Sie sind auf Seite 1von 248

Jörgen Erik Klußmann

Michael Kreutz
Aladdin Sarhan Hrsg.

Reformation
im Islam
Perspektiven und Grenzen
Reformation im Islam
Jörgen Erik Klußmann · Michael Kreutz ·
Aladdin Sarhan
(Hrsg.)

Reformation im Islam
Perspektiven und Grenzen
Hrsg.
Jörgen Erik Klußmann Michael Kreutz
Evangelische Akademie im Rheinland Bochum, Deutschland
Bonn, Deutschland

Aladdin Sarhan
Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz
Mainz, Deutschland

ISBN 978-3-658-23003-6 ISBN 978-3-658-23004-3 (eBook)


https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-


grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die
nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung
des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen
etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die
Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des
Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten.
Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und
Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt
sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder
implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt
im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten
und Institutionsadressen neutral.

Einbandabbildung: Michael Kreutz

Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden
GmbH und ist ein Teil von Springer Nature
Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Aladdin Sarhan, Jörgen Erik Klußmann und Michael Kreutz

Teil I Reformation als Herausforderung


Der Islam in einer modernen Gesellschaft – Die
Reformnotwendigkeit im Islam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Mouhanad Khorchide
Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische
Gottesbilder in Geschichte und Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
Erdal Toprakyaran
Die islamische Rezeption der Reformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Assem Hefny

Teil II Islam und Politik


Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer
Entwirrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
Martin Riexinger
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Ammar Ali Hassan
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie
des Salafismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Aladdin Sarhan

V
VI Inhaltsverzeichnis

Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation . . . . . . . . . . . . . 127


Marwan Abou Taam

Teil III Reformation und die Geschlechterfrage


Das Dilemma der religiösen Modernisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Amal Grami
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung – Feminismus vs.
Fundamentalismus: Gleichberechtigung vs. Familie?. . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Dana Fennert

Teil IV Vergleichende Perspektiven


Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation
und Humanismus als Paradigmen der Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Jörn Rüsen
Reformation, Humanismus und Islam – Eine
nahöstliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Mona Ahmad Abuzaid
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen
Kulturen nicht, was anderen gelingt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Michael Kreutz
Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
Jörgen Erik Klußmann, Michael Kreutz und Aladdin Sarhan
Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber

Jörgen Eric Klußmann, (M.A.). Afrikanist und Islamwissenschaftler in Bonn,


Studienleiter bei der Evangelischen Akademie im Rheinland ebd. Vormals tätig
als Redakteur u. a. bei der Deutschen Welle und als Coach für systemische Kon-
flikttransformation u. a. in Afghanistan, Burma, Indonesien, Nepal und Sri Lanka.
Im Web unter: www.fremd-vertraut.de

Michael Kreutz, (Dr. phil.). Politikwissenschaftler und Orientalist in Bochum.


Ehem. Stipendiat des Staates Israel, Mitbegründer der dt. Abt. von Scholars for
Peace in the Middle East (SPME). Arbeitsschwerpunkte: Moderne Geschichte
des Nahen Ostens u. Südosteuropas, politische Ideengeschichte, Europa und der
Islam, Religion und Politik. Im Web unter: www.michaelkreutz.net

Aladdin Sarhan, (M.A.). Islamwissenschaftler, Regierungsrat/wissenschaft-


licher Mitarbeiter in der Abteilung Staatsschutz des Landeskriminalamtes
Rheinland-Pfalz, Mitbegründer des Muslimischen Forums Deutschland (MFD).
Arbeitsschwerpunkt u. a. ist Islamismus, Salafismus und Dschihadismus. Im Web
unter: www.sarhan-online.de

VII
VIII Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis

Autorenverzeichnis

Marwan Abou Taam, (Dr. phil.). Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lan-


deskriminalamtes Rheinland-Pfalz, Mitbegründer des Muslimischen Forums
Deutschland (MFD) und assoziiertes Mitglied des Berliner Instituts für empiri-
sche Integrations- und Migrationsforschung mit den Arbeitsschwerpunkten inter-
nationaler Terrorismus, Migration und innere Sicherheit.
Mona Ahmad Abuzaid, (Prof.). Philosophin an der Universität Helwan (Kairo).
Sie hat Veröffentlichungen u. a. über die Philosophie Avicennas und das Men-
schenbild in der islamischen Philosophie vorgelegt. Arbeitsschwerpunkte u. a.:
Geschichte der islamischen Philosophie, arabischer Feminismus, interkultureller
Dialog sowie Reformbewegungen im Nahen Osten und Nordafrika.
Dana Fennert, (Dr.). Politikwissenschaftlerin und Philosophin in Marburg und
beim Integrationsfachdienst Migration in Neubrandenburg. Vormals u. a. bei der
Konrad-Adenauer-Stiftung in Rabat (Marokko) und an der Universität Rostock
tätig. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. die Frauenforschung, islamischer Feminis-
mus und Integration.
Amal Grami, (Prof.). Historikerin und Literaturwissenschaftlerin an der Uni-
versität Manouba (Tunesien). Sie ist u. a. Mitglied der Groupe de Recherches
Islamo-Chrétien (GRIC). Arbeitsschwerpunkte u. a.: Islamische und arabische
Geschichte, interreligiöser Dialog, Frauen- und Geschlechterforschung. Ihr aktu-
elles Buch lautet Frauen und Terrorismus [Arab.] (2018).
Ammar Ali Hassan, (Dr.). Politikwissenschaftler, Journalist und Schriftsteller in
Kairo. Sein Schwerpunkt als Wissenschaftler sind die politische Soziologie und
besonders der Islamismus. Tätigkeit an verschiedenen Forschungsinstitutionen in
der Arabischen Welt, u. a. am Emirates Center for Strategic Studies and Research
in Abu Dhabi.
Assem Hefny, (Dr. phil.). Arabist und Germanist in Marburg. Akademischer
Rat am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (CNMS) ebd. Ehem. Vorstands-
mitglied der Gesellschaft für Arabisches und Islamisches Recht e. V. (GAIR).
Arbeitsschwerpunkte: Sprache und Politik des Islam, Koranexegese u. a. m. Im
Web unter: www.cmbb-fcmh.de/en/de/cnms/arabistik
Mouhanad Khorchide, (Prof. Dr.). Sozialwissenschaftler und Theologe in
Münster. Leiter des Zentrums für Islamische Theologie ebd. und Mitbegründer
des Muslimischen Forums Deutschland (MFD). Arbeitsschwerpunkte: Islamische
Herausgeber‐ und Autorenverzeichnis IX

Religionspädagogik und deren Didaktik; Koranhermeneutik; Islam in Europa u. a.


Im Web unter: www.uni-muenster.de/ZIT/
Martin Riexinger, (Dr. phil. habil.). Islamwissenschaftler und Historiker an
der Universität Aarhus (Dänemark). Habilitation über Said Nursi und die Nur
Cemaati. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. der Islam im 19. und 20. Jahrhundert,
islamische Theologie, Religion und Politik, Wissenschaftsgeschichte. Im Web
unter: wwwuser.gwdg.de/~mriexin
Jörn Rüsen, (Prof. em.). Historiker in Bochum. Bis zu seiner Pensionierung
Professor an der Universität Witten/Herdecke und langjähriger Leiter des Kul-
turwissenschaftlichen Institutes (KWI) in Essen. Arbeitsschwerpunkte sind u. a.
historisches Denken, Theorie und Methodik der Geschichtswissenschaft, interkul-
tureller Humanismus. Im Web unter: www.joern-ruesen.de
Erdal Toprakyaran, (Jun.-Prof.). Juniorprofessor und Leiter des Zentrums für
Islamische Theologie an der Universität Tübingen, Mitbegründer des Muslimi-
schen Forums Deutschland (MFD). Arbeitsschwerpunkte: Islamische Geschichte
und Mystik, Islam in Europa u. a. m. Im Web unter: www.uni-tuebingen.de/fakul-
taeten/zentrum-fuer-islamische-theologie/zentrum.html
Einleitung

Aladdin Sarhan, Jörgen Erik Klußmann und Michael Kreutz

Fünfhundert Jahre Reformation ist ein Jubiläum mit einer Menge an historischem
Gepäck, dessen Auswertung und Einordnung bis heute andauert. Seit der vor ein-
hundert Jahren erschienenen Studie des Juristen Georg Jellinek, in der ihr Ver-
fasser die Ursprünge der Menschenrechtsidee als „Frucht der Reformation und
ihrer Kämpfe“ identifizierte, gibt es eine anhaltende Debatte über die Bedeutung
der Reformation für die Moderne. Der Zusatz „… und ihrer Kämpfe“ macht
deutlich, dass Jellinek einen dialektischen Prozess meinte, an dessen Ende die
Menschenrechte standen, wie auch die Institutionen, die sie verkörpern.
Damals war dies noch nicht so deutlich wie heute, weswegen Jellinek an die
Forschergemeinde appellierte, das Augenmerk verstärkt auf die Entstehungs-
geschichte gesellschaftlicher Institutionen und nicht auf die blosse Rezeptions-
geschichte philosophischer Ideen zu legen. Jellinek selbst hat übrigens darauf
hingewiesen, dass die Reformation ältere Rechtsvorstellungen aufgegriffen hat,
„die niemals entschlummert waren“ und von ihr nur „in neue Bahnen gelenkt“
wurden. Das gilt vor allem für die älteren Naturrechtsdebatten, in denen sich
schon ein Gegensatz von göttlichem und weltlichem Recht abzeichnete.

A. Sarhan (*)
Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz, Deutschland
E-Mail: aladdin@sarhan-online.de
J. E. Klußmann
Evangelische Akademie im Rheinland, Bonn, Deutschland
E-Mail: joergen.klussmann@akademie.ekir.de
M. Kreutz
Bochum, Deutschland
E-Mail: kontakt@michaelkreutz.net

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 1
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_1
2 A. Sarhan et al.

Dabei ist die Frage nach einer Reformation im Islam ein wiederkehrendes
Thema seit mindestens dem 19. Jahrhundert, als progressiven Muslime,
angespornt von der politischen und gesellschaftlichen Fortschrittlichkeit Frank-
reichs und Großbritanniens, ihre eigene Kultur daran anpassen wollten, wie
dies auch im übrigen Europa der Fall war, wo modernistische bzw. reforme-
rische Kräfte nach bürgerlichen Rechten, nationaler Staatlichkeit und demo-
kratischer Teilhabe strebten. Diese Kräfte waren überwiegend säkular. Der
islamische Modernismus hat sich damit begnügt, solche Errungenschaften, die
man bewunderte, für die eigene Religion zu beanspruchen, ohne sich um die
gesellschaftlichen Voraussetzungen zu kümmern, die jene erst möglich gemacht
haben. Der geschichtliche Aspekt moderner Errungenschaften tritt hinter ihrer
vermeintlichen Islamizität zurück.
Natürlich ist die europäische Reformation kein normatives Modell, das es um
seiner selbst willen auf die islamische Welt zu übertragen gelte, aber der Wunsch
nach Anschluss an die Länder des Westens ist unter fortschrittlichen Muslimen
ungebrochen. Freilich hat die Religionskritik, von wenigen bemerkenswerten
Ausnahmen abgesehen, noch keinen Eingang in die mehrheitlich muslimischen
Gesellschaften gefunden. Hier wird Vernunft noch immer als Magd der Theologie
gesehen, die dieser zu dienen hat. Demgegenüber ist die westliche Religionskritik
im Windschatten der Reformation entstanden.
Dessen ungeachtet gibt es in den muslimischen Ländern den Ruf nach Ver-
änderung sozialer und politischer Natur. Wer diesen Ruf unterstützt, hat oft auch
eine Form von Reformation des Islam vor Augen. Der tunesische Jurist Mohamed
Charfi hat schon vor mehr als zehn Jahren die muslimischen Gesellschaften dazu
aufgerufen, gegen die Verlockungen des religiösen Extremismus eine Reform des
Bildungswesens einzuleiten, die nicht nur mit dem Islam in Einklang steht, son-
dern diesen auch verändert und aus dem Islam einen Bildungsislam macht. Hier
wirkt allerdings die Furcht mit hinein, jede noch so geringe Reformanstrengung
werde den Islam seiner selbst entfremden.
Kann es also im Islam eine Reformation als Antwort auf die vielfältigen Kri-
sen in den muslimischen Gemeinschaften geben? Was wären Anknüpfungspunkte
und Hindernisse für eine kritische Revision islamischer Traditionsbestände?
Darüber haben muslimische und christliche Wissenschaftler und Wissen-
schaftlerinnen im Rahmen eines gemeinsamen Symposiums am 7. und 8. Oktober
2016 in Düsseldorf diskutiert. Veranstalter waren der Arbeitskreis „Gesellschaft-
licher Friede und innere Sicherheit in Deutschland: Muslime und Nichtmuslime
im Dialog“ im Muslimischen Forum Deutschland (MFD), die Evangeli-
sche Akademie im Rheinland und die Konrad-Adenauer-Stiftung (Politisches
Bildungsforum NRW). Im Vorfeld des 500-jährigen Reformationsjubiläums der
Einleitung 3

evangelischen Kirchen gingen die Teilnehmenden den Fragen nach dem Verhält-
nis von Vernunft, Spiritualität und religiös legitimiertem Recht, von Gott und
Mensch und von Islam und Islamismus nach.
Ob und wie eine tief greifende Reform – oder in Anlehnung an den Protestantis-
mus eine Reformation – im Islam möglich ist, wird je nach religiösem, politischem
oder ideologischem Standpunkt sehr unterschiedlich gesehen. Dass der Islam eine
solche Reformation brauche, wird von Integrationspolitikern in öffentlichen Debat-
ten immer wieder eingefordert. Nach Einschätzung von Mouhanad Khorchide,
dem Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster,
streiten viele Muslime solch eine Notwendigkeit ab. Eine Reform-Notwendig-
keit einzuräumen, impliziert für sie, dass der Islam defizitär sei. Allerdings geht
es dem Münsteraner Theologen und Sprecher des Muslimischen Forum Deutsch-
land (MFD) zufolge gar nicht darum, die Grundlagen des Islam zur Disposition
zu stellen. Vielmehr müsse das Verständnis des Islam einer kritischen Revision
unterzogen werden. Versteht man den Koran dialogisch, spiegelt er den Prozess
einer 22-jährigen Kommunikation zwischen Gott und Muḥammad samt dessen
Gemeinde wider. Gott lässt den Menschen zu Wort kommen. Das brauchen wir
auch heute, wenn wir innerislamisch von einer Reform sprechen.
Der Historiker Jörn Rüsen hält es in seinem Beitrag für möglich, dass sich
eine Art „Kultur-Islam“ in Anlehnung an den Kultur-Protestantismus entwickeln
könnte. Dieser „Kultur-Islam“ könne ein Gegengewicht zu einem fundamenta-
listischen Islam-Verständnis bilden. Dass er über das Potenzial zu einem solchen
Humanismus verfügt, hat der Islam mehrfach in der Geschichte gezeigt. Dafür
müssen Muslime allerdings das Verhältnis zwischen Glauben, Säkularität und
kulturellem Pluralismus neu bestimmen, und zwar mit dem Ziel einer religiösen
Affirmation des kulturellen Säkularismus. Die etablierte religiöse Autorität muss
durch einen Subjektivierungsschub der gläubigen Menschen außer Kraft gesetzt,
sprich: verstärkt an das Individuum gebunden werden. Dies ist das Programm des
Humanismus und des Säkularismus.
In diese Richtung geht auch der Beitrag von Mona Abuzaid von der Uni-
versität Kairo, die die Realisierung eines islamischen Humanismus für mög-
lich hält, verfügt der Mensch im Islam doch über die volle Freiheit des Willens
und der Überzeugung. Indem jeder Mensch in direkter Beziehung zum Heiligen
steht, ist im Islam ein humanistisches Potenzial vorhanden, das auch Eingang in
die islamischen Kulturen fand, doch hat der Begriff „Humanismus“ generell an
Strahlkraft verloren, nachdem er die Schrecken des 20. Jahrhunderts nicht hat
verhindern können.
Der Islam- und Politikwissenschaftler Marwan Abou Taam, ebenfalls
MFD-Mitglied, mahnt eine Art „Hausputz in der islamischen Theologie“ an.
Dazu ist es nötig, die Werke islamischer Theologen auf ihre Relevanz für die
4 A. Sarhan et al.

Moderne zu hinterfragen. Frühere Reformversuche von Muslimen haben daran


gekrankt, dass sie immer nur oberflächliche Bemühungen gewesen seien, Ant-
worten auf neue Herausforderungen zu finden. Zwar haben in Krisenzeiten
Muslime immer auch neue Methoden entwickelt, ihr Religionsverständnis weiter-
zuentwickeln, doch waren diese einseitig auf die Ableitung religiös legitimierten
Rechts ausgerichtet gewesen. Mit dieser Vorgehensweise kommen die Muslime
heute jedoch nicht weiter. Vielmehr ist die bestehende Verrechtlichung des Glau-
bens ein wesentliches Hemmnis dafür, mit den Anforderungen der Moderne
Schritt halten zu können.
Der Politikwissenschaftler, Journalist und Schriftsteller Ammar Ali Hassan
aus Kairo lotet in seinem Beitrag die Horizonte einer Reformation des Islam aus
und betont, dass die Mensch-Gott-Beziehungen im Islam zwar einer dauernden
Entwicklung unterliegen, die Starrheit des Fiqh diese Entwicklung jedoch nicht
abbildet. Was jedoch derzeit in islamischen Ländern als „Erneuerung des religiö-
sen Diskurses“ gefeiert wird, ist eher Teil des Problems als Teil der Lösung, weil
dieser Diskurs die Gründergeneration des Islam zu unkritisch betrachtet.
Der Islamwissenschaftler Martin Riexinger von der Universität Aarhus (Däne-
mark) verweist in seinem Beitrag darauf, dass in den vergangenen zweihundert
Jahren viele Reformversuche allein schon dadurch diskreditiert waren, dass sie
dem Interesse der Kolonialherren zu entstammen schienen. Allgemein wird die
Position von Reformern geschwächt, wenn ihre Bestrebungen zu sehr den Interes-
sen von Regierungen oder westlichen Akteuren zu entsprechen scheinen.
Wie die Arabistin Amel Grami von der Universität Manouba (Tunesien) zeigt,
sind die Gründe, warum die Versuche einer religiösen Reform gescheitert sind,
vielfältig. Ihre Untersuchung dschihadistischer Schriften ergibt, dass auch sie sich
gegenüber der religiösen Modernisierung und der Art ihrer Repräsentation von
Moderne zu verorten suchen und sich ihnen nicht einfach nur verweigern. Neben
dem Rückgriff auf die „Altvorderen“ (salaf) ist es vor allem die „Tyrannei der
maskulinen Ideologie“, mit der Dschihadisten einen Krieg der Geschlechter füh-
ren und gesellschaftliche Veränderung unterbinden.
Auf patriarchale Widerstände gegen Reformen weist auch Dana Fennert,
Beraterin beim Integrationsfachdienst Migration bei der Gesellschaft für nach-
haltige Regionalentwicklung und Strukturforschung in Greifswald, in ihrem Bei-
trag hin. In vielen Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung ist das
Personenstandsrecht stark am traditionellen Islam ausgerichtet. Dieses Perso-
nenstandsrecht zu reformieren, das in dem meisten Ländern die Möglichkeit der
Polygamie einschließt, wird vielfach als Angriff auf den Kernbestand des Islam
gesehen und vehement abgelehnt.
Im Laufe der vergangenen 130 Jahre hat eine Reihe von muslimischen Gelehrten
versucht, die rechtlichen und theologischen Verkrustungen der eigenen ­Traditionen
Einleitung 5

aufzubrechen. Für den Marburger Islamwissenschaftler Assem Hefny war der


Ägypter Muḥammad ʿAbduh (1849–1905) einer der ersten, der Moderne und Islam
in Einklang bringen wollte. Wie Luther hat auch ʿAbduh der freien menschlichen
Vernunft im Umgang mit den religiösen Quellen einen hohen Stellenwert ein-
geräumt. Allerdings hat Luther davon profitiert, dass die allgemeine Bedeutung der
Vernunft in Europa zu seinen Lebzeiten immer mehr zunahm. Demgegenüber hat
ʿAbduh in einer Zeit gewirkt, in der die Vernunftentfaltung in der islamischen Theo-
logie sich bereits wieder ihrem Ende zuneigte.
Ob ein speziell deutscher oder europäischer Islam die Antwort auf Kon-
flikte zwischen einem traditionellen Islamverständnis und der westlich geprägten
Moderne bieten könne, ist umstritten. Der Theologe Erdal Toprakyaran (Tübin-
gen), ebenfalls Mitglied des MFD, weist in seinem Beitrag darauf hin, dass die
von türkischer Seite häufig zu hörende Ablehnung eines „deutschen Islam“ oftmals
nicht schlüssig ist. Denn wer das Konzept eines „deutschen Islam“ unter Verweis
auf die Universalität des Islam zurückweist, kann dann schlecht einen de facto
„türkischen Islam“ vertreten. Das von türkischen Akteuren propagierte Religions-
verständnis ist in vielen Fällen stark von der türkischen Geschichte geprägt.
Der vorliegende Band hat das Ziel, das Themenfeld Islam und Reformation
abzustecken, ohne in eine wohlfeile Apologetik zu verfallen, aber auch ohne dem
Islam die Möglichkeit zur Veränderung von vornherein abzusprechen. Angesichts
der Meinungsvielfalt und der teilweise konträren Deutungen der Glaubensgrund-
lagen ist eine Erneuerung des innerislamischen Diskurses geboten. Dabei gehe
es nicht nur um das Verhältnis unter Muslimen. Auch die Beziehungen zwischen
Muslimen und Nichtmuslimen müssten in diesem Diskurs thematisiert werden.
Denn Ausgrenzungen und Anfeindungen von Juden, heterodoxen Muslimen oder
Andersdenkenden gibt es nicht nur im radikalen Islam, sondern auch unter Main-
stream-Muslimen. Ziel des innerislamischen Diskurses muss deshalb sein, auch
den Mainstream-Islam zu verändern. Dafür ist eine Theologie nötig, die sich der
Moderne und dem Humanismus verpflichtet fühlt.
Auch wenn der Islam uns schon lange in den Medien verfolgt und nicht
zuletzt mit dem islamistischen Furor auch auf lange Sicht von bleibender Aktuali-
tät sein wird, so wurde in den vergangenen Dekaden die Frage nach einer Refor-
mation publizistisch eher stiefmütterlich behandelt. Ein Anfang ist nun gemacht.
Wir, die Herausgeber, hoffen hiermit eine anregende Lektüre zustande gebracht
zu haben, die das Interesse von Fachleuten ebenso wie von einem interessierten
Publikum findet.
Mainz, Bonn und Bochum im August 2018.
Aladdin Sarhan, Jörgen Erik Klußmann und Michael Kreutz
Teil I
Reformation als Herausforderung
Der Islam in einer modernen
Gesellschaft – Die
Reformnotwendigkeit im Islam

Mouhanad Khorchide

Wie allgemein bekannt, feiern wir in diesem Jahr 500 Jahre Reformations-
jubiläum, also 500 Jahre Luther. Da fragen sich viele: Und wie sieht es im Islam
aus? Gibt es überhaupt Reformen im Islam? Wie würden diese aussehen und was
muss genau reformiert werden? Es gibt viele Politiker, Journalisten aber auch
Islamkritiker, die sich ständig in der öffentlichen Debatte melden und meinen,
genau zu wissen was im Islam reformiert gehört. Allerdings kommunizieren viele
den Islam sehr plakativ und meist aus einer stark subjektiven Wahrnehmung her-
aus. Immer wieder wird der Anspruch an die Muslime gestellt: „In den meisten
islamischen Ländern gibt es keine Demokratie, keine Menschenrechte und vie-
les mehr. Dies alles muss dringend reformiert werden damit ihr Muslime auch
so wie wir Europäer werdet: Länder mit demokratischen Grundwerten.“ Auch die
Frage nach der Gleichberechtigung der Geschlechter kommt immer wieder in sol-
chen Debatten vor. Das sind unter anderem die typischen Fragestellungen. Auch
bezüglich der Frage des Verhältnisses des Islams zu anderen Religionen wird
sehr oft kontrovers debattiert. Viele, gerade Islamkritiker wie Hamed Abdel-Sa-
mad, meinen, der Islam sei statisch und daher keineswegs reformierbar. Viele fra-
gen nicht, was sich im Islam reformieren soll, sondern, ob der Islam überhaupt
reformierbar ist.
Thomas Bauer, Islamwissenschaftler an der Universität Münster, hat 2011
ein differenziertes Buch geschrieben: Die Kultur der Ambiguität mit dem Unter-
titel: Eine andere Geschichte des Islams. In diesem Buch zeigt er die Bandbreite
an unterschiedlichen Auslegungen und die Vielfalt der islamischen Positionen,

M. Khorchide (*)
Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Münster, Deutschland
E-Mail: khorchide@uni-muenster.de

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 9
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_2
10 M. Khorchide

­ chulen und Lehrmeinungen innerhalb der 1400-jährigen Ideengeschichte des


S
Islams. Er zeigt anhand von vielen Beispielen aus der islamischen Tradition auf,
wie der Islam in seinem Selbstverständnis auch immer vielfältig war und dass
diese Religion unterschiedliche Positionen, ja sogar auch widersprüchliche Lehr-
meinungen als selbstverständlich kannte, denn diese haben nebeneinander exis-
tiert, standen zum Teil im Dialog miteinander, aber manchmal auch in Streit.
Aber es war eine Selbstverständlichkeit, dass man diese Vielfalt akzeptiert hat.
Thomas Bauer (2011) vertritt hier die These, dass es sich um eine moderne
Erscheinung handelt, dass Muslime heute nach einer eindeutigen Auslegung des
Islams, also nach dem einen wahren Islam suchen und sich somit weg von der
Vielfalt, hin zu der Suche nach einem homogenen Islam bewegen. Diese Ent-
wicklung gehe auf die Modernisierungsbewegung im 18. und 19. Jahrhundert in
der islamischen Welt zurück. Demnach haben Muslime begonnen, nach der ver-
meintlich einzigen richtigen Antwort bzw. nach der einen wahren Position, nach
der einen richtigen Schule zu suchen.
Aber nun zurück zu der Frage nach den Reformen im Islam. Die Gegenwart
der islamischen Welt zeigt mehrfach, dass es immer wieder zu Reformen kommt.
Ein paar Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit: Weithin medial verbreitet
wurde, dass seit September 2017 Frauen in Saudi-Arabien Auto fahren dürfen.
Vorher durften Frauen in Saudi-Arabien, und zwar im Namen des Islams, nicht
Auto fahren. Ich bin selber in Saudi-Arabien aufgewachsen und kenne auch viele
Argumente der Theologen vor dem September, die gemeint haben, dass das Auto-
fahren für Frauen im Islam, in der Scharia, verboten sei – als hätte es damals
in der Prophetenzeit im 7. Jhd. Autos gegeben. Nach dem 11. September 2001
änderte sich die Sicht der Gelehrten, aber auch deren religiöse Argumentationen,
es kam in dieser Frage zu Reformen. Jetzt dürfen Frauen in Saudi-Arabien Autos
fahren, auch wenn das jetzt erst ab Juni 2018 umgesetzt wird, gesetzlich ist es
nicht mehr verboten. Hat die absolute Mehrheit der muslimischen Gelehrten vor
dem September 2017 die Position vertreten, das sei im Islam verboten, so vertritt
nach dem September die absolute Mehrheit die gegensätzliche Meinung.
Ein anderes Beispiel für ähnliche Reformen kommt aus dem Sommer die-
ses Jahres aus Tunesien. Dort haben Ende August das Parlament und auch das
Muftiamt ein Gesetz von 1973 gekippt, wonach muslimische Frauen nicht-
muslimische Männer nicht heiraten dürfen. Jetzt dürfen die muslimischen Frauen
nichtmuslimische Männer in Tunesien heiraten. Ein weiteres Beispiel aus der
Geschichte, vielleicht auch kein unwichtiges, weil es nicht um etwas Banales, son-
dern um etwas Grundsätzliches geht, sind die Glaubenssätze des Islams. Es gab
im 8. und 9. Jhd. die sogenannte muʿtazilitische Schule, die als die rationalistische
Schule im Islam bekannt wurde, weil sie die Vernunft als Haupterkenntnisquelle
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 11

in religiösen Fragen gesehen hat. Die Vernunft alleine ist in der Lage, Gott zu
erkennen sowie zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, die Offenbarung erinnert
nur an das, was die Vernunft ohnehin erkennen kann.
Daher vertraten die Muʿtaziliten die Ansicht, dass Menschen auch dann zur
Rechenschaft vor Gott gezogen werden, wenn sie nie einem Propheten begegnet
sind oder nie eine Offenbarung oder eine Religion kennengelernt haben. Denn
alleine durch die Vernunft hätte man ja wissen können und sollen, dass es den
einen Gott gebe und dass sich der Mensch verantwortungsvoll verhalten soll. Die
muʿtazilitische Schule vertrat fünf andere Glaubenssätze des Islams als die sechs,
die wir heute im sunnitischen Islam kennen. Im 9. Jhd. hat die Mehrheit der Mus-
lime im damaligen abbasidischen Kalifat andere Glaubensgrundsätze kommuni-
ziert, als diejenigen, die wir heute kommunizieren. Dies zeigt, dass die islamische
Ideengeschichte eine Dynamik auch infragen der Grundsätze des Islams kennt.
Die interessante Frage ist jetzt die folgende: Was war und ist der Hauptmotor
dieser Reformen in der islamischen Ideengeschichte sowie in der Gegenwart des
Islams? Der Motor des Wandels, der Reform, kam in all den angeführten Bei-
spielen nicht primär aus einem theologischen Diskurs. Es sind ja nicht die
Theologen in Saudi-Arabien, die sich zusammengesetzt und gemeint haben,
wir müssen die Frage nach dem Autofahren für Frauen kritisch reflektieren
oder zumindest neu erörtern. Auch waren es nicht die muslimischen Gelehrten
in Tunesien oder damals im 9. Jahrhundert, die den Anstoß zu den Reformen
gaben. In Saudi-Arabien hat sich die Situation im September geändert, weil der
König ein Dekret erlassen hat. Via Dekret hat der König angeordnet, dass ab jetzt
Frauen Auto fahren dürfen. In Tunesien war es der Staatspräsident Sebsi, der in
seiner Rede Ende August angeordnet hat, muslimischen Frauen die Heirat von
nichtmuslimischen Männern zu erlauben. Daraufhin hat das Parlament dies ver-
abschiedet. Danach erst hatte der Großmufti des Landes auch ganz klar öffentlich
verkündet: „Ja, wir als Muftiamt meinen, dass es im Islam erlaubt ist, dass musli-
mische Frauen nicht-muslimische Männer heiraten dürfen.“
Wie kam es überhaupt im 9. Jhd. dazu, dass die muʿtazilitische Schule sich so
schnell etabliert hat? Der Kalif al-Ma’mūn (gest. 833) hat sich damals von den
rationalen Überlegungen der muʿtazilitischen Schule begeistern lassen und so hat
er deren Grundsätze zum Staatsdoktrin erklärt. Daraufhin kam es zu der ersten
innerislamischen Inquisition. Denn die Gegner der mu‘tazilitischen Schule wur-
den verfolgt und zum Teil gefoltert. Mit anderen Worten, damals wie heute war
und ist es die Politik, die den Anstoß zur Reform gab. Es waren nicht primär die
theologischen oder religiösen Diskurse, die eine Notwendigkeit für Veränderung
eingesehen haben bzw. die die Macht besaßen, diese Veränderungen durchzu-
setzen. Die Politik hatte und hat die Macht über die religiösen Diskurse, die offi-
zielle Theologie folgt der Politik.
12 M. Khorchide

Wenn wir heute über Islam und Reform sprechen, dann dürfen wir das nicht
allein im luftleeren Raum reflektieren. Die ganze Frage rund um die Reform des
Islams ist nicht unabhängig von den politischen Entwicklungen zu erörtern, wie
die Beispiele oben gezeigt haben. Man darf nicht einfach die Theologen heraus-
fordern und den Anspruch an sie stellen: „Liebe Theologen, setzt euch zusammen
und reformiert den Islam.“ So wird das nicht funktionieren. Es mag sein, dass es
Theologen gibt, die gute Ideen haben, aber das reicht nicht für eine Reform.
Ägypten ist bestrebt, einiges in der Theologie zu reformieren. Der Rektor der
Universität Kairo sagte mir kürzlich im persönlichen Gespräch, dass sie drin-
gend Reformen benötigen. Man darf hier nicht sehr euphorisch sein, denn die
angestrebten Reformen sind auch nur Ausdruck einer bestimmten politischen Ent-
wicklung. Es handelt sich also um Reformen von oben. Echte Reformen müssen
allerdings von einer breiten Basis getragen werden. Hier sind wir nun mitten in
der Frage, was im Islam reformiert werden soll. Die Theologie muss sich von der
politischen Instrumentalisierung loslösen. Sie braucht ihre eigene wissenschaftliche
Sphäre und ihre eigenen Räume, um sich möglichst reflexiv zu entfalten. Muslime,
ob Theologen oder auch normale Gläubige, sollten Subjekte ihrer Religion sein und
nicht als Objekte der Geschichte wahrgenommen werden. Was ist damit gemeint?
Objekt der Religion zu sein bedeutet Abhängigkeit von der Politik, denn diese
verändert immer, was gerade in ihrem Sinne ist. Somit wird das ganze System
„Religion“ nur funktionalisiert, im Sinne der Politik, oder um gewisse politische
Ansprüche zu legitimieren. Die Menschen, auch die Theologen, sind in vielen
islamischen Ländern Marionetten dieses politischen Willens, ob bewusst oder
unbewusst. Aber sie spielen mit, sie sind keine Subjekte, die in Freiheit die theo-
logischen Reflexionen anstoßen. Sondern sie stehen politischen Vorgaben gegen-
über und versuchen, diese einfach nur religiös zu begründen. Das Ziel bzw. das
Ergebnis theologischer Bemühungen steht schon zu Beginn der theologischen
Auseinandersetzung fest. Somit sind die Menschen Objekte und nicht wirklich
Subjekte der Geschichte. Dadurch wird Gott ein Objekt der Politik, weil auch
Gott vereinnahmt wird. Man denke an den sogenannten politischen Islam oder
Islamismus. Das ist eine andere Debatte, aber dort werden auch im Namen der
Religion, im Namen des Heiligen, politische Interessen zu begründen versucht.
Reform beginnt mit dem Subjektwerden des Menschen, sodass der Mensch
nicht mehr Objekt der Politik oder überhaupt Objekt des Geschehens ist, sondern
selber Subjekt, das sich selbst bestimmt. In anderen Worten ausgedrückt: Das
„Gott-Mensch-Verhältnis“ in modernen Freiheitskategorien zu denken, wäre der
erste notwendige Schritt einer islamischen Reform. Man denke auch an die Über-
legungen von Fichte oder Schilling und später in deren Tradition Hermann Krings
und Thomas Pröpper, die für die katholische Theologie fruchtbar gemacht wur-
den, um eben das Subjektwerden des religiösen Menschen in den Vordergrund
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 13

zu stellen. Der Islam benötigt genau eine Reform in diese Richtung. Dabei geht
es, wie gesagt, nicht nur um das Subjektwerden des Theologen, sondern auch des
Menschen als solchem. Im folgenden sollen, vereinfacht auf epistemischer Ebene,
aber auch etwas plakativ, zwei unterschiedliche Zugänge zum Islam gezeigt wer-
den. Das oben Geschilderte soll so theologisch reflektiert werden und zwar jen-
seits politischer Debatten.
Nach dem einen Zugang zum Islam ist der religiöse Mensch ein Objekt der
Religion und nach dem anderen ist er ein Subjekt der Religion. Hiermit soll der
erste Zugang zum Verstehen des Islam als monologischer, der zweite als dialo-
gischer Zugang bezeichnet werden. Diese Unterscheidung ist eine idealtypische,
denn in Wirklichkeit gibt es nicht den einen und den anderen Zugang, sondern
Mischformen, die allerdings in die eine oder in die andere Richtung tendieren.
Diese Unterscheidung lässt sich anhand der Frage des Gottesbildes im Islam
vornehmen: Von welchem Gottesbild gehen wir Muslime aus? An welchen Gott
glauben wir?
Man kann vereinfacht sagen, dass wir nach dem monologischen Modell an
einen Gott glauben, der die Menschen deshalb erschaffen hat, weil er angebetet
werden und durch die Menschen verherrlicht werden will. Gott geht es nach die-
sem Verständnis um sich selbst. Also ein Gott, der die Menschen funktionalisiert
oder sogar instrumentalisiert, um etwas zu bekommen, was er für sich haben will
und für sich „braucht“. Und deshalb erschuf er die Menschen und befahl ihnen,
sie mögen ihn auf eine bestimmte Art und Weise anbeten. Wer dies tut, mache
Gott glücklich und wird im Jenseits dafür belohnt. Wer dies nicht tut, macht
Gott zornig und wird deshalb im Jenseits bestraft. Das heißt, nach diesem mono-
logischen Verständnis von der Religion geht es Gott nur um sich selbst.
Der monologische Zugang geht von einem Gottesbild aus, wo Gott nur von
sich selbst redet und es ihm um ihn geht. Er wird zornig, wenn er nicht das
bekommt, was er für sich haben will und freut sich, wenn er das bekommt, was
er für sich haben will. Religion wäre nichts anderes als ein Medium der Ver-
herrlichung dieses Gottes, also eine Ansammlung an Instruktionen oder eine Art
Bedienungsanleitung, wie Gott verherrlicht und angebetet werden will. Religion
hat demnach eine Funktion. Es geht letztendlich um Gott. Der Mensch taucht
nach diesem Modell, wie gesagt, als Objekt der Religion auf und nicht als Sub-
jekt. Er hat eine klare Funktion. „Du bist hier um Gott zu verherrlichen, damit es
Gott gut geht und nicht zornig wird.“ Der Mensch wird, wie gesagt, stark funk-
tionalisiert und er bestimmt sich nicht selbst, sondern er ist fremdbestimmt. Das
„Gott-Mensch-Verhältnis“ basiert nach diesem Verständnis eher auf Gehorsam,
auf Unterwerfung gegenüber Gott. Es ist ein einseitiges Verhältnis.
Man kann das mit einem Pfeil veranschaulichen, der von oben nach unten
geht, wobei Gott oben ist und die Menschen unten sind. Die Offenbarung, sprich
14 M. Khorchide

der Koran, wäre nach diesem Verständnis nichts anderes als eine Ansammlung
von Instruktionen und Gesetzen, wie Gott verherrlicht werden will. Es geht
immer nur um Gott. Das ist, zugegeben, etwas zugespitzt dargestellt, aber so soll
die Idee klarer werden. Es dürfte wohl auch keine Gläubigen geben, die meinen,
an einen Gott zu glauben, dem es um sich selbst geht, der durch den Menschen
verherrlicht werden will. Allerdings gibt es viele Gläubige, die in ihrer religiösen
Praxis eher unbewusst von so einem Gottesbild ausgehen. Wenn zum Beispiel ein
Gläubiger meint: „Ich habe heute mein Frühgebet versäumt und deshalb ist Gott
zornig, weil ich ihn nicht angebetet habe“, dann unterstellt man Gott ungewollt,
dass er nicht in sich vollkommen ist und erst auf unser Anbeten angewiesen ist,
um verherrlicht und vollkommen zu werden. Dies wird Gott jedoch nicht gerecht.
Religion erscheint nach diesem monologischen Zugang zum Islam als Art
Ansammlung an Gesetzen und Instruktionen wie Gott verherrlicht werden will.
Der Islam wäre demnach eine Gesetzesreligion und der Koran ein Monolog Got-
tes, als hätte Gott also in der Ewigkeit, unabhängig von einem historischen Kon-
text, gesprochen und Anweisungen festgelegt, wie er verherrlicht werden will und
deshalb müssten wir uns heute an die Instruktionen und den Wortlaut des Korans
halten, ohne eine historische Kontextualisierung des koranischen Wortes in sei-
nem Verkündigungskontext im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel
anzustreben, ansonsten würden wir Gott zornig machen.
Schon aus theologischen Gründen gibt es ein Problem mit diesem mono-
logischen Modell, also nicht aus irgendwelchen (integrations-)politischen Grün-
den bzw. auch Gründen der Political Correctness. Wir haben im Islam wie auch
im Christentum oder Judentum diese Formel, nämlich, dass Gott immer größer
ist als gedacht werden kann. Egal was wir über Gott denken, Gott bleibt immer
größer. Dies ist eine rationale Formel, die den Theologen immer hilft, um zu wis-
sen, ob sie von Gott sprechen oder ob sie Dinge in Gott hineinprojizieren, die
womöglich mit Gott nichts oder wenig zu tun haben. Gott ist größer als gedacht
werden kann, weil Gott das Unbedingte ist und der Mensch das Bedingte. Das
Bedingte kann das Unbedingte nicht erfassen. In den drei monotheistischen Reli-
gionen würden die Theologen sagen: „Wir können Gott nicht begreifen, wir kön-
nen ihn nicht erfassen.“ Es wäre ja eine häretische Aussage: „Ich habe Gott jetzt
verstanden, begriffen und erfasst“. Oder wie manche Fundamentalisten meinen:
„Ich bin im Besitz der absoluten Wahrheit“, im Sinne von, ich bin im Besitz Got-
tes, denn Gott ist ja die absolute Wahrheit, er bleibt unerreichbar, die absolute
Wahrheit bleibt auch unerreichbar.
Wir können sagen, dass man sich Gott in Demut annähern kann. Man bleibt
aber lebenslang ein nach der Wahrheit, nach Gott, Suchender. Diese Formel
beschützt uns wie gesagt, davor, in Gott Dinge zu projizieren, die er nicht ist. Nun
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 15

die Frage: Kann ich einen Gott denken, der größer ist, als von demjenigen Gott
von dem das monologische Modell ausgeht? Kann ich einen Gott denken, der
die Menschen nicht deshalb erschafft, weil er verherrlicht werden will? Kann ich
einen Gott denken, dem es nicht um sich selbst geht? Mit anderen Worten aus-
gedrückt: Kann ich einen Gott denken, der in sich vollkommen ist und nicht auf
meine Anbetung oder Verherrlichung angewiesen ist, um zu seiner Vollkommen-
heit zu gelangen?
Die Antwort ist ein klares Ja! Denn ein Gott, der in sich vollkommen ist, ist
größer als gedacht werden kann und dieses vollkommene Gottesbild ist der Rede
von Gott viel gerechter, als die Rede von einem Gott, dem etwas fehlt und der
auf mich angewiesen ist. Ein in sich vollkommener Gott braucht mich nicht. Er
schenkt vielmehr bedingungslos. Und das ist die Antwort des anderen Modells,
des anderen Zugangs zum Islam nach dem dialogischen Modell: Gott hat die
Menschen aus seiner bedingungslosen Liebe und Barmherzigkeit erschaffen.
Diese Vorstellung ist auch rational nachvollziehbarer, weil sie der Rede von
einem vollkommenen Gott gerecht wird. Ein Gott, der einfach bedingungslos
schenken und geben will, ist einer, der den Menschen bedingungslos zugewandt
ist. Deshalb erschuf er die Menschen und nicht, um verherrlicht oder angebetet
zu werden. Es ist also ein völlig anderes Gottesbild, das dem dialogischen Modell
zugrunde liegt. Bedingungslos geben ist eine Beschreibung von Liebe. Liebe,
die keinen Vertrag in dem Sinne eingeht, wonach jemand nur etwas gibt, wenn
er etwas dafür bekommt, sondern man gibt bedingungslos, steht seinen Mit-
menschen bedingungslos zur Verfügung. Es geht um das Gute, weil es gut ist,
nicht weil man in opportunistischer Hinsicht etwas davon hat oder bekommt.
Nach diesem dialogischen Gottesbild will Gott nichts von dem Men-
schen, sondern nur bedingungslos geben. Und diese Kategorie der Liebe als
Bestimmungsmoment der Beziehung zwischen Gott und Mensch ist eine genuin
koranische Kategorie. Viele meinen, wenn sie mich von Gott und der Liebe reden
hören, dass sich dies christlich anhört. Manche Muslime sagen: „Das ist eine
christliche Vorstellung, dass Gott liebt, unsere islamische Vorstellung von Gott ist
die, dass er will, dass wir Menschen uns vor ihm unterwerfen, da geht es nicht um
Liebe“. Daher sei auf diese koranische Beschreibung der Gott-Mensch-Beziehung
als Liebesbeziehung verwiesen. Leider wird die Kategorie der Liebe von man-
chen als Schwäche Gottes assoziiert. Sie meinen, ein Gott, der Mitliebende sucht,
sei ein schwacher Gott, weil er eben Emotionen zeigen würde, auch ein Gott, der
Mitleid und Empathie zeigt, sei ein schwacher Gott.
Aber gerade im Blick auf die Passion Gottes angesichts seines Ausgesetztseins
unter den Menschen ergeben sich bei einer Koranlektüre aufregende Befunde,
auf die in seiner Weise bereits der australische Jesuit Daniel Madigan (2003)
16 M. Khorchide

a­ ufmerksam gemacht hat. Um die Brisanz seiner Entdeckung richtig würdigen zu


können, sei festgehalten: Gott sagt sich im Koran selbst; er wird in dessen Rezi-
tation erfahrbare Wirklichkeit und erfüllt uns durch, in und mit dem Koran mit
seiner Gegenwart. Das bedeutet nun aber auch, dass es Gott nicht gleichgültig
sein kann, wie die Menschen sein im Koran gegebenes Zusagewort aufnehmen
und wie sie damit umgehen. In der Rezitation der Verse des Korans wird Gottes
Gegenwart erfahrbar; in diesen Zeichen setzt er sich den Menschen aus.
Kommen wir eingedenk dieser hermeneutischen Vorbemerkung nun zur Ent-
deckung Madigans. Madigan beobachtet, dass sich nahezu alle Termini, die in
den Passionsgeschichten auf Jesus angewendet werden, im Koran wiederfinden
– und zwar als Geschichte der Passion der Zeichen des Korans. Die Zeichen Got-
tes (also die āyāt und damit eben auch die Verse des Korans) werden geleugnet
und verspottet (Q 4:140); über Gott und seine Zeichen machen sich die Gegner
lustig (Q 9:65) und spotten über sie (Q 37:14). Sie verkaufen die Zeichen Got-
tes um einen geringen Preis (Q 9:9) und freveln an ihnen (Q 7:9.103). Sie wen-
den sich von ihnen ab (Q 6:4; 21:32) und bezeichnen sie als Lügen (Q 6:157;
7:36.40.136). Sie halten sich für erhaben über sie (Q 6:93; 7:36.40) und reden
Falsches über sie (Q 41:40). Sie schmieden Ränke gegen sie (Q 10:21), versuchen
ihnen entgegenzuwirken und sie zu vereiteln (Q 34:5.38). Über die Zeichen Got-
tes wird gestritten (Q 40:4.35.56.69; 42:35) und leichtfertig geredet (Q 6:68);
man versucht sie zu entkräften (Q 22:51) und zu vergessen (Q 20:126). Die Men-
schen sagen sich von den Zeichen Gottes los (Q 7:175) und beachten sie nicht
(Q 7:136; 10:7.92). Es ist wirklich erstaunlich, wie sehr die Reaktion der Geg-
ner des Korans der Reaktion der Gegner Jesu gleicht und wie hier geradezu eine
Passionsgeschichte erzählt wird.
Gott setzt sich in seiner Offenbarung also dem Leiden aus und lässt sich
von der Ablehnung des Korans betreffen. Insgesamt kann kein Zweifel daran
bestehen, dass sich auch im Koran Hinweise für das Leiden Gottes und seiner
Propheten finden. Der Koran charakterisiert Gott als ein Wesen, das in persona-
ler Weise dem Menschen unbedingt zugewandt ist. Gott gibt sich im Koran als
der zu erkennen, der an der Seite des Menschen steht und sich für den Menschen
interessiert, der sich für ihn und mit ihm freut und die Sorge des Menschen trägt.
Von daher liegt auch in koranischer Perspektive der Gedanke nahe, dass Gott sich
von den Leiden der Menschen betreffen lässt. In Sure 93 werden Muḥammad und
mit ihm alle Frommen getröstet: „Dein Herr hat dich nicht aufgegeben noch ver-
schmäht […] Dein Herr wird dir geben, dass du zufrieden bist. Hat er dich nicht
als Waise gefunden und Zuflucht gewährt? Hat er dich nicht als Waise gefunden
und Zuflucht gewährt? Hat er dich nicht als Armen gefunden und reich gemacht?
Die Waise also bedrücke nicht! Den Bettler also schelte nicht!“ (Q 93:3.5–10).
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 17

Diese tröstende Botschaft an Muḥammad geht auch in der nächsten Sure 94


weiter: „Haben wir dir nicht die Brust geweitet, dir nicht abgenommen deine
Last, die schwer auf deinem Rücken lag, und haben wir nicht deinen Ruf erhöht?
Darum siehe, mit dem Schweren kommt auch Leichtes. Wenn du frei bist, dann
bemühe dich und richte dein Begehren auf deinen Herrn!“ (Q 94:1–8). Gott stellt
sich hier in seiner Sorge um Muḥammad vor. Er bemüht sich um seine Bedürf-
nisse und Nöte und lässt sich umgekehrt von ihm Kummer bereiten; d. h. er zeigt
Emotionen gegenüber seinem Geschöpf. Dieses Verhältnis prägt auch spätere
Suren des Korans.
Es ist Gott wichtig, dass nicht nur er mit seinem Gesandten zufrieden ist, son-
dern auch dieser mit ihm (vgl. Q 93:5). Diese Diagnose lässt sich insgesamt auf
das Verhältnis von Gott und Mensch ausweiten – gerade wenn man die eschato-
logische Bestimmung des Menschen in den Blick nimmt. Denn an den vier
Stellen im Koran, in denen es heißt, dass Gott mit den aufrichtig Handelnden
zufrieden ist, heißt es weiter: „Gott hat an ihnen Wohlgefallen und sie an ihm.“
(vgl. Q 5:119; 9:100; 58:22; 98:8). Auch wenn hier erst einmal ein eschato-
logischer Kontext aufgerufen wird, zeichnet der Koran ein Bild von einem Gott,
dem die menschlichen Bedürfnisse wichtig sind und der darauf Wert legt, dass
auch die Menschen mit ihm zufrieden sind. Wenn dies aus koranischer Sicht
auch eine paradiesische Erwartung für das Gott-Mensch-Verhältnis ist, darf man
annehmen, dass Gott auch schon im Diesseits an den menschlichen Nöten und
Sorgen gelegen ist und die Menschen zufrieden machen will. Jedenfalls ist an kei-
ner Stelle im Koran die Rede davon, dass alleine Gott mit den Menschen zufrie-
den sein soll, ohne dass erwähnt wird, dass auch sie mit ihm zufrieden sein sollen.
Zudem wird der Verkünder des Korans nicht müde, mit denjenigen zu hadern,
die die Zeichen Gottes zurückweisen und nicht annehmen wollen. An dieser
Stelle soll nur exemplarisch auf einige koranische Stellen verwiesen werden, die
deutlich machen, dass es Gott nicht gleichgültig ist, ob seine Worte angenommen
werden oder nicht. Die Sure 53 zum Beispiel appelliert mit einem ermahnenden
Ton an einen Mekkaner, der die Verkündigung Muḥammeds zurückgewiesen hat.
Diese Ermahnung beginnt mit einer rhetorischen Frage an Muḥammad: „Sahst du
denn den nicht, der sich abgewandt und wenig gab und geizte? (Q 53:33 f.). Die-
ser wird nun an die eschatologischen Konsequenzen seiner Handlungen erinnert:
„oder bekam er keine Kunde von dem, was in den Blättern Moses steht […] Dass
eine lasttrangende Seele nicht die Last einer anderen trägt und dass dem Men-
schen nur das zuteil wird, wonach er strebte, und dass sein Streben schließlich
sichtbar wird und ihm dann in vollem Maß vergolten wird? Und dass zu deinem
Herrn der Dinge Ausgang ist, dass er es ist, der lachen lässt und weinen, dass er
es ist, der sterben lässt und lebendig macht […] Ja, welche Gnadengaben deines
Herrn willst du denn leugnen?“ (Q 53:36.38–44.55 f.)
18 M. Khorchide

Man kann aus dieser Reaktion des Korans auf die Zurückweisung des
Angebots Gottes kein unmittelbares Zeugnis für das Leiden Gottes ableiten,
aber diese Reaktion zeigt doch, dass wir im Koran keinem gleichgültigen Gott
begegnen, den es unberührt lässt, wie sich die Menschen zu seinem Wort ver-
halten. Die göttlichen Zeichen (āyāt), mit denen die Menschen zu Gott gerufen
werden, sind Ausdruck göttlicher Emotionalität, die der Koran mit der Milde
und Barmherzigkeit Gottes beschreibt, um die Menschen auf den Weg Gottes zu
bringen: „Er ist es, der auf seinen Knecht klare Verse herniedersandte, um euch
herauszuführen aus der Finsternis zum Licht. Siehe, Gott ist zu euch wahrhaft
gütig, barmherzig“ (Q 57:9).
Eben diese Barmherzigkeit können wir als eine Macht in Gott bestimmen,
die sein Innerstes in Mitleidenschaft zieht und so Gottes Präsenz in der Not der
Gottferne deutlich macht. Und wenn es um die Armen und Bedürftigen geht,
dann identifiziert sich Gott mit ihrem Leid, er bittet sogar für sich selbst um
eine Spende bzw. ein Darlehen: „Wer ist es, der Gott ein schönes Darlehen gibt,
damit er es ihm bestimmt. Reicher Lohn ist ihm verdoppele? Reicher Lohn ist
ihm bestimmt. Siehe, die Frauen und die Männer, die Almosen geben und Gott
ein schönes Darlehen gewährten, denen wird doppelt gegeben, und ihnen ist
reicher Lohn bestimmt“ (Q 57:11.18). Dies erklärt die sich im Koran wieder-
holende ermahnende Botschaft, gütig zu den Waisen und Bedürftigen zu sein
(vgl. Q 93:9–10; 89:17–18). Wer die Waisen zurückstößt und nicht zur Speisung
des Armen anhält, der glaube nicht an die Begegnung mit Gott (vgl. Q 107:1–3).
Auch im Koran gibt es also Indizien dafür, dass wir Gott vor allem im Leidenden
und im Bedürftigen begegnen.
Die drastischen Strafen, mit denen Gott immer wieder droht, dürfen nicht als
Ausdruck von Gottes Brutalität und Gewaltbereitschaft gelesen werden, son-
dern zeigen die Radikalität und die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen um den
Menschen. Sie sollen den von Gott abgewandten Menschen nicht verdammen,
sondern ihn eindringlich zu einem neuen Lebenswandel rufen – einem Lebens-
wandel, der Gott ins Zentrum seines Lebens rückt und auf dieser Basis soli-
darisch mit den Menschen ist, die unsere Hilfe brauchen. In diesem Sinne
interpretiert al-Ġazālī (gest. 1111) das im Koran beschriebene Paradies bzw. die
Hölle (al-Ġazzālī und Gramlich 1984). Die endgültige Glückseligkeit (den wah-
ren paradiesischen Zustand) sieht er in der Nähe zu Gott, also in dem Gelangen
in seine Gegenwart. Hingegen sei der wahre Zustand der Hölle die Trennung
von Gott. Al-Ġazālī spricht vom „Feuer der Trennung“. Die koranischen Bilder
vom Paradies und von Höllenstrafen stellen für al-Ġazālī lediglich Gleichnisse
dar, die diese beiden Zustände der Nähe bzw. Ferne von Gott beschreiben wol-
len. Nach diesem Verständnis al-Ġazālīs beginnt die Hölle als Zustand schon hier
auf der Erde, wenn sich der Mensch für Hass und Hochmut und gegen Liebe und
Barmherzigkeit entscheidet.
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 19

Der Koran spricht an vielen Stellen von göttlichen positiven wie negativen
Emotionen: So liebt Gott nicht die Leugner (Q 3:32), die widerrechtlich handeln
(Q 2:190); er liebt nicht die Hochmütigen (Q 4:36), die Verräter (Q 8:58) und die
Unheilstifter (Q 28:77). All diese Verse nehmen bestimmte Handlungen des Men-
schen aufs Korn und drücken aus, dass Gott Menschen, die diese Handlungen tun,
insofern sie diese Handlungen tun, nicht liebt. Seine Liebe findet offenbar ihre
Grenze an der menschlichen Ablehnung. Daraus folgt keine Begrenzung Gottes
oder seiner Liebe, sondern nur der Selbstausschluss des Menschen von dieser Liebe,
den Gott in diesem Sich-Verschließen nicht liebt. Gott will also Resonanz auf sein
Zugehen auf den Menschen und macht sich in seiner Zuwendung gewissermaßen
von der menschlichen Antwort abhängig. Er überschüttet den Menschen nicht blind
mit seiner Liebe, sondern kommt ihm dialogbereit und einladend entgegen.
Dazu passt, dass der Koran bezeugt, dass Gott die Gütigen liebt (Q 2:195).
Gott liebt diejenigen, die Reue zeigen und sich läutern (Q 2:222), die Frommen
(Q 3:76), die Gerechtigkeit üben (Q 5:42). Damit ist nicht gemeint, dass Men-
schen sich die Liebe Gottes verdienen könnten oder müssten. Aber es wird
deutlich, dass Gott in ein wechselseitiges Freiheits- und Liebesverhältnis zum
Menschen eintreten will. Der Gelehrte Ibn Taimiyya nutzt ebenfalls diesen Vers,
um diejenigen Theologen zu kritisieren, die die Liebe Gottes lediglich im Sinne
seines Willens, gütig zu sein, interpretieren. Er beschreibt die Liebe als Eigen-
schaft der Vollkommenheit Gottes. Sie bilde den Kern und die Wurzel des Willens
Gottes. Daher sei die Erschaffung seiner Kreaturen aus einer von ihm gewollten
geliebten Veranlassung erfolgt.
Liebe ist also nicht nur koranisch, sondern auch in der korantreuen Schul-
theologie Ausgangspunkt der göttlichen Zugewandtheit und seiner Freiheits-
beziehung zum Menschen. Der Koran erklärt: Gott ist nah, er erhört den Ruf der
Rufenden (Q 2:186) und er begleitet die Menschen überall hier und jetzt (Q 57:4).
Als Moses und Aaron ihre Ängste vor der Begegnung mit dem Pharao geäußert
haben, sprach ein empathischer und mitfühlender Gott zu ihnen, um ihnen Mut
zu machen: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich bin mit euch, ich höre, und ich sehe“
(Q 20:46). Das Leiden des Menschen ist Gott eben nicht gleichgültig (Q 4:28).
Er weiß um die Schwächen des Menschen und ist deswegen stets bereit, ihm auf
seinem Weg zu unterstützen.
Zugleich führt diese Unterstützung nicht zur Entmündigung des Menschen
und entlässt ihn nicht aus seiner Verantwortung. Gott schenkt dem Menschen die
Freiheit; er hat sich selber dazu bestimmt, sich von den Menschen bestimmen
zu lassen, und so riskiert er eine entsprechend offene Geschichte mit ihnen. Ent-
sprechend bindet er die Verwirklichung seines guten Willens an das Mittun der
Menschen und lädt sie so ein, zu Mittätern seines guten Willens zu werden.
20 M. Khorchide

„Siehe, Gott ändert an seinem Volke nichts, ehe sie nicht ändern, was in ihren
Seelen ist“ (Q 13:11). Gott und Mensch befinden sich also in einem dialogischen
Verhältnis und Gott erweist sich als ein Gott, der auf die Anliegen der Menschen
reagiert und sie beständig wirkmächtig begleitet: „Ihn bittet, wer in den Himmeln
und auf Erden ist. Jeden Tag ist er am Wirken“ (Q 55:29).
Diese koranischen Befunde decken sich auch mit dem Bild, das der Prophet
Muḥammad in seiner Verkündigung vermittelte – eben das Bild eines persona-
len Gottes, der sich vom Menschen emotional bewegen lässt. Auch wenn der
Mensch sündigt, bleibt Gott dem Menschen zugewandt; denn seine Barmherzig-
keit ist bedingungslos und absolut. Deshalb sagt der Prophet Muḥammad: „Gott
streckt Arme der Liebe und Vergebung in der Nacht für diejenigen aus, die am
Tag gesündigt haben, und er streckt Arme der Liebe und Vergebung am Tag
für diejenigen aus, die in der Nacht gesündigt haben“. Dieses Bild eines barm-
herzigen Gott, der dem Menschen Hoffnung machen will, korrespondiert mit dem
Bild Gottes, das auch im Koran begegnet, wenn es dort heißt: „Sprich: ,Meine
Knechte, die ihr euch zu eurem Schaden übernommen habt: Verzweifelt nicht an
Gottes Barmherzigkeit! Siehe, Gott vergibt die Missetaten allesamt, siehe, er ist
es, der bereit ist zu vergeben, der Barmherzige‘“ (Q 39:53).
Auch für viele Hadithe gilt: Der Mensch ist es, der sich Gott verschließt, der
Mensch ist es, der Gott den Rücken zudreht, nicht aber Gott dem Menschen. Von
daher soll die Rede von Emotionalität in Gott nicht seine Treue und Beständig-
keit infrage stellen. In einer anderen Aussage des Propheten Muḥammad wird die
Freude Gottes über jeden, der sich ihm wieder zuwendet, bildhaft beschrieben:
„Stellt euch vor, jemand ist alleine in der Wüste mit seinem Kamel unterwegs und
plötzlich läuft das Kamel mit all seinem Essen und Trinken davon. Als der Mann
es aufgibt, sein Kamel wieder zu finden und sich resignierend, auf den Tod war-
tend, auf den Boden legt, steht plötzlich sein Kamel mit Essen und Wasser neben
ihm. Stellt euch die Freude dieses Menschen vor! So freut Gott sich über jeden,
der sich von ihm ab- und wieder zugewandt hat, mehr als dieser Mensch in der
Wüste über das Kamel“.
Es ist interessant, wie in dieser prophetischen Überlieferung das biblische
Bild von der Zuwendung Gottes zum Menschen radikalisiert wird. Geht im Evan-
gelium Gott als guter Hirte dem einen verlorenen Schaf nach, um es zur Herde
zurückzubringen (Lk 15,3–7), obwohl noch 99 andere Schafe zu seiner Ver-
fügung stehen, und freut sich der barmherzige Vater des Evangeliums über die
Rückkehr des verlorenen Sohnes, obwohl sein anderer Sohn ja immer bei ihm ist
(Lk 15,11–32), radikalisiert Muḥammad die verwendete Bildsprache. Gott hat
hier nur den einen Menschen, auf den er sich verlässt und dessen Rückkehr ihm
neue Hoffnung bringt. Es gibt eben nur das eine Kamel, und dieses Kamel ist
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 21

für seinen Besitzer lebensnotwendig. So braucht Gott jeden von uns, um seinen
guten Willen Wirklichkeit werden zu lassen, und er verlässt sich auf uns – in letz-
ter Radikalität.
Dieses Sich-Verlassen Gottes auf uns bedeutet aber nicht, dass er uns alleine
lässt. Vielmehr beantwortet er auch den kleinsten Schritt von uns auf ihn zu mit
seiner übergroßen Barmherzigkeit und Liebe. So heißt es in einem weiteren
Hadith: „Gott, der Erhabene, sagt: ‚Ich bin, wie mein Diener es von mir annimmt.
Und ich bin mit ihm, wenn er meiner gedenkt. Gedenkt er meiner in seinem Inne-
ren, gedenke ich seiner in meinem Inneren. Gedenkt er meiner in einer Gruppe,
gedenke ich seiner in einer besseren Gruppe. Nähert er sich mir um eine Hand-
breit, nähere ich mich ihm um eine Elle. Nähert er sich mir um eine Elle, nähere
ich mich ihm um einen Klafter. Kommt er mir gehend entgegen, komme ich ihm
laufend entgegen.‘“ Dieser Hadith macht deutlich, wie sehr Gott ein reziprokes
Verhältnis zum Menschen eingeht, zugleich aber eine grundlegende Asymmetrie
in diesem Verhältnis liegt. Gott bleibt immer der Barmherzigere, weil er als der
absolut Liebende aus seinen unendlichen Möglichkeiten immer neue Chancen für
den Menschen kreiert und seine Möglichkeiten je neu weitet.
Wendet man diese Verhältnisbestimmung soteriologisch, so wird klar, dass
es aus muslimischer Sicht keine Rettung des Menschen an seiner Freiheit vor-
bei gibt. Gott entlässt den Menschen an keiner Stelle aus seiner Verantwortung.
Hier gibt es keinen stellvertretenden Dienst, der den Menschen ersetzen könnte.
Aber zugleich ist Gott vom Leiden des Menschen betroffen. Er wirbt um den
Menschen, indem er sich in seiner Verletzlichkeit und Schwäche zeigt. Diese
„Schwäche für den Menschen“ wird sicherlich erst deutlich, wenn wir den Koran
in seiner performativen Gestalt als Selbstoffenbarung Gottes ernst nehmen. Aber
wenn wir dies tun, wird immer wieder deutlich, wie sehr sich Gott dem Men-
schen aussetzt und sich von ihm bewegen lässt.
Das heißt, dass das dialogische Modell der Gott-Mensch-Beziehung kein auf-
gesetztes Modell ist. Manche Muslime meinen an dieser Stelle, dass der Koran
davon spricht, dass Gott gedient werden will und deshalb hat er den Menschen
erschaffen, sie berufen sich auf die koranische Aussage, wonach Gott die Men-
schen erschaffen habe, um ihm zu dienen (Q 51:56). Der Koran lässt das aller-
dings so nicht stehen. Denn der Satz geht ja weiter: Es heißt nicht nur, „ich [Gott]
habe den Menschen erschaffen, um mir zu dienen“, sondern der nächste Vers 57
sagt, „Ich brauche aber von den Menschen weder, dass sie mir etwas zum Essen
geben, noch brauche ich etwas von den Menschen. Gott ist der Allmächtige“.
Unter „Gottesdienst“ oder Gott dienen darf somit nicht missverstanden werden,
dass Gott unsere Dienste für sich benötigt, Gottesdienst ist vielmehr ein Dienst an
Gottes Schöpfung.
22 M. Khorchide

In diesem Zusammenhang sei an die Aussage des Propheten Muḥammad


erinnert: „Im Jenseits wird Gott einen Mann fragen: ‚Ich war krank und du hast
mich nicht besucht, ich war hungrig und du hast mir nichts zu essen gegeben,
und ich war durstig und du hast mir nichts zu trinken gegeben.‘ Der Mann wird
daraufhin erstaunt fragen: ‚Aber du bist Gott, wie kannst du krank, durstig oder
hungrig sein?!‘ Da wird ihm Gott antworten: ‚Am Tag soundso war ein Bekannter
von dir krank‘, und du hast ihn nicht besucht; hättest du ihn besucht, hättest du
mich dort, bei ihm, gefunden. An einem Tag war ein Bekannter von dir hungrig,
und du hast ihm nichts zum Essen gegeben, und an einem Tag war ein Bekannter
von dir durstig, und du hast ihm nichts zum Trinken gegeben.‘“ Diese Erzählung
erinnert an das Matthäus-Evangelium, Kap. 25, das eine ähnliche Geschichte
beinhaltet und an deren Ende betont wird: „Was ihr für einen meiner geringsten
Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40b).
Der Mensch kann durch sein Zutun die Erde fruchtbar machen und damit die
Barmherzigkeit Gottes veranlassen. Somit erhält die Offenbarung einen dialogi-
schen Charakter, denn der Mensch selbst kann sie hervorrufen und veranlassen,
indem er barmherzig und gütig handelt. Dies ist auch der Auftrag an den Men-
schen. Als der Prophet Muḥammad von einem Mann danach gefragt wurde, wo
Gott sei, zeigte er auf einen armen Menschen und sagte: „Geh zu dem armen
Menschen, dort findest du Gott.“ Dort, wo man eine Hand der Barmherzigkeit
und der Güte ausstrecken kann, manifestiert sich Gott, dort ist Barmherzigkeit,
dort ist Gott. Dort, wo eine Mutter ihr Kind umarmt, dort, wo man einen Men-
schen anlächelt, überall dort, wo man ein Zeichen der Güte, der Liebe und der
Barmherzigkeit setzt, dort veranlasst man die Offenbarung der Barmherzigkeit
Gottes, dort macht man Gott erfahrbar. Dort verwirklicht sich Gottes Dienst.
Dort bezeugt der Mensch seine Liebe zu Gott, nicht durch das verbalisieren:
„Gott, ich liebe dich“, sondern durch den eigenen Werdegang, durch den eigenen
Charakter und durch das eigene Handeln, diese sind Räume der Entfaltung von
Gottesdienst. Gottesdienst darf demnach nicht auf das Verrichten von religiösen
Ritualen reduziert werden. Denn religiöse Rituale sind keineswegs Selbstzweck.
Gott zu lieben bedeutet vielmehr, ein Medium der Entfaltung von göttlicher
Liebe und Barmherzigkeit zu sein. Nach dem dialogischen Modell hat Gott Men-
schen deshalb erschaffen, um seine Liebe und Barmherzigkeit zu teilen. Aller-
dings macht Gott dies auf eine Art und Weise, die die Freiheit des Menschen
nicht beeinträchtigt. Daher greift Gott nicht unmittelbar in die Welt ein. Die Men-
schen sind vielmehr die Hände Gottes, aber nur dann, wenn sie sich in Freiheit
dazu entscheiden, sich als Medien göttlicher Liebe und Barmherzigkeit zur Ver-
fügung zu stellen.
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 23

Es ist nicht Gott, der unmittelbar in die Welt eingreift, um zum Beispiel die
Hungersnot selbst zu beseitigen, sondern es sind die Menschen, die diese Inten-
tion Gottes verwirklichen. Das heißt, dass der Mensch nach diesem dialogi-
schen Modell, anders als nach dem monologischen Menschenbild, nicht Objekt
der Religion und passiver Empfänger von Instruktionen ist. Der Mensch ist hier
Subjekt der Geschichte. Er ist „Partner“ Gottes. Man kann sagen, dass Gott die
Welt so erschaffen hat, dass er auf die Kooperation des Menschen „angewiesen“
ist, um seine Intention nach Liebe und Barmherzigkeit Wirklichkeit werden
zu lassen. Gott ist allerdings nicht im ontologischen Sinne auf den Menschen
angewiesen. Er hat die Welt auf diese Weise erschaffen, um die Freiheit des Men-
schen nicht einzuschränken, er würde nicht unmittelbar in die Welt korrigierend
eingreifen. Wenn Gott die Menschen aber in ein Liebesverhältnis einlädt, muss er
ihre Freiheit respektieren. Denn Freiheit ist anthropologisch gesehen das Gesetz
der Liebe, und ohne Freiheit kann sich auch keine aufrichtige Liebe zu Gott ent-
wickeln. Etwas zugespitzt kann man deswegen sagen, dass Gott den Menschen
gerade deshalb Propheten und ihre Botschaften geschickt hat, weil er sie in dieses
Liebesverhältnis einladen will.
Wenn die Freiheit des Menschen bewahrt und geschützt werden soll, dann
wird Gott in der Welt nur auf eine Art und Weise eingreifen, die diese Freiheit
nicht zerstört. Daher nimmt Gott die Freiheit des Menschen in Anspruch, um Frei-
heit zu ermöglichen. Es ist an erster Stelle der Mensch, der Gottes Intention nach
Liebe und Barmherzigkeit realisiert und zu einer erfahrbaren Wirklichkeit hier
und jetzt umsetzt. Darin liegt die höchste Würdigung des Menschen. Er ist Gottes
Partner, in der koranischen Sprache Kalif, um die göttliche Intention Wirklichkeit
werden zu lassen. Daher darf man göttliches und menschliches Handeln nicht in
ein Konkurrenzverhältnis zueinander setzen. Im Gegenteil gilt: Je mehr sich der
Mensch für die Freisetzung von Freiheit einsetzt, desto mehr wird die Intention
Gottes realisiert. Der Einsatz des Menschen für die Freisetzung von Freiheit ver-
wirklicht sich in seinem Handeln im Sinne der Liebe und der Barmherzigkeit.
Beide müssen deshalb zum Selbstzweck menschlichen Handelns werden.
Die Gott-Mensch-Beziehung als Liebesbeziehung und somit als Freiheits-
beziehung aufzufassen, hat nun Konsequenzen für eine neue Bestimmung des
Allmacht-Begriffs: Kierkegaard definiert Allmacht wie folgt: „Das Höchste,
das überhaupt für ein Wesen getan werden kann, höher als alles, wozu einer es
machen kann, ist dies: es frei zu machen. Eben dazu, dies tun zu können, gehört
Allmacht“. Allmacht ist dieser Konzeption zufolge also mehr als unbegrenztes
„Alles-logisch-Mögliche-Tun-Können“. Der katholische Theologe Klaus von
Stosch (2018, S. 48) schreibt dazu: „Recht verstandene Allmacht kann keine
alles beherrschende und kontrollierende Super-Macht sein, sondern zeichnet sich
24 M. Khorchide

gerade durch die Erschaffung von Wesen aus, die selber mächtig sind und aus
dieser gewährten Macht heraus in ein Freiheitsverhältnis zu ihrem Schöpfer ein-
treten können. Wird die Allmacht aber gedacht als Macht des Hervorbringens des
von sich Unabhängigen, die zugleich die Macht hat, dieses Unabhängige für sich
zu gewinnen, kann Allmacht nur noch als Liebe bestimmt werden. Denn allein
die Liebe vermag Macht freizusetzen und in der Freisetzung für sich zu gewin-
nen. Gerade eine Liebe, die rückhaltloses Vertrauen verdient, weil sie eben reine
Liebe ist.“
Nur in der Liebe kann gedacht werden, dass die Hingabe und Selbstpreis-
gabe als Macht erfahrbar wird, die eben jede andere Macht positiv überbietet,
weil „sie das von sich Unabhängige noch einmal für sich zu gewinnen vermag.“
Liebe ist deswegen, wie der katholische Theologe Jürgen Werbick (2016, S. 407)
dies expliziert, „die Macht, über die hinaus eine größere, bessere Macht gar
nicht gedacht werden kann.“ Man kann eben nichts Größeres und nichts Mäch-
tigeres denken, als die Fähigkeit, ein Gegenüber zu völliger Eigenständigkeit zu
ermächtigen.
Dieser Machtbegriff ist ein dialogischer, der das Wirken Gottes in der Welt
ausschließlich mit Mitteln der Liebe begründet sieht. Hier bleiben keine Räume
mehr offen für absolute Machtansprüche im Sinne völliger Kontrolle der Men-
schen durch Gott oder durch eine politische Instanz. Sicherlich liegt in diesem
Verständnis von Gottes Allmacht auch ein überzeugender Ansatz, um auf die
berühmte Theodizee-Frage eine Antwort zu geben. Gerade Agnostiker und Athe-
isten oder Skeptiker, argumentieren religiösen Menschen gegenüber, egal ob
Juden, Christen oder Muslime, dass, wenn es einen allmächtigen Gott gibt, der
es gut meint mit uns Menschen, man fragen müsse, wieso er dann das Böse auf
der Welt zulässt. Aber bereits diese Frage impliziert eine Vorstellung von Gott
bzw. von Gottes Allmacht, dass dieser Gott unsere Freiheit nicht wirklich respek-
tiert, um immer wieder unmittelbar in der Welt korrigierend einzugreifen. Daher
fragen wir, warum Gott nicht eingreift, um Böses zu verhindern. Daraus leiten
viele Atheisten die Nichtexistenz Gottes ab. Man erwartet also einen Gott, der
unmittelbar korrigierend in der Welt eingreift, um zum Beispiel einen Autounfall
oder irgendetwas Böses in der Welt zu verhindern.
Man stelle sich vor, es wäre wirklich so, dass die monotheistischen Religionen
ein solches Gottesbild hätten, mit einem Gott, der immer eingreift. Das würde ja
implizieren, dass all diejenigen, die morgen einer Arbeit nachgehen oder etwas zu
erledigen haben, ruhig und getrost zu hause sitzen und das Leben genießen kön-
nen. Niemand müsste am Flughafen stundenlang warten müssen, um verspätet an
sein Ziel zu kommen. Denn Gott wird in all diesen und weiteren Fällen korrigie-
rend eingreifen. Wenn jemand einen Vortrag halten soll, könnte man nie wissen,
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 25

ob er nicht doch zu hause vor dem Fernseher geblieben ist und Gott eingegriffen
und jemanden anderen geschickt hat, der genauso aussieht wie der Vortragende,
damit nichts schiefläuft. Aber wenn das so wäre, dann wäre es Gott allein, der
selbst das Szenario schreibt und durchführt. Wir wären dann einfach Marionetten
der Geschichte. Unsere Existenz würde dann unserer Nichtexistenz gleichen. So
ein Gottesbild opfert die Freiheit des Menschen. Natürlich ist das in der Theo-
logie, gerade in der islamischen, noch ein offenes Thema.
Allmacht wird bis heute stark im Sinne des klassischen asch’aritischen Omni-
potenzgedankens aufgefasst. Dieses Allmachtsverständnis, das sich auch auf die
absolute Kontrolle menschlicher Handlungen durch Gottes Allmacht erstreckt,
wird allerdings von zeitgenössischen muslimischen Religionsphilosophen wie Ali
Mabrouk oder Zacharia Ibrahim stark zurückgewiesen. Deren Anliegen besteht
allerdings keineswegs darin, sich vom allmächtigen Gott zu verabschieden, denn
die Rede von der Allmacht Gottes (qudra) ist fest im Islam verankert und der
Name al-qādir (der Allmächtige) ist eine Wesenseigenschaft Gottes, mit der Gott
im Koran mehrfach beschrieben wird. Das Anliegen dieser Eigenschaft besteht
vielmehr darin, dem Menschen seine Freiheit zurückzugeben und die Religion
vor der politischen Instrumentalisierung zu schützen.
Ali Mabrouk sieht gerade im ašʿaritischen Denken eine Reproduktion von
autoritären Strukturen, die sich vor allem während der umayyadischen (661–750)
und abbasidischen (750–1250). Dynastien verfestigt haben: „Die Asch‛ariten
haben, wenn auch unbewusst, daran gearbeitet, eine autoritäre historische Epoche
zu etablieren und zwar durch ihren dogmatischen Entwurf, der dem Absolutheits-
denken unterworfen ist, sei dieser auf Gott oder auf die Politik zurückzuführen“.
Mabrouk erinnert hier an die ašʿaritische Antwort auf die Frage: Ist es Gott oder
der Mensch, der die Handlungen des Menschen hervorbringt? Für die Ašʿariten
war die Antwort eindeutig: nämlich Gott. Der Mensch eignet sich lediglich die
von Gott erschaffene Handlung an, aber auch diese Aktivität des Aneignens von
Handlungen ist selbst eine Handlung, die Gott erschafft. Mabrouk kommt zu dem
Schluss, dass der Mensch hier als Objekt der Geschichte erscheint. Er ist nicht
wirklich frei. Sein Verhältnis zu Gott basiere nicht auf Beziehung, sondern auf
absoluter Unterwerfung. Hier merkt Mabrouk an: „obwohl die Asch‛ariten die
Absicht hatten, die absolute Autorität Gottes zu bewahren, neben der keine wirk-
liche Existenz der Welt oder des Menschen Beachtung findet, führten ihre dog-
matischen Ausführungen, auch wenn vielleicht unbewusst, zur Bestätigung der
politischen Absolutheitsansprüche in einer Welt, die keine wirkliche Existenz
mehr kennen soll, außer für das Absolute, sei es Gott, oder ein Despot. Deshalb
wurde die Asch‛ariyya von ihren Anfängen an von den Machthabern als Staats-
doktrin favorisiert.“
26 M. Khorchide

Mabrouk spricht von nasaq, was wir mit Diskurs wiedergeben können. Der
theologische Diskurs rund um die Gottesvorstellung zeichne eine Welt, die leer
sei außer von Gott. Dieser theologische Diskurs opfere den Menschen und sein
Wirken in der Welt, um Gottes Souveränität zu bewahren. Dieser Vorstellung von
einem Gott, dem es um Autorität geht, steht Mabrouk skeptisch gegenüber. Er ruft
die Aussage Gottes zur Erinnerung: „Ich war ein verborgener Schatz und wollte
erkannt werden, deshalb habe ich die Menschen erschaffen“. Mabrouk merkt hier
an: „Nicht das Ausüben von Autorität über den Anderen stellt also den eigent-
lichen Kern des Verhältnisses Gottes zur Welt und zum Menschen dar, aber genau
dies ist es, was den Asch‛ariten nicht gelungen ist, zu verstehen. Sie haben Gott
als absolute Autorität präsentiert in einer Welt, in der der Mensch ohnmächtig
ist“. Mabrouk spricht hier von absoluten Strukturen. Diese erzeugen stets absolute
Autoritäten, die sich in Gott oder in einem Despoten widerspiegeln können.
Für die Ašʿariten gibt es keinen Platz für zwei Willen bzw. für zwei Frei-
heiten. Denn es gebe nur den einen einzigen absoluten Willen. Die Konsequenzen
waren gravierend: denn der Mensch hat kaum Platz mehr in dieser Welt, er ist
sogar auf einer ethischen Ebene nicht selbst in der Lage zu erkennen, was gut
und was schlecht für ihn ist, er ist auf die göttliche Anweisung angewiesen. Hier
haben die Aš‘ariten Vernunft und Offenbarung gegeneinander ausgespielt und
sich dann für die Offenbarung stark gemacht und dafür die Vernunft geopfert.
Demnach gehe die Entfaltung der Allmacht Gottes einher mit der Ohnmacht des
Menschen. Das geht bei den Ašʿariten soweit, dass sie z. B. das Ansteigen der
Preise auf dem Markt ausschließlich mit Gottes Eingreifen in der Welt begründen.
Am Ende resümiert Mabrouk, dass es unmöglich sei, zwischen dieser Vorstellung
einer ontologischen Unterwerfungsstruktur der Gott-Mensch-Beziehung und der
sozialen sowie politischen Vorstellung einer autoritär strukturierten Welt, die von
autoritären Regimen ferngesteuert wird, zu trennen.
Mabrouk beschreibt diese autoritären Strukturen als Produkt eines kollekti-
ven Bewusstseins. „Die asch‛aritischen Strukturen einer Absolutheit ist ein Pro-
dukt einer historischen Epoche und einer bestimmten sozialen Situation und stellt
keineswegs eine reine theologische Reflexion über den Absoluten dar. Die asch‛ari-
tische Denkstruktur liefert somit die ideologische Unterfütterung eines diktatori-
schen Staates der nur dann existieren kann, wenn der Mensch verdrängt wird …
deshalb blieben die Asch‛ariten stets die bevorzugten Denker der Regierenden.“
Der Koran wäre nach dem monologischen Verständnis ein Monolog Gottes.
Denn Gott habe in der Ewigkeit, unabhängig von einem historischen Kontext,
gesprochen. Wer heute den Koran nach dem monologischen Modell verstehen
will, der muss versuchen, nur das koranische Wort philologisch zu verstehen.
Es geht um die Umsetzung des Wortwörtlichen im Koran. Wenn man nach dem
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 27

d­ ialogischen Modell von einem personalen Gottesbild ausgeht, von einem Gott,
der auch in der Zeit mit dem Menschen kommuniziert, dann hat man ein Ver-
ständnis vom Koran als Dialog oder genauer gesagt: Er stellt eine Plattform der
Kommunikation zwischen verschiedensten Akteuren dar.
Um den Unterschied zwischen einer abgeschlossenen und einer offenen Kom-
munikation zu verdeutlichen, möge folgendes Beispiel dienen: Als ich meinem
damals achtjährigen Sohn gesagt habe: „Du bekommst eine Tafel Schokolade von
mir, wenn du deine Hausaufgabe schön schreibst“ war das für ihn ein Ansporn,
seine Aufgabe sorgfältig zu schreiben. Angenommen, er hätte diese Kommunika-
tion verschriftlicht, indem er in sein Tagebuch geschrieben hat: „Der Papa sagt:
‚wenn du eine schöne Arbeit schreibst, bekommst du von mir eine Tafel Schoko-
lade‘“ und angenommen, er hätte mit 24 Jahren seine Doktorarbeit geschrieben
und sich gefragt: „Was würde ich von meinem Vater bekommen, wenn ich eine
schöne Doktorarbeit schreiben würde?“. Er erinnert sich an sein Tagebuch, kramt
es hervor und liest, was ich ihm für eine sorgfältige Arbeit schenken werde: eine
Tafel Schokolade. Wie wird er den Satz verstehen? Wenn er ihn monologisch auf-
fasst, also unabhängig von der Lebenswelt des Adressaten (ursprünglich ein Kind
mit acht Jahren, das Schokolade liebt), wird er davon ausgehen, dass er von mir
auch für seine Doktorarbeit eine Tafel Schokolade bekommen wird. Versteht er
den Satz hingegen als Kommunikation, in der auch der Adressat selbst eine kons-
titutive Rolle spielt, dann wird er sich fragen: „Womit würde mein Vater mich
wohl heute motivieren, damit ich eine gute Doktorarbeit schreibe? Er kann mir
doch nicht im Ernst für diese Leistung eine Tafel Schokolade geben?!“.
Der Kontext hat sich geändert, die Lebenswirklichkeit, die Anforderungen.
Ähnliches gilt für unser Verständnis der Offenbarung des Korans. Wenn wir Mus-
lime wollen, dass der Koran einen Platz in unserem Leben hat, müssen wir ihn
mitnehmen und die ursprüngliche Kommunikation im Geiste fortschreiben. Wir
dürfen die Kommunikation mit Gott nicht abreißen lassen. Doch genau das wür-
den wir tun, wenn wir davon ausgingen, dass er im siebten Jahrhundert zum letz-
ten Mal zu uns gesprochen hat und die Offenbarung damit abgeschlossen sei. Die
Offenbarung als abgeschlossen zu verstehen, macht aus dem Koran ein statisches
Buch, in dem Gott Instruktionen verkündet hat, die literalistisch aufzufassen sind,
also wortwörtlich. Es bleibt kaum Raum für ein historisches Bewusstsein der Ver-
kündigung.
Die Offenbarung als offen zu verstehen, bedeutet hingegen, dass sich der
jeweilige Rezipient seine Lebenswelt mit in die Exegese einbringt. Nicht der
Koran spricht, sondern Rezipient und Koran stehen sich dialogisch gegenüber.
Der Rezipient hat die Aufgabe, den Koran fortzudenken. Damit bleibt dieser
offen. Die Offenheit des Korans erlaubt, seine spirituelle und ethische Kraft zu
28 M. Khorchide

entfalten, denn es handelt sich nach diesem Verständnis nicht um ein Gesetzes-
buch, das klare Handlungsanweisungen verkündet, sondern um ein historisch
gewachsene Offenbarung, die noch nicht abgeschlossen ist, sie lädt den Rezipien-
ten ein, sich mit all seinen Anliegen einzubringen und an sich die Frage zu stel-
len: „Was würde mir der Koran heute im 21. Jahrhundert sagen?“.
Denkt man diese Unterscheidung zwischen beiden Verständnissen der Offen-
barung konsequent zu Ende, dann ergeben sich zwei Zugänge zum Islam: Ent-
weder man versteht den Islam als vom Himmel gefallene Religion, als wäre
sie ein geschlossenes Paket und die Aufgabe der Gläubigen wäre nichts anders
als dieses Paket aufzumachen und die Bedienungsanleitung, die dabei liegt, zu
befolgen, um alles umzusetzen, oder man versteht ihn als in der Zeit entstandene
Religion, die ein Medium der Entfaltung von Spiritualität und Ethik im Leben des
Menschen darstellt.
Ein Blick in die 1400jährige islamische Ideengeschichte zeigt, dass die uns
heute bekannten islamischen Konfessionen (Sunniten, Schiiten, Ibaditen, Ahma-
diyya usw.), aber auch die sunnitischen Rechtsschulen zum Beispiel sich viele
Jahre nach dem Tod des Propheten Muḥammad gebildet und etabliert haben
und nicht vom Himmel gefallen sind. Diese innerislamische Vielfalt hat Thomas
Bauer auf eindrucksvolle Weise in seinem Buch über Die Kultur der Ambigui-
tät (2011) dokumentiert. Gerade muslimische Fundamentalisten haben ein
­Verständnis vom Islam als vom Himmel gefallene Religion und verkennen die
Dynamik und Prozesshaftigkeit der islamischen Lehre.
Heute stellen sich viele Anfragen an den Islam, vor allem zu seinem Ver-
hältnis zum Rechtsstaat, zur Demokratie, zu den Menschenrechten, zur Gleich-
berechtigung der Geschlechter usw. Es kann nicht darum gehen, diese Fragen
apologetisch und unreflektiert in dem Sinne zu beantworten, dass der Islam
mit all unseren modernen Werten ohne Wenn und Aber vereinbar sei, sondern
man muss dies differenziert sehen, je nach dem Zugang zum Islam. Würden
wir von der Abgeschlossenheit des Islams ausgehen, dann ergibt sich die große
Schwierigkeit, den Islam in unsere heutige Zeit einzubinden. Man wäre in die-
sem Fall gezwungen, rückwärtsgewandt zu denken. Denn den Koran als eine
Ansammlung an Instruktionen zu verstehen, zwingt uns, die gesellschaftlichen
Strukturen so zu denken, wie sie im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halb-
insel waren, um den Koran zur Anwendung zu bringen. Man denke zum Beispiel
an koranische Aussagen zu den Geschlechterverhältnissen, die zum Teil patriar-
chalische Züge aufzeigen (z. B. Sure 4, Vers 34). Solche und ähnliche Verse als
monologische Belehrung durch Gott zu verstehen, würde heißen, dass Muslime
heute im 21. Jahrhundert angehalten wären, sich daran zu halten. Die Offenheit
des Islams, die von einer Nicht-Abgeschlossenheit des Islams ausgeht und den
Der Islam in einer modernen Gesellschaft … 29

Koran als in der Zeit stattgefundenen Kommunikation versteht, berücksichtigt


hingegen den historischen Kontext solcher Aussagen.
Nehmen wir die Erbschaft der Töchter als Beispiel. In der Sure 4 Vers 11 wird
angeordnet, dass die Töchter die Hälfte an Erbschaft von dem was ihren Brüdern
zukommt erben: „Gott empfiehlt euch hinsichtlich eurer Kinder: Einem männ-
lichen Geschlechts kommt ebenso viel zu wie der Anteil von zwei weiblichen
Geschlechts.“ Liest man diesen Satz kontextunabhängig als eine ewige Instruktion
Gottes, dann handle es sich hierbei um eine klare für alle Muslime zu allen Zeiten
verbindliche gesetzliche Regelung. Diese habe somit eine ahistorische Gültigkeit.
Nimmt man den Koran hingegen als eine Plattform einer offenen und keineswegs
abgeschlossenen Kommunikation wahr, dann fragt man nach dem historischen
Kontext der Verkündigung dieses Verses und somit nach dem sozialen Zusammen-
hang des Offenbarungskontextes und dem sozialen Kontext des Lesers.
Der Koranexeget Ibn Kaṯīr (gest. 1373 n. Chr.), Verfasser eines der am wei-
testen anerkannten exegetischen Werke im sunnitischen Islam, merkte in sei-
nem Tafsīr al-Qurʾān (Interpretation des Korans) zu diesem Vers an, dass viele
Gläubige die Idee des Propheten Muḥammad, auch Frauen an einer Erbschaft zu
beteiligen, anfangs vehement ablehnten und sagten: „Frauen und kleine Kinder
sollen Erbanteile bekommen, obwohl diese nicht in der Lage sind, in den Krieg
zu ziehen und Kriegsbeute zu ergattern?! Verschweigt diese Idee Muḥammeds,
vielleicht vergisst Muḥammad, was er gesagt hat, oder wir können ihn über-
zeugen, diese Regelung wieder fallen zu lassen.“ Ibn Kaṯīr fährt fort: „Sie gingen
daraufhin zum Propheten und beschwerten sich (…), denn in vorislamischer Zeit
erbten Frauen nichts, nur diejenigen, die an Kriegen teilgenommen hatten, hatten
ein Anrecht auf Erbanteile. Diese wurden nach Alter aufgeteilt [ältere Familien-
angehörige bekamen mehr als jüngere].“ Daraufhin wurde der Vers offenbart. Der
Grund dafür, dass Frauen in vorislamischer Zeit vom Erbe ausgeschlossen wur-
den, liegt in der damaligen Gesellschaftsordnung.
Unter den Stämmen herrschten große Spannungen und Konkurrenz um die
wirtschaftlichen Ressourcen, sodass sie oft Krieg gegeneinander führten. Die
Kriegsbeute war meist die Haupteinnahmequelle der Stämme, weshalb die-
jenigen, die in der Lage waren, Kriegsbeute zu machen, eine privilegierte
Stellung im Stamm innehatten; dieses Privileg spiegelte sich auch in der Erb-
schaftsverteilung wieder. Frauen waren ein Risikofaktor: Zum einen waren sie im
Krieg oft Kriegsbeute und wurden versklavt, sodass die Ehre des Stammes ver-
letzt wurde; zum anderen wurden Frauen auch gezielt aus politischen Gründen
mit Männern anderer Stämme verheiratet. Sie sollten nichts erben, damit Anteile
des Besitzes des eigenen Stammes nicht in die Hände anderer Stämme gelangten.
Mit diesen Stammesstrukturen wollte der Prophet nun brechen und arbeitete
30 M. Khorchide

sukzessive daran. Dabei war ihm eine schrittweise Etablierung einer Gleich-
stellung von Mann und Frau sehr wichtig, d. h. die Frau sollte gewürdigt werden
als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft. Liest man diesen Vers 4:11 in sei-
nem historischen Kontext, dann erkennt man, dass es für diese Regelung mit der
Erbschaft für die damalige Zeit ein erster revolutionärer Schritt war. Aus unse-
rer heutigen Perspektive wäre so eine Regelung ein Rückschritt in der Frage des
Geschlechterverhältnisses. Die Offenbarung als offene Kommunikation wahrzu-
nehmen, bedeutet aber nicht bei diesem ersten Schritt, der den Koran im siebten
Jahrhundert eingeführt hat, stehenzubleiben. Es ist Aufgabe der heutigen Koran-
hermeneutik, diesen ersten Schritt fortzuschreiben, und zwar im Sinne unseres
heutigen Verständnisses von Gerechtigkeit.
Dieses Beispiel sollte verdeutlicht haben, welche Konsequenzen es für die
vielen heutigen Fragen an den Islam die jeweilige Auffassung von Offenbarung
haben kann. Dies gilt auch für weitere Fragen, wie die nach der Vereinbarkeit des
Islams mit den Menschenrechten, mit demokratischen Grundwerten usw. Denn,
wie schon erwähnt wurde, gilt der Koran im Islam als die Offenbarung Gottes.
Nach muslimischen Glauben wurde der Koran dem Propheten Muḥammad nicht
auf einmal, sondern über einen Zeitraum von 23 Jahren hinweg offenbart. Zwölf
Jahre davon lebte Muḥammad in Mekka (zwischen 610 und 622 n. Chr.) und
zehn in Medina (zwischen 622 und 632 n. Chr.). Er wurde somit in verschiedenen
räumlichen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten offen-
bart, in denen er die für den jeweiligen Kontext richtige Option anbietet; so kom-
men unterschiedliche Optionen zusammen. Vernachlässigt man diese historische
Prozesshaftigkeit der Entstehung des Korans, läuft man Gefahr, ihn selektiven
Lesarten auszuliefern.

Literatur

al-Ġazzālī, und Richard Gramlich. 1984. Muḥammad al-Ġazzālīs Lehre von den Stufen zur
Gottesliebe: die Bücher 31–36 seines Hauptwerkes. Wiesbaden: F. Steiner.
Bauer, Thomas. 2011. Die Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islams.
­Berlin: Verlag der Weltreligionen.
Madigan, Daniel. 2003. Gottes Botschaft an die Welt: Christen und Muslime, Jesus und der
Koran. Internationale Katholische Zeitschrift Communio 32:100–112.
von Stosch, Klaus. 2018. Theodizee. Paderborn: Schöningh.
Werbick, Jürgen. 2016. Gott verbindlich: Eine theologische Gotteslehre. Freiburg: Herder.
Lässt Religion Raum für Erneuerung?
Islamische Gottesbilder in Geschichte
und Gegenwart

Erdal Toprakyaran

Der Asra
Täglich ging die wunderschöne
Sultanstochter auf und nieder
Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weißen Wasser plätschern.

Täglich stand der junge Sklave


Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weißen Wasser plätschern;
Täglich ward er bleich und bleicher.

Eines Abends trat die Fürstin


Auf ihn zu mit raschen Worten:
Deinen Namen will ich wissen,
Deine Heimat, deine Sippschaft!

Und der Sklave sprach:


Ich heisse Mohamet,
ich bin aus Yemmen,
Und mein Stamm sind jene Asra,
Welche sterben, wenn sie lieben.
Heinrich Heine

Der Dichter dieser Zeilen, der in Düsseldorf geborene Heinrich Heine, war
ebenso wie Herder, Goethe, Lessing, Nietzsche und viele andere bedeutende
deutsche Geistesgrößen fasziniert von der islamischen Kultur. Gleichzeitig war

E. Toprakyaran (*)
Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland
E-Mail: erdal.toprakyaran@zith.uni-tuebingen.de

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 31
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_3
32 E. Toprakyaran

ihnen allen bewusst, dass die Grenze zwischen Orient und Okzident, zwischen
Morgen- und Abendland wie ein „künstlicher Kreidestrich“ ist (Almond 2010;
Mommsen 2001). Dennoch wird bis in die heutige Zeit oftmals ein mono-
lithischer Islam konstruiert und als das negative Gegenüber eines ebenso mono-
lithischen Westens dargestellt. Der Westen bzw. das Abendland wird zugleich in
euro-zentristischer Weise idealisiert und vom vermeintlich irrationalen dunklen
Islam abgegrenzt (Leggewie 1993, S. 8 ff.). Der Islam ist aber, genauso wie das
Christentum, nicht monolithisch und auch die Gottesbilder sind es nicht. So wer-
den in der islamischen Tradition 99, zum Teil gegensätzlich klingende Gottes-
namen (al-asmāʾ al-ḥusnā) aufgezählt, die sich auch im Koran wiederfinden
lassen. Je nach Ausrichtung und Bedürfnis rufen Musliminnen und Muslime Gott
mit den unterschiedlichen Namen an.
Für die Mystiker etwa, die im Islam als Sufis oder Derwische bezeichnet
werden, stehen die Namen „der Eine (al-wāḥid und al-aḥad)“, „die Wahrheit
(al-ḥaqq)“, „der Lebendige (al-ḥayy)“, „der Heilige (al-quddūs)“, „der Friede
(al-salām)“, „das Licht (al-nūr)“, „der Liebende (al-wadūd)“, „der Barmherzige
(al-raḥmān, al-raḥīm, al-ġaffār und al-ġafūr)“, „der Vergebende (al-raʾūf,
at-tawwāb und al-‘afuw)“, „der Sanftmütige (al-ḥalīm)“, „der Freund (al-walī)“,
„der Geduldige (al-ṣabūr)“, „der Offenbare (al-ẓāhir)“ oder „der Verborgene
(al-bāṭin)“ im Mittelpunkt ihrer religiösen Praxis und Theologie. So gilt Gott als
der Schöpfung immanent, da Er in den Menschen Seinen Geist eingehaucht hat
(Koran 15/29 und 32/9) und ihm dadurch näher ist „als die Halsschlagader (Koran
50/16; ähnlich in 2/186 und 57/4).“1 Zugleich ist Gott, der Offenbare, überall
präsent entsprechend dem Vers „Und Gottes ist der Osten und der Westen, und
wohin ihr euch daher wendet, dort ist Gottes Angesicht (Koran 2/115).“ Der Mus-
lim soll gemäß dem Gottesbild der Mystiker Gott in sich und in der gesamten
Schöpfung erkennen und Ihm demütig und liebevoll dienen. Auch die islamischen
Philosophen und Künstler interessieren sich besonders für jene Gottesnamen,
mit denen sie sich am deutlichsten identifizieren können. Zu diesen zählen etwa
„der Ewige (al-ṣamad und al-bāqī)“, „der Schöpfer (al-ḫāliq)“, „der Verursacher
(al-mubdiʾ)“, „der Gestalter (al-muṣawwir)“, „der Erweckende (al-bāʿiṯ)“ oder
„der Lebensspendende (al-muḥī)“.
Es ist wenig überraschend, dass das Gottesbild der muslimischen Juristen
durch andere Gottesnamen geprägt wird. Für Sie ist Gott in erster Linie „die
Gerechtigkeit (al-ʿadl)“, „der Richter (al-ḥakam)“, „der Berechnende (al-ḥasīb)“,

1Koranverse werden in Anlehnung an Max Henning (1991) in frei übersetzter Form wieder-

gegeben.
Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in … 33

„der Weise (al-ḥakīm)“, „der Zeuge (al-šahīd)“, „der Vorverlegende (al-muqad-


dim)“, „der Aufschiebende (al-muʾaḫḫir)“, „der Eröffnende (al-fattāḥ)“, „der Ver-
hindernde (al-māniʿ)“, „der Strafende (al-muntaqim)“ oder „der Rechtleitende
(al-hādī und al-rāšid)“. Könige und Herrscher wiederum pflegen sich mit den
Gottesnamen „der Erhabene (al-ʿālī und al-ʿalāʾ)“, „der Allmächtige (al-qādir,
al-ʿaẓīm, al-ʿazīz und al-muʿizz), der König (al-malik), der Starke (al-matīn und
al-qawī), der Majestätische (ḏū al-ǧalāl), der Ruhmreiche (al-maǧīd), der Ver-
nichtende (al-qahhār), der Erzwingende (al-ǧabbār), der Erhöhende (al-rāfiʿ),
der Erniedrigende (al-muḏill), der Regierende (al-wālī), der Reiche (al-ġānī),
der Versammelnde (al-ǧāmiʿ), der Tötende (al-mumīt) oder der großzügig Ver-
sorgende (al-wahhāb, al-razzāq und al-nāfiʿ) zu beschäftigen.
Es sind aber nicht nur die selbsternannten Behüter des Abendlandes, die
ein einseitig-monolithisches Bild vom Islam konstruieren, sondern auch deren
Geschwister im Geiste, nämlich die islamischen Extremisten. So wird es stets
problematisch und sogar bedrohlich, wenn sich ein Muslim oder eine ganze
Gruppe allein auf einige wenige göttliche Namen und Eigenschaften konzentrie-
ren und sich auch entsprechend verhalten. Ein Muslim, der sich etwa nur auf die
Namen „der Strafende“ oder „der Vernichtende“ konzentriert, wird vermutlich
ein sehr rigid-puristisches und gewaltbejahendes Gottesbild haben. Oftmals wer-
den dann auch der Koran insgesamt und die prophetische Praxis nur sehr selektiv
wahrgenommen. Heute stehen wir vor dem Problem, dass die Zahl derjenigen,
die ein sehr einseitiges, gewaltbejahendes Gottesbild haben, – beschleunigt durch
die Globalisierung – rasant wächst. Gleichzeitig erhalten diese fanatisierten Ext-
remisten sehr viel mediale Aufmerksamkeit, wodurch der Eindruck entsteht, dass
der Islam als Ganzes eine gewaltverherrlichende Religion ist.
Falls es aber gelingen sollte, den friedliebenden Muslimen mehr Gehör zu
verschaffen, wäre es sicherlich möglich, die vielen inspirierenden Gottesbilder,
auf die wir in der facettenhaften und stets dynamischen muslimischen Tradi-
tion stoßen, fruchtbar zu machen. In der Gegenwart sind hierfür besonders die
Theologien der mystisch, philosophisch und künstlerisch geschulten Gelehrten
von Interesse, da besonders bei ihnen das Herz und die Vernunft gleichermaßen
angesprochen und kultiviert werden. Nur durch ihr Engagement kann es gelingen,
dass ein „Mohamet“ wie schon zu Zeiten Heines an erster Stelle als ein Mann
der absoluten Liebe wahrgenommen und dargestellt wird; als einer von jenem
Stamm, „welche sterben, wenn sie lieben“. Davon sind wir aber momentan im
deutschen und auch im globalen Islam-Diskurs weit entfernt.
Thema des vorliegenden Artikels ist die Frage, welchen Raum der Islam samt
seiner Historie für Erneuerung und Reformen lässt und welche Rolle dabei die
Gottesbilder spielen. Es wird anhand von vielen historischen Beispielen gezeigt,
dass es sehr wohl verschiedene islamische Diskurse und Traditionen gibt, an die
34 E. Toprakyaran

wir heute anschließen können. Exemplarisch sollen etwa die islamischen Dis-
kurse der Gottesliebe, der religiösen Pluralität, der Autonomie der Vernunft, der
Rechtsstaatlichkeit, der Demokratiekompatibilität und der Säkularität kurz dar-
gestellt und diskutiert werden.

Islam als Religion der Liebe

Da im Islam keine Kirche und auch keine geistliche Hierarchie vorgesehen sind,
gab es stets unterschiedliche juristische-, theologische-, mystische- und philo-
sophische Schulen, die mal miteinander konkurrierten und sich mal ergänzten.
Denn diese verschiedenen identitätsstiftenden Kategorien waren in der Regel
nicht durch unüberwindbare Grenzen von einander geschieden, sondern konnten
in allen Varianten und Kombinationen auftreten. So darf es nicht überraschen,
dass es etwa in der Philosophie und besonders in der Mystik bis in die heutige
Zeit die Anschauung gibt, dass der Islam eine Religion der Liebe ist.
So schreibt der 1974 verstorbene türkische Religionsphilosoph Hilmi Ziya
Ülken (2010) in seiner programmatischen Schrift Aşk Ahlakı (Ethik der Liebe),
dass es keine wahrhaftige Ethik geben kann ohne die Liebe. Das Fundament jeg-
licher Religion und Ethik müsse stets die Liebe sein, da nur sie selbstlos sei. Der
türkische Gelehrte rezipiert in dieser Schrift aber hauptsächlich die großen Namen
der islamischen Mystik und weniger die Philosophen, da besonders im Sufismus
die Liebe zu Gott und zu seiner Schöpfung eine zentrale Rolle spielt. Verschiedene
Begriffe für Liebe wie ḥubb, ʿišq und mawadda kommen in den Werken der mittel-
alterlichen Mystiker und Mystikerinnen wie Rābiʿa al-ʿAdawiyya (gest. 801), Ibn
ʿArabī (gest. 1240), Maulānā Rūmī (gest. 1273) und ihrer Nachfolger und Nach-
folgerinnen regelmäßig vor. Sie sprechen sogar von der Religion der Liebe (dīn
al-ḥubb). So heißt es bei Ibn ʿArabī (1978, S. 67): „Ich folge der Religion der
Liebe; welchen Weg die Kamele der Liebe auch einschlagen mögen, dort finde
ich meine Religion und meinen Glauben.“ Und der 1772. Doppelvers in Rūmīs
Maṯnawī (2012, S. 115) lautet: „Die Religion der Liebe ist anders als alle Religio-
nen; für die Liebenden ist Gott die Religion und das Glaubensbekenntnis“. Auch
der indische Mystiker Ḫazrat ʿInāyat Ḫān (gest. 1927) war ein Liebesmystiker. Er
beschreibt das Ziel seiner Sufi-Bewegung folgendermaßen (1963, S. 319):

Die Verwirklichung und Verbreitung der Erkenntnis der Einheit, der Religion der
Liebe und der Weisheit, damit die Vorurteile, die aus den verschiedenen Glaubens-
anschauungen und Bekenntnissen erwachsen, wie von selbst aufhören, sodaß die
Herzen der Menschen von Liebe überströmen und aller Haß, der aus den Unter-
schieden und Abgrenzungen entstanden ist, ausgerottet wird.
Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in … 35

An anderer Stelle betont er (Ebd., S. 113):

Das Gesetz verliert seine Macht, wenn es auf die Liebe trifft: der Strom der Liebe
geht darüber hinweg. Als jene Frau, die von allen als Sünderin bezichtigt wurde, vor
Christus gebracht wurde, welche Macht stieg da im Herzen des Meisters auf? Nicht
das Gesetz, sondern die Liebe, die sich als Gnade und Barmherzigkeit zeigte.

Ein weiterer wichtiger Mystiker, Şefik Can (gest. 2005), wurde nicht müde zu
betonen, dass der Weg des Propheten Muhammad in erster Linie kein Weg des
Gesetzes (Scharia), sondern der Liebe sei (Can 2006, S. 297 f.). Jedoch geht es
diesen Mystikern nicht darum, alle Religionen zu verleugnen oder sogar zu ver-
mischen, oder gar eine neue Weltreligion, nämlich die der Liebe, zu begründen.
Es geht ihnen vielmehr darum, zu betonen, dass die Liebe nicht nur das Funda-
ment, sondern auch die Essenz aller Religionen ist.

Islam als pluralistische Religion

Es wird oft darüber diskutiert, ob der Islam eher als eine inklusivistische oder
als eine pluralistische Religion zu kategorisieren ist. Denn der Islam erkannte
im Laufe seiner Geschichte Religionen wie das Christentum, das Judentum, das
Zoroastriertum, den Hinduismus, den Buddhismus und sogar manche Natur-
religionen als göttlich legitimierte Offenbarungsreligionen an (Toprakyaran 2010).
Deshalb wurden die Anhänger dieser Religionen als Schriftbesitzer (ahl al-kitāb)
bezeichnet. Auch die biblischen Propheten und Gesandten wie Noah, Abraham,
Moses, David oder Jesus wurden anerkannt und müssen ebenso respektiert werden
wie Muhammad. In diesem Kontext werden meistens die folgenden Verse zitiert:

In der Religion gibt es keinen Zwang … (Koran 2/256).

Und wenn dein Herr gewollt hätte (O Muhammad), so würden alle auf der Erde
insgesamt gläubig werden. Willst du etwa die Leute zwingen, gläubig zu werden?
(Koran 10/99–100)

Und so Gott es wollte, wahrlich, er machte euch zu einer einzigen Gemeinde. Doch
will er euch prüfen in dem, was er euch gegeben. Wetteifert darum im Guten. Zu
Gott ist eure Heimkehr allzumal. Und er wird euch aufklären, worüber ihr uneins
seid (Koran 5/48).

(O Muhammad) Wir haben an dich Offenbarungen gesandt, wie wir zuvor Offen-
barungen an Noah, und an die ihm folgenden Propheten gesandt haben. Und wir haben
36 E. Toprakyaran

Offenbarungen gesandt an Abraham, Ismael, Isaak, Jacob und ihren Nachkommen. So


auch an Jesus und Hiob und Jonas und Aaron und Salomo; und wir gaben David den
Psalter. … und zu Moses sprach Gott unmittelbar (Koran 4/163–164).

Siehe, die Gläubigen und die Juden und die Sabäer und die Christen – wer von
ihnen an Gott und den Jüngsten Tag glaubt und das Rechte tut – soll sich nicht
fürchten und soll nicht traurig sein (Koran 5/69).

Und streitet nicht mit den Schriftbesitzern, es sei denn in der besten Art; außer mit
jenen von ihnen, die ungerecht handelten; und sprecht: „Wir glauben an das, was zu
uns herabgesandt wurde und wir glauben an das, was zu euch herabgesandt wurde;
und unser Gott und euer Gott ist Einer, und Ihm sind wir ergeben (Koran 29/46).“

Wir erschufen euch … als Nationen und Völker, damit ihr euch untereinander
kennenlernt. Der vor Gott am meisten geehrte unter euch ist der Gottesfürchtigste
unter euch … (Koran 49/13).

Auch kann zur Untermauerung der These vom pluralistischen Islam argumen-
tiert werden, dass der Prophet Muhammad, als er 622 von Mekka nach Medina
floh und dort zum Oberhaupt der gesamten Stadtbevölkerung wurde, einen Ver-
trag aufsetzen ließ, der den dort ansässigen Juden und vermutlich auch Chris-
ten und Polytheisten dieselben Rechte gab, wie den Muslimen. Auch wurden in
diesem Vertrag alle Bewohner Medinas als eine einzige Gemeinschaft (umma)
bezeichnet. Jedoch macht dieselbe Erzählung auch deutlich, dass der religiöse
Pluralismus der frühen Muslime ihre Grenzen, und damit auch inklusivistische
und sogar exklusivistische Züge hatte. Denn es gelang nicht, diese multireligiöse
Gemeinschaft zu erhalten und nur wenige Jahre später, so die bekannten Erzäh-
lungen, arteten die andauernden Rivalitäten zwischen den medinensischen Juden
und Muslimen in kriegerische Feindschaft aus. Noch zu Lebzeiten Muhammads
sollen manche Juden hingerichtet worden sein; alle anderen mussten Medina
verlassen. Auch kam bald die Offenbarung des Koranverses 9/29, wonach jeder
Nichtmuslim eine Sondersteuer (ǧizya) entrichten musste, wenn er im Herr-
schaftsgebiet der Muslime lebte:

Bekämpft unter denen, die eine Offenbarungsschrift erhielten, diejenigen, die nicht
an Gott und an den Jüngsten Tag glauben, die nicht das verbieten, was Gott und sein
Gesandter verboten haben, und die nicht der Religion der Wahrheit angehören, bis
sie von ihrem Besitz demütig Tribut entrichten (Koran 9/29).

Auch wenn dieser Vers aus heutiger Perspektive grausam klingt, brachte er in der
damaligen Zeit einen menschenrechtlichen Fortschritt, denn erstmals wurde ein
religionsgesetzlicher Rahmen dafür geschaffen, dass verschiedene Religionen
Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in … 37

teils nebeneinander und teils sogar miteinander existieren konnten. Zwar muss-
ten Nichtmuslime die Sondersteuer bezahlen, die im Deutschen zumeist als Kopf-
steuer bezeichnet wird, doch konnten sie im Gegenzug ihre Religion frei ausleben
und hatten sogar eigene zivilrechtliche Instanzen. Vor allem aber bekamen
Andersgläubige infragen der Religionsausübung erstmals in der Geschichte
Rechtssicherheit. Auch durfte niemand bestraft werden, der die Sondersteuer aus
Gründen der Armut nicht bezahlen konnte.
Dieser Rechtspraxis ist es geschuldet, dass auf der Iberischen Halbinsel, auf
dem Balkan oder auch in Indien, Christen, Juden, Hindus und Buddhisten über
Jahrhunderte inmitten islamischer Herrschaftsgebiete relativ friedlich leben und
ihre Religion praktizieren konnten. So geht etwa das Millet-System im Osma-
nischen Reich auf diese frühislamische ǧizya-Praxis zurück. Jedoch sind diese
mittelalterlichen Modelle, so fortschrittlich sie damals auch waren, aus heutiger
Perspektive defizitär, da sie eine Zwei-Klassen-Gesellschaft schaffen. Deshalb
sind Rufe nach einer Wiederbelebung des ǧizya-Modells im besten Fall als naiv
zu bezeichnen. Es lässt sich aber dennoch feststellen, dass der Islam ein plura-
listisches Potenzial aufweist, das besonders von vielen Mystikern erkannt und
geschätzt wurde. Mehrheitlich wurde der Islam aber eher als inklusivistische
Religion verstanden. Andere Religionen wurden respektiert und als Gottgegeben
betrachtet, wurden aber dem Islam untergeordnet. Nichtmuslime wurden toleriert,
sofern sie die Sondersteuer entrichteten.

Der Islam als Vernunftreligion

Wichtig in diesem Kontext ist auch, dass der Islam als eine Vernunftreligion
gesehen werden kann. Es gibt mehrere hundert Stellen im Koran, die betonen,
dass es ohne die Vernunft keinen Glauben geben kann und dass nur vernünftige
Menschen die Religion Gottes verstehen können:

Diese Offenbarung ist ein Wort an die Menschen, damit sie sich warnen lassen und
erkennen, dass es nur einen Gott gibt, und damit sich die Vernünftigen belehren las-
sen (Koran 14/52).

O ihr Leute von Verstand, vielleicht werdet ihr gottesfürchtig (Koran 2/179).

So macht euch Gott seine Zeichen klar, auf dass ihr verstehet (Koran 2/242).

Siehe, in der Schöpfung der Himmel und der Erde und in dem Wechsel der Nacht und
des Tages sind wahrlich Zeichen für die Vernünftigen: Die da Gottes gedenken im Ste-
hen und Sitzen und Liegen; und nachdenken über die Schöpfung (Koran 3/190–191).
38 E. Toprakyaran

(Der Koran ist) eine von uns zu dir hinabgesandte, gesegnete Schrift (und wird den
Menschen verkündet), damit sie sich über Seine Verse Gedanken machen, und damit
diejenigen, die Vernunft besitzen, sich mahnen lassen (Koran 38/29).

Laut Koran gibt es sogar Menschen, die auch ohne göttliche Rechtleitung dem
Satan widerstehen:

Und ohne Gottes Huld gegen euch und seine Barmherzigkeit wäret ihr sicher dem
Satan gefolgt; bis auf wenige von euch (Koran 4/84).

Nach Meinung der Philosophen handelt es sich bei diesen Menschen um jene,
die durch Einsatz ihrer Vernunft das Rechte vom Unrechten zu unterscheiden ler-
nen; ganz wie der Protagonist des arabischen Romans Ḥayy b. Yaqẓān, der im 12.
Jahrhundert von Ibn Ṭufail (gest. 1185; latinisiert Abubacer) geschriebene und
1671 unter dem Titel Philosophus Autodidactus ins Lateinische übersetzt wurde.
Es ist bekannt, dass das philosophische Plädoyer für die Autonomie der Vernunft
des Ibn Ṭufail jüdische und christliche Denker wie Spinoza (gest. 1677), Leib-
niz (gest. 1716) oder Rousseau (gest. 1778) stark beeinflusste. Noch zentraler für
die europäische Aufklärung und Säkularität war das Werk des Ibn Ṭufail-Schülers
Ibn Rušd (1198; latinisiert Averroes), auf den der jüdische und christliche Averro-
ismus zurückgeht, der auch nach dem sogenannten Averroistenstreit an der Sor-
bonne 1277 weiter blühte und die europäischen Säkularisten beflügelte.

Der Islam als rechtsstaatliche und demokratische


Religion

Es kann weiterhin argumentiert werden, dass der Islam eine rechtsstaatliche und
demokratische Religion ist, da selbst Propheten den Gesetzen untergeordnet
sind und das Staatsoberhaupt – zumindest im sunnitischen Islam – durch Wah-
len bestimmt werden soll. So soll der Prophet Muhammad vielfach gesagt haben,
dass die koranischen und traditionellen Gesetze auch für ihn und seine Familien-
angehörige gelten. Im Zentrum der frühislamischen Rechtsprechung stand ähn-
lich wie im Judentum das Vergeltungsgebot:

Siehe, Wir haben die Tora hinabgesandt, in der sich eine Rechtleitung und ein Licht
befinden, … Und wir haben ihnen darin vorgeschrieben: Leben um Leben, Auge um
Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn; und auch für Verwundungen
gilt die Wiedervergeltung. Wer aber dies als Almosen erlässt, dem ist es eine Sühne
(Koran 5/44–45).
Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in … 39

Gleichzeitig wird aber am Ende des Verses angeboten, dass auf die Vergeltung ver-
zichtet werden soll. Dies erinnert an die Worte von Jesus Christus im Johannes-­
Evangelium (8, 1–11), wonach nur der einen Stein auf die Sünderin werfen soll,
der frei von Sünde ist. Jesus verbietet hier nicht die Steinigung, da es dem gelten-
den jüdischen Recht entspricht, versucht sie aber unmöglich zu machen. In ähn-
licher Weise verbietet der Koran die maßvolle Rache bzw. Vergeltung nicht, da
es dem geltenden (vermutlich vom Judentum beeinflussten) mekkanischen und
medinensischen Recht entspricht, macht aber deutlich, dass es eine fromme Tat ist,
darauf zu verzichten. Weitere Hinweise gibt es auch in anderen Versen, die dem
Menschen nahelegen, auf die Vergeltung bzw. die Rache zu verzichten:

Und wenn ihr euch für eine Ungerechtigkeit rächen wollt, so rächt euch in dem
Maße, wie euch Böses zugefügt wurde! Aber wenn ihr euch in Geduld übt (und ver-
zeiht), so ist dies besser für die Geduldigen (Koran 16/126).

Dass der Islam auch demokratisch oder zumindest mit der Demokratie kompa-
tibel ist, kann damit erklärt werden, dass der Prophet Muhammad sich stets mit
seinen Gefährten beraten hat und bei seinen Handlungen größten Wert auf die
Legitimierung durch die Gemeinschaft legte. Er sah sich nicht als einen absoluten
Herrscher oder gar Monarchen an, sondern eher als einen Ersten unter Gleichen
(primus inter pares). Selbst in religiösen Fragen galt der Prophet nur dann als
absolute Autorität, wenn seine Position durch eine göttliche Botschaft bestätigt
wurde. Deshalb gilt nach sunnitischer Mehrheitsmeinung, dass keine bestimmte
Staatsordnung vorgegeben wurde. Selbst die Frage, ob das Staatsoberhaupt
ein Muslim sein muss bleibt offen. Wichtig ist nach einer Vielzahl von musli-
mischen Theologen lediglich, dass das Oberhaupt von der Gemeinschaft legiti-
miert wird, gut und gerecht regiert und sich stets mit den anderen Mitgliedern
der Gemeinschaft berät. Da sich das islamische Kalifat aber bereits sehr früh in
eine Erbmonarchie verwandelt hat, wird der Islam bis heute besonders in der
Außenwahrnehmung eher mit der absoluten Monarchie oder gar mit Diktaturen
gleichgesetzt. Denn ab dem 5. Kalifen Muʿāwiya (gest. 680) beginnt eine radi-
kale und gewalttätige Instrumentalisierung der Religion. Infolgedessen wird die
Erbmonarchie eingeführt, was für den Propheten und seine ersten vier Nachfolger
undenkbar gewesen wäre.
Die Kalifen führen nun im Gegensatz zu den frühen Muslimen, die ein sehr
bescheidenes Leben führten, ein Leben in unermesslichem Luxus und bezeichnen
sich als Schatten Gottes auf Erden (ẓill Allâh fī al-arḍ). Als sich ein Enkel
Muḥammads, Ḥusain b. ʿĀlī (gest. 680), gegen diese Zustände zur Wehr setzt, wer-
den er und etliche weitere Nachkommen des Propheten im Namen des islamischen
40 E. Toprakyaran

Kalifats auf grausame Art hingerichtet. Die Ermordung nahezu aller Nachkommen
des Propheten im Namen des Kalifats ist sicherlich das tragischste Ereignis der
islamischen Geschichte. Das Kalifat konnte sich nie mehr von dieser folgen-
reichen Instrumentalisierung befreien bis es dann schließlich durch den Begründer
der Türkischen Republik, Mustafa Kemal Atatürk (gest. 1938), 1924 abgeschafft
wurde. In einer Rede Atatürks vom 1. Juli 1927 in der letzten Residenz der mittler-
weile Osmanischen Kalifen, dem Dolmabahçe-Palast, heißt es in Anspielung auf
den Anspruch, Schatten Gottes zu sein: „Dieser Palast gehört nun nicht mehr den
Schatten Gottes, sondern der Wahrheit Gottes, nämlich dem Volk.“.

Der Islam als säkulare Religion

Atatürk war ein Kind seiner Zeit und kam wie so viele türkische Militärs aus
der jungtürkischen Bewegung, die sich als eine intellektuelle Protestbewegung
gegen das Osmanische Sultanat und Kalifat in den letzten Jahrzehnten des Groß-
reichs gebildet hatte. Sie hatten größtenteils ein säkulares Welt- und Religions-
verständnis und forderten tief greifende Reformen. In ihren Schriften findet man
zahlreiche Stellen, die von der Notwendigkeit einer Erneuerung (taǧdīd), Instand-
setzung (islāḥāt), Wiederbelebung (iḥyāʾ) oder auch Erleuchtung im Sinne von
Aufklärung (tanwīr/tanawwur) berichten. Unter den Repräsentanten dieser
Bewegung befanden sich auch viele Gelehrte wie der höchste Mufti des Reiches,
Mūsā Kâẓım Efendi (gest. 1920), oder Bursalı Meḥmed Ṭāhir Bey (gest. 1925),
der auch als spiritueller Mentor Atatürks angesehen wird. Entsprechend waren
auch jene Personen, die vor und nach der Republiksgründung 1923 im Umfeld
Atatürks wirkten, Vertreter eines nicht nur demokratisch-rechtsstaatlichen, son-
dern auch säkularen Religionsverständnisses (Toprakyaran 2011, S. 2013).
Abdülhalim Çelebi (gest. 1925), Rıfat Börekçi (gest. 1941), Fehmi Ülgener
(gest. 1943), Remzi Akyürek (gest. 1944), Prof. Mehmet Ali Ayni (gest. 1945),
Prof. Şerafettin Yaltkaya (gest. 1947), Kenan Rifai (gest. 1950), Mustafa Saffet
Yetkin (gest. 1950), Veled Çelebi (gest. 1953), Hasan Âli Yücel (gest. 1961) sind
einige dieser Persönlichkeiten. Auch die sunnitisch-hanafitische Religionsbehörde
(Diyanet İşleri Başkanlığı) wurde in diesem säkularen Geist gegründet. Ab 1950
kam es jedoch zu einem Paradigmenwechsel in der türkischen Politik, da sich
verschiedene Islamisten (İslamcılar) nach und nach wieder durchsetzen konnten.
Es gab aber auch außerhalb des Osmanischen Reiches und der Türkischen
Republik Muslime, die ein ähnlich progressives Religionsverständnis hatten. Im
Russischen Reich lebten etwa Intellektuelle wie der aserbaidschanische Aufklärer
und Schriftsteller Mīrzā Fatḥʿālī Āḫhundzāde (gest. 1878). Er selbst sah sich als
Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in … 41

Erbe einer verborgenen materialistisch-islamischen Tradition. Als seine Vorbilder


nannte er den Mystiker Rumi, den Philosophen Averroes und die schiitischen
Ismailiten. Noch einflussreicher wurde die Erneuerungsbewegung (Ceditçilik)
der muslimischen Tataren auf der Krim und in Tatarstan, deren wichtigster Ver-
treter der Pädagoge und Politiker Ismail Gasprinski (gest. 1914) war. Ein weite-
rer bedeutender Vertreter des säkularen Islams war der pakistanische Dichter und
Politiker Muḥammad Iqbāl (gest. 1938).
In der Gegenwart sind Gelehrte wie der Franco-Algerier Mohammed Arkoun
(gest. 2010), der Marokkaner Abdou Filali-Ansary, der Sudanese Abdullahi
an-Naim, der Türke İhsan R. Eliaçık die Hauptverstreter des Diskurses vom
genuin säkularen Islam. Der frühere Präsident der türkischen Religionsbehörde
Ali Bardakoglu verwendet für dasselbe Phänomen bevorzugt den Ausdruck
„zivile Religion“. Das Hauptargument für die Säkularität ist die Tatsache, dass
es laut dem Koran und der prophetischen Praxis keine hierarchische Kirche und
keinen Klerus geben darf. Entsprechend darf es keinen Papst und keine Sünd-
losigkeit, und auch keine Theokratie geben. Das Kalifat wird rein politisch
interpretiert und kann durch ein Parlament und ein gewähltes Oberhaupt ersetzt
werden. Auch gibt es im Islam keine Sakramente. Selbst Moscheen, Märty-
rer, Imame, Propheten werden nicht als heilig (muqaddas) bezeichnet. Muham-
mad und alle anderen Propheten sind ganz Mensch, auch wenn sie als besondere
Personen gelten. Selbst die Frage, ob das Wort Gottes, nämlich der Koran, hei-
lig genannt werden kann ist umstritten. Deshalb hat es sich etabliert, den Koran
nicht als heilig, sondern als nobel, edel, majestätisch (karīm, maǧīd, ʿaẓīm etc.)
zu bezeichnen.
Als „Heiliges Buch“ (al-kitāb al-muqaddas) wird in der Türkei und in arabi-
schen Ländern nur die Bibel bezeichnet, wohl in Anlehnung an die christliche
Tradition. Im Koran hingegen werden lediglich Gott (al-quddūs) und sein Geist
(al-rūḥ al-quddūs) als heilig bezeichnet, wobei der Geist Gottes von den meisten
Exegeten mit dem Engel Gabriel gleichgesetzt wird. Die einzige Ausnahme bildet
das Tuwa-Tal am Berg Sinai, das im Koran ebenfalls als heilig bezeichnet wird.
Dass die Stadt Jerusalem nach der Eroberung von den Muslimen als die Heilige
(al-Quds) bezeichnet wurde ist außergewöhnlich, da nicht einmal Mekka und
Medina zuvor als heilig bezeichnet wurden. Streng theologisch betrachtet sind
jedenfalls nur Gott und sein Geist als sakral zu betrachten und die Welt hat nur
Anteil am Sakralen, insofern eine Verbindung zu Gott und Geist besteht. Jedoch
gibt es in der islamischen Theologie den Begriff des Segens (baraka bzw. faḍl),
welcher von Gott herrührt und in einem ständigen Fluss ist. Es gibt gesegnete
Menschen, Orte, Zeiten, wobei Gott den Segen jeden Moment „neu verteilt“.
42 E. Toprakyaran

Aus der Perspektive der säkularen Muslime macht auch die Forderung, dass
der Islam eine Trennung zwischen Kirche und Staat brauche, keinen Sinn, da es
im Islam keine Kirche gibt. Sinnvollerweise müsste gefordert werden, dass der
Islam nicht zu politischen und wirtschaftlichen Zwecken, wie ab dem Kalifat
Muʿāwiyas geschehen, missbraucht werden darf. Keine Person, erst recht kein
Politiker oder Machthaber, darf den Islam als sein Monopol betrachten und sich
erlauben, andere Menschen im Namen der Religion zu unterdrücken.

Schlussbetrachtungen

Im deutschen Islam-Diskurs werden manche Akteure nicht müde, sich selbst


als Repräsentanten des echten Islams oder des Mainstreams zu stilisieren. Auch
wird von diesen Akteuren stets der Eindruck erweckt, als denke die Mehrheit der
Muslime genauso wie sie selbst. Deshalb reden sie gerne auch im Namen „der
Community“, „der Basis“ oder gar „des Islams“. Gemeint ist mit echtem Islam
aber meistens ein nur vermeintlich traditioneller und hochgradig politisierter
Islam. Zugleich lehnen diese Akteure alle Debatten ab, die nach Reformen, nach
Erneuerung, nach Ökumene oder auch nach einem Deutschen Islam fragen.
In dem vorliegenden Artikel wurde deshalb aufgezeigt, dass es abseits der von
den Islamisten propagierten monolithischen Islam-Konstruktionen sehr unter-
schiedliche Religionsverständnisse und Gottesbilder geben kann. Ein besonderer
Fokus wurde auf das Gottesbild jener gelegt, die die Zentralität der Gottesliebe
oder die Autonomie der Vernunft betonen. Beiden Gruppen, also den mystisch
orientierten Herzensmenschen auf der einen Seite und den philosophisch orien-
tierten Vernunftmenschen auf der anderen Seite, ist gemein, dass sie die willkür-
lichen Autoritäten, die es in der islamischen Geschichte stets gegeben hat und die
es auch heute noch gibt, sehr kritisch betrachteten oder sogar ganz ablehnten. Sie
betonen, dass Gott kein ferner Tyrann ist, sondern ein Liebender, der dem Men-
schen sehr nah ist, wie es an vielen Stellen des Korans ausgesagt wird:

Gott liebt die Gutherzigen (Koran 3/134 u. 148).

Gott liebt die Geduldigen (Koran 3/146).

Gott liebt diejenigen, die Ihm vertrauen (Koran 3/159).

Gott liebt die Gerechten (Koran 5/42).


Lässt Religion Raum für Erneuerung? Islamische Gottesbilder in … 43

Auch die Schöpfung ist nicht abgeschlossen und es wird vom Menschen erwartet,
dass er sich Gott zuwendet und zugleich die Zeichen Gottes (ayāt Allāh), die
nicht auf den Korantext beschränkt sind, erkennt:

Ihn (Gott) bittet wer in den Himmeln und auf der Erde ist. Jeden Tag befasst Er sich
mit einer Angelegenheit (Koran 55/29).

Dein Herr spricht: „Ruft mich an und ich antworte euch (Koran 40/60).

Wir werden sie an den Horizonten und in ihnen selbst Unsere Zeichen sehen lassen,
bis es ihnen deutlich wird, dass sie (die Offenbarung) die Wahrheit ist. Genügt es
denn nicht, dass dein Herr Zeuge über alle Dinge ist? Aber siehe, sie hegen Zwei-
fel über die Begegnung mit ihrem Herrn. Siehe, Er umfasst doch alle Dinge (Koran
41/53 und ähnlich in 51/20).

Nur dann, wenn sich der Mensch seinem Schöpfer zuwendet und sich um Bes-
serung seiner Lage bemüht, wird Gott ihm helfen. Religion lässt also nicht nur
Raum für Erneuerung, sondern macht sie zu einer Bedingung:

Gott ändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst
ist (Koran 13/11).

Deshalb müssen wir all das Negative ändern, was in uns und in unseren Gesell-
schaften ist. Dies geht nur durch ständige Erneuerung und Reformen; insbesondere
solange es Menschen gibt, die die Religion instrumentalisieren. Ein unkritischer
Muslim, der sich mit dem zufrieden gibt, was es an althergebrachten Islamver-
ständnissen gibt, ohne all die Warnsignale aus der Gesellschaft und der Natur
wahrzunehmen ist demnach kein vorbildlicher Muslim. Denn aktuelle existenzielle
Probleme wie der religiöse Fanatismus, der globale Terror, die heftigen Kriege, die
große Armut, die vielen Menschenrechtsverletzungen, der immer mächtiger und
brutaler auftretende Turbokapitalismus und die verheerende Umweltzerstörung
sollten uns Muslime täglich dazu zwingen, uns immer wieder von neuem Gott
zuzuwenden und zu fragen, wie wir besser helfen können. Das Bild vom nahen,
helfenden, liebenden, barmherzigen und gerechten Gott wird dabei in den Vorder-
grund geraten und das längst überholte, aber in islamistischen Kreisen immer noch
dominierende Bild vom strafenden und zürnenden Gott ersetzen. Doch bis dahin
brauchen wir viel Geduld und Durchhaltevermögen; und wenn wir uns nicht vom
Pfad der Aufrichtigkeit entfernen, verspricht uns der Koran himmlischen Beistand:

Siehe, der Mensch ist wahrlich verloren, außer denen, welche glauben und das
Rechte tun und einander zur Wahrheit mahnen und zur Geduld (Koran 103/2–3).
44 E. Toprakyaran

Literatur

Almond, Ian. 2010. History of Islam in German Thought. From Leibniz to Nietzsche. New
York: Routledge.
Can, Şefik. 2006. Fundamentals of Rumi´s Thought. A Mevlevi Sufi perspective. Izmir:
Tughra Books.
Ḫān, Ḥazrat ʿInāyat. 1963. Die Einheit der religiösen Ideale. Weisheit der Sufis. Den Haag:
East-West Publications.
Henning, Max. 1991. Der Koran. Stuttgart: Reclam.
Leggewie, Claus. 1993. Alhambra – Der Islam im Westen. Hamburg: Rowohlt.
Mawlānā Ğalāladdīn Rūmī. 2012. Das Maṯnavī. Bd: 2. Norderstedt: Edition Shershir.
Mommsen, Katharina. 2001. Goethe und der Islam. Frankfurt a. M.: Insel.
Muḥyi´ddîn Ibn Al-`Arabî. 1978. The Tarjumân al-Ashwâq. A collection of mystical odes.
London: Theosophical Publishing House.
Toprakyaran, Erdal. 2010. The changeability of Islamic principles using the example of
pluralism. Religious Pluralism – Islam and Christianity in the 21st Century. Schriften-
reihe Studies & Comments der Hanns-Seidel-Stiftung 2:19–24.
Toprakyaran, Erdal. 2011. The two faces of the Turkish educator, governor and scholar
Mehmet Ali Ayni (1868–1945). International Review of Turkish Studies 3:62–73.
Toprakyaran, Erdal. 2013. Islamische Mystik im interreligiösen Dialog: Sind Sufis bessere
Gesprächspartner? Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 3
(4): 194–202.
Ülken, Hilmi Ziya. 2010. Aşk Ahlakı. Istanbul: Kültür Yayınları.
Die islamische Rezeption der
Reformation

Assem Hefny

Die islamische Rezeption der Reformation im engeren Sinne beschränkt sich auf
den Zeitraum von 1830 bis 1935.1 Die reformatorische bzw. liberale Epoche wird
von Albert Hourani in seinem einflussreichen Werk Arabic Thought in the Liberal
Age jedoch auf den Zeitraum von 1798 bis 1939 erweitert, der auch als arabische
Nahḍa oder Renaissance bezeichnet wird.

Die Rezeption des Begriffs ‚Reformation‘

Die gebräuchliche arabische Bezeichnung für den Begriff ‚Reformation‘ ist iṣlāḥ.
Dieses Wort findet sich bereits in der klassischen arabischen Sprache und kommt
auch im Koran vor (11:88), wo es ‚Verbesserung‘ bzw. ‚das Gute tun‘ bedeutet.
Demnach ist die rein sprachliche Bedeutung von Reformation positiv konnotiert.
Die Verbindung von Reformation und Religion kannte die arabische Sprache sowie
die arabische Kultur aber erst durch die Begegnung mit der westlich-europäischen
Kultur. So bezieht sich der Ausdruck iṣlāḥ dīnī (‚religiöse Reformation‘) zunächst
hauptsächlich auf die Reformationsbewegung von Martin Luther im 16. Jahrhundert
sowie auf die Spaltung der Kirche und die Entstehung des Protestantismus.

1Vgl. Al-Sayyid (2015, S. 99).

A. Hefny (*)
Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 45
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_4
46 A. Hefny

Während der arabischen Nahḍa, der sogenannten arabischen Renaissance im


langen 19. Jahrhundert, lassen sich mehrere Hinweise finden, dass der christ-
lich geprägte Begriff ‚religiöse Reformation‘ bei Muslimen eine positive
Konnotation hatte. Er wurde, genau wie der Begriff ‚Renaissance‘, aus der west-
lich-europäischen Kultur aufgenommen und fand als Lehnübersetzung mit dem
Wort iṣlāḥ eine weitgehend adäquate Wiedergabe. So beschreibt der ehemalige
Großscheich der Azhar und einer der ersten bekannten modernen Professoren der
Philosophen mit theologischem Hintergrund Muṣṭafā ʿAbdarraāziq (gest. 1947)
die Aktivitäten seines Lehrers Muḥammad ʿAbduh folgendermaßen:

Danach befasste sich der Lehrer [d.h. ʿAbduh] mit einer Art der religiösen Refor-
mation, woran er zeit seines reformatorischen Lebens interessiert war (ʿAbdarrāziq
1997, S. 102).

Ferner benutzt der bekannteste und treueste Schüler ʿAbduhs, nämlich


Muḥammad Rašīd Riḍā (gest. 1935) trotz seiner salafistischen Orientierung den
Ausdruck ‚religiöse Reformation‘ im positiven Sinne, indem er seine Bedeutung
für die Großgelehrten und Reformer Ǧamāladdīn al-Afġānī (gest. 1897) und
ʿAbduh herausstellt:

Die religiöse Reformation, für die beide Großgelehrten plädierten, ist die Rückkehr
des Islams zu seinem Zustand zur Zeit des Propheten (Eulogie) und seiner Gefährten
(Eulogie) bevor es zu Häresien und Abspaltungen kam (Riḍā 2012, S. 317).

Das Ende der Nahḍa lässt sich u.a. mit den arabisch-islamischen Niederlagen
(1948/1967) sowie mit dem Scheitern des Panarabismus in Verbindung bringen.
Auf die Nahḍa folgte eine Zeit der Ideologien, in der die Begriffe und Konzepte der
Renaissance und Reformation keine Rolle mehr spielten.2 Im Zuge der sogenannten
Reislamisierung, der Entstehung des Fundamentalismus und der Ausbreitung des
‚politischen Islams‘, wurde der Begriff ‚Reformation‘ häufig negativ konnotiert, da
er mit dem kolonialistischen, verhassten Westen in Verbindung gebracht wurde.
Selbst wenn Islamisten mit der Tatsache konfrontiert werden, dass viele
Aspekte des Religionsverständnisses einer ‚Reformation‘ oder Reformierung
bedürfen, vermeiden sie den westlich-christlich konnotierten Begriff ‚Refor-
mation‘ und machen stattdessen vom arabisch-islamischen Begriff taǧdīd
(‚Erneuerung‘) Gebrauch. Bevorzugt wird taǧdīd sowohl aus theologischen als

2Vgl. al-Ḥaddād (2016, S. 19).


Die islamische Rezeption der Reformation 47

auch pragmatischen Gründen. Einerseits wurde taǧdīd vom Propheten Muham-


mad in einem positiven Kontext erwähnt, nämlich in einem Hadith, das besagt,
Gott schicke der islamischen Umma (‚Gemeinde‘) jedes Jahrhundert einen
Erneuerer der Religion.3 Andererseits eignet sich der Begriff taǧdīd gut zur Mani-
pulation. Anders als der Begriff iṣlāḥ (‚Reformation‘), der (im arabischen Kon-
text) eine grundlegende Veränderung suggeriert, scheint der Begriff taǧdīd m.E.
eine Beibehaltung des Alten zu erlauben, was Traditionalisten bzw. Salafisten
zugutekommen würde. So könnten sie die heiligen Texte wortwörtlich auslegen
und sich trotzdem als Erneuerer (muǧaddidūn) bezeichnen, wie es etwa beim
Wahhabismus der Fall ist.4

Reformatorische Bewegungen

Ein näherer Blick auf die moderne, arabisch-islamische Geschichte zeigt, dass
viele Ideen, die nicht auf arabisch-islamischem Boden entstanden sind, häufig
Schwierigkeiten bei der Rezeption mit sich bringen. Das liegt m.E. in den Ver-
suchen begründet, diese Ideen entweder ohne Änderungen in die eigene ara-
bisch-islamische Kultur zu implantieren oder sie aber gänzlich zu islamisieren
bzw. zu arabisieren. Zu diesen Ideen gehört u.a. die Reformation.
Der Begriff ‚Reformation‘ wird unterschiedlich, ja sogar widersprüchlich
verstanden und gebraucht. So werden beispielsweise traditionelle Bewegungen
wie der Wahhabismus im heutigen Saudi-Arabien als reformatorisch bezeichnet.
Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb (gest. 1792), nach dem der Wahhabismus benannt
ist, verstand die Rückbesinnung auf den Ursprung äußerst selektiv, indem er fast
ausschließlich das Gedankengut von Aḥmad b. Ḥanbal (gest. 855) und Aḥmad b.
Taimiyya (gest. 1328) in Form einer Nachahmung (taqlīd) wieder aufgriff. Hier
wird die Bedeutung der Reformation auf die ‚Reinigung‘ (taṭhīr) der Religion
von scheinbar häretischen Elemente reduziert, selbst wenn diese Elemente ratio-
nal betrachtet dem Wohl des Menschen dienen. Aus einer solchen Perspektive las-
sen sich moderne Werte wie die Gleichstellung der Geschlechter oder Freiheit des
Denkens und Glaubens als Häresien verstehen, die es zu bekämpfen gilt.

3Vgl.die diesbezügliche Prophetenüberlieferung bei Abū Dāwūd, Nr. 4291.


4Da es in diesem Aufsatz um die Reformierung im islamisch-religiösen Bereich geht,
wird der christlich geprägte Begriff Reformation auch in Bezug auf islamische Seite Ver-
wendung finden.
48 A. Hefny

Im Gegensatz dazu wird der Begriff ‚Reformation‘ im klassischen Sinne mit


Bewegungen in Verbindung gebracht, die traditionell-religiöse Denkstrukturen
durch Rationalität zu reformieren versuchen. Hier sind die Denker und Gelehrten
der der arabischen Nahḍa zu nennen. So bezog sich beispielsweise der ägypti-
sche Gelehrte Muḥammad ʿAbduh auf den Ursprung, d. h. auf den Koran und
die authentischen Überlieferungen der Sunna, die er durch eine eigenständige
Urteilsbemühung (iǧtihād) jenseits der Nachahmung (taqlīd) auf eine zeitge-
mäße Art und Weise zu interpretieren versuchte. Er war nicht von den Ansichten
bestimmter Gelehrter abhängig und offen gegenüber der westlich-europäischen
Kultur. Auch hier kann von Reinigung (taṭhīr) die Rede sein, jedoch dient diese
einem ganz anderen Ziel. Man könnte in diesem Zusammenhang tentativ von
einer Rückwärts- und Vorwärts-Reformation sprechen.
Die Rückwärts-Reformation strebt eine Art Wiederbelebung des Stammeszu-
gehörigkeitsgefühls (ʿaṣabīya) mithilfe der Religion an, um politische Interessen
auf der Arabischen Halbinsel zu verwirklichen. Hier wird von der mobilisieren-
den und ideologischen Kraft der Religion Gebrauch gemacht.
Die Vorwärts-Reformation nimmt die Rationalität als Grundlage der Reforma-
tion und bemüht sich, die Religion dem Zeitgeist anzupassen. Aus diesem Grund
ist es meiner Ansicht nach unangebracht, die rückwärtsgewandte Wiederbelebung
als eine Reformation im Wesentlichen Sinne zu betrachten. Allerdings dürfen die
unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründe der arabischen Reformer
sowie ihre unterschiedlichen Denktraditionen nicht unerwähnt bleiben, die maß-
geblich das jeweilige Verständnis der Reformation waren.
Zugleich galt den arabischen Reformern das islamische Kulturerbe (turāṯ) als
Basis für ihre Reformation, da sie darin eine Legitimation für neue Gedanken
sahen. So hat etwa der Ägypter Rifāʿa al-Ṭahṭāwī (gest. 1873) die in der französi-
schen Verfassung und im politischen System verankerte Freiheit als Gerechtigkeit
(ʿadl) bezeichnet und definiert, nicht nur, weil ihm für ‚Freiheit‘ kein adäqua-
ter Begriff in der arabischen Sprache zur Verfügung stand, sondern auch, um das
moderne Konzept der Freiheit innerhalb des islamischen Kulturerbes zu verankern.5
Da das Gedankengut von Muḥammad ʿAbduh Ähnlichkeiten mit dem von
Martin Luther hat, gilt er häufig als Paradebeispiel für die positive islamische
Rezeption der Reformation, vor allem in der Zeit der arabischen Nahḍa.

5Vgl. al-Ḥaddād (2016, S. 102).


Die islamische Rezeption der Reformation 49

Die Notwendigkeit einer Reformation des Islams

Eine Erneuerung des islamischen Religionsverständnisses scheint heutzutage


überfällig zu sein. Aufgrund von mehreren aktuellen Ereignissen sehen sich
Muslime gezwungen, ihr religiöses Gedankengut zu reformieren. Exemplarisch
seien hier die Ereignisse vom 11. September 2001 zu erwähnen, die bewirkt
haben, dass der Islam und die Muslime im Westen generell mit Terrorismus in
Verbindung gebracht werden. Ferner führte das Scheitern des sogenannten Ara-
bischen Frühlings sowie das Versagen des politischen Islams, ein harmonisches
Zusammenspiel von Islam und Politik zu finden, zur Entstehung radikaler bis
terroristischer Organisationen, die mit den Regimen nicht zusammenarbeiten
wollten und daher politisch ausgeschlossen worden sind, wie dem sogenannten
Islamische Staat (IS). Dies alles wirft die Frage nach einer Reformation des
Islams mit neuer Dringlichkeit auf. Der Aufstieg des ‚Islamischen Staates‘
sollte ein Weckruf für alle Muslime auf der Welt sein. Muslime, die den IS als
unislamisch bezeichnen und lediglich darauf verweisen, dass er nicht den ‚wah-
ren‘ Islam vertrete, können dadurch nicht verhindern, dass sich andere Muslime
mit dem Islamverständnis der Dschihadisten identifizieren.6
Zweifelsohne gibt in Europa viele Muslime, darunter Konservative und Kon-
vertierten, die die humanistische Motivation einer islamischen Aufklärung vehe-
ment ablehnen. Für sie ist der Islam nicht reformierbar, denn der Koran gilt ihnen
als unveränderbares Gotteswort. Um gegen diese Auffassung anzugehen, bedarf es
einer grundlegenden Reformation des religiösen Denkens. Dabei gilt es vor allem,
den Muslimen eine kritische, aufklärerische Bildung zukommen zu lassen, die sie
gegen die Gefahren des religiösen Extremismus schützt. Mit anderen Worten: Die
Reformation des religiösen Denkens muss im Bildungssektor stattfinden und hier
schon sehr früh ansetzen, d.h. bereits in der Grundschule, bei religiösen Kinder-
büchern, und bis hin zur höchsten Form der theologischen Bildung reichen.

Martin Luther im muslimischen Diskurs

Muḥammad ʿAbduh, der Europa Ende des 19. Jahrhunderts kennen lernte, sah
als erster Reformer eine gewisse Nähe zwischen Islam und reformatorischen
Christentum. Zwischen beiden gebe es, bis auf die Anerkennung des Propheten

6Vgl. Khatib (23.02.2016).


50 A. Hefny

Muḥammad, viele Gemeinsamkeiten, die vor allem im Kontrast zu katholischen


Glaubensauffassung deutlich würden: Beide haben, laut ʿAbduh, ein positive-
res Verhältnis zur Welt aufgrund ihrer Vorstellung von Ehe, Familie, Freude und
Arbeit, und in beiden haben die Gläubigen einen direkten Bezug zu Gott, der
ohne Mittler oder Klerus auskommt. Reformatorisches Christentum und Islam
räumen dem Wort Gottes bzw. der heiligen Schrift eine zentrale Stellung ein, und
auch hier gibt es keine Mittlerfunktion, sondern jeder Einzelne besitzt das Recht
zu einer eigenständigen Auslegung (iǧtihād), während beide zugleich religiöse
Mythen, wie etwa die Eucharistie, kritisieren. Durch diese ‚rationalere‘ Grund-
haltung ergeben sich gewisse Ähnlichkeiten zwischen Protestantismus und Islam
(Paulus 2007).
ʿAbduh sah im reformierten Europa den Geist des Islams. Im Westen habe er
einen Islam ohne Muslime gesehen, so sagte er in einem berühmten Bonmot, und
in den islamisch geprägten Ländern Muslime ohne Islam. Diese positive Rezep-
tion der Reformation ließ einflussreiche muslimische Gelehrte, wie Muḥammad
Abū Zahra (gest. 1974), davon ausgehen, Luther sei vom Islam beeinflusst wor-
den. In einer Abhandlung über das Christentum weist er auf einen islamischen
Geist in der Reformation hin. Er geht aber nicht von einem direkten islamischen
Einfluss aus, sondern ist vielmehr der Meinung, islamische Auffassungen seien in
die europäische Geschichte des Mittelalters eingegangen: Schon in der Zeit der
‚Alten Kirche‘ sei die Kirche auf einen falschen Weg gekommen und zwar auf-
grund der Zwei-Naturenlehre Christi, die Abū Zahra als Lehre von der „Gottheit
Christi“ bezeichnet. Außerdem geht er von der Dekadenz der katholischen Kirche
im Mittelalter aus, die letztendlich zur Reformation geführt habe.
Abū Zahra vertritt weiterhin die Auffassung, die Reformation sei dem Geist
des Islams so nah, dass eine ‚vollständige‘ christliche Reformation zwangsläufig
zum Islam geführt hätte. In dem Maße, wie die Reformation die kirchliche Macht
zurückwies und die einzige Autorität in der Bibel und v. a. im Evangelium sah,
hätte sie auch die Beschlüsse sämtlicher Konzilen zurückweisen oder sie an
der Heiligen Schrift überprüfen müssen. Weil das aber nicht geschehen sei und
somit das Dogma von Jesus als Gottes Sohn auch in der evangelischen Kirche
noch Bestand habe, bleibe die evangelische Reformation unvollständig. Eine
vollständige Reformation aber, die sich auch dieses Mythos‘ entledige, würde
zwangsläufig in den Islam münden (Abū Zahra 1961, S. 160 f.).
Die islamische Rezeption der Reformation 51

ʿAbduh und Luther: Gemeinsamkeiten und


Unterschiede

ʿAbduh entwickelte ein Konzept von Reformation, das zu einem gewissen Grad
seine Erfahrung mit der europäischen Reformation widerspiegelte. In diesem
Zusammenhang lassen sich wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwi-
schen ʿAbduh und Luther herausstellen:

• Beide waren sich über ein entscheidendes Prinzip reformatorischer Methodik


einig: Jede Reformation beginne mit einer tiefgehenden hermeneutischen Aus-
einandersetzung mit dem religiösen Text. Für ʿAbduh kann die zeitgemäße
Lesart eines religiösen Textes diesen mit der Moderne vereinbaren und ihn
andererseits von der politischen Macht befreien, die den religiösen Text oft für
ihre Interessen missbraucht.
• Luther schlug entschlossen den Weg der Reformation ein und suchte die
direkte Konfrontation mit der katholischen Kirche, da sie zu seiner Zeit die
religiöse Autorität und Macht besaß. ʿAbduh hingen konnte eine solche Aus-
einandersetzung nicht führen, da es im Islam kein Papsttum gibt, d. h. keine
zentrale Autorität und Macht, gegen das er antreten konnte. Er war vielmehr
mit dem traditionellen religiösen Denken und traditionelle Lehrinstitutionen,
wie der Azhar-Universität in Kairo, konfrontiert, die einer Reform bedurften
und ohne deren Autorität und Macht keine Änderung möglich war. Bei
ʿAbduh nahm der lutherische Kampf gegen die Kirche also die Form einer
Kritik an der Azhar-Universität und -Schulen an. Um diese Bildung mit ihrem
traditionellen Kurrikulum und rückständigen Lehrmethoden zu ändern, war
ʿAbduh gezwungen, mit den religiösen Institutionen zusammen zu arbeiten,
was einer konsequenten Reformation im Wege stand.
• Die historische Situation in Europa leistete Luthers reformatorischen
Gedanken große Unterstützung, da die Kräfte der Renaissance und Aufklärung
im Vormarsch waren und Luthers Reformation den Weg ebneten. Im Gegen-
satz dazu begann ʿAbduh sein reformatorisches Projekt in einer Zeit, als die
arabische Renaissance dem Ende zuging. Nach ʿAbduh wurde die Reforma-
tion nicht weitergeführt, stattdessen entstanden Ideologien, unter deren Konse-
quenzen die arabische Welt bis heute leidet.7

7Vgl. Tīzīnī (15.02.2005).


52 A. Hefny

• ʿAbduh erklärte mehrmals, dass der Islam mit der westlichen reformatorisch
geprägten Kultur im Einklang stehe. Nach Muḥammad ʿImāra, dem Heraus-
geber von ʿAbduhs Gesamtwerk, vertrat ʿAbduh die Ansicht, der Islam wie
das Christentum bestünden lediglich aus allgemeinen Richtlinien, die die
Menschen für die Herrschaft und Gesellschaft zu Hilfe nehmen müssen. Da
der Islam hierfür keine detaillierten Gesetze erlassen habe, sei es die Auf-
gabe des Menschen, mithilfe ihrer Erfahrung und ihres Verstandes aus den
allgemeinen Prinzipien konkretere Bestimmungen und Vorschriften abzu-
leiten. Darüber hinaus vertritt ʿAbduh die Ansicht, der Islam trenne Religion
und Staat: „Der Islam ist gegen die Zusammenfügung sowie die Vereinigung
der religiösen Macht mit der politischen Macht. Die Wiedervereinigung bei-
der Mächte ist das, woran die Päpste und deren unterstützenden Anhänger des
Katholizismus arbeiten“ (ʿImāra 2006, Bd 2, S. 171).

Nach ʿImāra bezieht sich ʿAbduh mit dieser Ansicht auf die Ereignisse im mittel-
alterlichen Europa. Damals nahmen die Könige die Kirche als Vertreter Gottes zu
Hilfe, um die Völker zu beherrschen. Die Gebildeten begehrten daraufhin gegen
Kirche und Klerus auf und trennten die Religion vom Staat. So entstand eine
westliche säkulare Kultur, die später, v. a. durch die industrielle Revolution, dem
Westen einen schnellen Fortschritt in Wissenschaft und Technik ermöglichte.
Diese Entwicklung, so ʿImāra, darf man allerdings nicht auf den Islam übertragen.
Denn im Islam gebe es keine Kleriker, die Gott auf der Erde vertreten, sondern
nur islamische Religions- und Rechtsgelehrte, deren Meinungen anzunehmen bzw.
abzulehnen sind, je nach dem, wie weit sie auf koranischen und prophetischen
Beweisen basieren. Darüber hinaus habe der Westen wegen der Kirche, die gegen
die freie Wissenschaft war, lange Zeit im Dunkeln gelebt, während die Muslime
in derselben Zeit die Welt durch zahlreiche wissenschaftliche Entdeckungen, etwa
auf dem Gebiet der Medizin und Chemie, bereicherten. Nicht zuletzt bestehe der
Islam, so ʿImāra, nicht aus unverbindlichen moralischen Regeln, sondern verfüge
über ein systematisches Regelwerk, das über allgemeine Anweisungen und aus-
führliche Bestimmungen verfüge, die in der Gesellschaft zu beachten seien.8
Obwohl ʿImāra Recht hat, dass der Islam weder Klerus noch Papst kennt,
lässt er allerdings unerwähnt, dass ein Kalif als Vertreter Gottes auf Erden galt
und somit einem Papst sehr ähnlich war. Die Nachfolgerschaft als Aufgabe des
Menschen, der als Vertreter Gottes auf Erden betrachtet wird, hat sich, allem

8Ausführlich dazu vgl. ʿImāra (2006, Bd. 1, S. 105–119).


Die islamische Rezeption der Reformation 53

Anschein nach, auf den Machtinhaber, und damit den Kalifen, übertragen.9
Obwohl der erste Kalif Abū Bakr (gest. 634) den Titel ‚Vertreter Gottes‘ (ḫalifat
Allāh) abgelehnte und sich nur ‚Nachfolger des Propheten Gottes‘ (ḫalīfat rasūl
Allāh) hat nennen lassen, benutzt ihn der dritte Kalif ʿUṯmān b. ʿAffān (gest.
656) in einem Brief an die Pilger, den ʿAbdallāh b. ʿAbbās (gest. 688) auf seinen
Auftrag hin überbrachte. Als Reaktion auf die Forderung vieler Muslime, dass
‘Uṯmān u.a. wegen seiner Vetternwirtschaft von seinem Amt zurücktreten müsse,
sagte er:

In Bezug darauf, dass ich mich von der Herrschaft lossagen soll, so ist mir lieber,
gefesselt zu werden als mich von der Arbeit Gottes und dessen Nachfolgerschaft
loszusagen (al-Ṭabarī 1992, S. 499).

Ausgehend von seinem Glauben, dass er als Kalif der Vertreter/Nachfolger Got-
tes sei, war ‘Uṯmān anscheinend der Auffassung, dass ihm gehorcht werden
müsse. Folglich lehnte er ab, auf das Kalifat zu verzichten, insbesondere weil
er es als Gottes Vorherbestimmung betrachtete, dass er das Kalifat übernommen
hatte. Er verglich es mit einem Gewand, das ihm Gott angezogen habe. Hätte
er dieses Gewand ausgezogen, d. h. auf das Kalifat verzichtet, wäre dies seiner
Ansicht nach eine Ablehnung der Vorherbestimmung Gottes gewesen, was ihm
als Unglaube gegolten hätte. Aus dem Grund, dass der Kalif von Muslimen für
einen Vertreter/Nachfolger Gottes gehalten wurde, war es logisch, ihn als Gottes
Schatten auf Erden zu bezeichnen. Diese Ansicht führte zwangsläufig zu einer
quasi heiligen Stellung des Kalifen und des Kalifats.10 In diesem Sinne besteht
der Unterschied zwischen Christentum und Islam in Bezug auf den Klerus und
dessen religiöse und politische Macht eher in der Theorie und weniger in der
Wirklichkeit.11

9Al-Azmeh weist darauf hin, dass sowohl mit den göttlichen Eigenschaften wie Einheit
und Macht die Autorität der Könige (Kalifen) anschaulich gemacht wurde als auch „diese
Eigenschaften den königlichen Autoritäten zukamen“ (Al-Azmeh 1996, S. 64).
10Der säkular orientierte ägyptische Farağ Fūda, der wegen seiner scharfen Kritik an den

Islamisten im Jahre 1992 ermordet wurde, sieht in der zitierten Aussage ‘Uṯmāns einen
Beweis dafür, dass die Theorie der Herrschaft im Namen Gottes ihren Ursprung in der
islamischen Geschichte hat. Diese Ansicht hat al-Qaraḍāwī zu widerlegen versucht. (Vgl.
al-Qaraḍāwī 2007, S. 65 ff.).
11Dazu ausführlich Hefny (2014, S. 84–89; 147–151; 206 f.).
54 A. Hefny

Hindernisse der islamischen Reformation

Der tunesische Islamwissenschaftler Muḥammad al-Ḥaddād sieht viele Hinder-


nisse aus dem Weg zu einer islamischen Reformation. Einerseits beharren viele
Muslime auf der Einzigartigkeit des Islams, sodass er nicht mit anderen Reli-
gionen und deren Geschichte verglichen werden kann und daher auch keiner
Reformation bedürfe. Andererseits beharren die Scheinmodernisten darauf,
dass die Religion an sich keine Rolle in der Moderne spiele, dass sie zu einer
reinen Privatsache geworden sei. Dieser Auffassung widerspricht jedoch die
Realität der arabisch-islamischen Welt und führt ferner zu einer Ablehnung aller
modernistisch orientierten Denker und deren Meinungen. Viele gläubige oder
säkulare Christen vertreten eine ähnliche Haltung, da sie nicht akzeptieren, das
Christentum mit anderen Religionen gleichzusetzen. Sie glauben im Inneren –
selbst wenn sie eigentlich säkular eingestellt sind –, dass das Christentum die
erhabenste Religion sei.12 Diese und weitere Gründe führen zum Scheitern einer
islamischen Reformation und leisten der Reislamisierung Vorschub.

Das Scheitern der Reformation zugunsten der


Reislamisierung

Abdel-Hakim Ourghi beschreibt das Scheitern der islamischen Reform zugunsten


der sogenannten Reislamisierung zutreffend, wenn er sagt: „Die ‚Vorreform-
bewegung‘ zur Erneuerung des Islams, die sich im achtzehnten und neunzehnten
Jahrhundert fast überall in der islamischen Welt zu Wort meldete, war jedoch
nicht von Erfolg gekrönt. Reformer, die eine Rückkehr zu den Lehren des ‚­reinen‘
Islams des siebten Jahrhunderts predigten, wie etwa Ǧamāladdīn al-Afġānī
(1838–1897), Muḥammad ʿAbduh (1849–1905) und Muḥammad Rašīd Riḍā
(1865–1935), waren nicht in der Lage, die Traumata zu heilen, die durch den
Zusammenprall mit der westlichen Moderne verursacht worden waren“ (Ourghi
27.08.2016). Meiner Ansicht nach fehlte dieser Islamreform „der Geist der kri-
tischen Vernunft“ nicht, wie Ourghi meint. Vielmehr fehlte es ihr an institutio-
neller Unterstützung, die die individuellen Reformbemühungen auf eine breite
Basis hätte stellen können. Als Gegenbewegung dazu konnte man ein sogenanntes
„Erwachen des Islams“ (ṣaḥwat al-Islām, bekannt als al-ṣaḥwa al-islāmiyya)

12Vgl. al-Ḥaddād (2016, S. 32 f.).


Die islamische Rezeption der Reformation 55

bemerken, eine Strömung, die die westliche Kultur und deren Werte vehement
ablehnte. Folglich wurden die Erben dieser Reformbewegung, wie etwa der
Begründer der Muslimbruderschaft Ḥasan al-Bannāʾ (1906–1949) und der Theo-
retiker des aktivistischen Islams Sayyid Quṭb (1906–1966), Gründungsväter neo-
fundamentalistischer Bewegungen. (Vgl. ebd.)
Es sei hier zu erwähnen, dass das gezielte Ausarbeiten konkreter Reformen,
die in eine Reformation münden, nicht staatlich gesteuert werden darf, da sie
sonst Gefahr laufen, den Interessen der Herrschaft zu dienen. In diesem Sinne
sind Reformforderungen des ägyptischen Präsidenten an die Azhar-Lehrinstitu-
tionen zum Scheitern verurteilt, die sie eine gezielte, rein religiöse Reform ver-
langen, die aber nicht die staatliche Politik und das Herrschaftssystem infrage
stellen darf. Obwohl die unterstützende Rolle der Herrscher für die Reform
von entscheidender Bedeutung ist, könnte sie aber kontraproduktiv sein, wenn
sie den Reformern nicht die nötige Freiheit lässt. Eine gelungene Reform muss
sich sowohl auf das Religiöse als auch das Politische beziehen. Hier meint der
Islamwissenschaftler und Journalist Loay Mudhoon zu Recht: „Ohne politi-
sche Freiheiten ist eine umfassende religiöse Reform nicht möglich“ (Mudhoon
11.06.2016).

„Pluralität der Lesarten ist der Schlüssel zu Reformen“

Nach Mudhoon sind pluralistische Lesarten der Schlüssel zu Reformen. Hierbei


nimmt er den renommierten iranischen Philosophen Abdolkarim Soroush als Bei-
spiel. Soroush betont in seinen Schriften die Wandelbarkeit religiöser Erkenntnis.
Seiner Ansicht nach kann es keine überall und jederzeit gültige „Islamversion“
geben. In den Worten Soroushs: „Ich vergleiche das mit einem Fluss. Der Pro-
phet war nur die Quelle des Flusses. Die gesamte islamische Tradition ist der
Fluss. Sie fließt Richtung Ewigkeit. Wir sind ein bestimmter Abschnitt des Flus-
ses; die nächste Generation wird ein anderer Abschnitt sein. Wir sollten niemals
annehmen, dass Religion ein stehendes Gewässer ist. Sie ist wie ein fließender
Fluss“13 (Mudhoon 23.05.2016).
Wissenschaftlich betrachtet ist die Unterscheidung zwischen dem Text und
dem, was seine Interpreten daraus machen, nicht unproblematisch. Der Text
spricht nicht für sich und setzt sich nicht selbst in die Praxis um, sondern der

13Die Zitate beziehen sich auf Soroush (2000).


56 A. Hefny

Mensch tut dies gemäß seinem Textverständnis. Vom vierten Kalifen ʿAlī (gest.
661) ist der berühmte Ausspruch überliefert, der exemplarisch für einen solchen
interpretationsbasierten Ansatz steht: „Der Koran ist zwischen zwei Buchdeckeln,
er spricht nicht; von den Menschen wird er zum Sprechen gebracht“ (al-Ṭabarī
1979, S. 48 f., 66). Das bedeutet, der Text ist nicht offenbart worden, um isoliert
von der Realität zu existieren. Vielmehr tritt er in eine Interaktion mit ihr, wobei
dem Menschen die Vermittlerrolle zukommt. Je stärker bei diesem ein tolerantes
Bewusstsein heranreift, desto mehr tritt auch die dem Text immanente Toleranz
in Erscheinung. Und je weniger er sich der Würde und der Ebenbürtigkeit aller
Menschen ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit bewusst ist, desto einseitiger
und intoleranter wird sein Verständnis des Textes sein (Hefny 03.05.2017).
In diesem Zusammenhang scheint die Unterscheidung zwischen dem
Unwandelbaren und Wandelbaren in der islamischen Religion unabdingbar zu
sein. Hierbei spricht Soroush von Wandelbarkeit religiöser Erkenntnisse und ver-
steht den Islam als eine Serie von Interpretationen. Nach Ansicht vieler muslimi-
scher Religions- und Rechtsgelehrten umfasst das Unwandelbare die moralischen
und religiösen Werte, während sich das Wandelbare auf weltliche und wissen-
schaftliche Angelegenheiten bezieht. Demnach unterliegt das religiöse Denken in
Bezug auf die Regelung des menschlichen Lebens sowie der Verhältnis zwischen
Religion zu Politik dem menschlichen Verstand, der es im Sinne des Menschen-
wohls reformieren kann.14

Versöhnung des Islam mit der Moderne

Zur Versöhnung des Islam und seiner ethischen Normen mit der Moderne sowie
mit den Errungenschaften und Realitäten des modernen Verfassungsstaats scheint
die Rolle der europäischen Muslime von großer Bedeutung zu sein. Hier meint
Mudhoon zu Recht, dass diese frei von Repression neue Reformideen entwickeln
können. „Dabei sollte es weniger darum gehen, bestimmte liberale oder huma-
nistische „Islam-Versionen“ zu privilegieren. Wichtiger wäre es, dafür zu sorgen,
dass plurale Islam-Verständnisse und Zugänge an den Zentren für Islamische
Theologie an den deutschen Universitäten die Norm sein würden“ (Mudhoon
11.06.2016).

14Ausführlich zur Problematik des Wandelbaren und Unwandelbaren im Islam vgl. Krämer
(1999, S. 53 f.), Krämer (1993, S. 209–227), Hefny (2014, S. 118–121).
Die islamische Rezeption der Reformation 57

Literatur

ʿAbdarrāziq Muṣṭafā. 1997. Muḥammad ʿAbduh. Kairo: Dār al-kutub al-miṣriyya.


ʿAbduh Muḥammad. 2006. Al-aʿmāl al-kāmila li-l-imām al-šaiḫ Muḥammad ʿAbduh
[Gesamtwerk von Muḥammad ʿAbduh], (Hrsg.) und eingeleitet von M. ʿimāra. 2. Aufl.
Bd. 1 und 2. Kairo: Dar El-Shorouk, Bibiliotheca Alexandrina.
Abū Zahra, Muḥammad. 1961. Muḥāḍarāt fī al-naṣrāniyya [Vorträge über das Christentum].
Kairo: Dār al-fikr al-ʿarabī.
Al-Azmeh, Aziz. 1996. Die Islamisierung des Islam, imaginäre Welten einer politischen
Theologie. Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz. Frankfurt a. M.: Campus.
Al-Ḥaddād Muḥammad. 2016. Al-sardīya al-maʿrifiyya wa rihānāt al-naqd [Die kogni-
tive Narratologie und die Wetten der Kritik]. In: muqārabāt maʿrifiyya fī l-iṣlāḥ al-dīnī
[Epistemologische Herangehensweisen an die religiöse Reformation], Forschungsreihe
5. Rabat: Mominoun Without Borders.
Al-Qaraḍāwī Yūsuf. 2007. Min fiqh al-daula fī l-islām [Der Staat im Islam aus fiqh-Per-
spektive]. 5. Aufl. Kairo: Dar El-Shorouk.
Al-Sayyid, Riḍwān. 2015. Min al-iṣlāḥ ilā al-iḥyāʾ – maṣāʾir mawārīṯ al-tafkīr al-nahḍawī
al-islāmī [Von der Reformation zur Belebung – Schicksale der Erben des islamischen
Renaissance-Denkens]. In: Ittiǧāhāt al-taǧdīd wa-l-iṣlāḥ fī l-fikr al-islāmī al-ḥadīṯ
[Richtungen der Erneuerung und Reformierung im modernen islamischen Denken],
hrsg. M. Kamāladdīn, Bd 1. Alexandria: Bibliotheca Alexandrina
Al-Ṭabarī. Abū Ǧaʿfar Muḥammad. 1979. Tārīḫ al-umam wa-l-mulūk [Geschichte der
Nationen und Könige]. Bd. 5, 4. Aufl. Kairo: Dār al-ma‘ārif.
Al-Ṭabarī. Abū Ǧaʿfar Muḥammad 1992. Tārīḫ al-umam wa-l-mulūk [Geschichte der
Nationen und Könige]. Bd. 2. Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmīya.
Hefny, Assem. 2014. Herrschaft und Islam – Religiös-politische Termini im Verständ-
nis ägyptischer Autoren. Reihe für Osnabrücker Islamstudien, Bd. 16. Peter Lang,
­Frankfurt a.M.
Hefny, Assem. 2017. Die islamische Al-Azhar Universität in Kairo – Eine Frage der Inter-
pretation. Qantara.de am 03.05.2017. https://de.qantara.de/inhalt/die-islamische-al-­
azhar-universitaet-in-kairo-eine-frage-der-interpretation?nopaging=1. Zugegriffen: 16.
Apr. 2018.
ʿImāra, Muḥammad. 2006. al-Iṣlāḥ bi-l-Islām: maʿālim al-mašrūʾ al-ḥaḍārī li-l-Imām
Muḥammad ʿAbduh. al-Ǧīza: Nahḍat Miṣr.̣
Khatib, Hakim. 2016. Chance für eine muslimische Reformation? https://de.qantara.de/
inhalt/lehren-aus-dem-terror-des-islamischen-staates-chance-fuer-eine-muslimische-re-
formation. Zugegriffen: 17. Apr. 2018.
Krämer, Gudrun. 1993. Kritik und Selbstkritik: Reformistisches Denken im Islam. In: Der
Islam im Aufbruch? Perspektiven der arabischen Welt, hrsg. von M. Lüders. München:
Piper.
Krämer, Gudrun. 1999. Gottes Staat als Republik – Reflexionen zeitgenössischer Muslime
zu Islam, Menschenrechten und Demokratie. Baden-Baden: Nomos.
Mudhoon Loay. 2016a. Der Islam braucht keinen Martin Luther! Qantara. https://de.qan-
tara.de/inhalt/debatte-ueber-reformislam-der-islam-braucht-keinen-martin-luther.
Zugegriffen: 20. Apr. 2018.
58 A. Hefny

Mudhoon Loay. 2016b. Kommentar: Das schwierige Handwerk islamischer Reformer. DW.
http://www.dw.com/de/kommentar-das-schwierige-handwerk-islamischer-reformer/
a-19269908. Zugegriffen: 20. Apr. 2018.
Ourghi, Abdelhakim. 2016. Reformation des Islam – Mohammed war ein Mann der Poli-
tik und des Schwerts. F.A.Z. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/der-islam-
braucht-eine-reformation-14407083.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2.
Zugegriffen: 20. Apr. 2018.
Paulus, Christiane. 2007. Martin Luther im Muslimischen Diskurs. Journal Ethnologie.
http://www.journal-ethnologie.de/Deutsch/Aktuelle_Themen/Aktuelle_Themen_2007/
Islam_und_Reformation/index.phtml. Zugegriffen: 15. Mai 2018.
Riḍā, Rašīd. 2012. Tāriḫ al-ustāḏ al-imām al-šaiḫ Muḥammad ʿAbduh [Die Geschichte des
Imams Muḥammad ʿAbduh]. Bd 1. Kairo: Al-hai’a al-maṣriyya al-‘āmma li-l-kitāb.
Soroush, Abdolkarim. 2000. Reason, Freedom and Democracy in Islam, Essential writings
of Adbolkarim Soroush (übersetzt, ergänzt um eine kritische Einleitung von M. Sadri
und A. Sadri). Oxford: Oxford University Press.
Tīzīnī, Ṭayyib. 2005. Baʿda qarn ʿala wafāt Muḥammad ʿAbduh: al-iṣlāḥ al-ʿarabī min
iḫfāq ilā iḫfāq? [Ein Jahrhundert nach dem Tode von Muḥammad ʿAbduh: Arabische
Reformation vom Scheitern zu Scheitern?]. Al-Etihad. http://www.alittihad.ae/wajhat-
details.php?id=9914. Zugegriffen: 26. März 2018.
Teil II
Islam und Politik
Islam, Demokratie und Rechtsstaat –
Versuch einer Entwirrung

Martin Riexinger

Diktatorische Regime in der islamischen Welt, islamistische Terroranschläge und


die Verlautbarungen von islamistischen Predigern und Organisationen werfen für
viele Zeitgenossen im Westen die Frage auf, ob „der Islam“ mit Demokratie und
Rechtsstaat vereinbar sei. Abhängig von weltanschaulichem Standpunkt und Vor-
wissen, wird diese Frage dann kategorisch verneint, bejaht oder es wird gar deren
Legitimität bestritten.
Hier soll die Frage nicht geklärt werden, weil dies so gar nicht möglich ist.
Die Debatte über diese Problematik krankt zunächst nämlich daran, dass ver-
schiedene Aspekte nicht auseinandergehalten werden, denn diese pauschale Frage
impliziert Probleme auf drei verschiedene Ebenen:

• Die normative, also die Frage, was sein soll.


• Die historische und religionssoziologische Ebene, die also die Frage nach der
Erklärung des gegenwärtigen Zustands.
• Die handlungsorientierte Ebene, die dazu beitragen sollen, Lösungen zu
erarbeiten, oder – was zunächst einmal wichtiger wäre, den möglichen Rah-
men des Handelns auszuleuchten. Mithin die Frage, was sein kann oder realis-
tisch erwartet werden darf.

Im Rahmen der akademischen Arbeitsteilung wird verschiedenen Disziplinen die


Kompetenz zugesprochen, einzelne dieser Fragen beantworten zu können. An
einer Beantwortung der normativen Frage, also einer Begründung von Demo-
kratie und Rechtsstaat werde ich mich hier nicht versuchen. Dass beide – in
Kombination – erstrebenswert sind setze ich for the sake of argument voraus.

M. Riexinger (*)
Institut for Kultur og Samfund, Aarhus Universitet, Aarhus C, Dänemark

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 61
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_5
62 M. Riexinger

Stattdessen werde ich mich auf die als Islam- und Religionswissenschaftler auf
die letzten beiden Fragen konzentrieren. Das setzt allerdings zum einen voraus,
dass die von den Diskutanten geteilte Idee, Demokratie und Rechtsstaat seien
erstrebenswert, keine Universalie ist. Zum anderen kommt man nicht umhin, zur
Kenntnis zu nehmen, dass beide Konzepte nicht notwendigerweise verknüpft
sind.

„Der“ Islam: Ursache des Demokratiedefizits in der


islamischen Welt?

Ein Demokratiedefizit in der islamischen Welt lässt sich nicht bestreiten. Mit
der kleinen, recht neuen und noch dazu instabilen positiven Ausnahme Tune-
siens findet sich unter allen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens kein
Land, das alle Kriterien einer funktionierenden liberalen Demokratie aufweist
(Hamid 2014, S. 190–205). Mit Platzierungen im Mittelfeld folgen einige der
arabischen Monarchien, deren Verfassungen mit einem gewählten Parlament
aber einer vom Monarchen ernannten Regierungen dem deutschen Kaiserreich
ähneln, sowie Algerien, wo die alte Parteiaristokratie weiterregiert, inzwischen
aber Oppositionsparteien zugelassen sind. Am unteren Ende der Skala befinden
sich die iranische Theokratie, Monarchien ohne gewählte Kontrollorgane wie
Saudi-Arabien und Oman, in Syrien bekämpft die letzte verbliebene Einparteien-
diktatur auf brutalste Weise die inzwischen von Islamisten dominierte Opposi-
tion. Der von den amerikanischen Neokonservativen angekündigte Ausbau des
Irak zur Musterdemokratie ist gescheitert, da sich statt Debatten über Sachfragen,
ein Kampf der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen um die Vorherr-
schaft im Staate ergeben hat (Haddad 2011, S. 143–204). Ähnliches ereignete
sich im seit den 1990er Jahren relativ pluralistischen Jemen (Clausen 2015a, b),
im religiös eher homogenen Libyen kämpfen seit dem Sturz Ghaddafis Stämme
um die Macht.
Dem Modell Tunesien stehen die viel bevölkerungsreicheren Beispiele Tür-
kei und Ägypten gegenüber. In der Türkei verfügt Recep Tayyip Erdoğan, der
mit der Behauptung aufgetreten war, ein konservativ islamisches Gegenstück
zur Christdemokratie zu vertreten, zwar über eine breite Unterstützung durch
die Bevölkerungsmehrheit. Doch hebelt er seit 2008, und erst recht seit dem
Putschversuch vom 27.07.2016, systematisch Freiheitsrechte und Gewalten-
teilung aus. In Ägypten führte das demokratische Experiment im Gefolge des
„Arabischen Frühlings“ zu einem Wahlsieg der Muslimbrüder unter der Führung
von Muḥammad Mursī. Die Verängstigung säkularer Kreise nutzte der General
Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung 63

ʿAbdalfattāḥ al-Sīsī um gegen Mursī zu putschen und eine Militärdiktatur zu


errichten. Ägypten ist seitdem auf dem Weg zum Polizeistaat und inzwischen
bereits weit repressiver als unter Mubārak und Sādāt.
Die Beispiele Ägypten unter al-Sīsī und Syrien zeigen jedoch, dass das
Demokratiedefizit keineswegs, ja nicht einmal primär auf den Islam zurück-
geführt werden kann. In noch weit stärkerem Maße ist es eine Folge der
säkularen „Entwicklungsdiktaturen“, die in zahlreichen Ländern nach der
Unabhängigkeit an die Macht kamen. Ihnen ist gemeinsam, dass sie versprachen,
mit etatistischer Wirtschaftspolitik das Gefälle gegenüber den westlichen Län-
dern zu überwinden und dabei grandios scheiterten. Diese Regime verbindet
aber auch, dass sie zu einem gewissen Grad den Islam aus dem öffentlichen
Leben zurückdrängten, und dass eine Form von Nationalismus zur ideologischen
Legitimationsquelle des Staates wurde. Einige dieser Regime praktizierten
zudem einen ausgeprägten Personenkult.
Das erste Beispiel für dieses Modell ist die kemalistische Türkei. Mustafa
Kemal, seit 1934 Atatürk, schaffte, gestützt auf die Autorität, die ihm der Sieg
über die griechischen, französischen und britischen Besatzer Anatoliens ver-
lieh das Osmanische Sultanat und das Kalifat ab. Die arabische Schrift ersetzte
er durch die türkische, die (öffentliche) religiöse Praxis radikal schränkte er ein,
selbst der arabische Gebetsruf und religiöse Unterweisung wurden verboten.
Politische Opposition war – von zwei kurzen Experimenten – nicht vorgesehen,
bewaffneter Widerstand in den Regionen mit kurdischer Bevölkerung wurde bru-
tal niedergeschlagen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Land durch die Abschaffung des Ein-
parteiensystems jedoch zur parlamentarischen Demokratie. Die kemalistische
Ideologie wurde nicht ganz aufgegeben, speziell im Bildungswesen dominierte
sie weiterhin. Wahlen gewannen, abgesehen von den 1970er Jahren als die Linke
erstarkte, die sogenannten Mitte-Rechts-Parteien, die den Forderungen konser-
vativ religiöser Kreise teilweise entgegenkamen, ohne den Laizismus prinzipiell
anzugreifen. Von ihnen geführte Regierungen wurden jedoch 1960 und 1971 mit
dem Ziel von der Macht verdrängt den unverfälschten Kemalismus wieder zum
Durchbruch zu verhelfen. Ein dritter Militärcoup erfolgte 1980 nachdem die Tür-
kei in einen Bürgerkrieg abgeglitten war. Nach diesem Putsch wurde jedoch nicht
der Kemalismus gefördert, sondern gezielt konservative islamische Strömungen,
die als Bollwerk gegen die Linke dienen sollten (Kreiser und Neumann 2008,
S. 383–487).
In den arabischen Ländern wurden solche Entwicklungsdiktaturen errichtet,
nachdem die türkische bereits aufgelöst war. In keinem dieser Länder gelang
ein Übergang zur Demokratie. Das erste Beispiel ist Ägypten unter Nasser.
64 M. Riexinger

Er hatte mit der Gruppe der „freien Offiziere“ die pro-westliche Monarchie
gestürzt, und das – dysfunktionale und als korrupt wahrgenommene – Parla-
ment abgeschafft. Nach einem Jahr verdrängte er seinen gemäßigteren Kollegen
Muḥammad al-Nagīb von der Macht. Die mit den freien Offizieren zunächst
verbündeten Muslimbrüder wurden brutal verfolgt. Ein Teil von ihnen radikali-
sierte sich deswegen. Ihr Wortführer war Sayyid Quṭb, der sich in der Gefangen-
schaft zum Theoretiker des radikalen Islamismus entwickelte. Nasser ließ ihn
1966 hinrichten, für seine ideologischen Gefolgsleute wurde dadurch zu Märty-
rer, doch auch die Mehrheit der Muslimbrüder, die seine Radikalisierung nicht
nachvollzog, betrachtet dies als Beispiel für die Grausamkeit des Regimes (Kepel
1984; Calvert 2010). Sozialistisch war auch die Wirtschaftspolitik ausgerichtet.
Produktionserfolge wurden daher primär auf dem Gebiet des Ausbaus der Staats-
klasse erzielt. Allerdings war Nasser nicht wie Atatürk grundsätzlich religions-
feindlich, Gelehrte der Azhar-Universität wie Maḥmūd Šalṭūṭ versuchten den
Islam in Einklang mit dem „arabischen Sozialismus“ zu bringen (Ende 1996),
die Sufiorden wurden als eine Alternative zur politisierten Islaminterpretation der
Muslimbrüder gefördert (de Jong 1999, S. 319–323).
In Syrien (1963) und Irak (1968) ergriff per Militärputsch die Baʿṯ-Partei die
Macht, eine säkulare pan-arabisch nationalistische Partei. In beiden Ländern
führte dies in der Praxis dazu, dass die Herrschaft dieser Partei einer ethnisch
religiösen Minderheit zu weit überproportionalen Repräsentation in Regierung
und Verwaltung führte. In Irak waren dies die sunnitischen Araber, die bereits
unter den Osmanen eine privilegierte Position innehatten, in Syrien die Ala-
witen, eine über Jahrhunderte von der sunnitischen Mehrheit marginalisierte
Bevölkerungsgruppe.
In Syrien ging aus internen Auseinandersetzungen in der Baʿṯ-Partei 1970
der Flügel um Hafez al-Asad siegreich hervor, der unter sozialistischen Deck-
mantel eine Familiendiktatur etablierte. Unter den konservativen sunnitischen
Muslimen der syrischen Städte fand daher in den 1970er Jahren die Agitation der
Muslimbrüder gegen die das Asad-Regime Anklang. Gewaltakte legitimierten
sie mit Verweis auf ein Fatwas des Rechtsgelehrten Ibn Taimiyya (1263–1328),
in der zum Kampf gegen die Alawiten und zu ihrer Hinrichtung als Apostaten
aufgerufen wird. Nach einer Serie von Attentaten gegen Offiziere und Polizis-
ten belagerte das Regime ihre Hochburg, die Stadt Ḥamā, machte sie schließ-
lich dem Erdboden gleich und brachte dabei mehrere Zehntausend Menschen
um. Als sich Anfang 2011 auch in Syrien regimefeindliche Proteste regten, fiel
es dem Regime leicht das „security dilemma“ der Alawiten – und in gewissem
Maße auch anderen Minderheiten wie Christen, Ismailiten und Drusen – zu sei-
nen Gunsten a­ uszunutzen, indem es erfolgreich den Eindruck vermittelte, nur die
Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung 65

Stützung des Regimes könne sie vor Verfolgung, ja Vernichtung durch Islamisten
retten (van Dam 2017). Im Irak wiederum nutzen schiitische Organisationen und
politische Unternehmer die Möglichkeiten, die ihnen die Einführung des Mehr-
heitsprinzips nach 2003 bot, um systematische die Stellung der Schiiten in Staat
und ­Gesellschaft zu stärken.
In Ägypten verschwand der säkulare und sozialistische arabische Nationalis-
mus kläglich. Die vernichtende Niederlage gegen Israel 1967 und der Bank-
rott des sozialistischen Wirtschaftsmodells hatten den Nasserismus bereits vor
Nassers (1970) frühem Tod diskreditiert. Sein Nachfolger Sadat führte markt-
wirtschaftliche Reformen durch, die den Zusammenbruch des Landes ver-
hinderten aber zugleich keine langfristigen Perspektive eröffneten. Er milderte die
Zensur und ließ des Weiteren Oppositionsparteien zu, ohne aber eine reale Option
für einen demokratischen Machtwechsel zu eröffnen. Obgleich islamistische
Kräfte weit weniger Repression ausgesetzt waren als unter Nasser, gingen bereits
in den 1970 jahren von Sayyid Quṭb inspirierte Gruppen zum bewaffneten Kampf
gegen das „heidnische“ System über. Ziel waren Angehörige des Staatsapparats,
einschließlich der Präsidenten Sadat (ermordet 1981) und Mubarak (mehrere
Attentatsversuche), Christen und die für die Wirtschaft des Landes z­entralen
­Touristen (Kepel 1984).
Diese Form islamischer Militanz stieß die Mehrheit der Ägypter jedoch ab.
Die Muslimbrüder nutzten dagegen die Chancen der politischen Öffnung dazu
ihre Verankerung in der Gesellschaft durch religiöse und karitative Tätigkeiten
zu stärken. Nach dem Sturz von Sadats Nachfolger Mubarak im Januar 2011
waren sie daher die bestorganisierte politische Kraft im Lande, sie wurden so zur
stärksten Kraft im Parlament und ihr Kandidat Mursi gewann eine knappe Mehr-
heit im Parlament. Wenngleich die Muslimbrüder an der Macht äußerst vorsichtig
agierten, fürchtete das säkulare Segment der Bevölkerung, dass die Muslim-
brüder eine langfristige Strategie zum Ausbau ihrer Macht und der Islamisierung
der Gesellschaft verfolgen. Das ägyptische Militär nutzte diese Befürchtungen,
um die säkulare Bevölkerung zu einer „Revolution“ gegen die Regierung der
Muslimbrüder zu mobilisieren. Begleitet von großen Demonstrationen wurde die
Sīsīs Regierung gestürzt, kurz darauf begann die neue Regierung mit der Unter-
drückung der Muslimbrüder. Bei einem Massaker in einem Lager der Muslim-
brüder an der Rābiʿa al-ʿaḍawīya-Moschee in Kairo wurden sechs Wochen später
dabei mehrere hundert Menschen getötet (Hamid 2014, S. 86–166).
Die Entwicklung Ägyptens wurde Grad in Algerien weggenommen. Dort
regierte seit der Unabhängigkeit von Frankreich 1961 die Front de la Libération
Nationale (FLN). Deren Wirtschaftspolitik war planwirtschaftlich ausgerichtet,
Öl- und Gasrenten ermöglichten es zwei Jahrzehnte, die daraus resultierenden
66 M. Riexinger

Dysfunktionalitäten zu übertünchen. Die Einparteienherrschaft führte zur Ent-


wicklung einer bürokratischen Staatsklasse, die sich kulturell und sprachlich an
Frankreich orientierte, zugleich aber die Arabisierung und Islamisierung (etwa
im Personenstandsrecht) förderte. In den 1980er Jahren führte die Verbindung
von fallenden Rohstoffeinnahmen und starkem Bevölkerungswachstum zu einer
Verteilungskrise. Das Gedankengut der Muslimbrüder, das aus dem Nahen Osten
stammende Lehrer und Ingenieure mitgebracht hatten, fand in dieser Periode bei
der städtischen Unterschicht und dem akademischen Proletariat Anklang. Das
Regime sah sich genötigt der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit
einer Liberalisierung des Systems entgegenzukommen, und ließ unabhängige Par-
teien zu.
Die ersten freien Kommunalwahlen 1990 gewannen die Islamisten der Isla-
mischen Heilsfront (FIS) souverän, 1991 lagen sie schließlich nach dem ersten
Wahlgang der ersten freien Parlamentswahlen vorne. In dieser Situation wurden
die Wahlen abgesagt, und die FIS verboten. Da die Islamisten aus ihrem rein
instrumentellen Verhältnis zur Demokratie keinen Hehl gemacht hatten, fan-
den sie außerhalb ihrer eigenen Reihen im In- und Ausland kaum Unterstützer.
Viele ihre Anhänger gingen in den Untergrund und begannen einen Guerillakrieg,
bei dem sie nicht nur Repräsentanten des Regimes sondern auch Intellektuelle,
Künstler und einfache Zivilisten nicht schonten. Im Laufe von fünf Jahren ver-
mochten jedoch die éradicateurs der Armee die Lage unter Kontrolle zu bringen.
In Algerien hatten sich die Islamisten dadurch diskreditiert. Islamisten in anderen
Ländern reagierten auf die Vorgänge damit, dass sie sich verbal zur Demokratie
bekannten.
Diese Beispiele zeigen, dass das Demokratiedefizit des Nahen Ostens und
Nordafrikas keineswegs primär oder gar allein auf „den Islam“ zurückgeführt
werden kann. Der Grund ist vielmehr ein Kulturkampf zwischen zwei illibera-
len und antidemokratischen Vorstellungen: Auf der einen Seite steht der isla-
mische Suprematismus, auf der anderen Seite autoritäre, mehr oder minder
säkulare „Entwicklungsideologien“. Wie Shadi Hamid (2016, S. 1–38) zeigt, nei-
gen „Liberale“ (oder besser Säkulare) dazu, sich auf die Seite autoritärer militär-
gestützter Regimes zu schlagen, wenn Islamisten gestützt auf eine Mehrheit der
Wahlbevölkerung die Regierungsmacht übernehmen. Die im heutigen Westen von
vielen als selbstverständlich betrachtete Verbindung von Liberalismus und Demo-
kratie findet sich daher in der islamischen Welt nicht. Ein Grund, warum säkulare
Bevölkerungsschichten im Zweifelsfall dem Autoritarismus den Vorzug geben,
wird im nächsten Abschnitt behandelt.
Über mehr als Jahrzehnt hinweg wurde die Politik von Recep Tayyip Erdoğan
in der Türkei von Islam- und Politikwissenschaftlern, Publizisten und Politikern
Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung 67

als ein Ausweg aus diesem Dilemma angepriesen.1 Sein politischer Ansatz schien
ein Bruch mit den Resten des autoritären Kemalismus zu versprechen, zugleich
aber auch zu zeigen, dass Islamisten ihren Frieden mit Demokratie und Pluralis-
mus machen können. Doch bereits Ende der 2000er waren autoritäre Tendenzen
etwa in der Hochschulpolitik unverkennbar. Das Vorgehen gegen die Proteste
gegen den Gezi-Park, hinter denen allerdings nur ein Minderheit aus der säkularen
Mittelschicht stand, die wiederaufgenommene Repression gegen die Kurden, das
undurchsichtige Verhältnis zum „Islamischen Staat“, ließ sich diese Einschätzung
nicht mehr plausibel vermitteln, die „Säuberungen“ nach dem Putsch im Juli 2016,
die nicht nur Angehörige der vermutlich verantwortlichen Gülen-Bewgungen
betrafen war sie völlig diskreditiert (Hamid 2016, S. 148–176).
Das heißt aber nicht, dass alle in den gerade genannten Kreisen sich von ihren
Illusionen verabschiedet haben. Als neuer aussichtsreicher Kandidat für den gilt
Rached al-Ghannouchi, der Führer der tunesischen Ennahda-Partei, nachdem er
sich vom Ziel der Errichtung eines islamischen Staates distanziert hatte (Piser
2016). Einiges spricht dafür, dass auch diese Bewertung voreilig ist (Hamid 2016,
S. 177–199).
Die Klarstellung hinsichtlich der beiden dominierenden Formen des
Autoritarismus im Mittleren Osten war notwendig, um einseitige Schuldzu-
weisungen zu vermeiden. Da die Diskussion hier jedoch mit Blick auf deutsche
und europäische Verhältnisse geführt wird, soll hier allein der islamspezifische
Aspekt dieser Problematik diskutiert werden. Anhänger autoritär-säkularer Ideo-
logien und Systeme finden sich auch in Deutschland, sie treten aber nicht organi-
siert und in größerem Umfang mit daraus abgeleiteten politischen Forderungen an
das politische System und die breitere Gesellschaft herantreten.

Zwischen Essenzialismus- und Voluntarismusfalle

Bei der Frage, ob der Islam mit der Demokratie vereinbar sei, gilt es zwei Fallen
auszuweichen, der Essenzialismus- und der Voluntarismusfalle.
Mit Kritik am Essenzialismus rennt man fachintern offene Türen ein: „Den
Islam“ als monolithische, von den Zeitläuften unbeeinflussten Einheit gibt es
nicht. Der von allen Muslimen als verbindlicher Quellentext betrachtete Koran
wurde von jeher unterschiedlich gedeutet. Über weitere Quellentexte besteht

1Ich selbst tat dies zumindest bis 2008.


68 M. Riexinger

nicht einmal Einigkeit. Unter Sunna oder Hadith, der zweiten Rechtsquelle ver-
stehen Sunniten Überlieferungen, die sie allein auf Muḥammad zurückführen,
während Zwölferschiiten auch Aussagen, die sie ihren zwölf Imamen und
Muḥammads Tochter Fatima zuschreiben. Unter den Sunniten herrscht Uneinig-
keit, wann und in welchem Maße der Analogieschlüsse und der Konsens der
Gelehrten bei der Rechtsfindung herangezogen werden. Uneinig sind sich Mus-
lime darüber, ob mystische Inspirationen ein Weg der Gotteserkenntnis oder
Täuschungsmanöver Satans sind.
Während die Problematik Essenzialismus im Anschluss an Edward Saids
Orientalism – dessen Bild der Orientforschung selbst ein Musterbeispiel
für Essenzialismus sind – ausführlich debattiert wurde, wird die entgegen-
gesetzte, im Kontext sehr viel relevantere Problematik weitgehend ignoriert: Die
­Voluntarismusfalle.
Als Voluntarismusfalle möchte ich hier die Auffassung bezeichnen, man
könne die Grundlagentexte einer jeden Schriftreligion beliebig interpretieren und
für alle Zwecke instrumentalisieren. Das ist prinzipiell nicht einmal unmöglich,
wenn man allein individuelle Auffassungen betrachtet; und für den Beobachter,
der von einem westlichen, speziell protestantischen Rahmen ausgeht, mag die
sogar plausibel erscheinen, wird in den protestantischen Kirchen doch seit Jahr-
zehnten allerlei Zeitgeist in die biblischen Texte hineininterpretiert (Graf 2011).
Aber schon, wenn man dieses Beispiel genauer betrachtet, zeigt sich, dass es weit
weniger überzeugend ist, als es auf den ersten Blick wirken mag.
Zunächst aber zum grundsätzlichen Problem. Der prinzipiell möglichen
willkürlichen Interpretation von Offenbarungstexten durch Individuen wird, wenn
es um die Konstituierung einer Religionsgemeinschaft geht, dadurch eine Grenze
gesetzt, dass die Interpretation einer gewissen Zahl von Menschen plausibel
erscheinen muss um akzeptiert zu werden. Im Rahmen einer bereits etablierten
Religion ist dies umso schwerer, als diese a) verbindende Interpretationen und b)
Regeln und Voraussetzungen für legitime Interpretationen etabliert haben. Ver-
änderungen sind möglich, verlaufen in der Regel jedoch eher zäh.
Regeln und Voraussetzungen für legitime Interpretationen sind im sunniti-
schen Islam zunächst einmal die Beherrschung von Grammatik und Lexiko-
grafie, sowie die Kenntnis der exegetischen Prophetentraditionen. Man mag
einwenden, dass andere islamische Gruppierungen hier weit weniger Skrupel
hatten, erlaubten doch diverse schiitische Gruppen die allegorische Interpretation
von Koranversen. Auf diese Weise legitimieren sie den Herrschaftsanspruch von
Muḥammads Vetter und Schwiegersohn ʿAlī samt seiner Nachkommen oder um
Lehren der Gnosis zu legitimieren. Ähnlich verhält es sich in neuerer Zeit mit der
Aḥmadiyya, deren Koranexegese dazu dient den Gründer dieser Bewegung als
Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung 69

Propheten zu betrachten. Durch diese eigenwilligen Interpretationen wurden also


in allen diesen Fällen nur Gruppen gestiftet, die wiederum selbst die jeweiligen
Interpretationen als unumstößliche Wahrheiten vertreten. Für die große Mehrheit
der sunnitischen Muslime sind sie ein Stein des Anstoßes, größere Anziehungs-
kraft entfalteten sie nicht. Dies gilt minder für einige der neueren Versuche, den
Islam vor angesichts der Herausforderung durch die Moderne völlig neu zu inter-
pretieren. Auf diese Projekte werde ich noch etwas ausführlicher eingehen, weil
sie eine Reihe zusätzlicher Probleme aufwerfen.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit es für Religionsgemein-
schaften generell sinnvoll ist, die Auslegung ihrer religiösen Quellen kreativ zu
handhaben. Betrachtet man Mitgliederzahlen und Gottesdienstbesuch, so hat die
mangelnde Rigidität der (ehemals) großen europäischen protestantischen Kir-
chen ihnen keinen Erfolg gebracht. Gründlich wurde das Selbstvertrauen des
amerikanischen liberalen Protestantismus in den USA, die Zukunft der Religion
zu repräsentieren, 1972 durch die Studie Why Conservativre Churches are Gro-
wing erschüttert. Der Autor Dean Kelley (1972), selbst liberaler Protestant, wies
daraufhin, dass die Mitgliederzahl der liberalen „mainstream“ Kirchen seit dem
Zweiten Weltkrieg rapide gesunken waren, während gerade Kirchen, die wenige
theologische Kompromisse eingingen, teils stabil wuchsen, teils einen erheb-
lichen Zulauf verzeichnen konnten. Offenbar zahlt es sich im Bereich der Reli-
gion nicht aus, Kompromisse mit dem Zeitgeist einzugehen, da gerade diese
Kompromisse die überhistorische Wahrheit, die nach gängigem Verständnis der
Religion zugrunde liegt, kompromittieren.

Der Islam als Rechtsreligion

Bei Vergleichen zwischen Islam und Christentum darf darüber hinaus der wesent-
liche Unterschied nicht außer Acht gelassen werden, dass das Christentum nie
ein Rechtssystem begründet hatte. Selbstredend erlangten auch in christlichen
Kontexten einzelne religiöse Regelungen Gesetzeskraft, besonders im Familien-
recht, das ist in einigen Ländern wie Irland bis heute relevant, und ebenso haben
in den Ländern des Nahen Ostens, wo kein säkulares Personenstandsrecht exis-
tiert, die Regelungen der christlichen Kirchen zu Gesetzeskraft. Rückgriffe auf
den Gesetzeskatalog des Pentateuch gab es gerade nach der Reformation, unter
Calvin in Genf und bei den Puritanern in Großbritannien und Neuengland, sie
blieben jedoch Episode (Witte und Kingdon 2005).
Der Grund hierfür liegt darin, dass sich die Christus-Bewegung in den ers-
ten drei Jahrhunderten fern ab der politischen Herrschaft entwickelte. Als Kaiser
70 M. Riexinger

Konstantin das trinitarische Christentum zur Staatsreligion im Römischen Reich


erhob, galt das Römische Recht weiter, unter dem byzantinischen Kaiser Justi-
nian, wurde es kodifiziert. Damit waren Jurisprudenz und Religion verschiedene
Sphären, wenn sie sich auch in oft überlappten. Die generelle Trennung von
Recht und Religion ermöglichte daher auch, dass auch germanische und slawi-
sche Gewohnheitsrechte nach der Christianisierung fortbestanden. Institutionellen
Ausdruck fand diese Trennung im mittelalterlichen Bildungswesen darin, dass an
den Universitäten für Theologie und Recht verschiedene Fakultäten mit unter-
schiedlichen Bildungsinhalten eingerichtet wurden.
Hierin unterscheiden sich die islamischen Verhältnisse fundamental. Der
Muḥammad der der Überlieferung gründete ein Gemeinwesen. Der Koran enthält
bereits eine Vielzahl von juristischen Regelungen, etwa zu Fragen der Eheschlie-
ßung und Scheidung, zum Erb- aber auch zum Strafrecht. Während es in den ers-
ten anderthalb Jahrhunderten der islamischen Herrschaft, unter den Kalifen der
Dynastien der Umayyaden und der frühen Abbasiden, durchaus im Bereich des
Möglichen lag, dass eine Art Sakralherrschertum von „Stellvertretern Gottes“ die
Rechtsentwicklung steuert, drifteten Rechtsentwicklung und politische Herrschaft
mit dem Zerfall des Kalifats auseinander.
Das Recht wurde von nun an durch eine neue Klasse entwickelt, die Gelehrten
(Arab. ʿulamāʾ, sg. ʿālim). Sie legten die methodischen Grundlagen der Recht-
sprechung fest, sammelten und bewerteten die im Umlauf befindlichen Berichte
über Muḥammad und bauten sie zu einer Rechtsquelle, der sunna aus, die für
die Rechtspraxis weit größere Bedeutung hat als der Koran. Aus dem Kreis der
Gelehrten, die sich meist als Rechtsgutachter (muftī) in privaten Angelegenheiten
tätig waren, rekrutierten die Herrscher aus ihren Kreisen die Richter (qāḍī) für
die staatliche Rechtsprechung. Auf die Ausgestaltung des Rechts hatten sie aber
nur insofern Einfluss, als sie in ihrem Herrschaftsgebiet bestimmte Rechtsschulen
protegieren konnten (Vikør 2005, S. 20–31, 140–183).
Diese Konstellation fand auch im vormodernen islamischen Bildungssystem
ihren Ausdruck. War es ursprünglich üblich von Stadt zu Stadt zu reisen, um bei
bedeutenden Gelehrten in informellen Kreisen in der Moschee jene Disziplinen
zu lernen, für welche diese Gelehrten berühmt waren, wurde seit dem 11. Jh. aus-
gehend vom Iran und westlichen Iran der Unterricht in Institutionen gebündelt,
die madrasa (pl. madāris) heißen. Im Mittelpunkt der Ausbildung standen
Rechtstheorie und Rechtspraxis, sowie die für die Rechtsbildung w ­ ichtigen
Hilfswissenschaften Grammatik, Lexikografie und Koranexegese. Kalām, die
­
Disziplin, die in der westlichen Islamwissenschaft gemeinhin als Theologie über-
setzt wird, hatte nicht den Rang eines eigenen Faches mit eigenem institutionel-
lem Rahmen. Sie war jener Teil der Rechtswissenschaft, der zum Ziel hatte zu
Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung 71

klären, inwieweit bestimmte religiöse Positionen als rechtgläubig betrachtet wer-


den konnten (Berkey 2007).
Die Bedeutung des islamischen Rechts für die öffentliche Ordnung wurde im
Laufe des 19. Und 20. Jahrhunderts radikal beschnitten, und zwar unabhängig
davon, ob die betreffenden Länder politisch souverän blieben oder unter die Herr-
schaft europäischer Kolonialmächte gerieten. Islamisches Strafrecht, Handels- und
Vertragsrecht wurde durch westliche Rechtsysteme ersetzt, in dem meisten Fäl-
len durch den Code Napoléon, in Indien und einigen anderen britischen Kolonien
durch ein auf dem Common Law beruhende Gesetzbücher. In den 1940er Jah-
ren formulierte der ägyptische, in Frankreich ausgebildete Jurist ʿAbdarrazzāq
al-Sanhūrī ein säkulares Zivilrecht, das nach der Unabhängigkeit von den meis-
ten arabischen Ländern übernommen wurde. Ausgenommen von dieser Säkulari-
sierungstendenz blieben nur jene Bereiche, die als religiös besonders sensibel
gelten: Personenstandsrecht, Erbrecht und religiöse Stiftungen. Allerdings wurden
auch diese Rechtsbereiche durch Kodifizierung oder Integration ins Gewohnheits-
recht der Kontrolle durch die säkularen Justizorgane unterworfen. Den islamischen
Gelehrten wurden damit ihre traditionelle Kernaufgabe entzogen. Allein ein Land
verweigerte sich dieser Tendenz: Saudi-Arabien (Vikør).
Wie die diese politisch politisch durchgesetzte Säkularisierung in ihrer
Anfangszeit religiös verarbeitet wurde, ist wenig erforscht. Konservative
Gelehrte, die sich gewöhnlich streng an den Rechtsschulen orientieren und
ansonsten oft auch dem Sufismus nahestehen, wenn nicht gar als führende
Sufis in Erscheinung treten, beschäftigen sich intensiv mit Fragen des Rituals
und der rituellen Reinheit, jenem Bereich, der in westlichen Rechtssystemen
schlicht irrelevant ist. Puritanische Gelehrte unterschieden sich hiervon zunächst
kaum, doch begeisterten sie sich ab den 1920er Jahren für den nach islamischen
­Prinzipien geführten saudischen Staat.

Der Islamismus: Den Islam als Rechtsreligion


reetablieren

Nur wenig später wurde in Indien und Ägypten eine weitere Antwort auf den
Bedeutungsverlust des Islams, nicht zuletzt des Rechts, für die gesellschaftlichen
Formen formuliert, eine Antwort, die in den folgenden Jahrzehnten vielen Mus-
limen sehr plausibel erscheinen sollte. Der ägyptische Lehrer Ḥasan al-Bannā
(1906–1949) hatte zwar überhaupt keine Ausbildung als Rechtsgelehrter, und
der indische Publizist Abū al-Alʿā Maudūdī (1903–1979) war als Gelehrter
nicht besonders profiliert. Beide propagierten aber die Idee, dass der Islam ein
72 M. Riexinger

umfassendes System sei, der alle Bereiche des menschlichen Lebens erfassen,
gerade auch die mittlerweile dem säkularen recht unterworfenen Bereiche Straf-
recht und Wirtschaft.
Legitimiert wird dies nicht zuletzt mit einem moralisierenden, empiriefreien,
apologetischen Diskurs, dem zufolge der wahre, konsequent angewandte Islam
die Lösung für alle Menschheitsprobleme bereithält und umgekehrt alle Übel auf
die Abkehr vom Islam zurückgehen. Individuellen Selbstbestimmung wird gering-
geachtet, stattdessen werden die konsequente Durchsetzung von Geschlechter-
trennung und -hierarchie sowie der Vorrang der Muslime in der Gesellschaft
gefordert (Nasr 1996; Lia 1998; Hartung 2013). Gerade die massiven Eingriffe in
die individuelle Lebensführung, zu welcher die Implementierung dieser Ansprüche
mit sich zieht, ist verantwortlich dafür, dass so viele säkular orientierte (und nicht-
muslimische) Kreise im Nahen Osten so unversöhnlich auf islamistische Wahl-
siege reagieren und gegebenenfalls autoritäre Maßnahmen auch gegen gewählte
Regierungen unterstützen (Hamid 2016, S. 68–100, 238–268).
Maudūdī war von vornhinein „theoretischer“ und radikaler als al-Bannā, als
Vorbild für seine politische Organisation wählte er die leninistische Kaderpartei.
Er propagierte zudem die Idee, dass die Volkssouveränität ein Götze sei, und dass
eine Gesellschaft die durch sie legitimierter Gesetze anwendet, sich im Zustand
des Heidentums (ǧāhiliyya) befinde. Diese Vorstellung griff Sayyid Quṭb während
der Verfolgung durch Nasser auf, um dessen Regime als heidnisch zu denunzie-
ren. In den folgenden Jahrzehnten wurde dieser Gedanke für radikale islamisti-
sche Gruppen, während andere wie die Muslimbrüder oder türkische Islamisten
die Überwindung des Systems mit legalen Mitteln und auch politischen Bünd-
nissen propagieren.

Die Entrechtlichung oder das Dilemma des


Reformislams

Dem Islamismus stehen Reformprojekte gegenüber, welche den Islam an die


westlich geprägte Moderne anpassen wollen. Sie haben gemeinsam, dass sie die
Bedeutung des rechtlichen Aspekts minimieren wollen. Hierfür bedienen sich
islamische Reformdenker im Wesentlichen dreier Ansätze:

• Sie verwerfen die sunna


• Sie versuchen die koranischen Aussagen in der Lebenswelt Muḥammads zu
kontextualisieren und damit zu relativieren.
• Sie kehren die hergebrachte Hierarchie der Koranverse um.
Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung 73

Die beiden ersten Ansätze sind recht einfach zu erklären. Wie bereits erwähnt
beruht die Scharia zu einem weit größeren Teil auf dem Hadith. Indem dessen
Autorität und Authentizität bestritten wird, reduziert sich die Zahl verbindlicher
Normen erheblich. Diese Auffassung lässt sich erstmals Ende des 19. Jahr-
hunderts in Indien nachweisen. Sayyid Aḥmad Ḫān (1817–1898), ein Beamter in
britischen Diensten und Bildungsreformer, strebte danach das mögliche Konflikt-
potenzial zwischen Briten und Muslimen zu entschärfen. Speziell in Südasien
erfreute sich dieser Ansatz in den folgenden Jahrzehnten einer gewissen Populari-
tät in Kreisen westlich gebildeter Muslime, sein letzter bedeutender Vertreter war
in Pakistan Ġulām Aḥmad Parwez (1903–1985), dem zufolge der Islam keine
Religion ist, sondern eine dynamische Sozialphilosophie, die eine Brücke zwi-
schen dem Individualismus des kapitalistischen Westens und dem Kollektivismus
des kommunistischen Ostens schlägt (Brown 1996).
Mit der Kontextualisierung des Islams wird bestrebt, Elemente des islami-
schen Rechts, die unter heutigen Umständen als anstößig empfunden werden,
als zeitgebunden weg zu erklären. Eine elaborierte Version dieses Ansatzes hatte
in den 1990er Jahren der ägyptische Literaturwissenschaftler Naṣr Ḥāmid Abū
Zaid (1943–2010) vorgelegt (1996). Das Problem bei diesem Ansatz ist, dass
er Wissen über gesellschaftlichen Verhältnisse voraussetzt. Aus muslimischer
Sicht liegt nahe diese Informationen Prophetenbiografien und der sunna zu ent-
nehmen. Abgesehen davon, dass diese Überlieferungen aus historiografischer
Sicht problematisch sind, lässt sich deswegen der erste mit dem zweiten Reform-
ansatz eigentlich nicht verbinden. Dieser Ansatz ist primär bei Muslimen mit
säkularen Tendenzen verbreitet, zuweilen greifen selbst Gelehrte auf dieses
Argumentationsmuster zurück. Ein Beispiel ist der gegen den Islamischen Staat
gerichtete Brief vorwiegend ägyptischer und amerikanischer Gelehrter und isla-
mischer Aktivisten. Obwohl nicht zu leugnen ist, das dass die Sklaverei zu Leb-
zeiten Muḥammads nicht abgeschafft und im islamischen Recht während der
folgenden Jahrhunderte nicht hinterfragt wurde, behaupten sie, dass alle im dies-
bezüglichen Regelungen eigentlich das Ziel verfolgen diese Institution zu über-
winden. Angesichts ihrer Bedeutung in der damaligen Gesellschaft hätte dies
jedoch nicht mit einem Ruck geschehen können.2
Der dritte Ansatz ist verwandt, geht aber weiter, er kehrt eines der Haupt-
prinzipien der islamischen Jurisprudenz um, nämlich dass die nach islamischer
Überlieferung später offenbarten Versen den juristischen Gehalt der früher

2Open Letter to Al-Baghdadi (2014).


74 M. Riexinger

o­ ffenbarten außer Kraft setzen. Der sudanesische Autor Maḥmūd Muḥammad


Ṭāhā (1909–1986), ein Ingenieur, wandte dagegen ein, dass die eigentliche, über-
zeitliche Botschaft des Islam in den frühen, in Mekka offenbarten Versen zu fin-
den sei. Was sich in den späteren, in Medina offenbarten Versen oder in der sunna
finde, sei dagegen zeitgebunden und heute nicht mehr relevant. Da die mekka-
nische Verse kaum juristisches Material enthalten, bedeutet dies, dass die Bot-
schaft auf eher allgemeine ethische Prinzipien reduziert wird (Thomas 2010).
Durchsetzen konnte sich keiner dieser Ansätze. Ja mehr noch, sie wurden zum
Teil verfolgt: Maḥmūd Ṭāhā wurde als Apostat hingerichtet, Naṣr Ḥāmid Abū
Zaid als Apostat „zwangsgeschieden“ und ins Exil gezwungen. Juristisch ver-
folgt wurden diese Ansätze jedoch nicht, da befürchtet wurde, sie könnten Zulauf
von der breiten Masse der Bevölkerung gewinnen, Ihre Ausstrahlung begrenzte
sich auf kleine intellektuelle Kreise. Offensichtlich ist der Bruch mit überlieferten
Prinzipien zu stark.
Darüber hinaus sind diese Konzepte für viele Muslime politisch kontaminiert,
da sie offenkundig das Ziel haben, den Islam politischen Rahmenbedingungen
anzupassen oder gar für säkulare Regime nutzbar zu machen. Des beginnt bereits
mit dem britenfreundlichen Sayyid Aḥmad Ḫān gegen den Maudūdī in seinen
Schriften häufig polemisiert (Riexinger 2004, S. 549–563). Ġulām Aḥmad Par-
wez unterstützte das pakistanische Militärregime unter Ayyūb Ḫān und versuchte
die Änderung des Familienrechts islamische zu legitimieren. Eben diese Gefahr
droht auch reformislamischen Ansätzen im europäischen Kontext: Entsprechen
sie zu eindeutig dem, was sich Politiker erhoffen, wird sie dieser Nexus in den
Augen vieler Muslime kompromittieren.

Literatur

Abū Zaid, Naṣr Ḥāmid. 1996. Islam und Politik: Kritik des religiösen Diskurses. Frankfurt:
dipa-verlag (Erstveröffentlichung 1992).
Berkey, Jonathan. 2007. Madrasas medieval and modern. In Schooling Islam: The culture
and politics of modern Muslim education, (Hrsg.) H. Hefner und Muhammad Qasim
Zaman, 40–60. Princeton: Princeton University Press.
Brown, Daniel. 1996. Rethinking tradition in modern Islamic thought. Cambridge:
Cambridge University Press.
Calvert, John. 2010. Sayyid Qutb and the origin of radical islamism. New York: Columbia
University Press.
Clausen, Maria-Louise. 2015a. Understanding the crisis in Yemen: Evaluating competing
narratives. The International Spectator 50 (3): 16–29.
Clausen, Maria-Louise. 2015b. Yemen: Fejlfortolket eller fejlslagen. Udenrigs 1:67–74.
Islam, Demokratie und Rechtsstaat – Versuch einer Entwirrung 75

De Jong, Frederick. 1999. Opposition to sufism in twentieth century Egypt (1900–1970).


In Islamic mysticism contested: Thirteen centuries of controversies and polemics, Hrsg.
Frederick de Jong & Bernd Radtke, 310–323. Leiden: Brill.
Ende, Werner. 1996. Maḥmūd Shalṭūṭ. In Encyclopaedia of Islam, Second Edition IX.
260–261. Leiden: Brill.
Graf, Friedrich Wilhelm. 2011. Kirchendämmerung: Wie die Kirchen unser Vertrauen ver-
spielen. München: Beck.
Haddad, Fanar. 2011. Sectarianism in Iraq: Antagonistic visions of unity. London: Hurst.
Hamid, Shadi. 2014. Temptations of power: Islamists & illiberal democracy in a new
Middle East. Oxford: Oxford University Press.
Hamid, Shadi. 2016. Islamic exceptionalism: How the struggle over Islam is reshaping the
world. New York: St. Martin’s Press.
Hartung, Jan-Peter. 2013. A system of life: Mawdudi and the ideologisation of Islam.
London: Hurst.
Kelley, Dean. 1972. Why conservative churches are growing. New York: Harper & Row.
Kepel, Gilles. 1984. Le prophète et pharaon. Aux sources des mouvements islamistes. Paris:
La Découverte.
Kreiser, Klaus, und Christoph K. Neumann. 2008. Kleine Geschichte der Türkei. 2. Aktua-
lisierte und erweitere Auflage. Stuttgart: Reclam.
Lia, Brynjar. 1998. The society of the Muslim brothers in Egypt: The making of an Islamic
mass movement. Ithaca: Ithaca Press.
Nasr, Seyyed Reza Veli. 1996. Mawdudi and the making of Islamic revivalism. New York:
Oxford University Press.
Open Letter to Al-Baghdadi. 2014. http://www.lettertobaghdadi.com/. Zugegriffen: 19.
Aug. 2018.
Piser, Karina. 2016. The mainstreaming of Tunisia’s islamists. Foreign Policy. http://
foreignpolicy.com/2016/08/07/the-mainstreaming-of-tunisias-islamists/. Zugegriffen:
21. Mar. 2018.
Riexinger, Martin. 2004. S̠anāʾullāh Amritsarī (1868–1948) und die Ahl-I Ḥadīs̠ im Punjab
unter britischer Herrschaft. Würzburg: Ergon.
Thomas, Edward. 2010. Islam’s perfect stranger: The life of Mahmud Muhammad Taha,
Muslim reformer of Sudan. London: Tauris.
van Dam, Nikolaos. 2017. Destroying a Nation: The civil war in Syria. London: Tauris.
Vikør, Knut S. 2005. Between God and the Sultan: A history of Islamic law. New Delhi:
Foundation Books.
Witte, John, und Robert McCune Kingdon. 2005. Sex, marriage, and family in John
Calvin’s Geneva. Grand Rapids: Erdmans.
Chancen und Horizonte einer
Erneuerung im Islam

Ammar Ali Hassan

Einleitung

In der islamischen Geschichte variieren nicht nur der Grad und das Niveau der
Erneuerung von Denker zu Denker und von Jurist zu Jurist, sondern auch in
Bezug auf die Vorstellung beider Gruppen, was den Umfang und die Nützlich-
keit einer Erneuerung angeht. Dann wieder gibt es Leute, die betonen, dass eine
Erneuerung in der muslimischen Gemeinschaft stattfinden soll, nicht im Islam,
und solche, die sich auf diejenigen konzentrieren, die den Begriff für sich in
Anspruch nehmen und ihn auf rein islamische Symbole verengen. Wieder andere
sprechen von einer „Erneuerung des Islam“ und arbeiten sich an deren Vertretern
ab, wobei sie einige von denen dazurechnen, die unter Salafisten als Ketzer oder
gar Feinde des Islam gelten.
Es gibt auch solche, die die Vorstellung von der Erneuerung einen kleinen
Schritt nach vorne treiben und jene kritisieren, die eine solche Erneuerung miss-
verstehen, indem sie einfach die islamischen Bücher und Handschriften präsen-
tieren, die die islamischen Juristen und Denker in alter Zeit erstellt haben, ohne
auch nur den Versuch zu unternehmen, sie für unsere aktuellen Lebensverhält-
nisse – auf welche Weise auch immer – fruchtbar zu machen. Sie tun gerade
so, als ob sie sich damit begnügten, dass die Wiederbelebung der Kultur ein
belebendes emotionales Stimulans sei, das uns wie nationalistische Lieder oder
Konzertmusik zur Aktion motiviert (Marʿašlī 1983, S. 3).
Ein Amīn al-Ḫūlī (2001, S. 43–50) denkt den Begriff einen Schritt weiter,
indem er von den Grundlagen der Entwicklung im Islam spricht, wobei er bei der

A. A. Hassan (*)
Kairo, Ägypten

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 77
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_6
78 A. A. Hassan

mit Muḥammad abgeschlossenen Offenbarung beginnt, die er als Religion und


ein praktisches soziales System zugleich betrachtet. Sie bildet die Grundlage für
eine Entwicklung, die sie vorbereitet und umsetzt, ohne theoretisch oder praktisch
mit irgendeinem Teil der Entwicklung der Welt um sie herum konfrontiert zu
werden, die diese Grundlagen definiert, nämlich mit:

• der Ausweitung der islamischen Mission (daʿwa), wie sie sich in diachroner
und synchroner Hinsicht vollzieht, um nacheinander Völker, