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Schöningh

Georg
Büchner

Woyzeck
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„Digitized by the Internet Archive


in 2023 with funding from
‚ Kahle/Austin Foundation

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Georg Büchner

Woyzeck
Drama

Erarbeitet, mit Anmerkungen


und Materialien versehen von
Norbert Schläbitz

Herausgegeben von
Johannes Diekhans
Die vorliegende Textausgabe folgt in Szenenabfolge und Wortlaut der
von Lehmann herausgegebenen Text- und Bühnenfassung aus dem
Jahre 1967. Zitiert wird nach folgender Ausgabe:
Georg Büchner: Werke und Briefe.
Nach der historisch-kritischen Ausgabe von Werner R. Lehmann.
Kommentiert von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans Joachim
Simm und Edda Ziegler. München, Deutscher Taschenbuchverlag
71986.

© 1999 Ferdinand Schöningh, Paderborn

© ab 2004 Bildungshaus Schulbuchverlage


Westermann Schroedel Diesterweg Schöningh Winklers GmbH
Braunschweig, Paderborn, Darmstadt

www.schoeningh-schulbuch.de
Schöningh Verlag, Jühenplatz 1-3, 33098 Paderborn

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.


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Druck 20 19 18 / Jahr 2012 11 10
Die letzte Zahl bezeichnet das Jahr dieses Druckes.

Umschlaggestaltung: Jennifer Kirchhof


Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

ISBN 978-3-14-022314-0
Georg Büchner: Woyzeck

l. Georg Büchner — Lebensstationen


Elternhaus und Schllewdı. ra
Studienzeit und manches mehr in Straßburg .......
Krisenzeit — Zurückin Hessen. ..2..2. 220%
Politische Aktion — „Der Hessische Landbote“ .....
Literarisches Wirken und beruflicher Werdegang ...
Deirtnüuhe oder 2 en ee
DasiErasment „VVoyzeck . . anerkennen
Lebenslauf,im Überblick... a... nr
2. Schriftzeugnisse
BEITRETEN our Tann

3. Vorgeschichten und Vorlagen


Annemarie und Wolfgang van Rinsum:
Die historischen Kriminalfälle: Woyzeck,
Schmollgg Un DIEBSURET 62
DasiMärehen - DiesSterntaler 0 re ee 63

4. Unruhige Zeiten: Historischer Hintergrund


Vom „Wiener Kongress“ bis zur Revolution
IN VOr Matze ee 65
Hans Magnus Enzensberger: Hessen im
192 [JaDERUNdenEre a en ra selig 67
Karlsbader Beschlüsse — Hambacher Fest ......... 70

5. Was der Mensch so denkt —


Geistesgeschichtliche Gründe und Grenzen
Jostein Gaarder: ... von der Nadelherstellung bis zum
KOnoneeuss ie nennen nee nr 75
Jean-Jacques Rousseau: „Zurück zur Natur!“ ...... 78
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage
„Yyas.ist Aufklarune ee 0 urn öl
Deutschenldealisın USERN 83
Materialismusı „et ee 87
Herbert und Elisabeth Frenzel: Das klassische
Ideal.(1 786-1832) 702 nn > 88
Friedrich Schiller: Das ästhetische Ideal .......... 9]
Herbert und Elisabeth Frenzel: Romantik
(1798-1835). 2 en a ae ae 9|
Arno Lubos: Das junge Deutschland ............. 93
Herbert FoltinekaRealismuste re ee 94

. Dramentheoretische Aspekte
G. Freytag (1863): Die Technik des Dramas.
Kap:2: Der Bau des Dramas ... Men... 0er 98
H. Geiger/H. Haarmann: Formtypen des Dramas
(geschlossene und offene Form) ................ 100

. „Woyzeck“ heute: Auf der Bühne und


in der Kritik
Immer zu — Immer zu — Immer zu ...
Anmerkungen zu Woyzeck ».......... 2... 106
Maschine Woyzeck: Gotscheff skelettiert
Büchnerin Düsseldorfer Sure Re 109

. Wandlungen: Vom „Woyzeck‘“ zum


„Wozzeck‘“ - Die Oper
Alban Berg über die Oper „Wozzeck“ ........... 112
Leben(s)Werk: Alban Berg und „Wozzeck“ ....... 112
TheodorW. Adorno: Zur Charakteristik des
Wozzeck (1953/68) ara 2 ee 114
Das Volkslied im „Wozzeck‘“: Tonale Inseln in einer
atonalen Welt des Klanges

. Literatur
Wovzeck

Lese- und Bühnenfassung

Personen

FRANZ WOYZECK-
MARIE.
HAUPTMANN
DOKTOR
-TAMBOURMAJOR
-EISFEROFFIZER
ANDRES „Z—
"MARGREFH—
_AUSRUFER VOR EINER BUDE-
MARKTSCHREIER-IM-INNEREN-DER-BUBE-
ALHTER-MANN, DER ZUM LEIERKASTEN-SINGT
KıiND--DAS-FANZT
‚DER-JUDE
_WIRT—

ERSTER-HANDWERKSBURSCH
„ZWEITER HANDWERKSBURSCH
KARL--EIN-IDIOT.
KÄTHE
GROßMUTTER -
ERSTESÄIND
ZWEITES-KIND
DriTFESKIND
ERSTE PERSON
ZWEITE-PERSON
GERICHTSDIENER
ARZT—
RICHTER
.SOLBATEN,-STUDENTEN;-BURSCHEN, MÄDCHEN UND KINDER—
6 Freies Feld/ Die Stadt

[1] Freies Feld.


Die Stadt in der Ferne

Woyzeck und Andres schneiden Stöcke im Gebüsch.

Woxzeck: Ja, Andres; den Streif da über das Gras hin, da


rollt abends der Kopf, es hob ihn einmal einer auf, er
meint’ es wär ein Igel. Drei Tag und drei Nächt, und er lag
5 auf den Hobelspänen. (Leise) Andres, das waren die Frei-
maurer!, ich hab’s, die Freimaurer, still!
ANDRES (singt): Saßen dort zwei Hasen,
Fraßen ab das grüne, grüne Gras ...,
WovzeEck: Still! Es geht was!
ıo ANDRES: Fraßen ab das grüne, grüne Gras
Bis auf den Rasen.
WowvZzEck: Es geht hinter mir, unter mir (stampft auf den Bo-
den) hohl, hörst du? Alles hohl da unten. Die Freimaurer!
ANDRES: Ich fürcht mich.
ı5 WOYZECcK: S’ ist so kurios still. Man möcht den Atem halten.
Andres!
ANDRES: Was?
WOoxZEcK: Red was! (Starrt in die Gegend.) Andres! Wie
hell! Ein Feuer fährt um den Himmel und ein Getös her-
2» unter wie Posaunen. Wie’s heraufzieht! Fort. Sieh nicht
hinter dich. (Reißt ihn in’s Gebüsch.)
ANDRES (nach einer Pause): Woyzeck! Hörst du’s noch?
WoxzeEck: Still, alles still, als wär die Welt tot.
ANDRES. Hörst du? Sie trommeln drin. Wir müssen fort.

[2] Die Stadt


25 Marie mit ihrem Kind am Fenster. Margreth. Der
Zapfenstreich geht vorbei, der Tambourmajor voran.

| eine von der katholischen Kirche abgelehnte Geheimorganisation, die


das Ziel hatte, eine idealistisch orientierte Gesellschaft ins Leben zu
rufen. Goethe und Mozart waren z. B. Anhänger dieser Bewegung.
Die Stadt 1

MARIE (das Kind wippend auf dem Arm): He Bub! Sara ra ı,


ra! Hörst? Da komme sie. 4
MARGRETH: Was ein Mann, wie ein Baum.
MARIE: Er steht auf seinen Füßen wie ein Löw.
5 (Tambourmajor grüßt.)
MARGRETH: Ei, was freundliche Auge, Frau Nachbarin, so was
is man an ihr nit gewöhnt.
MARIE (singt): Soldaten, das sind schöne Bursch ...
MARGRETH: Ihre Auge glänze ja noch.
ı0 MARIE: Und wenn! Trag Sie Ihre Auge zum Jud und lass Sie ı
sie putze, vielleicht glänze sie noch, dass man sie für zwei
Knöpf verkaufe könnt. FR
MARGRETH: Was Sie? Sie? Frau Jungfer, ich bin eine honette!
Person, aber Sie, Sie guckt siebe Paar lederne Hose durch.
ı5s MARIE: Luder! (Schlägt das Fenster zu.) Komm, mein Bub.
Was die Leut wollen. Bist doch nur en arm Hurenkind und
machst deiner Mutter Freud mit deim unehrliche Gesicht.
Sal Sal!
(Singt) Mädel, was fangst du jetzt an?
20 Hast ein klein Kind und kein Mann.
Ei, was frag ich danach,
Sing ich die ganze Nacht
Heio popeio, mein Bu. Juchhe!
Gibt mir kein Mensch nix dazu.
25 Hansel spann deine sechs Schimmel an,
Gib ihn zu fresse auf’s Neu.
Kein Haber fresse sie,
Kein Wasser saufe sie,
Lauter kühle Wein muss es sein. Juchhe!
30 Lauter kühle Wein muss es sein.

Es klopft am Fenster.

MARIE: Wer da? Bist du’s, Franz? Komm herein!


WovZzEck: Kann nit. Muss zum Verles?.

| anständig
2 Appell beim Militär. Das zur Kontrolle der Anwesenheit vorgenom-
mene Verlesen der Namen.
8 Buden. Lichter. Volk

MARIE: Was hast du, Franz?


Wovzeck (geheimnisvoll): Marie, es war wieder was, viel,
steht nicht geschrieben: Und sieh, da ging ein Rauch vom
Land, wie der Rauch vom Ofen?
5 MARIE: Mann!
Woxzeck: Es ist hinter mir gegangen bis vor die Stadt. Was
soll das werden?
MARIE: Franz!
WoxZzEcK: Ich muss fort. (Er geht.)
ıo MARIE: Der Mann! So vergeistert. Er hat sein Kind nicht an-
gesehn. Er schnappt noch über mit den Gedanken. Was
bist so still, Bub? Fürchst’ dich? Es wird so dunkel, man
meint, man wär blind. Sonst scheint doch als die Latern
herein. Ich halt’s nicht aus. Es schauert mich. (Geht ab.)

[3] Buden. Lichter. Volk

15 ALTER MANN (der zum Leierkasten singt, KIND, das tanzt):


Auf der Welt ist kein Bestand,
Wir müssen alle sterben,
Das ist uns wohlbekannt!
MARIE: Hei! Hopsal!
2» WOYZECK: Arm Mann, alter Mann! Arm Kind! Jung Kind!
Sorgen und Fest! Hei, Marie, soll ich dich ...?
MARIE: Ein Mensch muss auch der Narr von Verstand sein,
damit er sagen kann: Narrisch Welt! Schön Welt!
AUSRUFER (vor einer Bude): Meine Herren! Meine Herren!
2» Sehn Sie die Kreatur, wie sie Gott gemacht, nix, gar nix.
Sehen Sie jetzt die Kunst, geht aufrecht, hat Rock und Ho-
sen, hat ein Säbel! Ho! Mach Kompliment! So bist Baron.
Gib Kuss! (Er trompetet.) Wicht ist musikalisch. Meine
Herren, meine Damen, hier sind zu sehn das astronomi-
»0 sche Pferd und die kleine Kanaillevogel, sind Liebling von
alle Potentate Europas und Mitglied von alle gelehrte So-
zietät!, verkündige de Leute alles, wie alt, wie viel Kinder,
was für Krankheit. Schießt Pistol los, stellt sich auf ein

| Gesellschaft (frz.), wissenschaftlicher Interessenverband, Akademie


Buden. Lichter. Volk 9
Bein. Alles Erziehung, habe nur eine viehische Vernunft,
oder vielmehr eine ganz vernünftige Viehigkeit, ist kein
viehdummes Individuum wie viel Person, das verehrliche
Publikum abgerechnet. Herein. Es wird sein, die rapräsen-
5 tation!. Das commencement? vom commencement wird
sogleich nehm sein Anfang.
Sehn Sie die Fortschritte der Zivilisation. Alles schreitet
fort, ein Pferd, ein Aff, ein Kanaillevogel! Der Aff ist schon
ein Soldat, s’ ist noch nit viel, unterst Stuf von menschli-
10 che Geschlecht!
Die rapräsentation anfangen! Man mackt Anfang von An-
fang. Es wird sogleich sein das commencement von com-
mencement.
WoxzEck: Willst du?
ı5 MARIE: Meinetwege. Das muss schön Dings sein. Was der
Mensch Quasten hat und die Frau hat Hosen.

Unteroffizier. Tambourmajor.

UNTEROFFIZIER: Halt, jetzt. Siehst du sie! Was n’ Weibsbild.


TAMBOURMAJOR: Teufel, zum Fortpflanzen von Kürassierregi-
20 menter und zur Zucht von Tambourmajors!
UNTEROFFIZIER: Wie sie den Kopf trägt, man meint, das
schwarz Haar müsst sie abwärtsziehn, wie ein Gewicht,
und Auge, schwarz ...
TAMBOURMAJOR: Als ob man in ein Ziehbrunn oder zu eim
os Schornstein hinabguckt. Fort hinte drein.
MARIE: Was Lichter, mei Auge!
WOowvZzEcK: Ja, de Branntwein, ein Fass schwarz Katze mit feu-
rige Auge. Hei, was n’ Abend.

Das Innere der Bude.

30 MARKTSCHREIER: Zeig dein Talent! Zeig deine viehische Ver-


nünftigkeit! Beschäm die menschlich Sozietät! Meine Her-
ren, dies Tier, das Sie da sehn, Schwanz am Leib, auf sei

| Repräsentation
2 Anfang (frz.)
1 0) Kammer

vier Hufe ist Mitglied von alle gelehrte Sozietät, ist Profes-
sor an unse Universität, wo die Studente bei ihm reiten
und schlage lerne. Das war einfacher Verstand. Denk jetzt
mit der doppelte raison!. Was machst du, wann du mit
der doppelte Raison denkst? Ist unter der gelehrte Societe
da ein Esel? (Der Gaul schüttelt den Kopf.) Sehn Sie
jetzt die doppelte Räson? Das ist Viehsionomik?. Ja, das
ist kei viehdummes Individuum, das ist eine Person. Ei
Mensch, ei tierisch Mensch und doch ei Vieh, ei böte°.
(Das Pferd führt sich ungebührlich auf.) So beschäm die
societe. Sehn Sie, das Vieh ist noch Natur, unideale Na-
tur! Lern Sie bei ihm. Fragen Sie den Arzt, es ist höchst
schädlich. Das hat geheiße: Mensch, sei natürlich. Du bist
geschaffe Staub, Sand, Dreck. Willst du mehr sein als
Staub, Sand, Dreck? Sehn Sie, was Vernunft, es kann
rechnen und kann doch nit an de Finger herzählen, wa-
rum? Kann sich nur nit ausdrücke, nur nit expliziern, ist
ein verwandelter Mensch! Sag den Herrn, wie viel Uhr es
ist. Wer von den Herrn und Damen hat eine Uhr, eine
Uhr?
UNTEROFFIZIER: Eine Uhr! (Zieht großartig und gemessen die
Uhr aus der Tasche.) Da, mein Herr.
MARIE: Das muss ich sehn. (Sie klettert auf den 1. Platz.
Unteroffizier hilft ihr.)

[4] Kammer

25 Marie sitzt, ihr Kind auf dem Schoß, ein Stückchen


Spiegel in der Hand.

MARIE (bespiegelt sich): Was die Steine glänze! Was sind’s


für? Was hat er gesagt? - Schlaf, Bub! Drück die Auge zu,

! Vernunft (frz.)
Physiognomik, eigentlich auf den Menschen bezogene Lehre, die
von der äußeren Erscheinung auf das innere Wesen zu schließen
sucht.
3 Tier (frz.)
Kammer 1 li

fest, (das Kind versteckt die Augen hinter den Händen)


noch fester, bleib so, still oder er holt dich.
(Singt): Mädel mach’s Ladel zu,
S’ kommt e Zigeunerbu,
5 “Führt dich an deiner Hand
Fort in's Zigeunerland.
(Spiegelt sich wieder.) S’ ist gewiss Gold! Unseins hat nur ein
Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel und doch
hab ich einen so roten Mund als die großen Madamen mit
ı ihren Spiegeln von oben bis unten und ihren schönen
Herrn, die ihnen die Händ küssen, ich bin nur ein arm
Weibsbild. -— (Das Kind richtet sich auf.) Still, Bub, die
Auge zu, das Schlafengelchen! Wie’s an der Wand läuft,
(sie blinkt mit dem Glas) die Auge zu, oder es sieht dir hi-
ı5s nein, dass du blind wirst.

Wovzeck tritt herein, hinter sie.


Sie fährt auf mit den Händen nach den Ohren.

WoszzEcK: Was hast du?


MARIE: Nix.
20 WoxZEcK: Unter deinen Fingern glänzt’s ja.
MARIE: Ein Ohrringlein; hab’s gefunden.
WovzeEck: Ich hab so noch nix gefunden. Zwei auf einmal:
MARIE: Bin ich ein Mensch!?
Wovzeck: S’ ist gut, Marie. - Was der Bub schläft. Greif
35 ihm unter’s Ärmchen, der Stuhl drückt ihn. Die hellen
Tropfen stehn ihm auf der Stirn; alles Arbeit unter der
Sonn, sogar Schweiß im Schlaf. Wir arme Leut! Da is /
wieder Geld, Marie, die Löhnung und was von mein'm /
Hauptmann.
30 MARIE: Gott vergelt’s, Franz.
WOoYZEcK: Ich muss fort. Heut Abend, Marie. Adies.
MARIE (allein, nach einer Pause): Ich bin doch ein schlecht
Mensch. Ich könnt mich erstechen. -— Ach! Was Welt?
Geht doch alles zum Teufel, Mann und Weib.

| abwertende Bezeichnung, hier: Dirne


]2 _Der Hauptmann. Woyzeck

[5] Der Hauptmann. Woyzeck

Hauptmann auf einem Stuhl, Woyzeck rasiert ihn.

HAUPTMANN: Langsam, Woyzeck, langsam; eins nach dem


andern. Er macht mir ganz schwindlig. Was soll ich dann
mit den zehn Minuten anfangen, die Er heut zu früh fertig-
s wird? Woyzeck, bedenk Er, Er hat noch seine schöne
dreißig Jahr zu leben, dreißig Jahr! Macht 360 Monate,
und Tage, Stunden, Minuten! Was will Er denn mit der un-
geheuren Zeit all anfangen? Teil Er sich ein, Woyzeck.
WoxZEcK: Jawohl, Herr Hauptmann.
10 HAUPTMANN: Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich
an die Ewigkeit denke. Beschäftigung, Woyzeck, Beschäfti-
gung! Ewig, das ist ewig, das ist ewig, das siehst du ein;
nun ist es aber wieder nicht ewig und das ist ein Augen-
blick, ja, ein Augenblick — Woyzeck, es schaudert mich,
15.° wenn ich denk, dass sich die Welt in einem Tag herum-
dreht, was n’e Zeitverschwendung, wo soll das hinaus?
Woyzeck, ich kann kein Mühlrad mehr sehn, oder ich
werd melancholisch.
WOosZEcK: Jawohl, Herr Hauptmann.
20 HAUPTMANN: Woyzeck, Er sieht immer so verhetzt aus. Ein
guter Mensch tut das nicht, ein guter Mensch, der sein gutes
Gewissen hat. —- Red Er doch was, Woyzeck. Was ist heut
für Wetter?
WoYZzEcK: Schlimm, Herr Hauptmann, schlimm; Wind.
25 HAUPTMANN: Ich spür’s schon, s’ ist so was Geschwindes
draußen; so ein Wind macht mir den Effekt wie eine Maus.
(Pfiffig) Ich glaub, wir haben so was aus Süd-Nord.
-_ WovzeEck: Jawohl, Herr Hauptmann.
HAUPTMANN: Ha! Ha! Ha! Süd-Nord! Ha! Ha! Ha! O, Er ist
>» dumm, ganz abscheulich dumm. (Gerührt) Woyzeck, Er ist
ein guter Mensch, ein guter Mensch - aber (mit Würde)
Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist, wenn man
moralisch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort. Er hat ein
Kind, ohne den Segen der Kirche, wie unser hochehrwür-
3 diger Herr Garnisonsprediger sagt, ohne den Segen der
Kirche, es ist nicht von mir.
Der Hauptmann. Woyzeck 13

WovzEck: Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen


Wurm nicht drum ansehn, ob das Amen drüber gesagt ist,
eh er gemacht wurde. Der Herr sprach: Lasset die Kind-
lein zu mir kommen.
5 HAUPTMANN: Was sagt Er da? Was ist das für 'ne kuriose Ant-
wort? Er macht mich ganz konfus mit seiner Antwort.
Wenn ich sag: Er, so mein ich Ihn, Ihn.
ehe
WoxZEck: Wir arme Leut. Sehn Sie, Herr Hauptmann, Geld,‘
Geld. Wer kein Geld hat. Da setz einmal einer seinsglei- “ Ir
10 chen auf die Moral in die Welt. Man hat auch sein Fleische ‘2
und Blut. Unseins ist doch einmal unselig in der und der
der _
,
F% ei «

andern Welt, ich glaub, wenn wir in Himmel kämen, so


so che
müssten wir donnern helfen.
HAUPTMANN: Woyzeck, Er hat keine Tugend, Er ist kein tu-
15 gendhafter Mensch. Fleisch und Blut? Wenn ich am Fens-
ter lieg, wenn’s geregnet hat und den weißen Strümpfen
so nachsehe, wie sie über die Gassen springen, — ver-
dammt, Woyzeck, — da kommt mir die Liebe. Ich hab auch
Fleisch und Blut. Aber Woyzeck, die Tugend, die Tugend!
20 Wie sollte ich dann die Zeit herumbringen? Ich sag mir im-
mer: Du bist ein tugendhafter Mensch, (gerührt) ein guter
Mensch, ein guter Mensch.
WoxzEck: Ja, Herr Hauptmann, die Tugend! Ich hab’s noch u
nicht so aus. Sehn Sie, wi ine Leut hat keine . N AN

25 Tugend, es kommt einem nur so die Natur,aber wenn ich YA whrh


ein Herr wär und hätt ein Hut und eine Uhr und eine
anglaise! und könnt vornehm reden, ich wollt schon. te): JH
gendhaftsein, Es muss was Schöns sein um die Tugend, _
Herr Hauptmann. ‚Aber ichtbin ein a;
armer. Kerl. Tor
30 HAUPTMANN: Gut, Woyzeck. Du bist ein guter” Mensch, ein 2örfe Mu
guter Mensch. Aber du denkst zu viel, das zehrt, du siehst
immer so verhetzt aus. Der Diskurs hat mich ganz ange- Flur
griffen. Geh jetzt und renn nicht so; langsam hübsch lang-
e.
and

sam die Straße hinunter.


fie I
Frag LI

Gehrock
14 Kammer/ Auf der Gasse

[6] Kammer
Marie. Tambour-Major.

TAMBOUR-MAJOR: Marie!
MARIE (ihn ansehend, mit Ausdruck): Geh einmal vor dich
hin. - Über die Brust wie ein Rind und ein Bart wie ein
5 Löw - So ist keiner - Ich bin stolz vor allen Weibern.
TAMBOUR-MAJOR: Wenn ich am Sonntag erst den großen Fe-
derbusch hab und die weiße Handschuh, Donnerwetter,
Marie, der Prinz sagt immer: Mensch, Er ist ein Kerl.
MARIE (spöttisch): Ach, was! (Tritt vor ihn hin.) Mann!
ı0o TAMBOUR-MAJOR: Und du bist auch ein Weibsbild. Sapper-
ment, wir wollen eine Zucht von Tambour-Majors anlegen.
He? (Er umfasst sie.)
MARIE (verstimmt): Lass mich!
TAMBOUR-MAJOR: Wild Tier.
ı5s MARIE (heftig): Rühr mich an!
TAMBOUR-MAJOR: Sieht dir der Teufel aus den Augen?
MARIE: Meintwegen. Es ist alles eins.

[7] Auf der Gasse


Marie. Woyzeck.

WOoxZEcK (sieht sie starr an, schüttelt den Kopf): Hm! Ich
»» seh nichts, ich seh nichts. O, man müsst’s sehen, man
müsst’s greifen könne mit Fäusten.
MARIE (verschüchtert): Was hast du, Franz? Du bist hirn-
wütig, Franz.
WOosxzEcK: Eine Sünde so dick und so breit. Es stinkt, dass
2» man die Engelchen zum Himmel hinaus rauche könnt. Du
hast ein rote Mund, Marie. Keine Blase drauf? Adieu, Ma-
rie, du bist schön wie die Sünde -. Kann die Todsünde so
schön sein?
MARIE: Franz, du red’st im Fieber.
30 WoYZEcK: Teufel! - Hat er da gestande, so, so?
MARIE: Dieweil der Tag lang und die Welt alt ist, könn’ viel
Mensche an eim Platz stehn, einer nach dem andern.
Beim Doktor 1:5

Woszzeck: Ich hab ihn gesehn.


MARIE: Man kann viel sehn, wenn man zwei Auge hat und
man nicht blind ist und die Sonn scheint.
Wozzeck: Mit diesen Augen!
5 MARIE (keck): Und wenn auch.

[8] Beim Doktor

Woyzeck. Der Doktor.

DOKTOR: Was erleb ich, Woyzeck? Ein Mann von Wort.


WoszzEck: Was denn, Herr Doktor?
DOKTOR: Ich hab’s gesehn Woyzeck; Er hat auf die Straß
10 gepisst, an die Wand gepisst wie ein Hund. Und doch zwei
Groschen täglich. Woyzeck, das ist schlecht. Die Welt wird
schlecht, sehr schlecht.
WoxZEcK: Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur kommt.
DOKTOR: Die Natur kommt, die Natur kommt! Die Natur!
15 Hab ich nicht nachgewiesen, dass der musculus constrictor
vesicae! dem Willen unterworfen ist? Die Natur! Woyzeck,
der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die In-
dividualität zur Freiheit. Den Harn nicht halten können!
(Schüttelt den Kopf, legt die Hände auf den Rücken
2» und geht auf und ab.) Hat Er schon seine Erbsen geges-
sen, Woyzeck? - Es gibt eine Revolution in der Wissen-
schaft, ich sprenge sie in die Luft. Harnstoff 0,10, salzsau-
res Ammonium, Hyperoxydul.
Woyzeck, muss Er nicht wieder pissen? Geh Er einmal hi-
25 nein und probier Er’s.
WoxzEcK: Ich kann nit, Herr Doktor.
DoKToR (mit Affekt): Aber an die Wand pissen! Ich hab's
schriftlich, den Akkord? in der Hand. Ich hab's gesehn, mit
diesen Augen gesehn, ich steckt grade die Nase zum Fens-
3» ter hinaus und ließ die Sonnstrahlen hineinfallen, um das
Niesen zu beobachten. (Tritt auf ihn los.) Nein, Woyzeck,

| Blasenschließmuskel
2 Vertrag, Abkommen
16 Beim Doktor

ich ärgre mich nicht, Ärger ist ungesund, ist unwissenschaft-


lich. Ich bin ruhig, ganz ruhig, mein Puls hat seine gewöhnli-
che 60 und ich sag’s Ihm mit der größten Kaltblütigkeit.
Behüte, wer wird sich über einen Menschen ärgern, ein
Menschen! Wenn es noch ein proteus! wäre, der einem kre-
piert! Aber Er hätte doch nicht an die Wand pissen sollen -
Woxzeck: Sehn Sie, Herr Doktor, manchmal hat einer so
'nen Charakter, so 'ne Struktur. - Aber mit der Natur ist's
was anders, sehn Sie, mit der Natur (er kracht mit den
10 Fingern), das ist so was, wie soll ich doch sagen, zum Bei-
spiel ...
DOKTOR: Woyzeck, Er philosophiert wieder.
WoxZEck (vertraulich): Herr Doktor, haben Sie schon was
von der doppelten Natur? gesehn? Wenn die Sonn in Mit-
15 tag steht und es ist, als ging die Welt in Feuer auf, hat
schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt!
DOKTOR: Woyzeck, Er hat eine aberratio.
WoxzeEck (legt den Finger an die Nase): Die Schwämme,
Herr Doktor. Da, da steckt's. Haben Sie schon gesehn, in
20 was für Figuren die Schwämme auf dem Boden wachsen?
Wer das lesen könnt.
DOKTOR: Woyzeck, Er hat die schönste aberratio mentalis
partialis?, die zweite Spezies, sehr schön ausgeprägt. Woy-
zeck, Er kriegt Zulage. Zweite Spezies, fixe Idee, mit allge-
29 mein vernünftigem Zustand, Er tut noch alles wie sonst,
rasiert sein Hauptmann?
WoxzEck: Jawohl.
DOKTOR: Isst sei Erbse?
WoxzEck: Immer ordentlich, Herr Doktor. Das Geld für die
30 Menage* kriegt mei Frau.
DOKTOR: Tut sei Dienst?
Woxzeck: Jawohl.
DOKTOR: Er ist ein interessanter casus. Subjekt Woyzeck, Er
kriegt Zulag. Halt Er sich brav. Zeig Er sei Puls! Ja.

froschartige Eidechse (n. Willbrand, Hochschullehrer Büchners)


das sogenannte „Zweite Gesicht“
Geistesverwirrung
Verpflegung für die Soldaten
Straße 1 7,

[9] Straße

Hauptmann. Doktor. Hauptmann keucht die Straße


herunter, hält an, keucht, sieht sich um.

HAUPTMANN: Herr Doktor, die Pferde machen mir ganz


Angst; wenn ich denke, dass die armen Bestien zu Fuß
[6,1 gehn müssen. Rennen Sie nicht so. Rudern Sie mit Ihrem
Stock nicht so in der Luft. Sie hetzen sich ja hinter dem
Tod drein. Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat,
geht nicht so schnell. Ein guter Mensch. (Er erwischt den
Doktor am Rock.) Herr Doktor, erlauben Sie, dass ich ein
ı0o Menschenleben rette, Sie schießen ...
Herr Doktor, ich bin so schwermütig, ich habe so was
Schwärmerisches, ich muss immer weinen, wenn ich mei-
nen Rock an der Wand hängen sehe, da hängt er.
DOKTOR: Hm! Aufgedunsen, fett, dicker Hals, apoplektische
15 Konstitution!. Ja, Herr Hauptmann, Sie können eine apo-
plexia cerebralis? kriegen, Sie können sie aber vielleicht
auch nur auf der einen Seite bekommen, und dann auf der
einen gelähmt sein, oder aber Sie können im besten Fall
geistig gelähmt werden und nur fort vegetieren, das sind
20 so ohngefähr Ihre Aussichten auf die nächsten vier Wo-
chen. Übrigens kann ich Sie versichern, dass Sie einen
von den interessanten Fällen abgeben, und wenn Gott will,
dass Ihre Zunge zum Teil gelähmt wird, so machen wir die
unsterblichsten Experimente.
35 HAUPTMANN: Herr Doktor, erschrecken Sie mich nicht, es
sind schon Leute am Schreck gestorben, am bloßen hellen
Schreck. - Ich seh schon die Leute mit den Zitronen in
den Händen, aber sie werden sagen, er war ein guter
Mensch, ein guter Mensch - Teufel Sargnagel!
30 DOKTOR (hält ihm den Hut hin): Was ist das, Herr Haupt-
mann? Das ist Hohlkopf!
HAUPTMANN (macht eine Falte): Was ist das, Herr Doktor?
Das ist Einfalt.

I schlaganfallgefährdet
2 Gehirnschlag
18 Straße

DoKTor: Ich empfehle mich, geehrtester Herr Exerzierzagel.


HauprMmann: Gleichfalls, bester Herr Sargnagel.

Woyzeck kommt die Straße heruntergerannt.

