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Reiner Wild (Hrsg.

Geschichte
der deutschen
Kinder- und
Jugendliteratur
3. Auflage
Geschichte der
deutschen Kinder-
und Jugendliteratur
unter Mitarbeit von
Otto Brunken, Bernd Dolle-Weinkauff, Hans-Heino
Ewers, Carsten Gansel, Gabriele von Glasenapp,
Dagmar Grenz, Petra Josting, Helga Karrenbrock,
Matthis Kepser, Thomas Möbius, Irmgard Nickel-Bacon,
Hans-Ulrich Pech, Steffen Peltsch, Rüdiger Steinlein,
Gudrun Stenzel, Ines-Bianca Vogdt, Annegret Völpel,
Gisela Wilkending
herausgegeben von Reiner Wild

3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

Mit 240 Abbildungen

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
IV

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http.//dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-476-01980-6
ISBN 978-3-476-00038-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-00038-5

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Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
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und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2008 Springer-Verlag GmbH Deutschland


Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2008
www.metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de
V

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur dritten Auflage IX


Vorwort zur ersten Auflage XI

Mittelalter und frühe Neuzeit 1


(Otto Brunken)

Kind, Kindheit und Kinderliteratur früherer Zeit 1


Tendenzen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 3
Funktionen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 10
Erzählende Literatur 19

Aufklärung 43
(Reiner Wild)

Bürgertum und Aufklärung 43


Pädagogik 49
Familie und Kindheit 51
Unterhaltende Schriften 72
Moralisch belehrende Schriften, religiöse Schriften 83
Lehr- und Schulbücher, Sachliteratur 87
Literatur für Mädchen 92

Romantik 96
(Hans-Heino Ewers)

Vorgeschichte und Voraussetzungen 96


Die romantische Kindheitsphilosophie 98
Kinderliteratur der Spätromantik 104
Kinderlyrik 107
Märchensammlungen 111
Märchendichtungen und Märchennovellen 117
Märchendichtung des Biedermeier 121
Kinderreime und -lieder 125
Kasperl- und Puppenspiel 128
VI Inhaltsverzeichnis

Vom Biedermeier zum Realismus 131


(Klaus-Ulrich Pech)

Als alles vorbei war 131


Moral in Geschichten 133
Die Welt: kein System, sondern Geschichte 145
Panorama der Welt: Reisen und Abenteuer 152
Die Welt als Teil, die Welt als Ganzes 159
Die periodische Welt 164
Die gespielte Welt 167

Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg 171
(Gisela Wilkending)

Markt, Gesellschaft, Politik 173


Expansion und Pluralisierung 177
Kinderliteratur, Kindheitsliteratur 186
Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik 189
Realistische Erzählprosa für Kinder 194
Lebensgeschichten, Liebesromane – vornehmlich für ›junge
Mädchen‹ 200
Strukturen und Funktionen der mädchenliterarischen Erzählprosa 204
Nur marginal: Lebensgeschichten mit männlichen Protagonisten 217
Reise- und Abenteuerromane – vornehmlich für die ›männliche
Jugend‹ 218
Nation, Geschichte, Krieg in der Kinder- und Jugendliteratur 228
Krieg und Geschlecht in der jugendliterarischen Erzählprosa 235

Weimarer Republik 241


(Helga Karrenbrock)

Kindheiten in der Weimarer Republik 241


Kindheitsdiskurs und das kinderliterarische Feld in der Weimarer
Republik 244
Neue Trends in der Weimarer Kinder- und Jugendliteratur 248

Jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis 1945 260


(Annegret Völpel)

Entwicklungen von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1918 260
Jüdische Literatur in der Weimarer Republik 263
Jüdische Literatur unter nationalsozialistischer Herrschaft 270

Faschismus 276
(Petra Josting)

Maßnahmen und Aktivitäten zur Lenkung des Kinder- und


Jugendliteratursystems 276
Bewertungskriterien: NS-Ideologie, Pädagogik und Kunst 278
Inhaltsverzeichnis VII

Das Spektrum der Kinder- und Jugendliteratur 279


Literatur der Organisationen 280
Historische Literatur – Kriegsliteratur 282
Abenteuerliteratur 284
Sportliteratur 287
Mädchenliteratur 288
Bilderbücher 291
Kinder- und Jugendliteratur im Urteil der NS-Literaturinstanzen 293

Exil 295
(Petra Josting)

Exilschriftsteller und Schriftsteller der »Inneren Emigration« 295


Kennzeichen der Kinder- und Jugendliteratur des Exils 297
Erscheinungsformen von Exilliteratur 299
Rezeption der Exilliteratur innerhalb und außerhalb
Deutschlands 308

Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende 312


(Rüdiger Steinlein)

Keine »Stunde Null« – Neubeginn im Vorgestern 312


Repräsentanten der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur nach
1945 314
Anfänge: 1945–1949 316
Trümmerbewältigung 319
Die 50er Jahre 323
Realismus in der Kinder- und Jugendliteratur der 50er Jahre 325
Die neuen Autoren der Fantasie und Kindheitsautonomie 326
Die ›Großen Drei‹: Otfried Preußler, James Krüss und Michael
Ende 328
Literatur der Kindheitsautonomie – psychologisch 334
Das Thema NS(-Verbrechen)/Holocaust/Widerstand 335
Konstellationen der 60er Jahre – Vom ›guten‹ zum antiautoritären
Jugendbuch 339

Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart 343

Vorbemerkung 343
(Reiner Wild)
Historische und zeitgeschichtliche Literatur 347
(Gabriele von Glasenapp)
Der Adoleszenzroman 359
(Carsten Gansel)
Mädchenliteratur 379
(Dagmar Grenz)
Fantastische Literatur 393
(Irmgard Nickel-Bacon)
Lyrik für Kinder 405
(Ines-Bianca Vogdt)
VIII Inhaltsverzeichnis

Kinder- und Jugendliteratur der DDR 413


(Bernd Dolle-Weinkauff/Steffen Peltsch)

Medien und Medienverbund 437

Radio für Kinder und Jugendliche 437


(Gudrun Stenzel)
Von der Kinderschallplatte zum MP3-Player 443
(Gudrun Stenzel)
Kinderfilm und Kinderfernsehen 450
(Thomas Möbius)
Computer- und Videospiele 484
(Matthis Kepser)
Fazit 495
(Thomas Möbius)

Bibliographie 497

Personenregister 516

Bildquellen 533
IX

Vorwort zur dritten Auflage

In den beinahe zwei Jahrzehnten seit dem Erscheinen der ersten Auflage
wurde die historische Erforschung der deutschsprachigen Kinder- und Ju-
gendliteratur beträchtlich ausgeweitet. In den 70er und 80er Jahren galt das
literaturhistorische Interesse vornehmlich dem 18. Jahrhundert, dazu der
frühen Neuzeit und der Romantik sowie spezifischen Abschnitten des 20.
Jahrhunderts, wie etwa der Weimarer Republik. Hingegen wurde in den zu-
rückliegenden Jahren vornehmlich das auch in der Kinder- und Jugendlitera-
tur ›lange‹ 19. Jahrhundert seit der Romantik bis zum 1. Weltkrieg intensiv
bearbeitet, ebenso die anschließenden Jahrzehnte bis zum Ende des 2. Welt-
kriegs. Mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand hat sich manche Einschät-
zung der Entwicklung nach 1945, in der Bundesrepublik wie – bis 1989/90
– in der DDR, verändert; seit den neunziger Jahren sind zudem neue Ten-
denzen in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur zu beobachten. Diese
Veränderungen sind in dieser dritten Auflage der Geschichte der deutschen
Kinder- und Jugendliteratur umfassend berücksichtigt. Sie bietet den Ertrag
der historischen Forschung und präsentiert damit den aktuellen Forschungs-
stand.
Die daraus resultierenden Änderungen gegenüber den beiden ersten Aufla-
gen sind in den einzelnen Abschnitten der historischen Abfolge freilich unter-
schiedlich. Die Kapitel zu den ersten Jahrhunderten, von den Anfängen bis
zur Romantik, mussten nur in geringem Maße überarbeitet werden, deutlich
stärker hingegen bereits die Darstellung der folgenden Jahrzehnte des Bieder-
meier und des Realismus. Gründlich überarbeitet und über weite Strecken
hinweg neu verfasst wurden die Kapitel zum Wilhelminismus und zur ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts; die jüdische Kinder- und Jugendliteratur wird
jetzt in einem eigenen Beitrag vorgestellt. Auch die Darstellung der bundesre-
publikanischen Entwicklung bis in die 60er Jahre wurde neu geschrieben;
hingegen war das Kapitel zur DDR lediglich zu überarbeiten. Gänzlich neu
konzipiert wurde die Darbietung der Entwicklung seit den 70er Jahren. Statt
der nach Dekaden geordneten Kapitel erscheinen nunmehr Längsschnitte,
die an Genres der Kinder- und Jugendliteratur und an Problemfeldern orien-
tiert sind; damit werden die herausragenden Tendenzen und Neuerungen aus
der Vielfalt und den Differenzierungen der letzten Jahrzehnte markiert und
hervorgehoben. Der Beitrag zu den Medien für Kinder und Jugendliche, der
wiederum den Abschluss bildet, wurde neu geordnet und neu geschrieben.
Bei all diesen Änderungen blieb die grundsätzliche Ausrichtung der Dar-
stellung erhalten. Die historische Erforschung der Kinder- und Jugendlitera-
tur ist weiterhin der im Vorwort zur ersten Auflage skizzierten »sozial- oder
– weiter gefasst – kulturhistorischen Orientierung« verpflichtet; die wissen-
schaftliche Auseinandersetzung mit der Kinder- und Jugendliteratur war,
angeleitet durch ihren Gegenstand, immer schon und bevor in der Literatur-
wissenschaft dieses Paradigma (wieder-)entdeckt wurde, kulturwissenschaft-
lich ausgerichtet. So gelten die im früheren Vorwort dargelegten Grundsätze
X Vorwort zur dritten Auflage

auch für die neue Auflage. Dies bedeutet im Übrigen auch, dass die Beiträge
der ersten und zweiten Auflage auch dort Bezugstexte der Neubearbeitung
geblieben sind, wo der wissenschaftliche Fortgang Revisionen nötig machte,
etwa in den Abschnitten zum 20. Jahrhundert. Erhalten blieb im Weiteren
auch die äußere Gestalt, mit Illustrationen und Marginalien; Auswahlbiblio-
graphie und Register folgen den Grundsätzen der früheren Auflagen.

Ein Buch wie dieses ist ein Gemeinschaftswerk, nicht allein von Beiträge-
rinnen, Beiträgern und Herausgeber. So bleibt die angenehme Pflicht zu
danken. Vorrangig gilt mein Dank den beiden Lektoren des Metzler-Verlags,
Uwe Schweikert für seinen Rat und Beistand bei der Neukonzeption dieser
dritten Auflage, Oliver Schütze für die vertrauensvolle Zusammenarbeit
und kompetente Begleitung, zudem für seine Unterstützung im Auf und Ab
herausgeberlicher Zwänge und Sorgen. Hans Heino Ewers danke ich für
seine profunden Ratschläge für die Neukonzeption der Darstellung seit den
70er Jahren. Zu danken habe ich vor allem auch Sandra Beck, Niels Hook
und Veronika Schreck, ebenso Kerstin Koblitz und Jennie Steuer für ihre
tatkräftige Mithilfe bei der Redaktion und Korrektur der Beiträge sowie bei
der Erstellung des Registers. Ebenso danke ich meiner Tochter Bettina für
ihre Hilfe bei der Korrektur und, nicht zuletzt, meiner Frau für ihre wie im-
mer hilfreichen und konstruktiven Ratschläge.

Mannheim Juli 2008


XI

Vorwort zur ersten Auflage

In den letzten beiden Jahrzehnten hat die Kinder- und Jugendliteratur ver-
stärktes literaturwissenschaftliches Interesse gefunden; im Zuge der Auswei-
tung des Forschungsbereichs seit den sechziger Jahren wurde sie zum Gegen-
stand der Literaturwissenschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter
nicht wenige Dissertationen und Habilitationsschriften, größere Unterneh-
mungen wie das von Klaus Doderer herausgegebene »Lexikon der Kinder-
und Jugendliteratur« oder die »Handbücher zur Kinderliteratur«, die in der
von Theodor Brüggemann begründeten, jetzt von Bettina Hurrelmann gelei-
teten Kölner ›Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendliteraturforschung‹ erar-
beitet werden (zwei sind erschienen, ein drittes ist im Druck, ein viertes wird
vorbereitet) und eine Reihe von Textsammlungen zur Geschichte dieser Lite-
ratur dokumentieren diesen Wandel. Er ist mitbegründet in dem gleichfalls
verstärkten wissenschaftlichen und auch allgemeinen Interesse an der Ge-
schichte von Familie, Erziehung, Kindheit und an den historischen Verände-
rungen im Bild des Kindes. Dieses Interesse ist seinerseits im Zusammenhang
mit den aktuellen Veränderungen familialer Strukturen zu sehen, insbeson-
dere mit dem Wandel in der Einstellung zu Kindheit und Erziehung, der ge-
rade auch in der Kinderliteratur seit den sechzigen Jahren sichtbar wird und
zu dem diese Literatur ihren Teil beigetragen hat und noch beiträgt. Eine
wichtige Rolle spielt auch die immer stärker werdende Bedeutung der ›neuen
Medien‹ in der Kinder- und Jugendkultur, deren Analyse im übrigen, wie
auch der hier aufgenommene Beitrag zu ihrer Entwicklung zeigt, andere me-
thodische Zugangsweisen als allein literaturwissenschaftliche verlangt (wie
weit diese auch gefasst sein mögen).
Vor allem die historische Forschung wurde stark intensiviert. Bestimmte
Abschnitte der Kinder- und Jugendliteratur fanden dabei bevorzugtes Inter-
esse, voran das 18. Jahrhundert und die Aufklärung sowie, hinter diese Epo-
che zurückgehend, die frühe Neuzeit. Verstärkt untersucht wurde auch die
Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Zeit und des Faschismus und,
über die Epochen hinweg, die Entwicklung des Mädchenbuchs. In jüngerer
Zeit wandte sich das Interesse stärker der Romantik und den von ihr ausge-
henden kinderliterarischen Impulsen zu, ebenso der Biedermeierzeit. Weniger
erforscht als andere Epochen ist, trotz mancher Einzelstudien, die zweite
Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vergleichbares gilt, wiederum trotz einer Reihe
von Einzelstudien, für die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur nach
1945, wobei hier zudem die Annäherung an die Gegenwart die historisch-
distanzierte Analyse erschwert.
Vorrangig bestimmt ist diese historische Forschung durch ihre sozial- oder
– weiter gefasst – kulturhistorische Orientierung; psychohistorische, zivilisa-
tions- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze bilden die methodischen und
theoretischen Grundlagen, die Geschichte der Familie und – vor allem – der
Kindheit den historischen Rahmen. In jüngerer Zeit wird stärker nach der
besonderen ästhetischen Qualität dieser Literatur gefragt. Allerdings ist die
XII Vorwort zur ersten Auflage

vorrangig sozialhistorische Orientierung der literaturwissenschaftlichen For-


schung auch in den Besonderheiten der Kinder- und Jugendliteratur begrün-
det. Ihre Adressatenbezogenheit und damit ihre Einbettung in den (historisch
sich wandelnden) Zusammenhang von Erziehung verlangt es, ihre Funktio-
nalität stets zu beachten, was nicht ausschließt, dass einzelne Texte diese
Funktionalität gewissermaßen übersteigen können und damit in einer beson-
deren Weise ästhetische Qualität zu entfalten vermögen. Vor allem eines gilt
es zu bedenken: Kinderliteratur ist Literatur von Erwachsenen für Kinder. Sie
wird (in der Regel) von Erwachsenen, die sich dabei auch ihrer eigenen Kind-
heit erinnern, für die nachwachsende Generation geschrieben; Produktion
und Distribution sind in den Händen von Erwachsenen, ebenso weitgehend
die bewertende und beurteilende, für die Verbreitung gerade dieser Literatur
doch sehr entscheidende Kritik; Erwachsene – nicht die Leserinnen und Leser
selbst, jedenfalls nicht die jüngeren – sind die Käufer, Kinderliteratur – weit-
aus weniger allerdings die Jugendliteratur – ist gewissermaßen eine den ge-
dachten Adressaten ›oktroyierte‹ Literatur. Das angemessene Verständnis ih-
rer historischen Entwicklung verlangt die Einbettung in den von der Welt der
Erwachsenen gesetzten Zusammenhang, in den sozialen und historischen
Wandel von Familie und Kindheit und den damit verbundenen Wandel der
Erziehungsvorstellungen und des Bildes vom Kind und von der Kindheit.
Gleichwohl ist das historische Interesse nicht auf diese zentralen Fragestel-
lungen einzugrenzen und darauf auch nicht beschränkt geblieben; zuneh-
mend werden in den letzten Jahren die Zusammenhänge der Kinderliteratur
mit der Literatur für Erwachsene und auch Fragen der Bestimmung und der
Entwicklung einzelner Gattungen untersucht. Zu den besonderen Problemen
gehört die Frage nach der Differenzierung zwischen veröffentlichter Literatur
für Kinder und Jugendliche und tatsächlicher kindlicher und jugendlicher
Lektüre. Auch hier gibt es – eher vereinzelte – Untersuchungen; allerdings
stößt diese Fragestellung – um so mehr, je weiter in der historischen Entwick-
lung zurückgegangen wird – an die Grenze unzureichender und oft wenig
aussagekräftiger Quellenlage; die Zeugnisse über die kindliche Literaturre-
zeption sind eher spärlich. Die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur ist
notwendigerweise und stärker als bei der Erwachsenenliteratur eine Ge-
schichte der Texte und weniger die der Lektüre.
Durch die historische Forschung sind die Kenntnisse über einzelne Epo-
chen beträchtlich erweitert worden; und sie hat zur Revision eingespielter
Urteile geführt, die in den älteren, vornehmlich von pädagogischen Fragestel-
lung geleiteten Bemühungen ausgebildet worden waren. So konnte etwa die
lange tradierte These, Kinderliteratur sei überhaupt erst in der Aufklärung
entstanden, gründlich differenziert werden; auch davor gab es, im Kontext
eines anderen Verständnisses von Kindheit und Jugend, Literatur für diese
Lebensepochen. Durch diese Revisionen aber entsprechen die älteren, vor-
rangig pädagogisch orientierten Darstellungen der Geschichte der Kinder-
und Jugendliteratur immer weniger dem erreichten Stand historischer Ein-
sichten. Die umfassende und zusammenhängende Darstellung der histo-
rischen Entwicklung dieser Literatur wurde zum immer dringlicher werden-
den Bedürfnis.
Eine solche Darstellung bietet die »Geschichte der deutschen Kinder- und
Jugendliteratur«. Sie präsentiert auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung
(den sie damit auch dokumentiert) die historische Entwicklung dieser Litera-
tur von ihren Anfängen im Mittelalter bis in die Gegenwart der achtziger
Jahre. Bezogen auf den historischen Wandel von Familie, Erziehung, Kindheit
und die Veränderung im Bild vom Kind werden die Linien dieser Entwick-
Vorwort zur ersten Auflage XIII

lung ausgezogen; ihr Zusammenhang über die Zeiten hinweg wird dabei
ebenso berücksichtigt wie die Besonderheiten ihrer einzelnen Abschnitte. Das
20. Jahrhundert – und darin auch die Ausbildung der ›neuen‹ Medien und
deren immer mehr zunehmende Bedeutung – bildet den Schwerpunkt. Die
Darstellung ist nicht beschränkt auf die deutschsprachige Literatur; auch
nichtdeutsche Literatur, soweit sie in Übersetzungen Einfluß auf die Entwick-
lung hatte, ist berücksichtigt. Weitgehend ausgespart bleibt dagegen die Ent-
wicklung des Bilderbuchs (für die eine umfassende Darstellung bereits vor-
liegt). Die dem Band beigegebenen Illustrationen geben jedoch ein anschau-
liches Bild der in der Kinder- und Jugendliteratur seit jeher großen Bedeutung
der visuellen Ergänzung des Geschriebenen. Es ist nicht das primäre Ziel
dieses Bandes, abschließende Urteile über die historische Entwicklung der
Kinder- und Jugendliteratur zu präsentieren, sondern Einblicke zu geben und
Einsichten zu vermitteln in einen Teilbereich der Literaturgeschichte, der en-
ger noch als die Literatur für Erwachsene mit den sozialen und historischen
Veränderungen verbunden ist, Anregungen zu geben für die weitere Beschäf-
tigung mit einer Literatur, in der in oft bemerkenswerter Weise die historische
Dimension heutiger Gegebenheiten, etwa in Kindheit oder Erziehung, sicht-
bar und erkennbar wird, die allzu leicht als selbstverständliche gelten oder
dafür ausgegeben werden.
Ein Wort zur Benutzung des Buches. Kolumnentitel und die Stichworte am
Rand bieten die Möglichkeit rascher Orientierung. Ein Autorenregister, in
dem die vollständigen Namen und die Lebensdaten angeführt sind, erschließt
den Band; auf die Verzeichnung der Werke in einem eigenen Register wurde
verzichtet. Die Auswahlbibliographie gibt Hinweise auf weiterführende Lite-
ratur; die Primärliteratur ist nicht eigens verzeichnet, hierfür sei auf die in
der Bibliographie aufgeführten Hilfsmittel verwiesen.
Es ist mir eine angenehme Pflicht, denen zu danken, die am Zustandekom-
men dieses Bandes mitgewirkt haben. Mein Dank gilt Maria Michels-Kohl-
hage von der Kölner ›Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendbuchforschung‹
und Barbara Schoone vom Frankfurter ›Institut für Jugendbuchforschung‹
für ihre Hilfe bei der Bereitstellung der Illustrationen; besonders danke ich
Theodor Brüggemann für seine Bereitschaft, Illustrationen aus seiner Samm-
lung zur Verfügung zu stellen, und für seine Hilfe bei der Auswahl. Danken
möchte ich den studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Karls-
ruhe Silke Arnold, Michael Duchard, Sabine Kamuf, Arnolt Kassel, Jia Ma,
Jürgen Oppermann sowie meinem Sohn Thomas für die Hilfe bei der Kor-
rektur und der Erstellung des Registers. Mein besonderer Dank aber gilt Uwe
Schweikert vom Metzler-Verlag, der an der Konzeption des Bandes von An-
fang an beteiligt war, für seine Geduld, seine Hilfe, wenn es galt, Schwierig-
keiten zu überwinden, und für die gute Zusammenarbeit.

Karlsruhe 1990
1

Mittelalter und frühe Neuzeit

Otto Brunken

Kind, Kindheit und Kinderliteratur früherer Zeit

»Deßhalb so ist es gar ein gut ding/ das man kynder jn jrer jugent zur schule
tuge/ die bücher der wyßen zu lernen/ vnnd vnderrichtung jrs heiles zu selen
vnd zu libe«, so meinte in der zweiten Hälfte des 14. Jh.s der französische
Adelige Geoffroy Chevalier de Latour-Landry (Der Ritter vom Turn). Ob-
wohl er ansonsten eher rückwärtsgewandte Ideale vertrat, war der Ritter
seiner Zeit doch in manchem voraus, und so ergriff er entschieden Partei ge-
gen diejenigen, die Wissen als ein Privileg für Männer zu behaupten trachte-
ten und jegliche weibliche Bildung als unnütz verwarfen. Selber Vater dreier
Töchter, um deren Seelenheil er sehr besorgt gewesen zu sein scheint, sah er
einen – zumindest elementaren – Unterricht auch für Mädchen als notwendig
an. Es sei gut, wenn sie lesen lernten, denn dadurch könnten sie im Glauben
fester werden und ihr Seelenheil desto besser erkennen. Durch die Lektüre
der Heiligen Schrift prägten sich ihnen die Exempel besser ein, die ihnen zur
Nachahmung dienlich seien. Er selbst schrieb seinen kleinen Töchtern ein
Exempelbuch, das ihnen den Weg zeigen sollte, wie sie zu Ehre und Ansehen
gelangen und wohltätiges Handeln erlernen könnten. Durch Beispiele nach-
ahmenswerten Handelns und guter Gesinnung lobwürdiger Frauen bzw. der
ins Verderben führenden Taten ihrer Geschlechtsgenossinnen sollten die
Mädchen dazu bewegt werden, Gutes zu tun und sich vor dem Bösen in Acht
zu nehmen. Mit seinem Buch, das als Der Ritter vom Turn in einer deutschen
Übersetzung des Mömpelgarter Landvogts Marquart vom Stein zuerst 1493
in Basel gedruckt wurde, wollte er sie zu demütiger, gottergebener Frömmig-
keit und zu einem sittsamen, ihrem Stand gemäßen Betragen erziehen.
Das kleine Beispiel zeigt, dass Kinder- und Jugendliteratur nicht erst eine
›Erfindung‹ des ›aufgeklärten‹, des ›pädagogischen‹ Zeitalters ist, sondern
ihre Spuren bis in das Mittelalter zurückreichen. Es macht überdies deutlich,
dass die frühe Kinder- und Jugendliteratur vor allem religiös ausgerichtet ist
und vorwiegend lehrhafte Züge trägt, wobei die jeweilige Lehre gerne in
Form eines Exempels, eines sogenannten ›Beispiels‹ (d. h. ›Bei-Erzählung‹, in
der noch etwas mitzuverstehen ist) – einer zur Belehrung erdichteten Ge-
schichte, einer Fabel, eines Gleichnisses oder Sprichworts – präsentiert wird.
Vermutlich würde man sich heute hüten, ein Werk wie Der Ritter vom
Turn einem Kind zuzumuten – nicht nur wegen der durch moralische Beleh-
rungen häufig nur notdürftig verdeckten Schlüpfrigkeit mancher Beispielge-
schichte, sondern auch wegen der drastischen Abschreckpädagogik, die das
Werk prägt: Grausame Höllenstrafen, so der Ritter, hätten die Mädchen zu
gewärtigen, besonders dann, wenn sie sich den Lastern des weiblichen Ge-
schlechts hingäben. Um ihnen dies eindrucksvoll vor Augen zu stellen, erzählt Der Ritter vom Turn.
er z. B. das als tatsächlich geschehen hingestellte Schicksal einer putzsüch- Holzschnitt, vermutlich
tigen Frau, die mit brennenden Röcken und unter elendem Geschrei von Sa- von Albrecht Dürer
2 Mittelalter und frühe Neuzeit

tan in die Hölle geschleppt worden sei, oder von jener Dame, der die Teufel
mit feurigen Nadeln Wangen, Augenbrauen und die Stirn bis auf das Gehirn
durchstechen, weil sie sich zu Lebzeiten ständig geschminkt habe.
Im heutigen Sinne ist diese Art von Literatur sicherlich nicht kindgeeignet
– und schon gar nicht ›kindertümlich‹. Genauso wenig entsprechen die sich
in dieser Literatur manifestierenden Vorstellungen von ›Kindheit‹ und ›Ju-
gend‹ unseren modernen Auffassungen, und so ist denn auch die frühe Kin-
der- und Jugendliteratur in der ihr eigentümlichen Prägung immer auf dem
Hintergrund des jeweiligen historischen Verständnisses von Kindheit, Jugend
und Erziehung zu sehen.
Wie wenig man mit heutigen Kategorien der frühen Kinder- und Jugendli-
teratur beikommen kann, wird bereits darin deutlich, dass es eine exakte
Begrifflichkeit dessen, was unter ›Kindheit‹ und ›Jugend‹ zu verstehen ist, in
der frühen Neuzeit noch gar nicht gibt. Beide Begriffe werden in der Regel
synonym benutzt, und erst in der Mitte des 18. Jh.s beginnt man, diese bei-
den Lebensphasen deutlicher zu unterscheiden. Wenn bis dahin von der ›Ju-
gend‹ die Rede ist, so können darunter kleinere Kinder im Alter von sechs
oder sieben Jahren oder noch jünger verstanden werden, aber auch bereits
Erwachsene von über zwanzig Jahren. Wiederum sind mit den ›Kindern‹
nicht immer Kinder in unserem heutigen Verständnis gemeint. Mancher Au-
tor begreift darunter die ›Kinder Gottes‹, die durch die Taufe sich zu Christus
Bekennenden, oder auch die ›Kinder im Geiste‹, das unmündige und ›einfäl-
tige‹ Volk; schreibt ein Pastor von seinen ›Kindern‹, so meint er häufig damit
die ihm zur Seelsorge anvertrauten Glieder seiner Gemeinde, die ›Pfarr-‹ oder
›Beichtkinder‹, und wenn in Bezug auf einen Handwerksmeister von ›Kin-
dern‹ die Rede ist, so sind darunter nicht nur dessen leibliche Kinder, sondern
›Kindheit‹ und ›Jugend‹ häufig auch seine Gesellen zu verstehen. Die Begriffe sind also sehr weit ge-
als Nicht-Erwachsen- fasst, und so soll denn im Folgenden unter ›Kindheit‹ und ›Jugend‹ im enge-
sein ren Sinne eine Lebensperiode verstanden werden, die in Opposition zum Er-
wachsensein steht, auch wenn sie altersmäßig nicht scharf umrissen ist.
Dass ›Kindheit‹ und ›Jugend‹ begrifflich so wenig voneinander unterschie-
den sind, weist bereits darauf hin, dass bis weit in die frühe Neuzeit hinein
Kindheit und Jugend nicht als eigenwertige Lebensphasen begriffen, sondern
jeweils nur als Vorbereitungsphasen auf das Erwachsensein hin definiert
wurden. Daher bietet die Kinder- und Jugendliteratur dieser Zeit nahezu
ausschließlich Modelle für künftiges Rollenverhalten in Familie und Gesell-
schaft, nicht aber altersbezogene Verhaltensmuster für die konkrete gesell-
schaftliche Erfahrung von Kindern und Jugendlichen. Sofern dem Kind
überhaupt spezifisch ›kindliche‹ Verhaltensweisen vermittelt werden sollen,
sind diese fast ausschließlich auf Kindheit nicht als Lebensphase, sondern als
Verwandtschaftsverhältnis bezogen. Besonders deutlich sieht man dies an all
den Mahnungen und Beispielgeschichten, die zur Befolgung des vierten Ge-
botes anhalten.
Wenn Merian gegen Ende des 15. Jh.s in einer Randleistengravur zu seiner
Tabula Cebetis die kleinen Kinder in einer Art Übergangszone darstellt zwi-
schen der Erde, aus der sie hervorgehen, und dem Leben, in das sie durch
einen Portikus mit der Aufschrift »Introitus ad vitam« – Eintritt zum Leben
– hineingehen werden, so verdeutlicht dies treffend, dass dem Kindesalter in
früheren Jh.en vor allem die Bedeutung einer Vorbereitung auf das spätere
Leben zukommt, dass es für sich selber aber noch keine Existenzberechti-
gung hat. Das Kind wurde früher in der Regel nicht als ›eigenes Wesen‹ be-
trachtet, wie wir es heute zu tun pflegen, sondern es war immer definiert als
Nicht-Erwachsener, der auf den Status des Erwachsenseins und auf den
Tendenzen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 3

›Stand‹, den das Kind später im Leben einzunehmen hatte, hin erzogen wer-
den sollte.

Tendenzen der frühen Kinder-


und Jugendliteratur

Werke, die mit ausdrücklichem Bezug auf ein jugendliches Publikum zusam- Anfänge
mengestellt wurden, sind in größerer Zahl schon in althochdeutscher Zeit der lateinischen
nachweisbar. Es handelt sich hierbei um Glossen – das sind den Wörtern la- Kinderliteratur
teinischer Texte beigeschriebene Verdeutschungen –, die früh zu Wörterbü-
chern zusammengestellt und als Unterrichtshilfen in Dom- und Klosterschu-
len eingeführt wurden. Das berühmteste dieser Glossare ist wohl der nach
seinem ersten lateinischen Stichwort so genannte Abrogans (zweite Hälfte
des 8. Jh.s), ein spätlateinisches Synonymenlexikon, das zu jedem Stichwort
eine Reihe von bedeutungsgleichen Wörtern aufführt. In der Domschule von
Freising übertragen, ist er das älteste uns bekannte Schriftwerk in deutscher
Sprache. Auch das frühe Mittelalter kennt zunächst noch keine andere spezi-
fisch für Schüler entwickelte Literatur. Dies hat seinen Grund vor allem
darin, dass Erziehung zu der Zeit nicht im Sinne von ›Allgemeinbildung‹
verstanden wurde, sondern vielmehr als Einbindung des Zöglings in eine
bestimmte Lebensform. Dem Erzieher oblag weniger die Weitergabe von
Wissen als vielmehr die Pflicht, durch sein eigenes beispielhaft gelebtes Leben
seinem Zögling ein Vorbild zu geben, denn er war vor allem für das Seelen-
heil des ihm Anvertrauten verantwortlich. Die Form der Wissensvermittlung
und -aufnahme war im Wesentlichen durch zwei Prinzipien bestimmt: die
lectio (Vorlesung, Predigt) und die confabulatio (Gespräch) – beides münd-
liche Formen, die der schriftlichen Fixierung im Prinzip nicht bedurften.
Erst mit der karolingischen Renaissance (›Renovatio‹, ab dem Ausgang Karolingische
des 8. Jh.s), die das System der ›Sieben freien Künste‹ – das Trivium mit der Renaissance
zur elementaren und wichtigsten Disziplin erklärten Grammatik, der das lo-
gische Denken übenden Dialektik und der Rhetorik sowie das Quadrivium
mit Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie – aktualisierte und zur
Grundlage der gelehrten Bildung machte, setzt eine reichhaltigere Produktion
von lateinischen bzw. lateinisch-deutschen Lehrwerken und Unterrichtshilfen
für Schüler ein, vor allem von Erklärungen und Kommentierungen zu den
Schulautoren sowie von Schriften, die in die Disziplinen vornehmlich des
Triviums einführten. Berühmt sind in diesem Zusammenhang die Werke
Notkers von St. Gallen (gen. Teutonicus bzw. Labeo), der um die Wende zum
ersten Jahrtausend u. a. wichtige Schulschriftsteller (Boethius, Vergil, Terenz
sowie die Disticha Catonis, s. u.) für Unterrichtszwecke übersetzte, auslegte
und kommentierte. Im Schulbetrieb auch dieser Zeit hatte das gesprochene
Wort, hatte die mündliche Unterweisung eine dominante Funktion, und so
treten denn viele Unterrichtsschriften in der Form des Lehrgesprächs auf.
Auch die – scholastisch geprägte – lateinische Schulliteratur späterer Zeit
präsentiert sich ganz vorwiegend als schriftliche Fixierung des mündlichen
Unterrichts.
Eine – im Vergleich zur lateinischen immer noch kleine – deutschsprachige
Kinder- und Jugendliteratur entwickelt sich erst nach 1200 in der Stauferzeit,
in der die lateinisch-geistliche Vorherrschaft in der Literatur gebrochen wird
4 Mittelalter und frühe Neuzeit

und eine neue ritterlich-höfische Standesliteratur entsteht. Sie ist auf dem
Ritterlich-höfische Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen seit der Salierzeit zu
Standesliteratur sehen, in deren Verlauf die Ritterbürtigen – das sind in erster Linie die Rei-
terkrieger und Ministerialen (unfreie Dienstleute im Hofdienst) – mit den
Resten des alten freiherrlichen Adels zum niederen Adel verschmolzen, so
dass sich unterhalb des ›Herrenstands‹ ein ›Ritterstand‹ etablierte. Ausweis
adeligen Seins war nicht mehr allein die edelfreie Geburt; Kennzeichen der
Zugehörigkeit zur Adelsschicht wurde nun auch das erlernte Verhalten. Die
tugenden, d. h. die ritterlichen Standesideale, die hövescheit, d. h. das fein ge-
bildete und gesittete Wesen und Handeln, die höfische Etikette als der Stan-
dard an Manieren und Konventionen des gesellschaftlichen Umgangs und
auch die Galanterie des Frauendienstes wurden als durch sorgfältige Erzie-
hung an einem Hof lehr- und erlernbar hingestellt. Durch eigene Leistung,
durch Üben und Lernen, so die Maxime der ritterlichen Aufsteiger, kann der
tüchtige Hofmann seine Zugehörigkeit zur Adelsgesellschaft beweisen. Von
diesem Gedanken ist auch die Lehrdichtung geprägt, die sich an die Jugend
dieser Aufsteigerschichten wendet – meist in Form des Rates, denn auch in
der höfischen Literatur ist die mündliche Unterweisung, die Ermahnung, die
Ermunterung, der Appell das wesentliche Erziehungsmittel. »Höre auf wei-
sen Rat!« – diese Maxime steht über all diesen Werken. Sie folgt ganz der auf
die alten Kirchenväter und Thomas von Aquin zurückzuführenden Auffas-
sung, dass jeder Mensch die Möglichkeit zu Wissen und Erkenntnis als na-
türliche Anlage in sich trage, und dass es die Aufgabe des Erziehers sei, diese
natürlichen Anlagen zu wecken und durch Ratschläge die Aktivität des Zög-
lings in richtige Bahnen zu lenken.
Humanistische Das Mittelalter sah den Menschen vor allem als Glied der Kirche und als
Bildungsideale Eigentum Christi an und wies daher der Erziehung die vorrangige Aufgabe
des Heilserwerbs des Kindes zu. Diese Vorstellung wurde durch die Huma-
nisten revolutioniert. Sie stellten den Einzelmenschen in das Zentrum ihrer
Überlegungen. Er ist für sie nicht mehr einfach nur Teil eines Ganzen, son-
dern wird für sich als Mikrokosmos gesehen, als ein zur Vernunft fähiges
Individuum. Den Menschen zur Vernunft zu bilden, ihn zur Autonomie des
erkennenden und handelnden Vernunftmenschen zu führen – das ist das neue
Ziel der Erziehung. Ihr messen die Humanisten größte Bedeutung bei. Durch
sie sollen die dem Kind innewohnenden positiven Eigenschaften zur Blüte
und Reife gebracht, soll das Kind zu Sittlichkeit und Vernunft geführt wer-
den. Die persönliche, freie, von der Vernunft bestimmte Lebensgestaltung ist
das neue Bildungskonzept, das die Humanisten am besten in Quintilians
Ideal eines vollkommenen Redners verkörpert sehen, in dem sich sittliche
Lebensführung, Wissen, Beredsamkeit und Gewandtheit im äußeren Auftre-
ten harmonisch verbinden.
Die Humanisten räumten daher nicht mehr der Grammatik, sondern der
(lateinischen) Rhetorik, der Redekunst, den ersten Platz unter den Wissen-
schaften ein. Sie wurde zur Grundlage jeder auf höhere Bildung zielenden
Erziehung und die gelehrte Basis auch jeder literarischen Beschäftigung. Aus
diesem Grund ist nahezu die gesamte Kinder- und Jugendliteratur bis in das
letzte Drittel des 18. Jh.s hinein an rhetorischen Prinzipien orientiert, und der
klassische Dreischritt der rhetorischen Unterweisung – praecepta (Regeln) –
exempla (Beispiele) – imitatio (Nachahmung) – war geradezu die Standard-
formel für kinder- und jugendliterarisches Schaffen.
Durch das Wirken der Humanisten, die ihre Ideen gegen den teilweise er-
bitterten Widerstand der alten, scholastisch geprägten Fächer und Universi-
täten überhaupt erst einmal durchsetzen und behaupten mussten, begann
Tendenzen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 5

sich das Gepräge der Kinder- und Jugendliteratur ab dem Ende des 15. Jh.s Gestaltwandel der
entscheidend zu verändern. Dies hatte zum einen damit zu tun, dass die Hu- Kinder- und Jugend-
manisten bei der Erziehung des Kindes auf dessen Disposition Rücksicht literatur durch den
nehmen und natürliche Neigungen wie den Spiel- und Nachahmungstrieb Humanismus
des Kindes dem Erziehungsprozess nutzbar machen wollten. Beispielhaft
sind hier sicherlich die Vorschläge des Erasmus von Rotterdam: Er sieht in
dem Spiel eine phasengerechte Lebensform und empfiehlt daher spielerische
Lernformen wie den Gebrauch von Bildern, gebackenen und geschnitzten
Buchstaben beim Erstleseunterricht oder den von Fabeln, Sagen, Liedern und
Lustspielen bei der Beschäftigung mit Philosophie. Nicht der Stock soll den
Willen des Kindes brechen, sondern mit Milde und Freundlichkeit soll sich
der Lehrer um das Vertrauen seines Schülers bemühen. Erasmus fordert vom
Lehrer, dass er sich ganz auf seinen Schüler einstellt, dessen Fähigkeiten und
Möglichkeiten richtig einschätzt und von daher Stoffauswahl und Unter-
richtsschritte festlegt. Von diesen Vorstellungen bestimmt, bemühte man sich
um eine didaktische Aufbereitung des Lehrstoffes. Doch auch inhaltlich än-
derte sich das Gepräge der Kinder- und Jugendliteratur. Zwar hatte man
schon im lateinischen Mittelalter die Fabel, die Grammatik oder das Zucht-
buch der Kindererziehung dienstbar gemacht und durch Kommentare, Scho-
lien (erklärende Randbemerkungen sprachlichen oder sachlichen Inhalts)
und Glossen den Kindern die Lektüre und Erklärung der Schulautoren zu
erleichtern versucht, aber diese Texte waren nicht in ihrer autonomen Exis-
tenz von Interesse gewesen, sondern nur insoweit sie der theologischen Aus-
bildung nutzbar gemacht werden konnten. Erst im Humanismus bekommen
auch die nichtreligiösen Lehrwerke einen Bildungswert an sich zugesprochen
– ebenso wie die für den Schulgebrauch herausgegebenen Werke eines Terenz,
Ovid oder Vergil, die nun als nachahmenswerte Zeugen eines eleganten latei-
nischen Stils gelesen wurden. Zugleich schufen die Humanisten zur rheto-
rischen Schulung der Kinder und ihrer Einübung in die fließende Beherr-
schung des Lateinischen Schülergespräche und Schuldramen – eine Gattung,
die bis zum Ende des 17. Jh.s zu den quantitativ wichtigsten der Kinder- und
Jugendliteratur gehören sollte. Die Herausgabe und Bearbeitung antiker
Fachliteratur, später die Erarbeitung zeitgemäßer naturwissenschaftlicher,
geographischer und historischer Schriften, die Zusammenstellung praktischer
Lehr- und Anweisungsbücher etwa zur Schreib-, Rechen- und Messkunst,
vor allem aber auch die Kodifizierung der sich allmählich profilierenden
Normen gesellschaftlichen Umgangs in Verhaltenslehrbüchern, diese ganze
neue Fülle sprach- und wissensvermittelnder, normen- und bewusstseinsprä-
gender sowie ethisch-erzieherischer Literatur verdeutlicht, dass die Huma- Adressaten
nisten mit ihren Schriften die geistig-kulturellen Bedürfnisse vor allem des humanistischer Kinder-
aufstrebenden städtischen Bürgertums im Auge hatten, während die latei- und Jugendliteratur
nische bzw. lateinisch-deutsche Kinder- und Jugendliteratur des Mittelalters
zunächst vor allem aus den Bedürfnissen der Ausbildung des Klerikernach-
wuchses entstanden war.
Die zunehmende Orientierung der humanistischen Autoren auf aktuelle
gesellschaftliche Bedürfnisse steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der
Umstellung des Literaturbetriebs von der Handschriftenabfassung auf die
Buchproduktion, die aber erst gegen Ende des zweiten Drittels des 16. Jh.s
weitgehend abgeschlossen war. Die Erfindung des Buchdrucks leitete eine
kulturelle Revolution ein: Durch die praktisch unbegrenzte Möglichkeit der
Vervielfältigung des geschriebenen Wortes konnte das gedruckte Werk als
Buch, Flugblatt oder Flugschrift zu einem gesellschaftlichen Kommunikati-
onsmittel mit größter Breitenwirkung werden. Dies hatte seine Auswirkungen
6 Mittelalter und frühe Neuzeit

natürlich auch auf die Kinder- und Jugendliteratur. Schon der Humanismus
brachte eine reichhaltige kinderliterarische Produktion hervor. Sie war je-
doch zunächst und ganz überwiegend lateinischsprachig und damit ihr Ge-
brauch auf diejenigen beschränkt, die des klassischen Lateins mächtig waren
oder sich in dieser Sprache ausbildeten. So war denn die Kinder- und Jugend-
literatur des Humanismus Literatur für eine kleine, exklusive Bildungselite,
die im Erwerb umfangreichen Wissens ein Mittel zum gesellschaftlichen Auf-
stieg sah.
Reformatorische Eine Entwicklung in die Breite nahm die Kinder- und Jugendliteratur, be-
Erziehungs- einflusst durch die volkserzieherischen Bestrebungen Luthers und dessen
bestrebungen Forderung nach einem Elementarunterricht für die Allgemeinheit, erst in der
Reformationszeit. Luthers Plädoyer für allgemeine Erziehung ist, und damit
steht er in betontem Gegensatz zu den Auffassungen der Humanisten, nahezu
ausschließlich religiös begründet. Sprachen die Humanisten dem Kind die
Integrität natürlicher Anlagen zu und wollten allenfalls seine ›Geneigtheit
zum Bösen‹ in ihre pädagogischen Entwürfe einbeziehen, so konstatiert Lu-
ther die grundsätzliche Verderbtheit der menschlichen Natur. Erziehung muss
daher auf einen völligen Bruch des Menschen mit der ihm eignenden bösen
Natur ausgerichtet sein, auf eine vollständige Änderung der Gesinnung und
Lebensrichtung. Das Ziel, auf das hin das Kind wie der Erwachsene zu erzie-
hen ist, ist die bewusste und persönliche Aneignung des Christentums. Die-
sem Ziel sind Luthers volkserzieherische Bestrebungen, seine Bemühungen
um eine elementare Bildung untergeordnet. Ihre wesentliche Aufgabe soll es
sein, den Einzelnen zur selbständigen Lektüre der Heiligen Schrift zu befähi-
gen. Die allgemeine Bildung beschränkt sich auf die Muttersprache und ist
thematisch auf das Religiöse eingegrenzt; so bilden Katechismus, Kirchen-
lieder und Bibelsprüche den hauptsächlichen Unterrichtsgegenstand, erwei-
tert nur noch um elementare Grundbegriffe im Schreiben und Rechnen.
Hiermit sind auch die wesentlichen Themen der reformatorischen Kinder-
und Jugendliteratur (Kernzeit: ca. 1520 bis 1570, Ausläufer weit darüber
hinaus) bezeichnet. Erziehung hat im Verständnis Luthers jedoch noch eine
zweite Aufgabe: Sie hat den Einzelnen zu befähigen, dass er seiner Berufs-
pflicht und seinem ›Stand‹ genügt, d. h. seinen Pflichten und Befugnissen im
gesellschaftlichen Leben, in Ehe, Familie und bürgerlicher Ordnung nach-
kommt. Die Erziehung soll das Kind mit den Aufgaben seines zukünftigen
Standes vertraut machen, auf diesen Stand vorbereiten und es anhalten, ihn
willig zu akzeptieren und in ihm auszuharren. Nicht nur die katechetische
und die Erbauungsliteratur, auch das Schuldrama hält zahlreiche Exempel
für das richtige Verhalten im jeweiligen Stand bereit: Eva erscheint als Vor-
bild für mütterliche Erziehung, Tobias ist das Muster für einen frommen
Ehemann, und der seinem Vater willig folgende Isaak gibt allen Kindern ein
Beispiel für freudigen Gehorsam.
Merkmale reformato- Drei Merkmale prägen diese protestantische Kinder- und Jugendliteratur
rischer Kinder- und besonders. Das ist einmal die aus dem Interesse an der allgemeinen (religi-
Jugendliteratur ösen) Volkserziehung resultierende Adressierung vieler Schriften an die im
weitesten Sinne Unkundigen, d. h. an das gemeine Volk, die Laien, die ›Einfäl-
tigen‹ und die Kinder, die mithin nur eine Adressatengruppe unter anderen
darstellen. Neu und für lange Zeit wegweisend ist die Bevorzugung des fami-
liären Gebrauchs der Literatur, die vom ›Hausvater‹ seiner ›Hausgemeinde‹,
die neben der Familie auch das Gesinde und die übrigen Hausgenossen um-
fasst, vorgetragen und ausgelegt werden soll. Die reformatorische Kinder-
und Jugendliteratur ist daher nicht nur zur Eigenlektüre des Kindes gedacht,
sondern vor allem zur Vermittlung durch Dritte, insbesondere Eltern und äl-
Tendenzen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 7

tere Geschwister. Das dritte Charakteristikum ist das Insistieren auf Auswen-
diglernen und Wiederholen. Durch das Auswendiglernen sollen die Kinder
(und unkundigen Erwachsenen) die elementaren Lehren des Glaubens verin-
nerlichen und so zur Richtschnur ihres Lebens machen können; andererseits
ist dieses Prinzip durch die historische Situation zu erklären, musste doch der
neue reformatorische Geist in den Köpfen verankert werden, um seine An-
hänger für die Auseinandersetzungen mit der alten Kirche zu wappnen. Dem
gleichen Ziel diente auch die Wiederholung, zum einen verstanden als be-
ständige Stoffwiederholung zum besseren Einprägen und Verstehen der
Lehre, zum anderen als immer wiederkehrende Bearbeitung stets gleicher
Themen zur Bekräftigung reformatorischer Positionen.
Da die Ausbreitung der Reformation bald die Herausbildung einer brei- Auswirkungen der
teren Führungselite notwendig machte, ohne die weder die ideologische Ab- Melanchthonschen
sicherung des neuen theologischen Lehrgebäudes, noch die machtpolitische Pädagogik
Absicherung des neuen weltlichen ›Regiments‹ möglich gewesen wäre, musste
zusätzlich ein gelehrtes Bildungswesen aufgebaut werden. Für dieses wurde
die Verbindung des humanistischen Bildungsanspruchs mit der von Luther
gelehrten Form der Frömmigkeit charakteristisch. Das neue Bildungsideal,
wie es am prägnantesten wohl Philipp Melanchthon vertrat, war der in den
drei Bibelsprachen Bewanderte, der in sich Frömmigkeit, umfassende Bil-
dung, Urteilsfähigkeit und Beredsamkeit vereinigte. Dies setzte auch Sach-
kenntnisse voraus, deren Erwerb eine Ergänzung des Sprachunterrichts um
den Unterricht in den ›Realien‹ (vornehmlich Mathematik und Geschichte)
erforderlich machte. Für die Kinder- und Jugendliteratur bedeuteten diese
pädagogischen Bestrebungen zunächst wieder eine Verstärkung des ›ge-
lehrten‹ lateinischen Elements und eine erneute Eingrenzung auf eine zahlen-
mäßig kleine Bildungselite. Sie wurde vor allem geschrieben für die »jugent,
die als der kern zum studiren ausgelesen worden vnd in allen emptern in der
itzt regierenden fusstapffen allmehlich treten wirdt«, wie Georg Rollenhagen
in der Vorrede zu seinem Schuldrama Tobias von 1576 bemerkt. Das Schwer-
gewicht verschob sich in dieser Literatur wieder vom Religiösen zum Rheto-
rischen, wobei versucht wurde, die formale Bildung mit religiösen Inhalten
zu koppeln und die Realien entsprechend zu berücksichtigen. Diese Gewich-
tung blieb auch erhalten, als im letzten Drittel des 16. Jh.s das lateinische
Element in der protestantischen Kinder- und Jugendliteratur spürbar zurück-
trat und vermehrt Bücher in deutscher Sprache erschienen, zuerst häufig
Übersetzungen aus dem Lateinischen, zunehmend aber auch deutschspra-
chige Originaltexte.
Erst nach dem Abschluss des Tridentinischen Konzils (1563), das den An- Die Jesuiten und das
stoß zur katholischen Reform gab und die Voraussetzungen für ein Wieder- Entstehen einer
aufblühen der durch die Glaubensspaltung in ihren Grundfesten erschüt- spezifisch katholischen
terten Kirche schuf, setzte eine gezielte Produktion von katholischen Kinder- Kinder- und Jugend-
und Jugendschriften ein. Insbesondere die Beschlüsse über den Unterricht literatur
und die Erziehung des Klerus sowie die Einrichtung von sog. Knabensemina-
rien sowie die Ausarbeitung eines eigenen Konzilskatechismus beförderten
das Entstehen einer spezifisch katholischen Kinder- und Jugendliteratur, die
jedoch zunächst ausschließlich religiös orientiert war. Den wichtigsten Anteil
an ihrer Entwicklung hatte zweifelsohne die ›Gesellschaft Jesu‹, waren doch
die Jesuiten als Bannerträger der Gegenreformation die Hauptstütze der
Kirche bei der Neufundierung eines gelehrten Schulwesens. Der Aufbau der
sich rasch ausbreitenden Jesuitenkollegien, 1599 in der berühmten Ratio
studiorum (Studienordnung) für den gesamten Orden verbindlich geregelt,
ähnelte in vieler Hinsicht dem der protestantischen Gelehrtenschulen; wie
8 Mittelalter und frühe Neuzeit

die protestantischen Reformer um Melanchthon nahmen auch die Patres den


Humanismus als ›Bildungsgut‹ auf. Das Ideal ihrer Erziehung ist der kluge,
selbstsichere, zielgerichtet, aber maßvoll-bescheiden handelnde Christ, der
sich stets um Selbsterziehung bemüht und sein ganzes Handeln dem Primat
der Kirche unterordnet. Innere Zucht, Demut, Gehorsam, Willensschulung,
bewusste Selbstdisziplinierung, rigide Affektkontrolle und -regulierung sowie
Anerkennung der Autorität der hierarchischen Kirche (und des Ordens) sind
stete Forderungen in der neuentstehenden gegenreformatorischen Kinder-
und Jugendliteratur, die ganz überwiegend in lateinischer Sprache abgefasst
ist und neben religiösen (in der Regel für die schulische Unterweisung bzw.
den Ordensgebrauch bestimmten) Schriften vor allem Werke für die rheto-
rische Ausbildung der Zöglinge hervorbringt. Bedeutsames leisteten die Jesu-
iten vor allem auch auf dem Gebiet des Schuldramas. Doch sind nur wenige
ihrer nach Tausenden zählenden Stücke jemals gedruckt worden, und nur in
ganz seltenen Fällen ist ein Verfassername überliefert – beides Zeichen dafür,
wie eng die jugendliterarische Tätigkeit der Jesuiten in die Institution des
Ordens und seine Erziehungsarbeit eingebunden war und damit der Aufgabe
diente, den rechten Glauben zu verbreiten und zu stärken.
Ursachen der 1545 hatte Papst Paul III. die erste Sitzung des Konzils von Trient eröffnet,
pädagogischen das die Kirche durch die Verpflichtung zur professio zur Bekenntniskirche
Reformbestrebungen machte. Dieses neue Selbstverständnis und der dadurch eingeleitete Prozess
der Konfessionalisierung des Christentums änderte das Wesen der Kirche so
grundlegend, dass spätestens mit dieser Entwicklung die Ablösung des Mit-
telalters durch die Neuzeit endgültig offenbar wurde. Fast zeitgleich damit –
1543 hatte Kopernikus seine sechs Bücher über die Kreisbewegungen der
Himmelskörper veröffentlicht – begann mit der ›kopernikanischen Wende‹
das durch kirchliche Vorurteile und Dogmen gestützte ptolemäische Weltbild
zusammenzubrechen, das die Erde als Mittelpunkt der Welt beschrieben
hatte. Die revolutionären Entdeckungen auf dem Gebiet der Physik, die
bahnbrechenden Fortschritte in der Medizin, die Entdeckung neuer Sterne
und Erdteile, die Entwicklung neuer Rechenmethoden, die Erfindung op-
tischer (Fernrohr) und mechanischer Geräte (u. a. Drehbank, Taschenuhr)
und die Einführung des gregorianischen Kalenders (1582) kennzeichnen den
großen Aufschwung, den die Wissenschaften ab der zweiten Hälfte des 16.
Jh.s nehmen. Weniger spektakulär vielleicht, aber von grundlegender Bedeu-
tung sind wirtschaftliche Ereignisse der Zeit: die Verschiffung von Kaffee
und die Einführung der Kartoffel nach Europa, die Einrichtung der ersten
öffentlichen Girobank in Venedig, der Beginn der Kohlegewinnung im Ruhr-
gebiet. Diese umwälzenden Entdeckungen, Erfindungen und Entwicklungen
hatten schon vor dem Dreißigjährigen Krieg die gesellschaftliche Wirklich-
keit gänzlich umgestaltet, doch hatten sie in den Lehrplänen der Schulen
kaum Spuren hinterlassen. Die einseitig philologisch orientierte Ausbildung
stieß daher überall an ihre Grenzen. Die Schulrhetorik erstarrte zunehmend
zu bloßem Formelwerk, das sich immer mehr von der sozialen, kulturellen
und politischen Realität der Zeit entfernte. Die Ausbildung war lebensfern
geworden und überhäufte die Kinder nicht selten mit praktisch belanglosem
Wissensstoff wie etwa den naturwissenschaftlichen Werken antiker Autoren,
deren Schriften durch die Fortschritte der Naturwissenschaften selbst als
propädeutische Handreichungen nutzlos geworden waren und zur Erklärung
der Welt kaum noch etwas beitragen konnten.
An diesem Missstand entzündete sich die Kritik der Realienpädagogen,
Ratke, Comenius und vorab Wolfgang Ratkes und Johann Amos Comenius’. Sie beklagten, dass
die Realienpädagogik man die Kinder nicht mehr zum wirklichen Leben erziehe, sondern nur mit
Tendenzen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 9

Worten vollstopfe, denen keine Sachkenntnis entspreche. Vor allem Come-


nius setzte sich deshalb dafür ein, zwischen notwendig zu lernenden und un-
nötigen Dingen zu unterscheiden, um dann die Dinge durch die Anschauung
(autopsia) zu lehren, d. h. den Sinnen direkt zuzuführen, da nur so eine deut-
liche und klare Vorstellung der Begriffe möglich sei. Dies hielt er für notwen-
dig, weil er davon ausging, dass erst aus dem richtigen Erkennen aller Begriffe
die Erkenntnis des Ganzen erwachsen könne, die dem Menschen die Welt als
von Gott geordneten Kosmos vor Augen führe, in dem jedes Ding seinen
unveränderlichen Platz habe; erst aus dieser Erkenntnis heraus war für Co-
menius richtiges Handeln möglich. Die Unterweisung sollte aus der harmo-
nischen Anordnung der Lehrgegenstände ihren Ausgang nehmen, vom Ein-
fachen zum Komplizierten schreiten, vom Bekannten zum Unbekannten. Alles
sollte zunächst in der Muttersprache unterrichtet werden, und die Sprachen
sollten so erlernt werden, dass man sie auch sprechen könnte, d. h. nicht – wie
bislang hauptsächlich üblich – entlang dem grammatischen Regelsystem,
sondern anhand von Texten. Das Auswendiglernen wurde verworfen, weil es
den Geist lähme, und vor allem sollte das Lernen spielerisch erfolgen.
Auch wenn die Realienpädagogik den Stellenwert des rhetorischen Unter-
richts in der Schulpraxis nicht wesentlich zu erschüttern vermochte, zeitigte
sie doch wesentliche Auswirkungen auf die Kinder- und Jugendliteratur der
zweiten Hälfte des 17. Jh.s. Vier Faktoren treten dabei in den Vordergrund:
Das lateinische Element verliert zunehmend an Bedeutung und bleibt in der
Folgezeit vornehmlich auf das Schullehrbuch beschränkt, während die üb-
rigen Kinderbücher in deutscher Sprache verfasst sind. Zweitens wird durch
die verstärkte Behandlung der ›Realien‹ wie Geschichte, Geographie, Natur-
kunde, Technik usw. der Grundstein zum modernen Sachbuch gelegt. Drit-
tens bemüht man sich zum ersten Mal um eine wirkliche Adaption des Stoffes
an die kindliche Fassenskraft, vor allem auch durch systematische, vom Ein-
fachen zum Komplizierten schreitende Stoffpräsentation und die Betonung
des spielerischen Moments. Ganz entscheidend wird schließlich das Prinzip
der Realienpädagogen, sich zur Sach- und Sprachbelehrung des Einsatzes
von Bildern zu bedienen.
Der Gestaltwandel der Kinder- und Jugendliteratur wird im letzten Drittel ›Politische‹ und
des 17. Jh.s maßgeblich vorangetrieben durch die Bemühungen um eine ›po- ›galante‹ Erziehung
litische‹ und ›galante‹ Erziehung. Sie sind vor allem Ausdruck des veränderten
Sozialstatus der humanistischen Gelehrtenschicht, die sich innerhalb der
Ständeordnung einen privilegierten Platz hatte erobern und als unverzicht-
bare Stütze des Staates etablieren können. Der sich nach dem Dreißigjährigen
Krieg durchsetzende Territorialabsolutismus hatte eine nahezu uneinge-
schränkte Intensivierung der Staatstätigkeit in allen gesellschaftlichen Berei-
chen zur Folge gehabt und eine Hofkultur ausgebildet, deren Anspruch auf
Repräsentation absolutistischer Macht vor allem in den finanzschwachen
kleineren Territorien häufig in einem geradezu grotesken Missverhältnis zu
ihrer wirtschaftlichen und politischen Potenz stand. Das wichtigste Instru-
ment zur Zentralisierung der Landesherrschaft bildete neben dem Heer die
Beamtenschaft; mit der Ausweitung der Staatstätigkeit wuchs der Bedarf an
akademisch qualifizierten Beamten für die Hof-, Gerichts- und Finanzver-
waltung. Fest eingebunden in eine nach Rang und Stand hierarchisch organi-
sierte Ordnung, zwar der Gunst des Landesherren unterworfen, aber doch
mit erheblichen Privilegien ausgestattet, wurde der so zum Berufspolitiker
beförderte Gelehrte zum idealen Staatsdiener. Dieser Entwicklung entsprach
das neue vernunftorientierte, zweckrationale Bildungsideal des ›Politicus‹,
des umfassend gebildeten Weltmanns, der sich durch gewandte Eleganz im
10 Mittelalter und frühe Neuzeit

äußeren Auftreten und durch die Unerschütterlichkeit seines Charakters


auszeichnete. Für den ›Politicus‹ ist die Ausbildung des Urteils wichtiger als
die gedächtnismäßige Aneignung von Faktenwissen. Er soll vor allem Situa-
tionen und Menschen beurteilen können und seine Ziele auf angenehme Art,
durch Höflichkeit und gewandte Umgangsformen verfolgen. Gefordert sind
strenge Affektkontrolle und das Vermögen, sich den Umständen der Zeit und
des Ortes bestmöglich anzupassen, was auch ausgewogenes Komplimentie-
ren und eine rücksichtsvolle Konversation einschließt. Weltmännische Klug-
heit und Höflichkeit sollen komplettiert werden durch ein gewisses Maß an
Kenntnissen, dessen Umfang sich jedoch allein am Zweck des Kenntniser-
werbs, vor allem für den angestrebten Beruf, bemisst.
Weniger durch die Vorstellungen der Realienpädagogen als vielmehr durch
die Umsetzung der Ideen dieser ›politischen‹ Erziehung wurde das Ideal der
lateinischen Beredsamkeit auch in der Kinder- und Jugendliteratur endgültig
verdrängt. An seine Stelle trat nun das Leitbild einer zweckgerichteten, auf
die Bedürfnisse des Beamten und Hofmanns zugeschnittenen praxisorien-
tierten Beredsamkeit in deutscher Sprache. Auch in stofflicher Hinsicht wir-
ken sich die neuen Erziehungsvorstellungen auf die Kinder- und Jugendlite-
ratur aus. So werden politische Ethiken, Staats- und Verwaltungslehren für
junge Leute geschrieben, die dereinst als Hofbeamte arbeiten werden; mit
Komplimentier- und Konversationsbüchern will man den Jugendlichen leh-
ren, wie er seinem Anliegen bestmöglich zum Erfolg verhelfen kann, und die
Verhaltenslehren, die jetzt besonders Wert auf die Vermittlung richtigen zere-
moniellen Auftretens legen, werden ergänzt durch Schriften, anhand derer
sich der Jugendliche in den ›galanten Exerzitien‹ ausbilden kann. Auch die
Realiendisziplinen erscheinen in neuer Aufbereitung, so dass sie einerseits
den Erwerb von ›Staatsklugheit‹ unterstützen, andererseits in der vornehmen
Konversation als ›kurioser‹ Gesprächsstoff dienen können. Anders als bei
den Humanisten ist die ›Klugheitserziehung‹ im ausgehenden 17. und begin-
nenden 18. Jh. keine gelehrte wissenschaftliche Bildung mehr, sondern ganz
dem Postulat praktischer Brauchbarkeit unterworfen.
Die Tendenzen der voraufklärerischen deutschen Kinder- und Jugendlite-
ratur und ihre Erziehungs- und Bildungsziele zeigen, dass wir bei der Beurtei-
lung der Kinder- und Jugendbücher dieser Zeit nicht von heutigen Maßstäben
ausgehen dürfen. Ihre starke religiöse Prägung, ihr Bildungsanspruch, ihre
rhetorische Formgebung, ihre Ausrichtung hin auf den künftigen Stand des
Kindes und die große Bedeutung des lateinischen Elements in dieser Literatur
– all diese Faktoren sollten nicht vergessen lassen, dass diese ganz auf die
zukünftige Rolle des Kindes in der Erwachsenengesellschaft zugeschnittenen
Texte nicht weniger originäre Kinder- und Jugendbücher sind als die Texte
späterer Zeit, dabei allerdings eine gänzlich andere Ausformung des Verhält-
nisses von Kindsein und Erwachsensein widerspiegeln.

Funktionen der frühen Kinder-


und Jugendliteratur

Religiöse Erziehung Eine primäre Aufgabe der frühen Kinder- und Jugendliteratur ist es, mit der
und Belehrung Heiligen Schrift bekannt zu machen. Hierzu dienen Bibelauszüge und -bear-
beitungen, Perikopenerklärungen, Hilfsmittel zur Einführung in die Bibel,
Funktionen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 11

Bibelauslegungen, Historienbibeln – am bekanntesten sind sicherlich die zu-


erst 1714 erschienenen und bis weit in das 19. Jh. hinein immer wieder auf-
gelegten und bearbeiteten Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische
Historien Johann Hübners –, Bilderbibeln (z. B. die auch für die Jugend ge-
dachte Leien Bibel mit Holzschnitten von Hans Baldung Grien, 1540),
Spruchbücher und Figurspruchbücher, aus denen vor allem Melchior Matt-
spergers Geistliche Herzens-Einbildungen von 1684/92 hervorragen. Eine
zweite Aufgabe der religiösen Kinder- und Jugendliteratur ist die religiöse
Unterweisung und Belehrung, meist im konfessionellen Sinne verstanden.
Charakteristisch für die religiös-belehrende Literatur ist vor allem die
umfangreiche Katechismusproduktion, die vom kurzen, teilweise zum schu-
lischen Elementarlehrwerk oder auch zum Hausbuch erweiterten elemen-
taren Katechismus ausgeht, Teilauslegungen einzelner Hauptstücke oder
auch einzelne Sakramentsunterweisungen hervorbringt und schließlich in
der Großform des ›exponierten‹ Katechismus alle Züge eines umfassenden
religiösen Lehrwerks annimmt. Neben den Katechismuspredigten und -aus-
legungen, z. B. Johann Jhans Jungfraw Schulordenung zu Torgaw (1565),
sind kinderliterarisch vor allem die Bilderkatechismen (beispielhaft ist Sig-
mund Evenius’ Christliche Gottselige Bilder Schule von 1637) und die Kate-
chismuslieder von Bedeutung. Eine Fülle verschiedener, meist erbaulicher Erbauungsliteratur
Auslegungsformen vereinigt der Jesuit Georg Vogler in seinem Catechismus
jn ausserlesenen Exempeln, kurtzen Fragen, schönen Gesangern, Reÿmen
vnd Reÿen von 1625.
Hiermit ist auch bereits die dritte Aufgabe der religiösen Literatur ange-
deutet: die Erbauung. Die Erbauungsschriften versuchen, dem Kind theolo-
gisch-dogmatische Grundsätze in besonders fasslicher Form nahe zu bringen,
sein religiöses Empfinden individuell anzusprechen, es im Glauben zu bestär-
ken und ihm eine Anleitung für praktisches Christentum zu vermitteln. Die
Erbauungsliteratur ist von allen Gattungen der religiösen Literatur am fes-
testen in der mittelalterlichen Tradition verwurzelt, und die frühen Erbau-
ungsschriften stammen entweder noch aus dem Mittelalter (Der Seelentrost,
um 1350) oder lehnen sich eng an mittelalterliche Vorbilder an (Georg Rhau:
Hortulus animae [Lustgarten der Seelen], 1548). Neben Erbauungsbüchern,
die in sich die verschiedenen Elemente des erbaulichen Schrifttums wie religi-
öse Unterweisung, Lieder, Gebete, Exempel, Lebens- und Sittenregeln verei-
nigen (z. B. Johann Jakob Rambachs Erbauliches Handbüchlein für Kinder,
1734), finden sich andere, die spezielle Formen des Erbauungsbuchs ausbil-
den, wie u. a. Liederbücher (z. B. Nikolaus Hermans Sontags Euangelia,
1562; Friedrich Spees Bel’Vedére oder Herbipolis Wurtzgärtlein, 1621), Ge-
betbücher (berühmt ist Johann Zwicks Gebätt für jung lüt, 1535 oder spä-
ter), Kinder- und Jugendpredigten oder religiöse Schriften für den Jungfrau-
enstand (z. B. Johann Bußlebens Jungfraw Spiegelein, um 1570, Konrad Por-
tas Jungfrawenn Spiegel und Der Christlichen Jungfrawen Ehrenkräntzlein
von Lukas Martini, beide 1580, Philipp Jakob Speners Spiegel Christlicher
Jungfrauen, 1737). Viele dieser Erbauungsbücher richten sich exklusiv an ein
jugendliches Publikum, aber es gibt auch solche, die sich nicht nur an Kinder Lukas Martini: Der
oder Jugendliche wenden, sondern auch an die gemeinen Leute, vor allem an Christlichen Jungfrawen
die Hausväter und -mütter. Unter ihnen war sicherlich das Außerlesene His- Ehrekräntzlein. Prag 1580
tory-Buch (1687 – 92) des Kapuzinerpredigers Martin von Cochem mit sei-
nen Heiligen- und Märtyrerlegenden, Mirakelgeschichten, Exempeln und
biblischen Historien das wirkungsmächtigste.
Eine weitere wesentliche Aufgabe der frühen Kinder- und Jugendliteratur
besteht darin, die Kinder mit dem richtigen Verhalten in der Welt und in ih-
12 Mittelalter und frühe Neuzeit

Belehrung über das rem Stand bekannt zu machen. Diese Aufgabe erfüllten bereits die in die
richtige Verhalten in mittelalterlichen Epen integrierten Lehrgespräche, die in ihrem Kontext zwar
der Welt und im Stand auf die Unterweisung des jeweiligen Helden abzielen, in ihrer Allgemeinheit
aber immer auch Belehrungen besonders für ein jugendliches Publikum mit-
transportieren, indem sie ethische Wertvorstellungen und höfische Hand-
lungsnormen vermitteln und so den Weg zu höfischer Vollkommenheit und
zur Beherrschung der ritterlichen Tugenden weisen. Teilweise werden die
Belehrungen aber auch in selbständigen Lehrgesprächen vorgetragen, wie
z. B. in Der Winsbecke, der ersten volkssprachlichen Erziehungslehre, ent-
standen zwischen 1210 und 1220. In die Traditionsreihe des Winsbecke ge-
hören auch Der magezoge oder meizoge (»Der Erzieher«), das junge Herren
und Damen über tugendhafte Gesinnung belehrende Gedicht Diu mâze und
die bereits in das 14. Jh. datierenden Väterlichen Lehren des Andreas, wäh-
rend das Lehrgedicht von Tirol und Vridebrant (Mitte des 13. Jh.s) eine, nur
fragmentarisch erhaltene, Herren- und Regentenlehre für einen jungen Ade-
ligen bietet.
Wirkungsmächtiger als diese Lehrgedichte war eine aus dem 3./4. Jh.
stammende gnomische Spruchsammlung (gr. gnome = Sentenz, Sinnspruch)
eines unbekannten spätantiken Didaktikers, die unter dem Namen Cato oder
Disticha Catonis in ganz Europa berühmt war und noch bis weit in das 19.
Jh. Verbreitung fand. Der Cato, eingekleidet in ein Lehrgespräch zwischen
Vater und Sohn, vermittelt, ganz auf das tägliche Leben ausgerichtet, Lebens-
maximen, Klugheitslehren und Anstandsregeln, deren Befolgung materielles
Glück, Ansehen und Ehre bescheren soll. Der Wertmaßstab des im Cato pro-
pagierten Verhaltens ist die Zweckmäßigkeit, der Kern der Lebenslehre die
Gelassenheit. Arbeitsamkeit und Mäßigung, Bedachtsamkeit im Urteilen und
Älteste deutsche
Übersetzung der Disticha Handeln, Geduld und Entschlusskraft, Zurückhaltung im Umgang und Ver-
Catonis. Augsburg 1487, schwiegenheit werden ebenso gepriesen wie Sparsamkeit und Lernbereit-
mit einem Magister-cum- schaft. Der Cato galt zugleich als Muster vorbildlichen lateinischen Stils;
discipulo-Holzschnitt deshalb fand er früh Eingang in den lateinischen Schulunterricht und blieb
über Jahrhunderte neben der Grammatik Donat das Anfängerlehrbuch
schlechthin. Die gesamte Kinder- und Jugendliteratur hat nie wieder ein
Werk ähnlichen Charakters hervorgebracht, das auch nur annähernd die
Bedeutung des Cato erlangt hätte.
Es ist nicht von ungefähr, dass Luther in seinen Tischreden behauptet,
»nechst der Bibeln/ keine bessere Bücher denn des Catonis Scripta/ vnd die
Fabulas Aesopi« zu kennen. Nach der Auffassung der Zeit entsprechen der
Wahrheit göttlicher Schrift auf weltlicher Ebene Cato und Aesop; beide gel-
ten als vorzügliche Instrumente, die Jugend Weltklugheit zu lehren. Andere
Träger dieser Unterweisung sind u. a. die humanistischen Erziehungslehren
(z. B. Jakob Wimpfelings vielfach aufgelegte Adolescentia, 1500), die Zucht-
und Sittenbücher (beispielhaft Huldrych Zwingli: Quo pacto ingenui adole-
scentes formandi sint, 1523, dt. u. d. T. Herr Ulrich Zwingli leerbiechlein wie
man die Knaben Christlich unterweysen vnd erziehen soll/ mit kurtzer an-
zayge aynes gantzen Christlichen lebens, 1524; als Unterweisung durch das
Gegenteil: Der jungen Leute Lasterspiegel von Lukas Martini, 1592), die
Lebensregeln, Klugheits- und Tugendlehren (bedeutend vor allem Erhard
Weigels Wienerischer Tugend=Spiegel, 1687, und Christian Weises Ausführ-
liche Fragen über die Tugend=Lehre, 1696) sowie die elterlichen Räte und
Vermächtnisse, unter denen besonders die Insomnis cura parentum (»Die
ruhelose Sorge der Eltern«, 1643) Johann Michael Moscheroschs herausragt.
Die elterlichen Räte haben nahezu immer auch eine Unterweisung über die
Standespflichten zum Inhalt, und wenn der ratgebende Verfasser adeliger
Funktionen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 13

Herkunft ist, so tritt der elterliche Rat häufig in Form der Standeslehre (z. B.
Johann Kasimir Kolbes von Wartenberg Getreu=Vätterliche Instruction,
1674) oder auch des Fürstenspiegels auf; besonders bekannt sind die 1730
veröffentlichten Monita Paterna (»Väterliche Ermahnungen«), die Maximi-
lian I. von Bayern 1639 für seinen damals dreijährigen Sohn Ferdinand Ma-
ria abfasste.
Eine besondere Form der Standesunterweisung stellt die Literatur für Von jungfräulichen
Mädchen dar, die ebenfalls bis in die Zeit des Mittelalters zurückreicht und Pflichten
sich als zusammenhängende Mädchenbelehrung bereits in Ulrichs von Lich-
tenstein Vrouwen Buoch (1257) und als eigenständige Schrift für Mädchen
mit der Winsbeckin (zwischen 1210 und 1220) nachweisen lässt. Zahlreiche
Werke der religiösen, insbesondere der Erbauungs- und hier wieder der Ge-
betsliteratur, aber auch etliche Werke der erzählenden Literatur sind ganz
überwiegend oder sogar exklusiv für Mädchen verfasst oder herausgegeben
worden. Den Tenor auch der mehr weltlich orientierten Belehrungen für
Mädchen gibt das angeblich von Antonio de Guevara verfasste Schreiben
vnd vnterrichtung für die Frawen vnnd Weiber/ die jhre Töchter gern zur
zucht und Erbarkeit ziehen und anhalten wollen (1598) deutlich zu erken-
nen: Orientiert am traditionellen Bild idealer Jungfernschaft, fordert der
Verfasser unter Heranziehung biblischer Beispiele und kirchlicher Autori-
täten die Mädchen dazu auf, sich schicklich zu bewegen, bescheiden, ver-
schwiegen, zurückhaltend und demütig zu sein, sich züchtig und einfach zu
kleiden, keine Eitelkeit zu zeigen, sich körperlich und seelisch rein zu halten,
keine erdichteten Geschichten anzuhören, den Umgang mit alten Frauen und
Kupplerinnen zu meiden und jeglicher Gelegenheit zur Verführung aus dem
Wege zu gehen. Andere Schriften rücken mehr praktische Fragen in den Vor-
dergrund wie Probleme der zukünftigen Verheiratung, der richtigen Gatten-
wahl, des schicklichen Verhaltens gegenüber Junggesellen und der angemes-
senen Kleidung (z. B. Jacob Cats: Neu eröffnete Schule/ vor das noch ledige
Frauenzimmer, ca. 1720). Beliebt sind auch jene Schriften, die die dem weib-
lichen Geschlecht traditionell zugeschriebenen Laster verurteilen, wie dies
z. B. in der kleinen Flugschrift Ein schön newes Lied/ von Junckfraw tracht
Hoffart und pracht (zwischen 1572 und 1613) der Fall ist, die insbesondere
die Putz- und Prunksucht der Mädchen und ihre mangelnde Bescheidenheit
geißelt.
Eine weitere Aufgabe sieht die frühe Kinder- und Jugendliteratur in der Anstandsunterweisung
Erziehung der Kinder zu Anstand und ›gutem‹, d. h. maßvollem, mit Freund-
lichkeit und Höflichkeit gepaartem Benehmen. Träger dieser Unterweisung
sind vor allem Zucht- und Sittenbücher, gnomische Spruchsammlungen,
Verhaltenslehren, Komplimentierbücher, Anstandslehren und Tischzuchten.
Eine erste größere deutsche Anstandsunterweisung findet sich bereits 1215
bei Thomasin von Zerklaere in seinem Lehrgedicht Der welhisch Gast (Der
welsche Gast, d. h. der Fremdling aus Italien – Thomasin war italienischer
Geistlicher und Domherr in Aquileia), in dessen erstem Teil eine ›Hofzucht‹
die adelige Jugend mit genauen Verhaltensvorschriften und Anstandsregeln
instruiert. Die erste eigenständige Anstands- und Verhaltenslehre für die Ju-
gend bietet knapp ein Dreivierteljahrhundert später Konrad von Haslau mit
seinem Edelknabenspiegel Der Jüngling. Wichtiger ist aber auch hier die la-
teinische Tradition, repräsentiert in der gnomischen Spruchsammlung Face-
tus (= fein, zierlich, ansprechend im Äußeren und im Benehmen), einer als
Ergänzung zum Cato gedachten Anstandslehre aus dem 12. Jh., die in unsys-
tematischer Folge Lehren für ein Betragen vermittelt, das von Sitte, Zucht
und Vernunft geprägt ist und im ›Maß‹, der sittlichen Mäßigung und Be-
14 Mittelalter und frühe Neuzeit

Desiderius Erasmus:
De civilitate morum.
Titelblatt der ersten
deutschen Übersetzung.
Frankfurt 1531

scheidenheit, als dem entscheidenden ästhetisch-moralischen Prinzip gegrün-


det ist. Schon im Facetus tritt die entscheidende Rolle des Verhaltens bei
Tisch hervor, der dann im ausgehenden 15. und im ersten Drittel des 16. Jh.s
geradezu eine paradigmatische Rolle im ›Prozess der Zivilisation‹ zukommt.
Hierin ist auch das zahlreiche Erscheinen von Tischzuchten zu dieser Zeit
begründet, wenngleich diese Gattung bereits wesentlich frühere Ursprünge
hat (vgl. z. B. die schon zu Anfang des 13. Jh.s entstandene und besonders an
Kinder adressierte, später von Sebastian Brant übersetzte Thesmophagia des
Reinerus Alemannicus).
Von zentraler Bedeutung für die Anstandsunterweisung ist das Erasmus
Büchlein De civilitate morum puerilium von 1530, die erste umfassendste
Funktionen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 15

Anstandsschrift des Humanismus, die schon ein Jahr später ihre erste deut- Erasmus von
sche Übersetzung erlebte (Züchtiger Sitten/ zierlichen wandels/ vnd höfflicher Rotterdam: »De
Geberden der Jugent/ Jn alle weg vnd nach Ordenung des gantzen leibs/ Den civilitate morum«
Jungen/ sich darinn zu üben/ Den Alten/ jre Kind nach solichem ebenbild/ in
zucht zu erziehen/ Ein nützlich Büchlin). Erasmus behandelt in sieben Ab-
schnitten allgemein das gesittete Äußere, die Kleidung, das Verhalten in der
Kirche, die Tischzucht, richtiges Verhalten bei Begegnungen und im Schlafge-
mach. Im Gegensatz zu früheren Anstandswerken trägt Erasmus seine Lehren
nicht mehr als einfache Vorschriften vor, sondern sucht sie ausführlich zu
begründen und so detailliert darzustellen, dass die Kinder sie bewusst anneh-
men können. Vor allem aber zielt seine Schrift darauf ab, die Urteilskraft und
-fähigkeit der Kinder auszubilden, damit diese von sich aus entscheiden kön-
nen, welches Verhalten im Sinne der ›civilitas‹ (= Leutseligkeit, Herablassung,
Höflichkeit, gewinnendes Benehmen) wünschenswert und notwendig ist. Die
Civilitas morum, mit der Erasmus den sich wandelnden Formen des gesell-
schaftlichen Umgangs Ausdruck verlieh, blieb über Generationen hinweg das
Referenzwerk schlechthin für Fragen des Anstands. Alle nacherasmischen
Anstandsschriften des 16. und 17. Jh.s – besonders auch der berühmte Gro-
bianus von Friedrich Dedekind (1549, Neubearbeitungen 1552 und 1554),
eine als parodistische Satire angelegte ›umgekehrte‹ Anstandslehre, die der
studierenden Jugend die Anstandsgebote in Form von Regelverletzungen
präsentiert – gehen hinsichtlich des Regelkodexes, teilweise auch der Form
auf die Civilitas morum zurück, wenngleich sie auch, mit Ausnahme Dede-
kinds, die literarische und pädagogische Qualität des Originals nicht errei-
chen.
Als einziges Werk von Rang ist nur noch die deutsche Jugendbearbeitung Giovanni Della Casa:
des zwischen 1551 und 1552 geschriebenen Galateo des italienischen Kir- »Galateo«
chenpolitikers Giovanni Della Casa zu nennen (dt. von Nathan Chytraeus u.
d. T. Galateus. Das ist/ Das Büchlein von erbarn/ höflichen vnd holdseligen
Sitten, 1597), die zwar vom italienischen Original erhebliche Abstriche macht
und teilweise gravierende – meist konfessionell motivierte – Umdeutungen
vornimmt, in der aber doch das Bemühen erkennbar ist, die schon bei Eras-
mus anzutreffenden Überlegungen zu einer systematischen Lehre von der
zwischenmenschlichen Kommunikation zu erweitern. Della Casa geht es da-
bei eigentlich aber nicht mehr um die Formung guter Sitten, sein Augenmerk
gilt vielmehr der Vervollkommnung der feinen Manieren, die dem sozialen
Handeln einen gefälligen Anstrich geben sollen, und er beschränkt sich so
bewusst nur auf das äußere Erscheinungsbild zwischenmenschlicher Kom-
munikationsakte, das im Hinblick auf seine anziehende bzw. abstoßende
Wirkung beurteilt wird. Der deutsche Galateus trägt die Anstandslehren für
Kinder in ihrer wohl systematischsten Zusammenschau vor, gleichzeitig stößt
damit aber die Anstandsunterweisung auch an die Grenzen der Gattung.
Dies wird besonders darin deutlich, dass sie in der Folgezeit häufig auf das
kurze, knappe Regelwerk beschränkt wird, das nicht selten komprimiert auf
Einblattdrucken oder in schmalen Heftchen angeboten wird. Erst mit den
Verhaltenslehren, den Galanterie-, Komplimentier- und Konversationsbü-
chern des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jh.s, die dem jungen ›Politi-
cus‹ Anleitung und Beispiel geben wollen, sich durch ›galante‹, ›manierliche‹
und ›artige‹ Aufführung bei Hofe und in der Gesellschaft zu rekommendie-
ren, wird der umfassenden Anstandsunterweisung wieder eine zentrale Be-
deutung zugeschrieben.
Dem grundlegenden Stellenwert entsprechend, der der rhetorischen Schu- Von richtiger Rede
lung im Erziehungsprozess der Zeit zukommt, bringt die Kinder- und Ju-
16 Mittelalter und frühe Neuzeit

gendliteratur eine Fülle rhetorischer Schriften hervor. Hierzu zählen die


Ausgaben der klassischen (römischen, auch griechischen) Literatur, die Mus-
ter eleganten Stils bieten, die dem Verständnis dieser Muster dienenden
Kommentare, Glossen und Übersetzungen, die Lehrwerke der Rhetorik und
ihrer einzelnen Disziplinen, die mit den Methoden bekannt machen, wie
dieser gute Stil nachgeahmt werden kann, und schließlich die ›Schatzkam-
mern‹, die eine Fülle von Wendungen, Ausdrücken und Floskeln bereithalten,
derer man sich bei der Ausschmückung eigener rhetorischer Versuche bedie-
nen kann.
Neben diesen Hilfsmitteln gibt es die eigentlichen Erzeugnisse rhetorischer
Arbeit, die primär im sprachpraktischen Bereich Verwendung finden. Es sind
dies vor allem die Schülergespräche und Schuldramen. Sie richten sich an die
in der Sprachausbildung stehende Jugend und wollen ihr zur leichteren Er-
Desiderius Erasmus:
lernung und fließenden Beherrschung des Lateinischen im Unterricht und im
Familiarium colloquio- Alltag verhelfen, ihr Inhalt soll erzieherisch wirken, indem durch sittliche
rum formulae. Basel 1522 Ermahnung die Charakterbildung gefördert und gleichzeitig auf das richtige
Verhalten des Einzelnen in der Gemeinschaft hingewirkt werden soll. Die
Schülergespräche entwickeln ein breites Spektrum von Formelsammlungen
über kurze (Alltags-)Gespräche bis hin zu umfangreichen Gesprächssamm-
lungen mit literarischem Anspruch; genannt seien vor allem die berühmte
Sammlung des Spaniers Juan Luis Vives, die Linguae Latinae exercitatio
(»Lateinübung«, 1538), die allein im deutschen Sprachraum 45 Auflagen
erzielte und noch Mitte des 18. Jh.s im Druck erschien, und die Colloquia
familiaria (»Vertraute Gespräche«; zuerst – unautorisiert – 1518 erschienen,
etliche Male erweitert und 1533 zum Abschluss gebracht) des Erasmus von
Rotterdam, ein Werk von solch hohem Anspruch und von einer literarischen
Meisterschaft, dass man es heute gemeinhin gar nicht mehr als Buch für Ju-
gendliche wahrnimmt.
Neben dem Schülergespräch erfreute sich das Schuldrama größter Beliebt-
heit. Viel stärker als die übrigen Elemente rhetorischer Erziehung konnte es
nämlich multifunktional eingesetzt werden: Es schulte nicht nur in Gramma-
tik, Stilistik, Dialektik und Rhetorik, sondern ergänzte diese durch das Erler-
nen einer guten Aussprache und eines gewandten Auftretens. Man sah in ihm
nicht nur ein Instrument religiöser, sittlich-moralischer oder sachlicher Be-
lehrung, sondern – über einen längeren Zeitraum hinweg – auch eines der
Schuldramen konfessionellen Propaganda. Zudem war es unterhaltsam und vermochte auf
leichte Art zu belehren, und nicht zuletzt diente es dazu, den Eltern in einer
öffentlichen Aufführung die Lernfortschritte ihrer Kinder zu demonstrieren
und dem Lehrerstand in der Öffentlichkeit zu einem größeren Ansehen zu
verhelfen. Aus der kaum überschaubaren, meist nur handschriftlich überlie-
ferten Schuldramenproduktion seien nur wenige Stücke und Autoren beson-
ders hervorgehoben: der den Übergang vom humanistischen Dialog zum
Schuldrama markierende Stylpho Jakob Wimpfelings (1480 geschrieben,
1494 gedruckt); die auch häufig Henno betitelten Scaenica progymnasmata
(»Vorübungen in Schauspielform«, 1498) des süddeutschen Humanisten Jo-
hannes Reuchlin, der mit seinem Stück die erste deutsche Schulkomödie
schuf, die sich in Form und Sprache eng an die Regeln der römischen Komö-
die anlehnt; das Drama Acolastus. De filio prodigo (»Acolastus. Vom verlo-
renen Sohn«, 1529) des Haager Reformationsanhängers Gulielmus
Gnapheus, der zum ersten Mal die Form der römischen Komödie mit einem
biblischen Stoff verband und so zum Schöpfer der »comoedia sacra« (Komö-
die geistlichen Inhalts) als dem Urbild zahlreicher biblischer Schuldramen
wurde; das Stück Rebelles (»Die Widerspenstigen«, 1535) des neulatei-
Funktionen der frühen Kinder- und Jugendliteratur 17

nischen Dramatikers Georgius Macropedius, der damit den Reigen der


›Schulspiegel‹ eröffnete, die primär Fragen der richtigen Erziehung themati-
sieren. Erfolgreiche Autoren des späteren deutschsprachigen protestantischen
Schuldramas waren u. a. Sixt Birck (Susanna, 1532) und Paul Rebhun (Ein
Hochzeitspil auff die Hochzeit zu Cana, 1538); aus der großen Zahl der jesu-
itischen Schuldramatiker seien Jakob Bidermann (Cenodoxus, 1602), der
auch durch eine Theorie des Dramas bekannt gewordene Jakob Masen (Ol-
laria, 1647) sowie Paul Aler (Innocentia victrix sive Genovefa, 1706) hervor-
gehoben.
Der Reformator des deutschen Schuldramas und zugleich wohl sein be- Christian Weise
deutendster Vertreter ist Christian Weise, der mit Stücken wie Der gestürzte
Markgraf von Ancre (1679), Bäurischer Machiavellus (1679), Von dem Nea-
politanischen Rebellen Masaniello (1682), Vom Verfolgten Lateiner (1693)
oder Der Curieuse Körbelmacher (1702) – Weise schrieb insgesamt 61
Dramen, darunter 17 biblische, 16 historische und 20 freie sowie zwei latei-
nische Stücke für den Schulgebrauch – das Ideal einer pragmatisch-realitäts-
bezogenen Beredsamkeit in deutscher Sprache verfolgte. Seine Schuldramen
sollten nicht nur im äußerlich sicheren Auftreten und in der rhetorischen
Vortragsgestaltung schulen, sondern zugleich einen Weg zur ›galanten‹ Ma-
nier und zur ›politischen‹ Geschicklichkeit aufzeigen, sie sollten praktische,
nüchterne Weltkenntnis lehren und zugleich die Schüler zu einer moralisch-
vernünftigen, einer ›politischen‹ Lebensführung anhalten. Im Spiegel des
Theaters sollte die Jugend die Welt kennen lernen: Das Schuldrama sollte so
ein Vorspiel auf das wirkliche Leben sein, Spielen eine Simulation von Reali-
tät, in die der Spielende dereinst gestellt würde.
Eine weitere wichtige Aufgabe auch der frühen Kinder- und Jugendlitera- Vermittlung von
tur ist die Vermittlung von Wissen und Weltkenntnis. Diesem Ziel dienen Wissen und
Werke unterschiedlichster Art, vor allem die Elementarbücher (ABC- Weltkenntnis
Bücher, Fibeln, Rechenbücher), Sprachlehrwerke wie Grammatiken, Ortho-
graphien, Sprachlehrbücher, Vokabularien und Nachschlagewerke, mathe-
matische und naturwissenschaftliche Werke, Musiklehren, Geographiebücher
und Atlanten, Kalender, Geschichtswerke, Mythologien, Schreibmeister- und
-musterbücher, Zeichenlehren und technisch-praktische Werke sowie schließ-
lich die Werke mit enzyklopädischer Ausrichtung. Aus der Fülle dieser
Schriften ragt ein Werk hervor, das als das mit weitem Abstand berühmteste
der frühen Kinder- und Jugendliteratur gelten kann: des Johann Amos Co-
menius’ Orbis sensualium pictus. Hoc est, Omnium fundamentalium in Der »Orbis pictus« des
Mundo Rerum & in Vitâ Actionum Pictura & Nomenclatura. Die sichtbare Comenius
Welt/ Das ist/ Aller vornehmsten Welt=Dinge und Lebens=Verrichtungen
Vorbildung und Benahmung (1658). Der Orbis pictus, wie er kurz genannt
wird, ist, vielleicht überpointiert, aber nicht unberechtigt, häufig als ›Urahn‹
des Bilderbuchs für Kinder bezeichnet worden; in jedem Fall ist er eines der
am meisten verbreiteten und nachgeahmten Lehrbücher überhaupt; bis in die
60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erschien er in 245 Ausgaben und
Bearbeitungen in den verschiedensten Sprachen. Der Orbis pictus, eine bild-
liche Umsetzung von Comenius’ Sprachlehrwerk Janua linguarum reserata
(»Das erschlossene Sprachentor«, 1631), das er bereits 1656 in seiner Schola
ludus (»Spielschule«) dialogisch aufbereitet und in die Form eines Schuldra-
mas gebracht hatte, gibt in 150 Bilderkapiteln einen Überblick über die
wichtigsten Naturphänomene, bürgerlichen und staatlichen Ordnungen, Be-
rufe und Wissenschaften. Die thematisch zusammengestellten Bilder (Holz-
schnitte) sind so weitgehend wie möglich der Umwelt des Schülers entlehnt;
ein auf einzelne Holzschnittdetails bezogenes Nummernsystem verweist auf
18 Mittelalter und frühe Neuzeit

Johann Amos Comenius:


Orbis sensualium pictus.
Nürnberg 1678

lateinische und deutsche Bezeichnungen, die, meist eingebettet in einfachste


(Teil-)Satzkonstruktionen, auf der dem Bild gegenüberliegenden Seite ge-
druckt sind. Die Bilder dienen nicht nur als Anschauungsmittel, sondern
sollen auch, vor allem von jüngeren Kindern, nachgemalt werden, um die
manuellen Fertigkeiten zu üben.
Der Orbis pictus ist damit Anschauungs- und Übungsbuch, Lateinfibel
und muttersprachliches Lehrbuch in einem. Doch hierin erschöpft sich nicht
seine Funktion. Comenius will nämlich, entsprechend seinen pansophischen
Erziehungsvorstellungen, über das Bild zur Kenntnis der Dinge und zur Vor-
Erzählende Literatur 19

stellung über deren Platzierung innerhalb des Schöpfungsganzen und dessen


Ordnung vorstoßen. Der Orbis pictus ist daher nicht als ein Anschauungs-
buch misszuverstehen, das sich darauf beschränkt, eine der natürlichen Be-
schaffenheit eines Dinges genaue, detailgerechte Abkonterfeiung zu liefern –
dazu wären die oft plumpen Darstellungen zumindest der frühen Ausgaben
auch kaum tauglich. »Die Bildungen«, übersetzt Siegmund von Birken aus
der Vorrede des Comenius, »sind/ aller sehbaren Dinge (zu welchen auch die
Unsichtbaren etlicher massen gezogen werden) in der ganzen Welt/ Vorstel-
lungen«, d. h. die bildlichen Darstellungen sind vorstellungsabhängig und
müssen sprachlich vermittelt werden, da nur durch die ständige Inbezugset-
zung von dargestelltem Ding und begrifflicher Benennung, die bei Comenius
durch das Nummernsystem erreicht wird, ein »Wandern in der Welt« ermög-
licht wird, durch das die Dinge in ihrer richtigen Ordnung zueinander ken-
nen gelernt werden sollen. So bekommen die Bilder die Funktion, die Einsicht
in das Weltganze und seinen Zweck zu vermitteln.

Erzählende Literatur

In seinem Schelmenroman Der symplicianische Welt-Kucker oder Abentheu-


erliche Jan Rebhu, erschienen 1677 bis 1679, lässt der Herzoglich Sachsen-
Weißenfelsische Hofmusikus Johann Beer einen Gymnasiasten über seine
Lektüreerfahrungen und deren Folgen berichten: »Nach diesem finge ich an
Ritter-Geschichten zu schreiben/ da musten die Ritter auf die Turnier/ in die Ritterromane als
Berge/ auf hohe Hügel/ in tieffe Gruben reiten/ darinnen sich Drachen/ Lö- jugendliche
wen/ Gespenster/ Schlangen/ und dergleichen aufhielten/ wie etwan in der Lieblingslektüre
Historia von der schönen Melusina/ und dem Ritter Ponto/ wiederum im
hörnen Seyfried/ und anderen mehr dergleichen Ruhmwürdigen Authoribus
und nützlichen Scribenten zusehen und erspriesslich zulesen ist/ über welche
ich offtermahlen einen gantzen Tag in dem Catheder in Prima Classe geses-
sen und nicht nachgelassen/ biß ich die höchst auferbaulichen und zur Uni-
versal Historia nötigen Sachen genugsam vernommen und verstanden hatte/
da ich mir vorgenommen auch ein Ritter zu werden.«
In ironischer Brechung spiegelt sich in dieser Passage nicht nur ein Stück
Lesealltag früherer Zeit, sondern vor allem die Jahrhunderte währende De-
batte über Nützlichkeit oder Schädlichkeit erzählender Literatur. Mit der
Bindung der Lektüreerfahrung an einen Gymnasiasten ist die soziale Schich-
tung des früheren jugendlichen Lesepublikums verdeutlicht: Es sind vor-
nehmlich die Kinder des mittleren und gehobenen Bürgertums, die als Leser
erzählender Jugendschriften in Betracht kommen, Kinder, die durch den Be-
such zumindest der Schule, vor allem aber auch der Universität, auf künftige
gesellschaftliche Leitungsfunktionen vorbereitet werden. Typisch für die Zeit
sind auch die Angaben über die Lieblingslektüre des Gymnasiasten: Es sind
die in Dutzenden Auflagen verbreiteten, meist auf billigem Löschpapier ge-
druckten, mit groben, beliebig austauschbaren Holzschnitten ausstaffierten
und häufig durch fliegende Händler vertriebenen ›Volksbücher‹ und ›Ritter-
romane‹. Auch das Argument, weshalb die Pädagogen diese von der Jugend
so geschätzten Büchlein mit einem Bannstrahl belegten, tritt deutlich hervor:
Die Ritterromane, so die Kritiker, sind nicht nur bar jeder Wahrheit und
reinste Produkte der Einbildungskraft, sie heizen zudem die jugendliche Fan-
20 Mittelalter und frühe Neuzeit

tasie an, ziehen das Denken der Jugend auf unnütze, ja sündige Dinge und
sind zeitverderberisch. Die durch die Lektüre überhitzte Fantasie macht es
schließlich unmöglich, zwischen Wahrem, Faktischem und eingebildeten Be-
gebenheiten zu unterscheiden. Der Gymnasiast missversteht nämlich seine
›Historien‹, seine ›Geschichten‹, als ›Historia‹, als ›Geschichte‹. Hiermit ist
ein wesentliches Element des zeitgenössischen Verständnisses von ›Historie‹
berührt. ›Historie‹, ›Historia‹ oder ›hystory‹ ist im Grunde genommen ein
Allerweltsbegriff, der auf unterschiedlichste Gattungen angewandt werden
kann und daher weder eine spezifische Form, noch einen bestimmten Inhalt
Der ›Wahrheitsgehalt‹ hat. Immer ist damit aber die – der erfundenen ›Fabel‹ entgegengesetzte –
der Historie Schilderung einer wahrhaften oder einer als wahr behaupteten Begebenheit
gemeint und immer muss sie einen belehrenden Kern enthalten. Die Beteue-
rung der Wahrheit des Geschehens, die Berufung auf Augenzeugen oder per-
sönliche Erfahrung, das Abheben auf die Appellfunktion des Textes (der Leser
soll sich die Lehren zu eigen machen und auf sein Leben anwenden), die
moralisierenden Züge, der Einschub von Erklärungen, Belehrungen oder
auch Sprichwörtern sind daher grundlegende Züge jeder ›Historie‹. Dadurch
steht sie immer im Spannungsverhältnis von Nutzen und Lehre einerseits
und Kurzweil andererseits, soll sie doch vor Melancholie bewahren und die
Langeweile vertreiben. Ob und in welchem Maße nun die erzählenden Ele-
mente dieser Texte als Zugeständnis an einen bevorzugten Rezeptionsmodus
des jugendlichen Lesers statthaft sind, oder ob nicht diese erzählenden Ele-
mente die nützliche Lehre verdecken, überwuchern und schließlich zum Alibi
verkommen lassen – diese Diskussion prägt die Auseinandersetzung über
Form, Inhalt und Charakter der erzählenden Jugendliteratur bis weit in das
18. Jh. hinein.
Jugendliche Das Für und Wider in dieser Diskussion wird schlaglichtartig deutlich in
Romanlektüre: einer Auseinandersetzung im ersten Teil der Frauenzimmer Gesprechspiele
Für und Wider (1644) des Nürnberger Patriziers Georg Philipp Harsdörffer. Die Gesprech-
spiele, vor allem in den ersten beiden Teilen bevorzugt an die Jugend adres-
siert, wollen – in der Tradition des Salongesprächs und in Anlehnung an ita-
lienische und französische Vorbilder – Modelle zwanglos-galanter Konversa-
tion bieten, wobei belehrende und unterhaltende Momente miteinander
verbunden werden. Im Rahmen eines solchen Modellgesprächs kommen die
Teilnehmer auch auf Bücher zu sprechen, »so auß fremden Sprachen/ von
Schäfereyen/ Liebsgedichten/ Heldengeschichten/ u. d. g. in unsere Teutsche
übersetzet worden«. Spielweise soll Julia von Freudenstein, »ein kluge Ma-
tron«, gegen die Romane Stellung beziehen, während Reymund Discretin,
»ein gereist= und belesener Student«, aufgefordert wird, sie zu verteidigen.
Die Ausgangsposition der Diskutanten wird in den beiden Sätzen »jch bin
vergewissert/ daß solche Bücher nicht ohne Gefahr/ und unwiderbringliches
Nachtheil der Jugend verstattet werden können« (so Julia) bzw. »So bin ich
versichert, daß solche Bücher mit Lust und Nutzen können gelesen werden«
(so Reymund) zusammengefasst. Im Verlauf der Diskussion bezeichnet Julia
diese Bücher als »Lustgedichte/ so […] sich häuffig in junger Leute Händen
befinden«, sie seien Fabeln, die der Wahrheit am wenigsten ähnlich seien. Die
Figuren seien ohne jeden Realitätsbezug, alle seien sie »verliebet/ alle bestän-
dig voller Tugend/ und bedörffen des Geldes so wenig/ als die Christen deß
Alcorans. Diese Büchergrillen erregen dergestalt unsere Gedanken/ daß wir
mit ihnen weinen/ lachen/ trauren/ Verlangen tragen/ und allen ihren Begier-
den gleichsam würcklich beypflichten/ ob sie woln nur erdichtet/ und niemals
gewesen/ noch seyn werden«. Durch diese Art Bücher werde die Liebeslust
gereizt, die Leser würden angehalten, ihr ganzes Sinnen und Trachten auf die
Erzählende Literatur 21

Suche nach dem Bösen abzustellen, weshalb denn auch der »Geist der Lü-
gen« die unbedachte Jugend berede, »es werden durch solche Bücher ihre
Augen aufgethan/ zu sehen was gut oder böß ist«. Man solle daher diese
Bücher nicht mehr drucken und sie ins Feuer werfen, bevor sie andere an-
steckten. Die Lektüre dieser Bücher sei reine Zeitverschwendung.
Die Julia in den Mund gelegten Worte – ihnen entgegnet Reymund, dass Verdammung
die Werke, selbst wenn reine Fiktion, lehrreich seien, sie stellten auf ange- der Romanlektüre
nehme Art den Unterschied zwischen Gut und Böse dar und erwiesen, wie bei Vives
glückselig die Tugenden, wie gefährlich aber das Laster und seine Folgen
seien, und so existiere bei deren Lektüre keinerlei Gefahr für zur Tugend er-
zogene junge Leute – greifen Argumentationsmuster auf, die seit Juan Luis
Vives’ De institutione foeminae (1523; dt. von Christoph Bruno u. d. T. Von
underweysung ayner Christlichen frauwen, 1544) gang und gäbe waren. Im
fünften Kapitel seiner Schrift setzt sich Vives mit der Frage auseinander, wel-
che Lektüre Mädchen und Frauen zuträglich sei. Er empfiehlt die Evangelien,
die Apostelgeschichte, die apostolischen Briefe, die geschichtlichen und mo-
ralischen Erzählungen des Alten Testaments, die maßgeblichen Kirchen-
schriftsteller sowie die antiken Schriftsteller Plato, Cicero und Seneca (wie-
wohl nur nach Rat verständiger Männer) und warnt vor Werken, die nur
geschrieben seien, um von Müßigen, von Mädchen und Frauen gelesen zu
werden, und keinen anderen Stoff als Streit und Liebe böten. Auch er spricht
sich für eine Radikalkur aus – das Verbot: »Derhalben gezympte es sich/ das
man solche schantpare vnd vnzüchtige lieder/ dem gmainen pöfel/ mit aim
strengen gsatz/ auß dem maul neme [...]. mich gedunckt/ diejänigen/ die sol-
che liedlin machen/ befleyssen sich kayns dings mer/ dann das sie die gemay-
nen sitten der jugent verderben/ nicht anders als wölche die gmaynen brunnen
vergifften.« Derartige Schriften, die Nahrung böten für allerlei Laster, habe
das weibliche Geschlecht wie Schlangen und Skorpione zu meiden. Falls ein
Mädchen durch die Lektüre eines solchen Werkes gefesselt werde, möge man
ihm das Buch nicht nur entwinden, sondern falls es andere, schickliche Lek-
türe ablehne, danach trachten, es durch Aussetzen der Lektüre ganz zu ent-
wöhnen – bis zu dem Grade, dass es das Lesen völlig verlerne: »dann besser
ists/ ayns guten dings gar mangeln/ dann dasselb vbel gebrauchen«.
Vives hat mit seinem Verdikt zwar vornehmlich das weibliche Geschlecht
im Auge, doch liefert er zugleich ein allgemeineres Argumentationsmuster,
das bis in das 18. Jh. hinein vor allem von Pfarrern und Pädagogen benutzt
wurde, um vor der Romanlektüre von Kindern und Jugendlichen zu warnen:
Die Jugend, so der Pastor Christian Gerber in seiner Abhandlung Unerkannte
Sünden der Welt (51708), habe »von Natur mehr Neigung und Lust zu den
Lastern dieser Welt/ als zur wahren Gottesfurcht«, und am schlimmsten sei
das Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren, in dem die »Jugend=Hitze«
Liebesgedanken oder ähnliche Regungen verursache, die die jungen Leute
dazu brächten, sich mit der Lektüre von Romanen zu beschäftigen. Er fordert
daher ein Verbot all solcher Bücher, die die Jugend »zur Geilheit und anderer
Leichtfertigkeit verführen können«, und will als geeignete Lektüre nur die
Bibel und geistliche Schriften gelten lassen.
Die Frontstellung gegen diese Bücher, die ›erdichtet‹ waren und damit als Romanadressierungen
›unwahr‹ galten, verhinderte bis zum Ende des 18. Jh.s die Herausbildung an die Jugend
des Romans als einer eigenständigen jugendliterarischen Gattung. Wenn die
Verfasser und Verleger von Romanen ein jugendliches Publikum ansprechen,
dann bildet dieses häufig nur eine Adressatengruppe neben anderen, auch
wenn für die jungen Leute teilweise besondere Lehren gezogen werden. Häu-
fig werden aber auch Werke, die ursprünglich exklusive Erwachsenenlitera-
22 Mittelalter und frühe Neuzeit

tur darstellten, nur an ein Jugendpublikum adressiert; Änderungen sind auch


im Stofflichen nicht auszumachen. Dies betrifft insbesondere den immer
wieder gescholtenen spanischen Ritterroman Amadis (1508 im Original er-
schienen) und die 1587 im Buch der Liebe des Frankfurter Verlegers Feyera-
bend gesammelt vorgelegten Prosaromanhistorien wie z. B. Kaiser Oktavian,
Tristrant, Flore und Blancheflur, Melusine u. a. Schon die Adressierung des
Buchs der Liebe zeigt die Mode der Zeit, in ein breit gefächertes Publikum
auch die jungen Leute, besonders die Jungfrauen, mit aufzunehmen, soll es
doch »allen hohen Standts personen/ Ehrliebenden vom Adel/ züchtigen
Frauwen vnd Jungfrauwen/ Auch jederman in gemein so wol zu lesen lieblich
vnd kurtzweilig« sein.
Liebe als bevorzugtes Bevorzugtes Thema dieser auch an ein jugendliches Publikum adressierten
Thema Romane ist die Liebe in ihren ›ziemlichen‹ und ihren ›unordentlichen‹, ihren
›buhlerischen‹ Formen. Dies trifft auf so unterschiedliche Werke zu wie z. B.
die von Christoph Wirsung besorgte Übertragung des spanischen Dialogro-
mans Celestina (1520), die von Christian Pharemund übersetzte Historia
Von Aurelio vnd Jsabella des Juan von Flores (1630), die ganz unter erbau-
lichem Aspekt verfassten ›Idealromane‹ des Simplicissimus-Dichters Hans
Jakob Christoffel von Grimmelshausen (Dietwalts und Amelinden anmuthige
Lieb = und Leids=Beschreibung, 1670, und Des Durchleuchtigen Printzen
Proximi, und Seiner ohnvergleichlichen Lympidae Liebs = Geschicht = Erzeh-
lung, 1672) und die vor den »drey W«, nämlich »Weiber/ Wein und Würffel«
warnenden und ausschließlich an ein jugendliches Publikum gerichteten
›Studentenromane‹ (z. B. Michael Erich Frank: Die Galante und Liebens =
würdige Salinde, 1718; Georg Ernst Reinwald: Academien = und Stu-
denten = Spiegel, 1720; »Sylvanus«: Das verwöhnte Mutter = Söhngen/ Oder:
Polidors Gantz besonderer und Überaus lustiger Lebens = Lauff Auf Schulen
und Universitäten, 1728).
Die ›Spiegel‹funktion Die schon von Vives attackierte Formel, mit der die Adressierung auch
des Romans von Liebesromanen an ein jugendliches Publikum gerechtfertigt wurde, war
die des ›Spiegels‹, in dem die Jugend die Welt im Allgemeinen und die üblen
Folgen des Lasters im Besonderen erkennen könne. Die sittliche Besserung
erfolge im Roman ganz unvermerkt, sozusagen durch Täuschung in frommer
Absicht. Die Romane, so die stets vorgebrachte Nutzbehauptung, zeigten so
den Lauf der Welt und lehrten die Jugend, ihren Netzen und Stricken zu
entgehen. Ähnliche Rechtfertigungen finden sich auch in den meist satirischen
›Robinsonaden‹, die in den 20er Jahren des 18. Jh.s den Markt überschwem-
men und besonders an ein jugendliches Publikum gerichtet sind, mit dem
Defoe’schen Original jedoch meist nur die Titelanspielung gemeinsam haben
und ansonsten mehr in der Tradition des pikaresken Romans stehen (z. B.:
Der deutsche Robinson, 1722; Christian Stieff: Schlesischer Robinson, 1723/
24; Jungfer Robinsone, 1724; Madame Robunse mit ihrer Tochter, Jungfer
Robinsgen, 1724). Noch 1734 bedient sich der anonyme Übersetzer der ers-
ten deutschen »Jugendausgabe« des Don Quijote in nur leicht abgewandelter
Form dieser traditionell überlieferten Rechtfertigungsformel. Er erklärt in
seiner Vorrede Cervantes’ Werk zum »Muster eines sinnreichen Romans«,
der dazu diene, »in allerley Sachen einen guten Geschmack beyzubringen«
und lobt des Spaniers Verbindung der humorvollen Schilderung von Aben-
teuern mit den »feinsten Sitten-Lehren«. Besonders der heranwachsenden
Jugend könne dieser Roman nützliche erzieherische Dienste leisten, da nichts
»so geschickt sey, einen jungen Herrn vom Stande, der von Schulen und Uni-
versitäten komme, bey dem Eintritt in die grosse Welt, vorzubereiten, als das
Lesen guter Romane«; er soll den »in die Welt eintretenden jungen Personen
Erzählende Literatur 23

zeigen, was für Sitten sie annehmen, wie sie ihre Paßionen unterdrücken, [...]
wie sie reden, und sich aufführen müssen, damit sie weder unglücklich noch
lächerlich werden«. Bezeichnenderweise soll der erzieherische Auftrag des
Don Quijote auch einen Bereich einschließen, den nicht nur die geistlichen
Kritiker ganz aus der Jugendliteratur fernhalten wollten: den der Liebe. Es
sei, so der Übersetzer, »höchstnötig [...], daß junge Personen, insonderheit,
welche in der grossen Welt leben sollen, diese Paßion kennen und wohl beur-
teilen lernen, wenn solche tugendhaft, oder strafbar, ordentlich oder aus-
schweiffend, glücklich oder unglücklich sey, auch allen Nachstellungen und
Versuchungen zu begegnen geschickt gemacht werden«. Der Roman zeigt die
Welt so, wie sie tatsächlich ist; er liefert ein lehrhaftes Abbild der Realität,
und da der Jugendliche auf diese Realität hin erzogen werden und sich ihr
geschickt anzupassen lernen soll, erübrigt sich eine wie auch immer geartete
Adaption, sei es hinsichtlich der Stoffauswahl, der Sprache oder auch mora-
lischer Belange. Es gibt mithin keine substantiellen Unterschiede zwischen
dem Erwachsenen- und dem auch an Jugendliche gerichteten Roman.
Dieses Dilemma hatte zwei Entwicklungen zur Folge: Einerseits begüns- Der Publikumswechsel
tigte es das ›Wandern‹ eines häufiger gedruckten Romans zwischen verschie- eines ›Volksbuchs‹:
denen Adressatengruppen und führte dadurch zu mitunter gravierenden Pu- »Pontus und Sidonia«
blikumswechseln. Dies ist zum Beispiel der Fall bei einem Ritter Pontus oder
auch Pontus und Sidonia genannten Werk, das vermutlich der Chevalier de
Latour-Landry 1387 verfasste. 1485 kam es in einer deutschen Übersetzung
Eleonores, der Tochter König Jakobs I. von Schottland und Gattin Erzherzog
Sigmunds von Tirol und Vorderösterreich, auf den Markt und gehörte zu den
beliebtesten weltlichen Büchern im Deutschland des 16. und auch noch 17.
Jh.s. Dieser Ritterroman ist der haus- und sippengebundenen Literatur zuzu-

Geoffroy Chevalier de
Latour-Landry: Histori
von dem Ritter Ponto.
Straßburg 1539
24 Mittelalter und frühe Neuzeit

rechnen, ist es doch sein ursprüngliches Anliegen, die Verdienste der Familie
Latour-Landry zu verherrlichen. Sein Held Pontus verkörpert geradezu idea-
lisch einen jungen christlichen Ritter, der in sich Tugend, Frömmigkeit,
Schönheit und Bildung vereinigt und so das Vorbild für das angemessene
Verhalten eines Königssohnes abgibt. So bietet das Werk zugleich eine hö-
fisch-aristokratische Tugendlehre in Romanform. Auch Eleonore möchte mit
ihrer Übersetzung vornehmlich der männlichen Jugend bei Hofe eine unter-
haltsame Tugendunterweisung an die Hand geben; entsprechend heißt es in
dem langen Titel, das Werk sei »ein schöne historj« – und mit dieser Kenn-
zeichnung ist wiederum auf ›verbürgte‹, angeblich stattgehabte Begeben-
heiten rekurriert –, »daraus vnd dauon man vil guter schöner lere vnd vnter-
weisunge vnd geleichnuß mag nemen, vnd besunder die jungen so sy hören
vnd vernemen die guttat vnd groß ere vnd tugent so ir eltern vnd vordeen
gethan vnnd an in gahabtt haben«. In dem Maße, in dem später vor allem
besitzende bürgerliche Schichten das Kaufpublikum des Ritter Pontus bilden,
geht der Aspekt adeliger Tugendunterweisung verloren, kann doch der Ro-
man mit seinen überholten Standesidealen für die Gestaltung bürgerlicher
Lebenspraxis in keiner Weise mehr relevant sein. In den Vordergrund treten
nun die unterhaltenden Momente. Mit seinen Turnier- und Schlachtengemäl-
den und vor allem seiner Schilderung der durch Intrigen bedrohten, aber
schließlich siegreichen Liebe des unbezwingbaren Helden zur schönen Kö-
nigstochter Sidonia avanciert die exempelgebende Tugendunterweisung zur
spannenden Unterhaltungslektüre. Damit einher geht eine Umschichtung des
Lesepublikums: Ritter Pontus wird zur bevorzugten Lektüre eines weiblichen
Publikums. Als Liebesroman bleibt er bis zum Ende des 18. Jh.s populärer
Lesestoff, aber die ursprüngliche Adressierung an ein vornehmlich junges
Publikum geht dabei verloren.
Auf der anderen Seite hatte die Tatsache, dass zwischen dem Erwachse-
nen- und dem an die Jugend gerichteten Roman keine wesentlichen Unter-
schiede bestanden und beide – nicht nur von der Warte ihrer kirchlichen
Kritiker aus – in ihrer so weltlichen Orientierung mit dem Odium der vani-
tas, der Eitelkeit und Vergänglichkeit menschlichen Lebens, – mehr noch: der
Lüge – behaftet waren, zur Folge, dass Romanstoffe uminterpretiert, in einen
neuen Zusammenhang gestellt wurden und die so ihres ursprünglichen Zu-
sammenhangs entkleideten Werke als erlaubte, ja sinnvolle und nützliche
Lektüre gelten konnten. Dieses Verfahren führte im Extremfall zur völligen
Auflösung der Romanform, bei weniger rigiden Eingriffen zumindest zur
Umkehrung der Romanaussage.
Die Uminterpretation Als ein Beispiel dafür kann die französische Prosaromanhistorie vom Rit-
eines ›Volksbuchs‹: ter Peter mit den silbernen Schlüsseln gelten, die in einer Übersetzung Veit
»Magelona« Warbecks, eines mit einflussreichen Ämtern am Hofe Friedrichs des Weisen
bekleideten Lutheranhängers, und mit einem Vorwort des lutherischen Theo-
logen Georg Spalatin versehen, 1535 unter dem Titel Die Schön Magelona
im Druck erschien. Warbeck hatte die Übersetzung für seinen frischvermähl-
ten Schüler, den Kurprinzen Johann Friedrich, und dessen Gattin, Prinzessin
Sibylle von Jülich-Cleve, zur Zerstreuung während der Wintermonate
1527/28 verfertigt. Durch seine höfischen Motive und die Liebesthematik
war der Roman für das fürstliche Paar wie geschaffen, um sich mit seinen
Helden und dem von ihnen verkörperten Standesethos moralisch identifizie-
ren zu können. Zudem hielt er mit seiner Schilderung einer alle Konventionen
sprengenden Liebe, die zu selbstverschuldetem Unglück führt, für die Jung-
vermählten eine zentrale Lehre bereit: wie wichtig und notwendig die Kon-
trolle und Beherrschung der Affekte ist.
Erzählende Literatur 25

Die Schön Magelona.


Titelblatt mit Holzschnitt
von Hans Schäufelein.
Augsburg 1535

Eine ganz andere Stoßrichtung hat der von Spalatin besorgte Druck. Nicht
mehr Prinz Peter als das Muster ritterlicher Tapferkeit, Zucht und Ehre steht
hier im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern – wie schon der Titel signali-
siert – die Königstochter Magelona. Das »seer lustig vnnd lieblich büchlein«
wird von Spalatin allen Frauen und Jungfrauen zur Lektüre anempfohlen –
einem exklusiv weiblichen Lesepublikum mithin. Gleichzeitig wird die Ge-
schichte der Magelona pädagogischen Zwecken dienstbar gemacht, indem
sie Eltern als Handleitung der Mädchenerziehung und den Mädchen als war-
nendes Exempel empfohlen wird, das vierte Gebot zu befolgen. Beide, Eltern
und Kinder, sollen durch den so uminterpretierten Roman »verwarnt« wer-
26 Mittelalter und frühe Neuzeit

den: »Zu dem dienet diß büchlein auch dazu/ das die Eltern auch ein fleyssigs
aug vnd achtung auff die kinder/ beuor auff die töchter haben/ Dann die ju-
gend beuor ein meidlein ist fast [= sehr] fürwitzig/ vnd man erferet täglich an
vilen orten vil vnrats wann man vbel zusiehet/ Wie dann diß büchlein mit der
schönen Magelona auch fein anzeigt/ Dann wiewol es ye rain vnnd züchtig
gehet/ so würt die doch dennoch entfüret/ vnnd folget dem Ritter mit den
silberin schlüsseln in Gottes/ vnnd jrer eltern vngehorsam wider das vierdte
gepott Gottes/ wölchs dann sehr fehrlich ist/ Gerät auch selten wol wa also
zwey leut zusamen kommen/ So sind die eltern auch vor Gott nicht entschul-
digt/ jrer vnachtsamkeyt/ das also billich beide Eltern vnd kinder durch dise
schrifft verwarnet sein sollen.« – Die Liebesthematik dient hier nicht mehr
der Identifikation eines jungen höfischen Publikums, sondern wird im Ge-
genteil negativ umgedeutet: Spalatin unterstellt der Jugend und vor allem
den jungen Mädchen einen ausgeprägten Hang zum »Fürwitz«, d. h. zur
Sinnlichkeit und Leidenschaft, und als Beispiel eines solchen Mädchens, das
seiner Leidenschaft freien Lauf lässt, darüber ins Unglück stürzt und wider
Gottes Gebot handelt, wird Kindern und Eltern zur Warnung Magelona
vorgeführt. Die Geschichte wird zu einem Negativexempel umgedeutet, und
aus einem Beispiel für nachzueiferndem Tugendadel wird ein auf Warnung
und Abschreckung hin angelegter Modellfall kindlichen Ungehorsams. Der
Roman ist so durch Spalatins Rezeptionsvorgaben in seiner als heikel emp-
fundenen Dimension entschärft und kann nunmehr als unbedenkliche, ja
pädagogisch nützliche Jugendlektüre passieren.
Belehrende Auslegung Versucht Spalatin, durch eine ›Leseanleitung‹ die Aufmerksamkeit seines
im ›Volksbuch‹ vom jugendlichen Lesepublikums in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken,
Doktor Faust so bedienen sich andere Autoren der belehrenden Auslegung des Erzählten.
Ein Beispiel dafür ist die von dem Theologen Georg Rudolf Widmann be-
sorgte, zuerst 1599 erschienene und mit zwanzig Auflagen doch recht erfolg-
reiche Bearbeitung des ›Volksbuchs‹ vom Doktor Faust: Wahrhaftige Histo-
rien von den grewlichen und abschewlichen Sünden und Lastern, auch von
vielen wunderbarlichen und zeltzamm Abentheuren, so Dr. Johannes Faus-
tus, ein weitberuffener Schwartzkünstler und Ertzzauberer hat getrieben.
Ziel der vor allem aus der protestantisch-orthodoxen ›Teufelliteratur‹ des 16.
Jh.s und den Luther’schen Tischreden schöpfenden Bearbeitung ist es, die
»liebe jugendt« vor den Nachstellungen und Stricken des als allgegenwärtig
beschriebenen Teufels zu warnen, so dass sie sich vor dessen Anschlägen
vorzusehen und zu hüten wisse. Zu diesem Zweck ist jedem Kapitel eine
ausführliche »Erinnerung« beigegeben, in der jeweils, autoritativ abgesichert
durch eine Vielzahl von mehr oder weniger passenden Bibelstellen und
Sprichwörtern, zahlreiche, hauptsächlich religiöse, Lehren gezogen und mo-
ralische Ermahnungen aller Art zum Besten gegeben werden – und dies in
einem Umfang, der die eigentlichen Erzählteile bei weitem übersteigt. Die –
Der selen trost. Holz- häufig mit Sottisen gegen die römische Kirche gespickte – Punkt-für-Punkt-
schnittillustration zum Auslegung, die sich von Kapitel zu Kapitel fortsetzt und das Volksbuch zu
4. Gebot. Augsburg 1478 einem voluminösen Werk von fast siebenhundert Seiten Länge aufschwemmt,
ist ganz in Anlehnung an den zeitgenössischen lutherisch-orthodoxen Pre-
digtstil gehalten und betont gerade durch diesen Zusammenhang seine er-
bauliche Qualität und seine Eignung besonders für ein jugendliches Lese-
publikum.
Der ritterliche Held Während Widmanns Wahrhaftige Historien den »Ertzzauberer« Faustus
als Vorbild und dessen schreckliches Ende dem Publikum »zur Lehr vnd Warnung«, so
der Untertitel, vorführen und auch die Magelona in der spalatinschen Aus-
gabe zu einer Warn- und Abschreckgeschichte umgedeutet wird, gilt der Rit-
Erzählende Literatur 27

ter Pontus geradezu als nachzuahmendes Ideal eines vorbildlichen christli-


chen Ritters. Den ritterlichen Helden als Vorbild empfiehlt schon 1215 Tho-
masin von Zerklaere in seinem Lehrgedicht Der welhisch gast. König Artus
und die Ritter der Tafelrunde, König Karl, Alexander und Tristan legt er ne-
ben anderen den Knaben und Jünglingen bei Hofe zur Nacheiferung ans
Herz. Besonders diese Vorbildfiguren sind es, die nach der Auffassung der
Zeit der Jugend den Weg zu höfischer Vollkommenheit und zur Beherrschung
ritterlicher Tugenden weisen können, zur diemüete (= Demut als Dank gegen
Gott, Mitleid und Barmherzigkeit gegenüber den Menschen), zur mâze (=
kluge Mäßigung und Besonnenheit), zur stæte (= Beständigkeit), zur triuwe
(= Einhalten sittlicher Verpflichtungen, Gefolgschaftstreue gegenüber dem
Lehnsherren), zur manheit (= kriegerische Tapferkeit), zur êre (= Standesehre)
und zur hövescheit (= höfische Erziehung, höfisches Wesen, höfische Tugend).
Gleichwohl ist die Vorbildwirkung der ritterlichen Helden der höfischen
Epen, später auch der Prosaromanhistorien, keineswegs unumstritten. Schon
um 1350 warnt der Seelentrost, dessen erste Druckfassung aus dem Jahre »Seelentrost«
1474 datiert, vor dem Lesen weltlicher Bücher wie Parzival, Tristan und
Dietrich von Bern, da diese Helden der Welt, nicht aber Gott gedient hätten.
Diese Bücher böten der Seele keine Nahrung und keinen Trost. Der »sele
troist leghet an hilger lere«, heißt es daher zu Eingang des Werks, »unde an
betrachtunge der hilgen scrift. Wenter likerwis als der lychnam [= Leib] leuet
van erdescher spise, also leuet de sele van hilger lere«. Um die Leser von der
Lektüre weltlicher Bücher abzuziehen, will der unbekannte Verfasser des
Seelentrosts angenehme Lektüre anderer Art bieten. Aus diesem Grund legt
er ein erbaulich-belehrendes und zugleich unterhaltendes Exempelbuch über
die Zehn Gebote vor. Unter einem ›Exempel‹ sind im Seelentrost so unter-
schiedliche Formen wie Erzählungen und Beschreibungen, biblische Histo-
rien, Beispiel- und Abenteuergeschichten, Legenden und Sagen, kurze Pre-
digtexempel, aber auch schwankhafte Erzählungen zu verstehen, die jedoch
alle einer gemeinsamen Leitlinie folgen: Sie wollen jeweils eine religiöse oder
sittliche Lehre verdeutlichen und sind in ihrer Nutzanwendung auf den Leser
bezogen. Der erbauliche Charakter der Sammlung wird durch Reimgebete
und religiöse Betrachtungen unterstrichen.
Eingekleidet ist der Seelentrost in die traditionelle Form des Lehrgesprächs Lehrgespräch zwischen
zwischen Vater und Sohn. »Vader leue ich bydden vch durch got leret wylch Vater und Sohn
ys dar vyerde gebot«, bittet etwa der Sohn, und der Vater antwortet: »Kynt
leyue/ dat wylich geren leren dych.« Häufig mahnt der Vater nach einem
Exempel: »Kynt leue dat lays dir eyn lere wesen«. Trotz seiner belehrenden
Züge spielt der Seelentrost aber auch unterhaltende Momente aus – manch-
mal in einem Maß, dass die erzählerischen Elemente die Didaxe ganz in den
Hintergrund drängen und der Zusammenhang zwischen Gebot und Exempel
nur noch schwer auszumachen ist. Vor allem die abenteuerlichen Elemente
– Flucht vor Feinden, Kämpfe, Irrfahrten oder Schiffbrüche – werden breit
ausgeschmückt, so dass auch hier das Bestreben des Verfassers, einen Ersatz
für die Lektüre weltlicher Bücher zu schaffen, offen zu Tage tritt. Der See-
lentrost ist sicherlich nicht, wie bisweilen behauptet, als exklusive Kinder-
schrift anzusehen. Er richtet sich vielmehr an Laien, die des Lesens kundig
sind. Dass er in besonderem Maße aber ein jugendliches Publikum anspre-
chen will, zeigt nicht nur die vergleichsweise stark dimensionierte Exempel-
reihe zum vierten Gebot, eingeschlossen von Gebeten und Messerklärungen,
sondern auch die Tatsache, dass in einzelnen Exempeln – entgegen den Vor-
lagen – Kinder zu Handlungsträgern gemacht werden und im Prolog der
zwölfjährige Jesus im Tempel als nachzuahmendes Vorbild hingestellt wird.
28 Mittelalter und frühe Neuzeit

Erbauliches und Etwas später als der Seelentrost, um 1371/72, entstand ein französisches
Unterhaltendes für Pendant zu diesem Werk, der besonders in Deutschland erfolgreiche, bereits
Mädchen: »Der Ritter erwähnte Ritter vom Turn von Geoffroy Chevalier de Latour-Landry. Auch
vom Turn« der Ritter vom Turn ist ein zur Unterweisung, Erbauung und Unterhaltung
abgefasstes Exempelbuch, das den herkömmlichen Zeitvertreib ersetzen will.
Anders als der Seelentrost, der dem Typus der Exempelsammlungen nach
logischer Ordnung zuzurechnen ist, stellt der Ritter vom Turn jedoch eine
eher locker aneinandergereihte Sammlung teils lose miteinander verbunde-
ner, teils thematisch nebeneinander stehender Exempel dar: Unterweisungen
und Vorschriften zu Sitte, Anstand, äußerlichem Betragen, innerer Haltung
und religiösen Pflichten wechseln mit Anekdoten aus der Bibel, Beispielen
aus der Geschichte sowie Exempeln aus den Volkserzählungen, den sog. Fab-
liaux und Contes, und aus der Predigtliteratur. Ganz wesentlich schöpft das
im zeitgenössischen Kanzelrednerstil vorgetragene Werk dabei aus der fran-
ziskanischen Exempelsammlung Miroir des bonnes femmes (»Spiegel der
guten Frauen«) aus der zweiten Hälfte des 13. Jh.s. Ein anderer wesentlicher
Unterschied zum Seelentrost besteht im Adressatenbezug des Ritters vom
Turn: Er ist exklusiv für ein jugendliches Publikum bestimmt – für Mäd-
chen.
Die Jungfrau Maria Ist der Seelentrost als Lehrgespräch gestaltet, so bedient sich der Ritter
als Verkörperung vom Turn der zweiten großen Form der didaktischen Literatur der Zeit: des
weiblicher Tugenden Rates, der hier in der Form des väterlichen Vermächtnisses auftritt. Latour-
Landry will seinen Töchtern Unterricht geben »von den gutteten wysen vnnd
geberden«, damit sie sich »jn steter guter übung vnd zymlichem wesen« hal-
ten könnten. Hauptsächlich vermittelt er seine Lehren durch die Beispiele
›böser‹ und ›guter‹ Frauen. Streng getadelt werden Hochmut, Neid, Hab-
sucht, Zorn, Ungehorsam gegen den Ehegatten, die Verspottung des Ehe-
manns, Eifersucht in der Ehe, Streitsucht, mangelnde Verschwiegenheit,
unziemliche Bitten und Betrug, Schmeichelei, Übereilung, Naschhaftigkeit,
modische Putzsucht, kokette Zurschaustellung des Körpers, sexuelle Aus-
schweifungen sowie insbesondere Buhlerei und Unzucht in der Kirche; als
erstrebenswert gelten Keuschheit, Schamhaftigkeit, Mäßigung, Bescheiden-
heit und Zucht im äußeren Auftreten, Zurückhaltung bei Gesellschaften,
Sanftmut, häusliche Eingezogenheit, Schweigsamkeit, Güte, Nachgiebigkeit,
Unterordnung unter den Willen des Mannes, aufopferungsvolle Gatten- und
Kindesliebe, sich in guten Werken erweisende Frömmigkeit sowie Ausharren
und Gottvertrauen in Krankheit und Not. Das von Latour-Landry propa-
gierte, bereits konventionelle Frauenideal findet seine Symbolgestalt in der
Heiligen Jungfrau als der vollkommenen Verkörperung von Glauben, Demut,
Gehorsam, Dankbarkeit, Besinnlichkeit, Klugheit, Milde, Einfachheit und
Reinheit; ihr Gegenpol ist – auch dies ganz traditionell – die Figur der sündi-
gen Eva. Mit dem steten Hinweis auf die Verursacherrolle Evas beim Sün-
denfall der ersten Eltern entwickelt Latour-Landry den Mädchen seine Vor-
stellungen über ihre künftige Rolle als Ehefrau: Die Frau bedarf danach der
steten Führung und Anleitung des Mannes, ohne dessen Rat und lenkende
Hilfestellung sie unweigerlich auf den falschen Pfad geriete. Die Frau schul-
det ihrem Ehemann aber nicht nur absoluten Gehorsam, sondern sie soll
seinem Begehren auch willig und freudig, d. h. unter Zurückstellung eigener
Vorstellungen und Wünsche nachkommen; sie soll sich vollständig mit dem
von ihr Erwarteten und Gewünschten identifizieren, um eine größtmögliche
Harmonie und Eintracht unter den Eheleuten zu ermöglichen, deren Zustan-
dekommen sie durch Sanftmut, Hingabe und ihre Auslieferung an den Willen
des Gatten zu bewerkstelligen verpflichtet ist. Das bewusste Brechen des Ei-
Erzählende Literatur 29

genwillens ist die Bedingung aber nicht nur für das gedeihliche Zusammenle-
ben der Eheleute, sondern letzten Endes auch die Voraussetzung für die Frau,
vor Gott Gnade zu erlangen.
1536 erschien der Ritter vom Turn in einer völlig veränderten Gestalt auf Die protestantische
dem Markt, die ein treffendes Beispiel für den Funktionswandel ist, dem zu Bearbeitung des
dieser Zeit zahlreiche Werke unterliegen. Sein neuer Titel lautet: Der Ritter »Ritters vom Turn«:
vom Thurn/ Zuchtmeister der Weiber vnd Junckfrawen. Anweisung der Eine Historienbibel
Junckfrawen vnd Frawen/ weß sich eyn jede in jrem standt/ gegen jderman in für das weibliche
dieser arglistigen welt/ mit geberden/ sitten vnd worten/ halten sol/ Auß bei- Geschlecht
den Testamenten/ Altem vnd Neuwem/ historien/ von frummen vnd bösen
Weibern hierin/ zusammen gesetzt/ die bösen zufliehen/ vnnd die guten zu
eym Ebenbildt anzunemmen. Der protestantische Bearbeiter, der an Latour-
Landrys Werk vor allem die Vermengung biblischer Historien mit weltlichen
Erzählungen und die Ausstaffierung des Ganzen mit »so vil faule[n] fablen
von der menschen vasten vnd betten« kritisiert, hat die pointierten – von
Latour-Landry häufig für seine Zwecke zurechtgebogenen – biblischen Ex-
empel durch einen ausführlichen Vortrag des entsprechenden Bibeltextes er-
setzt, die Historien z. T. zu thematischen Gruppen zusammengestellt, zusätz-
liche biblische Geschichten sowie Anekdoten vor allem aus den Gesta Roma-
norum (»Taten der Römer«) eingefügt, einer gegen Ende des 13. oder Anfang
des 14. Jh.s verfassten und als volkstümliches Lesebuch beliebten Sammlung
von Sagen, Anekdoten, Fabeln und Märchen aus der römischen Geschichte
und aus mittelalterlichen Legenden; zudem hat er alles beseitigt, was auch
nur entfernt an katholische Lehren oder Frömmigkeitsübungen erinnern
könnte. Herausgekommen ist dabei eine konfessionelle Tendenzarbeit im
protestantisch-polemischen Sinn, die, so der Bearbeiter, wie die Bibel ohne
jeden Anstoß zu lesen sei. Da in der Bearbeitung häufig der Begründungszu-
sammenhang verloren geht, warum eine biblische Geschichte überhaupt er-
zählt wird, andererseits auch keine besonderen Erkenntnisabsichten oder
Nutzanwendungen mehr formuliert werden, stellt der ›protestantische‹ Ritter
vom Thurn kein Exempelbuch mehr im eigentlichen Sinne dar, sondern eine
auf ein weibliches Publikum zugeschnittene Historienbibel, in der, ergänzt
um einige weltliche Texte, jene Geschichten versammelt sind, die über die
von einer Frau zu beobachtenden Tugenden, zu vermeidenden Laster und
auszubildenden Charaktereigenschaften Auskunft geben und in ihrer Zu-
sammenstellung als Handleitung für die im praktischen Leben des Mädchens
und der Ehefrau zu meisternden Situationen richtungweisend sein können.
In dieser neuen Funktion als Historienbibel und Hausbuch der evangelischen
Hausmutter und ihrer Tochter konnte das Werk noch lange Zeit Wirksam-
keit entfalten. In der Tat folgen alle Drucke bis weit über das nächste Jahr-
hundert hinaus dieser Bearbeitung, die es verstand, das herkömmliche, schon
in den Paulinischen Briefen formulierte, von Latour-Landry noch einmal be-
schworene und dem androzentrisch-patriarchalischen Verständnis Luthers
so nahestehende Frauenbild mit der Einhaltung des ›Schriftprinzips‹ zu ver-
binden, und dadurch eine im protestantischen Sinne ›nützliche‹ Lektüre für
das weibliche Geschlecht darstellen konnte. So betonen denn auch die Verle-
ger in ihren Titelformulierungen und Vorworten immer wieder die Nützlich-
keit des Werks für Frauen und Jungfrauen, denen damit eine Alternative zur
Lektüre närrischer und unzüchtiger Schriften – der Frankfurter Verleger Da-
vid Zöpfel versteht darunter in seiner Ausgabe von 1560 ausdrücklich auch
die erwähnte Geschichte von Pontus und Sidonia! – geboten werde.
Ein in der Substanz ähnliches Frauenbild wie der Ritter vom Turn entwi-
ckelt der zwischen 1518 und 1521 vor allem wohl für adelige Mädchen ge-
30 Mittelalter und frühe Neuzeit

»Frau Tugendreich«: schriebene Mädchen- und Frauenspiegel Fraw Dugentreich (»Frau Tugend-
die erste durchgängige reich«), eine im Spannungsfeld der Gattungen Zeitroman, Liebesgeschichte
Prosaerzählung für und Erziehungstraktat stehende – nicht vollständig und nur in einer Hand-
Mädchen und Frauen schrift überlieferte – Prosaerzählung aus der Zeit Kaiser Maximilians. Der
ungenannte (schwäbische?) Verfasser hat sich vorgenommen »zu beschrey-
ben das leben vnnd wesen ainer frommen vnnd wolgebornen frawen, deren
nam gott der allmechtig wol wayßt« und der in der Erzählung der Name
Tugendreich beigegeben werden soll: »Das will ich geben zu ainer vnderwey-
sung allenn frawen vnnd junckfrawenn vnnd will jnenn setzen das leben
vnnd wesen Dugenttreich mit gutter hoffnung, sy söllendt das buch durch
kurtz weyl lesen vnnd hören lesen, dar jnn vil gutter ebenbild nemmen, dar
mit vil langer weyl vertreyben.« Das Buch selbst wird zum Schluss der Frau
Tugendreich überantwortet und ihr zur Erziehung ihrer beiden Töchter, »der
jaren jung vnnd noch kind sennd«, empfohlen, damit die Mutter es »jnenn,
so es zeyt wirtt, mit sampt ir guttenn zuchtt vnd lerr wol geben vnnd vnder-
weysen wirt«. Frau Tugendreich erzählt im Hauptteil die Geschichte einer
überaus schönen, frommen und gebildeten Grafentochter, die wegen ihrer
großen Tugenden an den Hof Kaiser Maximilians geholt wird, wo sie von
zwei jungen Adligen, Glückwart und Fridfrey, umworben wird. Obwohl Tu-
gendreich sich sehr bedeckt hält – sie zieht, gegen den Willen ihres Vaters, die
Einsamkeit der Klosterzelle dem ehelichen Leben vor –, überreicht sie bei
einem Hoffest dem im Duell über Glückwart siegreichen Fridfrey den Kranz.
Als Kaiser Maximilian zum Feldzug gegen Julius II. und die venezianische
Republik rüsten muss – eine historisch nicht ganz einwandfreie Anspielung
auf den Austritt des Roverepapstes aus der Liga von Cambrai im Frühjahr
1510 –, verspricht er Fridfrey, ihm bei der Rückkehr Tugendreich zur Frau zu
geben. Während Glückwart bei dem Feldzug sein Leben lassen muss, bewährt
sich Fridfrey bei der Eroberung der venezianischen Bastion Padua. Tugend-
reich ist inzwischen jedoch bereits gegen ihren Willen von ihrem Vater, der
einer Verehelichung seiner Tochter mit dem wenig begüterten Fridfrey zuvor-
kommen wollte, mit dem Sohn eines groben, wenngleich reichen alten Ritters
verheiratet worden; wie der Vater ist auch er hässlich, ungebildet und von
bäurischem Wesen, ja »grob vnnd thirannisch«. Das weitere Schicksal Tu-
gendreichs bleibt durch den Blattverlust des Manuskripts unklar. Die Über-
schrift zum letzten Kapitel »Wie der breyttiger zu der schönen Tugentreych
kam. etc.« und der erhaltene Schluss – Tugendreich lebt an der Seite ihres
Ehemanns noch lange in Ehre und Frieden – legen jedoch die Vermutung
nahe, dass sie nach dem vorzeitigen Tod ihres ungeliebten ersten Mannes
doch noch Fridfrey (?) zum Gatten bekommt.
Bemerkenswert an Frau Tugendreich sind nicht nur die erstmalige Aus-
richtung des Erzählgeschehens an der unmittelbaren Gegenwart (detaillierte
Schilderungen des Lebens am Hofe Maximilians, Darstellung der Stadt, Be-
schreibung des Kriegsverlaufs), die auf die Werke Maximilians I. (Teuerdank,
Weißkunig) verweisende Schlüsselromanfiktion und die auf eine Zentralfigur
hin konzipierte Erzählstruktur – das Werk stellt damit im deutschen Raum
die erste durchgängige Prosaerzählung für Mädchen und Frauen dar –, son-
dern auch die Einkleidung der Liebes- und Werbungserzählung in ein Streit-
»querelles des femmes« gespräch im Stil der mittelalterlichen querelles des femmes, in denen Frauen-
schelte und Frauenverteidigung miteinander konkurrieren. In dem von einer
teilweise komischen Rollenumkehr bestimmten Meister-Schüler-Gespräch
steht dem höfischen Lobspruch der Frau, vorgetragen von dem noch jungen
Erzähler, die frauenfeindliche Position eines erfahrenen »magysters« gegenü-
ber, der noch einmal die sich im Zentralbild der »sündigen Eva« manifestie-
Erzählende Literatur 31

renden negativen, schon aus Latour-Landrys Werk bekannten Charakterei-


genschaften der Frau Revue passieren lässt. Ihm hält der Erzähler das Beispiel
der Heiligen Jungfrau und eben jenes der Frau Tugendreich entgegen, so dass
der »magyster« zum Schluss des Werkes eingestehen muss: »Du hast mich
vberwunden.« Doch nicht die Frage nach Wert oder Unwert der Frau steht »Frau Tugendreich« als
im Mittelpunkt des Gesprächs, sondern die Diskussion darüber, ob und wie weiblicher Idealtypus
viele gute Frauen eigentlich noch lebten; als Beispiel einer solchen guten Frau
der Gegenwart führt der Erzähler »Frau Tugendreich« ein, denn sie ist für
ihn »die aller hibschest, vernünfftigest, baß kündest vnnd ain frommen fraw,
die da lebt vnnder allem weyblichen geschlecht«. Darüber hinaus ist sie
züchtig und ehrbar im Auftreten, ernst und zurückhaltend, selbstbeherrscht,
bescheiden und schweigsam, immer aber auch umgänglich, fröhlich und
heiter und mitfühlend. Selbstzucht, Affektbeherrschung, Gehorsam, Geduld
im Ertragen auch eines widrigen Schicksals, personifiziert im tyrannischen
und hässlichen Gatten, und Entsagung gereichen ihr zur größten Zierde. Sie
ist damit als ein positiv verstandener Gegenentwurf zu der von der Liebe
existentiell ergriffenen und darüber zur Ehebrecherin werdenden Lukrezia in
Enea Silvio Piccolominis Renaissancenovelle De duobus amantibus Historia
(»Geschichte zweier Liebender«, auch: De Eurialo et Lucretia, 1444) zu
deuten, die der Eßlinger Stadtschreiber und Schulman Niclas von Wyle zu-
erst 1462 in seinen Translationen (auch: Translatzen) dem deutschen Publi-
kum bekannt machte. Die Figur der schließlich an Liebesschmerz sterbenden
Lukrezia will Wyle als abschreckendes Exempel verstanden wissen, das er
empfiehlt »zur Warnung Jungen lüten« vor dem »getranck der liebe, das ferr
vnd wyt mer aloes vnd bitterkait in im hat dann honges [= Honig] oder
süsse«.
Nahezu identische Ziele verfolgt Jörg Wickram in seinem meist Gabriotto Jörg Wickram:
und Reinhard genannten Ritterroman Ein schöne vnd doch klägliche His- »Gabriotto und
tory/ von dem sorglichen anfang vnd erschrocklichen vßgang der brinnenden Reinhard«
liebe/ Namlich vier Personen betreffen/ zwen Edle Jüngling von Pariß/ vnd
zwo schöner junckfrawen vß Engelandt/ eine des Künigs schwester/ die ander
eins Graffen Tochter aus dem Jahr 1551, dessen Untertitel deutlich die Wir-
kungsabsicht umreißt: »Allen junckfrawen ein gute warnung fast [= sehr]
kurztweilig zu lesen.« Nicht umsonst wird das Werk noch in einer um 1680
erscheinenden Ausgabe Der unbesonnenen Jugend Artzney=Spiegel genannt.
In siebzig kurzen Kapiteln erzählt Wickram die tragische Liebesgeschichte
der beiden Freunde Gabriotto und Reinhard sowie der Königsschwester
Philomena und ihrer Dame Rosamunda. Von Intriganten verraten und dem
Ränkespiel bei Hofe ausgesetzt, scheitert ihre Liebe schließlich an den im
Leben unüberwindbaren Standesschranken: Gabriotto entkommt einem
Mordanschlag des Königs, stirbt aber im fernen Portugal an Liebesschmerz.
Philomena kann den Tod des Geliebten, Reinhard den des Freundes nicht
verwinden, und beide folgen Gabriotto ins Grab, Rosamunda stirbt aus
Kummer über den Tod Reinhards. Erst durch die gemeinsame Bestattung
werden die Geliebten und Freunde vereint. Die Prosaromanhistorie, deren
Handlung immer wieder durch Monologe, lange Gespräche und Briefeinla-
gen unterbrochen wird, soll junge Mädchen vor den Gefahren frühzeitiger
Liebesabenteuer warnen, davor, sich mit nicht zu kontrollierenden Gefühlen
dem Sog der »brinnenden liebe« hinzugeben. Insbesondere werden sie be-
lehrt, dass es sich für Mädchen nicht schicke, einem Jüngling von sich aus die
Liebe zu offenbaren, wie dies Philomena und Rosamunda im Roman tun
und damit letzten Endes nicht nur ihr eigenes tragisches Ende heraufbe-
schwören.
32 Mittelalter und frühe Neuzeit

Der Autor des Werks, Jörg Wickram, wurde um 1505 in Colmar geboren,
wo er zunächst wohl als Handwerker, dann als Gerichtsschreiber und Rats-
diener tätig war und 1549 eine Meistersingerschule begründete. 1555 wurde
der Protestant in Burgheim Stadtschreiber und starb dort vor 1562. Wick-
ram, der sich auch als Dramatiker einen Namen machte (Die zehen Alter
nach gemainem Lauff der Welt, 1531; Ein schönes vnd Euangelisch Spil von
dem verlornen Sun, 1540; Ein schön vnd nutzlichs Biblischs Spil von dem
heyligen vnd gottsförchtigen Tobia, 1551 – sie alle zumindest unter anderem
auch an die Jugend gerichtet) und Verfasser der auch heute noch immer wie-
der aufgelegten Schwanksammlung Das Rollwagenbüchlin (1555) ist, gilt als
Begründer des deutschen Prosaromans, und mit seinen an die Jugend gerich-
teten Werken ist er sicherlich der bedeutendste Erzähler, den die deutsche
Kinder- und Jugendliteratur bis gegen Ende des 18. Jh.s hervorbringt.
»Der Goldtfaden« Wickrams Prosawerke spielen in der Mehrzahl, wie Gabriotto und Rein-
hard und bereits früher die »History« vom Ritter Galmy vß Schottland
(1539), zumindest überwiegend im höfischen Milieu, zwei andere sind dage-
gen ganz auf das bürgerliche Leben zugeschnitten. Zur ersten Gruppe zu
rechnen ist noch Der Goldtfaden. Ein schöne liebliche vnd kurtzweilige His-
tori von eines armen hirten son/ Lewfrid genant/ welcher auß seinem flei-
ßigen studieren/ vnderdienstbarkeyt/ vnd Ritterlichen thaten eines Grauen
Tochter vberkam/ allen jungen knaben sich der tugendt zubefleissen fast [=
sehr] dienstlich zu lesen (1557). Erzählt wird die Geschichte des Hirtensohnes
Lewfrid, der, in einer Kaufmannsfamilie gut erzogen, als Küchenjunge in den
Dienst des Grafen von Merida tritt und durch seine Begabung rasch am Hofe
Karriere macht. Als seine Liebe zur Grafentochter Angliana ruchbar wird,
trachtet ihm deren Vater nach dem Leben. Lewfrid verlässt den Hof, tritt in
den Dienst des Königs, bewährt sich durch seine Tapferkeit im Kriege, wird
zum Ritter geschlagen, rettet schließlich noch dem Vater Anglianas, der das
Opfer eines Raubüberfalls wird, das Leben und erringt so, bewährt durch
Können und Tapferkeit, die Hand der Geliebten. In den Text eingestreute
Belehrungen und moralische Reflexionen empfehlen den jungen Lesern Ge-
horsam gegen die Eltern, Ehrfurcht vor ihnen, Freundestreue und Beschei-
denheit, Güte und Hilfsbereitschaft gegen Arme und Gottesfurcht. Zu den im
bürgerlichen Milieu angesiedelten Werken zählt der Prosaroman Von guten
vnd bösen Nachbaurn (1556), der von den Schicksalen einer erst in Antwer-
pen, später in Lissabon ansässigen Kaufmannsfamilie berichtet. Anknüpfend
an die verschiedenen Ereignisse, die das Abenteuerliche betonen und Span-
nungsmomente (u. a. Mordanschläge, Verkauf in die Sklaverei, Raubüberfall)
in den Vordergrund spielen, werden die jungen Leser ermahnt, den Eltern
und Lehrherren gehorsam zu sein, sich vor allem auf Reisen vor schlechter
Gesellschaft zu hüten, bescheiden zu sein, die Zunge im Zaum zu halten, sich
Bediensteten gegenüber höflich zu verhalten usw.
»Der Jungen Knaben Anders als etwa dem beliebten Goldtfaden, den 1809 noch Clemens Bren-
Spiegel« tano bearbeitete, war dem Nachbaurn-Roman mit nur einer weiteren Auflage
kein Erfolg beschieden. Bekannter, auch bedeutender ist der zwei Jahre zuvor
(1554) erschienene andere ›bürgerliche‹ Prosaroman Wickrams, ein von dem
zentralen reformatorischen Thema des verlorenen Sohnes ausgehender Erzie-
hungsroman in der Form einer didaktischen Beispielerzählung mit dem Titel
Der Jungen Knaben Spiegel. Ein schön Kurztwyligs Büchlein/ Von zweyen
Jungen Knaben/ Einer eines Ritters/ Der ander eines bauwren Son/ würt in
diesen beiden fürgebildt/ was grossen nutz das studieren/ gehorsamkeit gegen
Vatter und Muter/ schul und lermeistern bringet/ Hergegen auch was grosser
geferligkeit auß dem widerspyl erwachsen/ die Jugent darin zu lernen/ und zu
Erzählende Literatur 33

einer warnung für zuspieglen. Das Werk will, wie bereits der Titel andeutet,
unterhalten und vor allem anhand kontrastierender Exempel sittlich-mora-
lisch belehren und die jungen Leser vom Nutzen von Fleiß und Gehorsam
überzeugen, sie vor dem Gegenteil und seinen schlimmen Folgen warnen und
sie bewegen, dem positiven Beispiel nachzueifern. Erzählt wird die Geschichte
des adeligen Wilbald, der unter dem Einfluss des bösen Metzgersohns Lota-
rius, der schließlich am Galgen endet, auf die falsche Bahn gerät, verarmt, ins
Elend sinkt und schließlich, veranlasst durch seinen bürgerlichen Ziehbruder
Fridbert, dessen Fleiß durch Betreuung mit höchsten Ämtern belohnt worden
ist, reumütig nach Hause zurückkehrt, wo er – der Aufsicht Fridberts unter-
stellt – durch anhaltenden Fleiß und innere Umkehr die Gunst des preu-
ßischen Hochmeisters erringt. Dieser verheiratet ihn schließlich mit einer
reichen, adelig geborenen Kaufmannswitwe und ernennt ihn zu einem »ob-
risten Hoffmeister des gantzen hoffs zu Preüssen«. Am Beispiel Wilbalds und Soziale Mobilität
seiner positiven Antipoden Fridbert und Felix, des jungen Erziehers der bei- und bürgerliches
den Ziehbrüder, verdeutlicht Wickram, dass nicht Geburt und Stand eines Aufstiegsdenken
Menschen entscheidend sind, sondern die eigene Tüchtigkeit und die Leis-
tung, die er als nützliches Glied der Gesellschaft erbringt. Die Monopolstel-
lung des Geblütsadels verliert dadurch ihre Gültigkeit, gefordert ist vielmehr
soziale Mobilität, gestützt auf das Recht des Einzelnen, seinen Platz im ge-
sellschaftlichen Gefüge aufgrund eigener Anlagen und Neigungen und seiner
sich in Leistung und Erfolg manifestierenden gesellschaftlichen Nützlichkeit
selbst zu finden. Grundbedingung des sozialen Aufstiegs des Bürgerlichen ist
der Erwerb umfangreichen Wissens, das erst den Weg zu Ämtern und Ehren
öffnet, wie der junge »Pedagoge« Felix den kleinen Fridbert belehrt: »ge-
denck was dir nutz sey/ vnd hang nit böser geselschaft nach/ biß in deiner
lernung geflissen/ so magstu noch zu hohem stand kummen/ on angesehen
deiner nidrigen geburt.« Der soziale Aufstieg setzt jedoch nicht nur Leistung
und Erfolg des Bürgerlichen voraus, sondern auch seine Bereitschaft, die
überlieferte ständische Ordnung anzuerkennen und sich ihr widerspruchslos
einzupassen. Wie grundlegend Arrangement und Anpassung sind, wird im
Knaben Spiegel deutlich an den Konvenienzehen, die Fridbert und Felix auf
Veranlassung ihres Herrn einzugehen haben.
In vielem ist Wickrams Erzählkunst früheren Vorbildern verpflichtet. Am
deutlichsten tritt dies wohl in einem Exempelbuch zutage, das er – in Anleh-
nung übrigens an den Ritter vom Turn – für die Söhne eines Colmarer Stadt-
meisters schrieb und 1556 veröffentlichte: Die Siben Hauptlaster/ sampt jren »Die Siben
schönen früchten vnnd eygenschafften. EJn schönes vnd kurztweiliges Hauptlaster«
Büchlin/ Jnn welchen begriffen werden die Siben Hauptlaster/ sampt jhrem
vrsprung/ was grosser geferligkeit aus einem yeden entsprungen/ vnd noch
erwachsen mügen. Durch schöne alte Exempel vnd Historien angezeigt. Die
55 Exempel, für die Wickram außer der Bibel u. a. Josephus, Herodot, Plut-
arch, Cicero, Petrarca und Erasmus als Vorlage benutzte, sind nach dem
Ordnungsschema der Hauptsünden Hoffart, Geiz, Neid, Zorn, Völlerei,
Trägheit und Unkeuschheit arrangiert und wollen der »weichen zarten ju-
gendt« Unterhaltung und Belehrung bieten. Das Ganze ist nach Anspruch,
Aufbau und Aussage höchst konventionell und in der Durchführung ohne
originelle Züge. Auch in seinen übrigen Prosawerken bedient sich Wickram
zum großen Teil überlieferter Motivik, herkömmlicher Erzähltechniken und
auch des bekannten Formelrepertoires. Besonders im Knaben Spiegel aber Wickrams neuer
wird die allmähliche Abkehr vom traditionellen linearen Erzählstil der Pro- Erzählstil
saromanhistorien – die einsträngige Aneinanderreihung von Erzählgliedern
zu einer schlichten, auf das Geschehensergebnis ausgerichteten Kette, deren
34 Mittelalter und frühe Neuzeit

Zusammenhang sich durch Motivationen ad hoc konstituiert und deren


Ordnung des erzählten Geschehens immer ein Hintereinander ist – deutlich.
Die Ganzheit der Erzählung ist im Knaben Spiegel nicht mehr von der Line-
arität einzelner Geschehensabläufe her zu verstehen, sondern erschließt sich
erst aus der Kombination der drei parallel geführten Handlungsstränge um
Wilbald, Fridbert und Lotarius, deren Zusammenhang durch die didaktische
Absicht Wickrams konstituiert wird: Er beschreibt zwar Einzelhandlungen,
die als nachzuahmendes oder abschreckendes Beispiel dienen können, ande-
rerseits repräsentieren diese Fallbeispiele darüber hinausgehend aber auch
bestimmte Typen (den guten, den bösen, den schwankenden Typus), deren
Handlungen in ihren Endpunkten die ihnen innewohnenden Konsequenzen
verdeutlichen. Es geht hier mithin, anders als in der herkömmlichen Prosa-
historie, um absichtsvolles Beispielerzählen, das nicht mit dem Anspruch auf
die Wahrheit der »Historia« auftritt – das Werk ist als »Spiegel« und nicht
wie etwa Gabriotto und Reinhard oder auch Der Goldtfaden als »History«
ausgewiesen –, sondern der Absicht der Didaxe unterworfene Konstruktio-
nen fiktiver Lebensmodelle bietet. Auch der vielgelobte Realismus Wickrams
ist unter diesem Aspekt zu sehen: Ihm geht es keineswegs um die Reproduk-
tion von Wirklichkeit oder die Beschreibung von wirklichen Verhältnissen.
Vielmehr stellt er brauchbare Segmente einer dem Leser bekannten Wirklich-
keit in den Dienst der Didaxe, und so bekommt der Realismus bei ihm den
Charakter der Sprachgebärde der Beispielerzählung.
Trotz dieser innovativen Leistung, mit der er die eingetretenen Pfade der
herkömmlichen Prosaromanhistorie verließ, blieb Wickram als Jugend-
schriftsteller ohne nennenswerten Nachahmer, und so markiert sein Schaffen
denn auch mehr den Endpunkt einer literarischen Entwicklung als die Ge-
burt etwas wirklich Neuen. Zwar werden noch weiter ›Volksbücher‹ und
›Ritterromane‹ für ein auch jugendliches Publikum herausgegeben oder gar
neu geschrieben – neben dem Amadis wären hier z. B. François de Belleforests
Histoires tragiques zu nennen, die Moritz Brandis 1601 als Phoenicia »Allen
Züchtigen vnnd Ehrliebenden Frawen vnd Jungfrewlein« in einer deutschen
Übertragung zugänglich machte und als einen »Spiegel Weiblicher Ehr vnd
Zucht« empfahl –, aber schon zu Beginn des 17. Jh.s kann man von einer
kontinuierlichen Produktion größerer Prosawerke für die Jugend nicht mehr
sprechen. Was später folgt, sind jene Werke, die Jugendliche nur als eine
Adressatengruppe unter vielen ansprechen (wie etwa die genannten Romane
Grimmelshausens), die Studentenromane sowie die unterhaltende Momente
ausspielenden Pseudorobinsonaden.
Politische Romane Nur ganz wenige erzählende Werke des 17. und früheren 18. Jh.s wenden
für die Jugend: Adam sich speziell an ein jugendliches Publikum, und in jedem Fall tritt bei ihnen
Contzen die erzieherische Absicht durch die Betonung des Lehrhaften in den Vorder-
grund. Zu nennen ist zunächst die Methodus doctrinae civilis, seu Abissini
regis historia (1628) des Jesuiten Adam Contzen. In ihr wird die Erziehung,
Ausbildung und Regentschaft des (fiktiven) äthiopischen Königs Abissinus
geschildert, eines mit guten und schlechten Eigenschaften begabten Men-
schen, der sich durch fleißiges Studium auf seine Regentschaft vorbereitet,
mit achtzehn Jahren hoffnungsfroh sein Amt antritt, sich auf Dauer gegen
das korrupte Intrigantentum bei Hofe aber nicht durchsetzen kann, dem
Müßiggang verfällt und so den Staat ins Verderben stürzt. Von einem Einsie-
del geleitet, gewinnt er schließlich seine früheren Tugenden zurück und ver-
schafft dem Staat durch ein umfassendes Reformwerk Stabilität und Geltung.
Der politische Staatsroman ist auf ein studentisches Publikum hin konzipiert,
Erzählende Literatur 35

das auf unterhaltsame Weise in die Grundbegriffe absolutistischen Staats-


denkens eingeführt werden soll.
Fast ein Dreivierteljahrhundert später, nämlich in das Jahr 1700, datiert Fénelons »Telemach«
die erste deutsche, von August Bohse besorgte Bearbeitung eines anderen
politischen Romans, der ebenfalls zugleich Fürstenspiegel ist: die zwischen
1690 und 1695 entstandenen Aventures de Télémaque, fils d’Ulysse des spä-
teren Erzbischofs von Cambrai, François de Salignac de la Mothe Fénelon.
Fénelon verfasste seinen moralischen und politischen Bildungsroman ebenso
wie seine Contes, seine Fables und seine Dialogues des morts (dt. von Johann
Friedrich u. d. T. Gespräche der Todten alter und neuer Zeiten mit einigen
Fabeln zur Unterweisung eines Prinzen, 1745) zur Erziehung des 1682 gebo-
renen Louis Duc de Bourgogne, des Dauphins und Enkels Ludwigs XIV.,
nachdem er im September 1689 seine Tätigkeit als königlicher Prinzenerzie-
her in Versailles aufgenommen hatte. Der ›Initiationsroman‹ mit didaktischer
Absicht, ein in der Tradition des spätantiken Abenteuerromans stehendes
Prosaepos, knüpft an den dritten und vierten Gesang der Odyssee des Homer
an, in dem die Suche des Telemach nach seinem Vater Odysseus beschrieben
wird. In der Gestaltung am klassischen Aufbauschema des griechischen Epos
mit seinem Irrfahrten- und Kampfteil orientiert, entwickelt Fénelon seinen
auf einer Erzieher-Zöglings-Konstellation (Mentor – in Wirklichkeit die Göt-
tin Minerva – und Telemach) gegründeten Bildungsroman, dessen pädago-
gische Konzeption von einem Tugendeudämonismus geprägt ist, der davon
ausgeht, dass Tugend sich selber belohnt oder durch äußeren Erfolg belohnt
wird. Mit seinen dezidierten Stellungnahmen gegen Tyrannei und ungerecht-
fertigte Eroberungspolitik, seinem Plädoyer für sittlich begründetes poli-
tisches Handeln, dem Friedfertigkeit und Brüderlichkeit als Maßstab dienen
sollen, und seiner Verurteilung von Ausschweifung, Maßlosigkeit und Ver-
schwendung wurde das Werk von zeitgenössischen Lesern als gegen den ab-
solutistischen Staat, repräsentiert durch Ludwig XIV., gerichtete Kritik ver-
standen, die schließlich zur Verbannung Fénelons vom Hofe führte.
Das in zahlreiche Sprachen übersetzte Werk hatte besonders auch in
Deutschland nachhaltigen Erfolg und erschien hier in annotierten franzö-
sischen Ausgaben sowie in deutschen und lateinischen, aber auch in anderen
fremdsprachigen Bearbeitungen und gab Anlass für zahlreiche Nachah-
mungen. Dabei folgen die Bearbeiter ganz unterschiedlichen Zielen. Bohse
zielt mit seiner genannten Übersetzung ganz auf die staatspolitischen Impli-
kationen von Fénelons Werk, wie bereits der Titel seiner Arbeit anzeigt:
Staats=Roman/ Welcher Unter der denckwürdigen Lebens=Beschreibung
Telemachi Königl. Printzens aus Ithaca, und Sohn des Ulyssis vorstellet/ wie
die Königl. und Fürstlichen Printzen vermittelst eines anmuthigen Weges zur
Staats=Kunst und Sitten=Lehre anzuführen. Bohse hat seine Übersetzung
dem elfjährigen Kurprinzen zu Brandenburg, Friedrich Wilhelm, dem spä-
teren ›Soldatenkönig‹, gewidmet, dem er den Roman als Bestätigung der vä-
terlichen Lehren empfiehlt.
In seiner Alexandriner-Versübertragung Die Begebenheiten des Prinzen
von Jthaca, oder: Der seinen Vater Ulysses suchende Telemach setzt Benja-
min Neukirch 1727 (2. und 3. Teil: 1739) bereits ganz andere Akzente. Er
betont vor allem den Entwicklungsweg Telemachs, den er in drei Stufen ab-
teilt, denen die einzelnen Teile seiner Bearbeitung entsprechen: »In dem ers-
ten gehet Telemach die Versuchungen und anklebende Fehler der Jugend
durch, darum ist dieser Theil mit so vielen moralischen Anmerckungen aus-
gespicket. In dem Andern führet er sich klüger auf, und tritt die Verrich-
tungen eines Helden an. [...] In dem dritten wird Telemach ein vollkommener
36 Mittelalter und frühe Neuzeit

Fénelon: Die Begeben- Mann.« Durch seine meist pädagogisierenden Anmerkungen hebt Neukirch
heiten der Prinzen von das allgemein erzieherische Anliegen des Werks hervor, so dass es in seinen
Jthaca. Kupferstichfron- Aussagen nicht auf die Prinzenerziehung beschränkt bleibt – obwohl Neu-
tispiz von Charles Nicolas
kirch die Übertragung während seiner Tätigkeit als Erzieher des Erbprinzen
Chochin d. Ä. nach
Sébastien Leclerc.
Karl Wilhelm von Ansbach bewerkstelligte –, sondern ganz allgemein als
Ansbach 1727 Handleitung zur richtigen Erziehung der Jugend begriffen werden kann.
Noch deutlicher wird diese Tendenz in der Übertragung des Pietisten Philip
Jakob Bidermann: Utopia. Balthasar Sinold von Schütz, die nicht nur Fürstenspiegel, sondern vor allem
Kupferstichfrontispiz mit allgemeine Tugend- und Lebenslehre sein soll (Die seltsame Begebenheiten
der »wahrhaften des Telemach, 1741). Neben diese beiden Rezeptionsmodelle des Fénelon’-
Darstellung Utopias«. schen Romans tritt ein drittes, das schließlich im 19. Jh. zum einzigen werden
Dillingen 1670 sollte: Telemach als Schulbuch. Die wohl am meisten verbreitete Telemach-
Schulausgabe stammt aus dem Jahre 1732 und wurde von Josef Anton von
Ehrenreich besorgt (Les avantures de Télémaque, fils d’Ulysse). Das Werk
stellt eine Sprachlehre für junge Leute dar. Daneben spielt aber auch die
moralische Unterweisung eine wichtige Rolle. Der Schüler soll nicht nur die
französische Sprache lernen, sondern auch die »darinnen enthaltene sehr
nützliche und Lehr=reiche Moralien, sich bekannt machen, explicieren, auch
vollkommen verstehen und verteutschen«. Zum besseren Verständnis ist
dem französischen Text eine Fülle von Vokabelübersetzungen, grammatika-
lischen Erklärungen und sprachlichen Erläuterungen beigegeben, ergänzt vor
allem um Bemerkungen zur antiken Mythologie. Noch grundlegender viel-
leicht als die Wirkung des Telemach als Fürstenspiegel, Erziehungslehre und
Schulbuch waren die Anregungen, die von der formalen Gestaltung des
Fénelon’schen Romans ausgingen. Seine Erzieher-Zöglings-Konzeption gab
Erzählende Literatur 37

später das grundlegende Modell ab für eine Fülle aufklärerischer Kinder-


schriften.
Wie bei Contzen und Fénelon, so tritt auch in einem anderen speziell an Ein Roman mit
die Jugend adressierten Roman das Lehrhafte ganz in den Vordergrund, hier rhetorischem
allerdings mit rhetorischem und moralerzieherischem Anspruch. Gemeint ist Anspruch: Bidermanns
die Utopia Jakob Bidermanns (1640), ein Rahmenroman, dessen Inhalt aus »Utopia«
einer Vielzahl von Schwank- und Abenteuererzählungen besteht. Der Her-
ausgeber Georg Stengel, Rektor der Universität Dillingen, lobt an den Ge-
schichten, die zum großen Teil die Sitten in »Utopia«, einem wüst-verkehrten
»Schlaraffenland« der Narren, Prasser und Müßiggänger, zum Gegenstand
haben, den geschliffenen lateinischen Stil; mit diesen »Lockvögeln« habe Bi-
dermann versucht, die Wissbegierde seiner Schüler auf die Liebe zur latei-
nischen Beredsamkeit zu lenken und sie so von den verwerflichen Ritterro-
manen abzuziehen. Insofern sei der Roman als Köder gedacht für denjenigen,
der sich um Redegewandtheit bemühe und seinen Stil zu glätten wünsche.
Versucht Bidermann noch, die Lektüre von Romanen zu unterbinden, in- Der Roman auf den
dem er ihm geeignet erscheinende Stoffe in Romanform zusammenbringt, so ›nützlichen‹ Kern
gehen andere weit über dieses Ziel hinaus, indem sie aus vorhandenen Ro- reduziert
manen das ihnen nützlich Erscheinende herauslesen und so die Romanform
gänzlich auflösen. Ein Beispiel dafür ist etwa der 1708 von Christoph Männ-
ling besorgte Arminius enucleatus (»Der deutliche Arminius«), in dem
Männling »Herrliche Realia, Köstliche Similia, vortreffliche Historien/ Mer-
ckwürdige Sententien und sonderbahre Reden« – so der Untertitel – aus
Daniel Caspar von Lohensteins heroisch-galantem Roman Großmüthiger
Feldherr Arminius zusammengetragen hat, um so der Jugend mit der auf das
Nützliche reduzierten Lehre aufwarten zu können. In eine andere Richtung
geht die anonym erschienene Erleichterte Mythologie Oder Deutliche
Fabel=Lehre (1724), hinter der sich die mit erläuternden Kommentaren ver-
sehene Bearbeitung eines Auszugs aus Charles Sorels ›anti-roman‹ Le Berger
extravagant (»Der närrische Schäfer«) verbirgt, anhand dessen die studie-
rende Jugend die Mythologie, »diese sonst verdrießliche Materie spielend
und recht mit lachendem Munde in wenig Stunden« erlernen soll, wie der
Untertitel werbend anzeigt. Ist in diesen beiden Fällen der Roman auf seinen Auflösung der
lehrhaften und damit für die Jugend nützlichen Kern reduziert, so ist doch Romanform
auch schon in Bidermanns Utopia die literarische Form des Romans bereits
weitgehend aufgelöst: Von Kapitel zu Kapitel wechseln die Erzählerrollen,
die einzelnen Geschichten – im ersten Teil sind es Fabeln, die sich die Prota-
gonisten der Rahmenhandlung wechselseitig erzählen – sind nur locker mit-
einander verbunden und, wenn überhaupt, nicht stringent motiviert; nach
der im vierten Teil erzählten Zentralgeschichte nach dem Stoff vom ›träu-
menden Bauern‹ wird im fünften Teil zu einer Gerichtsverhandlung überge-
leitet, deren Vorgeschichte dann im Schlusskapitel entwickelt wird; ganz fal-
lengelassen wird schließlich die Rahmenhandlung, so dass von einem ›Ro-
man‹ auch im damals üblichen Verständnis eigentlich nicht mehr gesprochen
werden kann. Die Übergänge zu solchen Sammlungen wie Samuel Gerlachs
Eutrapeliae [= sinnreiche Anekdoten] philologico-historico-ethico-politico-
theologiae (1656), einem dreibändigen Anekdotenbuch mit ca. 3000 meist
sehr kurzen Erzählungen aus dem Leben biblischer Personen, berühmter
Männer der Antike, bekannter Staatsmänner usw., sind fließend.
Auch Gerlachs Sammlung (eine kürzere hatte er bereits 1639 veröffentli-
cht) dient »der lernenden Jugend zu nützlicher Vbung«, vor allem in der
deutschen Beredsamkeit. Andere Sammlungen ähnlicher Art, ebenfalls als
Ersatz der »Liebes-Bücher« und »elenden« Romane konzipiert, aber nicht
38 Mittelalter und frühe Neuzeit

mehr in Romanform gehalten, verfolgen dagegen primär moralischen Nut-


Moralische zen. So legt etwa Justus Kauffmann (von Bornberg) mit seiner Historischen
Beispielerzählungen Vergnügung Der Blühenden Jugend Jn Unterschiedlichen angenehmen und
sonderbaren Geschichten zu Erlernung der Tugenden und Vermeidung der
Laster (1713) fünfzig Erzählungen vor – Heiligen- und Fürstenviten, histo-
rische Erzählungen (z. B. die des neapolitanischen Rebellen Masaniello) und
Sagenstoffe (Rattenfänger von Hameln) –, die nicht nur zum Zeitvertreib,
sondern vor allem zur Korrektur und Besserung der »bösen Affecten und
Gemüths=Reitzungen« dienen sollen. Mit dieser sich von der Romanform
völlig loslösenden Sammlung ist zum ersten Mal der Weg konsequent zur
moralischen Beispielerzählung beschritten. Bornbergs Historische Vergnü-
gung spielt eben jenen Funktionsaspekt aus, der einer anderen jugendlitera-
rischen Gattung, der Fabel, erst im Verlaufe einer Jahrhunderte währenden
Entwicklung zuwächst: den einer unterhaltsamen Sittenschule.
Fabeln als Eine »erfundene Geschichte, die eine Wahrheit abbildet« – so definiert be-
Jugendlektüre reits der griechische Rhetor Theon das Wesen der Fabel, und schon der römi-
sche Fabeldichter Phaedrus hebt in seiner Sammlung die doppelte Funktions-
bestimmung der Gattung hervor:
»Und zwiefach ist des Buches Zweck. Es reizt zum Lachen
Und gibt fürs künft’ge Leben gute, weise Lehren.«
Diese Kombination erzählender und moralisch-lehrhafter Elemente ließen
ebenso wie ihre auf das Pointierte und Bündige bedachte Kurzform die Fabel
von jeher als besonders für die Jugend geeignete Lektüre erscheinen, und so
gibt es denn schon sehr früh Fabelsammlungen für den Schul- und Jugendge-
brauch. Die Fabeltradition des Mittelalters war primär lateinische Tradition,
die Fabelhandschriften, häufig illustriert, waren entweder lateinisch oder
zweisprachig gehalten, und schon die Kombination der Fabelsammlungen
mit der lateinischen Schulgrammatik Donat und den Disticha Catonis zeigt
an, dass diese Handschriften vor allem dem lateinischen Anfangs- und Gram-
matikunterricht in der Schule dienten. Ab der Mitte des 14. Jh.s etwa wurden
Fabeln in den Handschriften auch mit Texten überliefert, die elementare
Verhaltensweisen lehren, vor allem mit Tischzuchten und Anstandslehren.
Die Fabeln dienten zunehmend nicht nur als Instrument schulischen Sprach-
unterrichts, sondern sollten darüber hinaus die Schüler Weltkenntnis und
-klugheit lehren, indem sie mit Modellen richtigen und falschen Verhaltens in
der Welt bekannt machten.
Literarische An die Seite der für den Schulgebrauch zusammengestellten Sammlungen,
Fabelsammlungen die später auch gedruckt wurden und sich als lateinische oder lateinisch-
griechische Schulbücher in großer Zahl noch bis weit in das 17. Jh. finden,
traten ab dem späten Mittelalter literarische Fabelsammlungen und -bearbei-
tungen. Die erste von einem Autor verantwortete geschlossene Sammlung
aesopischer Fabeln in deutscher Sprache ist der in Handschriften häufig als
»der welt laüff« oder »der werlet lauff« bezeichnete Edelstein, den Ulrich
Boner um die Mitte des 14. Jh.s fertigstellte. Der aus einem Berner Bürger-
und Handwerkergeschlecht stammende Dominikanermönch wendet sich mit
seinen Reimpaarfabeln, seinen bischaften – »bîschaft« oder auch »bîspel«
werden im Mittelalter Fabeln oder, allgemein, belehrende Geschichten ge-
nannt –, an den Leser jeden Alters: »guot bîschaft zieret jung und alt// recht
als daz grüene loup den walt«. Er will die Leser zu einem religiösen Leben
erziehen, und als ein dienliches Mittel dazu betrachtet er die Fabel: »mê
denne wort ein bîschaft tuot«. Boners Fabeln sind Beweisfälle für Regeln und
Normen, die das Leben bestimmen; sie propagieren eine weltkluge Pragma-
Erzählende Literatur 39

Ulrich Boner: Der


Edelstein. Handkolorierte
Holzschnittillustration.
Bamberg 1461

Burkhard Waldis: Esopus.


Titelblatt mit koloriertem
Holzschnitt, vermutlich
von Hans Brosamer (nach
Holbein d. J.). Frankfurt
a. M. 1555

tik und das Respektieren des Üblichen und mahnen zur Beachtung von Er-
fahrungen zum eigenen Nutzen. Grundlegend für die Geschichte der Fabel
als literarische Gattung ist auch die lateinisch-deutsche Sammlung des Früh-
humanisten Heinrich Steinhöwel, die erstmals um 1476/77 gedruckt wurde
und unter dem Titel Vita et fabulæ Aesopi (»Leben und Fabeln Aesops«) ge-
führt wird. Ihre Bedeutung liegt vor allem darin, dass Steinhöwel erstmalig
ein Korpus von Fabeln und Schwänken verschiedener Autoren zusammen-
stellte, das in dieser Form die Grundlage für die meisten späteren – auch au-
ßerdeutschen – Fabelsammlungen unter dem Namen Aesops wurde. Gering-
fügig gekürzt, wurde der Steinhöwel’sche Aesop der Urtyp insbesondere für
die zahlreichen Aesop-Ausgaben für die Jugend, wie sie bis weit in das 18. Jh.
hinein gedruckt wurden.
Die literarischen Fabelsammlungen bis zum Ende der 1580er Jahre sind
charakterisiert durch die Verwendung der deutschen Sprache, die reiche Il-
lustrierung, die weitgehende formale Stabilisierung des didaktischen Aufbau-
schemas (Überschrift, Illustration als eidetische Unterweisungshilfe, Fabeler-
zählung und Pro- oder Epimythion) und die Einbettung der Fabel in Sprich-
wörter, Gleichnisse, Exempel und volkstümlich-schwankhafte Formen mit
lehrhaftem Anliegen. Die Nähe zum Schwankhaften belässt der Fabel noch
ein – neben der schulischen Zweckbindung – weiteres dominantes Merkmal:
mündlich vorgetragen zu werden. Luther (Etliche Fabeln aus Esopo, gedruckt
1557) denkt dabei daran, dass der Hausvater die Fabel abends zur nützlichen
Kurzweil »Weib/ Kind/ Gesind« vorzulesen und sie ihnen auszulegen habe,
um sie »zu warnen vnd vnterweisen auff jr zukünfftiges Leben vnd Wandel«
und so durch die »lüstige Lügenfarbe« zur Wahrheit zu betrügen. Die Nähe
zur häuslichen Katechese und zur Bibelunterweisung der ›Hausgemeinde‹ ist
offenkundig, und so stellt denn auch Luther die Weltweisheit der Fabel in
Analogie zur Wahrheit der Heiligen Schrift. Die Fabelauslegungen des 16.
Jh.s laufen jedoch nicht primär auf ethische Unterweisung hinaus, die Fabel
will vielmehr Spiegel des Weltlaufs sein und Verhaltensbeispiele und Vor-
bilder für zweckmäßiges, das heißt vor allem auch: erfolgreiches Handeln
bieten. Sie gibt Belehrungen, Verhaltens- und Klugheitsregeln für das tägliche
40 Mittelalter und frühe Neuzeit

Leben und will z. T. die Augen öffnen über die wahren Verhältnisse der
menschlichen Gesellschaft, gesehen im Spannungsgefüge zwischen Oben und
Unten. Erasmus Alberus benutzt in seiner Sammlung Etliche fabel Esopi
(1534), in einer erweiterten Fassung 1550 als Das buch von der Tugent vnd
Weißheit erschienen, die Fabel als zusätzliches Bildungsmittel, indem er ihr
ausführliche Schilderungen seiner hessischen Heimat beifügt, um so geogra-
phische Kenntnisse zu vermitteln und die Realitätsfiktion der Fabel zu erhö-
hen. Seine zeitnahen religiös-politischen Polemiken weisen die Fabel, die den
»einfeltigen« und dem »albern [= schlichten, naiven] volck« zur Besserung
dienen soll, zugleich als reformatorisches Kampfinstrument aus. Als umfang-
reichste und zugleich letzte bedeutende Fabelsammlung des 16. Jh.s gilt der
Esopus des zum Luthertum konvertierten ehemaligen Franziskaners Burk-
hard Waldis (1548). Die Fabeln, in Reimform gehalten, sind bei aller Beto-
nung des Lehrhaften – die Moral wird häufig in Form eines Sprichworts
präsentiert – von großer sprachlicher Bildhaftigkeit und manchmal derber
Komik; den Unterhaltungswert steigert Waldis, indem er die Fabelszene
durch Lokalisierung in deutschen Landschaften in die Gegenwart rückt, und
die Distanz zum Leser verringert er, indem er sich selbst, Persönliches und
Biographisches mit ins Spiel bringt. Ganz neu ist vor allem die Adressierung
der Sammlung: Waldis betont, er habe sein Werk nicht herausgegeben für
»die gelerten/ vnd die es besser können«, sondern für »die liebe jugent/ kna-
ben vnd jungfrawen zu dienste vnd fürderung«. Auf dem Höhepunkt ihrer
Verbreitung, in der Hochzeit des reformatorischen Fabelgebrauchs wird da-
mit die Fabel ihres allgemeinen Belehrungsanspruchs entkleidet und in ihrer
Wirkungsabsicht auf ein exklusiv jugendliches Publikum eingeschränkt.
Stagnation der Doch diese Entwicklung dürfte nicht der vorrangige Grund sein, weshalb
Fabeldichtung nach Waldis’ Esopus bis hin zu den neuen Sammlungen ›moralischer Fabeln‹
im Barock der Aufklärungszeit – beginnend mit Daniel Stoppes Neue Fabeln oder mo-
ralische Gedichte (2 Teile, 1738 und 1740) und Daniel Wilhelm Trillers Neue
Aesopische Fabeln (1740) – kaum nennenswerte Neudichtungen zu verzeich-
nen sind und die Verbreitung des Fabelgebrauchs ganz allgemein stark zu-
rückgeht, sieht man von den dem Sprachunterricht dienenden – immer noch
zahlreichen – Schulausgaben und dem Einsatz der Fabel als veranschauli-
chendes Exempel in der Barockpredigt (vor allem bei Abraham a Sancta
Clara) einmal ab. Zwar spielt für die Minderbewertung, ja Verachtung der
Fabel in der Barockzeit auch deren vermeintlicher Exklusivbezug auf »Kin-
der und alte Weiber« (so Harsdörffer, der allerdings 1650 selber eine Fabel-
sammlung, Nathan und Jotham, herausgab) und »sonderlich den gemeinen
Pövel« (Opitz) eine Rolle, doch die Gründe dürften tiefer liegen. Genannt
werden neben der nicht zeitgemäßen anti-elitären Wendung der Fabel ›an die
Masse‹ vor allem ihre schlichte Form, die ebenfalls dem Zeitgeschmack ent-
gegensteht, der Widerstand der lutherischen Orthodoxie, den Fabelgebrauch
– wie bei Alberus – mit dem Hinweis auf die Gleichnisreden Jesu zu rechtfer-
tigen, aber auch die Sättigung des Marktes durch hohe Auflagenzahlen der
bekannten Sammlungen. Gravierender dürfte sein, dass sich das Literaturbe-
dürfnis wandelt: Nicht die statische Lehre der an sich zeitlosen Fabel ist mehr
gefragt, sondern die Befriedigung eines neuen Informations- und Nachrich-
tenbedürfnisses, das in den sogenannten ›neuen Zeitungen‹, den Flugblättern,
den Kalender- und Wundergeschichten seinen Ausdruck findet. Die Konse-
quenz dieser Entwicklung ist, dass die Fabel bis hin zu ihrer großen Renais-
sance im aufklärerischen 18. Jh. im Wesentlichen wieder auf den engen Wir-
kungskreis der Schule eingeschränkt wird, aus dem sie seit der Mitte des 14.
Jh.s herausgetreten war.
Erzählende Literatur 41

Die Blüteperiode der Fabel im Reformationszeitalter ist zugleich, leicht Das Tierepos
zeitversetzt, diejenige einer der Fabel verwandten Gattung: des Tierepos. In
die Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur ist weniger der berühmte
Reineke Fuchs eingegangen – er kam erst spät in Fassungen für die Jugend
heraus, sieht man einmal von den von Hartmann Schopper besorgten latei-
nischen Schulausgaben ab, die ab 1567 zahlreiche, später mit dem spre-
chenden Vortitel Speculum vitae aulicae (= »Spiegel des Hoflebens«) verse-
hene Auflagen erlebten (u. d. T. Opus Poeticum de admirabili fallacia et astu-
tia Vulpeculae Reinikes) – als vielmehr der Froschmeuseler des Magdeburger
Schulrektors, Pädagogen und Predigers Georg Rollenhagen. Der Frosch- Rollenhagens
meuseler, zuerst 1595 erschienen, ist eine erweiternde Umbildung und Di- »Froschmeuseler«
daktisierung der fälschlich Homer zugeschriebenen Ilias-Parodie Batracho-
myomachia (»Froschmäusekrieg«), die bis weit in das 19. Jh. hinein in zahl-
reichen – für den Griechischunterricht bestimmten – Schulausgaben verbreitet
war und noch einmal 1637 von dem Jesuiten Jakob Balde mit deutlichen
Bezügen zum Dreißigjährigen Krieg in einer lateinischen Fassung für die
studierende Jugend als Ersatz für den »erotischen Schnickschnack« seiner
Zeit bearbeitet wurde. Rollenhagen hat die 800 Verse zählende Epenparodie
zu einer ca. 20 000 Verse zählenden umfassenden Klugheitslehre für die Ju-
gend des gebildeten Mittelstands überformt, in deren beiden ersten Büchern
sich der Mäuseprinz Bröseldieb und der Froschkönig Bausback in langen
Monologen über die richtige Führung des bürgerlichen Lebens und das rich-
tige Staatsregiment auslassen, bevor im dritten Buch der Kampf der Mäuse
und Frösche geschildert wird. Rollenhagens Bestreben ist es, mit dem Frosch-
meuseler eine »Contrafactur dieser vnser zeit« zu liefern und Modelle zur
anschauenden Erkenntnis von Handlungsregeln zur Verfügung zu stellen.
Das Ziel ist auch bei ihm das Erkennen des »Weltlauffs«, den man im
Froschmeuseler »als im Spiegel« sehen könne. Das Erkennen des »Welt-
lauffs« richtet sich im Wesentlichen auf drei Ziele:
» [...] lehret wie man sol Haußhalten/
Vnd Weltlich Regiment verwalten.
Was rahtsam sey in Kriges noth.
Vnd das der außgang stehe bey Gott.«
Ganz in der Tradition der allegorischen Homerauslegung stehend, will Rol- Der Scherz als Mantel
lenhagen diese Lehre als bildliche Rede vortragen. Sein Froschmeuseler, so der ›bitteren Wahrheit‹
Rollenhagen, sei daher »voller Fabulen vnd Mehrlein/ aber also/ das mit
denselbigen als in einer Comoedien, die reine lautere/ vnd sonsten wie man
sagt/ bittere warheit Poetischer weise vermummet/ vnnd in einer frembden
Personen Namen/ auff den Schawplatz gefuhret/ vnd der rechte ernst/ im
schertz vnd mit lachendem munde/ ausgesprochen/ vnd beschrieben wird«.
Die unterhaltenden Momente des Werks sind für Rollenhagen jedoch ledig-
lich Vehikel der Belehrung, wie bereits seine Eindeutschung der Maxime des
Horaz zeigt: »Poeten wollen schertz verehren// Vnd damit etwas nutzlichs
lehren.« Die didaktisierende Erweiterung der Ilias-Parodie führt im Frosch-
meuseler zu einem Zwittercharakter: In seinen didaktischen Passagen ist er
mit teilweise satirischen Zügen ausgestattete Zeitkritik und zum richtigen
individuellen und gesellschaftlichen Handeln anleitende Klugheitslehre, in
den aus der Batrachomyomachia entlehnten Handlungssträngen steht er da-
gegen ganz in der Tradition des komischen Epos und damit der an die studie-
rende Jugend adressierten komischen Tierdichtung. Rhetorisch brillant
komponiert, bietet der Froschmeuseler nicht nur unterhaltsamen Lesestoff –
vor allem Rollenhagens vergnüglich-ironisches Spiel mit den klassischen
42 Mittelalter und frühe Neuzeit

Georg Rollenhagen:
Froschmeuseler. Hand-
kolorierter Titelholz-
schnitt. Magdeburg 1596

Formen und Motiven in den aus der Ilias-Parodie entlehnten Passagen ist
auch für den heutigen Leser immer noch reizvoll –, sondern zeichnet wie in
einem Vexierspiegel auch ein späthumanistisch gefärbtes Bild des ausge-
henden 16. Jh.s: Rollenhagen schildert den »Weltlauff« nicht nur so, wie sich
die Welt darstellt, sondern er nutzt die Abkonterfeiung einer korrumpierten
Welt zugleich als individuellen Sünden- und umfassenden Gesellschaftsspie-
gel, der dem Leser vorgehalten wird, um ihn hinzuführen zur Erkenntnis des
Richtigen, Gottgewollten, Ordo-Gemäßen, vor allem aber: seiner selbst. Der
Mensch, der in den Spiegel sieht und ein Tier erblickt, erkennt im Frosch-
meuseler seine eigene lächerliche und verkehrte Natur. Gleichsam unter ent-
gegengesetzter Gestalt soll er durch das Lachen zur Selbsterkenntnis geführt
werden.
Durch diese Erkenntnisfunktion sieht Rollenhagen den didaktischen Wert
seiner Dichtung auch für die Jugend begründet; so empfiehlt er seinen
Froschmeuseler geradezu als Lektüreersatz für den Eulenspiegel »oder auch
andere Schandbücher/ der Pfaff vom Kalenberg/ Katziporus/ Rollwagen/
etc.«, für die als Jugendlektüre beliebten und nur auf Unterhaltung abzielen-
den ›Volks-‹ und Schwankbücher mithin. Zwei Formen der Bearbeitungen
des Froschmeuseler, der in der Originalfassung noch bis 1730 häufig ge-
druckt wurde, kennzeichnen treffend die Unterschiede zwischen der älteren
und neueren Kinder- und Jugendliteratur: 1627 veröffentlichte Johann von
Spornberg seine Flores Froschmeuseleriani, mit der er der Jugend eine Blü-
tenlese ausgesuchter Sittensprüche, Sentenzen und Moralen aus Rollenha-
gens Tiereops bot, um sie so, unter Vernachlässigung des unnötigen Beiwerks,
direkt auf den Kern der nützlichen Lehre des Werks zu stoßen. Ab Beginn des
19. Jh.s erschienen dann – bis 1924 – Auswahlbearbeitungen unter gänzlich
anderen Vorzeichen: Nicht mehr die Lehre des Rollenhagen’schen Werkes
war gefragt, sondern einzig seine unterhaltenden und belustigenden Teile
waren von Interesse, und so bieten denn diese Fassungen im Kern nur Aus-
züge aus dem dritten Buch mit der erheiternd-komischen Erzählung des ›Ti-
tanenkampfes‹ zwischen den einander wacker abmordenden Mäusen und
Fröschen.
43

Aufklärung

Reiner Wild

Bürgertum und Aufklärung

In der zweiten Hälfte des 18. Jh.s veränderte sich das literarische Leben in Veränderungen im
Deutschland tiefgreifend. Die Buchproduktion stieg sprunghaft an; ihre Zu- literarischen Leben
sammensetzung veränderte sich. Während der Anteil theologischer Schriften
zurückging, weitete sich der Bereich der ›schönen Wissenschaften‹, wozu
auch die Literatur zählte, beträchtlich aus, ebenso der Bereich der pädago-
gischen Literatur und in ihm der Anteil der Literatur für Kinder. Für einige
Zeitgenossen war diese Zunahme eine eher erschreckende Erfahrung; so
spricht Friedrich Gedike 1787 von der »Büchermacherei für die Jugend«, die
»wie die Flut des Meers eine zahllose Menge Bücher [...] ans Ufer« spüle.
Der mit der Metapher erweckte Eindruck, es habe eine überwältigende Zahl
von Büchern für Kinder gegeben, ist allerdings zu relativieren. Im gesamten
18. Jh. dürften wenig mehr als dreitausend Bücher für Kinder erschienen
sein, die Schulbücher mitgerechnet. Gegen Ende des Jahrhunderts machte die
Literatur für Kinder etwa anderthalb bis zwei Prozent der Gesamtproduk-
tion aus; heute beträgt der Anteil, ohne Schulbücher, etwa fünf Prozent.
Gleichzeitig veränderten sich Verlagswesen und Buchhandel. Die traditio-
nellen Formen der Herstellung und Verteilung von Büchern wurden durch
modernere, kapitalistische abgelöst; Verlagswesen und Buchhandel wurden
kommerzialisiert. Die Zahl der Autoren nahm beträchtlich zu; da literarische
Tätigkeit weitgehend eine männliche Domäne war, blieb die der Autorinnen
allerdings weiterhin gering. Zugleich veränderte sich der soziale Status der
Autoren; sie wurden zu ›freien Schriftstellern‹, die für den literarischen Markt
produzierten und von dessen Gesetzen abhängig waren. Auch im Publikum
gab es Veränderungen; neue Leserschichten wurden erschlossen. Literatur
wurde zum zentralen Medium der Information, der Verständigung, der Kri-
tik und zu einem immer wichtiger werdenden Medium der Erziehung; es
bildete sich eine literarische Öffentlichkeit. Zugleich veränderte sich das Le-
severhalten. Bis weit ins 18. Jh. war es üblich, nur wenige Bücher, voran die
Bibel und religiöse Schriften, und diese immer wieder zu lesen. Allmählich Leseverhalten
wurde diese ›intensive Lektüre‹ durch ein anderes Leseverhalten, die ›exten-
sive Lektüre‹, abgelöst: Es wurde zur Regel, immer neue Bücher und Schriften,
diese aber nur einmal zu lesen.
Allerdings konnte auch am Ende des 18. Jh.s der größte Teil der Bevölke-
rung noch kaum lesen. Erst in dieser Zeit beginnt, mit der allmählich sich
durchsetzenden Schulpflicht, der Prozess der allgemeinen Alphabetisierung.
Zwar gibt es zunehmend Bemühungen, auch den unteren sozialen Schichten
die Literatur zu erschließen, gelesen aber wird im 18. Jh. im Wesentlichen
vom Bürgertum (und vom Adel). Die genaue Bestimmung von ›Bürgertum‹,
›Bürger‹ oder ›bürgerlich‹ im 18. Jh. bereitet allerdings einige Schwierigkeiten. Die Bürgerlichen
Sie ergeben sich vor allem daraus, dass diese Zeit eine Epoche des Übergangs
44 Aufklärung

Karl Philipp Moritz:


Neues A.B.C. Buch.
Berlin 1790

war, in der sich ein alle Lebensbereiche umfassender Wandlungsprozess voll-


zieht, in dem allmählich die überkommene ständische, feudal-aristokratische
Gesellschaftsordnung durch die bürgerliche abgelöst wird. Seit der Mitte des
18. Jh.s beschleunigt sich der Wandlungsprozess immer mehr. Er wird maß-
geblich von der sozialen Schicht der Bürgerlichen getragen, zu der unter-
schiedliche Gruppen gehören: Teile des alten Bürgertums wie Kaufleute; in
Handel und Gewerbe tätige Kapitalisten; Beamte des absolutistischen Staa-
tes; Vertreter der akademisch-gelehrten Berufe wie Ärzte, Juristen, Profes-
soren an Universitäten und höheren Schulen, ebenso Pfarrer, vor allem die
protestantischen; schließlich Schriftsteller, die zunehmend den Anspruch er-
heben, die Sprecher der Bürgerlichen zu sein. Diese bürgerlichen Gruppen
sind an der Ausbildung der absolutistischen Staatsform in hohem Maße be-
teiligt und ziehen daraus den Nutzen sozialen Aufstiegs. Zugleich bleibt je-
doch die ständische Gliederung der Gesellschaft erhalten; der Adel ist die
dominierende Schicht. Von den politischen Entscheidungen sind die Bürger-
lichen weitgehend ausgeschlossen; als Gruppe sind sie ohne Mitspracherecht.
Zwischen der tatsächlichen, nicht zuletzt ökonomischen Bedeutung der Bür-
gerlichen und ihrer sozialen und politischen Stellung besteht ein sich zuneh-
mend verschärfendes Spannungsverhältnis. Zudem gehört es zu den Kenn-
zeichen des absolutistischen Staates, alle seine Mitglieder gegen die fortbeste-
hende ständisch-hierarchische Ordnung der Gesellschaft in der Gleichheit
der Untertanen dem Staat gegenüberzustellen. Die Erfahrung dieser nega-
tiven Gleichheit und die Erfahrung, durch ihre Arbeit und Leistung an der
staatlichen und sozialen Entwicklung maßgeblich beteiligt, politisch jedoch
entmündigt zu sein, bestimmen das Selbstverständnis der Bürgerlichen. Es
Bürgerliche äußert sich vor allem in der Ausbildung der bürgerlichen Öffentlichkeit, in
Öffentlichkeit der die Bürgerlichen ihre eigene Situation diskutieren und zunehmend die
Teilhabe an Staat und Gesellschaft fordern. In dieser Öffentlichkeit gewinnt
die Literatur hohe Bedeutung; sie wird zum zentralen Medium der Kommu-
nikation.
In der umfangreichen Diskussion, die in dieser Öffentlichkeit über die Be-
deutung von ›Bürger‹ geführt wird, wird immer wieder zwischen dem Staats-
bürger und dem Privatbürger oder, wie es dazu synonym heißt, dem Men-
schen unterschieden. Dabei meint ›Staatsbürger‹ die Mitglieder der im Staat
Bürgertum und Aufklärung 45

organisierten Gesellschaft; bezeichnet ist damit nicht zuletzt deren Gleichheit


als Untertanen. Dagegen kommt in der Bezeichnung ›Privatbürger‹ oder
›Mensch‹ vor allem die soziale Erfahrung der Bürgerlichen zum Ausdruck,
dass die eigene Stellung im absolutistischen Staat mit der ständischen Ord- ›Staatsbürger‹ und
nung nicht übereinstimmt. Zugleich wird in der Unterscheidung ein für die ›Mensch‹
Bürgerlichen charakteristisches Merkmal sichtbar; die Trennung zwischen
öffentlicher und privater Sphäre.
Die Formel vom Bürger und Menschen wird auch zu einem Leitwort der
Erziehung. In einer 1771 erschienenen Zeitschrift für Eltern, Christian Gott-
fried Böckhs Wochenschrift zum Besten der Erziehung der Jugend, wird auf
die Frage »Wem also werden die Kinder eigentlich geboren?« geantwortet:
»dem Staate werden sie geboren«. Aus der Zuordnung der Kinder zum Staat
folgt die Verpflichtung der Eltern zu entsprechender Erziehung; so heißt es
weiter: »Ich will es [das Kind] zum Dienst [...] meines Vaterlandes recht-
schaffen erziehen, um ihm in einem guten Bürger ein ganzes Geschlecht von
guten Bürgern zu geben«. Es folgen weitere Bestimmungen: »Kinder also,
weß Stands und Geschlechts sie auch seyn mögen, sind Bürger der Welt und
Glieder des Staats, und sie sind es von der ersten Stunde ihrer Geburt an«. Im
Spannungsverhältnis zwischen ›Staatsbürger‹ und ›Mensch‹ werden von den
Bürgerlichen die Verhaltensweisen, Normen, Werte und Formen des Den-
kens, kurz: die zivilisierten Standards ausgebildet, die gängigerweise ›bürger-
lich‹ genannt werden. Dazu gehören Verhaltensregeln – ›Tugenden‹, wie es
im 18. Jh. heißt –, deren Basis die soziale Erfahrung der Bürgerlichen ist, wie
Sparsamkeit, Arbeitsamkeit, die Bereitschaft zu Leistung und Bildung. Dazu
gehört ein an Vernunftgründen orientiertes, ›rationales‹ Verhältnis zur ›Wirk-
lichkeit‹, zu den Gegebenheiten in der Natur und in der Gesellschaft, im all-
täglichen Leben ebenso wie in den Bereichen der Ökonomie oder des Staa- Christian Felix Weiße:
tes. Der Kinderfreund. Erster
Die bürgerlichen Werte werden teilweise auch von anderen Gruppen über- Theil. Leipzig 1776
nommen, die sich dem neuen »sozialen Habitus« (Norbert Elias) angleichen,
ohne dass damit die ständische Ordnung aufgehoben worden wäre. Dies gilt
vor allem für Teile des Adels, insbesondere des Landadels. Deshalb können
in der Literatur des 18. Jh.s, auch in der Kinderliteratur, Adlige als Träger
dieser Standards auftreten. Darin ist nicht zuletzt der Anspruch der Bürger-
lichen dokumentiert, ihre Standards seien von allgemeiner Gültigkeit; er
kommt auch in der Formel ›Bürger und Mensch‹ zum Ausdruck. Dem stän-
deübergreifenden Anspruch zum Trotz sind die bürgerlichen Werte jedoch
vor allem soziale Distinktionsmerkmale. Die Ausbildung des bürgerlichen
›sozialen Habitus‹ dient der Abgrenzung gegen andere soziale Schichten.
Die Abgrenzung richtet sich ›nach oben‹, gegen den Adel, von dem sich die Abgrenzung
Bürgerlichen durch die Orientierung an Tugend und Moral sowie die Beto- ›nach oben‹
nung eigener Arbeit und Leistung abgrenzen. Diese Abgrenzung, die Kritik
an Adel und adligen Verhaltensweisen einschließt, wird auch in der Kinderli-
teratur thematisiert. In dem Kinderschauspiel Der Geburthstag von Christian
Felix Weiße wird dem jungen Adligen Ludwig ein Degen geschenkt; zwar
schärft ihm sein Vater ein, der Degen sei nur ein äußerliches Kennzeichen des
Adels, dem er sich würdig erweisen müsse, für Ludwig ist er jedoch ein Zei-
chen seiner adligen Besonderheit und ein Mittel, die »Bürger Brut« zu drang-
salieren: »Ludwig allein. (geht gravitätisch auf dem Theater herum, und
guckt immer hinter sich nach dem Degen.) Ha! – nun sehe ich doch wie ein
Kavalier aus – So – So – nun mag mir so ein bürgerlicher Bube in den Weg
kommen – Kein Kompliment mehr, wenn er nicht auch einen Degen hat; und
nimmt er’s übel = = = halt! ich muß doch sehen, ob er heraus geht? (er zieht
46 Aufklärung

den Degen heraus; und thut, als ob er mit jemanden spräche.) Ah! ich glaube,
Bürschchen, du moqirst dich? – Wart, ich will dir geben, was dir gehört – (er
flankirt mit dem Degen umher,) hier eins – da eins – Ritz, Ratz, Ritz, Ratz –
Du willst dich wehren? stirb Canaille = = = «. Zur Geburtstagsfeier sind vier
bürgerliche Knaben eingeladen; Ludwig provoziert sie durch barsche Reden,
in denen er den Standesunterschied herausstreicht. Dagegen verhalten sich
die Besucher höflich und entgegenkommend, weisen allerdings die Provoka-
tionen Ludwigs zurück. Schließlich nennt ihn einer der Besucher ein »unge-
hobeltes, unbescheidenes Junkerchen, das sich mehr einbildet, als es ist«. Es
kommt zu dem von Ludwig gewünschten Eklat, der für ihn jedoch zum
Reinfall wird: »Ludwig. Wart! ich will Euch Jungen = = = (er zieht den Degen
heraus, und statt der Klinge steckt eine Truthahnsfeder drinnen. Er steht wie
versteinert: die Knaben aber fangen ein lautes Gelächter an, umgeben ihn,
und zischen ihn aus)«. Der Vater, der den Degen mit der Feder vertauscht
hatte, verweist Ludwig auf sein Zimmer und schenkt den Degen einem der
Besucher: »Sie sind ein braver junger Mensch, und verdienen eher ein solches
Ehrenzeichen zu tragen, als dieser«. Nicht durch adlige Geburt, sondern
durch das Verhalten wird das ›Ehrenzeichen‹ erworben; dies hatte der Vater
– immerhin selbst ein Adliger! – schon am Beginn des Schauspiels gesagt:
»Mir sind gemeine Jungen nur die, die gemein denken, und niederträchtig
handeln; [...] und so ist mancher Junker der gemeinste Junge, und mancher
gemeine Knabe seinen Verdiensten nach ein Junker.« Trotz der deutlichen
Kritik an adligem Standesdünkel wird die ständische Ordnung nicht in Frage
gestellt. Ihr wird aber eine Werteordnung entgegengesetzt, die an den »Ver-
diensten« des Einzelnen orientiert ist. Sie ist der Maßstab, an dem das Ver-
halten des Einzelnen gemessen und sein ›Wert‹ abgelesen wird.
Abgrenzung ›nach Die bürgerlichen Werte dienen gleichermaßen der Abgrenzung ›nach un-
unten‹ ten‹, von der bäuerlichen Bevölkerung und von den klein- und unterbürger-
lichen städtischen Schichten. Von ihnen grenzen sich die Bürgerlichen – wie
vom Adel – durch die Orientierung an Tugend und Moral ab, vor allem aber
durch die Betonung der eigenen (akademischen) Ausbildung und durch den
Verweis auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung, insbesondere auf den Unter-
schied zwischen körperlicher und nicht-körperlicher Arbeit. Auch diese Ab-
grenzung wird den kindlichen Lesern und Leserinnen nahegebracht. Immer
wieder wird dargestellt, wie Kinder auf Spaziergängen und Ausflügen, bei
Landaufenthalten oder auf Reisen arbeitenden Handwerkern oder Bauern
begegnen. Eines der Ziele solcher Ausflüge, schreibt Christian Gotthilf Salz-
mann, sei es, die Kinder daran zu »gewöhnen [...] mit Menschen aus allerley
Ständen umzugehen«. Vor allem sollen sie die Bedeutung der Arbeit kennen-
lernen, die von den unteren Schichten verrichtet wird. In den Reisen der
Zöglinge zu Schnepfenthal berichtet Johann Wilhelm Ausfeld von der Be-
sichtigung eines Eisenhammers; er erläutert, wo überall »bearbeitetes Eisen
nöthig« sei, und spricht dann die kindlichen Leser und Leserinnen unmittel-
bar an: »Lernt lieben Freunde, aus dieser kurzen Betrachtung den großen
Werth der niederen Stände noch mehr schätzen! Müßten wir nicht tausend
Bequemlichkeiten des Lebens, unzählige Mittel zu unserer Belehrung, zu un-
serer Ausbildung entbehren, wenn nicht Menschen da wären, die sich den
beschwerlichen, ja oft mit großer Gefahr verbundenen Geschäften unterzö-
gen, ohne die wir jene Vortheile nicht erhalten könnten?«
In der Begegnung mit den Handwerkern und Bauern sollen die bürger-
lichen Kinder nicht zuletzt ihre Abhängigkeit von deren Arbeit und damit die
Arbeitsteilung gesellschaftliche Arbeitsteilung kennenlernen. Deshalb wird ihnen auch ein-
geschärft, sich nicht über die ›niederen Stände‹ zu erheben. Insbesondere
Bürgertum und Aufklärung 47

wird auf die körperliche Arbeit der Handwerker und Bauern hingewiesen; so
beginnt Ausfeld seine Anrede an die Leser mit der Frage: »[...] ist das nicht
ein äußerst beschwerliches Geschäft, dem sich gewiß keiner von Euch, meine
jungen Leser, gern widmen möchte?« Die ›jungen Leser‹ können sicher sein,
nicht in einem Eisenhammer arbeiten zu müssen; sie erfahren in den Berich-
ten von Handwerkern und Bauern auch die Besonderheiten des eigenen Sta- Handwerker
tus in der arbeitsteiligen Gesellschaft. In die Anerkennung der handwerk- und Bauern
lichen und bäuerlichen Arbeit mischt sich deshalb Herablassung. Auf die von
ihm selbst gestellte Frage »Und wir sollen diese Menschen, unsere Wohlthä-
ter, gering schätzen?« antwortet Ausfeld: »Laßt uns vielmehr keine Gelegen-
heit versäumen, sie bey ihrem mühevollen Beruf durch freundliche Begeg-
nung, Unterstützung, guten Rath aufzuheitern; laßt uns ihnen den verdienten
Lohn der Arbeit nicht aus Kargheit schmälern«. Er spricht von den »man-
cherley Mängeln«, die bei diesen »Menschen« zu »entdecken« seien, ermahnt
jedoch seine Leser, »dieselben mit Schonung« zu beurteilen und zu bedenken,
dass die Handwerker und Bauern »in der Jugend nicht die gute Gelegenheit
hatten sich auszubilden, wie Ihr sie genießt«. Erziehung und Ausbildung sind
Merkmale, in denen sich die Bürgerlichen nach ihrem Selbstverständnis von
den ›niederen Schichten‹ unterscheiden; nicht zuletzt wird damit die Tren-
nung zwischen körperlicher und nicht-körperlicher Arbeit legitimiert. In der
Begegnung mit Handwerkern und Bauern erfahren die bürgerlichen Kinder
diese Trennung als Auszeichnung ihres sozialen Status.
Zu den ›niederen Schichten‹ gehören auch die Armen und Bedürftigen. Die Arme und Bedürftige
Einstellung zu ihnen ist ein gewichtiges Thema der Literatur für Kinder. Ge-
fordert werden Mitleiden und Wohltätigkeit. In zahlreichen Texten wird
dargestellt, wie Kinder sich in diesen im Wertekanon der Bürgerlichen des
18. Jh.s sehr hoch angesiedelten Tugenden üben, etwa auf ihr Taschengeld
verzichten, oder es wird erzählt, wie Kinder, die sich der Wohltätigkeit ver-
weigern, mit nicht selten harten Sanktionen belegt werden. In dem Kinder-
schauspiel Der ungezogene Knabe von Weiße wird der Knabe Ludwig, der
einem armen Musikanten jede Hilfe verweigert, ihm den Kuchen wegisst,
den er von anderen Kindern erhalten hatte, und schließlich gar die Geige
zerbricht, vom Vater aus dem Hause gewiesen und »einer strengern Zucht«
überstellt, um »Zeit zur Besserung [zu] haben«. Wohltätigkeit ist für die
Bürgerlichen soziale Verpflichtung. In Weißes Kinderfreund sagt der Vater
der Rahmenhandlung den Lesern und Leserinnen, dass er in ihnen »Men-
schen zu sehen hoffe, die Gott zu Ehren, ihren Aeltern zur Freude, ihren Ne-
benmenschen zum Nutzen, und sich selbst zur Glückseligkeit leben werden«.
Mitleid mit den Armen und Wohltätigkeit sind Ausdruck der Bereitschaft,
dem ›Nebenmenschen zum Nutzen‹ zu leben; wer dieser sozialen Verpflich-
tung nicht folgt, verstößt gegen seine eigene Menschlichkeit, hört – wie der
›ungezogene Knabe‹ Ludwig – gewissermaßen auf, ein Mensch zu sein, und
schließt sich selbst aus der Gesellschaft aus. Die hohe Bedeutung der Wohltä- Mitleid und
tigkeit wird am Leipziger Wochenblatt für Kinder von Johann Christoph Wohltätigkeit
Adelung, der ersten deutschen Kinderzeitschrift, erkennbar. In ihr wird zu
Spenden aufgerufen, mit denen im von den Missernten der Jahre 1771 und
1772 stark betroffenen Erzgebirge ein Waisenhaus eingerichtet werden soll.
Die Aktion, über die in der Zeitschrift ausführlich berichtet wird, ist erfolg-
reich; in den zwei Jahren, in denen die Zeitschrift erscheint, werden knapp
900 Taler gesammelt (die monatlichen Kosten für die Unterbringung und
Verpflegung eines Kindes im Waisenhaus betrugen etwa 2 Taler). Wie bei den
Berichten von Handwerkern und Bauern wird den bürgerlichen Kindern
auch in der Darstellung wohltätiger und mitleidender Haltung zu den Armen
48 Aufklärung

und Bedürftigen die Besonderheit der eigenen sozialen Situation nahege-


bracht, wird ihnen insbesondere die Erfahrung vermittelt, aufgrund der eige-
nen sozialen Situation zur Hilfe in der Lage und selbst von Bedürftigkeit
entfernt zu sein.
Die soziale Abgrenzung nach ›oben‹ wie nach ›unten‹ hat in der von den
Bürgerlichen häufig verwendeten Selbstbezeichnung des ›Mittelstandes‹ ei-
nen sinnfälligen Ausdruck gefunden. In Weißes Kinderfreund unterhält sich
die Familie der Rahmenhandlung ausführlich darüber, in welcher sozialen
Schicht die meisten Beispiele tugendhaften Verhaltens zu finden seien – ge-
nannt werden »Großmuth, Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit und Dankbarkeit«,
dazu die Bereitschaft zu »Wohltaten«. Die Antwort ist klar: »Unter dem
Mittelstande [sind] die Meisten solcher edelmüthigen Seelen zu entdecken«.
Denn die »Größten der Erde« handelten tugendhaft zumeist nur aus Eigen-
nutz; bei der »Klasse des gemeinen Volks« hingegen ersticke der Mangel tu-
gendhafte Empfindungen. Dagegen seien die Mitglieder des Mittelstandes
»auf der einen Seite weder durch den zu großen Ueberfluß, noch auf der an-
dern durch die weite Entfernung von dem äußersten menschlichen Elende
nicht empfindungslos gegen das Schicksal ihrer Brüder«; vor allem aber finde
im Mittelstand »die beste Erziehung statt«.
Der ›Mittelstand‹ Mit ›Mittelstand‹ ist die soziale Stellung der Bürgerlichen zwischen ›oben‹
und ›unten‹, zwischen Adel und den nichtbürgerlichen Schichten bezeichnet;
gemeint ist damit aber auch, dass die bürgerlichen Verhaltensstandards zum
Maßstab für die Beurteilung der anderen Schichten werden. Die Selbstbe-
zeichnung verweist auf einen Widerspruch, der auch in der Formel vom
Bürger und Menschen sichtbar wird: Die Standards, an denen sich der ›Mit-
telstand‹ orientiert, dienen zuallererst dazu, die eigene soziale Stellung zu le-
gitimieren; zugleich erheben die Bürgerlichen den Anspruch, diese Standards
seien für alle Menschen gültig. Dieser Widerspruch von allgemeinem An-
spruch und partikularem Interesse prägt auch die weitere Entwicklung der
bürgerlichen Gesellschaft.
Aufklärung Der Modernisierungsschub im 18. Jh. hat seinen geistigen Ausdruck in der
europäischen Bewegung der Aufklärung gefunden, die etwa um die Mitte des
17. Jh.s einsetzt und im 18. Jh. ihren Höhepunkt hat. Aufklärung ist der
Versuch, eine »immanente Erklärung der Welt aus überall gültigen Erkennt-
nismitteln und eine rationale Ordnung des Lebens im Dienste allgemeingül-
tiger praktischer Zwecke« zu erreichen (Ernst Troeltsch). Gestützt auf die
Ausbildung der Wissenschaften wird die als allgemeines Prinzip gedachte
Vernunft zum Leitbegriff. An ihr wird menschliches Verhalten und Handeln
gemessen. Die Orientierung am Prinzip Vernunft bedeutet deshalb zunächst
die kritische Analyse des Überkommenen, insbesondere der Vorurteile, die
ein vernunftbestimmtes Handeln der Menschen verhindern. Bezogen ist diese
Kritik jedoch stets auf die Lebenspraxis und auf den Anspruch der Menschen
auf Glück – auf Glückseligkeit, wie es im Vokabular der Aufklärung heißt.
Sie ist auf das praktische Ziel der Einrichtung einer Welt gerichtet, in der
Glück für alle möglich wird. Zu den Grundvorstellungen der Aufklärung
gehört die Idee fortschreitender Vervollkommnung, der Perfektibilität der
Menschen; die eigene Epoche wird als eine wesentliche Station zu dieser
Vervollkommnung verstanden. Der Weg, der zur Vervollkommnung führt,
heißt für die Aufklärer Erziehung – Erziehung des Einzelnen und, mit dem
Titel einer wichtigen Schrift Lessings, Erziehung des Menschengeschlechts.
Erziehung In der Erziehung des Einzelnen zu vernünftigem, damit auch sittlichem Han-
deln, wird – so die Überzeugung der Aufklärung – über die Vervollkomm-
nung der Menschen die Verbesserung der Gesellschaft erreicht.
Pädagogik 49

Pädagogik

Im 18. Jh., das oft auch das ›Jahrhundert der Pädagogik‹ genannt wurde,
wird die Erziehung als eigenständige Wissenschaft ausgebildet. Die Erörte-
rung pädagogischer Grundsätze ist ein wichtiger Bestandteil der öffentlichen
Diskussion über Aufklärung, nicht zuletzt deshalb, weil darin anthropolo-
gische Grundvorstellungen zur Sprache kommen. Die in der ersten Hälfte
des Jahrhunderts entwickelten pädagogischen Vorstellungen lassen sich als
›rationalistische‹ kennzeichnen – wobei ›Rationalismus‹ in Unterscheidung
von sensualistischen Tendenzen die in Deutschland dominante Tendenz von
Aufklärung meint, für die die logische Ableitung aus Begriffen Vorrang vor
der sinnlichen Erfahrung hat und deshalb richtige Erkenntnis nur gegeben
ist, wenn die Erfahrung unter Begriffe subsumiert werden kann. Von maß-
geblichem Einfluss war der englische Philosoph John Locke, dessen 1693
erschienener Essay Gedanken über Erziehung (Some Thoughts Concerning
Education) ein Grundbuch aufgeklärter Pädagogik war; eine nicht geringe
Rolle spielte auch der französische Theologe und Prinzenerzieher François
Fénelon und sein 1699 erschienener ›Erziehungsroman‹ Les aventures de
Telemaque. Für Locke bedarf die Vernunft, die er nicht nur als Erkenntnis-
vermögen, sondern zugleich als Instanz der Tugend versteht, der systemati-
schen Ausbildung und Übung; deshalb ist bei Kindern, deren Eigenart Locke
vor allem darin sieht, noch ganz von ihren Trieben und von den Sinnen be-
herrscht zu sein, eine frühe Erziehung der Vernunft und zur Vernunft erfor- Erziehung zur Vernunft
derlich. Diese Vorstellungen werden in Deutschland – gegen den sensualisti-
schen Ausgangspunkt Lockes – mit der rationalistischen Erkenntnistheorie
verbunden, für die sich der Erkenntnisprozess in einer geordneten Stufen-
folge, von verworrenen Vorstellungen hin zu klaren und deutlichen Begriffen,
vollzieht. Diese Stufenfolge der Erkenntnis wird gewissermaßen auf die Aus-
bildung der Vernunft beim Kind übertragen. Die Konsequenzen sind eine
frühe Vermittlung umfassender Kenntnisse und eine frühe Vernunfteinübung,
die darauf ausgeht, den Kindern die ›richtigen‹ Begriffe zu lehren.
Zugleich ist die Pädagogik in der ersten Hälfte des 18. Jh.s noch eng mit
der Theologie verbunden. Im Zusammenhang mit aufklärungstheologischen Theologische
Konzeptionen wird eine in ihrer Breitenwirkung nicht hoch genug einzu- Pädagogik:
schätzende Verbindung von Theologie und rationalistischer Pädagogik aus- Der Kampf gegen
gebildet, für die, neben der religiösen Unterweisung, die Einübung ›richtiger‹ das ›Böse‹
Moralbegriffe im Vordergrund steht; ein wichtiger Vertreter war Johann Pe-
ter Miller. Eine vor allem in der zweiten Jahrhunderthälfte stark hervortre-
tende Differenz zwischen theologisch orientierter und genuin aufgeklärter
Pädagogik liegt im unterschiedlichen anthropologischen Ausgangspunkt. In
christlicher Tradition ist die in die Erbsündevorstellung gefasste Überzeu-
gung, dass das Trachten des menschlichen Herzens böse sei von Jugend auf
(1. Mose 8,21), Basis jeder Erziehung; deshalb sei es nötig, den angeborenen
Hang zum Bösen in den Kindern zu bekämpfen. So heißt es im Vorwort des
Übersetzers Johann Gottfried Gellius der 1763 auf deutsch erschienenen,
ursprünglich englischen Sittenlehre Bibliothek für Jünglinge: »Die Untugend
in jungen Herzen bedarf eines unaufhörlichen Widerstandes«. Der Kampf
der Erzieher gilt insbesondere dem ›Eigensinn‹ des Kindes, in dem sich der
Hang zum Bösen zeige und gegen den mit Sanktionen, nicht zuletzt auch mit
körperlichen Strafen, vorzugehen sei; so stellt J. P. Miller fest, »daß ganz
kleine Kinder […] nicht ohne Ruthe vom Eigensinne, der besonders zwischen
dem dritten und vierten Jahre am stärksten ausbricht, befreyet werden kön-
50 Aufklärung

nen«. Diese Absicht wird immer wieder – so etwa von Gellius – in die altü-
berlieferte Formel gebracht, der Wille des Kindes müsse (weil er Wille zum
Bösen sei) gebrochen werden: »Alle Welt ist darinne einstimmig, daß man
der Kinder Willen brechen […] müsse, und daß man, wenn es nicht durch
gelinde Mittel dahin zu bringen ist, ohne Bedenken zu schärfern greifen
sollte«. Zur ›Kinderzucht‹, wie der gängige zeitgenössische Begriff heißt, ge-
hört deshalb die Konditionierung von Furcht: »Sie widerstreitet allem Bösen
in unsrer Seele […]. Wenn man Kindern etwas auferlegt, das ihrem Geschma-
cke entgegenstreitet, so ist die Furcht das geschickteste Mittel, diesen Befehl
Aufgeklärte Kritik an zu unterstützen«. Diesen Grundsätzen ›schwarzer Pädagogik‹ hat die aufge-
›schwarzer Pädagogik‹ klärte Pädagogik vehement widersprochen, ebenso hat sie die daraus gefol-
gerten Erziehungsmittel nachdrücklich verworfen. Sehr deutlich benennt
Salzmann im Ameisenbüchlein, einem Lehrbuch für Erzieher, den anderen
anthropologischen Ausgangspunkt aufgeklärter Pädagogik: »Der neugebo-
rene Mensch kann noch nicht gehen, und das Prinzip seiner Handlungen
sind seine Empfindungen. Was ihm angenehme Empfindungen verursacht,
begehrt, was unangenehme Empfindungen bewirkt, das flieht er. Da ist keine
Rücksicht auf Religion und Moral sichtbar«. Von einem »moralischen Ver-
derben« der menschlichen Natur, so Salzmann weiter, könne keine Rede sein;
deshalb fordert er: »Schafft die moralischen Gängelwagen und Laufzäume
ab, und der moralische Mensch wird sich eben so gut von selbst entwickeln
und erst gut, dann edel zu handeln anfangen«. Die Maxime, in die Salzmann
das Prinzip seiner Erziehungskonzeption fasst, zeigt den Unterschied zwi-
schen aufgeklärter und theologisch orientierter Pädagogik: »Man lasse daher
das Kind immer seinen eigenen Willen tun, so wird es gut werden«.
Etwa seit der Jahrhundertmitte vollziehen sich im Zusammenhang stärke-
rer Berücksichtigung sensualistischer Konzepte Veränderungen in der aufge-
klärten Pädagogik. Epochemachend wurde dann Jean Jacques Rousseaus
Jean Jacques Rousseau: Erziehungsroman Emile ou de L’Education, der 1762 erschien. Entscheidend
Natürliche Erziehung, für die enorme Wirkung waren vor allem zwei Momente: Die Konzeption
eigenständige Kindheit einer ›natürlichen‹ Erziehung, die nicht zuletzt dem Prinzip folgte, dass die
Ausbildung der Natur des Kindes, weil die Natur gut sei, notwendig – ›na-
türlicherweise‹ – zur Tugendhaftigkeit führe, und die Behauptung der Eigen-
ständigkeit des Kindes, mit der Kindheit als eine von eigenen Bedingungen
und Gesetzmäßigkeiten bestimmte Lebensphase vom Erwachsensein unter-
schieden wird. Zwar sind Pädagogik und Kinderliteratur in Deutschland den
mit radikaler Konsequenz durchgeführten Vorstellungen Rousseaus keines-
wegs vollständig gefolgt und haben konträre Konzepte entwickelt, dennoch
markiert das Erscheinen dieses Romans eine Zäsur in der Geschichte der
Pädagogik und der Kinderliteratur auch in Deutschland. Von zentraler Be-
deutung war vor allem, dass Kinder nicht mehr lediglich als kleine Erwach-
sene angesehen wurden, die möglichst früh an Kenntnisse herangeführt wer-
den sollten. Mit der Differenzierung zwischen Kindheit und Erwachsensein
veränderte sich die erzieherische Zuwendung und mit ihr die Literatur für
Kinder. Insofern lassen sich in der Entwicklung der aufgeklärten Kinderlite-
ratur in Deutschland zwei Phasen unterscheiden – eine erste, in der die kin-
derliterarische Produktion an der rationalistischen Pädagogik orientiert ist,
und eine zweite, die etwa mit der Jahrhundertmitte einsetzt, vor allem in den
70er und 80er Jahren des Jahrhunderts ihren Höhepunkt hat und nachhaltig
durch die Auseinandersetzung mit Rousseau geprägt ist.
Diese Auseinandersetzung durchzieht die pädagogische Diskussion im letz-
ten Drittel des 18. Jh.s; sie hat auch zu nicht unerheblichen Differenzierungen
innerhalb der aufgeklärten Pädagogik beigetragen. Trotz solcher Unter-
Familie und Kindheit 51

schiede lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, die in der Pädagogik der Philanthropismus
Philanthropen gebündelt sind. Der Philanthropismus, der mit Namen wie
Johann Bernhard Basedow, der 1774 in Dessau die Modellschule des Philan-
thropins gründete, Joachim Heinrich Campe, Christian Gotthilf Salzmann,
Isaak Iselin oder Ernst Christian Trapp verbunden ist, verkörpert die domi-
nante Tendenz aufgeklärter Pädagogik in Deutschland, an der sich auch ori-
entierte, wer nicht in allem mit ihren Grundsätzen und Vorstellungen über-
einstimmte. Kennzeichnend für die philanthropische Pädagogik ist die Aus-
richtung an einer zugleich vernunft- und naturgemäßen Erziehung. Die
erzieherische Zuwendung soll sich der Eigenheit der Kinder anpassen, sich
zu ihnen ›herablassen‹. Wahrnehmungsmöglichkeiten und Erfahrungshori-
zont der Kinder werden berücksichtigt; spielerische Elemente werden in den
Lernvorgang integriert. Die Ausbildung praktischer Fähigkeiten und körper-
liche Betätigung nehmen größeren Raum ein; dagegen tritt die Vermittlung
enzyklopädischer Kenntnisse zurück. Kennzeichnend ist weiter das Ziel, die
individuelle Ausbildung des Kindes mit sozialer Erziehung zu verbinden; Johann Bernhard
darin unterscheiden sich die philanthropische und überhaupt die aufgeklärte Basedow. Lithographie
Pädagogik in Deutschland von Rousseau und seinem radikal individualisti- von F. W. Wenig nach
schen Erziehungskonzept; Emile soll allein, isoliert von der Gesellschaft auf- Daniel Chodowiecki
wachsen. Die Verbindung von individueller und sozialer Erziehung prägt
auch die Pädagogik Johann Heinrich Pestalozzis, der eine eigenständige Posi-
tion innerhalb der aufgeklärten Pädagogik einnimmt und für die weitere
Geschichte von Erziehung und Pädagogik von erheblicher Bedeutung war.
Wie der Pädagogik der Philanthropen kommt auch der in ihrem Umkreis Philanthropische
entstandenen Literatur für Kinder eine beherrschende Stellung zu; sie setzt Kinderliteratur
im letzten Drittel des 18. Jh.s die Maßstäbe für kinderliterarische Bemü-
hungen in Deutschland und bildet so deren maßgeblichen Kern. Zur ge-
naueren Charakterisierung der beiden Phasen aufgeklärter Kinderliteratur in
Deutschland kann deshalb, wenn auch mit einiger Verkürzung, zwischen der
vor-philanthropischen und der philanthropischen Kinderliteratur unterschie-
den werden, wobei zudem die Letztere in mehrfacher Hinsicht als die eigent-
lich aufgeklärte Kinderliteratur gelten kann. In ihr finden die pädagogischen
und die kinderliterarischen Vorstellungen der Aufklärung ihren umfassenden
Ausdruck; die vorangehenden kinderliterarischen Bemühungen erscheinen in
dieser Perspektive eher als Vorstufen. Die Ausbildung der philanthropischen
Kinderliteratur korrespondiert mit den Veränderungen im literarischen
Markt und ist zudem mit dem gleichzeitigen Wandel in der Erwachsenenlite-
ratur verbunden. Die literarischen Tendenzen der Empfindsamkeit und dann
des Sturm und Drang bilden sich in zeitlicher Parallelität zur philanthro-
pischen Kinderliteratur aus; zwischen den Autoren, die fast alle der gleichen
Generation angehören, gibt es zahlreiche persönliche Verbindungen.

Familie und Kindheit

Der Wandel in der Einstellung zur Kindheit, die Veränderungen in der Päda-
gogik, ebenso die Ausbildung der aufgeklärten Kinderliteratur sind nur zu
verstehen vor dem Hintergrund des Wandels der Familie, der sich in der
Schicht der Bürgerlichen vollzieht. In ihr wird im Verlauf des 18. Jh.s die Fa-
milienstruktur ausgebildet, die dann im 19. Jh. in den europäischen Gesell-
52 Aufklärung

Wandel zur bürger- schaften zur dominanten Form der Familie wird und bis in die Gegenwart
lichen Kleinfamilie geblieben ist: die bürgerliche Kleinfamilie, die im Wesentlichen aus der häus-
lichen Gemeinschaft von Eltern und Kindern besteht und insofern als Eltern-
Kinder-Figuration bezeichnet werden kann. Sie löst die für die traditionelle
europäische Gesellschaft kennzeichnende und im 18. Jh. in den nichtbürger-
lichen Schichten fortbestehende Figuration der großen Haushaltsfamilie ab.
Die beiden Familienformen unterscheiden sich vor allem in ökonomischer
Hinsicht. Die große Haushaltsfamilie ist eine Produktions- und Erwerbsge-
meinschaft; die gemeinsame, unter den Mitgliedern aufgeteilte Arbeit bildet
ihre Basis. Zur häuslichen Gemeinschaft der Familie gehören nicht nur Eltern
und Kinder, sondern alle an der familiären Arbeit Beteiligten, die Knechte
und Mägde in der Bauernfamilie ebenso wie die Gesellen und Lehrlinge in
der Handwerkerfamilie. Dagegen ist die bürgerliche Kleinfamilie keine Er-
werbs- und Produktionsgemeinschaft; ihr Unterhalt wird nicht durch gemein-
schaftliche Arbeit der Familienmitglieder, sondern durch außerfamiliäre Tä-
Trennung von Familie tigkeit gewährleistet. Die Trennung von Familie und Beruf kennzeichnet die
und Beruf Ökonomie der modernen bürgerlichen Gesellschaft; die Ausbildung außerfa-
miliärer Berufstätigkeit gehört zu den Voraussetzungen des familialen Wan-
dels. Im 18. Jh. (und weit bis ins 20. Jh. hinein) ist außerfamiliäre Berufstätig-
keit allerdings nahezu ausschließlich den Männern vorbehalten. Damit wird
die Familie von der Berufstätigkeit des Mannes abhängig. Davon ist insbe-
sondere die Beziehung zwischen den Geschlechtern betroffen. Die bürgerliche
Frau wird zwar von Arbeit (als Erwerbstätigkeit für den Unterhalt der Fami-
lie) entlastet, zugleich jedoch auf den innerfamiliären Bereich eingeschränkt;
sie gerät in die nahezu vollständige ökonomische Abhängigkeit vom (Ehe-)
Mann. Eine weitere Folge der Trennung von Arbeit und Familie ist die Aus-
Ausgliederung des gliederung des Gesindes. Die für die bürgerliche Familie tätigen ›Dienstboten‹
Gesindes verrichten ihre Arbeit nicht mehr in der Familie und für den gemeinsamen
Erwerb, sondern im Dienst der Familie; an die Stelle der familiären Aufnahme
tritt ein Lohnverhältnis. Die Familie wird zur Eltern-Kinder-Figuration.
Mit dem Wandel der Familienstruktur verändern sich die Beziehungen
zwischen den Familienmitgliedern. Durch die Trennung von Familie und Be-

Von Hunger und Durst,


Speise und Trank. Tafel
von J. F. Schleuen, aus:
J. B. Basedow: Anfang der
Arbeit am Elementar-
buche. Berlin 1769
Familie und Kindheit 53

ruf wird die Familie zu einem privaten Binnenraum, der ›nach außen‹ abge-
grenzt ist. Von Arbeit entlastet, werden die Beziehungen in der Familie per-
sönlicher, intimer und emotionaler; im Binnenraum des Privaten begegnen
sich die Mitglieder der Familie – jedenfalls der Idee nach – als Menschen und
nicht, wie im öffentlichen Bereich von Staat und Gesellschaft, als Träger der
ihnen zukommenden Funktionen, als Arbeitende oder als Untertanen. Für
die Ausbildung des bürgerlichen sozialen Habitus ist dieser Sachverhalt von
kaum zu überschätzendem Gewicht. In ihm ist auch die hohe Bedeutung be- Der private
gründet, die der Darstellung der Familie in der bürgerlichen Literatur des 18. Binnenraum: Familie
Jh.s zukommt – in den Moralischen Wochenschriften, die bis zur Jahrhun- als Modell
dertmitte eine wichtige Form der Zeitschriften sind, im Drama, so in den
Komödien, die im Umkreis der Schule Gottscheds geschrieben werden, und
vor allem im ›bürgerlichen Trauerspiel‹, etwa bei Lessing, oder im Familien-
roman, der im letzten Drittel des Jahrhunderts zu einer beliebten Gattung
wird. Das familiäre Zusammenleben, das auf Vernunft und Tugend, auf Sym-
pathie, Zärtlichkeit und Mitleiden gegründet ist, wird zum Modell sozialer
Beziehungen überhaupt; die literarischen Darstellungen der Familie, in denen
die neuen familiären Gegebenheiten reflektiert und zugleich überhöht wer-
den (denn die ›Wirklichkeit‹ in den bürgerlichen Familien stimmt mit dem
Ideal der literarischen Darstellung durchaus nicht immer überein!), werden
zu Bildern eines möglichen menschlichen Zusammenlebens und möglicher
sozialer Ordnung. Auch in der aufgeklärten Kinderliteratur kommt der Dar-
stellung des familiären Zusammenlebens hohe Bedeutung zu. So ist für die
Kinderzeitschriften der Aufklärung eine Rahmenhandlung typisch, in der
von einer Familie erzählt wird; die Behandlung der unterschiedlichen The-
men und die Präsentation der verschiedenen literarischen Genres ist in die
Darstellung dieser Familie und ihres Zusammenseins eingebettet. In Weißes Familie in der
Kinderfreund, der für die Kinderzeitschriften der Aufklärung modellbildend Kinderliteratur
war, besteht diese Familie aus dem Vater Mentor und seinen vier Kindern
Charlotte, Karl, Fritz und Luise – die Mutter spielt nur am Rande eine Rolle;
vier Hausfreunde kommen dazu, die vor allem als Lehrende auftreten. Die
Themen, die in der Zeitschrift behandelt werden, erwachsen aus dem famili-
ären Zusammenleben oder sind Gegenstände des familiären Gesprächs. Die
literarischen Genres, die Weiße aufnimmt – und es sind im Kinderfreund
vom Kinderlied über Fabel, moralische Erzählung und sachlich-berichtende
Formen bis zum Kinderschauspiel nahezu alle Genres der aufgeklärten Kin-
derliteratur vertreten –, werden in der Familie verwendet, von den Kindern
gelesen, gesungen oder, wie die Kinderschauspiele, aufgeführt. Andere Kin-
derzeitschriften und andere Genres folgen diesem Modell. Den kindlichen
Leserinnen und Lesern wird in diesen Texten familiäres Zusammenleben und
damit auch stets die Erziehungssituation vorgestellt.
Mit dem Wandel der Familie verändert sich notwendigerweise auch die Wandel der Kindheit
Kindheit. Mehrfach ist die These vertreten worden, in der Aufklärung sei
Kindheit überhaupt erst ›entdeckt‹ worden; dies würde bedeuten, dass den
vorangehenden Epochen Kindheit unbekannt gewesen sei. Sinnvoller ist es
wohl, statt von der Entdeckung der Kindheit im 18. Jahrhundert von einem
– allerdings tiefgehenden – Wandel im Status und in den Gegebenheiten von
Kindheit zu sprechen, der in der frühen Neuzeit beginnt und im 18. Jh. eine
Beschleunigung erfährt. Die Einstellungen der Erwachsenen zur nachwach-
senden Generation, und damit die Beziehungen zwischen den Generationen,
verändern sich und mit ihnen die Lebensweisen und Lebensmöglichkeiten
der Kinder (ebenso die der Erwachsenen). Im 18. Jh. kommt es zur Ausbil-
dung einer ersten Form bürgerlicher Kindheit, zu der eine Reihe von Merk-
54 Aufklärung

malen gehört, die zusammen mit anderen, die in der weiteren historischen
Entwicklung ausgebildet werden, in den europäischen Gesellschaften in allen
sozialen Schichten bis heute die lebensgeschichtliche Phase vor dem Eintritt
in das Erwachsensein bestimmen. Eines dieser Merkmale ist die heute un-
trennbar erscheinende Verknüpfung von Kindheit und Schule, die auch im
18. Jh. bereits bestand, allerdings allein für die bürgerlichen (und auch die
adligen) Jungen (bei noch immer hoher Bedeutung des häuslichen Unter-
richts). Für die bürgerlichen Mädchen und für die Kinder der bäuerlichen
und der unter-bürgerlichen Schichten war sie bestenfalls im Ansatz gegeben.
Von zentraler Bedeutung für die Ausbildung bürgerlicher Kindheit war die
Entlastung von Arbeit Entlastung der Familie von Arbeit. In den älteren Familienformen wurden
die Kinder ihren Fähigkeiten entsprechend zu der für den Unterhalt der Fa-
milie notwendigen Arbeit herangezogen, damit in die familiäre Erwerbsge-
meinschaft integriert und deshalb auch tendenziell wie Erwachsene behan-
delt. Für die bürgerlichen Kinder besteht hingegen weder die Notwendigkeit
noch – da Beruf und Familie getrennt sind – die Möglichkeit zu solcher in-
nerfamiliärer (Erwerbs-)Arbeit. Keineswegs wurde damit Kindheit zu einer
Zeit freier Betätigung oder des Spiels; vielmehr werden die bürgerlichen Kin-
der stets zu ›nützlichen‹ Beschäftigungen angehalten, zu handwerklichen Ar-
beiten oder zur Gartenarbeit. So erscheinen sie auch in den Texten der Kin-
derliteratur. Immer wieder wird in der Kinderliteratur die bürgerliche Hoch-
schätzung der Arbeit herausgestellt; die Variationen des Sprichworts, dass
Müßiggang aller Laster Anfang sei, sind zahlreich. In Weißes Kinderfreund
heißt es: »Leben heißt wirksam seyn, seine Zeit mit nützlichen Dingen nach
den Umständen unsers Stands und Berufs anfüllen; Müßiggang, wir mögen
schlafen oder wachen, ist also moralisches Nichtleben«. Die Entlastung von
notwendiger Erwerbsarbeit führt zwar, da der Eintritt in das Berufsleben
zeitlich hinausgeschoben wird, zur Verlängerung von Kindheit, zugleich je-
doch wird bürgerliche Kindheit im 18. Jh. zu einer Lebenszeit der Gewöh-
nung an Arbeit und Tätigkeit.

Der Unterricht der Kinder


um Gottes willen. Kupfer
von D. Chodowiecki, aus:
J. B. Basedow: Kupferta-
feln zum Elementarbuche.
Bremen 1770
Familie und Kindheit 55

Die zentrale Beschäftigung, zu der die bürgerlichen Kinder angehalten


werden, ist das Lernen. Die Ausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten Lernen
tritt an die Stelle der frühzeitigen Teilnahme an der Erwerbsarbeit. Dass
Kindheit vornehmlich eine Zeit des Lernens sei, wird den kindlichen Lesern
und Leserinnen immer wieder gesagt. So heißt es in dem von Johann Lorenz
Benzler herausgegebenen Niedersächsischen Wochenblatt für Kinder: »Die
Jugend soll lernen, um sich dadurch zu dem Dienste Gottes und der Welt
geschickt zu machen«. Das Lernen ist Einübung der Tugend der Arbeitsam-
keit; es dient neben der Vermittlung von Fähigkeiten und Fertigkeiten dazu,
diesen Wert in der nachwachsenden Generation zu verankern. Die hohe Be-
deutung des Lernens ist aber auch in den realen Gegebenheiten bürgerlicher
Kindheit begründet. Mit der Ausbildung der außerhäuslichen Berufstätigkeit
und damit der nach außen abgeschlossenen Binnensphäre der Familie wird
die nachwachsende Generation von der Berufswelt isoliert. In der großen
Haushaltsfamilie stehen die Kinder in unmittelbarer Beziehung zu Arbeit
und Beruf der Erwachsenen. Sie werden in der Teilnahme am familiären Er-
werb in ihre künftige berufliche Rolle eingeführt und erwerben die dafür
nötigen Fähigkeiten und Fertigkeiten durch identifikatorisches Lernen. Für
die bürgerlichen Kinder gibt es diese Möglichkeit nicht. Dies gilt zudem nicht
allein für die künftige Berufstätigkeit; vielmehr wird der familiäre Binnen-
raum tendenziell von den ihn umgebenden sozialen Gegebenheiten überhaupt
abgeschlossen. Die unmittelbare Erfahrung bürgerlicher Kinder ist auf den
familiären Bereich – und auf den der Schule – beschränkt. Diese Eingrenzung
verlangt, dass die nicht-familiären Gegebenheiten auf eine vermittelte Weise
wieder in die Familie hereingeholt werden, um sie den Kindern nahe zu brin-
gen. Mit der Ausbildung der bürgerlichen Kleinfamilie wird der kindliche
Erfahrungsbereich der Berührung mit der Arbeitswelt entzogen. Zur Welt Literatur als Medium
der Erwachsenen außerhalb der Familie, haben die bürgerlichen Kinder le- der Erfahrung
diglich eine vermittelte Beziehung. Hier erhält die Literatur für Kinder eine
Funktion, die es jedenfalls in diesem Umfang zuvor nicht gegeben hat: Sie
wird zu einem wichtigen Medium, durch das den Kindern die Erfahrungen,
die ihnen unmittelbar nicht mehr zugänglich sind, vermittelt werden.
Die Auszehrung der Erfahrung betrifft tendenziell den gesamten nicht-fa-
miliären Bereich. Die enorme Ausweitung des schulischen Bereichs seit dem
18. Jh. ist darin mitbegründet; bis heute ist die Schule die zentrale soziale
Institution, in der den Kindern und Jugendlichen die ihnen nicht unmittelbar
zugängliche Welt der Erwachsenen vermittelt wird. Im 18. Jh. hat die Abtren-
nung bürgerlicher Kindheit von der Arbeitswelt noch eine besondere Bedeu-
tung. Sie betrifft, da außerfamiliäre Berufstätigkeit weitgehend den Männern
vorbehalten ist, allein die Jungen; ihnen ist der Erwerb beruflicher Qualifika-
tionen durch identifikatorisches Lernen in der Familie nicht mehr möglich.
Dagegen erlernen die Mädchen ihre künftige ›berufliche‹ Rolle, die auf die
innerfamiliäre Tätigkeit der Hausfrau und Mutter eingeschränkt ist, weiter
durch die Teilnahme an der häuslichen Arbeit der Mutter. Die Begrenzung
der weiblichen Rolle auf den privaten Bereich und die Ausgrenzung der Begrenzung der
Frauen aus der öffentlichen Sphäre von Ökonomie, Gesellschaft und Staat weiblichen Rolle
werden so bereits in der Kindheit vorbereitet.
Für die Aufklärung ist das Lernen vor allem auf das künftige Erwachsen-
sein bezogen; es dient dem Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die der
spätere Erwachsene brauchen wird, und – allgemein – der Einübung der
künftigen Erwachsenenrolle. Mit dem Lernen ist eine bestimmte Beziehung
zwischen Kindheit und Erwachsensein gesetzt. Zwar wird, nicht zuletzt in-
folge der Wirkung von Rousseaus Emile, Kindheit als eine besondere Le-
56 Aufklärung

bensphase verstanden. Dennoch bleibt sie weiterhin eng auf das (künftige)
Erwachsensein bezogen und gilt vor allem als Vorbereitung darauf; sie wird
als eine Übergangszeit verstanden. Dieses Verständnis prägt die aufgeklärte
Kinderliteratur. So ist, verglichen mit späterer Kinderliteratur, die Zahl der
Erwachsenenfiguren in den Texten auffällig hoch; die Kinderfiguren sind in
der Regel von Erwachsenen umgeben. Die noch immer enge Beziehung von
Kindheit und Erwachsenenstatus wird darin deutlich. Auch die Darstellung
der Kinderfiguren geschieht letzten Endes aus dieser Perspektive des künf-
tigen Erwachsenseins. Moralische Erzählungen etwa, deren Hauptfigur ein
Kind ist, schließen häufig mit dem Blick auf das künftige Erwachsensein; die
Kinderfigur wird gleichsam in eine Erwachsenenfigur transformiert. In die-
sen Schlusswendungen werden die Konsequenzen der Tugend oder des Las-
ters, die das Thema der Erzählung bilden, im Erwachsensein benannt. So
endet etwa eine moralische Erzählung von Georg Carl Claudius, in der von
dem kleinen Paul erzählt wird, der lernt, fleißig zu sein: »Er blieb 50 als
Jüngling, und auch so als Mann. Gottes Segen unterstützte alles, was er un-
ternahm, und er ward ein Muster rechtschaffner, kenntnißvoller und allge-
mein beliebter Männer«. Die Erzählung vom »wilden Sylvester« von Johann
Balbach schließt mit der Feststellung, »daß er nicht nur immer mehr verwil-
derte, sondern auch endlich von der ganzen Welt vergessen wurde; so daß er
nach dem Tod seiner Eltern und Verwandten ein äußerst kümmerliches und
elendes Leben zu führen hatte«.
In Weißes Kinderfreund sagt der Vater Mentor, dass er Kinder »als Pflan-
zen ansehe, die einst zu Bäumen erwachsen«. In dieser, auch sonst häufig
gebrauchten Metapher ist das Verständnis von Kindheit als eines Übergangs
bezeichnet. Zugleich ist in ihr die erzieherische Haltung ausgesprochen, mit
der die Erwachsenen den Kindern begegnen; so sagt Mentor seinen Kindern:
Kindheit als »Itzt seyd ihr wie die jungen Bäumchen, die einen schiefen Hang bekommen:
Übergangszeit mit wenig Mühe lassen sie sich noch zurücke an einen Pfahl binden, und
schön und gerade ziehen. Dieser Pfahl muß Euch eure Pflicht seyn«. Die
Ausrichtung von Kindheit auf das Erwachsensein verlangt im Verständnis
der Aufklärung eine grundsätzlich erzieherische Haltung der Erwachsenen
zu den Kindern. Deshalb ist die aufgeklärte Kinderliteratur in erster Linie
erzieherische Literatur und hat primär didaktische Funktion. Die Ausrich-
tung an der Belehrung ist allerdings nicht allein eine Konsequenz des grund-
sätzlich erzieherischen Verhältnisses zur Kindheit; sie entspricht zugleich der
Poetik der Aufklärung und den Grundsätzen, denen auch die Literatur für
Erwachsene verpflichtet war. Für die Aufklärung war es, in Anlehnung an die
Bestimmung des römischen Dichters Horaz, die Aufgabe der Literatur, zu
erfreuen und zu nützen (»aut delectare aut prodesse«), wobei ›nützen‹ vor
allem als ›belehren‹, als Didaxe, verstanden wurde.
Im Wandel der familiären Beziehungen verändert sich die Zuwendung zu
den Kindern. Zwar ist die Auffassung, erst mit der Ausbildung bürgerlicher
Familienstrukturen gäbe es emotional bestimmte Beziehungen zu Kindern,
während sie in den vorangehenden Epochen vor allem sachlicher Art gewe-
sen seien, zu differenzieren; in die Personalisierung und Emotionalisierung
im privaten Bereich der Familie ist jedoch gerade die nachwachsende Gene-
ration einbezogen. Auch hier ist die Entlastung der Familie von Arbeit zen-
tral; durch sie wird es möglich, die Beziehungen zu den Kindern in weitaus
höherem Maße an der Person zu orientieren (statt an der ›Sache‹ der gemein-
samen Arbeit), sie individueller und emotionaler zu gestalten. Zudem findet
mit der aufgeklärten Hochschätzung von Erziehung die Ausbildung der
nachwachsenden Generation stärkere Aufmerksamkeit. Der utopische Cha-
Familie und Kindheit 57

rakter des aufgeklärten Erziehungsbegriffs wird auf Kinder und Kindheit Utopie der Erziehung
übertragen: Richtig, also aufgeklärt erzogen wird die nachwachsende Gene-
ration zum Garanten weiterer Vervollkommnung und zum Träger aufgeklär-
ter Hoffnungen; an deren Erfüllung arbeitet die ältere, die Elterngeneration
durch richtige Erziehung mit. Auffällig häufig wird in den pädagogischen
Schriften seit der Jahrhundertmitte von dem ›Wert‹ der Kinder gesprochen,
der, wie etwa Christian Gottfried Böckh schreibt, »den Werth aller ihrer [der
Eltern] Habseligkeiten weit übersteigt«.
Der Wandel in der Bewertung von Kindheit wird auch in der sich verän-
dernden Einstellung zur Kindersterblichkeit sichtbar, die im 18. Jh., selbst in
den bürgerlichen Schichten, noch immer sehr hoch war. Bisher war die hohe
Kindersterblichkeit als von Gott verhängtes Schicksal hingenommen worden.
Auch deshalb war die emotionale Bindung vor allem an kleinere Kinder ge-
ringer, deren Tod ein gleichsam alltägliches Schicksal war. Dies gilt im 18. Jh.
in den bürgerlichen Schichten – und im Adel – nicht mehr in der gleichen
Weise. Diese Einstellungsveränderung ist eng verbunden mit dem Säkulari-
sierungsprozess, in dessen Folge der Kindestod nicht mehr ohne weiteres als Kindersterblichkeit
gottgewollt hingenommen wird, und mit den Veränderungen in der Medizin und Tod
und im hygienischen Verhalten, in deren Folge die Sterblichkeitsrate, auch
die der Kinder (und die der Mütter!), in den materiell besser gestellten
Schichten allmählich zurückging. Zugleich veränderte sich in diesen Schich-
ten das generative Verhalten; die Zahl der Schwangerschaften und Geburten
ging zurück. Damit erhält das einzelne Kind gleichsam einen höheren Rang;
es wird ›unersetzlich‹ und die Beziehung der Eltern zu ihm persönlicher und
emotionaler. In den Darstellungen familiären Zusammenseins in der aufge-
klärten Kinderliteratur bilden die Geschwister stets eine altershomogene
Gruppe, in die der Tod keine Lücke gerissen hat. Gleiches gilt für die Darstel-
lung nicht geschwisterlich verbundener Kindergruppen. Gemessen an der
Realität bürgerlicher Familien sind diese Darstellungen Wunschbilder. In ih-
nen kommt zum Ausdruck, dass die hohe Sterblichkeit nicht mehr hinge-
nommen wird. Dies wird umso deutlicher, als das Thema des Todes keines-
wegs tabuisiert ist. Tod und Sterben sind vielmehr Gegenstände der familiären
Gespräche; auch der Tod von Kindern wird dargestellt. Allerdings handelt es
sich dann zumeist um ein Kind, das nicht zur Familie gehört, etwa um ein
Nachbarkind; die Geschwistergruppe selbst ist in der Regel vom Tod nicht
unmittelbar betroffen.
Das Thema Tod ist ein realistisches Moment der aufgeklärten Kinderlite-
ratur; die reale Gegenwärtigkeit des Todes im Erfahrungsbereich der Kinder
wird in die Texte aufgenommen. Der Kontrast zwischen der Thematisierung
des Todes und dem Wunschbild der lückenlosen Geschwistergruppe zeigt je-
doch, dass die aufgeklärte Kinderliteratur nicht als ›realistisch‹ im Sinne der
Abbildung einer gegebenen Wirklichkeit verstanden werden darf. Zwar sind
die Texte, wie beim Thema des Todes, auf die realen Gegebenheiten bezogen,
zugleich jedoch werden in ihnen, wie in den lückenlosen Geschwistergrup-
pen, mögliche Gegebenheiten, mögliche Verhaltensweisen vorgestellt. Die
Texte haben den Charakter von Entwürfen, in denen die realen Gegeben-
heiten überhöht, in fiktiver Darstellung weitergedacht werden. Kindheit und
Erziehung in den Texten sind als Modelle zu verstehen, in denen nicht so sehr
die realen Gegebenheiten ›abgebildet‹, als vielmehr dargestellt wird, wie
beide beschaffen sein sollten.
Als Modelle sind auch die Kinderfiguren zu verstehen. Sie sind Vorbilder Kinderfiguren
und Identifizierungsangebote für die kindlichen Leserinnen und Leser, die als Vorbilder
das richtige, vernünftige und tugendhafte Verhalten der Kinderfiguren nach-
58 Aufklärung

vollziehen und sich zu eigen machen sollen. Umgekehrt soll die Darstellung
des falschen, unvernünftigen und lasterhaften Verhaltens, dessen böse Folgen
etwa in den moralischen Erzählungen vorgeführt werden, abschreckend wir-
ken. Die Intention, Vorbilder und Identifizierungsfiguren zu präsentieren,
wird immer wieder ausgesprochen; so schreibt etwa Salzmann: Die Kinder
»haben aber eine Nachahmungsbegierde, die sie geneigt macht, alles, was
ihnen an andern gefällt, nachzutun. Diese muß in Anspruch genommen wer-
den. Man muß ihnen in wahren und erdichteten Erzählungen von der Hand-
lungsart, zu welcher man sie bringen will, Muster vorstellen und sie so lebhaft
schildern, daß sie dieselben glauben, vor sich stehen zu sehen, und so gefällig,
daß in ihnen der Entschluss entsteht, ebenso zu handeln«.
Familiäre In gleicher Weise haben die Darstellungen der Familie Modellcharakter.
Gemeinschaft Familie erscheint als der gleichsam ›natürliche‹ Ort, an dem vernünftiges und
tugendhaftes Verhalten verwirklicht wird. Besondere Tage wie die Geburts-
tage der Kinder und – häufiger – die der Eltern werden zu Festen der famili-
ären Gemeinschaft. In nicht wenigen Kinderschauspielen wird vorgestellt,
wie die Geschwistergruppe die Geburtstagsfeier für den Vater, seltener für
die Mutter vorbereitet. Es folgt die freudige Überraschung der Eltern über
ihre so wohlgeratenen Kinder; das Drama schließt mit dem Bild der in Zu-
neigung und Liebe vereinigten familiären Gemeinschaft. Die Hochschätzung
dieser Gemeinschaft wird auch im Motiv der Trennung und Wiedervereini-
gung der Familie deutlich. Auf die Darstellung des Verlustes, den die Tren-
nung von einem Familienmitglied – zumeist vom Vater – mit sich bringt,
folgt wie bei den Geburtstagen die Feier der (wieder-)vereinigten familiären
Gemeinschaft. So beginnt Das Friedensfest 1779 von Georg Carl Claudius,
in dem erzählende Passagen mit Dialogszenen abwechseln, mit einem Brief
des Vaters, eines Herrn von Hohburg, an den Hauslehrer der Kinder, in der
er seine Rückkehr für den Abend ankündigt; der Hauslehrer verschweigt
diese Nachricht und führt die Kinder abends dem Vater entgegen. Auf einer
Anhöhe bleiben sie stehen; eines der Kinder beschreibt den Ausblick: »[…]
wie man sich da umsehn kann. Dort guckt ein Kirchturm – – drübernaus
noch einer. Wie ruhig sich das Dörfchen die Fluren längs schlängelt! Wie die
Sonne sich auf dem dort rauschenden Fluß spiegelt.« Da erblicken die Kinder
ihren Vater. Sie »fliegen von der Anhöhe herab ihrem Vater entgegen«, er
»eilt auf seine Kinder zu, küßt und drückt sie an seine Brust«. Die Kinder
können nur noch »O! mein Vater, mein bester Vater!« ausrufen; der Vater
gibt seiner Wiedersehensfreude deutlicheren Ausdruck: »Meine Kinder! – –
Gott seys gedankt, herzlich gedankt, daß ich euch wieder habe, euch wieder
umarmen kann. – – […] (küßt sie alle) ich habe euch wieder, hab’ euch wie-
der. Seht, ich weine für Entzücken, weine für lauter Freude. – –«.
Umarmungen, Küssen und Weinen, die am Beginn der Szene hervorgeru-
Empfindsamkeit fene Abendstimmung sind Kennzeichen empfindsamer Literatur. Es folgt die
Begrüßung zwischen Vater und Mutter; beide äußern ihre Freude im Voka-
bular der Empfindsamkeit:

Frau v. Hohburg fliegt Herrn v. Hohburg, der eben in den Hof


tritt, entgegen, stürzt sich in seine Arme.
Fr. v. Hohburg. O! mein Hohburg!
Hr. v. Hohburg. O! meine Gattin!
Fr. v. Hohburg. Was für ein Entzücken, dich wieder zu
haben –
Hr. v. Hohburg. Dich wieder in meine Arme schließen zu
können.
Familie und Kindheit 59

Fr. v. Hohburg. So lange von mir getrennt.


Hr. v. Hohburg. Desto mehr Wonne im Wiedersehn!
Fr. v. Hohburg. Ja, wenn dich mein Wünschen, mein Sehnen
hätte zurückbringen können.
Hr. v. Hohburg. Glaub dirs, zärtliches, liebstes Weib – daß
ich schon längst wieder bey dir gewesen
wäre. O! der Freuden!

