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Michael Kreutz
Aladdin Sarhan Hrsg.
Reformation
im Islam
Perspektiven und Grenzen
Reformation im Islam
Jörgen Erik Klußmann · Michael Kreutz ·
Aladdin Sarhan
(Hrsg.)
Reformation im Islam
Perspektiven und Grenzen
Hrsg.
Jörgen Erik Klußmann Michael Kreutz
Evangelische Akademie im Rheinland Bochum, Deutschland
Bonn, Deutschland
Aladdin Sarhan
Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz
Mainz, Deutschland
Springer VS
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Aladdin Sarhan, Jörgen Erik Klußmann und Michael Kreutz
V
VI Inhaltsverzeichnis
VII
VIII Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis
Autorenverzeichnis
Fünfhundert Jahre Reformation ist ein Jubiläum mit einer Menge an historischem
Gepäck, dessen Auswertung und Einordnung bis heute andauert. Seit der vor ein-
hundert Jahren erschienenen Studie des Juristen Georg Jellinek, in der ihr Ver-
fasser die Ursprünge der Menschenrechtsidee als „Frucht der Reformation und
ihrer Kämpfe“ identifizierte, gibt es eine anhaltende Debatte über die Bedeutung
der Reformation für die Moderne. Der Zusatz „… und ihrer Kämpfe“ macht
deutlich, dass Jellinek einen dialektischen Prozess meinte, an dessen Ende die
Menschenrechte standen, wie auch die Institutionen, die sie verkörpern.
Damals war dies noch nicht so deutlich wie heute, weswegen Jellinek an die
Forschergemeinde appellierte, das Augenmerk verstärkt auf die Entstehungs-
geschichte gesellschaftlicher Institutionen und nicht auf die blosse Rezeptions-
geschichte philosophischer Ideen zu legen. Jellinek selbst hat übrigens darauf
hingewiesen, dass die Reformation ältere Rechtsvorstellungen aufgegriffen hat,
„die niemals entschlummert waren“ und von ihr nur „in neue Bahnen gelenkt“
wurden. Das gilt vor allem für die älteren Naturrechtsdebatten, in denen sich
schon ein Gegensatz von göttlichem und weltlichem Recht abzeichnete.
A. Sarhan (*)
Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz, Deutschland
E-Mail: aladdin@sarhan-online.de
J. E. Klußmann
Evangelische Akademie im Rheinland, Bonn, Deutschland
E-Mail: joergen.klussmann@akademie.ekir.de
M. Kreutz
Bochum, Deutschland
E-Mail: kontakt@michaelkreutz.net
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J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_1
2 A. Sarhan et al.
Dabei ist die Frage nach einer Reformation im Islam ein wiederkehrendes
Thema seit mindestens dem 19. Jahrhundert, als progressiven Muslime,
angespornt von der politischen und gesellschaftlichen Fortschrittlichkeit Frank-
reichs und Großbritanniens, ihre eigene Kultur daran anpassen wollten, wie
dies auch im übrigen Europa der Fall war, wo modernistische bzw. reforme-
rische Kräfte nach bürgerlichen Rechten, nationaler Staatlichkeit und demo-
kratischer Teilhabe strebten. Diese Kräfte waren überwiegend säkular. Der
islamische Modernismus hat sich damit begnügt, solche Errungenschaften, die
man bewunderte, für die eigene Religion zu beanspruchen, ohne sich um die
gesellschaftlichen Voraussetzungen zu kümmern, die jene erst möglich gemacht
haben. Der geschichtliche Aspekt moderner Errungenschaften tritt hinter ihrer
vermeintlichen Islamizität zurück.
Natürlich ist die europäische Reformation kein normatives Modell, das es um
seiner selbst willen auf die islamische Welt zu übertragen gelte, aber der Wunsch
nach Anschluss an die Länder des Westens ist unter fortschrittlichen Muslimen
ungebrochen. Freilich hat die Religionskritik, von wenigen bemerkenswerten
Ausnahmen abgesehen, noch keinen Eingang in die mehrheitlich muslimischen
Gesellschaften gefunden. Hier wird Vernunft noch immer als Magd der Theologie
gesehen, die dieser zu dienen hat. Demgegenüber ist die westliche Religionskritik
im Windschatten der Reformation entstanden.
Dessen ungeachtet gibt es in den muslimischen Ländern den Ruf nach Ver-
änderung sozialer und politischer Natur. Wer diesen Ruf unterstützt, hat oft auch
eine Form von Reformation des Islam vor Augen. Der tunesische Jurist Mohamed
Charfi hat schon vor mehr als zehn Jahren die muslimischen Gesellschaften dazu
aufgerufen, gegen die Verlockungen des religiösen Extremismus eine Reform des
Bildungswesens einzuleiten, die nicht nur mit dem Islam in Einklang steht, son-
dern diesen auch verändert und aus dem Islam einen Bildungsislam macht. Hier
wirkt allerdings die Furcht mit hinein, jede noch so geringe Reformanstrengung
werde den Islam seiner selbst entfremden.
Kann es also im Islam eine Reformation als Antwort auf die vielfältigen Kri-
sen in den muslimischen Gemeinschaften geben? Was wären Anknüpfungspunkte
und Hindernisse für eine kritische Revision islamischer Traditionsbestände?
Darüber haben muslimische und christliche Wissenschaftler und Wissen-
schaftlerinnen im Rahmen eines gemeinsamen Symposiums am 7. und 8. Oktober
2016 in Düsseldorf diskutiert. Veranstalter waren der Arbeitskreis „Gesellschaft-
licher Friede und innere Sicherheit in Deutschland: Muslime und Nichtmuslime
im Dialog“ im Muslimischen Forum Deutschland (MFD), die Evangeli-
sche Akademie im Rheinland und die Konrad-Adenauer-Stiftung (Politisches
Bildungsforum NRW). Im Vorfeld des 500-jährigen Reformationsjubiläums der
Einleitung 3
evangelischen Kirchen gingen die Teilnehmenden den Fragen nach dem Verhält-
nis von Vernunft, Spiritualität und religiös legitimiertem Recht, von Gott und
Mensch und von Islam und Islamismus nach.
Ob und wie eine tief greifende Reform – oder in Anlehnung an den Protestantis-
mus eine Reformation – im Islam möglich ist, wird je nach religiösem, politischem
oder ideologischem Standpunkt sehr unterschiedlich gesehen. Dass der Islam eine
solche Reformation brauche, wird von Integrationspolitikern in öffentlichen Debat-
ten immer wieder eingefordert. Nach Einschätzung von Mouhanad Khorchide,
dem Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster,
streiten viele Muslime solch eine Notwendigkeit ab. Eine Reform-Notwendig-
keit einzuräumen, impliziert für sie, dass der Islam defizitär sei. Allerdings geht
es dem Münsteraner Theologen und Sprecher des Muslimischen Forum Deutsch-
land (MFD) zufolge gar nicht darum, die Grundlagen des Islam zur Disposition
zu stellen. Vielmehr müsse das Verständnis des Islam einer kritischen Revision
unterzogen werden. Versteht man den Koran dialogisch, spiegelt er den Prozess
einer 22-jährigen Kommunikation zwischen Gott und Muḥammad samt dessen
Gemeinde wider. Gott lässt den Menschen zu Wort kommen. Das brauchen wir
auch heute, wenn wir innerislamisch von einer Reform sprechen.
Der Historiker Jörn Rüsen hält es in seinem Beitrag für möglich, dass sich
eine Art „Kultur-Islam“ in Anlehnung an den Kultur-Protestantismus entwickeln
könnte. Dieser „Kultur-Islam“ könne ein Gegengewicht zu einem fundamenta-
listischen Islam-Verständnis bilden. Dass er über das Potenzial zu einem solchen
Humanismus verfügt, hat der Islam mehrfach in der Geschichte gezeigt. Dafür
müssen Muslime allerdings das Verhältnis zwischen Glauben, Säkularität und
kulturellem Pluralismus neu bestimmen, und zwar mit dem Ziel einer religiösen
Affirmation des kulturellen Säkularismus. Die etablierte religiöse Autorität muss
durch einen Subjektivierungsschub der gläubigen Menschen außer Kraft gesetzt,
sprich: verstärkt an das Individuum gebunden werden. Dies ist das Programm des
Humanismus und des Säkularismus.
In diese Richtung geht auch der Beitrag von Mona Abuzaid von der Uni-
versität Kairo, die die Realisierung eines islamischen Humanismus für mög-
lich hält, verfügt der Mensch im Islam doch über die volle Freiheit des Willens
und der Überzeugung. Indem jeder Mensch in direkter Beziehung zum Heiligen
steht, ist im Islam ein humanistisches Potenzial vorhanden, das auch Eingang in
die islamischen Kulturen fand, doch hat der Begriff „Humanismus“ generell an
Strahlkraft verloren, nachdem er die Schrecken des 20. Jahrhunderts nicht hat
verhindern können.
Der Islam- und Politikwissenschaftler Marwan Abou Taam, ebenfalls
MFD-Mitglied, mahnt eine Art „Hausputz in der islamischen Theologie“ an.
Dazu ist es nötig, die Werke islamischer Theologen auf ihre Relevanz für die
4 A. Sarhan et al.
Mouhanad Khorchide
Wie allgemein bekannt, feiern wir in diesem Jahr 500 Jahre Reformations-
jubiläum, also 500 Jahre Luther. Da fragen sich viele: Und wie sieht es im Islam
aus? Gibt es überhaupt Reformen im Islam? Wie würden diese aussehen und was
muss genau reformiert werden? Es gibt viele Politiker, Journalisten aber auch
Islamkritiker, die sich ständig in der öffentlichen Debatte melden und meinen,
genau zu wissen was im Islam reformiert gehört. Allerdings kommunizieren viele
den Islam sehr plakativ und meist aus einer stark subjektiven Wahrnehmung her-
aus. Immer wieder wird der Anspruch an die Muslime gestellt: „In den meisten
islamischen Ländern gibt es keine Demokratie, keine Menschenrechte und vie-
les mehr. Dies alles muss dringend reformiert werden damit ihr Muslime auch
so wie wir Europäer werdet: Länder mit demokratischen Grundwerten.“ Auch die
Frage nach der Gleichberechtigung der Geschlechter kommt immer wieder in sol-
chen Debatten vor. Das sind unter anderem die typischen Fragestellungen. Auch
bezüglich der Frage des Verhältnisses des Islams zu anderen Religionen wird
sehr oft kontrovers debattiert. Viele, gerade Islamkritiker wie Hamed Abdel-Sa-
mad, meinen, der Islam sei statisch und daher keineswegs reformierbar. Viele fra-
gen nicht, was sich im Islam reformieren soll, sondern, ob der Islam überhaupt
reformierbar ist.
Thomas Bauer, Islamwissenschaftler an der Universität Münster, hat 2011
ein differenziertes Buch geschrieben: Die Kultur der Ambiguität mit dem Unter-
titel: Eine andere Geschichte des Islams. In diesem Buch zeigt er die Bandbreite
an unterschiedlichen Auslegungen und die Vielfalt der islamischen Positionen,
M. Khorchide (*)
Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland
E-Mail: khorchide@uni-muenster.de
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J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_2
10 M. Khorchide
in religiösen Fragen gesehen hat. Die Vernunft alleine ist in der Lage, Gott zu
erkennen sowie zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, die Offenbarung erinnert
nur an das, was die Vernunft ohnehin erkennen kann.
Daher vertraten die Muʿtaziliten die Ansicht, dass Menschen auch dann zur
Rechenschaft vor Gott gezogen werden, wenn sie nie einem Propheten begegnet
sind oder nie eine Offenbarung oder eine Religion kennengelernt haben. Denn
alleine durch die Vernunft hätte man ja wissen können und sollen, dass es den
einen Gott gebe und dass sich der Mensch verantwortungsvoll verhalten soll. Die
muʿtazilitische Schule vertrat fünf andere Glaubenssätze des Islams als die sechs,
die wir heute im sunnitischen Islam kennen. Im 9. Jhd. hat die Mehrheit der Mus-
lime im damaligen abbasidischen Kalifat andere Glaubensgrundsätze kommuni-
ziert, als diejenigen, die wir heute kommunizieren. Dies zeigt, dass die islamische
Ideengeschichte eine Dynamik auch infragen der Grundsätze des Islams kennt.
Die interessante Frage ist jetzt die folgende: Was war und ist der Hauptmotor
dieser Reformen in der islamischen Ideengeschichte sowie in der Gegenwart des
Islams? Der Motor des Wandels, der Reform, kam in all den angeführten Bei-
spielen nicht primär aus einem theologischen Diskurs. Es sind ja nicht die
Theologen in Saudi-Arabien, die sich zusammengesetzt und gemeint haben,
wir müssen die Frage nach dem Autofahren für Frauen kritisch reflektieren
oder zumindest neu erörtern. Auch waren es nicht die muslimischen Gelehrten
in Tunesien oder damals im 9. Jahrhundert, die den Anstoß zu den Reformen
gaben. In Saudi-Arabien hat sich die Situation im September geändert, weil der
König ein Dekret erlassen hat. Via Dekret hat der König angeordnet, dass ab jetzt
Frauen Auto fahren dürfen. In Tunesien war es der Staatspräsident Sebsi, der in
seiner Rede Ende August angeordnet hat, muslimischen Frauen die Heirat von
nichtmuslimischen Männern zu erlauben. Daraufhin hat das Parlament dies ver-
abschiedet. Danach erst hatte der Großmufti des Landes auch ganz klar öffentlich
verkündet: „Ja, wir als Muftiamt meinen, dass es im Islam erlaubt ist, dass musli-
mische Frauen nicht-muslimische Männer heiraten dürfen.“
Wie kam es überhaupt im 9. Jhd. dazu, dass die muʿtazilitische Schule sich so
schnell etabliert hat? Der Kalif al-Ma’mūn (gest. 833) hat sich damals von den
rationalen Überlegungen der muʿtazilitischen Schule begeistern lassen und so hat
er deren Grundsätze zum Staatsdoktrin erklärt. Daraufhin kam es zu der ersten
innerislamischen Inquisition. Denn die Gegner der mu‘tazilitischen Schule wur-
den verfolgt und zum Teil gefoltert. Mit anderen Worten, damals wie heute war
und ist es die Politik, die den Anstoß zur Reform gab. Es waren nicht primär die
theologischen oder religiösen Diskurse, die eine Notwendigkeit für Veränderung
eingesehen haben bzw. die die Macht besaßen, diese Veränderungen durchzu-
setzen. Die Politik hatte und hat die Macht über die religiösen Diskurse, die offi-
zielle Theologie folgt der Politik.
12 M. Khorchide
Wenn wir heute über Islam und Reform sprechen, dann dürfen wir das nicht
allein im luftleeren Raum reflektieren. Die ganze Frage rund um die Reform des
Islams ist nicht unabhängig von den politischen Entwicklungen zu erörtern, wie
die Beispiele oben gezeigt haben. Man darf nicht einfach die Theologen heraus-
fordern und den Anspruch an sie stellen: „Liebe Theologen, setzt euch zusammen
und reformiert den Islam.“ So wird das nicht funktionieren. Es mag sein, dass es
Theologen gibt, die gute Ideen haben, aber das reicht nicht für eine Reform.
Ägypten ist bestrebt, einiges in der Theologie zu reformieren. Der Rektor der
Universität Kairo sagte mir kürzlich im persönlichen Gespräch, dass sie drin-
gend Reformen benötigen. Man darf hier nicht sehr euphorisch sein, denn die
angestrebten Reformen sind auch nur Ausdruck einer bestimmten politischen Ent-
wicklung. Es handelt sich also um Reformen von oben. Echte Reformen müssen
allerdings von einer breiten Basis getragen werden. Hier sind wir nun mitten in
der Frage, was im Islam reformiert werden soll. Die Theologie muss sich von der
politischen Instrumentalisierung loslösen. Sie braucht ihre eigene wissenschaftliche
Sphäre und ihre eigenen Räume, um sich möglichst reflexiv zu entfalten. Muslime,
ob Theologen oder auch normale Gläubige, sollten Subjekte ihrer Religion sein und
nicht als Objekte der Geschichte wahrgenommen werden. Was ist damit gemeint?
Objekt der Religion zu sein bedeutet Abhängigkeit von der Politik, denn diese
verändert immer, was gerade in ihrem Sinne ist. Somit wird das ganze System
„Religion“ nur funktionalisiert, im Sinne der Politik, oder um gewisse politische
Ansprüche zu legitimieren. Die Menschen, auch die Theologen, sind in vielen
islamischen Ländern Marionetten dieses politischen Willens, ob bewusst oder
unbewusst. Aber sie spielen mit, sie sind keine Subjekte, die in Freiheit die theo-
logischen Reflexionen anstoßen. Sondern sie stehen politischen Vorgaben gegen-
über und versuchen, diese einfach nur religiös zu begründen. Das Ziel bzw. das
Ergebnis theologischer Bemühungen steht schon zu Beginn der theologischen
Auseinandersetzung fest. Somit sind die Menschen Objekte und nicht wirklich
Subjekte der Geschichte. Dadurch wird Gott ein Objekt der Politik, weil auch
Gott vereinnahmt wird. Man denke an den sogenannten politischen Islam oder
Islamismus. Das ist eine andere Debatte, aber dort werden auch im Namen der
Religion, im Namen des Heiligen, politische Interessen zu begründen versucht.
Reform beginnt mit dem Subjektwerden des Menschen, sodass der Mensch
nicht mehr Objekt der Politik oder überhaupt Objekt des Geschehens ist, sondern
selber Subjekt, das sich selbst bestimmt. In anderen Worten ausgedrückt: Das
„Gott-Mensch-Verhältnis“ in modernen Freiheitskategorien zu denken, wäre der
erste notwendige Schritt einer islamischen Reform. Man denke auch an die Über-
legungen von Fichte oder Schilling und später in deren Tradition Hermann Krings
und Thomas Pröpper, die für die katholische Theologie fruchtbar gemacht wur-
den, um eben das Subjektwerden des religiösen Menschen in den Vordergrund
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 13
zu stellen. Der Islam benötigt genau eine Reform in diese Richtung. Dabei geht
es, wie gesagt, nicht nur um das Subjektwerden des Theologen, sondern auch des
Menschen als solchem. Im folgenden sollen, vereinfacht auf epistemischer Ebene,
aber auch etwas plakativ, zwei unterschiedliche Zugänge zum Islam gezeigt wer-
den. Das oben Geschilderte soll so theologisch reflektiert werden und zwar jen-
seits politischer Debatten.
Nach dem einen Zugang zum Islam ist der religiöse Mensch ein Objekt der
Religion und nach dem anderen ist er ein Subjekt der Religion. Hiermit soll der
erste Zugang zum Verstehen des Islam als monologischer, der zweite als dialo-
gischer Zugang bezeichnet werden. Diese Unterscheidung ist eine idealtypische,
denn in Wirklichkeit gibt es nicht den einen und den anderen Zugang, sondern
Mischformen, die allerdings in die eine oder in die andere Richtung tendieren.
Diese Unterscheidung lässt sich anhand der Frage des Gottesbildes im Islam
vornehmen: Von welchem Gottesbild gehen wir Muslime aus? An welchen Gott
glauben wir?
Man kann vereinfacht sagen, dass wir nach dem monologischen Modell an
einen Gott glauben, der die Menschen deshalb erschaffen hat, weil er angebetet
werden und durch die Menschen verherrlicht werden will. Gott geht es nach die-
sem Verständnis um sich selbst. Also ein Gott, der die Menschen funktionalisiert
oder sogar instrumentalisiert, um etwas zu bekommen, was er für sich haben will
und für sich „braucht“. Und deshalb erschuf er die Menschen und befahl ihnen,
sie mögen ihn auf eine bestimmte Art und Weise anbeten. Wer dies tut, mache
Gott glücklich und wird im Jenseits dafür belohnt. Wer dies nicht tut, macht
Gott zornig und wird deshalb im Jenseits bestraft. Das heißt, nach diesem mono-
logischen Verständnis von der Religion geht es Gott nur um sich selbst.
Der monologische Zugang geht von einem Gottesbild aus, wo Gott nur von
sich selbst redet und es ihm um ihn geht. Er wird zornig, wenn er nicht das
bekommt, was er für sich haben will und freut sich, wenn er das bekommt, was
er für sich haben will. Religion wäre nichts anderes als ein Medium der Ver-
herrlichung dieses Gottes, also eine Ansammlung an Instruktionen oder eine Art
Bedienungsanleitung, wie Gott verherrlicht und angebetet werden will. Religion
hat demnach eine Funktion. Es geht letztendlich um Gott. Der Mensch taucht
nach diesem Modell, wie gesagt, als Objekt der Religion auf und nicht als Sub-
jekt. Er hat eine klare Funktion. „Du bist hier um Gott zu verherrlichen, damit es
Gott gut geht und nicht zornig wird.“ Der Mensch wird, wie gesagt, stark funk-
tionalisiert und er bestimmt sich nicht selbst, sondern er ist fremdbestimmt. Das
„Gott-Mensch-Verhältnis“ basiert nach diesem Verständnis eher auf Gehorsam,
auf Unterwerfung gegenüber Gott. Es ist ein einseitiges Verhältnis.
Man kann das mit einem Pfeil veranschaulichen, der von oben nach unten
geht, wobei Gott oben ist und die Menschen unten sind. Die Offenbarung, sprich
14 M. Khorchide
der Koran, wäre nach diesem Verständnis nichts anderes als eine Ansammlung
von Instruktionen und Gesetzen, wie Gott verherrlicht werden will. Es geht
immer nur um Gott. Das ist, zugegeben, etwas zugespitzt dargestellt, aber so soll
die Idee klarer werden. Es dürfte wohl auch keine Gläubigen geben, die meinen,
an einen Gott zu glauben, dem es um sich selbst geht, der durch den Menschen
verherrlicht werden will. Allerdings gibt es viele Gläubige, die in ihrer religiösen
Praxis eher unbewusst von so einem Gottesbild ausgehen. Wenn zum Beispiel ein
Gläubiger meint: „Ich habe heute mein Frühgebet versäumt und deshalb ist Gott
zornig, weil ich ihn nicht angebetet habe“, dann unterstellt man Gott ungewollt,
dass er nicht in sich vollkommen ist und erst auf unser Anbeten angewiesen ist,
um verherrlicht und vollkommen zu werden. Dies wird Gott jedoch nicht gerecht.
Religion erscheint nach diesem monologischen Zugang zum Islam als Art
Ansammlung an Gesetzen und Instruktionen wie Gott verherrlicht werden will.
Der Islam wäre demnach eine Gesetzesreligion und der Koran ein Monolog Got-
tes, als hätte Gott also in der Ewigkeit, unabhängig von einem historischen Kon-
text, gesprochen und Anweisungen festgelegt, wie er verherrlicht werden will und
deshalb müssten wir uns heute an die Instruktionen und den Wortlaut des Korans
halten, ohne eine historische Kontextualisierung des koranischen Wortes in sei-
nem Verkündigungskontext im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel
anzustreben, ansonsten würden wir Gott zornig machen.
Schon aus theologischen Gründen gibt es ein Problem mit diesem mono-
logischen Modell, also nicht aus irgendwelchen (integrations-)politischen Grün-
den bzw. auch Gründen der Political Correctness. Wir haben im Islam wie auch
im Christentum oder Judentum diese Formel, nämlich, dass Gott immer größer
ist als gedacht werden kann. Egal was wir über Gott denken, Gott bleibt immer
größer. Dies ist eine rationale Formel, die den Theologen immer hilft, um zu wis-
sen, ob sie von Gott sprechen oder ob sie Dinge in Gott hineinprojizieren, die
womöglich mit Gott nichts oder wenig zu tun haben. Gott ist größer als gedacht
werden kann, weil Gott das Unbedingte ist und der Mensch das Bedingte. Das
Bedingte kann das Unbedingte nicht erfassen. In den drei monotheistischen Reli-
gionen würden die Theologen sagen: „Wir können Gott nicht begreifen, wir kön-
nen ihn nicht erfassen.“ Es wäre ja eine häretische Aussage: „Ich habe Gott jetzt
verstanden, begriffen und erfasst“. Oder wie manche Fundamentalisten meinen:
„Ich bin im Besitz der absoluten Wahrheit“, im Sinne von, ich bin im Besitz Got-
tes, denn Gott ist ja die absolute Wahrheit, er bleibt unerreichbar, die absolute
Wahrheit bleibt auch unerreichbar.
Wir können sagen, dass man sich Gott in Demut annähern kann. Man bleibt
aber lebenslang ein nach der Wahrheit, nach Gott, Suchender. Diese Formel
beschützt uns wie gesagt, davor, in Gott Dinge zu projizieren, die er nicht ist. Nun
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 15
die Frage: Kann ich einen Gott denken, der größer ist, als von demjenigen Gott
von dem das monologische Modell ausgeht? Kann ich einen Gott denken, der
die Menschen nicht deshalb erschafft, weil er verherrlicht werden will? Kann ich
einen Gott denken, dem es nicht um sich selbst geht? Mit anderen Worten aus-
gedrückt: Kann ich einen Gott denken, der in sich vollkommen ist und nicht auf
meine Anbetung oder Verherrlichung angewiesen ist, um zu seiner Vollkommen-
heit zu gelangen?
Die Antwort ist ein klares Ja! Denn ein Gott, der in sich vollkommen ist, ist
größer als gedacht werden kann und dieses vollkommene Gottesbild ist der Rede
von Gott viel gerechter, als die Rede von einem Gott, dem etwas fehlt und der
auf mich angewiesen ist. Ein in sich vollkommener Gott braucht mich nicht. Er
schenkt vielmehr bedingungslos. Und das ist die Antwort des anderen Modells,
des anderen Zugangs zum Islam nach dem dialogischen Modell: Gott hat die
Menschen aus seiner bedingungslosen Liebe und Barmherzigkeit erschaffen.
Diese Vorstellung ist auch rational nachvollziehbarer, weil sie der Rede von
einem vollkommenen Gott gerecht wird. Ein Gott, der einfach bedingungslos
schenken und geben will, ist einer, der den Menschen bedingungslos zugewandt
ist. Deshalb erschuf er die Menschen und nicht, um verherrlicht oder angebetet
zu werden. Es ist also ein völlig anderes Gottesbild, das dem dialogischen Modell
zugrunde liegt. Bedingungslos geben ist eine Beschreibung von Liebe. Liebe,
die keinen Vertrag in dem Sinne eingeht, wonach jemand nur etwas gibt, wenn
er etwas dafür bekommt, sondern man gibt bedingungslos, steht seinen Mit-
menschen bedingungslos zur Verfügung. Es geht um das Gute, weil es gut ist,
nicht weil man in opportunistischer Hinsicht etwas davon hat oder bekommt.
Nach diesem dialogischen Gottesbild will Gott nichts von dem Men-
schen, sondern nur bedingungslos geben. Und diese Kategorie der Liebe als
Bestimmungsmoment der Beziehung zwischen Gott und Mensch ist eine genuin
koranische Kategorie. Viele meinen, wenn sie mich von Gott und der Liebe reden
hören, dass sich dies christlich anhört. Manche Muslime sagen: „Das ist eine
christliche Vorstellung, dass Gott liebt, unsere islamische Vorstellung von Gott ist
die, dass er will, dass wir Menschen uns vor ihm unterwerfen, da geht es nicht um
Liebe“. Daher sei auf diese koranische Beschreibung der Gott-Mensch-Beziehung
als Liebesbeziehung verwiesen. Leider wird die Kategorie der Liebe von man-
chen als Schwäche Gottes assoziiert. Sie meinen, ein Gott, der Mitliebende sucht,
sei ein schwacher Gott, weil er eben Emotionen zeigen würde, auch ein Gott, der
Mitleid und Empathie zeigt, sei ein schwacher Gott.
Aber gerade im Blick auf die Passion Gottes angesichts seines Ausgesetztseins
unter den Menschen ergeben sich bei einer Koranlektüre aufregende Befunde,
auf die in seiner Weise bereits der australische Jesuit Daniel Madigan (2003)
16 M. Khorchide
Man kann aus dieser Reaktion des Korans auf die Zurückweisung des
Angebots Gottes kein unmittelbares Zeugnis für das Leiden Gottes ableiten,
aber diese Reaktion zeigt doch, dass wir im Koran keinem gleichgültigen Gott
begegnen, den es unberührt lässt, wie sich die Menschen zu seinem Wort ver-
halten. Die göttlichen Zeichen (āyāt), mit denen die Menschen zu Gott gerufen
werden, sind Ausdruck göttlicher Emotionalität, die der Koran mit der Milde
und Barmherzigkeit Gottes beschreibt, um die Menschen auf den Weg Gottes zu
bringen: „Er ist es, der auf seinen Knecht klare Verse herniedersandte, um euch
herauszuführen aus der Finsternis zum Licht. Siehe, Gott ist zu euch wahrhaft
gütig, barmherzig“ (Q 57:9).
Eben diese Barmherzigkeit können wir als eine Macht in Gott bestimmen,
die sein Innerstes in Mitleidenschaft zieht und so Gottes Präsenz in der Not der
Gottferne deutlich macht. Und wenn es um die Armen und Bedürftigen geht,
dann identifiziert sich Gott mit ihrem Leid, er bittet sogar für sich selbst um
eine Spende bzw. ein Darlehen: „Wer ist es, der Gott ein schönes Darlehen gibt,
damit er es ihm bestimmt. Reicher Lohn ist ihm verdoppele? Reicher Lohn ist
ihm bestimmt. Siehe, die Frauen und die Männer, die Almosen geben und Gott
ein schönes Darlehen gewährten, denen wird doppelt gegeben, und ihnen ist
reicher Lohn bestimmt“ (Q 57:11.18). Dies erklärt die sich im Koran wieder-
holende ermahnende Botschaft, gütig zu den Waisen und Bedürftigen zu sein
(vgl. Q 93:9–10; 89:17–18). Wer die Waisen zurückstößt und nicht zur Speisung
des Armen anhält, der glaube nicht an die Begegnung mit Gott (vgl. Q 107:1–3).
Auch im Koran gibt es also Indizien dafür, dass wir Gott vor allem im Leidenden
und im Bedürftigen begegnen.
Die drastischen Strafen, mit denen Gott immer wieder droht, dürfen nicht als
Ausdruck von Gottes Brutalität und Gewaltbereitschaft gelesen werden, son-
dern zeigen die Radikalität und die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen um den
Menschen. Sie sollen den von Gott abgewandten Menschen nicht verdammen,
sondern ihn eindringlich zu einem neuen Lebenswandel rufen – einem Lebens-
wandel, der Gott ins Zentrum seines Lebens rückt und auf dieser Basis soli-
darisch mit den Menschen ist, die unsere Hilfe brauchen. In diesem Sinne
interpretiert al-Ġazālī (gest. 1111) das im Koran beschriebene Paradies bzw. die
Hölle (al-Ġazzālī und Gramlich 1984). Die endgültige Glückseligkeit (den wah-
ren paradiesischen Zustand) sieht er in der Nähe zu Gott, also in dem Gelangen
in seine Gegenwart. Hingegen sei der wahre Zustand der Hölle die Trennung
von Gott. Al-Ġazālī spricht vom „Feuer der Trennung“. Die koranischen Bilder
vom Paradies und von Höllenstrafen stellen für al-Ġazālī lediglich Gleichnisse
dar, die diese beiden Zustände der Nähe bzw. Ferne von Gott beschreiben wol-
len. Nach diesem Verständnis al-Ġazālīs beginnt die Hölle als Zustand schon hier
auf der Erde, wenn sich der Mensch für Hass und Hochmut und gegen Liebe und
Barmherzigkeit entscheidet.
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 19
Der Koran spricht an vielen Stellen von göttlichen positiven wie negativen
Emotionen: So liebt Gott nicht die Leugner (Q 3:32), die widerrechtlich handeln
(Q 2:190); er liebt nicht die Hochmütigen (Q 4:36), die Verräter (Q 8:58) und die
Unheilstifter (Q 28:77). All diese Verse nehmen bestimmte Handlungen des Men-
schen aufs Korn und drücken aus, dass Gott Menschen, die diese Handlungen tun,
insofern sie diese Handlungen tun, nicht liebt. Seine Liebe findet offenbar ihre
Grenze an der menschlichen Ablehnung. Daraus folgt keine Begrenzung Gottes
oder seiner Liebe, sondern nur der Selbstausschluss des Menschen von dieser Liebe,
den Gott in diesem Sich-Verschließen nicht liebt. Gott will also Resonanz auf sein
Zugehen auf den Menschen und macht sich in seiner Zuwendung gewissermaßen
von der menschlichen Antwort abhängig. Er überschüttet den Menschen nicht blind
mit seiner Liebe, sondern kommt ihm dialogbereit und einladend entgegen.
Dazu passt, dass der Koran bezeugt, dass Gott die Gütigen liebt (Q 2:195).
Gott liebt diejenigen, die Reue zeigen und sich läutern (Q 2:222), die Frommen
(Q 3:76), die Gerechtigkeit üben (Q 5:42). Damit ist nicht gemeint, dass Men-
schen sich die Liebe Gottes verdienen könnten oder müssten. Aber es wird
deutlich, dass Gott in ein wechselseitiges Freiheits- und Liebesverhältnis zum
Menschen eintreten will. Der Gelehrte Ibn Taimiyya nutzt ebenfalls diesen Vers,
um diejenigen Theologen zu kritisieren, die die Liebe Gottes lediglich im Sinne
seines Willens, gütig zu sein, interpretieren. Er beschreibt die Liebe als Eigen-
schaft der Vollkommenheit Gottes. Sie bilde den Kern und die Wurzel des Willens
Gottes. Daher sei die Erschaffung seiner Kreaturen aus einer von ihm gewollten
geliebten Veranlassung erfolgt.
Liebe ist also nicht nur koranisch, sondern auch in der korantreuen Schul-
theologie Ausgangspunkt der göttlichen Zugewandtheit und seiner Freiheits-
beziehung zum Menschen. Der Koran erklärt: Gott ist nah, er erhört den Ruf der
Rufenden (Q 2:186) und er begleitet die Menschen überall hier und jetzt (Q 57:4).
Als Moses und Aaron ihre Ängste vor der Begegnung mit dem Pharao geäußert
haben, sprach ein empathischer und mitfühlender Gott zu ihnen, um ihnen Mut
zu machen: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich bin mit euch, ich höre, und ich sehe“
(Q 20:46). Das Leiden des Menschen ist Gott eben nicht gleichgültig (Q 4:28).
Er weiß um die Schwächen des Menschen und ist deswegen stets bereit, ihm auf
seinem Weg zu unterstützen.
Zugleich führt diese Unterstützung nicht zur Entmündigung des Menschen
und entlässt ihn nicht aus seiner Verantwortung. Gott schenkt dem Menschen die
Freiheit; er hat sich selber dazu bestimmt, sich von den Menschen bestimmen
zu lassen, und so riskiert er eine entsprechend offene Geschichte mit ihnen. Ent-
sprechend bindet er die Verwirklichung seines guten Willens an das Mittun der
Menschen und lädt sie so ein, zu Mittätern seines guten Willens zu werden.
20 M. Khorchide
„Siehe, Gott ändert an seinem Volke nichts, ehe sie nicht ändern, was in ihren
Seelen ist“ (Q 13:11). Gott und Mensch befinden sich also in einem dialogischen
Verhältnis und Gott erweist sich als ein Gott, der auf die Anliegen der Menschen
reagiert und sie beständig wirkmächtig begleitet: „Ihn bittet, wer in den Himmeln
und auf Erden ist. Jeden Tag ist er am Wirken“ (Q 55:29).
Diese koranischen Befunde decken sich auch mit dem Bild, das der Prophet
Muḥammad in seiner Verkündigung vermittelte – eben das Bild eines persona-
len Gottes, der sich vom Menschen emotional bewegen lässt. Auch wenn der
Mensch sündigt, bleibt Gott dem Menschen zugewandt; denn seine Barmherzig-
keit ist bedingungslos und absolut. Deshalb sagt der Prophet Muḥammad: „Gott
streckt Arme der Liebe und Vergebung in der Nacht für diejenigen aus, die am
Tag gesündigt haben, und er streckt Arme der Liebe und Vergebung am Tag
für diejenigen aus, die in der Nacht gesündigt haben“. Dieses Bild eines barm-
herzigen Gott, der dem Menschen Hoffnung machen will, korrespondiert mit dem
Bild Gottes, das auch im Koran begegnet, wenn es dort heißt: „Sprich: ,Meine
Knechte, die ihr euch zu eurem Schaden übernommen habt: Verzweifelt nicht an
Gottes Barmherzigkeit! Siehe, Gott vergibt die Missetaten allesamt, siehe, er ist
es, der bereit ist zu vergeben, der Barmherzige‘“ (Q 39:53).
Auch für viele Hadithe gilt: Der Mensch ist es, der sich Gott verschließt, der
Mensch ist es, der Gott den Rücken zudreht, nicht aber Gott dem Menschen. Von
daher soll die Rede von Emotionalität in Gott nicht seine Treue und Beständig-
keit infrage stellen. In einer anderen Aussage des Propheten Muḥammad wird die
Freude Gottes über jeden, der sich ihm wieder zuwendet, bildhaft beschrieben:
„Stellt euch vor, jemand ist alleine in der Wüste mit seinem Kamel unterwegs und
plötzlich läuft das Kamel mit all seinem Essen und Trinken davon. Als der Mann
es aufgibt, sein Kamel wieder zu finden und sich resignierend, auf den Tod war-
tend, auf den Boden legt, steht plötzlich sein Kamel mit Essen und Wasser neben
ihm. Stellt euch die Freude dieses Menschen vor! So freut Gott sich über jeden,
der sich von ihm ab- und wieder zugewandt hat, mehr als dieser Mensch in der
Wüste über das Kamel“.
Es ist interessant, wie in dieser prophetischen Überlieferung das biblische
Bild von der Zuwendung Gottes zum Menschen radikalisiert wird. Geht im Evan-
gelium Gott als guter Hirte dem einen verlorenen Schaf nach, um es zur Herde
zurückzubringen (Lk 15,3–7), obwohl noch 99 andere Schafe zu seiner Ver-
fügung stehen, und freut sich der barmherzige Vater des Evangeliums über die
Rückkehr des verlorenen Sohnes, obwohl sein anderer Sohn ja immer bei ihm ist
(Lk 15,11–32), radikalisiert Muḥammad die verwendete Bildsprache. Gott hat
hier nur den einen Menschen, auf den er sich verlässt und dessen Rückkehr ihm
neue Hoffnung bringt. Es gibt eben nur das eine Kamel, und dieses Kamel ist
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 21
für seinen Besitzer lebensnotwendig. So braucht Gott jeden von uns, um seinen
guten Willen Wirklichkeit werden zu lassen, und er verlässt sich auf uns – in letz-
ter Radikalität.
Dieses Sich-Verlassen Gottes auf uns bedeutet aber nicht, dass er uns alleine
lässt. Vielmehr beantwortet er auch den kleinsten Schritt von uns auf ihn zu mit
seiner übergroßen Barmherzigkeit und Liebe. So heißt es in einem weiteren
Hadith: „Gott, der Erhabene, sagt: ‚Ich bin, wie mein Diener es von mir annimmt.
Und ich bin mit ihm, wenn er meiner gedenkt. Gedenkt er meiner in seinem Inne-
ren, gedenke ich seiner in meinem Inneren. Gedenkt er meiner in einer Gruppe,
gedenke ich seiner in einer besseren Gruppe. Nähert er sich mir um eine Hand-
breit, nähere ich mich ihm um eine Elle. Nähert er sich mir um eine Elle, nähere
ich mich ihm um einen Klafter. Kommt er mir gehend entgegen, komme ich ihm
laufend entgegen.‘“ Dieser Hadith macht deutlich, wie sehr Gott ein reziprokes
Verhältnis zum Menschen eingeht, zugleich aber eine grundlegende Asymmetrie
in diesem Verhältnis liegt. Gott bleibt immer der Barmherzigere, weil er als der
absolut Liebende aus seinen unendlichen Möglichkeiten immer neue Chancen für
den Menschen kreiert und seine Möglichkeiten je neu weitet.
Wendet man diese Verhältnisbestimmung soteriologisch, so wird klar, dass
es aus muslimischer Sicht keine Rettung des Menschen an seiner Freiheit vor-
bei gibt. Gott entlässt den Menschen an keiner Stelle aus seiner Verantwortung.
Hier gibt es keinen stellvertretenden Dienst, der den Menschen ersetzen könnte.
Aber zugleich ist Gott vom Leiden des Menschen betroffen. Er wirbt um den
Menschen, indem er sich in seiner Verletzlichkeit und Schwäche zeigt. Diese
„Schwäche für den Menschen“ wird sicherlich erst deutlich, wenn wir den Koran
in seiner performativen Gestalt als Selbstoffenbarung Gottes ernst nehmen. Aber
wenn wir dies tun, wird immer wieder deutlich, wie sehr sich Gott dem Men-
schen aussetzt und sich von ihm bewegen lässt.
Das heißt, dass das dialogische Modell der Gott-Mensch-Beziehung kein auf-
gesetztes Modell ist. Manche Muslime meinen an dieser Stelle, dass der Koran
davon spricht, dass Gott gedient werden will und deshalb hat er den Menschen
erschaffen, sie berufen sich auf die koranische Aussage, wonach Gott die Men-
schen erschaffen habe, um ihm zu dienen (Q 51:56). Der Koran lässt das aller-
dings so nicht stehen. Denn der Satz geht ja weiter: Es heißt nicht nur, „ich [Gott]
habe den Menschen erschaffen, um mir zu dienen“, sondern der nächste Vers 57
sagt, „Ich brauche aber von den Menschen weder, dass sie mir etwas zum Essen
geben, noch brauche ich etwas von den Menschen. Gott ist der Allmächtige“.
Unter „Gottesdienst“ oder Gott dienen darf somit nicht missverstanden werden,
dass Gott unsere Dienste für sich benötigt, Gottesdienst ist vielmehr ein Dienst an
Gottes Schöpfung.
22 M. Khorchide
Es ist nicht Gott, der unmittelbar in die Welt eingreift, um zum Beispiel die
Hungersnot selbst zu beseitigen, sondern es sind die Menschen, die diese Inten-
tion Gottes verwirklichen. Das heißt, dass der Mensch nach diesem dialogi-
schen Modell, anders als nach dem monologischen Menschenbild, nicht Objekt
der Religion und passiver Empfänger von Instruktionen ist. Der Mensch ist hier
Subjekt der Geschichte. Er ist „Partner“ Gottes. Man kann sagen, dass Gott die
Welt so erschaffen hat, dass er auf die Kooperation des Menschen „angewiesen“
ist, um seine Intention nach Liebe und Barmherzigkeit Wirklichkeit werden
zu lassen. Gott ist allerdings nicht im ontologischen Sinne auf den Menschen
angewiesen. Er hat die Welt auf diese Weise erschaffen, um die Freiheit des Men-
schen nicht einzuschränken, er würde nicht unmittelbar in die Welt korrigierend
eingreifen. Wenn Gott die Menschen aber in ein Liebesverhältnis einlädt, muss er
ihre Freiheit respektieren. Denn Freiheit ist anthropologisch gesehen das Gesetz
der Liebe, und ohne Freiheit kann sich auch keine aufrichtige Liebe zu Gott ent-
wickeln. Etwas zugespitzt kann man deswegen sagen, dass Gott den Menschen
gerade deshalb Propheten und ihre Botschaften geschickt hat, weil er sie in dieses
Liebesverhältnis einladen will.
Wenn die Freiheit des Menschen bewahrt und geschützt werden soll, dann
wird Gott in der Welt nur auf eine Art und Weise eingreifen, die diese Freiheit
nicht zerstört. Daher nimmt Gott die Freiheit des Menschen in Anspruch, um Frei-
heit zu ermöglichen. Es ist an erster Stelle der Mensch, der Gottes Intention nach
Liebe und Barmherzigkeit realisiert und zu einer erfahrbaren Wirklichkeit hier
und jetzt umsetzt. Darin liegt die höchste Würdigung des Menschen. Er ist Gottes
Partner, in der koranischen Sprache Kalif, um die göttliche Intention Wirklichkeit
werden zu lassen. Daher darf man göttliches und menschliches Handeln nicht in
ein Konkurrenzverhältnis zueinander setzen. Im Gegenteil gilt: Je mehr sich der
Mensch für die Freisetzung von Freiheit einsetzt, desto mehr wird die Intention
Gottes realisiert. Der Einsatz des Menschen für die Freisetzung von Freiheit ver-
wirklicht sich in seinem Handeln im Sinne der Liebe und der Barmherzigkeit.
Beide müssen deshalb zum Selbstzweck menschlichen Handelns werden.
Die Gott-Mensch-Beziehung als Liebesbeziehung und somit als Freiheits-
beziehung aufzufassen, hat nun Konsequenzen für eine neue Bestimmung des
Allmacht-Begriffs: Kierkegaard definiert Allmacht wie folgt: „Das Höchste,
das überhaupt für ein Wesen getan werden kann, höher als alles, wozu einer es
machen kann, ist dies: es frei zu machen. Eben dazu, dies tun zu können, gehört
Allmacht“. Allmacht ist dieser Konzeption zufolge also mehr als unbegrenztes
„Alles-logisch-Mögliche-Tun-Können“. Der katholische Theologe Klaus von
Stosch (2018, S. 48) schreibt dazu: „Recht verstandene Allmacht kann keine
alles beherrschende und kontrollierende Super-Macht sein, sondern zeichnet sich
24 M. Khorchide
gerade durch die Erschaffung von Wesen aus, die selber mächtig sind und aus
dieser gewährten Macht heraus in ein Freiheitsverhältnis zu ihrem Schöpfer ein-
treten können. Wird die Allmacht aber gedacht als Macht des Hervorbringens des
von sich Unabhängigen, die zugleich die Macht hat, dieses Unabhängige für sich
zu gewinnen, kann Allmacht nur noch als Liebe bestimmt werden. Denn allein
die Liebe vermag Macht freizusetzen und in der Freisetzung für sich zu gewin-
nen. Gerade eine Liebe, die rückhaltloses Vertrauen verdient, weil sie eben reine
Liebe ist.“
Nur in der Liebe kann gedacht werden, dass die Hingabe und Selbstpreis-
gabe als Macht erfahrbar wird, die eben jede andere Macht positiv überbietet,
weil „sie das von sich Unabhängige noch einmal für sich zu gewinnen vermag.“
Liebe ist deswegen, wie der katholische Theologe Jürgen Werbick (2016, S. 407)
dies expliziert, „die Macht, über die hinaus eine größere, bessere Macht gar
nicht gedacht werden kann.“ Man kann eben nichts Größeres und nichts Mäch-
tigeres denken, als die Fähigkeit, ein Gegenüber zu völliger Eigenständigkeit zu
ermächtigen.
Dieser Machtbegriff ist ein dialogischer, der das Wirken Gottes in der Welt
ausschließlich mit Mitteln der Liebe begründet sieht. Hier bleiben keine Räume
mehr offen für absolute Machtansprüche im Sinne völliger Kontrolle der Men-
schen durch Gott oder durch eine politische Instanz. Sicherlich liegt in diesem
Verständnis von Gottes Allmacht auch ein überzeugender Ansatz, um auf die
berühmte Theodizee-Frage eine Antwort zu geben. Gerade Agnostiker und Athe-
isten oder Skeptiker, argumentieren religiösen Menschen gegenüber, egal ob
Juden, Christen oder Muslime, dass, wenn es einen allmächtigen Gott gibt, der
es gut meint mit uns Menschen, man fragen müsse, wieso er dann das Böse auf
der Welt zulässt. Aber bereits diese Frage impliziert eine Vorstellung von Gott
bzw. von Gottes Allmacht, dass dieser Gott unsere Freiheit nicht wirklich respek-
tiert, um immer wieder unmittelbar in der Welt korrigierend einzugreifen. Daher
fragen wir, warum Gott nicht eingreift, um Böses zu verhindern. Daraus leiten
viele Atheisten die Nichtexistenz Gottes ab. Man erwartet also einen Gott, der
unmittelbar korrigierend in der Welt eingreift, um zum Beispiel einen Autounfall
oder irgendetwas Böses in der Welt zu verhindern.
Man stelle sich vor, es wäre wirklich so, dass die monotheistischen Religionen
ein solches Gottesbild hätten, mit einem Gott, der immer eingreift. Das würde ja
implizieren, dass all diejenigen, die morgen einer Arbeit nachgehen oder etwas zu
erledigen haben, ruhig und getrost zu hause sitzen und das Leben genießen kön-
nen. Niemand müsste am Flughafen stundenlang warten müssen, um verspätet an
sein Ziel zu kommen. Denn Gott wird in all diesen und weiteren Fällen korrigie-
rend eingreifen. Wenn jemand einen Vortrag halten soll, könnte man nie wissen,
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 25
ob er nicht doch zu hause vor dem Fernseher geblieben ist und Gott eingegriffen
und jemanden anderen geschickt hat, der genauso aussieht wie der Vortragende,
damit nichts schiefläuft. Aber wenn das so wäre, dann wäre es Gott allein, der
selbst das Szenario schreibt und durchführt. Wir wären dann einfach Marionetten
der Geschichte. Unsere Existenz würde dann unserer Nichtexistenz gleichen. So
ein Gottesbild opfert die Freiheit des Menschen. Natürlich ist das in der Theo-
logie, gerade in der islamischen, noch ein offenes Thema.
Allmacht wird bis heute stark im Sinne des klassischen asch’aritischen Omni-
potenzgedankens aufgefasst. Dieses Allmachtsverständnis, das sich auch auf die
absolute Kontrolle menschlicher Handlungen durch Gottes Allmacht erstreckt,
wird allerdings von zeitgenössischen muslimischen Religionsphilosophen wie Ali
Mabrouk oder Zacharia Ibrahim stark zurückgewiesen. Deren Anliegen besteht
allerdings keineswegs darin, sich vom allmächtigen Gott zu verabschieden, denn
die Rede von der Allmacht Gottes (qudra) ist fest im Islam verankert und der
Name al-qādir (der Allmächtige) ist eine Wesenseigenschaft Gottes, mit der Gott
im Koran mehrfach beschrieben wird. Das Anliegen dieser Eigenschaft besteht
vielmehr darin, dem Menschen seine Freiheit zurückzugeben und die Religion
vor der politischen Instrumentalisierung zu schützen.
Ali Mabrouk sieht gerade im ašʿaritischen Denken eine Reproduktion von
autoritären Strukturen, die sich vor allem während der umayyadischen (661–750)
und abbasidischen (750–1250). Dynastien verfestigt haben: „Die Asch‛ariten
haben, wenn auch unbewusst, daran gearbeitet, eine autoritäre historische Epoche
zu etablieren und zwar durch ihren dogmatischen Entwurf, der dem Absolutheits-
denken unterworfen ist, sei dieser auf Gott oder auf die Politik zurückzuführen“.
Mabrouk erinnert hier an die ašʿaritische Antwort auf die Frage: Ist es Gott oder
der Mensch, der die Handlungen des Menschen hervorbringt? Für die Ašʿariten
war die Antwort eindeutig: nämlich Gott. Der Mensch eignet sich lediglich die
von Gott erschaffene Handlung an, aber auch diese Aktivität des Aneignens von
Handlungen ist selbst eine Handlung, die Gott erschafft. Mabrouk kommt zu dem
Schluss, dass der Mensch hier als Objekt der Geschichte erscheint. Er ist nicht
wirklich frei. Sein Verhältnis zu Gott basiere nicht auf Beziehung, sondern auf
absoluter Unterwerfung. Hier merkt Mabrouk an: „obwohl die Asch‛ariten die
Absicht hatten, die absolute Autorität Gottes zu bewahren, neben der keine wirk-
liche Existenz der Welt oder des Menschen Beachtung findet, führten ihre dog-
matischen Ausführungen, auch wenn vielleicht unbewusst, zur Bestätigung der
politischen Absolutheitsansprüche in einer Welt, die keine wirkliche Existenz
mehr kennen soll, außer für das Absolute, sei es Gott, oder ein Despot. Deshalb
wurde die Asch‛ariyya von ihren Anfängen an von den Machthabern als Staats-
doktrin favorisiert.“
26 M. Khorchide
Mabrouk spricht von nasaq, was wir mit Diskurs wiedergeben können. Der
theologische Diskurs rund um die Gottesvorstellung zeichne eine Welt, die leer
sei außer von Gott. Dieser theologische Diskurs opfere den Menschen und sein
Wirken in der Welt, um Gottes Souveränität zu bewahren. Dieser Vorstellung von
einem Gott, dem es um Autorität geht, steht Mabrouk skeptisch gegenüber. Er ruft
die Aussage Gottes zur Erinnerung: „Ich war ein verborgener Schatz und wollte
erkannt werden, deshalb habe ich die Menschen erschaffen“. Mabrouk merkt hier
an: „Nicht das Ausüben von Autorität über den Anderen stellt also den eigent-
lichen Kern des Verhältnisses Gottes zur Welt und zum Menschen dar, aber genau
dies ist es, was den Asch‛ariten nicht gelungen ist, zu verstehen. Sie haben Gott
als absolute Autorität präsentiert in einer Welt, in der der Mensch ohnmächtig
ist“. Mabrouk spricht hier von absoluten Strukturen. Diese erzeugen stets absolute
Autoritäten, die sich in Gott oder in einem Despoten widerspiegeln können.