HAUPTMANN: He, Woyzeck, was hetzt Er sich so an uns vor-


s bei? Bleib Er doch, Woyzeck, Er läuft ja wie ein offnes Ra-
siermesser durch die Welt, man schneidt sich an Ihm, Er
läuft, als hätt Er ein Regiment Kastrierte zu rasiern und
würd gehenkt über dem letzten Haar noch vorm Ver-
schwinden — aber, über die langen Bärte, was wollt ich
ıo doch sagen? Woyzeck - die langen Bärte ...
DoKToR: Ein langer Bart unter dem Kinn, schon Plinius!
spricht davon, man muss es den Soldaten abgewöhnen,
SL, EIN 2cr
HAUPTMANN (fährt fort): Hä? Über die langen Bärte? Wie is,
15 Woyzeck, hat Er noch nicht ein Haar aus eim Bart in sei-
ner Schüssel gefunden? He, Er versteht mich doch, ein
Haar von einem Menschen, vom Bart eines sapeur?, ei-
nes Unteroffizier, eines — eines Tambourmajor? He, Woy-
zeck? Aber Er hat eine brave Frau. Geht Ihm nicht wie
2» andern.
WoxzeEck: Jawohl! Was wollen Sie sagen, Herr Hauptmann?
HAUPTMANN: Was der Kerl ein Gesicht macht! Muss nun auch
nicht in der Suppe sein, aber wenn Er sich eilt und um die
Eck geht, so kann Er vielleicht noch auf Paar Lippen eins
»s finden, ein Paar Lippen, Woyzeck, ich habe auch die Lie-
be gefühlt, Woyzeck. Kerl, Er ist ja kreideweiß.
WowvZzEck: Herr, Hauptmann, ich bin ein arm Teufel, — “und
hab sonst nichts auf de Welt, Herr Hauptmann, wennSie
"Spaß machen-
30 HAUPTMANN: Spaß ich, dass dich Spaß, Kerl!
DOKTOR: Den Puls, Woyzeck, den Puls, klein, hart, hüpfend,
unregelmäßig.

| Gemeint ist eigentlich Plutarch. Einer Anekdote zufolge, die Plu-


tarch erzählt, soll Alexander der Große seinen Soldaten die Rasur
vor dem Kampf befohlen haben, damit die Gegner den Bart nicht
zum Festhalten benutzen konnten.
? Pionier (frz.)
Die Wachstube 19

WoxzEck: Herr Hauptmann, die Erd ist höllenheiß, mir eis-


kalt! Eiskalt, die Hölle ist kalt, wollen wir wetten. Unmög-
lich, Mensch! Mensch! Unmöglich.
HAUPTMANN: Kerl, will Er erschossen werden, will Er ein Paar
5 Kugeln vor den Kopf haben? Er ersticht mich mit seinen
Augen, und ich mein’s gut mit Ihm, weil Er ein guter
Mensch ist, Woyzeck, ein guter Mensch.
DOKTOR: Gesichtsmuskeln starr, gespannt, zuweilen hüpfend,
Haltung aufgerichtet, gespannt.
10 WOYZECK: Ich geh! Es ist viel möglich. Der Mensch! Es ist viel
möglich. Wir habe schön Wetter, Herr Hauptmann. Sehn
Sie, so ein schön, festen, groben Himmel, man könnte
Lust bekomm, ein Kloben! hineinzuschlagen und sich da-
ranzuhänge, nur wege des Gedankenstrichels zwischen ja,
ıs und wieder ja - und nein, Herr, Herr Hauptmann, ja und
nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld? Ich
will drüber nachdenke. (Geht mit breiten Schritten ab,
erst langsam dann immer schneller.)
DOKTOR (schießt ihm nach): Phänomen, Woyzeck, Zulage.
20 HAUPTMANN: Mir wird ganz schwindlig von den Mensche, wie
schnell, der lange Schlengel greift aus, es läuft der Schat-
ten von einem Spinnbein, und der Kurze, — das zuckelt.
Der Lange ist der Blitz und der Kleine der Donner. Haha,
hinterdrein. Grotesk! Grotesk!

[10] Die Wachstube

25 Wovzeck. Andres.

ANDRES (singt):
Frau Wirtin hat 'ne brave Magd,
Sie sitzt im Garten Tag und Nacht,
Sie sitzt in ihrem Garten ...
WovzEckK: Andres!
30 ANDRES: Nu?
WosZEcK: Schön Wetter.

! Haken aus Eisen


20 Wirtshaus

ANDRES: Sonntagsonnwetter. Musik vor der Stadt. Vorhin


sind die Weibsbilder hinaus, die Mensche dampfe, das
geht.
WovzEck (unruhig): Tanz, Andres, sie tanze.
s ANDRES: Im Rössel und im Sternen.
WoxvZzEcK: Tanz, Tanz.
ANDRES: Meintwege.
Sie sitzt in ihrem Garten,
Bis dass das Glöcklein zwölfe schlägt,
10 Und passt auf die Solda-aten.
WoxzEckK: Andres, ich hab kei Ruh.
ANDRES: Narr!
WoxzEck: Ich muss hinaus. Es dreht sich mir vor den Augen.
Tanz. Tanz. Was sie heiße Händ habe. Verdammt, Andres!
ı5s ANDRES: Was willst du?
WowvZECcK: Ich muss fort.
ANDRES: Mit dem Mensch.
WOYZECK: Ich muss hinaus, s’ ist so heiß da hie.

[11] Wirtshaus

Die Fenster offen, Tanz. Bänke vor dem Haus.


Bursche.
20 -

ERSTER HANDWERKSBURSCH:
Ich hab ein Hemdlein an, das ist nicht mein,
Meine Seele stinkt nach Branndewein ...
ZWEITER HANDWERKSBURSCH: Bruder, soll ich dir aus Freund-
vs schaft ein Loch in die Natur machen? Vorwärts! Ich will
ein Loch in die Natur machen. Ich bin auch ein Kerl, du
weißt, ich will ihm alle Flöh am Leib totschlagen.
ERSTER HANDWERKSBURSCH: Meine Seele, mei Seele stinkt
nach Branndewein. Selbst das Geld geht in Verwesung
30 über. Vergissmeinich! Wie ist diese Welt so schön. Bruder,
ich muss ein Regenfass vollgreinen. Ich wollt, unse Nasen
wärn zwei Bouteille! und wir könnte sie uns einander in de

| Flasche (frz.)
Wirtshaus 21

Hals gießen.
ANDRE (im Chor): Ein Jäger aus der Pfalz,
Ritt einst durch ein grünen Wald.
Halli, halloh, gar lustig ist die Jägerei
5 Allhier auf grüner Heid.
Das Jagen ist mei Freud.

Woyzeck stellt sich ans Fenster. Marie und der


Tambourmajor tanzen vorbei, ohne ihn zu bemerken.

MARIE (im Vorbeitanzen): Immer zu, immer zu.


10 WOYZECK (erstickt): Immer zu! - Immer zu! (Fährt heftig auf
und sinkt zurück auf die Bank.) Immer zu, immer zu |\
(schlägt die Hände ineinander), dreht euch, wälzt euch.
Warum bläst Gott nicht die Sonn aus, dass alles in Un-
zucht sich übernanderwälzt, Mann und Weib, Mensch und
15 Vieh. Tut’s am hellen Tag, tut’s einem auf den Händen,
wie die Mücken. — Weib. - Das Weib ist heiß, heiß! - Im-
mer zu, immer zu. (Fährt auf.) Der Kerl! Wie er an ihr ‚
herumtappt, an ihrem Leib, er, er hat sie wie ich zu An-
fang!
20 ERSTER HANDWERKSBURSCH (predigt auf dem Tisch): Jedoch,
wenn ein Wandrer, der gelehnt steht an dem Strom der
Zeit oder aber sich die göttliche Weisheit beantwortet und
sich anredet. Warum ist der Mensch? Warum ist der
Mensch? — Aber wahrlich, ich sage euch, von was hätte
ss der Landmann, der Weißbinder!, der Schuster, der Arzt le-
ben sollen, wenn Gott den Menschen nicht geschaffen hät-
te? Von was hätte der Schneider leben sollen, wenn er
dem Menschen nicht die Empfindung der Scham einge-
pflanzt, von was der Soldat, wenn Er ihn nicht mit dem
30 Bedürfnis sich totzuschlagen ausgerüstet hätte? Darum
zweifelt nicht, ja ja, es ist lieblich und fein, aber alles Irdi-
sche ist eitel, selbst das Geld geht in Verwesung über. —
Zum Beschluss, meine geliebten Zuhörer, lasst uns noch
übers Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt.

! Anstreicher (hess.)
Bay Freies Feld/ Nacht/ Wirtshaus

[12] Freies Feld

WoyzeEck: Immer zu! Immer zu! Still Musik! (Reckt sich ge-
gen den Boden.) Ha was, was sagt ihr? Lauter, lauter, -
stich, stich die Zickwolfin tot? Stich, stich die Zickwolfin
s tot. Soll ich? Muss ich? Hör ich’s da auch, sagt’s der Wind
auch? Hör ich’s immer, immer zu, stich tot, tot.

[13] Nacht

Andres und Woyzeck in einem Bett.

WoxzeEck (schüttelt Andres): Andres! Andres! Ich kann nit


schlafe, wenn ich die Aug zumach, dreht sich’s immer und
ıo ich hör die Geigen, immer zu, immer zu und dann
spricht's aus der Wand, hörst du nix?
ANDRES: Ja, - lass sie tanze! Gott behüt uns, Amen. (Schläft
wieder ein.)
WoxZEcK: Es redt immer: Stich! Stich! Und zieht mir zwi-
15 schen den Augen wie ein Messer.
ANDRES: Du musst Schnaps trinke und Pulver drin, das
schneidt das Fieber.

[14] Wirtshaus

Tambour-Major. Woyzeck. Leute.

TAMBOUR-MAYOR: Ich bin ein Mann! (Schlägt sich auf die


2» Brust.) Ein Mann, sag ich.
Wer will was? Wer kein besoffen Herrgott ist, der lass sich
von mir. Ich will ihm die Nas ins Arschloch prügeln. Ich
will - (zu Woyzeck) da, Kerl, sauf, der Mann muss saufen,
ich wollt, die Welt wär Schnaps, Schnaps.
25 WoYZzEck (pfeift.)
TAMBOUR-MAJOR: Kerl, soll ich dir die Zung aus dem Hals zie-
Kramladen/ Kammer 23

he und sie um den Leib herumwickle? (Sie ringen, Woy-


zeck verliert.) Soll ich dir noch so viel Atem lassen als en
Altweiberfurz, soll ich?
WozzEck (setzt sich erschöpft zitternd auf die Bank.)
5 TAMBOUR-MAJOR: Der Keri soll dunkelblau pfeifen.
Ha. Branndewein das ist mein Leben,
Branntwein gibt courage!
EINE: Der hat sei Fett.
ANDRE: Er blut.
WoYZzEcK: Eins nach dem andern.

[15] Kramladen

Woyzeck. Der Jude.

WoxZzEckK: Das Pistolche ist zu teuer.


JuD: Nu, kauft’s oder kauft’s nit, was is?
WoxzEck: Was kost das Messer?
15 JUD: S’ ist ganz, grad. Wollt Ihr Euch den Hals mit abschnei-
de? Nu, was is es? Ich geb’s Euch so wohlfeil wie ein and-
rer, Ihr sollt Euern Tod wohlfeil haben, aber doch nit um-
sonst. Was is. es? Er soll nen ökonomischen Tod habe.
WoxvzEckK: Das kann mehr als Brot schneide.
»0o JUD: Zwee Grosche.
WogzeEck: Da! (Geht ab.)
Jup: Da! Als ob’s nichts wär. Und s’ is doch Geld. Der Hund.

[16] Kammer
{ ohulll. ch & bpr ach
Marie. Der Narr.
z dr ud uns, Al Ur HS

MARIE (blättert in der Bibel): „Und ist kein Betrug in seinem


5 Munde erfunden“ - Herrgott! Herrgott! Sieh mich nicht
an. (Blättert weiter.) „Aber die Pharisäer brachten ein Weib
zu ihm, im Ehebruch begriffen, und stelleten sie in's Mittel
dar. - Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch
nicht. Geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“ (Schlägt
2A Kaserne

die Hände zusammen.) Herrgott! Herrgott! Ich kann


nicht. Herrgott, gib mir nur so viel, dass ich beten kann.
(Das Kind drängt sich an sie.) Das Kind gibt mir einen
Stich ins Herz. Karl! Das brüst sich in der Sonne.
s NARR (liegt und erzählt sich Märchen an den Fingern): Der
hat die golden Kron, der Herr König. Morgen hol ich der
Frau Königin ihr Kind. Blutwurst sagt: Komm Leberwurst!
(Er nimmt das Kind und wird still.)
MARIE: Der Franz ist nit gekomm, gestern nit, heut nit, es
ıo wird heiß hier. (Sie macht das Fenster auf.)
„Und trat hinein zu seinen Füßen und weinete und fing an
seine Füße zu netzen mit Tränen und mit den Haaren ihres
Hauptes zu trocknen und küssete seine Füße und salbete
sie mit Salben.“ (Schlägt sich auf die Brust.) Alles tot!
Heiland, Heiland, ich möchte dir die Füße salben.

[17] Kaserne

Andres. Woyzeck kramt in seinen Sachen.

WoyZEcK: Das Kamisolchel, Andres, ist nit zur Montur, du


kannst’s brauche, Andres. Das Kreuz is meiner Schwester
und das Ringlein, ich hab auch noch ein Heiligen, zwei
20 Herze und schön Gold, es lag in meiner Mutter Bibel, und
da steht:
Leiden sei all mein Gewinst,
Leiden sei mein Gottesdienst.
Herr wie dein Leib war rot und wund,
y So lass mein Herz sein aller Stund.

Mei Mutter fühlt nur noch, wenn ihr die: Sonn auf die
Händ scheint. Das tut nix.
ANDRES (ganz starr, sagt zu allem): Jawohl.
Wozzeck (zieht ein Papier hervor): Friedrich Johann Franz
30 Woyzeck, Wehrmann, Füsilier? im 2. Regiment, 2. Batail-
lon, 4. Compagnie, geb. Mariä Verkündigung, ich bin heut

| kurze/s ärmellose/s Unterhemd oder -jacke (frz.)


? Infanterist
Der Hof des Doktors 25

alt 30 Jahr, 7 Monat und 12 Tage.


ANDRES: Franz, du kommst in’s Lazarett. Armer, du musst
Schnaps trinke und Pulver drin, das tödt das Fieber.
WozzEck: Ja, Andres, wann der Schreiner die Hobelspän!
sammlet, es weiß niemand, wer sein Kopf drauf lege wird.

[18] Der Hof des Doktors

Studenten unten, der Doktor am Dachfenster.

DOKTOR: Meine Herrn, ich bin auf dem Dach, wie David, als Kenb x
er die Bathseba sah; aber ich sehe nichts als die culs de ?
Paris der Mädchenpension im Garten trocknen. Meine 1/4 IA
ı" Herrn, wir sind an der wichtigen Frage über das Verhält- « £
nis des Subjekts zum Objekt. Wenn wir nur eins von den Mel; E
Dingen nehmen, worin sich die organische Selbstaffirma-
tion des Göttlichen auf einem so hohen Standpunkte ma- Vorr
nifestiert, und ihr Verhältnis zum Raum, zur Erde, zum Pla- „ abe
15 netarischen untersuchen, meine Herrn, wenn ich diese * „
Katze zum Fenster hinauswerfe, wie wird diese Wesenheit
sich zum centrum gravitationis und dem eigenen Instinkt
verhalten? He, Woyzeck, (brüllt) Woyzeck!
WosyZEcK: Herr Doktor, sie beißt.
20 DOKTOR: Kerl, er greift die Bestie so zärtlich an, als wär’s sei-
ne Großmutter.
Woxzeck: Herr Doktor, ich hab 's Zittern.
DOKTOR (ganz erfreut): Ei, ei, schön, Woyzeck. (Reibt sich
die Hände. Er nimmt die Katze.) Was seh ich, meine
2» Herrn, die neue Spezies Hasenlaus, eine schöne Spezies,
(er zieht eine Lupe heraus) meine Herren - (die Katze
läuft fort). Meine Herrn, das Tier hat keinen wissen-
schaftlichen Instinkt. Meine Herrn, Sie können dafür was
anders sehen, sehn Sie, der Mensch, seit einem Viertel-
3 jahr isst er nichts als Erbsen, beachten Sie die Wirkung,
fühlen Sie einmal, was ein ungleicher Puls, da, und die
Augen.

' Sargmetapher
26 Marie mit Mädchen vor der Haustür

WowvzeEck: Herr Doktor, es wird mir dunkel. (Er setzt sich.)


DOKTOR: Courage! Woyzeck, noch ein paar Tage, und dann
ist’s fertig, fühlen Sie, meine Herrn, fühlen Sie. (Sie betas-
ten ihm Schläfe, Puls und Busen.)
s A propos, Woyzeck, beweg den Herrn doch einmal die
Ohren, ich hab es ihnen schon zeigen wollen. Zwei Mus-
keln sind bei ihm tätig. Allons, frisch!
WosZECcK: Ach, Herr Doktor!
DoKTor: Bestie, soll ich dir die Ohren bewegen, willst du’s
ıo machen wie die Katze! So, meine Herrn, das sind so
Übergänge zum Esel, häufig auch in Folge weiblicher Er-
ziehung und die Muttersprache. Wie viel Haare hat dir die
Mutter zum Andenken schon ausgerissen aus Zärtlichkeit?
Sie sind dir ja ganz dünn geworden, seit ein paar Tagen, ja
die Erbsen, meine Herren.

[19] Marie mit Mädchen vor der Hau-


stür
15

MÄDcHEn: Wie scheint die Sonn St. Lichtmesstag


Und steht das Korn im Blühn.
Sie gingen wohl die Straße hin,
Sie gingen zu zwei und zwein.
20 Die Pfeifer gingen vorn,
Die Geiger hinte drein.
Sie hatte rote Sock ...
ERSTES Kınp: S’ ist nit schön.
ZWEITES KiınD: Was willst du auch immer!
25 DRITTES Kınp: Was hast zuerst anfangen?
ZWEITES KinD: Warum?
ERSTES KınD: Darum!
ZWEITES KiND: Aber warum darum?
DRITTES Kınp: Es muss singen -? (Sieht sich fragend im Krei-
» se um und zeigt auf das 1. Kind.)
ERSTES Kinp: Ich kann nit.
ALLE KinDER: Marieche, sing du uns.
MARIE: Kommt ihr klei Krabben!
Ringel, ringel Rosenkranz. König Herodes.
Abend. Die Stadt in der Ferne 27

Großmutter, erzähl.
GROSSMUTTER: Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater
und kei Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf
der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat greint
5 Tag und Nacht. Und weil auf der Erd niemand mehr war,
wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freund-
lich an, und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück
faul Holz, und da ist es zur Sonn gangen, und wie’s zur
Sonn kam, war’s ein verreckt Sonneblum, und wie’s zu
ıo den Sterne kam, waren’s klei golde Mück, die waren an-
gesteckt wie der Neuntöter! sie auf die Schlehe steckt,
und wie's wieder auf die Erde wollt, war die Erd ein umge-
stürzter Hafen? und war ganz allein, und da hat sich’s hin-
gesetzt und geweint und da sitzt es noch und ist ganz al-
15 lein.
WoxZEck: Marie!
MARIE (erschreckt): Was ist?
WoxzEck: Marie, wir wolln gehn. S’ ist Zeit.
MARIE: Wo hinaus?
WoxzeEck: Weiß ich’s?

[20] Abend. Die Stadt in der Ferne


20
Marie und Woyzeck.

MARIE: Also dort hinaus ist die Stadt. S’ ist finster.


WOoxZEcK: Du sollst noch bleiben. Komm, setz dich.
MARIE: Aber ich muss fort.
5 WoxzEck: Du wirst dir die Füß nicht wundlaufen.
MARIE: Wie bist du nur auch!
WovzeEck: Weißt du auch, wie lang es just ist, Marie?
MARIE: An Pfingsten zwei Jahr.
WoszEck: Weißt du auch, wie lang es noch sein wird?
30 MARIE: Ich muss fort, das Nachtessen richten.
WoYZEcK: Friert’s dich, Marie? Und doch bist du warm. Was

| Vogel, der die Beute mit dem Schnabel aufspießt


2 Topf (oberdt.)
28 Es kommen Leute/ Das Wirtshaus

du heiße Lippen hast! (Heiß, heiß Hurenatem und doch


möcht ich den Himmel geben, sie noch eimal zu küssen)
und wenn man kalt ist, so friert man nicht mehr.
Du wirst vom Morgentau nicht frieren.
5 MARIE: Was sagst du?
WoxzEcK: Nix. (Schweigen.)
MARIE: Was der Mond rot aufgeht.
WoxzEck: Wie ein blutig Eisen.
MARIE: Was hast du vor? Franz, du bist so blass. (Er zieht das
ı0 Messer.) Franz, halt! Um des Himmels willen, Hü- Hülfe!
WoxvzEck: Nimm das und das! Kannst du nicht sterben? So!
So! Ha, sie zuckt noch, noch nicht, noch nicht? Immer
noch? (Stößt zu.) Bist du tot? Tot! Tot! (Es kommen Leu-
te, läuft weg.)

[21] Es kommen Leute

ıs ERSTE PERSON: Halt!


ZWEITE PERSON: Hörst du? Still! Da!
ERSTE PERSON: Uu! Da! Was ein Ton.
ZWEITE PERSON: Es ist das Wasser, es ruft, schon lang ist nie-
mand ertrunken. Fort, s’ ist nicht gut, es zu hören.
20 ERSTE PERSON: Uu, jetzt wieder. Wie ein Mensch, der stirbt.
ZWEITE PERSON: Es ist unheimlich, so dunstig, allenthalb Ne-
bel, grau, und das Summen der Käfer wie gesprungne
Glocken. Fort!
ERSTE PERSON: Nein, zu deutlich, zu laut. Da hinauf. Komm mit.

[22] Das Wirtshaus

2 WovzEck: Tanzt alle, immer zu, schwitzt und stinkt, er holt


euch doch eimal alle.
(Singt.) Frau Wirtin hat 'ne brave Magd,
Sie sitzt im Garten Tag und Nacht,
Sie sitzt in ihrem Garten,
30 Bis dass das Glöcklein zwölfe schlägt,
Abend. Die Stadt in der Ferne 29

Und passt auf die Soldaten.


(Er tanzt.) So Käthe! Setz dich! Ich hab heiß, heiß, (er zieht
den Rock aus) es ist eimal so, der Teufel holt die eine und
lässt die andre laufen. Käthe, du bist heiß! Warum denn?
5 Käthe, du wirst auch noch kalt werden. Sei vernünftig.
Kannst du nicht singen?
KÄTHE (tanzt): Ins Schwabeland, das mag ich nicht,
Und lange Kleider trag ich nicht,
Denn lange Kleider, spitze Schuh,
10 Die kommen keiner Dienstmagd zu.
WozzEck: Nein, keine Schuh, man kann auch ohne Schuh in
die Höll gehen.
KÄTHE (tanzt): O pfui, mein Schatz das war nicht fein.
Behalt dei Taler und schlaf allein.
15 WovzEck: Ja wahrhaftig! Ich möchte mich nicht blutig machen.
KÄTHE: Aber was hast du an deiner Hand?
Wozzeck: Ich? Ich?
KÄTHE: Rot, Blut! (Es stellen sich Leute um sie.)
Woxzeck: Blut? Blut.
20 WIRT: Uu Blut.
WoxZEck: Ich glaub, ich hab mich geschnitten, da an der
rechten Hand.
WIRT: Wie kommt’s aber an den Ellenbogen?
WoxZEcK: Ich hab’s abgewischt.
25 WIRT: Was mit der rechten Hand an den rechten Ellenbogen?
Ihr seid geschickt.
NARR: Und da hat der Ries gesagt: Ich riech, ich riech, ich
riech Menschefleisch. Puh! Das stinkt schon.
Woxzeck: Teufel, was wollt ihr? Was geht’s euch an? Platz!
30 Oder der erste - Teufel! Meint ihr, ich hätt jemand umge-
bracht? Bin ich Mörder? Was gafft ihr! Guckt euch selbst
an! Platz da! (Er läuft hinaus.)

[23] Abend. Die Stadt in der Ferne

Woyzeck allein.

Das Messer? Wo ist das Messer? Ich hab’ es dagelassen.


30 _Woyzeck an einem Teich/ Straße

Es verrät mich! Näher, noch näher! Was ist das für ein
Platz? Was hör ich? Es rührt sich was. Still. Da in der
Nähe. Marie? Ha, Marie! Still. Alles still! (Was bist du so
bleich, Marie? Was hast du eine rote Schnur um den Hals?
Bei wem hast du das Halsband verdient, mit deinen Sün-
den? Du warst schwarz davon, schwarz! Hab ich dich jetzt
gebleicht. Was hänge die schwarze Haar, so wild? Hast du
die Zöpfe heut nicht geflochten?) Da liegt was! Kalt, nass,
stille. Weg von dem Platz. Das Messer, das Messer, hab
ich’s? So! Leute. - Dort. (Er läuft weg.)

[24] Woyzeck an einem Teich

So, da hinunter! (Er wirft das Messer hinein.) Es taucht in


das dunkle Wasser, wie ein Stein! Der Mond ist wie ein
blutig Eisen! Will denn die ganze Welt es ausplaudern?
Nein, es liegt zu weit vorn, wenn sie sich baden, (er geht
in den Teich und wirft weit) so jetzt - aber im Sommer,
wenn sie tauchen nach Muscheln, bah, es wird rostig. Wer
kann's erkennen - hätt ich es zerbrochen! Bin ich noch
blutig? Ich muss mich waschen. Da ein Fleck und da noch
einer.

[25] Straße
Kinder.

20 ERSTES KinD: Fort! Mariechen!


ZWEITES KiınD: Was is?
ERSTES Kiınp: Weißt du’s nit? Sie sind schon alle hinaus.
Drauß liegt eine!
ZWEITES KiınD: Wo?
25 ERSTES KınD: Links über die Lochschanz in dem Wäldche, am
roten Kreuz.
ZWEITES KınD: Fort, dass wir noch was sehen. Sie tragen’s
sonst hinein.
Der Idiot. Das Kind. Woyzeck 3]

[26] Gerichtsdiener. Arzt. Richter

GERICHTSDIENER: Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schö-


ner Mord, so schön, als man ihn nur verlangen tun kann,
wir haben schon lange so kein gehabt.

[27] Der Idiot. Das Kind. Woyzeck


5)

Karı (hält das Kind vor sich auf dem Schoß): Der is ins
Wasser gefallen, der is ins Wasser gefalln, wie, der is ins
Wasser gefalln.
WoxZEcK: Bub, Christian.
\% KARL (sieht ihn starr an): Der is ins Wasser gefalln.
Woxzeck (will das Kind liebkosen, es wendet sich weg und
schreit): Herrgott!
KARL: Der is ins Wasser gefalln.
WOoYZEcK: Christianche, du bekommst en Reuter, sa, sa. (Das
5 Kind wehrt sich. Zu Karl.) Da, kauf dem Bub en Reuter.
KARL (sieht ihn starr an.)
WoxzEck: Hop! Hop! Ross.
KARL (jauchzend): Hop! Hop! Ross! Ross! (Läuft mit dem
Kind weg.)
Anhang
l. Georg Büchner - Lebensstationen!

„Der Mangel an Vernunft hat keine Worte.


Beredt ist ihr Besitz.“
(Adorno/Horkheimer)

Ich verachte niemanden, am wenigsten wegen seines Ver-


s standes oder seiner Bildung, weil es in niemands Gewalt
liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, —
weil wir durch gleiche Umstände wohl alle gleich würden
und weil die Umstände außer uns liegen.
(Georg Büchner in einem Brief an seine Eltern im Februar
ı0 1834)

Elternhaus und Schule


Das Licht der Welt erblickt Georg Büchner als Sohn von
Ernst Karl und Frau Caroline Louise Büchner (geb. Reuß)
am 17.10.1813 in Goddelau, einem kleinen Ort im
Großherzogtum Hessen. Sein Vater arbeitet hier seit 1811
ıs als Distriktarzt und ist wenig später in einer weiteren
Funktion als Chirurg des Philipphospitals, einem Kranken-
haus für „Rasende und Wahnsinnige“, in Hofheim für die
Insassen zuständig. An diesem Ort lernen sich die Eltern
von Georg kennen und lieben. Möglich wird dies, da der
20 Vater von Caroline Louise in seiner Funktion als Hofrat
für die Aufsicht dieses Hospitals zuständig ist und somit
Caroline hin und wieder zugegen ist.

! Da zwischen den verschiedenen Veröffentlichungen zu Büchners


Lebenslauf manche Zeitangaben einander z. T.erheblich widerspre-
chen, werden im Zweifelsfalle hier entsprechende Angaben wie-
dergegeben nach: Thomas Michael Mayer: Eine kurze Chronik zu
Leben und Werk. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hrg.): Georg Büchner.
Text+Kritik Sonderband. München 1979, S. 357-426.
Anhang 33

Georg Büchner, um 1831


(Bleistiftzeichnung, vermutlich von A. H. v. Hoffmann)
34 Anhang

Die Lebensumstände, in denen Georg aufwächst, können


als gutbürgerlich bezeichnet werden. Georg entstammt ei-
ner Familie, die auf eine lange Arzttradition zurückblicken
kann. Zeugnisse, in denen von der Wundarztfamilie Büch-
a ner die Rede ist, reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück.
Die Praxis des Vaters ist in den häuslichen Raum inte-
griert, was heißen soll, dass eine wirkliche Trennung zwi-
schen Haushalt und Praxis im Grunde nicht existiert. So
kommen die Kinder von Jugend an mit Kranken und ihren
en>} Leiden in Kontakt, was die Entwicklung der Kinder in Be-
zug auf deren Beruf und Gerechtigkeitssinn nicht unmaß-
geblich beeinflusst.
Der Vater von Georg zeichnet sich durch Prinzipienstren-
ge und Disziplin aus, die Mutter hingegen - als Tochter ei-
- or ner höher gestellten Beamtenfamilie — beweist schöngeisti-
gen Sinn. Während so der Vater den Sohn nach seinen
Möglichkeiten auf dem naturwissenschaftlichen Sektor we-
sentlich fördert, ist es der Mutter gegeben, das literarische
Interesse bei Georg zu wecken.
Er wächst - als eines von acht Kindern, von denen zwei al-
lerdings in jungen Jahren sterben - in einem Haushalt auf,
der, bedingt durch die Mutter, von Aufgeschlossenheit und
Wärme geprägt ist. Diese vertrauensvolle Beziehung spie-
gelt sich späterhin auch in seinen Briefen an die Eltern wi-
s der: Sie sind von
8 0; bemerkenswerter Offenheit. Büchners
Geschwister stehen, mit Ausnahme der Schwester Mathil-
de, in ihrem späteren Leben in der Öffentlichkeit und er-
langen zum Teil nicht unerheblichen Ruhm: Luise Büchner
(1821-1877), die als eine der ersten Frauenrechtlerinnen
& >} ihren schwierigen Weg geht und Aufmerksamkeit erregt,
der wirtschaftlich erfolgreiche Fabrikant und Erfinder Wil-
helm Büchner (1816-1892), der sich später nicht minder
erfolgreich — zunächst als Land- und dann als Reichstags-
abgeordneter — in der Politik engagiert, Ludwig Büchner
s (1824-1899), der als Philosoph, dessen Lehre sich dem
@ [85

Materialismus verschreibt, zu seinen Lebzeiten Weltruhm


erlangt und Alexander Büchner (1827-1904), Professor für
„fremdländische Literatur“ und Jurist in der Familie.
Mit neun Jahren wird — nach einem 1816 erfolgten Umzug
40 nach Darmstadt im Jahre 1822 — Georg Schüler der privaten
Anhang 35

Erziehungs- und Unterrichtsanstalt des Theologen Carl Wei-


tershausen. Für den Neunjährigen stehen - im Zuge der
neuhumanistischen Ausrichtung der Schulen in jener Zeit —
‚neben anderen Fächern auch schon Latein und Griechisch
auf dem Programm. Johann Georg Zimmermann führt das }
[61

Humanistische Gymnasium in Darmstadt, das Georg dann


von 1825 an besucht. 1830 hält er im Rahmen des öffentli-
chen „Gyminasial-Redeactus die Rede zur Vertheidigung des
Cato von Utika“, der idealistische Anklänge innewohnen, die
späterhin revidiert werden. Ein Jahr später — im März — be-
schließt er mit der in Latein gehaltenen Abiturientenrede sei-
ne Schullaufbahn. Neben ihm besuchten in früheren Jahren
noch andere bekannte Personen dieses Gymnasium, u. a. der
mit spitzer Feder sein Zeitalter begleitende Physikprofessor
und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) ren5

oder auch der Naturforscher Justus Liebig (1803-1873).

Studienzeit und manches mehr in Straßburg


Im November 1831 geht Büchner nach Straßburg, um
dort Medizin zu studieren. Straßburg ist mit seinen nahe-
zu 50000 Einwohnern und dem 142 m hohen Münster ei-
ne Stadt, die - im Gegensatz zu Darmstadt - fast schon IS}(>)
großstädtisch wirkt. Neben einem umfänglichen kulturel-
len Angebot ist es vor allen Dingen die politische Diskus-
sion, die die Stadt belebt und die Menschen umtreibt. In
Lesesälen, Theatern, Casinos oder auf der Straße trifft
man sich einerseits, um sich kulturell zu vergnügen, ande- :;
rerseits eben auch, um die jeweiligen politischen Gesin-
nungen — mitunter heftig streitend — zu vertreten. Das
Diskutieren und Streiten hat seinen Grund, denn die Be-
völkerung lebt - ähnlich wie im Großherzogtum Hessen —
zu einem großen Teil unter dem Existenzminimum. Als »
Folge davon erlebt die Stadt Unruhen, so den Rinderauf-
stand vom September 1831 oder den Aufstand der We-
ber, die um einen Mindestlohn kämpfen und zu 30000 auf
die Straße gehen. Die Staatsmacht schlägt den Aufstand
blutig nieder. Georg Büchner bleibt von diesen sozial be-
dingten Wirren nicht unbeeindruckt. Er ist in eine politi-
sche Zeit des Umbruchs hineingeboren. War es anfänglich
36 _Anhang

Louise Wilhelmine Jaegle

das Elternhaus, das ihn in sei-


nem Denken beeinflusste,
und später die Schule, in der
er nicht nur lernt, sondern in
deren Strukturen er ja auch
lebt, so wird nun deutlich,
dass es darüber hinaus das
ganz allgemein in Bewegung
geratene Gesellschaftsfeld ist,
das sich auf Georgs politische
Gesinnung auswirkt. Seine Ansichten sind radikal und
spiegeln sich in folgenden Worten, die einem Brief an die
Eltern aus dem Jahre 1833 entnommen sind: „Meine Mei-
nung ist die: Wenn in unserer Gesellschaft etwas helfen
ıs soll, so ist es Gewalt.“ So nimmt es auch nicht wunder,
dass Georg schon vier Wochen nach seiner Ankunft in
Straßburg in der Straßburger Studentenvertretung „Eu-
genia“ als Gast einer Versammlung beiwohnt und später
zu einem ihrer radikalsten Vertreter zählt. In einem Pro-
20 tokoll zu einer Eugenia-Sitzung aus dem Jahre 1832 heißt
es, er „schleudert einmal wieder alle mögliche Blitze und
Donnerkeile, gegen alles, was sich Fürst u. König nennt“.
In die Zeit des Straßburger Aufenthaltes fällt des Weite-
ren auch die Mitgliedschaft in einer Sektion des links
2 orientierten
oO Geheimbundes „Societ€ des Droits de
Homme et du Citoyen“. Stets geht es um die Rechte
bzw. um die Einforderung von Rechten des sozial benach-
teiligten, einfachen Menschen.
Bei allem politischen Eintreten für die Rechte anderer gibt
3 es auch ein Privatleben. Georg Büchner lebt bei dem Pfar-
oO

rer Johann Jakob Jaegl&, mit dem er entfernt verwandt ist.


Dort studiert und diskutiert er nicht nur, sondern verliebt
sich auch. Er fühlt sich von der Tochter Wilhelmine Jaegle —
auch Minna geheißen und im Fortgang so genannt — ange-
8 zogen. Seine Liebe wird von der drei Jahre älteren Frau er-
}
[81

widert, und im Verlaufe seines Aufenthaltes verloben sich


die beiden schließlich in aller Heimlichkeit.
Anhang 37

Krisenzeit -— Zurück in Hessen

1833 kehrt Büchner nach Deutschland zurück, um sich im


Oktober in Gießen an der Landes-Universität zu immatri-
kulieren. Im Gegensatz zu Straßburg ist das ca. 7000
Seelen zählende Gießen, mit den Worten seines Bruders
Alexanders, ein „Studentendorf, wo die Häuser sich or

schwerfällig aneinanderlehnten, um nicht umzufallen“. Es ist


eine Stadt der Enge, des einfachen Lebens und des Ge-
stanks. Vergnügliche Abwechslungen gibt es kaum. Für Ge-
org Büchner ist es eine studienintensive Zeit. An der Uni-
versität lehrt, neben Kapazitäten wie Justus Liebig, auch 1
der Sonderling Wilbrand, Professor für vergleichende Ana-
tomie, Physiologie und Naturgeschichte, der in seinen Vor-
lesungen gern seinen Sohn vorführt, wie Büchner erzählt:
„Der Sohn, der die Ohren brillant bewegen konnte, musste
dann erscheinen [...] Nach der Beschreibung der Ohrmus- fen5
keln sagte der Professor [...]: Diese Muskeln sind beim
Mensken obsolet geworden, das können nur die Affken. Jo-
lios, mach’s mal! Der unglückliche Jolios musste dann auf-
stehen und mit den Ohren wedeln.” Im Drama Woyzeck
finden wir das so grotesk Anmutende verarbeitet. Neben =
solchen Vorführungen erklärt Wilbrand den Blutkreislauf
des Menschen für nicht existent, und dass bei der Atmung
Sauerstoff aufgenommen wird, ist ihm ein Trugglaube.
Georg Büchner durchläuft um die Jahreswende eine Zeit der
Krisen. Sein politischer Gestaltungswille liegt brach, ist aber >
ww

gleichwohl ungebrochen. „Die politischen Verhältnisse könn-


ten mich rasend machen“, heißt es in einem Brief an August
Stoeber, datiert vom 09.12.1833. Sein Gefühlsleben ist, be-
dingt durch die Trennung von Minna, ungeordnet, und er ist
sich unschlüssig, ob der gewählte Promotionsabschluss mit 30
der Zielrichtung, Arzt zu werden, der richtige ist. Eine leich-
te Hirnhautentzündung kommt noch hinzu. Er kehrt über
Weihnachten nach Darmstadt zurück, um im Januar in
Gießen seine Studien wieder aufzunehmen. In Briefen an
Minna Jaegl&e schildert Büchner seine innere Verfassung, das s5
Gefühl der Isolation, das er empfindet, und die psychische
Krise, die er durchlebt. Die Depressionen führen im März
zum sogenannten „Fatalismusbrief“ an Minna.
38 _Anhang

Politische Aktion - „Der Hessische Landbote“

Im März gründet er — der depressiven Stimmung, die ihn


umfängt, zum Trotz - in Gießen die „Gesellschaft für Men-
schenrechte“, die sich an dem gleichnamigen französischen
Vorbild orientiert. Frühkommunistisches Gedankengut
or wird in dieser Gesellschaft diskutiert. Hier findet er die
Verbündeten, die den wenig später im August erscheinen-
den „Hessischen Landboten“ möglich machen werden.
Das Jahr 1834 ist insgesamt ein ereignisreiches Jahr für
Georg Büchner. In den Osterferien fährt er zunächst nach
o Straßburg, um Minna wiederzusehen. Im gleichen Jahr — im
September — wird offiziell im Kreise der Familie die Verlo-
bung verkündet. Der Vater billigt zunächst die Verbindung
nicht, einigt sich aber mit seinem Sohn im Gegenzug für
seine Einwilligung darauf, dass das Medizinstudium zum or-
or dentlichen Abschluss geführt wird.
Zwischen die Reise über Ostern nach Straßburg und die
Verlobung im darauffolgenden September fällt im August
die Veröffentlichung des „Hessischen Landboten“, der im
November des gleichen Jahres eine Neuauflage in verän-
20 derter Fassung erfährt. Flugschriften gibt es in dieser poli-
tischen Umbruchzeit zahlreiche. Diese aber hebt sich aus
der Masse hervor, da sie — rhetorisch geschickt — einer-
seits das im Volk hohe Autorität genießende Bibelwort
bemüht und dieses andererseits mit der Sprache der
2 sachlichen Analyse mischt. Diese Kopplung von nachprüf-
baren, konkreten Werten mit dem den Glauben anspre-
chenden Wort macht diese Schrift politisch hochbrisant.
Die Staatsmacht erkennt, wie gefährlich die Flugschrift
werden könnte. Ein Referent beim Gießener Hofgericht
deklariert sie als „hochverräterische“ und weiter als „un-
zweifelhaft revolutionäre Flugschrift“, die zum Umsturz
auffordere. Büchner möchte mithilfe dieser Schrift das
bäuerliche Volk aufklären: „Man muss ihnen zeigen und
vorrechnen.“ Und Büchner, dem es um die politische Be-
[0%]81} wusstseinsbildung geht, zeigt, indem er die Ungleichvertei-
lung im Staate mit konkreten Zahlen belegt und auf die
Gleichheit des Menschen durch die Autorität des Gottes-
wortes verweist, auf eine dem einfachen Volk nachvoll-
Anhang 39

ziehbare Weise das große Unrecht auf, das ihm angetan


wird.
Um die Schrift publizieren zu können, sucht Büchner die
Zusammenarbeit mit dem Rektor Friedrich Ludwig Weidig,
der die Möglichkeit zur Drucklegung hat. Weidig ist einer ;
der führenden Oppositionellen in jener Zeit. Zum Ziel ge-
setzt hat dieser sich die Einheit des deutschen Staates un-
ter der Führung eines Volkskaisers, Büchner hingegen
möchte den Staat im demokratischen Sinne so reformie-
ren, dass dem Volk mehr Macht zukommt. „Was ist denn ıo
nun das für ein gewaltiges Ding: der Staat?“, fragt er im
„Landboten“ und kommt zu dem Schluss: „Der Staat sind
also alle.“ Trotz der unterschiedlichen Grundhaltungen ar-
beiten die beiden in Anbetracht des gemeinsamen, über-
mächtigen Gegners zusammen. 15
Bei der ersten Drucklegung redigiert Weidig in Teilen das
Manuskript von Büchner, ergänzt, lässt weg, damit andere
in der Opposition Stehende sich mit der Schrift identifizie-
ren können, denn die Schrift ist in der Originalfassung so
abgefasst, dass auch bestimmte oppositionelle Kreise sich »
angegriffen fühlen könnten. Büchner billigt die Veränderun-
gen nicht, ihm fehlt aber die Möglichkeit, die Schrift ander-
weitig zu veröffentlichen. Die Obrigkeit erfährt durch ei-
nen verräterischen Vertrauten Weidigs — Conrad Kuhl —
von der Flugschrift. Der Student und Freund von Georg
Karl Minnigerode wird mit einer großen Anzahl von mitge-
führten Exemplaren der Schrift verhaftet. Nur wenige Ex-
emplare gelangen in Umlauf. Im Zuge der angesetzten Un-
tersuchungen wird auch Büchners Stube durchsucht, der
daraufhin beim Universitätsrichter Georgi vorspricht und »
protestiert. Für Büchner liegt längst ein Haftbefehl vor.
Georgi traut sich jedoch aufgrund Georgs selbstbewussten
Auftretens nicht, diesen zu vollziehen. Büchner verlässt
Gießen und geht nach Darmstadt zu seinen Eltern.

Literarisches Wirken und beruflicher


Werdegang
Im Januar des Folgejahres muss er schließlich doch fliehen. :;
Doch zuvor beginnt er mit der Niederschrift des Dramas
AO Anhang

„Dantons Tod“ und schickt es nach Fertigstellung an den


Literaten und Kritiker Gutzkow. Büchners Verständnis zu-
folge ist der dramatische Dichter ein auf einer anderen
Qualitätsstufe stehender Geschichtsschreiber. „Seine
s höchste Aufgabe ist es“, wie er an seine Eltern schreibt,
„der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als
möglich zu kommen.“ Er macht in dem gleichen Brief
deutlich, dass die Welt zu zeigen ist, wie sie ist, und nicht,
wie sie sein sollte. So wendet er sich vehement gegen die
ıo Dichter der Klassik und deren idealistisch verklärtes Den-
ken. „Dantons Tod“ verarbeitet Szenen aus der französi-
schen Revolution, beschreibt die Auseinandersetzung zwi-
schen Robbespierre und Danton. Büchner zitiert z. T. fast
wortgetreu aus den Vorlagen, die ihm zur Verfügung ste-
ıs hen. Als Hauptquelle dient ihm die IO-bändige „Histoire de
la Revolution frangaise“ von Adolphe Thiers, die er der
Hofbibliothek zu Darmstadt entleiht. Aus dem elterlichen
Bücherschrank zieht er das 36-bändige Lexikon „Unsere
Zeit“ zu Rate. „Dantons Tod“ erscheint zunächst — von
20 Gutzkow redigiert und, wie später von diesem selbst ein-
gestanden, verstümmelt - in der Zeitschrift „Phönix“. Im
gleichen Jahr noch wird das Drama auch als Buch verlegt.
1893 erst werden einige lose Szenen aufgeführt, auf die ei-
gentliche Uraufführung in Berlin muss man noch bis zum
2 Jahr 1902 warten.
Die Niederschrift benötigte nur wenige Wochen, und die
Eile mag ihren Grund in dem Honorar haben, das Büchner
erwartete und das er für die Flucht verwenden wollte.
Das von Gutzkow in Aussicht gestellte Honorar von 100
so Gulden erreicht Büchner in Darmstadt nicht mehr. Er reist
im März nach Straßburg ab, wo er sich unter dem Namen
Jacques Lucius anmeldet. Ein Steckbrief, der im Sommer
(18. Juni) im hessischen Raum in zwei Zeitungen veröffent-
licht wird, zeigt im Nachhinein die Notwendigkeit zur
35 Flucht nach Straßburg an, wo ihm dann auch Asyl gewährt
wird. Politisch ist Georg Büchner, der seinen richtigen
Namen bald wieder annimmt, in dieser Zeit kaum mehr
tätig, er versucht sich im Geldverdienen, indem er Über-
setzungen anfertigt, so Victor Hugos „Lucrece Borgia“ und
0 „Marie Tudor“.
Anhang 4]

Im gleichen Jahr entsteht „Lenz“, eine Novelle über den be-


kannten Autor des Sturm und Drang, der nach einer Lei-
denszeit schließlich dem Wahnsinn verfällt. Auch hier ist
Büchner das Quellenstudium wichtig, und so zeigt seine
Novelle in der literarischen Verarbeitung weiterhin Nähe ;
zur von dem Pfarrer Johann Friedrich Oberlin protokollier-
ten Krankengeschichte, in dessen Hause Lenz 1778 drei
Wochen verbrachte. In der Novelle „Lenz“ wird Büchners
idealistische Abneigung deutlich, so wenn er Lenz sagen lässt:
„Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein ıo
soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, un-
ser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaf-
fen.“ Und schließlich: „Der Idealismus ist die schmählichste
Verachtung der menschlichen Natur.“ Der Literat als Histo-
riker, der mit seinen Mitteln das Leben in all seinen Schat- ı;
tierungen ohne Schönzeichnungen wiedergibt, das ist es,
was Büchner vorschwebt. Lenz, die Novelle, trägt, trotz der
Nähe zur Quelle, zugleich autobiografische Züge, die die
Lebens- und Seelenwelt Büchners widerspiegeln; der Bru-
der Ludwig Büchner spricht später von „verwandte[n] See- :o
lenzuständen“ und davon, dass die Novelle „halb und halb
[...] des Dichters eigenes Porträt ist.“ „Lenz“ bleibt unvoll-
endet. Sie wird erstmals zwei Jahre nach Büchners Tod pub-
liziert, und es bedarf noch der Jahrzehnte und weiterer Ver-
öffentlichungen, bis ihr literarischer Stellenwert erkannt
wird. Das Jahr 1836 ist wieder ein schaffensreiches Jahr.
Das Lustspiel „Leonce und Lena“ entsteht als Folge eines
Preisausschreibens, das der Cotta-Verlag veranstaltet und
mit 300 Gulden dotiert. Thematische Anklänge an „Woy-
zeck“ sind in dem Lustspiel zu finden, die ‚Langeweile‘ ist so
Thema in Gestalt des Feudalherren Leonce, der ‚freie Wille‘
und auch die ‚Moral‘, über die sich König Peter vom Reiche
Popo so seine Gedanken macht, sind — wie im „Woyzeck“ —
gleichermaßen thematisiert. Büchner verpasst den Einsen-
deschluss und das Manuskript kehrt ungelesen zurück. In @ BD)
der Folgezeit arbeitet er immer wieder daran. Etwa zur sel-
ben Zeit entsteht das Fragment bleibende Drama „Woy-
zeck“, das ihn bis zu seinem Tode beschäftigt. Ungeklärt
bleibt die Existenz des Dramas „Pietro Aretino“, das gleich-
sam 1836 entstanden sein soll, aber als verschollen gilt. 40
42 Anhang

Büchners Wohnhaus
in Zürich. In dem
linken Haus wohnte
80 Jahre später
Lenin.

Büchner zieht aus beruflichen Gründen im Oktober nach


Zürich, wo er an der Universität einen Monat zuvor zum
Dr. phil. promoviert wurde. Die Promotion hat zum Thema
„Das Nervensystem der Barbe (Fische)“. Eine Probevorle-
a sung zum gleichen Thema („Uber Schädelnerven“) an der
Universität Zürich führt zur Berufung zum Privatdozenten.
Anhang 43

Der frühe Tod


"Berichte über eine Krankheit, die in Briefen an Minna Jae-
gle aus dem Jahre 1837 als Erkältung deklariert wird, kün-
den womöglich schon von der nahenden Typhuserkran-
kung, die am 2. Februar 1837 ausbricht und dann rasch
zum Tode führt. Büchner stirbt mit 23 Jahren am 19. Fe- ;
bruar 1837 und wird zwei Tage später unter großer Anteil-
nahme der Stadt- und Uhniversitätshonoratioren auf dem
Friedhof „Zum Krautgarten“ in Zürich beerdigt. Wilhelmi-
ne Jaegl&e, die Georg Büchner kurz vor dessen Tod noch
besucht und seiner Sterbestunde beiwohnt, nimmt an der
Beerdigung nicht teil. Sie schreibt nach Darmstadt: „Mein
Leben gleicht einem schwülen Sommertage! Morgens hei-
tere angenehme Luft - in etlichen Stunden Sturm und Ge-
witter, zerknickte Blumen, zerschlagene Pflanzen. Meine
Ansprüche auf Lebensglück, auf eine heitere Zukunft zu ı;
Grabe getragen, alles, alles verloren —.‘“ Minna Jaegle bleibt
ihr Leben lang unverheiratet.

Das Fragment ‚„Woyzeck“


Ähnlich wie bei „Dantons Tod“ und „Lenz“ ist es wieder
ein historischer Fall, der Büchner im „Woyzeck“ interes-
siert und ihn, literarisch aufbereitet, Geschichte erzählen »
lässt. Den 1821 von Johann Christian Woyzeck an seiner
Geliebten verübten Mord nimmt Büchner 1836 zum An-
lass, die gesellschaftliche Mitverantwortung an der
menschlichen Tragödie zu diskutieren. Der Fall erregte
seinerzeit großes Interesse, da infolge der Halluzinationen 5
und Depressionen, die der Soldat und Perückenmacher
Woyzeck im Vorfeld der Tat hatte, dessen Schuldfähigkeit
in Fachkreisen kontrovers diskutiert wurde. Büchners
Drama zeigt nun wohl das Verbrechen Woyzecks, aber es
zeigt vor allen Dingen, wie dieser von der Gesellschaft so
zuvor sozial gebrochen wird.
Das Manuskript des „Woyzeck“ wird erst 42 Jahre nach
Büchners Tod von seinem Freund Karl Emil Franzos unter
dem Titel „Wozzeck“ veröffentlicht. Ein verzeihlicher Le-
sefehler des Freundes zeichnete für diese Titelgebung ver- 5
antwortlich. Verzeihlich deshalb, da die einzelnen auf vier
44 _Anhang

Büchners Arbeits- u. Sterbezimmer, von ihm selbst skizziert

Bögen niedergeschriebenen Szenen des Dramas nahezu


unlesbar waren. Denn kreuz und quer über die Bögen ver-
teilt ziehen sich vom Hintergrund kaum abgesetzte Linien-
führungen, die Schrift sind und doch kryptisch anmuten.
5 Erst nach einer unsachgemäß gehandhabten Chemikalien-
behandlung durch Franzos hebt sich für kurze Zeit Text
schwarz vom Grund, wird zu entziffernder Inhalt sichtbar.
Franzos entziffert aber nicht nur, sondern er verändert
auch, nimmt Eingriffe vor und bringt die Szenen in eine
ihm logische, dramengemäße Reihenfolge, die 1913 als
„Wozzeck“ am Residenztheater in München uraufgeführt
werden. Spätere Editionen orientieren sich daher wieder
an dem in drei Entwicklungsstufen vorliegenden Original-
Fragment, so die Edition von Georg Wittkowski aus dem
ıs Jahre 1920 und die 1922 von Fritz Bergemann herausgege-
bene. Daneben existieren noch weitere textkritische Aus-
gaben. Eine aktuellere Fassung aus dem Jahre 1985 bietet
die kombinierte Leseausgabe des „Woyzeck“ von Henri
Poschmann. Die hier vorliegende Textausgabe folgt in Sze-
2» nenabfolge und Wortlaut der gängigen, von Lehmann her-
ausgegebenen Lese- und Bühnenfassung von 1967.
Den Anspruch, dem büchnerischen Original adäquat zu
sein, kann und wird keine wie auch immer lautende Fassung
je erfüllen können. Das Nachdenken über das Gedanken-
25 Original von Büchner wird nicht verstummen, denn eine au-
torisierte Ausgabe gibt es ja — und vielleicht zum Glück —
nicht. So offenbart sich im „Woyzeck“, was in jedem anderen
Werk auch im Abschluss doch gleichsam stets mitschwingt:
Der auf immer offen bleibende und mit jeder Interpretation
Anhang A45

nur wachsende Bedeutungshorizont. Der Gefahr des Glau-


bens, dass es eine ‚richtige‘ Interpretation gäbe und man um
sie wissen könnte, ist durch das tragische Schicksal Büch-
ners so vorgebeugt. Schließlich ist „[dJie Literatur (das Uni-
versum der Texte) [...] ein Halbfabrikat. Es verlangt nach or

Vollendung. Die Literatur richtet sich an einen Empfänger,


von dem sie verlangt, dass er sie vollende. [...] So viele Le-
ser ein Text hat, so viele Bedeutungen hat er. [...] Ein Text
ist umso bedeutungsvoller, je größer die Zahl seiner Lesear-
ten“, sagt Vilem Flusser (a.a.O.). Im „Woyzeck“ wird deut- ıo
lich, dass die Suche nach dem rechten Sinn hier wie in aller
Literatur auf im Wandel stehenden gesellschaftlichen Kon-
ventionen aufbaut, aber nie auf einer zu ergründenden Kon-
stante. In der Vielfalt differierender, wiewohl begründeter
Deutungen ist der Wert aller Literatur und explizit des fen5
„VWVoyzeck“ angelegt, da dieser sich dem Glauben an das der
Vielfalt diametral Entgehenstehende, bedingt durch seine un-
vollendet gebliebene offene Anlage, von vornherein versagt.

Lebenslauf im Überblick (17.10.1813 — 19.02.1837)

LEBENSDATEN VON HISTORISCHE DATEN


GEORG BÜCHNER

1813 | 1813
17. Oktober: Georg Büchner | Napoleons Niederlage in
wird in Goddelau/Darmstadt| der Völkerschlacht bei
geboren. Leipzig (16.-19. Oktober
1813)
1814/15
Napoleon erhält 1814 die
Insel Elba als Fürstentum
zugewiesen, Rückkehr von
Napoleon im Frühjahr
1815, Niederlage bei
Waterloo, Verbannung auf
die Insel St. Helena;
Wiener Kongress — Neuord-
nung Europas, Zeit der
46 Anhang

Restauration, Deutscher
Bund
1816 1817
Familie zieht infolge der Wartburgfest
Versetzung des Vaters nach
Darmstadt
1819
Karlsbader Beschlüsse —
Pressezensur, Demagogen-
verfolgung u. a.
1822
Schüler der privaten
Erziehungs- und Uhnter-
richtsanstalt des Theologen
Carl Weitershausen
1825
Eintritt in das Humanistische
Gymnasium in Darmstadt
1830
Julirevolution in Frankreich
1830/31
Polnischer Aufstand
1831
März: Abschluss der
Gymnasialzeit
November: Aufnahme des
Medizinstudiums in Straßburg
1832 1832
März: heimliche Verlobung Hambacher Fest —
mit Wilhelmine (Minna) Massendemonstration
Jaegl&, Tochter seines
Vermieters und entfernten
Verwandten in Straßburg
Mai: Vortrag über deutsche
politische Zustände und die
Rohheit deutscher Studenten
Anhang Bl ee
vor Mitgliedern der
Studentenverbindung
„Eugenia“
1833
Oktober: Wechsel Büchners
zur Landes-Universität
Gießen
November: Leichte Hirn-
hautentzündung, über
Weihnachten Rückkehr zu
den Eltern nach Darmstadt

1834 1834
Januar: Büchner und Weidig Gründung des Deutschen
nehmen Kontakt auf. Zollvereins
Januar: Depressionen und
allgemeine Lebenskrise
führen im März zum
sogenannten Fatalismusbrief.
März: Gründung der
„Gesellschaft für Menschen-
rechte“ in Gießen
April: Gründung einer
gleichnamigen Sektion in
Darmstadt
August: Veröffentlichung des
„Hessischen Landboten“.
Verrat durch Konrad Kuhl.
Der Student Karl Minni-
gerode wird mit Exemplaren
des „Hessischen Landboten“
verhaftet.
September: Offizielle Ver-
lobung mit Minna Jaegle in
Darmstadt
November: Neuauflage des
„Hessischen Landboten“
1835
e „Dantons Tod“, Drama
48 _Anhang

e „Lenz“, Novelle, bleibt


Fragment
März: G. Büchner flieht nach
Straßburg.
April: Verhaftungswelle, der
u. a. Weidig zum Opfer fällt
Juni: G. Büchner wird steck-
brieflich gesucht.
Oktober: G. Büchner über-
setzt Victor Hugos Dramen
„Lucrece Borgia“ und
„Marie Tudor“.
1836
e „Leonce und Lena“,
Komödie
e „Woyzeck“, Drama, bleibt
Fragment
e „Pietro Aretino“, Drama,
verschollen
April/Mai: Vortrag in Straß-
burg über das Nervensystem
der Barben
September: G. Büchner wird
in Zürich promoviert zum
Dr. phil. mit dem Thema:
„Das Nervensystem der
Barbe (Fische)“.
Oktober: Umzug nach Zürich
November: Probevorlesung:
„Uber Schädelnerven“;
Aufnahme einer Privat-
dozentur an der Züricher
Universität
1837
2. Februar: Erkrankung an
Typhus
19. Februar: Büchner ver-
stirbt. Zwei Tage später —
unter großer Anteilnahme —
Beerdigung in Zürich
Anhang 49

2: Schriftzeugnisse

Die politisch motivierten Gedanken, die in Büchners schmalem


Werk verarbeitet werden, finden sich gleichsam in den Briefen
wieder.

Briefe
An die Familie
Straßburg, den 5. April 1833. oo

Heute erhielt ich euren Brief mit den Erzählungen aus


Frankfurt. Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit et-
was helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir von
unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie bewillig-
ten, wurde ihnen durch die Notwendigkeit abgezwungen. „ [)

Und selbst das Bewilligte wurde uns hingeworfen, wie eine


erbettelte Gnade und ein elendes Kinderspielzeug, um
dem ewigen Maulaffen Volk seine zu eng geschnürte
Wickelschnur vergessen zu machen. Es ist eine blecherne
Flinte und ein hölzerner Säbel, womit nur ein Deutscher fen0

die Abgeschmacktheit begehen konnte, Soldatchens zu


spielen. Unsere Landstände sind eine Satire auf die gesun-
de Vernunft, wir können noch ein Säkulum'! damit herum-
ziehen, und wenn wir die Resultate dann zusammenneh-
men, so hat das Volk die schönen Reden seiner Vertreter »
noch immer teurer bezahlt als der römische Kaiser, der
seinem Hofpoeten für zwei gebrochene Verse 20,000 Gul-
den geben ließ. Man wirft den jungen Leuten den Ge-
brauch der Gewalt vor. Sind wir denn aber nicht in einem
ewigen Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und
großgezogen sind, merken wir nicht mehr, dass wir im
Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen
und einem Knebel im Munde. Was nennt ihr denn gesetzli-
chen Zustand? Ein Gesetz, das die große Masse der Staats-
bürger zum fronenden Vieh macht, um die unnatürlichen
Bedürfnisse einer unbedeutenden und verdorbenen Min-
derheit zu befriedigen? Und dies Gesetz, unterstützt durch

' Jahrhundert
s0 Anhang

eine rohe Militärgewalt und durch die dumme Pfiffigkeit


seiner Agenten, dies Gesetz ist eine ewige, rohe Gewalt, an-
getan dem Recht und der gesunden Vernunft, und ich wer-
de mit Mund und Hand dagegen kämpfen, wo ich kann. [...]

a An die Familie
Gießen, im Februar 1834.
[...] Ich verachte niemanden, am wenigsten wegen seines
Verstandes oder seiner Bildung, weil es in niemands Gewalt
liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden, —
o© weil wir durch gleiche Umstände wohl alle gleich würden
und weil die Umstände außer uns liegen. Der Verstand nun
gar ist nur eine sehr geringe Seite unseres geistigen Wesens,
und die Bildung nur eine sehr zufällige Form desselben. Wer
mir eine solche Verachtung vorwirft, behauptet, dass ich ei-
Pian nen Menschen mit Füßen träte, weil er einen schlechten
Rock anhätte. Es heißt dies, eine Rohheit, die man einem
im Körperlichen nimmer zutrauen würde, ins Geistige
übertragen, wo sie noch gemeiner ist. Ich kann jemanden
einen Dummkopf nennen, ohne ihn deshalb zu verachten;
die Dummheit gehört zu den allgemeinen Eigenschaften
der menschlichen Dinge; für ihre Existenz kann ich nichts,
es kann mir aber niemand wehren, alles, was existiert, bei
seinem Namen zu nennen und dem, was mir unangenehm
ist, aus dem Wege zu gehn. Jemanden kränken ist eine
25 Grausamkeit, ihn aber zu suchen oder zu meiden, bleibt
meinem Gutdünken überlassen. [...]] Man nennt mich einen
Spötter. Es ist wahr, ich lache oft, aber ich lache nicht da-
rüber, wie jemand ein Mensch, sondern nur darüber, dass
er ein Mensch ist, wofür er ohnehin nichts kann, und lache
30 dabei über mich selbst, der ich sein Schicksal teile. [...] Der

Hass ist so gut erlaubt als die Liebe, und ich hege ihn im
vollsten Maße gegen die, welche verachten. Es ist deren eine
große Zahl, die im Besitze einer lächerlichen Äußerlichkeit,
die man Bildung, oder eines toten Krams, den man Gelehr-
s samkeit heißt, die große Masse ihrer Brüder ihrem verach-
tenden Egoismus opfern. Der Aristokratismus ist die
schändliche Verachtung des heiligen Geistes im Menschen;
gegen ihn kehre ich seine eigenen Waffen; Hochmut gegen
Hochmut, s
e Spott ee
gegen Spott. [...] SAN LE
An )
Anhang 5]

An die Braut
[Gießen, nach dem I0. März 1834.]
[...] Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte
mich wie zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der
Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzli- 5
che Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine
unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der
Einzelne nur Schaum auf der Welt, die Größe ein bloßer
Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein
lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu er-
kennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es
fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckste-
hern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein
Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das
muss ist eins von den Verdammungsworten, womit der ıs
Mensch getauft worden. Der Ausspruch: Es muss ja Ar-
gernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, —
ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, mordet,
stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen.
Könnte ich aber dies kalte und gemarterte Herz an deine
Brust legen! B. wird dich über mein Befinden beruhigt ha-
ben, ich schrieb ihm. Ich verwünsche meine Gesundheit.
Ich glühte, das Fieber bedeckte mich mit Küssen und um-
schlang mich wie der Arm der Geliebten. Die Finsternis
wogte über mir, mein Herz schwoll in unendlicher Sehn- >
sucht, es drangen Sterne durch das Dunkel und Hände
und Lippen bückten sich nieder. Und jetzt? Und sonst? Ich
habe nicht einmal die Wollust des Schmerzes und des
Sehnens. Seit ich über die Rheinbrücke ging, bin ich wie in
mir vernichtet, ein einzelnes Gefühl taucht nicht in mir
auf. Ich bin ein Automat; die Seele ist mir genommen.
Ostern ist noch mein einziger Trost; ich habe Verwandte
bei Landau, ihre Einladung und Erlaubnis, sie zu besuchen.
Ich habe die Reise schon tausendmal gemacht und werde
nicht müde. — Du frägst mich: Sehnst du dich nach mir? 35{0%}
Nennst du’s Sehnen, wenn man nur in einem Punkt leben
kann und wenn man davon gerissen ist, und dann nur
noch das Gefühl seines Elendes hat? Gib mir doch Ant-
wort. Sind meine Lippen so kalt? [...]
52 _Anhang

An Gutzkow
[Straßburg]
[...] Die ganze Revolution hat sich schon in Liberale und
Absolutisten geteilt und muss von der ungebildeten und
[91] armen Klasse aufgefressen werden; das Verhältnis zwi-
schen Armen und Reichen ist das einzig revolutionäre Ele-
ment in der Welt, der Hunger allein kann die Freiheitsgöt-
tin und nur ein Moses, der uns die sieben ägyptischen
Plagen auf den Hals schickte, könnte ein Messias werden.
Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die
Apoplexie!. Ein Huhn im Topf eines jedes Bauern macht
den gallischen Hahn verenden. [...]