Die Konzentration empfindsamer Stilmittel in dieser Feier familiärer Wieder-


vereinigung vermittelt das Bild einer intimen, auf Liebe, Zuneigung und Liebe, Zuneigung,
Zärtlichkeit gegründeten Gemeinschaft. Es ist – bei einem für Kinder ge- Zärtlichkeit
dachten Text – bemerkenswert, dass nicht allein die Wiederbegegnung der
Kinder mit ihrem Vater, sondern auch die der Eltern in dieser Weise gestaltet
wird, also die ganze Familie einbezogen ist – im Übrigen auch der Hausleh-
rer; auch er vergießt Tränen, wird vom Vater umarmt. Die Familie erscheint
als eine Gemeinschaft, deren Mitglieder sich im Bereich des Privaten als
Menschen begegnen, miteinander ›rein menschliche‹ Beziehungen pflegen.
Dieses Bild familiärer Gemeinschaft hat utopischen Charakter; die ›Reali-
tät‹ bürgerlicher Familien wich davon durchaus ab. Es ist Wunschbild, in
dem eine Leitidee bürgerlicher Überzeugungen im 18. Jh. zum Ausdruck
kommt: dass sich in der Familie die »Humanität der intimen Beziehung der
Menschen als bloßer Menschen« entfalten könne (Jürgen Habermas). Die
Verwendung empfindsamer Stilmittel bei solchen Darstellungen zeigt im
Übrigen, wie eng die aufgeklärte Kinderliteratur mit der Erwachsenenlitera-
tur ihrer Zeit verbunden war.
Die hohe Bedeutung der familiären Gemeinschaft ist auch im Zusammen-
hang damit zu sehen, dass die in den Texten vorgestellte Erziehungspraxis
von der Tradition der ›schwarzen Pädagogik‹ abweicht – auch darin eher
Wunschbild als Wiedergabe realen Verhaltens in den bürgerlichen Familien.
Zwar gehören zur Pädagogik der Aufklärung – etwa in der strengen Forde-
rung nach Gehorsam der Kinder oder bei der Sexualerziehung, so in der rigi-
den Unterdrückung der Onanie – auch Elemente ›schwarzer Pädagogik‹; in
der Frage, wie auf das Fehlverhalten von Kindern zu reagieren sei, gibt es
jedoch gewichtige Unterschiede. So werden körperliche Strafen grundsätzlich Gegen körperliche
abgelehnt. Karl Traugott Thieme stellt in einem Aufsatz ausdrücklich fest, Strafen
dass Strafen nicht »mit körperlichen Schmerzen verbunden seyn« dürfen.
Entsprechend heißt es von dem Vater in Thiemes Familiengeschichte Gut-
mann: »Gutmann mißbilligte es, so oft er sahe, daß manche Väter ihre Kin-
der, wenn sie Fehler begiengen, mit Scheltworten und Schlägen bestraften:
denn, er wußte wohl, daß die Kinder dadurch nicht besser sondern schlim-
mer werden. Er schalt und schlug daher seine Kinder niemals«. Die Ableh-
nung körperlicher Strafen ist eine Konsequenz der aufgeklärten Überzeugung,
dass der Mensch von Natur aus gut sei. Aufgabe der Erziehung ist deshalb
die Ausbildung dieser ›guten‹ Natur. So stellt Thieme fest: »Erziehen heißt
bekanntermaßen nicht, die Natur austreiben, sondern sie veredeln«. Nicht
zuletzt unter dem Einfluss Rousseaus spielt deshalb das Konzept der soge-
nannten ›natürlichen Strafen‹ eine zentrale Rolle: Die Kinder sollen falsches
Verhalten dadurch erkennen und künftig vermeiden, dass sie die Folgen sol-
chen Verhaltens unmittelbar erfahren. »Ich habe deutlich genug gesagt«,
schreibt Rousseau im Emile, »daß man Kindern niemals eine Strafe als solche ›Natürliche‹ Strafen
auferlegen soll, sondern daß sie die Strafe immer als eine natürliche Folge
ihrer bösen Handlungen empfinden müssen«. Thieme fordert, man solle die
Kinder »auf den guten Erfolg ihrer vernünftigen Handlungen und auf den
60 Aufklärung

übeln Erfolg der Handlungen von der entgegengesetzten Art [ . . .] aufmerk-


sam machen«. Die Vorstellung der ›guten‹ und insbesondere der ›übeln Er-
folge‹ ist eine zentrale Intention der Literatur für Kinder; die literarische
Vermittlung erspart den kindlichen Leserinnen und Lesern die realen Folgen
des Fehlverhaltens und macht sie zugleich darauf aufmerksam. Insbesondere
die moralischen Erzählungen, in denen die Folgen kindlichen Fehlverhaltens
in oft drastischer Weise vorgeführt werden, sind von diesem Vorsatz be-
stimmt.
In einer anderen Sanktion wird erneut die hohe Bedeutung der familiären
Gemeinschaft deutlich. Das Kind, das sich falsch verhalten hat, wird vorü-
bergehend oder, bei besonders schwerem Fehlverhalten, für immer aus der
familiären Gemeinschaft ausgeschlossen. Dem Bösewicht Ludwig in Weißes
Kinderschauspiel Der ungezogene Knabe wird vom Vater das »Urtheil« ge-
sprochen: »Deine Bosheiten sind entdeckt. Fort! hinauf in deine Stube! und
Morgen aus dem Hause! Du sollst in einer strengern Zucht zwar Zeit zur
Besserung haben! aber erfolgt diese nicht, so giebt es Gottlob Oerter, wo
man solchen bösen Buben verwehren kann, daß sie die menschlichen Gesell-
schaften durch ihre Bosheiten beunruhigen«. Die Strafe ist hier auf die Spitze
getrieben; Ludwig wird »aus dem Hause« gewiesen. Weitaus häufiger wird
Sozialer Ausschluss die Sanktion des sozialen Ausschlusses als eine zeitlich begrenzte Strafe ver-
hängt; das Kind wird für einige Stunden oder für einen Tag aus dem Kreis
der Familie entfernt. Im Neuen Kinderfreund von Karl August Engelhardt
und Dankegott Immanuel Merkel berichtet der Vater der in dieser Kinder-
zeitschrift vorgestellten Familie, dass ein Kind, das sich falsch verhalten habe,
am abendlichen Spaziergang der Familie nicht teilnehmen dürfe: »[...] sein
Lohn ist dann, zu Hause zu bleiben, wenn ich mit den übrigen auswandere«.
Ausdrücklich setzt er diese Sanktion den körperlichen Strafen entgegen:
»Dieses Ausschließen von dem allgemeinen Vergnügen wirkt bey meinen
Kindern besser, als Ruthen, Peitschen, Ochsenziemer, und wie die schönen
Instrumente alle heißen, welche meine Kinder nur dem Nahmen nach ken-
nen«. Die Sanktion des sozialen Ausschlusses bedeutet die Vereinzelung des
Kindes und seine Entfernung aus der Geselligkeit. Für die Aufklärung ist
Geselligkeit die dem Menschen angemessene Lebensform; deshalb erscheint
die Sanktion des sozialen Ausschlusses als logische Konsequenz des kind-
lichen Fehlverhaltens, als eine gleichsam ›natürliche‹, allerdings von einem
Erwachsenen, zumeist vom Vater ausgesprochene und damit sozial vermit-
telte Strafe. In ihr wird vollzogen, was das Kind in seinem Fehlverhalten
selbst dokumentiert: Indem es gegen die Regeln des sozialen Umgangs ver-
stößt, begibt es sich eines wesentlichen Teils seiner eigenen Menschlichkeit;
es wird aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, um diesen Verlust zu erfah-
ren.
Die Darstellung der familiären Gemeinschaft dient so auch der Einübung
des künftigen sozialen Verhaltens und ist, dem aufgeklärten Verständnis von
Kindheit als einer Übergangszeit gemäß, Vorwegnahme des Erwachsenseins.
Eine besondere Rolle kommt dabei der Geschwistergruppe und den Kinder-
gruppen zu, die der geschwisterlichen Gemeinschaft nachgebildet sind. In
Kinderschauspielen oder in den Rahmenhandlungen der Kinderzeitschriften
wird immer wieder vorgeführt, wie die Geschwister einander helfen und für
Die Geschwistergruppe einander einstehen oder wie in der Geschwistergruppe versucht wird, das
Fehlverhalten eines Kindes zu korrigieren. In den Kindergruppen ist solida-
risches Verhalten dargestellt, wird die Tugend sozialen Verhaltens vermittelt.
Glück des Einzelnen und soziales Verhalten sind in komplementärer Entspre-
chung aufeinander bezogen; in der geschwisterlichen Gruppe wird diese Ge-
Familie und Kindheit 61

Titelvignette von C. L.
Crusius, aus: Lesebuch
für Kinder. Bremen 1776

genseitigkeit erfahren und eingeübt. Zugleich gibt es im Beisammensein der


Kinder in der Gruppe auch Konkurrenz. Insbesondere beim Lernen wird sie
als Erziehungsmittel eingesetzt; die Unterschiede im Wissensstand der Kinder
werden genützt, um sie zu vermehrter Anstrengung anzuspornen. In dem
Kinderschauspiel Die Lehrer von Johann Gottlieb Schummel wird die rheto-
rische Frage gestellt: »was bildet einen jungen Knaben wohl mehr, als Gesell-
schaft seinesgleichen! Was hebt seine Seelenkräfte so sehr, als Nacheiferung?«
Eine wichtige Rolle spielt die gegenseitige Belehrung der Kinder; es wird
vorgeführt, wie ein Kind seinem jüngeren Geschwister beim Lernen hilft und
ihm zum Vorbild wird, oder es wird dargestellt, wie gleichaltrige Kinder in
wechselseitiger Belehrung ihren Wissensstand ausgleichen. Solidarität der
kindlichen Gruppe und Konkurrenz zwischen den Kindern sind aufeinander
bezogen.
In der hohen Bedeutung der Kindergruppe zeigt sich ein wichtiger Unter- Die Differenz zu
schied zur Erziehungskonzeption in Rousseaus Emile. Emile soll ohne Bücher Rousseau
aufwachsen: »Die Lektüre ist die Geißel der Kindheit [...]. Erst mit zwölf
Jahren wird Emile wissen, was ein Buch ist«. Das erste und für lange Zeit
einzige Buch Emiles ist Daniel Defoes Robinson Crusoe. Robinson sei allein
auf einer Insel, ohne jeglichen Beistand anderer Menschen und (wie Rous-
seau irrtümlich angibt) ohne Werkzeuge; deshalb sei er das geeignete Vorbild
für Emile, denn – so in Campes Übersetzung – »das sicherste Mittel, sich
über Vorurtheile zu erheben, und seine Urtheile nach den wahren Verhältnis-
sen der Dinge einzurichten, ist, daß man sich an die Stelle eines einzelnen »Emile« und
Menschen seze«. Für Rousseau ist Robinson das Inbild des sich selbst genü- »Robinson«: das
genden, autonomen Individuums und damit die exemplarische Verkörperung autonome Individuum
62 Aufklärung

des Ziels, das er mit seiner Konzeption einer radikal individualisierten Erzie-
hung außerhalb von Gesellschaft verfolgt. Rousseaus Bemerkungen haben
Campe zu seiner Bearbeitung des Defoeschen Romans angeregt. Die Art sei-
ner Bearbeitung widerspricht jedoch in entscheidenden Punkten den Vorstel-
lungen Rousseaus; im Vorbericht zu Robinson der Jüngere hat Campe diese
Unterschiede auch benannt. Rousseau folgend lässt Campe seinen Robinson
»ohne alle europäischen Werkzeuge« auf der Insel stranden. Mit der Entfer-
nung aller zivilisatorischer Hilfsmittel soll dem Leser – in Übereinstimmung
mit Rousseau – gezeigt werden, »wie viel Nachdenken und anhaltende Streb-
samkeit zur Verbesserung unsers Zustands auszurichten vermögen«, zugleich
jedoch – abweichend von Rousseau – »wie hülflos der einsame Mensch« sei.
Campe verknüpft Ausbildung des Individuums und Erziehung zur Gesell-
schaft: Die Entfernung der Hilfsmittel biete den »Vortheil [...], dem jungen
Leser die Bedürfnisse des einzelnen Menschen der ausser der Geselschaft
lebt, und das vielseitige Glük des gesellschaftlichen Lebens, recht anschaulich
Joachim Heinrich Campe zu machen«. Die Verbindung von individueller und sozialer Erziehung hat
Campe veranlasst, die Geschichte Robinsons in »drei Perioden« aufzuteilen.
Auf die erste Periode der Einsamkeit und der Entfernung von allen Hilfsmit-
teln folgt die des Zusammenseins mit Freitag; er habe, schreibt Campe, Ro-
binson einen »Gehülfen« zugesellt, »um zu zeigen, wie sehr schon die bloße
Geselligkeit den Zustand des Menschen verbessern könne«. Die dritte Peri-
Campes »Robinson«: ode beginnt mit dem Stranden eines Schiffes auf der Insel, um Robinson
Verknüpfung von »dadurch mit Werkzeugen und den meisten Nothwendigkeiten des Lebens
individueller und zu versorgen, damit der große Werth so vieler Dinge, die wir gering zu schät-
sozialer Erziehung zen pflegen, weil wir ihrer nie entbehrt haben, recht einleuchtend würde«.
Die Verknüpfung von individueller und sozialer Erziehung ist auch der
Grund für die gravierendste Änderung, die Campes Bearbeitung vom Defoe-
schen Original unterscheidet. Robinson der Jüngere hat eine Rahmenhand-
lung, die denen der Kinderzeitschriften analog ist. Ein väterlicher Erzieher
erzählt einer Gruppe von Kindern die in Episoden aufgeteilte Geschichte
Robinsons; Vorbild war übrigens die Schülergruppe, die Campe Ende der
70er Jahre in Hamburg unterrichtete. Die Episoden werden zum Anlass aus-
führlicher Gespräche, in denen sachliche Belehrungen gegeben werden, vor
allem aber die Kinder gemeinsam mit dem Vater darüber nachdenken, wel-
che Konsequenzen sie aus den Abenteuern Robinsons ziehen können. Weiter
wird erzählt, wie die Kinder die Geschichte Robinsons nachspielen; sie bas-
teln einen Sonnenschirm, flechten Körbe, üben sich in mäßiger Lebensweise,
indem sie fasten oder für eine Nacht auf den Schlaf verzichten. Diese Nach-
ahmung des Erzählten geschieht gemeinsam; die Isolierung Robinsons wird
in einer Gemeinschaft aufgehoben. Bei Rousseau hingegen bleibt Emile in
der Nachahmung des Inseldaseins wie sein Vorbild Robinson allein.
Die in Robinson der Jüngere vorgestellte Konstellation ist repräsentativ
für die aufgeklärte Kinderliteratur in Deutschland. Campe selbst wählt auch
für andere Texte die Einkleidung in eine seinem Robinson nachgebildete
Rahmenhandlung, so in der dreibändigen Entdekkung von Amerika; ebenso
spielt diese Konstellation in seiner Kleinen Seelenlehre für Kinder oder in
seinem Sittenbüchlein für Kinder eine wichtige Rolle. Ausgangspunkt aufge-
klärter Erziehung ist nicht – wie bei Rousseau – die Idee des allein sich selbst
genügenden Individuums, des (mit einem Begriff von Norbert Elias) ›homo
clausus‹, sondern die Vorstellung des von vornherein geselligen und verge-
sellschafteten Menschen. Die Erziehung ist auf Gesellschaft ausgerichtet;
deshalb geschieht sie in einer sozialen Institution, im Beisammensein der
Kinder in der Gruppe und in der Familie, und nicht, wie die Emiles, in radi-
Familie und Kindheit 63

kaler Isolierung von der Gesellschaft in einem, im Übrigen künstlich herbei-


geführten, Naturzustand. Darin erhält auch die kindliche Lektüre ihre Be-
deutung, die in Rousseaus Erziehungsroman radikal abgelehnt wird. Rous-
seau kann auf Literatur verzichten, weil er Natur – und damit die unmittelbare
Erfahrung des Kindes – als höchste Erziehungsinstanz einsetzt. Dagegen er-
hält Literatur in der auf Gesellschaft ausgerichteten aufgeklärten Erziehung Gesellschaft statt
die Aufgabe, den Kindern den unmittelbar nicht zugänglichen Erfahrungsbe- ›Natur‹
reich des Sozialen und die darin verlangten Verhaltensweisen zu vermitteln.
Die Isolierung Emiles von der Gesellschaft ist die notwendige Bedingung
dafür, Natur als Erzieherin einsetzen zu können, und damit für die Konzep-
tion einer ›natürlichen Erziehung‹, in der Natur zum Gegenbegriff von Ge-
sellschaft wird. Diese Opposition ist, bei aller Betonung einer naturgemäßen
Erziehung, von der aufgeklärten Pädagogik und Kinderliteratur in Deutsch-
land nicht übernommen worden. In ihrer Erziehungskonzeption steht an der
Stelle, an der bei Rousseau Natur ihren Platz hat, Vernunft; sie – und nicht Vernunft und Tugend
Natur – ist die höchste Instanz. Dabei meint Vernunft nicht allein richtiges
Denken. Da nach aufgeklärter Überzeugung richtiges Denken notwendig zu
richtigem, zu tugendhaftem Verhalten führt, schließt Vernünftigkeit – als Ziel
der an Vernunft orientierten Erziehung – Moralität ein. Deshalb äußert sich
die didaktische Funktion aufgeklärter Kinderliteratur als moralisierende
Tendenz, die mitunter, insbesondere in den weniger gelungenen Texten,
durchaus aufdringlich werden kann.
Die Ausrichtung am Erziehungsziel Vernünftigkeit erscheint zunächst als
Vermittlung von Kenntnissen, als sachliche Belehrung über die verschieden-
artigsten Gegenstände – in der breit aufgefächerten Sachliteratur wie in den
anderen Genres, in denen immer auch Kenntnisse weitergegeben werden.
Daran schließt sich die Einübung des ›richtigen Denkens‹ an; das Nachden-
ken der Kinder soll in Gang gesetzt und gefördert werden. Voraussetzung des
Richtigdenkens – so Karl Traugott Thieme 1776 – ist die Klärung der Be- Richtiges Denken:
griffe: »Es kommt bey dem Unterrichte der Jugend auf richtige Begriffe, die Klärung der Begriffe
ihr beygebracht werden, Alles an. Denn, wo diese fehlen, da finden auch
keine richtigen Urtheile, keine richtigen Vernunftschlüsse, keine wahren
Grundsätze, kein kluges und rechtschaffenes Leben statt«. Kinderlogiken,
Seelenlehren und Sittenlehren für Kinder dienen solcher Klärung der Begriffe;
ebenso wird sie in anderen Genres, vor allem in den für jüngere Kinder ge-
dachten Texten, immer wieder vorgenommen.
Die Einübung des richtigen Denkens geschieht vor allem in der Form des
Gesprächs. Es beginnt in der Regel mit der Frage eines Kindes. So kann ein
Kind etwa fragen, was ›aufmerksam sein‹ bedeute. Der Vater fragt zurück:
»Aber ich wundere mich, daß Du dieses Wort noch nicht verstehest. Bist Du
denn noch niemals aufmerksam in der Schule gewesen?« Als das Kind ant-
wortet, das wisse es nicht, sagt ihm der Vater: »Du weist es wohl; aber du
verstehst nur das Wort nicht.« In der Art eines sokratischen Dialogs erfragt
nun der Vater Bestimmungen des Begriffs ›Aufmerksamsein‹ wie etwa ›Zu-
hören‹ oder ›Mitdenken‹, die das Kind aufgrund seiner Erfahrungen geben
kann; schließlich fasst der Vater zusammen: »wenn Du das thust, so bist du
aufmerksam.« Und das Kind bestätigt den Erfolg der Bemühungen: »Nun
begreife ich, was das sagen will: aufmerksam seyn.« (Unterhaltungen für die
Jugend. 1789.)
Die Kinderlogiken, die Seelen- und Sittenlehren für Kinder sind in der
Regel in solcher Gesprächsform gestaltet. Ebenso ist die Vermittlung der
Kenntnisse in der Sachliteratur häufig in eine Gesprächssituation eingebettet. Die Gesprächsform
Gespräche sind ein wichtiger Bestandteil der familiären Rahmenhandlungen;
64 Aufklärung

sie strukturieren das dargestellte familiäre Zusammensein. Und in Büchern,


in denen die Gesprächsform selbst nicht gegeben ist, wird in den Vorreden
immer wieder verlangt, dass die Texte nicht von den Kindern allein, sondern
zusammen mit einem Erwachsenen gelesen werden sollten; sie sollen Anlässe
zu Gesprächen werden. Nicht selten folgt auf diese Aufforderung die exemp-
larische Darstellung eines solchen Gesprächs.
Erfahrung – klärende Die Gespräche folgen einer einheitlichen Struktur. Gesprächspartner sind
Argumentation – ein Kind oder eine Kindergruppe und ein Erwachsener, zumeist der Vater,
Beispiele: der richtige seltener mehrere Erwachsene. Gelegentlich gibt es auch Gespräche nur zwi-
Begriff schen Kindern, dann ist jedoch eines der Kinder den anderen überlegen und
übernimmt insofern die Erwachsenenrolle. Anlass des Gesprächs ist in der
Regel eine von den Kindern gemachte Erfahrung; sie kann auch eine Lektü-
reerfahrung sein. Mit dieser Erfahrung ist das Thema des Gesprächs gegeben;
es dient dazu, sie zu klären, ein Urteil über sie zu gewinnen und daraus ein
Verhaltensgebot abzuleiten; beides wird in allgemeine Begriffe oder Sätze
gefasst. In die klärende Argumentation werden weitere Erfahrungen einge-
bracht, indem etwa ein Kind erzählt, dass ihm Vergleichbares widerfahren
ist, oder in der Gestalt literarischer Erfahrung, etwa durch die gemeinsame
Lektüre einer moralischen Erzählung. Es folgt die weitere argumentative
Klärung. Den Abschluss bildet zumeist ein allgemein gehaltener, den bespro-
chenen Sachverhalt zusammenfassender Satz, etwa eine Verhaltensregel.
Kennzeichnend für die Gespräche ist also der Wechsel von Besonderem und
Allgemeinem. Das gemeinsame Nachdenken über den in Rede stehenden
Sachverhalt geschieht auf eine doppelte Weise: als Anschauung in der kon-
kreten, ›realen‹ wie vor allem auch literarischen Erfahrung und als begriff-
liche Demonstration in der klärenden Argumentation.
Anschauende und Die Gesprächsform hat umfassende Bedeutung in der aufgeklärten Kin-
begriffliche Erkenntnis derliteratur; sie lässt sich als deren Grundstruktur bezeichnen. In ihr werden
die erkenntnistheoretischen Vorstellungen realisiert, wie sie vor allem von
Christian Wolff erarbeitet wurden, dem bis Kant maßgeblichen Philosophen
der deutschen Aufklärung. Wolff unterscheidet zwischen intuitiver (anschau-
ender) Erkenntnis, der die ›niederen‹ Erkenntnisvermögen wie sinnliche Er-
fahrung, Gedächtnis, Einbildungskraft, und diskursiver (begrifflicher) Er-
kenntnis, der die ›höheren‹ Erkenntnisvermögen wie Verstand, Urteilskraft,
Vernunft zugeordnet sind. Im Wechsel von Anschauung, insbesondere in
Gestalt literarischer Texte, und klärender Argumentation werden im Ge-
spräch beide Erkenntnisweisen verbunden. Ziel des Gesprächs ist die Über-
führung der anschauenden in diskursive Erkenntnis. Damit erhält zugleich
die Literatur eine spezifische Funktion. Die literarischen Texte bieten die
konkrete Darstellung eines Sachverhalts, etwa einer Verhaltensweise; sie
sind, mit einem Begriff von Wolff, Exempla. Sie enthalten ein Urteil über den
Sachverhalt und ein Verhaltensgebot, dienen damit der Erkenntnis des Sach-
verhalts und der Vermittlung eines Verhaltens, das diesem angemessen ist. In
der klärenden Argumentation werden Urteil und Verhaltensgebot begrifflich
gefasst, ›auf den Begriff gebracht‹. Das Gespräch ist Abbildung eines Er-
kenntnisprozesses, den die Kinder mit dem Erwachsenen und unter seiner
Anleitung vollziehen; ihn sollen die kindlichen Leser und Leserinnen in iden-
tifikatorischer Nachahmung der Kinderfiguren und durch eigene, dem Vor-
bild folgende Gespräche übernehmen und einüben. In der Gesprächsform
Erziehung zur wird das Erziehungsziel der Vernünftigkeit realisiert. Die Übung und Förde-
Vernünftigkeit: rung der Erkenntnisvermögen, welche die Kinderfiguren im Gespräch und
Stärkung des Ich durch sie die kindlichen Leser und Leserinnen erfahren, bedeutet – psycho-
analytisch gesprochen – eine Stärkung des kindlichen Ich: Funktionen der
Familie und Kindheit 65

Campe: Neues Abeze-


und Lesebuch. Titel-
kupfer zur Ausgabe.
Braunschweig 1807

Kupfertafel von J. G.
Wagner, aus: Samuel
Richardson’s Sittenlehre
für die Jugend. Leipzig
1806

Ich-Instanz wie Aufmerksamkeit, Prüfen und Beurteilen von Realität, Ent-


scheiden über angemessenes Handeln werden geübt und gefördert.
In der Gesprächsform ist das Erziehungsziel der Vernünftigkeit gewisser- Die ›Vernunft
maßen strukturell gegeben; zugleich jedoch ist dieses Ziel auch in personifi- der Väter‹
zierter Gestalt anwesend: in dem Erwachsenen, der die Kinder anleitet. Dieser
Erwachsene ist in der Regel der Vater oder eine Vaterfigur. Überhaupt kommt
den Vätern in der aufgeklärten Kinderliteratur eine zentrale Rolle zu. Die
Bezeichnung ›Vater‹ ist ein Ehrentitel. Der Erzieher in Campes Robinson
wird von den Kindern Vater genannt; Salzmann lässt sich in den Berichten
seiner schulischen Tätigkeit von den Schülern als Vater anreden. Vor allem
aber sind die meisten Familien der aufgeklärten Kinderliteratur Vater-Kin-
der-Figurationen. Den Müttern kommt im familiären Zusammensein und bei
den familiären Gesprächen nur eine marginale Rolle zu. In der Mehrzahl der
Darstellungen erscheinen die Mütter überhaupt nicht oder werden lediglich
bei der Vorstellung der Familie einmal erwähnt. Wenn sie genannt werden,
spielen sie nur eine Nebenrolle, nehmen schweigend oder bestenfalls mit ge-
legentlichen Einwürfen an den Gesprächen teil und sind zudem mit spezifisch
weiblichen Betätigungen beschäftigt. In dem anonym erschienenen Abend-
zeitvertreib (1795), einer Sammlung von Gesprächen, ist die typische Situa-
tion festgehalten. Der Verfasser oder Herausgeber berichtet, dass er »die Ausschließung
müssigen Stunden, die [er] den Tag über hatte, [seinen] lieben Kindern« der Mütter
widme: »Da saß denn die Mutter mit ihrer weiblichen Arbeit neben uns, und
ich las […] ihnen vor«. In den familiären Gesprächen wird dann die Mutter
nur noch zweimal erwähnt. Das Gespräch mit den Kindern – und also die
Erziehung zur Vernünftigkeit – ist die Aufgabe des Vaters.
Lediglich bei Gesprächen mit kleineren Kindern treten in größerer Zahl
auch Mütter als Partnerinnen auf, etwa in den Lehrgesprächen, die Campe
seinem Abeze- und Lesebuch beigegeben hat. Bei Campe, der als einer der
ersten Autoren oder Herausgeber eine Gruppierung kinderliterarischer Texte
nach Altersstufen vorgenommen hat, wird die Beziehung zwischen dem Alter
66 Aufklärung

der Kinder und der Zuordnung von Mutter- oder Vaterfiguren exemplarisch
deutlich. In seiner Anthologie Kleine Kinderbibliothek unterscheidet er drei
Altersabschnitte, »deren erster bis ans siebende, der andere bis ans zehnte,
und der dritte endlich bis ans zwölfte Jahr des Kindes und darüber reicht«.
In der Abfolge der familiären Szenen und Lehrgespräche lässt sich eine deut-
liche Abnahme der Mutterfiguren und entsprechend eine Zunahme der Va-
terfiguren feststellen. Entsprechendes gilt für die Anordnung der 1807–1809
erschienenen Gesamtausgabe von Campes Kinder- und Jugendschriften. Sie
beginnt mit dem Abeze- und Lesebuch und der Kleinen Kinderbibliothek; es
folgen die Seelenlehre für Kinder und das Sittenbüchlein für Kinder, die beide
für etwa sechs- bis siebenjährige Kinder gedacht sind. In der durchgängig in
Gesprächsform gehaltenen Seelenlehre ist der Vater der Gesprächspartner
der Kinder, in der Rahmenhandlung des Sittenbüchleins die Vaterfigur Gott-
lieb Ehrenreich (die Campe bereits in der Kinderbibliothek auftreten ließ).
Robinson der Jüngere und Die Entdekkung von Amerika, die beide die vä-
terlichen Gespräche als Rahmenhandlung haben, schließen sich an. In den
Reisebeschreibungen, die als nächste Bände folgen, hat Campe die Ge-
sprächsform nicht mehr verwendet.
Die Mütter ›verziehen‹ Die Mütter stehen unter dem generellen Verdacht, die Kinder aus zu
die Kinder großer Liebe zu verziehen. In Weißes Kinderfreund wird bei einem Besuch,
den Mentor mit seinen Kindern bei einem benachbarten Freund macht, ein
Beispiel schlechter Erziehung vorgeführt. Die Kinder des Freundes gehorchen
nicht, achten nicht auf Sauberkeit, sind wild, betragen sich schlecht beim
Essen. Der Freund selbst gibt die Begründung: »Mein Freund« (berichtet
Mentor) »gestund mir nach Tische insgeheim, daß die übertriebene Liebe der
Mutter sie [die Kinder] ganz verdürbe, daß, wenn er sie strafen wolle, sie al-
lezeit eine Beschützerinn in ihr fänden«. Von dem Bösewicht Ludwig in
Weißes Kinderschauspiel Der ungezogene Knabe sagt seine Schwester, sie
könne sagen, »wer ihn so verzogen« habe: »Unsre gute selige Mama. Sie
liebte ihn mit übertriebener Zärtlichkeit«. Mit ihrer Liebe und Zärtlichkeit
gefährden die Mütter die Erziehung der Kinder zu angemessenem, vernünf-
tigem Verhalten. Allein die Dominanz des Vaters kann das Erziehungsziel der
Vernünftigkeit sichern. In dem Kinderschauspiel Das Rondo von Johann
Georg Beigel feiern vier Brüder den Geburtstag ihres Vaters; einer von ihnen
gibt seiner Freude über den Festtag in einer emphatischen Rede Ausdruck,
»O Vater! süsser – die mit dem Ausruf schließt: »O Vater! süsser – süsser Name!« Dieser Ausruf
süsser Name!« könnte als Motto über der aufgeklärten Kinderliteratur stehen; sie ist eine
zutiefst patriarchalische Literatur.
Den Vätern (oder den Vaterfiguren) kommt zunächst die Rolle eines Ver-
mittlers zu. Der Vater ist Vermittler des Wissens, indem er die Kinder sachlich
belehrt, Kenntnisse und Informationen an sie weitergibt, sie bei ihren Ausflü-
gen oder Reisen begleitet, auf denen sie Erfahrungen im außerfamiliären Be-
reich machen. Der Vater ist Vermittler des richtigen Denkens, indem er die
Kinder bei den Gesprächen anleitet, ihnen die richtigen Begriffe beibringt
Die Väter als und so ihr Erkenntnisvermögen schult. Schließlich ist der Vater Vermittler
Vermittler des richtigen Verhaltens, wiederum infolge seiner maßgebenden Rolle im
Gespräch und indem er Urteile über richtiges oder falsches Verhalten aus-
spricht und Verhaltensregeln weitergibt. Da die Literatur – als Medium der
Erfahrungserweiterung und als anschauliches Exemplum im Gespräch – eine
vergleichbare vermittelnde Rolle spielt, bestimmt der Vater auch über die
Lektüre der Kinder. Umgekehrt kann die Literatur als Vaterersatz fungieren.
Der väterliche Herausgeber des Abendzeitvertreibs berichtet, er habe vorge-
sorgt, dass bei seiner Abwesenheit seine »Person ersetzt werde«: »Ich habe
Familie und Kindheit 67

eine Schwester [...]; diese vertrat meine Stelle, und las ihnen vor, was ich
aufgeschrieben habe«. In direkter Anrede an die Leser und Leserinnen fährt
er fort: »Nun weiß ich, liebe Kinder, daß der Fall gar wohl eintreten kann,
der auch Eure Eltern von Euch trennt. Da dachte ich: vielleicht verdanken
dirs die Kleinen doch, wenn du Ihnen ein Büchelchen in die Hände giebst,
wodurch sie sich die langen Abende vertreiben können, und ich entschloß
mich, diese Aufsätze drucken zu lassen, damit Ihr auch daran Theil nehmen Literatur als
könntet«. In der Teilnahme der Leser und Leserinnen an der vorgestellten Vaterersatz
väterlichen Erziehung begründet auch Vater Mentor in Weißes Kinderfreund
die Herausgabe der Zeitschrift; er lässt sie mit der Frage zu Wort kommen
»Wr preisen die Kinder glücklich, die [...] einen Vater haben, der so sehr für
seiner Kinder Vergnügen sorgt; was hilft das aber uns, wenn wir keinen Theil
daran nehmen?« und antwortet darauf: »Das aber eben ist mein Wille. Ich
will die Unterhaltung meiner Kinder [...] euch mitteilen«. Entsprechend heißt
es dann im Brief eines Kindes an Weiße, den G. C. Claudius mitteilt: »Sie
sorgen für uns Kinder so väterlich«.
Die Rolle des Vermittlers geht allerdings über die Weitergabe von Kennt-
nissen und die Einübung von Fähigkeiten hinaus. Als konkrete Figuren ver-
körpern die Väter, was sie vermitteln – Wissen, richtiges Denken, angemes-
senes Verhalten. Sie sind Vorbilder und damit für die Kinderfiguren und über Die Väter als
sie für die kindlichen Leser und Leserinnen die maßgeblichen Identifizie- Vorbilder: väter-
rungsfiguren. Für die Leser und Leserinnen gilt dies in doppelter Weise. Ihnen liches ›Ichideal‹
wird in den Vätern die Personifikation des Erziehungsziels und in den Kin-
derfiguren zugleich der Identifizierungsprozess mit dem Vater vorgestellt.
Die Erweiterung der Kenntnisse, die Einübung des richtigen Denkens und
des angemessenen Verhaltens, die damit verbundene Stärkung des kindlichen
Ich gehen mit der Identifizierung mit dem Vater zusammen; in der Verinner-
lichung des väterlichen Vorbildes wird ein Ichideal aufgerichtet, dem sich die Die Väter als
Kinder angleichen sollen. Kontrolleure:
Die Väter sind jedoch auch Kontrolleure und Richter. Sie überwachen das väterliches ›Über-Ich‹
Verhalten der Kinder, sprechen Lob oder Tadel aus, verhängen Sanktionen
und achten auf deren Durchführung. Die Identifizierung mit dem Vater ist
verbunden mit Autorität. In der Angleichung an das väterliche Vorbild wird
die im Vater erfahrene Autorität verinnerlicht; sie wird in die psychische
Instanz eines väterlich bestimmten Über-Ich transformiert, das die vom Vater
ausgesprochenen und von ihm vorbildhaft vorgelebten Verhaltensgebote
enthält und so – als verinnerlichte Instanz des Gebietens und Verbietens – das
Denken und Verhalten kontrolliert. Ausbildung des Ich – vor allem in der
Übung der Erkenntnisvermögen – und Aufrichtung des Ichideals wie des
Über-Ich – in der Identifizierung mit der väterlichen Autorität – sind komple-
mentär aufeinander bezogen. Ihre Verknüpfung in der vom Vater geleiteten
Erziehung garantiert, dass das Erziehungsziel der Vernünftigkeit erreicht
wird. Besonders deutlich wird diese Verknüpfung in einer für die aufgeklärte
Kinderliteratur kennzeichnenden erzieherischen Maßnahme. Um den Kin-
dern ein bestimmtes Verhalten einzuüben oder um zu überprüfen, ob sie aus
eigenem Antrieb, also selbständig, zu angemessenem Verhalten in der Lage
sind, werden sie in eine vom Vater arrangierte Situation geführt, in der sie die
Richtigkeit des zuvor im Gespräch behandelten Verhaltensgebots erfahren.
Eine solche pädagogische Inszenierung gebraucht etwa der Vater in Weißes Johann Gottlieb
Kinderschauspiel Der Geburthstag, als er den Degen Ludwigs mit einer Trut- Schummel: Kinderspiele
hahnfeder vertauscht und damit eine Situation herbeiführt, in der Ludwig und Gespräche. Titel-
wegen seines Standesdünkels beschämt wird. In der moralischen Erzählung kupfer von D. Chodo-
Der bestrafte Schwätzer von G. C. Claudius wird von Anton erzählt, dem es wiecki. Leipzig 1776
68 Aufklärung

an der nötigen Selbstkontrolle mangelt; er setzt sich in Gesellschaften immer


in den Mittelpunkt und wird dadurch den »Andern sehr lästig«. Die Vorhal-
tungen des Vaters haben bisher nur wenig genützt; lediglich in dessen Anwe-
senheit, also unter der direkten väterlichen Kontrolle und Autorität, beträgt
er sich angemessen; ohne den Vater überlässt er sich seiner »Untugend«. Der
Vater arrangiert eine »Gesellschaft« und gibt den Eingeladenen Anweisungen,
wie sie sich verhalten sollen. Als Anton sich durch allzu vieles Reden wieder
in den Mittelpunkt setzt, hört ihm niemand zu; schließlich wird er scharf
zurückgewiesen. Er verlässt die Gesellschaft und beklagt sich bei seinem Va-
ter, der ihm jedoch sagt, er habe sich die – vom Vater arrangierte – Behand-
lung selbst zugezogen. Anton erfährt in der Gesellschaft, dass die Anforde-
rungen des Vaters richtig sind; die Gesellschaft bestätigt die väterliche Auto-
rität. Allerdings muss Anton noch zwei weitere Male in ähnliche Situationen
»Folge den Lehren geführt werden, ehe er sich »wirklich gebessert« hat und den Satz befolgt,
deines Vaters« den ihm ein Freund sagt: »Folge den Lehren deines Vaters.«
Bei Claudius hat die pädagogische Inszenierung den Zweck, das Kind von
einem Fehlverhalten abzubringen. In gleicher Weise wird dargestellt, wie sich
die Kinder in einer so arrangierten Situation, in Abwesenheit des Vaters, an-
gemessen verhalten; in Campes Robinson oder Weißes Kinderfreund sind
Beispiele zu finden. Die Kinder werden in eine Situation gebracht, in der sie
bewähren können, ob ihre Einsicht ausreicht, richtig zu urteilen und ange-
messen zu handeln. Da der Vater nicht anwesend ist, erfahren sie sich dabei
als frei, urteilen und handeln sie selbständig. Insofern dient die pädagogische
Inszenierung der Stärkung ihres Ich. Da aber die Kinder zugleich erfahren,
dass die väterlichen Anforderungen richtig sind und damit die väterliche
Autorität bekräftigt wird, dient die pädagogische Inszenierung ebenso der
Stärkung des väterlich bestimmten Über-Ich. In einem Brief, in dem er seine
Erziehung vorstellt, hat ein Vater die mit der pädagogischen Inszenierung
verbundenen Intentionen benannt (Böckh: Wochenschrift zum Besten der
Erziehung). Er wolle seine Kinder in »Freyheit« erziehen, da nur so sich ihre
Natur ausbilde und sie zu selbständigen Menschen werden könnten; dies
aber sei »gefährlich«, deshalb bedürfe die Freiheit der Einschränkung: »Man
lege der Freyheit sanfte und unvermerkte Fesseln an; man schränke Freyheit
durch Freyheit ein, und gebe ihr auf diesem Wege nach und nach eine gute
Richtung. Ich will so sagen: man lasse den Kindern ihre Freyheit, veranstalte
es aber so, daß man dieselbe inzwischen, gleichsam durch eine heimliche
Maschine, immer dirigiret, und vermittels dessen soweit bringt, daß die Kin-
der von selbst ihre Freyheit einschränken; und diese Einschränkung selbst
für eine Würkung ihrer Freyheit halten.« An der ›heimlichen Maschine‹ der
Erziehung ist der Vater auf eine doppelte Weise beteiligt; in beiden Fällen ist
Die ›heimliche seine Position mit Macht und Autorität ausgestattet. Er hält die Maschine in
Maschine‹ der Gang, ist wie bei den pädagogischen Inszenierungen der Regisseur der Erzie-
Erziehung: Autorität hungsveranstaltung; in dieser Funktion bleibt er jedoch den Kindern verbor-
und Freiheit gen, die deshalb die Inszenierung als Freiheit erfahren und im Schein dieser
Freiheit ihre Fähigkeiten ausbilden und erproben. Zugleich ist er Mitspieler
in seiner Inszenierung – als der Vater der Kinder, als Vermittler und Vorbild,
als Überwachender und Richter. Der Erfolg dieser Erziehung ist dann gege-
ben, wenn die Kinder im Schein der Freiheit, in eigener Entscheidung so
handeln, als sei der Vater anwesend, wenn sie mit der Ausbildung ihrer Fä-
higkeiten zugleich die väterliche Autorität verinnerlicht haben.
Der Gehorsam Der väterlichen Autorität komplementär ist der kindliche Gehorsam. Er
ist unbedingte Pflicht, die »Schuldigkeit eines jeden Kindes«, wie Adelung
1773 schreibt. In zahlreichen moralischen Erzählungen werden die oft fa-
Familie und Kindheit 69

talen Folgen kindlichen Ungehorsams vorgeführt; in vielen Kindergedichten


und Kinderliedern ist der Gehorsam Thema, wie in dem folgenden aus Gott-
lob Wilhelm Burmanns Kleine Lieder für Kleine Mädchen (1775):

Der Gehorsam
Ich sollte nicht gehorsam seyn?
Nicht auf der Tugend Stimme merken?
O stets soll sie mein Herze stärken,
Und nie soll Leichtsinn es zerstreun.
Ich bin ein Kind, ich weiß noch nicht
Mich selbst zu bilden, und zu bessern!
Gehorsam kann mein Herz vergrössern,
Und Freuden werden aus der Pflicht!
O du, mein Schöpfer! laß mich nie
Durch Ungehorsam häßlich werden!
Zu meiner Eltern Lust auf Erden
Sey ich gehorsam spat und früh.

Die Kinder müssen gehorchen, weil sie zu richtigem Verhalten noch nicht
fähig sind. In Bernhard Christoph Fausts Gesundheits-Katechismus wird
1794 auf die Frage »Warum müssen Kinder ihren Aeltern gehorchen?«
geantwortet : »Weil Kinder unverständig sind, weil sie nicht wissen, was an-
ständig, gut und sittlich ist«. Zugleich hat die Gehorsamsforderung transito-
rischen Charakter. Das Kind erwirbt Vernünftigkeit, indem es den Anforde-
rungen folgt und sich damit vernünftig und tugendhaft verhält; indem es
lernt, seine Vernunft zu gebrauchen, wird es befähigt, sich aus eigener Ein- Vernunft und
sicht richtig zu verhalten. Gehorsam ist damit eine notwendige Bedingung Disziplinierung
für die Transformation der väterlichen Autorität in die psychische Instanz
des Über-Ich. So dient die Gehorsamsforderung vor allem dazu, den Kindern
Selbstdisziplin und Selbstkontrolle einzuüben. In Fausts Gesundheits-Kate-
chismus heißt es: »Kinder, die ihren Aeltern gehorchen, lernen ihre Begierden
und Lüste beherrschen und denselben zu entsagen, und sie werden dadurch
Meister über sich selbst«.
Die Disziplinierung durch Gehorsam gilt zunächst dem Denken; es soll
Ordnung im ›Kopf‹ hergestellt werden. Die Rahmenerzählung im Versuch Ordnung ›im Kopf‹
einer kleinen praktischen Kinderlogik von Karl Philipp Moritz beginnt mit
dem Satz: »Fritz war ein unordentlicher Knabe«. Jeden Morgen muss er
Kleider und Schulsachen zusammensuchen: »Und da es nun vollends an das
Büchersuchen ging, so steckte die lateinische Grammatik in einem Stiefel, das
Schreibebuch lag zu den Füßen im Bette, die Schreibfedern lagen auf dem
Feuerheerde, und das Dintefaß stand zwischen dem weißgewaschnen lei-
nenen Zeuge –«. Ermahnungen und Drohungen helfen nichts: »Die Mutter
schalt, der Vater drohte, aber alles half nichts. Es ging so einen Tag und alle
Tage«. Doch der Hauslehrer weiß Rat. Er fängt »seine Lektionen mit Fritzen
damit an, daß er ihn bey jeder Gelegenheit zusammenlegen und zusammen-
stellen ließ, was zusammengehörte, und von einander absondern ließ, was
nicht zusammen gehörte«. Er schafft eine Reihe von Kupfertafeln an, auf
denen verschiedene Gegenstände abgebildet sind; die Beschäftigung mit ih-
nen (die dann im Text der Kinderlogik vorgeführt wird) soll dazu dienen,
»die große Kunst des Eintheilens und Ordnens, des Vergleichens und Unter-
scheidens, worauf die ganze Glückseligkeit des vernünftigen Menschen beru-
het, dadurch auf eine angenehme und spielende Art zu lehren«.
70 Aufklärung

Kontrolle der Affekte Vor allem richtet sich die Disziplinierung auf die Kontrolle der Affekte,
der »Begierden und Lüste«. Tugendhaftes Verhalten verlangt ihre vernunft-
geleitete Kontrolle. Auch sie wird im gehorsamen Befolgen der Anordnungen
eingeübt, um durch Selbstkontrolle abgelöst zu werden. In zahlreichen mora-
lischen Erzählungen und in anderen Texten, etwa in Kinderschauspielen,
wird vorgeführt, welche fatalen Folgen sich einstellen, wenn die Affekte nicht
kontrolliert werden, sich als Wut, Zorn oder Neid äußern, wenn die vernünf-
tige Selbstliebe in Egoismus oder in Eitelkeit ausartet, wenn Bedürfnisse nicht
beherrscht werden und etwa der Wunsch nach Süßigkeiten zur Naschsucht
wird. Erzieherisches Ziel ist die Dämpfung der Affekte, die Einübung der
bürgerlichen Tugend des Maßes. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Sexuali-
tät. Da die aufgeklärte Kinderliteratur vorwiegend für Leser und Leserinnen
vor der Pubertät gedacht ist, die Kinderfiguren deshalb nur in wenigen Fällen
älter als vierzehn Jahre sind, spielt allerdings die Beziehung zwischen den
Kontrolle der Geschlechtern nur eine geringe Rolle. Rigoros bekämpft aber wird die Ona-
Sexualität: das Laster nie, das Laster der Selbstbefleckung und Selbstschwächung, wie die gängige
der ›Selbstschwächung‹ Bezeichnung lautet. Den medizinischen Vorstellungen der Zeit folgend, ins-
besondere der 1760 erschienenen Schrift L’Onanisme des französischen
Arztes Tissot, werden die angeblichen Folgen der Masturbation ausgemalt:
körperlicher Verfall, geistige und psychische Degeneration, früher Tod. »In
einer gewissen Stadt starb ein neunjähriger Junge an den Folgen dieses Las-
ters, nachdem er schon geraume Zeit vorher völlig blind geworden war«,
heißt es in der Höchstnöthigen Belehrung und Warnung für Jünglinge und
Knaben, einem Separatdruck aus der preisgekrönten Anti-Masturbations-
schrift von Johann Friedrich Oest Versuch einer Beantwortung der pädago-
gischen Frage: wie man Kinder und junge Leute vor dem Leib und Seele
verwüstenden Laster der Unzucht überhaupt, und der Selbstschwächung in-
sonderheit verwahren, oder, wofern sie schon angesteckt waren, wie man sie
davor heilen könne?, die auf die von Campe gestellte Frage antwortet und in
der Allgemeinen Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesen 1787
erschien. Ein weiterer Separatdruck trägt den Titel Höchstnöthige Belehrung
und Warnung für junge Mädchen zur frühen Bewahrung ihrer Unschuld.
»Verwelkt und abgemattet seufze ich nun, ich, der ich sonst gleich einer Rose
geblüht«, lässt Oest einen der ›Selbstschwächer‹ reuevoll sagen. Seine Schrift
enthält Beispielgeschichten, ›Fallberichte‹; sie werden in zahlreiche Texte für
Kinder übernommen. Die Anti-Masturbations-Kampagne im letzten Drittel
des 18. Jh.s gehört in den Zusammenhang der Ausbildung bürgerlicher Sexu-
almoral; dass diese erst noch durchgesetzt werden musste, ist einer der
Gründe für die Rigorosität der Kampagne. Ein weiterer ist darin zu sehen,
dass die Masturbation den Rückzug der Person auf sich selbst bedeutet und
so in ihr die Gesellschaftlichkeit des Menschen negiert wird, die zu den
Grundüberzeugungen der Aufklärung gehörte.
Nicht zuletzt richtet sich die Disziplinierung auf die Kontrolle der Körper-
Kontrolle des Körpers sprache. In der moralischen Erzählung Die kleine lustige Gesellschaft, die
G. C. Claudius in seinem Kinderalmanach mitteilt, stellt Herr Weinhold, die
Vaterfigur der Erzählung, fest, dass sich die vier Kinder, die ihn jede Woche
besuchen, beim Lachen nicht »gesittet und artig zu betragen wissen«. Er
greift zum Mittel der pädagogischen Inszenierung, indem er den Kindern
eine besonders lustige Geschichte, ein »Geschichtchen zum Todlachen«, er-
zählt, zuvor allerdings jedes Kind einzeln und insgeheim auffordert, die an-
deren beim Vortrag zu beobachten und die Beobachtungen mitzuteilen. Das
gemeinsame Gespräch über diese Beobachtungen bildet die Erzählung; das
»Geschichtchen zum Todlachen« selbst wird nicht mitgeteilt! Drei Formen
Familie und Kindheit 71

des Fehlverhaltens beim Lachen werden vorgeführt. So habe sich Malchen


»etwas höhnisch benommen, habe oft mit Mühe ein sichtbar werdendes La-
chen verborgen, vermuthlich um zu zeigen, daß sie es für gering achte, über
das zu lachen, was Andere lachenswerth fanden«. Ihr wird gesagt, dass man
»nicht nur um sein selbst, sondern auch um Andrer Willen in Gesellschaft«
sei und deshalb sein Verhalten dem der anderen anpassen müsse: »Lache mit,
wenn andere lachen.« Verlangt ist die Angleichung des Verhaltens an die all-
gemeine Norm des Betragens. Denn das Verhalten ist Signal innerer Vor-
gänge, weshalb nicht kontrollierte Körpersprache zu Missverständnissen und
Fehleinschätzungen der Person führen kann. So bei Lebrecht, der beim La-
chen »sein Gesicht so ins Einfältige [verzerrte], daß, wer ihn sonst nicht
kennt, ihn wirklich für einfältig halten sollte«. Zeigt Lebrecht immerhin nur
eine »kleine Unart«, so hat sich Lorenz völlig der Lust des Lachens überlas-
sen. Er sagt es selbst (und zeigt damit, dass er »schon den Weg der Besserung
angetreten« hat): »So habe ich auch die Unart an mir, daß mirs, wenn ich G. C. Claudius: Kinder-
lachen muß, durch alle Glieder fährt […] ich will das laute Lachen verbergen, almanach auf das Jahr
beiße die Lippen zusammen, […] so fahren sie mir schnell auf, und ich 1800. Leipzig o. J.
schreye schon wieder laut auf. Ich fahre mit den Armen in die Luft, und hebe
die Beine dazu hoch auf, wenn ich sitze.« Ihm fehlt es noch an Körperkon-
trolle; aber er verspricht, weiter an der Beherrschung seines Körpers zu ar-
beiten: »Und die Beine, ich will nicht Lorenz heißen, die Beine sollen mir
Gehorsam leisten.« Allein Auguste hat sich angemessen verhalten: »Sie ist
ganz gelassen, nimmt Theil, vollen Antheil; ihr Auge ist heiter; ihr Mund
zieht sich nur ganz sanft, und wenn sie lacht, schreyt sie nicht, man hört
nicht einen lauten Schrey, kein Kickern; ihr Mienen nur drücken aus, was sie
empfindet.« Auguste verhält sich zivilisiert; sie zeigt in ihrer gezügelten Kör-
persprache, dass sie Selbstdisziplin und Ansichhalten gelernt und ihre Affekte
unter Kontrolle hat.
Ein Mittel, um den Kindern Selbstdisziplin und Selbstkontrolle einzuüben, Selbstdisziplin und
ist das Tagebuchschreiben. In den Rahmenhandlungen werden sie dazu ange- Ansichhalten
halten; in anderen Texten werden solche Aufzeichnungen mitgeteilt. »[...]
setz Dich hin, und schreib, was Du denkst – oder gethan hast – oder thun
willst«, rät in der Sammlung Unterhaltungen für die Jugend ein Vater seinem
Sohn. Das Tagebuch ist Mittel der Selbstüberprüfung und Selbstreflexion; Selbstbeobachtung,
indem die Kinder ihr Verhalten niederschreiben, überwachen sie selbst ihre Selbstreflexion
Fortschritte im Handeln und Denken, üben sie ihre Vernünftigkeit. Das Tage-
buchschreiben ist jedoch keine private, gar geheime Angelegenheit; vielmehr
werden die Aufzeichnungen dem Vater vorgelegt und zumeist in der Ge-
schwistergruppe vorgelesen. Selbstbeobachtung und Selbstreflexion beim
Tagebuchschreiben geschehen unter dem Blick des Vaters; wie bei der päda-
gogischen Inszenierung geht die Übung der eigenen Vernünftigkeit, die Stär-
kung des Ich, mit der Verinnerlichung der väterlichen Autorität, der Stärkung
des Über-Ich, zusammen. So erweist sich auch hier, dass im Ideal aufgeklärter
Erziehung, wie es in der aufgeklärten Kinderliteratur vorgestellt wird, das
Ziel der Vernünftigkeit oder – mit einem Leitwort der Aufklärung – der
Mündigkeit dann erreicht ist, wenn der von der Ich-Instanz geleitete Ge- Mündigkeit: das
brauch des Vermögens der Vernunft mit den Anforderungen der väterlich Zusammenspiel von
bestimmten Über-Ich-Instanz übereinkommt und in ihrem Zusammenspiel ›Ich‹ und ›Über-Ich‹
richtiges Denken, Affektkontrolle, Selbstdisziplin und Ansichhalten gewähr-
leistet werden. Solche Modellierung des psychischen Apparats, die in der
Erziehung durch den Vater erreicht wird, ist kennzeichnend für den bürger-
lichen Sozialcharakter nicht nur des 18. Jahrhunderts.
72 Aufklärung

Unterhaltende Schriften

Zeitschriften In der literarischen Öffentlichkeit des 18. Jh.s kam den Zeitschriften eine
wichtige Rolle zu; dies gilt auch für die Kinderliteratur. Die erste deutsche
Zeitschrift für Kinder war das Leipziger Wochenblatt für Kinder, das seit
Oktober 1772 erschien und von dem Sprachwissenschaftler und Lexiko-
graphen Johann Christoph Adelung herausgegeben wurde. In lockerer An-
ordnung sind Märchen, Erzählungen und Fabeln, Rätsel, Kinderschauspiele,
erbauliche Betrachtungen und sachlich belehrende Beiträge versammelt. Das
Angebot unterschiedlicher Genres ist typisch für die Kinderzeitschriften; sie
haben den Charakter von Lesebüchern und wurden deshalb in der Regel
nach dem Abschluss oder noch während ihres periodischen Erscheinens auch
in Buchform veröffentlicht. Dem Leipziger Wochenblatt folgte ab Oktober
Johann Christoph 1776 im gleichen Verlag Christian Felix Weißes Kinderfreund. Weiße inte-
Adelung grierte die verschiedenen Genres in eine familiäre Rahmenhandlung und
schuf damit ein in seiner Wirkung kaum zu überschätzendes Modell des vä-
terlichen Gesprächs. Dem Kinderfreund ließ Weiße den Briefwechsel der Fa-
milie des Kinderfreundes (1784 – 1792) folgen. In ihm ist die Familie räum-
lich getrennt; die Briefe ersetzen das familiäre Gespräch. Im Kinderfreund
schloss Weiße an die Tradition der Moralischen Wochenschriften an, die er
gekonnt weiterentwickelte. Zu seinen Vorbildern gehörte auch das Magasin
des enfans (London 1756) der französischen Erzieherin und Schriftstellerin
Jeanne-Marie LePrince de Beaumont, in dem biblische Geschichten, Erzäh-
lungen, Märchen, sachliche und moralische Belehrungen in Gespräche inte-
griert sind. Unter dem Titel Lehrreiches Magazin für Kinder zu richtiger Bil-
dung des Verstandes und Herzens war es von Johann Joachim Schwabe, der
auch andere Texte LePrince de Beaumonts übertrug, 1758 ins Deutsche
übersetzt worden.
Nicht wenige Kinderzeitschriften, etwa der Neue Kinderfreund von Engel-
hardt und Merkel, dem Engelhardt 1799 – 1802 auch die Fortsetzung Brief-
wechsel der Familie des neuen Kinderfreunds folgen ließ, übernehmen die
Form der familiären Rahmenhandlung, wobei wie in Benzlers Niedersäch-
sischem Wochenblatt (das 1774 – 1776 und damit vor Weißes Kinderfreund
erschien) nicht unbedingt alle Texte damit verbunden sein müssen. Manchen
fehlt auch eine Rahmenhandlung; sie enthalten jedoch Gespräche, in die
kleinere Texte integriert sind. Die meisten Kinderzeitschriften richten sich an
alle Kinder; daneben gibt es auch einige auf bestimmte Adressatengruppen
oder Inhalte spezialisierte – für Mädchen wie Sophie von La Roches Pomona
(1783/84), für bestimmte Altersgruppen wie Böckhs Kinderzeitung und die
Chronik für die Jugend (1780 – 1783) oder für bestimmte Sachgebiete wie
der Physikalische Kinderfreund.
Den Kinderzeitschriften verwandt sind die zahlreichen Textsammlungen,
›Unterhaltende‹ die als ›unterhaltende Lesebücher‹ bezeichnet werden können. Dazu gehören
Lesebücher die meist zur Herbstmesse erscheinenden Almanache, mit denen eine in der
Erwachsenenliteratur beliebte Veröffentlichungsform übernommen wurde,
und die unter Titeln wie ›Kinderbibliothek‹, ›Unterhaltungen für Kinder‹,
›Beschäftigungen für Kinder‹ herausgegebenen Sammlungen, von denen ei-
nige, wie etwa der 1795 anonym erschienene Abendzeitvertreib, eine Rah-
menhandlung haben. Beispiele solcher ›Lesebücher‹ sind Campes Kinder-
bibliothek (1778 – 1784), die zuerst unter dem Titel Hamburgischer Kinder-
almanach erschien, die Unterhaltungen für Kinder und Kinderfreunde
(1778 – 1787) von Christian Gotthilf Salzmann, Johann Diederich Leydings
Unterhaltende Schriften 73

Handbibliothek für Kinder und junge Leute (1770) oder von Georg Carl
Claudius die Kleinen Unterhaltungen (1780 – 1783) und die Neuen Unter-
haltungen für Kinder (1793 – um 1795).
Neben den unterhaltenden Lesebüchern, in denen verschiedene Genres Anthologien
versammelt sind, erscheinen auch Anthologien einzelner Genres, von Ge-
dichten und Liedern, Rätseln, moralischen Erzählungen und Anekdoten, Fa-
beln, Schauspielen oder Briefen. Nicht selten werden die aufgenommenen
Texte, darunter auch solche, die ursprünglich für Erwachsene geschrieben
waren, von den Herausgebern bearbeitet. Solche Bearbeitungen sind in einer
Zeit, in der die Autorenrechte noch unzureichend geschützt sind und erfolg-
reiche Bücher bedenkenlos nachgedruckt werden, nicht ungewöhnlich. Zu-
dem wurden Texte für Kinder als eine Art Gemeinschaftsgut betrachtet, das
jedem, der sich kinderliterarisch betätigen wollte, zur Verfügung stand.
Eine für die aufgeklärte Kinderliteratur kennzeichnende Gattung sind die
moralischen Erzählungen oder Beispielgeschichten; ihre Ausgestaltung ge-
hört zu den kinderliterarisch wichtigen Leistungen der Epoche. Ihr Ziel ist
die Vermittlung eines moralischen Grundsatzes oder einer Verhaltensregel. Moralische
Einleitend werden die Hauptfigur, zumeist ein Kind, oder eine bestimmte Si- Erzählungen
tuation vorgestellt: »Rudolph war ein gutes Kind. Seine Eltern hatte er lieb«
(Salzmann: Moralisches Elementarbuch); »Amalie gieng mit ihrem Bruder
vor einem jungen starken Bettler vorbey, der sie um eine Gabe ansprach«
(G. C. Claudius : Neues Wochenblatt). Es folgt die Erzählung einer Begeben-
heit, in der sich die Hauptfigur erfolgreich bewährt und damit richtiges Ver-
halten, eine ›Tugend‹, zeigt oder ein Fehlverhalten, ein ›Laster‹, offenlegt. In
der erzählten Begebenheit werden der moralische Grundsatz oder die Verhal-
tensregel den kindlichen Lesern zur Anschauung gebracht. Abgeschlossen
wird die Erzählung häufig mit einem allgemeinen Satz, in dem die vorge-
stellte Maxime formuliert ist; sie kann auch bereits in der Überschrift er-
scheinen. Ihre Erfüllung findet die Intention der moralischen Erzählungen
jedoch vor allem im Gespräch, in dem das Dargestellte erörtert und begriff-
lich gefasst wird.
In vielen moralischen Erzählungen werden die Folgen falschen Verhaltens
drastisch ausgemalt; sie können als ›Abschreckgeschichten‹ bezeichnet wer-
den. Die Elemente ›schwarzer Pädagogik‹ sind nicht zu verkennen; zu den
erzieherischen Mitteln gehört die Furcht. So endet etwa Johann Balbachs
Erzählung vom »verwegenen oder unbesonnenen Roland«, der durch seine
Unbesonnenheit schon einige Unfälle erlitten hat: »und da er sich endlich
einmal […] allzuweit über das Fenster hinaus gelehnt hatte, stürzte er herun-
ter, und zerschmetterte sich den Kopf so jämmerlich, daß er daran sterben
mußte«. Die beigegebene Illustration zeigt den herunterfallenden Roland
und unterstützt die Drastik dieser Folgen des Fehlverhaltens. »Das verwegene Kind«
Eine von den Zeitgenossen hoch gelobte Sammlung moralischer Erzäh-
lungen war Christian Gotthilf Salzmanns Moralisches Elementarbuch (1782/
83). Die Texte für sechs- bis achtjährige Kinder sind zum Vorlesen mit sich
anschließendem Gespräch bestimmt; im ersten Teil sind die Erzählungen in
eine Rahmenhandlung integriert, in der von der Kaufmannsfamilie Herr-
mann erzählt wird; im zweiten fehlt eine Rahmenhandlung, dafür sind die
Erzählungen thematisch geordnet. In freier Übertragung einer französischen
Vorlage schrieb Johann Karl Musäus, der neben einigen Romanen die (für
Erwachsene gedachten) Volksmärchen der Deutschen (1782 – 86) veröffent-
licht hatte, sechzehn moralische Erzählungen, die nach seinem Tod von
Friedrich Johann Justin Bertuch unter dem Titel Moralische Kinderklapper
(1788) herausgegeben wurden.
74 Aufklärung

Fabeln Sehr beliebt war im 18. Jh. die Fabel; sie galt als Musterbeispiel einer
Dichtart, in der Belehren und Erfreuen vereinigt sind. In seinen Abhand-
lungen über die Fabel (1759) hatte Gotthold Ephraim Lessing dargelegt, dass
die Fabel in der Abfolge von Tiergeschichte und Lehre eine exemplarische
Verbindung von anschauender und begrifflicher Erkenntnis biete; nicht zu-
letzt diese Struktur begründet die Beliebtheit der Gattung im 18. Jh.. Aller-
dings ist die Fabel im 18. Jh. noch ein selbstverständlicher Bestandteil der
Erwachsenenliteratur, gilt jedoch zugleich als geeignete Lektüre für die nach-
wachsende Generation. Ihre Zuordnung allein zur Kinderliteratur ist eine
Folge des literaturhistorischen Wandels am Ende des 18. Jh.s.
In den familiären Gesprächen werden Fabeln als ›Exempla‹ verwendet; in
großer Zahl erscheinen sie in den Sammlungen. Bekannte Fabelautoren des
18. Jh.s wie Hagedorn, Gellert, Gleim, Lessing, Lichtwer oder Pfeffel sind
ebenso vertreten wie heute nahezu vergessene; Übersetzungen vor allem aus
dem Französischen kommen hinzu. Unter dem Einfluss Rousseaus, der im
Emile die Fabel als kindliche Lektüre abgelehnt hatte, bemühen sich die Au-
toren um kindgemäßere Fassungen. Zunehmend werden spezielle Fabelantho-
logien für Kinder zusammengestellt, die häufig auch für den Schulgebrauch
gedacht sind. So erscheinen Sammlungen der antiken Fabeln von Äsop oder
Phädrus; bekannte und mehrfach aufgelegte Fabelausgaben für Kinder haben
Johann Lorenz Benzler (Fabeln für Kinder. 1771) und August Gottlob Meiß-
ner (Aesopische Fabeln. 1791) herausgegeben. Zumeist handelt es sich dabei
um ursprünglich für Erwachsene gedachte Texte; Sammlungen von speziell
für Kinder verfassten Fabeln wie etwa die von Christian Gottlieb Göz (Be-
lustigungen für die Jugend. 1778) oder von Johann Jacob Ebert (Fabeln und
Erzählungen. 1798) sind noch eher die Ausnahme.
Zu den kleineren epischen Formen der aufgeklärten Kinderliteratur gehö-
ren die Rätsel, mit denen der Scharfsinn der Kinder geübt und ihnen Wissen
vermittelt wird. Mitunter werden sie auch in den Gesprächen dazu genützt,
Rätsel die ›richtigen‹ Begriffe zu finden. Das Lösen von Rätseln und Scherzfragen ist
zudem Teil der geselligen Unterhaltung der Kinder, wofür Sammlungen wie
die Vierhundert neuen Räthsel zur Unterhaltung für junge Gesellschaften
(1781) oder die Achthundert neuen noch nie gedruckten Räthsel von einem
Kinderfreunde (1791) die Vorlagen bieten. Weiter gehören dazu Anekdoten
und Historien, die auch als historische Beispielgeschichten bezeichnet werden
können. Den moralischen Erzählungen vergleichbar bieten sie Beispiele rich-
tigen oder falschen Verhaltens; für manche Autoren haben sie den Vorzug,
›wahre‹ Begebenheiten darzustellen und nicht wie die moralischen Erzäh-
Historien lungen ›erdichtet‹ zu sein. Der Übergang zur sachlich belehrenden histo-
rischen Literatur ist fließend; die Historien dienen auch einer ersten Einfüh-
rung in Geschichte. Beispiele solcher Sammlungen sind Christian Jakob Wa-
genseils Historische Unterhaltungen für die Jugend (1781 – 1783), Jakob
Christian Welands Sittenlehren, durch Beispiele aus der Weltgeschichte er-
läutert (1795–1799), David Christoph Seybolds Historisches Handbuch auf
alle Tage im Jahre, hauptsächlich den Jünglingen gewiedmet (1788) und
Ernst Christian Trapps Tägliches Handbuch für die Jugend (1794).
Briefe und Weiter sind in den Kinderzeitschriften und Lesebüchern auch Briefe und
Briefwechsel Briefwechsel zu finden. So enthält das Leipziger Wochenblatt eine Reihe von
Kinderbriefen zu dem Waisenhausprojekt, die unter dem Titel Briefe von
Kindern an Kinder auch gesondert veröffentlicht wurden (1773); der Erlös
war für das Waisenhaus bestimmt. Gelegentlich wird die Form des Brief-
wechsels zur Gestaltung der Rahmenhandlung verwendet, so Weißes Brief-
wechsel der Familie des Kinderfreunds (1784 – 1792) oder in der anonym
Unterhaltende Schriften 75

erschienenen Sammlung Briefe für Kinder (1785). In der geselligen Kultur


des 18. Jh.s waren Briefe ein wichtiges Kommunikationsmittel; das Erlernen
des Briefeschreibens gehörte zur literarischen Erziehung bürgerlicher Kinder.
Deshalb werden die Kinder der Rahmenhandlungen zum Briefeschreiben
angehalten und ihre Briefe abgedruckt. Diese Briefe und die in den Lesebü-
chern sind immer auch als ›Musterbriefe‹ zu verstehen. Die Ausgaben von
Briefen und Briefwechseln wie August Raabes Briefe für Kinder. Eine Samm-
lung durchgehends zweckmäßig belehrenden Inhalts (1785) oder August von
Rodes Briefwechsel einiger Kinder (1776) haben den Charakter von ›Brief-
stellern‹. Zumeist handelt es sich aber um fiktive und nicht um authentische
Briefe.
Bei den moralischen Erzählungen lässt sich eine Tendenz zur Ausweitung
feststellen. Sie werden episodenreicher und in der Handlungsführung kom- Romane
plexer; manche Autoren wie etwa G. C. Claudius verbinden auch mehrere
Erzählungen durch gemeinsame Figuren. Aus den moralischen Erzählungen
entwickeln sich so Texte, die als Romane für Kinder bezeichnet werden kön-
nen. In belehrender Absicht wird zumeist die Erziehungsgeschichte der
Hauptfigur und ihre Folgen im weiteren Leben erzählt. Beispiele sind in der
anonym erschienenen Sammlung Kleine Romane für Kinder (1781/82) zu
finden, die auch Gespräche über die Texte enthält. In einer anderen Entwick-
lungslinie sind die Romane für Kinder mit den familiären Rahmenhand-
lungen verbunden. In der Verknüpfung von Rahmenhandlungen und Bin-
nentexten durch gemeinsame Figuren wie im ersten Band von Salzmanns
Moralischem Elementarbuch entsteht ein einheitlicher Text, der als Roman
bezeichnet werden kann. Das familiäre Umfeld wird hier stärker als in den
Erziehungsgeschichten berücksichtigt: häufig ist eine Kindergruppe Träger
Christian Gotthilf
der Handlung. Solche ›Familiengeschichten‹ werden zum Ende des Jahrhun-
Salzmann. Kupferstich
derts hin immer beliebter; sie können als kinderliterarische Adaption der von F. W. Bollinger
Familienromane verstanden werden, die in der Erwachsenenliteratur der
Zeit überaus populär sind. Zugleich lässt sich eine Differenzierung nach Al-
tersstufen beobachten. Neben ›Familienromanen‹ für Kinder wie Hellmanns Jugendromane,
Unterhaltungen mit seinen Kindern (1801, anonym) werden nun häufiger Volksliteratur
Texte veröffentlicht, die für ein bereits älteres, jugendliches Publikum ge-
dacht sind. Diese Differenzierung kann als einer der Anfänge der unterhal-
tenden Jugendliteratur bezeichnet werden. Beispiele sind Friedrich Andreas
Stroths Erziehungsroman Karl Weissenfeld (1778/79) oder Johann Balbachs
Bearbeitung eines englischen Romans Lebensgeschichte der Rosine Meyerin
oder die glüklichen Folgen eines guten Verhaltens (1793). Eine andere, für
die Folgezeit gleichfalls bedeutsame Entwicklung wird an Salzmanns späten
Romanen sichtbar, an Constants curiose Lebensgeschichte (1791–93), Joseph
Schwarzmantel (1810) oder Heinrich Glaskopf (1820, posthum). Sie sind an
das ›Volk‹, die nichtbürgerlichen Schichten also, und zugleich an die Jugend
gerichtet; Volksliteratur und Jugendliteratur werden miteinander verbun-
den.
Ein eigenes Genre sind die Abenteuerromane oder Abenteuererzählungen. Abenteuerromane
Obwohl abenteuerliche Stoffe wegen ihres Ausbruchscharakters mit einiger
Skepsis betrachtet werden, finden sie Eingang in die aufgeklärte Kinderlite-
ratur, nicht zuletzt aufgrund der Absicht, damit die Lektüre populärer und
trivialer Texte zu verdrängen. Durchweg wird die Darstellung abenteuer-
licher Begebenheiten mit Belehrung verbunden – mit sachlicher Belehrung
durch die Vermittlung von Informationen über fremde Länder und Menschen
und mit moralischer in der Bewährung des Helden, der seine nachahmens-
werten Fähigkeiten und vorbildlichen Eigenschaften beweist. Herausragendes
76 Aufklärung

Beispiel ist Campes Robinson der Jüngere (1779/80), das mit Abstand erfolg-
reichste Kinderbuch des 18. Jh.s und eines der erfolgreichsten Kinderbücher
überhaupt. Bis zum Ende des Jahrhunderts gab es sechs Auflagen der recht-
mäßigen Ausgabe und einige Nachdrucke. Im 19. Jh. setzte sich der Erfolg
fort. Die rechtmäßige Ausgabe erschien 1884 in der 109. Auflage; hinzu ka-
men zahlreiche Nachdrucke und bearbeitete Ausgaben. Bereits im 18. Jh.
wurde Robinson der Jüngere ins Französische, Englische und Italienische
übersetzt, im 19. Jh. kamen Übersetzungen in weitere Sprachen hinzu.
Im Zentrum der Handlung steht Robinsons Inselaufenthalt: einsames In-
seldasein ohne Werkzeuge, Zusammensein mit Freitag, Stranden eines
Schiffes mit Werkzeugen, Koloniebildung mit befreiten Europäern und Ab-
reise sind die Stationen. Bei der Rückkehr erleidet Robinson – er stammt aus
Hamburg – erneut Schiffbruch und verliert das auf der Insel erworbene Ver-
mögen; er erlernt das Tischlerhandwerk und eröffnet mit Freitag eine Werk-
statt. In der Struktur von Ausbruch und Rückkehr in die Gesellschaft ist
Robinson der Jüngere eine Initiationserzählung; die Insel wird zum Ort der
Die ›pädagogische Erziehung, zur ›pädagogischen Insel‹. Die Konzentration des Robinson-Stof-
Insel‹: Robinsonaden fes auf eine Initiations- oder Erziehungsgeschichte ist zweifellos einer der
wichtigsten Gründe für den Erfolg von Campes Robinson. Dieser Struktur
folgen auch die vor allem im 19. Jh. zahlreichen Bearbeitungen von Defoes
Roman und die noch zahlreicheren ›Robinsonaden‹. Johann Christian Lud-
wig Haken kann am Beginn des 19. Jh.s in seiner Bibliothek der Robinsone
(1805 – 1808) bereits 27 solche Robinsonaden versammeln. Aus dem philan-
thropischen Umkreis sind Christian Friedrich Sanders Roman Friedrich Ro-
binson. Ein Lesebuch für Kinder (1784) zu nennen und die der Robinson-
Struktur folgende Bearbeitung der Insel Felsenburg von Johann Gottfried
Schnabel, einer zwischen 1731 und 1743 erschienenen Inselutopie, die Chris-
tian Karl André unter dem Titel Felsenburg, ein sittlich unterhaltendes Lese-
buch (1788/89) herausbrachte. André veröffentlichte im ersten Teil seiner
Lustigen Kinderbibliothek (1787/88) auch die erste deutschsprachige Ju-
gendbearbeitung des Don Quijote von Miguel Cervantes. Als eine Warnung
vor Robinsonaden veröffentlichte Georg Carl Claudius den Roman Ludwig
Helmann, eine Geschichte zur Beherzigung für die Jugend (1788), in dem das
klägliche Scheitern des Titelhelden in Übersee erzählt wird. Anlass war der
Ausreißversuch einiger Leipziger Jungen, die, angeblich verführt durch die
Lektüre von Campes Robinson, von zu Hause wegliefen, um nach Amerika
zu fahren, allerdings bald eingeholt wurden. Als Robinsonade kann auch die
in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh.s erfolgreiche Romanerzählung Gumal
und Lina. Eine Geschichte für Kinder (1795 – 1800) von Kaspar Friedrich
Lossius gelten, in der die Geschichte zweier Kinder in einer Kolonie in Afrika
erzählt wird. Zentrale Intention der an dem berühmten Roman Paul et Virgi-
nie von Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre (1788) orientierten Erzäh-
lung ist die Vermittlung christlicher Religions- und Moralvorstellungen.
Zeitgleich mit Campes Robinson dem Jüngeren erschien Johann Karl We-
zels Robinson Krusoe. Neu bearbeitet (1779/80). Im ersten Teil folgt Wezel
weitgehend Defoe. Der zweite Teil, in dem die weitere Geschichte der Insel
erzählt wird, ist ein eigenständiger Text. Wezel führt verschiedene Gesell-
schaftsformationen und ihre Konflikte vor, die in einem Desaster enden. Die
Robinson-Erzählung biete, schreibt Wezel in der Vorrede zum ersten Teil,
»eine Geschichte des Menschen im Kleinen«; seine Bearbeitung gebe im ers-
ten Teil »Beispiele von den Veränderungen […] in dem Zustande des Men-
schen«, im zweiten »Beispiele von den Veränderungen in dem Zustande der
Gesellschaft«. So bietet insbesondere der zweite Teil eine – fast allegorisch zu
Unterhaltende Schriften 77

J. H. Campe: Robinson
der Jüngere. Titelkupfer
von A. Stöttrup zum
1. Teil. Hamburg 1779

J. K. Wezel: Robinson
Krusoe. Kupferstich-
Frontispiz. Leipzig 1779

nennende – Darstellung menschlicher Geschichte, die von tiefer Skepsis, ja


Pessimismus geprägt und – ähnlich wie Wezels Roman Belphegor (1776) – als
Absage an aufgeklärten Fortschritts- und Erkenntnisoptimismus zu verste-
hen ist. Wohl nicht zuletzt deshalb fand Wezels Bearbeitung kaum Resonanz
bei den Zeitgenossen; lediglich der zweite Teil wurde 1795 noch einmal auf-
gelegt. In der Kinderbuchforschung allerdings gilt seit dem Ende des 19. Jh.s
Wezels Robinson im Vergleich zu Campes Erfolgsbuch als die gelungenere
Bearbeitung. Auch Wezels Überlegungen zur kindlichen Lektüre in den Vor-
reden beider Teile werden als ausgesprochen modern bezeichnet und gegen
die Vorstellungen der Aufklärung ausgespielt. Darin entwickelt Wezel das
Konzept eines realistischen Romans, der Erfahrung vermitteln und nicht
mehr primär der Belehrung dienen soll. In der Robinson-Bearbeitung wird
dieses Konzept allerdings nicht erfüllt. Vielmehr ist Robinson Krusoe ein di-
daktisch ausgerichteter Text, in dem Wezel seine geschichtsphilosophische
›Idee‹ zur Anschauung bringt; er bleibt damit im Rahmen aufgeklärter Vor-
stellungen. Dass die Zeitgenossen diese Vorstellungen eher in Campes Bear-
beitung verwirklicht sahen, zeigt eine Rezension der Neuauflage des zweiten
Teils von Robinson Krusoe. Der unbekannte Rezensent wünscht, »diese
Fortsetzung, am besten von Campe selbst, oder ganz in Campe’s Manier für »Campe’s Manier«
Kinder […] bearbeitet zu sehen«. ›Campe’s Manier‹, womit vor allem die
Gesprächsform gemeint ist, wurde denn auch in zahlreichen Abenteuerer-
zählungen nachgeahmt. Er selbst verwendet sie noch in den drei Bänden der
Entdekkung von Amerika (1781/82), in denen von der Entdeckungsfahrt des
Kolumbus und – mit anti-kolonialer Tendenz – von den Eroberungszügen
der spanischen Konquistadoren in Mittel- und Südamerika erzählt wird.
Nur eine geringe Rolle spielt in der aufgeklärten Kinderliteratur das Mär-
chen. Die aufgeklärten Pädagogen begegneten dieser Gattung mit ihren fan- Märchen
tastischen und wunderbaren, sich einer vernünftigen Erklärung verwei-
gernden Begebenheiten mit großer Skepsis. Märchen, so wurde argumentiert,
reizten zu sehr die kindliche Einbildungskraft und behinderten die Ausbil-
dung eines vernunftgeleiteten Realitätsbewusstseins. Wegen der Ablehnung
78 Aufklärung

des Märchens ist die aufgeklärte Kinderliteratur seit der Romantik heftig
kritisiert worden; sie diente dazu, ihr mangelnde Kindgemäßheit, rationalis-
tische Beschränkung, bloßes Nützlichkeitsdenken und allein am Verstand
orientierte Belehrung vorzuwerfen. Es ist jedoch zu differenzieren. Die Skep-
sis der Aufklärung richtet sich vor allem gegen die Märchen, die gängiger-
weise als ›Volksmärchen‹ bezeichnet werden (und für die heute als beispiel-
haft die Grimmschen Kinder- und Hausmärchen gelten). Die Ablehnung
dieser Märchen aber ist eng mit der aufgeklärten Bekämpfung des Aberglau-
Kampf gegen bens verbunden; sie gelten als Zeugnisse abergläubischer Vorstellungen. Mit
Aberglauben dem Vorwurf, Märchen reizten zu sehr die Einbildungskraft, ist auch ge-
meint, dass sie Furcht und Angst hervorriefen. Und es ist daran zu erinnern,
dass in einer Zeit, in der abergläubische Vorstellungen noch weit verbreitet
waren, den ›märchenhaften‹ Erzählungen ein weitaus größerer ›Realitätsge-
halt‹ zugesprochen wurde als dies heute vorstellbar erscheint.
Aberglaube widerspricht für die Aufklärung nicht nur der wissenschaft-
lichen Erkenntnis natürlicher Vorgänge, er widerstreitet vor allem dem auf
Vernunft gegründeten Selbstvertrauen, der Mündigkeit des sich seines eige-
nen Verstandes bedienenden Menschen. Deshalb erscheinen solche Märchen
in der aufgeklärten Kinderliteratur in der Regel nur als Beispiele – als ›Lü-
genmärchen‹, wie sie denn zumeist genannt werden –, an denen abergläu-
bische Vorstellungen aufgedeckt, ihre fatalen Folgen demonstriert oder die
›natürliche‹ Erklärung fantastischer Begebenheiten vorgeführt werden. Die
Ablehnung dieser Märchen hat zudem eine soziale Dimension. Die Abwehr
richtet sich vor allem gegen das Märchenerzählen durch das Gesinde; nicht
›Ammenmärchen‹ von ungefähr heißen Märchen dieser Art im 18. Jh. ›Ammenmärchen‹. Sie
gelten als eine Gattung des ›Volks‹, das noch immer von Aberglauben be-
herrscht wird. Davor sollen die bürgerlichen Kinder bewahrt werden.
Eine andere Haltung nimmt die aufgeklärte Kinderliteratur zu den Feen-
märchen ein, den ›Contes des Fées‹ in der Tradition der französischen Kunst-
märchen von Marie Catherine d’Aulnoy (Contes des fées, 1697 – 98) und
Charles Perrault (Contes de ma mère l’Oye, 1697), ebenso zu den ›morgen-
ländischen‹ Erzählungen etwa in der Tradition der arabischen Märchen-
›Feenmärchen‹, sammlung Tausendundeine Nacht, die durch die französische Übersetzung
›morgenländische‹ von Jean-Antoine Galland (Les mille et une nuits, contes arabes, 1704 – 1717),
Erzählungen der ersten in eine europäische Sprache, bekannt wurde. Die Feenmärchen
wurden als Kinderlektüre akzeptiert, weil sie als Kunstmärchen artifizieller
gestaltet sind und deshalb (verglichen mit den ›Volksmärchen‹) die Fiktiona-
lität des Wunderbaren deutlicher sichtbar wird. Allerdings gelten sie primär
als Erwachsenenliteratur. So vermerkt etwa Friedrich Johann Justin Bertuch,
dass die von ihm herausgegebene Sammlung französischer und auch orienta-
lischer Feenmärchen Die Blaue Bibliothek aller Nationen (1790 – 96) vom
»Kinde an bis hinauf zum Greise« bestimmt sei; einen besonders für Kinder
gedachten Auszug aus dieser Sammlung veröffentlichte Bertuch unter dem
Titel Die Blaue Bibliothek für Kinder (1802). Die morgenländischen Erzäh-
lungen kommen aufgeklärten Vorstellungen durch ihren moralisch beleh-
renden Charakter entgegen; so konnten sie den moralischen Erzählungen
angeglichen und wie diese gebraucht werden.
Als Ausnahmeerscheinung in der Kinderliteratur des 18. Jh.s gelten ge-
meinhin die unter dem Titel Palmblätter. Erlesene morgenländische Erzäh-
lungen für die Jugend erschienenen Nachdichtungen orientalischer Erzäh-
lungen von August Jacob Liebeskind (1786 – 1800). Die Anregung hatte Jo-
hann Gottfried Herder gegeben, der zum ersten Teil auch eine Vorrede
schrieb; von ihm stammen möglicherweise auch die Erzählungen des dritten
Unterhaltende Schriften 79

und vierten Teils. Die in gewandtem Stil vorgetragenen Erzählungen lassen


dem Wunderbaren größeren Freiraum, sind spielerischer als die übliche auf-
geklärte Kinderliteratur. In älteren historischen Darstellungen werden sie
deshalb der angeblich nur belehrenden und moralisierenden Kinderliteratur
der Zeit entgegengesetzt. Auch Herders Vorrede, in der er die morgenlän-
dische Erzählung als kindliche Lektüre rechtfertigt, wurde häufig so gelesen Johann Gottfried
und als Kritik an der Aufklärung überhaupt verstanden. Herder hat zweifel- Herder über Kindheit
los Wesentliches zur Neubewertung von Kindheit am Ende des 18. Jh.s bei- und Kinderliteratur
getragen, insbesondere durch seine geschichtsphilosophischen Arbeiten, in
denen er den Gang der Menschheitsgeschichte unter anderem in Lebensalter-
metaphern fasste (und so auch den Orient und seine Literatur als eine Kind-
heits-Stufe der menschlichen Entwicklung verstand). Die Ausführungen über
kindliche Lektüre und die Funktion von Kinderliteratur in der Vorrede zu
den Palmblättern bleiben allerdings wie die Erzählungen von Liebeskind
letzten Endes im Rahmen aufgeklärter Vorstellungen. Herder betont zwar
die Bedeutung des Wunderbaren für die Kindheit, in der die »Einbildungs-
kraft aufwacht«, schränkt jedoch sogleich rigoros ein: »Nichts hat der
Mensch in sich so sehr zu bezähmen als seine Einbildungskraft, die beweg-
lichste und zugleich gefährlichste aller menschlichen Gemüthsgaben«. Aus-
drücklich schreibt Liebeskind in seiner Vorrede im zweiten Teil der Samm-
lung, er habe dem Nützlichen den Vorrang gegeben und nichts aufgenommen,
»was nicht als Lehre oder als Beyspiel nachgeahmt werden« könne. Lieder, Lieder und Gedichte
Gedichte, Reime der mündlichen, volksliterarischen Überlieferung waren
den bürgerlichen Kindern vertraut, ebenso geistliche Lieder, Reimgebete,
Kirchenlieder. Wie die Märchen stießen jedoch die Lieder und Reime der
volksliterarischen Überlieferung bei den Aufklärern auf Ablehnung. In seiner
Selbstbiographie berichtet Weiße, wie er nach der Geburt seines ersten Kin-
des 1765 »die abgeschmackten Lieder der Amme und Kinderwärterin hörte«;
die Erfahrung veranlasste ihn, »kleine moralische Lieder für Kinder zu dich-
ten«. Mit seinen Liedern für Kinder, die 1766 oder 1767 in Leipzig erschei-
nen, beginnt die Tradition der unmittelbar für Kinder geschriebenen, der
›intentionalen‹ Kinderlyrik der Aufklärung. Sie steht unter dem Primat der
Belehrung. Die Mehrzahl der Lieder und Gedichte sind gereimte Moral- und
Tugendlehren. Verschiedene Tugenden werden vorgestellt, oder es wird die
Tugend selbst besungen wie in Weißes Lied Ermahnung an zwey Kinder,
dessen letzte Strophe als Motto der intentionalen aufgeklärten Kinderlyrik
dienen könnte:
Ja, geliebte, zarte Beyde,
Tausendmal umarm ich Euch! Ch. F. Weiße: Lieder für
Immerdar sey Eure Freude Kinder. Kupferstich-
Eurer jetzgen Freude gleich. Frontispiz von J. M.
Unschuld wohn in Euern Herzen, Stock. Leipzig 1769
Keine Bosheit komm in sie!
Ihr könnt singen, tanzen, scherzen,
Nur verscherzt die Tugend nie!
Beliebt waren Rollengedichte, in denen wie in dem Lied Kühne Gedanken
eines Knaben in Gottlob Wilhelm Burmanns Kleine Lieder für kleine Mäd-
chen, und Jünglinge (1777) ein Kind von den Tugenden spricht; zwei Stro-
phen mögen als Beispiel genügen:
Groß werd ich durch schöne Thaten,
Was ich ordne, muß gerathen
80 Aufklärung

Und mein Einfluß hat alsdann


Viel Gewicht – denn ich bin Mann!
Waysen kann ich dann beglücken
Unschuld retten die man drücken
Und ganz unterdrücken will.
Und vor mir schweigt Unrecht still.
Jedem helf ich zu dem Seinen
Keine Tugend laß ich weinen,
Und ich nehme mich als Mann
Der Verlaßnen liebreich an!
Und mich segnen Wittw’ und Waysen
Ich erhalte Lob von Greisen
Und der Redliche liebt mich –
Denn rechtschaffen handle ich!
Häufig zu finden sind auch Naturgedichte wie Das Veilchen von Weiße, die
– in der Tradition aufgeklärter Naturlyrik – meist mit einer moralischen
Wendung enden:

Das Veilchen
Warum, geliebtes Veilchen, blühst
Du so entfernt im Thal?
Versteckst dich untern Blättern, fliehst
Der stolzern Blumen Zahl?
Und doch voll Liebreiz duftest du,
So bald man dich nur pflückt,
Uns süßre Wohlgerüche zu,
Als manche, die sich schmückt.
Du bist der Demuth Ebenbild,
Die in der Stille wohnt
Und den, der ihr Verdienst enthüllt,
Mit frommem Dank belohnt.
Ch. A. Overbeck:
Als Autorinnen und Autoren solcher intentionalen aufgeklärten Kinderlyrik
Fritzchens Lieder.
seien – neben Weiße und Burmann – noch genannt: Johann Michael Arm-
Titelvignette von
J. A. Rosmaesler. bruster, Friedrich Johann Justin Bertuch (Wiegenliederchen, 1772), Magda-
Hamburg 1781 lene Philippine Engelhard (Neujahrsgeschenk für liebe Kinder, 1787), Ru-
dolph Christoph Lossius (Lieder und Gedichte, 1787), Johann Heinrich Rö-
ding und Karoline Rudolphi. Spielerischer, auch weniger belehrend als die
gängigen Texte sind die von der Anakreontik und der Lyrik des Göttinger
Hains beeinflussten Lieder in Christian Adolf Overbecks Band Frizchens
Lieder (1781). Allerdings erinnert Overbecks Frizchen, dem er auch Liebes-
lieder An Lotte in den Mund legt, eher an einen Rokokoputto oder einen
kleinen anakreontischen Schäfer als an ein Kind. Von Overbeck stammt auch
das Lied An den May (›Komm, lieber May, und mache‹), eines der wenigen
lebendig gebliebenen Beispiele intentionaler aufgeklärter Kinderlyrik, das
sein Überleben allerdings eher der Vertonung durch Mozart als Overbecks
Text verdankt. Lebendig geblieben sind auch die Kinderlieder von Matthias
Claudius. Realitätsnäher als die moralischen Gedichte und Lieder, kommt
ihnen eine Sonderstellung in der Kinderlyrik der Zeit zu; vor allem zeichnen
sie sich in ihrer bewusst gesetzten Einfachheit in Sprache, Stil und Form
durch eine hohe Kunstfertigkeit aus.
Unterhaltende Schriften 81

Ein Lied
hinterm Ofen zu singen
Der Winter ist ein rechter Mann,
Kernfest und auf die Dauer;
Sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an,
und scheut nicht Süß noch Sauer.
War je ein Mann gesund, ist er’s;
Er krankt und kränkelt nimmer,
Weiß nichts von Nachtschweiß noch Vapeurs,
Und schläft im kalten Zimmer.
Er zieht sein Hemd im Freien an,
Und läßt’s vorher nicht wärmen;
Und spottet über Fluß im Zahn
Und Kolik in Gedärmen.
Aus Blumen und aus Vogelsang
Weiß er sich nichts zu machen,
Haßt warmen Drang und warmen Klang
und alle warmen Sachen.
Doch wenn die Füchse bellen sehr,
Wenn’s Holz im Ofen knittert,
Und um den Ofen Knecht und Herr
Die Hände reibt und zittert;
Wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht
Und Teich und Seen krachen;
Das klingt ihm gut, das haßt er nicht,
denn will er sich totlachen. –
Sein Schloß von Eis liegt ganz hinaus
Beim Nordpol an dem Strande;
Doch hat er auch ein Sommerhaus
Im lieben Schweizerlande.
Da ist er denn bald dort bald hier,
Gut Regiment zu führen.
Und wenn er durchzieht, stehn wir
Und sehn ihn an und frieren.

Allerdings ist die Kinderlyrik der Aufklärung nicht auf die intentionalen,
belehrenden Gedichte und Lieder zu beschränken. Mehr als bei anderen
Gattungen, vergleichbar nur der Fabel, werden die Kinder auch mit ur-
sprünglich für Erwachsene geschriebenen Texten bekannt gemacht. Lieder
und Gedichte von Gellert, Gleim, von Hagedorn und anderen Anakreonti-
kern, von Autoren des ›Göttinger Hains‹ wie Voß, Hölty, den Brüdern Stol-
berg sind, zum Teil bearbeitet, in den Anthologien zu finden. Sie gehören zur
Kinderlyrik der Aufklärung. Zu beachten ist auch, dass die Lyrik für Kinder,
auch die intentionale und belehrende, dazu bestimmt war, vertont und ge- Vertonungen
sungen zu werden. Das Singen dieser Lieder gehört zum geselligen Umgang
der Kinder und zur familiären Geselligkeit. Weißes Lieder wurden mehrfach
vertont; sehr verbreitet waren die Vertonungen von Johann Adam Hiller
(1769), einem damals bekannten Komponisten vor allem deutscher Sing-
spiele. Der bedeutendste Komponist von Kinderliedern im 18. Jh. war Johann
82 Aufklärung

Friedrich Reichardt, Kapellmeister am preußischen Hof, Komponist von


Opern, Singspielen und zahlreichen Liedern. Er veröffentlichte unter ande-
rem Lieder für Kinder (1781), Wiegenlieder für gute deutsche Mütter (1798),
Lieder für die Jugend (1799). Anregungen Herders folgend, nahm Reichardt
auch Texte der Volksliteratur auf und orientierte sich bei seinen Vertonungen
gelegentlich an volkstümlicher Überlieferung; von ihm stammen die Melo-
dien zu Schlaf, Kindchen, schlaf oder zu dem ›Volkslied‹ Kommt ein Vogel
geflogen.
Zu den im letzten Drittel des 18. Jh.s nachwirkenden Traditionen der äl-
teren Kinderliteratur gehört das Schuldrama. An ihm sind etwa die unter
dem Titel Dramatische Kinderspiele (1769) erschienenen drei Kinderschau-
spiele von Gottlieb Konrad Pfeffel orientiert. Bedeutsamer sind die Dramen
für Kinder, die als ›häusliche Schauspiele‹ bezeichnet werden können. Wie die
Schuldramen sollen sie von Kindern aufgeführt und nicht lediglich gesehen
oder gelesen werden. Während aber in den Schuldramen Stoffe aus Bibel,
›Häusliche Schauspiele‹ Antike und Geschichte verwendet wurden, zeigen die ›häuslichen Schau-
spiele‹ Begebenheiten aus dem privaten, dem familiären Bereich. Kinder,
meist Geschwister, sind die Träger der Handlung; dazu kommen Erwachsene,
in der Regel die Väter. Durch die Aufführung sollen die Kinder richtiges Ver-
halten, angemessenen geselligen Umgang und richtiges Sprechen einüben;
insofern können diese Schauspiele als Lehrstücke bezeichnet werden. Vorge-
führt wird die Bewährung richtigen und die Entlarvung falschen Verhaltens;
darin folgen die Kinderschauspiele den Charakter- oder Typenkomödien der
Zeit. Auch Einflüsse der Empfindsamkeit sind zu bemerken; einige haben
den Charakter von Singspielen. Bei der Entlarvung des Lasters wird nicht
selten zum Mittel der pädagogischen Inszenierung gegriffen, die dann zu-
meist vom Vater oder einer Vaterfigur veranstaltet wird. Insofern können die
Kinderschauspiele auch als ›Erziehungsstücke‹ bezeichnet werden, in denen
die Richtigkeit eines moralischen Satzes zur Anschauung gebracht wird. Eine
›Sprichwortdramen‹ besondere Spielart sind die ›Sprichwortdramen‹, in denen ein Sprichwort,
das zumeist als Titel erscheint, den moralischen Satz bildet. In den adligen
Salons des 17. Jh.s entstanden, waren sie in den 60er Jahren eine Mode-
gattung in Frankreich; vor allem durch Alexandre Guillaume Mouslier de
Moissy und dessen Jeux de la petite Thalie (1769) wurden sie zu einem Genre
für Kinder. Bereits ein Jahr später erschienen Moissys Stücke unter dem Titel
Spiele der neuen Thalia, Oder: kleine dramatische Stücke für Kinder (1770)
in deutscher Übersetzung. ›Sprichwortdramen‹ sind zu finden bei Weiße, bei
Carl August Gottlieb Seidel, Johann Heinrich Röding oder in der Sammlung
Sittengemälde aus dem gemeinen Leben zum belehrenden Unterricht für
Kinder (1796 – 1802) von Kaspar Friedrich Lossius.
Der herausragende Autor von Kinderschauspielen ist Christian Felix
Weiße. Er hat seine Dramen für Kinder – einige sind französischen Vorbil-
dern verpflichtet – zuerst im Kinderfreund, dann in Einzelausgaben und in
dem Sammelband Schauspiele für Kinder (1792) veröffentlicht. Im Kinder-
freund sind sie in die Rahmenhandlung integriert, werden von den Kindern
Christian Felix Weiße. Mentors aufgeführt und mit dem Vater und den Hausfreunden besprochen;
Kupferstich von J. F. Bause als ihr Verfasser gilt Herr Spirit, einer der Hausfreunde. Meist bilden sie den
nach Anton Graff Abschluss eines längeren Gesprächszusammenhangs, dessen Gegenstand in
ihnen nochmals zur Darstellung kommt. Entsprechend sind die behandelten
Themen, über die oft bereits die Titel Auskunft geben: Die Schadenfreude,
Edelmuth in Niedrigkeit, Der ungezogene Knabe, Die jungen Spieler, oder:
Böse Gesellschaften verderben die Sitten, Versprechen muß man halten oder
Das junge Modefrauenzimmer. Häufig verwendet Weiße das Mittel der Kon-
Moralisch belehrende Schriften, religiöse Schriften 83

trastierung, wobei meist einer Gruppe ›tugendhafter‹ Kinder ein einzelnes,


sich falsch verhaltendes Kind gegenübergestellt ist. Die Figuren sind durch-
weg leicht überzeichnet und erscheinen so – in der Tradition der Charakter-
komödie – als Typen. In der Dialogführung drängt sich die belehrende Funk-
tion gelegentlich vor. Von den Zeitgenossen wurden Weißes Stücke sehr posi-
tiv aufgenommen; die anderen Autoren von Kinderschauspielen sind ihm
durchweg verpflichtet.
Von den Dramen, die zur Aufführung durch Kinder gedacht waren, zu
unterscheiden sind die Schauspiele, in denen Kinder als Träger der Handlung Kinderfiguren im
auftreten, die jedoch für Erwachsene oder für ein Publikum aus Erwachsenen Erwachsenentheater
und Kindern intendiert waren. Dazu gehören die beiden Dramen Der dank-
bare Sohn (1771) und Der Edelknabe (1774) von Johann Jacob Engel oder
Christian Friedrich Sanders Lustspiel Der kleine Herzog (1781). Ausdrück-
lich an Kinder gerichtet ist Sanders Schauspiel Pusillana (1783), dessen Fi-
guren Liliputaner sind. Kinderfiguren auf der Bühne dienten dem ›Ergötzen‹
der Erwachsenen, waren Teil eines zeitweise modischen Spiels mit dem Nied-
lichen und Artigen. So gab es auch Kinderschauspieltruppen, die Stücke für
Erwachsene vor Erwachsenen aufführten. Von den Pädagogen, etwa von
Campe, wurde diese Mode scharf verurteilt, ebenso von Weiße, der im Kin-
derfreund Mentor berichten lässt, er habe mit seinen Kindern eine solche
Aufführung besucht, sie aber nicht »aushalten« können: »O wie jammerten
mich die armen unschuldigen Opfer eines feilen Gewinnstes«. Aber auch
Weißes Kinderschauspiele blieben von solcher Ausbeutung nicht verschont;
mehrfach wird von Aufführungen seiner Dramen durch Kindertruppen be-
richtet.
Zur Dramatik für Kinder gehören noch die meist als ›Kinderspiele‹ be- ›Kinderspiele‹ und
zeichneten Texte, in denen Gesellschafts- oder Bewegungsspiele in Szene ge- Dialoge
setzt sind. Beispiele dafür sind bei Johann Gottlieb Schummel (Kinderspiele
und Gespräche, 1776 – 1778) oder bei Georg Carl Claudius (Kinder-Theater,
1782; Neue Kinderspiele, 1799) zu finden. Sie waren nicht zur Aufführung
gedacht, sind vielmehr eher Spielanleitungen, die von den Lesern und Lese-
rinnen nachgeahmt werden sollten. Ähnliches gilt für die Dialoge und Ge-
spräche für Kinder etwa in Ernst Christian Trapps Unterredungen mit der
Jugend (1775), in den aus dem Französischen übersetzten Emiliens Unterre-
dungen (1775) von Louise-Florence-Pétronille d’Epinay oder in Georg
Christian Raffs Dialogen für Kinder (1779), in denen Kinderfiguren ver-
schiedene Sachverhalte besprechen. Die Übergänge zu den familiären Unter-
haltungen und zu den Lehrgesprächen in der Sachliteratur sind fließend.

Moralisch belehrende Schriften,


religiöse Schriften

Stark vertreten sind in der aufgeklärten Kinderliteratur moralisch belehrende


Schriften. Die Übergänge zur unterhaltenden Literatur, die stets auch beleh-
ren und moralisch richtiges Verhalten einüben soll, sind fließend. Stärker als
die unterhaltenden Schriften sind die moralisch belehrenden dem Alter der
intendierten Leser und Leserinnen angepasst. Mit zunehmendem Alter der
Adressaten tritt die anschauende Erkenntnis zugunsten der begrifflichen zu-
rück, die Texte werden abstrakter und nehmen den Charakter von Betrach-
84 Aufklärung

tungen oder Traktaten an. Die moralisch belehrenden Schriften sind – verg-
lichen mit den unterhaltenden – stärker systematisch gegliedert. Dies gilt
auch, wenn die anschauende Erkenntnis eine größere Rolle spielt und damit
Exempla, moralische Erzählungen etwa, stärker berücksichtigt sind; Salz-
manns Moralisches Elementarbuch (1782/83) ist dafür ein Beispiel. Häufig
ist die Dreiteilung in ›Pflichten gegen sich selbst‹, ›Pflichten gegenüber ande-
ren Menschen‹, ›Pflichten gegen Gott‹, innerhalb derer weiter nach einzelnen
Pflichten und Tugenden unterteilt wird.
Lehrgespräche Eine große Rolle spielt in den moralisch belehrenden Schriften die Form
des Gesprächs. Zu ihnen gehören deshalb die zahlreichen Lehrgespräche und
lehrreichen Unterredungen; gerade hier sind die Grenzen zu den unterhalten-
den Schriften nur schwer genau festzulegen. Die stärker belehrend ausgerich-
teten ›Unterredungen‹ sind zumeist an ältere Kinder gerichtet, die einen ersten
Moralunterricht bereits hinter sich haben. Als Beispiele (neben den früher
angeführten) seien hier noch Ernst Christian Trapps Unterredungen mit der
Jugend (1775), die Unterhaltungen mit meinen Schülern von Karl Philipp
Moritz (1780) und Gutwills Gespräche mit seinem Wilhelm (1792) von Jo-
hann Heinrich Gottlieb Heusinger genannt, wobei Heusinger sich als einer
der ersten Autoren im kinderliterarischen Bereich an der Philosophie Imma-
nuel Kants orientierte.
Biographien Den Historien verwandt sind die Biographien, die in der Darstellung vor-
bildlichen Verhaltens und nachahmenswerter Lebensführung der moralischen
Belehrung dienen. Zu unterscheiden sind Biographien, in denen das Leben
bekannter Personen erzählt, und solche, in denen allein die Kindheit bekann-
ter und auch weniger bekannter Personen vorgestellt wird. ›Kinderbiogra-
phien‹ sind etwa zu finden in dem anonym erschienenen Band Kinderbiogra-
phie bis an die Jahre ihres Bestimmungsstandes (1783), in dem von der
Kindheit dreier in ihrem Erwachsenenleben erfolgreicher Personen berichtet
wird, oder in der aus dem Französischen übersetzten Sammlung Lebensbe-
schreibung merkwürdiger Kinder oder Muster der Nachahmung für das ju-
gendliche Alter (1799; ihr Autor ist Anne Francois Joachim Fréville), in der
Kindergestalten der Antike, der Renaissance sowie des 17. und 18. Jh.s vor-
gestellt werden. Eine umfangreiche Sammlung von ›Erwachsenenbiogra-
phien‹ waren die Skizen aus dem Leben und Karakter grosser und seltener
Männer unserer und älterer Zeiten (1785 – 1789). Der Übergang von der
moralischen Biographie zu historischer Sachliteratur ist fließend; zumeist
gelten die Biographien als erste Einführungen in die Geschichte, etwa für
Christian Jakob Wagenseil, der in den Historischen Unterhaltungen für die
Jugend (1781 – 1783) eine Reihe von Kurzbiographien und in den Biogra-
phien für die Jugend (1790/92) sechs moralische Biographien, unter anderem
von James Cook und Moses Mendelssohn, veröffentlichte.
Einen Kernbereich der moralisch belehrenden Schriften bilden die Sitten-
oder Tugendlehren. Hier hat die Aufklärung, insbesondere bei den meist
›Sittenbüchlein‹ ›Sittenbüchlein‹ genannten Einführungen in die Grundbegriffe der Moral
für kleinere Kinder, eine Reihe unterschiedlicher Formen entwickelt. Johann
Georg Schlosser verwendet in seinem Katechismus der Sittenlehre für das
Landvolk (1771), der ab 1773 unter dem Titel Sittenbüchlein für die Kinder
des Landvolks erschien, die Form des Katechismus. An Schlosser orientiert,
hat Campe in seinem Sittenbüchlein für Kinder aus gesitteten Ständen
(1777) die Katechismusform zur Gesprächsform weiterentwickelt. Dem von
Campe gegebenen Modell folgen zahlreiche Sittenbüchlein; Karl Traugott
Thiemes Gutmann oder der Sächsische Kinderfreund (1794) oder Salzmanns
Erster Unterricht in der Sittenlehre für Kinder (1803), auch sein Moralisches
Moralisch belehrende Schriften, religiöse Schriften 85

Elementarbuch sind hier zu nennen. Dagegen hat Johann Bernhard Base-


dows Kleines Buch für Kinder aller Stände (1771) Lehrbuchcharakter und
bietet eine allgemein gehaltene Einführung in die Anfangsgründe der Moral.
Ähnlich verfährt Johann Heinrich Martin Ernesti in seiner Kleinen Moral
für Kinder (1782). Eher in allgemeiner, abstrakter Form sind auch die Sit-
ten- oder Tugendlehren gehalten, die für ältere Kinder gedacht sind, wie die
beiden aneinander anschließenden Bände von Christian Traugott Kosche
Religion und Tugend für Kinder (1782) und Religion und Tugend für Kin-
der von reiferem Alter (1783). Gleichfalls für ältere Kinder, oft bereits für
junge Erwachsene gedacht sind die Sammlungen von Betrachtungen und
Aufsätzen, in denen in eher unsystematischer Anordnung moralische Ge-
genstände behandelt werden wie in dem aus dem Englischen übersetzten,
anonym erschienenen Band Der Freund der Jugend in kleinen moralischen
Aufsätzen (1775) oder in Karl Traugott Thiemes Aufmunterungen zum ver-
nünftigen Denken und Handeln (1801), einer Bearbeitung seiner 1798 er-
schienenen Schrift Über die Hindernisse des Selbstdenkens. Als einprägsame
Merksprüche erscheinen in den Sitten- und Tugendlehren immer wieder
Sentenzen und Maximen; dabei wird auf den historischen Vorrat solcher Sentenzen, Maximen
Klugheits- und Lebensregeln zurückgegriffen, ebenso werden Aussprüche
zeitgenössischer Autoren aufgenommen. Auch Anthologien solcher Sen-
tenzen wurden veröffentlicht, etwa von Johann Kaspar Lavater die beiden
Bände Salomo, oder Lehren der Weisheit (1785), eine nach Autoren geord-
neten Sammlung, und Regeln für Kinder (1793). Da tugendhaftes Verhalten
für die Aufklärung den angemessenen ›geselligen Umgang‹ einschließt, ge-
hört zu den moralisch belehrenden Schriften auch die Anstandsliteratur. Als
Beispiel sei Der höfliche Schüler oder Regeln zu einem höflichen und artigen
Betragen für junge Leute (1786) von Johann Peter Voit angeführt, eine mit
ausführlichem Kommentar versehene Sammlung von Höflichkeits- und An-
standsregeln.
Eine besondere Stellung nehmen die ›elterlichen‹, meist ›väterlichen Räte‹ ›Väterliche Räte‹
ein, die für Jugendliche an der Schwelle zum Erwachsensein gedacht sind
und als eine Weiterentwicklung des väterlichen Gesprächs verstanden wer-
den können. In der Regel folgen sie der Fiktion, dass ein Greis vor einem ju-
gendlichen Zuhörer oder einer Zuhörerin, oft seinem Sohn oder seiner
Tochter, die Summe seiner Lebenserfahrung zieht. Entsprechend umfassend
sind die behandelten Themen, die in eindringlicher, gelegentlich den Predigt-
ton anschlagenden Sprache vorgetragen werden. Als Reden eines Greises, der
auch über sein baldiges Ende spricht, haben die Texte den Charakter eines
Vermächtnisses (wie sie gelegentlich auch bezeichnet werden); die väterliche
Autorität erfährt eine ins Religiöse reichende Steigerung. Zu den bekanntes-
ten gehören Campes Theophron Oder der Erfahrene Rathgeber für Die Un-
erfahrne Jugend (1783; seit der 3. Aufl. 1790 völlig neu bearbeitet) und sein
Vaeterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der
erwachsenern weiblichen Jugend gewidmet (1789), der aus Betrachtungen
entstand, die er für seine Tochter Lotte geschrieben hatte. Aus der nicht ge-
ringen Zahl ›elterlicher Räte‹, von denen einige wie etwa Sophie von La
Roches Briefe an Lina (1785) in Briefform gehalten sind, ragen heraus Isaac
Iselins Ermahnungen eines Eidsgenossen an seinen Sohn (1770), die auch
Belehrungen über die Rechte und Pflichten eines freien Schweizer Bürgers
enthalten, Friedrich Spachs von der Empfindsamkeit beeinflusster, mit einer
Wertheriade schließender väterlicher Rat Ein sterbender Greis an seinen
Sohn (1787) und die beiden Bände von Georg Friedrich Niemeyer Der Greis
an den Jüngling (1793) und Vermaechtniss an Helene von ihrem Vater
86 Aufklärung

(1794), die bereits von klassisch-neuhumanistischen Bildungsvorstellungen


geprägt sind; zu beiden schrieb Adolph von Knigge die Vorrede.
Für die Aufklärer hatte die Einführung in moralische Grundsätze Vorrang
vor der religiösen Unterweisung; zudem sind Moral und Religion eng ver-
Natürliche Religion bunden. Grundlage der religiösen Vorstellungen ist die ›natürliche‹, mit den
Grundsätzen der Vernunft vereinbare Religion des Deismus. Der Glaube an
Gott als den Schöpfer einer wohleingerichteten Welt, an Unsterblichkeit und
die Verpflichtung des Menschen auf Tugendhaftigkeit gehören zu den we-
sentlichen Inhalten. Dagegen werden die Aussagen des christlichen Offenba-
rungsglaubens als der Vernunft widersprechend abgelehnt. Diese natürliche
Religion wird den Kindern in den Sitten- und Tugendlehren vermittelt, meist
unter der Überschrift ›Pflichten gegen Gott‹; viele der ›Sittenbüchlein‹ schlie-
ßen mit Betrachtungen über die Unsterblichkeit der Seele. Ebenso wird in
anderen Texten die Moral- und Tugenderziehung damit verbunden, die
Grundsätze der natürlichen Religion zu vermitteln; nicht selten bietet dabei
die Betrachtung der Natur den Anlass, über Religion, vor allem über Gott als
Schöpfer zu sprechen. Auch die – nicht sehr zahlreichen – eigens der religi-
ösen Unterweisung gewidmeten kinderliterarischen Schriften der Aufklärung
sind durchweg Einführungen in die natürliche Religion; ein Beispiel ist Carl
Friedrich Bahrdts Katechismus der natürlichen Religion (1790). Spezifisch
christliche Glaubensvorstellungen spielen eine nur untergeordnete Rolle. So-
weit sie Thema sind, wird – wie in Campes Versuch eines Leitfadens beim
christlichen Religionsunterrichte (1791) – die Übereinstimmung der bi-
blischen Religion mit der natürlichen dargelegt; christliche ›Offenbarungs-
wahrheiten‹ erscheinen als historische Einkleidungen. Eine eigentümliche
Zwischenstellung, die als Versuch einer Vermittlung von natürlicher Religion
und christlichem Offenbarungsglauben bezeichnet werden kann, nimmt Ba-
sedow in seinem Methodischen Unterricht (1764) ein, einem für den Religi-
onsunterricht gedachten Lehrbuch. Christlichen Glaubensvorstellungen
stärker verpflichtet sind die späteren Schriften zur religiösen Unterweisung
von Salzmann, so sein Unterricht in der christlichen Religion (1808).
Zugleich gibt es, parallel zur genuin aufgeklärten Kinderliteratur, die
Christliche christliche Unterweisungsliteratur für Kinder. Drei Gruppen lassen sich un-
Kinderliteratur terscheiden: Schriften für den Religionsunterricht, biblische Literatur und
Erbauungsliteratur. Bei den Schriften für den Religionsunterricht sind die
zahlreichen Katechismen zu nennen, die häufig auch als Leselernbücher ver-
wendet wurden. Martin Luthers beide Katechismen werden mehrfach aufge-
legt; Katechismen anderer Autoren, protestantischer wie katholischer, kom-
men hinzu. Die katechetische Frage-Antwort-Form wird auch in Unterrichts-
werken verwendet, die sich von den traditionellen Inhalten des Katechismus
Religiöse lösen. Zunehmend erscheinen Schriften der religiösen Unterweisung, in de-
Unterweisung nen die Katechismusform durch die des Gesprächs abgelöst wird oder For-
men wie Betrachtung und Brief, auch fiktionale Einkleidungen, gewählt
werden. Diese Angleichung an die dominanten Formen der aufgeklärten
Kinderliteratur ist meist mit der Annäherung an aufklärungstheologische
Positionen verbunden; dann erhält die moralische Belehrung stärkeres Ge-
wicht als die religiös-dogmatische und die Übergänge zu den moralisch be-
lehrenden Schriften der aufgeklärten Kinderliteratur werden fließend.
Zu den – vornehmlich protestantischen – biblischen Schriften gehören vor
allem die ›Historienbibeln‹ genannten Nacherzählungen biblischer Ge-
schichten. Sehr verbreitet waren im 18. Jh. und noch weit ins 19. Jh. hinein
die 1714 erstmals erschienenen Zweymal zwey und funfzig auserlesenen Bi-
blischen Historien aus dem Alten und Neuen Testamente von Johann Hübner.
Lehr- und Schulbücher, Sachliteratur 87

Mehrfach aufgelegt wurden auch Johann Peter Millers Erbauliche Erzäh-


lungen der vornehmsten biblischen Geschichten (1753). Die von Rudolph
Christoph Lossius veröffentlichte Historienbibel Die ältesten Geschichten Historienbibeln,
der Bibel in Erzählungen auf Spaziergängen (1784) ist in Gesprächsform ge- biblische Geschichten
halten und folgt damit der für die aufgeklärte Kinderliteratur kennzeich-
nenden Form. Zu den biblischen Schriften gehören weiter die für Kinder ge-
dachten Auszüge aus der Bibel und Sammlungen biblischer Sprüche – wie die
Spruchsammlung Bibel für Kinder von Johann Sigmund Stoy (1781) oder die
beiden Bände Biblisches Lesebuch für Kinder von reiferm Alter (1782) und
Sittensprüche des Buchs Jesus Sirach für Kinder und junge Leute (1784 od.
1786) von Jakob Friedrich Feddersen. Unter dem Titel Das Leben Jesu für
Kinder (1777) veröffentlichte Feddersen auch eine Christusvita für Kinder,
die gleichfalls bis ins 19. Jh. hinein mehrfach aufgelegt wurde. Eine besondere
Spielart biblischer Schriften für Kinder waren ›Bilderbibeln‹ wie die Curieuse
Bilder-Bibel oder die vornehmsten Sprüche heiliger Schrifft in Figuren vorge-
stellt (1756), in denen die biblischen Geschichten in bildlicher Gestalt vermit-
telt werden und der Text nur eine untergeordnete Bedeutung hat. Zur Erbau-
ungsliteratur gehören Andachts- und Gesangbücher, Sammlungen von Gebe- Erbauungsliteratur
ten und von eigens für Kinder geschriebenen Predigten. Diese Texte sind vor
allem für den familiären Bereich, die alltägliche Praxis der Religionsausü-
bung und auch für den häuslichen Religionsunterricht gedacht.
Eine gewisse Sonderstellung in der christlichen Literatur für Kinder in der
zweiten Hälfte des 18. Jh.s kommt Johann Kaspar Lavater zu. Zunächst an
philanthropischen Vorstellungen orientiert, etwa im Christlichen Handbüch-
lein für Kinder (1771), vertritt er später eine stark gefühlsbetonte, christus-
zentrierte Religiosität, deren Vermittlung in der Erziehung vorrangig sein soll
– so in der Sammlung von Betrachtungen in Briefform Brüderliche Schreiben
an verschiedene Jünglinge (1782) oder in seiner unvollendet gebliebenen
Schrift Christlicher Religionsunterricht für denkende Jünglinge (1788). La-
vaters Gefühlsreligion kann als ein Vorklang der erneuten Wendung zur Re-
ligion verstanden werden, die sich, gerade auch in der Literatur für Kinder,
am Ende des 18. Jh.s vollzieht.

Lehr- und Schulbücher, Sachliteratur

Bis zum Beginn des 19. Jh.s kann zwischen Kinderliteratur und Schulbuch Lehr- und Schulbuch
kaum sinnvoll unterschieden werden – jedenfalls bei deutschsprachigen Tex-
ten (für antike Autoren gab es seit längerem besondere Schulausgaben). Erst
mit der endgültigen Etablierung des Schulwesens und dem Verschwinden des
häuslichen Privatunterrichts ist eine solche Trennung sinnvoll. Die aufgeklär-
ten Pädagogen haben sie bewusst vermieden, nicht zuletzt in der Absicht, den
Unterricht spielerischer zu gestalten und ›Belehren‹ mit ›Unterhalten‹ zu ver-
knüpfen. Auch die Unterscheidung zwischen Lehrbuch und Sachbuch ist
problematisch. Ein großer Teil der sachlich belehrenden Literatur kann zu
Unterrichtszwecken, schulischen wie privaten, verwendet werden und wird
in den Vorreden auch dafür bestimmt. Zugleich hat jedoch die aufgeklärte
Pädagogik den Bereich des Lehr- und Sachbuchs tiefgreifend verändert; neue
Sachgebiete wurden erschlossen und neue Formen der Präsentation ausgebil-
det.
88 Aufklärung

J. H. Campe: Neue
Methode, Kinder auf eine
leichte und angenehme
Weise Lesen zu lehren.
Altona 1778

Johann Jacob Ebert:


Naturlehre für die Jugend.
Leipzig 1776

ABC-Bücher, Fibeln Beim Lehrbuch sind an erster Stelle die ABC-Bücher und Fibeln zu nennen.
Nahezu jeder der aufgeklärten Pädagogen hat ein solches Leselernbuch vor-
gelegt und dabei neue Methoden entwickelt, den Kindern das Lesen beizu-
bringen. Die bis in die zweite Hälfte des 18. Jh.s hinein ziemlich gleichför-
migen ABC-Bücher und Fibeln erfahren eine erhebliche Variation. Drei
Momente sind prägend: Der Leselehrteil wird methodischer gestaltet; insbe-
sondere durch reichere Illustrierung wird das Lesenlernen spielerischer; bei
den Lesestücken werden die traditionell religiösen Texte durch der Aufklä-
rung entsprechende, meist moralisch belehrende ergänzt oder ersetzt. Den
Anfang machte auch hier Weiße mit seinem, auf Anregungen Basedows zu-
rückgehenden, 1773 erschienenen Neuen A, B, C, Buch.
Fünf Jahre später brachte Campe sein Leselernbuch Neue Methode Kin-
dern auf eine leichte und angenehme Weise lesen zu lehren heraus; völlig neu
bearbeitet erschien es 1807 unter dem Titel Abeze- und Lesebuch als erster
Band seiner Sämmtlichen Kinder- und Jugendschriften. Basedow, Carl Georg
Claudius, Lavater, Moritz, Salzmann und auch Herder haben ABC-Bücher
und Fibeln verfasst, ebenso sonst unbekannt gebliebene Lehrer. Nicht wenige
Leselernbücher erschienen anonym; viele von ihnen hatten nur regionale
Bedeutung.
Lesebücher Den ABC-Büchern und Fibeln sind kleinere Lesestücke beigegeben, Sprich-
wörter, Gedichte, Fabeln, kleine moralische Erzählungen. Solche Texte er-
schienen auch in gesonderten Sammlungen, in ›Lesebüchern‹, die für die
weitere Übung im Lesen gedacht waren. Die Grenze zu den ›unterhaltenden
Lesebüchern‹, die immer auch als Übungsbücher gedacht waren, ist fließend.
Sehr verbreitet war Johann Georg Sulzers Lesebuch Vorübungen zur Erwe-
ckung der Aufmerksamkeit und des Nachdenkens, das erstmals 1768 erschien
und 1780/82 von Johann Heinrich Ludwig Meierotto beträchtlich erweitert
wurde. Überaus erfolgreich und im Schulunterricht epochemachend war das
Lehr- und Schulbücher, Sachliteratur 89

zum »Gebrauch an Landschulen« (wie es im Titel heißt) vorgelegte Lesebuch


Der Kinderfreund des preußischen Landadligen und Schulreformers Fried-
rich Eberhard von Rochow, dessen erster Teil 1776 erschien. Es enthält kurze
moralische Erzählungen oder Beispielgeschichten, die dem Erfahrungsbereich
der Kinder angemessen und in schlichter Sprache gehalten sind, weiter sach-
lich belehrende Dialoge, Gebete und Lieder; die Texte stammen nahezu aus-
schließlich von Rochow. Sein Kinderfreund kann als das erste deutsche
Volksschullesebuch bezeichnet werden. Es war bis weit ins 19. Jh. hinein im
Gebrauch und hat zahlreiche Nachfolger gefunden; die Lesebücher von Sa-
muel Ludwig, Andreas Sutor, Peter Villaume oder der Brandenburgische
Friedrich Eberhard von
Kinderfreund von Friedrich Philipp Wilmsen (von dem 1879 die 224. Auf-
Rochow
lage erschien) sind Beispiele dafür.
Lehr- und Schulbücher sind auch die Anthologien und Chrestomathien, Anthologien
also Sammlungen exemplarischer Texte, die im Poetik- und Rhetorikunter-
richt der höheren Schulen verwendet werden. Als Sammlungen antiker Texte
haben sie eine lange Tradition; im 18. Jh. und verstärkt in der zweiten Hälfte
erscheinen zunehmend entsprechende Sammlungen deutscher Texte. Lange
verbreitet waren Johann Christoph Gottscheds Vorübungen der Beredsam-
keit (1754). Zu den Vorläufern des im 19. Jh. gebräuchlich werdenden ›lite-
rarischen‹ Schullesebuchs gehört Christian Friedrich Rudolf Vetterleins
Chrestomathie deutscher Gedichte (1796 – 1798).
Die Vermehrung des Wissens durch die Wissenschaften, damit der Kennt-
nisse, die vom Erwachsenen gefordert und deshalb der nachwachsenden Ge-
neration vermittelt werden, und die Abschließung des privaten Bereichs der
Familie, durch die der unmittelbare Erfahrungsbereich der Kinder einge-
schränkt wird, haben in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s zu einer enormen
Ausweitung des Bereichs sachlich belehrender Literatur geführt. Zudem wer-
den neue Formen der Vermittlung ausgebildet, wobei auch hier der pädago-
gische Grundsatz, Belehrung und Unterhaltung zu verbinden, wirksam ist.
Die Formen reichen von der fiktionalen Einkleidung des vermittelten Stoffes
in eine Rahmenhandlung über das Lehrgespräch, die Frage-Antwort-Abfolge
nach Art des Katechismus, Betrachtung und Abhandlung bis zum streng in
Paragraphen gegliederten Lehrbuch; auch die Form der Zeitschrift wird ver-
wendet. Dabei erhalten mit zunehmendem Alter der Adressaten die eher be-
lehrenden Formen den Vorrang; zugleich werden die vermittelten Inhalte
komplexer.
Ein traditionelles, in der Aufklärung weiter gepflegtes Genre sind die en- Enzyklopädien
zyklopädischn Schriften, in denen in systematischer Anordnung umfassend
über die verschiedensten Wissensgebiete informiert wird. Auch hier hat die
Aufklärung verschiedene Formen ausgebildet – von knappen Überblicken in
der Art des Orbis pictus von Johann Amos Comenius (1658), der auch im
18. Jh. weiter aufgelegt wurde, über Enzyklopädien in katechetischer Form
wie dem mehrfach aufgelegten Kurtzen Inbegrif aller Wissenschaften (1754)
oder in Paragraphenform wie Johann Georg Sulzers Kurzer Begriff aller
Wißenschaften (1745) bis hin zu aufwendigen und mehrbändigen, reich il-
lustrierten Werken. Das bedeutendste Werk dieser Art ist Johann Bernhard
Basedows Elementarwerk, das 1774 als Umarbeitung des vier Jahre zuvor
veröffentlichten Elementarbuchs erschien. Es bietet eine umfassende Einfüh-
rung in alle Wissensgebiete von der Psychologie und der Logik, von Moral
und Religion über die verschiedenen Handwerke und Beschäftigungen der
Menschen hin zu Geschichte, Naturkunde und Sprache. Zum Elementarwerk
gehörte die Kupfersammlung, in der auf hundert Kupferstichen die behan-
delten Themen zur Anschauung gebracht werden; die Mehrzahl der Stiche
90 Aufklärung

stammt von Daniel Chodowiecki, dem damals berühmtesten deutschen Illus-


trator. Er hat auch an Johann Sigmund Stoys Bilder-Akademie für die Jugend
(1780 – 1784) mitgearbeitet, einer gleichfalls aufwendigen, zwei Textbände
und einen Band mit Kupferstichen umfassenden Enzyklopädie. Noch auf-
wendiger – und kostspieliger – war das enzyklopädische Bilderbuch für
Kinder (1792–1830) von Johann Justin Bertuch, das in zwölf Bänden 1186
Kupferstiche enthält. Mit gewissen Einschränkungen lassen sich zu den En-
zyklopädien auch die Schriften zählen, in denen wie in den Bildwerken Der
Mensch in seinen verschieden Lagen (1779) von Paul von Stetten oder der
Gallerie der Menschen (1796–1801) umfassend über die menschliche Kul-
turgeschichte informiert wird.
Tendenz zur Bedeutsamer als die enzyklopädischen Schriften war die spezialisierte
Spezialisierung Sachliteratur. Nahezu alle Wissensbereiche werden den Kindern und Jugend-
lichen erschlossen; besonders stark vertreten sind Geschichte, Geographie
und, im Zuge der Ausbildung der Naturwissenschaften, Naturgeschichte und
Naturkunde. In der Geschichte hat die Antike Vorrang; zunehmend wird
auch die meist ›vaterländisch‹ genannte neuere Geschichte behandelt (ge-
meint sind die einzelnen deutschen Staaten). Das Mittelalter spielt nur eine
untergeordnete Rolle. Eine Sonderstellung innerhalb der historischen Sachli-
teratur kommt August Ludwig von Schlözer zu, der in seiner Vorbereitung
zur Weltgeschichte für Kinder (1779) und in anderen historischen Texten
Geschichte Geschichte mit Politik und Staatswissenschaft verbindet, dabei eine bemer-
kenswert kritische Haltung zu seiner Zeit einnimmt und den Lesern und Le-
serinnen vermittelt. Auch in Gestaltung und Sprache seiner Texte – genannt
seien Dortgens Reise von Göttingen nach Franken und wieder zurück (1774)
und das Lese-Buch für den Kleinen Christian (1778) – weicht Schlözer von
der gängigen Kinderliteratur der Aufklärung ab. Er verzichtet weitgehend
auf direkte Belehrung, wählt einen sehr kraftvollen Stil und scheut auch nicht
Geographie Ironie und Humor. Der Bereich der geographischen Sachliteratur ist weit ge-
spannt; neben Länderbeschreibungen sind Kulturgeschichte, Ökonomie und
Ethnologie einbezogen; die nicht-europäische Welt wird zunehmend stärker
behandelt. Häufig sind Geschichte und Geographie noch miteinander ver-
bunden. Sehr verbreitet war die Geographie für Kinder (1776) von Georg
Naturkunde Christian Raff, die von Christian Karl André fortgesetzt wurde. Raff hat
auch historische und naturkundliche Sachliteratur für Kinder verfasst; wie
die Geographie wurde seine in Dialogform gehaltene Naturgeschichte für
Kinder (1778) mehrfach aufgelegt. Im Bereich der Naturkunde und Naturge-
schichte gibt es, wie bei der Sachliteratur insgesamt, eine zunehmende Spezi-
alisierung; die umfassenden Darstellungen treten hinter auf einzelne Diszipli-
nen konzentrierte Texte zurück.
Ein für die Aufklärung typisches Genre sachlich belehrender Literatur sind
Kinderlogiken, die Kinderlogiken und Seelenlehren. Anfänglich, etwa bei Gottsched oder
Seelenlehren Breitinger, vor allem dazu gedacht, den Kindern logisch richtiges Denken
einzuüben, werden sie im Umkreis der Philanthropen zu Einführungen in die
menschlichen Erkenntnisweisen und in das Seelenvermögen. Zu den verbrei-
tetsten gehörte Campes Kleine Selenlehre (1780); eines der gelungensten
Beispiele ist die Kinderlogik (1786) von Moritz. Die meisten Kinderlogiken
basieren auf der Erkenntnistheorie Christian Wolffs. Von Kant beeinflusst ist
die Praktische Logik (1787) von Villaume und insbesondere die Seelenlehre
(1800) von Johann Friedrich Ernst Kirsten, die in gewisser Hinsicht als der
historische Abschluss dieses Genres gelten kann.
Reisebeschreibungen Zur Sachliteratur für Kinder lassen sich schließlich auch die Reisebeschrei-
bungen und Reiseberichte zählen, wobei allerdings gerade hier die Abtren-
Lehr- und Schulbücher, Sachliteratur 91

Georg Christian Raff:


Naturgeschichte für
Kinder. Göttingen 1781

Christian Gotthilf
Salzmann: Reisen der
Salzmannischen Zöglinge.
Titelvignette von G. G.
Endner zu Band 1. Leipzig
1784

nung von der unterhaltenden Literatur problematisch ist. Reiseliteratur ist


im Verständnis der Aufklärung ein ideales Genre für die Verknüpfung von
Belehrung und Unterhaltung; in romanhafter, spannender Einkleidung ver-
mittelt sie Kenntnisse und Erfahrungen. So sind die Reisebeschreibun-
gen auch als Gegengewicht gegen die Romane gedacht. Insbesondere für
Campe – der in den beiden Sammlungen merkwürdiger Reisebeschreibungen
(1785 – 1793) zeitgenössische und ältere Reiseberichte in Bearbeitungen her-
ausbrachte und auch seine eigenen Reisen, so die ins revolutionäre Paris
1789, für Kinder und Jugendliche darstellte – ist Reiseliteratur die geeignete
Lektüre vor allem für die Jugend. Zudem folgt hier die Kinderliteratur einer
allgemeinen literarischen Tendenz der Zeit; Reiseliteratur war in den letzten
Jahrzehnten des 18. Jh.s sehr beliebt und verbreitet. Bei der Reiseliteratur für
Kinder lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: authentische Berichte vor
allem von Reisen von oder mit Kindern – wie etwa die Reisen der Salzman-
nischen Zöglinge oder die Reisedarstellungen von Schlözer und Goeze –, in
denen von außerhäuslichen Erfahrungen berichtet wird, und – wie in Cam-
pes Sammlungen – Bearbeitungen von Reisebeschreibungen anderer Autoren,
den überseeischen Entdeckungsfahrten vor allem, in denen über fremde Län-
der und Menschen informiert wird. Der Übergang zur geographischen und
kulturhistorischen, ethnologischen Sachliteratur, in der immer auch Reisebe-
richte verwendet werden, ist fließend.
92 Aufklärung

Literatur für Mädchen

In den unterhaltenden Schriften der aufgeklärten Kinderliteratur gibt es nur


in Ausnahmefällen einen geschlechtsspezifischen Adressatenbezug; sie sind
gleichermaßen an Jungen und Mädchen gerichtet. Entsprechend sind in den
Kindergruppen der Rahmenerzählungen oder der Kinderschauspiele Jungen
und Mädchen in annähernd gleicher Zahl vertreten; Erziehungsgrundsätze
und Anforderungen gelten für beide Geschlechter. Insofern kann von einer
gleichberechtigten Erziehung gesprochen werden. Dennoch lassen sich Ten-
denzen einer geschlechtsspezifischen Differenzierung feststellen. Die Mäd-
chen werden zumeist außer zu den auch von Jungen verlangten Betätigungen
zu spezifisch ›weiblichen‹ Beschäftigungen wie Nähen oder Stricken angehal-
ten. Bestimmte Verhaltensweisen wie etwa Naschsucht oder Eitelkeit werden
vor allem Mädchenfiguren zugeordnet und erscheinen so als typisch weibli-
che Eigenschaften. Zudem ist im Gesamtbereich der unterhaltenden Literatur
die Zahl der Jungen merklich höher als die der Mädchen; bei den mora-
lischen Erzählungen etwa sind männliche Handlungsträger deutlich in der
Überzahl. Vor allem aber zeigt sich in der zentralen Rolle der Väter in der
Erziehung der Vorrang männlich-patriarchalischer Perspektive; auch die
Mädchen werden zur ›Vernunft der Väter‹ erzogen.
Moralische Schriften Für die moralisch und die sachlich belehrenden Schriften gilt – soweit sie
für jüngere Kinder gedacht sind – Ähnliches. Mit zunehmendem Alter der
Adressaten jedoch wird zwischen Jungen und Mädchen unterschieden. Im
Bereich der moralisch belehrenden Schriften entwickelt sich etwa seit den
60er Jahren eine spezifisch für Mädchen gedachte Literatur. Sie ist an ›junge
Frauenzimmer‹ (wie es in den Titeln oft heißt) gerichtet, die an der Schwelle
zum Erwachsensein stehen und mit diesen Schriften auf ihre Rolle als Ehe-
frau und Mutter vorbereitet werden sollen. Dabei werden nahezu alle in

J. H. Campe: Vaeterlicher
Rath für meine Tochter.
Frontispiz. Braunschweig
1789

Frontispiz von G. L.
Crusius zu: Der Frau
Maria LePrince de
Beaumont lehrreiches
Magazin. Leipzig 1760
Literatur für Mädchen 93

diesem Bereich ausgebildeten Formen verwendet. Es erscheinen für Mädchen


gedachte moralische Abhandlungen wie die von Weiße aus dem Englischen
übersetzten Predigten für Frauenzimmer (1767; Autor ist James Fordyce)
oder Johann Ludwig Ewalds Die Kunst ein gutes Mädchen, eine gute Gattin,
Mutter und Hausfrau zu werden (1798); lehrreiche Unterredungen und Ge-
spräche wie – in der Übersetzung von Johann Joachim Schwabe – das Lehr-
reiche Magazin für junge Leute, besonders junge Frauenzimmer (1760) und
die Nöthigen Unterweisungen für junges Frauenzimmer, welches in die Welt
tritt und sich verheurathet (1764) von Leprince de Beaumont oder, gleichfalls
aus dem Französischen, Emiliens Unterredungen mit ihrer Mutter von
Louise-Florence-Pétronelle d’Epinay (1775); weiter Sittenlehren wie die
mehrfach aufgelegte Sitten- und Anstandsschrift Wie soll ein junges Frauen-
zimmer sich würdig bilden? von Andreas Meyer (1772), die Lehren und Er-
fahrungen für junges Frauenzimmer von Johanna Katharina Morgenstern ›Elterliche Räte‹
(1786) oder Johann Rudolf Sulzers Mädchenwerth und Mädchenglück
(1790/91). Stark vertreten sind die an Mädchen gerichteten elterlichen und
väterlichen ›Räte‹; neben Campes Vaeterlichem Rath für meine Tochter
(1789), La Roches Briefe an Lina (1785) und Niemeyers Vermaechtnis an
Helene (1794) sei noch Johann Jacob Eberts Nebenstunden eines Vaters dem
Unterrichte seiner Tochter gewidmet (1795) genannt. Auch im Sachbuchbe-
reich zeigen sich, wenngleich in deutlich geringerem Umfang, ähnliche Ent-
wicklungen zu einer spezifisch für Mädchen gedachten Literatur. Von Carl
Philipp Funke wird das enzyklopädische Lehrbuch zum Unterricht der
Töchter vornämlich in mitlern Ständen (1800/01) herausgegeben; von Phi-
lippine Auguste Amalie von Knigge erscheint der Versuch einer Logic für
Frauenzimmer (1789). Zur Sachliteratur zu rechnen sind auch die Hauswirt-
schaftslehren wie Christian Friedrich Germershausens Die Hausmutter in
allen ihren Geschäften (1791–1794) oder Johanna Katharina Morgensterns Sachliteratur
Unterricht für ein junges Frauenzimmer, das Küche und Haushalt selbst be-
sorgen will (1782); beide wurden mehrfach aufgelegt.
Die Ausbildung einer an Mädchen gerichteten Literatur ist in dem seit
dem frühen 18. Jh. vorhandenen Interesse an einer besseren Erziehung der
Mädchen begründet. Mit dem Wandel der Familie im Bürgertum und der
damit einhergehenden Veränderung der Frauenrolle war eine höhere Bildung
der Frauen erwünscht. Wichtiger jedoch, vor allem für die inhaltlich-ideolo-
gische Ausrichtung der aufgeklärten Mädchenliteratur, war die um die Jahr-
hundertmitte einsetzende Gegenbewegung gegen den Schub weiblicher
Emanzipation in der Frühaufklärung. Um weitere Emanzipationsbestrebun-
gen abzuwehren, wird die Frau auf den häuslichen Bereich eingeschränkt. Der weibliche
Die Legitimation dieser Bekräftigung männlich-patriarchaler Ordnung bil- ›Geschlechtscharakter‹
dete die im 18. Jh. ausgebildete Vorstellung von den ›Geschlechtscharakte-
ren‹, nach der den beiden Geschlechtern von Natur aus unterschiedliche Ei-
genschaften zukommen; die Opposition ›aktiv/passiv‹ gilt als grundlegend.
Die Rollen von Mann und Frau sind nicht mehr (wie noch in der älteren
Hausväterliteratur) ökonomisch begründet, sondern werden als Konse-
quenzen unterschiedlicher ›Natur‹, als ›natürliche‹ ausgegeben. Vor allem in
den ›väterlichen Räten‹ spielt diese Vorstellung, für die Rousseau in der Figur
Sophie im Emile ein wirkungsmächtiges Modell geschaffen hatte, eine wich-
tige Rolle. Den Mädchen soll eingeschärft werden, dass – wie es in Campes
Vaeterlichem Rath heißt – die Frau »in einem abhängigen und auf geistige
sowol als körperliche Schwächung abzielenden Zustande lebt, und […] not-
wendig leben muß« und ihr von der Natur die »dreifache Bestimmung zur
Gattin, zur Mutter, und zur Vorsteherin des Hauswesens« gegeben worden
94 Aufklärung

›Gattin, Mutter, sei. Die Ausrichtung auf die männliche Dominanz spricht Campe unbeschö-
Hausfrau‹ nigt aus: Als Gattin hat die Frau die Pflicht, dem Mann »durch zärtliche
Theilnehmung, Liebe, Pflege und Fürsorge das Leben zu versüßen«, als Vor-
steherin des Hauswesens soll sie die »häusliche Ruhe und Glückseligkeit des
erwerbenden Gatten sicher stellen«, und als Mutter wird sie nur erfolgreich
sein, wenn sie in der Erziehung der Kinder »die Anordnungen und Pläne be-
folgt«, die der Ehemann ihr vorschreibt. Die Vorstellung vom ›natürlichen‹
weiblichen Geschlechtscharakter, in deren Konsequenz für Mädchen eine
andere Erziehung als für Jungen und eine ihrer ›Natur‹ angemessene Litera-
tur verlangt sind, hat die weitere Entwicklung der Mädchenliteratur nach-
haltig geprägt.
Diese Vorstellung bestimmt auch die relativ spät, in den 80er Jahren, be-
ginnende und in den 90er Jahren verstärkte Ausdifferenzierung einer für
Mädchen gedachten Literatur im Bereich der unterhaltenden Schriften. Den
Anfang machen Zeitschriften für Mädchen wie die Wochenschrift Für deut-
sche Mädchen von Paul Friedrich Achat Nitsch (1781/82). Sophie von La
Roches Monatsschrift Pomona für Teutschlands Töchter (1783/84) oder
Marianne Ehrmanns Monatsschrift Amaliens Erholungsstunden. Teutsch-
lands Töchtern geweiht (1791). Es folgen unterhaltende Lesebücher wie Der
Mädchenfreund von Christian Carl André (1789/91) oder die vermutlich
von Karl von Eckartshausen stammende Bibliothek für Mädchen, nach den
Stuffen des Alters eingerichtet (1791). Vorrangig vertreten sind moralische
Moralische Erzählungen oder Beispielgeschichten, in denen Muster weiblichen Verhal-
Erzählungen tens vorgestellt werden; Sophie von La Roche hat einige ihrer zuerst in der
Pomona erschienenen moralischen Erzählungen auch als Einzeldrucke veröf-
fentlicht. Aus diesen moralischen Erzählungen hat sich die für die Mädchen-
literatur des 19. Jh.s typische Form der Erzählung entwickelt. So steht etwa
Jakob Glatz mit seinen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh.s sehr erfolg-
reichen Büchern für Mädchen in dieser Tradition.
Nur bedingt zur Mädchenliteratur zu zählen sind die empfindsamen Ro-
mane in der Tradition Samuel Richardsons, in denen in den Vorreden oder
schon in den Titeln Mädchen oder ›junge Frauenzimmer‹ als Adressaten ge-
nannt werden und die – wie Friederike Helene Ungers Roman Julchen
GrünthaI. Eine Pensionsgeschichte (1784), der Briefroman Für Töchter edler
Romane für Herkunft (1787) von Johann Timotheus Hermes oder auch Sophie von La
›Frauenzimmer‹ Roches Roman Rosaliens Briefe an ihre Freundinn Marianne in St* (1780 –
1781) – in älteren historischen Darstellungen als Beginn der Mädchenlitera-
tur gelten. Abgesehen davon, dass die moralisch belehrenden Schriften für
Mädchen bereits vor solchen Romanen erschienen, sind diese auch kaum für
Mädchen gedacht, richten sich vielmehr in erster Linie an erwachsene Frauen.
Der Hinweis auf Mädchen als mögliche Leserinnen dient dazu, den Verkauf
des Buches zu fördern, zeigt aber immerhin auch, dass sie am Ende des Jahr-
hunderts als eine eigene Gruppe im Lesepublikum verstanden wurden.

Nach 1790 wird die dominante Position, die der aufgeklärten Kinderlitera-
tur, insbesondere ihrer philanthropischen Ausprägung, vor allem in den bei-
den Jahrzehnten zwischen 1770 und 1790 zukam, immer mehr in Frage ge-
stellt; im Zusammenhang mit den Veränderungen in der Erwachsenenlitera-
tur vollzieht sich ein struktureller Wandel. Er wird darin sichtbar, dass die
Form des väterlichen Gesprächs an Bedeutung verliert. In Salzmanns Hein-
rich Gottschalk in seiner Familie (1804) vollzieht sich dieser Wandel inner-
halb eines Buches. Es beginnt in Gesprächsform; ein Hauslehrer und der
Großvater Gottschalk sind die Gesprächspartner der Kinder. Der Großvater
Literatur für Mädchen 95

erzählt seine Lebensgeschichte; auch sie ist zunächst in eine Gesprächssitua-


tion integriert, die jedoch im weiteren Fortgang verschwindet und erst am Auflösung der
Schluss nochmals kurz aufgenommen wird. Mit dem Verschwinden der Ge- Gesprächsform
sprächsform geht die begrifflich-rationale Reflexion des anschaulich Vermit-
telten und damit die vernünftige Begründung der dargestellten Verhaltens-
weisen verloren; zugleich wird die bisher zentrale Rolle der Väter gemin-
dert.
Dieser Wandel geht einher mit ideologischen Veränderungen. So zeigt sich
eine deutliche Tendenz zur Rechristianisierung. Die religiöse Unterweisung Rechristianisierung
wird wieder vorrangig; traditionelle christliche Werte und Vorstellungen
spielen eine größere Rolle, wobei nicht so sehr dogmatische Positionen ge-
lehrt werden, vielmehr eine eher gefühlsbestimmte Christlichkeit vermittelt
wird. Dabei erhalten auch die Mütter größere Bedeutung; ihnen vor allem
wird die Aufgabe der religiösen Unterweisung übertragen. Eine andere Ver-
änderung ist politischer Art. Infolge der Französischen Revolution und in der Französische
Absicht, revolutionären Bestrebungen bereits durch die Erziehung vorzubeu- Revolution
gen, erhalten ›Tugenden‹, die der Anerkennung und Hinnahme des Bestehen-
den dienen, wie die – auch christlich legitimierte und vor allem sozial ge-
meinte – Geduld einen hohen Stellenwert. Der in der aufgeklärten Kinderlite-
ratur durchgängig, wenn auch in unterschiedlichem Maße vorhandene
kritische Impetus verschwindet für lange Zeit. Vor allem im ersten Jahrzehnt
des 19. Jh.s kommen nationale und auch bereits nationalistische Töne hinzu.
Dabei wird die Betonung deutscher Eigenart mit der Abgrenzung insbeson-
dere gegen Frankreich verknüpft; der nationale Gegensatz verbindet sich mit
der Abwehr von Revolution und Aufklärung.
Diese Veränderungen bedeuten allerdings nicht, dass die in der Aufklärung
erreichte formale und inhaltliche Differenzierung des kinderliterarischen Be-
reichs aufgegeben wurde. Sie gehört vielmehr zu den fortdauernden Wir-
kungen dieser Epoche und bildet die Grundlage der weiteren Entwicklung.
In der Aufklärung ausgebildete Gattungen werden weiterhin verwendet und
weiterentwickelt. Das gilt etwa bei der Sachliteratur; bei den unterhaltenden
Schriften gilt es insbesondere für die Moralische Erzählung, die weit ins 19.
Jh. hinein das Zentrum dieses Bereichs bildet, allerdings mit deutlich anderer
ideologischer Akzentuierung als in der Aufklärung.
Die auf längere Sicht gesehen für die Kinderliteratur wohl folgenreichste
Veränderung am Ende des 18. Jh.s ist jedoch mit der Entstehung der Roman-
tik verbunden. In ihr wird, in deutlicher Opposition zu aufgeklärten Kind-
heitsvorstellungen, in manchem allerdings auch an Positionen anknüpfend, Kupferstich von
die in der Aufklärung – etwa von Herder – entwickelt worden waren, ein J. Wagner, aus: Schauplatz
anderes Verständnis von Kindheit, ein neues Kindheitsbild und damit auch der Natur und der
eine andere und neue Literatur für Kinder ausgebildet. Künste. Wien 1775
96

Romantik

Hans-Heino Ewers

Vorgeschichte und Voraussetzungen

Auch auf dem Feld der Kinder- und Jugendliteratur tritt die Romantik als
Gegenströmung zur Aufklärung auf. Die im späten 18. Jh. etablierte didak-
tische Kinder- und Jugendliteratur vermag sie freilich nicht zu verdrängen. Es
kommt vielmehr zu einer Ausdifferenzierung polar entgegengesetzter litera-
turpädagogischer Standpunkte. Der im Gegeneinander von aufgeklärt-di-
daktischer und romantischer Kinder- und Jugendliteraturauffassung erstmals
sich manifestierende Antagonismus wird im Laufe der weiteren geschicht-
lichen Entwicklung in unzähligen Verkleidungen wiederkehren. Während die
aufgeklärte Kinder- und Jugendliteratur Deutschlands zu einem beträcht-
lichen Teil französischen, teils auch englischen Vorbildern folgte und allen-
falls in der Rezeption rousseauistischer Gedanken ab dem Ende der 70er
Jahre eine gewisse Eigenständigkeit zeigte, darf die deutsche romantische
Kinderliteratur der ersten zwei bis drei Jahrzehnte des 19. Jh.s als die erste
ihrer Art gelten. Vergleichbares tritt in anderen europäischen Ländern erst
Jahrzehnte später, ja teils erst im späten 19. Jh. in Erscheinung.
Zur Vorgeschichte der romantischen Kinderliteratur gehört die bereits im
späten 18. Jh. sich vollziehende Ausbildung einer Kindheitsauffassung, die
sich von der aufgeklärten Anthropologie des Kindes absetzt und in ihrem
Kern als mystisch bezeichnet werden kann. Für diese an neuplatonische Leh-
ren anknüpfende Kindheitsvorstellung sind Kinder ›heilige‹, dem Göttlichen
noch unmittelbar verbundene Wesen. In neuplatonischer Sicht ist die Seele
des Menschen vor der Geburt mit der Weltseele vereint; die verhängnisvolle
Trennung von der Weltseele tritt nicht etwa mit dem Akt der Geburt, sondern
erst mit dem Verlust der Kindheit ein. Diese neuplatonische Tradition ist
Mitte des 18. Jh.s bei Johann Georg Hamann präsent, der wiederum auf den
jungen Johann Gottfried Herder eingewirkt hat.
Herders Kindheits- In seinen sprach- und geschichtsphilosophischen Schriften der 1770er
auffassung Jahre hat Herder freilich einen anderen, genuin aufklärerischen, anthropolo-
gisch-immanenten Weg zu einer neuen Kindheitsauffassung beschritten.
Seine neue Kindheitstheorie ist gleichsam ein Nebenprodukt seiner neuen
Sicht des Wilden, des primitiven Menschen, der rohen Völker und ihrer ur-
kräftigen Poesie. Abstoßungspunkt ist Jean Jacques Rousseaus Kulturanth-
ropologie, insbesondere dessen Lehre vom Naturzustand, vom Wilden als
dem noch nicht entfremdeten Menschen, die Herder scharfsinnig als selbst
noch aufklärerische Wunschprojektion entlarvt. Für Rousseau wie für Her-
der ist das Kind, das man Kind sein lässt, eine Inkorporation des Wilden,
Kindheit eine Wiederholung des Naturzustandes bzw. des kindlichen Zu-
standes der Menschheit; beide aber sehen im Wilden bzw. im kindlichen
Menschen ganz unterschiedliche Wesen. Im Sinne der Vermögenspsychologie
des 18. Jh.s sind Kinder für Rousseau Wesen, in denen sich neben den kör-
Vorgeschichte und Voraussetzungen 97

perlichen Kräften und physisch-handwerklichen Geschicklichkeiten nur erst


wenige geistige Kräfte herausgebildet haben: eine scharfe Beobachtungsgabe,
die Außenwelt betreffend, und wenige Elementargefühle wie Selbstliebe und
Mitleid. Keine entwickeltere Emotionalität, keine Einbildungskraft und Fan-
tasie, kein abstraktes Denken – all dies gehe diesen menschlichen Rumpfwe-
sen ab, die sich aber für Rousseau mit ihrem wenigen Vermögen in völliger
Übereinstimmung befinden und damit glücklich sind. Lakonisch, illusionslos
nüchtern, innerlich kalt, stark und unabhängig, ja autark, zutiefst einzelgän-
gerisch – so lauten nach Rousseau die Eigenschaften eines Wilden und die
eines naturbelassenen Kindes.
Ein modernes Gedankenkonstrukt, behauptet Herder, dem sich der Wilde
und das Kind ganz anders darstellen. Der Vermögenspsychologie gibt er ei- Johann Gottfried von
nen Stoß mit der These, dass im Menschen vom ersten Augenblick an alle Herder. Stich nach einem
Kräfte als reale Keime vorhanden sind. Der Ausgangspunkt menschlicher Gemälde von
G. v. Kügelgen
Entwicklung ist für ihn eine dunkle, verworrene Einheit aller Seelenkräfte,
die nur zusammen und noch nicht isoliert und eigenständig wirken können.
Was der Beobachtung der Außenwelt, was der Einbildungskraft und Fantasie
entstammt, ist für den Wilden und das Kind nicht auszumachen. Alle Wahr-
nehmung ist auf unmerkliche Weise fantastisch verzerrt; das Bild der äußeren
Welt speist sich aus äußeren Eindrücken ebenso, wie es Ausdruck innerer
Regungen ist. Ein solcher Mensch vermag weder zwischen toter und leben-
diger Natur, noch zwischen nichtdenkenden und denkenden Lebewesen zu
unterscheiden, und so ist ihm alles Begegnende von der eigenen Art, belebt
und beseelt. In Herders Augen sind der rohe und der kindliche Mensch nicht
nüchtern, sondern fantastisch-animistisch, nicht kalt, sondern stark fühlend
und heftig innerlich bewegt.
Hinzuzunehmen ist das Grundaxiom der Herderschen Anthropologie,
wonach der Mensch ein Mängelwesen ist. Dies bedeutet, dass er auf phylo-
wie ontogenetischer Ebene solange ein schwaches, kaum überlebensfähiges
Lebewesen ist, als seine Kulturfertigkeiten noch nicht entfaltet sind. Der
Wilde wäre als Einzelner zum Untergang verurteilt; er bedarf der Horde und
ihres Schutzes, in deren Gefüge er sich denn auch willig einordnet. Ebenso
bedarf das Kind der Familie; es ist anhänglich, ein- und unterordnungswillig,
autoritätshörig und -gläubig, leicht beeindruckbar, annahme- und lernwillig
– das Gegenteil also der Rousseau’schen Vorstellung eines unabhängigen und
einzelgängerischen Kindes. Ein Jahrzehnt nach Erscheinen des Émile sind in
der Herder’schen Anthropologie des Kindes bereits alle Elemente des roman-
tischen Kindheitsbildes präsent: heftige Emotionalität, aktive Einbildungs-
kraft und überbordende Fantasie, fehlende Nüchternheit und mangelnder
Realitätssinn, animistische Weltsicht und Beseelung der Natur, soziale An-
hänglichkeit und Autoritätssinn, Leichtgläubigkeit und schnelle Beeindruck-
barkeit.
Die Kindheit war für die Aufklärung ein Faszinosum; Kinder galten ihr als
Bruch mit der bisherigen Geschichte, als Inbegriff eines Neubeginns im Zei-
chen des Natürlichen qua Vernünftigen. Rousseaus Kindheitsphilosophie
brachte eine erste Trübung, insofern sie alle Verstandeskultur und Intellektu-
alität von Kindern fernhalten wollte und so das Idealbild des vernünftigen,
gelehrten Kindes diskreditierte. Doch konnte das Rousseau’sche Kind mit
den Fähigkeiten, die es besaß, immer noch die Bewunderung der Aufklärer
erregen: War es nicht voller Kraft und Vitalität, Schläue und Geschicklich-
keit, erfüllt von Unabhängigkeitssinn und Misstrauen gegen alle Autorität?
Das von Herder gezeichnete Kindheitsbild macht die Enttäuschung perfekt:
An Kindern bleibt in dieser Sicht kein Zug mehr übrig, den ein aufgeklärtes Jean Jacques Rousseau
98 Romantik

Zeitalter noch bewundern könnte. Entschiedener und nachhaltiger als Rous-


seau entfremdet Herder Kindheit und Aufklärung einander; er versetzt die
Kinder in eine vorrationale, ›abergläubische‹ Welt und verwehrt es der aufge-
klärten Kultur, Kinder an den eigenen Maßstäben zu messen.
Herder ist jedoch davon überzeugt, dass die vorrationale Kindheit gerade
in ihrer Andersartigkeit und Fremdheit dem aufgeklärten Zeitalter begreif-
bar, verstehbar ist – vorausgesetzt, es vermag die hierzu erforderliche Tole-
ranz aufzubringen. Seinen Zeitgenossen sucht Herder klarzumachen, warum
Kindheit nicht selbst schon eine Gestalt aufgeklärter Bildung sein darf; die
menschliche Natur wäre damit maßlos überfordert. Den Schlüssel zu dieser
Argumentation bietet ihm seine Entwicklungslehre, in deren Rahmen sich
das Vorrationale auf frühen Stufen ansiedeln und als funktionsgerechtes
Element des Wachstums, als »weise Einrichtung der Natur« ausweisen lässt.
Herder unterbreitet seinem Zeitalter so eine rationale Legitimation der Irra-
tionalität von Kindheit. Seine Anthropologie des Kindes ist eine selbst aufge-
klärte, eine sozusagen hochmoderne Theorie.
Kindheit als Poesie Auch die romantische Verknüpfung von Kindheit und Poesie ist bereits
beim jungen Herder anzutreffen. Das animistische Weltbild der primitiven
und der kindlichen Menschen gilt ihm als eine »Sammlung von Elementen
der Poesie«, als eine große epische Dichtung: »Ein Wörterbuch der Seele, was
zugleich Mythologie und eine wunderbare Epopee von den Handlungen aller
Wesen ist! Also eine beständige Fabeldichtung mit Leidenschaft und Inter-
esse! – Was ist Poesie anders?« Poesie meint hier nicht die gebildete, sondern
die Naturpoesie der rohen Völker, die allein, so Herder, wahre Kinderpoesie
sein kann. In abgeschwächter Form kehrt diese Position in Herders be-
rühmter Vorrede zum ersten Band der Palmblätter von 1786 wieder, einer
von August Jakob Liebeskind besorgten Sammlung morgenländischer mora-
lischer Erzählungen. Hier ist von der »jungen Einbildungskraft« die Rede,
die im »Frühling des Lebens« erwache und in uns einen Hang zu vergessenen
Zeiten und fernen Ländern, zum »Wunderbaren« und »Außerordentlichen«
erzeuge. Durch sie werde die Kindheit zu einem »Morgen voll schöner Bil-
der«, einem »Paradies unschuldiger Hoffnungen und Wünsche«. »Auch diese
Anlage in uns ist eine Gabe des Schöpfers«, für die Dank zu empfinden sei.
Dann aber schränkt er selbst ein: »Nichts hat der Mensch in sich so sehr zu
bezähmen, als seine Einbildungskraft, die beweglichste und zugleich die ge-
fährlichste aller menschlichen Gemütsgaben.« Zahlreiche »Übel des Lebens«
rührten daher, »daß wir in der Jugend unsere Phantasie verwöhnten, daß wir
uns Luftgestalten schufen, die für dieses Leben keinen Bestand haben, weil
wir sie übel zusammensetzten«.

Die romantische Kindheitsphilosophie

Romantische Gegen Ende des 18. Jh.s werden die moderne Anthropologie Herderschen
Kindheitsmetaphysik Typs als unbefriedigend und die anthropologische Definition des Menschen
als eines Naturwesens als herabwürdigend empfunden; ein Wiedererstarken
metaphysischer Denkansätze ist die Folge. Herders Kindheitsentwurf wird in
seinen inhaltlichen Bestimmungen von Autoren wie Jean Paul, Ludwig Tieck
oder Novalis mehr oder weniger vollständig aufgegriffen; seine rationale
Erklärungsart, seine rein anthropologische Vorgehensweise dagegen werden
Die romantische Kindheitsphilosophie 99

durch eine metaphysische Deduktion ersetzt. An diesem Punkt gerät der von
Johann Georg Hamann hochgehaltene neuplatonisch-mystische Kindheits-
gedanke wieder ins Spiel. Aus seiner Verschmelzung mit der Herderschen
Kindheitsanthropologie geht die romantische Kindheitsphilosophie im enge-
ren Sinne hervor. Das dunkle und verworrene, das heftig bewegte und fanta-
sievolle Innere des primitiven und des kindlichen Menschen erscheint in me-
taphysischer Sichtweise nun als ein göttlicher Kern, der sich im Geburtsakt
von der Weltseele getrennt und in einen Körper, einen ›Erdenkloß‹ Einlass
gefunden hat, der hierin zunächst eingehüllt bleibt, dann aber hervorblickt
und sein ›Licht‹ oder seine ›Wärme‹ über die begegnende Welt ausstrahlen
lässt.
Mag der göttliche Kern einmal als ein geistiger Enthusiasmus begriffen Fantasie
werden wie bei Jean Paul, das andere Mal als Liebe, als unendliches Fühlen
und Sehnen wie bei Tieck oder als eine poetische Genialität wie bei Novalis
– in allen Fällen ist die Fantasie das Organ, das dem göttlichen Kern Aus-
druck verschafft. Die Fantasie versieht alles Wahrgenommene mit einem
göttlichen Abglanz, verklärt, idealisiert, romantisiert die Welt. Den Romanti-
kern ist bewusst, dass Kinder die Welt nicht wahrnehmen, wie sie ist. Doch
ist das gegenwärtige Sosein der Welt deren eigene Unwahrheit; erst in der
kindlich-fantastischen Verzerrung und Verkehrung ihres Soseins findet sie zu
ihrer Wahrheit zurück. Gleiches gilt für die kindlich-animistische Beseelung
und Personifizierung der Natur; sie spricht in den Augen der Romantiker
deren Wahrheit aus, denn diese ist recht besehen selbst ein Geistiges, das sich
gegenwärtig nur abhanden gekommen ist.
Im Übergang von der Anthropologie zur Metaphysik hat sich das roman-
tische Kindheitsmuster selbst wenig verändert; es bleibt in Grundzügen seit
Herder gleich. Die Kindheit hat lediglich eine andere Wertung, eine immense
Aufwertung erfahren. Der kraftgenialische, wahrnehmungsverzerrende Sub-
jektivismus des Primitiven und des Kindes bedeutete, so poetisch reizvoll er Das Kind als Wider-
auch immer war, für Herder doch eine zu überwindende Entwicklungsstufe. schein des Göttlichen
Wird das Innere, das Gemüt des ersten Menschen bzw. des Kindes dagegen
als ein ungetrübter Widerschein des Göttlichen begriffen, kann von Subjekti-
vismus nicht mehr die Rede sein; es muss dann im Gegenteil als eine höhere
Objektivität gelten. Kinder vermögen »mit ihrer Weisheit, mit ihrem hohen
geheimnisvollen Ernst« selbst Greise zu beschämen, heißt es bei Tieck. »Sie
sind so wahrhaft ernst und erhaben […], weil sie dem Quell des Glanzes noch
so nahestehen, der immer dunkler sich entfernt, je mehr das Leben in die
Jahre rückt.« »Dieser Ätherschimmer, diese Erinnerungen der Engelswelt le-
ben und regen sich noch hell und frisch im Kindergeiste, der dunkle Schatten
der Erdgegenstände ist noch nicht verfinsternd in den Glanz hineingerückt
[…]: und darum stehn die Kinder wie große Propheten unter uns, die uns in
verklärter Sprache predigen, die wir nicht verstehen.« Der kindliche Geist
wird zu einer letzten Wahrheitsinstanz erhoben, sein Blick in die äußere Welt
zu einem zurechtrückenden, die Dinge aus ihrer Entfremdung erlösenden.
Der Erwachsene muss folglich zu Kindern aufblicken, verkörpern sie doch
ein Maximum, von dem der Mensch mit wachsendem Alter sich nur entfer-
nen kann. »Denn sind die Menschen nicht verdorbene, ungeratene Kinder?
Sie sind nicht vorwärts-, sondern zurückgegangen; das Kind ist die schöne
Menschheit selbst.« Wie könnte der Erwachsene sich da eine eingreifende
Erziehung anmaßen? In Novalis’ Heinrich von Ofterdingen wird vom Er-
wachsenen verlangt, dass er »das Aufblühen eines Kindes mit demütiger
Selbstverleugnung zu betrachten« habe; hier sei ein »Geist« geschäftig, der
»frisch aus der unendlichen Quelle« komme und noch unmittelbar einer
100 Romantik

Philipp Otto Runge: Der


Morgen – Kleine Fassung
(1808)

göttlichen Führung unterliege, der deshalb der »andächtigsten und beschei-


densten Behandlung« bedürfe. Im Umgang mit Kindern ist der Erwachsene
der Empfangende; aus eigenem Interesse sucht er den Umgang mit Kindern,
überlässt er sich der Erinnerung an die eigene Kindheit, denn in ihnen findet
er Mittler zum Unendlichen, zu dem er als Erwachsener keinen direkten Zu-
gang mehr hat.
Kindheitspoesie und Einer solchen Haltung entspringt nun in erster Linie kein kinderlitera-
Kinderlektüre rischer, sondern ein kindheitsliterarischer Impetus: der Erwachsene hegt das
Verlangen, die Kindheit sich selbst poetisch bzw. literarisch zu vergegenwär-
tigen. So entsteht in der ersten Phase der romantischen Bewegung, den
1790er Jahren, nur erst eine reichhaltige Kindheitsliteratur. Man denke nur
an die großen Erziehungs-, Bildungs- oder Künstlerromane von Jean Paul,
Goethe, Hölderlin, Tieck oder Novalis, in denen die Darstellung der Kindheit
des Helden, bisweilen auch Kinderfiguren wie etwa die Mignons eine bedeu-
tende Rolle spielen. Daneben tritt bereits im Kontext der Frühromantik die
Entdeckung der Volkspoesie, einer als ursprünglich und kindlich empfunde-
Die romantische Kindheitsphilosophie 101

nen Dichtung. Deren poetische Wiederbelebung – etwa in Tiecks Volksmär-


chen des Peter Leberecht von 1797 – bleibt jedoch noch ganz auf Erwachsene
als Leser bezogen. Der Erwachsene soll sich bei der Lektüre alter Volksbü-
cher und Märchen, beim Lesen also einer selbst kindlichen Literatur, in die
eigene Kindheit versetzt fühlen. Kindheitsliteratur und volkstümliche Litera-
tur sollen im Rahmen der Frühromantik dem an seiner metaphysischen Ob-
dachlosigkeit leidenden Erwachsenen dazu verhelfen, die eigene Kindheit er-
innernd zurückzurufen.
Dennoch lassen sich aus einzelnen Äußerungen der Frühromantiker wie
aus ihren Erzählungen und Romanen kinderliterarische Vorstellungen und
Positionen herausdestillieren. Aus den glücklichen Kindheiten der roman- Absetzung von der
tischen Heldenfiguren ist Poesie jedenfalls nicht wegzudenken – und zwar Kinderliteratur der
Poesie in Gestalt von Volksliedern und Balladen, von Märchen, Schauer- und Aufklärung
Gespenstergeschichten, von Sagen und Legenden, von Volksbüchern und
Abenteuerromanen. Vor der modernen, aufgeklärten Kinderliteratur sind sie
durchweg verschont geblieben: Peter Leberecht dankt es seiner Pflegemutter
»noch heute, daß man mich nach keinem Elementarwerke oder Kinder-
freunde, in keinem Philantropie oder Schnepfenthal verbildete«. Der Wider-
spruch zur gesamten etablierten Kinder- und Jugendliteratur des ausgehenden
18. Jh.s kann schärfer nicht ausfallen.
Die aufgeklärte Kinderliteratur beruhte auf zwei Prinzipien: Dämpfung
der Affekte, Leidenschaften und Triebe auf der einen, Zügelung der Einbil-
dungskraft und Fantasie auf der anderen Seite. Sie hatte es dementsprechend
mit zwei literarischen Hauptfeinden zu tun, die bei den jungen Lesern unver-
mindert Anklang fanden: zum einen mit den trivialen (höfischen) Liebesro-
manen, zu denen sich bald die Flut empfindsamer Romane gesellte, zum an-
deren mit der Literatur des Fantastisch-Bizarren, wozu die Märchen, Sagen
und Volksbücher, aber auch die trivialen Robinsonaden und Abenteuerer-
zählungen (à la Münchhausen) zählten. Die Romantiker machen sich zu
Anwälten just dieses tabuisierten literarischen Untergrunds; sie propagieren
eben das, was von der Aufklärung zur verbotenen Lektüre erklärt worden
war. Ineins damit stellen sie ein Axiom der aufgeklärten literarischen Kinder-
erzieher in Frage, das besagt, dass Kinder einer eigenen, speziell auf ihre Fä-
higkeiten abgestimmten Literatur bedürften. Dem volksliterarischen Unter-
grund ist eine solche Spezialisierung fremd; er ist für ein buntgemischtes Pu-
blikum bestimmt.
Die Infragestellung der etablierten Kinderliteratur des ausgehenden 18.
Jh.s durch die Romantiker kann grundlegender nicht sein. Von einer kinder-
literarischen Reform zu reden, geht hier nicht mehr an; es geht um die Ab-
schaffung ›spezifischer‹ Kinderliteratur schlechthin. Kein Wunder, eine solche
Opposition kann nur von außerhalb des Erziehungs- und Schulwesens kom-
men. Bei den Romantikern – auch den späten – handelt es sich durchweg
nicht um Pädagogen und ›Schulmänner‹, sondern um Literaten und Intellek-
tuelle, um schriftstellernde Juristen und Staatsbeamte. Es ist dies ein Novum
in der Geschichte der Kinderliteratur, dass sich Nicht-Pädagogen in einem
solchen Ausmaß in Fragen der Kinderliteratur einmischen. Die romantischen Der Dichter
Dichter fühlen sich hierzu aufgrund ihres Kindheitsverständnisses berufen, als Halbbruder
gelten ihnen Kindheit doch als eine selbst poetische Daseinsform, Kinder als der Kinder
geborene Poeten und Dichter als kindgebliebene Erwachsene. Der Dichter
vermag in ihren Augen als Halbbruder der Kinder eher das auszudrücken,
was das kindliche Gemüt bewegt.
Obwohl sie eine dezidierte Position zur Frage der Kinderlektüre haben,
denkt keiner der Frühromantiker daran, kinderliterarisch aktiv zu werden.
102 Romantik

Zweierlei Gründe lassen sich ausmachen: Der eine liegt im frühromantischen


Glauben an die ungebrochene Vitalität der Natur- bzw. Volkspoesie nicht
nur im einfachen Volk, sondern auch unter Kindern. Die aufgeklärte Reflexi-
onskultur, die in Deutschland ja erst im letzten Drittel des 18. Jh.s zu einer
breiteren volkspädagogischen Bewegung angewachsen war, habe diese Art
spontaner Poesie zwar in Misskredit gebracht und zurückgedrängt, sie in ih-
rer Wurzel jedoch nicht angreifen können. Man brauche Letzterer nur den
gehörigen Freiraum zu verschaffen, dann blühe sie von selbst auf. Künstlich
erzeugen, bewusst kreieren lasse diese Dichtung sich allemal nicht. So bleibt
den Frühromantikern als einzige Aktivität die Zurückdrängung der aufge-
klärten Volks- und Kinderpädagogik und ihrer literarischen Erzeugnisse.
Diesem Geschäft widmet sich insbesondere der junge Ludwig Tieck mit wah-
rem Feuereifer; er lässt keine Gelegenheit ungenutzt, die aufgeklärte Pädago-
gik mit Polemik, beißender Satire und offenem Spott zu überziehen. Er ver-
steigt sich gar zu der Aussage, dass die »Menschheit […] eigentlich nur an
diesen unberufenen Ärzten« kranke. Hier wird ein regelrechter publizisti-
scher Vernichtungsfeldzug inszeniert. Gewiss, es gibt seit Herders Sammlung
Stimmen der Völker in Liedern (1778/79) eine schmale, aber doch nicht ab-
reißende Serie folkloristischer Editionen, die gelegentlich auch volkstümliche
Kinderreime einschließen; doch richten diese sich durchweg an die Erwach-
senen der ›gebildeten‹ Schichten, die ja kaum noch eine Vorstellung davon
besitzen, was wahre Volkspoesie ist. Dem einfachen Volk und den Kindern
braucht man dies, so die frühromantische Annahme, nicht beizubringen.
Den zweiten Grund bildet die auf die Zukunft ausgerichtete Geschichts-
philosophie. Der Frühromantik gilt die Kindheit als mystische Vergegenwär-
tigung nicht bloß des Ursprungs, sondern auch des Telos der menschlichen
Geschichte. So unterscheidet sie zwischen einer ersten und einer zweiten,
Titelvignette von Philipp
höheren Kindheit, zu der der Erwachsene ›zurückkehren‹ soll. Geschichtsphi-
Otto Runge losophisch bezeichnet diese höhere Kindheit ein drittes Stadium der Mensch-
heitsgeschichte, auf das die gegenwärtige Menschheit hinstreben soll. Auf
dieser dritten Stufe werde sich die Harmonie des Ursprungs bzw. der ersten
Kindheit wieder einstellen. Die Erreichung der zweiten Kindheit soll dabei
für die Frühromantiker eben nicht aus einer Wiederannäherung an die erste
Kindheit hervorgehen, sondern im Gegenteil aus einer maximalen Entfernung
von ihr. Die unkindlichen Züge der Gegenwart, Reflexionsbildung und Intel-
lektualität, seien bis ins Extrem auszubilden; die zweite Kindheit, die neue
Naivität sollten mittels eines dialektischen Umschlags aus der zu Ende ge-
führten Moderne hervorgehen. Die Frühromantik ist von aller rückwärtsge-
wandten, sentimentalen Verehrung der ersten Kindheit weit entfernt; nur als
Symbol für das Ziel, für die Menschheitsutopie fesselt sie die Kindheit.
Spätromantik und Im spätromantischen Kontext entfallen beide Gründe. Die äußeren poli-
Kinderliteratur tischen Umstände in den ersten Jahrzehnten des 19. Jh.s – Zerfall des Deut-
schen Reiches, Krieg und napoleonische Okkupation – lassen den frühro-
mantischen Glauben an die ungetrübte Lebendigkeit der nationalen Folklore
als illusionär erscheinen. Dass Kinder im Kreise der Ammen und Dienstbo-
ten, unter dem Gesinde und auf der Straße gleichsam von selbst wieder zu
ihrer Poesie gelangen würden, scheint angesichts der weitreichenden Kriegs-
folgen und -zerstörungen ein frommer Wunsch zu sein. Die Spätromantiker
sehen die ›Naturpoesie‹, die nationale Folklore sowohl durch die Einwirkung
der modernen Verstandesbildung als auch durch die Kriegswirren vom Un-
tergang bedroht. Wenn sie beginnen, die noch greifbaren Reste der Volks-
dichtung zu sammeln und aufzuzeichnen, dann geschieht dies nicht mehr nur
mit dem Ziel, dem ›gebildeten‹ Teil der Nation eine Lektion in Poesie zu er-
Die romantische Kindheitsphilosophie 103

teilen. Jetzt steht mehr auf dem Spiel: Es geht um die Rettung einer folkloris-
tischen Tradition, zu der mittlerweile auch weite Teile des ›einfachen‹ Volkes
keinen lebendigen Kontakt mehr haben und die auch den Kindern der ›gebil-
deten‹ Schichten so ohne weiteres nicht mehr zugänglich ist. »Es war viel-
leicht gerade Zeit, diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewah-
ren sollten, immer seltner werden«, so heißt es in der Vorrede von 1812 zu
den Kinder- und Hausmärchen. Die Adressierung an die Gebildeten bleibt
bestehen; diese sollen mittels solcher folkloristischer Editionen die Bekannt-
schaft mit einem Kapitel »der Geschichte der Poesie« machen. Daneben aber
tritt in der Spätromantik die »Ansicht, daß die Poesie selbst, die darin leben-
dig ist, wirke: erfreue, wen sie erfreuen kann, und darum auch, daß ein ei-
gentliches Erziehungsbuch daraus werde«, wie es in der Vorrede der Brüder
Grimm von 1814 heißt. Erst in der Spätromantik werden also folkloristische
Sammlungen ausdrücklich auch als intentionale Kinderliteratur begriffen,
die dazu beitragen soll, dass Kinder zu ›ihrer‹ Poesie finden.
Beide Romantikergenerationen teilen ein und dieselbe Kindheitsauffassung: Kindheit und
Nähe zum Unendlichen, Selbstverständlichkeit des Wunderbaren, Einblick in Ursprung
die Geheimnisse der Natur und Reichtum der Fantasie – auch für die Spätro-
mantiker sind dies die Kennzeichen der kindlichen Geistesart. Auch die Ver-
knüpfung der Kindheit mit den mythischen Anfangsstadien der Menschheit
bzw. der Völker ist bei den Spätromantikern geläufig. So schreibt Jacob
Grimm: »der Anfang des einzelnen Menschen steht auf gleicher Linie mit dem
Anfang des Volkes.« Was er über die »alten Menschen« notiert, gilt uneinge-
schränkt auch für Kinder: »Die alten Menschen sind größer, reiner und heili-
ger gewesen, als wir, es hat in ihnen und über sie noch der Schein des gött-
lichen Ausgangs geleuchtet.« Diese Kindheitsauffassung aber steht bei den
Spätromantikern in einen gänzlich veränderten geschichtlichen Kontext: Der
frühromantische Utopismus, die chiliastische Endzeiterwartung haben sich
bei ihnen weitgehend verloren. Zum aufgeklärten Zeitalter haben sie deshalb
nicht schon ein besseres Verhältnis: Auch die Spätromantiker sehen in ihm
einen Abfall von der Höhe der geschichtlichen Anfänge. Sie zweifeln jedoch
daran, dass die Völker zur Größe ihrer mythischen Anfänge jemals zurückfin-
den könnten. Der Höhepunkt eines jeden Volkes liegt für sie in der Vergan-
genheit; alle Fortentwicklung kann ihnen nur ein Absinken bedeuten. Dies
muss keineswegs zu Resignation und Passivität führen. Auch wenn es nicht
mehr um die Realisierung einer radikalen Utopie geht, so kann einem wei-
teren Absinken der Zeit doch aktiv entgegengewirkt werden. Voranzutreiben
sind eine Rückbesinnung auf die Anfänge wie Festigung all der politischen,
sozialen und kulturellen Verhältnisse, die noch von ihnen zeugen. Herbeige-
führt werden müssten eine Abkehr vom aufgeklärten, traditionszersetzenden
Fortschrittsbegriff und eine Respektierung des historisch Gewachsenen.
Mit dem Verlust der Endzeitorientierung fällt auch die Vorstellung einer Kindheit als
zweiten Kindheit, der der Erwachsene entgegenstreben soll. Mit dem Austritt Mittlerinstanz
aus der Kindheit hat der Mensch eine Nähe zum Unendlichen aufgegeben,
die ihm fortan prinzipiell versagt bleibt. Im spätromantischen Denken ist der
Erwachsene aus dem Anspruchsbereich des Kindheitsideals entlassen, das für
ihn ein zu hochgestecktes Ziel darstellt. Die Kindheit – und zwar die erste –
bleibt ihm dennoch von höchster Bedeutung: Die in der Erinnerung verge-
genwärtigte eigene Kindheit wie die angeschaute, miterlebte Kindheit der
nachwachsenden Generation werden dem Erwachsenen zu einer Art Mittler-
instanz. Er partizipiert gleichsam am Transzendenzbezug eines anderen We-
sens und gewinnt so für sich doch noch eine, wenn auch mittelbare Verbin-
dung mit dem Göttlichen. Im Übergang von der Früh- zur Spätromantik
104 Romantik

wendet sich alle Aufmerksamkeit weg von der zweiten und hin zur ersten
Kindheit.
Dies schärft nicht zuletzt den Blick für die reale Situation der Kinder am
Beginn des 19. Jh.s. Wie es schon bei der nationalen Folklore der Fall war, so
erscheint der Spätromantik nun auch die Kindheit als gefährdetes Gut. Sie
sieht die Kinder frühzeitig schon in eine Verstandeskultur integriert und
einem Erziehungswesen unterworfen, die ihrem Wesen zuwider sind. Die
Bedrohung der Kindheit durch einen geisttötenden Rationalismus haben
Ludwig Tieck in Die Elfen (1811) und E.T.A. Hoffmann in Das fremde Kind
Romantische (1817) exemplarisch gestaltet. Die Entstellung der Kindheit durch den Zeit-
Pädagogik geist raubt in der Sicht der Spätromantiker dem Menschen einen nur als
Kind zu erlebenden Höhepunkt irdischen Daseins und liefert ihn damit voll-
ends einer transzendentalen Obdachlosigkeit aus. Die Erfahrung, dass auch
die Kindheit einer Rettung bedarf, treibt die Spätromantiker zu pädago-
gischer Aktivität. Dies ist die Geburtsstunde einer genuin romantischen
Pädagogik, die zunächst freilich ›negative Erziehung‹ in dem Sinne bleibt,
dass sie sich auf die Abwehr der äußeren Einflüsse der Verstandeskultur be-
schränkt, die den kindlichen Geist, seine Religiosität und seinen Wunder-
glauben zu zerstören drohen.

Kinderliteratur der Spätromantik

In der Reihe der kinderfolkloristischen Sammlungsprojekte der Spätroman-


tik macht der 1808 erschienene Kinderlieder-Anhang zum dritten Band von
Des Knaben Wunderhorn den Anfang. Es folgen 1812 – 1815 die Kinder-
und Hausmärchen von Jacob und Wilhelm Grimm, die 1819 ihre zweite, er-
weiterte Auflage erlebten. 1816 – 1818 kommen die Deutschen Sagen der
Brüder Grimm heraus, die älteren Kindern eine »stärkere Speise« sein sollten,
1818 die Mährchen und Jugenderinnerungen von Ernst Moritz Arndt. Auch
an Eigendichtungen hat es keinen Mangel: Seit 1806 arbeitet Clemens Bren-
tano an seinen Kindermärchen, den italienischen nach Giambattista Basile
und den Rheinmärchen, die freilich erst in den 40er Jahren publiziert wur-
den. 1813 kommen Friedrich Rückerts Versdichtungen Fünf Mährlein zum
Einschläfern für mein Schwesterlein heraus. 1816/17 legen Karl Wilhelm
Contessa, Friedrich de la Motte Fouqué und E.T.A. Hoffmann zwei Bände
mit selbstverfassten Kinder-Märchen vor. 1821 taucht das erste Lesebuch aus
romantischem Geist auf, Der Knaben Lustwald, dem 1822/23 Der Mägdlein
Lustgarten folgt; in ihnen ist neben volkstümlichen Kinderreimen, Märchen
und Sagen vornehmlich aus den Grimm’schen Sammlungen die Lyrik eines
Tieck, Arndt und Ludwig Uhland versammelt. Eine breite kinderliterarische
Tendenz ergibt dies alles im ersten Drittel des 19. Jh.s noch nicht; doch welch
eine Ballung von kinderliterarischen Werken, die bis heute an Aktualität
kaum eingebüßt haben!
Das volkskundliche Die romantische Wiederbelebung der nationalen Folklore als Kinderlitera-
und das dichterische tur wurde auf unterschiedliche Weise in Angriff genommen, so dass sich
Lager recht schnell zwei Lager herausgebildet haben, das volkskundliche mit den
Brüdern Grimm und das dichterische mit den Spätromantikern Achim von
Arnim und Clemens Brentano als ihren jeweiligen Häuptern. Einen zeitlichen
Vorsprung haben die Dichter und Wunderhorn-Herausgeber, die bereits im
Kinderliteratur der Spätromantik 105

ersten Jahrzehnt des 19. Jh.s der Volkspoesie ihre Aufmerksamkeit widmen.
Für Arnim und Brentano ist eine Rettung der vom Untergang bedrohten na-
tionalen Folklore nur wirksam zu vollziehen, wenn sie einer freien dichte-
rischen Bearbeitung unterzogen wird. Wiederbelebung bedeutet hier schöp-
ferische Nachdichtung durch einen zeitgenössischen Autor, wie dies schon
bei Ludwig Tieck dichterische Praxis war. Die volksliterarische Überlieferung
vermag in ihrer auffindbaren, fragmentarischen und beschädigten Gestalt die
zeitgenössischen erwachsenen wie kindlichen Leser nicht wirklich mehr zu
ergreifen, so lautet diese Position; sie bedarf einer poetischen Aktualisierung,
die in das überkommene und aufgegriffene folkloristische Gut moderne
kunstpoetische Elemente mischt, es auf behutsame Weise mit einem Stück
Zeitgeist versieht.
Im zweiten Jahrzehnt macht sich Achim von Arnim in Auseinandersetzung Arnim und Brentano
mit den Brüdern Grimm zum Verteidiger des dichterischen Lagers. Dass zwi-
schen der Volks- bzw. Naturpoesie und der Kunstpoesie, wie die Grimms
behaupten, eine unüberwindbare Kluft herrsche, bestreitet Arnim entschie-
den. Alle wirkliche Poesie sei eine Mischung aus beiden Elementen, und so
weise schon die archaische Volksdichtung kunstpoetische Züge auf, wie um-
gekehrt selbst die neueste Dichtung, soweit sie wahre Poesie sei, einen natur-
poetischen Kern in sich berge. Es ist, so Arnim 1813 in einem Brief an Jacob
Grimm, »keine absolute Naturpoesie vorhanden, es ist immer nur ein mehr
oder weniger in der Entwicklung beider«. Darüber hinaus seien beide die
Manifestation einer positiven schöpferischen Kraft. Auch wenn sie ohne
Rückgriff auf das kollektive Schaffen keine Poesie hervorbringen kann, so ist
die individuelle Kunstleistung bei Arnim doch nicht wie bei den Grimms ab-
gewertet. Deshalb muss Arnim auch die neueren Zeiten, in der Letztere ja
dominiert, nicht für poetisch gänzlich unproduktiv erklären. Nicht nur die
mythischen, sondern alle Zeitalter verfügen in seinen Augen, wenn auch in
unterschiedlichem Maße, über poetische Produktivkräfte. »So lange Gott
und seine Gedanken größer sind als der Mensch, wird es immer eine Poesie
geben und eine Möglichkeit der Erfindung, und eine Nothwendigkeit dazu.«
Wenn also ein zeitgenössischer Autor seinen individuellen Kunstverstand an
der überkommenen Folklore erprobt, dann fügt er ihr nichts Fremdes hinzu,
dann verunreinigt er sie nicht; er erzeugt für Arnim vielmehr die Balance
zwischen natur- und kunstpoetischen Elementen, die allein wahre Lebendig-
keit bedeutet und die in jedem Zeitalter aufs Neue herzustellen ist.
Arnims kinderliterarische Intention ist dementsprechend eine zweifache:
Es kann ihm nicht bloß darum gehen, das noch greifbare folkloristische
Lied-, Märchen- und Sagengut Kindern wieder zugänglich zu machen. Ihm
ist gleichzeitig daran gelegen, deren individuelle Schöpferkraft zu aktivieren,
deren Erfindungsgabe oder »Erfindsamkeit« anzuregen. »Die Hauptsache
ist, daß das erfindende Talent immerfort geweckt werde; denn nur darin geht
den Kindern eine freudige Selbstbeschäftigung auf.« Wie den Dichtern, so
muss auch den Kindern die Gelegenheit zu einer schöpferischen Aneignung
der folkloristischen Tradition gegeben werden. »Fixierte Märchen würden«,
so hält Arnim den Grimms entgegen, »endlich der Tod der gesamten Mär-
chenwelt sein.« Überlieferungstreue gehe allemal an der kindlichen Erzähl-
wirklichkeit vorbei: »das Kind erzählt schon anders, als es im selben Augen-
blick von der Mutter gehört«.
Zwischen freier kindlicher und freier dichterischer Aneignung der folklo-
ristischen Tradition ergibt sich allerdings ein Unterschied. Achim von Arnim
hat darauf kein sonderliches Augenmerk, doch wird dies in der Märchen-
dichtung Brentanos, später auch in der E.T.A. Hoffmanns, greifbar. Während
106 Romantik

Clemens Brentano.
Radierung Ludwig
Emil Grimm (1837)

Ludwig Achim von


Arnim (um 1808)

der kindliche Erfindungsgeist sich in der Aneignung der folkloristischen


Überlieferung weitgehend innerhalb ihres Horizontes bewegen und so bloß
Varianten produzieren dürfte, bringt der romantische Dichter ein modernes
Bewusstsein ins Spiel, das in der Welt der ›Volkspoesie‹ nicht mehr aufgehen
kann. Das Resultat ist eine von romantischer Ironie getragene Dichtung: eine
Kinderliteratur des doppelten Bodens, die auf einer vordergründigen Ebene
sich den Anschein von Unbekümmertheit und Naivität gibt, an einzelnen
Stellen jedoch ein dahinterliegendes modernes, eventuell gar unglückliches
und zerrissenes Bewusstsein hervorschimmern lässt. Über sein Märchenwerk
äußert Clemens Brentano: »ich hab es meist unter großem Leid geschrieben
und durfte das Leid nicht einmal merken lassen, und so hab ich kindlich ge-
tan zum Täuschen mit zerrissenem Herzen.« In der romantischen Kinder-
dichtung bleibt die Ironie stets unaufdringlich; ihr Spiel mit dem Naiv-Volks-
tümlichen ist kein destruierendes, sondern ein wehmütig-sentimentalisches.
So wird oft nur dem aufmerksamen erwachsenen Mitleser die untergründig
doch vorhandene moderne Bewusstseinshaltung erkennbar. Aus der wieder-
belebenden Nachdichtung der nationalen Folklore ist damit eine eigenstän-
dige Dichtung entstanden, der man das Prädikat ›modern‹ zusprechen darf.
In Tiecks Elfen-Märchen, Brentanos Märchenzyklen oder E.T.A. Hoffmanns
Kindermärchen etwa ist die romantische Kinderliteratur ein Teil der moder-
nen Dichtung zu Beginn des 19. Jh.s.
Brüder Grimm Die Gegenströmung kristallisiert sich in der Position der Brüder Grimm,
am reinsten in der des älteren Bruders. Wiederbelebung der nationalen Folk-
lore bedeutet hier Sammlung ihrer noch auffindbaren Reste, Aufzeichnung
der ältesten unter den zugänglichen Fassungen bei Ausmerzung erkennbarer
neuerer Zusätze. Alle jüngeren, erst recht alle modernen Hinzufügungen und
Umformungen gelten Jacob Grimm als Trübungen, als Verunreinigungen ei-
ner Dichtung, der er einen metaphysischen Charakter zuspricht. In einem
Brief an Achim von Arnim bekennt er, dass er »die Poesie der goldenen Zeit
für etwas höheres, erfreuenderes erkenne, als die der eisernen, worin wir le-
ben«. Der »Schatz unserer Geschichte und Poesie« sei ihm eben deshalb so
wertvoll; mit ihm würde »etwas göttliches verloren gehen«. Darum sei es
»recht, sich an ihn zu halten, und verzeihlich wenigstens, vor seinem Miß-
brauch, der ihn verunheiligt, sich zu viel zu fürchten«. Ihren Grund findet
Kinderlyrik 107

diese Auffassung in einer alternativen Theorie von Natur- und Kunstpoesie:


Für Jacob Grimm kann nur die aus kollektivem Schaffen hervorgegangene
Volkspoesie der mythischen Urzeiten als eine Dichtung des Absoluten gelten.
Das Aufkommen individueller Kunstfertigkeit beeinträchtigt deren metaphy-
sischen Gehalt, bedeutet Individualisierung für Grimm doch generell Abson- Volkspoesie
derung vom Ganzen, Partikularisierung und Verendlichung. Da die neueren
Zeitalter aller Formen kollektiven Schaffens verlustig gegangen seien, wür-
den sie keine echte poetische Produktivität mehr aufweisen. Bar einer eigenen
Dichtung des Absoluten, sind sie an die Überlieferung verwiesen. Die Rolle
eines Mittlers zum Unendlichen geht damit vom Dichter auf den archiva-
rischen Philologen über, der die poetischen »Denkmäler« der mythischen
Vorzeit möglichst rein zu konservieren sucht.
An der Förderung des »erfindenden Talents« bei Kindern, insofern hierun-
ter eine individuelle Kunstfertigkeit verstanden wird, kann Jacob Grimm
deshalb auch nicht gelegen sein, würde damit in ihnen doch nur ein auf die
Endlichkeit gerichteter Trieb geweckt. Als wahre Kinderliteratur kann für
Jacob Grimm nur eine Naturpoesie gelten, die bar aller kunstpoetischer Zu-
taten ist. Die von ihm betriebene »Fixierung« der Märchen und Sagen ist nur
ihre Abschirmung vor kunstpoetischer Manipulation. Ins Positive gewendet
heißt dies: Sie sollen als Hervorbringungen eines kollektiven Schaffens er-
kennbar bleiben. In ihnen soll eine unendliche Produktivität anschaubar sein,
die in den »eisernen Zeiten« versiegt ist. Mit Blick auf die Kinder geht es
freilich um mehr als bloße Anschauung: Insofern Kinder für Jacob Grimm
»auf gleicher Linie mit dem Anfang des Volks« stehen, kann in ihnen durch
die Begegnung mit reiner Naturpoesie diese unendliche Produktivität ange-
regt und belebt werden. Auch der Grimmschen Märchendidaktik geht es um
die Aktivierung schöpferischer Kräfte; es sind dies freilich andere als bei Ar-
nim, nämlich kollektive Schaffenskräfte, die allein auf das Unendliche ge-
richtet und in Kindern noch heute wirksam seien.

Kinderlyrik

In einem Brief Arnims an den Heidelberger Verleger Zimmer von November


1807 heißt es: »In der Arbeit, wo sich eine außerordentliche Zahl schöner
Kinderlieder fanden, entwickelten wir den Plan, sie zusammen als Anhang
zum Wunderhorn abdrucken zu lassen, so daß die ernsthaften Leser nichts
damit zu tun hätten und Sie den Vorteil des einzelnen Verkaufs.« Es handelte
sich um einen Vorschlag Brentanos, der dann auch den Kinderliederanhang
allein redigierte. Zu einer Verselbständigung des Anhangs kam es freilich
nicht; aus ihm ist kein direktes Kinderbuch geworden, wie überhaupt der
Absatz des Gesamtwerkes nicht groß war. Dennoch kann seine kinderlitera-
turgeschichtliche Bedeutung nicht hoch genug veranschlagt werden. Einzelne
Proben folkloristischer Kinderreime sind zuvor schon zur Publikation ge-
langt; der Wunderhorn-Anhang präsentiert sie jedoch in bislang unbekannter
Fülle (knapp 140 Texte) und einmaliger Vielfältigkeit. Er eröffnet mit einem
Schlage den Blick auf einen volksliterarischen Untergrund, über dessen
Reichtum sich die ›gebildete Welt‹ bislang keinerlei Vorstellung gemacht hat.
Zwar war geplant, dass kein Alter ausgeschlossen sein sollte; dennoch
zielt der Kinderliedanhang in seiner bunten Mischung und schillernden
108 Romantik

Mannigfaltigkeit eher auf den erwachsenen Leser, dem ein Panorama kinder-
literarischer Bräuche mit gelegentlichen Erläuterungen dargeboten wird. Von
einer strengen Anordnung kann keine Rede sein; dennoch lassen sich einzelne
Kreise ausmachen, in die sich freilich stets wieder anderes mischt. Nach
einem Eingangspart mit zwei Titel- und zwei ABC-Gedichten folgt ein Teil
mit vorwiegend jahreszeitlichen Brauchtumsliedern: Winteraustreibung,
Fastnacht, Sonntag Laetare, Johannistag, St. Nikolaus, Weihnachten und
Dreikönig (bis etwa S. 40 der Originalausgabenpaginierung = KL 40). Da-
zwischen ist manch anderes gestreut: etwa die Kinderpredigt »Ein Huhn und
ein Hahn,/ Die Predigt geht an« (KL 22), das Abendgebet »Abends wenn ich
schlafen geh,/ Vierzehn Engel bei mir stehn« (KL 27b), das übrigens Wilhelm
Grimm beisteuerte, und der bekannte Reim »Lirum Larum Löffelstiel« (KL
37). Der nächste Teil (bis KL 58) enthält Spielerisches wie Schwell- oder La-
winenreime, Parodistisches und Scherzhaftes wie die Kinderpredigt »Quibus,
Quabus,/ Die Enten gehen barfuß« (KL 53) und einige historische Reime.
Der dann folgende Part (bis KL 69) bringt vorwiegend eigentliche Kinderstu-
benreime: Wiegenlieder, Kniereiterverse, Kosereime, Morgen- und Abend-
lieder, darunter »Schlaf, Kindlein, Schlaf,/ Der Vater hüt die Schaf« (KL 59),
dessen Folgestrophen eine Eigendichtung Brentanos nach Motiven münd-
licher und schriftlicher Tradition darstellen, die Ammen-Uhr (KL 62), eben-
falls eine Eigendichtung Brentanos, das Wiegenlied »Eio popeio, was rasselt
im Stroh« (KL 66) und das Abendlied »Guten Abend, gute Nacht,/ Mit Ro-
sen bedacht« (KL 68c), das durch die Brahms’sche Vertonung populär ge-
worden ist. Es schließt sich ein Part mit Reimen aus dem Alltag der Kinder
an, untermischt mit Naturliedern (bis KL 83a). Hier finden sich »O Tanne-
baum, o Tannebaum!/ Du bist ein edler Reis« (KL 70b), »Kling, kling Glöck-
chen,/ Im Haus steht ein Böckchen« (KL 71 b), »Es tanzt ein Butzemann/ In
unserm Haus herum di bum« (KL 77c) und »Storch, Storch, Langbein« (KL
82a). Der letzte der erkennbaren Kreise bietet vornehmlich Spiellieder, Ab-
zählverse, Ringelreihen, Tanzlieder, Liebeslieder und schließt mit Scherzrei-
men und Gelegenheitsversen.
Kinderliterarischer Betrachtet man den Kinderliederanhang nicht unter volkskundlichen, son-
Paradigmenwechsel dern unter kinderliteraturgeschichtlichen Gesichtspunkten, dann zeigt sich,
dass mit ihm ein kinderlyrischer Paradigmenwechsel eingeleitet ist. Die
volkstümliche Kinderlyrik des Wunderborn ist primär eine laut- und sprach-
spielerische Lyrik, bei der die Sinnvermittlung eine untergeordnete, eine
zweitrangige Rolle spielt. »Die Herrschaft der Form und der Formel über
den Sinn«, so Emily Gerstner-Hirzel, »ist wohl das Hauptmerkmal des von
Kindern oder für Kinder gedichteten Volksliedes«. Das imitierende oder freie
Spiel mit Lauten ist einer der Ursprünge des Kinderreims; er kennt unzählige
Schall- und Geräuschimitationen, Nachahmungen von Tierstimmen, die sich
in ihm zu feststehenden Lautformeln verdichten. Einen weiteren Ursprung
stellen rhythmische Bewegungen und Tätigkeitsabläufe dar, die sich im
Sprachrhythmus des Liedes reproduzieren und von hier aus stabilisierend auf
die körperlichen Bewegungsabläufe zurückwirken; man denke nur an die
Wiegenlieder, an Kniereiter- und Schaukelreime, an Tanzlieder und
Marschreime. In beiden Fällen sind die Körperlichkeit, die lautlich-rhyth-
mische Materialität der Sprache selbst das entscheidende Ausdrucksmedium;
es ist dies ein Umgang mit Sprache, der dem Kleinkind schon geläufig ist.
Auch auf höheren Ebenen bleibt die Sprache in ihrer Materialität Thema des
Kinderreims: Im Schnellsprechvers geht es um die Gelenkigkeit des Ausspre-
chens, im Neckmärchen um das Spiel mit den elementarsten narrativen
Schemata, in den verschiedensten Parodien um den spielerischen Umgang
Kinderlyrik 109

Frontispiz zum Anhang


von Des Knaben
Wunderhorn – entworfen
von Clemens Brentano,
gestochen von Ernst
Ludwig Grimm

Titelkupfer zum 2. Band


von Des Knaben
Wunderhorn

mit Redeformen wie etwa der Predigt. Deutlich wird, wie mit der roman-
tischen Entdeckung des volkstümlichen Kinderreimes das Kleinkind als kin-
derliterarischer Adressat erobert wird. Es ist das Kind, das mit dem Spra-
cherwerb beschäftigt ist und noch ein vieldeutiges, spielerisches Verhältnis
zur Sprache hat. Die Wörter gelten der neuen Kinderlyrik nicht mehr primär
als Zeichen, sondern als farbige Lautkörper, Sprache als buntschillerndes
Material, in dem etwas abgebildet, mit dem etwas imitiert, musikalisch
gleichsam dargestellt, mit dem schließlich ganz zwecklos gespielt werden
kann.
Eine weitere kinderliteraturgeschichtlich bedeutsame Publikation am Be- Friedrich Rückert
ginn des Jahrhunderts sind Friedrich Rückerts Fünf Mährlein zum Einschlä-
fern für mein Schwesterlein, 1813 in Coburg erschienen. Hier wird roman-
tische Zersetzungsarbeit an Mustern aufgeklärter Kinderliteratur betrieben.
Das Mährlein vom Büblein, das überall mitgenommen hat seyn wollen, ist
recht besehen eine moralische Abschreckgeschichte. Doch bereits die volks-
liedartige Vortragsweise mit ausgeklügeltem Doppelrefrain lässt dies ganz
zurücktreten. Der Refrain erweist sich als das eigentliche lyrische Zentrum;
jede neue Situation scheint nur erfunden zu sein, um erneut in den Refrain
einzustimmen: »Es sagt: Ich kann nicht mehr;/ wenn nur was käme,/ Und
mich mitnähme!« Endlos könnte es weitergehen: Abrupt und drastisch ist
deshalb der Schluss: das Büblein wird gehängt. Ob es auch tot sei, fragt das
zuhörende Kind in Erwartung einer Abschreckgeschichte. Es erhält zur Ant-
wort: »Nein! es zappelt noch:/ Morgen gehn wir ’naus und thuns runder.« Es
war also nichts als ein Spaß! Direkter noch wird in einem anderen Stück das
althergebrachte fabula docet unterlaufen und parodiert: »Das Mährlein ist
aus./ Was ist denn das? Ein Weihnachtsspaß«. Die Rückertschen Mährlein
sind eben nicht zur moralischen Belehrung, sondern bloß zum »Einschlä-
fern« gedacht. Nicht auf das Was und Wozu kommt es hier an, sondern auf
110 Romantik

das Erzählen selbst in seiner entspannenden, beruhigenden Wirkung, die bei


Rückert entscheidend vom Erzählton und -rhythmus ausgeht.
So wenig das Wunderhorn selbst ein publizistischer Erfolg war, so ist seine
Kinderlyrik- (nicht nur) kinderlyrische Wirkung doch immens. Bereits 1815 erscheint in
Anthologien Hamburg ein Band Dichtung aus der Kinderwelt. Altherkömmliche Lieder,
Erzählungen, Lehren und Singspiele für Kinder mit insgesamt 70 Stücken,
der nahezu ausschließlich Kinderreime aus dem Wunderhorn-Anhang ent-
hält. Diese Dichtungen, so heißt es im Vorwort, »sind eben so lieblich und
hold, so heiter, einfach und schuldlos, als es die Kinderseelen selber sind«.
Sodann werden die Mütter ins Spiel gebracht: »Herzliche Mütter haben ge-
wiß diese Dichtungen auch erzeugt; wenigstens wäre für weiblichen Geist,
welcher zu dichten sich versucht fühlte, dieser Kreis und diese Art solcher
Erzeugnisse ohne Zweifel die Vorzüglichen und eigentlicher als andere.« Der
Band ist sowohl an Kinder wie Erwachsene adressiert: Die Dichtungen seien
»Lust und Freude der Kinderwelt« und behielten gleichzeitig »für jedes fol-
gende Alter einen wunderbaren Reiz«. Der größere Teil der Reime solle über
die Eltern an die Kinder gelangen; ein kleinerer gehöre ihnen unmittelbar an.
Ab den 20er Jahren erscheinen eine Vielzahl von Kinderreim-Anthologien
für das früheste Alter, die zumeist für die Hände der Mütter bestimmt sind.
Eines der frühen Beispiele hierfür ist Heinrich Dittmars Der Kinder Lustfeld,
oder erste belebende Mittheilungen der Mütter an ihre Kleinen, zugleich als
erstes Unterhaltendes Lesebuch für Kinder von 1827. Das Buch ist für Kin-
der gedacht, »die in den ersten sechs Lebensjahren stehen«. Zuerst gehöre es
»in die Hand der Mutter, daß sie daraus ihren kleinen Kindern vorsinge,
vorspreche oder vorerzähle«. Für die »kleine Kinderwelt« sei bislang wenig
Geeignetes gedichtet worden; insbesondere werde man »beim Nachsuchen
in den eigenen Werken unserer eigentlichen Jugendschriftsteller häufig mit
Schmerzen gewahr, daß unsere Zeit weder zu noch von Kindern recht spre-
chen kann, wie denn auch in den meisten Kinderstuben kein Kinderleben
mehr zu spüren ist«. Hier bleibe nur der Rückgriff auf die »Volksdichtung,
»Mutterschulen« die durch ihren offenen Sinn für unverkünstelte Natur und durch ihre Leben-
digkeit in Auffassung und Ausdruck dem wahren Kinderleben und Kinder-
treiben am nächsten steht«. Dittmar hat nicht nur das Wunderhorn und an-
dere Volksliedsammlungen ausgewertet, sondern auch Dichterverse darunter
gemischt (Herder, Goethe, Tieck, Rückert u. a.). Ein weiteres Beispiel ist Fr.
Köhlers 1840 in Berlin erschienene dreiteilige Mutterschule, deren erster Teil
den Titel trägt: Muttertändeleien. Uebergang durch Spiel zu ernsten Beschäf-
tigung und Anweisung zu beiden. Das Werk ist ein Ratgeber für Mütter und
eine kinderlyrische Textsammlung in einem. Eine reine Kinderreim- und Ge-
dichtanthologie stellt demgegenüber Fr. R. Mühlbachs Kinder-Frühling. Eine
Sammlung von Sprüchen und Liedern für das Zarte Kindesalter dar, 1843 in
Augsburg herausgekommen. »Ich habe mich bestrebt«, so der Herausgeber,
»für Mütter, Großmütter und Wärterinnen hier Material zusammenzutragen,
womit sie die zarten Herzen der Kinder beschäftigen und unterhalten kön-
nen.« Exemplarisch sei in diesem Fall die Gliederung aufgeführt: »Wiegen-
lieder. Tändeleien, Ammensprüche und Lieder für die ersten Kinderjahre.
Reiterlieder. Ringelreihen und Tanzlieder. Spiele und Spielreime. Zum Nach-
und Schnellsprechen. Lieder und Sprüchlein für das erste Kindesalter. Verkehr
mit der Natur. Erzählendes, Mährchen und Fabeln. Tages- und Jahreszeiten,
Feste. Räthsel. Gebete und Zusprüche.«
Neben die zahlreichen ›Mutterschulen‹ treten, ebenfalls angeregt durch
und in Berufung auf das Wunderhorn, dezidiert volkskundliche Kinderreim-
Anthologien, ausgerichtet oft auf eine Region bzw. einen Dialekt. Die Her-
Märchensammlungen 111

ausgeber haben selbst volksläufige Kinderreime gesammelt und aufgezeich-


net, schriftliche Quellen aber auch nicht außer Acht gelassen. Ein frühes
Beispiel sind die von Heinrich Smidt zusammengetragenen Kinder- und Am-
men-Reime in plattdeutscher Mundart, in Bremen publiziert. »Sprachfor-
scher, Historiker, Beflissene der Volks- und Menschenkunde erhalten [...] ein
in dieser Zurichtung wenigstens noch niemals ihnen dargebotenes Feld für
ihre Untersuchungen.« Zugleich aber wird betont: »junge, ungeübte Ältern,
die irgend Werth auf ›tagen, baren Bremer Kinner‹ legen, werden eine Gabe
willkommen heißen, wie gemacht für ihren Handgebrauch zur ersten Be-
schäftigung der Kinderphantasie.« Auf den elsässischen Raum bezogen ist
August Stöbers Elsässisches Volksbüchlein. Kinderwelt und Volksleben, in
Liedern, Sprüchen, Räthseln, Spielen, Märchen, Schwänken, Sprichwörtern
u.s.w., mit Erläuterungen und Zusammenstellungen, einem Sachregister und
einem Wörterbuch, 1842 in Straßburg erschienen. Stöber beklagt den Unter-
gang jener farbenprächtigen alten Welt, die den Nährboden dieser Dich-
tungen abgab; wir wollen, so heißt es im Vorwort, »als Zeichen und Zeugen
jener entschwundenen Zeit, diese Sprüche, Reime, Liedlein und Märchen
noch einmal um uns versammeln [...] und ihnen, als lieben Todten, ein be-
scheidenes Denkmal setzen«. Zum Standardwerk mit überregionaler Aus-
strahlung wurde schließlich Karl Simrocks Das deutsche Kinderbuch. Alther- Simrocks »Deutsches
kömmliche Reime, Lieder, Erzählungen, Uebungen, Räthsel und Scherze für Kinderbuch«
Kinder, 1848 in Frankfurt/Main erschienen. Im Vorwort zur erheblich ver-
mehrten zweiten Auflage von 1857, die es auf rund 1300 Texte gebracht hat,
schreibt August Corrodi: »ich behaupte: diese Sammlung ist ein Compen-
dium der Kinderweltgeschichte. Dies ›Kinderbuch‹ umfaßt die Jugend von
uns allen.« Erwähnung verdient abschließend die 1858 in Leipzig erschie-
nene Sammlung plattdeutscher Reime Voer de Goern. Kinderreime alt und
neu von Klaus Groth.
Mit der romantischen Entdeckung des volkstümlichen Kinderreims eröff-
net sich mit einem Schlage ein ganzer lyrischer Kosmos. Im Kinderreim ge-
langt kindliches Erleben in seiner ganzen Breite zur Sprache; seine Gattungs-
vielfalt ist dementsprechend immens. Daneben tut sich eine ungeheuere
funktionale Vielfalt auf. Die Romantik lenkt den Blick auf das poetische Be-
nennen als solches, das absichtslose Aussprechen von Stimmungen, die ent-
lastende Wirkung des Sprachspiels, die Lust an der Stimmen- und Geräuschi-
mitation und dergleichen mehr. Alles in allem haben sich hier eine enorme
Ausweitung und Verbreiterung der Kinderliteratur vollzogen – nicht nur in
thematischer, formaler und funktionaler Hinsicht, sondern auch mit Blick
auf das Publikum: Nun sind auch die Jüngeren und Allerjüngsten offiziell als
Teilhaber am sanktionierten kinderliterarischen Diskurs zugelassen.

Märchensammlungen

Die Gleichzeitigkeit von volkskundlicher und kinderliterarischer Intention Die »Kinder- und
ist charakteristisch auch für die Kinder- und Hausmärchen (1812/15, 2. Aufl. Hausmärchen« und
1819) von Jacob und Wilhelm Grimm. Die streng volkskundliche Haltung die kinderliterarische
der Brüder Grimm erwächst aus ihrem geradezu religiösen Enthusiasmus für Position der Brüder
die »Naturpoesie«. »Ist es aber nicht ein großer Trost«, so Jacob, »daß wir Grimm
Bibel, Geschichte und alte Denkmäler haben?« Der »Schatz unserer Ge-
112 Romantik

schichte und Poesie« sei unersetzbar. Die Grimm’sche ›Treue‹ der Wiedergabe
darf nicht an den Aufzeichnungspraktiken der modernen Folkloristik gemes-
sen werden. Das von den Grimms Gemeinte lässt sich in drei Maximen aus-
drücken: In die episch-fiktionale Welt der überlieferten folkloristischen Texte
dürfen erstens keine modernen, märchenfremden Elemente eingefügt wer-
den; das Handlungsschema des Märchens müsse zweitens in seiner Einfach-
heit respektiert, es dürfe nicht über die Maßen erweitert und verästelt wer-
den; die Geschichte müsse schließlich drittens der Zweck bleiben und nicht
zu einem bloßen Anlass eines Erzählens herabsinken, das sich in seiner Virtu-
osität zum Selbstzweck wird. Innerhalb dieses Rahmens ist es für die Brüder
Grimm durchaus denkbar, dass ein und dasselbe Märchen unterschiedlich
vorgetragen wird.
Märchen als Je treuer die »alten Märchen« aufbewahrt werden, umso mehr enthalten
Naturpoesie sie für die Grimms an »Kinderwahrheit«; denn »diese Wahrheit ist am Ende
eine der alten Menschen«. Die Kindheit kenne wie die Anfangsstadien des
Volkes noch keinerlei Vereinzelung und Individuation; es handele sich beide
Male um ein Leben aus dem Geist des Ganzen. Die Kinder und die Menschen
der Urzeit seien noch ganz von der Sitte getragen. Ihr Agieren sei bar jeder
individuellen Kunstabsicht; es trage Züge eines »Sich-von-selbst-Machens«
und gewinne durch diese Art von Unwillkürlichkeit seine Gültigkeit und
Festigkeit. In eben diesem Sinne ist für Jacob auch die Naturpoesie ein »Sich-
von-selbst-Machen«; bei ihr gebe es keine »Zubereitung«, könnten »keine
Werkstätten oder Überlegungen einzelner in Betracht kommen«. Die »alte
Poesie hat eine innerlich hervorgehende Form von ewiger Giltigkeit«. Die
alten Märchen, so heißt es in der Vorrede von 1812, leben, wo sie noch da
sind, »so, daß man nicht daran denkt, ob sie gut oder schlecht sind, poetisch
oder abgeschmackt, man weiß sie und liebt sie, weil man sie eben so empfan-
gen hat, und freut sich daran ohne einen Grund dafür, so herrlich ist die
Sitte.« »Was so mannigfach und immer wieder von neuem erfreut, bewegt
und belehrt hat, das trägt seine Nothwendigkeit in sich, und ist gewiß aus
jener ewigen Quelle gekommen, die alles Leben bethaut.« Es sei die »selig«
in sich ruhende, selbstvergessene und absichtslose Daseinsform, die die alten
Märchen Kindern wesensgemäß sein lasse. »Innerlich geht durch diese Dich-
tungen dieselbe Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und
seelig erscheinen.«

Frontispiz zum 2. Band


der 2. Auflage der Kinder-
und Hausmärchen der
Brüder Grimm, von
Ludwig Emil Grimm

Blütenumrahmter Titel
zum 1. Band, von
Ludwig Emil Grimm
Märchensammlungen 113

In der Vorrede zu den Deutschen Sagen von 1816 suchen die Grimms
zwischen Märchen und Sage zu differenzieren und ordnen dabei jene der
Kindheit, diese dem Jugendalter zu. Jede dieser volkstümlichen Erzähl-
gattungen habe ihren eigenen Kreis: »Das Märchen ist poetischer« und damit
der selbst poetischen Daseinsweise der Kinder verwandt. Es »stehet beinahe
nur in sich selber fest, in seiner angebotenen Blüte und Vollendung«. Dem
korrespondiert die romantische Auffassung, dass Kinder, mit der Wirklich-
keit noch wenig vertraut, ganz aus ihrem inwendigen, auf die Erde mitge-
brachten Reichtum leben. Diese kindliche Abgehobenheit vom diesseitigen
Leben, dieses »selige« Verklärtsein spiegeln sich für die Grimms im Märchen Doppelbildnis Jacob und
wider. »Die Mährchen also sind theils durch ihre äußere Verbreitung, theils Wilhelm Grimm.
ihr inneres Wesen dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer kindlichen Radierung von Ludwig
Weltbetrachtung zu fassen, sie nähren unmittelbar, wie die Milch, mild und Emil Grimm (1834)
lieblich, oder der Honig, süß und sättigend, ohne irdische Schwere.« Die
Sage hingegen sei »historischer«, dabei »von einer geringeren Mannichfaltig-
keit der Farbe«, ihr Spezifikum bestehe darin, »daß sie an etwas Bekanntem
und Bewußtem hafte, an einem Ort oder einem durch die Geschichte gesi-
cherten Namen«. Dem entspreche das zunehmende Vertraut-Werden der aus
der Kindheit Herauswachsenden mit Lebensraum, Geschichte und Gesell-
schaft. Die Sagen dienen in den Augen der Grimms »schon zu einer stärkeren
Speise«, tragen »eine einfachere, aber desto entschiedenere Farbe« und for-
dern »mehr Ernst und Nachdenken«. Gemeinsam jedoch ständen Märchen
und Sagen als Gattungen des Wunderbaren der Geschichtsschreibung gegen-
über. »Der Geschichte stellen sich beide, das Mährchen und die Sage, gegen-
über, insofern sie das sinnliche natürliche und begreifliche stets mit dem un-
begreiflichen mischen, welches jene, wie sie unserer Bildung angemessen er-
scheint, nicht mehr in der Darstellung selbst verträgt.«
Jacob und Wilhelm Grimms Idee einer absichtslosen, naturpoetischen Naturpoetische
Kinderliteratur stellt zwei Grundelemente der Kinderliteratur des 18. Jh.s in Kinderliteratur
Frage: ihren belehrenden Zug und ihren Charakter als spezifische Kinderlite-
ratur. »Die alte Poesie ist unschuldig und weiß von nichts; sie will nicht leh-
ren, d. h. aus dem einzelnen auf alle wirken, oder fühlen, d. h. die Betrachtung
des weiten Ganzen der Enge des Einzelnen unterstellen.« Zurückgewiesen
wird hier die moderne Form der Belehrung, die sich von der Lebenspraxis
separiert hat und zum ausgeklügelten Geschäft eines hierauf spezialisierten
Berufsstands geworden ist. Die Rede ist vom modernen, gesellschaftlich aus-
differenzierten und spezialisierten Erziehungs- und Bildungswesen. Lehrhaft
ist für die Grimms freilich auch die überlieferte Naturpoesie: Aus den alten
Märchen ergebe sich »leicht«, so heißt es in der Vorrede von 1812, »eine
gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart«. Allerdings war es »weder
ihr Zweck, noch sind sie darum erfunden, aber es erwächst daraus, wie eine
gute Frucht aus einer gesunden Blüthe ohne Zuthun der Menschen. Darin
bewährt sich jede ächte Poesie, daß sie niemals ohne Beziehung auf das Le-
ben seyn kann, denn sie ist aus ihm aufgestiegen und kehrt zu ihm zurück.«
Gemeint ist hier eine Form der Belehrung, die vom Ganzen, vom in der Sitte
wurzelnden Lebensprozess selbst ausgeht und die in der unmittelbaren Teil-
nahme an diesem gleichsam wie von selbst empfangen wird. Die Grimms
haben hier unverkennbar etwas dem mittelalterlichen Lehrverhältnis Ana-
loges im Auge, eine Form des Lernens durch direkte Teilnahme am Lebens-
vollzug.
Mit der Idee einer vom sittlichen Ganzen ausgehenden Belehrung unver-
einbar ist die Vorstellung einer nach Zielgruppen aufgefächerten und spezia-
lisierten Unterweisung. Die Ausrichtung auf einen bestimmten Adressaten-
114 Romantik

kreis widerstreitet einer Naturpoesie, wie sie die Grimms begreifen, von
Grund aus. In einem Brief an Achim von Arnim vom 28. Januar 1813 schreibt
Jacob: »Sind denn diese Kindermärchen für Kinder erdacht und erfunden?
ich glaube dies so wenig, als ich die allgemeinere Frage nicht bejahen werde:
ob man überhaupt für Kinder etwas eigenes einrichten müsse?« Auch für
Kinder sei echte Belehrung nur denkbar als erwachsend aus der uneinge-
schränkten Teilhabe am Ganzen und allen seinen Überlieferungsweisen.
»Was wir an offenbarten und traditionellen Lehren und Vorschriften besit-
zen, das erfragen Alte wie Junge, und was diese davon nicht begreifen, über
das gleitet ihr Gemüth weg, bis dass sie es lernen.«
Von hier aus lässt sich der im Titel der Sammlung enthaltene doppelte
»Hausmärchen« Zusatz begreifen, der von den Grimms nicht disjunktiv verstanden wird. Ar-
nim schlug mit Blick auf die kindlichen Rezipienten einen Zusatz auf dem
Titelblatt vor: »für Ältern zum Wiedererzählen nach eigener Auswahl«; denn
nicht alle »Hausmärchen« seien auch »eigentliche Kindermärchen«. Jacob
lehnt dies ab: »Der Unterschied zwischen Kinder- und Hausmärchen und der
Tadel dieser Zusammenstellung auf unserem Titel ist mehr spitzfindig als
wahr, sonst müßten streng genommen die Kinder aus dem Haus gebracht,
wohin sie von jeher gehört haben, und in einer Cammer gehalten werden.«
Mit der Rede vom »Haus« ist ganz offenkundig die alteuropäische große
Haushaltsfamilie gemeint, in der die Kinder noch nicht eine separate Gruppe
bilden, in der sie vom Wirtschaften und Feiern, von der gemeinsamen Unter-
haltung noch nicht ausgeschlossen sind. Wie diese Hausgemeinschaft ein
Ganzes ist, so soll auch die Märchensammlung ungeteilt allen im Hause zu-
kommen.
Die Rezeptionssituation, wie sie sich die Grimms hier vorstellen, ist zu
Beginn des 19. Jh.s jedoch längst im Untergang begriffen. Was die beiden
Herausgeber als Schreckensbild an die Wand malen, die Separierung der
Kinder in »Cammern«, hat längst schon begonnen. Wer sich vor »Mißver-
ständnissen, Mißbräuchen« fürchte, so Jacob, der »binde dem Kinde die
Augen zu und hüte seiner den ganzen Tag, daß es seine unschuldigen Blicke
nicht auf alles andere werfe, was es ebenso verkehrt oder schädlich nachah-
men würde«. So einnehmend das Vertrauen der Grimms in den »mensch-
lichen Sinn« des Kindes, der es vor allen Gefahren bewahren werde, auch ist,
ihre Märchensammlung haben sie dennoch auf eine letztlich utopische Re-
zeptionssituation hin konzipiert. Die faktische Entwicklung der bürgerlichen
Gesellschaft zu Beginn des 19. Jh.s gibt nicht ihnen, sondern Arnim recht, so
sehr man dies aus heutiger Sicht bedauern mag.
Dass sie den Zeitläuften zuwider handeln, spüren die Grimms durchaus;
Bearbeitung der doch bleiben sie standhaft – für eine Weile jedenfalls. Den Grundsatz, dass
Märchen die überlieferten Märchen als ein naturpoetischer Schatz ganz und ungeteilt,
d. h. auch: unbearbeitet, unzensiert und ungeglättet, Kindern in die Hände
gelegt werden sollen, sind sie vorerst in allen Konsequenzen zu tragen bereit.
Eingriffe lehnen sie auch bei zotigen Stellen, bei derben erotischen oder sexu-
ellen Anspielungen ebenso ab wie bei Passagen von mitunter ungeheuerlicher
Grausamkeit. Bereits Anfang 1813 beschwert sich Arnim brieflich: »Schon
habe ich eine Mutter darüber klagen hören, daß das Stück, wo ein Kind das
andere schlachtet, darin sei, sie könnt es ihren Kindern nicht in die Hand
geben.« Wilhelm antwortet: »ich glaube man darf nicht anders hier denken,
als daß den reinen alles rein sei und fruchtbringend, ganz allgemein genom-
men.« Später repliziert er in Bezug auf ein zotiges Stück: »Was das Märchen
von dem Fuchs mit den neun Schwänzen betrifft, so glaub ich, daß es Kinder
ebenso unschuldig hören, als Frauen erzählen.« Auch Jacob bleibt fest: »Ich
Märchensammlungen 115

glaube, daß alle Kinder das ganze Märchenbuch in Gottes Namen lesen und
sich dabei überlassen werden können.«
Diese Position ist zu Beginn des 19. Jh.s kinderliterarisch schlicht nicht zu
halten. Sie wird denn auch Schritt für Schritt aufgegeben, je mehr Jacob sich
zurückzieht und Wilhelm allein die weitere Betreuung der Märchensamm-
lung überlässt. Mit der Vorrede zur zweiten Auflage von 1819 setzt das
Rückzugsgefecht ein: »Wir suchen [...] nicht jene Reinheit, die durch ein
ängstliches Ausscheiden alles dessen, was Bezug auf gewisse Zustände und
Verhältnisse hat, wie sie täglich vorkommen und auf keine Weise unverbor-
gen bleiben können und sollen, erlangt wird, und wobei man in der Täu-
schung ist, daß was in einem gedruckten Buche ausführbar, es auch im
wirklichen Leben sey.« Ein nochmaliges Auflehnen zweifelsohne, doch folgt
stehenden Fußes die Kapitulation: »Dabei haben wir jeden für das Kindesal-
ter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage gelöscht. Sollte man
dennoch einzuwenden haben, daß Eltern eins und das andere in Verlegenheit
setze, und ihnen anstößig vorkomme, so daß sie das Buch Kindern nicht ge-
radezu in die Hände geben wollten, so mag für einzelne Fälle die Sorge recht
seyn, und dann von ihnen leicht ausgewählt werden, im Ganzen, das heißt,
für einen gesunden Zustand, ist sie gewiß unnöthig.« Wilhelm bleibt keine
andere Wahl, als aus den aufgezeichneten Volksmärchen nach und nach »ei-
gentliche Kindermärchen« zu machen. Mit der »Kleinen Ausgabe« von 1825,
die 50 speziell für Kinder geeignete Stücke enthält, ist schließlich auch die
grundsätzliche Ablehnung aller speziellen Kinderliteratur praktisch zurück-
genommen. Auch äußerlich hat sich die »Kleine Ausgabe« dem Kinderbuch
des frühen 19. Jh.s angepasst: Sie ist mit sieben Kupferstichen nach Entwür-
fen des Bruders Ludwig Emil Grimm versehen.
Wie das Wunderhorn, so sind auch die Kinder- und Hausmärchen stil- Nachfolger der
und gattungsbildend geworden. Von den im 19. Jh. erschienenen Märchen- »Kinder- und
sammlungen, die in der Tradition des Grimm’schen Werkes stehen, seien an Hausmärchen«
dieser Stelle nur einige genannt. Als »das erste norddeutsche Märchenbuch«
verstehen sich Heinrich Pröhles 1853 in Leipzig erschienene Kinder- und
Volksmärchen. Der Herausgeber hat die Märchen »meist auf dem Oberharze
im Volke gesammelt«, ansonsten aus »benachbarten niedersächsischen Or-
ten« erhalten. Ein Jahr später erschienen in Halle Pröhles Märchen für die
Jugend, versehen mit einer Widmung an Wilhelm Grimm und einer Abhand-
lung Über den ethischen Gehalt der Märchen. Ebenfalls 1854 erschienen in
Regensburg die Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland, gesammelt
von den Südtiroler Brüdern Ignaz Vinzenz und Joseph Zingerle. 1869 kamen
in Aarau die von Otto Sutermeister gesammelten Kinder- und Hausmärchen
aus der Schweiz heraus. Die Kontroverse um das Märchen als Kinderlektüre
hält auch in der zweiten Jahrhunderthälfte an. Sutermeister sucht den Mär-
chengegnern die Harmlosigkeit des kindlichen Märchenkonsums zu bewei-
sen: »Das Kind glaubt eben an jene Feen, Zauberer und Waldmenschen, wie
es an Steckenpferd und Puppe glaubt [...]; aber wenn es wieder entlassen ist
aus diesem Zauberkreis und dem gewöhnlichen Thun des Tages zurückgege-
ben, da verblassen diese Bilder vor anderen Eindrücken im Bewußtsein.«
In diese Traditionslinie wird gemeinhin Ludwig Bechsteins Märchenbuch
eingerückt. Es erschien 1845 unter dem Titel Deutsches Märchenbuch in
Leipzig. Nach 10 Stereotyp-Ausgaben kam es 1853 als Ludwig Bechstein’s
Märchenbuch heraus, um zahlreiche Stücke erweitert und mit 171, 1857
dann mit 187 Holzschnitten nach Originalzeichnungen von Ludwig Richter
versehen. In dieser Aufmachung gewann es in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s
eine außerordentlich große Popularität, die übrigens die Wirkung der Kin-
116 Romantik

Titelblatt der Erstausgabe


von Gockel, Hinkel und
Gakeleia (1838) von
Clemens Brentano

Ludwig Bechstein’s
Märchenbuch.
Holzschnitt von
Ludwig Richter
für die Ausgabe 1853

der- und Hausmärchen weit übertraf. Erst zu Beginn des 20. Jh.s trat die
Bechstein’sche wirkungsmäßig hinter die Grimm’sche Märchensammlung
zurück. Die landläufige Einordnung von Bechsteins Märchenbuch ist jedoch
höchst problematisch. So groß die volkskundlichen Leistungen Bechsteins
auf dem Gebiet der Sagenaufzeichnungen auch sind, ein Märchensammler ist
er ganz und gar nicht. Unter seinen zahlreichen folkloristischen Editionen
ragt das Märchenbuch dadurch heraus, dass es überwiegend nach litera-
rischen Quellen – Sammlungen des 16. und 17. Jh.s wie zeitgenössische
Volksmärcheneditionen – gearbeitet ist und zudem noch zahlreiche Eigen-
dichtungen von Zulieferern enthält. Auch stilistisch hat die Bechstein’sche
Kunst des Märchenerzählens mit der von den Grimms ausgehenden roman-
tisch-folkloristischen Traditionslinie wenig gemein: Seine Erzählweise zielt
auf den komischen Effekt ab, ist durch und durch witzig; sie entfaltet sich in
den Schwankmärchen am freiesten. Hinzu kommen gelegentliche amüsante
Anspielungen auf Historisches und Zeitgeschichtliches, die für Desillusionie-
rung sorgen. In Bechstein lebt das witzige Märchenerzählen des späten 18.
Jh.s, insbesondere das von J. K. A. Musäus, fort, über dessen leicht spöttischen
Umgang mit der Gattung die Grimms so erbost waren. Doch während bei
Musäus das witzige Spiel mit dem Märchen nahezu keine Grenzen kannte,
bleibt es bei Bechstein gebändigt, ja dezent. Er respektiert dem Zeitgeist fol-
gend das Märchen durchweg als einfache, kurze Erzählform und lässt auch
sonst seine Vorlagen weitgehend intakt.
Eine gewisse Berühmtheit hat Bechsteins Vorrede mit ihrer an die Grimms
anknüpfenden Unterscheidung von Märchen und Sagen erlangt. »Das Mär-
chen ist dem Kindesalter der Menschheit vergleichbar; ihm sind alle Wunder
möglich, es zieht Mond und Stern vom Himmel und versetzt Berge. Für das
Märchen giebt es keine Nähe und keine Ferne, keine Jahreszahl und kein
Datum, nur allenfalls Namen, und dann entweder sehr gewöhnliche, oder
sehr sonderbare, wie sie Kinder erfinden. Die Sage ist dem Jugendalter zu
Märchendichtungen und Märchennovellen 117

vergleichen; in ihr ist schon ein Sinnendes, Ahnungsvolles, ihr Horizont ist
enger, aber klarer, wie der des Märchens […]; sie strebt in gewissen Zügen
doch schon dem Alter der Reife, der Geschichte, zu.« Mit einem Deutschen
Sagenbuch für die »reifere Jugend« wartet Bechstein 1853 auf. Im Vorwort
heißt es: »Einfachheit im Ton der Erzählung ist beim Wiedergeben der Sagen
unerläßliche Bedingniß, keine novellistische, romanhafte Verwässerung,
keine blümelnde Schreibweise [...]; wohl aber darf der Erzählungston wech-
seln je nach dem Stoff, ja selbst nach der Zeit, der dieser Stoff angehört.«

Märchendichtungen und Märchennovellen

Im Unterschied zu den Volkskundlern kann für die romantischen Schriftstel-


ler eine Wiederbelebung der nationalen Folklore nur auf dem Wege der
schöpferischen Nachdichtung gelingen. Schreiben für Kinder bedeutet für sie
ein Dichten in der überlieferten folkloristischen Motiv-, Bild- und Formen-
sprache. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie damit auf geschichtlich über- Kinderliterarische
holte poetische Modelle zurückgreifen; doch heißt dies nicht schon, dass sie Aspekte der roman-
auf alle Modernität verzichten müssen. Die romantischen Märchendichtungen tischen Kunstmärchen-
– auch die für Kinder – besitzen einen ›gemischten Charakter‹, sind archaisie- dichtung
rend und modern zugleich. Dabei haben sich verschiedene Modelle einer
solch ›gemischten‹ Dichtung entwickelt: In einem ersten Fall beschränkt sich
die Modernität auf die Ebene der Vortrags- bzw. Erzählweise. Im virtuosen
Erzählen eines überlieferten Märchens macht sich eine unverwechselbare
Dichterpersönlichkeit geltend. Der kundigere Zuhörer bzw. Leser genießt hier
weniger die zumeist schon bekannte Märchengeschichte als solche, sondern
mehr den virtuosen Stil, in dem sie präsentiert wird. Einen Schritt weiter als
das virtuos erzählte geht das fabulierte Märchen: In ihm erlaubt sich der
Dichter aus schierer Fabulierlust, einzelne Details spielerisch-arabeskenhaft
auszumalen. Für das virtuos erzählte und zugleich fabulierte, d. h. arabesk
ausgeschmückte Märchen der Romantiker geben Clemens Brentanos Italie-
nische Märchen ein herausragendes Beispiel ab. Ab 1806 bearbeitete Brentano
einzelne Stücke aus der Märchensammlung Il Pentamerone von Giambattista
Basile. Von Beginn an hat er dabei an Kinder als Adressaten gedacht, wie ein
Brief an Arnim vom 23. Dezember 1805 belegt: »Ich denke auf Michaelis [...]
die italienischen Kindermärchen für deutsche Kinder zu bearbeiten; ich will
wo möglich die kleinen Bilderchen selbst dazu kritzeln.« Die Italienischen
Märchen ebenso wie die späteren, gleichfalls an Kinder gerichteten Rhein-
märchen erschienen erst posthum 1846/47 unter dem Titel Die Märchen des
Clemens Brentano in der Herausgabe von Guido Görres. Das Fabulieren Clemens Brentano
dürfte kindlichen Rezipienten ohne weiteres nachvollziehbar sein und Ver-
gnügen bereiten. Ob sie dagegen in der Lage sind, das virtuose Erzählen als
indirekte Selbstdarstellung einer individuellen Dichterpersönlichkeit aufzu-
nehmen, erscheint fraglich; hier dürfte es sich wohl mehr um eine nur dem
Erwachsenen zugängliche Dimension romantischer Märchendichtung han-
deln.
Einen anderen Fall bilden die symbolischen bzw. allegorischen Märchen-
dichtungen. Wie alle uneigentliche Dichtung weisen diese einen Bild- und ei-
nen Sachteil auf; Letzterer umfasst das eigentlich Gemeinte, das Thema. Das
symbolische bzw. allegorische Kunstmärchen der Romantik besitzt eine
118 Romantik

durchweg moderne Thematik: Novalis etwa dient das Märchen als bildliche
Darstellung seiner Geschichtsphilosophie. Bei dieser Ausprägung roman-
tischer Kunstmärchendichtung deutet sich als Möglichkeit ein gänzliches
Auseinandergehen von kindlicher und erwachsener Rezeption an: Während
der Erwachsene die Märchengeschichte als nicht eigentlich Gemeintes er-
kennt und sich so die moderne Thematik erschließt, haftet der kindliche Re-
zipient am Märchengeschehen als solchem, ohne etwas von der ganz anders-
gearteten, vom Dichter eigentlich intendierten Aussage zu ahnen.
Ludwig Tieck Ein drittes Modell bilden die dualistischen Märchennovellen etwa eines
»Die Elfen« Ludwig Tieck, der mit seinen Elfen-Märchen aus dem ersten Band des Phan-
tasus von 1812 zugleich auch die erste kinderliterarische Ausprägung dieses
Erzählmusters vorgelegt hat. Waren die märchenhaft-archaischen und die
modernen Elemente bislang auf verschiedene Schichten des literarischen
Werkes verteilt, so erscheinen sie nun auf ein und derselben Ebene, auf der
des Märchengeschehens. Die dualistische Märchennovelle der Romantik
handelt von dem oft tragisch endenden Zusammenstoß zweier, von Grund
aus verschiedener Welten. Tieck radikalisiert das vom Volksmärchen her ge-
läufige unproblematische Nebeneinander von Diesseits- und Jenseitswelt zu
einem konfliktträchtigen Gegeneinander. Die Diesseitssphäre ist hierbei un-
schwer als Repräsentation der christlich-modernen Welt zu erkennen, wäh-
rend die Sphäre des Jenseitig-Wunderbaren heidnisch-polytheistische Züge
trägt. Der Protagonist ist ein Grenzgänger beider Welten, an deren unver-
söhnlichem Streit er bei Tieck tragisch scheitert. Eine weitere dualistische
Märchennovelle für Kinder liegt in E.T.A. Hoffmanns Fremden Kind von
1817 vor, dessen Nähe zum Tieckschen Elfen-Märchen unübersehbar ist.
Hoffmann wandelt das Tiecksche Modell insofern ab, als er den Gegensatz
von Märchenhaft-Poetischem und Prosaischem nicht eigentlich als den Zu-
sammenstoß einer Diesseits- und einer Jenseitswelt gestaltet, sondern als je-
weils in beiden Welten parallel sich vollziehenden Kampf – als Kampf zwi-
schen der Landadels- und Stadtadelswelt auf dem diesseitigen, zwischen der
Feenkönigin und dem Gnomenkönig Pepser auf dem mythisch-jenseitigen
Parkett.
Dualistische Märchen Die kinderliterarische Aktualisierung dieses Erzählmodells durch Tieck
und E.T.A. Hoffmann läuft praktisch auf eine Revision der romantischen
Kinderliteraturprogrammatik hinaus – eine Revision, die für die weitere Ent-
wicklung der europäischen Kinderliteratur von nachhaltiger Bedeutung ist.
Hier nämlich kommt es zu einer Einschränkung des romantischen Axioms,
dass Kindern einzig reine Volkspoesie gemäß sei. Die Autoren realisieren
nun, dass Kinder von einem bestimmten Alter an die Erfahrung machen, dass
zwischen ihrer Vorstellungs- und Spielwelt und der Welt der Erwachsenen
eine tiefe Kluft herrscht. Diese Erfahrung führt zu nachhaltigen Irritationen
und schweren Spannungen, die nicht zu verdrängen, sondern von Kindern
durchzustehen sind. Hieraus entsteht das Bedürfnis nach einer Literatur, die
diese moderne kindliche Differenzerfahrung artikuliert und im Sinne eines
imaginären Probehandelns zu Ende spielt. Das Erzählmodell des dualisti-
schen Kunstmärchens ist hierfür wie kein anderes prädestiniert: Im Gegen-
satz von Poetisch-Märchenhaftem und Prosaischem ist der von Kindheits-
und Erwachsenenwelt immer schon mitgedacht.
Das literarische Durchspielen der kindlichen Differenzerfahrung kann ein
sehr unterschiedliches Ende nehmen: Die Erfahrung kann in ihrer erdrücken-
den Schwere den kindlichen Protagonisten in den Tod treiben, wie es in
Tiecks Elfen-Märchen der Fall ist; dies ergibt eine tragische Kinderliteratur
mit kathartischer Wirkung. Es können sich am Ende aber auch mittels einer
Märchendichtungen und Märchennovellen 119

Zurückweisung, einer Herabsetzung, ja Verspottung der Erwachsenenwelt


und ihrer Ansprüche die Irritationen wieder auflösen, so dass letztendlich der
kindliche Märchensinn eine Wiederaufrichtung und Stärkung erfährt. Es
wäre dies eine heitere Kinderliteratur, die sich gegen eine zu frühe Untermi-
nierung der Kindheitswelt richtete. Die Irritationen können jedoch auch in
entgegengesetzter Richtung aufgelöst werden – statt in seligem Wiederein-
münden in die Kindheitswelt durch Düpierung der Erwachsenen nun durch
beherztes Verlassen der Kindheit. Es ist dies zweifellos die unromantischste
aller Lösungen, und wo diese von einem romantischen Autor gewählt wird
wie von E.T.A. Hoffmann im Fremden Kind, hat er ein Erwachsenwerden im
Auge, in dem die zu verlassende Märchenwelt der Kindheit nicht negiert oder
gar denunziert wird, sondern im dialektischen Sinne aufgehoben ist.
Bei E.T.A. Hoffmann kommt es schließlich zu einem vierten Erzählmodell Der Ursprung
romantischer Märchendichtung, dem sogenannten Wirklichkeitsmärchen, der modernen
das von seinem Erfinder sogleich auch kinderliterarisch in Anschlag gebracht fantastischen
wird: Gemeint ist das 1816 erschienene Kindermärchen Nußknacker und Kindererzählung
Mausekönig. Das Wirklichkeitsmärchen lässt sich als eine Radikalisierung bei E.T.A. Hoffmann
des dualistischen Märchens begreifen, in dem ja bereits unmärchenhafte,
prosaische Verhältnisse zur Sprache kamen. Letztere wurden freilich in einer
selbst noch dem Märchen entlehnten Bildsprache präsentiert – als märchen-
typische Diesseitswelt eines unbestimmten Irgendwo. Die Figuren dieser
Diesseitswelt konnten, so sehr sie auch moderne Geisteshaltungen verkör-
perten, durchaus noch Umgang mit Jenseitsgestalten pflegen. Im Falle des
Nußknacker-Märchens dagegen kann von einer Wirklichkeitsdarstellung im
Sinne des modernen Romans gesprochen werden. Wir erhalten Einblick in
die konkrete Alltagswirklichkeit eines siebenjährigen Mädchens aus dem ge-
hobenen städtischen (Berliner) Beamtenbürgertum zu Beginn des 19. Jh.s,
erleben dessen Spiel- und Bilderbuchwelt, dessen Ängste, Fantasien und Alp-
träume. Es wird ein überaus detailliertes Bild bürgerlichen Familienlebens
und bürgerlicher Erziehungswirklichkeit gezeichnet. Der Schritt vom dualis-
tischen zum Wirklichkeitsmärchen besteht darin, dass die dichterische Ge-
staltung der prosaischen Gegenwelt sich von den Konventionen der Gattung
»Märchen« vollständig löst und stattdessen nach den Gesetzen des moder-
nen psychologischen Realismus erfolgt. E.T.A. Hoffmanns Nußknacker-
Märchen ist deshalb an erster Stelle als Durchbruch und frühes Dokument
des kinderliterarischen Realismus zu würdigen – eines Realismus, wie man
ihn auch in der aufgeklärten Kinderliteratur nur in Ansätzen kannte.
Dieser Schritt hat Folgen für die epische Gestaltung des Zusammenstoßes Vignette zu E.T.A.
von Wirklichkeit und Wunderwelt. Eine Diesseitsgestalt des Märchens kann Hoffmanns Märchen
mit jenseitigen Mächten in Auseinandersetzung und Kampf treten, nicht aber Nußknacker und
eine nach den Gesetzen des psychologischen Realismus konstruierte Figur. Mäusekönig
Zu Letzterer gehört unabdingbar ein Wirklichkeitsbegriff, der die Existenz
des Wunderbaren kategorisch ausschließt. Die Begegnung mit einem Jensei-
tigen muss bei einer solchen Figur eine Bewusstseinskrise auslösen. Der Zu-
sammenstoß beider Welten wird im Wirklichkeitsmärchen in die Psyche des
Protagonisten verlegt, wo sich zwei unvereinbare Wirklichkeitsauffassungen
gegenüberstehen und das Bewusstsein zu spalten drohen. Aus dem my-
thischen Kampf, als den das dualistische Märchen den Gegensatz von Poesie
und Prosa noch gestalten konnte, ist ein seelischer Konflikt, ein Psychodrama
geworden.
Marie Stahlbaum, die kindliche Protagonistin des Nußknacker-Märchens,
gerät in die für die Fantastik typische Ungewissheit hinsichtlich des Realität-
scharakters der vor ihren Augen sich ereignenden ›Wunderdinge‹, der nächt-
120 Romantik

lichen Schlacht zwischen den Spielzeugfiguren und Puppen auf der einen,
den Mäusescharen auf der anderen Seite. Doch schnell schaltet sich der auk-
toriale Erzähler ein und bekräftigt das von Marie Wahrgenommene als wirk-
lich. Alle Ungewissheit scheint beseitigt zu sein; wir haben es anscheinend
mit einer Erzählung des Wunderbaren zu tun. Maries Eltern freilich gehen
nicht grundlos davon aus, dass Marie unter Fieberträumen und Wahnvor-
stellungen leidet, und halten bis zum Schluss an dieser Auffassung fest. Wem
soll der Leser da Glauben schenken? An dieser Stelle deutet sich die Möglich-
keit des Auseinandergehens einer kindlichen und einer erwachsenen Rezep-
tion des Märchens an: Für kindliche Leser bzw. Zuhörer liegt es nahe, der
Wahrnehmungsperspektive Maries zu folgen und dem auktorialen Erzähler
zu trauen, zumal sie selbst immer dort ausdrücklich angesprochen sind, wo
der Erzähler die Wunderdinge als wirklich bekräftigt. Gerade diese auffäl-
ligen Wendungen an die kindlichen Zuhörer aber lassen den Erwachsenen
aufhorchen: Spielt der Erzähler hier nicht bloß eine Rolle, die des Kinderer-
zählers? Verhält er sich hier nicht letztendlich ironisch? Es gibt tatsächlich
eine Reihe von Anzeichen dafür, dass der Erzähler eigentlich nicht sehr viel
anders als die Eltern über die Ereignisse denkt. Der erwachsene Leser jeden-
falls bleibt ziemlich im Ungewissen, wobei es ihm insgesamt näher liegt, sich
auf die Seite der Eltern zu schlagen und deren Deutung der Ereignisse Glau-
ben zu schenken. Sie hätten es dann nicht mit einem heiteren Kindermärchen,
sondern mit einer düsteren Krankheitsgeschichte zu tun, nämlich der Dar-
stellung einer kindlichen Bewusstseinsspaltung mit tragischem Ausgang –
vergleichbar durchaus mit der Geschichte des Nathanael aus Hoffmanns
Nachtstück Der Sandmann. Denn die Schlusspointe, in der der junge Dros-
selmeier in Prinzengestalt Marie zur Hochzeit ins Wunderreich abholt wie
der Erlkönig das Kind, könnte der Erwachsene mit gutem Grund als euphe-
mistische Umschreibung ihres Todes auffassen. Der kindliche Leser dagegen
dürfte das Märchen als eine Erzählung des Wunderbaren mit heiterem Aus-

Illustration von
Theodor Hosemann
zu Das fremde Kind
von E.T.A. Hoffmann
Märchendichtung des Biedermeier 121

gang wahrnehmen, für ihn bedeutet das Ende eine Stärkung des kindlichen
Wunderglaubens, der über alle Angriffe seitens der Erwachsenen, über allen
nüchternen Wirklichkeitssinn den Sieg davon trägt.
Mit den von Tieck und E.T.A. Hoffmann entwickelten Erzählmodellen hat
die romantische Kinderliteratur eine bedeutsame Erweiterung erfahren: Ne-
ben die reine Volkspoesie, besser gesagt: an diese sich anschließend tritt mit
dem dualistischen Märchen und dem Wirklichkeitsmärchen eine Kinderlitera-
tur, die frühe kindliche Modernitätserfahrungen artikuliert. Diese thematisiert Modernitäts-
den Gegensatz zwischen romantisch definierter Kindheit und sie umgebender erfahrungen
Erwachsenenwelt, wie ihn Kinder von einem gewissen Zeitpunkt an unwei-
gerlich wahrnehmen. Sie verarbeitet die hieraus sich ergebenden kindlichen
Irritationen und Bewusstseinskonflikte; sie übt die kindlichen Leser in ein
komplexeres Wirklichkeitsverhältnis ein, weist ihnen Möglichkeiten des Zu-
rechtfindens in einer gespaltenen Welt. Damit ist vom Thematischen wie vom
Funktionalen her ein literarischer Spielraum eröffnet, der sich im literaturge-
schichtlichen Weitblick als derjenige der anspruchsvollen modernen bürger-
lichen Kindererzählung des 19. und 20. Jh.s überhaupt erweist. E.T.A. Hoff-
manns Nußknacker und Mausekönig stieß bei seinem Erscheinen überwiegend
auf Befremdung und Ablehnung. Erst ein halbes Jh. später wird das im Nuß-
knacker-Märchen entwickelte kinderliterarische Erzählmodell von Lewis
Carroll in Alice’s Adventures in Wonderland (1865) wieder aufgegriffen, um
von dort aus einen wahren Siegeszug anzutreten. E.T.A. Hoffmanns kinderli-
terarische Innovation ist zu früh gekommen und blieb deshalb isoliert – im
Kontext deutschsprachiger Kinderliteratur sogar bis weit hinein ins 20. Jh.

Märchendichtung des Biedermeier

Was den aufgeklärten kinderliterarischen Reformbemühungen vergönnt war


– eine breite kinderliterarische Umsetzung nämlich –, blieb vielen der roman-
tischen Impulse versagt. Sie sind zwar in die Kinderliteratur und Kinderkul-
tur des Biedermeier in großer Zahl eingedrungen; es ist aber durchweg cha-
rakteristisch, dass die ursprünglichen romantischen Ansätze verwischt und
die wenigen genuin romantischen kinderliterarischen Werke nur in ›geschlif-
fener‹, angeglichener Gestalt akzeptiert wurden. Die Überarbeitungen, die
Wilhelm Grimm an den Kinder- und Hausmärchen von der zweiten Auflage
1819 bis hin zur Ausgabe letzter Hand von 1857 vornahm, sind das promi-
nenteste Beispiel für den Anpassungsprozess an biedermeierliche Mentali-
täten. Der jüngere Bruder gab, so Heinz Rölleke, »der Sammlung von Auflage
zu Auflage einen einheitlicheren, naiv-volkstümlichen, kindgemäßeren und
auch biedermeierlicheren Zuschnitt«. Die Romantik ist kinderliterarisch
nicht mehr als ein Zwischenspiel, das zudem noch in einer durch Krieg und
Besatzung geprägten Zeit stattgefunden hat, die wenig Breitenwirkung zu-
ließ. Das Biedermeier darf man demgegenüber in kinderliteraturgeschicht-
licher Hinsicht als ein goldenes Zeitalter bezeichnen, wobei die Leistungen
der Autoren von denjenigen der Illustratoren noch überboten wurden. Es ist
die Ära der Theodor Hosemann, Ludwig Richter und Otto Speckter, um nur
drei der bekanntesten zu nennen. Es handelt sich um ein goldenes Zeitalter
weniger der Kinderliteratur als des illustrierten Kinderbuches.
122 Romantik

Andersen und das Hans Christian Andersens frühe Märchenerzählungen stießen im deut-
biedermeierliche schen Sprachraum schnell auf eine große Resonanz, so dass ihnen ein Platz
Kunstmärchen für auch in einer Geschichte der deutschen Kinderliteratur gebührt. Dass dessen
Kinder Anknüpfungen an Tieck und E.T.A. Hoffmann, aber auch an die Brüder
Grimm aus deutscher Sicht im Vordergrund standen, ist nur zu verständlich.
Tatsächlich hat der frühe Andersen nahezu alle von der Romantik gepflegten
Erzählmuster aufgegriffen. Im Folgenden sei dargestellt, was bei Andersen
aus dem am weitesten vorausweisenden Erzählmodell der kinderliterarischen
Romantik, dem Wirklichkeitsmärchen wird. Die frühe Erzählung von den
Blumen der kleinen Ida ist strukturell von der Art des Nußknacker-Mär-
chens. Ausgangspunkt ist auch bei Andersen eine realistisch gezeichnete All-
tagswelt städtischen Charakters. Zur Wunderwelt hat Ida, ein ebenso artiges
Bürgermädchen wie Marie Stahlbaum, wie diese Zugang durch eigenes
nächtliches Erleben und durch Erzählungen eines Erwachsenen. Der Student,
der ihr das wahre Leben der Blumen enthüllt, ist ein Sonderling wie Pate
Drosselmeier. Auch Andersen lässt schließlich den erwachsenen Leser in Un-
Hans Christian Andersen sicherheit darüber, ob Idas nächtliches Erlebnis des Blumenballs nicht doch
ein bloßer Traum gewesen ist. Im Unterschied zu Hoffmann aber verliert die
Entscheidung hinsichtlich des Realitätscharakters der Wunderwelt bei An-
dersen an Ernst und Dringlichkeit. Ob Traum oder Wirklichkeit, ob »dummes
Zeug«, bloße »Weismacherei« oder Wahrheit, ist gar nicht mehr entschei-
dend angesichts dessen, dass diese Wunderwelt so überaus amüsant, so »lus-
tig« und so »drollig« ist.
Anders als bei Hoffmann nimmt sich auch die Erwachsenenwelt aus:
Zwar gibt sie ihre Missbilligung der Fantastereien deutlich zu verstehen,
doch geht ein nennenswerter Druck von ihr nicht aus. Die Gestalt, die das
Realitätsprinzip verkörpert, der »mürrische Kanzleirat«, ist eher eine ko-
mische Figur; ihr fantastisches Ebenbild wird auf dem nächtlichen Blumen-
ball der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Eltern wiederum bleiben ganz und
gar im Hintergrund; sie treten Ida nicht fordernd gegenüber. Dem kontradik-
torischen Weltentwurf des Wirklichkeitsmärchens sind in Die Blumen der
kleinen Ida alle Konfliktpotentiale genommen. Entmachtet ist bei Andersen
insbesondere das Realitätsprinzip; doch sind auch auf Seiten der Wunderwelt
die Mächte des Dämonischen verschwunden, die Hoffmann so reichhaltig
ins Spiel brachte. Bei Andersen entfaltet sich eine unbeschwerte Kindheits-
idylle, eingebettet in eine Welt, die unübersehbar gespalten, zerrissen ist und
moderne Züge trägt, die jedoch vorübergehend zum Stillehalten gebracht
ist.
Zu den Wirklichkeitsmärchen zählt auch der Standhafte Zinnsoldat, was
schon auf der Motivebene deutlich wird: die bürgerliche Familie samt ihrer
Kinder- und Spielzeugkultur, die städtische Umwelt, die Straßenjungen, die
Kanalisation und dergleichen mehr. Doch entfernt sich Andersen hier noch
um einen weiteren Schritt von E.T.A. Hoffmann. Der Protagonist, der Zinn-
soldat, ist keine Gestalt der Wirklichkeit mehr, sondern ein Wunderwesen.
Überhaupt ist das Verhältnis der beiden Welten auf den Kopf gestellt: Die
Wunderwelt ist hier das unmittelbar Gegebene, geradezu Normale, in das
eine zweite, fremd und unbegreifbar bleibende Welt hereinbricht, die mo-
derne Wirklichkeit. Diese Umdrehung der Perspektive ist von unerhörtem
Reiz und dürfte nicht wenig zum weltweiten Ruhm dieses Märchens beige-
tragen haben. Formgeschichtlich jedoch ist damit das Wirklichkeitsmärchen
in seiner Modernität noch einmal abgeschwächt: Die moderne Wirklichkeit
als Teilschauplatz ist perspektivisch so an den Rand gedrängt, dass sie kaum
mehr als einen Horizont darstellt, der sich um eine tendenziell wieder selbst-
Märchendichtung des Biedermeier 123

genügsame, autonome Märchenwelt schließt. Das Märchen vom Zinnsol-


daten und seiner unglücklichen Liebe zu dem Tanzpüppchen ließe sich leicht
auch ohne die Vergegenwärtigung der modernen Welt im Hintergrund erzäh-
len.
Drei Aspekte dieses Formenwandels sind bei Andersens Märchen sichtbar
geworden: Abbau der Gegensätzlichkeit zwischen wirklicher Welt und Wun-
derwelt, Verharmlosung der fantastischen Phänomene und der durch diese
ausgelösten Bewusstseinskrise, schließlich die Marginalisierung der moder- Illustration zu Andersens
nen Wirklichkeit als des einen Teilschauplatzes des Wirklichkeitsmärchens. Märchen Der standhafte
Alle diese Vorgänge führen zu einer Verstärkung des Märchencharakters der Zinnsoldat
Erzählungen. Das kinderliterarische Biedermeier geht den von E.T.A. Hoff-
mann im Ansatz aufgewiesenen Weg nicht weiter in die Richtung der moder-
nen fantastischen Kindererzählung; es kehrt vielmehr zurück in die Bahnen
einer, sei es idyllischen, sei es sentimentalen Märchendichtung für Kinder, die
sich mit Anspielungen auf Modernes zurückhält. Über den literarischen Rang
biedermeierlicher Märchenkunst ist damit nichts gesagt; neben Andersens
Märchen gehören etwa Eduard Mörikes Der Schatz (1836) oder dessen
Stuttgarter Hutzelmännchen (1853) zum Besten der Gattung überhaupt.
An dieser Stelle ist der Blick auf eine kinderliterarische Technik zu richten, Das Wunderbare in der
die von E.T.A. Hoffmann initiiert und im Biedermeier breit aufgegriffen Alltagswelt
wurde. Gemeint ist die Einholung des Wunderbaren bzw. Fantastischen in
die bürgerliche Alltagswelt der Kinder, in die Kinderstube und die sonstigen
Spiel- und Erlebnisräume. Mit dieser Einholung entsteht das, was man die
kinderliterarische Diminutivform des Wunderbaren nennen könnte. Der
Einbruch des Wunderbaren in die bürgerliche Alltagswelt ist umso überra-
schender, je weniger er auf eine von Märchen und Sage her bekannte Weise
geschieht, je mehr er sich an ganz unvermuteten Stellen, an banalsten Dingen,
bei alltäglichsten Gelegenheiten ereignet. E.T.A. Hoffmann führt das Wun-
derbare als ganz und gar unvermutete Kehrseite des Allervertrautesten ein.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die Verlebendigung des Spielzeugs der
Kinder: Mit seinen beiden Kindermärchen bereichert Hoffmann den Kreis
der Wundergestalten um Nussknacker und Puppen, hölzerne Spielfiguren
und Zinnsoldaten. Hoffmann weiß selbst, dass er hiermit nur eine kindliche
Verhaltensweise, einen Zug kindlichen Spiels aufgreift. Marie Stahlbaum
wird denn auch keineswegs irre daran, dass ihre Puppen und ihr besonderer
Schützling, der Nussknacker, ein eigenes Leben führen. Kinderliterarisch hat
diese Technik also eine entgegengesetzte Funktion; sie produziert hier kein
Entsetzen, keine Beklommenheit, kein Irrewerden am Bekannten, sondern
artikuliert etwas Kindern längst Vertrautes. Ins Biedermeier geht die Hoff-
mannsche literarische Technik des Hineinspielens des Wunderbaren ins All-
tägliche in eben dieser kinderliterarischen Ausprägung ein. Allen scheint das
Alltägliche jetzt eine wunderbare Rückseite zu haben, und statt Beklommen-
heit breitet sich dabei Behaglichkeit aus.
Auch Hans Christian Andersen lässt seine Fantasie von den simpelsten
Vorgängen des Alltags beflügeln: Da welken die Schnittblumen, und das
Mädchen verlangt nach einer Erklärung. Was der professorale Botaniker ihm
sagen könnte, würde die kleine Ida, so richtig es sein mag, nur enttäuschen.
Dem Studenten fällt dagegen eine fantasiereiche Geschichte ein; Ida ist nicht
bloß entzückt, sie hat eine sie tief befriedigende ›Erklärung‹ erhalten und ist
nun in der Lage, die Blumen zu beerdigen. Die Mythisierung des Alltäglichen
dient hier der Erklärung des vom Kind Wahrgenommenen. Gewiss wird dem
Kind etwas Falsches, botanisch nicht Haltbares vermittelt, wie der mürrische
Hofrat wiederholt feststellt; doch geht es hier um eine ganz bewusst auf das
124 Romantik

Titelkupfer zu Der Zwerg


Nase von Wilhelm Hauff
(1826)

kindliche Sinnbedürfnis abgestellte Natur- und Sachkunde. In seinen späteren


Ding-, Pflanzen- und Tiergeschichten entfernt sich Andersen allerdings von
den romantischen Prämissen. Statt die Seele der Dinge, der Pflanzen und der
Tiere auszusprechen, macht er sie zu Bildern bzw. Allegorien menschlicher
und gesellschaftlicher Verhältnisse; generell gehört der späte, dem Fortschritt
und der Industrialisierung durchaus positiv gegenüberstehende Andersen der
Epoche des Realismus an.
Aufs Ganze gesehen ist die Märchendichtung der Biedermeierepoche von
schillernder Vielfalt; sie frönt nahezu allen Märchenstilen, die die europä-
ische Literaturgeschichte seit dem ausgehenden 17. Jh. hervorgebracht hat.
Da ist z. B. das sentimentale Märchen mit seiner besonderen Vorliebe für
Mädchenfiguren, die in gänzlicher Passivität, vollständiger Ergebenheit und
grenzenloser Selbstopferungsbereitschaft unsägliche Mühsal ertragen, um
schließlich Erlösung zu finden. Mitte des Jahrhunderts wird das sentimental-
rührselige Märchen auf kinderliterarischer Ebene von Robert Reinick ge-
pflegt; als Beispiel sei hier dessen Prinz Goldfisch und das Fischermädchen
genannt, 1850 im Deutschen Jugendkalender erschienen.
Wilhelm Hauff In anderer Weise epochentypisch sind die Wilhelm Hauffschen Märchen-
almanache, die in drei Folgen 1826 bis 1828 erschienen und an »Söhne und
Töchter gebildeter Stände« gerichtet waren. Der junge Autor, überaus bele-
sen und literarisch versiert, kennt und beherrscht die gängigen Erzählweisen,
die ihm seine Gegenwart bietet. Den moralischen, den humoristisch-witzigen,
den schaurig-fantastischen bzw. Tieck-Hoffmannschen, aber auch den
fromm-romantischen Ton weiß er in seiner Märchensammlung anzuschla-
gen. Keiner der traditionellen Schauplätze bleibt ausgespart, nicht der mor-
genländische noch der des Feenmärchens, der schauerliterarische, der (see-)
abenteuerliche, der sozialkritische oder der romantisch-heimatliche in Ge-
stalt des Spessarts oder des Schwarzwalds. In gewissem Kontrast zur bunten
Exotik der Schauplätze steht die handfest bürgerliche Mentalität der Hauff-
schen Märchenhelden. Schwärmerei und Sentimentalität sind ihnen fremd;
Kinderreime und -lieder 125

sie streben nach maßvollem irdischem Glück, sind bedächtig bilanzierend


und haben einen ausgesprochenen Sinn für gerechte Tauschbeziehungen. Mit
ihrer höchst effektvollen Mischung aus Bürgerlichkeit und bunter Abenteu-
erlichkeit bilden die Hauffschen Märchen einen wohltuenden Kontrast zum
rührseligen Märchen des Biedermeier.

Kinderreime und -lieder

Die Einholung des Wunderbaren in die Alltagswelt der Kinder wird vom Poetischer Anschau-
Kindergedicht des Biedermeier aufgegriffen und hier zu einer Art von »poe- ungsunterricht im
tischem Anschauungsunterricht« (Ludwig Göhring) für das Vorschulkind in Kindergedicht
Anwendung gebracht. An erster Stelle sind Wilhelm Heys Funfzig Fabeln für
Kinder zu nennen, die 1833 mit Illustrationen von Otto Speckter erschienen,
gefolgt 1837 von Noch Funfzig Fabeln für Kinder. Als »Hey-Specktersche
Fabeln« sind sie zu einem der großen Kinderbucherfolge des 19. Jh.s gewor-
den. Die ›Helden‹ dieser »für Kinder von vier bis sieben Jahren« bestimmten
Gedichtsammlungen sind die nahen Gefährten der Kinder. Deren Lebens-
raum freilich ist nicht mehr städtischen, sondern ländlich-dörflichen Geprä-
ges. Spielsachen wie Puppen, Schaukel- und Steckenpferd, Papierdrachen
und Buch stehen wie etwa auch der Schneemann, der Wind, Kuchen und Wilhelm Hey
Brot mehr am Rande; den größten Raum nehmen die Tiere ein, die des
Hauses – Katze, Hund, Pferd, Ochse, Sau, Ziegenbock, Lamm, Federvieh –,
sodann die frei lebenden Tiere, sofern sie die Aufmerksamkeit des Kindes
erregen: die Vögel allen voran, dann Eichhorn, Schmetterling, Fledermaus,
Storch, Fuchs und Hirsch. Sie alle reden mit dem Kind und untereinander,
ohne doch Fabeltiere zu sein. Mit ihnen soll nicht eine menschliche Eigen-
schaft dargestellt werden; es geht um ihre jeweilige Eigentümlichkeit als
Naturwesen. Geboten wird eine kleine poetische Tierkunde, und insofern ist
die in den Titeln der Sammlungen anzutreffende Rede von Fabeln verwir-
rend.
Kinderlyrisch beachtlich ist, wie Hey den literarischen Erzieher als Spre-
cher zurücknimmt und dem Rollengedicht mit Kindern, redenden Gegen-
ständen und Tieren als Sprechern Raum gibt. Wilhelm Hey sind einzelne
Kindrollenverse bestechend gelungen: »Eichhörnchen auf dem Baum!/ Bist
so hoch, seh’ dich kaum,/ Komm’ doch und spiel mit mir.« Seltener freilich
hält sich eine solche Übereinstimmung durch das ganze Gedicht wie im Falle
von Kind und Buch:

Komm her einmal du liebes Buch,


Sie sagen immer, du bist so klug.
Mein Vater und Mutter die wollen gerne,
Daß ich was Gutes von dir lerne;
Drum will ich dich halten an mein Ohr;
Nun sag’ mir all’ deine Sachen vor.
Was ist denn das für ein Eigensinn,
Und siehst du nicht, daß ich eilig bin?
Möchte gern spielen und springen herum,
Und du bleibst immer so stumm und dumm?
126 Romantik

Geh’, garstiges Buch, du ärgerst mich,


Dort in die Ecke werf’ ich dich.

Was die Tiergedichte angeht, so ist oft ein vom Kind beobachtetes Verhalten
der Ausgangspunkt: »Ei Ochse, worüber denkst du nach,/ Daß du da liegst
fast den halben Tag,/ Und machst so gar ein gelehrt Gesicht?« In seiner Ant-
wort fällt der Ochse nun keineswegs in eine Lehrerrolle: »Hab’ Dank für die
Ehre! So schlimm ist’s nicht./ Die Gelehrsamkeit, die muß ich dir schenken;/
Ich halte vom Kauen mehr als vom Denken.« Zu eigentlichen Handlungen
kommt es nicht; in Rede und Gegenrede expliziert sich eine Situation, tritt
Zeichnung von Otto eine charakteristische Verhaltensweise oder Eigenschaft sinnfällig hervor.
Speckter zu Wilhelm Heys Das Poetische dieser Texte besteht in der immer wieder sich bestätigenden
Fabel Sau (1836) Einheit von Kind und Welt, die übrigens an keiner Stelle thematisch wird.
Das Kind stößt in den Gegenständen und Tieren seiner Umgebung auf art-
und geistesverwandte Wesen und fühlt sich dadurch heimisch in der Welt.
Die ernsthaften Anhänge zu beiden Sammlungen enthalten vorwiegend reli-
giöse Kindergedichte. Erstaunlich ist, wie der Autor von »Weißt du, wieviel
Sterne stehen/ An dem blauen Himmelszelt?« Kindern eine Vorstellung von
der erhabenen Weite der Schöpfung zu geben weiß: Hey wird an solchen
Stellen zum Novalis der Kinderliteratur.
Friedrich Güll Das Kindergedicht des Biedermeier erreicht mit Friedrich Güll einen zwei-
ten Gipfelpunkt. Dessen erste und zugleich bedeutendste Gedichtsammlung
erschien 1836 unter dem Titel Kinderheimath in Bildern und Liedern mit Il-
lustrationen von Julius Nisle, 1846 in stark erweiterter Auflage mit Illustra-
tionen von Franz Pocci. Gülls Dichtungsvermögen hat sich an zwei lyrischen
Publikationen entzündet: am Wunderhorn und an den Rückert’schen Fünf
Mährlein. Unter den zahlreichen Kinderdichtern der Epoche hat Güll sich
am weitestgehenden vom volkstümlichen Kinderreim, von dessen Laut- und
Formelhaftigkeit, dessen Unlogik und Sprachspiel inspirieren lassen. Er dich-
tet Kettenreime rein sprachspielerischen Charakters (Wenn das Kind nicht
schlafen will), Kinderstubenverse wie das Kletterbüblein oder Will das Kind
ein wenig warten, Abzählverse wie »Wir wollen uns verstecken/ In ein, zwei,
drei, vier Ecken« oder Kinderreimgeschichtchen wie die vom Hirten: »Mor-
gens in der Fruh/ Treibt der Hirt die Kuh;/ Morgens in der Frühe/ Treibt er
aus die Kühe:/ Treibt sie über’n Steg/ Auf den langen Weg ...« Das Spiel mit
Geräuschsimitationen und das lautmalende Erzählen im Gedicht (etwa Vom
Pelzemärtel die ganze Geschicht’) beherrscht in dieser Zeit niemand so wie
Güll.
Mit einer größeren Zahl von Gedichten betreibt auch Güll »poetischen
Anschauungsunterricht«. Das Stück »Über’s Böcklein« und sein »Zottel-
röcklein« ist als Rede und Gegenrede von Kind und Tier gestaltet; auch das
Gedicht Vom Kühlein auf der Wiesen bleibt bei der einfachen Gegenüberstel-
lung von menschlicher Eigenschaft und der eines Tieres stehen. Von Wilhelm
Hey setzt Güll sich in den meisten Fällen jedoch dadurch ab, dass er das Ei-
gentümliche seines Gegenstandes mittels einer Geschichte über ihn hervor-
treten lässt. Als Beispiele seien hier die Gedichte Vom Hund, Der Mann von
Schnee und Vom argen Wind und vom armen Nußbaum genannt. Bei einer
anderen Gruppe von Gedichten macht sich der Einfluss der Rückert’schen
Mährlein noch stärker bemerkbar: es sind dies Erzählgedichte wie das vom
Büblein auf dem Eis, das beginnt mit: »Gefroren hat es heuer/ noch gar kein
festes Eis«. Auch hier schimmert noch wie bei Rückert das alte Muster der
Abschreckgeschichte hindurch, die freilich zu einem puren Spaß umfunktio-
niert wird: »Das Büblein hat getropfet,/ Der Vater hat geklopfet/ Es aus,/ Zu
Kinderreime und -lieder 127

Haus.« Der heutige Zugang zu Hey und Güll wird erschwert durch die
Nachgeschichte, in der ihrer kinderlyrischen Motive eine starke Abnutzung
erfahren haben; das Gespür für die Originalität beider Autoren sollte man
sich dennoch bewahren.
Neben Hey und Güll ist Heinrich Hoffmann von Fallersleben zu nennen.
Sein publizistisches Schaffen auf diesem Feld setzt 1827 mit dem Siebenge-
stirn gevatterlicher Wiegen-Lieder für Frau Minna von Winterfeld ein und
erreicht in den 40er und 50er Jahren mit mehreren Sammlungen seinen Hö-
hepunkt, die meisten davon versehen mit Vertonungen und Klavierbeglei-
tungen (u. a. von Mendelssohn-Bartholdy, Nicolai, Schumann und Spohr).
Auch für Hoffmann von Fallersleben ist das Wunderhorn die entscheidende
Inspirationsquelle – weniger freilich der Kinderliedanhang mit seinen form-
geschichtlich vorwärtsweisenden lyrischen Techniken, sondern mehr der
Volksliedteil. Das singbare Volkslied bildet mit seiner eigentümlichen Reim-, Zeichnung von Ludwig
Strophen- und Refraintechnik das Muster der Hoffmann’schen Kinderlyrik- Richter zu ABC-Buch für
produktion. Die Imitation des Volksliedtones ist ihm streckenweise so perfekt große und kleine Kinder
von Robert Reinick
gelungen, dass viele seiner Kindergedichte eine Art Folklorisierung erfahren
(1845)
haben. Die Nennung einiger Gedichtanfänge mag hier als Beleg ausreichen:
»Winter, ade!/ Scheiden tut weh«; »Der Winter ist vergangen«; »Kuckuck,
Kuckuck ruft aus dem Wald«; »Alle Vögel sind schon da«; »Wer hat die
schönsten Schäfchen?«; »Ein Männlein steht im Walde«; »Summ, summ,
summ!/ Bienchen summ herum«; »Der Kuckuck und der Esel« und »Morgen
kommt der Weihnachtsmann«.
Von größerer Vielgestaltigkeit ist die Kinderlyrik Robert Reinicks, die Robert Reinick
weitgehend frei ist von der Sentimentalität seiner Märchendichtung und in
einzelnen Stücken noch heute lebendig wirkt. Reinick lieferte die Texte zu
dem von Dresdner Künstlern ausgestatteten Abc-Buch für kleine und große
Kinder (1845); unter den 15 lyrischen Stücken befinden sich »Was thut der
Fuhrmann?/ Der Fuhrmann spannt den Wagen an« und das berühmte Nacht-
wächterlied »Hört ihr Kinder und laßt euch sagen:/ Die Glock hat Neun ge-
schlagen!«. Weitere Gedichte erschienen in der Anthologie Lieder und Fabeln
für die Jugend. 2. verb. Aufl. mit vielen neuen Beiträgen von R. Reinick
(Leipzig 1849) und im Deutschen Jugendkalender, den Hugo Bürkner teil-
weise zusammen mit Reinick zwischen 1847 und 1853 herausgab. Eine
große Rolle spielt auch hier die vom Kind wahrgenommene Natur; in Sachen
›poetischer Anschauungsunterricht‹ steht Reinick den anderen nicht nach,
wie etwa sein Käferlied (»Es waren einmal drei Käferknaben,/ Die täten mit
Gebrumm, brumm, brumm«) oder sein Kaninchen-Gedicht (»Kaninchen,
Karnickelchen,/ Was bist du doch so stumm!«) beweisen. Auch die Personifi-
kation von Naturwesen und Tieren gelingt Reinick bisweilen auf faszinie-
rende Weise. Das Wiegenlied für den Herbst gibt hierfür ein gutes Beispiel
ab:
Sonne hat sich müd’ gelaufen, spricht: »Nun laß ich’s sein!«
Geht zu Bett und schließt die Augen und schläft ruhig ein.
[…]
Bäumchen, das noch eben rauschte, spricht: »Was soll das
sein?
Will die Sonne nicht mehr scheinen, schlaf’ ich ruhig ein!«
[…]
Vogel, der im Baum gesungen, spricht: »Was soll das sein?
Will das Bäumchen nicht mehr rauschen, schlaf’ ich ruhig
ein!«
[usw.]
128 Romantik

Im Winterwiegenlied für die Winterszeit heißt es:


[…]
Da draußen singt der Wind.
Er singt die ganze Welt in Ruh’,
Deckt sie mit weißen Betten zu.
Und bläst er ihr auch ins Gesicht,
Sie rührt sich nicht und regt sich nicht,
Tut auch kein Händchen strecken
Aus ihrer weichen Decken.
In Reinicks Gedichte mischen sich didaktische Elemente, doch braucht oft
die eigentliche Lehre nicht eigens mehr ausgesprochen zu werden, ergibt sie
sich doch aus der erzählten Begebenheit von selbst; Schön-Blümlein ist für
diese Art poetischer Belehrung ein gutes Beispiel. Wie humorvoll Reinicks
Kindergedichte sein können, zeigen die Versuchung (»Gar emsig bei den Bü-
chern/ Ein Knabe sitzt im Kämmerlein,/ Da lacht herein durchs Fenster/ Der
lust’ge, blanke Sonnenschein«) oder Das übergelehrte Kind, eines der sel-
tenen poetologischen Kindergedichte: Ein Kind brütet hier über ernsten und
gelehrten Gedichten zum Deklamieren, wie sie aus der Zeit der Aufklärung
geläufig sind; da zwitschern ihm die Vögel von draußen die neuen, roman-
tischen kinderlyrischen Töne in die Stube, nichts als »Faxen«, wie es zunächst
scheint. Doch dann bekommt der kleine Deklamierer den Vorwurf »Faxen«
zurück, dazu den romantischen Rat, nicht zu deklamieren (»so treib’ doch
nicht Faxen!«), sondern: »Sprich wie dein Schnäbelein/ Grade gewachsen.«
Anthologien Die überaus zahlreichen biedermeierlichen Gedichtanthologien für Kinder,
für Mädchen, für Jungen oder gar fürs ganze Haus machen von der allgemei-
nen Lyrik der Zeit reichhaltigen Gebrauch. Neben Tieck, Chamisso und Ei-
chendorff spielen die schwäbischen Romantiker, allen voran Ludwig Uhland
eine große Rolle. Überboten aber werden die Letzteren noch von Friedrich
Rückert und Ernst Moritz Arndt, von deren später lyrischer Produktion ein
geradezu unmäßiger Gebrauch gemacht wird. Freilich hat davon wenig
überlebt, was sich auch von der sogenannten zweiten Generation biedermei-
erlicher Kinderdichter sagen lässt. Zu ihr wären etwa Hermann Kletke, Ru-
dolf Löwenstein oder Georg Christian Dieffenbach zu rechnen.