Für die Ašʿariten gibt es keinen Platz für zwei Willen bzw. für zwei Frei-
heiten. Denn es gebe nur den einen einzigen absoluten Willen. Die Konsequenzen
waren gravierend: denn der Mensch hat kaum Platz mehr in dieser Welt, er ist
sogar auf einer ethischen Ebene nicht selbst in der Lage zu erkennen, was gut
und was schlecht für ihn ist, er ist auf die göttliche Anweisung angewiesen. Hier
haben die Aš‘ariten Vernunft und Offenbarung gegeneinander ausgespielt und
sich dann für die Offenbarung stark gemacht und dafür die Vernunft geopfert.
Demnach gehe die Entfaltung der Allmacht Gottes einher mit der Ohnmacht des
Menschen. Das geht bei den Ašʿariten soweit, dass sie z. B. das Ansteigen der
Preise auf dem Markt ausschließlich mit Gottes Eingreifen in der Welt begründen.
Am Ende resümiert Mabrouk, dass es unmöglich sei, zwischen dieser Vorstellung
einer ontologischen Unterwerfungsstruktur der Gott-Mensch-Beziehung und der
sozialen sowie politischen Vorstellung einer autoritär strukturierten Welt, die von
autoritären Regimen ferngesteuert wird, zu trennen.
Mabrouk beschreibt diese autoritären Strukturen als Produkt eines kollekti-
ven Bewusstseins. „Die asch‛aritischen Strukturen einer Absolutheit ist ein Pro-
dukt einer historischen Epoche und einer bestimmten sozialen Situation und stellt
keineswegs eine reine theologische Reflexion über den Absoluten dar. Die asch‛ari-
tische Denkstruktur liefert somit die ideologische Unterfütterung eines diktatori-
schen Staates der nur dann existieren kann, wenn der Mensch verdrängt wird …
deshalb blieben die Asch‛ariten stets die bevorzugten Denker der Regierenden.“
Der Koran wäre nach dem monologischen Verständnis ein Monolog Gottes.
Denn Gott habe in der Ewigkeit, unabhängig von einem historischen Kontext,
gesprochen. Wer heute den Koran nach dem monologischen Modell verstehen
will, der muss versuchen, nur das koranische Wort philologisch zu verstehen.
Es geht um die Umsetzung des Wortwörtlichen im Koran. Wenn man nach dem
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 27
d ialogischen Modell von einem personalen Gottesbild ausgeht, von einem Gott,
der auch in der Zeit mit dem Menschen kommuniziert, dann hat man ein Ver-
ständnis vom Koran als Dialog oder genauer gesagt: Er stellt eine Plattform der
Kommunikation zwischen verschiedensten Akteuren dar.
Um den Unterschied zwischen einer abgeschlossenen und einer offenen Kom-
munikation zu verdeutlichen, möge folgendes Beispiel dienen: Als ich meinem
damals achtjährigen Sohn gesagt habe: „Du bekommst eine Tafel Schokolade von
mir, wenn du deine Hausaufgabe schön schreibst“ war das für ihn ein Ansporn,
seine Aufgabe sorgfältig zu schreiben. Angenommen, er hätte diese Kommunika-
tion verschriftlicht, indem er in sein Tagebuch geschrieben hat: „Der Papa sagt:
‚wenn du eine schöne Arbeit schreibst, bekommst du von mir eine Tafel Schoko-
lade‘“ und angenommen, er hätte mit 24 Jahren seine Doktorarbeit geschrieben
und sich gefragt: „Was würde ich von meinem Vater bekommen, wenn ich eine
schöne Doktorarbeit schreiben würde?“. Er erinnert sich an sein Tagebuch, kramt
es hervor und liest, was ich ihm für eine sorgfältige Arbeit schenken werde: eine
Tafel Schokolade. Wie wird er den Satz verstehen? Wenn er ihn monologisch auf-
fasst, also unabhängig von der Lebenswelt des Adressaten (ursprünglich ein Kind
mit acht Jahren, das Schokolade liebt), wird er davon ausgehen, dass er von mir
auch für seine Doktorarbeit eine Tafel Schokolade bekommen wird. Versteht er
den Satz hingegen als Kommunikation, in der auch der Adressat selbst eine kons-
titutive Rolle spielt, dann wird er sich fragen: „Womit würde mein Vater mich
wohl heute motivieren, damit ich eine gute Doktorarbeit schreibe? Er kann mir
doch nicht im Ernst für diese Leistung eine Tafel Schokolade geben?!“.
Der Kontext hat sich geändert, die Lebenswirklichkeit, die Anforderungen.
Ähnliches gilt für unser Verständnis der Offenbarung des Korans. Wenn wir Mus-
lime wollen, dass der Koran einen Platz in unserem Leben hat, müssen wir ihn
mitnehmen und die ursprüngliche Kommunikation im Geiste fortschreiben. Wir
dürfen die Kommunikation mit Gott nicht abreißen lassen. Doch genau das wür-
den wir tun, wenn wir davon ausgingen, dass er im siebten Jahrhundert zum letz-
ten Mal zu uns gesprochen hat und die Offenbarung damit abgeschlossen sei. Die
Offenbarung als abgeschlossen zu verstehen, macht aus dem Koran ein statisches
Buch, in dem Gott Instruktionen verkündet hat, die literalistisch aufzufassen sind,
also wortwörtlich. Es bleibt kaum Raum für ein historisches Bewusstsein der Ver-
kündigung.
Die Offenbarung als offen zu verstehen, bedeutet hingegen, dass sich der
jeweilige Rezipient seine Lebenswelt mit in die Exegese einbringt. Nicht der
Koran spricht, sondern Rezipient und Koran stehen sich dialogisch gegenüber.
Der Rezipient hat die Aufgabe, den Koran fortzudenken. Damit bleibt dieser
offen. Die Offenheit des Korans erlaubt, seine spirituelle und ethische Kraft zu
28 M. Khorchide
entfalten, denn es handelt sich nach diesem Verständnis nicht um ein Gesetzes-
buch, das klare Handlungsanweisungen verkündet, sondern um ein historisch
gewachsene Offenbarung, die noch nicht abgeschlossen ist, sie lädt den Rezipien-
ten ein, sich mit all seinen Anliegen einzubringen und an sich die Frage zu stel-
len: „Was würde mir der Koran heute im 21. Jahrhundert sagen?“.
Denkt man diese Unterscheidung zwischen beiden Verständnissen der Offen-
barung konsequent zu Ende, dann ergeben sich zwei Zugänge zum Islam: Ent-
weder man versteht den Islam als vom Himmel gefallene Religion, als wäre
sie ein geschlossenes Paket und die Aufgabe der Gläubigen wäre nichts anders
als dieses Paket aufzumachen und die Bedienungsanleitung, die dabei liegt, zu
befolgen, um alles umzusetzen, oder man versteht ihn als in der Zeit entstandene
Religion, die ein Medium der Entfaltung von Spiritualität und Ethik im Leben des
Menschen darstellt.
Ein Blick in die 1400jährige islamische Ideengeschichte zeigt, dass die uns
heute bekannten islamischen Konfessionen (Sunniten, Schiiten, Ibaditen, Ahma-
diyya usw.), aber auch die sunnitischen Rechtsschulen zum Beispiel sich viele
Jahre nach dem Tod des Propheten Muḥammad gebildet und etabliert haben
und nicht vom Himmel gefallen sind. Diese innerislamische Vielfalt hat Thomas
Bauer auf eindrucksvolle Weise in seinem Buch über Die Kultur der Ambigui-
tät (2011) dokumentiert. Gerade muslimische Fundamentalisten haben ein
Verständnis vom Islam als vom Himmel gefallene Religion und verkennen die
Dynamik und Prozesshaftigkeit der islamischen Lehre.
Heute stellen sich viele Anfragen an den Islam, vor allem zu seinem Ver-
hältnis zum Rechtsstaat, zur Demokratie, zu den Menschenrechten, zur Gleich-
berechtigung der Geschlechter usw. Es kann nicht darum gehen, diese Fragen
apologetisch und unreflektiert in dem Sinne zu beantworten, dass der Islam
mit all unseren modernen Werten ohne Wenn und Aber vereinbar sei, sondern
man muss dies differenziert sehen, je nach dem Zugang zum Islam. Würden
wir von der Abgeschlossenheit des Islams ausgehen, dann ergibt sich die große
Schwierigkeit, den Islam in unsere heutige Zeit einzubinden. Man wäre in die-
sem Fall gezwungen, rückwärtsgewandt zu denken. Denn den Koran als eine
Ansammlung an Instruktionen zu verstehen, zwingt uns, die gesellschaftlichen
Strukturen so zu denken, wie sie im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halb-
insel waren, um den Koran zur Anwendung zu bringen. Man denke zum Beispiel
an koranische Aussagen zu den Geschlechterverhältnissen, die zum Teil patriar-
chalische Züge aufzeigen (z. B. Sure 4, Vers 34). Solche und ähnliche Verse als
monologische Belehrung durch Gott zu verstehen, würde heißen, dass Muslime
heute im 21. Jahrhundert angehalten wären, sich daran zu halten. Die Offenheit
des Islams, die von einer Nicht-Abgeschlossenheit des Islams ausgeht und den
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 29
sukzessive daran. Dabei war ihm eine schrittweise Etablierung einer Gleich-
stellung von Mann und Frau sehr wichtig, d. h. die Frau sollte gewürdigt werden
als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Liest man diesen Vers 4:11 in sei-
nem historischen Kontext, dann erkennt man, dass es für diese Regelung mit der
Erbschaft für die damalige Zeit ein erster revolutionärer Schritt war. Aus unse-
rer heutigen Perspektive wäre so eine Regelung ein Rückschritt in der Frage des
Geschlechterverhältnisses. Die Offenbarung als offene Kommunikation wahrzu-
nehmen, bedeutet aber nicht bei diesem ersten Schritt, der den Koran im siebten
Jahrhundert eingeführt hat, stehenzubleiben. Es ist Aufgabe der heutigen Koran-
hermeneutik, diesen ersten Schritt fortzuschreiben, und zwar im Sinne unseres
heutigen Verständnisses von Gerechtigkeit.
Dieses Beispiel sollte verdeutlicht haben, welche Konsequenzen es für die
vielen heutigen Fragen an den Islam die jeweilige Auffassung von Offenbarung
haben kann. Dies gilt auch für weitere Fragen, wie die nach der Vereinbarkeit des
Islams mit den Menschenrechten, mit demokratischen Grundwerten usw. Denn,
wie schon erwähnt wurde, gilt der Koran im Islam als die Offenbarung Gottes.
Nach muslimischen Glauben wurde der Koran dem Propheten Muḥammad nicht
auf einmal, sondern über einen Zeitraum von 23 Jahren hinweg offenbart. Zwölf
Jahre davon lebte Muḥammad in Mekka (zwischen 610 und 622 n. Chr.) und
zehn in Medina (zwischen 622 und 632 n. Chr.). Er wurde somit in verschiedenen
räumlichen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten offen-
bart, in denen er die für den jeweiligen Kontext richtige Option anbietet; so kom-
men unterschiedliche Optionen zusammen. Vernachlässigt man diese historische
Prozesshaftigkeit der Entstehung des Korans, läuft man Gefahr, ihn selektiven
Lesarten auszuliefern.
Literatur
al-Ġazzālī, und Richard Gramlich. 1984. Muḥammad al-Ġazzālīs Lehre von den Stufen zur
Gottesliebe: die Bücher 31–36 seines Hauptwerkes. Wiesbaden: F. Steiner.
Bauer, Thomas. 2011. Die Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islams.
Berlin: Verlag der Weltreligionen.
Madigan, Daniel. 2003. Gottes Botschaft an die Welt: Christen und Muslime, Jesus und der
Koran. Internationale Katholische Zeitschrift Communio 32:100–112.
von Stosch, Klaus. 2018. Theodizee. Paderborn: Schöningh.
Werbick, Jürgen. 2016. Gott verbindlich: Eine theologische Gotteslehre. Freiburg: Herder.
Lässt Religion Raum für Erneuerung?
Islamische Gottesbilder in Geschichte
und Gegenwart
Erdal Toprakyaran
Der Asra
Täglich ging die wunderschöne
Sultanstochter auf und nieder
Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weißen Wasser plätschern.
Der Dichter dieser Zeilen, der in Düsseldorf geborene Heinrich Heine, war
ebenso wie Herder, Goethe, Lessing, Nietzsche und viele andere bedeutende
deutsche Geistesgrößen fasziniert von der islamischen Kultur. Gleichzeitig war
E. Toprakyaran (*)
Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland
E-Mail: erdal.toprakyaran@zith.uni-tuebingen.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 31
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_3
32 E. Toprakyaran
ihnen allen bewusst, dass die Grenze zwischen Orient und Okzident, zwischen
Morgen- und Abendland wie ein „künstlicher Kreidestrich“ ist (Almond 2010;
Mommsen 2001). Dennoch wird bis in die heutige Zeit oftmals ein mono-
lithischer Islam konstruiert und als das negative Gegenüber eines ebenso mono-
lithischen Westens dargestellt. Der Westen bzw. das Abendland wird zugleich in
euro-zentristischer Weise idealisiert und vom vermeintlich irrationalen dunklen
Islam abgegrenzt (Leggewie 1993, S. 8 ff.). Der Islam ist aber, genauso wie das
Christentum, nicht monolithisch und auch die Gottesbilder sind es nicht. So wer-
den in der islamischen Tradition 99, zum Teil gegensätzlich klingende Gottes-
namen (al-asmāʾ al-ḥusnā) aufgezählt, die sich auch im Koran wiederfinden
lassen. Je nach Ausrichtung und Bedürfnis rufen Musliminnen und Muslime Gott
mit den unterschiedlichen Namen an.
Für die Mystiker etwa, die im Islam als Sufis oder Derwische bezeichnet
werden, stehen die Namen „der Eine (al-wāḥid und al-aḥad)“, „die Wahrheit
(al-ḥaqq)“, „der Lebendige (al-ḥayy)“, „der Heilige (al-quddūs)“, „der Friede
(al-salām)“, „das Licht (al-nūr)“, „der Liebende (al-wadūd)“, „der Barmherzige
(al-raḥmān, al-raḥīm, al-ġaffār und al-ġafūr)“, „der Vergebende (al-raʾūf,
at-tawwāb und al-‘afuw)“, „der Sanftmütige (al-ḥalīm)“, „der Freund (al-walī)“,
„der Geduldige (al-ṣabūr)“, „der Offenbare (al-ẓāhir)“ oder „der Verborgene
(al-bāṭin)“ im Mittelpunkt ihrer religiösen Praxis und Theologie. So gilt Gott als
der Schöpfung immanent, da Er in den Menschen Seinen Geist eingehaucht hat
(Koran 15/29 und 32/9) und ihm dadurch näher ist „als die Halsschlagader (Koran
50/16; ähnlich in 2/186 und 57/4).“1 Zugleich ist Gott, der Offenbare, überall
präsent entsprechend dem Vers „Und Gottes ist der Osten und der Westen, und
wohin ihr euch daher wendet, dort ist Gottes Angesicht (Koran 2/115).“ Der Mus-
lim soll gemäß dem Gottesbild der Mystiker Gott in sich und in der gesamten
Schöpfung erkennen und Ihm demütig und liebevoll dienen. Auch die islamischen
Philosophen und Künstler interessieren sich besonders für jene Gottesnamen,
mit denen sie sich am deutlichsten identifizieren können. Zu diesen zählen etwa
„der Ewige (al-ṣamad und al-bāqī)“, „der Schöpfer (al-ḫāliq)“, „der Verursacher
(al-mubdiʾ)“, „der Gestalter (al-muṣawwir)“, „der Erweckende (al-bāʿiṯ)“ oder
„der Lebensspendende (al-muḥī)“.
Es ist wenig überraschend, dass das Gottesbild der muslimischen Juristen
durch andere Gottesnamen geprägt wird. Für Sie ist Gott in erster Linie „die
Gerechtigkeit (al-ʿadl)“, „der Richter (al-ḥakam)“, „der Berechnende (al-ḥasīb)“,
1Koranverse werden in Anlehnung an Max Henning (1991) in frei übersetzter Form wieder-
gegeben.
Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in … 33
wir heute anschließen können. Exemplarisch sollen etwa die islamischen Dis-
kurse der Gottesliebe, der religiösen Pluralität, der Autonomie der Vernunft, der
Rechtsstaatlichkeit, der Demokratiekompatibilität und der Säkularität kurz dar-
gestellt und diskutiert werden.
Da im Islam keine Kirche und auch keine geistliche Hierarchie vorgesehen sind,
gab es stets unterschiedliche juristische-, theologische-, mystische- und philo-
sophische Schulen, die mal miteinander konkurrierten und sich mal ergänzten.
Denn diese verschiedenen identitätsstiftenden Kategorien waren in der Regel
nicht durch unüberwindbare Grenzen von einander geschieden, sondern konnten
in allen Varianten und Kombinationen auftreten. So darf es nicht überraschen,
dass es etwa in der Philosophie und besonders in der Mystik bis in die heutige
Zeit die Anschauung gibt, dass der Islam eine Religion der Liebe ist.
So schreibt der 1974 verstorbene türkische Religionsphilosoph Hilmi Ziya
Ülken (2010) in seiner programmatischen Schrift Aşk Ahlakı (Ethik der Liebe),
dass es keine wahrhaftige Ethik geben kann ohne die Liebe. Das Fundament jeg-
licher Religion und Ethik müsse stets die Liebe sein, da nur sie selbstlos sei. Der
türkische Gelehrte rezipiert in dieser Schrift aber hauptsächlich die großen Namen
der islamischen Mystik und weniger die Philosophen, da besonders im Sufismus
die Liebe zu Gott und zu seiner Schöpfung eine zentrale Rolle spielt. Verschiedene
Begriffe für Liebe wie ḥubb, ʿišq und mawadda kommen in den Werken der mittel-
alterlichen Mystiker und Mystikerinnen wie Rābiʿa al-ʿAdawiyya (gest. 801), Ibn
ʿArabī (gest. 1240), Maulānā Rūmī (gest. 1273) und ihrer Nachfolger und Nach-
folgerinnen regelmäßig vor. Sie sprechen sogar von der Religion der Liebe (dīn
al-ḥubb). So heißt es bei Ibn ʿArabī (1978, S. 67): „Ich folge der Religion der
Liebe; welchen Weg die Kamele der Liebe auch einschlagen mögen, dort finde
ich meine Religion und meinen Glauben.“ Und der 1772. Doppelvers in Rūmīs
Maṯnawī (2012, S. 115) lautet: „Die Religion der Liebe ist anders als alle Religio-
nen; für die Liebenden ist Gott die Religion und das Glaubensbekenntnis“. Auch
der indische Mystiker Ḫazrat ʿInāyat Ḫān (gest. 1927) war ein Liebesmystiker. Er
beschreibt das Ziel seiner Sufi-Bewegung folgendermaßen (1963, S. 319):
Die Verwirklichung und Verbreitung der Erkenntnis der Einheit, der Religion der
Liebe und der Weisheit, damit die Vorurteile, die aus den verschiedenen Glaubens-
anschauungen und Bekenntnissen erwachsen, wie von selbst aufhören, sodaß die
Herzen der Menschen von Liebe überströmen und aller Haß, der aus den Unter-
schieden und Abgrenzungen entstanden ist, ausgerottet wird.
Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in … 35
Das Gesetz verliert seine Macht, wenn es auf die Liebe trifft: der Strom der Liebe
geht darüber hinweg. Als jene Frau, die von allen als Sünderin bezichtigt wurde, vor
Christus gebracht wurde, welche Macht stieg da im Herzen des Meisters auf? Nicht
das Gesetz, sondern die Liebe, die sich als Gnade und Barmherzigkeit zeigte.
Ein weiterer wichtiger Mystiker, Şefik Can (gest. 2005), wurde nicht müde zu
betonen, dass der Weg des Propheten Muhammad in erster Linie kein Weg des
Gesetzes (Scharia), sondern der Liebe sei (Can 2006, S. 297 f.). Jedoch geht es
diesen Mystikern nicht darum, alle Religionen zu verleugnen oder sogar zu ver-
mischen, oder gar eine neue Weltreligion, nämlich die der Liebe, zu begründen.
Es geht ihnen vielmehr darum, zu betonen, dass die Liebe nicht nur das Funda-
ment, sondern auch die Essenz aller Religionen ist.
Es wird oft darüber diskutiert, ob der Islam eher als eine inklusivistische oder
als eine pluralistische Religion zu kategorisieren ist. Denn der Islam erkannte
im Laufe seiner Geschichte Religionen wie das Christentum, das Judentum, das
Zoroastriertum, den Hinduismus, den Buddhismus und sogar manche Natur-
religionen als göttlich legitimierte Offenbarungsreligionen an (Toprakyaran 2010).
Deshalb wurden die Anhänger dieser Religionen als Schriftbesitzer (ahl al-kitāb)
bezeichnet. Auch die biblischen Propheten und Gesandten wie Noah, Abraham,
Moses, David oder Jesus wurden anerkannt und müssen ebenso respektiert werden
wie Muhammad. In diesem Kontext werden meistens die folgenden Verse zitiert:
Und wenn dein Herr gewollt hätte (O Muhammad), so würden alle auf der Erde
insgesamt gläubig werden. Willst du etwa die Leute zwingen, gläubig zu werden?
(Koran 10/99–100)
Und so Gott es wollte, wahrlich, er machte euch zu einer einzigen Gemeinde. Doch
will er euch prüfen in dem, was er euch gegeben. Wetteifert darum im Guten. Zu
Gott ist eure Heimkehr allzumal. Und er wird euch aufklären, worüber ihr uneins
seid (Koran 5/48).
(O Muhammad) Wir haben an dich Offenbarungen gesandt, wie wir zuvor Offen-
barungen an Noah, und an die ihm folgenden Propheten gesandt haben. Und wir haben
36 E. Toprakyaran
Siehe, die Gläubigen und die Juden und die Sabäer und die Christen – wer von
ihnen an Gott und den Jüngsten Tag glaubt und das Rechte tut – soll sich nicht
fürchten und soll nicht traurig sein (Koran 5/69).
Und streitet nicht mit den Schriftbesitzern, es sei denn in der besten Art; außer mit
jenen von ihnen, die ungerecht handelten; und sprecht: „Wir glauben an das, was zu
uns herabgesandt wurde und wir glauben an das, was zu euch herabgesandt wurde;
und unser Gott und euer Gott ist Einer, und Ihm sind wir ergeben (Koran 29/46).“
Wir erschufen euch … als Nationen und Völker, damit ihr euch untereinander
kennenlernt. Der vor Gott am meisten geehrte unter euch ist der Gottesfürchtigste
unter euch … (Koran 49/13).
Auch kann zur Untermauerung der These vom pluralistischen Islam argumen-
tiert werden, dass der Prophet Muhammad, als er 622 von Mekka nach Medina
floh und dort zum Oberhaupt der gesamten Stadtbevölkerung wurde, einen Ver-
trag aufsetzen ließ, der den dort ansässigen Juden und vermutlich auch Chris-
ten und Polytheisten dieselben Rechte gab, wie den Muslimen. Auch wurden in
diesem Vertrag alle Bewohner Medinas als eine einzige Gemeinschaft (umma)
bezeichnet. Jedoch macht dieselbe Erzählung auch deutlich, dass der religiöse
Pluralismus der frühen Muslime ihre Grenzen, und damit auch inklusivistische
und sogar exklusivistische Züge hatte. Denn es gelang nicht, diese multireligiöse
Gemeinschaft zu erhalten und nur wenige Jahre später, so die bekannten Erzäh-
lungen, arteten die andauernden Rivalitäten zwischen den medinensischen Juden
und Muslimen in kriegerische Feindschaft aus. Noch zu Lebzeiten Muhammads
sollen manche Juden hingerichtet worden sein; alle anderen mussten Medina
verlassen. Auch kam bald die Offenbarung des Koranverses 9/29, wonach jeder
Nichtmuslim eine Sondersteuer (ǧizya) entrichten musste, wenn er im Herr-
schaftsgebiet der Muslime lebte:
Bekämpft unter denen, die eine Offenbarungsschrift erhielten, diejenigen, die nicht
an Gott und an den Jüngsten Tag glauben, die nicht das verbieten, was Gott und sein
Gesandter verboten haben, und die nicht der Religion der Wahrheit angehören, bis
sie von ihrem Besitz demütig Tribut entrichten (Koran 9/29).
Auch wenn dieser Vers aus heutiger Perspektive grausam klingt, brachte er in der
damaligen Zeit einen menschenrechtlichen Fortschritt, denn erstmals wurde ein
religionsgesetzlicher Rahmen dafür geschaffen, dass verschiedene Religionen
Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in … 37
teils nebeneinander und teils sogar miteinander existieren konnten. Zwar muss-
ten Nichtmuslime die Sondersteuer bezahlen, die im Deutschen zumeist als Kopf-
steuer bezeichnet wird, doch konnten sie im Gegenzug ihre Religion frei ausleben
und hatten sogar eigene zivilrechtliche Instanzen. Vor allem aber bekamen
Andersgläubige infragen der Religionsausübung erstmals in der Geschichte
Rechtssicherheit. Auch durfte niemand bestraft werden, der die Sondersteuer aus
Gründen der Armut nicht bezahlen konnte.
Dieser Rechtspraxis ist es geschuldet, dass auf der Iberischen Halbinsel, auf
dem Balkan oder auch in Indien, Christen, Juden, Hindus und Buddhisten über
Jahrhunderte inmitten islamischer Herrschaftsgebiete relativ friedlich leben und
ihre Religion praktizieren konnten. So geht etwa das Millet-System im Osma-
nischen Reich auf diese frühislamische ǧizya-Praxis zurück. Jedoch sind diese
mittelalterlichen Modelle, so fortschrittlich sie damals auch waren, aus heutiger
Perspektive defizitär, da sie eine Zwei-Klassen-Gesellschaft schaffen. Deshalb
sind Rufe nach einer Wiederbelebung des ǧizya-Modells im besten Fall als naiv
zu bezeichnen. Es lässt sich aber dennoch feststellen, dass der Islam ein plura-
listisches Potenzial aufweist, das besonders von vielen Mystikern erkannt und
geschätzt wurde. Mehrheitlich wurde der Islam aber eher als inklusivistische
Religion verstanden. Andere Religionen wurden respektiert und als Gottgegeben
betrachtet, wurden aber dem Islam untergeordnet. Nichtmuslime wurden toleriert,
sofern sie die Sondersteuer entrichteten.
Wichtig in diesem Kontext ist auch, dass der Islam als eine Vernunftreligion
gesehen werden kann. Es gibt mehrere hundert Stellen im Koran, die betonen,
dass es ohne die Vernunft keinen Glauben geben kann und dass nur vernünftige
Menschen die Religion Gottes verstehen können:
Diese Offenbarung ist ein Wort an die Menschen, damit sie sich warnen lassen und
erkennen, dass es nur einen Gott gibt, und damit sich die Vernünftigen belehren las-
sen (Koran 14/52).
O ihr Leute von Verstand, vielleicht werdet ihr gottesfürchtig (Koran 2/179).
So macht euch Gott seine Zeichen klar, auf dass ihr verstehet (Koran 2/242).
Siehe, in der Schöpfung der Himmel und der Erde und in dem Wechsel der Nacht und
des Tages sind wahrlich Zeichen für die Vernünftigen: Die da Gottes gedenken im Ste-
hen und Sitzen und Liegen; und nachdenken über die Schöpfung (Koran 3/190–191).
38 E. Toprakyaran
(Der Koran ist) eine von uns zu dir hinabgesandte, gesegnete Schrift (und wird den
Menschen verkündet), damit sie sich über Seine Verse Gedanken machen, und damit
diejenigen, die Vernunft besitzen, sich mahnen lassen (Koran 38/29).
Laut Koran gibt es sogar Menschen, die auch ohne göttliche Rechtleitung dem
Satan widerstehen:
Und ohne Gottes Huld gegen euch und seine Barmherzigkeit wäret ihr sicher dem
Satan gefolgt; bis auf wenige von euch (Koran 4/84).
Nach Meinung der Philosophen handelt es sich bei diesen Menschen um jene,
die durch Einsatz ihrer Vernunft das Rechte vom Unrechten zu unterscheiden ler-
nen; ganz wie der Protagonist des arabischen Romans Ḥayy b. Yaqẓān, der im 12.
Jahrhundert von Ibn Ṭufail (gest. 1185; latinisiert Abubacer) geschriebene und
1671 unter dem Titel Philosophus Autodidactus ins Lateinische übersetzt wurde.
Es ist bekannt, dass das philosophische Plädoyer für die Autonomie der Vernunft
des Ibn Ṭufail jüdische und christliche Denker wie Spinoza (gest. 1677), Leib-
niz (gest. 1716) oder Rousseau (gest. 1778) stark beeinflusste. Noch zentraler für
die europäische Aufklärung und Säkularität war das Werk des Ibn Ṭufail-Schülers
Ibn Rušd (1198; latinisiert Averroes), auf den der jüdische und christliche Averro-
ismus zurückgeht, der auch nach dem sogenannten Averroistenstreit an der Sor-
bonne 1277 weiter blühte und die europäischen Säkularisten beflügelte.
Es kann weiterhin argumentiert werden, dass der Islam eine rechtsstaatliche und
demokratische Religion ist, da selbst Propheten den Gesetzen untergeordnet
sind und das Staatsoberhaupt – zumindest im sunnitischen Islam – durch Wah-
len bestimmt werden soll. So soll der Prophet Muhammad vielfach gesagt haben,
dass die koranischen und traditionellen Gesetze auch für ihn und seine Familien-
angehörige gelten. Im Zentrum der frühislamischen Rechtsprechung stand ähn-
lich wie im Judentum das Vergeltungsgebot:
Siehe, Wir haben die Tora hinabgesandt, in der sich eine Rechtleitung und ein Licht
befinden, … Und wir haben ihnen darin vorgeschrieben: Leben um Leben, Auge um
Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn; und auch für Verwundungen
gilt die Wiedervergeltung. Wer aber dies als Almosen erlässt, dem ist es eine Sühne
(Koran 5/44–45).
Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in … 39
Gleichzeitig wird aber am Ende des Verses angeboten, dass auf die Vergeltung ver-
zichtet werden soll. Dies erinnert an die Worte von Jesus Christus im Johannes-
Evangelium (8, 1–11), wonach nur der einen Stein auf die Sünderin werfen soll,
der frei von Sünde ist. Jesus verbietet hier nicht die Steinigung, da es dem gelten-
den jüdischen Recht entspricht, versucht sie aber unmöglich zu machen. In ähn-
licher Weise verbietet der Koran die maßvolle Rache bzw. Vergeltung nicht, da
es dem geltenden (vermutlich vom Judentum beeinflussten) mekkanischen und
medinensischen Recht entspricht, macht aber deutlich, dass es eine fromme Tat ist,
darauf zu verzichten. Weitere Hinweise gibt es auch in anderen Versen, die dem
Menschen nahelegen, auf die Vergeltung bzw. die Rache zu verzichten:
Und wenn ihr euch für eine Ungerechtigkeit rächen wollt, so rächt euch in dem
Maße, wie euch Böses zugefügt wurde! Aber wenn ihr euch in Geduld übt (und ver-
zeiht), so ist dies besser für die Geduldigen (Koran 16/126).
Dass der Islam auch demokratisch oder zumindest mit der Demokratie kompa-
tibel ist, kann damit erklärt werden, dass der Prophet Muhammad sich stets mit
seinen Gefährten beraten hat und bei seinen Handlungen größten Wert auf die
Legitimierung durch die Gemeinschaft legte. Er sah sich nicht als einen absoluten
Herrscher oder gar Monarchen an, sondern eher als einen Ersten unter Gleichen
(primus inter pares). Selbst in religiösen Fragen galt der Prophet nur dann als
absolute Autorität, wenn seine Position durch eine göttliche Botschaft bestätigt
wurde. Deshalb gilt nach sunnitischer Mehrheitsmeinung, dass keine bestimmte
Staatsordnung vorgegeben wurde. Selbst die Frage, ob das Staatsoberhaupt
ein Muslim sein muss bleibt offen. Wichtig ist nach einer Vielzahl von musli-
mischen Theologen lediglich, dass das Oberhaupt von der Gemeinschaft legiti-
miert wird, gut und gerecht regiert und sich stets mit den anderen Mitgliedern
der Gemeinschaft berät. Da sich das islamische Kalifat aber bereits sehr früh in
eine Erbmonarchie verwandelt hat, wird der Islam bis heute besonders in der
Außenwahrnehmung eher mit der absoluten Monarchie oder gar mit Diktaturen
gleichgesetzt. Denn ab dem 5. Kalifen Muʿāwiya (gest. 680) beginnt eine radi-
kale und gewalttätige Instrumentalisierung der Religion. Infolgedessen wird die
Erbmonarchie eingeführt, was für den Propheten und seine ersten vier Nachfolger
undenkbar gewesen wäre.
Die Kalifen führen nun im Gegensatz zu den frühen Muslimen, die ein sehr
bescheidenes Leben führten, ein Leben in unermesslichem Luxus und bezeichnen
sich als Schatten Gottes auf Erden (ẓill Allâh fī al-arḍ). Als sich ein Enkel
Muḥammads, Ḥusain b. ʿĀlī (gest. 680), gegen diese Zustände zur Wehr setzt, wer-
den er und etliche weitere Nachkommen des Propheten im Namen des islamischen
40 E. Toprakyaran
Kalifats auf grausame Art hingerichtet. Die Ermordung nahezu aller Nachkommen
des Propheten im Namen des Kalifats ist sicherlich das tragischste Ereignis der
islamischen Geschichte. Das Kalifat konnte sich nie mehr von dieser folgen-
reichen Instrumentalisierung befreien bis es dann schließlich durch den Begründer
der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk (gest. 1938), 1924 abgeschafft
wurde. In einer Rede Atatürks vom 1. Juli 1927 in der letzten Residenz der mittler-
weile Osmanischen Kalifen, dem Dolmabahçe-Palast, heißt es in Anspielung auf
den Anspruch, Schatten Gottes zu sein: „Dieser Palast gehört nun nicht mehr den
Schatten Gottes, sondern der Wahrheit Gottes, nämlich dem Volk.“.
Atatürk war ein Kind seiner Zeit und kam wie so viele türkische Militärs aus
der jungtürkischen Bewegung, die sich als eine intellektuelle Protestbewegung
gegen das Osmanische Sultanat und Kalifat in den letzten Jahrzehnten des Groß-
reichs gebildet hatte. Sie hatten größtenteils ein säkulares Welt- und Religions-
verständnis und forderten tief greifende Reformen. In ihren Schriften findet man
zahlreiche Stellen, die von der Notwendigkeit einer Erneuerung (taǧdīd), Instand-
setzung (islāḥāt), Wiederbelebung (iḥyāʾ) oder auch Erleuchtung im Sinne von
Aufklärung (tanwīr/tanawwur) berichten. Unter den Repräsentanten dieser
Bewegung befanden sich auch viele Gelehrte wie der höchste Mufti des Reiches,
Mūsā Kâẓım Efendi (gest. 1920), oder Bursalı Meḥmed Ṭāhir Bey (gest. 1925),
der auch als spiritueller Mentor Atatürks angesehen wird. Entsprechend waren
auch jene Personen, die vor und nach der Republiksgründung 1923 im Umfeld
Atatürks wirkten, Vertreter eines nicht nur demokratisch-rechtsstaatlichen, son-
dern auch säkularen Religionsverständnisses (Toprakyaran 2011, S. 2013).
Abdülhalim Çelebi (gest. 1925), Rıfat Börekçi (gest. 1941), Fehmi Ülgener
(gest. 1943), Remzi Akyürek (gest. 1944), Prof. Mehmet Ali Ayni (gest. 1945),
Prof. Şerafettin Yaltkaya (gest. 1947), Kenan Rifai (gest. 1950), Mustafa Saffet
Yetkin (gest. 1950), Veled Çelebi (gest. 1953), Hasan Âli Yücel (gest. 1961) sind
einige dieser Persönlichkeiten. Auch die sunnitisch-hanafitische Religionsbehörde
(Diyanet İşleri Başkanlığı) wurde in diesem säkularen Geist gegründet. Ab 1950
kam es jedoch zu einem Paradigmenwechsel in der türkischen Politik, da sich
verschiedene Islamisten (İslamcılar) nach und nach wieder durchsetzen konnten.
Es gab aber auch außerhalb des Osmanischen Reiches und der Türkischen
Republik Muslime, die ein ähnlich progressives Religionsverständnis hatten. Im
Russischen Reich lebten etwa Intellektuelle wie der aserbaidschanische Aufklärer
und Schriftsteller Mīrzā Fatḥʿālī Āḫhundzāde (gest. 1878). Er selbst sah sich als
Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in … 41
Aus der Perspektive der säkularen Muslime macht auch die Forderung, dass
der Islam eine Trennung zwischen Kirche und Staat brauche, keinen Sinn, da es
im Islam keine Kirche gibt. Sinnvollerweise müsste gefordert werden, dass der
Islam nicht zu politischen und wirtschaftlichen Zwecken, wie ab dem Kalifat
Muʿāwiyas geschehen, missbraucht werden darf. Keine Person, erst recht kein
Politiker oder Machthaber, darf den Islam als sein Monopol betrachten und sich
erlauben, andere Menschen im Namen der Religion zu unterdrücken.
Schlussbetrachtungen
Auch die Schöpfung ist nicht abgeschlossen und es wird vom Menschen erwartet,
dass er sich Gott zuwendet und zugleich die Zeichen Gottes (ayāt Allāh), die
nicht auf den Korantext beschränkt sind, erkennt:
Ihn (Gott) bittet wer in den Himmeln und auf der Erde ist. Jeden Tag befasst Er sich
mit einer Angelegenheit (Koran 55/29).
Dein Herr spricht: „Ruft mich an und ich antworte euch (Koran 40/60).
Wir werden sie an den Horizonten und in ihnen selbst Unsere Zeichen sehen lassen,
bis es ihnen deutlich wird, dass sie (die Offenbarung) die Wahrheit ist. Genügt es
denn nicht, dass dein Herr Zeuge über alle Dinge ist? Aber siehe, sie hegen Zwei-
fel über die Begegnung mit ihrem Herrn. Siehe, Er umfasst doch alle Dinge (Koran
41/53 und ähnlich in 51/20).
Nur dann, wenn sich der Mensch seinem Schöpfer zuwendet und sich um Bes-
serung seiner Lage bemüht, wird Gott ihm helfen. Religion lässt also nicht nur
Raum für Erneuerung, sondern macht sie zu einer Bedingung:
Gott ändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst
ist (Koran 13/11).
Deshalb müssen wir all das Negative ändern, was in uns und in unseren Gesell-
schaften ist. Dies geht nur durch ständige Erneuerung und Reformen; insbesondere
solange es Menschen gibt, die die Religion instrumentalisieren. Ein unkritischer
Muslim, der sich mit dem zufrieden gibt, was es an althergebrachten Islamver-
ständnissen gibt, ohne all die Warnsignale aus der Gesellschaft und der Natur
wahrzunehmen ist demnach kein vorbildlicher Muslim. Denn aktuelle existenzielle
Probleme wie der religiöse Fanatismus, der globale Terror, die heftigen Kriege, die
große Armut, die vielen Menschenrechtsverletzungen, der immer mächtiger und
brutaler auftretende Turbokapitalismus und die verheerende Umweltzerstörung
sollten uns Muslime täglich dazu zwingen, uns immer wieder von neuem Gott
zuzuwenden und zu fragen, wie wir besser helfen können. Das Bild vom nahen,
helfenden, liebenden, barmherzigen und gerechten Gott wird dabei in den Vorder-
grund geraten und das längst überholte, aber in islamistischen Kreisen immer noch
dominierende Bild vom strafenden und zürnenden Gott ersetzen. Doch bis dahin
brauchen wir viel Geduld und Durchhaltevermögen; und wenn wir uns nicht vom
Pfad der Aufrichtigkeit entfernen, verspricht uns der Koran himmlischen Beistand:
Siehe, der Mensch ist wahrlich verloren, außer denen, welche glauben und das
Rechte tun und einander zur Wahrheit mahnen und zur Geduld (Koran 103/2–3).
44 E. Toprakyaran
Literatur
Almond, Ian. 2010. History of Islam in German Thought. From Leibniz to Nietzsche. New
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Can, Şefik. 2006. Fundamentals of Rumi´s Thought. A Mevlevi Sufi perspective. Izmir:
Tughra Books.
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East-West Publications.
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Leggewie, Claus. 1993. Alhambra – Der Islam im Westen. Hamburg: Rowohlt.
Mawlānā Ğalāladdīn Rūmī. 2012. Das Maṯnavī. Bd: 2. Norderstedt: Edition Shershir.
Mommsen, Katharina. 2001. Goethe und der Islam. Frankfurt a. M.: Insel.
Muḥyi´ddîn Ibn Al-`Arabî. 1978. The Tarjumân al-Ashwâq. A collection of mystical odes.
London: Theosophical Publishing House.
Toprakyaran, Erdal. 2010. The changeability of Islamic principles using the example of
pluralism. Religious Pluralism – Islam and Christianity in the 21st Century. Schriften-
reihe Studies & Comments der Hanns-Seidel-Stiftung 2:19–24.
Toprakyaran, Erdal. 2011. The two faces of the Turkish educator, governor and scholar
Mehmet Ali Ayni (1868–1945). International Review of Turkish Studies 3:62–73.
Toprakyaran, Erdal. 2013. Islamische Mystik im interreligiösen Dialog: Sind Sufis bessere
Gesprächspartner? Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 3
(4): 194–202.
Ülken, Hilmi Ziya. 2010. Aşk Ahlakı. Istanbul: Kültür Yayınları.
Die islamische Rezeption der
Reformation
Assem Hefny
Die islamische Rezeption der Reformation im engeren Sinne beschränkt sich auf
den Zeitraum von 1830 bis 1935.1 Die reformatorische bzw. liberale Epoche wird
von Albert Hourani in seinem einflussreichen Werk Arabic Thought in the Liberal
Age jedoch auf den Zeitraum von 1798 bis 1939 erweitert, der auch als arabische
Nahḍa oder Renaissance bezeichnet wird.
Die gebräuchliche arabische Bezeichnung für den Begriff ‚Reformation‘ ist iṣlāḥ.
Dieses Wort findet sich bereits in der klassischen arabischen Sprache und kommt
auch im Koran vor (11:88), wo es ‚Verbesserung‘ bzw. ‚das Gute tun‘ bedeutet.
Demnach ist die rein sprachliche Bedeutung von Reformation positiv konnotiert.
Die Verbindung von Reformation und Religion kannte die arabische Sprache sowie
die arabische Kultur aber erst durch die Begegnung mit der westlich-europäischen
Kultur. So bezieht sich der Ausdruck iṣlāḥ dīnī (‚religiöse Reformation‘) zunächst
hauptsächlich auf die Reformationsbewegung von Martin Luther im 16. Jahrhundert
sowie auf die Spaltung der Kirche und die Entstehung des Protestantismus.
A. Hefny (*)
Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 45
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_4
46 A. Hefny
Danach befasste sich der Lehrer [d.h. ʿAbduh] mit einer Art der religiösen Refor-
mation, woran er zeit seines reformatorischen Lebens interessiert war (ʿAbdarrāziq
1997, S. 102).
Die religiöse Reformation, für die beide Großgelehrten plädierten, ist die Rückkehr
des Islams zu seinem Zustand zur Zeit des Propheten (Eulogie) und seiner Gefährten
(Eulogie) bevor es zu Häresien und Abspaltungen kam (Riḍā 2012, S. 317).
Das Ende der Nahḍa lässt sich u.a. mit den arabisch-islamischen Niederlagen
(1948/1967) sowie mit dem Scheitern des Panarabismus in Verbindung bringen.
Auf die Nahḍa folgte eine Zeit der Ideologien, in der die Begriffe und Konzepte der
Renaissance und Reformation keine Rolle mehr spielten.2 Im Zuge der sogenannten
Reislamisierung, der Entstehung des Fundamentalismus und der Ausbreitung des
‚politischen Islams‘, wurde der Begriff ‚Reformation‘ häufig negativ konnotiert, da
er mit dem kolonialistischen, verhassten Westen in Verbindung gebracht wurde.
Selbst wenn Islamisten mit der Tatsache konfrontiert werden, dass viele
Aspekte des Religionsverständnisses einer ‚Reformation‘ oder Reformierung
bedürfen, vermeiden sie den westlich-christlich konnotierten Begriff ‚Refor-
mation‘ und machen stattdessen vom arabisch-islamischen Begriff taǧdīd
(‚Erneuerung‘) Gebrauch. Bevorzugt wird taǧdīd sowohl aus theologischen als
Reformatorische Bewegungen
Ein näherer Blick auf die moderne, arabisch-islamische Geschichte zeigt, dass
viele Ideen, die nicht auf arabisch-islamischem Boden entstanden sind, häufig
Schwierigkeiten bei der Rezeption mit sich bringen. Das liegt m.E. in den Ver-
suchen begründet, diese Ideen entweder ohne Änderungen in die eigene ara-
bisch-islamische Kultur zu implantieren oder sie aber gänzlich zu islamisieren
bzw. zu arabisieren. Zu diesen Ideen gehört u.a. die Reformation.
Der Begriff ‚Reformation‘ wird unterschiedlich, ja sogar widersprüchlich
verstanden und gebraucht. So werden beispielsweise traditionelle Bewegungen
wie der Wahhabismus im heutigen Saudi-Arabien als reformatorisch bezeichnet.
Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb (gest. 1792), nach dem der Wahhabismus benannt
ist, verstand die Rückbesinnung auf den Ursprung äußerst selektiv, indem er fast
ausschließlich das Gedankengut von Aḥmad b. Ḥanbal (gest. 855) und Aḥmad b.
Taimiyya (gest. 1328) in Form einer Nachahmung (taqlīd) wieder aufgriff. Hier
wird die Bedeutung der Reformation auf die ‚Reinigung‘ (taṭhīr) der Religion
von scheinbar häretischen Elemente reduziert, selbst wenn diese Elemente ratio-
nal betrachtet dem Wohl des Menschen dienen. Aus einer solchen Perspektive las-
sen sich moderne Werte wie die Gleichstellung der Geschlechter oder Freiheit des
Denkens und Glaubens als Häresien verstehen, die es zu bekämpfen gilt.
Muḥammad ʿAbduh, der Europa Ende des 19. Jahrhunderts kennen lernte, sah
als erster Reformer eine gewisse Nähe zwischen Islam und reformatorischen
Christentum. Zwischen beiden gebe es, bis auf die Anerkennung des Propheten
ʿAbduh entwickelte ein Konzept von Reformation, das zu einem gewissen Grad
seine Erfahrung mit der europäischen Reformation widerspiegelte. In diesem
Zusammenhang lassen sich wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi-
schen ʿAbduh und Luther herausstellen:
• ʿAbduh erklärte mehrmals, dass der Islam mit der westlichen reformatorisch
geprägten Kultur im Einklang stehe. Nach Muḥammad ʿImāra, dem Heraus-
geber von ʿAbduhs Gesamtwerk, vertrat ʿAbduh die Ansicht, der Islam wie
das Christentum bestünden lediglich aus allgemeinen Richtlinien, die die
Menschen für die Herrschaft und Gesellschaft zu Hilfe nehmen müssen. Da
der Islam hierfür keine detaillierten Gesetze erlassen habe, sei es die Auf-
gabe des Menschen, mithilfe ihrer Erfahrung und ihres Verstandes aus den
allgemeinen Prinzipien konkretere Bestimmungen und Vorschriften abzu-
leiten. Darüber hinaus vertritt ʿAbduh die Ansicht, der Islam trenne Religion
und Staat: „Der Islam ist gegen die Zusammenfügung sowie die Vereinigung
der religiösen Macht mit der politischen Macht. Die Wiedervereinigung bei-
der Mächte ist das, woran die Päpste und deren unterstützenden Anhänger des
Katholizismus arbeiten“ (ʿImāra 2006, Bd 2, S. 171).
Nach ʿImāra bezieht sich ʿAbduh mit dieser Ansicht auf die Ereignisse im mittel-
alterlichen Europa. Damals nahmen die Könige die Kirche als Vertreter Gottes zu
Hilfe, um die Völker zu beherrschen. Die Gebildeten begehrten daraufhin gegen
Kirche und Klerus auf und trennten die Religion vom Staat. So entstand eine
westliche säkulare Kultur, die später, v. a. durch die industrielle Revolution, dem
Westen einen schnellen Fortschritt in Wissenschaft und Technik ermöglichte.
Diese Entwicklung, so ʿImāra, darf man allerdings nicht auf den Islam übertragen.
Denn im Islam gebe es keine Kleriker, die Gott auf der Erde vertreten, sondern
nur islamische Religions- und Rechtsgelehrte, deren Meinungen anzunehmen bzw.
abzulehnen sind, je nach dem, wie weit sie auf koranischen und prophetischen
Beweisen basieren. Darüber hinaus habe der Westen wegen der Kirche, die gegen
die freie Wissenschaft war, lange Zeit im Dunkeln gelebt, während die Muslime
in derselben Zeit die Welt durch zahlreiche wissenschaftliche Entdeckungen, etwa
auf dem Gebiet der Medizin und Chemie, bereicherten. Nicht zuletzt bestehe der
Islam, so ʿImāra, nicht aus unverbindlichen moralischen Regeln, sondern verfüge
über ein systematisches Regelwerk, das über allgemeine Anweisungen und aus-
führliche Bestimmungen verfüge, die in der Gesellschaft zu beachten seien.8
Obwohl ʿImāra Recht hat, dass der Islam weder Klerus noch Papst kennt,
lässt er allerdings unerwähnt, dass ein Kalif als Vertreter Gottes auf Erden galt
und somit einem Papst sehr ähnlich war. Die Nachfolgerschaft als Aufgabe des
Menschen, der als Vertreter Gottes auf Erden betrachtet wird, hat sich, allem
Anschein nach, auf den Machtinhaber, und damit den Kalifen, übertragen.9
Obwohl der erste Kalif Abū Bakr (gest. 634) den Titel ‚Vertreter Gottes‘ (ḫalifat
Allāh) abgelehnte und sich nur ‚Nachfolger des Propheten Gottes‘ (ḫalīfat rasūl
Allāh) hat nennen lassen, benutzt ihn der dritte Kalif ʿUṯmān b. ʿAffān (gest.
656) in einem Brief an die Pilger, den ʿAbdallāh b. ʿAbbās (gest. 688) auf seinen
Auftrag hin überbrachte. Als Reaktion auf die Forderung vieler Muslime, dass
‘Uṯmān u.a. wegen seiner Vetternwirtschaft von seinem Amt zurücktreten müsse,
sagte er:
In Bezug darauf, dass ich mich von der Herrschaft lossagen soll, so ist mir lieber,
gefesselt zu werden als mich von der Arbeit Gottes und dessen Nachfolgerschaft
loszusagen (al-Ṭabarī 1992, S. 499).
Ausgehend von seinem Glauben, dass er als Kalif der Vertreter/Nachfolger Got-
tes sei, war ‘Uṯmān anscheinend der Auffassung, dass ihm gehorcht werden
müsse. Folglich lehnte er ab, auf das Kalifat zu verzichten, insbesondere weil
er es als Gottes Vorherbestimmung betrachtete, dass er das Kalifat übernommen
hatte. Er verglich es mit einem Gewand, das ihm Gott angezogen habe. Hätte
er dieses Gewand ausgezogen, d. h. auf das Kalifat verzichtet, wäre dies seiner
Ansicht nach eine Ablehnung der Vorherbestimmung Gottes gewesen, was ihm
als Unglaube gegolten hätte. Aus dem Grund, dass der Kalif von Muslimen für
einen Vertreter/Nachfolger Gottes gehalten wurde, war es logisch, ihn als Gottes
Schatten auf Erden zu bezeichnen. Diese Ansicht führte zwangsläufig zu einer
quasi heiligen Stellung des Kalifen und des Kalifats.10 In diesem Sinne besteht
der Unterschied zwischen Christentum und Islam in Bezug auf den Klerus und
dessen religiöse und politische Macht eher in der Theorie und weniger in der
Wirklichkeit.11
9Al-Azmeh weist darauf hin, dass sowohl mit den göttlichen Eigenschaften wie Einheit
und Macht die Autorität der Könige (Kalifen) anschaulich gemacht wurde als auch „diese
Eigenschaften den königlichen Autoritäten zukamen“ (Al-Azmeh 1996, S. 64).