An die Familie
Straßburg, 28. Juli 1835.
juna [...] Was übrigens die sogenannte Uhnsittlichkeit meines
Buchs [,Dantons Tod“, Anm. N.S.] angeht, so habe ich Fol-
gendes zu antworten: Der dramatische Dichter ist in mei-
nen Augen nichts als ein Geschichtsschreiber, steht aber
über Letzterem dadurch, dass er uns die Geschichte zum
zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine
trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hin-
einversetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere und
statt Beschreibungen Gestalten gibt. Seine höchste Aufga-
be ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so
2 or nahe als möglich zu kommen. Sein Buch darf weder sittli-
cher noch unsittlicher sein als die Geschichte selbst; aber
die Geschichte ist vom lieben Herrgott nicht zu einer Lek-
türe für junge Frauenzimmer geschaffen worden und da ist
es mir auch nicht übelzunehmen, wenn mein Drama eben-
oO so wenig dazu geeignet ist. Ich kann doch aus einem Dan-
ton und den Banditen der Revolution nicht Tugendhelden
machen! Wenn ich ihre Liederlichkeit schildern wollte, so
musste ich sie eben liederlich sein, wenn ich ihre Gottlo-
sigkeit zeigen wollte, so musste ich sie eben wie Atheisten
0 sprechen lassen. Wenn einige unanständige Ausdrücke vor-
kommen, so denke man an die weltbekannte, obszöne
Sprache der damaligen Zeit, wovon das, was ich meine

I Schlaganfall
Anhang 53

Leute sagen lasse, nur ein schwacher Abriss ist. Man könn-
te mir nur noch vorwerfen, dass ich einen solchen Stoff
gewählt hätte. Aber der Einwurf ist längst widerlegt. Wollte
man ihn gelten lassen, so müssten die größten Meis-
terwerke der Poesie verworfen werden. Der Dichter ist oa

kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten,


er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leu-
te mögen dann daraus lernen, so gut wie aus dem Studi-
um der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im
menschlichen Leben um sie herum vorgeht. Wenn man so ıo
wollte, dürfte man keine Geschichte studieren, weil sehr
viele unmoralische Dinge darin erzählt werden, müsste mit
verbundenen Augen über die Gasse gehen, weil man sonst
Unanständigkeiten sehen könnte, und müsste über einen
Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, worauf so ıs
viele Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir übrigens
noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zei-
gen, wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte
ich, dass ich es nicht besser machen will, als der liebe
Gott, der die Welt gewiss gemacht hat, wie sie sein soll. 0
Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde
ich, dass sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen
Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von
Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude
mich mitempfinden macht, und deren Tun und Handeln :
mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort,
ich halte viel auf Goethe oder Shakspeare, aber sehr wenig
auf Schiller. [...]

An Gutzkow
Straßburg. [1836]
[...] Übrigens, um aufrichtig zu sein, Sie und Ihre Freunde
scheinen mir nicht gerade den klügsten Weg gegangen zu
sein. Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten
Klasse aus reformieren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein
materiell, wären Sie je direkter politisch zu Werk gegangen, 35
so wären Sie bald auf den Punkt gekommen, wo die Re-
form von selbst aufgehört hätte. Sie werden nie über den
Riss zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesell-
schaft hinauskommen.
54 _Anhang

Ich habe mich überzeugt, die gebildete und wohlhabende


Minorität, so viel Konzessionen sie auch von der Gewalt
für sich begehrt, wird nie ihr spitzes Verhältnis zur großen
Klasse aufgeben wollen. Und die große Klasse selbst? Für
s die gibt es nur zwei Hebel, materielles Elend und religiöser
Fanatismus. Jede Partei, welche diese Hebel anzusetzen
versteht, wird siegen. Unsre Zeit braucht Eisen und Brot
— und dann ein Kreuz oder sonst so was. Ich glaube, man
muss in sozialen Dingen von einem absoluten Rechts-
ıo grundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Le-
bens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesell-
schaft zum Teufel gehen lassen. Zu was soll ein Ding
wie diese zwischen Himmel und Erde herumlaufen? Das
ganze Leben derselben besteht nur in Versuchen, sich die
ıs entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag ausster-
ben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann.
...]
Der Hessische Landbote
„Woyzeck“ ist ein Drama, das Klage gegen die Verhältnisse
führt. Die Kritik, die Büchner an den gesellschaftlichen Verhält-
20 nissen übt, ist von ihm allerdings nicht allein literarisch verar-
beitet worden, sondern er zeigte sich darüber hinaus aktiv poli-
tisch engagiert. Ein Resultat dieser Aktivität ist die politische
Flugschrift „Der Hessische Landbote“, die ihn zu einem steck-
brieflich Verfolgten machte.

Erste Botschaft
Vorbericht Darmstadt, im Juli 1834.
25 Dieses Blatt soll dem hessischen Lande die Wahrheit mel-
den, aber wer die Wahrheit sagt, wird gehenkt, ja sogar
der, welcher die Wahrheit liest, wird durch meineidige
Richter vielleicht gestraft. Darum haben die, welchen dies
Blatt zukommt, Folgendes zu beobachten:
so I. Sie müssen das Blatt sorgfältig außerhalb ihres Hauses
vor der Polizei verwahren;
2. sie dürfen es nur an treue Freunde mitteilen;
3. denen, welchen sie nicht trauen wie sich selbst, dürfen
sie es nur heimlich hinlegen;
Anhang 55

4. würde das Blatt dennoch bei einem gefunden, der es


gelesen hat, so muss er gestehen, dass er es eben dem
Kreisrat habe bringen wollen;
5. wer das Blatt nicht gelesen hat, wenn man es bei ihm
findet, der ist natürlich ohne Schuld. 5

Friede den Hütten! Krieg den Palästen!


Im Jahr 1834 siehet es aus, als würde die Bibel Lügen gestraft.
Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Handwerker am
fünften Tage, und die Fürsten und Vornehmen am sechsten ge-
macht, und als hätte der Herr zu diesen gesagt: ‚Herrschet ı
über alles Getier, das auf Erden kriecht‘, und hätte die Bauern
und Bürger zum Gewürm gezählt. Das Leben der Vornehmen
ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie
tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und re-
den eine eigne Sprache; das Volk aber liegt vor ihnen wie - 5
Dünger auf dem Acker. Der Bauer geht hinter dem Pflug,
der Vornehme aber geht hinter ihm und dem Pflug und
treibt ihn mit den Ochsen am Pflug, er nimmt das Korn
und lässt ihm die Stoppeln. Das Leben des Bauern ist ein
langer Werktag; Fremde verzehren seine Acker vor seinen Au- zo
gen, sein Leib ist eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz
auf dem Tische des Vornehmen.
Im Großherzogtum Hessen sind 718 373 Einwohner, die
geben an den Staat jährlich an 6 363 364 Gulden, als
l. Direkte Steuern 2 128 I3lfl. 25
2. Indirekte Steuern 2 478 264fl.
3. Domänen! | 547 394fl.
4. Regalien? 46 I38fl.
5. Geldstrafen 98 511fl.
6. Verschiedene Quellen 64 198fl. 30
6 363 363fl. (sic)
Dies Geld ist der Blutzehnte, der vom Leib des Volkes ge-
nommen wird. An 700 000 Menschen schwitzen, stöhnen
und hungern dafür. Im Namen des Staates wird es erpresst,
die Presser berufen sich auf die Regierung und die Re-

| Pacht für Staatsgüter


2 Einkünfte aus Leistungen, die in der Staatshoheit liegen
E56 _Anhang

Der Heffifhe Kandbote,


Grfte Botfchaft.
Darmftadı, im Zuli 1834.
Borberidt.
Diefes Blatt foll dem hefjifihen Lande die Wahrheit melden, aber wer die Wahrs
heit fagt, wird gehentt, ja jogar der, melher die Wahrheit Llieft, wird burd)
meineidige Richter vielleiht ge aft. Darum haben die, welchen dies Blatt zufommt,
folgendes zu beobachten :
1) Sie müffen das Blatt forg” Itig außerhalb ihres Haufes vorder Polizei verwahren;
2) fie dürfen e& nur an treue Freunde mittheilen;
3) denen, welchen fie nicht trauen, wie Jich feloft,, dürfen fie eö nur heimlich hinlegen;
4) würde das Blatt dennod) bei Einem gefunden, der es geleien hat, fo muß er
geftehen, daß er es eben dem Kreisrath habe bringen wollen;
5) wer das Blatt nicht gelefen hat, wenn man es bei ihm fine det, der ift
natürlih ohne Schuld.

Friede den Hütten! Krieg den Palläften !


Im Qahr 1834 fiehet e8 aus, ald würde die Bibel Lirgen geftraft.
&3 ficht aus, als hätte Gott die Bauern und Handmwerfer am Sten
Tage, und die Fürften und Vornehmen am 6ten gemacht, und ale
bätte der Herr zu diefen gefagt: Herrfihet über alles Gethier, das auf
Erden Eriecht, und hätte die Bauern und Bürger zum Gewürm gezählt.
Das Eehen der Vornehmen tft ein langer Sonntag, fte wohnen in fcho-
nen Häufern, fie tragen zierliche Kleider, fie haben feite Geftchter und
reden eine eigne Sprache; das Volf aber Liegt vor ihnen wie Dünger
auf dem Ader. Der Bauer gebt hinter dem Pflug, der Vornehme
aber geht hinter ihm und dem Pflug und treibt ihm mit den Ochfen
am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln. Das Les
ben des Bauern ift ein langer Werftag; Fremde verzehren feine Aecker
vor feinen Augen, fein Leib ift eine Schwiele, fein Schweiß ift das
Salz auf dem Tifche des Vornehmen.
Sm Großherzogthum Heffen find 718,373 Sinwohner, die geben
an den Staat jährlidy an 6,363,364 Gulden, als
1) Direkte Steuern 2,128,131 fl.
2) Indirecte Steuern 2,478,264 ,,
3) Domänen 1,547,394 ,,
4) Regalien 46,938 ,,
5) Geldftrafen 98,511 ,,
6) Verfchiedene Quellen 64,198 „,
6,363,363 fl.
Died Geld ift der Blutzehnte, der von dem Feib des Volkes ges
nommen wird. An 700,000 Menfchen fchwiten, ftöhnen und bungern
dafür. Im Namen des Staates wird ed erpreßt, die Prefjer berufen
fidy auf die Regierung und die Regierung fagt, das ey nöthig die
Ordnung im Staat zu erhalten. Was ift denn num Das für gewaltis
ge8 Ding: der Staat? Wohnt eine Anzahl Menfchen in einem Land
und es find Verordnungen oder Gefee vorhanden, nach denen jeder
fi richten muß, fo fagt man, fie bilden einen Staat. Der Staat alfo
find Alle; die Ordner im Staate find die Gefeße, durch welche das
WohlAller gefichert wird, und die aus dem Wohl Aller hervorgehen
follen.
— Seht nun, was man in dem Großherzogthum aus dem Staat
gemacht hat; feht was es heißt: die Ordnung im Staate erhalten!
Nachdruck des Originaltextes
Anhang 57

gierung sagt, das sei nötig die Ordnung im Staat zu erhalten.


Was ist denn nun das für gewaltiges Ding: der Staat?
Wohnt eine Anzahl Menschen in einem Land und es sind
Verordnungen oder Gesetze vorhanden, nach denen jeder
sich richten muss, so sagt man, sie bilden einen Staat. Der a

Staat also sind alle; die Ordner im Staate sind die Gesetze,
durch welche das Wohl aller gesichert wird und die aus
dem Wohl aller hervorgehen sollen. — Seht nun, was man
in dem Großherzogtum aus dem Staat gemacht hat; seht,
was es heißt: die Ordnung im Staate erhalten! 700 000 ıo
Menschen bezahlen dafür 6 Millionen, d. h. sie werden zu
Ackergäulen und Pflugstieren gemacht, damit sie in Ord-
nung leben. In Ordnung leben heißt hungern und geschunden
werden.
Wer sind denn die, welche diese Ordnung gemacht haben ER5

und die wachen, diese Ordnung zu erhalten? Das ist die


Großherzogliche Regierung. Die Regierung wird gebildet
von dem Großherzog und seinen obersten Beamten. Die
andern Beamten sind Männer, die von der Regierung beru-
fen werden, um jene Ordnung in Kraft zu erhalten. Ihre »
Anzahl ist Legion: Staatsräte und Regierungsräte, Landräte
und Kreisräte, Geistliche Räte und Schulräte, Finanzräte
und Forsträte usw. mit allem ihrem Heer von Sekretären
usw. Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine Hirten, Melker
und Schinder; sie haben die Häute der Bauern an, der
Raub der Armen ist in ihrem Hause; die Tränen der Wit-
wen und Waisen sind das Schmalz auf ihren Gesichtern; sie
herrschen frei und ermahnen das Volk zur Knechtschaft.
Ihnen gebt ihr 6 000 000fl. Abgaben; sie haben dafür die
Mühe, euch zu regieren; d. h. sich von euch füttern zu las- so
sen und euch eure Merıschen- und Bürgerrechte zu rau-
ben. Sehet, was die Ernte eures Schweißes ist.
Für das Ministerium des Innern und der Gerechtigkeitspfle-
ge werden bezahlt I 110 607 Gulden. Dafür habt ihr einen
Wust von Gesetzen, zusammengehäuft aus willkürlichen :
Verordnungen aller Jahrhunderte, meist geschrieben in ei-
ner fremden Sprache. Der Unsinn aller vorigen Geschlech-
ter hat sich darin auf euch vererbt, der Druck, unter dem
sie erlagen, sich auf euch fortgewälzt. Das Gesetz ist das
Eigentum einer unbedeutenden Klasse von Vornehmen und «
58 Anhang

Gelehrten, die sich durch ihr eignes Machwerk die Herr-


schaft zuspricht. Diese Gerechtigkeit ist nur ein Mittel,
euch in Ordnung zu halten, damit man euch bequemer
schinde; sie spricht nach Gesetzen, die ihr nicht versteht,
o nach Grundsätzen, von denen ihr nichts wisst, Urteile, von
denen ihr nichts begreift. [...] Die Justiz ist in Deutschland
seit Jahrhunderten die Hure der deutschen Fürsten. Jeden
Schritt zu ihr müsst ihr mit Silber pflastern, und mit Armut
und Erniedrigung erkauft ihr ihre Sprüche. Denkt an das
o Stempelpapier, denkt an euer Bücken in den Amtsstuben
und euer Wachestehen vor denselben. Denkt an die
Sporteln! für Schreiber und Gerichtsdiener. Ihr dürft euern
Nachbar verklagen, der euch eine Kartoffel stiehlt; aber
klagt einmal über den Diebstahl, der von Staats wegen un-
ter dem Namen von Abgabe und Steuern jeden Tag an eu-
rem Eigentum begangen wird, damit eine Legion unnützer
Beamten sich von eurem Schweiße mästen: Klagt einmal,
dass ihr der Willkür einiger Fettwänste überlassen seid und
dass diese Willkür Gesetz heißt, klagt, dass ihr die Acker-
{=} gäule des Staates seid, klagt über eure verlorne Menschen-
rechte: Wo sind die Gerichtshöfe, die eure Klage anneh-
men, wo die Richter, die Recht sprächen? [...]
Und will endlich ein Richter oder ein andrer Beamte von den
wenigen, welchen das Recht und das gemeine Wohl lieber ist als
ihr Bauch und der Mammon, ein Volksrat und kein Volksschin-
der sein, so wird er von den obersten Räten des Fürsten selber
geschunden.
Für das Ministerium der Finanzen | 551 502fl.
Damit werden die Finanzräte, Obereinnehmer, Steuerbo-
3 =} ten, die Untererheber besoldet. Dafür wird der Ertrag eu-
rer Äcker berechnet und eure Köpfe gezählt. Der Boden
unter euren Füßen, der Bissen zwischen euren Zähnen ist
besteuert. Dafür sitzen die Herren in Fräcken beisammen
und das Volk steht nackt und gebückt vor ihnen; sie legen
wa die Hände an seine Lenden und Schultern und rechnen
aus, wie viel es noch tragen kann, und wenn sie barmher-
zig sind, so geschieht es nur, wie man ein Vieh schont, das
man nicht so sehr angreifen will. [...]

! in Gebühren erhobene Staatsdienereinkünfte


Anhang 59

In Deutschland steht es jetzt, wie der Prophet Micha schreibt,


Cap. 7.,V.3 und 4:,Die Gewaltigen raten nach ihrem Mutwillen
Schaden zu tun, und drehen es, wie sie es wollen. [...]
Denn was sind diese Verfassungen in Deutschland? Nichts
als leeres Stroh, woraus die Fürsten die Körner für sich a
herausgeklopft haben. Was sind unsere Landtage? Nichts
als langsame Fuhrwerke, die man einmal oder zweimal
wohl der Raubgier der Fürsten und ihrer Minister in den
VWveg schieben, woraus man aber nimmermehr eine feste
Burg für deutsche Freiheit bauen kann. Was sind unsere 10
Wahlgesetze? Nichts als Verletzungen der Bürger- und
Menschenrechte der meisten Deutschen. Denkt an das
Wahlgesetz im Großherzogtum, wonach keiner gewählt
werden kann, der nicht hoch begütert ist, wie rechtschaf-
fen und gut gesinnt er auch sei, wohl aber der Grolmann', ı5
der euch um die zwei Millionen bestehlen wollte. Denkt an
die Verfassung des Großherzogtums. — Nach den Artikeln der-
selben ist der Großherzog unverletzlich, heilig und unverant-
wortlich. Seine Würde ist erblich in seiner Familie, er hat das
Recht, Krieg zu führen, und ausschließliche Verfügung über das 0
IS]

Militär. Er beruft die Landstände, vertagt sie oder löst sie auf.
Die Stände dürfen keinen Gesetzesvorschlag machen, sondern
sie müssen um das Gesetz bitten, und dem Gutdünken des Fürs-
ten bleibt es unbedingt überlassen, es zu geben oder zu verwei-
gern. Er bleibt im Besitz einer fast unumschränkten Gewalt, nur
darf er keine neuen Gesetze machen und keine neuen Steuern
ausschreiben ohne Zustimmung der Stände.
[...] Das ganze deutsche Volk muss sich die Freiheit erringen.
Und diese Zeit, geliebte Mitbürger, ist nicht ferne. — Der Herr
hat das schöne deutsche Land, das viele Jahrhunderte das herr- so
lichste Reich der Erde war, in die Hände der fremden und ein-
heimischen Schinder gegeben, weil das Herz des deutschen
Volkes von der Freiheit und Gleichheit seiner Voreltern und von
der Furcht des Herrn abgefallen war, weil ihr dem Götzendiens-
te der vielen Herrlein, Kleinherzoge und Däumlings-Könige euch :5
ergeben hattet.

| Abgeordneter zur Zeit Büchners, der die Schulden des Großher-


zogs von der Staatskasse begleichen lassen wollte
60 _Anhang

Der Herr, der den Stecken des fremden Treibers Napoleon zer-
brochen hat, wird auch die Götzenbilder unserer einheimischen
Tyrannen zerbrechen durch die Hände des Volks. [...] Gott wird
euch Kraft geben, ihre Füße zu zerschmeißen, sobald ihr euch
5 bekehret von dem Irrtum eures Wandels und die Wahrheit er-
kennet: dass nur Ein Gott ist und keine Götter neben ihm, die
sich Hoheiten und Allerhöchste, heilig und unverantwortlich nen-
nen lassen, dass Gott alle Menschen frei und gleich in ihren
Rechten schuf und dass keine Obrigkeit von Gott zum Segen
ıo verordnet ist als die, welche auf das Vertrauen des Volkes sich
gründet und vom Volke ausdrücklich oder stillschweigend er-
wählt ist [...]. [...]
Sehet an das von Gott gezeichnete Scheusal, den König Ludwig
von Bayern, den Gotteslästerer, der redliche Männer vor seinem
ıs Bilde niederzuknien zwingt und die, welche die Wahrheit bezeu-
gen, durch meineidige Richter zum Kerker verurteilen lässt; das
Schwein, das sich in allen Lasterpfützen von Italien wälzte, den
Wolf, der sich für seinen Baals'-Hofstaat für immer jährlich
fünf Millionen durch meineidige Landstände verwilligen lässt,
20 und fragt dann: ‚Ist das eine Obrigkeit von Gott zum Segen ver-
ordnet?‘
Ha! Du wärst Obrigkeit von Gott?
Gott spendet Segen aus;
Du raubst, du schindest, kerkerst ein,
25 Du nicht von Gott, Tyrann!
Ich sage euch: Sein und seiner Mitfürsten Maß ist voll. Gott, der
Deutschland um seiner Sünden willen geschlagen hat durch
diese Fürsten, wird es wieder heilen. ‚Er wird die Hecken und
Dörner niederreißen und auf einem Haufen verbrennen.‘ Je-
30 saias 27,4. [...] Der Herr wird ihre Körber zerschmeißen, und in
Deutschland wird dann Leben und Kraft als Segen der Freiheit
wieder erblühen. [...] Aber wie der Prophet schreibet, so wird es
bald stehen in Deutschland: Der Tag der Auferstehung wird
nicht säumen. In dem Leichenfelde wird sich’s regen und wird
ss rauschen, und der Neubelebten wird ein großes Heer sein.

| Bezeichnung vieler syrisch-palästinensischer Götter, u.a. Bezeich-


nung eines seminitischen Sturm- und Fruchtbarkeitsgottes, den
man durch Menschenopfer gnädig zu stimmen suchte.
Anhang 6]

Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein eurer Presser,
die nur stark sind durch das Blut, das sie euch aussaugen,
und durch eure Arme, die ihr ihnen willenlos leihet. Ihrer
sind vielleicht 10 000 im Großherzogtum und Eurer sind
es 700 000, und also verhält sich die Zahl des Volkes zu or

seinen Pressern auch im übrigen Deutschland. Wohl dro-


hen sie mit dem Rüstzeug und den Reisigen! der Könige,
aber ich sage euch: Wer das Schwert erhebt gegen das
Volk, der wird durch das Schwert des Volkes umkommen.
Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein Pa- ıo
radies sein. Das deutsche Volk ist ein Leib, ihr seid ein
Glied dieses Leibes. Es ist einerlei, wo die Scheinleiche zu
zucken anfängt. Wann der Herr euch seine Zeichen gibt
durch die Männer, durch welche er die Völker aus der
Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebet euch, und ıs
der ganze Leib wird mit euch aufstehen. [...]
Ihr wühltet ein langes Leben die Erde auf, dann wühlt ihr euren
Tyrannen ein Grab. Ihr bautet die Zwingburgen, dann stürzt ihr
sie und bauet der Freiheit Haus. Dann könnt ihr eure Kinder
frei taufen mit dem Wasser des Lebens. Und bis der Herr euch »
ruft durch seine Boten und Zeichen, wachet und rüstet euch im
Geiste und betet ihr selbst und lehrt eure Kinder beten: ‚Herr,
zerbrich den Stecken unserer Treiber und lass dein Reich zu
uns kommen, das Reich der Gerechtigkeit. Amen.‘

| Reitersoldaten
62 _Anhang

3. Vorgeschichten und Vorlagen

Annemarie und Wolfgang van Rinsum:


Die historischen Kriminalfälle: Woyzeck,
Schmolling und Dieß

Am 2. Juni 1821 erstach in Leipzig der gelernte Barbier,


ehemalige Soldat und Gelegenheitsarbeiter Johann Christi-
an Woyzeck aus Eifersucht seine Geliebte. Er wurde dafür
1824 hingerichtet. Der Fall erregte in juristischen und
s medizinischen Fachkreisen erhebliches Aufsehen. Die Ver-
teidigung hatte wegen über Jahre hin nachgewiesener
Handlungen, „welche Verstandesverwirrung zu verraten
schienen“, auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert. Infolgedes-
sen waren |821 und 1823 durch den Hofrat Clarus zwei
ıo psychiatrische Gutachten erstellt worden; sie fielen für
Woyzeck negativ aus. Dieser Rechtsfall und ein früherer,
ähnlich gelagerter (Schmoliing; Berlin 1817) führten zu ei-
ner umfangreichen Grundsatzdebatte darüber, wo die
Grenzen der Zurechnungsfähigkeit von Straftätern anzu-
ıs setzen waren. Diese Debatte wurde wiederbelebt, als
1830 in der Nähe von Darm-
stadt ein weiterer Eifersuchts-
mord geschah, der Fall Dieß.
Dieß starb 1834 im Zucht-
haus und seine Leiche wurde
an die Anatomie der Univer-
sität Gießen überführt, wo
Büchner gerade studierte. In
einer Fachzeitschrift, die
Büchners Vater hielt, erschien
im Frühjahr 1836 ein zusam-
menfassender Bericht über
die drei Fälle — wahrscheinlich

Johann Christian Woyzeck


(Stadtgeschichtliches Museum
Leipzig)
Anhang 63

der entscheidende Anstoß für Büchner, seine sozialpsycho-


logischen und psychopathologischen Studien in dramati-
sche Form zu kleiden.
So entstand die Tragödie eines Menschen der untersten
Schicht. [...] 5
Büchner legte bei Woyzecks Charakterbild nicht allein,
aber vor allem das zweite Clarus-Gutachten zugrunde,
übernahm vielerlei Einzelzüge und wendete sich (in der
Doktor-Figur) satirisch gegen die Selbstgewissheit und die
Realitätsblindheit des Gutachters. 10
(Annemarie und Wolfgang van Rinsum: Woyzeck. In: Dies.: Frührealismus 1815-1848.
Deutsche Literaturgeschichte. Bd. 6. München: dtv 1992, S. 15 If.)

Das Märchen ‚‚Die Sterntaler“


Das Märchen im Woyzeck, das die Großmutter dem Kind von
Marie erzählt, hat seine Vorlagen: Zum einen das hier wiederge-
gebene Märchen „Die Sterntaler“ und zum anderen „Die sie-
ben Raben“. Büchners Anti-Märchen zeichnet — im Gegensatz
zu den Vorlagen — eine Welt ohne Trost. 15
Es war einmal ein klei-
nes Mädchen, dem A
war Vater und Mutter
gestorben, und es war
so arm, dass es kein
Kämmerchen mehr
hatte, darin zu woh-
nen, und kein Bett-
chen mehr, darin zu
schlafen, und endlich
gar nichts mehr als die
Kleider auf dem Leib
und ein Stückchen
Brot in der Hand, das
ihm ein mitleidiges
Herz geschenkt hatte.
Es war aber gut und
fromm. Und weil es
so von aller Welt ver-
64 _Anhang

lassen war, ging es im Vertrauen auf den lieben Gott hinaus


ins Feld. Da begegnete ihm ein armer Mann, der sprach:
„Ach, gib mir etwas zu essen, ich bin so hungrig.“ Es reich-
te ihm das ganze Stückchen Brot und sagte: „Gott segne
or dir’s“ und ging weiter. Da kam ein Kind, das jammerte und
sprach: „Es friert mich so an meinem Kopfe, schenk mir
etwas, womit ich ihn bedecken kann.“ Da tat es seine Müt-
ze ab und gab sie ihm. Und als es noch eine Weile gegan-
gen war, kam wieder ein Kind und hatte kein Leibchen an
und fror; da gab es ihm seins; und noch weiter, da bat eins
um ein Röcklein, das gab es auch von sich hin. Endlich ge-
langte es in einen Wald und es war schon dunkel gewor-
den, da kam noch eins und bat um ein Hemdlein und das
fromme Mädchen dachte: ‚Es ist dunkle Nacht, da sieht
a dich niemand, du kannst wohl dein Hemd weggeben‘, und
zog das Hemd ab und gab es auch noch hin. Und wie es
so stand und gar nichts mehr hatte, fielen auf einmal die
Sterne vom Himmel und waren lauter harte, blanke Taler;
und ob es gleich sein Hemdlein weggegeben, so hatte es
2 oO ein neues an und das war vom allerfeinsten Linnen. Da
sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein
Lebtag.

(Aus: Die Märchen der Gebrüder Grimm. Vollständige Ausgabe. Mit Rebroduktionen
nach Holzstichen von Ludwig Richter. Berlin: Verlag neues Leben, 1990, S. 612f.)
Anhang 65

4. Unruhige Zeiten:
Historischer Hintergrund

Büchner lebte in einer politisch sehr bewegten Zeit. Die zwei


folgenden Texte skizzieren in dem einen Fall das Bild des in
Kleinstaaten aufgesplitterten Deutschlands im Allgemeinen so-
wie in dem anderen Fall die politisch-gesellschaftliche Lage im
Großherzogtum Hessen im Speziellen.