Kasperl- und Puppenspiel

Romantischer Karne- Die romantische Wiederentdeckung der Folklore erzeugte schließlich auch
val: Franz Poccis eine neue Aufmerksamkeit für das volkstümliche Figuren- und Puppenthea-
Kasperliaden und ter. Auf dem Feld des Kasperl- und Puppenspiels für Kinder ist Franz Pocci
Märchenspiele die überragende Gestalt. Zugleich Zeichner und Illustrator, Dichter von ro-
mantisch-frommen Kindergedichten, -märchen und -legenden, fand er erst
spät zu dem, was ihn berühmt machte: zum Kasperl- und zum Marionetten-
theater. Zwischen 1846 und 1849 gab er auf Ammerland, seinem Sommer-
sitz, Kasperlvorstellungen mit improvisierten Stücken; doch erst 1855 drang
davon etwas auf den Buchmarkt (Neues Kasperl-Theater, in Stuttgart er-
schienen). 1858 gründete Joseph Leonhard Schmid in München eine stehende
Puppenbühne, das »Münchener Marionettentheater«; Franz Pocci avancierte
zum Hausdichter. Eröffnet wurde die Bühne am 5. Dezember 1858 mit Poc-
Kasperl- und Puppenspiel 129

cis Märchenspiel Prinz Rosenroth und Prinzessin Lilienweiß. Dieses und die
weiteren Stücke erschienen von 1859 bis 1871 in sechs Bänden unter dem
Titel Lustiges Komödienbüchlein in einem Münchner Verlag.
In gewisser Weise kann man auch Pocci einen ›entlaufenen Romantiker‹
nennen; die romantische Literatur jedenfalls, ihre Bilderwelt, ihre Motive,
Formen und Gattungen bilden das Material, mit dem er in parodistischer
Manier spielt. Doch ist seine Romantik-Parodie von ganz anderer Art als die
Heinrich Heines, des eigentlichen ›entlaufenen Romantikers‹. Heines Parodie
ist, so sehr in ihr eine gewisse Faszination für das Romantische auch noch
stecken mag, letztendlich doch destruierenden Charakters; sie bewirkt eine
teils lust-, teils schmerzvolle Desillusionierung. Pocci dagegen ist aller Welt-
schmerz fremd. Die romantisch-poetische Bilderwelt bildet für ihn eine lite-
rarische Überlieferung, in der er sich mit größter Selbstverständlichkeit
bewegt, die radikal und endgültig aus den Angeln zu heben ihm jedoch
schlechterdings nicht einfiele. Wie immer man diese unangefochtene Traditi-
onsverhaftung Poccis auch bewerten mag, sie ist jedenfalls die Voraussetzung
seiner besonderen Form der Komik. Sein sicheres Wurzeln in der roman-
tischen Überlieferung erst erlaubt ihm deren vollständige karnevaleske Um-
kehrung und Aufhebung, die sein eigentliches poetisches Geschäft bilden.
Da gibt es in Kasperl’s Heldenthaten. Ein Ritterstück aus dem finsteren
Mittelalter in dem Band von 1855 einen Eremiten, der ein Schleckermaul
und Vielfraß ist und in seiner Klause einen guten Vorratskeller führt. Pocci
will das Eremitentum damit keineswegs entlarven; ihm geht es allein um den
komischen Effekt, der sich aus dem Kontrast zwischen Hohem und Nied-
rigem, Geistigem und Körperlichem ergibt. Der Eremit als verkappter Fein- Franz Pocci
schmecker ist eine karnevaleske Erscheinung, die einen zum Lachen bringt.
Alle Figuren dieses Stückes sind karnevaleske Umkehrungen: Der Ritter
Kuno ist Inbegriff des Unheroischen, Memmenhaften wie weiland Sancho
Pansa; Kasperl wiederum, versessen aufs Niedrigste, auf Schnaps und gutes
Essen, feige und faul obendrein, begeht, ohne zu wissen, wie ihm geschieht,
Heldentaten reihenweise. In diesem Stück ist alles aufs drastischste in sein
Gegenteil verkehrt; nichts entgeht dem karnevalesken Gelächter. Weder das
Rittertum, noch die christlich-mittelalterliche Welt als poetischer Schauplatz,
noch das romantische Märchenwesen sind damit angegriffen – im Gegenteil.
Dass all dies komisch verkehrt werden kann, zeigt, wie unangefochten diese
Traditionselemente bei Pocci in Geltung sind. Hinzu tritt die elementare
Sprachkomik, von der Pocci reichhaltig Gebrauch macht. Ein Missverständ-
nis reiht sich ans andere und bringt die haarsträubendsten Wortverdrehungen
hervor. Keineswegs sind diese Missverständnisse schon Anzeichen einer
Sprachkrise. Sie decken nur zu oft einen überraschenden, witzigen Hintersinn
des zuvor Gesagten auf, sind in Wahrheit also unfreiwillige Klugheiten und
eben deshalb so komisch.
In den ab 1858 entstehenden Märchenspielen für das Marionettentheater
wird das karnevalesk-komische Element auf einen Seitenstrang der Hand-
lung eingeschränkt. Bei Prinz Rosenroth handelt es sich durchaus um ein
ernstes Märchendrama; Pocci selbst spricht von einem »romantischen Zau-
berspiel«. Die für die Märchenhandlung zentralen Figuren, Prinz und Prin-
zessin, die Fee, der König, Ritter Hugo von Felseck und sein Fräulein, sind
keine komischen Figuren mehr. Kasperl bleibt dies selbstverständlich, wobei
nun allerdings der komische Kontrast aus ihm hinausverlagert wird. Komisch
ist er jetzt nur noch im Kontrast zu dem Hohen, das sich im Prinzen verkör-
pert; gelacht wird über ihn als dummen Esel, in den er am Ende gar leibhaftig
verwandelt wird. In die Gestaltung anderer Nebenfiguren mischen sich sati-
130 Romantik

rische Elemente: In »Hofrath Dünkelmayer« verspottet Pocci aus christli-


chem Konservatismus heraus die neueren Wissenschaften und deren Vertre-
ter. Die zeitgenössische Wirklichkeit ist bei Pocci stets anwesend; in kleinsten
Seitenhieben und Anspielungen lugt sie hervor – freilich so, dass der kind-
liche Zuschauer es kaum wahrnimmt. Pocci bleibt damit einem Grundzug
biedermeierlicher Kinderliteratur treu: die Realität wird zwar nicht ver-
drängt, aber doch poetisch stillgestellt.
131

Vom Biedermeier zum Realismus

Klaus-Ulrich Pech

Als alles vorbei war

Endlich waren die unruhigen Jahre vorüber! Vorbei jene Jahrzehnte zuvor
nie gesehener Umstürze, Änderungen und Kriege, vorbei die Unruhe in der
Welt und in den Köpfen der Menschen. »Alte Regenten, von Napoleon vom
Throne gestoßen, kehrten zu ihren frohlockenden Unterthanen wieder zu-
rück […] überall kam die alte Ordnung neu zurück, alles athmete freyer,
überall waren Jubel, Dank und Gebethe«, schrieb der österreichische Kinder-
buchautor Leopold Chimani 1818. Vorüber das lange Vierteljahrhundert
von »Schrecknissen und Gräueln dieser Staatsempörung«; es gab wieder
Herrscher, erfüllt mit tiefer Religiosität, und über ihnen galt wieder Gott,
»Herr der Herrschenden« und allen Volkes.
Doch war wirklich alles wieder beim Alten? War wirklich wieder alles Ruhe und
zufriedenstellend geordnet, wie es viele Kinderbücher jener Epoche vorga- Zerrissenheit
ben, die man, nimmt man nur ihre Schauseite von Ruhe, Idylle, Zurückgezo-
genheit und Behaglichkeit, die Biedermeierzeit nennt? Auch wenn in den
dreißig deutschen Staaten wieder Frieden eingekehrt war, so sorgten doch die
in den Jahrzehnten zuvor eingeleiteten Reformen, die Versprechungen und
Hoffnungen weiterhin für Unruhe. Doch davon wollte die Kinderliteratur
nichts wissen: Napoleon war »von der großen Schaubühne der Welt« ver-
trieben und mit ihm die umstürzlerischen Ideen, die aus Frankreich herüber-
gedrungen waren: »Nun erscholl das Segenswort: Friede! durch alle deutsche
Gauen, und nach jahrelanger trüber Knechtschaft schlug jedes deutsche Herz
wieder freier in dem Bewußtseyn der ruhmreich wieder erkämpften Unab-
hängigkeit. Und wohl uns, daß die gütige Vorsehung uns Fürsten zu Führern
gab, die mit Weisheit erkannten, was uns Noth that; dies war die Erhaltung
des Friedens.« (Maukisch, 1839) Nach außen herrschte Frieden, aber im In-
neren konnten Brüche nicht mehr verdeckt, Änderungen nicht immer wieder
rückgängig gemacht werden. In der Landwirtschaft wie im Bildungswesen,
in der Staatsverwaltung wie in den Arbeitsverhältnissen war zu viel auf den
Weg gebracht, was sich nicht mehr aufhalten ließ.
Es entwickeln sich eigenständige bürgerliche Lebensanschauungen und Soziale
Verkehrsformen, die in ihrer Offenheit, Zukunftsorientierung und in ihrem Differenzierungen
nichtständischen Selbstbewusstsein mit traditionalen Vorstellungen nicht
mehr viel gemein haben. Tendenziell spielt Geburt nicht mehr länger die
entscheidende Rolle im Lebensweg, sondern die eigene Leistung, das selbst
Erarbeitete, spezialisiertes Fachwissen und allgemeine Bildung. Das Bildungs-
bürgertum bildet eine neue, betont privilegierte gesellschaftliche Gruppe, die
in kulturellen Fragen tonangebend wird. Für diese Gruppe spielt ihre enge
Beziehung zu allem Kulturellen, zur Bildung besonders neuhumanistischer
Prägung, spielt ihr wenn schon nicht politischer, so wenigstens ideologischer
Führungsanspruch eine wichtige Rolle. Infolge wirtschaftlicher und gesell-
132 Vom Biedermeier zum Realismus

Leopold Chimani: Ehren-


und Sittenspiegel aus der
alten und neuen
Geschichte. Wien 1826

Auswanderer – Illustra-
tion von Theodor
Hosemann zu Blumen-
Erzählungen und
Märchen für Kinder von
12 bis 14 Jahren. Berlin
1840

schaftlicher Umstrukturierungen, wozu auch ein sich stark beschleunigendes


Bevölkerungswachstum gehören, geraten weite Bereiche der Gewerbewirt-
schaft, voran viele traditionale Handwerke, in eine langwährende Krise, die,
zusammen mit Verelendungsprozessen städtischer und ländlicher Unter-
schichten und der erbärmlichen Lage des frühen industriellen Proletariats,
zum sogenannten Pauperismus führt, der sich bis zur Märzrevolution nahezu
zu einer Gesellschaftskrise auswächst – Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot,
Hunger und Elend begegnen den Menschen überall in der Realität und in
mancherlei Gestalt auch in der zeitgenössischen Kinderliteratur. Diese Krise
ist Ausdruck des Übergangs der deutschen Gesellschaft des 19. Jh.s vom
ländlich-agrarisch bestimmten Leben zu einem städtisch-industriellen. In
diesem tiefgehenden Wandel verändern sich auch die Formen der Familie
und das Leben der Kinder und Jugendlichen.
Die Sozialisations- und Bildungsprozesse wie die dafür herangezogenen
Medien und Vermittlungsformen sind ausgeprägt schichtenspezifisch: von der
Bildungsreise bis zum Straßenleben, vom Kinderbuch bis zur frühen Heimar-
beit, vom Hauslehrer bis zur Winkelschule. Kindheiten entwickeln sich ge-
trennt nach Klassenfunktionen; sie sind, vereinfacht gesagt, getrennt durch
Reiche Kindheit die Linie zwischen Arm und Reich. Bei allen Unterschieden zwischen Adeligen
und reichen Bürgern, zwischen wohlhabenden Handwerkern und Bildungs-
bürgertum war Kindern dieser sozialen Schichten gemeinsam, dass sie Kind-
heit und Jugend als Schonraum erfahren konnten. In ihm konnten sie, frei
von alltäglichen Sorgen, frei auch von Arbeit, spielen und lernen, Interessen
entwickeln, Begabungen entfalten und Wege zu ihrer Ich-Identität kennen
lernen. Unterstützt durch ein intimes Familienleben, das sich in bisher unbe-
kannter Privatheit entfalten konnte, verstärkten sich die affektiven Bindungen
der Familienmitglieder. Zu den Pflichten der Kinder gehörten nun nicht nur
auf konkrete Anforderungen und Situationen bezogene Tugenden, sondern
auch die von allem Utilitarismus abstrahierende Liebe zu den Geschwistern
und vor allem zu den Eltern: »Die Kinder aber waren sich alle gegenseitig von
Herzen gut und liebten ihre redlichen Aeltern unaussprechlich. Was den Ael-
tern wohlgefiel, sahen ihnen die Kinder schon an den Augen und thaten es
ungeheißen: denn das eben war ja ihre süßeste Freude, wenn sie sahen, daß
die lieben Aeltern sich freueten« (Johann Christian Niemeyer, 1815).
Moral in Geschichten 133

In den Familien der Tagelöhner, Saisonarbeiter und unselbständigen Hand-


werker, der im Heimgewerbe Tätigen, der Landarbeiter und dem großen Teil
der Bauern musste dagegen unausgesetzt gearbeitet werden, um wenigstens
das Minimum des täglichen Lebensbedarfs erwerben zu können. Es herrschte Arme Kindheit
kollektiver Arbeitszwang, dem Frauen und Kinder mindestens ebenso stark
unterworfen waren wie die Männer. Es gab keinen Schonraum, kaum einen
Freiraum für Lernphasen. Einfache Kenntnisse und Handfertigkeiten wurden
durch Nachahmung vermittelt; was darüber hinausging, lernten die Kinder
in mal streng, zumeist aber locker institutionalisierten Einrichtungen wie
einfach ausgestatteten Volksschulen, Sonntagsschulen, Fabrikschulen, er-
gänzt durch kirchlich-religiöse Unterweisungen. Da die Kinder als Arbeits-
kräfte gebraucht wurden, besuchten sie die Schulen auf dem Land nur im
Winter halbwegs regelmäßig, in Gebieten mit dominierender Heimarbeit
oder frühindustriellem Gewerbe das ganze Jahr über nur sporadisch. Und
wenn das durch Nachahmung Erlernte, das unbeholfene Lesen und Rechnen
nicht mehr weiterhalf, vielleicht gar nicht mehr gebraucht wurde – am Web-
stuhl, beim Gutsbesitzer –, war schnell die Verelendungsschwelle überschrit-
ten und die nicht auf die Zukunft vorbereiteten Kinder wurden zu den vom
Bürgertum so gefürchteten Proletariern.
Kinderliteratur, die zu Lesern in sozial schwachen Schichten vordringen
wollte, musste anders sein als die für wohlhabendere, bildungsorientierte
Kreise: vor allem billiger, also auch anspruchsloser ausgestattet, inhaltlich
einfacher, überschaubarer wie emotional direkter ansprechend, und vielleicht
auch, damit sich die Anschaffung lohnte, interessant für Jung und Alt, für,
wie es häufig hieß, »Jugend und Volk«.
Zur Trennung von Reichen und Armen trat eine räumliche: Ausgeprägt Weitere
war noch für lange Zeit der Gegensatz von Stadt und Land, ebenso der zwi- Differenzierungen
schen einzelnen Regionen und einzelnen deutschen Staaten, abhängig vom
Grade der Modernisierung in Gewerbe- und Landwirtschaft, Justiz und Bil-
dungswesen. Dabei spielen auch konfessionelle Unterschiede eine Rolle.
Nicht zuletzt gibt es eine entscheidende Differenzierung, die vom Arbeitsle-
ben bis zur Kinderliteratur reicht: die Trennung der Geschlechter.

Moral in Geschichten

Äußerlich war Ruhe, aber im Inneren – der Menschen wie der Staatsverwal-
tungen – herrschte Unruhe: Zerrissenheit zwischen Aufbruchstimmung und
Angst vor dem Neuen, starrköpfiges Anklammern an das in den Händen
zerrinnende Alte und hoffnungsfrohes Vorausschauen auf die vielverspre-
chende Zukunft, ausgeprägte Revolutionsfurcht und Hoffnungen auf ein
geeintes Deutschland.
In solchen Zeiten fehlender Selbstgewissheit und Sicherheit spielt die Beto-
nung von Normen und Werten eine wichtige Doppelrolle. Die Vermittlung Wertesysteme
von Tugenden soll einerseits das Bewährte weitergeben, alte Werte und Be-
stehendes bewahren, der Errettung des vom Untergang Bedrohten dienen.
Andererseits dient die Tugendvermittlung der Vorbereitung der Zukunft: Das
Neue soll gestärkt, Hoffnungen sollen unterstützt und künftige Aufgaben
ethisch vorbereitet werden. So stehen in der biedermeierlichen Kinder- und
Jugendliteratur beharrende Tugendvorstellungen neben vorausgreifenden.
134 Vom Biedermeier zum Realismus

Moralische Geschichte Die Moralische Geschichte – Sammelbecken der unterschiedlichsten gesell-


schaftlichen Tendenzen – wird zu einem der Hauptträger der biedermeier-
lichen Literatur für junge Leser. An Moralvorstellungen kann sie mancherlei
transportieren: unterschiedliche ideologische Positionen vertreten, weltlich
orientiert sein oder religiös, Fleiß und Arbeitsamkeit des Bürgers,
Fürstentreue, Wissensdurst des Knaben, Bescheidenheit des Mädchens, Gott-
gefälligkeit oder Weltoffenheit propagieren. Doch vielleicht war das dem
jungen Leser letzten Endes – entgegen den Interessen seiner Eltern, dem En-
gagement seiner Erzieher – ziemlich gleichgültig, solange die Geschichte ab-
wechslungsreich und unterhaltsam war, womöglich spannend, gar abenteu-
erlich.
Denn dies charakterisiert die Moralische Geschichte der Biedermeierzeit:
Sie wird immer literarischer. Die Belehrung wird nicht kurz, dogmatisch,
sentenzenhaft vermittelt und an Beispielen veranschaulicht, vielmehr wird
die Exempeltradition einem einschneidenden Fiktionalisierungsprozess un-
Literarisierung terworfen. In der Moralischen Geschichte des Biedermeier wird das beispiel-
hafte Ereignis, das vorbildhafte Verhalten ausgeschmückt, durch Einleitendes
vorbereitet, in den Konsequenzen ausführlich dargestellt und durch litera-
rische Elemente wie Dialog, Naturschilderungen, Rahmenhandlung oder
überraschende Wendungen ausgeweitet. Es treten zahlreiche Personen auf,
mit verschiedenen Tugenden – oder bekehrenswerten Lastern – ausgestattet,
die Handlungsorte werden ausführlich beschrieben und die Handlung wird
in eine spannungssteigernde Folge von Episoden aufgeteilt.
Doch nur wenigen Autoren gelingt es, oder zumeist zutreffender: nur we-
nige Autoren sind willens und in der – schriftstellerischen und ökonomischen
– Lage, das Verhältnis von moralischer Belehrung und geschickt gebauter
Geschichte im Gleichgewicht zu halten. Schnell werden viele Geschichten
zum Selbstzweck, in denen die Unterhaltungsmomente die Belehrung ver-
drängen. Da sich zudem vom listenreichen Bösen allemal interessanter und
spannender schreiben lässt als vom betulichen Guten, wird lieber das Laster
als die Tugend beschrieben. So wird auf zweifache Weise das hohe Ziel der
moralisch-sittlichen Belehrung untergraben. Zwar behauptete ein jeder Au-
tor von Moralischen Geschichten, sein Werk diene der sittlichen Vervoll-
kommnung, es wolle Empfindungen des Guten erwecken und enthalte Dar-
stellungen des Lasters in seiner Verwerflichkeit und der Tugend in ihrer
Schönheit. Doch waren die zeitgenössischen Pädagogen oft schon skeptisch,
ob nicht bei den als sittlich einwandfrei eingestuften Büchern der Fantasie-
reiz zu sehr dominiere und das Leseinteresse sich zur Lesewut übersteigere.
Mit der Befürchtung, die Unterhaltsamkeit der Moralischen Geschichte führe
eher zu Sittenverderbnis als zu tugendhaftem Verhalten, stieg bei Pädagogen,
Lehrern und Theologen die Sorge, ob es überhaupt noch eine für Kinder ge-
eignete Literatur geben könne.
Die Literarisierung der Moralischen Geschichte ist das eine Charakteristi-
kum. Das andere betrifft nicht äußere Elemente, sondern innere. Wenn
Selbstgewissheit und Sicherheit, weltliche Normen und Werte als Ordnungs-
prinzipien versagen, stößt schnell das Religiöse – als Lehre, als Kultus, auch
als Sentimentalität – in die Leerräume vor. Dazu kommen in den ersten Jahr-
zehnten des Jahrhunderts romantische Rechristianisierung, Gegenbewe-
gungen zu dem als gefühllos empfundenen Rationalismus der Aufklärung,
das Bestreben des Obrigkeitsstaates, ein Bündnis von ›Thron und Altar‹ zu
errichten, Erneuerung pietistischer Traditionen und die Politisierung des Ka-
tholizismus. Alle diese Tendenzen und Positionen sind in den moralisch-sitt-
lich belehrenden Schriften für junge Leser zu finden.
Moral in Geschichten 135

Unter solchen gesellschaftlichen und psychosozialen Bedingungen Bücher


für Kinder zu schreiben, spricht vor allem Theologen an, die für die rund
zwei Jahrzehnte der Biedermeierzeit das Gros der Kinderliteratur-Autoren
stellen. Dazu zählt auch der populärste Kinderbuchautor des gesamten 19. Theologen als Autoren
Jh.s: Christoph von Schmid, katholischer Geistlicher und seit 1826 Domka-
pitular in Augsburg. Bis 1850 verfasste er weit über hundert Geschichten
und mehrere Dutzend längere, oft romanhafte Erzählungen, die in zahl-
reichen Auflagen erschienen, in über zwanzig Sprachen übersetzt wurden
und zugleich Anstoß gaben für Bearbeitungen, Anlehnungen oder für die
Aufforderung von Verlegern an andere Autoren ›im Stile von Schmid‹ zu
schreiben. So erschienen, weil die fingierte Verfasserschaft Erfolg versprach,
immer wieder vorgeblich von Schmid verfasste Werke und Gegen- oder Sei-
tenstücke zu seinen besonders populären Werken. In die meisten Auswahl-
und Empfehlungslisten des 19. Jh.s wurden Schmids Bücher wegen ihrer
einwandfreien religiös-moralischen Tendenz lobend aufgenommen. Zur Po-
pularisierung Schmids trug die Verteilung seiner Bücher als Schulgaben und
Preisgewinne im gesamten süddeutschen Raum ebenso bei wie die Aufnahme
kürzerer Erzählungen in Schullesebücher. Christoph von Schmid
Die Erzählung Die Ostereyer (1816) machte Schmid so berühmt, dass auf
den Titeln seiner späteren Bücher häufig nur »Vom Verfasser der Ostereyer«
angegeben wurde – Leserbindung und Verkaufsförderung geschickt kombi-
nierend. In der Geschichte von den Ostereiern wird erzählt, wie in einem »Die Ostereyer«
einsam inmitten idyllischer Natur gelegenen Köhlerdorf eine vornehme Frau
mit ihren Kindern und einem Diener Zuflucht sucht. Harte Arbeit und
»strenge Mäßigkeit« prägten die Menschen des Dorfes, aber sie waren »voll-
kommen gesund, und man sah in diesen armen Hütten – was man in Palläs-
ten vergebens suchen würde – Männer, die über hundert Jahre alt waren.«
Die Dorfbewohner nehmen die Fremden auf und versorgen sie, trotz ihrer
Armut, mit allem Notwendigen. Als Gegengabe bringt die vornehme und
auffallend gebildete Frau den Dorfkindern das Lesen bei, erzählt ihnen bi-
blische Geschichten – im Zentrum steht die Ostergeschichte –, versorgt die
Erwachsenen mit praktischen Ratschlägen – zur Hühnerhaltung und Eier-
verwertung – und macht alle mit einer Unmenge moralischer Sentenzen ver-
traut, die sie anlässlich des herannahenden Osterfestes auf Eier schreibt:
»Gebet und Fleiß/ Macht gut und weis’«; »Bescheidenheit/ Das schönste
Kleid«; »Geduld im Leiden/ bringt Himmelsfreuden«. Beim Osterfest tröstet
die vornehme Dame zwei Kinder, deren Mutter gerade gestorben ist: »Aber
seyd getrost, ihr guten Kinder! Auch eure liebe, fromme Mutter wird wieder
auferstehen. Wie die Jünger und Jüngerinnen Jesu, die über den Tod ihres
geliebten Herrn und Heilandes voll Traurigkeit waren, Ihn wiedergesehen
haben und eine unbeschreibliche Freude hatten, so werdet auch ihr dereinst
eure liebe Mutter wiedersehen, ihr freundliches Angesicht, nicht mehr vom
Tode entstellt, sondern von himmlischer Schönheit verklärt, wiedererkennen,
und auch eure Freude wird unaussprechlich groß seyn«. Endlich werden
Frau, Kinder und Diener durch den von erfolgreichem Beutezug heimkeh-
renden Ritter entdeckt, und die vornehme Familie nimmt Abschied vom
Dorf, den Brauch des Ostereier-Bemalens zurücklassend.
Weitere erfolgreiche Bücher Schmids, in vielen Auflagen erschienen und
noch im 20. Jh. publiziert, sind Wie Heinrich von Eichenfels zur Erkenntnis
Gottes kam (1818), Rosa von Tannenburg und Das Blumenkörbchen, beide
1823 erschienen, Der Weihnachtsabend (1825), Das hölzerne Kreuz (1826)
und Der gute Fridolin und der böse Dietrich (1830). Allen Geschichten
Schmids ist ein starkes Moralisieren eigen, wobei die weltlichen Tugenden
136 Vom Biedermeier zum Realismus

aus den religiösen abgeleitet werden. Gottvertrauen hilft aus jeglicher Not,
auch wenn gelegentlich auf das jenseitige Leben vertröstet werden muss. Be-
liebt sind unschuldig Verfolgte, die Eltern ehrende Kinder und scheinbare
Bösewichte, die sich zum Christentum bekehren lassen.
Warum waren Schmids Für den Erfolg von Schmids Büchern lässt sich zunächst ein äußerer Grund
Bücher so erfolgreich? angeben: Anfangs erschienen seine Erzählungen in Heftchenform, auf
schlechtem Papier billig gedruckt, niedrig im Preis, so dass auch unterbürger-
liche Schichten sie kaufen konnten. Erst später erschienen die besser aufge-
machten, illustrierten Gesamtausgaben und die aufwendigen, das gehobene
Bürgertum ansprechenden Prachtbände. Inhaltliche Gründe sind mehrere zu
nennen. Charakteristisch ist die einfache soziale Schichtung der Protagonis-
ten: arm – reich, vornehm – bescheiden, Palast – Hütte, gebildet – ungebildet.
Es dominiert das patriarchalische Weltbild einer gegenwartsfernen Idylle, die
so lange bestehen kann, wie alle mit ihrem Stand zufrieden sind. Zur ein-
fachen sozialen Schichtung gehört die einfache moralische: gut – böse, sitt-
sam – unsittlich, tugendhaft – lasterhaft, gottgefällig – des Teufels. Immer
kommt es zur schnellen Bestrafung des Bösen und der nicht zuletzt materiel-
Ludwig Richter: len Belohnung des Guten. Das starre Normensystem, das keine fließenden
Genoveva (1858) Übergänge, keine Änderungen, auch keine Konflikte zwischen konkur-
rierenden Wertvorstellungen kennt, entsprach nicht nur den Konzepten der
biedermeierlichen Erziehung, sondern auch der gesellschaftlichen, ja poli-
tischen Vorstellung der Restaurationsepoche.
Einfachheit, Einfältigkeit und Überschaubarkeit kommen dem Verständnis
der Kinder entgegen; dieser Wunsch nach einer einfach gegliederten, sta-
tischen Welt kann nur in der Beschreibung vergangener Zeiten erfüllt werden.
Der Rückgriff auf eine nur vage bestimmte mittelalterliche Vorzeit ist ein
Reflex auf die vielfältigen Modernisierungsprozesse. In der Schilderung alter
Feudal- und Agrargesellschaften liegt der Vorwurf, allein wegen ihrer Neu-
heit und Unüberschaubarkeit sei die Moderne zu verwerfen.
Entscheidend für den Erfolg war das religiöse Moment. Charakteristisch
ist das aus der religiösen Grundströmung der Zeit heraus entwickelte Kind-
heitsbild, das bei Schmid seinen kennzeichnendsten Ausdruck findet: Kinder
sind rein und lieb, nahezu engelgleich, unverdorben und zu unvergleichlicher
Religionsseligkeit fähig, voller unverbildeter Natürlichkeit und nicht mit kalt
beobachtender Vernunft, sondern nur durch die Sinne zu erfassen, vornehm-
lich mit dem Geschmackssinn: süß.
Auch die literarischen Elemente der Romantik, die Schmid verarbeitete,
trugen zum Erfolg bei. Die Sehnsucht nach vermeintlich besserer vergangener
Zeit, aber auch die Lust am Geheimnisvollen und Spannenden konkretisieren
sich in der gehäuften Verwendung von Szenerie-Elementen wie Burgen, Ka-
pellen und ausführlich geschilderter Natur, unstet schwankend zwischen
bergender Idylle und drohend-finsterer Fremdheit. Zu diesen effektvollen
Versatzstücken gesellt sich ein Spannung versprechendes Personal: Ritter
und geheimnisvolle Fremde, Zigeunerinnen und leutselige Adlige, vom Tod
Gezeichnete und vom Glauben gänzlich Durchdrungene. Es fehlt die ›Nacht-
seite‹ alles Naturhaften, das Grausige, aber auch das Ironische der ja noch
zeitgenössischen Romantiker.
Schmids Werke sind Schmids Werke sind direkter Gegenpol zur aufklärerischen Kinder- und
Gegenpol zur Jugendliteratur. Auch wenn sie sich genuiner Elemente der Aufklärung bedie-
aufklärerischen nen, werden diese mit anderen Funktionen belegt. Erziehungsziel ist nicht
Kinderliteratur mehr der mündige, selbstbewusste Bürger, der für sich und die Gesellschaft
Glück, Wohlstand und stete Verbesserung erarbeiten will. Erziehungsziel ist
nicht mehr die Anerkennung der Vernunft als oberste leitende Instanz, son-
Moral in Geschichten 137

dern des Gefühls. Schmids Schriften sind gegen den ›Räsonniergeist‹, für
wohlwollenden Glauben und kindlichen Dank. Seine Erzählungen kennen
nur die kollektive Rührseligkeit, nicht die individuelle Leidenschaft; diese
wird als zu eigenwillig, zu selbständig abgelehnt. Erwünscht ist bedingungs-
loses Unterwerfen unter die christliche Lehre, unter die ritualisierte Form ei-
ner emotionalisierten Frömmigkeit.
Doch man muss auch sehen: Durch Schmid ist die Entwicklung der Mora-
lischen Geschichte zur langen Erzählung, gar zum Roman entscheidend for-
ciert worden. Dies hatte wichtige Folgen für den Handlungsaufbau, die Ge-
staltung der Szenerie, die Vermehrung der Protagonisten und für die Glaub-
würdigkeit einer Erzählung. Folgerichtiger Einsatz der Motivik, weniger
konstruiert wirkende Dialoge, auch psychologisch begründete Handlungs-
führung sind Bedingungen, die nach und nach erfüllt wurden.
In der Tradition Schmids stehen zahlreiche Autoren. Wilhelm Bauberger
widmete ihm sein erstes Buch Die Beatushöhle (1830), eine Nachahmung
von Schmids Rosa von Tannenburg, die noch weitaus stärker aufträgt als das
Vorbild. Deutlicher als bei Schmid ist die sittlich-religiöse Belehrung katho-
lisch geprägt; dies ist auch bei Wilhelm Herchenbach und Theophilus Nelk
(d. i. Alois Adalbert Waibel) der Fall. Herchenbach führte die religiöse Tradi-
tion der Moralischen Geschichte bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jh.s
hinein. Er verfasste mehr als 250 Bücher, neben Moralischen Geschichten
auch Sagenbearbeitungen, vaterländische Erzählungen und Gespensterge-
schichten. Im Zentrum steht immer ein beispielhaftes christliches Leben. Ob
nun Königin Hildegard oder Der Sieg der Unschuld über die Bosheit (1858), Illustration von Allanson
zu Dies Buch gehört
Bruno und Lucy, oder: Die Wege des Herrn sind wunderbar (1869), Die
meinen Kindern von
Goldkinder, oder: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß du lange lebest Ferdinand Schmidt.
auf Erden (1865) oder die Erzählungssammlung Neue Erzählungs-Abende Leipzig 1851
(1860), immer endet die Geschichte mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit
eines tugendhaften, gottesfürchtigen Lebens. Nelks über hundert Kinder-
schriften waren vornehmlich bei der katholischen süddeutschen Bevölkerung
verbreitet. Einfältig im Inhalt, anspruchslos in der Ausstattung, sprachen sie
gleichermaßen Kinder und das ›einfache Volk‹ an. Das protestantische Ge-
genstück zu den Werken Schmids waren die Schriften Christian Gottlob
Barths, der ebenfalls einer der populärsten Autoren des 19. Jh.s war. Strenger Christian Gottlob
Pietismus, der Wunsch, sozial tätig zu werden, und missionarischer Eifer auf Barth
dem Gebiet der Volksliteratur führten Barth dazu, für Kinder und Jugendli-
che zu schreiben; er schrieb mehrere Dutzend Kinder- und Jugendschriften.
Am erfolgreichsten war ein betont religiöses Werk, das er gemeinsam mit
einem Pfarrer Hochstetter verfasste: Zweimal zweiundfünfzig biblische Ge-
schichten für Kinder (1832). Bis zum Ende des 19. Jh.s erschien dieses Werk
allein in deutscher Sprache in zwei Millionen Exemplaren; Übersetzungen in
68 Sprachen sind nachgewiesen. Gleichfalls weit verbreitet waren Der arme
Heinrich oder die Pilgerhütte am Weißenstein (1828), Die Rabenfeder (1832)
und Die Flucht des Camisarden (1840).
Als ›österreichischer Christoph von Schmid‹ wurde häufig Leopold Chi- Leopold Chimani
mani bezeichnet, der produktivste Kinderschriften-Autor Österreichs im 19.
Jh.. Einen Großteil seiner weit über hundert, oft mehrbändigen Bücher ma-
chen die Moralischen Geschichten aus, in denen der junge Leser die Abhän-
gigkeit der weltlichen Tugenden von der religiösen Moral vorgeführt be-
kommt. Ausgangspunkt der Moralischen Geschichten Chimanis ist immer
ein weltlicher Vorgang, ein konkretes Ereignis. Er berichtet von Naturkatas-
trophen und merkwürdigen Vorfällen im Alltagsleben, von Tieren und unge-
horsamen Kindern, von sensationellen Unglücksfällen und immer wieder
138 Vom Biedermeier zum Realismus

von Kriegsereignissen. Diese Berichte sind in wahlloser Reihenfolge zusam-


mengestellt: Eine Sängerin, die nicht sprechen kann, Vom Kohlendampf Er-
stickte, Sehr alte Menschen, Fürchterlicher Sturmwind in Wien, Zwei zusam-
mengewachsene Menschen in Ungarn. Der Magazincharakter wird noch
verstärkt durch das Unterteilen der ohnehin kurzen Geschichten in mehrere
Abschnitte. Jeder berichtete Vorfall dient der moralischen Belehrung. Dabei
ist Chimanis Maxime, dass sich jeder Mensch der bestehenden Ordnung, in
der Adel und Klerus Stellvertreter Gottes seien, bedingungslos zu unterwer-
fen habe. Selbst aus den unwahrscheinlichsten Begebenheiten und grässlichs-
ten Unfällen leitet er noch die weise Vorsehung Gottes und den Nachweis ab,
in der besten aller Welten zu leben. Chimani, zunächst Lehrer, seit 1807 Ver-
waltungsbeamter bei der ›kaiserlich-königlichen-Normal-Schulbücher-Ver-
schleiß-Administration‹, gelegentlich auch als Bücherzensor arbeitend, be-
gann seine literarische Karriere 1814 mit dem sechsbändigen Vaterländischen
Jugendfreund. Von den zahlreichen moralisch belehrenden Werken seien hier
nur hervorgehoben Tugendspiegel und Warnungstafel (1818), Gottes weise
Fügungen, oder wunderbare Schicksale eines Knaben in Europa und Ame-
rika (1824), Ritter Landsberg, oder die wunderbaren Wege der göttlichen
Fürsehung. Eine rührende Geschichte des Mittelalters (1826), Religion und
Tugend (1828), Bete und arbeite! (1828), Edelsinn und Herzensgüte (1829),
Die Silberquelle des Guten und Schönen (1833), Tugendglanz und Seelen-
größe guter Menschen im Handeln, Dulden und Leiden (1838) und Der
Christen-Sclave in Algier und Jerusalem (1840). Chimanis Kinder- und Ju-
gendbücher waren bis zum Ende des 19. Jh.s verbreitet und bildeten beliebte
Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke; in den österreichischen Schulen
wurden sie als Prämienbücher vergeben. Ihre bewusst unterschiedlich auf-
wendige Ausstattung kam den finanziellen Möglichkeiten verschiedener so-
zialer Schichten entgegen, so dass Chimani schließlich als allgemeiner Förde-
rer der Tugend von Österreichs Jugend anerkannt wurde und von Franz I.,
dem österreichischen Kaiser, die ›Große goldene Verdienstmedaille‹ verliehen
bekam.
Die restaurative Tendenz der Moralischen Geschichten, die bei den öster-
reichischen Autoren weitaus deutlicher zutage tritt als bei den süddeutschen
oder norddeutsch-preußischen, zeigt sich vehement im Werk Josef Sigmund
Ebersbergs, das neben einigen anderen Schriften nahezu zweihundert Mora-
lische Geschichten oft beträchtlicher Länge umfasst. Ebersbergs Hauptschaf-
fensperiode fiel in die Jahre zwischen 1825 und 1835; später veröffentlichte
Werke sind zumeist Neuausgaben oder neue Zusammenstellungen von be-
reits früher Publiziertem. Schon 1835 erschien eine Gesamtausgabe seiner
Moralischen Geschichten in acht Bänden: Erzählungen für meine Söhne.
Jede seiner Geschichten fordert zur kritiklosen Anpassung an die ›gottgege-
bene‹ Ordnung auf. Fassungs- und begriffslos stehen seine Protagonisten –
häufig Offiziere oder Verwaltungsbeamte, Gutsbesitzer oder wohlhabende
Kaufleute – vor den Folgen gesellschaftlicher Umwälzungen, so dass sie die
Französische Revolution, die Eroberungen Napoleons mit der grundlegenden
Umorganisation Europas und die in diesem Zusammenhang geführten Kriege
nur als Werk des Bösen deuten können.
Religiosität als Nicht alle diese Moralischen Geschichten sind religiös unterlegt, aber
literarisches Gesetz wenn dies der Fall ist, dann zeigt sich ein folgenschwerer Mechanismus:
Weiß der Held einmal nicht weiter, oder, was oft dasselbe ist, weiß der Autor
mit seiner Geschichte nicht weiter, dann helfen Gebete, Gottes weise Vorse-
hung oder Gott als deus ex machina. Dies ist eine der vernunft-, deshalb
verantwortungslosesten Methoden, um in schwierigen Situationen einen
Moral in Geschichten 139

Ausweg zu finden; und das Fatale ist, dass dies die Moralischen Geschichten
sowohl inhaltlich als auch formal propagieren, als sittliches wie literarisches
Gesetz.
Die Weiterentwicklung der Moralischen Geschichte durch Fiktionalisie-
rung wird wesentlich durch eher weltlich orientierte moralische Belehrungen
vorangetrieben. Vorhanden waren diese weltlichen Elemente auch schon in
den Moralischen Geschichten der bisher vorgestellten Autoren, als histo-
rische Themen – alltägliche Begebenheiten, Kriegsereignisse, kleine Abenteuer
– oder als Tugenden und Laster – Sparsamkeit, Arbeitsfreude, Geiz, Putz-
sucht. Doch den entscheidenden Anstoß zur endgültigen Säkularisation der
Moralischen Geschichte gaben seit den 30er und 40er Jahren Autoren, die
nicht aus pädagogischem Impetus Kinderschriften verfassten, sondern sich
am ökonomischen Erfolg orientierten, genauer: orientieren mussten. Diese Volksschullehrer
weltliche Moralliteratur wurde weniger von Theologen als von Pädagogen als Autoren
geschrieben, vor allem von Volksschullehrern, niederen sozialen Schichten
entstammend, dürftig in Seminaren ausgebildet, schlecht bezahlt und mit
nach wie vor niederem sozialen Status. Neben diese Lehrer treten zunehmend
häufiger die Kinderbuchautoren aus Profession.
Im Zuge der Modernisierung des gesamten Buchmarktes, zu dem neue
Maschinen bei der Papierherstellung wie beim Druck, neue gewerberecht-
liche Regelungen ebenso beitrugen wie die Zunahme des Lesepublikums
aufgrund starken Bevölkerungswachstums und steigender Lesefähigkeit,
entdeckten viele Verleger und Autoren, dass sich mit Kinderliteratur Geld
verdienen ließ. Es kam vor allem darauf an, marktgängige Ware anzubieten.
Dadurch war die Professionalisierung der Schriftstellerei von einem stets
vorhandenen Produktionsdruck begleitet. Da die Honorare zumeist nach der
Auflagenhöhe festgelegt wurden, bestimmten die Verkaufserfolge, also die
Bereitschaft, den Publikumsgeschmack zu treffen, das Einkommen. Deshalb Vielschreiber
das schier unübersehbare Ausufern von Moralischen Geschichten à la
Schmid, verfasst von Vielschreibern wie Gustav Nieritz, Franz Hoffmann,
Philipp Wolfgang Körber, Rosalie Koch und vielen anderen Autoren. Doch
da die Honorare, auch bei außerordentlicher Popularität, äußerst niedrig
blieben, musste die Masse der Produktion das Einkommen sichern: ein zwei-
ter Grund für das Ausufern und die oft nur geringe Variation der Moralischen
Geschichten. Wie in der zeitgenössischen Literatur für Erwachsene, betraten
auch in der Kinder- und Jugendliteratur die Vielschreiber die Bühne. Bereits
1828 kritisierte Wolfgang Menzel: »Jetzt ist Deutschland mit einer unermeß-
lichen Kinderliteratur überschwemmt, und Wien und Nürnberg sind die
großen Fabrikstätten derselben. Im Augenblick der ersten pädagogischen
Wuth suchte man den Kindern alles Wissenswürdige einzupfropfen, und man
schrieb aus Liebe für dieselben, was das Zeug halten wollte. In der neuern
Zeit sucht man wieder, wenigstens die Schulbücher zu vereinfachen und aus
der Masse das Beste zu sondern. Leider aber ist der literarische Unterricht
den Pädagogen von den Buchhändlern aus den Händen gewunden, und die
letztern überschwemmen Deutschland mit ihren lüderlichen, von außen glei-
ßenden, von innen hohlen Fabrikaten. Sie können dies, weil unter den Päda-
gogen keine Einigkeit ist, und weil die Modesucht so weit geht, daß man so-
gar den Kindern nur neue Sachen geben will. Um die Weihnachtszeit wimmelt
es in den Läden der Buchhändler von Eltern und Kinderfreunden, die alle die
brillanten Sächelchen aufkaufen, welche die neue Messe geliefert. Die Alten
greifen, wie die Kinder selbst, am liebsten nach den neuen Flittern.«
Der charakteristischste Vertreter dieser Richtung, neben Schmid und Barth Gustav Nieritz
der Dritte im Triumvirat der erfolgreichsten Autoren des 19. Jh.s, war Gustav
140 Vom Biedermeier zum Realismus

Illustration zu Hundert-
fünfzig moralische
Erzählungen von Franz
Hoffmann. Stuttgart 1842

Illustration zu Eigensinn
und Buße von Franz
Hoffmann. Stuttgart 1855

Nieritz. »Trotz meiner fast übergroßen Leselust«, berichtet er, »würde ich
selbst die Feder zum Erzählen niemals ergriffen haben, wenn die Not [...]
mich nicht dazu getrieben hätte. Ich war Lehrer an einer öffentlichen Volks-
schule Dresdens und erhielt nach 14 sauren Dienstjahren eine jährliche Be-
soldung von 150 Thlrn. […] Es war in dem harten Winter 1829 – 30, als ich
in meinem niederen Dachstübchen, von meinen munteren Kleinen umtobt,
[…] zu schreiben begann.« Von dem Verleger Gubitz erhält er für jede Erzäh-
lung zunächst 20, dann 25 Taler. Seit 1840 gibt Nieritz die Jugend-Bibliothek
heraus, für die er jährlich für 200 Taler drei Romane schreiben muss. Insge-
samt hat Nieritz innerhalb von drei Jahrzehnten, neben zahlreichen kurzen
Geschichten für Zeitschriften und Sammelbände, 117 längere Erzählungen
verfasst, also durchschnittlich vier Bücher pro Jahr. Seine bekanntesten wur-
den Der kleine Bergmann oder Ehrlich währt am längsten (1834), Alexander
Menzikoff oder: Die Gefahren des Reichtums (1834), Der junge Trommel-
schläger, oder: Der gute Sohn (1838), Mutterliebe und Brudertreue, oder:
Die Gefahren einer großen Stadt (1844), Gustav Wasa, oder: König und
Bauer (1846), Die Türken vor Wien im Jahre 1683 (1855) und Der Gold-
koch, oder: Die Erfindung des Porzellans (1863). Alle diese Bücher erlebten
im gesamten 19. Jh. zahlreiche Auflagen – Alexander Menzikoff beispiels-
weise im Jahre 1900 die neunzehnte – und wurden in die gängigsten europä-
ischen Sprachen übersetzt. Rückblickend erinnert sich Nieritz: »›Hüten Sie
sich vor Vielschreiberei!‹ hat man warnend mir zugerufen. Aber mein Fürst,
geehrtes Publikum, lieber Herr Verleger, setzen Sie denn durch ihre Groß-
muth einen armen Autor in den Stand, daß er nicht um’s liebe Brot zu schrei-
ben gezwungen ist, sondern nur dann die Feder führen soll, wenn hohe Be-
geisterung ihn mächtig dazu treibt?«
Realismus Dass Nieritz’ Werk auffallend häufig auf Kritik und Ablehnung stieß, liegt
vor allem am Realismus und der Gegenwartsbezogenheit vieler seiner Ro-
mane, die damit an der Schwelle von der Biedermeierzeit zum Realismus
stehen. Sie richten sich, wie viele andere moralisierende Romane auch, an
kleinbürgerliche Leser, aber sie schildern zugleich wie kaum ein anderes
Werk das Leben dieser Schichten. Nieritz verarbeitet die Erfahrungen jener
Moral in Geschichten 141

erst rechtlosen, dann den Veränderungen am schonungslosesten ausgeliefer-


ten Menschen. In vielen seiner Romane treten abgearbeitete Spitzenklöpple-
rinnen und kranke Steinklopfer auf, vom Tod gezeichnete Arbeiter in Kup-
fervitriolhütten, arme Landarbeiter, ausgemergelte Schreiber, es herrschen
Hunger, Wohnungsnot, Verarmung, Elend. Sicher, viele Romane dienen zu-
gleich einem eskapistischen Lesevergnügen und geben sich mit dem status
quo zufrieden. Auch sind die sozialen Probleme reduziert auf die moralische
Polarisierung von Recht und Unrecht, wobei profitorientiertes Streben un-
moralisch ist, patriarchalische Fürsorge des Fabrikherren dagegen moralisch.
Aber mit Nieritz kommen Themen zur Sprache, werden Stoffe verarbeitet
und Protagonisten eingeführt, die bisher nicht zum üblichen Repertoire von
Kinder- und Jugendliteratur gehörten.
Wie Nieritz hatte auch Franz Hoffmann aus materieller Not mit dem Ver- Franz Hoffmann:
fassen von Literatur für junge Leser begonnen. Mit fünfundzwanzig Jahren Schreiben aus
schloss er mit einem Verleger einen Vertrag, der ihn verpflichtete, jährlich materieller Not
zwanzig Erzählungen zu schreiben. Hoffmann empfand dies als »Fabrikthä-
tigkeit«. Als seine moralisch belehrenden und zugleich unterhaltsamen Ge-
schichten große Popularität erlangt hatten, veröffentlichte sein Verleger, um
die große Nachfrage nach immer neuen Hoffmann-Geschichten befriedigen
zu können, unter seinem Namen auch Erzählungen, die von anderen, unbe-
kannten Lohnschreibern stammten – eine Methode, die auch in der zeitge-
nössischen Erwachsenenliteratur üblich war. Welche Erzählungen von ihm,
welche von anderen stammten, konnte auch Hoffmann selbst nicht mehr
angeben, nachdem hunderte von Geschichten auf den Markt geworfen wor-
den waren.
Nach den Hundertfünfzig moralischen Erzählungen für kleine Kinder,
erstmals 1842, in der 15. Auflage 1876 erschienen, und anderen Sammlungen
kurzer Moralischer Geschichten folgten über hundert längere Erzählungen
und Romane. Darin wird der tugendhafte Held durch Leid und Gefahren,
durch Unfälle und Bedrohungen aller Art zum Sieg geführt. Was sich als
Prüfung tugendhaften Verhaltens legitimiert, bietet Anlass, in Schilderungen
von Marterszenen, Blutvergießen, Mord, Durst- und Hungerqualen und
kriegerischen Gräueln zu schwelgen. Rücksichtslos beutete Hoffmann die Marktorientierte
vergangene und zeitgenössische Literatur aus. Ob Märchen, Legenden, Sa- Unterhaltungsliteratur
gen, ob Reisebericht oder historische Erzählung, ob amerikanische Abenteu-
ergeschichte oder französische Schauerliteratur, alles wurde in die neue Form
unterhaltsamer Kinderliteratur umgegossen. Ökonomisch begründeter
Schreibanlass und willkürliche, auf schnelle Verwertbarkeit angelegte Tradi-
tionsaufnahme hatten zur Folge, dass die Übergänge von Moralischer Ge-
schichte zur Abenteuerliteratur, zum unterhaltsamen Kinderroman und zur
historischen Erzählung fließend wurden. Auch wenn die Titel noch an die
biedermeierliche Moralische Geschichte erinnern, im Inhalt ist die marktori-
entierte Unterhaltungsliteratur eingezogen: Äußerer Glanz und innerer Wert
(1862), An Gottes Segen ist alles gelegen (1851), Arm und Reich (1845), Der
Schein trügt, die Wahrheit siegt (1848), Ohnmacht des Reichthums (1859),
und dutzendfach Titel und Bücher ähnlicher Art. Kennzeichnenderweise
spiegeln die Abbildungen die marktgängige Abenteuerlichkeit eher wider als
die noch der Kontrolle unterworfenen Titel.
So hatte die Moralische Geschichte, an die in der Aufklärung entwickelten
Traditionen anknüpfend, verändert durch religiöse Überformungen, durch
Marktorientierung und Vernachlässigung literaturpädagogischer Ansprüche,
eine Fülle von Möglichkeiten eröffnet, Erzählliteratur für Kinder zu schrei-
ben. Dazu gehören auch die zusammen mit Schauspielen, Märchen, Roman-
142 Vom Biedermeier zum Realismus

zen veröffentlichten Erzählungen des Gutsbesitzers Ernst von Houwald im


Buch für Kinder gebildeter Stände (3 Bde., 1819 – 1824), in denen Kinder
wohlhabender Eltern sich den unterbürgerlichen Schichten nur mit Almosen
in den Händen nähern und darüber vor Rührung zerfließen; dazu gehören
viele Bücher von Johann Andreas Löhr, auch die Familiengemälde von Jakob
Glatz, die das philanthropische Erbe in die Biedermeierzeit herübertrugen.
Dazu gehören die biedermeierlichen Familienerzählungen und beispielhaften
Lebensgeschichten, gehören kleine Romane mit anspruchsvoller Erzählstruk-
tur und kurze Geschichten mit einsträngiger Morallehre, durchdacht präsen-
tierte Tugendkataloge oder Erzählungen voll blinder Motivik. Auch gibt es
jetzt eine Reihe von Schriftstellerinnen, die nicht nur für Mädchen oder für
die Kleinsten Kinderbücher verfassen, wie Amalia Schoppe, Thekla von
Gumpert, Ottilie Wildermuth, Rosalie Koch und Agnes Franz.
Alle Möglichkeiten moralischer Belehrung, entsprechender literarischer
Funktionen und von Beziehungen zwischen Bild und Text versammeln sich
im Werk zweier Autoren wie unter einem Brennglas: in Heinrich Hoffmanns
»Der Struwwelpeter« Struwwelpeter (1845) und in den Bildergeschichten Wilhelm Buschs. Obwohl
beide in vielfältiger Weise auf traditionelle Kinderliteraturelemente zurück-
griffen – auf die Warn- und Unglücksgeschichten, die Moralischen Ge-
schichten des 18. und 19. Jh.s, die seit Beginn des 19. Jh.s auch für Klein-
kinder existierenden Bilderbücher, die Bilderbogen, auch auf satirische, iro-
nische oder groteske Elemente –, schufen Hoffmann und Busch doch
eigenständige und neuartige Werke.
Aus Unzufriedenheit über das Kinderbuchangebot zum Weihnachtsfest
1844 hatte Hoffmann für seinen dreijährigen Sohn ein Heft mit Zeichnungen
angefertigt, das der Buchhändler Loening 1845 unter dem Titel Lustige
Geschichten und drollige Bilder mit 15 schön kolorierten Tafeln für Kinder
von 3 bis 6 Jahren veröffentlichte. Anzahl und Reihenfolge der Geschichten
wichen von der heute bekannten Ausgabe ab. Erst die fünfte, 1847 erschie-
nene Auflage hatte den Titel Struwwelpeter, enthielt die Titelfigur und alle
Geschichten in der bis heute üblichen Reihenfolge.
Der Struwwelpeter wurde innerhalb weniger Jahre ungewöhnlich häufig
aufgelegt. Bereits 1871 erschien die 100., 1921 die 500. Auflage. Seit dem
Ablauf des Urheberschutzes 1925 veröffentlichten auch viele andere Verlage
Nachdrucke in unterschiedlich ausgestatteten Versionen vom billigen Papp-
Heinrich Hoffmann bilderbuch bis zum aufwendig, mit Vertonungen ausgestatteten Prachtband.
Schon zu Lebzeiten Hoffmanns wurde das Buch in viele Sprachen übersetzt;
heute ist es in allen Kontinenten verbreitet und hat eine Gesamtauflage von
vermutlich über 15 Millionen Exemplaren erreicht. So wurde der Struwwel-
peter zum wohl populärsten Bilderbuch überhaupt.
In den zehn Geschichten wird von ungehorsamen Kindern und den schlim-
men Folgen des Ungehorsams erzählt, von Tierquälerei, Essensverweigerung,
unzivilisiert-unbürgerlichem Verhalten, symbolischen Familienkatastrophen,
von Verspottung von Minderheiten. Schon bald wurden zwar nicht diese In-
halte, aber die Drastik der deutlich ins Bild gesetzten Strafen kritisiert: ver-
brennen, verhungern, in ein Tintenglas tauchen, abgeschnittene Daumen – ein
Sadismus und Buch für Kleinkinder voller Leichen, Verletzter, Verstümmelter. Zu zeitgenös-
Masochismus sischen Angriffen nahm bereits Hoffmann Stellung: Man habe den Struw-
welpeter »großer Sünden beschuldigt, denselben als gar zu märchenhaft, die
Bilder als fratzenhaft oder derb getadelt. Da hieß es ›Das Buch verdirbt mit
seinen Fratzen das ästhetische Gefühl des Kindes‹. Nun gut, so erziehe man
die Säuglinge in Gemäldegalerien oder in Cabinetten mit antiken Gipsabdrü-
cken!« Die Diskussion um die so drakonisch durchgesetzten Moralvorstel-
Moral in Geschichten 143

lungen haben seitdem – mit einem Höhepunkt in den 1970er Jahren – nicht
nachgelassen.
Der Struwwelpeter vermittelt Erziehungsvorstellungen, Normen und
Werte des Bürgertums im 19. Jh.. Aber das ist nur die eine, die Schauseite des
Buches. Denn diese Wertvorstellungen werden durch Übertreibung, über-
drehte Komik und Ironie relativiert oder in einer spannungsvollen Schwebe
gehalten. Zu dieser Relativierung tragen auch die bewusst dilettantische Il-
lustrierung, die übertrieben theatralische Gestik und Mimik, die eingängigen,
oft zynisch formulierten Verse und die nicht immer deckungsgleichen Aussa-
gen von Text und Bild bei. So werden Ordentlichkeit und Sauberkeit als
wichtige Tugenden propagiert, doch der Struwwelpeter scheint selbstbewusst
und erfolgreich dagegen aufzubegehren. Aber es scheint auch die Deutung
möglich, dass die infantile Lust an Aggression, Drastik und Grausamkeit
durch den Struwwelpeter in Lust an Selbstzerstörung und masochistischer
Unterwerfung gewandelt wird.
Dass lange Zeit als wesentliches Moment des Struwwelpeter die Prügel-
pädagogik angesehen wurde, wird durch die Tendenz zahlreicher Struwwel-
petriaden bestätigt, den Nachahmungen des Struwwelpeter, die sich zumeist
dicht an Personal, Staffage, Inhalt, Versstruktur und Abbildungsstil anschlie-
ßen. Sie erschienen schon seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts und Struwwelpetriaden
versuchten, von der außerordentlichen Popularität des Vorbilds zu profitie-
ren. Die meisten Struwwelpetriaden forcieren Demütigung, Bestrafung und
Quälerei des Kindes. Sadistische Straffantasien von Erwachsenen werden
eindrucksvoll in Text und vor allem ins Bild gesetzt: Kinder werden brutal
geschlagen, in Keller gesperrt, von Ärzten gequält, von Fremden entführt,
von Tieren zerfleischt oder mit Werkzeugen gefoltert. Ziel aller Geschichten
ist die ausführlich und lustvoll-sadistisch geschilderte Bestrafung. Die bei
Hoffmann noch zu erschließenden Distanzierungs- und Relativierungsme-
chanismen sind nicht mehr zu erkennen.

Wilhelm Busch
144 Vom Biedermeier zum Realismus

Wilhelm Busch Dem Struwwelpeter ähnelt in mehreren Elementen das Werk Wilhelm
Buschs. Da gibt es moralische Belehrung, die aber in der Schwebe bleibt zwi-
schen eindringlich vorgetragener Ernsthaftigkeit und kritischer Distanz; gibt
es bis zur Übertreibung unrealistische, oft sadistische Strafen, überhaupt eine
groteske Übersteigerung des Schemas von guter Tat und Lohn, von böser Tat
und Strafe; erzählt wird in einer Vers-Bildergeschichte. Mit dem Struwwelpe-
ter vergleichbar sind auch die große Auflagenhöhe, die zahlreichen Überset-
zungen, eine ungebrochene Popularität bis hin zur Volkstümlichkeit einiger
Geschichten oder einzelner Verse, dazu die vielen Nachahmungen, bei Max
Bildgeschichten und Moritz sogar Verfilmungen. Außerdem gibt es direkte Anlehnungen beim
Struwwelpeter, am deutlichsten in Fips der Affe (1879). Doch enthalten die
Bildgeschichten Buschs auch so viel Eigenständiges, dass sie als originelle,
authentische Werke anzusehen sind. Sie sind durchgehend humorvoll und
satirisch, üben Kritik an kleinbürgerlicher Idylle, gefallen sich in breitem und
lustvollem Ausspielen von Kinder-Boshaftigkeiten. Nicht zuletzt sind viele
Geschichten auch, wenn nicht sogar ausschließlich, an Erwachsene adres-
siert.
Welche Geschichten Buschs der intentionalen Kinderliteratur zugeordnet
werden können, ist umstritten; zur Kinderlektüre sind sie fast alle geworden.
Zwei zunächst als Beiträge zu den Fliegenden Blättern und den Münchener
Bilderbogen erschienene Geschichten wurden 1862 – eine damals im Kinder-
literatur-Bereich häufig geübte Praxis – anonym vom Münchner Verlag
Braun & Schneider herausgegeben. Dieses Bändchen Münchener Bilderbü-
cher, in »bunten Umschlägen kartoniert«, Die kleinen Honigdiebe und Die
Maus enthaltend, kann als erstes Kinderbuch Buschs gelten. Von den gleich
in Buchform erschienenen Werken zählen dann vor allem die Bilderpossen
(1864) – darin am berühmtesten Der Eispeter –, Max und Moritz (1865) und
die beiden späteren Werke Stippstörchen für Äuglein und Öhrchen (1880)
und Der Fuchs. Der Drachen. Zwei lustige Sachen (1881) zur Kinderliteratur.
Auch Hans Huckebein, der Unglücksrabe, 1867 in der Familienzeitschrift
Über Land und Meer, 1870 als Buch veröffentlicht, ist noch zur Kinderlitera-
tur zu rechnen.
Zumeist geht es in den Geschichten Buschs um eine Zerstörung der alltäg-
lichen, spießigen Umwelt. Geliefert werden Karikaturen von selbstzufriede-
nen und bequemen Kleinbürgern, denen es zunächst recht geschieht, dass mit
Humor und ihnen – oft übler – Schabernack getrieben wird. Die mit sadistischer Fantasie
Situationskomik ausgeschmückten Strafen können als Zugeständnis an die moralischen An-
forderungen des gerade kritisierten und verspotteten Bürgertums angesehen
werden. Auch Eigentum und Autorität der Erwachsenen werden – wie etwa
bei Max und Moritz – angegriffen. Der Text besteht aus sentenzartigen
Zweizeilern, mal eine in der Literatur unübliche Alltagssprache verwendend,
mal eine bis ins Pathetische gesteigerte Literatursprache, vor allem bei der
Schilderung alltäglicher Handlungen. Lakonisch vorgetragener Humor, bis
zur Situationskomik gesteigerter Witz und eine bildliche Vermischung von
Mensch und Ding – markant in Szene gesetzt im Ende von Max und Moritz
und dem Eispeter – sind weitere charakteristische Eigenarten.
Des kritischen, zynischen und auch grausamen Tons wegen stießen Buschs
Werke bei den meisten Pädagogen rasch auf Ablehnung. 1883 notierte Fried-
rich Seidel: »Die für den ersten Anblick ganz harmlos und belustigend er-
scheinenden Caricaturen auf manchen Münchener Bilderbogen, in Max und
Moritz und andern Büchern von W. Busch u. dgl. sind eins von den äußerst
gefährlichen Giften, welche die heutige Jugend, wie man überall klagt, so
naseweiß, unbotmäßig und frivol machen.«
Die Welt: kein System, sondern Geschichte 145

Das Urteil über die Werke Buschs wie ihre Einordnung als Kinder- oder Parodistisches
Erwachsenenbuch werden erschwert durch das parodistische Spiel Buschs Spiel mit moralischer
mit den Elementen moralischer Belehrung, den traditionellen Vorstellungen Belehrung
von Kinderliteratur, Märchen- und Schwankstoffen und Warngeschichten.
Dazu sind Text und Bild oft gegenläufig in ihren Aussagen, so dass in der
steten Ambivalenz die Beurteilungsschwierigkeiten, aber auch der besondere
Reiz liegen. Stark verknappt ließe sich sagen: Buschs Geschichten sind Paro-
dien der moralischen Beispielerzählung. Gemeinsam ist nahezu allen Figuren
Buschs ein abgrundtief böser Charakter. Die Darstellung von abgründiger Negatives Kinderbild
kindlicher Bosheit in diesem Ausmaß ist in der Kinderliteratur etwas Neues.
Busch war dies bewusst, wie ein Brief zeigt: »Haben Sie jemals den Ausdruck
von Kindern bemerkt, wenn sie dem Schlachten eines Schweines zusehen? –
Nein? – Nun, so rufen Sie sich das Medusenhaupt vor die Seele. Tod, Grau-
samkeit, Wollust – hier sind sie beisammen. – Muß ich Ihnen sagen, nachdem
was ich so oft gesagt, wie das kommt? – Der gute und der böse Dämon
empfangen uns bei der Geburt, um uns zu begleiten. Der böse Dämon ist
meist der stärkere und gesundere; er ist der heftige Lebensdrang.« (6. 11.
1875) Kindheit ist nicht mehr Bild einer besseren Zukunft, weshalb auch
Busch in seinen Geschichten am Erfolg jeglicher Erziehung zweifelt. Zu dem
aufklärerischen und dem romantischen Kindheitsbild tritt mit Hoffmanns
und Buschs Werken das Bild des bösen Kindes – damit durchaus Erkennt-
nisse der wenige Jahrzehnte später formulierten Psychoanalyse vorwegneh-
mend.

Die Welt: kein System, sondern Geschichte

In Umbruchzeiten gewinnt das historische Bewusstsein besondere Bedeutung.


Beschäftigung mit der Geschichte, historische Kenntnisse erfüllen dann ver-
schiedene Funktionen: Erinnerung an alte Größe in der Hoffnung auf Wie-
derherstellung vergangener, angeblich positiver Zustände; Legitimation be-
stehender Traditionen, aber auch Legitimation von Umgestaltungsprozessen;
Vermittlung eines Gruppen-, Klassen- oder Volksbewusstseins und unterstüt-
zendes Eingreifen bei der Identitätsbildung. Die Literatur für die in die neue
Zeit hineinwachsende Generation, für die Träger – oder auch Opfer – der
Transformationsprozesse, ist in diesem Bereich während des gesamten
19. Jh.s äußerst vielfältig. Der Historismus, eine der großen geistigen Strö-
mungen der Epoche, hinterließ auch in der Kinderliteratur seine, freilich
mannigfach verborgenen Spuren.
In den kinder- und jugendliterarischen Werken, die sich mit historischen
Themen und Stoffen befassen, zeigen sich, den jeweiligen politischen Bedin-
gungen folgend, zum Teil parallele, oft aber auch divergente Entwicklungen
in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz.
In Deutschland (genauer: in den deutschen Staaten des Deutschen Bundes)
gibt es zum einen die sachlich orientierten Geschichtsbücher, oft eher Lehr-
werken ähnlich als anschaulich aufgemachten Sachbüchern. Johann Heinrich
Meynier veröffentlicht 1819 unter dem Pseudonym Georg Ludwig Jerrer Die
Weltgeschichte für Kinder, aufwendig mit Kupfertafeln ausgestattet und
trotz des hohen Preises bis zur Jahrhundertmitte immer wieder aufgelegt.
Heinrich Maukisch antwortet auf diese Weltgeschichte mit einer erzählenden
146 Vom Biedermeier zum Realismus

Darstellung der Geschichte Europas, der er kennzeichnenderweise den Titel


Teutonia gab (1837). Im Zentrum steht der Versuch, jungen Lesern zu erläu-
tern, welche Bedeutung in der Umwälzung und Neuordnung Europas durch
die Französische Revolution und Napoleon liegt. Und mit Schrecken erin-
nern sich die Leser der Biedermeierzeit an die noch ganz in der Tradition der
Aufklärung stehende Weltgeschichte, für Kinder und Kinderlehrer des Pri-
vatgelehrten Karl Friedrich Becker, in zehn Teilen von 1801 bis 1809 erschie-
nen, in der doch tatsächlich Jesus und der Täufer Johannes als »zwei jugend-
liche Hitzköpfe« vorgeführt wurden. »So frech sich vom Christenthume los-
zureißen!«, beschwerten sich noch 1832 die Rezensenten.
Nationalerziehung Zum anderen aber entsteht nach 1806, nach Preußens Niederlage in Jena
als liberale Idee und Auerstedt, in den Jahren von Frankreichs europäischer Dominanz, eine
erzählende Geschichtsliteratur, die sich als nationalerzieherisch versteht. Das
Problem der Bildung einer geeinten Nation bekommt durch die aktuelle po-
litische Situation eine neue Grundlage. Nationalerzieherisch auf die Jugend
einwirken zu müssen, ist tendenziell schon in der Vorgeschichte angelegt. Die
nationale Einheit war erst als kulturelle vorhanden, ein deutsches National-
bewusstsein gab es zunächst bei den philosophisch-literarisch gebildeten
Kreisen, bei dem sich entwickelnden Bildungsbürgertum. Sprache, Kultur
und Literatur spielten dabei die herausragende Rolle. Nationale Integrati-
onsprozesse setzten also auf kulturellem Gebiet weitaus früher ein als auf
dem der Politik. Das überfrachtete die Literatur mit Aufgaben, auch und ge-
rade die Kinderliteratur, und machte sie, da Ersatz für Politik, zum Politikum.
Es erschienen in den Jahren der Fremdherrschaft – die auch Jahre waren, in
denen die feudale Fürstenherrschaft mit einer Alternative konfrontiert wurde
– speziell für junge Leser geschriebene Bücher, die Vaterlandsliebe erwecken
und Mut zu Heldentaten hervorrufen sollten. Das Veröffentlichen solcher
Bücher war nicht ungefährlich. Meinungen durften nur indirekt, nur in
mehrdeutigen Anspielungen verbreitet werden – hier liegt ein weiterer Grund,
warum die Beschäftigung mit der Geschichte als mit etwas scheinbar nicht
mehr Aktuellem einen Aufschwung erfuhr.
Karl Friedrich Auf exemplarische Weise gelang dies Karl Friedrich Hofmann mit dem
Hoffmanns anonym erschienenen Werk Der patriotische Kinderfreund […] zur kräftigen
»Patriotischer Belebung hochherziger und patriotischer Gesinnung und Nacheiferung edler
Kinderfreund« Thaten (1810). Hofmann beschränkt sich nicht auf Deutschland und bezieht
sich auch nicht direkt auf die aktuelle Situation, sondern gibt »kräftige,
ruhmwürdige Beispiele der Patrioten aller Völker und aller Jahrhunderte«.
Die Beispiele sollen Vaterlandsliebe, »das Höchste und Ehrwürdigste, was
die Brust jedes Menschen nur immer füllen kann«, und Mut zu Heldentaten
erwecken. Zu den Themen gehören »Einheit und ihre Wirksamkeit« und
Zwietracht »und ihre schrecklichen Folgen«. Der »Mangel an Einheit«
lähme »leider, leider nur zu oft der Nationen Kräfte«. An Beispielen aus der
griechischen, römischen, schweizerischen und englischen Geschichte belegt
Hofmann, dass »nur Einheit einem Volke Selbständigkeit und Größe, Anse-
hen und Macht verschaffen könne«. Hofmann schildert vorbildhafte Volks-
aufstände aus der österreichischen, spanischen, französischen und polnischen
Geschichte; nur gegen Okkupanten geführt, sind sie nicht feudalistische
Feldzüge, sondern Volkserhebungen. Er sprach damit aus, was die preußi-
schen Heeresreformer, allen voran Scharnhorst und Gneisenau, seit 1807
gefordert hatten: Eine moderne Armee müsse auf allen Kräften einer Nation,
auf patriotischen Motivationen gründen, was voraussetze, dass alle Unterta-
nen nun Bürger seien, frei, gleich und unabhängig. Und sei erst einmal auf
militärischem Gebiet die Einheit des Volkes hergestellt – Einheit der Stände
Die Welt: kein System, sondern Geschichte 147

und Einheit der Stämme –, dann gelte für das deutsche Volk: »Von solch ei-
ner Nation, wenn sie nur immer Vertrauen zu sich selbst und zu ihrer Kraft
hat und dabei von dem großen Geiste der Einheit und Eintracht beseelt wird,
der keinen Unterschied unter Brandenburgern und Bayern, unter Sachsen
und Franken und den verschiedenen germanischen Völkerstämmen, der nur
ein deutsches Volk und dessen allmächtige Kraft kennt, von solch einem Volk
kann und muß man noch viele der glorreichsten Taten mit Recht erwarten«.
Ein anderer Aspekt des Hofmann’schen Kinderfreundes befasst sich mit dem
wahren Patriotismus, der sich nicht nur im Krieg, sondern auch und vor-
nehmlich im Frieden zeigen müsse. Zu ihm gehören eminent bürgerliche
Vorstellungen wie Arbeit, Bildung, selbständige Leistung und friedlicher
Wettstreit.
Mit gleicher Intention wie Hofmann schrieb der sächsische Pastor Johann Christian Ludwig
Christian Ludwig Niemeyer den Deutschen Plutarch, enthaltend die Ge- Niemeyer
schichten ruhmwürdiger Deutscher (1811) und verfasste der Berliner Theo-
loge und Pädagoge Friedrich Philipp Wilmsen erst ein Heldengemälde aus
Roms, Deutschlands und Schwedens Vorzeit, der Jugend unseres kriege-
rischen Zeitalters aufgestellt (1814), dann Der Mensch im Kriege oder Hel-
denmuth und Geistesgröße in Kriegsgeschichten aus alter und neuer Zeit
(1815). Im Vorwort der Neuen Winterabende für die deutsche Jugend (1815)
schreibt Niemeyer – zugleich die Produktionsanlässe von Kinderliteratur
kennzeichnend – über die Intention dieses Buches: »Dem Verfasser dieser
neuen Winterabende wurden sieben Kupfertafeln vorgelegt, mit dem Auf-
trage, Erzählungen damit zu verbinden, welche der Jugend nützlich und an-
genehm sein könnten. Was aber ist nützlicher und was ist angenehmer zu le-
sen, als die großen Thaten unserer Helden, in der gegenwärtigen Zeit voll-
bracht? Dieses hat den Verfasser bestimmt, über die engen Schranken jener
sieben Kupfer hinauszuschreiten, und die jungen deutschen Leser mit sich
hinauszuführen in das Ehrenfeld, wo die vaterländischen Helden Ruhm,
Freiheit und Glück erkämpft haben.« Waren zuvor die Schilderungen von
Kriegsszenen nur ein Mittel, um letztendlich ganz andere – friedliche – Zwe-
cke zu erreichen, so werden sie seit Niemeyers Neuen Winterabenden zum
Selbstzweck. Kriegsvorbereitungen, Scharmützel, Schlachten, Heldentaten
von Schlagetots nehmen in den entsprechenden jugendliterarischen Werken
einen immer breiteren Raum ein.
Kriegsszenen sind mehrfach determiniert für die Verwendung in der Kin- Kriegsszenen
derliteratur. Ideologisch dienen sie dem jeweiligen Herrschaftssystem zur
Propagierung abstrakter Vaterlandsliebe und der Bereitschaft, die bestehende
Gesellschaftsordnung gegen äußere Feinde zu verteidigen. Moralisch können
alle traditionellen Tugenden wie Treue, Opfermut, Gehorsam und Unterord-
nung durch sie betont werden. Und literarisch sind sie so sehr geeignet, weil
sie Dramatisches, Abenteuerliches und Spannendes liefern.
Blücher und Gneisenau, Schill, Körner und Lützows wilde Jagd: das waren Partikularstaatliche
die Helden der jungen deutschen Leser, der Jungen. Doch seit dem Ende des Interessen
Wiener Kongresses mit seiner Wiederherstellung fürstlicher Herrschaft, spä-
testens seit der Ermordung Kotzebues (1819) und den Karlsbader Beschlüs-
sen ist es vorbei mit allen nationalstaatlichen Ideen, die noch mit den Helden
der ›Befreiungskriege‹ verbunden wurden. Jetzt gelten landespatriotische In-
teressen vor nationaler Einigung; die nationale Begeisterung wurde umgebo-
gen in Partikularstaatsverherrlichung. Außerdem hatten die nun entstehen-
den nationalerzieherischen Schriften die Aufgabe, die Untertanen neugewon-
nener Gebiete für das alte Kernland zu interessieren und Verehrung für das
neue Herrscherhaus hervorzurufen. Es erscheinen zahlreiche, thematisch oft
148 Vom Biedermeier zum Realismus

weit gefasste Werke zur jeweiligen ›vaterländischen Geschichte‹ mit politisch


unverfänglichen Themen zur ›Beförderung der Vaterlandskunde‹.
Österreich In Österreich arbeitete besonders Leopold Chimani unermüdlich am Bild
von der Größe und Herrlichkeit seines Vaterlandes. Weite Verbreitung er-
reichte sein sechsbändiges Werk Vaterländische Merkwürdigkeiten, in erster
Auflage 1817, stark erweitert dann 1837 erschienen. In diesem Werk wie in
dem Vaterländischen Jugendfreund (1814) und den Vaterländischen Unter-
haltungen für die Jugend (1816) erzählt Chimani von der weisen politischen
Führung der Habsburger, der Tapferkeit österreichischer Soldaten, dem Ar-
beitsfleiß der österreichischen Völker und dem Reichtum an Bodenschätzen
und Produkten von Ackerbau und Viehzucht. Das Ansehen der österrei-
chischen Armee und ihrer Leistung bei den ›Befreiungskriegen‹, die nicht
hinter denjenigen der preußisch-deutschen Armeen zurückstehe, will Chi-
mani mit Der junge Krieger (1816) verbessern. Fortgeführt wird diese öster-
reichische Nationalerziehung u. a. von der österreichischen Erzieherin und
Journalistin Mathilde Feldern-Rolf mit dem Vaterländischen Lesebuch
(1841), gewidmet »Oesterreichs aufblühender Jugend«, in dem der Vielvöl-
kerstaat als gelungene Einheit dargestellt wird, von dem Dresdner Schrift-
steller Gustav Theodor Drobisch mit seinem Radetzky-Helden-Buch (1853)
und Vater Radetzky (1852) und dem Pädagogen Friedrich Körner mit dessen
Illustrierten geographischen Bildern aus Österreich (1856).
Schweiz In der Schweiz erschien von 1821 bis 1828 der Historische Kalender für
die schweizerische Jugend, herausgegeben von Emanuel Stierlin. Dieser Ka-
lender, der zahlreiche Lesestücke und Gedichte enthält, soll die schweize-
rische Jugend, so Stierlin, mit der Geschichte des Vaterlandes und mit dem
Leben und den Taten der »wackeren Schweizer Männer« vertraut machen.
Ähnlich angelegt ist der Züricher Kalender für Kinder, der zwischen 1834
und 1841 von Johann Jakob Bär herausgegeben wurde. In Form von 24
Abendunterhaltungen macht Die Knabengesellschaft (2 Bde., 1812/14) von
Johann Jakob Hottinger mit Flora, Fauna, Geographie und vor allem mit der
Geschichte der Schweiz vertraut. Jakob Stutz versammelt in Vaterländische
Schauspiele (1842) drei Schauspiele, die der spezifisch schweizerischen Nati-
onalerziehung dienen: Eroberung des Schlosses Tannenberg, Die Schlacht
am Morgarten und Die Schlacht am Stoß. Unter dem (mit dichterischer Frei-
heit formulierten) Motto »Wir müssen werden was die Väter waren« werden
als typisch schweizerische Ideale Eintracht, Freiheitsliebe, Heldenmut und
Unabhängigkeit propagiert. Auch mit einem Liederbuch für turnende
Schweizerknaben (1842) will man sich von entsprechenden deutschen Wer-
ken absetzen. Und selbst Der schweizerische Robinson (4 Bde., 1812 – 1827)
von Johann David Wyß ist mit seiner sechsköpfigen schweizerischen Familie
als Reaktion auf die in Deutschland erschienenen – und bei weitem nicht so
kommunikativ und sozial angelegten – Robinsonaden anzusehen.
Preußen In Deutschland erschienen vor allem Werke, die sich mit der preußischen
Geschichte und der gegenwärtigen Größe Preußens beschäftigten. Dazu zäh-
len u. a. die Vaterländischen Bilder (1830) von Heinrich Müller, in denen
»historische Denkwürdigkeiten, Kunstwerke, Produkte, Industrie und Na-
turmerkwürdigkeiten der preußischen Monarchie« geschildert werden, »um
Vaterlandsliebe [...] zu erwecken, zu stärken und unwandelbar zu begrün-
den«. Die betont preußischen Bücher beschreiben vor allem Leben und Taten
bekannter Herrscher – wie der Alte Fritz, Friedrich Wilhelm III. und Königin
Luise – und berühmter Feldherren wie Blücher und Scharnhorst. Besonders
Blücher und der volkstümliche Mythos vom ›Feldmarschall Vorwärts‹ er-
fuhren zahlreiche Darstellungen. Genannt sei Das Büchlein von dem Feld-
Die Welt: kein System, sondern Geschichte 149

marschall Blücher (1834) von W.O. von Horn (d.i. Wilhelm Oertel), eine
Mischung aus sachlichem Bericht, spannender Erzählung und kennzeich-
nender Anekdote. Auch sei auf den in zahlreichen Auflagen erschienenen
Roman Der große König und sein Rekrut. Lebensbilder aus der Zeit des sie-
benjährigen Krieges (1861) von Franz Otto (d.i. Johann Christian Spamer)
hingewiesen. Welche Intention mit diesen Schilderungen verfolgt wird, legt
das Vorwort offen dar: »Der Verfasser dieses Buches will unserm Volke und
insbesondere der vaterländischen Jugend geschichtlich treu, aber im leichten
Gewande der Erzählung einen bedeutenden Abschnitt aus Preußens Helden-
zeit darstellen und zeigen, was der norddeutsche Großstaat – heute die Hoff-
nung so vieler patriotischer Herzen – vor kaum mehr als hundert Jahren
leistete, als er nur ein Schatten von dem war, was er heute ist«.
Zu den eifrigen Propagandisten von Preußens Größe und Herrlichkeit ge-
hörte der schlesische Pastor und Verwaltungsbeamte Richard Baron, dessen
Werk von dem populären König und Kronprinz (1852) über Preußens Krieg
gegen Österreich und dessen Verbündete im Jahre 1866 (1866) bis zu Ein
Landwehrmann. Eine Erzählung aus dem Sommerkriege von 1866 (1867)
reicht. Ebenfalls betont preußisch sind viele Bücher des niederrheinischen
Lehrers Philipp Jakob Beumer, der u. a. Das Haus Hohenzollern (1839), Das
Preußenbüchlein (1840) mit den »schönsten Erzählungen aus der Branden-
burgisch-Preußischen Geschichte«, Borussia. 45 Lieder. Allen Vaterlands-
freunden, namentlich aber Preußens Jugend gewidmet (1842) und die Cha-
rakterzüge und Anekdoten aus dem Leben der Könige von Preußen und deren
Generale (1846) verfasste.
Dass so viele betont preußische Bücher zur ›vaterländischen Geschichte‹
erschienen, hat mehrere Gründe: Die Niederlage Preußens im vierten Koali-
tionskrieg 1806/07 hatte zu einer bis in den Alltag hineinreichenden Erschüt-
terung traditioneller Werte und seit langem sorgsam aufgebauter Mythen
von militärischem Glanz, exaktester Disziplin und verantwortungsvoller
Staatsführung geführt. Dieses ehemals stolze Selbstbewusstsein sollte wieder
erneuert werden. Neu hinzugekommen war die Aufgabe, im Deutschen Bund
den Führungsanspruch gegen Österreich durchzusetzen. Und welcher Staat,
außer wiederum Österreich, konnte eine deutsche Einigung vorantreiben,
wenn nicht Preußen?
Doch neben den partikularstaatlich orientierten Kinderschriften erschie- Deutschlands Ruhm
nen auch Werke, die das Gemeinsame von Deutschen und Deutschland her- und Größe
vorheben. Die Betonung von Deutschlands Tradition und Größe ist im Zu-
sammenhang mit den sich ausbreitenden Nationalismen in Europa zu sehen,
im Besonderen ist ihr eine stark anti-französische Stoßrichtung eigen. Durch
die ›Befreiungskriege‹ hatte die Nationalerziehung die fatale Akzentuierung
bekommen, gegen alles Französische vorgehen zu müssen. Kultur, Sprache,
Literatur, Grundideen der Aufklärung sowie der Französischen Revolution
verfallen einem ablehnenden und oft diffamierenden Verdikt.
Ein besonders typisches Exemplar ist das von dem Pädagogen Georg The-
odor Dithmar verfasste Deutsche Historienbuch (1855), das die gesamte
deutsche Geschichte von Arminius an als Behauptungs- und Überlebens-
kampf des Deutschtums interpretiert. Die aktuelle Aufgabe historischer Er-
zählungen sei es, das Nationalbewusstsein »zu bilden und zu stärken […],
wenn nicht deutsches Wesen und deutscher Sinn im großen Ocean des Welt-
bürgerthums verschwimmen und untergehen soll«. Ganz der aktuellen Situ-
ation entsprechen die 1870 erschienenen Geschichtsbilder von Ferdinand
Schmidt zu dem Thema »Gewalt und List Frankreichs gegen Deutschland
seit dreihundert Jahren«. Selbst in Büchern zur Geschichte technischer Erfin-
150 Vom Biedermeier zum Realismus

dungen und wichtiger Entdeckungen machen sich seit der Jahrhundertmitte


immer stärker chauvinistische Tendenzen breit. Der Patriotismus des zweiten
Jahrzehnts steigert sich schnell zu einem emotional und irrational durch-
setzten Sendungsbewusstsein, zu nationaler Hybris bis hin zu aggressiven
Eroberungsgelüsten. Die Begeisterung, die zunächst ein konkretes Ziel besaß
– Befreiung von einer Besatzungsmacht, Schaffung eines geeinten und libe-
ralen deutschen Staates –, wandelt sich auch und gerade in der Kinderlitera-
tur schnell zu der abstrakten Bereitschaft, Ergebenheit, Untertanentreue,
Aufopferung und Disziplin zu üben, um eines fernen Tages das Ziel deutscher
Größe und Macht zu erreichen.
Geschichtsbewusstsein Das durch Werke unterschiedlichster Art hervorgerufene Geschichtsbe-
wusstsein ist Teil eines kollektiven Interpretationsprozesses der Vergangen-
heit. Gekennzeichnet ist dieser Prozess durch eine identitätsstiftende Funk-
tion, Abgrenzung gegenüber Anderen, Fremden, durch bewusst selektiven
Zugriff auf historische Fakten und eine stark instrumentalisierte Verwendung
einzelner Geschichtsbilder. Der Rückgriff auf ausgewählte Traditionen soll
zur Motivation der Zukunftsgestaltung beitragen. Geschichte dient nicht
unbedingt der Legitimation von gegenwärtigen Zuständen, sondern eher der
von Ansprüchen und Modernisierungszielen. Außerdem zeigt die Flut von
historischen Werken, dass bei steigender Dynamik des Modernisierungspro-
zesses ein Bedürfnis besteht, sich der Vergangenheit wenigstens in Relikten
zu erinnern. Belastende Erfahrungen in der Gegenwart werden durch Rück-
erinnerungen – mit all ihren Verfälschungen und nostalgischen Verklärungen
– kompensiert.
Geschichtliche Die starke Betonung des Historischen brachte nicht nur eine in zahllosen
Erzählung Abstufungen engagierte Kinderliteratur hervor, sondern auch eine kaum
überschaubare Vielfalt von geschichtlichen Erzählungen. Vielen sind wir
schon bei den Moralischen Geschichten begegnet. Das Historische gibt dort
nur die Folie ab, auf der dann ganz Anderes geschrieben werden kann: Mo-
ralisierendes oder auch Abenteuerliches.
Nicht nur in der Erwachsenenliteratur erlebten geschichtliche Erzählungen
und Romane seit den 20er Jahren des Jahrhunderts einen Aufschwung, bei
dem einige gelungene Werke von Hauff über Alexis bis Freytag und Fontane,
nicht unwesentlich beeinflusst von Walter Scott, mit der flüchtig produzierten
Massenware kaum konkurrieren konnten. Auch in der Kinderliteratur domi-
nierten hier die Produkte der Vielschreiber. Unzählige Werke ähnlicher
Machart erschienen von Nieritz, Franz Hoffmann oder Horn, denen Histo-
risches nur noch als Staffage dient und weder auf die Protagonisten noch den
Fortgang der Handlung einen relevanten Einfluss ausübt. Von Hoffmann
seien hier nur genannt die Erzählung aus der Zeit der Bauernkriege Ritter
und Bauer (1854), die Belagerung von Kolberg (1869) und Der Bösen Lohn
(1877). Noch umfangreicher war die Produktion erzählender geschichtlicher
Kinderbücher von Nieritz, der das 15. Jh. mit Köhlerbub und Küchenjunge
(1855) genauso bearbeitete wie das 18. mit Der König und der Müller (1859)
oder das 19. mit Hundert oder Kaiser, Marschall und Buchhändler (1859),
dem hundertsten Buch von Nieritz, das von dem 1806 hingerichteten Buch-
händler Palm erzählt.
Noch schematisierter und anspruchsloser ist die geschichtliche Erzähllite-
ratur W.O. von Horns (d. i. Wilhelm Oertel). Da er 1853 mit dem Verlag Ju-
lius Niedner die Herausgabe einer Reihe von Jugend- und Volksschriften
vereinbart hatte, für die er jährlich mindestens fünf Bände verfassen sollte,
konnte er auch kaum ein durchdachtes und differenziertes Werk produzieren.
Den Stoff für seine Serienproduktion entnahm Horn zumeist der Geschichte,
Die Welt: kein System, sondern Geschichte 151

König Wilhelm,
Ministerpräsident
Bismarck und
Generalstabschef Moltke
beobachten den Sieg
Preußens über Österreich
bei Königgrätz am 2. Juli
1866 – Illustration zu
Unser Heldenkaiser
Wilhelm von Johannes
Wille. Gera 1875

indem er entweder abenteuerliche Szenen um historische Ereignisse herum


gruppierte oder sogenannte Lebensbilder berühmter Menschen schrieb. Zur
ersten Gruppe zählen Bücher wie Die Belagerung von Wien. Eine Geschichte
aus dem Jahre 1683 (1858), Der Brand von Moskau (1853) und Das Erdbe-
ben von Lissabon (1853), zur zweiten biographische Werke wie George Ste-
phenson, der Mann der Eisenbahnen und Lokomotiven (1861), James Cook
(1864) und Der Lebensgang George Washingtons, des Begründers der Frei-
heit der vereinigten Staaten Nordamerika’s (1867).
Innerhalb der historischen Erzählliteratur entstehen während der 1840er Antisemitismus
und 50er Jahre auch mehrere dezidiert antisemitische Werke. Dazu zählen
etwa Der kleine Stapelmatz (1850) von Theodor Drobisch, Seppel, oder der
Synagogen-Brand zu München (1841) von Gustav Nieritz, ein Roman, der
zahlreiche Schilderungen von angeblich jüdischen Grausamkeiten und ritu-
ellen Absonderlichkeiten enthält, vor allem jedoch Der Jude, oder: Neigung
und Pflicht (1850) von Eduard von Ambach. Darin wird auf spannende
Weise der authentische Fall vom Aufstieg und Untergang des württember-
gischen ›Hofjuden‹ Joseph Süß Oppenheimer, genannt »Jud Süß«, während
des frühen 18. Jh.s erzählt. Ambach stellt in das Zentrum der historischen
Erzählung die angebliche Geldgier Oppenheimers, der das Land ausgesogen
habe »wie der Egel das Blut der Ader«. Viele Jahre habe die geduldige Bevöl-
kerung das ertragen, bis sie sich endlich auf gute deutsche Weise zur Wehr
gesetzt und den »schmarotzenden Juden« an den Galgen gebracht habe.
Ambach verwendete mehrere Quellen, vor allem Hauffs Novelle Jud Süß
(1827), der er teilweise auf geradezu plagiatorische Art folgte, die er aber
auch mit extremen Übertreibungen und sensationsheischenden Details aus-
schmückte. Ambachs Novelle ist ein Musterbeispiel antisemitischer Ideolo-
giebildung: Die als belastend oder zerstörerisch empfundenen Aspekte der
Modernisierung werden nicht den eher abstrakten ökonomischen, politischen
oder gesellschaftlichen Kräften zugeordnet, sondern einer konkret fassbaren
Personengruppe, der man aus mehreren Gründen leicht einen Außenseiter-
status zuschreiben kann.
Die lang anhaltende Beliebtheit historischer Erzählliteratur ist vor allem
darauf zurückzuführen, dass in ihr die Mischung aller wichtigen kinderlite-
152 Vom Biedermeier zum Realismus

Elemente der rarischen Elemente besonders gut gelingen konnte. Pädagogenanspruch:


Kinderliteratur Belehrung und Moral. Leseranspruch: spannend und unterhaltsam. Produ-
zentenanspruch: schnell und leicht herstellbar. Literatenanspruch: großen
Vorbildern von Willibald Alexis bis Gustav Freytag nacheifernd. Marktbe-
dingungen, ästhetische Wirkungen, psychische Leserdisponierung und ge-
sellschaftliche Identifikationsgebote sind aufs Engste miteinander ver-
schränkt.

Panorama der Welt: Reisen und Abenteuer

Wie eng die biedermeierliche Welt auch gewesen sein mag, so gab es doch
Gattungen, die über alles Einschränkende hinausführten und die jungen Le-
ser Blicke auf die weite Welt werfen ließen. Diese Aufgabe erfüllten vor allem
Reiseliteratur und Abenteuerliteratur. Oft bedeuteten diese Werke eine di-
rekte Konfrontation traditionaler Werte mit liberalen Anschauungen, von
Begrenzung, Bindung und Statik mit Weiträumigkeit, Maßlosigkeit und Be-
wegung, von Stillem, Bescheidenem und Philiströsem mit Unruhigem, Kos-
mopolitischem und Aufbegehrendem.
Woanderssein und Wo-Anderssein und Anderssein sind eng miteinander verwoben. Die Reise
Anderssein wird oft zum Abenteuer, jede Reise ist tendenziell abenteuerlich, jeder Reise-
bericht also tendenziell schon Abenteuerliteratur. Dabei ist kaum zu entschei-
den, wo reale Vorgaben und wo Leseerwartungen diesen Übergang forcierten.
Die Reiseliteratur stellt Material zusammen, das Grundlage für Abenteuerli-
teratur wird: Faktisches, subjektive Eindrücke und Erfahrungen. Die Reiseli-
teratur liefert ja nicht nur Informationen über andere Länder, Naturen, Völ-
ker und Kulturen, sondern auch über das Unheimliche, Bedrohliche und zu-
gleich Verlockende der Fremde; sie liefert also bis ins Unbewusste reichende
Eindrücke und Reaktionsbildungen.
Zum einen gibt es die direkte Verwertung dieses Materials in der Reiselite-
ratur. Zum anderen schaffen die Reiseberichte Anknüpfungspunkte für reine
Fiktionen von Abenteuern überall in Fremde und Ferne. Das Panorama der
Welt legt – bewusst und unbewusst – ein immenses Bilderreservoir physischer
und psychischer Zustände an, unüberschaubar literarisch (aber auch male-
risch, bühnendramatisch) ausgebeutet, zum Ende des Jahrhunderts dann
virtuos gehandhabt von Karl May.
Panorama: Statisches Der Begriff des Panoramas, in zahlreichen Buchtiteln vornehmlich der
in einer dynamischen 20er und 30er Jahre verwendet – gemeinsam mit Derivaten wie Kosmorama,
Gattung Diorama und den oft benutzten Bildern und Gemälden –, spiegelt das Be-
dürfnis nach Überblick und Ausbruch aus dem Alltag, der jedoch nicht un-
kontrolliert, sondern in bestimmten Grenzen und strukturiert vor sich gehen
soll. Panoramen liefern viel, aber doch nur eine Auswahl von Ansichten – der
Natur, der Völker, von Lebensentwürfen und Handlungsmöglichkeiten. Und
ein Panorama ist auch eine Bestandsaufnahme. Zur literarischen Präsenta-
tion muss eine Sache still gestellt werden; erweitender Überblick und ein-
schränkende Auswahl gehören zusammen. Was nicht aufgenommen wurde,
verfällt der Vergessenheit. Dies hat zur Folge, dass eine Reise- und Abenteu-
erliteratur, die sich panoramatisch versteht, auch zur Standardisierung, gar
Kanonisierung von Themen, Motiven und Topoi führen kann. Die Literatur
führt Betrachtungsregie.
Panorama der Welt: Reisen und Abenteuer 153

Zwei Stahlstiche aus Die


neueren Entdeckungs-
reisen. Für die Jugend
bearbeitet. 2. Band: John
Crawford’s Gesandt-
schaftsreisen nach Siam
und Cochin-China in den
Jahren 1821 und 1822.
Leipzig 1848

Es ist selbstverständlich, dass sich die Reiseliteratur eng an die jeweils ak- Moderne Wahr-
tuellen geographischen Entdeckungs- und Forschungsschwerpunkte an- nehmungsweisen
schließt, ebenso an die Entwicklung von Transport- und Kommunikations-
systemen. Diese blieben der Sache nicht äußerlich, sondern prägten ganz
entscheidend die neue moderne Wahrnehmungs-, dann auch Denkweise. Am
offensichtlichsten ist die Veränderung der Sehweisen durch die neuen, Raum
und Zeit zusammendrängenden Fortbewegungsmittel, die sich von Vorgaben
der Natur lösen wie Dampfschiff und Eisenbahn (1819 erste Atlantiküber-
querung mit kombinierter Segel- und Dampfkraft, 1827 erster regelmäßiger
Dampfschiff-Liniendienst zwischen Mainz und Köln, 1839 die erste, 116 km
lange Eisenbahnfernverbindung in Deutschland zwischen Leipzig und Dres-
den). Der Wandel der Wahrnehmung wird auch durch die immer häufigere
und vielfältigere Verwendung neuer Reproduktionstechniken wie Stahlstich,
Holzstich und Lithographie hervorgerufen, die zu Trägern moderner Ikono-
graphie werden. Es entstehen neue bildnerische Stereotypen von Ferne und
Abenteuer: ins Dramatische gesteigerte Natur, ob Alpen oder Eismeer, be-
drohliche Wilde, Schrecknisse und Katastrophen aller Art.
Die Kanonisierung von Themen und Motiven, die Veränderung der Seh-
weisen und die starke Zunahme von Abbildungen führen zu einer Lenkung
des Lesers, wie er Fremdes und Fernes wahrzunehmen habe. Die komple-
mentär verlaufenden Bewegungen – Erweiterung des Gesichtskreises und
Anlage eines Bilderreservoirs einerseits, Strukturierung und Kontrolle dieses
Reservoirs durch die Betrachtungsregie andererseits – verhelfen zunächst der
Reiseliteratur zu einem Platz unter den populärsten Gattungen gerade im
kinderliterarischen Bereich. Kein literaturpädagogisches Bücherverzeichnis,
keine Empfehlungsschrift und keine Schulbibliothek, in der sie nicht breiten
Raum eingenommen hat. Ihre Wertschätzung ist oft eine direkte Fortsetzung
aufklärerischer Tradition, jetzt noch erhöht durch die dem rationalen Den-
ken subversiv erscheinenden Angriffe romantischer Kinderliteratur.
154 Vom Biedermeier zum Realismus

Sachliche Reise- Sachliche Reisebeschreibungen und exotisches Abenteuerbuch bilden die


beschreibung beiden Ränder dieses so ungemein breiten Spektrums. Faktenreich, aber häu-
fig langatmig und trocken ist die in 16 umfangreichen Bänden erschienene
Sammlung Die wichtigsten neuern Land- und Seereisen von Wilhelm Har-
nisch, zwischen 1821 und 1832 erschienen. Harnisch bearbeitete Beschrei-
bungen von Forschungsreisen vornehmlich durch Asien, Afrika und Amerika,
um auch der Jugend einen vollständigen »Überblick über sämtliche Verhält-
nisse der Länder zueinander und vielseitige Einblicke in das innere Leben der
Natur, der Völker und Staaten« zu geben. Er versteht seine Darstellung der
Welt ausdrücklich als Panorama:»Der Standpunkt, auf dem man es ansieht,
ist Deutschland, das als etwas Bekanntes angenommen wird […], deshalb
auch in dem Gemählde nicht vorkommt.«
Dass sich Aktualität und schnelle Umsetzung auch für den kinderlitera-
rischen Markt lohnten, zeigen viele Reisebeschreibungen, die kurz nach ihrer
Originalveröffentlichung bereits in einer Bearbeitung für die Jugend heraus-
gegeben wurden. Dabei reichte die Bearbeitung von einer allgemeinen Kür-
zung über das Ersetzen von Fremdwörtern und Fachausdrücken bis zu einem
weitgehenden Umschreiben des Berichts. Ein Beispiel für die Aktualität von
Jugendbearbeitungen sind Die Fahrten und Abenteuer des Lieutenant Ferdi-
nand von Wrangel auf der Reise von Petersburg nach der Nordostküste von
Sibirien, erstmals 1839, in der Jugendbearbeitung durch Gottfried Becker
bereits 1841 erschienen.
Wie unrein die Gattungen oft auftraten, lässt sich ebenfalls an Beckers
Buch erkennen, das nicht nur Erlebnisse mit Baschkiren, Kirgisen und ande-
ren östlichen Völkern enthält, sondern auch die bis heute zum russischen
Nationalerbe gezählten Fabeln von Iwan Krylow. Und die Reisen und Reise-
Abentheuer (1826) von Friedrich Förster enthalten zum einen sachliche Be-
richte von Napoleons Ägypten-Feldzügen, zum anderen darin eingestreut
arabische Märchen.
In diesen sachlich orientierten Reisebeschreibungen der ersten Jahrhun-
derthälfte werden gesellschaftliche oder explizit politische Themen, wie noch
während der Aufklärung, immer seltener erörtert. Die Informationen verlie-
ren ihren engagierten staatsbürgerlichen Zuschnitt. Sie beschränken sich
entweder auf die Mitteilung eines schon recht standardisierten Kanons kul-
tureller Eigentümlichkeiten oder aber auf neutrale Sachbeschreibungen, wo-
bei über Beschreibungen von Reisen durch England der Topos ›Errungen-
schaften der Technik‹ Einzug in die Kinderliteratur hält. Beispielhaft ist Die
Reisemappe (2 Bde., 1831) von Karl Grumbach, in der vom Tunnelbau unter
der Themse, von der Londoner Gasbeleuchtung und dem Einsatz von
Dampfmaschinen berichtet wird. Technischer Fortschritt wird bewundert
und England als Vorbild für deutsche Bestrebungen gepriesen. Verändert ha-
ben sich im 19. Jh. auch die Formen der Begegnung mit fremden Völkern und
Kulturen. Verloren gehen Toleranz, Friedfertigkeit und sachliches Interesse.
An ihre Stelle tritt zunehmend häufiger die feindschaftliche Auseinanderset-
zung mit der eingeborenen Bevölkerung: Imperialistisches Gehabe sickert in
den Katalog europäischer Verhaltensweisen ein.
Die bei anderen Gattungen festgestellte Tendenz zur Literarisierung und
Abenteuerliche Fiktionalisierung macht auch vor der Reisebeschreibung nicht halt. Immer
Reiseerzählung häufiger werden überraschende Zwischenfälle, abenteuerliche Begegnungen
und dramatische Entwicklungen geschildert: Schiffbruch, Proviantverlust,
Naturkatastrophen, Überfälle sogenannter Wilder. Die Reisebeschreibung
wird zur abenteuerlichen Reiseerzählung, zum Reiseabenteuer. Zu den be-
kanntesten und produktivsten Autoren auf diesem Gebiet gehört Theodor
Panorama der Welt: Reisen und Abenteuer 155

Dielitz, der sogenannte Land- und Seebilder veröffentlichte, auch Kosmora-


men und Panoramen, die alle mehrere Auflagen erreichten. Dielitz’ abenteu-
erliche Reiseerzählungen fassten Sachinformationen, typische Ereignisse und
entscheidende Szenen aus einem längeren Handlungsablauf zu einem nahezu
statischen Bild zusammen. Die Land- und Seebilder erschienen in 15 Bänden
zwischen 1841 und 1861 und lassen deutlich den Wandel der Reiseliteratur
hin zur Abenteuerliteratur erkennen. Die Belehrung tritt immer stärker hinter
die Unterhaltung zurück. Ablesbar ist das nicht nur an den Texten selbst,
sondern auch an den von Dielitz verwendeten Quellen: Dominierten anfangs
noch Reiseberichte und sachorientierte Zeitschriften-Artikel, so werden seit
den 1850er Jahren immer häufiger literarische Werke ausgewertet, darunter
vor allem die Romane von anerkannten Abenteuer-Autoren wie Cooper,
Marryat und Gerstäcker.
Legitimiert wird das Abenteuerliche inmitten des Sachlichen allemal mit Abenteuer als säkulari-
Kategorien der Pädagogik, der moralischen Belehrung: Neben der geogra- sierte Mythenlegenden
phischen, natur- und völkerkundlichen Belehrung gebe diese Literatur Bei-
spiele für Standhaftigkeit und Gottvertrauen, Mut, Tatkraft und Geistesge-
genwart, Begeisterung für alles Große, Heldenmütige, für weiten Geist und
weites Herz. Beispielhaft seien auch Gleichmut im Unglück, Kaltblütigkeit,
Todesverachtung, Disziplin auch unter den äußersten Bedingungen, Härte
gegen den Feind und – gegen sich selbst. Oft lesen sich die Abenteuerge-
schichten mit ihren schrecklichen Ereignissen und qualvollen Prüfungen des
Helden wie säkularisierte Märtyrerlegenden: Allen Anfechtungen zum Trotz
bleibt der Held seinem bürgerlichen, westeuropäischen Ethos treu.
Offensichtlich wird die Wirkung der Legenden-Tradition in den äußerst
abenteuerlichen Erzählungen für Christenkinder (1840) von Christian Gott-
lob Barth, in denen es stets reißerisch blutrünstig und aktionsgeladen zugeht.
In die gleiche Gruppe gehört auch Theofrid (1834) von Johann Heinrich
Lehnert. Die Prüfung von Gottvertrauen, »Geduld und Standhaftigkeit unter
großen Unfällen und Gefahren«, ist nur Anlass, um die dramatischsten,
schrecklichsten Ereignisse – Mord, Totschlag, Folterung, Giftmischerei,
Brandstiftung, sadistische Quälereien – geradezu genussvoll detailreich und
breit ausgemalt zu schildern.
Bei Dielitz wird der Prozess der Literarisierung vormals sachlich aufge-
bauter Gattungen besonders deutlich erkennbar: Beschrieben werden nicht
mehr Ostindien, sondern eine Tigerjagd, nicht mehr Südamerika, sondern
ein Erdbeben, nicht mehr Mexiko, sondern Überfälle durch Räuberbanden;
dazu dann Seegefechte, Prärie- und Schiffsbrände, Abenteuer auf Sklaven-
schiffen, Verfolgungsjagden, Sandstürme, Orkane etc. Zeitgenossen hielten, Frontispiz zu Theofried,
oder Vorbilder des
bei aller Wertschätzung seiner als belehrend eingeschätzten Werke, eine
Vertrauens der Geduld
»größere Sparsamkeit im romanhaft Spannenden u. Piquanten« für wün- und Standhaftigkeit unter
schenswert und kritisierten die »bedenkliche Würze«. Doch nicht nur Die- großen Unfällen und
litz, sondern viele andere Autoren von Reiseabenteuern oder exotischen Gefahren von Johann
Abenteuergeschichten reihten Spannungshöhepunkte, überraschende Wen- Heinrich Lehnart. Wesel
dungen und Dramatisches aller Art dicht aneinander. Heinrich Gräfe 1834
schildert beispielsweise in Das Meer und die fernen Länder mit ihren Ge-
fahren und Kämpfen (1837) die Abenteuer und Qualen dreier Seeleute auf
einer abtreibenden Eisscholle, erzählt von Hunger, Durst und extremer Ein-
samkeit, von einsamen Küsten, verlassenen Inseln und hinterlistigen Einge-
borenen. Und Richard Andree entfaltet in Wirkliche und wahrhaftige Ro-
binsonaden, Fahrten und Reiseerlebnisse aus allen Zonen (1868) ein Pano-
rama endloser Strapazen und Leiden, Gräuelszenen voller Brutalität und
Gewalt, so recht zu genießen auf dem bürgerlichen Sofa in einer geschmack-
156 Vom Biedermeier zum Realismus

vollen Prachtausgabe des Spamer-Verlages, ausgestattet mit nahezu hundert


Abbildungen.
Neben der neuartigen abenteuerlichen Reiseliteratur ist die Beliebtheit der
Robinsonaden nach wie vor ungebrochen. Sie reichen vom bereits erwähnten
Schweizerischen Robinson (1812 – 27) von Wyß bis hin zu der nach aktuellen
pädagogischen Bedürfnissen bearbeiteten Fassung von Gustav A. Gräbner,
1864 mit Unterstützung zahlreicher »Gelehrter und Schulmänner« erstmals
erschienen und als »Schulrobinson« in Dutzenden von Auflagen bis ins
Robinsonaden 20. Jh. hinein nachgedruckt. Und Campes Robinson der Jüngere war weiter-
hin ein Erfolg; 1868 erlebt er beispielsweise seine 99. »rechtmäßige« Auf-
lage.
In den während des Biedermeiers verfassten Robinsonaden dominiert die
moralische Funktion vor der unterhaltenden: Einsicht in die Allmacht Got-
tes, modernes Arbeitsethos, Kenntnis der Natur als Voraussetzung ihrer Be-
herrschung. Gelegentlich wird auf die Kernsituation des Inseldaseins ganz
oder teilweise verzichtet und die Handlung in die – europäische oder gar
deutsche – Heimat verlegt. So konfrontiert Luise Hölder in Rückreise Robin-
sons des Jüngern nach seinem Eilande in Begleitung seiner Kinder (1821, 2.
verm. 1827) den unzivilisierten Freitag mit den kulturellen Segnungen Ham-
burger Großstadtlebens. Christoph Hildebrandt dagegen stellt in Robinson’s
letzte Tage (1846) handfest ausgetragene Auseinandersetzungen zwischen
Protestantismus und Katholizismus, dessen Anhänger als nicht viel besser als
Wilde bezeichnet werden, in den Mittelpunkt.
Die Literarisierung als eine vor allem gegen pädagogische Instrumentali-
sierung gerichtete Bewegung wurde bei Robinsonade, Reise- und Abenteuer-
literatur unterstützt durch die entsprechende Literatur der angelsächsischen
Länder, aber auch Frankreichs, die in Übersetzungen rasch importiert wurde.
Angelsächsische Für die Robinsonade ist Frederick Marryats Masterman Ready (1841) das
Vorbilder herausragende Beispiel, Anfang 1843 in einer Übersetzung von Franz Hoff-
mann erschienen, der sich, ungeachtet eigener fragwürdiger literarischer
Qualitäten, durch die Übertragung vor allem angelsächsischer Abenteuerlite-
»Sigismund Rüstig« ratur verdient gemacht hat. Ende des Jahres 1843 erschien eine zweite Über-
setzung des Masterman Ready von Heinrich Laube unter dem Titel Sigis-
mund Rüstig. Diese Ausgabe wurde zur verbreitetsten Robinsonade im
deutschsprachigen Raum während des 19. Jh.s und erlebte noch bis in unsere
Gegenwart zahlreiche Auflagen.
James Fenimore Für die klassische Abenteuerliteratur sind mehrere Beispiele zu nennen.
Cooper Außerordentlichen Einfluss hatte das Werk James Fenimore Coopers. Der
letzte Mohikaner (dt. 1841), Inbegriff des Abenteuerromans bis weit ins
20. Jh. hinein, versammelt alle Elemente, die später unzählige Male verwen-
det, variiert und fortgeführt wurden: weiße Siedler, indianische Ureinwohner,
exotische Natur, Kämpfe, edle Charaktere. Coopers Lederstrumpf-Erzäh-
lungen, erstmals 1845 in einer Übersetzung und Bearbeitung von Franz
Hoffmann erschienen, erreichte allein in dieser Ausgabe bis 1883 elf Aufla-
gen, wurde jedoch auch in der zweiten Jahrhunderthälfte von mehreren an-
deren Bearbeitern ebenfalls in zahlreichen Auflagen herausgegeben, so dass
die Erzählungen um den Waldläufer und Trapper Lederstrumpf das popu-
lärste deutsche Abenteuerbuch des 19. Jh.s wurden. Im Original sind Coo-
pers Romane von weltliterarischer Bedeutung. In den zahllosen Bearbei-
tungen für die Jugend sowie in den in enger Anlehnung an Cooper verfassten
Romanen macht sich jedoch ein immer verzerrteres Bild vom nordamerika-
nischen Indianer breit. Ideologische Bildregie und beliebig kombinierbare
Panorama der Welt: Reisen und Abenteuer 157

Elemente des entsprechenden Bilderreservoirs trugen wesentlich zu einem als


selbstverständlich wahrgenommenen Rassismus bei.
Da bei der Kolonisierung des amerikanischen Westens auch Franzosen
beteiligt waren, gibt es entsprechende literarische Werke auch von franzö-
sischen Autoren. Am bekanntesten wurde Der Waldläufer (1851) von Gab- Französische Vorbilder
riel Ferry (d. i. Louis Eugène Gabriel de Ferry de Bellamare). Dieser Roman
»aus dem amerikanischen Waldleben« erschien bis zum Ende des Jahrhun-
derts in einem Dutzend Auflagen mit zum Teil unterschiedlicher Ausstattung,
übertragen und bearbeitet von verschiedenen Autoren, darunter als wohl
bekanntestem Karl May, dessen Der Waldläufer von Gabriel Ferry erstmals
1879 erschien.
Zu den berühmtesten Werken der im 19. Jh. übersetzten Kinderliteratur
gehört zweifellos Uncle Tom’s Cabin von Harriet Beecher-Stowe, 1852 in
den USA und bereits im gleichen Jahr unter dem Titel Onkel Tom oder Ne-
gerleben in den nordamerikanischen Sklavenstaaten in Deutschland erschie-
nen. Thematisch gibt es in Deutschland zahlreiche Vorläufer von Onkel »Onkel Toms Hütte«
Tom’s Hütte, wie der Titel der zweiten in Stuttgart 1853 erschienenen Über-
setzung lautete. Doch diese greifen nur die erste, dramatisch besonders auf-
geladene Phase des Sklavenlebens auf: die Sklavenjagd in Afrika, den Skla-
venhandel und das Elend des Transports, nicht jedoch die alltägliche Skla-
venarbeit mit ihren physischen und psychischen Folgen in Nord- und
Mittelamerika und der Karibik. Auch da schon wurden – in christlichen und
philanthropischen Kategorien – die Grausamkeit und Inhumanität angeklagt.
Neben zahlreichen Erzählungen, kurzen Dialogteilen und Darstellungen in
Elementarbüchern, Enzyklopädien, Bilder- und Lesebüchern sei hier vor
allem auf Gustav Nieritz’ Buch Die Negersclaven und der Deutsche (1842)
und auf Theodor Dielitz’ Erzählung Eine Jagd auf entlaufene Neger in Völ-
kergemälde und Landschaftsbilder (2. Aufl. 1848) verwiesen. Nieritz’ in
einem deutschen Kleinstaat und einem bloß literarischen Afrika spielende
Geschichte ist in ihrer Mischung von provinzieller Idylle und Weltoffenheit,
Kritik an deutschen Zuständen und Zufriedenheit mit dem Gegebenen, von
ängstlicher Betulichkeit und ausbrechenden Emotionen eine typische Bieder-
meiergeschichte: Deutsche träumen sich in ein paradiesisch gedachtes Afrika
und stellen dort erschrocken fest, dass sie als Sklaven aufwachten. Nach
mancherlei Abenteuer zurückgekehrt, erscheint das deutsche Heimatländle
doch als die beste aller Welten.
In Dielitz’ Jagd-Erzählung wird berichtet, wie Weiße auf einer Karibikinsel
einen geflohenen Sklaven suchen und dabei in Kämpfe mit Gruppen entkom- Gustav Nieritz: Die
mener Negersklaven verwickelt werden. Dielitz’ moralische Belehrung bleibt Negersclaven und der
ambivalent, wenn er einen Weißen zu einem anderen sagen lässt: »Auf Eure Deutsche. Düsseldorf
Insel […] hat die Vorsehung weder Schlangen noch wilde Thiere gesetzt; den 1841
Europäern war es vorbehalten, sie mit einer Gattung von Menschen auszu-
statten, die man mit Recht Buschmänner nennen kann.« Onkel Toms Hütte
dagegen macht das Unspektakuläre der Sklaverei publik: die Arbeit und das
alltägliche Leben der unfreien Farbigen in den USA. Die außerordentliche
Wirkung des Romans – obschon an Kinder adressiert, wurde er auch von
Erwachsenen rezipiert – beruht auf einer geschickten und neuartigen Mi-
schung von christlich motiviertem Mitleid bis hin zur Rührseligkeit, Domes-
tizierung des Helden und genau kalkulierter Anklage, so dass die Weißen
eine Schuld eingestehen, ihr Gewissen beruhigen konnten, ohne zu einschnei-
denden Änderungen gezwungen zu sein.
Zu den seit der Mitte des Jahrhunderts erfolgreichen Autoren von Aben-
teuerliteratur zählt Friedrich Gerstäcker, der vornehmlich für Erwachsene
158 Vom Biedermeier zum Realismus

schrieb, dessen Werke aber, teilweise in Bearbeitungen, auch jungen Lesern


bekannt wurden und jahrzehntelang zur beliebten Jugendlektüre gehörten.
Außerdem verfasste er einige jugendliterarische Werke, so die Abenteuer
eines Jungen auf einem Seeräuberschiff: Fritz Wildau’s Abenteuer zu Wasser
und zu Lande (1854). Ebenfalls große Popularität erreichte Armand (d. i.
August Friedrich Strubberg) mit exotischer Abenteuerliteratur. Von seinen
Jugendbüchern war Karl Scharnhorst. Abenteuer eines deutschen Knaben in
Amerika (1864) am erfolgreichsten.
Funktionen der Gerade am Beispiel der zuletzt genannten Abenteuerliteratur ist zu erken-
Abenteuerliteratur nen, wie im Verlauf des 19. Jh.s in einer vielschichtigen Bewegung die er-
wachsenen Leser umfassende literarische Bereiche, ja ganze Gattungen aus
dem von ihnen gelesenen und akzeptierten Bestand ausscheiden, diese dann
aber nicht in Vergessenheit geraten, sondern ihr Leben weiterhin als Jugend-
lektüre führen. Abenteuerliteratur wird aus dem bildungsbürgerlichen legiti-
mierten Lektürekanon herausgenommen, weil sie nicht mehr zur Abgrenzung
gegenüber sozial tieferen Schichten geeignet ist. Mit dem Fortschreiten der
Modernisierungen werden von der Literatur differenziertere und weniger
plakativ arbeitende Mechanismen zur psychischen Stabilisierung erwartet.
Es entstehen in den bisherigen Leserschichten andere Wunschbilder, Fanta-
sien und Tagträume – als Reaktionsformen auf die enttäuschende Wirklich-
keit –, die andere literarische Werke, Inhalte und Gattungen erfordern. Ein-
fachheit und auch Naivität der Abenteuerliteratur werden zunehmend als
Die Todesreise – infantil empfunden.
Frontispiz von Theodor Für junge Leser dagegen bleiben Funktionen der Reise- und Abenteuerlite-
Hosemann zu Ameri- ratur wichtig: Diese Literatur erfüllt das Bedürfnis nach Inszenierungen
kanische Reisebilder von überschaubarer und zusammenfassender Art angesichts der Fremdheit, Un-
Theodor Dielitz überschaubarkeit und Fragmentierung des Lebens; sie berichtet vom Leben
fern des Alltags; die Dramatisierung, der ständige Wechsel von Spannung
und Lösung, überspielt enttäuschte Erwartungen; angeregt und unterstützt

Illustration zu Dies Buch


gehört meinen Kindern
von Ferdinand Schmidt.
Leipzig 1851
Die Welt als Teil, die Welt als Ganzes 159

werden Tagträumereien; junge Leser bedienen sich noch unbeeinflusst, jen-


seits schichtenspezifischer Akzeptanz, des großen Bilderreservoirs; Helden
besitzen noch Vorbildfunktion; literarische Fluchtangebote werden ganz un-
befangen akzeptiert.

Die Welt als Teil, die Welt als Ganzes

In dem breiten Spektrum der Sachliteratur für Kinder zeigen sich zum einen
die Auswirkungen der Modernisierungsprozesse: naturwissenschaftlich,
technisch und ökonomisch, wie auch der immer deutlicher spürbaren sozi-
alen Veränderungen: politisch, sozial und bildungstheoretisch. Diesen Teil
kann man als modifizierte Fortführung aufklärerischer Traditionen auffas-
sen. Zum anderen existiert lange Zeit parallel dazu eine nichtrational oder
religiös bestimmte Sachliteratur, in der Belehrendes über die Natur nur zum
Lobe Gottes vorgetragen wird. In diesem Teil zeigt sich die einige Jahrzehnte Illustration aus Neuer
andauernde Dominanz deutscher Naturphilosophie und vor allem roman- Orbis Pictus für die
tischer Wissenschaftskonzeptionen, die auf der Einheit aller Naturphäno- Jugend von J. E. Gailer.
mene und wissenschaftlichen Erklärungsversuche bestanden. Leitend waren Reutlingen 1835
Anschauung und Intuition, durchsetzt mit religiösen Elementen und spekula-
tiven Ausführungen – dies kam kinderliterarischen Bestrebungen um so mehr
entgegen, je stärker sich alle Erziehungskonzeptionen auf eine nichtrationale
Hinführung des Kindes zu Gott verstanden.
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jh.s ist eine außerordentliche Zunahme Sachinteresse und
sachliterarischer Werke zu beobachten. Sie nimmt oft mehr als ein Drittel der gewandelte Bildungs-
Kinderbuchproduktion ein. Gründe dafür sind in der allgemeinen Wendung konzeptionen
zur Wirklichkeit zu finden, in einem gerade in bürgerlichen Schichten erwa-
chenden Sachinteresse. Die Beschäftigung mit Forschungsergebnissen der
Naturwissenschaften nimmt zu. Technischer Fortschritt wird auch im Alltag
sichtbar, wenn auch zunächst nicht so deutlich wie die Änderungen von Han-
del, Handwerk und Gewerbe, wie der Wandel in der Arbeitswelt.
Gründe für die Zunahme sachliterarischer Werke sind auch in gewandelten
Bildungskonzeptionen zu finden. Dem Realienunterricht wird immer mehr
Platz eingeräumt. Anforderungen der sich modernisierenden Arbeitswelt wir-
ken auf die Lehrinhalte ein. Die Entwicklung von Realschulen, von gewerb-
lichen und beruflichen Schulen wird nicht nur von pädagogischer Seite aus
vorangetrieben; auch die Staaten, voran Preußen und die südwestdeutschen
Länder, hatten ein Interesse daran, durch die Förderung einer naturwissen-
schaftlich-technischen Ausbildung ihre Produktivkraft zu steigern. Es entstan-
den technische Bildungseinrichtungen unterschiedlichster Art, darunter Poly-
technische Schulen als Vorläufer der Technischen Hochschulen. Wien 1815,
Dresden 1822, Hannover 1831 und Darmstadt 1836 sind einige der markan-
testen Gründungen von Fachschulen, spezialisiert auf technische Bildung.
Insgesamt besaß das Sachwissen für das Bürgertum zwei positive Funkti-
onen. Zum einen trug es bei zur sozialen Identität und zur Legitimation ihres
bisher noch nicht verwirklichten Führungsanspruchs. Eine sich modernisie-
rende Gesellschaft braucht in allen Bereichen kompetente, gut und vielseitig
ausgebildete Mitglieder; sie muss sich auf eine große Zahl professionell ar-
beitender Bürger stützen. Zum anderen bot es die Möglichkeit, soziale Gren-
zen in der Gesellschaft, besonders nach unten, zu ziehen. Sachwissen wurde
160 Vom Biedermeier zum Realismus

ein wesentlicher Teil des symbolischen Kapitals des Bürgertums. Nicht nur
die gemeinsamen Normen, nicht nur die gemeinsamen Fantasie-, sondern
auch die Wissensstoffe formten die Kinder der bürgerlichen Schichten und
waren so am Aufbau der kulturellen Hürden beteiligt.
Das Sachbuch will das Wissen von den Dingen der Welt, von den Men-
schen und deren Beziehungen vermitteln, wobei es nicht nur um die objektive
Belehrung, sondern auch um spezifische Klasseninteressen geht. Durch Aus-
wahl, Betonung, Auslassungen, Zusammenstellung und andere Mittel wird
mit der sachlichen Information immer schon eine Deutung der Welt mitgelie-
fert. Darüber hinaus tritt das Sachbuch nicht als Lehr- oder Fachbuch auf,
sondern als ein für die private, die freiwillige Lektüre geeignetes Werk. Ent-
scheidend ist deshalb die immer wieder neu zu beantwortende Frage nach
dem richtigen Verhältnis von Belehrung und Unterhaltung, sind vor allem
Eingängigkeit und Anschaulichkeit von Text und Bild.
Bedeutung der Einen qualitativen wie quantitativen Sprung machte die Sachliteratur in
Abbildungen den dreißiger Jahren mit der Einführung der Lithographie. Diese deutlich
billigere Drucktechnik als Ersatz für den teuren Kupferstich erlaubte eine
Massenproduktion von gemalten und gezeichneten Bildern in gleich blei-
bender Qualität. Eingeleitet wurde diese Industrialisierung der Bildproduk-
tion durch einige Verlage, die sich auf das Herstellen von Kinderliteratur
spezialisierten.
Als Beispiel sei der von dem Lithographen Jacob Ferdinand Schreiber
1831 in Esslingen gegründete J. F. Schreiber Verlag genannt, der zahlreiche,
oft aufwendig ausgestattete Sachbücher naturwissenschaftlicher oder gewer-
bekundlicher Art für unterschiedliche Altersgruppen herausbrachte. Zu den
eindrucksvollsten Werken gehören die verschiedenen Bände einer Naturge-
schichte, die, herausgegeben von einer Anzahl von Fachgelehrten, von denen
der Erlanger Professor für Naturgeschichte Gotthilf Heinrich von Schubert
zu den bekanntesten gehörte, seit 1840 erschien und bis zum Ende des Jahr-
hunderts in zehn und mehr Auflagen herausgegeben wurde. Vögel, Säuge-
tiere, Reptilien, Fische und andere Gattungen des Tierreichs, dazu das Pflan-
Illustration zu zen- sowie das Mineralreich fanden ausführliche Behandlung.
Tiergeschichten von Seit es zu Beginn des 19. Jh.s möglich wurde, xylographische Druckstöcke
L. Oland.
zu stereotypieren und so von einem Bild auf mehreren Druckpressen gleich-
Braunschweig 1846
zeitig Abbildungen herzustellen, wurde der Holzstich (Xylographie) das
wichtigste Verfahren zur Illustration von Büchern, bald auch von Zeit-
schriften. Zudem ermöglichte dieses Verfahren die gleichzeitige Vervielfälti-
gung von Letternsatz und xylographischen Druckstöcken, so dass die Sachli-
teratur auf einfache Weise an der jeweils richtigen Textstelle mit Abbildungen
ausgestattet werden konnte.
Spamer-Verlag Besonders der 1847 gegründete Otto Spamer Verlag in Leipzig bediente
sich in großem Stil dieser Technik. Er brachte in den folgenden Jahrzehnten
zahlreiche Bände zu allen gängigen Sachthemen der Zeit heraus, zumeist in
immer wieder aktualisierten Bearbeitungen. Jeder Band enthielt mindestens
hundert Abbildungen, manche Bücher wurden auch mit über 500 Abbil-
dungen ausgestattet. Die außergewöhnlich aufwendige Aufmachung, der Se-
riencharakter, der zur ständigen Komplettierung anregte und die Fiktion
nährte, sich eine Hausbibliothek des gesamten Wissens anlegen zu können,
sowie die Förderung durch Pädagogen ließ den Spamer Verlag zwischen
1860 und 1880 eine führende Stellung bei der Produktion von Sachbüchern
für jugendliche Leser einnehmen.
Aus der über dreihundert Bücher umfassenden Produktion sei hier nur auf
zwei besonders charakteristische Werke verwiesen. Der Lehrer Louis Thomas
Die Welt als Teil, die Welt als Ganzes 161

gab 1853 Das Buch wunderbarer Erfindungen. In Erzählungen für die reifere Tafel Luft aus Der
Jugend heraus, in dem in bunter Reihenfolge über die Erfindung und die Be- Mensch und die Elemente.
deutung von Buchdruck und Schießpulver, Uhren, Montgolfière und Char- Kempten 1846
lière, Mikroskop, Teleskop und anderem mehr erzählt wurde. Aus diesem
Tafel aus Unterhaltende
Buch entwickelte sich im Laufe der Jahre eine achtbändige Ausgabe für Er-
Naturgeschichte für die
wachsene Das große Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien und Jugend von L. K. Iselin
die zweibändige Ausgabe für junge Leser Die denkwürdigsten Erfindungen, [d. i. Johann Heinrich
wovon der erste Band bis zum Ende des 18. Jh.s reichte und der zweite das Meynier]. Nürnberg 1827
19. Jh. umfasste. Besonders der zweite Band erfuhr ständige Umarbeitungen
und Aktualisierungen, wobei nicht nur technische Entwicklungen, sondern
auch geänderte gesellschaftliche Verhältnisse berücksichtigt wurden. So ent-
halten die Auflagen nach 1870 neben der Schilderung ›klassischer‹ Erfin-
dungen wie Eisenbahn, Telegraphie, Fotographie und Telephonie zunehmend
stärker Beschreibungen von Kriegsgerät aller Art. Wenn auch einzelne Ver-
fasser oder Herausgeber aus der Produktion des Spamer Verlages heraus-
ragten, so besaßen doch dessen Bücher weniger eine Schriftsteller- als viel-
mehr eine Verlagsidentität. Mit den Sachbüchern des Spamer Verlags setzt in
den 1860er Jahren eine Entwicklung ein, die zu den anonymen Reihenwer-
ken der heutigen Sachbuchproduktion führt.
Noch deutlich autorenbestimmt waren die Sachbücher in den Anfangsjahr- Johann Heinrich
zehnten, auch wenn sie schon zu einer Art von Reihe zusammengestellt Meynier
wurden. Einer der vielseitigsten und auch markantesten Sachbuchautoren
des 19. Jh.s war Johann Heinrich Meynier, ein Lehrer, der zunächst Lehr-
werke verfasste. Dann entwarf er didaktische Spiele für Unterrichtszwecke,
162 Vom Biedermeier zum Realismus

aber auch für die Familie, wie Teutschland, oder der Reisende Kaufmann
oder das Historisch-chronologische Kartenspiel zur deutschen Geschichte.
Nachdem er zahlreiche Moralische Geschichten produziert hatte, begann er
um 1815 mit dem Schreiben von Sachbüchern aller Art, wobei seine Schwer-
punkte Geographie, die drei Reiche der Natur und Ethnologie waren. Schon
bald bediente sich Meynier eines runden Dutzends von Pseudonymen, viel-
leicht, um nicht der Vielschreiberei aus Erwerbsgründen bezichtigt zu wer-
den; immerhin veröffentlichte er rund 250 Bücher und gehörte zu den ersten
Kinderbuchautoren Deutschlands, die von dieser schriftstellerischen Tätig-
keit leben konnten. Kennzeichnend für Meyniers Stil ist der zumeist humor-
volle, gelegentlich sogar ironische Ton, in dem er einerseits sehr kindgemäß
schreibt, sich jedoch zugleich von dieser Schreibweise distanziert. Auch wo er
gänzlich sachlich schreibt, verfällt er nur selten in eine trockene belehrende
Sprache. Neben den oft aufgelegten Reisebeschreibungen schrieb er unter
anderem die Belehrende Bilderlust für fleißige Knaben und Mädchen (1824),
in der Küchengeräte, Werkzeuge und andere Alltagsgegenstände in Bild und
Text vorgestellt werden, eine umfangreiche Naturgeschichte für die Jugend
(1818) und in Anlehnung an Georg Christian Raff die Unterhaltende Natur-
geschichte für die Jugend (1825). Am umfangreichsten und vielfältigsten war
der Wissenschaftlicher Hausbedarf für die Jugend oder kleine Handbiblio-
thek derjenigen Kenntnisse, welche jeder gebildete Mensch wissen muß (21
Bde., 1821). Zu den für Gebildete notwendigen Kenntnissen rechnet Meynier
Geologie, Geographie, Geschichte, Anthropologie, Naturgeschichte der
Pflanzen und Tiere, auch etwas Physik und Astronomie sowie Mythologie.
Dass der naturwissenschaftlich-technische Bereich so auffallend gering ver-
treten ist, liegt weniger an einem noch gering entwickelten Interesse jener
Zeit an diesen Dingen als vielmehr an Meynier, der die Beschäftigung mit
dieser für ihn fremden Materie mied.
Was bei Meynier fehlt, findet sich im Werk eines anderen ebenfalls außer-
Johann Heinrich Poppe ordentlich populären Sachbuchautoren des 19. Jh.s: Johann Heinrich Moritz
Poppe, zunächst Lehrer, seit 1818 Professor für Technologie, Maschinen-
kunde, Mathematik und Experimentalphysik in Tübingen. In mehreren um-
fangreichen Werken führt er junge Leser – und Leserinnen! – in Physik,
Chemie, Technologie und verwandte Gebiete ein. Nach den bereits 1802 er-
schienenen Physikalische Unterhaltungen für die Jugend, die sich auf noch
recht kurzgefasste Weise mit physikalischen Grundphänomenen beschäf-
tigten, veröffentlichte Poppe das achtbändige Werk Physikalischer Jugend-
freund (1811 – 21). Er wollte eine »faßliche und unterhaltende Darstellung
der Naturlehre, mit der genauesten Beschreibung aller anzustellenden Expe-
rimente, der dazu nöthigen Instrumente, und selbst mit Beifügung vieler be-
lustigenden physikalischen Kunststücke« geben. Hier wie in weiteren ähn-
lichen Werken für junge Leser – genannt sei nur noch der erstaunlich früh
mit Lithographien ausgestattete Der magische Jugendfreund oder faßliche
und unterhaltende Darstellungen der natürlichen Zauberkünste und Ta-
schenspielereyen (3 Bde., 1817) – setzt Poppe vor allem auf das eigenständige
Erarbeiten des Neuen in Experiment, Beobachtung oder gar öffentlicher Vor-
führung sogenannter Kunststückchen. In wohlhabenden bürgerlichen Schich-
ten – die notwendigen physikalischen Apparate und chemischen Materialien
waren äußerst teuer – gehörte das dilettierende Experimentieren zu einer
beliebten Beschäftigung zunächst von Erwachsenen, später auch von Kin-
dern. Experimentierbücher als anschauliche Einführungen in die Naturwis-
senschaften wurden auch von anderen Autoren verfasst und in stets modifi-
zierten Auflagen das ganze Jahrhundert über aufgelegt. Sehr produktiv war
Die Welt als Teil, die Welt als Ganzes 163

in den ersten Jahrzehnten Heinrich Rockstroh, der u. a. 1819 Leichte Künste-


leien zum Vergnügen und zum Nutzen für Kinder und Nichtkinder, 1822 die
Curiositäten oder mancherlei seltene, künstliche, sonderbare und drollige
Dinge und 1831 Mechanemata oder der Tausendkünstler veröffentlichte.
In der zweiten Jahrhunderthälfte war es besonders Hermann Wagner, der
im Spamer Verlag Experimentierbücher herausgab, so Der gelehrte Spielka-
merad oder der kleine Naturforscher, Thierfreund und Sammler (1865),
großzügig ausgestattet mit über 200 Textabbildungen. Zusammen mit dem
Illustrierten Spielbuch für Knaben (1864), das »1001 unterhaltende und an-
regende Belustigungen, Spiele und Beschäftigungen für Körper und Geist, im
Freien sowie im Zimmer« anbot, bildete Der gelehrte Spielkamerad eine
Encyklopädie der Knabenlust.
Aber nicht nur mit der Natur und den sie erforschenden modernen Wis- Alltagsthemen
senschaften und ihren Anwendungen befasste sich die Sachliteratur für Kin-
der, sondern auch mit eher alltäglichen Themen: Ackerbau und Viehzucht,
Handel und Handwerk, Transportwesen und Berufswahl, um nur einige der
gängigsten Bereiche zu nennen. Diese Werke reagieren auf die tiefgreifenden
Änderungen in Alltag und Arbeitswelt. Sie wollen helfen, einen Überblick zu
bekommen, sie nehmen zustimmend oder ablehnend Stellung zu Modernisie-
rungen in den unterschiedlichsten Bereichen oder dienen unverhüllt der
Darstellung bürgerlichen Stolzes, bürgerlicher Leistung. In Agrargesell-
schaften musste Qualifizierung für den Arbeitsprozess nicht durch formali-
sierte Bildungsvorsorge betrieben werden. Erst in modernen – industriellen
und kapitalabhängigen – Gesellschaften entsteht der Zusammenhang von
Bildung und Arbeit. Die Literatur wird in das Spannungsverhältnis von Bil-
dungswelt und Arbeitswelt miteinbezogen. Sie kann sich an der Schaffung
sogenannter Rahmenbedingungen beteiligen, also die Akzeptanz modernen
Arbeitsverhaltens und neuer normativer Vorstellungen fördern, sie kann auf
tagträumerische Weise erstrebenswerte Ziele des Arbeitsfleißes beschreiben
oder auch direkt über die Arbeitswelt informieren.
Orientierung will das 1851 erstmals veröffentlichte Werk 40 Werkstätten Arbeitswelt
von Handwerkern und Künstlern geben, das des großen Erfolges wegen be-
reits zwei Jahre später in einer erweiterten Auflage erschien. Umfassender
informiert Das Buch der Arbeit: Wanderungen durch die Stätten des Gewer-
befleißes; in Bildern aus den Beschäftigungen der Menschen (1855) über die
stark gewandelte Arbeitswelt. Auf äußerste Weise verklärt und geradezu
mythifiziert erscheinen Arbeit und bürgerliche Leistungskraft in Franz Ottos
(d.i. Johann Christian Gottlieb Spamer) Männer eigener Kraft: Lebensbilder
verdienstvoller, durch Thatkraft und Selbsthülfe emporgekommener Männer
(1875), in dem es heißt, Kinder aus einfachsten Verhältnissen hätten die
größten Möglichkeiten, »sich emporzuarbeiten«. Denn »durch eigene Kraft,
durch die Kraft des Geistes, des Willens und der Tat haben sie sich durch alle
Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten durchgerungen, von tief unten her-
auf, Stufe um Stufe, bis die Höhe erreicht war. [...] Die Palme des Ruhms
wird nur nach langem, schwerem Kampf errungen, welcher unermüdliche
Ausdauer und viel Entsagung, unerschütterlichen Mut und eine eiserne Wil-
lenskraft erfordert. Das aber sind Eigenschaften, welche sich viel eher unter
der harten Zucht der Armut, als in den Tagen des Wohlergehens erwerben
lassen.« Und die Vorbilder, die den lesenden Knaben präsentiert werden,
stammen nicht mehr aus Theologie oder Pädagogik, aus Geistesgeschichte
oder Politik, sondern aus Industrie und Technik: George Stephenson, Richard
Arkwright, Humphry Davy, Michael Faraday, August Borsig, Alfred Krupp,
Werner Siemens.
164 Vom Biedermeier zum Realismus

In einer Gesellschaft, die bis in den Alltag und bis in die psychischen
Strukturen hinein in Bewegung geraten ist, wird alles, was neu ist, interes-
sant. Das Neue, besonders deutlich in Industrialisierung und Technisierung
vor Augen geführt, wird zum Zeichen eines besseren Zeitalters – wenigstens
dem Bürger, der voller Fortschrittsglaube in die Zukunft sehen kann. Auf
vergangene Epochen zurückblickend, kannte der Optimismus keine Schran-
ken mehr. So heißt es in einem Kinderbuch von 1866: »Es ist seitdem Vieles
anders geworden im Lande, sicher aber nicht schlechter!«

Die periodische Welt

Mindestens ebenso deutlich und ebenso vielschichtig wie bei den bisher be-
handelten Gattungen sind die Modernisierungen auch in den periodisch er-
scheinenden Werken abzulesen. In den Zeitschriften und Jahrbüchern vermi-
schen sich pädagogische Ambitionen mit kommerziellen Interessen. Das
Spektrum reicht von den religiös-missionarischen Jugend-Blättern des evan-
gelischen Theologen und Kinderschriftstellers Christian Gottlob Barth, die
dieser von 1836 bis 1862 redigierte, bis zum Pfennig-Magazin für Kinder,
gegründet als Zweit- oder gar Drittverwertung xylographischer Druckstöcke
und in schneller Anlehnung an den großen Erfolg des Pfennig-Magazins für
Erwachsene, 1834 bis 1838 erschienen im Verlag F.A. Brockhaus, Leipzig.
In dem hier behandelten Zeitraum stieg das Zeitschriftenangebot kontinu-
ierlich an. Insgesamt sind ca. 250 Titel nachzuweisen. Viele der während der
1820er bis 1840er Jahre gegründeten Zeitschriften erlebten allerdings nur
ein bis zwei Jahrgänge. Erst nach Ende dieser als Experimentierphase anzu-
sehenden Jahrzehnte wurden auch länger erscheinende Zeitschriften gegrün-
det, sozusagen in der Konsolidierungsphase, die bis Ende der 1870er Jahre
reichte und dann von einer Phase zahlreicher Neugründungen abgelöst
wurde: die Boomphase des kinderliterarischen Zeitschriften-Marktes. Zu
den Longsellern des 19. Jh.s gehören Der neue Deutsche Jugendfreund
(1842 – 1918), lange Zeit redigiert von Franz Hoffmann, das Missionsblatt
für Kinder (1842 – 1918) und die von Isabella Braun gegründeten und von
ihr jahrzehntelang redigierten Jugendblätter (1855 – 1916).
Das monatliche oder wöchentliche Erscheinen ermöglichte stete Wieder-
holung moralischer Belehrung und eine in Zeiten raschen Wandels nicht zu
unterschätzende Aktualität, was sowohl auf die Berichte über den neuesten
Kenntnisstand verschiedener Wissenschaften und Techniken zu beziehen ist
als auch auf die schnelle Anpassung an sich wandelnde Leserinteressen.
Schließlich ermöglicht das häufige Erscheinen von strukturell ähnlichen Pro-
dukten (äußere Aufmachung, innere Einteilung, ständig wiederkehrende
Protagonisten) zusammen mit Fortsetzungsgeschichten, Preis- und Rätselfra-
gen etc. eine enge Leserbindung. Diese war notwendig, um die Kontinuität
hoher Auflagen über möglichst lange Zeiträume zu sichern. Gelang der rich-
tige Mittelweg zwischen Flexibilität und Gewöhnung schaffender Gleichheit,
zwischen Neuem und Bekanntem, dann konnte eine Kinderzeitschrift über
mehrere Jahrzehnte hin erscheinen, so dass sie mehrere Generationen er-
reichte. Das periodische Erscheinen beeinflusste auch Grundmuster des Le-
sens: Vorangetrieben wurde die Entwicklung vom mehrmaligen Lesen eines
literarischen Produktes zum einmaligen Lesen mehrerer literarischer Pro-
Die periodische Welt 165

dukte. Der größere Lesekonsum hatte einen höheren Literaturumsatz zur


Folge, was von den Herstellern nicht ungern gesehen wurde. Mentalitäten-
wandel und Buchmarktänderungen sind auch auf dieser Ebene miteinander
verschränkt.
Das Zeitschriftenangebot vervielfacht sich nicht nur erheblich, sondern es Differenziertes
tritt auch immer differenzierter auf: nach Alter, Geschlecht, Thema. Es gibt Zeitschriftenangebot
Zeitschriften für kleine Kinder – Thekla von Gumperts Herzblättchens Zeit-
vertreib. Unterhaltungen für kleine Knaben und Mädchen (1856 – 1897); für
Jugendliche – Belehrendes Unterhaltungsblatt für die Jugend (1829 – 1832);
für Mädchen – Gumperts Töchter-Album (1855 – 1897); für Jungen – Das
Knaben Lust und Lehre, später Der Jugend Lust und Lehre (1857 – 1866);
für eher sachlich Interessierte – Das Erntefeld. Eine Bildungsschrift für die
vaterländische Jugend (1837 – 1846); oder bunt gemischt, in Anlehnung an
die aufkommenden Familienzeitschriften wie Die Gartenlaube (seit 1853)
oder Über Land und Meer (seit 1858) – Jugend-Album, Blätter zur ange-
nehmen und lehrreichen Unterhaltung im häuslichen Kreise (1850 – 1881).
Nicht zu übersehen ist in der historischen Entwicklung der Zeitschriften
für junge Leser die stete Vergrößerung des Unterhaltungselements. Dies gilt ›unterhalten und
für die immer unterhaltsamer – erzählerischer, anschaulicher, abwechslungs- belehren‹
reicher, spannender – auftretende Belehrung sachlicher wie moralischer Art,
ebenso für die zweckfrei auftretende Unterhaltungsliteratur – Abenteuerge-
schichten, Alltagserzählungen, exotische Literatur –, deren Anteil sich ständig
vergrößert.
Noch ganz der Aufklärungstradition verhaftet ist die von dem Pädagogen
Johann Christian Dolz von 1806 bis 1823 herausgegebene Zeitschrift, die
unter verschiedenen Titeln – u. a. Bildungsblätter und Neue Jugendzeitung –
zumeist dreimal wöchentlich erschien. In einer programmatischen Äußerung
wendet sich Dolz an seine Leser: »Wir erblicken […] in Ihnen nicht blos
Menschen, die eine kleinere Anzahl von Jahren gelebt haben, als wir; nein,
wir sehen in Ihnen die schönste Hoffnung guter Aeltern, des Vaterlandes und
der besseren Menschheit. Wir sehen Sie schon im Geiste, in verschiedenen
Verhältnissen des bürgerlichen Lebens als unsre künftige Zeitgenossen wir-
ken.« Die Zeitschrift wandte sich an Kinder gebildeter und wohlhabender
Stände. In anspruchsvoller Sprache wird von bemerkenswerten Charakterzü-
gen junger Menschen erzählt, von Reisen, Unglücksfällen und bedeutenden
Erziehern; es wird von politischen Ereignissen, von wichtigen Entdeckungen
und Erfindungen berichtet.
Teilweise andere Gattungen und Inhalte waren in den Feyerstunden der
edleren Jugend vertreten, die Josef Sigmund Ebersberg von 1826 bis 1835
herausgab. Außer ihm schrieben für diese weit verbreitete Zeitschrift zahl-
reiche bekannte Kinderliteraten, so Leopold Chimani, Johann Christian Nie-
meyer, Phillipp Wolfgang Körber und Amalia Schoppe. Die permanente mo-
ralische Belehrung war die Hauptintention der Feyerstunden. Doch da sie sich
dazu fast ausschließlich der Moralischen Geschichte bediente, unterlag auch
sie der Tendenz der Literarisierung. Kurze Notizen – Hinrichtung eines Vater-
mörders in Ungarn, Die Eilwagen, Koran oder auch Versuch, einen angeblich
unübersetzbaren Vers zu übersetzen –, Lehrgedichte, Rätsel und Merkwürdig-
keiten aus Natur- und Menschenleben – Menschen, die nach dem Tode nicht
verweseten oder Spielwuth – ergänzten die literarischen Beiträge.
Ein genau umgekehrtes Verhältnis von moralischer Belehrung und Sachin- »Pfennig-Magazin
formation besteht in dem Pfennig-Magazin für Kinder, das zugleich die erste für Kinder«
illustrierte – und nicht nur mit einigen Kupfern ausgestattete – Zeitschrift für
Kinder im deutschsprachigen Raum ist. Sie erschien wöchentlich in einem
166 Vom Biedermeier zum Realismus

Umfang von sechs Seiten und enthielt kurze Artikel zu Geographie, Völker-
kunde, Technik, Geschichte und Architektur: Englisches Fuhrwerk, Tele-
graph, Die babylonischen Mauern, Künstliche Kälte zu verursachen oder Der
bischöfliche Palast in Würzburg. Auch die eher der Vermittlung von Normen
und Werten dienenden Artikel entsprechen mehr Sachberichten als fiktio-
nalen Texten: Ungehorsam aus Pflicht, Geschwisterliebe und zärtliche Sorg-
falt älterer Geschwister für ihre jüngern oder Ein ehrliches Dienstmädchen.
Bei hoher Auflage und niedrigem Preis – eine Nummer kostete ungefähr die
Hälfte des Portos für einen Brief von Dresden nach Leipzig – erreichte das
Abbildungswandel Pfennig-Magazin eine breite Leserschicht. So konnten nicht nur gehobene,
wohlhabende Schichten ihr Bildungsbedürfnis befriedigen, sondern auch so-
zial tiefer stehende Gesellschaftsgruppen ihr Interesse an der Welt auf kurz-
gefasste, aber nahezu enzyklopädische Weise stillen. Zudem verbreitete das
Pfennig-Magazin in einer für viele Menschen bilderarmen Zeit in großer
Zahl Ansichten von Tieren, Pflanzen, Bauwerken der näheren wie der exo-
Die gespielte Welt 167

tischen Regionen, dazu Abbildungen von berühmten Menschen aller Art,


gelegentlich auch schon von dramatischen Szenen. So bot diese Zeitschrift
nicht nur Teilhabe am Wissen der Zeit, sondern lieferte ikonographische In-
formationen, Anregungen, aber eben auch Prägungen: Bilderreservoir und
Betrachtungsregie zugleich.
Diente im Pfennig-Magazin die Bebilderung noch vornehmlich der Illus-
trierung der Sachartikel, so setzt sich seit Mitte des Jahrhunderts auch die
Illustrierung von fiktionalen Texten durch. Im Zuge dieser Entwicklung wer-
den die Abbildungen dramatischer und sensationeller; auch die Illustrierung
von Sachtexten will oft weniger informieren als beeindrucken, gar überwäl-
tigen. Diesen Übergang von der statischen, berichtenden Abbildung zur dy-
namischen, erzählenden lässt sich anhand zweier Zeitschriften besonders gut
beobachten. Im bereits genannten Jugend-Album werden vornehmlich Sze-
nen aus Erzählungen der bekannten Kinderschriftsteller illustriert, wie etwa
von Schmid, Nieritz oder Gumpert. In Der neue Deutsche Jugendfreund ist
die Dramatisierung der Abbildung schon zur Blüte gelangt: militärische Aus-
einandersetzungen, bedrohliche Naturereignisse, Schicksalsschläge und
spannungsgeladene Szenen bestimmen neben betont idyllisierenden Genre-
szenen die Abbildungsinhalte; nicht nur im Text-, auch im Abbildungsbereich
setzt sich das Unterhaltungsmoment immer stärker durch.
Der neue Deutsche Jugendfreund wurde von Franz Hoffmann zunächst
von 1846 bis 1848 als – pünktlich zum Weihnachtsfest erscheinendes – Jahr-
buch herausgegeben, dann als monatlich erscheinende Zeitschrift. Als Hoff-
mann große Popularität erreicht hatte, änderte der Verlag Mitte der 60er
Jahre den Zeitschriftentitel in Franz Hoffmann’s neuer Deutscher Jugend-
freund. Den Inhalt bildete eine zwanglose Folge von Sach- und Unterhal-
tungsbeiträgen. Er reichte – hier alphabetisch geordnete Beispiele des Jahr-
gangs 1856 – von An Gottes Segen ist Alles gelegen, einer spannenden mora-
lisierenden Geschichte, über die Bauart der Vogelnester, einem Besuch in
einer Chemischen Fabrik, einem Gedicht über den alten Derfflinger, einem
Lebensbild Alexander von Humboldts, einem Bericht über die Japanesen und
Rätseln bis hin zum Ziel des Lebens, einem Gedicht.
Die erfolgreichste der religiös akzentuierten Zeitschriften waren die Ju- Religiöse Zeitschriften
gend-Blätter. Monatsschrift zur Förderung wahrer Bildung, begründet und
maßgeblich beeinflusst durch Christian Gottlob Barth. Sie erschienen von
1836 bis 1916. In einer resümierenden Besprechung heißt es: »Barth ladet
die Kinder ein, mit ihm eine gemeinschaftliche Reise nach dem Himmelreich
zu machen und sich unterwegs alle Tugenden anzueignen, die dazu befähi-
gen, Bürger dieses Reiches zu werden. […] Um die Sache interessant zu ge-
stalten, braucht er Weißes Form des Familiengeschwätzes. Das Fangen von
Abonnenten verstand er vorzüglich, indem er als Preise für Lösungen der
Preisfragen allerhand Kleinigkeiten, die er von seinen großen Reisen im Aus-
lande mitgebracht hatte, aussetzte.«

Die gespielte Welt

Im biedermeierlichen Familien- und Freundeskreis des gebildeten Bürgertums


waren Theateraufführungen sehr beliebt. Es kam den Vorstellungen von
einem harmonischen, im überschaubaren und vertrauten Kreis auch tatkräf-
168 Vom Biedermeier zum Realismus

tigen Leben entgegen, dass Eltern und Kinder zusammen mit Verwandten
und Freunden sich gemeinsam beschäftigten: Familienfeste und Ausflüge,
Experimentieren und Wohltätigkeitsveranstaltungen, Bälle und vor allem
Theater.
Theaterleidenschaft Die Theaterbegeisterung nicht nur des Biedermeiers, sondern des gesamten
19. Jh.s, war sehr groß. Da es kaum noch Schultheateraufführungen gab und
erst Ende der 60er Jahre die öffentlichen Bühnen auch Kinderschauspiele ins
Programm aufnahmen, war es nicht ungewöhnlich, dass im Bildungsbürger-
tum schon Kinder in Theater- oder Opernaufführungen für Erwachsene
mitgenommen wurden. Auch die hohe Zahl von Papiertheatern, seit den
20er Jahren in großem Umfang vor allem in Wien und Düsseldorf hergestellt,
mit denen Erwachsene und Kinder gleichermaßen spielten, ist Ausdruck die-
ser Theaterleidenschaft.
Die Lust am Theaterspiel hat vielfältige Wurzeln: zeitweise Rollenüber-
nahme, Erproben anderer sozialer und psychischer Identitäten, Lust an Kon-
zentration auf Guckkastenbühne, abzulesen auch an den beliebten Laterna-
magica-Vorführungen, später an den Panorama-Besuchen. Theater ist die
ganze Welt im Kleinen, inszeniert und damit befreit von allem Überflüssigen
und Irritierenden. Auch Kindern, vor allem älteren, gestand man diese Lust
schon zu, soweit sich damit eine moralische Belehrung verbinden ließ. In ei-
ner 1844 erschienenen Empfehlungsschrift heißt es: »Ebensowenig wie von
Fabeln und Mährchen hat man von den Kinderschauspielen zu fürchten, und
bei richtiger Auswahl wird weder das Lesen derselben, noch das Aufführen
verderblichen Einluß ausüben. Man muß sie vielmehr als Mittel zur Beförde-
rung eines guten Vortrags, als erleichternde Uebung der Gedächtnißkraft, ja
als Mittel der Erweckung edler Gefühle und Gesinnungen empfehlen, wobei
natürlich vorausgesetzt wird, daß kein hohler Pathos in ihnen herrscht, kein
affectirtes Wesen sich widerlich ziert und dehnt, vielmehr daß sie in kind-
licher Sprache das Kindergemüth ergreifen, und damit es auch veredeln.«
Moralisches Schauspiel Kinderschauspiele werden durchweg mit moralischen Schauspielen gleichge-
setzt, mit »dramatisierten Sprichwörtern«, mit dramatischen Bearbeitungen
von »Gegenständen der Erziehung«.
In diesem Sinne schrieben viele Autoren ihre Kinderschauspiele. Sie setzten
damit eine schon lange bestehende Tradition fort, doch reicherten sie zu-
gleich die Stücke mit zeittypischen Elementen an: Rührseligkeit, Familien-
kult, unglaubwürdige Zufälle, unnatürliche Dialoge, sentimental-religiöse
Grundstimmung. Beispielhaft dafür sind die im Buch für Kinder gebildeter
Stände (3 Bde., 1819) von Ernst von Houwald veröffentlichten Schauspiele
wie etwa Der Weihnachts-Abend oder das von Kitty Hofmann herausgege-
bene Theater für Kinder (1824), in dessen Vorwort es heißt: »Nicht die An-
sprüche auf Kunsthöhe, nur der Wunsch, die kleinen Weltbürger für sittliches
Vergnügen aufzuregen und sie dadurch moralisch zu bilden, hat veranlaßt,
diese dramatische Arbeit herauszugeben.« Moralische Belehrung in betont
christlich-katholischer Akzentuierung bieten die zahlreichen Schauspiele
Isabella Brauns. So enthält der erste Band ihrer Reihe Kleine Theaterstücke
für die Jugend (um 1860) folgende Stücke: Das Namenstags-Geschenk, Der
St. Nikolaus-Abend, Die Heimkehr, Zur Jubelfeier einer geistlichen Instituts-
Oberin, als dessen Steigerung Zur Namenstags-Feier einer Oberin des Insti-
tuts St. Maria und als Höhepunkt der niemals fehlende Mutter-Geburtstag.
Neben der moralischen Belehrung schätzte man am Kindertheater und der
Kinderschauspielerei auch die Möglichkeiten, richtiges Sprechen und ein-
drucksvolles, selbstsicheres Vortragen einzuüben. Auch die deutliche Aus-
drucksweise von Gefühlen und die Sicherheit in der Bewegung sollten durch
Die gespielte Welt 169

das Spielen gefördert werden. Diese Elemente sind notwendig für eine spä-
tere gesellschaftlich bedeutsame Stellung des Bürgers, aber auch, um sich von
sozial tiefer stehenden Schichten deutlich absetzen zu können. Im Titel eines
von dem Schriftsteller und Theaterdirektor Ludwig von Alvensleben heraus-
gegebenen Buches werden diese Zusammenhänge angesprochen: Die kleinen
Schauspieler oder neuestes Kindertheater. Zugleich als Benutzung zur
Sprachübung deutsch und französisch. Enthält 1 Stück für Knaben und Mäd-
chen, 2 für Knaben und 2 für Mädchen. Nebst Andeutungen über Darstel-
lung, Requisiten, Scenierung und Costüm (1851).
Auch beim Kinderschauspiel sind Veränderungen zu beobachten. Das Unterhaltendes
Vergnügliche und Unterhaltsame, bisher nur als hilfreiches Vehikel zum Schauspiel
Transport der Moral geduldet, drängt immer mehr in den Vordergrund. Im
Laufe des Jahrhunderts entstehen vermehrt Unterhaltungsstücke mit allen
Elementen des volkstümlichen und des französischen Boulevard-Theaters,
der Komödien- und Schwanktradition, nicht zuletzt auch beeinflusst von den
Puppenspielen im Stil Poccis. Im Kindertheater entstehen nun gänzlich an-
dere Orientierungsmuster: leitend ist nicht mehr das pädagogisch Traktat-
hafte, sondern die Bühnenwirksamkeit. Handlungsabläufe werden glaub-
würdiger und realistischer, die Dialoge natürlicher, auch wenn es um fiktive,
märchenartige Inhalte geht. Überraschungsmoment und Höhepunkt der
Handlung ist nicht mehr eine Bekehrung zum Guten, sondern die Auflösung
einer komödienhaften Verwicklung oder eines spannungsreichen Geheim-
nisses. Die von Aurelie (d.i. Sophie Gräfin von Baudissin) im Theater-Alma-
nach für die Jugend (2 Bde., 1849) versammelten Stücke sind für diese Ten-
denz ein gutes Beispiel. Bezeichnenderweise bekennt sich Aurelie im Vorwort
vor allem zur Komödien-Tradition, wie sie bei Berquin und Weiße bereits
anzutreffen sei. Außerdem bemerkt sie: »Kleine dramatische Aufführungen
im Familienkreise werden unter der Jugend immer üblicher, und gelten mit
Recht für eine Unterhaltung die zugleich nützlich und anregend ist. Sie übt
das Gedächtniß und fördert die äußere Haltung. [...] Der nächste Zweck den
Illustration zu Kleine
wir mit der Herausgabe des Büchleins verbinden, ist unsre Leser zu unterhal- Theaterstücke für die
ten: weder haben wir’s auf Belehrung abgesehn, noch liegt jedem Stück eine Jugend von Isabella
bestimmte moralische Nutzanwendung zum Grunde. Wurmkuchen und ver- Braun. Schaffhausen ca.
goldete Pillen giebts ohnehin genug in der Kinderlitteratur.« 1860
Exemplarisch für die im 19. Jh. einsetzende Kommerzialisierung des Kin-
derschauspiels ist die Anlehnung an bekannte und erfolgreiche Vorbilder auf
der ›Erwachsenen-Bühne‹. So bietet Moritz Thieme Der kleine Freischütz
(1823) an und Jeremias Gotthelf Der Knabe des Tell, 1846 zugleich in Zü-
rich und Berlin erschienen. Gotthelfs Stück ist zudem ein Beispiel für die
Verbindung von Nationalerziehung und Unterhaltung. Der Sohn Tells wird
darin zur Hauptfigur. Er wird in der Schlacht in Morgarten gegen Österreich
verletzt und stirbt, nicht ohne noch einmal die Gemeinschaft freier und glei-
cher Männer beschworen zu haben, den Heldentod.
Eine wichtige Rolle bei der Weiterentwicklung und vor allem Kommerzia- Kommerzialisierung
lisierung des Kindertheaters spielte der zumeist als Theaterdirektor tätige
Carl August Görner. Nach großen Erfolgen mit Komödien für Erwachsene
wandte er sich dem Kindertheater zu, verfasste mehrere sogenannte Kinder-
komödien – am bekanntesten wurden davon Die drei Haulemännchen oder
das gute Liesel und’s böse Gretel und Die Prinzessin von Marzipan und der
Schweinehirt vom Zuckerland, beide 1855 –, um dann das neue Genre
›Weihnachtsmärchen‹ zu begründen. Sich nur äußerlich an die Grimm’schen
Vorlagen haltend, entwickelte Görner einen spezifischen Kindertheaterstil
der Märchendramatisierung, der bei den Schauspieldirektionen wie beim
170 Vom Biedermeier zum Realismus

bürgerlichen Publikum außerordentlichen Erfolg hatte. Zu den berühmtesten


Weihnachtsmärchen gehörte Aschenbrödel oder Der gläserne Pantoffel
(1864, überarbeitet 1873), das bis ins 20. Jh. das meistgespielte Weihnachts-
stück für Kinder wurde. Alle theatralischen Möglichkeiten gekonnt einset-
zend, aktionsgeladen und überwältigende Bilder präsentierend, blieb von ir-
gendwelchen Inhalten nicht viel übrig. Mit dem Weihnachtsmärchen bekam
das kommerzielle Unterhaltungstheater auch das Kindertheater unter Kon-
trolle, das sich gerade erst von den Pädagogenansprüchen zu emanzipieren
suchte.

Biedermeierliche Ordnungsstreben und Familiensinn, Idylle und Harmonie, Religiosität und


Kinderliteratur Anerkennung eines komplexen Normen- und Wertesystems, Zufriedenheit
als Kinderliteratur mit der jeweiligen sozialen Stellung, der Glaube an die Wahrheit im Kleinen
schlechthin und an die Größe des stillen Glücks, aber auch an die Kraft von Bildung und
Wissen, Entsagungsethos, aber auch das bewusste Ausspielen exotischer
Reize der Ferne – diese für eine Restaurationsepoche typischen Elemente er-
gaben eine Kinderliteratur von so eigentümlich intensiver Wirkung, dass
viele genuin biedermeierliche Elemente zum Spezifikum von Kinderliteratur
ganz allgemein geworden sind. Losgelöst vom politischen, sozialhistorischen
und literarischen Kontext erstarrte das Biedermeierliche in Schablonen ohne
Inhalt. Was beispielsweise bei aller Verniedlichung und Harmonisierung nie-
mals nur affirmativ gemeint war, wird mit der Lösung vom zeitgeschicht-
lichen Umfeld zur Affirmation des Schönen, dem sich auch nicht die geringste
Irritation in den Weg stellt. Die Szenen eines glücklichen Kinderlebens wer-
den ebenso zum Kitsch wie die Darstellung eines Naturschönen, die jeden
korrektiven oder gar utopischen Aspekt verloren hat. Kitschig wurden diese
Darstellungen so schnell, weil sie dem Kleinen in geglätteter Wohlgefälligkeit
nun Erhabenheit, Ewigkeitswert und Allgemein-Menschliches zusprechen.
Der Verfall einstmals berechtigter Formen kennzeichnet auch in gewisser
Weise den Verfall der Kinderliteratur, die sich zwar von der Heteronomie des
Pädagogischen zu befreien lernte, aber nur zu dem Preis, dass sich Momente
wie Wissensvermittlung und Aufklärung, Spannung und Sentimentalität,
Abenteuer und Eskapismus einer immer rigideren Kommerzialisierung und
in zunehmendem Maße auch Ideologisierung unterwarfen. So liefert sowohl
die vorgeblich unbeschädigte Bilderwelt des Biedermeiers als auch die schein-
bar so aufgeschlossene Welt der realistischen und sachlichen Literatur nun
lange Zeit brauchbare, da so neutral wirkende Versatzstücke für das durch-
kalkulierte Geschäft auf ökonomischem wie politischem Gebiet.
Die Literaturpädagogik dagegen trat lange Zeit nur moralisierend auf. Sie
bemängelte immer nur den Fantasiereiz und die fehlende Sittsamkeit, ver-
schloss aber die Augen vor Kommerzialisierung und vor allem vor politischer
Indoktrination.
171

Vom letzten Drittel des 19. Jahr-


hunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Gisela Wilkending

»Schon öfter wurde über den Literaturramsch der Warenhäuser Klage ge-
führt. [...] Schon lange hat auf dem Gebiete der Jugendliteratur eine Groß-
industrie Platz gegriffen, die, lediglich auf das roheste Lesebedürfnis der
Kinder spekulierend, alle feineren Ansprüche sowohl an den Text wie an die
Ausstattung in dem heranwachsenden Geschlecht tötet.« So schreibt der
prominenteste Jugendschriftenkritiker und Literaturpädagoge dieser Epoche,
der Hamburger Volksschullehrer Heinrich Wolgast, in einem Zeitungsbeitrag Heinrich Wolgast:
des Jahres 1901. Schon einige Jahre zuvor hatte er mit seiner Kampfschrift »Das Elend unserer
Das Elend unserer Jugendlitteratur (1896) großes Aufsehen erregt. »Die aller- Jugendlitteratur«
meisten Leser der gangbaren Jugendschriften«, heißt es dort, »sind für die
ernste Kunst verdorben«. Nur konsequent scheint daher seine generelle Ab-
lehnung der spezifischen, »eigens für die Jugend geschaffene[n]« Jugendlite-
ratur. »Die Jugendschrift in dichterischer Form muß ein Kunstwerk sein«,
lautet Wolgasts erstes Gebot. Und als Kunstwerk gehöre ein Text ohnehin
der allgemeinen Literatur an. Kaum ein Lichtstreif am Horizont ist für ihn
vorerst sichtbar: höchstens Theodor Storms »köstliche Novelle« Pole Pop-
penspäler, die – anfangs wenig beachtet – bereits 1874 in der Zeitschrift
Deutsche Jugend erschienen war und die im Jahre 1899 vom Westermann-
Verlag, »in enger Abstimmung mit Wolgast«, wie es in einem Brief des Ver-
lags heißt, in 27 000 Exemplaren neu auf den Markt gebracht wird – als
Billigausgabe für 50 Pfennig! Viele Schülergenerationen aller Schularten wer-
den künftig die Geschichte der Liebe zwischen der Puppenspielertochter Lisei
und dem Handwerkersohn Paul, die als Liebe zwischen Kindern beginnt, im
Literaturunterricht lesen.
In aller Schärfe fasst Wolgast mit seiner Klage über den »Literaturramsch«
den Übergang des kinder- und jugendliterarischen Marktes in den kaiserzeit-
lichen Massenmarkt ins Auge, den v.a. Literaturpädagogen schon seit länge-
rem angstvoll und misstrauisch beobachtet hatten – ein Prozess, in dem sich
das klassische bürgerliche Lesepublikum transformiert, teilweise auflöst und
mit unterbürgerlichen Leserschichten verschmilzt. Um 1900 baut sich aber
auch eine andere Konstellation auf: Die Möglichkeit der Verflechtung von
Kunst und Kommerz, auch mit dem Ziel, die Massen ›konsumfähig‹ zu ma- Kunst und Kommerz
chen, wie es bei Wolgast und vielen anderen Kunsterziehern immer wieder
heißt, zeichnet sich ab. Davon zeugen die neuen Billigreihen ›guter Literatur‹,
wie sie Wolgast und Westermann mit der Herausgabe des Pole Poppenspäler
initiiert haben. Im Jahre 1900 erscheint aber auch, von Kunsterziehern be-
geistert begrüßt, das Bilderbuch Fitzebutze, mit Gedichten von Paula und
Richard Dehmel und Bildern von Ernst Kreidolf. Eine Reihe anderer Künst-
ler-Bilderbücher, darunter Paula Dehmels Rumpumpel (1903), mit Bildern
von Karl Hofer, und das von Richard Dehmel betreute Der Buntscheck
(1904) schließt sich an. Dichter schreiben Kunstmärchen für Kinder oder
gelangen mit ihren Texten in Anthologien spezifisch adressierter Kinder- und
172 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Jugendliteratur, etwa in den von Ernst Weber veranstalteten Band der Neuen
Märchen für die Jugend (1900). Gerlachs Jugendbücherei (1900 ff.) mit Illus-
trationen teils bedeutender Künstler wird zu einem herausragenden Doku-
ment österreichischer Jugendstilkunst. Und mit Ilse Frapans Hamburger Bil-
der für Hamburger Kinder (1899) zieht sogar eine moderne Großstadtprosa
in die Kinderliteratur ein. Ja, selbst Entwicklungen im Bereich der Alltags-
künste, wie die aus Stollwercks Schokoladenautomaten gezogenen Reklame-
bildchen, an denen um 1900 auch bedeutende Künstler und Künstlerinnen
wie Paula Modersohn-Becker mitgearbeitet haben und deren Rückseiten als
Träger von Gedichten und Reimprosa fungieren, finden zeitweilig die Zu-
Kinderliteratur einer stimmung von Kunst- und Literaturpädagogen. Für einen kurzen Zeitraum
Kunstmodere laufen so im Feld der Kinderliteratur verschiedene Strömungen der Kunst-
moderne zusammen. Dennoch: Die Markterfolge gerade der hoch gelobten
Titel und deren Repräsentanz im Feld der gesamten Kinder- und Jugendlite-
ratur bleiben relativ gering. Selbst dem bekannten, 1894 gegründeten Kölner
Schaffstein-Verlag, in dem viele der neuen ›Künstler-Bücher‹, teils in gewagten
Auflagen von 5 000 bis 10 000 Stück veröffentlicht werden, bleibt ein wirt-
schaftlicher Erfolg letztlich versagt. Nur seine verbilligten Volksausgaben
und v.a. die kleinformatigen Blauen und Grünen Bändchen, die Eingang in
den Schulunterricht finden können, erweisen sich als profitabel. Im Übrigen
sind die künstlerisch anspruchsvollen Bücher, wie der Verleger Hermann
Schaffstein selbst bemerkt, nicht für die Masse geeignet. Das breite Publikum
sucht offenkundig nicht den ›ästhetischen Genuss‹, wie Wolgast ihn wünscht.
Es sucht Information, Orientierung, v. a. aber spannende Unterhaltung. Die-
sen Bedürfnissen kommt der literarische Markt vorzüglich entgegen. Erst-
mals werden nun auch, im Zuge der erfolgreich verlaufenden Alphabetisie-
rung im letzten Drittel des Jahrhunderts, die Kinder und Jugendlichen aller
sozialen Schichten als Adressaten der Literatur angesprochen.
Von der Kinder- und Jugendliteratur dieser Epoche lässt sich kein einfaches
Bild zeichnen, denn ihr Hauptcharakteristikum ist gerade eine irritierende
Vielfalt, in der sich widersprüchliche Epochentendenzen spiegeln: Beharrung,
Konservierung, Restauration, aber auch Dynamik, Modernisierung, Innova-
tion. Zum ersten Mal in der Geschichte – und vermutlich später nie mehr mit
dieser Intensität – wird die Kinder- und Jugendliteratur zudem ein zentraler
Vielfalt Gegenstand des öffentlichen Interesses, nicht nur des pädagogischen und
verlegerischen, sondern auch des Interesses kultureller und politischer Orga-
nisationen, bis hin zu den Kolonial- und Flottenvereinen des Deutschen
Reiches. Die Kinder- und Jugendliteratur ist Thema der modernen Kunstbe-
wegung, der Kunsterziehungsbewegung, der pädagogischen Reformbewe-
gung, der Jugendbewegung, der Arbeiterbewegung und der Frauenbewegung.
Sie wird damit zum Aspekt all jener Diskurse, die den gesellschaftlichen Um-
bruch in dieser letzten Phase der Hochindustrialisierung prägen und be-
gleiten. Und das alles vollzieht sich vor dem Hintergrund der politischen
Nationsbildung, die seit der Gründung der Österreichisch-Ungarischen Dop-
pelmonarchie (1867) und des Deutschen Reiches (1871) sowie der Neukons-
tituierung der Schweiz (1848/1874) auch die Ausdifferenzierung nationaler
Literaturen begünstigt. Die historische Konstellation ist gegenüber früheren
und späteren Konstellationen auch insofern unvergleichbar, als in dieser
Phase bei Kindern und Jugendlichen der Höchststand der Alphabetisierung
erreicht ist, ohne dass sich schon der Übergang in die moderne, von audio-
visuellen und digitalen Medien geprägte Gesellschaft vollzogen hat. Schon
wenig später wird ein Teil des potenziellen Lesepublikums auf diese Medien
übergehen.
Markt, Gesellschaft, Politik 173

Markt, Gesellschaft, Politik

Der Buchmarkt, der sich – nach dem großen Entwicklungsschub der 1830er Expansion des
und 1840er Jahre – seit 1948 in einer schweren Absatzkrise befand, hatte Buchmarkts
sich seit den 1860er Jahren langsam erholt. Politisch-ökonomische Rahmen-
bedingungen, wie die Einführung der Gewerbefreiheit und die Lockerung
des Urheberschutzes, vor allem aber Möglichkeiten der Beschleunigung und
Verbilligung der Literaturherstellung, etwa durch die Einführung moderner
Setzmaschinen (ab 1872), durch die Erfindung der Rotationsmaschine (1873)
und den Einsatz der Drahtheftmaschine (seit 1878), dazu Entwicklungen im
Farbdruck, Modernisierungen im Vertrieb und Verkauf und nicht zuletzt das
wachsende Lesepublikum kurbeln nun die Konjunktur an. Erst jetzt kommt
es zum Durchbruch der ›zweiten Leserevolution‹. In ihr erlangt die Kinder-
und Jugendliteratur einen hohen Rangplatz auf dem literarischen Markt.
Viele etablierte und viele neue Verlage bauen, teilweise in Kombination mit
dem Schulbuchgeschäft, ein entsprechendes Segment zur tragenden Säule ih-
res Geschäfts aus. Marktbeherrschend wird schließlich die Union Deutsche
Verlagsgesellschaft, ein aus dem Zusammenschluss mehrerer Verlage ent-
standener Großverlag, in dem u. a. so erfolgreiche Periodika wie Der gute
Kamerad, Das Kränzchen und Das neue Universum, dazu die beiden Roman-
reihen Kränzchen-Bibliothek und Kamerad-Bibliothek sowie die kleinforma-
tige Universalbibliothek für die Jugend herausgebracht werden. Die Kinder- Buch- und
und Jugendliteratur ist allerdings auch von der allgemeinen Erosion des Heftchenmarkt
Buchmarkts in dieser Phase des Medienumbruchs betroffen: Wie Wittmann
in seiner Geschichte des Buchwesens mitteilt, sind im Jahre 1908 nur noch
»gut die Hälfte aller Titel« im Bereich der Jugendschriften »Bücher im ei-
gentlichen Sinn«; die übrigen sind Hefte. Schon früh platziert sich in diesem
Feld der Mülheimer Bagel-Verlag mit seiner von Gustav Nieritz veranstalte-
ten Jugendbibliothek, später mit seiner Bibliothek Interessanter Erzählungen,
der Neuen Jugend-Bibliothek sowie einer Kinder-Bibliothek. Im ersten Jahr-
zehnt des 20. Jh.s erscheinen dann die noch heute marktgängigen großfor-
matigen Heft-Serien, unter Seriennamen wie Jungens-Streiche, Prinzessin
Übermut oder Backfischstreiche. Auch die teils aus Amerika übernommenen
Serien wie Buffalo-Bill, Nick Carter, Detective Sherlock Holmes und Texas
Jack dürften ein großes jugendliches Lesepublikum gefunden haben. Im Jahr
1916 listet die Jugendschriften-Warte bereits über 200 entsprechende Serien
auf. Auch typische Kolportageverlage gewinnen in dieser Epoche an der Kin-
der- und Jugendliteratur Interesse. Den größten Markterfolg erzielt wohl der
Berliner Verleger Weichert, um 1900 der erfolgreichste ›Volksschriftenverlag‹

Schmuckleiste von
Der gute Kamerad 4
(1889/90)
174 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

im Deutschen Reich, der neben Heften auch große Jugendbuchprogramme,


darunter zahlreiche Mädchenbücher seiner Hausautorin Marie von Felseneck
(Marie Mancke) sowie die erfolgreichen Aennchen-, Lottchen- und Hum-
melchen-Reihen von Clara Nast auflegt.
Lesepublikum Während über Verlage wie Bagel und Weichert breite, insbesondere auch
neue Leserschichten erschlossen werden, sprechen andere Verlage, wie z. B.
Hirt & Sohn oder Velhagen & Klasing, gezielt ein gehobenes bürgerliches
Lesepublikum an. Dabei verweist neben dem Buchpreis – Jugendromane
können immerhin zwischen einer Mark und neun Mark kosten – auch das
äußere Erscheinungsbild der Bücher auf den Status der intendierten Leser-
schaft. So sind für die Bücher des ›neuen Marktes‹ auf Pappeinbände geklebte
Buntbilder, oft in greller Kolorierung, charakteristisch. Ornamentaler Präge-
druck auf dezent-farbigem Leinenumschlag signalisiert dagegen, dass dies
Buch nicht nur als Konsumobjekt, sondern als ›wertvolles Gut‹ und auch als
Ausstattungsstück für die bürgerliche Wohnung gedacht ist. Dass sich in den
verschiedenen ›Verpackungen‹ auch qualitativ unterschiedliche Texte befin-
den, wird allerdings von Beobachtern und Kritikern der Entwicklung auf
dem Kinder- und Jugendbuchmarkt durchaus bezweifelt. Schon längst, meint
Wolgast mit einem gewissen Recht, hätten sich im Zuge der Herausbildung
der Massengesellschaft und der modernen Unterhaltungskultur unterschwel-
lig die Geschmäcker des bürgerlichen Lesepublikums und der lesenden Un-
terschichten angenähert. »Wir brauchen nicht hinabzusteigen in jene niedern
Regionen der 25 Pfg-Hefte mit den lächerlich-blödsinnigen, bluttriefenden
Indianergeschichten und dem bunten, in neu-ruppinscher Manier bemalten
Umschlag, wie man sie in den meisten Papier- und sogar in einigen Buch-
handlungen ausliegen sieht«, schreibt Wolgast 1890 im Hamburger Frem-
denblatt. »In stattlichem, stilvollem Gewande, den vertrauenerweckenden
Namen einer hochangesehenen Verlagsfirma an der Stirn, marschiren Er-
scheinungen auf dem Büchermarkte auf, deren innere Jämmerlichkeit jeder
Beschreibung spottet. Weder der Preis, noch die gediegene Ausstattung, noch
der Verleger, ja streng genommen nicht einmal der Name des Verfassers,
bietet die Garantie für den Werth einer Jugendschrift.« Immer wieder pran-
gern er und seine Mitstreiter die Geschäfte auf dem literarischen Markt als
»Ausbeutung« eines »natürlichen« Unterhaltungs- und Genussbedürfnisses
an. Ein waches Lesepublikum wollen sie erziehen, das sich nicht durch täu-
schende Buchaufmachungen hinters Licht führen lässt.
Fiktionskritik Eine Reihe von Literaturkritikern malt auch Schreckensszenarien aus, in
denen die Fiktionskritik früherer Jahrhunderte wieder auflebt: Schutzlos
ausgesetzt seien die Kinder und Jugendlichen den verderblichen Wirkungen
besonders der Heftchenliteratur, die nicht nur über die Leihbibliothek, son-
dern nun auch noch in Kaufläden, Kiosken und auf Märkten billig, leicht
und unkontrolliert zu erwerben ist. Am schärfsten ist die Kritik von ortho-
dox-konfessioneller Seite. Aber auch der eher liberale Pädagogische Jahresbe-
richt warnt schon 1868 vor solchen Texten. Schon bald gilt neben England
auch Amerika als das Land, in dem dieses ›Laster‹ entspringt. Selbst in hö-
heren Töchterschulen werde dort mit in Blumenbouquets und Naschwerk
versteckten Heftchen gedealt. Gerade die »jugendliche Verbrecherliteratur«
sei »eine gesellschaftliche Calamität ersten Ranges«. »In Boston und New
York«, heißt es 1891 in einer Schrift von H. Herold über »Jugendlektüre und
Schüler-Bibliotheken«, seien eine Reihe von Banden jugendlicher Verbrecher
festgenommen worden, deren Mitglieder fast alle »ihren Fall auf das Lesen
von Sensationsgeschichten« zurückführten. Franz Xaver Wetzels von katho-
lischem Standpunkt aus geschriebener Wegweiser Die Lektüre (2. Aufl.
Markt, Gesellschaft, Politik 175

1897) kolportiert über Hunderte von Seiten entsprechende Verbrechensge-


schichten.
Die Kritiker des neuen Markts der Kinder- und Jugendliteratur sind zu- Literarische
nächst v. a. Lehrer, Geistliche und Bibliothekare. Bald bildet sich aber eine Öffentlichkeit
große ›literaturpädagogische Öffentlichkeit‹ heraus, die aus christlich-kon-
fessionellen, jüdischen und freikirchlichen, liberalen, konservativen, radikal-
nationalistischen und sozialistischen Verbänden sowie aus Vereinigungen von
Buchhändlern und Verlegern (unter der Dachorganisation des Börsenvereins
für den deutschen Buchhandel) zusammengesetzt ist. Die bereits existierenden
Lehrer- und Lehrerinnenvereine, Vereinigungen von Buchhändlern und Verle-
gern, aber auch religiöse Institutionen und Parteien mit ihrer Presse und ihren
Verlagen bieten den organisatorischen und teils auch ökonomischen Rück-
halt. So wird die Kinder- und Jugendliteratur in dieser Epoche zu einem
wichtigen Element des ›Kulturkampfs‹ im umfassenden Sinn, der seit 1900
auch in einen im großen Stil organisierten ›Schundkampf‹ einmündet. Am
frühesten und intensivsten konzentriert sich die liberale Lehrerbewegung auf
die Sichtung von Kinder- und Jugendliteratur. Schon seit 1852 war für den
Raum der Deutschschweiz und des Deutschen Bundes mit dem Pädagogischen
Jahresbericht ein entsprechendes Rezensionsorgan eingerichtet worden. 1859
wurde im Schweizer Lehrerverein eine Jugendschriftenkommission – offen-
bar die erste überregionale Kommission im deutschsprachigen Raum – ge-
gründet. Im Deutschen Reich schließen sich zahlreiche, bislang örtlichen und
regionalen Lehrervereinen zugehörige Jugendschriftenkommissionen im
Jahre 1893 zur Vereinigung deutscher Jugendschriften-Ausschüsse, mit dem
Organ Die Jugendschriften-Warte, zusammen. In Österreich erfolgt der Zu-
sammenschluss von lokalen Jugendschriftenausschüssen, im Rahmen des
Deutsch-Österreichischen Lehrerbundes, erst vor dem Ersten Weltkrieg. Das
›katholische Österreich‹ wird allerdings durch Engelbert Fischers Rezensi-
onsunternehmen Großmacht der Jugend- und Volksliteratur (1877 ff.) ener-
gisch vertreten, das nicht nur gegen liberale österreichische Tendenzen, son-
dern insbesondere gegen das preußisch-protestantische Deutschland und
dessen Kinder- und Jugendliteratur antritt, die Österreich überschwemme. In
Deutschland arbeiten neben den liberalen auch eine Reihe konfessioneller
Lehrervereine sowie der Verband jüdischer Lehrer-Vereine im Bereich der
Jugendschriftenkritik. Besonders aktiv ist der katholische Borromäus-Verein.
Er schreibt sich, gestützt auf den Kölner Bachem-Verlag und die verlagseigene
Kölner Volkszeitung, den Kampf um eine von protestantisch-preußischen Ein-
flüssen unabhängige Kinder- und Jugendliteratur auf die Fahne. Der Bachem-
Verlag schafft sogar ein entsprechendes Kinder- und Jugendliteraturpro-
gramm, mit erfolgreichen Buchreihen wie Bachems illustrierte Jugendschrif-
ten für Mädchen und für Knaben. Schon in den 1870er Jahren tritt auch die
Sozialdemokratische Partei für eine eigene Kinderliteratur ein: In Zürich er-
scheint unter dem Namen Friedrich Gottlieb Schulze das allegorische Mär-
chen Der große Krach (1875), wenig später das Bilderbuch König Mammon
und die Freiheit (1878) von Leo Berg und Erwin Rossbach. Nach der Aufhe-
bung des Sozialistengesetzes (1878–1889) wird das Projekt einer proleta-
rischen Kinderliteratur dann mit Texten wie Bilderbuch für grosse und kleine
Kinder (1893–1900), Emma Adlers Buch der Jugend (1895) und mit der von
Clara Zetkin begründeten Kinderbeilage zur Zeitschrift Die Gleichheit
(1905 ff.) forciert wieder aufgenommen. Ob allerdings der ›Kunstwert‹ oder
eher Parteilichkeit für das Proletariat für die Qualität eines Textes relevant
sein soll – diese Frage bleibt innerhalb der sozialdemokratischen Literaturkri-
tik bis zum Ersten Weltkrieg heftig umstritten.
176 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Hinter der Forderung nach künstlerischer Qualität der Kinder- und Ju-
gendliteratur – wie sie insbesondere die Hamburger Kunsterzieher um Hein-
rich Wolgast, aber auch dezidiert sozialdemokratische Kritiker oder Autoren
von Kinder- und Jugendliteratur wie beispielsweise Karl Kautsky oder Hein-
rich Schulz vertreten – steht alles andere als ein unpolitischer Standpunkt
und auch mehr als ein ästhetisches Glaubensbekenntnis. Die Forderung, die
für Wolgast und seine Anhänger die Ablehnung jeglicher pädagogischer, po-
litischer oder religiöser Tendenz in der Kinder- und Jugendliteratur ein-
schließt, dient ihnen vielmehr als Argumentationsbasis im Kampf gegen
große Teile der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur, die in ihrer Sicht nichts
anderes sind als Instrumente ideologischer Beeinflussung und politischer
Herrschaft. So lehnt Wolgast beispielsweise die spezifische Mädchenliteratur
in Bausch und Bogen schon deswegen ab, weil sie der für ihn fortschrittlichen
Tendenz widerspricht, »die Unterschiede zwischen der Erziehung der beiden
Geschlechter fallen zu lassen«. Seine ganz besondere Kritik gilt aber der
»beängstigende[n] Hochflut der patriotischen Erzählungsliteratur«, wie er
1892 schreibt, die im Gefolge der Reichsgründung die deutsche Nation über-
schwemmt habe. Wolgast ist erklärter Gegner des preußischen Militarismus
und Autoritarismus. Er engagiert sich in der Friedensbewegung. Dass er, der
von seiner Grundposition eher radikaldemokratisch gesinnt war, sich früh
auf die Seite der Sozialdemokratie gestellt hat, wurde von den Angegriffenen,
v.a. von einflussreichen Verlegern und Buchhändlern, sofort bemerkt. Bis in
die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg reicht der Dauerkonflikt, in dem die geg-
nerische Seite, darunter auch der mit seinen Reihen Das deutsche Bilderbuch
(1904 ff.), Mainzer Volks- und Jugendbücher (1908 ff.) und Bunte Bücher
(1909 ff.) erfolgreiche Verlag Jos. Scholz sowie sein Hausautor Wilhelm
Kotzde, Wolgast eine sozialistische und vaterlandsfeindliche Tendenz vorhält.
1913 wird die Hamburger Jugendschriftenbewegung unter diesen Vorzeichen
sogar zu einem Verhandlungsthema im preußischen Abgeordnetenhaus.
Gesellschaft, Staat, Es sind also zwei große Komplexe des gesellschaftlichen Wandels, die den
Nation kinder- und jugendliterarischen sowie den entsprechenden literaturkritischen
Diskurs dieser Epoche wesentlich bestimmen: die tendenzielle Auflösung des
Buchmarkts in einen Massenmarkt, der Kinder und v. a. Jugendliche so weit-
gehend wie nie zuvor der Einwirkung durch die traditionellen pädagogischen
Instanzen Familie und Schule zu entziehen droht, und der organisierte und
forcierte Zugriff von Interessensvereinigungen und -verbänden, Kirchen und
Parteien auf die Literatur, und damit auf Kinder und Jugendliche, Familie und
Schule. Auch der Staat greift im Übrigen – auf dem Wege der Lehrmittelzulas-
sung, des Ausbaus von Schülerbibliotheken und der Stiftung von Buchprä-
mien – direkt in diese Interessenspolitik ein. Dabei ist zu bedenken, dass alle
drei Staaten des deutschsprachigen Raums in der Zeit zwischen 1870 und
dem Ersten Weltkrieg innenpolitisch durchaus fragile Gebilde sind. Dies be-
trifft einmal die sozialen und politischen Kernprobleme, die in allen drei
Ländern aus dem extrem beschleunigten ökonomischen Wandel folgen. Dies
betrifft aber auch das in den drei Ländern unterschiedlich konflikthafte Ver-
hältnis von religiöser und nationaler Identität sowie die Frage nach dem
Umgang mit ethnischen und sprachlichen Minderheiten. Und dies betrifft
schließlich, seit dem ausgehenden Jahrhundert vermehrt, auch expansionisti-
sche, imperialistische Interessen, v. a. des Deutschen Reiches. Alle diese As-
pekte haben in der Kinder- und Jugendliteratur der Zeit ihren Niederschlag
gefunden. Denn ein Teil dieser Literatur will die Leser – direkt oder indirekt
– zur Identifikation mit Gesellschaft und Staat bewegen. Dennoch bleiben die
deutschsprachigen nationalen Buchmärkte hoch durchlässig. Eine Reihe von
Expansion und Pluralisierung 177

Autorinnen und Autoren publizieren in Deutschland und Österreich bzw. ar-


beiten in nationübergreifenden Zeitschriftenprojekten. Einige große Verlage
haben Standorte in mehreren Ländern. Eine besonders interessante Konstella-
tion zeigt sich auch bei der bedeutendsten Kinderbuchautorin im letzten
Drittel des 19. Jh.s, Johanna Spyri; sie wird zwar durchgängig als Schweizer
Autorin wahrgenommen, die wie kaum ein anderer Autor das Bild der
Schweiz geprägt hat, bringt aber fast alle ihre Kindergeschichten bei Perthes
in Gotha heraus, über den sie das große Publikum in Deutschland erreicht.

Expansion und Pluralisierung

In dieser Epoche wird also die Kinder- und Jugendliteratur Teil der sich im
Medienwandel neu formierenden, tendenziell alle Klassen und Schichten
einschließenden populären Unterhaltungskultur. Der Prozess wird begleitet
und mitgesteuert von heftigen öffentlichen Debatten, Initiativen für konkur-
rierende Literaturprojekte und eine zunehmend über Verbände und Vereine
organisierte Literaturkritik und Lektürekontrolle, auch im Kontext des seit
der Jahrhundertwende weitgehend verrechtlichten Kinder- und Jugend-
schutzes. Vor diesem Hintergrund wird v.a. seit Beginn des 20. Jh.s ein breit
organisierter ›Schundkampf‹ geführt. Andererseits löst sich das Gefüge kin-
der- und jugendliterarischer Gattungen, wie es sich im Rahmen der bieder-
meierlichen und frührealistischen Kinder- und Jugendliteratur ausdifferen-
ziert hatte, keineswegs vollständig auf. Auffällig sind in einigen Bereichen
sogar ausgesprochen beharrende Tendenzen, die sich bis weit ins 20. Jh. hin-
ein halten. In einigen Genres kommt es aber auch zu bemerkenswert produk-
tiven und teils literarisch innovativen Entwicklungen, etwa im Bereich des
Bilderbuchs sowie in der Erzählprosa für Kinder und für ›junge Mädchen‹.
Dies betrifft etwa neue, über den poetischen Realismus hinausgehende Ent-
wicklungen realistischen Schreibens, die Herausbildung erster Ansätze einer
jugendliterarischen Adoleszenzprosa sowie literarische Entwicklungen, die
aus der engen Einbindung einiger Autorinnen und Autoren in Strömungen
der Reformpädagogik sowie der Kunstmoderne der Jahrhundertwende re-
sultieren. Insgesamt zeigt der Blick auf die Kinder- und Jugendliteratur dieser
Epoche eine höchst komplexe und dynamische literarische Situation im
Spannungsfeld der verschiedenen, gegeneinander gerichteten Zeittendenzen.
Versucht man nun das gesamte Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur Periodische Literatur
dieses Zeitraums zu strukturieren, so fällt – neben dem gerade für die Entste-
hung des Massenmarkts quantitativ wie funktional äußerst wichtigen, aber
heute kaum noch angemessen rekonstruierbaren Sektor der ›seriellen Heft-
chenliteratur‹ – zunächst die große Titelmenge der periodisch erscheinenden
Literatur, also der Zeitschriften, Jahrbücher, Almanache, Kalender u. Ä. ins
Auge. Schätzungsweise 400 Periodika für Kinder und Jugendliche hat es in
diesem Zeitraum gegeben. Sie repräsentieren ein breites Spektrum religiöser,
politischer, pädagogischer und literarisch-kultureller Interessensgruppie-
rungen, wenden sich an Kinder verschiedener Altersgruppen sowie an ›die
Jugend‹, teils speziell an ›Mädchen‹, teils an ›Knaben‹. Großenteils ist diese
Literatur immer noch der Tradition einer bürgerlichen literarischen Famili-
enkultur zuzurechnen, zumal wenn man bedenkt, dass auch erfolgreiche
Wochen- und Monatsschriften nicht nur konsumiert‚ sondern als Jahrgangs-
178 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

bände repräsentativ gebunden und damit in Bücherregale und Familienbib-


liotheken eingestellt werden konnten. Insbesondere die vielen Kinderbeilagen
in Zeitungen und Zeitschriften sind aber zum bloßen Konsum. Am mächtigs-
ten expandiert der Bereich der Mädchenliteratur. Hier können sich gleich
mehrere, in der Charakteristik unterschiedliche Periodika erfolgreich und
langfristig behaupten: allererst das von Thekla von Gumpert bereits 1855
begründete Töchter-Album, in dem sich die konservative, preußisch-vater-
ländische Gesinnung der Herausgeberin mit ihrem Engagement für die Frau-
enfrage, für höhere Mädchenbildung, Kindergartenbewegung und innere
Mission zu einer eigenartigen Mischung verbinden. »Wenn man in heutiger
Zeit auch nur verstehen will«, schreibt Gumpert 1855 »an die junge Lese-
rin«, »was von gescheuten Menschen gesprochen wird, so muß man sich
ernstlich zu bilden suchen«. Daher geht es ihr auch um ein ausgewogenes
Thekla von Gumpert
Verhältnis von Sachliteratur und Belletristik. Und in der Tat geben die quali-
tätvollen Beiträge im Feld der biblischen Geschichte, der Weltgeschichte, der
Kulturgeschichte und der Naturgeschichte, für die sie anerkannte Autoren
wie Hermann Wagner als Mitarbeiter gewinnen konnte, diesem Jahrbuch –
gerade auch im Kontrast zu der literarisch wenig innovativen religiös-mora-
lischen Erzählliteratur dieses Periodikums – ein im Rahmen der Mädchenli-
teratur unverwechselbares Gepräge. Die meisten an Mädchen adressierten
Periodika, wie die nach dem Vorbild der Familienblätter gestaltete Wochen-
schrift Das Kränzchen (1888 ff.), das Deutsche Mädchenbuch (1892 ff.), der
Almanach Junge Mädchen (1895 ff.) oder Scherls Jungmädchenbuch
(1914 ff.) zielen immer noch vornehmlich auf ein bürgerliches Lesepublikum
ab. Die Deutsche Mädchen-Zeitung (1869 ff.), »Organ der evangelischen
Jungfrauen-Vereine«, verpflichtet sich dagegen besonders der ›inneren Mis-
sion‹ unterbürgerlicher Schichten. Sonnenland (1912 ff.) und Mädchenpost
(1913 ff.) wiederum sprechen ein breiteres, auch unterbürgerliche Schichten
einbeziehendes Publikum an. Unter den an Kinder, Jugendliche und an die
männliche Jugend adressierten Periodika ragen unter den vor 1870 begrün-
deten v.a. Isabella Brauns Jugendblätter (1855 ff.), Thekla von Gumperts
Herzblättchens Zeitvertreib (1856 ff.) und Die Kinderlaube (1863 ff.) heraus,
unter den nach 1870 begründeten Lohmeyers Deutsche Jugend (1873 ff.), die
Schweizer Illustrierten Jugendblätter (1873 ff.), der noch von Ottilie Wilder-
muth initiierte Jugendgarten (1876 ff.), Das neue Universum (1880 ff.), (Au-
erbachs) Deutscher Kinderkalender (1883 ff.), (Österreichs) Deutsche Jugend
(1884 ff.), Für unsere Kleinen (1884 ff.), Kinder-Gartenlaube (1886 ff.; ab
1892: Jugend-Gartenlaube), Der gute Kamerad (1887 ff.), das Deutsche
Knabenbuch (1894 ff.) und das von Frida Schanz herausgebrachte Jahrbuch
Kinderlust (1896 ff.). In Kinderlust finden sich im Übrigen noch vor 1900
erste Texte und Bilder des damaligen Schülers Hans Bötticher, der sich später
Joachim Ringelnatz nennt.
Kritik der Zeitschriften Von Literaturpädagogen wird die Expansion dieser Medien, die auch
durch Kolporteure offenbar ihren Weg bis in die »entlegensten Dorfwinkel
hinein« gefunden haben, zunächst mit großer Skepsis beäugt. Bereits der
streitbare Jugendschriftenkritiker Carl Kühner hatte 1862 in Schmids En-
cyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens das Anwach-
sen von Kinder- und Jugendzeitschriften beklagt, die zu seiner Zeit auch
schon über das System der Lese-Zirkel verbreitet wurden. Kritisiert werden
im letzten Drittel des Jahrhunderts nun auch von anderen Literaturpädago-
gen der Warencharakter der Aufmachung sowie das Sammelsurium der Texte
und die damit verbundene Gefahr des Durcheinanderlesens. Schon früh be-
müht man sich allerdings auch ›gute Zeitschriften‹ von ›schlechten‹ zu unter-
Expansion und Pluralisierung 179

scheiden. Geradezu Begeisterung löst zeitweilig die Kinder-Gartenlaube aus.


An ihr will man das neue Ideal einer Kinderliteratur erkennen. Und tatsäch-
lich bieten sich Periodika mehr als jede andere Buchgattung an, Volksliteratur
und ›klassische‹ Dichter zu tradieren, Bildtraditionen zu popularisieren, aber
auch solche Schriftsteller und Bildkünstler zu gewinnen, die eine Zeitschrift
zum Medium der Einführung moderner Illustrationskunst und innovativer
Texte im Bereich von Lyrik, Epik und szenischem Spiel sowie neuer Kommu-
nikationsstile zwischen Medium und Leser machen. Die im Format der Fa-
milienblätter auf den Markt gebrachten Wochenschriften Das Kränzchen
und Der gute Kamerad werden zudem auch zu Romanträgern populärer
Autorinnen und Autoren wie Luise Glaß, Johanna Klemm, Sophie Kloerss,
Henny Koch, Karl May, Bernhardine Schulze-Smidt, Else Ury und Franz
Treller. Dass für Periodika Mitarbeiter gewonnen werden können, die sich
zuvor in anderen, anerkannteren literarischen Feldern als dem der Kinder-
und Jugendliteratur einen Namen gemacht haben, zeigt beispielsweise die
Deutsche Jugend, für die Lohmeyer, nach gezielter Ansprache, u. a. Viktor
Blüthgen, Fedor Flinzer, Johannes Trojan, Theodor Storm, Karl Gerok, Felix
Dahn und Theodor Fontane gewinnt. In den Jugendblättern finden sich Texte
von Marie von Ebner-Eschenbach, Detlef von Liliencron, Ernst von Wilden-
bruch und Peter Rosegger, der im Übrigen auch an zahlreichen anderen Peri-
odika mitgewirkt hat. Ein ebenso interessantes wie erfolgreiches Projekt
dieser Epoche ist (Auerbachs) Deutscher Kinder-Kalender, der zeitweilig
auch in Ausgaben für Österreich und die Schweiz hergestellt wird. Der Ka-
lender ist nicht nur mit seinem Genremix von illustrierter Kindergeschichte,
gereimter Bildergeschichte, Lyrik, Anregungen für Spiel und Theater, Rätseln,
Knackmandeln, Plauderecke und beigelegtem Poster exemplarisch für das
Kalender-Format. Gerade in den ersten beiden Jahrzehnten laufen hier auch
eine Fülle kinder- und jugendliterarisch innovativer Tendenzen zusammen:
Der Kalender enthält Schülergeschichten, realistisch-fantastische Geschichten
mit humoristischem Einschlag, wie etwa Ernst von Wolzogens Der Badeen-
gel oder Nackelchens Leben und jämmerlicher Tod im ersten Jahrgang. Mit
seinen Bildergeschichten wird er aber auch zum Medium der Verschmelzung
von populärer Bilderbogen-Kunst, Humor, Satire und Kinderliteratur. Eine
solch integrative Tendenz ist zwar schon seit Beginn der Bilderbogenkunst
und v. a. mit Hoffmanns Der Struwwelpeter sowie den Bildergeschichten
Franz Graf Poccis und Rodolphe Töpffers in die Kinderliteratur eingeführt
worden und hat sich mit den Münchener Bilderbüchern gefestigt, in denen
der Verlag Braun & Schneider für Kinder geeignete Bilderbogen heraus-
brachte, darunter auch Wilhelm Buschs Bilderbücher Max und Moritz (1865)
und Adolf Oberländers Die Käuzchen-Familie (1878). Der Erfolg von (Auer-
bachs) Deutscher Kinder-Kalender, in den im Übrigen auch Zeichnungen
von Gustave Doré aufgenommen werden, belegt aber die breiter werdende
Akzeptanz von Karikaturistischem in der Kinder- und Jugendliteratur. Und
das ist deswegen interessant, weil die Karikatur im kunst- und literaturpäda-
gogischen Diskurs der Jahrhundertwende über das Verhältnis von ›moderner
Kunst‹ und ›kindlicher Ästhetik‹ ein Kernthema ist. Der langjährige Heraus-
geber Georg Bötticher gibt dem Kalender mit seinen unerbittlichen Unglücks-
geschichten ein besonderes Gepräge. Er ist der Vater von Hans Bötticher, von
dem ab 1901 auch kleine eigene Beiträge erscheinen, die schon etwas von
dem typischen Ringelnatz-Ton, von seinem subversiven Humor hörbar ma-
chen, wenn er z. B. im Jahrgang 1901, in einer Anleitung zu einem ›chine-
sischen Brettspiel‹, merkwürdige Spielregeln formuliert, wie rituelles Vernei-
gen und Berühren der Tischplatte, im Kreis Gehen und ständiges Wiederholen
180 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Blatt aus der Bilderge-


schichte Die verhängnis-
vollen Würste von Alfred
Liebing, mit Versen von
Georg Bötticher.
In: Auerbach’s Deutscher
Kinder-Kalender 30, 1912

von Wörtern, und dabei als Spielfigur »Bleisoldat, Knopf oder dergl.« ein-
führt. In seinem Ostermärchen machen die Hasen vor dem Hasenkönig
›Männchen‹, was dasselbe ist »wie bei unseren Soldaten das Salutieren«. Und
in einer gereimten Geschichte Vom Alten Fritz wird ein Husar wegen seines
Wortwitzes vom König zum Leutnant erhoben.
Sachliteratur Auch im Bereich der Sachliteratur gewinnt nun ein Periodikum das beson-
dere Interesse der Leser: Das neue Universum, die einzige periodische Schrift
dieser Epoche, die noch heute auf dem Markt ist. Das Jahrbuch ist zwar als
›Familienbuch‹ breit adressiert, will aber besonders die ›reifere Jugend‹, und
implizit, wie die Sachliteratur überhaupt, v. a. die männliche Jugend anspre-
chen. Länder- und Völkerkunde, Verkehrswesen, Militärwesen, Industrie,
Technik, Physik und Chemie sind seine Schwerpunkte. Damit repräsentiert
es jene »offene, interessierte und fortschrittsorientierte Einstellung gegenüber
Naturwissenschaften und Technik« (Pech), wie sie für Teile des Bürgertums
typisch ist. Wie die vielen anderen Schriften zu Naturwissenschaften und
Technik kann das Jahrbuch aber auch zur Kompensation einer zumindest im
ausgehenden 19. Jh. immer noch mangelhaften Schulbildung in Naturwis-
senschaft und Technik beitragen, die von dem geringeren Prestige der natur-
wissenschaftlichen gegenüber den humanistischen Fächern im höheren Kna-
benschulwesen und von der groben Vernachlässigung dieser Fächer auch im
Expansion und Pluralisierung 181

mittleren und ohnehin im niederen Schulwesen herrührt. Im Übrigen setzen


sich auf dem literarischen Markt der Sachliteratur im Großen und Ganzen
diejenigen Tendenzen fort, die sich schon in den Jahrzehnten zuvor herausge-
bildet haben. Für Kinder gibt es ein breites Spektrum von Beschäftigungsbü-
chern, für die Jugend Experimentierbücher sowie Schriften zu Naturwissen-
schaften, Technik und Handwerk, Geographie, Völkerkunde und Geschichte.
Dabei werden auch aktuellere Themen bearbeitet, wie in Georg Lehnerts
Liebhaber-Photographie (1899) oder Radfahren (1900). Insgesamt ist aber
für diese Phase auch ein Gestaltwandel der Sachtexte selbst auffällig: Modi
des Erzählens breiten sich vermehrt in der Sachliteratur aus. Aus der histo-
rischen Literatur wandern viele Themenbereiche gar vollständig in die fiktio-
nale Erzählliteratur ab. Auch Das neue Universum gestaltet sich im Übrigen
im Laufe der Zeit zu einem Medium um, in das – etwa durch Abenteuerer-
zählungen – zunehmend fiktionale Elemente eindringen.
Ein noch weitergehender Struktur- und Funktionswandel zeichnet sich im Anleitungen für Spiel
traditionsreichen Gebiet des Kindertheaters ab, das seit der Aufklärung – ab- und Bühne
gesehen vom Schuldrama – in den Kernbereich einer literarischen Familien-
kultur hineingehörte. Gleichsam als »Lehrstücke« (Wild) dienten die Kinder-
schauspiele in diesem Kontext auch der Verhaltensregulierung, der Übertra-
gung von Normen und Werten und insbesondere der Übernahme des Modells
einer bürgerlichen Familie, die im Verlauf des 19. Jh.s dann zunehmend als
Gefühlsgemeinschaft idealisiert wurde. Noch bis in die 1860er Jahre hinein
gehörte das Kindertheater in diesem Sinn fast ausnahmslos in den familiär-
häuslichen Rahmen. Dieser Rahmen wird in der Folgezeit gesprengt. Die
Kinder-Bühne verlässt den privaten Raum, wird zu einem Element der öf-
fentlichen Unterhaltungs- und Vergnügungskultur, wobei sich auch hier die
für den modernen Unterhaltungssektor zeittypischen Tendenzen der Heraus-
bildung und Mischung neuer Publika ausprägen. Am frühesten und am er-
folgreichsten profiliert sich Carl August Görner in diesem Gebiet. Seine ge-
sammelten Weihnachts-Märchen-Komödien erscheinen ab 1874 in Volksaus-
gaben. Auch für Bürger-Töchter, die ja in dieser Epoche besonders lange in
der Familie festgehalten werden, verlagern sich die Verhältnisse leicht. Denn
der Haupt-Aufführungsort von Stücken der zeitgenössisch florierenden
Mädchenbühne, deren Textvorlagen sich v. a. in Periodika, in Bloch’s Mäd-
chenbühne und in der Kränzchen-Bühne finden, ist der zumindest halböf-
fentliche, freilich immer noch stark kontrollierte Raum der Wohltätigkeits-
basare, wie wir besonders aus zeitgenössischen Mädchenromanen wissen.
Auch Schuldramen haben in dieser Zeit wieder Hochkonjunktur. Sie fügen
sich allerdings fest in den Rahmen der politischen Erinnerungskultur der
Zeit ein. Innerhalb der spezifischen Kinder-Medien finden sich ausgeprägt
gegenläufige Tendenzen, die eher von einer forcierten, dem viel beschwore-
nen Verfall der Familie entgegenarbeitenden Aufwertung der Familie als so-
zialem und emotionalem Zentrum zeugen. Dazu gehören besonders die
Konjunktur häuslicher Puppen- und Figurentheater sowie solche Spielbücher,
die wie Ida Blochs Illustriertes Spielbuch für Kinder (1891) dezidiert die
Mutter als Organisatorin der Spielwelt von Kindern ansprechen.
Eine gegenüber den bisher angesprochenen Modernisierungstendenzen Anthologien
entgegengesetzte, besonders konservative Charakteristik zeigen in diesem
Zeitraum die Anthologien, insbesondere die Anthologien für junge Mädchen
(und Frauen). Verbreitet sind Lyrikanthologien, die sich in Textauswahl und
repräsentativer Aufmachung allerdings kaum von den gleichzeitigen ›Haus-
büchern der Lyrik‹ unterscheiden und die im Übrigen – anders als die zeitge-
nössische Mädchenliteratur – häufig von Männern herausgebracht werden.
182 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

In solchen Büchern sind Texte der seit der Mitte des Jahrhunderts kanoni-
sierten Schulautoren zusammengestellt, von Klopstock und Herder über
Schiller, Goethe, Ernst-Moritz-Arndt, Uhland, Chamisso, Fallersleben, Lenau
u. a. bis zu in der Regel nicht gerade herausragenden Autoren der Gegen-
wartsliteratur. Auswahl und Komposition der Texte sowie ihre Vereinheitli-
chung und Trivialisierung durch den Buchschmuck machen solche Antholo-
gien zu einem Medium der Metaphorisierung der Frau als geschichtsloser
Natur und der Idealisierung traditioneller bürgerlicher Frauenrollen, was im
Übrigen auch der Aufnahme einzelner vaterländischer Texte nicht wider-
spricht. Als Beispiel mag Hugo Klemmerts besonders erfolgreiche Anthologie
Duftige Blüten (1887) genannt sein, die nach dem Willen des Herausgebers
als »poetisches Festgeschenk« zu Weihnachten, zur Kommunion oder Kon-
firmation, speziell für Mädchen, gedacht ist. Mehr als in jeder anderen kin-
der- und jugendliterarischen Buchgattung manifestiert sich in solchen Antho-
logien ein Gegendiskurs zum Diskurs der bürgerlichen Frauenbewegung und
ihrer Anhänger. Nur ausnahmsweise kommt in Anthologien auch die andere
Seite einmal zu Wort, wie in dem von Emma Laddey herausgegebenen, auch
Mädchen zugedachten Frauen-Album (1880), einer Anthologie mit Texten
verschiedener Genres, an der mit Marie Calm, Jenny Hirsch, Louise Otto-
Peters u. a. besonders Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung sowie
männliche Vertreter einer erweiterten Mädchenbildung mitgearbeitet haben.
Einen starken Kontrapunkt zu den marktgängigen Lyrikanthologien für die
Jugend setzt erstmals die im Umfeld der Hamburger Kunsterziehungsbewe-
gung entstandene, von Jakob Loewenberg herausgebrachte Anthologie Vom
goldenen Überfluß (1901), die – völlig ungewöhnlich – mit einer Reihe von
Droste-Gedichten beginnt, darunter sogar Ich steh’ auf dem hohen Balkone
am Turm, mit Gedichten von Lulu von Strauß und Torney endet und in der
im Übrigen – wieder untypisch – auch eine große Anzahl an Gedichten von
Mörike, Hebbel, Storm, Groth, Keller, Fontane, C. F. Meyer, von Liliencron,
ja auch von Holz und R. Dehmel abgedruckt ist. Auch Alwin Freudenbergs
Sammlung Was der Jugend gefällt (1904), für Kinder ab zehn Jahren gedacht,
fällt aus dem Rahmen, insofern sie fast ausschließlich Lyrik und Reimprosa
lebender Dichter in einer breiten Auswahl enthält.
Ratgeber Ratgebende Literatur im Buchformat, die üblicherweise zu besonders fest-
lichen Anlässen, wie der Kommunion oder der Konfirmation, verschenkt
wird und die den Übergang des Jugendlichen ins Erwachsenenleben anleiten
will, ist – vermutlich aus ähnlichen Gründen wie die Lyrikanthologien – in
großer Zahl erschienen. Ratgeber für Jungen gibt es dagegen, wenn man von
wenigen Texten mit dezidiert religiöser Tendenz, wie Gottlieb Weitbrechts

Alwin Freudenberg: Was


der Jugend gefällt.
Deutsche Gedichte aus
neuerer und neuester Zeit.
Für die Jugend vom
10. Lebensjahre an –
Textillustration zu Klaus
Groths Lütt Malten de
Has’. Dresden 1904
Expansion und Pluralisierung 183

Heilig ist die Jugendzeit (1878), absieht, kaum noch. In den Ratgebern für
Mädchen geht es nun – anders als in den Lyrikanthologien – gänzlich unver-
blümt um die Bestimmung der Frau. Auch diese Bücher zeigen ein zwar
konservatives Gepräge, insofern es um ›Anstand und Sitte‹, um die Stilisie-
rung ›holder Weiblichkeit‹, um die Frau als Garantin für Moralität und Reli-
giosität und um die neuerliche Bestätigung ihrer dreifachen Bestimmung als
Hausfrau, Gattin und Mutter geht, wie sie Heinrich Joachim Campe in sei-
nem Väterlichen Rath für meine Tochter (1789) begründet hatte. Die domi-
nant konservative Funktion dieser Ratgeber spiegelt sich auch in der Tatsa-
che, dass die beiden schon in den 1850er Jahren erschienenen Ratgeber,
Henriette Davidis’ Der Beruf der Jungfrau (1856) und Julie Burows Herzens-
Worte (1859), mit sehr hohen Auflagen immer noch am besten auf dem
Markt platziert bleiben. Aber: Selbst wenn diese beiden Ratgeber ganz auf
das Idealbild einer christlichen Hausfrau abheben, kommen auch sie nicht
mehr umhin, der Frage nach den Erwerbsmöglichkeiten unverheirateter Bür-
ger-Töchter und damit der Frauenfrage zumindest ein Kapitel zu widmen.
Neben traditionalistisch ausgerichteten Ratgebern gibt es aber auch einige
wenige, deren Herausgeberinnen und Autorinnen kämpferisch für Stand-
punkte der Frauenbewegung eintreten. Das gilt insbesondere für die Begrün-
derin der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland, Luise Otto-Peters,
die in ihrem auch an Mädchen mitadressierten Buch Der Genius der Mensch-
heit (1870), Fortsetzung von Der Genius des Hauses (1869), trotz der Ideali-
sierung einer ›schönen Häuslichkeit‹ doch auch für die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie im Frauenleben eintritt und die damit eine im Rahmen des
Bürgertums außergewöhnliche Position einnimmt. Marie Calm, ebenfalls
Aktivistin der Frauenbewegung, plädiert in Ein Blick ins Leben (1877) für
eine frühe Berufsvorbereitung der Mädchen und fordert die Konzentration
aller Kräfte gegenüber der Zersplitterung in »kleine Details eines berufslosen
Lebens«. Amalie Baischs Von der Töchterschule ins Leben (1889) und Anna
Klapps Unsere jungen Mädchen und ihre Aufgaben in der Gegenwart (1892),
beides Mädchenratgeber in Form von Anthologien, konzentrieren sich auf
das ganze Spektrum der Frauenberufe für bürgerliche Töchter des ausge- Marie Calm
henden 19. Jh.s. Dass nun solche und ähnliche Ratgeber, trotz teils hoher
Auflagen, vermutlich nicht eben zu den Lieblingslektüren lesender Mädchen
dieser Epoche gehörten, ist zu vermuten. Ab und an erfahren wir etwas über
solche Vorlieben in Leseszenen der Mädchenliteratur selbst. Da ist von der
Lust am Lesen von Romanen und Gedichten, auch von Theaterleidenschaft
die Rede. Manche Mädchen begeistern sich für ›klassische‹ Texte. Manche
verschlingen auch »Indianerbücher von den Jungens«. Indizien für eine be-
geisterte Lektüre von ratgebender Literatur finden sich nirgends, wohl aber
gelegentlich für einen negativen Affekt, wie etwa in Frida Schanz’ kleiner
Erzählung Erste Liebe (1894), in der die Protagonistin Ada »mit starren und
finsteren Blicken vor dem Buch vom guten Ton [sitzt], das ihr der Vater vor
kurzem zu ihrem 16. Geburtstag geschenkt« hat.
Das eigentliche Expansionszentrum der Kinder- und Jugendliteratur dieser Erzählprosa
Epoche ist die fiktionale Erzählprosa, von der nicht nur die Heftchenliteratur
und die periodische Literatur, sondern auch der Buchmarkt im engeren Sinn
beherrscht wird. Das deckt sich auch mit Epochentendenzen des Realismus,
die – gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur – noch weit ins 20.
Jh. hinein wirken. Innerhalb dieses Bereichs ist die Mädchenliteratur der
größte expandierende Sektor, wie Umbau und Ausbau von Verlagsprogram-
men, Auflagenhöhe vieler Titel sowie die Wiederbelebung, Neuakzentuierung
und Aufheizung des in der Epoche der Aufklärung etablierten Diskurses über
184 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

die Lesesucht dokumentieren. Hier kommt es aber auch zu neuen Gattungs-


entwicklungen. So bilden sich in der an die Jugend adressierte Erzählliteratur
prägnante Züge einer Pubertäts- oder sogar einer modernen Adoleszenzprosa
aus. In der Kinderliteratur wiederum zeigt sich, neben dem Bemühen, mehr
von der Pluralität und auch den düsteren Seiten der Kinderwelten aufzude-
cken, eine Nähe zur teils autobiographischen Kindheitsprosa – eine Tendenz,
die nicht erst im Rahmen der Kunstmoderne der Jahrhundertwende, sondern
im Grunde schon mit Peter Roseggers Geschichten vom »Waldbauernbuben«
und mit Johanna Spyris Roman Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880) mani-
fest wird.
Adressierung Die verwirrend bewegte, durch Expansion, Vermischung und Diversifika-
tion charakterisierte literarische Situation spiegelt sich auch im Bereich der
Adressierung von Kinder- und Jugendliteratur. Das betrifft zunächst einmal
die traditionelle Doppelformel ›für Jugend und Volk‹, die für zahlreiche Heft-
und Buchserien flexibel eingesetzt wird und in dieser Phase offenbar auch als
Joker im Gewinnspiel um Marktanteile fungiert. Schon früher, insbesondere
mit dem Aufkommen serieller Literatur, indizierte diese Bezeichnung die
Grenzverwischung zwischen einer spezifischen Jugendliteratur und anderer
populärer Lesestoffe. Nun verliert sie, ebenso wie die häufige Doppelformel
›für Jung und Alt‹, weiter an Aussagekraft. Aber selbst eine Reihenbenennung
wie ›Jugendbibliothek‹ muss in dieser Phase nicht unbedingt etwas über die
Charakteristik der Texte aussagen. Nicht nur im Bereich der Heftchenlitera-
tur, auch beim traditionellen Jugendbuch können Adressierungen – offen-
kundig konjunkturbedingt – wechseln. Auch Untertitel, Verlagsvorwort und
Verlagswerbung unterscheiden sich bisweilen in der Adressierung. So ermun-
tert das Verlagsvorwort zu Brigitte Augustis, ausdrücklich als Mädchener-
zählung ausgewiesenem historischen Roman Die Erben von Scharfeneck
(1888) auch die »alten Leser« zur Lektüre des Buches. Mädchenbücher wer-
den auch als Geschenke für die ›Frauenwelt‹ angeboten. Und die auf dem
jugendliterarischen Markt der Zeit ausgezeichnet etablierte Abenteuerlitera-
tur, die Kriegsliteratur und die historische Literatur zeigen – selbst bei klarer
Adressierung – teils überhaupt keine jugendliterarische Spezifik. Die Jugend-
lichen sind in dieser Phase eben das expandierende Lesepublikum, auf das
sich der Markt ausrichtet. Im Gegenzug etablieren Literaturpädagogen (in
Lektüreempfehlungen und in Buchlisten für Schülerbibliotheken) und Ver-
lage (in der Buchwerbung) aber auch ein relativ festes Ordnungssystem der
Adressatendifferenzierung, über das Kinderliteratur und Jugendliteratur und
im Rahmen der Jugendliteratur noch einmal Mädchen- und Jungenliteratur
genau unterschieden werden. Dieses Differenzierungssystem kann zwar
ebenso marktwirksam zur gezielteren Leseransprache eingesetzt werden, es
muss aber auch als Instrument einer pädagogischen oder auch politischen
Gegenwirkung gegen die nivellierende Tendenz des Massenmarkts verstan-
den werden, die sich nicht nur auf die Klassen- oder Schichtzugehörigkeit,
sondern auch auf Alter und Geschlecht erstrecken konnte. Schon zu Beginn
des 20. Jh.s wird dieses Differenzierungssystem, unter Berufung auf Darwins
und Haeckels Entwicklungslehre und das ›biogenetische Grundgesetz‹ – und
sogar vor dem Hintergrund erster empirischer Untersuchungen zur Entwick-
lung von Lesevorlieben – weitgehend biologisiert und bildet damit einen
Grundstein der späteren Theorien der sogenannten Lesealterstufen. Pro-
grammatisch in diesem Sinne ist der Vortrag, den der seinerzeit bekannte Li-
teraturkritiker Heinrich Hart auf dem Zweiten Kunsterziehungstag hält, der
1903 in Weimar zum Thema ›Deutsche Sprache und Dichtung‹ abgehalten
wird. »In der Entwickelung jedes Einzelmenschen«, sagt er da, »wiederholen
Expansion und Pluralisierung 185

sich abgekürzt und konzentriert die großen Entwickelungsperioden der


Menschheit. Das Kind der unteren Schulstufen steht auf einem geistigen Ni-
veau, wie es etwa der Mensch der Steinzeit mit seiner Kultur erreicht hat. Für
dieses Alter geht vom Mythischen, Fabelhaften, Wunderbaren die höchste
Wirkung, die sicherste Erregung aus, und das Märchen – je länger, je lie-
ber – bildet hier die gegebene Lektüre [...].« Später sei es das »Kulturniveau«
der »nordamerikanischen Indianer« und noch später das des »Rittertums«,
zu dem sich die Jugendlichen hinentwickelt hätten, meint Hart. Hermann
Leopold Köster, der Verfasser der Geschichte der deutschen Jugendlitera-
tur (1906/08), geht noch weiter, indem er in einer Studie des Jahres 1913
über die »literarischen Interessen der Übergangszeit« – durchaus im Sinne
Freuds – die manifesten Lesevorlieben von Mädchen für die den mädchenli-
terarischen Markt beherrschenden ›Backfisch- und Pensionsgeschichten‹ und
die Vorlieben der Jungen für die ›Abenteuererzählungen‹ mit einer naturge-
gebenen pubertären Entwicklungsdramatik begründet. Allerdings, so meint
er, mit Blick auf die von ihm selbst durchgeführten Lektürebefragungen, sei
diese Phase in der Regel schnell überwunden. Im gemeinsamen Interesse am
historischen Roman fänden lesende Jungen und Mädchen bald wieder zu-
sammen.
Auch im Bereich der Autorschaft kommt es zu charakteristischen Verän- Autorschaft
derungen, zu denen insbesondere die Marginalisierung des ›klassischen Typs‹
des männlichen Jugendschriftstellers gehört, der sich aus der Berufsgruppe
der Lehrer und Geistlichen rekrutierte. Diese Entwicklung korrespondiert
mit dem Prozess der Auflösung einer moralisch-religiösen Grundierung der
Kinder- und Jugendliteratur zugunsten einer weitgehenden Pluralisierung der
Tendenzen und Funktionen. Mit dem Wandel im Bereich der Autorschaft ist
auch ein wachsendes Selbstverständnis von Autoren als Literaten und eine
sich deutlich abzeichnende Professionalisierung für besondere Literaturspar-
ten verbunden. Selbstverständlich gibt es im breiten Autorenspektrum dieser
Epoche weiter den Typ des Viel- und Lohnschreibers, der seit der Expansi-
onsphase der 1830er und 1840er Jahre den schnellen Nachschub im Bereich
der seriellen Literatur garantiert. Der berühmteste der Lohnschreiber der
neuen Generation ist Oskar Höcker, im Hauptberuf Bühnenschauspieler, der
seit Beginn der 1870er Jahre das Erbe von Franz Hoffmanns (Volks- und)
Jugendbibliothek antritt und später als Hausautor im renommierten Verlag
Hirt & Sohn seine fünf Zyklen ›kulturhistorischer Erzählungen‹ heraus-
bringt. Weibliche Autoren, die sich schon vor der Jahrhundertmitte eine
marktbeherrschende Position in der Kinder- und Mädchenliteratur erobern
konnten, profitieren nicht nur vom expandierenden Mädchenbuchmarkt,
sondern können ihr Terrain noch weiter ausdehnen. Wenn auch gerade die
Frauen in dieser Phase als Autorinnen häufig Erziehungsfunktionen wahr-
nehmen wollen: Sie bilden doch in dieser Epoche höchst unterschiedliche,
vor dem Hintergrund der brennenden Frauenfrage interessante Profile aus,
von der Berufsschriftstellerin, die gleichzeitig als Lektorin arbeitet (Frida
Schanz), über die Lehrerin, die nur gelegentlich schreibt (Marie Calm), die
produktive, erfolgreiche und geschäftstüchtige Autorin, die sich doch v.a. als
Ehefrau sieht (Clementine Helm), bis zur Gattin und Mutter, die, wie Emmy
von Rhoden, Autorin des Bestsellers Der Trotzkopf (1885), ihre schriftstelle-
rischen Neigungen so lange zurückstellt, bis die Kinder das Haus verlassen
haben. Selbst in den Bereich der Abenteuer- und Reiseliteratur sowie des
historischen Romans und der Kriegsliteratur dringen nun Autorinnen wie
Brigitte Augusti, Bertha Clément, Henny Koch, Charlotte Niese, Sophie Wö-
rishöffer u. a. vor. Der Blick auf die männliche Autorschaft dieser Zeit zeigt
186 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

ein ausgesprochen breites Spektrum an Herkunfts-, Haupt- oder Zweitberu-


fen: Da sind – neben Lehrern und wenigen Theologen – nun auch Offiziere,
Juristen, Ingenieure, Buchhändler, Kaufleute, Schauspieler, Literaturwissen-
schaftler, Naturwissenschaftler, Aktivisten im Bereich von Politik und Kultur,
Journalisten, Redakteure und daneben viele Autoren, die sich als freie
Schriftsteller und Künstler verstehen und professionell im Feld verschiedener
Literaturen bewegen. Nicht zu vergessen: Karl May, der wohl eine Lehrer-
ausbildung absolviert hat und auch die moralisch-religiösen Impulse der
Volks- und Jugendliteratur der vorhergehenden Epoche aufnimmt, der aber
selbst ein exzentrisches Leben geführt hat.

Kinderliteratur, Kindheitsliteratur

In der Kinderliteratur, damit sind hier Texte für nichtlesende jüngere Kinder
und für Selbstleser bis ca. zwölf Jahren gemeint, haben sich biedermeierliche
Traditionen der Moraldidaxe und der Idyllisierung von Kindheit und Familie
am längsten erhalten. Noch in dieser Epoche finden sich zahlreiche Kinder-
bücher, die, wie etwa Julius Sturms Dies Buch für meine Kinder (1877), fast
vollständig von diesen Traditionen geprägt sind. Wohl beginnen sich bereits
seit der Jahrhundertmitte vereinzelt realistische Züge auszubilden. So öffnet
sich Ottilie Wildermuth, deren erfolgreiche Erzählungssammlungen Kinder-
gruß (1859) oder Aus Schloß und Hütte (1861) die Kinderwelt als heile oder
doch immer heilbare Welt zeigen, bisweilen für brisante Gegenwartsthemen.
Erst seit den 1870er und besonders seit den 1880er Jahren breiten sich aber
Humor und Fabulierlust stärker aus und mildern die Moraldidaxe. Die All-
tagswelt außerhalb der Familie nimmt gleichzeitig einen größeren Raum ein.
Die Konjunktur der Ferien-, Freizeit-, Schul- und Schülergeschichten für
Kinder unterschiedlichen Alters setzt ein, so z. B. mit Franz Wiedemanns
Schulfrühling (1871), Emma Billers Heinz der Lateiner (1884), Tony Schu-
machers Schulleben (1897), Frida Schanz’ Schulkindergeschichten (1901), H.
Realistische Tendenzen Scharrelmanns Berni. Aus seiner ersten Schulzeit (1912). In dieser Epoche
beginnt sich aber auch ein neuer, psychologischer Realismus in der Kinderli-
teratur auszuprägen: Kindliche Protagonisten können nun auch Züge eigen-
williger, individualisierter Charaktere annehmen, die sie zu modernen litera-
rischen Helden machen. Genau in diesem Sinne ist Johanna Spyris Heidi,
trotz der ausgeprägt religiös-moralischen Tendenzen dieses Buches, ein
Markstein in der Entwicklungsgeschichte des deutschsprachigen realistischen
Kinderromans. Spyri öffnet Blicke in das Innere eines Kindes, auf seine
Ängste und Wünsche. Clementine Helm, Emma Biller, Tony Schumacher und
Agnes Sapper etablieren das Genre Familienroman in der Kinderliteratur.
Mit Frapans Hamburger Bilder für Kinder (1899) wird ein völlig neuer, ganz
auf die Beobachtung von Realität eingestellter nüchterner Schreibstil in die
Kinderliteratur eingeführt. Zunehmend, besonders im Zuge neoromantischer
Strömungen, kommt es aber auch zu neuen Impulsen im Bereich von Mär-
chendichtung, Tiergeschichte und fantastischer Erzählung, bis hin zu Otto
Julius Bierbaums Pinocchio-Nachdichtung Zäpfel Kerns Abenteuer (1905),
Peterchens Mondfahrt (1912 als Märchenspiel und 1915 als Erzählung er-
schienen) und dem Bestseller Die Biene Maja (1912) von Waldemar Bonsels.
Auch das traditionsreiche Genre Puppengeschichte hat an dieser Entwick-
Kinderliteratur, Kindheitsliteratur 187

lung Anteil, wie etwa Emma Billers Puppengeschichten Im Reich der Hein-
zelmännchen oder Reise-Abenteuer einer Puppe und eines Nußknackers
(1883) und Im Puppenparadies (1896) belegen, die beide an E.T.A. Hoff-
manns Nußknacker und Mausekönig (1816) erinnern. Das von R. und P.
Dehmel im Fitzebutze allerdings vorgeführte ›Puppenspiel‹, das die ener-
gische kleine Detta mit ihrem Hampelmann inszeniert, lässt sich eher als
Kontrapunkt zu neoromantischen Kindheitskonstruktionen auslegen. Mit
Nauckes Luftreise und andere Geschichten (1908) von Robert Grötzsch
schließlich werden Fabulierlust und Humor auch in die sozialistische Kinder-
literatur hineingetragen. Trotz vielfältiger innovativer Tendenzen und einer
Reihe herausragender Einzeltitel bleibt die überwiegende Mehrheit der kin-
derliterarischen Texte dennoch der Didaxe verhaftet oder tendiert zum Nied-
lichen, Harmlos-Gefälligen, das sich im Zuge der Konjunktur des pädago-
gisch-ästhetischen Konzepts der Kindertümlichkeit seit dem Beginn des 20.
Jh. besonders in der Kinderliteratur ausbreiten kann. Auch H. Scharrelmanns
berühmten Berni-Geschichten haftet etwas Bemüht-Kindliches an. Ganz be-
sonders gilt das aber für Texte des Reformpädagogen Berthold Otto in soge-
nannter Kindermundart, mit denen Otto das Stilideal einer grammatisch und
semantisch unentfalteten Alltagssprache kultivieren möchte. Wie leicht ein
solch schlichter Stil auch in den Imperativ des autoritären Erziehers umschla-
gen kann, ist an Ottos selbstverfasstem Vorlesebuch (1903) leicht erkennbar:
»Kleine Mädchen spielen gern mit Puppen.« Eine schlechte »Puppenmutter«
»bekommt ganz gewiß keine neue Puppe zum Geburtstag und auch keine zu
Weihnachten«. »Die Jungen spielen nicht mit Puppen.« »In der Stube spielen
die Jungen mit Zinnsoldaten« usw.
Einerseits ist es also ein breites Spektrum literarischer Kindheitsbilder und Kindheitsbilder
literarisch-ästhetischer Kindheitskonstruktionen, die die Kinderliteratur die-
ser Epoche zwischen Realismus und literarischer Moderne bereithält. Trotz
der Modernisierungstendenzen bleibt die spezifische Kinderliteratur als
ganze eingespannt in den Rahmen einer traditionalistischen bürgerlichen
Familien- und Erziehungskultur. In einem großen Teil dieser Literatur ist die
Tendenz ausgeprägt, das Kind im Prozess der gesellschaftlichen Modernisie-
rung nicht nur gegen die Auflösungstendenzen der traditionellen Erziehungs-
institution bürgerliche Familie zu schützen, sondern diesen Raum auch
weitgehend gegenüber anderen sozialen Räumen abzuschließen. Damit kann
die Kinderliteratur dieser Zeit auch zu einem kräftigen Motor der Gegen-
Modernisierung werden. Schon spätestens seit dem Überhandnehmen von
Modernisierungsängsten in der Romantik bildete die Kinderliteratur als Pro-
jekt der bürgerlichen Gesellschaft ein Feld der Projektionen vor-moderner
oder auch anti-moderner Gegenwirklichkeiten und der Eröffnung ästhe-
tischer Fluchträume – häufig bei gleichzeitiger Fixierung des Kindes auf an-
erkannte moralische Standards. In dieser Spätphase der bürgerlichen Gesell-
schaft, mit ihren Auflösungstendenzen und den sie begleitenden Zukunfts-
ängsten, mit ihrer Komplexität und Undurchsichtigkeit, wird Kindheit aber
nun in allen nur denkbaren Facetten zu einem Projektionsraum, in dem ge-
sellschaftliche Erlösungshoffnungen zusammenfließen. Das kann sich in der
Kinderliteratur in unterschiedlichen Ausprägungen niederschlagen: nicht
etwa nur in neo-romantischen Projektionen eines Kindheitsparadieses, son-
dern auch in der Idealisierung des letztlich verfügbaren Kindes oder auch des
Kindes, das Licht in eine sozial ungerechte Welt bringt. Selbst die Figur des
wilden, anarchischen Kindes lässt sich als Aspekt dieses Projektionsraums
auffassen. Niemand kann sich um 1900, als Ellen Key das »Jahrhundert des
Kindes« ausruft, aus dieser Konstellation herausreflektieren. Auch der Sozia-
188 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

list Otto Rühle nicht, der in seinen proletarischen Gegenwartsbildern Kin-


der-Elend (1905) die verlogene Romantik, die schillernd-hohle »Seifenbla-
senherrlichkeit« des sogenannten Kindheitsparadieses anklagt: »Das Paradies
der Kinder des Proletariats ist ein wüster, sonnenloser Garten, vom Vandalis-
mus der kapitalistischen Entwicklung zerstampft und zerstört«, eine »düstere
Welt des Schmerzes und der Qual«, ein »Tal der Seufzer und der Tränen.«
Die Zukunft liegt auch für ihn nur in den Kindern.
Kindheitsliteratur Die Bedeutung, die der Kindheit als Kristallisationszentrum und Projekti-
onsraum von Zukunftshoffnungen und Zukunftsängsten zuwächst, schlägt
sich nicht nur in der Charakteristik der Kinderliteratur, sondern auch darin
nieder, dass sich in dieser Phase Kinderliteratur und Kindheitsliteratur eng
berühren und überschneiden. Viele Texte wandern aus der Allgemeinliteratur
in die Kinderliteratur ein oder werden von der Literaturkritik als Kinderlek-
türe empfohlen. So hat etwa Storm selbst seine bekannten Märchennovellen
Die Regentrude und Bulemanns Haus ausdrücklich nicht Kindern zugedacht.
Die populäre Märchensammlung Träumereien an französischen Kaminen
(1871) von Richard Leander, im deutsch-französischen Krieg geschrieben
und »hinausgegeben in die Welt zur Erinnerung an die große, glorreiche
Zeit«, ist ein ›Hausbuch‹, aber keine spezifische Kinderliteratur. Gedichte
und Märchen von Blüthgen, R. und P. Dehmel, Falke, Seidel u. a. wandern
teils mit Verzögerung in die spezifische Kinderliteratur ein. Auch Marie von
Ebner-Eschenbach stellt in Ein Buch für die Jugend (1907) durchweg Texte
zusammen, die in den Jahrzehnten zuvor nicht als Kinder- und Jugendlitera-
tur erschienen waren. R. Dehmels berühmtes Gedicht Frecher Bengel, das
James Krüss in seinem Buch Naivität und Kunstverstand (1969) ein »Mani-
fest des emanzipierten Kindes« nennt, platziert Dehmel selbst überhaupt
nicht im kinderliterarischen Rahmen. Frida Schanz’ Kinderballaden (1909)
erscheinen in einem Verlagsprogramm für ›Neue Lyrik‹. Auch Ludwig Tho-
mas Lausbubengeschichten (1905), Otto Ernsts Appelschnut-Geschichten
(1907) und Wilhelm Scharrelmanns Roman Piddl Hundertmark (1912) sind
Kindheitsliteratur.
Altersmundarten Zur völligen Verschmelzung von Kinderliteratur und Kindheitsliteratur
kommt es in der Begegnung des frühexpressionistischen Charon-Kreises mit
dem reformpädagogischen Kreis um Berthold Otto, dem schon erwähnten
›Entdecker‹ und Förderer der ›Altersmundarten‹. Zum ersten Mal in der Ge-
schichte der Kinderliteratur gilt hier von Kindern Gesagtes und Geschrie-
benes als Kernzelle der Kunst. »Ein Kind, das unbeeinflusst und ganz in seiner
Sprache spricht«, heißt es, »spricht schönste Poesie.« Und so werden denn
Eltern und Erzieher aufgefordert, die ersten Sprachäußerungen der Kinder in
»stenographische[n] Niederschriften« festzuhalten und zum Schreiben von
Texten in der ›Sprechsprache‹ der Kinder anzuregen. Die Texte werden in
einer Zeitschrift mit dem sprechenden Titel Heiliger Garten und Archiv für
Altersmundarten veröffentlicht. Otto selbst bringt Gesammeltes in dem mit
Kinderzeichnungen illustrierten Band Kinder-Geschichten. Von Kindern und
für Kinder (1913) heraus. Als das begabteste schreibende Kind gilt Ottos
Tochter Helene, die u. a. die Äneis, die Ilias, die Odyssee und die Nibelungen-
sage nacherzählt hat. 1904 erscheint auch ihre Sammlung Sagen und Mär-
chen, in der Sprache der Achtjährigen erzählt. Welche Stilisierungen solche
Texte durch die Erwachsenen, speziell durch Otto erfahren haben, lässt sich
freilich nicht nachprüfen.
Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik 189

Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik

Folgt man dem zeitgenössischen literaturpädagogischen Diskurs, dann gibt Karikaturen


es vor allem einen Stein des Anstoßes im Feld der Kinderliteratur. Das ist die
vorgeblich zunehmende Ausbreitung des Hässlichen in diesem Feld. Insbe-
sondere an modernen Struwwelpetriaden, wie Der pädagogisch verbesserte
Struwwelpeter (1880) von Miris (Franz Bonn) und Oberländer, an Buschs
Max und Moritz und Hans Huckebein, aber auch an anderen Bilderbüchern,
will man diese Tendenz festmachen. Damit konzentriert sich die Kritik genau
auf denjenigen literarischen Sektor, in dem die zeitgenössischen Tendenzen
der Poetisierung, der Ausgrenzung und auch der Domestizierung von Kind-
heit karikiert und entlarvt werden. Insbesondere erscheinen solche, den hu-
moristischen und satirischen Bilderbögen verwandten Bücher als Attacke
gegen die Familie und überhaupt gegen diejenigen Autoritätsverhältnisse, um
deren neue Begründung die Pädagogik ja auf ganzer Linie bemüht ist. »Die
drastische und übertriebene Darstellung« verleite dazu, dass Kinder »mit
Scherz und Lachen« über Unarten hinweggehen, heißt es in Georg Dreyers
Schrift Die Jugendlitteratur (1889) mit Blick auf Max und Moritz. Obgleich
die literarisch-ästhetische Qualität von Buschs Zeichnungen und Texten an-
erkannt wird und gerade weil die Begeisterung der Kinder für Busch bekannt
ist, werden seine Bücher nicht empfohlen. Weil »das noch schwankende sitt-
liche Normalverhältniß zum Achtenswerthen beim Kinde nur einen völlig
ungenügenden, leicht innerlich zu erschütternden Schutz« gegen die satirische
Verzerrung der Wirklichkeit biete, meint Julius Duboc in seiner Schrift Die
moderne Jugendliteratur (1884), müsse man die Kinder unbedingt von Wil-
helm Buschs – im Übrigen genialischen – Werk Max und Moritz fernhalten.
Erst um 1900 kommt es – und auch hier nur partiell, zögerlich und vorüber-
gehend – zur Anerkennung der Kategorie des Hässlichen in der modernen
Kinderliteratur. Anlass ist der Fitzebutze, mit Gedichten von Paula und
Richard Dehmel, bebildert von Ernst Kreidolf, ein Werk, das noch heute als
ein Höhepunkt der Bilderbuchkunst, aber auch der Kinderlyrik eingeschätzt
wird. Mit ihm will R. Dehmel, wie er selbstbewusst schreibt, ein »Buch für
Kinder in die Welt« setzen, das den Struwwelpeter »aus dem Felde schlagen«
soll.
Zu Weihnachten des Jahres 1900 erscheint Fitzebutze. Allerhand Schnick- »Fitzebutze«
schnack für Kinder, zunächst im Insel-Verlag, dann bei Schaffstein. Später
wird R. Dehmel noch das Traumspiel Fitzebutze auf die Bühne bringen. Die
meisten der Gedichte von Paula und Richard sind bereits in den 1890er Jah-
ren in Literatur- und Kulturzeitschriften und im Kinderjahrbuch Knecht
Ruprecht, teils in anderen Fassungen erschienen und insgesamt durchaus in-
homogen. Einige zeigen eine deutliche Nähe zu Satire und Karikatur. Einige
– meist von P. Dehmel – nehmen volksliterarische, teils humoristische und
nonsenshafte Traditionen von Kinderlied und Kinderreim auf. In einigen
spiegelt sich eine moderne, psychologisch reflektierte Subjektivität. Was aber
allen gemeinsam ist: Sie sind weder sentimental noch belehrend oder ermah-
nend. Durch das Rahmengedicht nun, in dem das kleine, selbstherrliche
Mädchen Detta ihren Hampelmann Fitzebutze auf den Stuhl bannt, um ihn
zum Zuhörer ihrer Gedichte zu machen und am Ende mit einem »Marsch!«
auf den Boden zu werfen, bekommt die ganze Gedichtsammlung, wie die
Aufnahme des Buches in der Kritik zeigt, auch eine anstößige Tönung. Denn
in der pseudonaiven Sprache Dettas, die R. Dehmel nach eigenen Aussagen
auch ein wenig seiner Tochter abgelauscht hat, werden nicht nur zeitübliche
190 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Muster einer kindlichen Sozialisation karikiert, sondern auch blasphemische


Wortwitze gewagt: »Mutter sagt, der liebe Dott / donnert nicht in einem fo’t;
/ Nein! / Nein, sagt Mutta, Dott ist dut, / wenn man a’tig beten thut«. Die
pädagogische und literarische Öffentlichkeit kennt Richard Dehmel und
seine gesellschafts- und religionskritische Gesinnung. Dass er sie nun in die
Kinderliteratur hineingeschleust hat, ist für viele empörend. Und während
das Buch von Anhängern der Hamburger Kunsterziehungsbewegung als ers-
tes modernes deutsches Bilderbuch, als ein im Sinne einer kindlichen Ästhetik
bahnbrechender Schritt, als Beispiel einer Dichtung ›vom Kinde aus‹ begrüßt
und sogar im Unterricht erprobt wird, beginnt gleichzeitig eine von politisch-
konservativen Kräften geführte Kampagne großen Stils gegen das Doppelbö-
dige, das Fratzenhaft-Hässliche wie vorgeblich Politisch-Propagandistische
und Religionsfeindliche dieses Buches. Eine Zentralfigur dieser Kampagne ist
der Hamburger Lehrer Karsten Brandt, ein erklärter Feind der ›Hamburger
Bewegung‹ um Heinrich Wolgast. Wenig später wird er selbst mit seinen ge-
fälligen Vers-Nachdichtungen zur deutschen Ausgabe von Elsa Beskows
Hänschen im Blaubeerwald (1903) Erfolg haben, einem Bilderbuch, das
heute noch auf dem Markt ist. Tatsächlich ist mit dem Fitzebutze die Grenze
des ästhetisch und moralisch Tolerierbaren in der Kinderliteratur dieser Epo-
che ausgelotet.
Kinderlyrik Solch freche Töne, wie sie der Fitzebutze bisweilen anschlägt, werden im
Kindergedicht dieser Epoche kaum noch hörbar. Charakteristisch ist viel-
mehr die Orientierung an volksliterarischen Traditionen, wie sie seit dem
Kinderlieder-Anhang zu Des Knaben Wunderhorn bekannt sind, die nun
aber durch neue volkskundliche Sammlungen, insbesondere Franz Magnus
Böhmes Deutsches Kinderlied und Kinderspiel (1897), in großer Fülle bereit-
gestellt werden. Auch Wolgast hat für seine kleine, für »Mütter und Kinder«
zusammengestellte Auswahl Schöne alte Kinderreime (1903) aus dieser
Quelle geschöpft. Und gerade die Bilderbücher und Liedersammlungen avan-
cierter Autoren und Herausgeber, die sich von der noch immer marktgän-
gigen, von Überschwang, Sentiment und Didaxe getragenen Kinderlyrik ab-
setzen wollen, greifen diese Tradition auf. Freilich ist es nicht nur Volkslied-
haftes und schlicht Gereimtes, sondern auch die ganze Breite von Unsinnslyrik
und gereimter Lügengeschichte, an die angeknüpft wird, wie die von Emil
Weber herausgegebene Sammlung Neue Kinderlieder (1902) und Carl
Ferdinand’s Ri-Ra-Rutsch (1904), P. Dehmels Rumpumpel-Gedichte sowie
Hans Böttichers Gedichte zum Bilderbuch Kleine Wesen (1912) zeigen. Vitale
Lust am Sprachspiel wird auch in Falkes Gedichten zu Otto Speckters Kat-
zenbuch (1900) und in Frida Schanz’ Tiergedichten im Bilderbuch Komm
mit! (1912) hörbar. Einige Gedichte geben auch dem Anspruch des Kindes
auf Autonomie, dem Wunsch auf eine selbstbestimmte, grenzenlose Alltags-
und Fantasiewelt, ihre Stimme, so wie Böttichers Gedicht vom kleinen Stein-
chen, das zur Schneelawine wird und auf seinem Weg ins Meer noch ein
Haus und sieben große Bäume mitnimmt, oder P. Dehmels dynamisches Ge-
dicht Seereise:

Seereise
Pitsch – patsch – Badefaß,
Rumpumpel plantscht die Stube naß;
ist ein junger Wasserheld,
segelt durch die ganze Welt
im Wipp – im Wapp – im Schaukelkahn
über den großen Ozean!
Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik 191

Rumpumpel. Ein Buch


für junge Mütter und ihre
Kleinsten von Paula
Dehmel mit Bildern von
Karl Hofer (1903)

Stehn alle Winde still


und schrein: Was bloß Rumpumpel will?
so splitternackt und pitschenaß,
in seinem kleinen Schaukelfaß?
Schnell das Badelaken!

Im Rahmen des Kindheits- und Kunstdiskurses der Jahrhundertwende Märchen und


kommt es zu einer neuen Auslegung und Hochschätzung von Traditionen Fantastik
märchenhafter und fantastischer Erzählprosa. Nun bildeten Märchen und
Fantastik auch in der Epoche des Biedermeier und des frühen Realismus eine
durchaus kräftige Unterströmung in der Kinderliteratur. Ein breites Formen-
spektrum hatte sich ausdifferenziert, das neben Zaubermärchen und fan-
tastischen Kindergeschichten v. a. Blumenmärchen, Tiermärchen, naturge-
schichtliche Märchen und Weihnachtsmärchen umfasst. Einige Texte zeigen
Einflüsse Hans Christian Andersens, in dessen Märchen typische Charakte-
ristika von Alltagsprosa und Volksmärchen zusammenfließen. Was diese
Kindermärchen zunächst aber fast durchgängig charakterisiert, ist ihre Prä-
gung durch Intentionen der Wissensvermittlung sowie insbesondere der mo-
ralischen, der religiösen und bisweilen auch der politischen Didaxe. Unter
den frühen Autoren dieser Epoche verdient Blüthgen mit seiner 1878 erst-
mals herausgebrachten Sammlung Hesperiden besondere Beachtung. In den
beiden Abteilungen des Buches – Kinder- und Volksmärchen und Nachdenk-
liche Märchen – präsentiert er nicht nur das ganze zeitgenössische Typen-
spektrum an Kindermärchen. An seinen Märchen wird auch deutlich, welch
bedrückende und bedrohliche Formen die Märchendidaxe in dieser Zeit an-
nehmen kann, wenn es etwa um das Thema des kindlichen Ungehorsams
geht und wenn dabei Mutterliebe im Spiel ist, wie in dem (Alp)Traum-Mär-
chen Die schuldige Hand. Hier muss ein kleiner, naschsüchtiger Junge, der
192 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

der Mutter mit der Naschhand ins Gesicht geschlagen hat, verzweifelt im
Weltraum herumfliegen, um die in der Nacht verloren gegangene Hand zu
suchen. Als er endlich beim »lieben Gott« ankommt, steht ein Engel vor dem
Thron und sagt: »Mit dieser Hand hat ein Kind seine Mutter geschlagen«.
Als die Hand von einem »Strafengel« mit einem glühenden Eisen gebrannt
werden soll, stürzt sich ein dritter Engel – es ist die Mutter – vor den Thron
Gottes, mit den Worten: »Gebt mir die Hand meines Kindes, ich will die
Strafe auf mich nehmen, ich will die Schuld meines Kindes tragen.« Erst um
1900 beginnt die programmatische Abkehr von solchen Prägungen. Das
zeigt Emil Webers Sammlung Neue Märchen für die Jugend (1900), eine
Auswahl von Zaubermärchen und Naturmärchen, die ohne moralische Ten-
denzen, wenn auch nicht ganz ohne Sentimentalität auskommen, die viel-
mehr auf unterschiedliche Weise Fabulierlust, Tiefgründigkeit und Polyvalenz
des Märchens als dessen eigentliche Gattungsqualitäten zur Geltung bringen.
Die Sammlung enthält auch Richard Dehmels berühmtes Märchen vom
Maulwurf, in dem von der grenzenlosen Sehnsucht nach Licht erzählt wird.
Naturmärchen Das Zentrum der genuin kinderliterarischen Entwicklungen, die im Zuge
der neuen Konjunktur von Märchen und Fantastik in Gang kommen, liegt
im Feld des Naturmärchens im weitesten Sinne, also solcher Geschichten, in
denen alle Gegenstände der belebten und unbelebten Natur, aber auch Ele-
mente wie Wasser, Sonne und Wind oder auch ›Kunstdinge‹ wie Nadeln,
Streichhölzer oder Stiefel, anthropomorphe Züge annehmen und in einem
sozialen Raum, zu dem auch Menschen und menschenähnliche Wesen Zu-
gang haben können, zusammenleben. Solche Texte sind schon in den Kinder-
und Hausmärchen der Brüder Grimm enthalten. Populär wurden sie mit
Andersens Märchen. Man denke nur an seine Geschichte Der Tannenbaum,
die von dem kleinen Baum auf der Tannenlichtung erzählt, der sich wünscht
größer zu werden und, als er endlich groß ist, abgeschlagen wird, einen ein-
zigen Tag lang – seinem schönsten im Leben – als Weihnachtsbaum strahlt,
um dann weggeworfen und schließlich verbrannt zu werden. Schon gegen
Ende des Jahrhunderts haben sich Naturmärchen bzw. Züge der Anthropo-
morphisierung der Natur immer mehr in der spezifischen Kinderliteratur,
besonders auch in der Bilderbuchliteratur ausgebreitet. Seit der Jahrhundert-
wende nun kommt es zu einer regelrechten Konjunktur solcher Geschichten.
1898 erscheinen Oskar Dähnhardts Sammlung Naturgeschichtliche Volks-
märchen, 1910 mit Mutter Natur erzählt der erste Band der großen deutsch-
sprachigen Ausgabe der Märchen Carl Ewalds und 1909 die erste deutsch-
sprachige Kinderbuch-Ausgabe von Selma Lagerlöfs Wunderbare Reise des
kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Lewis Carrolls Alice’s Adven-
tures in Wonderland (1865) wird erst jetzt, unter dem Titel Liese im Wunder-
land (1912), in einer deutschsprachigen Ausgabe speziell für Kinder heraus-
gebracht. Gleichzeitig werden aber auch im deutschsprachigen Raum selbst
Entwicklungen im Feld der Tiergeschichte, der märchenhaft-fantastischen
Kindergeschichte, des Märchenspiels und des märchenhaft-fantastischen
Kinderromans angestoßen. Speziell die märchenhaften Tiergeschichten sind
dabei bisweilen auch durch eine darwinistische Naturauffassung getönt, wie
dies in Bonsels Die Biene Maja der Fall ist – in einem Kinderroman, der auch
typische Züge der Mädchenliteratur, der Abenteuerliteratur und der Kriegsli-
teratur integriert hat, was vermutlich den Erfolg des Buches begründet.
Hermann Löns wiederum erfindet mit seinen Geschichten Was da kreucht
und fleucht (1909) literarische Hybriden zwischen anthropomorphisierender
Tiergeschichte und naturwissenschaftlicher Belehrung, ebenfalls darwinis-
tisch grundiert. Die in Ulenbrook (1910) versammelten Briefe aus der Heide
Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik 193

von Jürgen Brand wiederum, – unter diesem Pseudonym schreibt der Bremer
Reformpädagoge Emil Sonnemann –, wollen aus sozialdemokratischer Per-
spektive sogar explizit in die darwinistische Weltanschauung einführen.
Auch das Märchenspiel bzw. die Märchennovelle Peterchens Mondfahrt »Peterchens
schwimmt auf der Welle der Konjunktur der Naturmärchen mit. Denn es Mondfahrt«
geht ja um die Maikäferfamilie Sumsemann und ihren ›erworbenen Defekt‹
– das fehlende sechste Bein –, den die Familie von Generation zu Generation
weitervererben muss, wenn sie nicht von tierliebenden Kindern erlöst wird.
Der spielerische Umgang mit der Vererbungslehre, dazu die Entfaltung des
Tiermärchens als fantastische Abenteuergeschichte, mit kindlichen Helden
im Zentrum, und die Anreicherung mit Zügen einer ›Science Fiction‹ heben
diesen Text aber aus dem Gros der Naturmärchen heraus. Zum Wirkungs-
potential gehört natürlich auch die Attraktivität des Motivs der Mondfahrt,
das nicht nur tief im Unbewussten des Menschen verankert, sondern in die-
ser Epoche auch zu einem der Kristallisationspunkte technischer Zukunftsvi-
sionen geworden ist. So war 1865 Jules Vernes De la terre à la lune (1863) in
Übersetzungen und Bearbeitungen in die deutschsprachige Literatur einge-
führt worden. Die »Mondkanone« in Peterchens Mondfahrt ist eine Erfin-
dung Jules Vernes. Auch das 1896 im Verlag des Simplicissimus erschienene,
aber schon 1879 entstandene ›Kinderepos‹ Der Hänseken von Frank und
Armin Wedekind erzählt – im humoristischen Stil der zeitgenössischen Bil-
derbogenkunst und nicht ohne kleine, mehr oder weniger versteckte Obszö-
nitäten – von einer Mondfahrt. – Ein Unikum im Feld der märchenhaft-fan-
tastischen Abenteuererzählung ist Bierbaums Zäpfel Kerns Abenteuer (1905),
eine Umdichtung von Collodis Pinocchio, in der die Kasperlefigur, wie es im »Pinocchio«
Vorwort heißt, in ›ausgesprochen deutsche‹ Verhältnisse hineinversetzt wird.
Das gelingt besonders dadurch, dass Bierbaum mehrere doppelte Böden in
seine launig-humoristische Kasperlegeschichte einzieht, die freilich in der
Regel wohl nur die erwachsenen Vor- oder Mitleser betreten werden: Da
sind einmal die Begegnungen des Kasperle mit der Fee, die Bierbaum zu einer
Liebesgeschichte ausbaut, wobei das Bild der Fee Frau Dschemma in merk-
würdigen Metamorphosen mit dem einer Schwester oder Mutter ver-
schwimmt. Und so ist es die »Mama«, zu der Zäpfel am Ende seiner Aben-
teuer glücklich heimkehrt. Zum andern ist der Text voller kleiner satirischer,
teils auch gewagter Anspielungen auf die kaiserzeitliche Gesellschaft, die – ein
besonderer Clou der ganzen Geschichte – auf eine völlig neu erfundene Szene
hinauslaufen, in der sich Zäpfel im »Spielimmerland« selbst als König in-
thronisiert und die Reichsinsignien anlegt. Die Krönungsfeierlichkeiten wer-
den gerahmt durch Fackelzug, Zapfenstreich, tausendstimmige Rufe, und als
Chorlied erklingt eine Parodie von Heil dir im Siegerkranz, also der soge-
nannten Kaiserhymne: »Heil, König Zäpfel, dir, / Spielimmerlandes Zier,
Heil, Zäpfel, dir! ...«. Dass Zäpfel ausgerechnet am Morgen nach der Krö-
nung mit Eselsohren aufwacht, gibt diesem, wiederum von Collodi über-
nommenen Moment eine neue Pointe.
In märchenhaft-fantastischen Geschichten wird das Prinzip der Anthropo-
morphisierung häufig so weit getrieben, dass dadurch die ›Dinge‹ ins Un-
heimliche verfremdet werden. Das ist auch bisweilen bei der ungemein er-
folgreichen Autorin Sophie Reinheimer der Fall, deren leichter, harmloser,
immer an Kinder gerichteter Plauder- und Erzählton leicht über diese Quali-
tät der Texte hinwegtäuschen kann. Aus des Tannenwald Kinderstube (1909),
ein Buch, das offenkundig durch Andersens schon erwähntes Märchen Der
Tannenbaum angeregt ist, und insbesondere ihr Bestseller Von Sonne, Regen,
Schnee und Wind und anderen guten Freunden (1907) zeigen diese Charak-
194 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Sophie Reinheimer: Von


Sonne, Regen, Schnee und
Wind und anderen guten
Freunden. Vignette. Berlin
1919

teristik. Einige der Geschichten oder Szenen des zweiten Buchs sind, bedingt
durch extreme Formen der Vermenschlichung und ungewöhnliche Zusam-
menstellungen des Figurenrepertoires, skurril, fast schon grotesk – ein Ein-
druck, der durch die Zeichnungen Adolf Ambergs noch einmal verstärkt
wird. Besonders merkwürdig sind die Geschichten vom Sonnenstrahl, der
Pate werden soll oder der sich eine Frau sucht, und insbesondere solche Sze-
nen, in denen weggeworfene Gegenstände gemeinsam in einem Kehrichtkas-
ten landen oder auch als Schwemmgut im »Wirtshaus zum Weidenbusch«
zusammentreffen: eine zerbrochene Kaffeekanne, Gemüseabfall, eine Blech-
büchse, ein Gurkentopf, ein Strohhut, ein Stiefel usw. Ähnlich skurrile Züge
hat auch die Rahmenerzählung zu Robert Grötzschs Nauckes Luftreise und
andere Wunderlichkeiten (1908). Hier treffen in einem Waldstück die Figuren
der im Folgenden erzählten Geschichten zusammen – ein Kater, ein Gaul, ein
Zwerg, ein Affe, ein Stöckchen, ein Finger, ein paar Kinder –, um einen
›Zweibeiner‹ zu finden, der ihre Geschichten aufschreibt. Singulär in ihrer
verfremdenden Wirkung bleiben aber die Zwei sonderbaren Geschichten
vom Sterben, die Robert Walser zu dem von R. Dehmel zusammengestellten
Bilderbuch Der Buntscheck beisteuert. Die eigenartige, grotesk-fantastische
Geschichte von dem Mann, der »statt eines Kopfes einen hohlen Kürbis auf
den Schultern« trägt, verdankt sich ebenso dem Prinzip der radikalen An-
thropomorphisierung. Sie bleibt aber, bis zu Kurz- und Kürzestgeschichten in
der Gegenwartsliteratur, etwa Peter Bichsels Kindergeschichten (1969) und
Franz Hohlers Der Granitblock im Kino (1981), ein ›Fremdkörper‹ in der
Kinder- und Jugendliteratur.

