängerstudien, der Prozentsatz der Kinder, die ein Vorbild haben, mit rund
50 % durchaus konstant, die Bereiche aber, aus denen die Vorbilder genom-
men werden, haben sich verändert; sie kommen weniger aus dem Bereich
Film und Fernsehen, dafür aber mehr aus den Bereichen Sport und Musik.
Die Filmindustrie hat sich seit den 60er Jahren mit dem Fernsehen, seit den
späten 80er Jahren mit dem Video und seit den 90er Jahren mit DVD und
Internet neue mediale Distributionsmöglichkeiten erschlossen; ohne eine ei-
gene Webseite kommt mittlerweile kein neuer Film mehr aus. Das Internet ist
zudem ein bedeutender Werbeträger. So hat die JIM-Studie 2005 herausge-
funden, dass bei Filmen das Internet die Hauptinformationsquelle von Ju-
gendlichen ist; es wurde von 38 % der Befragten genannt, 21 % wiesen auf
das Fernsehen als wichtigstes Informationsmedium über Kino und Filme
hin.
Kinderfernsehen
Fernsehen als Das Fernsehen ist in der Bundesrepublik wie in allen westlichen Industrie-
›Leitmedium‹, staaten das uneingeschränkte Leitmedium; es ist neben dem Computer das
empirische von Kindern wie von Erwachsenen am häufigsten genutzte Medium. Als der
Untersuchungen Nordwestdeutsche Rundfunk 1952 als erster Sender mit der regelmäßigen
Ausstrahlung von Fernsehsendungen begann, besaßen etwa 1000 Haushalte
ein Empfangsgerät, 1955 waren es 100 000, 1957 bereits mehr als eine Mil-
lion, 1964 neun Millionen; seit 1981 steht in etwa 97 % der Haushalte min-
destens ein Fernsehgerät, für 2006 ermittelte das Statistische Bundesamt eine
Geräteausstattung von nahezu 100 %. Bereits die KIM-Studie 1999 stellte
eine Ausstattung von 99 % fest, 29 % der Kinder zwischen 6 und 13 Jahren
besaßen zudem einen eigenen Fernseher. In der JIM-Studie 2005 hatte jeder
der befragten Haushalte mindestens ein Fernsehgerät, im Durchschnitt wa-
ren es 2,6 Geräte, 53 % der 12- bis 13-Jährigen und 62 % der 16- bis 17-
Jährigen hatten einen eigenen Fernseher.
Liebste Freizeit- Hinsichtlich der tatsächlichen Nutzung des Fernsehens durch Kinder und
beschäftigung: das Jugendliche zeigen bereits Untersuchungen aus dem Jahr 1979, dass 94 %
Fernsehen aller Kinder bis 13 Jahre regelmäßig mehrmals wöchentlich oder täglich das
Fernsehen nutzten, für 49 % von ihnen war das die liebste Freizeitaktivität.
Ein ähnliches Bild zeigte die KIM-Studie 1999, in der 96 % der befragten
Jungen und Mädchen im Alter von 6 bis 13 angaben, einmal oder mehrmals
in der Woche das Medium Fernsehen zu benutzen. Allerdings nannten in
dieser Befragung nur noch 37 % das Fernsehen als ihre liebste Freizeitbe-
schäftigung. In der JIM-Studie 1998 bestätigten 95 % der befragten 12- bis
19-Jährigen, dass sie einmal oder mehrmals in der Woche fernsehen. Der
Anteil derer, der einmal oder mehrmals in der Woche vor dem Fernseher
sitzt, nimmt immer weiter ab, je jünger die Untersuchungen werden; so wa-
ren es laut der KIM-Studie 2005 nur noch 97 % der befragten Jungen und
Mädchen, nach der JIM-Studie 2005 nur noch 93 %. Auf die Frage, auf wel-
Kinderfilm und Kinderfernsehen 465
tags: Wir wollen zaubern! Die Kinder waren eifrig dabei, ihre Kunststücke
vorzubereiten, durchstöberten eine Bastelkiste nach dem notwendigen Mate-
rial, und während die Kamera immer wieder die kleinen, völlig mit sich selbst
beschäftigten Gruppen aufsuchte, sangen die anderen Kinder ein Lied, spielte
der ›Spielmann‹ fröhliche Melodien, fanden sich kleine Künstler, die mit Ak-
kordeon und Klavier umzugehen wußten. Mit wenigen Worten lenkte Ilse
Obrig ihre Schar; ermuntern brauchte sie niemanden, die Jungen und Mäd-
chen bewegten sich völlig natürlich und reagierten auf die kleinste Anregung.
Nach der Vorführung der Zauberkunststücke wurde noch ein Lied gesungen
und ›die Fernsehkinder‹ winkten den kleinen Zuschauern am Empfänger ei-
nen Abschiedsgruß zu.« An Ilse Obrig wurden »Spontaneität, Lebendigkeit,
Fröhlichkeit, eine leichte Hand mit den Kindern, dennoch auch ein pädago-
gischer Unterton, eine spielerisch verpackte Belehrung« gelobt; sie stand im
Mittelpunkt der Sendungen, versammelte eine Schar von Kindern um sich
herum, deren Aktivität sie moderierte, während sie gleichzeitig Filme in die
Sendung einband. Inhaltlich handelte es sich bei diesen Sendungen um die
wieder aufgenommenen Vorkriegsformate. Vorher einstudierte Turn-, Sing-,
Tanz- und Bastelspiele sollten im bewahrpädagogischen Sinne und im Geiste
der musischen Erziehung die Zuschauer zur Nachahmung auffordern; sie
waren garniert mit Schatten- und Puppentheater-Aufführungen. Neben die-
sen Kinderstunden fanden sich im Programmangebot des frühen Fernsehens
auch andere Kinderformate wie Fernsehmärchen (Erich Kahls Taler, Taler,
du mußt wandern, 1960), Fernsehspiele (Herbert Ruhlands Kein Weg nach
Westen, 1957) Zeichentrickfilme (Kalif Storch, 1953), Puppentheater (Ho-
hensteiner Puppentheater, Augsburger Puppentheater) und Verfilmungen von
Kinderliteratur (Das doppelte Lottchen, 1950; Meisterdetektiv Kalle Blom-
quist, Schweden 1947; Pünktchen und Anton, BRD/Österreich 1953). Mit
statischer Kamera wurden strohblumenbastelnde Kinder oder ganze Bilder-
bücher (Der kleine Häwelmann) abgefilmt, mit Marionetten oder Scheren-
schnitten Märchen und Teddybär-Geschichten in Szene gesetzt; die Puppen-
theaterreihe Die Muminfamilie (1959) war die erste Sendung der Augsburger
Puppenkiste, womit die Tradition begann, fast jedes Jahr ein kinderlitera-
risches Werk mehrteilig mit Puppen zu inszenieren. Andere Kindersendungen
orientierten sich an dem bewährten Muster von Ilse Obrig, etwa Ri-Ra-Rate!
mit Paula Walendy. Daneben gab es mit Sport – Spiel – Spannung (1959–69)
die erste Kindermagazinsendung. In der DDR wurde mit dem Sandmännchen
ab 1959, in der BRD ab 1962 eine tägliche Gutenachtsendung mit Bilderge-
schichten und Puppenspiel gesendet; nach der Wiedervereinigung wurde das
Ost-Sandmännchen beibehalten (ab 1992). Die angestrebte Aktivierung der
Kinder hielt sich, so lässt sich gegen diese Konzeption der frühen Kindersen-
dungen der 50er Jahre kritisch anmerken, in Grenzen; vielmehr handelte es
sich um ein Zuschauen, wie andere aktiv waren. Inhaltlich ließe sich vor
allem die pädagogisch-didaktische Indienstnahme des Kinderfernsehens kri-
tisieren, die als ein Ausdruck der Unsicherheit verstanden werden kann, wie
mit dem neuen Medium Fernsehen umzugehen sei. Damit einher ging der
Beschluss der ARD im Jahr 1958, keine Sendungen für Kinder unter sechs
Jahren anzubieten – analog zu der Novellierung des Jugendschutzgesetzes im
Jahre 1957, das Kindern unter sechs Jahren den Kinobesuch verbot. Gleich-
Das DDR-Sandmännchen zeitig jedoch fanden sich Programmformate wie das Sandmännchen (ab
– das 1991 gesamtdeutsch 1962) oder das Märchenraten (ab 1964), die sich eindeutig an Kinder unter
wurde und das West- sechs Jahren wandten. Positiv lässt sich hervorheben, dass es sich bei diesen
Sandmännchen ver- frühen Kindersendungen um Unterhaltungsprogramme handelte, die in die
drängte sozialen Aktivitäten der Kinder eingebunden waren: Da die wenigsten einen
Kinderfilm und Kinderfernsehen 467
eigenen Fernseher hatten, wurde meist außerhalb der eigenen Wohnung zu-
sammen mit anderen Kindern ferngesehen.
Neben dem intentionalen Kinderfernsehen etablierte sich ab 1959 ein Kinderfernsehen in den
vorabendliches Werberahmenprogramm, das mit leicht rezipierbaren, trivi- 60er und 70er Jahren
alen Abenteuer- und Kriminalserien sofort in der Gunst der Kinder weit vorn
lag. Neben amerikanischen Serials wie Danger Man (USA 1960–61, dt. Ge-
heimauftrag für John Drake) oder Ripcord (USA 1962, dt. Sprung aus den
Wolken) wurde sogar die bayerische Eigenproduktion Funkstreife Isar 12
(1961–63) bei Kindern außerordentlich populär. Seit den frühen 60er Jahren
waren es die Vorabendprogramme, die mit einem klar dualistischen Weltbild
(nach dem das Gute stets über das Böse siegt) ein unkompliziertes und un-
verbindlich unterhaltendes Umfeld für die Werbung darstellten und dabei
das eigentliche, mit Vorrang genutzte Kinderfernsehen der Bundesrepublik
bildeten.
Zur bewahrpädagogischen Ausrichtung der 50er Jahre gesellte sich in den
60er Jahren der Ansatz, ›Fernsehen vom Kinde aus‹ zu machen und damit
dem Medium auf der Basis kritischer Distanz zur gesellschaftlichen Realität
einen zunehmenden emanzipatorischen Einfluss zuzugestehen. Einen dritten
Weg eröffnete Gert K. Müntefering bereits zu Beginn der 70er Jahre: Er for-
derte auch für das Kinderfernsehen die Darbietung fernsehspezifischer For-
men im Rahmen eines kindergemäßen Angebotes; er verlangte »die vielge-
staltige Programmlandschaft für Kinder, in der Talente ungestüm und rigoros Programmlandschaft
zu erzählen verstehen und nicht nur des Kaiser neue Kleider, das Rollenspiel, für Kinder
transportieren; wo Lernstrategien, diese breiten, beruhigenden und langwei-
ligen Asphaltstraßen, aufgelöst werden in viele wilde Wege, fantastisch und
realistisch; wo die semiotischen Bildentzifferer deshalb arbeitslos werden,
weil sie nicht mehr die genormten Hollywood-Reihen bekommen, in denen
man so herrlich die Fliegenbeine zählen kann.« Münteferings Ansatz wurde
im Laufe der 70er und 80er Jahre mit emanzipatorischen Intentionen ver-
bunden; das Kinderfernsehen wurde »lebendig, vielformatig und ein anre-
gendes Erzähl- und Dokumentationsmedium«. Die Zeit zwischen 1966 und
1978 war eine fruchtbare Zeit für das Kinderfernsehen; sie lebte von den
neuen Impulsen, die sich aus gesellschaftlichen und bildungspolitischen Re-
formen ergaben. Es wurde darüber diskutiert, wie weit Fernsehprogramme
soziales Lernen fördern und sprachliche Benachteiligungen bei Kindern aus
sozial schwachen Familien abbauen können. Das Ergebnis waren engagierte
professionelle Produkte für Kinder. Es entstanden Sendungen, in denen eine
menschliche Figur zusammen mit einer (Hand-)Puppe auftrat wie in Stoffel
und Wolfgang (ARD/NDR 1965–72), Abenteuer mit Telemekel, später Tele-
mekel und Teleminchen (ARD/SDR 1963–70) oder in der Kinderunterhal-
tungssendung Schlager für Schlappohren mit dem Hasen Cäsar (ARD/WDR
1966–71). Varianten des Puppenspielformats wurden entwickelt, etwa in
Märchenraten mit Kasperle und René (ARD/WDR 1964–70), der ersten
Gameshow mit Quiz- und Spielelementen, in der ab 1967 die Spielleiste für
die Puppe wegfiel, so dass diese sich neben den menschlichen Darstellern frei
im Raum bewegen konnte; in Der Spatz vom Wallraffplatz (ARD/WDR
1969–76) wurde mit einer Vogel-Marionette gearbeitet, die auf einem Baum
vor dem Funkhaus des WDR ›lebte‹. Puppenmotive wurden auch in der ers-
ten Kinderfernsehunterhaltungsserie Pan Tau (ARD/WDR/ORF/Tschechi-
sches Fernsehen 1970–74) verwendet, in der der Alltag innerhalb eines mär-
chenhaften Rahmens satirisch-kritisch reflektiert wurde. Robbi, Tobbi und
das Fliewatüüt (ARD/WDR 1974) war eine Puppenfilmproduktion nach der
kinderliterarischen Vorlage von Boy Lornsen.
468 Medien und Medienverbund
Das ZDF strahlte seit 1963 bundesweit Sendungen aus, begann aber erst Erzieherische
1966 mit einem täglichen Nachmittagsprogramm, allerdings abgesehen von Zielsetzungen
dem Magazin Kalle Schwobbel präsentiert ohne intentionale Kindersen-
dungen. Präsentiert wurden überwiegend bereits in der ARD verwendete
amerikanische Serien, die Kinder und Erwachsene unterhielten. Im Jahre
1973 begann das ZDF dann ebenfalls mit emanzipatorisch konzipierten
Vorschul- und Kleinkinderprogrammen. Die Rappelkiste (ZDF 1973–83)
war ein monothematisches Magazinformat, moderiert von den beiden
Klappmaulpuppen Ratz und Rübe, deren Beiträge von der Redaktion als
engagierte ›Mutmacher-Geschichten‹ verstanden wurden. Diese Sendung ist
geradezu beispielhaft für die »vertikale Vernetzung« (Erlinger), die auch für
die meisten der genannten ARD-Produktionen gilt; damit ist gemeint, dass
Kinderformate konzeptionell unter pädagogischen, psychologischen, didak-
tischen und ökonomischen Gesichtspunkten diskutiert und entwickelt wur-
den. Später veränderte die ZDF-Kinderredaktion ihr Konzept, ergänzte es
durch die im ländlichen Rahmen angesiedelte Realfilmserie Neues aus Uh-
lenbusch (ZDF 1978–80), die in Einzelepisoden die Erfahrungen von Kin-
dern auf dem Land thematisierte. Löwenzahn (ZDF seit 1980) mit Peter
Lustig versteht sich als Informationsmagazin für Vor- und Grundschulkinder,
in dem es um Themen wie Natur und Technik geht.
Neben Sendungen mit erzieherischen oder didaktischen Zielsetzungen Kinderunterhaltung
traten auch Sendungen, die der Kinderunterhaltung verpflichtet waren. 1971
zeigte der SDR als erster deutscher Sender mit Speed Racer (Japan 1967)
eine typisch japanische Zeichentrickserie; seit 1974 kauft das ZDF weitere
japanische Serien ein wie Wickie und die starken Männer (Japan/Deutsch-
land 1972), Die Biene Maja (Japan/Deutschland 1975), Heidi (Japan 1974),
Pinocchio (Japan/Deutschland 1976), Sindbad der Seefahrer (Japan 1975).
Das Unterhaltungsangebot wurde komplettiert durch spezielle Showsen-
dungen wie Alle Kinder dieser Welt mit James Krüss und Udo Jürgens (ZDF
1971–73) oder Pfiff (ZDF 1977–94), einem Sportstudio für Kinder. Unter-
haltend waren die tschechoslowakischen Serienproduktionen wie die Ferien-
abenteuer von Lucie, postrach ulice (ýSSR 1980, dt. Luzie, der Schrecken der
Straße) von JindĜich Polák oder die grotesk-komische Verknüpfung von
Märchenklischees mit bieder-banaler Alltagswelt in der Serie Arabela (ýSSR
1980; dt. Die Märchenbraut) von Václav Vorlíþek. Daneben waren die 70er
Jahre dadurch gekennzeichnet, dass ARD und ZDF Kinderfilmprodukte in
Auftrag gaben und jüngere deutsche Kinderfilmmacher förderten, etwa Hark
Bohm mit Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1976), Gloria Behrens mit Rosi
und die große Stadt (1980) oder Arend Agthe mit Küken für Kairo (1985).
Vor allem kamen nun auch die Jugendlichen in den Blick von Programmma-
chern; es wurden speziell für diese Zielgruppe definierte Angebote entwickelt,
die über gesellschaftliche Probleme aufklären, den Jugendlichen politische
Perspektiven und Alternativen zeigen sollten; es entstanden Schüler- und Ju-
gendmagazine mit Ratgeber-, Informations-, Unterhaltungs- und Popmusik-
teilen, die freilich auch von jüngeren Kindern bereitwillig als ihr Programm
angenommen wurden. Um 1974 wurden mehr als ein Dutzend solcher Ma-
gazine ausgestrahlt (Baff, Kätschap, Szene 74, Zoom). Unter der Verantwor-
tung von Wolfgang Buresch wurden beim NDR für Jugendliche eine erste
Comedyserie EMM wie Meikel (BRD 1975–78) und Fernsehspiele wie der
Mehrteiler Britta (BRD 1977) entwickelt.
Zur Erläuterung der verschiedenen Formate, die in Tab. 3–5 erkennbar Kinderfernsehen seit
sind, muss in die 80er Jahre zurückgegangen werden, in denen die Verbin- den 80er Jahren
dung von Münteferings Konzept mit einem emanzipatorischen Ansatz von
470 Medien und Medienverbund
einer Kombination abgelöst wurde, die die Erprobung medialer Formen mit
Quoten- und Kommerzgesichtspunkten koppelte. Kinder- und Jugendpro-
gramme der 80er Jahre verzichteten – wie auch das übrige Fernsehprogramm
– weitgehend auf den gesellschaftskritisch ambitionierten Ansatz der späten
60er und der 70er Jahre zugunsten einer Zunahme unverbindlicher Unter-
haltung, die hohe Einschaltquoten erreichte. Ein Beispiel dafür war die Sen-
dung mit dem roten Kobold Pumuckl, die 1982 als Kombination von Real-
und Trickfilm im bayerischen Werberahmenprogramm begann und dann ei-
nen Stammplatz im sonntäglichen Kindernachmittagsprogramm der ARD
erhielt. Die Orientierung an Einschaltquoten, die nach dem Aufkommen der
kommerziellen Anbieter forciert wurde, veränderte das Kinderfernsehen vom
Angebots- zum Nachfragefernsehen. Unter den Bedingungen des dualen
Die Zeichentrickfigur
Marktes – im Jahr 2006 gab es 88 deutschsprachige Kanäle, die über Satellit
Pumuckl mit dem
Schreinermeister Eder
zu empfangen waren – wachsen pädagogisch und didaktisch ambitioniertes
(Gustl Bayrhammer) Kinderfernsehen und die Orientierung an kommerziellen Gesichtspunkten
zusammen. Seit 1995 gibt es Spartenkanäle speziell für Kinder und Jugendli-
che: SuperRTL (1995–98), Nikelodeon (seit 1997, ab 2005 als Nick), Kin-
derkanal KI.KA von ARD und ZDF (seit 1997). Die Zulassung kommerzi-
eller Anbieter in der Mitte der 80er Jahre hat weitreichende Konsequenzen
Die privaten Sender für das Kinderfernsehen: Bei den privaten Kanälen besteht Fernsehen für
Kinder vorwiegend aus Zeichentrickfilmen. SAT 1 strahlt täglich eine Stunde
Kinderzeichentrickfilme aus; auch bei Tele 5 wird das Kinderprogramm vor-
nehmlich aus den Zeichentrickserien in Bim Bam Bino bestritten, die abends
in der Sendung Cartoons wiederholt werden. In den 90er Jahren wurde die
Sendezeit für Kinderformate erstmals in die frühen Morgenstunden ausge-
dehnt. Pro Sieben etwa brachte ab 4.30 Uhr Trickfilme wie Bugs Bunny (USA
1960), Inspektor Gadget (Kanada/USA 1983), RTL 2 sendet von 6.45–16.35
Uhr Animationsfilme wie Die kleinen Superstars (Japan 1986), Wolfsblut
(Kanada/Frankreich 1991), Die Schatzinsel (Japan 1978), Die kleine Robbe
Albert (Großbritannien 1985). Bei Tele 5 wurden bis 1993 auf diese Weise
bis zu 20 verschiedene Zeichentrickserien an jedem Wochentag gesendet. Vor
allem an jüngere Kinder wenden sich Serien, die mit vermenschlichten Tieren
oder mit Kindern als Hauptfiguren arbeiten und dabei fantastische Elemente
benutzen, etwa Kimba, der weiße Löwe (Japan 1965), Heidi (Japan 1974),
Pinocchio (Japan/D 1976) und Marco (Japan 1976). Eher an ältere Kinder
wenden sich diejenigen Serien, die sich eklektisch am medialen Angebot be-
dienen und Elemente in einem neuen Kontext verbinden; Beispiele dafür sind
US-amerikanische Serien wie Ghostbusters (USA 1986), He-Man and the
Masters of the Universe (USA 1983), Bravestarr (USA 1987), She-Ra – Prin-
zessin der Macht (USA 1985), Captain Future (Japan 1977) und Mask (USA
1995). Diese Serien sind beliebt, weil sie leicht verständlich sind, die Länge
dem kindlichen Rezeptionsvermögen entgegenkommt und weil sie Identifi-
zierungsmöglichkeiten anbieten, wenn etwa eine gute kleine Figur eine böse
große Figur besiegt.
Die öffentlich- Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten reagierten auf das Angebot von
rechtlichen Sender Zeichentrickserien US-amerikanischer oder asiatischer Provenienz zunächst
mit eigenen Produktionen. Mit der Real- und Zeichentrickserie Pumuckl
(ARD/BR 1982–88), vor allem mit Janoschs Traumstunde (ARD/WDR
1986–87) und mit der überaus erfolgreichen Zeichentrickserie Simsala
Grimm (1999) sollte den japanischen Zeichentrickproduktionen eine am
Kinder- und Bilderbuch orientierte »›europäische‹ Ästhetik« (Kerstin Eßler)
gegenübergestellt werden. Allerdings mussten beide Anstalten Material hin-
zukaufen. So wurden z. T. ältere amerikanische Serien wie die Hanna Barbera
Kinderfilm und Kinderfernsehen 471
Produktionen Familie Feuerstein (USA 1960), Yogi Bär (USA 1958), Jetsons
(USA 1962) oder auch Die Schlümpfe (USA 1981) eingekauft. Die ARD sen-
dete in der Trickfilmschau und später im Disney Club Folgen mit Mickey
Maus, Donald Duck, Tom und Jerry, im ZDF liefen asiatische Produktionen
wie Die Biene Maja (Japan/BRD 1975), Sindbad (Japan 1975), Nils Holgers-
son (Japan/Deutschland 1979) und Tao Tao (Japan/BRD 1973). Dabei han-
delt es sich größtenteils um standardisierte und billig produzierte Massenzei-
chenware mit klischeehaften Figuren, die nach dem ›Kindchenschema‹ (rela-
tiv kleiner runder Körper, übergroßer runder Kopf, große Augen) gestaltet
sind. Die Inhalte sind zwar oft von literarischen Vorlagen angeregt, entfernen Herr Rossi – Figur des
sich aber vom Ausgangsmaterial und nutzen letztlich nur den absatzför- italienischen Trickfilmers
dernden Namen oder die Grundidee. Daneben kamen europäische Produkti- Bruno Bozzetto, 1960
onen wie Grisu, der kleine Drache (Italien 1975), Lolek und Bolek (Polen erfunden und 1976 im
1964) und Herr Rossi sucht das Glück (Italien 1960) in das Programm von Vierteiler Herr Rossi
ARD und ZDF. Auch neue Puppenserien wurden, neben den bewährten wie sucht das Glück endgültig
der Sesamstraße, in das Programm aufgenommen, so zum Beispiel die Tele- berühmt geworden
tubbies, die seit 1999 täglich auf dem Kinderkanal zu sehen sind und über
die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wird. Das Format ist auf die
jüngsten Zuschauer (ab dem 1. Lebensjahr) zugeschnitten, und die direkte
Ansprache durch die Figuren fördert die parasoziale Interaktion. Die Kinder
bekommen in der scheinbar direkten Kommunikation mit der Figur einen
Raum zugewiesen, in dem sie Verhaltensmuster ausprobieren oder sich In-
halte aneignen können, ohne direkt handeln zu müssen. Grelle Farben, lang-
same, zuweilen komische Bewegungen, vorhersehbare Handlung und vor
allem der kindliche Sprachgebrauch sind Merkmale, die die kindliche Ziel-
gruppe ansprechen. Die Teletubbies sind zugleich beispielhaft für die ›hori-
zontale Vernetzung‹ des aktuellen Kinderfernsehens, also seine Einbettung in
weltweite Merchandising-Verbünde über alle Medien und Marktsegmente,
vom Poster über DVD bis zur Kleidung, hinweg.
Bei der JIM-Studie 2005 wurde auch die Frage gestellt, welche Sendefor- Familien- und
mate 12- bis 19-Jährige am liebsten sehen: 54 % der Befragten antworteten Actionserien, Soaps
mit dem Hinweis auf Serien, 40 % bevorzugten Daily Soaps, 35 % nannten und Sitcoms
Sitcoms/Comedy-Sendungen. US-amerikanische Actionserien wie das Riptide
(USA 1984–86, dt. Trio mit vier Fäusten), The A-Team (USA 1983–87, dt.
Das A-Team), The Fall Guy (USA 1981–86, dt. Ein Colt für alle Fälle), Re-
mington Steele (USA 1982–87) und Matlock (USA 1986–95) sind für Ju-
gendliche attraktiv wegen ihrer überschaubaren Länge, ihren Identifikations-
angeboten, der Spannung, der eingängigen Musik und wegen des technischen
Equipments, wie dem sprechenden Superauto in Knight Rider (USA 1982–
86) oder dem Superkampfhubschrauber in Airwolf (USA 1984–86). Darüber
hinaus weisen Vorabend- und Zeichentrickserien Übereinstimmungen in ih-
rer Dramaturgie auf; beide Formate arbeiten mit kurzen, überschaubaren
Spannungsbögen und setzen in regelmäßigen Abständen Spannungshöhe-
punkte. Speziell für Kinder wurde von 1999–04 die Serie Die Pfefferkörner
(ARD/NDR/SWR) produziert, eine in der Gegenwart angesiedelte 52-teilige
Krimiserie, in der eine gleichnamige jugendliche Amateurdetektivgruppe
kriminelle Handlungen aufdeckte. In der Serie Süderhof (ARD 1991–97)
und in Die Kinder vom Alstertal (KI.KA 1998–01) wurde das Leben auf dem
Land als Szenerie genommen, in der sich spannende Geschichten ereignen.
Soaps gehören zwar zu den Fernsehserien, unterscheiden sich von ihnen
jedoch dadurch, dass sie in einer Folge keine abgeschlossene Geschichte brin-
gen, keinen Anfang definieren und narrativ auf Endlosigkeit hin angelegt
sind; Soaps zeichnen sich durch eine ›Zopfdramaturgie‹ aus, womit gemeint
472 Medien und Medienverbund
ist, dass in jeder Folge mehrere Handlungsstränge belebt werden. Sie dienen
als fiktionaler Rahmen für Werbesendungen und können entweder wöchent-
lich als Weekly Soap oder mehrmals wöchentlich als Daily Soap ausgestrahlt
werden. Die ersten Soaps in den 80er Jahren stammten aus den USA, so bei-
spielsweise Knots Landing (USA 1979–93, dt. Unter der Sonne Kaliforniens),
Dynasty (USA 1981–89; dt. Denver-Clan), Dallas (USA 1978–91) und Fal-
con Crest (USA 1981–90); erste deutsche Eigenproduktionen wie Die
Schwarzwaldklinik (1985–89), Praxis Bülowbogen (1987–96), Die Linden-
straße (seit 1985) oder Die Wiecherts von nebenan (1986–91) gibt es ab der
Mitte der 80er Jahre. Wesentliche inhaltlich-dramaturgische Kennzeichen
der Soaps sind die Inszenierung von Alltagssituationen und die Thematisie-
rung von Alltagsproblemen sowie das auf die erwachsenen Zuschauer zuge-
Soaps für Kinder und schnittene Figurenarsenal: Von der Mitte der 90er Jahre an wurden Soaps
Jugendliche auch für ein jugendliches Zielpublikum produziert, Hauptdarsteller sind Ju-
gendliche, die Figuren mit mehr oder weniger typischen Adoleszenzproble-
men verkörpern. Ein attraktives Identifikationsangebot wird dadurch ge-
schaffen, dass die Darsteller zusammen mit den Figuren und ihren Zuschau-
ern altern – Jugendliche werden so über Jahre an diese Sendungen gebunden.
Als erster deutscher Sender startete RTL im Mai 1992 mit Gute Zeiten,
schlechte Zeiten die erste Daily Soap im deutschen Fernsehen, die es bis 2006
auf über 3500 Folgen brachte. Die ARD folgte mit Verbotene Liebe (seit
1995, bis 2006 über 2700 Folgen) und Marienhof (seit 1992, bis 2006 über
2900 Folgen). SAT 1 brachte 2005 mit Verliebt in Berlin eine erfolgreiche
Serie heraus, die bereits im Jahre 2005 mit dem Deutschen Fernsehpreis und
im Jahr 2006 mit der Goldenen Rose auf dem Festival for Entertainment
Television in Luzern ausgezeichnet wurde. Zu den deutschen Produktionen
kommen US-amerikanische wie The O.C. (USA seit 2003, dt. O.C. Califor-
nia), die zweimal täglich auf Pro Sieben läuft (vgl. Tab. 5). Dass mit diesem
Format auch im Jahr 2006 noch hohe Einschaltquoten erzielbar sind, beweist
die Entscheidung von SAT 1, mit der täglich zweimal ausgestrahlten Soap
Schmetterlinge im Bauch (2006) auf Sendung zu gehen. Die ARD produziert
seit 1998 bis heute mit Schloss Einstein die erste Kinder-Soap; in den bisher
456 Folgen geht es um die Probleme von Internatsschülern der 6. und 7.
Klasse. Varianten der Soap sind die Doku-Soap wie Das wahre Leben (Pre-
miere 1994), ein Vorläufer von Big Brother, oder Höllische Nachbarn (RTL
1998–00), in der Streitigkeiten zwischen Nachbarn nachgestellt wurden, und
die Reality-Soap wie etwa Inselduell (Sat 1 Juli/August 2000), bei der es wie
in Big Brother darum ging, durch besondere individuelle Leistungen in einer
Gruppe bleiben zu dürfen. Bei Jugendlichen sind Soaps äußerst beliebt; die
Ravensburger Jugendmedienstudie hat ermittelt, dass sie auf dem zweiten
Platz der Medienpräferenzliste von Mädchen stehen.
Die Sitcom ist ein ursprünglich US-amerikanisches Genre, dessen Hand-
lung auf eine schnelle Abfolge von Pointen mit eingespieltem Lachen angelegt
ist. Inhaltlich stehen unterhaltende Themen im Vordergrund; in den 90er
Jahren fand das Genre in Titeln wie Home Improvement (USA 1991–99, dt.
Alf
Hör mal, wer da hämmert), Friends (USA 1994–04), Stromberg (2004), Mar-
ried with Children (USA 1987–97, dt. Eine schrecklich nette Familie), 8
Simple Rules For Dating My Teenage Daughter (USA 2002–05, dt. Meine
wilden Töchter) seine Ausprägung. Einer großen Beliebtheit erfreute sich
unter den Kindern und Jugendlichen die Serie Alf (USA 1986–90): In 100
Episoden sorgt die Titelfigur, ein schlagfertiger Außerirdischer, dargestellt
von einer teddybärartigen Puppe, in einer amerikanischen Kleinbürgerfamilie
für großes Durcheinander.
Kinderprogramme werden auch als ›Bedienungsreservoirs‹ oder als ›Kon- Clubformate
taktmöglichkeiten‹ für Kinder konzipiert, z. B. durch sogenannte Clubfor-
mate wie etwa den Tigerenten Club als Koproduktion von SWR, HR, MDR,
NDR und RBB. Solche Formate sind auch bei den privaten Sendern beliebt.
RTLplus brachte 1989–94 das Magazin Li-La-Launebär, RTL II ab 1993
das Magazin Vampy, Tele 5 1988–92 (auf Kabel 1 bis 1998) die Kindershow
Bim Bam Bino. Durch die Magazine führten Puppen mit jeweils mensch-
lichen Co-Moderatoren; sie enthielten klassische Cartoons, japanische Zei-
chentrickfilme, Kinderfilme und Studioaktionen. Ein wichtiger Aspekt der
modernen Clubformate ist, dass sie medial vernetzt angeboten werden; so
können sich die Kinder auf der Webseite des Tigerenten Clubs über Sendein-
halt und aktuelle Themen informieren oder Rätsel lösen. Clubcharakter ha-
ben auch die Nick-Formate Marvi Hämmer präsentiert National Geographic
World, eine bilinguale Wissenssendung, moderiert von der Studioratte Marvi
Hämmer, sowie Oli’s Wilde Welt, eine Informationssendung über das Leben
der Tiere – beide Sendungen begleitet von einem Webauftritt; dort können
Texte, Bilder und Videos heruntergeladen werden.
Seit 1995 gibt es Spartenkanäle speziell für Kinder und Jugendliche: Su- Spartenkanäle
perRTL (1995–98), Nikelodeon (1996–98, ab 2005 als Nick), Kinderkanal
von ARD und ZDF (seit 1997). Der kommerzielle Kanal Nick bringt ein
24-Stunden-Programm, das mit Spiel- und Wissensserien (Dora, Blue’s Clues
– Blau und schlau), Soaps (Zoey 101, USA seit 2005; Unfabulous, USA seit
2004) und Animationen bestritten wird. Aus der Zusammenstellung der
Sendungen an einem Tag (vgl. Tab. 3) ergibt sich, dass an diesem Tag, der
durchaus als repräsentativ gelten kann, Animationsfilme zumeist aus US-
amerikanischer Produktion 91,5 % des Gesamtprogramms ausmachen, 7 %
sind Soaps und 1,5 % Magazine. Nach dem eigenen Selbstverständnis unter-
scheidet Nick von anderen Kindersendern vor allem die Orientierung an den
Bedürfnissen der Zielgruppe: »Wir geben der Zielgruppe nicht nur, was sie
will, sondern auch was sie braucht. Die Inhalte von NICK und NICK.de sind
ausschließlich frei von Gewalt und jugendgefährdenden Inhalten und unter-
laufen einem strengen Qualitätsanspruch. NICK sendet kein Trash-Fernsehen
für Kinder, sondern wählt verantwortungsvoll Inhalte aus, die faszinieren,
474 Medien und Medienverbund
aber auch ein hohes Niveau und vielerorts einen gewissen Bildungsanspruch
erfüllen.« Die Animationsfilme, die Nick sendet, sind in Dauer und Inhalt
dem kindlichen Rezeptionsvermögen angepasst und bieten Identifikations-
rollen. Teenage Robot (USA 2003), Ren & Stimpy (USA/Kanada 1991–96),
Invader Zim (USA/Philippinen 2001–03), Rocket Power (USA 1999), Jimmy
Neutron (USA 2002) sind Zeichentrickfilme, deren Helden der Zielgruppe
im Alter nahe stehen und deren Funktion die Unterhaltung ist; SpongeBob
Schwammkopf (USA seit 1999) verbindet Unterhaltung mit pädagogischen
Botschaften wie etwa Solidaritätsappelle oder die Aufforderung, sich in Ge-
duld zu üben.
Der KI.KA sendet eine Vielfalt an Formen und Inhalten; er bietet Magazin-
und Informationsprogramme ebenso wie Serien und Spielfilme oder Trick-
und Realprogramme. Mit Schloss Einstein zeigt er die erste Kinder-Weekly
des deutschen Fernsehens, mit logo! (ZDF 1988) die erste Kindernachrich-
tensendung (werktags auf KI.KA, samstags auf ZDF): logo! hat sich zur
Aufgabe gemacht, aktuelle politische Ereignisse und allgemeine Hintergrund-
informationen in einer kindgerechten Darstellung zu präsentieren. Weitere
Kinderfilm und Kinderfernsehen 477
Beim Vergleich zwischen den verschiedenen Kanälen für Kinder (vgl. Tab. 5)
fällt auf, dass ARD und ZDF vormittags mit Sendungen aufwarten, die spä-
ter auch im KI.KA laufen; SAT 1 und Pro 7 wählen Sendungen aus, die nicht
für Kinder, sondern auch für Jugendliche und Familien gedacht sind; bei RTL
und Kabel 1 besteht das Kinderprogramm im Wesentlichen aus US-amerika-
nischen Zeichentrickfilmen der neueren Generation.
Die KIM-Studie 1999 ermittelte auch die Präferenzen von Mädchen und Was schauen Kinder
Jungen in inhaltlicher Hinsicht: Sie machte deutlich, dass in der Altersgruppe am liebsten im
der 6- bis 12-Jährigen Kindersendungen, Zeichentrickfilme und Daily Soaps Fernsehen an?
die beliebtesten Formate waren; RTL (23 % der Befragten), SuperRTL (20 %)
und Pro 7 (13 %) galten als die bevorzugten Fernsehsender. Die KIM-Studie
2005 bestätigte dieses Ergebnis und vor allem die Tendenz, dass mit zuneh-
mendem Alter die Bedeutung der Daily Soaps steigt. Der beliebteste Fernseh-
sender der 6- bis 13-Jährigen im Jahr 2005 war KI.KA (37 % der Befragten),
danach folgten RTL (15 %), RTL 2 (13 %), Pro 7 (7 %) und SAT 1 (ca.
5 %).
Für die 12- bis 19-Jährigen ermittelte die JIM-Studie 2005 als die belieb-
testen Fernsehformate Serien (ca. 54 % der Befragten), Daily Soaps (ca.
40 %) und Sitcoms/Comedy (ca 35 %). Comics/Zeichentrick und Nachrich-
ten/Info wurden von ca. einem Viertel als eine der drei Lieblingssendungen
benannt. Es zeigten sich deutliche Geschlechtsunterschiede bezüglich der
Bevorzugung bestimmter Formate: Während Mädchen Serien und Daily
Sopas bevorzugten, wählten Jungen Sitcoms/Comedy, Comics/Zeichentrick
und Nachrichten. Die beliebtesten Fernsehsender bei den 12- bis 19-Jährigen
waren im Jahr 2005 Pro 7 (40 % der Befragten), RTL (14 %) und MTV
(11 %).
Beim Vergleich der Fernsehangebote für Kinder im Jahr 2006 mit denen Fazit und Ausblick
aus den 50er oder 60er Jahren ist eine enorme Angebotssteigerung in quali-
tativer wie quantitativer Sicht festzustellen. Spätestens mit der Einführung
der Spartenkanäle zeigt sich auch ein Wechsel in der Konzeption des Kinder-
fernsehens: Nicht mehr die einzelne Sendung zählt, sondern vielmehr der
Gesamtzusammenhang der permanent ausgestrahlten Programme. Qualita-
tiv ist das Angebot naturgemäß unterschiedlich; bei den fiktionalen Produk-
tionen für Kinder lässt sich freilich insgesamt eine Typisierung hinsichtlich
der verwendeten Grundmuster, der Figurengestaltung und des dramatischen
Konflikts erkennen. Insbesondere die kommerziellen Anbieter bedienen mit
Bildern, die einer konventionellen Ästhetik folgen, den Massengeschmack.
Charakteristisch für die aktuelle Phase des Kinderfernsehens ist die ›hori-
zontale Vernetzung‹: Eine Sendung wird über alle Medien und Marktseg-
mente hinweg in den Kontext weltweiter Merchandising- und Kommunika-
tionsverbünde integriert. Diese horizontale Verflechtung bieten die Sparten-
kanäle KI.KA und Nick, aber auch Familienserien an. An der 2005 erstmals
ausgestrahlten Daily Soap Verliebt in Berlin lässt sich der Medienverbund
exemplarisch verdeutlichen: Es gibt die Internetseite mit Informationen zur
Sendung, mit Fanmagazin, Modetipps, Psychotest, Einkaufsberatung, Ge-
winnspielen, Community mit Chat, Forum und Newsletter; es wird eine CD
mit der Musik aus der Serie angeboten, wobei die User selbst über die Track-
liste entscheiden durften, und es existieren weiter ein Musik-Download-An-
gebot, ein gedrucktes Fanmagazin und ein Sammelalbum, VIB-Klingeltöne,
Logos sowie ein SMS-Dienst mit den neuesten Backstage-Infos; zu kaufen
sind auch eine DVD mit VIB-Folgen, ebenso Bücher zur Serie; es wurde ein
VIB-Abend als Live-Event mit anderen Fans und ein Gewinnspiel, dessen
Hauptgewinn Lisas Brautkleid war, organisiert; schließlich kann man VIB- Verliebt in Berlin
480 Medien und Medienverbund
Kleidung wie Strickjacke, Mütze, T-Shirt kaufen, dazu noch eine Picknickde-
cke; hinzu kommen eine Modeausstattung in Kooperation mit B.Style, ein
Online-Modeshop, der auf der VIB-Seite direkt angeklickt werden kann, au-
ßerdem eine – kostenpflichtige – Anziehberatung per SMS.
»Konturen des Die Typisierung des fiktionalen Grundmusters der Sendungen und der
Kinderfernsehens« umfangreiche Merchandising-Aufwand führten bereits zu der kritischen Di-
agnose, dass sich die »Konturen des Kinderfernsehens« aufzulösen beginnen:
»Eine ehemals beachtenswerte mediale Anstrengung, Heranwachsende über
auf ihre Themen und ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten abgestimmte Sende-
formate als Zielgruppe anzusprechen, verdampft in die Beliebigkeit über- und
transtextueller Stimuli, von denen je nach Lust oder Stimmungslage gewählt
werden kann« (Erlinger). Angesichts der Vielfalt der aktuellen Kinderformate
erscheint solche Kritik möglicherweise aber auch als zu einseitig; immerhin
lassen sich im Gegenzug einige Argumente dafür anführen, dass die aktuellen
Formate den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen durchaus angemes-
sen sind. So erzeugt gerade die horizontale Verflechtung durch den Medien-
verbund einen echten Mehrwert, und zwar nicht nur in ökonomischer Hin-
sicht. Bereits zu Ilse Obrigs Zeiten war das Fernsehen für Kinder als Mit-
mach-Fernsehen angelegt. Heute sehen die Kinder nicht länger lediglich zu,
wie andere etwas machen, sondern werden selbst gestaltend aktiv, indem sie
sich etwa in Foren über die individuellen Rezeptionen der Geschichten aus-
tauschen und dadurch Anschlusskommunikation vollziehen. Ein wesentlicher
Bestandteil der dabei geübten Kompetenz ist es, mono- wie multimediale
Texte lesen zu können. Ein Teil der Anschlusskommunikation ist auch die
Kontaktaufnahme mit dem Sender. Nach der JIM-Studie 2005 haben 18 %
der Mädchen und 15 % der Jungen schon einmal Kontakt mit einem Fern-
sehsender aufgenommen, und zwar durch Anruf (13 % der Mädchen, 11 %
der Jungen), Homepage-Besuch (10 % und 8 %), E-Mail (6 % und 5 %), SMS
(jeweils 6 %) und Brief (5 % und 3 %). Der am häufigsten genannte Grund
für die Kontaktaufnahme ist ein Gewinnspiel (64 %), an zweiter Stelle stehen
Abstimmungen (29 %). Fragen zur Sendung stellen (12 %) oder eine allge-
meine Auskunft bekommen (10 %) sind ebenso Gründe wie das Senden einer
Grußbotschaft (6 %) oder die Autogrammbestellung (1 %). Durch die multi-
medialen Verbundsysteme kann sich das relativ alte Medium Fernsehen von
seiner massenmedialen Fixierung und einseitigen Konsumorientierung lösen.
Der Zuschauer wird aus seiner passiven Beobachterrolle herausgeholt; die
Fülle der Interaktionsmöglichkeiten mit Internet oder Handy lässt ihn zu
einem aktiven Element der Sendung werden. Das Verbundsystem erhält durch
dieses sinnvolle Aufeinanderbezogensein ›alter‹ wie ›neuer‹ Medien eine sym-
mediale Qualität. Vor allem aber sind die Kindersendungen heute sehr viel
stärker den Bedürfnissen bestimmter Alterszielgruppen angepasst als früher.
Die Teletubbies bieten ein Beispiel, wie kindlicher Bewegungsdrang und die
sprachlichen Artikulationsmöglichkeiten einer bestimmten Entwicklungs-
stufe in einem kinderspezifischen Angebot realisiert werden können. Beob-
achtungen von Kindern, die die Teletubbies sehen, zeigen, dass Kinder keines-
wegs passiv vor dem Gerät sitzen, sondern sich zusammen mit den Figuren
bewegen und tanzen, reden oder singen. Eine konsequente Weiterentwicklung
dieses Angebots ist das Baby-TV für kleinste Kinder, das seit Dezember 2005
im Kabelnetz Baden-Württembergs zu sehen ist. Das Programm besteht aus
bunten Bilderfolgen von maximal zehn Minuten Länge, einfachen Animati-
onen mit eingängiger Musik; nachts soll mit ruhiger Musik und Farbflächen
der Schlaf der Kinder gefördert werden. Nicht zuletzt aber entstehen im deut-
Teletubbies schen Kinderfernsehen nach wie vor qualitativ hochwertige Produkte, die
Kinderfilm und Kinderfernsehen 481
Kindervideo, Kinder-DVD
Die Videokassette als analoges Speichermedium wurde in den 70er Jahren in Marktverteilung von
der Bundesrepublik eingeführt. Mehrere technische Systeme wetteiferten Video und DVD
miteinander, wobei sich schließlich das VHS-System gegen das konkurrie-
rende Betamax-System durchsetzte und eine marktführende Position erlangte.
Videoheimsysteme waren zunächst noch sehr teuer, und bespielte Kassetten
standen kaum zur Verfügung. Die Gerätepreise sanken jedoch drastisch, so
dass Ende der 80er Jahre Videorecorder für weniger als 600 DM im Handel
waren. Das Filmangebot erweiterte und veränderte sich kontinuierlich, 1990
waren mehr als 15 000 verschiedene Kassettenprogramme für Kinder und
Erwachsene lieferbar. Die digitalen Speichermedien begannen ihren Siegeszug
anfangs der 90er Jahre zunächst in der Form der beiden 1993 auf dem Markt
eingeführten Datenträger Video-CD (VCD) und LaserDisc (LD), auf denen
maximal 74 Minuten (VCD) bzw. 128 Minuten (LD) Videomaterial in VHS-
Qualität untergebracht werden konnten. Sie konnten sich jedoch wegen des
geringen Speicherplatzes und auch wegen geringerer Qualität gegen die VHS
nicht durchsetzen. Dies gelingt erst der DVD, die im September 1996 erst-
mals auf den Markt kommt. ›DVD‹ steht anfangs für ›Digital Video Disc‹,
zuweilen auch für ›Digital Versatile Disc‹; da auch andere als Video-Daten
darauf gespeichert werden können, hat die Abkürzung heute keine festge-
legte Bedeutung mehr. Der erste Film auf DVD war der amerikanische Katas-
trophenfilm Twister. Im Jahr 1996 gelangten die ersten Abspielgeräte in den
Handel; drei Jahre später kamen die ersten DVD-Brenner auf den Markt,
deren Preise jedoch noch bei weit über 5.000 DM lagen. Als nach 1999 die
Preise für DVD-Player in den USA auf unter 300 Dollar fielen, nahm der
Absatz rasant zu. Am 15. Juni 2003 wurden in den USA erstmals mehr DVDs
als Videokassetten ausgeliehen, und auch in Deutschland wurden seit 2001
mehr Spielfilme auf DVD verkauft als auf vorbespielten VHS-Kassetten. An-
fang 2006 wurde der offizielle DVD-Nachfolgestandard vorgestellt; auf der
HD DVD (›High Definition DVD‹) können noch größere Datenmengen un-
tergebracht werden.
1990 verfügte erst jeder zweite Haushalt über einen Videorecorder; 2005 Ausstattungsgrad
waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 70 % der Haus-
halte mit einem Videogerät ausgestattet. Während sich dieser Wert in den
letzten Jahren kaum veränderte, hat sich zwischen 2003 und 2005 der Aus-
stattungsgrad mit DVD-Playern von 26,5 % auf 50,1 % nahezu verdoppelt.
Die KIM- und die JIM-Studie bestätigen diese Entwicklungstendenz. Die
KIM-Studie stellte für 1998 in den Haushalten der befragten Kinder und
Jugendlichen einen Ausstattungsgrad mit Videorecordern von 92 % fest;
10 % der befragten Kinder hatten sogar einen eigenen Videorecorder. Im Jahr
482 Medien und Medienverbund
Tab. 6a: Die meist verkauften Kinderfilme auf DVD im Jahre 2003
12 613 DVD-Titel gespeichert, davon fast 7 800 deutsche Titel. Die wesent-
lichen Veränderungen des Video- und DVD-Markts ergaben sich in den letz-
ten Jahren vor allem aus Veränderungen im distributiven Bereich: Videos
und DVDs können mittlerweile nicht nur im Laden oder im Internet ausge-
liehen oder erworben werden, ›Video on demand‹ in der Online-Videothek
ersetzt mit zunehmendem Angebot den Gang zur Videothek. Bilder aus Fil-
men oder Trailer mit Filmausschnitten können vor dem Kauf angesehen
werden, etwa auf Seiten wie der Internet Movie Database. Das Merchandi-
Merchandising sing, die multimediale Ankündigung von Filmen, deren Zweitvermarktung
über Internet und DVD sowie die Zusatzangebote in anderen Warenseg-
menten, etwa in der Spielwarenindustrie, ist zu einem zentralen Aspekt der
Filmproduktion geworden. So gelang es bereits bei George Lucas’ erstem
Star Wars-Film (USA 1977) mit Hilfe der Zweitvermarktung mehr Geld zu
verdienen als der Film selbst einspielte. Heute erbringt der Verkauf von
DVD-Filmen gut die Hälfte der Einnahmen der großen Filmstudios. Aller-
dings mehren sich die Anzeichen für eine Stagnation auf dem DVD-Markt,
da die Industrie mittlerweile die meisten Filme und Serien auf DVD heraus-
gebracht hat. Der Kindervideo- und DVD-Markt wird in erster Linie von
amerikanischen Firmen bestimmt: Disney/Buena Vista, Fox, Warner Bros.,
TriStar sind die Firmen, die die meisten DVD- und Video-Produktionen auf
dem deutschen Markt haben. Deutsche Produktionsfirmen sind Kiddnix,
UFA/Universum und Universal. Als spezialisierter Hersteller für Bildstellen
und Schulen bietet das FWU Institut für Film und Bild ein Programm an-
spruchsvollerer Kinderfilme, didaktischer Diareihen, 16mm Filme sowie Vi-
deos und DVDs für Lehrende und Lernende; seit 2001 bietet das FWU die
Möglichkeit, Videofilme in digitalisierter Form über das Netz abzurufen.
das Computerspiel immer beliebter, was nicht zuletzt auf Bemühungen der
Hersteller zurückzuführen ist, ein zielgruppenspezifisches Angebot auf den
Markt zu bringen. Die gegenwärtige Bedeutung der Video- und Computer-
spiele lässt sich nicht zuletzt an ihrer Wirtschaftskraft bemessen. Schon seit
einigen Jahren liegt der weltweite Umsatz in etwa so hoch wie der, den die
Spielfilmindustrie an den Kinokassen erzielt, wobei allerdings berücksichtigt
werden muss, dass die Zweitvermarktung der Kinofilme (Video, DVD, Fern-
sehrechte) den weitaus größeren Anteil am Gesamtumsatz der Spielfilmin-
dustrie ausmacht. Beide Unterhaltungsmedien sind indes eng miteinander
verwoben, denn die Besitzer der großen Hollywood-Studios betreiben alle
entweder eigene Softwareschmieden oder sind an solchen finanziell beteiligt.
Struktur und Ästhetik des Computerspiels sind nachweisbar in viele Kino- Computerspiele
filme der letzten Jahre eingeflossen, so z. B. in die Matrix-Trilogie der Brüder im Medienverbund
Wachowski (USA 1998–2003). Auch inhaltlich ist das Computerspiel längst
fest in den Medienverbund integriert. Heute kommt kein Hollywood-Famili-
enfilm mehr in die Kinos, ohne dass flankierend ein passendes Videospiel
verkauft wird. Umgekehrt wandern aber auch Spielgeschichten vom Compu-
ter auf die Kinoleinwand, man denke etwa an Abenteuer um die weibliche
Superheldin Lara Croft (Tomb Raider, USA ab 1996). Hörspiel und Buch
sind ebenfalls eng mit dem Computer- und Videospiel verwoben. So gibt es
etwa zu der beliebten Kinderhörspielserie TKKG von Stefan Wolf ein großes
Angebot an gleichnamigen Detektivspielen für den PC (Tivola 1997 ff.);
ebenso haben zahlreiche Kinderbücher ihre mediale Fortsetzung auf dem
Computer gefunden, z. B. Astrid Lindgrens Ronja Räubertochter (Oettinger
interactive 2000) oder Paul Maars Sams-Geschichten (Tivola 1998/2004).
Dass sich Computerspiele zu einem festen Bestandteil der Unterhaltungs-
kultur entwickeln würden, war am Anfang ihrer Geschichte nicht abzusehen.
Grob kann man vier Phasen unterscheiden, wobei Technikgeschichte, Genre- Vier Phasen
geschichte sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf das engste miteinan-
der verknüpft sind. Wie das auch bei Epochen der Literaturgeschichte der
Fall ist, schließen die Phasen nicht nahtlos aneinander an, sondern überlap-
pen sich, ja im Grunde genommen dauern sie alle bis heute fort.
Als vorindustrielle Phase kann man den Zeitraum zwischen 1950 und
1972 bezeichnen. Sofern man unter einem Computerspiel ein Spiel versteht, Phase I: Vorindustrielle
das es dem Menschen erlaubt, mit und gegen den Computer zu spielen, Entwicklungen
wurde es 1952 geboren: In diesem Jahr wurde an der University of Cam-
bridge im Rahmen einer Dissertation ein Programm eingereicht, mit dessen
Hilfe man Tic Tac Toe (auch bekannt als XOX) auf dem Universitätsrechner
spielen konnte, und zwar bereits mit einer graphischen Datenausgabe. Der
berühmte Mathematiker Alan Turing legte schon 1951 erste theoretische
Entwürfe zur Algorithmisierung des Schachspiels vor. Es dauerte aber noch Schach und andere
bis ins Jahr 1956, bis mit Los Alamos Chess ein schachähnliches Computer- Gesellschaftsspiele
spiel lauffähig gemacht werden konnte (John von Neumann u. a.).
Viele Menschen nahmen besorgt zur Kenntnis, dass 1997 erstmals eine
Maschine in der Lage war, den damals amtierenden Schachweltmeister Garri
Kasparow zu schlagen (Deep Blue, IBM). Damit schienen Traum und Alp-
traum der Künstlichen Intelligenz in greifbare Nähe gerückt zu sein. Aber der
Computer simulierte ebenso wenig wie alle anderen erfolgreichen Schach-
programme menschliches Denken, sondern arbeitete mit reiner Rechenleis-
tung (Brute Force-Programmierung). Schachprogramme für den Heiman-
wender sind heute so stark, dass selbst Großmeister Schwierigkeiten haben,
sie zu schlagen (aktuell Shredder 11, Junior 10, Fritz 10). Gegen eine profes-
sionelle Version der Fritz-Software (Deep Fritz) blieb selbst der amtierende
486 Medien und Medienverbund
feld hinweg den Gegner unter Beschuss zu nehmen. Das Spielprinzip (game-
play) ähnelt dem von Tennis for Two, denn es handelt sich auch hier um einen
Wettkampf für zwei Personen mit einem Computer als Spielmaterial. Anders
als das erste Videospiel fand aber Spacewar! eine größere Verbreitung. Der
Technikmythos erzählt: Die Studienzeiten vieler Studenten an US-amerika-
nischen Universitäten seien sprunghaft in die Höhe geschnellt, weil sie mehr
Zeit mit Spacewar! als mit ihrem Studium verbrachten. Fest steht, dass
Spaceware! die Idee des Computerspiels in die Köpfe zahlreicher junger
Leute pflanzte, eben jener Generation, die in den kommenden Jahren die
kommerzielle Fortentwicklung der Computerspiele entscheidend prägen
sollte, als Produzenten wie als Konsumenten. Auch hatte mit Spacewar! ein
weiteres Genre das Licht der Monitore erblickt: das Ballerspiel oder ›Shoot
’em up‹.
Phase II kann als die TV-Konsolen- und Arcade-Zeit überschrieben wer- Phase II: Konsolen-
den und markiert den Übergang zur Kommerzialisierung des Computerspiels und Arcadespiele
(1972 – ca. 1985). Bereits im Jahr 1966 entwarf der Fernsehtechniker Ralph
Baer zusammen mit anderen Mitarbeitern den Prototyp eines Spielgeräts für
den heimischen Fernseher und erfand dafür in den Folgejahren mehrere Spiel-
ideen, darunter Sportspiele nach Art des Tennis for Two. Als äußerst schwie-
rig erwiesen sich dabei nicht die technischen Probleme, sondern die der Ver-
marktung. Erst 1972 kam mit Odyssee tatsächlich die erste TV-Konsole auf
den Markt. Angenommen wurde sie von diesem aber nur mäßig, was am re-
lativ hohen Preis und recht bescheidenen Grafikeigenschaften gelegen haben
mag.
Der Erste, der mit Videospielen kommerziell erfolgreich war, ist Nolan
Bushnell. Bushnell gehörte zu jenen Studenten, die an Universitätsrechnern
enthusiastisch Spacewar! gespielt hatten. 1971 adaptierte er das Spiel unter
dem Namen Computer Space technisch so, dass daraus ein Münzspielauto-
mat für Spielhallen (amerikanisch ›arcade‹) entstand. Nachdem Computer
Space dem Hersteller nicht den erhofften Gewinn brachte, gründete Bushnell
mit anderen Ingenieuren 1972 seine eigene Firma Atari (nach einer bestimm- Computer Space
ten Stellung im asiatischen Go-Spiel). Ataris erstes Gerät hieß Pong und war
sofort ein großer Renner in den Spielhallen. Es glich nicht nur dem ersten
Videospiel Tennis for Two, sondern zeigte vor allem deutliche Parallelen zu Erstes erfolgreiches
einem der Spiele, die Ralph Baer für die Odyssee-Konsole entwickelt hatte Arcadespiel: »Pong«
(wodurch sich Atari auch gleich einen Prozess einhandelte). Der beispiellose
Erfolg von Ataris Spielautomat rief zahlreiche Trittbrettfahrer auf den Plan,
so dass 1974 in praktisch jeder US-amerikanischen Kneipe oder Spielhalle
ein Gerät mit einer Variante des Teletennis stand. Auch in Japan, wo Spiel-
hallen traditionell ein großes Publikum anziehen, begann man Arcade-Games
zu produzieren. Schon 1973 entwickelte die Firma Taito mehrere Videospiele,
darunter auch einen Pong-Klon. Ähnliche Akzeptanz wie Pong fanden in den
folgenden Jahren z. B. Tank, ein ›Shoot ’em up‹ für zwei Spieler (Atari/Kee
Games 1974), oder die Rennsimulation Night Driver (Atari 1976), die als
erstes Videospiel eine ›First-Person‹-Perspektive bot: Der Spieler sah den
Streckenverlauf ähnlich, wie der Fahrer im Cockpit eines Autos. Ein weiterer
Klassiker, der bis heute in verschiedenen Versionen gespielt wird, ist Break-
out aus dem Jahr 1976. Das Ein-Personenspiel verlangt vom Spieler, mit
Hilfe eines Schlägers und eines Balls eine virtuelle Mauer abzubauen. Pro-
grammiert wurde Breakout für Atari von Steve Jobs und Steve Wozniak, die »Breakout« und
ein Jahr später Apple-Computer gründeten. Sensationellen Erfolg hatte Taito »Space Invaders«
1978 mit dem Weltraum-Ballerspiel Space Invaders, entwickelt von Toshi-
hiro Nishikado. Sich gegen angreifende Aliens mit einer mobilen Laserka-
488 Medien und Medienverbund
none zu verteidigen, faszinierte weltweit mehr Spieler als die im gleichen Jahr
erstmals produzierten Automaten mit Vektor-Grafik (Space Wars, Cine-
matronics), die einen dreidimensionalen Raum simuliert. Seit Anfang 2000
dekoriert ein bislang unbekannter Künstler unter dem Pseudonym »Invader«
Pariser Gebäude mit kleinen Mosaiken, die Figuren aus dem Spiel zeigen.
Seine subversiven Stadtmarkierungen gelten heute als wichtige touristische
Anziehungspunkte der Metropole, was nicht zuletzt die popkulturelle Bedeu-
tung von Videospielen im Allgemeinen und Space Invaders im Besonderen
demonstriert. Computerspielgeschichte schrieb zu Beginn der 80er Jahre
auch Pac-Man (Namco/Bally/Midway 1980), das der Japaner Toru Iwatani
»Pac-Man« erfunden hatte. Pac-Man ist eine kleine gelbe Scheibe, die auf ihrem Weg
durch ein Labyrinth unaufhörlich Punkte und Früchte frisst, immer auf der
Flucht vor ein paar stilisierten Monstern, die ihm nach dem Leben trachten.
Pac-Man gilt als die erste Videospielfigur mit Kultcharakter; das Nachrich-
tenmagazin Times wählte sie 1981 sogar zum »Mann des Jahres« und bis
heute werden Varianten für die verschiedensten Spielsysteme programmiert.
Auf ein ähnlich langes Leben kann bislang nur eine weitere Figur zurückbli-
cken, die 1983 die Spielhallen eroberte: der italienische Klempner Mario.
Sein erstes Abenteuer musste Mario gegen den dummen Affen Donkey Kong
(so auch der Name des ersten Automaten) bestehen, der eine Prinzessin auf
ein Baugerüst entführt hatte. Um sie zu befreien, musste der Spieler die Figur
Mario das Baugerüst hinaufklettern lassen, wobei eventuell fehlende Gerüst-
teile übersprungen wurden. Donkey Kong machte Mario (und dem Spieler)
zusätzlich das Leben schwer, indem er von oben alle möglichen Gegenstände
hinunterwarf. Ihnen konnte Mario ausweichen, sie überspringen oder es ge-
Donkey Kong lang ihm, die Gegenstände zu vernichten, wozu ihm verschiedene, auf dem
Gerüst einzusammelnde Werkzeuge dienten. Mit Donkey Kong etablierte
sein Erfinder Shigeru Miyamoto ein weiteres Genre unter den Computerspie-
len, das vor allem jüngere Spieler nach wie vor fasziniert: die ›Jump ’n Runs‹,
Genre Jump ’n Run so benannt nach den beiden wichtigsten Bewegungen der Spielfigur. ›Jump ’n
Runs‹ sind heute zumeist das erste Genre, mit dem schon 6-Jährige in die
Welt der Computerspiele einsteigen. Und groß gemacht hat es einen der
wichtigsten Global Player im Computerspielgeschäft, die japanische Firma
Nintendo, für die Donkey Kong programmiert wurde. Mit den ›Jump ’n
Runs‹ endeten im Wesentlichen die Ideen, die für Automatenspiele entwickelt
worden sind. Ein Subgenre wie die ›Beat ’em ups‹, das vom Spieler erfordert,
in der Rolle eines Kampfsportlers gegen mensch- oder computergesteuerte
Gegner anzutreten, kann als Variante der Sportspiele und der ›Shoot ’em ups‹
charakterisiert werden (Street Fighter, Capcom 1987 und zahlreiche Nach-
folger; Mortal Combat, Midway 1992 und zahlreiche Nachfolger). In
Deutschland prangerten Jugendschützer bei vielen Spielen des Genres an,
dass sie die Anwendung von Gewalt verharmlosen würden. Nicht wenige
Titel wurden in den 90er Jahren indiziert, manche sogar gänzlich beschlag-
nahmt (Mortal Combat II, 1993).
Spektakuläre Neuerungen fanden die Hersteller der Arcades vor allem in
Veränderungen der Peripherie, die immer aufwändiger gestaltet wurde.
Schießstände, Flugzeugcockpits oder ganze Motorräder umgaben und umge-
ben die Monitore der Automaten. Eine weitere Steigerung des Immersionsge-
Cyberspace-Spiele fühls erhofften sich die Entwickler Anfang der 90er Jahre mit Cyberspace-
Ausrüstungen. Der Spieler setzte sich einen Datenhelm auf, in dem kleine
Flachbildschirme ein stereoskopisches Bild erzeugten. Zudem registrierte der
Helm jede Kopfbewegung, so dass man den Eindruck bekommen konnte,
sich in einem virtuellen Raum zu befinden. Agiert wurde im Cyberspace mit
Computer- und Videospiele 489
einem Datenhandschuh (data glove), und es wurde schon von ganzen Daten-
anzügen geträumt, die in wenigen Jahren zur Verfügung stünden. Geblieben
davon ist nichts. Absehen davon, dass sich die Cyberspace-Geräte als sehr
teuer und störanfällig erwiesen, Soft- und Hardware noch weit davon ent-
fernt waren, einigermaßen realistische Bilder zu erzeugen − die Idee, voll-
kommen in einen künstlichen Raum integriert zu sein, traf offenbar nicht das
Bedürfnis der Nutzer.
Dass die Computerspiele Anfang der 70er Jahre von den Universitätsrech-
nern in die Arcades umzogen, hatte in mehrfacher Hinsicht erhebliche Fol-
gen. Das Spielhallenpublikum bestand und besteht in den USA überwiegend
aus Jugendlichen und kleinen Angestellten; für Europa kommt noch ein
Halbwelt-Image hinzu, das den Spielstätten anhaftet. Dies brachte den Video-
spielen den Ruf ein, ein billiges, ästhetisch minderwertiges und pädagogisch
zweifelhaftes Vergnügen zu sein. In dieser Hinsicht ähnelt die Geschichte der
Computer- und Videospiele der des Spielfilms in seinen Gründerjahren. Um
breitere Bevölkerungsschichten für das Computerspiel zu gewinnen, begann
man sehr bald, Ralph Baers Idee der Videospielkonsole für den heimischen
Fernseher wieder aufzugreifen (z. B. Home Pong, Atari 1974/1975). Eine
einschneidende Innovation brachte die Verwendung von Mikroprozessoren,
denn so ausgestattete Geräte konnten immer wieder mit neuen Spielen be-
stückt werden, deren Programm auf kleinen ROM-Steckmodulen, sogenann-
ten Cartridges, gespeichert war (z. B. Video Computer System, VCS, Atari
1977). Dieses Konstruktionsprinzip verwenden die Videospielkonsolen noch Videokonsolen
heute, wenn auch die meisten Hersteller inzwischen auf CD-Roms oder mit Modulen
DVDs als Speichermedium zurückgreifen. Die ersten Konsolen waren den
Arcade-Games technisch weit unterlegen, vor allem was ihre Bildästhetik
betraf. Für die Geschichte der Kinder- und Jugendmedien sind sie trotzdem
von herausragender Bedeutung, weil mit dem Einzug der Videospiele in die
Wohnzimmer erstmals Kinder Zugriff auf Computerspiele bekamen und das
neue Medium begeistert aufnahmen. Arcade-Games sind auf ein schnelles
Vergnügen hin konzipiert: Jedes Spiel dauert nur wenige Minuten, dann
muss der Nutzer neue Münzen einwerfen. Komplexe Spielverläufe sind folg-
lich von den Herstellern gar nicht intendiert und wären auch von den Spie-
lern nicht akzeptiert worden. Mit einem Konsolenspiel kann man sich hinge-
gen sehr viel länger beschäftigen. Weil aber die ersten Konsolenspiele lediglich
Arcade-Konzepte übernahmen, wurde dieses Potenzial für neue Spielideen
anfangs nicht genutzt. Die entscheidenden Impulse dafür kamen wiederum
aus den Universitäten: So existierten Mitte der 70er Jahre auf vielen Groß-
rechnern Versionen des Spiels Hammurabi, dessen Ziel es ist als Herrscher
eines imaginären mesopotamischen Königreiches geschickte Wirtschaftspoli-
tik zu betreiben. Hammurabi ist der Prototyp der Simulationen komplexer Genre Simulation
Systeme, dessen bekannteste Vertreter heute die Städteplaner-Simulation
SimCity (Will Wright, Maxis 1990; Varianten bis heute), die Wirtschaftssi-
mulation Anno 1603 (Maxdesign, Sunflowers 1998; Varianten bis heute)
und die vor allem bei Frauen beliebte Sozialsimulation Die Sims (Maxis,
Electronic Arts 2000; Varianten bis heute) sein dürften. Noch bedeutender
für die Geschichte der Computerspiele sind aber in den 70er Jahren zwei
andere Programme gewesen. Anfang des Jahrzehnts war ein neuer Typ von
Gesellschaftsspiel entstanden, der insbesondere viele Studenten begeisterte:
das Paper-and-Pencil-Rollenspiel (z. B. Dungeons & Dragons, 1974). Die Genre Rollenspiel
Spieler schlüpfen in die Rollen verschiedener Figuren einer Fantasy-Welt,
deren Charakter nach einem bestimmten Regelwerk zusammengesetzt wird.
Charaktereigenschaften können beispielsweise Mut, Intelligenz, Stärke oder
490 Medien und Medienverbund
Kinder am Commodore
C64
Fortsetzungen; die Reihe wurde erst 1999 abgeschlossen. Eine Schwäche der
frühen Personalcomputer waren ihre sehr eingeschränkten Grafikmöglich-
keiten; als Ausgabemedium dienten meist nur Monochrom-Monitore. Für
Textadventures spielte das keine Rolle, wohl aber für alle Spiele in der Ar-
cade-Tradition. In diese Lücke stieß 1981 Commodore mit dem Homecom-
puter VIC 20 und vor allem mit dem Nachfolgemodell C64 (1982). Wie die Commodores
Spielkonsolen nutzten Commodores Computer für die Massen den Fernseher Computer
und waren in der Lage, Farbgrafiken wiederzugeben. Als frei programmier-
bare Rechner konnte man damit zwar theoretisch alle möglichen Software-
produkte laufen lassen – z. B. Textverarbeitung und Lernsoftware –, de facto
wurden sie aber hauptsächlich zum Spielen verwendet, zumal auch ein
Schacht für Cartridges vorhanden war. Innerhalb weniger Monate waren
alle bekannten Arcade-Spiele für den C64 von kommerziellen oder privaten
Programmierern nachgebaut worden. Dies führte 1982/83 zu einem Rekord-
verlust bei den Herstellern von Videospielkonsolen und trieb zahlreiche
Spielhallen mangels Kundschaft in den Ruin (›The Great Video Game
Crash‹).
Die pädagogische Diskussion um die Gefahren der Computerspiele hängt Pädagogische
eng mit Commodores Volkscomputern zusammen: Da gab es (und gibt es bis Diskussion
heute) das Problem der Raubkopien, denn mit Hilfe spezieller Peripherie
(Datasette, Diskettenlaufwerk) konnte man leicht Spiele vervielfältigen. Ab- Raubkopien
wehrmaßnahmen der Hersteller fruchteten nichts, denn Kopierschutzein-
richtungen wurden von findigen Tüftlern innerhalb weniger Wochen außer
Kraft gesetzt (gecrackt). So setzte auf den Schulhöfen ein schwunghafter,
aber illegaler Tauschhandel mit Computerspielen ein, der kaum unter Kon-
trolle zu bekommen war (und ist). Zum Zweiten waren keineswegs alle
Spiele von so harmloser Natur wie Pac-Man. Prügelspiele vom Typ Mortal Indizierung wegen
Combat, ›Shoot ’em ups‹ mit realistischem Kriegshintergrund und Spiele se- Gewaltverherrlichung
xuellen Inhalts gab es auch für den Kinder- und Jugendzimmercomputer von
Commodore. Zwar etablierte sich schnell eine rege Indizierungspraxis (die
492 Medien und Medienverbund
man vom heutigen Standpunkt her als überzogen einstufen muss), die Ver-
breitung der Spiele konnte damit allerdings nicht eingedämmt werden, im
Gegenteil: Gerade solche Spiele zu kopieren und im Freundeskreis zu vertei-
len, hatte für nicht wenige Jugendliche einen besonderen Reiz. Und schließ-
lich nutzten rechtsradikale Kräfte das neue, attraktive Medium, um via
Computerspiel ihre krude und menschenverachtende Weltanschauung zu
Nazi-Ware verbreiten. Anti-Türkentest, Hitler Diktator oder Clean Germany waren Ti-
tel, die für den C64 programmiert worden waren. Empirische Erhebungen
zeigten, dass diese Spiele tatsächlich vielen Jugendlichen bekannt waren. Ihre
Akzeptanz war gleichwohl äußerst gering, was nicht zuletzt damit zusam-
menhing, dass sie den gestiegenen Ansprüchen an ein interessantes Compu-
terspiel nicht genügen konnten. Spiele aus Kreisen der Neonazis sind heute
kaum mehr präsent. Nicht selten wurden und werden aber Spiele in Deutsch-
land indiziert, weil sie nationalsozialistische Symbole verwenden, obwohl
der Spielinhalt eindeutig gegen den Nationalsozialismus gerichtet ist. Diese
Praxis führt im Ausland häufig zu Kopfschütteln, zumal man es in den angel-
sächsischen Ländern gewohnt ist, nationalsozialistische Medienfiguren als
typisierte Inkarnation des Bösen zu betrachten.
Fortschritte bei den Spielideen waren vor allem im Bereich der Denk-,
Strategie- und Adventure-Games zu verzeichnen. Die wesentliche Neuerung
unter den Adventure-Games bestand in der konsequenten Weiterentwicklung
der Grafikadventures, deren Interface nicht mehr in Texteingaben, sondern
in anzuklickenden Symbolen und direkter Steuerung einer oder mehrerer
Spielfiguren bestand (Point-and-Click-Prinzip). Prototyp dafür war das Co-
mic-Abenteuer Maniac Mansion (Ron Gilbert; Lucasfilm Games, heute Lu-
casArts, 1987), dessen zweiter Teil 1993 unter dem Titel Day of the Tentacle
erschien. Weitere erfolgreiche Reihen, die alle bis Ende der 90er Jahre fortge-
führt wurden, sind Space Quest, Police Quest und Kings Quest. Wie schon
an den Titeln ersichtlich, orientierte man sich bei den Adventures inhaltlich
an Film- und Literaturgenres, was die Nähe der Adventures zum traditio-
nellen Erzählen zeigt.
Strategiespiele ähneln Brettspielen vom Typ Risiko (Albert Lamorisse,
Hasbro, 1957) und repräsentieren wie diese vielfach kriegerische Auseinan-
dersetzungen, die man als geschickter Feldherr zu bestehen hat (z. B. Empire,
Mark Baldwin, Interstel 1987; Battle Isle, Blue Byte 1991; Dune 2, West-
Genre Strategiespiel wood 1993, das erste Echtzeit-Strategiespiel; Command & Conquer, West-
wood 1995). Unter den Subgenres ist vor allem die ›Göttersimulation‹ her-
vorzuheben, bei der der Spieler gottgleich Welten neu zu erschaffen und gegen
das Böse zu verteidigen hat (Prototyp Popolous von Peter Molyneux, Bulfrog
1989; aktuell Black and White II, Lionhead Studios 2005). Zu den erfolg-
reichsten Computerspielen überhaupt gehört Sid Meiers Civilization (Micro-
prose 1991 ff.), ein Globalstrategiespiel, bei dem ein Volk wissenschaftlich,
kulturell, ökonomisch, diplomatisch und militärisch von der Steinzeit bis in
die Zukunft geführt werden soll.
Ab Mitte der 80er entstanden einige Klassiker, deren Spielprinzip den
Puzzles ähnelt und die bis heute in Variationen gespielt werden (z. B. Soko-
ban, Hiroyuki Imabayashi, Spectrum Holobyte 1982). Das bekannteste
Computerspiel der Welt, auf allen Plattformen zu Hause, dürfte Tetris sein,
das 1985 von dem russischen Wissenschaftler Alexej Padschitnow erfunden
wurde. Der Spieler muss dabei herunterfallende Puzzleteile blitzschnell so
drehen und dirigieren, dass im Auffangbehälter geschlossene waagrechte
Reihen entstehen. Ab 1991 bis heute können sich Computerspieler daran
Tetris versuchen, möglichst viele Lemminge vor dem sicheren Verderben zu retten
Computer- und Videospiele 493
kaufen. Nintendo kombinierte nun die Idee der Card-Games mit der der
Konsolen – und heraus kam 1989 der erste Game Boy. Ausgeliefert wurde
das Gerät mit Tetris auf einer Minicartridge, was wohl das Klötzchenpuzzle
zum meist verbreiteten Computerspiel machte. Der Game Boy brachte Com-
puterspiele endgültig in die Kinderzimmer, so dass heute eine Mediensoziali-
sation ohne sie kaum mehr denkbar erscheint. Unter den Genres sind es vor
allem ›Jump ’n Runs‹ vom Typ Super Mario World und Action-Spiele, die auf
den Handhelds dominieren. Die Vielfalt der Spiele führte in Phase III zu zahl-
reichen Zeitschriftengründungen, die als Metamedien ihren Lesern Orientie-
Zeitschriften rung bieten wollen. Bis heute gibt es in Deutschland etwa 25 Computerspiel-
magazine, wobei auch die Tagespresse mittlerweile in regelmäßigen Abstän-
den über Neuheiten berichtet.
Phase IV: Online- Phase IV in der Entwicklung der Computerspiele schließlich ist durch die
Spiele weltweite und massenhafte Verbreitung von Online-Anschlüssen gekenn-
zeichnet. Im Jahr 2006 hatten Haushalte mit Kindern zwischen 6 und 13
Game Boy Jahren zu über 75 %, mit Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren sogar zu
über 90 % einen Internetzugang. Das erste Online-Spiel wurde schon 1979
an der britischen Universität Essex programmiert und begründete das gleich-
Phase IV namige Genre ›MUD‹ (›Multi-User-Dugeon‹). Es handelt sich um textbasierte
Adventure- und Roleplaying Games, in denen sich mehrere Spieler gleichzei-
tig bewegen können. Neben dem Lösen von Rätseln (quests) liegt der Reiz
solcher Spiele vor allem in der Kommunikation mit Anderen. Ein virtuelles
Alter Ego, nach einem Science Fiction Roman des Amerikaners Neal Ste-
phenson (Snow Crash, 1992) als ›Avatar‹ bezeichnet, muss nicht das gleiche
Geschlecht haben wie das des menschlichen Puppenspielers, was virtuelles
Gender Switching möglich macht. Neben Avataren bevölkern die ›MUD‹s
auch programmierte Figuren (Nicht-Spieler-Figur, NSF), die freilich leicht an
ihrem Gesprächsverhalten zu erkennen sind. Mit Avataren kann man nicht
nur analog zu den Chats plaudern, viele Spiele erfordern sogar Zusammen-
MMORPG schlüsse mehrerer Spieler (Gruppe, Gilden), um sie erfolgreich zu bewältigen.
Die Universitäten verließen ›MUD‹s in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, als
sie zu den graphisch unterstützten ›MMORPG‹s (›Massive Multiplayer On-
line Roleplaying Games‹) weiterentwickelt wurden. Das erste kommerziell
erfolgreiche ›MMORPG‹ ist Ultima Online (Origin 1997), gefolgt von Ever-
Quest (Verant Interactive 1999), Final Fantasy XI (Squaresoft 2002) und vor
allem World of Warcraft (Blizzard Entertainment 2005), die weltweit meh-
rere Millionen Spieler beschäftigen. Online gespielt werden auch Strategie-
spiele vom Typ StarCraft (Blizzard Entertainment 1998) und Actionspiele
wie das schon erwähnte Counterstrike. Eine Besonderheit sind seit Mitte der
LAN-Party 90er Jahre die sogenannten LAN-Partys, bei denen Jugendliche und junge
Erwachsene ihre Rechner zu einem lokalen Netz (Local Area Network) ver-
binden, um solche Spiele gegen- und miteinander in einer geschlossenen
Nutzergruppe zu spielen. Die Größe solcher Veranstaltungen reicht von der
privaten Kellerparty bis zum kommerziellen LAN-Event für mehrere tausend
›E-Sportler‹, die in Mannschaften (Clans) an einem Wochenende um Ruhm,
Ehre und Siegprämien kämpfen.
In Phase IV wurden auch die Spielkonsolen ständig weiterentwickelt (Nin-
tendo 64, 1996; Game Cube, 2001; Wii 2006; Sony Playstation 2, 2000;
Fortentwicklung Playstation 3, 2007). Dem größer werdenden Konkurrenzdruck zeigte sich
der Konsolen SEGA mit der letzten Konsole Dreamcast (1998) nicht gewachsen und stieg
2001 aus dem Konsolengeschäft aus. Dafür eroberte Microsoft mit der neuen
X-Box im gleichen Jahr wichtige Marktanteile. Technisch nähern sich die
Konsolen mehr und mehr vollwertigen Computern, auch im Preis. Nintendo
Fazit 495
konzentriert sich auf die Zielgruppe der jungen Spieler und Spielerinnen,
weshalb die Konsolen verhältnismäßig günstig verkauft werden. Sony und
Microsoft setzen dagegen auf ein eher erwachsenes Publikum und verlangen
für ihre aktuellen Konsolen in etwa soviel wie für einen Einsteiger-PC. Alle
derzeitigen Konsolen sind online-fähig; auf X-Box und Playstation kann man
zusätzlich auch Video-DVDs abspielen. Dementsprechend gibt es für Konso-
len nun auch alle Genres, die ehedem eher PC-spezifisch waren, wie etwa
Rollenspiele, Adventure-Games oder Strategiespiele. Als eine neue konsolen-
spezifische Innovation kann die Reihe EyeToy (für Playstation) hervorgeho-
ben werden, bei der der Spieler vor einer kleinen Kamera agiert und bei-
spielsweise pantomimisch Tischtennis gegen einen virtuellen Kontrahenten
auf dem Fernsehschirm spielen kann. Diese Idee übernahm Nintendo für die
Konstruktion der Wii-Konsole (2006): Die Steuerung der Spiele über Kör-
perbewegungen, abgetastet mit Infrarot-Strahlen, ist hier tragendes Prinzip.
Nintendo versucht damit eine konsoleneigene Spielästhetik zu entwickeln,
die sich von PC-Spielen absetzt. Technisch weiterentwickelt wurden auch die
Handhelds: Nintendo brachte nach Game Boy-Versionen mit Farb-LCD
(Game Boy-Color, 1998; Game Boy Advance, 2001) ein neuartiges Gerät mit
Doppel-Bildschirm auf den Markt, wobei einer der Bildschirme als Touch-
screen funktioniert. (Nintendo DS, 2004; DS-lite, 2006). Außerdem besitzt
die Taschenkonsole eine Online-Schnittstelle, so dass mehrere Spieler draht-
los miteinander agieren können, auch über das Internet. Insbesondere der
Touchscreen sorgte für neuartige Spielideen. Vor allem bei Mädchen beliebt
war etwa Nintendogs (2005), bei dem sich die Spielerin um einen virtuellen
Hund kümmern muss, der z. B. über den Touchscreen gestreichelt werden
will. Das Spiel erinnert von der Konzeption an Tamagotchi von Aki Maita, »Tamagotchi«
ein überaus erfolgreiches japanisches Card-Game zur Aufzucht eines virtu-
ellen Lebewesens, das in zwei Wellen die Schulranzen eroberte (Bandai 1996,
2004 ff). Mit Sonys Playstation Portable (PSP) hat Nintendo seit 2004 erst-
mals ernsthafte Konkurrenz auf dem Gebiet der Handhelds bekommen. Da-
bei wartet die PSP vor allem mit Multimediafähigkeiten auf, z. B. mit der
Option, Spielfilme auf der Kleinkonsole anzusehen. Erwähnenswert ist
schließlich noch der wachsende Markt der Handy Games (Mobile Gaming). Mobile Gaming
Einfache Spiele wie etwa Tetris wurden und werden vielfach von den Her-
stellern fest installiert. Inzwischen besteht aber auch die Möglichkeit, neue
Spiele von Mobilfunkdienstleistern wie JAMBA! kostenpflichtig zu beziehen.
Mit Recht kann man feststellen, dass heute Computer- und Videospiele das
mediale Alltagsleben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen auf Schritt
und Tritt begleiten.
Fazit
Thomas Möbius
dien und ist selbst die Plattform für spezifische Angebote wie etwa Compu-
terspiele. Auch Videos und DVDs können mittlerweile nicht nur im Internet
ausgeliehen oder erworben werden, ›Video on demand‹ in der Online-Video-
thek ersetzt mit zunehmendem Angebot den Gang zur Videothek. Die Kon-
zentration auf den Computer wirkt sich grundlegend auf die den Bedürfnis-
sen der Altersgruppe angepassten Inhalte und die Strukturen der Angebots-
seite aus, die einer horizontalen Verflechtung unterliegen und auf diese Weise
einen echten symmedialen Mehrwert in ökonomischer und in mediendidak-
tischer Hinsicht realisieren. Diese Verflechtung ermöglicht eine individuelle
Rezeption der Medienangebote, die vereinfachte Anschlusskommunikation
dient der Ausbildung der Kompetenz, mono- wie multimediale Texte lesen zu
können. Will man einen Blick in die Zukunft der Kindermedien wagen, so
zeichnet sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab, dass sich die Konzentration
auf eine Plattform weiter verstärken wird: Der Computer und/oder der Fern-
seher werden zum technischen Mittelpunkt des gesamten Kommunikati-
onsaufkommens (Telefon via Internet, E-Mail, Chat, Blog, Wiki) und der
audio-visuellen Informations- und Unterhaltungsangebote (DVD, CD, digi-
tales Fernsehen, Spiele).
497
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Liste der deutschsprachige Kanäle, die über Satellit zu empfangen sind: http://forum.
transponder-news.de
Liste der Kreis-, Stadt- und Landesmedienzentren in Baden-Württemberg: http://www.
lmz-bw.de/medienzentren.html
Nick: http://www.nick.de
Online-Videothek videoload: http://www.videoload.de
Prix Jeunesse Foundation: http://prixjeunesse.de
Statistisches Bundesamt Deutschland: http://www.destatis.de
The Internet Movie Database: http://www.imdb.com
Tigerenten Club: http://www.kindernetz.de/tigerentenclub
Übersicht über sämtliche Fernsehserien: http://www.fernsehserien.de sowie http://
www.wunschliste.de
516
Personenregister
Verzeichnet sind die Namen aller historischen Personen,
ausgenommen die Autorinnen und Autoren von Sekundärliteratur
Baron, Paul Friedrich Becker, Karl Friedrich Berner, Rotraut Susanne Birnbaum, Brigitte
Richard (1809–1890) (1777–1806) 146 (*1948) 412 (*1938) 427
149, 217 Becker, Wolfgang (1910– Bernfeld, Siegfried (1892– Bischoff, Max 221
Barth, Christian Gottlob 2005) 454 1953) 266 Bismarck, Otto von
(1799–1862) 137, 139, Beckmann, Gunnel Bernstein, Aron David (1815–1898) 230, 234
155, 164, 167 (1910–2003) 382 (1812–1884) 262 Bitzius, Albert – siehe:
Barthel, Kurt – siehe: Beecher-Stowe, Harriet Bernstein, F.W. (d. i. Fritz Gotthelf, Jeremias
Kuba (1811–1896) 157 Weigle, *1938) 411 Bjambasuren, Dawaagiin
Barthelmeß-Weller, Usch Beeg, Marie (verh. Ille, Bernstorff, Hans Nikolaus – siehe: Davaa,
(*1940) 460 1855–1927) 211 Ernst Graf von (1856 – Byambasuren
Bartos-Höppner, Barbara Beeker, Käthe van (1863– um 1939) 219, 228 Blair, Wayne (*1971)
(1923–2006) 326, 1917) 207, 227 Berquin, Arnaud (1750– 458
348 f. Beer, Johann (1655–1705) 1791) 169 Bloch, Chajim (1881–
Bartsch, Horst (1926– 19 Berthold, Paul – siehe: 1973) 264
1989) 430, 436 Behrens, Gloria (*1945) Pappenheim, Bertha Bloch, Ernst Simon
Basedow, Johann 469 Berthold, Theodor (1885–1977) 221
Bernhard (1724–1790) Beigel, Johann Georg Gottfried Johann Bloch, Ida (*1855) 181
51, 85 f., 88 f. (*1755) 66 (1841–1909) 218 Block, Francesca Lia
Basile, Giovanni Battista Belleforest, François de Bertuch, Friedrich Johann (*1962) 388, 390
(Giambattista) (1575– (1530–1583) 34 Justin (1747–1822) Blücher von Wahlstatt,
1632) 104, 117 Belych, Grigorij (1906– 73, 78, 80, 90 Gebhard Leberecht
Bastian, Horst (1939– 1938) 248, 418 Beseler, Horst (*1925) (1742–1819) 147 f.
1986) 428, 429 Ben, Usiel – siehe: Hirsch, 415, 421 f., 427, 434 Blume, Bruno (*1972)
Bauberger, Wilhelm Samson Raphael Beskow, Elsa (1874– 412
(1809–1883) 137 Benary, Albert (1881– 1953) 190 Blunck, Hans Friedrich
Baudissin, Wolf von 1963) 293 Besuden, Eike (*1948) (1888–1961) 250
(1867–1926) 235 Benary, Margot (d. i. 459 Blüthgen, Viktor (1844–
Bauer, Elvira (*1915) Margot Benary-Isbert, Bettelheim, Bruno (1913– 1920) 179, 188, 191
291 1883–1979) 315, 318 1990) 398 Blyton, Enid Mary
Bauer, Heinrich (1896– Benjamin, Walter (1892– Beumer, Philipp Jakob (1896–1968) 327, 380,
1975) 348 1940) 246 (1809–1885) 149 391
Baumann, Hans (1914– Benzler, Johann Lorenz Beyerlein, Gabriele Bochert, Marc-Andreas
1988) 315, 323 f., 326, (1747–1817) 55, 72, (*1949) 351 (*1971) 457
348, 354 74 Bialik, Chaijm Nachman Bochmann, Friedrich
Bäumer, Eduard (1892– Berdyczewski, Micha (1873–1934) 265 292 f.
1977) 292 Josef – siehe: Bin Bichsel, Peter (*1935) Böckh, Christian
Bäumer, Gertrud (1873– Gorion 194 Gottfried (1732–1792)
1954) 203, 237 Berg, Lars (*1959) 457 Bidermann, Jakob (1578– 45, 57, 68, 72
Baumgart, Klaus (*1951) Berg, Leo (1862–1908) 1639) 17, 37 Boethius, Anicius Manlius
461 175 Bieniek, Christian (1956– (Torquatus) Severinus
Baumgarten, Fritz (um Bergengruen, Werner 2005) 379 (480–524) 3
1883–1966) 291 f. (1892–1964) 258 Bierbaum, Otto Julius Bofinger, Manfred (1941–
Bauschulte, Klaus 456 Berger, Peter (1915–1995) (1865–1910) 186, 2006) 425
Bayer, Ingeborg (*1927) 338 f. 193 Bohatta-Morpurgo, Ida
382, 386 Berges, Grete (1895– Biewald, Hartmut K. (1900–1992) 291
Bayer, Maximilian (1872– 1957) 258, 296, 298, (*1943) 436 Böhlau, Helene (verh.
1917) 282 303, 304 Biller, Emma (verh. Arndt, 1859–1940)
Baykurt, Tonguc (*1962) Bergner, Edith (bis 1955 Wuttke, 1833–1913) 213, 216
457 Müller-Beeck, *1917) 186 f., 207, 217 Bohm, Hark (*1939)
Bebel, August (1840– 432 Binding, Rudolf G. 395, 454, 469
1913) 214 Berkowitz, Irma Mirjam (1867–1938) 283 Böhm, Salo 273, 274
Bechis, Marco (*1957) (1898–1989) 268, 273 Bin Gorion (d. i. Micha Böhme, Franz Magnus
457 Bernardin de Saint-Pierre, Josef Berdyczewski, (1827–1898) 190
Bechstein, Ludwig (1801– Jaques-Henri (1737– 1865–1921) 264, 268 Bohnhof, Gertrud
1860) 115–117, 249 1814) 76 Birck, Sixt (1500–1554) (*1899) 288
Becke, Julius (*1927) Bernhard, Emil – siehe: 17 Bohse, August (1661–
409 Cohn, Emil Bernhard Bird, Brad (*1957) 461 1742) 35
Becker, Gottfried (1778– Berneburger, Cordt – Birken, Siegmund von Boie, Kirsten (*1950)
1854) 154 siehe: Brussig, Thomas (1626–1681) 19 394, 396, 399, 446
518 Personenregister
Böll, Heinrich (1917– Brooks, Kevin (*1959) Bushnell, Nolan (*1943) Chlodwig (d. i. Ludwig
1985) 363 378 487 von Alvensleben)
Bolte, Karin (*1943) 382 Bruckner, Karl (1906– Bußleben, Johann (1800–1868) 169, 230
Boner, Ulrich (urkundlich 1982) 315, 317, 325 f., (16. Jh.) 11 Chodowiecki, Daniel
1324–1349) 38 416 (1726–1801) 90
Bonn, Franz – siehe: Bruckner, Winfried C Chomton, Werner
Miris, Franz von (1937–2003) 335 f., (*1895) 283
Bonnet, Johannes (1843– 338 Cactus, Françoise (d. i. Christaller, Helene (1872–
1913) 217 Bruno, Christoph (16. Jh.) Françoise van Hove, 1953) 240
Bonsels, Waldemar 21 *1964) 389 Chytraeus, Nathan
(1881–1952) 186, 192 Brunold, Friedrich (d. i. Calm, Marie (1832–1887) (1543–1598) 15
Borsig, Johann Karl August Ferdinand 182 f., 185, 207, 214, Cicero, Marcus Tullius
Friedrich August Meyer, 1811–1894) 215 (106–43 v. Chr.) 21, 33
(1804–1854) 163 214, 217 Campe, Joachim Heinrich Clark, James B. (1908–
Bötticher, Georg (1849– Brussig, Thomas (d. i. (1746–1818) 51, 61 f., 2000) 453
1918) 179 Cordt Berneburger, 65 f., 68, 70, 72, 76, 77, Claudius, Georg Carl
Bovin, Pia (*1964) 457 *1965) 375, 377 83–86, 88, 90 f., 93 f., (1757–1815) 56, 58,
Bowles, Dominic 457 Bruyn, Günter de (*1926) 156, 183, 201, 219, 67, 68, 70, 73, 75 f., 80,
Brahms, Johannes (1833– 427 251, 261 83, 88
1897) 108 Buber, Martin (1878– Capteyn, Willem (*1944) Claudius, Matthias
Brakenhoff, Margarethe – 1965) 266, 267 382 (1740–1815) 411
siehe: Hollriede, Hagdis Buch, Franziska (*1960) Carle, Eric (*1929) Claus, Richard (*1950)
Brand, Jürgen (d. i. Emil 457 446 456
Sonnemann, 1869– Buchholz, Quint (*1957) Carlowitz Alfred von Clemens, Hanna (d. i.
1950) 193, 217 412 (1878–1941) 231, Johanna Henriette
Brandis, Moritz (um 1550 Buck, Chris 461 235 Catharina Klemm,
– nach 1600) 34 Buck, Detlev (*1962) Carow, Heiner (1929– 1856–1924) 179, 210,
Brandt, Karsten (1861– 457 1997) 454 238
1939) 190 Budde, Nadia (*1967) Carroll, John (1906– Clément, Bert(h)a (1852–
Brandt, Willy (1913– 412 1979) 453 1930) 185, 206, 207,
1992) 340, 343 Budde, Pit (*1952) 447 Carroll, Lewis (d. i. 214 f., 238, 240
Brant, Sebastian (1458– Bühler, Charlotte (1893– Charles Lutwidge Clements, Ron (*1953)
1521) 14 1974) 243, 245, 289, Dodgson, 1832–1898) 461, 482
Brassey, Annie (geb. 360 121, 192, 340 Cohn, Emil Bernhard
Allnutt, 1839–1887) Bulwer-Lytton, Edward Castillo, Michel del (1881–1948) 265, 266
221 (1803–1873) 348 (*1933) 336 Cohn-Richter, Setta 273
Brauer, Jürgen (*1938) Buresch, Wolfgang Castonier, Elisabeth Cole, Brock (*1938) 369,
452 (*1941) 468, 469 (1894–1975) 296 370, 388, 391
Braumann-Honsell, Lilly Bürgel, Bruno Hans Cats, Jacob (1577–1660) Colfer, Eoin (*1965) 403
(1876–1954) 238 (1875–1948) 251, 13, 205 Collodi, Carlo (d. i. Carlo
Braun, Isabella (1815– 252 Celan, Paul (1920–1970) Lorenzini, 1826–1890)
1866) 164, 168, 178 Bürger, Berthold (d. i. 411 193, 328, 431
Braun, Volker (*1939) Erich Kästner, 1899– Cervantes, Miguel de Colpet, Max (1905–1998)
374, 425 1974) 296 (1547–1616) 22, 76 296, 307
Brechbühl, Beat (*1939) Burger, Horst (1929– Chamisso, Adelbert von Columbus, Chris (*1958)
394 1975) 355 (1781–1838) 128, 182, 462
Brecht, Bertolt (1898– Bürkner, Hugo (1818– 333, 400 Comenius, Johann Amos
1956) 248, 296 f., 299, 1897) 127 Chaplin, Charles Spencer (1592–1670) 8, 9, 17,
301, 306, 309, 407 f., Burmann, Gottlob (1889–1977) 247, 451, 18, 19, 89
413 Wilhelm (1737–1805) 453 Coninx, Stijn (*1957)
Bredel, Willi (1901–1964) 69, 79, 80 Che (Ernesto ›Che‹ 458
296, 301, 309, 414 Burow, Julie (verh. Guevara, 1928–1967) Contessa (Salice-
Breitinger, Johann Jakob Pfannenschmidt, 1806– 459 Contessa), Karl
(1701–1776) 90 1868) 183 Chidolue, Dagmar Wilhelm (1777–1825)
Brentano, Clemens Busch, Fritz-Otto (*1890) (*1944) 363, 366 f., 104
(1778–1842) 32, 104– 283 369, 382 f., 385, 386 Contzen, Adam (1571–
108, 117 Busch, Wilhelm (1832– Chimani, Leopold (1774– 1635) 34, 37
Breuer, Josef (1842–1925) 1908) 142, 144 f., 179, 1844) 131, 137 f., 148, Coogan, Jackie (1914–
213 189 165 1984) 451
Personenregister 519
Cook, James (1728–1779) Dehmel, Richard (1863– Donnelly, Elfie (*1950) Ehrenreich, Josef Anton
84, 326 1920) 171, 182, 187– 357, 445, 458 von 36
Cook, Lorna 482 190, 192, 194 Doré, Gustave (1832– Ehrlich, Bettina (1903–
Cooper, James Fenimore Della Casa, Giovanni 1883) 179 1985) 296, 300
(1789–1851) 155 f., (1503–1556) 15 Doutiné, Heike (*1945) Ehrmanns, Marianne
218, 219, 224, 274, De los Reyes, Maryo J. 381 (1735–1795) 94
285 (*1952) 458 Drabsch, Gerhart (1902– Eichendorff, Joseph
Corrodi, Wilhelm August Demuth, Michael 1945) 286 Freiherr von (1788–
(1826–1885) 111 (*1967) 458 Dragt, Tonke (Antonia 1857) 128
Cortés, Hernando (1485– Denneborg, Heinrich Johanna) (*1930) 352 Eicke, Wolfram (*1955)
1547) 348 Maria (1909–1987) Dransfeld, Hedwig 445
Cron, Clara (d. i. Clara 315, 327 (1871–1925) 214 Eide, Torill (*1950)
Weise, geb. Stock, Dessau, Paul (1894–1979) Dreyer, Georg 189 385 f.
1823–1890) 211, 215 408 Drobisch, Gustav Einstädter, Heinrich 265
Crowther, William Deutschkron, Inge Theodor (1811–1882) Eisler, Hanns (1898–
(*1936) 490 (*1922) 296 148, 151 1962) 408
Culicchia, Giuseppe Deutschmann, Wolfram Droste-Hülshoff, Annette Eleonore, Erzhg.in v. Tirol
(*1965) 369 (*1950) 459 von (1797–1848) 182 (1433–1480) 23 f.
Curtiz, Michael (d. i. Dick, Sieglinde (1943– Drvenkar, Zoran (*1967) Elias, Norbert (1897–
Manó Kertész Kaminer, 2003) 426 379, 394, 405 1990) 45
1886–1962) 453 Dickens, Charles (1811– Dschingis-Khan (Temud- Elisabeth I., Kg.in v.
Cushman, Karen (*1941) 1870) 217 schin, 1155/1167– England (1533–1603)
351 Dieffenbach, Georg 1227) 324, 348, 419 351
Christian (1822–1901) Duboc, Julius (1829– El Kurdi, Hartmut
D 128 1903) 189 (*1964) 449
Diehl, Ferdinand (1901– Dumas d. Ä., Alexandre Ellis, Bret Easton (*1964)
Dahn, Felix (1834–1912) 1992) 451 (1802–1870) 348 369, 389
179 Diehl, Karl Ludwig Dunker, Kristina (*1973) Ende, Michael (1929–
Dähnhardt, Oskar (1870– (1896–1958) 451 379 1995) 316, 324, 332–
1915) 192 Dielitz, Theodor Gabriel Durian, Wolf (d. i. 335, 346, 365, 397 f.,
d’Aló, Enzo (*1953) 398 (1810–1869) 155, 157, Wolfgang Bechtle, 454
Dante, Joe (*1946) 462 218 1892–1969) 254 f., Engel, Johann Jacob
Dantz, Carl (1884–1967) Dierks, Martina (*1953) 269, 285, 314, 325 (1741–1802) 83
252 f., 269 359, 392 Dyke, Woodbridge Strong Engel, Julius D. (1868–
Darwin, Charles Robert Diestelmeier, Katharina van (1889–1943) 453 1927) 265
(1809–1882) 184, (*1969) 407 Dylan, Bob (*1941) 368 Engelhard, Magdalene
192 f., 226, 233, 234 Dijk, Lutz van (*1955) Dziuba, Helmut (*1933) Philippine (1756–1831)
Davaa, Byambasuren (d. i. 356 454 80
Dawaagiin Bjamba- Disney, Walter Elias Engelhardt, Ingeborg
suren, *1971) 457, (1901–1966) 304 E Maria (1904–1990)
462 Dithmar, Georg Theodor 315, 326, 348 f., 354
David, Kurt (1924–1994) (1810–1901) 149 Ebersberg, Josef Sigmund Engelhardt, Karl August
419, 436 Ditter, Rosemarie (1799–1854) 138, (1769–1834) 60, 72
Davidis, Henriette (1800– 318 165 Enquist, Per Olov (*1934)
1876) 183 Dittmar, Heinrich (1792– Ebert, Johann Jacob 446
Davy, Humphry (1778– 1866) 110 (1737–1805) 74, 93 Enzensberger, Hans
1829) 163 Ditzen, Rudolf – siehe: Ebner-Eschenbach, Marie Magnus (*1929) 403
Dayre, Valérie (*1958) Fallada, Hans von (1830–1916) 179, Epinay, Louise-Florence-
391 Döblin, Alfred (1878– 188 Pétronille Tardieu
DeBlois, Dean (*1970) 1957) 241 Eckartshausen, Karl von d’Esclavelles Marquise
482 Docter, Peter (*1968) (1752–1803) 94 d’ (1726–1781) 83, 93
Dedekind, Friedrich 482 Eco, Umberto (*1932) Erasmus von Rotterdam,
(1524/1525–1598) 15 Dodgson, Charles 350 Desiderius (1469–
Defoe, Daniel Lutwidge – siehe: Edel, Ulrich (*1947) 462 1536) 5, 14–16, 33
(1660/1661–1731) 22, Carroll, Lewis Edelfeldt, Inger (*1956) Erben, Ingrid – siehe:
61 f., 76, 219, 285 Dolz, Johann Christian 363, 367, 385–387 Bachér, Ingrid
Dehmel, Paula (1862– (1769–1843) 165 Ehmck, Gustav (d. i. Erik der Rote (um 950–
1918) 171, 187, 188, Dominik, Hans (1892– Gabriel von Jess, 1001/03) 351
189, 190 1945) 217 *1937) 454 Ermann, Marie 207, 208
520 Personenregister
Ernesti, Johann Heinrich Feld, Friedrich – siehe: Förster, Friedrich (1791– Friedrich I. – siehe: Barba-
Martin (1755–1836) Rosenfeld, Friedrich 1868) 154 rossa
85 Feldern-Rolf, Mathilde Foth, Jörg (*1934) 454 Friedrich II., Kaiser
Ernst, Otto (d. i. Otto (*1810) 148 Fouqué, Friedrich Baron (1194–1250) 348,
Ernst Schmidt, 1862– Felseneck, Marie von (d. i. de la Motte (1777– 351
1926) 188 Maria Mancke, 1847– 1843) 104 Friedrich II., Kg. v.
Eschen, Mathilde von 1926) 174, 214, 234, Fox, Paula (*1923) 385 Preußen (der ›Große‹,
(d. i. Mathilde von 240 Frank, Anne (1929–1945) 1712–1786) 148, 180,
Eschstruth, 1839– Fénelon, François de 272, 335 230
1929) 208 Salignac de la Mothe Frank, Leonhard (1882– Friedrich Wilhelm I., Kg.
Estes, Jacob Aaron (1651–1715) 35–37, 1961) 451 v. Preußen (1688–1740)
(*1972) 459 49 Frank, Michael Erich 35
Eugen Franz von Ferdinands, Carl (d. i. (1691–1721) 22 Friedrich Wilhelm III., Kg.
Savoyen-Carignan Carl Ferdinand von Frank, Rudolf (1886– v. Preußen (1770–1840)
(1663–1736) 230 Vleuten, *1874) 190 1979) 259, 295, 296 148
Evenius, Sigmund (Ende Ferdinand Maria v. Franke, Friedrich Robert Fries, Fritz Rudolf
16. Jh. – 1639) 11 Bayern (1636–1679) (*1904) 296, 307 (*1935) 373, 375,
Everwyn, Klas E. (*1930) 13 Franz, Agnes (1794– 427
357 Ferry, Gabriel (d. i. Ferry, 1843) 142 Fröbel, Friedrich Wilhelm
Ewald, Carl (1856–1908) Eugène-Louis-Gabriel Franz, Cornelia (*1956) August (1782–1852)
192 de Bellemare, 1809– 358 249
Ewald, Johann Ludwig 1852) 157, 219 Franz I., Kaiser v. Fronemann, Wilhelm
(1747–1822) 93 Feyerabend, Sigmund Österreich (1768– (1880–1954) 245
(1528–1590) 22 1835) 138 Fühmann, Franz (1922–
F Fischer, Engelbert (1833– Franzos, Karl Emil 1984) 426, 427, 430
1889) 175 (1848–1904) 262 Funke, Carl Philipp
Faber, Helene (d. i. Liane Fischer, Marie Louise Frapan-Akunian, Ilse (1752–1807) 93
Reinhold) 204 (1922–2005) 380 (geb. Levien, 1852– Funke, Cornelia (*1958)
Faber du Faur, Irmgard Flanter, Emil (d. i. Flanter, 1908) 172, 186, 199 f., 392, 404, 405, 446
von (1894–1955) 296, Eugen, 1860–1921) 216 Fussenegger, Gertrud
298, 303 f., 307, 311 265 Freitag, Hayo (*1950) (*1912) 447
Fadejew, Alexander Flavius, Josephus (37/38 – 456, 462
Alexandrowitsch um 100) 33 Frenssen, Gustav (1863– G
(1901–1956) 413 Fleg, Edmond (1874– 1945) 221, 226, 282
Fährmann, Willi (*1929) 1963) 267 Freud, Sigmund (1856– Gaarder, Jostein (*1952)
338, 352, 354, 355 Fleischer, Johann 1939) 185, 213, 220 446
Faimann, Peter 462 Friedrich 35 Freudenberg, Alwin Gabriel, Mike (*1954)
Falke, Gustav (1853– Flemming, Carl (1806– (1873–1930) 182 461
1916) 188, 190 1878) 230 Fréville, Anne Francois Gaidar, Arkadi (d. i.
Falkenhorst, C. (d. i. Flex, Walter (1887–1917) Joachim (1749–1832) Arkadi Petrowitsch
Stanislaus von 237, 283 84 Golikow, 1904–1941)
Jezewski, 1853–1930) Flinzer, Fedor Alexis Freytag, Gustav (1816– 319, 413
219, 221, 224 f. (1832–1911) 179 1895) 150, 152, Galland, Jean-Antoine
Fallada, Hans (d. i. Rudolf Flores, Juan de (um 230 f. (1646–1715) 78
Ditzen, 1893–1947) 1470–1525?) 22 Fried, Babette (1850– Galliner, Arthur 264
414 Flynn, Errol Leslie 1915) 268 Gallwitz, Esther 380
Fallersleben, August Thomson (1909–1959) Friedländer, David (1750– Gangliang, Fang (*1972)
Heinrich Hoffmann 453 1834) 261 457
von (1798–1874) 182 Foerster, Eberhard (d. i. Friedländer, Vera (d. i. Gansberg, Fritz (1871–
Faraday, Michael (1791– Erich Kästner, 1899– Veronika Schmidt, 1950) 199, 228
1867) 163 1974) 296 *1928) 420 Garriott, Richard (*1961)
Faust, Bernhard Fogowitz, Andrä Heinrich Friedrich, Emmy von – 490
Christoph (1755–1842) (1858 – ca. 1909) siehe: Rhoden, Emmy Gast, Lise (1908–1988)
69 235 von 288
Feddersen, Jakob Fontane, Theodor (1819– Friedrich, Gunter (*1938) Gebhardt, Hertha von
Friedrich (1736–1788) 1898) 150, 179, 182, 460 (1896–1978) 294, 314,
87 226 Friedrich der Weise, 327
Fehrmann, Helma Fordyce, James (1720– Kurfürst v. Sachsen Gedike, Friedrich (1754–
(*1944) 381 1796) 93 (1463–1525) 24 1803) 43
Personenregister 521
Geiger-Gog, Anni (1897– Goerth, Albrecht (1833– 1863) 78, 103–107, Habermas, Jürgen
1995) 257, 296, 303, 1907) 202, 203, 204, 111–116, 122, 192, (*1929) 59
309 216 249, 267, 292, 340, Hachfeld, Eckart – siehe:
Gelbart, Bernhard (*um Goethe, Johann Wolfgang 395, 415 f., 429 Ludwig, Volker
1919) 273 von (1749–1832) 100, Grimm, Ludwig Emil Hacks, Peter (1928–2003)
Gelberg, Hans-Joachim 110, 182, 195, 230, (1790–1863) 115 407, 429
(*1930) 345, 407–411 362, 370, 390, 411 Grimm, Wilhelm (1786– Hadrianus, Publius Aelius
Gellert, Christian Fürchte- Goeze, Johann August 1859) 78, 103–108, (76–138) 232
gott (1715–1769) 74, Ephraim (1731–1793) 111–116, 121 f., 192, Haeckel, Ernst Heinrich
81 91 249, 267, 292, 340, Philipp August (1834–
Gellert, Wanda 238 Göhring, Ludwig (1860– 395, 415 f., 429 1919) 184
Gellius, Johann Gottfried 1942) 203, 204, 219– Grimmelshausen, Hans Hagedorn, Friedrich von
(1732–1781) 49, 50 221 Jakob Christoffel von (1708–1754) 74, 81
Genschow, Fritz (1905– Goldberg, Eric (*1955) (1621/1622–1676) 22, Hahn, Gerhard (*1946)
1977) 452 461 34 456
George, Terry (*1952) Goldszmit, Henryk – Gronemann, Walter Haken, Johann Christian
460 siehe: Korczak, Janusz (1926–1996) 335 f. Ludwig (1767–1835)
Gerber, Christian (1660– Golikow, Arkadi Groth, Klaus (1819– 76
1731) 21 Petrowitsch – siehe: 1899) 111, 182 Halbey, Hans Adolf
Gerlach, Samuel (um Gaidar, Arkadi Grötzsch, Robert (1882– (1922–2003) 408
1610–1678) 37 Gombrich, Lisbeth 1946) 187, 194, 296, Halden, Elisabeth (1841–
Germann, Heide 449 (1907–1994) 306, 309 1916) 207, 215
Germershausen, Christian Gönnert, Felix (*1975) Grube, Thomas (*1971) Hallberg, Grete 238
Friedrich (1725–1810) 456 459 Halpin, Luke (*1947)
93 Görlich, Günter (*1928) Grumbach, Karl (1790– 453
Gerok, Karl (1815–1890) 374, 426, 432, 433 1853) 154 Hamann, Johann Georg
179 Görner, Carl August Grün, Max von der (1730–1788) 96, 99
Gerstäcker, Friedrich (1806–1884) 169, 181 (1926–2005) 454 Hamsun, Marie (1881–
(1816–1872) 155, 157, Görres, Guido (1805– Grütter, Karin (*1958) 1969) 248
218, 220, 248 1852) 117 351 Handloegten, Hendrik
Getto, Almut (*1964) Gorschenek, Margareta Gsell-Fels, Luise Caroline (*1968) 458
459 358 (geb. von Fels, 1829– Hannibal (246–183
Gilbert, Ron 492 Gotschlich, Helga 1887) 209 v. Chr.) 348
Gillespie, Dizzy (1917– (*1938) 421 Gubitz, Friedrich Wilhelm Hanstein, Otfrid von
1993) 374 Gotthelf, Jeremias (d. i. (1786–1870) 140 (1869–1959) 280, 284
Gjems-Selmer, Aagot Albert Bitzius, 1797– Guevara, Antonio de Hao, Ning (*1977) 458
(1857–1926) 290 1854) 169 (1480–1545) 13 Harbou, Thea von (1888–
Glaß, Luise (1857–1932) Gottsched, Johann Guggenmos, Josef (1922– 1954) 229, 238
179 Christoph (1700–1766) 2003) 407, 411 Hardel, Gerhard (1912–
Glatz, Jakob (1776–1831) 53, 89, 90 Güll, Friedrich Wilhelm 1984) 419, 427
94, 142 Göz, Christian Gottlieb (1812–1879) 126, 127 Hardel, Lilo (1914–1999)
Gleich, Jacky (*1964) (1746–1803) 74 Gumpert, Thekla von 419, 427
412 Gräbner, Gustav A. (verh. Schober, 1810– Hardenberg, Friedrich
Gleim, Johann Wilhelm (1809–1891) 156, 219 1897) 142, 165, 167, Leopold Freiherr von –
Ludwig (1719–1803) Graf, Oskar Maria 178, 201, 215 siehe: Novalis
74, 81 (1894–1967) 309 Gündel, Emma (geb. Hardy, Oliver Norvell
Gleit, Maria (d. i. M. Gräfe, Heinrich (1802– Knacke, 1889–1968) (1892–1957) 451, 453
Hofmann, geb. Herta 1868) 155 380 Häring, Georg Wilhelm
Gleitsmann, 1909– Grasmeyer, Christa Günzel-Horatz, Renate Heinrich – siehe:
1981) 296, 300, 309 f. (*1935) 425 (*1943) 358 Alexis, Willibald
Glücksberg, E. von 234 Grass, Günter (*1927) Gut, Elias (1872–1942) Harnisch, Wilhelm
Gnapheus, Gulielmus 363 263 (1787–1864) 154
(1493–1568) 16 Griebner, Reinhard Härö, Klaus (*1971)
Gneisenau, August (*1952) 430 H 457
Wilhelm Anton Graf Grien, Hans Baldung Harsdörffer, Georg
Neidhardt von (1760– (1484/1485–1545) 11 Haase, Jürgen (*1945) Philipp (1607–1658)
1831) 146, 147 Grimm, Hans (1875– 459 20, 40
Goebbels, Joseph (1897– 1959) 282 Habeck, Fritz (1916– Hart, Heinrich (1855–
1945) 276, 325, 437 Grimm, Jacob (1785– 1997) 326 1906) 184, 185
522 Personenregister
Härtling, Peter (*1933) 185 f., 196, 204–206, Higinbotham, William A. Hofmann, Else (*1862)
357 211, 238 (1910–1994) 486 237, 239
Hartmann von Aue († um Hendrix, Jimi (1942– Hildebrandt, Christoph Hofmann, Karl Friedrich
1210/20) 1970) 368, 375 (1763–1846) 156 (um 1775–1813)
Hartner, Eva (d. i. Emma Hennig von Lange, Alexa Hill, Stuart (*1958) 392 146 f.
Eva Henriette von (*1973) 369, 370, Hiller, Johann Adam Hofmann, Kitty (*1824)
Twardowska, 1845– 372 f., 376 f., 388–390 (1728–1804) 81 168
1889) 208 Henning, Richard (1874– Hinton, Susan E. (*1948) Hofmann, M. (geb. Herta
Hattop, Karola (*1949) 1951) 199 363 Gleitsmann) – siehe:
458, 459 Hensel, Jana (*1976) Hinzelmann, Elsa-Margot Gleit, Maria
Hauff, Wilhelm (1802– 376, 377 (*1895) 296, 304 Hofmannsthal, Hugo von
1827) 124 f., 150 f., Herburger, Günter Hirsch, Jenny (1829– (1874–1929)
249, 267, 269, 348, (*1932) 395 1902) 182 Hohler, Franz (*1943)
362, 400 Herchenbach, Wilhelm Hirsch, Leo (1903–1943) 194
Haugen, Tormod (*1945) (1813–1889) 137 271, 274 Hölder, Luise (um 1790 –
393 Herder, Johann Gottfried Hirsch, Samson Raphael um 1850) 156
Haußmann, Leander (1744–1803) 78 f., 82, (1808–1888) 262 Hölderlin, Johann
(*1959) 462 88, 95–99, 102, 110, Hirschberg, Kerstin 446 Christian Friedrich
Haydn, (Franz) Joseph 182 Hirtz, Dagmar (*1941) (1770–1843) 100, 411
(1732–1809) 230 Herfurtner, Rudolf 456 Hollriede, Hagdis (d. i.
Hebbel, Christian (*1947) 357, 363–367, Hitler, Adolf (1889–1945) Margarethe Braken-
Friedrich (1813–1863) 385 f. 313, 319, 324 hoff, *1902) 289
182 Herlinger, Ilse (1903– Hjorth, Vigdis (*1959) Holm, Anne (1922–1998)
Hederich, Karl Heinz 1944) 268 f. 387 354
(1902–1976) 276 Herman, Nikolaus (um Hobrecker, Karl (1876– Holm, Jennifer L. (*1964)
Heichen, Walter (1876– 1480–1561) 11 1949) 277 351
1970) 236 Hermannsdörfer, Elke Hochmuth, Karl (1919– Holst, Hanne-Vibeke
Heidenreich, Gert (*1947) 351 2002) 354 (*1959) 386
(*1944) 409 Hermes, Johann Hochstetter (weitere Hölty, Ludwig Christoph
Heiduczek, Werner Timotheus (1738– Daten unbekannt) 137 Heinrich (1748–1776)
(*1926) 427, 428 1821) 94 Höcker, Oskar (1840– 81
Hein, Christoph (*1944) Hermlin, Stephan (1915– 1894) 185, 225, 228, Holtz-Baumert, Gerhard
431 1997) 421 f., 427 230–232, 234 f. (1927–1996) 374, 421,
Hein, Jakob (*1971) Herodot (um 484 – um Hoernle, Edwin (1883– 424–426, 429, 435,
377 424) 33 1952) 415 436
Heine, Heinrich (1797– Herz, Henriette (1764– Hofer, Andreas (1767– Holz, Arno (1863–1929)
1856) 129 1847) 232 1810) 230 182
Heinrich, Richard Herzfelde, Wieland Hofer, Karl (1878–1955) Homer (8. Jh. v. Chr.) 35,
(*1893) 292 (1896–1988) 306, 171 41
Heinrich der Löwe 309 Hoffman, Mary (*1945) Horaz (Quintus Horatius
(Herzog von Sachsen Herzog, Gabriele 433 352 Flaccus, 65–8 v. Chr.)
und Bayern, 1129/31– Hesse, Hermann (1877– Hoffmann, Ernst Theodor 41
1195) 282 1962) 218, 362, 367, Amadeus (1776–1822) Horn, W.O. von (d. i.
Heinrich der Seefahrer 390 104–106, 118–124, Friedrich Wilhelm
(1394–1460) 324 Hessel, Franz (1880– 187, 362, 401 Philipp Oertel, 1798–
Heinz, T. von (d. i. Henny 1941) 246 Hoffmann, Franz 228 1867) 149, 150, 228
von Tempelhoff, 1853– Hetmann, Frederik (d .i. Hoffmann, Franz Hornby, Nick (*1957)
1929) 207 Hans-Christian Kirsch, Friedrich Alexander 371, 373
Heiss, Lisa (d. i. Elisabeth 1934–2006) 336 f., (1814–1882) 139, 141, Hornschuh, Heike
Heiss, 1897–1981) 382 150, 156, 164, 167, (*1960) 382
380 Heusinger, Johann 185 Hosemann, Theodor
Held, Kurt (d. i. Kurt Heinrich Gottlieb Hoffmann, Heinrich (1807–1875) 121
Kläber, 1897–1959) (1766–1837) 84 (1809–1894) 142 f., Hottinger, Johann Jakob
296, 305, 307–309, Hewitt, Peter (*1962) 145, 179, 291 (1783–1860) 148
315, 322, 380, 414 457 Hoffmann, Ruth (1893– Houwald, Ernst von
Helke, Fritz (1905–1967) Hey, Wilhelm (1789– 1974) 297 (1778–1845) 142, 168
277, 282, 284, 293 1854) 125–127 Hoffmann von Fallersle- Hove, Françoise von –
Helm, Clementine (verh. Hiemer, Ernst (1900– ben, August Heinrich siehe: Cactus, François
Beyrich, 1825–1869) 1974) 291 (1798–1874) 127 Hub, Ulrich (* 1963) 448
Personenregister 523
Hübner, Johann (1668– Janisch, Heinz (*1960) Kahn, Cédric (*1966) Keun, Irmgard (1910–
1731) 11, 86 405 456 1982) 297, 322
Hübner, Wolfgang Jankofsky, Jürgen (*1953) Kaléko, Mascha (d. i. M. Key, Ellen (1849–1926)
(*1931) 459 421 Aufen-Engel, 1907– 187
Huch, Friedrich (1873– Janosch (d. i. Horst 1975) 296 f., 301 Kiepenheuer, Bettina –
1913) 367 Eckert, *1931) 334, Kallbach, Konrad (1913– siehe: Hürlimann,
Hugo, Victor (1802– 395, 397, 407, 411 1994) 449 Bettina
1885) 348 Janssen, Susanne (*1965) Kant, Immanuel (1724– Kilian, Susanne (*1940)
Hugo von Sankt Viktor 412 1804) 64, 84, 90 383
(um 1097–1141) Jaoui, Agnès (*1964) 459 Kant, Uwe (*1936) 429, Kirsch, Hans-Christian –
Hülswitt, Tobias (*1973) Jarvis McGraw, Eloise 431 siehe: Hetmann,
370, 372, 377 (1915–2000) 352, 353 Karau, Gisela (*1932) Frederik
Humboldt, Alexander von Jaworski, Alicja (*1955) 419, 421 Kirsten, Johann Friedrich
(1769–1859) 167 456, 461 Karl der Große (747–814) Ernst (1768–1820)
Humbsch, Kristian Jean Paul (d. i. Johann 230, 232 90
(*1942) 425 Paul Friedrich Richter, Karl Wilhelm, Markgraf Kläber, Kurt – siehe:
Huntgeburth, Hermine 1763–1825) 98–100, v. Ansbach (1712– Held, Kurt
(*1957) 482 405 1757) 36 Klapp, Anna (*1840)
Hürlimann, Bettina (geb. Jensen, Marcus (*1967) Kasanki, Gennadi (1910– 183
Kiepenheuer, 1909– 377 1983) 452 Klapp-Osten, Anna
1983) 292 Jeremeev, Aleksei Kasparow, Garri Sophie Charlotte –
Hüttner, Hannes (*1936) Iwanowic – siehe: Kimowitsch (d. i. Garik siehe: Stein, Sophie
427, 429–431 Pantelejew, Leonid Weinstein, *1963) Klein, Gerhard (1920–
Jezewski, Stanislaus von – 485 1970) 454
I siehe: Falkenhorst, C. Kästner, Erich (1899– Klein, Norma (1938–
Jhan, Johann († vor 1565) 1974) 247, 254–258, 1989) 385
Illies, Florian (*1971) 11 269, 274, 296, 303, Kleinschmidt, Albert
376 f. Jobs, Steve (*1955) 487 309, 311, 313, 315, (1847–1924) 234
Imabayashi, Hiroyuki Johann Friedrich, 317–324, 327, 330 f., Klemke, Werner (1917–
492 Kurfürst v. Sachsen 336, 340, 407, 411, 1994) 423
Inkiow, Dimiter (1932– (1503–1554) 24 451 f., 462 Klemm, Johanna
2006) 446 Johann von Brabant Katajew (auch Kataev), Henriette Catharina –
Iselin, Isaak (1728–1782) (1252/1253–1294) Valentin Petrowitsch siehe: Clemens, Hanna
51, 85 John, Eugenie – siehe: (1897–1986) 413 Klemme, Erika (*1939)
Iser, Dorothea (*1946) Marlitt, Eugenie Katz, Erich 265 407
425 Johnson, Uwe (1934– Kauffmann (von Klemmert, Hugo (1850–
Israel ben Elieser (gen. 1984) 363, 373 Bornberg), Justus 1896) 182
Baal Schem Tow, um Jokl, Anna Maria (1911– (17./18. Jh.) 38 Kletke, Hermann (1813–
1700–1760) 266 2001) 272, 296–302, Kautsky, Karl (1854– 1886) 128
Iwatani, Toru (*1955) 306, 311 1938) 176 Klibansky, Erich (1900–
488 Jong, Mijke de (*1959) Kawerin, Weniamin 1942) 264
457 Alexandrowitsch (d. i. Kloerss, Sophie (1866–
J Joplin, Janis (1943–1970) W.A. Zilberg, 1902– 1927) 179, 238
375 1989) 413 Klopstock, Friedrich
Jacobson, Gun (1930– Jünger, Ernst (1895– Keaton, Buster (d. i. Gottlieb (1724–1803)
1996) 382 1998) 236, 283 Joseph Francis Keaton, 182
Jacoby, Edmund (*1948) Jürgen, Anna (d. i. Anna 1895–1966) 247, 451 Klötzel, Cheskel Zwi
411 Müller-Tannewitz, Kekulé, Dagmar (*1938) (1891–1951) 269 f.
Jägersberg, Otto (*1942) 1899–1989) 416 382 Klüger, Ruth (*1931)
341 Jürgens, Udo (*1934) Keller, Gottfried (1819– 357
Jahn, Hans (1894–1959) 469 1890) 182 Knigge, Adolph von
296, 307 Kerner, Charlotte (*1950) (1752–1796) 86
Jahnke, Hermann (1845– K 401, 461 Knigge, Philippine
1908) 234 Kerr, Alfred (1867–1948) Auguste Amalie von
Jakob I. (James), Kg. v. Kaeser, Hildegard 356 (1775–1841) 93
Schottland (1394– Johanna (1904–1965) Kerr, Judith (*1923) 296, Knop-Kath, Lydia
1437) 23 296, 300, 304 f., 307– 356 (1906–1983) 289
Jandl, Ernst (1925–2000) 309 Kershner, Irvin (*1923) Knöpke-Joest, Helga
411 Kahl, Erich 466 462 280
524 Personenregister
Koch, Henny (1854– Kosche, Christian Kubsch, Hermann Werner Lask, Berta (1878–1967)
1925) 179, 185, 206 f., Traugott (1754–1789) (1911–1983) 433 259, 296, 301, 306,
211 f., 227, 237 f. 85 Küchenmeister, Claus 308, 309
Koch, Jurij (*1936) 375, Köster, Hermann Leopold (*1930) 421 Latour-Landry, Geoffrey
434, 436 (1872–1957) 185, 202, Küchenmeister, Wera Chevalier de (ca. 1320–
Koch, Reinhard 363 220 (*1929) 421, 429 1391) 1, 23, 28 f., 31
Koch, Rosalie (1811– Kotzde, Wilhelm (d. i. Kuckhoff, Greta (1902– Laube, Heinrich (1806–
1880) 139, 142, 201 Wilhelm Kottenrodt, 1981) 421 1882) 156
Koeppe, Sigrun (*1931) 1878–1948) 176, 230, Kühl, Olaf (*1955) 378 Laurel, Stan (d. i. Arthur
454 234 Kühn, Franz (1814– Stanley Jefferson,
Kohl, Eva Maria (*1947) Kotzebue, August von 1876) 228, 234 1890–1965) 451, 453
425 (1761–1819) 147 Kühner, Carl (1804– Lavater, Johann Kaspar
Köhler, Fr. 110 Kowalchuk, William R. 1872) 178 (1741–1801) 85, 87 f.
Køhlert, Morten (*1961) 482 Kunzemann, Gertrud Lazar, Auguste (verh.
458 Kozik, Christa (*1941) (*1910) 289 Wieghardt, 1887–
Kohn, Salomon (1825– 430 f. Kurth, Cornelia (*1960) 1970) 296, 308 f., 311,
1904) 262 Kracauer, Siegfried 388, 390 414
Kohner, Frederick (1905– (1889–1966) 242, Kutsch, Angelika (*1941) Leander, Richard (d. i.
1986) 296 246 383 Richard von Volkmann,
Kolbe von Wartenberg, Kracht, Christian (*1966) Kutzleb, Hjalmar (d. i. 1830–1889) 188
Johann Kasimir d. Ä. 364, 369 f. Hermann Kutzleb, Lebert, Benjamin (*1982)
(1584–1661) 13 Kramarz, Maria (*1915) 1885–1959) 282, 314 370, 376
Kolmar, Gertrud (1894– 290 Kyber, Manfred (1880– Lederer, Joe (1907–1987)
1943) 273 Krämer, Simon 261 1933) 249 296
Kolumbus, Christoph Kramnik, Wladimir Lehmann, Markus (Meir)
(1451–1506) Borissowitsch (*1975) L (1831–1890) 262 f.
348 486 Lehnert, Georg Hermann
Kompert, Leopold (1822– Kranz, Herbert (1891– Lackowitz, Wilhelm (1862–1937) 181
1886) 262 1973) 326 (1837–1916) 234, 235 Lehnert, Johann Heinrich
Kon, Satoshi (*1963) Krása, Hans (1899–1944) Laddey, Emma (geb. (1792–1848) 155
461 274 Radtke, 1841–1892) Leibniz, Gottfried,
König, Karin 358 Kravchuk, Andrei (*1962) 182, 214 Wilhelm (1646–1716)
König, Ulrich (*1949) 457, 458 Ladiges, Ann (*1935) 274
462 Kredel, Fritz (1900–1973) 383 Leip, Hans (1893–1983)
Konrad von Haslau (2. 293 Lagerlöf, Selma (1858– 259
Hälfte 13. Jh.) 13 Kreidolf, Ernst (1863– 1940) 192 Lemieux, Michèle
Kopernikus, Nikolaus 1956) 171, 189 Laguionie, Jean François (*1955) 456
(1473–1543) 8 Krenzer, Rolf (*1936) (*1939) 461 Lenau, Nikolaus (d. i.
Körber, Philipp Wolfgang 447 Lamorisse, Albert (1922– Nikolaus Franz
(1811–1873) 139, 165, Kreßner, Rudolf 291–293 1970) 492 Niembsch, 1802–1850)
219 Kreuzpaintner, Marco Lamprecht, Eva-Maria 182
Korczak, Janusz (d. i. (*1977) 459 402 Lenzen, Hans Georg
Henryk Goldszmit, Krogmann, Hans-Gerd Lamprecht, Gerhard (*1921) 410
1878–1942) 244 (*1935) 387 (1897–1974) 247, Lepman, Jella (1891–
Kordon, Klaus (*1943) Kronfli, Josephine 447 451 1970) 296, 306, 311
352, 359 Krupp, Alfred (1812– Lamprecht, Karl (1856– LePrince de Beaumont,
Korn, Ilse (1907–1975) 1887) 163 1915) 234 Jeanne-Marie (1711–
415, 419 Kruse, Max (*1921) 353 Lamszus, Wilhelm (1881– 1780) 72, 93
Korn, Vilmos (1899– Krusow (Major Krusow, 1965) 229, 244 Leschnitzer, Adolf (1899–
1970) 419 vermutlich Pseudonym) Lange, Helene (1843– 1980) 273
Körner, Friedrich (*1815) 219 1930) 215 Lessing, Gotthold
148 Krüss, James (1926– Lange, Wolf-Armin Ephraim (1729–1781)
Körner, Karl Theodor 1997) 188, 198, 316, (*1957) 456 48, 53, 74
(1791–1813) 147 324, 330–335, 408, Lansch, Enrique Sánchez Lettow-Vorbeck, Paul von
Körner, Wolfgang (*1937) 410 f., 429, 438, 469 (*1963) 459 (1870–1964) 283
382 f. Krylow, Iwan (1768– La Roche, Sophie von Levi, Hermann (1839–
Korschunow, Irina 1844) 154 (1730–1807) 72, 93 f. 1900) 232
(*1925) 356, 363, Kuba (d. i. Kurt Barthel, Larsen, Egon (*1904) Levoy, Myron (*1930)
382 f. 1914–1967) 296, 302 296, 300 356
Personenregister 525
Lewin, Waldtraut (*1937) Lorenzini, Carlo – siehe: Maita, Aki (*1966) Matthiessen, Wilhelm
352 f., 357 Collodi, Carlo 495 (1891–1965) 250, 256,
Leyding, Johann Lornsen, Boy (1922– Maiwald, Peter (*1946) 314
Diederich (1721–1281) 1995) 467 409 Mattsperger, Melchior
72 Losansky, Rolf (*1931) Majakowski, Wladimir (1627–1698) 11
Lian, Torun (*1956) 459 454, 461 Wladimirowitsch Matull, Kurt (*1872)
Lichey, Georg (1886– Lossius, Kaspar Friedrich (1893–1930) 413 217
1939) 295 (1753–1817) 76, 82 Major Krusow – siehe: Maukisch, Heinrich (um
Lichtwer, Magnus Lossius, Rudolph Krusow 1800–1860) 131,
Gottfried (1719–1783) Christoph (1760–1819) Makarenko, Anton 145
74 80, 87 (1888–1939) 418 Maximilian I. (1459–
Liebeskind, August Jakob Lottig, Wiliam (1867– Malmros, Ulf (*1965) 1519) 30
(1758–1793) 78 f., 98 1953) 195 457 Maximilian I., Kurfürst v.
Liliencron, Detlev (1844– Lotz, Karl-Heinz (*1946) Mancke Maria – siehe: Bayern (1573–1651)
1909) 179, 182, 234, 459 Felseneck, Marie von 13
236 f. Lounsbery, John (1911– Mandoki, Luis (*1954) May, Karl (1842–1912)
Lima, Kevin (*1962) 461 1976) 461 458 152, 157, 179, 186,
Lin, Poliang 456 Löwenstein, Rudolf Mann, Erika (1905–1969) 219, 221–224, 248,
Lindgren, Astrid (1907– (1819–1891) 128 259, 296, 299 f., 303, 274, 285, 307, 318,
2002) 322, 329, 334, Lucas, George (*1945) 305 f., 309, 311, 421 416, 419, 437, 453
340, 345, 377, 380, 461 f., 484 Mann, Klaus (1906– Mazer, Norma (geb. Fox,
394, 431, 438, 444 f., Lüddemann, Steffen 1949) 309 *1931) 386
485 (*1962) 359 Männling, Johann McInerney, Jay (*1955)
Linke, Lilo (1906–1963) Ludwig, Samuel (1759– Christoph (1658–1723) 368
296 f., 302 1798) 89 37 Megerle, Johann Ulrich –
Linzenmeier, Mira Ludwig, Volker (d. i. Mao Tse Tung (1893– siehe: Abraham a
(*1993) 446 Eckart Hachfeld, 1976) 342 Sancta Clara
Lips, Julius Ernst (1895– *1937) 342 Maria I. Tudor (1516– Mehring, Franz (1846–
1950) 296, 300 Ludwig XIV., Kg. v. 1558) 351 1919) 250 f.
Lobe, Mira (1913–1995) Frankreich (1638– Maria Theresia (1717– Meier, Sid (*1954) 492
272, 296, 382 1715) 35 1780) 230 Meierotto, Johann
Locke, John (1632–1704) Ludwig XV. (Louis Duc Marlitt, Eugenie, (d. i. Heinrich Ludwig
49 de Bourgogne, 1710– Eugenie John, 1825– (1742–1800) 88
Loewe, Heinrich Eliakim 1774) 35 1887) 202 Meinck, Willi (1914–
(1869–1951) 268 Luise, Kg.in von Preußen Marquand, Richard 1993) 419
Loewenberg, Jakob (1776–1810) 148, 230, (1938–1987) 462 Meißner, August Gottlob
(1856–1929) 182, 263 234 Marquart vom Stein (1752–1807) 74
Loewenstein, Kurt (1902– Lukács, Georg (1885– (1425/1430– Meißner-Johannknecht,
1973) 296, 309 1971) 349 1495/1496) 1 Doris (*1947) 386
Löffelholz, Karl Georg Luruli, Ntshavheni Wa Marryat, Frederick Meister, Ernst (1911–
(Pseud. für Uwe Kant, (*1955) 458 (1792–1848) 155, 1979) 408
Peter Abraham, Hannes Lustig, Peter (*1937) 156 Melanchthon, Philipp
Hüttner) 431 447, 469 Marschak, Samuil (1497–1560) 7, 8
Lohenstein, Daniel Lütgen, Kurt (1911– Jakovlewitsch (1887– Mendelssohn, Moses
Caspar von (1635– 1992) 326, 348 f. 1964) 413 (1729–1786) 84, 261
1683) 37 Luther, Martin (1483– Martini, Lukas (1548– Mendelssohn-Bartholdy,
Lohmeyer, Julius (1853– 1546) 6 f., 12, 26, 29, 1599) 11 f. Felix (1809–1847)
1903) 178 f., 228, 230 39, 86, 231 Martin Linius von 127
Löhr, Johann Andreas Lützow, Adolf Freiherr Cochem (1634–1712) Mensing, Kolja (*1971)
(1764–1841) 142 von (1782–1834) 147 11 377
London, Jack (d. i. John Marx, Karl (1818–1883) Menzel, Wolfgang (1798–
Griffith Chaney/ M 298, 299, 419 1873) 139
Wellman, 1876–1916) Masannek, Joachim Merian, Matthaeus
248, 285 Maar, Paul (*1937) 357, (*1960) 462 (1593–1650) 2
Löns, Hermann (1866– 394, 396 f., 446 f., 485 Masen (Masenius), Jakob Merkel, Dankegott
1914) 192 Maaß, Siegfried (*1936) (1606–1681) 17 Immanuel (1765–1789)
Loog, Petra (*1966) 457 426 Maslowska, Dorota 60, 72
Lorenzen, Ernst (1876– Macropedius, Georgius (*1982) 377 Metz, Josefa (1871–1943)
1954) 229 (um 1475–1558) 17 Mathias, Paul 296 273
526 Personenregister
Oppenheimer, Josef Süß Paul III., Papst (1468– Platon (428/427–349/348 Pyle, Howard (1853–
(1698/1699–1738) 1549) 8 v. Chr.) 21 1911) 348
151 Paulus von Tarsus († nach Plehn, Auguste – siehe: Pytka, Joe (*1938) 462
Ordesky, Mark (*1963) 60) 29 Augusti, Brigitte
404 Pausacker, Jenny (*1948) Plenzdorf, Ulrich (1934– Q
Orlev, Uri (*1931) 356 386 2007) 359 f., 363, 368,
Ossowski, Leonie (*1925) Pausewang, Gudrun 373 f., 422, 425 Quabeck, Benjamin
363, 447, 459 (*1928) 356, 357, Pludra, Benno (*1925) (*1976) 379
Osten, Maria (1908– 400 f. 375, 400, 415, 425, Queiroga, Jorge 457
1942) 296, 299, 304, Pederzani-Weber, Julius 427, 431 f. Quinn, Anthony (1915–
309 (1836–1921) 229 Plutarch (um 45 – nach 2001) 453
Osterwalder, Markus Perez, Jizchak Leib 120) 33 Quintilian (Marcus
(*1947) 446 (1851–1915) 264 Pocci, Franz (1807–1876) Fabius Q., ca. 35–100)
Ostrowski, Nikolai Perrault, Charles (1628– 126, 128–130, 169, 4
Alexewitsch (1904– 1703) 78 179, 273
1936) 413 Pestalozzi, Johann Polák, JindĜich (1925– R
O’Sullivan, Maureen Heinrich (1746–1827) 2003) 469
(1911–1998) 453 51 Pollatschek, Walther Raabe, August (1760–
Otten, Karl (1889–1963) Peters, Julie Anne (*1952) (1901–1975) 296, 315, 1841) 75
296, 299, 307, 309 392 319, 322 f., 414 Raabe, Wilhelm (1831–
Otto, Franz (d. i. Johann Petersen, Wolfgang Polo, Marco (1254–1324) 1910) 226
Christian Gottlieb (*1941) 454 348, 353 Radczun, Günter (1931–
Spamer, 1820–1886) Petrarca, Francesco Popp, Adelheid (1869– 1978) 419
149, 163 (1304–1374) 33 1939) 214 Radetzky von Radetz,
Otto-Peters, Louise Petri, Walther (*1940) Poppe, Johann Heinrich Josef Wenzel (1766–
(1819–1895) 182 f. 436 Moritz (1776–1854) 1858) 230
Otto Berthold (1859– Petzold, Konrad (1930– 162 Radlicki, Eva (*1959)
1933) 187 f. 1999) 454 Porta, Konrad (1541– 481
Overbeck, Christian Pfeffel, Gottlieb Konrad 1585) 11 Raff, Georg Christian
Adolf (1755–1821) 80 (1736–1809) 74, 82 Porter, Tracey 392 (1748–1788) 83, 90,
Ovid (Publius Ovidius Pfeiffer, Otti (1931–2001) Postl, Carl Magnus – 162
Naso, 43 v. Chr. – 18 387 siehe: Sealsfield, Raff, Helene (1865–1942)
n. Chr.) 5 Pfeilstücker, Suse (1885– Charles 214, 216
1960) 349 Potente, Franka (*1974) Rambach, Johann Jakob
P Phaedrus (1. Hälfte 1. Jh. 461 (1693–1735) 11
n. Chr.) 38 Pötting, Hedwig (Anna Ramezani, Gholam Reza
Padschitnow, Alexej Pharemund, Christian Maria Joachima) (*1963) 457
(*1956) 492 (Pseud.) 22 Gräfin (1853–1915) Rathenow, Lutz (*1952)
Pahlen, Kurt (1907–2003) Philippson, Ludwig 229 375
296, 305, 306 (1811–1889) 262 Pressler, Mirjam (*1940) Ratke, Wolfgang
Pajeken, Friedrich Piccolomini, Enea Silvio 353, 356, 358, 381 f., (Ratichius) (1571–
Joachim (1855–1920) (Pius II., 1405–1464) 391, 394, 454 1635) 8
219, 221–224 31 Preuß, Gunter (*1943) Rayle, Marga 238
Panitz, Eberhard (*1932) Pichler, Luise (1823– 358, 375, 426, 430 Rebhun, Paul (um 1500–
421 1889) 230 Preußler, Otfried (*1923) 1546) 17
Pantelejew, Leonid (d. i. Pickford, Mary (1892– 316, 324, 327–330, Rechlin, Eva (*1928)
Aleksei Iwanowic 1979) 451 334, 341, 444, 448, 407
Jeremeev, 1908–1987) Pierce, Tamora (*1954) 454 Regener, Sven (*1961)
248, 413, 418 383 Prinz, Joachim 265 377, 462
Paolini, Christopher Pijet, Georg Waldemar Pröhle, Heinrich (1822– Reichardt, Johann
(*1983) 403 (1907–1988) 297 1895) 115 Friedrich (1752–1814)
Pappenheim, Bertha Pin, Isabel (*1975) 405 Proschko, Isidor (1816– 82
(1859–1936) 265 Pinochet, Augusto (d. i. 1891) 230 Reiche, Dietlof (*1941)
Paquet, Alfons (1881– Augusto José Ramón Pruetz, Sigurd (*1960) 350, 352
1944) 247 Pinochet Ugarte, 1915– 358 Reinerus Alemannicus
Parigger, Harald (*1953) 2006) 406 Ptushko, Aleksandr (vor 1200 – um 1250)
352 Plant, Richard (*1910) (1900–1973) 452 14
Pauli, Hertha (1909 od. 296, 298–300, 304 f., Pullman, Philip (*1946) Reinhard, Andreas M.
1906–1973) 296, 300 309 441, 446 457
528 Personenregister
Reinhard, Annemarie Richter, Jutta (*1955) 1866) 104, 109 f., 126, Saring, Toni 280
(1921–1976) 415 441 128, 292, 408 Saul, Anno (*1963) 459
Reinheimer, Sophie Richter, Ludwig (1803– Rudolphi, Karoline Schaad, Isolde (*1944)
(1874–1935) 193, 249 1884) 115, 121, 291, Christiane Luise 381
Reinhold, Liane – siehe: 292 (1754–1811) 80 Schaaf, Johannes (*1933)
Faber, Helene Ridley, Philip (*1960) Ruhland, Herbert 466 398
Reinick, Robert (1805– 449 Rühle, Otto (1874–1943) Schäfer, Paul Kanut
1852) 124, 127 f. Rilke, Rainer Maria 188 (*1922) 421
Reinig, Christa (*1926) (1875–1926) 218, 362, Rühle-Gerstel, Alice Schaffstein, Hermann
408 367, 411 (1894–1943) 246 (*1926) 172
Reiniger, Lotte (1899– Ringelnatz, Joachim (d. i. Runze, Ottokar (*1925) Schanz, Fri(e)da (verh.
1981) 451 Hans Bötticher, 1883– 459 Soyaux, 1859–1944)
Reinwald, Georg Ernst 1934) 178 f., 190, 256, Rusch, Claudia (*1971) 178, 183, 185 f., 188,
(17./18. Jh.) 22 408, 411 377 190, 207, 211, 213,
Reitherman, Wolfgang Rochow, Friedrich Russell, Steve (*1937) 215
(1909–1985) 453, Eberhard von (1734– 486 Scharnhorst, Gerhard
461 1805) 89 Rutgers, Ann (1910– Johann von (1755–
Remarque, Erich Maria Rockstroh, Heinrich 1990) 348 f. 1813) 146, 148
(1898–1970) 285, 422 (1770 – um 1835) Rycker, Piet de (*1957) Scharrelmann, Heinrich
Remmert, Enrico (*1966) 163 456, 461 f., 482 (1871–1940) 186 f.,
369 Röding, Johann Heinrich Ryter, Annemarie (*1957) 199
Renn, Ludwig (d. i. (1732–1800) 80, 82 351 Scharrelmann, Wilhelm
Arnold Friedrich Vieth Rodrian, Fred (1926– (1875–1950) 188
von Golßenau, 1889– 1985) 423 S Scheel, Marianne (*1902)
1979) 416–418 Röhrig, Tilman (*1945) 292
Renner, Peter (*1965) 351, 352 Saalmann, Günter Schenzinger, Karl Aloys
377 Rollenhagen, Georg (*1936) 430 (1886–1962) 281 f.,
Rennert, Jürgen (*1943) (1542–1609) 7, 41, Sahling, Bernd (*1961) 314
430, 436 42 457, 459, 462 Scherf, Dagmar (geb.
Reschke, Willi 319 Rosegger, Peter (1843– Salinger, Jerome David Weisgräber, *1942)
Reuchlin, Johannes 1918) 179, 184, 195 f., (*1919) 362, 367, 369, 382
(1455–1522) 16 218 388, 390, 433 Scheu-Riesz, Helene
Reuß, Heinrich 268 Rosenbaum, Marianne Salles, Walter (*1956) (1880–1970) 296,
Reuter, Bjarne (*1950) (1940–1999) 460 459 300
388 Rosenfeld, Friedrich Salten, Felix (d. i. Schidlowsky, Christian
Reuter, Ernst (*1933) (Pseud. Friedrich Feld, Siegmund Salzmann, (*1965) 447
292 1902–1987) 296, 298, 1869–1947) 267, 296, Schill, Ferdinand von
Rewald, Ruth (1906– 305, 306, 309, 311 304, 306, 309 (1776–1809) 147, 230,
1942) 257, 296, 301– Ross, Carlo (1928–2004) Salzmann, Christian 234
303, 310 356 Gotthilf (1744–1811) Schiller, Friedrich (1759–
Rhau, Georg (1488– Rossbach, Erwin 175 46, 50 f., 58, 65, 72 f., 1805) 182, 230, 318,
1548) 11 Rothemund, Eduard 75, 84, 86, 88, 91, 94 411 f.
Rhoden, Emmy von (d. i. (1900–1966) 277, Samson, Meta (†1942) Schirach, Baldur von
Emmy von Friedrich, 282 f., 291, 293, 313 273 f. (1907–1974) 281
geb. Kühne, 1832– Rothemund, Marc Samter, Max (*1933) Schlegel, Egon (*1936)
1885) 185, 207–209, (*1968) 460 274 454
379, 391 Rothkirch, Thilo Graf Sand, Karl (Carl) Ludwig Schleif, Wolfgang (1912–
Ricciarelli, Giulio (*1965) (*1948) 456, 461 f., (1795–1820) 351 1984) 452
458 482 Sande Bakhuyzen, Willem Schlosser, Johann Georg
Richardson, Samuel Rothschild, Theodor van de (1957–2005) (1739–1799) 84
(1689–1761) 94 (1876–1944) 263 458 Schlott, Jutta (*1944)
Richter, Götz Rudolf Rousseau, Jean Jacques Sander, Christian 375, 426
(*1923) 419 (1712–1778) 50, 51, Friedrich (1756–1819) Schlözer, August Ludwig
Richter, Hans Peter 55, 59, 61–63, 74, 93, 76, 83 von (1735–1809)
(1926–1993) 335–337, 96–98, 196, 321, 434 Sanders, Chris (*1962) 90 f.
354–356, 447 Rowling, Joanne K. 482 Schlüter, Andreas (*1958)
Richter, Johann Paul (*1965) 345 f., 402– Sapper, Agnes (geb. Brater, 399, 402
Friedrich – siehe: Jean 404 1852–1929) 186, Schmeltzer, Kurt (*1888)
Paul Rückert, Friedrich (1788– 197 f., 229 296
Personenregister 529
Schmid, Christoph von Schreiber, Jacob Schweikert, Ulrike Siemens, Ernst Werner
(1768–1854) 135–137, Ferdinand (1809–1867) (*1966) 352 von (1816–1892) 163
139, 167 160 Schwentke, Robert Siemsen, Anna (1882–
Schmid, Hans-Christian Schröder, Claudia (*1953) (*1968) 459 1951) 295, 305, 313
(*1965) 459 461 Schwerin, Rose Marie Siemsen, Hans (1891–
Schmid, Johannes (*1973) Schröder, Rainer Maria (*1922) 439 1969) 296, 299, 305,
458 (*1951) 353 Schwindt, Peter (*1964) 309
Schmid, Joseph Leonhard Schübel, Rolf (*1942) 404 Sienkiewicz, Henryk
(1882–1912) 128 461 Scott, Walter (1771– (1846–1916) 348
Schmid, Karl Adolf Schubert, Dieter (*1929) 1832) 150, 348 Sigmund, Erzhg. v. Tirol
(1804–1884) 178 421 Sealsfield, Charles (d. i. (1427–1496) 23
Schmidhammer, Arpad Schubert, Gotthilf Carl Magnus Postl, Silbermann, Abraham
(1857–1921) 229 Heinrich von (1780– 1793–1864) 218, 220 Moritz (1889–1939)
Schmidt, Arno (1914– 1860) 160 Seedorff, Petra 433 270
1979) 223 Schubert, Helga (d. i. Seghers, Anna (d. i. Netty Simcha, Nachman ben
Schmidt, Ferdinand Helga Helm, *1940) Reiling, 1900–1983) (1772–1810) 266
(1816–1890) 149, 426 296, 306, 309 Simmel, Georg (1858–
228 Schuh, Jakob (*1976) Seidel, Carl August 1918) 220, 243
Schmidt, Otto Ernst – 456 Gottlieb (1754–1822) Simon, Jaakov 273
siehe: Ernst, Otto Schuhmacher, Wilhelm 82 Simon, Liesel 444
Schmidt, Veronika – siehe: 287 Seidel, Friedrich 144 Simrock, Karl (1802–
Friedländer, Vera Schuld, Hans-Georg Seidel, Heinrich (1842– 1876) 111
Schmitz, Ralf (*1961) 353 1906) 188 Sinold von Schütz, Philip
457 Schulenburg, Bodo Seidel, Ina (1885–1974) Balthasar (1657–1742)
Schnabel, Johann (*1934) 420 250 36
Gottfried (1692 – nach Schultz, V. (d. i. Veronika Seidel, Susanne (*1975) Sixtus, Albert (1892–
1750) 76 Lühe) 235 456, 481 1960) 292
Schnack, Friedrich (1888– Schulz, Heinrich – siehe: Seidemann, Maria Skarbina, Helmut (1888–
1977) 256 Almsloh, Ernst (*1944) 358 1945) 293
Schneider, Karla (*1938) Schulz, Hermann (*1938) Seidlin, Oskar (1911– Smidt, Heinrich (1798–
352, 359 357, 447 1984) 296, 304 f., 309 1867) 111
Schneider, Rolf (*1932) Schulze, Friedrich Seidmann-Freud, Tom Smolly, Elieser 273 f.
374, 425, 427 Gottlieb (Pseud.) (1892–1930) 270 Solito, Auraeus (*1969)
Schnitzler, Gregor 175 Seneca (Lucius Annaeus 457
(*1964) 462 Schulze-Smidt, Bernhar- S., 4?–65) 21 Sommers, Stephen
Schnürer, Dagmar dine (1846–1920) 179, Seuberlich, Hans Erich (*1962) 461
(*1972) 449 206 f., 210 (1920–1984) 380 Sonnemann, Emil – siehe:
Schnurre, Rainer (*1945) Schumacher, Hildegard Seybold, David Christoph Brand, Jürgen
408 (1925–2003) 426 (1747–1804) 74 Sophie Gräfin von
Schocken, Salman (1877– Schumacher, Siegfried Seynaeve, Katrien (*1949) Baudissin (geb. Kaskel)
1959) 266 (*1926) 426 358 – siehe: Aurelie
Scholl, Sophie (1921– Schumacher, Tony (1848– Shapiro, Alan (*1957) Sorel, Charles (um 1602–
1943) 356 1931) 186, 196 f., 453 1674) 37
Scholz, Josef 176 229 Shaul, Dror (*1971) Spach, Friedrich (†1794)
Schonger, Hubert (1897– Schumann, Robert 457 85
1978) 451 f. (1810–1856) 127 Sheldon, Sidney (1917– Spalatin, Georg (1484–
Schönlank, Bruno (1891– Schummel, Johann 2007) 453 1545) 24–26
1965) 252, 296 f., Gottlieb (1748–1813) Sherman, George (1908– Spamer, Johann Christian
307–309 61, 83 1991) 453 Gottlieb – siehe: Otto,
Schönstedt, Walter Schuster-Schmah, Sigrid Shih, C. Jay (*1960) 456 Franz
(1909–1961) 296, 306, (*1933) 357 Sibylle von Jülich-Cleve, Spanier, Moritz (1853–
309, 311 Schwab, Hermann (1879– Kurfürstin v. Sachsen 1938) 263
Schoppe, Amalia (1791– 1962) 268 (†1554) 24 Speckter, Otto (1807–
1858) 142, 165 Schwabe, Johann Joachim Siebe, Josephine (1870– 1871) 121, 125,
Schopper, Hartmann (1714–1784) 72, 93 1941) 197, 257 291 f.
(1542? – nach 1595) Schwarz, Annelies Siebenand, Ralf – siehe: Spee, Friedrich (d. i.
41 (*1938) 357 Zaches & Zinnober Friedrich Spe(e) von
Schrader, Karl (*1915) Schwarz, Hans-Martin Sieber, Michael (*1971) Langenfeld, 1591–
414 274 456 1635) 11, 411
530 Personenregister
Spener, Philipp Jakob Stengel, Hansgeorg Strittmatter, Eva (*1930) 298 f., 302 f., 305, 307–
(1635–1705) 11 (1922–2003) 430 414 f. 309, 315, 321 f., 414,
Speyer, Wilhelm (1887– Stephenson, George Stroth, Friedrich Andreas 437, 460
1952) 256, 258, 296, (1781–1848) 163 (1750–1785) 75 Thal, Lilli (*1960)
306, 309, 311, 315, Stephenson, Neal (*1959) Stroud, Jonathan (*1970) 352
318, 451 494 403 Thalbach, Katharina
Spielberg, Steven (*1946) Stetten, Paul von (1731– Strubberg, Friedrich (*1954) 446
461, 484 1808) 90 August – siehe: Armand Thälmann, Ernst (1886–
Spillner, Wolf (*1936) Steuben, Fritz (d. i. Erhard Stuckrad-Barre, Benjamin 1944) 419
436 Wittek, 1898–1981) von (*1975) 364, 370, Theden, Dietrich (1857–
Spinelli, Jerry (*1941) 283, 285 f., 315, 326 373, 376, 462 1909) 220
447 Steurer, Matthias (*1964) Sturm, Julius (1816– Theon (1./2. Jh. n. Chr.)
Spinnen, Burkhard 457 1896) 186 38
(*1956) 403 Steurich, Emil (1852– Sturridge, Charles Thieme, Karl Traugott
Spinoza, Baruch (1632– 1921) 225 (*1951) 453 (1745–1802) 59, 63,
1677) 274 Stevens, Art (1915–2007) Stutz, Jakob (1801–1877) 84 f.
Spohr, Louis (1784–1859) 461 148 Thieme, Moritz (1799–
127 Stevenson, Robert (1905– Sulzer, Johann Georg 1849) 169
Spornberg, Johann von 1986) 453 (1720–1779) 88 f. Thoma, Ludwig (1867–
42 Stevenson, Robert Louis Sulzer, Johann Rudolph 1921) 188
Spyri, Johanna (1827– (1850–1894) 220 (*1750) 93 Thomas, Adrienne (d. i.
1901) 177, 184, 186, Steyer, Christian (*1946) Sutcliff, Rosemary (1920– Hertha Adrienne
195 f., 207, 214 457 1992) 348 f. Deutsch, geb. Strauch,
St. John, Alfred (1893– Stieff, Christian (1675– Sutejew, Wladimir (1903– 1897–1980) 272, 296,
1963) 453 1751) 22 1993) 413 303, 306–309
Stacke, Manuela (*1970) Stierlin, Emanuel (1779– Sutermeister, Otto (1832– Thomas, Louis (1815 –
457 1866) 148 1901) 115 um 1870) 160
Stalin (d. i. Jossif Stöber, August (1808– Sutor, Andreas (*1746 od. Thomasin von Zerklaere
Wissarionowitsch 1884) 111 1747) 89 (um 1186–1238) 13,
Dschugaschwili, 1879– Stöckert, Fanny (1844– Suttner, Bertha Sophia 27
1953) 324, 419, 421 1908) 207, 211 Felicita Baronin von Thomas von Aquin
Stamm, Heinz-Günter Stolberg, Christian zu (geb. Gräfin Kinsky (1224/25–1274) 4
398 (1748–1821) 81 von Chinic und Tettau, Thor, Annika (*1950)
Stanton, Andrew (*1965) Stolberg, Friedrich 1843–1914) 213, 356
461 Leopold zu (1750– 229 Thorpe, Richard (1896–
Staudte, Wolfgang Georg 1819) 81 Süverkrüp, Dieter (*1934) 1991) 453
Friedrich (1906–1984) Stoppe, Daniel (1697– 408 f. Tieck, Ludwig (1773–
452 1747) 40 Svensson, Jón (1857– 1853) 98, 99, 100–
Stefan, Verena (*1947) Storm, Theodor (1817– 1944) 248 102, 104–106, 110,
386 1888) 171, 179, 182, Swift, Jonathan (1667– 118, 121 f., 124, 128,
Steffin, Margarete (1908– 188 1745) 285 401
1941) 296 f., 301 Stow, Percy (1876–1919) Sylvanus (Pseud.) 22 Till, Jochen (*1966)
Stein, Anna (d. i. 453 379
Margaretha Wulff, Stoy, Johann Sigmund T Tissot, Simon-André
1792–1874) 209, 215 (1745–1808) 87, 90 (1728–1797) 70
Stein, Sophie (d. i. Anna Stranka, Erwin (*1935) Tanera, Karl (1849–1904) Todorov, Tzvetan (*1939)
Sophie Charlotte 454 228, 234, 236, 237 400
Klapp-Osten, *1840) Strätling-Tölle, Helga Tempelhoff, Henny von – Tolkien, John Ronald
207, 214, 216 (*1927) 380 siehe: Heinz, T. von Reuel (1892–1973)
Steinhoff, Hans (1882– Strauß, Emil (1866–1960) Tendrjakow, Wladimir 403 f.
1945) 281 218, 362, 367 Fjodorowitsch (1923– Tolstoj, Leo (1828–1910)
Steinhöwel, Heinrich Strauß, Ludwig (1892– 1984) 433 308
(1412–1482/1483) 1953) 273 Terenz (Terentius Publius Töpffer, Rodolphe (1799–
39 Strauß und Torney, Lulu Afer, 195/190–159 1846) 179
Steinke, Christian (*1938) von (1873–1956) v. Chr.) 3, 5 Torell, Linus (*1965)
459 182 Tesarek, Anton (1896– 458
Steinmetz, Udo 461 Strittmatter, Erwin 1977) 244 Trapp, Ernst Christian
Stengel, Georg (1585– (1912–1994) 416–418, Tetzner, Lisa (1894–1963) (1745–1818) 51, 74,
1651) 37 423, 428 249, 253, 257, 296, 83, 84
Personenregister 531
Trautmann, Christian Rahel (geb. Lewin, Wagner, Bernd (*1948) Weigle, Fritz – siehe:
369 1771–1833) 232 431 Bernstein, F.W.
Trease, Geoffrey (1909– Veken, Karl (1904–1971) Wagner, Hermann (1824– Weinert, Erich (1890–
1998) 348, 353 427 1879) 163, 178 1953) 413
Treller, Franz (1839– Verbong, Ben (*1949) Wagner-Tauber, Lina Weingartner, Hans
1908) 179, 219 396, 456, 462 (1874–1936) 268 (*1970) 460
Trenbirth, Steve 461, 482 Vergil (Publius Vergilius Wahl, Mats (*1945) 363 Weinland, Christoph
Trier, Walter (1890–1951) Maro, 70–19 v. Chr.) 3, Waibel, Alois Adalbert – David Friedrich (1829–
256 f. 5 siehe: Nelk, Theophilus 1915) 232 f.
Triller, Daniel Wilhelm Verhoeven, Paul (1901– Waldeyer-Hartz, Hugo Weinstein, Garik – siehe:
(1695–1782) 40 1975) 452 (1876–1942) 236 Kasparow, Garri
Troeltsch, Ernst (1865– Verne, Jules (1828–1905) Waldis, Burkhard (um Kimowitsch
1923) 48 193, 219 1490 – nach 1556) 40 Weise, Christian (1642–
Trofimova, Zoia (*1968) Vesper, Will (1882–1962) Walendy, Paula (1902– 1708) 12, 17
456 286 f. 1991) 466 Weise, Clara – siehe:
Trojan, Johannes (1837– Vetterlein, Christian Wallace, Lewis (1827– Cron, Clara
1915) 179 Friedrich Rudolf 1905) 348 Weiskopf, Grete – siehe:
Trott, Magda (1880– (1759–1842) 89 Wallace, Richard Horatio Wedding, Alex
1945) 257, 288, 314, Victor, Walter 310 Edgar (1875–1932) Weismann, Peter 381
379, 391 Villaume, Peter (1746– 453 Weiss, Peter (1916–1982)
Tscharuschin, Jéwgenij 1825) 89 f. Walpot, Arnold 232 363
Iwanowitsch (1901– Villinger, Hermine (1849– Walser, Robert (1878– Weiß, Ulrich (*1942)
1965) 413 1917) 210 1956) 194, 367 454
Tuan, Alan 456 Vinke, Hermann (*1940) Walter, Otto F. (1928– Weiße, Christian Felix
Tuckermann, Anja 356 1994) 363 (1726–1804) 45, 47 f.,
(*1961) 356 Vives, Juan Luis (1492– Walther, Joachim (*1943) 53 f., 56, 60, 66–68, 72,
Tumler, Wolfgang (*1947) 1540) 16, 21 f. 374 74, 79–83, 88, 93, 167,
458 Vleuten, Carl Ferdinand Warbeck, Veit (um 1490– 169, 251, 408
Turing, Alan (1912–1954) von – siehe: Ferdin- 1534) 24 Weissmüller, Jonny (d. i.
485 ands, Carl Wasserfall, Kurt (*1952) Peter John Weissmüller,
Türk, Viola (*1960) 358 Vogler, Georg (1583/85– 401 1904–1984) 453
Twain, Mark (d. i. Samuel 1635) 11 Wassermann, Jakob Weitbrecht, Gottlieb
Langhorne Clemens, Voit, Johann Peter (1747– (1873–1934) 267 (1840–1911) 182
1835–1910) 274, 422 1811) 85 Watson, Sally 335 Weland, Jakob Christian
Twardowska, Emma Eva Volkmann, Richard von – Weber, Emil 190, 192 (1752–1813) 74
Henriette von – siehe: siehe: Leander, Richard Weber, Ernst 172 Welk, Ehm (1884–1966)
Hartner, Eva Voorhoeve, Anne (*1963) Weber, Hans (*1937) 414
358 375, 433 Wellm, Alfred (1927–
U Vorlíþek, Václav (*1930) Weber, Horst 287, 288 2001) 418, 425, 428,
452, 469 Wedding, Alex (d. i. Grete 432
Uhland, Ludwig (1787– Vos, Ida (*1931) 356 Weiskopf, 1905–1966) Welsh, Irvine (*1958 od.
1862) 104, 128, 182 Voß, Johann Heinrich 257, 296, 303, 306, 1961) 369
Ullmann, Günter (*1946) (1751–1826) 81 308 f., 342, 414–416, Welsh, Renate (*1937)
410 Vries, Jan de (1890–1964) 418, 433 358, 382
Ulrich von Lichtenstein 335 Wedekind, Armin (*1863) Welskopf-Henrich,
(1198–1275/1276) 13 193 Liselotte (1901–1979)
Unger, Friederike Helene W Wedekind, Frank (1864– 416
(1741–1813) 94, 201 1918) 193 Wendrich, Thomas
Urchs, Wolfgang (*1922) Wachowski, Andrew Wedekind, Kadidja (*1971) 458
461 (*1967) 485 (1911–1994) 258 Wenz-Viëtor, Else (1882–
Ury, Else (1877–1943) Wachowski, Laurence Wedge, Chris (*1957) 1973) 291, 292
179, 214, 229, 257, (*1965) 485 482 Werner, Reinhold von
268, 288, 379, 391 Waco, Laura (*1947) Wegener, Paul (1874– (1825–1909) 221
357 1948) 450 Werner, Ruth (1907–
V Waechter, Friedrich Karl Weidenmann, Alfred 2000) 419, 421
(1937–2005) 395 (1916–2000) 280, 315, Wersba, Barbara (*1932)
Vahle, Frederick (*1942) Wagenseil, Christian 317, 324, 325 363, 386
447 Jakob (1756–1839) Weigel, Erhard (1625– Westecker, Grete (1899–
Varnhagen von Ense, 74, 84 1699) 12 um 1952) 289, 290
532 Personenregister
Westermann, George Williams, William Carlos Melentjewitsch (1891– Ziegler, Reinhold (*1955)
(1810–1879) 171 (1883–1963) 411 1977) 430 358, 401
Wethekam, Cil(l)i (1921– Willms-Wildermuth, Wolzogen, Ernst von Zilberg, W.A – siehe:
1975) 351 Agnes (1844–1931) (1855–1934) 179 Kawerin, Wenjamin
Wetzel, Franz Xaver 234 Wood, Elijah Jordan Alexandrowitsch
(1849–1903) 174 Wilmsen, Friedrich (*1981) 453 Zimmer, Hans (*1946)
Wezel, Johann Karl Philipp (1770–1831) Woods, Don (*1950) 490 448
(1747–1819) 76 f. 89, 147 Wörishöffer, Sophie Zimmer, Johann Georg
Wickenhäuser, Ruben Wimpfeling, Jakob (1838–1890) 185, 219, (1777–1853) 107
Philipp (*1973) 353 (1450–1528) 12, 16 221 f. Zimmering, Max (1909–
Wickram, Jörg (um 1505 Winder, Ludwig (1889– Wozniak, Steve (*1950) 1973) 296, 298, 300 f.,
– vor 1562) 31–34 1946) 267 487 419
Widmann, Georg Rudolf Winterfeld, Henry (1901– Wright, Will (*1960) 489 Zingerle, Ignaz Vinzenz
(16. Jh.) 26 1990) 315, 317 f., 327 Wünsch, Kurt (*1939) (1825–1892) 115
Widukind, Herzog von Wirsung, Christoph 425 Zingerle, Joseph (1831–
Sachsen (um 730–807) (1500/1505–1571) 22 Wyle, Niclas von (um 1891) 115
282 Wittkamp, Frantz 1410 – nach 1478) 31 Zitelmann, Arnulf
Wiedemann, Franz (*1943) 411 Wyss, Hedi (*1940) (*1929) 351
(1821–1882) 186 Wohlgemuth, Joachim 381 f. Zobeltitz, Hanns von
Wieland, Christoph (1932–1996) 425 Wyß, Johann David (1853–1918) 219, 235
Martin (1733–1813) Wolf, Christa (*1929) (1743–1818) 148, 156 Zoff, Otto (1890–1963)
362 418, 421, 426 f. 296, 300, 309
Wigand, Tomy (*1952) Wolf, Friedrich (1888– Y Zöpfel, David (†1563)
457, 462 1953) 296, 309, 414 29
Wilcox, Fred M. (1907– Wolf, Klaus Peter (*1954) Yoshimoto, Banana Zübert, Christian (*1973)
1964) 453 364–366 (*1964) 369 460
Wild, Anne (*1967) 457 Wolf, Stefan (*1938) 485 Zucker, Wolf (*1905)
Wildberger, Erich 287, Wölfel, Ursula (*1922) Z 256
288 334, 355 f. Zuckmantel, Peter 348
Wildenbruch, Ernst von Wolff, Bernd (*1939) Zachcial, Michael – siehe: Zuckowski, Rolf (*1947)
(1845–1909) 179 429, 436 Zaches und Zinnober 447
Wildermuth, Ottilie Wolff, Christian (1679– Zaches & Zinnober (d.s. Zur Mühlen, Hermynia
(1817–1877) 142, 178, 1754) 64, 90 Michael Zachcial, (1883–1951) 251 f.,
186, 215 Wolff, Julius (1834–1910) *1963 und Ralf 296, 303, 306, 342,
Wildhagen, Else (geb. 226 Siebenand) 447 309
Friedrich, 1861–1944) Wolfsohn, Aron (1754– Zeman, BoĜivoj (1912– Zusak, Markus (*1975)
207 1835) 261 1991) 452 378
Wilhelm I., deutscher Wolgast, Heinrich Zemeckis, Robert (*1952) Zweig, Arnold (1887–
Kaiser (1797–1888) Joachim (1860–1920) 462 1968) 265, 415
230, 234 171 f., 174, 176, 190, Zengerling, Alf (1884– Zwick, Johann (1496–
Wilhelm II., deutscher 203, 220–222, 244, 1961) 451 1542) 11
Kaiser (1859–1941) 263, 284 Zetkin, Clara (1857– Zwingli, Huldrych
230 f. Wolkow, Alexander 1933) 175, 228 (1484–1531) 12
533
Bildquellen
Atrium Verlag, Zürich Herzog August Biblio- Österreichische National- Thienemann Verlag, Stutt-
320 thek, Wolfenbüttel 14, bibliothek, Wien 26 gart 329, 332, 399
Bayerische Staatsbiblio- 23, 39, 75 picture-alliance/dpa, ullstein bild, Berlin 122,
thek, München 1, 12 Hoffmann und Campe Frankfurt a. M. 371, 359, 407, 438, 448,
bpk – Bildarchiv Preu- Verlag, Hamburg 362 379, 401, 441, 445, 451, 452, 455, 461,
ßischer Kulturbesitz, Institut für Jugendbuch- 449, 455, 460, 471, 466, 468, 470, 472,
Berlin 72, 82, 97 forschung, Frankfurt a. 473, 479, 480, 491 493
Bilderdienst Südd. Verlag, M. (Fotografin: Birgit v. Rowohlt Verlag, Reinbek Universität Eichstätt 16
München 97 Ritter-Zahony) 71, b. Hamburg 369, 376, Universitäts- und Stadt-
Brüder Grimm-Museum, 155, 166 396 bibliothek – Erzie-
Kassel (Fotograf: Carl- J. B. Metzler Verlag, Stutt- S. Fischer Verlag, Frank- hungswissenschaftliche
Heinz Ebert) 106, 113 gart 234 furt a. M. 376 Abteilung, Köln 36,
Carlsen Verlag, Hamburg Justus-Liebig-Universität Sammlung Theodor 42, 44, 45, 52, 61, 65,
402 Gießen, FB Germanis- Brüggemann, Köln 36, 80, 82, 88, 91, 92, 95,
Cecilie Dressler Verlag, tik 236, 237 54, 62, 67, 77, 142, 191 109, 112, 116, 119,
Hamburg 404 Kinderbuchverlag, Berlin Sammlung Rosemarie 120, 123, 124, 127,
Deutsche Staatbibliothek, 417, 418, 420, 422, Rigol, Osnabrück 238 132, 135, 136, 137,
Berlin 25 424, 428, 429, 431 Sammlung Gisela Wilken- 140, 151, 153, 158,
Franckh-Kosmos Verlag, Kora-Filmverleih, Frank- ding, Köln 178, 183, 159, 160, 161, 169
Stuttgart (aus »Steu- furt a. M. 452 204, 208, 211, 213, Universitätsbibliothek der
ben: Der strahlende Landesbibliothek Coburg 214 TU Braunschweig 132,
Stern«) 286 (Sign.: HP-57.1294) Schiller-Nationalmuseum 157
Goethe-Museum, Düssel- 73 – Deutsches Literatur- Verlag Friedrich Oetinger,
dorf (Fotograf: Walter Mangoldt, Renate v. 373 archiv Marbach 143 Hamburg 341, 396
Klein) 106 Melis, Roger (Berlin) 427 Staatliche Provinzialbibli- Verlag Sauerländer, Aarau
Hamburger Kunsthalle Neumann, Heinz (Bietig- othek, Amberg 11 296
100 heim-Bissingen) 223 Stadtbibliothek Nürnberg Verlagsgruppe Beltz,
Henschelverlag Kunst und Niedersächsische Staats- 18, 51, 89 Weinheim 412
Gesellschaft, Berlin und Universitätsbiblio- Suhrkamp Verlag, Frank- Villinger-Archiv, Karls-
129 thek, Göttingen 39 furt a.M. 368 ruhe 210