Vom „Wiener Kongress“ bis zur Revolution im


„Vormärz“
Die Friedensverhandlungen auf dem Wiener Kongress von
1814/15, die das Ende von Napoleons Herrschaft auch
vertraglich besiegelten, zielten auf die Restauration vorre-
volutionärer Verhältnisse. Diese Tendenz des „Vorwärts, es
geht zurück!“, verbunden mit den durch den Sieg über Na-
poleon bedingten Feierlichkeiten, ließen einen Kongress-
teilnehmer den bekannten Satz sagen: „Der Kongress
tanzt“ und ihn mit dem weniger bekannten schließen:
„aber es geht nicht vorwärts“. Die alte Ordnung mit dem
Führungsanspruch des Adels sollte wieder installiert wer- enor

den. Ziel war es zudem, das politische Gleichgewicht zwi-


schen den einzelnen Großmächten Russland, Frankreich,
Österreich, Preußen und England wiederherzustellen.
Frankreich wurde so auf die Grenzen von 1792 zurückge-
führt, im Zuge der Neuordnung Europas wurde — um ein
anderes Beispiel zu nennen — Polen der Oberherrschaft
Russlands zugeschlagen. Deutschland blieb ein Staatenge-
bilde, bestehend aus 39 Kleinstaaten, die sich im „Deut-
schen Bund“ locker verbunden zusammenfanden. Insge-
samt waren die restaurativen Bestrebungen eine Absage an he}[2))

den Liberalismus, der die Rechte des Einzelnen vor der


Willkür des Staates festzulegen wie zu sichern suchte.
Von der politischen Entwicklung des Stillstandes und Rück-
schrittes sahen sich viele Bürger enttäuscht und zogen die
Idylie des Privatraums dem Diskurs im öffentlichen Leben
vor. Jene, die sich im kleinen privaten Glück einrichteten,
weil ihnen der Glaube an das große genommen war, beleg-
66 Anhang

te man mit dem Namen „Biedermeier“. Autoren wie


Eduard Mörike, Adalbert Stifter oder auch Annette von
Droste-Hülshoff sind hier einzuordnen. Gleichzeitig war es
eine unruhige Zeit des Umbruchs, ausgehend von einem
{7} wachsenden Bildungsbewusstsein, das den Gedanken der
freien Rede, des sozial gerechten Ausgleichs oder auch
dem der deutschen Einheit nach wie vor nachhing. Auto-
ren des sogenannten „Jungen Deutschlands“ wie die Lite-
raten Heinrich Heine, Karl Gutzkow, Ludwig Börne gehör-
ıo ten auf der einen Seite genauso dazu wie auf der anderen
Seite die studentischen Burschenschaften mit dem Wart-
burgfest von 1817, auf dem gegen die herrschenden Zu-
stände protestiert wurde. 1819 wurden — nach dem politi-
schen Mord an dem Dichter Kotzebue durch den
ıs Studenten Ludwig Sand — mit den Karlsbader Beschlüssen
durch Metternich Gegenmaßnahmen ergriffen. Presse-
erzeugnisse bedurften nunmehr der Vorzensur, die Bur-
schenschaften wurden verboten, verdächtige Studenten
und Professoren der Universität verwiesen oder aus dem
0 Lehrbetrieb entlassen. Die Demagogenverfolgung nahm
ihren Lauf, in deren Verlauf jene Kräfte festgesetzt werden
sollten, die der deutschen Einheit das Wort redeten und
damit Hochverrat begingen.
1830 kam es zu den Juli-Aufständen in Paris, Ergebnis ei-
2 ner durch
0 König Karl X. verschärften Pressezensur, eines
eingeschränkten Wahlrechts und der durch ihn aufgelösten
Abgeordnetenkammer. Diese Aufstände im Nachbarland
führten auch in den deutschen Kleinstaaten zu Unruhen
und - als Folge davon — vereinzelt auch zu Verfassungen,
30 die sich durch mehr Liberalität auszeichnen sollten, dies in
den wenigsten Fällen aber leisteten. 1832 kam es auf dem
Hambacher Fest zu Massendemonstrationen, auf denen
sich bis zu ca. 30 000 Menschen zur nationalen Einheit be-
kannten und diese einforderten. 1848 war es wieder ein
3 Ereignis, das von
a Frankreich auf Deutschland überschlug:
Die französische Februarrevolution, die einen Monat spä-
ter in den südwestlichen deutschen Staaten den Einheits-
gedanken neu entfachte. Die Beteiligung der liberalen Be-
wegung an den Regierungsgeschäften wurde mit den
a0 Märzministerien durchgesetzt und mündete am 03. März
Anhang 67

1848 in die frei gewählte Nationalversammlung. Unter-


schiedliche politische und soziale Auffassungen zwischen
Liberalen und Republikanern führten erst ein Jahr später
zur Verfassung. Als Oberhaupt des Einheitsreiches sollte
der preußische König in der Funktion des Kaisers dienen. a

Dieser wies das Ansinnen zurück. Als Konsequenz dieser


Verweigerung scheiterten die Revolution und bis zum Jahr
1871 die Bemühungen zur nationalen Zusammenführung.

Hans Magnus Enzensberger:


Hessen im 19. Jahrhundert
Das Großherzogtum Hessen, ein Kleinstaat mit einer
Fläche von etwa 8000 Quadratkilometern, der im heutigen -©

Bundesland gleichen Namens beinah viermal Platz hätte,


war in den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts ein
reines Agrarland. Nur zwei Städte dieses Landes hatten
mehr als zwanzigtausend Einwohner, nämlich Darmstadt
und Mainz, und kaum jeder Siebente unter den 700 000 ı5
Bürgern lebte in der Stadt. Dennoch war das Großherzog-
tum dicht besiedelt; die Bevölkerung, die sich zwischen
1790 und 1850 verdoppelte, erreichte um das Jahr 1835
herum eine Dichte von hundert Personen pro Quadrat-
kilometer. Die demographische! Explosion, eine Folge der zo
sinkenden Sterblichkeit und der zunehmenden Lebenser-
wartung, hatte in Mitteleuropa begonnen. Der Zuwachs
entfiel fast ganz und gar auf das flache Land; die Städte bo-
ten keine Arbeitsplätze für Neuankömmlinge; ihre Bevöl-
kerung stagnierte. 25
Die ökonomischen Verhältnisse blieben hinter dieser Be-
völkerungsbewegung zurück. Die landwirtschaftliche Pro-
duktion hielt an den hergebrachten, uralten Methoden
fest. Die Masse der Kleinbauern war direkt oder indirekt
von den Feudalherren abhängig. Erst 1820 war in Hessen
die Leibeigenschaft aufgehoben worden; gleichzeitig wurde
der Frondienst abgeschafft und durch ein direktes Steuer-

! Demographie: wirtschaftliche, soziologische, politische Beschrei-


bung der Bevölkerungsentwicklung. „Demographische Explosion“
meint hier die Bevölkerungsexplosion.
6 &8 _Anhang

system abgelöst — ein Vorgang, der erst gegen Ende der


dreißiger Jahre abgeschlossen war. Das Handwerk, in mit-
telalterlichen Zunftvorstellungen befangen, kam als Motor
der wirtschaftlichen Entwicklung kaum in Betracht, solange
a seine traditionelle, ständische Ordnung unangefochten
blieb. Erst um die Mitte des Jahrhunderts setzte sich das
Prinzip der Gewerbefreiheit in den deutschen Ländern
durch.
Der Prozeß der Industrialisierung hatte zu Büchners Zei-
ıo ten kaum begonnen. [...] Die ersten, einfachen und wenig
leistungsfähigen Dampfmaschinen tauchten in Hessen ge-
gen Ende der 1820er Jahre auf.
Was im modernen Jargon Infrastruktur heißt, war in ei-
nem entmutigenden Zustand. Preußen baute, aus strategi-
ıs schen Gründen, sein Straßennetz aus; die Kleinstaaten wa-
ren dazu schon ihrer territorialen Zerrissenheit halber
nicht imstande. Die erste deutsche Eisenbahn nahm 1835
den Betrieb auf, aber es dauerte siebzehn Jahre, bis die
Schienenverbindung zwischen den beiden Hälften des
2 {=} Großherzogtums Hessen, also zwischen Darmstadt und
Gießen, hergestellt war.
Der Spielraum des Handels war eingeschränkt durch die
kameralistischen! Vorstellungen der hessischen Regierung,
durch Kapitalmangel und drückende Binnenzölle. Zwi-
2 schen
or 1828 und 1834 waren immerhin, unter preußischem
Druck, die ersten deutschen Zollvereine zustande gekom-
men.
Insgesamt war die ganze Wirtschaft des Landes also von
der Landwirtschaft abhängig, die zwischen 1815 und 1830
30 kaum einen Zuwachs der Produktion zu verzeichnen hat-
te; sie litt unter einer langanhaltenden Agrarkrise, ver-
schuldet durch Mißernten und sinkende Getreidepreise,
und verschärft durch die Nachwirkungen der napoleoni-
schen Kriege. Die überwiegende Mehrzahl der hessischen
35 Bevölkerung bestand aus verarmten Handwerkern und
Bauern. [...]

! Kameralistik: veraltet: die Finanzwirtschaft


Anhang 69

Die Lage in den deutschen Kleinstaaten hat Wilhelm


Grimm in den dreißiger Jahren, aus gegebenem Anlaß, wie
folgt charakterisiert: „[...] Alle Stützen, auf welchen das
Dasein eines Volkes beruht, Religiosität, Gerechtigkeit,
Achtung vor der Sitte und dem Gesetz, waren umge- 0

stoßen oder gewaltsam erschüttert. Nur eins wurde fest-


gehalten: Jeder Widerspruch gegen den geäußerten Willen,
direkt oder indirekt ausgesprochen, sei ein Verbrechen.“
Unter diesen Umständen wurde die sogenannte konstitu-
tionelle Frage zum Angelpunkt aller bürgerlichen Opposi- en o

tion. Schon während der „Befreiungskriege‘“, die ihren


Namen einem Betrugsmanöver verdanken, hatten die
deutschen Fürsten, bedroht von den napoleonischen Hee-
ren, ihren Untertanen eine „Nationalrepräsentation“ in
Aussicht gestellt. Dementsprechend verkündete der Arti- ıs
kel 13 der Deutschen Bundesakte von 1815: „In allen Bun-
desstaaten wird eine landständische Verfassung stattfin-
den.“ Die Fürsten verfuhren mit dieser Bestimmung nach
ihrem Belieben. Der preußische König hat sein Verspre-
chen immer wieder gebrochen; das Land blieb bis 1847 ei- »o
ne absolute Monarchie; das allgemeine Wahlrecht wurde in
Preußen erst 1917 eingeführt. Ahnlich verhielt sich der
Kaiser von Österreich. In Süddeutschland kam es dagegen
zu konstitutionellen Reformen. Die erste hessische Verfas-
sung, 1820 erlassen, sah ein Parlament mit zwei Kammern
vor; im Oberhaus saßen die Standesherren neben Mitglie-
dern, die der Großherzog auf Lebenszeit ernannte. Die
Abgeordneten-Kammer hingegen war, theoretisch, die
Vertretung des Volkes. Die Delegierten wurden aber nicht
direkt, sondern mittelbar gewählt. Dabei wurden die
Wählerstimmen dreimal gefiltert. Die Bürger durften für
jeden Wahlbezirk Bevollmächtigte wählen; diese wiederum
hatten die Wahlmänner zu bestimmen. Als Wahlmann war
nur zugelassen, wer wenigstens dreißig Jahre alt war und
wer zu den sechzig Höchstbesteuerten seines Bezirkes :
gehörte. Diese Wahlmänner hatten ihrerseits die Abgeord-
neten zu wählen, deren Kreis noch weit enger gezogen
war: zur Kammer hatte nur Zutritt, wer mindestens hun-
dert Gulden jährlich an direkten Steuern bezahlte oder
aber mehr als tausend Gulden jährlich als Beamtengehalt 0
7 0) Anhang

bezog. (Zwei Drittel aller Abgeordneten der ersten hessi-


schen Landstände waren infolgedessen hohe Regierungsbe-
amte.) Übrigens waren die Kompetenzen dieses Parlaments
äußerst beschränkt; es hatte zwar das Recht, Steuern zu
or bewilligen, nicht aber, sie zu verweigern. Im übrigen gab die
hessische Verfassung den Untertanen kaum eindeutige Ga-
rantien; in jedem Fall konnten die bürgerlichen Rechte, die
sie verhieß, jederzeit durch gewöhnliche Gesetze, ja sogar
durch einfache administrative Maßnahmen eingeschränkt
werden. Kurzum, die Konstitution war eine Farce!. Selbst
den Interessen der hohen Beamten und des Großbürger-
tums kam sie kaum entgegen; Kleinbürger, Arbeiter und
Bauern hatten von ihr ohnehin nichts zu erhoffen.
(Aus: Hans Magnus Enzensberger: Politischer Kontext 1834. In: Georg Büchner, Ludwig
Weidig: Der hessische Landbote. Texte, Briefe, Prozeßakten. Kommentiert von H. M.
Enzensberger. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1974, 5. 36-41)

Aus lizenzrechtlichen Gründen kann dieser Text nicht in reformierter Schrei-


bung erscheinen.

Karlsbader Beschlüsse -— Hambacher Fest


Metternich versuchte den Nationalbestrebungen mit den Karlsba-
1 [21 der Beschlüssen entgegenzuwirken. Der sich daran anschließende
Auszug aus der Rede eines Journalisten auf dem Hambacher Fest
zeigt, dass die Idee der Nation unbenommen weiterlebte.

Hauptpunkte der „Karlsbader Beschlüsse“,


20. September 1819

Bundesuniversitätsgesetz
=]
$ I. Es soll bei jeder Universität ein mit zweckmäßigen In-
2 struktionen und ausgedehnten Befugnissen versehener, am
Orte der Universität residierender, außerordentlicher lan-
desherrlicher Bevollmächtigter, entweder in der Person
des bisherigen Kurators oder eines anderen, von der Re-
gierung dazu tüchtig befundenen Mannes angestellt wer-

| Handlung, die der Absicht nicht mehr gerecht wird, Verhöhnung


Anhang 7]

Zug auf das Schloss Hambach


(Historisches Museum Frankfurt)

den. Das Amt dieses Bevollmächtigten soll sein, über die


strengste Vollziehung der bestehenden Gesetze und Diszi-
plinarvorschriften zu wachen, den Geist, in welchem die
akademischen Lehrer bei ihren öffentlichen und Privatvor-
trägen verfahren, sorgfältig zu beobachten und demselben, on

jedoch ohne unmittelbare Einmischung in das Wissen-


schaftliche und die Lehrmethoden, eine heilsame, auf die
künftige Bestimmung der studierenden Jugend berechnete
Richtung zu geben, endlich allem, was zur Beförderung der
Sittlichkeit, der guten Ordnung und des äußeren Anstan- ı0
des unter den Studierenden dienen kann, seine unausge-
setzte Aufmerksamkeit zu widmen. [...]
$ 2. Die Bundesregierungen verpflichten sich gegeneinan-
der, Universitäts- und andere öffentliche Lehrer, die durch
erweisliche Abweichung von ihrer Pflicht oder Überschrei- m5

tung der Grenzen ihres Berufes, durch Missbrauch ihres


rechtmäßigen Einflusses auf die Gemüter der Jugend,
durch Verbreitung verderblicher, der öffentlichen Ordnung
Ti2 _Anhang

und Ruhe feindseliger oder die Grundlagen der bestehen-


den Staatseinrichtungen untergrabender Lehren ihre Un-
fähigkeit zur Verwaltung des ihnen anvertrauten wichtigen
Amtes unverkennbar an den Tag gelegt haben, von den
s Universitäten und sonstigen Lehranstalten zu entfernen,
[...]. [...] Ein auf solche Weise ausgeschlossener Lehrer darf
in keinem anderen Bundesstaate bei irgendeinem öffentli-
chen Lehrinstitut wieder angestellt werden.
$ 3. Die seit langer Zeit bestehenden Gesetze gegen gehei-
ıo me oder nicht autorisierte Verbindungen auf den Univer-
sitäten sollen in ihrer ganzen Kraft und Strenge aufrechter-
halten und insbesondere auf den seit einigen Jahren
gestifteten, unter dem Namen der Allgemeinen Burschen-
schaft bekannten Verein umso bestimmter ausgedehnt wer-
ıs den, als diesem Verein die schlechterdings unzulässige Vor-
aussetzung einer fortdauernden Gemeinschaft und
Korrespondenz zwischen den verschiedenen Universitäten
zugrunde liegt. [...] Die Regierungen vereinigen sich darüber,
dass Individuen, die nach Bekanntmachung des gegenwärti-
20 gen Beschlusses erweislich in geheimen oder nicht autori-
sierten Verbindungen geblieben oder in solche getreten
sind, bei keinem öffentlichen Amt zugelassen werden sollen.
$ 4. Kein Studierender, der durch einen von dem Regie-
rungsbevollmächtigten bestätigten oder auf dessen Antrag
2 erfolgten Beschluss eines akademischen Senates von der
Universität verwiesen worden ist, [...] soll auf einer ande-
ren Universität zugelassen [...] werden.

Bundespressegesetz
$ I. Solange als der gegenwärtige Beschluss inkraft bleiben
wird, dürfen Schriften, die in der Form täglicher Blätter
so oder heftweise erscheinen, desgleichen solche, die nicht
über 20 Bogen im Druck stark sind, in keinem deutschen
Bundesstaate ohne Vorwissen und vorgängige Genehmhal-
tung der Landesbehörden zum Druck befördert werden.
2
(Aus: Ernst Rudolf Huber (Hrg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte.
Band I. Stuttgart/Berlin/Mainz/Köln: Kohlhammer. 3., neubearb. u. verm. Aufl., 1978,
5. 100-103)
Anhang 73

Aus der Rede des journalisten Jakob Sieben-


pfeiffer auf dem Hambacher Fest, Mai 1832
Geschäftig forscht und brütet der Geist der Erfindung, der
Entdeckung, des Betriebs, wie er aus dem Leib der Erde
die Metalle heraufhole zu Werkzeugen der Arbeit, des Ge-
winns und — ach! — unserer Bedrückung. Aber das edlere
Metall der Vaterlandsliebe ruht verschüttet. Der sinnende or

Geist errichtet Eisenbahnen und baut Dampfschiffe, das


enge Comptoir! zum Weltmarkt erweiternd, aber der
Bürger bleibt fremde dem Bürger.
Und es wird kommen der Tag, der Tag des edelsten Sieg-
stolzes, wo der Deutsche vom Alpengebirg und der Nord- 0
see, vom Rhein, der Donau und Elbe den Bruder im Bru-
der umarmt, wo die Zollstöcke und die Schlagbäume, wo
alle Hoheitszeichen der Trennung und Hemmung und Be-
drückung verschwinden samt den Konstitutiönchen, die
man etlichen mürrischen Kindern der großen Familie als fenS
Spielzeug verlieh; wo freie Straßen und freie Ströme den
freien Umschwung aller Nationalkräfte und Säfte bezeu-
gen; wo die Fürsten die bunten Hermeline feudalistischer
Gottstatthalterschaft mit der männlichen Toga deutscher
Nationalwürde vertauschen und der Beamte, der Krieger, zo
statt mit der Bedientenjacke des Herrn und Meisters mit
der Volksbinde sich schmückt, wo jeder Stamm, im Innern
frei und selbstständig, zu bürgerlicher Freiheit sich ent-
wickelt und ein starkes, selbst gewobenes Bruderband alle
umschließt zu politischer Einheit und Kraft; wo die deut- IN}5
sche Flagge, statt Tribut an Barbaren zu bringen, die Er-
zeugnisse unseres Gewerbefleißes in fremde Weltteile ge-
leitet;
Wo das deutsche Weib nicht mehr die dienstpflichtige
Magd des herrschenden Mannes, sondern die freie Genos- so
sin des freien Bürgers, unseren Söhnen und Töchtern schon
als stammelnden Säuglingen die Freiheit einflößt;
Wo die deutsche Jungfrau den Jüngling als den würdigsten
erkennt, der am reinsten für das Vaterland erglüht; wo der

I das Kontor (veralt.): I. Geschäftsraum, 2. Auslandsniederlassung


einer Reederei oder eines Handelsunternehmens
p;A _Anhang

Bürger nicht in höriger Untertänigkeit den Launen des


Herrschers, sondern dem Gesetze gehorcht, und auf den
Tafeln des Gesetzes den eigenen Willen liest und im Rich-
ter den frei erwählten Mann seines Vertrauens erblickt,
> wo die erhabene Germania dasteht, auf dem erzenen Pie-
destal! der Freiheit und des Rechts, in der einen Hand die
Fackel der Aufklärung, welche zivilisierend hinausleuchtet
in die fernsten Winkel der Erde, in der anderen die Waage
des Schiedsrichteramtes.
ı0o Es lebe das freie, das einige Deutschland!
Hoch leben die Polen, der Deutschen Verbündete!
Hoch leben die Franken, der Deutschen Brüder, die unse-
re Nationalität und Selbständigkeit achten!
Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns
ıs den Bund der Freiheit schwört! Vaterland — Volkshoheit —
Völkerbund hoch !
(Aus: Johann G. Wirth: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach (Reprintausgabe
von 1832), S. 34ff.)

| sockelartiger Ständer für bestimmte Zier- oder Kunstgegenstände


Anhang 75

5. Was der Mensch so denkt -


Geistesgeschichtliche Gründe und
Grenzen

Mit Descartes, Rousseau, Kant, Schelling, Fichte, Hegel sind die


Namen nur einiger Denker genannt, die ein neues Zeitalter —
das der Aufklärung, der Vernunft — einläuten, etablieren und
fortentwickeln. Jostein Gaarder bietet in „Sofies Welt“, dem der
folgende Ausschnitt entnommen ist, einen Überblick, was dieses 5
Zeitalter an Veränderungen mit sich brachte. Die weiteren Texte
differenzieren das Gesagte.

Jostein Gaarder: ... von der Nadelherstellung bis


zum Kanonenguss
Aufstand gegen die Autoritäten — Rationalismus — Der Gedanke
der Aufklärung — Kulturoptimismus — Zurück zur Natur — Hu-
manistisches Christentum — Menschenrechte 10
[...] Ein erstes Stichwort ist also Aufstand gegen die Autoritä-
ten. Mehrere der französischen Aufklärungsphilosophen
hatten England besucht, das in mancher Hinsicht freisinni-
ger war als ihre Heimat. Die englische Naturwissenschaft
faszinierte sie, vor allem Newton und seine universale Phy- ı{67}:
sik. Aber auch die englischen Philosophen inspirierten sie,
vor allem Locke und seine politische Philosophie. Zu Hause
in Frankreich zogen sie dann nach und nach gegen alte Au-
toritäten ins Feld. Sie fanden es wichtig, allen ererbten
Wahrheiten gegenüber Skepsis zu zeigen. Sie glaubten, das 0
Individuum müsse selber die Antwort auf alle Fragen fin-
den. Hier wirkte die Tradition von Descartes inspirierend.
[...] Der Aufruhr gegen die alten Autoritäten wandte sich
nicht zuletzt gegen die Macht von Kirche, König und Adel.
F] 5:
Wie die Humanisten der Antike — wie Sokrates! und die

I [470-399 v. Chr.], Lehrer Platons (427-347 v. Chr.), der über das


lebendige Gespräch philosophisch wirkt, Begründer der klass. Epo-
che der griech. Philosophie. In Platons Schriften leben Sokrates,
der selbst keine Zeile schrieb, und dessen praktische Gesprächs-
kunst über Wahrheit u. Sittlichkeit fort.
76 Anhang

Stoiker! — hatten die meisten Aufklärungsphilosophen ei-


nen unerschütterlichen Glauben an die menschliche Ver-
nunft. Das war so auffällig, dass viele die französische Auf-
klärungszeit auch einfach als ‚Rationalismus‘ bezeichnen.
a Die neue Naturwissenschaft hatte festgestellt, dass die
Natur vernünftig eingerichtet war. Nun hielten es die Auf-
klärungsphilosophen für ihre Aufgabe, auch eine Grundlage
für Moral, Ethik und Religion zu schaffen, die mit der un-
veränderlichen Vernunft der Menschen übereinstimmte.
Und das führte zum eigentlichen Gedanken der Aufklärung.
11
Zuerst, so sagte man, müssten die breiten Volksschichten
‚aufgeklärt‘ werden. Das sei die absolute Grundbedingung
einer besseren Gesellschaft. Im Volk aber herrschten Un-
wissenheit und Aberglauben. Der Erziehung wurde deshalb
große Aufmerksamkeit gewidmet. Es ist kein Zufall, dass
die Pädagogik als Wissenschaft in der Aufklärungszeit be-
gründet wurde. [...]
Das große Denkmal der Aufklärung ist typischerweise ein
Lexikon. Ich denke an die sogenannte Enzyklopädie, die
zwischen 1751 und 1772 in achtundzwanzig Bänden mit
Beiträgen aller großen Aufklärungsphilosophen erschien.
‚Hier gibt es alles‘, hieß es, ‚von der Nadelherstellung bis
zum Kanonenguss‘.
[Kulturoptimismus]
Wenn Vernunft und Wissen sich erst ausgebreitet hätten,
meinten die Aufklärungsphilosophen, dann würde die
Menschheit große Fortschritte machen. Es war nur eine
Frage der Zeit, dann würden Unvernunft und Unwissen
verschwunden und eine aufgeklärte Menschheit da sein.
Dieser Gedanke hatte in Westeuropa bis vor einigen Jahr-
zehnten fast schon ein Monopol. Heute sind wir nicht

| Vertreter der Stoa: philosophische Richtung im antiken Griechen-


land, begründet ca. 300 v. Chr. von dem Philosophen Zenon. Ihr
Ideal ist der sich selbst Beherrschende, der mit stoischer Ruhe Er-
tragende, der in der Tugend den Weg zur Glückseligkeit findet.
Anhang 77

mehr so sehr davon überzeugt, dass immer mehr Wissen


zu immer besseren Zuständen in der Welt führt. Diese
Kritik der ‚Zivilisation‘ wurde allerdings auch schon von
den französischen Aufklärungsphilosophen selber vorge-
bracht. [...] 5
‚Zurück zur Natur!‘ hieß die Losung der Zivilisationskritik.
Aber unter Natur verstanden die Aufklärungsphilosophen
fast dasselbe wie unter Vernunft. Denn die Vernunft ist
dem Menschen ja von der Natur gegeben - im Gegensatz
zur Kirche etwa oder zur Zivilisation. [...] Das Schlagwort „ oO

‚Zurück zur Natur!‘ stammt von Jean-Jacques Rousseau. Er


erklärte, die Natur sei gut und deshalb auch der Mensch
‚von Natur aus‘. Alles Übel liege in der zivilisierten
Gesellschaft, die den Menschen von seiner Natur entferne.
Darum wollte Rousseau auch die Kinder so lange wie mög- „ a

lich in ihrem ‚natürlichen‘ Zustand der Unschuld leben las-


sen. Du kannst sagen, dass die Vorstellung von einem eige-
nen Wert der Kindheit aus der Aufklärungszeit stammt. [...]
Auch die Religion musste mit der ‚natürlichen Vernunft‘
der Menschen in Übereinstimmung gebracht werden. Viele 20
kämpften für das, was wir als ein humanistisches Christen-
tum bezeichnen können, und das ist der sechste Punkt auf
der Liste. Es gab selbstverständlich auch konsequente Ma-
terialisten, die an keinen Gott glaubten und sich also zu ei-
nem atheistischen Standpunkt bekannten. Aber die meis-
ten Aufklärungsphilosophen hielten es für unvernünftig,
sich eine Welt ohne Gott vorzustellen. Dazu war ihnen die
Welt zu vernünftig eingerichtet. Dieselbe Ansicht hatte
zum Beispiel auch Newton vertreten. Ebenso wurde der
Glaube an die Unsterblichkeit der Seele als vernünftig be-
trachtet. Wie für Descartes, war für die Philosophen der
Aufklärung die Frage, ob der Mensch eine unsterbliche
Seele hat, eher eine Frage der Vernunft als des Glaubens.
=]
Wovon die Aufklärungsphilosophen das Christentum be- 3
freien wollten, waren die vielen unvernünftigen Dogmen
oder Glaubenssätze, die im Laufe der Kirchengeschichte
auf Jesu schlichte Verkündigung aufgepfropft worden wa-
ren. [...]
Viele schworen auch auf den sogenannten Deismus. [..] +
78 Anhang

Unter ‚Deismus‘ verstehen wir eine Auffassung, nach der


Gott vor langer, langer Zeit die Welt geschaffen hat, nach
der er sich dieser Welt aber nicht offenbart. Auf diese
Weise wird Gott zu einem höchsten Wesen, das sich den
s Menschen nur durch die Natur und ihre Gesetze zu er-
kennen gibt — das sich aber nicht auf übernatürliche Weise
offenbart. Solch ein ‚philosophischer Gott‘ begegnete uns
ja schon bei Aristoteles. Für ihn war Gott die erste Ursa-
che oder der erste Beweger der Universums. [...]
10 [Menschenrechte]
[...] [D]ie französischen Aufklärungsphilosophen haben sich
nicht mit theoretischen Ansichten über den Platz des Men-
schen in der Gesellschaft begnügt. Sie kämpften aktiv für
das, was sie als die ‚natürlichen Rechte‘ der Bürger be-
ıs zeichneten. Vor allem ging es um den Kampf gegen die
Zensur - also für die Pressefreiheit. In Bezug auf Religion,
Moral und Politik musste dem Einzelnen das Recht gesi-
chert werden, frei zu denken und seine Ansichten auch
zum Ausdruck zu bringen. Außerdem wurde gegen die
20 Sklaverei und für eine humanere Behandlung von Geset-
zesbrechern gekämpft. [...]
Das „Prinzip der Unverletzlichkeit des Einzelnen“ schlug
sich schließlich in der „Erklärung der Menschen- und Bür-
gerrechte“ nieder, die im Jahre 1789 von der französischen
25 Nationalversammlung verabschiedet wurde. [...]
[D]ie Aufklärungsphilosophen wollten bestimmte Gesetze
festlegen, die alle Menschen einfach deshalb haben, weil sie
als Menschen geboren sind. Das verstanden sie unter ‚natür-
lichen‘ Rechten.
(Aus: Jostein Gaarder: Sofies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie. Mün-
chen: Hanser Verlag, 1993, 5.369 — 378)

Jean-Jacques Rousseau: „Zurück zur Natur!“


30 „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten“,
schreibt Rousseau (1712-1778) oder: „Der Mensch, der denkt,
ist ein entartetes Tier“. Was sich hier ausdrückt, ist ein großes
Maß an Zivilisationskritik. Das geisteswissenschaftliche Denken
und auch das pädagogische des 18./19. Jahrhunderts insge-
Anhang 79

samt waren von Rousseau wesentlich beeinflusst. Wie sagt


Kant: „[I]Jch verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Aber
Rousseau hat mich zurecht gebracht.“ Auch im „Woyzeck“ ist
Rousseau präsent und es wird die Kritik an der Kultur durch
den in Ketten gelegten Mensch offenbart. 5

Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt;
alles entartet unter den Händen des Menschen. Der
Mensch zwingt ein Land, die Erzeugnisse eines anderen
hervorzubringen, einen Baum, die Früchte eines anderen -0

zu tragen. Er vermengt und vertauscht das Wetter, die Ele-


mente und die Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund,
sein Pferd, seine Sklaven. Alles dreht er um, alles entstellt
er. Er liebt die Missgeburt, die Ungeheuer. Nichts will er
haben, wie es die Natur gemacht hat, selbst den Menschen ıs
nicht. Man muss ihn, wie ein Schulpferd, für ihn dressieren;
man muss ihn nach seiner Absicht stutzen wie einen Baum
seines Gartens.
Ohne das wäre alles noch schlimmer, denn der Mensch
gibt sich nicht mit halben Maßnahmen ab. Unter den heuti- »
gen Verhältnissen wäre ein Mensch, den man von der Ge-
burt an sich selbst überließe, völlig verbildet. Vorurteile,
Macht, Notwendigkeit, Beispiel und alle gesellschaftlichen
Einrichtungen, unter denen wir leben müssen, würden die
Natur in ihm ersticken, ohne etwas anderes an ihre Stelle 5 13

zu setzen. Sie gliche einem Baum, der mitten im Wege


steht und verkommt, weil ihn die Vorübergehenden von al-
len Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen. [...]
Pflanzen werden gezogen: Menschen werden erzogen. [...]
Wir werden schwach geboren und brauchen die Stärke. 3 )
Wir haben nichts und brauchen Hilfe; wir wissen nichts und
brauchen Vernunft. Was uns bei der Geburt fehlt und was
wir als Erwachsene brauchen, das gibt uns die Erziehung.
Die Natur oder die Menschen oder die Dinge erziehen uns.
Die Natur entwickelt unsere Fähigkeiten und unsere Kräfte; s
die Menschen lehren uns den Gebrauch dieser Fähigkeiten
und Kräfte. Die Dinge aber erziehen uns durch die Erfahrung,
die wir mit ihnen machen, und durch die Anschauung. [...]
Das Ziel der Erziehung? Es ist das Ziel der Natur selber;
das habe ich eben bewiesen. [...] a0
80 _Anhang

Der natürliche Mensch ruht in sich. Er ist eine Einheit und


ein Ganzes; er bezieht sich nur auf sich oder seinesglei-
chen. Als Bürger ist er nur ein Bruchteil, der vom Nenner
abhängt, und dessen Wert in der Beziehung zum Ganzen
91}liegt, d. h. zum Sozialkörper. Gute soziale Einrichtungen
entkleiden den Menschen seiner eigentlichen Natur und
geben ihm für seine absolute eine relative Existenz. Sie
übertragen sein Ich in die Allgemeinheit, sodass sich der
Einzelne nicht mehr als Einheit, sondern als Glied des
1 © Ganzen fühlt und angesehen wird. [...]

Wer innerhalb der bürgerlichen Ordnung seine natürliche


Ursprünglichkeit bewahren will, der weiß nicht, was er
will. Im Widerspruch mit sich selbst, zwischen seinen Nei-
gungen und Pflichten schwankend, wird er weder Mensch
ıs noch Bürger sein. Er ist weder sich noch anderen nützlich.
Er wird ein Mensch von heute sein, ein Franzose, ein
Engländer, ein Spießbürger: ein Nichts. [...]
In der natürlichen Ordnung sind alle Menschen gleich; ihre
gemeinsame Berufung ist: Mensch zu sein. Wer dafür gut
0 erzogen ist, kann jeden Beruf, der damit in Beziehung
steht, nicht schlecht versehen. Ob mein Schüler Soldat,
Priester oder Anwalt wird, ist mir einerlei. Vor der Berufs-
wahl der Eltern bestimmt ihn die Natur zum Menschen.
Leben ist ein Beruf, den ich ihn lehren will. Ich gebe zu,
2s dass er, wenn er aus meinen Händen kommt, weder An-
walt noch Soldat noch Priester sein wird, sondern in ers-
ter Linie Mensch. Alles, was ein Mensch zu sein hat, wird
er genau so sein wie jeder andere auch; und wenn das
Schicksal ihn zwingt, seinen Platz zu wechseln, er wird im-
3 mer an seinem Platz sein. [...]
Wir müssen also unsere Ansichten allgemeiner fassen und
in unserem Schüler den Menschen an sich sehen, der allen
Zufällen des Daseins ausgesetzt ist. Wenn der Mensch im-
mer in seinem Lande verhaftet bliebe, wenn immer das
35 gleiche Wetter herrschte, wenn niemand seinen Stand
wechselte, so wäre die bestehende Praxis in gewisser Hin-
sicht gut. Das Kind, einmal für seinen Beruf erzogen,
brauchte ihn niemals mehr zu verlassen und wäre niemals
den Unbequemlichkeiten eines anderen ausgesetzt. Aber
«0 die Verhältnisse ändern sich ständig, der Geist des Jahr-
Anhang 8]

hunderts ist unruhig und stürzt von Generation zu Gene-


ration alles um. Ist es daher nicht unsinnig, ein Kind so zu
erziehen, als brauchte es sein Zimmer nie zu verlassen, als
bliebe es immer inmitten seiner Leute? Wenn das unglück-
liche Geschöpf auch nur einen Schritt ins Freie tut, wenn ;
es eine Stufe hinabsteigt, ist es verloren. So lehrt man es
nur, Leiden zu empfinden, aber nicht, sie zu ertragen. [...]
‚Aber mein Vater hat doch, als er den Reichtum erwarb,
der Gesellschaft gedient‘ ... Mag sein. Er seine Schuld be-
zahlt; aber nicht deine. Du schuldest den anderen mehr, ı
als wenn du arm geboren wärst, und es ist nicht gerecht,
dass das, was ein Mensch für die Gesellschaft getan hat, ei-
nen anderen von seinen Schulden entbindet. Denn jeder
muss sich ganz geben, kann nur für sich bezahlen, und kein
Vater kann seinem Sohn das Recht vererben, ein unnützes ı5
Glied der Gesellschaft zu werden. [...] Wer im Müßiggang
verzehrt, was er nicht verdient hat, stiehlt es. [...] Arm
oder reich, mächtig oder schwach, jeder müßige Bürger ist
ein Schmarotzer.
(Aus: Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Paderborn: Schöningh,
121995, 5. 9-15 u.S. 193)

Immanuel Kant: Beantwortung der Frage:


„Was ist Aufklärung?“
Gegen den ‚Schwindel der Priester‘ und den ‚Aberglauben der An- D 0)
alphabeten‘ ist — wie Marcuse sagt — die Epoche der Aufklärung
gerichtet. Fortan richtet die Vernunft. Kant fasst in Worte, was
schon das ganze 18. Jahrhundert bewegte, und Büchner führt
späterhin — in Gestalt des Doktors im Woyzeck — die kritische
Auseinandersetzung mit dem vernünftigen Denken, das Klarheit :
verspricht und eines fernen Tages gar ‚aufgeklärt‘ scheinen soll.

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst ver-
schuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen,
sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu be- [e2}(>)

dienen. Selbst verschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die


Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, son-
dern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner
82 _Anhang

ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Ha-


be Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist al-
so der Wahlspruch der Aufklärung.
[...] Es so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch,
[61 das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich
Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt,
u.s.w.: So brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. [...]
Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus
der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit
ıo herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist
vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen Verstan-
des zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon
machen ließ. [...]
Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher mög-
„ a lich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe un-
ausbleiblich. Denn da werden sich immer einige Selbstden-
kende, sogar unter den eingesetzten Vormündern des
großen Haufens, finden, welche, nachdem sie das Joch der
Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer
0 vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs
jedes Menschen, selbst zu denken, um sich verbreiten wer-
den. Besonders ist hierbei: dass das Publikum, welches zu-
vor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie her-
nach selbst zwingt, darunter zu bleiben, wenn es von
2 a einigen seiner Vormünder, die selbst aller Aufklärung un-
fähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich ist es,
Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst
rächen, die, oder deren Vorgänger, ihre Urheber gewesen
sind. Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung
3 gelangen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein
Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger
oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre
Reform der Denkungsart zustande kommen; sondern
neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum
3 Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen. [...]
or

Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir in einem aufge-


klärten Zeitalter’, so ist die Antwort: Nein, aber wohl in
einem Zeitalter der Aufklärung. [...]
Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim,
«0 für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und
Anhang 83

Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: So wirkt dieser


allmählich zurück auf die Sinnesart des Volkes (wodurch
dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird)
und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung,
die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun or

mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.


(Aus: Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Kant. Ausge-
wählt und vorgestellt von Günter Schulte. Reihe: Philosophie jetzt! Hrsg. von Peter Slo-
terdijk. München: dtv 1998, S. 301-309)

Deutscher Idealismus
Die in der Philosophie entworfenen, nachfolgend dargestellten
Idealismusvorstellungen haben auf die Gesellschaft und die Li-
teratur des 18./19. Jahrhunderts (Sturm und Drang, Klassik, Ro-
mantik) einen großen Einfluss ausgeübt. Büchner kritisierte ve-
hement das idealistisch überhöhte Denken. Sein Interesse und
seine Darstellung galten dem vor dem Hintergrund einer Welt
ohne Gott nichtigen Menschen, der nur im Diesseits auf eine
bessere Welt hoffen darf.
Der Begriff Idealismus setzt sich aus den griechischen -5
Wörtern „idein“ (sehen) und „eidos“ (Bild) zusammen.
Wenn wir den Blick auf die Welt werfen, so „sehen“ wir
ein „Bild“ von der Welt, aber nicht die wirkliche Welt. Die
Welt der Erscheinung bietet ein Trugbild und im Prinzip
bloße „Ab“bilder eines geistigen „Ur“bildes, das sich allein »o
in der Idee manifestiert. Der Gedanke einer Welt, die sich
erst im Ideenhimmel „wirklich“ zeigt, lässt sich bis zu Pla-
ton zurückverfolgen. Danach sprechen die Ideen die
„Wahrheit“, und der Mensch versucht die „eine“ Wahrheit
hinter den mannigfaltigen Erscheinungen zu erschauen. Die
Idee hat Vorrang vor den „bloßen Sachen“, die uns umste-
hen, und ist allein im Geist, aber nicht in der Welt präsent,
die stets Unterschiede setzt.
Der Gedanke des Idealismus wird durch die Jahrhunderte
fortgetragen, um im 18. Jahrhundert in den Satz des Empi- »
risten Berkeley (1684-1753) einzumünden: „esse est per-
cipi‘“; zu deutsch: Alles Sein ist Wahrgenommenwerden.
Der Mensch lebt in einer durch die Sinne gefilterten Erfah-
84 Anhang

rungswelt, und die Dinge in der Welt gewinnen Kontur


durch das wahrnehmende Bewusstsein, das sich die ‚ob-
jektiven‘ Dinge vorstellt. Wo wir Objekte wahrnehmen,
existieren sie nicht außer uns, sondern nur in uns. Ohne
or ein Subjekt der Wahrnehmung gibt es danach auch keine
objektive Welt. Damit wird nicht die konkrete Welt als sol-
che bestritten, an der wir uns stoßen und die uns zuletzt
auch noch umbringt, wohl aber das Erkennen der „Dinge
an sich“. Unser „Wahrnehmungsapparat“ bietet nur einen
„ oO winzigen Teilausschnitt aus dem Gesamt der „Daten“, die
die Welt ausmachen, und das Bewusstsein errechnet da-
raus „seine“ Idee oder Vorstellung von Welt, die — so mit-
unter der Glaube - schließlich aber doch die Wahrheit
sprechen können soll. Das Erschließen des Dings an sich
-a bleibt dabei gedankliches Konstrukt. Allen nachfolgenden,
kurz umrissenen Denkrichtungen ist gemeinsam, dass sie
dem „Geistigen“ Vorrang vor dem „Materiellen“ einräu-
men. Bei Kant (1724-1804) ist vom „kritischen“ oder auch
„transzendentalen! Idealismus“ zu sprechen. Kant unter-
sucht, unter welchen Bedingungen der Verstand Erfahrun-
gen in der Welt macht. Als „Bedingung der Möglichkeit“
von Erfahrungen werden die Anschauungsformen „Raum“
und „Zeit“ erkannt. Nun operiert der Verstand a priori
(= vor aller Erfahrung) nach bestimmten Kategorien der Ver-
nunft, von denen Kant vier Hauptkategorien (Quantität,
Qualität, Relation, Modalität) ausmacht, die zu zwölf Kate-
gorien ausdifferenziert werden. In den Bereich der Qua-
lität fällt so bspw. das Unterscheiden nach Ursache und
Wirkung. Der Verstand erfährt so eine Art „Vorverdrah-
30 tung“, bevor er in Kopplung mit der Einbildungskraft in Ak-
tion und zur Welterkennung (an)tritt. Mit anderen Worten
sagt Kant nichts anderes, als dass die Wahrnehmung zwar
abhängig von den äußeren Dingen ist, diese äußeren Dinge
jedoch grundsätzlich dem Menschen unzugänglich bleiben.

| Seit Kant die Bedingungen, unter denen menschliche Erfahrung


möglich wird (die Bedingung der Möglichkeit). Im Unterschied zum
nahezu begrifflich entgegengesetzten transzendent: die Grenzen der
menschlichen Erfahrung und des menschlichen Bewusstseins über-
schreitend.
Anhang 85

Was der Mensch allein erkennt, sind allein vom Verstand


abhängige Formen, die er in die umstehenden Dinge hi-
neindenkt. Als kantsche „kopernikanische Wende“! be-
kannt geworden, ist diese Betrachtung in der Tat geradezu
revolutionär. Nicht aus der Erfahrung leiten sich die Begrif- a

fe ab, sondern durch die Begriffe wird die Erfahrung gelei-


tet, und die erfahrende Umwelt wird durch sie erklärt. Mit
den Worten Kants: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, An-
schauungen ohne Begriffe sind blind“. Der Verstand
„prägt“ den Dingen vernünftige Formen auf. Das „Objekt“ „a0
ist somit das Ergebnis seines subjektiven Denkens. Wie die
Welt an sich ist, kann der Mensch sich nicht vorstellen. Sie
bleibt ihm auf ewig unerkannt. Er erfährt sie nur im Spiegel
seiner verstandesmäßigen „Konstruktion“.
Das Etikett des „subjektiven Idealismus“ ist der Ideenlehre ıs
Fichte (1762-1814) zu verleihen. Er grenzt sich von der
kantschen Vorstellung ab, dass eine wie auch immer gear-
tete materielle Welt das menschliche Denken bedingen
soll. Für ihn ist die Welt alleinige vom Ich ausgehende Set-
zung. Damit ist der Mensch, indem die erkannte Welt nach »
innerweltlichen Vorstellungen entworfen ist, aktiv und frei
und der Souverän seiner selbst und wird sich seiner selbst
bewusst. Dem menschlichen Ich wird — abgelöst von Na-
tur und Gott — also die Fähigkeit zur Schöpfung zugewie-
sen, das die äußere Nicht-Ich-Welt — in Gegenüberstellung
zum Ich - projiziert. Das Ich ist, wie Fichte sagt, „zugleich
das Handelnde und das Produkt der Handlung; das Tätige
und das, was durch die Tätigkeit hervorgebracht wird;
Handlung und Tat sind eins und eben dasselbe; und daher
ist das: Ich bin Ausdruck einer Tathandlung“. Diese Pro-
duktion oder sagen wir die erscheinende Projektion des
Nicht-Ichs ist keinem bewussten Akt geschuldet, sondern
geschieht unbewusst, sodass im Zuge dieser Unbewusst-

| Kopernikus machte mit der Vorstellung ein Ende, dass die Erde
zentral und ruhig steht und die Sonne sich um sie dreht — mit die-
ser Grundidee stand auch der Mensch im Zentrum des Weltgefü-
ges. Er drehte die Betrachtung um: Die Erde rotiert um die Sonne.
So wurde mit der bewegten Erde auch der Mensch an den Rand
der Welt gerückt und seine Bedeutung erstmals infrage gestellt.
86 _Anhang

heit das Nicht-Ich zur „Gegen“ständlichkeit gerinnt und


wirklich scheint.
In einer weiteren Ausprägung ist vom „objektiven Idealis-
mus“ die Rede und mit ihm verbunden der Name Schelling
a (1775-1854). Auch hier entspricht und entspringt die äußere
Welt der innerweltlichen Vorstellung, doch im Unterschied
zu Fichte verfügt bei Schelling die Natur über eine gewisse
Eigenständigkeit, da Natur und Geist als von einem allumfas-
senden göttlichen Geist beseelt betrachtet werden. Schelling
dazu: „Die Natur ist der sichtbare Geist, der Geist die un-
sichtbare Natur.“ Mithilfe der sogenannten „intellektuellen
Anschauung“ ist es dem Menschen gegeben, den umfassen-
den Wirklichkeitsgrund, der das Göttliche ist, zu erschauen.
Dieses Göttliche wohnt dem Geist wie der Natur, die sich
m0 gegenüberstehen, inne, doch zeigt die Natur sich dem Geist
nicht nur verbunden, sondern mit ihm zuletzt doch iden-
tisch, da nunmehr davon ausgegangen wird, dass Natur in ih-
rer Entwicklung schließlich in den Geist mündet. Es ist ein
teleologisches! Weltbild, was entworfen wird, da Natur als
Zwischenstadium begriffen wird, die als „werdende Offenba-
rung des Ewigen“ den göttlichen Keim in sich trägt. Sie wird,
um in der Enthüllung Geist zu werden.
Zuletzt soll der „absolute Idealismus“ nach Hegel (1770-
1831) angesprochen werden, der auch als Weg zum absolu-
20 ten Geist beschrieben werden kann und in dem sich gleich-
falls ein teleologisches Weltbild spiegelt. Der Grundgedan-
ke ist, dass einem Absoluten, das das Ganze umfasst, die
eigentliche, die einzig wahre Realität innewohnt. Mit den
Worten Hegels: „Das Wahre ist das Ganze, das Ganze ist
das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.“ He-
gels Lehre verfährt nun, um dieses Ziel zu erreichen, „dia-
lektisch‘?. Zu erinnern ist an Fichte und an seine Ich-Set-
zung, der entgegengesetzt das Nicht-Ich steht. Solange wie
eine Gegensetzung (Nicht-Ich) gegeben ist, ist nur eine Teil-
35 wahrheit zugegeben. Um dem absoluten Geist zuzuarbei-

nach Aristoteles die Lehre von der Zweckmäßigkeit und Zielge-


richtetheit der Welt (griech.: telos: Ziel, Zweck)
Methode, durch Denken in Gegensätzen und durch deren Über-
windung zur Erkenntnis zu gelangen
Anhang 87

ten, wird dem Ich („These“) das Nicht-Ich (‚Antithese‘“)


nicht nur gegenübergestellt, sondern sie sehen sich aufge-
hoben in der „Synthese“. Es kommt also Bewegung ins
Spiel, denn nunmehr schreitet die Entfaltung des Geistes
zum Ganzen voran, da der gegebene Widerspruch in der a

„Synthese“ „aufgehoben“ wird. Aufgehoben meint dabei


mehrerlei: Zum einen wird der Widerspruch zwischen The-
se und Antithese aufgehoben (im Sinne von „ausgelöscht“),
zum anderen aber werden die Qualitäten beider Pole auf-
gehoben (im Sinne von „bewahrt‘). So findet das Wider- ıo
sprechende im Dritten — der Synthese — den versöhnenden
Ausgleich. Gleich einer Spirale wird nun immer weiter auf
einer je höheren Ebene in diesem dialektischen Aufhebungs-
spiel vorangeschritten, denn die als neue These auf einer
höheren Qualitätsstufe operierende Synthese ruft wieder ı5
eine Antithese hervor, bis zuletzt schließlich die sich selbst
denkende gegenstandslose absolute Idee erreicht ist.

Die Problematik einer solchen, ja einer jeden teleologischen


Idee sei hier nur angedeutet: Die Proklamierung des absolu-
ten Geistes macht die Bedürfnisse des Einzelnen verschwin- 20
den und ihn zum Werkzeug, das namenlos dem Weltgeist zu-
arbeitet. Marcuse (1898-1979) merkt dazu kritisch an: „Die
überlebensgroße Kultur stellt in den Schatten den kleinen
Einzelnen, der gerade gut genug ist, an ihr zu bauen. Die
Kultur ist nicht zum Genuss da, sondern zur Erhöhung eines D 5
Allmächtigen, der zum Beispiel auch Menschheit heißen
kann.“ Mögliches individuelles Leiden ist bedeutungslos, ja
gerechtfertigt und sogar „vernünftig“, denn im Einzelnen
verkörpert sich mit Blick auf den fernen Geist notwendiger-
weise der augenblickliche „Geist der Zeit“. So ist der Einzel- w30
ne ohne Anspruch auf individuelles Glück allein notwendiges
Zwischenstadium auf dem Weg zum absoluten Geist. Mit
Hegel: „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks.
Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.“

Materialismus

Als Gegenströmung zum „Idealismus“, der den Geist ins 35


wo

Zentrum setzt, ist der „Materialismus“ zu benennen, der


88 Anhang

ganz auf die Stofflichkeit setzt. „Ohne Phosphor kein Ge-


danke“, proklamierte Jacob Moleschot (1822-1893) im
19. Jahrhundert, der die Weltweisheit ganz auf die „Lehre
vom Stoffwechsel‘ zurückgeführt sehen wollte. Seele und
s Geist sind in dieser Lehre beschrieben als schlichte Funk-
tionen der Materie, und indem in der Bewegung das We-
sen der Materie erkannt wird, kann auch auf Gott als ers-
tem Beweger verzichtet werden. „Der Mensch eine
Maschine‘, lautet ein Text des Materialisten Julien Offray
ıo de La Mettrie (1701-1751), in dem vom Menschen wie
folgt die Rede ist: „Der Körper des Menschen ist eine Ma-
schine, die ihre Triebfedern selbst spannt, ein lebendiger
Inbegriff der ewigen Bewegung. Die zugeführte Nahrung
sorgt dafür, dass sie in Gang bleibt. Ohne Nahrung verliert
ıs die Seele zunehmend an Kraft [...]. Versorgt man den Kör-
per jedoch mit vorzüglicher Nahrung und stärkenden Säf-
ten, so wird die Seele ebenso vorzüglich sein und stark
[...].“ Dem Materialismus verhaftet und nicht nur typischer,
sondern im 19. Jahrhundert bekannter Vertreter dieser
2» Denkrichtung war Ludwig Büchner (1824-1899), Philo-
soph und Bruder von Georg Büchner. Dessen Buch „Kraft
und Stoff“ erlebte allein zu Ludwig Büchners Lebzeiten 2|
Auflagen und wurde in 13 Sprachen übersetzt, die eben-
falls immer wieder Neuauflagen erlebten.

Herbert und Elisabeth Frenzel:


Das klassische Ideal (1786-1832)
25 Klassik, Romantik, Realismus sind die Stichworte, die im Folgen-
den dargelegt werden. Büchner ist im Grunde keiner dieser Rich-
tungen zuzuordnen. Er verneint die Klassik und steht zwischen
Romantik und Realismus, kann aber als frühes Vorbild für Realis-
mus, Naturalismus wie auch für den Expressionismus gelten.
» Von der überragenden Dichterpersönlichkeit Goethes aus
gesehen umgreift eine sogenannte Goethezeit zugleich
Sturm und Drang und wesentliche Teile der Romantik. So-
weit sie teilhat an den zwischen 1780 und 1830 geschaffe-
nen entsprechenden philosophischen Systemen, steht die
35 Zeit im Zeichen des deutschen Idealismus. Gegenüber der
Anhang 89

Romantik ist sie besonders als Epoche einer auf geschlos-


sene Form, „Vollendung“, gerichteten Kunst im Gegensatz
zu der „Unendlichkeit“ der romantischen Universalperiode
gewertet worden. Klassische Dichtung erstrebte die Statik
des in sich ruhenden guten und schönen Menschen. [...] o

Die Klassik postulierte neue Ideale. Der Mensch sieht als


richtungsgebend das Gute, Wahre, Schöne und glaubt an
freie Selbstbestimmung und Selbstvollendung. Er erkennt
die großen Mächte der Sittlichkeit, der Kultur an. Seine
philosophische Haltung enthebt ihn der kirchlichen Dog- ıo
men, ohne dass er zu ihnen in einen ausgesprochenen Ge-
gensatz tritt. Die Natur erschien als ein großartig geord-
netes Reich ohne Willkür und Gewalt. Alles Lebendige
beseelte der Mensch von sich aus, und er erlebte das
Weltganze im Gefühl einer Einheit, in der alle Disharmo- »5

nien untergehen. An Stelle des rousseauschen Aufstandes


gegen die Kultur trat eine neue Kulturverklärung. Mit der
Gesellschaft und ihrer Satzung söhnte sich der klassische
Mensch aus. [...] Hatte der Sturm und Drang ein wesent-
lich amoralisches Lebensideal, so bekannte sich die Klassik 20
zum Humanitätsideal. Allen Glauben und alle Sehnsucht
legte die Klassik in den Begriff der reinen Menschlichkeit.
Die philosophische Grundrichtung des Idealismus stammt
von Immanuel Kant. [...]
Das seit 1792 betriebene Studium Kants brachte die Wen- >
dung in Schillers Entwicklung. Schiller kam von Ferguson
(1723-1816), Leibniz (1646-1716) und Shaftesbury
(1671-1713) her, der bereits die Natur als ein vom göttli-
chen Geist durchseeltes, teleologisch durchwirktes Ganzes
begriff. Von Leibniz und Shaftesbury übernahm Schiller den so
für die Welt- und Kunstanschauung der Klassik wichtigen
Begriff der Harmonie. Über den kantischen Gegensatz von
Sittlichkeit und Vernunft, der ihm alle Grazien zurückzu-
schrecken schien, erhob Schiller das Ideal ihrer Versöh-
nung in der ästhetischen Harmonie. Schönheit und Anmut
müssen sich zu der moralischen Handlung gesellen. In der
„schönen Seele“ treten der physische und der moralische
Zustand des Menschen in ein freies Spiel miteinander. Die
„schöne Seele“ ist von Natur harmonisch. Stimmen Pflicht
und Neigung aber nicht überein, so tritt in der UÜberwin- «0
RE —

dung der Neigung die Würde des Menschen, seine Erha-


benheit, hervor. Der Gegensatz von harmonischer Entfal-
tung aller Kräfte im Menschen und der Erhabenheit in
Fassung und in Handlung löst sich durch eine entwick-
a lungsgeschichtliche Betrachtung: Die Harmonie ist einmal
in der Natur verwirklicht gewesen. Die Kultur erst hat sie
gespalten, um sie zu einer neuen Harmonie in einer Kul-
tur zu führen, die wieder Natur ist. Der Verwirklichung
dieses Kulturideals dient die ästhetische Erziehung (Anmut
und Würde, 1793; Briefe über die ästhetische Erziehung des
Menschen, 1795;Vom Erhabenen, 1793).
Wilhelm von Humboldt (1767-1835) [...] verkündete be-
sonders das Humanitätsideal der Klassik, forderte auf zu
menschlicher Selbstvollendung durch harmonische Bildung.
ena [...] Ein Individuum werde umso größer, je mehr es ver-
mag, das Individuelle in sich zum Allgemeingültigen, Ge-
setzlichen zu entfalten. [...]
Das Kunstideal der Klassik war Bändigung, Formung, Nor-
mung, Schiller formulierte Schönheit als Freiheit in der Er-
o© scheinung. Das Wesen der Schönheit sei Harmonie zwi-
schen dem sinnlichen Trieb und dem Gesetz der Vernunft.
[-..] Kunstgegenstand ist nach klassischer Auffassung nicht
die Lebendigkeit, sondern die Gesetzlichkeit des Lebens,
nicht die Wirklichkeit, sondern die Wahrheit. Nach
[81 Goethe müsse der Dichter auch in der individuellen Ge-
stalt den Typus erkennen lassen und dem Typus durch die
individuelle Gestalt Leben verleihen. [...]
Die Sprache des klassischen Dramas, gebunden an den
Vers (vorherrschend Jambus), sucht allgemeingültige For-
mulierungen, dient der Analyse, wird Sentenz!. Der Wille
zur Form arbeitete die dramaturgischen Grundlinien deut-
lich heraus, sparte mit Personen, Szene, realistischem De-
tail. Elemente und Verfahrensweise der antiken Tragödie
(Chor, analytische Methode) wurden erneuert. [...]
[0%a Bei Schiller wirkt nicht so sehr das Leben wie das Erken-
nen der Welt.
(Aus: Herbert A. und Elisabeth Frenzel: Daten deutscher Dichtung.Von den Anfängen
bis zum jungen Deutschland, Bd. I. München: dtv, 301997, 5. 230-235)

| allgemein gültiger kurzer Sinnspruch


Friedrich Schiller: Das ästhetische Ideal
Friedrich Schiller (1 759-1805), der bedeutende Schüler Kants,
hat dem Gedanken des Idealismus dramatische Form verliehen.
Er prägte den Satz „auf den Brettern, die die Welt bedeuten“
und will sagen: Eine im Geist entworfene, vorgestellte Wirklich-
keit wird auf der Bühne konkretisiert und im idealisierten Spiel oo

zur Schau gestellt: Eine Welt des Scheins, die zum vorbildhaften
Sein erhoben wird; sie bietet „schöne“ Kunst, und als solche ist
sie orientiert am Ideal. Das Ziel: des Menschen ästhetische Läu-
terung.
Eine der ersten Erfordernisse des Dichters ist Idealisie- ıo
rung, Veredelung, ohne welche er aufhört, seinen Namen
zu verdienen. !Inm kommt es zu, das Vortreffliche seines
Gegenstandes (mag dieser nun Gestalt, Empfindung oder
Handlung sein, in ihm oder außer ihm wohnen) von grö-
bern, wenigstens fremdartigen Beimischungen zu befreien, „u

die in mehrern Gegenständen zerstreuten Strahlen von


Vollkommenheit in einem einzigen zu sammeln, einzelne,
das Ebenmaß störende Züge der Harmonie des Ganzen zu
unterwerfen, das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen
zu erheben. Alle Ideale, die er auf diese Art im Einzelnen
bildet, sind gleichsam nur Ausflüsse eines innern Ideals von
Vollkommenheit, das in der Seele des Dichters wohnt. Zu
je größerer Reinheit und Fülle er dieses innere allgemeine
Ideal ausgebildet hat, desto mehr werden auch jene Einzel-
nen sich der höchsten Vollkommenheit nähern. 25

(Aus: Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 5, hrsg.
von Gerhard Fricke/Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch. Mün-
chen: Carl Hanser, ?1962, S. 979)

Herbert und Elisabeth Frenzel:


Romantik (1798-1835)
Von den Philosophen hatten Einfluss auf die romantische
Dichtung: Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) [...] [und]
Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854, seit 1793 in Jena
neben den beiden Schlegel, Tieck, Novalis und Steffens
Mitbegründer der romantischen Schule). [...] 30
92 _Anhang

Die Klassik wurde überboten durch die Vereinigung von


Geist und Natur, Endlichkeit und Unendlichkeit, das Ver-
gangene und Gegenwärtige mit dichterischen Kräften
durchdrungen. Zweck der Kunst war/Stimmung und Er-
lebnis)Dabei sollten sich die einzelnen Sinnesgebiete mit-
einander vermischen und die Künste ineinander über-
gehen. Bezeichnende Forderung: /„Synästhesie‘y das
Farbenhören, das Musiksehen. „Zu jeder schönen Dar-
stellung mit Farben gibt es gewiss ein verbrüdertes Ton-
ıo stück, das mit dem Gemälde gemeinschaftlich nur eine
Seele hat“ (Tieck). Vgl. Eichendorff: „... und zogen / ihn in
der buhlenden Wogen / farbig klingenden Schlund.“ Erha-
benste Fähigkeit ist die Fantasie,\ da freie_Schöpfertu
dieses wiederum ist wichtiger als das Geschaffene/Dich-
(terisch Lebensform-ist
wichtiger alsdie Form des dich-\)
\terischen Werkes. Daher [viele unvollendete Werke,/im»
|provisationen, Schätzung des Aphorism nd das Fehlen )
onzeption! Wichtigerals die Vollkommenheit ei-
sehnsucht) und das[Streben nach de»
u Vollkommenheit,
‚Die der romantischen Dichtung-Theorie innewohnende
Dialektik"
von Tra, und Bewusstsein YArthur Henke)
ängt zusammen mit Fichtes Philosophie der; Subjektivitä
der Verkündigung der[absoluten Freiheit des Geistes- er
»s romantische Dichter besitzt-die-Freiheit,
sich über alles,
auch über die eigene Kunst, Tugend oder Genialität, zu
erheben und die Sinnenwelt für seine Zwecke willkürlich
einsetzen zu können. So ist die Fromantische u zu
begreifen als Gewähr für die Autonomie dichterischer
30 Weltsicht gegenüber der Wirklichkeit. Der Künstler spürt
den
“Widerstreit von Endlichkem und Unendlichem
während des schöpferischen Vorgangs, und das Bewusst-
sein seiner spielerischen Freiheit erhebt ihn darüber. Die
subjektive, romantische Ironie, die auch noch Heine
» als Kunstinittel-anwändte, erreichte durch den Gegen-
satz von Tatsache und subjektiver Auffassung besonders

! Methode, durch Denken in Gegensätzen und durch deren Über-


windung zur Erkenntnis zu gelangen
Anhang 93

komische Wirkung. Der romantische Dichter darf. und


muss die Illusion, die sein Werk erzeugt hat, auch wieder
aufheben.