Realistische Erzählprosa für Kinder

Den Schwerpunkt der Kinderliteratur dieser Epoche bildet jedoch nicht die
fantastische, sondern eine am Realismus orientierte Erzählprosa. Volkslitera-
rische und genuin kinderliterarische Traditionsstränge verbinden sich hier
und fließen mit jüngeren allgemeinliterarischen Strömungen zusammen, aus
denen sich die zeitgenössische Dorfgeschichte und der Heimatroman, die
Kindheitsprosa und der Gesellschaftsroman speisen. Zunehmend will diese
Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik 195

Kinderliteratur aber auch dem in der Epoche mächtig angewachsenen Be-


dürfnis nach Unterhaltung und nach Flucht aus der Welt des Alltags entspre-
chen. So ist die Didaxe in der realistischen Erzählprosa häufig durch Humo-
ristisches gebrochen. Die Spiel- und Fantasiewelt der Kinder erhält einen
größeren Raum. – Vor dem Hintergrund dieser Gesamtcharakteristik fällt
die seit den 1870er Jahren entstandene Kindheitsprosa des Österreichers Pe-
ter Rosegger etwas aus dem Rahmen. Denn diese Erinnerungsprosa, die von
Entbehrungen in der Kindheit, von frühen Erfahrungen sozialer Ungerechtig-
keit, von Spannungen zwischen Aberglauben, Volksfrömmigkeit und kirch-
licher Orthodoxie und von der Auflösung traditionaler ländlicher Strukturen
im Prozess der Industrialisierung erzählt, ist weder aufgesetzt lehrhaft noch
besonders unterhaltsam oder gar spannend. Die den Texten eigene Verklä-
rung der vergangenen Welt der Kindheit führte zu unterschiedlichen Bewer-
tungen durch die Literaturkritik, die von begeisterter Anerkennung, über den Peter Rosegger
Vorwurf der rückwärtsgewandten Idyllisierung bis zu scharfen Angriffen
wegen der vorgeblich religionsfeindlichen Gesinnung Roseggers und der
entsprechenden Tendenz einiger seiner Texte reichen. Der große literarische
Erfolg Roseggers gründet sich auf die von William Lottig, einem Vertreter
der Hamburger Jugendschriftenbewegung, veranstaltete, aus früheren Bän-
den zusammengestellte dreiteilige Ausgabe Als ich noch der Waldbauernbub
war (1899–1902). Sie war vornehmlich als Lektüre für »13- bis 14-jährige
Kinder« gedacht und ist heute noch im Buchhandel erhältlich.
Der bedeutendste Text auf dem Feld der kinderliterarischen Erzählprosa »Heidi«
dieser Epoche ist Johanna Spyris Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880), die
Geschichte eines Waisenkinds, das mit acht Jahren aus der vertrauten Schwei-
zer Alpenwelt herausgerissen, von ihrem Großvater, dem Alm-Öhi, und ihrem
Freund, dem Hütejungen Peter, getrennt und in ein Frankfurter Bürgerhaus
gebracht wird, um Klara, die gelähmte Tochter des Hauses, zu unterhalten.
Als Heidi schwer heimwehkrank wird, darf sie auf die Alm zurückkehren.
Am Ende gelingt es ihr, den menschenfeindlichen Alm-Öhi, gleichsam als
›verlorenen Sohn‹, wieder in die soziale und religiöse Gemeinschaft des am
Fuße der Alm gelegenen Dörfli zu integrieren. Spyri entfaltet ihre Geschichte
vor demselben, wenngleich blass gezeichneten realgeschichtlichen Hinter-
grund, wie er in Peter Roseggers Geschichten vom Waldbauernbub, vor allem
aber in dessen Roman Jakob der Letzte (1888) ausgeführt ist: Es geht um
den Niedergang der alpenländischen Bauern, ihre stetige Verarmung im Pro-
zess der Kapitalisierung auch der letzten Alpenwinkel durch Großgrundbe-
sitz, Fabrikation und Fremdenverkehr. Spyris Roman ist einer der ersten Titel
ihrer 16-bändigen Reihe der Geschichten für Kinder und auch für Solche,
welche die Kinder lieb haben (1878–1894). 1881 erscheint als Fortsetzung
Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. In Heidis Lehr- und Wanderjahre
fließt eine Fülle von Motiven aus der volksliterarischen, der religiös-litera-
rischen (pietistischen) und der kinderliterarischen Tradition zusammen.
Nicht zufällig ist auch der Anklang des Titels an Goethes Wilhelm Meister.
Was nun diesem Kinderroman seine Epochenbedeutung gibt und vermutlich
die bis heute nachhaltige, sogar weltliterarische Breitenwirkung mitbegrün-
det hat, ist die Art, in der Spyri die Erfahrung der Heimatlosigkeit des Men-
schen, als eine der Grundproblematiken der gesellschaftlichen Moderne
überhaupt, mit der Leidensgeschichte eines Kindes verknüpft. Spyris Senti-
mentalisierung der Schweizer Alpen als Heimat schlechthin, ihre Dämonisie-
rung der Großstadt als Ort einer krankmachenden Zivilisation und ihr Ent-
wurf einer mit Heilkräften ausgestatteten, charismatischen Kinderfigur lassen
diesen Text aber auch zum Dokument eines von rückwärtsgewandten Erlö-
196 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

sungshoffnungen getränkten Neu-Rousseauismus werden, wie er sich gegen


Ende des 19. Jh.s entwickelt. Genau dies hat dem Roman von Anfang an, bis
in die Gegenwart hinein, auch herbe Kritik eingetragen, unter anderem auch
die, dass der Roman Prototyp einer traditionellen ›Heile-Welt-Literatur‹ sei.
Tatsächlich ist aber der Text, mit dem ständigen Schwanken zwischen einer
psychologischen Innensicht der Figuren, insbesondere Heidis, und den mora-
lisierenden, christlich-religiösen Über-Ich-Kommentaren des Erzählers nicht
Bildnis aus der Reihe nur in sich brüchig. Das Werk ist auch voller produktiver inhaltlicher Wider-
»für Jung und Alt«
sprüche. So ist die Großstadt Frankfurt nicht nur, wie es auf den ersten Blick
scheinen mag, eine negative Gegenwelt zu den Alpen, in der Heidi krank,
depressiv und mondsüchtig wird. Frankfurt ist auch ein Entwicklungsraum,
in dem Heidi die Personen findet, die ihr helfen, zu denen sie Vertrauen hat
und wo sie – in einer ganz und gar rousseauistisch geprägten Szene – das
Lesen erlernt. Zudem ist nicht nur die städtische, sondern auch die Alpenwelt
unheil. Heidi, so erzählt der Roman, war offenbar nie ein gesundes, aus einer
unangetasteten Naturlandschaft stammendes Kind, sie ist ein empfindliches
Kind, das, um leben zu können, ein ständiges Heilklima braucht. »Das Kind
hat keine zähe Natur, indessen, wenn du es jetzt gleich wieder in die kräftige
Bergluft hinaufschickst, an die es gewöhnt ist, kann es wieder völlig gesun-
den«, sagt der Frankfurter Arzt, der ihre Krankheit diagnostiziert hat. Heidi
hat in ihrer frühen Kindheit mehrmals Tod und Trennung erlebt. Ihre beiden
Eltern sind gestorben, als sie ein Jahr alt war. Bis sie zum Großvater kommt,
hat sie schon bei zwei Ersatzmüttern gelebt. Bereits Heidis Mutter war todes-
sehnsüchtig, hatte manchmal »eigenartige Zustände« gehabt, »daß man
nicht recht wußte, schlief sie, oder war sie wach«. Bei genauerer Betrachtung
des Romans beginnen also alle zunächst klar erscheinenden Verhältnisse zu
verschwimmen.
Familienromane Während Roseggers und Spyris Geschichten mit ihrem Motivrepertoire
und der räumlichen und sozialen Verortung von Figuren und Handlungen
eng in Traditionen volksliterarischen Erzählens eingebunden sind und damit
tendenziell nicht nur auf ein bürgerliches, sondern auch auf ein breiteres Le-
sepublikum abzielen, ist das Genre kinderliterarischer Familienroman, das
sich in dieser Epoche, gleichsam als eine Spielform des realistischen Gesell-
schaftsromans in vielen Varianten herausbildet, auf ein bürgerliches Milieu
ausgerichtet, reflektiert bürgerliche Familienkindheit und will letztlich immer
ganz zentral der Vermittlung bürgerlicher Normen und Werte dienen. Ver-
mutlich ist es aber gerade das Exotische, ist es die Kette von Unterhaltsam-
keiten und kleinen Abenteuern, die solche Romane – trotz ihrer oft pene-
tranten pädagogischen Tendenzen – beim jungen Lesepublikum beliebt ge-
macht haben. Und ›heil‹ sind die Familien in solchen Familienromanen auch
nicht immer: Die Heldin in Clementine Helms Klein Dinas Lehrjahr (1888)
etwa kommt als unerzogenes, trotziges kleines Mädchen mit Affe, Papagei
und schwarzer Dienerin aus Transvaal nach Deutschland zu ihrer Tante und
fügt sich nur langsam in die bürgerliche Welt ein. Und Tony Schumacher, die
in ihrem Roman Mütterchens Hilfstruppen (1895) – auch nach dem Wunsch
des Verlegers – ausdrücklich eine Anleitung zur Beschäftigung der Kinder im
Haushalt geben möchte, erzählt in diesem Roman und in der Fortsetzung
Eine glückliche Familie (1896) auch von dem wilden Mulattenkind Nelly,
das in eine Arztfamilie integriert werden soll. In Schumachers Keine Lange-
weile (1899) schließlich wird von Nellys Tochter May erzählt, die – ähnlich
wie Klein Dina bei Helm – mit einem ganzen Hofstaat exotischer Tiere und
Menschen bei den Großeltern in Deutschland eintrifft, um dort erzogen zu
werden. Der Zug zur Überformung der Erzählungen aus dem Kinderalltag
Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik 197

durch Exotik und Abenteuer, mit dem auch die realistische Kinderliteratur
den Wunsch nach Ausbruch aus der Alltagswelt aufnimmt, wird besonders
an Schumachers Romanen offenkundig, die ihre Romanhandlungen – trotz
der Orientierung an einem bürgerlichen Wertesystem – häufig auch in unbür-
gerliche, exotische Milieus versetzt hat und mit entsprechenden Titeln, wie
Reserl am Hofe (1898), Cirkuskinder (1907), Komteßchen und Zigeunerkind
(1914), um das Unterhaltung suchende Publikum wirbt. Die äußerste Konse-
quenz dieses Grundrezepts der Verknüpfung von Elementen der Alltagsge-
schichte und des Abenteuerromans ist eine Art literarisches ›Switching‹ zwi-
schen märchenhaft-fantastischer Tiergeschichte und ins Abenteuerliche ge-
steigerter Umweltgeschichte in ein und demselben Roman, wie wir es in
Josephine Siebes Joli (1913) finden, ein Roman, der unter dem Titel Bimbo
noch bis in die 1950er Jahre hinein verlegt wird. Erzählt wird, so ließe sich
sagen, die Geschichte von der Heimkehr des Affen Joli in eine Affenhorde
des Brasilianischen Urwalds, aus der er früher einmal herausgefangen wurde.
Erzählt wird aber auch die Geschichte zweier Kinder, die den misshandelten
und verletzten Affen auf einem kleinstädtischen Jahrmarkt in Deutschland
kaufen, in ihrer Familie gesund pflegen und bei der Umsiedlung der Familie
auf ihr Farmland im Brasilianischen Urwald mitnehmen, wo er seiner alten
Affenhorde wiederbegegnet. Der Leser nun muss von Kapitel zu Kapitel aus
dem Modus einer märchenhaft-fantastischen Affengeschichte in den einer
›realistischen‹ Umweltgeschichte ›hineinspringen‹ und umgekehrt. Wie Paral-
lelgesellschaften leben Menschen und Affen nebeneinander und beäugen sich
misstrauisch. Nur Joli kennt beide Sprachen und entscheidet sich am Ende
schweren Herzens, im Urwald zurückzubleiben, als seine Menschenfamilie
Brasilien wieder verlässt. Alle diese Romane, die natürlich auch vor dem
zeitgeschichtlichen Hintergrund des Kolonialismus interpretiert werden
müssen, leben also geradezu von den exotischen Figuren, die den bürger-
lichen Horizont durchkreuzen und als ›das Fremde‹ den familialen Raum
interessant machen.
Mit einer entsprechenden Tendenz zur Exotisierung der Familie lässt sich »Die Familie Pfäffling«
der große Erfolg von Agnes Sappers Roman Die Familie Pfäffling (1907),
nach Heidi der erfolgreichste Kinderroman dieser Epoche, allerdings nicht
erklären. Denn Sappers Roman ist vielmehr von Angst vor dem Einbruch des
Fremden in die Familie durchzogen. Er enthält, in dezidiert kulturkritischer
Absicht, einen Gegenentwurf zu der auf Unterhaltung eingestellten moder-
nen Gesellschaft, die ›das Fremde‹ integriert und auch trivialisiert hat. Das
entspricht auch der pietistischen Prägung des Stuttgarter Gundert-Verlags,
der den Roman herausgebracht hat. Die größten Markterfolge hatte der
Roman im Übrigen in der Weimarer Republik, der NS-Zeit und der Zeit
nach dem Zweiten Weltkrieg, bis Anfang der 1960er Jahre. Die neunköpfige
Musiklehrer-Familie Pfäffling, in der es sparsam, arbeitsam, fromm und sehr
geregelt zugeht, ist sich selbst genug. Die Geschwistergruppe ist eine kleine
Arbeits-, Spiel- und Gesprächsgemeinschaft. Das Glück der Kinder liegt
darin, sich um die Geschwister und die Eltern zu sorgen; das Glück der El-
tern liegt in der liebenden Sorge um die Kinder. Die Familie ist ein »kleiner
Staat«, wie der Onkel sagt, aus dem einmal »tüchtige Staatsbürger hervorge-
hen« werden. Es ist aber auch eine spätbiedermeierlich anmutende Welt, die
hier »der deutschen Familie« der Gegenwart, wie Sapper im Vorwort schreibt,
vorgeführt werden soll. Der Roman ist Erinnerungsprosa, bezogen auf Sap-
pers eigene Kindheit in einer kinderreichen Familie, gewidmet der eigenen
Mutter: »Du hast uns vor Augen geführt, welcher Segen die Menschen durchs
Leben begleitet, die im großen Geschwisterkreis und in einfachen Verhältnis-
198 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Josephine Siebe: Joli.


Ein lustiges Buch von
Menschen- und Affen-
Kindern. Innentitel.
Stuttgart 1913

Klein Heini ein Groß-


stadtjunge. Geschichten
aus dem Leben eines
sechsjährigen Jungen
erzählt für andere kleine
Jungen und Mädchen.
Mit Federzeichnungen
von Arpad Schmid-
hammer. Umschlagbild
4. u. 5. Aufl. Köln 1912

sen aufgewachsen sind, unter dem Einfluß von Eltern, die mit Gottvertrauen
und fröhlichem Humor zu entbehren verstanden, was ihnen versagt war.«
Dass der Verlag und die Autorin das Buch weniger als Kinderbuch denn als
Familienbuch verstehen, sagen nicht nur die Vorwörter zu verschiedenen
Auflagen, auffällig ist auch, dass sich im Roman innenperspektivisches Er-
zählen vornehmlich im Blick auf den Vater und die Mutter, höchstens noch
auf das Problemkind Frieder entfaltet. Der rückwärtsgewandten Utopie
dieses Familienromans haftet aber auch etwas Bedrängendes an: Denn in
dieser Geschichte einer durch das Band der Liebe zusammengehaltenen Fa-
milie geht es unentwegt um Selbsterforschung des Gewissens, um Selbstbe-
zwingung, um die Ausforschung der Wünsche des Andern, um freiwillige
Entschuldigung auch der kleinsten Übertretung, um ständige Rücksicht-
nahme aufeinander. Wirklich bedrohlich ist aber die Situation für den kleinen
Frieder, der es nicht schafft, seine Musikleidenschaft zu bezwingen. Zweimal
droht ihm der Vater an, ein »fremdes Kind« zu werden, weil er sich nicht in
das gebotene Zeitmaß für sein Geigenspiel einfügen kann: »›So behalte du
deine Geige!‹ rief nun lebhaft der Vater, ›hier hast du auch den Bogen dazu,
du kannst spielen, so lange du magst. Aber unser Kind bist du erst wieder,
wenn du sie uns gibst‹, und indem er die Türe zum Vorplatz weit aufmachte,
rief er laut und drohend: ›Geh hinaus, du fremdes Kind!‹ Da verließ Frieder
das Zimmer.« Wie ein Bettelkind soll Frieder gehalten werden, draußen vor
der Tür, bis ihn »Liebe« und »das Gewissen« in die Familie zurücktreiben.
Und Frieders Widerstand wird gebrochen. Besonders an der Härte dieser
Szene zeigt sich, wie viel Gewaltsamkeit in Sappers Familienidylle lauert.
James Krüss, der Sappers erzählerisches Talent durchaus bewundert, hat
wohl recht, wenn er meint, dass das Buch nicht »ein Weg in die Welt, sondern
eine Flucht vor der Welt« ist, und wenn er hinzufügt: »Womit der Erfolg in
Deutschland erklärt wäre.«
Der ganz überwiegende Teil der im Buchformat erschienenen Kinderlitera-
tur dieser Epoche, zielt – trotz des tendenziellen Ausgreifens auf breitere Le-
Bilderbuch, Kinderlyrik, Märchen und Fantastik 199

serschichten – noch weitgehend auf ein bürgerliches Lesepublikum ab. Die Reformpädagogik und
Kindergeschichten dagegen, die im Umfeld der reformpädagogischen Bewe- Großstadtliteratur
gung ›vom Kinde aus‹, teils als kleinformatige Heftchen entstehen und die
am Ende der Epoche fest etabliert sind, wenden sich besonders an städtische
Unter- und Mittelschichtkinder; sind sie doch vor allem zum Gebrauch an
Volksschulen gedacht, die vorwiegend von Schülern dieser Schichten besucht
werden. Damit gehört diese Literatur auch in dasjenige Kooperationsfeld
von Schule und Familie, das von den Jugendschriftenausschüssen der Lehrer
aufgebaut wurde. Der Markterfolg einiger der in diesem Kontext entstande-
nen Schriften verdankt sich also mit Sicherheit nicht der Privatlektüre von
Kindern, sondern der Tatsache, dass die Texte jahrelang in Schulen eingeführt
waren. Im Falle der erfolgreichen Berni-Bücher Scharrelmanns im Übrigen
trifft dies – mit den zeitüblichen Veränderungen – bis zum Ende der national-
sozialistischen Ära und im Falle der ebenso erfolgreichen Klein-Heini-Bücher
(1912/15) von Richard Henning sogar bis in die 1960er Jahre hinein zu.
Solche Texte sollen, wie Scharrelmann schon 1903 in der Jugendschriften-
Warte schreibt, dem Gespräch zwischen Alt und Jung dienen und dabei »ein
Stück Welt vom Standpunkt des Kindes aus geben«. Vorausgesetzt wird eine
besondere Professionalität der Lehrer als Kenner der ›Kindesseele‹. Das Neue
an diesem Typ der Kindergeschichte ist, dass es hier, wie Fritz Gansberg in
seinen Streifzügen durch die Welt der Großstadtkinder (1905) schreibt, um
die Eroberung der »städtischen Kultur« durch »Stadtkinder« geht. Man
müsse heraus »aus dem Naturgeschichtlichen, Ländlichen und Dörflichen, in
dem wir jetzt noch bis über die Ohren stecken«. So sind die in diesem Umfeld
entstandenen Texte charakterisiert durch eine breitere Erfassung der räum-
lichen und sozialen Umwelt städtischer Kinder, was selbstverständlich auch
exotische Dimensionen der Stadterfahrung (Zoo, Märkte, Hafen usw.) ein-
schließt. Es geht aber nicht nur um Inhalte, sondern vielmehr noch um eine
neue Konzeptualisierung des Schreibens. Gleich, ob mehr erlebnisorientiert
oder eher sachlich erzählt wird, immer ist der Sprachgestus der Texte pro-
grammatisch durch das Prinzip der Beobachtung geprägt, ein Prinzip, das für
die reformpädagogische Didaktik und Methodik mit ihrer Fundierung in
einem entsprechenden Anschauungsunterricht ohnehin zentral ist. Hier lie-
gen auch die innovativen Potentiale der im Rahmen der reformpädagogischen
Bewegung entstandenen kinderliterarischen Texte. Allerdings bleiben gerade
die erfolgreichsten Schriftsteller, Scharrelmann und in seiner Nachfolge Hen-
nings, in ihren Geschichten über die kleinen Jungen Berni und Heini letztlich Fritz Gansberg: Streifzüge
in einer konventionellen, an den zeitgenössischen Erlebnisaufsatz erinnernden durch die Welt der
Großstadtkinder.
Schreibweise und gleichzeitig in einer idyllisierenden Perspektive auf die
Lebensbilder und
städtische Welt mit ihrem sozialen Beziehungsgefüge befangen. Das gilt ganz Gedankengänge für den
besonders für Scharrelmann, dessen Texten auch die erzählerische Dynamik Anschauungsunterricht in
abgeht, die bei Hennings zu finden ist. Mit Ilse Frapans Kurzprosa-Samm- Stadtschulen. 2. Aufl.
lung Hamburger Bilder für Hamburger Kinder (1899) liegt allerdings ein Leipzig 1907
Werk von außerordentlicher literarästhetischer Modernität vor. Auch dieses
Werk gehört, obwohl Frapan zur Zeit seiner Entstehung schon lange nicht
mehr Lehrerin, sondern freie Schriftstellerin war, in den engen Zusammen-
hang der reformpädagogischen Bewegung; es entstand auf Anregung des
Hamburger Jugendschriftenausschusses. Sie sollte »kleine Bilder aus dem
Hamburger Straßenleben« schreiben, heißt es 1899 in der Pädagogischen
Reform. Die meisten dieser Texte lassen sich als Moment- und als Situations-
aufnahmen bezeichnen, die durch ein (meist kindliches) Ich produziert wer-
den, das von Bild zu Bild oder von Szene zu Szene ein anderes ist. Die Formel
›da sah ich‹ (bisweilen auch: roch ich, hörte ich, fühlte ich) zieht sich gera-
200 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

dezu leitmotivisch durch die Texte. Unter wechselnden Blickwinkeln wird so


die Stadt wahrgenommen, punktuell und ausschnitthaft, dabei häufig wie
mit einer fremden Optik gesehen: »Etwas Schwarzes kommt die Straße da-
her. Langsam kommt es näher.« Mit diesen Sätzen beginnt sich z. B. das Bild
eines Leichenzugs zu entrollen. Die Alsterarkaden werden zum Experimen-
tierplatz: Sie bieten dem Auge den Rahmen für immer neue Wirklichkeits-
ausschnitte. In einer Kellerwohnung setzt ein kleines Fenster vorübergehende
Schuhe und Beine ins Bild. Die Wahrnehmung der ersten Schneeflocke am
Fenster blockiert aber auch das Nachdenken in der Rechenstunde: »›Nun?‹
sagte Herr Blaske, ›wird’s bald? Dreimal vierzehn ist – ?‹ Ich war ganz ver-
wirrt. ›Es schneit!‹ sagte ich. Die ganze Klasse lachte.« Auch soziale Differenz-
erfahrungen werden vornehmlich visuell vermittelt: »Das ist ein Arbeiter!
der hat Strapazierstiefel an. Solche macht mein Papa auch nach Maß. Das ist
eine feine Dame. Sie hat feine hohe Knopfstiefel, ganz neue sogar, die Sohlen
sind noch hell. Und sie trägt einen seidenen Unterrock bei dem Regenwet-
ter!« Das ergibt die Perspektive aus dem Kellerfenster. Frapans Hamburger
Bilder waren, obwohl sie von der Kritik ausgesprochen positiv aufgenom-
men wurden, auf dem Markt nur mäßig erfolgreich. Und vermutlich können
diese Texte auch kaum als bloße Lese- oder Vorlesetexte, sondern nur in
einem produktiven Prozess der Literaturvermittlung eine Wirkung entfalten.

Lebensgeschichten, Liebesromane –
vornehmlich für ›junge Mädchen‹

›Backfischliteratur‹ Eine der auffälligsten Erscheinungen im Bereich der Kinder- und Jugendlite-
ratur dieser Epoche ist die Etablierung, Ausdifferenzierung und extrem hohe
Marktbedeutung einer speziell an ›junge Mädchen‹ adressierten Literatur, für
die sich schon im 19. Jh. der Begriff der ›Backfischliteratur‹ einbürgert. Diese
Entwicklung schlägt sich in verschiedenen Buchgattungen quantitativ und
qualitativ nieder: im Zeitschriftensektor, im Feld der Jahrbücher, Antholo-
gien und Ratgeber; der eigentliche Bereich der Backfischliteratur ist aber die
romanhafte Erzählprosa. Hier kommt es zu einer auch zeitdiagnostisch be-
sonders interessanten Dynamik. Denn es bildet sich nun die Typik einer
mädchenliterarischen Entwicklungsgeschichte heraus, die sich als ›Pubertäts-
literatur‹ charakterisieren lässt, insofern die Erzählungen auf den häufig als
Krise erlebten Übergang aus der Mädchenkindheit ins Erwachsenenleben
konzentriert sind. Bestimmt ist diese Literatur anfänglich nur für Mädchen
aus gehobenen Schichten, für sogenannte ›höhere Töchter‹. Im Verlauf der
generellen Ausweitung des kindlichen und jugendlichen Lesepublikums wer-
den, wie bereits erläutert, aber auch breitere Schichten angesprochen. Die
Expansion der mädchenliterarischen Erzählprosa auf dem Markt ist signifi-
kant: Sie lässt sich nicht nur aus der Anzahl von etwa 200 Autorinnen able-
sen, die in diesem Zeitraum Romane und Erzählungen für junge Mädchen
schreiben. Sie ist auch aus den hohen Auflagenzahlen vieler Romane sowie
aus der Entwicklung von Verlagsprogrammen zu rekonstruieren, die mit Be-
ginn der 1870er Jahre Mädchenliteratur zunehmend in eigenen Sparten aus-
weisen. So sind es in den 1890er Jahren bereits ca. 30 Verlage, die Erzähl-
prosa für ›junge Mädchen‹ bzw. für die ›reifere weibliche Jugend‹ in einem
eigenen Programmteil anbieten.
Lebensgeschichten, Liebesromane – vornehmlich für ›junge Mädchen‹ 201

Zudem werden spezielle Romanreihen initiiert, darunter Thekla von Gum-


perts Bücherschatz für Deutschlands Töchter (1889 ff.), Bachems Illustrierte
Erzählungen für Mädchen (1896 ff.), Oehmigkes Bibliothek des Vereins zur
Reform der Litteratur für die weibliche Jugend (Berlin 1896 ff.), Riffarths
Bibliothek für junge Mädchen (1896 ff.) und – als erfolgreichste Reihe – die
Kränzchen-Bibliothek (1889 ff.) der Union Deutsche Verlagsgesellschaft.
Eine mädchenliterarische Erzählprosa hatte sich bereits in der Epoche der Vorgeschichte
Aufklärung, im Rahmen von Traditionen der kinder- und jugendliterarischen
moralischen Erzählung und des empfindsam-didaktischen Romans, heraus-
gebildet. Zu jener Zeit schon ging es in der Mädchenliteratur um den soge-
nannten Geschlechtscharakter der Frau, um ihre weibliche Bestimmung, um
entsprechende soziale Rollen, Normen und Werte. Gerade im Feld des emp-
findsam-didaktischen Romans, der allerdings vornehmlich an Frauen adres-
siert war und Mädchen nur als Mitleserinnen vorsah, bildeten sich, mitbe-
dingt durch Modi eines ›subjektiven‹, polyperspektivischen Erzählens, auch
Ansätze einer ›Mehrstimmigkeit‹ aus, die Fantasie und Urteilsbildung der
Leserinnen freisetzen konnten. Das gilt etwa für Helene Ungers Pensionsge-
schichte Julchen Grünthal (1784), einen Roman, der in der Figurenkonstella-
tion und Handlungsstruktur schon auf den Backfischroman, speziell auf das
mädchenliterarische Genre ›Pensionsgeschichte‹ vorausweist, das sich im
letzten Drittel des 19. Jh.s als eine Art normgebendes ›Leitgenre‹ etablierte.
Gerade der 100 Jahre nach Julchen Grünthal erschienene Bestseller Der
Trotzkopf (1885), der die Mädchenliteratur bis in die Gegenwart hinein ge-
prägt hat und der heute noch auf dem Markt ist, belegt die engen Bezüge.
Dennoch: In der Epoche der Aufklärung war die Mädchenliteratur primär
eine Erziehungsliteratur, die die lesenden Mädchen auf ihre sogenannte drei-
fache Bestimmung als »beglückende Gattinnen, bildende Mütter und weise
Vorsteherinnen des innern Hauswesens« hinführen wollte, wie Joachim
Heinrich Campe in seinem Väterlichen Rath für meine Tochter (1789) for-
muliert hat. Es ging also darum, die für die bürgerliche Gesellschaft konstitu-
tive Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit, die damit verbundenen so-
zialen Rollen von Mann und Frau sowie das in dieser Epoche ausformulierte
Konzept polarer Geschlechtscharaktere auf exemplarische Weise zu vermit-
teln. Diese Funktionsbestimmung der Mädchenliteratur als Erziehungslitera-
tur blieb bis in die 1860er Jahre hinein, ohne größere Brüche, erhalten, ob-
wohl sich unterhaltende Züge in der Literatur zunehmend freier entfalten
konnten. Auffällig ist auch, dass die entsprechende Erzählprosa häufiger
ausschließlich an Mädchen und nicht mehr an Mädchen und Frauen adres-
siert wurde, dass das Thema Liebe mehr an Bedeutung gewann und seit der
Jahrhundertmitte auch die ›Frauenfrage‹, d. h. die Frage nach der Zukunft
unverheirateter Bürgertöchter, ab und an in den Horizont der Mädchenlite-
ratur kam. Ausnahmsweise wurden sogar schon Mädchen ins Zentrum einer
Erzählung gestellt, die sich in die weibliche Bestimmung nicht einfügen wol-
len, wie Angelika, die Heldin der gleichnamigen Erzählung in Rosalie Kochs
Maiblumen (1849). Damit hatten sich bis zur Mitte des Jahrhunderts schon
Erzählzüge herausgebildet, die auch die Mädchenliteratur der folgenden
Epoche charakterisieren. Im Backfischroman werden solche Züge gattungs-
konstitutiv. Damit wird aber der Mädchenroman zu einem – wie auch immer
verzerrenden oder verschleiernden – Spiegel der sozialen und psychischen
Dimensionen des Erwachsenwerdens v. a. von Bürgertöchtern, und zwar vor
dem Hintergrund des krisenhaften gesellschaftlichen Umbruchs um 1900,
der für die Mädchen existenzielle Verunsicherung und extreme Rollenkon-
flikte hervorrufen musste. Tendenzen der Moraldidaxe bilden sich nun zu-
202 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

gunsten einer eher entwicklungspsychologischen Perspektivierung der ݆ber-


gangszeit‹ von Mädchen und zugunsten einer freier ausfabulierten Handlung
weitergehend zurück. Unterhaltende, ja sogar abenteuerliche Züge prägen
sich stärker in der Literatur aus. Was aber das Wichtigste ist: Die Mädchen-
literatur dieser Epoche wird zunehmend vom Liebes-Plot überformt – eine
Entwicklung, die zeitgleich mit der Erfolgsgeschichte des Liebesromans in
den Familienblättern einsetzt und mit den Gartenlaube-Romanen von Euge-
nie Marlitt ihren ersten Höhepunkt erreicht hat. Die Tatsache, dass sich in
dieser Epoche ein spezifisch mädchenliterarischer Liebesroman ausbildet,
dessen Plot geradezu expansiv auf die gesamte mädchenliterarische Erzähl-
prosa ausgreift, spricht dafür, dass die Lektüre solcher Romane wohl insbe-
sondere der Ablenkung, der Flucht aus der Alltagssituation in Wunschwelten
und der Entlastung von Spannungen gedient hat. Dass es auch zeitgenös-
sische Leserinnen gab, die solche Lektürefunktionen durchaus beurteilen
konnten, belegt im Übrigen eine Aussage aus einer von Köster Anfang des
20. Jh.s durchgeführten Leserbefragung anhand von Lesetagebüchern. »Es
war wohl gerade das Unwahre, was mich anzog«, sagt da rückblickend ein
17-jähriges Mädchen. »Etwas, das nie eintreten konnte, mir aber doch wun-
derbar schön erschien, wurde mir vor die Augen gezaubert, und gern gab ich
mich mit 14 bis 15 Jahren einer solchen Traumwelt hin.«
Die ›Frauenfrage‹ Die ›Traumwelt‹, das ›Unwahre‹ solcher Geschichten, die fast immer mit
absoluter Sicherheit auf das glückliche Ende, die Liebesheirat hinsteuern –
diese Diagnose des Mädchens trifft einen besonders neuralgischen Punkt im
Leben der Bürgertöchter. Die sprunghafte Entwicklung dieses Buchsektors
und das nachweislich heftige Lesebedürfnis junger Mädchen, so vermutet
schon 1882 der heftigste Kritiker dieser Entwicklung, der Mädchenschul-
pädagoge Albrecht Goerth, hat etwas mit der »brennenden Frauenfrage« zu
tun. In der Tat hat sich der Übergang des Mädchens ins Erwachsenenleben
erschwert. Denn ein großer Teil der Mädchen, jedenfalls der Töchter aus
wenig begüterten bildungsbürgerlichen Familien, bleibt unverheiratet, ist
also auf Erwerb angewiesen, wenn – was immer häufiger wird – die Mög-
lichkeit einer Versorgung durch die Herkunftsfamilie ausfällt. Gleichzeitig
verschließen sich aber weite Teile des Bürgertums in dieser Zeit noch gegen-
über der Frauenfrage. Sie halten die Mädchen, die in der Regel spätestens mit
16 Jahren ihre Schulzeit beendet haben, in den Familien fest, ohne ihnen
Freiräume oder gar eine Berufsperspektive zu geben. Sie idealisieren nach
wie vor die ›dreifache Bestimmung der Frau‹, was auch mit einer sozialen
Abwertung der berufstätigen Frau einhergeht, die häufig immer noch mit
dem Klischee der ›alten Jungfer‹ oder des ›Blaustrumpfs‹ belegt wird. Dabei
ist es faktisch bereits zu einer weitgehenden Erosion der Grenzen zwischen
privater und öffentlicher Sphäre gekommen. Um 1900 gibt es ein breites
Spektrum gehobener Frauenberufe, zu denen – neben dem der Lehrerin und
der Erzieherin – Berufe aus dem Feld der professionellen Haus- und Famili-
enarbeit, von der Ökonomin bis zur Kinderschwester, und viele Verwaltungs-
berufe in den expandierenden Sektoren Wirtschaft und Verkehr gehören.
Schrittweise haben Österreich und Deutschland Studiermöglichkeiten für
Mädchen eröffnet, die es zuvor nur in der Schweiz gab. Aber die Berufstätig-
keit von Bürgertöchtern gilt, wenn sie überhaupt akzeptiert wird, noch weit-
gehend als Notlösung. Dass diese Konstellation die Mädchen in eine zumin-
dest untergründig höchst angespannte, zwischen Ziellosigkeit, Zukunftser-
wartungen und -ängsten hin- und herwechselnde Lage gebracht hat, ist
anzunehmen. Hinzu kommt, dass den Mädchen im langen ›Wartestand‹ auf
die Ehe – anders als den Jungen – eine intensive Familienbindung auferlegt
Lebensgeschichten, Liebesromane – vornehmlich für ›junge Mädchen‹ 203

ist, die häufig zu großen Spannungen in der Vater-Tochter-Mutter-Konstella-


tion geführt haben muss. Der Lebensraum der bürgerlichen Mädchen ist eng.
Kleine Freiräume bieten nur Wege zur Schule und zum Privatunterricht,
Kontakte zu befreundeten Familien, Ferienreisen, kleine Touren, eine Schlitt-
schuhpartie, die Mitwirkung bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und das bei
Freundinnen abgehaltene ›Kränzchen‹. Welche Veränderung der um 1900
noch umstrittene Damen-Fahrradsport und im ersten Jahrzehnt des 20. Jh.s
die Mädel-Wanderbewegung gebracht haben müssen, ist heute kaum noch
zu ermessen. Die Attraktion, die die Backfischromane offenkundig auf ihre Autorinnen
Leserinnen ausgeübt haben, liegt wohl darin begründet, dass die Autorinnen
sehr genau in diese Konstellation der Zukunftsungewissheit hineinschreiben.
Sie kennen die Situation der höheren Tochter aus eigener Erfahrung, denn sie
stammen fast ausnahmslos aus denselben Schichten wie ihre Leserinnen.
Dabei befinden sie sich grundsätzlich in derselben widersprüchlichen
Schreibsituation, wie sie Silvia Bovenschen in ihrer Studie Die imaginierte
Weiblichkeit (1979) für die Autorinnen des 18. Jh.s diagnostiziert hat: Sie
repräsentieren einerseits die selbständige Lebensform einer Schriftstellerin,
müssen sich aber in ihren Romanen mit ihren »Zuständigkeiten und Fähig-
keiten [...] hinter den kulturell präformierten Bildern des Weiblichen« verste-
cken. Andererseits kann aber dieser Modus eines ›beschränkten Schreibens‹
durchaus brisant sein, wenn die Autorin ihre eigenen, unerledigten Probleme
in ihr Schreiben an die jungen Mädchen mit hineinnimmt, wenn sie also auch
für das Mädchen in sich selbst schreibt und so in eine besonders enge Kom-
munikationssituation mit der Leserin eintritt. Als im Zuge der Etablierung Kritik der
des Backfischromans die Lesesucht-Debatte der Aufklärung in einer bis da- Mädchenliteratur
hin nicht gekannten Schärfe wieder auflebt, wird jedenfalls – erstaunlicher-
weise – sogar der Verdacht laut, die Lektüre von Backfischromanen könne
bei den Mädchen die ›leidige Emanzipationssucht‹ verstärken. Die »exal-
tierten, oft halb verrückten Ideen der Frauenrechtlerinnen und Blaustrümpfe«,
schreibt Goerth 1896, hätten Mädchen und Frauen bereits seit der Back-
fischzeit durch »Jugendschriften, Journale und Leihbibliotheken-Romane in
sich aufgenommen«, wobei er – gestützt auf einen kruden Sozialdarwinismus
– davon ausgeht, dass letztlich schon die Tatsache der lustvollen Lektüre von
Backfischromanen ausreiche, allen ohnehin bei Frauen in gesteigerter Form
vorhandenen negativen Eigenschaften, wie Selbstsucht, Ungehorsam, Eigen-
sinn und vor allem »leichtsinnige und gedankenlose Sinnlichkeit«, zum Aus-
bruch zu verhelfen. Es geht also weniger um die diese Literatur grundieren-
den, häufig traditionalistischen Gesellschaftsbilder. Als subversiv gilt vielmehr
die Leselust, d. h. die Leibgebundenheit eines unkontrollierten Lesens. Aber
auch nach spezifisch erotischen Elementen der Backfischliteratur wird inten-
siv gefahndet, um diese Literatur als ›degeneriert‹ und krankmachend zu
diskriminieren. Auch Wolgast meint, durch Backfischromane würden die
Mädchen verdorben; die Lektüre nähme »der Seele den Flaum der sittlichen
Unberührtheit«. Und Ludwig Göhring schreibt, wo »die Zeit an und für sich
im Anzuge« sei, »wo der geschlechtliche Trieb zu bohren beginnt«, gössen
die Autorinnen »Öl ins Feuer«, schürten »den Brand«, statt zu löschen. Aus
den Reihen der Frauenbewegung kommt ebenfalls harsche Kritik, die sich
gegen die Selbstbezüglichkeit der Mädchenliteratur wendet. So meint die
bekannte Führerin der bürgerlichen Frauenbewegung Gertrud Bäumer noch
1918, die Lektüre sollte in der »Entwicklungszeit«, in der sich die Mädchen
»selbst problematisch und unerfreulich sein« müssten, überhaupt »von der
eigenen Person, der eigenen Rolle, den eigenen Angelegenheiten« ablenken,
und schlägt Literatur über ›starke Frauen‹ als Gegengift vor. Selbst als offen-
204 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

kundig geworden ist, dass sich hinter Goerths Invektiven gegen die weib-
lichen »Schmierer« von Mädchenliteratur auch eine antisemitische Attacke
gegen die Aktivistin der Frauenbewegung und Mädchenbuchschriftstellerin
Lina Morgenstern verbirgt, gibt es von literaturpädagogischer Seite kaum
eine Distanznahme. Überhaupt fällt die scharfe, auch mit Straffantasien auf-
geheizte Sprache dieser Debatten ins Auge, die sich gegen die Autorinnen
richtet. Geredet wird von ›an den Pranger stellen‹, ›peitschen‹, ›ausmerzen‹
und von der Backfischliteratur als »Spülwasser«. Überschaut man die Back-
fischliteratur dieser Epoche, sind die Vorwürfe auf den ersten Blick mehr als
erstaunlich. Denn Sexualität ist in diesen Büchern kein Thema. Vielmehr
halten die Mädchenbuchautorinnen an der Idealisierung des unwissenden,
sexuell unschuldigen Mädchens im Grunde durchgängig fest. Allenfalls las-
Clementine Helm, nach
sen sich in einigen Pensionsgeschichten kleine Anspielungen finden, wie in
einer zeitgenössischen
Bleistiftzeichnung Helms Lilli’s Jugend (1871), wo die erfahrene Pensionärin Sidonie ihre Straf-
versetzungen von einer Pension zur anderen damit erklärt, dass einmal »ein
bleichsüchtiger Unterlehrer meine Augen sehr blau« und ein anderes Mal sie
selbst »die Augen eines jungen Oberlehrers sehr blau« fand, oder in Helene
Fabers Pensionsbriefe eines enfant terrible (nach 1897), einem Roman, in
dem schon offenkundiger auf die sexuelle Neugier der Leserinnen spekuliert
wird. Wo aber Elsa Asenijeff in ihrer Skizzensammlung Unschuld (1901) –
einem Ausnahmetext im Spektrum der Mädchenliteratur – Sexualität thema-
tisiert, da dient dies der Anklage gegen die Doppelmoral der bürgerlichen
Gesellschaft. Ein hinreichender Grund zur Aufregung ist für die Kritiker
letztlich, dass die Texte das Interesse der Leserin überhaupt auf das Thema
Liebe und Heirat hin anspannen – was in der Tat der Fall ist – und der Lese-
rin damit einen unkontrollierten Fantasieraum eröffnen. Besonders interes-
sant ist auch, dass sich die Kritik an der Sinnlichkeit und Selbstbezüglichkeit
des Mädchenlesens und der Mädchenliteratur mit der Ablehnung all derjeni-
gen Genres und Schreibmodi verbindet, die den Traditionen eines sogenann-
ten ›weiblichen Schreibens‹ zugerechnet werden: Briefroman, Tagebuchro-
man oder Ich-Erzählung mit eingestreuter Lyrik, Briefen und Tagebuchaus-
zügen. Göhring, der für den Mädchenroman in polemischer Absicht den
Begriff ›hysterisch-empfindsamer Roman‹ geprägt hat, behauptet sogar, sol-
che Texte zeigten, dass die Frau geschlechtsbedingt nicht zum Romanschrei-
ben tauge. Sie sei eben für die Zeichnung »energischer Linien« nicht geschaf-
fen. Brief- und Tagebuchroman seien überhaupt zur »Bogenschinderei« wie
erfunden.

Strukturen und Funktionen


der mädchenliterarischen Erzählprosa

»Backfischchen’s Einer der Backfischromane, auf den sich die zeitgenössische Kritik schon
Leiden und Freuden« früh einschießt, zeigt eine solche Charakteristik. Es ist Clementine Helms
Backfischchen’s Leiden und Freuden, bereits 1863 erschienen, der erste Best-
seller und der erste Liebesroman in der Mädchenliteratur. Er erreicht 1897
die 50. und 1918 die 78. Auflage. Im Zentrum des Romans stehen zwei
Mädchen, die ein gemeinsames Erziehungsjahr bei ihrer Tante in Berlin ver-
leben: die 15-jährige Grete, ein Naturkind aus wohlhabender, intakter, kin-
derreicher Familie, von tadellosem Charakter, der nur noch der gesellschaft-
Strukturen und Funktionen der mädchenliterarischen Erzählprosa 205

liche Schliff fehlt, den der Aufenthalt bei der Tante verspricht, und auf der
anderen Seite die etwas ältere Eugenie, verwöhnt, eigensinnig, spitzzüngig,
intelligent, schön – eine »Amazone«, wie sie im Roman genannt wird. Ge-
sellschaftlichen Schliff bringt sie schon mit, problematisch sind allerdings
Hochmut und Spottsucht. Als das Jahr zu Ende ist, vergeht nicht viel Zeit,
bis beide glücklich in den Stand der Ehe eintreten. Die Figurenkonstellation,
die dieser Roman anbietet, ist auf den ersten Blick alles andere als innovativ.
Wir finden sie nicht nur in empfindsam-didaktischen Romanen, wir stoßen
sogar schon in der Mädchenerziehungsliteratur der Frühen Neuzeit, etwa in
der seinerzeit sehr populären, auch ins Deutsche übersetzten Schrift des Nie-
derländers Jacob Cats, Maedchenplicht ofte ampt der ionckvrouven (1618),
auf eine ähnliche Gegenüberstellung zweier Mädchen. Neu ist allerdings die
Perspektivierung der beiden Figuren, neu ist v. a. das milde Licht, mit dem die
Ich-Erzählerin die glänzende Eugenie beleuchtet. Hier werden nicht, entspre-
chend der literarischen Tradition, zwei Mädchen vorgestellt, von denen die
eine vorbildlich und die andere abschreckend sein soll. Beide – so unter-
schiedlich sie sind – repräsentieren vielmehr, auch wenn sie sich im Laufe des
Erziehungsjahres gegenseitig ein wenig ›abschleifen‹ müssen – gleichwertige
Mädchentypen. Besonders interessant ist, dass mit dieser Kontrastierung
auch zwei verschiedene Liebes- und Ehemodelle vorgestellt werden. Das eine
Modell entspricht dem traditionell patriarchalen, bürgerlichen Grundmuster,
das andere deutet auf eine Beziehung ›in Augenhöhe‹ hin. Denn Helm legt
die Liebesromanhandlungen im Roman so an, dass die unsichere Grete mit
Dr. Hausmann einen etwas älteren Mann heiratet, einen Geschäftsfreund des
Vaters, der weiß, was er will. Die selbstbewusste Eugenie dagegen heiratet
einen sehr schüchternen, unentschlossenen Mann, einen jungen Baron. Und
während die ›natürliche Grete‹ bis zum Heiratsantrag Hausmanns – unschul-
dig, wie sie ist – in ihrer melancholischen Stimmung nicht einmal den eigenen
Liebeskummer erkennt, nimmt Eugenie dem schüchternen Baron die Liebes-
werbung ab und erklärt ihm selbst ihre Liebe. Hier liegt vermutlich das im
Zeitrahmen besonders Skandalöse und für viele Leserinnen gleichzeitig At-
traktive dieses Mädchenromans, zumal die Erzählerin den Schritt Eugenies
ausdrücklich legitimiert: »Das Lebensglück zweier Menschen beruhte auf
einem einzigen Worte, und da er dieses Wort nicht auszusprechen wagte,
warum sollte sie es nicht thun, und dadurch die Pforten ihres Glückes öff-
nen.« Helm plädiert hier also – wenngleich nur in einem einzigen Punkt – für
eine Entpolarisierung der Geschlechtscharaktere von Mann und Frau. Be-
denkt man noch, dass die selbstbewusste Ich-Erzählerin des Romans das
einstige ›Naturkind‹ Grete ist, die ihren »lieben Freundinnen« die Geschichte
ihrer eigenen Jugend erzählt und die insbesondere diejenigen aus dem »Ge-
schlecht der Backfischchen« trösten und unterhalten möchte, denen es in ih-
rer »15jährigen Haut ebenso unbehaglich« ist wie der einstigen Grete, dann
beginnt das Bedeutungsgefüge des Textes noch weitergehend zu changieren.
Es finden sich viele weitere Einzelzüge des Romans, die zu dessen Polyvalenz
beitragen und die freilich penetrante Anstands- und Erziehungslehre durch-
brechen, die diesen Text von Anfang bis Ende durchzieht.
Was Backfischchen’s Leiden und Freuden von den ›moderneren‹ Mäd- Die ›Frauenfrage‹ in
chenromanen der Folgezeit unterscheidet, ist die Tatsache, dass hier die sozi- der Mädchenliteratur
ale und psychische Situation der höheren Bürgertochter auch nicht in Andeu-
tungen kenntlich gemacht wird. Dabei ist Helm mit ihr vertraut. Früh ver-
waist, wächst sie bei Verwandten in Berlin auf, hat vor Lehrerin zu werden,
ist als Erzieherin tätig. Mit 23 Jahren, also im Epochenrahmen noch relativ
früh, heiratet sie allerdings, und zwar einen jungen Gelehrten, der später als
206 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Universitätsprofessor recht bekannt wird. Die Haupt-Heldinnen ihrer über


30 weiteren Mädchenromane sind häufig sehr begabt und mit einem Streben
nach Selbstbestimmung ausgestattet. Dass sie für diese Heldinnen am Ende
immer die Liebesheirat bereithält, bedeutet vermutlich mehr als ein bloßes
Mitschwimmen auf der Welle einer literarischen Konjunktur, spiegelt viel-
mehr auch ihre eigene Überzeugung. Jedenfalls hat Helm, die das Thema der
Frauenemanzipation in späteren Mädchenbüchern, etwa in Das Kränzchen
(1873), Unsere Selekta (1882) und dem Künstlerinnenroman Die Geschwis-
ter Leonhard (1891) extensiv und auch nuancenreich zur Diskussion bringt,
offenkundig an der Unterordnung der Ziele begabter Frauen unter das tra-
dierte, wenngleich ein wenig zurechtgerückte Rollenkonzept festgehalten.
»Die Geschwister Besonders eindrücklich wird das in Die Geschwister Leonhard (1891) er-
Leonhard« zählt. Im Zentrum des Romans steht die begabte junge Malerin Paula, die als
junger Mann verkleidet mit ihrem Bruder, ebenfalls einem Maler, nach Rom
geht, um dort im Atelier eines berühmten Professors malen zu können. Der
Rollentausch wird entdeckt. Der Professor, der emanzipierte Frauen verach-
tet, und Paula verlieben sich ineinander, heiraten schließlich. Paula wird zwar
nur »eine leidlich gute Hausfrau«, jedoch »eine ganz vortreffliche Tiermale-
rin«. Auch nimmt der Ehemann seine frühere Ansicht zurück, dass sich »für
eine Frau nur Beschäftigungen in Haus und Wirtschaft eignen«. Aber das
kann er auch nur, weil er sieht, dass seine Paula bei alldem »nicht emanzi-
piert zu sein brauchte«. Was hier mit Blick auf Helms Texte angesprochen
wurde, gilt cum grano salis für alle Backfischromane dieser Epoche: Sie ant-
worten auf die ›Frauenfrage‹, indem sie sich mit ihren Entwicklungsge-
schichten auf die Situation junger Leserinnen, auch auf ihre Ausbruchswün-
sche und -ängste einstellen und diese gleichzeitig kanalisieren. Der Sozialzu-
gehörigkeit der jungen Leserinnen entsprechen auch die Handlungsschauplätze
der Romane. Bevorzugt wird der städtisch-bürgerliche Raum, der auch der
Lebensraum der meisten Schriftstellerinnen ist. Und hier wiederum sind es
v.a. die Binnenräume von Familien, Freundes- und Nachbarschaftsgruppen,
Schule, Pension. Episodisch, auf Reisen, werden auch Blicke in andere Räume
geöffnet. Schon seit der Mitte des Jahrhunderts ist z. B. die Eisenbahnfahrt
ein Thema der Mädchenromane. Ab und an wird aber auch von der Welt der
Arbeit erzählt und sogar von Auswanderung oder Leben in der Fremde, wie
in Romanen Brigitte Augustis, Bertha Cléments, Henny Kochs u. a. Die
Handlungsdynamik entsteht im Backfischroman der Epoche aus typischen
Ausgangssituationen wie Verlust eines oder beider Elternteile, problematische
Vater-Tochter- oder Mutter-Tochter-Beziehungen sowie plötzliche Verar-
mung, die einen ›Auszug‹ zur Folge haben.
Die Familie in der Die Backfischromane fokussieren im Gegensatz zu den meisten kinderlite-
Mädchenliteratur rarischen Familiengeschichten nicht die ›heile‹ Familie. Zwar wird auch in
ihnen die kleine, intakte Kernfamilie, womöglich die Arzt- oder Pfarrfamilie
in ländlicher Umgebung, verklärt und idealisiert, wie etwa in Cléments Der
silberne Kreuzbund (1897) oder Bernhardine Schulze-Smidts Lissy (2. Aufl.,
1900), aber der gattungstypische Handlungseinsatz, d. h. das Motiv für den
›Auszug‹ der Heldin, verweist ja gerade auf eine Schwächung der Familie
oder auf eine Familienkrise. Zudem enthalten eine Reihe der typischen Pen-
sionsgeschichten dieser Epoche auch positive Gegenentwürfe zur ›kleinen
Familie‹, die womöglich in der Erziehung versagt hat. Der Mädchenfreund-
schaft und der Mädchengruppe kommt oft eine größere Bedeutung zu als der
Familie. Und wenn auch die Geschichten zielstrebig auf eine Verlobung oder
Ehe der Protagonistin zusteuern und damit wiederum die Gründung einer
Familie in Aussicht stellen, so bleiben die Texte doch, aufgrund der vorge-
Strukturen und Funktionen der mädchenliterarischen Erzählprosa 207

stellten anderen positiven sozialen Bindungen, mehrdeutig. Interessant ist in


diesem Zusammenhang auch, dass es in einigen Romanen zu einer besonders
positiven Aufladung des Stiefmuttermotivs kommt, so dass soziale und bio-
logische Mutterschaft gleichgestellt werden können, wie in Cléments Seine
kleine Frau (1894), oder die soziale sogar mehr als biologische Mutter gilt,
wie in Spyris Was aus ihr geworden ist (1889). Manche Texte entwerfen
auch Bilder schwacher, hilfloser Mütter, wie etwa Clément in Lebensziele (3.
Aufl., 1907), wo die Mutter nach dem Tod ihres Mannes nervenkrank wird
und die Tochter mit ihrer Krankheit symbiotisch an sich zu binden versucht.
Häufig übernehmen auch mit Autorität ausgestattete ›Ersatzmütter‹ Erzie-
hungsfunktionen, wie in Marie Calms Echter Adel (1883), wo eine junge
Lehrerin kurzzeitig eine fehlende Mutter ersetzt, und in vielen Pensionsge-
schichten. Vor allem aber kann sich der schon seit dem 18. Jh. in der allge-
meinen Literatur verbreitete Vater-Tochter-Plot nun in der Mädchenliteratur Vater-Tochter-
fest etablieren. Dabei fällt besonders eine Perspektivierung dieses Plots ins Beziehung
Auge, nämlich die Auslegung der Vater-Tochter-Beziehung als emotional
hoch besetzte Liebesbeziehung. Wir finden dies u. a. in Romanen von Käthe
van Beeker, Emma Biller, Bertha Clément, Marie Ermann, Elisabeth Halden,
T. Heinz, Henny Koch, Sophie von Niebelschütz, S. Stein, Emmy von Rho-
den, Frida Schanz, Bernhardine Schulze-Smidt und Fanny Stöckert. Auch die
Mädchenbuchheldin wird in diesem Plot neu konturiert. Jugendlicher Nar-
zissmus, Beharren auf ›unweiblichem Verhalten‹, bei dennoch positiver Aus-
strahlung – das werden hervorstechende Züge jedenfalls der beliebtesten
Romanfiguren, wie etwa der Titelfigur in Beekers, Die wilde Hummel (1899),
die eingangs in »Stulpstiefeln«, »Pumphosen« und »Lodenjoppen« vorge-
stellt wird und die nicht nur reitet, rudert und schwimmt, sondern sogar jagt
und schießt, wie der Vater. Auch volksläufige, in der Mädchenliteratur längst
etablierte Motive wie das des eigensinnigen, wilden und fremden Kindes so-
wie romantisch geprägte Frauenbilder, wie das der Frau als Kindwesen,
können in diese Figuration eingeschmolzen werden. Das prominenteste Mo-
tiv in unserem Kontext ist das Trotzkopfmotiv. Es hat sich fest mit der litera-
rischen Figur der 15-jährigen Ilse Macket verbunden, die sich in eine prinzes-
sinnenhafte Position gegenüber ihrem Vater gebracht hat, den sie mit ihrem
»einziger, kleiner Papa« um den Finger wickelt.
Der Trotzkopf. Eine Pensionsgeschichte für erwachsene Mädchen (1885) Der Trotzkopf
von Emmy von Rhoden kann eine noch größere Erfolgsgeschichte als
Backfischchen’s Leiden und Freuden aufweisen. 1916, mit Ablauf der Schutz-
frist, erscheint die 76. Auflage. Schon vor 1900 wird der Roman in zahlreiche
Sprachen übersetzt. Von 1916 an bis heute bieten ihn verschiedene Verlage,
in mehr oder weniger gekürzter und bearbeiteter Form an. Auch die ab 1983
erstmals ausgestrahlte Fernseh-Adaption ist noch immer erfolgreich. Damit
ist Der Trotzkopf der einzige deutschsprachige Backfischroman dieser Epo-
che, der für Leserinnen unterschiedlicher sozialer Milieus und unterschied-
licher Epochen attraktiv blieb. Den Erfolg verdankt er einmal der ausgespro-
chen geschickten Vermarktung, besonders durch den Stuttgarter Weise-Ver-
lag, der ihn in ständig neuer Aufmachung herausbringt, noch bis in die
nationalsozialistische Ära hinein im Programm hält und mit den Fortset-
zungen Trotzkopfs Brautzeit (1892), Aus Trotzkopfs Ehe (1896), Trotzkopf
als Großmutter (1905) (alternativ: Trotzkopfs Nachkommen – ein neues
Geschlecht; 1930), teils von Rhodens Tochter Else von Wildhagen verfasst,
in eine ›Serie‹ einbaut. Aber auch die Zentrierung der Romanhandlung um
eine emotional hoch aufgeladene Erziehungs- und Entwicklungskrise eines
sympathischen Trotzkopfs, die Verlegung der Haupthandlung in eine Pension
208 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Emmy von Rhoden: Der


Trotzkopf. Eine Pensions-
geschichte für erwachsene
Mädchen. Frontispiz.
15. Aufl. Stuttgart 1893

Clementine Helm:
Backfischchen’s Leiden
und Freuden. Eine
Erzählung für junge
Mädchen. Frontispiz.
Leipzig 1863

sowie die Überformung der Handlung durch Gattungsstrukturen des Liebes-


romans kommt dem seit jener Epoche mächtig angewachsenen Bedürfnis
nach Entspannung, Evasion und Kompensation durch Lektüre besonders
entgegen. Zudem sind in Rhodens Roman erziehende Tendenzen weiterge-
hend zurückgenommen bzw. in der Psychodramatik der Handlung aufgeho-
ben. Dabei ist die äußere Handlung des Romans – im Zeitkontext gesehen –
nicht außergewöhnlich: Die Gutsverwalterstochter Ilse Macket ist 15 Jahre
alt, als sie wegen großer Spannungen mit der Stiefmutter, wegen der Nach-
giebigkeit des Vaters, wegen ihres unweiblichen Benehmens, ihrer Ungezo-
genheit und ihrer Trotzköpfigkeit wider Willen in die Pension muss. Am
Ende ihres einjährigen Pensionsaufenthalts erkennt sie die elterliche Autori-
tät an, hat neue Bindungen aufgebaut und ist eine junge Dame geworden.
Auf der Heimreise von der Pension begegnet sie dem jungen Juristen Leo
Gontreau. Wenig später ist sie verlobt. Nun waren die Figur des sympa-
thischen, rebellischen Mädchens, das Genre Pensionsgeschichte und deren
Überformung durch Züge des Liebesromans zu diesem Zeitpunkt schon
längst in der Mädchenliteratur etabliert. In den 1870er Jahren sind mit Eva
Hartners Pension und Elternhaus (1877), Mathilde von Eschens Pension und
Leben (N.A. 1880) und Marie Ermanns In strenger Hand (1877) auch schon
Pensionsgeschichten erschienen, die die enge Vater-Tochter-Beziehung the-
matisierten. Ermann stellt mit der Gutsbesitzerstochter Käthe sogar bereits
eine Heldin ins Zentrum, die Ilse Macket ähnelt. Auch sie ist mutterlos auf-
gewachsen, wird von einem allzu weichen Vater verwöhnt und kann mit
Schmeichelei und Trotz alles erreichen – sie ist eine mit entsprechenden Rei-
zen ausgestattete Kindfrau. Rhoden kann also an diese Gattungstraditionen
und an die bereits erwähnten Motivtraditionen anknüpfen. Ganz entschei-
dend für ihren Erfolg ist nun vermutlich, wie gekonnt sie in Der Trotzkopf
die Erziehungsgeschichte mit der Gefühls- und Beziehungsgeschichte der
pubertierenden Heldin verknüpft. Auf der einen Seite muss sich Ilse vom
Strukturen und Funktionen der mädchenliterarischen Erzählprosa 209

wilden Mädchen zur jungen Dame verwandeln, muss elterliche Autorität


anerkennen lernen und sich damit auch in die gesellschaftlich vorgegebene
Geschlechterordnung einfügen. Gleichzeitig geht es aber auch um die Auflö-
sung einer von extremen Hass- und Liebesgefühlen begleiteten ödipalen
Mutter-Tochter-Vater-Konstellation. Konfliktverschärfend wirkt dabei, dass
der Vater die Wildheit seiner Tochter zulässt, ja fördert, während die Mutter
die Umwandlung Ilses zur jungen Dame vorantreiben möchte. Jeder der Ro-
manepisoden, die auf die Anfangsszene des Romans folgen, kommt nun eine
doppelte Funktion zu: die der Hinführung zur Rollenübernahme einerseits
und die der Auflösung der allzu starken Liebesbindung an den Vater. Am
Ende steht eine Ilse da, die sich zu benehmen weiß, aber nicht geziert ist,
dazu natürlich und temperamentvoll – eine »frische Waldblume«, wie es im
Roman heißt. Der große, unmittelbar nach Erscheinen des Romans einset-
zende Erfolg verdankt sich vermutlich auch der Schreibweise Rhodens, der
eher verdeckten Leserlenkung bzw. den ausgeprägten Zügen personalen Er-
zählens. Aber auch die Art und Weise, in der Rhoden die soziale Situation der
höheren Tochter in den Hintergrund drängt, nahezu unsichtbar macht,
kommt vermutlich dem Lesepublikum durchaus entgegen. Dabei ist die
Frauenfrage bei genauerer Betrachtung in diesem Roman allgegenwärtig. Sie
begegnet uns in der Thematisierung des ›schrecklichen‹ Lehrerinnen- und
Erzieherinnenschicksals, das den Unverheirateten droht, in der ›Abschreck-
geschichte‹ der sympathischen Erzieherin Güssow, in der Figur der ›hysteri-
schen‹, dichtenden Flora und der ›emanzipierten‹ Orla. Und als Ilse ihrer
Mutter jubelnd mittelt, dass ihre Pensionsfreundin Nellie »keine Gouver-
nante werden« muss, weil sie sich mit dem Lehrer Althoff verlobt hat, sagt
die Mutter: »›Nein, nun hat sie die beste Heimat gefunden!‹« Der Roman
zeigt alles in allem eine so negative Perspektive auf die berufstätige Frau, wie
sie sich in den übrigen Mädchenromanen nicht findet, wie auch immer deren
Erzählhandlungen auf Verlobung oder Heirat der Heldinnen zusteuern mö-
gen. Dieser Umstand sowie die große Popularität von Der Trotzkopf mögen
auch Doris Mix bewogen haben, mit Frau Ilse (1895) einen Roman auf den
Markt zu bringen, in dem Ilse Macket, inzwischen verheiratete Gontreau, als
Anhängerin der bürgerlichen Frauenbewegung auftritt.
Mit Rhodens Der Trotzkopf ist die Pensionsgeschichte zu einer Art Leit- Pensionsgeschichten
genre des Backfischromans geworden. Der Prozess der Herausbildung dieses
Genres setzt um die Mitte des 19. Jh.s ein. Wichtige Wegmarken sind u. a. A.
Steins Lebensbuch für Mädchen von 12 bis 15 Jahren (1851) sowie Liesbeth
(1864) und Luise Gsells Aus dem Institut ins Leben (1861), bis dann in den
1870er Jahren die Pensionsgeschichten auf den Markt kommen, die bereits
weitgehend dem Erzählmodell von Der Trotzkopf entsprechen. Im Zuge des
Erfolgs von Der Trotzkopf kommt es nun bis zum Ersten Weltkrieg zu einer
regelrechten Konjunktur von Pensionsgeschichten. Das mag auch damit zu-
sammenhängen, dass sich die Pension im Erfahrungshorizont vieler Lese-
rinnen befindet. Die Marktbedeutung und offenkundige Attraktivität solcher
Geschichten in dieser Epoche ist aber gewiss nicht allein damit zu erklären,
dass das Pensionsjahr, im Anschluss an die höhere Mädchenschule bzw. nach
der Konfirmation, für einen Teil der höheren Bürgertöchter eine Normalität
war, ebenso wenig, wie sich die Attraktivität von Waisenkind-Geschichten
aus der hohen Anzahl von Waisenkindern ergibt. Es ist vielmehr die litera-
rische Potenz des mit dem Inselmotiv der Robinsonade verwandten Pensi-
onsmotivs, die sich nun in der Mädchenliteratur, wie schematisiert auch im-
mer, entfaltet und diese Erzählungen zu Entwicklungsgeschichten macht.
Denn die Pension ist hier ein aus der Alltagsrealität herausgehobener, zwi-
210 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

schen Kindheit und Erwachsenenleben eingeschobener Übergangsraum, in


dem sich die Verhältnisse neu richten. In der Pensionsgeschichte lassen sich
zwanglos zentrale Aspekte der Übergangskrise verknüpfen: Vater-Mutter-
Tochter-Konflikte, Trennungserfahrung, jugendlicher Narzissmus, Freund-
schaft und Liebe, Anerkennung überindividueller Ordnungen, besonders
auch weiblicher Autorität, grundsätzlich auch die Frage nach der Zukunft.
Interessant in diesem Kontext ist auch, dass seit den 1890er Jahren sogar
solche Verlage Pensionsgeschichten in ihr Programm aufnehmen, die dezi-
diert auch Unterschichten ansprechen. Romane in diesem Genre werden of-
fenbar in dieser Phase zum ›Selbstläufer‹. Aber nicht alle Pensionsgeschichten
sind Liebesromane. Es gibt Ausnahmen wie Mellas Studentenjahr (1893) von
Bernhardine Schulze-Smidt, Das kleine Klosterfräulein (1898) von Johanna
Klemm und Hermine Villingers Mein Klostertagebuch (1905) sowie die Fort-
Hermine Villinger
setzung Simplicitas (1907). Solche Romane lassen sich durchaus als Ge-
genentwürfe zum marktgängigen Backfischroman lesen. Dennoch ist auch
hier die Pensionszeit als Moratorium von großer Bedeutung, denn für die
drei Protagonistinnen der erwähnten Romane zeichnet sich – mehr oder we-
niger deutlich – ab, dass sie einmal Schriftstellerinnen werden. Besonders
weit hat sich Villinger, die im Übrigen schon mit ihren Schulmädchenge-
schichten (1893) einen Kontrapunkt zur marktgängigen Kinder- und Jugend-
literatur setzt, vom mädchenliterarischen Mainstream entfernt. Mein Klos-
tertagebuch handelt von den Jahren, in denen die Schreiberin Hermine in
einem Klosterpensionat lebt, bis sie mit 16 Jahren »erzogen« in die »die
Welt« zurückkehrt. Simplicitas (1907) schreibt die Geschichte fort, in Briefen
an die verheiratete Freundin. Sie erzählen von den »Häutungen« der jungen
Hermine, die nach der Rückkehr aus dem Pensionat ihre Identität zwischen
widersprechenden Zukunftswünschen sucht, bis sie, nach einer unglückli-
chen Liebe, die aus gesellschaftlichen Gründen unerfüllt bleibt, die Entschei-
dung für den Schriftstellerinnenberuf trifft. Die besondere Qualität der bei-
den Briefromane liegt in dem feinen Humor des ›Kinderblicks‹ der Autorin,
in ihrer »Kindskopfigkeit«, wie Hermine selbst sagt. Denn auch Hermine
zeigt ein von der Norm abweichendes, schelmenhaft-burschikoses Verhalten,
das sie in die Nähe der mädchenliterarischen Trotzkopf-Figur bringt. Wäh-
rend aber der Trotzkopf Ilse in der Pension seinen Trotz ablegt, wird in den
Romanen Villingers durch scheinbar naive Komik hindurch sichtbar ge-
macht, wie schwer die Suche nach einem von der Normalität des Frauenle-
bens abweichenden Weg ist, den Hermine letztendlich geht. Eine kleine Szene
vom Anfang des Romans Simplicitas, die davon erzählt, wie Hermine noch
einmal zur Beichte ins Kloster zurückkehrt, mag das illustrieren: »›Mon
père‹, sagte ich, ›es kommt mir leider vor, als hätte ich drei Seelen‹. ›Com-
ment‹, rief er aus, ›das ist ein wenig viel! Was wollen sie denn mit ihren drei
Seelen?‹ ›Die eine‹, gab ich ihm zur Antwort, ›möchte ins Kloster gehen, die
zweite zum Theater und die dritte möchte gern einen netten kleinen Haushalt
haben mit vielen herzigen Kinderchen.‹ / Père Bouger lachte laut auf und
warf sich so heftig in seinen Stuhl zurück, daß es krachte. / Dann sagte er:
›Das Theater streichen wir durchaus; mit dem Kloster – ich habe keine Hoff-
nung; bleibt also das dritte. Ich nehme an, Mademoiselle, daß, wenn Sie hei-
raten, doch selbstverständlich nur ein katholischer Mann in Betracht
kommt?‹ ›Mon père‹, sagte ich, ›wenn ich einen Mann kennen lerne, so weiß
ich doch nicht gleich, ob er katholisch oder protestantisch ist.‹ [...] / Jetzt fing
er wieder an zu lachen und wie toll.«
Was sich am Genre der Pensionsgeschichte zeigt, gilt für die mädchenlite-
rarische Erzählprosa dieser Epoche durchgängig: Es haben sich im 19. Jh. –
Strukturen und Funktionen der mädchenliterarischen Erzählprosa 211

grob vereinfacht gesagt – zwei literarische Typen herausgebildet: Der eine ist Zwei Typen des
dadurch charakterisiert, dass in ihm die Entwicklungsgeschichte der Heldin Mädchenromans
als psychisch schwierige Passage, als Entwicklungsdrama erzählt wird, in
dem die Ablösung von den Eltern, die Umwandlung des ›Geschlechtscharak-
ters‹ der Heldin und der Aufbau neuer Bindungen im Mittelpunkt stehen.
Solche Geschichten sind – wie Der Trotzkopf – in allen Aspekten Liebesge-
schichten oder auch »Herzensgeschichten«, wie die Autorinnen selbst sagen.
Die gesellschaftlichen Dimensionen des zeitgenössischen Töchterlebens wer-
den in ihnen weitgehend verdrängt. Folgt man dem typischen Handlungs-
schema und den expliziten Erziehungstendenzen solcher Texte, dann muss
man allerdings auch sagen, dass diese Geschichten in unzähligen Varianten
von den anziehenden Seiten einer patriarchal strukturierten Gesellschaft er-
zählen, und zwar sogar zunehmend. Daneben gibt es aber auch Lebens- und
Entwicklungsgeschichten, die – in größerer Nähe zum zeitgenössischen Ge-
sellschaftsroman – direkt um die Frauenfrage kreisen. Zwar haben auch sol-
che Geschichten in der Regel die für den Liebesroman übliche Schlussgebung;
Liebe und Ehe werden hier aber – anders als im ersten Typus – selbst zu
einem gesellschaftlichen Thema. Diese eher ›realistische‹ Variante des Mäd-
chenromans, die z. B. auch durch die beiden im 19. Jh. sehr erfolgreichen
Autorinnen Clara Cron und Clementine Helm repräsentiert wird, ist nun
offenbar bereits gegen Ende des Jahrhunderts relativ unattraktiv geworden.
Das Erscheinungsjahr 1885 von Der Trotzkopf lässt sich als Wendemarke
bezeichnen. Insgesamt verstärkt sich in der Mädchenliteratur seither die Ten-
denz zur Enthistorisierung des Geschehens, zur immer blasseren und kli-
scheehaften Zeichnung von Milieus und Figuren, bei gleichzeitiger Zuspit-
zung der Entwicklungsdramatik. Damit korrespondiert eine Tendenz zur
Erotisierung der Heldin als ›Kindfrau‹, die auch aus Bezeichnungen wie
›Trotzkopf‹, ›Tollkopf‹, ›Brausekopf‹, ›Wildfang‹, ›Wildling‹, ›Wildkatze‹,
›wilde Hummel‹, ›Hexe‹, ›Kobold‹ oder ›Irrwisch‹ und aus der Metaphorisie-
rung junger Mädchen als ›frische Blumen‹ ablesbar ist. Mit der Enthistorisie-
rung verstärkt sich gleichzeitig die Tendenz zur Exotisierung des sozialen
Milieus, das nun auch häufiger ein Adelsmilieu oder ein adelsnahes Milieu
ist. Manchmal wird die Heldin auch in eine fast exotische Ferne gerückt, wie
in Marie Beegs Otholie, das Polenmädchen (1896), ein Roman, der von
einem »wilden Mädchen« aus dem polnischen Adel erzählt, das »unter den
Händen eines allzu nachsichtigen Vaters wie ein wildes Unkräutlein empor-
wuchs«, bis es sich zur »lieblichen Jungfrau« wandelt.
Ein fast durchgängiges Strukturelement dieser Liebesromane ist die Ideali- Liebesromane
sierung von Liebe und Ehe im Sinne eines emotional hoch positiv besetzten
Vater-Tochter-Verhältnisses. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass
viele dieser Texte überhaupt durch den Vater-Tochter-Plot strukturiert wer-
den, dass auch in der Ablösungsgeschichte der Protagonistin der Vater das
emotionale Zentrum bildet. Es lässt in diesem Kontext sogar von einer ›Spra-
che der Liebe‹ sprechen, die sich in der Mädchenliteratur ausgeprägt hat.
»›O, Papa‹, heißt es in Trudchens Tagebuch (1889) von Stöckert, als der Va-
ter wieder heiraten will, ›Bin ich denn nicht dein alles? Habe ich nicht allei-
nige Rechte an deine Liebe!‹« Und weiter: »›O, Gott, nur keine Stiefmutter,
ich kann mich in Papas Liebe mit keiner zweiten Frau teilen.‹« »Ich mag
nicht teilen«, sagt auch die Heldin von Kochs Evchen der Eigensinn (1911)
in derselben Situation. Lilli, die Protagonistin in F. Schanz’ Feuerlilie (1901),
hat das Wort ›Vater‹ »vor jeden Satz gestellt«, »als könne sich ihr Mund gar
nicht genugtun in der Wiederholung des geliebten Klangs«. Und für die Frie-
del, die Heldin in Kochs Bestseller Papas Junge (1905), ist zunächst klar: Frida Schanz
212 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Henny Koch: Papas


Junge. Eine Erzählung
für junge Mädchen.
Buchdeckel-Vignette.
22. Aufl. Stuttgart
[um 1910]

»›Ich brauch keinen Mann. Ich bin Papas Junge, das weißt Du ja, und ich
bleib’s auch, immer und ewig.‹« Überhaupt ist Koch besonders versiert im
Umgang mit dem Trotzkopf-Modell und allen möglichen backfischbuchty-
pischen Motiven und Situationen, die sie teils auch erfrischend ins Komische
wendet. In ihren Romanen wird aber nicht nur die Sentimentalisierung der
Vater-Tochter-Liebe weiter getrieben als in allen Romanen zuvor; hier wird
auch besonders deutlich, wie wichtig für die Väter die Jungenhaftigkeit ihrer
Töchter sein kann, wie sehr sie es oft sind, die die Ablösung der Töchter er-
schweren. In Papas Junge hilft nicht der übliche Weg der Tochter in die
Fremde, um das enge Verhältnis aufzulösen. Erst eine lebensgefährliche Situ-
ation, ein drohender Absturz in den Bergen, lässt Friedel in die Arme eines
anderen Mannes übergleiten. Am Ende steht Friedels Vater »vor Erstaunen
einen Augenblick der Atem still und der Mund offen«, als er erfährt, dass
Papas Junge sich mit Herrn von Rödern verlobt hat. In Kochs Evchen der
Eigensinn ist die Loslösung vom Vater noch schwerer, weil der Vater wieder
geheiratet hat und Eva aus Eifersucht schwer krank wird. Es gibt aber auch
Strukturen und Funktionen der mädchenliterarischen Erzählprosa 213

einige wenige Texte, die sichtbar machen, wie sehr die unauflösbar schei-
nende, jede andere Beziehung ausschließende Vater-Tochter-Bindung auf ei-
nen krank machenden Gesellschaftszustand verweist. Solche Texte gehören Anfänge einer
in die Nähe einer modernen Adoleszenzprosa, wie sie sich im allgemeinlitera- Adoleszenzprosa
rischen Feld etwa mit Lou Andreas-Salomés Novellen Im Zwischenland
(1902) oder ihrem Roman Ruth (1895) zeitgleich herausbildet. Sie lassen
sich aber auch vor dem Hintergrund solcher ›Novellen‹ einer weiblichen Ju-
gend lesen, wie sie im Rahmen der zeitgenössischen Theorie und Praxis der
frühen Psychoanalyse gedichtet wurden, nämlich der ›Krankengeschichten‹
junger Mädchen, die Sigmund Freud und Josef Breuer unter dem Titel Stu-
dien über Hysterie im Jahre 1895 herausbringen.
Mädchenliterarische Novellen können sogar Gegenlesarten anbieten. Das
gilt für einige der Texte von F. Schanz, einer der erfolgreichsten Kinder- und
Mädchenbuchautorinnen des frühen 20. Jh.s. Ihr Roman Feuerlilie, aber
auch einige Texte ihrer Novellensammlungen Mit sechzehn Jahren (1891),
Junges Blut (1894), Maiwuchs (1899) und Morgenrot (1902) thematisieren
die krank machende Vater-Tochter-Liebe. Ein spezifisch autobiographischer
Hintergrund – eine unbefriedigte Vatersehnsucht, von der sie in ihrer Auto-
biographie Fridel (1920) erzählt – mag zur Schärfung dieser Perspektive
beigetragen haben. In ihrer Novelle Erste Liebe (1894) erzählt sie von dem
Trotzkopf Ada, einem »langgeschossenen, zum Erbarmen hageren und ecki-
gen Backfisch«, dem die unbändige Liebe zu ihrem Vater selbst eine Qual ist.
Kein Pensionsaufenthalt hilft mehr, um aus dem wilden Mädchen eine Braut
zu machen, denn nun wird sie krank, in blinder, schwärmerischer Liebe zu
einem Literaturlehrer, der ihre Zuneigung nur als Belästigung empfindet. Al-
lerdings gibt es auch hier letztlich wieder den für die Mädchenliteratur ty-
pischen Ausgang. In Gustas Kur wird die übliche Schlussgebung erstmals
aufgebrochen. Die Novelle erzählt, wie Gusta, die mit ihrem ›weichherzigen‹
Vater zusammenlebt, nach einem Gliederrheumatismus bis zur Unbeweglich-
keit krank wird, was zur Folge hat, dass Vater und Tochter noch enger als
schon zuvor zusammengeschweißt sind. Erst eine radikale ›Trennungskur‹,
als ›letzter Versuch‹ vom Arzt verordnet, bringt Hilfe, und zwar nicht, wie
üblich, durch einen Mann, sondern durch ihre Kurbegleiterin, ein junges
Mädchen, das sich – gleichsam als Therapeutin – intensiv auf die Geschichte
Gustas einlässt. Wenngleich die Tendenz der Autorin zu Sentiment und teils
ausschweifendem Erzählen dem Stoff dieser Novelle viel an literarischer Po-
tenz nimmt: Schanz erzählt mit Gustas Kur eine Pubertätsgeschichte, die den
üblichen Zirkel durchbricht und zudem erkennen lässt, dass in jeder Ge-
schichte einer nicht auflösbaren Vater-Tochter-Liebe auch die Geschichte der
fehlenden Mutter miterzählt wird. Ein Blickwechsel auf die Mutter-Tochter-
Beziehung lässt sich auch in einigen anderen kürzeren Prosatexten finden,
die von Liebe erzählen. Helene Böhlaus ›türkische Novelette‹ Ferdös entwirft
in einer Momentaufnahme das Bild einer vertrauten und verlässlichen Bezie-
hung zwischen Mutter und Tochter: Der Text, der in Bertha von Suttners
Anthologie Frühlingszeit (1896) veröffentlicht wurde, erzählt von einem
Moment des Wartens der jungen Ferdös, in dem Kindheitserinnerungen und
erotische Wünsche zusammenfließen. Denn die Mutter ist unterwegs zu
einem jungen Mann, mit dem Ferdös bis zu ihrer Verschleierung vor einigen
Jahren gespielt, den sie nie wieder gesehen hat – bis vor einigen Tagen, wo sie
sich zufällig wiederbegegnet sind und erkannt haben. Seitdem hat sie »ange-
fangen sich zu verzehren, wie die Flamme das Licht«. Und die Mutter holt
nun Antwort für die Tochter. Wieder anders, vielfältig und literarisch innova- Helene Böhlau
tiv perspektiviert Elsa Asenijeff das Thema Liebe in Unschuld. Ein modernes (al Raschid Bey)
214 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Mädchenbuch (1901), das sie denjenigen Mädchen widmet, denen »die Frage
an das Schicksal sich einkrallt«. Unbeantwortete Fragen werden aufgewor-
fen, und bisweilen wird in einem einzigen, schrecklichen Moment Wirklich-
keit entschleiert: »Warum sagt man uns nichts vom Leben«, fragt Helene, die
völlig unaufgeklärt an der Geburt des unehelichen Kindes einer Nachbarin
und an deren elenden Tod teilnimmt. In anderen ›Geschichten‹ entdecken
Mädchen plötzlich, was sie immer schon als Kinder dumpf geahnt haben,
nämlich eheliches Unglück und doppelte Moral. In Ehe sieht Maria im
Wohnzimmerspiegel, wie der Vater mit dem Stubenmädchen schäkert. Und
sie fühlt »Mamas gefolterten Blick« auf sich gerichtet: »Hat meine Tochter
gesehen?« Da blickt »sie in schamhaftem Mitleid auf die Tischdecke«. Aseni-
jeffs Buch ist randständig in der Mädchenliteratur und im Grunde eine Pro-
vokation. Auf dem Mädchenbuchmarkt kann es nicht Fuß fassen.
Lebensgeschichten Neben der großen Masse an Liebesgeschichten und den wenigen Texten,
die bereits Züge einer modernen Adoleszenzprosa zeigen, gibt es ein breiteres
Spektrum solcher Lebensgeschichten, in denen extensiv und intensiv von
dem Versuch junger Mädchen erzählt wird, ins Berufsleben einzutreten. Das
ganze Feld der damaligen Frauenberufe für höhere Töchter rückt hier ins
Zentrum: der Beruf der Lehrerin (auch der Musik- und Zeichenlehrerin), der
Erzieherin, der Gesellschafterin, des Kindermädchens, der Diakonisse oder
Nonne, aber auch der Künstlerin (Schriftstellerin, Musikerin, Malerin); sogar
um neuere Frauenberufe kann es gehen. So erzählt Morgenstern in Die Plau-
derstunden (1874) bereits die Geschichte einer jungen Fotografin. In Clé-
ments Die Heimchen (1906) geht es um die Berufsausbildung zur Fotografin
im berühmten Lettestift in Berlin. In Verwaist (1880) von F. Brunold, einem
der wenigen männlichen Autoren im Feld der Mädchenliteratur, erlernt die
Protagonistin sogar mit Erfolg das Bankwesen und in Mädchenfreundschaft
(1882) die Schriftsetzerei. Die Heldin in Augustis Unter Palmen (1893) ist
sogar Missionarin. Kurz vor der Jahrhundertwende schließlich erscheinen
mit Vor Tagesanbruch (1896) von S. Stein und Fräulein Doktor (1897) von
Marie Mancke bereits die ersten Studentinnen- bzw. Ärztinnenromane, die
nun – anders als Spyri in ihrem Roman Sina (1884) und selbst noch Ury in
Studierte Mädel (1906) – Studium und Beruf als Ärztin nicht nur positiv
sehen, sondern ihre Heldinnen auch berufstätig werden lassen. In Regina
Himmelschütz (1913) von Helene Raff geht es um eine Bauerntochter. Und
im weitesten Sinne gehört auch Adelheid Popps autobiographische Lebens-
geschichte einer Arbeiterin (1909) in diesen Kontext. In ihr wird erzählt, wie
sich Popp, später eine führende Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin Ös-
terreichs, aus ihrem Elend als Proletariermädchen herausringt. Dieser Text,
der zunächst anonym, mit einem Vorwort von August Bebel versehen heraus-
kommt, ist zwar keine Mädchenliteratur, – eine solche Literatur kann es im
Rahmen der sozialdemokratischen Literaturpolitik jener Zeit gar nicht ge-
Helene Raff
ben –, aber doch für Frauen, und damit auch für junge Arbeiterinnen, als
Lektüre gedacht. Die große Anzahl und das breit ausdifferenzierte Spektrum
von Lebensgeschichten, in denen es um Berufsfindung und überhaupt um
eine offenere Zukunftsorientierung geht, verweisen darauf, dass ein großer
Teil der Autorinnen sich hinter – freilich unterschiedliche – Positionen der
Frauenbewegung gestellt hat. Tatsächlich haben einige der Schriftstellerinnen
auch aktiv in der Frauenbewegung mitgearbeitet, wie beispielsweise Marie
Calm, Hedwig Dransfeld, Emma Laddey, Lina Morgenstern, Adelheid Popp
und Helene Raff. Calm ist sogar Mitbegründerin des Vereins deutscher Leh-
rerinnen und gehört zu dessen radikaldemokratischem Flügel. Dransfeld
wiederum, die längere Zeit Lehrerin bei den Ursulinen gewesen war, wird
Strukturen und Funktionen der mädchenliterarischen Erzählprosa 215

später zu einer Führerin der katholischen Frauenbewegung. Sie ist eine


Hauptautorin in der vom Bachem-Verlag begründeten Mädchenbuchreihe
Bachems illustrierte Erzählungen für Mädchen, die in Bezug auf die Zu-
kunftsorientierung katholischer Mädchen aus bürgerlichem Milieu ein spezi-
fisches Profil entwickelt. Auch andere Autorinnen sympathisieren explizit
mit Ideen der Frauenbewegung. So erscheint in F. Schanz’ Die Gymnasiastin
Helene Lange, als Begründerin der Berliner Gymnasialkurse für Mädchen, in
positiver Beleuchtung.
Solche Lebensgeschichten, die sich allerdings nicht derselben Beliebtheit
erfreuen wie Liebesgeschichten, die die Frauenfrage möglichst weitgehend
verdrängen, haben in der Mädchenliteratur eine lange Tradition, die sich bis
auf den biedermeierlichen Realismus A. Steins, aber auch auf eher moralisch-
religiös grundierte Texte von Wildermuth, Gumpert und besonders von Ma-
rie Nathusius zurückführen lassen, deren Gouvernanten-Roman Tagebuch
eines armen Fräuleins (1852) sich in dieser Epoche immer noch gut auf dem
Mädchenbuchmarkt behauptet. Seit den 1860er Jahren wird dann Clara
Cron, die etwa 30, anfangs teils an Frauen mitadressierte Mädchenromane
verfasst hat, zu einer erfolgreichen Repräsentantin dieser literarischen Strö-
mung. Es gehe darum, schreibt sie in Mädchenleben (1861) programmatisch,
das Leben »so zu schildern, wie wir es täglich sehen und miterleben«. Der
Fortsetzungsband, Magdalenen’s Briefe (1862), vermutlich der erste deutsch- »Magdalenen’s Briefe«
sprachige Lehrerinnen-Roman, fokussiert sehr detailgenau und auch mit ge-
sellschaftlicher Perspektive die soziale Situation der höheren Tochter, für die
eine standesgemäße Heirat aussichtslos ist. Magdalene ist die älteste Tochter
in einer unbemittelten Gymnasiallehrerfamilie. Sie wäre lieber Dichterin als
Lehrerin geworden. Der Vater selbst weist die Tochter aber früh auf die Not-
wendigkeit des Gelderwerbs hin. »Meine Kindheit«, schreibt sie an die in
glücklicheren Umständen aufgewachsene Freundin, »mein ganzes bisheriges
Leben bis auf die kurze Zeit mit dir in der Pension war ernst, sogar trübe; die
Sorgen meiner Eltern belasteten frühzeitig meinen Geist«. In den Lehre-
rinnen-Romanen der nächsten Jahrzehnte wird auch die harte Konkurrenzsi-
tuation beleuchtet, die Lehrerinnen zwingt, Deutschland zu verlassen und in
England oder Frankreich den ›Kampf ums Dasein‹ aufzunehmen, wie in Hal-
dens In Heimat und Fremde (1897) oder in Cléments Seine kleine Frau
(1894) und Trauts Sonnenjahre (1918). Calm erzählt in Echter Adel (1883)
von einer jungen Musiklehrerin, die ihren Lebensunterhalt mit Privatstunden
verdient, und vergegenwärtigt in einer eindrücklichen Szene, wie schwer es
ist, die Bezahlung aus der Hand der ›Gönner‹ (hier: eines kleinen Jungen)
entgegenzunehmen. Dass die meisten dieser Romane mit einer Heirat der
Protagonistin enden, muss den Leserinnen vor dem Hintergrund solcher
durchaus realistischer Zeichnungen des damaligen Lehrerinnenberufs, den
die Autorinnen meist aus eigener Erfahrung gut kennen, letztlich wie eine
Erlösung erschienen sein. Auch Crons Magdalene heiratet schließlich im
dritten Band der Trilogie, Die Schwestern (1864), einem Roman, der vorgeb-
lich auf Nachfrage der Leserinnen entstand. Überhaupt lässt sich Cron, ver-
mutlich befördert durch ein entsprechendes Verlagsinteresse, in den beiden
folgenden Jahrzehnten zunehmend in den Sog des Marktes hineinziehen. Die
Darstellung sozialer Problematiken schwächt sich ab. Ihre letzten Romane
Im Hause des Herrn Geheimrat (1888), Die Auserwählte (1890) und Erwa-
chen und Erblühen (1891) lassen sich von den marktgängigen Liebesroma-
nen nicht mehr unterscheiden.
Die Texte, die von der Berufsfindung von Mädchen erzählen, ermöglichen
ausgesprochen interessante Blicke in das Töchterleben der Zeit. Sie sind auch
216 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Anfänge einer reich an eindrücklichen Einzelszenen. Als ganze Texte sind sie wenig über-
emanzipatorischen zeugend oder gar innovativ. Unter den Romanen ist immerhin Steins Studen-
Mädchenliteratur tinnenroman Vor Tagesanbruch hervorzuheben, der den mädchenbuchty-
pischen Plot aufbricht: Die Protagonistin Elisabeth kehrt, nach einer harten
Zeit der Vorbereitung auf das Studium und nach Jahren des Studiums in
Zürich, promoviert nach Deutschland zurück, um in der Landarztpraxis des
Vaters mitzuarbeiten. Nach dessen Tod muss sie Deutschland erneut in Rich-
tung Schweiz verlassen, weil es in Deutschland für sie als Frau keine Appro-
bation gibt. Der Roman endet mit einer bewegenden Bahnhofsszene, in
der die Heimatlosigkeit der akademisch gebildeten Frau im Deutschland je-
ner Zeit – ganz ähnlich wie in Frapans Wir Frauen haben kein Vaterland
(1899) – sichtbar gemacht wird. Der Roman hat seinerzeit eine vernichtende,
in der Jugendschriften-Warte veröffentlichte Kritik provoziert, und zwar von
Goerth, dem aggressivsten Gegner von Backfischromanen, den nun aber
nicht etwa eine ›sinnliche Tendenz‹ des Romans ärgert, sondern dass Elisa-
beth einem von ihr »hochgeachtete[n] wackere[n] junge[n] Arzt«, der sich
»um ihre Hand bewirbt«, das Ja-Wort verweigert, weil sie sich nur mit einem
»Regina Mann verheiraten will, wenn sie ihn liebt. Auch in Raffs Regina Himmel-
Himmelschütz« schütz, einem Roman, der die Frauenfrage, gemessen an der übrigen Mäd-
chenliteratur, in äußerster Verfremdung aufnimmt, ist die Heimatlosigkeit
der Frau ein zentrales Thema. Die Handlung ist zurückverlegt in die Zeit des
Norddeutschen Bundes und des deutsch-französischen Kriegs. Zudem ist
Regina keine Bürger-, sondern eine Bauerntochter. Nicht nur im Sujet, auch
in der Erzählweise steht das Buch in der Tradition von Dorfgeschichte und
Heimatroman. Alles in allem scheint es also auf den ersten Blick keine Be-
rührungspunkte mit dem typischen Mädchenroman zu geben. Es wird eine
Geschichte erzählt, die sich geradezu wie ein Gegentext zum Backfischroman
liest. Denn auch Regina ist eine Art Trotzkopf, »eine, die ihren Kopf für sich
hat«. Aber sie wird nicht verwöhnt von ihrem Vater, sondern misshandelt
und missachtet, weil ein schwaches Mädchen auf einem Bauernhof nicht ge-
braucht werden kann. Schon als sie geboren wird, tobt und wettert der Vater,
»was er mit dem letscheten Fratz anfangen sollte? Er wollte nur Buben ha-
ben; ein Mädel, schalt er, sei soviel wie nichts. Darum ging er ins Wirtshaus
und trank sich einen Rausch vor lauter Verdruß. Erst der demütige Hinweis
der Bäuerin, daß mit dem Töchterl späterhin eine Dienstdirn erspart sei, be-
sänftigte ihn etwas.« Und so geht es in dieser Geschichte des Erwachsenwer-
dens für Regina um die Überwindung des Schuldgefühls, ›nur eine Tochter‹,
›nur ein Mädchen‹ zu sein. Die Erzählung verfolgt Reginas Weg über lange
Jahre der ›Wanderschaft‹, als Dienstmagd, als Haustochter und als ungeliebte
Schwiegertochter, bis endlich die Auflösung des Knotens gelingt und Liebe
über Hass siegt. In der Jugendschriften-Warte wird der Roman mit Recht als
Ausnahmetext im Feld der Mädchenromane gelobt. Dennoch bleibt er auf
dem Markt relativ erfolglos. Böhlaus literarisch herausragende Rathsmädel-
geschichten (1888) schließlich, auch ein Text, der den Mädchen von Vertre-
tern der Jugendschriftenbewegung zur Lektüre empfohlen wird, sind zwar
ausgesprochen erfolgreich, haben aber zu keiner Zeit eine spezifisch mäd-
chen- oder jugendliterarische Adressierung. In den launig-witzigen Ge-
schichten, die von dem wilden Geschwisterpaar Röse und Marie erzählen,
die im Weimar der Goethezeit aufwachsen, will die Autorin auch der eigenen
Zeit, der gegenwärtigen Jugend einen Spiegel vorhalten. »Wie bedrückt und
unfrei«, so die Erzählerin, ist die »Jugend in unseren Tagen«: »O du arme
heutige Jugend! Ahntest Du, welchen Reichthum ›Jugend‹ im Anfang unseres
Jahrhunderts umschloß, welchen Ueberschwall von Leben! Du könntest
Nur marginal: Lebensgeschichten mit männlichen Protagonisten 217

Dich bitter beklagen, gekränkt und betrogen würdest Du Dir erscheinen, von
Anfang an gealtert [...].« Mit dieser Erzählintention fügen sich die Rathmä-
delgeschichten wohl kaum in den zeitgenössischen mädchenliterarischen
Markt ein.

Nur marginal: Lebensgeschichten


mit männlichen Protagonisten

Jugendliterarische Lebensgeschichten, gar Liebesgeschichten, gelten in dieser


Epoche als ›weibliche Genres‹. Entsprechende Texte mit männlichen Prota-
gonisten sind äußerst selten und finden sich vornehmlich im Bereich der an
›Jugend und Volk‹ adressierten Literatur. Zu solchen Ausnahmetexten gehört
auch die im sozialdemokratischen Dietz-Verlag erschienene Erzählung Gerd
Wullenweber (1915) von Jürgen Brand: die traurige Geschichte eines be-
gabten Sohns aus einer Heidebauernfamilie, den der Lehrer für die Ziele der
Arbeiterbewegung entflammt hat und der durch einen Betriebsunfall in einer
Hannoverschen Gießerei-Fabrik stirbt, in der er gerade mit der Lehre begon-
nen hatte. Im Übrigen sind bereits seit der Jahrhundertmitte besonders Wai- Auswanderer- und
sen-, Auswanderer- und Aufstiegsgeschichten beliebt. Schon früh rückt Aufstiegsgeschichten
Amerika als Auswanderungsland in den Blick einer Reihe von Erzählungen,
wie z. B. in Richard Barons Der deutsche Knabe in Amerika (1851). Aus-
nahmsweise wird auch – anders als in dieser Erzähltradition üblich – die
Großstadt als Erfahrungs- und Entwicklungsraum positiv beleuchtet, wie in
Johannes Bonnets Der Einarm oder Der Zeitungsjunge von Hamburg (1883),
eine Erzählung, die bereits auf den Plot des berühmt gewordenen, mit vielen
abenteuerlichen Zügen durchsetzten Aufstiegsromans John Workmann, der
Zeitungsjunge (1909) von Kurt Matull und Hans Dominik vorausweist, in
dem die Geschichte eines anfangs zwölfjährigen Zeitungsboys erzählt wird,
der sich vorgenommen hat, Millionär zu werden. Als Entwicklungs- und
Bildungsroman forterzählt wird die Geschichte Johns allerdings erst in der
Weimarer Republik, im Rahmen einer von Dominik herausgebrachten Tetra-
logie, mit den weiteren Bänden Wanderjahre im Westen (1921), Neue Wun-
der der Großindustrie (1921) und Lehr- und Meisterjahre im Süden (1925).
Auch Friedrich Brunolds Willy, der Dampfermaschinist (1880), ein Roman,
der offenkundig ein bürgerliches Lesepublikum ansprechen will, lässt sich als
Amerika-Roman bezeichnen. Diese Aufstiegsgeschichte erzählt von »einem
braven, deutschen Knaben aus dem ärmeren Mittelstande«, so die Verlags-
werbung, der zunächst Schlosser und Schmied, dann Dampfermaschinist ist,
nach New York geht und – durch viel Arbeit, durch »Demüthigungen, Zu-
rücksetzungen und Kränkungen« hindurch – zum erfolgreichen Ingenieur
wird und am Ende, wohlhabend geworden, nach Deutschland zurückkehrt.
Auch eine mögliche Heirat – als amerikanisch-deutsche Allianz – zeichnet
sich schließlich am Horizont ab. Alle diese Texte zeigen eine Nähe zu David
Copperfield (1849/50) von Charles Dickens, einem Roman, der in dieser
Epoche – ähnlich wie Oliver Twist (1838/39) – in einer Reihe von Ausgaben,
speziell an Jugendliche adressiert, auf den deutschsprachigen Markt kommt.
Neben diesem Typ der Entwicklungsgeschichte gibt es auch einige wenige
Schul- und Schülergeschichten mit männlichen Protagonisten. Hierzu gehö-
ren Billers Heinz der Lateiner (1884) und insbesondere Edmondo di Amicis
218 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Bestseller Cuore (1886), neben Pinocchio seinerzeit das beliebteste italie-


nische Kinder- bzw. Jugendbuch, das 1906 bereits 350 Auflagen erreicht hat
und schon 1889 unter dem Titel Herz auch in deutscher Sprache heraus-
kommt. Bemerkenswert ist auch Roseggers Institutsgeschichte Lex von
Gutenhag aus dessen Erzählungssammlung Aus dem Walde (1873). Denn
sie fügt sich sehr genau in den Kontext der mädchenliterarischen Pensions-
geschichten ein. Erzählt wird, wie der 15-jährige Alex, Sohn eines angese-
henen Bauern, in ein modernes landwirtschaftliches Institut kommt und sich
dort – nach einer Zeit des Heimwehs – aus einem hinterwäldlerischen Jungen
in einen lebensfrohen Jüngling wandelt. In diese Geschichte ist ursprünglich
sogar eine Liebeshandlung mit der typischen Schlussgebung eingewoben, die
allerdings für eine spätere Jugendbuchfassung fast völlig getilgt wird. Gegen
Ende des Jahrhunderts entsteht zudem eine Gymnasiastenliteratur, mit Tex-
Gymnasiastenliteratur ten wie Lustige Gymnasial-Geschichten (1900) und Aus Tertia und Sekunda
(1909) von Theodor Berthold. Berthold erzählt durchaus variantenreich und
flexibel, bisweilen im launigen Ton. Manchmal kommen auch die »kleinen
Leiden und Schmerzen« der Jugendzeit zur Sprache, von denen »[n]amentlich
der Knabe« viel zu erzählen hätte; das Leiden von Jungen unter der eigenen
körperlichen Schwäche oder Schulleistungsschwäche klingt an. Bedenkt man
aber, dass sich zeitgleich, außerhalb der spezifischen Jugendliteratur, mit
Texten wie Freund Hein (1902) von Strauß, Die Turnstunde (1902) von
Rilke, Unterm Rad (1906) von Hesse und Die Verwirrungen des Zöglings
Törleß (1906) von Musil bereits eine Adoleszenzprosa herausgebildet hat, in
der eindrücklich und mit analytischer Schärfe und Konsequenz von autori-
tären Verhältnissen in Familie und Schule sowie von pubertären Krisen er-
zählt wird, dann lässt sich vermuten, wie sehr diese Gymnasiastenliteratur
mit ihrer humorig-komischen Verkleinerung der Schülerleiden gerade die
Funktion hat, zur Verdrängung dieser Situation beizutragen.

Reise- und Abenteuerromane –


vornehmlich für die ›männliche Jugend‹

Die ›eigentliche‹ Jungenliteratur dieser Epoche sind exotische Reise- und


Abenteuerromane. Solche Romane waren schon in der ersten Hälfte des
19. Jh.s und nach der gescheiterten Revolution von 1848 bei erwachsenen
Lesern ausgesprochen beliebt. Insbesondere die Lederstrumpf-Erzählungen
(1823–41) von James Fenimore Cooper, die Amerika-Erzählungen von Char-
les Sealsfield sowie die Abenteuerromane Friedrich Gerstäckers hatten ein
großes bürgerliches Lesepublikum gefunden. Denn die Autoren boten den
Lesern, die zwischen Demokratisierungshoffnungen und Modernisierungs-
ängsten, Druck unter beschränkender Enge und Bedürfnis nach Sicherheit
hin- und hergerissen waren, literarische Bilder, die einerseits Aufbruchswün-
sche beflügeln und die andererseits beruhigen konnten. Das gilt besonders
für Coopers historische Abenteuererzählungen mit ihrer Idealisierung des
Grenzraums zwischen Wildnis und Zivilisation sowie der Figur eines Gren-
zers, der letztlich Ideale des Bürgertums verkörpert. Auch in die spezifische
Jugendliteratur hatte das Abenteuer-Modell schon Eingang gefunden. Theo-
dor Dielitz’ Land- und Seebilder (1841–50) v.a., eine Kompilation und Bear-
beitung von Texten deutschsprachiger und ausländischer Autoren, zeigen
Reise- und Abenteuerromane – vornehmlich für die ›männliche Jugend‹ 219

deutlich das für die Gattung ›Abenteuerroman‹ charakteristische aktionsbe-


tonte Erzählen und damit auch die Loslösung vom Erzählmodell einer mehr
am Faktischen orientierten Reiseerzählung, wie sie schon Campe in die Ju-
gendliteratur eingeführt hatte. Philipp Körbers Wilhelm Isbrands (1850) und
andere Texte seiner Unterhaltenden Jugendbibliothek wiederum konturieren
die für den jugendliterarischen Abenteuerroman typische Heldenfigur: einen
in seinen Anlagen eher durchschnittlichen, an Mut, Durchhaltevermögen
und in der Überwindung von Schwächen aber letztlich starken Jüngling.
Dennoch: Zu einer Hochkonjunktur jugendliterarischer Abenteuerromane Konjunktur
kommt es erst im letzten Drittel des 19. Jh.s. Sie manifestiert sich zum einen
darin, dass nun Kolportageverlage entsprechende Heftchen-Serien oder Bil-
ligroman-Reihen aufbauen, die an Jugend und Volk, aber auch ausschließlich
an die Jugend adressiert sind und die in einer Art »Situationsmontage«
(Steinlein) Extremsituation an Extremsituation reihen wie die Neue Jugend-
bibliothek im Bagel-Verlag und die Indianer- und Volksbibliothek des Wei-
chert-Verlags, der mit Major von Krusows Jack, die Bärenklaue (1897) einen
Text herausbringt, der immerhin noch bis 1964 auf dem Markt nachweisbar
ist. Gleichzeitig beginnen ›bürgerliche‹ Jugendbuchverlage wie Hirt & Sohn,
Köhler, Union, Velhagen & Klasing und Weise dezidiert an die Jugend adres-
sierte Abenteuerliteratur-Programme zu entwickeln und ›Hausautoren‹ wie
Bernstorff, Falkenhorst, May, Pajeken, Wörishöffer, Treller und Zobeltitz
aufzubauen. Nicht zuletzt manifestiert sich diese Tendenz aber auch in der
fast unübersehbaren Masse an jugendliterarischen Adaptionen ›klassischer‹
Abenteuerliteratur, wozu im Bereich der Jugendliteratur nach wie vor Defoes
Robinson Crusoe (1719) gehört. Hier sind zwei Stränge zu unterscheiden,
einmal die unterrichtliche, auf Campes Robinson der Jüngere (1779/80) zu-
rückführende Adaption im Rahmen der Herbartianischen Pädagogik, in de-
ren Kontext auch Gustav Gräbners Robinson Crusoe gehört, der von 1865 »Robinson« und
bis 1918 vierzig Auflagen erlebte, und auf der anderen Seite für die Eigenlek- »Lederstrumpf«
türe gedachte Adaptionen, die nun in zahlreichen Jugendbuchverlagen er-
scheinen. Auch auf den neuen jugendliterarischen Abenteuerroman wirkt das
Robinson-Modell ein, denn nicht nur die Grundmotivik (Ausbruch aus dem
Elternhaus, Schifffahrt, Schiffbruch, Strandung, Inselleben, Heimkehr), son-
dern auch die Konzeption eines mittelmäßigen Helden wie Robinson eignen
sich zur pädagogischen Überformung der Abenteuerhandlung, wie sie von
bürgerlichen Verlagen offenkundig angestrebt wird. Ebenso zahlreich sind
jugendliterarische Bearbeitungen von Coopers Lederstrumpf-Erzählungen,
die auch in den an Cooper anschließenden Indianer- und Wildwestromanen
letztlich immer mitzitiert sind. Aber selbst Autoren von Kolonialromanen,
›Negerromanen‹ oder ›Afrikaromanen‹, wie die Zeitgenossen sagen, setzen
auf die Strahlkraft dieser Figur, wie Falkenhorsts Titel Der Afrikanische Le-
derstrumpf (1888/89) zeigt. Neben den Lederstrumpf-Erzählungen werden
aber auch Indianergeschichten wie Gabriel Ferrys Le coureur des bois (1850,
dt. Der Wandläufer) und Gustave Aimards Le chercheur des Pistes (1858, dt.
Der Fährtensucher) vielfach für Jugendliche bearbeitet. Damit werden auch
solche Texte verbreitet, denen die idealisierenden und poetisierenden Ten-
denzen der frühen Abenteuerliteratur fehlen, die vielmehr auf spannende,
auch reißerische Handlung setzen und der Darstellung von Grausamkeiten
einen größeren Raum geben. Göhring, ein Verehrer Coopers und guter Ken-
ner der Abenteuerliteratur, nennt diese Literatur in seinen 1890 –1892 veröf-
fentlichten Beiträgen zur Abenteuerliteratur eine »Piff-paff-puff-Literatur«,
in der das »Niederschießen der Rothäute« ein »Sonntagsvergnügen« gewor-
den sei. Auch Jules Vernes riesiges Romanwerk aus technisch-utopischen
220 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Reiseberichten, Reise-Abenteuerromanen und Robinsonaden, allen voran


De la terre à la lune (1863) (Reise nach dem Mond), Autour de la lune (1869,
dt. Reise um den Mond), Vingt milles lieues sous les mers (1870, dt. 20000
Meilen unter’m Meer) und Le tour de monde en quatrevingt jours (1873, dt.
Reise um die Erde in 80 Tagen), kommt seit den 1870er Jahren nicht nur in
komfortablen Gesamtausgaben von schließlich fast 100 Bänden (Hartleben
in Wien), sondern auch in zahlreichen Bearbeitungen einzelner Titel für die
Jugend heraus. Freilich können die Textverstümmelungen dabei extrem sein,
bis hin zu einer Ausgabe der Reise um die Erde von lediglich 72 Seiten im
Großdruck (gegenüber 541 Seiten bei Hartleben).
Bis zum frühen 20. Jh. gibt es dagegen noch kaum Spuren einer spezifisch
jugendliterarischen Adaption von Robert Louis Stevensons Treasure Island
(1883) (Die Schatzinsel) sowie der Abenteuerromane Charles Sealsfields,
Friedrich Gerstäckers und Balduin Möllhausens. Das bedeutet allerdings
keineswegs, dass Jugendliche diese Romane nicht gelesen haben. Die Abgren-
zung von Jugend- und Allgemeinliteratur bietet gerade im Feld der Abenteu-
erliteratur, die von einem sehr breiten Publikum gelesen wird, die größten
Probleme. Die von Dietrich Theden, einem guten Kenner von Jugendliteratur,
bearbeiteten und auf dem Markt erfolgreichen Ausgaben von Werken Gerst-
äckers und Möllhausens unterscheiden sich in der Umschlaggestaltung nicht
von Jugendbüchern ›bürgerlicher‹ Verlage und kommen auch in speziellen
›Volks- und Familienausgaben‹ heraus.
Leserschaft Die jugendliterarischen Abenteuerromane werden im Untertitel meist an
die ›Jugend‹ oder an die ›erwachsene Jugend‹, seltener dagegen an die ›männ-
liche Jugend‹ adressiert. Die Erscheinungsorte wie Der gute Kamerad und
Das neue Universum, spezielle Ausführungen in der Verlagswerbung, Rezen-
sionen und Empfehlungslisten sowie die zeitgenössischen Lesesuchtdebatten
zeigen aber deutlich, dass an Jungen als Leser gedacht ist. Freilich gibt es eine
Reihe von Zeugnissen, die darauf verweisen, dass auch Mädchen Abenteuer-
romane gelesen haben. Das konstatiert auch Köster, mit Blick auf seine kleine
empirische Untersuchung zu jungen Lesern und Leserinnen, die allerdings als
Hauptbefund hat, dass Mädchen in der Pubertät Backfisch- und ›Lesemap-
pen-Romane‹ und die Jungen Abenteuerromane lesen. Auch in Autobiogra-
phien von Frauen, ja sogar in einigen zeitgenössischen Mädchenromanen
kommt die Leserin von Abenteuerliteratur vor. Zudem bilden sich in dieser
Epoche auch innerhalb der spezifisch adressierten Mädchenliteratur selbst
literarische Varianten, wie historische Romane, Kriegsromane, Reise- und
Kolonialromane, heraus, die den Rahmen des typischen Backfischromans
sprengen. Diese Situation verweist auf die bereits mehrfach angesprochene
Brisanz der Differenzierung zwischen einer ›weiblichen‹ und einer ›männ-
lichen‹ Jugendliteratur, in der sich die in dieser Umbruchszeit besonders
fragwürdig gewordene Geschlechterordnung spiegelt. Dass die Lektürevor-
lieben in der Pubertät mit der biologischen Differenz von Mann und Frau
zusammenhängen, davon gehen dennoch selbst solche Literaturpädagogen
aus, die, wie Wolgast, grundsätzlich dagegen sind, Jungen- und Mädchenlek-
türe zu sondern. Andere, wie Göhring etwa, lassen es an Deutlichkeit in der
Abwertung der Mädchen und ihrer Lektüren nicht fehlen: Das Mädchen
greife zum Backfischroman, weil es in der Pubertät »an Zimperlichkeit und
übergroßer Sentimentalität krankt«, und der Knabe nach Abenteuerromanen
aus »überquellendem Kraftgefühl, das zu Rohheit und Grausamkeit ausar-
tet«. Auch Freuds Vortrag Der Dichter und das Phantasieren (1908) und
Georg Simmels Essay Das Abenteuer (1911) bekräftigen mit dem Paradigma
des Abenteuers die dichotomische Geschlechterordnung, indem sie besonders
Reise- und Abenteuerromane – vornehmlich für die ›männliche Jugend‹ 221

auf weibliche Passivität und männliche Aktivität und die Kontrastierung von
Liebe und Abenteuer abheben. Und noch in Ernst Blochs Prinzip Hoffnung
(1959) verweist das »urtümliche Schiffsbild«, das »den Willen zur Ausreise,
den Traum von fahrender Rache und exotischem Sieg« bezeichne, auf
einen juvenilen, männlichen Tagtraum. Auch Blochs Winnetou-Leser ist ein
»Knabe«. Der Abenteuerroman bietet dem erwachsenen wie dem jugend-
lichen Leser (oder auch der Leserin) im Idealfall einen in exotischer Ferne
liegenden Fantasieraum, der ihn vom Gewöhnlichen weg ins Außergewöhn-
liche hineinzieht und ihn – möglicherweise – im Nachvollzug lebensgefähr-
licher Situationen und in der Identifikation mit dem abenteuernden Helden
den Traum vom Ich träumen lässt. Damit wäre diese Literatur, ganz unab-
hängig von der Adressierung an Jugendliche, eine Pubertäts- oder auch eine
Initiationsliteratur. Reflektiert man die spezifische Lektüresituation des ju-
gendlichen Lesers dieser Epoche, dann wird man allerdings davon ausgehen,
dass die Romane nicht einfach mit der von Göhring u. a. unterstellten puber-
tären, männlichen Aktionslust korrespondieren, sondern auch Fluchtfanta-
sien von Lesern und Autoren aufnehmen, die traumatischen Erfahrungen der
Enge und der autoritären Zurichtung von Jungen in Familie und Schule ent-
springen.
Aus der Masse der Autoren von Abenteuerliteratur können nur einige
wenige herausgehoben werden: Wörishöffer als Autorin von Reise- und See-
abenteuerromanen, Pajeken und May als Autoren von Reise-, Indianer- und
Wildwestromanen und Falkenhorst als Vertreter des Reise- und Kolonialro-
mans. Wegen des ungeheuren Markterfolgs wird auch auf Peter Moors Fahrt
nach Südwest (1906) von Gustav Frenssen eingegangen.
Die Romane S. Wörishöffers, – der Vorname wurde von ihrem Hauptver- Reise-Abenteuer-
lag Velhagen & Klasing nicht öffentlich bekannt gegeben –, sind Auftragsar- romane
beiten, die einem genauen Konzept des Verlags entsprechen, der sich einer-
seits an die beginnende Konjunktur von Abenteuererzählungen in Kolporta-
geverlagen anhängen, andererseits aber mit einem Programm aufwendig
aufgemachter und Solidität ausstrahlender, dickleibiger, gut illustrierter
Werke ein bildungsorientiertes Lesepublikum ansprechen will. Die elf Ro-
mane Wörishöffers, die der Verlag zwischen 1877 und 1891 herausbringt,
kosten immerhin jeweils neun Mark – ein außergewöhnlich hoher Preis – und
haben zwischen 460 bis 680 Seiten. »Geschichtlich-patriotisch« und »geo-
graphisch-naturwissenschaftlich«, »unanstößig« und »pädagogisch korrekt«
sollen die Romane für die »reifere Knabenwelt« nach dem Willen des Verlags
sein. Da Wörishöffer bis dahin unerfahren in diesem literarischen Feld ist,
soll sie vom Verlag als eine Art Grundausstattung Brehms Tierleben, Annie
Brasseys Berichte über ihre Weltumseglung sowie Reinhold von Werners Das
Buch von der deutschen Flotte (2. Aufl., 1874) erhalten haben. Für jedes
Romanprojekt liefert ihr der Verlag zudem eine Kiste systematisch zusam-
mengestellter Literatur. Ihre erste Auftragsarbeit ist die Neufassung des von
Max Bischoff geschriebenen und 1873 veröffentlichten Romans Robert des
Schiffsjungen Fahrten und Abenteuer auf der deutschen Handels- und Kriegs-
flotte, der kein Lesepublikum gefunden hatte. Gegen 100 Mark waren Bi-
schoff vom Verlag alle Rechte an dem Titel abgekauft worden. Aus der bei
Bischoff nur 207 Seiten umfassenden »Robinsonade« – so der Verlag – wer-
den nun 680 Seiten. Wolgast hat durchaus recht, wenn er die schier endlose,
zusammenhanglose Verkettung von Schifffahrts-, Walfang- und Schiffbruchs-
episoden, Insel- und sonstigen Landaufenthalten sowie die vielen unwahr-
scheinlichen Wiederbegegnungen aller Art in diesem 1877 erschienenen
Roman kritisiert. Erstaunlich ist auch, wie wenig der Text dem Anspruch des
222 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Verlags, geographisch-naturwissenschaftliche Belehrung zu bieten, genügt.


Wolgasts pauschale Übertragung seines Urteils auf alle weiteren »Mach-
werke« Wörishöffers ist allerdings völlig unbegründet und trifft gerade auf
ihren nächsten Roman, Das Naturforscherschiff (1880), nicht zu, in dem von
einer dreijährigen Bildungs- und Abenteuerreise der beiden jungen Söhne des
berühmten Hamburger Handelshauses Gottfried – eine offenkundige An-
spielung auf das Haus Godeffroy – erzählt wird, die durch den Atlantischen,
den Indischen und den Stillen Ozean hindurch bis zu der vom Vater gegrün-
deten Handelsniederlassung in Samoa und von hier auf kurzem Wege nach
Hamburg zurück führt, wo der Vater die beiden Söhne »freudestrahlenden
Blicks« als junge Männer empfängt. Die Autorin, die in äußerster materieller
Notlage zu schreiben begonnen hatte, zeigt mit diesem besonders erfolg-
reichen Roman, wie schnell und gut sie sich auf ihr Arbeitsfeld und die Er-
wartungen des Verlags eingestellt hat. Der Roman ist überzeugend konstru-
iert, die Abenteuerkette geschickt aufgebaut; erzählt wird – anders als in
Robert der Schiffsjunge – plastisch, mit durchaus gekonnter Spannungsstei-
gerung und langem Atem. Der eigentliche Clou des Romans liegt aber in
dessen Grundidee. Denn das Naturforscherschiff ist das Zentrum einer ›päd-
agogischen Insel‹. Hier leben der anfangs 14-jährige Hans, zunächst etwas
schwächlich und ängstlich, und der 16-jährige Franz, der noch nicht recht
weiß, was er will, zusammen mit ihren beiden Lehrern, der bunt zusammen-
Sophie Wörishöffer: Das gesetzten Mannschaft und einer Reihe von heimischen und exotischen Tieren
Naturforscherschiff oder
wie »eine einzige große Familie« zusammen. Das Schiff ist das ›feste Haus‹,
Fahrt der jungen
Hamburger mit der der ständige Fluchtpunkt, ist Regenerations- und Gesprächsraum nach Ex-
»Hammonia« nach den kursionen und Abenteuern. Hier wird das von Land- und Meeresexkursionen
Besitzungen ihres Vaters Mitgebrachte präpariert, mikroskopiert, verpackt; hier werden Fotoplatten
in der Südsee. Frontispiz. hergestellt und fixiert, Reiseberichte verfasst usw. Unter erzähltextanaly-
3. Aufl. Bielefeld 1885 tischer Perspektive ist der Schiffsaufenthalt besonders als rhythmisierendes
Element wichtig; er markiert die jeweilige Pause zwischen den Abenteuern.
»Nichts vergißt sich schneller als Mühe und Gefahr, nachdem beide glücklich
überstanden sind«, sagt der Erzähler, als die Abenteurer wieder einmal auf
ihr Schiff zurückkommen. Auch die vom Verlag erwartete »geschichtlich-
patriotische« Tendenz ist in der Konstruktion des Ganzen durchaus schlüssig
entwickelt, wenngleich am Ende äußerst dick aufgetragen. Erzähllogisch
konsequent ist es dennoch, dass die Jungen endgültig überzeugt sind, in die
Fußstapfen ihres Vaters treten zu wollen, als sie nach dreijähriger Fahrt voller
lebensgefährlicher Abenteuer mit ›wilden Stämmen‹ auf dem von dem Vater
aufgebauten, blühenden und wohlgeordneten Handelsplatz in Samoa an-
kommen.
Indianer- und Die beiden seinerzeit prominentesten Autoren jugendliterarischer India-
Wildwestromane ner- und Wildwestromane, May und Pajeken, sind gegensätzlicher kaum zu
denken. Pajeken kann damit auftrumpfen – und er tut es immer wieder in
seinen Vorreden an die »lieben jungen Freunde« –, dass er während seiner
Kaufmannstätigkeit in Übersee die Indianer Süd- und Nordamerikas kennen
gelernt hat. Auch May lässt in seinen Romanen durchblicken, dass die Ro-
manhelden Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi Pseudonyme für ihn, den
Schriftsteller May, sind und dass der Apatsche Winnetou tatsächlich sein
bester Freund war. »Habe ich doch die Roten kennengelernt während einer
Reihe von Jahren, und unter ihnen einen [...]. Ich habe ihn geliebt wie keinen
zweiten Menschen und liebe noch heute das sterbende Volk, dessen edelster
Sohn er war.« So heißt es im Vorwort zu Winnetou I (1893). Immer wieder
bestätigt er seinen Lesern: »Ja, ich habe das alles und noch viel mehr erlebt.«
Er inszeniert sein ganzes Leben im Stil dieser ›Legende‹. Am Ende werden
Reise- und Abenteuerromane – vornehmlich für die ›männliche Jugend‹ 223

aber alle seine Selbstinszenierungen als fantastische Projektionen entlarvt. In Karl May
heftigen, im Jahr 1899 von der Frankfurter Zeitung angestoßenen öffent-
lichen Debatten wird ihm ein »Kultus der Unwahrheit« zum Vorwurf ge-
macht. – Noch ein anderer wichtiger Gegensatz zwischen May und Pajeken
fällt ins Auge: Pajeken versteht sich ausdrücklich als Erzieher der Jugend, wie
seine Bob-Trilogie (1890–94) und Bill der Eisenkopf (1899) zeigen, die sich
auf die Entwicklung eines Jungen zum ›Jüngling‹ und Mann konzentrieren
und durchzogen sind von der Vater-Sohn-Thematik. Die Anziehungskraft,
die Mays Texte auf junge Leser ausüben, gründet sich dagegen gerade nicht
auf solche Intentionen. Zwar hat auch May eine Reihe von Erzählungen und
Romanen speziell für Jungen geschrieben, die in Der gute Kamerad und spä-
ter in der Kamerad-Bibliothek veröffentlicht werden, darunter so populäre
Werke wie Die Sklavenkarawane (1893), Der Schatz im Silbersee (1894),
Das Vermächtnis des Inka (1895) und Der Oelprinz (1897). Die Texte zeigen
durchaus auch Züge einer pädagogischen Überformung der spannenden
Handlung, etwa durch die Einführung jugendlicher Protagonisten und die
Intention, Bildungswissen zu vermitteln. Sie dokumentieren, dass May hier
»gelegentlich ein Didaktiker von Rang war« (Schmiedt). Mays frühe, in Der
gute Kamerad erschienene Erzählung Der Sohn des Bärenjägers (1887) ent-
hält sogar eine Zuspitzung auf die Vater-Sohn-Thematik. Zudem taucht in
ihr erstmals Winnetou – eine Figur, die May schon sehr früh in seine Erzäh-
lungen einführt – in derjenigen Gestalt auf, wie sie May später in der Winne-
tou-Trilogie bzw. tetralogie (1893 ff.) ausgearbeitet hat, nämlich als ›roter
Edelmensch‹, als Repräsentant humaner und christlicher Werte. Dass gerade
die Winnetou-Trilogie (1893), also keine spezifische Jugendliteratur, schließ-
lich zu dem Abenteuerroman der Jugend avancierte, dass May heute über-
haupt als der bedeutendste deutschsprachige Autor von Abenteuerliteratur
gilt, verdankt sich aber einer anderen literarischen Charakteristik. Unabhän-
gig von seinen heute weitgehend anerkannten Qualitäten als Erzähler ist es
wohl eher die Tatsache, dass May besonders in Winnetou I, dem ›Schlüssel-
werk‹ Mays und seinem erfolgreichsten Text überhaupt, die der Idee des
Abenteuers inhärente Initiationsdramatik voll ausschöpft und dabei auch
Tiefenschichten des (jugendlichen) Lesers intensiv anspricht. Der Text ist
nicht nur handlungsreich und voller Spannung, er modelliert die Initiation
seines Helden Old Shatterhand gleichzeitig in idealtypischer Weise und in
symbolisch verdichteter Form. Dabei gerät die Verherrlichung des Freundes
Winnetou durch den Ich-Erzähler Old Shatterhand am Ende zur narziss-
tischen Selbstglorifizierung. Old Shatterhand, der sich aus der Heimat
Deutschland nach Amerika aufgemacht hat, um dort sein Glück zu suchen,
muss im ›Wilden Westen‹ gefährliche Proben durchlaufen. Er wird begleitet
von Helfern, von dem Freund Winnetou und dem gemeinsamen ›Lehrer‹
Klekih-petra, der ihn sterbend auf sein »Testament« der Rettung der Mensch-
heit verpflichtet. Und als Winnetou, in der Todesstunde bekehrt zum Chris- Karl May posiert im
tentum, stirbt, macht sich der Ich-Erzähler letztlich selbst zum Retter der Kostüm Old Shatterhands
›roten Rasse‹, indem er verspricht, erzählend das Gedächtnis der Apatschen
und v.a. Winnetous, des »edelste[n] der Indianer« zu wahren. Überhaupt ge-
hört die Darstellung der unbedingten, vom Ich-Erzähler immer wieder auch
als »Liebe« bezeichneten innigen Freundschaft zwischen den ›Blutsbrüdern‹
Winnetou und Old Shatterhand, an die auch die Liebe der Winnetou-Schwes-
ter Nscho-tschi zu Old Shatterhand nicht heranreichen kann, zum Faszinie-
renden der Winnetou-Trilogie. In der May-Forschung wurde oft darauf auf-
merksam gemacht, welch wichtige Rolle homoerotisch aufgeladene Männer-
freundschaften in Mays Werk spielen. Arno Schmidt hat in diesem Sinne
224 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

sogar von einem spezifischen ›May-Code‹ gesprochen. Allerdings sind solche


Konstellationen für die Abenteuer- und für die Kriegsliteratur insgesamt ty-
pisch. Speziell für den jugendlichen Leser bietet sich das von May entworfene
Modell eines geradezu symbiotischen Freundschaftsbundes jedenfalls als of-
fener Projektionsraum, als ›Übergangsraum‹ zwischen Kindheit und Erwach-
sensein an. Was Mays Romane vom Gros der Reise-, Wildwest- und India-
nerromane seiner Epoche grundsätzlich unterscheidet, ist die Tatsache, dass
er seine ›Spitzenhelden‹ Old Shatterhand und Winnetou aus ihrer Herkunfts-
gesellschaft heraushebt, dass er Shatterhand als »deutsch-indianisches Dop-
pel-Ich« (Brunken) ebenso wie den zum Christen gewordenen edlen Wilden
Winnetou in einem ideellen Zwischenraum zwischen Wildnis und Zivilisa-
tion positioniert – durchaus dem Grenzraum Coopers vergleichbar. May
setzt damit beim Leser dieser »Traumliteratur« (Ueding) auf das Bedürfnis
nach Evasion, nach Flucht vor den Problemen der Realität, die ihm freilich in
der Traumwelt der Romane in verstellter und verschobener Form wieder
begegnen. Dazu gehört auch, dass die zeittypischen Nationalismen, Kolonia-
lismen und Darwinismen, die sich in seinem Werk – bei gleichzeitiger Ideali-
sierung christlicher Traditionen – selbstverständlich finden, immer in gebro-
chener und gemilderter Form erscheinen.
Friedrich Joachim Genau diesen Typus einer fantasiebezogenen Indianerliteratur greift Paje-
Pajeken ken an. Damit entspricht er dem Konzept des Verlags Hirt & Sohn, der an
Pajekens Indianergeschichten anpreist, dass sie nicht »Erfindungen krank-
hafter Einbildungskraft« sind. Pajeken will die Indianermythen entzaubern,
will sie auf die »Wirklichkeit« zurückführen. Seine Botschaft ist, dass »der
Indianer« nichts weiter sei »als ein menschliches Wesen [...], das auf der frü-
hesten Stufe der Entwickelung steht«, wie es in der Vorrede zu Mitaha-sa das
Pulvergesicht (1895) heißt. Diese Erfahrung lässt er auch den 15-jährigen
Titelhelden in Bob der Fallensteller selbst machen, der es gar nicht erwarten
kann, den Indianern zu begegnen, von denen er so viel gelesen und gehört
hat. Als Bob aber endlich das erste Indianerdorf sieht, kann er sich nur voller
»Ekel«, Enttäuschung und Furcht abwenden. Pajeken ergreift – ohne jede
Ambivalenz – Partei für die Landnahme und Kolonisierung. »Ganz unstreitig
gehörte ihnen das Land, das sie bewohnten«, schreibt May im Vorwort zu
Winnetou I. »Der Rote mußte weichen, Schritt um Schritt, immer weiter zu-
rück.« Bei Pajeken dagegen haben nicht die Weißen den Indianern ihr Land
weggenommen, sondern diese wollen den weißen Siedlern ihr »Eigentum«
streitig machen. Insbesondere gilt es, die kolonisatorische Leistung der Deut-
schen herauszustreichen. Im 3. Band der Bob-Trilogie, Bob der Millionär,
vollendet gar ›Bob der Sohn‹ das Erbe seines Vaters, des Siedlers und Städ-
tegründers, indem er im Stammesgebiet der Arapahoes und Cheyenne einen
›deutschen Staat‹ gründet. Mit der von Pajeken sehr gezielt betriebenen Zer-
störung des Fantasieraums als eines Freiraums, wie ihn Indianergeschichten
von Cooper und May eröffnen, reduziert sich die Funktion seiner Erzäh-
lungen wesentlich auf die der Propaganda.
Kolonialromane Schon einige Jahre nach der kolonialen Besitznahme von Deutsch-Süd-
westafrika, Deutsch-Ostafrika, Togo und Kamerun in den Jahren 1884/85
durch das Deutsche Reich kommen zahlreiche jugendliterarische Afrikaro-
mane auf den Markt, die für die Kolonialidee einnehmen wollen und dabei
in besonderer Weise den Gedanken der Kulturmission der Deutschen in den
Mittelpunkt rücken. Hinter Autoren und Verlagen stehen auch politische
Interessensverbände, wie Kolonialvereine mit ihren Dachorganisationen, die
Prämien für solche Bücher aussetzen. 1889/90 erscheint im Union-Verlag
Falkenhorsts Ein afrikanischer Lederstrumpf, mit einer entsprechenden Ziel-
Reise- und Abenteuerromane – vornehmlich für die ›männliche Jugend‹ 225

setzung. Bei Weise kommt Vom Kap nach Deutsch-Afrika (1888) von Egin-
hard Barfus heraus, einem Autor, der sich im Übrigen mit seinen Abenteuer-
romanen durch ein breites Spektrum bürgerlicher Verlage und der Verlage
des ›neuen Markts‹ der Heftchen-Literatur und Billigbücher hindurch-
schreibt. Auch O. Höcker veröffentlicht bei Hirt & Sohn mit Der Schiffsjunge
des großen Kurfürsten (1890) eine ausgesprochen propagandistische, histo-
rische Kolonialerzählung über die westafrikanischen Schutzgebiete des
Großen Kurfürsten um Fort Groß-Friedrichsburg im heutigen Ghana. Der Afrika-Romane
interessanteste, allerdings gänzlich unbekannt gebliebene Titel in diesem
Umfeld ist wohl Emil Steurichs Johann Kuny, der erste brandenburgisch-
preußische Negerfürst (1900), ein flüssig erzählter Roman, der dieselbe his-
torische Situation wie Höcker aufnimmt, der aber die historische Figur des
Aschanti-Häuptlings Jan Cunny in den Mittelpunkt stellt, den er als einen
dem Hause Brandenburg in unbedingter Treue zugetanen, immer jung blei-
benden edlen Wilden, eine Art ›schwarzer Winnetou‹ stilisiert. Vor dem Hin-
tergrund dieser Figur, die der Idealisierung des brandenburgischen Kolonisie-
rungsunternehmens gilt, das niemals dem Sklavenhandel gedient habe, erfolgt
die Mahnung an die Leser, »in der Fürsorge für unsere heutigen Kolonien
nicht nachzulassen«. Am bekanntesten ist Falkenhorsts zehnbändige Reihe
Kolonialerzählungen für jung und alt, Jung-Deutschland in Afrika, die von
1894–1900 bei Köhler herauskommt. Falkenhorst, unter dem Eigennamen
Stanislaus von Jezewski Autor und Redakteur von Die Gartenlaube, kann
für diese Unternehmung auf eigene Vorarbeiten zur Kolonialgeschichte Afri-
kas zurückgreifen, die er zuvor in der Bibliothek denkwürdiger Forschungs-
reisen (1890) und in der Reihe Schwarze Fürsten (1891/92) herausgebracht
hat. Die Erzählungen, die besonders der »Verbreitung naturwissenschaft-
licher Kenntnisse« sowie der »Förderung der deutschen Kolonialbewegung
dienen« wollen, wie es in der Verlagswerbung und im Vorwort zur Gesamt-
reihe heißt, sind – und das ist das eigentlich Interessante an dieser Reihe –
keine Abenteuerromane im typischen Sinn. Sie sind vielmehr besonders akti-
onsarm, dafür angereichert mit geographischen, biologischen und kultur-
kundlichen Belehrungen, pathetischen Naturschilderungen, Gesprächen usw.
Die Bekundung Falkenhorsts, die »leicht empfängliche Phantasie« des Lesers
nicht durch die Erzählung »märchenhafter Abenteuer« erhitzen zu wollen,
ist mehr als eine rhetorische Formel; sie ist Programm. Der Baumtöter, Band
1 der Reihe, lässt sich geradezu als Anti-Abenteuererzählung lesen. Denn der
Held, der junge Kunstgärtner Hans Ruhl, der im Jahr 1880 – nach einem
kurzen Zwischenstopp in der Republik Liberia – auf eine Kakaopflanzung
ins Hochgebirge Kameruns geht, muss am Ende – nun überhaupt zum ersten
Mal in ein ›echtes Abenteuer‹ verwickelt – erfahren, dass sein eigener Unter-
nehmergeist und seine Aktionslust, seine Unzufriedenheit mit dem langwei-
ligen Leben auf der Kakaoplantage in die nicht zivilisierbaren Bergstämme
Aufruhr und Blutvergießen gebracht haben. Und so kehrt er reumütig, als
der ›verlorene Sohn‹, zu seinem sympathischen Mentor Baumtöter auf dessen
wohlgeordnete, Sicherheit bietende Plantage, die »Waldburg«, zurück und
beginnt mit ihm zusammen eine neue Rodung und Pflanzung. Er hat erkannt,
dass er von seinem Weg »abgewichen war, daß er sich auf Abenteuer begeben
hatte«, und akzeptiert nun Baumtöters Weg, ohne Missionsinteresse und
Ausbeutung der Natur in der Region der Bergstämme, in der Alltagswelt ei-
ner Kakaoplantage zu leben. Ein harmloser Text, sogar mit zivilisationskri-
tischen Untertönen und anderen Ambivalenzen, wäre nicht das Ende, nämlich
ein Nachtrag des Erzählers, der den Leser in die aktuelle Gegenwart der Ko-
lonie Kamerun zurückholt, wo das Land nun »blüht und wächst«, wo Händ-
226 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

ler und Pflanzer die Unterstützung der deutschen Heimat gefunden haben,
wo endlich die deutschen Schutztruppen eingezogen sind, um den »übermü-
tigen Dorfkönige[n]« Einhalt zu gebieten und dermaleinst auch die »wilden
Herren der Berge« zu zivilisieren. Der Abenteurer als Einzelkämpfer in der
Wildnis hat ausgedient, will der Text sagen. Damit schließt sich auch ein
Kreis zum Anfang der Erzählung, wo genau dieses Thema diskutiert wird.
Gustav Frenssen Auf Anhieb ein großer Erfolg wird Gustav Frenssens Peter Moors Fahrt
nach Südwest (1906), die fiktiv autobiographische Erzählung über einen
jungen Handwerkersohn, der als Freiwilliger an dem Feldzug gegen die auf-
ständischen Hereros in den Jahren 1904/1905 teilnimmt, bis er nach mehre-
ren Gefechten, in denen er auch verwundet wird, am Ende herzkrank in die
Heimat zurückkehrt. Diese Erzählung, die Frenssen, später überzeugter An-
hänger der Nationalsozialisten und Hitler-Verehrer, zu einem der populärsten
Vertreter der Kolonialliteratur macht, wird bis zum Ersten Weltkrieg in etwa
200 000 und bis zum Zweiten Weltkrieg in etwa 500 000 Exemplaren ver-
kauft. Allerdings ist der Text, auch wenn Frenssen ihn der »deutsche[n] Ju-
gend, die in Südwestafrika gefallen ist«, widmet, im strengen Sinne keine
spezifische Jugendliteratur. Denn er gehört – ebenso wie seine beiden früheren
Erfolgsromane Jörn Uhl (1901) und Hilligenlei (1905) – in die Grote’sche
Sammlung zeitgenössischer Schriftsteller, in die u. a. Titel von Autoren wie
Julius Wolff, Theodor Fontane und Wilhelm Raabe aufgenommen wurden.
Dennoch zeigt die Erzählung auf den ersten Blick eine ›klassisch‹ jugendlite-
rarische Struktur: Typisch ist die Situation des Jungen, der von Kindheit an
Auszugsfantasien im Kopf hat, typisch ist auch die Kette von Initiationser-
lebnissen, angefangen mit der Seekrankheit beim ersten schweren Sturm bis
zu einer Reihe lebensgefährlicher Verletzungen des Helden in den Gefechten
mit den Hereros. Dass Peter Moor allerdings nicht etwa verwundet, sondern
von den Anstrengungen herzkrank und müde geworden zurückkehrt, ist eine
untypische Schlussgebung. Es ist zu vermuten, dass gerade die für Frenssens
Text charakteristischen Widersprüche und Untertöne ein breites Lesepubli-
kum angezogen haben, das die Militäraktion gegen die Hereros ja seinerzeit
keineswegs einhellig bejahte. Auch das wird im Text im Übrigen angespro-
chen. Das Anziehende und Verführerische dieser Erzählung liegt womöglich
gerade darin, dass sie eben keine schlichte, rassistisch-darwinistische Propa-
gandaschrift für den ›weißen Imperialismus‹ ist, sondern dass Frenssen
Zweifel und Gegenstimmen laut werden lässt, wie etwa die eines älteren
Mannes, der schon lange im Land ist und der den Herero-Aufstand mit dem
antinapoleonischen »Befreiungskampf« von 1813 vergleicht. Auch lässt
Frenssen den Helden selbst ab und an am Sinn der ganzen Unternehmung
zweifeln. Und schließlich wird für das bürgerliche Lesepublikum auch wich-
tig gewesen sein, dass er sich, trotz der Anhäufung von Schlachtenszenen, in
der Darstellung von Brutalitäten besonders zurückhält, womit er allerdings
gleichzeitig den Charakter dieses Vernichtungskriegs gegen die Hereros voll-
ständig verschleiert. Das Buch wird – wegen der Art der Kriegsdarstellung –
auch in die Empfehlungsliste der Vereinigten Jugendschriften-Ausschüsse
aufgenommen.
Weibliche Motivik und Thematik der exotischen Fremde dringen zunehmend auch
Protagonisten in die Mädchenliteratur ein, wobei die Fremde, wie sich an den erwähnten
Künstlerinnen-, Studentinnen-, Lehrerinnen- und Ärztinnen-Romanen zeigen
ließe, sogar der entscheidende Entwicklungsraum der Protagonistin sein
kann. Eine wichtige Wegmarke in der Geschichte einer solchen Mädchenlite-
ratur ist der vierbändige Zyklus von Reiseerzählungen An fremdem Herd
(1889–1894) von Augusti, in denen Berufsfindung und Bildung junger Mäd-
Reise- und Abenteuerromane – vornehmlich für die ›männliche Jugend‹ 227

Elise Bake: Schwere


Zeiten. Schicksale eines
deutschen Mädchens in
Südwestafrika. Frontispiz.
München 1913

chen und Frauen im Mittelpunkt stehen und die damit auch dem Bildungs-
diskurs der bürgerlichen Frauenbewegung angehören. Daneben gibt es seit
der Jahrhundertwende aber auch einige wenige mädchenliterarische Afrika-
romane, die – ähnlich wie jungenliterarische Kolonialromane – den Gedan-
ken der Kulturmission der Deutschen in den Mittelpunkt stellen, die ihn aber
vor dem Hintergrund der Konzeption polarer Geschlechtscharaktere von
Mann und Frau aufbrechen und durch die Idee einer Kulturmission der Frau
gleichsam übertrumpfen, wie dies an Beekers Heddas Lehrzeit in Südwest
(1909), Elise Bakes Schwere Zeiten (1913) und Kochs Die Vollrads in Süd-
west (1916), erstmals 1913/14 in Das Kränzchen erschienen, ablesbar ist.
Die weiße Frau repräsentiert in diesen Romanen einerseits Haus und Heimat;
sie ist damit auch Garantin für Ordnung am Rand der Wildnis. Das wird vor
allem im Kontrast mit den Jungenromanen deutlich, in denen oftmals ein
männlicher Blick auf die schwarze Frau thematisiert wird. Besonders schil-
lernd, und für den jungen Hans Ruhl ebenso anziehend wie abstoßend, ist
die Figur der jungen Mundinde in Der Baumtöter, die – eine heimliche
Hauptfigur – von Anfang bis zum Ende der Erzählhandlung, bis zu ihrer Er-
mordung, dessen Weg kreuzt. Diese Figur repräsentiert unausgesprochen ei-
nen Aspekt, der seinerzeit längst zu einem brisanten öffentlichen Thema ge-
worden ist, nämlich den der sexuellen Attraktion schwarzer Frauen für weiße
Männer. In den Kolonialromanen für Mädchen nun steht die weiße Frau
nicht nur für Haus und Heimat. Der Aufenthalt in der Fremde, angesichts
ständiger Bedrohungen, hat ihren Aktionsradius erweitert. Gerade die jungen
Heldinnen vereinen typisch weibliche Eigenschaften mit ›männlicher Aktivi-
tät‹ und rücken damit auch dem kolonialen Wunschbild der exotischen Frau
näher. Die Protagonistinnen in den Romanen Bakes und Kochs greifen in ei-
ner Extremsituation sogar zur Waffe und schießen auf ihre Feinde. Solche
Mädchenbilder finden sich auch in der zeitgleichen historischen Literatur
228 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

und speziell in der Kriegsliteratur für Mädchen. Sie korrespondieren zudem


mit außerliterarischen propagandistischen Vorstellungen über die ›deutsche
Frau‹, die sich mit der Nation und ihren imperialen Zielen identifiziert hat.

Nation, Geschichte, Krieg in der Kinder-


und Jugendliteratur

Schon seit dem ausgehenden 18. Jh. hatten sich in der Sachliteratur wie in
der Belletristik, in Ansätzen sogar in der spezifischen Mädchenliteratur, nati-
onalerzieherische Tendenzen ausgebreitet. Noch bis in die zweite Hälfte des
19. Jhs. hinein blieb aber selbst die patriotische Kinder- und Jugendliteratur
etwa von Nieritz, Hoffmann oder Horn weitgehend durch moralische Di-
daxe überformt. Scharfe nationalistische Tendenzen waren vor 1870 relativ
selten, wenn man von einigen Texten Ferdinand Schmidts oder von Franz
Kühns teils ausgesprochen aggressiven, preußisch-deutsch orientierten Er-
zählungen in der Reihe Spiegelbilder aus der Geschichte des deutschen Vater-
landes (1859 ff.) absieht. Seit der Gründung der Österreichisch-Ungarischen
Doppelmonarchie und des Deutschen Reiches wird die Kinder- und Jugend-
literatur zum spezifischen Medium einer dezidiert auf den modernen Staat
bezogenen Nationsbildung und damit auch zum Moment einer kollektiven
Nationalistische Erinnerungskultur, wie sie die Nationen inszenierten, um dem Legitimations-
Tendenzen bedarf der innerlich durchaus ungefestigten und brüchigen neuen Staatsge-
bilde zu entsprechen. Gleichzeitig expandiert dieser Bereich der Jugendlitera-
tur – im Zusammenhang mit massenliterarischen Entwicklungen und geför-
dert durch staatliche Vorgaben zum Geschichtsunterricht – mächtig. Aber
auch in allen anderen kinder- und jugendliterarischen Genres gibt es natio-
nalistische Tendenzen. Bemerkenswert ist die große Präsenz vaterländischer
Lieder in Anthologien. Seit dem Ende des Jahrhunderts ist zudem die Reise-
und Abenteuerliteratur in der Regel von nationalistischen Tönen durchzogen.
Aber auch im Feld der eher ›unpolitischen‹ Lebensgeschichten sowie in der
Erzählprosa für Kinder lassen sich entsprechende Züge ausmachen. In der
Kinderliteratur finden sich z. B. Texte zum Sedanstag, wie Gansbergs Die
Schlacht bei Sedan in seinen Streifzügen durch die Welt der Großstadtkinder
und – als ein Gegentext zum politischen Mainstream – Ernst Almslohs Sedan
in Clara Zetkins Kinderbeilage zur Gleichheit (1906). Seit dem ausgehenden
19. Jh. können sich radikalnationalistische (imperialistische, chauvinistische,
deutsch-völkische) Tendenzen immer stärker ausbreiten. Es erscheinen Texte,
die unverhüllt programmatisch die Heeres- und Flottenpolitik des Deutschen
Reiches stützen wollen, wie die Romanzyklen Preußens Heer – Preußens
Ehr! (1883 ff.) und Unsere deutsche Flotte (1890 ff.) von Oskar Höcker oder
Taneras und Bernstorffs Heeres- und Flottenromane. Auch Lohmeyers Vater-
ländische Jugendbücherei will ausdrücklich bewirken, dass die Kinder und
Jugendlichen »ihr ganzes Sein für die Sache des Vaterlandes einsetzen« und
auch als »Pioniere ihres Volkes im Auslande« wirken wollen, wie es in der
Verlagswerbung heißt. Der Kulminationspunkt dieser Entwicklung liegt kurz
vor bzw. zu Beginn des Ersten Weltkriegs. In den ersten Weltkriegsjahren ist
dann nicht nur die Literatur für Jungen, sondern auch die für Mädchen von
zeitgeschichtlicher Kriegsliteratur vollständig dominiert. Hinzu kommen
große Mengen einer entsprechenden seriellen Heftchenliteratur mit Titeln
Nation, Geschichte, Krieg in der Kinder- und Jugendliteratur 229

Julisus Pederzani-Weber:
Kynstudt. Die Siege der
Helden der Marienburg
über die Heiden des
Ostens. Buchdeckel.
Leipzig 1888

Brigitte Augusti: Edelfalk


und Waldvöglein.
Kulturgeschichtliche
Erzählung aus dem
dreizehnten Jahrhundert.
Textillustration. 11. Aufl.
Leipzig 1907

wie Helden in der Luft, Im Kugelregen oder Krieg und Liebe. Gleichzeitig
erscheinen Kriegsromane und Kriegserzählungen für Kinder, etwa Thea von
Harbous Gute Kameraden (1916), Ernst Lorenzens Was der kleine Heini
Will vom Weltkrieg sah und hörte (1915), Hulda Micals Wie Julchen den
Krieg erlebte (1916), Agnes Sappers Kriegsbüchlein für unsere Kinder (1914)
und Ohne den Vater (1915), Tony Schumachers Wenn Vater im Krieg ist
(1915) und Vater noch im Kriege (1916), Else Urys Nesthäkchen und der
Weltkrieg (1916) und Flüchtlingskinder (1917). Selbst kleine Kinder sollen
von der Kriegspropaganda erreicht werden, wie z. B. das Bilderbuch Vater ist
im Kriege (1915) und Arpad Schmidhammers Lieb Vaterland magst ruhig
sein! (1914) eindrücklich belegen. Anti-Kriegsliteratur gibt es, abgesehen von
einigen Texten in der Kinderbeilage zur Gleichheit sowie in Anthologien so-
zialdemokratischer Herausgeber so gut wie gar nicht. Nur Hedwig Pöttings
Bearbeitung von Bertha von Suttners Die Waffen nieder! (1888) gelangt un-
ter dem unverfänglichen, an typische Backfischliteratur erinnernden Oberti-
tel Martha’s Tagebuch (1897) auf den jugendliterarischen Markt. Die expres-
sive Anti-Kriegserzählung Das Menschenschlachthaus (1912) von Wilhelm
Lamszus wird zwar von Vertretern der Hamburger Jugendschriftenbewegung
als Lektüre empfohlen, ist aber keine spezifische Jugendliteratur.
Insbesondere die fiktionale geschichtserzählende Literatur, so die erklärte Lektüreziel
Zielsetzung von Verlagen und Autoren dieser Epoche, soll eine größere Vaterlandsliebe
›Empfänglichkeit‹ der jungen Leser für das auch für den Geschichtsunterricht
geltende Ziel der Erweckung und Vertiefung der Vaterlandsliebe bewirken.
Dabei werden die Identifizierung des jungen Lesers mit den nationalen
Helden der Vergangenheit und der Antrieb zum politischen Handeln in der
Gegenwart häufig ›kurzgeschlossen‹: So will z. B. der österreichische (!)
Schriftsteller Julius Pederzani-Weber mit Kynstudt (1888), einer Erzählung
über den Deutschen Orden, die aktuelle Polenpolitik des Deutschen Reiches
stützen: Durch den Heldenmut der Vorfahren bestärkt, gelangten die Leser
nach Meinung des Autors zur Überzeugung, dass das »Deutschtum, welches
230 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

seit vier Jahrhunderten in den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches


von den Polen angefeindet und unterdrückt worden« sei, »wieder zur alten
Macht und alleinigen Herrschaft gelangen« müsse. Im Zuge der Tendenzen
zur Nationalisierung der Kultur in Deutschland und Österreich bauen zahl-
reiche Verlage Reihen historischer Erzählliteratur für die Jugend oder für
›Jugend und Volk‹ auf, die teils auch in Schul- und Schülerbibliotheken ein-
gestellt werden. Die umfangreichsten und erfolgreichsten Reihen in Deutsch-
land sind Carl Flemmings Vaterländische Jugendschriften (1889 ff.), Luise
Pichlers Historische Erzählungen für die Jugend (1889 ff.), die von Reinold
Bahmann begründete Reihe Aus unserer Väter Tagen (1891 ff.), Bachems
neue illustrierte Jugendschriften (für Knaben) (1895 ff.), Julius Lohmeyers
Vaterländische Jugendbücherei für Knaben und Mädchen (1899 ff.) sowie
die von Kotzde herausgegebenen Mainzer Volks- und Jugendbücher (1908 ff.).
Während die deutschen Reihen, mit Ausnahme der Reihe des Bachem-Ver-
lags, vornehmlich preußisch-protestantisch orientiert sind, konzentrieren
sich die von Isidor Proschko herausgebrachten Österreichischen Volks- und
Jugendschriften zur Hebung der Vaterlandsliebe (1876 ff.) auf die habsbur-
gische Geschichte und das katholische Österreich. Aus den Titelprofilen der
Reihen sowie den programmatischen Vorwörtern und Rezensionen lassen
sich auch Konturen und Verknüpfungen nationaler Mythen ablesen, die die
Nationsbildungsprozesse in Deutschland und Österreich begleitet haben.
Insbesondere drei Prinzipien der Themenauswahl und -vernetzung werden
sichtbar: Erstens die Konzentration auf Persönlichkeiten und kriegerische
Ereignisse der jüngeren Geschichte, die für die äußere Einheit und Stärke der
Nation (bzw. Preußens) stehen sollen (z. B. Friedrich der Große, Königin
Luise, Major Schill, Kaiser Wilhelm I. und II., Bismarck; Prinz Eugen, Maria
Theresia, Andreas Hofer, Marschall Radetzky), zweitens die Verknüpfung
der Gegenwart mit einer großen ›vaterländischen Vorzeit‹ (z. B. mit der ger-
manischen Götterwelt, mit Siegfried, Arminius, Chlodwig, Karl dem Großen,
Barbarossa; Wilhelm Tell) und drittens die Konzentration auf historische Fi-
guren, die eine vaterländische Kultur repräsentieren und die der Vaterlands-
liebe eine moralisch-sittliche Basis geben sollen (z. B. Goethe, Schiller, Mozart,
Haydn). In der republikanischen Schweiz, in der in dieser Epoche noch kein
Projekt einer fiktionalen historischen Erzählliteratur für die Jugend entwi-
ckelt ist, wenn man von der Bearbeitung volksliterarischer Traditionen ab-
sieht, werden die deutschen und österreichischen Reihen, trotz ihrer häufig
dezidiert dynastischen Orientierung, von den repräsentativen Organen der
Jugendschriftenkritik dennoch in der Regel zur Lektüre empfohlen.
Zwei Typen histo- Das motivliche und thematische Zentrum der meisten historischen Erzäh-
rischen Erzählens lungen und Romane für die Jugend sind in dieser Epoche Kriege, Feldzüge
und – sehr selten – auch Aufstände. Dabei müssen in idealtypisierender Be-
trachtung zwei Modi des Erzählens unterschieden werden: das kulturge-
schichtliche Erzählen, das vor dem blasser gezeichneten Hintergrund der Er-
eignisgeschichte die kulturelle und soziale Sphäre der (historischen oder fik-
tiven) Helden breiter ausfaltet, und das ereignisgeschichtliche Erzählen, das
auf die Aktionen der Helden im Kampfgeschehen konzentriert ist. Dem ins-
gesamt perspektivreicheren und Ambivalenzen eher zulassenden kulturge-
schichtlichen Erzählen kommt eine zentrale Bedeutung zu, wobei Gustav
Freytags erfolgreicher Romanzyklus Die Ahnen (1872 ff.) für die Jugendlite-
ratur als Orientierungspunkt gilt, was nicht nur O. Höckers Romanzyklen
(1879 ff.) und Augustis Zyklus An deutschem Herd (1885 ff.) explizit bele-
gen, sondern auch die meisten Reihen historischer Romane und Erzählungen
bis hin zu den Mainzer Volks- und Jugendbüchern erkennen lassen. Gerade
Nation, Geschichte, Krieg in der Kinder- und Jugendliteratur 231

für Mädchen, die nun, anders als in der vorhergehenden Epoche, ebenfalls
forciert in die vaterländische Erziehung einbezogen werden, gilt das kultur-
geschichtliche Erzählen als ›pädagogisch wertvoll‹. Viele der kulturgeschicht-
lich relevanten Stoffe sind zudem für eine historisch verfremdende Aufnahme
des virulenten Geschlechterdiskurses besonders gut geeignet, denn die für
solche Erzählungen typische Konzentration der Handlung auf die private
Sphäre eines ›großen Hauses‹, gar einer Burg oder eines Kaufmannshauses
zur Blütezeit der Reichsstädte, ermöglicht es, autonomes Frauenhandeln zu
zeigen, das sich zumal bei der kriegs- und berufsbedingten häufigen Abwe-
senheit der Männer als ›natürlich‹ und notwendig erweist. Das trifft v.a. für
Texte Augustis, aber auch für einige Texte männlicher Autoren zu. Zwar
stellt Augusti in ihren literarisch relativ komplexen, quellenbasierten Roma-
nen das traditionelle dichotome Geschlechtermodell nicht andauernd infrage.
Sie verleiht aber dem Widerspruch gegen dieses Modell immerhin mehrfach
eine sympathische Stimme, etwa wenn es die junge Jutta von Scharfeneck in
Edelfalk und Waldvöglein (1885) ungerecht findet, dass »die Frauen still
daheim sitzen und geduldig warten müssen«, und wenn sie nicht verstehen
kann, wie das zur Frauenverehrung des Minnesangs passt. Zudem entwirft
Augusti eine Reihe atypischer Mädchen- bzw. Frauencharaktere, die – wieder
im historisch verfremdenden Blick – tatkräftig und mutig sind und die auch
bewusst eine zur Ehe alternative Lebensform ergreifen können. In Das Pfarr-
haus zu Tannenrode (1886) begleitet die junge, katholische Lenore von Ro-
tenhahn, eine ›Wildkatze‹, sogar als Mann verkleidet ihren Vater auf einen
Feldzug. Dieser Roman über den Dreißigjährigen Krieg zeigt noch einen an-
deren Zug einer Reihe von kulturgeschichtlichen Romanen, nämlich eine
versöhnliche Tendenz. Er ist zwar konfessionell parteiisch, aber dennoch
weniger scharf polarisierend. Alle positiv gezeichneten Protagonisten der
beiden Kriegsparteien sind sich charakterlich ähnlich und formulieren von
Anfang bis Ende die Hoffnung, dass der Bruderkrieg bald enden möge.
Gleichfalls protestantisch orientiert, aber konfessionell versöhnlich ist Car-
lowitz’ Luther-Erzählung Aus dem Zeitalter der Reformation (1894). Münch-
gesangs bei Bachem erschienener Roman über den Dreißigjährigen Krieg
Nach schwerer Zeit (1900) kommt sogar ganz ohne eine konfessionelle Pole-
mik aus. Durchgängiges Thema ist vielmehr die allgemeine demoralisierende
Macht des Krieges.
Höckers fünf Zyklen kulturgeschichtlicher Erzählungen, die zwischen Oskar Höckers
1879 und 1896 erscheinen und bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit Erfolg kulturgeschichtliche
auf dem jugendliterarischen Markt bleiben, sind in der Geschichte der Kin- Romane
der- und Jugendliteratur insofern ein einzigartiges Unternehmen, als sich hier
buchhändlerisches Geschick und schriftstellerisches Talent in einem Groß-
projekt zur Legitimation der Führungsrolle des protestantischen Preußen im
Deutschen Reich zusammenfinden. Auf den engen Bezug zu Freytags Die
Ahnen verweisen nicht nur Verleger, Autor und die Titelgebung des ersten
Zyklus Das Ahnenschloß (1879 ff.); er erschließt sich auch bei der Lektüre
weiterer Zyklen, insbesondere von Der Sieg des Kreuzes (1884 ff.) und Merk-
steine des Bürgertums (1886 ff.). Bis in die Spätantike zurückgreifend und in
der jüngsten Gegenwart, der Flottenpolitik Kaiser Wilhelms II. endend, wer-
den teils miteinander vernetzte Geschichten erzählt, die auf die Führungsrolle
Preußens vorausweisen, diese legitimieren und als gleichsam natürliches Ent-
wicklungsziel der deutschen Geschichte erscheinen lassen sollen. Mit dieser
Funktionsbestimmung fügt sich das Projekt exakt in den allgemeinen Rah-
men der reichsdeutschen Erinnerungskultur ein. Die Romane sind – auch
dies ist zeittypisch – voller nationaler und rassistischer Klischees und Feind-
232 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

bildstereotype. Höcker etikettiert die Dänen, Wallonen und Kroaten als


›verschlagen‹, die Kroaten auch als ›grausam‹, die Österreicher als ›neidisch‹.
Stereotypen Der Hauptfeind der Deutschen, der »Erbfeind«, ist Frankreich. Schon in sei-
nem ersten zeitgeschichtlichen Roman, Soldatenleben im Kriege (1871),
spricht Höcker von »welscher« oder auch »fränkischer Tücke und Ränke-
sucht«; in späteren Texten sogar von einer »Entartung« des französischen
Volkes. Dass die Stereotypisierung der Schwarzafrikaner in seinem Zyklus
Unsere deutsche Flotte (1890 ff.) relativ gemäßigt ausfällt, ist in sich konse-
quent. Denn in diesen Romanen kommt es ja darauf an, den Kolonialerwerb
als preußisch-deutsches Missionswerk und das Verhältnis zwischen Schwar-
zen und Kolonialherren als Treueverhältnis auszulegen. Besonders bemer-
kenswert nun sind Höckers Thematisierung der Geschichte der Juden und
die Figurierung von Juden in seinen Romanen. Denn sie zeigen ein Judenbild
voller Ambivalenzen, das sich aber gleichwohl in den legitimatorischen Kon-
text seiner Werke einfügt: Einerseits nimmt Höcker seinerzeit gängige antise-
mitische Klischees auf. Er kontrastiert auf typische Weise ›gute‹ (patriotische)
und ›böse‹ (listige) Juden. Er dämonisiert, er exotisiert die Juden, besonders
Jüdische Figuren in Wuotans Ende (1888), einem Roman, der auf Karl den Großen und seinen
Hof konzentriert ist. Insgesamt wird aber deutlich, dass er, der Schauspieler,
der an Berliner Theatern selbst mehrmals Juden gespielt hat und der mit dem
berühmten Kapellmeister Hermann Levi befreundet war, unter dessen musi-
kalischer Leitung 1882 Wagners Parzival in Bayreuth uraufgeführt wurde,
mit der Geschichte des Judentums in der Zerstreuung gut vertraut war. Hö-
cker vertritt, so lässt sich aus den Texten schließen, die vollständige Assimila-
tion der jüdischen Bevölkerung unter christlich-nationaler Perspektive. Dabei
betont er die enge Verwandtschaft zwischen der jüdischen und einer christli-
chen Religion, die er als Höherentwicklung der jüdischen einstuft. In Unter
dem Joche der Zäsaren (1884), einem Roman über den jüdischen Aufstand
Bar Kochbas gegen Kaiser Hadrian, idealisiert er den jungen, zum Christen-
tum bekehrten Talmudisten Ruben als eine Christusgestalt. In Stegreif und
Städtebund (1894) figuriert er den Begründer des Rheinischen Städtebundes,
Arnold Walpot, als Vorbild, da dieser für ›Fremde und Eingesessene‹ densel-
ben Schutz und Schirm eingefordert und die verabscheuenswürdige Ausbeu-
tung jüdischer Händler durch die Raubritter (»Judenzoll«) beendet habe. In
seinem letzten Roman, Im Zeichen des Bären (1896), schließlich entwirft er
am Beispiel von Frauen sein Idealbild des preußisch-patriotischen und gleich-
zeitig anti-französisch eingestellten Juden, indem er die Geschichte der napo-
leonischen Besetzung und der Befreiungskriege – ein Thema, das er in mehre-
ren Romanen aufnimmt – aus Berliner Perspektive erzählt. Dabei geht es v.a.
um Henriette Herz und Rahel Lewin, »zwei geistvolle Jüdinnen, die mit den
bedeutendsten Männern jener Zeit im Verkehr standen«. Sie stellt er als Ge-
genbilder »zu jenen verkommenen Bürgern« vor Augen, die sich Napoleon
im Jahre 1806, bei seinem Einzug in Berlin, feige angedient hätten. Gerade
die Mitgliedschaft von Henriette Herz und Rahel Lewin in den Frauenverei-
nen jener Zeit macht in seinen Augen ihre Integration in den preußischen
Staat begründet und vollkommen. Angesichts der um die Mitte der 1890er
Jahre aufgeflammten scharf antisemitischen Tendenzen, von denen ja auch,
wie am Beispiel Lina Morgensterns bereits angesprochen, die Jugendschrif-
tenkritik erfasst wird, erscheint dies als eine klare Parteinahme.
»Rulaman« Rulaman (1878) ist der einzige kulturgeschichtliche Roman dieser Epoche,
der heute noch aufgelegt wird. Er ist in mehrfacher Weise außergewöhnlich.
Der Autor, der seinerzeit bekannte Theologe und Zoologe David Friedrich
Weinland, legt einen Text vor, den er selbst in reflektierter Weise zwischen
Nation, Geschichte, Krieg in der Kinder- und Jugendliteratur 233

Wissenschaft und Kunst ansiedelt, indem er eine ›naturgeschichtliche Sach-


erzählung‹ mit einer Romanfiktion kombiniert und verschmilzt. Dabei wird
die Zeit der erzählten Handlung in die prähistorische Epoche der ausge-
henden letzten Eiszeit verlegt. Der Ort der Handlung aber ist höchst gegen-
wärtig, denn es geht um berühmte, seinerzeit intensiv erforschte Höhlen in
der Schwäbischen Alb, die dem Leser anhand archäologischer Funde zu
Flora, Fauna und Kultur steinzeitlicher Höhlenmenschen vor Augen gestellt
werden. Die in der ersten Auflage vom Spamer-Verlag noch sehr qualitätvoll
ausgeführte Illustrierung unterstreicht den hybriden Charakter des Textes,
dem im stetigen Wechsel wissenschaftliche Illustrationen historischer Über-
reste, Abbilder wissenschaftlicher Rekonstruktionen und die Romanfiktion
stützende Textillustrationen beigegeben sind. Die Komplexität des Textes
ergibt sich auch daraus, dass selbst in der Romanfiktion mehrere Lesarten
angelegt sind: Unübersehbar ist eine darwinistisch-evolutionistische Lesart,
die im Übrigen auch der erklärten wissenschaftlichen Überzeugung des Au-
tors entspricht. Denn es geht um die Geschichte des kriegerischen Aufeinan-
dertreffens der »Stämme« zweier »Menschenracen« unterschiedlicher Ent-
wicklungsstufen, es geht um die Vernichtung und Versklavung der niederen
durch eine höher entwickelte »Race«. Weinland nennt diese ›Rassen‹ die aus
dem Norden eingewanderten »gelben Ureuropäer« (»Aimats«) der Altstein-
zeit, zu denen auch der junge Held Rulaman gehört, und die »weiße, höhere
Menschenrace« (»Kalats«, »Kelten«, »erste Arier«), die zur Zeit der erzähl-
ten Handlung aus dem Osten und Süden in den Raum der Schwäbischen Alb
eingedrungen sei. Fokussiert man nun aber die Geschichte der jugendlichen
Protagonisten des Romans, dann rücken Freundschaft und Versöhnung als
zentrale Themen ins Zentrum. Die Kalats haben die Aimats zwar vernichtet
und versklavt. Aber das war ein Werk der verfeindeten religiösen Führer
dieser Stämme, der Schamanin der Aimats und des Druiden der Kalats. Am
Ende geht die Macht dieser Führer unter. Die »alte Parre«, die Schamanin,

David Friedrich Wein-


land: Rulaman. Naturge-
schichtliche Erzählung
aus der Zeit des Höhlen-
menschen und des
Höhlenbären. Leipzig
1878
234 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

stürzt sich unter düsteren und grausigen Prophezeiungen aus einer Felsspalte
auf den Druiden und reißt ihn mit sich in die Tiefe. Die verwaisten Häupt-
lingskinder dagegen, die Geschwister Kando und Welda einerseits und Rula-
man andererseits, bilden einen Freundschaftsbund fürs Leben. Kando wird
die Herrschaft der Druidenkaste ablösen, und Rulaman und Welda – so deu-
tet sich an – werden später einmal heiraten. Entsprechend lautet denn auch
der versöhnliche Schluss des Romans: »Drüben auf dem Rufaberge wächst
ein uralter Epheu an den Burgruinen. Und der Epheu malt in großen Zügen
auf dem grauen Gestein seltsam verschlungene Zeichen. Und wer sie zu deu-
ten versteht, liest: Rulaman, Welda und Kando.« Auch diese Lesart ist im
Übrigen mit Darwins Evolutionismus vereinbar.
Aus der Masse der ereignisgeschichtlichen Kriegsromane fallen – neben
Titeln zu bereits in der vorherigen Epoche marktgängigen Themen wie dem
Dreißigjährigen Krieg, den Türkenkriegen und den Feldzügen der napoleo-
David Friedrich Weinland
nischen Ära – insbesondere die vielen historischen und historisch-biogra-
phischen Erzählungen zum deutsch-französischen Krieg, zu Bismarck und zu
Kaiser Wilhelm I. auf; dazu gehören etwa Höckers Soldatenleben im Kriege
Themen der (1871), Wilhelm Lackowitz’ Aus dem Jahre 1870/71 (1887), Hermann
Kriegsromane Jahnkes Kaiser Wilhelm der Siegreiche (1888), Taneras Hans von Dornen
(1891), Albert Kleinschmidts Welscher Frevel, deutscher Zorn (1897), Kotz-
des Die Geschichte des Stabstrompeters Kostmann (1910), dann die Bis-
marck-Romane und -Erzählungen von Felseneck, Höcker, Ohorn, Jahnke
u. a. Aber auch die zahlreichen Texte zu den Feldzügen der Jahre 1806–1813
und zu Königin Luise erhalten gegenüber der früheren Epoche neue Akzente,
entwerfen bisweilen sogar, wie z. B. in Felsenecks Königin Luise (1898), Züge
der Militarisierung des ›preußischen Engels‹. Mit dem Sieg der Deutschen
über Frankreich und dem Erwerb der Kaiserkrone durch Luises Sohn Wil-
helm ist, so der Tenor, die ›preußische Schmach‹ der Jahre 1806/07, als das
Königspaar von Berlin ins Exil ging, endgültig gerächt. Als 1913 im Vorfeld
und Umfeld der Jahrhundertfeiern der Völkerschlacht von Leipzig noch ein-
mal eine große Menge an Erinnerungstexten auf den Markt geworfen wird,
fließt bereits eine Vorkriegsstimmung in eine Reihe von Texten mit ein. Die
zeitgeschichtliche Weltkriegsliteratur schließlich konstruiert, in Übereinstim-
mung mit dem seinerzeit führenden Historiker Karl Lamprecht, eine Linie
der deutschen ›Einigungskriege‹, mit den Spitzendaten 1813, 1870/71 und
1914. Besonders attraktiv für jugendliche Leser scheint aber auch die Figur
des Major Schill, der ohne einen entsprechenden Aufruf des preußischen
Königs ein Corps gegen Napoleon bildet und im Kampf stirbt, eine Ge-
schichte, die von Kühns Ferdinand von Schill (1862), über Glücksbergs Im
Jahre 1809 (1882), verschiedene Texte Höckers u. a., bis zu Kotzdes Der
Schillsche Zug (1908) immer wieder erzählt wird. »Ein Parteigänger zu wer-
den, meinem Vaterlande, wenn es unter tausend Wunden stöhnen würde wie
ein gebunden Tier, durch kühne Wagnisse Stützen zu geben, der Wunsch hat
mich nie verlassen.« So sagt auch der Erzähler in Detlev von Liliencrons
Kriegsnovellen (Jugendauswahl 1899) in der Erinnerung an entsprechende,
ihn als Knaben faszinierende Jugendlektüren. Aber auch die Figur der jungen
Kriegsheldin taucht nun mehrfach in der Jugendliteratur auf, etwa in einer
Reihe von Texten, die auf die ›Schwertjungfrauen‹ der Befreiungskriege kon-
zentriert sind. Auf demokratische Traditionen bezogene Freiheitskämpfe
oder Revolutionen werden in der Jugendliteratur dieser Epoche nur aus-
nahmsweise, in der Regel sehr verhalten thematisiert. Einige interessante
Texte, wie Jakob Novers Wilhelm Tell und die Freiheitskämpfe der Schweiz
(1899), Agnes Willms-Wildermuths Renée oder im Sturm erprobt (1896), ein
Krieg und Geschlecht in der jugendliterarischen Erzählprosa 235

Roman über die französische Revolution, sowie Carlowitz’ Erzählungen


über die Burschenschaftsbewegung und über die 1848er Revolution Anbruch
einer neuen Zeit (1898) und Auf dem Wege zur deutschen Einheit (1898)
sollen aber wenigstens erwähnt werden. Der interessanteste, im Zeitrahmen
völlig ungewöhnliche Text ist Robert Münchgesangs Spartacus der Sklaven-
Feldherr (1895), eine Erzählung über den dritten Sklavenkrieg in Rom (73–71
v. Chr.), in der Spartacus, der Anführer des Aufstands, als eine einsame, nach
Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit strebende, tragische Figur mit
christlicher Gesinnung vorgestellt wird, die ihrer Zeit weit voraus ist. Münch-
gesangs historische Romane bilden überhaupt einen interessanten jugendlite-
rarischen Kontrapunkt zum Haupttenor der Jugendliteratur.

Krieg und Geschlecht in der jugendliterarischen


Erzählprosa

In den Kriegserzählungen und Romanen wird in der Regel ein Männerraum ›Männerräume‹
in Szene gesetzt. Er kann zwar familienähnlich ausgestaltet werden, insofern der Kriegsliteratur
etwa Beziehungen zwischen höherrangigen, älteren Offizieren und jungen
Soldaten auch Vater-Sohn-Verhältnisse abbilden, wie z. B. in Fogowitz’ Durch
Kampf zum Sieg (1880), Zobeltitz’ Unter dem eisernen Kreuz (1895) oder V.
Schultz’ (d. i. Veronika Lühe!) Auf der Wacht im Osten (1915). Auch die
häufig dargestellten Situationen des Biwakierens, etwa in Höckers Kriegsro-
manen, erinnern an heimelige Familienszenen. So heißt es auch in Scherls
Jungdeutschland-Buch 1915, beim Biwak sollten sich die Jungen »ebenso
wohl fühlen wie im behaglichen Elternhause«. Letztlich geht es aber in dieser
Literatur um das Vertrautwerden mit dem Sozialziel der ›Mannwerdung‹,
das in dieser Epoche zunehmend militaristisch ausgelegt wird. Das bedeutet
die Identifizierung mit dem Ideal eines Kriegers und Soldaten, dessen Körper
stark und belastbar ist, der Disziplin und Gehorsam in einer hierarchischen
Ordnung akzeptiert, der Mut, Aufopferungsbereitschaft und Kameradschaft-
lichkeit entwickelt. Einjährig-Freiwilligen-Romane wie Wolf von Baudissins
Ein Jahr in Waffen (1911) oder eben Kriegsromane lassen sich in diesem
Sinne als Initiationsromane auslegen. Von klassischen Abenteuerromanen
unterscheiden sie sich – in idealtypischer Betrachtung – dadurch, dass die
jungen Helden dieser Romane keine Einzelkämpfer sind, sondern dass sie
ihre Grandiositätsfantasien vom Ich auf die Gemeinschaft verlagern, dass es
für sie eine Lust ist, Glied eines funktionierenden Ganzen zu sein. Es komme
darauf an, heißt es im schon erwähnten Jungdeutschland-Buch, die typischen
›Knabenfantasien‹ vom tapferen, stürmenden, siegenden Soldaten aufzuneh-
men, um sie in die militärische Haltung des Sich-Einfügens und der Opferbe-
reitschaft zu überführen. Genau in diesem Sinne wird in der Kriegsliteratur
der sittlich läuternde, entwicklungsfördernde Einfluss des Krieges auf die
Jungen immer wieder betont. Allerdings finden wir in der Jugendliteratur
durchaus unterschiedliche Konzeptionierungen junger Kriegshelden. So er-
zählt Fogowitz in Durch Kampf zum Sieg die – gemessen an dem militaristi-
schen Ideal der Mannwerdung – etwas ›altmodische‹ Geschichte eines vom
Erzähler so genannten »Trotzkopfs«, der seinen Eigensinn nicht aufgeben
will. In der breitenwirksamen, häufig zynischen ›Kriegs-Schundliteratur‹, wie
in Lackowitz’ Aus dem großen Jahre 1870/71 (1887), erscheint der Kriegs-
236 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

schauplatz auch als eine Art Raufplatz für Gruppen- und Zweikämpfe, mit
Todesfolge. Daneben ist die Verknüpfung von jugendlicher Grandiositätsfan-
tasie und Technikfaszination zu finden, etwa in der Erzählung über einen
technikbegeisterten Primaner, dem im Weltkrieg die besondere Aufgabe
übertragen wird, mit dem Motorrad Patrouille durch die feindlichen Trup-
pen hindurch zu fahren (Scherls Jungdeutschland-Buch, 1915). Überhaupt
scheint, folgt man der Literatur, der Dienst im Bereich der außerordentlich
zerstörerischen modernen Kriegstechnik, v.a. der Kriegsschiffe, Flugzeuge,
Zeppeline und ihrer schweren Geschütze, von besonderer Anziehungskraft
auf die Jugend. Entsprechende Jugendbücher jedenfalls, wie Hugo Waldeyers
Ran an den Feind (1915) oder Walter Heichens Mit Zeppelin und Flugzeug
(1915), setzen mit ihren Bildern sinkender Schiffe, brennender Städte und
Ortschaften, über denen deutsche Luftgeschwader und das Luftschiff als
neuer »Riesenmörder der deutschen Artillerie« »Strafgerichte« vollziehen,
offenkundig auf diese Faszination.
›Moderne‹ Kriegsprosa Der ›moderne‹ Held der Kriegsliteratur, der dem militärischen Ideal der
Mannwerdung vollständig entspricht, wird bereits in Taneras Hans von Dor-
nen (1891), einem Roman über den deutsch-französischen Krieg, entworfen.
Tanera, der mit 16 Jahren in den Militärdienst eingetreten war und als junger
Mann an den Schlachten des deutsch-französischen Kriegs teilgenommen
hatte, zeitweilig in der kriegsgeschichtlichen Abteilung der preußischen Mili-
tärakademie tätig war und eine Reihe militärischer Schriften verfasst hat,
darunter Offiziersleben im Krieg und Frieden (1889), war mit diesem Ideal
genauestens vertraut. Hans von Dornen ist auch insofern ein besonderer
Text, als in ihm bereits die Härten eines ›absoluten Kriegs‹ in einer Weise
idealisiert und ästhetisiert werden, die schon auf die Weltkriegsliteratur und
sogar auf Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920) vorausweist. Es ist ein Ro-
man, der ganz und gar in Bezug auf das Schlachtgeschehen durchrhythmisiert
ist. Marsch (mit Gesang), Biwak oder Einquartierung, Schleichpatrouille,
Belagerung, Schlacht, Ende des Kampfes und – in Ruhepausen – Verwundete
und Tote bergen und versorgen: das sind die von einem Höhepunkt, dem
Schlachtgeschehen selbst, zum anderen sich wiederholenden Handlungsele-
mente. Und der 16-jährige Held erlebt dabei, dass er letztlich keinen indivi-
duellen Ruhm sucht, sondern dass ihm das Höchste ein geradezu instinktar-
tiges Aufgehen im ›Truppenkörper‹ ist, der das Kriegsgeschehen trägt. Er er-
fährt, was »Schlachtahnungen« sind und das damit verbundene Gefühl,
»sich rücksichtslos selbst zu opfern«: »Wie mit Magneten zieht es die seit-
und rückwärts marschierenden Truppen nach den Hauptteilen ihres Corps;
es überkommt jeden, man kann sagen instinktartig, das Gefühl, daß nur im
festen Zusammenhalten, in gegenseitiger treuer Unterstützung der Erfolg
liegt.« Auch Taneras Held in Der Freiwillige der ›Iltis‹ (1900) ist Element ei-
ner sich wie eine »Maschine« unaufhaltsam bewegenden, »unwiderstehli-
chen Masse«. Die Untergangsszene des Kanonenboots »Iltis«, das nicht etwa
in einem Seegefecht unterliegt, sondern im Sturm auf einen Felsen aufläuft,
inszeniert Tanera als eine von »Manneszucht«, Gesängen und Hurrarufen
für den Kaiser geprägte Szene, wie sie ebenso in Romanen über den Unter-
gang deutscher Schiffe im Ersten Weltkrieg stehen könnte. Die Herausbil-
Johanna Klemm: Die wir
dung eines auf das Schlachterlebnis konzentrierten, geradezu bannenden Er-
mitkämpfen. Erzählung
für junge Mädchen und zählens finden wir auch in einigen der Kriegsnovellen Liliencrons, wobei
ihre Mütter. Silhouetten dessen mimetisches, impressionistisch verknapptes Erzählen eine besondere
auf Innenumschlag und Erlebnisdichte erzeugt, wie ein Ausschnitt aus einer Schleichpatrouille an-
Vorsatzblatt. Leipzig deuten mag: »Los... Schst... Katzen auf dem Raubzug... Kein Geklirr... Vor-
1916 sichtig, vorsichtig, langsam schleichend [...]. Was war das? Langer Halt. War
Krieg und Geschlecht in der jugendliterarischen Erzählprosa 237

nichts... wieder weiter...«. Zur ›Schlachtästhetik‹, die sich im Feld der ereig-
nisgeschichtlichen Kriegserzählungen dieser Epoche herauszubilden beginnt,
gehört aber auch die konkretisierende Darstellung der Mühen endloser Mär-
sche sowie des Schlachtfelds, mit schrecklich Verwundeten und qualvoll
Sterbenden. Hier sind wieder Liliencron, aber auch Tanera zu nennen, die
wenigstens die Augen vor dieser Seite des Kriegs nicht verschließen. Das wird
auch deutlich, wenn man diese Texte mit dem von Generationen Jugendli-
cher seit dem Ersten Weltkrieg gelesenen Kultbuch von Walter Flex, Der
Wanderer zwischen beiden Welten (1917), vergleicht, in dem der Blick des
Ich-Erzählers auf den getöteten Freund nur einen »feiertäglich große[n] Aus-
druck geläuterter Seelenbereitschaft und Ergebenheit in Gottes Willen«
wahrnimmt.
Analog zu der an Jungen adressierten Literatur dienen die historischen ›Frauenräume‹ der
und zeitgeschichtlichen Kriegserzählungen und Romane für junge Mädchen, Kriegsliteratur
die sich in dieser Epoche als eigene Genres auf dem Markt etablieren, der
nationalen ›Mobilmachung‹ für den immer wieder als ›heilig‹ bezeichneten
Krieg und entwerfen gleichzeitig Bilder der ›Frauwerdung‹. Expliziter noch
als in der Jungenliteratur versteht diese Literatur den Krieg als ›Entwick-
lungshilfe‹. Der Krieg ›reift‹ den Menschen – das wird in allen Texten, die in
der Regel die Gattungsstrukturen der Backfischromane, mit der für den Lie-
besroman typischen Schlussgebung modifizieren, formelhaft wiederholt.
Gleichzeitig wird aber die zeitgenössische Dynamisierung der traditionellen
Geschlechtsrollen und Geschlechtscharaktere in ihnen auf vielschichtige
Weise widergespiegelt: Denn der Krieg fordert eine größere Selbständigkeit
von Mädchen und Frauen. Er führt das junge Mädchen klar umrissenen und
wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben zu, wertet es auf: »Jetzt wissen wir
Mädchen doch, wozu wir auf der Welt sind [...]. Früher wußten wirs ja
nicht«, heißt es in Nieses Barbarentöchter (1915). Andererseits wird aber der
Geschlechterdualismus im Krieg radikalisiert. Denn die Frau soll in besonde-
rer Weise auf die ihrer vorgeblich mütterlichen Natur entsprechenden sozi-
alen Friedensdienste festgelegt sein, und sie soll Söhne als künftige Krieger
gebären, während der als Krieger idealisierte Mann seine destruktive Natur
auslebt und gleichzeitig das ›Privileg‹ hat, im Krieg den Heldentod für das
Vaterland zu sterben. Dass die »wunderbare Größe des Heldentodes« den
Mann der Frau prinzipiell überlegen mache, wird von Gertrud Bäumer, der
Vorsitzenden des 1894 gegründeten Bundes deutscher Frauenvereine, die zu
Kriegsbeginn ein umfassendes Netzwerk sozialer Frauendienste aufbaut, im-
mer wieder beteuert. In dieser Perspektive ist die ›Heldenmutter‹, die ihr
Liebstes, den Sohn, opfert und deren Bild die Kriegspropaganda und ebenso
die Kriegsliteratur durchzieht, eine ›aufgewertete Frau‹, weil sie am Opfertod
des Sohns teilhat. Auch in der Mädchenliteratur wird dieses Bild immer wie-
der aufgenommen und in Else Hofmanns Deutsche Mädel in großer Zeit
(1916) sogar ins Zentrum der Romanhandlung gerückt.
In den mädchenliterarischen Kriegsromanen, die fast ausnahmslos den für
Ambivalenzen durchlässigeren Typus des kulturgeschichtlichen, nicht des
ereignisgeschichtlichen Erzählens variieren, spiegelt sich das skizzierte Frau-
enbild allerdings keineswegs ungebrochen. Das hängt auch damit zusammen,
Johanna Klemm: Die wir
dass die Autorinnen dieser Texte viel häufiger als ihre für Jungen schrei-
mitkämpfen. Erzählung
benden männlichen Kollegen Strategien polyphonen und polyperspekti- für junge Mädchen und
vischen Erzählens entwickeln. Besonders auffällig ist, wie oft die jungen ihre Mütter. Silhouetten
Protagonistinnen der Romane zumindest den Wunsch formulieren, das für auf Innenumschlag und
die Frau umgrenzte Tätigkeitsfeld zu durchbrechen. Nieses erfolgreicher Vorsatzblatt. Leipzig
Roman über den Dreißigjährigen Krieg Das Lagerkind (1914), Kochs Ro- 1916
238 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

man über die Zeit des Schlesischen Kriegs Die Patentochter des alten Fritz
(1916) sowie Harbous Weltkriegsroman Gold im Feuer (1916) figurieren
besonders mutige Mädchen, die die Nähe zum Kriegsschauplatz nicht fürch-
ten. Grete Hallberg stellt in Eine Kriegsheldin (1916) die historische Figur
der polnischen Kriegsfreiwilligen des Ersten Weltkriegs Stanislawa Ordinska
ins Zentrum, die – ähnlich wie die Protagonistinnen in Bakes und Kochs
Kolonialromanen – sogar das Tötungstabu der Frau bricht. In Helms Das
vierblättrige Kleeblatt (1878), einer Erzählung über die Befreiungskriege,
zieht eine der Protagonistinnen als Mann verkleidet ins Feld, um den gefan-
genen Geliebten zu retten. Die Protagonistin in Kochs erfolgreichem Roman
über den deutsch-französischen Krieg Aus großer Zeit (1908) – ein Schlüssel-
text dieses Genres, auch in Bezug auf die Weltkriegsliteratur und die natio-
nalsozialistische Mädchenliteratur – findet es ungerecht, dass nur ihr Bruder
in den Krieg darf. In einer mutigen Aktion holt sie einen Verwundeten vom
Schlachtfeld, der später ihr Mann wird. Auch Lotte in Wanda Gellerts Welt-
kriegsroman Stilles Heldentum (1916) beneidet die Männer, die »hinauszie-
hen können und dreinschlagen«. In Klemms Die wir mitkämpfen (1916) will
die Offizierstochter Ruth »ran an den Feind«, und in Kloerss Im heiligen
Kampf (1915) seufzt der Backfisch Maria »Ich wollte, ich könnte auch mit!«
und beruft sich auf die Heldenjungfrauen der Freiheitskriege. Auch Renate in
Augustis Jugendfreunde (1916) empfindet die Trennung von ihrem Jugend-
freund Arnold als Zurücksetzung. Auch sie möchte hinausziehen und an sei-
ner Seite gegen die »Feinde des Vaterlandes kämpfen«; als Frontkranken-
schwester wird sie am Ende bei dessen Tode dabei sein. Aber auch in umge-
kehrter Richtung können sich Tendenzen einer Entpolarisierung der
Geschlechtscharaktere in dieser Literatur ausprägen: Zwar wird bisweilen,
etwa in Lilly Braumann-Honsells Ein deutsches Herz in großer Zeit (1915)
und in Marga Rayles durch und durch zynischem Buch Majors Einzige im
Kriegsjahr (1915) der Krieg als Medium der Wiederherstellung des virilen
Mannes bzw. als Ende der ›Verweichlichung‹ des Mannes gefeiert. Andere
Autorinnen, etwa Helm und Kloerss, führen in ihre Romane aber Figuren
junger Ärzte ein, die nicht dem Idealtyp des Kriegers, sondern eher einer
weiblichen Geschlechtscharakteristik entsprechen. In Cléments Sturmgebraus
(1915) und Kloerss’ In heiligem Kampf wird zudem teilnehmend von ver-
wandten und bekannten jungen Soldaten erzählt, die die Härte des Kriegs
nicht ausgehalten haben und von der Schlacht bei den masurischen Sümpfen
in tiefer Depression, nervlich zerrüttet zurückgekehrt sind.
Die eigentliche Kriegsheldin ist allerdings das junge Mädchen, das pflegt,
heilt und tröstet. Fast kein Kriegsroman, jedenfalls fast keiner der zahlreichen
Weltkriegsromane kommt ohne das Motiv des Pflegens und Heilens durch
die Frau und ohne die Figur der jungen Krankenschwester oder Pflegerin
aus. Auch Mädchen, die anfangs mit in den Krieg ziehen möchten, entwi-
ckeln sich in diese Richtung. Am Ende verloben sie sich häufig oder heiraten
den verwundet heimgekehrten Soldaten. Es scheint damit auf den ersten
Blick so, als modelliere diese Kriegsliteratur – dem Handlungsmodell des
Mädchen-Liebesromans entsprechend – also letztlich das traditionelle Weib-
lichkeitsbild, in dem Rollen und Geschlechtscharakter der Frau lediglich an
die Extremsituation des Kriegs angepasst sind. Schaut man allerdings ge-
nauer darauf, wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in dieser Lite-
Krankenschwester und ratur in Szene gesetzt oder auch diskutiert wird, dann wird gleichzeitig die
Soldat – Illustration zu Unterhöhlung dieses Bildes sowie eine Tendenz zur ›Verkehrung‹ der auf der
Hilde Stirner von Amalie Oberfläche ›funktionierenden‹ traditionellen Geschlechterdichotomie be-
Baisch. Berlin 1909 merkbar. Denn die zu Beginn des Kriegs noch formulierte schwärmerische
Krieg und Geschlecht in der jugendliterarischen Erzählprosa 239

Sophie Kloerss: Im
heiligen Kampf. Eine
Erzählung für junge
Mädchen aus dem
Weltkrieg. Buchdeckel.
Stuttgart 1915

Bewunderung gegenüber dem ›höherwertigen‹ Mann kann in ein exzessives


Bedürfnis umschlagen, denselben Mann zu pflegen, wenn er hilflos, womög-
lich schwer verwundet, als »Krüppel«, wie es immer wieder heißt, heimkehrt,
wobei auch latent aggressive Dominanz- und Abhängigkeitsfantasien formu-
liert werden. So träumt in Hoffmanns Deutsche Mädel in großer Zeit der
Soldat Hans im Feld von seiner IIse, die ihm zu Kriegsbeginn Feigheit vor
dem Feind vorgeworfen hatte und die nun Pflegerin im Heimatlazarett ist:
»Und fern, fern im Schützengraben im Osten saß einer und dachte an Ilse, an
das herzige, fürsorgliche Puppenmütterchen von einst. Das Pflegen lag in ihr,
das Zärtlichsein mit den Hilflosen. Das war eine köstliche, echt weibliche
240 Vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg

Seite, die in der kleinen Ilse gelegen hatte und die jetzt in der großen Ilse er-
wacht war.« Bisweilen ist es nun auch die Frau, die wie in Nasts Mit Waffen
der Nächstenliebe (1915) den Heiratsantrag stellt, weil der heimkehrende
Mann keinen Mut dazu hat. In Felsenecks Trotzkopfs Erlebnisse im Welt-
krieg (1916) gerät eine entsprechende Situation geradezu zur selbstentlar-
venden Karikatur, wenn Ilse Macket dem an Bein und Arm zerschossenen
Verlobten, der meint, er könne ihr Mann nicht mehr werden, in Bibelworten
zuspricht: »O, Leo, dann führe ich dich. [...] Mein Arm leitet dich. O, Leo,
was gibt es Herrlicheres für ein liebend Weib auf Erden, als Schutz und Stab
ihres Gatten zu sein?« Ausnahmsweise kann die durch den Krieg bedingte
Geschlechter-Konstellation aber auch einen ernsthaften und differenzierten
Diskurs über die Gleichheit von Mann und Frau provozieren, wie in Clé-
ments Morgenrot (1916), wo die Frage, ob ein Soldat, der in den Krieg zieht,
überhaupt heiraten darf, als Generationenkonflikt, als Gegensatz zwischen
›alter Zeit‹ und ›neuer Zeit‹, zwischen militaristischem und ›neuem‹ Männ-
lichkeitsbild und einem entsprechenden Liebes- und Ehekonzept diskutiert
wird. Nur in der Erzählung der religiösen Schriftstellerin Helene Christaller
Fürchte Dich nicht! (1918), einem Text, der erscheint, als die Konjunktur der
Mädchen-Kriegsromane schon ausgelaufen ist, werden Motiv- und Figuren-
repertoire sowie die typische Handlungsführung dieser Genres durchgängig
konterkariert. Der Haupthandlungsort dieser Erzählung ist weder Familie
noch Lazarett, sondern die Munitionsfabrik, in der im Weltkrieg auch fak-
tisch viele junge Mädchen und Frauen gearbeitet haben. Schon mit dieser
direkten Einbeziehung der Frau in die Tötungsmaschinerie wird die in den
übrigen Mädchenromanen jedenfalls oberflächlich noch vertretene Opposi-
tion von zerstören und heilen, Männerwerk und Frauenwerk im Kriege ad
absurdum geführt. Auch Gebärpropaganda und das ›Mutteropfer‹, das
Christaller selbst in Die unsere Hoffnung sind (1916) noch verherrlicht hatte,
werden in einer expressiven Szene, durch die Fieberrede eines sterbenden
Soldaten ›verkehrt‹ und zu einer Anklage gegen die Mütter, die ihre Söhne
mit in den Krieg hineingetrieben haben: »Jetzt aber sind die Brüste der Müt-
ter welk und unfruchtbar geworden, Söhne fluchen dem Leib, der sie getra-
gen, dem Arm, der sie geleitet, denn das Leben wurde namenlose Qual, und
die sie hineingeboren hatten, wurden zu Schuldnern ihrer Knaben.«
241

Weimarer Republik

Helga Karrenbrock

Kindheiten in der Weimarer Republik

Der Erste Weltkrieg »war das Epochenereignis, vor dem sich die Weimarer
Kultur profilierte und das alle zu Zeitgenossen machte«, formuliert die Han-
ser-Literaturgeschichte bündig. Galt das auch für die Kinder, den Diskurs
über Kindheit und die kinderliterarischen Verhältnisse?
Die bürgerlich-parlamentarisch verfasste Weimarer Republik, ein Ergebnis Materielle
des verlorenen Krieges und der Novemberrevolution, war eine »Republik Bedingungen
ohne Gebrauchsanweisung« (Döblin), sie wurde in den 14 Jahren ihres Be-
stehens nicht zum »Normalfall« (Weyergraf), wie ihre deutlich akzentuierten
drei Phasen zeigen: 1919–24 revolutionäre Nachkriegskrise; 1925–29 Phase
der relativen Stabilisierung; 1930–33 Weltwirtschaftskrise und Faschisie-
rung.
Die Weimarer Republik stand vor enormen Aufgaben: Sie hatte die Hypo-
thek des Wilhelminismus zu tragen, die Kriegsfolgen zu bewältigen und
gleichzeitig die politischen und sozialen Verhältnisse im Sinne eines demo-
kratischen Staatswesens neu zu ordnen. Mit der Einführung des allgemeinen
und gleichen Wahlrechts, der rechtlichen Gleichstellung der Frau und der
Einführung des Achtstundentages, der Anerkennung der Gewerkschaften als
Tarifpartner sowie der Presse- und Versammlungsfreiheit waren formalrecht-
lich elementare demokratische Rechte erreicht, weitergehende Forderungen
des revolutionären Flügels der Arbeiterbewegung nach Sozialisierung der
Schlüsselindustrien blieben erfolglos. Eine Lösung der schon aus dem Kaiser-
reich übernommenen ›sozialen Frage‹ stand weiterhin aus; sie blieb die ge-
samte Zeit der Weimarer Republik über virulent und zeitigte vom linken bis
zum rechten Spektrum unterschiedlichste politische Antworten: von der
›Diktatur des Proletariats‹ und rätedemokratischen Vorstellungen über bür-
gerlich-republikanische Positionen bis hin zur nationalsozialistischen Ideolo-
gie der Volksgemeinschaft.
In dem Machtvakuum, das die alten, abgedankten Autoritäten zunächst
hinterließen, wurden mit den politischen Verhältnissen auch die Familien-
und Generationsverhältnisse neu vermessen. Nachkriegszeit, Inflation und
Weltwirtschaftskrise lassen Familienkindheit nicht unberührt. Erfahrungen
von Hunger und latenter Gewalt gehören zum Nachkriegsalltag. Eine große
Zahl von Kindern wächst mit invaliden Vätern oder ganz ohne Väter auf. Die
Inflation hat die kollektive Verarmung – und Politisierung – breiter Mittel-
schichten zur Folge. Diese Tendenzen verschärfen sich in der krisenhaften
Endphase der Republik. Deklassierungsängste, Hunger, abwesende oder ar-
beitslose Väter und berufstätige, alleinerziehende Mütter stellen das bürgerli-
che Projekt der Familienkindheit als umhegte Schutzsphäre infrage; auch
bürgerliche Kindheit wird, wie die proletarische seit je, jetzt tendenziell als
krisenhafte und krisenanfällige erfahren. Das pädagogische Wunschbild von
242 Weimarer Republik

der heilen Kinderwelt und der glücklichen Kindheitsidylle, das die Folie für
das ›Jahrhundert des Kindes‹ und die Bewegung ›vom Kinde aus‹ seit der
Jahrhundertwende abgab, lässt sich nun auch für die bürgerliche Kindheit
allenfalls noch einklagen.
Auf der anderen Seite führt die Einrichtung der vierklassigen allgemeinen
Grundschule für alle Kinder durchaus zu einem Aufschub der sozialen Privi-
legierung der Bürgerkinder und zu einer möglichen Annäherung proleta-
rischer Kindheit an die bürgerlichen Kindheitsschonräume, ebenso wie sozi-
alstaatliche Modernisierungsgesetze, etwa das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz
(1922). Zumindest auf Gesetzesebene wurde versucht, allen Kindern einen
einzigen ›Status Kindheit‹ zu garantieren. Dennoch ist es zutreffender, weiter-
hin von ›Kindheiten‹ zu sprechen: Bürgerliche und proletarische Kindheiten
nähern sich zwar gerade in der Stabilisierungsphase der Republik einander
an, das bürgerliche Konstrukt der ›Kinderkindheit‹ trifft aber auf Letztere
nur in Ausnahmefällen zu. Für die Mehrzahl der Arbeiterkinder in der Groß-
stadt bedeuten die 14 Jahre der Weimarer Republik Entbehrungen und sozi-
ale Unsicherheit. Sie wohnen in Mietskasernen mit Ein- bis Zweizimmer-
wohnungen ohne sanitäre Einrichtungen; in diesen Wohnungen leben in der
Regel vier bis fünf Personen, die Hälfte der Kinder hat kein eigenes Bett. Ihre
unmittelbare Lebenswelt ist nicht das traute Heim und der Garten, sondern
die Straße. Dort spielen sie oder betätigen sich auf der Suche nach zusätz-
lichem Einkommen als Straßenhändler, Zeitungsverkäufer, Bettler oder sogar
als Diebe.
Weimarer Kultur: Vor allem die Stabilisierungsphase hat das Bild der demokratischen ›Wei-
›Modernisierungs- marer Kultur‹, der sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre, geprägt. Die
prinzip Sachlichkeit‹ amerikanische Finanzhilfe des Dawes-Plans ermöglichte den wirtschaftlichen
Wiederaufstieg Deutschlands und die Modernisierung der Produktion durch
den Einsatz der fortgeschrittensten amerikanischen Produktionsmethoden
wie Standardisierung, Rationalisierung und Massenproduktion. Die Arbeits-
losigkeit sank, Löhne und Gehälter erreichten das Vorkriegsniveau; im ›bes-
ten Jahr‹ der Weimarer Republik, 1927, übertraf die Industrieproduktion
erstmals die der Kaiserzeit. Im Bereich der neuen Verkehrs- und Massenkom-
munikationsmittel und im tertiären Sektor entstanden neue Berufssparten,
die auch für Frauen Erwerbsmöglichkeiten jenseits der traditionellen sozial-
pflegerischen Tätigkeiten boten: Die Angestellten, gerade auch die weib-
lichen, trugen fortan einen erheblichen Teil der großstädtischen industriellen
Massengesellschaft.
Für den Lebensstil in dieser kurzen Zeitspanne, in der »die Republik in
einer zivilen Sphäre der Sicherheit zu sich selbst kommen konnte« (Lethen),
hat sich die Kennzeichnung ›Neue Sachlichkeit‹ eingebürgert. Als eine Art
»Verdoppelung der Zweiten Industriellen Revolution in Alltagswelt, Kultur
und Psyche« (Sloterdijk) entwickelt sich der Habitus der Neuen Sachlichkeit
vor allem auf der Basis des Einverständnisses mit den gesellschaftlich-tech-
nischen Modernisierungsphänomenen und dem kulturell Neuen, an dem die
neuen Medien Fotographie, Illustrierte, Reklame, Rundfunk – und vor allem
der Film – ihren besonderen Anteil haben. Ebenso wie der rasant wachsende
Auto- und Flugverkehr prägen sie die neue großstädtische Massenkultur
speziell der Metropole Berlin. Um ›Weekend‹, Sport, Kino, Jazz und Unter-
haltung dreht sich ein »Kult der Zerstreuung«, der nach Siegfried Kracauers
bekanntem Diktum ein »homogenes Weltstadt-Publikum« formt, »das vom
Bankdirektor bis zum Handlungsgehilfen, von der Diva bis zur Stenotypistin
eines Sinnes ist«. Im Rahmen dieser Demokratisierung großstädtischer All-
tagskultur entsteht auch das Leitbild der berufstätigen ›Neuen Frau‹, die sich,
Kindheiten in der Weimarer Republik 243

unbekümmert um traditionelle Rollenzuschreibung, mit Bubikopf, Zigarette,


kurzem Rock und Herrenhemd den Anforderungen der Moderne gewachsen
zeigt und durchaus gewillt und in der Lage ist, ihre Kinder ohne männlichen
Versorger großzuziehen. Dieses Leitbild wird zur Projektionsfläche auch für
die heranwachsenden Mädchen.
Schon 1903 hatte der Kulturtheoretiker Georg Simmel in seinem Essay Lebensweltliche
Die Großstädte und das Geistesleben die Großstadt als den Ort der Moderne Modernisierung
der traditionsverhafteten Provinz gegenübergestellt und eine Wahrnehmungs- von Kindheit
psychologie entwickelt, mit der er die Veränderung von Wahrnehmungswei-
sen und Aufmerksamkeitsformen des Großstädters zu fassen sucht. Die
großstädtische panoramatische Wahrnehmung beruht, so Simmel, auf den
Bedingungsmomenten Tempo und Beschleunigung, Aktualität und Simulta-
neität, Visualisierung und Sichtbarkeit – umso mehr in den 20er Jahren, in
denen die avancierten Medientechnologien es plausibel machen, dass die
durch die Großstadt produzierte Wahrnehmung oft mit der des Films ver-
glichen wird. Städte sind, wie Sloterdijk metaphorisch zugespitzt formuliert,
»nichts anderes als gebaute Massenmedien«.
In dem Maße, wie die Grenzen des familiären Schonraums für die Kinder
durchlässig werden, kommt die neue Wirklichkeit der 20er Jahre in ihren
Blick. Der reale, alltägliche Umgang mit ihrer Umwelt, wie ihn besonders
Großstadtkinder haben, ist nicht anders als derjenige der Erwachsenen durch
die unterschiedlichsten simultanen Eindrücke geprägt. Auf den Straßen ist
die moderne Zeit allgegenwärtig: Autos, Reklame und Schlagzeilen, Ge-
schäfte und Warenhäuser, Wahlplakate und Demonstrationen. Die Kinder
der 20er Jahre interessieren sich für das Kinderleben in fremden Ländern, für
Sport, Verkehr, Technik, Sensationen, kurz für alles, was gerade aktuell auf
der Welt passiert und was ihnen durch das Kino als Auge und dem Rundfunk
als Ohr zur Welt zur Verfügung steht, wobei gerade mit dem Radio die Welt
auch in die vormals geschlossenen privaten Räume und die Provinz vor-
dringt. Der rasche Bilderwechsel erlaubt den Kindern ein ebensolches »Wan-
dern in der Vorstellung«, wie es die Entwicklungspsychologin Charlotte
Bühler in ihrer folgenreichen Untersuchung Das Märchen und die Phantasie
des Kindes (1918) ausgerechnet für das Märchen reserviert hatte. Das Mär-
chen nämlich, so Bühler, entspreche »den nächstliegenden und einfachsten
Bedingungen des Fantasierens. Die Dinge werden betrachtet, indem man
unter ihnen umherwandert. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, daß
man in kleinem Rahmen das Einzelne scharf erkennt, sondern vielmehr, daß
man vorwärtskommt und recht viel sieht.« Kindliche Großstadterfahrung,
Bilderbogen oder Kino stellen für Bühler aber Antipoden des Märchens dar.
Bühlers Reduktion kindlicher Fantasieproduktion eines bestimmten Alters
auf das vermeintlich einfache Märchengenre und in der Folge ihre Konstruk-
tion eines »Märchenalters« entsprechen der oft bemerkten »Modellierung
von Kindheit als Gegenmoderne« (Ewers) im traditionellen Bild einer natür-
lichen, einfältigen, aber ›heilen‹ Kinderwelt. Sie bleibt in der Weimarer Repu-
blik nicht unwidersprochen. Angesichts der neuen Wirklichkeit der 20er
Jahre öffnet sich der Kindheitsdiskurs den auf allen gesellschaftlichen Ebenen
zu verfolgenden Modernisierungsschüben.
244 Weimarer Republik

Kindheitsdiskurs und das kinderliterarische Feld


in der Weimarer Republik

»Das Kind ist entdeckt«, resümierte der Wiener Reformpädagoge Anton


Tesarek 1933 die Ergebnisse der seit der Jahrhundertwende einsetzenden
wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kindheit durch Psychoanalyse, Kinder-
psychologie und Jungleserpsychologie. »Wir kennen das Kind nicht«, gab
dagegen der Erzieher und Schriftsteller Janusz Korczak zu bedenken. Diese
kontroversen Äußerungen zeigen die Bandbreite pädagogischer Haltungen
gegenüber den sich wandelnden Generations- und Erziehungsverhältnissen,
in denen die alten Autoritäten und die traditionellen Rollenzuschreibungen
nicht mehr unhinterfragt gelten und sich ein neues Kindheitsmuster durchzu-
setzen beginnt, welches die tradierten Muster vom ›wissenden Erwachsenen‹
und vom ›unwissenden Kind‹ in Frage stellt.
»Ein dem Leben abgelauschter Witz«, so der Bremer Reformpädagoge
Wilhelm Lamszuß, kennzeichne »die neue Stellung des Kindes zum Erwach-
senen besser als alle weitschweifigen gelehrten Ausführungen«, jener »Witz
nämlich, wo der Vater seinen fünfjährigen Sohn auf ein Auto aufmerksam
macht mit den Worten: ›Sieh mal, da kommt ein Töff-Töff!‹ Der Kleine dar-
auf: ›Laß mal, Vater, das ist eine sechssitzige Adler-Luxus-Limousine.‹« Das
Neue besteht hier auch in einem veränderten Blick auf die Kindheit selbst:
einem erstaunten, neugierigen Blick, der die Kinder nicht länger in ein idyl-
lisches Märchen-Kinderland bannt, sondern in ihnen höchst gewitzte Zeitge-
nossen erkennt, für die die neue Wirklichkeit, mit der die Erwachsenen sich
noch schwer tun, schon selbstverständlich ist.
Lamszuß’ Bemerkungen erschienen 1931 in der Jugendschriften-Warte,
der Zeitschrift der zu diesem Zeitpunkt schon in die Jahre gekommenen Ju-
gendschriftenbewegung, die mit ihren Beurteilungen und Empfehlungslisten
in der Weimarer Republik als die Institution für Fragen des ›Jugendschrift-
tums‹ schlechthin gelten kann. Ihre Jugendschriftenverzeichnisse, eine maß-
gebliche Informationsquelle für die Lehrer, hatten um 1930 eine Auflage von
einer halben Million; die Auflage der Jugendschriften-Warte selbst lag um
dieselbe Zeit bei 80.000. Lamszuß zielte mit seinem »Witz« auch auf diese
Institution und auf die kulturkonservative Haltung der majoritären Richtung
der Jugendschriftenbewegung, die sich nicht zuletzt mit ihrem Einsatz für
das »Gesetz zum Schutz der Jugend gegen Schmutz und Schund« (1926) ra-
biat gegen die marktgängige populäre Massenkultur und die Lesebedürfnisse
der Heranwachsenden gestemmt hatte und sich erst ab 1930 überhaupt der
Frage stellte, welche Konsequenzen denn die veränderte Kindheit für Theorie
und Praxis der Kinderliteratur habe. Diese mit Vehemenz geführte »Debatte
über die Gegenwärtigkeit«, in der konservative und völkische Standpunkte
die Oberhand behielten, stellte sich als ein historisch zu spät geführtes Ge-
fecht dar, sein Ausgang wurde 1933 nicht von den Jugendschriftlern, sondern
von der Politik entschieden.
Jugendschriften- Wie viele oppositionelle reformpädagogische Bewegungen des wilhelmi-
bewegung und die nischen Obrigkeitsstaats machte die Jugendschriftenbewegung in der Repu-
Theorie der Lesealter blik Karriere; so bekam z. B. ihr literaturpädagogisches Programm des litera-
rischen Jugendschutzes in den Preußischen Richtlinien von 1922/23 amtliche
Geltung. Die früheren Kontroversen zwischen Wolgastianern und den Ver-
tretern der Bewegung ›vom Kinde aus‹ wurden auf die Formel verkürzt, die
Kinderliteratur solle »künstlerisch wertvoll« und »kindertümlich« zugleich
Kindheitsdiskurs und das kinderliterarische Feld in der Weimarer Republik 245

sein. Allerdings differenzierte sich die Rede von der ›Kindertümlichkeit‹ mit
der ›psychologischen Wende‹ der Jugendschriftenbewegung nach 1918, die
sich zunehmend an den Ergebnissen der Entwicklungspsychologie orientierte.
Neues Paradigma für die Jugendschriftenbewegung wurde die von Charlotte
Bühler entwickelte Theorie der Lesealter, die – im Zirkelschluss – ausgehend
von den Lesebedürfnissen und der Lieblingslektüre eines bestimmten Alters
ganz spezifische Entwicklungsbedingungen eben dieses Alters konstruiert.
Diese Entwicklungsbedingungen gelten der Theorie als anthropologische
Konstanten, auf welche die je unterschiedlichen Lebensbedingungen keinen
Einfluss haben. Als »Verwissenschaftlichung der Jugendschriftenfrage« wer-
tete einer der maßgeblichen Wortführer der Jugendschriftler, Wilhelm Frone-
mann, die Übernahme der Bühler’schen Gliederung der Kindheitsphasen in
das »Struwwelpeteralter«, das »Märchenalter« und das »Robinsonalter«,
der sich die »Reifezeit« anschließt, für die der Übergang zur »großen Dich-
tung« vorgesehen ist. In der Konsequenz wurde das Schlagwort von der
Kindertümlichkeit durch das der Kindgemäßheit ersetzt. Damit schien zu-
nächst einer modernisierten Vorstellung der Weg geebnet, für die Kindheit
nicht mehr nur eine Form des Interesses der Erwachsenen bedeutet, sondern
die sich am tatsächlichen Kinderleben selbst orientiert. Ob sich aber damit
auch eine modernisierende Rationalität durchsetzte, ist zumindest in Frone-
manns Charakterisierung der Lesealtertheorie die Frage.
Deutlicher noch als Bühler parallelisiert Fronemann auf recht fragwürdige
Weise ontogenetische Entwicklungsstufen mit »geistigen Entwicklungsstu-
fen« der Menschheit, die er zudem ausschließlich auf die nordisch-germani-
sche Tradition reduziert. Der Aufstieg vom einfachen, ›primitiven‹ (›unter-
geistigen‹!) zum komplexen, vollwertigen Menschen wird so zur Hauptauf-
gabe einer Leseerziehung erklärt, die darauf angelegt ist, das »Echte«,
»Wesentliche« und »Kernhafte« der deutschen Seele durch ihre Dichtung
vor dem »Ungeist« der republikanischen neuen Zeit zu retten.
Im Rückblick lässt sich dieser völkisch-nationale Antimodernismus von
großen Teilen der literaturpädagogischen Intelligenz durchaus als Verarbei-
tungsform der gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche lesen, als Vertei-
digung ihres symbolischen Kapitals – der Kultur, der Bildung – auf dem
jugendliterarischen Feld, das man zunehmend von einem durchkapitalisier-
ten Medienmarkt bedroht sah. Freilich gab es innerhalb der Weimarer
Jugendschriftenbewegung auch fortschrittlichere Positionen, wie die in der
Jugendschriften-Warte ausgetragenen Diskussionen zeigen. Aber dass die
Lesealtertheorie mehrheitlich unhinterfragt als wissenschaftlich begründete
und feststehende Tatsache gelten konnte und in der Praxis mit den wider-
sprüchlichsten ästhetischen, erziehungspraktischen und politischen Vorstel-
lungen kombiniert wurde, verweist einmal mehr auf die verzwickte Gemen-
gelage von Krisenbewusstsein und Reformorientierung, wie sie nicht nur für
die kinderliterarischen Verhältnisse der Weimarer Republik typisch ist.
Für die Jugendschriftenbewegung hatte die Sammelbezeichnung »Jugend- Ausdifferenzierung
schrifttum« so lange getaugt, wie es sich um die Bewertung der Literatur für von Kinderliteratur
Nicht-Erwachsene insgesamt handelte. Diese Zusammenfassung von Kind- und Jugendliteratur
heit und Jugend war durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht erst
ermöglicht worden. Seit der Jahrhundertwende hatte sich aber die begeisterte
erwachsene Aufmerksamkeit fast ausschließlich der Kindheit zugewandt und
die ästhetischen Prinzipien der spezifischen Literatur für Kinder aus einem
neuromantischen Kindheitsmythos heraus entwickelt. Diesem Mythos war
die Jugend, die sich unter dem Zeichen des Wandervogels selbständig zu
machen begann, entwachsen. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene hatte sich
246 Weimarer Republik

der Jugenddiskurs, auch durch die bürgerliche und die proletarische Jugend-
bewegung, vom Kindheitsdiskurs der Reformpädagogik und den neuen
›Kinderwissenschaften‹ abgekoppelt. Zwar verklammerte der neue psycholo-
gische Ansatz der Jugendschriftenbewegung die Lebenswelten von Kindheit
und Jugend mit seiner ganzheitlich gefassten Entwicklung von Lesealtern
noch einmal; in der Praxis legte die Einbeziehung der ›Jungleserpsychologie‹
aber schon wegen der unterschiedlich akzentuierten Lesebedürfnisse von
Kindern und Jugendlichen die Ausdifferenzierung in eine jeweils eigenstän-
dige Kinderliteratur einerseits und Jugendliteratur andererseits nahe. Den-
noch hielten die Bewertungsinstanzen der Jugendschriftenbewegung der
Weimarer Republik mehrheitlich am Sammelbegriff ›Jugendschrifttum‹ oder
›Jugendschriften‹ fest, obwohl es sich bei der Mehrzahl der beurteilten Bü-
cher um spezifische Kinderliteratur handelte. Die begriffliche Unterscheidung
blieb in den Beurteilungen der Jugendschriftler insgesamt uneinheitlich und
so verschwommen wie die Lesealtertheorie selbst.
Eine junge Generation von Autoren und Verlage mit neuen, ausgesprochen
modernen Programmen waren die ersten, die die Ausdifferenzierung in Kin-
der- und Jugendliteratur praktizierten. Es lag in ihrem Interesse, ihre Adres-
saten konkreter vor Augen zu haben, über ihre Vorlieben Bescheid zu wissen
und ihren jungen Leserkreis altersmäßig und auch soziologisch genauer zu
verorten. Vom Lesealterkonzept wurden allein die ungefähren Altersangaben
übernommen, im Übrigen spezialisierte man sich und schrieb und veröffent-
lichte explizit ›Romane für Kinder‹. In diesem Umkreis entsteht die moderne
Weimarer Kinderliteratur, eine Literatur, die aus dem traditionellen Kind-
heitsgetto ausbricht und ihren literarischen Fundus mit der kindlichen All-
tagswahrnehmung der 20er Jahre synchronisiert.
Das neue Interesse an Diese neue Kinderliteratur ist ohne das Placet der Jugendschriftler auf den
den jungen Lesern Markt und an ihre Leser gekommen; sie ist Ausdruck und zugleich auch
Anlass für das veränderte Interesse an der Kindheit im Prozess der Moderni-
sierung. Dieses Interesse zeigt sich in der Stabilisierungsphase darin, dass
bedeutende Zeitungen und Zeitschriften wie die Frankfurter Zeitung, die
Literarische Welt und die Weltbühne sich in ihren Feuilletons verstärkt dem
Kindheitsthema zuwenden. In Reflexionen und Rezensionen setzen sich hier
so wichtige Vertreter der republikanischen Weimarer Intelligenz wie Rudolf
Arnheim, Walter Benjamin, Franz Hessel, Siegfried Kracauer, Alice Rühle-
Gerstel mit Fragen von zeitgenössischer Kindheit, Kinderkultur und Kinder-
literatur auseinander und eröffnen neue Perspektiven. Die in den 20er Jahren
florierende ›Jungleserkunde‹ fragt mit empirischen Methoden nach der pri-
vaten Lieblingslektüre der jungen Leser. Was tatsächlich gelesen wurde,
wurde so erstmals auf der Basis von Befragungen sowie Ausleihstatistiken in
Bibliotheken und ›Kinderlesehallen‹ erfasst – mit dem wenig überraschenden
Ergebnis, dass gerade die von der Jugendschriftenkritik als ›minderwertig‹
angesehenen literarischen Formen wie Mädchenbücher, Heftchen- und Zei-
tungsromane oder Witzblätter sich größter Beliebtheit erfreuten. Auch war
die Zeitungslektüre wesentlich stärker verbreitet als angenommen (75 % der
14-Jährigen lasen täglich eine Zeitung!), quantitativ rangierte sie bei den 10-
bis 14-Jährigen neben Heftchenliteratur an der Spitze der Lektüre.
Medienkonkurrenz Von der Kulturkritik argwöhnisch betrachtet, konkurrierten vor allem die
neuen Massenmedien Rundfunk und Kino mit den Schriftmedien um die
Gunst des jungen Publikums. Regelmäßige Rundfunksendungen gab es seit
1924, in der Stabilisierungsphase etablierte sich ein vielfältig gegliederter
täglicher Kinderfunk, der, einem Bericht von 1929 zufolge, »alle Erlebnis-
sphären der Kinder zu umschließen« trachtete. Der Schriftsteller Alfons Pa-
Kindheitsdiskurs und das kinderliterarische Feld in der Weimarer Republik 247

Erich Kästner: Emil und


die Detektive. Illustrati-
onen von Walter Trier.
Berlin 1929

Lisa Tetzner: Der Fußball.


Eine Kindergeschichte aus
Großstadt und Gegen-
wart. Bilder von Bruno
Fuk. Potsdam 1932

quet resümierte 1930: »Das Märchen, das Rätsel, die Erzählung, das Lied,
das Spiel – diese Dinge, die einst das Elternhaus dem Kind fast ausschließlich
vermittelte, sind Rubriken der Zeitung und des Rundfunks geworden. Die
Erziehung hat eine Tendenz zur Öffentlichkeit.« Weit davon entfernt, in die
kulturkritischen Warnungen vor dem neuen Medium einzustimmen und die
unhintergehbare »allmähliche Angleichung des Kindes an die Erfahrungs-
und Wissenswelt der Erwachsenen, an die öffentliche Sphäre« zu verdam-
men, verweist Paquet auf die vielfältigen Möglichkeiten, über die der Rund-
funk verfüge.
Auch das Liebesverhältnis der Kinder zum Kino wurde weiterhin mit Ar-
gusaugen beobachtet. Die wesentlichen Argumente waren schon vor dem
Krieg gefallen: Für die Jugendschriftenbewegung war das »Kinounwesen«
ein der ›Schundliteratur‹ vergleichbares Übel, das die Jugend verrohe, ihre
Konzentrationsfähigkeit störe und überhaupt zur Nachahmung der haar-
sträubendsten Untaten anrege. Neben diesen Abgrenzungsstrategien gab es
aber auch Anschlussversuche, z. B. in den Initiativen des frühen Hamburger
›Reformkinos‹, für das sich Filmtheaterbesitzer freiwillig verpflichteten, nur
solche Filme zu zeigen, die man als für das junge Publikum geeignet ansah:
Filme, die unterhaltende Wissensvermittlung boten und keine bloße Unter-
haltung. Das Reichslichtspielgesetz von 1920 löste die jugendschützerischen
Forderungen der Kinoreformer ein: Kindern unter sechs Jahren, die vorher
wohl auch im Kino von ihren Aufsichtspflichtigen abgestellt wurden, war
nun der Kinobesuch grundsätzlich verboten; Jugendlichen unter 18 Jahren
waren nur für sie speziell freigegebene Filme gestattet.
Die Amerikanisierung der Filmindustrie und der Wandel des Kinos zum
reinen Unterhaltungsmedium machte es zu einem der wesentlichen Faktoren
der großstädtischen Massenunterhaltung, an der, dem überwachenden Auge
des Gesetzes zum Trotz, auch die Kinder teilhatten. In der Ära des Stumm-
films waren es Slapsticks wie die Filme von Buster Keaton und vor allem
Charlie Chaplin, die Klein und Groß begeisterten; spätestens seit der Einfüh-
rung des Tonfilms ab 1930 gab es auch sorgfältig gemachte spezifische Filme
für Kinder: Gerhard Lamprechts Emil und die Detektive von 1931 gilt bis
heute nicht nur als eine der besten Verfilmungen eines Kästner-Buches, son-
dern auch als einer der bedeutendsten Filme der frühen Tonfilmzeit.
248 Weimarer Republik

Aber die Schriftmedien konkurrieren ihrerseits mit den durch die neuen
audiovisuellen Medien geprägten Wahrnehmungsformen. »Der Filmsehende
liest Erzählungen anders. Aber auch, der Erzählungen schreibt, ist seinerseits
ein Filmsehender«, so Bertolt Brecht 1931. Das galt nicht nur für die ›große‹
Literatur, auch die Kinderliteratur übernimmt jetzt ›filmische‹ Erzählweisen
und orientiert sich an den schnellen, gleichzeitigen Mustern der Rundfunkre-
portage.

Neue Trends in der Weimarer Kinder-


und Jugendliteratur

Kinder- und Jugend- Das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels weist für die Zeit von 1919–
buchmarkt der 1933 20.247 Titel im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur aus; die Ge-
Weimarer Republik samtproduktion des Buchmarkts betrug ca. 380.750 Titel. Die Anzahl der
Erstauflagen lag bei 13.521, die der Neuauflagen bei 5.215. Das Spitzenjahr
der kinderliterarischen Produktion ist 1927, für das knapp über 2.000 Titel
errechnet wurden, wobei das Verhältnis von Ersterscheinungen zu Neuaufla-
gen bei drei zu eins lag.
Wiederholte Neuauflagen erlebten vor allem die von der Jugendschriften-
bewegung propagierten ›guten Jugendschriften‹ aus dem Bereich des ›litera-
rischen Volksguts‹ wie Märchen, Sagen, Volksbücher, Kinderlieder und Balla-
den ebenso wie die für Kinder bearbeiteten Romane der Weltliteratur wie
Don Quichote, Robinson Crusoe, Gullivers Reisen sowie Erzählungen des
bürgerlichen Realismus. Einen größeren Raum nahmen die ›Longseller‹ aus
der Kaiserzeit ein: Heidi, Biene Maja, allen voran aber spezifische Mädchen-
bücher wie die Trotzkopf-Serie und die Abenteuerbücher Karl Mays und
Friedrich Gerstäckers.
Aussagekräftiger für die kinderliterarischen Trends ist der Bereich der
Neuerscheinungen und Erstauflagen. Auffällig ist nicht nur die große Zahl
von Übersetzungen zeitgenössischer realistischer Erzählungen aus dem eng-
lischsprachigen und dem skandinavischen Raum (wie Jack Londons Wolfs-
blut, Jón Svenssons Nonni-Bücher, Marie Hamsuns Langerudkinder und vor
allem die Bibi-Bücher von Karin Michaelis) und, allerdings in bescheidenerem
Ausmaß, aus Sowjetrussland (etwa Grigori Bjelych/Leonid Pantelejews
Schkid, die Republik der Strolche und Pantelejews Die Uhr), die den Kindern
einen anderen Blick auf die größer werdende Welt erlauben. Auch für die
deutschen Neuerscheinungen lassen sich entsprechende Trends und Genre-
präferenzen feststellen. So erscheinen bis etwa 1925 fast ausschließlich neue
Märchen; ab 1926 beginnt sich dann im Zeichen des ›Modernisierungsprin-
zips Sachlichkeit‹ auch in der Kinderliteratur ein Paradigmenwechsel abzu-
zeichnen, der ihre überkommenen Muster gründlich durcheinanderbringt.
Die Märchenwelle der unmittelbaren Nachkriegszeit wird von einer Flut
›realistischer‹ Geschichten abgelöst, erfolgreiche kinderliterarische Genres
wie Abenteuerbücher, Backfischbücher, selbst Tiergeschichten werden zeitge-
mäß umgebaut; neue Genres wie Kinderromane und Kinderdetektivge-
schichten entstehen; neue Motive schieben sich in den Vordergrund. Der be-
vorzugte Handlungsort dieser neuen Kinderbücher ist nicht mehr das Land,
sondern die Großstadt – mit Vorliebe die Metropole Berlin, die damalige
Hauptstadt der Moderne. Das bedeutet mehr als einen bloßen Wechsel des
Neue Trends in der Weimarer Kinder- und Jugendliteratur 249

Hintergrundes für Kinderaktivitäten: Die vormals eher verteufelte große


Stadt wird jetzt zum Produktionsort von spezifisch modernen, urbanen
Wahrnehmungsweisen, Erfahrungen und Abenteuern des Alltags.
Märchen sind bis zur Stabilisierungsphase der Weimarer Republik die Es war einmal –
verbreitetste kinderliterarische Gattung. Eine durch die Theorie vom Mär- die etablierte
chenalter so hoch bewertete und in ihrer pädagogischen Eignung wissen- Märchenszene
schaftlich gestützte Ware zu führen, ließ sich kaum ein Verlag nehmen. Nicht
nur die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, sondern verstärkt
auch die nachgrimmschen (z. B. von Hauff, Bechstein, Andersen) und die
exotischen Märchen wie 1001 Nacht waren in immer neuen Auswahlen und
Ausgaben vertreten. Zudem wurde das große, bereits 1912 begonnene Mär-
chenprojekt des Diederichs-Verlags, die Märchen der Welt, fortgeführt; eine
zweibändige Auswahl stellte Lisa Tetzner 1926 zusammen (Die schönsten
Märchen der Welt für 365 und einen Tag).
Neben diesem schon klassischen ›Märchenschatz‹ wurden während der
gesamten Weimarer Jahre eine große Zahl neuer Kindermärchen produziert,
die ihren Erfolg vor allem ihrer diffusen Mischung von Kindertümlichkeit,
Zeitgeist, Erlöserstrategien und konventioneller Bedienung der Erwartungen
an das Märchengenre verdanken. Ab Mitte der 20er Jahre werden die Ver-
suche unübersehbar, das Märchen durch Modernisierung von Figuren und
Szenerie an die neue Zeit anzupassen; das Märchenmuster wird quasi von
innen ausgehöhlt.
Typisch für erfolgreiches Märchenerzählen für »jüngste Leser« waren die Verhäuslichte Natur
Geschichten Sophie Reinheimers, der ersten Autorin des 1913 gegründeten
Franz Schneider-Verlags, und zugleich eine der erfolgreichsten. Schon in ihrer
frühen Veröffentlichung Von Sonne, Regen, Schnee und Wind (1910) er-
probte sie ihr Erzählmuster, das dann in den 20er Jahren in zahlreichen Vari-
ationen wiederkehrte: Es handelt sich um ätiologische Geschichten, die Un-
bekanntes mit Vertrautem erklären, mit den nahen Bildern von Familie,
Kinderzimmer, Haus und Garten. Die Märchenform reduziert sich darauf,
dass Tiere, Pflanzen und Dinge reden, dass Reisen gemacht werden und dass
die Geschichte gut ausgeht. Bedrohliches existiert nicht in Reinheimers ver-
häuslichter Natur, die traditionelle Rollenbilder und biedermeierliche Vor-
stellungen bürgerlichen Familienglücks bestätigt. Auffällig ist die affektive
Nähe der Erzählerin zu den Adressaten; Reinheimer war ausgebildete Kin-
dergärtnerin. Ein »Kindergarten« – der Begriff stammt von Fröbel – sind
auch ihre freundlichen Erzählorte.
Als »Dichter, dem es gelungen ist, dem deutschen Volk sein modernes Der Dichter und das
Märchen beschert zu haben«, feierten zeitgenössische Pressestimmen Man- Wunder
fred Kyber. Seine mild-satirischen Tiergeschichten und anthroposophischen
Märchen (Gesammelte Märchen, 1925; Der Mausball und andere Tiermär-
chen, 1927) hatten ungewöhnlich hohe Auflagen, wurden in verschiedene
Sprachen übersetzt und in deutsche und ausländische Schulbücher übernom-
men. Kybers Zeitdiagnose ist pessimistisch; in der schlechten, wunderfeind-
lichen Gegenwart ist es allein der Dichter, der das Wunder kraft seiner Mär-
chen noch garantieren kann. Sie wollen Medium und Deutungshilfe der
Wirklichkeit sein und den Menschen den Dialog mit der Natur wieder er-
möglichen. Seine im Übrigen gut geschriebenen Geschichten weisen ein hohes
Maß an Doppeladressierung auf. Was aber für Kinder faszinierende Märchen
sein mögen, sind für Erwachsene leicht erkennbar allegorische Gedanken-
fragmente in Andersen-Manier, die nur noch kraft des »Dichterworts« zu-
sammengehalten werden. Als solche sind sie auch als Diskurs über die Krise
der Gattung in Zeiten der Republik zu lesen.
250 Weimarer Republik

Die Krise zeigt sich auf andere Weise in Ina Seidels Das Wunderbare Geiß-
leinbuch. Neue Geschichten für Kinder, die die alten Märchen gut kennen
(1925). In diesem Märchenpuzzle tummelt sich das jüngste Geißlein bei-
spielsweise im Wald bei den Bremer Stadtmusikanten, die just das Katherlies-
chen zu Besuch haben. Weniger dem Dichterwort trauend als der Kombina-
tionslust der Kinder, organisiert Seidel so ein Spiel mit dem alten Märchenin-
ventar und seinen Figuren.
Eine eigene Märchenszenerie erfindet der in den 20er Jahren hochge-
schätzte Wilhelm Matthießen in seinen Märchenbänden Das alte Haus
(1923), Deutsche Hausmärchen (1927) und Die Grüne Schule (1931), die in
sprachlich modernisierter Fassung bis heute auf dem Kinderbuchmarkt prä-
sent sind. In seiner zunächst für die eigenen Kinder zum Hausgebrauch er-
fundenen Märchenwelt »Mythikon« ist alles belebt: Sprechende Tiere,
Zwerge, Hexen und Kobolde scharen sich um die Kinderhelden Peter und
Gretel und wissen ihnen längst vergessene Geschichten zu erzählen. Über-
deutlicher Regisseur des Erzählkosmos ist aber der Zauberer »Groffi Wenti-
lator«. Als Stellvertreter für den erzählenden Vater ist er nicht nur in der
Lage, immer neue Wesen zu erschaffen, sondern sie auch umstandslos wieder
zum Verschwinden zu bringen. Mythikon, ein von agrarischen Strukturen
geprägtes Paradies, in dem die Arbeit ausschließlich und gerne von Wichteln
und Zauberern erledigt wird, bleibt so als augenzwinkernde Erfindung eines
vertrauten Erzählers transparent. Das ändert sich, wenn Matthießen den
ernsthaften Versuch macht, das Maschinenzeitalter in die bodenständige
Idylle hereinzuholen. Da halten dann moderne Großstadtgeister Einzug in
die mythisierte Welt, etwa in Gestalt von Kanal- und Heizungskobolden oder
gar elektrischen Männlein wie dem »Drähtchen Knips«, seines Zeichens Di-
rektor des Rundfunks. Matthießens spätere Märchenerzählungen (etwa
Kauzenberg, 1933) geraten in fatale Nähe zu den völkisch-nationalen Mär-
chen mit ihren Maschinengeistern, für die der spätere Nationalsozialist Hans
Friedrich Blunck (Märchen von der Niederelbe, 1923) gefeiert wurde. Hier
signalisiert die Wichtelstaffage nicht nur die Märchenhaftigkeit des Erzähl-
ten, sie beschwört auch die ›urdeutsche‹, bessere Tradition. Nur mit der
deutschen ›Tiefe‹ konnte dem Zweifel an der behaupteten Verwurzelung des
Märchens im Kindermythischen und Volkstümlichen begegnet werden, vor
allem angesichts der Unzahl neuer Märchen, die versuchten, durch moderni-
sierte Requisiten mit der Zeit zu gehen, jene »aufgeputzten, zugestutzten,
hochfrisierten modernen Märchen, die doch nichts anderes als kinomäßiger
Abklatsch der guten alten sind«, wie ein Kritiker in der Jugendschriften-
Warte 1925 klagt.
Es wird einmal – In der Arbeiterbewegung der Vorkriegszeit hatten Märchen zunächst als
soziale Märchen Anpassungs- und Beschwichtigungsliteratur gegolten. Arbeiterkindern
konnte kaum der Schonraum einer ›heilen Kinderwelt‹ geboten werden, er
war allenfalls erst zu erkämpfen: »Hunderttausende von ihnen stehen in des
Lebens Notdurft und Sorge; ihnen fehlt die Stimmung für die alte Märchen-
welt, die einst das Herz der Kinder, die im Frieden und Schutz des elterlichen
Hauses aufwuchsen, mit süßem Zauber umsponnen hat«, so Franz Mehring.
In den Debatten um eine neu zu schaffende sozialistische Kinderliteratur
ging es immer wieder darum, ob sie von der bürgerlichen grundverschiedene,
nämlich proletarische Werte und Normen zu vermitteln habe oder ob sie, im
Sinne der Kunsterziehungsbewegung, der individuellen Persönlichkeitsbil-
dung dienen solle. In der Weimarer Republik stehen sich diese beiden Positi-
onen mit der Spaltung der Arbeiterbewegung unversöhnlich gegenüber: Sozi-
alistische Kultur ist im sozialdemokratischen Verständnis nun nicht mehr
Neue Trends in der Weimarer Kinder- und Jugendliteratur 251

Klassenkultur, sondern eigentliche Menschheitskultur ohne Klassentrennung,


während die Kommunisten am Konzept einer offensiven proletarischen Ge-
genkultur festhalten und ihr Programm der proletarisch-revolutionären Lite-
ratur und Kunst entwickeln.
Auch in den sozialen Märchen der Weimarer Republik sind diese alterna-
tiven Strategien zu verfolgen. Schon im Kaiserreich hatte sich in Abgrenzung
zu den bürgerlichen Kinder- und Hausmärchen in der Arbeiterbewegung eine
Form des Erzählens für ›die Kinder des Proletariats‹ durchgesetzt, die zwar
an die alte Märchenform anknüpfte, aber »für neuen Wein in alten Schläu-
chen«, so Franz Mehring, sorgen wollte. Diese frühen proletarischen Erzäh-
lungen für Kinder sind weniger Märchen als Allegorien; ihre Erzähler ver-
standen sich nicht als Dichter, sondern als Parteiarbeiter, die den Kindern mit
den Mitteln des ›fabula docet‹ die Gesetze der bürgerlichen Klassengesell-
schaft erklären und ihnen den Weg heraus aus Ausbeutung und Unterdrü-
ckung zeigen wollten.
»Aufgeklärte und lesende Genossen« zu bilden, um die »unangenehmen Ein proletarischer
Seiten des Klassenkampfs« und seine »scheußlichste Form«, die Revolution, Aufklärer
durch Vernunft zu besiegen, hatte sich der Sozialdemokrat Bruno H. Bürgel
vorgenommen. Bürgel war schon vor dem Ersten Weltkrieg einer der meist-
gelesenen populärwissenschaftlichen Autoren seiner Zeit. Mit seinen Selt-
samen Geschichten des Doktor Ulebuhle (1920) erreichte er als proletarischer
Aufklärer auch die Kinder. Als Rahmen dient die Fiktion einer geselligen
Runde um den kauzigen Doktor, der, Personifikation allen angesammelten
Wissens, die lärmenden Kinder von der Straße holt, um ihnen Märchen,
Abenteuer und Geschichten zu erzählen. Erzählanlässe sind ihm Naturer-
scheinungen, seltsame Gegenstände, aber auch Kümmernisse, mit denen die
Kinder zu ihm kommen: Kinderzank, Angst vor Gespenstern, Erfahrungen
mit Krankheit und Sterben. Mit seinen anthropomorphisierenden naturwis-
senschaftlichen Märchen vermittelt er seinen Zuhörern auf leicht fassliche
Weise wissenschaftliche Erkenntnisse, etwa wenn er von der durch alle mög-
lichen Aggregatzustände führenden Odyssee eines Wassertropfens erzählt.
Gleichzeitig versucht er ihnen mit Beispielen aus der Naturgeschichte zu
proletarischem Selbstbewusstsein zu verhelfen, so in der Geschichte vom
hochmütigen Herrn von Diamant, der von der Kohle belehrt wird, es sei um
seinen Adel recht windig bestellt, denn er sei ebenso wie der Bleistift, ein
»einfacher Angestellter im Hause«, ihr leiblicher Bruder: »Wir alle stammen
aus einer Familie, unser aller Vater ist der Kohlensto ff.« Diese Erzählrunde
erinnert nicht von ungefähr an die Gesprächsrunden um die Väter der bür-
gerlichen Kinderliteratur der Aufklärung, etwa in Christian Felix Weißes
Kinderfreund oder in Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere: Hier
wird die bürgerliche kinderliterarische Tradition beerbt, konzentriert auf das
sozialdemokratische Prinzip ›Wissen ist Macht‹. Doktor Ulebuhle ist ein von
Straßenkindern aus dem Bürgertum erborgter ›Hausvater‹.
Ganz anders geht die Reihe Märchen der Armen aus dem kommunisti- Revolutionäre
schen, aber parteiunabhängigen Malik-Verlag vor. Anknüpfend an die Tradi- Märchen
tion allegorischer Märchen der Vorkriegssozialdemokratie und in scharfer
Abgrenzung zur bürgerlichen Kinderliteratur wurden hier Versuche für ein
neues, klassenbewusstes Märchen vorgestellt, vor allem von Hermynia Zur
Mühlen, der bekanntesten und produktivsten Verfasserin intentionaler pro-
letarischer Kindermärchen der 20er Jahre. In ›Dingmärchen‹ (Was Peterchens
Freunde erzählen, 1921) und Parabelmärchen (Ali der Teppichweber, 1923;
Das Schloß Wahrheit, 1924) erprobt Zur Mühlen unterschiedliche Umgangs-
weisen mit der Märchenform, um Arbeiterkindern Erklärungsmodelle für
252 Weimarer Republik

die Gesellschaft, in der sie leben, ebenso wie revolutionäre Gegenentwürfe


anzubieten. So in Die Brillen, das von einem reichen Königreich erzählt, in
dem trotz Armut und Ausbeutung stets Ruhe und Ordnung herrschen, weil
die Armen von Geburt an von einem bösen Zauberer angefertigte Brillen
tragen müssen, mit denen sie ihr Elend überhaupt nicht bemerken. Als es
endlich einem Arbeiterkind gelingt, die Brille abzustreifen, wird es sehend
und überzeugt auch seine Kameraden von der Notwendigkeit, die Brillen
abzulegen, den König zu vertreiben und eine gerechte Gesellschaft zu errich-
ten. In diesem Parabelmärchen stehen die magischen Helfer des alten Volks-
märchens auf der Seite der Herrschenden, sie sind es, die den Blick verstellen.
Das Wunderbare besteht hier darin, dass es den Armen gelingt, den Zauber
abzuschütteln. In der bekanntesten Märchenerzählung Zur Mühlens, Was
Herminya Zur Mühlen: Peterchens Freunde erzählen, reicht die Säkularisierung des Wunderbaren in
Was Peterchens Freunde der Tradition von Andersen bis in den Alltag eines Arbeiterkindes hinein: Ein
erzählen. 6. Märchen. Junge liegt krank im Bett und beginnt mit den Alltagsgegenständen seiner
Illustriert von George
Umgebung zu kommunizieren. Wenn Streichholzschachtel, Kohle und Fla-
Grosz. 2. Auflage. Berlin
1924 sche zu erzählen beginnen, geben sie nicht nur Auskünfte über ihre Herkunft,
sondern vor allem über die Bedingungen ihrer Produktion. So entstehen
kleine Lektionen über die Arbeitsverhältnisse im Bergbau, in den Glasbläse-
reien, in der chemischen Industrie. Der Tenor dieser Produktionsgeschichten
lautet: »An allen Gegenständen, die der Mensch braucht, haftet Arbeit und
Schmerz eines anderen Menschen.« Dass die Menschen sich nicht dagegen
wehren, ist den Dingen, die menschliche Arbeit verkörpern, unverständlich.
Anders als Bürgels Erzählungen, die auf der optimistischen Erwartung beru-
hen, dass das mit Wissen gerüstete Proletariat aus ›Naturgesetzlichkeit‹ sie-
gen werde, beruhen Zur Mühlens Märchen gerade auf der Erkenntnis, dass
die Gesetze der Natur und die der Gesellschaft eben nicht zwangsläufig par-
allel gehen und dass der Sieg erkämpft werden muss. Zur Mühlens ›Dinge‹
sind keine physikalisch deduzierbaren Elemente, sondern unmissverständlich
Produkte menschlicher Arbeit unter Ausbeutungsbedingungen; das von An-
dersen übernommene Mittel, die Dinge für sich selbst sprechen zu lassen,
nutzt sie zur klassenkämpferischen Aufklärung von Arbeiterkindern.
Märchen der Mit der Stabilisierungsphase der Republik beginnen sich im sozialistischen
Wirklichkeit Märchendiskurs entscheidende Änderungen abzuzeichnen. Auch bei den
Märchen wird der Ruf nach der Revolution von dem nach der ›Wirklichkeit‹
abgelöst. In dem Maße, wie sich die materielle Lage der Arbeiterkinder ver-
bessert, geraten sie nicht mehr ausschließlich als künftige Erbauer einer sozi-
alistischen Zukunft oder als auf den revolutionären Kampf zu verpflichtende
›Pioniere‹ in den Blick, sondern als hier und jetzt lebende Großstadtkinder,
die durchaus in der Lage sind, sich über die Verhältnisse, in denen sie leben,
eine eigene Meinung zu bilden. So verzichtet Bruno Schönlank in seinen
Großstadtmärchen (1923) ganz auf die explizite Formulierung eines proleta-
rischen Standpunkts. Er schreibt fantastische Geschichten, in denen auf
wundersame Weise Sehnsüchte von Großstadtkindern nach Licht und Farbe,
nach Macht und Stärke erfüllt werden. Märchen sind sie nur in dem Sinne,
als sie eben (noch) nicht wahr sind.
Nicht nur in der Wunschperspektive proletarischer Kinder, sondern mitten
in ihrem Alltag siedelt Carl Dantz seine Märchen, Gedichte und Geschichten
Vom glückhaften Stern (1927) an, in denen er den reformpädagogischen
Anspruch, in der Kindheit nicht nur Defizitäres zu sehen, sondern ihren Ei-
genwert zu betonen, auch für Proletarierkinder geltend macht. Konsequent
erzählt er aus der Kinderperspektive vom »Märchen, das sich alle Tage ereig-
net«: Es ist bar jeder märchenhaften Kulisse und steckt in den Abenteuern
Neue Trends in der Weimarer Kinder- und Jugendliteratur 253

des Alltags, z. B. in einer »Seeschlacht« auf einer überschwemmten Groß-


stadtstraße, die die Kinder kurzerhand zu »ihrer Nordsee« umfunktionieren.
Indem Dantz Kinderfantasien ernst nimmt, ohne sie verbessern oder sonst-
wie zivilisieren zu wollen, macht er den Kindern Mut zu ihren eigenen Erfah-
rungen und zu ihren eigenen Geschichten.
So beginnt sich auch im Märchendiskurs selbst die ›Märchenkinder‹-Kon- ›Fort vom Wunder‹
zeption aufzulösen oder sich zumindest auf das frühe Kindesalter zu be-
schränken. »Braucht die Großstadtjugend noch Märchen«, fragt ausgerech-
net Lisa Tetzner, die, von der Sozialromantik der Jugendbewegung begeistert,
ab 1918 märchenerzählend durch Dörfer und Städte gezogen war und von
ihren Erfahrungen als Erneuerin der mündlichen Märchentradition im Nach-
kriegsdeutschland berichtet hatte (Vom Märchenerzählen im Volk, 1919; Im
Land der Industrie zwischen Rhein und Ruhr, 1923). Aufgrund neuer Erfah-
rungen in der praktischen Arbeit mit Kindern in Theater und Rundfunk – ab
1927 ist Tetzner Mitarbeiterin des Berliner Kinderfunks – überprüft sie ihr
Engagement für das Volksmärchen und stellt fest, dass »das Großstadtkind
nicht mehr die innere Beziehung zum Märchen hat [...]. Die Kindheit und
ihre Probleme spielen sich auf einer anderen Basis ab« (1929). Auf der Suche
nach »einer Kunstform, die dem Volksmärchen in Realistik und Parteilich-
keit wie in der stilistischen Schlichtheit gleichwertig zu sein habe, ohne dieses
zu adaptieren oder als unmittelbares Vorbild zu begreifen« (1930), beginnt
sie, eigene Geschichten für Kinder zu schreiben und die Märchenmetaphorik
durch die Kinderalltagsperspektive zu ersetzen. »Fort vom Wunder« wird zu
ihrem programmatischen Leitsatz. Ein erstes Ergebnis ist das in Zusammen-
arbeit mit Bela Balász entstandene Kinderstück Hans Urian geht nach Brot
(1929); Tetzners Buchfassung Hans Urian oder die Geschichte einer Welt-
reise (1931) wurde zu einem der bekanntesten proletarischen Kinderbücher
der Weimarer Republik. Die Geschichte vom Arbeiterjungen Hans, der auf
dem Rücken eines fliegenden Hasen durch verschiedene Kontinente reist, um
für seine hungernde Familie Brot zu besorgen, hat noch fantastische Ele-
mente, sie bestehen aber »eigentlich nur in einer stilisierten Vereinfachung Lisa Tetzner: Hans Urian.
der Wirklichkeit«, sie ist »ein Märchen um der Wahrheit willen« (Balász). Die Geschichte einer
Die ›märchenhafte‹ Reise dieses »proletarischen Nils Holgersson« (Tetzner) Weltreise. Stuttgart 1931
wird zum Medium für die Entdeckung der sozialen Wirklichkeit der Klassen-
gesellschaft. In ihren folgenden Kinderbüchern Der Fußball (1932) und Er-
win und Paul (1933) kommt Tetzner ganz ohne diese Elemente aus.
Auf welche Weise die Entmythisierung von Kindheit Einzug in die kinder- Das stabile Trottoir
literarischen Verhältnisse der Weimarer Republik hält und aus den Märchen- der Großstadt –
kindern Zeitgenossen macht, lässt sich vor allem an den neuen Romanen für die neuen ›Romane
Kinder verfolgen. Sie verlassen die trügerische Sicherheit einer zeit- und sor- für Kinder‹
genlosen Kinderwelt und entdecken die Großstadt als positiven Handlungs-
raum.
Bereits Mitte der 20er Jahre erscheinen zwei bemerkenswerte kinderlitera-
rische Texte, in denen die in der Großstadterfahrung kulminierende Moder-
nisierung von Kindheit greifbar wird. Beide handeln vom Gegenbild des be-
hüteten bürgerlichen Familienkindes: vom Straßenjungen. Carl Dantz’ Peter
Stoll. Ein Kinderleben. Von ihm selbst erzählt (1925) berichtet in der Art ei-
ner Kinderreportage von Armut und Entbehrungen, aber auch von der
Selbstbehauptung und dem Lebensmut eines Bremer Hafenarbeiterkindes.
Das Buch steht in der schmalen Tradition realistischer Geschichten für Groß-
stadtkinder aus dem linken reformpädagogischen Umkreis und lässt keinen
Zweifel daran, dass Arbeiterkindheit vor allem Straßenkindheit ist, der die
Großstadt einen selbstverständlichen Rahmen gibt.
254 Weimarer Republik

Nicht nur als gelebte Umwelt, sondern als eigentlicher Motor des Gesche-
hens fungiert die Großstadt in Wolf Durians Kai aus der Kiste (1927). Im
Wettbewerb mit professionellen Erwachsenen um den lukrativen Posten
eines »Reklamekönigs« gewinnen der Straßenjunge Kai und seine Bande,
weil sie es schaffen, in kürzester Frist ihr Zeichen, die »Schwarze Hand«, an
allen möglichen Stellen Berlins zu hinterlassen. Sie sind schneller, gewitzter
und gegenwärtiger als ihr Konkurrent, der diplomierte Reklameagent Kubal-
ski. Die »Fabrikjungen, Zeitungsjungen, Laufjungen, Schuljungen, Kaminfe-
gerjungen, Bäckerjungen« kennen die Stadt wie ihre Westentasche. Sie wissen,
wie hier die Menschen-, Verkehrs-, Waren- und Informationsströme verlau-
fen und wie sie vernetzt sind. Dabei machen sie sich die Besonderheit groß-
städtischer Wahrnehmung zunutze, in der nicht das Auge den Gegenstand,
sondern der Gegenstand das Auge wählt. Sie führen buchstäblich »einen
Krieg mit den Augen und Gedanken der Menschen« (Durian) und heizen den
Wolf Durian: Kai aus der schockförmigen Takt der Metropolenwahrnehmung mit einem Tempo auf,
Kiste. Cover der bei dem die Alten nicht mehr mithalten können.
Erstausgabe. Berlin 1927 Diese »ganz unglaubliche Geschichte« (Untertitel) transportiert den ame-
rikanischen Traum vom ›Tellerwäscher zum Millionär‹ in den kollektiven
Horizont einer Horde von umherschweifenden Stadtindianern, die im souve-
ränen und angstfreien Umgang mit den neuen Verkehrs- und Kommunikati-
onsmitteln die Generationsverhältnisse geradezu umkehren. Temporeich ge-
schrieben und strikt an der Oberfläche der Geschehnisse bleibend, liefert Kai
Slapsticks über das Funktionieren der Aufmerksamkeit in der großen Stadt.
Ganz auf Simultaneität, Sichtbarkeit und ›action‹ hin berechnet, gilt er als
der Kinderroman der Neuen Sachlichkeit – er wird zum Prototyp einer an-
schwellenden kinderliterarischen Mode von Großstadtgeschichten mit Wett-
kampfcharakter um Spiel, Sport und Abenteuer, wie sie in der Spätphase der
Weimarer Republik vor allem vom Franz Schneider-Verlag gepflegt wurde.
Allerdings kommen diese an Tempo und Respektlosigkeit des Vorbilds nicht
heran und beschränken sich in der Regel darauf, dass sich die Kinder die
Aufmerksamkeit von Presse, Rundfunk und Film erobern und zu Medienstars
werden. Immerhin verweisen sie auf die wachsende Akzeptanz aktueller,
spannender Kinderunterhaltung.
Revolution im Auch im Werk des bedeutendsten Modernisierers der Weimarer Kinderli-
Bücherschrank der teratur, Erich Kästner, hat Durians Roman Spuren hinterlassen. Kästners
Kinder erster Kinderroman Emil und die Detektive (1929) lässt sich durchaus als
Anti-Kai, als demokratische Antwort auf den anarchischen Vorläufer lesen.
Die Großstadt funktioniert hier nicht mehr als Spielfeld und Energiezentrale,
sondern als urbaner Bewährungsraum. Der Topos ›Verkehr‹ steht auch hier
für den angstfreien Umgang mit Phänomenen wie Masse, Tempo, Beschleu-
nigung, dies aber im Sinne von Ordnung statt Chaos, als urbane Zirkulation,
in der sich Gleichberechtigte an für alle gleichermaßen geltende Regeln hal-
ten. Fair Play gilt ebenso für die Verkehrsformen der Kinder untereinander
wie für das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen. Die souverän han-
delnden Kinder in Emil sind keine ›wilde Clique‹, sondern bilden für die Jagd
nach dem Dieb von Emils Taschengeld eine Art räsonierendes Kinderparla-
ment, in dem argumentiert, abgestimmt und delegiert wird. Beide Romane
thematisieren das Phänomen großstädtischer Wahrnehmung. Während aber
diese Wahrnehmung bei Durian als zerstreutes Vermögen erscheint, auf rasch
wechselnde Bilder schnell und effektiv zu reagieren, erfordert Kästners Ver-
fahren eine bedächtigere, nicht mehr massen-, sondern wieder subjektorien-
tierte Form der Aufmerksamkeit: detektivische Spurensuche. Wie sich das
großstädtische Kino Durians in einen Erfahrungs- und Handlungsraum für
Neue Trends in der Weimarer Kinder- und Jugendliteratur 255

die Kinder verwandelt, ist das eigentlich Neue des Emil-Romans. Kästner
geht es um Urbanität als zivile Verhaltensform. Folglich ist seine Stadt auch
keine Zirkulationsmaschine, die von Kindern außer Kontrolle gebracht wer-
den kann, sondern ein aufgeräumter, öffentlicher Raum, der sich vernünftig
gebrauchen lässt und es auch den Kindern möglich macht, sich ihre eigene
demokratische Kinderöffentlichkeit selbst zu organisieren, republikanische
Tugenden in Aktion vorzuführen und das an Emil begangene Unrecht aus
der Welt zu schaffen. Das neue Kindheitsmuster aber und den Generations-
bruch, der bei Durian aufscheint, revidiert auch Kästner nicht: Auch ihm
sind die Kinder die Besseren, aber nicht die besseren Großstadtspezialisten,
sondern die besseren Demokraten. In Kästners Wunschperspektive einer
»klassenlosen Gesellschaft unter Kindern« (Doderer) fungiert die eigenstän-
dig und solidarisch handelnde Kindergruppe als positiver, utopischer Gegen-
entwurf zur Erwachsenenwelt.
In Pünktchen und Anton (1931) scheint das Konzept der vernünftigen
Stadt nicht mehr umstandslos aufzugehen. Ihre Straßen sind nicht mehr aus-
schließlich Flaniermeilen eines urbanen Weltstadtpublikums, sondern auch
Ort von Bettelei und Kinderarbeit. Sie legen Distanzen zwischen die Villa
Pogge im reichen Berliner Westen und Antons Mietstube in Mitte; aber es
gibt immerhin noch die Brücke, auf der Pünktchen und Anton als Repräsen-
tanten von Arm und Reich zusammentreffen. Sehr genau nimmt Kästner die
unterschiedlichen Lebensbedingungen der beiden Kinder in den Blick, an ih-
nen demonstriert er soziale Widersprüche, an ihrer Kinderfreundschaft aber
die fiktive Möglichkeit ihrer Aufhebung – eine Aufgabe, die er letztlich den
lesenden Kindern zuschreibt. Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise
kann die Stadt offensichtlich die Funktion, Lernort lebendiger Demokratie
zu sein, nicht mehr ohne Weiteres erfüllen, auch ihre Erzählung braucht die
moralische Unterstützung der eingeschobenen auktorialen »Nachdenkereien«.
Seinen Ausflug in die Alltagswirklichkeit sozialer Klassenkindheiten hat
Kästner nicht wiederholt. In Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee

»Das arme Tier, siehst Du,


Mutti, dem haben sie den
ganzen Kühler einge-
drückt.« – Zeitgenös-
sische Karikatur
256 Weimarer Republik

(1932) zeigt sich die Wahrheit dieser »schönen Lügengeschichte« (Kästner)


nicht in der Erzählung von möglichem vernünftigen Handeln, sondern
scheint am popular-utopischen Muster der Verkehrten Welt auf, wie über-
haupt Der 35. Mai von der hybriden Mixtur intertextueller Bezüge zur äl-
teren Volksliteratur wie Schlaraffenlandfantasien und Eulenspiegeleien mit
gleichzeitigen surrealistischen Bildern geprägt ist.
Das Motiv der Verkehrten Welt tritt in dieser Verkettung schon in Käst-
ners Kindergedichten (Das verhexte Telefon, 1930; Arthur mit dem langen
Arm, 1931) auf, in denen er Walter Triers surreale Bildeinfälle mit den eige-
nen Vorstellungen vom Rollentausch von Kindern und Erwachsenen kombi-
niert. Allerdings erreicht die Kinderlyrik Kästners nicht die aggressive Zu-
spitzung, wie sie Joachim Ringelnatz etwa in seinem Geheimen Kinder-Spiel-
Buch (1924) und seinem Kinder-Verwirr-Buch (1931) inszeniert: Bei ihm ge-
rät die Lust an anarchischen Kinderfantasien, Sprachspielen und Struwwel-
petriaden ohne erhobenen Zeigefinger zur bedingungslosen Bloßstellung der
Erwachsenenwelt.
Auch in Das Fliegende Klassenzimmer (1933) kombiniert Kästner er-
probte Muster, etwa Motive aus Ferenc Molnárs Die Jungen von der Paul-
straße (1906, dt. 1910/1928) – dem kinderliterarischen Prototyp für die
Kämpfe rivalisierender Großstadtkinderbanden – mit denen des Erfolgsro-
mans Der Kampf der Tertia von Wilhelm Speyer (1927, verfilmt 1929).
Beides sind frühe, gesellschaftskritische Zeugnisse der Selbstorganisation
zeitgenössischer Kindheit; bei Speyer kommt noch die Frontstellung gegen
die materialistisch eingestellte Erwachsenenwelt hinzu, gegen die die Schüler
eines internationalen Landerziehungsheims ihre Ideale von Demokratie und
Humanität handfest verteidigen. In seiner »Ilias für Jungens« (Klappentext)
holt Speyer die kindliche Autonomie in den bildungsbürgerlichen Horizont
hinein, ein Unternehmen, das freilich nur im experimentellen Raum eines
reformpädagogischen Schulstaats gelingt. Kästners Schulroman stellt dage-
gen eine weit weniger radikale Variante dar.
Kästners frühe Kinderromane haben den Paradigmenwechsel in der mo-
dernen Kinderliteratur zwar nicht eingeleitet, dafür aber tragfähig gemacht.
So bemerkt die Berliner Börsenzeitung schon 1929: »Die alte Jugendschrift,
die über die Köpfe der Kinder hinwegpredigte, oft in einem kindlich sein
wollenden und darum albernen Stil, verschwindet aus dem Bord: das ist die
Revolution im Bücherschrank der Kinder.« Und die Literarische Welt postu-
liert 1930: »Wer zu Kindern nicht so sprechen kann, als seien sie Kameraden,
Gleichberechtigte, der sollte nicht für Kinder schreiben« (Wolf Zucker). Emil
und die Detektive wurde einer der erfolgreichsten und literarisch folgen-
reichsten Kinderromane der späten Weimarer Republik. Nur vordergründig
betrifft das die Modernisierung der Motive, etwa des Detektivs als städtischer
Variante des aus der Abenteuerliteratur bekannten indianischen Spähers.
Zwar treten fortan Kinderdetektive zuhauf auf den Plan (etwa bei Wilhelm
Matthießen: Das Rote U, 1932; Friedrich Schnack: Klick aus dem Spielzeug-
laden, 1933), Schule gemacht hat jedoch vor allem die Urbanität als Habitus,
die Kästner den Kindern zugesteht, aber auch von ihnen erwartet. Dazu
kommt die Professionalität von Kästners Schreiben, mit der er sich bereits in
der Weimarer literarischen Kultur als Satiriker und Gebrauchslyriker der
Neuen Sachlichkeit einen Namen gemacht hatte und die er auch in seinen
Kinderbüchern in Anschlag bringt: Kinderliteratur ist für ihn nicht ein Son-
derfall, sondern der »Anwendungsfall« der Ästhetik, was er den kindlichen
Lesern in seiner Erfindung der speziellen Vorworte und Kinderansprachen
im Text (dafür hat sich die Bezeichnung des ›Kästnerns‹ eingebürgert) immer
wieder erläutert.
Neue Trends in der Weimarer Kinder- und Jugendliteratur 257

Das Kästner-Modell und der Kästner-Stil sind schon von den Kinderbuch-
autoren der Weimarer Zeit oft adaptiert worden; seit der Weltwirtschaftkrise
treten aber zunehmend Versuche auf, seiner Wunschperspektive urbaner
Kindheit realistischere Konturen zu geben. Bei Autorinnen wie Lisa Tetzner,
Anni Geiger-Gog oder Ruth Rewald wird damit ein Gewinn an Authentizität
erreicht, die an die sozialen Klassenmilieus gebunden bleibt. Hier sind es vor
allem die eigenen Straßen im ›Kiez‹, die als Schauplätze einer proletarischen
Kinderöffentlichkeit fungieren und die für die Kinder der Mietskasernen
nicht nur die einzige Möglichkeit bieten, den engen Wohnungen zu entkom-
men. Sie sind darüber hinaus Handlungsorte von eingeschworenen Kinder-
freundschaften, aber auch von Kinderbanden (Geiger-Gog: Fiete, Paul und
Co. Die von der Webergasse, 1932), deren aggressive Aktivitäten zumeist in
sinnvolles, solidarisches Handeln überführt werden, etwa in das mühsame
Geldverdienen für einen Fußball, mit dem alle spielen können (Tetzner: Der
Fußball, 1932) oder im kollektiven Schreiben und Inszenieren eines Vaga-
bunden-Theaterstücks während der Ferienzeit, in der eben nicht verreist
werden kann (Rewald: Müllerstraße, 1932). Bergender Raum sind hier nicht
das Zuhause, sondern Hinterhöfe, Dachböden, Sportplätze. Vom ›Kiez‹ aus
wird auch hier die Stadt erobert, werden Räume angeeignet und für die eige-
nen Zwecke umgewidmet, aber vorkommende Ausflüge in die Bezirke des
Überflusses und des Geldes (auffällig ist das immer wiederkehrende Motiv
des Warenhauses) enden nicht, wie bei Kästner, als Konstruktion gehäuften
Glücks im Happy End, sie bleiben als mobile und nomadische Grenzüber-
schreitungen deutlich. Bezeichnenderweise handeln diese Kinder zwar selb-
ständig, sie sehen sich aber nicht als autonom und unabhängig von den Er-
Alex Wedding: Ede und
wachsenen ihrer Klasse. Das gilt besonders für die proletarisch-revolutio- Unku. Berlin 1931
nären Versuche einer Großstadtliteratur für Kinder wie Alex Weddings Ede
und Unku (1931), die in deutlicher Opposition zu Pünktchen und Anton
nicht nur die Freundschaft zwischen einem Arbeiterjungen und einem Sinti-
Mädchen thematisiert und die gängigen Vorurteile gegen die ›Zigeuner‹ kri-
tisch hinterfragt, wie es vor ihr schon Jo Mihaly in Michael Arpad und sein
Kind (1930) unternommen hatte. Sie entwirft auch ein explizit kinderlitera-
risches Klassenkampfmodell, in dem Kinder und Erwachsene für ihre ge-
meinsamen politischen Interessen an einem Strang ziehen.
An kaum einem Genre lässt sich die Modernisierung von Familienverhält- ›Neue Mädchen‹
nissen, Generations- und Geschlechterrollen so deutlich verfolgen wie in der
Mädchenliteratur der 20er Jahre. Hier ist die Gleichzeitigkeit des Ungleich-
zeitigen mit Händen zu greifen. In der Mehrzahl der Mädchenbücher wird
weiterhin die Rolle der Frau als Hüterin von Heimat und Familie festge-
schrieben, aber der Nachdruck, mit dem das geschieht, zeigt, dass hier weni-
ger frühere Selbstverständlichkeiten am Werk sind als Harmoniebestrebun-
gen und Illusionsbedürfnisse. Eine Erfolgsschriftstellerin wie Josephine Siebe
versucht mit kuscheligen Puppen- und Bärengeschichten (Sechs Bärenbrüder,
1927; Das lustige Puppenbudi, 1929) gegenzusteuern und gibt weiter das
Töchteralbum nach bewährtem Muster heraus. Aber sie verfasst auch die
witzigen Kasperle-Bände (1921–30), in denen die respektlosen »lustigen
Streiche« des kleinen Kerls von der Sehnsucht nach einem fehlenden mütter-
lichen Zuhause grundiert werden. Weiterhin werden auch Serien nach dem
Backfischmuster verfasst, so von Magda Trott und vor allem von Else Ury,
deren Nesthäkchen-Serie (1913–25) zu den meistgelesenen Mädchenbüchern
der Weimarer Republik gehörte (bis 1933 wurden zwei Millionen Exemplare
abgesetzt). Aber auch bei Nesthäkchen, die schon 1925 »mit weißem Haar«
auf ihre Enkel blicken kann, halten die neuen Zeiten Einzug, gilt die Heirat
258 Weimarer Republik

nicht mehr als letzte Erfüllung und werden auch Berufswünsche der Mäd-
chen akzeptiert.
Nesthäkchens freche Daneben beginnt sich bei der jungen emanzipierten Autorinnengeneration,
Enkel die ihr literarisches Debüt in den 20er Jahren hatte, ein völlig neues Mäd-
chenbild durchzusetzen. Wie in den Bibi-Bänden der dänischen Schriftstelle-
rin Karin Michaelis (ab 1929 zeitgleich auf dänisch und deutsch erschienen)
durchbrechen die Heldinnen der neuen Mädchenbücher traditionelle ge-
schlechtsspezifische Verhaltensmuster, zeigen rollenflexible Charaktereigen-
schaften und erobern sich Handlungs- und Bewegungsmöglichkeiten, die
bisher nur den Jungen vorbehalten waren. »Nickelmann ist ein Mädchen«,
so eröffnet z. B. Tami Oelfken ihren Roman Nickelmann erlebt Berlin (1931).
Bezeichnenderweise ist das aus dem Titel nicht ersichtlich und auch der Un-
tertitel, ein »Großstadtroman für Kinder und deren Freunde«, verweigert
sich der Klassifizierung als konventionelles Mädchenbuch. Nesthäkchens
freche Enkel wachsen eher in vaterlosen als in kompletten Familien auf, ihre
Mütter sind in der Regel berufstätig und mehr Freundinnen als Autoritäts-
personen, ausgestattet mit großem Verständnis für die Bestrebungen ihrer
Töchter, sich aus der engen Fixierung an den privaten familiären Raum zu
lösen und ihren Aktionsradius in die Großstadt hinein zu erweitern. So weiß
Nickelmanns Mutter, dass nach dem »Puppenwagenjahr« die »Rollerjahre«
folgen und für ihre Tochter »jedes Jahr die Welt ein Stück größer« und kon-
fliktreicher wird.
Diese erste Generation selbständiger Mädchen in der Kinderliteratur ist
klug, aufmüpfig, aktiv und unabhängig und in ihrer androgynen Erscheinung
deutlich dem Typ der ›Neuen Frau‹ der 20er Jahre nachgebildet. Sie wehren
sich gegen eine ein für allemal festgelegte Identität und klagen ihre Gleichbe-
rechtigung z. B. auch mit geschlechtsunspezifischen, einsilbigen Namen ein:
»Karl klingt dunkelgrün und Emil ist ein Brechmittel«, meint Elisabeth, die
Protagonistin von Lotte Arnheims Lusch wird eine Persönlichkeit (1932) in
deutlicher Anspielung auf Kästners Emil: »Ich heiße für fremde Leute Ellen,
aber so manchmal Ellusch und meistens Lusch. Lusch klingt sehr sachlich
[...]. Wenn man mich ruft, kann ich doch auch viel schneller da sein als mei-
netwegen Elisabeth.« Während die kleine Nickelmann (ein Gegenbild zu
Werner Bergengruens Zwieselchen, 1931) den Typus des kinderliterarischen
Flaneurs vertritt, der Erfahrungen durch Beobachtung des Geschehens auf
der Straße macht, sich aber kaum einmischt, nimmt die ältere Lusch ange-
sichts der prekären finanziellen Lage, der sich die Eltern hilflos ausgeliefert
fühlen, das Wohlergehen der Familie aktiv und kompetent in die eigene
Hand. Die ›Neuen Mädchen‹ sind stärker und flexibler als ihre Elterngenera-
tion, vor allem sind sie aktiver und näher am zeitgenössischen Leben. Sie
bewähren sich auch in bisher nur von Jungen dominierten Positionen, treten
als Anführerinnen von gemischten Kindergruppen in Erscheinung oder füh-
ren sogar Kriege. Ihr unübertroffenes Vorbild scheint die gekränkte Amazone
Daniela aus Wilhelm Speyers Kampf der Tertia zu sein, die als einziges Mäd-
chen der Tertia ihr ureigenes Territorium gegen die Jungen mit zwei Doggen
und dem Warnschild verteidigt: »Halt! Wer weitergeht, wird erschossen! Ich,
Daniela!« Speyers Schulstaat wird in Kadidja Wedekinds Kalumina. Roman
eines Sommers (1933) durch das Spielmodell eines Kaiserreichs refeudali-
siert, dessen 15-jährige Kaiserin Carola mit unbegrenzter Macht über ihre
sämtlich männlichen Untertanen ausgestattet ist. Anders als in dieser ein-
fachen Verkehrung der üblichen Herrschaftsverhältnisse macht Grete Berges
in Liselott diktiert den Frieden (1932) einen vernünftigen Vorschlag: Hier
gründet die Heldin einen Mädchenbund zum Selbstschutz und zur Verteidi-
Neue Trends in der Weimarer Kinder- und Jugendliteratur 259

gung von Mädchenrechten. Mit Mut und Köpfchen gehen die Mädchen
siegreich aus dem Kräftemessen mit ihren Konkurrenten, einer Jungenclique,
hervor und schaffen es, ihnen den Frieden der Geschlechter zu diktieren.
Die moderne Kinderliteratur der 20er Jahre reflektiert nicht nur die Ver- Jugend und Welt
änderung von Kindheit, sie trägt auch ihrerseits zu deren Modernisierung
bei. Der Akt der Synchronisation, den sie vollzieht, greift über die nationalen
Grenzen weit hinaus: Wie die Wochenschauen und Rundfunkreportagen
möchten neue Kinderzeitschriften und Jahrbücher den Kindern »die Augen
für die Welt öffnen« und sie einbeziehen in das, was auf der Welt passiert.
Aber auch fiktionale Texte tragen ihren Teil dazu bei, den kindlichen Hori-
zont zu erweitern. In der Tendenz erfolgt dabei ein Wechsel der Perspektive
vom kolonialen Erobererblick der früheren Abenteuerbücher hin zur neugie-
rigen Erkundung auch anderer Lebensmöglichkeiten. In Wie Franz und Grete
nach Rußland kamen (1926) preist Berta Lask in agitatorischer Absicht die
Errungenschaften der jungen Sowjetunion, während in den neusachlichen
Kinderbüchern die Reise mit Vorliebe in Richtung Westen geht. So nutzt
Erika Mann (Stoffel fliegt übers Meer, 1932) das Motiv des kindlichen Aus-
reißers, um u. a. das Großstadtleben New Yorks vorzustellen. Die Thematik
des Eigenen und des Fremden im Sinne von Völkerfreundschaft und Rassen-
versöhnung entwickeln auch Hans Leip in Ein Nigger auf Scharhörn (1927)
und Balder Olden in Madumas Vater. Eine Knabenerzählung aus Afrika
(1928). Deutliche Opposition zu Kriegsverherrlichung und Militarismus be-
zieht schließlich Rudolf Frank in Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua
(1931).
Mit dieser Art von Weltoffenheit machte der Sieg des Nationalsozialismus
gründlich Schluss. Die Zäsur 1933 bedeutete für viele der Autoren und Auto-
rinnen Vertreibung, Exil, Innere Emigration; ihre Bücher wurden verboten
und verbrannt. Die wichtigste Institution der Jugendschriftenbewegung, die
Jugendschriften-Warte, ließ sich gleichschalten und stellte sich in den Dienst
der Propaganda völkischer Gesinnung. Die neuen Geistigen Grundlagen der
Arbeit am Jugendschrifttum lauteten nun: »Was diesem ersten und wichtigs-
ten Ziele schädlich ist, was überwundene liberalistische, individualistische
und pseudosozialistische Tendenzen an die Jugend heranträgt, was artfremd
ist und undeutsch, das wird ausgemerzt werden aus dem Erziehungsgut der
deutschen Jugend« (Jugendschriften-Warte, 1933).
260

Jüdische Kinder- und Jugendliteratur


bis 1945

Annegret Völpel

Entwicklungen von der Mitte


des 18. Jahrhunderts bis 1918

Definition und Unter jüdischer Kinder- und Jugendliteratur sind diejenigen Texte zu verste-
Grundzüge hen, die an jüdische Heranwachsende adressiert waren und von der jüdischen
Gemeinschaft als ihre kultureigene Literatur angesehen wurden. Die Träger-
schaft wies ihr die Funktion zu, die Leser in ihrer Zugehörigkeit zum Juden-
tum zu bestärken – wobei die Majorität der deutschen Juden dafür eintrat,
jüdisches Selbstbewusstsein als Bestandteil der deutschen Gesellschaft zu
fördern. Der sozialhistorischen Situation der deutschen Juden entsprechend,
waren diese Kinder- und Jugendschriften eine Minoritätenliteratur, der am
Kulturaustausch gelegen war, die sich jedoch auch der jüdischen Kulturwah-
rung verschrieb. In jüdischer Kinder- und Jugendliteratur fand eine Kommu-
nikation über die mehrfache Kulturzugehörigkeit und deren Austarierung zu
einer deutsch-jüdischen Identität statt. Hierbei war Literatur nicht nur ein
Medium des interkulturellen Austausches mit der nichtjüdischen Umwelt,
sondern diente auch der binnenkulturellen Auseinandersetzung mit innerjü-
dischen Strömungen. Insgesamt gesehen trat die jüdische Kinder- und Ju-
gendliteratur im deutschen Sprachraum daher als eine multiterritoriale und
mehrsprachige (deutsche, jiddische, hebräische) Minderheitenliteratur in Er-
scheinung. Im Verlauf ihrer wechselhaften Geschichte äußerte sich in dieser
Literatur eine Vielzahl jüdischer Selbsteinschätzungen, die sowohl dem sozi-
alhistorischen Wandel als auch der geistigen Heterogenität des deutschen
Judentums entsprach.
Entwicklungsphasen In der Geschichte der deutschsprachigen jüdischen Kinder- und Jugendli-
bis 1918 teratur lassen sich von der Mitte des 18. Jh.s bis 1918 vier Entwicklungsab-
schnitte benennen: die Aufklärung, die Reformpädagogik, die Neo-Orthodo-
xie und die Jahrhundertwende. Mit diesem Phasenverlauf partizipierte die
deutsch-jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis zum Ende des 19. Jh.s mehr
an den Entwicklungsrhythmen der jüdischen Erwachsenenliteratur als an
denen der nichtjüdischen deutschen Literaturgeschichte.
Frühe Formen der literarischen Mitansprache von Kindern sind bereits für
den Zeitraum seit 1100 nachweisbar, da man bestrebt war, Kinder in den
religiösen Kanon (vor allem in den Tenach) einzuführen. Seit dem 14. Jh.
wurden für Schüler hebräische Kompendien mit religionsgesetzlichem Inhalt
verfasst, die Pessach-Haggada wurde für Kinder didaktisch umgestaltet, und
im 16. Jh. kamen doppelt adressierte jiddische Bücher hinzu.
Aufklärung Der Umbruch zu einer spezifischen Kinder- und Jugendliteratur vollzog
sich jedoch erst im Verlauf der jüdischen Aufklärung, der Haskala, im Zu-
sammenhang mit der sozialen und mentalen Entgettoisierung der Juden. Mit
der Haskala entstand ein Interesse an der Schaffung und adressatengemäßen
Entwicklungen von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1918 261

Gestaltung einer spezifischen jüdischen Kinder- und Jugendliteratur in deut-


scher Sprache, der im Zuge des jüdischen Akkulturationsprozesses die kom-
plementäre Aufgabe zugesprochen wurde, sowohl der Emanzipation als auch
der jüdischen Kulturtradierung zu dienen. Der führende Repräsentant der
Haskala war Moses Mendelssohn. Sein jugendliterarisches Werk markiert
den Durchbruch der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur zur Deutschspra-
chigkeit; wegweisend hierfür waren Mendelssohns 1774 begonnene deutsche
Bibelübersetzung sowie das von seinem Schüler David Friedländer bearbei-
tete Lesebuch für Jüdische Kinder (1779). Mit diesem Lesebuch begann auch
auf kinderliterarischer Ebene die Emanzipation der deutschen Juden. Die
kulturelle Öffnung zur nichtjüdischen Umwelt geschah unter Anlehnung an
die philanthropische Pädagogik. Dies zeigte sich im intertextuellen Lesebuch
in der Kombination von traditionell-jüdischen Lehrstoffen mit einer philan-
thropischen Elementarbildung, später in hebräischen Campe-Übersetzungen
und in der Schaffung jüdisch-biblischer Geschichten, beginnend mit Aron
Wolfsohns Awtalion (1790). Hiermit hatte sich die jüdische Pädagogik unwi-
Das erste deutsch-
derruflich für außerjüdische Einflüsse sowie für Kinder- und Jugendliteratur sprachige jüdische
jenseits des traditionellen Lehrkanons geöffnet. Jetzt wurde der jüdischen Kinderbuch
Kinder- und Jugendliteratur eine über die religiöse Unterweisung hinausge-
hende Sozialisierungsaufgabe zugewiesen; unabhängig vom jeweiligen Genre
oder Stoff sollte sie nun den Lesern eine jüdische Identität vermitteln. Diese
Funktionsbestimmung blieb auch in späteren Epochen ein wesentliches Cha-
rakteristikum deutsch-jüdischer Kinder- und Jugendliteratur.
Die kinderliterarische Position der jüdischen Reformpädagogik im 19. Jh. Reformjüdische
orientierte sich stark an den Grundgedanken der Haskala. Reformjüdische Literatur
Kinder- und Jugendschriftsteller widmeten sich primär einer Popularisierung
der Aufklärung und griffen daher wesentlich seltener romantische Einflüsse
auf. In den 1830er Jahren riefen jüdische Pädagogen explizit zu einer Inten-
sivierung, aber auch Kontrolle der jugendliterarischen Produktion auf. Damit
wurde die bisherige Defensivstrategie der Abwehr antijüdischer und der
Empfehlung judenfreundlicher Texte aus dem allgemeinen literarischen An-
gebot durch einen Aufruf zur jüdischen Literaturproduktion ergänzt. Mit
Nachdruck forderten Literaturpädagogen nun, dass für die Jugend eine the-
matisch von Judentum bestimmte Lektüre geschaffen werden müsse, um die
vornehmlich rezipierten nichtjüdischen Jugendschriften durch kultureigene
Perspektiven zu ergänzen. Um dies zu realisieren, wurden in den aufblühen-
den jüdischen Zeitschriften wie der Allgemeinen Zeitung des Judentums
(1837–1922) auch für die Jugend belletristische Texte abgedruckt, und Auto-
ren wie Simon Krämer veröffentlichten Jugenderzählungen mit lehrhaften
Zügen, die für Akkulturation und für Vorstellungen der jüdischen Reform-
pädagogik warben. Dementsprechend widmete man sich in den ersten zwei
Dritteln des 19. Jh.s nicht nur der Pflege jüdischer Folklore und der inhaltli-
chen und methodischen Weiterentwicklung von Lehrbüchern, sondern auch
der Hervorbringung unterhaltender Kinder- und Jugendschriften. Solange
die Anzahl spezifischer Kinder- und Jugenderzählungen gering blieb, hatte
jüdische Kinder- und Jugendliteratur noch vielfach den Charakter einer
mehrfachadressierten Literatur, die viele Texte aus der Lehrtradition und
dem Literaturkanon des Judentums beinhaltete und entsprechend große
Nähe zur Erwachsenenliteratur aufwies. Mit Hinzutreten der modernen,
spezifischen und individuell erzählten Kinder- und Jugendliteratur reduzierte
sich dieses Merkmal auf Lehrschriften, Anthologien und Lesebücher. Bereits
im frühen 19. Jh. wurden als Novum jüdische Kinder- und Jugenderzählun-
gen in deutscher und hebräischer Sprache etabliert, in denen der deutsche
262 Jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis 1945

Staatsbürger mosaischen Glaubens zum Leitbild wurde. Unter den Genres


entwickelten sich vor allem der historische Roman, mit Werken etwa von
Berthold Auerbach und Ludwig Philippson, und die Gettoerzählung, mit
Autoren wie Leopold Kompert, Aron David Bernstein und Karl Emil Fran-
zos. Wesentliche Impulse erhielten Kinder- und Jugendschriften des liberalen
Judentums zudem durch die in Deutschland neu begründete Wissenschaft
des Judentums. Diese vom Reformjudentum getragene Gruppierung widmete
sich in der Religionsphilosophie, der Sprach- und Literaturwissenschaft so-
wie der Historiographie der Erforschung des Judentums, sie initiierte u. a.
eine moderne jüdische Geschichtsschreibung und setzte eine historisch-kriti-
sche Betrachtungsweise jüdischer Tradition sowie einen erweiterten Litera-
turbegriff durch. Dieser Interessensanstieg an den historischen und zeitge-
nössischen Erscheinungsformen des Judentums schlug sich auch in der Kin-
der- und Jugendliteratur umgehend nieder.
Schriften der Mit der Neo-Orthodoxie entstand eine religiöse Gegenbewegung zu der
Neo-Orthodoxie zuvor dominierenden Reformpädagogik. Als Vordenker wirkte der Pädagoge
und Schriftsteller Samson Raphael Hirsch, der in theoretischen und religi-
onspädagogischen Schriften seit den 1830er Jahren eine Mittlerposition
zwischen altjüdischer religiöser Lehre und einer gemäßigten Öffnung zum
nichtjüdischen deutschen Bildungs- und Literaturkanon vertrat. Im Anschluss
an frühe neo-orthodoxe Religionslehrschriften entstanden um die Jahrhun-
dertmitte eine orthodoxe Presse und eine neo-orthodoxe Erzählliteratur, de-
ren führende Autoren Salomon Kohn und Markus (Meir) Lehmann waren.
Anfänglich hatte die Neo-Orthodoxie aufgrund ihrer religiösen, antiindivi-
dualistischen Gemeinschaftsorientierung eine Übernahme der philanthropi-
schen und reformjüdischen Kindheitsvorstellung und infolgedessen die Ent-
wicklung einer spezifischen Kinderliteratur als überflüssig abgelehnt. Nach
einer Revision dieses Verdikts entstand seit 1860 in breiterem Ausmaß eine
eigene Kinder- und Jugendliteratur, die unter die Prämisse der Religionstreue
gestellt wurde. Der quantitative Publikationshöhepunkt neo-orthodoxer
Kinder- und Jugendschriften lag in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. Seither
blieb diese Literatur mit der Intention präsent, eine religiöse Neuformierung

Die Laubhütte – eine


mehrfachadressierte,
orthodoxe Familienzeit-
schrift
Jüdische Literatur in der Weimarer Republik 263

des Judentums anzuregen. Der populärste neo-orthodoxe Erzähler war der


Rabbiner und Schriftsteller Markus (Meir) Lehmann. Er verfasste überwie-
gend historisch-biographische Romane und Erzählungen, in denen er die
Übereinstimmung von jüdischer Kultur und orthodoxem Glauben beschwor.
So intendierte er auch mit seiner Erzählung Süß Oppenheimer (1872) weni-
ger die Vermittlung historischer Kenntnisse über diesen Hofjuden als viel-
mehr die Darstellung jüdischer Religiosität.
Um die Jahrhundertwende trat innerhalb der deutschen Jugendschriften- Jüdische Jugend-
bewegung eine jüdische Fraktion auf, die eine von der allgemeinen Kunster- schriftenbewegung
ziehungsbewegung abweichende Entwicklung vollzog. Zunächst stimmten
jüdische Literaturpädagogen den Positionen von Heinrich Wolgast zu, die er
1896 in seinem Grundlagenwerk Das Elend unserer Jugendliteratur veröf-
fentlicht hatte. Dementsprechend beteiligten sich jüdische Autoren wie Jakob
Loewenberg an der Herausgabe von künstlerisch wertvoller Jugendliteratur
durch die Jugendschriftenkommissionen wie beispielweise der Lyrikantholo-
gie Vom goldnen Überfluß (1902), ohne das Jüdische eigens zu akzentuieren.
Mit wachsendem Bedarf an einem eigenen kulturellen Medienangebot und
in Reaktion auf Ausgrenzungserfahrungen wurde jedoch Wolgasts Forderung
nach ›Tendenzfreiheit‹ von jüdischen Literaturvermittlern zunehmend ange-
zweifelt und schließlich zugunsten eines Bekenntnisses zu einer spezifisch
jüdischen Literaturprägung aufgegeben. Hauptsprachrohr der jüdischen Ju-
gendschriftenbewegung war die von Moritz Spanier herausgegebene Zeit-
schrift Wegweiser für die Jugendliteratur (1905–1914). Die darin geführte
Diskussion um ›gute‹ jüdische Kinder- und Jugendliteratur fokussierte sich
auf zwei Gattungen, die Biographie und das Märchen, die neue literaturpäd-
agogische Akzeptanz erhielten. In unmittelbarer Reaktion auf die Jugend-
schriftenbewegung wurden kinder- und jugendliterarische Serien herausgege-
ben und Anthologien zusammengestellt (Elias Gut: Für unsere Jugend,
1911–1926; Theodor Rothschild: Bausteine, 1913–1927). Bedeutender noch
war, dass die in der folgenden Epoche stattfindende Umgestaltung der Kin-
der- und Jugendliteratur wesentlich auf den literaturtheoretischen Vorstel-
lungen der jüdischen Jugendschriftenbewegung beruhte.
Im frühen 20. Jh. lag die jüdische Kinder- und Jugendliteratur somit als
eine eigene, in sich ausdifferenzierte Strömung der deutschen Kinder- und
Jugendschriften vor. Der jüdische Textkorpus befand sich in einer publikati-
onsintensiven Hochphase; mit einem breiten Gattungsspektrum und einer
formensprachlichen wie mentalitätsgeschichtlichen Vielfalt wiesen jüdische
Kinder- und Jugendschriften weniger denn je zuvor ein einheitliches Gepräge
auf.

Jüdische Literatur in der Weimarer Republik

Seit 1918 erlebte die jüdische Kinder- und Jugendliteratur eine Hochblüte. Hochphase jüdischer
Die zuvor entwickelten Maximen einer selbstbewusst zu vertretenden kultu- Kinder- und Jugend-
rellen Differenz zur nichtjüdischen Umwelt sowie die Forderung nach künst- literatur
lerisch wertvollen Kinder- und Jugendschriften wurden in der literarischen
Praxis der Weimarer Republik erstmals breitenwirksam umgesetzt. Gemäß
den theoretischen Forderungen nach einer dezidierten Zurückweisung anti-
semitischer Literatur und nach der Entwicklung einer modernen jüdischen
264 Jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis 1945

Kinder- und Jugendliteratur kam es in den 1920er Jahren zu einem Publika-


tionsanstieg, der mit einem Innovations- und Ästhetisierungsschub insbeson-
dere in der Belletristik einherging. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs hatten
jüdische Literaturpädagogen einvernehmlich den Mangel an geeigneten Kin-
der- und Jugendschriften beklagt, der in erster Linie aus den sozioökono-
mischen Schwierigkeiten einer Minoritätenliteratur resultierte. In der Wei-
marer Zeit gelang es, dieses Defizit auszugleichen, wobei vor allem drei Mo-
Publikationsstrategien mente von Bedeutung waren. Erstens verstärkten jüdische Literaturvermittler
ihre Kritik judenfeindlicher Darstellungen in der deutschen Literatur und
schieden antisemitische Schriften, die bereits seit den 1880er Jahren zuneh-
mend populärer wurden und einem antipluralistischen Nationalismus Vor-
schub leisteten, aus ihrem Empfehlungskanon aus. Zweitens wurde das Kor-
pus sanktionierter Jugendliteratur durch eine Öffnung zur jüdischen Er-
wachsenenliteratur erweitert. Diese Übernahme von Texten konnte sowohl
in Gestalt bloßer Leseempfehlungen als auch mittels Bearbeitungen für die
Jugend geschehen. In diesem Zusammenhang wurden u. a. durch Jizchak
Leib Perez und Chajim Bloch die jüdische Folklore sowie die jiddische und
hebräische Literatur Osteuropas als Jugendlektüre aufgewertet. An der Wie-
derentdeckung der Folklore beteiligte sich maßgeblich der Schriftsteller
Micha Josef Berdyczewski. Unter dem Pseudonym Bin Gorion veröffentlichte
er wissenschaftlich fundierte Sammlungen (Die Sagen der Juden, 1913–1927;
Der Born Judas, 1916–1922), die den Reichtum jüdischer Volksliteratur
verdeutlichten. Schließlich ist drittens auf den deutlichen Anstieg der spezi-
fischen Kinder- und Jugendliteratur in allen Genres, im lyrischen, epischen
und dramatischen Bereich zu verweisen. Beispielhaft für die erhebliche An-
gebotserweiterung in dieser Blütezeit ist die Entwicklung der jüdischen Kin-
der- und Jugendbuchserien. Spezifisch kinder- und jugendliterarische Reihen,
die mehrheitlich judentumsbezogene Erzählungen offerierten, wurden vom
deutschsprachigen Judentum seit der Jahrhundertwende hervorgebracht, be-
ginnend mit der Mendelssohn-Bibliothek (1889). In der Weimarer Zeit ka-
men zum einen hebräische Kinder- und Jugendliteraturserien hinzu, die an
eine internationale Leserschaft gerichtet waren; zum anderen wurde für
deutschsprachige Leser die Anzahl der jüdischen Literaturserien beträchtlich
gesteigert. Während bis zum Ende der Kaiserzeit elf jüdische Jugendliteratur-
reihen entstanden, initiierte man allein im Zeitraum von 1918 bis 1938 wei-
tere fünfzehn Serien. Zu ihnen gehörten die Schriften des Ausschusses für
jüdische Kulturarbeit. Jüdische Jugendbücher (1920), mit denen nach dem
Vorbild von u. a. Reclams Universal-Bibliothek preisgünstige Lesestoffe be-
reitgestellt werden sollten, und die von Arthur Galliner und Erich Klibansky
herausgegebene Jüdische Jugendbücherei (1927–1930), die der ästhetischen
Jugenderziehung dienen und den Übergang zur Erwachsenenliteratur erleich-
tern sollte. Diese Veränderungen innerhalb der jüdischen Kinder- und Ju-
gendliteratur orientieren sich an den Argumenten der Jugendschriftenbewe-
gung, wobei weiterhin jüdische Stoffe bevorzugt werden, um das Leseverhal-
ten der Jugend kulturspezifisch zu beeinflussen. Daher betonte ein Großteil
der Kinder- und Jugendliteratur offensiv die Eigenständigkeit und Gleich-
wertigkeit jüdischer Kultur, wobei diese jedoch, im Unterschied zum 19. Jh.,
nun nicht mehr vorrangig religiös definiert wurde.
Zwei Entwicklungs- Für die Weimarer Republik sind zwei Entwicklungsschübe der deutsch-
schübe jüdischen Kinder- und Jugendliteratur zu unterscheiden. Die frühen 20er
Jahre waren durch eine langsamere Textentwicklung und durch eine eher
defensive Abwehrstrategie geprägt. In dieser Frühphase griff man auf bereits
etablierte Stoffe und Genres (wie Legenden und Sagen) der jüdischen (Er-
Jüdische Literatur in der Weimarer Republik 265

wachsenen-)Literatur zurück und produzierte verstärkt Neuauflagen von äl-


teren Kinder- und Jugendschriften. Mitte der 20er Jahre setzte eine zweite
Phase ein, in der das Hauptinteresse den neuen Erscheinungsformen des Ju-
dentums galt. Der eklatante Anstieg neu geschaffener Kinder- und Jugendli-
teratur verweist auf einen gestiegenen Bedarf an gegenwartsorientierter Lite-
ratur. Seither war die Entwicklung jüdischer Kinder- und Jugendliteratur
wesentlich durch Neuschöpfungen, durch Ausdifferenzierung der Gattungen
und einen experimentellen Pluralismus gekennzeichnet.
Kinder- und Jugendzeitschriften blühten ebenso auf wie die unterhaltende
Mädchenliteratur, die von Feministinnen wie Bertha Pappenheim gefördert
wurde. In dieser Hochphase wurden sowohl Anthologien mit Erzählstoffen
aus Talmud und Midrasch sowie zur Gegenwartsliteratur als auch jüdische
Bilderbücher und Kindermärchen publiziert. Für den religiös-ethischen Be-
darf legten u. a. Emil Flanter, Heinrich Einstädter und Joachim Prinz eigens
Erzählungen und Festtagsgeschichten vor. Daneben wurden neue Kinderge-
dichte geschaffen; der führende Kinderlyriker Chajim Nachman Bialik trieb
die Modernisierung des Hebräischen als Literatursprache voran, und in
deutscher und hebräischer Sprache wurde das jüdische Kinderlied etwa
durch den Komponisten Julius D. Engel sowie durch die von Erich Katz her-
ausgegebene Sammlung Spiel- und Kinderlieder (1930) bereichert, deren
Lieder von zeitgenössischen Autoren stammen und sich inhaltlich durch Ge-
genwartsorientierung auszeichnen. Das Kindertheater wurde um innovatives
Figurentheater erweitert; Alexander und Lotte Baerwald schufen komische
Schattenspiele, Albert Baer und Käte Baer-Freyer veröffentlichten stilistisch
moderne Biblische Puppenspiele (1924).
Insbesondere die erzählende Kinder- und Jugendliteratur weitete sich der- Vielfalt jüdischer
art aus, dass sie im Gattungsgefüge der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur Literatur
nun die führende Position übernahm. Kinder- und Jugenderzählungen wur-
den in dieser Epoche mehrheitlich vom liberalen Judentum geschaffen, das
sich in einem Zustand fortgeschrittener Akkulturation, Verbürgerlichung
und Urbanisierung befand. Der regionalen Verteilung der jüdischen Bevölke-
rung im deutschsprachigen Raum entsprechend, wurden Berlin und Wien zu
Zentren des sich ausweitenden jüdischen Verlagswesens und seiner Kinderli-
teraturproduktion.
Die dezidiert jüdische Prägung des literarischen Pluralismus war auch in
einer gewissen Desillusionierung der Juden über ihre gesellschaftliche Inte-
gration begründet. In der Weimarer Republik waren deutsche Juden zwar
offiziell gleichgestellt, der mit den wirtschaftlichen Krisen erstarkende Anti-
semitismus trug jedoch dazu bei, dass die Juden weiterhin eine soziale Son-
dergruppe bildeten. Von jüdischer Seite betrieb man Antisemitismusabwehr,
indem man sich im dafür eigens geschaffenen Centralverein deutscher Staats-
bürger jüdischen Glaubens organisierte und beispielsweise Arnold Zweigs
sozialpsychologische Studie Caliban (1927) in die Jugendlektüre aufnahm.
Eine andere Form der Gegenreaktion war der deutliche Anstieg jüdischer
Assimilationskritik, die zuvor meist von der Orthodoxie geäußert worden
war. Diese Argumentationslinien wurden umgehend in die neu geschaffene
jüdische Kinder- und Jugendliteratur aufgenommen. Diese sollte nach wie
vor dem interkulturellen Austausch dienen, sie verstärkte jedoch ihr eigen-
kulturelles Profil und lehnte sowohl Assimilation als auch die Übernahme
von anti- und philosemitischen Projektionen ab.
Ein herausragendes Beispiel für den Entwicklungsstand jüdischer Kinder-
und Jugendliteratur dieser Epoche ist ein Jüdischer Kinderkalender, den der
zionistische Rabbiner und Schriftsteller Emil Bernhard Cohn von 1928 bis
266 Jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis 1945

1936 herausgab. Die Edition geschah unter Mitwirkung einer Jugendschrif-


tenkommission, so dass die Kalenderbeiträge ein hohes literarisches Niveau
hatten. Cohn nutzte den kompilatorischen Charakter seiner Anthologie, um
in Gestalt einer Textcollage von liberaljüdischen, zionistischen, religiösen
Texten aller Art die Vielfältigkeit des deutschen Judentums zu betonen. Zu-
gleich verwies die Wahl des Genres auf kulturspezifische Anliegen: Kalender
waren für die religiöse Praxis der im Exil lebenden Minderheit unverzichtbar
und hatten sich daher als Erzählmedium in der jüdischen Literatur fester
verankert. Cohn bevorzugte demnach nicht nur judentumsbezogene Inhalte,
sondern belebte auch eine dezidiert jüdische Erzählgattung neu; diese kultu-
rell selbstbewusste Vorgehensweise bildete die Grundlage für das Aufleben
jüdischer Kinder- und Jugendliteratur.
An deren Hervorbringung waren in den 20er Jahren alle bis dahin ent-
standenen Strömungen des deutschen Judentums beteiligt. Daher bestand
jüdische Kinder- und Jugendliteratur, genauer betrachtet, aus mehreren Text-
korpora, die unterschiedliche jüdische Prägungen aufwiesen und sich gegen-
seitig – anregend und konkurrierend – beeinflussten. So entwickelten sich li-
beraljüdische Kinder- und Jugendschriften (die den größten Produktionsan-
teil ausmachten) neben denjenigen der konservativen Juden, die sich wie-
derum von der Literatur der Neo-Orthodoxen abgrenzten.
Zionistische Eine neue Tendenz in der Jugendliteratur bildete in der Weimarer Zeit der
Jugendliteratur Zionismus, wobei zionistische Schriften aufgrund ihrer primär politischen
Zielsetzungen seltener unmittelbar an Kinder gerichtet waren. Als politische
Bewegung war der Zionismus zwar bereits früher entstanden und hatte sich
mit der Balfour-Deklaration von 1917 verstärkt, in der deutschen Jugendlite-
ratur schlug er sich jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg intensiver nieder.
Diese Verzögerung beruhte wesentlich darauf, dass die zionistische Bewe-
gung in Deutschland vor allem von der Unterschicht aus Osteuropa einge-
wanderter Juden getragen wurde. Die bürgerliche Majorität der jüdischen
Bevölkerung distanzierte sich nicht nur von dieser sozialen Schicht, sondern
auch vom Zionismus als einer Gefährdung ihrer staatsbürgerlichen Einglie-
derung in die deutsche Nation. Zionistische Jugendschriften waren daher
anfangs Einzelerscheinungen. Ein frühes Beispiel ist die achtbändige Reihe
Schriften des Ausschusses für jüdische Kulturarbeit. Jüdische Jugendbücher
(1920), die der Verleger Salman Schocken initiierte. In großer Menge wurden
zionistische Jugendschriften anschließend vor allem durch die Jugendbewe-
gung hervorgebracht.
Jugendbewegungs- Seit 1912 etablierte sich die Jugendbewegung zunehmend als neue Auto-
schriften ren-, Multiplikatoren- und Rezipientengruppe, die bis 1938 einen stetig
wachsenden Teilbereich jüdischer Jugendliteratur hervorbrachte. In den Ju-
gendbewegungsschriften – unter denen sich eine Vielzahl von politischen
Sachschriften und Periodika befand – manifestierte sich ein neues, mehrheit-
lich zionistisches Selbstbewusstsein der Jugend. Jüdische Jugendbünde wie
Blau Weiß und Hechaluz unterstützten mit ihren Jugendschriften die Wieder-
belebung des Hebräischen im deutschen Sprachraum. Durch die von ihnen
propagierten zionistischen Vorstellungen gewann im Verlauf der 20er Jahre
ein Teil der jüdischen Jugendliteratur einen säkularen und politischen Cha-
rakter. Maßgeblich beeinflusst wurde die Jugendbewegung von den erzie-
hungstheoretischen Schriften Siegfried Bernfelds (darunter Die neue Jugend
und die Frauen, 1914; Das jüdische Volk und seine Jugend, 1919) und den
Schriften Martin Bubers. Dessen Nachdichtungen osteuropäischer Erzählun-
gen (Die Geschichten des Rabbi Nachman, 1906; Die Legende des Baal-
schem, 1908) brachten westeuropäischen Lesern die von der Kabbala ge-
Jüdische Literatur in der Weimarer Republik 267

prägte, mystische Volksbewegung des Chassidismus nahe. Bubers Drei Reden


über das Judentum (1911), seine am Jüdischen Jugendtag gehaltene Anspra-
che Zion und die Jugend (1918) und die Worte an die Jugend (1938) gehör-
ten zum Lektürebestand von Großteilen der jüdischen Jugendbewegung. In
diesen Reden und Essays verband Buber Ideale der Jugendbewegung mit
Überzeugungen des Kulturzionismus und rief zu einer inneren Erneuerung
des Judentums auf.
Obwohl die Jugendliteratur nach wie vor an der Zielsetzung einer deutsch- Romane
jüdischen Selbstbestimmung festhielt, mehrten sich in ihr Kindheits- und
Adoleszenzdarstellungen (u. a. von Edmond Fleg, Felix Salten und Ludwig
Winder), die auf damit einhergehende Akkulturationskonflikte hinwiesen
und die Dialogbereitschaft der nichtjüdischen Umwelt anzweifelten. Jakob
Wassermanns Mein Weg als Deutscher und Jude (1921) wurde mit großer
Zustimmung gelesen und in die Jugendlektüre aufgenommen, da diese Auto-
biographie die Problematik der zweifachen kulturellen Selbstbestimmung
kritisch reflektierte. Felix Saltens Tierroman Bambi (1923) thematisierte
nicht nur entwicklungspsychologische Grundkonflikte der Kindheit und Ju-
gend; mit seinen Tierfiguren veranschaulichte Salten auch assimilationskriti-
sche Überlegungen, die sich für jüdische Leser auf ihre eigenen kulturellen
Differenzen übertragen ließen. Ein weiteres Beispiel ist Ludwig Winders
Adoleszenzroman Hugo (1924), der vom Scheitern eines jungen Juden bei
seinem Streben sowohl nach sozialer Anerkennung als auch nach Selbstak-
zeptanz und von der Verzweiflung über die Außenseiterrolle erzählt.
Während im Bereich der Jugendliteratur Erzählungen und Romane und
die Sach- und Zeitschriften der Jugendbewegung zu zentralen Textsorten
wurden, manifestierte sich die Hochblüte der jüdischen Kinderliteratur im
Märchen und in der umweltorientierten Kindererzählung.
Bis zur Jahrhundertwende existierten auf dem literarischen Markt noch Kindermärchen
keine eigens für jüdische Kinder verfassten Kunstmärchen. Für die jüdische
Kinderliteratur waren sie somit ein neues Genre, das sich seit 1918 ausbrei-
tete und bis zum Ende der 30er Jahre aufblühte. Dieser Aufschwung des
Märchens in der Weimarer Republik folgte zwar einer in der gesamten deut-
schen Kinderliteratur der Zeit vorhandenen Tendenz, hatte jedoch auch kul-
turspezifische Ursachen. Zum einen wurde die jüdische Märchenproduktion
dadurch begünstigt, dass sich die Autoren ein vergleichsweise traditionsfreies
Genre gewählt hatten, das sich für den großen Bedarf an neuer jüdischer
Kinderliteratur rasch ausbauen und variieren ließ. Ausschlaggebend war je-
doch zum anderen, dass der Märchenproduktion ein Umdenken in der Kin-
derliteraturtheorie vorausging. Um die Jahrhundertwende setzten sich jüdi-
sche Literaturpädagogen und Autoren intensiv mit dem Märchen und der
romantischen Literaturauffassung auseinander, was zu einer Kehrtwendung
in der Beurteilung jüdischer Kindermärchen führte. Die primär an der Auf-
klärung orientierte jüdische Pädagogik hatte Märchen und fantastische Lite-
ratur lange Zeit als potenzielle Erzieher zu Irrationalität skeptisch betrachtet.
Zudem äußerten insbesondere konservative und neo-orthodoxe Juden Be-
denken gegen eine nicht mehr vom Monotheismus geprägte Literatur. Hinzu
kam, dass von jüdischen Literaturpädagogen die judenfeindlichen Kompo-
nenten deutscher Märchen etwa von Hauff oder den Brüdern Grimm kritisch
reflektiert wurden. Diese Vorbehalte hatten die Entwicklung spezifischer jü-
discher Kindermärchen im 19. Jh. blockiert, bis sich mit der Märchendebatte
der Jugendschriftenbewegung eine differenziertere Sichtweise durchsetzte.
Jüdische Literaturtheoretiker nahmen nun die Beliebtheit von Märchen bei
Kindern zur Kenntnis und wollten den teils antijüdischen Märchen eine jü-
268 Jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis 1945

disch geprägte Gattungsvariante entgegensetzen. Auch wurde sozialhistorisch


argumentiert, dass der Mangel an jüdischen Kindermärchen eine Folgeer-
scheinung der früheren Gettoisierung sei, die es kulturell zu überwinden
gelte. Zur Rechtfertigung der Schaffung jüdischer Kindermärchen verwies
man darüber hinaus auf die erfolgreichen erwachsenenliterarischen Samm-
lungen jüdischer Folklore durch u. a. M. J. Berdyczewski, mit denen sich das
deutschsprachige Judentum ein literarisches Pendant zu den Märchen- und
Sagensammlungen christlicher Herkunft sowie zum romantischen Konzept
einer rettenden Dokumentierung einer reichen Volksliteratur schuf. In der
Jugendschriftenbewegung gewannen zudem leserpsychologische Argumente
an Bedeutung, die mit einer Modifizierung des jüdischen Kindheitsverständ-
nisses einhergingen; neben den Verstandeskräften wurde nun auch die kind-
liche Fantasie zunehmend pädagogisch geschätzt und demzufolge fantasti-
sche Literatur als ein kindgemäßes Medium anerkannt. In den 20er Jahren
kam, durch den Einfluss der psychoanalytisch orientierten Kinderliteratur-
kritik, eine Wertschätzung des Märchens als Ausdruck des Unbewussten
hinzu.
Diese literaturtheoretische Anerkennung förderte die sich nun rasch voll-
ziehende Entwicklung des jüdischen Kindermärchens. Innerhalb weniger
Jahre wandelte es sich zu einem populären, kulturspezifisch modifizierten
Erzählgenre mit großem Variationsreichtum: Der bekannte zionistische
Schriftsteller Max Nordau veröffentlichte Naturmärchen für Kinder, wäh-
rend Irma Mirjam Berkowitz (Das verschlossene Buch, 1918), Siegfried
Abeles und Ilse Herlinger vornehmlich unterhaltende Kindermärchen schu-
fen. Mit größerer Nähe zur religiösen Literatur wurden Märchen im Stil der
Tora- und Midraschim-Bearbeitung verfasst, so von Lina Wagner-Tauber,
und es erschien eine Vielzahl religions- und moralpädagogischer Märchen,
etwa von Heinrich Reuß, Hermann Schwab oder Else Ury, wobei einige Au-
toren wie Babette Fried und Frieda Weißmann gezielt dem Bedarf einer or-
thodoxen Leserschaft entgegenkamen. Im inhaltlichen Kontrast hierzu stan-
den zionistische Märchen, wie sie etwa von Heinrich Loewe, Siegfried Abeles
(Tams Reise durch die jüdische Märchenwelt, 1922) und Simon Neumann

Thematisch vom
Judentum geprägte
Kindermärchen

Zionistische
Kindermärchen
Jüdische Literatur in der Weimarer Republik 269

Illustration von
Hans Baluschek zu
Cheskel Zwi Klötzels
Erzählung BCCü

verfasst wurden. In Herlingers 1928 veröffentlichten Märchen vom Märchen


wurde den kindlichen Lesern die Gattungsentwicklung transparent gemacht:
Herlinger erzählt darin vom Aufblühen des Kindermärchens; sie verweist
dabei auf Wilhelm Hauff und kennzeichnete damit das neu entstandene jüdi-
sche Kindermärchen als ein Produkt des deutsch-jüdischen Kulturaustau-
sches.
Einer der profiliertesten Autoren der umweltorientierten, realistischen Moderne
Kindererzählung dieser Epoche war der Berliner Pädagoge und Schriftsteller Kindererzählungen
Cheskel Zwi Klötzel. Sein Werk trug wesentlich zur thematischen Aktualisie-
rung, Gegenwartsorientierung und Versachlichung der jüdischen Kinderer-
zählung bei – insofern ist er mit Erich Kästner vergleichbar. Bis zu seiner
Emigration 1933 nach Palästina verfasste der Zionist neben journalistischen
Arbeiten mehrere Kinder- und Jugenderzählungen, in denen er sich für die
Judenemanzipation engagierte und für ein wehrhaftes Judentum eintrat; es
ist durchaus bezeichend, dass er seine 1919–1921 erschienene Jugendzeit-
schrift nach dem Anführer eines jüdischen Aufstands gegen die Römer Bar
Kochba nannte. Klötzel trieb die thematische und formensprachliche Moder-
nisierung jüdischer Kinderliteratur voran, indem er u. a. eine innovative
Darstellung der Großstadt als kindlichem Lebensraum vorlegte und einen
betont sachlichen, ironisch unterlegten Erzählstil in die Kinderliteratur ein-
führte. Seine Erzählung Moses Pipenbrinks Abenteuer (1920) ist eine Adap-
tion der biblischen Moses-Geschichte. Vor dem Hintergrund des Großstadt-
lebens wird eine kindliche – auf die jüdische Exilerfahrung transponierbare
– Heimatsuche dargestellt, die offen endet. Klötzels Kinderfiguren geben eine
moderne Kindheitsauffassung zu erkennen, seine Protagonisten sehen sich
bereits im Kindesalter mit Identitätskonflikten konfrontiert, erhalten dazu
komplementär jedoch Entscheidungskompetenz und Handlungsautonomie
zugesprochen. Klötzels Mosesfigur entspricht in Grundzügen dem neuen Fi-
gurentyp des Straßenjungen, wie er in der nichtjüdischen Kinderliteratur seit
1925 durch Wolf Durian, Carl Dantz und Erich Kästner bekannt wurde.
Auch Klötzels Erzählung BCCü (1922), die von den Erlebnissen eines Eisen-
bahnwaggons berichtete, bezog sich indirekt auf das jüdische Emanzipati-
onsstreben. Anhand der zeitgenössischen Transporttechnik entfaltet Klötzel
erneut eine Darstellung moderner großstädtischer Kindheit, zu der die ge-
nussvolle Entdeckung von Geschwindigkeit, Mobilität und Kommunikation
270 Jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis 1945

gehört. Klötzel verbindet dies mit Zivilisationskritik, seine Erzählung vermit-


telt Toleranz- und Gleichberechtigungsvorstellungen und äußert eine pro-
noncierte Fremdenfeindlichkeitskritik. Mit derartiger Kindheits-, Technik-
und Großstadtdarstellung trug Klötzel zu einem Realitätsschub in der deut-
schen Kinderliteratur bei.
Unterhaltunsanliegen Vor dem Hintergrund einer Liberalisierung der jüdischen Kindheitsauffas-
und Illustrierung sung steigerte sich die Unterhaltsamkeit von Kinderliteratur eklatant, die
hierdurch zugleich an adressatengemäßer Gestaltung gewann. Komische In-
halte und eine unterhaltsame Paratextgestaltung waren in jüdischen Kinder-
büchern kein Einzelfall mehr. Repräsentativ für diesen Wandel ist Siegfried
Abeles’ Anthologie Das lustige Buch fürs jüdische Kind (1926). Mit dieser
wachsenden Anpassung des Lesestoffs ist auch zu erklären, dass viele Kinder-
und Jugendschriften nun mit Illustrationen ausgestattet und jüdische Bilder-
bücher auf den Markt gebracht wurden. Unter den Bilderbüchern sind die
künstlerisch experimentellen Werke von Tom Seidmann-Freud hervorzuhe-
ben (Die Fischreise, 1923), die inhaltlich von der Psychologie und stilistisch
von Kubismus und Neuer Sachlichkeit beeinflusst waren. Die frühere Zu-
rückhaltung bei der Illustrierung jüdischer Kinder- und Jugendschriften hatte
sowohl auf der religiösen Tradition (dem Bilderverbot) als auch auf ökono-
mischen Zwängen beruht. Mit der fortschreitenden Säkularisierung des
deutschen Judentums und mit der Ausweitung seines literarischen Marktes
reduzierten sich diese Hindernisse für eine Integration bildersprachlicher
Komponenten in die jüdische Kinderliteratur. In der Folge entstanden neuar-
tige zionistische Fotobilderbücher. Aber auch traditionelle Gattungen wurden
umgeformt; Abraham Moritz Silbermann veröffentlichte 1933 eine Hagga-
dah des Kindes, die dieses genuin jüdische Genre mit der unterhaltsamen
Erzählweise eines Verwandlungsbilderbuchs verband.
Insgesamt gesehen war die jüdische Kinder- und Jugendliteratur dieser
Epoche durch einen Modernisierungsschub gekennzeichnet. Die Themen
wurden gegenwartsbezogener und komplexer, die Erzählweisen anspruchs-
voller und innovativer; auch hatte sich eine Gattungsvielfalt mit unterschied-
lichen Funktionen ausdifferenziert. Die jüdische Kinder- und Jugendliteratur
öffnete sich für zahlreiche neue Erzählanliegen und übernahm aus der Er-
wachsenenliteratur anspruchsvollere Erzähltechniken wie personales Erzäh-
len, innere Monologe und häufige Wechsel des Erzählstandortes; Selbstrefle-
xivität und Intertextualität wurden auch zu Merkmalen bereits der Kinderli-
teratur.

Jüdische Literatur unter nationalsozialistischer


Herrschaft

Der Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 bedeutete für die Entwick-


Separierung jüdischer lungsgeschichte der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur Deutschlands ei-
Kultur nen tiefen Bruch. Mit ihm veränderten sich die mentalen, sozial- und verlags-
geschichtlichen Bedingungen deutsch-jüdischer Literatur grundlegend. Die
antisemitische Politik der Nationalsozialisten bewirkte die Separierung jü-
discher von deutscher Kultur; durch die politische Ausgrenzung und Ent-
rechtung der Juden wurde deren Kulturleben in eine staatlich kontrollierte
Gettosituation gezwungen. Jüdische Autoren durften seit 1935 nur noch in
Jüdische Literatur unter nationalsozialistischer Herrschaft 271

jüdischen Verlagen publizieren, seit Mitte 1937 wurden alle Veröffentli-


chungen einer inhaltlichen Zensur unterzogen. Dennoch setzten jüdische
Verlage ihre Buchproduktion intensiv fort – die führende Position übernahm
der Berliner Schocken-Verlag, in dem u. a. die Reihe Bücherei des Schocken
Verlags (1933–1938) erschien –, bis Ende 1938 der jüdische Buchhandel li-
quidiert wurde. Bis zu dem völligen Verbot jüdischer Schriften im April 1940
wurde jüdische Literatur für ein sich verkleinerndes Publikum veröffentlicht:
Von 1933 bis 1938 verringerte sich die jüdische Leserschaft Deutschlands
um 50 % auf eine viertel Million. Seit der Verkündung der Nürnberger Ge-
setze (1935) stieg die jüdische Emigration an und erreichte 1938/39 ihren
Höhepunkt, wobei überproportional viele Heranwachsende an der Auswan-
derung beteiligt waren. Neben der politischen Verfolgung verschärfte dieser
Leserschwund die ökonomischen Probleme jüdischer Kinder- und Jugendli-
teratur. Die erzwungene Beschränkung auf eine innerjüdische Öffentlichkeit
rief im Kulturgetto eine Konzentrierung der Leserschaft und eine Intensivie-
rung der Literaturproduktion hervor. Innerhalb des sogenannten Gettobuch-
handels stieg die Nachfrage nach jüdischer Literatur, so dass sie in Reaktion
auf die repressiven Maßnahmen bis 1938 einen quantitativen Aufschwung
erlebte. Literatur gewann für die kulturelle Orientierung und die psychische
Stabilisierung jüdischer Kinder, die aus der deutschen Gesellschaft, aus dem
Bildungssystem und bisherigen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung ausge-
schlossen wurden, erheblich an Bedeutung.
Die Funktionsbestimmung jüdischer Kinder- und Jugendliteratur wurde Neue Funktions-
1933 umgehend revidiert. Angesichts der rassistischen Verfolgung verab- zuweisungen
schiedeten sich jüdische Autoren und Literaturtheoretiker vom Akkulturati-
onskonzept und gaben die seit der Haskala maßgebliche Funktion einer
deutsch-jüdischen Identitätsstiftung auf. Stattdessen wiesen sie der Literatur
die neue Hauptaufgabe zu, jüdischen Selbstbehauptungswillen zu dokumen-
tieren und zu stärken. Im Zeitraum von 1933 bis 1945 traten für jüdische
Kinder- und Jugendschriften weitere Aufgaben hinzu. In erster Linie sollte
diese Literatur den jungen Lesern eine positive jüdische Selbsteinschätzung
ermöglichen und der antisemitischen NS-Propaganda entgegenwirken, die
auf Weckung von Minderwertigkeitsempfinden angelegt war. Darüber hin-
aus wurde Literatur auch zur Vermittlung von Widerstandsbotschaften ge-
nutzt; viele jüdische Kinder- und Jugendbücher enthielten sozialutopische
Gegenentwürfe zur NS-Gesellschaft und riefen humanistische Werte in Erin-
nerung. Des Weiteren waren die Jugendschriften als Hilfe bei der Emigrati-
onsvorbereitung gedacht, da insbesondere die Sachschriften der Jugendbe-
wegung die Leser mit der neuen Realität konfrontierten und ein Höchstmaß
an aktuellen Informationen bereitstellten. Neu hinzu kam die Intention, den-
jenigen Lesern Orientierung und Rückhalt zu bieten, die bis 1933 assimiliert
gelebt hatten und allenfalls über geringe Kenntnisse der jüdischen Kultur
verfügten. So konzipierte z. B. Leo Hirsch seine Erzählung Das Lichterhaus
im Walde (1936) für in assimilierten Familien aufgewachsene Kinder.
Mentalitätsgeschichtlich bestanden die unterschiedlichen Strömungen des Heterogenität jüdischer
deutschen Judentums nebeneinander fort; allerdings wurden die innerjüdi- Literatur
schen Kontroversen angesichts der politischen Bedrohung von außen redu-
ziert. Während vor 1933 das liberale Reformjudentum den Großteil deutsch-
jüdischer Kinder- und Jugendliteratur geprägt hatte, waren unter der natio-
nalsozialistischen Herrschaft in den ersten Jahren die zionistischen und die
liberaljüdischen Einflüsse gleichermaßen führend, bis in der zweiten Hälfte
der 30er Jahre dann die zionistische Literatur überwog. Ursächlich für diese
Verschiebung war der außerordentliche Zulauf, den zionistische Organisa-
272 Jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis 1945

tionen mit wachsender Judendiskriminierung erlebten. Begünstigt wurde das


Anwachsen zionistischer Jugendgruppen auch durch die anfängliche Tolerie-
rung der Auswanderung seitens der Machthaber und durch das Verbot aller
nichtzionistischen jüdischen Jugendbünde (1934).
Im Verlauf der gewaltsamen Ausgrenzung aus der deutschen Kultur ver-
blieben der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur bis 1945 drei Handlungs-
räume, in denen sie sich weiterentwickelte. Bis zum Auswanderungsverbot
1941 ging ein wachsender Literaturanteil in die Exilliteratur ein. Eine zweite,
vergleichsweise umfangreiche Gruppe bildete die Kinder- und Jugendlitera-
tur der gettoisierten jüdischen Kulturgemeinschaft innerhalb des deutschen
Machtbereichs. Ein dritter Anteil schließlich wandelte sich zu illegaler Wi-
derstandsliteratur im Untergrund.
Jüdische Exilliteratur Die durch Emigration der Schriftsteller und Verleger entstehende jüdische
Kinder- und Jugendliteratur des Exils verabschiedete sich teils aus der deut-
schen Sprache sowie aus Konzepten jüdischer Selbstbestimmung, so dass bei
etlichen Exiltexten die Zuordnung zur jüdischen Literatur fraglich ist. Viele
nach Palästina emigrierte Autoren setzten ihr Schreiben dort in hebräischer
Sprache fort, während sich in Deutschland seit 1933 die hebräische Kinderli-
teratur rasch reduzierte. Insgesamt wurde die Textproduktion im Exil jedoch
durch die widrigen ökonomischen und sprachlichen Bedingungen gedrosselt.
Die Sprachbarriere traf Kinder- und Jugendbuchautoren (sofern sie nicht in
der Schweiz und bis 1938 in Österreich lebten) besonders hart, da die emi-
grierten Kinder rascher als die Erwachsenen die jeweilige Fremdsprache er-
warben. Dennoch wurden im Ausland weiterhin jüdische Kinder- und Ju-
gendschriften verfasst und sogar noch für deutschsprachige Leser publiziert,
beispielsweise Adrienne Thomas’ Adoleszenzroman Von Johanna zu Jane
(1939). Unter Umständen ging eine Übersetzung in die Nationalsprache des
Gastlandes der vom Autor ursprünglich intendierten, deutschsprachigen
Veröffentlichung voraus. Dies war bei Mira Lobes Kindererzählung Insu-Pu
der Fall, die 1936 als deutsches Manuskript vorlag, 1947/48 in Hebräisch
erschien und ihre ursprünglich intendierte Leserschaft erst 1951 in einer
Rückübersetzung erreichte. In Form einer Robinsonade erzählt Lobe von ei-
nem Kinderexodus 1942 aus Deutschland und von einer utopischen Kinder-
kolonie. Ähnlich verfuhr Anna Maria Jokl in ihrem Schülerroman Die Perl-
mutterfarbe (1937–1939 in Prag verfasst, 1948 veröffentlicht). Jokl be-
schreibt anhand eines schulischen Mikrokosmos’ die Machtmechanismen
einer hierarchischen und gewaltbereiten Gesellschaft, die durch eine autori-
täre Führerfigur sowie Rassenideologie gekennzeichnet ist. Lobes Gegenuto-
pie und Jokls kaum verhüllte Kritik am NS-Staat folgten einer politisch auf-
klärenden Intention, die für die Kinder- und Jugendliteratur des Exils über-
haupt charakteristisch war und sich nicht nur an jüdische, sondern potenziell
an alle jungen Leser richtete.
Den jüdischen Exilschriften sind auch Tagebücher zuzuordnen, die von
geflohenen Kindern und Jugendlichen verfasst wurden. Während einige
Schreibende, u. a. Anne Frank, in die Exilsprache wechselten, wurden etliche
autobiographische Texte noch in deutscher Sprache verfasst, so etwa die Ta-
gebücher des Klaus Seckel (1937–1943; Buchausgabe 1961). Für die jungen
Autoren stand die Intention im Vordergrund, mit dem Schreiben die trauma-
tischen Erfahrungen der Ausgrenzung und Fremdbestimmung zumindest
ansatzweise psychisch zu bewältigen. Nach 1945 rückten einige dieser Texte
als Holocaustliteratur in die öffentliche Wahrnehmung.
Die in Deutschland verbliebene jüdische Kulturgemeinschaft intensivierte
von 1933 bis 1938 ihre literarische Produktion so erheblich, dass ihre mo-
Jüdische Literatur unter nationalsozialistischer Herrschaft 273

derne und spezifische Kinder- und Jugendliteratur eine zweite Hochblüte er- Literarische Hochblüte
lebte. Dieser Entwicklungsschub lässt sich daran verdeutlichen, dass in diesen im Kulturgetto
sechs Jahren nicht nur Neuausgaben, sondern auch eine Vielzahl an Neuer-
scheinungen jüdischer Kinder- und Jugendliteratur veröffentlicht wurden. Im
Verlauf dieser Hochphase äußerte sich in allen Gattungen eine radikale Des-
illusionierung über die bis zur Existenzbedrohung verschärften Lebensbedin-
gungen jüdischer Kinder. Symptomatisch ist der Anstieg warnender Auffor-
derungen zur Auswanderung, die keineswegs mehr nur in zionistischen Tex-
ten vorkamen.
Der Produktionsschub erfasste auch die Lehrschriften. Um administrati-
ven und sozialen Schikanen zu entgehen, wechselten viele Kinder auf jüdische
Schulen. Diese sahen sich durch den Zulauf mit einem Mangel an geeigneten
Lehrbüchern konfrontiert, die sowohl behördlichen Auflagen genügen muss-
ten als auch für eine jüdische Sozialisation geeignet sein sollten. Infolgedessen
wurden neue Lehrbücher geschaffen, wobei insbesondere die Reihe Jüdische
Lesehefte (1934–1938) hervorzuheben ist, die Adolf Leschnitzer im Auftrag
der ›Reichsvertretung der Juden in Deutschland‹ herausgab.
Auch in der unterhaltenden Kinder- und Jugendliteratur gab es weiterhin
erhebliche Veränderungen. In der Lyrik wurden nun verstärkt zionistische
Auffassungen vertreten; dies schlug sich in Gedichtsammlungen von jungen
Lyrikern wie Ludwig Strauß und in Liederbüchern der Jugendbewegung wie
Hawa Naschira! (1935) nieder. Beim Kinderschauspiel wurden neben der
fortgesetzten familiären und schulischen Aufführungspraxis etliche Neuin-
szenierungen und Puppenspiele durch die Kinder- und Jugendbühnen des
›Kulturbundes deutscher Juden‹ realisiert, bis dieser 1941 seine Tätigkeit
einstellen musste. Das vom Kulturbund getragene Figurentheater offerierte
u. a. entlastende Unterhaltung, indem es Kasperlkomödien von Franz Graf
von Pocci aufführte. Dieser Rückgriff auf renommierte Werke der Dramen-
geschichte war ebenso für die Kinder- und Jugendschauspiele des Kulturbun-
des kennzeichnend. Die Programmgestaltung der Jugendbühnen war erkenn-
bar von der Intention bestimmt, die Jugend in jüdische und weltliterarische
Dramen einzuführen und einer durch die gesellschaftliche Ausgrenzung dro- Emigrationsaufforderung
henden mentalen Isolation entgegenzuwirken. Einen besonderen Aufschwung im Kinderbuch
erlebte die gegenwartsorientierte jüdische Kinder- und Jugenderzählung. Zu
ihr gehörten Mädchenerzählungen, die von Setta Cohn-Richter (Mirjams
Wundergarten, 1935), Josefa Metz (Eva, 1937), Meta Samson und Gertrud
Kolmar (Susanna, verf. 1939/40, veröff. 1959) weiterentwickelt wurden. In
den Erzählungen hob man anfangs noch die deutsch-jüdischen Kulturbezie-
hungen hervor, spätestens seit 1935 jedoch überwog die ausschließliche Be-
zugnahme auf jüdische Religion, Geschichte und Kultur. Da der Zionismus
die nunmehr wichtigste Zukunftsperspektive eröffnete, bereitete man mit
Kinderbüchern wie Die Zauberdrachenschnur von Ludwig Strauß, Jakob
Simons Die Vier von Kinnereth oder Irma Mirjam Berkowitz’ Benni fliegt ins
gelobte Land (alle 1936) [[Abb. 7]] die Leser mental auf die Emigration nach
Palästina vor. Überwiegend für männliche Leser wurden neuartige zionisti-
sche Abenteuererzählungen geschaffen. Den Kernbereich dieses neuen Genres
bildeten Elieser Smollys Der Retter von Chula (1934/35), Salo Böhms Hel-
den der Kwuzah (1935/36), Bernhard Gelbarts Die Jungen vom ›Gusch‹ und
Jakob Simons Lastträger bin ich (beide 1936). Für die zionistische Literatur
waren diese erzählenden Kinder- und Jugendbücher eine Innovation; mit ih-
nen setzte sich neben den informativen Sachschriften erstmals Unterhaltung
als gleichberechtigtes Anliegen zionistischer Kinder- und Jugendliteratur Zionistische Abenteuer-
durch. Um das neue Genre zeitgemäß zu gestalten und seine Akzeptanz zu erzählung
274 Jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis 1945

erhöhen, griffen die Autoren Erzählmuster aus der nichtjüdischen Jugendlite-


ratur auf. Smolly und Böhm übertrugen Schemata des durch J.F. Cooper und
Karl May popularisierten Abenteuerromans auf die Verhältnisse der jüdi-
schen Besiedlung Palästinas. Gelbart hingegen schuf mit intertextueller Be-
zugnahme auf Mark Twain eine jüdische Lausbubengeschichte.
Verdeckte Kritik am So wurden die Inhalte jüdischer Kinder- und Jugendliteratur seit 1933 re-
Nationalsozialismus aktionsschnell aktualisiert und das Leitbild eines wehrhaften Judentums in
den Vordergrund gerückt. Eine offene Kritik am Nationalsozialismus war
allerdings aufgrund der Zensur nur eingeschränkt möglich. Darstellung und
Kritik der vom Nationalsozialismus hervorgerufenen Problemlagen fand
daher vielfach in Gestalt verdeckter Thematisierungen statt, z. B. bei Max
Samter und Leo Hirsch. Das Gespräch im Nebel von Hirsch (1935) unter-
läuft die Separierung der deutschen von der jüdischen Kultur, indem es eine
fiktive Begegnung von Leibniz mit dem jüdischen Philosophen Spinoza schil-
dert. Aktuelle Konflikte deutscher Juden wurden in der Kinder- und Jugend-
literatur häufig aufgegriffen, indem man sie in örtliche oder zeitliche Ferne
(etwa einer zionistischen Abenteuererzählung oder eines historischen Ro-
mans) transponierte. Einige Schriftsteller wagten sogar eine explizite kriti-
sche Thematisierung des jüdischen Alltags unter nationalsozialistischer
Herrschaft; zu nennen sind vor allem Hans-Martin Schwarz mit Einer wie
Du und ich (1937) und Meta Samson mit ihrem Mädchenroman Spatz macht
sich (1938). Die zeitgenössische jüdische Literaturkritik lobte (in gleichfalls
andeutender Schreibweise) Samsons Roman für seine Zeitgemäßheit und
seine realistische Darstellung kindlicher Lebensbedingungen. Den Rezensio-
nen ist somit zu entnehmen, dass die Leser mit dem Anstieg dieser Camou-
flage durchaus lernten, zwischen den Zeilen zu lesen.
Untergrundliteratur Nach Zerstörung des jüdischen Buchhandels wurde die jüdische Kinder-
und Jugendliteratur zunehmend in die Illegalität getrieben. Die verbliebenen
Familien, aber auch die in Gettos und Konzentrationslager Deportierten
setzten eine konspirative literarische Praxis fort, in der Kinder- und Jugendli-
teratur allerdings im Vergleich zu ihren vorherigen Hochblüten nur noch ein
Schattendasein führte. Aufgrund der extrem verschlechterten Produktions-
und Rezeptionsbedingungen verlagerte sich literarische Kommunikation in
die Mündlichkeit, wobei leicht kolportierbare Formen wie Lied und Gedicht
bevorzugt wurden. Sofern Lesen noch praktiziert werden konnte, wurde es
als Informationsquelle, als Mittel gegen die Demoralisierung und als Rück-
zugsmöglichkeit aus der Realität geschätzt.
Im Getto Theresienstadt, in dem ca. 15 000 Kinder inhaftiert wurden,
entfaltete sich ein außergewöhnlich reiches Kulturangebot. Die SS nutzte es
zur propagandistischen Täuschung, dennoch wurde es von der Häftlingsge-
meinschaft als Widerstandshandlung bewertet. Pädagogen hielten dort einen
geheimen Schulunterricht ab, wobei sie die erlaubten Formen der Kinderbe-
schäftigung wie Singen und Rätsel als Tarnung für verbotene Wissensver-
mittlung nutzten. Dem anhaltend großen Leseinteresse kam man (nicht nur
in diesem Getto) mit einer Kinderbibliothek entgegen. Bis zu den Massende-
portationen im Herbst 1944 ist für Theresienstadt eine beträchtliche Pro-
duktion von Kinderzeichnungen, -tagebüchern, -gedichten und -zeitschriften
u. a. in deutscher Sprache dokumentiert. Das Theaterangebot enthielt Mär-
chenspiele, Kinderrevuen und -opern, darunter in tschechischer Sprache
Brundibár von Hans Krása (verfasst und komponiert 1938, in Theresienstadt
seit 1942 mehrfach aufgeführt). Zu den Kinderschauspielen gehörte Hardy
Plauts Neuinszenierung von Kästners Emil und die Detektive (1943 oder
1944), die nicht nur entlastende Unterhaltung bot, sondern auch eine subver-
Jüdische Literatur unter nationalsozialistischer Herrschaft 275

sive Berufung auf die humanistische Strömung deutscher Kinderliteratur


darstellte. Dergestalt verschrieb sich die jüdische Kinder- und Jugendliteratur
unter nationalsozialistischer Herrschaft bis zuletzt dem mentalen Widerstand
und der kulturellen Selbstbehauptung. Mit der Vernichtung jüdischen Lebens
im deutschen Machtbereich reduzierte sich diese Literatur jedoch zwangs-
läufig auf Schwundformen und wurde nahezu zum Verstummen gebracht.
276

Faschismus

Petra Josting

Maßnahmen und Aktivitäten zur Lenkung


des Kinder- und Jugendliteratursystems

Die Instrumentalisierung von Literatur im Allgemeinen wie auch von Kinder-


und Jugendliteratur im Besonderen für politische Zwecke ist bekannterma-
ßen kein Spezifikum des Nationalsozialismus. Die Konsequenz jedoch, mit
der im NS-Staat diese Instrumentalisierung verfolgt wurde, war ein Novum
und bedeutete das Ende der seit der Aufklärung vorherrschenden Tendenz,
Kunst und Kultur einen autonomen Status zuzuweisen. Erklärtes Ziel der
NS-Machthaber war es, mit Hilfe der Literatur die für das NS-System funk-
tionalen Einstellungen zu erzeugen und auf diese Weise ›ein neues Reich zu
bauen‹ und das deutsche ›Volk in seiner Ganzheit zu vollenden‹. Dabei galt
das Augenmerk vor allem den Heranwachsenden, und so wiesen führende
Literaturpolitiker wie z. B. Karl Heinz Hederich der Kinder- und Jugendlite-
ratur als kulturellem und politischem Erziehungsmittel eine herausragende
Funktion zu, indem sie die sogenannte Jugendschrifttumsfrage zu einer
›Frage des politischen Bestandes schlechthin‹ erklärten, weil von ihr letztlich
das Ergebnis der ›nationalsozialistischen Revolution‹ abhänge.
Organisation des Die organisatorischen Maßnahmen zur Lenkung der Kinder- und Jugend-
Lenkungsapparates literatur waren eingebunden in den allgemeinen Umstrukturierungsprozess
des Literaturbetriebs, der Neuorganisation und ›Gleichschaltung‹ bedeutete.
Dazu gehörte die Einrichtung einer ›Reichsschrifttumskammer‹ im Herbst
1933, der u. a. alle Autoren, Verleger, Bibliothekare und Buchhändler ange-
hören mussten und von deren Mitgliedschaft viele Personen aus politischen,
ideologischen und rassischen Gründen ausgeschlossen wurden, was einem
Berufsverbot gleichkam. Zur aktiven Verfolgung und Eliminierung von Au-
toren und ihren Werken dienten auch die von der Reichsschrifttumskammer
1935 bis 1944 herausgegebenen »Listen des schädlichen und unerwünschten
Schrifttums«, mit deren Hilfe Tausende von Publikationsverboten ausgespro-
chen wurden (vgl. das folgende Kapitel zur Exilliteratur).
Zur weiteren Einflussnahme schuf man in den Jahren 1933/34 zahlreiche
andere miteinander kooperierende, aber auch konkurrierende Institutionen,
deren Aufbau keinem einheitlichen Konzept folgte und deren Kompetenzen
man zu keinem Zeitpunkt eindeutig abgrenzte. Zu nennen sind auf staatli-
cher Ebene die Schrifttumsabteilung in dem von Joseph Goebbels geleiteten
Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und das Reichsmi-
nisterium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Auf parteiamtlicher
Ebene waren u. a. die Reichsstelle zur Förderung des Deutschen Schrifttums,
die Parteiamtliche Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums,
die Reichsjugendführung (RJF) der Hitler-Jugend und der Nationalsozialisti-
sche Lehrerbund (NSLB) zuständig. All diese Institutionen beteiligten sich an
der Lenkung des Kinder- und Jugendliteraturmarktes. Besonders aktiv waren
jedoch der NSLB und die mit ihm kontinuierlich um Machtansprüche kämp-
Maßnahmen und Aktivitäten zur Lenkung des Kinder- und Jugendliteratursystems 277

fende RJF, die sich beide für die Erziehung, insbesondere auch für die litera-
rische Erziehung der Jugend verantwortlich fühlten. Zur Begutachtung und
Förderung der auf dem Markt vorhandenen Kinder- und Jugendliteratur
richtete die RJF im Sommer 1933 eine Abteilung ein, deren Buchbestand sich
anfänglich aus der etwa 12000 Bände umfassenden Kinder- und Jugend-
buchsammlung von Karl Hobrecker zusammensetzte. Diese Abteilung hatte
ab Dezember 1934 wie die Jugendschriftenstelle des NSLB die Funktion
eines Vorlektorates für das Hauptreferat Schrifttum der Reichsstelle zur För-
derung des Deutschen Schrifttums. Im Jahr 1935 gelang es der RJF aber, ein
selbständig arbeitendes Jugendschriftenlektorat einzurichten, mit dessen
Leitung Fritz Helke betraut und das in den folgenden Jahren mehrfach um-
strukturiert wurde, bis es 1941 den Status einer Reichsschrifttumsstelle be-
kam. Der Organisationsapparat des NSLB war hingegen nur wenigen Um-
strukturierungen unterworfen. Durch geschicktes Taktieren erreichten seine
Funktionäre, die seit 40 Jahren von den Vereinigten Deutschen Prüfungsaus-
schüssen für Jugendschriften geleistete Begutachtungstätigkeit zu überneh-
men; dies bedeutete auch die Übernahme der Zeitschrift Jugendschriften-
Warte. Unter der Führung von Eduard Rothemund baute der NSLB bereits
im Sommer 1933 ein Sachgebiet Jugendbuch auf, das man unter dem Namen
›Unterabteilung Jugendschrifttum‹ Ende 1935 in die neu gegründete Abtei-
lung Schrifttum verlagerte. Rothemund hate die Leitung sowohl der Jugend-
schriftenstelle als auch der 1938 neu eingerichteten Unterabteilung Schüler-
zeitschriften bis zur ›Stilllegung‹ des NSLB im Jahr 1943 inne.
Entsprechend der NS-Devise, eine ›positive Schrifttumspolitik‹ zu betrei- ›Positive‹
ben, zielten die meisten öffentlichen Aktivitäten im Kinder- und Jugendlitera- Schrifttumspolitik
tursektor wie im gesamten Literaturbetrieb darauf ab, diejenige Literatur zu
fördern, die den Grundsätzen der NS-Literaturpolitik entsprach. Diskussi-
onen über ›unerwünschte‹, ›ungeeignete‹ oder ›schädliche‹ Literatur wurden
in der Öffentlichkeit insbesondere nach der Aufhebung des aus der Weimarer
Republik stammenden Schmutz- und Schundgesetzes im Jahr 1935 weitge-
hend vermieden. Ziel dieser Politik war es, die Selbstzensur im Buchhandel
und Verlagswesen zu verstärken, die Öffentlichkeit erst gar nicht auf ›uner-
wünschte‹ Literatur aufmerksam zu machen und dem Ausland gegenüber
den Schein der Liberalität zu wahren.
Grundlage für die Förderung ›guter‹ Kinder- und Jugendliteratur, die man
offiziell in den Mittelpunkt der literaturpolitischen Arbeit stellte, war die
Beurteilung der auf dem Buchmarkt zur Verfügung stehenden Literatur, d. h.
alle Neuerscheinungen und Neuauflagen, aber auch der ältere, in Biblio-
theken und Büchereien vorhandene Buchbestand sollten einer Prüfung unter-
zogen werden. Es wurden Schulungswochen wie auch Tagungen zu spezi- Verzeichnisse und
fischen Themen der Kinder- und Jugendliteratur veranstaltet. Die positiv be- Listen
werteten Titel wurden zum Teil im Karteiteil der monatlich erscheinenden
Jugendschriften-Warte angezeigt, in der Mehrzahl aber in die jährlich publi-
zierten, zwischen 600 und 1200 Titel umfassenden Jugendbuchverzeichnisse
Das Buch der Jugend 1934/35 oder Das Buch der deutschen Jugend 1939/40
aufgenommen, die man nicht nur Verlegern, Bibliothekaren und Buchhänd-
lern als Ratgeber empfahl, sondern gleichermaßen Eltern und den Heran-
wachsenden selbst. Zudem wurden thematisch ausgerichtete Listen empfeh-
lenswerter Kinder- und Jugendliteratur zusammengestellt, wie z. B. die ›Hei-
matliste‹ Das Sachsenland in der Jugendschrift (1934), die Liste szenischer
Texte Für Fest und Feier (1935) oder das ausschließlich preiswerte Bücher
enthaltende Verzeichnis Deutsches Wesen und Schicksal (1936). Der Zusam-
menstellung der Verzeichnisse und Listen ist zu entnehmen, dass man sich bei
278 Faschismus

der Begutachtung nicht auf die spezifische Kinder- und Jugendliteratur be-
schränkte, sondern auch Literatur für Erwachsene einbezog, die primär den
Ausstellungen Jugendlichen empfohlen wurde. Seit 1934 organisierte man im Kontext der
und Preise jährlich im Herbst in ganz Deutschland durchgeführten ›Woche des deut-
schen Buches‹ Ausstellungen mit Kinder- und Jugendbüchern. Erwähnens-
wert sind außerdem die beiden ab 1936 jährlich veranstalteten Ausschrei-
bungen des Hilf-mit-Preises (für noch unveröffentlichte Erzählungen, Ge-
schichten und Gedichte) und des Hans-Schemm-Preises (für Neuerscheinungen
des Vorjahres), mit denen namhafte, aber auch noch unbekannte Schriftstel-
ler zum Schreiben ›guter‹ Kinder- und Jugendliteratur für Heranwachsende
im Alter bis zu 14 Jahren animiert werden sollten.

Bewertungskriterien: NS-Ideologie, Pädagogik


und Kunst

Die auf ›Volkwerdung‹ und ›Gemeinschaft‹ ausgerichtete literarische Erzie-


hung war eingebunden in das allgemeine NS-Erziehungskonzept, das auf die
Begriffe ›Bildung‹ und ›Individuum‹ verzichtete und letztlich darauf abzielte,
Kinder und Jugendliche zu manipulieren. An die Stelle von Bildung durch
Wissensvermittlung trat die Schulung des Charakters, anstelle des kritischen
Intellekts war ›inneres‹ Erleben angesagt, wie Hopster und Nassen (1983)
feststellen. Die konkrete Ausformung der auf politische Formierung zielen-
Jugendlichkeit den Erziehung manifestierte sich in einem neuen Verständnis von ›Jugend-
lichkeit‹. Jugend wurde vom biologischen Alter völlig losgelöst und als Aus-
druck einer inneren ›Haltung‹ und spezifischen Lebenssicht verstanden. ›Ju-
gendlich‹ war jeder, der im Glauben an die ›Führer-Gefolgschafts‹-Ideologie
zu jedem Einsatz bereit war, der das Leben bejahte, der ›heldisch‹ dachte und
handelte. ›Jugendlichkeit‹ meinte also ›Lebensbejahung‹, ›Heldentum‹ und
natürlich auch ›Kampfesmut‹. Diese Handlungsmaximen, die den viel be-
schworenen ›neuen deutschen Menschen‹ und das ›neue Reich‹ kennzeichne-
ten und die in der Literatur möglichst ›wahr‹, ›wirklichkeitsnah‹ und ›echt‹
dargestellt sein sollten, avancierten auch zu den offiziell anerkannten Bewer-
tungsmaßstäben der Kinder- und Jugendliteratur wie des gesamten künstleri-
schen Schaffens.
Kinder- und Uneinigkeit herrschte jedoch lange Zeit zwischen der RJF und dem NSLB
Jugendtümlichkeit bei zwei Fragen: Sollte es erstens trotz der neuen Auffassung von Jugendlich-
keit eine spezifische Literatur für Jugendliche geben und reichten zweitens
die genannten Handlungsmaximen für die Bewertung aus? Während sich die
RJF anfänglich dafür aussprach, Jugendlichen grundsätzlich das sogenannte
Gesamtschrifttum der Nation zur Lektüre zu empfehlen, vertrat der NSLB
die Ansicht, für Jugendliche ebenso wie für Kinder, dem jeweiligen Alter ent-
sprechend, eine Auswahl treffen zu müssen. Er stellte deshalb die Forderung
der ›Kinder- und Jugendtümlichkeit‹ als zweite Hauptforderung neben die
›Gesinnungsmäßigkeit‹. Ebenfalls im Gegensatz zu den Maximen der RJF
stand in den ersten Jahren nach der Machtübernahme die Auffassung des
Künstlerische NSLB, dass die neue ›Haltung‹ allein noch kein Garant für ›gute‹ Kinder- und
Gestaltungsmittel Jugendliteratur sei und neben der ›Kinder- und Jugendtümlichkeit‹ auch
›künstlerische Gestaltungsmittel‹ Berücksichtigung finden müssten. Erst in
den Jahren 1937/38 lenkte die RJF ein und schloss sich den drei Kriterien des
Das Spektrum der Kinder- und Jugendliteratur 279

NSLB an, nachdem sie sich eingestehen musste, dass die alleinige Forderung
nach der ›richtigen‹ Gesinnung eine Flut von Büchern auf den Markt ge-
bracht hatte, die in keiner Weise der Vorstellung von ›guter‹ Kinder- und Ju-
gendliteratur entsprach.
Für die konkrete Begutachtungsarbeit waren die genannten Bewertungs-
kriterien jedoch wenig hilfreich, so dass der NSLB sich dazu entschloss, sys-
tematisch für alle Genres der Kinder- und Jugendliteratur unter Berücksichti-
gung literarästhetischer Aspekte eine bewertungsleitende Theorie zu entwi-
ckeln. Die Ergebnisse dieser theoretischen Arbeit fielen – sofern sie bis zum
Ausbruch des Zweiten Weltkrieges fertiggestellt waren – ausgesprochen
dürftig aus, da sie wieder rein programmatischer Art waren und in keiner
Weise literarästhetische Fragestellungen aufgriffen. Zum einen wurde stets
nur Authentizität reklamiert, die in den Begriffen ›Erlebnisnähe‹ und ›Echt-
heit‹ ihren Ausdruck fand; zum anderen sollte die Kinder- und Jugendlitera- Zentrale Tugenden
tur jene Tugenden und Einstellungen vermitteln – ›Heldentum‹, ›Kampfes-
mut‹, ›Opferbereitschaft‹, ›Lebensbejahung‹, ›Treue‹, ›Mut‹, ›Pflichtbewusst-
sein‹ und ›Vaterlandsliebe‹ –, die für das NS-Herrschaftssystem funktional
waren.

Das Spektrum der Kinder- und Jugendliteratur

Bei dem Versuch einer Gesamteinschätzung der in der NS-Zeit auf dem
Buchmarkt vorhandenen Literatur hat vor allem Ketelsen in verschiedenen
Studien darauf aufmerksam gemacht, dass die Tendenz, von der Literatur des
›Dritten Reiches‹ zu sprechen, den Blick sehr verenge, weil darunter nur jene
Werke fielen, die unübersehbar nationalsozialistische Ideologeme verkünde-
ten und die sich propagandistisch in den Dienst des NS-Staates stellten. Eine
solche Propagandaliteratur dominierte aber weder den gesamten Literatur-
markt noch das Subsystem Kinder- und Jugendliteratur. Zwar sind keine ge-
nauen Zahlenangaben möglich, doch macht die Propagandaliteratur inner-
halb des Gesamtspektrums nur einen kleinen Teil aus. Die Literatur, die den
Kindern und Jugendlichen in der NS-Zeit in Buchhandlungen sowie in öf-
fentlichen und privaten Bibliotheken und Büchereien zur Verfügung stand,
ist also nicht nur daraufhin zu untersuchen, ob und in welchem Grad sie
NS-Ideologie transportiert. Zu untersuchen ist vielmehr vorrangig – und erst
daran ist ihre unterschiedlich ausgeprägte NS-Affinität festzumachen –, in- NS-Affinität
wiefern sie die oben genannten, für das NS-System funktionalen Einstellun-
gen und Tugenden zu vermitteln vermochte. Nur so ist zu erklären, warum in
die Vielzahl von Listen und Katalogen mit empfohlener Kinder- und Jugend-
literatur Bücher aufgenommen wurden, die in nicht unerheblicher Zahl aus
der Zeit der Weimarer Republik, dem Kaiserreich oder sogar noch früheren
Epochen stammen, die als traditionelle Literatur einzustufen sind und die in
einigen Fällen noch heute zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur
zählen.
Bei den Texten zeigt sich im Blick auf das Gesamtspektrum wie in der
Vergangenheit eine Dominanz von Erzählungen und Romanen; daneben gab
es szenische und lyrische Texte, Märchen, Sagen, Bilderbücher, Sach- und
Ratgeberliteratur, Biographien, Jahrbücher, Zeitschriften, Kalender etc. In
thematischer Hinsicht kristallisieren sich verschiedene Bereiche heraus. Bü-
280 Faschismus

cher über den Arbeitsdienst (Reichsarbeitsdienst, Pflichtjahr, Landjahr), die


Jugendorganisationen HJ und BDM sowie über die Geschichte der Bewe-
gung (darunter auch Bücher über Adolf Hitler) lassen sich unter dem
Oberthema ›Literatur der Organisationen‹ zusammenfassen. Neben den The-
men ›Auslands- und Grenzlanddeutschtum‹, ›Kolonien‹, ›Volkstum‹ und
›Sport‹ finden sich ›Fest und Feier‹, ›Geschichte‹, ›Kriege‹, ›Kinder- und Fami-
lienalltag‹, ›Abenteuer‹, ›Reisen‹, ›Technik‹, ›Tiere‹ und ›Natur‹. Außerdem
gab es während der NS-Zeit eine fantastische, eine konfessionelle und eine
jüdische Kinder- und Jugendliteratur wie auch eine spezifische Mädchenlite-
ratur. Zur Verdeutlichung des gesamten Spektrums sollen im Folgenden ei-
nige Genres und Themen genauer vorgestellt werden.

Literatur der Organisationen

Zur Kinder- und Jugendliteratur, die eine besonders ausgeprägte NS-Affinität


aufweist und in ausnehmender Weise zur Verbreitung der NS-Ideologie bei-
tragen sollte, zählt die ›Literatur der Organisationen‹; Nassen bezeichnet sie
als »genuin nationalsozialistische« Literatur. Von diesen Organisationen
handelt vorzugsweise die mit Beginn der Machtübernahme entstandene und
›Konjunkturliteratur‹ von den Literaturinstanzen als pseudonationalistisch eingestufte ›Konjunk-
turliteratur‹, die als ›unerwünscht‹ galt, weil sie in krassen Farben und gera-
dezu inflationär mit den Symbolen und Emblemen des neuen Staates ausge-
stattet war. Zudem erschien sie der offiziellen Kritik als unglaubwürdig, da
tapfere Hitler-Jungen oder BDM-Mädchen oft mit Leichtigkeit politische
Gegner ausschalteten. Beispiele sind Wie der Glasbläserjunge zum Braun-
hemd kam (1934) von Otfrid von Hanstein, Ulla, ein Hitlermädel (1933)
von Helga Knöpke-Joest oder Brigitte geht zum Arbeitsdienst (1934) von
Toni Saring; an Sarings Buch wurde in der Jugendschriften-Warte kritisiert,
es handele sich um die altbekannte ›Backfischgeschichte‹, die alles nur von
der mädchenhaft-fraulichen Seite erläutere und der es an Echtheit fehle.
Von unterschiedlichen Literaturinstanzen wurde dagegen wiederholt Al-
fred Weidenmanns Trilogie Jungen im Dienst: Jungzug 2 (1936), Trupp Plas-
sen (1937) und Kanonier Brakke Nr. 2 (1937) empfohlen. Für diese Trilogie
erhielt Weidenmann den dritten Preis beim Hans-Schemm-Preisausschreiben
1937/38. Zahlreiche Abbildungen in allen drei Bänden – zumeist Fotos vom
Autor selbst, aber auch einige Zeichnungen – erhöhen den Authentizitäts-
grad. Während Jungzug 2 vom Aufbau eines Jungvolkzuges in den ersten
Monaten nach der Machtergreifung erzählt, schildert Trupp Plassen ein
Halbjahr beim Arbeitsdienst. Zweifellos haben beide Texte eine militärpro-
pädeutische Funktion, doch wird das wahre Soldatenleben erst im dritten
Band geschildert, in dem es um das Rekrutenjahr des Kanoniers Brakke geht
Jungvolk – und damit ganz eindeutig um Erziehung zum Krieg. Was von den NS-Litera-
Arbeitsdienst – turkritikern für das ›gute‹ Kinder- und Jugendbuch reklamiert wurde, löste
Rekrut Weidenmann mit seiner Trilogie vorbildlich ein, wie beispielhaft der Rezen-
sion des ersten Bandes in der Jugendschriften-Warte zu entnehmen ist: »Das
Buch zeigt nicht nur lebenswahr und eindringlich [...] das Äußere der Jung-
volkarbeit, es läßt vor allem ein Stück der dort geleisteten Erziehungs- und
Illustration aus Jungzug 2 Selbsterziehungsarbeit der Jugend, ihren neuen Lebensstil im Sinne der vo-
von Alfred Weidenmann rangestellten sieben Schwertworte: Härte, Tapferkeit, Treue, Haltung, Wahr-
Literatur der Organisationen 281

Plakat zum Film


Hitlerjunge Quex von
Aloys Schenzinger

heit, Kameradschaft und Ehre sichtbar werden. Die harte und saubere Gestalt
des Wolf Renner ist das Vorbild des Jungenführers. Unsere Jungen spüren,
ein Kamerad erzählt aus vollem Herzen.«
Ein Bestseller der Bücher zur ›Kampfzeit der Bewegung‹ war Karl Aloys
Schenzingers schon 1932 publizierter Roman Hitlerjunge Quex, eine Auf-
tragsarbeit des damaligen HJ-Führers Baldur von Schirach, der zunächst als
Fortsetzungsroman im Völkischen Beobachter erschienen war. Bereits ein
Jahr später präsentierte die UFA den gleichnamigen Film mit dem Untertitel
Vom Opfergeist der deutschen Jugend (1933). Der Regisseur Hans Steinhoff
setzte die modernsten technischen Errungenschaften ein; sowohl das Buch
als auch der Film stellen Propagandaklassiker des ›Dritten Reiches‹ dar.
Schenzinger beschreibt die allmähliche Wandlung des 15 Jahre alten Heini
Völker vom Kommunismus-Anhänger zum überzeugten HJ-Mitglied, der
wie das historische Vorbild Herbert Norkus den Tod eines modernen Märty-
rers stirbt. Heini ist im beengten und von finanziellen Nöten gekennzeichne-
ten Arbeitermilieu der Weimarer Republik groß geworden; mit dem Vater,
den die Arbeitslosigkeit in den Alkoholismus getrieben hat, versteht er sich
zunehmend schlechter. Diese Verhältnisse möchte er hinter sich lassen, etwas
Neues und Besseres beginnen. In dieser Situation lernt er den aus bürgerli-
chem Milieu stammenden Gymnasiasten Fritz Dörries kennen, der Mitglied
der HJ ist. Doch ist es nicht Fritz, der Heini bekehrt, die Bekehrung vom Bekehrung als ›inneres‹
Kommunismus zum Nationalsozialismus vollzieht sich als ein ›inneres‹ Er- Erlebnis
lebnis: Als Heini mit seiner kommunistischen Jugendgruppe auf einer Wan-
derfahrt unterwegs ist, deren Gemeinschaft ihm immer weniger zusagt,
nimmt er des Nachts in der Ferne einen Lichtschein wahr, dem er folgt. Er
stößt schließlich auf ein Lagerfeuer, umgeben von einer großen Zahl von
singenden Hitler-Jungen, die alle gleich aussehen. Schenzinger arbeitet in
dieser Szene geschickt mit Lichtmetaphern. Heini lässt die Dunkelheit und
damit den Kommunismus hinter sich, bewegt sich auf das Licht, d. h. die
282 Faschismus

Gemeinschaft der Hitler-Jungen zu, die das Bild der Gleichheit symbolisieren.
»Ich bin auch ein Deutscher«, entfährt es ihm, und »er fühlte, daß er mit
diesen Jungen gehen möchte, daß hier das gerade Gegenteil war von dem,
was in der Clique vor sich ging, daß hier Ordnung war, Ordnung«. Heinis
Bekehrungserlebnis, die von den HJ-Mitgliedern jederzeit hoch gehaltenen
Tugenden Ordnung, Disziplin, Tapferkeit und Kameradschaft und natürlich
nicht zuletzt Heinis Blutopfer für die ›Bewegung‹ entsprachen den Vorstel-
lungen der NS-Ideologen. Die Tatsache aber, dass das Buch während der
NS-Zeit geradezu zum Muster und Vorbild wurde – bis 1942 erreichte es
eine Auflage von 324000 Exemplaren –, liegt u. a. darin begründet, dass
Schenzinger bei der literarischen Gestaltung des Themas ›Geschichte der Be-
wegung‹ auf platte propagandistische Parolen verzichtete. Ein weiterer
Grund für die Popularität des Buches ist sicherlich die frühe Verfilmung und
damit die Verbreitung des Textes im Medienverbund.

Historische Literatur – Kriegsliteratur

Erziehung zum Krieg Quantitativ nahm die historische Literatur in der Kinder- und Jugendlitera-
tur des ›Dritten Reiches‹ den größten Raum ein, die wiederum in ihrer Mehr-
zahl Kriegsliteratur ist. Wie schon im Kaiserreich dient die Kriegsliteratur
der literarischen Mobilmachung und Wehrerziehung. Propagiert werden
Pflichterfüllung und Disziplin, vor allem aber Kampf- und Opferbereitschaft
bis hin zum heldischen Tod. Das Epochenspektrum reicht von der Steinzeit
bis zum Zweiten Weltkrieg; bevorzugt dargestellt werden jene Kriege, die für
die Deutschen eine ›schicksalhafte‹ Bedeutung hatten. Entsprechend dem of-
fiziellen Geschichtsbewusstsein, demzufolge das deutsche Volk bzw. seine
nordisch-germanischen Vorfahren schon immer ums Überleben hatten
kämpfen müssen, ist als Führergestalt und Befreier von römischer Herrschaft
Hermann bzw. Arminius der Cherusker besonders beliebt. Welche überra-
gende Rolle ihm darüber hinaus zuteil wurde, ist dem Titel von Hjalmar
Kutzlebs Roman zu entnehmen: Der erste Deutsche: Roman Hermann des
Cheruskers (1934). Auch Widukind, Herzog der Sachsen, wird zum vorbild-
Vorkämpfer der lichen ›Vorkämpfer der Bewegung, während Heinrich der Löwe als Vorbild
Bewegung für die Gewinnung von Raum im Osten dient. Die sich dahinter verbergende
›Volk ohne Raum‹-Ideologie, wie sie in Hans Grimms gleichnamigen Roman
aus dem Jahre 1926 zum Ausdruck kommt, der nicht nur Erwachsenen, son-
dern auch Jugendlichen als herausragendes literarisches Werk angepriesen
wurde, war allerdings vorrangig ein Thema der Kolonialliteratur. Deren An-
fänge reichen bis ins 18. Jh. zurück, doch erlebte die Produktion von Koloni-
alliteratur für Kinder und Jugendliche vor allem im Kaiserreich einen Auf-
schwung. Auf jene Literatur griff man in der NS-Zeit über Jahre hinweg zu-
rück – so z. B. auf Die Helden der Naukluft (1912) von Maximilian Bayer
oder Peter Moors Fahrt nach Südwest (1906) von Gustav Frenssen –, da
Neuerscheinungen auf diesem Gebiet erst mit Beginn des Zweiten Weltkriegs
in größerem Umfang auf den Markt kamen.
Neben Büchern über Kriegsführer dominierten solche, die den Bauern-
krieg, den Dreißigjährigen und den Siebenjährigen Krieg sowie die Napoleo-
nischen Kriege thematisieren. In öffentlichen Verlautbarungen beklagten so-
wohl Helke als auch Rothemund die Unbrauchbarkeit vieler dieser Titel,
Historische Literatur – Kriegsliteratur 283

weil sich offenbar auch auf diesem Sektor viel ›Konjunkturliteratur‹ breit
machte. Man schätzte es nicht, wie es in Rothemunds Vortrag Das Jugend-
buch in der deutschen Schule (1939, abgedruckt in der Broschüre Das deut-
sche Jugendbuch, 1942) nachzulesen ist, wenn die Protagonisten nationalso-
zialistisch ›auffrisiert‹ waren und das halbe Parteiprogramm herunterbeteten.
Unzufrieden war man auch mit der Produktion von Büchern über den Ersten Erster Weltkrieg
Weltkrieg. Kritisiert wurde die Überproduktion von Romanen und Erzäh-
lungen über die deutsche Luftwaffe und Flotte, während Bücher über die
Aufgaben des Heeres und die einzelnen Waffengattungen sehr vernachlässigt
würden. Dass Autoren und Verleger aber grundsätzlich die Darstellung des
Geschehens im Ersten Weltkrieg favorisierten, fand bei allen Literaturinstan-
zen ein positives Echo, denn in diesem Krieg sah man die Wurzeln der na-
tionalsozialistischen Bewegung, weil er mit der sogenannten Schmach von
Versailles endete, die es zu beseitigen galt. Zur Lektüre für Jugendliche wur-
den bevorzugt preiswerte Ausgaben mit Auszügen aus den Werken berühm-
ter Kriegsschriftsteller empfohlen, wie z. B. Der Wanderer zwischen bei-
den Welten (1916) von Walter Flex oder In Stahlgewittern (1920) von Ernst
Jünger.
Unter den nach Kriegsschauplätzen zu differenzierenden spezifischen Kin-
der- und Jugendbüchern ist die Zahl derer, die vom Kampf an der Westfront
erzählen, besonders groß, wozu z. B. Wir fordern Reims zur Übergabe auf
(1935) von Rudolf G. Binding gehört. Neben den Handlungs- bzw. Kriegs-
räumen West-, Ost- und Südfront spielen in etlichen Büchern auch ferne Ge-
biete wie die arabische Wüste oder Afrika eine wichtige Rolle. Während man
in Fritz Steubens [d.i. Erhard Wittek] Buch Karawane am Persergolf (1934)
die gelungene Mischung von Kriegs- und Abenteuerbuch lobte, war es in der
in Ostafrika spielenden Geschichte Heia Safari! (1920) von Paul von Lettow-
Vorbeck (1920) der ›deutsche Kolonialgeist‹, der besonders von der Kritik
hervorgehoben wurde. In kleinerer Zahl gab es ebenso Kriegsbücher, die von
Flucht und Gefangenschaft erzählten, denn auch auf dieses Schicksal sollten
die jungen Leser und Leserinnen vorbereitet werden.
In großer Zahl erschienen Seekriegsbücher. Sie erhielten die ungeteilte
Zustimmung der Literaturinstanzen, sofern die viel beschworene ›echte‹ und Umschlagbild zu Heia
›wirklichkeitsnahe‹ Schilderung des Kriegsgeschehens durch in den Gang der Safari! von Paul von
Handlung eingeflochtene Darstellungen über den Bau und die Technik der Lettow-Vorbeck
Boote oder über die Geschichte der Reichsmarine ergänzt wurde, wie z. B. in
den Büchern U-Bootsfahrten (1934) und Helden der See (1934) von Fritz O.
Busch. Diese und andere Bücher von Busch sind darüber hinaus Beispiele für
die neue Vorstellung von Sachliteratur, die nicht nur Wissen vermitteln, son-
dern auch einer ›Erlebnisschrift‹ gleichen sollte. Ein weiterer Teil der Litera-
tur über den Ersten Weltkrieg erzählt vorzugsweise von den Kämpfen der
Jagdflieger. Die neuen Komponenten, die diese Literatur kennzeichnen, sind Einswerden
die Verlebendigung des technischen Materials einerseits und die Verdingli- von Mensch und
chung des Soldaten andererseits. Beispielhaft anzutreffen sind diese neuen Maschine
Momente in Werner Chomtons Kriegsbuch Soldat in den Wolken (1933), zu
dem es in einer Kritik in der Jugendschriften-Warte heißt, das Kamerad-
schaftserlebnis bleibe dem Fliegersoldaten zwar versagt, doch erlebe er statt
dessen das »Einswerden von Mensch und Maschine«, das »tote Flugzeug«
werde seiner »Stofflichkeit entkleidet«, es verwandele sich in einen »Riesen-
vogel, auf dessen Herzschlag der Flieger aufmerksam lausche«.
Ein weiteres Kennzeichen der NS-Kriegsliteratur ist eine neue Form des
Heroismus. Nicht unkritisch und naiv glorifizierend bewegen sich die Helden
in den Schlachten des Krieges, wie man es vom ›Hurra-Patriotismus‹ des
284 Faschismus

Kaiserreichs kennt, sondern reflektiert und sachlich. Gleichwohl ist die Ge-
samtsicht auf den Ersten Weltkrieg verklärend, wozu die Vereinigten Deut-
schen Prüfungsausschüsse bereits in der Vergangenheit ihren Teil beigetragen
hatten. Angesichts der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges wandten sie sich
von Wolgasts Position, die Kinder- und Jugendliteratur dürfe nicht von poli-
tischen, konfessionellen oder patriotischen Interessen vereinnahmt werden,
ab und trugen zur Verbreitung ›guter‹ Kriegsliteratur bei, indem sie ab 1914
entsprechende Bücher empfahlen und in Listen publizierten.
Zweiter Weltkrieg Nur wenige Wochen nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wird auch
dieser Krieg Thema der Kinder- und Jugendliteratur, die in Buchlisten oft
unter der Rubrik ›Großdeutschlands Freiheitskampf‹ empfohlen wird. Es
entstehen literarische Texte, die wie jene über den Ersten Weltkrieg das Ge-
schehen an allen Kriegsschauplätzen und in allen Waffengattungen aufgrei-
fen. Was viele Neuerscheinungen jedoch von den älteren Texten unterschei-
det, ist ein völliger Verzicht auf literarästhetische Gestaltungsmomente.
Exemplarisch ist die von der RJF u. a. in Verbindung mit dem Oberkom-
mando des Heeres herausgegebene Reihe Die Kriegsbücherei der deutschen
Jugend. Im Mittelpunkt der von 1939 bis 1944 herausgegebenen 156 Hefte
steht wie in der noch wenige Jahre zuvor vehement von den Literaturinstan-
zen abgelehnten ›Schundliteratur‹ ein omnipotenter Held, der allein und eben
nicht wie offiziell gefordert in Gemeinschaft und für die Gemeinschaft hero-
ische Großtaten vollbringt. Die RJF unterstützte damit eine Produktions-
form, der Helke noch kurz vor Ausbruch des Krieges entschieden den Kampf
angesagt hatte. Mit dieser billigen Heftchenliteratur verfolgte man ähnlich
wie mit der im parteieigenen Eher-Verlag von 1940 bis 1942 produzierten
Reihe Kleine Kriegshefte offiziell das Ziel, den Leser über das aktuelle Kriegs-
geschehen zu informieren. De facto aber ist hinter allen Reihentiteln das Be-
mühen zu vermuten, die Überfälle der deutschen Wehrmacht als spannende
und abenteuerliche Expeditionen zu verkaufen, auf denen sich deutsche Sol-
daten heroisch bewährten.

Abenteuerliteratur

Abenteuerliteratur umfasste in der NS-Zeit keineswegs nur klassische Aben-


teuerbücher. Auch Sagen, Heldenepen, historische Erzählungen sowie Bücher
über den Ersten Weltkrieg und die ›Bewegung‹ wurden in öffentlichen Ver-
lautbarungen und Verzeichnissen zur Abenteuerliteratur erklärt, um die ju-
gendlichen, zumeist männlichen Leser von den Abenteuern in fremden Län-
dern wegzuführen hin zur abenteuerlichen Geschichte des eigenen Volkes,
wie es Ende der 30er Jahre wiederholt gefordert wurde. Ebenso erklärte man
Abenteuer im Dienst das Schicksal deutscher Farmer, die sich in fernen Ländern mühsam und
der Gemeinschaft bisweilen unter kriegerischen Auseinandersetzungen eine neue Existenz auf-
bauten, zum Abenteuer; ein Beispiel dafür ist die in Südamerika spielende
Geschichte Die Farm im Gran Chaco (1937) von Otfrid von Hanstein. Aber
auch traditionelle Abenteuerliteratur von Seefahrern, Entdeckern, Indianern
und anderen Helden in fremden Erdteilen, von Personen also, die in der Re-
gel nicht dem Ideal des ›neuen‹ Helden nachkamen, weil sie ihr Tun nicht in
den Dienst einer Gemeinschaftsaufgabe stellten, war weiterhin auf dem
Markt und behielt offiziell ihre Daseinsberechtigung. Dazu gehören neuere
Abenteuerliteratur 285

Titel wie Atlantikfahrt nach Süden (1939) von Georg Wurzel und Auf, nach
der Kokusinsel! (1934) von Wolf Durian ebenso wie die Klassiker von Karl
May, wie Daniel Defoes Robinson oder Jonathan Swifts Gullivers Reisen.
Öffentlich anerkannt wurden diese Klassiker, weil die Literaturkritik in ih-
nen immerhin eine Vorform des ›heldisch-erhöhten Lebens‹ zu erkennen
glaubte. Ausschlaggebend jedoch mag gewesen sein, dass es in der klassischen
Abenteuerliteratur häufig darum geht, fremdes Land einzunehmen, zu besie-
deln und stets die Überlegenheit der Weißen zu demonstrieren, womit zen-
trale Momente der NS-Rassenideologie erfüllt wurden.
Offenbar war das Genre der Abenteuerbücher umstritten, denn man be-
tonte ausdrücklich, dass seine große Beliebtheit eine theoretische Auseinan-
dersetzung erfordere. Zudem erhob man den Anspruch, sich mit ›echter‹
Abenteuerliteratur zu beschäftigen, die unter keinen Umständen als zweit-
rangige Gattung verstanden werden dürfe. Konsens bestand darin, die ju-
gendliche Vorliebe für die abenteuerliche Literatur als etwas Natürliches an-
zusehen. Der jugendliche Drang in die Ferne, die Sehnsucht der Jugend nach
Eroberung der Welt, ihre Suche nach dem Fremden, den Gefahren und den
Überraschungen des Lebens wurden als ›echtes‹ Lebensgefühl interpretiert,
das jedem Deutschen ›im Blute‹ liege. In der öffentlichen Diskussion um
›gute‹ Abenteuerliteratur nahm Fritz Steuben, der noch heute für seine
Kriegs- und Indianerbücher bekannt ist, gewissermaßen als Fachmann eine
federführende Position ein. Mit seinem Kriegsbuch Durchbruch anno acht-
zehn (1933), das er noch unter seinem Namen Erhard Wittek veröffentlichte
und das er ausdrücklich als Gegendarstellung zu Erich Maria Remarques
Anti-Kriegsroman Im Westen nichts Neues (1929) verstand, hatte er einen
immensen Erfolg. 1938/39 zeichnete man ihn, der für seine Jugendbücher
das Pseudonym Fritz Steuben benutzte, beim Hans-Schemm-Preisausschrei-
ben mit dem ersten Platz aus. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als England
und die USA in den Krieg eintraten, hatte Steuben keine Probleme damit, in
der klassischen angelsächsischen Abenteuerliteratur eine nationalsozialisti-
sche und damit ›deutsche Haltung‹ zu erkennen, wie ein in der Jugendschrif-
ten-Warte unter dem Titel Das Abenteuerbuch (1938) publizierter Aufsatz
zeigt. Defoes Robinson mit seiner Disziplin und Willensstärke zeigte seiner
Ansicht nach dem jugendlichen Leser, dass man alles selbst erarbeiten, wenn
nicht gar erzwingen müsse. James Fenimore Coopers Lederstrumpf, in dem
zwei Rassen schicksalhaft um ihr Recht auf Leben stritten, überzeugte ihn
aufgrund seiner Denk-, Sprach- und Gestaltungskraft. Das Schicksalhafte
spüre man in Swifts Gullivers Reisen, das ›Herrenrecht der weißen Rasse‹
veranschaulichten die Romane Jack Londons. Da die literarische Erziehung
der Jugend jedoch vorrangig mit ›volkseigenem‹ Schrifttum erfolgen sollte,
plädierte Steuben dafür, die genannten positiven Momente der angelsäch-
sischen Abenteuerliteratur zukünftig in der deutschen Kinder- und Jugendli-
teratur stärker herauszustellen.
Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass in der NS-Zeit Indianerlite- Indianerliteratur
ratur weitgehend positiv bewertet wurde, schließlich handelte es sich bei den
Indianern aus nationalsozialistischer Sicht um eine den ›Ariern‹ unterlegene
Rasse. Man versuchte sämtliche Zweifel gegenüber diesem Genre aus dem
Weg zu räumen, indem man darauf hinwies, dass der Indianer der Gegenwart
nicht die geringste Ähnlichkeit mit seinen tapferen Ahnen habe, deren Ver-
zweiflungskämpfe große Parallelen zum ›germanischen Heldentum‹ aufwie-
sen und der Jugend deshalb alle Ideale böten, die sie in der Abenteuerliteratur
suche. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass bei aller ›Heldenhaftigkeit‹,
die die Indianer vorgeblich in den positiv bewerteten Indianergeschichten
286 Faschismus

verkörperten, stets die Überlegenheit der weißen Rasse hervorgehoben


wurde.
Gerade die damals sehr bekannten und gelobten Indianerbücher von Steu-
ben, dessen Romane um den Shawano-Häuptling Tecumseh auch nach 1945
wieder aufgelegt wurden (wie ebenso etwa Die Indianergeschichte von Ger-
hart Drabsch, 1938), sind dafür beispielhaft. Auf welchen Ideologemen seine
Weltanschauung basierte, hat er in seinen Aufsätzen zum Abenteuerbuch
wiederholt zum Ausdruck gebracht. Es sind dies der Mythos vom ›Volk‹,
›Führer‹ und ›Krieg als Erzieher‹ verbunden mit Rassen- und Kampfesideolo-
gie und die Ideologie des Herrenmenschen, die sich auch in den Bänden über
den Indianer Tecumseh finden: Der fliegende Pfeil (1930), Der rote Sturm
(1931), Tecumseh der Berglöwe (1932), Der strahlende Stern (1934), Der
Sohn des Manitu (1938) und Tecumsehs Tod (1939). »Tecumsehs heroisches
Scheitern war also vorbestimmt, weil er sich nicht auf ein Volk stützen konnte
und auf keine Gefolgschaft. Nur dann hätte sein Kampf um die Heimat er-
folgreich sein können. Diese Umstände machen Wittek/Steubens schriftstelle-
risches Werk von vornherein zwiespältig. Denn die erzählerische Rekons-
truktion der Biographie Tecumsehs und seines politischen Unternehmens – die
Einigung der indianischen Völker und Stämme – bleiben notwendig unvoll-
kommen und unzulänglich, weil Wittek/Steuben einen Indianer aus Gründen
der nationalsozialistischen Ideologie gar nicht erfolgreich sein lassen kann.
Er muß implizit immer schon voraussetzen, daß das Aufbegehren aussichts-
los sein wird. Das aber kollidiert mit der Anlage der Figur Tecumsehs als
Heldengestalt, als ›strahlender Stern‹ und unüberwindlicher Führerfigur.
Diese Kontamination von nationalsozialistischer Ideologie und schriftstelle-
rischem Impetus führt in den Tecumseh-Bänden zu charakteristischen Wider-
sprüchen« (Kaminski). Auf diese Widersprüche nehmen zwei Artikel Bezug,
die 1939 und 1941 in der Zeitschrift Die neue Literatur erschienen. 1939
äußert sich zunächst der Herausgeber Will Vesper selbst: »Schluß machen
müssen wir mit aller weichlichen literarischen Farbigenschwärmerei, ob es
sich um wissenschaftliche, halbdichterische Werke, Unterhaltungsliteratur
oder die längst überständige Indianerpoesie der Jugendbücher handelt. Wir

Illustration zu
Der strahlende Stern von
Fritz Steuben
Sportliteratur 287

sind ein weißes Volk. Wir sind das Kern- und Hauptvolk der weißen Rasse.
Die weiße Rasse ist in Gefahr.« Zwei Jahre später erscheint ein Aufsatz von
Wilhelm Schuhmacher unter dem Titel Erhard Wittek. Das Werk des ost-
deutschen Dichters für Jugend und Volk.
Kaminski zufolge widerlegen Schuhmachers Ausführungen die Behaup-
tungen von Vesper im Hinblick auf die Indianerliteratur. Im Gegensatz zu
Vesper sei es Schuhmachers Absicht, den nationalsozialistischen Kern der
Tecumseh-Bände herauszuarbeiten, obschon dieser exotisch verhüllt sei. Er
betrachte die Trilogie als einen »Volksroman«, in dem sich »unter dem Druck
der überlegenen ›Zivilisation‹ […] trotz der umfassenden rassisch-völkisch
verwurzelten Erneuerungsbewegung Tecumsehs der entscheidende tragische
Zusammenstoß der Indianer mit den angelsächsischen Gewalten und der
geschichtliche Untergang der indianischen Macht vollzieht.« Mit »Selbster-
neuerung und Wiedergeburt« eines Volkes erläutere Schuhmacher den Ge-
genstand von Witteks Durchbruch anno achtzehn und beziehe dies ebenso
auf die Tecumseh-Bände.

Sportliteratur

Sport diente in der NS-Zeit bekanntermaßen sowohl der körperlichen Er-


tüchtigung als auch der Charakterschulung. Dieser Zielsetzung wurde ebenso
die Sportliteratur verpflichtet, die darüber hinaus wie die übrige Literatur
einen Beitrag zur ›Volkwerdung‹ leisten sollte. Im Vergleich mit den anderen
Themen und Genres, die auf dem Markt waren, nahm die Sportliteratur wie
vor 1933 keinen großen Raum ein. Dominant war aber in diesem Bereich die
Sachliteratur und innerhalb dieser Bücher über den Motor- und Segelflug,
die beide zugleich stets eine technische Komponente hatten. Außerdem fallen
Handbücher zum Geländesport auf, der maßgeblich von der Hitler-Jugend
betrieben wurde und zweifellos eine kriegsvorbereitende Funktion hatte.
Ein Grund für die Literaturinstanzen, sich mit diesem Themenbereich in-
tensiver zu beschäftigen, dürfte die Berliner Olympiade im Jahr 1936 gewe-
sen sein. Sie lenkte den Blick auf die Defizite im Bereich der Sportliteratur,
und da man innerhalb des NSLB den Vorsatz gefasst hatte, sich mit allen
Bereichen der Kinder- und Jugendliteratur theoretisch zu beschäftigen, regte
man 1937 die Beschäftigung mit Sporterzählungen an. Allerdings ließen die
Publikationen zu diesem Thema vier Jahre auf sich warten. Unter dem Titel
Wie müßte eine vorbildliche Jungensporterzählung aussehen? erschien 1941
ein Aufsatz von Horst Weber in der Jugendschriften-Warte. Ein Jahr später
schrieb in derselben Zeitschrift Erich Wildberger, der den Sportroman Die
große Mannschaft (1937) veröffentlicht hatte, eine Replik mit dem Titel Eine
Plauderei über den Sportroman eines Wissenden (1942). Die Diskussion gibt
beispielhaft die Vorstellung vom ›guten‹ erzählenden Sportbuch wieder.
Weber kam in seinen Ausführungen zu dem Ergebnis, dass die Sportlitera- ›Gute’ Sportliteratur
tur, die er ausschließlich als eine Jungenliteratur ansah, bislang nicht einen
einzigen »vorbildlichen Jungensportroman« hervorgebracht habe. Mit die-
sem rigorosen Urteil erteilte er auch Wildbergers Roman Die Große Mann-
schaft eine klare Absage. Er vermisste Humor und Spannung, beurteilte den Umschlagbild zu Die
Stil als »schlampig, ja fehlerhaft«, in den meisten Fällen fehle »das Künstle- große Mannschaft von
rische im Stoff«, und ein »belehrendes und moralisierendes Onkeltum« ver- Erich Wildberger
288 Faschismus

hindere die gewünschte »erzieherische Wirkung«. Darüber hinaus nannte


Weber weitere Kritikpunkte, aus denen er fünf Kriterien für eine gute Jun-
gensportliteratur ableitete. Erstens sollten grundsätzlich immer Jungen selbst
als ›Helden‹ im Mittelpunkt stehen und nicht erwachsene Männer. Zweitens
müsse die Geschichte vom Sport und nicht von Leibesübungen handeln, denn
während man unter Leibesübungen nur »körperliche Übungen« zu verstehen
habe, komme beim Sport das Element des Kampfes hinzu; dieser finde seinen
Ausdruck »im Wettstreit zum Ruhme nicht nur des Sports mit seinen ritter-
lichen Gesetzen und Regeln, sondern vor allem einer Gemeinschaft, die für
die Besten, für die Auslese, sogar das Höchste, das Vaterland sich nennt«.
Drittens müsse der Sport stets die »bestimmende und tragende Rolle« in ei-
ner Geschichte spielen und niemals nur im Hintergrund stehen, wie in vielen
vermeintlichen Sportbüchern. Weiterhin – und damit kam Weber zu seiner
vierten und fünften Forderung – sollte das Jungensportbuch sowohl »jugend-
echt« als auch »sportwahr« sein. Im Hinblick auf Die große Mannschaft ur-
teilte Weber, der Roman sei zwar das bisher beste Beispiel dafür, was man als
»jugendecht« bezeichnen könne, d. h. »Handeln, Denken und Sprechen der
Jungen« wirkten »natürlich und arteigen«, doch strotze das Buch vor »Sport-
unmöglichkeiten«. Jeder Sportler, der unter höchsten Anstrengungen Re-
korde erzielt habe, müsse sich in seiner Ehre verletzt fühlen, wenn er lese, wie
die Jungen bei Wildberger mühelos Meisterschaften erkämpften. Dem ent-
gegnete Wildberger, als Sportschriftsteller müsse er im Gegensatz zum bloßen
Berichterstatter gerade das »unerreichbare Ideal« zeichnen, denn die Haupt-
forderung an den Sportroman sei die nach dem »heldischen Geist«. »Sport
züchtet das Heldische«, und »Fanatismus will ich züchten« lautete seine
Devise.

Mädchenliteratur

Die traditionelle Mädchenliteratur beherrschte den Markt wie vor 1933 und
nach 1945. In dieser Literatur agieren die Protagonistinnen im Kreise der
Familie oder Gleichaltriger innerhalb und auch außerhalb der Schule, in der
Regel handelt es sich um Familien-, Schul- und Freundschaftsgeschichten.
Mit Beginn der ›Reifezeit‹ begegnet den Mädchen oft die große Liebe, so dass
Traditionelle im Mittelpunkt der Handlung eine Liebesgeschichte steht, die wie in der Ver-
Mädchenliteratur gangenheit entsexualisiert ist und ein Happy End hat. Im Grunde seines
Herzens ist jedes Mädchen gut, kleine Fehltritte werden ihm zugestanden,
außerdem ist es freundlich und sozial engagiert, sein ganzes Streben läuft
darauf hinaus, einst eine gute, d. h. aufopferungsbereite Hausfrau, Mutter
und Ehefrau zu sein. Dieses traditionelle Mädchenbild findet sich in der so-
wohl während der NS-Zeit sehr beliebten als auch heute noch gern gelesenen
Backfischliteratur. Dazu gehören z. B. die Nesthäkchen-Bände von Else Ury
(die von den Nazis im KZ ermordet wurde) oder die Goldköpfchen-Serie von
Magda Trott, deren Pucki-Bände zu einem großen Teil erst nach 1933 er-
schienen und von den Literaturinstanzen abgelehnt wurden. Aber auch
Schifferkinder (1937) von Käthe Miethe, Evchen Springenschmitt und ihre
Geschwister (1938) sowie Hanne wird fünfzehn (1934) von Gertrud Bohn-
hof und Junge Mutter Randi (1939) von Lise Gast sind Beispiele der in der
NS-Zeit nach traditionellem Muster geschriebenen Bücher, die in der Bun-
Mädchenliteratur 289

desrepublik wieder aufgelegt wurden. Traditionell ist die Mädchenliteratur


ebenfalls dort, wo es um das Thema ›Beruf‹ geht: Junge Frauen arbeiten
überwiegend in sozialen und hauswirtschaftlichen Berufen, in der Textil-
branche, gelegentlich auch im künstlerischen Bereich. Als neuer beruflicher ›Blut und Boden‹
Zweig wird im NS-Staat die Landwirtschaft angepriesen. Vorzugsweise han-
deln solche Bücher von aus der Stadt kommenden Mädchen, die eine Ausbil-
dung zur Landwirtschaftsgehilfin absolvieren und sich letztlich dafür ent-
scheiden, der Stadt für immer den Rücken zu kehren, beispielhaft vorgeführt
in Heim zum Land (1940) von Gertrud Kunzemann. Während die aus der
Großstadt kommende Protagonistin Waltraut im ersten Band (Reife, 1939)
nach ihrem Aufenthalt auf dem Land wieder in die Stadt zurückgekehrt ist,
hält sie in Heim zum Land das Leben in der Stadt nicht mehr aus und ent-
schließt sich, zukünftig als Führerin einer Landdienstgruppe zu arbeiten,
wobei sie nicht nur von der Sehnsucht nach dem Land getrieben wird, son-
dern sich ebenso zum Bauern Jahn hingezogen fühlt.
Genaue Erkenntnisse über die im ›Dritten Reich‹ gelesene Mädchenlitera-
tur liegen nicht vor – was auf andere Genres ebenso zutrifft –, aber den we-
nigen in der Jugendschriften-Warte und anderen Zeitschriften veröffentlich-
ten Untersuchungen ist zu entnehmen, dass durchweg die Schülerinnen aller
Schulformen die spezifische Mädchenliteratur am liebsten lasen. Diese Tatsa-
che versuchten die von Männern dominierten Literaturinstanzen lange Zeit
zu ignorieren. In der Broschüre Die Schülerbücherei (1939) unterstellten sie,
die Mädchen verfielen allenfalls in einer nur kurzen Lebensphase der spezi-
fischen Mädchenliteratur, sie zeigten ebenso Interesse an Jungen- und Tierge-
schichten wie auch an Büchern zum Zeitgeschehen und über das neue ›Reich‹.
Demgegenüber plädierten insbesondere Buchhändlerinnen und Bibliotheka-
rinnen entschieden für eine spezifische Mädchenliteratur bzw. für das ›Jung- Traditionelle Themen
mädchenbuch‹, was sie mit eigenen Kindheitserfahrungen, persönlichen Be-
obachtungen und vereinzelt bis Ende der 30er Jahre explizit mit den ent-
wicklungspsychologischen Forschungsergebnissen der Jüdin Charlotte
Bühler begründeten. Aber auch zahlreiche Mädchenbuchautorinnen, die
1940/41 in der Jugendschriften-Warte zu Wort kamen – u. a. Lydia Knop-
Kath, Hagdis Hollriede, Grete Westecker und Käthe Miethe – sprachen sich
dafür aus, am traditionellen Themenkanon von Familie, Ehe, Glück und
Liebe im Mädchenbuch festzuhalten. Den ›heldisch-kämpferischen‹ Zug der
Frau, wie er in etlichen in der Jugendschriften-Warte und im Verzeichnis
guter Mädchenbücher (1942) angezeigten Büchern gelobt wurde und den vor
allem die RJF als zentrales Moment des Mädchenbuches herausstellte, pro-
pagierten die meisten Mädchenbuchautorinnen nicht.
Auffällig ist die relativ geringe Zahl von begutachteten Mädchenbüchern
in der Jugendschriften-Warte. Insgesamt beläuft sich die Zahl auf etwa 70,
was erstaunlich wenig ist, wenn man bedenkt, dass bis zum Kriegsbeginn
jährlich zwischen 1000 und 1500 Jugendbücher aufgelegt wurden. Die Ver-
mutung liegt nahe, dass die geringe Zahl der als lesenswert eingestuften
Mädchenbücher, insbesondere für Mädchen vom 14. Lebensjahr an, nicht
nur auf eine ablehnende Haltung gegenüber diesem Genre zurückzuführen
ist, sondern auch – vielleicht sogar primär – auf das als äußerst miserabel
beurteilte Buchmarktangebot. Wie schlecht es nach Ansicht der Litera-
turinstanzen um den Mädchenbuchmarkt bestellt war, zeigt ein interner Be-
richt der Fachgruppe Jugendbuchverlag, demzufolge im Jahr 1935 im Bereich
des sogenannten Jungmädchenbuches nicht eine einzige wegweisende Veröf-
fentlichung erschienen war. Zusammenfassend lässt sich über die im ›Dritten
Reich‹ favorisierten Mädchenbücher auf der Grundlage der in der Jugend-
290 Faschismus

schriften-Warte positiv begutachteten Titel sagen: Bücher für die 10- bis
14-Jährigen thematisieren mehrheitlich alltägliche Lebens- und Erfahrungs-
zusammenhänge gleichaltriger Protagonistinnen, mit denen sich die Lese-
Das einsatz- und rinnen identifizieren konnten. Sie erfahren Familie als einen zentralen Hort
opferbereite Mädchen der Gemeinschaft, der ihnen Geborgenheit schenkt, aber auch schon früh
›Opfer‹, ›Einsatzbereitschaft‹ und ›Verzicht‹ abverlangt. Als Vorbereitung zur
Eingliederung in die ›Volksgemeinschaft‹ wird die Einordnung in die Ge-
meinschaft von Freunden und Freundinnen vorgeführt. ›Kameradschaft‹
wird in diesem Kontext als oberste Maxime herausgestellt, d. h. man steht
füreinander ein und zeigt sich auch außerhalb der familiären Zusammen-
hänge ›einsatz‹- und ›opferbereit‹. Im Sinne der ›Blut-und Boden‹-Ideologie
leben die meisten Protagonistinnen im ländlichen Raum oder in einer Klein-
stadt; es herrscht Verbundenheit mit der Natur, die Liebe zu Pflanzen und
Tieren. Zu diesen Büchern gehören z. B. Die Doktorsfamilie im hohen Nor-
den (1906) von Aagot Gjems-Selmer und Grita wächst heran (1939) von
Grete Westecker. Die genannten Verhaltensmuster durchziehen sowohl die
vor als auch während des Krieges empfohlenen Bücher, nur gewinnen sie ab
1940 angesichts der politischen und ökonomischen Verhältnisse ein Viel-
faches an Bedeutung. Um den Zusammenhalt und das Überleben der Fami-
lien zu garantieren, werden von den Mädchen jetzt Selbstüberwindung und
Verzicht zugunsten der Familie noch extremer gefordert als zuvor, und ›Tap-
ferkeit‹ tritt als weitere Verhaltenskategorie hinzu. In nahezu allen Büchern
aber steht die Mutterschaftsideologie an erster Stelle.
Die junge Frau: Die für die 14- bis 18-Jährigen empfohlenen Bücher propagierten nicht
opferbereit und mehr nur ein bestimmtes Mädchenbild, sondern verwiesen überwiegend auf
heldisch-kämpferisch die zukünftige Rolle als Frau. Dieses Frauenbild impliziert wie das Mädchen-
bild ›Einsatz‹- und ›Opferbereitschaft‹, aber auch ›Heldentum‹ und ›Kampfes-
mut‹. Im Unterschied zum Mädchenbild weist das Frauenbild also typisch
männliche Züge auf, es ist um eine ›heldisch-kämpferische‹, die ›Volksge-
meinschaft‹ unmittelbar einbeziehende Komponente erweitert und findet
sich in den ab 1936 empfohlenen Büchern für Mädchen vom 14. Lebensjahr
an. Dominant ist der ›heldisch-kämpferische Wesenszug‹ der Frau gegenüber
dem ›mütterlichen‹ dennoch erst in der ab 1939 empfohlenen Mädchenlite-
ratur, die den ›Kriegseinsatz‹ von jungen Frauen an der Front und in der
Heimat thematisierte, damit einen aktuellen politischen Bezug aufwies und
sich für die weibliche ›Wehrerziehung‹ instrumentalisieren ließ. Diese Litera-
tur führt den ›Dienst für Volk und Vaterland‹ in einer wesentlich direkteren
Form vor als jene, in der die Frau als Garantin für die ›Reinerhaltung der
Rasse‹ sowie als liebevolle Mutter und treue Lebenskameradin ihre viel be-
schworene Pflicht erfüllt. Die von den neuen ›Lebensformen‹ erzählende
Mädchenliteratur, die während des Zweiten Weltkrieges bevorzugt den
Reichsarbeitsdienst und das ›Pflichtjahr‹ thematisiert, ist in besonderem
Maße NS-affin. Tüchtige, zupackende ›Mädel‹ verrichten ihre Arbeit und
opfern sich gelegentlich bis an den Rand der Erschöpfung auf, wie beispiels-
weise in Dies Mädel ist Hanne – später bist Du es (1937) von Maria Kra-
marz. Ohne jegliche Glorifizierung wird hier die Arbeit dargestellt, deren
Härte Hanne aber erträgt, weil sie um die Bedeutung ihres Einsatzes für die
Gemeinschaft weiß. Nicht zuletzt die realistische Beschreibung des strapazi-
ösen Arbeitseinsatzes wird dazu beigetragen haben, dass das Buch von Kra-
Illustration aus Dies marz in der offiziellen Kritik auf sehr viel Zustimmung stieß. Man kann den
Mädel ist Hanne – später in vielen Texten der ausgeprägt NS-affinen Mädchenliteratur propagierten
bist Du es von Maria Einsatz für die Gemeinschaft als Element der Modernität werten. Dennoch
Kramarz sind die Protagonistinnen hier in doppelter Hinsicht unterdrückt, durch
Bilderbücher 291

männlichen Arbeitsdienst und weibliche Opferbereitschaft – Verhaltenswei-


sen, die das Regime den Frauen vor allem mit Beginn des Krieges abverlangte,
als die reine Mutterschaftsideologie längst nicht mehr funktional war.

Bilderbücher

Besondere Anstrengungen unternahmen die Literaturinstanzen, um mit der


Produktion und Verbreitung von Bilderbüchern Einfluss auf die Jüngsten zu
nehmen. Es wurden Grundsätze über die sogenannte kunst- und volkserzie-
herische Bedeutung des Bilderbuches veröffentlicht und in Lichtbildvorträgen
und Empfehlungslisten verbreitet; außerdem organisierte man Schulungen,
Tagungen und Ausstellungen. Zu den obersten Zielen zählten wie für den ›Völkische‹ und
übrigen Bereich der Kinder- und Jugendliteratur die ›völkische‹ und politische politische Erziehung
Erziehung, denn schon im Kleinkind sollten rassisches Denken, Volksverbun-
denheit, Führerkult, Begeisterung für Militär und Technik, aber auch Natur-
und Heimatliebe geweckt werden. Diesen Zielvorstellungen entsprach das
Angebot nicht annähernd, auch nicht die im Stürmer-Verlag erschienenen
Bilderbücher Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem
Eid (1936) von Elvira Bauer und Der Giftpilz (1938) von Ernst Hiemer, die
in einer kaum zu beschreibenden brutalen Weise in Bild und Text Deutsche
jüdischen Glaubens als Verbrecher, Diebe und Lügner darstellen. Diese bei-
den Bilderbücher wurden seitens der offiziellen Kritik nicht erwähnt, ge-
schweige denn zur Lektüre empfohlen. Beide an Rassismus und Antisemitis-
mus kaum zu überbietenden Bücher wurden offenbar abgelehnt – vermutlich
aufgrund ihrer platten Darstellungsweise –, so dass man sie nicht als Proto-
typen der NS-Bilderbuchproduktion bezeichnen kann, wie es immer wieder
in der Forschungsliteratur geschieht.
Dass speziell bei der Bilderbuchproduktion neben den ›volkserziehe-
rischen‹ auch ›kunsterzieherische‹ Kriterien eine maßgebliche Rolle spielen
sollten, zeigt Rothemunds Vortrag Das Jugendbuch in der deutschen Schule
(1939), in dem er sich auf Arbeiten des NSLB-Mitarbeiters Rudolf Kreßner
bezog. Rothemund lehnte u. a. »alle leere Dekoration, Manier, alle Gespreizt-
heit, alle Formel, alle Mache, alles Schema im Bilderbuch« ab und betonte,
man wünsche »eine herzliche und kräftige Bildsprache im Sinne unserer
großen Bilderbuchmeister Heinrich Hoffmann, Otto Speckter, Ludwig Rich-
ter«. Solche Bilderbücher waren aber rar. Was den Buchmarkt bis in die
Kriegsjahre hinein wie vor 1933 beherrschte und was man zu einem großen
Teil nur mit Einschränkungen empfahl, waren idyllische Kindheitsdarstel-
lungen und Geschichten von anthropomorphisierten Tieren oder beseelten
Pflanzen, wie man sie von Ida K. Bohatta-Morpurgo, Fritz Baumgarten oder
Else Wenz-Viëtor kannte.
Trotz der aus Sicht der NS-Literaturkritik negativen Lage auf dem Bilder-
buchmarkt erschien 1940 unter dem Titel Das deutsche Bilderbuch eine Liste
mit 211 Titeln. Die Mehrzahl von ihnen war älteren Datums; knapp 100
waren bereits vor 1933 erschienen, woran einmal mehr abzulesen ist, wie
schwierig es war, die neuen programmatischen Forderungen in die Praxis
umzusetzen. Zieht man zur Beurteilung der Bilderbuchliste die Kritiken in
der Jugendschriften-Warte mit heran, so fällt auf, dass selbst die wenigen
Bilderbücher, die als besonders empfehlenswert in der Liste angepriesen wur-
292 Faschismus

Umschlagbild zu
Das Zwergenbuch
von Rudolf Kreßner und
Friedrich Bochmann

den, nicht uneingeschränkte Zustimmung fanden. Lediglich Das Zwergen-


buch (1938) von Rudolf Kreßner und Friedrich Bochmann wurde als ein
»wirkliches Kunstwerk«, als »deutsche Kunst« und »deutsches Werk« ohne
jegliche Einschränkung gefeiert, weil es die geforderte »Einheit von Gestalt
und Form, von Gesinnung und Können« biete. Das Buch reihte sich beispiel-
haft in die Tradition der bevorzugten ›großen deutschen volkstümlichen
Graphik‹ aus dem 19. Jh. à la Otto Speckter und Ludwig Richter ein, und
mit seiner Geschichte von den Zwergen und deren Freundschaft zur Großfa-
milie eines Bauernhofes, mit der Schilderung von Menschen, die in Wald und
Wiesen Ruhe von der Hast der täglichen Arbeit finden, erfüllte es die ›volks-
erzieherischen‹ Forderungen: Es erzog zur ›Achtung und Ehrfurcht vor der
Natur wie auch zur Achtung vor der Arbeit‹, es stellte das Kind als ›Gemein-
schaftswesen‹ dar und mit seiner ›kindertümlichen‹ Sprache waren entwick-
lungspsychologische Momente bei der Textgestaltung berücksichtigt worden.
Deutlich werden in diesem Buch gleichermaßen Bezüge zur ›Blut- und Bo-
den‹-Ideologie wie auch zum Ideologem des ›Adels der Arbeit‹ hergestellt.
Alle anderen Bilderbücher waren, gemessen an den Kritiken, nicht frei von
Mängeln, vor allem in künstlerischer Hinsicht. So fand sich nach Meinung
der Rezensenten die immer wieder angeprangerte ›leere Dekoration, Manier‹
zumindest teilweise in den Bilderbüchern Vier Märlein (1937) von Friedrich
Rückert/Elsa Wenz-Viëtor, Die Jahreszeiten (1936) von Bettina Kiepenheuer/
Marianne Scheel und auch in Der Zuckertütenbaum (1928) von Albert Six-
tus/Richard Heinrich. Sprachliche Mängel bescheinigte man den Bilderbü-
chern Der gestiefelte Kater (1937) von Otto Speckter/Gebrüder Grimm, Der
Kinder Lieblinge (1926) von Fritz Baumgarten/Hulda Mical, Den Berg hin-
auf (1938) von Eduard Bäumer/Ernst Reuter und Die guten Räuber (1939)
von Otto Nebelthau/Elsa Wenz-Viëtor, weil die Texte nicht kindgerecht ab-
gefasst seien oder die Reime eher holprig wirkten. Einen schlechten Druck –
auch darauf wurde bei der Bewertung geachtet – kritisierte man an dem an-
Kinder- und Jugendliteratur im Urteil der NS-Literaturinstanzen 293

sonsten sehr gelobten Buch Das Rehlein (1939) von Rudolf Kreßner/Fried-
rich Bochmann. Dass diese und andere Bilderbücher trotz der genannten
Mängel in die Empfehlungsliste Das deutsche Bilderbuch aufgenommen
wurden, liegt daran, dass sich alle Texte für die NS-Ideologeme vereinnah-
men ließen. Unter diesen Bedingungen war man bereit, Defizite im Bereich
der künstlerischen Gestaltung zu akzeptieren. Die empfohlenen Bilderbücher
entsprachen den Forderungen Rothemunds, in »das ganze Leben des Kindes,
des Volkes, der Natur« einzuführen, sie stellten die Tierwelt ›artgerecht‹ und
nicht vermenschlicht dar, oder aber sie machten schon Kinder mit dem
›wehrhaften deutschen Mann‹ vertraut, wie das Bilderbuch vom deutschen
Heer (1935) von Albert Benary/Helmut Skarbina und das Liederbuch Wer
will unter die Soldaten (1934) von Fritz Kredel. Beide Bücher richteten sich
an ältere Kinder und Jugendliche, die in der NS-Zeit über das klassische Bil-
derbuchalter hinaus auch mit diesem Genre weiterhin literarisch erzogen
werden sollten, weil man darin die einzige Möglichkeit sah, Kunst unter das
Volk zu bringen.

Kinder- und Jugendliteratur im Urteil


der NS-Literaturinstanzen

Der gesamte Kinder- und Jugendliteraturmarkt wurde von den Litera-


turinstanzen eher negativ beurteilt. Vor allem bis Ende der 30er Jahre wird
immer wieder heftige Kritik geübt. So urteilte z. B. Helke, unter den etwa
1100 neu produzierten Titeln des Jahres 1936 könne man allenfalls »zehn
wirklich wertvolle« Bücher finden. Dass es nicht gelang, in größerem Um-
fang die Produktion ›guter‹, neuer Kinder- und Jugendliteratur anzuregen,
zeigt auch die Tatsache, dass sowohl die heftig bekämpfte und sich im Laufe
der Jahre auf beinahe alle Genres erstreckende ›Konjunkturliteratur‹ als auch
die als ›Schmutz und Schund‹ abqualifizierte Serienliteratur über Detektive,
Abenteurer, verliebte Mädchen etc. bis zum Ende des ›Dritten Reiches‹ ver-
legt wurden. Wie schlecht es um die Produktion ›guter‹ Kinder- und Jugend-
bücher noch Ende der 30er Jahre bestellt war, belegt auch beispielhaft der im
Jahr 1938 in der Jugendschriften-Warte veröffentlichte Aufsatz Wer kann
uns zum guten Jugendbuch verhelfen? von Horst Axtmann. Ein weiteres In-
diz ist sicherlich die »Erste Großdeutsche Arbeitswoche für das Jugendbuch«,
die vom 30. Mai bis zum 5. Juni 1939 in Bayreuth stattfand, an der sich alle
für Fragen der Kinder- und Jugendliteratur zuständigen Instanzen mit ca.
120 Teilnehmern beteiligten. Diskutiert wurden hier die Grundlagen und
Aufgaben des deutschen Jugendbuches, um weitere Fehlentwicklungen zu
vermeiden. Die Diskussionsgrundlage bildeten Referate, die infolge des
Krieges nur zum Teil und auch erst drei Jahre später in der Broschüre Das
deutsche Jugendbuch (1942) veröffentlicht wurden. Eins der zentralen Pro-
bleme der NS-Literaturpolitik, das Fehlen detaillierter Bewertungsmaßstäbe
für einzelne Genres und Sachbereiche, konnte auch auf der Bayreuther Ta-
gung nicht gelöst werden.
Die aus nationalsozialistischer Sicht als gescheitert zu beurteilende Litera- Gescheiterte
turpolitik ist aber vor allem darauf zurückzuführen, dass der Buchmarkt in Literaturpolitik
der NS-Zeit privatwirtschaftlich organisiert blieb und deshalb trotz aller
Lenkungsmaßnahmen eine große Zahl negativ bewerteter Kinder- und Ju-
294 Faschismus

gendbücher angeboten werden konnte. Da es außerdem keine einheitliche


Bewertungspraxis gab, waren widersprüchliche Beurteilungen ein- und des-
selben Titels nicht selten. So nahm – um nur ein Beispiel zu nennen – der
NSLB Hertha von Gebhards Buch Brigittes Kameraden (1938) in sein Ver-
zeichnis guter Mädchenbücher (1942) auf, während die RJF denselben Titel
in ihrem Rezensionsorgan Buchanzeiger (1939) ablehnte. Nicht übersehen
werden darf jedoch angesichts dieser Ergebnisse, dass der Literaturbetrieb
mit einer Fülle von NS-affinen Einrichtungen, Medien, Initiativen etc. okku-
piert wurde, die die Produktion, Förderung und natürlich auch Rezeption
von qualitativ hochwertiger Kinder- und Jugendliteratur sehr einschränkten
und dass man die ›unerwünschte‹ linke Kinder- und Jugendliteratur wie auch
ihre Autoren unmittelbar nach der Machtübernahme vom Markt verbannte
bzw. vom Literaturbetrieb ausschloss.
In die Darstellung der Kinder- und Jugendliteratur unter dem deutschen
Faschismus wurden neben den Büchern selbst auch öffentliche und interne
Verlautbarungen der Literaturinstanzen einbezogen, Schriftsteller und Kriti-
ker kamen zu Wort. Was fehlt, ist die Beantwortung der Frage, ob und wie
die eigentlichen Adressaten, die Kinder und Jugendlichen, die empfohlene
Literatur gelesen haben und in welchem Umfang sie ›unerwünschte‹ Bücher
rezipierten. NS-Ideologie und NS-Affinität lassen sich in vielen Texten nach-
weisen, ob aber die Heranwachsenden sich alle oder größtenteils in der in-
tendierten Form indoktrinieren ließen, ist Spekulation. Nicht zuletzt die Er-
gebnisse der Medienrezeptionsforschung der vergangenen Jahre mahnen zur
Vorsicht. Ungeklärt ist ebenfalls die Frage, in welchem Umfang die Kinder-
und Jugendliteratur Modernisierungstendenzen aufweist. Was die Betrach-
tung der ›genuinen‹ Kinder- und Jugendliteratur betrifft, so hat Nassen dafür
überzeugend den Begriff des ›reaktionären Modernismus‹ verwendet, dessen
Extreme »atavistischer Germanen- und progressistischer Technikkult« seien.
Neuere Studien zur Literatur im ›Dritten Reich‹ bestätigen die Gleichzeitig-
keit und Verquickung gegenläufiger Tendenzen.
295

Exil

Petra Josting

Exilschriftsteller und Schriftsteller


der »Inneren Emigration«

In der Mehrzahl verließen die zur Kinder- und Jugendliteratur des Exils zäh-
lenden Autoren Deutschland bereits im Jahr 1933 und Österreich unmittel-
bar nach der Annexion 1938. Sie wurden entweder aufgrund ihrer Mitglied-
schaft in SPD, KPD oder beiden Parteien nahe stehenden Organisationen
oder aber wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt. Viele kehrten nach dem
Ende der NS-Herrschaft nicht in ihre Heimat zurück. Neben Österreich (bis Fluchtländer
1938) waren zunächst die Schweiz, die Tschechoslowakei und Frankreich die
bevorzugten Fluchtländer. Nachdem die deutschen Truppen 1938 die Tsche-
choslowakei und ab 1940 Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und
Nordfrankreich besetzt hatten, wanderten viele in die USA aus, andere lebten
bereits in England, Schweden, Spanien, Argentinien, Mexiko, der UdSSR
oder auch in China. Exilautoren waren demnach über die ganze Welt ver-
streut, so dass ihre Literatur in vielen Ländern publiziert wurde.
Wer aber gehört überhaupt zur Gruppe der Exilschriftsteller im Bereich Wer ist Exilautor/in?
der Kinder- und Jugendliteratur? Zieht man formale Kriterien heran, kann
man sieben, zum Teil sich überschneidende, Kategorien unterscheiden: Auto-
ren, die
1. im Exil Kinder- und Jugendbücher schrieben und diese Literatur dort auch
veröffentlichten,
2. mangels Publikationsmöglichkeiten im Exil nur Manuskripte verfassten,
die erst nach dem Krieg oder auch gar nicht veröffentlicht wurden,
3. nach 1933 noch in ihrer Heimat Manuskripte verfassten, sie dort aber
nicht mehr veröffentlichen konnten, sondern erst im Exil,
4. ins Exil gingen und deren in Deutschland bis 1933 aufgelegte Bücher im
Exil publiziert wurden,
5. ins Exil gingen und fortan keine Kinder- und Jugendbücher mehr schrie-
ben,
6. als Kinder ins Exil gingen, dort blieben und ihre Exilerfahrungen in der
Kindheit später für Kinder und Jugendliche literarisch verarbeiteten,
7. als Erwachsene ins Exil gingen, dort blieben und erst im Exil mit dem
Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern begannen.
Nur wenige Erkenntnisse liegen bisher über die fünfte Kategorie vor. Zu
nennen ist u. a. der Schriftsteller und Theaterdirektor Rudolf Frank, der 1931
gemeinsam mit Georg Lichey den Antikriegsroman Der Schädel des Neger-
häuptlings Makaua veröffentlichte. Erst 1979 wurde das Buch unter dem
Titel Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß. Ein Roman gegen den Krieg
neu aufgelegt und mit mehreren Jugendliteraturpreisen ausgezeichnet. Zu
dieser Kategorie gehören ebenfalls Anna Siemsen und Jo Mihaly. Siemsen,
die in den 1920er Jahren gleichermaßen als Politikerin, Frauenrechtlerin,
Pädagogin und Autorin bekannt war, floh im März 1933 in die Schweiz,
296 Exil

nachdem man ihr die Lehrberechtigung in Jena entzogen hatte. Ihre proleta-
risch-pazifistischen Jugendbücher, die sie in der Zeit der Weimarer Republik
publiziert hatte, wurden weder im Exil noch nach 1945 neu aufgelegt. Die
Tänzerin und Schriftstellerin Mihaly emigrierte 1933 nach Zürich und betei-
ligte sich dort am antifaschistischen Widerstand. Ihr Kinderbuch Michael
Arpad und sein Kind (1930) wurde nach 1945 mehrfach wieder aufgelegt.
Grundlegende Forschungen, die sich auf die sechste Kategorie beziehen, feh-
len ebenfalls; zu ihr gehören beispielsweise Judith Kerr und Inge Deutsch-
kron. Zur siebten Kategorie zählt der Drehbuchautor Frederick Kohner, der
1936 nach Hollywood ging. Wie viele andere Exilanten wurde Kohner ame-
rikanischer Staatsbürger und blieb in den USA, wo er in den 1950/60er Jah-
ren mit seinen Gidget-Büchern, die später verfilmt und u. a. ins Deutsche
übersetzt wurden, großen Erfolg hatte.
In der folgenden Liste sind die Autoren und Autorinnen genannt, die aus
rassistischen Gründen und/oder politischen Gründen verfolgt wurden (und
also unter die ersten vier Kategorien fallen):

Namensliste Exilautor/ Béla Balázs, Grete Berges, scha Kaléko, Kuba (d.i. Rosenfeld, Felix Salten,
innen Bertolt Brecht, Willi Bre- Kurt Barthel), Egon Lar- Helene Scheu-Riesz, Kurt
del, Elisabeth Castonier, sen, Berta Lask, Auguste Schmeltzer, Bruno Schön-
Max Colpet, Bettina Ehr- Lazar, Joe Lederer, Jella lank, Walter Schönstedt,
lich, Irmgard von Faber Lepman, Lilo Linke, Julius Oskar Seidlin, Anna Se-
du Faur, Rudolf Frank, Ernst Lips, Mira Lobe, ghers, Hans Siemsen, Wil-
Friedrich R. Franke, Ma- Kurt Loewenstein, Erika helm Speyer, Margarete
ria Gleit, Robert Gottlieb Mann, Paul Mathias, Ma- Steffin, Lisa Tetzner, Adri-
Groetzsch, Kurt Held (d.i. rie Neurath, Maria Osten, enne Thomas, Walter Trier,
Kurt Kläber), Elsa-Margot Karl Otten, Kurt Pahlen, Alex Wedding, Friedrich
Hinzelmann, Hans Jahn, Hertha Pauli, Richard Wolf, Max Zimmering,
Anna Maria Jokl, Hilde- Plant, Walther Pollatschek, Otto Zoff, Hermynia Zur
gard Johanna Kaeser, Ma- Ruth Rewald, Friedrich Mühlen

Nicht aufgenommen in diese Liste wurden Schriftsteller und Schriftstelle-


rinnen, die während der NS-Zeit in Deutschland blieben, deren Bücher aber
im Exil erschienen. Dazu gehören z. B. Anni Geiger-Gog und Erich Kästner.
Geiger-Gog, die aufgrund ihrer KPD-Mitgliedschaft nach dem Reichstags-
brand verhaftet wurde, arbeitete nach ihrer Freilassung ab 1936 als Lektorin
im Franckh-Verlag und veröffentlichte dort unter dem Pseudonym Hanne
Menken zahlreiche Kinderbücher, die in verschiedene Empfehlungslisten der
»Innere Emigration« NS-Literaturinstanzen aufgenommen wurden. Ihr 1929 in Deutschland pub-
liziertes Kinderbuch Heini Jermann erschien 1936 in einer gekürzten Aus-
gabe in Holland. Kästner veröffentlichte Emil und die drei Zwillinge (1935)
wie überhaupt alle seine vor und nach 1933 verfassten Bücher während der
faschistischen Herrschaft in diversen europäischen Ländern und in den USA.
In Deutschland schrieb er u. a. unter den Pseudonymen Eberhard Foerster
und Berthold Bürger Theaterstücke und Drehbücher, die aufgeführt oder
verfilmt wurden. Kästner wird oft als ein Autor der ›inneren Emigration‹
bezeichnet, wobei nicht einfach zu bestimmen und in der Literaturwissen-
schaft auch umstritten ist, welche Autoren und Werke zur Literatur der ›in-
neren Emigration‹ zählen. Versteht man darunter aber Werke jener Autoren,
die im NS-Deutschland lebten, hier unter ihrem Namen publizierten, jedoch
nicht als Faschisten einzustufen sind und zudem in ihren Büchern eine ge-
wisse Distanz zum NS-Regime erkennen lassen, kann weder die Zuordnung
Kästners noch die Geiger-Gogs aufrecht erhalten werden, weil beide nicht
unter ihrem Namen in Deutschland publizierten. Ebenso wenig gehört Ruth
Kennzeichen der Kinder- und Jugendliteratur des Exils 297

Hoffmann dazu. Ihr Roman Pauline aus Kreuzburg (1935) wurde 1937 ver-
boten, Veröffentlichungen von ihr erschienen erst wieder nach 1945.
Eine Sonderstellung nehmen Tami Oelfken, Georg W. Pijet und Irmgard
Keun ein, die sich nur vorübergehend im Exil befanden. Oelfken lebte von
1934 bis 1939 im Exil, wo sie weder Kinder- und Jugendliteratur schrieb
noch publizierte. In Deutschland konnte 1933 noch ihr fantastisches Kinder-
buch Peter kann zaubern erscheinen; das Märchenspiel Matten fängt den
Fisch wurde nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1940 in Berlin als Büh-
nenmanuskript veröffentlicht. Ihr Roman Tine (1940) wurde unmittelbar
nach Erscheinen verboten und die Autorin aus der Reichsschrifttumskammer
ausgeschlossen. Der proletarische Schriftsteller Pijet floh nach der NS-
Machtübernahme nach Dänemark, kehrte aber einige Zeit später nach
Deutschland zurück. Er wurde sofort verhaftet, kam jedoch mangels konkre-
ter Anschuldigungen wieder frei. Seine proletarischen Jugendbücher Die
Straße der Hosenmätze (1929) und Wiener Barrikaden (1930) aus der Wei-
marer Republik durften während der NS-Zeit nicht wieder aufgelegt werden;
seine Hundegeschichte Struppi (1937) erschien dagegen in mehreren Aufla-
gen. Irmgard Keun, die in der Weimarer Republik mit ihrem ersten Roman
Gilgi, eine von uns (1931) berühmt geworden war, lebte nach der endgülti-
gen Ablehnung ihres Aufnahmeantrags in die Reichsschrifttumskammer von
1936–1940 in Belgien und Holland. Im holländischen Exil erschien u. a. ihr
Jugendroman Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften
(1936) in deutscher und holländischer Sprache. Geschützt durch Falschmel-
dungen über ihren angeblichen Suizid, kehrte sie 1940 nach Deutschland
zurück und lebte hier bis zum Ende des Krieges in der Illegalität.

Kennzeichen der Kinder- und Jugendliteratur


des Exils

Die Mehrheit der Exilautoren und Exilautorinnen hielt an der deutschen Das Spektrum
Sprache fest. Überwiegend wurden Erzählungen, Romane und Märchen ge- der Gattungen
schrieben; daneben gibt es Bilder- und Sachbücher und, ähnlich wie in der
Exilliteratur für Erwachsene, einige wenige dramatische und lyrische Texte.
So verfasste z. B. Bertolt Brecht den Zyklus Kinderlieder, die in den Svend-
borger Gedichten (1939) enthalten sind, und auch an dem unvollendeten
Stück Leben des Konfutse arbeitete er bereits im Exil. Theaterstücke schrie-
ben ebenfalls Anna Maria Jokl, Lilo Linke und Margarete Steffin, Brechts
langjährige Mitarbeiterin. Ihr Stück Die Geisteranna (1934/35) erschien
erstmalig 1994 im Brecht-Jahrbuch. Das um dieselbe Zeit entstandene Stück
Wenn er einen Engel hätte druckten teilweise die Moskauer Exilzeitschriften
Das Wort (1936) und Internationale Literatur (1937) ab, doch wurde der
gesamte Text erst in der Nachlass-Sammlung Steffins, Konfutse versteht
nichts von Frauen (1991), publiziert. Gedichte veröffentlichten auch Mascha
Kaléko und Bruno Schönlank. Kaléko, die in Deutschland seit Beginn der
1930er Jahre als Lyrikerin bekannt war und 1938 in die USA floh, schrieb im
Exil für ihren Sohn das Versbuch Der Papagei, die Mamagei und andere ko-
mische Tiere, das 1961 in der BRD erschien. Während sie in der Kinderlyrik
soziale und persönliche Probleme ausblendet, schildert sie in ihren Versen für
Zeitgenossen (1945) die schwierige Situation der Exilanten in den USA.
298 Exil

Modernes Kinderbild Außer in den Tiergeschichten stehen meistens Kinder im Mittelpunkt, die
selbständig, zielgerichtet und ausdauernd die unterschiedlichsten Aufgaben
bewältigen, die ihnen der Alltag stellt. Dieses moderne Kinderbild ist für viele
Bücher der Exil-Kinder- und Jugendliteratur symptomatisch. Damit werden
einerseits Verbindungslinien zur progressiven Kinderliteratur der Weimarer
Republik sichtbar, die Kinder als Menschen ernst nimmt und ihnen zutraut,
ihre Probleme und Aufgaben selbst in die Hand zu nehmen. Andererseits
entspricht dieses Kinderbild aber auch der realen Situation der Exilkinder,
denn Flucht und Exil bedeuteten häufig, sich ohne den gewohnten Schutz der
Familie in einer fremden Umgebung zurechtfinden zu müssen. Die Frage, ob
dieses Kinderbild als Fortsetzung einer innovativen Strömung zu interpretie-
ren ist oder eher als bewusste Reaktion auf die Exilsituation von Kindern,
muss unbeantwortet bleiben. Auffällig ist indessen, dass selbständig agie-
rende Kinder in vielen Genres zu finden sind, so in der Mädchenliteratur
(Berges: Liselott diktiert den Frieden, 1932), in historischen Erzählungen
(von Faber du Faur: Die Pilgerkinder, 1940), in Detektivgeschichten (Plant:
Die Kiste mit dem großen S, 1936), in der fantastischen Literatur (Rosenfeld:
Der Flug ins Karfunkelland, 1938), in märchenhaften Erzählungen (Tetzner:
Hans Urian, 1931) oder in Sachbüchern (Jokl: Die wirklichen Wunder des
Basilius Knox, 1935).
Themenvielfalt Die Kinder- und Jugendliteratur des Exils zeigt hinsichtlich der Themen
eine große Vielfalt; zudem sind Stilhaltung, Schreibweise und die Art der Be-
arbeitung der Themen sehr heterogen. Man trifft auf Themen wie Flucht,
Exil, Krieg, Heimatlosigkeit, Antifaschismus, Pazifismus oder Antisemitismus
– also auf Themen, die zweifellos nach 1933 höchst aktuell waren. Aber
ebenso finden sich Bücher, die eher zeitunabhängige Themen aufgreifen, wie
soziale Unterschiede, Armut, Solidarität, Kriminalität oder Adoleszenz. Ob
jedoch die Unterscheidung in aktuelle und zeitunabhängige Themen für die
Kategorisierung der Texte und ihrer Autoren sinnvoll ist, erscheint fraglich.
Gerade für die im Exil lebenden Kinder und Jugendlichen können scheinbar
zeitlose Themen wie Armut oder Solidarität von existentieller Bedeutung
gewesen sein; Adoleszenzprobleme, wie etwa Identitätsfindung und erste
Liebe, trafen Heranwachsende im Exil möglicherweise härter als Gleichalt-
rige, die in ihrer vertrauten Umgebung und in der Obhut intakter Familien
aufwuchsen. Insofern können solche Themen für die damaligen Leser und
Leserinnen sehr aktuell gewesen sein. Zudem sind die auf den ersten Blick
für die Zeit nach 1933 aktuell erscheinenden Themen keineswegs nur zeitab-
hängig.
Die Kinder- und Jugendliteratur des Exils unterscheidet sich, jedenfalls in
Teilen, von der in nationalsozialistischen Deutschland publizierten durch ih-
ren politisch aufklärerischen Charakter. Während die NS-Literaturpolitik die
Publikation etwa der proletarischen Kinder- und Jugendliteratur verbot,
konnte diese Tradition im Exil fortgesetzt werden, und zwar sowohl mit
Neuauflagen von aus der Weimarer Republik stammenden Märchen und
Politisch Kinderbüchern, als auch mit Neuproduktionen. Aufklärerischen Anspruch
aufklärerischer hat vor allem die antifaschistische Literatur, die sich auf die politischen Ver-
Charakter hältnisse und den Widerstand in Deutschland bezieht (z. B. Béla Balázs:
Karlchen, durchhalten!, 1936, oder Max Zimmering: Die Jagd nach dem
Stiefel, 1936). Solche aufklärerischen Intentionen verfolgte aber ebenso ein
Sachbuch wie Die wirklichen Wunder des Basilius Knox von Anna Maria
Jokl, das nicht nur in physikalische und chemische Gesetzmäßigkeiten ein-
führt, sondern soziale Unterschiede mit der Marxschen Mehrwerttheorie er-
klärt. Dieses Buch verdient an dieser Stelle mehr Aufmerksamkeit, weil seine
Erscheinungsformen von Exilliteratur 299

formale Gestaltung genau den Forderungen entsprach, die von den NS-Lite-
raturpädagogen und auch von den nach 1945 tätigen Kinder- und Jugendli-
teratur-Kritikern an Sachliteratur erhoben wurden. Jokl war es gelungen,
den herkömmlichen trockenen und belehrenden Sachbuchstil zu überwinden,
indem sie Erläuterungen der Lichtgeschwindigkeit, Elektrizität etc. in eine
spannend geschriebene Geschichte über den Wissenschaftler Basilius Knox
einfließen ließ, der von Kindern aus seiner Einsiedelei herausgeführt wird.
Hätte Jokl in ihrem Sachbuch nicht auf Marx zurückgegriffen und wäre sie
zudem aufgrund ihrer jüdischen Religion nicht verfolgt worden, hätten Die
wirklichen Wunder des Basilius Knox in NS-Deutschland als ein innovatives
Sachbuch gefeiert werden können. Nicht geduldet wurde im nationalsozialis-
tischen Deutschland die Literatur, die sich mit dem Themenkomplex Flucht,
Exil und Verfolgung auseinandersetzte, dem sich z. B. Lisa Tetzner in der
Kinderodyssee und Walter Pollatschek in der Erzählung 3 Kinder kommen
um die Welt (1947) annahmen.
Während die Literaturpädagogen und Literaturpolitiker im NS-Staat eine
den Krieg glorifizierende Literatur favorisierten, setzen sich einige Exil-Titel
kritisch mit den Folgen des Krieges auseinander oder stellen seinen Sinn aus-
drücklich in Frage (z. B. Brecht: Der verwundete Sokrates, 1936, oder Karl
Otten: Der ewige Esel, 1946). Prosowjetische Äußerungen, wie man sie etwa
in Tetzners Hans Urian oder Huberts Reise ins Wunderland von Maria Osten
antrifft, wurden innerhalb Deutschlands ebenso wenig geduldet wie kritische
Aussagen zum Antisemitismus, wie man sie z. B. in Richard Plants The Dra-
gon in the Forest (1948) findet. Ebenso wenig erwünscht war Kritik an den
Jugendorganisationen, wie sie Hans Siemsen in der Geschichte des Hitlerjun-
gen Adolf Goers übt.
Es gibt in der Kinder- und Jugendliteratur des Exils eine Vielzahl von Tex-
ten, deren Erscheinen im nationalsozialistischen Deutschland durchaus
denkbar gewesen wäre, wenn ihre Autoren oder Autorinnen nicht aus poli-
tischen oder religiösen Gründen verfolgt worden wären. Dazu gehören bei-
spielsweise die oben genannten Kindergedichte von Mascha Kaléko und etli-
che Abenteuer- und Detektivgeschichten (z. B. Erika Mann: Muck, der Zau-
beronkel, 1934; Richard Plant: Die Kiste mit dem großen S, 1936). Insofern
ist auch der Aussage, die Kinder- und Jugendliteratur des Exils zeige ein »ein-
deutiges oppositionelles Engagement« und habe eine »durchgehende, be-
wusst politisch-didaktische Intention« (Stern), entschieden zu widersprechen.
Vielmehr ist das zentrale Spezifikum der im Hinblick auf Genres, Themen
und Schreibweisen heterogenen Kinder- und Jugendliteratur des Exils darin
zu sehen, dass sie aus unterschiedlichen Gründen nicht im NS-Staat erschei-
nen konnte.

Erscheinungsformen von Exilliteratur

Die folgende Systematisierung, die danach an Beispielen verdeutlicht wird,


macht es möglich zu erkennen, von welchen Autorinnen und Autoren in
welchen Ländern und Sprachen Kinder- und Jugendliteratur erschien und
wie lange im Exil entstandene Manuskripte auf ihre Veröffentlichung warten
mussten; es lassen sich unterscheiden:
1. in fremder Sprache geschriebene und publizierte Exilwerke,
300 Exil

2. Exilmanuskripte, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erschienen


oder unveröffentlicht blieben,
3. Wiederauflagen von Werken, die bis 1933 noch in Deutschland publiziert
wurden,
4. Exilwerke, die im Ausland in deutscher und in fremder Sprache erschie-
nen,
5. Exilwerke, die im Ausland nur in deutscher Sprache erschienen.

In fremder Sprache geschriebene und publizierte Exilwerke


Bislang sind mehr als 30 Titel bekannt, die in der Sprache des Asyllandes
geschrieben und veröffentlicht wurden. Dabei handelt es sich ausschließlich
um englischsprachige Titel, die in England und den USA vor allem in den
Jahren 1944/45 erschienen. In England publizierte z. B. Bettina Ehrlich die
Bilderbücher Poo-Tsee the Water-Tortoise (1943), Show Me Yours (1943),
Cocolo (1945) und Carmello (1945 u. 1946). Egon Larsen schrieb seit den
1940er Jahren zahlreiche populärwissenschaftliche Sachbücher für Jugendli-
che zu naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Themen, die in den
1950er Jahren ins Deutsche übersetzt wurden (z. B. Inventor’s Cavalcade,
1943 u. 1944, dt. Abenteuer der Technik, 1951; Inventor’s Scrapbook, 1947;
Englischsprachige dt. Erfindungen und kein Ende, 1956). Englischsprachige Originalwerke von
Werke Schriftstellern, die in die USA auswanderten, gibt es u. a. von Maria Gleit
(Pierre Keeps Watch, 1944), von Hertha Pauli (Silent Night, 1943), von Otto
Zoff (Riddles Around the World, 1945), von Julius E. Lips (Tents in the Wil-
derness, 1942) und von Richard Plant (The Dragon in the Forest, 1948).
Erika Mann verfasste im amerikanischen Exil ihr Kinderbuch A Gang of Ten
(1942), das 1944 in schwedischer und spanischer Übersetzung erschien, au-
ßerdem im selben Jahr auch in London veröffentlicht wurde, in Deutschland
jedoch erst 1989 unter dem Titel Zehn jagen Mr. X auf den Markt kam. Zu
erwähnen ist weiterhin die Wiener Feministin und Pazifistin Helene Scheu-
Riesz, die 1934 als eine der ersten Autorinnen in die USA kam. Ihr Mädchen-
buch Gretchen Discovers America wurde 1934 in der Tauchnitz-Edition,
Leipzig/Paris, und 1936 in London herausgegeben, in den USA veröffentli-
chte sie Those Funny Grownups (1943). Nur wenige dieser englischspra-
chigen Bücher wurden im Exilland später noch einmal aufgelegt und/oder
nach 1945 in deutscher Sprache veröffentlicht.
Neben den Erstveröffentlichungen in englischer Sprache gibt es Texte, die
Erstauflagen in zwar in deutscher Sprache verfasst, aber zuerst als Übersetzungen veröffent-
Übersetzungen licht wurden. Von Hildegard J. Kaeser, die 1933 über Frankreich und Däne-
mark nach Schweden flüchtete, erschien in schwedischer Sprache das Buch
Femman gör slag i saken (1940), von dem keine deutsche Ausgabe vorliegt.
Mehr Erfolg vergönnt war dagegen Max Zimmering mit seinem noch heute
bekannten Jugendbuch Die Jagd nach dem Stiefel, das in der DDR bis Mitte
der 1980er Jahre wiederholt aufgelegt wurde. Zimmerings Schicksal ist bei-
spielhaft für den Leidensweg vieler Exilautoren. 1933 begab er sich zunächst
nach Frankreich, 1934 nach Palästina, 1935 in die Tschechoslowakei und
1939 nach England. Nach der Ankunft in England wurde er, wie es etlichen
anderen Exilierten in ihren Zufluchtsländern ebenfalls geschah, interniert
und anschließend nach Australien verbracht. Dank der Intervention des In-
ternationalen PEN-Clubs kehrte er 1941 nach England zurück, wo er bis zu
seiner Rückkehr nach Ostdeutschland im Jahr 1946 blieb. Bis sein Manu-
skript Die Jagd nach dem Stiefel, das 1932 in Deutschland entstanden war, in
deutscher Sprache veröffentlicht wurde, vergingen viele Jahre: 1933 wurde
Erscheinungsformen von Exilliteratur 301

es ins Tschechische übersetzt und erschien 1936 unter dem Titel Honba za
batou. Da das Manuskript beim Überfall der deutschen Armee auf die soge-
nannte Resttschechei im März 1939 verlorenging, ließ Zimmering die tsche-
chische Ausgabe nach dem Krieg ins Deutsche zurück übersetzen. Im Vorwort
zur Auflage von 1954 gibt er an, mit der Rückübersetzung sehr unzufrieden
gewesen zu sein, weshalb er die Geschichte noch einmal neu geschrieben
habe. Inzwischen ist bekannt, dass diese Neufassung schon 1946 vorlag, nur
verweigerte ihr der ›Kulturelle Beirat‹ der DDR lange Zeit die Zustimmung,
so dass die deutsche Erstveröffentlichung bis 1953 auf sich warten ließ. Wie
Zimmerings Die Jagd nach dem Stiefel wurde auch Anna Maria Jokls Manu-
skript Die wirklichen Wunder des Basilius Knox in der Tschechoslowakei
übersetzt und dort 1935 publiziert, bevor es 1948 in der DDR in deutscher
Sprache erschien. Es war das erste Kinderbuch der 1911 geborenen Österrei-
cherin Jokl, die als 17-Jährige nach Berlin kam, wo sie nach dem Besuch der Umschlagbild zu Die Jagd
Piscator-Schule beim Rundfunk und für die UFA arbeitete. nach dem Stiefel von Max
Zimmering
Exilmanuskripte, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
erschienen oder unveröffentlicht blieben
Auffallend viele der im Exil entstandenen Manuskripte wurden in der DDR
und teilweise auch schon in der SBZ aufgelegt. Ihre Verfasser galten als Ver-
treter der antifaschistischen und sozialistischen Literatur. Angesichts der Er-
kenntnisse, die inzwischen über die Publikationsschwierigkeiten von Zimme-
rings Die Jagd nach dem Stiefel vorliegen, wäre es eine wichtige Aufgabe der
weiteren Exilforschung, auf der Basis der mittlerweile zugänglichen Verlags-
archivalien zu untersuchen, ob die Manuskripte in ihrer ursprünglichen Fas-
sung veröffentlicht wurden oder ob grundlegende Veränderungen vorgenom-
men werden mussten, damit die Bücher den kulturpolitischen Zielvorstellun-
gen der DDR entsprachen. Zu diesen Werken gehören z. B. Bertolt Brechts
Der verwundete Sokrates (entstanden 1938, gedruckt 1949), Willi Bredels
Peters Lehrjahre (entstanden 1942/43, gedruckt 1976) und Berta Lasks Otto
und Else (entstanden 1934, gedruckt 1956).
Unter welchen Umständen manche Manuskripte überhaupt erhalten blie-
ben, zeigt beispielhaft die Rettung von Anna Maria Jokls Manuskript Die
Perlmutterfarbe (entstanden 1937, gedruckt 1948). Als Jokl 1939 vor den
Deutschen nach Polen floh, wo sie in einem Massenlager auf ein englisches
Visum wartete, besaß sie nicht mehr als ihre Kleider am Leib, wie sie in Es-
senzen (1993) berichtet. Das Manuskript hatte sie in der französischen Bot-
schaft in Prag zurückgelassen, in der man ihr vorübergehend Asyl gewährt
hatte. Ein tschechischer Fluchthelfer, der Jokl über die Grenze nach Polen
gebracht und dem sie von dem Verbleib ihres Manuskripts erzählt hatte,
entschloss sich ohne ihr Zutun, das Manuskript aus der Botschaft zu holen
und ihr ins polnische Lager zu bringen. Die Aktualität dieses Buches ist daran
abzulesen, dass es bis in die Gegenwart hinein regelmäßig neu aufgelegt
wurde. Themen sind der Konflikt zweier Schulklassen, der zu psychischer
und moralischer Korrumpierung führt, und die Frage der sogenannten Kol-
lektivschuld.
Einige Manuskripte wurden auch in der Bundesrepublik veröffentlicht, so
etwa die Arbeiten von Mascha Kaléko, Ruth Rewald und Margarete Steffin,
jedoch meist erst viele Jahre nach ihrer Entstehung. Von Steffin wurde nicht
nur das bereits genannte Theaterstück Wenn er einen Engel hätte (entstanden
1934/35) erst in der Nachlasssammlung Konfutse versteht nichts von Frauen
(1991) vollständig veröffentlicht, auch ihre vier Kindergeschichten (Purk;
302 Exil

Illustration aus
Die Perlmutterfarbe
von Anna Maria Jokl

Maria; Barbara; Geschichte von Mary Miller und ihrem Hund Yo-Yo, alle
entstanden 1940) erschienen hier erstmals. Ähnlich lange dauerte die Publi-
kation von Rewalds Buch Vier spanische Jungen (entstanden 1938, gedruckt
1987). Ihr Manuskript Kinder aus China (entstanden 1937), das die Schwei-
zer Zeitschrift Der öffentliche Dienst auf Initiative von Lisa Tetzner 1937 in
Fortsetzungen druckte, liegt dagegen bis heute nicht in Buchform vor. Dar-
über hinaus gelten einige Manuskripte als verschollen, so etwa szenische
Texte von Anna Maria Jokl und Lilo Linke, von denen bekannt ist, dass sie
aufgeführt wurden. Dasselbe Schicksal ereilte Kubas Kinderroman Zak: Die
Prager Zeitschrift Die Welt am Morgen veröffentlichte im Oktober 1938
drei Fortsetzungen; als nach der deutschen Besetzung das linksorientierte
Blatt sein Erscheinen einstellen musste, ging das Manuskript verloren.
Erscheinungsformen von Exilliteratur 303

Wiederauflagen von Werken, die bis 1933 noch in Deutschland


publiziert wurden
Neu aufgelegt wurden im Exil etliche Bücher, die nur bis 1933 in Deutsch-
land erscheinen konnten und mehrheitlich sehr erfolgreich gewesen waren;
ein weiteres gemeinsames Kennzeichen sind ihre sozialkritischen und teil-
weise pazifistischen Bezüge. Besonders erfolgreich war Lisa Tetzners Buch Sozialkritik
Hans Urian (1931), in dem in der Kombination von realen und märchen-
haften Elementen gesellschaftliche Konflikte aufgezeigt werden und mit dem
die in den 1920er Jahren als Märchenerzählerin bekannt gewordene Autorin
die Wende zur realistischen Kinderliteratur vollzieht. Hans Urian, die Prosa-
fassung der von Tetzner gemeinsam mit Béla Balázs 1929 verfassten Kinder-
märchenkomödie Hans Urian geht nach Brot, erschien in den USA (1934), in
Palästina (1934), Polen (1936) und in der Schweiz (1944). In der Schweiz
kamen auch die noch aus der Zeit der Weimarer Republik stammenden Mär-
chen Tetzners heraus (Vom Märchenbaum der Welt, 1942, Die schönsten
Märchen der Welt, 1946/1948). Die Sammlung sozialkritischer, märchenhaft-
fantastischer Erzählungen Das richtige Himmelblau von Balázs erschien in
England (1936) und in der UdSSR (1940). Zu den führenden Vertreterinnen
der proletarischen Kinderliteratur der Weimarer Zeit gehört mit ihren Mär-
chen auch Hermynia Zur Mühlen. Was Peterchens Freunde erzählen (1920)
erschien in Frankreich (1934), Said, der Träumer (1927) wurde in der UdSSR
1935/1936 publiziert. Als ein weiteres Beispiel der proletarischen Kinder-
und Jugendliteratur ist auch das noch heute bekannte Buch Ede und Unku
(1931) von Alex Wedding zu nennen, das 1935 in den USA in englischer
Sprache erschien.
Wohl sozialkritisch, aber nicht klassenkämpferisch ausgerichtet sind eine
Reihe von Kinder- und Jugendbüchern, die ebenfalls Ende der Weimarer Re-
publik noch in Deutschland erschienen waren, nach 1933 aber nur noch im
Ausland veröffentlicht werden konnten. Dazu gehören Stoffel fliegt übers
Meer (1932) von Erika Mann, Müllerstraße (1932) von Ruth Rewald, Heini
Jermann (1929) von Anni Geiger-Gog und die Kinderbücher von Erich Käst-
ner, die allerdings auch vor 1933 z. T. schon in Übersetzungen im Ausland
auf dem Markt waren. Diese Bücher waren in Deutschland, ablesbar an ho-
hen Auflagen und positiven Kritiken, sehr erfolgreich gewesen; dagegen war
der Erfolg auf dem Exilmarkt sehr unterschiedlich. Während Stoffel fliegt
übers Meer nach 1933 in vier europäischen Ländern publiziert wurde, er-
schien von Heini Jermann lediglich eine gekürzte Ausgabe in deutscher Spra-
che in Holland (1936) und von der Müllerstraße eine Exilausgabe in norwe-
gischer Sprache (1937). Dabei hatte sich Rewald von Paris aus vergeblich
darum bemüht, die Müllerstraße in verschiedene Sprachen übersetzen zu
lassen. In Holland wurde die Veröffentlichung mit der Begründung abge- Illustration zu Heini
lehnt, die Geschichte sei zu berlinerisch und entspreche somit nicht der Men- Jermann von Anni Geiger-
talität der holländischen Jugend. Gog
Etliche Titel, die bereits in der Weimarer Republik erschienen waren, ha-
ben deutlich pazifistische Züge. Zu den berühmten Antikriegsromanen ge- Pazifismus
hört der Tagebuchroman Die Katrin wird Soldat von Adrienne Thomas
(1930), ein Millionenbestseller, der in 17 Sprachen übersetzt und auch nach
1945 noch mehrfach aufgelegt wurde. Eine pazifistische Botschaft haben
neben dem bereits genannten Heini Jermann von Anni Geiger-Gog auch
Irmgard von Faber du Faurs Kindergeschichte Ein Tag des kleinen Tom
(1932), 1934 in der Schweiz publiziert, und der Kinderroman Liselott dik-
tiert den Frieden (1932) von Grete Berges, der 1939 in schwedischer Sprache
304 Exil

erschien. Faber du Faur beschreibt die kindlichen Phantasien des kleinen


Tom, der sich von seinem Bären, aber auch von Pflanzen und Tieren Ge-
schichten erzählen lässt; friedfertiges und soziales Handeln finden sich so-
wohl in den fantastischen Episoden als auch in den realen Alltagssituationen.
Liselott, die Protagonistin des Kinderromans von Berges, leidet zwar nicht
wie Katrin und Heini am Krieg und seinen Folgen, doch engagiert sie sich als
Anführerin eines Mädchenbundes im ›Kampf‹ mit den Mitgliedern eines
Jungenbundes für Gewaltlosigkeit und besiegt die Jungen mit ihrem rationa-
len Handeln.
Genannt werden muss an dieser Stelle auch Felix Salten (d.i. Siegmund
Salzmann), dessen weltberühmtes, später von Walt Disney verfilmtes Buch
Bambi (1923) schon in der Weimarer Republik ein Bestseller war und bereits
1928 als Übersetzung in England, Frankreich und in den USA erschien. In
Bambi warnt er vor den Gefahren, die vom Menschen und seinem gewalttä-
tigen Handeln ausgehen, aber er beschreibt auch die Feinde unter den Tieren.
Ein Plädoyer für den Tierschutz wie auch für den Frieden der Menschheit
findet sich in allen seinen Tiergeschichten. Salten, der Österreich 1938 verließ
und in die Schweiz ging, war keineswegs nur Feuilletonist, sondern schrieb
auch Romane, Erzählungen, Novellen und Dramen; er ist u. a. der Verfasser
von Josephine Mutzenbacher (1906), einem Longseller der pornographischen
Literatur. Unter den Exilautoren war er mit seinen für Alt und Jung geschrie-
benen Tiergeschichten einer der erfolgreichsten. Allein Bambi wurde nach
1938 in mehrere Sprachen übersetzt und in vielen Ländern aufgelegt, ebenso
seine weiteren bis 1933 auch in Deutschland aufgelegten Tiergeschichten
Der Hund von Florenz (1923), Fünfzehn Hasen (1929) und Florian, das
Pferd des Kaisers (1933).

Exilwerke, die im Ausland in deutscher und in fremder Sprache


erschienen
Viele Kinder- und Jugendbücher erschienen zunächst in der Schweiz, aber
auch in der UdSSR und in Holland in deutscher Sprache und wurden später
ins Russische, Niederländische, Skandinavische, Spanische, Englische oder
Hebräische übersetzt. In der UdSSR erschienen in deutscher und später in
russischer Sprache z. B. Bücher von Béla Balázs (Karlchen, durchhalten!,
1936, 1937) und Maria Osten (Huberts Reise ins Wunderland, 1935, 1935).
Die in die UdSSR emigrierten Schriftsteller standen der KPD nahe und betei-
ligten sich aktiv am Widerstand gegen die Nazi-Diktatur, was eine wichtige
Antifaschismus Voraussetzung für das Exil und für die Publikationsmöglichkeit in der UdSSR
war. Eine weitere Bedingung war eine antifaschistische Ausrichtung ihrer
Bücher. Ein relativ großes Interesse an Übersetzungen der im Exil entstande-
nen deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur zeigten skandinavische
Verlage. Von der Mädchenbuchschriftstellerin Elsa-Margot Hinzelmann, die
im Schweizer Exil Zuflucht gesucht hatte, erschienen z. B. in Schweden Toni
in der Fremde (1949) sowie in Dänemark und Norwegen Vom sicheren und
unsicheren Leben (1944). Hildegard J. Kaeser konnte ihr 1938 in der Schweiz
publiziertes Sachbuch Die Wunderlupe 1941 auch in schwedischer Sprache
veröffentlichen.
Ins Englische übersetzt wurden das gemeinsam von Richard Plant und
Oskar Seidlin verfasste Buch SOS Genf (1939; engl. Übers. 1939) und Seid-
lins Erzählung Pedronius muß geholfen werden! (1937; engl. Übers. 1943).
Erstauflage in der Beide Bücher erschienen zunächst in deutscher Sprache in der Schweiz und
Schweiz anschließend in den USA. Plant und der mit ihm befreundete Seidlin verlie-
Erscheinungsformen von Exilliteratur 305

ßen Deutschland nach dem Reichstagsbrand und fanden zunächst in der


Schweiz Asyl. Wie bei anderen Exilanten drängten die Schweizer Behörden
auch bei ihnen ab 1936 zur Ausreise; als die Aufenthaltsgenehmigung nicht
verlängert wurde, entschlossen sie sich 1938 zur Flucht nach Amerika. So-
wohl Plant als auch Seidlin hatten vor ihrer Flucht ins Exil keine Kinder- und
Jugendbücher geschrieben. Da die Schweiz die Arbeitserlaubnis verweigerte,
versuchte Plant, seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Filmartikeln,
Essays und Kritiken zu bestreiten, darunter auch mit Kritiken von Kinder-
und Jugendliteratur, was ihn auf die Idee brachte, selbst Kinderbücher zu
schreiben. Nach dem Krieg gaben beide ihre schriftstellerischen Tätigkeiten
auf und arbeiteten an amerikanischen Universitäten als Germanisten.
Zu den in der Schweiz erstmals aufgelegten und bis Ende der 1940er Jahre
in andere Sprachen übersetzten Titeln gehört auch Erika Manns Muck, der
Zauberonkel (1934); sie hatte, als sie Deutschland im März 1933 in Rich-
tung Schweiz verließ, mit ihrem ersten Kinderbuch Stoffel fliegt übers Meer
(1932) bereits einen großen Erfolg gefeiert. Im Unterschied zu ihren späteren
Veröffentlichungen sind ihre beiden ersten Kinderbücher frei von politischen
Bezügen. Den Entschluss, kritisch-aufklärende Bücher über die Gegenwart
zu schreiben, fasste sie erst im amerikanischen Exil, wo sie als politische Pu-
blizistin auch Vorträge hielt. Thematisch konzentrierte sie sich in ihren Vor-
trägen auf die Situation von Frauen und Kindern im Exil, auf Schule und
Erziehung, auf die Situation der Studentinnen im NS-Staat und auf die deut-
sche Exilliteratur. In der Schweiz wurde, zwischen 1943 bis 1949, auch Lisa
Tetzners neunbändige Kinderodyssee publiziert, von der allein der dritte und
siebte Band (Erwin kommt nach Schweden und Ist Paul schuldig?) auch in Illustration aus Muck,
französischer bzw. schwedischer Übersetzung erschienen. Obwohl die Kin- der Zauberonkel von
derodyssee dem Themenkomplex ›Flucht und Exil‹ zugeordnet werden kann, Erika Mann
ging es Tetzner nicht um ein literarisches Panorama des Exils, vielmehr vor
allem darum, »das Leiden heimatloser, um den Schutz der Familie gebrachter
Kinder und die zähe Beharrlichkeit, mit der diese ihr Überleben in einer ih- Leiden in/an der
nen feindlichen Welt organisieren«, deutlich zu machen (Weinkauff). Dieses Fremde
Motiv bildet ein Kontinuum in Tetzners Werk und verbindet es auch mit den
Büchern ihres Ehemannes Kurt Kläber.
Übersetzungen von Kinder- und Jugendbüchern gibt es weiterhin von Hil-
degard J. Kaeser, Kurt Pahlen, Friedrich Rosenfeld und Hans Siemsen. Die
Bücher dieser vier Autoren wurden auf Deutsch geschrieben, dann jedoch –
anders als die bisher hier angeführten Titel – zunächst in eine andere Sprache
übersetzt und in dieser veröffentlicht, bevor sie dann auch auf Deutsch er-
schienen. So entstand z. B. Die Geschichte des Hitlerjungen Adolf Goers von
Hans Siemsen 1937/38 im Pariser Exil, veröffentlicht wurde sie in englischer
Übersetzung unter dem Titel Hitleryouth 1940 in England. Im Mittelpunkt
der Erzählung steht Adolf Goers, ein anfänglich begeisterter Hitlerjunge, der
sich später vom Nationalsozialismus lossagt, nach seiner Inhaftierung
Deutschland verlässt und im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Antifa-
schisten ums Leben kommt. In deutscher Sprache wurde der Text erstmalig
von 1942 bis 1943 anonym in der Beilage Heute und Morgen in der in Ar-
gentinien erscheinenden Zeitschrift Das andere Deutschland abgedruckt.
Noch bevor Siemsen 1948 aus dem Exil zurückkehrte, erschien 1947 in der
Bundesrepublik eine deutsche Ausgabe, die 1981, als Reaktion auf die Zu-
nahme rechtsradikaler Tendenzen, neu aufgelegt wurde. Siemsen, der Bruder
der Pädagogin und SPD-Politikerin Anna Siemsen, hatte sich nach dem Ers-
ten Weltkrieg nicht nur als Feuilletonist und Kritiker in Deutschland einen
Namen erworben, sondern auch als Autor von Erzählungen, Reiseberichten,
306 Exil

Biographien und des Jugendbuches Das Tigerschiff (1923). Wie vielen ande-
ren Exilanten gelang es ihm nach der Rückkehr aus dem Exil nicht, an seine
Erfolge in der Weimarer Republik anzuknüpfen.

Exilwerke, die im Ausland nur in deutscher Sprache erschienen


Die meisten der im Ausland nur in deutscher Sprache publizierten Exilbücher
erschienen in der Schweiz, einige auch in England, in der UdSSR sowie in
Süd- und Mittelamerika. Bis zur deutschen Besetzung in den Jahren zwischen
1938 und 1940 boten außerdem Österreich, die Tschechoslowakei und Hol-
land Möglichkeiten der Publikation in deutscher Sprache. Jella Lepman, die
nach dem Zweiten Weltkrieg in München die Internationale Jugendbiblio-
thek gründete, die der Völkerverständigung dienen sollte, veröffentlichte in
England England die Detektivgeschichte Das Geheimnis vom Kuckuckshof (1942). In
England war, nachdem Wieland Herzfelde 1935 den Sitz seines Malik-Ver-
lags von Prag nach London verlegt hatte, auch die Veröffentlichung von
Werken kommunistischer Autoren möglich. So brachte Herzfelde 1939
Brechts Svendborger Gedichte heraus, in denen die berühmten Kinderlieder
des Autors enthalten sind; 1936 hatte er Alex Weddings Antikriegserzählung
Das Eismeer ruft verlegt. Auszüge des im Prager Exil entstandenen Manu-
skripts wurden 1936 in der Prager Arbeiter-Illustrierten-Zeitung abgedruckt,
deren Kinderseite Wedding bis 1935 leitete und in der noch einige andere
kurze Texte für Kinder von ihr erschienen; 1937 erschienen Auszüge in der
Moskauer Zeitschrift Das Wort. In der UdSSR konnten, wie die Namen Wal-
ter Schönstedt, Anna Seghers, Hermynia Zur Mühlen und Berta Lask bestä-
tigen, deutschsprachige Autoren nur veröffentlichen, wenn sie der KPD nahe
UdSSR standen. Nicht erforderlich war jedoch, in der UdSSR zu leben; von den ge-
nannten vier Autoren ging lediglich Lask 1933 ins russische Exil. Zu den
Werken, die zur NS-Zeit in deutscher Sprache nur in der Tschechoslowakei
auf den Markt kamen, gehören Robert G. Groetzsch’ Wir suchen ein Land
(1936), Anna Maria Jokls Das süße Abenteuer (1937) und Friedrich Rosen-
felds Der Flug ins Karfunkelland (1938). Groetzsch zählte zu Beginn des 20.
Jh.s zu den ersten sozialdemokratischen Schriftstellern, die für proletarische
Kinder Erzählungen und Märchen schrieben, in denen auf humorvolle Weise
Tschechoslowakei Kritik an den bestehenden Verhältnissen geübt wurde. Im tschechischen Exil,
das er 1938 in Richtung Frankreich und USA verließ, schrieb er den Roman
Wir suchen ein Land (1936), der vom Leben der aus neun Exilanten beste-
henden Kolonne Herkner erzählt, die sich auf der Suche nach Asyl in der
Tschechoslowakei zusammengefunden hat.
Holland In Holland erschienen von Wilhelm Speyer Die Stunde des Tigers (1939)
und von Adrienne Thomas Von Johanna zu Jane (1939). Speyer, der in der
Weimarer Republik so bekannte Jugendbücher wie Der Kampf der Tertia
und Die goldene Horde geschrieben hatte, fand zunächst Asyl in Österreich,
flüchtete dann nach Frankreich, wo er interniert wurde, und 1941 schließlich
in die USA. Thomas thematisiert in Von Johanna zu Jane, ihrem letzten Buch,
das vor ihrer Flucht ins amerikanische Exil in Europa erschien, die deutsch-
jüdische Symbiose zur Zeit der Habsburger Monarchie. Die Hauptfigur Jo-
hanna leidet an der Adoleszenz, aber auch an einer sozialen und konfessio-
nellen Identitätskrise. Der zunehmende Antisemitismus wird jedoch nur als
individuelles und nicht als gesellschaftliches Problem betrachtet.
Südamerika Außerhalb Europas und der USA wurden deutschsprachige Kinder- und
Jugendbücher noch in Argentinien veröffentlicht, wo in den 1940er Jahren
auch Übersetzungen von Erika Mann, Kurt Pahlen und Felix Salten erschie-
Erscheinungsformen von Exilliteratur 307

nen. So publizierte etwa Friedrich R. Franke in Buenos Aires seine Erzählung


Tropa und Mate (1941). Ein junger Mann erzählt in Ich-Form von seinem
freiwilligen Entschluss, nach Südamerika auszuwandern, in das Land von
Karl May und damit das Land seiner Träume. Diese Träume erweisen sich als
Illusion, und so gelangt er gegen Ende seiner Erzählung zu der bitteren Er-
kenntnis, nirgendwo mehr zu Hause zu sein. Mit dem Motiv der Heimatlo-
sigkeit spricht Franke ein Problem aller Flüchtlinge an, jedoch ohne dabei
das Thema ›Flucht und Exil‹ zu thematisieren. Hans Jahn greift hingegen in
seiner Abenteuergeschichte Babs und die Sieben (1942) dieses Thema direkt
auf, indem er seine Geschichte in einem Kinderheim in Buenos Aires ansie-
delt, in dem Kinder verschiedener Nationalitäten untergebracht sind, u. a. die
Dänin Babs, die vor den Deutschen über England nach Argentinien fliehen
musste.
In der Schweiz wie auch in anderen westeuropäischen Ländern wurde Umschlagbild zu Tropa
Kinder- und Jugendliteratur mit dieser aktuellen Thematik nur in vergleichs- und Mate von Friedrich
weise geringem Umfang publiziert. Dies mag auf den ersten Blick verwun- R. Franke
dern, weil insbesondere die Schweiz den Ruf eines liberalen Landes genoss.
Doch auch hier waren die Arbeitsmöglichkeiten und die persönliche Freiheit
der Exilierten stark eingeschränkt. Tetzner und Kläber zählen zu den weni-
gen Autoren, die in der Weimarer Republik der KPD nahegestanden hatten
und trotzdem in der Schweiz Asyl fanden. Im Gegensatz zu seiner Frau er-
hielt Kläber aber keine Arbeitserlaubnis. Damit hatte er wie in Deutschland
auch in der Schweiz Publikationsverbot, obwohl er sich während des Exils
von linksrevolutionären Ideen lossagte. Wichtig war ihm weiterhin soziales
Engagement, wie es u. a. in der Roten Zora (1941) zu finden ist, die Kläber
wie andere Bücher unter dem Pseudonym Kurt Held veröffentlichte. Weitere
Kinder- und Jugendbücher des Exils, die lediglich in der Schweiz in deutscher
Sprache aufgelegt wurden, stammen u. a. von Max Colpet, Irmgard von Fa-
ber du Faur, Hildegard J. Kaeser, Bruno Schönlank und Adrienne Thomas.
Zu den Merkmalen der Bücher von Irmgard von Faber du Faur, die 1933 in
die Schweiz ging, gehört das Thema Religiosität. In zwei Kinderbüchern
nehmen zudem die Themen Krieg, Flucht und Verfolgung eine zentrale Stel-
lung ein; allerdings handelt es sich in beiden Fällen um historische Erzählun-
gen. So wird in der zu Beginn des 17. Jh.s spielenden Geschichte Die Pilger-
kinder (1940) von einer englischen Gemeinde erzählt, die sich nicht der von Unbeschwerte Kindheit
der englischen Staatskirche verordneten Religion fügt, deshalb verfolgt wird
und an Bord der Mayflower nach Amerika auswandert. In der Kinderarche
(1935) erzählt von Faber du Faur, wie sich Kinder aller Stände ohne Wissen
der Erwachsenen mit ihren Tieren vor den Gefahren des Bauernkrieges auf
einen Kahn retten. Die besorgten Eltern der verfeindeten Parteien schließen
daraufhin zunächst einen Waffenstillstand, um die geflohenen Kinder zu su-
chen, und letztlich sogar Frieden, nachdem die Kinder wohlbehalten gefun-
den werden. Welche Auswirkungen der Krieg auf Menschen und Tiere hat,
beschreibt Karl Otten in seiner im britischen Exil entstandenen Jugenderzäh-
lung Der ewige Esel (1946). Erzählt wird die Lebensgeschichte der Eselin
Marianne, die nach unbeschwerten Jahren auf einem Gut in den Ersten Welt-
krieg ziehen und den Beginn des Zweiten Weltkrieges miterleben muss. In
Max Colpets einzigem Kinderbuch Für Erwachsene streng verboten (1948)
wird eine unbeschwerte Kindheit präsentiert. Colpet, der Deutschland 1933
verließ und erst 1954 zurückkehrte, war Autor von berühmten Filmdrehbü-
chern und Musicals, er verfasste Schlager und Chansons. In seiner mit Witz
und Humor geschriebenen Kinderalltagsgeschichte spielen die zur Heinzel- Umschlagbild Die Rote
männchen GmbH zusammengeschlossenen Kinder und weiter das Medium Zora
308 Exil

Film die Hauptrollen. Die Kinder sind nicht nur filmbegeistert, sondern sie
drehen ohne Wissen der Erwachsenen einen Film, in dem nur Kinder mitspie-
len und der ein Riesenerfolg wird. Reale und fantastische Elemente werden
in diesem Buch miteinander verwoben. In Hildegard J. Kaesers Geschichte
Das Karussell (1942) bestimmt die reale Ebene dagegen nur die Rahmen-
handlung; im Mittelpunkt steht die Entdeckungsreise zweier Jungen durch
den Weltraum, die sich am Ende als Traum erweist. Die Erzählung von der
Entdeckungsreise ist verbunden mit vielen sachkundlichen Einschüben, bei
denen die Autorin auf Kenntnisse zurückgreift, die sie in ihren ebenfalls in
der Schweiz erschienenen Sachbüchern Die Wunderlupe (1938) und Der
Zauberspiegel (1939) eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte. Adrienne
Thomas veröffentlichte 1937 in der Schweiz ihr Jugendbuch Viktoria, die
Fortsetzung des im selben Jahr in der Schweiz und in Übersetzung auch in
den Niederlanden erschienenen Buches Andrea. In Viktoria fahren Jungen
und Mädchen, die im Ferienlager Freundschaft geschlossen hatten, auf ein
Salzburger Gut. An der Grenze erfahren die Kinder, wie willkürlich Einwan-
derungs- und Passbestimmungen gehandhabt werden und wie schwierig es
ist, eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Insofern machen sie Erfahrungen,
die an die von Exilanten erinnern, insgesamt aber ist das Buch der traditio-
nellen Mädchenliteratur zuzurechnen. Von Bruno Schönlank, der 1933 in die
Schweiz floh, erschienen neben der Lyriksammlung für Kinder Mein Tierpa-
radies (1949) nur die Sammlung Schweizer Märchen (1938) und seine Über-
setzung der Erzählungen und Märchen (1947) von Leo Tolstoj. Da Schönlank
mit seinen in den 1920er Jahren publizierten Märchen, Gedichten und Chor-
werken für Kinder und Jugendliche zu den Wegbereitern der proletarisch-
revolutionären Kinder- und Jugendliteratur gehörte und der Arbeitersprech-
chorbewegung eng verbunden war, hatte der einst sehr produktive Schrift-
steller in der bürgerlichen Schweiz wenig Veröffentlichungsmöglichkeiten.

Rezeption der Exilliteratur innerhalb


und außerhalb Deutschlands

Forschungssituation Die Kinder- und Jugendliteratur des Exils ist nach wie vor ein vernachlässi-
gtes Forschungsgebiet. Die ersten Studien stammen aus der DDR, wo man
sich jedoch nur denjenigen Autoren widmete, die zu den Wegbereitern der
proletarisch-revolutionären Kinder- und Jugendliteratur zählen (u. a. Berta
Lask, Auguste Lazar, Alex Wedding und Max Zimmering); in der BRD kon-
zentrierte sich das Interesse lange Zeit nur auf Lisa Tetzner und Kurt Kläber.
Auch wenn seit den 1980er Jahren (Hansen 1985, Krüger 1989) und vor
allem durch die im Jahr 1995 von der Deutschen Bücherei Leipzig organi-
sierte und in einem Katalog dokumentierte Ausstellung Kinder- und Jugend-
literatur im Exil: 1933–1950 (1995, 2. überarb. Aufl. 1999) und das Biele-
felder Forschungsprojekt Kinder- und Jugendliteratur 1933–1945 (Hopster/
Josting/Neuhaus 2001, 2005) ein großer Fundus an Namen und Titeln zu-
sammengetragen wurde, sind doch noch viele auf Autoren ausgerichtete De-
tailstudien sowie komparatistisch und interdisziplinär angelegte Gesamtun-
tersuchungen zu leisten. In Anbetracht der vielen Desiderate können im Fol-
genden einige Fragekomplexe nur ansatzweise behandelt werden. Die
Ausführungen konzentrieren sich auf die Rezeption innerhalb des national-
Rezeption der Exilliteratur innerhalb und außerhalb Deutschlands 309

sozialistischen Deutschlands, auf die Rezeption innerhalb der Exilländer und


schließlich auf die Rezeption nach 1945 in Deutschland.
Im NS-Staat waren öffentliche Diskussionen über Exilliteratur weitgehend Tabuisierung
tabu; sofern Exilliteratur in der Öffentlichkeit überhaupt ein Thema war, im NS-Staat
richtete sich das Interesse nicht auf die literarischen Werke, sondern auf die
politischen Aktivitäten der Exilanten. Aus diesem Grund rezipierten die für
Literaturpolitik zuständigen Institutionen des NS-Staates vor allem die Lite-
raturzeitschriften des Exils, wie z. B. die von Klaus Mann in Paris herausge-
gebene Sammlung oder die Neuen Deutschen Blätter, die Oskar Maria Graf,
Wieland Herzfelde und Anna Seghers in Prag herausgaben. Sowohl die Her-
ausgeber als auch die in diesen Zeitschriften publizierenden Autoren und
Autorinnen wurden als Juden und Kommunisten abqualifiziert, die eine
Hetzkampagne gegen Deutschland betrieben und für sich in Anspruch näh-
men, die wahren Kulturträger Deutschlands zu repräsentieren. Zudem wurde
versucht, die Exilliteratur mit Hilfe von Publikationsverboten vom deutschen
Buchmarkt fern zu halten. Zu den ›Lenkungsmaßnahmen‹ gehörten neben
der Verfolgung, Vertreibung und Ausbürgerung von Autoren die von der
Reichsschrifttumskammer in den Jahren 1935 bis 1944 herausgegebenen Verbotslisten
Listen des schädlichen und unerwünschten Schrifttums. Ihnen ist zu entneh-
men, dass das Gesamtwerk von hunderten von Autoren und Autorinnen so-
wie mehrere tausend Einzeltitel und die Gesamtproduktion einiger Exilver-
lage verboten wurden. Da diese Listen aber mit den Vermerken »Nur für den
Dienstgebrauch!« und »Streng geheim« versehen waren, blieben viele
›schädliche‹ Bücher und Schriftsteller und Schriftstellerinnen sowohl dem
Lesepublikum als auch Verlegern und Buchhändlern weitgehend unbekannt.
Bereits im Jahr 1936 wurde über etliche Autoren und Autorinnen ein auf
das Gesamtwerk bezogenes Publikationsverbot verhängt; damit sollte sicher-
gestellt werden, dass auch alle zukünftig von ihnen geschriebenen Bücher in
Deutschland weder verlegt noch vertrieben würden. Betroffen waren Bertolt
Brecht, Willi Bredel, Erika Mann, Erich Kästner, Kurt Kläber, Kurt Loewen-
stein, Hermynia Zur Mühlen, Felix Salten, Bruno Schönlank, Walter Schön-
stedt, Adrienne Thomas, Alex Wedding und Friedrich Wolf. Zu den verbote-
nen Einzeltiteln gehörten 1936 Heini Jermann von Anni Geiger-Gog, Junge
Helden von Berta Lask, ...was am See geschah von Lisa Tetzner und Wir su-
chen ein Land von Robert G. Groetzsch. 1938 wurden mit einem Gesamt-
verbot Hildegard J. Kaeser, Berta Lask, Karl Otten, Anna Seghers, Wilhelm
Speyer, Lisa Tetzner und Friedrich Rosenfeld belegt, 1941 folgten Béla Balázs,
Robert G. Groetzsch, Maria Osten und Otto Zoff. Von Auguste Lazar wurde
1938 lediglich Sally Bleistift in Amerika verboten, 1940 stand Oskar Seidlins
und Richard Plants gemeinsames Werk S.O.S. Genf auf der Verbotsliste, und
von Hans Siemsen wurde 1935 lediglich sein 1931 erschienenes Buch Ruß-
land, ja oder nein indiziert. Die Tatsache, dass diese Autoren nicht mit einem
Gesamtverbot belegt wurden und viele andere Namen nicht in den Verbots-
listen zu finden sind, ist ein Beleg für die fehlende Übersicht der NS-Literatur-
instanzen über den Literaturmarkt. Zudem werden im Rahmen der Indizie-
rung bzw. Nicht-Indizierung von Kinder- und Jugendliteratur die chaotischen
Zustände der NS-Literaturpolitik deutlich. So wurden z. B. alle Bücher von
Hildegard J. Kaeser in der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrift-
tums von 1938 geführt, doch erhielt ihr Buch Die Wunderlupe (1938) im
Buchanzeiger, dem Rezensionsorgan der ›Reichsjugendführung‹, 1939 den
Vermerk »Eingeschränkt verwendbar«. Ein besonders auffälliges Beispiel für
die Inkonsequenz nationalsozialistischer Literaturpolitik ist die Indizierung
der Bücher von Maria Gleit. Gleit beteiligte sich gemeinsam mit ihrem Ehe-
310 Exil

mann Walther Victor am antifaschistischen Widerstand, floh 1935 in die


Schweiz, später nach Luxemburg und Frankreich und erhielt 1940 ein Visum
für die USA. Trotz ihrer antifaschistischen Aktivitäten und der Flucht aus
Deutschland veröffentlichte der Fischer-Verlag in Berlin von 1936 bis 1940
noch mehrere Bücher der Autorin (u. a. Streit um Rosel, 1936, eine überar-
beitete Fassung 1939 unter dem Titel Abenteuer am See, die 1940 in zweiter
Auflage erschien). Auf der Verbotsliste stand Gleit 1935 und 1938 lediglich
mit ihrem in Österreich erschienenen Roman Abteilung Herrenmode (1933)
und mit dem in der Schweiz publizierten Buch Du hast kein Bett, mein Kind
(1938). Erst 1942 wurde ihr Gesamtwerk indiziert. Dass die Bücher einer
Exilantin und Widerstandskämpferin noch bis 1940 in Deutschland aufge-
legt wurden, spricht nicht zuletzt für den Mut des Verlegers, der sich der in-
offiziell verordneten Selbstzensur widersetzte. Darüber hinaus wird deutlich,
dass es den NS-Literaturinstanzen nicht gelang, ihren Zielsetzungen entspre-
chend in den auch während der NS-Zeit privatwirtschaftlich organisierten
Buchmarkt einzugreifen. Sofern Bücher nicht offensichtlich oppositionell
ausgerichtet waren, gab es demnach Freiräume, sie zu verlegen.
Verleger von Bei der Frage nach der Rezeption der Kinder- und Jugendliteratur des
Exilautor/innen Exils in den Exilländern ist zunächst von Interesse, welche Verlage sich ihrer
überhaupt annahmen. Dabei bestätigt sich keineswegs die Vermutung, dass
in den einzelnen Exilländern nur ganz wenige Verleger Bereitschaft zur Publi-
kation zeigten. Um hier nur einige Beispiele zu nennen: In England waren es
die Verlagshäuser Adprint, Cape, Chatto & Windus, Collins, Commodore
Press, Dent & Sons, Malik, Murray, Nicholson & Watson, Oxford Univer-
sity Press, Parrish, Pilot Pr., Secker and Warburg sowie Transatlantic Arts
Co.; in der Schweiz waren es Artemis, Atrium, Benziger, die 1933 in die
Schweiz exilierte Büchergilde Gutenberg, die Christliche Vereinsbuchhand-
lung, der Evangelische Verlag, Füssli, Humanitas, A. Müller, der Philographi-
sche Verlag, Sauerländer und das Schweizerische Jugendschriftenwerk; in
den USA verlegten Kinder- und Jugendliteratur des Exils die Verlage Bobbs-
Merrill, Covici-Friede, F.S. Crofts & Co Stokes, Doubleday, L.B. Fischer,
Grosset & Dunlap, Harper, Holt, International Publishers, Knopf, Mifflin,
Pantheon Books, The Reader’s League of America, Scribner, Simon and
Schuster sowie Viking Press. Von den genannten Verlagen war in Deutsch-
land die Verbreitung sämtlicher Bücher der Büchergilde Gutenberg und des
Humanitas-Verlages verboten.
Publikationsschwierig- Auf welche Schwierigkeiten Autorinnen und Autoren stießen, die ihre Bü-
keiten im Exil cher im Exil veröffentlichen wollten, machen die detaillierten Studien über
Ruth Rewald deutlich. In Holland war ihr Buch Müllerstraße mit dem Argu-
ment abgelehnt worden, es entspräche nicht der Mentalität der einheimischen
Jugend. Das Manuskript Vier spanische Jungen (1938), in dem Rewald den
spanischen Bürgerkrieg thematisiert und für dessen Fertigstellung sie meh-
rere Monate in Madrid verbracht hatte, wo sie Kinder beobachtete und be-
fragte, fand aus anderen Gründen in Exilländern keinen Verleger: Als das
Manuskript druckreif vorlag, stimmte der optimistische Schluss mit der Rea-
lität nicht mehr überein; es konnte erst 1987 in der Bundesrepublik aufgelegt
werden.
Kinder- und Jugend- Antworten auf die Frage, in welchem Umfang Kinder- und Jugendliteratur
lektüre im Exil des Exils in den Asylländern gelesen wurde, bleiben spekulativ. Franz C.
Weiskopf, der selbst exiliert war, weist darauf hin, dass die im Exil lebenden
Kinder die Schule des Asyllandes besuchten, mit fremdsprachigen Kindern
spielten und oft schnell die Sprache ihrer Heimat vergaßen; deshalb (so Weis-
kopf) hätten deutschsprachige Autoren am ehesten eine Chance gehabt, ein
Rezeption der Exilliteratur innerhalb und außerhalb Deutschlands 311

Lesepublikum zu finden, wenn sie ihre Bücher in der Sprache des Asyllandes
publizierten. Der Einschätzung Weiskopfs, dass Kinder sich schnell der neuen
Umgebung anpassten und leicht die Sprache des Exillandes erlernten, ist zu-
zustimmen; ob aber ihre Schriftsprachenkenntnisse ebenso schnell Fort-
schritte machten, ist fraglich. Deshalb mögen sie, sofern sie am Lesen interes-
siert waren und schon die deutsche Schriftsprache beherrschten, gern Bücher
in deutscher Sprache zur Hand genommen haben.
Die im Exil verfassten Manuskripte, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Rezeption nach
der DDR verlegt wurden, werden in Westdeutschland größtenteils bis in die 1945 in Ost- und
Gegenwart aus ideologischen Gründen mehrheitlich nicht rezipiert. Ähnlich Westdeutschland
verhält es sich mit vielen im Exil aufgelegten Büchern, die bis 1933 noch in
Deutschland erschienen und die zur proletarischen Kinder- und Jugendlitera-
tur zählen. Auf dem westdeutschen Literaturmarkt war Sozialkritik in der
Literatur bis Ende der 1960er Jahre nur erwünscht – wie das Beispiel Kästner
zeigt –, sofern sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse unangetas-
tet ließ und sich auf die Beschreibung sozialer Missstände beschränkte, die
mit dem Aufruf zu einem veränderten individuellen Verhalten verbunden
war.
Auch die Rezeption der im Exil erstmalig aufgelegten Kinder- und Jugend-
literatur verlief in den beiden deutschen Staaten sehr unterschiedlich. Wäh-
rend die Bücher von Autoren und Autorinnen, die der KPD nahe standen
(z. B. Béla Balázs’ Heinrich beginnt den Kampf oder Auguste Lazars Sally
Bleistift in Amerika) in der DDR mehrfach aufgelegt wurden, konzentrierte
sich die BRD in der Adenauer-Ära auf religiöse Kinderbücher wie Irmgard
von Faber du Faurs Kinderarche, auf den altbekannten Wilhelm Speyer oder
auf Detektivgeschichten wie Jella Lepmans Das Geheimnis vom Kuckucks-
hof. Politisch-agitatorische Jugendliteratur, die von der Endphase der Wei-
marer Republik handelt und von Autoren stammt, die sich im Laufe ihres
Lebens vom Kommunismus lossagten, hatten – wie das Beispiel Walter
Schönstedt zeigt – weder auf dem ostdeutschen noch auf dem westdeutschen
Buchmarkt eine Chance. Dass die Kinder- und Jugendliteratur des Exils nicht
gänzlich in Vergessenheit geraten konnte, ist auch der Tatsache zu verdanken,
dass in Österreich und in der Schweiz nach Kriegsende zumindest einige Titel
publiziert wurden, für die sich in Deutschland keine Verleger fanden. Dazu
gehören etwa die heute noch lesenswerten Bücher Der Flug ins Karfunkel-
land von Friedrich Rosenfeld, Das süße Abenteuer von Anna Maria Jokl und
Muck, der Zauberonkel von Erika Mann. Ihnen und vielen anderen Kinder-
und Jugendbüchern des Exils sind Neuauflagen zu wünschen.
312

Neubeginn, Restauration,
antiautoritäre Wende

Rüdiger Steinlein

Keine »Stunde Null« – Neubeginn im Vorgestern

Nach dem 9. Mai 1945 etablieren sich in den vier Besatzungszonen, in die
das besiegte ›Dritte Reich‹ aufgeteilt wurde, zwei unterschiedliche politische
und auch literarische Kulturen mit Auswirkungen bis hinein in den Sonder-
bereich der Kinder- und Jugendliteratur. Die Spaltung teilt das ehemalige
Reichsgebiet in die drei westlichen Besatzungszonen und die sowjetische,
woraus 1949 dann die beiden deutschen Teilstaaten BRD und DDR hervor-
gehen. Die in diesem Kapitel gebotene Darstellung berücksichtigt nur die
Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur in den drei Westzonen und der
Bundesrepublik bis Ende der 1960er Jahre, als es im Zeichen der antiautori-
tären Bewegung zu grundlegenden Veränderungen in der Kinder- und Ju-
gendliteratur kam. Mit einem gewissen Recht kann man von einer gemein-
samen Entwicklung der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur
westlich des Eisernen Vorhangs sprechen. Sie umfasst auch – trotz einiger
historischer und mentalitätsgeschichtlicher Besonderheiten – Österreich und
die Deutschschweiz. »Die Literaturmärkte und -traditionen dieser Länder
sind seit Jahrhunderten mit den deutschen eng verbunden und sind es nach
1945 noch oder wieder. Viele ihrer Nationalität nach österreichische oder
schweizerische Autoren müssen als bis zu einem gewissen Grad bundesdeut-
sche Schriftsteller angesehen werden« (Fischer). Das bedeutet nicht, dass die
kinder- und jugendliterarische Produktion dieser deutschsprachigen Länder
umstandslos als bundesdeutsch ›eingemeindet‹ wird: Das Hauptaugenmerk
liegt auf der genuin bundesdeutschen Entwicklung bis Ende der 1960er
Jahre.
Die Situation Deutschlands im Frühsommer 1945 war durch eine weithin
desolate materielle Lage der Bevölkerung (v.a. in den meisten Mittel- und
Großstädten) gekennzeichnet, durch einen hohen Grad an Zerstörung von
Wohnraum und Infrastruktur. Mindestens ebenso gravierend aber waren die
Verwüstungen im Bewusstseins- und Seelenhaushalt der deutschen Bevölke-
rung, nicht zuletzt der Kinder und Jugendlichen; und zwar je älter sie waren
und je länger sie der NS-Ideologie und -Propaganda ausgesetzt waren, desto
stärker. Eben diese sollte nun samt ihren Medien, worunter auch die entspre-
chende Literatur zählte, nach dem Willen der alliierten Autoritäten möglichst
rasch beseitigt und durch geeignete neue Angebote im Geist westlicher de-
mokratischer Werte ersetzt werden. Das Aus für NS-Herrenmenschen-,
Kriegs- und Rassenpropaganda sollte auch über den (Wieder-)Einzug christ-
licher, humaner Wertvorstellungen in literarischem Gewand unterstützt wer-
den. Das zumindest war in Umrissen das Bemühen und das Programm v.a.
der amerikanischen und britischen Besatzungsmächte, dem diese mit einer
Reihe von Erlassen Wirkung zu verleihen suchten.
Keine »Stunde Null« – Neubeginn im Vorgestern 313

Allerdings erwies sich die konkrete Umsetzung als schwierig und von nur Verharmlosungen und
begrenzter Wirksamkeit. Im Gegensatz zur Allgemeinliteratur, in der eine Ausweichmanöver
Reihe von engagierten Literaten und Publizisten darum rang, »die richtigen,
also die historisch notwendigen Konsequenzen aus der bereits eingetretenen
›Katastrophe‹ zu ziehen« (Fischer), einen Neubeginn durch Verarbeitung der
jüngsten Vergangenheit zu wagen, fand dergleichen auf dem Gebiet der Kin-
der- und Jugendliteratur so gut wie überhaupt nicht statt. Der Neuanfang,
wo er unternommen wurde, erwies sich (von wenigen Ausnahmen wie z. B.
Erich Kästner abgesehen) als Rückzug ins Altbewährte bzw. als Ausweichen
ins Harmlose. Pädagogischer und literarischer Konservativismus beherrschte
das Feld der ohnehin zunächst sehr eingeschränkten Produktion von Kinder-
und Jugendliteratur.
Grundlage für die Nicht-Auseinandersetzung der Bevölkerungsmehrheit
in Deutschland und in Österreich mit dem Nationalsozialismus und seinen
Verbrechen war die Überzeugung, dass im Wesentlichen Hitler und seine an
den Schalthebeln der Macht befindlichen Helfershelfer die Schuld trügen
und die Bevölkerung selbst in ihrer übergroßen Mehrheit auch Opfer des
Regimes und seiner Politik gewesen sei. Man wollte nur – wenn überhaupt
– von den eigenen Leiden hören. »Nach dem 2. Weltkrieg kam die Tradition
[Rückzug aus Realität und Politik] dem Interesse einer moralisch und poli-
tisch kompromittierten Generation entgegen« (Mattenklott).
Hinter der Ȇberakzentuierung von Wohlverhalten, Sitte und Anstand in
den 1950er Jahren« wurde zu Recht der »Versuch« vermutet, »sich auf diese
Weise von den vorangegangenen Jahren der Barbarei zu distanzieren. Als
wollte man damit indirekt zum Ausdruck bringen, daß jeder, der aus der
Mitte einer dermaßen ordentlichen und wohlerzogenen Gesellschaft kommt
und eine so ›gute Kinderstube‹ genossen hat, solche Greueltaten nicht getan
haben konnte, wie sie den Deutschen zur Last gelegt wurden und auf dem
Gewissen der ganzen Nation lasteten« (Staudacher). Eben dies findet auch
seinen Niederschlag in der Kinder- und Jugendliteratur jener Jahre; viele der
damals publizierenden Autoren erwecken den Eindruck, »sie seien [...] gar
keine Zeitgenossen ihrer Gegenwart gewesen und als hätte es keine national-
sozialistische Vergangenheit gegeben« (Kaminski).
Auch die Literaturpädagogik und Jugendschriftenkritik der 1950er Jahre Schund und Schmutz
ist von diesem restaurativen Grundzug geprägt. Er äußert sich v.a. in der
heftig geführten Kampagne gegen ›Schmutz und Schund‹, die sich v.a. gegen
Heftchenliteratur und Comics richtete und ihrerseits auf eine längere Vorge-
schichte zurückblicken konnte, die bis in die Weimarer Republik zurück-
reichte, aber auch – gestützt auf personelle Kontinuitäten wie das einfluss-
reiche Wirken etwa Eduard Rothemunds vor und nach 1945 – in konserva-
tiven Tendenzen innerhalb der Jugendliteraturpolitik des ›Dritten Reichs‹
Anknüpfungspunkte hatte. Kinder- und Jugendliteratur sollte lesehygienisch
›sauber‹, ›sittlich wertvoll‹ und bildungswirksam sein – allerdings nicht in
einem primär gegenwartsorientierten und demokratischen Sinn. Diese litera-
turpädagogischen Positionsbestimmungen waren geprägt vom »Jargon der
Eigentlichkeit« (Adorno), ihr Wertekanon für die Jugend war christlich-
abendländisch und vermeintlich unpolitisch. Die wenigen linksdemokra-
tischen oder gar sozialistischen Stimmen der Jugendliteratur(-kritik) jener
Jahre wie Anna Siemsen oder John Barfaut – Redakteur der Jugendschriften-
Warte – drangen demgegenüber nicht durch.
314 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

Repräsentanten der westdeutschen Kinder-


und Jugendliteratur nach 1945

Auch die Kinder- und Jugendliteratur selbst nach 1945 orientiert sich an
pädagogischen Vorstellungen und literarischen Traditionen, die – um es mit
einem Schlagwort der Zeit zu charakterisieren – ›unbelastet‹, zumindest
weltanschaulich unverdächtig erscheinen, ferner der forcierten Inanspruch-
nahme und Zurschaustellung weltanschaulicher (christlich-abendländischer)
Korrektheit entsprechen. Auffallend ist die Betonung eines konservativen
Wertekanons, der Verlässlichkeit und Sicherheit verspricht; Inbegriff ist das
Wertekonglomerat ›christliches Abendland‹, für dessen Geltung jene Politi-
kergeneration steht, der auch Adenauer angehört. Zudem schreiben die Au-
toren und Autorinnen auch stark im Bann ihrer persönlichen Entwicklung,
ihrer biographischen Präferenzen und Erfahrungen.
Die ›alte Garde‹ Die ›alte Garde‹ der bereits vor 1933 auf diesem Gebiet Hervorgetretenen
ist kontinuierlich oder mit nur geringen Unterbrechungen präsent. Ungebro-
chen, und auch über den Nationalsozialismus hinweg, der ihre Verbreitung
und Rezeption nicht hinderte, setzen bürgerliche Autoren ohne dezidierte
weltanschauliche Tendenz wie Wilhelm Matthießen ihre Karriere als Kinder-
und Jugendbuch-Autoren fort; ein anderes Beispiel ist Wolf Durian (d.i.
Wolfgang Bechtle), der in der DDR lebt, aber auch in der Bundesrepublik
präsent ist. Hierher ist auch die wenige Tage nach Ende des Zweiten Welt-
kriegs verstorbene Magda Trott mit ihren zahlreichen trivialen Mädchenbü-
chern zu zählen, die seit den 1920er Jahren erschienen, während des ›Dritten
Reichs‹ stets präsent waren und in der Bundesrepublik v.a. der 1950er Jahre
zu den unverwüstlichen Longsellern zählten (Pucki- und Goldköpfchen-Se-
rie). Auch Hertha von Gebhardt beginnt mit Mädchenbüchern in den 1930er
Jahren (Bettine, 1937; Brigittes Kameraden, 1938 und Pack zu, Gisela, 1939)
und ist bereits 1947 wieder mit Die Kinderwiese präsent. Von da an legt sie
alle ein bis zwei Jahre einen weiteren Titel vor. Auch diese Autorin zählt in
der Bundesrepublik zu den Älteren, den über 50–70-Jährigen, die vorzugs-
weise für Kinder schreiben, obwohl sie von deren Realwelt weit entfernt sind
und ab den 1950er Jahren der Großelterngeneration dieser Kinder angehö-
ren. Man kann sie mit ihrer frühen Nachkriegsproduktion auch als Vertrete-
rin einer moralisch-weltanschaulich präskriptiven Soll-Bild-Literatur im
(schein-)realistischen Gewand der moralischen und rührenden Beispielge-
schichte bezeichnen.
Sonderfälle stellen Karl Aloys Schenzinger, der Autor des berüchtigten HJ-
Romans Der Hitlerjunge Quex (1932), und Hjalmar (d.i. Hermann) Kutzleb
dar. Unbeschadet des nach 1945 verbotenen Quex konnte Schenzinger als
Verfasser von populärwissenschaftlichen Jugendbüchern, die z. T. ebenfalls
bereits im ›Dritten Reich‹ erstmals publiziert worden waren (Anilin, 1936,
Neuausgabe 1949; Metall, 1939, Neuausgabe 1949), auch nach 1945 höchst
erfolgreich in Erscheinung treten, obwohl beide Bücher ungebrochen ›deut-
sche‹ Wissenschaft feiern. Anilin erreichte eine Gesamtauflage von 500 000
und Metall bis 1951 eine Gesamtauflage von einer Million Exemplaren.
Auch der nationalsozialistische Jugendbuchautor Kutzleb, dessen Spezialität
Germanen- und Geschichtsstoffe aus der preußisch-brandenburgischen Ge-
schichte waren, die er im altrenommierten Hermann Schaffstein-Verlag pu-
blizierte, brachte es zwischen 1949 und 1956 auf 13 neue Titel.
Zu dieser NS-Schriftstellergruppe zählen auch Angehörige der etwas jün-
Repräsentanten der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 315

geren Generation (der ›Kästnergeneration‹, d. h. der um 1900 Geborenen)


wie insbesondere Fritz Steuben (d.i. Erhard Wittek). Dessen Karriere als Ju-
gendschriftsteller begann noch in der Endphase der Weimarer Republik und
setzte sich über das ›Dritte Reich‹ bis in die Bundesrepublik hinein fort. Seine
Indianerromane mit historischem Hintergrund um den Shawano-Häuptling
und General in englischen Diensten, Tecumseh, die bereits im ›Dritten Reich‹
erschienen und 1939 mit dem NS-Staatspreis für Jugendliteratur ausgezeich-
net worden waren (Hans-Schemm-Preis), erwiesen sich – bereinigt um einige
allzu offensichtliche deutschtümelnde Rassismen und NS-Ideologeme sowie
die nach 1945 inkriminierenden programmatischen Vorreden im Sinne des
Nationalsozialismus – als durchaus jugendlektüretauglich. Dabei transpor-
tieren sie auf der Handlungs- und Konfliktebene NS-Ideologeme wie Führer-
und Gefolgschaftstreue, SS-artige Kriegerelitekonzepte, Härte, Kampfent-
schlossenheit etc. ungebrochen weiter. Das tat ihrem Erfolg und ihrer Weiter-
wirkung in der alten BRD und auch (latent) in der DDR keinen Abbruch.
Deutlich jünger als die Angehörigen der ›Kästnergeneration‹ sind zwei als
ganz junge Männer bereits während des ›Dritten Reichs‹ bekannt gewordene
und als Hoffnungsträger einer NS-spezifischen Jugendkultur hervorgetretene
Autoren, die es dann auch in der Bundesrepublik zu höchstem Ansehen
brachten: Hans Baumann, der HJ-(Fahrten-)Lieder, allen voran das berüch-
tigte Es zittern die morschen Knochen schrieb und Alfred Weidenmann, von
dem die bei Erscheinen als vorbildliche nationalsozialistische Kinder- und
Jugendliteratur hochgelobte Trilogie Jungen im Dienst (1936–1938) sowie
der als ebenso modellhaft hochgeschätzte Jugendpropagandaspielfilm Junge
Adler (1944) stammen. Altersmäßig steht beiden ein Autor wie Heinrich
Maria Denneborg nahe, der bereits 1933 mit ersten Veröffentlichungen her-
vortrat, aber erst seit den 1950er Jahren zu den festen Größen der bundesre-
publikanischen Kinder- und Jugendliteratur zählt (Jan und das Wildpferd,
1957).
Zu den Debütanten nach 1945 gehören – aus der älteren Generation –
Walther Pollatschek, Margot Benary (d.i. Margot Benary-Isbert) und der
Österreicher Karl Bruckner. So debütierte Pollatschek nach seiner Rückkehr
aus dem Exil, das ihn ab 1934 über Spanien und Frankreich in die Schweiz
führte, als Kinderschriftsteller erst 1947 mit der autobiographisch unterleg-
ten Erzählung Drei Kinder kommen durch die Welt. Eine Angehörige der
Kästner-Generation ist auch Ingeborg Engelhardt. Sie beginnt ihre bis in die
70er Jahre andauernde Karriere als Kinder- und Jugendbuchautorin 1950,
also im Alter von 46 Jahren. Auch Henry Winterfeld hat 1948 mit Timpetill,
die Stadt ohne Eltern sein Debüt.
Davon abzusetzen sind Autoren und Autorinnen jener älteren Generatio-
nen der bereits vor bzw. um 1900 Geborenen, die während des ›Dritten
Reichs‹ in Deutschland geblieben, aber zum Schweigen verurteilt waren wie
der Prominenteste von ihnen, Erich Kästner, oder aber ins Exil gehen mus-
sten wie Lisa Tetzner oder Wilhelm Speyer. Das Schicksal ihrer Produktion
aus der Weimarer Republik, den Exiljahren wie auch nach 1945 ist ein eige-
nes Kapitel der Geschichte der deutschsprachigen Kinder- und Jugendlitera-
tur. Es lässt sich auf den Nenner der Nicht-Präsenz von deutschsprachiger
Kinder- und Jugendliteratur des Exils bringen. Die entsprechenden Romane
und Romanzyklen von Lisa Tetzner wie Erlebnisse und Abenteuer der Kinder
aus Nr. 67, die sogenannte Kinderodyssee (9 Bde., 1932–1949), oder Kurt
Helds Giuseppe und Maria (4 Bde., 1955) bilden eine Sondersparte. Sie re-
präsentieren gegenwartsbezogenen, gesellschaftskritischen Realismus in der
Jugendliteratur der Nachkriegszeit. Vor allem der Zyklus Tetzners entwirft Lisa Tetzner
316 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

ein in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur dieser Zeit einma-


liges Epochenpanorama.
Von all diesen Autorinnen und Autoren sind diejenigen zu unterscheiden,
die aufgrund ihrer Generationszugehörigkeit (geboren in den 20er Jahren)
erst ab 1945 zu publizieren begannen, deren Anfänge und frühe Karriere also
in die ersten Nachkriegsjahre und in die 50er Jahre fällt. Sie durchlebten be-
wusst das ›Dritte Reich‹ als Kinder und Jugendliche und waren bei Gründung
der Bundesrepublik Anfang oder Mitte zwanzig. Zudem sind sie Angehörige
jener Generation, die den Zweiten Weltkrieg als junge Soldaten oder als
Flakhelfer mitmachen musste. Zu ihnen gehören v.a. auch die großen Drei,
die seit Mitte der 50er Jahre die westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur
repräsentieren: Otfried Preußler, James Krüss und Michael Ende. Aus dem
Vorhandensein eines gemeinsamen Erfahrungshorizonts und einer daraus
resultierenden veränderten Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität so-
wie der Umgangsweisen mit ihr lassen sich Rückschlüsse auf die auffallende
Gleichrichtung der relevanten Neuansätze in der Kinder- und Jugendliteratur
ab 1955/56 ziehen, die von Ewers unter der Bezeichnung »Literatur der
Kindheitsautonomie« zusammengefasst wurden.

Anfänge: 1945–1949

Unpolitische Literatur Die kinder- und jugendliterarische Textproduktion in den ersten Nachkriegs-
jahren bis zur Gründung der Bundesrepublik 1949 (einem Ereignis, das kei-
nesfalls als eine deutliche Zäsur im Profil der Kinder- und Jugendliteratur
und der ihr zugrunde liegenden Mehrheitsmentalität verstanden werden
darf, sondern nur als eine Orientierungsgröße dienen soll) ist aufs Ganze ge-
sehen stark konservativ und von Nichtbeachtung der jüngsten Vergangenheit
– besonders aber der deutschen Schuld an der säkularen Katastrophe – ge-
prägt. Sie weist aber auch einige aufschlussreiche Besonderheiten auf, die
zwar nicht die tatsächliche Rezeption und Wirkung der damals neu entste-
henden oder nach Westdeutschland gelangenden Kinder- und Jugendliteratur
widerspiegeln, aber doch ein Spektrum an Möglichkeiten zeigen, die in dem
Mehrheitskorpus betont harmlos-gutmütig-humoristisch bzw. ›abendlän-
disch-eigentlich‹ und dabei realitätsverleugnend sich erweisender Texte auf-
fallen und eigene Akzente setzen.
Das Verfahren, nach 1945 unpolitisch und ohne Bezug auf die allerjüngste
Vergangenheit oder unter bewusster Ausklammerung von ihr Kinder- und
Jugendliteratur weiterzuschreiben, war weit verbreitet und über seine An-
wendung herrschte stillschweigender Konsens. So kreierte man mehrheitlich
Kinderfiguren in einer Umgebung, die auf eine falsche, unglaubwürdige und
heute mehr denn je verlogen wirkende Weise ›zeitlos‹ war, deren Konstruk-
tion aber jenes fatale Vakuum, um das herum diese Kinderwelten konstruiert
wurden, nicht einfach verleugnen konnte. Die Flucht ins Harmlos-Idyllische
war erkauft um den Preis des Schweigens über so viele Untaten und der Ta-
buisierung jeglicher Verweise auf jene Welt, aus der sie hervorgegangen wa-
ren und in deren Fortdauer die jungen Leserinnen und Leser von Kinder- und
Jugendliteratur zwangsläufig lebten. Der französische Germanist Robert
Minder hat diesen Sachverhalt am Beispiel einer vergleichenden Analyse der
Texte in deutschen und französischen Lesebüchern im Jahr 1953 für Deutsch-
Anfänge: 1945–1949 317

land so beschrieben: Das deutsche Kind erfahre auch nach 1945 viel zu viel
von »Scholle« und »Volkstum«, von »Pflege des Gemüts und der Weltan-
schauung«, lerne »das spießige Winkelglück der zahllosen Boden- und Schol-
lendichter des 20. Jh.s, deren Welt mit den Brettern des Untertanengehorsams
vernagelt ist«, kennen. Und Minder zieht ein berühmt gewordenes Fazit, das
auch auf das Gros der westdeutschen Kinderliteratur dieser Jahre zutrifft:
»Fielen dem Mann vom Mond solche Lesebücher [man kann dafür auch
einsetzen: Kinderbücher] in die Hände, er dächte: ein reiner Agrarstaat muß
dieses Deutschland sein, ein Land von Bauern und Bürgern, die in umhegter
[zumeist kleinstädtischer] Häuslichkeit schaffen und werkeln und seit Jahr-
hunderten nicht mehr wissen, was Krieg, Revolution, Chaos ist.«
Der 1949 in Wien erschienene Kinderroman Die Spatzenelf von Karl Enthistorisierung
Bruckner, der von einer Gruppe von etwa 8–12-jährigen fußballbegeisterten der Schauplätze
Volksschülern erzählt, verwendet bekannte kinderliterarische Ingredienzien: und Handlungs-
Prächtige (Laus-)Bubentypen schlagen sich durch; einige müssen mitverdie- zusammenhänge
nen, weil das Familienbudget der alleinerziehenden Mutter nicht reicht. Sie
gründen gegen alle möglichen Widerstände eine eigene Fußballmannschaft.
Das Motiv der Solidarität der Mitglieder der Spatzenelf mit einem ihrer Ka-
meraden, den sie durch freiwillige Dienstleistungen ›freikaufen‹, hat seine
Entsprechung bereits in Alfred Weidenmanns NS-Kindererzählung Jungzug
2. Im Grunde bewegt sich die natürlich glücklich endende Handlung im Be-
reich des von Erich Kästner Vorgegebenen. Trotz des Milieus gibt es keine
politischen Implikationen wie in der linksproletarischen und Exil-Kinder-
und Jugendliteratur.
Ein erfolgreiches Seitenstück zu Karl Bruckners Spatzenelf bildet Henry
Winterfelds deutlich an Kästner geschulte Verkehrte-Welt-Geschichte Timpe-
till. Die Stadt ohne Eltern (1948). Den Handlungsraum bildet auch hier das
beliebte, so zeit- wie ortlose Kleinstadt-Ambiente – mit einer deutschen
Kleinstadt von einer komisch-idyllischen Gegenwärtigkeit, die durch Aus-
sparen aller konkreten zeitgeschichtlichen Problembezüge erreicht wird. Der
Roman stammt von dem Autor der seinerzeit bekannten Caius-Kinderro-
mane, die im antiken Rom spielen, und fällt dadurch auf, dass er noch fast
25 Jahre nach seinem ersten Erscheinen in einer gänzlich gewandelten Bun-
desrepublik 1972 eine fünfte Auflage erlebte. Winterfelds Kinderroman be-
ginnt wie eine der üblichen Lausbubengeschichten. Dann erweist er sich als
eine pädagogisierte Version des Verkehrte-Welt-Motivs: Die Eltern verlassen
geschlossen die Stadt, um die anders nicht mehr zu bändigenden Kinder auf
diese drastische Weise mittels Entzug der erwachsenen Kompetenzen im All- Henry Winterfeld:
tag und im Sozialen zur Räson zu bringen. Die Kinder, die zwar nach anfäng- Timpetill. Die Stadt ohne
lichen Schwierigkeiten mit den ungewohnten Anforderungen, die das soziale Eltern (1948)
Management an sie stellt, ganz gut klarkommen und v.a. die Störenfriede
und Bösewichter unter ihren Altersgenossen ausschalten oder zur Rechen-
schaft ziehen, sind doch froh, als die Erwachsenen nach einigen Tagen wieder
das Ruder übernehmen, und wollen am Ende das, was sie nach den Vorstel-
lungen der Erwachsenen auch wollen sollen. Die Asozialen – zwischen z. T.
bösartigen Lausbubenstreichen à la Max und Moritz und schon in den Be-
reich des Kriminellen hinüberspielenden Aktivitäten – sind die Gruppe der
sogenannten Piraten, die zunächst auch die Mehrheit hat. Man kann die
Geschichte auch als eine verdeckte kinderliterarische Parabel auf das Auf-
kommen des Faschismus lesen, als eine kleinbürgerliche Rettungsparabel:
Die Anständigkeit der vernünftigen, gutbürgerlichen Kinder siegt über Chaos
und Gemeinheit der »Piraten«, die – auch von der sozialen Zusammenset-
zung her – wie eine Art SA wirken. Diese Gruppierung wird am Ende aber
318 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

doch durch die cleveren Guten ausgeschaltet und auf den richtigen Weg ge-
bracht. Das Wiederauftauchen der Erwachsenen besiegelt die durch die guten
Kinder selbst errungene, wiederhergestellte Ordnung im Städtchen, das alle
charakteristischen Merkmale der Kleinstädte in der Kinder- und Jugendlite-
ratur der Nachkriegszeit aufweist: Es ist ein merkwürdig zeitloser, vormo-
dern-biedermeierlich wirkender Ort mit wohlmeinend-behäbigen oder auch
kauzigen Honoratioren (Lehrer, Apotheker, Briefträger, Bürgermeister) und
fleißig vor sich hinwerkelnden Handwerksmeistern (Schuster, Fleischer etc.),
der als Bühne für die Streiche und Ungezogenheiten der Kinder dient; Arbei-
ter, Industrie u.ä. kommen nicht vor; das Höchste an zivilisatorischem Fort-
schritt ist eine alte Straßenbahn sowie ein Elektrizitätswerk. Der vergleichs-
weise große Erfolg dieses Erzählmodells liegt wohl in der an Kästner ge-
schulten flotten, humoristischen Erzählweise Winterfelds (mit einem etwa
13-jährigen Ich-Erzähler aus der Gruppe der Guten, der Anti-Piraten) sowie
im Reiz des Motivs der verkehrten Welt.
Ähnliches kann auch für Rosemarie Ditters Kinderroman O diese Rassel-
bande (1953, 9. Aufl. 1965) gelten, der im Übrigen für die in den 50er Jahren
in der Bundesrepublik führende Kinder- und Jugendzeitschrift Rasselbande
titelgebend war. Es handelt sich um eine Schul-, genauer Gymnasialgeschichte
mit den genreüblichen Streichen und Ingredienzien: die Klassengemeinschaft
einer Untertertia (= 8. Klasse) und die mehr oder weniger sympathisch-re-
spektheischend dargestellten Studienräte; Pennälerscherze in Deutsch: Schil-
lerverballhornung (Der Taucher), Indianer-Identifikation auf der Ebene von
Karl-May-Winnetou-und-Old-Shatterhand-Gehabe (Marterpfahl) und der-
gleichen mehr – in Anlehnung an Speyer (Kampf der Tertia), aber auch Käst-
ner (Das fliegende Klassenzimmer). Insbesondere geht es um die Anerken-
nung des Mädchens Silke, der Tochter des neuen Forstmeisters des Klein-
städtchens Walsrode, in einer ansonsten reinen Jungenklasse. Auch die
sozialen Differenzen spielen wie bei Speyer eine Rolle. Das Erfolgsrezept von
Ditters Roman besteht darin, dass die Autorin – wie der Klappentext ver-
merkt – ihre eigenen Schülerinnenerlebnisse literarisiert. Und die müssen bei
einer Frau, die 1953 etwa 40 Jahre alt war, in die Zeit der Weimarer Repu-
blik gefallen sein. Das wird aber allenfalls daran erkennbar, dass sich die
Autorin an den Traditionen kinder- und jugendliterarischer Inszenierung von
Schülerleben in einem Typus von deutscher Kleinstadt orientiert, wie er für
die 20er und frühen 30er Jahre noch existent gewesen sein mochte – mehr
noch: wie er sich als kinder- und jugendliterarischer Topos erhalten hatte.
Zwischen Idyllik und Margot Benary-Isbert thematisiert v.a. in Die Arche Noah (1948) das
Problemdarstellung Elend der Nachkriegssituation sehr deutlich – aber als Elend der Deutschen,
der Flüchtlinge. Was dem vorausgegangen war, wird nicht erkennbar ge-
macht, die Situation ist Schicksal, der Krieg ein Verhängnis. Ansonsten ist die
Handlung von mehr oder weniger wohlmeinenden Menschen bevölkert. Die
Guten und Hilfsbereiten sind dabei in der Überzahl, sie spielen im Vorder-
grund der Handlung. Das gilt insbesondere für Mutter Lechow und für die
prächtige Frau Almut, welche die Vertriebenenfamilie Lechow auf ihrem Hof
aufnimmt. Das Land und die ländliche Überschaubarkeit erscheinen als ret-
tender Rahmen für die Familie Lechow. Es geht hier überaus freundlich und
gesittet zu; zudem herrscht eine auffallende Frömmigkeit, die christlichen
Feste werden in ihrem religiösen Zusammenhang gefeiert (v.a. natürlich
Weihnachten), einige fromme Lieder werden rezitiert und gesungen, Gottes-
dienste besucht etc. Die Autorin inszeniert eine kleine heile in der unheilen,
zerstörten großen Welt, die aber gegenüber der ersteren zunehmend zurück-
tritt.
Trümmerbewältigung 319

Diese Tendenz prägt auch den 1949 erschienenen zweiten Band Der Eber-
eschenhof, in dem die weiteren Schicksale der Familie Lechow in den ersten
Nachkriegsjahren erzählt werden. Alle – einschließlich des aus russischer
Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Vaters, des Arztes Dr. Lechow – sind
auf dem rettenden Ebereschenhof von Frau Almut untergekommen. In die
kleineren und größeren Alltagsprobleme sind auch immer wieder Bezüge auf
die aktuelle und für viele schwierige Lebenssituation eingestreut; es finden
sich Bezugnahmen auf den Krieg und die Kriegsfolgen (v.a. die Zerstörungen
und das Flüchtlingselend, gefallene Männer und Söhne etc.). Allerdings wird
alles letztlich als schweres Schicksal dargestellt, das es zu tragen und mit
Zukunftsoptimismus zu meistern gilt. Die Schuldfrage wird nicht zur Spra-
che gebracht, auch wenn dessen aktuelle Folgen durchaus dargestellt werden.
Auch die Teilung Deutschlands wird thematisiert; im Osten sind die Russen,
und Grenzübertritte sind gefährlich. Die Handlung zielt ganz darauf ab, den
Wiederaufbau ins Zentrum zu rücken; so wird beispielsweise von der durch
den kriegsversehrten jungen Neulehrer Christoph Hühnerbein angestoßenen
Aktion erzählt, mit den Schülern seiner Volksschule einen bombenzerstörten
Bauernhof wieder herzurichten und zur Unterkunft für Flüchtlinge auszu-
bauen.

Trümmerbewältigung

Die raue Nachkriegsgegenwart in zerstörten Städten spielt nur in einigen Pollatscheks


Kinder- oder Jugenderzählungen eine Rolle; in zwei von ihnen wird dies be- »Aufbaubande«
reits durch den Titel deutlich gemacht: in Walther Pollatscheks Die Aufbau-
bande und Willi Reschkes Die Trümmerkolonne. Eine Jungengeschichte aus
unserer Zeit. Pollatschek gehört zu den Inhabern der Gründungslizenz für
die heute noch bestehende linksliberale Frankfurter Rundschau. Sein wich-
tigster Kinderroman ist 1948 sowohl in der SBZ wie auch, was sehr selten
vorkam, ein Jahr später im Westen erschienen. Pollatscheks Handlungs- und
Figurenkonzept ist keinesfalls als dezidiert prosowjetisch oder gar kommu-
nistisch zu bezeichnen. Es beruht vielmehr auf der Idee, dass sich Kinder
unterschiedlicher Herkunft und Schichtenzugehörigkeit in einer zerstörten
deutschen Großstadt zusammentun und auf ihre Weise, nach ihren Möglich-
keiten zum Wiederaufbau beitragen. Es kann von einer Mischung aus Käst-
ner und Gaidar gesprochen werden; bestimmend ist die Kindersolidarität im
Dienst einer guten Sache wie in Emil und die Detektive, Pünktchen und
Anton oder Timur und sein Trupp. Dabei leben die Kinder der ›Aufbaubande‹
den Erwachsenen auch eine Art Volksfrontsolidarität vor. Zur Gruppe gehö-
ren nämlich nicht nur ›normale‹ deutsche Kinder, sondern auch ein Flücht-
lings- und ein Arbeiterjunge, dessen Vater als Hitlergegner umgebracht wurde
– beides Waisen bzw. Halbwaisen – sowie Hagen Kurz, der Sohn eines ehe-
maligen hohen Nazifunktionärs, und – das andere Extrem – Simon Bloch,
ein etwa 14 Jahre alter Überlebender des Holocaust. Und die Familie des
vorbildlichen Lehrers steuert als Adoptivkind noch ein kleines schwarzes
Mädchen bei, um das sich v.a. das einzige handlungsfähige weibliche Mit-
glied der Aufbaubande kümmert. Es wird als »Mick, das Mulattenkind« be-
zeichnet.
Die in Berlin spielende Erzählung Die Trümmerkolonne (1949) von Reschke
320 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

ist eine Beispielgeschichte vom Wiederfinden des verlorenen Gottesglaubens


(der im Krieg angesichts des Unheils abhanden kam). Die positive Identifika-
tionsfigur ist ein Pastor, der sich mit der Gestapo anlegt und nach Bomben-
angriffen tatkräftig den Opfern geholfen hatte. Zum Realismus der Erzäh-
lung trägt etwa die Schilderung der Wirkung einer Luftmine bei, die einen
auf Urlaub befindlichen Vater vor dem Luftschutzkeller tötet. Die Welt be-
steht neben einigen erwachsenen Bösewichtern wie einem dicken Schieber v.
a. aus liebe- und verständnisvollen Helfern, die die entwurzelten und gefähr-
deten Jugendlichen für die ehrliche Sache der Trümmerkolonne gewinnen
und sie auf den Weg des Christusglaubens führen.
Erich Kästner Innerhalb der originär deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur der
ersten Nachkriegsjahre gehört zu den wichtigsten Repräsentanten einer Kin-
der- und Jugendliteratur nicht-idyllisierender Tendenz v.a. der Altmeister
Erich Kästner. Nach Kriegsende tritt Kästner im Jahr 1949 gleich mit zwei
Kindererzählungen hervor: mit der fantastischen Politparabel Die Konferenz
der Tiere und dem realistischen Scheidungsroman Das doppelte Lottchen. In
Die Konferenz der Tiere entwirft Kästner eine politische Utopie, die auf der
Linie seines Kindheitsdiskurses liegt, wie er bereits im Emil oder in Pünkt-
chen und Anton angelegt ist: Die Kinder sind die eigentliche Zukunftshoff-
nung der Menschheit. In ihnen liegt das Entwicklungspotenzial und v.a. die
Vernunftfähigkeit – nicht bei den Erwachsenen, die sich durch ihre notori-
sche Unfähigkeit, in Frieden miteinander zu leben, um jeden moralischen
Kredit gebracht haben. Die Tiere erweisen sich als die Mandatare der Kinder,
als deren Platzhalter und Stellvertreter; sie nehmen im moralischen Gefüge

Illustration aus Erich


Kästners Die Konferenz
der Tiere (1949)
Trümmerbewältigung 321

der Welt den Platz der Kinder ein – um den Menschenkindern behilflich sein
zu können, weil diese selbst zu schwach dazu sind und die Erwachsenen zu
unfähig oder nicht willens (wie Politiker und Militärs, die um ihre Macht
und ihre Pfründe bangen). Kästners anthropologische Konzeption ist durch-
aus in der Nachfolge Rousseaus zu sehen; zugleich aber ist er auch Aufklärer,
von den Möglichkeiten der Vernunft und ihrer unkonventionell-listigen An-
wendung überzeugt. Und deren Agent sind die Tiere der Welt. Ihnen gelingt
es, nachdem sie alle Kinder dieser Welt zur Rettung von deren bedrohter
Zukunft sozusagen ›fürsorglich entführt‹ haben, die verantwortlichen Staats-
männer und Militärs zur Unterschrift unter einen weltweit geltenden Frie-
dens- und Freundschaftsvertrag, gewissermaßen eine utopische UN-Charta
zum Besten der derzeitigen und zukünftigen Kindergenerationen, zu veran-
lassen. Kästner greift also ein höchst aktuelles politisches Thema auf: den
Erhalt des Friedens und gleichzeitig die Unmöglichkeit, diesem Ziel auf den
üblichen diplomatischen Wegen näherzukommen. Der Kalte Krieg, die Er-
fahrungen mit Ereignissen wie der Potsdamer Konferenz und dergleichen
werfen ihre Schatten. Zugleich wird die Gründung der UNO aufgenommen:
Die Tiere organisieren zum Schutz der Welt, zu dem sich die Berufspolitiker
als unfähig erweisen, und zum Schutz der Kinder eine eigene Weltkonferenz
und zwingen am Ende die Politiker und Militärs, die Weltfriedens- und Ver-
nunftcharta zu unterzeichnen. Diese ist zugleich eine wahrhaft kinderpoliti-
sche Charta. Und die Tiere sind – so Kästners witzig inszeniertes Credo – zu-
sammen mit den Kindern die besseren, vernünftigeren Menschen. Ein Kom-
plementärtext zur Konferenz der Tiere ist der Abschlussband Der neue Bund
von Lisa Tetzners Kinder aus Nr. 67; er bietet eine utopische Perspektive auf
Völkerverständigung, die von der Jugend dieser Welt ausgeht und in der
Schweiz ihr Zentrum hat.
Kästners Das doppelte Lottchen, sein zweiter Kinderroman nach 1945 »Das doppelte
(die Idee war bereits um 1942 in einem Exposé für ein Filmdrehbuch ange- Lottchen«
legt), ist insofern höchst aufschlussreich, als der Autor zwar eine Welt ent-
wirft, in der es von Seiten und durch die Schuld der Erwachsenen zu ernst-
haften Spannungen und Verwerfungen kommt und nicht die Kinder als die
›Schuldigen‹ dastehen; andererseits aber entgeht auch dieser kinderliterari-
sche Problemroman nicht der Gefahr einer Verharmlosung. Kästner lädt den
kinderliterarischen Kindheitsdiskurs zwar realitäts- und problembezogen
auf, er moralisiert ihn jedoch zugleich und entschärft ihn durch das Entwer-
fen einer merkwürdig zeitbezugslosen, wenn auch moderneren kindlichen
Lebenswelt, als sie in den üblichen Kinderwelt-Erzählungen der Nachkriegs-
jahre präsentiert wird. »Das Buch spielt in einer ahistorischen Welt« (Ruth
Klüger), die als solche als besonders kinderliteraturkonform gelten konnte,
weil alle realen zeitgeschichtlichen Bezüge daraus getilgt sind. Das verbindet
Das doppelte Lottchen mit anderen Kinderbüchern der Zeit. Bei näherer
Betrachtung des Realitätsbezugs dieses Scheidungsromans zeigt sich, dass er
seiner Handlungslogik nach im Deutschland der 40er Jahre spielen müsste –
dies jedoch auf eine verwirrende Weise zugleich tut und nicht tut. So weist
Kästners kinderliterarische Gegenwartswelt einerseits keinerlei direkte Be-
züge zur zeitgeschichtlichen Realität auf, in der sie eigentlich zu verorten ist;
andererseits gibt es aber doch Spuren dieser ansonsten so strikt ausgeblende-
ten Realität. Sie finden sich allerdings nicht auf der Ebene der narrativ-fiktio-
nalen ›Karte‹ des Textes, die keinerlei erkennbare Beziehungen zum ›Refe-
renzterritorium‹ Deutschland/Österreich zwischen etwa 1939 bzw. 1945 und Illustration aus Kästners
1949 enthalten, sondern in der erzählerischen Anlage und der Lösung des Das doppelte Lottchen
Konflikts selbst: Die Kinder sind den Folgen des Tuns der Erwachsenen aus- (1949)
322 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

geliefert und von ihnen betroffen, bekommen von Kästner aber die Fähigkeit
und Möglichkeit zugesprochen, dagegen vorzugehen, in den unguten Zu-
sammenhang bessernd und heilend einzugreifen. Diese Botschaft findet sich
auch bei Astrid Lindgren und in anderen modernen und fortschrittlichen
kinderliterarischen Manifestationen jener Nachkriegsjahre. Kästners Kind-
heitskonzept ist zudem weiterhin dem der 20er Jahre und der Neuen Sach-
lichkeit verpflichtet, insofern er die kindlichen Helden als Korrektiv für die
Erwachsenen inszeniert: Die aus den Fugen geratene Erwachsenenwelt kann
am besten durch ›authentische‹ Kinder wieder in Ordnung gebracht werden.
In den 1950er Jahren allerdings scheint Kästners kinderliterarisches Ge-
staltungs- und gar Modernisierungspotenzial ausgereizt zu sein. Er bringt
seine aufklärerischen Qualitäten, humorvoll-vernünftig und in zum Nach-
denken anregender Weise mit seinem kindlichen Publikum zu sprechen, noch
einmal nachhaltig in seiner Kindheits- und Jugendautobiographie Als ich ein
kleiner Junge war (1957) zur Geltung. Sein Roman für Kinder Der kleine
Mann (1953) und dessen Fortsetzung Der kleine Mann und die kleine Miß
(1967) sind nur mehr unterhaltsam gekonnte Nachlesen zum früheren Werk.
Und es dürfte kaum ein Zufall sein, dass Kästner sich nach 1950 kinderlite-
rarisch, von den genannten Texten abgesehen, im Wesentlichen als Nacher-
zähler von Klassikern der komischen und humoristischen oder auch satiri-
schen (Welt-)Literatur betätigte: Der gestiefelte Kater. Nacherzählt, 1950;
Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Reisen und Abenteuer zu Was-
ser und zu Lande. Nacherzählt, 1951; Die Schildbürger. Nacherzählt, 1954;
Leben und Taten des scharfsinnigen Ritters Don Quichotte. Nacherzählt,
1956; Gullivers Reisen. Nacherzählt, 1961.
Auch mit seiner aufklärerisch-demokratischen Kinderzeitschrift Pinguin
(1945–1949) blieb Kästner nach 1945 der Vertreter einer Minderheitsten-
denz in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Das trifft auch auf das
weiterhin in der Schweiz lebende und arbeitende Autorenehepaar Lisa Tetz-
Walther Pollatschek ner und Kurt Held sowie auf Walther Pollatschek zu. Auch dessen erster
Kinderroman 3 Kinder kommen durch die Welt (1947) gehört wie der ein
Jahr später erschienene Roman Die Aufbaubande hinsichtlich seines Potenzi-
als an Zeitgenossenschaft zweifellos zu den bemerkenswerten Ausnahmetex-
ten. In seinem Erstling unternimmt Pollatschek es, Kindern von Nationalso-
zialismus, Krieg, Emigration und von der Judenverfolgung bis hin zum Holo-
caust sehr offen und mit engagiert antifaschistischer politischer Perspektive
zu erzählen. Seine im nur kurzlebigen westdeutschen Verlag Die Wende er-
schienene Emigrationserzählung steht in der Tradition linker, jedoch nicht
proletarisch-revolutionärer Kinderliteratur und erscheint wie ein Seitenstück
zu Lisa Tetzners den nämlichen Zeitraum thematisierenden Bänden ihrer
Kinderodyssee oder auch zu Irmgard Keuns Kind aller Länder (1938). Pol-
latschek versucht, die schwierige Materie kindlichem Verständnis entspre-
chend aufzubereiten und darzubieten. Die Geschichte der Familie der drei
titelgebenden Mädchen Doris, Silvia und Konstanze wird vom Vater als Ich-
Erzähler berichtet, hinter dem unschwer der Autor selbst zu erkennen ist. Die
Erzählung präsentiert sich als eine Sammlung von Reiseabenteuern unter den
Bedingungen der Emigration mit den Stationen Frankreich, Spanien und
Schweiz. Pollatschek versucht hier so etwas wie die Quadratur des Kreises,
nämlich das Schicksal der Familie des kritischen Journalisten-Vaters und Ich-
Erzählers vom Ende der Weimarer Republik bis zum Kriegsende 1945 zu
erzählen und in diese Erzählung zugleich Erläuterungen zur weltpolitischen
Situation einzuflechten, die ja den Hintergrund und Motor für dieses Schick-
sal bildet. Die Grenzen dieses Verfahrens zeigen sich darin, dass der Ich-Er-
Die 50er Jahre 323

zähler vieles durch moralische Wertung auf ein kindliches Verständnisniveau


zu bringen versucht: Die Nazis sind »böse Menschen« und der Krieg ist
gleichfalls »böse«. Allerdings werden Motive wie Machtstreben und Milita-
rismus durchaus genannt. Auch der Spanische Bürgerkrieg wird in seinen
Auswirkungen auf das Familienschicksal nach seinen Ursachen und in sei-
nem Verlauf dargestellt; dabei werden Grundprobleme der Demokratie an-
gesprochen, etwa die Frage, was zu tun sei, wenn eine mächtige Minderheit
mit dem Wählervotum der Mehrheit nicht einverstanden ist. Wie auch in Die
Aufbaubande geht der Autor auf die Judenverfolgung und -vernichtung
während der NS-Diktatur ein; in 3 Kinder kommen durch die Welt ist ein
eigenes Kapitel So war das mit den Juden zu diesem Thema eingeschaltet.
Anknüpfungspunkt ist der Umstand, dass die Großeltern der Kinder mütter-
licherseits jüdischer Herkunft sind, und es wird auch erwähnt, dass einige
der Verwandten dem Holocaust zum Opfer fallen. Pollatschek ahmt Kästners
Tonfall nach und übernimmt dessen Erzählstrategie, Kinder direkt anzuspre-
chen – bis hin zum moralisch-kritischen Impetus seines Schreibens.
Pollatscheks inhaltlich durch und durch politisches und damit in der west-
deutschen Szene ziemlich einmalig dastehendes Kinderbuch, das an Kinder
von etwa zehn Jahren an adressiert ist, wurde – wie nicht anders zu erwarten
– zu seiner Zeit nicht sonderlich beachtet und verschwand später völlig aus
dem Blickfeld. Das hat sicherlich in Zeiten des Kalten Krieges auch damit zu
tun, dass der links engagierte Autor 1950 in die DDR übersiedelte und damit
im Westen zur persona non grata wurde.

Die 50er Jahre

Die 50er Jahre, die Anfangsjahre der alten Bundesrepublik mit dem Bestäti-
gungsschub durch die gewonnene Fußballweltmeisterschaft im Jahr 1954
und dem Wirtschaftswunder, sind kinder- und jugendliterarisch durch eine
Differenzierung und Diversifizierung der Themen, Genres und Schreibstile
gekennzeichnet, nicht zuletzt aufgrund eines nunmehr wieder intakten Lite-
raturmarkts. Dabei dominiert die Programmatik des ›guten Jugendbuchs‹.
Daneben allerdings lassen sich in den 50er Jahren auch verschiedene Schübe
von Neuorientierung, von ›Modernisierung‹ ausmachen, die mehr als nur
vereinzelte Ansätze bleiben, auch wenn diese Neuansätze nicht immer frei
von Restbeständen älterer Schreibkonzepte und ideologischer Perspektivie-
rung sind. Dies kann sich im Thematischen, aber auch im Erzählkonzept
oder in beiden Dimensionen zugleich bemerkbar machen.
Zu denjenigen, die v.a. thematisch umdenken und einen Neuanfang in ei-
nem moralkritischen Diskurs suchen, der die Verwüstungen des Nationalso-
zialismus und seiner Herrschafts-, Macht- und Überwältigungsideologie re-
flektiert, zählt in erster Linie Hans Baumann mit seinen historischen Jugend-
büchern Der Sohn des Columbus (1951), Steppensöhne (1954), Die Barke
der Brüder (1956) und Ich zog mit Hannibal (1960). Er gehört zu den Auto-
ren der ersten Stunde in der Bundesrepublik. Während der 50er und 60er
Jahre publiziert er neben seinen wenigen Jugendbüchern eine Fülle von Kin-
derbüchern; einschließlich seiner Gedichtbände sind es über dreißig. Begon-
nen hat seine Karriere als Kinder- und Jugendbuchautor während des ›Dritten
Reichs‹ v.a. mit seinen Fahrten- und Kampfliedern der Hitlerjugend; nach Hans Baumann
324 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

eigenen Angaben wandte sich Baumann 1941, nach dem Überfall auf die
Sowjetunion, von der Kriegs- und Herrenmenschenideologie des Nationalso-
zialismus ab. Steppensöhne trägt deutlich die Spuren des Wiedergutma-
chungs- und Versöhnungswillens des Autors nach seinen Verstrickungen in
den Nationalsozialismus. Baumann entfaltet in dem Roman eine spannende
und aktuelle Auseinandersetzung um Welteroberungs- und Unterwerfungs-
pläne mächtiger Kriegsherren wie Dschingis Khan, des Großkhans der Mon-
golen. Konkretisiert wird dies an der Geschichte zweier Enkel Dschingis
Khans, der sich gegensätzlich entwickelnden Brüder Arik-Buka und Kubilai,
im Kontext der Eroberungs- und Zerstörungszüge in das Reich des Schahs
von Persien, nach Russland und bis nach Mitteleuropa. Dschingis Khan wird
– im Gegensatz zu Hitler und Stalin, welche die zeitgeschichtlichen Referenz-
größen des Romans bilden – von einem chinesischen Weisen, Yelui, beraten,
auf dessen konstruktive, friedensstiftende Ratschläge er auch weitgehend
hört und dem er größten Einfluss auf den Enkel Kubilai einräumt. Der Ro-
man liest sich wie eine nachträgliche Kritik am nationalsozialistischen Unter-
jochungs- und Vernichtungskrieg im Osten. Es gelingt Baumann dabei aber
sehr überzeugend, seine Botschaft ohne unglaubwürdige Schwarzweiß-Male-
rei durch spannende Handlungsführung und konfliktträchtige Figurenkon-
stellation zu vermitteln, in deren Zentrum das ungleiche prinzliche Brüder-
paar steht, auch wenn die zentrale Figur des Beraters und Prinzenerziehers
Yelui zu einer Art chinesischem Nathan der Weise stilisiert erscheint. Ähnlich
angelegt und um zwei Brüderpaare, die beiden Infanten von Portugal und
zwei Söhne eines Fischers, gruppiert ist die Handlung von Die Barke der
Brüder, die zur Zeit Heinrichs des Seefahrers in der Mitte des 15. Jh.s spielt.
Auch hier geht es um Macht, Eroberung, Intrigen, Entdeckerlust, Treue zu
einem charismatischen Führer. Auch hier gibt es die Figur eines älteren Man-
Hans Baumann: nes, des Padre Pio, der die Herrscher ermahnt, nicht aus Eroberungslust
Steppensöhne (1954) Krieg zu führen und das Leben vieler aufs Spiel zu setzen.
Neben dieser Leistung einer Neuordnung der realistischen, auch die Berei-
che des abenteuerlichen Sachbuchs mit einbeziehenden Jugendliteratur, be-
reitet Baumann auch als äußerst produktiver Kinderschriftsteller und Lyriker
die Wende zu einer ›Literatur der Kindheitsautonomie‹ vor und prägt, etwa
mit seinen abenteuerlich-fantastischen Erzählungen wie Das Karussell auf
dem Dach (1961), diese Entwicklung mit, die dann seit Mitte der 50er Jahre
v.a. mit den Namen Krüss, Preußler und Ende verbunden ist.
Alfred Weidenmann Tendenzen zur Modernisierung repräsentiert auch Alfred Weidenmann
mit seinen Jugendbüchern Kaulquappe, der Boß der Zeitungsjungen (1951)
und der in sich abgeschlossenen Fortsetzung Kaulquappe und die Falsch-
münzer (1953) sowie dem auch verfilmten Erfolgsbuch Gepäckschein 666
(1953). Von seinen Anfängen an ist Weidenmann der Kinder- und Jugendlite-
ratur der Weimarer Republik, der Neuen Sachlichkeit und ihrer auf Span-
nung, Tempo, Schlagkraft der Darstellung angelegten Erzählstrategie ver-
pflichtet. Das zeigen seine durchaus nationalsozialistischen Kinder- und Ju-
gendromane, etwa die Trilogie Jungen im Dienst (1936–1938) und Jakko
(1939), sowie seine starke Beeinflussung durch den Film, also kinematogra-
phisches Erzählen. Dabei vertritt er in seinen Nachkriegsromanen, v.a. in
Kaulquappe, der Boß der Zeitungsjungen und ebenso ausgeprägt in Gepäck-
schein 666 eine ersichtlich an Kästners Emil und die Detektive orientierte
Moral der Anständigkeit und des solidarischen Handelns, gepaart mit Tüch-
tigkeit und Gewitztheit der kindlichen oder jugendlichen Akteure. Er greift
also auf fortschrittliche Traditionen der Kinder- und Jugendliteratur der Wei-
marer Republik zurück, die er allerdings während des Nationalsozialismus
Realismus in der Kinder- und Jugendliteratur der 1950er Jahre 325

durchaus auch in den Dienst von dessen Ideologie zu stellen wusste. Inhalt-
lich handelt es sich um Jungenabenteuer-, Aktivitäts- und Detektivgeschich-
ten, die in einem unhistorisch-gegenwärtigen Handlungsraum angesiedelt
sind; diese Inszenierungscharakteristika teilt Weidenmann mit vielen anderen
Kinder- und Jugendliteratur-Autoren der Zeit. Als Regisseur von gleichzeitig
entstehenden und hochgelobten Erwachsenenfilmen wie Der Stern von
Afrika oder Canaris zeigt er sich für zeitgeschichtliche Aspekt durchaus auf-
geschlossen, bleibt allerdings allen Fragwürdigkeiten und Begrenztheiten des
Aufarbeitungsdiskurses der frühen und mittleren 50er Jahre verhaftet. Be-
merkenswert ist Weidenmanns Versuch in Völkerverständigung; zuerst in
Winnetou junior fliegt nach Berlin (1952), worin er einen jungen Indianer,
den 15-jährigen Sohn eines Apachenhäuptlings, ins Zentrum der Handlung
rückt und in Berlin unter deutschen Jungs agieren lässt. Und in Gepäckschein
666 gibt es eine Art Alibi-Schwarzen (wobei die Bezeichnungen ›Neger‹ und
– immerhin ironisch gebrochen – ›Nigger‹ noch ganz selbstverständlich ver-
wendet werden).
Mit den beiden Kaulquappe-Bänden meldet sich Weidenmann nach seiner
Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft in der eben erst gegründeten Bun-
desrepublik als Jugendbuchautor zurück. Die flott geschriebene, spannend
erzählte Jungenbanden-Geschichte im Zeitungsmilieu bedient sich der Tradi-
tionen der neusachlichen Großstadterzählung; das Konkurrenzmotiv zwi-
schen den beiden Abendzeitungen und den jeweiligen jugendlichen Austrä-
gern erinnert in seiner Anlage an Durians Kai aus der Kiste. Figurenkonstel-
lation und Handlungsführung unterscheiden sich strukturell nicht wesentlich
von Weidenmanns HJ-Erzählungen, etwa von der Trilogie Jungen im Dienst;
auch gibt es Kontinuitäten zum Film Junge Adler. Selbstverständlich gibt es
jetzt keine HJ-Gruppen mehr und alle Bezüge zum ›Dritten Reich‹ sind weg-
gefallen; aber die Handlungsstereotypen sind geblieben: Jungenskamerad-
schaft, Wettkampf, clevere Schachzüge gegenüber Konkurrenten, die Bemü-
hung um Außenseiter und deren Integration in die Gruppe. Wie in Junge
Adler geht es auch in Kaulquappe um die Konkurrenz zweier Jungen um die
Führung in der Zeitungsausträgergruppe: Der angestammte Führer Kaul-
quappe spürt die Überlegenheit des neu und auf Wunsch des Vaters inkognito
dazugekommenen Harald Madelung. In ihrer Sportlichkeit und Härte ent-
sprechen Harald und Kaulquappe durchaus auch dem NS-Jugend-Ideal. Re-
flexionen über die Macht der Massenpresse, verbunden mit einer warnenden
Bezugnahme auf den Propagandaapparat von Joseph Goebbels (dessen Teil
Weidenmann gewesen war), verraten politisch-moralische Intentionen.

Realismus in der Kinder- und Jugendliteratur


der 50er Jahre

Zu den wenigen Repräsentanten eines gesellschaftskritischen Realismus in


der Jugendliteratur der 50er Jahre gehört der österreichische Autor Karl
Bruckner. Ein bemerkenswertes Stück Mädchenliteratur mit jüngeren Mäd-
chen, die bereits selbstbewusst und eigenwillig bis frech sein dürfen, liegt in
seinem Roman Giovanna und der Sumpf (1953) vor, dessen Handlung im
unter erbärmlichsten Arbeits- und Lebensbedingungen existierenden Land- Karl Bruckner: Giovanna
proletariat der Reisbauern im sumpfigen Po-Delta spielt und der deshalb und der Sumpf (1953)
326 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

auch ein realistisch-gesellschaftskritisches Problembuch ist. Weithin bekannt


wurde Karl Bruckner mit seiner auch in der DDR veröffentlichten pazifisti-
schen Erzählung Sadako will leben (1961) vom Schicksal des japanischen
Mädchens Sadako Sasaki, das mit zwölf Jahren an Leukämie als Spätfolge
der 1945 durch den Atombombenabwurf über Hiroshima erlittenen Ver-
strahlung stirbt.
Realismus – Geschichte Für die Entwicklung des Genres Geschichtserzählung zwischen 1945 und
– Abenteuer den 60er Jahren können als besonders signifikant die Autoren Herbert Kranz,
Erhard Wittek (alias Fritz Steuben), Hans Baumann und Kurt Lütgen gelten.
Zwar kommt es in jenen Jahren der Neuorientierung zu einer Absetzbewe-
gung weg von Kriegs- und Herrschergeschichte oder gar -verherrlichung hin
zur Darstellung von mittleren Helden, auch zur Erlebnisperspektive ›von
unten‹ und zur moralisch wertenden Vergegenwärtigung von Geschichte;
diese Tendenz bleibt aber v.a. bei Autoren wie Wittek oder Kranz oft nur
programmatisches Lippenbekenntnis. Kurt Lütgen hingegen thematisiert
nicht Kriegs- und Eroberungsgeschichte, sondern Entdeckungen wie etwa die
Weltumsegelung James Cooks (Der große Kapitän, 1951), die Erforschung
der Antarktis oder die Entdeckung und Erkundung Australiens; er schrieb im
Laufe seiner jugendschriftstellerischen Tätigkeit bis in die 80er Jahre hinein
über 40 Bücher meist zu abenteuerlich-exotischen Themen.
Zu den wichtigeren Vertretern geschichtserzählender Jugendliteratur ge-
hört seit den 50er Jahren auch Ingeborg Engelhardt, die 1962 für ihre Erzäh-
lung Ein Schiff nach Grönland den neu geschaffenen Sonderpreis ›Geschichte
im Jugendbuch‹ innerhalb des Deutschen Jugendbuchpreises erhielt. Von ihr
stammen weiter die viel beachteten geschichtlichen Jugendromane Im Schat-
ten des Staufers (1962), eine Betrügergeschichte um einen Doppelgänger
Friedrich Barbarossas, und Dunkles Glas und Fisch in der Lampe (1963),
worin es um Ereignisse aus der Römerzeit in Köln geht. Auch der österreichi-
sche Autor Fritz Habeck behandelt in seinen Jugendbüchern – Kampf um die
Bardacane (1960), Der einäugige Reiter (1963), Aufstand der Salzknechte
(1967) – vorzugsweise historische Stoffe. Für Habeck ist bezeichnend, dass
er sich vom Autor für Erwachsene zum Jugendbuchautor (zurück)entwickelte,
weil ihm nach eigenem Bekunden die hier gegebene Möglichkeit sehr entge-
genkam, frei von den Zwängen modernen, experimentellen Erzählens einfach
zu schreiben und sich einer leicht historisierenden Sprache bedienen zu kön-
nen. Allen genannten Autoren und Autorinnen ist – entgegen der erklärten
Absicht etwa von Kranz, Baumann oder Bartos-Höppner, das Kriegerische
nicht mehr ins Zentrum zu stellen – die Inszenierung von Kampf und Erobe-
rung wichtig, so beispielsweise in Baumanns Steppensöhne oder Barbara
Bartos-Höppners Geschichtserzählungen Taigajäger (1960), Rettet den gro-
ßen Khan (1961) oder Sturm über dem Kaukasus (1963).

Die neuen Autoren der Fantasie


und Kindheitsautonomie

In dem Maße, wie sich in der Bundesrepublik die Lebensverhältnisse stabili-


sieren und liberalere Tendenzen aus dem westlichen Ausland ihren Einfluss
geltend zu machen beginnen, löst sich die Kinder- und Jugendliteratur all-
mählich aus der Hörigkeit gegenüber einer hierarchisch-autoritären Pädago-
Die neuen Autoren der Fantasie und Kindheitsautonomie 327

gik. Fantasie und Psychologie, die den Kinderfiguren aus der Verpflichtung
auf Wohlanständigkeit und strikte Anpassung an die von den Erwachsenen
gesetzten Verhaltensnormen heraushelfen, werden zu wichtigen Elementen.
Diese Entwicklung, die sich auch in der wachsenden Beliebtheit der ansons-
ten recht konservativen Werten verpflichteten Kinderbücher von Enid Blyton
mit ihren gleichwohl selbstbewusst agierenden Kinderfiguren widerspiegelt,
machen auch Autoren und Autorinnen mit, die sich bis dahin der Stärkung
einer Erziehung zur Wohlanständigkeit verschrieben haben. Das gilt etwa für
Hertha von Gebhardt mit ihren erfolgreichen Kinderbüchern Absender Ni-
kolaus Stuck (1954) und Das Mädchen von irgendwoher (1956); Absender
Nikolaus Stuck ist eine an Kästner orientierte, glücklich zu Weihnachten en-
dende Familienzusammenführungsgeschichte im Theatermilieu. Und Henry
Winterfeld gestaltet in Kommt ein Mädchen geflogen. Eine fast unglaubliche
Geschichte für Kinder (1956) kindlichen Zusammenhalt und kindliches Ver-
ständnis für Fremdartiges, das die Erwachsenen nicht gelten lassen wollen.
Zu den Schwellen- oder Vorläufertexten einer »Literatur der Kindheitsau- Schwellentexte zu
tonomie« (Ewers) zählt nicht zuletzt Heinrich Maria Denneborgs Jan und einer Literatur der
das Wildpferd (1957). Diese Erzählung bildet ein realistisches Komplement Kindheitsautonomie
zu Preußlers Der kleine Wassermann. Im Mittelpunkt steht der etwa fünfjäh-
rige Bauernsohn Jan aus dem Westfälischen, der großes Interesse an den in
der Gegend noch lebenden Wildpferden hat und dabei eine ganz besondere
Zuneigung zu dem schwarzen Hengstfohlen Balthasar entwickelt. Das ist,
weil es lahmt, als gewissermaßen lebensunwert, weil wirtschaftlich nicht an-
ders zu verwerten, aus der Wildpferdherde ausgesondert und soll zum
Schlachten freigegeben werden. Dagegen kämpft Jan mit Hilfe des alten
Knechtes Natz, der über einen besonderen »Pferdeverstand« sowie sehr viel
Fantasie und Verständnis für seinen kleinen Freund verfügt und sein Wissen
auch an diesen weitergibt. Es gelingt Natz, den jungen Hengst vor dem
Schlachter zu retten und ihm damit zur Freude Jans ein Weiterleben in der
Wildpferdherde zu ermöglichen. Die Erwachsenen der Elterngeneration, die
das Leben bestimmen, zeichnen sich durch eine gewisse Härte und Unnach-

Illustration aus Heinrich


Maria Denneborgs Jan
und das Wildpferd (1957)
328 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

giebigkeit aus. Diese Charakterisierung fällt umso mehr auf, als nur der alte
Knecht Natz, eine weise und gütige, aber auch lebenstüchtig-schlaue Groß-
vaterfigur, das Ideal humaner Fantasiefähigkeit und Empathie repräsentiert;
er vertritt ein humanes pädagogisches Gegenprinzip zu einer Erziehung der
Härte und Unterordnung und zur Ausmerzung des Schwachen. Das Thema
›Rettung lebensunwerten Lebens‹ war in diesen Jahren, als die sogenannte
Euthanasie, wie die berüchtigte NS-Praxis der Ermordung behinderter Men-
schen auch genannt wurde, noch in frischer Erinnerung war, durchaus heikel.
Jan und das Wildpferd wurde 1958 in der Sparte Kinderbuch mit dem Deut-
schen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Aufschlussreich ist, dass die Begrün-
dung der Jury für die Preisvergabe auf diesen zentralen Aspekt der Erzählung
gar nicht eingeht und darin lediglich ein humor- und liebevoll erzähltes Pfer-
debuch sieht.

Die ›Großen Drei‹: Otfried Preußler,


James Krüss und Michael Ende

Ein neuer Ton und eine märchenhaft-fantastische, zugleich mit Komik verse-
hene Nuance kommt durch die ersten Erzählungen Otfried Preußlers in die
westdeutsche Kinderliteratur. Vor allem zwei Erzählungen begründen Preuß-
lers Bekanntheit und Beliebtheit: Der kleine Wassermann (1956) und Die
kleine Hexe (1957). In den 60er Jahren wird noch die Räuber Hotzenplotz-
Trilogie hinzukommen (1962, 1969, 1973), die zu den modernen Klassikern
der Kinderliteratur zählt. Preußler eröffnet dem Kinderbuch und der Kind-
heitsinszenierung Bereiche, die bislang als wenig kindheitskompatibel galten
und – außerhalb des Märchens oder der Fantastik – entsprechend auch nicht
positiv konnotiert waren: die Sphären der Wasserwesen und der Hexen. Dieses
Grenzen überschreitende Hereinholen neuer Themen hat bei Preußler einer-
seits durchaus antiautoritäre Implikationen, indem kindliche Freiräume ent-
stehen, in denen noch nicht alles von vornherein reglementiert ist. Andererseits
entkommt auch sein Kindheitsdiskurs nicht den unaufhebbaren Forderungen
der pädagogischen Intentionen solcher Texte; der kleine Wassermann wie die
Otfried Preußler
kleine Hexe sind – bei aller Neigung zu lustvollem Schabernack und zum
Ausloten und Überschreiten von Grenzen – als von Grund auf gutartige Wesen
konzipiert, die letztlich stets auf den Pfad der pädagogischen Tugend gelenkt
werden können oder sich gar selbst darum bemühen, diesen zu erreichen. So
sind der kleinen Hexe pädagogische Vernunft und Norm auf ebenso vergnüg-
liche wie nachhaltige Weise in Gestalt des sprechenden Raben Abraxas beige-
geben; er ist, der Grille im Collodis Pinocchio vergleichbar, deren unüberhör-
bare Stimme. Beiden frühen Erzählungen Preußlers gemeinsam ist ihre Lokali-
sierung in einer vor- oder besser außerindustriellen, dörflich-handwerklich
bestimmten Welt; damit partizipieren sie – wie auch die etwas spätere Räuber
Hotzenplotz-Trilogie – an der Tendenz zu einer vorherrschend idyllisierenden
Kinderweltdarstellung in der damaligen westdeutschen Kinderliteratur. Aller-
dings wird diese Tendenz durch Preußlers humoristischen Erzählstil und durch
sein Geschick kompensiert, seine Figuren in durch ihre Ungewöhnlichkeit
reizvollen Zusammenhängen anzusiedeln. Strukturell kommt ihm dabei der
Rekurs auf das verfremdende Verkehrte-Welt-Motiv zugute, das ja stets für
komische Effekte und eine fröhliche Stimmung beim Rezipienten sorgt.
Die ›Großen Drei‹: Otfried Preußler, James Krüss und Michael Ende 329

Was in der komisch-fantastisch verfremdeten Kindheitsdarstellung des


Kleinen Wassermann bereits angelegt ist, aber im liebevoll umsorgenden Fa-
milienambiente aus Vater-Mutter-Kind noch aufgehoben und domestiziert
bleibt, spielt Preußler in Die kleine Hexe dann entschieden stärker aus: Das
kindliche Über-die-Stränge-Schlagen als zunächst einmal durchaus verständ-
licher und berechtigter kindlicher Wesenszug, der lustvolle Normverstoß, der
sich meist gegen die Welt der Erwachsenen richtet, spitzen sich in der Kleinen »Die kleine Hexe«
Hexe zu einer Art veritablem Generationenkonflikt im Hexenmilieu zu. Die
kleine Hexe ist – wie Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf, mit deren die
Kinderliteratur revolutionierendem Verständnis von entfesseltem Kindsein
Preußlers Figur sicherlich nicht ganz zufällig einige Ähnlichkeiten aufweist –
ein allein lebendes Kinderwesen; sie ist weitgehend autonom und autark und
steht der erwachsenen Hexensozietät gegenüber, vor der sich die Heldin zu
rechtfertigen und der gegenüber sie sich zu behaupten hat. Bemerkenswert
an Preußlers Die kleine Hexe ist ihre Ambivalenz. Zum einen folgt sie dem
kinderliterarischen Moral- und Wohlverhaltensdiskurs; die kleine Hexe be-
müht sich, eine gute Hexe im Sinne von ›moralisch gut, anständig‹ zu sein
und in Schwierigkeiten geratenen Menschen zu helfen (was jedoch gleichbe-
deutend ist mit ›unhexisch‹ im herkömmlichen Sinne). Zum anderen aber
lehnt sie sich gegen ihre Erwachsenenwelt mit aller Konsequenz auf – und
dies mit der Radikalität, dass diese Erwachsenenwelt der alten Hexen samt
ihrer Hierarchie von der kleinsten Kräuter- bis zur mächtigen Oberhexe am
Ende aufgehoben und entmachtet wird. In der Walpurgisnacht zaubert die
kleine Hexe sämtliche Hexenbesen auf den Blocksberg und verbrennt sie
mitsamt allen Hexenbüchern; überdies hext sie den erwachsenen Hexen die
Fähigkeit ab, ihrerseits dagegenzuhexen, macht sie damit wehrlos und drückt
sie auf den armseligen Status von ohnmächtigen alten Frauen herab. Genau
betrachtet, handelt es sich hier um eine radikal antiautoritäre Entmachtungs-
fantasie: die Kinder, genauer: das eine, kleine Hexenkind übernimmt die
Macht nach der Ausschaltung der Erwachsenen. Das funktioniert im päd-
agogischen Diskurs der zeitgenössischen Kinderliteratur selbst im Gewand
märchenhafter Fantastik nur deshalb, weil sich diese unerhörte Aktion der
kleinen Hexe moralisch tarnt und damit ihren lustvoll-subversiven, anar-

Illustrationen aus
Otfried Preußlers
Der kleine Wassermann
(1956) und Die kleine
Hexe (1957)
330 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

chisch-antiautoritären Kern verbirgt. Die kindliche Heldin entmachtet die


erwachsene Hexenwelt im Namen des moralisch Guten, mithin pädagogisch
wertvoller Prinzipien, die gerade in der eigentlichen Hexenwelt nicht gelten
sollen. Denkt man die implizite Logik dieses fulminanten Schlusses zu Ende,
so stößt man auch bei Preußler auf die kinderliterarische Inszenierung der
Aufhebung einer unmoralischen, bösartigen und verstockten Erwachsenen-
welt im Dienst von kindlichem Glück, Moralität und Zukunft und damit auf
die Intention, die etwa auch Kästners Konferenz der Tiere bestimmt.
James Krüss Zu den prominenten Praktikern wie Programmatikern einer fantasiebe-
tonten Kinder- und Jugendliteratur zählt James Krüss. Er postuliert für die
Kinderliteratur geradezu ein »Recht auf Phantasie«. Sie ist für ihn in allen
literarischen Produktionen für Kinder unabdingbar – gleichgültig, ob diese
sich realistisch oder eben fantastisch geben: »Weil Kinder Phantasie haben,
muß man das nutzen, um mit ihrer Hilfe die Wirklichkeit der Welt zu expli-
zieren. Weil Kinder Phantasie haben, darf man ihnen getrost an Nixen und
Faunen erklären, was menschlich und was unmenschlich ist. Weil Kinder
Phantasie haben (und mehr als die Erwachsenen), kann man ihnen schöne
Geschichten erzählen, wo der Erwachsene Erklärungen verlangt.« Fantasie
fungiert hier als Medium, Kindern einen geeigneten Zugang zur Welt und
deren Verständnis zu schaffen. Dabei verortet Krüss die Fantasiewelt seines
Erzählzyklus’ Der Leuchtturm auf den Hummerklippen (1956) sehr dezidiert
in der jüngsten Vergangenheit Deutschlands, nämlich am Ende des Zweiten
Weltkriegs, genau am 19. April 1945, einen Tag nach der Bombardierung
Helgolands. Das ist ungewöhnlich für ein Kinderbuch jener Jahre. Allerdings
nutzt Krüss den Verweis auf den Krieg und seine Zerstörungen letztlich dazu,
die Leuchtturmwelt des Wärters Johann und der Möwen als Oase des Frie-
dens und der Fantasie davon abheben zu können. Die Hummerklippen als
Erzählort erhalten die Funktion eines Rückzugsorts aus dem schlimmen Ge-
triebe der Welt. Die märchenhaften Geschichten und Reimerzählungen, die
auf dem Leuchtturm ausgetauscht werden, erweisen sich als komisch-fanta-
stische Texte in einem vergnüglichen Irgendwo, mit und ohne deutlich ausge-
sprochene Moral, als spielerisch-unterhaltsame Erfindungen eines begabten
Kinderliteraturautors. Ihre Leichtigkeit, Verspielt- und Verschmitztheit hebt
diese Texte vom pädagogischen Hauptdiskurs der Adenauerära ab, ohne
dass sie sich von diesem gänzlich abkehrten. Berühmt geworden ist seine
Definition einer guten Geschichte: »Es ist vollkommen gleichgültig, ob die
Geschichte passiert ist oder nicht. Bei Geschichten kommt es nicht darauf an,
Illustration aus James daß sie wahr, sondern daß sie schön sind.«
Krüss’ Leuchtturm auf Dem Erzählzyklus Mein Großvater und ich (1959) liegt eine besondere
den Hummerklippen Kommunikationssituation zugrunde: die zwischen einem Urgroßvater und
(1956) seinem Urenkel, also zwischen zwei in der Generationsabfolge extrem weit
auseinanderliegenden Verwandten. Daraus ergibt sich im Gefüge der Rah-
menerzählung die Verschiebung dergestalt, dass die Großelterngeneration in
die Position der Elterngeneration des Ich-Erzählers rückt, die ihrerseits mit
keinem Wort erwähnt wird; v.a. die beiden Großmütter des Ich-Erzählers
agieren wie – besorgte – Mütter. Zudem spielt sich die Rahmenerzählung auf
engstem Raum, auf der kleinen Insel Helgoland ab, weitab vom Realgesche-
hen, das allerdings zu Beginn des Zyklus’ existenziell in die Rahmenhandlung
eingreift. Der alliierte Bombenangriff auf Helgoland am 18. April 1945 und
seine Zerstörungen bewirken, dass sich zwei der Teilnehmer an der Erzähl-
runde, Tante Julie und der Poltergeist, noch einmal weiterflüchten auf die
winzigen Hummerklippen, die nur aus dem Leuchtturm des alten Wärters
und Erzählers Johann bestehen; er wird zum eingängigen Symbol für ein al-
Die ›Großen Drei‹: Otfried Preußler, James Krüss und Michael Ende 331

lerletztes und extremstes Refugium. Auch der Ausfall der Elterngeneration


hat symbolische Bedeutung. Zu dieser Generation gehörten die aktiven Trä-
ger des Nationalsozialismus, während die Großelterngeneration mit ihren
Haltungen und ihrem Handeln in den 20er Jahren dazu beitrug, den Natio-
nalsozialismus in Deutschland zu ermöglichen. So können sich nur die Ur-
großväter- und Urenkelgeneration unbelastet begegnen. Angereichert wird
die Erzählrunde in den Hummerklippen durch einige weitere märchenhaft-
fantastische Figuren wie die sprechenden Möwen und den Poltergeist sowie
durch randständige Figuren wie Tante Julie. Auch die Mittelpunktsfigur des
alten Leuchtturmwärters Johann ist ja buchstäblich randständig und hat
damit eine auch moralisch glaubwürdige Position. Im Zentrum steht (v.a. in
Mein Urgroßvater und ich) das dichtende Fantasieren, und damit eine Betä-
tigung, die für die Jugend im NS-Wertesystem überhaupt nicht vorgesehen
war. Zugleich haben wir in der kleinen, dyadischen Erzählgemeinschaft von
Urgroßvater und Urenkel das Ideal einer Erziehungsgemeinschaft vor uns,
die auf größter Intimität und Exklusivität beruht, ein individualitätsfördern-
des Arrangement par excellence, das einem Persönlichkeitswert verpflichtet
ist, der ebenfalls im ›Dritten Reich‹ verpönt war.
1958 legt Krüss mit Die glücklichen Inseln hinter dem Winde einen an
Kinder wie Erwachsene adressierten Erzählzyklus humoristisch-fantastischen
Inhalts vor, den er ebenfalls mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung bringt,
indem er den Ich-Erzähler, Kapitän Daworin Madirankowitsch, seine erste
Reise 1945 beginnen und dabei den Dampfer auch den Leuchtturm auf den
Hummerklippen passieren lässt. Dort nimmt er einige der Figuren aus dem
Hummerklippen-Zyklus auf und kann mit allen am 8. Mai 1945 das Kriegs-
ende feiern. Statt sich aber zur Ruhe setzen zu können, gerät Kapitan Dado
in der Adria auf Zwangskurs zu den geheimnisvollen Inseln hinter dem
Winde. Das Erzählmodell dieses fantastischen Reiseromans erinnert nicht Krüss’ Nähe zu
von ungefähr an Kästners Der 35. Mai. Zugleich weist die darin enthaltene Kästner
Friedensutopie eine deutliche Nähe zu Kästners Die Konferenz der Tiere auf.
Folgerichtig sah Kästner in Krüss einen Geistesverwandten, der sich von ihm
nur durch die andere Generationszugehörigkeit unterscheide, wie er im
Nachwort zu Krüss’ Kinderlyriksammlung Der wohltemperierte Leierkasten
(1961) betont.
Wie sehr Krüss das in den Hummerklippen und Mein Großvater und ich
erfolgreich angewendete Erzählmodell geschätzt hat, wird noch aus dem
späteren Erzählzyklus Adler und Taube (1963) ersichtlich, der dem Thema
Gewaltausübung durch einen Mächtigen und dem Motiv der lebensrettenden
Klugheit eines Schwachen gewidmet ist. Eine Taube, die sich vor dem Gefres-
senwerden durch einen Adler in eine enge Felsspalte geflüchtet hat, aus der
sie jedoch dem Verfolger nicht entkommen zu können scheint, verschafft sich
die Zeit, die sie benötigt, um sich mit ihren Schwanzfedern unbemerkt einen
Ausweg in die Tiefen dieser Spalte freizukratzen, indem sie dem Adler, der
den Eingang besetzt hält und die Taube auch vorerst mit einem Krallenhieb
erreichen und töten könnte, eine Geschichte nach der anderen erzählt und
damit den nötigen Aufschub erreicht – bis sie sich am Ende durch das rück-
wärtige Loch in Sicherheit und den Adler zur Erkenntnis der Aussichtslosig-
keit seiner Belagerung bringen kann. Die Taube agiert hier in der klassischen
Rolle der Scheherazade aus Tausendundeine Nacht. Zudem nützt ein Teil der
acht Binnenerzählungen das Motiv der Gewitztheit des Schwachen, der da-
durch seine physische Unterlegenheit kompensiert, bis hin zu einer Art Revo-
lutionserzählung, in der sich die als Arbeitstiere ausgebeuteten und malträ-
tierten Esel erfolgreich gegen ihre Herren zur Wehr setzen und sie zu ›esel-
332 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

würdigem‹ Verhalten zwingen. Dieses Erzählung liest sich, ersetzt man die
rebellischen und sich solidarisch gegen ihre ›Bestimmer‹ zusammentuenden
Esel durch ein solidarisches Kinderkollektiv, wie ein Vorgriff auf bestimmte
Texte der antiautoritären Kinderliteratur; allerdings werden die Herrschafts-
und Abhängigkeitsverhältnisse hier nicht radikal umgestürzt, sondern sozu-
sagen sozialpartnerschaftlich erträglich gestaltet.
»Jim Knopf« Einen Höhepunkt der frühen westdeutschen Kinderliteratur der Kind-
heitsautonomie bilden sicher Michael Endes Jim Knopf und Lukas, der Lo-
komotivführer (1960) und dessen Fortsetzung Jim Knopf und die wilde 13
(1962). Ungewöhnlich an Jim Knopf ist nicht nur die schwarze Hautfarbe
der Titelfigur, sondern mindestens genauso deren Lebensumfeld: Das Minia-
tur-Ozean-Insel-Königreich Lummerland mit seinem König Alfons, dem
Viertel-vor-Zwölften, mit Herrn Ärmel und Frau Waas und mit Lukas, dem
Lokomotivführer, der mit seiner Tenderlokomotive Emma nur sich selbst
transportiert, scheint eher dem englischen Nonsense-Humor entsprungen zu
sein als deutscher Märchenfantasie mit Dorfteich, Mühle, Handwerkern und
Wald. Jim Knopf gehört zum Typus der komisch-fantastischen Abenteuer-
reise. Der etwa 14-jährige, also am Ende der Kindheit stehende Titelheld
verlässt mit seinem väterlichen Freund Lukas notgedrungen die von Überfül-
lung bedrohte Heimatinsel und begibt sich auf eine Fahrt ins Ungewisse. Die
Jim Knopf und Lukas, der beiden haben sich nun in den verschiedensten, allesamt der Alltagserfahrung
Lokomotivführer. enthobenen, märchenhaft-fantastischen, exotischen Zusammenhängen und
Zeichnung von F.J. Tripp den überraschendsten Herausforderungen zu stellen. Die Handlung folgt
dem mythischen Modell des allmählichen Erwachsenwerdens durch Bewäh-
rung, wobei der jugendliche Held hier nicht völlig allein agieren muss und
nur auf sich selbst gestellt ist wie exemplarisch Robinson Crusoe, sondern
einen überlegenen, hilfreichen Begleiter hat, auf den er sich verlassen kann.
Dabei geht es jedoch nicht lediglich um das Absolvieren einer Reihe von
›aventiuren‹, sondern um die Rettung und Erlösung von Kindern, die an ei-
nem Ort des Bösen, in der Drachenstadt, festgehalten werden; in Jim Knopf
und die wilde 13 geht es dann überhaupt um die Möglichkeit, das Böse mit
Hilfe zweier Kinder wieder zurückzuverwandeln in seinen ursprünglich gu-
ten Zustand, was zum rundum zufriedenstellenden, guten Ende natürlich
auch gelingt. Das entscheidende Moment des Ende’schen Kindheitskonzepts
besteht darin, dass Kinder heilsbringende Wirkungen in der moralisch in
Unordnung geratenen Welt ausüben können; er greift damit auf ein Motiv
zurück, das mythologisch-religiösen Ursprungs ist und in säkularisierter
Form seit der Romantik häufiger in der Kinderliteratur genützt wird.
Siedelt Michael Ende seinen Kindheits- und Kinderdiskurs von vornherein
in einem mehr und mehr fantastisch-exotischen, märchenhaft-mythischen
Michael Ende Raum an, so verhält es sich bei einem anderen erfolgreichen Kinderbuch in
der zu Ende gehenden Adenauerära, in James Krüss’ Roman Timm Thaler
oder das verkaufte Lachen (1962), doch deutlich anders. Nicht nur die Rah-
menerzählung ist konkret in der Mangelsituation der ersten Nachkriegsjahre
in Deutschland verortbar, auch die Binnengeschichte lokalisiert den kindli-
chen Titelhelden in einem großstädtisch-realistisch gezeichneten Milieu eher
ärmlichen Charakters. Entsprechend trägt das erste Kapitel (das hier erster
Bogen genannt wird) die eher sozialromantisch klingende Überschrift Ein
armer kleiner Junge. Allerdings entwickelt sich daraus weder eine Oliver
Twist-Erzählung noch ein kinderliterarischer Sozialrealismus in der Art der
20er Jahre, sondern ein Intrigen-, Verstrickungs- und Errettungsszenario um
den jugendlichen Titelhelden mit geheimnisvollen und z. T. auch agentenhaft-
kriminalistischen Zügen. Aber auch die erzählerische Anlage von Timm
Die ›Großen Drei‹: Otfried Preußler, James Krüss und Michael Ende 333

Thaler enthält einen deutlich märchenhaft-wunderbaren, einen ›realfantasti-


schen‹, v.a. aber einen moralischen Zug. Im Märchenhaften schließt Krüss an
Adalbert von Chamissos Kunstmärchen Peter Schlemihls wundersame Ge-
schichte (1813/14) an; der moralische Aspekt hat entschieden mit dem Kind-
heitsbild der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur der 50er und frühen
60er Jahre zu tun. Der Roman behandelt die im Wirtschaftswunderland
Bundesrepublik akute Problematik, ob das Materielle, der wirtschaftliche
Wohlstand und das Streben nach ihm einen auch für die nachwachsenden
Generationen erstrebenswerten, verbindlichen Wert darstellen, dem anderes,
wie beispielweise Individualität, Glück usw., untergeordnet werden könnte
oder sollte. Der Roman von Krüss übt an solcher Gleichsetzung und damit
an einer der wesentlichen Grundüberzeugungen der Wirtschaftswunderzeit
ätzende Kritik. Medium dieser Kritik ist das Schicksal des kindlichen Titel-
helden Timm Thaler. Der kann zwar, verleitet durch den geheimnisvollen
Baron Lefuet (dessen Name ein Anagramm für Teufel ist), den Status des
›armen kleinen Jungen‹ hinter sich lassen, indem er dem Baron sein auszeich-
nendes Wesensmerkmal, das glückhaft befreiende Lachen, gegen ein uner-
schöpfliches Einkommen durch stets erfolgreiches Wetten verkauft; anderer-
seits verliert Timm damit aber auch den Status des lebendigen, authentischen
Kindes. Es ist für Krüss’ Kindheitskonzept konstitutiv, dass es dem herr-
schenden wohlstands- und geldzentrierten Erwachsenenverständnis diame-
tral entgegengesetzt ist, sich mit dessen Normen und Prioritäten nicht ver-
trägt. Und das Ergebnis von Timm Thalers endlicher Errettung aus dem fata-
len Vertrag mit dem Baron Lefuet ist sein Wiedereintretenkönnen in die volle,
und das heißt: kindnahe Menschlichkeit auf höherer Stufe: Er vertauscht
seinen materiellen Reichtum mit einem Leben als Marionettenspieler und
taucht damit wieder in die Sphäre kindlicher Spielfreude und v.a. kindlicher
und zugleich künstlerischer Fantasie ein. Und die gilt nicht nur James
Krüss, wenn auch bei ihm ganz besonders und immer wieder programma-
tisch hervorgehoben, als wichtigstes Residuum kindlich lebendiger, schöpfe-
rischer Existenz in einem Meer von Entfremdung, Bedrohung und Erstar-
rung. Darin trifft sich seine Kindheitsvorstellung wiederum mit Michael En-
des Kindheits- und Märchenkonzeption, wie etwa am Beispiel von Momo
(1973) zu sehen ist.
Ende der 60er Jahre gerät auch die fantastische Kinderliteratur jedenfalls
teilweise in den Sog der antiautoritären Entwicklung, wie etwa Christine
Nöstlingers Die feuerrote Friederike (1970) oder ihr Klassiker Wir pfeifen
auf den Gurkenkönig (1972) zeigen; andererseits setzt sich auch die Tendenz
fort, weiterhin eher klassische Erzähl- und Handlungsformen zu nutzen,
wofür etwa Tilde Michels’ Kleiner König Kalle Wirsch (1969) stehen kann.
Diese Erzählung im Fahrwasser von Peterchens Mondfahrt – zwei Kinder
geraten auf eine abenteuerlich-gefährliche Reise in das Unterweltreich der
Erdmännchen, um dort eine (Er-)Lösung mit zu ermöglichen – verbindet das
bewährte Motiv der Abenteuer-, Bewährungs- und auch Initiationsreise mit
einer gemäßigt modernen Erzählform. Die Erwachsenen- Kinder-Konstella-
tion ist ebenfalls so bewährt wie charakteristisch: König Kalle Wirsch, der
Erfahrene und die Leitfigur in der Unterwelt, ist gleichwohl auf die Tapfer-
keit und Aufgewecktheit der beiden Kinder Jenny und Max angewiesen,
ohne deren Hilfe er seine Königswürde gegen die Ränke des Usurpators
Zoppo Trump nicht erfolgreich verteidigen könnte.
334 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

Literatur der Kindheitsautonomie –


psychologisch

Ursula Wölfel repräsentiert im Spektrum der Literatur der Kindheitsautono-


mie die psychologische Innensicht. Fantasie und Einfühlungsvermögen als
Voraussetzungen für die sensible psychologische Gestaltung kindlichen Erle-
bens und Denkens als ernstzunehmende, d. h. nicht defizitäre und pädago-
gisch möglichst rasch und effektiv zu korrigierende Modi des In-der-Welt-
Seins kennzeichnen ihre frühen Texte. Beispielhaft ist dafür die Kinderge-
schichte Sinchen hinter der Mauer (1961). Die Titelheldin ist ein Kind im
Kindergartenalter, also vier oder fünf Jahre alt; obwohl in ihrer Familie be-
hütet und aufgehoben lebt sie ansonsten in äußerster sozialer Isolation, d. h.
ohne Kontakte zu anderen Kindern. »Wölfel stellt das kleine Mädchen als
materiell wohlsituiert, ja reich, dar und als zugleich seelisch verelendet« (Ka-
minski). Wölfel gestaltet hier zugleich ein Motiv der Wirtschaftswunderzeit:
die Gefahren des materiellen Wohlstands v.a. für die kindliche Befindlichkeit.
Materieller Reichtum ist kein hinreichender Schutz vor psychischer und sozi-
aler Vereinsamung. Und um dieser zu entgehen, fantasiert Sinchen sich ein
Wesen namens Muli. »Je mehr Sinchen mit Kindern in Kontakt gerät und
mit der Wirklichkeit in Berührung kommt, desto mehr lernt sie, auf Muli
und ihre ›Einbildungen‹ zu verzichten« (Kaminski). Kindsein wird von Wöl-
fel mit psychologischen Mitteln als Aufgabe und als Lebensabschnitt der
Ursula Wölfel: Sinchen Bewährung dargestellt, als schwieriges Entwicklungsstadium; eben darin er-
hinter der Mauer (1961) weisen sich ihre frühen Texte als Parallelfälle zu den märchenhaft-fantas-
tischen Kindheitsinszenierungen von Lindgren, Preußler, Krüss oder Ende, in
denen ebenfalls Kindheit als Prozess mit eigener Dynamik und eigenen An-
forderungen aufgefasst wird und nicht lediglich als Stadium harmlos-unter-
haltsamer Abenteuer, Streiche etc. Auch die Kindererzählung Feuerschuh und
Windsandale (1961) weist Wölfel als wichtige Beiträgerin zu einer psycholo-
gisch einfühlsamen Modernisierung der deutschen Kinderliteratur aus. Es
handelt sich diesmal um eine Vater- und Sohn-Geschichte. Der Vater, ein
wenig bemittelter Schuster, schenkt seinem wegen seiner Leibesfülle von allen
gehänselten, etwa zehnjährigen Sohn Tim zum Geburtstag eine mehrwöchige
Wanderung in den großen Ferien. Dabei gelingt es dem Vater, seinen mit sich,
seiner lächerlichen Leiblichkeit wie auch seinem Armsein höchst unzufrie-
denen Sohn durch allerlei kleine Abenteuer und durch das Erzählen von lus-
tigen und nachdenklichen Geschichten mit sich zu versöhnen. Die Rolle des
verständnisvoll-empathiefähigen Erwachsenen ist jetzt von der Großvater-
auf eine Vaterfigur übergegangen. Eine Wende in den Bereich eines (gemä-
ßigt) gesellschaftskritischen Erzählens in der Folge der 68er Bewegung voll-
zieht Wölfel mit den Beispielgeschichten in Die grauen und die grünen Felder
(1970).
1960 tritt erstmals Janosch (d.i. Horst Eckert) als Kinderbuchautor in Er-
scheinung und erweist sich als unglaublich produktiver Kinderliteraturautor
mit einer Neigung zum liebenswert-verspielt Komisch-Skurril-Fantastischen
(Bilderbücher, Comics, Gedichte). »Kaum beeinflußt von den verschiedenen,
oft gegenläufigen pädagogischen Epochen der deutschen Nachkriegszeit«
(Pech) veröffentlicht der vielseitige Autodidakt bereits im ersten Jahrzehnt
seiner Karriere als Kinderbuchautor (Texter und Illustrator) etwa 30 Titel.
Inzwischen ist er zu einem so beliebten wie unbestrittenen Klassiker des Kin-
derbuchs geworden.
Das Thema NS(-Verbrechen)/Holocaust/Widerstand 335

Das Thema NS(-Verbrechen)/Holocaust/


Widerstand

Gegen Ende der 50er Jahre bahnt sich in der westdeutschen Kinder- und Ju-
gendliteratur eine zunächst vorsichtige, dann deutlichere Wende an: weg von
einer ›Verdrängungsliteratur‹ hin zu dem, was man allererst ›Wiedergutma- ›Wiedergutmachungs-
chungsliteratur‹ nennen könnte (in Parallele zur damals in der Bundesrepub- literatur‹
lik geführten ›Wiedergutmachungsdebatte‹). Diese Wende ist mit einer auf-
fallenden Zunahme von Kinder- und Jugendbüchern zum Thema ›Judenver-
folgung‹ verbunden. Diese Veränderungen, die sich um 1960 im Bereich der
Kinder- und Jugendliteratur abzeichnen, sind als Folge des Drucks zu verste-
hen, der von einigen für das westdeutsche Ansehen sehr abträglichen poli-
tischen Ereignissen ausging, wie dem international unliebsamen und pein-
liches Aufsehen erregenden Erstarken rechtsradikaler Parteien wie der NPD,
von Hakenkreuzschmierereien und Schändungen jüdischer Einrichtungen.
Überhaupt verstärkt sich Ende der 50er Jahre, nach der ersten Welle des
›Wirtschaftswunders‹, auch in solchen politischen Kreisen, die auf diesem
Ohr bisher eher taub gewesen waren, der Eindruck, dass zu wenig für die
politische und zeitgeschichtliche Bildung der Jugend getan worden sei, be-
sonders im Hinblick auf die jüngste deutsche Vergangenheit. Die Entwick-
lung der westdeutschen Kinder- und Jugendliteratur erreicht also um 1960
nicht nur mit märchenhaft-fantastischen Konzeptionen glückverheißender
und rettender Kindheitsautonomie einen ihrer Höhepunkte, sondern gleich-
zeitig avancieren Kinder innerhalb weniger Jahre zu Zentralfiguren zeitge-
schichtsbezogener und das heißt die jüngste, die NS-Vergangenheit themati-
sierender Problemliteratur. Michael Endes oder James Krüss’ Märchenro-
manhelden Jim Knopf bzw. Timm Thaler etwa bekommen in wachsendem
Maße beklemmend realistische Gesellschaft; z. B. von dem verfolgten
deutsch-jüdischen Jungen Friedrich Schneider (Hans Peter Richter: Damals
war es Friedrich, 1961), von jüdischen Sternkindern oder Toten Engeln des
Warschauer Gettos (Clara Asscher-Pinkhof: Sternkinder, 1946/61; Winfried
Bruckner: Die toten Engel, 1963) – um nur einige der Kinderfiguren und Ti-
tel aus diesen Jahren zu nennen. Es geht in diesen Erzählungen um Extrem-
bedingungen von Kindsein und Kindheit unter der ständigen Todesdrohung,
die vom NS-Regime gegenüber aus rassistischen oder politischen Gründen
Ausgegrenzten oder Verfolgten ausging. Es geht in diesen Texten um eine
notwendig gewordene thematische Erweiterung der Kinder- und Jugendlite-
ratur, die natürlich indirekt bzw. mittelbar durchaus Auswirkungen auf das
kinderliterarische Schreiben, insbesondere auf den kinderliterarischen Rea-
lismus haben sollte.
Die ersten Kinder- und Jugendbücher, die sich in der Bundesrepublik mit Thema ›Juden-
dem Thema Judenverfolgung im ›Dritten Reich‹ als dessen unmenschlichster verfolgung‹
Ausdrucksform befassen, erscheinen Ende der 50er Jahre, also erst nachdem
die Kinder- und Jugendliteratur der DDR sich dieses Themas angenommen
hatte. Vorausgegangen war der durchschlagende Erfolg des Tagebuchs der
Anne Frank, 12. Juni 1942 – 1. August 1944 (dt. erstmals 1950), das v.a.
auch durch die Bühnenversion von 1956/57 allgemein bekannt wurde. Es
handelt sich bei diesen frühen Beiträgen sowohl um Übersetzungen wie Sally
Watsons Wir bauen ein Land (1961) oder Jan de Vries’ Jaap findet das ge-
lobte Land (1958) als auch um deutsche Originaltexte wie Alfred Müllers
Die Verfolgten (1959) oder Walter Gronemanns Geheime Freundschaft
336 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

(1960). Was so bis 1960 vorlag, war nicht sehr viel. Die Übersetzungen the-
matisieren die Judenverfolgung und den Holocaust meist aus der Perspektive
der Überlebenden, die in Israel ein neues Land, ihren Staat aufbauen. So ge-
hört der Holocaust in Jaap findet das gelobte Land zur Vorgeschichte des
Helden, der als Junge mit seiner Familie aus den besetzten Niederlanden vor
den Deutschen fliehen kann. Die Jugenderzählungen von Müller oder Gro-
nemann, die etwa zur selben Zeit erscheinen, haben einen anderen Charakter.
Wesentlich für die Handlungs- und Konfliktführung ist hier das Motiv der
rettenden Freundschaft zwischen deutschen und verfolgten jüdischen Kin-
dern. Die deutschen Kinder tun mit ihren Familien alles, um die bedrohten
Juden, die zumeist frühere Mitschüler sind, vor dem Zugriff der Naziböse-
wichter von SA, SS oder Gestapo zu retten. Dabei gehören auch mehr oder
weniger sadistische Lehrer vom Typ 150-prozentiger Nazistudienrat samt
gefährlich fanatisiertem HJ-Schläger zum festen Figurenbestand. Dank der
mutigen Hilfsaktion vieler wohlmeinender und guter Deutscher, von denen
es in diesen Erzählungen nur so wimmelt, – die Nazis bilden (folgt man der
Darstellungslogik dieser Texte) eine kleine radikale Minderheit in Deutsch-
land – können die bedrohten jüdischen Familien in letzter Minute – Gott sei
Dank! – gerettet werden, indem man ihnen über die Grenze hilft; das Böse in
Gestalt der Nazis und ihrer Schergen hat das Nachsehen.
Modelle jugend- Um 1960 erscheinen in der alten BRD die ersten Titel der Kinder- und Ju-
literarischer Holocaust- gendliteratur, die besonders die Judenverfolgung im ›Dritten Reich‹ zum Ge-
erzählungen genstand literarischer Darstellung machen; und zwar angesichts eines unge-
in der BRD um 1960 brochenen bzw. wiedererstarkenden (neo)nazistischen Potenzials, das wie die
Hakenkreuzschmierereien und die Synagogenschändung in Köln an Weih-
nachten 1959 immer wieder international unangenehmes Aufsehen erregte.
Zu dieser Öffnung trug ferner die Erkenntnis bei, dass gerade unter Jugend-
lichen eine bedenkliche Unwissenheit im Hinblick auf das ›Dritte Reich‹ und
den Nationalsozialismus herrschte. Schulische Fördermaßnahmen wurden
beschlossen, um diese Wissensdefizite zu beseitigen, und ein Jugendliteratur-
Sonderpreis wurde ausgelobt. Clara Asscher-Pinkhofs Sternkinder liegen
zwar bereits 1946 in der niederländischen Originalausgabe vor, erscheinen
aber erst 1961 in einer deutschen Ausgabe. Sie sind die erste kinderliterari-
sche Verarbeitung jüdischer Kinderschicksale, wenngleich der Text nicht ex-
klusiv an ein kindliches Lesepublikum adressiert ist. Vorausgegangen war
Michel del Castillos Elegie der Nacht (1958), die 1959 den Jugendbuchpreis
erhielt. Der nächste dieser neuen Titel ist Hans Peter Richters Episodenerzäh-
lung Damals war es Friedrich, die ebenfalls 1961 erschien und bis heute zur
empfohlenen Schullektüre zählt. Es folgen Frederik Hetmanns Blues für Ari
Loeb (1962) und schließlich der Getto- und Holocaustjugendroman des
Österreichers Winfried Bruckner Die toten Engel (1963).
Untrennbar verbunden mit der deutschen Erstausgabe der Sternkinder
und mitverantwortlich für die Zuerkennung des Jugendbuchpreises 1962 ist
Erich Kästners Eintreten für dieses Buch. In seinem Vorwort macht er in der
ihm eigenen Mischung aus Leichtigkeit und Eindringlichkeit auf die Ver-
säumnisse der 15 Jahre seit Kriegsende in Sachen Aufarbeitung der Vergan-
genheit des Nationalsozialismus aufmerksam. »Diese Sternkinder sind so
wichtig, so erschütternd und so schrecklich wie das Tagebuch der Anne
Frank. Die Erwachsenen und die Halbwüchsigen müssen es lesen […] Und
auch die Schulkinder, wenigstens die älteren, sollten erfahren, wie damals
Kindern mitgespielt wurde. Sie werden Fragen stellen und von den Eltern
und Lehrern Auskunft erwarten. Die Aufgabe ist schwer. Aber sie ist unab-
wendbar. Den Abgrund der Vergangenheit zu verdecken, hieße den Weg in
Das Thema NS(-Verbrechen)/Holocaust/Widerstand 337

die Zukunft gefährden. Wer die Schuld aus jenen Jahren unterschlüge, wäre
kein Patriot, sondern ein Defraudant. Wer aus der schuldlosen Jugend eine
ahnungslose Jugend zu machen versuchte, der fügte neue Schuld zur alten.«
Asscher-Pinkhof schildert in Sternkinder mit autobiographischem Hinter-
grund die Leidensgeschichte jüdischer Familien und v.a. von deren Kindern
in den seit 1940 von der deutschen Wehrmacht besetzten Niederlanden. Im
Mittelpunkt der vier großen Abschnitte Sternstadt, Sternhaus, Sternwüste,
Sternhölle, wobei Stern auch in symbolischer Bedeutung gemeint ist, steht
der Leidensweg der holländischen Juden mit der Steigerung der Gefahr von
der Gettoexistenz (Sternstadt) über die Sammlung der bei Razzien Verhafte-
ten in der Amsterdamer ›Schauburg‹ (Sternhaus), ihre Deportation in das
Sammellager Westerbork (Sternwüste) und von dort aus in das Vernichtungs-
lager Bergen-Belsen (Sternhölle). Aus ihr gibt es dann am Ende – ohne dass Clara Asscher-Pinkhof:
dies als unangemessenes Happy End missverstanden werden könnte – die Sternkinder (1946/61)
zufällig-willkürliche ›positive Selektion‹ der Kindergruppe, mit der die Auto-
rin nach Palästina gelangte.
Die episodenartigen Schilderungen der meist nur wenige Seiten umfassen-
den Unterabschnitte sind nüchtern, fast emotionslos und verzichten völlig
auf eine explizite Anklage, aber gerade dies macht ihre eindringliche Wir-
kung aus. Sie entsteht oft aus dem Widerspruch zwischen dem Wissen, das
die Erwachsenen hatten und über das wir heute als Leserinnen und Leser
dieser Erzählungen verfügen, und der Ahnungslosigkeit der Kinder, die in all
der Unterdrückung und dem Grauen immer noch Nischen für ihre Interes-
sen, Sehnsüchte und Spiele finden. Hintergrundwissen über den Holocaust
kann und will dieses Buch, das überwiegend aus kindlicher Bewusstseinsper-
spektive heraus geschrieben ist, nicht vermitteln. Vielmehr gehören Vagheit
und Verschlüsseltheit der Informationen zu seinen Stilmitteln, um damit die
Unverständlichkeit der Situation besonders für die betroffenen Kinder sinn-
fällig werden zu lassen.
Das Pendant zu Asscher-Pinkhofs Sternkinder bildet in gewisser Hinsicht
Richters Damals war es Friedrich, ebenfalls ein Stück intentionaler Kinderli-
teratur, das für das Lesealter von etwa 12 bis 14 Jahre gedacht ist und das –
episodenartig aufgebaut – von der Judenverfolgung im nationalsozialisti-
schen Deutschland erzählt. Allerdings handelt es sich hier im Unterschied zu
Sternkinder um eine Darstellung in eindeutig pädagogischer Absicht. Die
Erzählung folgt didaktischen Zielen: Es soll möglichst viel möglichst an-
schaulich und nachvollziehbar von der damaligen Atmosphäre, den An-
schauungen und dem Lebensgefühl der Menschen vermittelt werden. Rich-
ters Episodenerzählung ist in erster Linie und darin fundamental von As-
scher-Pinkhofs durch und durch literarischem Ansatz unterschieden
›erzählend-aufklärender Geschichtsunterricht‹; das Narrative ist anschau-
ungsfördernde Einkleidung, mit der die größtmögliche Erlebnisunmittelbar-
keit erreicht werden soll.
Frederik Hetmanns Blues für Ari Loeb (1961) ist ein Stück gegenwartsbe-
zogener Jugendliteratur, ein Jugendroman, der die Vergangenheit unter dem
Schuldaspekt im Kontext des zeittypischen Umgangs mit diesem heiklen
Thema ins Spiel bringt, konkretisiert in der Gestalt des jüdischen Titelhelden
Ari Loeb. Die Unterschiede zur sonst üblichen Kinder- und Jugendliteratur,
v.a. der Modernitätsschub in der Schreibweise werden deutlich, wenn man
seinen Roman mit dem Handlungsmodell und Schreibstil der meisten ande-
ren thematisch einschlägigen Texte vergleicht, die den Standards konventio-
nellen, pädagogisch unanstößigen Erzählens für Jungen und Mädchen der
50er Jahre entsprechen.
338 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

Eine Ausnahmestellung kommt auf diesem Themenfeld dem Jugendroman


Die toten Engel (1963) von Winfried Bruckner zu, der im Warschauer Getto
des Jahres 1943 spielt. Bemerkenswert ist nicht allein das Sujet, nämlich die
Vernichtung des Warschauer Gettos 1943 ohne rettende Eingriffe deutscher
Edelmenschen, sondern auch der Umstand, dass mit diesem Titel die öster-
reichische Kinder- und Jugendliteratur sich dem Thema Vergangenheitsbewäl-
tigung stellt. Und bemerkenswert ist an Bruckners Erzählung weiterhin, dass
sie die Vertreter der jüdischen Gettobewohnerschaft – Erwachsene wie eine
Gruppe von Kindern – nicht lediglich als ohnmächtige Opfer darstellt, son-
dern auch als Handelnde, die sich zur Wehr setzen (wie dies sonst nur in der
Holocaustliteratur für Erwachsene der Fall ist). Kaum verwunderlich ist, dass
Bruckners radikaler jugendliterarischer Realismus heftige Kritik und Ableh-
nung bei den konservativen Jugendliteraturfachleuten hervorgerufen hat.
Der früheste westdeutsche Jugendroman, der Widerstand gegen den Natio-
nalsozialismus im katholischen Umfeld darstellt, liegt mit Ludwig Altenhöfers
Aktion Grün. Ein Buch vom Widerstand (1956) vor. Zur Motivation des
Würzburger Arena-Verlages (einem der profiliertesten und aufgeschlossensten
Jugendliteraturverlage der Bundesrepublik), diese Erzählung zu publizieren,
führt der Waschzetteltext aus: »Mit Besorgnis muß der aufmerksame Leser
heute wahrnehmen, daß die Zahl der Biographien und Schilderungen von
Menschen und Zuständen während des ›Dritten Reiches‹ wächst. Nicht we-
nige dieser Bücher wagen es, jene Zeit positiv darzustellen und damit dersel-
ben Lüge zu dienen, aus welcher die nationalsozialistischen Verbrecher leben.
Demgegenüber finden sich nur sehr wenige Schriften, in denen das Leben,
Kämpfen und Sterben derer dem Gedächtnis bewahrt werden, die gegen das
nationalsozialistische Unrecht standen. Besonders aus dem Tun Katholischer
Jugend in Deutschland während der Jahre 1933 bis 1945 fand sich bis heute
kaum ein bemerkenswertes Buch.« Eine überraschend klare und dezidierte
Stellungnahme. Dem beklagten und auch wirklich existierenden Defizit will
der Autor mit seinem auf Tatsachen fußenden Jugendroman aus dem katholi-
schen Jugendwiderstand gegen Gestapo-Willkür und Verfolgung katholischer
Priester entgegenwirken. Allerdings bleibt die Darstellung auf diesen Aspekt
beschränkt. Die Judenverfolgung spielt (noch) keine Rolle.
Flucht und Vertreibung Im ersten, 1962 erschienenen Band Das Jahr der Wölfe einer erst 1974
in neuer Darstellungs- fortgesetzten und 1985 abgeschlossenen ostpreußischen Familiengeschichte
weise: »Das Jahr der erzählt Willi Fährmann von den letzten Wochen der Familie Bienmann in
Wölfe« ihrer Heimat und ihrer anschließenden Flucht vor der Roten Armee. Bei
Fährmann steht zwar auch das Schicksal der deutschen Familie samt der
Dorfgemeinschaft von Leschinen im Mittelpunkt, aber es entsteht ein kri-
tisch-realistisches Zeitpanorama, das die Unterschiede in der Einstellung
zum Nationalsozialismus und die Frage nach den auslösenden Ereignissen
für diese dramatische Entwicklung, die Frage nach der deutschen Schuld
nicht einfach ausspart oder hinter einer Opfererzählung verschwinden lässt.
Das Verhalten keiner Seite wird von Fährmann beschönigt, und es gibt keine
rührend verbrämten Flüchtlingsschicksale. Insbesondere die Einstellungen
und Reaktionen der deutschen Bevölkerung kurz vor der Flucht werden klar
und differenziert dargestellt, vom hasserfüllten Fanatismus der 150-prozenti-
gen Nazis bis zu Resignation, Skepsis und offener Ablehnung des Endsiegge-
redes. In der Hauptsache erzählt Fährmann aber ohne jede Sentimentalität
von der Flucht selbst und ihren extremen Mühen und Gefahren.
Neue Darstellung des Einer der wenigen frühen bundesdeutschen Titel zu den Themen »Aufstieg
NS-Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus« und »Alltag im Nationalsozialismus« ist Peter
Bergers Im roten Hinterhaus. Die Geschichte einer Familie in verworrener
Konstellationen der 60er Jahre – Vom ›guten‹ zum antiautoritären Jugendbuch 339

Zeit (1966). In dieser Ich-Erzählung mit autobiographischen Zügen wird


Alltagsgeschichte vom Ende der Inflation im November 1923 bis zum Beginn
des Zweiten Weltkriegs im September 1939 aus der Perspektive des zunächst
etwa zehnjährigen Arbeiterkindes Manfred Peters geschildert. Zugleich er-
gibt sich aus dieser Erzählung ›von unten‹ ein lebendiges Panorama der poli-
tischen und gesellschaftlichen Entwicklung jener Jahre: Ende der Weimarer
Republik, Aufstieg des Nationalsozialismus, Machtübernahme und Festigung
des Regimes bis zum Beginn des Kriegs. Gespiegelt wird dies in dem breiten
Figurenspektrum, das aus den Angehörigen der vielköpfigen Familie des Ich-
Erzählers sowie Haus- und Kiezbewohnern besteht. Keine dieser Figuren, die
sich – von begeisterter Gefolgschaft bis skeptischer Distanz und Ablehnung
– ganz unterschiedlich gegenüber dem noch siegreichen Nationalsozialismus
verhalten, wird verurteilt oder ins Vorbildliche etwa eines antifaschistischen
Widerstands überhöht. Alle arrangieren sich irgendwie mit den Verhältnissen
und versuchen, Normalität zu leben. So entsteht ein sehr anschauliches Bild,
wobei auch die so beschämend-widerlichen Seiten der NS-Normalität wie
die selbstverständliche Bereicherung ›arischer Volksgenossen‹ an enteignetem
jüdischem Vermögen nicht ausgespart werden. Bergers Erzählung, die 1967
den Deutschen Jugendbuchpreis erhielt, steht in der Tradition eines jugendli-
terarischen Realismus, der sich strikt jedes besserwisserischen Moralisierens
enthält. Stattdessen zeichnet sich die Erzählung durch einen humorigen La-
konismus aus, der die Dinge aus der kunstvoll naiv inszenierten Sicht des
längere Zeit ja kindlichen bzw. jugendlichen Ich-Erzählers wiedergibt.

Konstellationen der 60er Jahre –


Vom ›guten‹ zum antiautoritären Jugendbuch

Mit dem Ende der Adenauer-Ära und ihrem konservativen Welt- und Gesell-
schaftsverständnis, das unübersehbar Mitte der 60er Jahre erreicht war, setzt
sich auch im pädagogischen wie kinder- und jugendliterarischen Bereich eine
gewisse Liberalisierung der Anschauungen fort, die sich bereits Ende der
50er Jahre angebahnt hatte. Sie ist gepaart mit einer zunehmenden Infrage-
stellung bislang dominierender Positionen etwa bei der Frage der Qualität
von Kinder- und Jugendliteratur. Die Berücksichtigung drängender Zeitpro- Gegenwarts-
bleme wird nun von fortschrittlichen Pädagogen und Kinder- und Jugendlite- bezogenheit
ratur-Fachleuten gegenüber überholten Konzepten verstärkt eingefordert.
Texte, die dem Thematisierungs- und Erzählmodell einer Autonomisierung
von Kindheit im Zeichen von befreiender Fantasietätigkeit und Eigenwertig-
keit von Kindsein folgen, gehören zu Beginn der 60er Jahre zum festen Be-
stand der bundesrepublikanischen Kinderliteratur. Daneben zeigt sich zwar
zögernd, aber unübersehbar eine realistische, gegenwartsbezogene und v.a.
auch die Zeitgeschichte berücksichtigende Jugendliteratur, deren Hervor-
bringungen von sehr unterschiedlicher Qualität sind. Schließlich kündigt sich
die antiautoritäre Wende an.
Die so bezeichnete neuerliche – man könnte auch sagen: sekundäre – Mo-
dernisierung der Kinder- und Jugendliteratur, ihres Kindheits- und Gesell-
schaftsbilds sowie ihres pädagogischen Selbstverständnisses steht in engem
Zusammenhang mit der antiautoritären Wende im politischen und gesell-
schaftlichen Klima der Bundesrepublik in den späten 60er Jahren: Es kommt
340 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

Die sekundäre zu einer Revolte gegen die Wertewelt der Elterngeneration und der Politiker
Modernisierung der dieser Generation, die immer noch diejenigen waren, die den Nationalsozia-
Kinder- und Jugend- lismus miterlebt und mitgetragen hatten. Damit einher geht ein Mentalitäts-
literatur wandel, der sich in Politik und Erziehungsverständnis abzeichnet. Dies führt
zu einer Infragestellung der Wertewelt jener Erwachsenengenerationen, die
in den Nationalsozialismus und seine immer deutlicher thematisierten Unta-
ten involviert waren. Kernpunkt für die Analyse der Verstrickung der Deut-
schen in den Nationalsozialismus war das Syndrom ›autoritärer Charakter‹:
der sprichwörtliche deutsche Gehorsams- und Untertanengeist, die Pflichter-
füllung bis zum bitteren Ende, egal wofür – und sei es für die verbrecheri-
schen Ziele des Nationalsozialismus. Theodor W. Adornos Gesellschaftsana-
lysen, die Erklärungsmodelle der Psychoanalyse, ebenso Alexander S. Neills
menschenfreundliche ›Summerhill‹-Utopie einer repressionsfreien, freilassen-
den Erziehung und anderes mehr waren bestimmende Momente dieser Jahre
des antiautoritären Auf- und Umbruchs zu einer menschenfreundlicheren,
friedlicheren Gesellschaft. Politische Komplementärfigur war Willy Brandt
mit seiner berühmt gewordenen Devise »Mehr Demokratie wagen«.
Die Auswirkungen, welche die antiautoritäre Bewegung durch ihre Kritik
der autoritären Politik- wie Mentalitätsstrukturen in Deutschland auf die
Pädagogik und damit auch auf einen Bereich wie die Literatur- und Medien-
produktion für Kinder hatte, sind nicht zu unterschätzen. Argwöhnte man
doch, dass die herrschende Kinder- und Jugendliteratur, ihr Kindheitsbild
und ihr Kindheitsverständnis auf weitere Anpassung an die gegebenen Ver-
hältnisse abziele und der Aufrechterhaltung, mehr noch: der Perpetuierung
autoritärer Charakterstrukturen bei den Angehörigen der nachwachsenden
Generationen diene. In diesem Zusammenhang flammte auch eine heftige
Kritik an den meisten der als Kinderliteratur klassisch gewordenen Märchen
auf, vorab denen der Brüder Grimm, und an deren Kindheits- und Gesell-
schaftsbild mit seiner vermeintlichen Gehorsams- und Untertanenmoral. Die
Wende zu einer nicht-kapitalistischen, auf Solidarität und Emanzipation
gründenden, basisdemokratischen und wirklich ›freien‹ Gesellschaft als As-
soziation befreiter Subjekte sollte denn auch mit den Mitteln einer entspre-
chend antiautoritär-befreienden Kinderliteratur befördert werden. Program-
matisch war ihr das Mutmachen und der Aufstand gegen die verstockte,
verstaubte, unterdrückerische Erwachsenenwelt eingeschrieben, bestehend
aus (unbelehrbaren) Eltern, Lehrern, Arbeitgebern und anderen gesellschaft-
lichen wie politischen Autoritäten.
Aufmüpfige Im Mittelpunkt der antiautoritären Kinderliteratur stehen Fantasiekon-
Kinderfiguren strukte des kessen, aufmüpfigen, ja revolutionären (kleinen) Mädchens oder
Jungen. Archetypen und Vorläufer dieser Kinderfiguren sind neben anderen
Lewis Carrolls Alice, Kästners Pony Hütchen und Luise Pogge, genannt
Pünktchen, sowie natürlich Astrid Lindgrens Supermädchen Pippi Lang-
strumpf. Die Erfindung dieser weltberühmten Mädchenfigur fällt bereits in
die Mitte der 1940er Jahre. Damals stieß sie wegen ihres lustvoll anarchisch-
subversiven Charakters bei konservativen Literaturpädagogen auf entschie-
dene Kritik als schlechtes Vorbild für die kindlichen Leser. Sie ist jedoch
auch bei Anhängern der antiautoritären Bewegung umstritten, weil sie zwar
explizit antiautoritäre Verhaltensweisen an den Tag legt und vielfach gegen
Normen und Regeln der Erwachsenenwelt verstößt, aber, wie das resigna-
tive Ende zeigt, trotzdem und trotz ihrer Freundschaft zu den ›Normalkin-
dern‹ Thomas und Annika am Ende allein, ein ewiges Kind bleibt und die
Welt, in der sie als Außenseiterin lebt, (sich) nicht verändert.
Sozusagen als deren späte Schülerin zeigt sich die Figur der kleinen Elfriede
Konstellationen der 60er Jahre – Vom ›guten‹ zum antiautoritären Jugendbuch 341

Illustration aus
Astrid Lindgrens Pippi
Langstrumpf

in Otto Jägersbergs Kindererzählung Der große Schrecken Elfriede (1969).


Erzählt wird von der Verwandlung eines superbrav-angepassten Mädchens in
ein Wesen, das seine Umwelt in Angst und Schrecken zu versetzen sucht – eine
in der Kinder- und Jugendliteratur häufiger vorkommende Allmachtsfantasie,
deren konkrete Äußerungen aber hier vergleichsweise harmlos sind. Am Ende
wird die Kleine dann aber aus eigenem Entschluss wieder ganz brav, weil sie
mit ihrem ›Der-große-Schrecken‹-Programm niemanden mehr zu beeindru-
cken vermag: »Elfriede beschloß eine radikale Änderung ihres Programms.
Weil sie die Welt nicht ändern konnte, wollte sie wenigstens die Menschen
ändern. Sie nahm sich vor, noch höflicher, noch netter, noch lieber, noch zu-
vorkommender, noch freundlicher und noch bescheidener zu sein als je ein
Mensch zuvor.« Jedoch funktioniert auch dieses Programm nicht zufrieden-
stellend. Daraufhin orientiert die kindliche Heldin auf eine seinerzeit in der
antiautoritären Bewegung vielbeschworene Perspektive, wenn sie fordert:
»Bereitet euch auf einen langen Marsch vor« und damit die Parole der APO
vom langen Marsch durch die Institutionen aufnimmt.
Ein Grundzug des antiautoritären Kindheitsdiskurses ist, dass das Er- Kindliche Bedürfnisse
wachsenen-, v.a. das Eltern-Verhalten als selbstverständlich verbindliche im Vordergrund
Norm massiv in Frage gestellt wird; es muss sich vor dem kritischen kindli-
chen Räsonieren rechtfertigen und hinnehmen, dass es außer Kraft gesetzt
wird. Die Logik und Berechtigung kindlicher Bedürfnisse tritt in den Vorder-
grund und entthront den alleinigen Geltungsanspruch der Erwachsenen, wie
er v.a. in der Kinder- und Jugendliteratur der späten 40er und der 50er Jahre
unangefochten reproduziert wurde (wobei es allenfalls fantastische und tem-
poräre Relativierungen dieses Prinzips wie etwa in Preußlers Kleiner Hexe
gab). Dass das Prinzip der Erwachsenen- und Elternautorität seit Ende der
60er Jahre unübersehbar in Frage gestellt wurde, ist eine Folge der kritischen
Befragung der Rolle, die die Eltern- und Großelterngeneration im National-
sozialismus gespielt hat. Wenn (so die gängige Argumentation) die Verhal-
tensnormen und das Verhalten der Erwachsenen zu derartigen Verbrechen
geführt haben, dann haben sie ihren (moralischen) Kredit und den Anspruch
auf soziale Verbindlichkeit, gar Vorbildhaftigkeit verspielt. Verschärft wurde
diese Perspektive durch die Entdeckung und Einführung des antikapitalisti-
schen bzw. kapitalismuskritischen sowie des psychoanalytisch-gesellschafts-
kritischen Diskurses in der Kinderliteratur und der Pädagogik.
342 Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende

Die frühen Texte der genuin antiautoritären Kinderliteratur folgen alle


mehr oder weniger folgendem Konfliktmuster: hier ausbeuterische gesell-
schaftliche Mächte (wie geldgierige, wucherische Haus- und Fabrikbesitzer),
dort die in ihrer Vereinzelung zunächst Schwachen und Ohnmächtigen, meist
repräsentiert durch Kinder. Erst deren (revolutionärer) Zusammenschluss
bringt ihnen den Sieg über die Ausbeuter. Das wird in der Tradition der auf-
klärerisch-klassenkämpferischen Kinderliteratur der Weimarer Republik
etwa von Alex Wedding, Hermynia Zur Mühlen und anderen auch unter
Verwendung fantastischer Motive durchgespielt, so etwa in den ersten Tex-
ten des Berliner Basis-Verlags Zwei Korken für Schlienz (1970) oder Martin
der Mars(x)-Mensch (1970). Mit noch platterer politisch-ideologischer Bot-
schaft im Sinne einer Verherrlichung von Mao Tse Tungs China wartet ein
Text wie Die Roten Ratten von Berlin (1970) auf, das als das erstrebenswerte
Zukunftsmodell gefeiert wird, weil »die Arbeiter dort an der Macht sind«.
Volker Ludwigs Zu einem der erfolgreichsten und breit rezipierten Vertreter und Autoren
antiautoritäres der antiautoritären Kinderliteratur wie einer antiautoritären Kinderkonzep-
Konzept tion wurde Volker Ludwig (d.i. Eckart Hachfeld), der Begründer des Berliner
Grips-Theaters. So stammen Ludwigs bekannteste Kinderlieder Einer ist
keiner und Wer sagt, daß Mädchen dümmer sind, die den antiautoritär-
emanzipatorischen Kindheitsdiskurs bis heute maßgeblich geprägt haben
und die z. T. immer noch bekannt sind, aus einem seiner Stücke, aus Balle,
Malle, Hupe und Artur von 1969. Als beispielhaft für die vielen einschlägigen
Texte, die Ludwig seit den späten 60er Jahren geschrieben und inszeniert hat,
kann Trummi kaputt (1971) gelten, der 1973 auch in der Rotfuchs-Reihe
veröffentlicht wurde. Entscheidend ist in Trummi kaputt wie in vielen ande-
ren Stücken die sozial- und kapitalismuskritische Stoßrichtung der Hand-
lung. In deren Verlauf beginnen sich die kindlichen Helden – eine Gruppe
von Grundschülern und -schülerinnen aus sozial schwachen und Problemfa-
milien – gegen das Diktat ihres angeberischen, geschäftstüchtig-gerissenen
Mitschülers Bobby, dem Sohn des reichsten Fabrikanten am Ort, zur Wehr
zu setzen und die profitable Spielwarenproduktion des Vaters Caesar Trumm,
insbesondere die Produktion eines teuren Super-Spielzeugroboters, mit dem
Kinder aber eigentlich gar nichts anfangen können, durch konkrete Spielein-
fälle so zu gefährden, dass der schließlich einlenken muss. Die cleveren Ar-
beiterkinder tricksen und manövrieren den unsympathischen Kapitalisten
und ›Bestimmer‹ über das Schicksal ihrer Väter und Mütter schließlich ge-
meinsam aus und erreichen dabei sogar die Wiedereinstellung der fristlos
»childrens power« entlassenen Mutter eines ihrer Klassenkameraden: Childrens power overco-
mes – das ist hier, wie in so vielen anderen dieser Texte, die Botschaft.
Der antiautoritäre Kindheitsdiskurs macht sich in den frühen 70er Jahren
dann in einer Reihe von durchaus bemerkenswerten Texten geltend, die das
Spektrum von der realistischen Problemliteratur bis zu komisch-fantasti-
schen Handlungsentwürfen mit kindlichen Helden und ihrem Alltag reprä-
sentieren. Nichts ist in der anspruchsvolleren und beachteten Kinderliteratur
und ihren Kindheitsszenarios mehr so, wie es vorher war. Das hängt nicht
zuletzt auch damit zusammen, dass mit dieser antiautoritären Wende und
dem damit einhergehenden kinderliterarischen Paradigmenwechsel zu den
verschiedensten Formen von childrens right und childrens power auch neue
Autorinnen sich zu Wort melden. Unter ihnen ist die wohl bekannteste die
1936 geborene Österreicherin Christine Nöstlinger mit ihrem mittlerweile
zum modernen Klassiker avancierten komisch-fantastischen Kinderroman
Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1972).
343

Von den 70er Jahren


bis zur Gegenwart

Vorbemerkung
Reiner Wild

Die Studentenbewegung von 1968, die weitgreifende Veränderungen ein-


klagte und es unternahm, sie ›herbeizudemonstrieren‹, war ihrerseits Teil und
Ausdruck tiefgehender sozialer und kultureller Veränderungen, die in den
Jahren vor und nach 1968 eine enorme Beschleunigung erfuhren. Die Ju-
gendrevolte der ›68er‹ hat die Fenster weit aufgestoßen; sie brachte frische
Luft in die muffige, im Wiederaufbau nach dem Krieg erstarrte bundesrepu-
blikanische Gesellschaft und hat damit wesentlich die Atmosphäre mit ge-
schaffen, in der Wandel und Veränderung sich vollziehen konnten. Provoka-
tion und Enttabuisierung waren wirksame und vermutlich unerlässliche
Mittel, die verkrusteten Strukturen aufzubrechen und so überhaupt erst Be-
wegung in Gang zu setzen. Insofern war dieser jugendliche Aufbruch glei-
chermaßen Bestandteil wie Movens eines umfassenden und nachhaltig
wirksamen Modernisierungsprozesses. Dass dabei, entgegen den utopischen Modernisierungs-
Zielen einer ›repressionsfreien‹ Gesellschaft, die kapitalistisch verfasste Ge- prozess
sellschaftsordnung modernisiert wurde, gehört zu den im Übrigen historisch
nicht seltenen Selbstmissverständnissen dieser Jugendbewegung; kurioser-
weise hat damit die Jugendbewegung der 60er Jahre, die ein Phänomen der
gesamten westlichen Welt war, ihren Teil zum ›Sieg‹ des Kapitalismus über
den real existierenden Sozialismus beigetragen. ›68‹ kann somit als Chiffre
stehen für den Aufbruch zu einem erheblichen sozialen und kulturellen Wan-
del. Dazu gehört vorrangig, dass ein Prozess allgemeiner Demokratisierung
angestoßen wurde, der in unterschiedlichen Ausprägungen die politische,
soziale, kulturelle Entwicklung bis heute bestimmt. Willy Brandts Wort ›Wir
wollen mehr Demokratie wagen‹ in der Regierungserklärung der soziallibe-
ralen Koalition von 1969 hatte so Bedeutung weit über die verfassten Insti-
tutionen politischer Willensbildungsprozesse hinaus.
Auch in der Kinder- und Jugendliteratur sind in der Folge dieses Wandels Wandel im Bildungs-
in den letzten Jahrzehnten erhebliche Veränderungen zu registrieren, die ih- system
rerseits mit den Veränderungen in der Konstitution und Gestaltung von
Kindheit und Jugend eng verbunden sind. Von grundlegender Bedeutung ist
dabei der Wandel im Bildungssystem, insbesondere mit der beträchtlichen
Ausweitung der gymnasialen und der universitären Ausbildung, der die his-
torische Tendenz der Verlängerung von Kindheit und Jugend deutlich ver-
stärkt und zugleich zu einer bemerkenswerten Erhöhung des allgemeinen
(Aus-)Bildungsstands geführt hat (auch wenn diese – möglicherweise – mit
der Nivellierung des Bildungsniveaus auf niederer Stufe verbunden ist).
Bedeutsamer noch ist der seit den 70er Jahren sich deutlich beschleuni-
gende Wandel der Familie. Auch hier setzt sich die historische Tendenz zu-
344 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

nehmender Funktionsentlastung der familialen Figuration fort, nicht zuletzt


im Bereich der Sozialisation. Zudem wird dieser Wandel durch die weit über
den Bereich der Familie hinaus wirksame Veränderung des Geschlechterver-
hältnisses mitbestimmt, vor allem auch durch die zunehmende Berufstätig-
keit der Frau. Insgesamt lässt sich ein Rückgang der familiären Bindungs-
kräfte konstatieren, der etwa in den erhöhten Scheidungs- und Wiederver-
heiratungsraten sichtbar wird, was u. a. zur Figuration der sogenannten
Patchwork-Familie führt, in der nicht mehr die leibliche Verwandtschaft das
maßgebliche Moment familiärer Zugehörigkeit bildet, und die damit, wenn-
gleich aus völlig anderen Konstitutionsbedingungen heraus, an ältere Famili-
Wandel der Kindheit enformen erinnert. Innerhalb des familialen Wandels ändert sich notwendi-
gerweise auch die Beziehung zu den Kindern und mithin die Konstitution
von Kindheit. Dabei erfährt die Familie einerseits einen Bedeutungsverlust,
insofern Sozialisationsaufgaben an andere Institutionen, an Schule, Peer-
groups, medial vermittelte Gruppen, auch an die Medien selbst, insbesondere
die sogenannten ›neuen‹ Medien, abgegeben werden. Auf der anderen Seite
gibt es eine deutliche Aufwertung von Kindheit im Sinne verstärkter emotio-
naler Besetzung der Beziehung zum Kind; dazu trägt sicher auch der Rück-
gang der Geburtenrate bei, mit der Tendenz zur Ein-Kind-Familie und damit
zu einer Veränderung der familialen Sozialisation, deren langfristige psy-
chische wie soziale Auswirkungen gegenwärtig kaum fundiert abgeschätzt
werden können. Die Funktionsentlastung der Familie mag ein Grund dafür
sein, dass sich – nach den heftig ausgetragenen Generationenkämpfen der
Jugendrevolte von 68 muss man wohl sagen: erstaunlicherweise – eine deut-
liche Entspannung zwischen den Generationen, eine Entschärfung des Gene-
rationenkonflikts jedenfalls innerhalb der Familie, ausgebildet hat, die u. a.
dazu führt, dass sich die Dauer des Verbleibens der nachwachsenden Genera-
tion in der elterlichen Familie erkennbar verlängert hat.
Insgesamt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in der bundesrepubli-
kanischen und dann in der Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschland
ein eigentümlich zwiespältiges Verhältnis zu Kindheit und Jugend ausgebil-
det. Auf der einen Seite lässt sich eine stark gewachsene fürsorgliche Zuwen-
dung zum Kind im familiären Umfeld registrieren, die gleichermaßen im öf-
fentlichen wie im privaten Bereich wirksam ist, mit regulierten medizinischen
Untersuchungen ebenso wie mit der zärtlichen Hingabe der Eltern an ihre
Aufgabe (und auch mit einer gewissen Tendenz zu dem Kindheitsverhältnis,
das in der frühen Neuzeit, also in der ersten Ausbildungsphase moderner
Ambivalenz von Kindheit, als Gehätschel bezeichnet wurde). Zugleich jedoch wird – gesamt-
Kindheit und Jugend gesellschaftlich – der Weg der Kinder und Jugendlichen ins Erwachsensein
und das heißt weiterhin ins Berufsleben keineswegs leicht gemacht; die Zu-
kunftsaussichten der nachwachsenden Generationen sind angesichts der
Probleme auf dem Arbeitsmarkt, der ökonomischen Veränderung überhaupt,
und trotz der erheblichen Ausweitung der Ausbildung nach wie vor nicht
günstig. Dies wiederum führt, vornehmlich in den letzten Jahren, zu einer
wesentlich aus der Perspektive aufs Berufsleben und damit vom Lernen be-
stimmten Zuwendung bereits zu kleinen Kindern, denen möglichst früh die
Qualifikationen für den Konkurrenzkampf um die beruflichen Möglich-
keiten (und den Bedarf entwickelter kapitalistischer Produktionsbedin-
gungen) beigebracht werden sollen; dabei sind auch Tendenzen zur ausge-
dehnten pädagogischen Regulierung und Überforderung von Kindheit aus
der Perspektive des Erwachsenseins zu bemerken (was immerhin zur tenden-
ziellen Aufhebung von Kindheit in der Gestalt führen könnte, wie sie seit
dem 18. Jh. ausgebildet wurde). Eine ähnliche Zwiespältigkeit ist auch in
Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart 345

Jugend und Adoleszenz zu beobachten. Sie sind einerseits von zunehmender


Freiheit, ja Freizügigkeit gekennzeichnet, etwa auch vom Spiel mit gender-
spezifischen Modellierungen, und bilden damit einen offenen, zudem sich
stetig verlängernden Entwicklungsspielraum; andererseits wird die erfahrene
Freiheit durch berufliche Perspektivlosigkeit deutlich eingeschränkt.
Auch für die Kinder- und Jugendliteratur markiert die Zeit um 1968 eine ›Kinderliteraturreform‹
deutliche Zäsur; in der Forschung wird inzwischen allgemein von der ›Kin-
derliteraturreform‹ dieser Jahre gesprochen (was immerhin Assoziationen
zur Reformbewegung um 1900 nahelegt). Das allgemeine und öffentliche
Interesse an dieser Literatur stieg deutlich an; mit der Zunahme öffentlicher
Wahrnehmung war eine bemerkenswerte Aufwertung verbunden. Sichtbar
wird dies bereits im unmittelbaren zeitlichen Umfeld von ›68‹ in der Auswei-
tung des kinderliterarischen Buchmarktes mit den zugehörigen Verände-
rungen im Verlagswesen. 1971 gründete Hans-Joachim Gelberg das Kinder-
und Jugendbuchprogramm »Beltz & Gelberg«; im gleichen Jahr begannen
im Deutschen Taschenbuch Verlag die Reihe ›dtv junior‹ und ein Jahr darauf
bei Rowohlt die Reihe ›rotfuchs‹ zu erscheinen. In den 70er Jahren wird die
Kinder- und Jugendliteratur in zuvor nicht gekanntem Ausmaß zum Gegen-
stand universitärer Forschung und Lehre auch in der Literaturwissenschaft;
dies führt insbesondere auch zu einer intensiven Erforschung der Geschichte
dieses literarischen Teilbereichs. Das zwischen 1975 und 1982 erschienene,
von Klaus Doderer herausgegebene Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur
bietet einen ersten Ertrag dieser Ausweitung. Freilich ist auch anzumerken,
dass die Integration der Kinder- und Jugendliteratur zum selbstverständli-
chen Bestandteil des Fachs Neuere deutsche Literaturwissenschaft nicht zu-
reichend gelungen ist.
Auch in der Schule hat die Behandlung der genuinen Lektüre der Kinder
und Jugendlichen, dann auch ihre Mediennutzung überhaupt deutlich zuge-
nommen; inzwischen ist in manchen Bundesländern die Beschäftigung mit
der Kinder- und Jugendliteratur curricularer Bestandteil der Ausbildung der
Lehrer, auch der Gymnasiallehrer. Ab den späten 70er Jahren wird die Kin-
der- und Jugendliteratur zum Thema literarischer Kritik insbesondere in den
Tageszeitungen; inzwischen gehört die Seite mit Kinder- und Jugendbuchkri-
tik zu den selbstverständlichen Bestandteilen des Feuilletons. Dazu hat an-
fänglich sicher beigetragen, dass 1978 das Thema der Frankfurter Buchmesse
›Kind und Buch‹ lautete und in diesem Jahr der Friedenspreis des deutschen
Buchhandels an Astrid Lindgren vergeben wurde. Mit dieser Aufwertung Verwischung der
hängt auch die bereits seit den 70er Jahren zu beobachtende Tendenz zur Grenzen
Verwischung mancher etablierter Grenzen zwischen der Literatur für Kinder
und Jugendliche einerseits, für Erwachsene andererseits zusammen – sei es
durch generationenübergreifende Lektüre gleicher Texte, wofür die Rezep-
tion der Harry Potter-Bände ein zwar herausragendes, keineswegs jedoch
singuläres Beispiel ist, sei es in der Übernahme von Stilmitteln und Formen in
die Kinder- und Jugendliteratur, die zuvor der Literatur für Erwachsene vor-
behalten waren; die deutlich grenzüberschreitende Gattung des Adoleszenz-
romans ist dafür das wohl markanteste Beispiel.
Die im unmittelbaren Zusammenhang mit ›68‹ entstandene ›antiautori-
täre‹ Kinder- und Jugendliteratur blieb, obgleich stark beachtet und – wie die
zugehörige Pädagogik – heftig umstritten, eine kurze Phase. Weitaus kenn-
zeichnender war, durchaus in der Konsequenz von ›68‹, die Hinwendung zur Hinwendung zur
Realität, die sich nicht zuletzt in der beträchtlichen Ausweitung der Themen- Realität
bereiche zeigt: Politik, Sozialkritik, familiäre und schulische Probleme, pu-
bertäre und adoleszente Erfahrungen der Sexualität, Drogen, Kriminalität
346 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

und Gewalt, die Umwelt, Atomkraft und Atomausstieg, Ausländerproblema-


tik, die nationalsozialistische Vergangenheit etc. werden nunmehr in den
Büchern für Kinder und Jugendliche verhandelt. In diesem ›Realismus‹ spie-
gelt sich die Forderung nach Teilhabe der Kinder an den gesellschaftlichen
Problemen und Prozessen; er bildet insofern eine Umsetzung des Vorsatzes,
mehr Demokratie zu wagen. In den 70er Jahren ist diese Wirklichkeitsorien-
tierung, die sich gleichermaßen auf die kindliche wie auf die gesamtgesell-
schaftliche Realität richtet und auch Vergangenheit und Geschichte einbe-
zieht, die dominante kinder- und jugendliterarische Tendenz, und sie bleibt
bis heute ein zentraler Trend.
Fantastik Zugleich lassen sich schon in den frühen 70er Jahren, durchaus im Kon-
text der Behandlung ›realer‹ Probleme, neue Formen fantastischer Kinder-
und Jugendliteratur ausmachen; Christine Nöstlingers Ich pfeife auf den
Gurkenkönig von 1972 ist dafür ein oft zitiertes Beispiel. Spätestens mit
Michael Endes Die unendliche Geschichte, die 1979 erschien, gewann die
fantastische Literatur erheblich an Bedeutung; einen Höhepunkt erreicht sie
seit dem Ende der 90er Jahre mit dem Phänomen Harry Potter. Keineswegs
jedoch nimmt damit die fantastische Literatur im Gesamtsystem der Kinder-
und Jugendliteratur eine dominante Stellung ein (wie die realistische, pro-
blemorientierte Literatur in den 70er Jahren); vielmehr existieren beide
Ausdifferenzierung Genres nebeneinander. Überhaupt ist seit den 80er Jahren die Ausdifferenzie-
rung unterschiedlicher Tendenzen kennzeichnend; bestimmend sind Vielfalt
und Diversität. Zudem gibt es Berührungspunkte und Überschneidungen
zwischen der wirklichkeitsorientierten und der fantastischen Literatur, die
ohnehin kaum je in strikter, sich ausschließender Opposition zueinander
standen. Zu den Gemeinsamkeiten gehört insbesondere die in den letzten
Jahrzehnten allenthalben in der Kinder- und Jugendliteratur zu beobachtende
Psychologisierung Psychologisierung der Figuren, die in beiden Tendenzen, wenn auch mit un-
terschiedlichen literarischen Mitteln, vorangetrieben wird. Die verstärkte
Übernahme ›moderner‹ Erzählweisen und Stilmittel aus der Literatur für Er-
wachsene vornehmlich in die Jugendliteratur, aber auch in Texte für jüngere
Altersstufen ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu sehen.
Mit der epochalen politischen Zäsur 1989/90 endete die eigenständige
Kinder- und Jugendliteratur der DDR; fortgesetzt wurden im wiedervereinig-
ten Deutschland wie in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen auch in der
Kinder- und Jugendliteratur die bundesrepublikanischen Tendenzen und
Entwicklungslinien. Zwar sind die Ereignisse um 1989, ihre Hintergründe,
Ursachen und Folgen zu Themen der Kinder- und Jugendliteratur geworden;
als Gesamtsystem blieb diese davon jedoch weitgehend unberührt. Einer der
Gründe für diese geringe Wirkung mag darin liegen, dass Entwicklung und
Veränderung der Kinder- und Jugendliteratur schon seit den 80er und mit
Medienkonkurrenz erheblicher Verstärkung seit den 90er Jahren vor allem durch die Medien-
konkurrenz bestimmt werden. Die Ausbildung der ›neuen Medien‹ und deren
zunehmende Bedeutung haben die Kinder- und Jugendliteratur bereits verän-
dert, und sie werden ihre Produktion wie ihre Rezeption noch nachhaltiger
prägen, wobei nicht allein die Stellung des Buches in Frage steht, sondern in
zunehmendem Maße der Medienverbund, also die Vernetzung unterschied-
licher Medien, bestimmend sein dürfte. Insofern kann die Ausbildung der
Medienkonkurrenz als die wohl nachhaltigste Innovation in der Kinder- und
Jugendliteratur der letzten 40 Jahre gelten.
Weitere, annähernd vergleichbare zentrale Innovationen sind die Ausbil-
›Neues Mädchenbuch‹ dung der ›neuen Mädchenliteratur‹, die – teilweise in kritischer Auseinander-
setzung mit der Tradition dieses Genres und seiner fortdauernden Wirksam-
Historische und zeitgeschichtliche Literatur 347

keit – die Veränderungen im Geschlechterverhältnis und die Folgen des


weiblichen Emanzipationsschubs aufnimmt, diskutiert und gestaltet, sowie
die Ausbildung des ›jugendliterarischen Adoleszenzromans‹, in dem der Adoleszenzroman
Wandel von Jugend und Adoleszenz dargestellt und verhandelt werden und
zudem neue, der Erwachsenenliteratur entnommene literarische Mittel er-
probt und in die Jugendliteratur integriert werden. Auch in anderen Teilbe-
reichen der Kinder- und Jugendliteratur lässt sich eine solche Öffnung zu
›modernen‹ literarischen Formen beobachten, wobei die Übernahme zumeist
mit der zunehmenden Psychologisierung der Figuren verbunden ist, etwa im
›realistischen Kinderroman‹ oder im ›tragikomischen Familienroman‹. Dieser
Formwandel und die Psychologisierung können so als weitere und vermut-
lich bleibende Innovationen in der Kinder- und Jugendliteratur der letzten
Jahrzehnte gelten.

Historische und zeitgeschichtliche Literatur


Gabriele von Glasenapp

Obwohl sich historische und zeitgeschichtliche Literatur mit dem gleichen


Gegenstand beschäftigen, nämlich mit der Erzählung von geschichtlichen
Ereignissen, weisen diese beiden Varianten geschichtserzählender Literatur
eine sehr unterschiedliche Gattungsgeschichte auf, und auch in der Behand-
lung historischer Stoffe gehen beide Genres streng getrennte Wege. Eingebür-
gert hat sich mittlerweile der Sprachgebrauch, wonach die Bezeichnung his-
torische bzw. geschichtserzählende Literatur für jene Texte angewendet wird,
in denen von der (deutschen wie außerdeutschen) Geschichte und zwar von
den ältesten Zeiten bis in das erste Drittel des 20. Jh.s erzählt wird. Demge- Begriffsbestimmung
genüber wird die Bezeichnung zeitgeschichtliche Romane, Erzählungen, Li-
teratur ausschließlich für Texte verwendet, in denen die Geschichte des 20.
Jh.s und hier vor allem die Geschichte des Nationalsozialismus, in neuester
Zeit allerdings auch die Geschichte vom Ende der DDR fokussiert werden.
Deutliche Unterschiede manifestieren sich auch in der Gattungsgeschichte:
Historische Literatur gehört seit dem Ende des 18. Jh.s mit nur wenigen
Unterbrechungen zu den populärsten und erfolgreichsten Textsorten der
Kinder- und Jugendliteratur; zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur
kann eine fast ebensolche Erfolgsgeschichte aufweisen, die allerdings erst in
den 1960er Jahren begonnen hat. Obwohl also die Erzählung von Geschichte
gattungskonstituierendes Merkmal beider Genres ist, soll aufgrund dieser
Unterschiede ihre Darstellung in zwei getrennten Abschnitten erfolgen. Be-
gonnen werden soll, da sie auf eine längere Gattungsgeschichte zurückbli-
cken kann, mit der allgemeinen geschichtserzählenden Kinder- und Jugend-
literatur.

Historische Literatur von 1945 bis zum Beginn der 80er Jahre
Im Unterschied zur übrigen Kinder- und Jugendliteratur beginnt die Ge-
schichte der historischen Erzählungen nach 1945 mit einer deutlich markier-
ten Zäsur. Während es in den anderen Gattungen zu zahlreichen Wiederauf-
348 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

lagen älterer Werke kommt, ist dies bei der geschichtserzählenden Literatur
Zäsur nach 1945 eher die Ausnahme. Ein Großteil der vor 1945 publizierten historischen Er-
zählungen eignete sich aufgrund ihrer Inhalte und in nicht wenigen Fällen
wegen ihrer Ideologie nicht mehr für die Nachkriegsgeneration, und das
meint nicht nur in der NS-Zeit veröffentlichte Texte, sondern auch jene, die
bereits im 19. Jh. publiziert worden waren. Daher bildeten Neuauflagen äl-
terer historischer Werke eher eine Ausnahmeerscheinung und können nicht
als repräsentativ für die geschichtserzählende Literatur der ersten Nach-
kriegsjahre angesehen werden. Wieder aufgelegt wurden hingegen vielfach
die internationalen Klassiker der geschichtserzählenden Jugendlektüre, wie
etwa die Romane von Wilhelm Hauff, Walter Scott, Alexandre Dumas, Vic-
tor Hugo, Lewis Wallace, Edward Bulwer-Lytton und Henryk Sienkiewicz.
Romane der 50er Jahre Erst im Verlauf der 50er Jahre kam es zu einer grundlegenden Wende in-
nerhalb der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur. Eine neue
Generation deutschsprachiger Autoren – unter ihnen Hans Baumann, Inge-
borg Engelhardt, Barbara Bartos-Höppner und Kurt Lütgen – wandte sich
dem brachliegenden Genre zu. Damit begann eine neue Epoche der ge-
schichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur, die sich bis zum Ende der
60er Jahre erstrecken sollte. Kennzeichnend für die historische Kinder- und
Jugendliteratur dieser Epoche ist zum einen, dass es sich – anders als in der
übrigen Kinder- und Jugendliteratur – zu einem überwiegenden Teil um
deutschsprachige Titel handelt. Der Anteil der Übersetzungen blieb im Ver-
lauf der nächsten beiden Jahrzehnte zunächst erstaunlich gering. Eine Aus-
nahme bildeten die seit dem Ende der 50er Jahre in Deutschland veröffentli-
chten historischen Romane der englischen Autorin Rosemary Sutcliff über
die römisch-britannische und über die englische Geschichte (u. a. Drachen-
schiffe drohen am Horizont, 1962; Simon der Kornett, 1963; Der Adler der
Neunten Legion, 1964; Der silberne Zweig, 1965; Das Hexenkind, 1972),
deren Einfluss vor allem auf das Werk von Hans Baumann und Ingeborg
Engelhardt unübersehbar ist. Weitere solche Einzelfälle sind die Romane
Botschaft für Hadrian von Geoffrey Trease (1956), Die Kinderkarawane von
Cover des Erfolgsbuchs Ann Rutgers (1957) und Die Abenteuer des Robin Hood von Howard Pyle
von Howard Pyle (2002) (1963).
Betrachtet man historisch-narrative Texte als Teil des kulturellen Gedächt-
nisses eines Volkes, so ist zu fragen, inwieweit dies auch für die geschichtser-
zählende Jugendliteratur der 50er und 60er Jahre zutrifft. Denn ein weiteres
Charakteristikum dieser Literatur besteht darin, dass sie, anders als die Ge-
schichtserzählungen vor 1945, deutsche Geschichte nur selten thematisiert.
Vorherrschend sind fernere Epochen der außerdeutschen (Welt-)Geschichte,
Historismus, ›Führer- vor allem aus der Vorzeit, der Antike oder der Epoche der Wikinger. Aller-
persönlichkeiten‹ dings behält auch in den neuen Texten das alte Prinzip des Historismus
Gültigkeit, wonach Geschichte von bedeutenden Männern gleichsam ›ge-
macht‹ wird, also die Favorisierung personaler Geschichtsbilder. So erfreuten
sich auch in der Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit Herrscher
wie Friedrich der Staufer, Entdecker wie Marco Polo, Christoph Kolumbus
oder Hernando Cortés, Eroberer wie Alexander der Große, Hannibal oder
Dschingis Khan einer besonderen Beliebtheit, wenngleich diese ›Führerper-
sönlichkeiten‹ nun mitunter Brüche aufweisen und in ihren Bestrebungen
nicht selten als Zweifelnde und Scheiternde dargestellt werden, so etwa in
den Romanen von Hans Baumann Der Sohn des Columbus (1951), Steppen-
söhne. Vom Sieg über Dschingis-Khan (1954) und Ich zog mit Hannibal
(1959), in Heinrich Bauers Cortez erobert Mexiko (1954), Peter Zuckmantls
Marco Polo. Abenteuerliche Entdeckungsfahrt nach China (1956) oder Inge-
Historische und zeitgeschichtliche Literatur 349

borg Engelhardts Im Schatten des Staufers (1962). Die Überzeugung, dass


Geschichte sich dennoch primär aus einer auf die Autorgegenwart gerichte-
ten Abfolge sogenannter ›großer‹ Ereignisse gestaltet, die von herausragenden
Gestalten geprägt werden, spiegelt sich nicht nur in den fiktionalen Texten,
sondern auch in den geschichtserzählenden Sachbüchern dieser Epoche.
Auch hier wird die Vergangenheit in erster Linie als Herrschaftsgeschichte
der Mächtigen evoziert.
In den ersten Jahrzehnten nach 1945 wird diese Herrschaftsgeschichte fast Männliche Akteure
ohne Ausnahme als eine Geschichte von männlichen Akteuren erinnert. So
stehen in den Texten nicht nur männliche ›Führerpersönlichkeiten‹ im Mit-
telpunkt, auch das übrige Figurenarsenal ist mehrheitlich männlichen Ge-
schlechts. Diese androzentrische Ausrichtung liegt in der Tradition des Gen-
res begründet: Seit den Anfängen des modernen historischen Romans Ende
des 18. Jh.s waren die von Georg Lukács als ›mittlere Helden‹ apostro-
phierten Protagonisten ebenfalls ausschließlich männlichen Geschlechts. Im
jugendliterarischen Kontext wurde diese Maxime beibehalten, mitunter so-
gar noch durch die Tatsache gestützt, dass in nicht wenigen Fällen historische
Erzählungen eine enge Verbindung zum Genre der Abenteuerliteratur eingin-
gen, einem Genre, das innerhalb der Jugendliteratur ebenfalls traditionell als
Lektüre für männliche Leser angesehen wurde.
In dieser eindeutigen Fixierung auf männliche Protagonisten sowie auf
eine vornehmlich männlich strukturierte Umwelt steht die historische Kin-
der- und Jugendliteratur der 50er und 60er Jahre durchaus in Einklang mit
der übrigen Kinder- und Jugendliteratur dieser Epoche. Im Unterschied aber
zu den in der Gegenwart spielenden Jugendromanen der Nachkriegszeit
wurden in den historischen Erzählungen jugendliche Lebenswelten nur selten
geschildert. Dem entspricht, dass die historischen Erzählungen zwar an Ju-
gendliche adressiert waren, auf der Handlungsebene jedoch mitunter gar
nicht mit jugendlichen Figuren aufwarteten. Als eines der bekanntesten Bei-
spiele sei hier Kurt Lütgens historischer Abenteuerroman Kein Winter für
Wölfe (1955) genannt, dessen Protagonist Jarvis bereits ein Mann von fünf-
zig Jahren ist.
Eine Ausnahme von dieser männlich dominierten Geschichtsinszenierung
bilden die Romanbiographien von Suse Pfeilstücker, die das Leben bedeuten-
der Herrscherinnen nachzeichnen, so Liselotte von der Pfalz. Eine deutsche
Prinzessin am Hofe des Sonnenkönigs (1956), Luise. Der Lebensweg einer
Königin (1957), Maria Theresia. Herrschertum und Frauengröße (1958) und
Marie Antoinette. Schicksal einer Königin (1959). Bereits die Titel verweisen
jedoch unübersehbar auf die Tatsache, dass sich in diesen Werken kein neues
Geschichtsverständnis manifestiert, sondern lediglich an die Stelle der männ-
lichen eine weibliche ›Führerpersönlichkeit‹ getreten ist. Auffällig erscheint
in diesem Zusammenhang auch die vergleichsweise starke Präsenz von Auto-
rinnen, die in dieser Epoche als Verfasserinnen historischer Romane in Er-
scheinung treten; neben Suse Pfeilstücker müssen Ingeborg Engelhardt, Ba-
bara Bartos-Höppner, Rosemary Sutcliff und Ann Rutgers genannt werden,
deren Werke einen solchen Erfolg hatten, dass sie über Jahrzehnte hinweg
und teilweise bis nach der Jahrtausendwende auf dem Buchmarkt präsent
blieben.
Der Beginn der 70er Jahre markierte für die geschichtserzählende Jugend- Zäsur nach 1970
literatur eine grundlegende Zäsur – aus zweierlei Gründen: Zum einen be-
gann eine Epoche der kritischen, problemorientierten und zugleich engagier-
ten Jugendliteratur, die das überkommene Schonraumdenken zugunsten einer
Offenheit gegenüber gesellschaftlichen Konfliktstoffen aufgab. Zunehmend
350 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

erschienen Erzählungen, die sich mit den jeweils aktuellen politischen und
sozialen Fragen und mit den vielfältigen Problemen jugendlicher Heran-
wachsender auseinandersetzten. In der Wahl ihrer Themen zeigte sich diese
problemorientierte Literatur in hohem Maße abhängig von den jeweiligen
die Öffentlichkeit beschäftigenden Fragen, wozu nicht zuletzt auch die Aus-
einandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit, der Zeitge-
schichte also, zählte. So gewann innerhalb weniger Jahre die zeitgeschicht-
liche Kinder- und Jugendliteratur stark an Bedeutung, während die ge-
schichtserzählende Jugendliteratur fast zur Bedeutungslosigkeit herabsank,
wobei sich diese Tendenz auch an der zeitgenössischen Forschung ablesen
lässt. Die 70er Jahre stehen jedoch nicht nur für einen Paradigmenwechsel
innerhalb der geschichtserzählenden Jugendliteratur, ihm vorausgegangen
war auch ein grundlegender Auffassungswandel über die Rolle und Aufgabe
von Geschichtsschreibung. Auf dem Historikertag von 1972 war es zu einem
offenen Schlagabtausch zwischen den Vertretern einer Historiographie, die
Geschichte wie bisher als das Produkt der ›großen Einzelnen‹ bestimmt sehen
wollten, und einer mehr und mehr erstarkenden Gruppe jüngerer Historiker
gekommen, die die Prozesshaftigkeit von Geschichte und die historischen
Zusammenhänge aus den sozialen, politischen und ökonomischen Bedin-
gungen einer Epoche zu erklären versuchten. Diese neue Auffassung von der
Geschichte als historischer Sozialwissenschaft sollte sich – wenngleich mit
einiger Verzögerung – auch in narrativen Texten niederschlagen.
Als Vorreiter einer den neuen Maximen verpflichteten historischen Kin-
der- und Jugendliteratur muss der Roman Der Bleisiegelfälscher (1977) von
Dietlof Reiche betrachtet werden. Fernab von den großen Ereignissen und
Persönlichkeiten der Geschichte beschwört Reiche in seinem Roman den
Mikrokosmos der Freien Reichsstadt Nördlingen zu Beginn des 17. Jh.s. Vor
dem Hintergrund des Niedergangs der Zünfte erzählt er von den gesell-
schaftspolitischen Machenschaften und Verflechtungen der einzelnen Stände,
denen das Individuum – anders als in den historischen Romanen der 50er
und 60er Jahre – auf Gnade und Verderb ausgeliefert ist. Ganz offensichtlich
jedoch traf der Roman den Nerv seiner Zeit, wie an der Auszeichnung mit
dem Jugendliteraturpreis im Jahre 1978 sowie an den zahlreichen Neu- und
Nachauflagen abzulesen ist.

Historische Literatur von den 80er Jahren bis zur Gegenwart


In den 80er Jahren schließlich erfolgte der Durchbruch des modernen histo-
rischen Jugendromans auf breiter Front; geschichtserzählende Texte bildeten
nun wieder eine feste und zahlenmäßig gewichtige Gattung auf dem deut-
schen Kinder- und Jugendbuch-Markt. Verantwortlich für den erneuten
Boom historischer Romane waren analoge Entwicklungen in der allgemeinen
Literatur, wo nach dem Erfolg von Umberto Ecos Jahrhundertroman Der
Name der Rose (1982) und seiner Nachfolger der historische Roman nach
Jahrzehnten der Vernachlässigung wieder gesellschaftsfähig geworden war
und zunehmend an Popularität gewann. Analog zur allgemeinen Literatur
zeichnet sich auch die geschichtserzählende Jugendliteratur seit den späten
70er Jahren im Gegensatz zu den Jahrzehnten nach 1945 durch ein ausdiffe-
Hybridität der renziertes Subsystem historisch-narrativer Textsorten aus, darunter Abenteu-
Gattungen erromane, Kriminalromane, Reiseerzählungen, Adoleszenzerzählungen und
Romanbiographien historischer Persönlichkeiten. Deutlich sichtbar an den
Texten ist die Rezeption des veränderten Geschichtsverständnisses, das von
vielen Autoren mit einer konsequenten Hinwendung zur Darstellung der
Historische und zeitgeschichtliche Literatur 351

Alltagsgeschichte aufgegriffen wird. In diesem Kontext wird erstmals auch


der Geschichte von Frauen und Mädchen eine größere Aufmerksamkeit zu-
teil. So steigt zum einen der Anteil der Verfasserinnen von geschichtserzäh-
lender Literatur weiter deutlich an, zu nennen sind beispielweise Cil(l)i We-
thekam und ihre sehr erfolgreichen Romane über die Französische Revolu-
tion Tignasse (1972) und Mamie (1975) sowie Gabriele Beyerlein, die seit
Ende der 80er Jahre zahlreiche Romane über die Vor- und Frühgeschichte
sowie das Mittelalter veröffentlicht hat, so Die Sonne bleibt nicht stehen.
Eine Erzählung aus der Jungsteinzeit (1988), Der dunkle Spiegel (1989), Der
goldene Kegel. Eine Erzählung aus der späten Bronzezeit (1991) und Wie ein
Falke im Wind (1993). Zum anderen aber sperrte sich die Gattung entgegen
der Tradition nicht mehr gegen die Wahl weiblicher Protagonisten; mit
großer Selbstverständlichkeit agieren weibliche Figuren in allen historischen
Kontexten. Ohne Zweifel wurde damit nicht nur dem neuen Geschichtsver- Weibliche Akteure
ständnis Rechnung getragen; es sollten darüber hinaus neue, d. h. weibliche
Leserschichten gewonnen werden. Die Bandbreite historischer Romane mit
weiblichen Akteuren hat mittlerweile ein solches Ausmaß erreicht, dass an
dieser Stelle nur einige Werke genannt werden können, etwa Lina Kasunke
(1987) von Elke Hermannsdörfer über die Geschichte eines Dienstmädchens
im 19. Jh., die damit ein Thema gestaltet, das auch von Gabriele Beyerlein in
ihrem Roman In Berlin vielleicht (2005) behandelt wurde, oder der Roman
Stärker als ihr denkt von Karin Grütter und Annemarie Ryter (1987) über
Fabrikarbeiterinnen in der Schweiz Mitte des 19. Jh.s. Auch in anderen Epo-
chen wie etwa dem Mittelalter oder in der Zeit der Besiedlung des amerika-
nischen Westens werden Mädchen als aktiv Handelnde gezeigt, u. a. in den
Romanen der amerikanischen Autorinnnen Karen Cushman Catherine. Lady
wider Willen (1996) und Jennifer L. Holm Boston Jane – ein Mädchen in der
Wildnis (3 Bde., 2002–04). Zu den zentralen Merkmalen dieser neuesten
Geschichtserzählungen gehört es, dass Mädchen nicht mehr als unterdrückte
Minderheit, sondern als selbstbewusst und als Agierende dargestellt werden.
Cover von Boston Jane
Während die starke Präsenz von weiblichen Figuren in den Geschichtsro- (2002)
manen eine Erweiterung des Genrespektrums darstellt, muss im Falle der
historisch-religiösen Erzählungen eher von einer Renaissance gesprochen
werden, die vor allem mit dem Namen von Arnulf Zitelmann verbunden ist,
zu dessen beliebtesten Romanen Mose, der Mann aus der Wüste (1991),
Abraham und Sarai (1993) sowie Jonatan, Prinz von Israel (1999) zählen.
Ebenfalls eine Renaissance erleben die Romanbiographien bekannter histo-
rischer Persönlichkeiten. Einer der bekanntesten Verfasser von Romanbio-
graphien für junge Leserinnen und Leser ist Tilman Röhrig, der sich in den
80er Jahren mit den Romanen In dreihundert Jahren vielleicht (1983) und
Übergebt sie den Flammen (1988) als Autor von sozialkritisch ausgerichteten
historischen Romanen etabliert und mittlerweile Werke über Robin Hood
(Solange es Unrecht gibt, 1994), den Kotzebue-Attentäter Karl Ludwig Sand
(Sand oder der Freiheit eine Gasse, 1993), den Staufer Friedrich II. (Wie ein
Lamm unter Löwen, 1998) sowie zuletzt über den Wikingerfürsten Erik den
Roten (Erik der Rote oder die Suche nach dem Glück, 1999) vorgelegt hat.
Als Verfasserin von Romanbiographien über weibliche Persönlichkeiten hat
sich die amerikanische Autorin Carolyn Meyer etabliert, die bislang mit Das
Gift der Königin (2001) und Ich, Prinzessin Elisabeth von England (2005)
Werke über die englischen Königinnen Maria I. Tudor und Elisabeth I. veröf-
fentlicht hat.
Eine weitere Innovation der neueren geschichtserzählenden Literatur ist
die sich nun offen manifestierende Hybridität des Genres. Zu den traditio-
352 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

nellen Verbindungen mit anderen Genres wie dem des Abenteuerromans


oder der Reiseerzählung treten nun Verbindungen mit etablierten jugendlite-
rarischen Gattungen wie etwa der des Kriminalromans; ein Beispiel bieten
die Romane von Harald Parigger Der Safranmord (1998), Tödliche Äpfel
(1999), Der Rubin des Königs (2000) und Der Galgenstrick (2000) über den
jungen Lorenz, der mit seinem Herren, einem weltfremden Minnesänger, auf
der Wanderschaft fortlaufend mit ungeklärten Verbrechen konfrontiert wird.
Hinzu kommen Verbindungen mit modernen jugendliterarischen Gattungen
wie dem des Adoleszenzromans sowie mit Genres, die sich zwar großer Po-
pularität erfreuen, auf lange Zeit jedoch als nicht vereinbar mit einer Gattung
wie der des historischen Romans galten, dessen oberstes Prinzip in einer
Orientierung an historischen und damit realen, überprüfbaren Fakten be-
Einfluss der Fantastik standen hatte. Gemeint sind die non-realistischen Genres Fantastik und
Fantasy. Die Bandbreite gerade dieser Verbindung ist groß und reicht von
den zahllosen Varianten der Zeitreise über Romane, die eindeutig in der Ver-
gangenheit spielen, jedoch an geographisch nicht zu lokalisierenden Orten,
wie dies u. a. in den Romanen von Tonke Dragt (Der Brief für den König,
1977), Karla Schneider (Die Reise in den Norden, 1995) und Lilli Thal (Mi-
mus, 2001) der Fall ist, hin zu Romanen, in denen die historische Handlung
von fantastischen Elementen durchsetzt ist, wie etwa in der Romantrilogie
Stravaganza (2003–05) der englischen Autorin Mary Hoffman oder in den
letzten Romanen von Dietlof Reiche (Geisterschiff, 2002; Keltenfeuer, 2004;
Die Hexenakte, 2007).
Ein weiteres Merkmal der neueren geschichtserzählenden Literatur für
Jugendliche besteht in ihrer auf unterschiedlichen Ebenen engen Verbindung
zu Geschichtsromanen für Erwachsene. Das betrifft zum einen die Verfasser.
Bereits seit den 80er Jahren schreiben viele Autoren historische Romane für
Erwachsene und Jugendliche oder ihre Romane werden in Ausgaben für
beide Zielgruppen verlegt. Das gilt in besonderem Maße für die Romane von
Tilman Röhrig, Waldtraut Lewin und Ulrike Schweikert oder auch für die
Romane der amerikanischen Autorin Eloise Jarvis McGraw über Frauen-
schicksale im Alten Ägypten (Der Goldene Kelch, 1999; Tochter des Nils,
1999), die nach ihrer Übersetzung erst an Erwachsene, dann aber auch an
Jugendliche adressiert wurden. Der grenzüberschreitende Charakter mani-
festiert sich weiterhin auf der Gattungsebene: Auch in der allgemeinen Lite-
ratur kann seit geraumer Zeit von einem ›Boom‹ geschichtserzählender Kri-
minalromane gesprochen werden. Gemeinsamkeiten lassen sich jedoch auch
auf thematischer Ebene ausmachen, etwa in der Vorliebe beider Literaturen
für (oftmals mehrbändige) Familiengeschichten und -schicksale, die eng mit
Familiengeschichten den Ereignissen der Geschichte verbunden werden. Zu den ersten und be-
kanntesten Autoren, die private und politisch-öffentliche Geschichte mitein-
ander verbanden, zählt Willi Fährmann mit seiner nicht in chronologischer
Reihenfolge verfassten Chronik über die Familie Bienmann, die im 19. Jh.
beginnt, weitergeführt wird über die Jahre der Weimarer Republik, das
Kriegsende und schließlich in den 70er Jahren endet; zu dieser Chronik ge-
hören Der lange Weg des Lukas B. (1980), Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
(1985), Das Jahr der Wölfe (1962) und Kristina, vergiß nicht... (1974). Den
Versuch, die Geschichte einer Familie vor dem Hintergrund historischer Er-
eignisse zu erzählen, hat auch Klaus Kordon in seinen »Trilogie der Wende-
punkte« überschriebenen Romanen unternommen (Die roten Matrosen oder
ein vergessener Winter, 1984; Mit dem Rücken zur Wand, 1990; Der erste
Frühling, 1993), die mit ihrer Fokussierung auf die Novemberrevolution, das
Scheitern der Weimarer Republik und das Kriegsende zugleich verdeutlichen,
Historische und zeitgeschichtliche Literatur 353

dass die Grenzen zwischen historischen und zeitgeschichtlichen Romanen


bei der Geschichte des 20. Jh.s fließend geworden sind. Ähnliches gilt auch
für die Trilogie Ein Haus in Berlin (1999) von Waldtraut Lewin, die sich den
einzelnen Abschnitten der deutschen Geschichte aus ausschließlich weiblicher
Perspektive nähert; ihre Geschichte der Familien Sander und Glücksmann
beginnt bereits in den 1890er Jahren und endet im Jahre 1989 mit dem Öff-
nen der innerdeutschen Grenze, also der unmittelbaren Gegenwart der Auto-
rin.
Neu an der geschichtserzählenden Jugendliteratur der letzten Jahrzehnte Übersetzungen
ist weiterhin der hohe Anteil an Übersetzungen, vor allem aus dem anglo-
amerikanischen und skandinavischen Raum, die z. T. einhergehen mit Wie-
derauflagen oder Neuentdeckungen von im Ausland seit längerem etablierten
Autoren; zu nennen sind neben den bereits erwähnten Werken von Eloise
Jarvis McGraw vor allem die Romane des englischen Autors Geoffrey Trease.
Stärker noch als in den 50er und 60er Jahren werden durch die große Anzahl
ausländischer Autoren auch die Vergangenheit anderer Länder und anderer
Epochen literarisch vergegenwärtigt, wobei gleichwohl gewisse Schwer-
punktsetzungen nicht zu übersehen sind: So erfreut sich nach wie vor die
römische Antike, meist am Übergang von der Demokratie zum Kaiserreich,
besonderer Beliebtheit bei den Autoren; ebenso beliebt sind die Zeit der Pha-
raonen und der Wikinger, die Entdeckungsreisen Marco Polos und die Fran-
zösische Revolution. In den letzten Jahren ist zunehmend die komplexe Ge-
schichte des europäischen Mittelalters ins Blickfeld der Autoren geraten.
Die 70er Jahre waren nicht nur die Zeit eines sich verändernden Ge-
schichtsverständnisses, vielmehr wurde in dieser Zeit die in Deutschland
erscheinende Kinder- und Jugendliteratur auch mehr und mehr zu einem
Spiegel gesellschaftlicher Konfliktfelder. Vormals benachteiligte und soziale Außenseiter
Randgruppen fanden Eingang in die sogenannte problemorientierte Jugend-
literatur, die auf diese Weise mehr und mehr auch zu einem Mittel von ›Zeit-
diagnostik‹ wurde. Diese Veränderungen haben in den historischen Jugend-
romanen der letzten Jahrzehnte unübersehbare Spuren hinterlassen. Die
Auffassung von der Geschichte als einem Ort gesellschaftspolitischer Pro-
zesse erlaubte dem historischen Roman nun auch die Hinwendung zu den
bisherigen Randgruppen der Geschichte: den Außenseitern wie ›Hexen‹,
›Zigeunern‹, ›Ketzern‹, den unterdrückten Bevölkerungsgruppen, darunter
vor allem den Frauen sowie den Fremden, den Sklaven und den unterdrück-
ten Völkern wie den Indianern, um nur einige zu nennen. Besondere Auf-
merksamkeit schenkten vor allem deutsche Autoren dem Schicksal jüdischer
Menschen in einer von antijüdischer Gewalt geprägten deutschen Geschichte.
Mehrheitlich bildet das Mittelalter den Schauplatz dieser Romane, in denen
die interreligiösen Spannungen vielfach in Form von interkonfessionellen
Freundschafts- bzw. Liebesgeschichten inszeniert werden. Zu erwähnen sind
Max Kruses Der Ritter (1988), Rainer M. Schröders Das Vermächtnis des
alten Pilgers (1999), Ruben Philipp Wickenhäusers Mauern des Schweigens
(1999), Hans-Georg Schulds Jakob und der Schwarze Tod (1999), Waldtraut
Lewins Jenseits des Meeres. Die Freiheit (1997) und Mirjam Presslers Shy-
locks Tochter (1999). Der problemorientierte Jugendroman hat so Eingang
in den Bereich der historischen Literatur gefunden, wobei er hier vielfach in
Gestalt des historischen Abenteuerromans in Erscheinung tritt, eine Verbin- Cover von Waldtraud
dung, die zum handlungskonstituierenden Element vor allem in den zahlrei- Lewins Jenseits des
chen Romanen Rainer M. Schröders geworden ist, die mit großem Erfolg seit Meeres. Die Freiheit
Mitte der 90er Jahre veröffentlicht werden. (1997)
354 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

Zeitgeschichtliche Literatur von den 50er Jahren bis zur Gegenwart


Mit seiner stärker oder schwächer markierten Orientierung an historischen
Fakten, an ›Realitäten‹, ist dem historischen Roman immer auch ein didak-
tisches, wissensvermittelndes Element immanent, das jedoch in der an Ju-
gendliche adressierten Literatur vielfach nur verdeckt auftritt und vorder-
gründig zugunsten von unterhaltenden Elementen zurückgedrängt scheint.
Damit unterscheidet sich die allgemeine geschichtserzählende Literatur in
zentraler Weise von der zeitgeschichtlichen Literatur, die sich auf die Ereig-
nisse des Dritten Reiches konzentriert, deren Verfasser nicht zuletzt auf-
grund der aktuellen politischen Relevanz ihres Stoffes z. T. bis heute die
Auffassung vertreten, dass der vorrangig didaktische Charakter ihrer Werke
auch offen zutage treten könne. So scheinen auf den ersten Blick die Diffe-
renzen zwischen diesen beiden Ausprägungen der Geschichtserzählung zu
dominieren; dieser Eindruck verstärkt sich beim Blick auf die stoffliche Di-
mension, die fast ausschließlich auf die Auseinandersetzung mit der jüngeren
deutschen Vergangenheit beschränkt ist.
Die ersten zeitgeschichtlichen Erzählungen erschienen bereits in den 50er
Jahren; sie befassten sich jedoch vorrangig mit den Auswirkungen des gerade
vergangenen Krieges auf die deutsche Bevölkerung, d. h. das Elend der ersten
Nachkriegsjahre, die durch Tod oder Gefangenschaft der Väter versehrten
Vertreibungs- Familien sowie die Vertreibung aus den ehemals deutschen Ostgebieten. Zu
geschichten den wichtigsten Erzählungen über diese Themen zählen u. a. Margot Benary-
Isberts Die Arche Noah (1948), Karl Hochmuths In der Taiga gefangen
(1954) und Willi Fährmanns Das Jahr der Wölfe (1962).
Die nationalsozialistischen Verbrechen wurden hingegen auf lange Zeit
nur indirekt thematisiert und zwar in historischen Erzählungen, etwa in je-
nen von Hans Baumann oder Ingeborg Engelhardt, in denen entweder soge-
nannte ›Führerpersönlichkeiten‹ oder die Verführbarkeit des Einzelnen kri-
tisch hinterfragt werden, in Erzählungen, in denen zwar jüdische Figuren,
aber andere historische Epochen im Zentrum stehen, wie in Willi Fährmanns
Es geschah im Nachbarhaus (1968), sowie in Gegenwartserzählungen über
andere Minderheiten wie z. B. die Kinder schwarz-amerikanischer Väter und
deutscher Mütter wie in Hans-Georg Noacks Hautfarbe Nebensache (1960).
Eine Sonderstellung nimmt in dieser Zeit das – reale – Tagebuch der Anne
Frank (1950) ein, das als Jugendlektüre sehr schnell auch Eingang in die
deutschen Lehrpläne fand. Doch auch der große Erfolg des Buchs, dem bald
ein Theaterstück und eine vielfach ausgezeichnete Verfilmung folgten, konnte
keine grundlegende Auseinandersetzung mit den vielfältigen Facetten des
Nationalsozialismus in der Jugendliteratur initiieren. Das gilt auch für die
Literaturen anderer Länder, in denen die Judenverfolgung zu diesem Zeit-
punkt ebenfalls nur implizit thematisiert wird. Ein paradigmatisches Beispiel
für diese Form der Vermeidungsstrategie bietet der Roman Ich bin David
(1964) der dänischen Autorin Anne Holm, der zeitgleich in mehreren euro-
päischen Ländern erschien.
»Damals war es Erst mit dem Erscheinen der Erzählung Damals war es Friedrich (1961)
Friedrich« von Hans Peter Richter, dem bis heute erfolgreichsten jugendliterarischen
Werk über die Judenverfolgung während des Nationalsozialismus, begann
eine direkte Auseinandersetzung mit den Ereignissen in dieser Epoche. Aus
der Perspektive eines namenlosen, nichtjüdischen Ich-Erzählers wird die Ge-
schichte seiner Freundschaft zu dem gleichaltrigen jüdischen Jungen Fried-
rich vom Tag ihrer Geburt 1925 bis zum Tode Friedrichs Anfang der 40er
Jahre durch einen Bombenangriff der Alliierten erzählt. Richters Werk hat
Historische und zeitgeschichtliche Literatur 355

mittlerweile teilweise heftige Kritik erfahren: an der verzerrten Darstellung


jüdischen Lebens, der Nicht-Thematisierung der Vernichtungspolitik, der
nicht-repräsentativen Darstellung einer Freundschafts- und Helfergeschichte,
an der Stilisierung maßgeblicher deutscher Bevölkerungsgruppen zu heim-
lichen Unterstützern der Verfolgten. Trotz dieser berechtigten Vorwürfe hat
Richters Erzählung erheblich dazu beigetragen, dass sich die Jugend- und
später auch die Kinderliteratur verstärkt der Epoche des Nationalsozialismus
annahm und zwar all seiner Aspekte – wiewohl dies zunächst aus der Per-
spektive der Literaturpädagogen nicht unumstritten war und von sehr kon-
troversen Debatten begleitet wurde.
Seit dem Ende der 60er Jahre ist die Anzahl der Kinder- und Jugendro-
mane, der Bilder- und Sachbücher, die sich mit der Epoche des Nationalsozi-
alismus beschäftigen, kontinuierlich angewachsen; zeitgleich begann sich
auch die Forschung des Gegenstandes anzunehmen. Zwar dominiert bis
heute eine vorrangig literatur- bzw. geschichts- und religionspädagogisch
ausgerichtete Perspektive auf diese Texte, doch seit den späten 80er Jahren
ist die zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur auch in den Fokus der
Literatur- und Kulturwissenschaftler geraten, von denen zunehmend Bezüge
hergestellt werden zu anderen wissenschaftlichen Bereichen und zu Erinne-
rungsdiskursen. Die Anzahl der in den letzten fünf Jahrzehnten erschienenen Exemplarische Werke
Werke hat mittlerweile einen solchen Umfang angenommen, dass hier nur
auf Tendenzen und exemplarische Werke verwiesen werden kann. Das Ge-
wicht, das die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und damit
die Erinnerung daran im Œeuvre der einzelnen Autoren einnimmt, ist sehr
unterschiedlich. Während das Werk mancher Autoren wie etwa Hans Peter
Richter (Damals war es Friedrich, 1961; Wir waren dabei, 1962), Willi Fähr-
mann (Das Jahr der Wölfe, 1962; Der Mann im Feuer, 1989; Unter der Asche
die Glut, 1997) und Horst Burger (Warum warst du in der Hitler-Jugend?
Vier Fragen an meinen Vater, 1976), nahezu vollständig von der Auseinan-
dersetzung mit dem Nationalsozialismus beherrscht wird, blieb bei anderen
die Hinwendung zu diesem Thema eher auf einzelne Werke beschränkt, so
etwa bei Hans-Georg Noack und Ursula Wölfel. Während Noack versucht,
am Beispiel der Familie Weber in Stern über der Mauer (1962) einen Über-
blick über die gesamte Epoche von 1932–61 zu geben, wendet sich Wölfel in
ihren beiden zeitgeschichtlichen Jugendromanen vorrangig einzelnen Pro-
blemfeldern zu. So behandelt sie bereits 1962, also zu einem sehr frühen
Zeitpunkt, in dem Roman Mond, Mond, Mond, der später auch verfilmt
wurde, die Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma während des
Dritten Reichs; in ihrem autobiographisch geprägten Roman Ein Haus für
alle (1991) setzt sie sich mit dem Thema der Euthanasie auseinander. Aber
auch bekannte Autoren historischer Romane wandten sich der nationalsozi- Horst Burgers Fragen an
alistischen deutschen Vergangenheit zu; so thematisiert Arnulf Zitelmann in meinen Vater (1983)
seinem Roman Paule Pizolka oder Eine Flucht durch Deutschland (1991) am
Beispiel eines jungen Mannes das Schicksal von jugendlichen Wehrdienstver-
weigerern während des Zweiten Weltkrieges.
Zu den Themenbereichen, die in den Romanen vorrangig behandelt wer-
den und aufgrund derer zugleich die hohe Zahl zeitgeschichtlicher Werke der
besseren Übersicht wegen geordnet werden können, gehören: Alltag im Nati-
onalsozialismus, Judenverfolgung/Holocaust, Verfolgung von Minderheiten,
Widerstand, Emigration und Exil, Zweiter Weltkrieg, Kriegsende und Nach-
kriegszeit, Flucht und Vertreibung. Dabei lassen sich im Verlauf der Jahr-
zehnte deutliche Akzentverschiebungen feststellen. Konzentrierten sich in
den 60er, 70er und 80er Jahren die Mehrheit der Erzählungen noch auf die
356 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

Erinnerung an den deutsche, und das heißt hier vor allem auch nichtjüdische Geschichte, ge-
Holocaust wann in den letzten Jahrzehnten die Darstellung und Erinnerung des Holo-
caust immer mehr an Bedeutung. Dies resultiert zum einen auf einem ver-
stärkten Interesse gerade an diesen Ereignissen, ist zum anderen aber auch
darauf zurückzuführen, dass der Anteil an Übersetzungen bei der zeitge-
schichtlichen Kinder- und Jugendliteratur kontinuierlich zunahm; denn in
den übersetzten Texten stehen mehrheitlich die Ereignisse des Holocaust im
Zentrum der Darstellung.
Von ähnlicher Popularität wie Richters Werk sind auch die autobiogra-
phisch basierten Romane von Judith Kerr Als Hitler das rosa Kaninchen
stahl (1973), Warten bis der Frieden kommt (1973) und Eine Art Familien-
treffen (1979). Die Tochter des bekannten Theaterkritikers Alfred Kerr
schildert darin ihre Vertreibung aus Deutschland und die sich anschließende
Odyssee der Familie durch mehrere Exilländer. Als weitere literarische ›Mei-
lensteine‹ in der Darstellung des Holocaust sowie seiner physischen und
psychischen Folgen sind der Roman Sternkinder (1961) der niederländischen
Autorin Clara Asscher-Pinkhof, die Erzählungen Der gelbe Vogel (1981) des
amerikanischen Autors Myron Levoy und Der Sommer von Aviha (1990)
der israelischen Autorin Gila Almagor sowie die Werke des israelischen Au-
tors Uri Orlev, der niederländischen Autorin Ida Vos und der schwedischen
Autorin Annika Thor zu nennen.
Tochter eines prominen- Viele dieser Werke haben einen mitunter auch offen markierten biogra-
ten Vaters: Judith Kerr phischen oder autobiographischen Hintergrund; dies gilt auch für die Ro-
mane deutscher Autoren, etwa für ...aber Steine reden nicht (1987) und Im
Vorhof der Hölle (1991) von Carlo Ross, in denen der Autor sein Schicksal
als Sohn einer jüdischen Mutter in einer deutschen Kleinstadt und nach sei-
ner Deportation im KZ Theresienstadt schildert. Als herausragende litera-
rische Werke der letzten Jahre über den Holocaust müssen schließlich die
Romane Reise im August (1992) von Gudrun Pausewang sowie Malka Mai
(2001) von Mirjam Pressler hervorgehoben werden. Während Pausewang,
die mit den drei Romanen über die Rosinkawiese (1980–93) bereits mehrere
autobiographische Werke über den Nationalsozialismus verfasst hatte, in
ihrem Werk die Verfolgung, Deportation und Ermordung deutscher Juden in
den Mittelpunkt stellt, die sie im individuellen Schicksal ihrer 12-jährigen
Protagonistin Alice spiegelt, erzählt Pressler das Schicksal eines 8-jährigen
jüdischen Mädchens, das ohne seine Mutter den nationalsozialistischen Ver-
folgern ausgeliefert ist.
Ins Blickfeld der zeitgeschichtlichen Literatur sind aber mittlerweile auch
andere von den Nationalsozialisten verfolgte Minderheiten geraten, so das
Schicksal der Fremdarbeiter, etwa in Irina Korschunows Erzählung Er hieß
Verfolgung von Jan (1979) oder die Verfolgung von Sinti und Roma; dieses Thema wurde
Minderheiten außer von Ursula Wölfel u. a. auch von Anja Tuckermann in Muscha (1994)
und ›Denk nicht, wir bleiben hier!‹ Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo
Höllenreiner (2005) bearbeitet. Eine besondere Rolle nehmen in diesem
Kontext auch die historischen Romane Lutz van Dijks ein, mit denen nicht
nur in Der Partisan (1991) die Existenz der jüdischen Partisanen, sondern in
Verdammt starke Liebe (1991) auch die Verfolgung männlicher Homosexu-
eller erstmals ins Bewusstsein der jugendlichen Leserinnen und Leser gerückt
wurden. Dijk ist auch einer der wenigen Autoren, der den Widerstand von
jüdischen Jugendlichen gegen die Nationalsozialisten in einem Roman aufge-
griffen hat (Der Attentäter. Herschel Grynszpan und die Vorgänge um die
›Reichskristallnacht‹, 1988). Zuvor hatte lediglich Hermann Vinke das Leben
Sophie Scholls in einer viel beachteten und vielfach aufgelegten Biographie
Historische und zeitgeschichtliche Literatur 357

behandelt (Das kurze Leben der Sophie Scholl, 1980). Die jüngsten Werke
über den Nationalsozialismus, die oftmals gleichermaßen an Jugendliche
und an Erwachsene gerichtet sind, thematisieren in unterschiedlichen Varia-
tionen den Prozess des Erinnerns, etwa in Form von Kindheitsschilderungen,
in denen nicht selten die Bewältigung der traumatischen Ereignisse während
des Holocaust oder während des Krieges reflektiert wird. Dabei sind an ers-
ter Stelle die Erinnerungen Weiter Leben von Ruth Klüger (1992) und Von
Zuhause wird nichts erzählt von Laura Waco (1996), einer Vertreterin der
zweiten Generation, zu nennen. In beiden Werken wird die Vergangenheit als
ein die eigene Gegenwart vielfältig berührender Prozess evoziert.
Weitaus weniger als das Dritte Reich und der Holocaust wird die unmit- Nachkriegsgeschichte
telbare Nachkriegsgeschichte in Kinder- und Jugendliteratur behandelt.
Zwar wird in allen neueren Romanen akzentuiert, dass 1945 weniger als
deutsche Niederlage, sondern als Chance eines Neuanfangs verstanden wer-
den muss, im Zentrum steht jedoch das durch die Wirren der letzten Kriegs-
tage, durch die Unsicherheit der politischen Situation sowie der ungewissen
Zukunft hervorgerufene Gefühl, einer Zeit des Übergangs und des Umbruchs
beizuwohnen. Von diesem Gefühl der äußeren, aber auch der inneren Unsi-
cherheit sind die jugendlichen Protagonisten in besonderem Maße betroffen,
etwa die Mädchen in Christine Nöstlingers autobiographischen Romanen
Maikäfer flieg (1973) und Zwei Wochen im Mai (1981), die Jungen in Peter
Härtlings mehrfach aufgelegten Romanen Krücke (1986) und Reise gegen
den Wind. Wie Primel das Ende des Krieges erlebt (2000), das Flüchtlings-
kind in Rudolf Herfurtners Roman Mensch Karnickel (1990) oder die Her-
anwachsende in Paul Maars Kartoffelkäferzeiten (1990). Vielfach wird die
Darstellung der Nachkriegszeit in direkten Bezug zu den vorangegangenen
Ereignissen während des Nationalsozialismus gesetzt, so auch als ein zen-
trales Thema in Klas E. Everwyns Autobiographie Jetzt wird alles besser
(1989).
Weitaus häufiger werden Kriegsende und Nachkriegszeit jedoch bis heute Flucht und Vertreibung
in einen direkten historischen Kontext mit Flucht und Vertreibung gebracht.
Zwar geschieht dies in den Romanen und Erzählungen der letzten beiden
Jahrzehnte – zu nennen sind hier etwa Annelies Schwarz’ Wir werden uns
wiederfinden (1981), Elfie Donnellys Peters Flucht (1986), Gudrun Pause-
wangs Fern von der Rosinkawiese (1989) oder Wir sehen uns bestimmt
wieder (1999) von Sigrid Schuster-Schmah – nicht mehr wie oftmals in den
50er und 60er Jahren losgelöst von der nationalsozialistischen Vorgeschichte.
Doch eine Akzentsetzung, meist mit autobiographischem Hintergrund, auf
das genuin deutsche Leid, für das ausnahmslos andere verantwortlich ge-
macht werden und ›die Deutschen‹ nicht selten als Verführte und Opfer des
eigentlichen Verbrechers Adolf Hitler erscheinen, lässt sich in vielen dieser
Texte nicht übersehen. Nicht selten kollidiert hier die unbestrittene Notwen-
digkeit, sich durch historische Literatur auch an diesen Teil der deutschen
Geschichte zu erinnern, mit einer gewissen Eindimensionalität in der Dar-
stellung. Als Ausnahmen, in denen das herannahende Kriegsende und die
ständige Bedrohung durch Bombenangriffe mit dem Leid der Zwangsarbei-
ter verknüpft werden, müssen die Romane Flucht durch den Winter (2002)
von Hermann Schulz und Marek und Maria (2004) von Waldtraut Lewin
erwähnt werden.
Kennzeichnend für die neuere zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendlitera-
tur ist auch ein neues Verhältnis zwischen den Generationen, wobei das
klassische Eltern-Kind-Verhältnis mit zunehmender zeitlicher Distanz zu den
beschriebenen Ereignissen oftmals durch ein Verhältnis zwischen Großeltern
358 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

Generationsromane und Enkeln abgelöst wird. An zentraler Stelle steht dabei die Vielfältigkeit
des Erinnerns, der Blick auf die in vieler Hinsicht divergierenden Vergangen-
heiten sowie die Frage, was von diesen Vergangenheiten den kommenden
Generationen übermittelt wird. Dabei wurden in früheren Darstellungen von
Mehr-Generationen-Verhältnissen meist die Interessen der sogenannten El-
tern-, also der Opfergeneration ins Zentrum der Handlung gerückt, während
die Interessen der jugendlichen Akteure vielfach dahinter zurücktraten. Den-
noch lassen sich auch in diesem Kontext neue Akzentsetzungen ausmachen.
Zu nennen ist in diesem Zusammenhang etwa die Erzählung der österrei-
chischen Autorin Renate Welsh Besuch aus der Vergangenheit (2001), in der
die Protagonistin erfahren muss, dass das Haus, in dem sie aufgewachsen ist,
einer jüdischen Familie gehört hat, oder der Jugendroman Marie (2000) von
Renate Günzel-Horatz, in dem die Protagonistin ebenfalls mit den vielfäl-
tigen Verstrickungen ihrer Familie in die deutsch-jüdische Geschichte kon-
frontiert wird. Analoge Szenarien, in denen sich nichtjüdische, deutsche Ju-
gendliche mit dem historisch schwer belasteten Erbe ihrer Großeltern ausein-
andersetzen müssen, entwerfen auch Cornelia Franz in ihrer Erzählung
Verrat (2000) und zuletzt Mirjam Pressler in ihrem Mehrgenerationenroman
Die Zeit der schlafenden Hunde (2003).

Die Geschichte der DDR in der neuesten Literatur


Obwohl demnächst bereits der 20. Jahrestag der deutschen Wiedervereini-
gung begangen werden wird, ist diese letzte Zäsur der deutschen Vergangen-
heit sowie die Geschichte der DDR bislang lediglich in Einzelfällen Gegen-
stand von zeitgeschichtlichen Kinder- und Jugendromanen geworden. Vor
allem die Wiedervereinigung wurde bislang mehrheitlich im Kontext von
Problemerzählungen abgehandelt, die sich vor allem mit dem in den neuen
Bundesländern aufkommenden Rechtsradikalismus beschäftigen. Einzelnen
Aspekten der Geschichte der DDR nahmen sich zunächst – und zwar unmit-
telbar nach der Wiedervereinigung – naturgemäß nicht zeitgeschichtliche,
dazu war der zeitliche Abstand noch zu gering, sondern politische und Zeit-
romane an. Zu den wichtigsten literarischen Reaktionen, die das Zeitgesche-
hen – Grenzöffnung, Mauerfall, Wiedervereinigung – gleichsam unmittelbar
abbildeten, zählen der von Peter Abraham und Margareta Gorschenek her-
ausgegebene Sammelband Wahnsinn! Geschichten vom Umbruch in der
DDR (1990) sowie die 1991 erschienenen Romane und Erzählungen Ver-
tauschte Bilder von Gunter Preuß, Alex – belogen von Elisabeth Zöller, Ich
fühl mich so fifty-fifty von Karin König sowie Schmetterlinge im Bauch. Die
Mauer aus Kristall von Katrien Seynaeve, wobei Seynaeve zugleich zu den
wenigen nichtdeutschen Autoren gehört, die sich diesem Abschnitt der deut-
schen Geschichte zugewandt haben.
Erst im Verlauf der 90er Jahre setzt mit zunehmendem zeitlichen Abstand
zu den Ereignissen ein Prozess ein, innerhalb dessen sich die Zeitromane in
zeitgeschichtliche Romane wandeln. Die Handlung dieser zeitgeschichtlichen
Erzählungen konzentriert sich zunehmend auf die gesamte Bandbreite der
DDR-Geschichte – von der politischen Verfolgung Andersdenkender und der
Bespitzelung durch die Stasi (Maria Seidemann, An einem Freitag im Mai,
1997; Sigurd Pruetz, Falsch gedacht, 2001; Viola Türk, Der Vorhang fällt,
2005) über die Geschichte des alltäglichen Alltags (Anne Voorhoeve, Lilly
unter den Linden, 2004) und grenzüberschreitenden Liebesgeschichten
DDR-Geschichte im (Reinhold Ziegler, Jenny, die Mauer und die Liebe, 2006). Auffällig erscheint,
Jugendbuch dass die Geschichte des zweiten deutschen Staates zwischen 1949 und 1989
Der Adoleszenzroman 359

vielfach in einen expliziten Kontext von Kindheits- und Familiengeschichten


gestellt werden; so in Karla Schneiders Nachkriegszeit. Zwischen Kloppe
und Glück (1997) oder in Tilla von Mont Klamott (1998) von Martina
Dierks. Zu nennen sind hier aber vor allem die teilweise autobiographisch
basierten Romane von Klaus Kordon (Hundert Jahre und ein Sommer, 1999;
Krokodil im Nacken, 2002). Gleichzeitig rückt Kordon in seinen Romanen,
so u. a. in Julians Bruder (2004) bislang unbekannte Epochen der frühen
DDR-Geschichte wieder ins Gedächtnis. Diesen Versuch unternimmt auch
Steffen Lüddemann in seinem Roman 50 Hertz gegen Stalin (2007), in dem
erstmals der Widerstand von Jugendlichen gegen das zu Beginn noch stalinis-
tisch geprägte DDR-Regime behandelt wird. Es sind vor allem diese nach der
Jahrtausendwende entstandenen Romane über die Geschichte der DDR, die
anschaulich unter Beweis zu stellen vermögen, was die aktuelle zeitgeschicht-
liche Literatur als Erinnerungsmedium zu leisten vermag.

Der Adoleszenzroman
Carsten Gansel

»Natürlich Jeans! Oder kann sich einer ein Leben ohne Jeans vorstellen?
Jeans sind die edelsten Hosen der Welt. Dafür verzichte ich doch auf die
ganzen synthetischen Lappen aus der Jumo, die ewig so tiffig aussehen. Für
Jeans konnte ich überhaupt auf alles verzichten, außer auf die schönste Sache
vielleicht. […] Ich meine Jeans sind eine Einstellung und keine Hosen. Ich »Natürlich Jeans«
hab überhaupt manchmal gedacht, man dürfte nicht älter werden als sieb-
zehn, achtzehn. Danach fängt es mit dem Beruf an oder mit irgendeinem
Studium oder mit der Armee, und dann ist mit keinem mehr zu reden. Ich
hab jedenfalls keinen gekannt.«
Ulrich Plenzdorfs bereits 1967/68 entstandener Text Die neuen Leiden des

Edgar Wibeau mit seinem


Kassettenrekorder (und
Jeans) – Klaus Hoffmann
in der Verfilmung von
Plenzdorfs Die neuen
Leiden des jungen W.
(Regie: Eberhard
Itzenplitz, 1976)
360 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

jungen W. (1973) wurde in Ost und West zu einem Kultbuch. In der Folgezeit
funktionierte die Erzählung wie eine Art Verstärker. Offenbar wurde näm-
lich, dass es inzwischen eine Reihe von Romanen gab, in denen mit jugendli-
chem Elan gegen etablierte Autoritäten angegangen wurde und die Phase der
Adoleszenz im Mittelpunkt stand. Die Jeans bei Plenzdorf standen dabei
keineswegs nur als Metapher für eine Abgrenzung von der etablierten Gene-
ration im Outfit. Mit dem Jungen W. rebellierte ein Junger gegen das Esta-
blishment. Dies ist wohl ein Grund dafür, warum der DDR-Text auch in
westeuropäischen Ländern identifikatorisch gelesen werden konnte. Denn
letztlich war das ›westliche 1968‹ eine Rebellion der jungen Generation, eine
Revolte der Adoleszenten und Postadoleszenten. Die Jugend erschien als
Jugend als Avantgarde Avantgarde einer sozialen, politischen, kulturellen Evolution. Von daher ist
›1968‹ im ›Westen‹ eng mit einer neuen Jugendkultur verbunden. Die jugend-
lichen Sub- und Gegenkulturen wurden zu einer Herausforderung für die
etablierten politischen Instanzen und führten zu einschneidenden Verände-
rungen, weniger der politischen und sozialen Verhältnisse, als vielmehr in
dem, was man ›Lifestyle‹ nennen kann. Es ging um Musik, um lange Haare,
Kleidung, zunächst also um das antiautoritäre Ausleben von Lust. Daher
kommt in allen Texten, die über Adoleszenz erzählen, den ›Äußerlichkeiten‹
die Funktion zu, den Protest gegen etablierte und herrschende Hierarchien
symbolisch auszutragen.

Adoleszenz
Der Gattungsname ›Adoleszenzroman‹ wurde erst in den 80er Jahren ge-
prägt. Gleichwohl signalisierte bereits der Gebrauch von Hilfsbegriffen wie
›Jeansliteratur‹ oder ›emanzipatorische Mädchenliteratur‹ die Existenz einer
Gruppe von Texten, die sich in besonderer Weise der Jugendphase annah-
men. Schließlich setzte sich in Anlehnung an den angloamerikanischen Be-
griff ›adolescent novel‹ die Bezeichnung ›Adoleszenzroman‹ durch. Mit dem
Adoleszenz-Begriff Begriff der Adoleszenz ist ein Bezug zu Disziplinen hergestellt, die sich mit
den Lebensphasen am Ende der Kindheit und beim Übergang zum Erwachse-
nenalter beschäftigen, zu Medizin, Anthropologie, Jugendforschung, Sozio-
logie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Pädagogik, Psychoanalytische
Entwicklungstheorie, Empirische Sozialforschung, Gender- und Generatio-
nenforschung. Von Einfluss auf die Diskussion um Adoleszenz war Charlotte
Bühlers Arbeit Das Seelenleben des Jugendlichen (1921). Anregend für die
Diskussion ab den 70er Jahren wurden Untersuchungen insbesondere zur
angloamerikanischen Literatur u. a. von Peter Freese und Arno Heller, später
dann Arbeiten von Mario Erdheim, Jürgen Zinnecker, Werner Helsper oder
Vera King. Besondere Bedeutung erlangte Peter Blos’ bereits 1962 erschie-
nene psychoanalytisch orientierte Studie Adoleszenz. Für Blos bezeichnet
Pubertät die »körperlichen Manifestationen der sexuellen Reifung«, wäh-
rend Adoleszenz »für die psychologische Anpassung an die Verhältnisse der
Pubeszenz gebraucht« wird. Die Geschlechtsreifung wird als biologisches
Ereignis, als ein »Werk der Natur« gesehen, die Adoleszenz mit ihrem psy-
chischen wie sozialen Hintergrund als ein »Werk des Menschen«. Dabei wird
der Adoleszenzbegriff zumeist dort genutzt, wo es um ›moderne‹ Jugend
geht, es sich also um eine Art ›psychosoziales Moratorium‹ handelt (Erikson),
einen Aufschub vor dem Schritt ins Erwachsenendasein. Die Spezifik von
Adoleszenz in modernen Gesellschaften liegt in ihrer »relativen Unbestimmt-
heit«, und dies gilt für die »zugehörigen Altersgruppen, Kontexte, Rahmen-
bedingungen und Verlaufsformen« (V. King). Im Unterschied zu traditionalen
Der Adoleszenzroman 361

und frühmodernen Gesellschaften, in denen Jugend klar abgesteckt ist, ver-


liert diese im Prozess gesellschaftlicher Modernisierung ihre eindeutigen
Konturen. Bereits beim Übergang von der Vormoderne zur Moderne erhält
die Jugendphase einen neuen Status; sie wird zu einem Zeitraum der Erpro-
bung und bietet die Chance, individuelle Bildungsprozesse zu durchlaufen.
Zunehmend mehr Jugendliche erhalten die Möglichkeit, gesellschaftliche
Spielräume zu erproben, und innerhalb eines Bildungsmoratoriums eröffnen
sich vielfältige Optionen für die eigene Lebensplanung.
Adoleszenz bezieht sich auf folgende Ebenen: Physiologisch umfasst Ado- Ebenen von
leszenz die Gesamtheit der körperlichen Entwicklung, wobei die sexuelle Adoleszenz
Reifung von besonderer Bedeutung ist. Psychologisch meint Adoleszenz den
Komplex individueller Vorgänge, bezogen auf die Auseinandersetzung junger
Leute mit ihrem ›Ich‹, ihrer Sexualität, den sozialen Beziehungen, ihren Hoff-
nungen und Zielen sowie dem Hineinwachsen in die Welt der Erwachsenen.
Soziologisch betrachtet handelt es sich bei der Adoleszenz um eine Art Zwi-
schenstadium, in dem Jugendliche zu einer verantwortungsvollen, aktiven
Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen motiviert werden, eine institutio-
nelle Absicherung aber noch nicht besteht. Eine altersmäßige Festlegung der
Adoleszenz ist nur annähernd möglich; grundsätzlich wird von einer Zeit-
spanne zwischen dem 11./12. bis zum 25. Lebensjahr ausgegangen. Unter
den veränderten kulturellen Bedingungen (post)moderner Gesellschaften ge-
winnt die sogenannte Postadoleszenz an Bedeutung, die im 20./21. Jh. mit-
unter bis in das vierte, ja sogar fünfte Lebensjahrzehnt hineinreicht. Dies
hängt damit zusammen, dass junge Menschen zwischen 20 und 35 Jahren
zwar eine politische, kulturelle und partiell soziale Selbständigkeit erlangen,
allerdings ohne über gesicherte Ressourcen zur Lebenssicherung zu verfügen.
Die Phase der Adoleszenz ist kulturgeschichtlich determiniert. Es bedeutet
einen Unterschied, ob von Adoleszenz im 18. Jh., um die Jahrhundertwende,
den 50er Jahren oder nach 2000 die Rede ist. Ebenso sind für die Bestim-
mung von Adoleszenz die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
von Bedeutung, ob sich also die Adoleszenz in einer ›offenen‹ bzw. demokra-
tischen Gesellschaft vollzieht oder in einer ›geschlossenen‹ Gesellschaft bzw.
einer Diktatur. Insofern muss man zwischen Adoleszenz in der Bundesrepub-
lik und in der DDR differenzieren. Von entscheidender Bedeutung für die
Verlaufsformen von Adoleszenz und ihren spezifischen Ausprägungen ist der
Stand von gesellschaftlicher Modernisierung, ob sich also Adoleszenz unter Moderne Jugend
vormodernen, modernen oder postmodernen Verhältnissen vollzieht. Mo-
derne Jugend bedarf eines offenen Problemraumes mit vielfältigen Entschei-
dungs- und Individualisierungsmöglichkeiten. Insofern lässt sich sagen:
Adoleszenz im modernen Sinne ist Produkt gesellschaftlicher Modernisie-
rung.

Merkmale und Geschichte des Adoleszenzromans


Unabhängig von den unterschiedlichen literarischen Ausprägungen lassen
sich folgende Merkmale des Adoleszenzromans ausmachen: Im Zentrum der
Darstellung stehen ein oder mehrere jugendliche Helden, wobei sich die Dar-
stellung anders als im Entwicklungsroman auf die Jugendphase konzentriert.
Während im klassischen Adoleszenzroman der jugendliche Held zumeist
männlichen Geschlechts ist, finden sich im modernen und postmodernen
Adoleszenzroman auch Protagonistinnen; die Übergänge zur emanzipato-
rischen Mädchenliteratur sind fließend. Die Zeitspanne ist nicht auf die Pu-
bertät beschränkt, sondern umfasst den gesamten Prozess der Identitätssuche
362 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

junger Leute, kann also von der Vorpubertät bis in die Postadoleszenz rei-
chen. Die jugendlichen Hauptfiguren können in einer »existenziellen Er-
schütterung« oder einer »tiefgreifenden Identitätskrise« angetroffen werden;
unter (post)modernen Bedingungen ist es aber ebenso möglich, dass die
Adoleszenz lustvoll und offen erlebt wird, als Chance, sich zu erproben, und
als Gewinn bei der Sinn- und Identitätssuche. Insofern geht es im Adoles-
zenzroman neben einer möglichen Identitätskrise grundsätzlich um das
Spannungsverhältnis zwischen Individuation und sozialer Integration in ei-
ner eigenständigen Lebensphase. Als Problembereiche, die in Adoleszenztex-
ten auftreten, lassen sich benennen: die Ablösung von den Eltern, die Ausbil-
dung eigener Wertvorstellungen (Ethik, Politik, Kultur usw.), das Erleben
erster sexueller Kontakte, das Entwickeln eigener Sozialbeziehungen, das
Hineinwachsen oder das Ablehnen einer vorgegebenen sozialen Rolle. Dabei
sind die Texte zumeist durch ein offenes Ende gekennzeichnet, die Protago-
nisten bleiben auf der Suche; eine Identitätsfindung im Sinne eines festen
Wesenskerns muss in neueren Texten nicht erfolgen und auch nicht an-
gestrebt sein.
Als markante Ausprägungen des Adoleszenzromans können Johann Wolf-
gang Goethes Die Leiden des jungen Werther (1774) und Karl Philipp Mo-
ritz’ Anton Reiser (1785–1790) gelten. Hartmut Böhme hat mit Recht darauf
verwiesen, dass Kindheit und Adoleszenz über einen längeren historischen
Zeitraum »nicht in den ihnen eigenen Dynamiken und Entwicklungsabläu-
fen« bekannt gewesen seien. Von Ausnahmen wie Werther und Anton Reiser
abgesehen, habe »keine Sprache emphatischer Rekonstruktion, sondern nur
der pädagogischen Durchdringung von Kindheit und Jugend« existiert. Erst
Karl Philipp Moritz’
ab 1800 sind zunehmend Texte entstanden, die sich durch eine solche »Spra-
Roman Anton Reiser – che emphatischer Rekonstruktion« auszeichneten. Insbesondere die Roman-
zeitgenössische Gestal- tiker haben zur Darstellung von Adoleszenz »komplexe symbolische Topo-
tung für die Hörbuch- graphien, räumliche Grenzziehungen, Raumbewegungen, Zeitordnungen
Ausgabe (2007) sowie Mittlerfiguren« entwickelt. So ist offensichtlich, dass sich seit dem
ausgehenden 18. Jh. die Gestaltung von adoleszenten Entwicklungsprozessen
zunächst im Kunstmärchen vollzieht. Es nimmt daher nicht wunder, wenn
bei Wieland, Novalis, E.T.A. Hoffmann oder später bei Wilhelm Hauff die
Darstellung von adoleszenten Übergangsphasen eine gewichtige Rolle spielt.
Auch E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen lassen sich als Adoleszenzerzäh-
lungen lesen, wobei neben der »ironisierend-komisierenden Brechung« ein
Typus von adoleszenten jungen Männern entworfen wird, die zwar auf ihre
Weise vielversprechend, aber mental und psychisch gefährdet sind. Im Sinne
des (Bildungs)Moratoriums handelt es sich zumeist um poesieverfallene Stu-
Adoleszenzdarstellung denten, die von der Hauptlinie zeitgenössischer Männlichkeitskonstrukte
im Kunstmärchen insofern abweichen, als der Konflikt zwischen dem Entwurf Bürger/Beamter
vs. Künstler/Poet in fantastisch-märchenhafter Form zugunsten der dichte-
rischen Existenz entschieden wird (R. Steinlein). Auch bei den Hauffschen
Märchen handelt es sich um ›Pubertätsgeschichten‹. Im Märchen von Zwerg
Nase etwa wird über eine Zeit erzählt, die »wesentlich die der Pubertät und
frühen Adoleszenz« ist. Die vielfältigen Verwandlungen, Verwechslungen,
Verkleidungen können als »›Abbildungen‹ der für Pubertät und frühe Ado-
leszenz typischen Identitätsproblematik« interpretiert werden (R. Wild). Um
1900 ist die Adoleszenzproblematik vor allem in den Schulromanen und
Schulromane um 1900 Schulerzählungen präsent; zu nennen sind Emil Strauß’ Freund Hein (1902),
Rainer Maria Rilkes Turnstunde (1904), Hermann Hesses Unterm Rad
(1906) oder Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906).
Die Rezeption von Jerome D. Salingers Der Fänger im Roggen (1951), der
Der Adoleszenzroman 363

1956 in einer abgeschwächten Übersetzung von Heinrich Böll auf den deut-
schen Buchmarkt kam, bewirkte eine Zäsur in der Entwicklung des Adoles-
zenzromans in der deutschen Literatur. Der Roman wurde in der Bundesre-
publik wie in der DDR vor allem in den 60er Jahren mit Begeisterung rezi-
piert, weil er dem Lebensgefühl einer jungen Generation Ausdruck verlieh,
die zunehmend gegen die etablierten gesellschaftlichen Instanzen revoltierte,
überkommene Rollenbilder angriff und auf der Suche nach sich selbst war.
Günter Grass’ Novelle Katz und Maus (1961), Peter Weiss’ Abschied von Neue Entwicklungen
den Eltern (1961) wie auch Uwe Johnson noch in der DDR geschriebener, ab 1950
aber erst postum erschienener Roman Ingrid Babendererde (1956/1985)
sind frühe Beispiele der Gestaltung von Adoleszenz in der deutschen Litera-
tur nach 1945. Zu einem Kultbuch in Ost und West wurde dann Ulrich
Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1973). Freilich handelte es sich
bei diesen wie bei weiteren Texten, etwa aus den 70er Jahren, nicht um spe-
zifische Jugendliteratur; die Adressaten waren nicht vordergründig Jugendli-
che.

Der Adoleszenzroman als neue Gattung


Infolge der weiteren Ausdifferenzierung des literarischen Systems wurden
seit den 70er Jahren in die Kinder- und Jugendliteratur Gattungen aufge-
nommen, die sie sich in der Allgemeinliteratur mit dem ausgehenden 18. Jh.
herausgebildet haben. Dazu gehört auch der Adoleszenzroman. Dem sich
abzeichnenden kulturellen Umbruch und der starken Nachfrage unter Ju-
gendlichen nach Texten, die ihre Selbstfindung in den Mittelpunkt stellten,
trugen Jugendverlage zunehmend Rechnung, indem sie zunächst Adoleszenz-
romane aus den USA publizierten: Warren Millers Kalte Welt. Ein Banden- Adoleszenzromane
chef berichtet (1959, dt. 1979), Barbara Wersba Ein nützliches Mitglied der aus den USA
Gesellschaft (1970, dt. 1972), Susan E. Hintons Kampffische (1975, dt.
1975). Der Erfolg von Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1973)
verhalf dem Adoleszenzroman im deutschen Sprachraum zum Durchbruch
und führte zu seiner »jugendliterarischen Eingemeindung« (H.-H. Ewers).
Dafür standen auch Texte wie Leonie Ossowskis Die große Flatter (1977),
Otto F. Walters Wie wird Beton zu Gras (1979), Irina Korschunows Die Sa-
che mit Christoph (1978), Rudolf Herfurtners Rita, Rita (1984), Dagmar
Chidulues Lady Punk (1985), Reinhard Kochs Elvis Germany (1989). Von
besonderer Bedeutung waren die aus dem Schwedischen übersetzten Titel
von Inger Edelfeldt Briefe an die Königin der Nacht (1985/86), Jim im Spie-
gel (1985) oder Kamalahs Buch (1986/88); zu nennen sind auch die auf dem
deutschen Markt erfolgreichen Adoleszenzromane des Schweden Mats Wahl
Der lange Lauf auf ebener Erde (1993), Winterbucht (1995) und Die Lüge
(1996).
Mit diesen Texten wurde ein zunächst für die Erwachsenenliteratur kenn-
zeichnendes Erzählmuster für die spezifische Jugendliteratur gattungsprä-
gend. Es kam zur Ausbildung des modernen (jugendliterarischen) Adoles-
zenzromans. Die Übernahme der für den modernen Roman charakteristi-
schen radikalen Subjektkonzeption hatte Folgen für das ›Was‹ und ›Wie‹ des
Erzählens. Die jugendlichen Helden erscheinen als Individualitäten, die
selbstreflexiv ihre widersprüchliche Rolle, ihre krisenhafte Entwicklung und
innere Zerrissenheit bedenken. Um diese innere Widersprüchlichkeit zu ge-
stalten, werden moderne Techniken psychologischen Erzählens verwendet
wie Ich-Erzählform, personales Erzählverhalten, innerer Monolog, Bewusst-
seinsstrom, erlebte Rede, Traumsequenzen. Damit wurden die Grenzen zwi-
364 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

schen Allgemein- und Jugendliteratur fließender; der moderne Adoleszenzro-


man ist bei aller Jugendspezifik keine dezidierte Zielgruppenliteratur mehr.
Seit den 90er Jahren gibt es vor dem Hintergrund des rasanten kulturellen
Wandels, in dem auch Adoleszenz sich verändert, starke und nachhaltige
Kultureller Wandel Veränderungen im Adoleszenzroman. Eine Reihe von Texten erfassen nun
und Adoleszenz jene Erfahrungen, die junge Leute in einer postmodernen Gesellschaft ma-
chen. Gerade die erfolgreicheren Texte wurden ab Ende der 90er Jahre nicht
mehr in Kinder- und Jugendbuch-Verlagen publiziert. Die im Verlag Kiepen-
heuer & Witsch aufgebaute KiWi-Reihe markierte mit den erfolgreichen
Popromanen von Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre einen
Trend zu ›All Age-Texten‹, die – abseits von der Stilisierung als Kinder- und
Jugendliteratur – das ganze Spektrum junger Leute von der Adoleszenz bis
zur Postadoleszenz zu erreichen suchten. Bei den Texten, die explizit als Ju-
gendliteratur ausgewiesen waren und in Kinder- und Jugendbuch-Verlagen
erschienen, erfolgte schon in den 1980er Jahren eine zurückhaltende Nähe-
rung an die Gattung; die Romane stellten so zunächst eine Mischung zwi-
schen sogenannter problemorientierter Jugendliteratur und Adoleszenzro-
man dar. Da die Texte einen offen erkennbaren Gegenwarts- und Wirklich-
Adoleszenz und keitsbezug aufwiesen, kam der Darstellung von Jugendsubkultur eine
Jugendsubkultur maßgebliche Rolle zu. Dies hing damit zusammen, dass die Jugendsubkultur
gerade für die Phase der Adoleszenz wegen ihrer Absetzung von etablierten
Instanzen eine gewichtige Rolle spielt und in ihr die Möglichkeit gesucht
wird, dem als uniform empfundenen Leben der Erwachsenen zu entkommen.
Innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur zeigen dann Texte wie Klaus Peter
Wolfs Neonfische (1985) oder Rudolf Herfurtners Rita, Rita (1984) exem-
plarisch die Schwierigkeiten bei der ›Eingemeindung‹ des für die Jugendlite-
ratur neuen Musters.
In Neonfische sieht der jugendliche Held für sich bereits alle erstrebens-
werten Plätze durch die Vätergeneration besetzt. Darum hat er sich den Vater,
einen Bankdirektor, zum Feindbild hochstilisiert. Ihn will er treffen, als er in
seiner Bank einen vermeintlichen Raub begeht. Der Ich-Erzähler spricht die-
sen Anspruch explizit aus: »Tja, Alter, heute hat dir dein Sohnemann eins
ausgewischt. Der erste Teil der großen Abrechnung. Bis jetzt hast du mein
Leben dominiert. Jetzt geht’s mal umgekehrt. Jetzt hab ich dich an der Leine.
Nun wird mein Schatten über deinem liegen. Dich fertigmachen. Erdrücken.
Der Lächerlichkeit preisgeben. Wenn du wüßtest, wie sehr ich mich auf die
Schlagzeilen morgen früh in der Presse freue!«
Im Weiteren folgt eine Odyssee des Protagonisten durch sämtliche subkul-
turellen Szenen der Bundesrepublik: Punker, linke Protestbewegung, Bürger-
bewegung gegen die Startbahn West, schließlich eine alternativ-spirituelle
Gruppe. Die soziologische Reise dient letztlich der Aufklärung, will mit Kli-
scheevorstellungen aufräumen und bringt – über einen auktorialen Erzähler
vermittelt – für den Protagonisten (und damit den Leser) mit der Gruppener-
fahrung jeweils eine Wertung der jeweiligen Szene. Offensichtlich ist, wie der
Autor die aus der Allgemeinliteratur stammenden Muster des Entwicklungs-
und Adoleszenzromans mit denen des problemorientierten Jugendromans
kombiniert. Das für die Kinder- und Jugendliteratur seit der Aufklärung
funktionierende Prinzip der moralischen Belehrung behält – wenn auch in
abgeschwächter Form – seine Gültigkeit. Der jugendliche Protagonist kehrt
schließlich um viele Erlebnisse reicher nach Hause zurück. Die Erfahrungen
in den diversen Szenen werden ihm bei der Ablösung vom Vater helfen und
ihn möglicherweise einen eigenen Weg finden lassen. Trotz des offenen Text-
endes steht eine gelungene Identitätsfindung in Aussicht; der jugendliche
Der Adoleszenzroman 365

Held ist bei seiner Suche nach dem ›wahren Ich‹ erfolgreich. Dies wird als
›Erkenntnis‹ im Text direkt präsentiert; der Protagonist selbst stellt fest:
»Aber ich habe Dir jetzt etwas voraus; einen Vorsprung, den du so bald nicht
aufholen wirst: Ich weiß jetzt, daß man bei allem, was man tut, versuchen
muß, man selbst zu bleiben, weil man sonst zu einem leeren Gefäß wird, in
das andere Leute Farbe gießen können. Ganz wie es ihnen gefällt. Mal blau,
mal gelb, mal rot. Ich laß mich nicht mehr von mir isolieren. Laß mir nicht
mehr euren Mist als meine Bedürfnisse verkaufen. Ich bin ich. Rainer Röm-
bell.« Klaus Peter Wolfs Neonfische zeigt, wie schwer es für die Kinder- und
Jugendliteratur ist, sich von der Allgemeinliteratur zu emanzipieren und wel-
che literarischen Wege dabei zunächst gegangen werden. Auf der Oberflä-
chenstruktur bezieht sich der Text auf die gesellschaftliche Wirklichkeit der
70er und 80er Jahre; sämtliche alternative Szenen, Alternativbewegungen,
Bürgerproteste sind erfasst. Aber die Tiefenstruktur mit dem ›implizierten
Autor‹ verweist auf die 50er und 60er Jahre. Der frühexpressionistische Va-
terkonflikt wie auch die Form des Erzählens will nicht so recht zu dem pas-
sen, was erzählt wird.
Auch Rudolf Herfurtners Rita, Rita (1984) zielt darauf ab, über die Dar-
stellung von jugendlichen Subkulturen die Phase der Adoleszenz ins Zentrum
des Erzählens zu rücken. Der etwa zeitgleich mit Herfurtners Neonfische
entstandene Text führt schon eher zur für die Kinder- und Jugendliteratur
neuen Gattung des Adoleszenzromans, weil er authentisch zeigt, wie es zu
einem Wandel der Jugendkultur und damit der Adoleszenz gekommen ist.
Offensichtlich wird nämlich, wie sich für junge Leute ein Wechsel von der
Appellfunktion zur Ausdrucksfunktion vollzieht. Nicht mehr die Agitation
und Überredung sind maßgeblich, sondern Phänomene einer Mediengesell-
schaft gewinnen für die Phase der Adoleszenz an Bedeutung. So ordnet die
Protagonistin Rita, durchaus ironisierend, ihren ›Traummann‹ nach seinem
äußeren Erscheinungsbild in das vermutete jugendkulturelle Milieu ein: »Du
hast eine Matratze in einer WG. Zum Frühstück gibt’s Müsli – Kern und Rudolf Herfurtner
Korn aus dem Ökoladen. Gelesen wird die TAZ. Abends: Teestube oder linke
Musikkneipe – Schickis raus! Und zum einschlafen: Michael Ende. Ja, und
am Wochenende: Infostand auf dem Stadteilfest. Noch was? fragte er. Ja,
sagte sie: Friedensdemo mit Friedens-Rock und Friedensmüsli.« Auch das Sozialkritik im
humorvolle Anspielen auf die Kultbücher Michael Endes ist ein Symptom für Adoleszenzroman
das verblassende Bedürfnis nach globalen Sinnangeboten und Utopien. Das
Lebensgefühl von Adoleszenten findet seinen Ausdruck weniger im gemein-
samen Lesen eines Kultbuches, es neigt sich vielmehr optischen Signalen zu
(Video-Clips, Filmen, Bars, Kleidung, Frisuren). Die Faszination, die für Rita
vom Flipper-Automaten ausgeht, ist nur ein Ausdruck dafür. Der Abstand
der jugendlichen Protagonistin zur Alternativ-Szene ist keineswegs nur als
Vorurteil einer ›yuppisierenden‹ Flipper-Queen interpretierbar. Die Krise
eines gegenkulturellen Images wird mit der Alternativ-Figur Rollo angedeu-
tet. Er, der nachts Graffitis an die Betonwände der Fußgängerzone sprayt,
gesteht ein: »Ist doch Scheiße, wir Alternativen sind ja dafür bekannt, daß
wir ewig problematisieren wie die Weltmeister...«. Damit ist eine Tendenz
reflektiert, mit der es junge Leute in der Adoleszenz ab Mitte der 1970er
Jahre zu tun bekommen: Mit den Zersplitterungstendenzen in der ›Linken
Bewegung‹ nimmt die Faszination des soziologischen Diskurses ab. Rollo
will dies nicht wahrhaben und hält trotzig-vereinfacht an seinen Idealen fest.
Dies wird in einer fast didaktisch zu nennenden Rede auch explizit ausge-
drückt. »Es gibt Leute«, notiert er, »die wollen dich totmachen. Und trotz-
dem arbeitest du für die Aufgabe, die du hast: Aufklärung. Die müssen ja alle
366 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

hier durch, wenn sie tagsüber konsumieren, tagsüber. Ist ein riesiger Platz
zum Sprayen. Hier kannst du echt Gegenöffentlichkeit schaffen, wenn alle
Medien gleichgeschaltet sind.« Für einen Teil der jugendlichen Rezipienten,
auf die der Text abzielt, sind solche Aussagen des Protagonisten ein Grund
dafür, ihn als ›vergreist‹ einzuschätzen. Wo die Hochzeit von alternativen
Szenen, Basisbewegungen, Utopien verblasst oder an die Stelle von sozialem
Engagement zunehmend selbstbezogener Lebensgewinn tritt, kann die ›Vi-
sion‹ von Rollo antiquiert wirken. Denn in den Augen einer ›postmodernen‹
Jugend sind alle Formen kollektiven Widerstands gescheitert.
Obwohl Herfurtners Roman auf sensible Weise mögliche Bewusstseinszu-
stände Jugendlicher erfasst, ist auch bei ihm die in der Tiefenstruktur des
Textes erfolgte Wertsetzung nicht zu übersehen. Der Autor arbeitet mit der
Erzähler- und Figurenanlage gegen eine ›feeling-Dominanz‹ (Ritas Eingangs-
haltung) ebenso an wie gegen radikalen Aktivismus. Das Misslingen der
Spray-Aktion mit Sprüchen wie »Gegen alle Väter und Betonierer der Welt!
... Gegen den Beton der Väter!« mag auf der einen Seite das ›Überlebte‹,
Überzogene oder Aussichtslose dieser Art jugendlichen Protestes andeuten.
Festgehalten wird andererseits mit dem dargestellten Entwicklungs- und Be-
wusstwerdungsprozess am Modell des ›soziologischen Diskurses‹ und der
Vorstellung vom notwendigen gemeinschaftlichen Engagement und von Auf-
klärung. Der Text betreibt damit eine Art ›Doppelspiel‹, das dem jugend-
lichen Leser wie einem möglichen erwachsenen Vermittler Signale zur Kon-
kretisierung bietet.
Die Texte von Herfurtner und Wolf zeigen, wie schwer es ist, Zugang zu
den veränderten Jugendkulturen mit ihren Denk- und Verhaltensweisen zu
bekommen und über moderne Adoleszenz zu erzählen. Einmal selbst jung
gewesen zu sein, ist keine Garantie dafür, spätere Jugend zu verstehen und
literarisch erfassen zu können. Dagmar Chidolues Romane Lady Punk
(1985), der mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde, und
Magic Müller (1992) sind zwei Texte, die im ›Was‹ und ›Wie‹ des Erzählens
zeigen, dass der Adoleszenzroman im ›System‹ der Kinder- und Jugendlitera-
tur ›angekommen‹ ist. Die Struktur von Magic Müller folgt dem Erzählmus-
ter des amerikanischen Initiationsromans und ist episodisch aufgebaut. Zu
einer Identitätsfindung im klassischen Sinne kommt es nicht mehr. Zudem
Musik und Medien zeigt der Text, in welchem Maße Musik und Medien seit den 90er Jahren die
Ausbildung der Ich-Identität von jungen Leuten bestimmen. In Form einer
Rückwendung erinnert die Ich-Erzählerin sich an ihre Erlebnisse während
und nach der Abiturabschlussfahrt nach Italien. Bereits am Textanfang ist
erkennbar, dass das Erzählte rückblickend bewertet wird: »Das Leben ist
schon verrückt. Ich weiß jetzt Bescheid.« Und am Ende notiert die Ich-Erzäh-
lerin: »An dem Tag begriff ich. Das Leben ist verrückt. Nichts ist in Ordnung.
Aber alles hat seinen Sinn.« Dazwischen liegen die Erlebnisse der adoles-
zenten Ich-Erzählerin, erste sexuelle Erfahrungen, Medienbestimmtheit, die
Abgrenzung von den Eltern und Lehrern und vor allem die erfahrene Orien-
tierungslosigkeit. Zum Ende des Romans kommt Magic Müller, der vom
Außenseiter zum Klassenclown avanciert, beinahe unter die Räder. Er trinkt
sich bei der letzten Klassenfeier ins Koma und stirbt fast. Die Ich-Erzählerin
reflektiert das Geschehene so:
»Er war doch bloß den Spielen der Erwachsenen auf den Leim gegangen und hatte
nicht gerafft, daß es kein Kino war, das Leben, die Liebe, nicht so groß, nicht so allge-
waltig. Es war live. M. M. hatte sich in den Stricken der Freiheit verfangen und gedacht,
daß die erbarmungslos softgewaschenen und katalysierten Rituale Halt geben würden.
What’s the name of game? April, April. Vielleicht hatte er sich bei dem Sturz nur die
Der Adoleszenzroman 367

Nase aufgeschlagen. Ich wünschte ihm das so sehr. Uns allen. Aber aufgepasst, mein
Freund, you only live twice.
Ich betrachtete die Pflanzen in der Gartenanlage vor dem Krankenhaus. Der Sommer
kam mit Macht. Die Bäume und Sträucher krachten und platzten aus allen Nähten.
An dem Tag begriff ich. Das Leben ist verrückt. Nichts ist ohne Ordnung. Aber alles
hat seinen Sinn.«

Der Schluss des Romans zeigt, inwiefern durchaus eine Orientierung am


Fundament der Moderne erfolgt und entscheidende Prämissen moderner
Subjektivität eine Rolle spielen: die Suche nach einem festen Wesenskern,
nach einer unverwechselbaren Persönlichkeit, nach Handlungsautonomie
und sozialer Verantwortung. Gleichwohl kann nicht die Rede davon sein,
dass das Ich zu einer festen Identität gelangt. In der Figur Ditte wird offen-
sichtlich, in welchem Maße diese »Kinder der Freiheit« (Beck/Beck-Gerns-
heim) orientierungslos bleiben und zu keiner Autonomie gelangen. Chidolues
Magic Müller, Lady Punk und ebenso London, Liebe und all das sowie Her-
furtners Rita, Rita oder Inger Edelfeldts Kamalas Buch markieren zudem die
Übergänge zur emanzipatorischen Mädchenliteratur und zum Adoleszenzro-
man mit weiblicher Hauptfigur.

Vom klassischen über den modernen zum postmodernen


Adoleszenzroman
Es lassen sich verschiedene Ausprägungen der Gattung Adoleszenzroman
unterscheiden, wobei die Übergänge zwischen den verschiedenen Typen flie-
ßend sind, wenngleich es durchaus eine historische Abfolge gibt. Als klas- Klassische
sische Adoleszenztexte können die bereits genannten Schulromane und -er- Adoleszenztexte
zählungen der Jahrhundertwende von Emil Strauß, Hermann Hesse, Robert
Musil, Rainer Maria Rilke oder Robert Walser bezeichnet werden. Charak-
teristisch für diese Texte ist der Umstand, dass die jugendlichen Helden sich
nicht mehr in die bürgerliche Gesellschaft einpassen lassen. Während der
Adoleszenz kommt es zum Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft. Die
Helden bei Rilke, Hesse oder Musil scheitern; Identitätsbildung und Sinnfin-
dung sind unter den gegebenen Umständen nicht mehr möglich. Der unlös-
bare Konflikt zwischen den zumeist männlichen Protagonisten und den Vä-
tern sowie der Institution Schule mündet im tragischen Ende, ja in der Katas-
trophe. Insofern ist die Adoleszenzkrise der jungen Männer ein Paradigma
für das Scheitern in der Gesellschaft selbst. Der Wandel des Adoleszenzro-
mans wie seine neue Blüte innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur seit den
70er Jahren sind im Rahmen der Modernisierungsphänomene seit der Mitte
des 20. Jh.s zu sehen. Die sich abzeichnenden jugendkulturellen Verände-
rungen boten – zwar immer noch begrenzt – jungen Menschen neue Mög-
lichkeiten. Im Modernisierungsvorsprung der amerikanischen Gesellschaft
ist begründet, dass in den USA die neuen gattungsprägenden Texte, voran
Jerome D. Salingers Der Fänger im Roggen, entstanden; die neuen sozialen
Bewegungen ab Ende der 60er Jahre, die Studenten- und Frauenbewegung,
trieben die Entwicklung voran. Bereits 1973 wird von Heller der Begriff des
Adoleszenzromans für eine neue Gruppe von Texten genutzt, in denen »die
unruhige Suche nach einem tieferen Persönlichkeitszentrum und das Be-
mühen um dessen Bewahrung und Entfaltung« zum Ausdruck komme. Die Cover der Rowohlt-
Aufnahme von pikaresken Elementen führt dazu, dass der moderne Adoles- Ausgabe (1966)
zenzroman schon zu diesem Zeitpunkt die »radikale Negativität« der Texte
der Jahrhundertwende verliert. Gleichwohl geht es im modernen Adoleszenz-
roman weiter um die Dichotomie von Jugend- und Erwachsenenwelt. Die
368 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

jugendlichen Protagonisten opponieren gegen die Normen und Leistungsan-


forderungen der Gesellschaft; einer als festgefügt empfundenen fantasielosen,
kalten Welt der Erwachsenen steht die Welt der Jungen entgegen, die voll von
Freiräumen für Fantasie, Spiel, Selbständigkeit, Emotionalität ist. Freilich
siegen am Schluss zumeist die Erwachsenen. Ausstieg wie Scheitern der Pro-
tagonisten bleiben so kennzeichnende Merkmale auch des modernen Adoles-
zenzromans der frühen 70er Jahre. Verweigerung und Protesthaltung finden
ihren Ausdruck nicht zuletzt in einer äußerlichen Abgrenzung von den Er-
wachsenen; neben den langen Haaren werden die Jeans zum kennzeich-
nenden Merkmal, das für ein neues Lebensgefühl und den anderen Lebensstil
von jungen Leuten steht, die spezielle Musik hörten und zu Popfestivals gin-
gen, sich für die Beatles und das Musical Hair interessierten, von Bob Dylan,
Joan Baez und Jimi Hendrix fasziniert, von Woodstock und Hippi-Bewegung
geprägt waren. Ulrich Plenzdorfs Held Edgar Wibeau brachte die hinter den
Jeans steckende Gemeinsamkeit systemübergreifend auf den Punkt: »Ich
Der junge Plenzdorf – meine, Jeans sind eine Einstellung und keine Hose.« Als ›Jeansliteratur‹ wur-
mitvermarktet
den die entsprechenden Texte dann auch in den 70er Jahren bezeichnet.
Die modernen Adoleszenzromane basieren wie ihre klassischen Vorgänger
auf dem Fundament der Moderne und orientieren sich an entscheidenden
Prämissen moderner Subjektivität. Adoleszenz bedeutet hier wie da in erster
Suche nach der eigenen Linie die Suche nach einer unverwechselbaren Persönlichkeit, nach Individu-
Identität alität; es geht um Identität, Handlungsautonomie und soziale Verantwor-
tung. Dies zeigt sich selbst noch in Jay McInerneys Ein starker Abgang (1986,
dt. 1990), in dem ein jugendlicher Protagonist im Zentrum steht, dessen Le-
ben zweigeteilt ist: Tagsüber geht er einer unbefriedigenden Arbeit nach,
während er nachts versucht, mit Hilfe von Drogen dem Alltag zu entfliehen.
Eroberungen in Bars und auf Partys sollen ihn über seine krisenhafte Situa-
tion hinweg täuschen; seine Frau hat ihn vor Kurzem verlassen, er provoziert
seine Entlassung, und sein Seelenleben schätzt er selbst als chaotisch ein:
»Deine Seele ist so unordentlich wie deine Wohnung, und ehe du nicht dazu
kommst, ein bißchen aufzuräumen, willst du niemanden hereinlassen.« Zu
diesem ›Aufräumen‹ ringt sich die Hauptfigur letztlich durch, nachdem sie
hinreichend Sauf- und Schnieftouren und eine Reihe gescheiterter Verfüh-
rungsversuche hinter sich hat. Der namenlose Erzähler gerät in eine Exis-
tenzkrise, er »fühlt« sich »wie eine Ziffer in einer beliebigen Zahlenreihe«.
Sein Bruder Michael hilft ihm, zu sich zu kommen; Kraft und Orientierung
gibt ihm schließlich eine neue Liebe, Vicky Hollins, die er dann auch in seine
»Seele läßt«.
Jung-Sein als Sinnbild Mit den 80er Jahren zeichnen sich erneute Veränderungen ab. Jung-Sein
gilt in einer (post)modernen Erlebnisgesellschaft als Sinnbild, ja als Wert
schlechthin. ›Jugend‹ wird zu einer Persönlichkeitseigenschaft schlechthin.
Der Generationenkonflikt hat weiter an Schärfe verloren. Zudem hat eine
Gewöhnung an immer neue kulturelle Modernisierungen stattgefunden; an
die Stelle einander bekämpfender Gegensätze ist die kulturelle Koexistenz
verschiedenster Stile getreten. Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen ist
eine weitere Spielart des Adoleszenzromans entstanden, in der Oberflächen-
wie Tiefenstruktur der Texte sich geändert haben und die als postmodern
Postmoderner bezeichnet werden kann. Dieser postmoderne Adoleszenroman ist nicht zu-
Adoleszenzroman letzt Reflex auf den zunehmenden Perspektivismus der Wahrnehmungen und
Thematisierungen in der Spät- oder Postmoderne; der Einzelne, auch der Ju-
gendliche, lebt gleichzeitig in Partialwelten, Subsystemen und unterschied-
lichen Öffentlichkeiten.
Als postmoderne Adoleszenzromane lassen sich so verschiedene Texte be-
Der Adoleszenzroman 369

zeichnen wie Breat Easton Ellis’ Unter Null (1985/1986), Einfach unwider-
stehlich (1987/88) und Glamorama (1998/1999), Christian Trautmanns Die
Melancholie der Kleinstädte (1990), Dagmar Chidolues Lady Punk (1985)
und Magic Müller (1992), Christian Krachts Faserland (1995), Blake Nel-
sons Cool Girl (1994/1997), Banana Yoshimotos Kitchen (1988/1992) und
N.P. (1993), Irvine Welshs Trainspotting (1993/1996) und Ecstasy
(1996/1997), Giuseppe Culicchias Knapp daneben (1994/1997), Alexa Hen-
nig von Langes Relax (1998) oder Enrico Remmerts Loove Never Dies
(1998). Eine Suche nach der eigenen Identität wie in den traditionellen Ado-
leszenzromanen findet allerdings nicht mehr statt; vielmehr geht es um die
immer wieder neue Suche nach Erlebnissen. Vor allem die Texte des amerika-
nischen Autors Bret Easton Ellis haben prägend gewirkt; kennzeichnend ist
das Motto seines Romans Einfach unwiderstehlich (1987, dt. 1988): »Auch
wenn sie wie Perlen auf eine Kette gezogen waren, so fehlte den Fakten die
rechte Ordnung. Die Ereignisse strömten nicht dahin. Die Fakten waren se-
parat und wahllos und zufällig, auch als sie eintraten, episodisch, gebrochen,
ohne sanfte Übergänge, ohne Sinn für Ereignisse, die sich aus früheren Ereig-
nissen entwickeln.« Im Weiteren werden verschiedene Ich-Perspektiven der
jugendlichen Protagonisten – »separat«, »wahllos«, »zufällig« – nebeneinan-
der gereiht, ohne dass eine Geschichte erzählt würde; im Zusammenspiel der
Reihung ergibt sich einzig der Sinn, dass es keinen Sinn gibt. Die Figuren Cover mit Fotoporträt der
selbst sind nur noch Zeichen und Oberfläche, nicht autonome Charaktere, Autorin
die ihr Leben selbstbewusst zu gestalten suchen. Es zählt allein die Gegen-
wart: das Leben als Endlosparty und die Welt als Erlebnispark.
Christian Trautmanns Die Melancholie der Kleinstädte (1990) kann als
frühes Beispiel für den postmodernen Adoleszenzromans im deutschen
Sprachraum gelten. Von der früheren Provokation ist nicht viel mehr geblie-
ben als Lähmung und Apathie; der jugendliche Protest ist zur Konvention
geworden, und alles ist schon bis zur Langeweile durchgelebt: Partys, Knei-
pen, endlose Diskussionen, Drogen. »Life ist xerox, we are just a copy«: Al-
les ist schon einmal da gewesen, das Subjekt erscheint als Dutzendware. Und
Sinnzuweisung wird von den Protagonisten nicht einmal mehr angestrebt.
Diese »Entmächtigung des Subjekts« (W. Helsper) ist auch bei Texten zu
finden, deren Erzählhaltung eher humorvoll, ironisch, ja zynisch ist und in
denen locker-witzig, mit ›Coolness‹ durchaus krisenhafte Prozesse erzählt
werden, etwa in Celine von Brock Coles, in Cool Girl von Blake Nelson
oder in Relax von Alexa Hennig von Lange. Im Zentrum dieser drei Texte
stehen weibliche Hauptfiguren. Sie sind mit den postmodernen Verände- Weibliche Adoleszenz
rungen von Kindheit und Jugend konfrontiert, und sie nehmen die Plurali-
sierung von Familien- und Geschlechterrollen, die Entdramatisierung des
Generationenkonflikts, das Leben in verschiedenen Realitäten, die Mediati-
sierung von Kindheit und Jugend gelassen und ohne Trauer oder Weltschmerz
zur Kenntnis. So berichtet etwa die 16-jährige Ich-Erzählerin in Celine mit
Witz und Ironie von den Problemen in Schule und Familie. Bereits zu Beginn
des Textes wird die Differenz zum traditionellen, partiell auch zum moder-
nen Adoleszenzromanen deutlich. Der Schulaufsatz über Salingers Der Fän-
ger im Roggen macht Celine Probleme: »Das Aufsatzthema ist mir von An-
fang an komisch vorgekommen. Es schien mir nicht richtig, ›Der Fänger im
Roggen‹ als Klassenlektüre lesen zu müssen. Es geht um diesen Jungen, der
wahnsinnig feinfühlig ist und mit der Welt nicht zurechtkommt. Er heißt
Holden Caulfield, und er ist mir nicht sehr sympathisch, denn ich finde er
jammert zuviel, und manchmal, wenn er diesen wirklich rührenden Kitsch
von sich gibt, habe ich das Gefühl, er gratuliert sich, daß er ein so süßer
370 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

mißverstandener Junge ist.« Zu authentischen Zeugnissen postmoderner


Adoleszenz werden die Romane von Coles und anderen vor allem deshalb,
weil sie für das durch eine Medien- und Erlebnisgesellschaft geprägte Le-
bensgefühl adäquate erzählerische Formen finden: Die Autoren treten hinter
ihre Figuren zurück, auf Kommentierung wird verzichtet, der ›implizierte
Autor‹ ist mit den Jugendfiguren identisch; Oberflächen spielen eine ent-
scheidende Rolle.

Adoleszenz- und Popliteratur – Neue Entwicklungen seit Ende


der 90er Jahre
Ab der Mitte der 90er Jahre entstehen, nach der jugendliterarischen Einge-
meindung des Adoleszenzromans in den 70er und 80er Jahren, die literarisch
innovativen und die Diskussion bestimmenden Texte zunächst wieder außer-
halb der Jugendliteratur. Dazu gehören die erfolgreichen Texte von Benjamin
von Stuckrad-Barre (Soloalbum, 1998; Livealbum, 1999) und Benjamin Le-
bert (Crazy, 1999; Der Vogel ist ein Rabe, 2003; Kannst Du, 2006) ebenso
wie die von Alexa Hennig von Lange (Relax, 1997; Ich bin’s, 2000; Ich habe
einfach Glück, 2001). Auffällig ist auch, dass die Adoleszenztexte zunächst
unter einem neuen Label erschienen, nämlich als Popliteratur oder Poproman
firmierten und zugleich einen Generationswechsel in der deutschen Literatur
markierten. Wenn das Gemeinsame der Texte, wie beispielsweise von Katha-
rina Rutschky, im »Abschied von der unschuldigen Kindheit und den Eintritt
in die Welt der Erwachsenen« gesehen werden kann, so sind damit die Merk-
male benannt, die im Kern den Adoleszenzroman auszeichnen; entsprechend
überrascht es nicht, wenn als das »Urbild aller Popromane« erneut Goethes
Werther galt. Der junge Autor Tobias Hülswitt vermerkte 1999 mit Blick auf
die in der alten Bundesrepublik sozialisierten jungen Autoren: »Die junge
Westliteratur ist Jugendliteratur im doppelten Sinne«. Im doppelten Sinne
deshalb, weil sie zum einen von »Jugendlichen geschrieben« werde und zum
anderen »von jungen Menschen« handle und »deren oft mühsames und ge-
fährdetes Zurechtkommen in einer komplexen undurchsichtigen Welt«
Neue deutsche spiegle. Die neue deutsche Popliteratur ist in ihrem Kern Adoleszenzliteratur,
Popliteratur eine Reihe von Texten steht geradezu exemplarisch für den (post)modernen
Adoleszenzroman. Mit Inhalten wie Jungsein, Marginalisiertsein, alltäglichen
Machtkämpfen, politischen Auseinandersetzungen, sexuellen Konflikten,
schließlich der ganzen Palette von Pubertäts-, Jugend- und Lebensbewälti-
gungen thematisieren die Popromane die Probleme eben jener Phase des
»Abschieds von der Kindheit«, der Adoleszenz. Ein markantes Beispiel dafür
ist Christian Krachts Faserland (1995). Auf der Oberflächenebene des Textes
tourt der namenlose Ich-Erzähler über acht Stationen vom Norden in den
Süden Deutschlands, wobei jede Station ein Kapitel ausmacht. Dem Modell
des amerikanischen Initiationsromans verpflichtet, weist der Text eine pika-
reske Struktur auf und zeigt den Helden auf der Suche. Zum Bild des Prota-
gonisten, der dem Holden-Caulfield-Typus folgt, gehört eine bissig-ironische
Gesellschafts- und Kulturkritik. Kennzeichnend für den modernen Adoles-
zenzroman, treibt der Held orientierungslos durch die Wirklichkeit der 90er
Jahre. Auf der Reise, die wiederum Initiationscharakter hat, macht er durch-
gängig desillusionierende Erfahrungen. Dass Krachts Figur nicht dem Habi-
tus eines Altachtundsechzigers entsprechen kann, sondern sich vielmehr von
der Übermacht dieses Kulturmusters absetzt, es destruieren muss, ist nur le-
gitim, ja es entspricht grundsätzlich der Rolle von Adoleszenz, in der »die
angeblich gesicherten Bestände der Tradition auf neue Weise zu sehen« sind.
Der Adoleszenzroman 371

So reflektiert der Ich-Erzähler über einen Taxi-Fahrer, den er der ›überkom-


menen‹ linken Protestkultur zuordnet:

»Obgleich, wenn ich es mir überlege, hätte ich gerne mit ihm geredet und ihm gesagt,
daß ich auch auf Demonstrationen gehe, nicht, weil ich glaube, damit würde man auch
nur einen Furz erreichen, sondern weil ich die Atmosphäre liebe. Es gibt nämlich nichts
besseres als den Moment, in dem die Polizei sich überlegt loszuschlagen, weil wieder
ein paar Flaschen geflogen sind, und dann gibt es einen Adrenalinrausch bei der Polizei
und auch einen bei den Demonstranten, und dann rennt die Polizei los, eine Leucht-
spurrakete fliegt über die Straße und ein paar Flaschen fliegen hinterher, und dann
stolpert ein Demonstrant, irgend so ein armes Schwein, der sich die Schnürsenkel an
seinen blöden Doc Martens nicht gescheit zugebunden hat, und dann fallen ungefähr
achtzig Polizisten über den her und prügeln auf ihn ein. Davon gibt es dann Fotos in
der Zeitung […]. Aber das würde der Taxifahrer nicht verstehen, weil er sonst ja auch
ein Kiton-Jackett tragen würde, sich die Haare anständig schneiden und kämmen und
seinen Regenbogen-Friedens-Nichtraucher-Ökologen-Sticker von seinem Amaturen-
brett reißen würde.«

Der politische Protest ist zum Pop-Ereignis geworden und wird als eine Art
ästhetisches Erlebnis genossen. Der Selbstdarstellung, der Inszenierung, der
Bricolage und der Regelverletzung kommen entscheidende Funktionen zu.
Markenprodukte wie ein Kiton-Jackett, rahmengenähte Schuhe und vor
allem die Barbourjacke stehen für den Markenfetischismus.
Für postmoderne Gesellschaften ist kennzeichnend, dass für größere
Gruppen offenere Optionen für die Lebensplanung entstehen und der Zeit-
raum der Erprobung sich verlängert. Insofern gewinnt zunehmend die soge-
nannte Postadoleszenz an Bedeutung, die mitunter bis in das vierte, fünfte
Lebensjahrzehnt hineinreicht und die daher für einzelne Adoleszenz- oder
Popromane von Bedeutung ist. So geht es etwa in Nick Hornbys Roman
High Fidelity (1999) um die Geschichte eines Postadoleszenten. Rob Fleming,
die Hauptfigur des Romans, ist bereits Mitte 30, Mitinhaber eines schlecht
laufenden Plattenladens in London, der weder Ambitionen noch Kraft hat,
sich beruflich zu verändern oder Karriere zu machen. Rob gerät in eine Le-
benskrise, als seine Freundin Laura ihn ohne erkennbaren Grund verlässt.

Szenen im Schallplatten-
laden – Verfilmung des
Erfolgsroman High
Fidelity von Nick Hornby
(Regie: Stephen Frears,
nach dem Drehbuch des
Autors, 2000)
372 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

Mit der ungewohnten Situation vermag er nicht fertig zu werden, er erkennt,


wie wichtig ihm Laura ist, und bemüht sich mit allen Mitteln, sie zurückzu-
gewinnen. Dass der Text über einen Postadoleszenten dennoch – wie schon
Fever Pitch – zu einem Kultbuch wurde, hängt neben den zeitdiagnostischen
Qualitäten damit zusammen, dass er dem Lebensgefühl einer jüngeren Gene-
ration authentisch Ausdruck verleiht.
In Alexa Hennig von Langes Relax wird von einem Wochenende erzählt,
in dem das Feiern im Zentrum steht. Erzählt wird zum einen aus der Sicht
des männlichen Protagonisten Chris, zum anderen aus der Perspektive der
weiblichen Heldin, die keinen Namen hat, sondern nur als »die Kleine« auf-
tritt. Beide Ich-Erzähler sind etwa 20 Jahre alt. Eine Handlung im herkömm-
lichen Sinne gibt es nicht, vielmehr entstehen durch den ständigen Wechsel
zwischen innerem Monolog und Figurenrede schnelle Schnitte, die einer
Film- und Clip-Ästhetik vergleichbar sind und den Leser vor die Notwendig-
keit stellen, ständig die Perspektive zu wechseln. »Mann. Ich bin ein Rock-
star«, so setzt Chris’ Monolog ein, und auch beim Abfeiern fühlt der männ-
liche Protagonist sich nach dem Einschmeißen von Pillen immer wieder wie
eine Popgröße:
»[...] Ich bin ein Rockstar und gehe jetzt tanzen. ›Jungs, ich geh jetzt tanzen!‹
›Biste sicher?‹
›Warum nicht?‹
›Du bist doch komplett zu!‹
›Kann doch trotzdem tanzen, oder nich?‹
›Wenn de meinst!‹
Klar. Tanzen geht immer. Ich gehe jetzt tanzen. Im Nebel tanzen, ich tanze jetzt im
Nebel. Ist doch nett. Ich tanze jetzt. Mit 1000 Leuten tanzen. Heute wird gefeiert und
getanzt. Tanzen, tanzen, tanzen [...].«
Ein rationaler Diskurs findet nicht statt, die Protagonisten reflektieren zwar
durchgängig, aber ihre Gedanken kreisen in ständigen Wiederholungen und
Schleifen ausschließlich um Banalitäten des Alltags, stehen in keinem direkten
Zusammenhang und stellen das Gegenteil einer Suche nach der eigenen Iden-
tität dar. Über die Welt außerhalb von Wohnung und Party-Ort und zwischen
den Wochentagen Montag bis Freitag erfährt der Leser nichts. Arbeit, Beruf,
Politik spielen keine Rolle, Generationskonflikte existieren nicht, das Ver-
hältnis zu den Eltern wird nicht explizit thematisiert, die Notwendigkeit zur
Ausleben von Rebellion fällt weg. Stattdessen steht das Ausleben von Hedonismus im Zen-
Hedonismus trum; es geht um Sex, Drogen, ›Abhängen‹, Kiffen. Ganz in diesem Sinne
notiert Chris: »Ich finde das klasse. Das Leben ist zum Feiern da«. Und er
formuliert seine Maxime so: »Du mußt doch ein bißchen Spaß haben im
Leben. Sonst hat das alles gar keinen Wert. Ich meine, solange du niemandem
wehtust, ist alles erlaubt. Was soll das? Diese ganzen blöden Gesetze.« Dass
Chris permanent etwa der »Kleinen« ›wehtut‹ und sie das Wochenende gera-
dezu fürchtet, vermag er nicht zu erkennen.
Die Spannung bei Hennig von Lange und anderen Jungautoren entsteht
nicht aus »dramaturgisch profihaften Handlungsverläufen«, sondern »aus
dem Hineinstellen der Helden in Versuchsräume, in denen die Dinge der Welt
auf sie treffen und aus der Frage, wie sie darauf reagieren« (T. Hülswit). Zu
diesem Zweck wird der ›Raum des Profanen‹ ausgeschritten und auf diese
Weise ›Neues‹ produziert. Die Mythen und Helden der »Kleinen« in Relax
entsteigen den Welten der Filme, der Comics und des obszönen Zeichenstifts.
Wenn wie hier eine Außen- und Innenwelt literarisch erfasst wird, die einzig
aus einer (An)Sammlung von Tätigkeiten wie Warten, Abhängen, Trinken,
Kiffen, Wichsen usw. besteht, wird man diese wohl als banal oder profan
Der Adoleszenzroman 373

bezeichnen können. Nur wäre es verfehlt, dies als Vorwurf an die Autorin
und den Text zu formulieren. Im Gegenteil: Man mag im ›Inventarisieren‹ ein ›Inventarisieren‹
auffälliges Merkmal der neuen Popliteratur sehen. Aufwachsen im Westen als Prinzip
Deutschlands war eben nur vermeintlich konfliktfrei, weswegen sich bei der
literarischen Verarbeitung ›Abgründe‹ auftun und sich ein offensichtlicher
Mangel an Werten und Orientierungen zeigt. Eine moderne Suche nach Iden-
tität erfolgt bei Hennig von Lange nicht oder nur verdeckt, stattdessen gibt
es ein lockeres Spiel mit den Angeboten, die eine Erlebnisgesellschaft zur
Selbstinszenierung des Ichs zur Verfügung stellt. Deshalb müssen in den Tex-
ten der ›profane Raum‹ und die Oberflächen einer Erlebnisgesellschaft prä-
sentiert werden. Dies macht das ›Neue‹ der Texte aus und prägt ihre Schreib-
weisen. Das trifft besonders für die Popromane von Benjamin von Stuckrad-
Barre zu, für die das Prinzip des Sammelns, Inventarisierens und Archivierens
zentrale Bedeutung besitzt. Auch in Soloalbum geht es um einen
(Post)Adoleszenten. Katalysator für seine Aufzeichnungswut ist die Trennung
von der Freundin, die ihn nach vierjähriger Beziehung verlassen hat. Neben
dem Verlust selbst erschüttert den Ich-Erzähler vor allem die Art der Aufkün-
digung der Beziehung. Mit »The killer in me is the killer in you« kritzelt die
Verflossene eine Zeile aus dem »Smashing Pumpkins«-Song Disarm auf das
Fax mit dem Abschiedsbrief. Damit ist einmal mehr auf die Bedeutung ver-
wiesen, die Popmusik für das Alltagsleben des Postadoleszenten besitzt. Es
geht dabei nicht nur um Anspielungen, intertextuelle Bezüge, Referenzen;
vielmehr erhält Pop(Musik) symbolische Bedeutung und wird zum Wer- Pop und seine
tungsraster, mit dem der Protagonist (mediale) ›Wirklichkeit‹ kategorisiert symbolische Bedeutung
und deutet. Songs der Britpop-Band »Oasis« bilden leitmotivisch die Über-
schriften der einzelnen Kapitel. Sie sind nicht zufällig gewählt, sondern ent-
sprechen der Stimmungslage und der Werthaltung des Protagonisten. Inso-
fern ist der Bezug zu Hornby offensichtlich, doch Stuckrad-Barre interessiert
anderes. Denn: »Der Liebeskummer ist nichts als die Lizenz für das enzyklo-
pädische Verfahren« (M. Basler). Ausgeschritten wird in Soloalbum der
Raum der Medien- und Jugendkultur der 90er Jahre, und entsprechend wer-
den auch hier Adoleszenzerfahrungen markiert, gesammelt, archiviert. Es
geht um das ganze Spektrum von Pubertäts-, Jugend- und Lebensbewälti-
gungen. Von einer adoleszenten Identitätssuche im klassischen Sinn kann
nicht die Rede sein, im Gegenteil, genau genommen werden vom Ich-Erzäh-
ler beständig Defizite auch im Hinblick auf die eigenen Person notiert.

Adoleszenzroman in der DDR


Der Erfolg von Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. darf nicht
darüber hinwegtäuschen, dass es Adoleszenz im traditionellen wie modernen
bürgerlichen Sinne in der DDR nicht gab. Wenn ›moderne bürgerliche‹ Ado-
leszenz den Prozess der Identitätssuche Jugendlicher zum Gegenstand hat
und sie als Phase der Erprobung, der Grenzüberschreitung, der Regellosig-
keit, des Tabubruchs gilt, hatte diese Form im ›geregelten‹ DDR-Alltag keinen
Platz. Es ist daher kein Zufall, wenn Uwe Johnsons postum erschienener
Romanerstling Ingrid Babendererde (1956/1985) in der erlebten Entfrem-
dung der jugendlichen Protagonisten thematisch wie strukturell direkt an
den Adoleszenzroman der Jahrhundertwende anknüpft. Fritz Rudolf Fries’
Der Weg nach Oobliadooh (1966/1989) kann nicht nur als ein früher Ado-
leszenzroman gelten, sondern auch als erster Poproman in der DDR, der dort
allerdings keine Veröffentlichungschance hatte. Arlecq und Paasch, Fries’
junge Helden, genießen die Wochen, die ihnen zwischen Studienabschluss Fritz Rudolf Fries
374 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

und Berufseinstieg bleiben. Sie schwelgen in Jazz-Rhythmen, konsumieren


reichlich Alkohol, blödeln, reden Nonsens, verulken Staatsbeamte, haben
Kontakt zu ›Formalisten‹, ›Revisionisten‹ und ›Staatsfeinden‹. »I knew a
wonderful Princess in the land of Oobliadooh«, eine Zeile aus dem Stück des
Jazz-Trompeters Dizzy Gillespie, unterstreicht die Sehnsucht der beiden. Die
Spezifik einer ›real-sozialistischen‹ Adoleszenz bringt Arlecq, der »sich nicht-
gelebte Biographien« notiert, »um zu sehen, was dann noch übrigbliebe«, so
auf den Punkt: »Also: keine psychologischen Konflikte großen Stils. Die Ge-
nerationsfrage hatte den Krieg nicht überdauert. Wo gab es den jungen
Mann, der sich bildend die Welt bereist... Was blieb ließ sich zu Papier brin-
gen. Geburtsurkunde, Meldelisten, Polizeikarten, Ausweise, Mitgliedskarten,
Lesekarten, eine Examensbescheinigung, eine Eintragung auf dem Finanzamt
zwecks Steuerklassifizierung, eine Sozialversicherung für Freischaffende. Erst
die Krankengeschichten gaben Profil.« Der Unterschied zwischen westlicher
und östlicher Adoleszenz wie ihrer literarischen Darstellungen ist damit
frühzeitig – und bis gültig an das Ende der DDR – benannt: Unter Bedin-
gungen eines ›selektiven Moratoriums‹ folgt die Bildungszeit einem festge-
legten Zeitplan, aus dem nicht ausgebrochen werden kann; der Übergang ins
Arbeitsleben ist genau vorgeplant; der Raum für Jugend als einer Zeit von
Krisen und der chaotischen Suche ist stark eingeschränkt.
An späteren Texte wie Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1973)
oder Volker Brauns Die unvollendete Geschichte (1975/1988) zeigt sich, wie
Volker Brauns Adoleszenz in der DDR weiter eingeengt und kontrolliert wird. Volker Braun
»Unvollendete lässt seine jugendliche Protagonistin ganz bewusst aus der »Welt der Gewöh-
Geschichte« nungen« herausfallen und sie Stationen eines »gebremsten Lebens« erleben.
Schon die Fabel der Erzählung barg gesellschaftlichen Sprengstoff: Karin, die
Tochter eines Vorsitzenden des Rates des Kreises, soll sich von ihrem Freund
trennen, denn der »habe irgendwas vor«. Die Staatssicherheit ermittelt – völ-
lig unbegründet – gegen Frank wegen des Verdachts der ›Republikflucht‹; die
Vorwürfe werden jedoch nicht ausgesprochen und bleiben undurchschaubar.
Die grundlos in Gang gesetzten staatlichen Eingriffe zerstören die beiden
jungen Leute beinahe, und das zunächst anonym auftretende Staatswesen
erweist sich auch durch das Verhalten seiner Repräsentanten als unmensch-
lich. Durch Anspielungen und Zitate kommt es zu einer Konfrontation von
›real-sozialistischer‹ Wirklichkeit mit Idealen und Zukunftsversprechen der
DDR-Anfangsjahre. Es entsteht ein Riss, der bis in die Privatsphäre hinein-
wirkt. Mit dem ›Wibeau-Ton‹ war der zunehmenden Entfremdung allerdings
nicht mehr beizukommen; Brauns jugendliche Heldin liest in einem Text, der
eindeutig als Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. auszumachen ist,
und setzt sich von ihm ab. So warnt diese Adoleszenznovelle – immer noch
der Utopie einer sozialistischen Gesellschaft verpflichtet – geradezu beschwö-
rend vor dem Zerfall. Die junge Generation, die an diesen Staat glaubt, die
gesetzten Normen anerkennt und die proklamierten Werte des Sozialismus
verinnerlicht hat, gerät durch den Staat und seine Repräsentanten in eine
existenzielle Krise. An Karin wird gewissermaßen stellvertretend der Weg der
Emanzipation eines größeren Teils der DDR-Bevölkerung bis zum Herbst
1989 vorweggenommen.
Rolf Schneiders Reise nach Jaroslaw (1974), eine Adaption des Plenzdorf-
Adoleszenztexte Musters mit weiblicher Hauptfigur, zeigt einmal mehr die DDR-spezifische
aus der DDR Variante von Adoleszenz mit ihrer staatlichen Reglementierung. Fragen ado-
leszenter Identitäts- und Ich-Findung im weitesten Sinne spielen auch in
Texten von Günter Görlich (Den Wolken ein Stück näher, 1971), Gerhard
Holtz-Baumert (Trampen nach Norden, 1975), Joachim Walther (Ich bin
Der Adoleszenzroman 375

nun mal kein Yogi, 1975), Hans Weber (Bin ich Moses, 1976), Benno Pludra
(Insel der Schwäne, 1985), Jutta Schlott (Roman und Juliane, 1985), Gunter
Preuß (Feen sterben nicht, 1987) eine Rolle. Sie alle erschienen in Jugend-
buchverlagen. In den späten 70er Jahren knüpfte Lutz Rathenow in einigen
kurzen Erzählungen wieder an Fries an und nahm zugleich Pop-Elemente des
Westens auf. In der Sammlung Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet
– 1980 nur in der Bundesrepublik erschienen – findet sich die Kurzgeschichte
Ohne Anfang; Janis Joplin, Jimi Hendrix und ihre Songs werden zitiert und
zur Grundlage für die Inszenierung jugendlicher Rebellion gegen den Staat.
Mit Jurij Kochs Augenoperation (1988) und Cordt Berneburgers (d.i.
Thomas Brussig) Wasserfarben (1990) liegen zwei Romane vor, die zu Ende
der DDR den für den ›Real-Sozialismus‹ brisanten Fragen nach Adoleszenz-
krisen Jugendlicher nachgehen. Wasserfarben bietet eine DDR-typische Vari-
ante des ›selektiven Moratoriums‹ am Ende der 80er Jahre. Schon zu Beginn Adoleszenz in der
des Romans wird aus der Sicht des jugendlichen Protagonisten Anton Glieni- späten DDR
cke die Institution Schule bewertet und festgestellt, dass es sich um eine
»ziemlich durchschnittliche EOS« (Erweiterte Oberschule) handle, die
»nichts Außergewöhnliches darstellt«. Dagegen suggeriert der Direktor, hier
werde die »Elite der Nation« und die »Führungsgarde von morgen herange-
zogen«. Ein Vertrauensverhältnis zwischen Lehrern und Schülern gibt es
kaum. Wer wie Anton politische Maßgaben zur Ableistung eines längeren
Wehrdienstes nicht erfüllen will und noch keinen Studienwunsch hat, ist für
den ›real-sozialistischen‹ Direktor Schneider ein »Luftikus«. Die im Bildungs-
moratorium unter modernen Verhältnissen anerkannte Suche nach dem eige-
nen Ich wird unter den selektiv modernen Bedingungen des Staatssozialismus
als »nicht normal« eingestuft.
Hinzu kommt, dass anders als im westdeutschen Bildungsmoratorium in
der DDR die jugendliche Teilhabe an Öffentlichkeit nur begrenzt möglich ist;
jugendliche Öffentlichkeit wird vielmehr durch Kontrollinstanzen (Schule,
Pionierorganisation, FDJ) reglementiert. Die Erfahrung von Beengung und
Begrenzung und der sich daraus ergebende Ausbruchsversuch – zumeist in
Form einer unvermittelten Reise oder Flucht – sind deshalb symptomatisch
für jugendliterarische Adoleszenz in der DDR. Ein weiteres Merkmal der
Adoleszenztexte in der DDR ist die Politisierung des Alltags. Entsprechend Politisierung
sind die Konflikte, die die jugendlichen Protagonisten in der Adoleszenz er- des Alltags
fahren, Folge einer militanten Politisierung des Lebens, der staatlichen Kon-
trolle und Beschneidung individueller Lebensstile sowie autonomer jugendli-
cher Welten. Dadurch werden selbst privateste Probleme zu politischer Be-
deutsamkeit aufgebläht. Das Besondere am Ende der 80er Jahre besteht nun
darin, dass ein Protagonist wie Anton Glienicke in Brussigs Wasserfarben
das Wissen um seine Machtlosigkeit bereits als gegeben hinnimmt und weiß,
wie hilflos er dem ausgeliefert ist. Aus diesem Grunde verzichtet er auf Ge-
genbewegung, Rebellion, Konfrontation; es erscheint ihm nützlicher, sich
beobachtend in die Nische zurückzuziehen. Das geht allerdings nur, wenn
man »unauffällig« bleibt und nicht »aneckt«. Jugendliche Spontaneität ist
seine Sache nicht, weil er nüchtern die Möglichkeiten analysiert. In dieser
Hinsicht sind Antons Wertorientierungen hedonistisch-materialistisch orien-
tiert, deuten Veränderungen in der Mitte der 80er Jahre an und nehmen das
Ende der DDR vorweg.
376 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

Ausblick – Kindheit und Adoleszenz in der Erinnerung


Neben den Texten von Stuckrad-Barre, Lebert und Hennig von Lange wur-
den Ende der 90er Jahre vor allem zwei ›dokufiktionale‹ Kindheits- bzw.
Adoleszenztexte zu Bestsellern unter der jüngeren Generation: Florian Illies’
»Generation Golf« Generation Golf (2000) und Jana Hensels Zonenkinder (2002). Beide Texte
und »Zonenkinder« kann man auch als ›kollektive Autobiographien‹ bezeichnen, es handelt sich
also im strengen Sinne nicht um Adoleszenzromane. Dennoch signalisieren
sie den Wandel der Adoleszenz wie ihrer literarischen Darstellung. Florian
Illies’ Ich-Erzähler in Generation Golf notiert folgende westtypische Genera-
tionserfahrung:
»Mir geht es gut. Es ist Samstag Abend, ich sitze in der warmen Wanne, im Schaum
schwimmt das braune Seeräuberschiff von Playmobil. Ich schrubbe mit der Bürste
meine Knie, die vom Fußballspielen grasgrün sind. Das Badezimmer ist unglaublich
heiß, seit zirka drei Uhr nachmittags heizt meine Mutter vor, damit ich mich nicht er-
kälte. Nachher gibt’s Wetten, dass ...? mit Frank Elstner.«
Wenig später wird vom »Ich« zum »Wir« gewechselt:
»Wir vermuteten also, daß auch die weiteren Geheimnisse des Lebens vor allem etwas
mit der Kleidung zu tun hatten. Der zentrale Einschnitt war demzufolge, dass wir uns
plötzlich alle weigerten, im Winter Pudelmützen zu tragen und weiterhin, mit unseren
Müttern Hosen und Nickis kaufen zu gehen.«
Florian Illies spricht für eine Gemeinschaft, ausgedrückt werden gruppenbe-
zogene Erfahrungen und Erinnerungen. Das macht eine Festlegung auf Ge-
nerationstypisches möglich. Dabei werden eine Kindheit und Adoleszenz er-
innert, denen jegliche existenzielle Störungen fehlen; es gibt keine radikalen
Einschnitte und Traumata. Die Basis für diese Entindividualisierung kann
man darin sehen, dass die Generation der 30-Jährigen ›Kinder des Friedens‹
sind, die im Schatten der Mauer und in einer als ›Biedermeier‹ empfundenen
Zeit aufwuchsen. Generationsprägend für größere Teile dieser jungen Gene-
ration war allem Anschein nach die Auffassung, dass Geschichte selbst zum
Stillstand gekommen sei.

Cover von Generation


Golf und Zonenkinder
Der Adoleszenzroman 377

Illies’ dokumentarischer Erinnerungstext unterscheidet sich nur wenig von


einer Vielzahl fiktionaler Geschichten, die ab Ende der 90er Jahre von Kind-
heit und Adoleszenz in der alten Bundesrepublik erzählten. Dazu gehören
Texte wie Tobias Hülswitts Saga (2000), Kolja Mensings Wie komme ich
hier raus? Aufwachsen in der Provinz (2002), Peter Renners Griff in die Luft
(2003), Marcus Jensens Oberland (2004), Sven Regners Neue Vahr Süd Westdeutsche Kindheit
(2004). Erzählt wird auch in diesen Texten von einem geradezu paradiesisch als Idylle
anmutenden Aufwachsen, einer Kindheit, die auf den ersten Blick so idyllisch
erscheint wie jene, die Astrid Lindgren in ihren ›Bullerbü‹-Büchern entworfen
hat. Selbst in der Adoleszenz fehlen Risse und Brüche. Bei genauerer Betrach-
tung zeigt sich jedoch: Mit dem erinnerten Raum der Provinz wird eine Art
›ethisches Modell‹ entworfen. Vor dem Hintergrund einer permanenten Ver-
unsicherung in der Gegenwart des neuen Jahrhunderts wird sich der eigenen
Kindheit und Jugend sentimentalisch als verlorenes Paradies erinnert. Burk- Kindheit als verlorenes
hard Spinnen hat mit einigem Recht vermutet, dass die »absolute oder uni- Paradies
verselle Kindheit« als »Metapher für ebenjenen Zustand einer kindlichen
Schicksalslosigkeit« steht, die man der »Generation der Nach-68er« gewis-
sermaßen verordnet hat und in der sich die jungen Leute letztlich »ebenso
geborgen wie unbehaust« fühlen. Die erinnerte Adoleszenz in der Provinz ist
somit Ausdruck des »Unbehagens an einer Gegenwart, die als immer unsi-
cherer empfunden wird«. Genau diese neue Unsicherheit mag auch ein
Grund dafür sein, dass selbst die regulierte Kindheit und Adoleszenz in der
DDR von der jüngeren Autorengeneration, wie in Jana Hensels autobiogra-
phischem Bericht Zonenkinder (2002), fast schon verklärt dargestellt wird.
Offensichtlich wird, dass es ab Ende der 90er Jahre in Literatur wie Film vor
allem Adoleszenzgeschichten sind, die von der untergegangenen DDR erzäh-
len. In Sonnenallee oder Good Bye, Lenin, in NVA oder in Der rote Kakadu
kann man teilhaben am ›Verlachen‹ und an einer ›Komödisierung‹ der DDR. ›Komödisierung‹
Nicht zu Unrecht wurde angesichts der erfolgreichen Filme davon gespro- der DDR
chen, dass der ›Reiz des Absurden‹ und die travestiehafte Überzeichnung
diese Texte so erfolgreich und eine genussvolle Verkostung von DDR mög-
lich machen. Thomas Brussig suchte dafür in seiner Adoleszenzgeschichte
Sonnenallee (1999) eine einfache Begründung. »Denn die Erinnerung«, so
lässt er seinen Ich-Erzähler sagen, »vollbringt beharrlich das Wunder, einen
Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, in dem sich jeder Groll verflüch-
tigt und der weiche Schleier der Nostalgie über alles legt, was mal scharf
und schneidend empfunden wurde«. Weitere Texte, in denen DDR-Adoles-
zenz Gegenstand des Erzählens ist, sind Kathrin Aehnlichs Wenn ich groß DDR-Adoleszenz
bin, flieg ich zu den Sternen (2003), Jakob Hein Mein erstes T-Shirt (2002) in der Erinnerung
oder Claudia Ruschs Meine Freie Deutsche Jugend (2002). Aber auch von
diesen Texten ist keiner in einem Kinder- und Jugendbuchverlag erschienen.
Dies trifft ebenso für jene erfolgreichen Romane zu, die exemplarisch für
die Darstellung von postkommunistischer Adoleszenz stehen, wie Dorota
Masłowskas Schneeweiß und Russenrot (2002) und Clemens Meyers Als wir
träumten (2005). Beide Romane sind ebenfalls nicht in Jugendbuchverlagen
erschienen und gehören nicht zur spezifischen Jugendliteratur. Die polnische
Jungautorin Dorota Masłowska erhielt für ihren Adoleszenzroman – wie
1997 Alexa Hennig von Lange für Relax – 2005 den Deutschen Jugendlite-
raturpreis. In der Jurybegründung wurde hervorgehoben, dass der Roman
»das Lebensgefühl einer verunsicherten jungen Generation auf der Suche
nach Sinn, Werten und Liebe« offenbart. Erzählt wird von jungen Leuten im
postkommunistischen Polen des Jahres 1999. Die Protagonisten sind einsam
und haben keine konkreten Pläne für die Zukunft. Obwohl sie sich in der
378 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

Adoleszenzphase befinden, findet keine Suche nach der eigenen Identität


statt, und es geht auch nicht um die Entfaltung eines selbständigen Ichs. Viel-
mehr dominieren – wie in postmodernen Adoleszenztexten aus den USA –
Hedonismus und die Suche nach Erlebnissen. Dabei spielen Sex, Drogen und
Adoleszenz in post- Alkohol eine zentrale Rolle. Die Verhältnisse im postkommunistischen Polen
kommunistischen werden vom Ich-Erzähler Andrzej – er nennt sich der ›Starke‹ – zynisch kom-
Gesellschaften mentiert. Doch die jungen Helden rebellieren nicht gegen die herrschenden
Normen oder die Welt der Erwachsenen, sondern sind apathisch und nahezu
gelähmt. Hinter der auf der Darstellungsebene beschworenen ›Action‹ steckt
Bewegungslosigkeit. Andrzej glaubt, dass es für ihn und seine Freundin
Magda, die ihn verlassen hat, keine Zukunft gibt. So reflektiert er bereits am
Beginn des Textes: »All meine Gefühle leben in mir auf. Der ganze Schlamas-
sel. Der soziale und wirtschaftliche im Land«. An anderer Stelle resümiert er:
»Jetzt in diesem Moment zerbreche ich den Stab, obwohl ich damit eben ge-
rade noch die Pläne für unsere Zukunft in den Sand geschrieben habe, die
Zahl unserer Kinder, die Kosten für Miete, Wäsche, für Hochzeit und Beerdi-
gung, alles für die gemeinsame Zukunft. Jetzt bringe ich es fertig und mache
all das mit einem Strich zunichte, mache es ungeschehen.« Auch seine Freun-
din, Magda, sieht keine Perspektive und klagt: »Ach Starker, ich würde so
gern weg von hier. [...] Denn in diesem Land gibt es keine Zukunft, unsere
Liebe hat hier keine Chance, wohin du guckst, überall Gewalt […].«
In der Begründung zur Preisverleihung war auch die Rede vom »faszinie-
renden Sog einer ungebändigten, kraftvollen Sprache, die in Metaphern,
hochpoetischen Bildern und Neologismen schwelgt«. Mit dieser Bewertung,
die sich auf die deutsche Übersetzung bezieht, sind die zahlreichen jugend-
sprachlichen Sprechstile gemeint, die die Autorin und der Übersetzer Olaf
Kühl jeweils über den jugendlichen Ich-Erzähler fixieren. Einer äußerst spar-
samen Gestaltung sozialer Räume steht eine Sprache der Figuren gegenüber,
die reflexiv die Wahrnehmung der Wirkung gesellschaftlicher Zustände auf
junge Menschen, ihre Lebensräume und die Lebensgestaltungsmöglichkeiten
vermittelt.
Auch in Clemens Meyers Roman Als wir träumten wird von einer ›verlo-
renen Generation‹ erzählt, die ohne Illusionen zwischen Tristesse, Zukunfts-
angst und Depression pendelt. Die jugendlichen Protagonisten geraten mit
der Wende des Jahres 1989 in eine neue Welt. Aus DDR-Pionieren werden
BRD-Halbstarke, »Kämpfer ums Erwachsenwerden, ums Revier, um das
Reinkommen in die Gesellschaft« (E. Falcke). Erzählt wird die Adoleszenz
von sechs Freunden. Daniel, Rico, Mark, Paul, Walter und Stefan wachsen
im Leipzig der Nachwendezeit auf. Drogen, Autodiebstähle, Gewalt und Ar-
resterfahrungen sind prägend für diese jungen Leute, die gemeinsam von
einem anderen Leben träumen; doch sämtliche Träume zerplatzen.
Neue Adoleszenz- Zu den aktuellen Entwicklungen des Adoleszenzromans, von Texten also,
romane und Deutscher die vom ›Abschied von der Kindheit‹ erzählen und in Jugendbuchverlagen
Jugendliteraturpreis erscheinen, lässt sich feststellen: Die literarisch innovativen Texte ab Ende
der 1990er Jahre stammen fast durchweg aus dem englischsprachigen Raum
und haben sich in Übersetzungen auf dem deutschen Buchmarkt durchge-
setzt. Dies unterstreichen Nominierungen für die Auswahlliste zum Deut-
schen Jugendliteraturpreis oder die Auszeichnungen mit diesem Preis. Dazu
zählen die Adoleszenzromane des Briten Kevin Brooks, der für Lucas (2006)
den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt und mit seinen neuesten Adoles-
zenztexten Candy (2007) und Kissing the rain (2007) als ein herausragender
Autor gelten kann. Vergleichbares trifft auf den Australier Markus Zusak zu,
der für den Adoleszenzroman Der Joker (2007) mit dem Deutschen Jugend-
Mädchenliteratur 379

literaturpreis ausgezeichnet wurde. Auch die Amerikanerin Kate Morgenroth


landete mit ihrem Roman Ruben (2005) auf der Auswahlliste zum Deutschen
Jugendliteraturpreis. Bei Texten von deutschsprachigen Autoren, die von ju-
gendlicher Adoleszenz erzählen, zeichnet sich seit Ende der 90er Jahre erneut
die Tendenz ab, den Adoleszenzroman mit der problemorientierten Jugendli-
teratur sowie dem komischen Jugendroman zu mischen. Zu denken ist an
Romane wie Jochen Tills Ohrensausen (2002, Deutscher Jugendliteraturpreis
2003), Kristina Dunkers Schmerzverliebt (2003), Benjamin Quabecks Nichts
bereuen (2002) und insbesondere an die Texte von Christian Bieniek (Total
verzaubert, 2003; 15, Jungfrau, Schlampe, 2003; Knutschen erlaubt, 2004).
Als der im deutschen Sprachraum wohl vielseitigste Autor von Adoleszenz- Zoran Drvenkar
texten kann Zoran Drvenkar gelten, der mit Niemand so stark wie wir
(1998) und Der Bruder (1999) den Durchbruch schaffte und seitdem eine
Reihe weiterer Texte geschrieben hat, die zur Gattung des modernen bzw.
postmodernen Adoleszenzromans gehören wie touch the flame (2001) und
Cengiz und Locke (2002).

Mädchenliteratur
Dagmar Grenz

Mädchenliteratur 1918–1970
In Anlehnung an Emmy von Rhodens gattungsprägenden Mädchenroman
Der Trotzkopf (1885) entstehen in den 20er und 30er Jahren die großen
Mädchenbuchserien, die die Protagonistin von der Kindheit bis zum Groß-
mutteralter begleiten und sich teilweise bereits an jüngere Mädchen wenden
(Else Ury: Nesthäkchen, 10 Bde., 1918–25; dies.: Professors Zwillinge, 5
Bde., 1927–30; Magda Trott: Goldköpfchen, 11 Bde., 1928–39; dies.: Pucki,
12 Bde., 1935–41; dies.: Pommerle, 6 Bde., 1926–39). Fortgeführt werden
ebenso die nationalistischen und militaristischen Tendenzen der Mädchenli-
teratur des Ersten Weltkriegs (Nesthäkchen und der Weltkrieg). Eine konser-
vative Entsagungs- und Verzichtsideologie nimmt den ›heroischen Realismus‹
der nationalsozialistischen Literatur vorweg. In Urys Jugend voraus! (1933)
wird der Nationalsozialismus sogar als politischer Retter begrüßt.
Die spezifische NS-Mädchenliteratur präsentiert ein Frauenbild, das im NS-Mädchenliteratur
Unterschied zur Backfischliteratur zunächst auf eine größere Wirklichkeits-
nähe und eine tendenzielle Auflösung des weiblichen Geschlechtscharakters
hindeutet. Allerdings erfolgt dies im Kontext einer »reaktionären Moderne«
(Nassen). Das ideologisch festgefügte Frauenbild – die Frau als Mutter und
unbezahlte Arbeitskameradin des Mannes – wird lediglich insoweit für als
männlich konnotierte Eigenschaften geöffnet, wie es den jeweiligen poli-
tischen und ökonomischen Erfordernissen der NS-Herrschaft entsprach. Bis
1939 wurde auch die bürgerliche Mädchenliteratur weiterhin verlegt. Einige
Mädchenbuchserien wurden weitergeschrieben oder entstanden erst in dieser
Zeit, wobei sie Züge der NS-Ideologie übernehmen.
Neben diesem breiten Strom der Mädchenliteratur gibt es auch eine Reihe
neuer Ansätze. So entsteht nach 1918 eine größere Anzahl von kommunisti-
schen und sozialdemokratischen Mädchenbüchern. Die dänische Autorin
Karin Michaelis stellt in den Gunhild- (4 Bde., 1925–1931) und den Bibi-
380 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

Büchern (6 Bde., 1929–1938) selbstbewusste Mädchenfiguren dar, die sich


keinem Anpassungsprozess unterwerfen müssen. Die deutsch-jüdische Mäd-
chenliteratur reicht bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein; sie erlebt
in den 30er Jahren sogar eine Hochphase. Im Exil schließlich erscheint Kurt
Helds Roman Die rote Zora (1941), in dem ein Mädchen die Anführerin ei-
ner Jugendbande ist.
1945–1970 Auch das Gros der Mädchenliteratur bis zum Beginn der 70er Jahre und
darüber hinaus ist weiterhin von der Backfischliteratur und ihren modernen
Varianten geprägt. Zu den Neuauflagen der alten Titel und dem Fortschrei-
ben von vor 1945 begonnenen Serien (Emma Gündel: Elke, 10 Bde., 1937–
1953) treten neue Reihen wie Bettina (10 Bde., 1951–1956) und Geli (5
Bde., 1951–1955) von Hans Erich Seuberlich. Außerdem gibt es Serien, die
fröhliches Internatsleben, Streiche, Mädchenfreundschaft und Probleme mit
Außenseiterinnen darstellen (Enid Blyton: Hanni und Nanni und Dolly,
beide ab 1965; Marie Louise Fischer: Ulrike, 3 Bde., 1963–1965).
Der Grundtenor ist weiterhin die Bestimmung der Frau als das zweite
Geschlecht, das sein Leben auf Andere auszurichten hat und sein Glück dar-
aus bezieht, Andere glücklich zu machen (Dahrendorf 1974). Die idealty-
pischen Eigenschaften des Mädchens sind dem weiblichen Geschlechtscha-
rakter verpflichtet (Emotionalität, Passivität), die Familie ist hauptsächliches
Bezugsfeld und Ort der Geborgenheit, die Sexualität bleibt weiterhin tabui-
siert. Eine Berufsausbildung des Mädchens ist allerdings selbstverständlich
Titel aus der Reihe geworden; dabei stehen die Sozialberufe an erster Stelle, gefolgt von künstle-
Bettina von Hans Erich rischen und hauswirtschaftlichen Berufen.
Seuberlich Auch hier fallen einige Titel aus dem üblichen Rahmen. Merkmale sind
eine größere Selbständigkeit der Mädchenfigur, eine vorsichtige Lockerung
des Sexualtabus und Ansätze zur Darstellung des Arbeitslebens. In Kati in
Amerika (1952) von Astrid Lindgren macht die 21-jährige Hauptfigur, von
Beruf Sekretärin, in Begleitung ihrer Tante eine USA-Reise; sie ist neugierig,
offen, selbstbewusst, kritisch, witzig und (selbst-)ironisch. Helga Strätling-
Tölle … ganz einfach Doko (1955) schildert das Alltagsleben eines Mäd-
chens, das wegen der kleinen Rente ihrer Mutter, einer Kriegerwitwe, vom
Gymnasium in eine Lehre als Verkäuferin wechseln muss. Statt um eine Ent-
wicklungs- und Anpassungsgeschichte geht es hier um die Darstellung weib-
licher Adoleszenz mit ihren Fragen, ihrem Suchen und ihren Unsicherheiten.
Gesellschaftspolitische Fragen werden angeschnitten und erste sexuelle Er-
fahrungen (sowie Trennung) dargestellt; das Ende ist offen. In den 60er Jah-
ren schließlich wird das sexuelle Tabu in einzelnen Titeln weiter gelockert
(Esther Gallwitz: Unter dem Wetterengel um acht, 1963) und auch unge-
wollte Schwangerschaft thematisiert (Lisa Heiss: Das Mädchen im Feuer,
1964).

Mädchenliteratur und Frauenbewegung


Seit etwa Mitte der 70er Jahre vollzieht sich in der Mädchenliteratur ein
tiefgreifender Wandel. Er steht in engem Zusammenhang mit der seit den
60er Jahren einsetzenden Bildungsexpansion, der Studentenbewegung von
1968 und vor allem mit der sich seit Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre
herausbildenden (zweiten) Frauenbewegung. So wie diese sich in die beiden
Phasen des emanzipatorisch-egalitären und des Differenzfeminismus unter-
gliedern lässt, so gibt es auch in der Mädchenliteratur, zeitlich um ein paar
Jahre gegenüber der Frauenbewegung versetzt, zwei Richtungen, die sich,
auch wenn sie sich etwas überlappen, nacheinander ausbilden: die emanzipa-
Mädchenliteratur 381

torische Mädchenliteratur (seit ca. 1975) und die psychologisch orientierte


Mädchenliteratur (seit ca. 1985). Obwohl die Zahl der einschlägigen Titel
nicht sehr groß ist, hat dieser Wandel dennoch Auswirkungen auf einen be-
trächtlichen Teil der Mädchenbuchproduktion überhaupt.
Kennzeichen der Frauenbewegung der frühen 70er Jahre sind die Erfor-
schung der Zusammenhänge, die zu der jahrtausendelangen Unterdrückung
der Frau und zur Ideologie der Weiblichkeit geführt haben, und die Forde-
rung nach der Emanzipation der Frau im Sinne von Selbstbestimmung und
Mündigkeit. Dafür wurde die Gleichstellung mit dem Mann nicht nur im
formalen Sinn, sondern auch materiell als wesentlich erachtet, vor allem in
Bezug auf Bildung, Ausbildung, Beruf und Rechtsstellung. Wie die Befreiung
der Frau zu erreichen sei, wurde unterschiedlich gesehen. Für die Mädchenli-
teratur wurde nicht die marxistisch-antikapitalistische, sondern die bürger-
lich-reformerische Richtung bestimmend, der es darum ging, wie sich die
Frau der bürgerlichen Mittelschicht von den sie unterdrückenden Mechanis-
men befreien könne. Zugleich wurden auch genuine Gedanken der 68er Be-
wegung – meist vermittelt über die Frauenbewegung – für die Mädchenlite-
ratur bedeutsam, so die Kritik an der patriarchalisch-autoritären Kleinfami-
lie, die Forderung nach repressionsfreier Erziehung und das Recht auf die
eigene Sexualität. Dieses Recht, verbunden mit der Forderung nach Selbstbe-
stimmung über den eigenen Körper, war eine zentrale Forderung der Frauen-
bewegung, vor allem auch im Kampf gegen den Abtreibungsparagraphen.
Weitere Themen waren die Kritik an der (bürgerlichen) Mutter sowie gene-
rell die ideologiekritisch-feministische Auseinandersetzung mit den geltenden
Weiblichkeitsbildern. Aus der Forderung nach Gleichberechtigung ergab sich
die Bedeutung der Themen Bildung, Ausbildung, Studium und Beruf.

Emanzipatorische Mädchenliteratur
Der Begriff der emanzipatorischen Mädchenliteratur bezieht sich auf die
Themen, die unter dem Einfluss der Frauenbewegung in die Mädchenlitera-
tur aufgenommen wurden, und auf die Intentionen, mit denen diese Literatur
verfasst wurde, also dem expliziten oder impliziten Anspruch, die Emanzipa-
tion der Leserinnen zu befördern oder sie auf dem Weg der Emanzipation zu
unterstützen.
Die kritische Hinterfragung von Vorstellungen, wie das Mädchen und die
Frau zu sein haben, erfolgt vor allem in Lesebüchern, Anthologien und Jahr-
büchern; sie schreiben gezielt gegen das an, was eine wichtige Funktion des
bisherigen Mädchenbuchs war: die Vermittlung des weiblichen Geschlechts-
charakters (Heike Doutiné u. a.: Mädchenbuch auch für Jungen, 1975; Hedi
Wyss, Isolde Schaad: Rotstrumpf, 1975–1982; Ingrid Bachér: Das war doch
immer so, 1976; Hedi Wyss: Das rosarote Mädchenbuch, 1976). In Mäd-
chenromanen wird offen über erotisch-körperliche Gefühle und Erfahrungen
gesprochen und lustvoll erlebte Sexualität mit sich selbst oder dem jungen
Mann dargestellt (Christine Nöstlinger: Stundenplan, 1975; Helma Fehr-
mann, Peter Weismann: Und plötzlich willste mehr, 1979; Mirjam Pressler:
Bitterschokolade, 1980; Nöstlinger: Pfui Spinne!, 1980). In Pfui Spinne! er-
lebt die 15-jährige Christine ihren ersten Beischlaf mit einer faszinierenden
Urlaubsliebe und wendet sich anschließend wieder dem etwas unbeholfenen
Freund aus der Heimat zu. Ihr wird das Recht zugestanden, in zwei junge Cover-Rückseite von
Männer gleichzeitig verliebt zu sein und zwischen ihnen wählen zu können, Christine Nöstlingers Pfui
ein von Nöstlinger auch sonst, in Stundenplan und der Gretchen-Sackmeier- Spinne! (1980)
Trilogie (1981, 1983, 1988), gern genutztes Motiv. Oder die Protagonistin
382 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

nimmt sich wie in Und plötzlich willste mehr das Recht, mit einem anderen
Begleiter als dem Freund zu einem Fest zu gehen. Mit der Darstellung der
Sexualität wird gleichzeitig die Fixierung des traditionellen Mädchenbuchs
auf Liebesehe und Liebesbeziehung gelockert – ein Motiv, das die Mädchen-
literatur seit dem Backfischbuch entscheidend geprägt hat. Sexuelle Erfah-
rungen, Verliebtheit und Liebe erscheinen nun als wichtige Erfahrungen der
weiblichen Adoleszenz, ohne an eine dauerhafte Beziehung oder zukünftige
Ehe gekoppelt zu sein. Das Mädchen trennt sich – vorübergehend oder end-
gültig – von seinem Freund, weil es in der Beziehung mit ihm sich selbst zu
sehr vernachlässigt hat, und entscheidet sich für eine bessere Schulbildung,
Weiterbildung oder einen Berufswechsel (Wolfgang Körner: Ich gehe nach
München, 1977; Irina Korschunow: Anruf von Sebastian, 1981; Dagmar
Chidolue: Aber ich werde alles anders machen, 1981). Auch ungewollte
Schwangerschaft wird thematisiert (Gunnel Beckman: Drei Wochen über die
Zeit, 1974; Karin Bolte: Ulla, 16, schwanger, 1979; Gun Jacobson: Peters
Baby, 1979), wobei auch die Möglichkeit der Abtreibung erwogen, letztlich
Familienkonflikte aber verworfen wird. Die Familie erscheint nicht mehr als Ort der Geborgen-
heit und Harmonie; es werden Spannungen, Konflikte, Hilflosigkeit beschrie-
ben, freilich auch emotionale Wärme. Autoritäre Verhältnisse werden in
Frage gestellt wie in Nöstlingers Ilse Janda (1974) oder Korschunows Anruf
von Sebastian (1981) und kleinbürgerliche Familienidyllen kritisch beleuch-
tet, so bei Nöstlinger, Pressler oder Chidolue. Die Mutter ist aufgrund ihres
Lebens als Hausfrau, Ehefrau und Mutter keine Identifikationsfigur mehr.
Die adoleszente Tochter begegnet ihr bisweilen sogar mit Verachtung und
Hass: »Die Hinterseite der Mutter ist scheußlich […]. Der Hintern ist kariert.
Ein karierter Breitarsch, plattgedrückt am Sessel, quillt kariert unter den
Armlehnen durch« (Nöstlinger: Stundenplan). In anderen Büchern wird, wie
in Nöstlingers Gretchen-Sackmeier-Trilogie oder Korschunows Anruf von
Sebastian, von einer parallelen Emanzipation von Tochter und Mutter er-
zählt.
Gesellschaft Die emanzipatorische Mädchenliteratur befasst sich kritisch mit sozialen,
und Geschichte gesellschaftspolitischen und historischen Themen. So werden autoritäre
Strukturen in Schule und Gesellschaft in Frage gestellt, Vorurteile gegenüber
Fremden (Renate Welsh: Ülkü das fremde Mädchen, 1973) oder die men-
schenunwürdigen Unterkünfte von Gastarbeitern angeprangert (Mira Lobe:
Die Räuberbraut, 1974). Etwa um 1980 kommen Mädchenbücher hinzu, die
von der Friedens- und Ökologiebewegung beeinflusst sind oder Lebenszu-
sammenhänge innerhalb der Frauenbewegung darstellen (Wyss: Welt hinter
Glas, 1979; Karin Bolte: Ulla, 16, schwanger; Dagmar Scherf: Trau dich und
träum’, 1983; Korschunow: Anruf von Sebastian, 1981; Willem Capteyn:
Sanne, 1984). Historisch ausgerichtet sind Johanna (1979) von Welsh, eine
Erzählung aus dem Leben eines Dienstmädchens aus den 20er und 30er Jah-
ren in Österreich, und Biographien über bedeutende Frauen wie Rosa L. Das
Leben der Rosa Luxemburg und ihrer Zeit von Frederik Hetmann (1976).
Diese beiden Titel zeigen einen neuen Zugang zur Geschichte: Erzählt wird
Geschichte ›von unten‹ und von Frauen gemachte Geschichte.
Das emanzipatorische Mädchenbuch ist zwar weitgehend an der bürger-
lichen Mittelschicht orientiert, öffnet sich aber auch für Hauptfiguren aus
der unteren Mittelschicht (Heike Hornschuh: Ich bin dreizehn, 1974), der
Unterschicht (Welsh: Johanna) und auch aus sozialen Randgruppen (Inge-
borg Bayer: Die vier Freiheiten der Hanna B., 1974; Bolte: Einweisung für
drei Mädchen, 1975; Dagmar Kekulé: Ich bin eine Wolke, 1978). Auch die
Darstellung der Arbeitswelt und ihrer Konflikte nimmt einen deutlich größe-
Mädchenliteratur 383

ren Raum ein als zuvor (Angelika Kutsch: Man kriegt nichts geschenkt,
1976; Körner: Ich gehe nach München; Ann Ladiges: Blaufrau, 1981).
Der emanzipatorischen Mädchenliteratur geht es um Aufklärung, Be- Funktionen
wusstmachung und Wissensvermittlung, um die Ermutigung, sich von über- und Genres
holten gesellschaftlichen Vorstellungen zu befreien und selbstbestimmt den
eigenen Weg zu gehen, sowie um die Weckung von Empathie mit sozial Be-
nachteiligten und die Sensibilisierung für gesellschaftliches Unrecht. In die-
sem Sinne ist die emanzipatorische Mädchenliteratur weitgehend eine ein-
greifende, auf Veränderung abzielende Literatur. Eng damit verbunden ist die
Hinwendung zur zeitgenössischen oder historischen Realität, wodurch ein
neuer Realismus entsteht. Für eine solche Literatur steht in der Erwachse-
nenliteratur der Begriff der littérature engagée, in der Kinder- und Jugendlite-
ratur der inzwischen negativ besetzte Begriff der Problemliteratur.
Die Genres der emanzipatorischen Mädchenliteratur sind vielfältig. Die
dokumentarische Richtung kennt zum einen Lesebücher mit einer Fülle von
Textformen und Stilarten, die zwischen fiction und non-fiction angesiedelt
sind: Geschichten, Gedichte, Fotos, Briefe, Zeitungsausschnitte, Reportagen,
z. T. montageartig zusammengesetzt. Daneben gibt es anspruchsvolle, aber
spröde, nur auf Information abzielende Anthologien. Zum anderen finden
sich Schilderungen vom Leben eines Mädchens im Sinne einer Sozialrepor- Cover von Ingrid Bachérs
tage, ausgestattet mit dokumentarischen Fotos, Geschichten mit dokumenta- Merk-Buch (1976)
rischem Charakter und (historische) Erzählungen und Biographien, die auf
Milieukenntnis oder Recherchen beruhen. Verschiedene Erzählstrategien
können dazu dienen, dass eine allzu rasche Identifikation mit der Hauptfigur
verhindert wird.
Die Problemerzählungen können Abstiegsgeschichten sein, insbesondere
von sozial benachteiligten jungen Frauen, oder umgekehrt Emanzipationsge-
schichten, die den Weg des (bürgerlichen) Mädchens von der Anpassung an
das traditionelle Weiblichkeitsbild hin zur Befreiung davon darstellen. Von
Nöstlinger und auch von Chidolue stammen Titel, die keine modellhaft-nor-
mative Struktur haben; in ihnen wird weibliche Adoleszenz im Sinne eines
sozialen und psychologischen Realismus dargestellt. Bei Nöstlinger ist es ein
drastischer Realismus, der sich mit komischen und grotesken Zügen verbin-
det, bei Chidolue ein kühler, ironischer, fast beklemmender Realismus. Trotz
der Entkopplung von erster Liebeserfahrung und dauerhafter Beziehung
oder Ehe lebt auch das Handlungsmuster der trivialen Liebesgeschichte fort,
entweder mit anderen Vorzeichen versehen wie in Korschunows Anruf von
Sebastian (1981) oder strukturell nicht dominant wie in Nöstlingers Stun-
denplan (1975). Bei vielen anderen Texten erscheint dagegen der emanzipa-
torische Diskurs lediglich der Liebesgeschichte aufgesetzt; von emanzipato-
rischer Mädchenliteratur kann hier nicht mehr gesprochen werden.
In einigen Titeln finden sich bereits Übergänge zum psychologisch orien- Übergänge
tierten Mädchenbuch, wenn Gefühlsambivalenzen stärkeres Gewicht be-
kommen und auch entsprechende Erzähltechniken angewandt werden, so
zum Beispiel Susanne Kilian in Lenakind (1980). Einige Romane von Chido-
lue (etwa Das Fleisch im Bauch, 1980; Diese blöde Kuh, 1984) bewegen sich
noch innerhalb des emanzipatorischen Diskurses, zeigen aber zugleich dessen
Grenzen auf. Die dreibändige, auf spannende Unterhaltung ausgerichtete
Serie Alanna von Trebonds Abenteuer von Tamora Pierce (1985–1988) be-
nutzt die neue Gattung der Fantasy und stattet die weibliche Hauptfigur
nicht nur im emanzipatorischen Sinne mit den ›männlichen‹ Eigenschaften
einer siegreichen Ritterin aus, sondern auch mit der Gabe der Zauberkraft,
einer im Kontext des Differenzfeminismus spezifisch weiblichen Fähigkeit.
384 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

Hingegen geht die weibliche Hauptfigur im dritten Band von Nöstlingers


Mädchenbuch-Serie Gretchen Sackmeier (1988) am Ende ihres selbstbe-
stimmten Handelns verlustig, was als Ausdruck der Resignation der Autorin
hinsichtlich der Weiterentwicklung von gesellschaftlicher und individueller
Emanzipation verstanden werden kann.

Differenzfeminismus und weibliches Anderssein


Schon seit den frühen 70er und mit zunehmenden Einfluss seit Mitte der
70er Jahre bildete sich innerhalb der Frauenbewegung eine Richtung aus, die
statt der Forderung nach Gleichberechtigung mit dem Mann das Anderssein
der Frau betonte und sich für die Anerkennung der Besonderheiten der weib-
lichen Sphäre einsetzte. Unter dem Einfluss dieser Forderung entstanden
vielfältige Formen einer spezifisch weiblichen Kultur, mit eigener Literatur
und eigenen Zeitschriften wie Courage und Emma, mit Buch- und Gesund-
heitsläden, Selbsterfahrungsgruppen und Häusern von Frauen für Frauen.
Zwar wird durch die Betonung des Andersseins der Frau unter anderen Vor-
zeichen die alte Geschlechterpolarität wieder aktiviert; zugleich jedoch trug
die Errichtung von spezifisch weiblichen Räumen zur Förderung von Selbst-
bewusstsein und zur Erkundung des eigenen Selbst bei.
Die neue psychologische Weiblichkeitsforschung (Chodorow, Gilligan)
beschäftigte sich mit dem Entwurf der bislang vernachlässigten spezifisch
weiblichen Identität und eines weiblichen Denkens. Dabei wurde auf Sozial-
psychologie und Psychoanalyse rekurriert, die aus feministischer Sicht neu
gedeutet werden. In diesem Kontext entsteht auch die Erforschung der weib-
lichen Adoleszenz, die für die Mädchenliteratur ab Mitte der 80er Jahre
Weibliche Adoleszenz große Bedeutung gewinnt. Entgegen der bis dahin geltenden Gleichsetzung
von Adoleszenz mit männlicher Adoleszenz, wobei Autonomie als Ziel von
Adoleszenz überhaupt angesehen wurde, betonen die feministischen For-
scherinnen, dass für weibliche Adoleszenz Bindung und Autonomie bestim-
mend seien; die Ablösung etwa von der Mutter gehe einher mit einer neuen
Form der Bindung auf einer anderen (erwachsenen) Ebene. Auch andere Be-
sonderheiten weiblicher Adoleszenz rücken in den Blick, so Depressivität
und Essstörungen als pathogene Formen, die sich mehr bei jungen Frauen als
bei jungen Männern finden. Während Günter Amendt in Sexfront 1970,
wenn auch provokativ, meinte, Adoleszenz sei nicht ein Problem der Jugend-
lichen, sondern der Eltern, die nicht mit der Sexualität Jugendlicher umgehen
könnten, erscheint nun die Adoleszenz als eine komplexe Lebensphase, die
an Jungen und Mädchen jeweils unterschiedliche Entwicklungsaufgaben
stellt. Zugleich ist die verlängerte Adoleszenz, die jetzt auch jungen Frauen
zugestanden wird, eine große Chance für die eigene Individuierung. Die Aus-
richtung auf das Anderssein der Frau führte schließlich zur Kritik an der
Heterosexualität, die als Bereich weiblicher Unterdrückung angesehen
wurde, sowie zu einer Aufwertung der lesbischen Liebe – bis hin zu der Posi-
tion, dass sexuelle Befriedigung und Verständnis füreinander nur unter
Frauen möglich seien; der Mann wurde zu einem neuen Feindbild.

Psychologische Mädchenliteratur
Der Begriff der psychologischen oder psychologisch orientierten Mädchenli-
teratur bezieht sich auf die Intentionen, Themen und Darstellungsweisen, die
unter dem Einfluss des Differenzfeminismus und der psychologischen Weib-
lichkeitsforschung etwa ab Mitte der 80er Jahre in die Mädchenliteratur
Mädchenliteratur 385

aufgenommen wurden. Dabei geht es um die Ausbildung einer weiblichen


Geschlechtsidentität, die weder in der Übernahme ›männlicher‹ Eigenschaften
noch einer polaren Entgegensetzung zu ihnen aufgeht, und um den Versuch,
diesen Prozess der Herausbildung von weiblicher Identität in der Adoleszenz
zu erkunden und darzustellen. Dies steht nicht im Gegensatz zur emanzipa-
torischen Mädchenliteratur, sondern lässt sich als eine Vertiefung der Gleich-
berechtigungsforderung verstehen, insofern nun das Ziel die »innere Befrei-
ung« der Frau (Keiner) ist.
Anders als in der emanzipatorischen Mädchenliteratur, die den Blick vor-
nehmlich auf das Ich in der Gesellschaft und die Auseinandersetzung mit ihr
richtet, tritt die äußere Handlung zugunsten der Darstellung von Gefühlen,
Erinnerungen, Fantasien und Träumen (also auch des Unbewussten) zurück.
Zur Darstellung des Innenlebens werden erzählerische Mittel der litera-
rischen Moderne übernommen: erlebte Rede, innerer Monolog, Bewusst-
seinsstrom ebenso wie das Erzählen auf verschiedenen Zeitebenen, die inein-
ander übergehen oder montageartig nebeneinander gesetzt sind. Eine neue
Gattung wird von der Mädchenliteratur adaptiert: Das psychologische Mäd-
chenbuch nähert sich dem (modernen) Adoleszenzroman an oder wird zu
einer jugendliterarischen Variante des Adoleszenzromans.
Wichtige Themen des emanzipatorischen Mädchenbuchs wie die Ausein- Gefühlsambivalenzen,
andersetzung mit den Eltern, erste Liebeserfahrungen und Sexualität werden Identitätssuche
fortgeführt; durch die Psychologisierung verschiebt sich jedoch die Akzent-
setzung. Das junge Mädchen wird mit seinen Gefühlsambivalenzen darge-
stellt; Hass, Aggressionen, Wut und – relativ neu in der Mädchenliteratur –
Omnipotenzgefühlen wird Raum gegeben (Rudolf Herfurtner: Rita, Rita,
1984; Chidolue: Lady Punk, 1985). Die Protagonistin ist nicht immer eine
positive Identifikationsfigur (Lady Punk; Inger Edelfeldt: Kamalas Buch,
1988). Wie schon bei Nöstlingers Stundenplan und Pfui Spinne! wird die
Mutter mit den hasserfüllten Augen des adoleszenten Mädchens gesehen, so
etwa in Gunvor A. Nygaards Inger oder Jede Mahlzeit ist ein Krieg (1985)
oder – besonders stark ausgeprägt – in Lady Punk, worin die Tochter nicht
davor zurückschreckt, ihren Hass in eine Intrige gegen die Mutter umzuset-
zen. Öfter jedoch richtet das Mädchen die Aggression gegen sich selbst, wird
wie etwa bei Nygaard, weil sie sich nicht aus der symbiotischen Beziehung
mit der Mutter lösen kann, magersüchtig und zieht sich immer mehr in sich
selbst zurück. Der oft abwesende, zuvor stark idealisierte Vater wird ent-
idealisiert, indem die Tochter mit seiner realen Lebensgeschichte konfrontiert
wird; dadurch kommt es zu einer Identitätskrise und meist auch zu einer
neuen Ichfindung (Torill Eide: Wir könnten Schwestern sein, 1988; Norma
Klein: Daddys Darling, 1989; Paula Fox: Der Schattentänzer, 1987). Oder
die junge Frau verharrt, wie in Kamalas Buch, in der Idealisierung des nie Gunvor A. Nygaards
gekannten Vaters durch Fixierung auf ihn. Im Unterschied zum Backfisch- Inger oder Jede Mahlzeit
ist ein Krieg (1985)
buch werden im psychologischen Mädchenbuch also die ödipalen Familien-
strukturen offen thematisiert (Wild) und deren Aufarbeitung als Teil der
weiblichen Identitätsfindung dargestellt.
Ein weiteres Merkmal steht im Zusammenhang mit der fortgeschrittenen
Individualisierung und Pluralisierung zeitgenössischer Lebenswelten. An die
Stelle der vollständigen Familie mit autoritären Strukturen und traditioneller
Rollenverteilung tritt häufig die Teilfamilie (als Mutter-Tochter- oder auch
als Vater-Tochter-Familie) mit liberalem oder laissez-faire-Erziehungsstil
sowie einer erotisch attraktiven Mutterfigur, die berufstätig ist oder ihr Le- Veränderte Mutterrolle
ben – was allerdings negativ konnotiert wird – dem Konsum widmet. Der
emanzipatorische Diskurs der vorausgegangenen Phase wird nun manchmal
386 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

von der Mutter vertreten, während sich die Tochter von der mütterlichen
Lebensorientierung distanziert. Der Erziehungsstil in der Schule ist ähnlich
liberal geworden wie in der Familie. Eine Auseinandersetzung mit Schule,
Gesellschaft und Politik spielt keine entscheidende Rolle mehr. Wenn es noch
gesellschaftliches Engagement gibt wie beispielsweise bei Herfurtner, so rückt
es in den Hintergrund der Beziehungsgeschichte.
Liebe und Sexualität Die Darstellung der ersten Liebesbeziehungen nimmt breiten Raum ein.
Im Unterschied zur emanzipatorischen Mädchenliteratur wird Sexualität al-
lerdings nicht mehr nur als lustvoll dargestellt; vielmehr findet sich auch, wie
schon in Chidolues Aber ich werde alles anders machen von 1981, unbefrie-
digende Sexualität, die der jungen Frau das Gefühl gibt, innerlich zu verbren-
nen (Edelfeldt: Kamalas Buch, 1988), oder sie, weil sie Nähe nicht zulassen
kann, nur Kälte empfinden lässt (Chidolue: Lady Punk, 1985). Die Liebesbe-
ziehungen sind komplexer und komplizierter geworden. Sie verändern sich,
auf eine Phase der Nähe folgt eine Phase der Distanz; das Mädchen oder die
junge Frau empfinden leidenschaftliche, z. T. verzehrende Liebe zu einem
Mann, der sie nach kurzem Zusammensein verlässt (Hanne-Vibeke Holst:
Nächsten Sommer, 1992; Eide: Östlich der Sonne – Westlich des Monds,
1994); die junge Frau betreibt aktiv die Realisierung ihrer erotisch-sexuellen
Wünsche und verführt den Freund ihrer älteren Schwester (Norma Mazer:
Na, Schwesterchen, 1983) oder ihren Lehrer (Barbara Wersba: Alles wegen
Harold, 1985). Und schließlich gibt es – nach frühen Anfängen in den 70er
Jahren (Bayer: Dünensommer, 1977; Auszüge aus Verena Stefans Häutungen
in dem Jahrbuch Rotstrumpf, 1977) – die Erweiterung des bipolaren Modells
der Heterosexualität; die junge Frau entdeckt ihre lesbische Identität und
wendet sich der gleichgeschlechtlichen Liebe zu (Jenny Pausacker: Was bist
du?, 1990; Doris Meißner-Johannknecht: Amor kam in Leinenschuhen,
1993). In allen Fällen erkundet die junge Frau ihr sexuelles Begehren und
ihre ambivalenten Gefühle; sie macht auch negative Erfahrungen, aber diese
werden als notwendiger Teil ihrer Identitätssuche dargestellt.
Funktionen Die psychologische Mädchenliteratur hat nicht die Intention, auf gesell-
schaftliche Veränderungen hinzuwirken. Allerdings ist auch sie insofern Ge-
brauchsliteratur, als sie sich durch einen pädagogischen oder pädagogisch-
psychotherapeutischen Gestus auszeichnet: Sie bietet den jungen Leserinnen
Unterstützung bei der weiblichen Identitätsfindung an. Deshalb endet die
weibliche Identitätssuche fast immer so, dass eine Entwicklung – oder zu-
mindest die ersten Schritte – hin zur Identitätsfindung vollzogen wird. Wenn
die junge Frau zum Beispiel schmerzhafte Erfahrungen in der Liebe gemacht
hat, so endet der Roman mit der Fähigkeit der Frau, diese Erfahrung in ihre
Ich-Entwicklung zu integrieren. In Eides In Östlich der Sonne – Westlich des
Monds gibt es zwei Erzählebenen: zum einen die Geschichte der Mutter als
junger Frau, die wegen einer unglücklichen Liebe in den Tod geht, zum ande-
ren – in der Erzählgegenwart – die der Tochter, die die Lebensgeschichte der
Mutter zu rekonstruieren versucht und dabei einen Prozess der Selbstfindung
durchläuft. In Lady Punk kann die Protagonistin ihre Identitätskrise nicht
bewältigen; aufgrund des angebotenen psychologischen Deutungsmusters
kann die Leserin aber erkennen, welche Entwicklungsschritte die Hauptfigur
zu einer gelungenen Identitätsfindung führen würden.
Grenzen der psychologischen Mädchenliteratur sind dann gegeben, wenn
sie in dem psychologischen Diskurs, von dem sie beeinflusst ist, restlos auf-
geht. Daneben finden sich Titel mit einer deutlichen Diskrepanz zwischen
Oberflächen- und Tiefenstruktur, wodurch widersprüchliche Lesarten ange-
boten werden: die offizielle der Identitätsfindung und die inoffizielle der
Mädchenliteratur 387

Liebesgeschichte, bei der erotische Fantasien, die von der Vernunft ›verboten‹
sind, ausagiert werden können (Otti Pfeiffer: Zwischen Himmel und Hölle,
1986). Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Titel, die sich dem er-
wachsenenliterarischen Adoleszenzroman annähern und die teilweise auch
zunächst als Erwachsenenliteratur erschienen sind, so Kamalas Buch (1988)
von Edelfeldt, Gwendolins Erdreich (1988) von Hans-Gerd Krogmann und
Hand aufs Herz (1991) von Vigdis Hjorth. Kamalas Buch stellt eine nicht
gelingende Identitätsfindung dar und entzieht sich nicht nur dem Erklärungs-
muster des emanzipatorischen, sondern auch des psychologischen Diskurses,
womit es bereits auf die postmoderne Mädchenliteratur vorausweist.

Mädchenliteratur seit Mitte der 90er Jahre


Genderstudien und Postmoderne. – In Weiterentwicklung des Differenzfemi-
nismus und in Abgrenzung zu ihm entstanden die Genderstudien. Dem bio-
logisch bestimmten Begriff Geschlecht (sex) wird der Begriff der Gattung
(gender) gegenübergestellt. Damit soll auf die Geschlechtszuschreibungen
aufmerksam gemacht werden, die als solche nicht anthropologisch, biolo-
gisch oder psychologisch gegeben, sondern kulturell konstruiert und insofern
variabel sind; der Mann erscheint somit auch nicht mehr als Feindbild. Ziel
ist die Entfaltung der Verschiedenheit oder, weitergehend, die Aufhebung des
Geschlechts als kollektiver Zwangszuschreibung.
Der Einfluss dieser Richtung auf die Mädchenliteratur ist weniger offen-
sichtlich als der der vorangegangenen feministischen Diskurse; er verbindet
sich mit dem der Postmoderne und hier vor allem mit der Tendenz der zu-
nehmenden Individualisierung von Geschlechterrollen. Frauen betreten in
verstärktem Maß nun auch die öffentlichen, bislang den Männern vorbehal-
tenen Räume und übernehmen teilweise die dazu gehörenden Eigenschaften.
Aufgrund der Ungleichzeitigkeit zwischen der Ebene des Psychischen und
den Veränderungen in der Realität gibt es allerdings weiterhin, und zwar zu
einem großen Teil auf einer nichtbewussten Ebene, die traditionellen Weib-
lichkeits- und Männlichkeitsbilder. So fühlen sich die jungen Frauen der 90er
Jahre und des ersten Jahrzehnts im 21. Jh. nicht (mehr) benachteiligt, da sie
sehr viel mehr Rechte und ein anderes Selbstbewusstsein haben als ihre Müt-
ter früher; psychisch tief verankerte Verhaltensweisen und Rollenbilder tre-
ten vielfach nicht ins Bewusstsein oder sie werden, wenn sie bewusst werden,
durch spielerischen Umgang akzeptiert.
Mit ›Postmoderne‹ sind hier markante Veränderungen der letzten Jahr-
zehnte gemeint: Gleichzeitigkeit von Nahem und Weitentferntem (u. a. durch
die Globalisierung), Mediatisierung der Wirklichkeit, Individualisierung und
die damit verbundene Pluralisierung von Lebensläufen. Vorgegebene soziale
Lebensformen und -muster werden aufgelöst. Stattdessen darf und muss das
Individuum seine eigene Biographie herstellen, und zwar in ständiger Ausein-
andersetzung mit den jeweiligen gesellschaftlichen Gegebenheiten. Damit
löst sich auch das moderne Konzept der Identitätsbildung auf. Es geht nicht Identitätsbildung
mehr darum, dass das Subjekt im Verlauf der Adoleszenz einen stabilen Kern als Projekt
ausbildet, sondern um eine Identitätsbildung, die nur noch als Projekt oder
als gleichzeitige Verfolgung unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher
Projekte gedacht werden kann. Eine solche prozesshafte, alltägliche Identi-
tätsarbeit wird mit dem Begriff der Patchwork-Identität bezeichnet; der
Suchprozess ist nie abgeschlossen. Damit trägt der postmoderne Mensch
wesentliche Züge des Adoleszenten; die Grenze zwischen Adoleszenz und
Erwachsenheit wird fließend. Konstitutiv für die philosophische und litera-
388 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

rische Grundhaltung der Postmoderne ist die Aufgabe der großen Erzäh-
lungen (Lyotard). Diese werden verabschiedet zugunsten von Individualisie-
rung, Vielfalt, Heterogenität‚ ›fröhlicher Relativität‹ und dem Darstellungs-
prinzip der Fragmentarisierung. Dazu gehören u. a. Gattungsmischungen,
Intertextualität, die Aufhebung der Grenze zwischen Hoch- und Alltagskul-
tur, die Vielfalt der Stile, das Spielerische und das weltanschaulich Offene.
Mädchenliteratur und Postmoderne. – Der Einfluss der Postmoderne auf
die Mädchenliteratur zeigt sich am stärksten in einer (relativ überschaubaren)
Gruppe von Texten, die als postmoderne Mädchenliteratur oder weiblicher
Adoleszenzroman bezeichnet und teilweise auch der Popliteratur zugerech-
net wird. Sowohl der emanzipatorische als auch der psychologische Diskurs
(und damit das Ziel der Identitätsbildung im modernen Sinne) sind als Erklä-
Komik, Ironie, rungsmuster oder Modell der Sinngebung verabschiedet. Stattdessen bewegt
Coolness sich das Erzählen in witzig-komischem, schnoddrig-coolem, ironischem oder
sarkastischem Ton an der Oberfläche; er bleibt – gleichgültig, was dargestellt
wird, ob Sex, Liebe, Drogen oder das richtige Outfit – stets von derselben
Wertigkeit. Die Figuren haben keine Tiefe. Leiden wird erwähnt, aber nicht
in seiner Intensität dargestellt, heftiger Liebeskummer z. B. durch Komik ge-
brochen (Bjarne Reuter: Lola, 1994). Problematische Familienverhältnisse
werden witzig erzählt, psychische Auffälligkeiten wie Schreikrämpfe oder
Symptome der Magersucht werden beiläufig erwähnt (Alexa Hennig von
Lange: Ich habe einfach Glück, 2001) – im Unterschied zum psychologischen
Mädchenroman, wo solche Störungen psychisch ausgeleuchtet würden. Der
Erzählstil ist von dem Prinzip der Fragmentarisierung bestimmt und an die
Videoclip-Ästhetik angelehnt. Merkmale sind schnelle Schnitte, Wechsel der
Erzählperspektiven, sprunghaft-assoziatives Erzählen, Montage unterschied-
licher Textteile, Dynamik und Tempo. Intertextualität findet sich in Brock
Coles Celine (1989, dt. 1996), das zahlreiche Verweise auf Salingers Der
Fänger im Roggen (1951, dt. 1956) enthält. Gattungsmischungen zeigen sich
in der Verwischung der Grenzen zwischen realistischem und fantastischem
Erzählen (Reuter: Lola), in der Verbindung von realistischer Familiendarstel-
lung mit Versatzstücken des trivialen Liebesromans (Hennig von Lange: Ich
habe einfach Glück) oder der Vermischung von idyllisch-märchenhaften
Zügen, Anklängen an die Gothic Novel und dem Mädchenbuchmotiv der
zärtlichen Vater-Tochter-Liebe (Francesca L. Block: Weetzie Bat, 1996).
Auf der thematischen Ebene finden sich allerdings, wenn auch in verän-
derter Form, die bekannten Motive weiblicher Adoleszenz: Familie, Peer-
group, Freundinnen, erste Liebeserfahrungen und die Herausbildung der
Geschlechterrolle. Die Mädchenfiguren leben häufig in Zweitfamilien, zum
Beispiel mit der nur wenige Jahre älteren Stiefmutter in Celine, während der
Vater auf Vortragsreise im Ausland ist, oder mit dem Vater und dessen Freun-
din in Cornelia Kurths Frederikes Tag (1998). Den Eltern wird nicht grund-
sätzlich mit Ablehnung oder Hass begegnet, auch wenn die Töchter es nicht
einfach mit ihnen haben; mit genauem Blick für ihre Fehler und Schwächen
werden sie letztlich hingenommen, wie sie sind, und die Töchter sind auch zu
realistisch, um große Erwartungen an sie zu stellen oder Kämpfe mit ihnen
auszutragen. Allerdings grenzen sie sich von den Eltern und den von ihnen
vertretenen Werten der 68er Generation ab: von der lässigen, unmodischen
Kleidung, dem Glauben an die Möglichkeit der Problemlösung durch verbale
Bemutternde Tochter Kommunikation oder der politischen Haltung. Die Eltern-Kind-Beziehung
kann sich teilweise umkehren: Das Mädchen übernimmt die traditionelle
Funktion der Mutter, indem sie zwischen den einzelnen Familienmitgliedern
für Ausgleich sorgt (Lola); die Tochter ist die einzige, die noch mit den ande-
Mädchenliteratur 389

Postmoderner Mädchen-
roman – Cover von Lola
und Celine (1994 und
1996)

ren kommunizieren kann (Ich habe einfach Glück); im Beziehungschaos der


Erwachsenen übernimmt sie die Verantwortung für ein Nachbarskind (Ce-
line).
Schule und Arbeit spielen oft nur eine marginale Rolle, es sei denn, es
handelt sich um künstlerische Tätigkeiten. Das wichtigste Thema ist die Liebe und Sexualität
Liebe. In Hennig von Langes Ich habe einfach Glück durchziehen die Liebes-
wünsche der Protagonistin den gesamten Roman, um am Ende schließlich in
Erfüllung zu gehen. Lola erlebt nach zwei unglücklichen Lieben und einer
großen Liebe eine Beziehung auf einer realistischen und zugleich befriedi-
genden Basis. Sexualität spielt dagegen in den Romanen mit jüngeren Prota-
gonistinnen noch keine bedeutende Rolle. Sie ist eher mit Zärtlichkeit und
Liebe verbunden; allerdings wird frei darüber gesprochen. Auch in Büchern
mit etwas älteren Protagonistinnen (16–20 Jahre) geht es in erster Linie um
Liebe. Jedoch ist die Sexualität vielfältiger und selbstverständlicher gewor-
den. In Abenteuer einer Provinzblume von Françoise Cactus (1995) versinkt
Mitzie mit ihrem Geliebten tagelang in der Liebe; die Sexualität wird kaum
dargestellt, einmal aber, ohne dem große Bedeutung zuzuschreiben, als ein
kleines Sado-Maso-Spiel. In Hennig von Langes Relax (1997) gibt sich die
junge Frau ihren erotischen Fantasien und Spielen hin und sehnt sich vergeb-
lich nach Sex mit ihrem Freund. Nur in Blake Nelsons Cool Girl (1994, dt.
1997), das den gattungsprägenden postmodernen (männlichen) Adoleszenz-
romanen von Bret Easton Ellis am nächsten steht (und von einem Mann
verfasst wurde), spielt (genitale) Sexualität eine große Rolle.
Der postmoderne Mädchenroman bringt auch neue Themen in die Mäd-
chenliteratur, so vor allem die große Bedeutung der ästhetischen Selbstdar-
stellung und, eng damit verbunden, von Konsum, Markennamen und Me-
dien. Diese werden nicht mehr kritisch gesehen oder ausgespart, sondern
390 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

erscheinen als wichtiger Teil des Alltags. Markennamen werden aneinander-


gereiht, die Bedeutung der Selbstinszenierung durch Kleidung und Make-up
dargestellt. Am Ende von Blocks Weetzie Bat findet sich ein Glossar, in dem
die angesagten Geschäfte, Kneipen und Speisen, die die Hauptfiguren bevor-
zugen, erläutert werden. Schulaufsätze werden während des Fernsehens ge-
schrieben, psychologische Aufklärung über das Fernsehen bezogen. Hinzu
tritt die Bedeutung der Pop-Musik; ihre Songs verweisen auf Gefühle der Fi-
guren und auf deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur. In den
Romanen mit etwas älteren Protagonistinnen spielen schließlich auch Dro-
gen und Partys als Teil einer Fun- und Eventkultur eine wichtige Rolle.
Die Spielräume der Protagonistinnen haben sich erheblich erweitert. Sie
können ihre Größenfantasien ausagieren (so als Popsängerin in Abenteuer
einer Provinzblume), aggressive Gefühle zulassen und scheuen auch vor kör-
Der Märchenprinz perlicher Auseinandersetzung nicht zurück. Daneben finden sich traditionell
weibliche Eigenschaften – vor allem die Hoffnung auf den Märchenprinzen.
In Relax wartet die junge Frau fast das ganze Wochenende vergeblich auf
ihren Freund; sie ist sich dessen bewusst, was sie tut, ändert ihre Situation
aber nicht, will sie auch nicht ändern, sondern hält an der Hoffnung auf die
große Liebeshochzeit und eine traditionelle Kleinfamilie fest. Lediglich in
ihren erotischen Spielen erforscht sie andere Räume. Im postmodernen Sinne
wird nicht darum gerungen, die ›richtige‹ weibliche Identität zu finden, son-
dern das Neben- und Gegeneinander verschiedener Teilidentitäten hinge-
nommen. Dieses Hinnehmen – auch von Minderwertigkeitskomplexen,
Trauer, Einsamkeitsgefühlen, Sehnsucht, Wut und Autoaggressionen, ohne
diese Gefühle zu kritisieren und zu reflektieren – ist ein wesentliches Merk-
mal der Protagonistinnen; es verleiht ihnen Leichtigkeit, Lebendigkeit, Be-
weglichkeit oder, je nach Verständnis, ›Oberflächlichkeit‹. Vor Anderen wird
das chaotische, verletzliche Innere meist verborgen; hier geben sich die Prot-
agonistinnen cool, stark oder gelassen.
Ein weiteres wichtiges Merkmal ist die Position der Erzählinstanz. Oft
wird nicht nur aus der Perspektive junger Frauen erzählt, sondern der impli-
zite Autor selbst befindet sich grundsätzlich auf derselben Ebene wie die
Hauptfigur. Damit wird den Jugendlichen nicht eine von Erwachsenen im
Hinblick auf sie als Adressaten gedeutete Wirklichkeit geliefert; der Fokus
liegt vielmehr in den jugendlichen Figuren selbst. Konsumgewohnheiten,
Mediennutzung, Musik, Sex und Drogen – all das wird ohne eine wertende
Außenperspektive dargestellt.
Die Übergänge zwischen postmoderner Mädchen- und Erwachsenenlite-
ratur sind zum Teil fließend geworden. Romane, die als Erwachsenenliteratur
erschienen, werden von der Jugendliteraturkritik als Mädchenliteratur rezi-
piert, so etwa Relax von Hennig von Lange, Frederikes Tag von Kurth oder
Königinnen von Elke Naters (1998); oder sie erscheinen wie Hennig von
Langes Ich habe einfach Glück in zweiter Auflage als Jugendbuch und wer-
den als solches preisgekrönt, um dann wieder als Allgemeinliteratur publi-
ziert zu werden. Neu an dieser Entwicklung ist nicht, dass diese Bücher glei-
chermaßen von Jugendlichen und von jungen Erwachsenen gelesen werden
(das war bereits bei Goethes Die Leiden des jungen Werthers, Musils Die
Verwirrungen des Zöglings Törleß, Hesses Unterm Rad oder Salingers Der
Fänger im Roggen so), sondern vielmehr, dass das jugendliterarische System
diese Romane ohne Zeitverzögerung und ohne Adaption rezipiert.
Mädchenliteratur 391

Psychologischer Mädchenroman, Zwischenformen, neue Tendenzen


Parallel zum postmodernen Adoleszenzroman erscheinen auch nach 1995
Titel, die der psychologischen Mädchenliteratur zugeordnet werden können;
sie stellen postmoderne Lebenswelten dar, halten aber an der Möglichkeit
der Entwicklung des Ich im Sinne einer Identitätsfindung sowie an der Fo-
kussierung auf die psychischen Befindlichkeiten der Protagonistin und der
ernsthaften Darstellung fest (Mirjam Pressler: Für Isabel war es Liebe, 2002).
Dabei können einzelne Elemente des postmodernen Romans übernommen
werden (Tamara Bach: Marsmädchen, 2003.) Umgekehrt zeigt Coles post-
moderner Adoleszenzroman Celine u. a. durch die Bedeutung der Kunst für
die Identitätssuche der Hauptfigur Züge der psychologischen Adoleszenzlite-
ratur.
Seit der Wende zum 21. Jh. gibt es nicht nur eine Weiterentwicklung des
postmodernen Romans (Bach: Busfahrt mit Kahn, 2004), sondern auch neue
Formen eines Erzählens, das Mädchenfiguren am Rande der Gesellschaft
oder in extremen Lebenssituationen darstellt. Das gilt insbesondere für Brock
Coles Was wisst ihr denn schon (2002) und, auch wenn mit verschiedenen
Erzählversionen gespielt wird, für Valérie Dayres Lilis Leben eben (2005).
Die Mädchen sind stark; sie begegnen den Katastrophen ihres Lebens, indem
sie zupacken und handeln oder sich darin, so gut es geht, einrichten. Anders
als im postmodernen Adoleszenzroman versuchen sie sich nicht mehr durch
Witz und Ironie gegenüber dem Leben zu behaupten. Vielmehr ist der Er-
zählton wie im psychologischen Mädchenroman ernst geworden; im Unter-
schied zu diesem Genre kommen hingegen die Gefühle nur indirekt oder in
sehr zurückhaltender Form zum Ausdruck. Das Erzählen bleibt distanziert
und lakonisch und zielt nicht auf unmittelbare Empathie ab, die sich freilich
auf vermittelte Weise dennoch einstellt. Die Verstörung, die den Leserinnen Cover von Brock Coles
zugemutet wird, ist möglicherweise eine Folge der härter gewordenen Le- Was wisst ihr denn schon
benswelt, die von zunehmender Globalisierung und steigender Arbeitslosig- (2002)
keit geprägt ist. So ist die Figur des Girlie, die in den 90er Jahren entstand,
von den Medien inzwischen längst verabschiedet.

Tendenzen der Gesamtproduktion der aktuellen Mädchenliteratur


Die hier behandelten Titel bilden nur ein kleines Segment der gesamten Mäd-
chenbuchproduktion und sind zumeist für ältere Mädchen bestimmt. Den
weitaus größeren Teil, der auch eine sehr viel größere Leserinnenschaft er-
reicht, bilden Neuauflagen älterer Titel und aktuelle Mädchenbücher, die, in
unterschiedlicher Akzentuierung, Elemente (post-)moderner Realität mit
traditionellen Erzählmustern und einem hohen Unterhaltungswert verbin-
den; dazu gehört auch die Literatur für jüngere Mädchen (8–12 Jahre). Noch
2006 waren die bekanntesten Backfischbücher lieferbar: Emmy von Rhodens
Der Trotzkopf, Else Urys Nesthäkchen sowie Pucki und Goldköpfchen von
Magda Trott. Auch die Hanni-und-Nanni- und die Dolly-Bände von Enid
Blyton sind noch auf dem Markt. Von der aktuell produzierten Literatur
boomt vor allem die Girlie-Literatur, in der die Girlie-Figur der 90er Jahre Girlie-Literatur
überlebt hat. Kennzeichen sind – neben glitzernd-bunter Umschlaggestaltung
und dem Reihencharakter der Titel – das schnelle Erzähltempo und der wit-
zig-humorvolle oder komische Erzählstil, in dem, ähnlich wie im postmoder-
nen Mädchenroman, auch von schwierigen Situationen erzählt wird. Weitere
Merkmale sind das Selbstbewusstsein der Mädchen und die Bedeutung der
Freundinnen-Clique, verbunden mit gruppendynamischen Problemen. Es
392 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

gibt Serien mit Mädchenfiguren, die sich »for girls only« zum Motto ge-
macht haben, und andere, in denen das Sich-Verlieben wichtiges Handlungs-
ziel ist (Chaos, Küsse, Katastrophen; Voll verliebt). In ihrer Tiefenstruktur ist
die Girlie-Literatur von dem Prinzip der Vorhersehbarkeit und Wiederholung
geprägt. Als Muster liegen z. B. die triviale Liebesgeschichte und die Inter-
natsgeschichte zugrunde, jetzt erzählt als (Schul-)Geschichte einer Mädchen-
gruppe. Beide Muster finden sich bereits im Trotzkopf; neu ist, dass die
Wandlungs- und Anpassungsgeschichte nun fehlt. Das Mädchen darf andro-
gyne Züge haben; allerdings begeht es, gemessen am zeitgenössischen Dis-
kurs, keine Normverletzungen.
Weitere Genres sind die Kinderbandengeschichte (Cornelia Funke: Die
wilden Hühner, 6 Bd., 1993–2001), die sich mit der Girlie-Literatur verbin-
det, und das ältere, aber immer noch sehr erfolgreiche und wandlungsfähige
Pferdebuch (mit Reihen bis zu 36 Bänden). Auch diese Serien zeichnen sich
durch Voraussagbarkeit der Handlung und Stereotypie der Figuren aus, ein
Liebe … ganz schön durchaus charakteristisches Merkmal der Lektüre der frühen Adoleszenz, die
peinlich von Bianka von Mädchen (und Jungen) bedürfnisorientiert gelesen und verschlungen
Minte-König wird. Seit etwa 2000 finden sich – offensichtlich im Gefolge des Harry-Pot-
ter-Booms – verstärkt fantastische Elemente und Fantasy-Literatur. Das
Spektrum reicht von Girlie-Figuren, die über Zauberkräfte verfügen, bis hin
zu umfangreichen Fantasy-Epen für ältere Mädchen. Die Protagonistin darf
Abenteuerheldin sein und die Welt vor dem Bösen retten, ohne auf Bindungen
verzichten zu müssen; an ihrer Seite findet sich als Berater, Helfer und Freund
mindestens eine männliche Figur von etwa gleichem Alter (Stuart Hill: Die
Herrscherin der Eismark, 2006). Stärker der Realität verpflichtet sind, schon
aus Gattungsgründen, die Ratgeberliteratur, die allerdings meist auf die The-
men sexuelle Aufklärung, Liebe, Schönheit und Aussehen verkürzt ist, und
die Sachbücher; unter ihnen finden sich Anknüpfungen an die Biographien
historisch bedeutender Frauen der 70er Jahre.
Problemorientierung Einen wichtigen Teil der Mädchenliteratur stellen die Titel dar, die, mit je
unterschiedlicher Akzentuierung, Problemorientierung (mit didaktischer In-
tention), psychologisches Erzählen und Unterhaltung miteinander verbinden
(für Mädchen ab 12 oder 14 Jahren). Bei der Darstellung des in der Jugend-
literatur neuen Themas der Transsexualität in Julie A. Peters’ Luna (2006)
geht es zum Beispiel um die Identitätssuche eines transsexuellen Jungen und
seiner Schwester, um Information und Aufklärung, um spannende Unterhal-
tung, die Lösbarkeit des Problems und nicht zuletzt um die In-Frage-Stellung
des Modells der Zweigeschlechtlichkeit. Die Mischung verschiedener Ebenen
macht offensichtlich den Reiz dieser Bücher für jugendliche Leserinnen aus.
Charakteristisch für eine Mädchenliteratur, die mehr an entwicklungsspezi-
fische Bedürfnisse anknüpft als an aktuelle Themen, ist Tanz aus der Reihe
von Tracey Porter (2004), auf der manifesten Ebene eine Entwicklungs- und
Anpassungsgeschichte mit didaktischem Grundtenor, auf der latenten Ebene
die Darstellung der ambivalenten Gefühle von Mädchen bei der Ablösung
von der Mutterfigur.
Liebesgeschichte Das Genre der Liebesgeschichte kennt zwei Grundformen. Bei der einen
erlebt die Protagonistin eine leidenschaftliche Liebe mit einem jungen Mann,
der sich aber als charakterlich schlecht erweist; am Ende gelingt es ihr, sich
von ihm zu lösen. Die Entwicklungsgeschichte ist lediglich der Rahmen für
die Darstellung der ambivalenten Faszination des Mannes, der erotischen
Spannung und des Begehrens der jungen Frau; beispielhaft ist etwa Broken
Wings – Gefährliche Liebe von Martina Dierks (2005). Der andere Typus
erzählt von einer romantischen Liebe und folgt dem Handlungsmuster ›erste
Fantastische Literatur 393

Begegnung – Spannungsaufbau durch Hindernisse – Vereinigung der Lie-


benden‹. In Alexa Hennig von Langes Erste Liebe (2004) wird dieses Muster
mit der leichten und witzigen Darstellung problematischer Familienverhält-
nisse verknüpft; anders als im Vorgängerband Ich habe einfach Glück ist es
hier handlungsbestimmend. Von zentraler Bedeutung ist dieses Muster in
Stephenie Meyers Biss zum Morgengrauen (2006), einem Roman mit fantas-
tischer Grundstruktur, der eine große erotische Spannung aufbaut: Die junge
Frau verliebt sich in einen Mann, der sich als Vampir enthüllt. Dabei werden
auf der Ebene der Tiefenstruktur patriarchalische Geschlechterbeziehungen
reaktiviert. Dieser Roman (zu dem bereits zwei Nachfolgebände vorliegen)
ist ein Beispiel für die große Bedeutung, die in der gegenwärtigen Kinder-
und Jugendliteratur dem Faktor der Unterhaltung zukommt – im Sinne von
Zerstreuung, Spannung, Flucht aus der Alltagswelt und, allgemein, Realitäts-
entlastung. Damit verbunden ist eine veränderte Einschätzung der Unterhal-
tungsfunktion durch die kinderliterarische Kritik; Unterhaltung wird stärker
als früher als legitim beurteilt und im Zusammenhang mit der postmodernen
Erlebnisgesellschaft gesehen.
Mädchenliteratur ist schließlich auch ein Teil des Medienverbunds. Buch- Medienverbund
titel erscheinen zusätzlich als Film, TV-Serie, CD, Hörbuch oder Hörspiel
oder in Verbindung mit Internetspielen und Magazinen. In den Content-Uni-
versen sind die Bücher schließlich nur noch Teil eines umfangreichen medi-
alen Gesamtpakets, das aus TV-Serie, Romanen, Comics, Spielen u. a. besteht.
Die Serien können an die Stelle der Mädchenbuchlektüre treten und deren
Unterhaltungsfunktion übernehmen; sie generieren aber auch wieder neue
Unterhaltungsliteratur für Mädchen und junge Erwachsene.

Fantastische Literatur
Irmgard Nickel-Bacon

Von der Neuen Innerlichkeit zum postmodernen Erzählen:


Fantastische Kinderliteratur seit den 70er Jahre
Das Scheitern der antiautoritären Bewegung und ihrer Hoffnungen auf einen
tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel bildet den Hintergrund für die Ab-
kehr von der sozialkritischen Kinderliteratur und die Hinwendung zum fan-
tastischen Erzählen. Etwa zeitgleich zur ›Neuen Subjektivität‹ in der Erwach-
senenliteratur entstehen zunächst psychologische Kinderromane, die wie
diese die Alternative zum sozialen Engagement in der Rückbesinnung auf
das Individuum und seine subjektiven Wahrnehmungen suchen. Als prägnan-
testes Beispiel gilt Tormod Haugens Nachtvögel (1978). Allerdings konnte
sich der psychologische Realismus auf dem Kinderbuchmarkt nicht durch-
setzen. Dies liegt vermutlich daran, dass er verbunden ist mit modernen Er-
zählweisen, die nicht nur auf eine allwissende Erzählinstanz verzichten, son-
dern auch auf ein kohärentes Selbst- und Weltbild des kindlichen Protagonis-
ten. Erzählt werden dessen Schwierigkeiten, belastende Ereignisse in der
Familie zu verarbeiten, insbesondere die psychische Erkrankung des Vaters.
Zu identitätsgefährdend scheint die Rücknahme einer verlässlichen Erzäh-
linstanz für Kinder und Jugendliche, zu abschreckend wirkt die realistische
Aufarbeitung der Zweifel und Ängste, die der psychologische Kinderroman
394 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

thematisiert. Spätere Beispiele von Mirjam Presslers Novemberkatzen (1982)


bis Kirsten Boies Mit Kindern redet ja keiner (1990) zeigen, dass der psycho-
logische Kinderroman zwar weiterhin als wichtige Untergattung existiert,
auf dem Buchmarkt nimmt er jedoch eine eher randständige Position ein. Die
Thematisierung persönlicher Zweifel und Ängste akzeptiert das kindliche
Lesepublikum vorzugsweise im fantastischen Kinderroman, der auch Mög-
lichkeiten ihrer Überwindung zeigt.

Fantastik-Debatten und ›soziale Fantasie‹


Problematische Erfahrungen von Kindern, insbesondere in der Familie, las-
sen sich leichter thematisieren, wenn den kindlichen Lesern Reflexionsmög-
lichkeiten im Raum des Fantastischen angeboten werden. Deutlicher als
beim realistischen Erzählen ist hier der Fiktionscharakter erkennbar, unmit-
telbar einsichtig der Probe- und Spielcharakter des Leseerlebnisses. Wie die
Entwicklungspsychologie zeigt, ›denken‹ Kinder zunächst vornehmlich in
Bildern: Alltagsgegenstände und Spielsachen erscheinen ihnen wie beseelte
Wesen, sie werden zu Übergangsobjekten, von denen sie sich Trost und Un-
terstützung holen. Ebenso können aus harmlosen Dingen ›böse Monster‹
und aus Schatten ›Geister‹ werden, denn Kinder unterscheiden zunächst
nicht zwischen innerem Erleben und Phänomenen der Außenwelt. Realismus
stellt insofern eine spätere Entwicklungsstufe dar als die magisch-animisti-
sche Wahrnehmung der Welt, so dass es Kindern und Jugendlichen leichter
fällt, bedrohliche Inhalte im fantastischen Bereich zu rezipieren. Im Raum
des Fantastischen fällt es auch leichter, Lösungsmöglichkeiten anzubieten, so
Entlastungs- und dass psychologische Fantastik Entlastungs- und Trostfunktion übernehmen
Trostfunktion kann, wie etwa ein frühes Beispiel von Astrid Lindgren zeigt. Mio, mein Mio
(1953/54) erzählt von einem Pflegekind in einer ausweglos schwierigen Fa-
miliensituation, die es aus eigener Kraft nicht ändern kann. Ein magischer
Apfel und ein Flaschengeist verhelfen ihm in das ›Land der Ferne‹, in dem
sein unbekannter Vater König ist. Der Autorin ist die implizite Doppelper-
spektive von (erwachsenem) Realismus und (kindlichem) Wunderglauben
vollkommen bewusst. In einem Interview erläutert sie: »Gewiss glaubt ein
erwachsener Leser – sogar ich –, dass Mio voller Sehnsucht auf seiner Bank
in Tegnèrlunden sitzt, ebenso einsam wie jemals zuvor. Jedoch wissen alle
Kinder, auch ›das Kind in mir‹: Mio ist im Land der Ferne und hat es gut, so
gut bei seinem Vater, dem König.« Entlastungs- und Trostfunktion hat in
ähnlicher Weise Christine Nöstlingers Erstlingswerk Die feuerrote Friederike
(1970), in dem eine kleine dicke rothaarige Außenseiterin Trost in ihren neu
entdeckten magischen Fähigkeiten findet. Nicht selten bedient fantastische
Kinderliteratur dieses kindliche Bedürfnis nach wunderbaren Lösungen und
lässt die Verunsicherung unbeachtet, die diese für ein aufgeklärtes Welt- und
Selbstbild bedeuten. Sehr viel später erst entsteht eine ebenso aufgeklärte wie
selbstreflexive Fantastik, die nicht nur auf Realität bezogen ist, sondern auch
die Verunsicherung thematisiert, welche mit fantastischen Begegnungen und
Verwandlungen verbunden ist. Herausragendes Beispiel sind hier Eddies
Lügengeschichten (2000, 2002) von Zoran Drvenkar, die diese schwierige
Thematik schon für Leseanfänger verständlich machen. Bereits in den 80er
Jahren entsteht eine Kinderliteratur, die von gesellschaftlich relevanten Pro-
blemen in der Realität ausgeht, deren Lösungen sie in einer fantastischen
Welt vorbereitet. Zu nennen wären hier etwa Paul Maars Lippels Traum
(1984) oder Beat Brechbühls Dschingis, Bommel und Tobias (1986), beides
Kinderromane, die Fragen der interkulturellen Kommunikation bearbeiten.
Fantastische Literatur 395

In den 70er Jahren steht die fantastische Kinderliteratur jedoch zunächst


noch unter Ideologieverdacht. Man wirft ihr vor, von gesellschaftlichen Rea- Ideologieverdacht
litäten abzulenken und Evasionsbedürfnisse zu befriedigen. Wie schon in den
Märchendebatten um 1800 wird der Entwurf fantastischer Welten als ent-
wicklungsgefährdend betrachtet, da er der Vermittlung des geltenden Welt-
und Menschenbildes im Wege steht. Während im frühen 19. Jh. kindliche
Bedürfnisse nach Fantastik und Abenteuer der Moralvermittlung unterge-
ordnet blieben, verlangt das emanzipatorische Erziehungsideal der 70er
Jahre die kritische Auseinandersetzung des Kindes mit den Gegebenheiten
der sozialen Wirklichkeit. Favorisiert wird daher eine realistische und pro-
blemorientierte Literatur, fantastische Literatur gilt dagegen als affirmativ
und systemstabilisierend. Neue Debatten entbrennen über die Frage, ob
Märchen überhaupt als Kinderliteratur geeignet seien. Eine Legitimationsfi-
gur besteht im Hinweis auf das utopische Potenzial der menschlichen Fanta-
sie. Eingeschränkt auf die zukunftsweisende Funktion der ›sozialen Fantasie‹
ist fantastisches Erzählen erlaubt. Diese Betrachtungsweise kommt allerdings
nicht umhin, die Grimmschen Märchen als ideologisch abzuwerten. Weder
Demut und Bescheidenheit noch deren Belohnung durch höhere Mächte sind
akzeptabel für ein ideologiekritisches Denken, dem es um Demokratisierung Demokratisierung
und Emanzipation geht. Daher findet sich Anfang der 70er Jahre eine Flut
von Parodien und Adaptationen, die die ›Gattung Grimm‹ kompatibel ma-
chen wollen mit dem Zeitgeist der antiautoritären Bewegung. Zu nennen ist
im Bereich der Kinderliteratur vor allem Friedrich Karl Waechters Neubear-
beitung Tischlein deck dich und Knüppel aus dem Sack. Ein neues Märchen
(1972 bei Rotfuchs), aber auch Janoschs ausgesprochen humorvoll-anar-
chische Bearbeitung Janosch erzählt Grimms Märchen und zeichnet für Kin-
der von heute (1972).
In den Rahmen der engagierten Kinderliteratur gehören allerdings auch
fantastische Kinderromane, die einzelne Figuren oder Elemente aus einer
fantastischen Anderswelt nutzen, um einen kritischen Blick auf gesellschaft-
liche Wirklichkeiten zu werfen und diese in Frage zu stellen, ohne einsinnig
didaktisch-belehrend zu wirken. Zum Glauben an eine bessere und gerechtere
Welt im Sozialismus rufen die Birne-Geschichten von Günter Herburger auf,
beginnend mit Birne kann alles (1971). Ein fantasievoller Appell zur Demo-
kratisierung der traditionellen Kleinfamilie ist Christine Nöstlingers Wir Familienabenteuer und
pfeifen auf den Gurkenkönig (1972, verfilmt unter der Regie von Hark Gesellschaftskritik
Bohm, 1975). Eines Sonntags sitzt in der Küche der Familie Hogelmann ein
gurkenartiges Wesen mit goldener Krone auf dem Kopf, das sich als König
Kumi-Ori zu erkennen gibt und als ›Majestät‹ angesprochen werden will.
Nachdem der herrische und egozentrische König von seinen Untertanen
durch eine Palastrevolution vertrieben worden ist, bittet er die Hogelmanns
um politisches Asyl. Nur Vater Hogelmann und sein jüngster Sohn halten zu
dem unsympathischen Würdenträger, die anderen Mitglieder lehnen ihn ab.
Zunehmend spaltet sich die Familie in einen eher demokratischen Teil um
Großvater, Mutter und die älteren Kinder einerseits und den autoritären Va-
ter andererseits. Es kommt zu einigen Turbulenzen und recht vergnüglichen
Missgeschicken, die kindliche Lesebedürfnisse nach Abwechslung und Aben-
teuer bedienen, bis schließlich der kleine Nik den Gurkenkönig in einen an-
deren Keller befördert und auch Vater Hogelmann dessen leere Verspre-
chungen durchschaut. Wie die Gurkinger ihren machthungrigen König ver-
trieben haben, haben sich nach und nach alle Hogelmanns vom autoritären
Vater emanzipiert. Mit einer gelungenen Mischung aus Familienabenteuer
und Gesellschaftskritik ist Nöstlingers Wir pfeifen auf den Gurkenkönig
396 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

Christine Nöstlingers und


Paul Maars Klassiker der
fantastischen Kinderlite-
ratur

eines der wenigen Beispiele der antiautoritären Kinderliteratur, das langfris-


tig Zuspruch beim Lesepublikum findet und mittlerweile als Klassiker gelten
kann. Es ist außerdem ein typisches Beispiel für eine eher realitätsnahe Fan-
tastik, die sich auf ein fantastisches Wesen beschränkt und dessen Besuch in
einer realitätsnahen Alltagswelt erzählt. Kennzeichnend für diesen Typus des
fantastischen Erzählens ist sein konsequenter Wirklichkeitsbezug. Märchen-
hafte Wesen provozieren ethische Fragen, die durchaus das soziale Zusam-
menleben in einer zeitgenössischen Realität betreffen, wie dies sehr viel später
etwa auch in Kirsten Boies Prinzessin Rosenblüthe (1995) der Fall ist.

Neue Innerlichkeit, Individualisierung und Ästhetisierung


Die Untergattung des Kinderromans, der mit einem fantastischen Wesen
auskommt, kehrt in anderen Beispielen mit neuen Funktionen wieder. 1973
legt Paul Maar den Kinderroman Eine Woche voller Samstage vor, in dem
das Fantasiegeschöpf Sams den schüchternen Herrn Taschenbier aufsucht,
um ihn zu seinem ›Papa‹ zu küren. Es bringt subversive Ideen, Witz und Poe-
sie in den Alltag der Kleinbürger. Die ebenso anarchische wie skurrile Fanta-
siefigur markiert deutlich die Trendwende von der Suche nach allgemeinver-
bindlichen Problemlösungen im gesellschaftlichen Raum hin zur Fokussie-
rung auf den Einzelnen, seine persönlichen Beziehungen und subjektiven
Nöte. Lösungsmöglichkeiten werden nun nicht mehr im großen Ganzen ge-
sucht, sondern zunehmend im privaten Binnenraum. Dabei werden Liebe
und Kreativität als menschliche Potenziale reaktiviert, kindliche Intuition
wird gegenüber rationalen Problemlösungen und angepassten Lebensweisen
aufgewertet. Eine Trendwende markiert das Sams allerdings auch in medialer
Hinsicht, denn es wird zum typischen Beispiel für die Verwertung einer lite-
Medienverbund rarischen Idee im Medienverbund. Das Sams taugt ebenso zum Computer-
spiel (1998) wie zu dem auch auf DVD (2002) zugänglichen Kinofilm Das
Sams. Der Film (2001, Regie: Ben Verbong). Im Buch zum Film Das Sams
wird Filmstar (2001), einem typischen Sekundärprodukt umfassender medi-
Fantastische Literatur 397

Janoschs Figuren

aler Vermarktung, erläutert Paul Maar auf gut verständliche Weise, welche
Techniken einen fantastischen Film ermöglichen und worin er sich vom Buch
unterscheidet.
Mit der stärkeren Besinnung auf das Individuum ist auch eine Tendenz zur
Ästhetisierung verbunden. Ein epochentypisches Beispiel im Bereich der Il-
lustration sind die Klassiker und Weltbestseller von Janosch (eig. Horst
Eckert), allen voran Oh, wie schön ist Panama (1978), das 1979 den Deut-
schen Jugendbuchpreis erhielt und in den 80er Jahren Teil der Fernsehserie
Janoschs Traumstunde (WDR 1986 ff.) wurde. Die Geschichten um den klei-
nen Tiger und den kleinen Bär zeigen eine heiter idyllische Welt mit Kinderfi-
guren in Tiergestalt, die immer wieder auf fundamentale Werte wie Liebe
und Freundschaft verwiesen werden. Märchenhafte Elemente werden kon-
terkariert durch die Grenzen des Faktischen, die auch in der fantastischen
Welt gelten, der Einzelne wird orientiert auf den privaten Binnenraum und
die hier gegebenen Möglichkeiten. So entsteht die konkrete Utopie einer Anarchie im Kleinen
kindlich-anarchischen Parallelwelt, in der sich Chaos und Ordnung die
Waage halten. Mit Janoschs Aquarellen liegen Bilder von großer Leuchtkraft
und zahlreichen Identifikationsangeboten für Kinder vor; sie gleiten niemals
ins Kitschige ab und sind daher so populär, dass sie breit vermarktet werden
– als Plüschtiere oder Alltagsgegenstände für den Gebrauch der Kinder.
Während Janosch die Anarchie im Kleinen erprobt und zugleich die Gren-
zen des privaten Idylls sichtbar macht, entwirft Michael Ende in seinem
Kultbuch Momo (1973) die Utopie einer menschlich und ökologisch intak- Kultbuch »Momo«
ten Parallelwelt, in der die Menschen noch Zeit füreinander haben und krea-
tiv sein können. Endes Protagonistin und Vorbildfigur ist ein altersloses
Waisenkind aus dem Nirgendwo, das ganz selbstbezogen zu leben vermag
und seiner Umgebung Gutes tut, indem es auf besonders intensive Weise zu-
hört. Momo verbreitet Freundlichkeit unter den Erwachsenen und regt die
Kinder zu fantasievollen Spielen an, ohne die Konsumgüter der Spielwaren-
industrie. Der Frieden dieser intakten, in vielerlei Hinsicht vorindustriellen
Märchenwelt wird empfindlich gestört, als die fantastischen grauen Herren
das Prinzip der Rationalisierung von Zeit verbreiten. Da Momo sich dem
beharrlich entzieht, beginnen sie, Jagd auf das Mädchen zu machen. Mit
398 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

magischer Hilfe rettet sie sich ins Stundenhaus zu dem fantastischen Gegen-
spieler der Zeit-Diebe, Meister Hora. Er vermittelt Momo Einsichten in ein
metaphysisches Verständnis von Zeit. Die Zeitrechnung der grauen Herren
entlarvt er als kapitalistisches Prinzip, von dem eigentlich nur diese profitie-
ren, denn ihr Leben erlischt, sobald sie den Menschen keine Zeit mehr stehlen
können. Das romantische Konzept des magischen Kindes spielt für Momo
eine ebenso zentrale Rolle wie das Motiv des Kampfes zwischen guten und
bösen Mächten. Auch im Untertitel ›Ein Märchenroman‹ knüpft Ende expli-
zit an romantische Erzählformen an. Im Nachwort inszeniert er sich als Rei-
sender, der lediglich die Geschichte eines Mitreisenden niederschreibt, und
erhebt so den Anspruch zeitloser Gültigkeit. In einem Interview weist Ende
die parabolische Lesart als Kritik an der Industriegesellschaft zurück und
stellt den Roman in überzeitliche Koordinaten. Dennoch wird Momo Ende
der 70er Jahre zum Kultbuch der abflauenden Studentenbewegung und be-
gleitet deren Rückzug in die Neue Innerlichkeit. Zu einem Klassiker der
Kinderliteratur wurde es in den 80er Jahren durch ein Hörspiel (1984, Regie:
Heinz-Günter Stamm, Deutsche Grammophon), den Kinofilm (1986, Regie:
Johannes Schaaf), der auch als DVD zugänglich ist (2000), vor allem aber
durch die Zeichentrickversion (2001/02, Regie: Enzo d’Aló), die als Vor-
abendserie im Kinderfernsehen läuft.

Fantastisches Erzählen und kindliche Entwicklungsaufgaben


Neben der kritisch-utopischen Funktion, die unter dem Stichwort der ›sozi-
alen Fantasie‹ fantastische Erzählformen legitimiert, wird in den späten 70er
Jahren eine zweite und nachhaltiger wirksame Legitimation für die Notwen-
digkeit fantastischen Erzählens laut. Diese entstammt dem tiefenpsycholo-
gischen Diskurs und wurde am prägnantesten in Bruno Bettelheims Welt-
bestseller Kinder brauchen Märchen aus dem Jahre 1977 artikuliert. Dass die
Rezeption fantastischer Geschichten die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit
von Kindern fördern kann, hat Bettelheim nachhaltig am Beispiel der Volks-
märchen gezeigt. Diese liest er als literarisch hoch komplexe Darstellung
existenzieller Sorgen und Nöte, die ein Kind auf dem Weg von der Symbiose
mit der Mutter hin zur Individuation begleiten. Als die eigentliche Botschaft
der Volksmärchen betrachtet er die Einsicht, dass Probleme Teil des mensch-
lichen Lebens und durch Mut zu bewältigen sind. Das Handlungsschema
vom Kampf des (guten) Helden gegen (böse) Mächte interpretiert Bettelheim
als existenzielles Dilemma, dem sich jeder Mensch zu stellen hat. Dabei liest
er den Kampf nicht als soziales Geschehen, sondern als Ausdruck für inner-
Symbolische Lesart seelische Konflikte. Nicht abbildhaft realistisch, sondern symbolisch ist Bet-
telheims Zugriff auf fantastische Figuren und Ereignisse. Seiner Ansicht nach
thematisiert das fantastische Erzählen entwicklungsbedingte Ängste. Unter
dem Fantastikvorbehalt können Ängste genüsslich ausgemalt – und anschlie-
ßend gebannt werden. Das typische Handlungsschema der Märchen erscheint
unter dieser Perspektive als Ermutigung zur Konfrontation mit beängsti-
genden Mächten in der Gewissheit ihrer möglichen Überwindung.
Trotz dieses positiven Plädoyers eines Entwicklungspsychologen flammte
die Fantastik-Debatte 1979 erneut auf, als Michael Endes Roman Die un-
endliche Geschichte erschien und etwa zeitgleich die breite Rezeption der
Fantasyromane Der kleine Hobbit (1937, dt. 1967) und Der Herr der Ringe
(1954–55, dt. 1969–70) zu beobachten war. Allerdings hatte sich das Lese-
publikum längst für das fantastische Kinderbuch als selbstverständliches
Pendant zum realistischen Kinderroman entschieden. Gerade weil sie Lesebe-
Fantastische Literatur 399

dürfnisse des totalen Eintauchens in eine fiktive Anderswelt befriedigt, wurde


Die unendliche Geschichte zum unmittelbaren Verkaufserfolg. Als erstes
Kinderbuch überhaupt erreichte es die Bestsellerliste im Spiegel, gerade weil
hier noch viel deutlicher als in dem eher parabolischen Roman Momo das
Leseerlebnis als fantastisches Abenteuer zelebriert wird. Von der Magie des Abenteuer
Wortes erzählt der Roman ebenso wie von der Leidenschaft zu lesen, von
wertvollen Büchern und einer Aufhebung der Grenzen zwischen Fiktion und
Realität. Bastian Balthasar Bux, ein dicker, blasser Grundschüler, der als un-
sportlicher Außenseiter kräftig gemobbt wird, stiehlt ein Buch über das Kö-
nigreich Phantásien und muss rasch feststellen, dass er selbst entscheidend
zum Fortbestand der dort geschilderten Welt beizutragen hat, denn nur ein
neuer Name für die Kindliche Kaiserin kann Phantásien retten. Während sein
fantastisches Alter Ego Artréju in der fantastischen Welt aufbricht, um den
Retter zu suchen, und dabei vielfältige fantastische Abenteuer besteht, stellt
sich der ängstliche Bastian zunehmend der neuen Herausforderung, bis er
schließlich selbst in die fantastische Welt eintritt. Weitaus einsinniger als das
spannende Spiel mit den Grenzüberschreitungen zwischen Leser und Text
gestalten sich Bastians Erlebnisse in der Anderswelt. Versehen mit magischen
Kräften mutiert er zum allseits bewunderten Märchenhelden. Doch als er
seine ursprüngliche Identität nahezu vergessen hat und den Platz der Kind-
lichen Kaiserin einnehmen will, gerät er an unüberwindbare Grenzen, die
seinen eigentlichen Reifeprozess einleiten. Nicht als strahlender Held, son-
dern als dicker, blasser Junge kehrt Bastian am Ende in die Alltagswelt zu-
rück, doch er ist an Erfahrungen reicher und mutiger als vor dem Ausflug in Cover von Michael Endes
die Anderswelt. Momo
Einer Evasionsfunktion des Fantastischen wird im Roman damit eine
klare Absage erteilt. Nicht Ersatz für das Alltagsleben soll die fantastische
Welt sein, sondern eine Möglichkeit, Wünsche zu erproben und Ängste zu
durchleben: Phantásienreisende, Verfasser und Leser von Fiktionen, sollen
als Wanderer zwischen den Welten Fiktion wie Realität bereichern. Aus-
drücklich distanziert sich der kindliche Protagonist auch vom Programm ei-
ner didaktischen Kinderliteratur, er empfindet sie als manipulativ, weil sie
ihm die Möglichkeit verstellt, die Welt subjektiv zu erleben und beim Lesen
zu verzaubern. Unaufgelöst bleibt die Spannung zwischen den Gegebenheiten
des Alltags und der bunten Abenteuerwelt Phantásiens mit ihren archaisch-
mythischen Gestalten. Diese ist weitaus brisanter als in Momo, denn sie zeigt
ein raffiniertes Spiel der Fiktion mit unterschiedlichen Wirklichkeitsmodel-
len, die latent im Konflikt stehen. Die unendliche Geschichte ist der moder-
nere Kinderroman, macht er doch eine Entwicklung des Helden im fantas-
tischen Abenteuer möglich, die dann im Familienalltag gelebt wird: Bastian
hat seine narzisstische Wunde geheilt und seinen Egoismus überwunden, er
kehrt mit der Fähigkeit zu lieben von dem fantastischen Abenteuer zurück
und kann die Bindung zum Vater neu beleben. Insofern hat das fantastische
Erleben durchaus Realitätsanspruch, es wird nicht durch rationale Erklä- Realitätsanspruch
rungen aufgehoben oder entschärft. Damit hat Ende eine Zwei-Welten-Fan-
tastik geschaffen, die dezidiert angebunden ist an Realitätserfahrung, eine
Funktion, die in unterschiedlichen Ausprägungen weitergeführt wird, etwa
in Martin Auers Jagd nach dem Zauberstab (1995), Andreas Schlüters Level
4 – Die Stadt der Kinder (1994) oder in Kirsten Boies medienkritischem Ju-
gendroman Skogland (2005).
400 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

Moderne Erzählformen und negative Utopien in den 80er Jahren


Einen weiteren Schritt hin zu moderner Mehrdeutigkeit vollzieht ein Kinder-
roman, der zur Zeit zunehmender Erosion der DDR entsteht. Benno Pludra
erzählt in Das Herz des Piraten (1985) von der elfjährigen Jessica, die als
Einzelkind mit einer alleinerziehenden Mutter in einer Kleinstadt an der
Ostsee aufwächst und häufig allein zurechtkommen muss. Eines Tages findet
das einsame Mädchen am Strand einen Stein mit magischen Fähigkeiten. Er
spricht mit ihr und versteht ihre innersten Gedanken, im Dialog wird er
warm und beginnt zu leuchten. Der Stein bringt Jessica mit einer längst ver-
gangenen Piratenwelt in Berührung, mit Unglück, Schuld und Sühne, aber
auch mit ihrer eigenen Vatersehnsucht. Das Wunderbare und das Unheim-
liche treten zugleich in Jessicas Leben, denn der Stein ist ihr Gesprächspartner
und Vaterersatz; aber er erzählt auch von grausamen Verbrechen, denn er ist
das versteinerte Herz eines toten Piraten, das durch die Nähe des Kindes er-
Intertextuelles Spiel neut zu leben beginnt. Pludra spielt mit dem romantischen Motiv vom kalten
Herz, von der Seele, die keine Ruhe findet, wie sie in den Märchen von Hauff
und Chamisso beschrieben ist. Durch den intensiven Kontakt mit ihrem Stein
isoliert sich Jessica zunehmend, denn sie ist die einzige, die seine magischen
Fähigkeiten wahrnimmt, während andere glauben, sie führe Selbstgespräche.
Man hält sie für verrückt und grenzt sie aus; Jessica bezahlt einen hohen
Preis für die Erfahrung von Wärme und Intimität. Zugleich bereitet der Stein
Jessicas Begegnung mit dem eigenen Vater und den schuldhaften Verstrickun-
gen in der Familie vor. Während die Mutter eine neue Beziehung beginnt,
erscheint eines Tages Jessicas leiblicher Vater – ein Zirkusreiter, der aussieht
wie ihr Pirat. Der Alltag scheint die fantastische Erfahrung einzuholen, doch
Jessicas Hoffnungen zerschlagen sich. Sie erkennt, dass ein Familienleben mit
ihrem Vater nicht mehr möglich ist, und lässt ihn weiterziehen. Zugleich
entschließt sie sich, den Stein, der sie zunehmend isoliert und von ihrer Um-
welt entfremdet, zurück ins Meer zu werfen und zur Ruhe kommen zu lassen.
Mit diesem ungewöhnlich desillusionierenden Schluss nähert sich Pludras
Roman einer strengen Fantastik im Sinne Todorovs, denn er erhält sowohl
bei der handelnden Figur wie auch bei den Lesern eine Unschlüssigkeit hin-
sichtlich des Realitätscharakters des magischen Steins. Konsequent aus der
Sicht der Protagonistin erzählt, lassen sich die fiktiven Dialoge mit dem Pi-
ratenherz auch als innere Monologe mit Tendenzen zur stream-of-conscious-
ness-Technik lesen, mit der die Spannung zwischen einem ernüchternden
Kinderalltag und einer fantastisch-exotischen Vaterfigur aufgebaut und aus-
gehalten wird. Damit muss Pludras Herz des Piraten als der fantastische
Kinderroman gelten, der sich am weitesten auf das Gebiet moderner Erzähl-
techniken begibt.
Während in der niedergehenden DDR die Vatersehnsucht des Trennungs-
kindes im fantastischen Symbol thematisiert wird, konzentriert sich die sozi-
alkritische Kinderliteratur in der Bundesrepublik auf die brisanten Themen
Negative Utopien der atomaren und ökologischen Bedrohung. In negativen Utopien (Dysto-
pien) werden die Gefahren eines Atomkrieges ebenso drastisch dargestellt
wie die einer ökologischen Katastrophe, ausgelöst durch kriegerische Hand-
lungen oder menschliches Versagen. Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung
sind die gesellschaftlichen Kräfte, die hier literarischen Ausdruck finden. Vor
allem Gudrun Pausewang hat mit ihren Romanen Die letzten Kinder von
Schewenborn (1983) und Die Wolke (1987) den Zeitgeist getroffen. Beide
Romane, die keineswegs nur auf Zustimmung stießen, wurden zur Schullek-
türe. Sie müssen als Grenzfall der fantastischen Kinderliteratur angesehen
Fantastische Literatur 401

werden, denn Gudrun Pausewang praktiziert, was zu dieser Zeit wohl am


ehesten als ›soziale Fantasie‹ bezeichnet werden kann: sie schildert nicht
subjektiv-selbstbezogene Wünsche und Ängste, sondern rekonstruiert die
möglichen Folgen eines Atomangriffs bzw. Reaktorunfalls und erzählt diese
ebenso plastisch wie drastisch. Auch sie spielt mit der Spannung zwischen
profaner Alltagsrealität und dem nur schwer Vorstellbaren, doch Pausewangs
fantastische Welt muss als mögliche gelten. Aus der Sicht einer 14-Jährigen
werden in Die Wolke die Früh- und Spätfolgen eines Reaktorunfalls erzählt,
die Ich-Erzählerin schlägt sich mit Bruder und Eltern durch apokalyptische
Landschaften, wird selbst Opfer der Strahlenkrankheit und muss mit anse-
hen, wie ihre Familienangehörigen leiden und sterben. Bemerkenswert sind
die Darstellungen menschlichen Verhaltens: Dargestellt werden der rück-
sichtslose Egoismus von Menschen, die angesichts der Katastrophe in Panik
geraten, aber auch Wärme, Liebe und Rücksichtnahme innerhalb der Fami-
Gudrun Pausewang
lie, die sich als Hort intakter Beziehungen erweist und der äußeren Bedro-
hung Stand hält.
Pausewangs Intention ist es, rückhaltlos zu schockieren, um zum Wider-
stand gegen die friedliche wie kriegerische Nutzung der Atomkraft aufzuru-
fen. Der Thrill des Abenteuers und die beruhigende Wirkung einer intakten
Familie machen die Bücher für Kinder überhaupt erst lesbar. Pausewang er-
hielt zahlreiche Preise für ihre mahnend-belehrenden Bücher, die nach dem
klassischen Muster der sozialkritischen Kinderliteratur geschrieben sind, u. a.
1988 den Deutschen Jugendliteraturpreis für Die Wolke, der sie das Motto
voranstellt: »Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten nichts
gewusst.« In der Tradition der Aufklärung geht es um Wissens- und Informa- Aufklärung
tionsvermittlung an die jüngere Generation, anders als die Aufklärung mit
ihren Exempelgeschichten nutzt Pausewang zur Vermittlung ihres Anliegens
die Mittel des fantastischen Erzählens, insbesondere Subjektivierung und
Emotionalisierung. Die von Pausewang genutzte Form gesellschaftskritischer
Science Fiction wird in den 90er Jahren durch Jugendromane weitergeführt,
in deren Zentrum nunmehr Gentechnologie und umfassende Medialisierung
stehen. So erzählt Charlotte Kerner in Geboren 1999. Eine Zukunftsge-
schichte (1990) die verstörende Geschichte des »kalten Karl«, der außerhalb
des Mutterleibes entstanden ist, während Kurt Wasserfall in Digital Life oder
Laras Liebling (1997) und Reinhold Ziegler in Version 5 Punkt 12 (1997)
die abgrundtiefe Entfremdung und Verdinglichung aller menschlichen Bezie-
hungen in der komplett digitalisierten Gesellschaft beschreiben.

Die Globalisierung des Fantastischen am Ende des Jahrhunderts


Die endgültige Etablierung der fantastischen Kinder- und Jugendliteratur im Etablierung
Literaturbetrieb ist in den 90er Jahren zu verzeichnen. Dies gilt nicht nur,
aber vor allem für das klassische Muster des fantastischen Erzählens, wie es
erstmals in den Kunstmärchen der deutschen Romantik, vor allem von Lud-
wig Tieck und E.T.A. Hoffmann, entwickelt und etwa von Michael Ende er-
neut aufgegriffen wurde: Entsprechend dem romantischen Kindheitsmythos
bewegt sich eine kindliche Zentralfigur neben der Alltagswirklichkeit auch
in einer magischen Anderswelt, die sich ebenso aus individuellen Fantasien
wie den Mythen und Märchen des Abendlandes zusammensetzt und in der
eigene Normen und Werte gelten. Dieses klassische Muster kinderlitera-
rischer Fantastik wird in immer neuen Varianten wirksam. Dabei sticht in
den 90er Jahren vor allem die neue Untergattung der so genannten »Cyber-
space-Novels« (Gansel) ins Auge, eine literarische Antwort auf den Eintritt
402 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

ins Medienzeitalter, bei der fantastische Ereignisse nicht durch magische


Kräfte, sondern durch den Einsatz aktueller Medien motiviert werden. Zu
nennen sind hier neben zahlreichen, durchaus auch trivialen Beispielen, An-
dreas Schlüters Der Ring der Gedanken (1995), wo die Magie des Rings
letztlich auf einen Computerchip zurückgeführt wird, oder Eva-Maria
Lamprechts Karo, die Computerhexe (1997).
Eine am ›Ende der Gutenberg-Ära‹ völlig neue Form öffentlich demons-
trierter Lesebegeisterung löste Joanne K. Rowlings Harry Potter-Serie seit
Ende der 90er Jahre unter Kindern und Jugendlichen aus. 1998 erschien die
deutsche Übersetzung des ersten Bandes, die weiteren sechs Bände folgten in
rascher Reihenfolge, bis schließlich im Herbst 2007, nur ein Vierteljahr nach
dem englischen Original, der Abschluss-Band Harry Potter und die Heiligtü-
mer des Todes erschien, der zum zentralen Thema vordringt, das auch die
anderen Bände motiviert. Sie alle handeln von dem Waisenjungen Harry, der
schon als Baby mit dem Tod konfrontiert wurde und unter ärmlichsten Be-
dingungen bei Verwandten aufwächst, um an seinem zehnten Geburtstag zu
erfahren, dass er ein Zauberer ist und der größte Widersacher des schwarzen
Magiers Lord Voldemort.
Figurengestaltung und Perspektivführung haben zur Folge, dass die Lese-
rinnen und Leser mit und durch Harry in die Gesetzmäßigkeiten der Welt der
Zauberer und Hexen eingeführt werden, einer Art mittelalterlich nostalgi-
Paralleluniversum schem Paralleluniversum zur Alltagswelt, dessen Indizien die ›Muggles‹ be-
harrlich übersehen, während sich die Magier in beiden Welten bewegen. Das
Zentrum der magischen Welt liegt im Internat Hogwarts als dem Ort, an
dem jugendliche Zauberer ausgebildet werden. Je länger Harry sich dort
aufhält, desto mehr wird deutlich, dass es nicht nur um fachliches Lernen,
sondern vor allem um Persönlichkeitsbildung geht, zu der insbesondere die
zahlreichen magischen Abenteuer beitragen, die Harry mit Mut, Ehrlichkeit
und Solidarität zu bestehen vermag. Das traditionelle Märchenschema, wo-
nach dem Helden Aufgaben gestellt werden, die ihn in schwierige Situationen
bringen, deren Lösung aber reich belohnt wird, ist ebenso wirksam wie das
Prinzip der Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung. Bei allen fantas-
tischen Elementen tendiert die Lebensgeschichte der Zentralfigur insofern
zum Bildungsroman, als der persönliche Werdegang Harrys immer auch
durch die ›bildenden Mächte‹ des Hogwarts-Internats gelenkt und begleitet
wird. Obwohl die Welt der Zauberer zahlreiche mittelalterliche und auf den
ersten Blick rückwärtsgewandte Aspekte aufweist, setzt sie sich letztendlich
entschieden ab von allen feudalistischen und rassistischen Tendenzen, denen
Harrys Widersacher anhängen. Erstaunlich differenziert werden die hilf-
reichen Autoritäten gezeichnet, die Harry auf seinem Weg begleiten: Bei allen
Cover aus der Harry- den Schulalltag regelnden Normen gestatten sie ihm immer wieder, Grenzen
Potter-Reihe zu überschreiten und Erfahrungen zu sammeln, deren Konsequenzen er in
jeder Hinsicht zu spüren bekommt. So ist die Harry-Potter-Serie unterschwel-
lig nicht von einem simplen Gut-Böse-Schema gekennzeichnet, sondern von
der Einsicht, dass das Leben immer wieder zur Entscheidung zwischen des-
truktiven und konstruktiven Tendenzen auffordert. Nicht Sekundärtugenden
Selbstfindung werden in der Harry-Potter-Reihe vermittelt, sondern individuelle Selbstfin-
dung in der konfliktreichen Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt.
Diese hat trotz der fantastisch-mittelalterlichen Kulisse erstaunlich viele
Ähnlichkeiten mit realen Verhältnissen, unter denen Kinder und Jugendliche
um die Jahrtausendwende aufwachsen. Die Möglichkeit, reales Erleben im
fantastischen Raum wiederzufinden und dabei zugleich im Schonraum der
fantastischen Fiktion spannende Abenteuer zu erleben, ist sicherlich eine Er-
Fantastische Literatur 403

klärung für den Sog, der von den Romanen um Harry Potter ausgeht und das
Erscheinen jedes neuen Bandes zum Happening werden lässt, bei dem kind-
liche Hexen und Zauberer massenhaft in die Buchhandlungen einfallen und
brav Schlange stehen, um den neuesten Titel zu erwerben. Eine andere wich-
tige Stärke des Harry-Potter-Projekts ist das brillante narrative Kalkül der
Autorin, die die wichtigen Figuren und Ereignisse aller Bände en détail be-
reits im ersten Band angelegt hat, so dass sich die Geschichte wie von selbst
zu entwickeln scheint. Ein dichtes Netz von Metaphern und Symbolen run-
det das von einer allwissenden Erzählinstanz präsentierte Romanwerk poe-
tisch ab: In den sprechenden Namen findet sich ebenso eine semantische Sprechende Namen
Vertiefung wie in bildlichen Symbolen, z. B. für die verschiedenen Fraktionen
der Zaubererwelt, die in scheinbar nebensächlichen Alltagsgegenständen wie
etwa der Kleidung wiederkehren. So findet sich beispielsweise das Schlan-
gensymbol der feindlichen Slytherins vielfältig gespiegelt – etwa in dem Tur-
ban, in dem Voldemorts Anhänger sein Doppelgesicht verbirgt – und erlaubt
eine zweite Lesart der Romane, die weniger auf ›Action‹ abgestellt ist denn
auf ästhetischen Genuss.
Neben der bereits als Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur zu be-
zeichnenden Harry-Potter-Reihe erscheinen seit den 90er Jahren andere
Fantasy-Serien, die durchaus auch eine breite internationale Fan-Gemeinde
um sich scharen und mit jedem neuen Band ganz vorne auf den Bestseller-
Listen landen: Eoin Colfers Artemis Fowl-Serie (seit 2001), die Eragon-Reihe
(seit 2003) von Christopher Paolini oder Jonathan Strouds Bartimäus-Trilo-
gie (seit 2003). Diese Serien sind alle auf die eine oder andere Weise dem
›großen Tolkien‹ verpflichtet und doch entwirft jede einen eigenen, durchaus
originellen Kosmos.

Postmoderne Vielfalt – Anklänge an postmodernes Erzählen


um 2000
Die Harry Potter-Romane, deren weitere Bände von 1998 bis 2007 in rascher
Reihenfolge erschienen und von den Warner Brother Studios auch verfilmt
wurden, sorgten endgültig für die Anerkennung des fantastischen Kinder-
und Jugendromans im Literaturbetrieb. Lesebegeisterung und die Ausbildung
stabiler Lesegewohnheiten scheint bei Kindern und Jugendlichen besonders
eng mit diesem Genre verbunden, das auf Bedürfnisse nach Unterhaltung
durch Action und Abenteuer ebenso eingeht wie auf existenzielle Lebensfra-
gen und Alltagsprobleme, wenn auch in symbolischer Form. Dass ›Fantasy‹
nicht nur Entlastung vom Alltag bis hin zur Evasion bewirkt, sondern auch
eine konstruktive Realitätsbewältigung unterstützen kann, demonstriert Realitätsbewältigung
Burkhard Spinnen in seinem überwiegend realistischen Roman Belgische
Riesen (2000), der die Probleme eines Scheidungskindes in einer äußerst
raffinierten erzählerischen Form thematisiert. Konrad, Kind einer intakten
Mittelstandsfamilie, kommt in die prekäre Situation, seine quirlige Freundin
Fridz bei der Bewältigung der Trennung ihrer Eltern zu unterstützen. Ihm
hilft dabei vor allem die fantastische Gute-Nacht-Geschichte, die Konrads
Vater seinen Kindern erzählt. Da er Ideen und Impulse der Kinder aufgreift,
können Konrads Fragen und Ängste im Schonraum der Fiktion plastisch
werden. Sie erlaubt es auch, Problemlösungen zu erproben, zu verwerfen und
zu verbessern. Am Ende wissen beide Kinder mehr über die Kultur des Strei-
tens und deren konstruktive Wirkungen.
Etwas im Schatten von Harry Potter blieb Hans Magnus Enzensbergers
zeitgleich erschienener fantastischer Jugendroman Wo warst du, Robert?
404 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

(1998), der vor allem deshalb Beachtung verdient, weil er vom klassischen
Zwei-Welten-Schema abweicht und seinen Protagonisten auf eine medial in-
Zeitreise spirierte fantastische Zeitreise schickt, die ihn aus der Alltagswelt zu sieben
historischen Wirklichkeiten führt – chronologisch zurückschreitend von den
50er Jahren in Sibirien bis ins Jahr 1621. Robert sammelt historisches Erfah-
rungswissen, durchlebt aufregende Abenteuer, doch immer, wenn die Situa-
tion zu bedrohlich wird, hilft ihm ein zeitgenössisches Medium – vom Fern-
sehen über den Kinofilm, die Schwarz-Weiß-Fotografie bis zum Kupferstich
– zurück in eine andere Zeit und an einen anderen Ort mit ihren jeweiligen
Möglichkeiten und Gefahren. Wie schon in seinem Zahlenteufel (1997) ge-
lingt ihm Edutainment auf höchstem Niveau, denn er entfaltet ein postmo-
dernes Spiel mit der Simultaneität historischer Wirklichkeiten, das die Aben-
teuerlust ebenso befriedigt wie den Wissensdurst. Enzensberger hat damit
wohl das traditionelle Motiv der Zeitreise auf die originellste und informa-
tivste Weise ausgestaltet. Andere, eher auf Unterhaltung fixierte Beispiele
finden sich insbesondere in der Justin Time-Serie von Peter Schwindt, die
2004 mit Justin Time – Zeitsprung einsetzt. Der Protagonist mit dem spre-
chenden Namen, »Zeitwaise« aus dem Jahr 2377, dessen Onkel das erste
Zeitreisebüro der Welt betreibt, befriedigt mit seinen Irrfahrten in vergan-
gene Zeiten und touristisch durchaus attraktive Gegenden vor allem das In-
teresse jüngerer Leserinnen und Leser an Technik und Science Fiction.
Auf die kreative Kraft fiktiver Welten und die Lust am Fabulieren vertraut
hingegen die als ›deutsche Joanne K. Rowling‹ gepriesene Cornelia Funke.
Sie zählt zu den vor allem quantitativ produktivsten und erfolgreichsten
deutschen Autorinnen; 2005 liegt die Gesamtauflage ihrer Bücher weltweit
bei 10000 Exemplaren. Der große Durchbruch gelang ihr 2002 im anglo-
amerikanischen Raum, als ihr fantastischer Venedig-Roman Herr der Diebe
(2000) auf Englisch erschien, anschließend in 23 Sprachen übersetzt und
2005 als Film in die Kinos kam. Die Filmrechte des fantastischen Kinderro-
mans Drachenreiter (1997) erwarb der Produzent Mark Ordesky, der auch
den Herrn der Ringe produziert hatte, so dass Funke zumindest filmisch in
der Tradition des großen Tolkien steht. Während Funkes Romane in Groß-
Bestseller britannien, Kanada und den USA weit oben auf den Bestsellerlisten stehen,
sind die Jugendbuch-Juroren in Deutschland zurückhaltender; für den deut-
schen Jugendbuchpreis erhielt sie lediglich Nominierungen. Dies mag daran
liegen, dass ihre Figuren vergleichsweise flächig gezeichnet sind und die
Handlung so einsinnig angelegt ist, dass sie von vornherein einem Drehbuch
nahe kommt.
Literaturhistorische Beachtung verdient allerdings der 2003 erschienene
Roman Tintenherz, der Elemente des postmodernen Erzählens aufgreift. Er
wurde mit dem Fantastik-Preis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet und für den
Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. 2005 folgt der zweite Band Tin-
tenblut, 2007 – zeitgleich mit dem letzten Band der Harry-Potter-Serie – der
dritte Band Tintentod. Die Trilogie ist im Kern vor allem eine Liebeserklä-
rung an das Buch und all jene Künste, die mit ihm zusammenhängen: das
Schreiben wie die Illustration (oder Illumination), das Buchbinderhandwerk
ebenso wie die Kunst des Vorlesens. Lediglich vom Verkauf ist nicht die Rede.
Magisch sind nicht Zauberstäbe oder -formeln, sondern Bücher, so magisch,
dass ihre fiktiven Welten – gekonnt vorgetragen – Wirklichkeit werden kön-
nen. Während im ersten Band noch eine italienisch anmutende Alltagswirk-
lichkeit dominiert, entführt uns Funke im zweiten Band in eine mittelalter-
Cornelia Funkes liche Welt voller Wunder und Schrecken. Dabei werden unterschwellig auch
Tintenherz Jenseitserfahrungen thematisiert, eine weitere Parallele zur Serie um Harry
Lyrik für Kinder 405

Potter. Gerade in der »Tintenwelt« erwarten die Protagonistin düstere Ängste


vor Tod und endgültigem Verlust, welche dann doch immer wieder abgewen-
det werden können. Konsequenter noch thematisiert Zoran Drvenkar das
existenzielle Thema des Todes in seinem Mystery-Thriller Sag mir, was du
siehst (2002), der mit hoher Suggestivkraft eine mysteriöse Schattenwelt
heraufbeschwört, die die Lebenden mit dem Tod verbindet. Sind es hier geis-
terhafte Gestalten, die Transzendenz verkörpern, so ist es bei Funke das er-
zählte Wort: »Gibt es etwas Schöneres auf der Welt als Buchstaben? Zauber-
zeichen, Stimmen der Toten, Bausteine für wundersame Welten«, so Funkes
Hommage an das Buch. Ehrfurcht vor diesem Medium fordert auch Wolf-
gang und Heike Hohlbeins Fantasyroman Das Buch (2007), sie kennzeichnet
die fantastische Kinderliteratur der Jahrtausendwende ebenso wie eine eher
kritische Sicht auf neuere Medien. Weniger traditionell als die Hohlbeins löst
Funke die Grenzen zwischen der Alltagswelt und der fiktiven Welt der Bü-
cher tendenziell auf. In postmoderner Manier verwischt sie die Differenz
zwischen Text und Nicht-Text, Fiktion und Wirklichkeit. Die Protagonistin
Meggie erfährt, wie Figuren aus der Fantasiewelt in die Wirklichkeit schlüp-
fen, während im Gegenzug reale Personen verschwinden. Dabei erzählt
Funke nicht nur von der Magie des Buches, sie stattet das ihre auch üppig
aus, verziert und illustriert den Roman – auch mit Zitaten aus anderen Bü-
chern, die jedem Kapitel vorangestellt sind, um inhaltlich aufgegriffen und
weitergesponnen zu werden. Weniger um die Vermittlung einer tieferen Bot-
schaft geht es als um ein postmodernes Spiel mit den Beständen der Weltlite-
ratur. ›Tintenweber‹ nennt Funke die Schriftsteller und experimentiert im
kreativen Nebeneinander der Künste mit der Ausdruckskraft der Worte als Macht und Ohn-
einer Art Ornament. In der scheinbaren Auflösung der Grenze zwischen Fik- macht der Worte
tion und Wirklichkeit besteht der postmoderne Charakter der Tintenwelt-
Trilogie. Allerdings zeigt das gute Ende, dass das Vertrauen auf eine Rückkehr
in die vertraute Alltagswelt nicht grundlegend erschüttert werden soll – hier
findet das kinderliterarische Spiel der Fiktionen mit Realitäten seine Grenze
und reiht sich ein in eine lange kinderliterarische Tradition, die letztlich auf
Wirklichkeit orientiert ist und diese lediglich anreichert durch Ausflüge in
eine andere Welt, die weniger beständig ist. Ein 2007 erschienenes Bilderbuch
des österreichischen Autors Heinz Janisch zeigt diesen Luxus auf ebenso
kindliche wie poetische Weise: Eine Wolke in meinem Bett erzählt elf kleine
fantastische Geschichten, die von Isabel Pin so sparsam und perspektivisch
geschickt bebildert wurden, dass die Illustrationen Spielräume für die Fanta-
sie der Leserinnen und Leser eröffnen. Als Bereicherung, nicht als Bedrohung
erscheinen die wundersamen Ideen der Protagonistin in dieser kleinen Vor-
schule der Ästhetik, die in Jean Paulscher Manier die Poesie als »die einzige
zweite Welt in der hiesigen« (§ 1) bestätigt.

Lyrik für Kinder


Ines-Bianca Vogdt

Auf den ersten Blick bieten die 70er Jahre keine Höhepunkte, die es nahele-
gen, von einer historischen Zäsur zu sprechen. Kaum noch in Erinnerung:
das zögerliche Ende des Vietnamkrieges, die Ölkrise, der Militärputsch in
406 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

Chile, vergessen deutsche Angelegenheiten: die Ostverträge, der ›Radikalen-


erlass‹. Und doch finden seit dieser Zeit Umwälzungen statt, die in den
spektakulären 60ern erst zaghaft angestoßen wurden. Der Vietnamkrieg war
nur der Auftakt für die blutigen Kämpfe, die im Rahmen der Entkoloniali-
sierung die geteilte Welt erfassten und heute im globalen Terrorismus ihren
Ausdruck finden. Die Ölkrise rückte ins Bewusstsein, was wir bis heute ver-
drängen, nämlich die katastrophalen Folgen gedankenlosen Energiever-
brauches. Die erschütternden Foltermethoden eines Pinochet sind immer
noch gang und gäbe und das Nachdenken über die ›innere Sicherheit‹ be-
ginnt erst richtig. Ende der 60er Jahre freute man sich über die neuen Super-
märkte, farbenprächtigen Verpackungen und glänzenden Automobile – seit
den 70er Jahren ragen Abfallberge in einen staubigen Himmel, schäumen
die Flüsse über und Blechlawinen verstopfen die Schluchten zwischen den
Hochhäusern. Das Leben der Erwachsenen verlagerte sich vom Acker, der
Werkstatt, dem Laden endgültig ins Büro, vom Wirtshaus vor den Fernseh-
apparat. Die Kinder zogen mit – vom Wald auf den Spielplatz und von dort
aus zur LAN-Party in den Hobbykeller. Diese Prozesse sozialen Wandels
werden wissenschaftlich untersucht – und sie spiegeln sich in der lyrischen
Produktion für Kinder.
Im 18. Jh. entsteht das, was spezifische ›Kinderlyrik‹ genannt wird: Ge-
dichte werden eigens für Kinder verfasst, Gedichte aus der Welt der Erwach-
senen für Kinder in eigenen Sammlungen herausgegeben und so ›umgewid-
met‹. Seither lassen sich in diesem Genre alle gesellschaftlichen Verände-
rungen ablesen. Denn frei von der Angst, künstlerischen Ansprüchen nicht zu
genügen, geben Dichter und Herausgeber hier zum Besten, was sie schon
immer sagen wollten: über das Kind, über die Welt und über die Zeitläufte.
Das Kind ist ein geduldiger Zuhörer, es ist daran gewöhnt, dass Erwachsene
ihm so allerhand erzählen. Die finden es wichtig, dass die Erfahrung der
Großen an die Kleinen weitergegeben wird. Sie haben’s ja schließlich gesehen
und erlebt und daraus soll das Kind seine Schlüsse ziehen, lernen. Man darf
unbesorgt drauflos dichten: Kinder verwerten alles. Ein Stück Holz kann
schon eine Puppe sein, jeder Lumpen Poesie taugt zum zauberhaften Feen-
kostüm. Außerdem: Kinder spielen mit der Sprache wie mit dem Essen.
Warum also nicht einen ›vollfleischigen Wortsalat‹ auftischen? Qualitätvolls-
tes findet sich immer neben Trivialem, künstlerisches Geheimnis neben pla-
kativem Katzengold. Alle Themen und Gestaltungsmöglichkeiten, die unsere
Zeit geprägt haben, werden hier sichtbar.
Das ›alte Wahre‹: Das ›alte Wahre‹: Bis heute erscheinen immer neue Schatzkästen und bunte
konservative Reigen der Kinderpoesie. Die Auswahl reicht meist bis in die frühen Jahre
Anthologien des 20. Jh.s. Mütterlein sollen sie im trauten Stübchen vorlesen, Lämmchen
mähen, Bächlein murmeln und das Fiedelhänschen geigt. Da wird gereimt,
geneckt und in die Hand gepatscht, gesungen und im Kreis gehüpft. In einer
Zeit, in der das Kind, besonders im bürgerlichen Adressatenkreis dieser Ly-
rik, immer mehr zum kostbaren Einzelstück wird, soll an ein kollektives
Gedächtnis appelliert werden, das den Zerfallstendenzen eben dieses Bürger-
tums entgegenwirkt. In repräsentativer Aufmachung oder in preisgünstigem
Pappeinband werden die Gegenwart berufstätiger Mütter und andere Er-
scheinungen der globalisierten Welt ausgeblendet. Die Hexen sind so rothaa-
rig wie im Mittelalter, die Jungen reiten auf Steckenpferden und die Mädchen
tragen zwar Gummistiefel, halten sich über den Kopf aber als Regenschutz
eine ›Schulfibel‹.
Auf anderem Niveau zeigen dieselbe Intention Das große Buch der Kin-
derreime aus alter und uralter Zeit aufgesammelt, sowie etliche ganz neu
Lyrik für Kinder 407

dazuerfunden und bunt illustriert von Janosch oder die Balladensammlung


Krachen und Heulen und berstende Nacht. Auch wenn Janosch die Tradition
mit seiner Nonsenspoesie konterkariert oder Katharina Diestelmeier Autoren
wie Brecht, Kästner oder Hacks aufnimmt, so beschwören doch beide die
Kontinuität deutscher Geschichte und den Zusammenhalt der Generationen
in einer gemeinsamen Kultur. Die Verbindung zur Moderne wird gerade noch
in der Gestaltung gesucht.
Das ›neue Wahre‹: Bereits im Vorwort zu seiner Sammlung Bunter Kinder-
reigen von 1966 äußert der Herausgeber, Hans-Joachim Gelberg, seine Ab- Das ›neue Wahre‹:
sicht, ›Musterbeispiele des modernen Kindergedichts‹ zu geben. Er definiert »Bunter Kinderreigen«
ein Normengerüst, das den Großteil intentionaler Kinderlyrik im ausge-
henden 20. Jh. prägt:
a. Das Kindergedicht ist ›Gebrauchstext‹, es soll möglichst oft gelesen und
gesprochen werden, es soll im Alltag Verwendung finden.
b. Das Kindergedicht ist ›Spielzeug‹, d. h., es kann weitergedichtet und
verändert werden.
c. Der Klang, der Rhythmus, das ›Reimgeklingel‹ ist, besonders für kleinere
Kinder, wichtiger als eine logische Aussage. Vor der Gefahr der Trivialisie-
rung durch den gefügigen Endreim wird gewarnt.
d. Das Kindergedicht für ältere Kinder soll eine ›Fabel‹ enthalten, hand-
lungsorientiert sein.
e. Dieser ›Handlungskern‹ soll darüber hinaus ›Realität‹ transportieren –
die zeitgenössische Umwelt des Kindes soll zur Sprache kommen.
g. Die Darstellung muss bildhaft sein. Hans-Joachim Gelberg
h. Eine wichtige Komponente bleibt der Spaß.
Hier zeigen sich bereits die Schwierigkeiten, mit dem ›Kindergedicht‹ zu
einer nicht nur thematischen, sondern auch strukturellen lyrischen Moderni-
tät zu kommen. Alleine durch die Prämissen ›Gebrauchsdichtung‹, ›Vermitt-
lung von Inhalten‹ und ›Spaßhaftigkeit‹ bleibt die Kontinuität mit der kin-
derlyrischen Produktion seit dem frühen 19. Jh. gewahrt. Betulich bebildert
von Erika Klemme hebt sich Gelbergs Sammlung noch kaum vom Ge-
wohnten ab. Es wird vor sich hin gereimt, spaßige und trauliche Geschicht-
chen werden erzählt; die äußerste Hinwendung zur technisierten Welt bieten
die Gedichte von Guggenmos Im D-Zug oder dessen Ermahnung, nur bei
Grün über die Ampel zu gehen.
Drei Jahre später wendet sich Gelberg vehementer der Gegenwart zu. »Die Stadt der Kinder«
Noch im Vorwort zur Neuausgabe von 1999 stellt er fest, dass mit Die Stadt
der Kinder 1969 eine ›Erneuerung der Kinderpoesie‹ stattgefunden habe. Die
Gedichte wurden von lebenden Autoren im Auftrag des Herausgebers ver-
fasst. Seither fand der Band in unzähligen Neuauflagen große Verbreitung
und prägte so das Gesicht der Kinderlyrik und vor allem auch der Schul-
buchlyrik. Gelberg aktualisiert noch einmal seine Forderungen: Realistik
und Nähe zum Alltagsleben wird angemahnt, alles Lehrhafte und Feierliche
soll endgültig verbannt werden. ›Erwachsenendichter‹ werden hinzugezogen,
um die Qualität zu verbessern und die Ernsthaftigkeit des Anspruchs zu be-
kräftigen. Doch wie sieht die Wirklichkeit aus?
Die Namen der dreizehn Bezirke, in die die ›Stadt‹ aufgeteilt ist, sprechen
für sich: ›Schwertfegergasse‹, ›Hundertpfennigweg‹, ›Schwanenwall‹ und an-
dere märchenhafte Orte bilden den Lebensraum der Kinder. Eva Rechlin re-
gistriert zwar im ersten Gedicht Vom Bahnhof bis zum Dom braust der Au-
tostrom die Modernisierung der Stadt, doch das lyrische Personal besteht
noch immer vorwiegend aus personifizierten Straßenbahnen, Wassertropfen,
Ampelanlagen und knallroten Feuerwehrautos. In solchen Personifikationen
408 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

sprechen schon die Kinder Christian Felix Weißes zu ihren Büchern. Weitere
wichtige Subjekte sind: Kasperle, Riese, Hampelmann, starker August und
jede Tierart. Die Themen sind nicht neu, aber auch formal lassen sich keine
Unterschiede erkennen zu Gedichten von Friedrich Rückert (1834) oder
James Krüss (1959). Dann gibt es die besinnlichen und die zeitkritischeren,
vom Optimismus der 68er Jahre gezeichneten Gedichte. Hier findet sich
dann auch die offene Form, gepaart mit thematischer Aktualität. Als Beispiel
sei Rainer Schnurres Kinder genannt, das so endet:

»Wir Kinder
mit gelber roter weißer und schwarzer Hautfarbe
Auch wenn wir uns einmal streiten
Wir vertragen uns immer wieder
Wir die Kinder auf der ganzen Welt.«

Kritisch und fast grotesk schließt die Sammlung (beinahe) mit einem Gedicht
von Ernst Meister über einen Knaben, der im Krieg ein Bein und zwei Eltern
verlor und nun immer wieder zu deren Grab ›krückt‹: Kleines Einbein. Weil
das aber doch zu erschütternd wäre, wird mit der launigen Teppichlitanei
von Christa Reinig abgefedert. Hübsch klingen sie, die vielen Teppichnamen,
aber neu ist sie nicht, die bunte Reihe.
Zusammenfassend kann man sagen: Der Sprung in die 70er Jahre ist in
der Kinderlyrik ebenso gebremst wie in der Politik – das Neue soll entstehen,
aber die langen ›Biedermeierjahre‹ lasten noch schwer auf Themen und For-
men.
Veränderungen nach Der eigentliche Neubeginn gelingt erst im Verlauf der 1970er Jahre. In
›68‹ Gelbergs erstem Jahrbuch der Kinderliteratur mit dem Titel Geh und spiel
mit dem Riesen aus dem Jahr 1971 trägt das zweite Gedicht von Hans Adolf
Halbey den Titel Trotzdem. Es endet mit den Worten:
»Rülpsen, Spucken, Nasebohren,
Nägelkauen, schwarze Ohren,
schlimme Worte jede Masse –
Klasse!

Und wenn Papa abends droht: Schluß mit Fernsehn, Abendbrot! –


schreit doch jedes Kind im Haus:
Raus!
Trotzdem:
Kinder schützt eure Eltern!«
Die Erinnerung an das Ende von Ringelnatz’ Gedicht Eine Erfindung ma-
chen aus dem Jahr 1924 drängt sich auf:
»Und wenn eure Eltern was wollen,
Dann müsst ihr zum Trotz in die Kohlen fassen.
Illustration aus Gelbergs Und sagt ganz barsch:
Jahrbuch der Kinder- Sie sollen
literatur Sich lieber und recht bald begraben lassen.«

Wenig verwunderlich, fußt doch das Konzept der antiautoritären Erziehung


und der Kinderläden, von dem diese Lyrik zehrt, auf der Reformpädagogik
der Weimarer Zeit. Dies zeigt auch die Sammlung von Kinderliedern und
Gedichten Baggerführer Willibald aus dem Jahr 1973. Künstler wie Bertolt
Brecht, Hanns Eisler und Paul Dessau stellen hier bereits durch ihre Person
die Beziehung zu den 20er Jahren her, der optimistische Kommunismus eines
Dieter Süverkrüp ist der Aufbruchstimmung jener Jahre verpflichtet und
Lyrik für Kinder 409

verdeutlicht, wie sehr die modernen ›68er‹ – nicht nur beim sozialen Woh-
nungs- und Schwimmbadbau – ›Renaissance‹ sein können: Süverkrüp führt
in der letzten Strophe von Baggerführer Willibald aus:
»Wie Willibald das sagt, so wird es auch gemacht.
Die Bauarbeiter legen los und bauen Häuser, schön und groß,
wo jeder gut drin wohnen kann, weil jeder sie bezahlen kann.
Der Baggerführer Willibald baut eine neue Schwimmanstalt.
Da spritzen sich die Leute naß, das macht sogar dem Bagger Spaß.«

Der große Erfolg des Willibald beruht nicht auf dem kritischen Inhalt. Er »Der Baggerführer
bedient sich der wirksamen Mittel der Lyrik und entwirft einen Mythos. Da Willibald«
gibt es den eingängigen Endreim und das musikalische Wechselspiel von
gleichlautenden oder sich widersprechenden Vokalen und Alliterationen im
Binnenraum, wie es besonders der Name des Helden zeigt. Der ›Baggerfüh-
rer‹ ist der ›Jung Siegfried‹ der Post-68er-Zeit. In morgendlicher Kälte und
Einsamkeit besteigt er das Ungeheuer ›Bagger‹, eines der technischen Geräte,
die Kinder noch faszinieren, weil seine Wirkung laut und gut sichtbar ist.
Wie er die Erdmassen bewegt, ist er ein Inbegriff von Kraft und Macht, wer
ihm gebietet, muss wahrhaftig ein ›Führer‹ sein. Und so gibt Willibald auch
den Menschen gegenüber den Ton an – was er sagt, das tun seine Bauarbeiter.
Natürlich zu ihrem eigenen Wohlergehen. Auf Logik wird verzichtet, es wird
einfach gemacht, was Willibald will. Schließlich wird der Bagger personifi-
ziert und so in einen harmlosen Kinderzimmerdrachen verwandelt. Gefähr-
liche Anachronismen der Botschaft gehen unter. In derselben Sammlung be-
schwört Peter Maiwald in Was ein Kind braucht, die Aufgabe des Menschen,
für das Wohlergehen aller Kinder zu sorgen, Gert Heidenreich verlangt, dass
»Gut und Geld allen gleich« gehören soll, »weil die Reichen sonst die Welt
und auch dich zerstören«. Trotz der propagierten Modernität sind diese
Texte tapfer gereimte Lehrgedichte.
›Dialektik‹ ist einer der Lieblingsbegriffe der Zeit, und mit dem dialek-
tischen Umschlagen von progressiver, emanzipatorischer Botschaft in kon-
servative, entmündigende Formen hat Gelberg auch noch in seinem pro-
grammatischen Werk mit dem Titel Überall und Neben Dir von 1986 zu
kämpfen. Mit dem deutungsoffenen Titel wird das Streben nach Poetizität
betont. Eine Leseanleitung, die gerade für seine umfangreichen ›Kompendien‹
wichtig ist, fordert auf, nicht alles auf einmal zu lesen, Einzelnes zu »drehen
und zu wenden«. Für das Ausnahmeereignis ›Gedicht‹ eigentlich selbstver-
ständlich, aber da Bücher wie Spielzeug seit den 1970er Jahren sintflutartig
über die Kinderzimmer hereinbrechen, besteht auch in den überfüllten Lyrik- Programmatisches Werk –
Archen die Gefahr, dass Gedichte sich erdrücken. So auch hier. Ein Viertel Überall und Neben Dir
der Gedichte hat appellativen Charakter und dient der Vermittlung aktueller
gesellschaftlicher Normen. Neben einer Aufwertung der Gefühle, dem Stre-
ben nach Gleichberechtigung für Frauen und Mädchen, Kinder und Farbige,
dem Ringen um den Weltfrieden und einen besseren Umwelt- und Tierschutz
wird vor allem Kritikfähigkeit und allgemeines ›Problembewusstsein‹ ver-
langt. Die Formenvielfalt entspricht immer mehr den Möglichkeiten der ›Er-
wachsenendichtung‹. Sie reicht vom klassischen Lehrgedicht bis hin zum Lehrgedichte des
›One-image-poem‹. Als Beispiel für das erste sei Julius Beckes Maria schickt 20. Jahrhunderts
den Michael auf den Schulweg genannt. In der Hauptstrophe fordert die
Mutter – im Kommandoton – dazu auf, Kommandos zu überhören und Ge-
fühle zu zeigen:
410 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

»Überhöre Kommandos
und schlage dich nicht
mit den Verschlagenen.

Nun geh schon.


Du darfst weinen.
Dein Vater wollte das nicht lernen.«

Sehr still dagegen Hans Baumanns Denkbild Spur im Sand:


»Ging da ein Weißer,
ein Schwarzer,
ein Roter?
Der Sand sagt:
Ein Mensch«

Abkehr vom Anders als in den kritischen Gedichten und Geschichten des ersten Jahrbuchs
politischen Lied werden jetzt keine politischen Lösungswege mehr angedeutet. Die Kohl-Ära
hat begonnen, ein allgemeines Missvergnügen an der Politik macht sich breit.
Dies zeigen auch die vielen Gedichtchen, die hier vertreten sind und die alle
mehr oder weniger gelungene Variationen von Krüss’ Spiel- und Nonsensge-
dichten darstellen. Das Kind wird wieder in die harmlose Spaßwelt verbannt.
Typisch fürchterlich ist das schlecht gebaute und noch im Mutterklischee
befangene Pfützenlied von Günter Ullmann:
»Mutter, Mutter bring mir die Mütze,
koche Kartoffeln und decke den Tisch,
der Regen ist heim, ich spring in die Pfütze
und fang dir gleich einen ganz großen Fisch.«

Erträglicher, aber nicht bedeutender wirkt im Vergleich das Gedicht Tiger-


Jagd von Hans Georg Lenzen:
»Wer Lust hat, kann an Regentagen
auch hierzulande Tiger jagen.
...
Ein Lus-Tiger, ein Präch-Tiger
ein Läs-Tiger, ein Mäch-Tiger«

Es gibt jedoch auch Gedichte von zarter Schönheit, wie den Faksimiledruck
Japanischer Holzschnitt von Günter Eich, der freilich kein Kinderdichter ist:
»Ein rosa Pferd,
gezäumt und gesattelt, –
für wen?
Wie nah der Reiter auch sei,
er bleibt verborgen.

Komm du für ihn,


tritt in das Bild ein
und ergreif die Zügel!«
›Echte‹ Lyrik für Im Jahr 2000, in seiner Anthologie Großer Ozean, gelingt es Gelberg schließ-
Kinder lich zu zeigen, dass es sie gibt: die moderne, die echte Lyrik für Kinder. Nichts
wird ausgegrenzt: kein Dichter, keine Zeit, keine Weltgegend. Voreinander
geschützt durch Bilder, die nicht illustrieren, sondern korrespondieren, trei-
ben die Gedichte dahin: Naturbilder, philosophische Einsichten, politische
Aha-Erlebnisse, Liebeserklärungen, historische Erschütterungen, purer, be-
freiender Nonsens.
Lyrik für Kinder 411

Schon Jahre zuvor bestand grundsätzliche Einigkeit darüber, dass nur ein
gutes Gedicht auch ein gutes Kindergedicht sein kann. Und unter dieser Prä-
misse wurden aus der spezifischen Kinderlyrik und der allgemeinen Lyrik
Werke ausgewählt, deren Kunstcharakter ebenso wenig zu bestreiten ist, wie
ihr ›Gebrauchswert‹ für Kinder und Erwachsene. Guggenmos und Celan
finden sich hier mit Jandl vereint, James Krüss mit Rose Ausländer. Volks-
tümlich Russisches und tagesaktuell Kurdisches, aber auch neue Kinderdich-
terinnen und -dichter dürfen reimen. Sicher geht es hier aber, zum ersten Mal
in der Geschichte der ›Kinderlyrik‹, um die Freude an der Sprache selbst,
oder wie es F.W. Bernstein in dieser Sammlung in dem Gedicht Obst formu-
liert um: »Die Sprache an und Pfirsich«.
Noch kompromissloser sind die Herausgeber der Anthologie Zum Teufel,
wo geht’s in den Himmel? vorgegangen. Das Taschenbuch ist durch die Ein-
bandgestaltung an Jugendliche adressiert, es enthält keine Illustrationen. Die
Autoren kommen aus der ganzen Welt, aus vielen Zeiten der Welt. Heute Anthologie Zum Teufel
Unbekannte sind dabei, wie Friedrich Spee von Langenfeld, und Klassiker wo geht’s in den Himmel?
wie Schiller oder Hölderlin, aber keine ›Kinderdichter‹. Viele Gedichte sind
ausgesprochen sperrig und schwer verständlich, sie scheuen nicht zurück vor
Vulgaritäten. Es sind Gedichte für Jugendliche, weil sie auf die existentiellen
Fragen eingehen, die so hart nur in diesem Alter gestellt werden. Und weil sie
keine Lösungen anbieten. Pädagogische Antworten brauchen sie nicht – die
haben sie lange genug in ihren Lesebüchern bekommen. Dann schon lieber
William Carlos Williams, der diesen Band beschließt:

»El Hombre
Es ist ein seltsamer Mut,
den du mir gibst, alter Stern:

Leuchtest allein bei Sonnenaufgang


zu dem du nichts beiträgst!«

Wie Gelberg, vielleicht der wichtigste Wegbegleiter einer modernen Lyrik für Gestaltung und
Kinder, richtig bemerkt, spielt bei der Präsentation von Dichtung für Kinder Ausstattung
die Gestaltung eine entscheidende Rolle. Sie kann den grundsätzlich konser-
vativen Charakter des Genres unterstreichen, wie in seiner eigenen Samm-
lung von 1966, sie kann den zaghaften Versuch spiegeln, aus den engen
Grenzen auszubrechen, wie in Die Stadt der Kinder, wo die respektlosen
Tuschezeichnungen von Janosch den heiligen Ernst, der auch den spaßigsten
Gedichten hier noch anhaftet, genießbar machen. In beiden Fällen sind die
Gestaltungen Illustrationen – d. h. sie setzen ins Bild, was das Gedicht sagt,
sie sind Wiederholung. Das moderne Kindergedicht lebt jedoch oft gerade
von einer ›zweiten Stimme‹. Dies ist ein Wirkungsprinzip von Großer Ozean,
jedes einzelne große und winzige Bild fordert zu einem neuen Gedicht heraus
oder gibt den Blick frei auf eine Vielzahl möglicher Interpretationen. Der
›erwachsene‹ Kunstanspruch dieses Werkes äußert sich im klassischen Buch-
format mit hochwertigen 267 Seiten, strengem Hardcover, distinguiert blass-
grau und weinrot gestaltetem Schutzumschlag. Für Kinder und Erwachsene
eine genussreiche Alternative ist das leichte, fast quadratische bunte Bänd-
chen Dunkel war’s der Mond schien helle, herausgegeben von Edmund Ja-
coby. Kein Thema fehlt: Liebe und Nonsens, Tod und Lirumlarum. Alles ist
vertreten: alte Volksreime, Claudius, Dadaistisches von Hugo Ball, Ringel-
natz, Kästner, H.C. Artmann, Goethe, Rilke und andere Klassiker, aber auch
›Kinderdichter‹ wie Franz Wittkamp mit dem schönen Vierzeiler Gestern:
412 Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart

»Gestern hab ich mir vorgestellt,


ich wäre der einzige Mensch auf der Welt.
Ganz einsam war ich und weinte schon,
da klingelte leider das Telefon.«
Die großen farbigen Bilder von Rotraut Susanne Berner haben das gleiche
Ziel wie das moderne Kindergedicht: Mit großer künstlerischer Sinnlichkeit
und Unabhängigkeit sprechen sie Kinder und Erwachsene gleichermaßen –
wenn auch ganz verschieden – an.
In den letzten Jahren sind einige Bilder-Lyrik-Bücher entstanden, die von
der Wechselwirkung von Wort und Bild leben. Als Beispiel sei genannt Wer
liest, ist. Bruno Blume hat das Gedicht verfasst, das ihm im Traum eingefal-
len ist. Fünf Illustratoren haben es mit Bildergeschichten in ganz unterschied-
lichen Techniken versehen: Verena Ballhaus, Quint Buchholz, Nadia Budde,
Jacky Gleich, Susanne Janssen. Bei jedem entsteht dadurch ein ganz neues
Gedicht. »Wer verzeiht, befreit«, »wer schielt, wird bebrillt«, »wer heizen
kann, hat’s warm« – die Reihenfolge seiner insgesamt 14 ›Merksätze‹ hält
Blume für gleichgültig und so kann hier wieder gespielt werden. Eingedenk
Moderne Kinderlyrik – Schillers Feststellung, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt.
Großer Ozean Auch wenn er erwachsen ist.
413

Kinder- und Jugendliteratur der DDR

Bernd Dolle-Weinkauff/Steffen Peltsch

Die Zerstörung der Produktionsstrukturen im Zweiten Weltkrieg und die


Reparationspolitik der Besatzungsmacht trafen die sowjetisch besetzte Zone
besonders hart. Auffällig jedoch ist das literaturpolitische Engagement der
sowjetischen Militärverwaltung, die dafür sorgte, dass allein bis 1949 etwa
80 Titel bekannter Jugendbücher aus der Sowjetunion übersetzt und auf dem
Gebiet der späteren Deutschen Demokratischen Republik veröffentlicht
wurden, davon gut ein Viertel im Verlag der Sowjetischen Militäradministra-
tion selbst. Zu den noch 1946 erschienenen Romanen Es blinkt ein einsam
Segel von Valentin Katajew und Zwei Kapitäne von Weniamin Kawerin ge-
sellten sich noch 1947 etwa Samuil Marschaks und Jéwgenij Tscharuschins
Tier-Bilderbuch Kinderchen im Käfig, dessen Übertragung Erich Weinert be-
sorgte, und Arkadi Gaidars Tschuk und Gek. Mit zum Teil mehreren Titeln
vertreten sind Leonid Pantelejew, Wladimir Majakowski, Wladimir Sutejew
und Alexander Fadejew. Zu den verbreitetsten Werken der sowjetischen Ju-
gendliteratur zählen zu dieser Zeit Nikolai Ostrowskis Apotheose des diszi-
plinierten Revolutionärs (Wie der Stahl gehärtet wurde, 1947), Arkadi Gai-
dars Kindererzählung von einer ›Bande für gute Taten‹ (Timur und sein
Trupp, 1947), später auch die Schulgeschichten von Nikolai Nossow (Ich
war ein schlechter Schüler, 1955).
Obgleich daneben Ansätze eines Verlagswesens initiiert wurden, ging die Literaturpolitik der
Zahl der in den ersten Nachkriegsjahren entstandenen, meist kleineren Ver- Besatzungsmacht
lage, die um Kinder- und Jugendliteratur bemüht waren, alsbald wieder zu-
rück; sei es, dass die Häuser ihre programmatische Linie änderten, sei es,
dass sie schlossen, geschlossen wurden oder in die Westzonen abwanderten.
Umso größeres Gewicht erlangten zwei unter definitiv politischen Vorzeichen
betriebene Verlagsgründungen, die rasch die beherrschende Stellung einneh-
men sollten: der 1946 gegründete ›Verlag der jungen Generation‹ (später:
›Verlag Neues Leben‹), der Bücher für Jugendliche und junge Erwachsene
herauszugeben begann, und der ›Kinderbuchverlag‹, der 1949 als Editions-
haus des Verbands der Jungen Pioniere entstand. Damit waren bereits in der
Frühphase die Grundsteine zweier tragender Säulen des späteren, sich sozia-
listisch definierenden Kinderliteraturwesens der DDR gelegt.
Wichtige Beiträge zur entstehenden Kinderliteratur in der sowjetisch be-
setzten Zone bzw. der DDR leisteten die Autoren und Autorinnen, die aus
dem Exil zurückgekehrt waren und im östlichen Deutschland heimisch wur-
den, sowie jene, die während des NS-Regimes zurückgezogen gelebt hatten
und für die Mitwirkung beim Neubeginn gewonnen werden konnten. Als
repräsentativ und programmatisch intendiert ist in dieser Hinsicht die erste
Publikation des Kinderbuchverlags zu werten: Der verwundete Sokrates,
eine antimilitaristische Parabel aus den Kalendergeschichten Bertolt Brechts,
erschienen 1949 in einer Erstauflage von 100 000 Exemplaren.
Im Hinblick auf Entstehungszeit und stofflich-thematische Konzen- Impulse des Exils
trationspunkte lassen sich die frühen Zeugnisse der Kinder- und Jugendlite-
414 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

ratur der Deutschen Demokratischen Republik in zwei Gruppen einteilen.


Zum einen handelt es sich um Werke der proletarischen Literatur der späten
20er und frühen 30er Jahre, deren revolutionärer Gestus jedoch als litera-
risch unausgereift und unter den bündnispolitischen Vorzeichen der Nach-
kriegszeit als problematisch galt. Neue Aktualität sollte diese Literaturrich-
tung – nicht allein im Bereich der Literatur für junge Leser – erst im Kontext
forcierter sozialistischer gesellschaftspolitischer Entwicklungstendenzen im
Verlauf der 50er Jahre gewinnen. Es ist von daher nicht verwunderlich, dass
etwa das bedeutsamste epische Werk der proletarischen Kinderliteratur, Alex
Weddings Ede und Unku (zuerst 1931), erst 1954 wieder aufgelegt wurde,
dann aber bald zur verbindlichen Schullektüre avancierte.
Texte aus der Zeit Durch ihre Verbreitung und Wirkung bedeutsamer sind dagegen zunächst
des Exils und des Texte, die – teils einer antifaschistischen Thematik verpflichtet, teils auf Er-
NS-Regimes haltung von Enklaven der Menschlichkeit in feindlicher Zeit orientiert – wäh-
rend des Exils bzw. der Zeit des NS-Regimes entstanden waren. So gestaltet
Friedrich Wolf, der sich im Bereich der Kinderliteratur vor allem der Tierge-
schichte verschrieb – bereits 1946 erschienen seine Märchen für große und
kleine Leute – in der Novelle Kiki (1947) eine Episode aus dem Internie-
rungslager Le Vernet, wohin er nach der Niederlage der spanischen Republik
und der Flucht nach Frankreich gelangt war. Zu den wichtigsten, in diesen
Jahren (wieder-)veröffentlichten Texten, die in den Kanon der Kinderliteratur
der DDR eingingen, zählen Alex Weddings Das Eismeer ruft (1948, zuerst
1936) und Auguste Lazars Sally Bleistift in Amerika (1948, zuerst 1935).
Hinzu kamen weitere Arbeiten von Wedding und Lazar sowie historische
Erzählungen von Willi Bredel, die zum Teil Muster und Sujets der populären
Abenteuerliteratur aufgriffen (z. B. Die Vitalienbrüder, 1950, zuerst 1940).
Bedeutsame Akzente setzten zudem Ausgaben von Ehm Welks Romanen
Die Heiden von Kummerow (1948, zuerst 1934) und Die Gerechten von
Kummerow (1953, zuerst 1937) sowie von Kindergeschichten Hans Falladas
(Geschichten aus der Murkelei, 1947, zuerst 1938; Hoppelpoppel, wo bist
du?, 1948, zuerst 1936). Während 1948/49 eine Auswahlausgabe der Kinder-
odyssee Lisa Tetzners erschien, kam ein weiteres, zu den bedeutsamsten kin-
derliterarischen Werken des Exils zählendes und überaus populäres Werk
erst 1957 heraus: Kurt Helds Die rote Zora und ihre Bande (zuerst 1941).
Als ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei und führender kultur-
politischer Kader galt der Autor als Renegat und hatte auf Wiederannähe-
rungsversuche nicht gerade versöhnlich reagiert.
Allerdings sind diese Ansätze im Kontext einer (Kinder-)Literaturproduk-
tion während der unmittelbaren Nachkriegszeit zu sehen, in der ein Hang zu
Unverbindlichkeit und Harmonisierung dominierte. Durchaus die Verhält-
nisse im eigenen Land einbeziehend schrieb dazu 1963 rückblickend die
Kritikerin Eva Strittmatter: »Manch süßes Süppchen wurde literarisch ge-
kocht, während das Leben der Kinder lehrte, Schmalzbrot zu ihrem Nutzen
zu essen.« Die DDR teilte sich mit der Bundesrepublik in das Erbe bzw. die
Kontinuität einer Spielart von Kinderliteratur, die – unter dem politischen
Druck des NS-Regimes zuletzt zu einem Refugium des Privaten und Harm-
losen ausgestaltet – auch unter den widrigen Verhältnissen der Nachkriegs-
zeit Trost durch Wirklichkeitsflucht bzw. durch Aussparung problemhaltiger
Wirklichkeitsbereiche bereithielt.
Staatliche Förderung Obgleich die ersten Gehversuche hin zu einer in der Nachkriegsrealität
gründenden Gegenwartsliteratur noch in den ausgehenden 40er Jahren ge-
macht werden – Walther Pollatscheks Erzählung mit dem plakativ-program-
matischen Titel Die Aufbau-Bande (1948) oder Karl Schraders Bilderbuch
Bekehrung und Wandlung 415

Großstadtkinder (1949) sind hier zu nennen –, so ist diese in relevantem


Umfang erst zu Beginn der 50er Jahre vorhanden. Insbesondere das von der
Volkskammer am 8. Februar 1950 beschlossene ›Gesetz über die Teilnahme
der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die
Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung‹, in dem
u. a. Maßnahmen zur – wie es in Abschnitt IV heißt – »Schaffung einer neuen
Jugend- und Kinderliteratur« festgelegt wurden, leitete die systematische
Förderung durch den Staat ein. Neben dem eher plakativen Appell an die
Schriftsteller, an dieser Aufgabe mitzuwirken, sind auch Maßnahmen wie die
regelmäßige Durchführung von Preisausschreiben für Jugendbücher aufge-
führt. Die ab dem gleichen Jahr vom Ministerium für Volksbildung – in den
Anfängen gleich zweimal jährlich – veranstalteten Preisausschreiben regten
eine Reihe von Autoren an, sich auch in Geschichten für Kinder auf den Bo-
den der neuen Verhältnisse zu begeben.
Die in diesen Zusammenhängen entstandenen Erstlingswerke von Auto-
rinnen und Autoren, die das Profil der Kinderliteratur der DDR wesentlich
mitprägten, wie Ilse Korn (Mit Bärbel fing es an, 1952), Horst Beseler (Die Walther Pollatschek:
Moorbande, 1952; Heißer Atem, 1953) und Benno Pludra (Ein Mädchen, Die Aufbaubande
fünf Jungen und sechs Traktoren, 1951; Die Jungen von Zelt 13, 1952) er-
kaufen Zeitgenossenschaft weitgehend auf Kosten einer verengten Sicht der
Realität und konventionalisierter Darstellungsmuster. Dabei gesellten sich zu
den unvermeidlichen ›Banden‹, bekehrten Strolchen, eingliederungswilligen
Außenseitern, vorbildlichen Pädagogen und Pionierleitern mancherorts noch
klischeehafte politische Feindbilder im Kontext des Ost-West-Gegensatzes.
Ähnliches gilt für die Anfänge des Bilderbuchs, das, beginnend etwa mit Inge
Meyer-Reys Vom Peter, der sich nicht waschen wollte (1951), über Jahre
hinweg vor allem der Demonstration von Folgen kindlicher Unart gewidmet
war.
Die praktischen Bemühungen um und die Debatten über die Kinderlitera- Debatten
tur umfassten in der DDR jedoch nicht allein die Fragen aktueller Thema-
tiken und gegenwartsadäquater Formen. Vor allem im Hinblick auf be-
stimmte Erscheinungen der populären (bürgerlichen) kinderliterarischen
Tradition wurde die Frage aufgeworfen, ob sie denn in die ›Neue Zeit‹ pass-
ten. So wurde im Anschluss an eine Verlegerkonferenz im Jahr 1953 eine
Diskussion über das Mädchenbuch geführt. Als deren Ergebnis setzte sich –
gegen die Auffassungen der Kritikerinnen Eva Strittmatter und Annemarie
Reinhard – vorläufig die auch von der einflussreichen Alex Wedding getra-
gene Befürwortung einer eigenständigen Mädchenliteratur durch.
Früher noch und länger anhaltend wurde über Volksmärchen debattiert.
Ausgehend von ähnlichen Fragestellungen in den Westzonen und ausgelöst
durch eine polemische Attacke Arnold Zweigs von 1948 auf die Brüder
Grimm und die antisemitischen Tendenzen ihres Märchens Der Jude im
Dorn wurde nach dem Wert der Märchen in der Gegenwart und ihrer Inte-
grierbarkeit in die geforderte neue Kinderliteratur gefragt. Kritiker konnten
sich dabei sowohl auf die nationalsozialistische Vereinnahmung des ›deut-
schen Märchenguts‹ als auch auf die kritischen Positionen berufen, welche
die linke, proletarisch-revolutionäre Pädagogik seit Edwin Hoernle in den
20er Jahren dazu formuliert hatte. Behaupten konnte sich jedoch die Auffas-
sung, welche die Volksmärchen nicht als Ausweis einer »durch die Knecht-
schaft bedingte[n] Rückständigkeit und Unselbständigkeit« (Hoernle) der
Unterschichten ansehen mochte, sondern als Bestandteil der schöpferischen
Volksfantasie und damit als Element humanistischer Kulturtraditionen der
Vergangenheit, die es als Erbe zu bewahren und zu pflegen gelte. Paradoxer-
416 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

weise entsprach dem die Editionspolitik nicht. So wurden die Märchen der
Brüder Grimm zunächst nur in Bearbeitungen herausgegeben.
Neuer Auch die Abenteuerliteratur war Gegenstand kritischer Überprüfung, wo-
Abenteuerroman bei insbesondere die Tradition eines Karl May als problematisch empfunden
und zurückgewiesen wurde. Anerkennung fanden sehr früh einige Werke,
deren historisch-objektivierender Anspruch den Forderungen der Kritiker
nach Authentizität und nichtrassistischer Darstellung genügte und die durch
äußere Spannung, exotisches Kolorit und markante Konfrontationen der
Handlung wesentliche, von den Lesern geschätzte Eigenschaften der Gattung
fortzuschreiben verstanden. Neben Pablo, der Indio (1950) des österrei-
chischen Autors Karl Bruckner zählen dazu Blauvogel. Wahlsohn der Iroke-
sen (1950) von Anna Jürgen (d. i. Anna Müller-Tannewitz) und vor allem die
1951 begonnene Romanfolge Die Söhne der großen Bärin von Liselotte
Welskopf-Henrich, die den Kampf der Dakota gegen das Vordringen der
Weißen und die neue Selbstdefinition der Unterlegenen in der US-Gesellschaft
behandelt. Welskopf-Henrichs Werk gilt – so der Kritiker Günter Ebert – als
eine »Pionierleistung auf dem Gebiet des sozialistisch-realistischen Abenteu-
erromans« und fand im gesamten deutschsprachigen Raum beachtliche Re-
sonanz. In den 60er Jahren setzte die Autorin in einem dreiteiligen Erzähl-
werk (Nacht über der Prärie, 1966; Licht über weißen Felsen, 1967; Stein
mit Hörnern, 1968) ihre historische Darstellung mit Bildern vom Leben der
Indianer in der modernen nordamerikanischen Gesellschaft fort.
Eine neue Qualität der kinderliterarischen Entwicklung kündigt sich Mitte
der 50er Jahre an. Zwei Autoren, der bereits international bekannte Ludwig
Renn und der Nachwuchsschriftsteller Erwin Strittmatter, wurden 1955 mit
dem Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur ausgezeichnet. Dem
Jüngeren wurde der Preis zuerkannt für seinen 1954 erschienenen Roman
Tinko, dem Vertreter der aus dem Exil zurückgekehrten Generation für sein
Gesamtwerk, allerdings unter besonderer Hervorhebung seines ebenfalls im
Jahr zuvor erschienenen Kinderbuchs Trini. Zusammen mit den Werken von
Alex Wedding bilden diese beiden Bücher den eigentlichen Ausgangspunkt
der erzählenden Kinderliteratur der DDR.
Ludwig Renns Trini bietet in vier Kapiteln eine episch aufbereitete Ver-
laufsgeschichte des mexikanischen Bauernkriegs von 1910 bis 1920, ein
Stoff, der ihm während des Exils in Mittelamerika (1939 bis 1947) nahege-
bracht worden war. In der Haltung des Chronisten, geschult am neusach-
lichen Stil seiner bekannten Romane Krieg (1928) und Nachkrieg (1930),
berichtet er von dem Indio-Jungen Trini als einem von vielen, die am histo-
rischen Prozess beteiligt sind. Wie selbstverständlich wachsen Trini und seine
Altersgenossen in den Befreiungskampf hinein, finden jeweils ihren Fähig-
keiten entsprechende Möglichkeiten der Mitwirkung: von der Kundschafter-
tätigkeit bis hin zum – im Falle Trinis – Amt eines »Pressereferenten« des
Bauerngenerals Emiliano Zapata. Dabei bildet sich ein Kollektiv von Jungen
und Mädchen, das – die nichtindividualistische Note der Erzählung unter-
streichend – Raum bietet für eigenständige Initiativen der Kinder. So sind sie
es, die sich an die Einrichtung eines Unterrichtswesens machen und es verste-
hen, die Erwachsenen von dessen Sinn zu überzeugen. Wenn Trini überhaupt
– wie von manchen Rezensenten nahegelegt – als Entwicklungsroman be-
zeichnet werden darf, so sicher nicht im Hinblick auf die individuelle Akzele-
ration, sondern auf den erzählerisch vermittelten Prozess kollektiv-revolutio-
närer Geschichtsgestaltung. Renn enthält sich des tiefen Blicks in die Psyche
Trinis oder anderer Handelnder; ihre subjektiven Regungen kommen wenig
zum Tragen. Den überredenden wie den emotionalisierenden Gestus ver-
Bekehrung und Wandlung 417

Ludwig Renn: Trini –


Schutzumschlag von Kurt
Zimmermann

Erwin Strittmatter: Tinko


– Schutzumschlag von
Carl von Appen

meidend, lässt der auktoriale Erzähler scheinbar die Fakten für sich selbst
sprechen und gewinnt damit umso wirksamere Überzeugungskraft – ein
agitatorisches Meisterstück, das die vielfach einer pathetischen Rhetorik
verpflichteten konventionellen Werke des ›Sozialistischen Realismus‹ weit
überflügelt.
Während Renn in seinem ersten Kinderbuch von einer historisch und geo- Gegenwartsroman
graphisch fernen Revolution unter Hervorhebung aktueller Bezüge erzählte,
schuf Erwin Strittmatter mit Tinko einen Gegenwartsroman der DDR der
frühen 50er Jahre, dessen Zeitthematik mittlerweile zur Historie geronnen
ist. Gegenstand der in den Jahren zwischen 1948 und 1950 angesiedelten
Handlung ist die Veränderung von Menschen und Verhältnissen in einem
Dorf der Niederlausitz, gesehen mit den Augen des zehnjährigen Martin
Kraske, der Tinko genannt wird. Seine Brisanz erhält der Stoff nicht nur
durch die Einbeziehung der Problematik bestimmter Kriegsfolgen wie der
Familientrennung, der Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten, der Ver-
sorgungsprobleme, sondern vor allem durch die Beobachtung der sozialen
Umwälzungen.
Trotz eines gewissen Schematismus im Aufbau des Figurenensembles bie-
tet Strittmatters Roman ein differenziertes Bild des durch Bodenreform und
beginnende sozialistische Umgestaltung in einer Landgemeinde hervorgeru-
fenen Konfliktpotenzials. Dass er die Problematik nicht in ungebührlicher
Weise auf Kinderwelt-Format verkleinert, tragische Komponenten hervortre-
ten lässt und eine angemessene erzählerische Lösung findet, stellt ihn mit
Abstand über die nicht wenigen kinderliterarischen Versuche am Sujet der
Umgestaltung auf dem Land. Die Vorgänge um den selbständig gewordenen
alten Bauern Kraske und seinen Sohn, den »Heimkehrer«, der die Idee kol-
lektiver Bewirtschaftung propagiert, werden aus der Sicht des Jungen Tinko
berichtet, der unter dieser Konfrontation leidet. Den Kinderblick ergänzt
Strittmatter um – gleichwohl in der naiven Diktion seines Erzählmediums
gehaltene – Autorenkommentare. Im Gegensatz zu Ludwig Renn, der be-
schreibend und kommentierend Ereignis und Aktion in den Vordergrund
418 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

rückt, überwiegen bei Strittmatter subjektive Unmittelbarkeit, Dialog und


Reflexion. Konzediert Renn seinen kindlichen Kombattanten so vor allem,
auch in effektiver Weise mithandeln zu können, so erforscht Strittmatter die
komplexe Wahrnehmungsfähigkeit seines kindlichen Protagonisten und brei-
tet sie vor dem Leser aus.
Kritik an Renn Obgleich nach einer gewissen zeitlichen Distanz als die ersten bedeutsamen
und Strittmatter Beispiele der Kinderliteratur der DDR gewertet, sahen sich die Bücher Renns
und Strittmatters prinzipiellen Einwänden ausgesetzt. In der um die Mitte
der 50er Jahre geführten Debatte über Wesen und Perspektiven von Kinder-
und Jugendliteratur, die sich pointiert auch in den Diskussionen des IV.
Schriftstellerkongresses 1956 niederschlug, wurde beiden Texten zwar gene-
rell literarische Qualität zugesprochen, gleichzeitig jedoch ihre Relevanz für
die Kinderliteratur in Frage gestellt. Im Falle Trinis verfiel die scheinbar allzu
wenig identifikationsheischende Erzählweise Ludwig Renns wie auch die
Marginalisierung seines Helden der Kritik. Ebenso wenig könne Tinko als
beispielgebendes Kinderbuch gelten; so bemängelte Christa Wolf 1955 in
einem Beitrag für die Zeitschrift Neue Deutsche Literatur, dass »die Objek-
tivität der Darstellung [...] auf Kosten der psychologischen Glaubwürdig-
keit« gehe. In die gleiche Richtung argumentierte Alex Wedding auf dem
Schriftstellerkongress von 1956, indem sie die Sicht auf das von ihr favori-
sierte Modell einer Kinderliteratur verengte, die am moralischen Beispiel er-
ziehen sollte: »Aber diesem Roman fehlen wesentliche Grundzüge, die wir
von einem Kinderbuch fordern müssen. Tinko ist nicht die Hauptfigur. Er
wird nicht zu einem erzieherischen Beispiel.«
Die Bedeutung Tinkos und – mit Einschränkungen – auch Trinis für die
Kinderliteratur der DDR lag aber gerade in der Überschreitung der Grenzen
einer intentionalen Kinderliteratur, wie Alex Wedding und andere sie vertra-
ten. Strittmatter löste den Anspruch sich sozialistisch definierender Kinderli-
teratur ein, dass keine künstliche Trennung zwischen Kinder- und Erwachse-
nenwelt und deren Konflikten vorzunehmen sei. Der Einfluss seines Konzepts
lässt sich nicht allein am Publikumserfolg des Romans messen, sondern auch
an den Impulsen, die davon für weitere Kinderbuchautoren der DDR wie
Alfred Wellm und Joachim Nowotny ausgingen.
Historische Thematik Einen Aufschwung nahm in der zweiten Hälfte der 50er Jahre die Erzäh-
lung mit historisch-geographisch fernen Sujets. Zweifellos liegen die Gründe
dafür nicht allein in verbreiteten Lesebedürfnissen nach Abenteuerlichem
und Exotischem. Gerade Ludwig Renn ist ein Beispiel dafür, dass Autoren,
die dem für die Gestaltung aktueller gesellschaftlicher Themen geforderten
kruden Realismusverständnis nicht folgen konnten, sich auf Gegenstände
konzentrierten, die eine gewisse Distanz zu den aktuellen Zeitläufen besaßen.
Alex Wedding hatte bereits im amerikanischen Exil historische Erzählungen
mit absichtsvoll aktualisierender Note geschrieben, die dann in der DDR
veröffentlicht wurden (Die Fahne des Pfeiferhänsleins, 1948; Söldner ohne
Sold, 1948, später unter dem Titel Das große Abenteuer des Kaspar Schmeck).
1952 kam mit Das Eiserne Büffelchen eine Erzählung über das Schicksal
eines verwahrlosten Kindes in der Volksrepublik China hinzu, in der die
Autorin Anregungen aus den im Fernen Osten verbrachten Jahren (1949–
1951) verarbeitete; die Erzählung ist wesentlich von der nachrevolutionären
sowjetischen Besprisorny (Verwahrlosten-)Literatur eines Belych, Pantelejew
u. a. sowie von der Pädagogik Makarenkos beeinflusst.
Hatte sich Alex Wedding in ihren historischen Erzählungen eher Gegen-
ständen zugewandt, die von der bürgerlichen Historiographie vernachlässigt
Alex Wedding worden waren, so widmete sich Ludwig Renn in Fortsetzung seines mit Trini
Geschichte 419

begonnenen kinderliterarischen Engagements einem Themenbereich, der von


den nationalistischen Geschichtsschreibern des 19. Jh.s und deren kinderlite-
rarischen Adepten okkupiert schien: dem Widerstand germanischer Stämme
zu Beginn der Zeitrechnung gegen die römischen Eroberer (Herniu und der
blinde Asni, 1956; Herniu und Armin, 1958). Willi Meinck machte sich mit
Die seltsamen Abenteuer des Marco Polo (1955) und Die seltsamen Reisen
des Marco Polo (1957) daran, die Gestalt des abenteuernden Kaufmanns der
Frührenaissance als einen volksverbundenen Mittler zwischen den Nationen
und Kulturen zu deuten. Meinck setzte diese Öffnung zur geschichtlichen
und kulturellen Begegnung mit der Fremde fort in Büchern über den Wider-
stand der mittelamerikanischen Bevölkerung gegen die spanischen Konquis-
tadoren (Der Untergang der Jaguarkrieger, 1968) und Adaptionen traditio-
neller indischer Erzählstoffe (Die schöne Madana, 1973; Das Ramayana,
1976). Ähnliches unternimmt Kurt David in seinen Erzählungen über den
Aufstieg des Mongolenreichs unter Dschingis-Khan im 13. Jh. Die Erzäh-
lungen Der schwarze Wolf (1966) und Tenggeri, der Sohn des schwarzen
Wolfs (1968), die sich streckenweise wie eine verklausulierte Abrechnung
mit einer Machterhaltungspolitik Stalinscher Prägung lesen, weiten die The-
matik auf die Verteidigung ethischer Werte des Zusammenlebens gegen die
Interessen einer grausamen und tyrannischen Herrscherkaste aus.
Dem im Umbruch befindlichen afrikanischen Kontinent sind die Werke
Götz R. Richters gewidmet. Der mit Plädoyers gegen den »Geist des Karl
May« und für eine Abenteuerliteratur, die politisches Geschehen in span-
nender Handlung offeriert, schon früh hervorgetretene Autor hat sich in sei-
ner Savvy-Trilogie (1955–1963) vom Modell des Entwicklungsromans leiten
lassen; am Ende kann der anfangs naive Held bewusst in den antikolonialis-
tischen Kampf eintreten. Galt die Abenteuerliteratur als ein aktuelles Genre,
so strebten die Verfasser historisch-biographischer Erzählungen danach, die
Leistungen progressiver Persönlichkeiten der Geschichte, insbesondere von
Vertretern der revolutionären Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jh.s zu ver-
mitteln. Max Zimmerings Buttje Pieter und sein Held eröffnete 1951 die
Reihe von bis in die 80er Jahre unternommenen Versuchen der kinderlitera-
rischen Würdigung des KPD-Führers Ernst Thälmann.
Mit weiteren Veröffentlichungen in diesem Genre traten u. a. Gerhard und
Lilo Hardel, Günter Radczun, Helga und Hans-Georg Meyer, Ruth Werner
und Gisela Karau hervor. Zum Klassiker über den ›Klassiker‹ avancierte die
1962 erschienene Karl-Marx-Erzählung Mohr und die Raben von London Karl-Marx-Erzählung
von Ilse und Vilmos Korn, dessen Handlung fiktive Episoden aus dem Leben
der Familie Marx in England während der Jahre 1851/52 mit der Geschichte
einer Londoner Textilarbeitersippe verknüpft. Diese didaktische Konstruk-
tion lässt Marx nicht nur als bedeutenden Theoretiker der Arbeiterbewegung
erscheinen, sondern führt ihn auch als einen überaus gütigen, stets hilfsbe-
reiten, von Natur aus widerspruchsfreien Menschen in der Privatsphäre vor
und gibt Anlass zu Einsichten in das Schicksal arbeitender Kinder, arbeitslo-
ser Proletarier und politischer Vorkämpfer der Chartistenbewegung sowie
der politisch-gesellschaftlichen Perspektiven im England der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts.

Aufarbeitung des Faschismus


Gemäß ihrem Traditionsverständnis favorisierte die Kinder- und Jugendlite-
ratur der DDR von ihren frühen Jahren an die Auseinandersetzung mit Fa-
schismus und Widerstandskampf. Dabei suchten Kinder- wie Jugendbücher
420 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

häufig das von Schule und Medien oft platt und einschichtig vermittelte Bild
zu differenzieren. Sie ergänzten die plakativ vorgetragene Doktrin über die
politisch-gesellschaftlichen Ursachen des Nationalsozialismus um konkrete
Spiegelungen im Privaten, in der Familie, in den Charakteren und Motiven.
Insbesondere in den 80er Jahren wurde korrigierend darauf hingewiesen,
dass nicht nur Kommunisten Opfer des Faschismus oder Widerstandskämp-
fer waren.
Erinnerungsliteratur Vor allem Peter Abrahams Pianke und Fünkchen lebt, Bodo Schulenburgs
Markus und der Golem, Vera Friedländers Späte Notizen – alle Bücher er-
schienen in den 80er Jahren – erinnern an Judenverfolgung und Holocaust.
Und es ist nicht zufällig, dass zeitgleich Clara Asscher-Pinkhofs Sternenkinder
in hoher Auflage im Kinderbuchverlag herausgebracht wurde, freilich mit
über vierzigjähriger Verzögerung (die niederländische Erstausgabe erschien
1946). Ursachen für diese Konjunktur liegen in den politischen Realitäten –
eine Beziehungsform, die bei der Kommentierung von DDR-Literatur immer
mitzudenken bleibt, war doch die DDR-Führung in diesen Jahren vorsichtig
bemüht, ihr Verhältnis zu Israel neu zu gestalten.
Bis 1988 lagen über 200 Erzähl- und Sachbuchtitel vor, die sich mit dem
Themenfeld Faschismus und Widerstand befassten. Dabei ist die Vielheit der
Sujets und Genres in ihren Wandlungen und Proportionen von Interesse. Sie
spiegelt über die Jahrzehnte einen Zuwachs an differenzierter Figuren- und
Figurengruppengestaltung wie eine markantere Motivierung wider, geht von
der Würdigung des antifaschistischen Widerstandes und seiner bedeutends-

Ilse und Vilmos Korn:


Mohr und die Raben von
London – Illustration von
Kurt Zimmermann
Aufarbeitung des Faschismus 421

ten Repräsentanten (Die erste Reihe von Stephan Hermlin, 1951; Käte von
Eberhard Panitz, 1955; Olga Benario von Ruth Werner, 1961; Vom Rosen-
kranz zur Roten Kapelle von Greta Kuckhoff, 1972) Ende der 70er und in
den 80er Jahren zur Schilderung von Kindheitsmustern unter der NS-Herr-
schaft über, wobei etwa bei Joachim Nowotny, Paul Kanut Schäfer oder Gi-
sela Karau unverfremdet Autobiographisches eingebracht wird; hervorzuhe-
ben sind Schäfers Wie wir die Welt vergessen wollten (1977) und Karaus
Loni (1982). Zweifellos handelt es sich hier, wie auch in Gerhard Holtz-
Baumerts Die pucklige Verwandtschaft (1985), um zeitverschobene Nach-
wirkungen, die von Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster (1976) ausgingen,
in dem die Autorin der Frage nachgeht, wie denn zu erklären sei, als Kind in
Unschuld und glückhaft gelebt zu haben, obwohl Terror und Barbarei
herrschten.
In jüngeren Publikationen, so bei Gerhard Holtz-Baumert in Dawid – ein Schuldanalysen
glückliches Kind (1981) oder im Debütband Jürgen Jankofskys Ein Montag
im Oktober (1985), wird sichtbar, dass sich couragierte Autoren an die lite-
rarische Prüfung eines Dogmas heranschreiben, das zur DDR-Selbstdarstel-
lung gehörte: Ehemalige Nazis oder noch jetzt chauvinistisch Denkende
treffe man allenfalls in der Bundesrepublik. In Jankofskys Erzählung wird
demgegenüber ein Mädchen mit dem Vorleben des geliebten Großvaters
konfrontiert, der Aufseher in einem Arbeitslager war. Am Exempel der le-
bensbedrohenden Krise, in die das Kind gerät, manifestiert sich die Mahnung
an den Leser, dass die gelernte, gleichsam schulmäßige Faschismusbewälti-
gung nicht schützen kann vor zu leistender individueller Auseinandersetzung.
Mit den wägenderen, nachfragenden und weniger auf Kontrast, eher auf Er-
klärung und Schuldanalyse orientierenden Texten – so Dieter Schubert in O
Donna Klara (1981) – tauchen auch vergleichsweise spät Sachbücher auf, die
neben zahlreichen Dokumenten zur Erhellung von Ursachen und Wirkungen
auch den Alltag im faschistischen Deutschland und insbesondere den von
Kindern illustrieren. Zu nennen sind Wera und Claus Küchenmeisters Bilder
aus dunkler Zeit und Helga Gotschlichs Als die Faschisten an die Macht ka-
men (beide 1984). Vier Jahre später brachte der Verlag ›Neues Leben‹ Erika
Manns Zehn Millionen Kinder, schon 1938 in den USA unter dem Titel
School for Barbarians erschienen, heraus. Die Ursachen für diese späte Edi-
tion dürften darin liegen, dass bestimmte Praktiken der NS-Erziehung, die
die Autorin schildert, zum Vergleich mit DDR-Phänomenen herausforderten;
der Leser wurde zumindest verunsichert, was Literatur für Kinder oder Ju-
gendliche in der DDR nach dem Willen der Kulturstrategen am wenigsten
leisten sollte. So war die späte Herausgabe ein verlegerisches Risiko, wenn
auch kein geschäftliches; und mit Erika Manns Buch ist zugleich auf ein Di-
lemma verwiesen, das den Beitrag der DDR-Kinderliteratur zur Vergangen-
heitsaufarbeitung und Herkunftsbewältigung relativiert. Die Artikulierung
von Antifaschismus fand im Übrigen bei gleichzeitigem Negieren der Stalin-
schen Verbrechen statt, über die allenfalls Kinder älterer Jahrgänge bei der
Behandlung sowjetischer Gegenwartsliteratur im Unterricht etwas erfuhren.
Unstrittig bleibt indes, dass mehrere Generationen von Stephan Hermlins
Die erste Reihe (1951), Dieter Nolls Die Abenteuer des Werner Holt (1960),
Karl Neumanns Das Mädchen hieß Gesine (1966) oder Horst Beselers Käuz-
chenkuhle (1965) Anregungen zur emotionalen und gedanklichen Beschäfti-
gung mit deutscher Historie erfahren haben dürften. In lesersoziologischen
Untersuchungen tauchen diese Werke noch bis weit in die 80er Jahre als be-
vorzugte Lektüre auf. Hermlin vermochte in Die erste Reihe – Porträts junger
Antifaschisten, die hingerichtet wurden oder in den Lagern umkamen – die
422 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

Helden des Widerstandes zu würdigen, ohne unangemessenes Pathos auf-


kommen zu lassen. So bleiben die authentischen Schicksale über ihre stille,
partiell zurückhaltend-schlichte Vermittlung dicht beim Leser. Hermlin hat
mit dem Band ein frühes Korrektiv zur Verklärung antifaschistischer Wider-
standskämpfer geliefert, womit immer auch deren Entfernung vom Leser
verbunden war.
Antifa-Bestseller Dieter Noll verwendet in Werner Holt Elemente des Entwicklungs- und
Erziehungsromans, übernimmt Erzählstrukturen Erich Maria Remarques
und Mark Twains, verwendet Trivialchiffren und ergeht sich in Anspielungen
auf klassische Figurenpakte – und bringt einen Roman-Zweiteiler zustande,
für dessen dauerhaften Leseerfolg diese Ingriedenzien nicht als Erklärung
ausreichen. Wahrscheinlich kann nur Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des
jungen W. (1973) in der – bislang nicht erstellten – Long- und Bestsellerliste
von DDR-Jugendbüchern mit Werner Holt konkurrieren. Über Jahre hin
war der Roman ein Kultbuch der DDR-Jugend. Dazu hat zweifellos auch die
adäquate Verfilmung aus dem Jahr 1964 beigetragen. Intensiver rezipiert als
der im Nachkriegsdeutschland handelnde zweite Teil wurde Teil I, der die
Wegfindungsversuche eines Gymnasiasten bis zum Kriegsende in einer span-
nenden, episodenreichen und emotional erregenden Handlung gestaltet. In
einem differenzierten Figurenensemble, das vom Nazigeneral bis zum Ver-
weigerer (Holts Vater) reicht, zeichnet der Autor ein realistisches Bild unter-
schiedlicher Einstellungen zu Faschismus und Krieg und zeigt mögliche Hal-
tungen, wobei dem Leser zu beurteilen bleibt, welche davon auch verwirk-
lichbar sind. Zentrales Motiv ist das der ungleichen Freunde. Der Erfolg von
Werner Holt ist aber nicht zuletzt in dem Bedürfnis der Leser begründet,
Genaueres über das Leben im Faschismus zu erfahren. Diese Lesererwartung,
die herkömmlicherweise eher dokumentarisch befriedigt wird, hat Noll kon-
genial und qualifiziert erfüllt.
Kindheit in der Karl Neumanns Das Mädchen hieß Gesine, das eines der populärsten
NS-Zeit Kinderbücher wurde, hatte eine bemerkenswerte Nebenwirkung, die in den
Literaturgeschichten üblicherweise übergangen wird: Der Name des achtjäh-
rigen Mädchens, das einem sowjetischen Kriegsgefangenen zur Flucht ver-
hilft, wurde zu einem häufigen Namen in der DDR. Wie keinem anderen
Kinderbuch der DDR hat eine enge Literaturwissenschaft Gesine vor allem
symbolische politische Bedeutung bescheinigt und damit die Poesie der Ge-
schichte und ihre Leistung, kindlichen Lesern nichts von der Härte mensch-
licher Prüfungen zu verschweigen und doch lebbare Hoffnung zu belassen,
vernachlässigt. So hieß es über den Russen Nikolai, seine Beziehung zu Ge-
sine werde erst dadurch zu einer festen Bindung, weil er »im ersten sozialis-
tischen Land der Welt erzogen wurde«; auch werde er »zum überzeugenden
Beispiel für die historische Überlegenheit des Sozialismus gegenüber der fa-
schistischen Barbarei«.
In Käuzchenkuhle greift Horst Beseler an einem authentischen Fall das
belastende Weiterwirken faschistischer Schuld und Verstrickungen auf. Mit
dem Attribut des Unheimlichen versieht der Autor eine Stimmung im Dorf,
Karl Neumann: Das die erst schwindet, als die Konflikte zwischen latentem Faschismus und sich
Mädchen hieß Gesine –
formender Gegenwart bewältigt werden. Mit Pianke (1981) und Fünkchen
Illustration von Gertrud
Zucker lebt (1988) liegen auch zwei Erzählungen Peter Abrahams vor, in denen Kin-
derexistenzen im ›Dritten Reich‹ geschildert werden. Pianke (nach der Volks-
etymologie Synonym für Schwindelweizen) muss als Kind lernen, dass Untu-
genden wie Lüge und Verstellung zu Tugenden werden, wenn es die Zeiten
erfordern. Dass sich im Mai 1945 Opfer, Bedrohte, Gefährdete sowie Mit-
läufer und wider Willen mitgenommene Täter in einem Boot, den Schicksals-
Eigenwert des Kindes und jugendliche Selbstbestimmung 423

fluss in Gegenrichtung querend, in die Freiheit retten, wird Abraham zur


Parabel. Fünkchen lebt bezieht seine handlungstragenden Potenzen aus dem
psychisch folgenschweren, existentiellen Grunderlebnis eines Mädchens, das,
wie viele andere, brav mittut und mitplappert, wenn es gegen die Juden geht.
Als ihre nichtarische Herkunft offenbar wird, verkehrt sich ihr Selbstver-
ständnis, und durch diese Erfahrung erlebt sie nun auch ihre Freundinnen
wie ihre Umgebung anders – subjektiv wie objektiv. Abraham verunsichert
den Leser, der sich möglicherweise auf eine Geschichte ohne Irritationen
eingerichtet hat, und mahnt Solidarität auch jenseits eigener Betroffenheit
an.

Neue Tendenzen: Eigenwert des Kindes und jugendliche


Selbstbestimmung
Im Bereich des Bilderbuchs werden neue Tendenzen gegen Ende der 50er Neues Bilderbuch
Jahre manifest. Obgleich plakativ mit den Chiffren der neuen Verhältnisse
wie Pioniergruppe u. ä. ausgestattet, erweisen sich im Angebot für das Vor-
schul- und frühe Lesealter die überlieferten bürgerlichen Muster als beson-
ders zählebig. Vor allem jedoch das 1958 erschienene Gemeinschaftswerk
Das Wolkenschaf von Werner Klemke (Illustration) und Fred Rodrian (Text)
realisierte, über die Genregrenzen des Bilderbuchs hinaus, Umrisse eines
neuen Verständnisses von Kinderliteratur. Anstelle der verbrauchten Stereo-
typen der Struwwelpetriade setzte Rodrian eine geradlinige Reihungsge-
schichte, in deren Zentrum die eigenständige Problembewältigung des kind-
lichen Protagonisten steht. Diese (Haupt-)Figur ruht aber in einem stets
freundlich-hilfreichen gesellschaftlichen Ambiente, das erst die Lösung des
Problems, die Rückkehr des »Wolkenschäfchens« Zirri an seinen ange-
stammten Platz, ermöglicht. Mit verhalten farbigem Buntstift inszeniert der
Illustrator Klemke die Botschaft von der Solidarität im Alltag, von den hilf-
reichen Interventionen der Erwachsenen und der – dadurch bedingten – Ent-
scheidung des Kindes für die Gemeinschaft. Diese Thematik lässt sich in
teilweise anderer Akzentuierung in weiteren gemeinsamen Projekten von
Klemke und Rodrian (Hirsch Heinrich, 1960; Die Schwalbenchristine, 1962)
sowie in weiteren Bilderbuchpublikationen verfolgen. Dient die Konstruk-
tion von Harmonie hier als Ausweis der Geborgenheit des Kindes in der so-
zialistischen Gesellschaft, so ist das Kind selbst aufgefordert, durch seine
Entscheidung für das Kollektiv bzw. durch seinen Beitrag zur Lösung des
aufgeworfenen Problems an der Reproduktion dieser Verhältnisse teilzuneh-
men.
Der aufklärerische Gestus der Kinderliteratur der DDR schlägt sich häufig ›Entscheidung‹
in Konstellationen der Handlung nieder, die unzweideutige Lösungen bzw.
Entscheidungen erfordern. Angelegt nach dem Identifikationsmodell, soll der
Adressat dazu befähigt werden, die ›richtige‹ Lösung zu begreifen und sein
Bewusstsein entsprechend auszurichten. Statt reflektierender Einbeziehung
in den Konflikt wird Bestätigung und Nachvollzug des gesellschaftlich Er-
wünschten – wie es der Autor interpretiert – erwartet. Mit entsprechenden
Modifikationen findet sich dieses Konzept auch in nicht unmittelbar auf die
zeitgenössische Wirklichkeit bezogenen Genres wieder.
Indessen lässt eine Reihe von Werken mehr oder minder problematisie-
rende, zum Teil geradezu konterkarierende Variationen des herrschenden
Kindheitsbilds erkennen. Strittmatters Tinko etwa ist stets reflektierendes
Subjekt und nicht Demonstrationsfigur, ein Umstand, der den Vorwurf der
Untauglichkeit als erzieherisches Beispiel begründete. In ganz anderem Sinne
424 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

Werner Klemke und Fred


Rodrian: Das Wolken-
schaf

trifft dies auch auf Gerhard Holtz-Baumerts Alfons Zitterbacke (1958) zu.
Es ist hier schlicht die verschmitzt ausgespielte Optik des Pechvogels, die sich
mit augenzwinkerndem Fatalismus gegen wohlfeile Anerkennung sichernde
Verhaltensmuster sträubt. Der Autor der mit einem weiteren Band fortge-
setzten (Alfons Zitterbacke hat wieder Ärger, 1962), außerordentlich popu-
lären Geschichten begegnet den Malaisen des Alltags weniger mit pädago-
gischer Beflissenheit als mit Humor und bietet dem Leser an, sich mit Lachen
darüber hinwegzusetzen. Die ins Groteske verlängerte Naivität Eulenspiegel-
scher Prägung lässt dem noch so bemühten erzieherischen Verweis auf den
Eigenwert des Kindes und jugendliche Selbstbestimmung 425

rechten Weg keine Chance. Die relative Unverbindlichkeit der Zitterbacke-


Komik findet sich bei Holtz-Baumert dann pointiert ins Antiautoritäre ge-
wendet. Sein von Manfred Bofinger illustriertes Bilderbuch Hasenjunge
Dreiläufer (1976) stellt provokatorisch das Abweichlerklischee in Frage und
ersetzt den Pechvogel durch den fantastisch-gagfreudigen Virtuosen.
Den Eigenwert des Kindes und seiner Fantasie betont Benno Pludra, in- Eigenwert des Kindes
dem er in Tambari (1969) und zuvor bereits in Lütt Matten und die weiße
Muschel (1963) für die Anerkennung des eigenen Wegs seiner Kinderhelden
plädiert. Hier beschreibt er die Mühen des fünfjährigen Fischersohns Matten,
auf eigene Weise und mit eigenen Mitteln Fang zu betreiben und zum Unter-
halt der Bewohner des kleinen Dorfs an der Boddenküste beizutragen. Erst
als »Reusenadmiral« Lütt Matten sein Ziel beharrlich verfolgt – und nicht
etwa, wie die Vernunft der Erwachsenen ihm nahe legt, aufgibt – erringt er
Aufmerksamkeit und Hilfe. Pludras Hinweis auf den Eigenwert der produk-
tiven Sphäre des Kinds ist zugleich auch Mahnung, dessen Sorgen und Wün-
sche zu respektieren und es nicht damit alleine zu lassen.
Mit Norbert Penschelein alias Kaule, der Hauptfigur seiner 1962 erschie-
nenen gleichnamigen Erzählung, interveniert auch Alfred Wellm zugunsten
der Toleranz gegenüber jugendlichem Eigensinn. Kaule verschärft den Kon-
flikt zwischen Anpassungsforderung und widerborstigem Kind insofern, als
diesem nicht bloß die Anerkennung versagt wird, sondern handfeste ›Resozi-
alisierungsmaßnahmen‹ drohen. Auch lässt Wellm seinen Protagonisten nicht
allein oder in erster Linie in der Dimension des kollektiven Nutzens oder der
Fürsorge für andere tätig werden. Schließlich aber führen die Um- und Irr-
wege des ebenso gutmütigen wie aufgeweckten Schlingels zu günstigen Re-
sultaten für alle, nicht zuletzt, weil sie sich einfallsreich über manche der in
seiner Umgebung verhandelten, gewohnten Verhaltens- und Lösungsmuster
hinwegsetzen.
Mit »Ausbruch aus der Welt der Gewöhnungen« fasste die DDR-Litera- ›Jeansliteratur‹
turwissenschaft ein vor allem in der Jugendliteratur vorkommendes Erzähl-
muster. Dabei geht es um die Lösung vom Elternhaus, um den Vorgang der
selbständigen Sozialintegration, um Wegsuche und Platzfindung, um die
Aufnahme sexueller Beziehungen. Diese individuelle Umbruchphase ist in
frühen Zeugnissen, so in Joachim Wohlgemuths Roman Egon und das achte
Weltwunder (1962), als Bewährungszeit verstanden worden; auftretende Ir-
ritationen gingen in dem Maße zurück, in dem sich der Held durch Arbeit
und Anschluss an eine intakte Gemeinschaft (Arbeitskollektiv) emanzipierte.
Emotionale Stützung kam für männliche Protagonisten aus ersten Liebesbe-
ziehungen. In Ulrich Plenzdorfs Neue Leiden des jungen W. (1972) und sei-
nem Pendant Die Reise nach Jaroslaw (1974) von Rolf Schneider sehen die
Erzähler den Aufbruch, auch im Motiv der Flucht, als notwendig für die
Ichfindung und versehen ihn gleichzeitig mit kritischen Akzenten gegen die
Welt der angepassten Erwachsenen. Die Figuren beanspruchen Freiräume
und setzen diesen Anspruch selbstbewusst durch. Anderssein als die Eltern ist
das Panier; aber auch Gleichaltrige werden nur dann akzeptiert, wenn sie
»ungezwungen« leben (Volker Braun, Das ungezwungene Leben Kasts,
1972). Diese Titel stehen für eine DDR-Variante der ›Jeansliteratur‹.
Kurt Wünsch (Fischkopp, 1978), Eva Maria Kohl (Es sollte ewig Sonntag
sein, 1976), Dorothea Iser (Neuzugang, 1985), Kristian Humbsch (Ellis und
die Insel, 1980) Christa Grasmeyer (Ein Fingerhut voll Zuversicht, 1980 und
Verliebt auf eigene Gefahr, 1984) und andere gehören zu Autoren, die das
Profil der ›Neuen Edition für junge Leute‹ (Verlag Neues Leben) geprägt ha-
ben, einer Reihe, die ursprünglich für Leser zwischen dem vierzehnten und
426 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

zwanzigsten Lebensjahr gedacht war, im Zuge der allgemeinen Leserakzele-


ration jedoch ihre Gemeinde weitaus früher fand. Wenngleich die Kritik der
›Neuen Edition‹ harmonisierende Lösungen und zu platte Konfliktanlagen
vorwarf, können viele Texte dennoch für sich beanspruchen, originäre ästhe-
tische Angebote zu Adoleszenzproblemen, zum Problem der Rollenprägung
und zur jugendlichen, insbesondere auch weiblichen Emanzipation gemacht
zu haben. Jugendbücher wie Susis sechs Männer (1984) und Kirschenkosten
(1978) von Hildegard und Siegfried Schumacher, Ins Paradies kommt nie ein
Karussell (1976), Lindenstraße 28 (1980) von Siegfried Maaß und Ein Pferd,
ein Freund, ein Baby (1981) von Sieglinde Dick ermunterten die Leser und
Leserinnen, die eigene Sensibilität anzunehmen und zu bewahren, Stärke zu
zeigen und Liebe auch angesichts eines muffigen sozialen Milieus zu leben.
Mit der Zurücknahme der Appelle zum Engagement und den Plädoyers für
sinnvollen Trotz und prononciertes Individualverhalten propagierten diese
Texte nicht das Aufsuchen der vielzitierten ›Nischen‹ in der DDR-Gesell-
schaft, vielmehr verfolgten die Autoren und Autorinnen eine andere Inten-
tion: Es ging um die Mobilisierung von Ethik in normierter, rationalisierter,
idealentfremdeter Umwelt.
Romeo und Julia Nicht nur in Büchern von Autorinnen werden die ethischen und mora-
lischen Figurenpotenzen eindeutig den weiblichen Protagonisten zugespro-
chen; von ihnen gehen die kräftigeren Impulse der Verweigerung wie die der
Aktivierung aus. Möglicherweise handelt es sich hierbei um einen matten
Reflex der Frauenliteratur der DDR (Irmtraud Morgner, Helga Schubert,
Christa Wolf). Frühe Liebesbeziehungen haben Gunter Preuß (Tschomo-
lungma, 1981; Feen sterben nicht, 1987), Jutta Schlott (Roman und Juliane,
1985), Günter Görlich (Das Mädchen und der Junge, 1981) und bereits 1975
Gerhard Holtz-Baumert in Trampen nach Norden gestaltet. Scham, Schande,
hohes Glück wie exzessversessene Eifersucht werden den Figuren und den
Lesern und Leserinnen ebenso zugestanden wie zugemutet, und die Leser
werden mit Ungereimtheiten konfrontiert, die – von außen kommend und
unüberwindbar – in die Liebe eingreifen, mit Standesverhalten oder auch mit
dem Sachverhalt, dass sich ein deutsches Mädchen in den Sohn eines sowje-
tischen Offiziers in der DDR verliebt. Gefährdete Liebe ist ein aus archaischen
Zeiten herrührendes Thema der Literatur; die Verwendung des Motivs in der
DDR-Literatur sagt oft mehr über Hintergründe als über Vorgänge: Roman
und Juliane in Schlotts Erzählung – sie konnten zusammen nicht kommen,
obwohl nicht Verona, sondern der Norden der DDR Ort der Handlung ist
und die Familien sich nicht einmal kennen, geschweige denn, dass sie verfein-
det wären.

Nachdichtungen der Weltliteratur – Zeitgeschichte


Widerborstige Zu den mit Verwunderung und wachsendem Respekt wahrgenommenen
Nachdichtungen Leistungen gehören die in den 60er Jahren begonnenen, später in breiterem
Umfang fortgeführten Bearbeitungen von Mythen und Sagen. Dabei handelte
es sich nicht zuletzt um die Einlösung einer Grundposition sozialistischen
Literaturverständnisses, der Forderung nach Aufhebung national- und welt-
literarischer Traditionen. Beginnend 1964 mit einer Nacherzählung des
Tierepos Reineke Fuchs, veröffentlichte Franz Fühmann, der zum Wegberei-
ter dieses Zweigs der Kinder- und Jugendliteratur der DDR wurde, eine
Reihe von Nachdichtungen. Unter diesen ragen die Adaptionen antiker Stoffe
(Das hölzerne Pferd, 1968; Prometheus – die Titanenschlacht, 1974) sowie
des mittelhochdeutschen Nibelungenlieds (1971) durch ihre poetische Origi-
Nachdichtungen der Weltliteratur – Zeitgeschichte 427

nalität und erzählerische Prägnanz heraus. Gegen eine traditionsfixierte Kri-


tik, die insbesondere an der Prometheus-Geschichte eine allzu saloppe Spra-
che bemängelte, bleibt anzuerkennen, dass der Fühmannsche Sagenton Er-
starrtes adäquat zu verlebendigen wusste und Tabus produktiv überschritten
hat.
Die Spannung zwischen Treue zur Vorlage und Neuinterpretation, zwi-
schen Textverständnis aus den Umständen der Entstehungszeit und Sinner-
zeugung aus dem Blickwinkel modernen Bewusstseins tritt in den nahezu
zwei Dutzend bis Ende der 80er Jahre vorgelegten Nach- und Neuerzäh-
lungen in jeweils unterschiedlichen Varianten hervor. Dabei neigen vor allem
die Texte Fühmanns wie auch die von Werner Heiduczek (Die seltsamen
Abenteuer des Parzival, 1974; Orpheus und Eurydike, 1989), von Joachim
Nowotny (Die Gudrunsage, 1976) oder die Herakles-Fassungen von Rolf
Schneider (1978) und Hannes Hüttner (1979) zu mehr oder minder radi-
kalen Neu- und Umbewertungen. Günter de Bruyns Tristan und Isolde
(1975), Stephan Hermlins Argonauten (1974) oder die von Fritz Rudolf
Fries besorgte Aufbereitung des spanischen El Cid (Verbannung und Sieg des
Ritters Cid aus Bivar, 1979) bewegen sich dagegen hauptsächlich in den
Bahnen erzählerischen Nachvollzugs.
Während des gleichen Zeitraums, in dem produktive Zugänge zur litera-
rischen Überlieferung erschlossen wurden, lässt sich ein verstärktes Bemühen
um Themen aus der jüngsten Geschichte erkennen. Die besonderen Umstände
der Nachkriegsentwicklung, vor allem auch die durch den Bau der Mauer
1961 entstandene Situation ließen die brisante Beziehung der deutschen Franz Fühmann
Staaten in die Kinder- und Jugendliteratur einfließen, erzwangen wie gleich-
zeitig auch in der Literatur für Erwachsene deren Behandlung. Sheriff Teddy
(1956) von Benno Pludra beispielsweise, eine Erzählung, die dem Autor in
der DDR zum Durchbruch verhalf, setzt sich mit der Prägung von Kindern
durch widerstreitende Einflüsse der unterschiedlichen politisch-sozialen
Ordnungen Ost- und Westdeutschlands auseinander und sucht die DDR-Ge- Deutsche Gegenwart
sellschaft als positive Alternative plausibel zu machen. Die Absicht, DDR-
Staatsbewusstsein beim Adressaten zu fördern, führte häufig zu politischen
Konstruktionen, denen das Erzählerische eher untergeordnet wurde. Arbei-
ten von Lilo Hardel, Karl Veken oder Brigitte Birnbaum erreichten nicht in
Ansätzen einen vergleichbaren Grad an Konflikthaltigkeit wie ihn Christa
Wolfs Der geteilte Himmel (1963) und andere Werke der Erwachsenenlitera-
tur offerieren.
Erst an der Wende zu den 70er Jahren entstehen kinder- und jugendlitera-
rische Werke, die es in mehr oder minder fundierter Weise unternehmen, die
deutsch-deutsche Problematik in differenzierten Handlungen und Figuren
aufzusuchen. So bewahrt eine vergleichsweise unkonventionelle Erzählweise,
bei der das Geschehen aus dem Wechsel von Ich-Report und Autorenkom-
mentar zu rekonstruieren ist, Gerhard Hardels Treffen mit Paolo (1967)
zwar nicht vor polemischen Zerrbildern der westdeutschen Verhältnisse,
wohl aber vor dem Abgleiten ins bloß Demonstrative. Auch Horst Beseler
gelingt es, die Geschichte einer Flucht und – besuchsweisen – Rückkehr ohne
demonstrative Rhetorik zu erzählen. Seine 1972 veröffentlichte, im Stil eines
Kriminalfalls konzipierte Erzählung Jemand kommt legt ein aus dem Ver-
hältnis zur Arbeit und den Mitmenschen in der DDR hergeleitetes Selbstbe-
wusstsein an den Tag, das sich herausfordernd äußert. »Wir sind kein Mu-
seum«, so hält Plötzen-Friese, eine jener in der DDR-Literatur nicht selten
anzutreffenden politischen Vaterfiguren proletarischen Zuschnitts, dem neu-
gierigen Rückkehrer Achim entgegen, »wo man vor lauter Langeweile eben
428 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

so reinsieht!« Ein weiterer Beitrag zu dieser Thematik stammt von Werner


Heiduczek, in dessen Gesamtwerk die deutsch-deutsche Problematik einen
wesentlichen, immer wieder aufgesuchten Bezugspunkt bildet (Matthes,
1962; Abschied von den Engeln, 1968). In seiner Novelle Die Brüder (1968)
wird der Hinterlassenschaft des Krieges und seiner Begleitumstände in den
Subjekten und ihren Beziehungen nachgegangen, wobei auch tragische Mo-
mente nicht ausgespart bleiben.
Nachkriegszeit Obgleich innerhalb der Kinderliteratur der DDR als zeitgeschichtlicher
Gegenstand seit jeher von Bedeutung und bei einzelnen Autoren, wie etwa
Horst Bastian ganz im Zentrum des Werks (Die Moral der Banditen, 1964;
Wegelagerer, 1968), ist die Ära des Kriegsendes und der unmittelbaren
Nachkriegszeit, also die Vor- und Frühgeschichte der DDR-Gesellschaft, eher
am Rande des Autoreninteresses verblieben. Verständlicherweise war es das
mit Hoffnungen oder Misstrauen bedachte Neue, was seit Strittmatters
Tinko von Autoren und Publikum vorrangig rezipiert wurde. Demgegenüber
traten die Verhältnisse, aus denen heraus Bodenreform und Sozialisierung
auf dem Land, sozialistischer Aufbau in Wirtschaft und Industrie erwuchsen,
zurück. Umso bedeutsamer erscheint daher ein Werk, das aus der Distanz
von 30 Jahren gleichsam mit dem Brennspiegel daran ging, wesentliche Er-
scheinungen dieser Zeit zu beleuchten, und das zu den gültigen Beiträgen der
DDR-Kinderliteratur zählt. Alfred Wellms 1975 erschienener Roman Pugo-
witza oder Die silberne Schlüsseluhr setzt in den letzten Monaten des Zwei-
ten Weltkrieges ein. In einem Flüchtlingstreck aus Masuren finden der alte
Fischer Komarek und der zwölf jährige Waise Heinrich Habermann zusam-
men. Nach dem Übergang über die Oder von seinem väterlichen Gefährten
getrennt, freundet sich der Junge mit sowjetischen Besatzungssoldaten an,
die ihm den Spitznamen ›Pugowitza‹ (dt. Hosenknopf) geben.
In der Figur des Heinrich Habermann verdeutlicht Wellm einige Eigen-
schaften, die offensichtlich mehr bedeuten als nur die zufälligen Züge einer
beliebigen Nachkriegskindheit. Der eigene aufrechte Gang fällt Habermann
schwer; er muss ihn erst erlernen. Mit dem halbwüchsigen Jungen, der bei
den Bauern Lebensmittel eintreibt und das Hissen roter Fahnen anordnet,
beginnt der eigenständige Part von Wellms Helden: Dem Parzival des mittel-
alterlichen Epos vergleichbar nimmt der Junge eine Narrenrolle ein. Es ist
Alfred Wellm: Pugowitza
– Illustration von Gertrud auch sicher kein Missverständnis, darin eine ironische Relativierung jenes
Zucker Gestus der schwieligen Proletarierfaust zu sehen, die mit wuchtigem Zupa-
cken das Alte wegfegt und das Neue schafft. Indem Wellm diese Metapher
auf das kindlich-unverständige Format des Heinrich Habermann bringt,
kennzeichnet er das Gemeinte nicht als Unfug schlechthin, sondern schreibt
gegen Mythen der eigenen Geschichte an.

Innovative Tendenzen seit Ende der 60er Jahre


Neue Erzählweisen Innovative Tendenzen der Prosa zeigen sich gegen Ende der 60er Jahre in der
Erprobung neuer narrativer Techniken in einer Reihe herausragender Werke,
die vom vorherrschenden Modell des objektivistischen zugunsten eines aus-
schnitthaften, montageartigen oder multi-perspektivischen Erzählens ab-
wichen. Den vom Standpunkt eng gefasster sozialistisch-realistischer Litera-
turkonzepte stets misstrauisch begegneten subjektiven Erzählerrollen wurden
wachsende Spielräume zugestanden. Der im Sinne der Belehrung des Lesers
korrigierenden Rolle des auktorialen Erzählers wussten sich die Autoren
vielfach durch den Aufbau dialogischer Strukturen oder die Referierung un-
terschiedlicher Meinungen und Sichtweisen zu entziehen. Anregungen gaben
Ansätze fantastischer Literatur 429

dabei – so in den Erzählungen von Horst Bastian (Wegelagerer, 1968) oder


Bernd Wolff (Alwin auf der Landstraße, 1971) – dem Hörspiel oder dem
Film entlehnte Blendentechniken, mit deren Hilfe auch Ortswechsel und
unterschiedliche Zeitebenen markiert werden. Zu den erzählerisch ent-
wickeltsten – deswegen auch mit Kritik bedachten – Beiträgen zählt zweifel-
los Joachim Nowotnys Der Riese im Paradies (1969), ein Text, der die Verän-
derungen eines Oberlausitzer Dorfs durch das Vordringen des Braunkohlen-
abbaus behandelt. Statt mit Hilfe einer konventionellen Fabel wird die
Konsistenz des Erzählten durch einen Wir-Erzähler gewahrt, der den Leser
an verschiedene Figuren heranführt, Episoden einflicht und die Handlung
durch Vor- und Rückblenden einer chronologischen Ordnung enthebt. Dis-
tanzierung und vertrauliches Einbeziehen versetzen den Leser nicht nur an
wechselnde Orte, sondern auch in differierende Positionen zur Handlung,
fordern Assoziationen und Urteile heraus.
Mit dem doppelten Blickwinkel zweier Ich-Erzähler arbeitet Uwe Kant in Doppelter Blickwinkel
seinem ebenfalls 1969 erschienenen Erstlingswerk Das Klassenfest auf ähn-
liche Leserleistungen hin. Der versetzungsgefährdete Schüler Otto Hintz und
sein Lehrer Nickel schildern abwechselnd Episoden des Schulalltags und be-
richten ihre Erfahrungen mit dem jeweiligen Gegenüber. Anstelle der her-
kömmlichen Konfigurationen der Schulgeschichte, die zwischen Einsicht in
das Notwendige hier und Verständnis für die Unzulänglichkeiten des Ande-
ren da zu pendeln pflegt, lässt Kant das Nachdenken über gemeinsame Pro-
bleme treten. Innovativ wirkte an der Geschichte auch die durchgängige
Ironisierung bzw. Selbstironie der Erzähler. Eine Kombination dieser Point-
of-view-Technik mit einem Wir-Chronisten stellt Gerhard Holtz-Baumerts
Trampen nach Norden (1975) vor. Der Bericht über Stationen einer Auto-
stop-Reise quer durch die DDR wird von den Zufallsgefährten Gunnar und
Teresa aus ihrer jeweiligen Sicht geleistet und durch einen Erzählkommentar
ergänzt. Ironie ist hier Resultat der vergleichenden Lektüre der Ich-Erzäh-
lungen, die über gemeinsame Erfahrungen jeweils unterschiedliche oder gar
entgegengesetzte Lesarten herstellen. Nicht nur heitere Effekte stellen sich
auf diese Weise ein, sondern ebenso sehr werden Konturen der jeweiligen
Persönlichkeit, ihrer Schwächen wie ihrer Vorzüge sichtbar. Nicht zuletzt
sind es immer wieder Modelle sozialen Verhaltens, die karikiert und von
verschiedenen Seiten beleuchtet werden.

Ansätze fantastischer Literatur


Lange währte es, bis die DDR-Kinderliteratur Märchenhaft-Fantastisches
souverän aufnahm. Aus späterem Betrachtungswinkel wirken die aufwen-
digen theoretischen Diskussionen um das Fantastische, bei denen der Hinter-
grund eines platten Realismusverständnisses mitzudenken ist, unsinnig. Und
sie hatten auch fatale Konsequenzen wie etwa die Eingriffe in die Grimm-
schen Märchen: die Ersetzung freundlicher Könige durch Figuren aus prole-
tariernahem Milieu. Mit Wera Küchenmeisters Die Stadt aus Spaß (1966)
liegt die erste Erzählung vor, die Gegenwärtiges, wenn auch ästhetisch noch
linkisch, unter Hinzunahme fantastischer Erzählelemente spiegelt. Wegberei-
tend waren die – von Krüss angeregten und mit seinen Geschichten korres-
pondierenden – Erzählungen Das Windloch (1956), Das Turmverlies (1962)
und Der Schuhu und die fliegende Prinzessin (1965) von Peter Hacks.
Ein erster Höhepunkt der Fantastik lässt sich für die Mitte der 70er Jahre
nachweisen, wobei in den Texten, die fantastische Elemente oder Figuren ins Hans Hüttner: Das Blaue
Alltägliche einbringen, so in Hannes Hüttners Das Blaue vom Himmel vom Himmel
430 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

Peter Hacks: Kinderkurz-


weil – Schutzumschlag
von Klaus Ensikat

(1974) oder Abrahams Das Schulgespenst (1978), eine Besonderheit der


Fantastik in der DDR-Kinderliteratur belegbar wurde. Für Kinderbücher
fantastischer Prägung, die für die DDR immer auch eine Prägung durch die
populären Erzählungen des Russen Alexander Wolkow (Der Zauberer der
Smaragdenstadt u. a.) war, wird der Fantasieentwurf – als Person oder als
Zustand – häufig zum idealkonformen Bild – auch in seiner Negation wie bei
Hüttner oder in Abrahams Affenstern (1988). Figuren wie der Engel Ambro-
sius in Christa Koziks Der Engel mit dem goldenen Schnurrbart (1983) oder
die Katze Kicki (Kicki und der König, 1990) stehen als Beispiele für Lauter-
keit, Wahrheitssuche und -liebe, für zweifelnde Neugier und Belehrbarkeit,
für Toleranz. Damit wird auf eine Positionsverschiebung speziell im Figuren-
bereich verwiesen: Erfundene, aus der Einsamkeit heraus erdachte Fantasie-
gespielen (Julia von Gunter Preuß, 1976) avancieren von Tröstern und Rat-
gebern zu Partnern mit betonter Beispielhaftigkeit.
Reinhard Griebner debütierte als Kinderbuchautor 1980 mit der Erzäh-
lung Das blaue Wunder Irgendwo, die ihm sofort den Nachwuchsförderpreis
des Kinderbuchverlags einbrachte. Während Griebner in späteren Arbeiten
Spiel und Satire auf Märchenhaftes setzte, um seine Leser zu einem kritischen Blick auf Le-
benstatsachen zu ermuntern, nutzt er hier satirische Mittel. Das blaue Wun-
der Irgendwo ist die DDR, wie die vom Erzähler kaum verfremdeten Rituale
und die Ingredienzien aus dem konkreten Milieu deutlich machen. Von Grie-
bners kecker Geschichte gingen Impulse hin zur Kinderlyrik, so zu Günter
Saalmann, Jürgen Rennert, Dieter Mucke und Horst Bartsch, die den sati-
rischen Gestus aufnahmen und präzisierten. Franz Fühmanns Die damp-
fenden Hälse der Pferde im Turm von Babel (1978) wie auch Hansgeorg
Stengels Die Wortspielwiese (1979) gehen metasprachlich mit Redensarten,
Redeweisen, etymologischen Kreuz- und Querverbindungen, mit sprachbe-
zogener Spiel- und Entdeckerlust um – beides Bücher, die dazu einladen,
selbst weiterzumachen; im besten Sinne kreative Texte, die Vorschläge ma-
chen und zurückhaltende Anleitung bieten.
Die Entdeckung der Stadt 431

Kurz nacheinander (1981, 1983) erschienen mit Das neue Lumpengesin-


del von Bernd Wagner und Das achte Geißlein von Karl Georg Löffelholz
(das sind Uwe Kant, Peter Abraham und Hannes Hüttner) zwei Kinderbü-
cher, die überkommene Märchenmuster aufnehmen und sie unbekümmert in
den Gegenwartsalltag einpassen. Die tradierten Märchengestalten werden
mit gewandelten Attributen ausgestattet. So ist Wagners Rotkäppchen eine
couragierte Person, und der Wolf wird zum gütigen Tier. Die vielfältigen
Verfremdungen, die ›sicheres‹ Märchenwissen reaktivieren und relativieren,
machen den Lesereiz der Geschichten aus. Gleichzeitig kommen über die
Spannungen, die zwischen den märchenhaften Erzählelementen und den ak-
tuellen Einbringungen bestehen, eigenartige Sehweisen auf DDR-Wirklich-
keit zustande, die häufig kritische sind.
Während Christoph Hein in Das Wildpferd unterm Kachelofen (1986),
den narrativen Fundus Astrid Lindgrens, A.A. Milnes und Carlo Collodis Franz Fühmann: Die
verwendend, eine aus dialogischen Strukturen zwischen Erzähler und Kind dampfenden Hälse der
erwachsende Nonsense-Geschichte voller Skurrilitäten und wuchernder As- Pferde im Turm von Babel
soziationen erzählt, schlägt Pludra leisere und elegische Töne an, wenn er – Illustration von Egbert
Jessi, die Hauptfigur in Das Herz des Piraten (1985) ihre Wünsche und Sehn- Herfurth
süchte nach Akzeptanz und Geborgenheit einem versteinerten Herzen anver-
trauen lässt. Bar jeder Vordergründigkeit weist der Autor auf Defizite im
mitmenschlichen Verstehens- und Kommunikationsbereich hin. Jessi ist
reicher an Emotionalität und Hinwendungsbereitschaft als ihre Gefährten,
doch diese menschlichen Vorzüge verschaffen ihr nicht Anerkennung, sie
forcieren ihre Isoliertheit. Direkter trägt Christa Kozik in Kicki und der Kö-
nig (1990) ihre Bedenken und Einwände gegen die wachsenden Entfrem-
dungen zwischen Propaganda und Wirklichkeit in der späten DDR vor. Aus
dem Märchenkleid, das sie ihrer Geschichte überstreift, blicken allenthalben
die Zeitbezüge hervor; sie erhält damit eine Überdeutlichkeit, die künstle-
risch wertreduzierend wirkt. Koziks Erzählung geht – das Manuskript ist
zwischen 1987 und 1988 entstanden – von der damals noch vorstellbaren
Rettung des realen Sozialismus durch Reformen aus. Kicki, eine wahrheits-
versessene Katze mit erklärtermaßen ›ideologischen‹ Ambitionen, führt den
König von Maienland in die Realitäten seines Reiches und vermag ihn so zu
Veränderungen ›von oben‹ zu bewegen. Die Erzählung ist einfach konstruiert
und wiederholt ihre Konstanten nach dem Prinzip der Aventiurenkette. Die
DDR-üblichen langen Druckzeiten verhinderten, dass Kicki und der König
ein Buch zur rechten, nämlich zur Wendezeit werden konnte.

Die Entdeckung der Stadt


Die epische Kinderliteratur der 70er Jahre erscheint als Teil eines Orientie-
rungsprozesses, der sowohl die Konflikthaltigkeit des sozialen Milieus neu
auszuloten beginnt als auch die Handlungsräume der jungen Protagonisten
spezifischer zu fassen sucht. Dass die urbane Umwelt zum dominierenden
Schauplatz geworden ist, ist ein typischer Zug dieser Literatur; es verwundert
lediglich, dass sich dieses Phänomen nicht bereits früher zeigte. Damit voll-
zieht sich das längst fällige Eintreten der urbanen gesellschaftlichen Brenn- Urbane Brennpunkte
punkte in das Gesichtsfeld der Kinderbuchautoren und ebenso der – in eini-
gen Fällen nur vorübergehende – Abschied von zumeist lebensgeschichtlich
vertrauten, übersichtlichen, d. h. ländlichen Milieus. Es geht dabei nicht in
erster Linie um die Entdeckung des Großstadtsujets; vielmehr stoßen ent-
sprechend sensibilisierte Autoren bei der Wahrnehmung der Befindlichkeiten
von Kindern und Jugendlichen innerhalb eines Ensembles biographischer
432 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

Verläufe, die sich stets als Abschied von bekannten, geliebten Personen und
Verhältnissen und Ankunft in fremder, ungewohnter, häufig feindlicher Um-
gebung darstellen, auf das Moment der Großstadt.
›Umzugsliteratur‹ Die für diese Erscheinung zuweilen ironisch ins Spiel gebrachte Formel
von der ›Umzugsliteratur‹ verkennt Entscheidendes: Handelt es sich doch
zum wenigsten um eine Autorenattitüde, sondern vielmehr um einschnei-
dende Veränderungen im Leben von Kindern, Jugendlichen und Erwachse-
nen, die sich unter den Entwicklungsbedingungen der DDR in den 70er und
80er Jahren äußerlich als lokale und soziale Mobilitätsprozesse darstellen.
Dass nicht die Migration selbst den Konflikt ausmacht, sondern die sie aus-
lösenden Umstände und die Bedingungen, Erwartungen und Forderungen,
die sie nach sich zieht, zeigt bereits eine der ersten und bekanntesten Erzäh-
lungen, in denen diese Konstellation wirksam wird. Günter Görlichs Den
Wolken ein Stück näher (1971) nimmt einen Topos auf, der beharrlich in al-
len einschlägigen Werken wiederkehren wird: die Figur des den Entschei-
dungen der Erwachsenen unterworfenen, unfreiwillig aus der alten Umge-
bung gerissenen Kindes. Verschieden dagegen sind Verläufe und Intensitäts-
grade der sich dadurch anbahnenden Konflikte. Für Görlichs Helden, den
13-jährigen Schüler Klaus Herper, tritt der Ausgangstopos alsbald hinter
Probleme der schulischen Verhältnisse zurück, die mit der Neuorientierung
notwendig verbunden sind – Konflikte, die nicht weniger bedeutsam sein
mögen, jedoch in einem eigenen Feld angesiedelt sind. Edith Bergners Erzäh-
lung Das Mädchen im roten Pullover (1974) dagegen vertieft die – von den
Erwachsenen ignorierte oder leichtfertig überspielte – Konflikthaltigkeit von
Abschied und Ankunft. Das Mädchen Jella, das sich durchaus anpassungsbe-
reit zeigt, wird in seinem Bedürfnis, sich gleichsam in die neue Umgebung
einzupflanzen, durch das Unverständnis der Erwachsenen behindert. Doch
geht es der Autorin offensichtlich nicht allein um die Unzulänglichkeiten
Einzelner: Das triste Milieu einer typischen DDR-Neubaustadt und dessen
soziale Begleitumstände machen es schwer, heimisch zu werden.
Versehrte Kindheit Gewendet gegen die – so der Autor – »Normalität, die wir dulden« hat
Alfred Wellm in seiner 1977 erschienenen Erzählung mit dem unverhohlen
sarkastischen Titel Karlchen Duckdich die Verletzungen der Kinder in einer
kommunikationsfeindlichen Umgebung ausgebreitet. Die Fremdheit des Kin-
des, von Wellm in einer späteren Erzählung noch einmal aufgegriffen und
kompromisslos-parabolisch verallgemeinert (Das Mädchen mit der Katze,
1983), steht wie bei kaum einem anderen Kinderbuchautor der DDR gegen
das propagandistische Postulat der Geborgenheit des jungen Menschen in
der sozialistischen Gemeinschaft. Dass die Kinder, Karlchen und seine kleine
Schwester, ihr Dasein in der Zurückgezogenheit einer Märchenfantasie zu
bewältigen verstehen, markiert den Grad der Entfremdung mit aller Schärfe.
Eine andere Akzentuierung dieser Thematik strebt Benno Pludra in Insel der
Recht auf Utopie Schwäne (1980) an. Deutlicher als Wellm zielt Pludra auf Bewusstseins- und
Handlungsstereotype, welche teilweise selbst die gutwilligeren Repräsentan-
ten der Erwachsenengesellschaft kennzeichnen. Auf den ersten Blick eher
subjektiver, privater Natur, weiten sich die Konflikte hin zu paradigmatischen
gesellschaftlichen Dimensionen; in ihrer Relevanz weisen sie über die unmit-
telbare Betroffenheit des im Mittelpunkt der Handlung angesiedelten 12-
jährigen Stefan Kolbe hinaus. Trauernd ist dieser in eine der gewaltigen,
hochgeschossenen Neubauburgen bei Berlin umgesiedelt; er hat Freunde und
eine vertraute Umgebung, ein Stück Land an der Alten Oder, verloren, das
einen Teil seiner Identität bildet und nur als erinnernder Traum von der »In-
sel der Schwäne« mitgenommen werden konnte. Anfangs ein so im Wesent-
Umweltkritik 433

lichen regressives Moment, scheint sich die Kraft der Erinnerung als Mög-
lichkeit der Aneignung und Mitgestaltung der neuen Umwelt zu erweisen.
Das Projekt eines Spielplatzes wird geboren aus der Inspiration der »Insel
der Schwäne«. Doch allzu bald stoßen diese schöne Vorstellung und das aus
ihr erwachsene Engagement auf Schranken. Eine im Selbstlauf funktionie-
rende Planungsbürokratie behauptet sich mit Hilfe subalterner Kreaturen;
jedoch auch – und dies ist schmerzhafter – der Vater erweist sich als einge-
bunden in diese Mechanismen. Eine Auseinandersetzung mit ihm lässt Stefan
verzweifeln und begründet seinen Entschluss, mit dem Ziel Alte Oder davon-
zulaufen.
Zu den Stoffgebieten, in deren literarischer Verarbeitung sich die wach- Konfliktfeld Schule
sende Distanz der Autoren zu Fehlentwicklungen innerhalb der DDR-Gesell-
schaft markant reflektiert, zählt das Konfliktfeld Schule. Auch hier, in der
Befragung pädagogischer Praxis für die Lebensbefähigung der Schüler, in der
Kritik an Formalismus und Meinungsnormierung, haben sowjetische Schrift-
steller wirkungsvolle Anstöße geliefert. Tendrjakows Novelle Die Nacht nach
der Abschlußfeier (1974, auch dramatisiert) hat unter DDR-Schülern zu
heftigen Diskussionen geführt und nicht zuletzt dadurch literarischen Hand-
lungsbedarf signalisiert. In frühen ›Schulerzählungen‹, wie Kubschs Die Stö-
renfriede (1953), dominierte die rasche Integration sogenannter Außenseiter
in eine harmonisch überhöhte Gemeinschaft. In extremer Ausprägung tritt
dies in Alex Weddings Das eiserne Büffelchen (1952) hervor. Dagegen setzte
sich seit den 60er Jahren eine Wertverschiebung durch, die das Individuum
betonte und – als Leser – ermunterte. Dieser Wandel ging einher mit einem
Aufbrechen des monolithischen Lehrerbildes. Negative Figuren, befangen in
starren Denkweisen, unfähig zur Zuwendung und zur Anerkennung anderer
Meinungen, bekamen die undankbare Funktion, als Literaturpersonen die
Prügel hinnehmen zu müssen, die eigentlich dem Bildungssystem galten. Wi-
derpartner waren meist junge, auch von den Jahren her schülernähere Lehrer.
Görlichs Eine Anzeige in der Zeitung (1978) bezieht Substanz und Brisanz
aus der Gegenüberstellung der Lehrer Just und Strebelow, wobei Strebelow
die starre, auf Unterordnung und Disziplinierung verpflichtete, Just die zum
Schüler hin partnerschaftliche, kreative pädagogische Variante vertritt.
In Erik Neutschs Zwei leere Stühle (1979) wird die Frage nach dem Sinn
opportunistischer und von der Schule honorierter Verhaltensmuster aufge-
worfen. Hans Weber erzählt in Bin ich Moses? (1976), geschult an Salingers
Fänger im Roggen, vom Suchweg eines Schülers, dem Probleme daraus er-
wachsen, dass er zu leben versucht, wie er es gelernt hat. In Gabriele Herzogs
Das Mädchen aus dem Fahrstuhl (1985) und in Petra Seedorffs Hörspiel
Robert J. (1988) wird darauf verzichtet, die Kritik an einer negativen Lehrer-
figur festzumachen; die Einwände beider Autorinnen gegen eine auf ›For-
mung‹ ausgerichtete Schule zielen auf Ursachen, nicht auf Repräsentanten.
Die Entstehungszeiten zwangen mitunter zu Konsequenzen, welche die äs-
thetische Ausgewogenheit lädierten. Die Verlagerung des sozialkritischen
Tenors auf die Schülerfiguren hatte eine Überakzentuierung dieser Gruppe
zur Folge.

Permissive Haltung der Zensur: Umweltkritik


Zu den Eigentümlichkeiten von Kinderliteratur in der DDR gehörte, dass Zensur
gerade sie vom Widerspruch zwischen Propaganda und realem Verhalten
staatlicher Institutionen profitierte. Das galt auch im Bereich der Zensur.
Verglichen mit der Literatur für Erwachsene war in der Kinderliteratur mehr
434 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

möglich, konnte Deutlicheres, Keckeres, Vordenkerisches veröffentlicht wer-


den. Im Gegensatz zu den vielen Beispielen für Zensureingriffe oder Verbote
im Erwachsenenbereich sind solche Fälle in der Kinderliteratur eher die Aus-
nahme. Sicher gab es auch bei der Mehrheit der Kinderbuchautoren die
›Schere im Kopf‹. Aber die Autoren und Autorinnen, die für Kinder schrie-
ben, waren in einer günstigeren Position als die der Erwachsenenliteratur; sie
schrieben eben nur für Kinder, und da sah man so genau nicht hin. Diesem
produktiven Dilemma hat die DDR-Kinderliteratur zu verdanken, dass sie
bestimmte Stoffe, Sujets, Probleme früher aufgreifen und bisweilen auch
konsequenter verarbeiten konnte, als dies in der Erwachsenenliteratur oder
gar in den elektronischen Medien möglich war.
Mangelndes Ein Beispiel dafür ist das Umweltthema. Bis weit in die 80er Jahre hinein
Umweltbewusstsein war die öffentliche Diskussion ökologischer Fragen in der DDR nicht mög-
lich – lediglich in alternativen, peinlich genau überwachten Gruppen setzte
man sich damit auseinander. Wenn überhaupt, dann wurden Umweltpro-
bleme in einer verqueren Proportionalität erörtert: je ferner, desto intensiver.
So konnten DDR-Schüler in Jugendzeitschriften über die Abholzung der
Amazonaswälder lesen, nach dem Beginn der Perestroika auch über Umwelt-
sünden in der UdSSR, über die Schäden an heimatlichen Naturräumen er-
fuhren sie nichts. Literatur übernahm hier das Amt eines stellvertretenden
Dialogpartners, versuchte Presse und auch Schule zu ersetzen, was ihr nur
bedingt gelingen konnte und mit ästhetischen Einbußen erkauft werden
musste.
In der Erzählprosa für Kinder – deutlich weniger in der für Jugendliche –
kamen schon immer, verstärkt dann allerdings seit den späten 70er Jahren,
Protagonisten vor, die sich in aktiv schützender oder bewahrender Tätigkeit
um die Umwelt bemühten, die einen im Sinne der Wiederherstellung intakter
Zustände, die anderen in einem eher präventiven Verständnis. Spätestens seit
Rousseau gelten Kind und Natur, Natürlichkeit und Kindlichkeit als syno-
nym. Die Zerstörung von Natur wurde und wird immer auch als Beschädi-
gung von Kindheit verstanden. Ein anderer Impuls kommt hinzu, der aus
dem in der Kinderliteratur üblichen Milieu herrührt. Kinderfiguren tummeln
sich in Wäldern, beobachten Störche am Nest, gehen in Krisensituationen zur
Selbstbesinnung unter die Buchen oder schnitzen etwas in deren Rinde. Hier,
eher an der Peripherie eigentlichen Geschehens, mussten Autoren zur Kennt-
nis nehmen, dass die lockere Bemühung der grünen Requisiten nicht mehr
funktionierte: Sie waren anders geworden, waren aus den Fugen. Das war zu
registrieren; und aufzuarbeiten war das Defizit an umweltbezogenem Be-
wusstsein, auch bei Kindern und Jugendlichen.
Kinder als Bewahrer Bis über die Mitte der 60er Jahre fand in der DDR-Literatur ein unbeküm-
mertes Feiern des Fortschritts statt. Dem DDR-Bürger wurde, durchaus auch
in Büchern, suggeriert, er sei Sieger der Geschichte, was das Bild vom Beherr-
scher der Natur einschloss. Noch auf dem X. Schriftstellerkongress (1987)
hatte der sorbische Autor Jurij Koch Anlass, eine Reportage zu rügen, die im
»stereotypen Pathos« dieser Siegerhaltung einen Braunkohlentagebau kom-
mentierte. Mit Horst Beselers Erzählung Die Linde vor Priebes Haus (1970),
auch unter dem Titel Der Baum veröffentlicht, kommt die Kinderliteratur
der DDR auf neue Weise zum alten Thema. Erstmals taucht die Gesellschaft,
deutlicher: der Staat, als Widerpart naturbewahrenden Handelns auf. Ein
Mädchen kämpft um die Erhaltung einer alten Linde, die einem Verkehrspro-
jekt weichen soll. Beselers Gestus ist der eines Aufklärers; er setzt die Lösung
des Problems der Realität entgegen (das Mädchen vermag den Baum zu ret-
ten) und ermuntert den Rezipienten zur Identifikation mit kindlich-engagier-
Umweltkritik 435

tem Tun. Ähnlich verfährt er in seiner Erzählung Tiefer blauer Schnee (1976),
die im Zentralereignis bescheidener bleibt, in der Fabelführung aber spekta-
kulärer ist. Eine Kindergruppe bemüht sich um ein verletztes Reh, vermag
das Tier schließlich von dem Drahtgeflecht zu befreien, das ihm Qual be-
reitet.
Für diese Geschichten, die Anfänge markieren, war ein schließlich obwal- Harmonieprinzip
tendes Harmonieprinzip kennzeichnend. Durch Tatkraft war der frühere
Zustand wiederherstellbar. Zwei Jahre nach Tiefer blauer Schnee kam der
Bilderbuchtext Der Klappwald von Edith Anderson heraus, mit dem eine
höhere ästhetische und somit auch realistischere Qualität erreicht wird.
Nicht ein Ereignis eigener und dennoch typischer Art ist literarischer Gegen-
stand, sondern ein Zustand, den die Autorin visionär aus einer schlimmen
Zukunft in die Gegenwart holt. Menschen drohen in Müll zu ersticken; an
Wald erinnert man sich, aber man hat ihn nicht mehr. Ein Wald aus Pappe,
aufklappbar wie Theaterkulissen, wird installiert; der aber verfällt und zer-
matscht beim nächsten großen Regen: Das Übel wird unbeherrschbar. Auf-
klärung auch hier, aber unter negativem, warnendem Aspekt; Harmonie lässt
sich bei diesem Ansatz nicht mehr erreichen. Diese suggestive, mahnende
Utopie ist in der DDR-Kinderliteratur ohne adäquate Nachfolge geblieben.
Mit der sich verschärfenden Umweltproblematik in der DDR und dem
andauernden problemabstinenten Verhalten der Medien konnten die ideali-
sierenden Erzählperspektiven nicht mehr aufrechterhalten werden. Nach wie
vor aber erfolgte die Spiegelung der tatsächlichen katastrophalen Lage aus-
schließlich in der Kinderliteratur. Gerhard Holtz-Baumert machte einen we-
sentlichen Schritt, als er in Kilian im Kiefernwald (1979, in dem Band Sieben
und dreimal sieben Geschichten) den DDR-weit praktizierten Umgang mit
der Natur als rüden Pragmatismus und plattes Nutzdenken anprangerte. Er
lässt ausgerechnet einen Förster, eine Figur also, die im traditionellen Kinder-
buch ganz anders besetzt war, zum Verkünder des ökologischen Utilitarismus
werden und macht so, erkennbar auch für seine kindlichen Leser, auf den
Werteverfall aufmerksam. Noch einen Schritt weiter ging Holtz-Baumert in
der Erzählung Die Hecke (in dem Band Erscheinen Pflicht, 1981). Ein Junge
wird Zeuge, als eine Feldhecke aus menschlicher Unachtsamkeit abbrennt.
Sein Bemühen, andere zur Brandbekämpfung zu mobilisieren, findet keine
Beachtung. Holtz-Baumert reflektiert hier DDR-Realität, indem er im Grunde
gütige und nette Leute als Versager vor einem Weltproblem vorführt und
eine Haltung darstellt, die nicht zuletzt aus Uninformiertheit und aus dem
wachsenden Desinteresse an allgemeinen Angelegenheiten resultierte.
Um die Wende von den 70er zu den 80er Jahren entdeckte die DDR-Lite- Sozialkritik
ratur für Kinder und Jugendliche einen Landstrich, in dem der Widerspruch
zwischen ökonomischen Zwängen und dem Unvermögen enger Strukturen,
sie alternativ zu lösen, sichtbar wird: die Niederlausitz. Alte, gewachsene
Sozialgemeinschaften, wie in den sorbischen Dörfern mit ihrer eigenen At-
mosphäre, kollidieren harsch mit den Verwüstungen, die die Tagebaue in der
Landschaft anrichten. Neben zahlreichen Hörspieltexten für Kinder, die die
Betroffenheit von Kindern durch Aussiedlungen, Heimatverlust, Abschied
und Ankunft in normierter Wohnumgebung gestalten, war es zunächst Joa-
chim Nowotny, der sich – wie schon in seinem Roman Der Riese im Paradies
(1969) – dieser brisanten Thematik zuwandte. In seiner jugendlichen Lesern
zugedachten Novelle Abschiedsdisco (1981) wägt er die vermeintlichen öko-
nomischen Gewinne gegen die irreparablen ethisch-moralischen und zwi-
schenmenschlichen Verluste ab und plädiert, über den elegischen Gestus sei-
ner Erzählweise hinausgehend, in der Aussage für Konsequenzen zugunsten
436 Kinder- und Jugendliteratur der DDR

menschlicher Werte. Wie schon Holtz-Baumert gibt er der disharmonischen


Lösungsvariante den Vorzug und zielt damit auf emotionale Aktivierung.
Präziser als Nowotny benennt Jurij Koch in seiner Erzählung Augenopera-
tion (1988) Ursachen und Schuldige für den desolaten Zustand der späten
DDR, den er nicht nur ökologisch ortet.
Neben Bernd Wolff (Biberspur, 1979; Die Wildgrube, 1988), Hartmut
Biewald (Schwalben im Schilf, 1982), Kurt David (Antennenaugust, 1975)
und den Lyrikern Walther Petri, Wilhelm Bartsch, Jürgen Rennert und Dieter
Mucke gehört vor allem der 1936 geborene Wolf Spillner zu den Autoren
Konfliktfeld Kind – von Kindertexten, die sich wiederholt dem Konfliktfeld Kind – Umwelt an-
Umwelt genommen haben. Spillner, ein international renommierter Tierfotograph,
hat Bilderbuchtexte geschrieben, Sachbücher verfasst und mit den beiden
Erzählungen Wasseramsel (1984) und Taube Klara (1988) Arbeiten geliefert,
die nicht nur von der Kritik stark beachtet, sondern auch von der kindlichen
Leserschaft angenommen wurden. Wasseramsel, durchaus nicht vollkommen
in seiner künstlerischen Umsetzung, bringt zwei ›heiße Eisen‹ thematisch zu-
sammen: Privilegien im ›Sozialismus‹ und Umweltfragen. Es gehört zu den
Eigentümlichkeiten der Rezeption dieses Buches, dass das eigentliche Sujet,
eine moderne Romeo-Julia-Variante, ›überlesen‹ wurde. Wichtig war der Le-
serschaft, auch der erwachsenen, das Sozialkritische, von Interesse also mehr
der Streit um das Wochenendhaus des Generaldirektors im Naturschutzge-
biet als die komplizierte Beziehung seines Sohnes zu Ulla, einer Schülerin, die
auf der Seite eines couragierten Lehrers gegen die Selbstherrlichkeit des
Funktionärs angeht. Dass Spillner für den Schluss seiner Geschichte zum
Prinzip des Deus ex machina greifen musste – als sich der Konflikt extrem
zugespitzt hat, stirbt der Generaldirektor –, ist nicht dem Unvermögen des
Erzählers, sondern der Entstehungszeit und ihrer Veröffentlichungspolitik
geschuldet. In Taube Klara nimmt Spillner die großen Dimensionen zurück
und bringt eine eher intime Kulisse. Eine Taube, lebender Bezugspunkt und
letzter Schutz vor totaler Isoliertheit für eine alte Frau, wird über die Weih-
nachtsfeiertage von der resoluten Schwiegertochter getötet; die Tat begründet
sie mit hygienischen Argumenten. Für den Enkel der Frau bedeutet dies eine
extreme Veränderung seines bisherigen Bildes von der Mutter; dieser Um-
kehrung können die intendierten Leser von 11 bis 12 Jahren ebenso folgen
wie der über den Vorfall hinausweisenden Intention: Das Vorgehen der Mut-
ter steht für eine rüde Kurzentschlossenheit, die Folgen nicht bedenkt und
andere Maßstäbe als die eigenen nicht gelten lässt – also für das Gegenteil
von Toleranz. Auch diese Geschichte ist ein Indiz dafür, dass in der DDR die
Kommunikationen zwischen Wirklichkeit und gespiegelter Wirklichkeit di-
rekter funktionierten als anderswo, weil Literatur, auch Kinderliteratur, Er-
satz war und gleichermaßen mehr als Ersatz für sonst nicht Passierendes.
437

Medien und Medienverbund

Radio für Kinder und Jugendliche


Gudrun Stenzel

1923 beginnen die ersten Sendegesellschaften in Deutschland mit der Aus-


strahlung regelmäßiger Rundfunksendungen. Die damaligen Angebote sind
jedoch mit den heute üblichen kaum zu vergleichen: Die Wortsendungen
orientieren sich sehr am Medium Presse und bestehen aus Nachrichten, Wet-
ter und Wirtschaft. Ab 1924 gibt es bei der Berliner Funk-Stunde ein erstes
feuilletonartiges Magazin, die Ullstein-Stunde, in der das gleichnamige Ver-
lagshaus Information und Unterhaltung für ›Frau und Familie‹ und auch
erstmals eine Kinderecke anbietet. Dieser erste Kinderhörfunk besteht aus
»niedlichen Schnurren und Geschichten«, die der Funkheinzelmann oder die
Funkprinzessin erzählen. Dieses Angebot fügt sich in die Intention der Rund-
funkmacher ein, die eine Art ›Volkshochschule‹ zum Ziel haben, in der neben
Bildungsangeboten auch anspruchsvolle Unterhaltung ihren Platz finden
soll.
Die Stoffe der Kinderradioangebote stammen aus Märchen, Kasperlestü- Bildung und
cken sowie zeitgenössischen und klassischen Kinderbüchern (von Doktor anspruchsvolle
Dolittle bis zu Geschichten von Karl May), die als Hörspiele inszeniert wer- Unterhaltung
den. Die ›reifere Jugend‹ hört klassische Dramenstoffe in speziellen Inszenie-
rungen (Jugendbühne) und spielt selbst in Hörspielen mit, u. a. unter der
Leitung von Lisa Tetzner, die auch als Märchenerzählerin zu hören ist. In
diesen (anspruchsvollen und bemerkenswert realitätsnah inszenierten) Rei-
hen wird dem Unterhaltungsbedürfnis Rechnung getragen, in Reihen wie
Bedeutende Männer sprechen zur Jugend, Verkehrswachtstunde oder allge-
mein bildenden ›Funkvorträgen‹ zu Themen vom Fotographieren bis zum
Autobau sowie in Kinderkonzerten mit klassischer Musik erfüllen die Re-
dakteure den Bildungsauftrag.
Bis 1929 werden die Sendungen nur live ausgestrahlt. Das Grundkonzept
besteht aus einer Rahmen gebenden Moderation durch Redakteure, Erzäh-
ler oder ›Rundfunktanten‹, die eine Einführung zu den nachfolgenden Ge-
schichten und Märchen geben und Kinder zum Basteln, Singen und zu
›Lehrgesprächen‹ ins Studio holen. Ihnen werden, stellvertretend für die
jungen Hörerinnen und Hörer, Fragen gestellt und Belehrungen gegeben.
Dieses Modell ist seit den Anfängen der intentionalen Kinderliteratur ver-
breitet.
Im Nationalsozialismus ist der Rundfunk laut Joseph Goebbels das »aller- Nationalsozialismus:
modernste und [...] allerwichtigste Massenbeeinflußungselement«. Die Propaganda und
gleichgeschalteten Radiosender verbreiten durch die in Massen billig produ- Unterhaltung
zierten ›Volksempfänger‹ Propaganda und Unterhaltung in deutsche Wohn-
zimmer. Der Kinderfunk orientiert sich am ›Volksmärchengut‹: »Wir spüren
[...] das Uralte, Fernererbte, das aus dem Märchen spricht, das Denken und
Fühlen unseres Volkes aus Jahrtausenden her« (Max Meurer, 1939). Andere
Funkbeiträge sind darauf ausgerichtet, die Kinder zu aktivieren und zum
438 Medien und Medienverbund

Mutter mit Kindern


am Volksempfänger

Basteln und Mitsingen anzuregen. Ältere Kinder und Jugendliche werden


durch den seit 1933 ausgestrahlten Hitlerjugend-Funk politisch ›informiert‹
bzw. indoktriniert.
Große Bedeutung Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs müssen Presse- und Verlagswesen
des Hörfunks in der ebenso wie Kinos erst neu aufgebaut werden; Papierknappheit erschwert die
Nachkriegszeit Publikation von Printerzeugnissen. Da aber die Volksempfänger noch vor-
handen sind, Detektorradios mit einfachen Mitteln selbst gebaut werden
können und die Kosten für den Rezipienten überschaubar sind, wird der
Rundfunk für einige Zeit zum zentralen Medium für Bildung, Unterhaltung
und Kunst. Wie die Erwachsenen, die in den frühen 50er Jahren andächtig
(und häufig gemeinsam) am Abend den Rundfunkangeboten lauschen, so
hören etwa die Hälfte aller unter 14-Jährigen fast täglich die für sie ausge-
strahlten Sendungen. 1955/56 werden die Kinderfunkredaktionen vergrößert
und die Programme ausgeweitet. Täglich, meist zwischen 14.00 und 14.30
Uhr, können Kinder unter sechs Jahren ein an sie gerichtetes Programm hö-
ren.
Inhaltlich und formal knüpft der Nachkriegskinderfunk an die Programme
der Weimarer Zeit an: Rundfunkonkel und -tanten (›Onkel Eduard‹ beim
NDR, ›Onkel Tobias‹ beim RIAS) laden Kinder ins Studio ein, mit denen sie
singen, tanzen, spielen und basteln, denen sie vorlesen und erzählen und mit
denen sie belehrende Gespräche führen. Kunst- und Volksmärchen, Klassiker
der Kinderliteratur und die für diese Zeit typische idyllisierende Kinderlitera-
tur werden gelesen und zu Hörspielen umgearbeitet. Ausnahmen bilden in-
novative Autoren wie Astrid Lindgren oder James Krüss. Seit diesen Jahren
haben sich die Gute-Nacht-Grüße des Kinderfunks etabliert, in denen die
Kinder um etwa 19.00 Uhr vom Sandmann oder vom ›Gute-Nacht-Lied-
Onkel‹ vor dem Zubettgehen kleine, meist moralisierende Geschichten er-
zählt bekommen.
Das Fernsehen Im Laufe der 60er Jahre übernahm das Fernsehen mehr und mehr Funkti-
verdrängt den Hörfunk onen des Kinderhörfunks, bedingt durch die Ausweitungen von Sendezeiten
und -sparten und die wachsende Verbreitung der Geräte. Kindern werden
Radio für Kinder und Jugendliche 439

hier durch die audiovisuelle Darstellung Angebote gemacht, die scheinbar


leichter rezipierbar und ganz offensichtlich für die meisten Kinder attraktiver
waren. Nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern alle Altersstufen, abgese-
hen von den Allerjüngsten, werden von einer ›Hörmüdigkeit‹ erfasst. Der
Kinderfunk verliert seine Hörer; da die Redakteure fast unbeirrt weiterma-
chen wie bisher, bekommt das ›Dampfradio‹ zunehmend das Image eines
veralteten Mediums. Die öffentlich geführten Diskussionen über Erziehung,
über autoritäre und antiautoritäre sowie über emanzipatorische Erziehungs-
konzepte wirken sich im Kinderfunk wesentlich später als im Kinderfernse-
hen aus: Reagieren die Redakteure im Fernsehen bereits Ende der 60er Jahre
mit Veränderungen des Programms in Inhalt und Form, so nehmen die Hör-
funkredakteure diese Anregungen erst zu Beginn der 70er Jahre auf. Nun
bemühen sich einzelne Sender kontinuierlich und nachhaltig in Zusammen-
arbeit mit fortschrittlichen Pädagogen, mit Vorschuleinrichtungen und durch
die Mitansprache der Eltern ein neues Selbstverständnis des Kinderfunks zu
entwickeln: »Mit jeder Sendung wird versucht, sich auf eine bestimmte Ent-
wicklungsphase des Kindes einzustellen und nebenher ein Modell für den
Umgang mit Kindern anzubieten, denn niemandem fällt es so schwer wie den
Eltern, den neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen, die nicht die ihrer ei-
genen Kindheit sind« (Rose Marie Schwerin, NDR, 1973).
1973 wurde im Zuge dieser Überlegungen und Ansätze ein erstes Vor- Vorschulprogramme
schulprogramm im Radio, Der grüne Punkt (SDR), ausgestrahlt, das sich an und Jugendsendungen
Kinder im Vorschulalter und in einem zweiten Teil an deren Eltern wendet.
Wie in den Sendungen für ältere Kinder und Jugendliche ist dabei ein Ziel
der Redaktion, dass Kinder Verständnis für Verhaltensweisen von Anderen
entwickeln, eigene Meinungen finden und vertreten sowie lernen, sich mit
Konflikten auseinanderzusetzen. Wirklichkeitsnähe und die Verbindung von
verschiedenen Programmformen, die informierend und unterhaltend sind
und an die aktuelle Kinder- und Jugendkultur anknüpfen, prägen Sendungen
wie Rotlicht (WDR) oder Für junge Hörer: Politik im Gespräch (HR). Weg-
weisend war sicherlich der seit 1954 gesendete Abend für junge Hörer
(NDR), der bereits in den 50er Jahren die Jugendlichen an politische und
gesellschaftliche Themen heranführen und sie zur Bildung eigener Meinungen
ermuntern wollte. Sendungen mit Popmusik und jugendspezifischen Wort-
beiträgen wie Fünf-Uhr-Club oder Musik für junge Leute (beide NDR) bie-
ten den Jugendlichen zu attraktiven Sendeplätzen altersgemäße Unterhal-
tung.
Die Hörspiele nehmen die Entwicklungen in der ›neuen‹ Kinder- und Ju- Wirklichkeitsnähe
gendliteratur auf und lösen sich damit von der Vorherrschaft des ›inneren
Erlebens‹. Wirklichkeitsnähe, soziale Themen, aber auch einzelne künstleri-
sche Experimente spiegeln die von den Autorinnen und Autoren der ›neuen‹
Kinder- und Jugendliteratur gesetzten Impulse wider. Einzelne Redaktionen
treiben die Entwicklung des Kinderhörspiels durch Engagement und Innova-
tionen voran. Diese Produkte werden seit dieser Zeit zunehmend nachfol-
gend auf Kindertonträgern vertrieben. Diese gemeinsame Nutzung und Ver-
marktung von anspruchsvollen und entsprechend aufwändig produzierten
Hörspielen und szenischen Lesungen ist Voraussetzung für eine Weiterexis-
tenz dieser ›Nischenprodukte‹, denen in der gegenwärtigen Radiolandschaft
wenig attraktive Sendeplätze eingeräumt werden.
Seit den späten 70er Jahren und mit der Einführung des dualen Systems Radio als
von öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk haben sich Kinder und ›Klangteppich‹
Jugendliche zunehmend daran gewöhnt, Radio als Hintergrundkulisse, als
›Klangteppich‹ zu nutzen, in dem populäre Musik stimmungsunterstützend,
440 Medien und Medienverbund

aber nicht Aufmerksamkeit beanspruchend dauerhaft zu hören ist. Zwar


besitzen sehr viele Kinder ein eigenes Radiogerät (bzw. einen Kassettenrekor-
der oder CD-Spieler mit Radioempfänger), doch seit ca. 1980 haben noch
mehr Heranwachsende ein eigenes Fernsehgerät. Und bereits in den 70er
Jahren geht die Radiohörerforschung davon aus, dass die intentionalen Kin-
derprogramme nur von ca. 1 % der Zielgruppe gehört werden. Durch die
Programmgestaltung in den verschiedenen Sendern wird dieser Tendenz
nicht Einhalt geboten: Zwar bieten einige Sender umfangreiche Sendezeiten,
andere hervorragend produzierte und der Zielgruppe angemessene Sen-
dungen, doch die Verstreuung in den allgemeinen Programmen macht es den
›Verstreuung‹ der Kindern nicht gerade leicht, ›ihre‹ Sendungen zu finden. Die meisten Sender
Kindersendungen in haben ihr Kinderangebot auf den Samstag und Sonntag reduziert, einige
den Radioprogrammen senden abends eine Gute-Nacht-Geschichte und nur wenige haben, wie der
Deutschlandfunk mit Kakadu, eine tägliche Sendung im Programm. Zudem
drucken nur sehr wenige Fernsehzeitschriften und Tageszeitungen noch Hör-
funkprogramme ab, so dass die Suche nach bestimmten Radiosendungen zu
einer schwierigen Aufgabe wird. »Wie entledigt man sich eines Zielgruppen-
programms, das so recht in keines der schicken neuen Radioformate passen
will? Indem man nachweist, dass es erfolglos ist. Am besten gelingt dieser
Nachweis, wenn man solchen ungeliebten Programmen Sendeplätze zuweist,
die kein normaler Mensch nutzen kann. Ein Kinderprogramm an Werktagen
(= Schultagen) zum Beispiel um 13.35 Uhr zu platzieren, ist ein prima Einfall
zur Hörer-Vermeidung. Es gibt noch einen Weg, dem Kinderfunk den Garaus
zu machen: Man gründe einen eigenen Radio-Kinderkanal! [...] Der Kinder-
funk wird im Kräftespiel der ARD nur überleben, wenn sich die Überzeugung
durchsetzt: Wir brauchen ihn als Zukunftssicherung, weil auf Hörer und
Hörerinnen mit halbem Ohr kein Verlaß ist« (Jörgpeter Ahlers, NDR,
1996).
Analog zum Angebot von KI.KA, des öffentlich-rechtlichen Kinderfern-
sehsenders, wird die Einrichtung eines bundesweit ausgestrahlten Kinderhör-
funksenders diskutiert, der von morgens bis abends Angebote für Kinder
sendet. Die Argumente für einen solchen Sender beziehen sich hauptsächlich
Diskussion um einen auf die skizzierte Schwierigkeit, in den winzigen Sendeplatznischen die Kin-
eigenen Kinderradio- dersendungen zu finden; die Argumente dagegen betonen das Problem, an-
sender spruchsvolle und attraktive Sendungen für diese lange Sendezeit zu produzie-
ren. Dieses Argument ist, wenn man das großenteils eher mäßig qualitätsvolle
Programm des KI.KA betrachtet, nicht von der Hand zu weisen. Allerdings
ist die Frage, ob über einen eigenen Sender nicht doch große Teile einer
Hörergeneration für das Radio zurückzugewinnen wären. August 2006 ist
ein privater Sender in die Lücke gesprungen: Radio Teddy sendet, terrestrisch
allerdings nur im Raum Berlin-Brandenburg, 24 Stunden Programm für Her-
anwachsende, werbefinanziert und getragen von ›Radio im Filmpark Babels-
berg GmbH & Co. KG‹. Über Satellit, Internet und Kabel ist die Reichweite
deutlich größer. Das Motto des Senders heißt: »Radio Teddy ist die Stimme
der Kinder und ihrer Familien in Berlin-Babelsberg«. Der Sender hat sich
Toleranz und Gewaltfreiheit auf die Fahnen geschrieben, doch ästhetische
Innovationen und anspruchsvolle oder längere Wortbeiträge sind im Pro-
gramm nicht zu finden. Kritisiert wird allerdings von einigen der bisherigen
(erwachsenen) Hörer vor allem auch die Werbung, die wie bei den Kinder-
sendeblöcken der privaten Fernsehsender exakt auf die Zielgruppe zuge-
schnitten ist. Über örtliche Offene Kanäle und Bürgerradios ebenso wie über
das Internet sind die anspruchsvolleren Sendungen von Radijojo zu empfan-
gen (www.radijojo.de). Ganz im Sinne der medienpädagogischen Ansätze
Radio für Kinder und Jugendliche 441

Kleine Experten und


Expertinnen als kompe-
tente Gesprächspartner:
im NDR-Studio bei der
Kindersendung Mikado

der Offenen Kanäle findet hier auch Medienpraxis ihren Platz. Träger ist die
RADIJOJO! gGmbH, ein Träger der freien Jugendhilfe, angesiedelt im Haus
der Jugend in der Reinickendorfer Str. in Berlin. Im Angebot der öffentlich- Mehrfachadressierung
rechtlichen Radiosendungen für Kinder sind nach wie vor Hörspiele und der anspruchsvollen
szenische Lesungen, die auf aktueller und häufig preisgekrönter oder zumin- Kindersendungen
dest in der Kinder- und Jugendliteratur-Kritik beachteter Kinderliteratur ba-
sieren. So stellt eine Lesung mit Hörspielpassagen von Jutta Richters Hecht-
sommer, gesendet 2006 in Mikado, der sonntäglichen Kindersendung auf
NDR Info (früher NDR 4), hohe Ansprüche an die kleinen Hörer, befriedigt
aber sicherlich auch Hörinteressen von Erwachsenen. Ähnliches gilt für die
Hörspielfassung von Philip Pullmans Trilogie His Dark Materials, die in
Fortsetzungen ebenfalls in Mikado gesendet wurde und deren Buchfassung
bereits durch die Doppeladressierung auch Erwachsene als Leser gewinnen
konnte. Die Mehrfachadressierung ist sicherlich in den Magazinen der Kin-
derprogramme nicht zentral: Hier gibt es, ähnlich wie in den Kindermaga-
zinen des KI.KA, Mischformen aus Quiz, Informationen, Spielen, Musik und
kurzen Geschichten, wobei die im Studio anwesenden Kinder kaum noch
wie bis in die 70er Jahre hinein belehrt werden, sondern als kleine Experten
und Expertinnen und als kompetente Gesprächspartner angesprochen wer-
den, die ihre eigenen Belange und Bedürfnisse vertreten können.
Auf ihren Webseiten bieten einige der Kinderfunkredaktionen (z. B. Lilipuz
vom WDR) Zusatzmaterial und, wie die Fernsehsender, Spiele und Informa-
tionen zu diversen Themen an. Austauschmöglichkeiten mit anderen Hörern Hörerbindung durch
und die Möglichkeit, Rückmeldungen zu geben, sollen Zuhörer binden. Ver- Internetangebote
passte Sendungen können im Internet gehört werden. Medienpädagogische
Angebote sollen die Kinder zum Hören motivieren und in die Lage versetzen,
mit dem Medium Hörfunk selbstbestimmt und kompetent umzugehen. So
bietet der Norddeutsche Rundfunk ›Hörnächte‹ an, die im gesamten Sende-
gebiet samstagnachts empfangen werden können und die live in einer Schule
442 Medien und Medienverbund

veranstaltet werden. Analog zu dem lesefördernden Angebot ›Lesenacht‹,


werden verschiedene Hörangebote rund um ein attraktives Thema (z. B. Gru-
sel) gemacht: Lesungen, Musik, Spiele. Der Hessische Rundfunk ist beteiligt
›Events‹ und medien- an der Stiftung Zuhören e. V., die, analog zu den Leseclubs der Stiftung Le-
pädagogische Zusatz- sen, Hörclubs an Schulen und mittlerweile auch in Kitas anregt und mit
angebote Material ausstattet. 2002 wurde die Stiftung Zuhören von verschiedenen
Landesmedienanstalten, dem Hessischen Rundfunk und anderen Stiftern ge-
gründet. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Hören und Zu-
hören aus medizinischer, psychologischer und pädagogischer Sicht sind
ebenso wie Fortbildungen für Multiplikatorinnen und Multiplikatoren Be-
reiche der Vereinsaktivitäten. Auf dem Hintergrund einer wachsenden akus-
tischen ›Umweltverschmutzung‹ fordert und fördert die Initiative (Stiftung)
Hören e. V. mit ihrer ›Schule des Hörens‹ das genaue Hören und Zuhören
ebenso wie die Reduzierung der Lärmquellen und die Fähigkeit, die Stille
und die ›leisen Töne‹ wahrzunehmen. Diese Initiative, 2001 von 20 Verbän-
den u. a. aus dem Medienbereich und der Gesundheitsförderung gegründet,
richtet sich im Gegensatz zur Stiftung Zuhören e.V. nicht nur an Heranwach-
sende, sondern arbeitet z. B. eng mit dem Bundesgesundheitsministerium und
der Deutschen Tinnitus-Liga zusammen, hat also einen wesentlich umfas-
senderen Ansatz. Für Kinder und ebenso für Multiplikatoren ist vor allem
Olli Ohrwurm interessant, ein für Kindergärten und Grundschulen konzi-
piertes Projekt zum Hören.
Seit den 80er Jahren bieten die ›Offenen Kanäle‹ den Bürgern die Mög-
lichkeit, selbst Radio- und Fernsehsendungen zu produzieren und zu senden.
Grundlage ist das staatsvertragliche Übereinkommen, dass 2 % der Rund-
funkgebühren zur Erfüllung landesgesetzlich gebotener Aufgaben zur Verfü-
Offene Kanäle gung stehen müssen. Die Offenen Kanäle sind in jedem Bundesland anders
organisiert und finanziert. Immer jedoch ermöglichen sie auch Kindern und
Jugendlichen, begleitet und angeleitet von Erwachsenen, Hörfunksendungen
zu machen. Eine Gegenöffentlichkeit, wie ursprünglich eine der Zielsetzungen
lautete, bieten sie jedoch weder für Heranwachsende noch für Erwachsene in
dem erwünschten Maß. Doch sie erfüllen eine andere wichtige Funktion,
denn sie bieten allen Interessierten die Möglichkeit, praktisch mit dem Me-
dium Hörfunk umzugehen und zugleich die eigenen Themen wirksam aufzu-
bereiten, auch wenn nicht allzu viele Hörer davon profitieren. Im Zusam-
menhang mit den Offenen Kanälen entwickelten sich weitere medienpädago-
gische Projekte, die in der offenen Kinder- und Jugendarbeit und im Rahmen
von Schulprojektwochen Angebote zur Hörmedienpraxis machen. So bietet
zum Beispiel der 1992 gegründete Verein Schnittpunkt e.V. in Heide im Pro-
jekt Lauschlappen Medienpraxis mit Hörmedien an. Kinder produzieren
unter Anleitung von Medienpädagogen Hörspiele und Reportagen von der
ersten Planung über die Aufnahme bis zum Schnitt.
Hörfunk in der Auffällig ist, dass in der Medienpädagogik insgesamt dem Hören und den
Medienpädagogik: Hörmedien wenig Beachtung und Raum gewährt wird. So findet sich im
Randstellung ersten Handbuch zum Dieter Baacke Preis (2006) kein einziges Hörprojekt.
Der Dieter Baacke Preis ist eine Auszeichnung, die die Gesellschaft für Medi-
enpädagogik und Kommunikationskultur e.V. (GMK) zum Andenken an ei-
nen ihrer Gründer, den früh verstorbenen Medienpädagogen Dieter Baacke,
ins Leben gerufen hat. Jährlich werden drei Projekte ausgezeichnet und wei-
tere herausragende vorgestellt. Im zweiten Handbuch 2007 sind Hörmedien,
allerdings nur am Beispiel Radio, berücksichtigt worden, und der 1. Preis
ging an ein interkulturelles Radioprojekt von Jugendlichen. Auch in anderen
Sammlungen von ›best practise‹ ist das Hören selten vertreten. Dies spiegelt
Von der Kinderschallplatte zum MP3-Player 443

sich in den Wünschen und Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen wi-
der: Bereits unter den Sechs- bis Siebenjährigen sind doppelt so viele Kinder,
die schon einmal Erfahrung mit Videopraxis gemacht haben, als Kinder, die
Hörmedienpraxis vorweisen können. Diese Tendenz setzt sich durch die Al-
tersstufen fort; auch der Wunsch nach Videopraxis ist bei den Heranwach-
senden wesentlich häufiger anzutreffen als der nach Audiopraxis.
Spezielle Jugendsendungen bieten die Radiosender kaum noch an. Jugend- Jugendliche Hör-
liche und junge Erwachsene hören auf ihren Musikgeschmack und ihre gewohnheiten und
Nutzungsgewohnheiten abgestimmte Sender, die 24 Stunden am Tag senden. Entwicklungsaufgaben
Fast alle öffentlich-rechtlichen Sender bieten mittlerweile einen solchen Sen-
der auf einer gut zu empfangenden Frequenz. Freilich kann es darum auch
heftige Auseinandersetzungen geben. So plante der Bayrische Rundfunk die
Jugendsendung Zündfunk abzuschaffen und einen speziellen Jugendsender
nur auf digitaler Frequenz senden zu lassen; Proteste haben dies vorerst ver-
hindert.
Soziologische Untersuchungen (wie z. B. die Hörfunkstudie der TU Chem-
nitz Zwickau, 1995/96) ergeben, dass für Jugendliche das Hören von Musik
in den Medien zahlreiche entwicklungspsychologische Funktionen erfüllt,
insbesondere die Stimmungslagen beeinflusst und die Suche nach einem Platz
in der Peergroup unterstützt. Dabei ist zu beachten, dass es schon lange nicht
mehr die eine ›Jugendkultur‹ gibt, dass also verschiedene Jugendliche unter-
schiedliche Sender mit unterschiedlichen Musikrichtungen und Wegen der
Hörerbindung nutzen. Reine Wortsendungen werden nur von einem eher
kleinen Teil der Jugendlichen gehört. Dabei übernimmt das Radio nicht nur
die Funktion einer Hintergrundkulisse, je nach jeweiliger Situation und Akti-
vität wird das Radioprogramm mit seiner Magazinstruktur auch bewusst
und gezielt wahrgenommen.
Allerdings verliert das Radio als Hörmedium im Laufe der letzten Jahre Bedeutungsverlust
auch für die Jugendlichen an Bedeutung: Gaben 2000 noch 26 % der in der des Radios im
JIM-Studie (eine jährlich vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Medienangebot
Südwest durchgeführte Untersuchung zu Mediennutzungsgewohnheiten der
12- bis 19-Jährigen) befragten Jugendlichen an, am wenigsten von allen Me-
dien auf das Radio verzichten zu können, so waren es 2004 nur noch 19 %.
Diese Entwicklung verläuft etwa parallel zu der schwindenden Bedeutung
von Fernsehen und Büchern für Jugendliche; wachsende Bedeutung erhält
nur der Computer. Über das Internet hören bislang wenige Jugendliche Ra-
dio, aber in langsamen Schritten steigt der Anteil derer, die diese Möglichkeit
zumindest gelegentlich nutzen.

Von der Kinderschallplatte zum MP3-Player


Gudrun Stenzel

Bereits Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts werden erste Schall-
platten für Kinder produziert. Hörspiele und für Kinder geeignete Musik
werden auf Schallplatte überspielt. Bereits in dieser Frühphase arbeiten die
Schallplattenproduzenten mit dem Hörfunk zusammen; ausgehend von der
Popularität der Kinderhörfunkprogramme übernehmen die Produzenten
Hörfunkproduktionen. Ein Schwerpunkt liegt auf Märchenadaptionen, etwa
444 Medien und Medienverbund

denen des Kindertheaterensembles der Deutschen Welle. Die Deutsche


Grammophon übernimmt vom Südwestdeutschen Rundfunkdienst eine
Reihe von ›Kasperltheaterstücken‹ von Liesel Simon, so Kasperl rettet Hänsel
und Gretel, Kasperl als Nachtwächter oder Kasperl und das Luftschiff. Auch
andere große Schallplattenfirmen (Electrola, Homocord, Ultraphon) verlegen
die Rundfunksendungen oder orientieren sich in eigenen Produktionen an
Geringe Reichweite der deren Themenauswahl und Dramaturgie; die so entstandenen Aufnahmen
Kinderschallplatten von Märchenerzählungen, Kinderliedern oder Kinderkonzerten werden dann
wiederum zum Teil von den Radiosendern ausgestrahlt. Allerdings sind die
Kinderschallplatten noch weit davon entfernt, ein massenwirksames Medium
zu werden. Dies gilt ebenfalls für die Zeit des Nationalsozialismus; auch hier
bestimmen Märchen und als für Kinder geeignet angesehene Musik das Pro-
gramm.
Von der Nachkriegszeit bis in die frühen 70er Jahre hinein ändert sich das
Bild nur wenig. Plattenspieler sind teuer und in der Handhabung nicht kind-
gerecht, so dass nur Familien mit hohem Einkommen den Kindern eigene
Geräte kaufen können und Kinder äußerst selten eigene Geräte besitzen.
Gehört wird im Wohnzimmer, und auch hier nur von wenigen Kindern, denn
auch die Schallplatten selbst sind nicht für jedes Kind bzw. nicht für alle
schenkenden Erwachsenen erschwinglich. Der Schallplattenmarkt bedient
somit ein überdurchschnittlich verdienendes Publikum; dies spiegelt sich in
einem Gesamtangebot wider, das wesentlich anspruchsvoller ist als das des
Frühes Beispiel für späteren Hörkassettenmarkts. Die Märchenbearbeitungen und Musikdar-
Medienverbund: Hörspiel bietungen werden zunehmend durch Bearbeitungen klassischer Kinderbücher
als Schallplatte mit Dias und einiger Titel arrivierter zeitgenössischer Kinderbuchautoren wie bei-
(1962) spielsweise Otfried Preußler oder Astrid Lindgren ergänzt. So erschienen in
den 60er Jahren in der Europa-Kinderserie Hörspielfassungen von Klassi-
kern wie Die Schatzinsel und Das Wirtshaus im Spessart. Die hohen Preise
sichern den Produzenten auch bei niedrigen Absatzzahlen ausreichende Er-
löse. Die Angebote richten sich zu dieser Zeit noch deutlich an die Erwachse-
nen, die die Schallplatten für die Kinder kaufen, und nicht an die Kinder
selbst.
Hörkassetten und Mit der Entwicklung des Hörkassettenrekorders verändert sich die Situa-
Kassettenrekorder tion fast schlagartig. Hörkassetten sind deutlich billiger als Schallplatten, die
Rekorder sind ebenfalls preiswerter und auch von Kindern sehr viel einfacher
zu bedienen. Die günstigen Preise und die Verbreitung der Geräte, die nun
nach und nach in vielen Kinderzimmern zu finden sind, verändern die Struk-
tur des Angebots: Der Markt richtet sich nach den Interessen der Kinder und
nicht mehr vorrangig nach den Interessen der kaufenden (›gebildeten‹ bzw.
auf bildungsbürgerliche Inhalte achtenden) Erwachsenen. Populäre Serien
mit prägnanten Figuren, die in der Regel im Medienverbund verbreitet wer-
den, bestimmen das Bild. Inzwischen sind die Kinder für die Tonträgerindus-
trie eine der wichtigsten und entsprechend umworbenen Zielgruppen, nach-
dem Umsatzeinbrüche auf dem allgemeinen Markt seit den 70er Jahren der
Branche zum Problem geworden waren. 1970 lag der Umsatz mit Kinderton-
trägern (damals noch Schallplatten) bei einer Million Stück, bis 1977 stieg er
auf 17 Millionen, bis 1986 auf 25 Millionen; und er steigt weiter an. Der
Markt wird seit 1990 von drei großen Konzernen bestimmt, die sich mehr
als 90 % des Gesamtumsatzes teilen: BMG (Bertelsmann Music Group) mit
Ariola und Europa; die Polygram-Gruppe mit der Deutschen Grammophon,
Polydor, Phonogram, Metronom und Karussel sowie Teldec (Telefunken
Decca) mit Kiosk und OHHA. Diese Labels bringen einige der bis heute bei
Kindern beliebten Serien auf den Markt: Bibi Blocksberg und Benjamin
Von der Kinderschallplatte zum MP3-Player 445

Blümchen erscheinen nach wie vor bei Kiosk, TKKG bei Europa. Andere
Serien waren zeitweilig vor allem durch den Medienverbund beliebt und
verbreitet, so Knight Rider und Masters of the Universe (beide Europa) oder
Alf (Karussel).
Diese Serien sind nicht zuletzt durch den Medienverbund erfolgreich. Vor
allem Fernsehserien werden zweitverwertet, indem der Soundtrack, mit ge-
ringem Aufwand bearbeitet, als Kassette verkauft wird. Zwar gilt dies nicht
für alle der dauerhaft populären Hörserien (so wurden beispielsweise Die
drei ??? im Verbund mit der Printversion erfolgreich), aber die Verstärkung
durch die Präsenz im bei Kindern alltäglich genutzten Fernsehen ist etwa bei
Alf oder Knight Rider deutlich. Allerdings funktioniert diese Verstärkung
auch in der anderen Richtung: Benjamin Blümchen und Bibi Blocksberg, die
beiden beliebten Serien der Autorin Elfie Donnelly, waren als Hörspielserien Idol von inzwischen
bekannt, bevor die Zeichentrickserien entstanden. Und gerade bei Bibi vielen Kinderjahrgängen –
Benjamin Blümchen
Blocksberg haben die (wesentlich origineller und niveauvoller erzählten) Ki-
nofilme neue Impulse für die Popularität gegeben. In ähnlicher Weise scheint
seit Herbst 2006 das Detektivquartett TKKG durch den Kinofilm auch im
Hörbereich neuen Aufwind zu erhalten.
Der Kindertonträgermarkt wird auch in den 90er Jahren des 20. Jh.s und Massenmarkt
zu Beginn des 21. Jh.s durch die in Kaufhäusern, Spielzeugläden und auch und anspruchsvolle
Supermärkten verkauften Produkte der großen Medienkonzerne bestimmt. Angebote
Vor allem an Klein- und Vorschulkinder gerichtete Serien wie Bibi Blocks-
berg oder Bob der Baumeister sind schon früh bei den Kindern bekannt.
Doch der stetig und zügig wachsende Hörbuchmarkt hat auch dem an-
spruchsvollen Kindertonträgermarkt neuen Auftrieb gegeben. Hörbuchver-
lage oder Kindertonträgerverlage bieten sowohl Lesungen als auch aufwän-
dig produzierte Hörspiele an. Diese sind zwar deutlich teurer als die Kauf-
hausangebote der Marktriesen, doch wachsen im Hörbuchsegment des
Buchhandels die Umsätze auffällig schnell: Im August 2005 erzielten nach
Angaben des Arbeitskreises Hörbuchverlage im Börsenverein des Deutschen
Buchhandels die Hörbücher im Vergleich zum Vorjahresmonat ein Umsatz-
plus von 33 %, im August 2006 von 23,1 %. Hörmedienverlage wie Jumbo
(gegr. 1991, mittlerweile mit einem umfangreichen Programm für alle Alters-
stufen von Babys über Kinder bis, unter dem Label GoyaLit, zu Jugendlichen
und Erwachsenen) und Kinderbuchverlage mit einem traditionell verankerten
Hörbuchprogramm wie Patmos sind Vorreiter und Wegbereiter. Mittlerweile Traditionelle
haben einige traditionelle Kinder- und Jugendbuchverlage wie Oetinger (seit Hörverlage und
2005, mit Neuauflagen von bei anderen Anbietern früher publizierten Hör- Neugründungen
fassungen z. B. von Astrid-Lindgren-Geschichten und mit Hörfassungen ak-
tueller eigener Titel) und Beltz & Gelberg eigene Hörbuchprogramme. An-
dere Verlage haben sich als Gesellschafter im bereits 1993 gegründeten
Hörverlag zusammengetan, um ihre Erfolgstitel möglichst zeitnah und ohne
Reibungsverluste als Hörbücher zu veröffentlichen. Kleine Labels (z. B.
Headroom Sound Production, Igel Records, Hörcompany) bringen vielbe-
achtete und teils ungewöhnliche Produktionen heraus. Der Schwerpunkt
liegt auf Lesungen, die zum Teil bereits zeitgleich zur Printfassung angeboten
werden. So erschien Wolfram Eickes Roman Das silberne Segel 2006 als
Buch bei Rowohlt und gleichzeitig als Hörfassung bei Jumbo; beide Versi-
onen wurden in einer gemeinsamen Präsentation auf dem historischen Segel-
schiff Rickmer Rickmers vorgestellt. Diese Lesungen, meist durch genau
ausgewählte Musik eingerahmt und begleitet, bestechen durch die Interpre-
tation, die die lesenden Schauspieler anbieten. Hörspiele werden in Zusam-
menarbeit mit den Hörfunksendern produziert. Diese aufwändigen Produk-
446 Medien und Medienverbund

tionen erscheinen notwendigerweise zeitversetzt zum Buch. Mischformen, in


denen eine Erzählerstimme liest und einige Abschnitte atmosphärisch dicht
als Hörspiele eingespielt werden, sind ebenso zu finden wie die vollständigen
Hörspielfassungen, die vor allem umfangreiche Werke wie Philip Pullmans
His Dark Materials (GoyaLit bei Jumbo, 2004) in der Textmenge reduzieren
und so im Grunde erst hörbar machen.
Im Laufe des Jahres 2007 scheinen auch im Angebot für Kinder die Kas-
setten ihren lange behaupteten Platz verloren zu haben. Neue Produktionen
der anspruchsvolleren Labels werden nun nur noch als CD angeboten, und
Per Olov Enquist: Kassetten sind nur noch von Produktionen aus früheren Jahren auf dem
Großvater und die Wölfe. Markt. Daraus lässt sich folgern, dass auch Kinder im Kindergartenalter
Igel Records 2004 mittlerweile souverän mit dem CD-Spieler umgehen und die Kinderzimmer
mit diesen Geräten ausgestattet sind.
Bereits Kleinkinder können für sie produzierte Hörspiele oder mit Hör-
spielelementen ergänzte Lesungen hören. Bilderbuchumsetzungen wie Die
Angebote für kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle oder musikalisch-lautlich unter-
Kleinkinder malte Kindergeschichten wie Bobo Siebenschläfer von Markus Osterwalder
(beides bei Jumbo, 2002 f.) sollen die Kinder für vielschichtige Klänge und
moduliert vorgetragene Sprache sensibilisieren. Für Kinder im Kindergarten-
alter ist das Angebot kaum mehr zu überblicken: Populäre Serien wie Bob
der Baumeister oder – nach wie vor – Bibi Blocksberg sind ebenso im Ange-
bot wie anspruchsvoll produzierte Hörfassungen von in Rezensionen hoch-
gelobten Kindergeschichten wie Großvater und die Wölfe von Per Olov En-
quist (Igel Records, 2004).
Viele der Werke bekannter zeitgenössischer Autorinnen und Autoren wie
Cornelia Funke, Kirsten Boie, Jostein Gaarder oder Paul Maar sind in Hör-
fassungen, zumeist als Lesungen, auf dem Markt. Paul Maar, der sich für alle
medialen Präsentationsformen und Umsetzungen von Literatur interessiert,
hat an der Hörfassung seines Kleinen Kängurus mitgearbeitet und liest diese
Bekannte mit Geräuschen untermalte Fassung in vielschichtiger und humorvoller In-
zeitgenössische terpretation selbst (Universal, 1981 f.). Auch Cornelia Funke liest viele ihrer
Autoren Erzählungen, so etwa Potilla und der Mützendieb (Jumbo, 2005). Alltagsge-
schichten für Kinder werden immer häufiger von Kindern gelesen, so Kirsten
Boies Geschichten um den Möwenweg (Jumbo, 2002 f., gelesen von Kerstin
Hirschberg) oder Isabel Abedis Lola-Abenteuer (Jumbo, 2005 f., gelesen von
Mira Linzenmeier).
Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur finden sich auf Hörmedien in
verschiedenen Editionen. Jumbo produziert die Arena-Vorleseklassiker, die
klassische Geschichten wie Peterchens Mondfahrt (2002) oder Peter Pan
(2004) in behutsamen Bearbeitungen und Kürzungen für das Vor- und frühe
Klassiker zum Grundschulalter anpassen. Die Interpretationen durch die vorlesenden
Hören Schauspieler (so Katharina Thalbach bei Pinocchio) vermitteln trotz der
Reduzierung des Texts viel von der Tiefe und Vielschichtigkeit der Werke,
die zu Recht als Klassiker mit dauerhafter Bedeutung eingestuft werden.
Dimiter Inkiow hat zahlreiche hervorragende Bearbeitungen klassischer
Stoffe veröffentlicht, die Igel Records nach und nach als Hörfassungen pro-
duziert, so Die Irrfahrten des Odysseus (1997) oder Die Bibel – Die Ge-
schichten des Alten Testaments (2003). Mit diesen meist originellen und
trotzdem dem ›Original‹ gerecht werdenden Hörfassungen wird sowohl das
Unterhaltungsbedürfnis der Kinder als auch der Bildungswunsch der Er-
wachsenen befriedigt, wobei allerdings die Zielgruppe die eher kleine Gruppe
der kulturell und auch intellektuell interessierten Kinder aus meist bildungs-
bürgerlichen Schichten ist. Die Produktionen sind über einen langen Zeit-
Von der Kinderschallplatte zum MP3-Player 447

raum im Handel, was sicherlich die eher bescheidenen Auflagen zum Teil
kompensieren.
Auch Jugendliche werden als Zielgruppe von Hörfassungen der aktuellen Zielgruppen:
Jugendliteratur entdeckt. Das gilt nicht zuletzt für Klassiker der Schullektüre, Jugendliche
so ist etwa Damals war es Friedrich von Hans Peter Richter, als Buch 1961 und Schüler
erschienen, seit 2006 als Hörbuch bei Ucello erhältlich und Die Große Flat-
ter von Leonie Ossowski, als Buch 1977 erschienen, wurde 2001 von der
Hörcompany als Hörbuch produziert. Diese Titel wurden sicherlich mit Blick
auf den Unterricht produziert; entsprechend wird in der Reihe Texte.Medien
von Schroedel z. B. für die Faust-Bearbeitung von Paul Maar und Christian
Schidlowsky (2006) gezielt mit dem Zusatz »für Ihren Literaturunterricht«
geworben. Ob Jugendliche überhaupt zu Hörfassungen greifen, z. B. zu denen
von Hermann Schulz’ Auf dem Strom (Hörcompany, 2000) oder von Jerry
Spinellis East End, West End und dazwischen Maniac Magic (Hörcompany,
2001), ist nicht bekannt; in Mediennutzungsuntersuchungen wurde bislang
nicht nach Hörbüchern oder Hörspielen gefragt, sondern getrennt einerseits
nach Büchern, andererseits nach CDs oder anderen Tonträgern, wobei bei
Letzteren nicht zwischen Literatur und Musik unterschieden wurde. Zumin-
dest unter jungen Erwachsenen scheinen freilich die Hörspielfassungen der
seit Jahrzehnten populären Kinderkrimiserie Die drei ??? Kultstatus gewon-
nen zu haben.
Wachsende Bedeutung erlangt seit Ende der 90er Jahre die Sachliteratur Sachliteratur
zum Hören. Hier wird u. a. an Hörfunkformate wie das Feature angeknüpft, zum Hören
aber auch an Schulfunktraditionen und an die Traditionen des ›belehrenden‹
Kinderfunks. Verschiedene Elemente wie O-Ton, Fiktion in kurzen Hör-
spielszenen zur Veranschaulichung, Musik sowie konzentrierte Sachinforma-
tionen in Moderationen und Berichten können zu einem Hörerlebnis mon-
tiert werden, das die Entwicklung eigener Vorstellungsbilder fördert und
fordert. Die Spanne reicht von Biographien (Goethe von Gertrud Fusseneg-
ger, Langen Müller Audio Books, 1999) und Berichten über fremde Kulturen
(Fliegende Feder von Josephine Kronfli und Pit Budde, Ökotopia, 1998) hin
zu Verkehrserziehung (Rot heißt stehen – Grün heißt gehen von Rolf Kren-
zer, Burckhardthaus-Laetare, 2000), zu Quiz-CDs (KinderQuiz Was wisst
ihr? Englisch, Moving Mind bei Hörcompany, 2004) oder zur Kinder-Uni
(Der HörVerlag, 2004). Auch Die Sendung mit der Maus (Universal, seit
2001) und Peter Lustigs Löwenzahn (Universal, seit 2000) werden als Hör-
fassungen im Medienverbund erfolgreich vermarktet. Der Medienverbund
mit dem Kindersachbuch ist besonders erfolgreich etwa in Jumbos Produkti-
onen der Vorschulserie Wieso? Weshalb? Warum? (Ravensburger Buchver-
lag); hier ist es gelungen, die Aufklappbilderbücher in eine Hörfassung zu
übertragen, die als Ergänzung funktioniert.
Das Kinderlied, das analog zu Entwicklungen in der Kinderliteratur seit Liedermacher und
den 70er Jahren der betulichen Niedlichkeit entweichen konnte, macht einen Chansoniers
recht großen Teil des Kindertonträgermarktes aus. Frederick Vahle repräsen-
tiert den engagierten und Kinder zur Emanzipation ermunternden Liederma-
cher, Rolf Zuckowski den populären Sänger, der eingängige Melodien und
gelegentlich simple Texte zum Teil mit kindlicher Unterstützung vorträgt.
Fast philosophisch oder als Chansoniers präsentieren sich Künstler wie
Zaches & Zinnober, und die Gruppe Randale macht Rockmusik für Kinder.
Auf vielen Hörbüchern für Kinder sind die Zwischenmusiken Lieder von
herausragender Qualität, und Theatergruppen wie Theatro Piccolo bieten
Musicals für Kinder an. Das Angebot ist breit, aber populär sind neben
Zuckowski auch bei Kindern vor allem Popgruppen (Girl-Groups und Boy-
448 Medien und Medienverbund

»Rolf und seine Freunde«


– Der Kinderliedermacher
Rolf Zuckowski im
Fernsehstudio

Groups) oder Sampler mit auf Kinder zugeschnittenen Popsongs und Schla-
gern.
Tonträgercharts Unter den beliebtesten Kindertonträgern finden sich 2002 die tradierten
Serien wie Bibi Blocksberg sowie Bibi und Tina (beide Kiddinx), TKKG
(BMG Ariola Miller), Tabaluga (BMG Ariola Miller), die Walt Disney-Reihe
(edel) und Die drei ??? (BMG Ariola Miller). Aus dem Bereich der Kinderli-
teraturklassiker hat es nur die Otfried-Preußler-Reihe bei Universal Familiy
Ent. in die Tonträgercharts des Instituts für angewandte Kindermedienfor-
schung an der Hochschule der Medien Stuttgart (IfaK) geschafft, aus dem
Bereich der typischen Hörbuchverlage nur die Harry-Potter-Reihe beim
Hörverlag.
Doch die anspruchsvolleren Hörfassungen anerkannter, z. T. klassischer
Kinder- und Jugendliteratur finden in der Kritik mittlerweile weitgehende
Beachtung. Die ›CD/MC des Monats‹, verliehen als undotierte Auszeichnung
des IfaK, wird seit 1998 vergeben und im Bulletin Jugend + Literatur veröf-
fentlicht, worin sich auch weitere regelmäßige Rezensionen von Kinderton-
trägern meist aus dem Bereich der anspruchsvolleren Hörbuchproduktionen
Auszeichnungen finden. Die Hörbuchbestenliste, eine gemeinsame Auszeichnung des Hes-
und Kritik sischen Rundfunks (HR2) und dem Börsenblatt des deutschen Buchhandels
zeichnet monatlich Hörbücher (nicht nur für Kinder und Jugendliche) aus,
aus denen wiederum Jahrespreisträger ausgewählt werden. Der 1985 erst-
mals vergebene Kinderhörspielpreis von Terre des Hommes ist seit 1994 als
Deutscher Kinderhörspielpreis umdotiert angesiedelt bei der Filmstiftung
Nordrhein-Westfalen. Alle zwei Jahre wird ein herausragendes Kinderhör-
spiel ausgezeichnet. So wurde beispielsweise 1996 Gestrandet vor Guade-
loupe von Hans Zimmer prämiert (Produktion DLR Berlin, 1995), 2006 er-
hielt den Preis das Hörspiel An der Arche um Acht von Ulrich Hub (Produk-
tion: hr/NDR 2006). Der Rundfunkrat des Mitteldeutschen Rundfunks
(MDR) vergibt alle zwei Jahre einen Kinderhörspielpreis, der an mehrere
Produktionen in gestaffelter Dotierung verliehen wird. 2006 erhielt ihn u. a.
Von der Kinderschallplatte zum MP3-Player 449

das Hörspiel Dakota Pink von Dagmar Schnürer nach dem gleichnamigen
Buch von Philip Ridley. Der ›Leopold‹ ist der Medienpreis des Verbands
deutscher Musikschulen, mit dem seit 1997 alle zwei Jahre herausragende
Musikproduktionen für Kinder ausgezeichnet werden. Mit dem ›Poldi‹
zeichnet die entsprechende Kinderjury seit 2001 aus. Diese Kinderjury ist
angesiedelt bei der Musikredaktion von WDR 3. Die Deutsche Schallplatten-
kritik publiziert viermal jährlich Empfehlungslisten, die auch Kinder- und
Jugendtonträger berücksichtigen. 2003 stand u. a. das auch mit anderen Prei-
sen ausgezeichnete Hörspiel Angstmän von Hartmut El Kurdi (Patmos,
2003; Produktion DLR Berlin, 2000) auf der Liste. Ein Hörer-Preis ist der
›Hörkules‹ des Deutschen Buchhandels, der seit 2001 jährlich aus einer Vor-
schlagsliste von 100 Titeln durch Voten des Hörbuchpublikums ausgewählt
und auf der Leipziger Buchmesse verliehen wird.
Seit 2000 bietet die Leipziger Buchmesse einen besonderen Hörbuch-Be- Aufschwung der
reich, u. a. mit dem ARD-Hörbuchforum. Die Zeitschriften zur Kinder- und Hörmedien
Jugendliteratur und die Feuilletons berücksichtigen seit Ende der 90er Jahre
den Bereich Hörbuch. Der Arbeitskreis für Jugendliteratur e.V. publiziert seit
2001 in mehrjährigen Abständen Empfehlungskataloge zu Medienfassungen
von Kinder- und Jugendliteratur, in denen unter dem Titel Sehen, Hören,
Klicken neben Verfilmungen und Computerspielen empfehlenswerte Hörfas-
sungen vorgestellt werden. In Seminaren, so unter dem Titel »Hör zu!« (Ar-
beitskreis für Jugendliteratur e.V. 2003), werden von Theoretikern und
Praktikern aus der Kinder- und Jugendliteratur-Vermittlung verschiedene
Aspekte der Hörmedien diskutiert. Von 1988 bis 1997 gab es unter dem Titel
Lesen – Hören – Lesen eine von den Vereinigten Schriftenausschüssen der
GEW (später Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien der GEW)
herausgegebene umfangreiche Empfehlungsliste von Literaturadaptionen auf
Hörmedien. Initiator dieser Publikation war Konrad Kallbach. Seit 1999 er-
scheint alle zwei Jahre als Nachfolgepublikation Töne für Kinder, eine u. a.
von Heide Germann vorgelegte umfassende kommentierte Liste von Kinder-
tonträgern, die im Internet unter www.toene-fuer-kinder.de einsehbar ist.
Am Beginn des ›Hörbuch-Booms‹ etwa 2000 gab es kritische Stimmen, die
befürchteten, nun würde kaum ein Kind noch selbst lesen, sondern sich alle
Literatur vorlesen lassen. Zudem existiert die Sorge, dass das Vorlesen in ei-
ner geborgenen und sehr persönlichen Situation von den immer zur Verfü-
gung stehenden Tonträgern ersetzt würde. Direkte Untersuchungen dazu gibt
es nicht. Deutlich sind aber zwei Tendenzen: Kinder können Tonträger nut-
zen, um sich das Lesenlernen und das Lesen zu erleichtern. Sie können über
die Hörfassungen allgemein einen Zugang zur Schriftsprache, zu unter-
schiedlichen Sprechweisen und zu vielschichtigen literarischen Ausdrucks-
weisen erhalten, der ihnen den Umgang mit und das Verständnis von ge-
druckter Literatur erleichtern kann. Spezieller noch können sie im parallelen
Gebrauch der Hörfassung und des Buches das Lesen einfacher bewältigen.
Da Kinder weit bis in die Grundschule hinein gerne Geschichten wiederholt
hören oder lesen, wird diese Ergänzung von Print und Audio auch tatsächlich
genutzt. Auf der anderen Seite aber ist mittlerweile offensichtlich, dass die
persönliche, intime Vorlesesituation auch bis ins Grundschulalter hinein von
großer Bedeutung für die Entwicklung des Kindes ist und nicht durch das
Hören der Tonträger ersetzt werden kann. Die Tonträger in ihrer unter-
schiedlichen literarischen und performativen Qualität, ihrem unterschied-
lichen Anspruch an die kindliche Rezeption können das Ohr und die innere
Vorstellungsbildung fordern und fördern und sind somit vor allem als ein
eigenständiges literarisches Medium zu sehen. Hören – und Schauen
450 Medien und Medienverbund

Kinderfilm und Kinderfernsehen

Thomas Möbius

Kinderfilm
Begriffliche Unter ›Kinderfilm‹ werden audiovisuelle Texte für Kinder und Jugendliche
Bestimmungen verstanden, »die inhaltlich und formal auf Verständnis, Auffassungsvermö-
gen und Bedürfnisse von Kindern [und Jugendlichen] besondere Rücksicht
nehmen und mit der Absicht konzipiert und produziert wurden, der Unter-
haltung, Entspannung, Information, Bildung und Erziehung […] zu dienen«
(Wolf, 1977). Seit 2005 werden die früheren Kategorien ›Kinderfilm‹ und
›Jugendfilm‹ bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises in der einen Kate-
gorie ›Kinderfilm‹ zusammengefasst; in diesem Sinne wird der Begriff hier
verwendet.
Kinderfilme werden entweder als eher realistische oder eher fantastische
Spielfilme, als Dokumentarfilme oder als Animationsfilme (mit Zeichnungen,
Puppen, Knetfiguren, Scherenschnitten) medial realisiert; weiter gibt es in-
zwischen computergenerierte Kombinationsfilme, in denen die Grenzen
zwischen den medialen Realisierungen aufgehoben sind. Mit Berücksichti-
gung dieser Unterscheidungen finden sich in der Empfehlungsliste des Kin-
der- und Jugendfilmzentrums in Deutschland (KJF) der besten 19 Filme des
Jahres 2005 6 Animationsfilme, 13 Filme, die sich mit den Themen ›Krank-
heit‹, ›Adoleszenz‹, ›Politik/Zeitgeschichte‹ befassen und die auch einen mehr
oder weniger ausgeprägten unterhaltenden Anteil aufweisen, lassen sich der
Kategorie ›realistischer Problemfilm‹ zurechnen; die letzten sieben Preisträ-
ger des Deutschen Filmpreises in der Kategorie ›Kinderfilm‹ sind zwei Ani-
mationsfilme, drei realistische Filme und zwei fantastische Filme.
Im Jahre 2002 betrug der Anteil der Kinderfilme an allen Kinofilmen
6,7 %; die Gesamtzahl der ur- und erstaufgeführten Langfilme lag 2002 bei
375. Der literarische Kinderfilm geht auf eine gedruckte Vorlage aus dem
Bereich der Kinder- und Jugendliteratur zurück und ist für das Kino oder das
Fernsehen produziert. Ruckriegl und Koebner schätzen den Anteil von Lite-
raturverfilmungen an der gesamten Filmproduktion auf etwa 50 %, beim
Kinderfilm ist dieser Anteil nach Sahr noch höher. Der Kinderfilm ist somit
ein attraktives Medium, dessen Verbreitung zudem schon lange nicht mehr
auf das Kino beschränkt ist, sondern das sich des Fernsehens sowie analoger
und digitaler Vertriebsmedien bedient. Zu Beginn der Entwicklung indes war
der Kinderfilm ganz auf das Kino angewiesen.
Die Anfänge Von Beginn an hat der Kinderfilm auf literarische Stoffe zurückgegriffen.
In seinen Anfängen an der Wende zum 20. Jh. faszinierte der Film Kinder und
Erwachsene mit seinen ›lebenden Fotographien‹ in den Schaubuden der Jahr-
märkte oder in Ladenkinos wie bis dahin kein anderes Medium. In den ersten
Filmproduktionen wurden Märchenstoffe gestaltet; sie wandten sich in den
Nachmittagsvorstellungen besonders an Kinder, gleichzeitig waren sie für
das erwachsene Publikum produziert, dem sie abends vorgeführt wurden.
Der deutsche Kinderfilm begann ab 1910 mit der Inszenierung von tradi-
tionellen Märchen- und Sagenstoffen: Bereits 1916 spielte Asta Nielsen die
Rolle des Aschenbrödel, seit demselben Jahr wirkte Paul Wegener als Produ-
zent, Regisseur, Tricktechniker und Hauptdarsteller in Filmen wie Rübezahls
Hochzeit (1916), Dornröschen (1917), Hans Trutz im Schlaraffenland
(1917), Das kalte Herz (1918) und Der Rattenfänger von Hameln (1918).
Kinderfilm und Kinderfernsehen 451

Zu diesen frühen Realfilmen kamen erste animierte Filme wie etwa die Sil-
houetten- und Scherenschnittmärchenfilme Lotte Reinigers, die von 1923 bis
1926 mit Die Abenteuer des Prinzen Achmed den ersten abendfüllenden
Trickfilm produzierte.
Noch während der Stummfilmzeit entwickelte sich der Film zu einem be-
deutenden Wirtschaftsfaktor. Für die Zielgruppe der Kinder und Jugend-
lichen wurden Märchenfilme bald durch amerikanische Unterhaltungspro-
duktionen, etwa durch die von der Keystone Company seit 1912 gedrehten
Slapstick-Komödien mit Komikern wie Charly Chaplin (seit 1915), Buster
Keaton (ab 1920), Stan Laurel und Oliver Hardy (ab 1921) ergänzt. Auch
wenn es sich dabei nicht um intentionale Kinderproduktionen handelte, so
formulierten diese Filme durch Kinderstars wie Mary Pickford (seit 1909)
oder Jacky Coogan (seit 1917) attraktive Identifikationsangebote. Standar- Lotte Reiniger –
disierte Serienunterhaltung, Cowboyfilme, Western-Serials mit Tom Mix (seit Trick- und Scheren-
schnitt-Filmpionierin
1910) oder mit den Schäferhunden Strongheart (seit 1921) und Rin Tin Tin
(seit 1922), der weitaus berühmter wurde, lockten die Kinder in großer Zahl
in die Vorstadtkinos. Das Kino, allen voran die Hollywood-Produktionen
der Stummfilmzeit, bediente die Affekte des Publikums, bot Großstadtkin-
dern komisch-spannende Unterhaltung und vermittelte soziale Differenzer-
fahrungen; Stoffe, die diese affektive Ansprache mit allgemeinverständlicher
Darstellung und der Bestätigung von Erwartungen verbanden, stellten den
Rahmen solcher Erfahrung der Unterschiedlichkeit von fiktiver Filmrealität
und sozialer Alltagsrealität. ›Antischundkämpfer‹, Lehrer und Politiker mit
tradiertem bildungsbürgerlichen Werte- und Kulturkanon, reagierten in be-
sonderer Weise kritisch auf die vom neuen Medium Film ausgehende Faszi-
nation. Sie forderten den ›moralisch sauberen‹ deutschen Märchenfilm und
verstanden darunter die Inszenierung vorindustrieller Idyllen in einer heilen,
harmonischen Welt sowie die Vermittlung eines autoritären, konservativen
Weltbildes. Produktionsfirmen wie die von Alf Zengerling, den Gebrüdern
Diehl und Hubert Schonger bedienten diese Wünsche, indem sie zahlreiche
Märchenstreifen, vorwiegend Scherenschnitt- und Puppentrickfilme, produ-
zierten, die zumeist als ›Unterrichtsfilme‹ über staatliche Bildstellen vertrie-
ben wurden.
Ende der 1920er Jahre begann in Deutschland die Distanzierung von den Kindergruppen-
amerikanischen Filmimporten; es wurden intentionale Kinderfilme produ- abenteuer
ziert, zumeist in der Form realistisch inszenierter Kindergruppenabenteuer,
etwa Die Räuberbande (1928) nach Leonhard Frank oder Der Kampf der
Tertia (1929) nach Wilhelm Speyer. Ein erster Klassiker und echter Kassener-
folg war die nah an der Vorlage orientierte Verfilmung von Erich Kästners
Emil und die Detektive (1931) durch Gerhardt Lamprecht, in der Großstadt-
realität widergespiegelt und mit kindgemäßen Abenteuern verbunden
wurde.
In der Zeit des Nationalsozialismus war der Film ein zentrales Medium
der Massenbeeinflussung, in ihm wurden die proklamierten ›Tugenden‹, wie
Treue, Ehre, Opfermut und Heldentum, visuell manifestiert. Das präferierte
Genre für die Vermittlung dieser ›Werte‹ war der Märchenfilm; vereinzelt
dienten dafür auch ›Jugendfilme‹ wie Hitlerjunge Quex (1933). Im Rahmen
von ›Jugendfilmstunden‹ wurden Kinder und Jugendliche an den Film heran-
geführt und auf den späteren Kriegseinsatz eingestimmt oder zum Durchhal-
ten motiviert. Es ist nicht verwunderlich, dass insbesondere während der
Kriegszeit die Zahl der Kinoveranstaltungen sprunghaft stieg: In der Spielzeit
1937/38 zählte man gerade einmal 3 500 Veranstaltungen, 1942/43 waren es
über 43 000 mit mehr als elf Millionen jungen Zuschauern.
452 Medien und Medienverbund

Nach Kriegsende und nach der Gründung der Bundesrepublik blieb die
Beliebtheit des Kinos ungebrochen, die westdeutsche Kinoindustrie blühte zu
Beginn der 1950er Jahre regelrecht auf. Im Jahr 1955 etwa entstanden elf
Kinderfilme, was 10 % der damaligen Spielfilmproduktion ausmachte. Pro-
duziert wurden in erster Linie Märchenstoffe, die in einem konservativ-idyl-
lischen Ambiente angesiedelt wurden und Platz für moralische Lehrinhalte
boten; beispielhaft seien die sich wiederholenden Rotkäppchen-Verfilmungen
von Fritz Genschow (1942 und 1953) und Hubert Schonger (1948 und
1954) genannt. Eine Ausnahme bildeten realitätsnähere Stoffe wie Erich
Kästners Pünktchen und Anton (1953) und Das fliegende Klassenzimmer
(1954). In der DDR sollten Märchenfilme weniger der Harmonisierung als
vielmehr der Erziehung der Kinder im Geiste des Antifaschismus und der
Werbematerial des Kora- sozialen Gerechtigkeit dienen; dies galt auch für den ersten gezielt für Kinder
Filmverleihs aus den 50er produzierten realistischen Film Die Störenfriede (1953) von Wolfgang
Jahren Schleif, in dem zwei kritische Jungen zu vorbildlichen Pionieren erzogen
werden. Die 1946 gegründete DEFA produzierte seit den 50er Jahren quali-
tativ hochwertige Märchenfilme, etwa Paul Verhoevens Das kalte Herz
(DDR 1950), Wolfgang Staudtes Die Geschichte vom kleinen Muck (DDR
1953), Aleksandr Ptushkos in Cannes prämierte Märchenverfilmung Die
steinerne Blume (Frankreich/UdSSR 1946), Gennadi Kasanskis Die Schnee-
königin (DDR 1967), Jürgen Brauers Gritta von Rattenzuhausbeiuns (DDR
1985), BoĜivoj Zemans Die stolze Prinzessin (Tschechoslowakei 1952) und
Václav Vorlíþeks Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (Tschechoslowakei
1973), der einer der bekanntesten tschechisch-(ost)deutschen Märchenfilme
überhaupt ist und nach wie vor regelmäßig gesendet wird.
Ende der Märchenfilm- Mitte der 50er Jahre lag das Durchschnittsalter der Märchenfilmbesucher
zeit im Kino unter sechs Jahren. Für den Märchenfilm, damit aber für den intentionalen
Kinderfilm der Bundesrepublik überhaupt, bedeutete es daher auf etliche
Jahre das Ende, als 1957 das ›Gesetz zum Schutze der Jugend‹ novelliert und
Kindern unter sechs Jahren der Besuch von Filmtheatern grundsätzlich – auch
in Begleitung Erziehungsberechtigter – untersagt wurde. Ein Jahr zuvor hatte
das Fernsehen damit begonnen, ein tägliches, zunächst einstündiges Kinder-
programm zu senden, das 1958 potenziell von über zwei Millionen Men-

Märchenfilme von hoher


Qualität entstanden durch
die DEFA und oftmals in
Kooperation mit der
Tschechoslowakei – Szene
aus Drei Haselnüsse für
Aschenbrödel (Regie:
Václav Vorlíþek,
Tschechoslowakei 1973)
Kinderfilm und Kinderfernsehen 453

schen empfangen werden konnte. Von diesem Zeitpunkt an begann die Ver-
lagerung des Kinderfilms vom Kino in die privaten Haushalte; gleichzeitig
setzte auch ein großes Kinosterben ein, zumal die unter 6-Jährigen keinen
Eintritt mehr erhielten.
Die Filmindustrie versuchte dem Kinosterben Einhalt zu gebieten, indem Amerikanische
sie die Filme für eine größere Zielgruppe auswies: In den Kinos wurden nun Familienfilme als
nicht-intentionale Kinderfilme amerikanischer Provenienz wiederholt wie Kinderfilmersatz
etwa das Western-Serial mit Alfred St. John als Fuzzy (z. B. Prairie Rustlers,
USA 1945, dt. Fuzzy, der Ritter vom Drahtesel) oder die zahlreichen Zorro-
Filme (z. B. Zorro Rides Again, USA 1937, dt. Zorro reitet wieder mit John
Carroll in der Titelrolle), daneben Slapstick mit Charly Chaplin, Stan Laurel
und Oliver Hardy, Abenteuerfilme mit einfacher dualistischer Welt- und
Wertestruktur, wie W.S. van Dykes Tarzan the Ape Man (dt. Tarzan, der Af-
fenmensch, USA 1932) mit Johnny Weissmüller und Maureen O’Sullivan in
den Hauptrollen oder Richard Thorpes Tarzan Finds a Son! (dt. Tarzan und
sein Sohn, USA 1939). Die Abenteuer Robin Hoods wurden zwischen 1908
(Robin Hood and His Merry Men von Percy Stow) und 2006 (13-teilige
Fernsehserie der BBC) immer wieder verfilmt; Klassiker ist der 1938 gedrehte
The Adventures of Robin Hood mit Errol Flynn in der Titelrolle. Zu nennen
sind weiter Piratenfilme wie Captain Blood (USA 1935) von Michael Curtiz
mit Errol Flynn in der Titelrolle oder Against All Flags (USA 1952) unter der
Regie von George Sherman mit Errol Flynn als Brian Hawke und Anthony
Quinn als Roc Brasiliano (Remake: The King’s Pirat, USA 1967, dt. Der Pirat
des Königs) und vor allem Tierfilme wie Lassie Come Home (USA 1943) von
Fred M. Wilcox (weitere fünf Verfilmungen bis 1949, TV-Serie Lassie von
1954–74, Remake des ersten Lassie-Films im Jahr 2005 von Charles Stur-
ridge), Fury von Ray Nazarro (USA, als 116-teilige TV-Serie von 1955–60),
Flipper (USA 1963) unter der Regie von James B. Clark, 1964–67 als TV-
Serie mit Luke Halpin in der Rolle des Sandy (Remake 1996 von Alan Sha-
piro mit Elijah Wood in der Rolle des Sandy). Für die ganze Familie war vor
allem der neue, aufwändig produzierte Unterhaltungsfilm gedacht, Verfil-
mungen von Karl May- und Edgar Wallace-Vorlagen, ›Lümmel- und Pauker-
filme‹ und in besonderer Weise der moralisch einwandfreie Familienfilm, zu
dessen Protagonisten in den USA vor allem die Walt Disney Company mit
folgenden Produkten gehörte: Robert Stevensons The Absent Minded Pro-
fessor (USA 1961, dt. Der fliegende Pauker 1961), The Love Bug (USA 1967,
dt. Ein toller Käfer), Wolfgang Reithermans Pongo und Perdita (USA 1961)
und sein Film The Jungle Book (USA 1967, dt. Das Dschungelbuch), Sidney
Sheldons I Dream of Jeannie (USA 1965 als Kinofilm, 1965–79 als TV-Sit-
com, dt. Die bezaubernde Jeannie). Insbesondere die letztgenannten ameri-
kanischen Produktionen entwickelten sich zum eigentlichen Kinderfilm der
60er Jahre; es sind allesamt recht schlichte Unterhaltungsfilme für Kinder
und Erwachsene, die keinen ausgeprägten Bezug zur realen Lebenswelt ha-
ben.
In der DDR fand sich in den 50er und 60er Jahren der oben beschriebene DDR-Kinderfilme
Märchenfilm mit staatsaffirmativer Tendenz; Kinderfilme wurden seit Ende
der 60er Jahre auch als Möglichkeiten gesehen, auf verdeckte Weise Kritik
an einem autoritären System zu äußern. In Märchenfilmen wie Wie heiratet
man einen König (DDR 1969) und Sechse kommen durch die Welt (DDR
1972) sind zahlreiche ironische Anspielungen auf das Alltagsleben in der
DDR versteckt.
Im realistischen DDR-Kinderfilm wurde Wert auf die wirklichkeitsgetreue
Darstellung der Lebensumgebung von Kindern gelegt. In Filmen wie Gerhard
454 Medien und Medienverbund

Kleins Alarm im Zirkus (DDR 1954) oder Heiner Carows Sheriff Teddy
(DDR 1957) werden sozialistische Ideale in die Geschichten von Kindern aus
West- und Ostberlin verwoben. In den 60er und 70er Jahren schwächte sich
die politische Aussage etwas ab; beispielhaft stehen dafür Filme wie Rolf
Losanskys Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen (DDR 1964) oder
Konrad Petzolds Lausbubengeschichte Alfons Zitterbacke (DDR 1966), Er-
win Strankas Susanne und der Zauberring (DDR 1973), Egon Schlegels Das
Pferdemädchen (DDR 1979) und Ulrich Weiß’ Blauvogel (DDR 1979). In
den 80er Jahren verschaffte auch der realistische Film den Regisseuren Gele-
genheit, sich kritisch zu den sozialistischen Idealen zu äußern, etwa in Hel-
mut Dziubas Sabine Kleist, sieben Jahre (DDR 1982), Jörg Foths Das Eismeer
ruft (DDR 1984) sowie in Rolf Losanskys Filmen Der lange Ritt zur Schule
(DDR 1982), Moritz in der Litfaßsäule (DDR 1983) und Das Schulgespenst
(DDR 1986).
Kinderfilm In der politischen Umbruchzeit der späten 60er Jahre wurden auch die bis
und Fernsehen dahin gültigen Konzepte des Kinderfilms in Frage gestellt. Hatten die Verfas-
ser des Oberhausener Manifests im Jahr 1962, mit dem der zeitkritische
junge deutsche Autorenfilm programmatisch befestigt wurde, noch kein In-
teresse am Kinder- und Jugendfilm, so wurden am Ende der 60er Jahre im
realistischen Problemfilm aktuelle gesellschaftliche Missstände für die ju-
gendliche Zielgruppe entlarvt und das Ideal einer besseren, humaneren Welt
formuliert. Dabei war es zunächst insbesondere das Fernsehen, das Kinder
als Zuschauer ernst nahm und engagierte Vorschulprogramme mit realisti-
scher Kinderunterhaltung verband. Das Fernsehen schaffte es auch, Kinder
wieder ins Kino zu bekommen: Aus dem Material einer 13-teiligen deutsch-
schwedischen Pippi Langstrumpf-Fernsehserie (1968/69) entstanden an-
schließend zwei Kinderfilme, die erstmals wieder ein größeres jugendliches
Publikum ansprachen und in die Kinos lockten. Die Verfilmung von Max
von der Grüns politisch-emanzipatorischem Kinderbuch Die Vorstadtkroko-
dile (1977) unter der Regie von Wolfgang Becker wurde zunächst für das
Fernsehen produziert; der Film gelangte danach in die Kinos. Die Teilfinan-
zierung der Filmproduktion durch Fernsehsender, die nach Fertigstellung
zugunsten einer Kinoauswertung zwei bis drei Jahre auf die Ausstrahlung
verzichteten, half dem realistischen deutschen Kinderfilm in den 70er Jahren
entscheidend. Hark Bohm, seinem Selbstverständnis nach gerade kein Filme-
macher für Kinder und Jugendliche, wandte sich mit Tschetan, der Indianer-
junge (1972) diesem Genre zu und gestaltete darin die Beziehung des Titel-
helden zu einem Erwachsenen, das stetige Kämpfen um gegenseitige Aner-
kennung und Freundschaft. Der Erfolg des Films ermöglichte es Bohm, im
Auftrag und mit Mitteln des Fernsehens das realitätsnahe Kinderabenteuer
Ich kann auch ’ne Arche bauen (1973) zu drehen und den Roman Wir pfei-
fen auf den Gurkenkönig von Christine Nöstlinger zu verfilmen (1974). Da-
neben gab es auch selbstfinanzierte Produktionen, etwa Sigrun Koeppes
Novemberkatzen (1986) nach dem Roman von Mirjam Pressler. Eigenstän-
digen wirtschaftlichen Erfolg an der Kinokasse hatten einzelne Verfilmungen
bereits erfolgreicher literarischer Vorlagen, so Räuber Hotzenplotz (1974)
und Neues vom Räuber Hotzenplotz (1979) nach den Romanen von Otfried
Preußler unter der Regie von Gustav Ehmck und Die unendliche Geschichte
(BRD/USA 1984) nach dem Roman von Michael Ende unter der Regie von
Wolfgang Petersen.
Förderung In der Bundesrepublik entstanden bis zum Beginn der 90er Jahre jährlich
des Kinderfilms etwa drei Spielfilme für das Kinderkino, während in der DDR, wo die staat-
liche DEFA seit den 50er Jahren eine eigene Kinder- und Märchenfilmtra-
Kinderfilm und Kinderfernsehen 455

Gert Fröbe in der Rolle


des Räubers Hotzenplotz
– Preußler-Verfilmung
von Gustav Ehmck
(1974)

dition entwickelte, acht bis zehn Filme produziert wurden. Der Grund für
diesen deutlichen Unterschied liegt in der Förderungspolitik: Der politisch
engagierte oder künstlerisch ambitionierte Kinderfilm hatte es in der Bundes-
republik trotz wohlwollender Kritiken schwer, sein Publikum zu finden, so
dass für die normalen Erstaufführungskinos die aktuellen Erwachsenen- und
auch die Familienfilme rentabler waren. Auch blieb der Kinderfilm durch das
1979 novellierte Filmförderungsgesetz benachteiligt, da höchstmögliche För-
dermittel für nicht kindgerechte längere Erwachsenenfilme vergeben wurden
und da das Prinzip der ›Referenzförderung‹ bislang erfolglose oder unbe-
kannte Regisseure benachteiligte.
Einen anderen Weg zur Zielgruppe schlug das 1977 gegründete Kinder-
und Jugendfilmzentrum in Deutschland (KJF) in Remscheid ein, indem es
den neuen Kinderfilm zunächst über nichtkommerzielle Abspielstätten wie
Jugendzentren, schulische und kirchliche Einrichtungen, kommunale Kinos
und Kinderkinoinitiativen an sein Publikum gelangen ließ. Das KJF liefert
seit seiner Gründung insbesondere für die nichtkommerzielle Kinderfilmar-
beit wichtige Anregungen. Im Jahr 2006 verfügte es nicht nur über den größ-
ten Archivbestand an Kinder- und Jugendfilmen in Deutschland, es gibt dar-
über hinaus Empfehlungen für die besten Produktionen im Bereich des Kin-
der- und Jugendfilms heraus und verleiht den Deutschen Jugendvideopreis,
den bedeutendsten Wettbewerb für Video und Multimedia.
Das 1979 gegründete Festival ›Goldener Spatz‹ für Kinderfilme der DDR
wurde 1993 von MDR, RTL, ZDF und der Stadt Gera in der Stiftung Gol-
dener Spatz fortgeführt; später kamen noch die Thüringer Landesmedienan-
stalt, die Mitteldeutsche Medienförderung und die Landeshauptstadt Erfurt
hinzu. Zweck der Stiftung ist die Förderung von Kinderfilm und -fernsehen
in Deutschland. Die Stiftung ist Trägerin des gleichnamigen Deutschen Kin-
der-Film&Fernseh-Festivals, das in zweijährigem Rhythmus in Gera und Er-
furt stattfindet – im Wechsel mit dem in Frankfurt ausgerichteten, 1974 ge- Festivalplakat »Goldener
gründeten Lucas – Internationales Kinderfilmfestival. Außerdem veranstaltet Spatz«
456 Medien und Medienverbund

die Stiftung die Fachtagung Kinder-Film&Fernseh-Tage, die im jährlichen


Wechsel mit dem Festival stattfindet, sowie die Spatz-Tour, eine bundesweite
Tournee mit preisgekrönten Beiträgen. Der Wettbewerb des Kinder-
Film&Fernseh-Festivals wird u. a. in den Kategorien ›Regie‹, ›Einzelleistung‹,
›Buch‹, ›Vorschulprogramm‹, ›Kino- bzw. Fernsehfilm‹, ›Kurzspielfilm‹, ›Ani-
mation‹, ›Unterhaltung‹, ›Minis‹, ›Darsteller‹, ›Moderator‹ vergeben, über die
Preisträger entscheidet eine Kinderjury aus 32 Kindern im Alter von 9 bis 13
Jahre sowie eine Fachjury. Seit 1999 verleiht das Deutsche Kinderhilfswerk
auf dem Internationalen Kinderfilmfest im Rahmen der Internationalen
Filmfestspiele Berlin einen Preis für die beste Regie in den Kategorien ›Kurz-
film‹ und ›Spielfilm‹; mit diesem Preis will das Deutsche Kinderhilfswerk ein
Zeichen für den Kinderfilm setzen, der den Kindern die Möglichkeit bietet,
sich auf besondere Art mit verschiedenen Lebensbereichen auseinander zu
setzen. Im Rahmen der jährlichen Berlinale werden die besten Kinder- und
Jugendfilme außerdem mit dem Gläsernen Bären prämiert. Der Deutsche
Filmpreis ist eine Veranstaltung der Deutschen Filmakademie in Zusammen-
arbeit mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien,
produziert von der DFA Produktion GmbH. Er ist die mit dem höchsten
Preisgeld dotierte Auszeichnung für den deutschen Film, gilt zugleich als die
renommierteste und löste den 1951 erstmals gestifteten und bis 1999 existie-
renden Bundesfilmpreis ab, der keine besondere Kategorie ›Kinderfilm‹
kannte. Kleinere Festivals sind etwa das KinderFilmfest, das alljährlich im
Herbst im Rahmen des Filmfest Hamburg veranstaltet wird oder das Kinder-
filmfest Sehpferdchen in Hannover, das sich die Auswahl eines pädagogisch
und künstlerisch hochwertigen Filmprogramms als Alternative zum kom-
merziellen Kino zum Ziel gesetzt hat.

Titel Regie Genre GS L DF PKH GB


Castillo (D 2000/2001) Wolf-Armin Lange A 2003
Käpt’n Blaubär (D 1999) Hayo Freitag A 2000
Lauras Stern (Bulgarien/D 2004) Thilo Graf Rothkirch, Piet de A 2005 2004 2005
Rycker
Le trop petit prince (Frankreich 2002, dt. Zoia Trofimova A 2003 2003
Der zu kleine Prinz)
Lilla grisen flyger (Dänemark/Schweden Alicja Jaworski A 2005
2005, dt. Schweinchen fliegt)
Lucia (D 2004) Felix Gönnert A 2005
Nuit d’orage (Kanada 2003, dt. Gewitter- Michèle Lemieux A 2004
nacht)
Pantoffelhelden (D 2004) Susanne Seidel A 2005
Simsalagrimm (D 2000) Gerhard Hahn A 2001
Tobias Totz und sein Löwe (Belgien/D Piet de Rycker, Thilo Graf A 2001 2000
1999) Rothkirch
Torvald und der Tannenbaum (D 2004) Jakob Schuh, Michael Sieber A 2005
Wei xiao der yu (Taiwan 2005, dt. Der C. Jay Shih, Alan Tuan, A 2006
lächelnde Fisch) Poliang Lin
Das Sams (2001) Ben Verbong F 2003 2002
Der kleine Vampir (D/Niederlande/USA Richard Claus, Klaus F 2001
2000) Bauschulte
Küss’ mich, Frosch (D 2000) Dagmar Hirtz F 2001
L’Avion – Das Zauberflugzeug (Frank- Cédric Kahn F 2005
reich/D 2005)
Kinderfilm und Kinderfernsehen 457

Titel Regie Genre GS L DF PKH GB


Thunderpants (Großbritannien 2001, dt. Peter Hewitt F 2002
Donnerhosen)
Mondscheinkinder (D 2006) Manuela Stacke R/A 2007
Adama Meshuga’at (Israel/D/Japan 2006) Dror Shaul R 2007
Aldrig en absolution (Schweden 2005, dt. Cameron B. Alyasin R 2006
Niemals eine Absolution)
Ang Pagdadalaga ni Maximo Oliveros Auraeus Solito R 2006
(Philippinen 2005, dt. Maximo Oliveros
blüht auf)
Ballett ist ausgefallen (D 2002) Anne Wild R 2002
Bluebird (Niederlande 2004) Mijke de Jong R 2005
Charkh (Iran 1999, dt. Der Karren) Gholam Reza Ramezani R 2000
Choo Choo 3 (Russland 2004) Garri Bardine R 2005
Das fliegende Klassenzimmer (D 2002) Tomy Wigand R 2003
Den bästa sommaren (Schweden 2000, Ulf Malmros R 2000
dt. Ein toller Sommer)
Die Blindgänger (D 2003) Bernd Sahling, Christian R 2005 2004
Steyer (M)
Die Geschichte von Xiao Yan (Shangxue Fang Gangliang R 2005
Lushang) (China 2004)
Die Höhle des gelben Hundes (Mongolei/ Byambasuren Davaa R 2006
D 2005)
Die Pfefferkörner (D 1999) Matthias Steurer R 2001
Die Spezialisten-Show (D 2000) Marc-Andreas Bochert R 2001
Disney Time – Top Secret: Special Effects Dominic Bowles R 2001
im Film (D 2000, Dokumentarfilm)
Drømmen (Dänemark 2006, dt. Der Niels Arden Oplev R 2006
Traum)
Elina – som om jag inte fanns (Schweden/ Klaus Härö R 2003
Finnland 2002, dt. Elina)
Emil und die Detektive (D 2000) Franziska Buch R 2001
Felix und die wilden Tiere (D 2000/2002, Andreas M. Reinhard R 2003
Dokumentarfilm)
Fette Falle (D 2004) Petra Loog, Ralf Schmitz R 2005
Fyra Veckor i Juni (Schweden 2005, dt. Henry Meyer R 2006
Vier Wochen im Juni)
Garage Olimpo (Argentinien/Italien/ Marco Bechis R 2000
Frankreich 1999, dt. Werkstatt Olimpo)
Glasskar (Norwegen/Schweden 2002, dt. Lars Berg R 2002 2002
Einschnitte)
Hände weg von Mississippi (D 2007) Detlev Buck R 2007
Atrás das Nuvens (Portugal 2006, dt. Jorge Queiroga R 2007
Hinter den Wolken)
Hoppet (Norwegen/D/Schweden 2007) Petter Næss R 2007
Italianetz – Der Italiener (Russland 2005) Andrei Kravchuk R 2005
Jan-Yusuf (D 2000) Tonguç Baykurt R 2001
Kald mig bare Aksel (Dänemark 2002, dt. Pia Bovin R 2003
Nenn mich einfach Axel)
Können Schweine schwimmen? (D 2000) Dominic Bowles R 2001
La Vache et le Président (Frankreich 2000, Philippe Muyl R 2000
dt. Die Kuh und der Präsident)
458 Medien und Medienverbund

Titel Regie Genre GS L DF PKH GB


Lepel (Niederlande/D/Großbritannien Willem van de Sande R 2005
2004) Bakhuyzen
Mabul (Israel 2002, dt. Die Sintflut) Guy Nattiv R 2002
Magnifico (Philippinen 2003) Maryo J. de los Reyes R 2004 2004
Marvi Hämmer präsentiert National R 2005
Geographic World (D, TV-Dokumentar-
film)
Merle (D 2001/2002) Johannes Schmid R 2003
Misa Mi (Schweden 2003) Linus Torell R 2004
Mongolian Ping Pong (China 2005) Ning Hao R 2005
Mukhsin (Malaysia 2006) Yasmin Ahmad R 2007
Paul is Dead (D 1999) Hendrik Handloegten R 2000
The Djarn Djarns (Australien 2005, dt. Wayne Blair R 2005
Die Djarn Djarns)
The wooden camera (Frankreich/ Ntshavheni Wa Luruli R 2004
Großbritannien/Südafrika 2003, dt. Die
hölzerne Kamera)
Ulvepigen tinke (Dänemark 2002, dt. Morten Køhlert R 2002
Kleines starkes Mädchen)
Verder dan de maan (Niederlande/Belgien/ Stijn Coninx R 2004
Dänemark/D 2003, dt. Weiter als der
Mond)
Vincent (D 2004) Giulio Ricciarelli R 2005
Voces inocentes (Mexiko/USA/Puerto Rico Luis Mandoki R 2005
2004)
Wer küsst schon einen Leguan? (D 2003) Karola Hattop, Michael R 2005
Demuth
Zur Zeit verstorben (D 2004) Thomas Wendrich R 2005

Tab. 1: Preisträger der wichtigsten deutschen Filmpreise im Bereich Kinder- und Jugendfilm seit 2000
GS = Goldener Spatz, L = Lucas (+ CIFEJ seit 1991), DF = Deutscher Filmpreis, PKH = Preis Dt.
Kinderhilfswerk, GB = Gläserner Bär,
A = Animationsfilm, R = Realistischer Film, F = Fantastischer Film

Genres des Kinderfilms Der Blick auf die Liste der Preisträger der bedeutendsten deutschen Kin-
derfilmpreise seit 2000 lässt bereits eine grobe Unterteilung in Animations-
film (20 % der ausgezeichneten Filme), realistischer (72 %) und fantastischer
Film (8 %) zu; auf der Grundlage der bearbeiteten Themen und der Art der
Umsetzung lässt sich noch genauer differenzieren in realistisch-sozialkritische
Kinderfilme, zeitgeschichtliche Kinderfilme, realistisch-abenteuerliche Kin-
derfilme, parabelhaft-fantastische Kinderfilme sowie unterhaltende realisti-
sche und fantastische Familienfilme (wobei diese Einteilung keineswegs
trennscharf sein kann, sondern eher die Grundtendenz des jeweiligen Films
beschreibt).
Realistisch-sozial- Der realistisch-sozialkritische Kinderfilm, der in den 70er Jahren entstand,
kritische Kinderfilme will das kritische Bewusstsein fördern. Die Filme lassen sich thematisch bün-
deln. Mit der Rolle in der Gesellschaft befasst sich etwa Wolfgang Tumlers
Außenseitergeschichte Der rote Strumpf (1981), der auf einem Roman von
Elfie Donnelly basiert. Das Thema Familie beschäftigt Karola Hattop in Wer
küsst schon einen Leguan? (2003), in dem sie sich mit dem Zwang der Neu-
definition von Vaterrollen auseinandersetzt; Andrei Kravchuks Italianetz –
Kinderfilm und Kinderfernsehen 459

Der Italiener (Russland 2005), der den Preis des 28. Kinderfilmfestes im
Rahmen der Berlinale 2005 gewann, erzählt die Geschichte eines Jungen auf
der Suche nach seiner Mutter. Häufig gestaltete Themen sind Krankheit und
Behinderung, etwa in Wolfram Deutschmanns Der Zappler (1982) mit der
Geschichte eines spastisch gelähmten 12-Jährigen oder in Karl-Heinz Lotz’
Rückwärtslaufen kann ich auch (DDR 1990); in Almuth Gettos Fickende
Fische (2002) geht es um Aids bei Jugendlichen, Verrückt nach Paris (2001)
von Pago Bahlke und Eike Besuden ist als Roadmovie angelegt und erzählt
die Geschichte von drei Behinderten auf ihrem Weg nach Paris, Bernd Sah-
lings Die Blindgänger (2004), Träger des Deutschen Filmpreises 2004 und
des Goldenen Spatzes 2005, vermittelt ein realitätsnahes Bild über die Le-
benssituation Blinder, Robert Schwentkes Eierdiebe (2003) setzt sich auf zu-
weilen skurrile Weise mit dem Tabuthema Krebs auseinander, Shona Auer-
bachs Dear Frankie (Großbritannien 2004, dt. Lieber Frankie) behandelt am
Beispiel der Geschichte eines Taubstummen, wie das Zusammenleben Behin-
derter und Nichtbehinderter funktionieren kann. Die Auseinandersetzung
mit Fremdheit wird zum Beispiel in dem von Jürgen Haase inszenierten Film
Gülibik (BRD/Türkei 1982/83) thematisiert, in dem es um Alltagserlebnisse
eines Jungen mit seinem Hahn in Zentralanatolien geht; Arend Agthes Kara-
kum (D/Turkmenistan 1992/93) gestaltet die Begegnung mit einer fremden
Kultur, Hans-Christian Schmids Lichter (2002/03) konfrontiert deutsche
und polnische Alltagswelten miteinander.
Naturgemäß sind Adoleszenzprobleme außerordentlich beliebte Themen Verfilmungen von
des Kinderfilms; auch in der DDR wird Adoleszenzliteratur mit den typischen Adoleszenzliteratur
Problemen Heranwachsender verfilmt, gleichzeitig wird die Einordnung des
Individuums in das sozialistische Gesellschaftssystem idealtypisch beschrie-
ben, so etwa 1964 in der TV-Verfilmung Egon und das 8. Weltwunder (DDR
1964) von Christian Steinke, später dann in Wolfgang Hübners Filmen
Trampen nach Norden (DDR 1977) und Das Mädchen und der Junge (DDR
1982) sowie in Karola Hattops Jan Oppen (DDR 1986/87). Um die Liebe
zwischen Heranwachsenden geht es auch in dem preisgekrönten Film Die
Farbe der Milch (Norwegen/Schweden 2004) von Torun Lian. Homosexuali-
tät und ihre gesellschaftliche Bewertung spielen in Marco Kreuzpaintners
Sommersturm (2004) eine zentrale Rolle; beschrieben wird das Coming-Out
eines jungen Mannes während des Aufenthalts in einem sommerlichen Ru-
dercamp. Unter den Filmen, die das Kinder- und Jugendfilmzentrum in
Deutschland (KJF) im Januar 2006 als die besten 19 Kinofilme empfahl, die
im Jahr 2005 auf DVD erhältlich waren, sind immerhin sechs Filme, die sich
mit Adoleszenzproblemen auseinandersetzen: Nimród Antals Kontroll (Un-
garn 2003) ist ein Actionthriller, in dessen Mittelpunkt Selbstfindungs-
probleme ungarischer Jugendlicher stehen; Jacob Aaron Estes’ Mean Creek
(USA 2004) regt zum Nachdenken über Mobbing an. Walter Salles’ The
Motorcycle Diaries – Die Reise des jungen Che (USA 2004) stellt am Beispiel
des jungen Che Guevara Selbstfindung und Erwachsenwerden dar; diesem
Thema widmet sich auch Agnès Jaouis Film Schau mich an! (Frankreich
2004). Anno Sauls Kebab Connection (2004) thematisiert das Zusammenle-
ben verschiedener Kulturen in Deutschland und beleuchtet kulturspezifische
Männer- und Frauenrollen; Rhythm is it! (2004) von Thomas Grube und
Enrique Sánchez Lansch zeigt, wie sich Musik als Mittel eignet, eigene Pro-
bleme in den Griff zu bekommen.
Im zeitgeschichtlichen Kinderfilm wird die jüngere Vergangenheit, auch Zeitgeschichtliche
die deutsche, kindgerecht aufbereitet. Leonie Ossowskis Roman Stern ohne Kinderfilme
Himmel, der 1980 von Ottokar Runze verfilmt wurde, thematisiert Kriegs-
460 Medien und Medienverbund

Die Reise des jungen Che


– ein Roadmovie des
brasilianischen Regisseurs
Walter Salles (USA 2004)

ende und Judenverfolgung aus jugendlicher Perspektive; Marianne Rosen-


baum beschreibt in Peppermint Frieden (1983) die deutsche Nachkriegszeit
in der bayerischen Provinz. Usch Barthelmeß-Weller und Werner Meyer set-
zen in dem Film Die Kinder aus Nr. 67 (1980), der auf dem gleichnamigen
Jugendbuchzyklus von Lisa Tetzner beruht, die faschistische Machtüber-
nahme und ihre Auswirkungen auf die Kinder eines Berliner Hinterhauses in
Szene. Verfolgung in der Nazizeit wird auch in Gunter Friedrichs Die Sprung-
deckeluhr (DDR 1990), eine der letzten DEFA-Produktionen, thematisiert. In
Hans Weingartners Die fetten Jahre sind vorbei (2004) wird eine Gruppe
politisch engagierter Jugendlicher porträtiert; Terry Georges Film Hotel
Rwanda (USA/Großbritannien/Italien/Südafrika 2004) erzählt von Zivilcou-
rage während der Völkermorde in Ruanda im Jahr 1994; Hany Abu-Assads
Rana’s Wedding – Jerusalem, Another Day (Palästina/Niederlande 2002) be-
handelt das aktuelle Krisengebiet des Nahen Ostens mit seinen Konfliktthe-
men; Marc Rothemund vermittelt in seinem Film Sophie Scholl – Die letzten
Tage (2004) auf spannende Weise historische Hintergrundinformation.
Realistisch-abenteuer- Realistisch-abenteuerliche Kinderfilme knüpfen an kindliche Wunschvor-
liche Kinderfilme stellungen an, verzichten aber auf realitätsfremde Traumwelten. Arend Ag-
thes bereits im Erscheinungsjahr mehrfach ausgezeichneter Kinofilm Fluß-
fahrt mit Huhn (1983) erzählt von dem Mädchen Johanna und ihrem
gleichaltrigen Vetter Robert, die einen unerforschten Zugang zum Meer aus-
findig machen wollen und sich daher mit dem Ruderboot des Großvaters
und dem Huhn Gonzo (zur Abschreckung des Klabautermanns) nachts auf
den Weg machen. Der Großvater nimmt die Verfolgung auf und nach einer
ganzen Reihe von abenteuerlichen Geschehnissen macht sich schließlich die
ganze Familie auf den Weg zum Meer. In Agthes Küken für Kairo (1985) be-
gibt sich ein Pilot auf die abenteuerliche Suche nach einem Küken, das er
seinem Sohn zu Weihnachten mitbringen will. Agthes Film Der Sommer des
Falken (1988) schließlich erzählt die Begegnung zwischen einem Großstadt-
jungen und einem Tiroler Bauernmädchen; der Film verbindet Heimat-, Na-
tur-, Kriminal-, Actionfilm und Komödie, Themen sind Selbstfindung und
erste Liebe. In Christian Züberts 2005 prämiertem Film Der Schatz der wei-
Kinderfilm und Kinderfernsehen 461

ßen Falken (2006) geht es um eine Schatzsuche, bei der sich die Freundschaft
der suchenden Kinder erweist.
Parabelhaft-fantastische Kinderfilme verbinden Fantasie, Unterhaltung Parabelhaft-
und Realitätsnähe mit einem emanzipatorischen Ansatz, so etwa Claudia phantastische
Schröders Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Erziehungs- und Ge- Kinderfilme
sellschaftskonzepten in der Romanverfilmung Konrad aus der Konserven-
büchse (1982). Blueprint. Blaupause nach dem Roman von Charlotte Kerner,
2004 von Rolf Schübel mit Franka Potente in der Doppelrolle Iris und Siri
verfilmt, befasst sich mit dem Thema ›Klonen‹. Auch Märchenverfilmungen
sind hier zu nennen, etwa Rolf Losanskys Hans im Glück (1998). In Anima-
tionsfilmen spielt Unterhaltung eine wichtige Rolle. In dem mit dem Großen
Filmpreis des Deutschen Kinderhilfswerkes für den besten Kurzfilm des Jah-
res 2005 ausgezeichneten Schweinchen fliegt (Schweden/Dänemark 2004)
von Alicja Jaworski geht es um ein Schwein, das das Fliegen erlernen möchte.
Der kleine Eisbär (2001) von Piet de Rycker und Thilo Rothkirch erzählt die
Geschichte der Freundschaft eines jungen Eisbären und eines Walrosses und
thematisiert dabei Werte wie Toleranz und gegenseitige Achtung; der Film
war auch an der Kinokasse ein Erfolg. Basierend auf den Bilderbüchern von
Klaus Baumgart drehten Rothkirch und de Rycker den in den Jahren 2004
und 2005 vielfach preisgekrönten Zeichentrickfilm Lauras Stern (2004) über
die Freundschaft zwischen einem Mädchen und einem auf die Erde gefal-
lenen Stern. In Udo Steinmetzens Animationsfilm Nulli & Priesemut (2002)
kommen bereits Lebensfragen der jüngsten Zuschauer zur Sprache; Jean-
François Laguionie inszeniert in seinem Zeichentrickfilm Die Pirateninsel
von Black Mor (Frankreich 2003) die abenteuerliche Geschichte einer
Schatzsuche; in dem Animationsfilm Tokyo Godfathers (Japan 2003) von
Satoshi Kon begeben sich drei Obdachlose auf die Suche nach der Mutter Lauras Stern – Werbe-
eines ausgesetzten Babys; Brad Birds Die Unglaublichen – the Incredibles plakat für den Film
(USA 2004) beschäftigt sich mit der Frage, was Superhelden tun, wenn sie
einmal nicht die Welt retten – ein Film, der Rollenstereotype in Frage stellt
und zum Nachdenken und Lachen anregt.
In dieser Gruppe finden sich die kommerziell erfolgreichen Produktionen Unterhaltende
wieder, vor allem Hollywood-Produktionen wie The Rescuers (USA 1977, realistische und
dt. Bernard und Bianca – Die Mäusepolizei) von John Lounsbery, Wolfgang phantastische
Reitherman, Art Stevens oder Stephen Sommers’ The Jungle Book (USA Familienfilme
1994, dt. Das Dschungelbuch), Steve Trenbirths The Jungle Book 2 (USA/
Australien 2003, dt. Das Dschungelbuch 2), Ron Clements’ und John Mus-
kers The Little Mermaid (USA 1989, dt. Arielle, die Meerjungfrau), und
Aladdin (USA 1992), Mike Gabriels und Eric Goldbergs Pocahontas (USA
1995), Andrew Stantons Finding Nemo (USA 2003, dt. Findet Nemo), Her-
cules (USA 1997) von Ron Clements und John Musker sowie Tarzan (USA
1999) von Chris Buck und Kevin Lima. Deutsche Produktionen, die dem
Disney-Genre nacheifern, sind beispielsweise Wolfgang Urchs’ In der Arche
ist der Wurm drin (BRD 1988) und Peterchens Mondfahrt (1990). Diese
Filme verbinden zum Teil spannende Unterhaltung mit dem generationsüber-
greifenden Traum der jugendlichen und erwachsenen Zuschauer von einer
sinnhaften, besseren Welt im Gegensatz zu der undurchschaubar und be-
drohlich wirkenden Alltagsrealität. In den 80er und 90er Jahren erfüllten vor
allem Steven Spielberg und George Lucas diese Träume und nährten sie mit
populären Familienfilmen, die überwiegend Kombinationsfilme mit zuneh-
mend computergenerierter Tricktechnik sind. Zu nennen sind etwa Steven
Spielbergs E.T. the Extra-Terrestrial (USA 1982), die Indiana Jones-Trilogie
(USA 1981, 1984, 1989) und Jurassic Park (USA 1993, 1997); Robert Zeme-
462 Medien und Medienverbund

ckis’ Who Framed Roger Rabbit (USA 1988), die Back to the Future-Trilogie
(USA 1985/1989/1990) und The Polar Express (USA 2004); Joe Dantes
Gremlins (USA 1984) sowie die sechs Folgen von Star Wars (USA 1977–2005),
gedreht von Richard Marquand, Irvin Kershner und vor allem George Lucas:
Episode I – The Phantom Menace (USA 1999, dt. Die dunkle Bedrohung),
Episode II – Attack of the Clons (USA 2002, dt. Angriff der Klonkrieger),
Episode III – Revenge of the Sith (USA 2005, dt. Die Rache der Sith), Episode
IV – A New Hope (USA 1977, dt. Eine neue Hoffnung), Episode V – The
Empire Strikes Back (USA 1980, dt. Das Imperium schlägt zurück), Episode
VI – Return of the Jedi (USA 1983, dt. Die Rückkehr der Jedi-Ritter).
Computeranimierte Kombinationsfilme mit immer ausgefeilterer Trick-
technik wie Joe Pytkas Space Jam (USA 1996) und Literaturverfilmungen
wie die bislang fünf Harry Potter-Filme: Harry Potter and the Sorcerer’s
Auch der vierte Harry Stone (USA 2001, dt. Harry Potter und der Stein der Weisen), Harry Potter
Potter-Film Harry Potter
and the Chamber of Secrets (USA 2002, dt. Harry Potter und die Kammer
und der Feuerkelch steht
wie die anderen drei vor des Schreckens), Harry Potter and the Prisoner of Azkaban (USA 2004, dt.
ihm an der Spitze der am Harry Potter und der Gefangene von Askaban), Harry Potter and the Goblet
meisten besuchten Filme of Fire (USA 2005, dt. Harry Potter und der Feuerkelch), Harry Potter and
eines Jahres the Order of the Phoenix (USA 2007, dt. Harry Potter und der Orden des
Phönix) bestimmen zu Beginn des 21. Jh.s den deutschen Kinomarkt und
erzielen hohe Zuschauerwerte.
In die Kategorie des realistischen unterhaltsamen Familienfilms zählen
etwa Chris Columbus’ Home alone (USA 1990, dt. Kevin allein zu Haus)
und Home Alone 2: Lost in New York (USA 1992, dt. Kevin allein in New
York) sowie die beiden Folgen von Crocodile Dundee (Australien 1986/1988)
von Peter Faiman. Deutsche Produktionen der Kategorie sind etwa die zahl-
reichen Otto-Filme (Otto – Der Film, 1985; Otto – Der Neue Film, 1987;
Otto – Der Außerfriesische, 1989; Otto – Der Liebesfilm, 1992; Otto – Der
Katastrofenfilm, 2000) und Joachim Masanneks Die Wilden Kerle – Alles ist
gut, solange du wild bist! (2003). Kombinationsfilme, die Realfilm und Zei-
chentrick mischen, sind Ulrich Königs Meister Eder und sein Pumuckl (1982)
und Hatschipuh (1987). Zu den unterhaltenden realistischen Familienfilmen
können schließlich auch die Verfilmungen postmoderner Kinder- und Ju-
gendliteratur gezählt werden; Leander Haußmanns Film Herr Lehmann
(2003) auf der Grundlage des Romans von Sven Regener und Gregor
Schnitzlers Film Soloalbum (2002) nach der Romanvorlage von Benjamin
von Stuckrad-Barre unterhalten mit inter- und intramedialen Systemrefe-
renzen.
Preisträger des Bei den Preisträgern des Deutschen Filmpreises der letzten Jahre, immer-
Deutschen Filmpreises hin der renommiertesten Auszeichnung für den deutschen Film, sind die ge-
nannten Genres durchweg vertreten, und zwar in einer gleichgewichtigen
Verteilung von Animationsfilm, unterhaltendem und sozialkritisch-realisti-
schem Film (vgl. Tabelle 1). Zu den unterhaltenden fantastischen Kinderfil-
men zählen der Animationsfilm Käpt’n Blaubär (1999) von Hayo Freitag,
Preisträger des Jahres 2000; Uli Edels fantastischer Kinderfilm Der kleine
Vampir (D/Niederlande/USA 2000), Preisträger des Jahres 2001; Lauras
Stern (D/Bulgarien 2004) von Piet De Rycker und Thilo Rothkirch, Preisträ-
ger des Jahres 2005. Ben Verbongs Das Sams (2001), Preisträger des Jahres
2002, gehört zu den realistisch-fantastischen Kombinationsfilmen. Zum rea-
listischen Kinderfilm mit leisen sozial-kritischen Tönen zählen Die Blindgän-
ger von Bernd Sahling, Preisträger des Jahres 2004; Die Höhle des gelben
Hundes (D/Mongolei 2005) von Byambasuren Davaa, Preisträger des Jahres
2006; sowie Tomy Wigands Kästner-Verfilmung Das fliegende Klassenzim-
Kinderfilm und Kinderfernsehen 463

Jahr Rang Filmtitel Besucherzahl


2001 2 Harry Potter und der Stein der Weisen 10.416.102
5 Der Herr der Ringe – Die Gefährten 5.151.793
16 Der kleine Eisbär 2.415.431
2002 1 Harry Potter und die Kammer des 8.767.962
Schreckens
2 Ice Age 7.140.671
3 Der Herr der Ringe – Die Gefährten seit Start: 11.411.148
4 Der Herr der Ringe – Die zwei Türme 6.153.682
5 Star Wars: Episode II – Angriff der 5.543.409
Klonkrieger
18 Bibi Blocksberg 2.050.214
2003 1 Findet Nemo 7.656.947
2 Der Herr der Ringe – Die Rückkehr des 6.594.748
Königs
5 Der Herr der Ringe – Die zwei Türme seit Start: 11.143.610
14 Das Dschungelbuch 2 2.689.507
2004 2 Harry Potter und der Gefangene von 6.547.643
Askaban
8 Der Herr der Ringe – Die Rückkehr des seit Start: 10.430.320
Königs
9 Bärenbrüder 3.452.760
2005 1 Harry Potter und der Feuerkelch 7.312.059
3 Star Wars: Episode III – Die Rache der Sith 5.609.645
14 Die wilden Kerle 1.579.812
16 Wallace & Gromit auf der Jagd nach dem 1.447.093
Riesenkaninchen
17 Der kleine Eisbär – Die geheimnisvolle Insel 1.323.721
2006 4 Die wilden Kerle 3 2.126.633
5 Hui Buh, das Schlossgespenst 2.022.988
8 Die wilden Hühner 1.171.015
10 Der Herr der Diebe 929.057
11 Der Räuber Hotzenplotz 849.521

Tab. 2: Erfolgreiche Kinofilme 2001–05

mer (2003), Preisträger des Jahres 2003, der im Jahre 2003 auf dem 3. Platz
der am meisten besuchten Kinofilme landete, mithin also auch wirtschaftlich
erfolgreich war.
Die Kinderfilmszene zu Beginn des 21. Jh.s ist äußerst vielfältig. Es gibt Kinderfilmszene des
eine große Zahl anspruchsvoller Kinderfilme, zumal erfolgreiche Kinder- und 21. Jahrhunderts
Jugendbuchverfilmungen, wie die Preisträger in den Wettbewerben zeigen,
auch wirtschaftlich erfolgreich sind; das Bedürfnis nach Spannung oder au-
ßergewöhnlichen Tricks wird durch amerikanische Produktionen wie Harry
Potter oder Der Herr der Ringe befriedigt. Gleichwohl hat das Kino im Ver-
gleich mit dem Beginn des 20. Jh.s an Attraktivität unter Kindern und Ju-
gendlichen verloren. Nach den JIM-Studien – Jugend, Information, (Multi-)
Media von 1998 und 2005 liegt Ins-Kino-Gehen mit 1 % bzw. 1,5 % auf dem
letzten Platz der Medien, die Jungen und Mädchen zwischen 6 und 19 Jahren
mindestens einmal in der Woche nutzen. Dies bedeutet aber nicht, dass zu-
464 Medien und Medienverbund

gleich die Attraktivität von Filmen für Kinder und Jugendliche nachgelassen
hat; die Ravensburger Jugendmedienstudie ermittelte vielmehr, dass der Film
bei Jungen und Mädchen auf dem dritten Platz der bevorzugten Medien an-
gesiedelt ist. Zu den Gründen gehört neben der Unterhaltung der Sachver-
halt, dass Kinder und Jugendlichen in Filmen Vorbilder finden. So ergab die
KIM-Studie – Kinder + Medien, Computer + Internet von 2005, dass auf die
Frage nach vorbildhaften Persönlichkeiten immerhin ein Drittel der Befragten
Figuren oder Schauspieler aus Film und Fernsehen nennt; Vorbilder aus dem
Bereich des Sports nennen rund 20 %. Dabei bleibt, verglichen mit den Vor-
gängerstudien, der Prozentsatz der Kinder, die ein Vorbild haben, mit rund
50 % durchaus konstant, die Bereiche aber, aus denen die Vorbilder genom-
men werden, haben sich verändert; sie kommen weniger aus dem Bereich
Film und Fernsehen, dafür aber mehr aus den Bereichen Sport und Musik.
Die Filmindustrie hat sich seit den 60er Jahren mit dem Fernsehen, seit den
späten 80er Jahren mit dem Video und seit den 90er Jahren mit DVD und
Internet neue mediale Distributionsmöglichkeiten erschlossen; ohne eine ei-
gene Webseite kommt mittlerweile kein neuer Film mehr aus. Das Internet ist
zudem ein bedeutender Werbeträger. So hat die JIM-Studie 2005 herausge-
funden, dass bei Filmen das Internet die Hauptinformationsquelle von Ju-
gendlichen ist; es wurde von 38 % der Befragten genannt, 21 % wiesen auf
das Fernsehen als wichtigstes Informationsmedium über Kino und Filme
hin.

Kinderfernsehen
Fernsehen als Das Fernsehen ist in der Bundesrepublik wie in allen westlichen Industrie-
›Leitmedium‹, staaten das uneingeschränkte Leitmedium; es ist neben dem Computer das
empirische von Kindern wie von Erwachsenen am häufigsten genutzte Medium. Als der
Untersuchungen Nordwestdeutsche Rundfunk 1952 als erster Sender mit der regelmäßigen
Ausstrahlung von Fernsehsendungen begann, besaßen etwa 1000 Haushalte
ein Empfangsgerät, 1955 waren es 100 000, 1957 bereits mehr als eine Mil-
lion, 1964 neun Millionen; seit 1981 steht in etwa 97 % der Haushalte min-
destens ein Fernsehgerät, für 2006 ermittelte das Statistische Bundesamt eine
Geräteausstattung von nahezu 100 %. Bereits die KIM-Studie 1999 stellte
eine Ausstattung von 99 % fest, 29 % der Kinder zwischen 6 und 13 Jahren
besaßen zudem einen eigenen Fernseher. In der JIM-Studie 2005 hatte jeder
der befragten Haushalte mindestens ein Fernsehgerät, im Durchschnitt wa-
ren es 2,6 Geräte, 53 % der 12- bis 13-Jährigen und 62 % der 16- bis 17-
Jährigen hatten einen eigenen Fernseher.
Liebste Freizeit- Hinsichtlich der tatsächlichen Nutzung des Fernsehens durch Kinder und
beschäftigung: das Jugendliche zeigen bereits Untersuchungen aus dem Jahr 1979, dass 94 %
Fernsehen aller Kinder bis 13 Jahre regelmäßig mehrmals wöchentlich oder täglich das
Fernsehen nutzten, für 49 % von ihnen war das die liebste Freizeitaktivität.
Ein ähnliches Bild zeigte die KIM-Studie 1999, in der 96 % der befragten
Jungen und Mädchen im Alter von 6 bis 13 angaben, einmal oder mehrmals
in der Woche das Medium Fernsehen zu benutzen. Allerdings nannten in
dieser Befragung nur noch 37 % das Fernsehen als ihre liebste Freizeitbe-
schäftigung. In der JIM-Studie 1998 bestätigten 95 % der befragten 12- bis
19-Jährigen, dass sie einmal oder mehrmals in der Woche fernsehen. Der
Anteil derer, der einmal oder mehrmals in der Woche vor dem Fernseher
sitzt, nimmt immer weiter ab, je jünger die Untersuchungen werden; so wa-
ren es laut der KIM-Studie 2005 nur noch 97 % der befragten Jungen und
Mädchen, nach der JIM-Studie 2005 nur noch 93 %. Auf die Frage, auf wel-
Kinderfilm und Kinderfernsehen 465

ches Medium sie am wenigsten verzichten können, antworteten im Jahr 2005


74 % der 6- bis 13-Jährigen mit dem Hinweis auf das Fernsehen; bei den
Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren waren es nur 30 %. Der Grund für
die Abnahme liegt darin, dass andere Medien wie der Computer oder das
Handy attraktiver werden.
In der Frühphase der Entwicklung des Fernsehens im Laufe der 50er und
60er Jahre übernahm es für Kinder ganz oder teilweise Funktionen anderer
Medien: Kinobesuche gingen deutlich zurück; das für die Lektüre von Bü-
chern und Zeitschriften aufgewendete Zeitbudget schrumpfte. In den USA
verbrachten 1986 Kinder im Alter von zwei bis fünf Jahren täglich vier Stun-
den mit dem Konsum von Fernsehprogrammen; im selben Jahr lag in
Deutschland die tägliche Fernsehnutzungsdauer von 3- bis 7-Jährigen bei 45
Minuten, von 8- bis 13-Jährigen bei 52 und von 12- bis 15-Jährigen bei 118
Minuten. 2004 waren diese Zeiten deutlich gestiegen: In dem Report Basis-
daten Medien Baden-Württemberg wurden für Deutschland 93 Minuten bei
den 3- bis 13-Jährigen und 142 Minuten bei den 14- bis 19-Jährigen ermit-
telt. Bei Kindern und Jugendlichen ist somit ein deutlicher Anstieg der täg-
lichen Fernsehnutzungsdauer festzustellen, was im Widerspruch zu der oben
festgehaltenen Beobachtung steht, dass die Bedeutung des Fernsehens ab-
nimmt, je älter die Jugendlichen werden. Dieser Widerspruch könnte mit der
Zunahme der Gesamtzeit erklärt werden, die für Mediennutzung zur Verfü-
gung steht; möglicherweise muss man auch davon ausgehen, dass sich quali-
tative (›Unverzichtbarkeit‹) und quantitative (›Nutzungsdauer‹) Gesichts-
punkte nicht mehr bedingen, d. h. man schaut zwar fern, könnte darauf aber
eher verzichten als etwa auf das Handy. Daneben spielt freilich das Buch
nach wie vor eine Rolle: 93 % der Kinder, die die KIM-Studie 2005 befragte,
lasen zumindest selten ein Buch, 54 % der Kinder zwischen sechs und drei-
zehn Jahren lasen sogar gerne oder sehr gerne. Zugleich konnten sich nur
zwischen 4 und 9 % der befragten Jugendlichen nicht vorstellen, auf Bücher
zu verzichten.
Ab November 1939 wurden jeweils sonntags und meist zwischen 15 und Anfänge des
16 Uhr Sendungen für Kinder ausgestrahlt. Dabei handelte es sich um Kin- Kinderfernsehens
dergymnastiksendungen und Sendungen auf der Grundlage von Märchen-
und Sagenstoffen (z. B. Wie Till Eulenspiegel Rede und Antwort stand am
14.01.1940, Frau Holle am 10.12.1939), die oft auch aus der Kinofilmpro-
duktion stammten. Neben dem Puppentheater gab es Sing- und Bastelsen-
dungen, weiter wurden NS-Propagandafilme gezeigt (Feldzug in Polen am
10.03.1940). Die Vorläufer des Kinderfernsehens liegen allerdings im Kin-
derhörfunk: So begann Ilse Obrig 1928 beim Mitteldeutschen Rundfunk mit
einem Format, bei dem sie vor dem Mikrofon sitzend bastelte und sich wäh-
renddessen mit im Studio anwesenden Kindern unterhielt.
Mit Ilse Obrig fingen auch die Kindersendungen nach dem Zweiten Welt- Kinderfernsehen
krieg an. In den Fernsehinformationen aus dem Jahr 1951 wird die Beschrei- in den 50er Jahren
bung des typischen Ablaufs der rund einstündigen Kindersendungen geliefert,
die sich Kinderstunde, dann Kinderfunk mit Frau Ilse Obrig und später Fern-
seh-Kinderfunk nennen und die am 25.4.1951 erstmals auf Sendung gehen:
»[Es] öffnete sich der Blick ins Studio, wo über 30 Kinder versammelt waren,
ein kleines Mädchen begrüßte die Zuschauer, das ›Lied vom Fernseh-Kinder-
funk‹ wurde zum ersten Mal gesungen, und schließlich stellte Frau Dr. Obrig
den ›Spielmann‹ am Flügel und die Mitwirkenden vor. Gemeinsam packten
sie ein Paket aus, das ein von einer Rundfunkzeitschrift gestiftetes Stofftier
enthielt, das sofort seinen Ehrenplatz auf dem Flügel bekam. Und dann ent-
wickelte sich aus ungezwungenem Gespräch das Programm dieses Nachmit-
466 Medien und Medienverbund

tags: Wir wollen zaubern! Die Kinder waren eifrig dabei, ihre Kunststücke
vorzubereiten, durchstöberten eine Bastelkiste nach dem notwendigen Mate-
rial, und während die Kamera immer wieder die kleinen, völlig mit sich selbst
beschäftigten Gruppen aufsuchte, sangen die anderen Kinder ein Lied, spielte
der ›Spielmann‹ fröhliche Melodien, fanden sich kleine Künstler, die mit Ak-
kordeon und Klavier umzugehen wußten. Mit wenigen Worten lenkte Ilse
Obrig ihre Schar; ermuntern brauchte sie niemanden, die Jungen und Mäd-
chen bewegten sich völlig natürlich und reagierten auf die kleinste Anregung.
Nach der Vorführung der Zauberkunststücke wurde noch ein Lied gesungen
und ›die Fernsehkinder‹ winkten den kleinen Zuschauern am Empfänger ei-
nen Abschiedsgruß zu.« An Ilse Obrig wurden »Spontaneität, Lebendigkeit,
Fröhlichkeit, eine leichte Hand mit den Kindern, dennoch auch ein pädago-
gischer Unterton, eine spielerisch verpackte Belehrung« gelobt; sie stand im
Mittelpunkt der Sendungen, versammelte eine Schar von Kindern um sich
herum, deren Aktivität sie moderierte, während sie gleichzeitig Filme in die
Sendung einband. Inhaltlich handelte es sich bei diesen Sendungen um die
wieder aufgenommenen Vorkriegsformate. Vorher einstudierte Turn-, Sing-,
Tanz- und Bastelspiele sollten im bewahrpädagogischen Sinne und im Geiste
der musischen Erziehung die Zuschauer zur Nachahmung auffordern; sie
waren garniert mit Schatten- und Puppentheater-Aufführungen. Neben die-
sen Kinderstunden fanden sich im Programmangebot des frühen Fernsehens
auch andere Kinderformate wie Fernsehmärchen (Erich Kahls Taler, Taler,
du mußt wandern, 1960), Fernsehspiele (Herbert Ruhlands Kein Weg nach
Westen, 1957) Zeichentrickfilme (Kalif Storch, 1953), Puppentheater (Ho-
hensteiner Puppentheater, Augsburger Puppentheater) und Verfilmungen von
Kinderliteratur (Das doppelte Lottchen, 1950; Meisterdetektiv Kalle Blom-
quist, Schweden 1947; Pünktchen und Anton, BRD/Österreich 1953). Mit
statischer Kamera wurden strohblumenbastelnde Kinder oder ganze Bilder-
bücher (Der kleine Häwelmann) abgefilmt, mit Marionetten oder Scheren-
schnitten Märchen und Teddybär-Geschichten in Szene gesetzt; die Puppen-
theaterreihe Die Muminfamilie (1959) war die erste Sendung der Augsburger
Puppenkiste, womit die Tradition begann, fast jedes Jahr ein kinderlitera-
risches Werk mehrteilig mit Puppen zu inszenieren. Andere Kindersendungen
orientierten sich an dem bewährten Muster von Ilse Obrig, etwa Ri-Ra-Rate!
mit Paula Walendy. Daneben gab es mit Sport – Spiel – Spannung (1959–69)
die erste Kindermagazinsendung. In der DDR wurde mit dem Sandmännchen
ab 1959, in der BRD ab 1962 eine tägliche Gutenachtsendung mit Bilderge-
schichten und Puppenspiel gesendet; nach der Wiedervereinigung wurde das
Ost-Sandmännchen beibehalten (ab 1992). Die angestrebte Aktivierung der
Kinder hielt sich, so lässt sich gegen diese Konzeption der frühen Kindersen-
dungen der 50er Jahre kritisch anmerken, in Grenzen; vielmehr handelte es
sich um ein Zuschauen, wie andere aktiv waren. Inhaltlich ließe sich vor
allem die pädagogisch-didaktische Indienstnahme des Kinderfernsehens kri-
tisieren, die als ein Ausdruck der Unsicherheit verstanden werden kann, wie
mit dem neuen Medium Fernsehen umzugehen sei. Damit einher ging der
Beschluss der ARD im Jahr 1958, keine Sendungen für Kinder unter sechs
Jahren anzubieten – analog zu der Novellierung des Jugendschutzgesetzes im
Jahre 1957, das Kindern unter sechs Jahren den Kinobesuch verbot. Gleich-
Das DDR-Sandmännchen zeitig jedoch fanden sich Programmformate wie das Sandmännchen (ab
– das 1991 gesamtdeutsch 1962) oder das Märchenraten (ab 1964), die sich eindeutig an Kinder unter
wurde und das West- sechs Jahren wandten. Positiv lässt sich hervorheben, dass es sich bei diesen
Sandmännchen ver- frühen Kindersendungen um Unterhaltungsprogramme handelte, die in die
drängte sozialen Aktivitäten der Kinder eingebunden waren: Da die wenigsten einen
Kinderfilm und Kinderfernsehen 467

eigenen Fernseher hatten, wurde meist außerhalb der eigenen Wohnung zu-
sammen mit anderen Kindern ferngesehen.
Neben dem intentionalen Kinderfernsehen etablierte sich ab 1959 ein Kinderfernsehen in den
vorabendliches Werberahmenprogramm, das mit leicht rezipierbaren, trivi- 60er und 70er Jahren
alen Abenteuer- und Kriminalserien sofort in der Gunst der Kinder weit vorn
lag. Neben amerikanischen Serials wie Danger Man (USA 1960–61, dt. Ge-
heimauftrag für John Drake) oder Ripcord (USA 1962, dt. Sprung aus den
Wolken) wurde sogar die bayerische Eigenproduktion Funkstreife Isar 12
(1961–63) bei Kindern außerordentlich populär. Seit den frühen 60er Jahren
waren es die Vorabendprogramme, die mit einem klar dualistischen Weltbild
(nach dem das Gute stets über das Böse siegt) ein unkompliziertes und un-
verbindlich unterhaltendes Umfeld für die Werbung darstellten und dabei
das eigentliche, mit Vorrang genutzte Kinderfernsehen der Bundesrepublik
bildeten.
Zur bewahrpädagogischen Ausrichtung der 50er Jahre gesellte sich in den
60er Jahren der Ansatz, ›Fernsehen vom Kinde aus‹ zu machen und damit
dem Medium auf der Basis kritischer Distanz zur gesellschaftlichen Realität
einen zunehmenden emanzipatorischen Einfluss zuzugestehen. Einen dritten
Weg eröffnete Gert K. Müntefering bereits zu Beginn der 70er Jahre: Er for-
derte auch für das Kinderfernsehen die Darbietung fernsehspezifischer For-
men im Rahmen eines kindergemäßen Angebotes; er verlangte »die vielge-
staltige Programmlandschaft für Kinder, in der Talente ungestüm und rigoros Programmlandschaft
zu erzählen verstehen und nicht nur des Kaiser neue Kleider, das Rollenspiel, für Kinder
transportieren; wo Lernstrategien, diese breiten, beruhigenden und langwei-
ligen Asphaltstraßen, aufgelöst werden in viele wilde Wege, fantastisch und
realistisch; wo die semiotischen Bildentzifferer deshalb arbeitslos werden,
weil sie nicht mehr die genormten Hollywood-Reihen bekommen, in denen
man so herrlich die Fliegenbeine zählen kann.« Münteferings Ansatz wurde
im Laufe der 70er und 80er Jahre mit emanzipatorischen Intentionen ver-
bunden; das Kinderfernsehen wurde »lebendig, vielformatig und ein anre-
gendes Erzähl- und Dokumentationsmedium«. Die Zeit zwischen 1966 und
1978 war eine fruchtbare Zeit für das Kinderfernsehen; sie lebte von den
neuen Impulsen, die sich aus gesellschaftlichen und bildungspolitischen Re-
formen ergaben. Es wurde darüber diskutiert, wie weit Fernsehprogramme
soziales Lernen fördern und sprachliche Benachteiligungen bei Kindern aus
sozial schwachen Familien abbauen können. Das Ergebnis waren engagierte
professionelle Produkte für Kinder. Es entstanden Sendungen, in denen eine
menschliche Figur zusammen mit einer (Hand-)Puppe auftrat wie in Stoffel
und Wolfgang (ARD/NDR 1965–72), Abenteuer mit Telemekel, später Tele-
mekel und Teleminchen (ARD/SDR 1963–70) oder in der Kinderunterhal-
tungssendung Schlager für Schlappohren mit dem Hasen Cäsar (ARD/WDR
1966–71). Varianten des Puppenspielformats wurden entwickelt, etwa in
Märchenraten mit Kasperle und René (ARD/WDR 1964–70), der ersten
Gameshow mit Quiz- und Spielelementen, in der ab 1967 die Spielleiste für
die Puppe wegfiel, so dass diese sich neben den menschlichen Darstellern frei
im Raum bewegen konnte; in Der Spatz vom Wallraffplatz (ARD/WDR
1969–76) wurde mit einer Vogel-Marionette gearbeitet, die auf einem Baum
vor dem Funkhaus des WDR ›lebte‹. Puppenmotive wurden auch in der ers-
ten Kinderfernsehunterhaltungsserie Pan Tau (ARD/WDR/ORF/Tschechi-
sches Fernsehen 1970–74) verwendet, in der der Alltag innerhalb eines mär-
chenhaften Rahmens satirisch-kritisch reflektiert wurde. Robbi, Tobbi und
das Fliewatüüt (ARD/WDR 1974) war eine Puppenfilmproduktion nach der
kinderliterarischen Vorlage von Boy Lornsen.
468 Medien und Medienverbund

Gesellschaftliche Eine Einführung in die gesellschaftliche Realität sollten Vorschulkinder in


Realität magazinartigen Sendungen erhalten, beispielsweise in Die Spielschule (ARD/
BR 1969) oder in Das feuerrote Spielmobil (ARD/BR 1972–74). Maxifant
und Minifant (ARD/NDR 1972–75) war als monothematisches magazinar-
tiges Vorschulprogramm konzipiert, in dem den Kindern Erfahrungen über
ihre Umwelt vermittelt wurden; sie sollten zur Selbständigkeit erzogen und
auf die Schule vorbereitet werden. Das Feedback der zuschauenden Erwach-
senen und Kinder war ausdrücklich erwünscht; Wolfgang Buresch, Leiter der
Programmgruppe ›Familie‹ beim NDR und ›Vater‹ des Hasen Cäsar, be-
schreibt, wie den Redakteuren erst durch diese Rückmeldungen ein tatsäch-
liches Wissen über die kindlichen Rezeptionsmöglichkeiten vermittelt wurde.
Für ältere Kinder entwickelte Buresch 1973 das Kindermagazin Plumpa-
quatsch (ARD 1973–78), in dem sich die Puppe scheinbar frei im Studioraum
bewegte, da erstmals der Puppenspieler durch elektronische Tricktechnik
ausgeschnitten werden konnte. In Lemmi und die Schmöker (1973) stellte
der Bücherwurm Lemmi ein neues Kinderbuch vor, verriet aber das Ende
nicht, so dass die Zuschauer aufgefordert waren, das Buch selbst zu lesen.
Soziale Wirklichkeit Der Einblick in die soziale Wirklichkeit steht hinter dem Konzept mit Bil-
dergeschichten, Zeichentrickfilmen und Dokumentarfilmen, das in den
Lach- und Sachgeschichten (ARD/WDR 1971) und in der Sendung mit der
Maus (ARD/WDR/SWF/SR/BR/HR/ORB 1972 bis heute) für Vorschulkinder
realisiert wurde. Die Sesamstraße (ARD/NDR/WDR/SR/HR/SWR 1973 bis
heute) war als deutsches Pendant zur amerikanischen Sesame Street (USA
seit 1969) ein aktuelles, witzig-lehrreiches Programm für Vorschulkinder.
Der Magazincharakter dieser Vorschulserien gestattete es, für die Einzelbei-
träge verschiedene Präsentationsformen des filmischen Erzählens zu erpro-
ben, die sich auf die unterschiedlichen, sich noch entwickelnden kognitiven
Fähigkeiten von Kindern und deren unterschiedliches Konzentrationsvermö-
gen einstellten. Die Magazinierung prägte auch Rezeptionsgewohnheiten:
Kinder und Jugendliche gewöhnten sich daran, in kurzen Einheiten Medien-
inhalte aufzunehmen, was durch den Trend zu immer kürzeren Darbietungs-
formen im gesamten Fernsehangebot der 70er und 80er Jahre verstärkt
wurde und in den Video-Clip-Formaten der späten 80er Jahre seinen Höhe-
punkt erfuhr.

Die Protagonisten der


Sesamstraße mit Ernie
und Bert (2. Reihe) im
Mittelpunkt
Kinderfilm und Kinderfernsehen 469

Das ZDF strahlte seit 1963 bundesweit Sendungen aus, begann aber erst Erzieherische
1966 mit einem täglichen Nachmittagsprogramm, allerdings abgesehen von Zielsetzungen
dem Magazin Kalle Schwobbel präsentiert ohne intentionale Kindersen-
dungen. Präsentiert wurden überwiegend bereits in der ARD verwendete
amerikanische Serien, die Kinder und Erwachsene unterhielten. Im Jahre
1973 begann das ZDF dann ebenfalls mit emanzipatorisch konzipierten
Vorschul- und Kleinkinderprogrammen. Die Rappelkiste (ZDF 1973–83)
war ein monothematisches Magazinformat, moderiert von den beiden
Klappmaulpuppen Ratz und Rübe, deren Beiträge von der Redaktion als
engagierte ›Mutmacher-Geschichten‹ verstanden wurden. Diese Sendung ist
geradezu beispielhaft für die »vertikale Vernetzung« (Erlinger), die auch für
die meisten der genannten ARD-Produktionen gilt; damit ist gemeint, dass
Kinderformate konzeptionell unter pädagogischen, psychologischen, didak-
tischen und ökonomischen Gesichtspunkten diskutiert und entwickelt wur-
den. Später veränderte die ZDF-Kinderredaktion ihr Konzept, ergänzte es
durch die im ländlichen Rahmen angesiedelte Realfilmserie Neues aus Uh-
lenbusch (ZDF 1978–80), die in Einzelepisoden die Erfahrungen von Kin-
dern auf dem Land thematisierte. Löwenzahn (ZDF seit 1980) mit Peter
Lustig versteht sich als Informationsmagazin für Vor- und Grundschulkinder,
in dem es um Themen wie Natur und Technik geht.
Neben Sendungen mit erzieherischen oder didaktischen Zielsetzungen Kinderunterhaltung
traten auch Sendungen, die der Kinderunterhaltung verpflichtet waren. 1971
zeigte der SDR als erster deutscher Sender mit Speed Racer (Japan 1967)
eine typisch japanische Zeichentrickserie; seit 1974 kauft das ZDF weitere
japanische Serien ein wie Wickie und die starken Männer (Japan/Deutsch-
land 1972), Die Biene Maja (Japan/Deutschland 1975), Heidi (Japan 1974),
Pinocchio (Japan/Deutschland 1976), Sindbad der Seefahrer (Japan 1975).
Das Unterhaltungsangebot wurde komplettiert durch spezielle Showsen-
dungen wie Alle Kinder dieser Welt mit James Krüss und Udo Jürgens (ZDF
1971–73) oder Pfiff (ZDF 1977–94), einem Sportstudio für Kinder. Unter-
haltend waren die tschechoslowakischen Serienproduktionen wie die Ferien-
abenteuer von Lucie, postrach ulice (ýSSR 1980, dt. Luzie, der Schrecken der
Straße) von JindĜich Polák oder die grotesk-komische Verknüpfung von
Märchenklischees mit bieder-banaler Alltagswelt in der Serie Arabela (ýSSR
1980; dt. Die Märchenbraut) von Václav Vorlíþek. Daneben waren die 70er
Jahre dadurch gekennzeichnet, dass ARD und ZDF Kinderfilmprodukte in
Auftrag gaben und jüngere deutsche Kinderfilmmacher förderten, etwa Hark
Bohm mit Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1976), Gloria Behrens mit Rosi
und die große Stadt (1980) oder Arend Agthe mit Küken für Kairo (1985).
Vor allem kamen nun auch die Jugendlichen in den Blick von Programmma-
chern; es wurden speziell für diese Zielgruppe definierte Angebote entwickelt,
die über gesellschaftliche Probleme aufklären, den Jugendlichen politische
Perspektiven und Alternativen zeigen sollten; es entstanden Schüler- und Ju-
gendmagazine mit Ratgeber-, Informations-, Unterhaltungs- und Popmusik-
teilen, die freilich auch von jüngeren Kindern bereitwillig als ihr Programm
angenommen wurden. Um 1974 wurden mehr als ein Dutzend solcher Ma-
gazine ausgestrahlt (Baff, Kätschap, Szene 74, Zoom). Unter der Verantwor-
tung von Wolfgang Buresch wurden beim NDR für Jugendliche eine erste
Comedyserie EMM wie Meikel (BRD 1975–78) und Fernsehspiele wie der
Mehrteiler Britta (BRD 1977) entwickelt.
Zur Erläuterung der verschiedenen Formate, die in Tab. 3–5 erkennbar Kinderfernsehen seit
sind, muss in die 80er Jahre zurückgegangen werden, in denen die Verbin- den 80er Jahren
dung von Münteferings Konzept mit einem emanzipatorischen Ansatz von
470 Medien und Medienverbund

einer Kombination abgelöst wurde, die die Erprobung medialer Formen mit
Quoten- und Kommerzgesichtspunkten koppelte. Kinder- und Jugendpro-
gramme der 80er Jahre verzichteten – wie auch das übrige Fernsehprogramm
– weitgehend auf den gesellschaftskritisch ambitionierten Ansatz der späten
60er und der 70er Jahre zugunsten einer Zunahme unverbindlicher Unter-
haltung, die hohe Einschaltquoten erreichte. Ein Beispiel dafür war die Sen-
dung mit dem roten Kobold Pumuckl, die 1982 als Kombination von Real-
und Trickfilm im bayerischen Werberahmenprogramm begann und dann ei-
nen Stammplatz im sonntäglichen Kindernachmittagsprogramm der ARD
erhielt. Die Orientierung an Einschaltquoten, die nach dem Aufkommen der
kommerziellen Anbieter forciert wurde, veränderte das Kinderfernsehen vom
Angebots- zum Nachfragefernsehen. Unter den Bedingungen des dualen
Die Zeichentrickfigur
Marktes – im Jahr 2006 gab es 88 deutschsprachige Kanäle, die über Satellit
Pumuckl mit dem
Schreinermeister Eder
zu empfangen waren – wachsen pädagogisch und didaktisch ambitioniertes
(Gustl Bayrhammer) Kinderfernsehen und die Orientierung an kommerziellen Gesichtspunkten
zusammen. Seit 1995 gibt es Spartenkanäle speziell für Kinder und Jugendli-
che: SuperRTL (1995–98), Nikelodeon (seit 1997, ab 2005 als Nick), Kin-
derkanal KI.KA von ARD und ZDF (seit 1997). Die Zulassung kommerzi-
eller Anbieter in der Mitte der 80er Jahre hat weitreichende Konsequenzen
Die privaten Sender für das Kinderfernsehen: Bei den privaten Kanälen besteht Fernsehen für
Kinder vorwiegend aus Zeichentrickfilmen. SAT 1 strahlt täglich eine Stunde
Kinderzeichentrickfilme aus; auch bei Tele 5 wird das Kinderprogramm vor-
nehmlich aus den Zeichentrickserien in Bim Bam Bino bestritten, die abends
in der Sendung Cartoons wiederholt werden. In den 90er Jahren wurde die
Sendezeit für Kinderformate erstmals in die frühen Morgenstunden ausge-
dehnt. Pro Sieben etwa brachte ab 4.30 Uhr Trickfilme wie Bugs Bunny (USA
1960), Inspektor Gadget (Kanada/USA 1983), RTL 2 sendet von 6.45–16.35
Uhr Animationsfilme wie Die kleinen Superstars (Japan 1986), Wolfsblut
(Kanada/Frankreich 1991), Die Schatzinsel (Japan 1978), Die kleine Robbe
Albert (Großbritannien 1985). Bei Tele 5 wurden bis 1993 auf diese Weise
bis zu 20 verschiedene Zeichentrickserien an jedem Wochentag gesendet. Vor
allem an jüngere Kinder wenden sich Serien, die mit vermenschlichten Tieren
oder mit Kindern als Hauptfiguren arbeiten und dabei fantastische Elemente
benutzen, etwa Kimba, der weiße Löwe (Japan 1965), Heidi (Japan 1974),
Pinocchio (Japan/D 1976) und Marco (Japan 1976). Eher an ältere Kinder
wenden sich diejenigen Serien, die sich eklektisch am medialen Angebot be-
dienen und Elemente in einem neuen Kontext verbinden; Beispiele dafür sind
US-amerikanische Serien wie Ghostbusters (USA 1986), He-Man and the
Masters of the Universe (USA 1983), Bravestarr (USA 1987), She-Ra – Prin-
zessin der Macht (USA 1985), Captain Future (Japan 1977) und Mask (USA
1995). Diese Serien sind beliebt, weil sie leicht verständlich sind, die Länge
dem kindlichen Rezeptionsvermögen entgegenkommt und weil sie Identifi-
zierungsmöglichkeiten anbieten, wenn etwa eine gute kleine Figur eine böse
große Figur besiegt.
Die öffentlich- Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten reagierten auf das Angebot von
rechtlichen Sender Zeichentrickserien US-amerikanischer oder asiatischer Provenienz zunächst
mit eigenen Produktionen. Mit der Real- und Zeichentrickserie Pumuckl
(ARD/BR 1982–88), vor allem mit Janoschs Traumstunde (ARD/WDR
1986–87) und mit der überaus erfolgreichen Zeichentrickserie Simsala
Grimm (1999) sollte den japanischen Zeichentrickproduktionen eine am
Kinder- und Bilderbuch orientierte »›europäische‹ Ästhetik« (Kerstin Eßler)
gegenübergestellt werden. Allerdings mussten beide Anstalten Material hin-
zukaufen. So wurden z. T. ältere amerikanische Serien wie die Hanna Barbera
Kinderfilm und Kinderfernsehen 471

Produktionen Familie Feuerstein (USA 1960), Yogi Bär (USA 1958), Jetsons
(USA 1962) oder auch Die Schlümpfe (USA 1981) eingekauft. Die ARD sen-
dete in der Trickfilmschau und später im Disney Club Folgen mit Mickey
Maus, Donald Duck, Tom und Jerry, im ZDF liefen asiatische Produktionen
wie Die Biene Maja (Japan/BRD 1975), Sindbad (Japan 1975), Nils Holgers-
son (Japan/Deutschland 1979) und Tao Tao (Japan/BRD 1973). Dabei han-
delt es sich größtenteils um standardisierte und billig produzierte Massenzei-
chenware mit klischeehaften Figuren, die nach dem ›Kindchenschema‹ (rela-
tiv kleiner runder Körper, übergroßer runder Kopf, große Augen) gestaltet
sind. Die Inhalte sind zwar oft von literarischen Vorlagen angeregt, entfernen Herr Rossi – Figur des
sich aber vom Ausgangsmaterial und nutzen letztlich nur den absatzför- italienischen Trickfilmers
dernden Namen oder die Grundidee. Daneben kamen europäische Produkti- Bruno Bozzetto, 1960
onen wie Grisu, der kleine Drache (Italien 1975), Lolek und Bolek (Polen erfunden und 1976 im
1964) und Herr Rossi sucht das Glück (Italien 1960) in das Programm von Vierteiler Herr Rossi
ARD und ZDF. Auch neue Puppenserien wurden, neben den bewährten wie sucht das Glück endgültig
der Sesamstraße, in das Programm aufgenommen, so zum Beispiel die Tele- berühmt geworden
tubbies, die seit 1999 täglich auf dem Kinderkanal zu sehen sind und über
die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wird. Das Format ist auf die
jüngsten Zuschauer (ab dem 1. Lebensjahr) zugeschnitten, und die direkte
Ansprache durch die Figuren fördert die parasoziale Interaktion. Die Kinder
bekommen in der scheinbar direkten Kommunikation mit der Figur einen
Raum zugewiesen, in dem sie Verhaltensmuster ausprobieren oder sich In-
halte aneignen können, ohne direkt handeln zu müssen. Grelle Farben, lang-
same, zuweilen komische Bewegungen, vorhersehbare Handlung und vor
allem der kindliche Sprachgebrauch sind Merkmale, die die kindliche Ziel-
gruppe ansprechen. Die Teletubbies sind zugleich beispielhaft für die ›hori-
zontale Vernetzung‹ des aktuellen Kinderfernsehens, also seine Einbettung in
weltweite Merchandising-Verbünde über alle Medien und Marktsegmente,
vom Poster über DVD bis zur Kleidung, hinweg.
Bei der JIM-Studie 2005 wurde auch die Frage gestellt, welche Sendefor- Familien- und
mate 12- bis 19-Jährige am liebsten sehen: 54 % der Befragten antworteten Actionserien, Soaps
mit dem Hinweis auf Serien, 40 % bevorzugten Daily Soaps, 35 % nannten und Sitcoms
Sitcoms/Comedy-Sendungen. US-amerikanische Actionserien wie das Riptide
(USA 1984–86, dt. Trio mit vier Fäusten), The A-Team (USA 1983–87, dt.
Das A-Team), The Fall Guy (USA 1981–86, dt. Ein Colt für alle Fälle), Re-
mington Steele (USA 1982–87) und Matlock (USA 1986–95) sind für Ju-
gendliche attraktiv wegen ihrer überschaubaren Länge, ihren Identifikations-
angeboten, der Spannung, der eingängigen Musik und wegen des technischen
Equipments, wie dem sprechenden Superauto in Knight Rider (USA 1982–
86) oder dem Superkampfhubschrauber in Airwolf (USA 1984–86). Darüber
hinaus weisen Vorabend- und Zeichentrickserien Übereinstimmungen in ih-
rer Dramaturgie auf; beide Formate arbeiten mit kurzen, überschaubaren
Spannungsbögen und setzen in regelmäßigen Abständen Spannungshöhe-
punkte. Speziell für Kinder wurde von 1999–04 die Serie Die Pfefferkörner
(ARD/NDR/SWR) produziert, eine in der Gegenwart angesiedelte 52-teilige
Krimiserie, in der eine gleichnamige jugendliche Amateurdetektivgruppe
kriminelle Handlungen aufdeckte. In der Serie Süderhof (ARD 1991–97)
und in Die Kinder vom Alstertal (KI.KA 1998–01) wurde das Leben auf dem
Land als Szenerie genommen, in der sich spannende Geschichten ereignen.
Soaps gehören zwar zu den Fernsehserien, unterscheiden sich von ihnen
jedoch dadurch, dass sie in einer Folge keine abgeschlossene Geschichte brin-
gen, keinen Anfang definieren und narrativ auf Endlosigkeit hin angelegt
sind; Soaps zeichnen sich durch eine ›Zopfdramaturgie‹ aus, womit gemeint
472 Medien und Medienverbund

ist, dass in jeder Folge mehrere Handlungsstränge belebt werden. Sie dienen
als fiktionaler Rahmen für Werbesendungen und können entweder wöchent-
lich als Weekly Soap oder mehrmals wöchentlich als Daily Soap ausgestrahlt
werden. Die ersten Soaps in den 80er Jahren stammten aus den USA, so bei-
spielsweise Knots Landing (USA 1979–93, dt. Unter der Sonne Kaliforniens),
Dynasty (USA 1981–89; dt. Denver-Clan), Dallas (USA 1978–91) und Fal-
con Crest (USA 1981–90); erste deutsche Eigenproduktionen wie Die
Schwarzwaldklinik (1985–89), Praxis Bülowbogen (1987–96), Die Linden-
straße (seit 1985) oder Die Wiecherts von nebenan (1986–91) gibt es ab der
Mitte der 80er Jahre. Wesentliche inhaltlich-dramaturgische Kennzeichen
der Soaps sind die Inszenierung von Alltagssituationen und die Thematisie-
rung von Alltagsproblemen sowie das auf die erwachsenen Zuschauer zuge-
Soaps für Kinder und schnittene Figurenarsenal: Von der Mitte der 90er Jahre an wurden Soaps
Jugendliche auch für ein jugendliches Zielpublikum produziert, Hauptdarsteller sind Ju-
gendliche, die Figuren mit mehr oder weniger typischen Adoleszenzproble-
men verkörpern. Ein attraktives Identifikationsangebot wird dadurch ge-
schaffen, dass die Darsteller zusammen mit den Figuren und ihren Zuschau-
ern altern – Jugendliche werden so über Jahre an diese Sendungen gebunden.
Als erster deutscher Sender startete RTL im Mai 1992 mit Gute Zeiten,
schlechte Zeiten die erste Daily Soap im deutschen Fernsehen, die es bis 2006
auf über 3500 Folgen brachte. Die ARD folgte mit Verbotene Liebe (seit
1995, bis 2006 über 2700 Folgen) und Marienhof (seit 1992, bis 2006 über
2900 Folgen). SAT 1 brachte 2005 mit Verliebt in Berlin eine erfolgreiche
Serie heraus, die bereits im Jahre 2005 mit dem Deutschen Fernsehpreis und
im Jahr 2006 mit der Goldenen Rose auf dem Festival for Entertainment
Television in Luzern ausgezeichnet wurde. Zu den deutschen Produktionen
kommen US-amerikanische wie The O.C. (USA seit 2003, dt. O.C. Califor-
nia), die zweimal täglich auf Pro Sieben läuft (vgl. Tab. 5). Dass mit diesem
Format auch im Jahr 2006 noch hohe Einschaltquoten erzielbar sind, beweist
die Entscheidung von SAT 1, mit der täglich zweimal ausgestrahlten Soap
Schmetterlinge im Bauch (2006) auf Sendung zu gehen. Die ARD produziert
seit 1998 bis heute mit Schloss Einstein die erste Kinder-Soap; in den bisher
456 Folgen geht es um die Probleme von Internatsschülern der 6. und 7.

Schloss Einstein – die


erste Kinder-Soap (ARD,
seit 1998)
Kinderfilm und Kinderfernsehen 473

Klasse. Varianten der Soap sind die Doku-Soap wie Das wahre Leben (Pre-
miere 1994), ein Vorläufer von Big Brother, oder Höllische Nachbarn (RTL
1998–00), in der Streitigkeiten zwischen Nachbarn nachgestellt wurden, und
die Reality-Soap wie etwa Inselduell (Sat 1 Juli/August 2000), bei der es wie
in Big Brother darum ging, durch besondere individuelle Leistungen in einer
Gruppe bleiben zu dürfen. Bei Jugendlichen sind Soaps äußerst beliebt; die
Ravensburger Jugendmedienstudie hat ermittelt, dass sie auf dem zweiten
Platz der Medienpräferenzliste von Mädchen stehen.
Die Sitcom ist ein ursprünglich US-amerikanisches Genre, dessen Hand-
lung auf eine schnelle Abfolge von Pointen mit eingespieltem Lachen angelegt
ist. Inhaltlich stehen unterhaltende Themen im Vordergrund; in den 90er
Jahren fand das Genre in Titeln wie Home Improvement (USA 1991–99, dt.
Alf
Hör mal, wer da hämmert), Friends (USA 1994–04), Stromberg (2004), Mar-
ried with Children (USA 1987–97, dt. Eine schrecklich nette Familie), 8
Simple Rules For Dating My Teenage Daughter (USA 2002–05, dt. Meine
wilden Töchter) seine Ausprägung. Einer großen Beliebtheit erfreute sich
unter den Kindern und Jugendlichen die Serie Alf (USA 1986–90): In 100
Episoden sorgt die Titelfigur, ein schlagfertiger Außerirdischer, dargestellt
von einer teddybärartigen Puppe, in einer amerikanischen Kleinbürgerfamilie
für großes Durcheinander.
Kinderprogramme werden auch als ›Bedienungsreservoirs‹ oder als ›Kon- Clubformate
taktmöglichkeiten‹ für Kinder konzipiert, z. B. durch sogenannte Clubfor-
mate wie etwa den Tigerenten Club als Koproduktion von SWR, HR, MDR,
NDR und RBB. Solche Formate sind auch bei den privaten Sendern beliebt.
RTLplus brachte 1989–94 das Magazin Li-La-Launebär, RTL II ab 1993
das Magazin Vampy, Tele 5 1988–92 (auf Kabel 1 bis 1998) die Kindershow
Bim Bam Bino. Durch die Magazine führten Puppen mit jeweils mensch-
lichen Co-Moderatoren; sie enthielten klassische Cartoons, japanische Zei-
chentrickfilme, Kinderfilme und Studioaktionen. Ein wichtiger Aspekt der
modernen Clubformate ist, dass sie medial vernetzt angeboten werden; so
können sich die Kinder auf der Webseite des Tigerenten Clubs über Sendein-
halt und aktuelle Themen informieren oder Rätsel lösen. Clubcharakter ha-
ben auch die Nick-Formate Marvi Hämmer präsentiert National Geographic
World, eine bilinguale Wissenssendung, moderiert von der Studioratte Marvi
Hämmer, sowie Oli’s Wilde Welt, eine Informationssendung über das Leben
der Tiere – beide Sendungen begleitet von einem Webauftritt; dort können
Texte, Bilder und Videos heruntergeladen werden.
Seit 1995 gibt es Spartenkanäle speziell für Kinder und Jugendliche: Su- Spartenkanäle
perRTL (1995–98), Nikelodeon (1996–98, ab 2005 als Nick), Kinderkanal
von ARD und ZDF (seit 1997). Der kommerzielle Kanal Nick bringt ein
24-Stunden-Programm, das mit Spiel- und Wissensserien (Dora, Blue’s Clues
– Blau und schlau), Soaps (Zoey 101, USA seit 2005; Unfabulous, USA seit
2004) und Animationen bestritten wird. Aus der Zusammenstellung der
Sendungen an einem Tag (vgl. Tab. 3) ergibt sich, dass an diesem Tag, der
durchaus als repräsentativ gelten kann, Animationsfilme zumeist aus US-
amerikanischer Produktion 91,5 % des Gesamtprogramms ausmachen, 7 %
sind Soaps und 1,5 % Magazine. Nach dem eigenen Selbstverständnis unter-
scheidet Nick von anderen Kindersendern vor allem die Orientierung an den
Bedürfnissen der Zielgruppe: »Wir geben der Zielgruppe nicht nur, was sie
will, sondern auch was sie braucht. Die Inhalte von NICK und NICK.de sind
ausschließlich frei von Gewalt und jugendgefährdenden Inhalten und unter-
laufen einem strengen Qualitätsanspruch. NICK sendet kein Trash-Fernsehen
für Kinder, sondern wählt verantwortungsvoll Inhalte aus, die faszinieren,
474 Medien und Medienverbund

aber auch ein hohes Niveau und vielerorts einen gewissen Bildungsanspruch
erfüllen.« Die Animationsfilme, die Nick sendet, sind in Dauer und Inhalt
dem kindlichen Rezeptionsvermögen angepasst und bieten Identifikations-
rollen. Teenage Robot (USA 2003), Ren & Stimpy (USA/Kanada 1991–96),
Invader Zim (USA/Philippinen 2001–03), Rocket Power (USA 1999), Jimmy
Neutron (USA 2002) sind Zeichentrickfilme, deren Helden der Zielgruppe
im Alter nahe stehen und deren Funktion die Unterhaltung ist; SpongeBob
Schwammkopf (USA seit 1999) verbindet Unterhaltung mit pädagogischen
Botschaften wie etwa Solidaritätsappelle oder die Aufforderung, sich in Ge-
duld zu üben.

0:10 CatDog (USA 1998–01) A


0:23 CatDog (USA 1998–01) A
0:35 Ren & Stimpy (USA/Kanada 1991–96) A
0:48 Ren & Stimpy (USA/Kanada 1991–96) A
1:00 Invader Zim (USA/Philippinen 2001–03) A
1:13 Invader Zim (USA/Philippinen 2001–03) A
1:25 SpongeBob Schwammkopf (USA seit 1999) A
1:50 KaBlam! (USA 1996–2000) A
2:15 Grisu (Italien 1975) A
2:40 Die Glücksbärchis (USA/Kanada 1985–88) A
2:53 Die Glücksbärchis (USA/Kanada 1985–88) A
3:05 Die Gnoufs (Frankreich 2004) A
3:17 Die Gnoufs (Frankreich 2004) A
3:30 Allegras Freunde (USA 1994) A
3:55 Grisu (Italien 1975) A
4:20 Die Glücksbärchis (USA/Kanada 1985–88) A
4:33 Die Glücksbärchis (USA/Kanada 1985–88) A
4:45 Die Gnoufs (Frankreich 2004) A
4:58 Die Gnoufs (Frankreich 2004) A
5:10 Allegras Freunde (USA 1994) A
5:35 Grisu (Italien 1975) A
6:00 Blue’s Clues – Blau und schlau (USA 1996) A
6:30 Noddy (Kanada 1998) A
6:45 Noddy (Kanada 1998) A
7:00 Dora (USA 2000) A
7:30 Rugrats (USA 1991–2004) A
8:00 Rugrats (USA 1991–2004) A
8:30 SpongeBob Schwammkopf (USA seit 1999) A
8:45 SpongeBob Schwammkopf (USA seit 1999) A
9:00 KatzeKratz (USA 2005) A
9:15 KatzeKratz (USA 2005) A
9:30 Teenage Robot (USA 2003) A
9:45 Teenage Robot (USA 2003) A
10:00 Avatar (USA 2004) A
10:30 Danny Phantom (USA 2004) A
11:00 Das Geheimnis von Mu (Frankreich 2004) A
11:30 Forscherexpress M
12:00 Yakkity Yak (Australien 2003) A
Kinderfilm und Kinderfernsehen 475

12:15 Yakkity Yak (Australien 2003) A


12:30 ChalkZone – die Zauberkreide (USA 2002) A
13:00 Hey Arnold (USA 1996) A
13:15 Hey Arnold (USA 1996) A
13:30 Rocket Power (USA 1999) A
13:45 Rocket Power (USA 1999) A
14:00 Jimmy Neutron (USA 2002) A
14:30 Jimmy Neutron (USA 2002) A
15:00 Zoey 101 (USA 2005) S
15:30 Unfabulous (USA 2004) S
16:00 Neds ultimativer Schulwahnsinn (USA 2004) S
16:15 Neds ultimativer Schulwahnsinn (USA 2004) S
16:30 Drake & Josh (USA 2004) S
17:00 Teenage Robot (USA 2003) A
17:15 Emma Alien (USA/Frankreich 2004) A
17:30 Emma Alien (USA/Frankreich 2004) A
17:45 Braceface (USA 2001) A
18:15 KatzeKratz (USA 2005) A
18:30 KatzeKratz (USA 2005) A
18:45 Trollz (USA/Kanada 2005) A
19:15 Teenage Robot (USA 2003) A
19:30 Teenage Robot (USA 2003) A
19:45 Flatmania (Frankreich/Kanada 2004) A
20:15 Die Glücksbärchis (USA/Kanada 1985–88) A
22:05 Ren & Stimpy (USA/Kanada 1991–96) A
22:18 Ren & Stimpy (USA/Kanada 1991–96) A
22:30 Invader Zim (USA/Philippinen 2001–03) A
22:43 Invader Zim (USA/Philippinen 2001–03) A
22:55 SpongeBob Schwammkopf (USA seit 1999) A
23:08 SpongeBob Schwammkopf (USA seit 1999) A
23:20 Rockos Modernes Leben (USA 1993–96) A
23:33 Rockos Modernes Leben (USA 1993–96) A
23:45 Die Glücksbärchis (USA/Kanada 1985–88) A

Tab. 3: Programm von Nick am Samstag, 19. August 2006


A = Animationsfilm, M = Magazin, I = Information, S = Soap/Serie,
F = Film, SH = Show, C = Comedy, TS = Teleshopping, R = Realistischer
Film, F = Fantastischer Film

06:00 Renaade (D 1998/1999) A


06:10 Die Ritter der Schwafelrunde (Frankreich 1996) A
06:35 Fix & Foxi (D/Spanien 1999–2001) A
Pepperkorn Familie (D/Spanien 1999–2001) A
07:00 Kobold TV M
Altair im Sternenland (D 2001–03) A
Meister Eder und sein Pumuckl (D 1978–88) A
Cool oder Crash – Verkehrstipps I
08:00 Sesamstraße M
08:30 Der Regenbogenfisch (D/Kanada 1998) A
476 Medien und Medienverbund

08:55 Musik Boxx M


09:00 Au Schwarte! – Die Abenteuer von Ringel, Entje und A
Hörnchen (USA 2003/2004)
09:25 Tanzalarm! Berufe musikalisch vorgestellt M
09:35 Benjamin: bärenstark (Großbritannien/Kanada 2003) A
10:00 Wer hat Angst vor Wölfchen Wolf? (D/Großbritannien 2002) A
10:25 Isegrim & Reineke (Frankreich/Luxemburg 2004) A
10:40 Flitze Feuerzahn (Luxemburg 1996) A
11:05 Hier ist Ian (Kanada 2003–05) A
11:30 Die Gruselschule (Frankreich/Kanada/Schweden/D A
2003/2004)
11:55 Drache & Co. (Frankreich/Kanada 2004/2005) A
12:20 Piratenfamilie (Frankreich 2000) A
12:45 Piratenfamilie (Frankreich 2000) A
13:10 Blödelhit!parade SH
13:25 Tom & Jerry / Droopy (USA) A
13:35 Popeye, der Seefahrer (USA 1978–81) A
14:00 Oli’s Wilde Welt M
15:00 Tigerenten Club M/Club
16:25 Planet Cook – Das Kochabenteuer mit Ralf Zacherl SH
(England/D 2005)
16:50 Löwenzahn M
17:20 Schloss Einstein (D 1998–2006) S
17:45 ReläXX M
18:00 Petzi und seine Freunde – Die ganze Welt ist ihr Spielplatz A
(D/Dänemark 1994–99)
18:15 Baby Looney Tunes (USA 2002) A
18:40 Franklin – Eine Schildkröte erobert die Welt (Kanada 1997– A
2003)
18:50 Unser Sandmännchen A
19:00 Wickie und die starken Männer (Japan 1972) A
19:25 Marvi Hämmer präsentiert National Geographic World M
19:50 Willis Quiz Quark Club SH
20:15 Garfield und seine Freunde (USA 1988–94) A
20:40 Kopfgeldhamster (Großbritannien 2001/02) C
20:55 Bravo Bernd, der etwas andere Sandmann SH
21:00 Sendeschluss

Tab. 4: Programm von KI.KA am Samstag, 19. August 2006


A = Animationsfilm, M=Magazin, I = Information, S = Soap/Serie, F = Film,
SH = Show, C = Comedy, TS = Teleshopping, R = Realistischer Film,
F = Fantastischer Film

Der KI.KA sendet eine Vielfalt an Formen und Inhalten; er bietet Magazin-
und Informationsprogramme ebenso wie Serien und Spielfilme oder Trick-
und Realprogramme. Mit Schloss Einstein zeigt er die erste Kinder-Weekly
des deutschen Fernsehens, mit logo! (ZDF 1988) die erste Kindernachrich-
tensendung (werktags auf KI.KA, samstags auf ZDF): logo! hat sich zur
Aufgabe gemacht, aktuelle politische Ereignisse und allgemeine Hintergrund-
informationen in einer kindgerechten Darstellung zu präsentieren. Weitere
Kinderfilm und Kinderfernsehen 477

Sendefarben sind das unterhaltsame ChiliTV, die Mit-Mach-Doku Fortset-


zung folgt, die eine Plattform zum Nachfragen bietet, sowie das unterhal-
tende und informierende Umweltfernsehen Graslöwen TV, ein Kooperati-
onsprojekt des KI.KA mit der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU). KI.
KA sendet von 06.00–21.00 Uhr und erreichte im Mai 2006 damit einen
Marktanteil von 14,7 % in der Gruppe der Kinder von 3 bis 13 Jahre. Die
Auflistung eines Sendetags (vgl. Tab. 4) zeigt, dass rund 61 % der Sendungen
Animationsfilme hauptsächlich aus europäischer Produktion sind; weiter
finden sich 23 % Magazine, 10 % Kindershows, 4 % Serien/Soaps und 2 %
Info-Sendungen. Der Sender bietet seinen Zuschauern verschiedene Kommu-
nikationswege an; Brief, Fax, E-Mail, Telefon, Videotext und die Webseite
können für eine Kontaktaufnahme, für Informationen und für die Mitgestal-
tung genutzt werden. KI.KA ist somit ein Beispiel für Verbünde alter und
neuer Medien, deren symmedialer Mehrwert in der hohen Zuschauerbeteili-
gung begründet liegt.

Sender Uhrzeit Titel Format


ARD 8:30 Ein Fall für B.A.R.Z. S
9:03 Tigerenten Club M
10:25 Willi wills wissen M
10:50 neun 1/2 M
11:03 Heidi (D 1978) S
11:30 Heidi (D 1978) S
12:00 Sarah und das Wildpferd (USA 1996) R
ZDF 8:25 1, 2 oder 3 SH
8:50 logo! M
9:00 PuR M
9:25 Die Pirateninsel (Australien 2002) S
9:50 Tupu A
10:15 Bibi und Tina (D 2002) A
10:40 Heidi (Japan 1974/75) A
11:25 Briefe von Felix A
11:40 Siebenstein A
12:10 Löwenzahn M
12:35 1, 2 oder 3 SH
RTL 5:30 Zeichentrickserie A
5:50 New Spiderman (USA 1994–98) A
6:15 New Spiderman (USA 1994–98) A
6:35 Das Geheimnis der Mumie (USA 2001) A
7:10 RTL Reiseshop TS
7:40 RTL Shop TS
8:45 Gute Zeiten, schlechte Zeiten S
11:20 Das Strafgericht SH
12:15 Das Familiengericht SH
13:15 Das Jugendgericht SH
14:15 Höllische Nachbarn (D 1998) S
14:55 5 gegen 100 SH
15:55 Die lustigsten Schlamassel der Welt C
478 Medien und Medienverbund

Sender Uhrzeit Titel Format


SAT.1 6:00 Alles dreht sich um Bonnie (USA 2002/2003) C
6:25 That’s Life (USA 2001/2002) S
7:15 Katrin ist die Beste (D 1996) S
8:05 Schmetterlinge im Bauch – Das Making of I
9:00 alphateam S
10:00 Kommissar Rex S
11:00 Nur die Liebe zählt C
12:00 Deal or no Deal C
13:00 Britt SH
14:00 Zwei bei Kallwass SH
Pro 7 7:10 Die Brady Familie im Weißen Haus (USA 2002) R
8:50 Extreme Activity SH
9:50 Stromberg C
11:00 keine ahnung? C
12:00 talk talk talk fun C
13:00 Die Simpsons A
13:30 Mein cooler Onkel Charlie C
14:00 What’s up dad? (USA 2004) C
14:30 Meine wilden Töchter (USA 2005) C
15:00 Malcolm mittendrin (USA 2005) C
15:25 O.C. California (USA 2006) S
16:15 O.C. California (USA 2006) S
Kabel 1 5:29 Cartoon Network A
5:30 Johnny Bravo (USA 1997/1998) A
5:50 X-Men (USA 2001) A
6:15 X-Men (USA 2001) A
6:40 Die Liga der Gerechten (USA 2005) A
7:05 Ed, Edd and Eddy (USA 2002) A
7:30 Krypto, der Superhund (USA 2005) A
8:00 Bugs Bunny & Looney Tunes (USA 1942) A
8:30 Tom & Jerry (USA 1976) A
8:55 Powerpuff Girls (USA 1999) A
9:20 Robotboy (USA 2005) A
9:50 What’s new, Scooby-Doo? (USA 2003) A
10:15 Deckname KND (USA 2002) A
10:45 Hi Hi Puffy Amiyumi (USA/Japan 2005) A
11:10 Bugs Bunny & Looney Tunes (USA 1942) A
11:30 Hinterm Mond gleich links (USA 1997) C
12:00 Hercules (USA/Neuseeland 1998) F
12:55 Xena (USA 1999) F
13:50 Sheena (USA 2001) F

Tab. 5: Übersicht über Kinder- und Jugendsendungen am Samstagvormit-


tag, 19. August 2006
A = Animationsfilm, M = Magazin, I = Information, S = Soap/Serie,
F = Film, SH = Show, C = Comedy, TS = Teleshopping,
R = Realistischer Film, F = Fantastischer Film
Kinderfilm und Kinderfernsehen 479

Beim Vergleich zwischen den verschiedenen Kanälen für Kinder (vgl. Tab. 5)
fällt auf, dass ARD und ZDF vormittags mit Sendungen aufwarten, die spä-
ter auch im KI.KA laufen; SAT 1 und Pro 7 wählen Sendungen aus, die nicht
für Kinder, sondern auch für Jugendliche und Familien gedacht sind; bei RTL
und Kabel 1 besteht das Kinderprogramm im Wesentlichen aus US-amerika-
nischen Zeichentrickfilmen der neueren Generation.
Die KIM-Studie 1999 ermittelte auch die Präferenzen von Mädchen und Was schauen Kinder
Jungen in inhaltlicher Hinsicht: Sie machte deutlich, dass in der Altersgruppe am liebsten im
der 6- bis 12-Jährigen Kindersendungen, Zeichentrickfilme und Daily Soaps Fernsehen an?
die beliebtesten Formate waren; RTL (23 % der Befragten), SuperRTL (20 %)
und Pro 7 (13 %) galten als die bevorzugten Fernsehsender. Die KIM-Studie
2005 bestätigte dieses Ergebnis und vor allem die Tendenz, dass mit zuneh-
mendem Alter die Bedeutung der Daily Soaps steigt. Der beliebteste Fernseh-
sender der 6- bis 13-Jährigen im Jahr 2005 war KI.KA (37 % der Befragten),
danach folgten RTL (15 %), RTL 2 (13 %), Pro 7 (7 %) und SAT 1 (ca.
5 %).
Für die 12- bis 19-Jährigen ermittelte die JIM-Studie 2005 als die belieb-
testen Fernsehformate Serien (ca. 54 % der Befragten), Daily Soaps (ca.
40 %) und Sitcoms/Comedy (ca 35 %). Comics/Zeichentrick und Nachrich-
ten/Info wurden von ca. einem Viertel als eine der drei Lieblingssendungen
benannt. Es zeigten sich deutliche Geschlechtsunterschiede bezüglich der
Bevorzugung bestimmter Formate: Während Mädchen Serien und Daily
Sopas bevorzugten, wählten Jungen Sitcoms/Comedy, Comics/Zeichentrick
und Nachrichten. Die beliebtesten Fernsehsender bei den 12- bis 19-Jährigen
waren im Jahr 2005 Pro 7 (40 % der Befragten), RTL (14 %) und MTV
(11 %).
Beim Vergleich der Fernsehangebote für Kinder im Jahr 2006 mit denen Fazit und Ausblick
aus den 50er oder 60er Jahren ist eine enorme Angebotssteigerung in quali-
tativer wie quantitativer Sicht festzustellen. Spätestens mit der Einführung
der Spartenkanäle zeigt sich auch ein Wechsel in der Konzeption des Kinder-
fernsehens: Nicht mehr die einzelne Sendung zählt, sondern vielmehr der
Gesamtzusammenhang der permanent ausgestrahlten Programme. Qualita-
tiv ist das Angebot naturgemäß unterschiedlich; bei den fiktionalen Produk-
tionen für Kinder lässt sich freilich insgesamt eine Typisierung hinsichtlich
der verwendeten Grundmuster, der Figurengestaltung und des dramatischen
Konflikts erkennen. Insbesondere die kommerziellen Anbieter bedienen mit
Bildern, die einer konventionellen Ästhetik folgen, den Massengeschmack.
Charakteristisch für die aktuelle Phase des Kinderfernsehens ist die ›hori-
zontale Vernetzung‹: Eine Sendung wird über alle Medien und Marktseg-
mente hinweg in den Kontext weltweiter Merchandising- und Kommunika-
tionsverbünde integriert. Diese horizontale Verflechtung bieten die Sparten-
kanäle KI.KA und Nick, aber auch Familienserien an. An der 2005 erstmals
ausgestrahlten Daily Soap Verliebt in Berlin lässt sich der Medienverbund
exemplarisch verdeutlichen: Es gibt die Internetseite mit Informationen zur
Sendung, mit Fanmagazin, Modetipps, Psychotest, Einkaufsberatung, Ge-
winnspielen, Community mit Chat, Forum und Newsletter; es wird eine CD
mit der Musik aus der Serie angeboten, wobei die User selbst über die Track-
liste entscheiden durften, und es existieren weiter ein Musik-Download-An-
gebot, ein gedrucktes Fanmagazin und ein Sammelalbum, VIB-Klingeltöne,
Logos sowie ein SMS-Dienst mit den neuesten Backstage-Infos; zu kaufen
sind auch eine DVD mit VIB-Folgen, ebenso Bücher zur Serie; es wurde ein
VIB-Abend als Live-Event mit anderen Fans und ein Gewinnspiel, dessen
Hauptgewinn Lisas Brautkleid war, organisiert; schließlich kann man VIB- Verliebt in Berlin
480 Medien und Medienverbund

Kleidung wie Strickjacke, Mütze, T-Shirt kaufen, dazu noch eine Picknickde-
cke; hinzu kommen eine Modeausstattung in Kooperation mit B.Style, ein
Online-Modeshop, der auf der VIB-Seite direkt angeklickt werden kann, au-
ßerdem eine – kostenpflichtige – Anziehberatung per SMS.
»Konturen des Die Typisierung des fiktionalen Grundmusters der Sendungen und der
Kinderfernsehens« umfangreiche Merchandising-Aufwand führten bereits zu der kritischen Di-
agnose, dass sich die »Konturen des Kinderfernsehens« aufzulösen beginnen:
»Eine ehemals beachtenswerte mediale Anstrengung, Heranwachsende über
auf ihre Themen und ihre Wahrnehmungsmöglichkeiten abgestimmte Sende-
formate als Zielgruppe anzusprechen, verdampft in die Beliebigkeit über- und
transtextueller Stimuli, von denen je nach Lust oder Stimmungslage gewählt
werden kann« (Erlinger). Angesichts der Vielfalt der aktuellen Kinderformate
erscheint solche Kritik möglicherweise aber auch als zu einseitig; immerhin
lassen sich im Gegenzug einige Argumente dafür anführen, dass die aktuellen
Formate den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen durchaus angemes-
sen sind. So erzeugt gerade die horizontale Verflechtung durch den Medien-
verbund einen echten Mehrwert, und zwar nicht nur in ökonomischer Hin-
sicht. Bereits zu Ilse Obrigs Zeiten war das Fernsehen für Kinder als Mit-
mach-Fernsehen angelegt. Heute sehen die Kinder nicht länger lediglich zu,
wie andere etwas machen, sondern werden selbst gestaltend aktiv, indem sie
sich etwa in Foren über die individuellen Rezeptionen der Geschichten aus-
tauschen und dadurch Anschlusskommunikation vollziehen. Ein wesentlicher
Bestandteil der dabei geübten Kompetenz ist es, mono- wie multimediale
Texte lesen zu können. Ein Teil der Anschlusskommunikation ist auch die
Kontaktaufnahme mit dem Sender. Nach der JIM-Studie 2005 haben 18 %
der Mädchen und 15 % der Jungen schon einmal Kontakt mit einem Fern-
sehsender aufgenommen, und zwar durch Anruf (13 % der Mädchen, 11 %
der Jungen), Homepage-Besuch (10 % und 8 %), E-Mail (6 % und 5 %), SMS
(jeweils 6 %) und Brief (5 % und 3 %). Der am häufigsten genannte Grund
für die Kontaktaufnahme ist ein Gewinnspiel (64 %), an zweiter Stelle stehen
Abstimmungen (29 %). Fragen zur Sendung stellen (12 %) oder eine allge-
meine Auskunft bekommen (10 %) sind ebenso Gründe wie das Senden einer
Grußbotschaft (6 %) oder die Autogrammbestellung (1 %). Durch die multi-
medialen Verbundsysteme kann sich das relativ alte Medium Fernsehen von
seiner massenmedialen Fixierung und einseitigen Konsumorientierung lösen.
Der Zuschauer wird aus seiner passiven Beobachterrolle herausgeholt; die
Fülle der Interaktionsmöglichkeiten mit Internet oder Handy lässt ihn zu
einem aktiven Element der Sendung werden. Das Verbundsystem erhält durch
dieses sinnvolle Aufeinanderbezogensein ›alter‹ wie ›neuer‹ Medien eine sym-
mediale Qualität. Vor allem aber sind die Kindersendungen heute sehr viel
stärker den Bedürfnissen bestimmter Alterszielgruppen angepasst als früher.
Die Teletubbies bieten ein Beispiel, wie kindlicher Bewegungsdrang und die
sprachlichen Artikulationsmöglichkeiten einer bestimmten Entwicklungs-
stufe in einem kinderspezifischen Angebot realisiert werden können. Beob-
achtungen von Kindern, die die Teletubbies sehen, zeigen, dass Kinder keines-
wegs passiv vor dem Gerät sitzen, sondern sich zusammen mit den Figuren
bewegen und tanzen, reden oder singen. Eine konsequente Weiterentwicklung
dieses Angebots ist das Baby-TV für kleinste Kinder, das seit Dezember 2005
im Kabelnetz Baden-Württembergs zu sehen ist. Das Programm besteht aus
bunten Bilderfolgen von maximal zehn Minuten Länge, einfachen Animati-
onen mit eingängiger Musik; nachts soll mit ruhiger Musik und Farbflächen
der Schlaf der Kinder gefördert werden. Nicht zuletzt aber entstehen im deut-
Teletubbies schen Kinderfernsehen nach wie vor qualitativ hochwertige Produkte, die
Kinderfilm und Kinderfernsehen 481

auch international konkurrenzfähig sind. Der von der Europäischen Rund-


funkunion und der UNESCO geförderte Prix Jeunesse gilt als höchste Aus-
zeichnung auf dem Gebiet des Kinderfernsehens; ein Ziel ist es, qualitativ
herausragende Kinder- und Jugendfernsehsendungen zu fördern, den Pro-
grammaustausch zu beleben und zur Völkerverständigung beizutragen. Zu
den Preisträgern 2006 gehören deutsche Produktionen: In der Kategorie ›Up
to 6 Fiction‹ gewinnt mit Pantoffelhelden (2004, Regie: Susanne Seidel) eine
Zeichentrickproduktion der ARD und des WDR, die von einem Frosch er-
zählt, der sich in den Pantoffel einer Bäuerin verliebt; in der Kategorie ›12–15‹
gewinnt Stark! Kevin – Lasst mich reden (2005, Regie: Eva Radlicki), ein re-
alistischer Kinderfilm, in dem ein Junge sein Stottern besiegen will.

Kindervideo, Kinder-DVD
Die Videokassette als analoges Speichermedium wurde in den 70er Jahren in Marktverteilung von
der Bundesrepublik eingeführt. Mehrere technische Systeme wetteiferten Video und DVD
miteinander, wobei sich schließlich das VHS-System gegen das konkurrie-
rende Betamax-System durchsetzte und eine marktführende Position erlangte.
Videoheimsysteme waren zunächst noch sehr teuer, und bespielte Kassetten
standen kaum zur Verfügung. Die Gerätepreise sanken jedoch drastisch, so
dass Ende der 80er Jahre Videorecorder für weniger als 600 DM im Handel
waren. Das Filmangebot erweiterte und veränderte sich kontinuierlich, 1990
waren mehr als 15 000 verschiedene Kassettenprogramme für Kinder und
Erwachsene lieferbar. Die digitalen Speichermedien begannen ihren Siegeszug
anfangs der 90er Jahre zunächst in der Form der beiden 1993 auf dem Markt
eingeführten Datenträger Video-CD (VCD) und LaserDisc (LD), auf denen
maximal 74 Minuten (VCD) bzw. 128 Minuten (LD) Videomaterial in VHS-
Qualität untergebracht werden konnten. Sie konnten sich jedoch wegen des
geringen Speicherplatzes und auch wegen geringerer Qualität gegen die VHS
nicht durchsetzen. Dies gelingt erst der DVD, die im September 1996 erst-
mals auf den Markt kommt. ›DVD‹ steht anfangs für ›Digital Video Disc‹,
zuweilen auch für ›Digital Versatile Disc‹; da auch andere als Video-Daten
darauf gespeichert werden können, hat die Abkürzung heute keine festge-
legte Bedeutung mehr. Der erste Film auf DVD war der amerikanische Katas-
trophenfilm Twister. Im Jahr 1996 gelangten die ersten Abspielgeräte in den
Handel; drei Jahre später kamen die ersten DVD-Brenner auf den Markt,
deren Preise jedoch noch bei weit über 5.000 DM lagen. Als nach 1999 die
Preise für DVD-Player in den USA auf unter 300 Dollar fielen, nahm der
Absatz rasant zu. Am 15. Juni 2003 wurden in den USA erstmals mehr DVDs
als Videokassetten ausgeliehen, und auch in Deutschland wurden seit 2001
mehr Spielfilme auf DVD verkauft als auf vorbespielten VHS-Kassetten. An-
fang 2006 wurde der offizielle DVD-Nachfolgestandard vorgestellt; auf der
HD DVD (›High Definition DVD‹) können noch größere Datenmengen un-
tergebracht werden.
1990 verfügte erst jeder zweite Haushalt über einen Videorecorder; 2005 Ausstattungsgrad
waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes rund 70 % der Haus-
halte mit einem Videogerät ausgestattet. Während sich dieser Wert in den
letzten Jahren kaum veränderte, hat sich zwischen 2003 und 2005 der Aus-
stattungsgrad mit DVD-Playern von 26,5 % auf 50,1 % nahezu verdoppelt.
Die KIM- und die JIM-Studie bestätigen diese Entwicklungstendenz. Die
KIM-Studie stellte für 1998 in den Haushalten der befragten Kinder und
Jugendlichen einen Ausstattungsgrad mit Videorecordern von 92 % fest;
10 % der befragten Kinder hatten sogar einen eigenen Videorecorder. Im Jahr
482 Medien und Medienverbund

Rang Titel Regie Produzent/


Vertrieb
1 Ice Age (USA 2002) Chris Wedge Disney/
Buena Vista
2 The Lion King (USA 1994, dt. Der König Roger Allers Disney/
der Löwen) Rob Minkoff Buena Vista
3 Lilo & Stitch (USA 2002) Dean DeBlois Disney/
Chris Sanders Buena Vista
4 Monsters Inc. (USA 2001, dt. Die Monster Pete Docter Disney/
AG) Buena Vista
5 Treasure Planet (USA 2002, dt. Der Ron Clements Disney/
Schatzplanet) John Musker Buena Vista
6 The Jungle Book 2 (USA/Australien 2003, Steve Trenbirth Disney/
dt. Das Dschungelbuch 2) Buena Vista
7 Bibi Blocksberg (D 2002) Hermine Kiddnix
Huntgeburth
8 Der Kleine Eisbär (D 2001) Piet de Rycker Warner Bros.
Thilo Roth-
kirch
9 Sen and the Mysterious Disappearance of Hayao UFA/
Chihiro Spirited Away (Japan 2001, dt. Miyazaki Universum
Chihiros Reise ins Zauberland)
10 Spirit: Stallion of the Cimarron (USA 2002, Kelly Asbury Universal
dt. Spirit – Der wilde Mustang) Lorna Cook

Tab. 6a: Die meist verkauften Kinderfilme auf DVD im Jahre 2003

Rang Titel Regie Produzent/


Vertrieb
1 Ice Age (USA 2002) Chris Wedge Disney/
Buena Vista
2 Lilo & Stitch (USA 2002) Dean DeBlois Disney/
Chris Sanders Buena Vista
3 Der kleine Eisbär (D 2001) Piet De Rycker Warner Bros.
Thilo Roth-
kirch
4 The Jungle Book 2 (USA/Australien 2003, Steve Trenbirth Disney/
dt. Das Dschungelbuch 2), Buena Vista
5 Bibi Blocksberg (D 2002) Hermine Kiddnix
Huntgeburth
6 The Lion King (USA 1994, dt. Der König Roger Allers Disney/
der Löwen) Rob Minkoff Buena Vista
7 Spirit: Stallion of the Cimarron (USA 2002, Kelly Asbury Universal
dt. Spirit – Der wilde Mustang) Lorna Cook
8 Stuart Little 2 (USA 2002) Rob Minkoff Columbia
TriStar
9 Treasure Planet (USA 2002, dt. Der Ron Clements Disney/
Schatzplanet) John Musker Buena Vista
10 Rudolph the Red-Nosed Reindeer: The William R. Warner Vis.
Movie (USA 1998, dt. Rudolph mit der Kowalchuk
roten Nase)

Tab. 6b: Die meistverkauften Kinderfilme auf Video im Jahre 2003


Kinderfilm und Kinderfernsehen 483

2005 war die Ausstattung mit Videorecordern leicht zurückgegangen; sie


waren in 88 % der Haushalte vorhanden, während 86 % einen DVD-Player
hatten; im Jahr zuvor waren es erst 74 %. Beide Studien zeigen, dass die
Ausstattung mit Videorecordern stagniert oder sogar rückläufig ist, während
die mit DVD-Playern stark zugenommen hat.
Auf Video und DVD sind grundsätzlich alle Filmgenres, die im Kino oder Videointeressen und
im Fernsehen laufen, greifbar. In der Liste der meist verkauften Kinderfilme -nutzung von Kindern
auf Video und DVD im Jahr 2003 überwiegen die Zeichentrickfilme; auch
ein fantastischer Film (Bibi Blocksberg) und ein Kombinationsfilm (Stuart
Little 2) stehen auf der Liste (vgl. Tab. 6a, 6b). Weiter zeigt sich, dass es sich
nicht mehr, wie noch zu Beginn der Video-Ära, um überwiegend in Japan
oder Taiwan gezeichnete Serien handelt – es findet sich in der Rangliste über-
haupt nur ein einziger japanischer Zeichentrickfilm –, sondern vielmehr um
amerikanische Produktionen.
Wie Videokassetten und DVDs tatsächlich genutzt werden, zeigen aktuelle
empirische Untersuchungen. So haben in der Altersgruppe der 6- bis 13-
Jährigen im Jahr 1999 durchschnittlich 45 % Videos einmal oder mehrmals
in der Woche angesehen; 4 % gaben sogar an, dass es ihre liebste Freizeitbe-
schäftigung sei. Im Jahr 2005 war auch die DVD in die Nutzung eingeschlos-
sen; durchschnittlich 60 % der Jugendlichen schauten einmal oder mehrmals
in der Woche Videos oder DVDs an. Dabei verliert das Video zugunsten der
DVD zunehmend an Bedeutung: 2005 sahen sich nur noch rund 15,5 % der
Jugendlichen einmal oder mehrmals in der Woche eine Videokassette an;
dagegen wurde die DVD von 24,5 % der Jugendlichen einmal oder mehr-
mals pro Woche benutzt; 38 % der Befragten besaßen sogar einen eigenen
DVD-Player. Die Präferenzen der Kinder und Jugendlichen im Video-Bereich
sind, wie die empirischen Studien zeigen, denen im Fernseh-/Film-Bereich
ähnlich: 49 % der in der KIM-Studie 1999 befragten 6- bis 13-Jährigen
schauten am liebsten Zeichentrickfilme, für Tierfilme votierten 20 %, Unter-
haltung/lustige Filme standen bei 20 % im Vordergrund, Abenteuerfilme be-
vorzugten 18 % und Märchen nur noch 10 %. Zeichentrickfilme, Märchen
und Tierfilme wurden eher von Mädchen als von Jungen präferiert. Je älter
die Jugendlichen werden, desto beliebter werden tägliche Soaps oder Serien
auf DVD.
Der Videomarkt übernimmt die Tendenzen und die Erfolgsfilme des aktu- Jugendschutz-
ellen Kinomarkts. Für Kinder ist das Medium Video/DVD nicht nur attraktiv, Gesichtspunkte
weil darüber die neuesten, im Gespräch befindlichen Kinoerfolge oder be-
liebte Serien und Soaps leicht und preisgünstig zugänglich sind und weil es
gemeinschaftliches Filmbetrachten fördert; über Video/DVD kommen Ju-
gendliche zudem relativ leicht an Erwachsenenfilme, die für ihre Altersgruppe
eigentlich keine FSK-Freigabe haben. Vor allem sind Video/DVD den anderen
audiovisuellen Medien durch die permanente Verfügbarkeit einer bestimm-
ten Mediendarbietung überlegen. Die Tatsache, dass inzwischen nahezu jeder
Heimcomputer über ein DVD-Laufwerk mit Brenner verfügt, erleichtert die
Verwendung der DVD; Jugendliche sind nicht mehr auf das Fernsehen ange-
wiesen, sondern können Filme auch auf ihrem PC ansehen und eventuell so-
gar bearbeiten.
Auf DVDs hat sich ein sehr viel größeres Angebot entwickelt als auf Vi- Wirtschaftliche
deos. DVDs bieten nicht nur die Inhalte der klassischen Videokassette wie Gesichtspunkte
etwa Kinoerfolge in Zweitvermarktung, sondern auch Fernsehserien, Soaps,
Sitcoms oder auch Dokumente der Filmgeschichte (wie etwa die 100 wich-
tigsten Filme, ausgewählt von der Redaktion der Süddeutschen Zeitung). In
der Datenbank des Online-Magazins DVD-Center sind 2006 insgesamt
484 Medien und Medienverbund

12 613 DVD-Titel gespeichert, davon fast 7 800 deutsche Titel. Die wesent-
lichen Veränderungen des Video- und DVD-Markts ergaben sich in den letz-
ten Jahren vor allem aus Veränderungen im distributiven Bereich: Videos
und DVDs können mittlerweile nicht nur im Laden oder im Internet ausge-
liehen oder erworben werden, ›Video on demand‹ in der Online-Videothek
ersetzt mit zunehmendem Angebot den Gang zur Videothek. Bilder aus Fil-
men oder Trailer mit Filmausschnitten können vor dem Kauf angesehen
werden, etwa auf Seiten wie der Internet Movie Database. Das Merchandi-
Merchandising sing, die multimediale Ankündigung von Filmen, deren Zweitvermarktung
über Internet und DVD sowie die Zusatzangebote in anderen Warenseg-
menten, etwa in der Spielwarenindustrie, ist zu einem zentralen Aspekt der
Filmproduktion geworden. So gelang es bereits bei George Lucas’ erstem
Star Wars-Film (USA 1977) mit Hilfe der Zweitvermarktung mehr Geld zu
verdienen als der Film selbst einspielte. Heute erbringt der Verkauf von
DVD-Filmen gut die Hälfte der Einnahmen der großen Filmstudios. Aller-
dings mehren sich die Anzeichen für eine Stagnation auf dem DVD-Markt,
da die Industrie mittlerweile die meisten Filme und Serien auf DVD heraus-
gebracht hat. Der Kindervideo- und DVD-Markt wird in erster Linie von
amerikanischen Firmen bestimmt: Disney/Buena Vista, Fox, Warner Bros.,
TriStar sind die Firmen, die die meisten DVD- und Video-Produktionen auf
dem deutschen Markt haben. Deutsche Produktionsfirmen sind Kiddnix,
UFA/Universum und Universal. Als spezialisierter Hersteller für Bildstellen
und Schulen bietet das FWU Institut für Film und Bild ein Programm an-
spruchsvollerer Kinderfilme, didaktischer Diareihen, 16mm Filme sowie Vi-
deos und DVDs für Lehrende und Lernende; seit 2001 bietet das FWU die
Möglichkeit, Videofilme in digitalisierter Form über das Netz abzurufen.

Computer- und Videospiele


Matthis Kepser

Computer- und Videospiele (die Begriffe werden im Folgenden weitgehend


synonym gebraucht) gehören heute zum selbstverständlichen Medienalltag
Bedeutung im praktisch aller Kinder und Jugendlichen der westlichen Industrienationen. In
medialen Alltag 83 % der bundesrepublikanischen Haushalte mit Kindern zwischen dem
sechsten und dreizehnten Lebensjahr gab es 2005 mindestens einen Compu-
ter oder Laptop, 56 % besaßen eine Konsole für Videospiele. Noch höher lag
die Medienausstattung in Haushalten mit Jugendlichen im Alter von 13 bis
19 Jahren (Computer 98 %, Spielkonsole 61 %). Obwohl Computer im Ge-
gensatz zu Konsolen auf vielfältige Weise verwendet werden können, steht
ihr Gebrauch als Spielgerät an exponierter Stelle. Für Kinder ist das Spielen
die wichtigste Tätigkeit am PC: 57 % von ihnen spielten 2005 mindestens
einmal in der Woche vor dem Bildschirm. Bei den Jugendlichen rangiert das
Spielen auf Platz 2 nach der Verwendung des Computers als Audiomedium
(Musikdownload). Jungen zeigen sich, wie seit den ersten empirischen Stu-
dien zum Computer- und Videospielgebrauch bekannt ist, deutlich interes-
sierter an diesem Medienangebot als Mädchen. Unter den Jugendlichen
spielten 2005 etwa 61 % der Jungen täglich oder mehrmals in der Woche,
hingegen nur 15 % der Mädchen. Allerdings wird auch unter den Mädchen
Computer- und Videospiele 485

das Computerspiel immer beliebter, was nicht zuletzt auf Bemühungen der
Hersteller zurückzuführen ist, ein zielgruppenspezifisches Angebot auf den
Markt zu bringen. Die gegenwärtige Bedeutung der Video- und Computer-
spiele lässt sich nicht zuletzt an ihrer Wirtschaftskraft bemessen. Schon seit
einigen Jahren liegt der weltweite Umsatz in etwa so hoch wie der, den die
Spielfilmindustrie an den Kinokassen erzielt, wobei allerdings berücksichtigt
werden muss, dass die Zweitvermarktung der Kinofilme (Video, DVD, Fern-
sehrechte) den weitaus größeren Anteil am Gesamtumsatz der Spielfilmin-
dustrie ausmacht. Beide Unterhaltungsmedien sind indes eng miteinander
verwoben, denn die Besitzer der großen Hollywood-Studios betreiben alle
entweder eigene Softwareschmieden oder sind an solchen finanziell beteiligt.
Struktur und Ästhetik des Computerspiels sind nachweisbar in viele Kino- Computerspiele
filme der letzten Jahre eingeflossen, so z. B. in die Matrix-Trilogie der Brüder im Medienverbund
Wachowski (USA 1998–2003). Auch inhaltlich ist das Computerspiel längst
fest in den Medienverbund integriert. Heute kommt kein Hollywood-Famili-
enfilm mehr in die Kinos, ohne dass flankierend ein passendes Videospiel
verkauft wird. Umgekehrt wandern aber auch Spielgeschichten vom Compu-
ter auf die Kinoleinwand, man denke etwa an Abenteuer um die weibliche
Superheldin Lara Croft (Tomb Raider, USA ab 1996). Hörspiel und Buch
sind ebenfalls eng mit dem Computer- und Videospiel verwoben. So gibt es
etwa zu der beliebten Kinderhörspielserie TKKG von Stefan Wolf ein großes
Angebot an gleichnamigen Detektivspielen für den PC (Tivola 1997 ff.);
ebenso haben zahlreiche Kinderbücher ihre mediale Fortsetzung auf dem
Computer gefunden, z. B. Astrid Lindgrens Ronja Räubertochter (Oettinger
interactive 2000) oder Paul Maars Sams-Geschichten (Tivola 1998/2004).
Dass sich Computerspiele zu einem festen Bestandteil der Unterhaltungs-
kultur entwickeln würden, war am Anfang ihrer Geschichte nicht abzusehen.
Grob kann man vier Phasen unterscheiden, wobei Technikgeschichte, Genre- Vier Phasen
geschichte sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte auf das engste miteinan-
der verknüpft sind. Wie das auch bei Epochen der Literaturgeschichte der
Fall ist, schließen die Phasen nicht nahtlos aneinander an, sondern überlap-
pen sich, ja im Grunde genommen dauern sie alle bis heute fort.
Als vorindustrielle Phase kann man den Zeitraum zwischen 1950 und
1972 bezeichnen. Sofern man unter einem Computerspiel ein Spiel versteht, Phase I: Vorindustrielle
das es dem Menschen erlaubt, mit und gegen den Computer zu spielen, Entwicklungen
wurde es 1952 geboren: In diesem Jahr wurde an der University of Cam-
bridge im Rahmen einer Dissertation ein Programm eingereicht, mit dessen
Hilfe man Tic Tac Toe (auch bekannt als XOX) auf dem Universitätsrechner
spielen konnte, und zwar bereits mit einer graphischen Datenausgabe. Der
berühmte Mathematiker Alan Turing legte schon 1951 erste theoretische
Entwürfe zur Algorithmisierung des Schachspiels vor. Es dauerte aber noch Schach und andere
bis ins Jahr 1956, bis mit Los Alamos Chess ein schachähnliches Computer- Gesellschaftsspiele
spiel lauffähig gemacht werden konnte (John von Neumann u. a.).
Viele Menschen nahmen besorgt zur Kenntnis, dass 1997 erstmals eine
Maschine in der Lage war, den damals amtierenden Schachweltmeister Garri
Kasparow zu schlagen (Deep Blue, IBM). Damit schienen Traum und Alp-
traum der Künstlichen Intelligenz in greifbare Nähe gerückt zu sein. Aber der
Computer simulierte ebenso wenig wie alle anderen erfolgreichen Schach-
programme menschliches Denken, sondern arbeitete mit reiner Rechenleis-
tung (Brute Force-Programmierung). Schachprogramme für den Heiman-
wender sind heute so stark, dass selbst Großmeister Schwierigkeiten haben,
sie zu schlagen (aktuell Shredder 11, Junior 10, Fritz 10). Gegen eine profes-
sionelle Version der Fritz-Software (Deep Fritz) blieb selbst der amtierende
486 Medien und Medienverbund

Schachweltmeister 2006 Wladimir Kramnik chancenlos. Es gibt heute prak-


tisch kein bekanntes Brett- oder Kartenspiel mehr, das nicht für den Compu-
ter adaptiert worden ist. Zu den weltweit vermutlich am häufigsten genutzten
Spielen dürfte Solitair gehören, ein Patience-Kartenspiel, das Microsoft mit
seinen Betriebssystemen ausliefert.
Als erstes Computer- und Videospiel im engeren Sinne gilt Tennis for Two,
das der Physiker William Higinbotham 1958 am Brookhaven National La-
boratory entwickelt hatte, um Besucher am Tag der offenen Tür zu unterhal-
Erstes Computerspiel:
ten. Auf einem Oszilloskop, angeschlossen an einen Analog-Computer, sah
Tennis for Two man einen stilisierten Tennisplatz, über den ein Leuchtpunkt flitzte, den zwei
Personen mit Hilfe von Steuerkästchen beeinflussen konnten. Das kommer-
zielle Potenzial der Idee erkannte aber noch niemand, weshalb das Projekt
1960 wieder in der Schublade verschwand. Tennis for Two ist gleichwohl der
Prototyp für ein Computerspielgenre geworden, dessen Beliebtheit bis in die
Genre Sportspiel Gegenwart ungebrochen ist: die Sportspielsimulation (Sports). Ob Leichtath-
letik oder Abfahrtslauf (z. B. Summer Games, Winter Games, Epyx 1984,
1985), ob Autorennen (z. B. Pole Position, Atari 1983) oder Golf (z. B. World
Class Leader Board, Access 1987) − praktisch jede einigermaßen populäre
Sportart wurde als Computerspiel adaptiert. Dazu gehören natürlich auch
die großen Mannschaftsspiele wie Eishockey oder Fußball. Anfangs noch als
virtuelles Tipp-Kick oder Tischfußball konzipiert, fusionieren die entspre-
chenden Programme seit den 90er Jahren vielfach mit den Wirtschaftssimu-
lationen. Wer heute bei Spielen wie UEFA Champions League (Electronic
Arts 2006/07) erfolgreich sein will, muss nicht nur flink auf der Tastatur
sein, sondern auch im Vorfeld die richtigen taktischen Entscheidungen tref-
fen. Bei Spielen vom Typ Bundesliga Manager (erste Version Software 1990;
aktuell Fußball Manager 08, Electronic Arts 2008) entscheidet über Sieg und
Niederlage überhaupt nicht mehr die Fingermotorik, sondern allein fußball-
strategisches Wissen und wirtschaftliches Denken, das der Spieler in der
Rolle eines Vereinsfunktionärs unter Beweis stellen muss. Interessante Ent-
wicklungen zeigen sich hinsichtlich der Frage, wie realistisch Sportspiele
auftreten. Moderne Nachfolger von Tennis for Two wie etwa Virtua Tennis
(Rowan Software, Sega 1999 ff.; aktuell Virtua Tennis 3, 2007) warten nicht
nur mit beinahe fotorealistischen Bildern und adäquater akustischer Atmo-
sphäre auf. Der Nutzer kann zudem in die Rolle bekannter Stars schlüpfen,
wie inzwischen vielfach im Sport-Genre. Es gibt aber auch eine umgekehrte
Entwicklung: Statt so nahe wie möglich an die Realität heranzukommen,
versucht man sie zu übersteigen. Im Subgenre der ›Future Sports‹ ist es zum
Beispiel möglich, ein Autorennen mit 600 Kilometer schnellen Schwebeglei-
tern auf abenteuerlichen Achterbahnkursen zu fahren. Oder man überführt
die Sportszenarien in bunte Spielzeugwelten, wie beispielsweise in einigen
von Lego vertriebenen Spielen (z. B. Lego Racers 2001).
Auch das historisch zweite Videospiel verdankt seine Entstehung einem
Demonstrationsbedürfnis. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT)
hatte 1960 einen Digitalrechner der Firma DEC geschenkt bekommen, der
als erster Personal Computer gelten kann – freilich noch in der Größe eines
breiten Kleiderschranks. Junge Mitarbeiter stellten sich selbst die Aufgabe,
die Leistungsfähigkeit des neuen Geräts mit Hilfe eines Computerspiels zu
veranschaulichen. Das gelang im Februar 1962 Steve Russell mit Spacewar!.
Genre Shoot ’em up Die Spielgeschichte hatte ihren Hintergrund einerseits im Kalten Krieg der
Großmächte USA und UdSSR, andererseits im Interesse der Programmierer
an Science Fiction: Jeder Spieler steuerte auf dem Bildschirm ein unterschied-
lich stilisiertes Raumschiff und versuchte über ein simuliertes Gravitations-
Computer- und Videospiele 487

feld hinweg den Gegner unter Beschuss zu nehmen. Das Spielprinzip (game-
play) ähnelt dem von Tennis for Two, denn es handelt sich auch hier um einen
Wettkampf für zwei Personen mit einem Computer als Spielmaterial. Anders
als das erste Videospiel fand aber Spacewar! eine größere Verbreitung. Der
Technikmythos erzählt: Die Studienzeiten vieler Studenten an US-amerika-
nischen Universitäten seien sprunghaft in die Höhe geschnellt, weil sie mehr
Zeit mit Spacewar! als mit ihrem Studium verbrachten. Fest steht, dass
Spaceware! die Idee des Computerspiels in die Köpfe zahlreicher junger
Leute pflanzte, eben jener Generation, die in den kommenden Jahren die
kommerzielle Fortentwicklung der Computerspiele entscheidend prägen
sollte, als Produzenten wie als Konsumenten. Auch hatte mit Spacewar! ein
weiteres Genre das Licht der Monitore erblickt: das Ballerspiel oder ›Shoot
’em up‹.
Phase II kann als die TV-Konsolen- und Arcade-Zeit überschrieben wer- Phase II: Konsolen-
den und markiert den Übergang zur Kommerzialisierung des Computerspiels und Arcadespiele
(1972 – ca. 1985). Bereits im Jahr 1966 entwarf der Fernsehtechniker Ralph
Baer zusammen mit anderen Mitarbeitern den Prototyp eines Spielgeräts für
den heimischen Fernseher und erfand dafür in den Folgejahren mehrere Spiel-
ideen, darunter Sportspiele nach Art des Tennis for Two. Als äußerst schwie-
rig erwiesen sich dabei nicht die technischen Probleme, sondern die der Ver-
marktung. Erst 1972 kam mit Odyssee tatsächlich die erste TV-Konsole auf
den Markt. Angenommen wurde sie von diesem aber nur mäßig, was am re-
lativ hohen Preis und recht bescheidenen Grafikeigenschaften gelegen haben
mag.
Der Erste, der mit Videospielen kommerziell erfolgreich war, ist Nolan
Bushnell. Bushnell gehörte zu jenen Studenten, die an Universitätsrechnern
enthusiastisch Spacewar! gespielt hatten. 1971 adaptierte er das Spiel unter
dem Namen Computer Space technisch so, dass daraus ein Münzspielauto-
mat für Spielhallen (amerikanisch ›arcade‹) entstand. Nachdem Computer
Space dem Hersteller nicht den erhofften Gewinn brachte, gründete Bushnell
mit anderen Ingenieuren 1972 seine eigene Firma Atari (nach einer bestimm- Computer Space
ten Stellung im asiatischen Go-Spiel). Ataris erstes Gerät hieß Pong und war
sofort ein großer Renner in den Spielhallen. Es glich nicht nur dem ersten
Videospiel Tennis for Two, sondern zeigte vor allem deutliche Parallelen zu Erstes erfolgreiches
einem der Spiele, die Ralph Baer für die Odyssee-Konsole entwickelt hatte Arcadespiel: »Pong«
(wodurch sich Atari auch gleich einen Prozess einhandelte). Der beispiellose
Erfolg von Ataris Spielautomat rief zahlreiche Trittbrettfahrer auf den Plan,
so dass 1974 in praktisch jeder US-amerikanischen Kneipe oder Spielhalle
ein Gerät mit einer Variante des Teletennis stand. Auch in Japan, wo Spiel-
hallen traditionell ein großes Publikum anziehen, begann man Arcade-Games
zu produzieren. Schon 1973 entwickelte die Firma Taito mehrere Videospiele,
darunter auch einen Pong-Klon. Ähnliche Akzeptanz wie Pong fanden in den
folgenden Jahren z. B. Tank, ein ›Shoot ’em up‹ für zwei Spieler (Atari/Kee
Games 1974), oder die Rennsimulation Night Driver (Atari 1976), die als
erstes Videospiel eine ›First-Person‹-Perspektive bot: Der Spieler sah den
Streckenverlauf ähnlich, wie der Fahrer im Cockpit eines Autos. Ein weiterer
Klassiker, der bis heute in verschiedenen Versionen gespielt wird, ist Break-
out aus dem Jahr 1976. Das Ein-Personenspiel verlangt vom Spieler, mit
Hilfe eines Schlägers und eines Balls eine virtuelle Mauer abzubauen. Pro-
grammiert wurde Breakout für Atari von Steve Jobs und Steve Wozniak, die »Breakout« und
ein Jahr später Apple-Computer gründeten. Sensationellen Erfolg hatte Taito »Space Invaders«
1978 mit dem Weltraum-Ballerspiel Space Invaders, entwickelt von Toshi-
hiro Nishikado. Sich gegen angreifende Aliens mit einer mobilen Laserka-
488 Medien und Medienverbund

none zu verteidigen, faszinierte weltweit mehr Spieler als die im gleichen Jahr
erstmals produzierten Automaten mit Vektor-Grafik (Space Wars, Cine-
matronics), die einen dreidimensionalen Raum simuliert. Seit Anfang 2000
dekoriert ein bislang unbekannter Künstler unter dem Pseudonym »Invader«
Pariser Gebäude mit kleinen Mosaiken, die Figuren aus dem Spiel zeigen.
Seine subversiven Stadtmarkierungen gelten heute als wichtige touristische
Anziehungspunkte der Metropole, was nicht zuletzt die popkulturelle Bedeu-
tung von Videospielen im Allgemeinen und Space Invaders im Besonderen
demonstriert. Computerspielgeschichte schrieb zu Beginn der 80er Jahre
auch Pac-Man (Namco/Bally/Midway 1980), das der Japaner Toru Iwatani
»Pac-Man« erfunden hatte. Pac-Man ist eine kleine gelbe Scheibe, die auf ihrem Weg
durch ein Labyrinth unaufhörlich Punkte und Früchte frisst, immer auf der
Flucht vor ein paar stilisierten Monstern, die ihm nach dem Leben trachten.
Pac-Man gilt als die erste Videospielfigur mit Kultcharakter; das Nachrich-
tenmagazin Times wählte sie 1981 sogar zum »Mann des Jahres« und bis
heute werden Varianten für die verschiedensten Spielsysteme programmiert.
Auf ein ähnlich langes Leben kann bislang nur eine weitere Figur zurückbli-
cken, die 1983 die Spielhallen eroberte: der italienische Klempner Mario.
Sein erstes Abenteuer musste Mario gegen den dummen Affen Donkey Kong
(so auch der Name des ersten Automaten) bestehen, der eine Prinzessin auf
ein Baugerüst entführt hatte. Um sie zu befreien, musste der Spieler die Figur
Mario das Baugerüst hinaufklettern lassen, wobei eventuell fehlende Gerüst-
teile übersprungen wurden. Donkey Kong machte Mario (und dem Spieler)
zusätzlich das Leben schwer, indem er von oben alle möglichen Gegenstände
hinunterwarf. Ihnen konnte Mario ausweichen, sie überspringen oder es ge-
Donkey Kong lang ihm, die Gegenstände zu vernichten, wozu ihm verschiedene, auf dem
Gerüst einzusammelnde Werkzeuge dienten. Mit Donkey Kong etablierte
sein Erfinder Shigeru Miyamoto ein weiteres Genre unter den Computerspie-
len, das vor allem jüngere Spieler nach wie vor fasziniert: die ›Jump ’n Runs‹,
Genre Jump ’n Run so benannt nach den beiden wichtigsten Bewegungen der Spielfigur. ›Jump ’n
Runs‹ sind heute zumeist das erste Genre, mit dem schon 6-Jährige in die
Welt der Computerspiele einsteigen. Und groß gemacht hat es einen der
wichtigsten Global Player im Computerspielgeschäft, die japanische Firma
Nintendo, für die Donkey Kong programmiert wurde. Mit den ›Jump ’n
Runs‹ endeten im Wesentlichen die Ideen, die für Automatenspiele entwickelt
worden sind. Ein Subgenre wie die ›Beat ’em ups‹, das vom Spieler erfordert,
in der Rolle eines Kampfsportlers gegen mensch- oder computergesteuerte
Gegner anzutreten, kann als Variante der Sportspiele und der ›Shoot ’em ups‹
charakterisiert werden (Street Fighter, Capcom 1987 und zahlreiche Nach-
folger; Mortal Combat, Midway 1992 und zahlreiche Nachfolger). In
Deutschland prangerten Jugendschützer bei vielen Spielen des Genres an,
dass sie die Anwendung von Gewalt verharmlosen würden. Nicht wenige
Titel wurden in den 90er Jahren indiziert, manche sogar gänzlich beschlag-
nahmt (Mortal Combat II, 1993).
Spektakuläre Neuerungen fanden die Hersteller der Arcades vor allem in
Veränderungen der Peripherie, die immer aufwändiger gestaltet wurde.
Schießstände, Flugzeugcockpits oder ganze Motorräder umgaben und umge-
ben die Monitore der Automaten. Eine weitere Steigerung des Immersionsge-
Cyberspace-Spiele fühls erhofften sich die Entwickler Anfang der 90er Jahre mit Cyberspace-
Ausrüstungen. Der Spieler setzte sich einen Datenhelm auf, in dem kleine
Flachbildschirme ein stereoskopisches Bild erzeugten. Zudem registrierte der
Helm jede Kopfbewegung, so dass man den Eindruck bekommen konnte,
sich in einem virtuellen Raum zu befinden. Agiert wurde im Cyberspace mit
Computer- und Videospiele 489

einem Datenhandschuh (data glove), und es wurde schon von ganzen Daten-
anzügen geträumt, die in wenigen Jahren zur Verfügung stünden. Geblieben
davon ist nichts. Absehen davon, dass sich die Cyberspace-Geräte als sehr
teuer und störanfällig erwiesen, Soft- und Hardware noch weit davon ent-
fernt waren, einigermaßen realistische Bilder zu erzeugen − die Idee, voll-
kommen in einen künstlichen Raum integriert zu sein, traf offenbar nicht das
Bedürfnis der Nutzer.
Dass die Computerspiele Anfang der 70er Jahre von den Universitätsrech-
nern in die Arcades umzogen, hatte in mehrfacher Hinsicht erhebliche Fol-
gen. Das Spielhallenpublikum bestand und besteht in den USA überwiegend
aus Jugendlichen und kleinen Angestellten; für Europa kommt noch ein
Halbwelt-Image hinzu, das den Spielstätten anhaftet. Dies brachte den Video-
spielen den Ruf ein, ein billiges, ästhetisch minderwertiges und pädagogisch
zweifelhaftes Vergnügen zu sein. In dieser Hinsicht ähnelt die Geschichte der
Computer- und Videospiele der des Spielfilms in seinen Gründerjahren. Um
breitere Bevölkerungsschichten für das Computerspiel zu gewinnen, begann
man sehr bald, Ralph Baers Idee der Videospielkonsole für den heimischen
Fernseher wieder aufzugreifen (z. B. Home Pong, Atari 1974/1975). Eine
einschneidende Innovation brachte die Verwendung von Mikroprozessoren,
denn so ausgestattete Geräte konnten immer wieder mit neuen Spielen be-
stückt werden, deren Programm auf kleinen ROM-Steckmodulen, sogenann-
ten Cartridges, gespeichert war (z. B. Video Computer System, VCS, Atari
1977). Dieses Konstruktionsprinzip verwenden die Videospielkonsolen noch Videokonsolen
heute, wenn auch die meisten Hersteller inzwischen auf CD-Roms oder mit Modulen
DVDs als Speichermedium zurückgreifen. Die ersten Konsolen waren den
Arcade-Games technisch weit unterlegen, vor allem was ihre Bildästhetik
betraf. Für die Geschichte der Kinder- und Jugendmedien sind sie trotzdem
von herausragender Bedeutung, weil mit dem Einzug der Videospiele in die
Wohnzimmer erstmals Kinder Zugriff auf Computerspiele bekamen und das
neue Medium begeistert aufnahmen. Arcade-Games sind auf ein schnelles
Vergnügen hin konzipiert: Jedes Spiel dauert nur wenige Minuten, dann
muss der Nutzer neue Münzen einwerfen. Komplexe Spielverläufe sind folg-
lich von den Herstellern gar nicht intendiert und wären auch von den Spie-
lern nicht akzeptiert worden. Mit einem Konsolenspiel kann man sich hinge-
gen sehr viel länger beschäftigen. Weil aber die ersten Konsolenspiele lediglich
Arcade-Konzepte übernahmen, wurde dieses Potenzial für neue Spielideen
anfangs nicht genutzt. Die entscheidenden Impulse dafür kamen wiederum
aus den Universitäten: So existierten Mitte der 70er Jahre auf vielen Groß-
rechnern Versionen des Spiels Hammurabi, dessen Ziel es ist als Herrscher
eines imaginären mesopotamischen Königreiches geschickte Wirtschaftspoli-
tik zu betreiben. Hammurabi ist der Prototyp der Simulationen komplexer Genre Simulation
Systeme, dessen bekannteste Vertreter heute die Städteplaner-Simulation
SimCity (Will Wright, Maxis 1990; Varianten bis heute), die Wirtschaftssi-
mulation Anno 1603 (Maxdesign, Sunflowers 1998; Varianten bis heute)
und die vor allem bei Frauen beliebte Sozialsimulation Die Sims (Maxis,
Electronic Arts 2000; Varianten bis heute) sein dürften. Noch bedeutender
für die Geschichte der Computerspiele sind aber in den 70er Jahren zwei
andere Programme gewesen. Anfang des Jahrzehnts war ein neuer Typ von
Gesellschaftsspiel entstanden, der insbesondere viele Studenten begeisterte:
das Paper-and-Pencil-Rollenspiel (z. B. Dungeons & Dragons, 1974). Die Genre Rollenspiel
Spieler schlüpfen in die Rollen verschiedener Figuren einer Fantasy-Welt,
deren Charakter nach einem bestimmten Regelwerk zusammengesetzt wird.
Charaktereigenschaften können beispielsweise Mut, Intelligenz, Stärke oder
490 Medien und Medienverbund

magische Fähigkeiten sein, deren jeweilige Ausprägung in einem Zahlenwert


festgehalten wird. Anschließend führt der Spielleiter (dungeonmaster) die
Gruppe mit Hilfe seiner Fantasie oder vorgegebener Texte auf eine abenteu-
erliche Reise, in deren Verlauf sie viele Aufgaben (quests) erfüllen muss. Im-
mer wieder gibt es dabei Konfliktsituationen, die mit Hilfe von Würfeln ent-
schieden werden. Art und Höhe der Charaktereigenschaften machen es dabei
wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, ob ein Spieler einen bestimmten
Konflikt für sich entscheiden kann. Es lag nahe, das Bilden der Charaktere
und die zufallsgesteuerten Kampfentscheidungen mit Hilfe des Computers
vorzunehmen. Als eines der ersten Programme dieser Art gilt DnD (Dun-
geons and Dragons), Mitte der 70er an der Southern Illinois University ent-
standen. Von Rollenspielen beeinflusst waren nachweislich auch Will Crow-
ther und Don Woods, die zwischen 1972 und 1976 ein Programm namens
Genre Adventure Adventure geschrieben haben und damit das gleichnamige Genre begründe-
ten. Der Spieler liest am Bildschirm eine Geschichte, deren Fortgang von
seinen Entscheidungen abhängt. Er kann mit Hilfe natürlich-sprachlicher
Tastatureingaben Räumlichkeiten erkunden, Dialoge führen sowie Gegen-
stände sammeln und auf verschiedene Weise einsetzen. Typisch ist etwa die
Schlüssel-Situation: Der Spieler steht vor einer verschlossenen Türe. Er muss
in einem anderen Raum den passenden Schlüssel finden, ihn zu seinen ande-
ren Fundstücken stecken (inventory) und zur Türe bringen, die er damit dann
öffnen kann. Ziel des Spieles ist es, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen, deren
Inhalt sich häufig erst nach und nach vollständig erschließt. Im Gegensatz zu
den Arcade-Games verlangte Adventure große Ausdauer, denn bis zur end-
gültigen Lösung benötigte ein durchschnittlicher Spieler viele Stunden. Damit
man diese nicht am Stück vor dem Großcomputer verbringen musste, konn-
ten Zwischenstände gespeichert werden, eine Neuerung mit nachhaltiger
Bedeutung für die konzeptuelle Fortentwicklung der Computerspiele über-
haupt. 1978 erschien für die Atari-Konsole VCS ein ähnliches Spiel mit
demselben Namen, dessen Welt aber nicht mehr textbasiert, sondern grafisch
repräsentiert war. Die große Zeit der Adventure- und Rollenspiele fällt aber
erst in die nächsten Phasen der Computerspiele.
Phase III: Home- und Phase III (1976–ca. 1995) wird durch eine weitere technische Neuerung,
Personalcomputer nämlich die Entwicklung der Home- und Personalcomputer markiert. Einge-
leitet wurde sie 1976 durch den Apple I-Heimcomputer, gefolgt von weiteren
ähnlichen Produkten wie den Personal Electronic Transactor (PET) von
Commodore (1977). IBM brachte dann 1981 den ersten PC auf den Markt,
dessen Einsatzort weniger das Wohnzimmer, sondern die Büros kleiner und
mittlerer Unternehmen sein sollte. Völlig unabhängig von ihrem intendierten
Verwendungszweck wurden alle diese Modelle auch zum Spielen verwendet.
»Flight Simulator« Legendär ist etwa Microsofts Flight Simulator (ab 1982), dessen erstaunliche
Realitätsnähe – neuere Versionen wurden und werden für das Pilotentraining
eingesetzt – zahlreiche Büroangestellte dazu verführte, ihre PCs arbeitsfremd
zu nutzen. Die Geschichte kommerzieller (Text-)Adventure-Games beginnt
mit Zork, das eine Gruppe von Studenten 1977 in Anlehnung an Adventure
geschrieben hatte. Nach ihrem Hochschulabschluss gründeten sie die Firma
Infocom und programmierten Zork so um, dass es auf Personalcomputern
verschiedener Marken laufen konnte. Für einige Jahre bildete Infocom in
gewisser Weise die Avantgarde der Computerspielhersteller, vermarktete sie
doch ihre Text-Adventure unter dem nobilitierenden Begriff der Interactive
Fiction. 1980 kam auch eines der ersten computerbasierten Rollenspiele mit
Grafikausgabe für den Apple II auf den Markt: Ultima (Richard Garriott;
Californian Pacific, Origin). Der Erfolg dieses Spiels sorgte für zahlreiche
Computer- und Videospiele 491

Kinder am Commodore
C64

Fortsetzungen; die Reihe wurde erst 1999 abgeschlossen. Eine Schwäche der
frühen Personalcomputer waren ihre sehr eingeschränkten Grafikmöglich-
keiten; als Ausgabemedium dienten meist nur Monochrom-Monitore. Für
Textadventures spielte das keine Rolle, wohl aber für alle Spiele in der Ar-
cade-Tradition. In diese Lücke stieß 1981 Commodore mit dem Homecom-
puter VIC 20 und vor allem mit dem Nachfolgemodell C64 (1982). Wie die Commodores
Spielkonsolen nutzten Commodores Computer für die Massen den Fernseher Computer
und waren in der Lage, Farbgrafiken wiederzugeben. Als frei programmier-
bare Rechner konnte man damit zwar theoretisch alle möglichen Software-
produkte laufen lassen – z. B. Textverarbeitung und Lernsoftware –, de facto
wurden sie aber hauptsächlich zum Spielen verwendet, zumal auch ein
Schacht für Cartridges vorhanden war. Innerhalb weniger Monate waren
alle bekannten Arcade-Spiele für den C64 von kommerziellen oder privaten
Programmierern nachgebaut worden. Dies führte 1982/83 zu einem Rekord-
verlust bei den Herstellern von Videospielkonsolen und trieb zahlreiche
Spielhallen mangels Kundschaft in den Ruin (›The Great Video Game
Crash‹).
Die pädagogische Diskussion um die Gefahren der Computerspiele hängt Pädagogische
eng mit Commodores Volkscomputern zusammen: Da gab es (und gibt es bis Diskussion
heute) das Problem der Raubkopien, denn mit Hilfe spezieller Peripherie
(Datasette, Diskettenlaufwerk) konnte man leicht Spiele vervielfältigen. Ab- Raubkopien
wehrmaßnahmen der Hersteller fruchteten nichts, denn Kopierschutzein-
richtungen wurden von findigen Tüftlern innerhalb weniger Wochen außer
Kraft gesetzt (gecrackt). So setzte auf den Schulhöfen ein schwunghafter,
aber illegaler Tauschhandel mit Computerspielen ein, der kaum unter Kon-
trolle zu bekommen war (und ist). Zum Zweiten waren keineswegs alle
Spiele von so harmloser Natur wie Pac-Man. Prügelspiele vom Typ Mortal Indizierung wegen
Combat, ›Shoot ’em ups‹ mit realistischem Kriegshintergrund und Spiele se- Gewaltverherrlichung
xuellen Inhalts gab es auch für den Kinder- und Jugendzimmercomputer von
Commodore. Zwar etablierte sich schnell eine rege Indizierungspraxis (die
492 Medien und Medienverbund

man vom heutigen Standpunkt her als überzogen einstufen muss), die Ver-
breitung der Spiele konnte damit allerdings nicht eingedämmt werden, im
Gegenteil: Gerade solche Spiele zu kopieren und im Freundeskreis zu vertei-
len, hatte für nicht wenige Jugendliche einen besonderen Reiz. Und schließ-
lich nutzten rechtsradikale Kräfte das neue, attraktive Medium, um via
Computerspiel ihre krude und menschenverachtende Weltanschauung zu
Nazi-Ware verbreiten. Anti-Türkentest, Hitler Diktator oder Clean Germany waren Ti-
tel, die für den C64 programmiert worden waren. Empirische Erhebungen
zeigten, dass diese Spiele tatsächlich vielen Jugendlichen bekannt waren. Ihre
Akzeptanz war gleichwohl äußerst gering, was nicht zuletzt damit zusam-
menhing, dass sie den gestiegenen Ansprüchen an ein interessantes Compu-
terspiel nicht genügen konnten. Spiele aus Kreisen der Neonazis sind heute
kaum mehr präsent. Nicht selten wurden und werden aber Spiele in Deutsch-
land indiziert, weil sie nationalsozialistische Symbole verwenden, obwohl
der Spielinhalt eindeutig gegen den Nationalsozialismus gerichtet ist. Diese
Praxis führt im Ausland häufig zu Kopfschütteln, zumal man es in den angel-
sächsischen Ländern gewohnt ist, nationalsozialistische Medienfiguren als
typisierte Inkarnation des Bösen zu betrachten.
Fortschritte bei den Spielideen waren vor allem im Bereich der Denk-,
Strategie- und Adventure-Games zu verzeichnen. Die wesentliche Neuerung
unter den Adventure-Games bestand in der konsequenten Weiterentwicklung
der Grafikadventures, deren Interface nicht mehr in Texteingaben, sondern
in anzuklickenden Symbolen und direkter Steuerung einer oder mehrerer
Spielfiguren bestand (Point-and-Click-Prinzip). Prototyp dafür war das Co-
mic-Abenteuer Maniac Mansion (Ron Gilbert; Lucasfilm Games, heute Lu-
casArts, 1987), dessen zweiter Teil 1993 unter dem Titel Day of the Tentacle
erschien. Weitere erfolgreiche Reihen, die alle bis Ende der 90er Jahre fortge-
führt wurden, sind Space Quest, Police Quest und Kings Quest. Wie schon
an den Titeln ersichtlich, orientierte man sich bei den Adventures inhaltlich
an Film- und Literaturgenres, was die Nähe der Adventures zum traditio-
nellen Erzählen zeigt.
Strategiespiele ähneln Brettspielen vom Typ Risiko (Albert Lamorisse,
Hasbro, 1957) und repräsentieren wie diese vielfach kriegerische Auseinan-
dersetzungen, die man als geschickter Feldherr zu bestehen hat (z. B. Empire,
Mark Baldwin, Interstel 1987; Battle Isle, Blue Byte 1991; Dune 2, West-
Genre Strategiespiel wood 1993, das erste Echtzeit-Strategiespiel; Command & Conquer, West-
wood 1995). Unter den Subgenres ist vor allem die ›Göttersimulation‹ her-
vorzuheben, bei der der Spieler gottgleich Welten neu zu erschaffen und gegen
das Böse zu verteidigen hat (Prototyp Popolous von Peter Molyneux, Bulfrog
1989; aktuell Black and White II, Lionhead Studios 2005). Zu den erfolg-
reichsten Computerspielen überhaupt gehört Sid Meiers Civilization (Micro-
prose 1991 ff.), ein Globalstrategiespiel, bei dem ein Volk wissenschaftlich,
kulturell, ökonomisch, diplomatisch und militärisch von der Steinzeit bis in
die Zukunft geführt werden soll.
Ab Mitte der 80er entstanden einige Klassiker, deren Spielprinzip den
Puzzles ähnelt und die bis heute in Variationen gespielt werden (z. B. Soko-
ban, Hiroyuki Imabayashi, Spectrum Holobyte 1982). Das bekannteste
Computerspiel der Welt, auf allen Plattformen zu Hause, dürfte Tetris sein,
das 1985 von dem russischen Wissenschaftler Alexej Padschitnow erfunden
wurde. Der Spieler muss dabei herunterfallende Puzzleteile blitzschnell so
drehen und dirigieren, dass im Auffangbehälter geschlossene waagrechte
Reihen entstehen. Ab 1991 bis heute können sich Computerspieler daran
Tetris versuchen, möglichst viele Lemminge vor dem sicheren Verderben zu retten
Computer- und Videospiele 493

– durch wohl überlegte Baumaßnahmen und gegebenenfalls auch gelegent-


liche Opferung eines (virtuellen) Tieres (Lemmings, Psygnosis). Aus allen
möglichen Gegenständen seltsame Maschinen zu bauen, die anschließend
eine vorgegebene Aufgabe zu erfüllen hatten, war das Spielziel von The In-
credible Machine (Sierra 1993). All diesen Vertretern des Genres ›Denkspiel‹
sind zwei Dinge gemeinsam: Sie kommen ohne jegliche Gewalt aus und de-
monstrieren anschaulich, dass nicht das Medium problematisch sein kann,
sondern stets nur die Inhalte, die damit transportiert werden. Heftige Kon-
troversen in Öffentlichkeit und Wissenschaft löste ein neues Genre aus, für
das die kalifornische Firma ID-Software verantwortlich zeichnete: die ›First Wolfenstein-3D
Person Ego Shooter‹. In Spielen wie Wolfenstein – 3D (1992) und dem noch
erfolgreicheren Nachfolger Doom (1993) geht es im Wesentlichen darum,
sich aus einer bedrohlichen Umgebung herauszuschießen. Bei Wolfenstein ist
das eine Naziburg, bewohnt von zahlreichen deutschen Soldaten und Adolf
Hitler höchstpersönlich. Doom spielt auf einem fremden Planeten, der von Genre Ego Shooter
grässlichen Höllengeschöpfen besiedelt ist. In beiden Spielen kommt der
Spieler nur durch brutale Gewaltanwendung, die mit viel Pixelblut inszeniert
wird, zum Ziel. Eine sensationelle 3D-Grafik mit konsequent subjektiver
Kameraführung sorgte für eine bis dato nicht gekannte Immersion ins Spiel-
geschehen. Es ist kein Zufall, dass die Gründung der USK (Unterhaltungs-
software Selbstkontrolle) 1994 mit dem Auftreten der ersten ›Ego Shooter‹
zusammenfällt. Der gesellschaftliche Druck auf die Spielindustrie war so Gründung der USK
groß geworden, dass man freiwillig ein System der Altersbeschränkungen
etablierte, wie es für Spielfilme bereits seit 1949 besteht (FSK, Freiwillige
Selbstkontrolle der Filmwirtschaft). Das verhinderte freilich nicht, dass die
Diskussion um die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch Spiele
wie Duke Nukem 3D (3D Realms, Apogee 1996), Quake (ID-Software
1996) oder Half Life (Valve Software, Sierra 1998) sowie seiner Mehrspieler-
Variante Counterstrike (Valve, Sierra 2001) anhielt. Sowohl die jugendlichen
Täter des Schulmassakers von Littleton (1999) als auch die Amokläufer des
Erfurter Gutenberg-Gymnasiums (2002) und der Geschwister-Scholl-Real-
schule in Emsdetten (2006) gehörten zu den begeisterten Nutzern von ›Ego
Shootern‹. In der Medienwissenschaft wird ein Einfluss solcher Spiele auf
labile Persönlichkeiten nicht bestritten, wohl aber ein direkter Wirkungszu-
sammenhang.
Dass ›Ego Shooter‹ zuerst für PCs entwickelt wurden, markiert den Auf-
stieg der Büromaschinen zu vollwertigen Spielgeräten, die jetzt dank spezi-
eller Hardware (Grafik- und Soundkarten) mit den Konsolen konkurrieren Entwicklung bei
konnten. Gleichwohl waren auch dort in Phase III bedeutsame Fortschritte den Konsolen
zu verzeichnen: 1985/86 kamen mit dem Nintendo Entertainment System
(NES) und dem Sega-Master-System zwei Konsolen auf den Markt, die in
ihrer Leistungsfähigkeit mit teuren Arcade-Maschinen mithalten konnten
und auch lange Zeit PCs in den Schatten stellten. 1995 trat mit Sony’s Play-
station ein drittes konkurrierendes System hinzu, während andere Home-
computer- und Konsolenhersteller wie Atari (letzte Konsole Atari Jaguar
1993) und Commodore (Auflösung 1994) den Kampf um die Kundschaft
aufgeben mussten. Für die Medienkultur der Kinder und Jugendlichen ein-
flussreicher war aber die Entwicklung der sogenannten Handhelds. Nintendo Game Boy
hatte bereits Anfang der 80er Jahre kleine Spiele zum Mitnehmen herausge-
bracht, die einen LCD-Bildschirm als Ausgabemedium verwendeten (Serie
Game & Watch). Diese Card Games waren durchaus beliebt, vor allem bei
einem jüngeren Publikum, hatten aber einen entscheidenden Nachteil: Wem
das Spiel langweilig geworden war, der musste ein komplett neues Gerät
494 Medien und Medienverbund

kaufen. Nintendo kombinierte nun die Idee der Card-Games mit der der
Konsolen – und heraus kam 1989 der erste Game Boy. Ausgeliefert wurde
das Gerät mit Tetris auf einer Minicartridge, was wohl das Klötzchenpuzzle
zum meist verbreiteten Computerspiel machte. Der Game Boy brachte Com-
puterspiele endgültig in die Kinderzimmer, so dass heute eine Mediensoziali-
sation ohne sie kaum mehr denkbar erscheint. Unter den Genres sind es vor
allem ›Jump ’n Runs‹ vom Typ Super Mario World und Action-Spiele, die auf
den Handhelds dominieren. Die Vielfalt der Spiele führte in Phase III zu zahl-
reichen Zeitschriftengründungen, die als Metamedien ihren Lesern Orientie-
Zeitschriften rung bieten wollen. Bis heute gibt es in Deutschland etwa 25 Computerspiel-
magazine, wobei auch die Tagespresse mittlerweile in regelmäßigen Abstän-
den über Neuheiten berichtet.
Phase IV: Online- Phase IV in der Entwicklung der Computerspiele schließlich ist durch die
Spiele weltweite und massenhafte Verbreitung von Online-Anschlüssen gekenn-
zeichnet. Im Jahr 2006 hatten Haushalte mit Kindern zwischen 6 und 13
Game Boy Jahren zu über 75 %, mit Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren sogar zu
über 90 % einen Internetzugang. Das erste Online-Spiel wurde schon 1979
an der britischen Universität Essex programmiert und begründete das gleich-
Phase IV namige Genre ›MUD‹ (›Multi-User-Dugeon‹). Es handelt sich um textbasierte
Adventure- und Roleplaying Games, in denen sich mehrere Spieler gleichzei-
tig bewegen können. Neben dem Lösen von Rätseln (quests) liegt der Reiz
solcher Spiele vor allem in der Kommunikation mit Anderen. Ein virtuelles
Alter Ego, nach einem Science Fiction Roman des Amerikaners Neal Ste-
phenson (Snow Crash, 1992) als ›Avatar‹ bezeichnet, muss nicht das gleiche
Geschlecht haben wie das des menschlichen Puppenspielers, was virtuelles
Gender Switching möglich macht. Neben Avataren bevölkern die ›MUD‹s
auch programmierte Figuren (Nicht-Spieler-Figur, NSF), die freilich leicht an
ihrem Gesprächsverhalten zu erkennen sind. Mit Avataren kann man nicht
nur analog zu den Chats plaudern, viele Spiele erfordern sogar Zusammen-
MMORPG schlüsse mehrerer Spieler (Gruppe, Gilden), um sie erfolgreich zu bewältigen.
Die Universitäten verließen ›MUD‹s in der zweiten Hälfte der 90er Jahre, als
sie zu den graphisch unterstützten ›MMORPG‹s (›Massive Multiplayer On-
line Roleplaying Games‹) weiterentwickelt wurden. Das erste kommerziell
erfolgreiche ›MMORPG‹ ist Ultima Online (Origin 1997), gefolgt von Ever-
Quest (Verant Interactive 1999), Final Fantasy XI (Squaresoft 2002) und vor
allem World of Warcraft (Blizzard Entertainment 2005), die weltweit meh-
rere Millionen Spieler beschäftigen. Online gespielt werden auch Strategie-
spiele vom Typ StarCraft (Blizzard Entertainment 1998) und Actionspiele
wie das schon erwähnte Counterstrike. Eine Besonderheit sind seit Mitte der
LAN-Party 90er Jahre die sogenannten LAN-Partys, bei denen Jugendliche und junge
Erwachsene ihre Rechner zu einem lokalen Netz (Local Area Network) ver-
binden, um solche Spiele gegen- und miteinander in einer geschlossenen
Nutzergruppe zu spielen. Die Größe solcher Veranstaltungen reicht von der
privaten Kellerparty bis zum kommerziellen LAN-Event für mehrere tausend
›E-Sportler‹, die in Mannschaften (Clans) an einem Wochenende um Ruhm,
Ehre und Siegprämien kämpfen.
In Phase IV wurden auch die Spielkonsolen ständig weiterentwickelt (Nin-
tendo 64, 1996; Game Cube, 2001; Wii 2006; Sony Playstation 2, 2000;
Fortentwicklung Playstation 3, 2007). Dem größer werdenden Konkurrenzdruck zeigte sich
der Konsolen SEGA mit der letzten Konsole Dreamcast (1998) nicht gewachsen und stieg
2001 aus dem Konsolengeschäft aus. Dafür eroberte Microsoft mit der neuen
X-Box im gleichen Jahr wichtige Marktanteile. Technisch nähern sich die
Konsolen mehr und mehr vollwertigen Computern, auch im Preis. Nintendo
Fazit 495

konzentriert sich auf die Zielgruppe der jungen Spieler und Spielerinnen,
weshalb die Konsolen verhältnismäßig günstig verkauft werden. Sony und
Microsoft setzen dagegen auf ein eher erwachsenes Publikum und verlangen
für ihre aktuellen Konsolen in etwa soviel wie für einen Einsteiger-PC. Alle
derzeitigen Konsolen sind online-fähig; auf X-Box und Playstation kann man
zusätzlich auch Video-DVDs abspielen. Dementsprechend gibt es für Konso-
len nun auch alle Genres, die ehedem eher PC-spezifisch waren, wie etwa
Rollenspiele, Adventure-Games oder Strategiespiele. Als eine neue konsolen-
spezifische Innovation kann die Reihe EyeToy (für Playstation) hervorgeho-
ben werden, bei der der Spieler vor einer kleinen Kamera agiert und bei-
spielsweise pantomimisch Tischtennis gegen einen virtuellen Kontrahenten
auf dem Fernsehschirm spielen kann. Diese Idee übernahm Nintendo für die
Konstruktion der Wii-Konsole (2006): Die Steuerung der Spiele über Kör-
perbewegungen, abgetastet mit Infrarot-Strahlen, ist hier tragendes Prinzip.
Nintendo versucht damit eine konsoleneigene Spielästhetik zu entwickeln,
die sich von PC-Spielen absetzt. Technisch weiterentwickelt wurden auch die
Handhelds: Nintendo brachte nach Game Boy-Versionen mit Farb-LCD
(Game Boy-Color, 1998; Game Boy Advance, 2001) ein neuartiges Gerät mit
Doppel-Bildschirm auf den Markt, wobei einer der Bildschirme als Touch-
screen funktioniert. (Nintendo DS, 2004; DS-lite, 2006). Außerdem besitzt
die Taschenkonsole eine Online-Schnittstelle, so dass mehrere Spieler draht-
los miteinander agieren können, auch über das Internet. Insbesondere der
Touchscreen sorgte für neuartige Spielideen. Vor allem bei Mädchen beliebt
war etwa Nintendogs (2005), bei dem sich die Spielerin um einen virtuellen
Hund kümmern muss, der z. B. über den Touchscreen gestreichelt werden
will. Das Spiel erinnert von der Konzeption an Tamagotchi von Aki Maita, »Tamagotchi«
ein überaus erfolgreiches japanisches Card-Game zur Aufzucht eines virtu-
ellen Lebewesens, das in zwei Wellen die Schulranzen eroberte (Bandai 1996,
2004 ff). Mit Sonys Playstation Portable (PSP) hat Nintendo seit 2004 erst-
mals ernsthafte Konkurrenz auf dem Gebiet der Handhelds bekommen. Da-
bei wartet die PSP vor allem mit Multimediafähigkeiten auf, z. B. mit der
Option, Spielfilme auf der Kleinkonsole anzusehen. Erwähnenswert ist
schließlich noch der wachsende Markt der Handy Games (Mobile Gaming). Mobile Gaming
Einfache Spiele wie etwa Tetris wurden und werden vielfach von den Her-
stellern fest installiert. Inzwischen besteht aber auch die Möglichkeit, neue
Spiele von Mobilfunkdienstleistern wie JAMBA! kostenpflichtig zu beziehen.
Mit Recht kann man feststellen, dass heute Computer- und Videospiele das
mediale Alltagsleben von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen auf Schritt
und Tritt begleiten.

Fazit
Thomas Möbius

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die traditionellen Medien wie Kino,


Radio oder Fernsehen haben – wie das Buch – im Laufe der letzten Jahre
auch für die Jugendlichen an Bedeutung verloren, ihre Inhalte sind aber nach
wie vor aktuell; sie erscheinen in neuem medialen Gewand. Der Computer
bietet eine einzige Plattform für sämtliche Angebote der traditionellen Me-
496 Medien und Medienverbund

dien und ist selbst die Plattform für spezifische Angebote wie etwa Compu-
terspiele. Auch Videos und DVDs können mittlerweile nicht nur im Internet
ausgeliehen oder erworben werden, ›Video on demand‹ in der Online-Video-
thek ersetzt mit zunehmendem Angebot den Gang zur Videothek. Die Kon-
zentration auf den Computer wirkt sich grundlegend auf die den Bedürfnis-
sen der Altersgruppe angepassten Inhalte und die Strukturen der Angebots-
seite aus, die einer horizontalen Verflechtung unterliegen und auf diese Weise
einen echten symmedialen Mehrwert in ökonomischer und in mediendidak-
tischer Hinsicht realisieren. Diese Verflechtung ermöglicht eine individuelle
Rezeption der Medienangebote, die vereinfachte Anschlusskommunikation
dient der Ausbildung der Kompetenz, mono- wie multimediale Texte lesen zu
können. Will man einen Blick in die Zukunft der Kindermedien wagen, so
zeichnet sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt ab, dass sich die Konzentration
auf eine Plattform weiter verstärken wird: Der Computer und/oder der Fern-
seher werden zum technischen Mittelpunkt des gesamten Kommunikati-
onsaufkommens (Telefon via Internet, E-Mail, Chat, Blog, Wiki) und der
audio-visuellen Informations- und Unterhaltungsangebote (DVD, CD, digi-
tales Fernsehen, Spiele).
497

Bibliographie

Allgemeiner Teil

a. Textsammlungen, Dokumentationen, Bibliographien


Altner, Manfred (Hg.): Das proletarische Kinderbuch. Dokumente zur Geschichte der
sozialistischen deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Dresden 1988
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Ein Lexikon. Autoren, Illustratoren, Verlage, Begriffe. Meitingen 1995 ff. [ab 1999
hg. v. Kurt Franz, Günter Lange u. Franz Payrhuber]
Blaubuch 2005. Hg. v. Doris Breitmoser. Adressen und Register für die deutschspra-
chige Kinder- und Jugendliteratur. München 2005
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Die Frankfurter Hobrecker-Sammlung. Kommentierte Bibliographie einer Sammlung
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Die Sammlung Hobrecker der Universitätsbibliothek Braunschweig. Katalog der Kin-
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Diekneite, Jörg; Eckhardt, Juliane: Kinder- und Jugendbücher/Kinder- und Jugendme-
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Ewers, Hans-Heino (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Romantik. Eine Textsamm-
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trierte Bibliographie. Dortmund 1980
Göbels, Hubert: Hundert alte Kinderbücher aus dem 19. Jahrhundert. Eine illustrierte
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bis 1570. Hg. v. Theodor Brüggemann in Zusammenarbeit mit Otto Brunken. 1987;
Von 1570 bis 1750. Hg. v. Theodor Brüggemann in Zusammenarbeit mit Otto
Brunken. 1990; Von 1750 bis 1800. Hg. v. Theodor Brüggemann in Zusammenar-
beit mit Hans-Heino Ewers. 1982; Von 1800 bis 1850. Hg. v. Otto Brunken, Bettina
Hurrelmann, Klaus-Ulrich Pech. 1998; Von 1850 bis 1900. Hg. v. Otto Brunken,
Bettina Hurrelmann, Maria Michels-Kohlhage und Gisela Wilkending. 2008; SBZ/
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2006
Hobrecker, Karl: Alte vergessene Kinderbücher. Berlin 1924
498 Bibliographie

Kinder- und Jugendliteratur 1498–1950. Kommentierter Katalog der Sammlung Theo-


dor Brüggemann. Osnabrück 1986
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Kinder- und Jugendliteraturforschung in Deutschland und der deutschsprachigen
Schweiz, der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung
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(Frankfurt a. M.) u. d. Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Berlin), Kinder-
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Hopster, Nobert; Josting, Petra; Neuhaus, Joachim (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur
1933–1945. Ein Handbuch. 2 Bde. Stuttgart/Weimar 2001, 2005
Hopster, Norbert; Josting, Petra; Neuhaus, Joachim: Literaturlenkung im ›Dritten
Reich‹. Eine annotierte Bibliographie. 2. Bde. Hildesheim 1994
Hopster, Norbert; Nassen, Ulrich: Literatur und Erziehung im Nationalsozialismus.
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Josting, Petra: Der Jugendschrifttums-Kampf des Nationalsozialistischen Lehrer-
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Kaminski, Winfred: Heroische Innerlichkeit. Studien zur Jugendliteratur vor und nach
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Ketelsen, Uwe-K.: Literatur und Drittes Reich. Schernfeld 1992
Nassen, Ulrich: Jugend, Buch und Konjunktur 1933–1945. Studien zum Ideologiepo-
tential des genuin nationalsozialistischen und des konjunkturellen ›Jugendschrift-
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Exil
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Exil-Literatur der Deutschen Bücherei Leipzig, 1. Juni 1995 – 9. September 1995.
Leipzig 1995, 2. überarb. Aufl. 1999
Krüger, Dirk: Die deutsch-jüdische Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald und
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Stern, Guy: Wirkung und Nachwirkung der antifaschistischen Jugendliteratur. In:
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zum Symposium ›Beiträge Jüdischer Autoren zur Deutschen Literatur seit 1945‹,
Universität Osnabrück, 2.–5. Juni 1991. Hg. v. Jens Stüben u. Winfried Woesler in
Zusammenarb. mit Ernst Loewy. Darmstadt 1994, S. 299–312
Weiskopf, Franz C.: Unter fremden Himmeln. Ein Abriß der deutschen Literatur im
Exil 1933–1947. Berlin 1947
508 Bibliographie

Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende


Doderer, Klaus (Hg.): Zwischen Trümmern und Wohlstand. Literatur der Jugend
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Dolle-Weinkauff, Bernd: Comics – Geschichte einer populären Literaturform in
Deutschland. Weinheim u. a. 1990
Fischer, Ludwig (Hg.): Literatur der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. München
1986 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 10)
Klüger, Ruth: Korrupte Moral: Erich Kästners Kinderbücher. In: Klüger, Ruth: Frauen
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Mattenklott, Gundel: Zauberkreide. Kinderliteratur seit 1945. Stuttgart 1989
Seifert, Martina; Weinkauff, Gina: Kulturtransfer. Studien zur Repräsentanz einzelner
Herkunftsliteraturen. Bibliographie. Literaturverzeichnis. München 2006 (= Ent-
Fernungen Bd. 2)
Staudacher, Cornelia: Vaterlose Töchter. Kriegskinder zwischen Freiheit und Anpas-
sung. Porträts. Zürich/Hamburg 2006
Steinlein, Rüdiger: Brückenschläge über den »Abgrund der Vergangenheit« (Erich
Kästner) – die Darstellung des Holocaust in der deutschsprachigen Kinder- und Ju-
gendliteratur. In: Eke, Norbert Otto; Steinecke, Hartmut (Hg.): Shoah in der
deutschsprachigen Literatur. Berlin 2006, S. 169–188
Weinkauff, Gina. Fremdwahrnehmung. Zur Thematisierung kultureller Alterität in
der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur seit 1945. München 2006 (=
Ent-Fernungen Bd. 1)
Wilke, Gudrun: Vergessene Jugendschriftsteller der Erich-Kästner-Generation. Frank-
furt a. M. 1999
Zinnecker, Jürgen: Jugendkultur 1940–1985. Opladen 1987

Von den 70er Jahren bis zur Gegenwart


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1987
Dahrendorf, Malte u. a.: Antisemitismus und Holocaust. Ihre Darstellung und Verar-
beitung in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Oldenburg 1988
Dahrendorf, Malte: Kinder- und Jugendliteratur: Material. Berlin 1995
Dahrendorf, Malte; Shavit, Zohar (Hg.): Die Darstellung des Dritten Reiches im Kin-
der- und Jugendbuch. Frankfurt a. M. 1988
Daubert, Hannelore; Ewers, Hans-Heino (Hg.): Veränderte Kindheit in der aktuellen
Kinderliteratur. Braunschweig 1995
Doderer, Klaus: Literarische Jugendkultur. Kulturelle und Gesellschaftliche Aspekte
der Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland. Weinheim/München 1992
Ewers, Hans-Heino: Themen-, Formen- und Funktionswandel der westdeutschen Kin-
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tik N.F. 5 (1995), S. 257–278
Franz, Kurt; Lange, Günter; Payrhuber, Franz-Josef (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur
zur Jahrtausendwende. Autoren – Themen – Vermittlung. Baltmannsweiler 2000
Kaminski, Winfred: Jugendliteratur und Revolte. Jugendprotest und seine Spiegelung
in der Literatur für junge Leser. Frankfurt a. M. 1982
Lindenpütz, Dagmar: Das Kinderbuch als Medium ökologischer Bildung. Untersu-
chungen zur Konzeption von Natur und Umwelt in der erzählenden Kinderliteratur
seit 1970. Essen 1999
Raecke, Renate (Hg.): Zwischen Bullerbü und Schewenborn. Auf Spurensuche in 40
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Schilcher, Anita: Geschlechtsrollen, Familie, Freundschaft und Liebe in der Kinderlite-
ratur der 90er Jahre. Frankfurt a. M. 2001
Bibliographie 509

Historische und zeitgeschichtliche Literatur


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Betz, Dagmar: Vergegenwärtigte Geschichte. Konstruktionen des Erinnerns an die
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Brunecker, Frank u. a. (Hg.): Rulaman der Steinzeitheld. Sonderausstellung des Bibera-
cher Braith-Mali-Museums. Tübingen u. a. 2003
Franz, Kurt u. a. (Hg.): Archäologie, Ur- und Frühgeschichte im Kinder- und Jugend-
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Lange, Günter: Das geschichtliche Jugendbuch. Überlegungen zu seiner Entwicklung,
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Mohr, Deborah: Das Bild Hannibals im 19. und 20. Jahrhundert. Eine Analyse der
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Ott, Elisabeth: Historische Romane für Kinder und Jugendliche. Die römische Ge-
schichte und die Französische Revolution im Spiegel der historischen Kinder- und
Jugendliteratur der Jahre 1960 bis 1983. Frankfurt a. M. 1985
Pretzl, Christine: Sprache der Angst. Narrative Darstellung eines psychischen Phäno-
mens in Kinder- und Jugendbüchern zum Holocaust. Frankfurt a. M. u. a. 2005
Rutenfranz, Maria: Götter, Helden, Menschen. Rezeption und Adaption antiker My-
thologie in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Frankfurt a. M. u. a. 2004
Weinkauff, Gina: Die Darstellung der Französischen Revolution in der deutschspra-
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Wermke, Michael: Jugendliteratur und Holocaust. Eine religionspädagogische, ge-
dächtnissoziologische und literaturtheoretische Untersuchung. Göttingen 1999
Zimmermann, Holger: Geschichte(n) erzählen. Geschichtliche Kinder- und Jugendlite-
ratur und ihre Didaktik. Frankfurt a. M. u. a. 2004

Der Adoleszenzroman
Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002
Beck, Ulrich (Hg.): Kinder der Freiheit. Frankfurt a. M. 1997 u. ö.
Blos, Peter: Adoleszenz. Eine psychoanalytische Interpretation. Stuttgart 1973 u. ö.
Cremerius, Johannes (Hg.): Adoleszenz. Würzburg 1997 (= Freiburger Literaturpsy-
chologische Gespräche. 16)
Erdheim, Mario: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung
in den ethnopsychoanalytischen Prozeß. Frankfurt a. M. 1982 u. ö.
Ewers, Hans-Heino (Hg.): Jugendkultur im Adoleszenzroman. Jugendliteratur der
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Ferchhoff, Wilfried; Neubauer, Georg: Jugend und Postmoderne. Analysen über die
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Flaker, Alexander: Modelle der Jeans Prosa. Zur literarischen Opposition bei Plenz-
dorf im ost-europäischen Romankontext. Kronberg/Ts. 1975
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Gansel, Carsten: Adoleszenz und Adoleszenzroman als Gegenstand literaturwissen-
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Schäfer. München 2003, S. 234–257
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(Hg.): Hermann Hesse und die Modernisierung. Kulturwissenschaftliche Facetten
einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2004, S. 224–255
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Deutschen Germanistentages. 6.–9. Oktober 1991 in Augsburg. Tübingen 1993,
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Helsper, Werner (Hg.): Jugend zwischen Moderne und Postmoderne. Opladen 1991
Kaplan, Louise I.: Abschied von der Kindheit. Eine Studie über die Adoleszenz. Stutt-
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Kaulen, Heinrich: Jugend- und Adoleszenzromane zwischen Moderne und Postmo-
derne. In: 1000 und 1 Buch. Das Magazin für Kinder- und Jugendliteratur 1999, H.
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King, Vera; Flaake, Karin (Hg.): Männliche Adoleszenz. Sozialisation und Bildungs-
prozesse zwischen Kindheit und Erwachsensein. Frankfurt a. M. /New York 2005
Remschmidt, Helmut: Adoleszenz. Entwicklung und Entwicklungskrisen im Jugendal-
ter. Stuttgart/New York 1992
Steinlein, Rüdiger: Inszenierungen männlicher Adoleszenz im deutschsprachigen Kunst-
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Rüdiger (Hg.): Passagen. Literatur – Theorie – Medien. Berlin 2001, S. 39–74
Wild, Reiner: Wer ist der Räuber Orbasan? Überlegungen zu Wilhelm Hauffs Mär-
chen. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 4 (1994), S. 349–364, auch in: Kitt-
stein, Ulrich (Hg.): Wilhelm Hauff. Aufsätze zu seinem Werk. St. Ingbert 2002,
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Mädchenliteratur
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Flaake, Karin; King, Vera (Hg.): Weibliche Adoleszenz. Zur Sozialisation junger
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Grenz, Dagmar: Zeitgenössische Mädchenliteratur – Tradition oder Neubeginn? In:
Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 19 (1988), H. 62, S. 2–21
Grenz, Dagmar: Zur Geschichte der Mädchenliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945.
In: Mädchenbücher aus drei Jahrhunderten. Ausstellungskatalog. Oldenburg 1983,
S. 22–33
Günther, Silke: Serienheldinnen multimedial: Content-Universen zu nordamerika-
nischen Fernsehserien. Frankfurt a. M. u. a. 2007
Kehlenbeck, Corinna: Auf der Suche nach der abenteuerlichen Heldin. Weibliche Iden-
tifikationsfiguren im Jugendalter. Frankfurt a. M. u. a. 1996
Keiner, Sabine: Emanzipatorische Mädchenliteratur 1980–1990. Entpolarisierung der
Geschlechterbeziehungen und die Suche nach weiblicher Identität. Frankfurt a. M.
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Köbler, Verena: Jugend thematisierende Literatur junger AutorInnen. Frankfurt a. M.
2005
Lehnert, Gertrud (Hg.): Inszenierungen von Weiblichkeit. Weibliche Kindheit und
Adoleszenz in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Opladen 1996
Wulf, Carmen: Mädchenliteratur und weibliche Sozialisation. Erzählungen und Ro-
mane für Mädchen und junge Frauen von 1918 bis zum Ende der 50er Jahre. Eine
motivgeschichtliche Untersuchung. Frankfurt a. M. u. a. 1996
Bibliographie 511

Fantastische Literatur
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Friedrich, Hans-Edwin: Was ist Fantasy? In: 1000 und 1 Buch. Das Magazin für Kin-
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Lange, Günter; Steffens, Wilhelm (Hg.): Literarische und didaktische Aspekte der
phantastischen Kinder- und Jugendliteratur. Würzburg 1993
Meißner, Wolfgang: Phantastik in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart.
Würzburg 1989
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derliterarischer Phantastik. In: Stenzel, Gudrun (Hg.): Zauberland und Tintenwelt.
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im Kinderfilm. In: Hurrelmann, Bettina; Becker, Susanne (Hg.): Kindermedien nut-
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heim 2003, S. 146–161
Patzelt, Birgit: Phantastische Kinder- und Jugendliteratur der 80er und 90er Jahre.
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Richter, Dieter; Merkel, Johannes: Märchen, Phantasie und soziales Lernen. Berlin
1974
Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. Frankfurt a. M. 1992 [zu-
erst 1972, Original 1970]

Lyrik für Kinder


Gelberg, Hans-Joachim (Hg.): Die Worte die Bilder das Kind. Über Kinderliteratur.
Weinheim/Basel 2005
Kliewer, Heinz-Jürgen: Was denkt die Maus? Gesammelte Aufsätze zur Kinderlyrik.
Frankfurt a. M. 1999
Vogdt, Ines-Bianca: Wunderhorn und Sprachgitter. Geschichte der intentionalen Kin-
derlyrik seit dem 18. Jahrhundert. München 1998

Kinder- und Jugendliteratur der DDR


Almanach zur Kinderliteratur der DDR. Bücher und Bilder. Hamburg 1989
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sche Kinderliteratur der DDR. Berlin. Jg. 1 (1962)–Jg. 28 (1990), H. 1–94
Bosse, Hannes: Ein Regenbogen ist schön. Betrachtungen zu Bilderbuchgeschichten.
Berlin 1986
Breitenfeld, Annette: Die Begegnung mit außerirdischen Lebensformen. Untersu-
chungen zur Science-Fiction-Literatur der DDR. Wetzlar 1994
Bühler, Arnim-Thomas: »Ihm war nicht zu helfen!«. Verweigerung bei Jugendlichenfi-
guren der DDR-Prosa der siebziger Jahre. Wetzlar 1995
Emmrich, Christian (Hg.): Literatur und Medienkünste für junge Leute. Berlin 1987
Für Kinder gemalt. Illustratoren der DDR. Berlin 1975
Für Kinder geschrieben. Autoren der DDR. Berlin 1979
George, Edith: Die Phantasie und ihre Wunder. Über poetische Entdeckungen in der
Kinderliteratur. Berlin 1978
Granlund-Lind, Rigmor: Anpassning i protest. Ungdomslitteratur i DDR. Stockholm
1995
Helden nach Plan? Kinder- und Jugendliteratur der DDR zwischen Wagnis und Zen-
sur. Katalog zur Ausstellung im Rahmen der 19. Oldenburger Kinder- und Jugend-
buchmesse 1993 aus den Beständen der Universitätsbibliothek Oldenburg. Olden-
burg 1993
Hohmann, Joachim S.: Deutschunterricht in SBZ und DDR 1945–1962. Zur Ge-
schichte und Soziologie sozialistischer Erziehung. Frankfurt a. M. 1997 (Beiträge
zur Geschichte des Deutschunterrichts 29)
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Kohl, Eva Maria: Die Wolke ist ein Wandersmann. Erfahrungen mit schreibenden
Kindern. Berlin 1978
Kramer, Thomas: Micky, Marx und Manitu. Zeit- und Kulturgeschichte im Spiegel
eines DDR-Comics 1955–1990. »Mosaik« als Fokus von Medienerlebnissen im NS
und in der DDR. Berlin 2002
Kuhnert, Heinz: Attraktivität und Wirkung. Das Kinderbuch im Urteil seiner Leser.
Berlin 1983
Lettkemann, Gerd; Scholz, Michael F.: »Schuldig ist schließlich jeder... der Comics
besitzt, verbreitet oder nicht einziehen läßt« Buch zur Ausstellung »Schuldig ist
schließlich jeder... Comics in der DDR – Geschichte eines ungeliebten Mediums
(1945/49–1990)«. Berlin 1994
Peltsch, Steffen (Hg.): Wende-Punkte. Zur Situation der Literatur und der Literaten in
den neuen Bundesländern. Weinheim 2001
Richter, Karin: Zeitgenössische Kinder- und Jugendliteratur der DDR aus wirkungsäs-
thetischer Sicht. Analysen und Interpretationen epischer Texte (1970–1985). Berlin
1990
Roeder, Caroline: Phantastisches im Leseland. Die Entwicklung phantastischer Kin-
derliteratur der DDR (einschließlich der SBZ). Eine gattungsgeschichtliche Analyse.
Frankfurt a. M. u. a. 2006
Schauplatz. Aufsätze zur Kinder- und Jugendliteratur und zu anderen Medienkünsten.
H. 1 (1986), H. 2 (1988)
Vollprecht, Sabine: Science-Fiction für Kinder in der DDR. Stuttgart 1994
Wieckhorst, Karin: Die Darstellung des »antifaschistischen Widerstandes« in der Kin-
der- und Jugendliteratur der SBZ/DDR. Frankfurt a. M. 2000

Medien und Medienverbund


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Bischof, Ulrike (Hg.): Konfliktfeld Fernsehen – Lesen. Kindermedien zwischen Kunst-
anspruch und Kommerz. Wien 1995
Bühl, Achim (Hg.): Cyberkids. Empirische Untersuchungen zur Wirkung von Bild-
schirmspielen. Münster 2000
Buresch, Wolfgang (Hg.): Kinderfernsehen. Vom Hasen Cäsar bis zu Tinky Winky,
Dipsy und Co. Frankfurt a. M. 2003
Dittler, Ulrich: Software statt Teddybär. Computerspiele und ihre pädagogische Nut-
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Dittler, Ulrich; Hoyer, Michael (Hg.): Aufwachsen in virtuellen Medienwelten. Chan-
cen und Gefahren digitaler Medien aus medienpsychologischer und medienpädago-
gischer Sicht. München 2008
Dolle-Weinkauff, Bernd; Ewers, Hans-Heino; Jaekel, Regina (Hg.): Gewalt in aktu-
ellen Kinder- und Jugendmedien. Von der Verherrlichung zur Ächtung eines gesell-
schaftlichen Phänomens. Weinheim u. a. 2007
Erlinger, Hans Dieter; Eßer, Kerstin; Hollstein, Birgit; Klein, Bettina; Mattusch, Uwe
(Hg.): Handbuch des Kinderfernsehens. 2. Aufl. Konstanz 1998
Evangelische Akademie Baden (Hg.): Der Verlust der Stille. Ansätze zu einer akusti-
schen Ökonomie. Karlsruhe 1995
Ewers, Hans-Heino (Hg.): Lesen zwischen Neuen Medien und Pop-Kultur. Kinder-
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2002
Franz, Kurt; Kahn, Walter (Hg.): Märchen – Kinder – Medien. Beiträge zur medialen
Adaption von Märchen und zum didaktischen Umgang. Baltmannsweiler 2000
Frederking, Volker (Hg.): Lesen und Symbolverstehen. München 2004
Fritz, Jürgen; Fehr, Wolfgang (Hg.): Computerspiele. Virtuelle Spiel- und Lernwelten.
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Fritz, Jürgen; Fehr, Wolfgang (Hg.): Handbuch Medien: Computerspiele. Theorie,
Forschung, Praxis. Bonn 1997
Fromme, Johannes; Meder, Norbert; Vollmer, Nikolaus: Computerspiele in der Kin-
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Bibliographie 513

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Elemente. Münster 1998
Heidtmann, Horst: Kinder- und Jugendliteratur multimedial und interaktiv. Multime-
dia-Anwendungen auf CD-ROM. Weinheim 1996
Hickethier, Knut: Geschichte des deutschen Fernsehens. Stuttgart u. a. 1998
Holtdorf, Christian; Pias, Claus (Hg.): Escape! Computerspiele als Kulturtechnik.
Köln u. a. 2007
Hoppe-Graff, Siegfried; Oerter, Rolf (Hg.): Spielen und Fernsehen. Über die Zusam-
menhänge von Spiel und Medien in der Welt des Kindes. Weinheim 2000
Huber, Ludowika; Odersky, Eva (Hg.): Zuhören – Lernen – Verstehen. Braunschweig
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Hurrelmann, Bettina: Fernsehen in der Familie. Auswirkungen der Programmerweite-
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von Hartmut Reese. München 1984
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Deutschunterrichts. Bad Krozingen 1999
Kerlen, Dietrich; Rath, Matthias (Hg.): Jugend und Medien in Deutschland. Eine kul-
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Südwest. Stuttgart 2006
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Sahr, Michael: Verfilmte Kinder- und Jugendliteratur. Der literarische Kinderfilm – ein
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Saxer, Ulrich; Langenbucher, Wolfgang; Fritz, Angela: Kommunikationsverhalten und
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Schäfer, Horst (Hg.): Lexikon des Kinder- und Jugendfilms im Kino, im Fernsehen und
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Schill, Wolfgang; Baacke, Dieter (Hg.): Kinder und Radio. Zur medienpädagogischen
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evangelischen Publizistik 1996
Schmidbauer, Michael: Die Geschichte des Kinderfernsehens in der Bundesrepublik
Deutschland. Eine Dokumentation. München 1987
Schneider, Wolfgang (Hg.): Aufbruch zum neuen bundesdeutschen Kinderfilm. Harde-
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Spanhel, Dieter: Jugendliche vor dem Bildschirm. Neueste Forschungsergebnisse über
die Nutzung der Videofilme, Telespiel und Homecomputer durch Jugendliche. 2.
völlig neu bearb. Aufl. Weinheim 1990
Strobel, Hans: Der neue deutsche Kinderfilm. Kinderfilme in der Bundesrepublik
Deutschland 1970–1989. Eine Bestandsaufnahme. München 1989
Thiele, Jens: Trickfilm-Serien im Fernsehen. Eine Untersuchung zur Didaktik der äs-
thetischen Erziehung. Oldenburg 1981
Thomsen, Christian W.; Faulstich, Werner (Hg.): Seiler, Stars und Serien. Medien im
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Treumann, Klaus Peter; Schnatmeyer, Dorothee; Volkmar, Ingrid: »Mit den Ohren
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Vollbrecht, Ralf: Jugendmedien. Tübingen 2002
Winklhofer, Ursula: Kinder als Kinopublikum. In: Medien und Erziehung 1986, H. 6,
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Winterhoff-Spurk, Peter: Fernsehen. Psychologische Befunde zur Medienwirkung.
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Zuhören e.V. (Hg.): Ganz Ohr. Interdisziplinäre Aspekte des Zuhörens. Göttingen
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Internet-Quellen (07.8.2008 überprüft):


Archiv für Filmposter: http://www.filmposter-archiv.de
Deutsches Kinderhilfswerk: http://www.dkhw.de
Empfehlungen für die besten Produktionen im Bereich des Kinder- und Jugendfilms:
http://www.top-videonews.de
Filmfestival Goldener Spatz: http://www.goldenerspatz.de
Filmportal: http://www.filmportal.de
Institut für angewandte Kindermedienforschung: http://www.hdm-stuttgart.de/ifak/
startseite
Institut für Film und Bild: http://www.fwu.de
Institut für Kino und Filmkultur: http://www.film-kultur.de
Internationale Filmfestspiele Berlin: http://www.berlinale.de
Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI): http://
www.izi-datenbank.de
Kinder- und Jugendfilmzentrum in Deutschland: http://www.kjf.de
Kinderfernsehforschung: http://www.kinderfernsehforschung.de
Kinderfilm online: http://www.kinderfilm-online.de
Kinderfilmfest Sehpferdchen: http://www.filmfest-sehpferdchen.de
Kinderkanal (KI.KA): http://www.kika.de
KinderKinoFest Düsseldorf: http://www.kinderkinofest.de
Bibliographie 515

Liste der deutschsprachige Kanäle, die über Satellit zu empfangen sind: http://forum.
transponder-news.de
Liste der Kreis-, Stadt- und Landesmedienzentren in Baden-Württemberg: http://www.
lmz-bw.de/medienzentren.html
Nick: http://www.nick.de
Online-Videothek videoload: http://www.videoload.de
Prix Jeunesse Foundation: http://prixjeunesse.de
Statistisches Bundesamt Deutschland: http://www.destatis.de
The Internet Movie Database: http://www.imdb.com
Tigerenten Club: http://www.kindernetz.de/tigerentenclub
Übersicht über sämtliche Fernsehserien: http://www.fernsehserien.de sowie http://
www.wunschliste.de
516

Personenregister
Verzeichnet sind die Namen aller historischen Personen,
ausgenommen die Autorinnen und Autoren von Sekundärliteratur

A Almagor, Gila (*1939) Arnheim, Rudolf (1904– Baer, Ralph (*1922)


356 2007) 246 487, 489
Abedi, Isabel (*1967) Almsloh, Ernst (d. i. Arnim, Achim von (1781– Baerwald, Alexander
446 Heinrich Schulz, 1872– 1831) 104–107, 114, (1877–1930) 318
Abeles, Siegfried (1884– 1932) 176, 228 117 Baerwald, Lotte (1883–
1937) 268, 270 Altenhöfer, Ludwig Artmann, Hans Carl 1930) 318
Abraham, Peter (*1936) (1921–1974) 338 (1921–2000) 411 Baez, Joan (*1941)
358, 420, 422 f., 430, Alvensleben, Ludwig von Asbury, Kelly (*1960) 368
431 – siehe: Chlodwig 482 Bahlke, Pago (*1954)
Abraham a Sancta Clara Alyasin, Cameron B. Asenijeff, Elsa (1868– 459
(d. i. Johann Ulrich (*1975) 457 1941) 204, 213, 214 Bahmann, Reinold
Megerle, 1644–1709) Ambach, Eduard von Asscher-Pinkhof, Clara (*1859) 230
40 (1817–1897) 151 (1896–1984) 335–337, Bahrdt, Karl Friedrich
Abu-Assad, Hany (*1961) Amberg, Adolf (1874– 356, 420 (1741–1792) 86
460 1913) 194 Auer, Martin (*1951) Baisch, Amalie (*1859)
Adelung, Johann Amendt, Günter (*1939) 399 183
Christoph (1732–1806) 384 Auerbach, Berthold Bake, Elise (1851–1928)
47, 68, 72 Amicis, Edmondo di (1812–1882) 262 227, 238
Adenauer, Konrad (1876– (1846–1908) 217 Auerbach, Shona 459 Balász, Bela (d. i. Herbert
1967) 314, 330, 332, Andersen, Hans Christian Augusti, Brigitte (d. i. Bauer, 1884–1949)
339 (1805–1875) 122–124, Auguste Plehn, geb. 253, 296, 298, 303 f.,
Adler, Emma (1858– 191–193, 249, 252 Bresler, 1839–1930) 309, 311
1935) 175 Anderson, Edith (1915– 184 f., 206, 214, 226, Balbach, Johann (1757–
Adorno, Theodor W. 1999) 435 230 f., 238 1820) 56, 73, 75
(1903–1969) 313, André, Christian Karl Aulnoy, Marie Catherine Balde, Jakob (1603–1668)
340 (1763–1831) 76, 90, 9 d’ (1650–1705) 78 41
Aehnlich, Kathrin Andreas-Salomé, Lou Aurelie (d. i. Sophie Baldwin, Mark Lewis
(*1957) 377 (1861–1937) 213 Gräfin von Baudissin, (*1952) 492
Aesop (6. Jh. v. Chr.) 39 Andree, Richard (1835– geb. Kaskel, 1813– Balfour, Arthur James
Agthe, Arend (*1949) 1912) 155 1894) 169 (1848–1930) 319
459 f., 469 Antal, Nimród (*1973) Ausfeld, Johann Wilhelm Ball, Hugo (1886–1927)
Ahlers, Jörgpeter (*1957) 459 (1774–1853) 46 f. 411
440 Arkwright, Richard Ausländer, Rose (1901– Ballhaus, Verena (*1951)
Ahmad, Yasmin 458 (1732–1792) 163 1988) 411 412
Aimard, Gustave (1818– Armand (d. i. Friedrich Axtmann, Horst (*1917) Bär, Johann Jakob (1799–
1883) 219 August Strubberg, 293 1841) 148
Alberus, Erasmus (um 1808–1889) 158 Barbarossa (d. i. Friedrich
1500–1553) 40 Armbruster, Johann B I., 1122–1190) 230,
Aler, Paul (1656–1727) Michael (1761–1814) 326
17 80 Baacke, Dieter (1934– Bar Kochba, Simon
Alexander der Große Arminius (Hermann der 1999) 442 (†135) 232
(356–323 v. Chr.) 348 Cherusker, um 16. Baal Schem Tow – siehe: Bardine, Garri (*1941)
Alexis, Willibald (d. i. v. Chr. – um 21. n. Chr.) Israel ben Elieser 457
Georg Wilhelm 149, 230, 282 Bach, Tamara (*1976) Barfaut, John (1891–
Heinrich Häring, Arndt, Ernst Moritz 391 1965) 313
1798–1871) 150, 152 (1769–1860) 104, 128, Bachér, Ingrid (d. i. Ingrid Barfus, Eginhard von
Allers, Roger (*1949) 182 Erben, geb. Schwarze, (1825–1909)
482 Arnheim, Lotte 258 *1930) 381 225
Personenregister 517

Baron, Paul Friedrich Becker, Karl Friedrich Berner, Rotraut Susanne Birnbaum, Brigitte
Richard (1809–1890) (1777–1806) 146 (*1948) 412 (*1938) 427
149, 217 Becker, Wolfgang (1910– Bernfeld, Siegfried (1892– Bischoff, Max 221
Barth, Christian Gottlob 2005) 454 1953) 266 Bismarck, Otto von
(1799–1862) 137, 139, Beckmann, Gunnel Bernstein, Aron David (1815–1898) 230, 234
155, 164, 167 (1910–2003) 382 (1812–1884) 262 Bitzius, Albert – siehe:
Barthel, Kurt – siehe: Beecher-Stowe, Harriet Bernstein, F.W. (d. i. Fritz Gotthelf, Jeremias
Kuba (1811–1896) 157 Weigle, *1938) 411 Bjambasuren, Dawaagiin
Barthelmeß-Weller, Usch Beeg, Marie (verh. Ille, Bernstorff, Hans Nikolaus – siehe: Davaa,
(*1940) 460 1855–1927) 211 Ernst Graf von (1856 – Byambasuren
Bartos-Höppner, Barbara Beeker, Käthe van (1863– um 1939) 219, 228 Blair, Wayne (*1971)
(1923–2006) 326, 1917) 207, 227 Berquin, Arnaud (1750– 458
348 f. Beer, Johann (1655–1705) 1791) 169 Bloch, Chajim (1881–
Bartsch, Horst (1926– 19 Berthold, Paul – siehe: 1973) 264
1989) 430, 436 Behrens, Gloria (*1945) Pappenheim, Bertha Bloch, Ernst Simon
Basedow, Johann 469 Berthold, Theodor (1885–1977) 221
Bernhard (1724–1790) Beigel, Johann Georg Gottfried Johann Bloch, Ida (*1855) 181
51, 85 f., 88 f. (*1755) 66 (1841–1909) 218 Block, Francesca Lia
Basile, Giovanni Battista Belleforest, François de Bertuch, Friedrich Johann (*1962) 388, 390
(Giambattista) (1575– (1530–1583) 34 Justin (1747–1822) Blücher von Wahlstatt,
1632) 104, 117 Belych, Grigorij (1906– 73, 78, 80, 90 Gebhard Leberecht
Bastian, Horst (1939– 1938) 248, 418 Beseler, Horst (*1925) (1742–1819) 147 f.
1986) 428, 429 Ben, Usiel – siehe: Hirsch, 415, 421 f., 427, 434 Blume, Bruno (*1972)
Bauberger, Wilhelm Samson Raphael Beskow, Elsa (1874– 412
(1809–1883) 137 Benary, Albert (1881– 1953) 190 Blunck, Hans Friedrich
Baudissin, Wolf von 1963) 293 Besuden, Eike (*1948) (1888–1961) 250
(1867–1926) 235 Benary, Margot (d. i. 459 Blüthgen, Viktor (1844–
Bauer, Elvira (*1915) Margot Benary-Isbert, Bettelheim, Bruno (1913– 1920) 179, 188, 191
291 1883–1979) 315, 318 1990) 398 Blyton, Enid Mary
Bauer, Heinrich (1896– Benjamin, Walter (1892– Beumer, Philipp Jakob (1896–1968) 327, 380,
1975) 348 1940) 246 (1809–1885) 149 391
Baumann, Hans (1914– Benzler, Johann Lorenz Beyerlein, Gabriele Bochert, Marc-Andreas
1988) 315, 323 f., 326, (1747–1817) 55, 72, (*1949) 351 (*1971) 457
348, 354 74 Bialik, Chaijm Nachman Bochmann, Friedrich
Bäumer, Eduard (1892– Berdyczewski, Micha (1873–1934) 265 292 f.
1977) 292 Josef – siehe: Bin Bichsel, Peter (*1935) Böckh, Christian
Bäumer, Gertrud (1873– Gorion 194 Gottfried (1732–1792)
1954) 203, 237 Berg, Lars (*1959) 457 Bidermann, Jakob (1578– 45, 57, 68, 72
Baumgart, Klaus (*1951) Berg, Leo (1862–1908) 1639) 17, 37 Boethius, Anicius Manlius
461 175 Bieniek, Christian (1956– (Torquatus) Severinus
Baumgarten, Fritz (um Bergengruen, Werner 2005) 379 (480–524) 3
1883–1966) 291 f. (1892–1964) 258 Bierbaum, Otto Julius Bofinger, Manfred (1941–
Bauschulte, Klaus 456 Berger, Peter (1915–1995) (1865–1910) 186, 2006) 425
Bayer, Ingeborg (*1927) 338 f. 193 Bohatta-Morpurgo, Ida
382, 386 Berges, Grete (1895– Biewald, Hartmut K. (1900–1992) 291
Bayer, Maximilian (1872– 1957) 258, 296, 298, (*1943) 436 Böhlau, Helene (verh.
1917) 282 303, 304 Biller, Emma (verh. Arndt, 1859–1940)
Baykurt, Tonguc (*1962) Bergner, Edith (bis 1955 Wuttke, 1833–1913) 213, 216
457 Müller-Beeck, *1917) 186 f., 207, 217 Bohm, Hark (*1939)
Bebel, August (1840– 432 Binding, Rudolf G. 395, 454, 469
1913) 214 Berkowitz, Irma Mirjam (1867–1938) 283 Böhm, Salo 273, 274
Bechis, Marco (*1957) (1898–1989) 268, 273 Bin Gorion (d. i. Micha Böhme, Franz Magnus
457 Bernardin de Saint-Pierre, Josef Berdyczewski, (1827–1898) 190
Bechstein, Ludwig (1801– Jaques-Henri (1737– 1865–1921) 264, 268 Bohnhof, Gertrud
1860) 115–117, 249 1814) 76 Birck, Sixt (1500–1554) (*1899) 288
Becke, Julius (*1927) Bernhard, Emil – siehe: 17 Bohse, August (1661–
409 Cohn, Emil Bernhard Bird, Brad (*1957) 461 1742) 35
Becker, Gottfried (1778– Berneburger, Cordt – Birken, Siegmund von Boie, Kirsten (*1950)
1854) 154 siehe: Brussig, Thomas (1626–1681) 19 394, 396, 399, 446
518 Personenregister

Böll, Heinrich (1917– Brooks, Kevin (*1959) Bushnell, Nolan (*1943) Chlodwig (d. i. Ludwig
1985) 363 378 487 von Alvensleben)
Bolte, Karin (*1943) 382 Bruckner, Karl (1906– Bußleben, Johann (1800–1868) 169, 230
Boner, Ulrich (urkundlich 1982) 315, 317, 325 f., (16. Jh.) 11 Chodowiecki, Daniel
1324–1349) 38 416 (1726–1801) 90
Bonn, Franz – siehe: Bruckner, Winfried C Chomton, Werner
Miris, Franz von (1937–2003) 335 f., (*1895) 283
Bonnet, Johannes (1843– 338 Cactus, Françoise (d. i. Christaller, Helene (1872–
1913) 217 Bruno, Christoph (16. Jh.) Françoise van Hove, 1953) 240
Bonsels, Waldemar 21 *1964) 389 Chytraeus, Nathan
(1881–1952) 186, 192 Brunold, Friedrich (d. i. Calm, Marie (1832–1887) (1543–1598) 15
Borsig, Johann Karl August Ferdinand 182 f., 185, 207, 214, Cicero, Marcus Tullius
Friedrich August Meyer, 1811–1894) 215 (106–43 v. Chr.) 21, 33
(1804–1854) 163 214, 217 Campe, Joachim Heinrich Clark, James B. (1908–
Bötticher, Georg (1849– Brussig, Thomas (d. i. (1746–1818) 51, 61 f., 2000) 453
1918) 179 Cordt Berneburger, 65 f., 68, 70, 72, 76, 77, Claudius, Georg Carl
Bovin, Pia (*1964) 457 *1965) 375, 377 83–86, 88, 90 f., 93 f., (1757–1815) 56, 58,
Bowles, Dominic 457 Bruyn, Günter de (*1926) 156, 183, 201, 219, 67, 68, 70, 73, 75 f., 80,
Brahms, Johannes (1833– 427 251, 261 83, 88
1897) 108 Buber, Martin (1878– Capteyn, Willem (*1944) Claudius, Matthias
Brakenhoff, Margarethe – 1965) 266, 267 382 (1740–1815) 411
siehe: Hollriede, Hagdis Buch, Franziska (*1960) Carle, Eric (*1929) Claus, Richard (*1950)
Brand, Jürgen (d. i. Emil 457 446 456
Sonnemann, 1869– Buchholz, Quint (*1957) Carlowitz Alfred von Clemens, Hanna (d. i.
1950) 193, 217 412 (1878–1941) 231, Johanna Henriette
Brandis, Moritz (um 1550 Buck, Chris 461 235 Catharina Klemm,
– nach 1600) 34 Buck, Detlev (*1962) Carow, Heiner (1929– 1856–1924) 179, 210,
Brandt, Karsten (1861– 457 1997) 454 238
1939) 190 Budde, Nadia (*1967) Carroll, John (1906– Clément, Bert(h)a (1852–
Brandt, Willy (1913– 412 1979) 453 1930) 185, 206, 207,
1992) 340, 343 Budde, Pit (*1952) 447 Carroll, Lewis (d. i. 214 f., 238, 240
Brant, Sebastian (1458– Bühler, Charlotte (1893– Charles Lutwidge Clements, Ron (*1953)
1521) 14 1974) 243, 245, 289, Dodgson, 1832–1898) 461, 482
Brassey, Annie (geb. 360 121, 192, 340 Cohn, Emil Bernhard
Allnutt, 1839–1887) Bulwer-Lytton, Edward Castillo, Michel del (1881–1948) 265, 266
221 (1803–1873) 348 (*1933) 336 Cohn-Richter, Setta 273
Brauer, Jürgen (*1938) Buresch, Wolfgang Castonier, Elisabeth Cole, Brock (*1938) 369,
452 (*1941) 468, 469 (1894–1975) 296 370, 388, 391
Braumann-Honsell, Lilly Bürgel, Bruno Hans Cats, Jacob (1577–1660) Colfer, Eoin (*1965) 403
(1876–1954) 238 (1875–1948) 251, 13, 205 Collodi, Carlo (d. i. Carlo
Braun, Isabella (1815– 252 Celan, Paul (1920–1970) Lorenzini, 1826–1890)
1866) 164, 168, 178 Bürger, Berthold (d. i. 411 193, 328, 431
Braun, Volker (*1939) Erich Kästner, 1899– Cervantes, Miguel de Colpet, Max (1905–1998)
374, 425 1974) 296 (1547–1616) 22, 76 296, 307
Brechbühl, Beat (*1939) Burger, Horst (1929– Chamisso, Adelbert von Columbus, Chris (*1958)
394 1975) 355 (1781–1838) 128, 182, 462
Brecht, Bertolt (1898– Bürkner, Hugo (1818– 333, 400 Comenius, Johann Amos
1956) 248, 296 f., 299, 1897) 127 Chaplin, Charles Spencer (1592–1670) 8, 9, 17,
301, 306, 309, 407 f., Burmann, Gottlob (1889–1977) 247, 451, 18, 19, 89
413 Wilhelm (1737–1805) 453 Coninx, Stijn (*1957)
Bredel, Willi (1901–1964) 69, 79, 80 Che (Ernesto ›Che‹ 458
296, 301, 309, 414 Burow, Julie (verh. Guevara, 1928–1967) Contessa (Salice-
Breitinger, Johann Jakob Pfannenschmidt, 1806– 459 Contessa), Karl
(1701–1776) 90 1868) 183 Chidolue, Dagmar Wilhelm (1777–1825)
Brentano, Clemens Busch, Fritz-Otto (*1890) (*1944) 363, 366 f., 104
(1778–1842) 32, 104– 283 369, 382 f., 385, 386 Contzen, Adam (1571–
108, 117 Busch, Wilhelm (1832– Chimani, Leopold (1774– 1635) 34, 37
Breuer, Josef (1842–1925) 1908) 142, 144 f., 179, 1844) 131, 137 f., 148, Coogan, Jackie (1914–
213 189 165 1984) 451
Personenregister 519

Cook, James (1728–1779) Dehmel, Richard (1863– Donnelly, Elfie (*1950) Ehrenreich, Josef Anton
84, 326 1920) 171, 182, 187– 357, 445, 458 von 36
Cook, Lorna 482 190, 192, 194 Doré, Gustave (1832– Ehrlich, Bettina (1903–
Cooper, James Fenimore Della Casa, Giovanni 1883) 179 1985) 296, 300
(1789–1851) 155 f., (1503–1556) 15 Doutiné, Heike (*1945) Ehrmanns, Marianne
218, 219, 224, 274, De los Reyes, Maryo J. 381 (1735–1795) 94
285 (*1952) 458 Drabsch, Gerhart (1902– Eichendorff, Joseph
Corrodi, Wilhelm August Demuth, Michael 1945) 286 Freiherr von (1788–
(1826–1885) 111 (*1967) 458 Dragt, Tonke (Antonia 1857) 128
Cortés, Hernando (1485– Denneborg, Heinrich Johanna) (*1930) 352 Eicke, Wolfram (*1955)
1547) 348 Maria (1909–1987) Dransfeld, Hedwig 445
Cron, Clara (d. i. Clara 315, 327 (1871–1925) 214 Eide, Torill (*1950)
Weise, geb. Stock, Dessau, Paul (1894–1979) Dreyer, Georg 189 385 f.
1823–1890) 211, 215 408 Drobisch, Gustav Einstädter, Heinrich 265
Crowther, William Deutschkron, Inge Theodor (1811–1882) Eisler, Hanns (1898–
(*1936) 490 (*1922) 296 148, 151 1962) 408
Culicchia, Giuseppe Deutschmann, Wolfram Droste-Hülshoff, Annette Eleonore, Erzhg.in v. Tirol
(*1965) 369 (*1950) 459 von (1797–1848) 182 (1433–1480) 23 f.
Curtiz, Michael (d. i. Dick, Sieglinde (1943– Drvenkar, Zoran (*1967) Elias, Norbert (1897–
Manó Kertész Kaminer, 2003) 426 379, 394, 405 1990) 45
1886–1962) 453 Dickens, Charles (1811– Dschingis-Khan (Temud- Elisabeth I., Kg.in v.
Cushman, Karen (*1941) 1870) 217 schin, 1155/1167– England (1533–1603)
351 Dieffenbach, Georg 1227) 324, 348, 419 351
Christian (1822–1901) Duboc, Julius (1829– El Kurdi, Hartmut
D 128 1903) 189 (*1964) 449
Diehl, Ferdinand (1901– Dumas d. Ä., Alexandre Ellis, Bret Easton (*1964)
Dahn, Felix (1834–1912) 1992) 451 (1802–1870) 348 369, 389
179 Diehl, Karl Ludwig Dunker, Kristina (*1973) Ende, Michael (1929–
Dähnhardt, Oskar (1870– (1896–1958) 451 379 1995) 316, 324, 332–
1915) 192 Dielitz, Theodor Gabriel Durian, Wolf (d. i. 335, 346, 365, 397 f.,
d’Aló, Enzo (*1953) 398 (1810–1869) 155, 157, Wolfgang Bechtle, 454
Dante, Joe (*1946) 462 218 1892–1969) 254 f., Engel, Johann Jacob
Dantz, Carl (1884–1967) Dierks, Martina (*1953) 269, 285, 314, 325 (1741–1802) 83
252 f., 269 359, 392 Dyke, Woodbridge Strong Engel, Julius D. (1868–
Darwin, Charles Robert Diestelmeier, Katharina van (1889–1943) 453 1927) 265
(1809–1882) 184, (*1969) 407 Dylan, Bob (*1941) 368 Engelhard, Magdalene
192 f., 226, 233, 234 Dijk, Lutz van (*1955) Dziuba, Helmut (*1933) Philippine (1756–1831)
Davaa, Byambasuren (d. i. 356 454 80
Dawaagiin Bjamba- Disney, Walter Elias Engelhardt, Ingeborg
suren, *1971) 457, (1901–1966) 304 E Maria (1904–1990)
462 Dithmar, Georg Theodor 315, 326, 348 f., 354
David, Kurt (1924–1994) (1810–1901) 149 Ebersberg, Josef Sigmund Engelhardt, Karl August
419, 436 Ditter, Rosemarie (1799–1854) 138, (1769–1834) 60, 72
Davidis, Henriette (1800– 318 165 Enquist, Per Olov (*1934)
1876) 183 Dittmar, Heinrich (1792– Ebert, Johann Jacob 446
Davy, Humphry (1778– 1866) 110 (1737–1805) 74, 93 Enzensberger, Hans
1829) 163 Ditzen, Rudolf – siehe: Ebner-Eschenbach, Marie Magnus (*1929) 403
Dayre, Valérie (*1958) Fallada, Hans von (1830–1916) 179, Epinay, Louise-Florence-
391 Döblin, Alfred (1878– 188 Pétronille Tardieu
DeBlois, Dean (*1970) 1957) 241 Eckartshausen, Karl von d’Esclavelles Marquise
482 Docter, Peter (*1968) (1752–1803) 94 d’ (1726–1781) 83, 93
Dedekind, Friedrich 482 Eco, Umberto (*1932) Erasmus von Rotterdam,
(1524/1525–1598) 15 Dodgson, Charles 350 Desiderius (1469–
Defoe, Daniel Lutwidge – siehe: Edel, Ulrich (*1947) 462 1536) 5, 14–16, 33
(1660/1661–1731) 22, Carroll, Lewis Edelfeldt, Inger (*1956) Erben, Ingrid – siehe:
61 f., 76, 219, 285 Dolz, Johann Christian 363, 367, 385–387 Bachér, Ingrid
Dehmel, Paula (1862– (1769–1843) 165 Ehmck, Gustav (d. i. Erik der Rote (um 950–
1918) 171, 187, 188, Dominik, Hans (1892– Gabriel von Jess, 1001/03) 351
189, 190 1945) 217 *1937) 454 Ermann, Marie 207, 208
520 Personenregister

Ernesti, Johann Heinrich Feld, Friedrich – siehe: Förster, Friedrich (1791– Friedrich I. – siehe: Barba-
Martin (1755–1836) Rosenfeld, Friedrich 1868) 154 rossa
85 Feldern-Rolf, Mathilde Foth, Jörg (*1934) 454 Friedrich II., Kaiser
Ernst, Otto (d. i. Otto (*1810) 148 Fouqué, Friedrich Baron (1194–1250) 348,
Ernst Schmidt, 1862– Felseneck, Marie von (d. i. de la Motte (1777– 351
1926) 188 Maria Mancke, 1847– 1843) 104 Friedrich II., Kg. v.
Eschen, Mathilde von 1926) 174, 214, 234, Fox, Paula (*1923) 385 Preußen (der ›Große‹,
(d. i. Mathilde von 240 Frank, Anne (1929–1945) 1712–1786) 148, 180,
Eschstruth, 1839– Fénelon, François de 272, 335 230
1929) 208 Salignac de la Mothe Frank, Leonhard (1882– Friedrich Wilhelm I., Kg.
Estes, Jacob Aaron (1651–1715) 35–37, 1961) 451 v. Preußen (1688–1740)
(*1972) 459 49 Frank, Michael Erich 35
Eugen Franz von Ferdinands, Carl (d. i. (1691–1721) 22 Friedrich Wilhelm III., Kg.
Savoyen-Carignan Carl Ferdinand von Frank, Rudolf (1886– v. Preußen (1770–1840)
(1663–1736) 230 Vleuten, *1874) 190 1979) 259, 295, 296 148
Evenius, Sigmund (Ende Ferdinand Maria v. Franke, Friedrich Robert Fries, Fritz Rudolf
16. Jh. – 1639) 11 Bayern (1636–1679) (*1904) 296, 307 (*1935) 373, 375,
Everwyn, Klas E. (*1930) 13 Franz, Agnes (1794– 427
357 Ferry, Gabriel (d. i. Ferry, 1843) 142 Fröbel, Friedrich Wilhelm
Ewald, Carl (1856–1908) Eugène-Louis-Gabriel Franz, Cornelia (*1956) August (1782–1852)
192 de Bellemare, 1809– 358 249
Ewald, Johann Ludwig 1852) 157, 219 Franz I., Kaiser v. Fronemann, Wilhelm
(1747–1822) 93 Feyerabend, Sigmund Österreich (1768– (1880–1954) 245
(1528–1590) 22 1835) 138 Fühmann, Franz (1922–
F Fischer, Engelbert (1833– Franzos, Karl Emil 1984) 426, 427, 430
1889) 175 (1848–1904) 262 Funke, Carl Philipp
Faber, Helene (d. i. Liane Fischer, Marie Louise Frapan-Akunian, Ilse (1752–1807) 93
Reinhold) 204 (1922–2005) 380 (geb. Levien, 1852– Funke, Cornelia (*1958)
Faber du Faur, Irmgard Flanter, Emil (d. i. Flanter, 1908) 172, 186, 199 f., 392, 404, 405, 446
von (1894–1955) 296, Eugen, 1860–1921) 216 Fussenegger, Gertrud
298, 303 f., 307, 311 265 Freitag, Hayo (*1950) (*1912) 447
Fadejew, Alexander Flavius, Josephus (37/38 – 456, 462
Alexandrowitsch um 100) 33 Frenssen, Gustav (1863– G
(1901–1956) 413 Fleg, Edmond (1874– 1945) 221, 226, 282
Fährmann, Willi (*1929) 1963) 267 Freud, Sigmund (1856– Gaarder, Jostein (*1952)
338, 352, 354, 355 Fleischer, Johann 1939) 185, 213, 220 446
Faimann, Peter 462 Friedrich 35 Freudenberg, Alwin Gabriel, Mike (*1954)
Falke, Gustav (1853– Flemming, Carl (1806– (1873–1930) 182 461
1916) 188, 190 1878) 230 Fréville, Anne Francois Gaidar, Arkadi (d. i.
Falkenhorst, C. (d. i. Flex, Walter (1887–1917) Joachim (1749–1832) Arkadi Petrowitsch
Stanislaus von 237, 283 84 Golikow, 1904–1941)
Jezewski, 1853–1930) Flinzer, Fedor Alexis Freytag, Gustav (1816– 319, 413
219, 221, 224 f. (1832–1911) 179 1895) 150, 152, Galland, Jean-Antoine
Fallada, Hans (d. i. Rudolf Flores, Juan de (um 230 f. (1646–1715) 78
Ditzen, 1893–1947) 1470–1525?) 22 Fried, Babette (1850– Galliner, Arthur 264
414 Flynn, Errol Leslie 1915) 268 Gallwitz, Esther 380
Fallersleben, August Thomson (1909–1959) Friedländer, David (1750– Gangliang, Fang (*1972)
Heinrich Hoffmann 453 1834) 261 457
von (1798–1874) 182 Foerster, Eberhard (d. i. Friedländer, Vera (d. i. Gansberg, Fritz (1871–
Faraday, Michael (1791– Erich Kästner, 1899– Veronika Schmidt, 1950) 199, 228
1867) 163 1974) 296 *1928) 420 Garriott, Richard (*1961)
Faust, Bernhard Fogowitz, Andrä Heinrich Friedrich, Emmy von – 490
Christoph (1755–1842) (1858 – ca. 1909) siehe: Rhoden, Emmy Gast, Lise (1908–1988)
69 235 von 288
Feddersen, Jakob Fontane, Theodor (1819– Friedrich, Gunter (*1938) Gebhardt, Hertha von
Friedrich (1736–1788) 1898) 150, 179, 182, 460 (1896–1978) 294, 314,
87 226 Friedrich der Weise, 327
Fehrmann, Helma Fordyce, James (1720– Kurfürst v. Sachsen Gedike, Friedrich (1754–
(*1944) 381 1796) 93 (1463–1525) 24 1803) 43
Personenregister 521

Geiger-Gog, Anni (1897– Goerth, Albrecht (1833– 1863) 78, 103–107, Habermas, Jürgen
1995) 257, 296, 303, 1907) 202, 203, 204, 111–116, 122, 192, (*1929) 59
309 216 249, 267, 292, 340, Hachfeld, Eckart – siehe:
Gelbart, Bernhard (*um Goethe, Johann Wolfgang 395, 415 f., 429 Ludwig, Volker
1919) 273 von (1749–1832) 100, Grimm, Ludwig Emil Hacks, Peter (1928–2003)
Gelberg, Hans-Joachim 110, 182, 195, 230, (1790–1863) 115 407, 429
(*1930) 345, 407–411 362, 370, 390, 411 Grimm, Wilhelm (1786– Hadrianus, Publius Aelius
Gellert, Christian Fürchte- Goeze, Johann August 1859) 78, 103–108, (76–138) 232
gott (1715–1769) 74, Ephraim (1731–1793) 111–116, 121 f., 192, Haeckel, Ernst Heinrich
81 91 249, 267, 292, 340, Philipp August (1834–
Gellert, Wanda 238 Göhring, Ludwig (1860– 395, 415 f., 429 1919) 184
Gellius, Johann Gottfried 1942) 203, 204, 219– Grimmelshausen, Hans Hagedorn, Friedrich von
(1732–1781) 49, 50 221 Jakob Christoffel von (1708–1754) 74, 81
Genschow, Fritz (1905– Goldberg, Eric (*1955) (1621/1622–1676) 22, Hahn, Gerhard (*1946)
1977) 452 461 34 456
George, Terry (*1952) Goldszmit, Henryk – Gronemann, Walter Haken, Johann Christian
460 siehe: Korczak, Janusz (1926–1996) 335 f. Ludwig (1767–1835)
Gerber, Christian (1660– Golikow, Arkadi Groth, Klaus (1819– 76
1731) 21 Petrowitsch – siehe: 1899) 111, 182 Halbey, Hans Adolf
Gerlach, Samuel (um Gaidar, Arkadi Grötzsch, Robert (1882– (1922–2003) 408
1610–1678) 37 Gombrich, Lisbeth 1946) 187, 194, 296, Halden, Elisabeth (1841–
Germann, Heide 449 (1907–1994) 306, 309 1916) 207, 215
Germershausen, Christian Gönnert, Felix (*1975) Grube, Thomas (*1971) Hallberg, Grete 238
Friedrich (1725–1810) 456 459 Halpin, Luke (*1947)
93 Görlich, Günter (*1928) Grumbach, Karl (1790– 453
Gerok, Karl (1815–1890) 374, 426, 432, 433 1853) 154 Hamann, Johann Georg
179 Görner, Carl August Grün, Max von der (1730–1788) 96, 99
Gerstäcker, Friedrich (1806–1884) 169, 181 (1926–2005) 454 Hamsun, Marie (1881–
(1816–1872) 155, 157, Görres, Guido (1805– Grütter, Karin (*1958) 1969) 248
218, 220, 248 1852) 117 351 Handloegten, Hendrik
Getto, Almut (*1964) Gorschenek, Margareta Gsell-Fels, Luise Caroline (*1968) 458
459 358 (geb. von Fels, 1829– Hannibal (246–183
Gilbert, Ron 492 Gotschlich, Helga 1887) 209 v. Chr.) 348
Gillespie, Dizzy (1917– (*1938) 421 Gubitz, Friedrich Wilhelm Hanstein, Otfrid von
1993) 374 Gotthelf, Jeremias (d. i. (1786–1870) 140 (1869–1959) 280, 284
Gjems-Selmer, Aagot Albert Bitzius, 1797– Guevara, Antonio de Hao, Ning (*1977) 458
(1857–1926) 290 1854) 169 (1480–1545) 13 Harbou, Thea von (1888–
Glaß, Luise (1857–1932) Gottsched, Johann Guggenmos, Josef (1922– 1954) 229, 238
179 Christoph (1700–1766) 2003) 407, 411 Hardel, Gerhard (1912–
Glatz, Jakob (1776–1831) 53, 89, 90 Güll, Friedrich Wilhelm 1984) 419, 427
94, 142 Göz, Christian Gottlieb (1812–1879) 126, 127 Hardel, Lilo (1914–1999)
Gleich, Jacky (*1964) (1746–1803) 74 Gumpert, Thekla von 419, 427
412 Gräbner, Gustav A. (verh. Schober, 1810– Hardenberg, Friedrich
Gleim, Johann Wilhelm (1809–1891) 156, 219 1897) 142, 165, 167, Leopold Freiherr von –
Ludwig (1719–1803) Graf, Oskar Maria 178, 201, 215 siehe: Novalis
74, 81 (1894–1967) 309 Gündel, Emma (geb. Hardy, Oliver Norvell
Gleit, Maria (d. i. M. Gräfe, Heinrich (1802– Knacke, 1889–1968) (1892–1957) 451, 453
Hofmann, geb. Herta 1868) 155 380 Häring, Georg Wilhelm
Gleitsmann, 1909– Grasmeyer, Christa Günzel-Horatz, Renate Heinrich – siehe:
1981) 296, 300, 309 f. (*1935) 425 (*1943) 358 Alexis, Willibald
Glücksberg, E. von 234 Grass, Günter (*1927) Gut, Elias (1872–1942) Harnisch, Wilhelm
Gnapheus, Gulielmus 363 263 (1787–1864) 154
(1493–1568) 16 Griebner, Reinhard Härö, Klaus (*1971)
Gneisenau, August (*1952) 430 H 457
Wilhelm Anton Graf Grien, Hans Baldung Harsdörffer, Georg
Neidhardt von (1760– (1484/1485–1545) 11 Haase, Jürgen (*1945) Philipp (1607–1658)
1831) 146, 147 Grimm, Hans (1875– 459 20, 40
Goebbels, Joseph (1897– 1959) 282 Habeck, Fritz (1916– Hart, Heinrich (1855–
1945) 276, 325, 437 Grimm, Jacob (1785– 1997) 326 1906) 184, 185
522 Personenregister

Härtling, Peter (*1933) 185 f., 196, 204–206, Higinbotham, William A. Hofmann, Else (*1862)
357 211, 238 (1910–1994) 486 237, 239
Hartmann von Aue († um Hendrix, Jimi (1942– Hildebrandt, Christoph Hofmann, Karl Friedrich
1210/20) 1970) 368, 375 (1763–1846) 156 (um 1775–1813)
Hartner, Eva (d. i. Emma Hennig von Lange, Alexa Hill, Stuart (*1958) 392 146 f.
Eva Henriette von (*1973) 369, 370, Hiller, Johann Adam Hofmann, Kitty (*1824)
Twardowska, 1845– 372 f., 376 f., 388–390 (1728–1804) 81 168
1889) 208 Henning, Richard (1874– Hinton, Susan E. (*1948) Hofmann, M. (geb. Herta
Hattop, Karola (*1949) 1951) 199 363 Gleitsmann) – siehe:
458, 459 Hensel, Jana (*1976) Hinzelmann, Elsa-Margot Gleit, Maria
Hauff, Wilhelm (1802– 376, 377 (*1895) 296, 304 Hofmannsthal, Hugo von
1827) 124 f., 150 f., Herburger, Günter Hirsch, Jenny (1829– (1874–1929)
249, 267, 269, 348, (*1932) 395 1902) 182 Hohler, Franz (*1943)
362, 400 Herchenbach, Wilhelm Hirsch, Leo (1903–1943) 194
Haugen, Tormod (*1945) (1813–1889) 137 271, 274 Hölder, Luise (um 1790 –
393 Herder, Johann Gottfried Hirsch, Samson Raphael um 1850) 156
Haußmann, Leander (1744–1803) 78 f., 82, (1808–1888) 262 Hölderlin, Johann
(*1959) 462 88, 95–99, 102, 110, Hirschberg, Kerstin 446 Christian Friedrich
Haydn, (Franz) Joseph 182 Hirtz, Dagmar (*1941) (1770–1843) 100, 411
(1732–1809) 230 Herfurtner, Rudolf 456 Hollriede, Hagdis (d. i.
Hebbel, Christian (*1947) 357, 363–367, Hitler, Adolf (1889–1945) Margarethe Braken-
Friedrich (1813–1863) 385 f. 313, 319, 324 hoff, *1902) 289
182 Herlinger, Ilse (1903– Hjorth, Vigdis (*1959) Holm, Anne (1922–1998)
Hederich, Karl Heinz 1944) 268 f. 387 354
(1902–1976) 276 Herman, Nikolaus (um Hobrecker, Karl (1876– Holm, Jennifer L. (*1964)
Heichen, Walter (1876– 1480–1561) 11 1949) 277 351
1970) 236 Hermannsdörfer, Elke Hochmuth, Karl (1919– Holst, Hanne-Vibeke
Heidenreich, Gert (*1947) 351 2002) 354 (*1959) 386
(*1944) 409 Hermes, Johann Hochstetter (weitere Hölty, Ludwig Christoph
Heiduczek, Werner Timotheus (1738– Daten unbekannt) 137 Heinrich (1748–1776)
(*1926) 427, 428 1821) 94 Höcker, Oskar (1840– 81
Hein, Christoph (*1944) Hermlin, Stephan (1915– 1894) 185, 225, 228, Holtz-Baumert, Gerhard
431 1997) 421 f., 427 230–232, 234 f. (1927–1996) 374, 421,
Hein, Jakob (*1971) Herodot (um 484 – um Hoernle, Edwin (1883– 424–426, 429, 435,
377 424) 33 1952) 415 436
Heine, Heinrich (1797– Herz, Henriette (1764– Hofer, Andreas (1767– Holz, Arno (1863–1929)
1856) 129 1847) 232 1810) 230 182
Heinrich, Richard Herzfelde, Wieland Hofer, Karl (1878–1955) Homer (8. Jh. v. Chr.) 35,
(*1893) 292 (1896–1988) 306, 171 41
Heinrich der Löwe 309 Hoffman, Mary (*1945) Horaz (Quintus Horatius
(Herzog von Sachsen Herzog, Gabriele 433 352 Flaccus, 65–8 v. Chr.)
und Bayern, 1129/31– Hesse, Hermann (1877– Hoffmann, Ernst Theodor 41
1195) 282 1962) 218, 362, 367, Amadeus (1776–1822) Horn, W.O. von (d. i.
Heinrich der Seefahrer 390 104–106, 118–124, Friedrich Wilhelm
(1394–1460) 324 Hessel, Franz (1880– 187, 362, 401 Philipp Oertel, 1798–
Heinz, T. von (d. i. Henny 1941) 246 Hoffmann, Franz 228 1867) 149, 150, 228
von Tempelhoff, 1853– Hetmann, Frederik (d .i. Hoffmann, Franz Hornby, Nick (*1957)
1929) 207 Hans-Christian Kirsch, Friedrich Alexander 371, 373
Heiss, Lisa (d. i. Elisabeth 1934–2006) 336 f., (1814–1882) 139, 141, Hornschuh, Heike
Heiss, 1897–1981) 382 150, 156, 164, 167, (*1960) 382
380 Heusinger, Johann 185 Hosemann, Theodor
Held, Kurt (d. i. Kurt Heinrich Gottlieb Hoffmann, Heinrich (1807–1875) 121
Kläber, 1897–1959) (1766–1837) 84 (1809–1894) 142 f., Hottinger, Johann Jakob
296, 305, 307–309, Hewitt, Peter (*1962) 145, 179, 291 (1783–1860) 148
315, 322, 380, 414 457 Hoffmann, Ruth (1893– Houwald, Ernst von
Helke, Fritz (1905–1967) Hey, Wilhelm (1789– 1974) 297 (1778–1845) 142, 168
277, 282, 284, 293 1854) 125–127 Hoffmann von Fallersle- Hove, Françoise von –
Helm, Clementine (verh. Hiemer, Ernst (1900– ben, August Heinrich siehe: Cactus, François
Beyrich, 1825–1869) 1974) 291 (1798–1874) 127 Hub, Ulrich (* 1963) 448
Personenregister 523

Hübner, Johann (1668– Janisch, Heinz (*1960) Kahn, Cédric (*1966) Keun, Irmgard (1910–
1731) 11, 86 405 456 1982) 297, 322
Hübner, Wolfgang Jankofsky, Jürgen (*1953) Kaléko, Mascha (d. i. M. Key, Ellen (1849–1926)
(*1931) 459 421 Aufen-Engel, 1907– 187
Huch, Friedrich (1873– Janosch (d. i. Horst 1975) 296 f., 301 Kiepenheuer, Bettina –
1913) 367 Eckert, *1931) 334, Kallbach, Konrad (1913– siehe: Hürlimann,
Hugo, Victor (1802– 395, 397, 407, 411 1994) 449 Bettina
1885) 348 Janssen, Susanne (*1965) Kant, Immanuel (1724– Kilian, Susanne (*1940)
Hugo von Sankt Viktor 412 1804) 64, 84, 90 383
(um 1097–1141) Jaoui, Agnès (*1964) 459 Kant, Uwe (*1936) 429, Kirsch, Hans-Christian –
Hülswitt, Tobias (*1973) Jarvis McGraw, Eloise 431 siehe: Hetmann,
370, 372, 377 (1915–2000) 352, 353 Karau, Gisela (*1932) Frederik
Humboldt, Alexander von Jaworski, Alicja (*1955) 419, 421 Kirsten, Johann Friedrich
(1769–1859) 167 456, 461 Karl der Große (747–814) Ernst (1768–1820)
Humbsch, Kristian Jean Paul (d. i. Johann 230, 232 90
(*1942) 425 Paul Friedrich Richter, Karl Wilhelm, Markgraf Kläber, Kurt – siehe:
Huntgeburth, Hermine 1763–1825) 98–100, v. Ansbach (1712– Held, Kurt
(*1957) 482 405 1757) 36 Klapp, Anna (*1840)
Hürlimann, Bettina (geb. Jensen, Marcus (*1967) Kasanki, Gennadi (1910– 183
Kiepenheuer, 1909– 377 1983) 452 Klapp-Osten, Anna
1983) 292 Jeremeev, Aleksei Kasparow, Garri Sophie Charlotte –
Hüttner, Hannes (*1936) Iwanowic – siehe: Kimowitsch (d. i. Garik siehe: Stein, Sophie
427, 429–431 Pantelejew, Leonid Weinstein, *1963) Klein, Gerhard (1920–
Jezewski, Stanislaus von – 485 1970) 454
I siehe: Falkenhorst, C. Kästner, Erich (1899– Klein, Norma (1938–
Jhan, Johann († vor 1565) 1974) 247, 254–258, 1989) 385
Illies, Florian (*1971) 11 269, 274, 296, 303, Kleinschmidt, Albert
376 f. Jobs, Steve (*1955) 487 309, 311, 313, 315, (1847–1924) 234
Imabayashi, Hiroyuki Johann Friedrich, 317–324, 327, 330 f., Klemke, Werner (1917–
492 Kurfürst v. Sachsen 336, 340, 407, 411, 1994) 423
Inkiow, Dimiter (1932– (1503–1554) 24 451 f., 462 Klemm, Johanna
2006) 446 Johann von Brabant Katajew (auch Kataev), Henriette Catharina –
Iselin, Isaak (1728–1782) (1252/1253–1294) Valentin Petrowitsch siehe: Clemens, Hanna
51, 85 John, Eugenie – siehe: (1897–1986) 413 Klemme, Erika (*1939)
Iser, Dorothea (*1946) Marlitt, Eugenie Katz, Erich 265 407
425 Johnson, Uwe (1934– Kauffmann (von Klemmert, Hugo (1850–
Israel ben Elieser (gen. 1984) 363, 373 Bornberg), Justus 1896) 182
Baal Schem Tow, um Jokl, Anna Maria (1911– (17./18. Jh.) 38 Kletke, Hermann (1813–
1700–1760) 266 2001) 272, 296–302, Kautsky, Karl (1854– 1886) 128
Iwatani, Toru (*1955) 306, 311 1938) 176 Klibansky, Erich (1900–
488 Jong, Mijke de (*1959) Kawerin, Weniamin 1942) 264
457 Alexandrowitsch (d. i. Kloerss, Sophie (1866–
J Joplin, Janis (1943–1970) W.A. Zilberg, 1902– 1927) 179, 238
375 1989) 413 Klopstock, Friedrich
Jacobson, Gun (1930– Jünger, Ernst (1895– Keaton, Buster (d. i. Gottlieb (1724–1803)
1996) 382 1998) 236, 283 Joseph Francis Keaton, 182
Jacoby, Edmund (*1948) Jürgen, Anna (d. i. Anna 1895–1966) 247, 451 Klötzel, Cheskel Zwi
411 Müller-Tannewitz, Kekulé, Dagmar (*1938) (1891–1951) 269 f.
Jägersberg, Otto (*1942) 1899–1989) 416 382 Klüger, Ruth (*1931)
341 Jürgens, Udo (*1934) Keller, Gottfried (1819– 357
Jahn, Hans (1894–1959) 469 1890) 182 Knigge, Adolph von
296, 307 Kerner, Charlotte (*1950) (1752–1796) 86
Jahnke, Hermann (1845– K 401, 461 Knigge, Philippine
1908) 234 Kerr, Alfred (1867–1948) Auguste Amalie von
Jakob I. (James), Kg. v. Kaeser, Hildegard 356 (1775–1841) 93
Schottland (1394– Johanna (1904–1965) Kerr, Judith (*1923) 296, Knop-Kath, Lydia
1437) 23 296, 300, 304 f., 307– 356 (1906–1983) 289
Jandl, Ernst (1925–2000) 309 Kershner, Irvin (*1923) Knöpke-Joest, Helga
411 Kahl, Erich 466 462 280
524 Personenregister

Koch, Henny (1854– Kosche, Christian Kubsch, Hermann Werner Lask, Berta (1878–1967)
1925) 179, 185, 206 f., Traugott (1754–1789) (1911–1983) 433 259, 296, 301, 306,
211 f., 227, 237 f. 85 Küchenmeister, Claus 308, 309
Koch, Jurij (*1936) 375, Köster, Hermann Leopold (*1930) 421 Latour-Landry, Geoffrey
434, 436 (1872–1957) 185, 202, Küchenmeister, Wera Chevalier de (ca. 1320–
Koch, Reinhard 363 220 (*1929) 421, 429 1391) 1, 23, 28 f., 31
Koch, Rosalie (1811– Kotzde, Wilhelm (d. i. Kuckhoff, Greta (1902– Laube, Heinrich (1806–
1880) 139, 142, 201 Wilhelm Kottenrodt, 1981) 421 1882) 156
Koeppe, Sigrun (*1931) 1878–1948) 176, 230, Kühl, Olaf (*1955) 378 Laurel, Stan (d. i. Arthur
454 234 Kühn, Franz (1814– Stanley Jefferson,
Kohl, Eva Maria (*1947) Kotzebue, August von 1876) 228, 234 1890–1965) 451, 453
425 (1761–1819) 147 Kühner, Carl (1804– Lavater, Johann Kaspar
Köhler, Fr. 110 Kowalchuk, William R. 1872) 178 (1741–1801) 85, 87 f.
Køhlert, Morten (*1961) 482 Kunzemann, Gertrud Lazar, Auguste (verh.
458 Kozik, Christa (*1941) (*1910) 289 Wieghardt, 1887–
Kohn, Salomon (1825– 430 f. Kurth, Cornelia (*1960) 1970) 296, 308 f., 311,
1904) 262 Kracauer, Siegfried 388, 390 414
Kohner, Frederick (1905– (1889–1966) 242, Kutsch, Angelika (*1941) Leander, Richard (d. i.
1986) 296 246 383 Richard von Volkmann,
Kolbe von Wartenberg, Kracht, Christian (*1966) Kutzleb, Hjalmar (d. i. 1830–1889) 188
Johann Kasimir d. Ä. 364, 369 f. Hermann Kutzleb, Lebert, Benjamin (*1982)
(1584–1661) 13 Kramarz, Maria (*1915) 1885–1959) 282, 314 370, 376
Kolmar, Gertrud (1894– 290 Kyber, Manfred (1880– Lederer, Joe (1907–1987)
1943) 273 Krämer, Simon 261 1933) 249 296
Kolumbus, Christoph Kramnik, Wladimir Lehmann, Markus (Meir)
(1451–1506) Borissowitsch (*1975) L (1831–1890) 262 f.
348 486 Lehnert, Georg Hermann
Kompert, Leopold (1822– Kranz, Herbert (1891– Lackowitz, Wilhelm (1862–1937) 181
1886) 262 1973) 326 (1837–1916) 234, 235 Lehnert, Johann Heinrich
Kon, Satoshi (*1963) Krása, Hans (1899–1944) Laddey, Emma (geb. (1792–1848) 155
461 274 Radtke, 1841–1892) Leibniz, Gottfried,
König, Karin 358 Kravchuk, Andrei (*1962) 182, 214 Wilhelm (1646–1716)
König, Ulrich (*1949) 457, 458 Ladiges, Ann (*1935) 274
462 Kredel, Fritz (1900–1973) 383 Leip, Hans (1893–1983)
Konrad von Haslau (2. 293 Lagerlöf, Selma (1858– 259
Hälfte 13. Jh.) 13 Kreidolf, Ernst (1863– 1940) 192 Lemieux, Michèle
Kopernikus, Nikolaus 1956) 171, 189 Laguionie, Jean François (*1955) 456
(1473–1543) 8 Krenzer, Rolf (*1936) (*1939) 461 Lenau, Nikolaus (d. i.
Körber, Philipp Wolfgang 447 Lamorisse, Albert (1922– Nikolaus Franz
(1811–1873) 139, 165, Kreßner, Rudolf 291–293 1970) 492 Niembsch, 1802–1850)
219 Kreuzpaintner, Marco Lamprecht, Eva-Maria 182
Korczak, Janusz (d. i. (*1977) 459 402 Lenzen, Hans Georg
Henryk Goldszmit, Krogmann, Hans-Gerd Lamprecht, Gerhard (*1921) 410
1878–1942) 244 (*1935) 387 (1897–1974) 247, Lepman, Jella (1891–
Kordon, Klaus (*1943) Kronfli, Josephine 447 451 1970) 296, 306, 311
352, 359 Krupp, Alfred (1812– Lamprecht, Karl (1856– LePrince de Beaumont,
Korn, Ilse (1907–1975) 1887) 163 1915) 234 Jeanne-Marie (1711–
415, 419 Kruse, Max (*1921) 353 Lamszus, Wilhelm (1881– 1780) 72, 93
Korn, Vilmos (1899– Krusow (Major Krusow, 1965) 229, 244 Leschnitzer, Adolf (1899–
1970) 419 vermutlich Pseudonym) Lange, Helene (1843– 1980) 273
Körner, Friedrich (*1815) 219 1930) 215 Lessing, Gotthold
148 Krüss, James (1926– Lange, Wolf-Armin Ephraim (1729–1781)
Körner, Karl Theodor 1997) 188, 198, 316, (*1957) 456 48, 53, 74
(1791–1813) 147 324, 330–335, 408, Lansch, Enrique Sánchez Lettow-Vorbeck, Paul von
Körner, Wolfgang (*1937) 410 f., 429, 438, 469 (*1963) 459 (1870–1964) 283
382 f. Krylow, Iwan (1768– La Roche, Sophie von Levi, Hermann (1839–
Korschunow, Irina 1844) 154 (1730–1807) 72, 93 f. 1900) 232
(*1925) 356, 363, Kuba (d. i. Kurt Barthel, Larsen, Egon (*1904) Levoy, Myron (*1930)
382 f. 1914–1967) 296, 302 296, 300 356
Personenregister 525

Lewin, Waldtraut (*1937) Lorenzini, Carlo – siehe: Maita, Aki (*1966) Matthiessen, Wilhelm
352 f., 357 Collodi, Carlo 495 (1891–1965) 250, 256,
Leyding, Johann Lornsen, Boy (1922– Maiwald, Peter (*1946) 314
Diederich (1721–1281) 1995) 467 409 Mattsperger, Melchior
72 Losansky, Rolf (*1931) Majakowski, Wladimir (1627–1698) 11
Lian, Torun (*1956) 459 454, 461 Wladimirowitsch Matull, Kurt (*1872)
Lichey, Georg (1886– Lossius, Kaspar Friedrich (1893–1930) 413 217
1939) 295 (1753–1817) 76, 82 Major Krusow – siehe: Maukisch, Heinrich (um
Lichtwer, Magnus Lossius, Rudolph Krusow 1800–1860) 131,
Gottfried (1719–1783) Christoph (1760–1819) Makarenko, Anton 145
74 80, 87 (1888–1939) 418 Maximilian I. (1459–
Liebeskind, August Jakob Lottig, Wiliam (1867– Malmros, Ulf (*1965) 1519) 30
(1758–1793) 78 f., 98 1953) 195 457 Maximilian I., Kurfürst v.
Liliencron, Detlev (1844– Lotz, Karl-Heinz (*1946) Mancke Maria – siehe: Bayern (1573–1651)
1909) 179, 182, 234, 459 Felseneck, Marie von 13
236 f. Lounsbery, John (1911– Mandoki, Luis (*1954) May, Karl (1842–1912)
Lima, Kevin (*1962) 461 1976) 461 458 152, 157, 179, 186,
Lin, Poliang 456 Löwenstein, Rudolf Mann, Erika (1905–1969) 219, 221–224, 248,
Lindgren, Astrid (1907– (1819–1891) 128 259, 296, 299 f., 303, 274, 285, 307, 318,
2002) 322, 329, 334, Lucas, George (*1945) 305 f., 309, 311, 421 416, 419, 437, 453
340, 345, 377, 380, 461 f., 484 Mann, Klaus (1906– Mazer, Norma (geb. Fox,
394, 431, 438, 444 f., Lüddemann, Steffen 1949) 309 *1931) 386
485 (*1962) 359 Männling, Johann McInerney, Jay (*1955)
Linke, Lilo (1906–1963) Ludwig, Samuel (1759– Christoph (1658–1723) 368
296 f., 302 1798) 89 37 Megerle, Johann Ulrich –
Linzenmeier, Mira Ludwig, Volker (d. i. Mao Tse Tung (1893– siehe: Abraham a
(*1993) 446 Eckart Hachfeld, 1976) 342 Sancta Clara
Lips, Julius Ernst (1895– *1937) 342 Maria I. Tudor (1516– Mehring, Franz (1846–
1950) 296, 300 Ludwig XIV., Kg. v. 1558) 351 1919) 250 f.
Lobe, Mira (1913–1995) Frankreich (1638– Maria Theresia (1717– Meier, Sid (*1954) 492
272, 296, 382 1715) 35 1780) 230 Meierotto, Johann
Locke, John (1632–1704) Ludwig XV. (Louis Duc Marlitt, Eugenie, (d. i. Heinrich Ludwig
49 de Bourgogne, 1710– Eugenie John, 1825– (1742–1800) 88
Loewe, Heinrich Eliakim 1774) 35 1887) 202 Meinck, Willi (1914–
(1869–1951) 268 Luise, Kg.in von Preußen Marquand, Richard 1993) 419
Loewenberg, Jakob (1776–1810) 148, 230, (1938–1987) 462 Meißner, August Gottlob
(1856–1929) 182, 263 234 Marquart vom Stein (1752–1807) 74
Loewenstein, Kurt (1902– Lukács, Georg (1885– (1425/1430– Meißner-Johannknecht,
1973) 296, 309 1971) 349 1495/1496) 1 Doris (*1947) 386
Löffelholz, Karl Georg Luruli, Ntshavheni Wa Marryat, Frederick Meister, Ernst (1911–
(Pseud. für Uwe Kant, (*1955) 458 (1792–1848) 155, 1979) 408
Peter Abraham, Hannes Lustig, Peter (*1937) 156 Melanchthon, Philipp
Hüttner) 431 447, 469 Marschak, Samuil (1497–1560) 7, 8
Lohenstein, Daniel Lütgen, Kurt (1911– Jakovlewitsch (1887– Mendelssohn, Moses
Caspar von (1635– 1992) 326, 348 f. 1964) 413 (1729–1786) 84, 261
1683) 37 Luther, Martin (1483– Martini, Lukas (1548– Mendelssohn-Bartholdy,
Lohmeyer, Julius (1853– 1546) 6 f., 12, 26, 29, 1599) 11 f. Felix (1809–1847)
1903) 178 f., 228, 230 39, 86, 231 Martin Linius von 127
Löhr, Johann Andreas Lützow, Adolf Freiherr Cochem (1634–1712) Mensing, Kolja (*1971)
(1764–1841) 142 von (1782–1834) 147 11 377
London, Jack (d. i. John Marx, Karl (1818–1883) Menzel, Wolfgang (1798–
Griffith Chaney/ M 298, 299, 419 1873) 139
Wellman, 1876–1916) Masannek, Joachim Merian, Matthaeus
248, 285 Maar, Paul (*1937) 357, (*1960) 462 (1593–1650) 2
Löns, Hermann (1866– 394, 396 f., 446 f., 485 Masen (Masenius), Jakob Merkel, Dankegott
1914) 192 Maaß, Siegfried (*1936) (1606–1681) 17 Immanuel (1765–1789)
Loog, Petra (*1966) 457 426 Maslowska, Dorota 60, 72
Lorenzen, Ernst (1876– Macropedius, Georgius (*1982) 377 Metz, Josefa (1871–1943)
1954) 229 (um 1475–1558) 17 Mathias, Paul 296 273
526 Personenregister

Meurer, Max (1882– Modersohn-Becker, Paula N Nis(s)le, Julius (1812–


1959) 438 (1876–1907) 172 1895) 126
Meyer, Andreas (1742– Moissy, Alexandre Næss, Petter (*1960) 457 Nishikado, Toshihiro
1807) 93 Guillaume Mouslier de Napoleon I. (1769–1821) (*1944) 487
Meyer, August Ferdinand (1712–1777) 82 102, 131, 138, 146, Nitsch, Paul Friedrich
– siehe: Brunold, Möllhausen, Heinrich 154, 226, 232, 234 Achat (1754–1794) 94
Friedrich Balduin (1825–1905) Nast, Clara (geb. Seyffert, Noack, Hans-Georg
Meyer, Carolyn (*1935) 220 1866 – um 1925) 174, (1926–2005) 354 f.
351 Molnár, Ferenc (1878– 240 Noll, Dieter (1927–2008)
Meyer, Clemens (*1977) 1952) 256 Naters, Elke (*1963) 421, 422
377 f. Molyneux, Peter (*1960) 390 Nordau, Max (d. i. Simon
Meyer, Conrad Ferdinand 492 Nathusius, Marie (geb. Maximilian Südfeld,
(1825–1898) 182 Morgenroth, Kate Scheele, 1817–1857) 1849–1923) 268
Meyer, Hans-Georg (*1972) 379 215 Norkus, Herbert (1916–
(*1930) 419 Morgenstern, Johanna Nattiv, Guy (*1973) 458 1932) 281
Meyer, Helga (*1929) Katharina (1748–1796) Nazarro, Ray (1902– Nossow, Nikolai
419 93 1986) 453 Nikolajewitsch (1908–
Meyer, Henry (*1947) Morgenstern, Lina (geb. Nebelthau, Otto (1894– 1976) 413
457 Bauer, 1830–1909) 1943) 292 Nöstlinger, Christine
Meyer, Stephenie (*1973) 204, 214, 232 Neill, Alexander (*1936) 333, 342, 346,
393 Morgner, Irmtraud Sutherland (1883– 357, 381–385, 394 f.,
Meyer, Werner (*1948) (1933–1990) 426 1973) 340 454
460 Mörike, Eduard (1804– Nelk, Theophilus (d. i. Notker von St. Gallen
Meyer-Rey, Ingeborg 1875) 123, 182 Alois Adalbert Waibel, (um 950–1022) 3
(1920–2001) 415 Moritz, Karl Philipp 1787–1852) 137 Novalis (d. i. Friedrich
Meynier, Johann Heinrich (1756–1793) 69, 84, Nelson, Blake (*1960) Leopold Freiherr von
(Pseud. L. K. Iselin, 88, 90, 362 369, 389 Hardenberg, 1772–
Georg Ludwig Jerrer, Moscherosch, Johann Neukirch, Benjamin 1801) 98–100, 118,
1764–1825) 145, 161, Michael (1601–1669) (1665–1729) 35 f. 126, 362
162 12 Neumann, John von (d. i. Nover, Jakob (1845–
Mical, Hulda (1879– Mozart, Wolfgang János von Neumann, 1928) 234
1957) 229, 292 Amadeus (1756–1791) 1903–1957) 485 Nowotny, Joachim
Michaelis, Karin (1872– 80, 230 Neumann, Karl (1916– (*1933) 418, 421, 427,
1950) 248, 258, 379 Mucke, Dieter (*1936) 1985) 421 f. 429, 435, 436
Michels, Tilde (*1920) 430, 436 Neumann, Simon 268 Nygaard, Gunvor Andbo
333 Mühlbach, Fr. R. 110 Neurath, Marie (*1898) (*1937) 385
Miethe, Käthe (1893– Müller, Heinrich (1766– 296
1961) 288, 289 1833) 148 Neutsch, Erik (*1931) O
Mihaly, Jo (d. i. Elfriede Müller-Felsenburg, Alfred 433
Kuhr, verh. Steckel, (1926–2007) 335 f. Nicolai, Friedrich (1733– Oberländer, Adolf (1845–
1902–1989) 257, Müller-Tannewitz Anna – 1811) 127 1923) 179, 189
295 f. siehe: Jürgen, Anna Niebelschütz, Sophie von Obrig, Ilse (*1908)
Miller, Warren (1921– Münchgesang, Robert (1850–1911) 207 465 f., 480
1966) 363 (*1855) 231, 235 Niedner, Julius (1824– Oelfken, Tami (d. i. Marie
Miller Johann Peter Münchhausen, Karl 1889) 150 Wilhelmine Oelfken,
(1725–1789) 49, 87 Friedrich Hieronymus Nielsen, Asta Sofie Amalie 1888–1957) 258, 297
Milne, Alan Alexander (1720–1797) 101 (1881–1972) 450 Oertel, Friedrich Wilhelm
(1882–1956) 431 Müntefering, Gert K. Niemeyer, Georg Philipp – siehe: Horn,
Minkoff, Rob (*1962) (*1935) 467 Friedrich 85, 93 W.O. von
482 Musäus, Johann Karl Niemeyer, Johann Oest, Johann Friedrich
Miris, Franz von (d. i. August (1735–1787) Christian Ludwig (1755–1815) 70
Franz Bonn, 1830– 73, 116 (1772–1857) 132, 147, Ohorn, Anton Joseph
1894) 189 Musil, Robert (1880– 165 (1846–1924) 234
Mix, Doris (d. i. Emma 1942) 218, 362, 367, Nieritz, Gustav (1795– Olden, Balder (1882–
Schultz) 209 390 1876) 139, 140 f., 1949) 259
Miyamoto, Shigeru Musker, John (*1953) 150 f., 157, 167, 173, Opitz, Martin (1597–
(*1952) 488 461, 482 228 1639) 40
Miyazaki, Hayao (*1941) Muyl, Philippe (*1953) Niese, Charlotte (1854– Oplev, Niels Arden
482 457 1935) 185, 237 (*1961) 457
Personenregister 527

Oppenheimer, Josef Süß Paul III., Papst (1468– Platon (428/427–349/348 Pyle, Howard (1853–
(1698/1699–1738) 1549) 8 v. Chr.) 21 1911) 348
151 Paulus von Tarsus († nach Plehn, Auguste – siehe: Pytka, Joe (*1938) 462
Ordesky, Mark (*1963) 60) 29 Augusti, Brigitte
404 Pausacker, Jenny (*1948) Plenzdorf, Ulrich (1934– Q
Orlev, Uri (*1931) 356 386 2007) 359 f., 363, 368,
Ossowski, Leonie (*1925) Pausewang, Gudrun 373 f., 422, 425 Quabeck, Benjamin
363, 447, 459 (*1928) 356, 357, Pludra, Benno (*1925) (*1976) 379
Osten, Maria (1908– 400 f. 375, 400, 415, 425, Queiroga, Jorge 457
1942) 296, 299, 304, Pederzani-Weber, Julius 427, 431 f. Quinn, Anthony (1915–
309 (1836–1921) 229 Plutarch (um 45 – nach 2001) 453
Osterwalder, Markus Perez, Jizchak Leib 120) 33 Quintilian (Marcus
(*1947) 446 (1851–1915) 264 Pocci, Franz (1807–1876) Fabius Q., ca. 35–100)
Ostrowski, Nikolai Perrault, Charles (1628– 126, 128–130, 169, 4
Alexewitsch (1904– 1703) 78 179, 273
1936) 413 Pestalozzi, Johann Polák, JindĜich (1925– R
O’Sullivan, Maureen Heinrich (1746–1827) 2003) 469
(1911–1998) 453 51 Pollatschek, Walther Raabe, August (1760–
Otten, Karl (1889–1963) Peters, Julie Anne (*1952) (1901–1975) 296, 315, 1841) 75
296, 299, 307, 309 392 319, 322 f., 414 Raabe, Wilhelm (1831–
Otto, Franz (d. i. Johann Petersen, Wolfgang Polo, Marco (1254–1324) 1910) 226
Christian Gottlieb (*1941) 454 348, 353 Radczun, Günter (1931–
Spamer, 1820–1886) Petrarca, Francesco Popp, Adelheid (1869– 1978) 419
149, 163 (1304–1374) 33 1939) 214 Radetzky von Radetz,
Otto-Peters, Louise Petri, Walther (*1940) Poppe, Johann Heinrich Josef Wenzel (1766–
(1819–1895) 182 f. 436 Moritz (1776–1854) 1858) 230
Otto Berthold (1859– Petzold, Konrad (1930– 162 Radlicki, Eva (*1959)
1933) 187 f. 1999) 454 Porta, Konrad (1541– 481
Overbeck, Christian Pfeffel, Gottlieb Konrad 1585) 11 Raff, Georg Christian
Adolf (1755–1821) 80 (1736–1809) 74, 82 Porter, Tracey 392 (1748–1788) 83, 90,
Ovid (Publius Ovidius Pfeiffer, Otti (1931–2001) Postl, Carl Magnus – 162
Naso, 43 v. Chr. – 18 387 siehe: Sealsfield, Raff, Helene (1865–1942)
n. Chr.) 5 Pfeilstücker, Suse (1885– Charles 214, 216
1960) 349 Potente, Franka (*1974) Rambach, Johann Jakob
P Phaedrus (1. Hälfte 1. Jh. 461 (1693–1735) 11
n. Chr.) 38 Pötting, Hedwig (Anna Ramezani, Gholam Reza
Padschitnow, Alexej Pharemund, Christian Maria Joachima) (*1963) 457
(*1956) 492 (Pseud.) 22 Gräfin (1853–1915) Rathenow, Lutz (*1952)
Pahlen, Kurt (1907–2003) Philippson, Ludwig 229 375
296, 305, 306 (1811–1889) 262 Pressler, Mirjam (*1940) Ratke, Wolfgang
Pajeken, Friedrich Piccolomini, Enea Silvio 353, 356, 358, 381 f., (Ratichius) (1571–
Joachim (1855–1920) (Pius II., 1405–1464) 391, 394, 454 1635) 8
219, 221–224 31 Preuß, Gunter (*1943) Rayle, Marga 238
Panitz, Eberhard (*1932) Pichler, Luise (1823– 358, 375, 426, 430 Rebhun, Paul (um 1500–
421 1889) 230 Preußler, Otfried (*1923) 1546) 17
Pantelejew, Leonid (d. i. Pickford, Mary (1892– 316, 324, 327–330, Rechlin, Eva (*1928)
Aleksei Iwanowic 1979) 451 334, 341, 444, 448, 407
Jeremeev, 1908–1987) Pierce, Tamora (*1954) 454 Regener, Sven (*1961)
248, 413, 418 383 Prinz, Joachim 265 377, 462
Paolini, Christopher Pijet, Georg Waldemar Pröhle, Heinrich (1822– Reichardt, Johann
(*1983) 403 (1907–1988) 297 1895) 115 Friedrich (1752–1814)
Pappenheim, Bertha Pin, Isabel (*1975) 405 Proschko, Isidor (1816– 82
(1859–1936) 265 Pinochet, Augusto (d. i. 1891) 230 Reiche, Dietlof (*1941)
Paquet, Alfons (1881– Augusto José Ramón Pruetz, Sigurd (*1960) 350, 352
1944) 247 Pinochet Ugarte, 1915– 358 Reinerus Alemannicus
Parigger, Harald (*1953) 2006) 406 Ptushko, Aleksandr (vor 1200 – um 1250)
352 Plant, Richard (*1910) (1900–1973) 452 14
Pauli, Hertha (1909 od. 296, 298–300, 304 f., Pullman, Philip (*1946) Reinhard, Andreas M.
1906–1973) 296, 300 309 441, 446 457
528 Personenregister

Reinhard, Annemarie Richter, Jutta (*1955) 1866) 104, 109 f., 126, Saring, Toni 280
(1921–1976) 415 441 128, 292, 408 Saul, Anno (*1963) 459
Reinheimer, Sophie Richter, Ludwig (1803– Rudolphi, Karoline Schaad, Isolde (*1944)
(1874–1935) 193, 249 1884) 115, 121, 291, Christiane Luise 381
Reinhold, Liane – siehe: 292 (1754–1811) 80 Schaaf, Johannes (*1933)
Faber, Helene Ridley, Philip (*1960) Ruhland, Herbert 466 398
Reinick, Robert (1805– 449 Rühle, Otto (1874–1943) Schäfer, Paul Kanut
1852) 124, 127 f. Rilke, Rainer Maria 188 (*1922) 421
Reinig, Christa (*1926) (1875–1926) 218, 362, Rühle-Gerstel, Alice Schaffstein, Hermann
408 367, 411 (1894–1943) 246 (*1926) 172
Reiniger, Lotte (1899– Ringelnatz, Joachim (d. i. Runze, Ottokar (*1925) Schanz, Fri(e)da (verh.
1981) 451 Hans Bötticher, 1883– 459 Soyaux, 1859–1944)
Reinwald, Georg Ernst 1934) 178 f., 190, 256, Rusch, Claudia (*1971) 178, 183, 185 f., 188,
(17./18. Jh.) 22 408, 411 377 190, 207, 211, 213,
Reitherman, Wolfgang Rochow, Friedrich Russell, Steve (*1937) 215
(1909–1985) 453, Eberhard von (1734– 486 Scharnhorst, Gerhard
461 1805) 89 Rutgers, Ann (1910– Johann von (1755–
Remarque, Erich Maria Rockstroh, Heinrich 1990) 348 f. 1813) 146, 148
(1898–1970) 285, 422 (1770 – um 1835) Rycker, Piet de (*1957) Scharrelmann, Heinrich
Remmert, Enrico (*1966) 163 456, 461 f., 482 (1871–1940) 186 f.,
369 Röding, Johann Heinrich Ryter, Annemarie (*1957) 199
Renn, Ludwig (d. i. (1732–1800) 80, 82 351 Scharrelmann, Wilhelm
Arnold Friedrich Vieth Rodrian, Fred (1926– (1875–1950) 188
von Golßenau, 1889– 1985) 423 S Scheel, Marianne (*1902)
1979) 416–418 Röhrig, Tilman (*1945) 292
Renner, Peter (*1965) 351, 352 Saalmann, Günter Schenzinger, Karl Aloys
377 Rollenhagen, Georg (*1936) 430 (1886–1962) 281 f.,
Rennert, Jürgen (*1943) (1542–1609) 7, 41, Sahling, Bernd (*1961) 314
430, 436 42 457, 459, 462 Scherf, Dagmar (geb.
Reschke, Willi 319 Rosegger, Peter (1843– Salinger, Jerome David Weisgräber, *1942)
Reuchlin, Johannes 1918) 179, 184, 195 f., (*1919) 362, 367, 369, 382
(1455–1522) 16 218 388, 390, 433 Scheu-Riesz, Helene
Reuß, Heinrich 268 Rosenbaum, Marianne Salles, Walter (*1956) (1880–1970) 296,
Reuter, Bjarne (*1950) (1940–1999) 460 459 300
388 Rosenfeld, Friedrich Salten, Felix (d. i. Schidlowsky, Christian
Reuter, Ernst (*1933) (Pseud. Friedrich Feld, Siegmund Salzmann, (*1965) 447
292 1902–1987) 296, 298, 1869–1947) 267, 296, Schill, Ferdinand von
Rewald, Ruth (1906– 305, 306, 309, 311 304, 306, 309 (1776–1809) 147, 230,
1942) 257, 296, 301– Ross, Carlo (1928–2004) Salzmann, Christian 234
303, 310 356 Gotthilf (1744–1811) Schiller, Friedrich (1759–
Rhau, Georg (1488– Rossbach, Erwin 175 46, 50 f., 58, 65, 72 f., 1805) 182, 230, 318,
1548) 11 Rothemund, Eduard 75, 84, 86, 88, 91, 94 411 f.
Rhoden, Emmy von (d. i. (1900–1966) 277, Samson, Meta (†1942) Schirach, Baldur von
Emmy von Friedrich, 282 f., 291, 293, 313 273 f. (1907–1974) 281
geb. Kühne, 1832– Rothemund, Marc Samter, Max (*1933) Schlegel, Egon (*1936)
1885) 185, 207–209, (*1968) 460 274 454
379, 391 Rothkirch, Thilo Graf Sand, Karl (Carl) Ludwig Schleif, Wolfgang (1912–
Ricciarelli, Giulio (*1965) (*1948) 456, 461 f., (1795–1820) 351 1984) 452
458 482 Sande Bakhuyzen, Willem Schlosser, Johann Georg
Richardson, Samuel Rothschild, Theodor van de (1957–2005) (1739–1799) 84
(1689–1761) 94 (1876–1944) 263 458 Schlott, Jutta (*1944)
Richter, Götz Rudolf Rousseau, Jean Jacques Sander, Christian 375, 426
(*1923) 419 (1712–1778) 50, 51, Friedrich (1756–1819) Schlözer, August Ludwig
Richter, Hans Peter 55, 59, 61–63, 74, 93, 76, 83 von (1735–1809)
(1926–1993) 335–337, 96–98, 196, 321, 434 Sanders, Chris (*1962) 90 f.
354–356, 447 Rowling, Joanne K. 482 Schlüter, Andreas (*1958)
Richter, Johann Paul (*1965) 345 f., 402– Sapper, Agnes (geb. Brater, 399, 402
Friedrich – siehe: Jean 404 1852–1929) 186, Schmeltzer, Kurt (*1888)
Paul Rückert, Friedrich (1788– 197 f., 229 296
Personenregister 529

Schmid, Christoph von Schreiber, Jacob Schweikert, Ulrike Siemens, Ernst Werner
(1768–1854) 135–137, Ferdinand (1809–1867) (*1966) 352 von (1816–1892) 163
139, 167 160 Schwentke, Robert Siemsen, Anna (1882–
Schmid, Hans-Christian Schröder, Claudia (*1953) (*1968) 459 1951) 295, 305, 313
(*1965) 459 461 Schwerin, Rose Marie Siemsen, Hans (1891–
Schmid, Johannes (*1973) Schröder, Rainer Maria (*1922) 439 1969) 296, 299, 305,
458 (*1951) 353 Schwindt, Peter (*1964) 309
Schmid, Joseph Leonhard Schübel, Rolf (*1942) 404 Sienkiewicz, Henryk
(1882–1912) 128 461 Scott, Walter (1771– (1846–1916) 348
Schmid, Karl Adolf Schubert, Dieter (*1929) 1832) 150, 348 Sigmund, Erzhg. v. Tirol
(1804–1884) 178 421 Sealsfield, Charles (d. i. (1427–1496) 23
Schmidhammer, Arpad Schubert, Gotthilf Carl Magnus Postl, Silbermann, Abraham
(1857–1921) 229 Heinrich von (1780– 1793–1864) 218, 220 Moritz (1889–1939)
Schmidt, Arno (1914– 1860) 160 Seedorff, Petra 433 270
1979) 223 Schubert, Helga (d. i. Seghers, Anna (d. i. Netty Simcha, Nachman ben
Schmidt, Ferdinand Helga Helm, *1940) Reiling, 1900–1983) (1772–1810) 266
(1816–1890) 149, 426 296, 306, 309 Simmel, Georg (1858–
228 Schuh, Jakob (*1976) Seidel, Carl August 1918) 220, 243
Schmidt, Otto Ernst – 456 Gottlieb (1754–1822) Simon, Jaakov 273
siehe: Ernst, Otto Schuhmacher, Wilhelm 82 Simon, Liesel 444
Schmidt, Veronika – siehe: 287 Seidel, Friedrich 144 Simrock, Karl (1802–
Friedländer, Vera Schuld, Hans-Georg Seidel, Heinrich (1842– 1876) 111
Schmitz, Ralf (*1961) 353 1906) 188 Sinold von Schütz, Philip
457 Schulenburg, Bodo Seidel, Ina (1885–1974) Balthasar (1657–1742)
Schnabel, Johann (*1934) 420 250 36
Gottfried (1692 – nach Schultz, V. (d. i. Veronika Seidel, Susanne (*1975) Sixtus, Albert (1892–
1750) 76 Lühe) 235 456, 481 1960) 292
Schnack, Friedrich (1888– Schulz, Heinrich – siehe: Seidemann, Maria Skarbina, Helmut (1888–
1977) 256 Almsloh, Ernst (*1944) 358 1945) 293
Schneider, Karla (*1938) Schulz, Hermann (*1938) Seidlin, Oskar (1911– Smidt, Heinrich (1798–
352, 359 357, 447 1984) 296, 304 f., 309 1867) 111
Schneider, Rolf (*1932) Schulze, Friedrich Seidmann-Freud, Tom Smolly, Elieser 273 f.
374, 425, 427 Gottlieb (Pseud.) (1892–1930) 270 Solito, Auraeus (*1969)
Schnitzler, Gregor 175 Seneca (Lucius Annaeus 457
(*1964) 462 Schulze-Smidt, Bernhar- S., 4?–65) 21 Sommers, Stephen
Schnürer, Dagmar dine (1846–1920) 179, Seuberlich, Hans Erich (*1962) 461
(*1972) 449 206 f., 210 (1920–1984) 380 Sonnemann, Emil – siehe:
Schnurre, Rainer (*1945) Schumacher, Hildegard Seybold, David Christoph Brand, Jürgen
408 (1925–2003) 426 (1747–1804) 74 Sophie Gräfin von
Schocken, Salman (1877– Schumacher, Siegfried Seynaeve, Katrien (*1949) Baudissin (geb. Kaskel)
1959) 266 (*1926) 426 358 – siehe: Aurelie
Scholl, Sophie (1921– Schumacher, Tony (1848– Shapiro, Alan (*1957) Sorel, Charles (um 1602–
1943) 356 1931) 186, 196 f., 453 1674) 37
Scholz, Josef 176 229 Shaul, Dror (*1971) Spach, Friedrich (†1794)
Schonger, Hubert (1897– Schumann, Robert 457 85
1978) 451 f. (1810–1856) 127 Sheldon, Sidney (1917– Spalatin, Georg (1484–
Schönlank, Bruno (1891– Schummel, Johann 2007) 453 1545) 24–26
1965) 252, 296 f., Gottlieb (1748–1813) Sherman, George (1908– Spamer, Johann Christian
307–309 61, 83 1991) 453 Gottlieb – siehe: Otto,
Schönstedt, Walter Schuster-Schmah, Sigrid Shih, C. Jay (*1960) 456 Franz
(1909–1961) 296, 306, (*1933) 357 Sibylle von Jülich-Cleve, Spanier, Moritz (1853–
309, 311 Schwab, Hermann (1879– Kurfürstin v. Sachsen 1938) 263
Schoppe, Amalia (1791– 1962) 268 (†1554) 24 Speckter, Otto (1807–
1858) 142, 165 Schwabe, Johann Joachim Siebe, Josephine (1870– 1871) 121, 125,
Schopper, Hartmann (1714–1784) 72, 93 1941) 197, 257 291 f.
(1542? – nach 1595) Schwarz, Annelies Siebenand, Ralf – siehe: Spee, Friedrich (d. i.
41 (*1938) 357 Zaches & Zinnober Friedrich Spe(e) von
Schrader, Karl (*1915) Schwarz, Hans-Martin Sieber, Michael (*1971) Langenfeld, 1591–
414 274 456 1635) 11, 411
530 Personenregister

Spener, Philipp Jakob Stengel, Hansgeorg Strittmatter, Eva (*1930) 298 f., 302 f., 305, 307–
(1635–1705) 11 (1922–2003) 430 414 f. 309, 315, 321 f., 414,
Speyer, Wilhelm (1887– Stephenson, George Stroth, Friedrich Andreas 437, 460
1952) 256, 258, 296, (1781–1848) 163 (1750–1785) 75 Thal, Lilli (*1960)
306, 309, 311, 315, Stephenson, Neal (*1959) Stroud, Jonathan (*1970) 352
318, 451 494 403 Thalbach, Katharina
Spielberg, Steven (*1946) Stetten, Paul von (1731– Strubberg, Friedrich (*1954) 446
461, 484 1808) 90 August – siehe: Armand Thälmann, Ernst (1886–
Spillner, Wolf (*1936) Steuben, Fritz (d. i. Erhard Stuckrad-Barre, Benjamin 1944) 419
436 Wittek, 1898–1981) von (*1975) 364, 370, Theden, Dietrich (1857–
Spinelli, Jerry (*1941) 283, 285 f., 315, 326 373, 376, 462 1909) 220
447 Steurer, Matthias (*1964) Sturm, Julius (1816– Theon (1./2. Jh. n. Chr.)
Spinnen, Burkhard 457 1896) 186 38
(*1956) 403 Steurich, Emil (1852– Sturridge, Charles Thieme, Karl Traugott
Spinoza, Baruch (1632– 1921) 225 (*1951) 453 (1745–1802) 59, 63,
1677) 274 Stevens, Art (1915–2007) Stutz, Jakob (1801–1877) 84 f.
Spohr, Louis (1784–1859) 461 148 Thieme, Moritz (1799–
127 Stevenson, Robert (1905– Sulzer, Johann Georg 1849) 169
Spornberg, Johann von 1986) 453 (1720–1779) 88 f. Thoma, Ludwig (1867–
42 Stevenson, Robert Louis Sulzer, Johann Rudolph 1921) 188
Spyri, Johanna (1827– (1850–1894) 220 (*1750) 93 Thomas, Adrienne (d. i.
1901) 177, 184, 186, Steyer, Christian (*1946) Sutcliff, Rosemary (1920– Hertha Adrienne
195 f., 207, 214 457 1992) 348 f. Deutsch, geb. Strauch,
St. John, Alfred (1893– Stieff, Christian (1675– Sutejew, Wladimir (1903– 1897–1980) 272, 296,
1963) 453 1751) 22 1993) 413 303, 306–309
Stacke, Manuela (*1970) Stierlin, Emanuel (1779– Sutermeister, Otto (1832– Thomas, Louis (1815 –
457 1866) 148 1901) 115 um 1870) 160
Stalin (d. i. Jossif Stöber, August (1808– Sutor, Andreas (*1746 od. Thomasin von Zerklaere
Wissarionowitsch 1884) 111 1747) 89 (um 1186–1238) 13,
Dschugaschwili, 1879– Stöckert, Fanny (1844– Suttner, Bertha Sophia 27
1953) 324, 419, 421 1908) 207, 211 Felicita Baronin von Thomas von Aquin
Stamm, Heinz-Günter Stolberg, Christian zu (geb. Gräfin Kinsky (1224/25–1274) 4
398 (1748–1821) 81 von Chinic und Tettau, Thor, Annika (*1950)
Stanton, Andrew (*1965) Stolberg, Friedrich 1843–1914) 213, 356
461 Leopold zu (1750– 229 Thorpe, Richard (1896–
Staudte, Wolfgang Georg 1819) 81 Süverkrüp, Dieter (*1934) 1991) 453
Friedrich (1906–1984) Stoppe, Daniel (1697– 408 f. Tieck, Ludwig (1773–
452 1747) 40 Svensson, Jón (1857– 1853) 98, 99, 100–
Stefan, Verena (*1947) Storm, Theodor (1817– 1944) 248 102, 104–106, 110,
386 1888) 171, 179, 182, Swift, Jonathan (1667– 118, 121 f., 124, 128,
Steffin, Margarete (1908– 188 1745) 285 401
1941) 296 f., 301 Stow, Percy (1876–1919) Sylvanus (Pseud.) 22 Till, Jochen (*1966)
Stein, Anna (d. i. 453 379
Margaretha Wulff, Stoy, Johann Sigmund T Tissot, Simon-André
1792–1874) 209, 215 (1745–1808) 87, 90 (1728–1797) 70
Stein, Sophie (d. i. Anna Stranka, Erwin (*1935) Tanera, Karl (1849–1904) Todorov, Tzvetan (*1939)
Sophie Charlotte 454 228, 234, 236, 237 400
Klapp-Osten, *1840) Strätling-Tölle, Helga Tempelhoff, Henny von – Tolkien, John Ronald
207, 214, 216 (*1927) 380 siehe: Heinz, T. von Reuel (1892–1973)
Steinhoff, Hans (1882– Strauß, Emil (1866–1960) Tendrjakow, Wladimir 403 f.
1945) 281 218, 362, 367 Fjodorowitsch (1923– Tolstoj, Leo (1828–1910)
Steinhöwel, Heinrich Strauß, Ludwig (1892– 1984) 433 308
(1412–1482/1483) 1953) 273 Terenz (Terentius Publius Töpffer, Rodolphe (1799–
39 Strauß und Torney, Lulu Afer, 195/190–159 1846) 179
Steinke, Christian (*1938) von (1873–1956) v. Chr.) 3, 5 Torell, Linus (*1965)
459 182 Tesarek, Anton (1896– 458
Steinmetz, Udo 461 Strittmatter, Erwin 1977) 244 Trapp, Ernst Christian
Stengel, Georg (1585– (1912–1994) 416–418, Tetzner, Lisa (1894–1963) (1745–1818) 51, 74,
1651) 37 423, 428 249, 253, 257, 296, 83, 84
Personenregister 531

Trautmann, Christian Rahel (geb. Lewin, Wagner, Bernd (*1948) Weigle, Fritz – siehe:
369 1771–1833) 232 431 Bernstein, F.W.
Trease, Geoffrey (1909– Veken, Karl (1904–1971) Wagner, Hermann (1824– Weinert, Erich (1890–
1998) 348, 353 427 1879) 163, 178 1953) 413
Treller, Franz (1839– Verbong, Ben (*1949) Wagner-Tauber, Lina Weingartner, Hans
1908) 179, 219 396, 456, 462 (1874–1936) 268 (*1970) 460
Trenbirth, Steve 461, 482 Vergil (Publius Vergilius Wahl, Mats (*1945) 363 Weinland, Christoph
Trier, Walter (1890–1951) Maro, 70–19 v. Chr.) 3, Waibel, Alois Adalbert – David Friedrich (1829–
256 f. 5 siehe: Nelk, Theophilus 1915) 232 f.
Triller, Daniel Wilhelm Verhoeven, Paul (1901– Waldeyer-Hartz, Hugo Weinstein, Garik – siehe:
(1695–1782) 40 1975) 452 (1876–1942) 236 Kasparow, Garri
Troeltsch, Ernst (1865– Verne, Jules (1828–1905) Waldis, Burkhard (um Kimowitsch
1923) 48 193, 219 1490 – nach 1556) 40 Weise, Christian (1642–
Trofimova, Zoia (*1968) Vesper, Will (1882–1962) Walendy, Paula (1902– 1708) 12, 17
456 286 f. 1991) 466 Weise, Clara – siehe:
Trojan, Johannes (1837– Vetterlein, Christian Wallace, Lewis (1827– Cron, Clara
1915) 179 Friedrich Rudolf 1905) 348 Weiskopf, Grete – siehe:
Trott, Magda (1880– (1759–1842) 89 Wallace, Richard Horatio Wedding, Alex
1945) 257, 288, 314, Victor, Walter 310 Edgar (1875–1932) Weismann, Peter 381
379, 391 Villaume, Peter (1746– 453 Weiss, Peter (1916–1982)
Tscharuschin, Jéwgenij 1825) 89 f. Walpot, Arnold 232 363
Iwanowitsch (1901– Villinger, Hermine (1849– Walser, Robert (1878– Weiß, Ulrich (*1942)
1965) 413 1917) 210 1956) 194, 367 454
Tuan, Alan 456 Vinke, Hermann (*1940) Walter, Otto F. (1928– Weiße, Christian Felix
Tuckermann, Anja 356 1994) 363 (1726–1804) 45, 47 f.,
(*1961) 356 Vives, Juan Luis (1492– Walther, Joachim (*1943) 53 f., 56, 60, 66–68, 72,
Tumler, Wolfgang (*1947) 1540) 16, 21 f. 374 74, 79–83, 88, 93, 167,
458 Vleuten, Carl Ferdinand Warbeck, Veit (um 1490– 169, 251, 408
Turing, Alan (1912–1954) von – siehe: Ferdin- 1534) 24 Weissmüller, Jonny (d. i.
485 ands, Carl Wasserfall, Kurt (*1952) Peter John Weissmüller,
Türk, Viola (*1960) 358 Vogler, Georg (1583/85– 401 1904–1984) 453
Twain, Mark (d. i. Samuel 1635) 11 Wassermann, Jakob Weitbrecht, Gottlieb
Langhorne Clemens, Voit, Johann Peter (1747– (1873–1934) 267 (1840–1911) 182
1835–1910) 274, 422 1811) 85 Watson, Sally 335 Weland, Jakob Christian
Twardowska, Emma Eva Volkmann, Richard von – Weber, Emil 190, 192 (1752–1813) 74
Henriette von – siehe: siehe: Leander, Richard Weber, Ernst 172 Welk, Ehm (1884–1966)
Hartner, Eva Voorhoeve, Anne (*1963) Weber, Hans (*1937) 414
358 375, 433 Wellm, Alfred (1927–
U Vorlíþek, Václav (*1930) Weber, Horst 287, 288 2001) 418, 425, 428,
452, 469 Wedding, Alex (d. i. Grete 432
Uhland, Ludwig (1787– Vos, Ida (*1931) 356 Weiskopf, 1905–1966) Welsh, Irvine (*1958 od.
1862) 104, 128, 182 Voß, Johann Heinrich 257, 296, 303, 306, 1961) 369
Ullmann, Günter (*1946) (1751–1826) 81 308 f., 342, 414–416, Welsh, Renate (*1937)
410 Vries, Jan de (1890–1964) 418, 433 358, 382
Ulrich von Lichtenstein 335 Wedekind, Armin (*1863) Welskopf-Henrich,
(1198–1275/1276) 13 193 Liselotte (1901–1979)
Unger, Friederike Helene W Wedekind, Frank (1864– 416
(1741–1813) 94, 201 1918) 193 Wendrich, Thomas
Urchs, Wolfgang (*1922) Wachowski, Andrew Wedekind, Kadidja (*1971) 458
461 (*1967) 485 (1911–1994) 258 Wenz-Viëtor, Else (1882–
Ury, Else (1877–1943) Wachowski, Laurence Wedge, Chris (*1957) 1973) 291, 292
179, 214, 229, 257, (*1965) 485 482 Werner, Reinhold von
268, 288, 379, 391 Waco, Laura (*1947) Wegener, Paul (1874– (1825–1909) 221
357 1948) 450 Werner, Ruth (1907–
V Waechter, Friedrich Karl Weidenmann, Alfred 2000) 419, 421
(1937–2005) 395 (1916–2000) 280, 315, Wersba, Barbara (*1932)
Vahle, Frederick (*1942) Wagenseil, Christian 317, 324, 325 363, 386
447 Jakob (1756–1839) Weigel, Erhard (1625– Westecker, Grete (1899–
Varnhagen von Ense, 74, 84 1699) 12 um 1952) 289, 290
532 Personenregister

Westermann, George Williams, William Carlos Melentjewitsch (1891– Ziegler, Reinhold (*1955)
(1810–1879) 171 (1883–1963) 411 1977) 430 358, 401
Wethekam, Cil(l)i (1921– Willms-Wildermuth, Wolzogen, Ernst von Zilberg, W.A – siehe:
1975) 351 Agnes (1844–1931) (1855–1934) 179 Kawerin, Wenjamin
Wetzel, Franz Xaver 234 Wood, Elijah Jordan Alexandrowitsch
(1849–1903) 174 Wilmsen, Friedrich (*1981) 453 Zimmer, Hans (*1946)
Wezel, Johann Karl Philipp (1770–1831) Woods, Don (*1950) 490 448
(1747–1819) 76 f. 89, 147 Wörishöffer, Sophie Zimmer, Johann Georg
Wickenhäuser, Ruben Wimpfeling, Jakob (1838–1890) 185, 219, (1777–1853) 107
Philipp (*1973) 353 (1450–1528) 12, 16 221 f. Zimmering, Max (1909–
Wickram, Jörg (um 1505 Winder, Ludwig (1889– Wozniak, Steve (*1950) 1973) 296, 298, 300 f.,
– vor 1562) 31–34 1946) 267 487 419
Widmann, Georg Rudolf Winterfeld, Henry (1901– Wright, Will (*1960) 489 Zingerle, Ignaz Vinzenz
(16. Jh.) 26 1990) 315, 317 f., 327 Wünsch, Kurt (*1939) (1825–1892) 115
Widukind, Herzog von Wirsung, Christoph 425 Zingerle, Joseph (1831–
Sachsen (um 730–807) (1500/1505–1571) 22 Wyle, Niclas von (um 1891) 115
282 Wittkamp, Frantz 1410 – nach 1478) 31 Zitelmann, Arnulf
Wiedemann, Franz (*1943) 411 Wyss, Hedi (*1940) (*1929) 351
(1821–1882) 186 Wohlgemuth, Joachim 381 f. Zobeltitz, Hanns von
Wieland, Christoph (1932–1996) 425 Wyß, Johann David (1853–1918) 219, 235
Martin (1733–1813) Wolf, Christa (*1929) (1743–1818) 148, 156 Zoff, Otto (1890–1963)
362 418, 421, 426 f. 296, 300, 309
Wigand, Tomy (*1952) Wolf, Friedrich (1888– Y Zöpfel, David (†1563)
457, 462 1953) 296, 309, 414 29
Wilcox, Fred M. (1907– Wolf, Klaus Peter (*1954) Yoshimoto, Banana Zübert, Christian (*1973)
1964) 453 364–366 (*1964) 369 460
Wild, Anne (*1967) 457 Wolf, Stefan (*1938) 485 Zucker, Wolf (*1905)
Wildberger, Erich 287, Wölfel, Ursula (*1922) Z 256
288 334, 355 f. Zuckmantel, Peter 348
Wildenbruch, Ernst von Wolff, Bernd (*1939) Zachcial, Michael – siehe: Zuckowski, Rolf (*1947)
(1845–1909) 179 429, 436 Zaches und Zinnober 447
Wildermuth, Ottilie Wolff, Christian (1679– Zaches & Zinnober (d.s. Zur Mühlen, Hermynia
(1817–1877) 142, 178, 1754) 64, 90 Michael Zachcial, (1883–1951) 251 f.,
186, 215 Wolff, Julius (1834–1910) *1963 und Ralf 296, 303, 306, 342,
Wildhagen, Else (geb. 226 Siebenand) 447 309
Friedrich, 1861–1944) Wolfsohn, Aron (1754– Zeman, BoĜivoj (1912– Zusak, Markus (*1975)
207 1835) 261 1991) 452 378
Wilhelm I., deutscher Wolgast, Heinrich Zemeckis, Robert (*1952) Zweig, Arnold (1887–
Kaiser (1797–1888) Joachim (1860–1920) 462 1968) 265, 415
230, 234 171 f., 174, 176, 190, Zengerling, Alf (1884– Zwick, Johann (1496–
Wilhelm II., deutscher 203, 220–222, 244, 1961) 451 1542) 11
Kaiser (1859–1941) 263, 284 Zetkin, Clara (1857– Zwingli, Huldrych
230 f. Wolkow, Alexander 1933) 175, 228 (1484–1531) 12
533

Bildquellen

Atrium Verlag, Zürich Herzog August Biblio- Österreichische National- Thienemann Verlag, Stutt-
320 thek, Wolfenbüttel 14, bibliothek, Wien 26 gart 329, 332, 399
Bayerische Staatsbiblio- 23, 39, 75 picture-alliance/dpa, ullstein bild, Berlin 122,
thek, München 1, 12 Hoffmann und Campe Frankfurt a. M. 371, 359, 407, 438, 448,
bpk – Bildarchiv Preu- Verlag, Hamburg 362 379, 401, 441, 445, 451, 452, 455, 461,
ßischer Kulturbesitz, Institut für Jugendbuch- 449, 455, 460, 471, 466, 468, 470, 472,
Berlin 72, 82, 97 forschung, Frankfurt a. 473, 479, 480, 491 493
Bilderdienst Südd. Verlag, M. (Fotografin: Birgit v. Rowohlt Verlag, Reinbek Universität Eichstätt 16
München 97 Ritter-Zahony) 71, b. Hamburg 369, 376, Universitäts- und Stadt-
Brüder Grimm-Museum, 155, 166 396 bibliothek – Erzie-
Kassel (Fotograf: Carl- J. B. Metzler Verlag, Stutt- S. Fischer Verlag, Frank- hungswissenschaftliche
Heinz Ebert) 106, 113 gart 234 furt a. M. 376 Abteilung, Köln 36,
Carlsen Verlag, Hamburg Justus-Liebig-Universität Sammlung Theodor 42, 44, 45, 52, 61, 65,
402 Gießen, FB Germanis- Brüggemann, Köln 36, 80, 82, 88, 91, 92, 95,
Cecilie Dressler Verlag, tik 236, 237 54, 62, 67, 77, 142, 191 109, 112, 116, 119,
Hamburg 404 Kinderbuchverlag, Berlin Sammlung Rosemarie 120, 123, 124, 127,
Deutsche Staatbibliothek, 417, 418, 420, 422, Rigol, Osnabrück 238 132, 135, 136, 137,
Berlin 25 424, 428, 429, 431 Sammlung Gisela Wilken- 140, 151, 153, 158,
Franckh-Kosmos Verlag, Kora-Filmverleih, Frank- ding, Köln 178, 183, 159, 160, 161, 169
Stuttgart (aus »Steu- furt a. M. 452 204, 208, 211, 213, Universitätsbibliothek der
ben: Der strahlende Landesbibliothek Coburg 214 TU Braunschweig 132,
Stern«) 286 (Sign.: HP-57.1294) Schiller-Nationalmuseum 157
Goethe-Museum, Düssel- 73 – Deutsches Literatur- Verlag Friedrich Oetinger,
dorf (Fotograf: Walter Mangoldt, Renate v. 373 archiv Marbach 143 Hamburg 341, 396
Klein) 106 Melis, Roger (Berlin) 427 Staatliche Provinzialbibli- Verlag Sauerländer, Aarau
Hamburger Kunsthalle Neumann, Heinz (Bietig- othek, Amberg 11 296
100 heim-Bissingen) 223 Stadtbibliothek Nürnberg Verlagsgruppe Beltz,
Henschelverlag Kunst und Niedersächsische Staats- 18, 51, 89 Weinheim 412
Gesellschaft, Berlin und Universitätsbiblio- Suhrkamp Verlag, Frank- Villinger-Archiv, Karls-
129 thek, Göttingen 39 furt a.M. 368 ruhe 210

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