10Der säkular orientierte ägyptische Farağ Fūda, der wegen seiner scharfen Kritik an den
Islamisten im Jahre 1992 ermordet wurde, sieht in der zitierten Aussage ‘Uṯmāns einen
Beweis dafür, dass die Theorie der Herrschaft im Namen Gottes ihren Ursprung in der
islamischen Geschichte hat. Diese Ansicht hat al-Qaraḍāwī zu widerlegen versucht. (Vgl.
al-Qaraḍāwī 2007, S. 65 ff.).
11Dazu ausführlich Hefny (2014, S. 84–89; 147–151; 206 f.).
54 A. Hefny
bemerken, eine Strömung, die die westliche Kultur und deren Werte vehement
ablehnte. Folglich wurden die Erben dieser Reformbewegung, wie etwa der
Begründer der Muslimbruderschaft Ḥasan al-Bannāʾ (1906–1949) und der Theo-
retiker des aktivistischen Islams Sayyid Quṭb (1906–1966), Gründungsväter neo-
fundamentalistischer Bewegungen. (Vgl. ebd.)
Es sei hier zu erwähnen, dass das gezielte Ausarbeiten konkreter Reformen,
die in eine Reformation münden, nicht staatlich gesteuert werden darf, da sie
sonst Gefahr laufen, den Interessen der Herrschaft zu dienen. In diesem Sinne
sind Reformforderungen des ägyptischen Präsidenten an die Azhar-Lehrinstitu-
tionen zum Scheitern verurteilt, die sie eine gezielte, rein religiöse Reform ver-
langen, die aber nicht die staatliche Politik und das Herrschaftssystem infrage
stellen darf. Obwohl die unterstützende Rolle der Herrscher für die Reform
von entscheidender Bedeutung ist, könnte sie aber kontraproduktiv sein, wenn
sie den Reformern nicht die nötige Freiheit lässt. Eine gelungene Reform muss
sich sowohl auf das Religiöse als auch das Politische beziehen. Hier meint der
Islamwissenschaftler und Journalist Loay Mudhoon zu Recht: „Ohne politi-
sche Freiheiten ist eine umfassende religiöse Reform nicht möglich“ (Mudhoon
11.06.2016).
Mensch tut dies gemäß seinem Textverständnis. Vom vierten Kalifen ʿAlī (gest.
661) ist der berühmte Ausspruch überliefert, der exemplarisch für einen solchen
interpretationsbasierten Ansatz steht: „Der Koran ist zwischen zwei Buchdeckeln,
er spricht nicht; von den Menschen wird er zum Sprechen gebracht“ (al-Ṭabarī
1979, S. 48 f., 66). Das bedeutet, der Text ist nicht offenbart worden, um isoliert
von der Realität zu existieren. Vielmehr tritt er in eine Interaktion mit ihr, wobei
dem Menschen die Vermittlerrolle zukommt. Je stärker bei diesem ein tolerantes
Bewusstsein heranreift, desto mehr tritt auch die dem Text immanente Toleranz
in Erscheinung. Und je weniger er sich der Würde und der Ebenbürtigkeit aller
Menschen ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit bewusst ist, desto einseitiger
und intoleranter wird sein Verständnis des Textes sein (Hefny 03.05.2017).
In diesem Zusammenhang scheint die Unterscheidung zwischen dem
Unwandelbaren und Wandelbaren in der islamischen Religion unabdingbar zu
sein. Hierbei spricht Soroush von Wandelbarkeit religiöser Erkenntnisse und ver-
steht den Islam als eine Serie von Interpretationen. Nach Ansicht vieler muslimi-
scher Religions- und Rechtsgelehrten umfasst das Unwandelbare die moralischen
und religiösen Werte, während sich das Wandelbare auf weltliche und wissen-
schaftliche Angelegenheiten bezieht. Demnach unterliegt das religiöse Denken in
Bezug auf die Regelung des menschlichen Lebens sowie der Verhältnis zwischen
Religion zu Politik dem menschlichen Verstand, der es im Sinne des Menschen-
wohls reformieren kann.14
Zur Versöhnung des Islam und seiner ethischen Normen mit der Moderne sowie
mit den Errungenschaften und Realitäten des modernen Verfassungsstaats scheint
die Rolle der europäischen Muslime von großer Bedeutung zu sein. Hier meint
Mudhoon zu Recht, dass diese frei von Repression neue Reformideen entwickeln
können. „Dabei sollte es weniger darum gehen, bestimmte liberale oder huma-
nistische „Islam-Versionen“ zu privilegieren. Wichtiger wäre es, dafür zu sorgen,
dass plurale Islam-Verständnisse und Zugänge an den Zentren für Islamische
Theologie an den deutschen Universitäten die Norm sein würden“ (Mudhoon
11.06.2016).
14Ausführlich zur Problematik des Wandelbaren und Unwandelbaren im Islam vgl. Krämer
(1999, S. 53 f.), Krämer (1993, S. 209–227), Hefny (2014, S. 118–121).
Die islamische Rezeption der Reformation 57
Literatur
Mudhoon Loay. 2016b. Kommentar: Das schwierige Handwerk islamischer Reformer. DW.
http://www.dw.com/de/kommentar-das-schwierige-handwerk-islamischer-reformer/
a-19269908. Zugegriffen: 20. Apr. 2018.
Ourghi, Abdelhakim. 2016. Reformation des Islam – Mohammed war ein Mann der Poli-
tik und des Schwerts. F.A.Z. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/der-islam-
braucht-eine-reformation-14407083.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2.
Zugegriffen: 20. Apr. 2018.
Paulus, Christiane. 2007. Martin Luther im Muslimischen Diskurs. Journal Ethnologie.
http://www.journal-ethnologie.de/Deutsch/Aktuelle_Themen/Aktuelle_Themen_2007/
Islam_und_Reformation/index.phtml. Zugegriffen: 15. Mai 2018.
Riḍā, Rašīd. 2012. Tāriḫ al-ustāḏ al-imām al-šaiḫ Muḥammad ʿAbduh [Die Geschichte des
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Soroush, Abdolkarim. 2000. Reason, Freedom and Democracy in Islam, Essential writings
of Adbolkarim Soroush (übersetzt, ergänzt um eine kritische Einleitung von M. Sadri
und A. Sadri). Oxford: Oxford University Press.
Tīzīnī, Ṭayyib. 2005. Baʿda qarn ʿala wafāt Muḥammad ʿAbduh: al-iṣlāḥ al-ʿarabī min
iḫfāq ilā iḫfāq? [Ein Jahrhundert nach dem Tode von Muḥammad ʿAbduh: Arabische
Reformation vom Scheitern zu Scheitern?]. Al-Etihad. http://www.alittihad.ae/wajhat-
details.php?id=9914. Zugegriffen: 26. März 2018.
Teil II
Islam und Politik
Islam, Demokratie und Rechtsstaat –
Versuch einer Entwirrung
Martin Riexinger
M. Riexinger (*)
Institut for Kultur og Samfund, Aarhus Universitet, Aarhus C, Dänemark
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 61
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_5
62 M. Riexinger
Stattdessen werde ich mich auf die als Islam- und Religionswissenschaftler auf
die letzten beiden Fragen konzentrieren. Das setzt allerdings zum einen voraus,
dass die von den Diskutanten geteilte Idee, Demokratie und Rechtsstaat seien
erstrebenswert, keine Universalie ist. Zum anderen kommt man nicht umhin, zur
Kenntnis zu nehmen, dass beide Konzepte nicht notwendigerweise verknüpft
sind.
Ein Demokratiedefizit in der islamischen Welt lässt sich nicht bestreiten. Mit
der kleinen, recht neuen und noch dazu instabilen positiven Ausnahme Tune-
siens findet sich unter allen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens kein
Land, das alle Kriterien einer funktionierenden liberalen Demokratie aufweist
(Hamid 2014, S. 190–205). Mit Platzierungen im Mittelfeld folgen einige der
arabischen Monarchien, deren Verfassungen mit einem gewählten Parlament
aber einer vom Monarchen ernannten Regierungen dem deutschen Kaiserreich
ähneln, sowie Algerien, wo die alte Parteiaristokratie weiterregiert, inzwischen
aber Oppositionsparteien zugelassen sind. Am unteren Ende der Skala befinden
sich die iranische Theokratie, Monarchien ohne gewählte Kontrollorgane wie
Saudi-Arabien und Oman, in Syrien bekämpft die letzte verbliebene Einparteien-
diktatur auf brutalste Weise die inzwischen von Islamisten dominierte Opposi-
tion. Der von den amerikanischen Neokonservativen angekündigte Ausbau des
Irak zur Musterdemokratie ist gescheitert, da sich statt Debatten über Sachfragen,
ein Kampf der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen um die Vorherr-
schaft im Staate ergeben hat (Haddad 2011, S. 143–204). Ähnliches ereignete
sich im seit den 1990er Jahren relativ pluralistischen Jemen (Clausen 2015a, b),
im religiös eher homogenen Libyen kämpfen seit dem Sturz Ghaddafis Stämme
um die Macht.
Dem Modell Tunesien stehen die viel bevölkerungsreicheren Beispiele Tür-
kei und Ägypten gegenüber. In der Türkei verfügt Recep Tayyip Erdoğan, der
mit der Behauptung aufgetreten war, ein konservativ islamisches Gegenstück
zur Christdemokratie zu vertreten, zwar über eine breite Unterstützung durch
die Bevölkerungsmehrheit. Doch hebelt er seit 2008, und erst recht seit dem
Putschversuch vom 27.07.2016, systematisch Freiheitsrechte und Gewalten-
teilung aus. In Ägypten führte das demokratische Experiment im Gefolge des
„Arabischen Frühlings“ zu einem Wahlsieg der Muslimbrüder unter der Führung
von Muḥammad Mursī. Die Verängstigung säkularer Kreise nutzte der General
Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung 63
Er hatte mit der Gruppe der „freien Offiziere“ die pro-westliche Monarchie
gestürzt, und das – dysfunktionale und als korrupt wahrgenommene – Parla-
ment abgeschafft. Nach einem Jahr verdrängte er seinen gemäßigteren Kollegen
Muḥammad al-Nagīb von der Macht. Die mit den freien Offizieren zunächst
verbündeten Muslimbrüder wurden brutal verfolgt. Ein Teil von ihnen radikali-
sierte sich deswegen. Ihr Wortführer war Sayyid Quṭb, der sich in der Gefangen-
schaft zum Theoretiker des radikalen Islamismus entwickelte. Nasser ließ ihn
1966 hinrichten, für seine ideologischen Gefolgsleute wurde dadurch zu Märty-
rer, doch auch die Mehrheit der Muslimbrüder, die seine Radikalisierung nicht
nachvollzog, betrachtet dies als Beispiel für die Grausamkeit des Regimes (Kepel
1984; Calvert 2010). Sozialistisch war auch die Wirtschaftspolitik ausgerichtet.
Produktionserfolge wurden daher primär auf dem Gebiet des Ausbaus der Staats-
klasse erzielt. Allerdings war Nasser nicht wie Atatürk grundsätzlich religions-
feindlich, Gelehrte der Azhar-Universität wie Maḥmūd Šalṭūṭ versuchten den
Islam in Einklang mit dem „arabischen Sozialismus“ zu bringen (Ende 1996),
die Sufiorden wurden als eine Alternative zur politisierten Islaminterpretation der
Muslimbrüder gefördert (de Jong 1999, S. 319–323).
In Syrien (1963) und Irak (1968) ergriff per Militärputsch die Baʿṯ-Partei die
Macht, eine säkulare pan-arabisch nationalistische Partei. In beiden Ländern
führte dies in der Praxis dazu, dass die Herrschaft dieser Partei einer ethnisch
religiösen Minderheit zu weit überproportionalen Repräsentation in Regierung
und Verwaltung führte. In Irak waren dies die sunnitischen Araber, die bereits
unter den Osmanen eine privilegierte Position innehatten, in Syrien die Ala-
witen, eine über Jahrhunderte von der sunnitischen Mehrheit marginalisierte
Bevölkerungsgruppe.
In Syrien ging aus internen Auseinandersetzungen in der Baʿṯ-Partei 1970
der Flügel um Hafez al-Asad siegreich hervor, der unter sozialistischen Deck-
mantel eine Familiendiktatur etablierte. Unter den konservativen sunnitischen
Muslimen der syrischen Städte fand daher in den 1970er Jahren die Agitation der
Muslimbrüder gegen die das Asad-Regime Anklang. Gewaltakte legitimierten
sie mit Verweis auf ein Fatwas des Rechtsgelehrten Ibn Taimiyya (1263–1328),
in der zum Kampf gegen die Alawiten und zu ihrer Hinrichtung als Apostaten
aufgerufen wird. Nach einer Serie von Attentaten gegen Offiziere und Polizis-
ten belagerte das Regime ihre Hochburg, die Stadt Ḥamā, machte sie schließ-
lich dem Erdboden gleich und brachte dabei mehrere Zehntausend Menschen
um. Als sich Anfang 2011 auch in Syrien regimefeindliche Proteste regten, fiel
es dem Regime leicht das „security dilemma“ der Alawiten – und in gewissem
Maße auch anderen Minderheiten wie Christen, Ismailiten und Drusen – zu sei-
nen Gunsten a uszunutzen, indem es erfolgreich den Eindruck vermittelte, nur die
Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung 65
Stützung des Regimes könne sie vor Verfolgung, ja Vernichtung durch Islamisten
retten (van Dam 2017). Im Irak wiederum nutzen schiitische Organisationen und
politische Unternehmer die Möglichkeiten, die ihnen die Einführung des Mehr-
heitsprinzips nach 2003 bot, um systematische die Stellung der Schiiten in Staat
und Gesellschaft zu stärken.
In Ägypten verschwand der säkulare und sozialistische arabische Nationalis-
mus kläglich. Die vernichtende Niederlage gegen Israel 1967 und der Bank-
rott des sozialistischen Wirtschaftsmodells hatten den Nasserismus bereits vor
Nassers (1970) frühem Tod diskreditiert. Sein Nachfolger Sadat führte markt-
wirtschaftliche Reformen durch, die den Zusammenbruch des Landes ver-
hinderten aber zugleich keine langfristigen Perspektive eröffneten. Er milderte die
Zensur und ließ des Weiteren Oppositionsparteien zu, ohne aber eine reale Option
für einen demokratischen Machtwechsel zu eröffnen. Obgleich islamistische
Kräfte weit weniger Repression ausgesetzt waren als unter Nasser, gingen bereits
in den 1970 jahren von Sayyid Quṭb inspirierte Gruppen zum bewaffneten Kampf
gegen das „heidnische“ System über. Ziel waren Angehörige des Staatsapparats,
einschließlich der Präsidenten Sadat (ermordet 1981) und Mubarak (mehrere
Attentatsversuche), Christen und die für die Wirtschaft des Landes zentralen
Touristen (Kepel 1984).
Diese Form islamischer Militanz stieß die Mehrheit der Ägypter jedoch ab.
Die Muslimbrüder nutzten dagegen die Chancen der politischen Öffnung dazu
ihre Verankerung in der Gesellschaft durch religiöse und karitative Tätigkeiten
zu stärken. Nach dem Sturz von Sadats Nachfolger Mubarak im Januar 2011
waren sie daher die bestorganisierte politische Kraft im Lande, sie wurden so zur
stärksten Kraft im Parlament und ihr Kandidat Mursi gewann eine knappe Mehr-
heit im Parlament. Wenngleich die Muslimbrüder an der Macht äußerst vorsichtig
agierten, fürchtete das säkulare Segment der Bevölkerung, dass die Muslim-
brüder eine langfristige Strategie zum Ausbau ihrer Macht und der Islamisierung
der Gesellschaft verfolgen. Das ägyptische Militär nutzte diese Befürchtungen,
um die säkulare Bevölkerung zu einer „Revolution“ gegen die Regierung der
Muslimbrüder zu mobilisieren. Begleitet von großen Demonstrationen wurde die
Sīsīs Regierung gestürzt, kurz darauf begann die neue Regierung mit der Unter-
drückung der Muslimbrüder. Bei einem Massaker in einem Lager der Muslim-
brüder an der Rābiʿa al-ʿaḍawīya-Moschee in Kairo wurden sechs Wochen später
dabei mehrere hundert Menschen getötet (Hamid 2014, S. 86–166).
Die Entwicklung Ägyptens wurde Grad in Algerien weggenommen. Dort
regierte seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1961 die Front de la Libération
Nationale (FLN). Deren Wirtschaftspolitik war planwirtschaftlich ausgerichtet,
Öl- und Gasrenten ermöglichten es zwei Jahrzehnte, die daraus resultierenden
66 M. Riexinger
als ein Ausweg aus diesem Dilemma angepriesen.1 Sein politischer Ansatz schien
ein Bruch mit den Resten des autoritären Kemalismus zu versprechen, zugleich
aber auch zu zeigen, dass Islamisten ihren Frieden mit Demokratie und Pluralis-
mus machen können. Doch bereits Ende der 2000er waren autoritäre Tendenzen
etwa in der Hochschulpolitik unverkennbar. Das Vorgehen gegen die Proteste
gegen den Gezi-Park, hinter denen allerdings nur ein Minderheit aus der säkularen
Mittelschicht stand, die wiederaufgenommene Repression gegen die Kurden, das
undurchsichtige Verhältnis zum „Islamischen Staat“, ließ sich diese Einschätzung
nicht mehr plausibel vermitteln, die „Säuberungen“ nach dem Putsch im Juli 2016,
die nicht nur Angehörige der vermutlich verantwortlichen Gülen-Bewgungen
betrafen war sie völlig diskreditiert (Hamid 2016, S. 148–176).
Das heißt aber nicht, dass alle in den gerade genannten Kreisen sich von ihren
Illusionen verabschiedet haben. Als neuer aussichtsreicher Kandidat für den gilt
Rached al-Ghannouchi, der Führer der tunesischen Ennahda-Partei, nachdem er
sich vom Ziel der Errichtung eines islamischen Staates distanziert hatte (Piser
2016). Einiges spricht dafür, dass auch diese Bewertung voreilig ist (Hamid 2016,
S. 177–199).
Die Klarstellung hinsichtlich der beiden dominierenden Formen des
Autoritarismus im Mittleren Osten war notwendig, um einseitige Schuldzu-
weisungen zu vermeiden. Da die Diskussion hier jedoch mit Blick auf deutsche
und europäische Verhältnisse geführt wird, soll hier allein der islamspezifische
Aspekt dieser Problematik diskutiert werden. Anhänger autoritär-säkularer Ideo-
logien und Systeme finden sich auch in Deutschland, sie treten aber nicht organi-
siert und in größerem Umfang mit daraus abgeleiteten politischen Forderungen an
das politische System und die breitere Gesellschaft herantreten.
Bei der Frage, ob der Islam mit der Demokratie vereinbar sei, gilt es zwei Fallen
auszuweichen, der Essenzialismus- und der Voluntarismusfalle.
Mit Kritik am Essenzialismus rennt man fachintern offene Türen ein: „Den
Islam“ als monolithische, von den Zeitläuften unbeeinflussten Einheit gibt es
nicht. Der von allen Muslimen als verbindlicher Quellentext betrachtete Koran
wurde von jeher unterschiedlich gedeutet. Über weitere Quellentexte besteht
nicht einmal Einigkeit. Unter Sunna oder Hadith, der zweiten Rechtsquelle ver-
stehen Sunniten Überlieferungen, die sie allein auf Muḥammad zurückführen,
während Zwölferschiiten auch Aussagen, die sie ihren zwölf Imamen und
Muḥammads Tochter Fatima zuschreiben. Unter den Sunniten herrscht Uneinig-
keit, wann und in welchem Maße der Analogieschlüsse und der Konsens der
Gelehrten bei der Rechtsfindung herangezogen werden. Uneinig sind sich Mus-
lime darüber, ob mystische Inspirationen ein Weg der Gotteserkenntnis oder
Täuschungsmanöver Satans sind.
Während die Problematik Essenzialismus im Anschluss an Edward Saids
Orientalism – dessen Bild der Orientforschung selbst ein Musterbeispiel
für Essenzialismus sind – ausführlich debattiert wurde, wird die entgegen-
gesetzte, im Kontext sehr viel relevantere Problematik weitgehend ignoriert: Die
Voluntarismusfalle.
Als Voluntarismusfalle möchte ich hier die Auffassung bezeichnen, man
könne die Grundlagentexte einer jeden Schriftreligion beliebig interpretieren und
für alle Zwecke instrumentalisieren. Das ist prinzipiell nicht einmal unmöglich,
wenn man allein individuelle Auffassungen betrachtet; und für den Beobachter,
der von einem westlichen, speziell protestantischen Rahmen ausgeht, mag die
sogar plausibel erscheinen, wird in den protestantischen Kirchen doch seit Jahr-
zehnten allerlei Zeitgeist in die biblischen Texte hineininterpretiert (Graf 2011).
Aber schon, wenn man dieses Beispiel genauer betrachtet, zeigt sich, dass es weit
weniger überzeugend ist, als es auf den ersten Blick wirken mag.
Zunächst aber zum grundsätzlichen Problem. Der prinzipiell möglichen
willkürlichen Interpretation von Offenbarungstexten durch Individuen wird, wenn
es um die Konstituierung einer Religionsgemeinschaft geht, dadurch eine Grenze
gesetzt, dass die Interpretation einer gewissen Zahl von Menschen plausibel
erscheinen muss um akzeptiert zu werden. Im Rahmen einer bereits etablierten
Religion ist dies umso schwerer, als diese a) verbindende Interpretationen und b)
Regeln und Voraussetzungen für legitime Interpretationen etabliert haben. Ver-
änderungen sind möglich, verlaufen in der Regel jedoch eher zäh.
Regeln und Voraussetzungen für legitime Interpretationen sind im sunniti-
schen Islam zunächst einmal die Beherrschung von Grammatik und Lexiko-
grafie, sowie die Kenntnis der exegetischen Prophetentraditionen. Man mag
einwenden, dass andere islamische Gruppierungen hier weit weniger Skrupel
hatten, erlaubten doch diverse schiitische Gruppen die allegorische Interpretation
von Koranversen. Auf diese Weise legitimieren sie den Herrschaftsanspruch von
Muḥammads Vetter und Schwiegersohn ʿAlī samt seiner Nachkommen oder um
Lehren der Gnosis zu legitimieren. Ähnlich verhält es sich in neuerer Zeit mit der
Aḥmadiyya, deren Koranexegese dazu dient den Gründer dieser Bewegung als
Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung 69
Bei Vergleichen zwischen Islam und Christentum darf darüber hinaus der wesent-
liche Unterschied nicht außer Acht gelassen werden, dass das Christentum nie
ein Rechtssystem begründet hatte. Selbstredend erlangten auch in christlichen
Kontexten einzelne religiöse Regelungen Gesetzeskraft, besonders im Familien-
recht, das ist in einigen Ländern wie Irland bis heute relevant, und ebenso haben
in den Ländern des Nahen Ostens, wo kein säkulares Personenstandsrecht exis-
tiert, die Regelungen der christlichen Kirchen zu Gesetzeskraft. Rückgriffe auf
den Gesetzeskatalog des Pentateuch gab es gerade nach der Reformation, unter
Calvin in Genf und bei den Puritanern in Großbritannien und Neuengland, sie
blieben jedoch Episode (Witte und Kingdon 2005).
Der Grund hierfür liegt darin, dass sich die Christus-Bewegung in den ers-
ten drei Jahrhunderten fern ab der politischen Herrschaft entwickelte. Als Kaiser
70 M. Riexinger
Nur wenig später wurde in Indien und Ägypten eine weitere Antwort auf den
Bedeutungsverlust des Islams, nicht zuletzt des Rechts, für die gesellschaftlichen
Formen formuliert, eine Antwort, die in den folgenden Jahrzehnten vielen Mus-
limen sehr plausibel erscheinen sollte. Der ägyptische Lehrer Ḥasan al-Bannā
(1906–1949) hatte zwar überhaupt keine Ausbildung als Rechtsgelehrter, und
der indische Publizist Abū al-Alʿā Maudūdī (1903–1979) war als Gelehrter
nicht besonders profiliert. Beide propagierten aber die Idee, dass der Islam ein
72 M. Riexinger
umfassendes System sei, der alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassen,
gerade auch die mittlerweile dem säkularen recht unterworfenen Bereiche Straf-
recht und Wirtschaft.
Legitimiert wird dies nicht zuletzt mit einem moralisierenden, empiriefreien,
apologetischen Diskurs, dem zufolge der wahre, konsequent angewandte Islam
die Lösung für alle Menschheitsprobleme bereithält und umgekehrt alle Übel auf
die Abkehr vom Islam zurückgehen. Individuellen Selbstbestimmung wird gering-
geachtet, stattdessen werden die konsequente Durchsetzung von Geschlechter-
trennung und -hierarchie sowie der Vorrang der Muslime in der Gesellschaft
gefordert (Nasr 1996; Lia 1998; Hartung 2013). Gerade die massiven Eingriffe in
die individuelle Lebensführung, zu welcher die Implementierung dieser Ansprüche
mit sich zieht, ist verantwortlich dafür, dass so viele säkular orientierte (und nicht-
muslimische) Kreise im Nahen Osten so unversöhnlich auf islamistische Wahl-
siege reagieren und gegebenenfalls autoritäre Maßnahmen auch gegen gewählte
Regierungen unterstützen (Hamid 2016, S. 68–100, 238–268).
Maudūdī war von vornhinein „theoretischer“ und radikaler als al-Bannā, als
Vorbild für seine politische Organisation wählte er die leninistische Kaderpartei.
Er propagierte zudem die Idee, dass die Volkssouveränität ein Götze sei, und dass
eine Gesellschaft die durch sie legitimierter Gesetze anwendet, sich im Zustand
des Heidentums (ǧāhiliyya) befinde. Diese Vorstellung griff Sayyid Quṭb während
der Verfolgung durch Nasser auf, um dessen Regime als heidnisch zu denunzie-
ren. In den folgenden Jahrzehnten wurde dieser Gedanke für radikale islamisti-
sche Gruppen, während andere wie die Muslimbrüder oder türkische Islamisten
die Überwindung des Systems mit legalen Mitteln und auch politischen Bünd-
nissen propagieren.
Die beiden ersten Ansätze sind recht einfach zu erklären. Wie bereits erwähnt
beruht die Scharia zu einem weit größeren Teil auf dem Hadith. Indem dessen
Autorität und Authentizität bestritten wird, reduziert sich die Zahl verbindlicher
Normen erheblich. Diese Auffassung lässt sich erstmals Ende des 19. Jahr-
hunderts in Indien nachweisen. Sayyid Aḥmad Ḫān (1817–1898), ein Beamter in
britischen Diensten und Bildungsreformer, strebte danach das mögliche Konflikt-
potenzial zwischen Briten und Muslimen zu entschärfen. Speziell in Südasien
erfreute sich dieser Ansatz in den folgenden Jahrzehnten einer gewissen Populari-
tät in Kreisen westlich gebildeter Muslime, sein letzter bedeutender Vertreter war
in Pakistan Ġulām Aḥmad Parwez (1903–1985), dem zufolge der Islam keine
Religion ist, sondern eine dynamische Sozialphilosophie, die eine Brücke zwi-
schen dem Individualismus des kapitalistischen Westens und dem Kollektivismus
des kommunistischen Ostens schlägt (Brown 1996).
Mit der Kontextualisierung des Islams wird bestrebt, Elemente des islami-
schen Rechts, die unter heutigen Umständen als anstößig empfunden werden,
als zeitgebunden weg zu erklären. Eine elaborierte Version dieses Ansatzes hatte
in den 1990er Jahren der ägyptische Literaturwissenschaftler Naṣr Ḥāmid Abū
Zaid (1943–2010) vorgelegt (1996). Das Problem bei diesem Ansatz ist, dass
er Wissen über gesellschaftlichen Verhältnisse voraussetzt. Aus muslimischer
Sicht liegt nahe diese Informationen Prophetenbiografien und der sunna zu ent-
nehmen. Abgesehen davon, dass diese Überlieferungen aus historiografischer
Sicht problematisch sind, lässt sich deswegen der erste mit dem zweiten Reform-
ansatz eigentlich nicht verbinden. Dieser Ansatz ist primär bei Muslimen mit
säkularen Tendenzen verbreitet, zuweilen greifen selbst Gelehrte auf dieses
Argumentationsmuster zurück. Ein Beispiel ist der gegen den Islamischen Staat
gerichtete Brief vorwiegend ägyptischer und amerikanischer Gelehrter und isla-
mischer Aktivisten. Obwohl nicht zu leugnen ist, das dass die Sklaverei zu Leb-
zeiten Muḥammads nicht abgeschafft und im islamischen Recht während der
folgenden Jahrhunderte nicht hinterfragt wurde, behaupten sie, dass alle im dies-
bezüglichen Regelungen eigentlich das Ziel verfolgen diese Institution zu über-
winden. Angesichts ihrer Bedeutung in der damaligen Gesellschaft hätte dies
jedoch nicht mit einem Ruck geschehen können.2
Der dritte Ansatz ist verwandt, geht aber weiter, er kehrt eines der Haupt-
prinzipien der islamischen Jurisprudenz um, nämlich dass die nach islamischer
Überlieferung später offenbarten Versen den juristischen Gehalt der früher
Literatur
Abū Zaid, Naṣr Ḥāmid. 1996. Islam und Politik: Kritik des religiösen Diskurses. Frankfurt:
dipa-verlag (Erstveröffentlichung 1992).
Berkey, Jonathan. 2007. Madrasas medieval and modern. In Schooling Islam: The culture
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Cambridge University Press.
Calvert, John. 2010. Sayyid Qutb and the origin of radical islamism. New York: Columbia
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Clausen, Maria-Louise. 2015a. Understanding the crisis in Yemen: Evaluating competing
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Clausen, Maria-Louise. 2015b. Yemen: Fejlfortolket eller fejlslagen. Udenrigs 1:67–74.
Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung 75
Einleitung
In der islamischen Geschichte variieren nicht nur der Grad und das Niveau der
Erneuerung von Denker zu Denker und von Jurist zu Jurist, sondern auch in
Bezug auf die Vorstellung beider Gruppen, was den Umfang und die Nützlich-
keit einer Erneuerung angeht. Dann wieder gibt es Leute, die betonen, dass eine
Erneuerung in der muslimischen Gemeinschaft stattfinden soll, nicht im Islam,
und solche, die sich auf diejenigen konzentrieren, die den Begriff für sich in
Anspruch nehmen und ihn auf rein islamische Symbole verengen. Wieder andere
sprechen von einer „Erneuerung des Islam“ und arbeiten sich an deren Vertretern
ab, wobei sie einige von denen dazurechnen, die unter Salafisten als Ketzer oder
gar Feinde des Islam gelten.
Es gibt auch solche, die die Vorstellung von der Erneuerung einen kleinen
Schritt nach vorne treiben und jene kritisieren, die eine solche Erneuerung miss-
verstehen, indem sie einfach die islamischen Bücher und Handschriften präsen-
tieren, die die islamischen Juristen und Denker in alter Zeit erstellt haben, ohne
auch nur den Versuch zu unternehmen, sie für unsere aktuellen Lebensverhält-
nisse – auf welche Weise auch immer – fruchtbar zu machen. Sie tun gerade
so, als ob sie sich damit begnügten, dass die Wiederbelebung der Kultur ein
belebendes emotionales Stimulans sei, das uns wie nationalistische Lieder oder
Konzertmusik zur Aktion motiviert (Marʿašlī 1983, S. 3).
Ein Amīn al-Ḫūlī (2001, S. 43–50) denkt den Begriff einen Schritt weiter,
indem er von den Grundlagen der Entwicklung im Islam spricht, wobei er bei der
A. A. Hassan (*)
Kairo, Ägypten
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 77
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_6
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• der Ausweitung der islamischen Mission (daʿwa), wie sie sich in diachroner
und synchroner Hinsicht vollzieht, um nacheinander Völker, Stämme, Genera-
tionen, die Angehörigen unterschiedlicher Kulturen und alle Arten von Rassen
ins Visier zu nehmen;
• der Ökonomie der islamischen Mission im Verborgenen, ihrem Alleinver-
tretungsanspruch, ihrer Definition des Glaubens an jene, und ihrer Weige-
rung, detailliert über sie nachzudenken. Dies hat die islamische Doktrin dazu
veranlasst, ihr großes Potenzial für das freie Denken aufzuwenden, das sich
für alles Neue und Geheimnisvolle im Universum eignet, es mit dem Leben
bekanntzumachen und zum Wissen über das Tagesgeschehen hinaus zu
befähigen, ohne sich in Details verlieren zu müssen, die als weltfremd gelten;
• der Erleichterung des Glaubenslebens, infolgedessen der Islam in den Angelegen-
heiten des Gottesdienstes auf universelle Dinge und die allgemein umfassenden
Grundlagen verkürzt wurde. So sollte die Tür für freie Koranauslegungen in Hin-
sicht auf das Gebet, die Almosen, das Fasten und die Pilgerfahrt aufgestoßen wer-
den, von denen einige sich den Umständen entsprechend wandeln. Das nämlich
ist die Frage, die sich in Geschichte und Inhalt des islamischen Fiqh offenbart;
• der Tatsache, dass der Islam in seinen konstitutiven Texten (dem Koran) weder
in alle Einzelheiten der Entstehung des Universums, des Lebens, der Mensch-
heit, ihrer Zeitdauer, ihrem Weg und ihrem Schicksal auf der Erde, noch in
das Wesen und die Eigenschaften Gottes involviert ist. Deswegen ist der Islam
niemals in Konflikt mit den wissenschaftlichen Entdeckungen des Universums
geraten, wie dies bei anderen Religionen der Fall war. Dennoch haben die
Muslime sich mit diesen Themen beschäftigt und in den isrāʾīliyāt1 nach Ant-
worten auf ihre Fragen gesucht. Gegenwärtig aber müssen wir uns losmachen
von diesen fremden Grundannahmen, die in die Äußerungen hineingelegt
werden, die man dem Propheten zuschreibt, angefangen von den āḥād-
Überlieferungen bis zu einigen Auslegungen des Koran;
• dass der Islam sich nicht mit irgendwelchen Details zur Geschichte der Natio-
nen und der Propheten abgibt, deren Umstände der Koran zur Gänze oder in
einigen Details präsentiert, um damit die Gemeindetraditionen im Leben
der Propheten zu erklären. Von daher fürchtet der Islam nicht die materielle
Erzählung der Geschichte, die die Wissenschaft uns mittels der Archäologie
überliefert hat, sondern kann seine eigene Deutung entwickeln, um diese dem
fortschreitenden Wissen unterzuordnen; und
• dass der Islam die freie Auslegung (iǧtihād)2 zur Grundlage des Lebens
gemacht hat, um so den wandelnden und fortschreitenden Bedürfnissen Rech-
nung zu tragen. Daher haben die Juristen anerkannt, dass das Leben nicht ohne
ein Mass an muǧtahids auskommt und gefordert, dass die Menschen in jedem
Zeitalter ihre Anzahl an muǧtahids erhalten sollen.
Diese sechs Fundamente haben Ḫūlī veranlasst, furchtlos über die Entwicklung
des Glaubens und der religiösen Praktiken der Gläubigen gegenüber Gott
(ʿibādāt) sowie der Gläubigen untereinander (muʿāmalāt) zu sprechen, wobei er
mit Entwicklung die Natur der Differenzen meint, die während der islamischen
Geschichte um diese drei Säulen herum entstanden sind. Denn die Differenz um
die Glaubensartikel erstreckt sich bis zum Wesen Gottes, seinen Eigenschaften,
der Natur des Koran, ob erschaffen oder nicht, und dem Disput der Sunniten
mit der Muʿtazila über die Kausalität und die Erschaffenheit des Koran. Was
die Gott-Mensch-Beziehungen betrifft, so sind unter den Anhängern der prakti-
schen Rechtsschulen Meinungsverschiedenheiten nicht unbekannt. Es gibt freie
Auslegungen (iǧtihādāt), die nicht haltmachen vor den vier praktischen Säulen
des Islam: dem Gebet, dem Almosen, dem Fasten und der Pilgerfahrt, um sie
den Bedürfnissen einer unerbittlich sich entwickelnden Realität anzupassen. Die
Beziehungen der Gläubigen untereinander sind weniger kompliziert und die Ent-
wicklung der Bandbreite darin deutlich sichtbar (al-Ḫūlī 2001, S. 51–67).
Ḫūlī endet mit den Worten: „Die religiöse Erneuerung ist ein Entwicklungs-
prozess und die religiöse Entwicklung ist das Ende des wahren iǧtihād“ (Ebd.,
S. 66), aber Entwicklung heißt für ihn nicht, die Wurzel der Religion zu entfernen
und eine neue Religion hervorzubringen, sondern er knüpft die Erneuerung an
die Rückkehr zur Wurzel, weil alles, was an Kontroverse in die Glaubensartikel
eindringt, kein Ende nimmt, wenn wir dies nicht beenden, zum unverfälschten
2Gemeint ist: Freie Auslegung des Koran abseits der Tradition der Rechtsschulen.
(Anm. d. Ü.).
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Reform genießen soll: der politischen, der ökonomischen, der gesellschaftlichen und
der kulturellen, wobei er jedoch das Wort „Reform als“ unzureichend betrachtet, weil
es nicht den erwünschten Wandel ausdrückt.
In al-Bannās „Aufruf zur islamischen Renaissance“3 steht der Mensch im
Mittelpunkt und wird ermuntert, die Weisheit (ḥikma) als Grundlage des Gesetzes
dem Koran und der Sunna zur Seite zu stellen. Al-Bannā macht die Vernunft zum
Schiedsrichter über alle Dinge, zieht Gemeinwohl im Zweifelsfalle dem Text vor,
stellt sicher, dass der Islam Religion und Umma ist, nicht Religion und Staat, und
tilgt die Fiqh-Tradition vollständig, um sie durch den direkten Zugang zum Koran
zu ersetzen. Dazu konsultiert er die Hadithe auf Grundlage des tradierten Tex-
tes und nicht allein der Überlieferungskette, weist die muslimische Pflicht zum
Rechtsgutachten zurück, die er als neues Priestertum sieht, und lehnt die Exis-
tenz von Organisationen ab, die auf der Religion basieren, indem er sie als Klerus
betrachtet, den der Islam nicht kennt.
Das Thema Erneuerung beschränkt sich hierbei nicht auf die Produzenten des
islamischen Wissens und ihren Diskurs, sondern besteht in der Arbeit vieler arabi-
scher Schriftsteller und Intellektueller, darunter Nationalisten ebenso wie Liberale.
Beispielhaft dafür ist Zakī Naǧīb Maḥmūd, der sich dem Thema der „Erneuerung
des arabischen Denkens“ widmet, von „Werten der Tradition“ spricht und vom
„Rationalen und Irrationalen in unserer geistigen Tradition“, nachdem er jahrelang
damit zugebracht hat, sich in westliches Denken und westliche Philosophie zu
versenken, die er beide für Zeitverschwendung hielt. Als er dann die Gelegenheit
bekam, sich mit der arabisch-islamischen Kultur vertraut zu machen, sah er, dass
einiges der besonderen Aufmerksamkeit und Fürsorge bedurfte, um es zu erneuern
und unseren Lebensbedingungen anzupassen. Dies machte er sich zur Aufgabe,
wobei er mit viel Reflexion und Erkenntnis zu Werke ging.4
3Ǧamāl al-Bannā hat seine Vision in verschiedenen Büchern dargelegt, vor allem in: Die
Erneuerung des Islam und die Wiederbegründung des islamischen Wissenssystems (Arab.),
Für einen neuen Fiqh (drei Bde., Arab.), Der Islam ist Religion und Umma, nicht Religion
und Staat (Arab.), die alle im Verlag Dār al-Fikr al-Islāmī erschienen sind, der al-Bannā
gehört und dessen Werke druckt.
4Zakī Najīb Maḥmūd hat mehrere Bücher zu diesem Thema verfasst, darunter Die
Erneuerung des arabischen Denkens (Arab.), Werte der Kultur (Arab.), Das Rationale und
das Irrationale in unserer geistigen Kultur (Arab.), Unsere Kultur im Angesicht des Zeit-
alters (Arab.), Über die Modernisierung der arabischen Kultur (Arab.) und Islamische
Vision (Arab.). Diese Bücher wurden mehrfach vom Kairiner Verlag Dār al-Shurūq auf-
gelegt; einige wurden vom Verlag Mashrūʿ Makatabat al-Usra neu gedruckt.
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 83
oder Orientalisten waren. Aber diese Anstrengung unterliegt immer noch dem
Reaktionsprozess auf die Aufforderung des Westens an uns, unseren Diskurs zu
modernisieren, was ihre Kraft und ihren Einfluss erheblich mindert und Zweifel
an ihrem Zweck und an ihrer Wirkung sät.
Ich bin mir des Ausmasses der Motivation bewusst, von der viele beseelt sind,
unsere geistige Kultur zu verteidigen, wobei sie glauben, dass diese Verteidigung bei
ihnen nur insoweit Grundlage und Pfeiler hat, wenn sie die Dokumente der Ahnen
ausgraben und ein Wort hier und eines dort, einen Satz aus diesem Buch und einen
aus jenem nehmen, um zu beweisen, dass die Werte dieses neuen Zeitalters – ich
meine die hehren, edlen Werte – allesamt in unserer Kultur anzutreffen sind und wir
das Blendwerk der Modernisten nicht nötig haben. Wenn die Modernisten Freiheit,
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 85
Die Verfechter dieser verdrehten Position, die uns einen fatalen Verlust beschert
haben, behaupten, dass sie sich nur an das halten, was feststeht und gar nicht strit-
tig sein könne, weil seine Autorität absolut sei, selbst wenn sich die gesellschaft-
lichen Bedingungen änderten und die Generationen sich wandelten. Deswegen
fragt sich auch Zakī Naǧīb Maḥmūd, ob es hierbei einen Widerspruch zwischen
unserer Akzeptanz für jene in Stein gemeißelten Standards einerseits und unse-
rem Reden andererseits gibt, wonach die Wahrheit sich mit dem Standpunkt, den
wir einnehmen, wie auch mit dem Problem, das wir behandeln, ändert. Mit Ver-
weis auf ein Beispiel für seine Vorgehensweise, dass auf seinem Weg zur Küste
lauter Hindernisse liegen, die er umschiffen müsse, um sein Ziel zu erreichen,
entgegnet er: „Ebenso verhält sich die Sache in Hinsicht auf unsere unvergäng-
lichen, festgefügten Werte einerseits, und unsere relativen, sich wandelnden
Werte andererseits. Erstere sind der Kompass, letztere die notwendigen Mass-
nahmen für die unerwarteten Probleme“ (Maḥmūd 1989, S. 190–191).
Freilich scheint diese Antwort, bei allem, was sie an Rationalismus und Fort-
schritt beinhaltet, weder hilfreich noch befriedigend, da Extremisten und Radi-
kale die Definition der Konstanten, über die sie sprechen, ausgeweitet und viele
Dinge in übertriebener Weise als in die Religion eingedrungen dargestellt haben,
die dann nach ihrer Sichtweise über die Religion hinausgehen. Daher müssen wir
Anstrengungen machen, jene Konstanten zu definieren und die meisten von ihnen
in Relation zu den Kernfragen setzen, die mit dem Glauben verbunden sind, wie
Muslime ihn kennen (der Glaube an Gott, seine Engel, Schriften und Propheten
sowie das Jüngste Gericht). Was aber die speziellen Fragen der Scharia anbetrifft,
so bedürfen sie einer erweiterten Diskussion, um ihre Konstanten und Variablen
ausfindig zu machen.5 Dies ist wichtig, um das Labyrinth zu verlassen, in dem wir
herumirren und aus dem wir bis heute keinen echten Ausweg gefunden haben.
5Es gibt zwei wichtige Bücher, die zu dieser Debatte beitragen können: ʿAbdalḥalīm Maḥmūd:
Islam ist Doktrin und Gesetz (Arab.), Kairo 1998, und Muḥammad ʿAbduh: Die Botschaft des
Tauḥīd (Arab.), Kairo 2008.
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Behauptungen, wonach Dinge, die uns gegeben sind, und sei es innerhalb der
Grenzen, die für Stabilität und Festigkeit sorgen, sich auch ändern müssen, wenn
die dringende Notwendigkeit dies erfordert, können nicht auf die Tradition mit-
samt ihrem Wissen, ihrer Werte und ihrer Tendenzen zurückgreifen, weswegen
der Raum, der für Veränderungen zur Verfügung steht, eher zur Überlieferung
statt zur Vernunft genutzt wird. Doch besteht kein Zweifel, dass der edle Koran
zahlreiche Verse enthält, die sich der Aufklärung nicht nur nicht widersetzen, son-
dern sie geradezu fordern, sie verbindlich machen und auf ihr bestehen, indem
diese Verse nämlich zur Notwendigkeit aufrufen, die Vernunft in die Praxis umzu-
setzen, über die irdischen Dinge, die Schöpfungen der Natur und den Glauben an
die Evolution nachzusinnen, die Freiheit des Denkens, Äußerns und Reflektierens
hochzuhalten und jeglicher Mittlerschaft zwischen Mensch und Gott eine Absage
zu erteilen – mit anderen Worten: den menschlichen Willen von der Knechtschaft
und dem Nützlichkeitsdenken zu befreien.
Aufklärung tut not, nicht nur für uns, sondern für die Menschheit insgesamt,
einschließlich des Westens, über dessen Aufklärung wir unablässig sprechen. So
sagt Tzvetan Todorov unter dem Titel Darum brauchen wir permanent ein auf-
klärerisches Denken:
Die Prinzipien der Aufklärung bleiben mehr denn je aktuell. Beispielsweise liegt es
in unserer Macht, auf sie zurückzugreifen, um die Evolutionstheorie zu verteidigen
oder die Folter zu verurteilen, die im Namen einer höheren Staatsräson praktiziert
wird, wie wir in der Aufklärung auch eine mächtige Waffe haben, um die Kriege der
Gegenwart zu verurteilen, die vorgeblich dazu dienen, Freiheit und Demokratie zu
verbreiten, und aufgrund der wir die Vielfalt der Kulturen und Politiken respektieren
und den ökonomischen Erfolg als Mittel, nicht als Zweck betrachten.6
Die Aufklärung ist wahrhaftig vonnöten, aber nicht in Gestalt dessen, was der-
zeit als „Erneuerung des religiösen Diskurses“ gehandelt wird7, denn dies bildet
die unterste Grenze, von dem ich mir nicht vorstellen kann, dass es die Muslime
aus der Krise hinauszuführen imstande ist, in der sie gegenwärtig leben, nach-
dem einige muslimische Radikale die Religion von einer Quelle der Glückselig-
keit zu einer Ursache für Unglück gemacht zu haben. Ohnehin wird eine blosse
Erneuerung des religiösen Diskurses nicht mit etwas enden, für das wir brennen
und für das wir uns engagieren werden, weil das, was jenem Erneuerungsprozess
entgegenstehen wird, bzw. diejenigen, die diesen Widerstand leisten werden, die
religiösen Institutionen selbst sind, die den gegenwärtigen Diskurs mit seinem
schweren Defizit angestoßen haben. Solche Institutionen werden das verteidigen,
was ihnen vertraut ist und was den Interessen und dem Nutzen derer dient, die von
ihnen profitieren. Deshalb werden sie den Forderungen nach Erneuerung entweder
ausweichen, sie ihres Inhaltes entleeren oder kleinere Anpassungen vornehmen,
die nicht dem genügen können, was um des Fortschritts willen gefordert wird.
Dabei spielt es keine Rolle, ob sich diese Forderungen auf die religiöse Vision
oder auf die Wechselwirkungen der Religion mit anderen Gebieten beziehen.
Es reicht auch nicht, von der „Erneuerung des Fiqh“ zu sprechen und dies als
Ziel dessen zu betrachten, was wir anstreben, denn das wird uns zu einer ganz
anderen religiösen Situation führen, wie z. B. ʿUṯmān al-Ḫašt (2015, S. 4–5) aus-
führt, der am Ende eines Artikels die Fähigkeit zur Erneuerung des islamischen
Fiqh wie folgt hinterfragt: „Auf diese Weise landen wir nur erneut bei der Not-
wendigkeit eines geistigen Wandels als absolute Grundvoraussetzung, zu der
wir beständig drängen, um ein neues religiöses Zeitalter zu begründen.“ Diese
Begrenzung des Denkens und der Reflexion wird definitiv nicht in ein neues reli-
giöses Zeitalter führen, sondern das alte mit leuchtenden Farben übertünchen,
was nur Ignoranten und Ahnungslose als Novität halluzinieren. Hier und jetzt
ohne zu zögern geboten ist die religiöse Aufklärung, die nicht nur altruistischen
Zwecken dient, sondern auch, weil sie im Interesse der Religion, der Gläubigen
und dem Rest der Menschheit liegt. Diese Ziele sind folgende:
Das Image des Islam zu retten, das durch die Worte und Taten der Extremisten
großen Schaden genommen hat, indem sie sich dieser Religion bedienen, um Tod
und Zerstörung zu rechtfertigen. Ihr Ausgangspunkt ist das Verhältnis zu anderen
Menschen, seien es Muslime, die nicht Teil ihrer extremistischen Vereinigungen
sind, oder Nichtmuslime. Dies ist der offene Konflikt, in dem von allen Tricks
Gebrauch zu machen erlaubt ist. Diese Extremisten haben im Laufe der islami-
schen Geschichte viele schlechte Dinge verbrochen, die den Zustand und das
Image des Islam befleckt haben. Einige Versuche, diese Leute anzugehen wie auch
der Einsatz traditioneller religiöser Institutionen, die Religion von solch toxischen
Elementen zu säubern, sind fehlgeschlagen, weil diese Anstrengung, anstatt den
Radikalismus „entschieden kognitiv und ethisch“ zu konfrontieren, nur spora-
disch, marginal, oberflächlich und zögerlich erfolgte, da jeder, der sie unternimmt,
einiges an geistigem Gepäck mit sich trägt, das auch die Extremisten tragen.
Sobald die Aufklärung einsetzt, wird sie den Radikalismus konfrontie-
ren und den Terrorismus einhegen und positiv auf das Image des Islam und der
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Muslime einwirken, das zutiefst Schaden genommen hat durch den orientalisti-
schen, impressionistischen, kolonialistischen und hetzerischen Diskurs, der eben
nicht auf die Suche, das Studium und die Erlangung der Wahrheit abzielt. Dieses
negative Image war jedoch in vielen Curricula des Westens vorherrschend, wäh-
rend die Verfasser von Enzyklopädien, von Fach- und Lehrbüchern in den Län-
dern des Westens den edlen Koran, den Islam, den Propheten Muḥammad, die
Araber und Muslime auf eine Weise darstellten, die nicht nur weit von wissen-
schaftlicher Objektivität und Integrität entfernt ist, sondern zuweilen ebenso von
menschlichem Gefühl, Geschmack und Kultur.8 Seinen Höhepunkt hat dies mit
den beleidigenden Karikaturen des edlen Propheten erreicht, die den Gefühlen
der Muslime große Verletzungen zufügten, indem sie sich ihnen gegenüber einer
groben, überheblichen, beleidigenden, widerlichen und rassistischen Sprache
bedienten.
Es gilt, die Muslime zu retten, die nicht nur dank des Diskurses und der
Praktiken der Extremisten einen hohen Preis bezahlen, sondern ebenso dank
der Anhänger einer starren und salafistischen Vision von Modernisierung, stam-
men sie nun aus den traditionellen Institutionen oder folgen Missionaren und
Predigern. Denn der Eintritt in den Horizont der Moderne verlangt, dass die
Voraussetzungen für den Fortschritt verinnerlicht werden. Dazu gehören das
wissenschaftliche Denken, die Offenheit gegenüber dem Anderen, der Gebrauch
der Vernunft in der Bewältigung des Alltags, der Glaube an Pluralismus und Viel-
falt innerhalb der Gesellschaft, die Weigerung, alles religiös einzufärben und
eine spezifische religiöse Vorstellung über alles richten zu lassen, was Menschen
sagen und tun, wobei die Vernunft ausgeschaltet oder ignoriert, der Bereich des
ḥarām ausgeweitet, der des ḥalāl eingeengt und im weitesten Sinne alles, was mit
dem „Vergeben“ zusammenhängt, vergessen wird. So waren die Muslime häufig
als Ergebnis der Tatsache zurückgeblieben, dass der Scheich-al-Islam im Osmani-
schen Reich per Rechtsgutachten den Buchdruck verboten hatte und die Scheichs
in allen möglichen Ländern vielfach seinem Kurs gefolgt waren, sodass die Mittel
und Produkte der Modernisierung auf gesellschaftlicher, politischer und wissen-
schaftlicher Ebene verboten wurden.
Es muss Schluss damit sein, die Anhänger anderer Religionen in den musli-
mischen Ländern zu beleidigen. Die Rhetorik der Extremisten, Engstirnigen und
8Für weitere Details zu diesem Punkt s. Das Bild der Araber und Muslime in den inter-
Hardliner, die Gott nur dem Wortlaut nach anbeten, besteht darin, den Glauben
jener zu verleumden, ihn zu verachten, aus Unwissenheit zu verwerfen und zu
versuchen, Andersgläubige dauerhaft die vollen staatsbürgerlichen Rechte vor-
zuenthalten. Dazu ziehen sie entweder historische Verfahren heran, die keine
Gültigkeit mehr beanspruchen können, oder diskriminieren Andersgläubige am
Arbeitsplatz, im Bildungswesen oder beim Erhalt von Dienstleistungen etc., oder
betrachten sie gar als Freiwild und greifen ohne die geringste Rücksicht oder
Zögern ihr Leben, ihren Besitz und ihre Ehre an.
Wir müssen den Schaden kitten, der den nichtmuslimischen Gemeinschaften
von Extremisten und Terroristen zugefügt worden ist, die im Namen des Islam
töten und zerstören, nachdem sie die Welt in zwei Hälften geteilt haben, wie der
verstorbene al-Qaida-Führer Osama bin Laden es formuliert hat, als er auf das
historisch überlieferte Konzept einer Einteilung der Welt in das „Haus des Krie-
ges“ und das „Haus des Friedens“ zurückgriff, mit dem die imperiale Expansion
der Umayyaden, Abbasiden und Osmanen im Namen der Verbreitung und des
Schutzes des Islam rechtfertigt worden war. Denn die Terrororganisationen haben
viele Länder im Orient wie im Okzident ins Visier genommen und es geschafft,
terroristische Anschläge gegen Einrichtungen, Institutionen, Menschen, Staats-
bürger und deren Interessen auszuführen. Sie schüchtern Menschen dadurch ein,
dass sie sie für Ungläubige erklären, zu mittelalterlichen Fehden aufrufen oder
nicht zwischen solchen Ländern unterscheiden, die die Araber, Muslime u. a.
angreifen, und solchen, die es nicht tun. Letztere fallen dann allein deshalb der
terroristischen Bestrafung anheim, weil sie westliche Länder sind oder die Mehr-
heit ihrer Bevölkerung sich zum Christentum bekennt.
überzeugt alle. Die Männer anerkennen das Recht, aber das Recht anerkennt die
Männer nicht.
Im Prinzip reden die Anhänger dieser Gruppen auf eine Weise, die deutlich macht,
dass sie diese vier Unterscheidungen zwar nicht völlig bestreiten und dass sie dar-
auf aus sind, nach der Quelle oder Wurzel zu forschen und nicht nach dem, was in
den Glauben von außen eingedrungen ist. Wenn sie jedoch anfangen, diese Vor-
stellung in einen Diskurs zu übertragen oder versuchen, sie auf die Lebenswirk-
lichkeit anzuwenden, verfallen sie in gravierende Fehler, indem sie z. B. Göttliches
mit Menschlichem vermischen, Text und Diskurs gleichsetzen, oder leugnen,
dass der heutige gesellschaftliche Kontext mit seinen Problemen und Heraus-
forderungen ein anderer ist als der, mit denen die Ahnen konfrontiert waren.
Es gibt engstirnige und extremistische religiöse Vereinigungen, die dazu über-
gegangen sind, sich einigen dieser Probleme zu stellen. Dies ist insbesondere in
den arabischen Ländern Fall, wo sie in großen Schritten auf die Politik zusteuern
und diese Probleme in erschreckender Weise offen zutage treten. Diese Ver-
einigungen sind, sobald sie ihre Anschauungen offenbaren, die sich in ihren Köp-
fen über die komplexe Realität festgesetzt haben, und die sich einbilden, sie seien
fähig, Schwierigkeiten zu überwinden, Probleme zu lösen und zufriedenstellende
und adäquate Antworten auf sich erneuernde Fragen zu liefern, klar und deutlich
gescheitert. Einige von ihnen haben immerhin begonnen, den „Interessen“ der
Menschen das Gewicht beizumessen, das sie verdienen, und das Tor des iǧtihād
so weit zu öffnen, dass es diesen Interessen entgegenkommt.
Aber es wird immer welche geben, die den Wandel ablehnen und die jeden,
der sich zum Besseren wandelt, als jemanden darstellen, der das religiöse Gesetz
übertritt, die Religion verfälscht oder beleidigt, und die dabei Menschen fin-
den werden, die ihnen bewundernd und leidenschaftlich zuhören und unkritisch
und blind in ihren Fußstapfen folgen. Damit startet eine neue Staffel der Sala-
fismus-Serie, die noch nachglimmt, wenn sie erloschen, und sich noch ausdehnt,
wenn sie in sich zusammengefallen ist. Sie bringt die Herzen all derer zum Schla-
gen, die daran glauben, dass der Salafismus die „geheime Lösung“ für die Pro-
bleme und Krisen der Gegenwart bildet, die sich unentwegt erneuern, verknoten
und außer Kontrolle geraten.
Genauer gesagt, ist es uns nicht möglich, selbst kleine Schritte in Richtung
Aufklärung zu machen, ohne die fünf elementaren Dinge anzuerkennen, die man
wie folgt formulieren und umreißen kann:
1. Der Glaube ist eine individuelle Angelegenheit, was bedeutet, dass es keine
Mittlerinstanz zwischen dem Gläubigen und seinem Gott gibt und niemand das
Recht hat, den Glauben eines Menschen zu verurteilen oder über ihn zu richten,
92 A. A. Hassan
wie er auch kein Recht hat, sich in anderer Weise in die Definition seines Glaubens
einzumischen als durch Erinnerung oder Mahnung, keinesfalls aber durch Vor-
mundschaft, Kontrolle oder Zwang den Menschen ihren Glauben verkünden darf.
Diese Auffassung steht nicht nur im Einklang mit dem Inhalt des koranischen Tex-
tes, sondern ist auch mit der natürlichen Vernunft vereinbar. Jegliche Handlung, die
dem entgegengesetzt ist, korrumpiert die Wahrheit des Glaubens, macht die Reli-
gion zu einer Quelle des Unglücks und verbreitet Heuchelei, um ein Tor für die
wenigen zu öffnen, die daraus ihren Lebensunterhalt bestreiten, Prestige gewinnen
oder eine Lebensaufgabe gefunden haben, indem sie die Religion schändlich aus-
nutzen.
Gott der Allmächtige sagt, zum Propheten Muḥammad gewandt, wie es der
Koran (88:21–22) überliefert: „So ermahne: du bist nur ein Ermahner, du hast
keine Macht über sie“, womit Gott das Amt des Propheten als Übermittlung defi-
niert, nicht als Zwang im Glauben. Dennoch traten mit den Jahren Gruppen oder
Individuen auf, die den Glauben aufzwingen, d. h. den Beitritt und die Bindung
an ihn über das Prinzip namens al-amr bi-l-maʿrūf wa-l-nahy ʿan al-munkar („das
Gute gebieten und das Schlechte verbieten“) erzwingen wollten, obwohl das
amr (Gebieten) wie auch das nahy (Verbieten) nicht über Mitteilung, Erinnerung
und Mission hinausgehen und nicht bedeuten, dass die Menschen zu einem
bestimmten Verhalten gezwungen werden. Schließlich ist dieses Prinzip von Men-
schen gemacht oder sie haben es mit dem Inhalt der Offenbarung vermischt, näm-
lich durch Exegese, historische Überlieferungen, sowie Regeln und Rituale, die
sie festlegen, um dann von den Menschen zu verlangen, dass sie sie befolgen,
sonst würden sie aus der Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen und samt ihrem
Besitz und ihrer Ehre von den Extremisten geächtet werden. Gleichzeitig muss
ein „Wandel vom blinden Glauben zum Glauben als Wettbewerb“ (Lakhdar 2014,
S. 13) stattfinden, d. h. der Glaube muss auf Verstehen, Bewusstsein und freier
Entscheidung beruhen und nicht darauf, dass der Mensch das übernimmt, was vor
ihm war und er damit umgeht, als handele es sich um eine ihm überreichte Sache,
über die er weder nachzudenken noch zu reflektieren braucht.
2. Die Vernunft ergänzt den Vorgang der Offenbarung: Den traditionellen
religiösen Annahmen zufolge ist die Vernunft entweder ein Gegner der Offen-
barung, oder sie strebt danach, diese zu unterdrücken und einzuengen, oder sie ist
unzureichend zum Verständnis der Offenbarung, d. h. wie ein Blinder, und damit
unfähig, ihrem Inhalt zu folgen. Manchmal geschieht dies unter der Parole „Kein
iǧtihād bei eindeutigem Text“, besonders wenn dieser Text gemäß der bekannten
Klassifizierung als „absolut feststehend und absolut bewiesen“ gilt, und manch-
mal in der Auffassung, dass die Altvorderen ein grösseres Verständnis von der
Religion hatten als die nachfolgenden Generationen.
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 93
Für den Menschen ist Gott der Erhabene die Quelle der Wissenschaft und des Wis-
sens, indem er sich den Propheten offenbart und von ihnen verlangt hat, die Offen-
barung den Menschen und damit dem menschlichen Verstand zu übermitteln, der
das Universum, mit allem und allen, die darin sind, betrachtet, durchdenkt und
reflektiert. Wenn wir über die wissenschaftliche Wahrheit im Sinne der religiösen
Wahrheit reden, deren Grundlage die Offenbarung ist, so bedeutet dies nicht, dass
die andere wissenschaftliche Wahrheit, deren Grundlage die menschliche Vernunft
ist, außerhalb des Genannten liegt, das von der Lehre und der Erforschung der
koranischen Begriffe handelt.
In den Augen von Ḫalafallāh bleibt die Offenbarung grundlegende Quelle für
unser Wissen über Gott, das Universum, die Schöpfung und vieles von dem,
was in der Natur um uns herum liegt. Aber dies hält das Wissen nicht davon
ab, für den Verstand verfügbar zu sein, um Gegenstand des Nachdenkens zu
werden. Zugleich gibt es nichts, was den Verstand daran hindern könnte, über
andere Dinge nachzudenken, die weit davon entfernt sind und von den Ent-
wicklungen erzwungen werden, von denen das menschliche Leben geprägt ist.
Lafif Lakhdar trägt diese Fragestellung noch einige Schritte weiter, wenn er
für die „Reform des Islam“ im Sinne dessen plädiert, was er „Rationalismus“
nennt, und sagt: „Das Ziel der Reform des Islam ist es, den zeitgenössischen
Islam dahin zu bringen, dass er den islamischen religiösen Rationalis-
mus annimmt, weil er dadurch zu den anderen Religionen, mono- wie poly-
theistische, aufschließen wird, die ebenfalls den religiösen Rationalismus
angenommen haben, und er so mit dem absoluten unverdorbenen Glauben der
Alten zusammenfällt“ (Lakhdar 2014, S. 19).
Für Lakhdar meint „religiöser Rationalismus“, die Institutionen, Wissen-
schaften und Werte der zeitgenössischen Welt, sowie den entschiedenen Glauben
an die Menschenrechte zu akzeptieren und die geistige Lähmung zu überwinden,
zu der es zwangsläufig kommt, wenn der Blinde dem Altvorderen folgt und
dessen Denkweise und Religiosität übernimmt (Ebd., S. 19–20), obwohl die
Umstände unserer Zeit von denen ihrer Zeit verschieden sind und viele der Fra-
gen, die sich uns jetzt stellen, von jenen unterscheiden, die sich ihnen gestellt
haben.
3. Das moralische Bewusstsein und alles, womit sich die religiösen Visio-
nen befassen, die aus extremer Armut hervorgegangen sind, existiert seit der
Frühzeit der arabisch-islamischen Kultur. Was aus dem „Sieg des Fiqh über
die Philosophie, der Scharia über die Moral und das unabhängige mensch-
liche Bewusstsein, sowie der Religiosität über die Religion hervorgegangen
94 A. A. Hassan
ist, hat nicht zum Durchbruch einer islamischen Ethik beigetragen, die von
Selbstdisziplin, Autonomie und Verallgemeinerungsfähigkeit geprägt ist“
(Barhūma 2014, S. 76–77). Das Fehlen des moralischen Aspektes, der eng mit
der Spiritualität und Wachheit des Geistes verbunden ist, hat die Gottesdienste
(ʿibādāt) in ein Bündel leerer Rituale verwandelt und die zwischenmenschlichen
Beziehungen (muʿāmalāt) dem Nützlichkeitsdenken unterworfen, indem man
entweder schnelle diesseitige Profite erwirbt, oder danach strebt, spätere Profite
im Jenseits zu erlangen, indem man durch nüchtern kalkulierte Taten Pluspunkte
sammelt. Vertreter dieses Denkens glauben, dass es in ihrer Macht liegt, davon
zu profitieren, wenn sie sich an die Gerechtigkeit Gottes halten, nicht etwa an
seine Gnade oder Gunst, wobei sie Fiqh und Koranexegese zur Anwendung brin-
gen, die ihnen in ihrer Auffassung, die zum Äußeren der Texte neigt, entgegen-
kommen.
Natürlich ist
eine Anstrengung oder ein Projekt namens Renaissance, Aufklärung oder Reforma-
tion in der arabischen Region oder muslimischen Welt im allgemeinen nicht voll-
ständig, wenn es sich nicht hinreichend mit der Idee der Reform religiöser Ideale
und Werte befasst und wissenschaftlich ernst zu nehmende Anstrengungen theo-
retischer und philosophischer Art unternommen hat, die sich mit der Natur der
Beziehung von Religion und Ethik befassen (Ebd., S. 7).
Folglich muss, wer eine Reform begehrt, danach streben, eine offene Moral zu
etablieren, die auf den Werten der Freiheit, des Rationalismus und der Gleich-
heit unter den Menschen beruht, um, ungeachtet ihrer Verschiedenheit in vie-
len Dingen, eine Vision zu artikulieren, die mehr auf den Menschen vertraut
und gegenüber den Vorstellungen und Angeboten des starren und geschlossenen
Fiqh mitsamt seinen verzweifelten und holprigen Auslegungen in Bezug auf den
Menschen standhaft bleibt, die Existenz ethischer Annahmen, die nicht religiö-
ser Natur sind, anerkennt, und der Überlieferung des Volkes in Urteilen, Sprich-
wörtern, Erzählungen und aller Arten von Philosophie, Kontemplation, Literatur
und Kunst etc. seine Reverenz erweist (Ebd., S. 19–50).
Im allgemeinen gibt es im religiösen Feld theoretisch mindestens zwei
Paradigmen für den Wandel. Das erste geht von den Propheten aus, die als
inspirierende Persönlichkeiten an einer Veränderung der öffentlichen Moral
arbeiten, was dann zur sozialen Reform führt. Das zweite bilden die sozialen
Bewegungen, die sich um Autoritäten oder spirituelle Führer gruppieren, die
ihrerseits darauf bedacht sind, eine spirituelle Revolution ins Rollen zu bringen
(Acquaviva und Pace 2011, S. 148). Alle beide, Ethik und Geist, mangeln der
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 95
um eine Literatur, deren Genre der Ratschlag zur Erleichterung der Staats-
angelegenheit darstellt. Sie enthält in allen Abschnitten eine gewaltige Menge an
ethischen Empfehlungen und Verhaltensregeln, die der Herrscher befolgen muss:
angefangen von seinen persönlichen Verpflichtungen bis hin zur Art und Weise,
wie er mit seinen Untertanen umgeht, seine Diener auswählt und überprüft, und
schliesslich, wie er sich seinen Feinden gegenüber zu verhalten hat. In der Prä-
sentation ihrer Ratschläge, die auf die Stärkung der Macht und Dauer des König-
tums abzielen, folgt diese Literatur einer Methodologie, oder sagen wir: einer
paradigmatischen praktischen Vorstellung, die aus den Ratschlägen letztlich ein
anwendungsorientiertes politisches Denken macht, wobei sie weder auf Theore-
tisierung aus ist, insoweit diese sich auf Erfahrung stützt, noch nach einer Ganz-
heitlichkeit strebt, die sich an den Grenzen der herrscherlichen Realität bemisst
(ʿAllām 2006, S. 8–9).
ʿAlī ʿAbdarrāziq10 (2002, S. 88, 105, 113) ist noch darüber hinausgegangen,
als er in seinem Buch, das noch immer heftige Kontroversen hervorruft, die Frage
stellte:
Wieviel von einem König ist kein Prophet oder Gesandter Gottes? Wieviel Pres-
tige zöge Gott aus den Gesandten, wenn sie Könige wären, wo doch die meisten
Gesandten, die wir kannten, einfach nur Gesandte waren? … Muḥammad war nur
ein Gesandter für die rein religiöse Mission zur Religion, ohne einer Neigung zum
König oder einer Mission für den Staat verdächtig zu sein. Tatsächlich verfügte der
Prophet weder über eine Herrschaft noch über eine Regierung und er hat auch kein
Königreich in dem Sinne begründet, dass er unter diesem und ähnlichen Begriffen
eine Politik verstanden hätte, die nicht die eines Propheten war, wie dies auf seine
Brüder zutrifft, die keine Propheten waren. Er war weder ein König noch ein Staats-
gründer noch rief er zur Herrschaft auf … Der Koran ist darin eindeutig, dass
Muḥammad nur das Recht der Offenbarung über seine Gemeinde hatte.
Die Verknüpfung des Islam mit der politischen Macht führt zur Formierung des
„religiösen Staates“ –
ein Begriff, der im zeitgenössischen politischen Denken Ängste weckt, insofern als
er dem Staat das Monopol über die Deutung des religiösen Textes verleiht, was ihn
zum Eigentümer der göttlichen Macht erhebt, die diesem Text inhärent ist. Sie ist
nämlich ihrer Natur nach eine absolute Macht und geschützt durch Bestrafungen,
die bis zur Todesstrafe reichen … Daher sollte der Staat seine Gewalt aus einer
zweifachen Macht beziehen: Der natürlichen Macht des Staates selbst und der
himmlischen Macht der verborgenen Autorität (Yāsīn 2009, S. 350).
Wenn wir uns mit der Natur der Rolle des Propheten befassen, müssen wir zwi-
schen „Führerschaft“ und „Präsidentschaft“ unterscheiden, denn erstere ist von
gesellschaftlicher Natur, d. h. sie basiert auf den Eigenschaften und Qualitäten
der Person, die die Akzeptanz der Gemeinschaft genießt, zu der er gehört und die
ihm Verehrung, Respekt und Liebe entgegenbringt, ohne ihr gegenüber offiziell
verpflichtet zu sein und ohne, dass sie eine offizielle Macht über sie hätte. Die
zweite wiederum verfolgt einen offiziellen Zweck, dessen Wesen an die Existenz
eines Amtes gebunden ist, wobei jemand, der dieses ausübt, nicht notwendiger-
weise Liebe, Respekt oder Verehrung genießt. Er hat nur kraft dessen, was sein
Amt ihn an Kompetenzen zur Verfügung stellt, Gewalt über die Menschen. Ich
10ʿAlīʿAbdarrāziq (gest. 1966): Ägypt. Jurist und Verfasser des einflussreichen Buches Der
Islam und Grundlagen der Herrschaft (1925). (Anm. d. Ü.).
98 A. A. Hassan
glaube, dass die Stellung des Propheten die eines „Führers“ der Muslime war,
nicht die eines Präsidenten und dass sein politisches Verhalten Ausdruck seiner
Führerschaft war und nicht der Präsidentschaft entsprang.
Aus all diesem ergibt sich, dass es keine wahre Aufklärung gibt, ohne diese
Unterscheidung zu treffen, die nicht die Trennung der Religion von der Politik
meint, was ein rein theoretischer Vorschlag wäre, der deshalb schwer umzusetzen
ist, weil Politik und Religion gemeinsam fallen und steigen und sich in allen Kul-
turen, Gesellschaften und in allen geschichtlichen Epochen vielfach gekreuzt
haben und in unterschiedlicher Stärke begegnet sind. Was ich meine, ist viel-
mehr eine vollständige Scheidung der Religion von der politischen Macht, damit
die Religion sich nicht in eine Ideologie (politische Überzeugung) verwandelt,
irgendein Herrscher behaupten kann, dass sich seine Macht von Gott herleite, er
die Religion für seine politische Propaganda ausbeutet oder dem Konflikt zwi-
schen den Wettbewerbern auf dem politischen Feld ein Spielraum eingeräumt
wird, innerhalb dessen sie in der politischen Praxis von der Richtig/Falsch-Linie
zur Glaube/Unglaube-Linie übergehen könnten.
5. Die Modernisierung der Gesellschaft ist ein weiterer Punkt. Viele glauben,
dass in der Dürftigkeit der Anstrengungen von Rationalisten und Aufklärern der
Grund dafür liegt, dass es bei den heutigen arabischen Modernisten zu keiner
Aufklärung und keiner echten religiösen Reform gekommen ist. Dies ist jedoch
nicht das ganze Dilemma, sondern nur ein Aspekt davon und auch nur ein gerin-
ger und untergeordneter Aspekt gegenüber der dringenden Notwendigkeit, die
Modernisierung in allen ihren Dimensionen überhaupt zu verwirklichen. Hierzu
sagt Maḥmūd Amīn al-ʿĀlim, der die Schriften einer Reihe von arabischen Philo-
sophen und Intellektuellen eingehend studiert hat, die sich der Frage widmeten,
warum die Aufklärung eines Averroes bei uns versandet ist, während die Europäer
sie zu nutzen wussten:
Allerdings gibt es Leute, die dazu aufrufen, nicht länger auf die Entstehung
gesellschaftlicher Bedingungen zu warten, damit sich Aufklärung und Demo-
kratie einstellen. So sagt Muḥammad Ǧābir al-Anṣārī (1992): „Wenn das
allgemeine soziale Klima das Hindernis für die intellektuelle Befruchtung dar-
stellt, wann war dann die Geschichte gnädig mit den Intellektuellen und Kultur-
schaffenden?“ Hat Europa nicht seine frühen Gelehrten verbrannt, als sie von
der Kugelform der Erde und ähnlichem sprachen? Trotz allem schritt das euro-
päische Denken auf seinem Weg voran, um zu geben und zu erneuern, und hatte
zwar nicht auf das Kommen der Demokratie gewartet, diese jedoch letzten Endes
hervorgebracht, indem es neue Gedanken, praktische Programme und passende
Formeln präsentierte. Dies ist ein Faktum, über das man nachdenken sollte. Das
europäische Denken ist der historische Vater der europäischen Demokratie, nicht
umgekehrt, dass also die Demokratie das Produkt eines bahnbrechenden, inno-
vativen Denkens ohne Vorläufer wäre. Die arabischen Intellektuellen bestehen
allerdings naiverweise darauf, dass der Karren vor das Pferd gespannt wird, und
sagen: Gebt uns Demokratie, dann geben wir euch ein entsprechendes Denken,
und wenn nicht, dann nicht. „So begreifen sie die Realität ihrer Gesellschaften.“
In Wahrheit liegt kein Widerspruch zwischen diesen beiden Richtungen, denn
wer die Aufklärung in allen seinen Spielarten mit der Modernisierung verknüpft,
verbleibt auf der authentischen Seite der Realität, und wer die Intellektuellen
dazu aufruft, nicht auf die politische Reform zu warten, mit der sie die intellek-
tuelle Reform unternehmen könnten, verbleibt ebenfalls auf der authentischen
Seite der Realität, die nicht weniger bedeutend ist als die erste. Denn die Intel-
lektuellen müssen für die Aufklärung kämpfen, was auch immer die Bedingungen
ihrer Gesellschaften sein mögen, und wenn diese Bedingungen noch nicht
geschaffen sein sollten, dann dürfen sie nicht schweigend, seufzend und untätig
herumsitzen, sondern müssen die geeigneten Ideen und Vorstellungen vorlegen,
die für eine Anpassung an diese Herausforderungen sorgen. Sie müssen sie den
Menschen unterbreiten und wenn diese sie verstehen und an sie glauben, wer-
den sie Druck zugunsten der Aufklärung machen oder sich individuell in ihrem
Sinne verhalten. Dann wird sie Realität werden und sei es nur schrittweise, weil
die Macht, wenn ihre Stunde gekommen ist, der Aufklärung nicht im Wege stehen
wird, wenn es darum geht, auf das, was die Menschen verlangen, eine Antwort
zu finden. Anderenfalls würde sie ihre Legitimation verlieren und sich zu einer
Macht wandeln, die stürzt und unvermeidlich fällt und, je länger sie sich hält, um
so mehr an die Herrschaft klammert.
100 A. A. Hassan
Es gibt Leute, die sich über einen Titel von dieser Klarheit wundern und mit vor
Staunen aufgerissenen Augen fragen: Braucht der Islam überhaupt eine Reforma-
tion? Sollte sich der erstaunt Fragende nun bis zur Ermüdung mit dem Denken,
der Suche und der Lektüre der Literatur zum Thema Geschichte, Fiqh, Exegese
und Umma sowie vorab derjenigen zur vergleichenden Religionswissenschaft
beschäftigt haben, dann wird er feststellen, dass der Islam gekapert worden ist.
Was wir von ihm besitzen, ist nicht mehr das, was der Prophet hinterlassen hat,
wie auch die Essenz des Islam, die auf zwei zentralen Werten basiert, nämlich
dem strikten Monotheismus (tauḥīd) und der Gnade (raḥma), sich zu unterschied-
lichen Formen von Ideologien, Legenden, Folklore, Kommerz und Neurosen
gewandelt haben. Institutionen und Individuen haben dies durch die Geschichte
hindurch ausgenutzt oder instrumentalisiert, bis wir nichts mehr vom Islam zu
sehen bekamen. Schwerer Schutt hat sich über ihm aufgetürmt, seine sprudeln-
den Quellen zum Versiegen gebracht und seine Natur und Essenz zerstört, wie es
zuvor schon anderen Religionen widerfahren ist. Deswegen bedarf es der Refor-
mation.
Die Salafisten werden einwenden, dass sie doch die eigentlichen Reforma-
toren seien, verlangten sie doch die Rückkehr zur den Wurzeln. Allerdings ent-
behrt diese Auffassung einer wissenschaftlichen Methodik, die nach der Wahrheit
sucht, nicht bloss nach dem „forensischen Beweis“, der aus dem Text, dessen
Exegese, sowie der Geschichte und seinen Ereignissen abgeleitet wird. Was in
dem Jahrhundert nach dem Tod des Propheten kodifiziert wurde, kann nicht das
sein, was sich damals genau zugetragen hat, da vieles hinzugefügt wurde, was
den damaligen Vorstellungen und Anforderungen sowie dem gesellschaftlichen
Entwicklungsstand mit einer großen Bandbreite an Absichten und Interessen ent-
sprach.
Auch die Methode, der die Salafisten folgen, um zur Quelle zu gelangen, ist
ein menschliches Konstrukt, das sich nicht bruchlos in der Geschichte der Mus-
lime fügt (Ibn Ḥanbal, Ibn Taimiyya, Ibn ʿAbdalwahhāb, einschließlich vie-
ler ihrer Schüler und Anhänger). Würden die Salafisten anerkennen, dass ihre
Lehre lediglich iǧtihād und damit eine Facette des Islam darstellt, so wäre die
Sache nicht weiter der Rede wert, doch bedauerlicherweise bilden sie sich ein,
dass ihre „die wahre Religion“ sei. So wie sie machen es viele Gruppen, Ver-
einigungen und Organisationen, die sich mehr mit der Religion beschäftigt haben
als es ihnen guttut und die sie in ein Instrument verwandelt haben, mit dem sie
Ziele und Zwecke verwirklichen, die nicht mit der Rolle vereinbar sind, die die
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 101
Menschen von der Religion zu spielen erwarten. Was sich die Menschen von Gott
wünschen, ist spirituelle Erfüllung, ethische Erhabenheit und das Hochhalten von
Werten wie Gnade, Freiheit, Gleichheit, Würde, Glück und Mitmenschlichkeit.
Viele sagen, dass all dies im Koran vorhanden sei, sei dieser doch der „konsti-
tutive Text“ des Islam, der, solange er uns zur Verfügung steht, uns die Möglich-
keit gibt, zur Wurzel derjenigen Religion zurückzukehren, die auf Muḥammad
herabgesandt worden war. Die Salafisten vergessen dabei vier Dinge:
Erstens, dass der Koran binnen weniger Tagen dem Vergessen anheimgefallen
war und zu einem Buch wurde, das mehr um des Segens willen gelesen wird als
über seinen Inhalt nachgedacht, möglichst präzise verstanden und mit modernen
wissenschaftlichen Methoden sich ihm angenähert wird. Den Platz des Koran ein-
genommen haben, wenn auch die meisten von uns sich dessen nicht bewusst sind,
andere menschengemachte Texte, die ihn interpretieren und seine Bedeutungen
und Absichten erläutern sollten, ihn jedoch allmählich überlagert und überdeckt
haben, sodass er aus unserem Blickfeld geraten ist.
Das zweite ist, dass der Koran häufig unvollständig gelesen wird, wodurch
seine wahre und natürliche Präsenz aus unserem Leben entschwindet. Das macht
ihn zu einem Objekt der Manipulation durch Extremisten und Ideologen, die ihn
dahin gehend ausnutzen, dass er ihren verdrehten Lebensstil rechtfertigt, ihre
Interessen bedient, selbst wenn diese dem Wesen der Religion entgegenstehen,
und überhaupt ihnen Vorteile verschafft, wie bösartig diese auch immer sein
mögen. Obwohl wir in unserem politischen und rechtlichen Dasein beteuern, dass
die „Verfassung“ nur als organische Einheit gelesen werden kann, weil jeder ihrer
Artikel nur einen Teil von ihr auslegt, wie es auch bei literarischen Texten der
Fall ist, wo jeder Teil nur im Rahmen seines Ganzen gelesen wird, so begreifen
dies viele von denen nicht, die mit dem Koran herumhantieren, indem sie
einzelne Suren nehmen, sie auf spezifische Ereignisse anwenden und behaupten,
dies sei der Standpunkt Gottes, der den Koran herabgesandt hat.
Drittens hat der Koran im Laufe seiner Zeit mit dem muslimischen Leben
interagiert, wobei einige Muslime ihn, angefangen vom Schiedsgericht zwischen
ʿAlī und Muʿāwiya11 bis hin zu dem, was extremistische Gruppen in unserer Zeit
anrichten, ausgenutzt haben.
11Dabei ging es um die Frage, wer das Kalifat innehaben sollte: Ein Schiedsgericht hatte
den Anspruch von Muʿāwiya, damals Gouverneur von Damaskus, bestätigt und ʿAlī, der
656 von den Medinensern zum Kalifen gewählt worden war, bevor er sich starken Wider-
stands seitens der Mekkaner ausgesetzt sah, erkannte das Urteil an, was jedoch nicht zur
Befriedung führte, sondern radikale Kräfte befeuerte (Anm. d. Ü.).
102 A. A. Hassan
Viertens existiert der Koran nicht in einem Vakuum, damit die Menschen ihn
als einen Text verstehen, der unabhängig von Zeit und Ort existiert. Daher gibt
es Leute, die an den „Begleitumständen seiner Herabsendung“ (asbāb nuzūlihi)
festhalten und seine Historizität und schließlich seine relative Bedeutung in der
Zeit einfordern. Es gibt aber auch Leute, die unablässig behaupten, dass sie seine
Intention verstünden, und genau sie sind es, die dem Koran so häufig schaden,
indem sie an seinem Buchstaben und an seiner Rezitation kleben und dann durch
die Randbemerkungen vom Text und durch die äußere Form vom Inhalt abgelenkt
sind.
Aus all diesen Gründen benötigen wir heute eine „religiöse Reform“, die uns
dazu führt, einen „neuen religiösen Diskurs“ zu initiieren, anstatt uns damit zu
begnügen, allein von der „Erneuerung“ des religiösen Diskurses zu reden, die nur
eine frische Tünche auf der alten, abgeblätterten Fassade bedeutet, ohne diese nie-
derzureißen zu wollen. Der Einwand, dass die religiöse Reform allein dem west-
lichen Christentum, nicht dem Islam spezifisch sei, fordert zum Sarkasmus heraus,
sind doch einige islamische Vorstellungen und religiöse Stiftungen schon längst dazu
übergegangen, die Rolle eines sich selbst im Wege Stehenden zu spielen, wie sie die
Religion in Europa einzunehmen pflegte. Religionsgelehrte in den muslimischen
Ländern erklären Tag und Nacht, dass es keine Priesterschaft im Islam gebe, aber sie
selbst verwandeln sich durch ihr Auftreten, ihre Vorstellungen und die Verteidigung
ihrer eigenen Interessen – unter dem Vorwand, dass diese die der Religion seien – auf
eklatante Weise in eine Priesterschaft. So wie Positionen des Fiqh, der Exegese, dem
Propheten zugeschriebene Hadithe, sowie Ereignisse und Lebensläufe der Frühzeit
des Islam eine umfassende Revision erfordern, so benötigen wir eine Antwort auf die
wichtige Frage, ob der Koran ein Text oder ein Diskurs ist.
Wie oben erwähnt, lässt sich nur unter fünf Bedingungen über religiöse
Reform reden, deren erste die ist, anzuerkennen, dass der Glaube eine indivi-
duelle Angelegenheit darstellt, in die sich keiner einzumischen hat, gleich ob
er Religionsgelehrter oder Laie ist; und dass wir die Vernunft als etwas berück-
sichtigen, das dem Lauf der Offenbarung zuträglich ist, nicht ihn bekämpft. Wir
sollten uns aber nicht damit begnügen, ersteres und letzteres einfach zusammen-
zuflicken, wie es die Prediger heutzutage machen, sondern uns den ethischen
Aspekten zuwenden und sie als Essenz der Religion sehen, nicht als Rituale, wie
wir uns auch um die soziale Reform kümmern sollten, damit die Religion sie
befördert, nicht bekämpft. Zudem gilt es, dass wir klar und unzweideutig zwi-
schen der Religion und der politischen Macht unterscheiden, die eine zivile sein
muss, deren Führung für die Menschen und deren Gesetzgebung für die Institu-
tionen, die sie wählen, da ist. Der zentrale Wert im Islam ist die „Barmherzig-
keit“ (raḥma), nach der wir suchen sollten und wo auch immer wir sie finden,
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 103
finden wir den wahren Islam, weit weg von der Kasuistik, den Kontroversen und
Klassifizierungen, die jene produzieren, die behaupten, sie seien die Lordsiegel-
bewahrer des Islam jenseits seiner langen Geschichte.
Es gibt verschiedene Wissenschaften, die auf zwei Ebenen Einzug in die isla-
mischen Studien, oder „Wissenschaften des Islam“, halten müssen: Die erste ist
die Präsenz dieser Wissensgebiete innerhalb der Curricula, die in den religiösen
Instituten, Medresen und Fakultäten gelehrt werden. Die zweite ist die Reflexion
der Tendenzen, die gegenwärtig in Fiqh, Exegese, Hadithwissenschaft, Kalām
und den Doktrinen etc. gelehrt werden. Denn innerhalb dieser Felder widersetzen
sich viele Theologen und Exegeten dem Einzug der vergleichenden Religions-
lehre, Religionssoziologie, Geschichtswissenschaft, Linguistik, Philologie,
Anthropologie, Archäologie und Psychologie in die Curricula, die sie studieren
und lehren.
(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)
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Erneuerung durch Rückbesinnung – Die
Theologie des Salafismus
Aladdin Sarhan
A. Sarhan ()
Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz, Deutschland
E-Mail: aladdin@sarhan-online.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 105
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_7
106 A. Sarhan
(al-salaf al-ṣāliḥ, kurz: salaf)1 angeblich am ehesten dazu fähig waren, die reine
Botschaft des Islam zu verstehen, zu verinnerlichen und ihr Leben danach auszu-
richten, müssten die Muslime heute die religiöse Praxis, die Lebensführung sowie
Staats- und Rechtsordnung an der Tradition der salaf ausrichten. Nur so ließe sich
der richtige Islam wiederherstellen bzw. gewährleisten.
In den salafistischen Diskursen wird die salaf-Epoche zur „goldenen Ära“
(al-ʿasr al-ḏahabī) des „reinen Islam“ (al-islām al-naqī) verklärt. In dieser Epo-
che konnten „wahrhafte Muslime“ ein Weltreich begründen. Diese Glorifizierung
steht der Abwertung der zeitgenössischen, als „dekadent“ empfundenen Gesell-
schaften und der Spaltung der Muslime weltweit gegenüber, die auf Fehlent-
wicklungen in der Religionspraxis zurückzuführen seien. In den nachfolgenden
Generationen sei der „wahre Islam“ Entstellungsprozessen ausgesetzt, die bis in
die Gegenwart fortwirkten. Dies habe zum tendenziellen Niedergang des Islam
und der politischen Ohnmacht der Muslime weltweit geführt. Der Salafismus
lässt sich somit beschreiben als eine religiöse Erneuerungsbewegung, die sich
durch die Rückbesinnung auf ein imaginiertes Idealbild der „Urmuslime“ konsti-
tuiert. In diesem Beitrag wird das Augenmerk auf die wesentlichen Merkmale der
salafistischen Theologie gerichtet.
men Lebenswandel sowie eine hohe Einsatzbereitschaft für die Sachen des Glaubens und
der Gemeinschaft der Muslime (umma) zu. Deshalb kommt diesen Generationen von Gläu-
bigen eine Vorbildfunktion für die Mehrheit der Muslime auf der Ebene der Ethik und Moral
zu. Salafisten gehen genau an diesem Punkt weiter. Sie ikonisieren die salaf-Generationen
und sind der Ansicht, dass das geistige Erbe der rechtschaffenen Altvorderen das beinhalte,
was einzig als der „richtige Islam“ gelten könne. Sie fordern vehement die akribische Nach-
ahmung der rechtschaffenen Altvorderen in allen Lebensbereichen. Es gelte daher, vermeint-
lich unstatthafte Neuerungen, die nicht in Koran, Propheten- und Gefährtentradition zu
belegen sind, zurückzuweisen und konsequent aus der religiösen Praxis und Lebensführung
zu verbannen. Selektiv blenden Salafisten jedoch jene Überlieferungen aus, die von Kon-
flikten, Spaltungen und Uneinigkeiten unter den Muslime während der Lebzeiten der salaf
berichten – vor und nach dem Tod des Propheten. Deswegen lässt sich das Idealbild der
salaf, an dem sich Anhänger des Salafismus kompromisslos orientieren wollen, in vielerlei
Hinsicht als „Utopie“ beschreiben.
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 107
Strömungen des sunnitischen Islam existiert. Im Wesentlichen fasst der von allen
salafistischen Strömungen getragene Grundsatz „ittibāʿ al-qurʾān wa-l-sunna
bi-fahm salaf al-umma“2 zusammen, was die Botschaft des Salafismus aus-
macht. Salafisten sind der Auffassung, dass der Islam zu Lebzeiten des Propheten
Muḥammad (570–632) und der salaf in perfekter Art und Weise praktiziert, spä-
ter jedoch durch Fremdeinflüsse und unstatthafte Neuerungen (bidaʿ, sing. bidʿa)
„verunreinigt“ bzw. „verfälscht“ worden sei (Ibn Bāz 2000, S. 10 f.; Ḥassān o. D.,
S. 7 ff., al-Maqdisī o. D., S. 5 ff.).
Das arabische Substantiv „salaf“, das dem Wort „salafiyya“ zugrunde
liegt, leitet sich von dem Verb „salafa“ ab, welches „etwas/jemanden voraus-
gegangen sein“ bedeutet. Das Wort salaf umschreibt im Allgemeinen die-
jenigen, die zeitlich vor der noch existierenden Generation lebten, also die
„Ahnen, Altvorderen, Vorgänger, Vorväter“. Verbunden mit dem Adjektiv
„ṣāliḥ“ (fromm, rechtschaffen) bedeutet al-salaf al-ṣāliḥ die „rechtschaffenen
Altvorderen“. Traditionell steht der Sammelbegriff al-salaf al-ṣāliḥ für die ers-
ten drei Generationen von Gläubigen, die nach muslimischer Auffassung die
Grundlagen des Islam überlieferten und in den ersten drei Jahrhunderten der
hiğra3 lebten. Mit „salafī“ (Salafist, pl. salafiyyūn) wird jemand bezeichnet, der
in den Bereichen der gottesdienstlichen Handlungen (ʿibādāt) und der religiös
bestimmten Umgangsvorschriften der Menschen untereinander (muʿāmalāt) der
Methode (manhağ) der salaf bezüglich der Ableitung (istinbāṭ) der religiösen
Rechtsurteile (aḥkām, sing. ḥukm) aus Koran und sunna folgt. Salafisten ver-
stehen sich also als legitime Erben der salaf und Bewahrer des „wahren“ Islam.
Daher beanspruchen sie für sich die Deutungshoheit über die islamische Ortho-
doxie und Orthopraxie.
Diese generationsgebundene Bestimmung eines vermeintlich unkorrumpierten
und unverfälschten Islamverständnisses, wonach ausschließlich die salaf als
Vorbild für die späteren Generationen dienen dürfen, wird in der Regel mit der
Aussage des Propheten Muḥammad (Hadith) begründet: „Die beste Generation
ist meine Generation, dann jene, die nach ihr kommt, dann jene, die nach ihr
kommt.“ (Ibn al-Ḥağğāğ 2006, S. 806). Diese „hierarchische“ Aufteilung in drei
2„Befolgungdes Koran und der Sunna nach dem Verständnis der Vorfahren der (muslimi-
schen) Gemeinschaft.“
3hiğra (Auswanderung) bezeichnet die Übersiedlung des Propheten Muḥammad von
Mekka nach Medina im Jahr 622. Dieses Jahr markiert den Beginn der islamischen Zeit-
rechnung.
108 A. Sarhan
Die vorausgeeilten Ersten von den Auswanderern und den Helfern und diejenigen,
die ihnen auf beste Weise gefolgt sind – Gott hat Wohlgefallen an ihnen, und sie
haben Wohlgefallen an Ihm. Und Er hat für sie Gärten bereitet, durcheilt von Bächen,
ewig und auf immer darin zu bleiben; das ist der großartige Gewinn (Sure 9: 100).5
Die zweite Generation der salaf umfasst die tābiʿūn (Gefolgsmänner bzw. Schü-
ler) der ṣaḥāba, also diejenigen Muslime, die den Prophetengefährten begegneten
und sich von ihnen in religiösen und profanen Fragen unterweisen ließen. Die
Schüler der tābiʿūn werden tābiʿū al-tābiʿīn genannt und sind die dritte und
letzte Generation der salaf. Nach salafistischer Auffassung ist es unerlässlich, auf
die Koranexegesen der salaf zurückzugreifen und ihre Interpretationsmethode
zu übernehmen. So wie es einst die salaf taten, sei die Koraninterpretation auch
heute nur als wortwörtliche Auslegung der Suren und Verse zulässig. Dies hat
u. a. zur Folge, dass alle im Lauf der islamischen Geschichte anzutreffenden
rationalen, philosophischen oder allegorischen Lesarten des Koran als Häresie
(zandaqa) gebrandmarkt werden, da sie einen so wahrgenommen menschlichen
Angriff auf die Heiligkeit des Textes implizieren (ʿImāra 1994, S. 23). Jegliche
Form von spekulativer Theologie (kalām) wird von Salafisten strikt ablehnt. Des-
wegen befindet sich der Salafismus traditionell in unversöhnlicher Rivalität zu den
4Die Glorifizierung der ṣaḥāba lässt sich nach muslimischer Überlieferung u. a. damit
begründen, dass sie den Propheten Muḥammad persönlich kannten und Kronzeuge für
seine koranischen Verkündungen waren. Darüber hinaus begleiteten sie den ihn, hör-
ten seine Aussprüche und erlebten seine Handlungen aus unmittelbarer Nähe. Sowohl im
Koran als auch in der islamischen Geschichtsschreibung nehmen die ṣaḥāba deshalb eine
herausragende Stellung ein, weil sie zum einen als Frühmuslime (sābiqūn) die allerersten
Menschen waren, die sich in der mekkanischen Phase (610–622) zum Islam bekannten, als
Auswanderer (muhāğirūn) mit Muḥammad um 622 nach Medina übersiedelten oder dort
als Unterstützer (anṣār) der aus Mekka ausgewanderten Frühmuslimen auftraten. Zum
anderen weil die ṣaḥāba den Islam nach dem Tode des Propheten weitertrugen, indem sie
maßgeblich an der Sammlung des Koran und der Überlieferung von Hadithen mitwirkten.
Für ausführliche Darstellungen zum Leben und Wirken Muḥammads und seiner Gefährten
siehe besonders Bobzin (2000); Endreß (1997); Noth (1987, S. 11–100); Schoeler (1996);
Schöller (1998); Watt und Welch (1980).
5Koranverse sind hier durchgehend unter Angabe der Suren- und Versnummern aus der
Ǧahmiyya und die Ašʿariyya. Die Mu‘tazila ist eine von Hellenismus beeinflusste rationale
Denkschule der islamischen Theologie. Sie entstand im 8. Jahrhundert innerhalb der reli-
giösen, spekulativen Wissenschaft des kalām und wurde vor allem von dem abbasidischen
Kalifen al-Maʾmūn (786–833) gefördert. Die Muʿtaziliten wollten mithilfe der Vernunft
den Koran verstehen, erklären und gegenüber Andersgläubigen verteidigen. Die stark von
der Muʿtazila beeinflusste Denkschule der Ǧahmiyya geht auf deren Gründer Ğahm Ibn
Ṣafwān (696–746) zurück. Die Ğahmiten vertraten die muʿtazilitsche Ansicht, dass der
Koran ein Geschöpf Gottes sei, d. h. von ihm erschaffen und damit nicht zu seinem Wesen
gehörend. Hieraus folgerten sie, dass Gottes Namen, die Koran erwähnt werden, nicht wört-
lich zu verstehen seien. Die vom Abū al-Ḥasan al-Ašʿarī (873–935) gegründete theologische
Denkschule der Ašʿariyya stellte eine Gegenströmung zur Muʿtazila und Ǧahmiyya dar.
Sie versuchte, Traditionalismus und Rationalismus zu verbinden, indem ihre Gelehrten die
These von der Unerschaffenheit des Koran vertraten und den Koran anhand rational-logi-
schen Methoden auslegten. Für ausführliche Darstellung der Positionen und Auseinander-
setzungen dieser Denkschulen siehe besonders Van Ess (1992, Bd. 3), Nagel (1994).
110 A. Sarhan
7Die maḏāhib sind von muslimischen Gelehrten etablierten Rechtsschulen, die islamische
Quellen (Koran und Sunna) mittels diverser Rechts- und Erkenntnismethoden auslegen
und daraus juristische Bestimmungen ableiten. Heute bestehen folgende vier sunnitische
Rechtsschulen: die ḫanafitische, mālikitische, šāfʿitische und ḥanbalitische Rechtsschule.
Die ḥanafitische Rechtsschule geht auf Abū Ḥanīfa al-Nuʿmān Ibn Ṯābit (699–767) zurück
und räumt der Methodik der pragmatischen Urteilsbildung relativ großen Raum ein. Die
malikitische Rechtsschule geht auf Mālik Ibn Anas (711–795) zurück. In der malikitischen
Jurisprudenz (fiqh) werden in starkem Maße Nützlichkeitserwägungen (maṣāliḥ mursala)
im Rahmen der Rechtsfindung berücksichtigt. Die šāfiʿitische Rechtsschule wurde von
Muḥammad ibn Idrīs al-Šāfiʿī (767–820) begründet. Während die Malikiten eine konserva-
tive Linie vertraten und sich streng an die Tradition hielten, bejahten die Ḥanafiten dagegen
die Möglichkeit, neue Rechtsnormen zu entwickeln und dabei das eigene Urteil für maß-
geblich zu halten, versuchte al-Šāfiʿī, einen Mittelweg zu finden. Er bekannte sich zur
Wichtigkeit der Übereinstimmung der Rechtsgelehrten (iğmāʿ) und sprach sich dafür aus,
die Möglichkeit der Rechtsfindung durch Analogieschluss (qiyās) bedachter zu handhaben.
Die ḥanbalitische Rechtsschule geht auf Aḥmad Ibn Ḥanbal zurück. Er trat prinzipiell für
die alleinige Anerkennung von Koran und Überlieferung als Rechtsquellen ein und lehnte
jede Form menschlicher Rechtsfindung ab, weil dies zu unerlaubten Neuerungen und Will-
kür führe. Auch der qiyās fand nur unter Einschränkungen seine Zustimmung. Was die
Erfüllung der religiösen Pflichten betrifft, waren für ihn nur diejenigen Praktiken statthaft,
die von Koran und Sunna vorgeschrieben werden. Für einen umfassenden Überblick über
die islamischen Rechtsschulen siehe besonders Johansen (1999); Motzki (1991).
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 111
Bei dem, in dessen Händen meine Seele ruht, meine umma wird sich in 73 Grup-
pen spalten. Außer einer Gruppe werden alle in die Hölle geworfen. Als der Prophet
gefragt wurde, wer nun die gerettete Gruppe sei, so antwortete er: Jene (Gruppe),
die sich nach dem richtet, wonach ich und meine Gefährten heutzutage uns richten
(Ibn al-Hağğāğ 2006, S. 841).
Salafistische Grundüberzeugungen
Dem Koran als primäre und der Sunna als sekundäre Rechtsquelle folgt in der Rang-
folge der Rechtsfindungsmethoden der Konsens bzw. die Urteile der Propheten-
gefährten (Fahmy 2011, S. 12).
Möglichkeiten der Ableitung von religiösen Rechtsurteilen durch iǧtihād ein. Sie
vertreten zwar die Meinung, dass ein korrekt überlieferter Text (naṣṣ ṣaḥīḥ) nie-
mals einer nachvollziehbaren Schlussfolgerung der Vernunft (ʿaql ṣarīḥ) wider-
sprechen würde. Da die menschliche Vernunft aber nicht unfehlbar sei, stehe die
Rechtsfindung durch die Orientierung am Koran und den überlieferten Traditio-
nen (naql) weit vor der Rechtsfindung durch den menschlichen Intellekt (ʿaql)
(Ḥilmī 1996, S. 192 ff.). Begründet wird diese Position u. a. damit, dass die
menschliche Vernunft ohne eine Orientierung an den sakralen Texten nie alleine
den Weg zur vollkommenen Erkenntnis des Glaubens finden könnte. Dem ʿaql
wird daher die Führungsrolle (matbūʿ) auf dem Weg zur menschlichen Gottes-
erkenntnis aberkannt. Allerdings wird der menschliche Intellekt nicht völlig außer
Acht gelassen, vielmehr wird er als Instrument zum Verständnis dieser Texte im
jeweiligen Kontext betrachtet. Daher gilt der ʿaql nur als „Befolger“ (tābiʿ) der
Überlieferung (Fahmy 2011, S. 11).
Die salafistische Glaubenslehre misst dem Bekenntnis zur Einzigkeit bzw. „Eins-
heit“ Gottes eine zentrale Bedeutung zu. Das hier zugrunde liegende Konzept
ist das des tauḥīd. Die Einzigkeit Gottes ist eines der Grundprinzipien des Islam
und stellt im allgemeinen Sinne die wichtigste Aussage der islamischen Theo-
logie dar. Das arabische Wort tauḥīd, abgeleitet von dem Verb waḥḥada, bedeutet
„Vereinigen/Vereinheitlichen“ bzw. „etwas zu wāḥid (eins) machen“. So ent-
spricht tauḥīd im islamischen Kontext dem Begriff „Monotheismus“ und bedeutet
„Glaube an die Einheit und Einzigkeit Gottes“ (Nagel 1994, S. 108).
Der Eingottglaube ist die Grundlage aller monotheistischen Religionen. Im
Islam ist das Bezeugen „Es gibt keinen Gott außer Gott“ ein Bestandteil des
islamischen Glaubensbekenntnisses und eine der fünf Säulen des Islam. Für die
meisten Muslime ist das Bekenntnis zur Einheit Gottes und zum Prophetentum
Muḥammads ausreichend, um als Muslim anerkannt zu werden. Für Salafisten
hingegen impliziert der tauḥīd zusätzlich ein aktives Handeln. Dies bedeutet,
dass jegliches Tun, das darauf hinweist, dass etwas oder jemand anderes als Gott
angebetet wird, širk und damit ein Zeichen des Unglaubens ist (Peskes 1993,
S. 23 ff.). Von dieser Interpretation aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt,
Muslime aufgrund ihrer vermeintlich gegen tauḥīd gerichteten religiösen Praxis
oder weltlichen Überzeugungen zu exkommunizieren.
Für Salafisten ist tauḥīd also nicht nur das mündliche Bekenntnis zur Ein-
heit und Einzigkeit Gottes, sondern die Verinnerlichung, Verwirklichung und
114 A. Sarhan
die Strenge bzw. Konsequenz in der Forderung, Einhaltung und Umsetzung dieser
Grundlagen in allen Bereichen des rituellen und profanen Lebens der Glaubens-
gemeinschaft […] und des Einzelnen (Fahmy 2011, S. 10).
Während das salafistische Verständnis des tauḥīd al-rubūbiyya sich auch mit dem
allgemeinen Verständnis aller Muslime von tauḥīd deckt, kann man bei tauḥīd
al-ulūhiyya und tauḥīd al-asmāʾ wa-l-ṣifāt von einem spezifisch salafistischen
Verständnis dieser beiden Kategorien von tauḥīd sprechen.
Die erste Kategorie, tauḥīd al-rubūbiyya, beschreibt Gott als den alleinigen
Schöpfer und den einzigen wahren Herrn bzw. Herrscher (rabb) des Universums.
Dies impliziert vor allem die Pflicht, daran zu glauben, dass Gott alleine die
Schöpfung entstehen ließ und dass zuvor nichts existierte. Zudem wird Gott als
einzigartig in seinen Handlungen beschrieben. Er hält die Schöpfung aufrecht und
stützt sie, ohne dafür irgendeine Hilfe zu benötigen und ohne dass es eine reale
Herausforderung für seine Souveränität darstellt. In der Schöpfung geschieht
nichts ohne seine Erlaubnis. So ist Gott die einzige wirklich existierende Macht.
Diese Dimension des tauḥīd wird von allen Muslimen akzeptiert und stellt kei-
nen Streitpunkt zwischen den islamischen Glaubensrichtungen dar (Wiktorowicz
2001, S. 114).
Durch die zweite Kategorie, tauḥīd al-ulūhiyya – manchmal auch tauḥīd
al-ʿibāda (Einheit der Anbetung) genannt, wird verankert, dass Gott der Einzige
ist, dem das Anrecht auf Anbetung zusteht. Dies umfasst jede Art von Anbetung
durch sichtbare und unsichtbare Taten sowie die Negation des Rechts ande-
rer, angebetet zu werden. Demgemäß müssen alle Formen des Gottesdienstes
und das Bitten um Beistand nur unmittelbar an den einen Gott gerichtet wer-
den. Obwohl diese Grundlage des tauḥīd als ein unstrittiges Element des Mono-
theismus erscheinen mag, birgt sie eine nicht zu unterschätzende interpretative
Komplexität, die zu diametralen Positionen innerhalb der muslimischen Gemein-
schaft führt. So denunzieren Salafisten die sufischen Praktiken der Heiligen-
verehrung als einen klaren Verstoß gegen den tauḥīd al-ulūhiyya. Die Sufis, so
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 115
a rgumentieren die Salafisten, stellen in ihrer religiösen Praxis Partner neben Gott,
indem sie Geschöpfe um Fürsprache und Vermittlung zwischen Mensch und Gott
bitten. Durch religiöse Handlungen, wie die Verehrung von Menschen, Opfergabe
an Heilige und der Besuch von deren Gräbern, machen sich Sufis des širk schul-
dig, da sie Gott Partner in seiner Göttlichkeit und Anbetung zuschreiben würden
(ʿAbbāsī 2002, S. 15 ff.).
Der tauḥīd in seiner dritten Kategorie als tauḥīd al-asmāʾ wa-l-ṣifāt erteilt im
Wesentlichen eine Absage an den Anthropomorphismus. Da kein Geschöpf die
Eigenschaften Gottes teilen kann, sind Gottes Attribute exklusiv, nicht vergleich-
bar mit menschlichen Eigenschaften und dürfen von den Menschen weder anthro-
pomorphistisch verstanden, noch geändert, umgedeutet oder verneint werden.
So müssen die in Koran und Hadith enthaltenen Attribute Gottes in ihrem wört-
lichen Sinne verstanden werden. Diese Dimension von tauḥīd stellt eine wichtige
Quelle für Meinungsverschiedenheiten unter Muslimen in Bezug auf die ʿaqīda
dar und sorgte im Laufe der islamischen Geschichte immer wieder für Differen-
zen und Spannungen zwischen den rationalistisch und den literalistisch geprägten
islamischen Denkschulen.
Rationalisten wie die Muʿtaziliten vertraten die Meinung, dass die im Koran
erwähnten Eigenschaften Gottes als Metaphern zu verstehen seien. Wenn im
Koran von Gottes Hand die Rede ist, so bedeutet dies nicht, dass Gott wie die
Menschen Hände hat, sondern dass „Hand“ als Metapher für die Macht Gottes
steht. Literalisten wie die Salafisten argumentieren diesbezüglich, dass der Koran
als Wort Gottes nicht offen für Interpretation ist. Gottes Eigenschaften sind weder
Metaphern noch vergleichbar mit denen seiner Schöpfung. Vielmehr sind sie mit
menschlichem Verstand nicht erfassbar, da sie jenseits der menschlichen Sinne
und Wahrnehmungen (ġaib) angesiedelt sind. Wenn der Koran von der Hand
Gottes spricht, so muss das bedeuten, dass Gott Hände hat. Diese sind aber nicht
vergleichbar mit den menschlichen Händen. Der Mensch kann zwar mit seinem
beschränkten Denkvermögen die Attribute Gottes nicht begreifen. Dennoch sind
sie real, da sie im Koran erwähnt werden. Darüber hinaus sind sie unantastbar von
jeglicher Form der Verzerrung (taḥrīf), Aussetzung (taʿṭīl), Vergleich mit mensch-
lichen Eigenschaften (tamṯīl) oder Anthropomorphisierung (tašbīh). In theo-
logischen Debatten über diesen Aspekt des tauḥīd, die sich oft eher als einseitige
polemische Angriffe beschreiben lassen, werfen Salafisten den Muʿtaziliten auf-
grund ihres metaphorischen Interpretationsansatzes Tendenzen zur Aussetzung
und Neutralisierung der Attribute Gottes vor (Wiktorowicz 2001, S. 114 f.).
Diese drei Grundlagen des tauḥīd werden im Salafismus derart unzertrenn-
lich angesehen, dass jede Vernachlässigung oder jedes Weglassen einer Grund-
lage zum Verderbnis der ʿaqīda und zur Nichtannahme des Gottesdienstes durch
116 A. Sarhan
Gott führen würde. Die einzige Garantie für die Reinheit der ʿaqīda und der
Aufrechterhaltung des tauḥīd bietet
(…) die strenge Orientierung an dem von den [salaf] überlieferten Verständnis
des Glaubens, des Korans und der gelebten Prophetentradition […]. Die Orien-
tierung an bzw. eine Befolgung [ittibāʿ] der salaf (im Gegensatz zur von Salafi[s]
ten abgelehnten Nachahmung [taqlīd]8), besonders in der Methodik [manhağ] der
Zurückführung von Entscheidungen in religiösen Grundfragen und Rechtsurteilen
auf Koran und Prophetentradition [istinbāṭ al-aḥkām], bildet daher die Grundlage
für das Selbstverständnis der Salafi[s]ten, aber auch für die Namensgebung dieser
Denkschule (Fahmy 2011, S. 11).
Sowohl von den Salafisten als auch von den meisten Muslimen wird al-širk
bi-l-lāh (kurz „širk“, wörtl. Gott Partner beigesellen) als die schwerste aller
Sünden angesehen. Während der Koran die Vergebungen aller Arten von Sün-
den durch Gott für möglich hält, schließt er den širk explizit von der göttlichen
Begnadigung aus:
Allāh vergibt nicht, dass man ihm (andere Götter) beigesellt. Was darunter liegt, ver-
gibt er, wem er (es vergeben) will. Wenn einer (dem einen) Allāh (andere Götter)
beigesellt, hat er (damit) eine gewaltige Sünde ausgeheckt (4: 48).9
Salafistische und nicht-salafistische Muslime sind sich darüber einig, dass der širk,
also Polytheismus/Vielgötterei bzw. der Glaube an die Existenz mehrerer Gott-
heiten sowie die Verehrung und Anbetung von Personen, Gegenständen oder Natur-
8Für Salafisten bedeutet ittibāʿ „die Anerkennung und Befolgung von religiös-recht-
lichen Standpunkten und Urteilen islamischer Gelehrter nach selbstständiger Verifizierung
der Korrektheit der Argumentation und Beweisführung durch den Fragesteller bzw. den
Urteilssuchenden. Taqlīd hingegen wird gleichgesetzt mit dem „blinden“ Vertrauen auf die
Urteile eines Gelehrten“ (Fahmy 2011, S. 11).
9Betrachtet man den historischen Kontext, in dem Muḥammad diese medinensischen
Koranverse verkündete, stellt man fest, dass sie sich vornehmlich gegen den Götzenkult
der polytheistischen Bewohner der Arabischen Halbinsel im siebten Jahrhundert richte-
ten. Diese manifestierte sich u. a. in der Anbetung von Skulpturen, Götzenbildern, Steinen,
Bäumen Feuer und Sonne. Der Tenor dieser Verse liegt auf der massiven Verurteilung der
Götzenkult als Ursache des širk, die Aufforderung von den bisherigen Kulthandlungen
abzulassen und alle Verehrung stattdessen dem einzigen Gott zukommen zu lassen.
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 117
10Von den meisten Muslimen wird die christliche Trinität auf den Tritheismus (Drei-Gott-
Muḥammadan rasūlu Allah“ (Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und dass
Muḥammad der Gesandte Gottes ist).
12Im Koran wird das exklusive Anrechts des einen Gottes auf Anbetung strikt betont; z. B.
„Und ich habe die Dschinn und Menschen nur dazu geschaffen, dass sie mir dienen“ (51:
56). Diejenigen, die „Nebengötter“ als Partner Gottes in der Göttlichkeit oder Herrschaft
beigesellen, werden hingegen aufs Schärfste verurteilt. Ihnen wird vorgeworfen, von Gott
erschaffenen Gegenständen oder Personen anzubeten und sie somit als Partner an der
alleinigen Göttlichkeit Allahs teilhaben zu lassen.
118 A. Sarhan
dem bösen Blick oder die Befolgung von astrologischen Vorhersagen und Horo-
skopen. Für Salafisten implizieren solche von ihnen als abergläubisch gebrand-
markten Verhaltensweisen den Glauben daran, dass es neben Gott etwas anderes
gibt, das über den Menschen herrscht, sie beschützt, das Böse von ihnen abwendet
und über ihre Gegenwart und Zukunft bestimmt (al-Mīlī 2001, S. 253 ff.).
Im salafistischen Diskurs wird die islamische Mystik, insbesondere die sufi-
schen Praktiken der Heiligen- und Gräberverehrung zur Häresie erklärt. Sie
werden als polytheistische Praktiken des Erbittens von Beistand, Segen- oder
Zufluchtssuche bei anderen als bei dem einen Gott gebrandmarkt. Im Mittel-
punkt der salafistischen Polemik gegen sufische Praktiken steht die Verurteilung
jener Vorstellung, dass Geschöpfe auf Gott einwirken und die Änderung seiner
Vorherbestimmung herbeiführen können. Es wundert daher nicht, dass die weit-
verbreitete Praxis des Bittens um Fürsprache (tawassul)13 seitens der Salafisten
massiv verurteilt und als širk bezeichnet wird. Ebenso verworfen wird das Ver-
richten des Gebets an Grabstätten von Heiligen und das Pilgern zu Mausoleen, in
denen fromme Muslime begraben sind, um Segen (baraka) zu erlangen:
Gott näher kommen zu wollen, indem man sich an Tote, Anwesende oder
Abwesende wendet und sie um Hilfe bittet, ist širk und widerspricht dem tauḥīd.
Diejenigen [, die derartiges machen,] sind nicht mehr als Muslime anzusehen. Ihre
Bittrufe zur Gewährung des Nützlichen und Abwendung des Schädlichen sind Akte
des Gottesdienstes und Ausdrücke der Demut und Unterwerfung. Gottesdienst,
Demut und Unterwerfung müssen direkt an Gott gerichtet werden. Wenn Gebete
oder Bittrufe an irgendjemanden oder irgendetwas anderes gerichtet werden, gilt
dies als širk al-rubūbiyya (Al-Albānī 2001, S. 42 ff.).
Ferner werten Salafisten die von Menschen geschaffenen Organe der Legislative
Judikative, Exekutive als institutionalisierte Formen des širk ab.14 Vom weltlichen
13Tawassul manifestiert sich in dem sich Wenden an Menschen, von denen man glaubt,
dass sie Gott besonders nah stehen, wie ahl al-bait (wörtl. Leute des Hauses, Mitglieder
der Familie des Propheten Muḥammads) oder äußerst fromme Personen, awliyāʾ Allah
al-ṣāliḥūn (wörtl. rechtschaffene Gottesfreunde), um sie zu Mittlern und Fürsprechern bei
Gott zu erklären.
14An dieser Stelle ist anzumerken, dass Salafisten zwischen jenen von Menschen gemachten
Gesetzen, deren Anwendung Ungehorsam gegenüber Koran und Sunna nach sich zieht (z. B.
Lebenspartnerschaftsgesetz), und jenen, die der Regelung der Angelegenheiten der Men-
schen untereinander dienen (z. B. Verkehrsgesetz), ohne dabei Gottes Geboten zu wider-
sprechen, unterscheiden.
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 119
Herrscher wird verlangt, dass er nur nach dem salafistischen Verständnis von
Koran und Sunna regiert. Anderenfalls wird er als ṭāġūt (wörtl.: etwas/jemand, der
Grenzen überschreitet) bezeichnet und die Unterwerfung unter seine Herrschaft
bzw. Rechtsordnung als Götzendienst (ʿibādat al-ṭāġūt) abqualifiziert. Sowohl die
Aussetzung von göttlichen Bestimmungen als auch deren Veränderung, zeitmäßi-
gen Anpassung oder Ergänzung seien Übertretungen gegen den tauḥīd und wer-
den von Vertretern des Salafismus als Tatbestände des širk al-rubūbiyya betrachtet.
Hierzu konstatiert Ibn al-ʿUṯaimīn:
Das Anfertigen von Gesetzen und Verfassungen, um mit ihnen anstatt mit Gottes
Gesetzen zu regieren, führt zwangsläufig dazu, dass das, was Gott erlaubt, durch die
Menschen verboten wird und das, was Gott verbietet, durch die Menschen erlaubt
wird. Die Gesetzgebung obliegt daher nur Gott, dem Schöpfer des Universums.
Die Befolgung der von Menschen gemachten Gesetzten und Verfassungen ist Bei-
gesellung in der Herrschaft Gottes. Denn sie verleihen dem Regenten Befugnisse,
das zu erlauben oder zu verbieten, was er will oder worüber sich die Mehrheit der
Menschen einigt (al-ʿUṯaimīn 1993, S. 142).
das Rechtssystem, das von den Regeln abweicht, die in Koran und Sunna festgelegt
worden sind, eine Übertretung gegen das System Gottes [ist]. Dieses [göttliche Sys-
tem] bestimmte der, der alle Dinge erschaffen hat und am besten weiß, wie sie funk-
tionieren. Gepriesen sei Gott, der darüber erhaben ist, einen Gesetzgeber neben Sich
zu haben. […] Die Anfertigung, Anwendung oder Anerkennung von Gesetzen, die
Gottes Urteilen widersprechen, indem sie beispielsweise Polygamie verbieten oder
120 A. Sarhan
das Steinigen von Ehebrechern und das Abtrennen der Hand für barbarische Taten
erklären und unter Strafe stellen, ist širk gegenüber der Herrschaft des Schöpfers
von Himmel und Erde (Al-Fauzān o. J., S. 48–49).
Širk kommt zustande, wenn die Verrichtung einer Handlung nicht die ausschließ-
liche Absicht zugrunde liegt, dem einen Gott zu dienen. Denn gemäß dem Wort-
laut der Koranverse 6:162–16315 betrachten Salafisten menschliches Handeln als
Gottesdienst. Wendet man sich in einem Gottesdienst etwas oder jemand ande-
rem zu als dem einen Gott, so begeht man nach salafistischer Auffassung Götzen-
dienst. Als der „wahre“ Muslim wird hingegen ein gehorsamer Knecht Gottes
(ʿabd) propagiert, der sich in allen Lebensbereichen dem Willen seines einzigen
Schöpfer vollständig unterwirft. Dieser Schöpfer ist gleichwohl der absolute
Herrscher, dessen göttlicher Wille Koran und Sunna – ausschließlich nach der
Leseart der salaf – entnommen werden kann. Dies ist die Konsequenz dessen,
dass die Altvorderen das Wort Gottes genauso wie der Prophet verstanden und in
allen Lebensbereichen in die Tat umsetzten, sodass jegliche Abweichung davon
als bidʿa zurückzuwiesen ist.
Der islamische Terminus bidʿa (Neuerung) ist ein Synonym für muḥdaṯa und
umschreibt im Allgemeinen jede Überzeugung oder Verhaltensweise, die weder
eine Erwähnung im Koran findet noch vom Propheten Muḥammad überliefert
wurde (Robson 1979, S. 1199 f.). Zeitwandel und veränderte (Lebens-)Umstände
bringen selbstverständlich immer wieder zahlreiche Neuerungen mit sich. Neue-
rungen in der Glaubenspraxis und im Alltag, die mit den Regeln der autoritativen
Quellen des Islam unvereinbar sind, das Prinzip des tauḥīd verletzen oder mit
Tradition und Konsens der salaf nicht im Einklang stehen, betrachten die Sala-
fisten als unstatthaft. Islamrechtlich unbestimmte, materielle Neuerungen, die
dem Propheten nicht bekannt sein konnten (z. B. Flugzeug, Telefon, Internet, Ein-
richtungen wie etwa Krankenhäuser und Schulen usw.) seien hingegen erlaubt,
wenn sie einen individuellen oder kollektiven Nutzen darstellen. Solche weltliche
Neuerungen beschreiben Salafisten als „vom guten Nutzen für das Gemeinwohl“
15„Sag: Mein Gebet (salāt) und meine Opferung, mein Leben und mein Tod gehören Allāh,
dem Herrn der Menschen in aller Welt (al-ʿālamīn). Er hat keinen Teilhaber (an der Herr-
schaft). Dies (zu bekennen) wurde mir befohlen. Und ich bin der erste von denen, die sich
(Allāh) ergeben haben (al-muslimīn).“
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 121
(maṣlaḥa ḥasana) (Al-Qaraḍwī 2007, S. 15 ff.). Sie tun dies, um den umstrittenen
Begriff gute Neuerungen (bidʿa ḥasana) zu vermeiden.16 Die Vermeidung dieses
Begriffes lässt sich u. a. darauf zurückführen, dass der Prophet in einem Hadith
jede Art von bidaʿ verwirft: #
Hütet euch vor den neu eingeführten Dingen, denn wahrlich sind die schlimmsten
Dinge die neuen; alles Neue ist eine bidʿa; jede bidʿa ist ein Irrweg, und jeder Irr-
weg führt ins Höllenfeuer (Ibn al-Ḥağğāğ 2006, S. 512).
Trotz der Einsicht, dass die eine oder andere Neuerung außerhalb der religiösen
Sphäre durchaus einen positiven Charakter besitzen kann, weisen Salafisten dem
Begriff bidʿa vorrangig eine spezifisch technische Bedeutung zu, nämlich die von
unzulässigen und deswegen in jedem Fall abzulehnenden Gebräuchen und Ideen.
Der Begriff wird in diesem negativen Sinne definiert, nämlich als Erscheinung,
die der als mustergültig angesehenen Form der prophetischen Glaubensausübung
und Lebensführung nicht entspricht. Dadurch rückt die bidʿa in einen deut-
lichen Kontrast zur Sunna. Dieser Umstand führt in letzter Konsequenz dazu, ahl
al-bidaʿ bzw. ahl al-hawā, also denjenigen, die aus Sicht der Salafisten Neuerun-
gen in die Religion einführen, des Bruchs mit der Sunna und der Entstellung des
islamischen Glaubens zu bezichtigen (Gronke 2002, S. 137 f.).
So plausibel die salafistische Auffassung ist, die die Sunna des Propheten als
das Ideal der religiösen und weltlichen Praxis beschreibt, so problematisch ist
zugleich die salafistische Überzeugung, dass die heute als bidaʿ abqualifizierten
Praktiken im Bereichen ʿibādāt und muʿāmalāt zu Lebezeiten Muḥammads nicht
existierten und von ihm nicht akzeptiert oder gar praktiziert worden seien.17 So
findet eine selektive Bezugnahme auf die Sunna statt, die oft zusammenhangslos
ist und den historischen Kontext außer Acht lässt. Die salafistische Verwerfung
bestimmter religiöser Verhaltensweisen ist eine offenkundige Rückprojektion
bloß imaginierter Idealzustände in der Generation des Propheten.
Die Verurteilung der im Bereich der ʿibādāt aufgetretenen Neuerungen nimmt
eine zentrale Stellung in den fatāwā-Werken zeitgenössischer salafistischer
Gelehrte ein. Als rigorose Verfechter einer fiktiven idealen Glaubensausübung,
„wie sie sie in der Zeit des Propheten vorzufinden meinen, muss vor dem Hinter-
grund dieses Ideals das Neue zwangsläufig negativ erscheinen, und so wird es
dann auch beschrieben“ (Gronke 2002, S. 134). Durch die vehemente Zurück-
weisung vermeintlicher Neuerungen im Bereich ʿibādāt und die Berufung auf die
von den salaf überlieferte religiöse Praxis erheben die Salafisten den Anspruch,
eine „korrekte“ Form der Glaubensausübung zu vertreten. Nicht nur die Praktiken
des Sufismus und des Volksislam, sondern auch weitere unzählige, unter Muslimen
sehr weit verbreitete Bräuche werden von den salafistischen Gelehrten verworfen.
Die Ablehnung wird in den meisten Fällen so begründet, dass nicht bekannt
sei, ob der Prophet oder die salaf diese Bräuche kannten oder pflegten. Auf
Grundlage dieser Argumentation Verbietet der saudische Gelehrte Muḥammad
Ibn Ṣālih al-ʿUṯaimīn (1929–2001) das Feiern des Geburtstags (maulid) des Pro-
pheten Muḥammad und das Aussprechen von Bittgebeten (duʿāʾ) unmittelbar
nach dem Pflichtgebet. Das gleiche gilt auch für das Händeschütteln mit anderen
Gläubigen nach dem Gemeinschaftsgebet. Unter den Muslimen weit verbreitete
Praktiken wie beispielsweise, einem Mitbetenden zu wünschen, „möge Gott
dein Gebet annehmen“, das Küssen eines Koranexemplars (muṣḥaf), um Segen
zu erlangen, das Schwören auf den Koran, um die eigene Aussage zu bekräftigen
oder der Abschluss einer Koranrezitation mit der Aussage „Gott, der Allherrliche,
17Im ihrem hier zitierten Aufsatz „‚Alles Neue ist ein Irrweg‘. Zum mittelalterlichen ara-
bischen Schrifttum über religiöse Missbräuche“ führt Gronke einige Beispiele für Prakti-
ken auf, die zwar von mittelalterlichen salafistischen Gelehrten Autoren als bidaʿ erklärt
wurden, aber laut Überlieferung von dem Propheten und den salaf-Generationen gepflegt
worden waren, wie beispielsweise das Feiern von Festen und die Diskussion über profane
Themen in der Moschee.
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 123
hat die Wahrheit gesprochen“ (ṣadaqa Allāhu al-ʿaẓīm) seien ebenfalls Neuerun-
gen. Zudem bezeichnete er das Feiern von Geburtstagen und nichtmuslimischen
Festen sowie Nationalfeiertagen und ebenso diesbezügliche Gratulationen als
Dinge, die nach der Zeit der salaf aufgekommen seien und die der Prophet weder
praktiziert noch den Muslimen angeordnet habe (al-ʿUṯaimīn 2009, S. 10 ff.).
Aufgrund der Überzeugung, dass die Glaubenspraxis, dem Wesen des „wah-
ren“ Islam entsprechend, tief in die Verrichtung des Alltags hineinreicht, sind
vermeintliche Neuerungen in Bereich der muʿāmalāt ebenfalls Gegenstand der
Fatwas salafistischer Gelehrter. Dass die salafistischen Gelehrten sich über ver-
meintliche bidaʿ auch in weltlichen Angelegenheiten beklagen, macht deut-
lich, dass der Salafismus das Ziel verfolgt, alle Lebensbereiche zu regeln.
Muḥammad Nāṣiraddīn al-Albānī (1914–1999), einer der einflussreichen sala-
fistischen Gelehrten, warnte in seinen zahlreichen Predigten Muslime davor,
die „Ungläubigen“ in Europa und den USA zu imitieren, indem sie Bräuche
aus fremden Kulturen übernähmen. Im Zusammenhang mit der Eheschließung
bezeichnete er beispielsweise Handlungen wie den Verzicht der Frau auf Braut-
gabe, den Austausch von Hochzeitsringen, das Feiern von Hochzeitstagen, das
Unternehmen einer Hochzeitsreise als üble Neuerungen, die vom „ungläubigen
Westen“ übernommen worden seien (Al-Albānī 2007, S. 263 ff.).
Somit fungiert bidʿa im salafistischen Kontext als ein regulativer Begriff, mit
dem die autoritative Stellung von salafistischen Gelehrten gegenüber der eigen-
ständigen Meinungs- und Urteilsbildung der Gläubigen verteidigt wird. Dadurch
erlangen die Gelehrten eine Machtposition und erheben den Anspruch, über das
Authentisch-Islamische zu bestimmen. Von ihren Positionen abweichende Mei-
nungen und Praktiken lehnen sie als unislamische Innovationen oder Einflüsse
von anderen Religionen und Kulturen ab.
Fazit
Der Salafismus glorifiziert die utopische Konzeption eines „wahren Islam“, der
vermeintlich in der Zeit der salaf vorherrschend war und gelebt wurde. Auf-
grund der Überzeugung, dass die salaf den Koran und die Sunna am besten ver-
standen hätten, habe der „wahre Islam“ den sakralen Raum dominiert und sowohl
das Leben der Gläubigen als auch den Umgang der Menschen untereinander
bestimmt. Daher gelte es, den Koran und die Sunna ausschließlich im Verständ-
nis der Vorväter der muslimischen Gemeinschaft zu befolgen. Mit dieser Glori-
fizierung der salaf sowie dem daraus resultierenden Handlungsbedarf bezüglich
der Auslegung und Umsetzung der islamischen Ge- und Verbote geht eine strikte
124 A. Sarhan
Literatur
Abbāsī, ʿĪd. 2002. ad-Daʿwa-l-salafiyya wa-mawqifuhā min al-ḥarakāt al-uḫrā. Alexand-
ria: Dar al-Iman.
Al-Albānī, Muḥammad Nāṣiraddīn. 2001. al-Tawassul: Anwāʿihu wa-aḥkāmihu. Jeddah:
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Islam in Europa: zwischen Reformen
und Konfrontation
Der Islam ist eine politische Realität in Europa. Diese Feststellung verlangt eine
neuartige Strategie, die einerseits die Religion als Quelle der Spiritualität bewahrt
und anderseits die Muslime im Westen für die zivilisatorischen Errungenschaften
der Aufklärung gewinnt (Tibi 2002). Hierbei hilft nur eine Integrationspolitik, die
eine verbindliche Werteorientierung bietet – ein schwieriges Unterfangen, wenn
man bedenkt, dass das zivilisatorische Bewusstsein in Europa sehr niedrig ist,
während die Muslime Teil der Rebellion gegen die westliche Vormundschaft dar-
stellen (Bull und Watson 1985, S. 217–228).
Die „Wiederkehr der Götter“ (Graf 2004) trifft Europa in einer Zeit multip-
ler Krisen1. Verbindende Werte wie Menschenwürde und Menschenrechte, Frei-
heit und soziale Gerechtigkeit aber auch Säkularität und Rationalität werden
zunehmend mit vormodernen Denkstrukturen und Traditionen konfrontiert
und gar infrage gestellt. Die Säkularisierung war ein europäisches Phänomen.
Für die Mehrheit der Weltbevölkerung wurde die Trennung von Staat und Reli-
gion nicht vollzogen. Nun leben Menschen in Europa, für die die Religion
Teil der Inszenierung ihrer Identität ist. Religion fördert ihre Gemeinschafts-
bildung, wobei normative Gewissheiten neu vergegenwärtigt werden. Die welt-
weite Konfrontation des politischen Islam mit dem Westen wirkt sich auf diesen
1So spitzt sich offensichtliche die Krise der Eurozone zu; der massive Zustrom von Flücht-
lingen hat die Defizite der gemeinsamen Asylpolitik offengelegt und nicht zuletzt das
Votum der Briten für den Brexit gefährden das gemeinsame europäische Projekt.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 127
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_8
128 M. Abou Taam
Die Politik, der Staat und die Gesellschaft müssen durch Dialog auf die zweite
Form hinarbeiten, denn ein politischer Islam in Europa gefährdet die Identi-
tät Europas und führt in eine europäische Katastrophe. Im Dialog und durch
Reformanstrengungen der Muslime selbst müssen für ein friedliches konstrukti-
ves Zusammenleben drei zentrale Bereiche durch die islamische Gelehrsamkeit
geklärt werden:
Eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Islam zur Herrschaft sieht
sich mit der Tatsache Konfrontiert, dass unterschiedliche Ebenen des Argu-
mentes zusammengeführt werden müssen, um eine haltbare Aussage treffen zu
können: Die Beziehungsverhältnisse „Islam und Staat“, „Muslime und Staat-
lichkeit“, „Islam und Säkulare Verfassung“, „Muslime und Säkularismus“
sind verschiedene von vielen Variablen abhängige Komponenten, die in ihrer
Beantwortung oftmals Orts-, Zeits- und Gesellschaftsabhängig sind. Weder der
Koran noch die Tradition des Propheten äußern sich zur Gestaltung eines Staats-
wesens. In diesem Sinne argumentierte der al-Azhar Gelehrte und Richter ʿAlī
ʿAbdarrāziq im Rahmen einer Auseinandersetzung über die Beziehung von Herr-
schaft und Islam, dass man in der islamischen Offenbarung keine Aussagen über
die Verfasstheit eines Staates finden kann. und führt fort:
Das Kalifat hat auch nichts mit den religiösen Angelegenheiten zu tun. Gleiches gilt
für Gerichtswesen, für Regierungsposten oder Stellen im Staatsdienst. Das alles sind
reine politische Angelegenheiten, mit denen die Religion nichts zu tun hat, denn sie
hat sie weder gekannt noch abgelehnt, weder vorgeschrieben noch verboten (Ebert
und Hefny 2010, S. 93).
2Der Hadith wurde in der Sammlung von al-Buḫārī, bei Muslim und bei Aḥmad Ibn Ḥanbal
(7160) überliefert.
130 M. Abou Taam
Die Umayyaden gaben sich den Titel „Statthalter Gottes“, während Mohammad
Diener und gesandter Gottes war.
Unter den Muslimen existierten seither verschiedene religiöse Auffassungen
über die Bedeutung des Staates und seiner Wirkungsrationalität. Oft findet
man in den Argumente eine staatsphilosophische Verknüpfung, wonach staat-
liche Ordnung eine Voraussetzung für die Erfüllung religiöser Pflichten sei.
Ein Blick in den Koran macht jedoch deutlich, dass sich die Offenbarung nicht
zu diesem Thema geäußert hat. An keiner Stelle des Korans wird eine islam-
konforme Staatsform beschrieben. Die Frage der staatlichen Organisation, des
Rechts und der Herrschaftskontinuität ist zwar erst mit dem Tod des Propheten
aktuell geworden, jedoch werden oft Bezüge auf das Wirken Muḥammads in
Jathrib genommen. Diese Stadt, die heute Medina (Stadt des Propheten) genannt
wird, dient als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Interpretationen des
Islam bezüglich seines Verhältnisses zur Staat und Herrschaft. Sowohl Ortho-
doxe, Modernisierer, als auch Islamisten beziehen sich auf die frühislamische
Geschichte, und insbesondere auf die Rolle des Propheten in Jathrib, um daraus
Argumente für ihre jeweilige Staatsauffassung abzuleiten (Tibi 1997).
Die sozialpolitische Situation auf der arabischen Halbinsel unmittelbar vor dem
Offenbarungsbeginn war geprägt von stammesorientierten Gemeinwesen, die
ihrerseits in kleineren Klans und Großfamilien unterteilt waren. Im Zentrum jener
patriarchalischen Struktur stand die Ehre, die unmittelbar mit der Blutrache ver-
bunden war. Während die Nomaden mit ihren Tieren in der Wüste von Oase zur
Oase umherzogen, betrieben die Stadtbewohner Handelskarawanen. Beduinische
Wegelagerer kontrollierten die Handelsrouten, sodass das Verhältnis zwischen
Nomaden und Städtern entsprechend von Raub- und Rachezügen bestimmt war.
Die Zugehörigkeit zu einem Stamm eröffnete Schutz und war Loyalitätsver-
pflichtung zugleich. Lebensentscheidend waren auch jene Allianzen zwischen den
Stämmen, die dazu beigetragen haben, dass trotz fehlender politischer Struktur
das soziale Gefüge stabil gehalten wurde.
In Mekka, also in der Geburtsstätte des Islams, lebte der Stamm der Quraischi-
ten, die Haschemiten bildeten eine Großfamilie innerhalb dieses Stammes, aus
der Mohammad hervorging. Sowohl die marokkanische als auch die jordanische
Königsfamilien berufen sich bis heute auf die Abstammung aus der haschemit-
ischen Familie und legitimieren ihre Macht durch das Verwandtschaftsverhältnis
zum Propheten Muḥammad.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 131
Die von Mohammad gepredigte Religion des Islam zog ihre revolutionäre
Kraft gerade daraus, das unverfälschte Alte zurückgebracht zu haben. Dabei ver-
folgt der Islam weder den jüdischen Traum von der Erlösung eines auserwählten
Volkes noch der christlichen Versprechung von der individuellen Erlösung durch
das Leiden Gottes. Auf eine undramatische Art und Weise wird die Beziehung
der Menschen zu Gott nüchtern und in vielen Teilen pragmatisch bestimmt. Gott
wird in einer strickt monotheistischen Perspektive als der absolute, transzendente
in einem alles übersteigenden Anderssein unmittelbar Wirkende interpretiert. Das
Grundanliegen des Islam besteht also in der Transzendenz des einen Gottes, des
Schöpfers von Himmel und Erde (Abou Taam und Sarhan 2016). Bald fand der
Prophet Anhänger unter den jüngeren Mekkanern vornehmer Familien und den
Sklaven. Bei den Stadtvätern Mekkas stieß er auf die Ablehnung. Diese hatten
Angst, dass der Stammessohn Muḥammad durch seinen propagierten Monotheis-
mus, die gesonderte Stellung der Pilgerstadt Mekka, als Handelsmetropole und
religiöses Zentrum gefährdet. Muḥammads Predigten hinterfragten den Götter-
kult und die Wallfahrtsfeste, die sich um das Heiligtum in Mekka konzentrierten
und den führenden Familien wirtschaftliche Vorteile brachten.
Die Quraischiten beschlossen, Muḥammad und seine Anhänger zu boy-
kottieren. Als Muḥammads Onkel Abū Ṭālib im Jahre 619 starb, steigerten die
Mekkaner den Druck auf Muḥammad, schließlich beschlossen sie ihn zu töten.
Daraufhin erlaubte er seinen Anhängern Mekka zu verlassen, um in Jathrib
Schutz zu finden. Schließlich folgte er ihnen im Jahre 622 nach Jathrib auf die
Aufforderung einiger Stämme hin, die einen Friedensrichter suchten. Jathrib
bekam später den Namen Medina (Die Stadt des Propheten). Diese Migration
wird Hidscha genannt und markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung.
Heilsgeschichtlich bedeutet diese Auswanderung einen Einschnitt zwischen Islam
und Ǧāhiliyya. Es ist die Überwindung des „Nicht-Wissen“ und „Nicht-Wahr-
nehmen“ der Zeichen des Schöpfers und somit eine Manifestation des Wan-
dels einer sozialen Situation, die durch die Realisierung einer neuen sozialen
Verfassung in Medina verfestigt werden sollte. Hierin sehen die islamischen
Gelehrten eine Parallele zur biblischen Geschichte Moses, die im Quran mit den
Worten wiedergegeben wird:
Und wahrlich, wir entsandten schon Moses mit unsern Zeichen (und sprachen zu ihm:)
Führe dein Volk aus den Finsternissen zum Licht und erinnere sie an die Tage Allahs’.
Siehe, hierin sind wahrlich Zeichen für alle Standhaften und Dankbaren (Sure14,5).
Muḥammad wurde in erster Linie von den Bewohnern Medinas als Schieds-
richter akzeptiert, um ihre Fehden zu schlichten. Diesbezüglich liefert die Charta
(ṣaḥīfa) von Medina einen Einblick in die pragmatisch begründete Abmachung
132 M. Abou Taam
zwischen Muḥammad und den Bewohnern der Stadt. Es entstand in Medina eine
politische Solidargemeinschaft (Umma). Muslime, heidnische und jüdische Clans
akzeptierten die richterliche Funktion von Muḥammad. In der ṣaḥīfa findet man
die Formulierung: „Immer wenn zwischen den Leuten dieser etwas geschieht
oder zwischen ihnen Streit entsteht, woraus Unheil zu befürchten ist, so ist dies
Gott und Mohammad, seinem Gesandten, vorzulegen.“ Diese Stellung des Pro-
pheten ist eine weitere Zäsur, die den Islam bis heute prägt, denn viele Muslime
interpretieren den räumlichen Bruch mit Mekka als Befreiung vom Unglauben.
Die neue Rolle des Propheten wird verstanden als die erste islamische Grund-
ordnung, in der der ehemals von seiner Heimatstadt verkannte und abgelehnte
Prophet zum Oberhaupt einer Gemeinde aufgestiegen ist (Tibi 2001).
Tatsächlich lassen sich auch im Offenbarungstext stellen finden, die diese Ver-
änderung der Rolle Muḥammads belegen. Während die predigten Muḥammads
in Mekka vor der Hidschra sich mit der Beziehung der Menschen zur Gott, der
Erwartung des Jüngsten Gerichtes, sowie mit Aufforderung zu sozialen Hand-
lungen beschäftigten, zeugen die Aussagen des Propheten in Medina von einer
praktisch orientierten Umsetzung der Botschaft innerhalb einer bestimmten
Sozialordnung. Auch sprachlich unterscheiden sich die beiden Phasen der Offen-
barung. Maßgeblich für diese Veränderung war die historische Notwendigkeit,
die sich aus dem Verhältnis des Propheten zum sozialen Komplex ergeben hat.
Für den größten Teil der Muslime sind diese Veränderung und ihre Rahmen-
bedingungen ein zentraler Bestandteil der Offenbarung, ohne die die Texte des
Korans kaum auslegbar sind. Obwohl oft das Wirken des Propheten in Medina
herangezogen wird, um eine islamische Herrschaftsordnung zu bestimmen, muss
man jedoch konstatieren, dass Muḥammad zu keiner Zeit eine Offizielle Amts-
bezeichnung innehatte. Er hat keine Dynastie begründet und schuf keinerlei
staatlichen Strukturen.
Die Autorität Muḥammads lässt sich auf Koranverse zurückführen, wonach
die Gläubigen Gott und den Gesandten gehorchen sollten (Sure 4,80; Sure 5,92;
Sure 8,1 etc.), denn „[…] Vielleicht lasst ihr euch führen! Aus euch soll eine
Gemeinschaft derer entstehen, die zum Guten rufen, das Rechte gebieten und das
Verwerfliche untersagen“. In einem anderen Vers wird der Zirkel von Autoritäts-
trägern erweitert. In Sure 4 im Vers 59 heißt es, „O ihr, die ihr glaubt! Gehorcht
Allah und gehorcht dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben“. Die
muslimischen Exegeten waren sich nie einig über die Interpretation des letzten
Teils dieses Verses. Wer sind diejenigen, die Befehl unter den Muslimen haben?
So sieht al-Ṭabari (839–923) darin die Grundlage einer islamischen Herrschaft
gelegt (Schakir 2000, S. 67 ff.). Andere Exegeten gehen jedoch davon aus, dass
sich hierbei um die Gefährten des Propheten handelt.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 133
Ein Blick in die politische Theorie bei islamischen Philosophen (Anawati 1959)
und Rechtsgelehrten macht deutlich, dass sie bei der Formulierung ihrer Theo-
reme in Bezug auf Herrschaft und Herrschaftslegitimation sehr beeinflusst waren
von den politischen und gesellschaftlichen Konstellationen, die ihre jeweilige Zeit
geprägt haben.
Islamische Philosophen wie al-Fārābīi (Walzer 1998), Averroes (Ibn Rušd
1956), Ibn Sīnā, Ibn Ḫaldūn sowie religiöse Gelehrte wie al-Māwardī, al-Ġazālī
und Ibn Taimiyya bieten die Basis der meisten islamisch begründeten Visionen
politischer Herrschaft der heutigen Zeit (Lipson 1993; Tibi 1993; Watt 1972).
Reformorientierte und sich der Demokratie verpflichtende Debatten beziehen sich
oft auf die Frühislamische Geschichte in Kombination mit den Ausführungen der
islamischen Philosophie. Währenddessen beziehen sich die Vertreter einer theo-
kratisch bestimmten Herrschaftsform auf die theologischen Ausarbeitungen in
Kombination mit einer staatszentrierten Lesart der frühislamischen Geschichte.
Mit anderen Worten prägen Diskurse und Debatten, die in der Zeit der Umay-
yaden- und der Abbasidendynastien vom 7. Jahrhundert bis zum 12. Jahrhundert
(Tibi 1997, S. 179–219) geführt worden sind, den aktuellen politischen Diskurs
(Tibi 1997, S. 363–384).
Ibn Ḫaldūn argumentiert, dass die grundlegenden Ursachen geschicht-
licher Entwicklung in den gesellschaftlichen und sozialen Strukturen gesucht
werden müssen (Talbi 1986; Sayah 2000). Er folgte dem Grundsatz, dass das
Beobachtbare Rückschlüsse auf den Wahrheitsgehalt gibt, während das, was
mit der Empirie nicht übereinstimmt, verworfen werden muss. Aufbauend auf
dieser Grundlage entwickelte er in seiner Muqaddima (Einführung in die Welt-
geschichte) (Rosenthal 1989) den Kreislauf vom Aufstieg und Zerfall der Zivi-
lisationen.3 Bezüglich des Staates, so beschreibt er die Integration politischer,
sozialer und wirtschaftlicher Faktoren als Grundlagen seiner Funktion. Für ihn
sind gute Finanzen und die Gewährung der öffentlichen Sicherheit eine unabding-
bare Voraussetzung für eine gute Regierungsführung. Ibn Ḫaldūn verlangt, dass
3Ibn Ḫaldūn schreibt im Bezug auf die im Rahmen seiner Muqaddima beabsichtigten Grün-
dung einer neuen Wissenschaft: „es ist dies gleichsam eine in sich selbständige Wissen-
schaft, denn sie hat ein Objekt, und das ist die menschliche Kultur und die menschliche
Gesellung; sie hat Frage(stellungen), und sie erklärt die Zustände, die mit dem Wesen (die-
ser Kultur) zusammenhängen, einen nach dem anderen. So ist es mit jeder Wissenschaft,
die sich auf eine Autorität oder den Verstand gründet.“ (Schimmel 1951, S. 11).
134 M. Abou Taam
die natürlichen Anlagen der Menschen respektiert werden und sie deswegen nicht
überfordert werden sollen.
Als Theoretiker stellt er fest, dass die Entwicklung von Herrschaft und Staa-
ten höchst unterschiedlich verlaufen kann. Je nachdem wie sich das politische
System gegenüber Wirtschaft, Religion sowie gesellschaftlichen Gruppen ver-
hält, kann dieses fortexistieren oder nicht. Er veranschaulicht dies anhand sei-
ner Abhandlung über die Auswirkung hoher Steuern und plädiert dafür, dass
diese als Voraussetzung für eine florierende Wirtschaft niedrig gehalten werden.
Ibn Ḫaldūn argumentierte, dass der Staat durch eine Kraft gehalten wird, die er
ʿasabiyya (Esprit de Corps) nennt. Demnach hängt der Zusammenhalt einer
Gesellschaft vom Wertebewusstsein einer Zivilisation, also von der auf ihrer
Weltanschauung aufbauenden Solidarität ab (Tibi 1993, S. 124). Auch für Ibn
Ḫaldūn unterstützt in diesem Sinne die Religion den Staatszusammenhalt ent-
scheidend. In seiner Abhandlung stellt er fest, dass der Staat fünf Phasen durch-
läuft (Schimmel 1951, S. 92 ff.):
• gemeinschaftlicher Sieg
• Konsolidierung der Macht
• Ruhm
• Zufriedenheit und Nachahmung
• Vergeudung und Verschwendung.
Je nachdem wie stark die ʿaṣabiyya ausgebildet ist, verhält es sich mit der Ver-
weichlichung der Menschen, davon hängen die Stärke der Staatsmacht ab und
somit ihre Fähigkeit Ordnung durchzusetzen und damit für Sicherheit zu sorgen.
Inspiriert von Platons Staat beschäftigte sich auch der islamische Philosoph Aver-
roes (Ibn Rušd) mit gesellschaftlichen Entwicklungen und der Bedeutung des
Staates (Ibn Rušd 1982; Ibn Rušd 1995).
Auch mit Bezug auf Platon billigt al-Fārābī in seiner Abhandlung al-madīna
al- fāḍila (al-Fārābī 1982) dem Herrscher die Abänderung von religiösen Geset-
zen zu. Hierbei distanzieren sich beide von der islamischen Vorstellung, wonach
die Legitimation der Herrschaft des Sultans auf der Grundlage einer meta-
physischen Weltvorstellung geschieht, wie dies beispielsweise al-Ġazālī tut. Die
islamischen Rationalisten „glauben nicht, dass das Kalifat authentisch religiös
islamisch ist“ (Tibi 1996, S. 83). Tatsächlich kennt die islamische Tradition in der
praktischen Herrschaftsausübung das istiḥsān als Methode des Herrschers welt-
liche Gesetze, die alleine auf seinem Willen beruhen, zu verabschieden, um auf
eine gesellschafts- oder machtpolitische Situation reagieren zu können. Derartige
Vorschriften „wurden zunächst gewöhnlich in die Scharia aufgenommen,
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 135
durch Vermittlung der Sunna oder auch auf Grund juristischer Überlegungen“
(Kummerer 1989, S. 112).
Das politische Erstarken der Rechtsgelehrten und die zunehmende Schwä-
chung der Philosophie seit der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts führten zur
Beendigung dieser Praxis, was sicherlich mit der zunehmenden Kodifizierung
der Sunna und Hadithe in Zusammenhang stand. Die Bedeutung der islamischen
Philosophen ergibt sich aus ihren stetigen Versuchen, einen auf Recht beruhenden
Staat zu entwerfen. Dabei bedienten Sie sich nicht ausschließlich genuin islami-
schen Quellen, vielmehr schufen sie eine Brücke zur griechischen Philosophie.
Dies taten sie als gläubige Muslime, die von der Existenz Gottes und der Prophe-
tie Muḥammads überzeugt waren. Der von ihnen entworfene Staat sollte sowohl
die von Gott gewollte gerechte Ordnung darstellen, als auch Platz für die geis-
tige Freiheit seiner Bewohner einräumen. Darin sahen sie keinen Widerspruch zur
Offenbarung.
Für al-Ġazālī (Marmura 2000) ist ein starker Sultan, der seine Herrschaft auf
dem quranischen Vers: „Gehorcht Gott und dem Propheten und denjenigen von
euch, welche die Macht besitzen“ (Koran 4:59) gründet, sehr zentral. Diese Koran-
stelle unterstreicht durchaus die Hierarchie von göttlicher Allmacht gegenüber
der Macht unter den Menschen. Wenn man bedenkt, dass Islam nicht nur „Hin-
gabe“ an Gott, sondern zugleich bedingungslose „Unterwerfung“ unter Seinen
Willen bedeutet, so hat der politische Führer die Aufgabe diesen Willen zu durch-
setzen. Entsprechend beruht al-Ġazālīīs Theorie auf der Annahme, dass die ideale
Gemeinschaft diejenige ist, die sich dem islamischen Herrscher unterordnet. Er
erklärt die Bedeutung des Verses „Gehorcht Gott und dem Propheten und den-
jenigen von euch, welche die Macht besitzen“ als Gehorsam gegenüber Gott, dem
Propheten und den Emiren, d. h. den faktischen Herrschern. Somit hat der Sultan
göttlichen Glanz, und ihm ist als dem Gotterwählten Gehorsam zu leisten.
Die erwähnte Koranstelle bildet auch für al-Māwardī die Grundlage zur
koranischen Herleitung des Kalifats und wird von den islamischen Gelehrte, ins-
besondere im Sunnitentum, herangezogen, um die Scharia als endgültige und
autoritative Rechtsquelle zu bestimmen. Die Wechselwirkung zwischen Politik
und Religion ergibt hierbei aus der Vorstellung, dass nur ein starker Sultan ein
Garant für die Durchsetzung der Scharia sein kann. Die Scharia steht im Mittel-
punkt, denn: „the obligation of the Shari‘ah is to provide the well-being of all
mankind, which lies in safeguarding their faith, their human self (nafs), their
intellect (‘aql), their progeny (nasl) and their wealth (mal)“ (Umer 2000, S. 118).
Ibn Taimiyya betont, dass irgendein Herrscher immer noch besser als Auf-
ruhr und Chaos sei. Selbst wenn die Herrschaft nicht religiös legitimiert sei, so
136 M. Abou Taam
sodass das Prinzip der ḥākimiyyat Allāh (Gottesherrschaft) (Quṭb 1988, S. 94 f.;
Maudūdī 1979, S. 4 ff.) eine der wichtigsten Säulen der islamischen Ordnung
darstellt. Hierin wird Gott als die einzige legitime rechtsetzende Instanz ver-
standen, in der er sich durch die Offenbarung und die darin beschriebenen
Gesetze für alle Zeiten geäußert hat. Diese Gesetze sind Bestandteil der Scharia.
Aus der Offenbarung sollen somit alle Rechtsprinzipien abgeleitet werden. Der
Muslim hat sich diesen unterzuordnen (Quṭb 1965, S. 150). Hier baut der poli-
tische Islam eine Brücke zum orthodoxen Islam auf, die sich in Bezug auf die
Einheit Gottes äußert, aus der jedoch ein politisches Konzept entwickelt wird,
das alle Bereiche des Lebens auf der Grundlage religiöser Regeln strukturiert und
bestimmt. Es handelt sich um eine Basis politischen Denkens, die sich gegen jeg-
liche menschlich-philosophisch anmutende politische Ordnung stellt, die Gott
nicht im Zentrum ihrer Gedanken hat. Der Islam ist genauso ein Widersacher
des Unglaubens, wie der politische Islam ein Widersacher der auf das Prinzip der
Volkssouveränität bauenden Demokratie ist, schrieb Sayyid Quṭb (1965, S. 12 f.).
Die Politisierung religiöser Inhalte vereinfacht die Strukturen gesellschaft-
licher Interaktionen und reduziert sie auf einen stetigen Kampf zwischen Gut
und Böse. Ein dichotomes Denkmuster entsteht, das uns immer wieder bei der
Analyse des Phänomens begegnet. Die Anhänger Gottes sind die Kämpfer für
das Gute und ordnen ihr Leben nach den von Gott geoffenbarten Regeln und
Gesetzen. Ihr einziger Souverän ist Gott. Die anderen, nämlich die Ungläubigen,
erkennen menschliche Gesetze an, die von irdischen Souveränen gemacht werden
(Maudūdī 1984, S. 5 ff.). Somit definiert der politische Islam ideologisch zwei
Entitäten: die Hizbollah/Partei Gottes, die aus den Anhängern der Einheit Got-
tes besteht und die Ḥizb al-shayṭāan (Partei des Teufels), die aus all denjenigen
besteht, die nicht getreu den Gottesgesetzen und Vorgaben leben. Dabei kann es
sich um Individuen, Kollektive oder gar politische Systeme handeln.
Als Maßstab für die Einordnung und Unterscheidung dient abstrakt der Glaube
an die Einheit Gottes, was sich in der Realität durch die Umsetzung von ver-
meintlichen Gottesgesetzen ausdrückt. Sowohl al-Bannā als auch al-Maudūdī
betonen die Unmöglichkeit der Koexistenz beider Entitäten in einem politischen
System, denn dies würde den göttlichen Auftrag der daʿwa (Mission) nicht nur
verhindern, vielmehr erschwere dies den Kampf gegen das Böse (Al-Bannā
1934, S. 269; Khomeini 1982, S. 122 f.). Dieser ist allerdings in Z eiten
138 M. Abou Taam
Übel und Chaos effektiv von der Erde bannen will […] verschwendet seine Zeit
nutzlos, solange er sich auf bloßes Predigen beschränkt. Er sollte stattdessen auf-
stehen und alles tun, um die Regierung, die nach falschen Prinzipien handelt zu
Ende zu bringen, sollte die Macht aus den Händen der Übeltäter an sich reißen und
eine Regierung erstellen, die auf korrekten Prinzipien aufbaut und das richtige Sys-
tem befolgt (Maudūdī 1978, S. 187 f.).
6Zur ʿaqīda gehören die verinnerlichten Inhalte des Glaubens, in diesem Sinne muss ein
Muslim überzeugt sein, ohne Zweifel oder Bedenken. Zur Vertiefung vgl. Wahbat az-Zu-
haili (1992): al-tafsīr al-munīr fī al-ʿaqīda wa al-sharīʿa wa al-manhaǧ (Kurankommentar,
welcher die Aspekte der Glaubensinhalte, des islamischen Rechtes und der Herangehens-
weise beleuchtet), 32 Bände, Damaskus/Beirut.
140 M. Abou Taam
Diese „korrekten Prinzipien“ sind die religiösen Normen und Gesetze, die in der
Scharia beschrieben werden. Wer nicht danach strebt, ist ein kāfir (Ungläubiger),
der sich anmaßt, Gesetze schaffen zu können. Das steht jedoch nur Gott zu.
An dieser Stelle hebt sich die Salafiyya insofern von den Gedanken Maudūdīs
und Sayyid Quṭb ab, als dass sie es gemäß den oben zitierten Lehren von Ibn
Taimiyya für unislamisch halten, gegen die politische Autorität vorzugehen. Die
Salafiyya lehnt ebenfalls die Vorstellung ab, dass Menschen sich selbst Gesetze
geben können, denn sie seien nicht fähig, die langfristigen Auswirkungen solcher
Gesetze zu ermessen. Daher sollten sich Muslime am aṣl7 (Fundament) orien-
tieren, was durch die offenbarte Sharia seinen Ausdruck bekommen hat. Nur
dadurch können sie die Ǧāhiliyya von sich abwenden und ihre Unterentwicklung
überwinden. Die Mittel hierfür wurden im islamistischen Konzept ebenfalls durch
die göttliche Offenbarung bestimmt. So wird der Dschihad als eine vielfältige,
fast allumfassende, Möglichkeit interpretiert, die oben beschriebene Ǧāhiliyya zu
bekämpfen. Zentraler Gedanke hierbei ist, dass der Dschihad ein Wesensmerk-
mal des Islam ist und damit eine individuelle Pflicht darstellt. So ist der ǧihād fī
sabīl Allāh (Kampf für die Sache Gottes) eine moralisch-religiöse Verpflichtung,
der jeder Muslim nachzugehen hat (Ibn Taimiyya 1987, S. 128–135). Prinzipiell
stimmt dieser Gedanke mit den Vorstellungen der Orthodoxen überein, denn diese
sehen das Ziel des Dschihads in der Festigung des Anspruches Gottes auf Erden
und der Ablehnung und Bekämpfung anderer Gottheiten.
Bereits die islamische Orthodoxie interpretierte den Dschihad als eine farḍ
kifāya (kollektive Verpflichtung), die sich von den farḍ ʿayn (individuellen Ver-
pflichtungen) insofern unterscheidet, als die farḍ kifāya vom Kalifen/Herrscher
im Namen der ganzen Gemeinschaft auf sich genommen werden muss. Dadurch
wurde frühzeitig der Dschihad zum Mittel der Politik (Robinson 1996, S. 173).
Es soll nicht allgemein eine Gleichstellung des Dschihad-Begriffs in der Ortho-
doxie und in der Salafiyya impliziert werden, jedoch kann man trotz aller Dif-
ferenzierung und trotz Würdigung der tatsächlichen Vielfältigkeit des Islam in
seiner 14. Jahrhunderte langen Geschichte stets radikale Elemente entdecken, die
den Dschihad als einen eindeutigen Auftrag Gottes betrachten, für den Glauben
in den Kampf zu ziehen. Hierauf bauende Ideologien sind kein gänzlich neues
Phänomen. So sind die Ḫāriǧiten im siebten Jahrhundert, die Schriften von Ibn
7Eine weitere Selbstbezeichnung von Islamisten in der arabischen Sprache ist Uṣūliyūn,
was eine Ableitung vom arabischen Wort aṣl ist und „sich am Fundament orientierende“
bedeutet.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 141
Man kann auf der Ebene des politischen Islam in Sunnitentum feststellen, dass
sich bei den Ideologen vornehmlich um Laien handelt, die nicht der religiösen
ʿUlamāʾ-Kaste angehören. Dadurch, dass die Legitimität dieser Führer nicht auf
der Grundlage ihrer religiösen Autorität fußt, kommt es bei diesen Gruppen oft
zu Spaltungen und Neugründungen von Gruppen, die ideologisch gleich sind,
aber sich in ihrer Führungsstruktur erheblich unterscheiden und sich gegenseitig
bekämpfen. Dies ist im schiitischen politischen Islam anders. Die Führer und
Interpretern der fundamentalistischen Ideologien im Schiitentum sind fast aus-
schließlich religiöse Würdenträger. Damit verfügen sie über eine Autorität, die
gemäß schiitischen Traditionen von oben bis in die Basis wirken.
Nach dem Tode des Propheten spaltete sich die junge islamische Gemeinde.
Dabei ist die bedeutendste der sektiererisch-religiösen Spaltungen innerhalb
der islamischen Umma hinsichtlich Autorität und Legitimität die zwischen der
Doktrin des Kalifats im sunnitischen Islam und der des Imamats im schiitischen
Islam. Für die Schiiten gilt der Schwiegersohn des Propheten als rechtmäßiger
Nachfolger und damit erster Imam der islamischen Gemeinde. Die Reihe der
schiitischen Imame endete mit dem zwölften Imam, der 874 n. Chr. in die ġaiba
al-kubrā (große Verborgenheit) gegangen sein soll. Mit dem zwölften Imam
Muḥammad al-Mahdī verlor die schiitische Gemeinschaft ihren politischen und
142 M. Abou Taam
religiösen Führer. Damit existiert nach schiitischer Lehre seit dem 9. Jahrhundert
keine legitime Herrschaft mehr (Arjomand 2001, S. 301 ff.).
Erst im letzten Jahrhundert entwickelten die Gelehrten in Qom und Nad-
schaf durch Uminterpretationen eine neue ganzheitliche Lehre von Theologie,
Politik und Gesellschaft. Muḥammed Bāqir al-Ṣadr wollte durch den Ausbau
der Marǧaʿiyya8 den bereits vorhandenen marǧaʿa al-taqlīd (Quelle der Nach-
ahmung) mit mehr Befugnissen ausstatten. Dagegen spricht Khomeinis Lehre
von der welāyat-e faqīh (Stellvertreterschaft des obersten Rechtsgelehrten) den
Theologen eine Führungsrolle zu. Dabei wird dem bestqualifizierten Rechts-
gelehrten stellvertretend für den Mahdī die direkte Machtausübung gestattet
(Fenske 1993, S. 836). Den Klerikern werden Kompetenzen im politischen
Bereich zugesprochen, die in der bisherigen Lehre als Prärequisiten des Imams
galten. Damit schwächt Khomeini die traditionelle Rolle des unfehlbaren Mahdi,
der als schiitischer „Messias“ und Endzeitherrscher einst das gerechte Reich Got-
tes gründen wird. Der oberste Rechtsgelehrte soll nach der neuen Lehre stellver-
tretend für den Mahdi die Herrschaft ausüben und seine „gerechte Ordnung […]
errichten, welche die Durchführung des göttlichen Rechts ermögliche“ (Rosiny
1996, S. 86). Durch die Delegierung von politischen Aufgaben und die Schaf-
fung einer staatstragenden Theorie reformierte Khomeini die schiitische Lehre
zugunsten der Theologen, denn die welāyat-e faqīh bildet innerhalb des Doktri-
nengebäudes der Schia eine Innovation.
Mit ihr hat Khomeini die schiitische Theologie revolutioniert, da er mit der
bis dato vom hochrangigen schiitischen Klerus geübten Praxis der Abstinenz in
politischen Fragen brach (Buchta 2004, S. 7). Er ebnete den Weg für eine schiiti-
sche Theokratie, die die Scharia als Grundlage ihrer Herrschaft haben soll. Durch
die neue Interpretation der schiitischen Tradition schuf Khomeini eine politische
Brücke zwischen Sunniten und Schiiten. Die Lehre der welāyat-e faqīh bildet
die Grundlage für das iranische System seit der islamischen Revolution (Razi
1990, S. 69 ff.), die prinzipiell so angelegt ist, dass ihr Export auf dem Wege der
Durchsetzung islamistischer Ideologien impliziert ist. (Tibi 1999, S. 63 ff.) Damit
strahlt die iranische Revolution gewollt vom System in Teheran auf andere Regio-
nen mit schiitischen Bevölkerungsmehrheiten aus (Shapira 1988, S. 115–130).
8Die Quelle der Nachahmung bildet, bei den Schiiten die Spitze der theologischen Hier-
archie. Es können mehrere Theologen gleichzeitig den Rang der Marja´iya erlangen. Um
diesen Rang zu erhalten, muss er eine theologische Abhandlung (risāla ʿamaliyya) ver-
öffentlichen, die in den theologischen Zentren in Qom und Nadschaf diskutiert wird.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 143
the rest of the population, exercises unchecked domination and enforces laws of its
own making in the name of God (Maudūdī 1967, S. 147).
Der islamische Staat soll unter der absoluten Souveränität Gottes regiert werden
(Maudūdī 1967, S. 178). In einem solchen System erhalten Nicht-Muslime nur einen
nachgeordneten Status. Das wird damit begründet, dass die staatstragende Ideologie
der Islam sei. Dies impliziert, dass nur wer sich zum Islam bekennt, bei der Organi-
sation des Staates involviert werden kann. Hier kommt die oben beschriebene Wahr-
nehmung der Welt in zwei sich entgegengesetzten Polen erneut zum Ausdruck.
doxie oder gar den Diskurs des politischen Islam durchsetzen konnten. Das fin-
det bei al-ʿAẓm Bestätigung. Al-ʿAẓm geht zwar davon aus, dass die Aufklärung
auch im islamisch geprägten Raum ihren Lauf finden wird. Er schöpft daraus
Hoffnung, dass „[I]n der muslimischen Welt […] der de-facto-Säkularismus sehr
verbreitet; vor allem in der arabischen Welt. Aber man hat nie eine säkulare Ideo-
logie entwickelt, oder säkulare Parteien, mit eindeutig weltlichen Programmen,
basierend auf einer Trennung von Staat und Religion“ (Sabra 2004). Ausschlag-
gebend für die Modernisierung ist jedoch die Definition und Deutungsmacht über
Quellen, „weil die Religion auch heute noch die doktrinäre Basis muslimischer
Gesellschaften ist […]“ (al-ʿAẓm 2008). Allerdings konnten sich, so al-ʿAẓm,
„die modernen Lesarten des Korans und der islamischen Basistexte, die deren
Aussagen durch eine symbolische, metaphorische oder historische Interpretation
auflösen wollten, bisher nicht durchsetzen“ (al-ʿAẓm 2008).
Al-Ǧābrī in seinem Werk „Kritik der arabischen Vernunft“ ein unabhängiges
politisches Feld. Seine Forderung nach der „Säkularisierung des Denkens“ impli-
ziert somit die Trennung der Politik von den Bereichen Theologie, Philosophie,
Recht und Geschichte. Dabei kritisiert er heftig, dass innerhalb der islamischen
Zivilisation durch die dominante Rolle der religiösen Gelehrten und ihrer tradi-
tionell engen Verzahnung mit der politischen Macht die Grundlage für eine von
der Religion unabhängigen Vernunft zerstört wurde. Das islamische denken
bezieht damit alle Bereiche, auch die politischen, auf die Offenbarung und sucht
in der Methode des Analogieschlusses einen Ausweg zu finden, wenn die Offen-
barung sich nicht konkret zu einem Sachverhalt äußert. Die Tatsache, dass die
Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Theologie spätestens im 13. Jahr-
hundert zugunsten letzterer entschieden wurde, führte schließlich dazu, dass seit-
her nicht die Produktion neuer Diskurse die islamische Kultur bestimmt, sondern
die Reproduktion alter Gedanken (al-Ǧābrī 2009, S. 45 ff.). Diese radikale Kritik
al-Ǧābrīs mündet in seiner klaren Forderung, wonach nur durch die Trennung von
Religion und Politik die Manifestation einer lebensfähigen Diskurskultur erfolgt,
die die Muslime in die moderne führen könnte. Al-Ǧābrī betont die Heterogenität
der arabischen Geschichte als Referenzpunkt, um seine Forderung nach Plurali-
sierung und Demokratisierung zu untermauern.
Fazit
Im Diskurs über Islam und Herrschaft ist es wichtig Begriffe mit Inhalt zu fül-
len. Wenn vom Staat gesprochen wird, wird oft das westliche Staatsverständnis
als Basis zugrunde gelegt. Es ist jedoch so, dass in der islamischen Zivilisation
146 M. Abou Taam
der Staat theoretisch eine andere Funktion erfüllt als der westliche Staat. Durch
die Expansion der Europäer wurde der moderne Staat auch in die islamische Welt
getragen. Die ihm zugrunde liegenden Ideen wurden dort jedoch nicht verinner-
licht. Politische Ideen entspringen einer vorherrschenden Weltanschauung. Der
Nationalstaat, der auf dem Prinzip der Volkssouveränität basiert, ist von diesem
Grundsatz her mit dem Islam in seiner orthodoxen Form nicht vereinbar. Nach
islamischem Glauben kommt weder dem einzelnen Menschen noch einer poli-
tischen Gruppe Souveränität zu. Der einzige Souverän ist Gott. Auch wenn der
Koran keine konkrete Staatsform definiert, wurde aus den religiösen Quellen
durch die islamischen Gelehrten spätestens mit der Manifestation der Umayya-
dendynastie eine Herrschaftsform abgeleitet, die bis heute das religiöse Denken
prägt und die Grundlage eines islamischen Staatsverständnisses darstellt.
Die Autorität des Kalifen gründet auf der uneingeschränkten Souveränität
Gottes. Der Kalif leitet die Umma und ist gleichzeitig Stellvertreter des Prophe-
ten. Das Verhältnis des Herrscher zu seiner Bevölkerung wird entlang religiö-
ser Kategorien definiert: Er ist Hirte und kann Gehorsam und Unterordnung
abverlangen. Dies zu leisten ist wiederum Gottesdienst. Die islamische Ortho-
doxie kennt das Konzept der Bürgerschaft nicht und bestimmt das Verhältnis
des Individuums zum Staat entlang seiner Religionszugehörigkeit. Das von den
Islamisten erneut angestrebte Kalifat mit seinem universalen Anspruch leitet sich
hiervon ab. Der heutige Islamismus entwirft eine Gegengesellschaft, die sich am
Kalifat der Periode der rechtgeleiteten Kalifen orientiert, in der Religion und
Politik in vollem Einklang zueinander stehen.
In der Auseinandersetzung zwischen Philosophen und aṣḥāb al-ḥadīṯ (Tradi-
tionarier) obsiegten letztere. Ihr schärfster Vertreter Ibn Hanbal propagierte vor-
wurfsvoll im 9. Jahrhundert als Reaktion auf die Philosophie der Muʿtazila, sie
würde dem Verstand Vorrang gegenüber der Tradition geben. Diese Vernunft-
feindlichkeit in Bezug auf die Auslegung des Korans und das starre und weitest-
gehend unkritische Festhalten an der Tradition prägen auch heute das islamische
Denken und die religiöse Praxis. Ibn Ḥanbal lehnte die Kultur der Mehrdeutig-
keit ab. Bis heute haben sich innerhalb der islamischen Theologie kaum Stimmen
durchgesetzt, die dem erfolgreich entgegentreten können. Die Rückkopplung an
die goldene Zeit der islamischen Philosophie scheint auf dem ersten Blick erfolg
versprechend zu sein, jedoch sind zeitgenössische Vertreter eher eine kleine
Gruppe. Die Mehrheit der muslimischen politischen Elite fordert eher eine engere
Orientierung an den Quellen des Islams gemäß orthodoxer Auslegung bei der
Gestaltung des politischen. Eine säkulare politische Ordnung im politischen Dis-
kurs islamischer Eliten ist kaum vorhanden.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 147
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Teil III
Reformation und die Geschlechterfrage
Das Dilemma der religiösen
Modernisierung
Amal Grami
1Hier sei z. B. verwiesen auf ʿAbdalmaǧīd al-Šarafī, Revolution, Moderne, Islam [Arab.],
Tunis 2011 (rez. von Kulṯūm al-Saʿafī); Saʿīd Nāšīd, Die Moderne und der Koran [Arab.],
Tunis und Beirut [2.] 2016 (der Verfasser besteht darauf, dass der Koran ein Diskurs auf-
richtiger Anbetung ist); Nabīl ʿAbdalfattāḥ, Die Erneuerung des religiösen Denkens [Arab.],
o. O. 2016; Aḥmad Zāyid, Die Stimme des Imams: Der religiöse Diskurs vom Kontext zur
Wahrnehmung [Arab.], Kairo 2017.
A. Grami (*)
University of Manouba, Tunis, Tunesien
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 155
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_9
156 A. Grami
Dementsprechend wollen wir den Fokus oder Blickwinkel auf die Problematik
einer Erneuerung des religiösen Denkens verschieben, weswegen wir die Schrif-
ten einiger Theoretiker des Dschihad2 herangezogen haben, um der Frage nach
einer Modernisierung des religiösen Denkens auf den Grund zu gehen. Daher
haben wir uns darangemacht, den Diskurs der dschihadistischen Gruppierun-
gen in der Öffentlichkeit zu beobachten, um so die Problematik der religiösen
Modernisierung in Augenschein zu nehmen: Wie gehen die Vordenker der dschi-
hadistischen Strömungen mit der Frage nach der Modernisierung des religiö-
sen Denkens um? Haben die Vordenker dieser Gruppierungen, angefangen von
Al-Qaida bis zum sogenannten Islamischen Staat, die Thematik überhaupt einer
Erörterung für wert befunden oder gilt sie ihnen als läppisch oder bedeutungslos?
Zur Methodik
Hierbei geht es uns um die Ideologiekritik und insbesondere die der dschihadis-
tischen Ideologien. Unseren Untersuchungsgegenstand bilden eine Anzahl dschi-
hadistischer Schriften, die eine ideologische Vereinnahmung der religiösen Texte
reflektieren, indem sie darauf aus sind, Koran, Hadith und Fiqh auf die Doktrin des
Dschihad zu reduzieren. Wir setzen voraus, dass diese Schriften in ihrer taktischen
Art, ihrer provokativen Sprache und ihrem emotionsgeladenen Stil Gemeinsamkeiten
aufweisen, ohne dabei wesentlich von der in der Protestliteratur üblichen Methodik
abzuweichen, deren Zielgruppe besonders die Jugendlichen sind. Diese rufen sie
dazu auf, am Dschihad teilzunehmen und sich auf das Märtyrertum vorzubereiten.
2Insbesondere haben wir folgende Literatur verwendet: Abū Ǧandal al-Azadī (alias Fāris
al-Zahrānī), Die Aufwiegelung der heldenhaften Mujahideen zur Wiederbelebung des Atten-
tats, http://www.rihanapress.com/index.php/ar/bibliotheque/407-2014-07-02-14-48-53.html
[Zugegriffen: 07.Aug.2017]. Abū Anas al-Ṭāʾifī, Ein Tor zum Paradies [Arab.], https://
www.alkutubcafe.com/book/CjNrB1.html (datiert 25.03.423 n.H.); al-Ḥāfiẓ b. Ḥaǧar, Das
Wiehern der Pferde bei der Erläuterung des Buches vom Dschihad angesichts des bevor-
stehenden Ziels [Arab.], erläutert von Scheich ʿAbdarraḥīm Murād b. al-Šāfiʿī, veröff.
25. Rajab 1424 n.H. (21.09.2003) https://www.almeshkat.net/book/1400 [Zugegriffen:
12.Aug.2017]; ʿAlī al-Ḫuḍair, Eine Mitteilung an die Modernisten: Aus der Einleitung
der Erläuterung des Unglaubens (kufr) derer, die den Amerikanern beistehen: Von Scheich
Nāṣir al-Fahd [Arab.], 12.08.2012, https://archive.org/details/1232012-08-12 (Abruf
25.07.2017); Scheich ʿAbdullāh ʿAzzām, Die Hinlenkung der Gläubigen zu den Vor-
zügen des Dschihad [Arab.], https://archive.org/details/2.ithaf [Zugegriffen: 13.Juli.2017];
Muḥhammad b. Saʿīd al-Qaḥṭānī, „al-walāʾ wa-l-barāʾ “im Islam [Arab.], Riyadh 2014,
https://islamhouse.com/ar/books/468544/ (Abruf 17.04.2018).
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 157
Wenn Ideologie theoretisch auf einer anderen Realität gründet (Al-ʿArūyi 1973,
S. 181), dann ist es nicht verwunderlich, dass die Reform des religiösen Fel-
des, die Erneuerung oder Modernisierung des religiösen Diskurses oder die
Restrukturierung und Entwicklung der religiösen Institutionen in der dschihadis-
tischen Literatur keinen dauerhaften Gegenstand darstellen, weil solche Pub-
likationen nicht an der Gegenwart interessiert sind. Sie meißeln Konturen einer
Zukunft, die allein ihr Interesse an einer Vergegenwärtigung der Vergangen-
heit wie auch an dem widerspiegeln, was sie als Erfolgserlebnisse begreifen,
als es den Muslimen gelungen war, fremde Heerlager zu erobern und den
Thron der „Ungläubigen“ zu zerstören. In dieser Sichtweise steht der Dschi-
had im Mittelpunkt und wird es zur Obsession seiner Vordenker, sich Verse aus
dem Gründungstext herauszupicken, die zum Dschihad und zum Kampf (qitāl)3
drängen, um so eine Kultur des Todes und des Hasses zu propagieren. Schon
seit der Zeit der salaf4 gibt es Beispiele dafür. Geschichte wird als eine Abfolge
3Dschihad (ǧihād) und qitāl werden gemeinhin als Synonyme verstanden. (Anm. d. Ü.).
4salaf
= Altvordere, gemeint sind al-salaf al-ṣāliḥ, d.h. die ersten drei Generationen der
Anhänger des Propheten Muhammad, die als besonders vorbildlich und tugendhaft gelten.
(Anm. d. Ü.).
158 A. Grami
rückwärtsgewandte Sicht auf die Zeit, indem sie die Muslime an eine Vergangen-
heit bindet, die ihre Gegenwart und Zukunft verschlingt und die den Wert auf
den Horizont ihres eigenen Denkens legt, womit sie zur Kreativität im Denken
unfähig werden, außer wenn es darum geht, sich in Imitation, Nachahmung und
Befolgung zu üben, um die Erfüllung der Glaubensgrundlagen sicherzustellen.
In den Augen der Dschihadisten ist das Denken an die Religion gebunden,
sodass, wenn die Religion unveränderlich ist und nicht entwicklungsfähig, es für
den Hadith keinen Spielraum zur Modernisierung des religiösen Denkens geben
kann. Somit gibt es keine Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt, die es
noch erlauben würde, Dinge zu analysieren, zu untersuchen und zu überprüfen.
Da die Dschihadisten nur die Existenz einer einzigen Autorität anerkennen, näm-
lich die der Salaf, sehen sie keinen Bedarf, sich eine neue Autorität zuzulegen,
indem sie neuartige Konzepte hervorbringen und Begriffe bilden, Alternativen
und Lösungen anbieten oder unterschiedliche Methodiken bereitstellen. Alles
Neugeschaffene ist nur bidʿa6 und jede bidʿa führt in die Irre.
Diese Sichtweise spiegelt die Sinnlosigkeit der historischen Dimension wider
und damit das Narrativ der Salaf und des Autoritarismus, wonach die forma-
tive Epoche und die Entschlossenheit, dem ausgetretenen Pfad zu folgen, keine
Abweichung erlauben und nur noch die Möglichkeit übrig lassen, das Ursprüng-
liche nachzuahmen, ohne den Rahmen dessen zu verlassen, den die Alten
definiert haben. Hier wird das Ausmaß klar, mit dem die Vorreiter des dschihadis-
tischen Diskurses auf der intellektuellen Abschottung in allen Fragen der Diffe-
renz bestanden, wobei sie ihn einhegten und Differenz nur in den Abteilungen der
Rechtswissenschaft zuließen. Diese völlige Gewissheit erlaubt keinerlei Möglich-
keit zur Reflexion, Kritik, Revision oder Modifikation.
Allerdings ist nach unserer Auffassung die Absicherung der Literatur
einer Anzahl von Salaf, die eine begrenzte Sichtweise auf die Welt und einen
bestimmten Kontext widerspiegelt, nichts als ein Versuch, die Tatsache zu ver-
schleiern, dass die dschihadistischen Führungspersönlichkeiten unfähig sind, mit
den kognitiven Transformationen Schritt zu halten und das zu verinnerlichen, was
die Moderne an Wissenschaften, Methoden und Ansätzen etabliert hat, die ihrer-
seits den menschlichen Blick auf sich selbst, den anderen und das Universum ver-
ändert haben. Der Unterschied zwischen den „Dschihadisten“ und denjenigen, die
Projekte einer Modernisierung des islamischen Denkens verfolgen, liegt nicht in
unterschiedlichen Lösungswegen für das, was die islamischen Gesellschaften an
Krisen befallen hat, sondern in der Differenz, die zwischen der Bereitschaft zum
angewandten Wissen und der zugeschriebenen Autorität des Wissens zutage tritt.7
Während die „Aufklärer“ versuchen, verschiedene Methoden und Paradigmen
anzuwenden, über Lösungen für Probleme der lebendigen Realität nachzu-
denken und die Abhängigkeit von einem schematischen Fiqh aufzubrechen, um
auf die Bedürfnisse ihrer Zeitgenossen einzugehen, sind die „Dschihadisten“ ent-
schlossen, die Probleme, die die wechselhafte Realität aufwirft, zu ignorieren,
und alte Probleme als Vorbereitung auf den Dschihad zu hervorzuholen, z. B. die
Familie um Erlaubnis zu bitten, Geld zu sammeln und Kriegsbeute zu verteilen
etc. Dies wird von jedem erwartet, der sich von seinen Altersgenossen abwendet,
die Isolation wählt und sein Denkvermögen ausschaltet, das ihm erlaubt hätte,
Dinge neu zu bewerten, zu modifizieren und von alten Positionen abzurücken.
Das religiöse Denken besteht in der Sicht der Vordenker der dschihadistischen
Ideologie darin, die früheren Generationen nachzuahmen, sie zurückzugewinnen
und heraufzubeschwören, wie auch das wiederzubeleben, was die Gelehrten der
Sultane bewegt hat und was die „Verwestlichten“, die „Pseudointellektuellen“
und die „Modernisten“ an Diskursen verdammen, die ihnen als Aufstachelung
zur Gewalt erscheinen, zumal die Vordenker selber sie als Aufwiegelung zur
Machtergreifung betrachten. Die Texte des Dschihad stärken die Entschlossenheit,
bringen den Glauben der Muslime an sich selbst zurück und ermöglichen ihnen,
in die großen Schlachten einzugreifen. So äußert al-Azadī (2017, S. 25) über den
Umgang mit den Büchern des Fiqh: „Wir entnehmen ihnen einige Rechtsgrund-
sätze, den die Gelehrten der Salaf in ihren grossen Rechtsbüchern entwickelt
und die die meisten Studenten der Koranwissenschaften heute aufgegeben haben
… wie auch die Frage des Ausschlusses von Fragen, über deren Zulässigkeit
niemand einen Dissens mit den Salaf der Gemeinde (umma) hat“ (Šāfiʿī 2003,
S. 2). Demgegenüber sehen die „Aufklärer“ in dieser dschihadistischen Literatur
eine Verherrlichung von Hass und dahin gehend einen Aufruf zur Tötung ande-
rer Menschen, dass der Kampf gegen die Ungläubigen fundamental, die Knech-
tung von Frauen notwendig und die islamischen Minderheitenregelungen (aḥkām
al-ḏimma) in einem Zeitalter, in dem die Ressourcen der Umma geplündert wer-
den und die Ehre der Muslime verletzt wird, Pflicht sei.
7Wer sich mit der dschihadistischen Literatur befasst, wird die Dominanz bestimmter
Bücher bemerken, darunter das Buch des Dschihad [Arab.] von Ibn al-Mubārak (gest. 181
n.H.), Das Vorbild des Eroberers [Arab.] von Abū Zamanain (gest. 399 n.H.), sowie die
Fatwas von Ibn Taimiyya.
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 161
Es ist klar, dass auf diese Texte nur deshalb zurückgegriffen wird, um dem
politischen Projekt der Theoretiker des Dschihad Legitimation zu verschaffen,
nicht aber, um sich in ihre inneren Strukturen zu vertiefen, ihre Bestandteile oder
historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte zu verstehen. Vielleicht
ist der Grund für diesen Umgang darauf zurückzuführen, dass die meisten Führer
eine solide Ausbildung vermissen lassen. Mehrheitlich sind sie keine Absolventen
renommierter religiöser Lehranstalten wie beispielsweise der Azhar-Universität in
Kairo oder der theologischen Seminare der Schia (hauzas), sondern kommen aus
spezifisch technischen Berufen wie der Medizin, dem Maschinenbau u. ä. Zudem
haben sie Schwierigkeiten, sich mit dem Zeitalter und dem Denken der Moderne
zu arrangieren, das in der allgemeinen Sicht auf die Religion und in der Ana-
lyse der Realität die rationalistische Methode zum bestimmenden Faktor macht.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Modernität, die einen zum Verteidiger der
Kultur der Emanzipation werden lässt und auf rationales Verstehen setzt, in den
Köpfen der meisten Konservativen gar nicht vorhanden ist. Weil diese sich am
religiösen Erbe festklammern, haben nur wenige die Herde verlassen, darunter
Muḥammad Iqbāl und ʿAlī Šarīʿatī.
Die Modernisierung hat sich als ein neues Kolonialprojekt herausgestellt, als eine
intellektuelle Invasion und eine Form von Unterstützung der Ungläubigen, aber
auch als ein Marker der Nicht-Muslime in Wort und Tat. Wer für die Notwendig-
keit einer Modernisierung des religiösen Denkens plädiert, wird als verwest-
licht, abtrünnig, Agent oder Verräter und überhaupt in jeder erdenklichen Weise
charakterisiert, die darauf abzielt, Feinde zu produzieren und dem Anderen seine
Qualitäten abzusprechen, bis es gerechtfertigt ist, ihn zu beseitigen. Einzig zu dem
Zweck, den Geist der Kreativität zu beseitigen und Denkversuche zu unterbinden,
wird Krieg gegen Initiativen zu einer religiösen Reform und eine Modernisierung
des religiösen Diskurses sowie der religiösen Erziehung geschürt, weil es im reli-
giösen Denken keinen Spielraum für Reflexion gibt, solange die Texte für alle Zei-
ten und an allen Orten gültig sind und solange der Maßstab für die Ereignisse, die
Ibn Taimiyya (gest. 1328) oder Ibn al-Naḥḥās (gest. 1411) u. a. erlebt haben, auch
an die Krisen angelegt wird, die die islamische Umma von heute durchmacht.
Die Struktur des dschihadistischen Diskurses basiert daher auf der Angst: Der
Angst vor dem Verlust der Identität und der religiösen Eigentümlichkeit, sowie
der Angst vor Werten, die in die islamischen Gesellschaften eingesickert sind und
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 163
die die Frauen dazu gebracht haben, Gleichberechtigung zu fordern und sich auf
eine Weise zu benehmen, die die männliche Vormundschaft und Vorherrschaft
über die Frauen herausfordert usw. Folglich greift dieser Diskurs auf Gewalt
zurück, um sein Ziel zu erreichen: auf die Gewalt der Sprache und die Gewalt
der (Koran-)Deutung, und verwendet einen militärischen Wortschatz, sodass das
dschihadistische Projekt im Gewand eines Widerstandsprojektes auftritt. Denn in
den Augen der Dschihadisten ist die Moderne mit dem Kolonialismus verbunden.
Legitimation und Glaubwürdigkeit bei den Massen verschafft den islamisti-
schen und dschihadistischen Diskurses alles, was im Gewand des Widerstands-
kämpfers auftritt. Denn dieser Diskurs verbirgt seine Feindschaft gegenüber
allem Neuem einschließlich den modernen Wissenschaften und gibt sich als
Widerstandskämpfer gegen die koloniale Intervention, die Hegemonie, die impe-
riale Invasion und Brutalität aus. In den Augen der dschihadistischen Anführer
waren es diese externen Faktoren, die die Muslime daran gehindert haben, ihren
Ruhm wiederherzustellen, sodass nur durch die Kraft der dschihadistischen Tat
Abhilfe schaffen kann, nicht die Modernisierung. Ein solcher Opferdiskurs
widerspricht dem, was die „Aufklärer“ an Erklärungen für die Rückständigkeit
der Muslime geliefert haben, sodass in den Augen mancher Intellektueller der
Niedergang ein Resultat der Hegemonie westlichen Denkens, des Aberglaubens,
der populären Mythen, der Schwäche des Erziehungssystems, des Analphabeten-
tums usw. darstellt.
Wenn wir der unerschütterlichen Überzeugung Aufmerksamkeit schenken, mit
dem die Vordenker des Dschihadismus dem Islam die Totalität in allen Aspekten
des Lebens zuerkennen, dann wird uns klar, warum die Literatur, die die Zentralität
des Dschihad betont, so sehr auf die Salaf hin orientiert ist, denn diese bekräftigen
die engen Verbindungen zwischen Religion und Staat, um den Kampf gegen die
(inneren) Feinde abzuschließen, Niederlagen zu überwinden, und gegen den
Imperialismus und die westliche Invasion vorzugehen. Es ist klar, dass das reli-
giös-dschihadistische Denken sich im Kontext von Texten bewegt, die dem politi-
schen Projekt dienen, das sich in der Errichtung des religiösen Staates manifestiert,
der dann für die Durchsetzung der Scharia-Bestimmungen verantwortlich ist.
Die Vordenker der dschihadistischen Gruppierungen stellen sich vor, dass die
Umsetzung all der Verse im Buch Gottes, die zum Kampf drängen, es den Musli-
men erlaubt, den Imperialismus und Zionismus zu beseitigen, um dadurch Stabili-
tät herzustellen. In den Augen der Vordenker des Dschihad wird sich das Leben
der Muslime erst dann verbessern, wenn sie den Anderen beseitigen, da es keinen
Spielraum für Koexistenz und Toleranz zwischen den Konfliktparteien gibt. Ent-
weder man beugt sich dem, was als Wahrheit und Gerechtigkeit wahrgenommen
wird und fügt anderen den Tod zu, oder akzeptiert den göttlichen Willen und fällt
164 A. Grami
selbst der Vernichtung anheim. So sagt al-Azadī (2017, S. 25) über den Westen:
„Warum soll es uns verwehrt sein, sie zu töten, zu bombardieren, anzugreifen
und umzubringen, bis wir in etwa die Zahl unserer Opfer erreichen? Lasst sie uns
wegen Bush, Blair und Sharon töten, so wie diese die unseren wegen diesem und
jenem getötet haben. Denn wir müssen qualitativ gleichziehen, sodass sie getötet
werden, wie sie töten, und angegriffen werden, wie sie angreifen.“
Die USA sind nach dieser Sichtweise eine ignorante Macht und ein großer
Götze (ṭāġūt), wie Ayman al-Ẓawāhirī8 sagt: „Wir können den Konflikt mit dem
äusseren Feind nicht aufschieben. Die Allianz aus Juden und Kreuzrittern wird
uns nur solange zurückhalten, wie wir den inneren Feind noch nicht besiegt
haben; dann rufen wir den Dschihad gegen ihn aus“.9 Nachdem die USA der
Hauptfeind in den Augen all jener geworden waren, die sich als „Ritter unter dem
Banner des Propheten“ betrachteten, da wurde auch Europa zu einem erbitterten
Feind und einsame Wölfe fühlten sich angespornt, einzusickern, Menschen zu
misshandeln, zu terrorisieren und die Welt von den „Franken“ zu heilen. Al-Šāfiʿī
sagt: „Alles, was die Ungläubigen ärgert, ängstigt und einschüchtert, ist Teil
der Kraft, auf die sich vorzubereiten wir angeordnet haben. Dazu gehören auch
die Märtyreroperationen, besonders in einer Zeit, da die Feinde wüten und sie
Unterstützung von den Herrschenden erhalten, um in einer neuen Variante des
Kolonialismus Krieg gegen den Islam zu führen und die islamischen Länder zu
besetzen“ (Šāfiʿī 2003, S. 71).
Diese Auffassung spiegelt eine Obsession für die globale Vorherrschaft und
eine Entschlossenheit wider, den Islam und die Muslime erneut zum Mittelpunkt
der Welt zu machen, wozu alle anderen besiegt und beherrscht werden müssen.
Dazu meint al-Qaḥṭānī: „Die Muslime von heute müssen diese Dinge, ihr Ver-
trauen in sich und ihren Glauben als Gegenstrategie begreifen, sodass sie gegneri-
sche Positionen mit dem beantworten, was der Koran und die Prophetentradition
ihnen aufgetragen haben. So sollen ihre Gegner wissen, dass Gott ihnen nichts
anvertraut und zu nichts beauftragt und nur der Satan ihnen etwas vorgegaukelt
hat, das ohne Substanz ist“ (Al-Qaḥṭānī 2014, S. 55).
Solange es, wie die „Dschihadisten“ behaupten, das Ziel des Dschihad ist,
Gottes Wort zum höchsten zu machen, den islamischen Staat zu errichten, sobald
der abtrünnige Staat des Unglaubens beseitigt worden ist, und den Islam den
8Der Nachfolger von Osama bin Laden als Anführer von al-Qaida. (Anm. d. Ü.).
9„Erklärung der Globalen Islamischen Front zum Kampf gegen die Juden und Kreuzritter“
[Arab.], veröff. am 12.08.2017, http://23-february-1998-fatwa.blogspot.com/2013/01/text-
of-1998-fatwa-in-arabic.html [Zugegriffen: 13.Febr.2018].
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 165
Muslimen zurückzugeben, nachdem die Säkularisten ihn gekapert haben und der
Westen ihn angegriffen hat, gibt es keine Möglichkeit, ein Denken zu moderni-
sieren, das geschaffen wurde, um mittels des Schwertes und der Einschüchterung
ein politisches Projektes voranzutreiben – ein Denken, das zur „Instrumentalisie-
rung des Islam“ geführt hat. Vielleicht ist der Gedanke nicht abwegig, dass der
politische Diskurs in der dschihadistischen und sonstigen zeitgenössischen ara-
bischen Literatur latent vorhanden ist, da alle Initiativen zur Modernisierung von
einem ideologischen Konzept und dem Willen eines politischen Bewusstseins
beherrscht bleiben, das den Anderen ausschließt und ihm den Boden unter den
Füssen wegziehen will.
Es gibt keine Nuancen, will man die Modernisierungspfade des religiösen Den-
kens im Rahmen einer dominanten hierarchisch-pyramidenförmigen Struktur
und einem gängigen Diskurs erörtern, der von Begriffen lebt, die einem System
von Gegensatzpaaren entstammen: ḥalāl/ḥarām, Leben/Tod, gut/schlecht, Para-
dies/Hölle, Kraft/Schwäche, Islam/andere Religionen, Orient/Okzident etc. Aus-
gehend von dieser Auffassung, die auf Gegensätzlichkeit und der Ablehnung von
Überschneidung, Überlappung und Zusammenhang basiert, werden Relativismus,
Pluralismus und Akkulturation, sowie der Aufruf zur Achtung von Diversität und
zur Akzeptanz von Andersartigkeit und Vielfalt zu schändlichen Konzepten und
Sabotageakten, die auf die Beseitigung der Umma und auf den Kampf gegen den
Islam abzielen, der herrschen muss und nicht beherrscht werden darf, da er die
beste Religion für die Menschen ist. Das Festhalten an der literalistischen Lesart,
die gemäß den Theoretikern des Dschihad als treueste gegenüber dem Text gilt
und als Ausdruck seiner wahren Absichten, ist daher die bevorzugte Methode, um
die Muslime zur besten Gemeinschaft (Umma) und als solche stark zu machen.
Das Denken innerhalb von Gegensätzen erlaubt es nicht, Vielfalt, Plurali-
tät und Andersartigkeit zu akzeptieren, denn entweder bin ich für oder gegen
etwas, weswegen Dinge wie der takfīr10 oder die Feindschaft gegenüber dem
Andersdenkenden die Essenz des dschihadistischen Diskurses darstellt. In die-
ser Sichtweise sind Pfade zur Modernisierung des religiösen Diskurses sinnlos,
denn entweder teilen wir dieselbe Autorität: die Fatwas von Ibn Taimiyya, die
Ansichten von Ibn al-Naḥḥās, Autor von Wo man den Durst der Begierden stillt
u. a., oder man löst alle Bindungen und die Gewalt wird zum Herrscher in der
Arena. Im Kontext eines utopischen, unkritischen und selbstbezogenen Diskurses
wird der Verstand ausgesetzt, um im kosmischen Wissen zu schwelgen. Man sieht
keine Notwendigkeit, sich für vielfältige Lesarten und unterschiedliche Ansätze
zu öffnen, sodass die Beschäftigung mit der Modernisierung des religiösen Den-
kens widersinnig wird.
11Jāhiliyya= wörtl. Ignoranz; Bezeichnung des Zeitalters vor dem Islam. In der Sprache
der Dschihadisten wird die Gegenwart als neue Jāhiliyya bezeichnet. (Anm. d. Ü.).
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 167
gegen die Ungläubigen, gegen die amerikanische Vorherrschaft, gegen die Globali-
sierung und den Imperialismus und überhaupt gegen die Kultur des Lebens. Man
kann sagen, dass die Verblendung der Jugend durch die dschihadistische Industrie
nicht vom Inhalt des Diskurses rührt, sondern mehr inspiriert ist durch die Aussicht
auf den Erwerb von Macht, denn die Muslime haben es nicht zuwege gebracht,
dem Westen mit militärischen oder bewaffneten Mitteln, in der Wissensproduktion
oder in der Realisierung ökonomischer Prosperität etwas entgegenzusetzen.
Dafür haben sie die Möglichkeit, das Image des kriegerischen Islam, des
kämpferischen und erobernden Helden und des Zerstörers feindlicher Macht – wie
Ḥamza b. ʿAbdalmuṭṭalib12, ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb13, Ṣalāḥaddīn al-Ayyūbī14 u. a. –
ins Bewusstsein zurückzubringen. Wir behaupten sogar, dass das, was junge
Leute zum dschihadistischen Diskurs verführt, eben dieser Aufruf zur Schaffung
von Männlichkeit ist, die den Anderen ohne Gnade niederkämpft – eine Männ-
lichkeit, die sich an dem rächt, was die US-Armee mit den Muslimen im Gefäng-
nis von Abu Ghraib und in Guantanamo gemacht hat; eine Männlichkeit, die das
desolate Selbst über den Mythos der Vergangenheit, die Salaf, den Lobpreis des
Märtyrertums, sowie die Notwendigkeit, das Individuum für die Sache der Umma
zu opfern, zu rehabilitieren ersehnt. Ginge es nach den Vordenkern des Dschihad,
ist die Tötung der Ungläubigen und derer, die sie unterstützen, durch den Wunsch
gerechtfertigt, mit einem „Paukenschlag in die Geschichte einzutreten“. Tatsäch-
lich verzeichnen die Geschichtsbücher nur die großen Persönlichkeiten, machen
nur die Erinnerung an Helden unsterblich und bewahren nur ihre Interessen, ihre
Wahrheit, ihre Opfer und ihre Standpunkte (Šāfiʿī 2003, S. 52).
Der dschihadistische Diskurs, der diese narzisstische Wunde zu überwinden
sucht, sieht in den Plädoyers für Waffenstillstand und Kooperation mit dem Wes-
ten seitens derer, die zur Aufklärung im religiösen Denken aufrufen, nur einen
schwachen weiblichen Standpunkt, der nach einem Beschützer und Behüter ver-
langt. Sie sind allesamt Plädoyers für Unterwürfigkeit, Inaktivität, Niederlage und
Demütigung und nur darauf angelegt, jene pulverisierte Männlichkeit zu schaf-
fen, die zu einem Gefühl von Scham und Schande führt. Vor diesem Hintergrund
sind wir nicht überrascht, wenn die dschihadistischen Vordenker Verleumdungs-
kampagnen führen, „um die Intellektuellen und die ‚Gelehrten des Irrtums‘ bloss-
zustellen, die Obskurantismen der Irreführer offenzulegen, die Aberrationen der
12Onkel des Propheten, der für seinen Kampfesmut berühmt war (Anm. d. Ü.).
13Zweiter muslimischer Kalif, gest. 644, unter dessen Herrschaft sich das islamische Herr-
schaftsgebiet drastisch vergrösserte. (Anm. d. Ü.).
14Der auch in Europa bekannte Sultan Saladin (1138–1193) ist als Bezwinger der Kreuz-
zu ziehen. So sagt al-Azadī (2017, S. 10, 11) in einer Beschreibung von ʿAbdullāh
ʿAzzām15:
Die Feinde dieser Umma sind nicht damit vertraut, eine Welt von dieser Art zu
sehen, die Waffen trägt und Ungläubige und Atheisten bekämpft, um noch in diesem
Jahrhundert die Religion Gottes auf Erden zu errichten, wie das Anliegen unseres
Scheichs und geliebten Imams ʿAzzām es war, der sich für den Dschihad rüstete,
indem er mit seiner Feder und seinem Speer zugleich für die Sache Gottes kämpfte.
Er war die Stimme der Wahrheit, die den Namen des Dschihad in der Welt ver-
kündete. Gott segne ʿAbdullāh ʿAzzām, der den Ruhm des Islam im 20. Jahrhundert
begründet hat.
Der Scheich ruft dazu auf, den Koran auswendig zu lernen, das Schwert zu tragen
und sich einer „heißen“ Sprache zu bedienen, während es nicht erlaubt ist, mit
„kalter“ Rede an Konferenzen oder Satellitensendungen teilzunehmen.
Das Narrativ der großen Männer, frommen Märtyrer und anderer Ele-
mente, die die gesellschaftliche Imagination etabliert haben, trägt dazu bei, eine
bestimmte Art von Männlichkeit zu verankern, nämlich die kämpfende Männlich-
keit, die darin besteht, Heldentum und Heldenfabrikation zu feiern (Segell 2005,
passim; Langman und Morris 2002, passim). Sie ist eine heroische Männlichkeit,
die ihre Entsprechung im reitenden Kämpfer findet, der die Hidschra macht und
die Grenzen des Islam befestigt. In der dschihadistischen Literatur stoßen wir so
auf eine Art von Aussenseiter-Männlichkeit, die den Inaktiven, Schwachen, Trä-
gen, Ängstlichen und Geizigen etc. ebenso anprangert wie denjenigen, der sich
dem Dschihad verweigert, im Anti-Terrorismus-Projekt engagiert und seine Feder
und seinen Geist dafür einsetzt, die „Dschihadisten“ auszurotten.
Im Kontext der Tyrannei der maskulinen Ideologie und ihrer Identifkation mit
der dschihadistischen Ideologie findet weder die Meinung von Frauen in religiö-
sen Angelegenheiten noch ihr Anteil an der Schaffung von religiösem Wissen
Anerkennung. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass der Literatur
von Frauen, die in Bezug auf die Reform des religiösen Diskurses geschaffen wor-
den war, keine Beachtung geschenkt wird und dass nur die Positionen von
Prophetengefährtinnen und ihren Nachfolgerinnen, wie auch allein die Expertise der
Dschihadistinnen und Märtyrerattentäterinnen u. a., die das „dschihadistische Den-
ken“ gefördert haben, zitiert werden. Tatsache ist, dass wir diese Auffassung z. B.
bei einer Anzahl von männlichen wie auch weiblichen Vertretern des „modernen
Denkens“ antreffen, die einer Gender-Blindheit das Wort reden und doch nur das
zur Kenntnis nehmen, was Männer hervorgebracht haben und was Männer wissen.
Abschließende Gedanken
Die Befreiung von den Fesseln der Autoritäten bezieht sich nicht allein auf
die „Dschihadisten“; vielmehr müssen diejenigen, die zu einer Modernisierung
des islamischen Denkens aufrufen, sich selbst aus den Fesseln der orientalisti-
schen Ansätze und Methoden befreien. Diese nämlich werden einer andersartigen
Realität übergestülpt und hindern den Intellektuellen/die Intellektuelle daran,
seine/ihre Lage umfassend zu betrachten. Über diese außerhalb der Standard-
muster nachzudenken, die den Anderen hervorgebracht haben, ist er/sie folglich
gezwungen. Es ist das Recht der nachfolgenden Generationen, zu analysieren und
zu dekonstruieren und ihre eigenen Methoden und Lesarten hervorzubringen.
Die Modernisierung des religiösen Denkens in unseren Gesellschaften basiert
nicht auf dem praktischen Dialog, sondern auf Parolen, die Illusionen verkaufen:
Illusionen von der Demokratie und der Akzeptanz des Andersseins. Doch meist
verurteilen und verfolgen sie das Andersartige, anstatt zu versuchen, es zu ver-
stehen. Dieses Verhalten ist nicht den Intellektuellen vorbehalten, sondern eng
verbunden mit der Krise der wissenschaftlichen und akademischen Institutionen,
die weder eine Revisionskultur noch ein Eingeständnis von Irrtümern etabliert
haben. Schon Karīm Muruwwa16 hat die Art und Weise kritisiert, mit der Wissen-
schaftler islamische Gruppen und Parteien behandeln. Seiner Ansicht nach dürfe
man diesen nicht einfach unterstellen, dass die Religion die alleinige Quelle ihres
Denkens darstellt. Es sei falsch, das eigene Urteil über diese Parteien, ob negativ
oder positiv, einseitig an ihre Beziehung zur Religion zu knüpfen. Jene können
sich ebensowenig von ihrer Verstrickung in die Widersprüche der bestehenden
Klassen- und politischen Verhältnisse befreien, „wie von den darin herrschen-
den Spaltungen, die zugleich auf der geistigen und auf der Interessenebene statt-
finden“ (Murūwa 1990, S. 36).
Es ist nach unserer Überzeugung nicht die Aufgabe der Religion, Kriege zu
führen und den Anderen zu vernichten; vielmehr ist die Aufgabe des Islam wie
auch der übrigen monotheistischen Religionen eine spirituelle und moralische,
die zudem wichtiger sein muss als die gesellschaftlich-politische, da die Essenz
der muhammadischen wie allgemein der monotheistischen Offenbarungen die
Realisierung des moralischen und spirituellen Fortschritts ist. Deswegen müssen
sich die Akteure im religiösen Feld und diejenigen, die an der Modernisierung
des religiösen Denkens interessiert sind, auf diese Dimension konzentrieren und
diese wesentliche Funktion wiedergewinnen.
Es scheint, dass die Krise des religiösen Denkens komplex ist und Ver-
bindungen zur politischen Despotie, zur geistigen Dominanz und zu einem Werte-
system aufweist, das auf Gehorsam und Nachahmung hin geeicht ist. Aus dieser
kritischen Situation herauszukommen, ist nach unserer Meinung nicht möglich,
solange wir auf der Stellung Gottes gegenüber dem Menschen bestehen, indem
wir über Gott als einen Rächer und Gewaltherrscher reden und ignorieren, dass er
der Vergebende und Barmherzige ist, und solange wir darauf beharren, den Ande-
ren manchmal im Namen Gottes, manchmal im Namen der Moderne zu bevor-
munden. Tatsächlich gehört zu den Voraussetzungen, sich eine reformerische
modernistische Vision zu eigen zu machen, dass wir uns von den ausgrenzenden
Ideologien emanzipieren, den Willen zum Wissen ergreifen, unsere Sicht auf
uns selbst, den Anderen und die Welt ändern, und Beziehungen auf Augenhöhe
etablieren, die ihrerseits Herrschaft und Dominanz ausschließen, den Ande-
ren willkommen heißen und ihm gastfreundliche Räume eröffnen – das sollte
Humanismus sein.
(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)
Literatur
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Keine Reformation ohne
Gleichberechtigung – Feminismus
vs. Fundamentalismus:
Gleichberechtigung vs. Familie?
Dana Fennert
Einleitung
Frauen waren und sind Teil der christlichen Reformationsbewegung. Sie haben
die lutherische Überzeugung der Gleichberechtigung aller Menschen vor Gott
entgegen vieler Widerstände in der Öffentlichkeit verbreitet (vgl. Domröse 2014).
In einem Brief an den Adel 1520 manifestiert Luther seine Idee von der
gleichberechtigten theologischen Deutungshoheit aller Menschen: „Darum
sind alle Christenmänner Priester, alle Frauen Priesterinnen, jung oder alt,
Herr oder Knecht, Herrin oder Magd, Gelehrter oder Laie. Hier ist kein Unter-
schied“ (Luther zitiert nach Marquard 2003, S. 55). Die revolutionäre Über-
zeugung Luthers, dass es keiner theologischen Instanz bedarf, um Gottes Wort
zu verstehen, sondern jeder selbst in der Lage sei, dieses zu entschlüsseln und
daraus Handlungsmaxime zu schließen, ist auch die Überzeugung von Reform-
denkerinnen und Reformdenkern im Islam.
„Denken und reflektieren, verstehen können und fragen dürfen“ (Käßmann
2014 zitiert nach Mawick) werden von Käßmann, die vom Rat der Evangelischen
Kirche in Deutschland (EKD) als Botschafterin für das Reformationsjubiläum
2017 beauftragt worden ist, als Hauptanliegen der Reformation bezeichnet. Libe-
ralen Musliminnen und Muslimen werden einerseits durch rechtspopulistische
Agitatoren diese reformatorischen Eigenschaften abgesprochen und a ndererseits
D. Fennert (*)
Marburg, Deutschland
E-Mail: dfennert@web.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 173
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_10
174 D. Fennert
Folgendes Zitat von Iqbāl drückt die uneinheitliche Meinung über den Stillstand
von neuen Interpretationsangeboten aus:
Das Verschließen des Tores zum Idschtihad ist reine Fiktion, die teilweise von der
Herauskristallisierung des Rechtsdenkens im Islam suggeriert wird und teilweise
von jener intellektuellen Trägheit, die besonders in Zeiten des Niedergangs große
Denker zu Götzen wendet. Wenn auch einige der späteren Gelehrten an dieser Fik-
tion festgehalten haben, ist doch der moderne Islam nicht an diese freiwillige Kapi-
tulation geistiger Unabhängigkeit gebunden (Iqbāl zitiert nach Rohe 2009, S. 168).
Mālik ibn Anas al-Aṣbaḥi (gest. 795), Muḥammad ibn Idrīs al-Shāfiʿī (gest. 820), Aḥmad
ibn Ḥanbal (gest. 855) oder die schiitische Lehre von Jaʿfar al-Ṣadiq (gest. 765) (vgl.
Kamali 2006, S. 65–90).
3bāb al-iǧtihād.
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 175
Gleichberechtigung in der
lutherisch-evangelischen Kirche
Mit der Kritik und der Auflösung der Klöster ging nicht nur ein weibliches Lebens-
modell eines Lebens ohne Mann verloren, es wurde auch eine neue Norm gesetzt.
Eine Frau hatte künftig eine Ehefrau zu sein, denn dem Mann zu dienen und Kinder
zu gebären – das sei die Bestimmung der Frau. Bei aller Wertschätzung seiner eige-
nen Frau gegenüber, bei aller prinzipiell propagierten Gleichheit der Geschlechter,
rückte auch Luther nicht von dieser Bestimmung der Frau ab (Kohlstruck 2014).
Frauen, die als Nonnen Bildung in den Klöstern erlangten, blieb jenseits des zöli-
batären Lebens lediglich der Platz neben einem Ehemann. Luther brachte seine
Ansicht über Frauen wie folgt zum Ausdruck: „Das Weib ist geschaffen dem
Mann zu einem geselligen Helfer in allen Dingen, besonders, Kinder zu brin-
gen“ (Luther zitiert nach Domröse 2016). Die Ehefrau Luthers, Katharina von
Bora4, die als vorbildliches Beispiel galt, wie eine Frau zu leben hatte, war nach
ihrem Klosterleben als Hausfrau und Mutter aktiv und unterstützte Luther in allen
Angelegenheiten (Luther zitiert nach Domröse 2016).
1523 verfasste die 31-jährige Laientheologin Argula von Grumbach einen
Brief an die Gelehrten der Universität Ingolstadt, in dem sie die Professoren
aufforderte, mit ihr die Auslegungen der heiligen Schrift zu diskutieren. Damit
verfolgte sie das Ziel, die Verbannung des Lutheranhängers Arsacius Seehofer,
aufgrund der Verbreitung reformatorischer Ideen, aufzuheben. Darin heißt es:
„Ich finde an keinem Ort der Bibel, dass Christus noch seine Apostel oder Pro-
pheten jemanden eingekerkert, gebrannt noch gemordet haben oder das Land
verboten“ (Von Grumbach zitiert nach Domröse 2014, S. 19). Dabei orientierte
sie sich an dem lutherischen Prinzip „sola scriptura“, nach dem die Heilige
Schrift als einzige Quelle maßgeblich ist für Glaubensfragen (Vgl. von Grum-
bach zitiert nach Domröse 2014, S. 19; Kohlstruck 2014). Weitere Briefe folgten
4IhreFlucht aus dem Kloster Nimbschen galt für sie als Befreiungsakt (Vgl. Kohlstruck
2014).
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 177
und erlangten als Flugschriften hohe Auflagen. Als weitere Verteidigerin refor-
matorischer Ideen gilt Katharina Schütz Zell. Ohne Angst vor Konsequenzen
forderte sie Gelehrte heraus, indem sie diese korrigierte und die Heilige Schrift
über kirchliche Würdenträger stellte. Zudem hielt sie öffentlich im Rahmen von
Bestattungen Predigten ab (Domröse 2016a).
Mit der Reformation und der einhergehenden Trennung der römisch-katho-
lischen und evangelischen Kirche war nicht zugleich ein gleichgeschlechtlicher
Zugang zu den Pfarrämtern gewährleistet, welcher die logische Konsequenz aus
dem Postulat des gleichberechtigten Priestertums gewesen wäre. Zwar ist die
evangelische Kirche von allen religiösen Gemeinschaften heute die, in der Frauen
per Kirchengesetz formell Männern gleichgestellt sind, doch auch hier kämpften
Frauen gegen patriarchale Strukturen an. Frauen blieb der Zugang zu Kirchen-
ämtern lange verwehrt:
Für den Ausschluss der Frauen vom Pfarramt war maßgeblich, dass einerseits das
Pfarramt als Leitungsamt und damit als Herrschaftsposition verstanden wurde,
andererseits aus der Bibel die Forderung nach einer prinzipiellen Unterordnung der
Frauen unter Männer abgeleitet wurde. Wenn Frauen eine Gemeinde leiten, öffent-
lich das Wort verkündigen, Sakramente verwalten und die Seelsorge an Männern
üben, dann – so die Auffassung der Gegner der Frauenordination – würden sie sich
Männern überordnen. Der universalisierenden Tendenz des Protestantismus, die
sich im Priestertum aller Gläubigen ausdrückt, wird damit eine partikularistische,
auf der Annahme einer unüberbrückbaren Differenz der Geschlechter beruhende
Argumentation entgegengesetzt (Sammet 2010, S. 83).
Seit den 1960er Jahren öffneten sich die Türen der evangelischen Kirchen-
gemeinden auch für weibliche Pfarrerinnen, wenn auch nur langsam.5 Frauen war
es seither erlaubt, als Pfarrerin zu arbeiten, aber mit deutlichen Einschränkungen
im Vergleich zu männlichen Amtskollegen. Als Pfarrerin durften sie nur tätig
sein, wenn sie nicht verheiratet waren, denn für sie galt das Zölibat (Vgl. Sammet
2010, S. 83). „Eine schwangere Frau auf der Kanzel überstieg die Vorstellungs-
kraft der Kirchenmänner“, betont Millhahn (2013). Die Rollenzuweisung der
Frau als Ehefrau und Mutter war auch in der evangelischen Kirche präsent.
Durch die Aufhebung der „kirchenrechtlichen Beschränkungen für Frauen“ gilt
seither das evangelische Pfarramt als „geschlechtsneutraler Beruf“ (Sammet
2010, S. 83). Die evangelisch-lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe hat
aber erst im Jahr 1991 Frauen als Pfarrerinnen zugelassen, während die ande-
ren Landeskirchen bereits seit den 1970er Jahren diese Ämter geschlechtsneutral
besetzten, galt hier folgende Auffassung: „Die von Jesus eingesetzten Apostel
waren ausschließlich Männer, und man muss Rücksicht auf die römisch-katho-
lischen und orthodoxen Brüder nehmen“ (Evangelisch-lutherische Landeskirche
Schaumburg-Lippe zitiert nach Millhahn 2013).
Obwohl heute lediglich 33 % der Pfarrämter durch Frauen besetzt werden,
macht Hauschildt (2014) auf die Warnung von Männern vor einer Feminisie-
rung des Pfarrberufs aufmerksam. Mehrere Faktoren werden in der Literatur mit
dem Wandel der Männer besetzten Domäne in Verbindung gebracht. Unter ande-
rem werden die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse und einhergehenden
Umbrüche der Rollenzuweisungen seit den 1960er Jahren erwähnt, welche auch
die bis dahin konservative evangelische Kirche zu einem Umdenken gezwungen
habe (Vgl. Sammet 2010). Sammet betont in diesem Zusammenhang: „Sie ist,
was die Beteiligung und Gleichstellung von Frauen angeht, nicht Vorreiterin, son-
dern gerät angesichts ihrer Rückständigkeit unter Rechtfertigungsdruck“ (Vgl.
ebd.). Dabei spielte weder die feministische Theologie eine entscheidende Rolle,
noch sollte gesellschaftlichen und politischen Emanzipationsforderungen Rech-
nung getragen werden (Vgl. ebd.).
Die eingangs gestellte Frage, ob die Reformation eine Gleichberechtigung
der Geschlechter nach sich zog, kann schlussfolgernd weder mit einem kla-
ren ja noch nein beantwortet werden. Zwar erkennt Kohlstruck in ihrer Predigt
die mit der Reformation einhergehenden neuen Lebensentwürfe von Frauen an,
kommt aber zu dem Schluss: „Aufs Ganze gesehen haben die Reformation und
ihr neues Frauenbild aber zu einer Festlegung der Frau als Ehefrau und Mut-
ter geführt, einer Festlegung, die für die folgenden Jahrhunderte Bestand haben
sollte“ (Kohlstruck 2014). Die Ideen der Reformation konnten dann erst im
Zuge gesellschaftlicher Wandlungsprozesse für Frauen zum Tragen kommen.
Wäre dies nicht geschehen, gäbe es 2017 auch keinen Grund zum Feiern, denn
die Reformation könnte ohne ihre Profitierung durch Frauen nicht als gelungene
Erneuerungsbewegung definiert werden. Auf die Situation von muslimischen
Frauenrechtlerinnen wird nun eingegangen.
Gleichberechtigungsforderungen im Islam
Zu behaupten der Islam sei nicht reformierbar untermauert zum einen die Argu-
mentation von Salafisten und Islamisten, die Reformen für nicht nötig erachten,
da sich lediglich auf die Zeit des Propheten bezogen werden müsse, um alle
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 179
h eutigen Probleme zu lösen (vgl. Krämer 2016 Interview mit Meier). Zum ande-
ren werden dadurch rechtspopulistische Meinungen gestärkt, die im Islam eine
rückwärtsgewandte und mit demokratischen Werten unvereinbare Religion pos-
tulieren. Es bestehen dennoch Herausforderungen, die eine zeitnahe Reforma-
tion unwahrscheinlich werden lassen, denn der Gegendruck von muslimischen
Reformkritikern ist zu stark und ihre interreligiös-fundamentalistischen Alli-
anzen, mit denen sie den wichtigsten Reformationsantrieb von Feministinnen
unterbinden, sind zu mächtig. Seit ihrer Formierung in den 1980er Jahren haben
die Akteurinnen des islamischen Feminismus gezeigt, dass die Situation nicht
hoffnungslos ist. Diese transnationale Bewegung versucht die regressiven Vor-
stellungen der Geschlechterverhältnisse gegen jeden Widerstand aufzubrechen,
und setzt damit Reformprozesse in Gang. Wie bei allen sozialen Bewegungen,
verlief auch ihre Mobilisierung entlang ihrer Gegner (Vgl. Fennert 2015).
Mir-Hosseini, die selbst als zentrale Aktivistin innerhalb der Reformbewegung
involviert ist, äußert diesbezüglich:
6„…the totality of God’s law as revealed to the Prophet Muhammad“ (Mir-Hosseini 2003,
S. 2).
7Rechtswissenschaft oder Rechtskorpus, der durch die Auslegungen des Korans und der
Mir-Hosseini ihn als Vertrag des Geschlechtsaktes (contract of coitus) (Mir-Hosseini 2009,
S. 28).
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 181
Frau damit der Autorität ihres Mannes untergeordnet (Mir-Hosseini 2009, S. 31).
Eine Verstoßung (ṭalāq), also die Auflösung der Ehe ohne richterliche Ent-
scheidung, kann insofern heute noch wirksam werden, wenn die Ehefrau ihrem
Ehemann gegenüber ungehorsam ist (nušūz). Mir-Hosseini und Zainah Anwar
weisen aber auf die moralische Unzulänglichkeit dieser Praktik hin und berufen
sich auf eine Aussage des Propheten, der feststellte, dass bei ihrer Vollziehung
„God’s throne shake“ (Mir-Hosseini und Zainah 2012).
Geleitet durch die Überzeugung, dass nicht die Scharia frauendiskriminierend
ist, sondern lediglich die Interpretationen der Männer, die sich nun in den
Familiengesetzen niederschlägt, interpretieren die Netzwerk-Aktivistinnen die
normativen Quellen neu. Ähnlich wie Feministinnen im christlichen Kontext,
die nicht die Religion per se aufgrund Frauen diskriminierender Bibeltextstellen
ablehnen. Musawah zufolge müsse dementsprechend der allem übergeordnete
Zweck (maqāṣid)9 des Islams, den es in den Werten „Freiheit, Gerechtigkeit und
Gleichheit“ sieht, herausgestellt werden (Mir-Hosseini 2006, S. 642).
Der Schlüssel zur Abschaffung frauendiskriminierender Gesetze liegt laut den
Feministinnen in folgendem Koranvers verborgen:
9Maqāṣid: Begriff für Ziele und Absichten der Scharia (Kamali 2006, S. 115); Roth über-
setzt den Begriff mit Zwecke der Scharia. Kamali bemerkt: „It is naturally meaningful to
understand the broad outlines of the objectives of Sharīʿah in the first place before one tries
to move on to the specifics“ (Kamali 2006, S. 131).
182 D. Fennert
Die Pro-Familie-Bewegung
Gegen diese hat sich, ausgehend von der internationalen Ebene, initiiert
durch den Vatikan ab 1993 die Pro-Familie-Bewegung formiert: mit dem Ziel,
die traditionelle Familie zu bewahren. Die Annahme, dass die patriarchale
Geschlechterordnung gottgegeben ist, verbindet die religionsübergreifenden
fundamentalistischen Anhänger dieser transnationalen Bewegung. Fanden
anfänglich lediglich Koalitionsbildungen im Rahmen von UN-Konferenzen zwi-
schen dem Vatikan, christlichen und muslimischen NGOs oder Regierungsver-
tretern statt, verdichten sich die Netzwerke heute über die internationale Ebene
hinaus.
Der World Congress of Families (WCF) ist eines der aktivsten Netzwerke und
beeinflusst im Wesentlichen die Mobilisierung dieser Bewegung, indem es regel-
mäßige Konferenzen in unterschiedlichen Staaten um einen antifeministischen
184 D. Fennert
10Dieser fand vom 19.–22. März 1997 statt und wurde durch das Howard Center in
Kooperation mit zahlreichen Institutionen und NGOs veranstaltet (vgl. www.worldcong-
ress.org).
11Unter diesem Motto trafen sich auch erstmals die Gründer des Forums A Common Word
2008 im Vatikan.
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 185
Fazit
Die CEDAW hat das Ziel, Diskriminierung von Frauen auf allen Ebenen abzu-
schaffen. 1995 wurden auf der vierten UN-Weltfrauenrechtskonferenz in Peking
weitere Strategien vereinbart, um dieses Ziel zu erreichen. Allerdings zeigte sich
bei den Bilanzkonferenzen (Peking + 5, Peking + 10) in New York deutlich, dass
die Gegenbewegung weitere Zugeständnisse für Frauenrechte verhindern wird.
Die Bush-Regierung versuchte, auf der Bilanz-Konferenz Peking + 10 in New
York 2005 Vereinbarungen der Aktionsplattform neu zu verhandeln und den
186 D. Fennert
Passus zu integrieren, dass diese für Staaten nicht rechtsverbindlich sei. Unter-
stützung erhielten die USA durch NGOs aus dem christlich-rechten Spektrum
der USA, durch Regierungsvertreter aus Ägypten, Katar, Costa Rica, Nicaragua
und Panama sowie dem Vatikan. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass
die USA, neben den Inselstaaten Tonga und Palau sowie den islamischen Mehr-
heitsgesellschaften Iran, Somalia sowie Sudan, zu den wenigen Staaten gehören,
die die CEDAW bis heute nicht ratifiziert haben12 (Vgl. UN 2014; UN Women
Nationales Komitee Deutschland 2014). Der wesentliche Erfolg, den die Pro-
Familie-Bewegung für sich erreicht hat, ist die Infragestellung von offiziellen
UN-Frauenrechtskonferenzen seitens der transnationalen Frauenbewegung. Das
Netzwerk Development Alternatives with Women for a New Era (DAWN) stellt
beispielsweise fest: „For the sake of our hard won gains. No official negations
of any kind!“ (Zit. nach Chappell 2006, S. 518). Über die Notwendigkeit einer
fünften UN-Weltfrauenkonferenz ist sich die Frauenbewegung uneinig, da in
Anbetracht ihrer Gegenbewegung damit Neuverhandlungen von bisher hart
erkämpften Errungenschaften riskiert würden.
Die politischen Gelegenheitsstrukturen schließen sich zunehmend für alle
Feministinnen und Feministen, auf der UN-Ebene, aber auch innerhalb natio-
naler Kontexte. Wie gezeigt worden ist, haben es Musliminnen doppelt schwer.
Einerseits können sie innerhalb ihrer eigenen Reihen nicht auf hinreichende
Unterstützung hoffen, andererseits erobern auf der UN-Ebene anti-feministische
Akteure das Terrain. Aber auch in westlichen Staaten spitzen sich anti-feminis-
tische Strömungen zu. Während die etablierten Kirchengemeinden zunehmend
Mitglieder verlieren, gewinnen Freikirchen oder evangelikale Strömungen überall
an Zulauf (Vgl. Upadeck 2016). In Deutschland beispielsweise sind mittlerweile
1,3 Millionen Menschen unter dem Dachverband „Deutsche Evangelische Alli-
anz“ (DEA) der christlichen Freikirchen und charismatischen Bewegungen orga-
nisiert (Ebd.). Ihre Mitglieder werden als „evangelikal“ bezeichnet, was nicht mit
„evangelisch“ der Selbstbezeichnung der Amtskirchen zu verwechseln ist (Ebd.).
Eher „dogmatische Auslegungen der Bibel“ vereinten unter dem Begriff Evan-
gelikalismus zum Ende des 19. Jahrhunderts Kritiker der Moderne (Upadeck
2016). Grundlage der Fundamentalisten als auch der liberalen Protestanten ist
das Neue Testament. Dass sich Konservative aller Couleur um antifeministische
Themen verbünden, bringt Thielmann auf den Punkt: „Manche Evangelikale
12Auch der Staat Niue, der frei mit Neuseeland assoziiert ist und kein UN-Mitglied ist,
verweigert die Ratifizierung der CEDAW (UN Women Nationales Komitee Deutschland
2014).
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 187
Als Christen haben wir die Hoffnung und den Auftrag, dass Männer und Frauen
durch die Erkenntnis der Liebe Gottes in Christus fähig werden, einander in
ihrer ursprünglichen Würde wahrzunehmen. Die Genderideologie bestreitet die
Zuordnung des Mannes zur Frau und der Frau zum Mann und ihr gegenseitiges
‚Erkennen‘. Für sie ist Gleichstellung erst erreicht, wenn der Unterschied zwischen
den beiden unkenntlich gemacht und überwunden ist. Sollte das stimmen, wäre auch
die kleinste Einheit der Gesellschaft, die Ehe, durch andere Lebensformen ersetzbar.
Was aber soll der Gesellschaft Bestand und Dauer geben, wenn nicht die auf Liebe
und Treue gründende Verbindung, in welcher Kinder möglich, willkommen und
geborgen sind? Wo kann die Versöhnung der Geschlechter besser und nachhaltiger
gelingen als im fruchtbaren Miteinander von Mann und Frau? (Sipos 2010).
interreligiös vernetzt sind, bleibt nur die Kooperation aller liberalen Akteure. Was
muslimische Feministinnen heute deutlich machen, ist, dass es keiner Reforma-
tion im Islam bedarf, da sie bereits in Gang gesetzt worden ist. Ob sie langfristig
ihre Forderungen durchsetzen können, bleibt allerdings fraglich.
Der Blick sollte insofern nicht nur auf konservative Muslime und Muslimin-
nen gerichtet bleiben, sondern sich weiter auf alle Fundamentalisten richten, die
eine Gleichberechtigung als konträr zur göttlich vorgesehenen Geschlechter-
ordnung betrachten und versuchen, diese auf allen Ebenen einzuschränken.
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Teil IV
Vergleichende Perspektiven
Islam und moderne Zivilgesellschaft –
Reformation und Humanismus als
Paradigmen der Entwicklung
Jörn Rüsen
Ich gehe davon aus, dass der Islam in seinen dominanten Formen der Gegenwart
mit der Kultur der westlichen modernen Gesellschaft unverträglich ist. Diese
Unverträglichkeit lässt sich an folgenden Gesichtspunkten erläutern:
• Säkulare Grundwerte stehen gegen religiös konzipiertes Recht (z. B. bei der
Frage der Gleichheit der Geschlechter, der Gewaltenteilung in der Organisa-
tion politischer Herrschaft);
• kultureller Pluralismus und religiöse Toleranz stehen einem Allgemeingültig-
keitsanspruch des muslimischen Glaubens gegenüber;
• religiöser Universalismus widerspricht dem säkularen Charakter der modernen
Zivilgesellschaft: Entsprechend setzt sich ein theologischer Fundamentalismus
der zeitgenössischen aufgeklärten Theologie der meisten christlichen Konfes-
sionen entgegen.
J. Rüsen (*)
Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI), Essen, Deutschland
E-Mail: joern.ruesen@t-online.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 193
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_11
194 J. Rüsen
Einstellungen auf der anderen Seite durch ein recht kompliziertes wechselseitiges
Bedingungsverhältnis.
Ausgehend von dieser Problemlage stehen die Veränderungschancen des
Islam und seiner inneren Historizität infrage. Der Islam hatte eine kulturelle
Blütezeit vom 9. bis zum 13. Jahrhundert. Er konnte aber das damals erreichte
intellektuelle Niveau nicht halten und verfiel. Im 19. Jahrhundert gab es dann
Versuche, ihn an die westliche Entwicklung anzupassen. Diese Versuche haben
zu keinem bleibenden Ergebnis geführt. Gegenwärtig gibt es Ansätze in Europa,
der Erwartung oder gar dem Gebot der Anpassung des Islam an die kulturellen
Normen der westlichen Modernität zu entsprechen. Dafür stehen beispielhaft die
kürzlich verstorbenen Kulturwissenschaftler Mohammad Arkoun (2005, 2009)
und Nasr Abu Said (2008).
Die Forderung einer solchen Anpassung stellt für den Islam und seine Kritiker
ein Problem dar: Die oben aufgelisteten Widersprüche und Probleme und die dar-
aus folgenden Zumutungen seiner Veränderung kommen dem Islam zumeist nur
von außen zu. Diese Veränderungen sind aber nur dann erfolgreich und langfristig
wirksam, wenn sie von innen, aus dem Glaubensleben der Muslime und seiner
theologischen Auslegung stammen.
Als historisches Beispiel für eine solche innere Verwandlung werden heute
die Reformation und der europäische Humanismus angeführt.1 Was lässt sich aus
diesen Beispielen für die gegenwärtige Situation des Islam ableiten oder lernen?
Dazu ist zunächst einmal anzumerken, dass das historische Denken über eine
sehr lange Zeit seiner Geschichte sich selbst als Sammlung von Beispielen für
die Regelung aktueller Probleme aus der historischen Erfahrung verstanden hatte.
Es folgte der Logik einer exemplarischen Sinnbildung, für die der Slogan Ciceros
„historia vitae magistra“ steht: die Geschichte lehrt Beispiele dafür, wie mensch-
liches Handeln mit welchen Konsequenzen erfolgt. Aus ihr lassen sich also
durchaus Anweisungen für die Praxis der Gegenwart gewinnen.2
Diese Denkweise gibt es immer noch, aber sie ist durch eine spezifisch moderne
Ausprägung des historischen Denkens überholt (Koselleck 1979, passim). Seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich die Logik des historischen Denkens ver-
ändert: Zukunftserwartungen lassen sich nicht mehr hinreichend aus der Erfahrung
der Vergangenheit herleiten und Handlungen relevant begründen. (Dafür steht das
bekannte Zitat des großen deutschen Historikers des 19. Jahrhunderts, Leopold von
Rankes (1795–1886): „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu rich-
ten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: So hoher
Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es
eigentlich gewesen.“ (Ranke 1855, S. VIII; 1973, S. 137).
Es ist also aus grundsätzlichen geschichtstheoretischen Überlegungen ein Irr-
weg, historische Entwicklungen der Vergangenheit zum Muster erwünschter Ent-
wicklungen in der Zukunft zu nehmen. Somit ist die schlichte Heranziehung der
Reformation als Vorbild nicht überzeugend. Ist damit aber die Geschichte aus
dem Spiel des Denkens ausgeschieden, das die Modernitätsverträglichkeit des
Islam aus historischen Erfahrungen erörtern möchte? Nein, denn das moderne
historische Denken hat ja seine eigene Logik der Beziehung der Vergangenheit
auf gegenwärtige Lebensumstände und Problemlagen. Statt Beispielen aus der
Vergangenheit, aus denen sich allgemeine Regeln ableiten und auf gegenwärtige
Verhältnisse anwenden lassen, geht es ihm um Entwicklungen oder Tendenzen,
die in der Vergangenheit angelegt sind, die gegenwärtigen Lebensverhältnisse in
ihrer zeitlichen Dimension bestimmen und Zukunftsperspektiven eröffnen.
Hinsichtlich der Problemlage im Verhältnis von Islam und Moderne möchte
ich drei solcher Tendenzen in der geschichtlichen Entwicklung des Westens von
der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart herausgreifen:
Auf den ersten Blick ist die Reformation alles andere als ein Modell für die
Modernisierung des Islam. Luther war, wie die historische Forschung überzeugend
nachgewiesen hat, ein durch und durch mittelalterlicher Mensch und hätte die Kul-
tur der Moderne aus seinem Glaubensüberzeugungen heraus abgelehnt. Nichts-
196 J. Rüsen
destoweniger sind aber aus den Folgen seines Wirkens und dann insbesondere aus
verwandten reformatorischen Bewegungen wie den protestantischen Sekten und
dem Calvinismus mächtige Impulse der Modernisierung hervorgegangen. Diesen
von Luther und den anderen Reformatoren durchaus nicht beabsichtigten Ent-
wicklungen wäre zu folgen, wenn es darum geht, den Islam in eine historische
Perspektive zu rücken, in der eine ähnliche Verwandlung geschehen könnte.
Ich möchte eine Tendenz herausgreifen, die mir aus bestimmten Gründen
besonders wichtig zu sein scheint: die Subjektivierung und Individualisierung des
religiösen Glaubens. Sie betrifft den Kernbestand aller Weltreligionen. Die Welt-
religionen haben sich in einem kulturellen Evolutionsschritt herausgebildet, den
wir im Anschluss an Karl Jaspers als „Achsenzeit“ bezeichnen (Jaspers 1949,
1963, Teil I/10).
Um zu verdeutlichen, worum es geht, möchte ich von einer anthropologisch
universellen Grund-Unterscheidung der menschlichen Lebensform zwischen dem
Menschen und seiner Kultur, der ihn umgebenden Natur und der übernatürlichen
Welt ausgehen. Die achsenzeitliche Wendung zur Weltreligion bedeutet eine
schärfere Trennung und komplexere Vermittlung dieser drei Dimensionen. Die
menschliche Subjektivität formiert sich als ein eigenes Verhältnis des Menschen
zu sich selbst, die göttliche Welt bekommt eine transzendente Dimensionierung,
und die Natur gewinnt an Gegenständlichkeit.
Das ist natürlich äußerst abstrakt formuliert, aber es ermöglicht eine scharfe
Profilierung des Faktors, der für die Reformation hinsichtlich der Formierung
menschlicher Subjektivität in der Neuzeit und Moderne wesentlich ist. Die Refor-
mation wirft das menschliche Selbst gleichsam auf sich selbst zurück, indem sie
die von der Kirche angebotenen Vermittlungen mit der göttlichen Welt als Ver-
fälschung der Beziehung zu ihr zurückweist. Dadurch gewinnt das Selbst in sei-
ner religiösen Grundeinstellung (Glaube) eine fundamentale Bedeutung. Luther
hat das mit seiner Formulierung „sola fide“ zum Ausdruck gebracht. Sie besagt,
dass der Mensch allein durch den Glauben und nicht durch irgendwelche kulti-
schen Handlungen seine Erlösung erfährt.
In seiner frühen Reformationsschrift „Von der Freiheit eines Christen-
menschen“ (1520) unterscheidet er scharf zwischen der Innenbeziehung des reli-
giösen Glaubens zu Gott und der Außenbeziehung des menschlichen Selbst zur
Welt. In der Innenbeziehung ist der Mensch „ein freier Herr über alle Dinge und
niemand untertan“, während er in der Außenbeziehung „ein dienstbarer Knecht
aller Dinge und jedermann untertan“ ist. Es kommt nun alles auf die innere
Beziehung an: „Ich habe kurzweg alles auf den Glauben gestellt, dass, wer ihn
hat, alles haben und selig sein soll; wer ihn nicht hat, soll nichts haben.“ (Luther
1964, S. 162, 167). Diese Freiheitsvorstellung hat im Lichte ihrer späteren
Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation und Humanismus … 197
Religiöse Subjektivität und säkulare Welt stehen sich nicht mehr als Gegen-
sätze gegenüber, sondern die eine versteht die andere als Ort ihrer Bewährung
und Verwirklichung. Im Anschluss an Georg Jellinek (1895) (dessen Thesen kürz-
lich von Joas aufgegriffen und in neuer Form verteidigt wurden) spricht Troeltsch
dem Sektentum und dem Spiritualismus, die beide Ableger der Reformation sind,
die Vaterschaft an den Menschen- und Bürgerrechten zu (Troeltsch 1911, S. 62).
Der Protestantismus wirkte in diesen Tendenzen zur Moderne hin ganz unter-
schiedlich. Durchschlagend war seine Verbindung mit der Aufklärung, die ihm
eine „emphatisch-emanzipatorische Ausrichtung“, insbesondere in der deutschen
intellektuellen Elite verlieh. Im 19. Jahrhundert wurde Protestantismus zu einem
„Bewegungsbegriff für die Einheit von denkender Religion, fortschreitender Kul-
tur und freiheitlichem Staat.“ (Graf und Sparn 2009, Lemma „Protestantismus“
S. 503). Seine „Verbindung von Weltfrömmigkeit wurde in aktive Bürgerfreiheit
und fortschrittliche Modernitätsfreude überführt.“ (Ebd.).
Mein dritter Zeuge schließlich ist einer der bedeutendsten protestantischen
Theologen nach Ernst Troeltsch, Paul Tillich (1886–1956). Er hat die besondere
Beziehung des religiösen Glaubens zur Profanität der Welt betont, die seiner
Ansicht nach das geistige Profil des Protestantismus ausmacht. „Der Protestantis-
mus fordert gerade aus seinem Wesen heraus eine profane Wirklichkeit. Er for-
dert einen konkreten Protest gegen die sakrale Sphäre und gegen den kirchlichen
Stolz, einen Protest, der in der Profanität verkörpert ist. Protestantische Profani-
tät ist ein Wesenselement der protestantischen Gestaltung. Der Prüfstein für die
gestaltende Kraft des Protestantismus ist immer seine Beziehung zur Profanität.
[…] Protestantische Gestaltung ist eine Gestaltung, in der die ausdrücklich reli-
giösen Formen bezogen sind auf eine sie infrage stellende Profanität.“ (Tillich
1962, S. 62). Mit diesen Aussagen beschreibt Tillich keine historische Tendenz
der Reformation, sondern eine Konstellation von Subjektivität und Welt, die die
Reformation hervorgebracht hat und die seines Erachtens den Protestantismus in
allen seinen historischen Formen grundsätzlich bestimmt.
Für den Islam kann diese Modernisierungsbewegung und ihr Resultat einer
spezifischen Affinität zwischen dem Religiösen und dem Profanen durchaus
anregend sein. Schließlich ist auch er durch eine religiöse Formierung mensch-
licher Subjektivität in Bezug auf einen transzendenten Gott bestimmt. Ob sich
dieser Bezug freilich vergleichbar radikalisieren und dann in einem zweiten
Schritt zur Säkularität der Welt hin öffnen lässt, steht dahin. Es hängt sicher
von den Umständen ab – der Unterschied einer Modernisierung im Kontext der
Moderne und einer Modernisierung zur Moderne hin ist ja eklatant und gewaltig –
aber entscheidend dürfte die religiöse Substanz des Transzendenzbezuges sein: In
der historisch umgreifenden Dialektik zwischen Subjektivierung des Selbst und
Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation und Humanismus … 199
Objektivierung der Welt, in der sich die Weltreligionen ausgebildet haben ist ein
solche Säkularisierung der Welt durchaus angelegt. Freilich bedarf es dazu einer
Befreiung der gläubigen Subjektivität vom Dogmatismus vorgegebener Glaubens-
deutungen und Lebensregeln, wie sie der Protestantismus in seiner Entwicklung
zum Kulturprotestantismus durchgemacht hat. Ein analoger „Kulturislamismus“
könnte ein starkes Gegengewicht zum islamischen Fundamentalismus abgeben.
Dass der Islam ein Potenzial zu solcher „Kulturalisierung“ hat, zeigt ja seine
eigene Geschichte.3
Humanismus
3Ein Beispiel dafür ist die „Freiburger Deklaration – Gemeinsame Erklärung der Reform-
muslime in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ vom 16.9.2016 (http://freiburger-
deklaration.info/ – 23.9.2016).
200 J. Rüsen
Der Islam wird gegenwärtig mit der Herausforderung konfrontiert, sich im Ver-
hältnis zu anderen religiösen Glaubensrichtungen zu positionieren. Das dafür in
der modernen Zivilgesellschaft maßgebende Kriterium ist seit dem Ende des kon-
fessionellen Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert die Toleranz. Toleranz ist das Zuge-
ständnis an die säkulare zivile Lebensform der Moderne, religiöse D ifferenzen
Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation und Humanismus … 201
4Dazu noch einmal der Hinweis auf die Arbeiten von Hans Joas (2015).
202 J. Rüsen
Literatur
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Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation und Humanismus … 203
Einleitung
Der Begriff „Humanismus“ hat einen besonderen Zauber, weil er wie ein magi-
scher, funkelnder Lichtschimmer daherkommt, den man sonst nur mit Aladdins
Wunderlampe in Verbindung bringt. Viele sind überwältigt von diesem Begriff,
der ein individualistisches und rationalistisches Interesse sowie den Drang nach
Emanzipation weckt. Das, was heutzutage Humanismus genannt wird, ist zu jeder
Zeit und an jedem Ort greifbar, wo Zivilisation und Kultur zu finden sind, wobei
seine Natur zwischen Klarheit und Dunkelheit schwankt. Ebenso, wie er in der
westlichen Geschichte unter den Griechen und Römern zu finden war und danach
von der Renaissance bis heute, kann man ihn auch im muslimischen Orient fin-
den. Zwar waren die Rahmenbedingungen in Ost und West verschieden, bedingt
durch die jeweilige Kultur, wie auch geprägt von Zeit und Raum, aber auch im
Okzident selbst waren sie verschieden als Ergebnis der Divergenz seiner Völker
und der Verschiedenheit ihrer Kulturen und Weltanschauungen.
Heutzutage bedarf es – im Okzident wie im Orient – der verstärkten Ver-
netzung und Begegnung durch den interkulturellen Dialog sowie der gegenseitigen
Annäherung auf einer gemeinsamen Grundlage der Völkerverständigung. Dabei
sollte die besondere Identität eines jeden von uns bewahrt und nicht die eine Seite
gezwungen werden, der anderen zu folgen. Was uns aber verbindet, ist der Mensch
als Wert an sich, sowie die Bereitschaft, sein Glück und seine Güte zu verteidigen
und ihn gegen die despotische materialistische Flut zu verteidigen, die alle Werte
und alle Menschen in pure Zahlen verwandelt, denen kein realer Wert entspricht,
M. A. Abuzaid ()
Helwan University, Kairo, Ägypten
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 205
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_12
206 M. A. Abuzaid
den es zu respektieren gelte. Damit wir uns gegenseitig annähern können, müs-
sen wir uns notwendigerweise mit den Voraussetzungen des Humanismus auf bei-
den Seiten, im Orient wie im Okzident, vertraut machen und herausfinden, was
die offensichtlichsten Unterschiede zwischen beiden sind, welche von ihnen über-
wunden werden können, und worin die Eigenarten der jeweiligen Seite bestehen,
die keine Seite aufzugeben in der Lage ist.
Das arabische Wort insāniyya ist eine Übersetzung des Begriffes „Humanis-
mus“, der sich vom Wort „human“ (Arabisch: insān) ableitet und die Authentizi-
tät des Menschen sowie die Zentralität seiner Existenz in der Welt ausdrücken
soll. Der Begriff al-nazʿa al-insāniyya dürfte dem arabischen Wortschatz neu
sein und obwohl er in einem Großteil der okzidentalen Literatur mehr als nur eine
Bedeutung oder Sinn hat, so läuft es doch auf „the study of the humanities; lear-
ning in the liberal arts“ sowie „a system of thought that focuses on humans and
their values, capacities, and worth“ hinaus.1
Nach ähnlicher Definition ist Humanismus „the belief that human problems
can be solved through science rather than religion.“2
Tatsächlich meint Humanismus all jene Tendenzen und Aktivitäten, durch
die der Mensch über die Normalität hinausgelangt. Das Konzept des Humanis-
mus ist daher weder der natürliche noch der übernatürliche Mensch, sondern ein
Amalgam, dass sich aus dem natürlichen Menschen und seinen Fähigkeiten zur
Sublimierung zusammensetzt (Perry 1961, S. 10). Lalande (1996) definiert diese
Haltung als eine ideologische Bewegung, wie sie die Humanisten der Renais-
sance repräsentieren, die ihrerseits gekennzeichnet ist durch den erhöhten Res-
pekt für das menschliche Denken, dessen Wertschätzung sie dadurch begründet,
dass sie die moderne Kultur an die Antike zurückbindet. Dies bedeutet nicht ein-
fach eine Liebe zur Antike, denn das wäre blosse Verherrlichung. Eine solche
wird strikt zurückgewiesen, denn Verherrlichung wird der antiken Kultur nicht
gerecht, die zu verbreiten man sich vielmehr bemühen muss.3
1The American Heritage Dictionary of the English Language (Pub. Dell Publishing co. Inc.
New York), 1997.
2Longman Dictionary of Contemporary English (Great Britain, Longman), 1990, S. 511.
„Humanism“, S. 566.
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 207
Der Humanismus geht auf das 14. Jahrhundert zurück – obwohl es schon zuvor ein
Aufkeimen gegeben hat –, als der Begriff geprägt wurde. Der Begriff markiert die
Verbindung der modernen okzidentalen Kultur mit der antiken und damit den Aus-
tritt aus dem Mittelalter. Daher wird die Vergangenheit nur vom Standpunkt einer
Erneuerung der Gegenwart her betrachtet, und zwar im Lichte des Denkens, wie es
zur Zeit der alten Griechen und Römer vorherrschend war. Jenes machte den Men-
schen zum Gegenstand des Interesses und des Studiums, womit er an die Spitze
der Diskussion und des Denkens aufstieg. Damit wurden die vorherrschenden Strö-
mungen des Mittelalters verdrängt, die Gott den höchsten Rang zugewiesen hatten.
Der Humanismus – im Okzident – wurzelt in der griechischen Mythologie,
die er wiederzubeleben trachtet. In dieser versucht der Mensch sich selbst von
der Tyrannei, der Unterdrückung und den Fesseln zu befreien, die die Götter
ihm angelegt haben, was er über das Wissen und Selbstverständnis zu erreichen
beabsichtigt, die ihn aus der Macht der Götter entkommen lassen. Zugleich erfolgt
seine Suche nach Freiheit und Unabhängigkeit außerhalb der Obrigkeit. Dieser
Humanismus hat vor langer Zeit bei den Griechen begonnen. Er bedeutete eine
Haltung, mit der der Mensch danach strebt, über die Natur zu herrschen, um
auf diese Weise Zeus zu stürzen – den höchsten Gott, der über das menschliche
Schicksal entscheidet – und sich von seiner Macht zu befreien. Hier ist der Anfang
für die feindliche Beziehung zwischen Gott und dem Menschen zu suchen.
Damals entstand die Verschmelzung zwischen dem Konzept des Göttlichen
und dem des Menschen, während Homer die Götter noch auf der Spitze des
Berges Olympia angesiedelt hatte, wo sie ein menschliches Leben mit all den
Defiziten führten, die auch der Menschheit zu eigen sind. Auch die Intellektuellen
jener Zeit schrieben sich Eigenschaften des Göttlichen zu und bezeichneten sich
anfänglich selber als Weise, was eigentlich den Göttern vorbehalten war. Mit die-
ser Vermischung des Göttlichen mit dem Menschlichen wurde Gott vermensch-
licht und der Mensch vergöttlicht.
Als der Sophismus als Emanzipation von der Herrschaft der Götter und der
Naturgewalten über den Menschen auftauchte, begannen die religiösen Über-
zeugungen ihren Einfluss auf die gebildete Klasse zu verlieren, während die
208 M. A. Abuzaid
Bösen zu entsagen, mit dem er als Ergebnis der Ursünde verwoben ist. Auch
unterscheidet sich der pessimistische Blick auf den Menschen enorm von der
Sichtweise, wie sie von den Griechen überliefert ist, da in der griechischen und
römischen Epoche der Mensch die Achse der Suche bildete, bevor er im Mittel-
alter durch Gott ersetzt wurde. So wie das griechische und römische Denken der
Antike versuchte, sich der göttlichen Mächte zu entledigen, versuchte das west-
liche Denken der Renaissance sich vom Göttlichen, wie der Katholizismus es ver-
stand, zu lösen. Damit trat der Humanismus erneut als eine Haltung hervor, die
danach strebte, dass sich die menschliche Seele von den Einflüssen des rigiden
Katholizismus befreit.
Als die Dissonanz zwischen dem Geist des Mittelalters und dem der Renais-
sance offenbar wurde, reagierte ersterer auf die göttliche Offenbarung, indem er
sich der Askese und dem Spiritualismus zuwandte, der die Furcht vor dem Körper
und die Angst vor dessen Neigungen und Passionen beinhaltete. Er respektierte
die Freude an der Schönheit und gab sich mit der Unwissenheit der Menschen
zufrieden, die auf diese Weise gezwungen waren, mit den Vorschriften der Reli-
gion konform zu gehen. Damit wurde die Suche eingeengt auf den Fortschritt des
spirituellen Daseins und dem Verlangen nach Erlösung, was auf die Befreiung
vom Leben und die Peinigung des Körpers hinauslief und letztlich zur Ver-
dammung der Bildhauerei wie auch der experimentellen Wissenschaften führte.
Dieser Geist reduzierte das Wissen auf Theologie und Metaphysik, weil diese den
einzigen Weg zur Erlösung bedeuteten.
Was das Zeitalter der Renaissance betrifft, so verhielt es sich spiegelbildlich,
da ihm das völlige Vertrauen in die Vernunft zu eigen war und es in der Liebe
zum Wissen schwelgte. Es hatte ein starkes Interesse an der Wissenschaft und
ebensolchen Respekt vor ihren Vertretern, liebte das Schöne, begeisterte sich für
die Natur und entflammte sich für das Heiligtum des Lebens. Seit damals wur-
den körperliche Darstellungen in den Künsten vielfältiger und die Wissenschaft
nahm sich der Beobachtung von Naturphänomenen an, wobei sie willkürliche
Doktrinen aufgab und mit althergebrachten Traditionen wie auch verbreiteten
Annahmen brach (Tawil 1976, S. 160–1).
Die Gelehrten und Vorreiter der Renaissance versuchten, die Lehren und die
Kultur des Mittelalters zu unterbinden und riefen dazu auf, die antike klassische
Kultur wiederzubeleben. So wurden die Menschen allesamt (der Poet, der Künstler,
der Autor, der Prediger und der Durchschnittsbürger) zu Humanisten. Das hervor-
stechende Merkmal im Denken jener ist das starke Festhalten an allem, was mit der
griechischen Epoche verbunden war, seitdem die Renaissance um des wahren Wis-
sens willen auf die Antike schaute (Perry 1961, S. 106). Der westliche Humanis-
mus trank aus derselben Quelle wie die alten Griechen. Der humanistische Geist
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 211
verbreitete sich und wurde unter vielen intellektuellen, literarischen und künst-
lerischen Strömungen populär, bis seine Wesenszüge in jedem Element der west-
lichen Kultur auftauchten, von denen folgende zu nennen sind:
zuletzt durch die Erfindung der Druckerpresse weiteren Auftrieb und weitere
Verbreitung, infolgedessen das Wissen der Menschen zunahm und viele ihrer
falschen Annahmen korrigiert wurden. Dies führte zu einer massiven Zunahme
an Intellektuellen, sodass es in Europa um 1500 mindestens neun Millionen
Bücher gab, die 30.000 Titel in einer Auflage von mehr als tausend Stück
umfassten. Die Kultur dehnte sich aus, nachdem sie zuvor in hohem Masse auf
die Priesterschaft begrenzt gewesen war. Mit der Möglichkeit der schnellen
Verbreitung von Wissen und Überzeugung kam es zu dem, was man das Zeit-
alter der Aufklärung nennt (Randall 1958 191–192).
4. Freiheit. Der Humanismus war in seiner Anfangsphase ein Ruf nach Frei-
heit (Perry 1961, S. 57), wobei die Hauptströmung dagegen rebellierte, dass
der Freiheit in der Sphäre der Ethik und der Umgangsnormen wie auch in der
der Wissenschaften, Philosophie und Künste Fesseln angelegt wurden. Als das
Band der Ethik und der Umgangsnormen gelöst wurde, erstarkten die Leiden-
schaften und griff die Korruption um sich. Diese verschluckte das ganze
Zeitalter, bis fast jeder von ihr erfasst war, auch wer sich mit den Gewohn-
heiten nicht arrangieren mochte. Das größte Debakel dieser Epoche war der
Verlust des Glaubens und die Emanzipation von der Ethik, woran auch der
Klerus nicht unbeteiligt war. Im Jahre 1701 veröffentlichte Pierre Charron
ein Buch unter dem Titel De la sagesse, in dem er behauptet, dass Ethik nicht
auf der Religion basiert, und in dem er die Geschichte des Christentums auf
eine Weise darstellt, dass vor allem die Übel deutlich werden, die es zu ver-
antworten hat. Charron zufolge steht die Lehre von der Unsterblichkeit der
Seelen den Überzeugungen der Menschen am nächsten, sie sei jedoch für die
menschliche Vernunft die unglaubwürdigste.
noch mich mit ihm abfinden, dass seine Philosophie Gott keine wichtige Stellung
zubilligt.“ Viele europäische Philosophen folgten jedoch Descartes, angeführt von
dem deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724–1804), dessen kritische Denk-
weise den Menschen aufwertete, indem er ihn zur Essenz der Dinge und zu ihrem
verborgenen Geheimnis machte. So gab er dem modernen Humanismus eine neue
Definition vom Menschen, dessen Wert nun nicht länger von seinen göttlichen
Wurzeln abhängig ist, sondern von seinen geistigen Fähigkeiten und seinem Kön-
nen herrührt, seine Umwelt zu organisieren.
Man kann sagen, dass die Geschichte der okzidentalen Kultur die eines Kamp-
fes zwischen diesen beiden gegensätzlichen Strömungen ist: der wissenschaft-
lichen und der religiösen. In ihrer gegenwärtigen Form haben beide ungeachtet
ihres unterschiedlichen Verlaufs ihre Wurzeln im westlichen Humanismus, der im
Okzident einzigartig ist. Im zeitgenössischen Denken finden sich unterschiedliche
Weltanschauungen – Marxismus, Existenzialismus, Liberalismus –, die sich nicht
auf einen gemeinsamen Begriff des Menschen einigen können. Was auch immer
die Definition sein mag, so ist sie u. a. abhängig von der religiösen Überzeugung,
der wissenschaftlichen Perspektive oder der Philosophie, denn es gibt keine prä-
zise Definition von Humanismus, ob logisch oder mathematisch, weil „die unter-
schiedlichen Bedeutungen, die mit diesem Ausdruck verbunden sind, nur das
Denken unterschiedlicher Zeitalter der Menschheit und verschiedener Personen
und sozialer Inhalte widerspiegeln.“ (Perry 1961, S. 9).
Es gibt so viele Begriffe wie es Strömungen gibt und jeder Philosoph ist über-
zeugt davon, dass er die tragende Idee gefunden hat. Doch unterscheiden sich die
Interpretationen dramatisch, sodass der eine dem anderen widerspricht, wobei
jeder einzelne Denker uns das Bild präsentiert, das er von der menschlichen Natur
zeichnet. So hat Nietzsche sich dem Prinzip des Willens zur Macht verschrieben,
Freud der enttäuschten Libido, hat Marx den ökonomischen Instinkt betont und
jede Theorie presst die Fakten in das Prokrustesbett einer Deutung, die die Fakten
entsprechend ihrer Tauglichkeit als Symptom behandelt (Cassirer 1961, S. 61).
Wegen dieser Vielfalt hat die moderne Theorie vom Menschen ihr geisti-
ges Zentrum verloren, an dessen Stelle das theoretische Chaos getreten ist. Wie
wunderbar war der große Mangel an Meinungen und Theorien zu diesem Thema
in früheren Epochen, gab es doch zumindest eine allgemeine Richtung, während
heutzutage der persönliche Faktor überwiegt und die persönlichen Neigungen
des Autors die entscheidende Rolle spielen. Folglich ist jeder Autor nur auf seine
eigene Meinung und seine eigene Methodik bedacht, wenn es um die Anthropo-
logie geht.
214 M. A. Abuzaid
Zunächst sei gefragt, wie es uns als orientalisch Denkende möglich ist, vom
okzidentalen Humanismus zu profitieren. Können wir uns, im Okzident wie im
Orient, auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen? Verfügen wir über dieselben
Voraussetzungen, die zur Herausbildung dieses Phänomens im Okzident geführt
haben und haben wir dieselben Motive? Hat der Orient eine besondere huma-
nistische Sicht, die von seiner Kultur zehrt? Oder ist der okzidentale Humanis-
mus das Ziel unserer Wünsche? Ist der Humanismus im Westen nicht gescheitert
und bedarf er nicht der Abmilderung, um ihn dem Orient in einer humaneren und
akzeptableren Form näherzubringen?
Heutzutage ist es für uns Orientalen schwierig, einen präzisen Begriff zu fin-
den, der den westlichen Humanismus bezeichnet, vor allem, da der Begriff je
nach Ideologie anders verstanden wird. Einmal wird mit ihm die Arbeiterklasse
verherrlicht, ein anderes Mal der Pragmatismus gepriesen und ein drittes Mal die
Freiheit glorifiziert. Das ist nicht unsere Meinung, sondern die eines westlichen
Intellektuellen, Max Scheler, der sagt: „Zu keiner Zeit des menschlichen Wissens
war der Mensch, was er heute in unserer Epoche ist. Wir verfügen über keine
klare und solide Vorstellung von Anthropologie; unsere Vorstellung vom Men-
schen ist zunehmend chaotisch und dunkel geworden, anstatt klarer.“ (Scheler
1928, S. 13).4
Wir werden dies anhand einiger philosophischer Ausdrücke demonstrie-
ren, die in diese Richtung gehen. So sieht Nietzsche den Menschen als höchstes
Wesen, von dem er prophezeit, dass es erst in einem paganen Zeitalter zur Exis-
tenz gelangen werde. Karl Jaspers wiederum betont, dass der Mensch kein Gott,
aber der Schöpfer von Werten ist. Albert Camus ging sogar so weit zu sagen, dass
nichts auf dieser Erde von Bedeutung sei und erst der Mensch den Dingen eine
Bedeutung abfordere. Wenn Camus die Gegenwart des Menschen bestätigt, dann
macht Sartre diese Gegenwart von der Abwesenheit Gottes abhängig. Denn der
Mensch existiert nur, wenn er jede absolute Existenz verwirft. Seine Ansicht geht
so weit, Gott den Erhabenen durch den menschlichen Gott zu ersetzen, indem er
verkündet, dass „die humanistischen Philosophen nicht versucht haben und nicht
versuchen, sich selbst von der Knechtschaft Gottes und den Glauben an seine
erhabene Existenz zu emanzipieren, sodass alles, was sie getan haben, nur die
Ersetzung eines Namens durch einen anderen ist.“ (Davies 1927, S. 124).
4Rückübersetzt aus dem Arabischen, da mir das dt. Original nicht zugänglich war (Anm. d. Ü.).
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 215
Karl Marx betrachtet den Sozialismus als weiteren Ausdruck des Humanis-
mus und sieht in jenem das höchste Gut, das die Entfremdung des Menschen von
sich selbst aufheben werde. Selbst wenn die Theorie des Naturrechtes plausibel
wäre, bliebe sie doch eine Täuschung, weil sich hinter ihr Klassenunterschiede
und ökonomische Privilegien verbärgen. Dies nimmt Marx zum Ausgangspunkt,
um die schädlichen Elemente aufzudecken, die in den Ansprüchen des Liberalis-
mus enthalten sind.
Obwohl diese Denker sich gegen eine Vereinnahmung ihrer Gedanken wehr-
ten, so haben sie sie doch selbst kanonisiert. Sie wollten den Menschen an die
Stelle Gottes setzen, die Philosophie an die der Religion und die göttliche Mytho-
logie zu einer Anthologie machen, die von einer Gleichung ausgeht, die im
Wesentlichen besagt, dass jede Negierung des Göttlichen den Menschen stärkt
und alles, was den Menschen stärkt, das Göttliche negiert. Diese Einstellung ver-
menschlicht das Göttliche allein durch die Vergöttlichung des Menschen, enthebt
diesen allein deshalb von seinen religiösen Bindungen, um ihn unter die Tyran-
nei der Gesellschaft zu stellen, setzt der äußeren Knechtschaft nur Grenzen, um
Knechtschaft beständiger zu machen, und zieht die Zügel fester, indem sie die
äussere Knechtschaft zu einer inneren macht. Wenn dies auch die okzidentale
Position gegenüber dem Göttlichen war, so war es doch nicht die orientalische,
denn es gibt einen Unterschied zwischen beiden, der sich in folgenden Eigen-
schaften und Grundpfeilern niederschlägt:
5Koran 2: 31, dt. Übers. hier und im folgenden von Max Henning (Anm. d. Ü.).
216 M. A. Abuzaid
• Der Mensch wird im Islam dafür geehrt, dass er die Brücke zwischen der
himmlischen und der irdischen Welt darstellt. Dieser Ehre wird er teilhaftig,
weil alle Engel sich vor ihm niederwerfen, während die Natur ihm unter-
worfen ist, denn „Er ist’s, der für euch alles auf Erden erschuf.“6
• Der Islam betrachtet den Menschen als Schöpfer des göttlichen Willens, Voll-
strecker der göttlichen Gerechtigkeit und Bewahrer der universellen Gesetze.
Er geht in seiner Wertschätzung aber nicht so weit zu übertreiben und anstelle
eines gemäßigten Menschenbildes ein überzogenes zu setzen, das den Men-
schen vergöttlicht, wie dies einige westliche Intellektuelle getan haben.
• Der Himmel hat den Menschen von den übrigen Geschöpfen dadurch unter-
schieden, dass er ihm die Vernunft gegeben hat – diesem großartigen
Geschöpf, dem nach Gott kein anderes im Universum gleichkommt. „Das
erste, was Gott schuf, war die Vernunft. Zu ihr sagte Er: „Komm hervor!“ und
sie kam hervor. Dann sagte er zu ihr: „Wende dich!“ Und sie wandte sich.
Dann sagte Er zu ihr: „Sei mein Stolz und meine Herrlichkeit, denn es gibt
nichts, was edler wäre als du. Durch dich nehme ich, durch dich gebe ich,
durch dich belohne und durch dich bestrafe ich“.“7
Das Merkmal, mit dem der Himmel den Menschen vor allen anderen Geschöpfen
ausgezeichnet hat, ist – aus der Sicht des Islam – die Vernunft. Sie ist, was dem
Menschen die Eignung zur Verpflichtung (taklīl) und zur Übernahme von Loyalität
gibt, sodass er zur Rechenschaft gezogen und belohnt oder bestraft werden kann.
• Der Mensch verfügt im Islam über die volle Freiheit des Willens und der Mei-
nung. Im Islam gibt es keine Institutionen, die willkürlich über seine Welt-
anschauung urteilen, wo es doch eine Verbindung zwischen ihm und dem
Himmel gibt. Jeder Mensch steht für sich in Beziehung zum Heiligen, die eine
besondere und einzigartige Beziehung ist, die keine persönliche oder institu-
tionelle Einmischung kennt.
Abbitte drängte, wie es in Form der Autodafés bekannt wurde, im Islam nicht.
Der Islam hat seine Männer vielmehr ihrer weltlichen Macht beraubt und dann
Gottes Propheten zu einem Verkünder und Mahner gemacht anstatt zu einem
Herrscher (musayṭir). Die religiöse Macht wurde gebannt und den Koran und die
Sunna zu interpretieren wurde das legitime Recht aller Gläubigen. Unfehlbarkeit
ist selbst für den Beherrscher der Gläubigen ausgeschlossen, sodass, wenn die-
ser einen Fehler macht, er verpflichtet ist, ihn zu korrigieren, denn „es gibt kei-
nen Gehorsam für ein Geschöpf, das sich dem Schöpfer widersetzt“, wie es in der
Prophetentradition heißt.
Diese Unterdrückungszustände, wie sie in der Geschichte vorkamen, gehen
zurück auf „politische Gründe und persönliche Motive, während der Islam jede
Sünde registriert, die seine Männer sich zuschulden kommen lassen, wobei seine
Offenbarung deutlich macht, dass sie die Freiheit des Individuums in der Wahl
seiner Religion bekräftigt.“ (Tawil 1976, S. 287, 288). Tatsächlich findet sich im
islamischen Mittelalter sowohl die Freiheit zur Religionskritik als auch deren
Ablehnung, gab es doch Menschen, die das Göttliche anerkannten, die Prophetie
jedoch ablehnten, wie es auch andere gab, die das Göttliche anzuerkennen sich
weigerten und dennoch weder vertrieben, noch getötet oder ihrer Freiheit beraubt
wurden. Wir erinnern hier nur an Abū al-ʿAlāʾ al-Maʿarrī,8 Ibn al-Rāwandī,9 Abū
Ḥayyān al-Tauḥīdī10 u. a. (Kraus 1949, passim) Keiner von ihnen wurde bestraft
oder aus seiner Heimat vertrieben, keiner wurde zu bestimmten religiösen Über-
zeugungen gezwungen und keiner wurde seiner Gedanken wegen bekämpft. Sie
alle genossen die Freiheit zu glauben, was sie wollten.
Der Islam war der Quell der großen geistigen Renaissance, die ihren Anteil an
den gemeinsamen mächtigen philosophischen Erfahrungen der Menschheit hatte
und zur Entwicklung eines menschlichen Bewusstseins beitrug, bis sie zu einem
unauflöslichen Bestandteil des kulturellen Erbes der geistigen und künstlerischen
Entwicklung der Menschheit wurde. Der Islam strebte danach, die Religion mit
der Welt zu vereinen und die spirituelle mit der weltlichen Macht zu versöhnen.
Er blickte auf die erkennbaren wie auch abwesenden Dinge in einer holistischen
8Abū al-ʿAlāʾ al-Maʿarrī, 973–1057, berühmter syrischer Dichter, Autor von risālat al-
ġufrān, einer Parodie auf islamische Vorstellungen vom Jenseits sowie gewissen theo-
logischen Auffassungen (Anm. d. Ü.).
9Aḥmad Ibn Yaḥyā al-Rāwandī, 820–910, berühmter Freidenker, wird meist der Hetero-
doxie oder dem Atheismus zugerechnet. Autor von mehr als 100 Werken (Anm. d.Ü.).
10Abū Ḥayyān al-Tauḥīdī, ca. 932–1023, Literat und Philosoph, als Häretiker verfolgt.
Autor einer Anthologie namens Baṣāʾir al-Qudamāʾ in zehn Bänden (Anm. d. Ü.).
218 M. A. Abuzaid
und umfassenden Weise, während er auf dem Prinzip des Monotheismus (tauḥīd)
ein System des Denkens, der Philosophie, der Politik und Kultur errichtete. So
schlug sich in seiner Kultur der Humanismus mit all seinen Prinzipien nieder, die
zu Freiheit, Vernunft und Kritik aufrufen.
Diesen Humanismus hat Herder betont, als er die Beschuldigung zurückwies,
die Orientalen wüssten mit der Bedeutung von Humanismus nichts anzufangen,
weil dieser Begriff sich nicht in ihrem Wortschatz befinde. In der Tat hat es diesen
Humanismus sehr wohl bei den Muslimen gegeben. Darauf hat Pico della Miran-
dola 1486 hingewiesen, als er den Muslimen attestierte, dem Menschen einen ein-
zigartigen Platz einzuräumen: „Ich las in den Büchern der Araber und konnte in
der Welt nichts finden, was dem Menschen mehr Bewunderung gezollt hätte.“11
Denn der Islam als Dogma, Gesetz und Philosophie hegt Wertschätzung für
den Menschen. Diesen zu ergründen ist auch nichts, was aus den Bestandteilen
seiner Kultur verschwunden wäre, sondern etwas, das stets existent war und in
offenkundiger Weise praktiziert worden ist. Mohammed Arkoun betont, dass der
klassische Islam schon so etwas wie einen Humanismus gekannt habe, bevor
Europa ihn während der Renaissance für sich entdeckt habe. Tatsächlich waren
es Leute wie al-Ǧāḥiẓ,12 al-Tauḥīdī13 oder Miskawaih14, die den Humanismus
geformt haben, der darin bestand, die griechische Philosophie mit dem islami-
schen Denken sowie mit dem zu verschmelzen, „was sich gänzlich der Frage des
Menschen als Mensch verschrieb.“ (Arkoun 2001, S. 8). Wir erinnern auch daran,
dass jeder Bestandteil dieses Humanismus die menschliche Dimension und des-
sen Offenbarung in der islamischen Kultur betont.
Der Humanismus erschien zunächst in der Literatur, als man versuchte,
das Leben des Menschen und seine Zuneigungen, Gefühle und Verlangen zu
beschreiben. Ein Beispiel dafür ist die Abhandlung Das Halsband der Taube von
Ibn Ḥazm (gest. 1064), einem Richter und Rechtsgelehrten, der sich eingehend mit
Themen des Alltags befasste. Sein enormes Talent verband sich mit einer Offen-
herzigkeit gegenüber der Bildung sowie einem religiösem Engagement, was ihm
13Abū Ḥayyān al-Tauḥīdī, ?-990, bekannter Linguist, Grammatiker und Autor persischer
15Die Mu‛taziliten (Muʿtazila) waren eine Gruppe im frühen Islam, die im Disput zwischen
ʿAlī und seinen Widersachern eine neutrale Position bezog. Sie weigerten sich, Sünder und
Ungläubige als Feinde der muslimischen Gemeinschaft zu bezeichnen. Später wurde der
Name Muʿtazila für die sog. rationalistische Schule im Islam verwandt (Anm. d. Ü.).
16Islamisches Recht (Anm. d. Ü.).
220 M. A. Abuzaid
Pflichten und seine Behandlung innerhalb dessen, was angemessen ist, sie gro-
ßen Wert legen, wird der wahre Wert des Menschen deutlich, ohne dass es die-
sem erlaubt wäre, die natürlichen Grenzen zu überschreiten oder die angeborenen
Beschränkungen zu missachten, durch die sich die Ordnung auf der Erde, in der
er den Spitzenplatz einnimmt, von der im Himmel unterscheidet, um die er sich
zu wenig kümmert. So lässt er von ersterer nicht ab, liebt sich selbst nicht und
rebelliert gegen letztere.
Die Scharia macht deutlich, dass die Religion den Menschen erhöht und zur
wichtigsten ihrer Absichten und Zwecke gemacht hat. Daher hat die Scharia fünf
Zwecke: Die Seele, die Religion, die Vernunft, die Nachkommenschaft und den
Besitz. Diese sind die Konstituenten des menschlichen Lebens und vier davon
sind direkt mit dem Menschen verbunden. Die Scharia definiert die praktischen
Grundsätze für die Bewahrung dieser Zwecke und ihre Entwicklung gemäß den
wechselnden Gegebenheiten von Zeit und Ort und soweit sie in Übereinstimmung
mit dem Menschen und seinen Interessen sind. Dies hebt seine Bedeutung inner-
halb des islamischen Systems als Glaube und Recht hervor.
Wenden wir uns der Philosophie zu, so werden wir feststellen, dass die
Bewegung der „Brüder der Lauterkeit“17 ein gutes Beispiel für die humanistische
Einstellung im geistigen Feld abgibt. Für die „Brüder“ war die Realität ein Pro-
dukt der Vernunft und der Tradition zugleich, sowie eine Frucht der Entwicklung
in der Natur und in der Geschichte. Sie riefen zur Einheit unter den Menschen als
Ideal auf Erden auf, um so die Essenz des Humanismus (insāniyya) zu verwirk-
lichen. Daher verschmolzen sie die Wissenschaften miteinander, um ihren Aufruf
zur Universalität des Menschseins und zur Versöhnung voranzutreiben, und elimi-
nierten in gleicher Weise die unterschiedlichen Sichtweisen, Überzeugungen und
Religionen, bis sie ihre Ansicht, die sie vielfach verteidigten, bestätigt fanden,
dass immer der Wert des Menschen zentral ist. Ihr berühmter Spruch lautete: „In
dir, o Mensch, ist das höchste Sein verborgen.“ (Brüder der Lauterkeit o. J., Bd. 2,
Nr. 12). Ähnlich sagten sie, dass der Mensch das kleinste Universum, die Welt der
größte Mensch sei und beide aus identischen Einzelteilen bestünden, wobei der
Mensch das Zentrum des Universums bilde.
Um noch ein Beispiel aus der Philosophie für das Interesse am Menschen zu
nennen, verweisen wir auf Ibn Ṭufail (gest. 1185) und seinen Roman Ḥayy Ibn
Yaqẓān. Der Held dieser Geschichte ist ein Mensch, der auf einer fernen Insel
geboren wurde und, ohne jeden Kontakt mit der Gesellschaft und ohne jede
17Die „Brüder der Lauterkeit“ (Iḫwān al-ṣafāʾ wa-ḫillān al-wafāʾ) waren eine philosophische
Gruppe im 10. Jahrhundert und Verfasser einer philosophischen Enzyklopädie (Anm. d. Ü.).
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 221
Kenntnis von Religion, durch den Gebrauch seiner geistigen Kräfte und in Etap-
pen, die analog der geistigen Entwicklung der Menschheit verlaufen, aller Wahr-
heiten der Natur und der Metaphysik teilhaftig wird. Indem der Autor den Wert
des Menschen anerkennt und seine Vernunft preist, die allein dazu fähig ist, sämt-
liche Wahrheiten zu erkennen, lässt er Ḥayy Ibn Yaqẓān zufällig einigen Men-
schen begegnen, die ihm von diesen Wahrheiten berichten. Da wird ihm klar, dass
die Wahrheiten, die ihm zuteil geworden ist, voll und ganz mit jenen überein-
stimmen, die er von ihnen zu hören bekommen hat. „Es ist nicht überraschend,
dass dieses Buch aufgrund seines philosophisch-humanistischen Inhalts das Inter-
esse nachfolgender Generationen von Intellektuellen geweckt hat.“ (Cachia 1992,
S. 469).
Die humanistische Haltung lässt sich unter Muslimen in allen Bestandteilen
ihrer Kultur finden – in der Literatur, den Künsten, dem Glauben, dem Recht und
der Philosophie – und speist sich aus einem Impetus ihrer Religion, die versucht,
die spirituellen und materiellen Aspekte im Gleichgewicht zu halten und Himmel
und Erde in Harmonie zu vereinen. Eine letzte Frage bleibt: Ist das Muster, das
der Okzident präsentiert, das einzige, das dem Begriff Humanismus (insāniyya)
gerecht wird?
Die Wahrheit ist, dass die Tragödien und Katastrophen, die in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben, vor allem die beiden Weltkriege, zu
einigen Zweifeln geführt haben, was die Fähigkeit des abendländischen huma-
nistischen Denkens anbetrifft, das zu realisieren, wonach der Mensch strebt. Wie
Kingsley Martin 1962 bemerkt hat, haben „die beiden Weltkriege zu einem Zwei-
fel aller Menschen in die Fähigkeit zu Entwicklung und Fortschritt geführt. Der
Zweifel hat nicht einfach nur die Pfeiler des Traums zerstört, die perfekte Stadt18
zu erlangen, sondern auch den Wunsch verhindert, eine Gesellschaft von grösse-
rer Glückseligkeit zu verwirklichen.“.
Randall Hepburn, ein Professor für Philosophie an der Universität Edin-
burgh, ruft die Humanisten dazu auf, die religiösen und mystischen Erfahrungen
für sich zu nutzen, da, wie er glaubt, Religion imstande sei, die Schwäche der
humanistischen Strömungen zu kurieren (Kulbayikani 2009, S. 114). Denis Duc-
los wiederum beschreibt die Phase, die die Welt gegenwärtig durchläuft, als eine
nicht-humanistische, in der die Vernunft über allem steht und alle anderen huma-
nistischen Aspekte negiert, sodass „das spirituelle System die früheren, Körper
18Ar.al-madīna al-fāḍila. Anspielung auf das gleichnamige, von Platon inspirierte Buch
des Philosophen al-Fārābī (gest. 950) (Anm. d. Ü.).
222 M. A. Abuzaid
und Geist verbindenden Vorstellungen aufnimmt und weiterführt und damit zum
zentralen Ort des Humanismus geworden ist.“ (Duclos 2003, S. 51. 52).
Marcel Gauchet betont, wie wichtig die Beständigkeit der religiösen Form für
die Beständigkeit der menschlichen Gesellschaften ist. Diese Form manifestiert
sich in drei grundlegenden Aspekten: Tradition, Partizipation und Hierarchie.
Diese Aspekte hat Europa zu überwinden versucht, um seinen eigene Humanis-
mus zu verwirklichen und ihn vollkommen zu beherrschen, „wobei er mit einer
Art Defizit ausgestattet wurde. Dieser verschaffte den Europäern zwar die voll-
kommene Autonomie, beraubte aber der kollektiven Macht ihrer Essenz. Er
verlieh ihnen eine nie gekannte Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung, doch
vernachlässigte er das Gemeinschaftsgefühl. Kein Zusammenleben schien mehr
vorstellbar unter den Menschen, außer in Form eines gemeinsamen Marktes.“
(Gouchet 2003, S. 56).
Heutzutage durchlebt der Mensch eine Krise in beiden Welten, der abend-
ländischen wie der orientalischen, wobei der Mensch unserer Krise von der
Industrie zermalmt, von der elektronischen Buchhaltung eingeengt und von
handbetriebenen Kränen und elektrischen Knöpfen domestiziert wird. Unsere
Krise liegt im spezialisierten Menschen, der alle holistische Betrachtung des
Lebens verloren hat und in einer Ecke des quantitativen Wissens verharrt, in der
er zählt und rechnet. Unsere Krise ist eine der Vorherrschaft materieller Werte
über das Leben und des Verlustes an Geist. Unsere Krise ist eine des Umsturzes
aller Werte, die alles durcheinander von oben nach unten und von unten nach
oben kehrt. Unsere Gemeinschaft kennt keine Freundschaft mehr, keine Zuge-
hörigkeit und kein Ziel. Unsere Krise besteht im Zweifel an allem, in der Auf-
gabe aller Prioritäten und in der Grübelei. Unsere Krise liegt in der Herrschaft
des Durchsetzungsvermögens über den Verstand, des Willens über den Geist, der
Zersplitterung über die Ganzheit und des Fanatismus über die Toleranz, bis der
Rassismus zur Grundlage der Menschheit geworden ist.
Heute benötigen wir alle zusammen, in Orient und Okzident, eine gemeinsame
Formel, wobei der Okzident für Wissenschaft, der Orient für Religion, ersterer
für die Materie und letzterer für den Geist steht. Der Okzident steht für den Fort-
schritt, der Orient für das Herz, und keiner von beiden kann für sich alleine leben;
vielmehr sind beide aufeinander angewiesen und müssen in einem einzigen Sys-
tem zusammenfinden, weil der eine nicht ohne den anderen leben kann. Hierbei
können wir auf den Satz von Samuel Dresden zurückgreifen, wonach „Wissen-
schaft ohne Herz ein Ruin für die Seele ist.“ (Dresden 1972, S. 121). Sozial- und
Naturwissenschaftler haben vielfach darauf verwiesen, dass das unkontrollierte
und ungezügelte Wachstum der Technologie eine große Bedrohung darstellt, wes-
wegen ich die populäre Ansicht teile, „dass die Wissenschaft ausserstande ist, alle
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 223
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Islam und Moderne – Warum gelingt
den muslimischen Kulturen nicht, was
anderen gelingt?
Michael Kreutz
M. Kreutz (*)
Bochum, Deutschland
E-Mail: kontakt@michaelkreutz.net
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 225
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_13
226 M. Kreutz
Man kann mit Lauster (2015, S. 255) in der Renaissance eine im Kern christ-
liche Epoche sehen, aus der man später ein heidnisches Zeitalter gemacht hat, wie
schon der Reformtheologe Johann Salomo Semler (1725–1791) den Humanis-
ten Erasmus von Rotterdam für die Begründung der protestantischen Theologie
in Beschlag genommen hat (Cassirer 1973, S. 188). Doch wenn auch die Refor-
mation vom Humanismus der Renaissance zehrte, so hatte letzterer doch keine
christliche Wurzel (Nelson 2010, S. 2). Hier sehen wir schon einen ersten Unter-
schied zur islamischen Kulturgeschichte, von der häufig gesagt wird, dass sie –
hierin sich von Europa unterscheidend – die Antike fortgeführt habe, weswegen
man eine eigenständige Epoche des Humanismus ebenso vergeblich suche wie
eine Notwendigkeit für islamische Reform.
Dies ist unzutreffend, denn auch wenn die arabisch-islamische Philosophie
im 9. Jahrhundert platonischen Vorstellungen zugänglich wurde, wurde Platon
im Original praktisch nicht studiert und übersetzt. Während es im Abendland
mit Nikolaus von Kues (1401–1464) und Marsilio Ficino (1433–1499) Vertreter
einer geistigen Strömung gab, die von einem vertieften Interesse an dem griechi-
schen Philosophen getrieben war, hat es in der islamischen Welt Vergleichbares
nicht gegeben (Arnzen 2011, S. 211). Folglich musste die arabische Welt, in den
Worten von Rémi Brague (1993, S. 103), nie „der ganzen Wucht der Konkurrenz
eines Gesamtentwurfs des vorislamischen Menschen die Stirn bieten.“ An einer
solchen hätte sie eigene kulturelle Prämissen hinterfragen und daran wachsen
können.
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen … 227
Münster des 16. Jahrhunderts für kurze Zeit die politische Herrschaft erlangten,
ist Teil der Reformationsgeschichte (F. Meier 2008, S. 94–5).
Dennoch war der Fortschritt nicht aufzuhalten. So nahm im 17. Jahrhundert
die Bibelkritik ihren Anfang, als Pietro della Valle eine Abschrift des samarita-
nischen Pentateuch aus Damaskus beschafft hatte, die zahlreiche Textvarianten
gegenüber der kodifizierten Version enthielt (Sutcliffe 2004, S. 26). Diese Bibel-
kritik erreichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt.
(Schulte 2002, S. 62, 90) In ihr manifestiert sich eine Aufwertung der Vernunft,
der sich nach Hugo Grotius (1583–1645), einem Schüler des Erasmus von Rotter-
dam, selbst das Gesetz zu beugen habe (Nelson 2010, S. 97–100; Taylor 2012,
S. 221–2); Die Lehre seines Landsmannes Jacobius Arminius (1560–1609), nach
der es dem Menschen sogar offen steht, sich von Gott ganz abzuwenden, ver-
breitete sich über England bis nach Nordamerika (Harrison 1990, S. 23; Hoch-
geschwender 2007, S. 57). In Frankreich war es u. a. Pierre Bayle (1647–1706),
der den christlichen Glauben der Vernunft unterwarf und diese an die persönliche
Autonomie des einzelnen knüpfte (Sutcliffe 2004, S. 97; Cassirer 1973, S. 223).
Heute wissen wir, dass auch die katholische Kirche nicht ganz abseits die-
ser Entwicklungen stand, sondern sich theologisch schon im 11. und 12. Jahr-
hundert vom jenseitigen asketischen Ideal gelöst (Berman 1991, S. 533) und
mit dem Jansenismus auch eine innerkatholische Reformation hervorgebracht
hat (Vgl. Van Kley 1996, S. 6; Zippelius 1997, S. 100–1). Die Forschung vertritt
daher nicht mehr den schroffen Gegensatz von lutherischem und katholischem
Autoritarismus einerseits und calvinistischem Individualismus und Freiheits-
gedanken andererseits, was zur Folge hat, dass auch Menschenrechte nicht länger
monokausal, sondern als Produkt aller Konfessionen und religiösen Gruppierun-
gen erklärt werden, wenngleich deren Anteil unterschiedlich groß gewesen sein
mag (Schilling 2009, S. 313–4).
Mit ihrer Hinwendung zur Vernunft und innerweltlichen Askese hatte die
Reformation auch neue Formen der Naturerkenntnis möglich gemacht. Nach-
dem diese noch im frühen 17. Jahrhundert in den Verdacht des Sakrilegs geraten
konnten, änderte sich dies mit dem Westfälischen Frieden von 1648, seitdem die
Glaubenskämpfe einer gewissen Milde gegenüber Andersdenkenden gewichen
waren, sowie mit der Entdeckung und Eroberung fremder Erdteile (Cohen 2010,
S. 139–40), als der Konkurrenzkampf zwischen Spanien, Frankreich, England
und den Niederlanden mathematische und astronomische Erkenntnisse politi-
sches Interesse weckte: Um den Längengrad auf dem Meer bestimmen zu kön-
nen, mussten Galileis Entdeckungen für die Seefahrt nutzbar gemacht werden.
Dies gelang Giovanni Domenico Cassini und Christian Huygens, die Erfinder des
Pendeluhrwerks, die beide von Ludwig XIV. nach Paris geholt worden waren,
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen … 229
das fortan neben London zum neuen ökonomischen, politischen und kulturel-
len Schwerpunkt Europas avancierte (Cohen 2010, S. 141, 172, 254; Tilly 1999,
S. 187).
All dies bildete den Hintergrund dafür, dass sich im westlichen Europa die
rule of law durchsetzen konnte, was zumindest indirekt auf die Reformation
zurückgeht, die die Autorität der Kirche geschwächt und eine Säkularisierung
geistlicher Güter in die Wege geleitet hatte (Fukuyama 2011, S. 289). Der neue
Staat war zwar ein konfessioneller, kein säkularer, aber der Boden für eine
weltliche Reform war bereitet (Dreier 2015, S. 315), bevor neue Theorien von
Souveränität dem säkularen Staat auch philosophisch Legitimation verschafften
(Fukuyama 2011, S. 289). Die Aufklärung, die diesen Gedanken weitertrug,
fand ihren Höhepunkt in der Idee der Menschen- und Bürgerrechte, die zum Teil
auf die mittelalterliche Kanonistik und dessen Naturrechtskonzeption, zum Teil
auf ebenjene reformatorischen Gruppen, die mit der englischen Revolution ver-
bunden waren, zurückgeht, bevor sie mit der amerikanischen bill of rights, ins-
besondere der von Virginia 1776, politisch zum Durchbruch fand (Jellinek 1919,
S. 42–3, 55–6, 58; Berman 1991, S. 272, vgl. ebd. S. 327–8; Rhonheimer 2012,
S. 89–90; vgl. Dreier 2015, S. 327–8, 342).
Geschichte ist kontingent, sie folgt keinem vorgezeichneten Pfad. Aber sie
verläuft auch nicht willkürlich, sondern unter kulturellen Bedingungen, die
ihrerseits dem historischen Wandel unterworfen sind. Daher bleiben die Leis-
tungen der Reformation anzuerkennen, denn diese ist Produkt und Triebfeder
einer Kultur, die das westliche Europa maßgeblich umgestaltet und das, was wir
heute mit dem Begriff der Moderne verbinden, möglich gemacht hat. Die Frage
ist daher, welche Unterschiede und Parallelen wir im islamischen Kontext finden
und welche Schlussfolgerungen wir daraus für die Frage nach dem Sinn und der
Möglichkeit einer islamischen Reformation ziehen können.
Islam im Vergleich
Es ist bekannt, dass es mit den Muʿtaziliten im Islam eine Schule gab, die die
Existenz eines freien Willens für notwendig hielt, damit der Mensch sich für
Gott und seine Gebote entscheiden könne. Alles andere würde der Gerechtig-
keit Gottes widersprechen (Ibn al-Murtaḍā und Diwald-Wilzer 2009, S. VII). Der
Hauptstrom der Theologie schlug jedoch einen anderen Weg ein. Frühe Rechts-
theoretiker, die erkannten, dass infragen des Koran zuweilen Interpretation gegen
Interpretation steht, machten nicht zuletzt dem Rechtstheoretiker Abū Ḥanīfa
(ca. 699–767) den Vorwurf der mangelnder Methodik. Sie führten dies auf den
230 M. Kreutz
Gebrauch des raʾy zurück, der persönlichen Ratio oder gesunden Menschen-
verstand (Oberauer 2004, S. 212). Damit enthielt die Rechtstheorie ein subjekti-
ves und schwer zu kalkulierendes Element.
Die maßgebliche Wende leitete der Jurist Muḥammad Ibn Idrīs al-Šāfiʿī
(767–820) ein, der Begründer der nach ihm benannten šāfiʿītischen Rechts-
schule, der den raʾy aus dem Rechtsdenken verbannte (Radtke 2005, S. 64), bis
im 10. Jahrhundert die rationale Schule der Muʿtazila fast völlig verdrängt wurde
(Nagel 1988, S. 226). Dieser erheblichen Verengung der Rechtstheorie stellte sich
zuletzt nur eine Minderheit der Gelehrten entgegen, darunter die philosophische
Gruppe der sog. „Brüder der Lauterkeit“ (Iḫwān al-ṣafāʾ) (Brague 2006, S. 109,
112). So hatten sich die sunnitischen Juristen durchgesetzt, die dem Gläubigen
nur die Möglichkeit ließen, ewige Glückseligkeit allein durch das Befolgen der
göttlichen Gebote zu erlangen. Nach ihrer Vorstellung gibt es keinen Spielraum
für eine autonome Natur des Menschen, dessen Vernunft weniger der Erweiterung
des Wissens als mehr der Erlösung auf dem Wege der Kommentierung und Inter-
pretation der Offenbarung dient. Daran hat auch der griechische Einfluss auf
die arabische Kultur nichts ändern können (Von Grunebaum 1956, S. 91; vgl.
Rodinson 1986, S. 120).
Anteil an der Prägung des Sunnitentums hatten Theologen, die sich auf
al-Ašʿarī (gest. 935) beriefen, der sämtliche Erscheinungen der realen Welt nur
als Ausdruck göttlichen Willens deutete, über die dann keine weiteren Aussagen
mehr möglich sind (bilā kaifa) (Lazarus-Yafeh 1992, S. 216–7) und der die Sup-
rematie der offenbarten Wahrheit gegenüber der Vernunft betonte (Tamer 2013,
S. 330). Somit bleibt kein Spielraum für eine Autonomie des Individuums mehr.
Zwar finden sich in der islamischen Geistesgeschichte immer wieder Dissidenten,
die sich dem sunnitischen Menschenbild verweigerten, darunter Abū al-Barakāt
al-Baġdādī, der die menschliche Seele frei von jeglicher göttlichen Fügung (amr)
dachte und ihr alle Fähigkeit zur menschlichen Erkenntnis zuerkannte1 (Nagel
1994, S. 194–5). Doch bleiben solche Theorien immer nur Elitenprojekte, denen
eine gesellschaftliche Breitenwirkung versagt blieb.
Die sunnitische Orthodoxie hatte sich für die Lehre vom kasb entschieden, die
zwar den radikalen Prädestinationsglauben (iʿtiqād al-qadar wa-l-ǧabr) zurück-
1Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Abū al-Barakāt al-Baġdādī ausgerechnet Ibn
Taimiyya, den Säulenheiligen heutiger Salafisten, mit rationalistischer Argumentation ver-
sorgte (Tamer 2013, S. 358–9).
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen … 231
weist, aber auch die Vorstellung von einem freien Willen ablehnt, um vielmehr
einen Mittelweg zu beschreiten2 (Ebert 1991, S. 119–20; vgl. Rodinson 1986,
S. 132–4). Ein solcher Mittelweg bedeutet aber auch, dass, wie der neuzeitliche
Theologe Ḥusayn al-Ǧisr (1845–1909) es formuliert hat, Freiheit im Islam nur als
eine „ausgewogene“ (ḥurriyya muʿtadila) gedacht werden kann, die sich gegen
eine negative Freiheit definiert, die vermeintlich „im Irrgarten der Neigungen
und Lüste“ endet (Ebert 1991, S. 116). Dies korrespondiert mit der koranischen
Sicht auf die Welt als Versuchung für den Gläubigen und dessen Suche nach Gott
(Khoury 2001, S. 88; vgl. Koran 87,16–17; 28,60; 8,67 et al.).
Zwar hatte im 12. Jahrhundert der Philosoph Averroes (Ibn Rušd) argumen-
tiert, dass Schöpfung und Offenbarung, indem sie der Logik nicht widersprechen,
dem menschlichen Verstand zugänglich sein müssen, womit sich Erkenntnisse
durch die Naturwissenschaften rechtfertigen ließen (Brett 1981, S. 102–3; Urvoy
1991, S. 50, 53–4, bes. 106–7). Allerdings wurden in Averroes' Heimat, dem
muslimischen Spanien der Almohaden, seine Schriften verbrannt, während sie
in unter europäischen Scholastikern eine umso höhere Wertschätzung genossen
(Strohmaier 2003, S. 25–6). Dies ist durchaus kein Einzelfall. Wissenschaftliche
Erkenntnisse aus dem Orient machten häufig Karriere erst bei den „Franken“
(Europäern):
• So landete die Karte, die der türkische Kartograf Piri Reis 1513 erstellt hatte
und die auf Informationen von Christoph Kolumbus aufbauten, rasch in den
osmanischen Archiven, wo sie erst 1929 von einem westlichen Gelehrten
wiederentdeckt wurde (Lewis 1995, S. 69). Ähnlich haben erst die Erkennt-
nisse des arabischen Mathematikers Ibn al Hayṯam auf dem Gebiet der
Linsenfunktion des Auges (Cohen 2010, S. 116)3 die Erfindung der Brille
möglich gemacht; diese kennt der persische Dichter Ǧāmī im 15. Jahrhundert
jedoch nur als „fränkische Gläser“ (Strohmaier 1996, S. 188).
• Von Ibn al-Hayṯam, dessen Wirken Hans Belting (2008, S. 107) als
Kulminationspunkt des kulturellen Austausches zwischen Ost und West
bezeichnet, zehrte auch der Astronom Johannes Kepler (1571–1630), der das
kosmische Modell des Nikolaus Kopernikus weiterentwickelte, indem er die
2Unter kasb versteht man das Anhäufen von im Jenseits zu erwartende Belohnungen oder
Vergeltungen für irdische Taten (vgl. Koran 2:81, 52:21) (vgl. Lazarus-Yafeh 1992, S.
216–7).
3Seine Leistung war nicht experimenteller Natur, sondern bestand darin, optische Theorien
anderen Kulturen und lange Zeit selbst mit den Lateinern verhindert, weil man
von ihnen nichts lernen zu können glaubte. Innovationen in Naturwissenschaft
und Philosophie fanden keinen Eingang in die byzantinische Wissenskultur, wäh-
rend westliche Gelehrte sich umso mehr für die Wissensbestände byzantinischer
Bibliotheken interessierten (Borgolte 2002, S. 290).
So hat der orthodox geprägte Osten auch keine Wendung zum Säkularismus
genommen und bleibt die politische Führung in diesen Ländern noch heute weit-
aus stärker der organisierten Religion verpflichtet als dies im Westen der Fall ist
(Makrides 2009, S. 212). Die Orthodoxe Kirche Russlands sieht den Staat noch
nicht einmal als eigene Entität, sondern als Behüter eines Kollektivs von Kirchen-
mitgliedern, wie auch das pessimistische Menschenbild der Orthodoxie der
Herausbildung liberal-demokratischer Werte nicht unbedingt förderlich ist4 (Traut
2011, S. 59, 65–6, 73–5). Jüngst hat ein Arbeitspapier der Weltbank Belege dafür
zusammengetragen, dass in christlich-orthodoxen Ländern bis heute der Kultur-
pessimismus weiter verbreitet ist als in mehrheitlich katholischen oder protestan-
tischen Gesellschaften und in ökonomischen Dingen hier eher als dort dem Staat
vertraut wird (Djankov und Nikolova 2018, passim).
Was den Islam betrifft, so machen seine Apologeten es sich zu einfach,
wenn sie kulturelle Errungenschaften der westlichen Welt einfach als Frucht
ihrer Religion deuten (Nagel 1996, S. 109; Lazarus-Yafeh 1992, S. 218–9). Da
dies immer nur rückwirkend funktioniert, wird Innovation letztlich zur blos-
sen Wiederbelebung degradiert und der Fortschritt aus der Geschichte ver-
bannt. Damit lassen sich die Friktionen zwischen dem Islam und der modernen,
von Individualismus, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und
Menschenrechten geprägten Welt, nicht beseitigen. Um dies zu ändern und ein
Ethos der Weltaneignung auf Grundlage von Immanenz zur Geltung bringen,
wäre eine islamische Reformation erstrebenswert (Weber 2005a, S. 455; Weber
2005b, S. 535; vgl. Kreutz 2016, S. 134–41).
Im Koran nämlich ist es Gott, der die Welt in Ordnung gebracht und dem
Menschen nur noch den Auftrag gelassen hat, sie nicht in Unordnung zu brin-
gen (vgl. Koran 7:56, 85). Überhaupt weist der Koran – in den Worten von Ira
M. Lapidus (1992, S. 165) – vielfach die Neigung auf, „die Welt eher hinzu-
nehmen und zu modifizieren als sie radikal herauszufordern und zu verwandeln.“
Selbst die eines kritischen Ansatzes gegenüber dem Islam unverdächtige Angelika
4Die Behauptung von Hans Joas und Hans Wiegandt, es gebe ein „umfassendes gesamt-
europäisches Wertesystem“ ist denn auch auf scharfe Kritik von Makrides (2009, S. 204–7)
gestoßen.
236 M. Kreutz
den Menschenrechten bis hin zur Kompatibilität des Islam mit der Demokratie.
Diese in apologetischer Absicht vorgetragene Argumentation scheitert jedoch an
der orthodox-sunnitischen Auffassung, dass die Scharia nur als ganzes zu haben
ist und zugleich über allen anderen Religionen stehen soll (Nagel 1988, S. 225;
2004, S. 42), d. h. selbst wenn sich Demokratie und Menschenrechte aus Teilen
der Scharia heraus begründen lassen sollten, so blieben die Leibesstrafen (ḥudūd)
Teil des Gesamtpaketes. Der sunnitischen Orthodoxie sind die Menschenrechte
auch deshalb unbekannt, da aus ihrer Perspektive nur Gott Rechte, der Mensch
allein Pflichten hat. (Lewis 2010, S. 71) Die sog. „Cairo Declaration“ vermag die
Menschenrechte denn auch nur unzureichend aus der sunnitischen Theologie her-
aus zu begründen (Allawi 2009, S. 194).
Schlüssiger sind Forderungen wie die von Bassam Tibi (2009, S. 183; 2012,
S. 185), gleich die ganze Scharia auf Moral zu reduzieren. Ein solch radikaler
Vorschlag wird sich aber nur mit Mühe durchsetzen und auf den Widerstand des
theologischen Establishments stoßen. Aus diesem Dilemma findet die islami-
sche Welt nicht so leicht heraus, aber wenn politische Reformen im Sinne eines
liberal-demokratischen Gemeinwesens in islamischen Mehrheitsgesellschaften
Aussicht auf Erfolg haben wollen, dann müssen die zugrunde liegenden Werte
auch kulturell verinnerlicht werden (Vgl. Tibi 2009, S. 195). Natürlich kann
man die Grundlagen der Moderne auch aus säkularen Zusammenhängen heraus
begründen, wie dies die Vordenker der Nahḍa im 19. und 20. Jahrhundert in zum
Teil sehr origineller und intelligenter Weise getan haben (Kreutz 2007, passim),
doch spricht dies nicht gegen das Projekt einer reformierten Theologie.
In der Vergangenheit haben Reformdenker im Wesentlichen drei Ansätze
verfolgt: Der erste besteht darin, Willensfreiheit und individuelle Verantwort-
lichkeit, wie wir sie aus der Muʿtazila kennen, zum Dreh- und Angelpunkt
einer erneuerten islamischen Frömmigkeit zu machen. Der zweite setzt auf den
Primat der Vernunft und bedient sich dabei der Argumentation des Averroes
(Vgl. von Kügelgen 1994, passim). Der dritte versucht, einen innerislamischen
Rechtspluralismus und damit mehr Spielraum für menschliche Subjektivi-
tät zu erstreiten. Letzterer ist vor allem mit dem Namen Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
verbunden, der die Krise des Islam auf eine massive Vereinheitlichung und Ver-
engung des islamischen Rechts durch die Lehre des Šāfiʿī (s. o.) zurückführt
(Abū Zaid 1992, S. 101–2 und passim). Alle drei Ansätze sind bislang gescheitert
und dies nicht aufgrund etwaiger Aporien, sondern weil ihre Vertreter es nicht
vermocht haben, sie populär zu machen. Einer islamischen Reformation wird
wohl so bald kein Erfolg beschieden sein.
In den universitären Islamwissenschaften und angrenzenden Fächern hat ein
reformierter Islam ohnehin kaum Anhänger. Dort begnügt man sich mit dem
238 M. Kreutz
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Nachwort
Die Frage, ob der Islam sich auf Dauer mit dem säkularen Staat arrangieren kann,
wird sich entscheidend auf das Verhältnis des Westens zur islamischen Welt aus-
wirken. Für den Westen ist der weitgehend säkularisierte Staat eine Errungen-
schaft, die historisch mit der Schaffung von Rechtsstaatlichkeit und inklusiven
Institutionen einhergegangen ist. Der heutige liberal-demokratische Verfassungs-
staat verdankt seine Existenz zum Teil der Reformation und mehr noch der Auf-
klärung des 18. Jahrhunderts, die in der transatlantischen Doppelrevolution ihren
Höhepunkt fand. Diese Entwicklung wäre nicht möglich ohne ein Menschenbild,
das dem einzelnen zugesteht und zutraut, unabhängig von Staat und Kirche, Rasse
und Herkunft frei seine Überzeugungen und Talente zu entfalten.
Auch wenn heute in den modernen westlichen Industriestaaten Europas und
den USA, sowie Südkoreas und Japans, sowie in zahlreichen Schwellenländern
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das vorherrschende Modell sein mögen, so
gilt dies nicht für Millionen Menschen auf der Welt nicht, wo autoritäre politische
Verhältnisse Hand in Hand mit prekären wirtschaftlichen Verhältnissen der Mas-
sen gehen, auch wenn die absolute Armut auf dieser Welt wohl noch nie so gering
sein dürfte wie heute. Es wäre aber zu einfach, nur die jeweiligen Machthaber für
J. E. Klußmann ()
Evangelische Akademie im Rheinland, Bonn, Deutschland
E-Mail: joergen.klussmann@akademie.ekir.de
M. Kreutz
Bochum, Deutschland
E-Mail: kontakt@michaelkreutz.net
A. Sarhan
Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz, Deutschland
E-Mail: aladdin@sarhan-online.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 243
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_14
244 J. E. Klußmann et al.
mehr und mehr Länder Asiens, Afrikas und Südamerikas aufsteigen, mag auch in
der muslimischen Welt bei vielen Menschen der Wunsch geweckt sein, die alten
Sozialstrukturen zu überwinden, um einem neuen Blick auf das Geschlechter-
verhältnis, die Machtverteilung, die Wirtschaft und allgemein auf die Welt zum
Durchbruch zu verhelfen. Dass dies von einem veränderten Verständnis des Islam
sinnvoll flankiert werden könnte, ist ein naheliegender Gedanke, wobei es gleich-
gültig ist, ob wir von einer Reformation, einer Aufklärung oder einem Humanis-
mus im Islam sprechen – es sind Etiketten, die nur zum Ausdruck bringen, dass
die islamische Orthodoxie nicht länger in der Lage ist, ihre Sicht in der modernen
Welt zu behaupten.
Die Beiträge dieses Sammelbandes versuchen daher, die Sinnhaftigkeit einer
Reformation im islamischen Kontext zu ermitteln, wobei es nicht darum gehen
soll, die europäische Reformation 1:1 zu übernehmen, sondern ein Vorgang der
Modernisierung gemeint ist, dessen Zweck die Bejahung der Menschenrechte,
der Rechtsstaatlichkeit und der weitgehenden Entflechtung der politischen Macht
von der Religion ist. Bislang ist die ganze Debatte über den Islam stark von den
Extremen geprägt: Während die einen eine Reformation im Islam für unmöglich
halten, weil der Islam in seinem Menschenbild dafür viel zu autoritär sei, halten
die anderen eine Reformation für unnötig, weil alle Probleme, von den die mus-
limischen Gesellschaften mit dem Islam nichts zu tun haben und ohnehin nur das
Ergebnis westlicher Politik sei.
Eine ganz andere Frage bleibt, welche Rolle in Zukunft die radikal-islamis-
tischen und besonders dschihadistischen Bewegungen in der Region aber auch
im Untergrund Europas spielen werden. Zwar wird es radikale Gruppen wohl
immer geben und werden wir nie in einem Shangri-La zu hause sein, das keine
Extremismen kennt. Sind die Modernisierungsdefizite, unter denen die musli-
mischen Gesellschaften leiden, jedoch erst einmal überwunden, dürfte das dem
islamischen Extremismus zuträgliche soziale Umfeld austrocknen. Als aller-
erstes bedarf es daher einer offenen Debatte, an der jeder ohne Einschüchterung
die Rolle des Islam in der Gesellschaft thematisieren darf. Da die muslimischen
Gesellschaften keine oder kaum so etwas wie eine Tradition der Religionskritik
kennen, sind die Vorbehalte bislang noch immer besonders groß und müssen
Apostaten in muslimischen Ländern mit körperlichen Übergriffen rechnen.
Die individuelle Freiheit ist allgemein stark eingeschränkt und viele Aspekte
des täglichen Lebens werden vom Kollektiv reguliert. Der Hang zur Selbstver-
wirklichung, wie er uns im Westen so selbstverständlich ist, wird in muslimischen
Gesellschaften häufig unterdrückt oder ist oft einfach nicht vorhanden. Natürlich
gibt es Rebellinnen und Rebellen gegen die erdrückenden gesellschaftlichen Kon-
ventionen, doch haben sie in den meisten Fällen kein leichtes Leben, weswegen
sie oft genug in den Westen emigrieren.
246 J. E. Klußmann et al.
Im Westen begegnet ihnen dann das Paradoxon, dass Vertreter der reaktionären
Kräfte, deretwegen sie ihr Heimatland verlassen haben, hierzulande den Schutz
der Meinungsfreiheit genießen. Während die Regierungen einiger muslimischer
Länder, darunter Saudi-Arabien, dazu übergegangen sind, den Extremismus ein-
zudämmen, genießen dessen Vertreter im Westen die Vorzüge einer Ordnung, in
der die Meinungsfreiheit gilt.1 Aufgeklärte Muslime, die eine kritische Haltung
gegenüber ihrer eigenen Religion einnehmen, sehen sich daher Anfeindungen von
genau den Kräften ausgesetzt, die überhaupt erst den Islam in Verruf gebracht
haben.
Daher darf die Debatte über die Sinnhaftigkeit einer Reformation im Islam
nicht von der Gewaltfrage allein bestimmt werden, sondern muss die Bedingungen
unter die Lupe nehmen, unter denen die Moderne zustande gekommen ist, und
danach forschen, inwieweit der Islam ursächlich dafür ist, dass die muslimischen
Länder außerstande sind, sie für sich zu reproduzieren. Dazu fehlen ihnen nicht
nur Rechtsstaatlichkeit und inklusive Institutionen, sondern auch das Ethos, das
diese Strukturen mit Leben füllt. Dass wir heute in einer Welt leben, in der wir
ganz selbstverständlich Smartphones und Fernseher aus Korea und Autos aus
China kaufen, aber keine Computer aus Ägypten, Elektroautos aus Pakistan, Soft-
ware aus dem Jemen oder Medizintechnik aus Nigeria ist kein unabänderliches
Schicksal dieses Planeten.
Die meisten Muslime, die im Westen leben, sind zwar nicht religiös organisiert
und auch nicht entsprechend interessiert. Die islamischen Verbände, wie sie bei-
spielsweise in Deutschland entstanden sind, sind jedoch in der Mehrheit konserva-
tiv und politisch eher zurückhaltend. Ihre Aufmerksamkeit gilt in erster Linie der
Anerkennung als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft mit allen steuerlichen
aber letztlich dann wieder auch politischen Vorteilen. Zwar bekennen sich die
meisten Verbände zum demokratischen Rechtsstaat, doch wie tief die Verbunden-
heit mit dem deutschen Staat reicht, bleibt oftmals fraglich. Von dieser Seite darf
man also nicht viel erwarten.
Ganz anders sieht es dagegen mit den neuen Absolventen einer in Europa aus-
gebildeten islamischen Theologie und natürlich insgesamt der akademischen Elite
junger Muslime aus, die meist hier groß geworden und sozialisiert wurden und
in den allermeisten Fällen ebenfalls akademisch vorgebildeten oder zumindest
1Vgl.„Opinion: UK Cabinet needs to stop making Britain haven for extremists“ by Imam
Tauwhidi and Dhafir Shammery, Albawaba vom 24. Juli 2018. https://www.albawaba.
com/news/uk-cabinet-needs-stop-making-britain-haven-extremists-1163604 Zugegriffen:
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Nachwort 247
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