(Aus: Herbert A. und Elisabeth Frenzel: 1798-1835 Romantik. In: Dies.: Daten deut-
scher Dichtung. Von den Anfängen bis zum jungen Deutschland, Bd. I. München: dtv
301997, S. 297-300)

Arno Lubos: Das junge Deutschland


„Die Freiheit ist eine neue Religion unserer Zeit.“ „Die
Revolution tritt in die Literatur!“ Mit diesen Worten Hein- ©

rich Heines sind die Bemühungen einer Reihe junger


Schriftsteller formuliert, die — etwa im Zeitraum zwischen
der französischen Julirevolution 1830 und der deutschen
Märzrevolution 1848 — ihre Unzufriedenheit über die der-
zeitige Literatur, aber auch über die Gegenwartsverhältnis- m 0
se insgesamt in z. T. geharnischten Protesten zum Aus-
druck brachten und ein fortschrittliches politisches und
gesellschaftliches Engagement forderten.
Der Ausdruck „Junges Deutschland“, vermutlich zum ers-
ten Mal 1833 von Heinrich Laube, dann von Ludolf Wien- ı5
barg gebraucht, eine Übernahme der Bezeichnungen
„Junges Italien“ und „Junges Europa“ des Genuesen
Giuseppe Mazzoni, wurde zum Schlagwort durch den
Maßregelungsbeschluss der Bundesversammlung des
Deutschen Bundes vom 10.12.1835. Darin wird eine „li- zo
terarische Schule“ dieses Namens genannt, „deren
Bemühungen unverhohlen dahin gehen, [...] die christliche
Religion auf die frechste Weise anzugreifen, die bestehen-
den sozialen Verhältnisse herabzuwürdigen und alle Zucht
und Sittlichkeit zu zerstören“. Vermerkt sind Heinrich
Heine, Karl Gutzkow, Heinrich Laube, Ludolf Wienbarg
(1802-82; aus Altona; Privatdozent in Kiel) und Theodor
Mundt (1808-61; aus Potsdam, Redakteur und Schrift-
steller).
[...] Mittlerweile werden zahlreiche Autoren aus den Rei- »
hen der politischen Opposition (Autoren des „Vormärz“,
der „Märzliteratur‘‘) unter dem Begriff „Junges Deutsch-
land“ zusammengefasst.
94 _Anhang

[...] Der nationale Freiheitsdrang in den Jahren 1812-15


war der folgenden Restauration Metternichs und dem
Konformismus des Bürgertums zum Opfer gefallen. In den
Dreißigerjahren aber brachen die freiheitlichen Bestrebun-
[62 gen wieder auf, und zwar jetzt das Individuelle und Politi-
sche vereinigend: als eine entschiedene Aktion gegen alles
Prinzipienhafte, gegen das Festhalten an Überlieferungen
allgemein. Das Menschentum der Klassik ‚wurde dabei
ebenso als abgetan betrachtet wie der historische und
o christliche Idealismus der Heidelberger Romantik, die
Gemütsamkeit des Biedermeier und vor allem das monar-
chistisch kleinstaatliche System. Es sollte ein Umbruch der
gesamten Lebensverhältnisse vollzogen werden. Dies je-
denfalls war die Absicht eines Heine, Börne, Herwegh und
15 Gutzkow.
Gefordert wurde das Recht auf Freiheit, auf Beseitigung
der autoritativen moralischen, religiösen und politischen
Bindungen. Rationalismus, Sozialismus, Fortschrittsglaube
und Kosmopolitismus waren die vorherrschenden Ideen.
20 Neben dem durchaus konstruktiven Vorhaben zeigte sich
aber auch ein äußerst emotionaler Negativismus, der sich
in einer pauschalen Verneinung der bestehenden Autoritä-
ten und in der Propagierung eines möglichst radikalen Um-
sturzes erschöpfte.
(Aus: Hermann Glaser/Jakob Lehmann/Arno Lubos: Wege der deutschen Literatur. Eine
geschichtliche Darstellung. Frankfurt/Berlin: Ullstein, 1997, S. 28 1f.)

Herbert Foltinek: Realismus

Der Realismus als Ordnungsbegriff


25 Der Realismus ist zugleich der einfachste wie auch komple-
xeste und problematischste Begriff, den die Literaturwissen-
schaft kennt. Das erweist sich allein daran, daß man zu ei-
ner Erklärung wie ungewollt in die Alltagssprache verfällt, zu
einer eigentlichen Begriffsbestimmung jedoch bis auf die An-
3 (>) fänge literaturtheoretischer Überlegungen zurückgehen
muß. Die Dichtung, so hat es Aristoteles dargelegt, hat die
Wirklichkeit nachzuahmen. Wirklichkeit, das heißt alles Ge-
N
Anhang 95

a ebare, damit aber auch die tiefer liegen-


en reinen Formen, aus denen die bunte Vielfalt der Dinge
hervorgeht. Die empirische Wirklic in_ihren ideellen
Grundlagen also ist Inhalt der literarischen
(Mimesis), was im Einzelfall bedeutet, daß der Dichter bloß 5
“einen Ausschnitt dieser Totalität wiedergeben kann, so wie
der Maler eben nur bestimmte Eindrücke abbildet, zu deren
Konkretisierung und Abklärung er sogar ein Modell heran-
ziehen mag. Der Vergleich mit der bildenden Kunst kommt
nicht von ungefähr, und in der Tat hat schon die antike Poe- ı0
tik dem Dichter nahegelegt, wie ein Maler zu verfahren.
Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Dichtung
und Malerei grundsätzlich verschieden sind. Wo die eine ge-
genständlich arbeitet, vermittelt sich diese durch die Spra-
che. Anders als der Künstler kann der Dichter nicht wirk- ıs
lich abbilden, er wird vielmehr seine Eindrücke und die
damit assoziierten Gefühle und Gedanken teils beschrei-
bend, teils evozierend' in eine anregende sprachliche Form
umsetzen, aus der die Einbildungskraft des Lesers erst ni
der Gestalten schafft. So entsteht eine Nachbildung der er- »»
fahrenen
nen Wikichkei, de alarings eineSegerung und
Sinngebung
ngebung gew hat, die dem primären Erscheinungs-
bild noch nicht eigen war. Die aristotelische Mimesis stellt
sieh somit als ein
Schaffensprozeß dar, in dessen Verlauf em-
pirisch erfaßbare Phänomene zu abgerundeten Vorstellun- 2
gen umgestaltet werden, die nunmehr einen übergreifenden
Bedeutungszusammenhang erkennen lassen.
Nun hätten wir ebenso einen anderen Einstieg wählen kön-
nen, der überdies der Argumentation des Aristoteles un-
mittelbarer entsprochen hätte. Dieser dachte zunächst »
nicht an Landschaftsbeschreibungen oder epische Schilde-
rungen, sondern an die dramatische Gattung, also an eine
Form der literarischen Nachahmung, die der objektiven
Wirklichkeit eher nahe kommt. So wie die Menschen
durch das Medium der Sprache miteinander verkehren, ist :
auch das Drama, das Begegnungen, Konflikte, Bindungen
unter Menschen wiedergibt, durch die Rede konstitu-

| evozieren: bewirken
O6 _Anhang

iert!. Allerdings ergibt eine rein mechanische Aneinanderrei-


hung von Mitteilungen, Gesprächen und Auseinandersetzun-
gen noch kein Drama. Vielmehr wird der Dichter auszu-
wählen und abzugrenzen haben, um den rohen Vorwurf-in

beschrän-
ken, hat Raum- sowie Zeitverhältnisse a die einen
straffen Handlungsablauf ermöglichen, und wird auf Dis-
kursformen zurückgreifen wollen, welche die Kohärenz?
und Sinnhaftigkeit der Darstellung zu fördern vermögen.
Nicht zuletzt-muß die Nachbildung alles vermeiden, was
den Leser (oder Zuschauer) unglaublich anmuten und somit
befremden könnte. Aristoteles geht so weit, dem an sich
Unmöglichen, aber dennoch Glaubhaften den Vorzug vor
ıs dem Unwahrscheinlichen, wenngleich Möglichen zu geben.
k-eine Eigenart zuer-

BE alAbbildung auf ihre Vorlage bezogen, ne


der Dichtung dennoch Autonomie gegenüber der Realität
20 zu. Dichtung ist eben nicht nur Abbildung, sondern auch
Konnoshiar TnterRices-deniramatiker seiniMlasen 1a
gestalten, so zerfällt sein Stück in amorphe Sprechsequen-
zen, die realitätsnah sein mögen, aber als sinnentleerte
Bruchstücke keinen Rezeptionsvorgang auslösen können,
2s somit dem aristotelischen Ansatz in keiner Weise genügen
würden. Indes vermag auch ein Übermaß von Strukturie-
rung schädlich zu wirken, wenn das dramatische Werk dar-
über zur bloßen Form- und Formelhaftigkeit erstarrt [...].
Was letztlich auch bedeuten würde, daß eine durch ideali-
0 sierende oder verzerrende Momente aufbereitete Darstel-
lung ihre Wirkung auf den Leser verfe — elt
r doch an U ungskraft, eben an Realismus. [...]

Das Zeitalter des Realismus


Als poetische Kategorie wie als Stilbegriff [...] durchzieht der
Realismus die gesamte europäische Literatur; die Gattung
des Romans orientiert sich weitgehend an ihm. Im 19. Jahr-
| einsetzen, begründen
? Verbindung, Übereinstimmung
Anhang 97

hundert aber wird der Realismus zur dominierenden Kom-


ponente der gesamten kulturellen Entwicklung, so daß man
füglich von einem Zeitalter des Realismus sprechen kann. Wo
die Romantik als ein Aufblühen emotionell- i
__ten-ir.Erscheinung tritt, sollte der Realismus als Einstellung 5
verstanden werden. Der romantische Geist weicht einer rea-
listischen Grundhaltung. Nach Weltabkehr und subjektiver
Verinnerlichung, der Entrückung in das Irrational-Übersinnli-
che, einer Hingabe an die Imagination, die von einer gestei-
gerten Empfänglichkeit für die Wunder der Natur begleitet ıo
wird, kommt der Realismus des 19. Jahrhunderts einer allge-
_ meinen Ernüchterung gleich, die allerdings mit einer _Besin-

paart ist und in Re geistige wie materielle


Produktivität mündet. Die Wirklichkeit stellt sich dem Men- ı5
schen des 19. Jahrhunderts anders dar als früheren Epochen:
Sie fordert, drängt und beflügelt ihn. Wir sprechen von ei-
nem Zeitalter der Erfindungen und Entdeckungen, in dem die
Wissenschaft einen nie vorhergesehenen Aufschwung erfah-
ren, einer Ära der Industrialisierung und Urbanisierung, in
der Umwelt und Lebensbedingungen der Menschen grundle-
gend verändert werden. Die Bevölkerung Europas wächst an
und strebt in ganzen Emigrationswellen nach neuen Sied-
lungsräumen. Nach der politischen Aufbruchstimmung der
Romantik wird die Folgeepoche von reaktionären Tendenzen
gehemmt, doch bahnt sich ein Wandel zu demokratischen
Regierungsformen an, wie sie dann vorerst in Großbritanni-
en, im späten 19. Jahrhundert allmählich auch in anderen Tei-
len Europas zum Durchbruch gelangen. [...] Die Bezeichnung
bürgerliches Zeitalter gilt [...] einem sozialen System, das weit- so
gehend durch das Normschema bürgerlicher Schichten be-
stimmt wird. Sie sind es nun auch, die in zunehmendem
Maße die literarische Entwicklung steuern. Der li
Realismus des 19. ahrhun
lichkeitsbezug, ität und Präzision kann als 35
typisch bürgerliche Dic n
(Aus: Herbert Foltinek: Realismus. In: Das Fischerlexikon Literatur N-Z. Frankfurt am
Main: Fischer, 1996, S. 1575-1587)
Dieser Text kann aus lizenzrechtlichen Gründen nicht in reformierter Schrei-
bung erscheinen.
98 _Anhang

6. Dramentheoretische Aspekte

Büchners Dramen folgen in ihrem Bau nicht dem klassischen


Drama. Die klassische — geschlossene — Form wird, um den Un-
terschied deutlich werden zu lassen, im Text von Gustav Freytag
zunächst kurz wiedergegeben und anschließend werden bei
s GeigerlHaarmann die Unterschiede zwischen geschlossener
und der bei Büchner vorzufindenden offenen Form dargelegt.

G. Freytag (1863): Die Technik des Dramas.


2.Kap.: Der Bau des Dramas
I. Spiel und Gegenspiel
Das Drama stellt in einer Handlung durch Charaktere,
vermittelst Wort, Stimme, Gebärde diejenigen Seelenvor-
ıo gänge dar, welche der Mensch vom Aufleuchten eines Ein-
druckes bis zu leidenschaftlichem Begehren und zur Tat
durchmacht, sowie die inneren Bewegungen, welche durch
eigene und fremde Tat aufgeregt werden.
Der Bau des Dramas soll diese beiden Gegensätze des
ıs Dramatischen zu einer Einheit verbunden zeigen, Ausströ-
men und Einströmen der Willenskraft, das Werden der Tat
und ihre Refl die Seele, Satz und Gegensatz, Kampf
egenl eigen inden und Lösen:
In jeder Stelle des Dramas kommen beide Richtungen des
»o dramatischen Lebens, von denen die eine die andere un-
ablässig fordert, in Spiel und Gegenspiel zur Geltung; aber
auch im Ganzen wird are Handlungtes Dramas und die
Gruppierung seiner Charaktere dadurch zweiteilig. Der In-
halt des Dramas ist immer ein Kampf mit starken Seelen-
25 bewegungen, welchen der Held gegen widerstrebende Ge-
walten führt. Und wie der Held ein starkes Leben in
gewisser Einseitigkeit und Befangenheit enthalten muss, so
muss auch die gegenspielende Gewalt durch menschliche
Vertreter sichtbar gemacht werden. [...]
30 Diese zwei Hauptteile des Dramas sind durch einen Punkt
der Handlung, welcher in der Mitte derselben liegt, fest
verbunden.
Anhang 99

Diese Mitte, der Höhepunkt des Dramas, ist die wichtigste


Stelle des Aufbaues, bis zu ihm steigt, von ihm ab fällt die
Handlung. [...]

2. Fünf Teile und drei Stellen des Dramas


Durch die beiden Hälften der Handlung, welche in einem >
Punkt zusammenschließen, erhält das Drama, — wenn man
die Anordnung durch Linien verbildlicht, - einen pyramida-
len Bau. Es steigt von der Einleitung mit dem Zutritt des
erregenden Moments bis zu dem Höhepunkt und fällt von
da bis zur Katastrophe. Zwischen diesen beiden Teilen lie- je0)
gen die Teile der Steigerung und des Falles. Jeder dieser
fünf Teile kann aus einer Szene oder aus einer gegliederten
Folge von Szenen bestehen, nur der Höhepunkt ist ge-
wöhnlich in einer Hauptszene zusammengefasst. Diese Tei-
le des Dramas, a) Einlei- m 5
tung, b) Steigerung,
c) Höhepunkt, d) Fall
b d oder Umkehr, e) Kata-
strophe, haben jeder
Besonderes in Zweck zo
und Baurichtung. Zwi-
a © schen ihnen stehen drei
wichtige szenische Wir-
kungen, durch welche die fünf Teile sowohl geschieden als
verbunden werden. Von diesen drei dramatischen Momen- :
ten steht eines, welches den Beginn der bewegten Hand-
lung bezeichnet, zwischen Einleitung und Steigerung, das
zweite, Beginn der Gegenwirkung, zwischen Höhepunkt
und Umkehr, das dritte, welches vor Eintritt der Katastro-
phe noch einmal zu steigern hat, zwischen Umkehr und 0 w

Katastrophe. Sie heißen hier: das erregende Moment, das


tragische Moment, das Moment der letzten Spannung. Die
erste Wirkung ist jedem Drama nötig, die zweite und drit-
te sind gute, aber nicht unentbehrliche Hilfsmittel. [...]

5. Die fünf Akte


F&]
In dem modernen Drama umschließt, im Ganzen betrach- ss
tet, jeder Akt einen der fünf Teile des Dramas, der erste
BRer 100 _Anhang

enthält die Einleitung, der zweite die Steigerung, der dritte


den Höhepunkt, der vierte die Umkehr, der fünfte die Ka-
tastrophe. [...]
Die Fünfzahl der Akte ist also kein Zufall. Schon die römi-
[9,1 sche Bühne hielt auf sie. [...]
Nur nebenbei sei bemerkt, dass die fünf Teile der Hand-
lung bei kleineren Stoffen und kurzer Behandlung sehr
wohl ein Zusammenziehen in eine geringere Zahl von Ak-
ten vertragen. Immer müssen die drei Momente: Beginn
oO des Kampfes, Höhepunkt und Katastrophe, sich stark von-
einander abheben, die Handlung lässt sich dann in drei Ak-
ten zusammenfassen. Auch bei der kleinsten Handlung,
welche in einem Akte verlaufen kann, sind innerhalb des-
selben die fünf oder drei Teile erkennbar.
(Zitiert nach: Heinz Geiger: Hermann Haarmann: Aspekte des Dramas. Eine Ein-
führung in die Theatergeschichte und Dramenanalyse. Opladen: Westdeutscher Verlag,
4.,neubearb. u. erw. Aufl, 1996, 5. 189-191)

H. Geiger/H. Haarmann: Formtypen des Dramas


(geschlossene und offene Form)
ıs Klotz untersucht die beiden dramatischen Stiltypen im Hin-
blick auf ihre unterschiedliche Gestaltung der Handlung,
der Zeit, des Raumes, der Personen, der Komposition und
der Sprache. Er gelangt dabei zu folgenden Ergebnissen:
Das geschlossene Dram besitzt stets eine ein e Haupt-
20 han it, evtl. Nebenhandlungen ohne Ei-

aus der anderen hervor. Die enge


schen Geschehens wird erreicht dureh das Prinzip ‚der
d Per-
ae eine Person hc na der
Par
‘sel
innerhatb des Aktes auf der Bühne). Die Einheit und
Ganzheit der Handlung resultiert vor allem aus der_Be-
‚schränkung des dramatischen Vorgangs auf eine knappe,
Raum-, und Geschehnisspanne. Wiedergegeben wird
so nur ein Ausschnitt aus einem größeren Ereignisganzen, näm-
lich Endphase und Höhepunkt einer schon lange vor Beginn
des Dramas sich anbahnenden Entwicklung. Dieser Aus-
Anhang LU) 2.

schnitt wird jedoch als Ganzes, d. h. als vorgangsmäßig eng


verfugtes Kontinuum dargeboten. Die Handlungskontinuität
erfordert zwangsläufig die zeitliche Kontinuität, d. h. den
Ablauf des Geschehens in Einer knappen, nahezu ununter-
„brochenen an (weitgehende Kongrue !
pielzeit un : ee ih-
Terseits ersrdureh äfe-Einheit des Raumes ermöglicht, da
im Drama mit jedem Ortswechsel
in der Regel ein Zeit-
sprung (Ausnahme: die Veranschaulichung eines Simultan-
vorgangs), zumindest jedoch eine Unterbrechung der Hand- ıo
lungs- und Zeitkontinuität verbunden ist.
Doch selbst bei einem Schauplatzwechsel, wie etwa in
Goethes Tasso, bleibt im geschiossenen Drama der Ein-
druck von Ortsgleichheit erhalten: die Orte (Garten, Saal,
Zimmer) sind hier nur geringfügige Abwandlungen des glei- ı5
chen höfisch-arkadischen Raumes: Der Raum besitzt somit
im geschlossenen Drama a ul Charakter
(vgl. die stilisierte Landschaft in Iphigenie: Hai anens
Tempel),und
‚us bildet nur den el Rahmen eines weit-
_ gehen stofflichten Geschehens, das sich pri =
wusstsein der Personen abspielt.
ie Tendenz des geschlossenen Dramas zur Konzentration,
die sich in der_Einheit von Handlung, Raum"und Zeit zeigt,
äußert sich auch in der zahlenmäßigen und ständischen Be-
‚schränkung des Personenkreises: geringe Anzahl von Perso- »
nen, keine Massenszenen, wenige Nebenfiguren, die — im
Gegensatz zum offenen Drama - von Anfang bis zum Ende im
Stück vorkommen bzw. mehrfach auftreten. Es handelt sich
dabei vorwiegend um = Hauptfi iener,
Amme, Freunde etc.). Die Nebenpersonen bzw. Vertrauten 30
sind i altungen der Hauptfiguren als selbst-,
ständige Personen (so sind die Dialoge zwischen Held und
Vertrautem im Grunde nur dialogisch aufgeteilt loge
mit sich selbst). Dies bedingt im klassizistischen Drama die
“einheitliche Sprache von Hau t- und hoher
il, Pathos, m). Der Dialog besteht
vor allem aus Rededuellen [...] und geschlossenen un =
"gefügten Redegebäuden (hypotaktische Syntax‘).

| Unterordnung von Sätzen, Satzteilen unter andere, Bsp.: Haupt-


satz, Nebensatz
PER 102 _Anhang

Die regelhafte Ordnung und die Gesetze der Proportion _


„und Symmetrie,_die die Personengruppierung (ausbalan-
Serie Zweipaligkeiz undAneehetik von Spıs UNI SEBEn egen-
spiel, von Prot ntagonist, von Hau rund.
5 d die Dial tun otaxe, Rededu-
Meine: kennzeichnen auch den Handlungsaufbau
ktur, fünf Akte mit Mittelachse im dritten
Akt). Die Handlung präsentiert sich als architektonisches
“Gefüge mit_starker Betonung des Aktesgeringemund Ei-

nen. Der ne kor-


respondieren dabei nach Umfang und inhalt häufig Akt |
und V sowie Akt Il und IV.
Vielheit und Dispersion! kennzeichnen die Handlung im of-
ıs fenen Drama. „Mehrere Handlungsstränge laufen gleichbe-
rechtigt nebeneinander her, die auch in sich mehr oder
minder stark der Kontinuität entbehren.“ [Klotz, Anm. v.
N.S.] Im Extremfall besteht die Handlung aus einer Abfolge
i b lich und zeitli

rotz der daraus resultierenden Diskontinuität in der Sze-


nenfolge handelt es sich jedoch nicht um eine willkürliche
Summierung von Einzelszenen. Die Koordination der zer-
streuten Handlungsteile übernehmen oenz Komposi-
25 tionsmittel: 4
I. die Technik der en? Stränge“: Ein Kollektiv-
strang, der das zw. den Sachverhalt des Stückes
enthält, und ein Privatstrang, in dem jener an einem Ein-
zelfall aktualisiert wird (vgl. Lenz, Die Soldaten), „bedin-
30 gen, ergänzen und a einander“ [Klotz].
etaphorische Verkläl g“/ Einzelne Metaphern,
die sich durch das ganze Stück hindurchziehen (z. B. in
Büchners Woyzeck: Messer, Blut, rot), stiften ein enges,
latentes Bezugssystem.
35 3. das Ba besonders im Stationendrama in
allen Szenen auftretende und im Mittelpunkt stehende
Hauptfigur übernimmt hier die Koordination der disper-

! feine Verteilung, Streuung


? ergänzend
Anhang ] 03 ee

gierenden Handlung (Einheit der Figur statt Einheit der


Handlung), so z. B. in Strindbergs Nach Damaskus oder
in Brechts Baal oder Strauß’ Groß und Klein).
Die weite Zeiterstreckung der Handlung im offenen Dra-
ma (häufig mehrere Jahre) ermöglicht nicht mehr, das Ge- 5
schehene als vorgangsmäßiges und zeitliches Kontinuum
darzubieten. Gleichzeitig ist damit auch die räumliche Kon-
tinuität aufgegeben. (Zwischen Zeit und Raum besteht ge-
nerel im Drama eine enge \WWechselbeziehung.
Räumliche Veränderung hat gewöhnlich eine zeitliche Ver- ıo
änderung zur Folge, wie andererseits Zeitsprünge, d. h. das
Aussparen von Geschehnisphasen zwischen den einzelnen
Szenen, meist durch Wechsel des Schauplatzes verdeutlicht
werden. Der Ortswechsel erhält mithin die Funktion, den
Zeitablauf bewusstzumachen und die Handlung zu glie- jan5
dern.) Im Extremfall entspricht im offenen Drama die Anzahl
der Orte der Anzahl der Szenen. Mit dem Ortswechsel ist
vielfach ein (häufig alternierender') Wechsel zwischen en-
gem und weitem Raum (Zimmer, unbegrenzte Natur) ver-
bunden. Der Raum wird somit nie zum neutralen allgemei- 20
nen Rahmen des Geschehens wie im geschlossenen Drama,
sondern ist jeweils ein spezieller und charakteristischer
Raum, der aktiv am Geschehen teilnimmt, das Verhalten
der Personen charakterisiert und bestimmt. Diese selbst
sind im offenen Drama keiner zahlen- und standesmäßigen 5
Beschränkung unterworfen. Am deutlichsten zeigt sich dies
in der Vielzahl von Nebenfiguren, die im Gegensatz zu de-
nen des geschlossenen Dramas meist jedoch nur in einer
Szene, d. h. ein einziges Mal auftreten. Fast in jeder neuen
Szene stehen so der Hauptfigur, die weder einen Vertrau-
ten noch einen indirekten Gegenspieler mehr hat, andere
Personen als in der vorausgehenden gegenüber. In vielen
Fällen werden niedrige Personen zur Hauptfigur des dra-
matischen Geschehens. Der zahlen- und standesmäßigen
Erweiterung der dramatis personae entspricht im offenen
Drama die Pluralität heterogener? Sprachhandlungen (ver-
schiedene Berufs- und Standessprachen).

I wechselnd, abwechselnd
2 unterschiedlich, ungleich
Pan 104 _Anhang

Ihr Sprechen ist nicht mehr primär von Reflexionen be-


stimmt, sondern eher augenblicks- und situationsverhaftet.
Zum Motor ihrer Äußerungen wird anstelle der logischen
Folgerung, die im geschlossenen Drama sich in Rededuellen
a und geschlossenen Redegebäuden manifestiert, die Asso-
ziation. Die daraus folgende Sprunghaftigkeit des Ge-
dankenfortschritts findet sichtbaren Ausdruck in der Satz-
konstruktion und Satzfolge. Im Unterschied zum hypotak-
tischen Satzgefüge im geschlossenen Drama ist das Verhält-
-© nis der Satzglieder wie auch das der Sätze untereinander
überwiegend parataktisch!. Syndetische? oder asyndeti-
sche Reihung sowie Anakoluth?, Ellipse* und Satzabbruch,
die typischen Stilmerkmale spontanen Sprechens, kenn-
zeichnen die Gesprächsführung. [...]
en[2,1 Die offene Form des atektonischen Dramentyps dokumen-
tiert sich am sichtbarsten im Geschehnisfortschritt (Wie-
dergabe von Ausschnitten) und im äußeren Handlungsauf-
bau. Das vorgeführte Geschehen ist nach vorn und hinten
offen, es setzt dementsprechend unvermittelt ein und
DS} bricht
oO ebenso unvermittelt ab. Das gilt für das Stück als
Ganzes wie auch für dessen einzelne Szenen bzw. „Bilder“.
Die Handlung wird weder am Stückanfang ausführlich ex-
poniert, noch findet sie am Stückende zu einem eindeuti-
gen Abschluss (Fortsetzbarkeit der Handlung). Analog dazu
8 [S)} beginnen die einzelnen Szenen oft mitten im Satz oder in
einem Vorgang und enden ebenso häufig mit Vorgangs- und
Satzabbrüchen. Durch diese „Rissränder“ (die den Aus-
schnittcharakter des Dargestellten betonen) sowie durch
die räumlichen und zeitlichen Intervalle von den Nachbar-
szenen getrennt, gewinnt die einzelne Szene weitgehende
Autonomie (Selbstständigkeit der Teile). Die Stückkompo-
sition des offenen Dramas erfolgt mithin vom Einzelteil, der
Szene, aus und nicht mehr vom Ganzen (Hierarchie der
Teile) wie im geschlossenen Drama. Dementsprechend

!' Nebeneinander von Satzteilen, Sätzen, Bsp.: HS, HS


durch Konjunktion verbunden, Ggs.: asyndetisch
Stilmittel, bei dem die Elemente unverbunden nebeneinanderste-
hen
Auslassung von leicht ergänzbaren Wörtern, Satzteilen
Anhang 105 __

kommt der Szene hier größere Bedeutung zu als dem Akt.


Wo dennoch im offenen Drama die Akteinteilung beibehal-
ten wird, hat diese eine andere Funktion als im geschlosse-
nen Drama. Die Akte sind hier nicht mehr Gliederungsein-
heiten bzw. in sich geschlossene Abschnitte eines auf das 5
Ende hin gestuften Handlungsganzen, sondern dienen le-
diglich zur Zusammenfassung von einer Anzahl thematisch”
eng zusammengehörender Szenen (so etwa in Die Soldaten
von Lenz oder in Wedekinds Frühlingserwachen). Vielfach
wird jedoch - vor allem in Dramen, in denen das „zentrale fe[)

Ich“ als Kompositionsprinzip vorherrscht — die Akteintei-


lung ganz aufgegeben (vgl. Woyzeck, Baal). Bei aller Autono-
mie der Szenen besteht das offene Drama jedoch nicht aus
einer willkürlichen Addition von unbezogenen Einzelsze-
nen. Leitende Kompositionsprinzipien sind neben der er- ı5
wähnten Handlungskoordination mithilfe von „zentralem
Ich“, „metaphorischer Verklammerung“ und „komple-
mentären Strängen“ das Moment der Variation, der Wie-
derholung und des Kontrasts (etwa in der alternierenden!
Folge von groß- und kleinräumigen Szenen). 20
Es gilt jedoch nochmals zu betonen, dass die von Klotz un-
terschiedenen Formtypen des geschlossenen und offenen
Dramas als Idealtypen zu verstehen sind, also als Konstruk-
tionen, denen primär heuristischer Wert für die Dramen-
analyse zukommt. Geschlossene oder offene Form werden 5
im konkreten Einzelfall kaum idealtypisch verwirklicht sein,
bei vielen Dramen wird es sich eher um Mischtypen han-
deln.
(Aus: Heinz Geiger/Hermann Haarmann: Aspekte des Dramas. Eine Einführung in die
Theatergeschichte und Dramenanalyse. Opladen: Westdeutscher Verlag, 4., überarbei-
tete und erw. Auflage 1996, 5. 127.134)

! wechselnd, abwechselnd
er 106 _Anhang

7. „Woyzeck“ heute:
Auf der Bühne und in der Kritik

Büchner ist heute auf den Bühnen der Welt einer der meistge-
spielten Autoren, was fraglos Kennzeichen dessen ist, dass sein
Werk — obwohl nunmehr gemessen an seinem Alter — nicht in
die Jahre gekommen ist und nach wie vor facettenreich die Ge-
5 genwart zu beschreiben versteht. „Büchners Modernität hat
Tradition“, schreibt der Büchner-Biograf Hauschild. Büchner
spricht die anscheinend zeitlosen Probleme der Gesellschaft an,
die in ihrer äußeren Ausgestaltung sich ändern mögen, in ihrem
Kern aber nicht. Die folgenden Texte machen dies deutlich und
10 zeigen weiter, wie das Stück für Inszenierungsideen sich offen
und so insgesamt nicht angestaubt, sondern ausdrucksvoll le-
bendig zeigt.

Immer zu - Immer zu - Immer zu ...


Anmerkungen zu „Woyzeck“
„Mensch ... du bist geschaffe Staub, Sand, Dreck. Willst du
mehr sein als Staub, Sand, Dreck?“ Wider alle Einsicht sagt
ma er „ja“. Büchner, der Realist aus Verzweiflung, sagt „nein“.
Es führt kein Weg mehr zurück. Der „Fels des Atheismus“
ist erklommen, seit Kopernikus, seit 200 Jahren, seit
Nietzsche, wie auch immer. Der Mensch ist nicht mehr als
ein Wesen auf der Erdkruste, nicht mehr als ein Insekt auf
2 So dem Seziertisch von Anatomen und Psychoanalytikern,
nicht mehr als ein Körper auf der Fläche, der Bühne. [...]
Die Menschen leben in den Slums von New Delhi und in
den Villen von Hamburg-Blankenese, Bergwerken und
Software-Firmen. Nur Kakerlaken sind anpassungsfähiger.
25 Ein paar Ausnahmen bleiben. Und gelegentlich ein Mord.
Im Verhältnis zu den anständigen Mitgliedern der menschli-
chen Gesellschaft ist Woyzeck ein Fantast, ein Künstler
beinahe. Er hat Bilder für die Angste, die die Menschheits-
geschichte beherrschen. Irgendwann lösen sich auch diese
30 Bilder im allgemeinen Funktionieren auf und verschwinden.
Dies ist die Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts, die
Erfahrung von Josef K. im „Prozess“. Die erste Hälfte des
Anhang 07 _

Premiere des „Woyzeck‘“ am 21.11.93 im Kleinen Haus in Düsseldorf.


Links Bernd Grawert als Franz Woyzeck, rechts Dieter Prochnow als
Hauptmann.
(Foto: Sonja Rothweiler)

Jahrhunderts: Funktionieren als Schock, die zweite Hälfte


friedlicher. Erst hard core, dann soft ware.
Woyzecks Leiden, und auch das der anderen Klein/Groß-
städter, ist diffus, Woyzecks Leiden gelangt nie zur Revolte,
gegen was auch’, und ist so ganz auf der Höhe unserer5
Zeit.
Gerade das Biedermeierliche ist das Moderne an „Woy-
zeck“. Im Provinznest Hessen-Darmstadt bildet sich die
durchrationalisierte Welt mit ihrem täglichen Einerlei
schon vor. Die Durchorganisierung der Welt ist biedermei- 0)
erliche Regression, die Welt wird wieder zum Dorf: Hes-
sen-Darmstadt, Bebra, Düsseldorf (Manager mit Spielzeug-
koffern, Doktoren mit Setzkästen).
Mittels der Sprache erwecken die Menschen den Anschein,
frei zu sein. Täten sie ohne ein Wort, was sie tun, man ı5
BR 108 Anhang

hielte sie für Roboter. Indem sie sprechen, täuschen sie


sich selber, wie sie die anderen täuschen: Sie künden an,
was sie ausführen werden — wie kann man da denken, dass
sie nicht Herren ihrer Taten sind. (E. M. Cioran)
s In einer Zeit, in der Sprache zum beliebigen Geplapper ge-
ronnen ist, ist Büchners „Woyzeck“ ein Fremdkörper,
noch Vorstufe des Geplappers, d. h. Bewusstsein des Ver-
lusts, — dies gilt für alle Figuren. Hier entsteht (noch!) je-
der Satz aus der physischen Notwendigkeit. Auch hierin ist
ıo Büchner Materialist (Artaud!').
Aber was treibt die Körper an? Der Naturwissenschaftler
Büchner hat es untersucht, der Doktor sucht, die Philoso-
phie des Idealismus behauptet, die Religion glaubt, die Psy-
choanalyse erklärt — das Rätsel ist geblieben und der Hun-
ıs ger nach einer Antwort, die mehr ist als „Staub, Sand,
Dreck“.
Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schwei-
gen, sagt Wittgenstein. Geschwiegen wird viel im „Woy-
zeck“. (Wird nach dem Schweigen gesprochen, dann folgen
20 die Sätze niemals nach der Küchenpsychologie: | + | = 2.)
Die Zeit im Woyzeck ist doppelt leer: Als Melancholie des
Stillstands und als rasender Pulsschlag. Raserei und Still-
stand schließen sich nicht aus. Beides sind Ausdrucksfor-
men der Leere. [...]
25 Die Geschichte vom Woyzeck — eine Anti-Moritat. Das
Märchen der Großmutter — ein Anti-Märchen. Der Blick
ist kalt, die Erde ein „umgestürzter Hafen“. [...]
(Aus dem Programmheft zur Dimiter Gotscheff-Inszenierung von Büchners Woyzeck.
Düsseldorfer Schauspielhaus. Spielzeit 93/94)

I Frz. Dramatiker, ehedem im Surrealismus beheimatet, betreibt —


im Gegensatz zu Brecht — mit seinem Entwurf des „Theaters der
Grausamkeit“ und der Darstellung einer entfesselten Triebhaftig-
keit die Distanzaufhebung zwischen Bühne und Publikum. Das
Schockmoment ist zum theatralischen Mittel erhoben, der Körper
als das Zentrum aller Erfahrung ist wieder entdeckt. Das Ziel im
affektvollen Spiel ist die gleichsam rituelle, den Intellekt überstei-
gende und daher grenzensprengende wie horizonterweiternde
Kollektiverfahrung im Extrem.
Anhang 109 ur:

Maschine Woyzeck: Gotscheff skelettiert


Büchner in Düsseldorf
Langsam geht der Vorhang auf, die Free-Jazz-Musik aus
dem Hintergrund wird lauter. Die Bühne zeigt einen Exer-
zierplatz der Kommunikationslosigkeit. Einer tippelt auf
der Stelle, ein anderer radelt auf dem Rücken, der Haupt-
mann umarmt die Luft, der Tambourmajor paradiert a

lächerlich, Woyzeck rasiert seinen Vorgesetzten, Marie


spreizt die Beine, und ihr Kind ist ein rotes Kissen. Jeder
ist für sich allein, ruhelos im Stillstand.
Von zehn Stühlen aus setzen sich die Personen in Szene
oder beobachten, wenn sie nicht auftreten, von dort das ıo
Geschehen und kommentieren es stumm. Kahl und kalt ist
die Bühne von Achim Römer, „ein Stück faul Holz“ nur,
ohne Dekoration. Die Schauspieler sind ihr ausgeliefert,
keine Täuschungen und keine Tricks sind möglich. Alles
muss über die Figuren erzählt werden: armes Theater, aber m or

reich. Die Körpersprache ist exakt und ausdrucksvoll.


In der Inszenierung von Büchners Fragment, die Dimiter
Gotscheff am Düsseldorfer Schauspielhaus erarbeitet hat,
erregt Woyzeck kein Mitleid. Wie er den grauen Hut in die
Stirn zieht, gibt ihn Bernd Grawert, behände und athle- 0 187

tisch, auch als teutonischen Vetter von Arlecchino' ohne


Distanz zu sich selbst, doch nicht frei von Schwermut und
Hirnwut. Der Arzt, den Matthias Leja als glatt gescheitel-
ten Zwangsneurotiker spielt, behandelt ihn geradezu ehr-
fürchtig als Fall, nicht als Menschen. Und der Hauptmann, >5
den zu rasieren ihm Spaß macht, begegnet ihm in der Ge-
stalt von Dieter Prochnow als kumpelhafter Invalide. In
der Arbeit ist dieser Woyzeck noch am ehesten bei sich
selbst: Er. wird nicht geschunden, er schindet sich. Und
doch bewegt er sich nicht, er wird bewegt. Eine innere »
Mechanik treibt ihn. Rutscht er zu Marie und umarmt sie,
muss er auch schon wieder weg. Seine Beine stapfen be-
reits, bevor sie zu laufen beginnen. Woyzeckmaschine.

| Harlekin (ital.); im Typus unveränderbar bleibende und daher in


ihrem Aussehen, Gebaren und Handeln festgelegte komische Per-
son in der „commedia dell’arte“
EN, r 10 Anhang

Almut Zilcher als Marie, Paul Faßnacht als Tambourmajor


(Foto: Sonja Rothweiler)

Almut Zilcher macht die Marie, vital und aufbegehrend,


zur geheimen Hauptfigur. Ihre Zerrissenheit reicht am tiefs-
ten: geballt ihre Sinnlichkeit und wild ihre Sehnsucht. Was
die Bibel sagt und was ihr Körper will, lässt sich nicht ver-
{61} einbaren. Das Kind ist ihr ein Hindernis und eine Hoff-
nung. Nicht die Unfreiheit, die Woyzeck, von lichten Mo-
menten abgesehen, bewusstlos erleidet, die Freiheit ist ihr
Problem. Dabei hat sie keine Wahl. Denn der Tambourma-
jor, als der Paul Faßnacht daherstapft, ist, selbst wenn er
Gold statt Geld mitbringt, auch nur ein armes Würstchen:
„Ich bin klein, mein Herz ist rein“, singt er, als er sich ihr
nähert. Da hätte Marie auch bei Woyzeck bleiben können.
„Buden. Lichter. Volk“ ist gestrichen. Kein Leierkasten or-
gelt, kein kostümierter Affe und kein kopfschüttelnder
{37} Gaul treten auf, keine Kinder und keine Großmutter. Die
„Viehsiognomik“ ist allgegenwärtig, der Jahrmarkt überall,
Anhang 11] _

die Figuren zucken und stolpern als Marionetten ihres


Elends: Zirkus wird nicht vorgeführt, sondern findet statt.
Immer wieder überrascht die Aufführung, die, plastisch in
ihrem Zentrum, an den Rändern darstellerisch blasser
wird, mit ungewohnten Deutungen. Der Mord als bestes a
Beispiel. Zum ersten Mal haben Woyzeck und Marie Zeit
füreinander, doch statt zusammenzukommen, verwachsen
sie zu einer Maschine, die ihre Körper gegeneinanderwirft
[..:]-. Ob Woyzeck nur Marie oder sich selbst oder beide ıo
tötet, ist lange offen. Doch nur Marie bleibt liegen, und
der Idiot Karl, den Werner Wölbern zum Gnom verdüs-
tert, der das Geschehen stumm umschleicht, zieht die
Quintessenz, indem er das Kind erwürgt: der Mord als ein ıs
Akt der Humanität. Verkehrte Welt.
Am Ende fallen die Figuren in die isolierten Aktivitäten des
Anfangs. Das Leben hat sie wieder. Nichts hat sich verän-
dert. Die Regie skelettiert das Stück, ohne es zu simplifi- 20
zieren. Selten wirkte es so bohrend und so bedrohlich.
(Andreas Rossmann)

(Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.11.93)


MIET 112 _Anhang

8. Wandlungen: Vom ‚„Woyzeck‘ zum


„Wozzeck‘“ - Die Oper

Nicht nur auf der Theaterbühne ist Büchners Drama großer Er-
folg beschieden. Als Oper hat es in der Musik Maßstäbe gesetzt
und gilt als kongeniale Umsetzung des Dramas in ein anderes
Medium.

Alban Berg über die Oper „Wozzeck“


or Abgesehen von dem Wunsch, gute Musik zu machen, den
geistigen Gehalt von Büchners unsterblichem Drama auch
musikalisch zu erfüllen, seine dichterische Sprache in eine
musikalische umzusetzen, schwebte mir [...] nichts anderes
vor, als dem Theater zu geben, was des Theaters ist, das
o heißt also, die Musik so zu gestalten, dass sie sich ihrer
Verpflichtung, dem Drama zu dienen, in jedem Augenblick
bewusst ist — ja weitergehend: dass sie alles, was dieses
Drama zur Umsetzung in die Wirklichkeit der Bretter be-
darf, aus sich heraus allein herausholt, damit schon vom
Komponisten alle wesentlichen Aufgaben eines idealen Re-
gisseurs fordernd.
(Aus: Alban Berg: Das Opernproblem. In: Csampai, Attila/Holland, Dietmar (Hg.): Alban
Berg:Wozzeck. Texte, Materialien, Kommentare. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1985,
5. 154)

Leben(s)Werk: Alban Berg und „Wozzeck“


Wien ist die Stadt, in der Alban Maria Johannes Berg am
9.2.1885 das Licht der Welt erblickt und in der er Jahre
später 1935 kurz vor Heilig Abend verstirbt. Er ist Sohn
des Nürnberger Kaufmanns Conrad, der 1867 nach
Österreich einwanderte, und der Wienerin Johanna Maria
Anna Braun. Nach einer kurzen Beamtenlaufbahn wendet
sich Alban Berg ganz dem schöpferischen Schaffen zu. 1904
wird er Schüler von Arnold Schönberg und bleibt dies bis
25 ins Jahr 1910; bis zu seinem Tod ist er ihm freundschaftlich
verbunden. Erste öffentliche Aufführungen kleinerer Werke
Anhang 113 __

sind datiert auf die


Jahre 1907 und 1908.
Berg heiratet im Jahr
1911 Helene Nahows-
ki und verdient ihren
gemeinsamen Leben-
sunterhalt durch
Kompositionsunter-
richt sowie durch das
Verfertigen von Kla-
vierauszügen.
Im Mai des Jahres
1914 erlebt er - ein
Jahr nach der Urauf-
führung des Dramen-
fragments von Büch-
ner — eine Aufführung
von „Woyzeck“ und
trägt sich seitdem mit
dem Gedanken, das Alban Berg 20

Dramenfragment zu vertonen. (Suddeutscher: Verlag)


Der erste Weltkrieg, den Alban Berg als Soldat in Ungarn
erlebt, unterbricht diese Überlegungen. Erst 1924 und drei
Jahre nach Vollendung der Oper gelangen einige Bruch-
stücke zur Aufführung. Der Erfolg ist sensationell, der Na- 25
me Alban Berg fortan in aller Munde. Wieder allerdings
muss ein Jahr vergehen, bis das ganze Werk aufgeführt
wird. Bis zum Jahr 1936 wird die Oper über Europas
Grenzen hinaus in 29 Städten allein 166-mal aufgeführt
und so ein Welterfolg. Berg komponiert, immer unter fi- :
nanziellen Zwängen stehend, nach Fertigstellung des „Woz-
zeck“ weitere Werke, so die „lyrische Suite“, das „Violin-
konzert“,.eine Auftragsarbeit, und die nach der Textvorlage
von Wedekind („Erdgeist“, „Die Büchse der Pandora“) 35
komponierte Oper „Lulu“, die allerdings infolge des frühen
Todes von Alban Berg von ihm selbst nicht vollendet wird.
Am 23.12.35, kurz vor Mitternacht, verstirbt Alban Berg in
einem Krankenhaus an den Folgen einer Sepsis'. 40

| Blutvergiftung
= ,174 Anhang

„Wozzeck“, nicht „Woyzeck“ heißt die Oper, und die un-


terschiedliche Namensgebung gründet darin, dass Alban
Berg mit der Textausgabe in der Szenenzusammenstellung
von Paul Landau gearbeitet hat, die irrtümlicherweise mit
5 „Wozzeck“ überschrieben ist. Landau wiederum bezieht
sich auf die Gesamtausgabe von Karl Emil Franzos aus dem
Jahre 1879, der den Namen — Büchners Fragment war
schwer zu lesen - schlicht falsch übertrug. Von den 25
Szenen strich Alban Berg neun und zog zwei weitere zu ei-
ıo ner zusammen, sodass die Oper aus 15 Szenen besteht,
die über drei Akte zu je fünf Szenen verteilt sind. Berg
nahm bei den verbleibenden Szenen Texteingriffe vor, ver-
kürzte und verknappte. Auch wurde die Zahl der Perso-
nen reduziert, so beispielsweise wenn Margret an die Stel-
ıs le von Käthe, der Wirtin und der Bauern tritt und deren
Worte spricht. Ähnliches gilt für Andres wie auch für den
Doktor und den Hauptmann. Auch ihnen werden Worte in
den Mund gelegt, die anderen zugedacht waren. Insgesamt
erfährt so das dramatische büchnerische Werk „Woyzeck“
20 eine weitere Verdichtung und wird die Oper „Wozzeck“
eines der großen Musikwerke des 20. Jahrhunderts.

TheodorW. Adorno: Zur Charakteristik des


Wozzeck (1958/68)

Im Fall des Wozzeck, wo der Anspruch des musikalischen


Werkes dem des literarischen gleicht, dem es sich an-
schließt, ist über das Verhältnis der beiden Gebilde nachzu-
»s denken. Musik könnte solcher Dichtung gegenüber über-
flüssig erscheinen, bloße Wiederholung von deren eigenem
hintergründigen Gehalt, von dem, was sie zur Dichtung
macht. Um zu begreifen, was Bergs unendlich ausgearbeite-
te Oper mit dem absichtsvoll skizzenhaften Fragment Büch-
so ners eigentlich zu tun hat; was die beiden der ästhetischen
Okonomie nach zusammenbrachte, wird man wohl daran
sich erinnern müssen, dass zwischen der Dichtung und der
Komposition einhundert Jahre liegen. Das von Berg Kom-
ponierte ist nichts anderes, als was während der vielen
ss Jahrzehnte der Vergessenheit in Büchner heranreifte. Die
Musik, von der es getroffen wird, hat dabei insgeheim pole-
Anhang 115 __

mischen Zug. Sie spricht: So fremd, so wahr, so menschlich


wie ich selber bin, ist das, was ihr vergessen, was ihr nie
auch nur erfahren habt, und indem ich es euch vorstelle,
lobe ich dies andere. Die Oper Wozzeck meint eine Revi-
sion der Geschichte, in welcher Geschichte zugleich mitge- 5
dacht wird; die Moderne der Musik hebt die des Buches
hervor, eben weil es alt ist und sein Tag ihm vorenthalten
ward. So wie Büchner dem gequälten, wirren und in seiner
menschlichen Entmenschlichung über alle Person hinaus
objektiven Soldaten Wozzeck Gerechtigkeit widerfahren ıo
ließ, so will die Komposition Gerechtigkeit für die Dich-
tung. Die leidenschaftliche Sorgfalt, mit der sie gleichsam
das letzte Komma in ihrer Textur bedenkt, bringt ans Licht,
wie geschlossen das Offene, wie vollendet das Unvollende-
te bei Büchner ist. Das ist ihre Funktion, nicht die der psy- ı5
chologischen Untermalung, nicht Stimmung oder Impres-
sion, obwohl sie Elemente von alldem nicht verschmäht,
sobald es gilt, das Verschüttete des Werks ins Licht zu
rücken. [...] Dies mehr an Gehalt, dies Ausgesparte offen-
bar zu machen — dafür ist die Musik im Wozzeck da. [..]
Vielleicht ist es die tiefste Paradoxie der Wozzeck-Partitur,
dass sie musikalische Autonomie erlangt, nicht indem sie dem
Wort opponiert, sondern als rettende diesem hörig folgt.
Die wagnerische Forderung, das Orchester solle das Drama
bis in die letzten Verästelungen mitvollziehen und damit zur
Symphonie werden, verwirklicht der Wozzeck, und das end-
lich tilgt den Schein von Formlosigkeit im Musikdrama.
(Aus: Theodor W. Adorno: Zur Charakteristik des Wozzeck. In: Gesammelte Schriften,
hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und
Klaus Schultz, Bd. 13: Die musikalischen Monographien, 4. Aufl., Frankfurt/M.: Suhr-
kamp 1996, S. 428-433)

Das Volkslied im ‚„Wozzeck‘“: Tonale Inseln in


einer atonalen Welt des Klanges'
„Wozzeck“ ist eine Übertragung des Dramas vom gesprochenen
Wort auf die musikalische Ebene. Uber die Erkenntnis vom to-
| Die dargelegten Gedanken gründen z. T. in den Ausführungen Alban
Bergs zu seiner Oper und denen Peter Petersens (siehe Literaturver-
zeichnis).
116 _Anhang

nalen Ursprung des Volksliedes kann der Bogen zum Drama


und damit zu den darin handelnden Personen gezogen werden.
Die Oper „Wozzeck“ ist eine atonale Oper. Sie klingt
manchem Ohr, das gewöhnlich schlager-, popmusik- aber
a auch klassisch geschult ist, fremd und dissonant, weil die
traditionellen Tongeschlechter Dur und Moll’, die vom
Klangcharakter häufig verkürzt mit fröhlich einerseits und
andererseits mit traurig gleichgesetzt werden, durchsetzt
werden mit tonleiterfremden Tönen. Das vertraute Sche-
eno ma von fröhlich, traurig greift hier nicht mehr. Und auch das
dem Ohr harmonisch Gefällige ist damit verklungen und
verstummt.
Trotz der Atonalität gibt es in der Oper Inseln der Tona-
lität. So werden innerhalb des atonalen Geschehens u. a.
en die Volkslieder
oa
in einem tonalen Umfeld belassen. Sei es
nun das Soldatenlied oder das Wiegenlied, das Marie singt,
Wozzecks Moritat vom ermordeten Wirtshaustöchterlein,
das Lied von der Dienstmagd, das Margreth intoniert,
oder eben auch das Jägerlied von Andres (I. Akt, 2. Sze-
(@) ne), auf das im Folgenden näher eingegangen wird. In allen
Liedern bleiben die volkstümlichen Elemente, die das
Volkslied im Einzelnen auszeichnen, in ihrer Grundstruktur
bestehen.
Die Oper zeigt Woyzeck und Andres, wie sie vor der Stadt
{67}
auf einem Feld Stöcke schneiden. Woyzeck versucht An-
dres gegenüber seine Angste zu artikulieren. Andres, der
Woyzecks Angste nicht begreifen kann, versucht diesen
mittels eines Volksliedes, dem Lied von der schönen Jäge-
rei, zu beruhigen.
©
Gleich zu Beginn wird die Quart?, die hier als Auftaktquart
zu finden ist und als das „volkstümlichste“ Intervall gilt,
eingeführt und kennzeichnet damit das Wesen des folgen-
den Liedes. Im weiteren Verlauf wird die Quart gegen En-

| Diese beiden Tongeschlechter, die uns so natürlich und dabei als


ewig gegeben scheinen, sind noch recht jung. Erst im 17. Jahrhun-
dert verdrängten sie die bis dahin üblichen Kirchentonarten.
Zur Erinnerung: Der Tusch beim Karneval, der nach jedem Witz
das Publikum daran erinnert, wo es zu lachen hat, ist Ergebnis ei-
nes Quantintervalls.
Anhang 117

de der zweiten Textzeile von der Trompete aufgegriffen


und im Folgenden vom ganzen Orchester übernommen,
das mit dem Quartsprung auf die zweite Strophe überlei-
tet. Berg versucht eine „Sphäre des Volkstümlichen“ zu
schaffen, indem er innerhalb des atonalen Feldes Quartin- or

tervalle — also konsonant klingende Intervalle — benutzt


und die Intervalle der Ganztonskala. Er spricht in diesem
Zusammenhang von einer „leicht fasslichen Primitivität“,
die das Volkslied in melodischer, harmonischer wie auch
rhythmischer Hinsicht erfüllt. 10
Was für die Quart gesagt wurde, dass sie als volkstümli-
ches Element angesehen wird, gilt gleichermaßen für die
Ganztonleiter'. Innerhalb des Volksliedes „Das ist die schö-
ne Jägerei“ ist sie beispielsweise in den Takten | und 2 wie
auch in den Takten 6 und 7 feststellbar. 15
Vergegenwärtigt man sich die Personen, die im Drama und
in der Oper die Volkslieder singen, so ist ersichtlich, dass
sie allesamt Angehörige des untersten Standes sind. Marie,
Woyzeck, Andres und der Tambourmajor bedienen sich alle
ohne Ausnahme des Volksliedes. Das Genre des Volksliedes 20
wird des Weiteren von ihren Standesgenossen benutzt, so
zum einen vom Chor der Burschen und Soldaten, wie auch
von den Kindern im Reigenlied. „Das Volkslied dient dem
Volk als Mittel, seiner Gefühlswelt Ausdruck zu verleihen“,
schreibt Alban Berg. Nach dem „Aesthetischen Lexikon“ 5
von Ignaz Jeitteles aus dem Jahre 1837 ist es zu definieren
als „das im Volk lebende, aus Sinn, Sitten, Geschichte und
Sprache desselben eigentümlich hervorgegangene Lied, den
es behandelt als: Tanz-, Wiegen-, Trink-, Hirten-, Jäger-,
Fischerlied etc. [...]. In diesen Klängen und Weisen ist die w {=}

Hauptsache: Wahrheit, Innigkeit und Lebendigkeit des Ge-


dankens, Leichtigkeit und Gemeinfasslichkeit des Aus-
druckes, minder die Vollendung der Form.“ Das Volkslied
erfüllt das unbewusste Streben des Menschen, über alte Er-
fahrungen und Weisheiten Bestätigung für das aktuell geleb- w 5

te Leben zu erhalten. Das Volkslied gibt eine ungefähre

| Beispiel: Die Textzeile „Horch, was kommt von draußen rein“ ist musika-
lisch fast gänzlich aus Ganztönen gebildet. Der Schritt von: „kommt“
zu „von“ bildet mit einem Halbtonschritt allerdings eine Ausnahme.
2171 & Anhang

Analogie der gelebten Lebensumstände wieder und erfüllt


somit die Funktion einer Schablone, die vom Einzelnen mit
Leben gefüllt werden kann. Es stellt praktisch eine über-
kommene Ordnung zur Verfügung, die aber, der Begriff der
oa Schablone verrät es schon, eine starre ist und im Grunde
keine Antworten mehr bietet in einer Zeit, in der gesell-
schaftlich alles in Bewegung geraten ist. Dem Volk bleibt es
so verwehrt, die zwar unbewusst richtig erkannten Analo-
gien auf seine reale Lebenssituation zu beziehen. In Zeiten
des Umbruchs erweist sich diese Statik als pathologisch, da
in ihr Überzeugungen ausgedrückt sind, die den gegebenen
gesellschaftlichen Erfordernissen nicht mehr adäquat sind.
Das Beispiel des Andres zeigt, dass er unbewusst ein Lied
gewählt hat, welches die Situation von Woyzeck und An-
eran dres bildlich beschreibt. Er wie Woyzeck sind aber nicht in
der Lage, diese Bilder auf ihre Lebenssituation zu übertra-
gen. So versteht Woyzeck Andres nicht und Andres ist sich
seiner treffenden Analogie zum gelebten Leben selbst nicht
bewusst. Was bleibt, sind Erkenntnisansätze, die beide
IS}S eher noch mehr verunsichern. Andres begegnet so Woy-
zecks Angsten mit dem ihm vertrauten dreistrophigen Jä-
gerlied. Nach jeder Strophe wird er von Woyzeck unter-
brochen. Gerade diese Unterbrechungen verstärken die
bedrohliche Situation. Die Bedrohung, die Woyzeck und
Andres fühlen, könnte kaum stärker vermittelt werden als
durch die Gegenüberstellung der düsteren Visionen Woy-
zecks und des lustigen Volkslieds „Das ist die schöne Jäge-
rei“. Das Tonale im Lied ist für Andres gleichsam das Be-
kannte und Vertraute. Rhythmus, Melodik wie Harmonik
= =) bieten ihm gleichfalls Rückhalt. Je mehr Woyzeck von sei-
nen Angsten preisgibt, umso mehr zieht sich Andres auf
diese Grundstrukturen zurück. Unter diesem Aspekt ist
auch Bergs Regieanweisung zu sehen, dass sich Andres zu
Beginn der zweiten Strophe in Positur stellen und dann
s losschmettern soll. Gerade diese Überzeichnung verdeut-
licht Andres Unsicherheit und seinen Versuch, sich auf die
ihm bekannten Werte zurückzuziehen. Bergs Volkslied ist

| Verzierung einer Gesangsstimme. Beispiel: Mozart (Zauberflöte):


Koloraturarie der Königin der Nacht
Anhang 119 __

ein Koloraturlied! und so ist die Koloratur in der zweiten


Strophe, das Umspielen der eigentlichen Melodie in |6tel-
Noten, als ein Rückbesinnen auf das überkommene Wer-
tesystem zu interpretieren. Möglich wird das, weil gerade
mittels dieser Koloratur der Rhythmus noch stärker auf5
das Metrum bezogen und gefestigt wird. Gleichfalls wird
der 6/8-Takt noch stärker betont. All diese Faktoren bele-
gen, dass die Koloratur nicht zu einer Bereicherung des
Liedes führt. Im Gegenteil, Andres’ Singen führt vielmehr
zu einer strukturellen Verarmung. Diese Ansammlung von ıo
I6tel-Noten, die im Grunde immer nur die Hauptstufen
betonen, erscheinen im übertragenen Sinne, aufgrund des
Mangels an Ausdrucksmöglichkeiten, als eine Wiederho-
lung des Immergleichen. Der pathologische Zustand verfes-
tigt sich. _ 15
Andres’ Überzeugungsversuche scheitern. Vielmehr sieht
er sich von Woyzecks Angsten selbst übermannt. Die drit-
te Strophe stellt einen letzten, nicht überzeugenden Ver-
such dar, die eigene Unbekümmertheit zurückzugewinnen.
Die Koloratur, die der zweiten Strophe einen gleichsam in- IS))
sistierenden Charakter verlieh, wird wieder aufgegeben.
Die unterschiedliche Gestaltung der drei Strophen des Jä-
gerliedes veranschaulicht zugleich Bergs Grundeinstellung,
dass nichts im Leben so wiederkehrt, wie es einmal war.
„Variieren“ und nochmals „variieren“ lautete Bergs Forde- >5
rung an sich und seine Schüler. So ist es auch verständlich,
dass die drei Strophen des Jägerliedes in immer veränder-
ter Gestalt gebracht werden. Ahneln sich auch die erste
und die dritte Strophe des Jägerliedes, so erscheint die
dritte Strophe aufgrund der eigenen Unruhe des Andres ) w

hektisch gesteigert.
Die weiteren Volksliedeinlagen in der Oper dokumentie-
ren die Sprachlosigkeit des Volkes, zeigen, dass Problemen
mit schablonenhaften, unflexiblen Antworten begegnet
wird. Eu
In Ergänzung und zum Abschluss: Zu den Ausdrucksmög-
lichkeiten des einfachen Volkes gesellt sich neben das
Volkslied auch das Märchen, das gleichsam tonal ausgestal-
tet ist und dem Volk Lehrwerk ist. Zum Sprachreservoir
des Volkes gehören des Weiteren die Worte der Bibel, die «
20 Anhang

autoritativ wirken und Gesagtem das nötige Gewicht ver-


leihen. Im Gegensatz zu Volkslied und Märchen sind die
Bibelzitate des Büchnerischen Dramas in der Oper aber
nicht tonal, sondern atonal auskomponiert worden. Führt
s man sich vor Augen, dass Volkslied und Märchen über lan-
ge Zeiten im Volk gewachsene und überlieferte Formen
sind, die Bibel und ihre Inhalte aber ein an das Volk von
außen über Kirche und Schule herangetragenes Gut sind,
so ist auch erklärlich, dass Berg diese vom Volk als „geho-
ıo bene Sprache“ genutzten Bibelzitate atonal umgesetzt hat.
Die Tonalität als Stilmittel in der atonalen Oper macht für
Berg ihren Sinn, wenn bedacht wird, dass sein Verhältnis
zur Tonalität ein nostalgisches war, was heißt, dass die To-
nalität für Berg einer längst vergangenen Epoche ent-
ıs stammte, die in ihrer Entwicklung abgeschlossen war und
somit auch nicht zukunftsweisend sein konnte. So wie die
Tonalität nach Berg keiner Entwicklung mehr fähig ist, so
können darin ausgedrückte Lebensweisheiten einem Volk
keine lebensrelevanten Aussagen mehr bieten und keine
20 Richtung mehr anzeigen. Die Tonalität kann bestenfalls mit
ihren konsonanten Klangerlebnissen Erinnerungen wecken,
Trost spenden und von Vergangenem erzählen; Projek-
tionskraft hat sie nicht mehr. Die alleinige Besinnung auf
die Tradition bedingt nicht nur den Stillstand, sondern den
2s Rückschritt, der katastrophale Folgen zeitigen kann, denn
eine sich weiter ausdifferenzierende, komplexe Realität be-
darf der Orientierungsmuster, die sich komplex schreiben
und so selbstbewusst voranschreiten lassen.
anhang 72]...

9. Literatur

Primärliteratur
Alban Berg: Georg Büchners Wozzeck. Oper in drei Akten (15
Szenen). Klavierauszug mit Gesang. UE 7382
Alban Berg: Wozzeck. Texte, Materialien, Kommentare. Mit
einem Essay von Ulrich Dibelius. Zusammengestellt von
Attila Csampai und Dietmar Holland. Reinbek bei Ham-
burg 1985.
Alban Berg: Der ‚Wozzeck‘-Vortrag von 1929. In: Csampai,
Attila/Holland, Dietmar (Hg.): Alban Berg. Wozzeck. Tex-
te, Materialien, Kommentare, Reinbek bei Hamburg
1985.
Alban Berg: Die Stimme in der Oper (1929). In: Csampai, At-
tila/Holland, Dietmar (Hg.): Alban Berg. Wozzeck. Tex-
te, Materialien, Kommentare, Reinbek bei Hamburg
1985
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Georg Büchner, Ludwig Weidig: Der hessische Landbote. Tex-
te, Briefe, Prozeßakten. Kommentiert von Hans Magnus
Enzensberger. Frankfurt am Main 1974.

Sekundärliteratur
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klärung. FrankfurYM. 1985.
Adorno, Theodor W.: Eine Oper des realen ‚Humanismus‘. In:
Csampai, Attila/Holland, Dietmar (Hg.): Alban Berg:
Wozzeck. Texte, Materialien, Kommentare. Reinbek bei
Hamburg 1983.
Adorno, Theodor W.: Zur Charakteristik des Wozzeck. In:
Csampai, Attila/Holland, Dietmar (Hg.): Alban Berg:
Wozzeck. Texte, Materialien, Kommentare. Reinbek bei
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Arnold, Heinz Ludwig/Sinemus, Volker (Hg.): Grundzüge der
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12 7 Literatur

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Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch. Mün-
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Ullmann, Bo: Produktive Rezeption ohne Mißverständnis. In: Fi-
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1 24 Literatur

Werner, Michael/Espagne, Michel: Alexander Büchner. In: Ge-


org Büchner Ausstellungsgesellschaft (Hg.): Georg Büch-
ner: 1813-1837; Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler
(Katalog der Ausstellung Mathildenhöhe, Darmstadt,
2.08.-27.09.87).
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N 978-3-14-0223 2
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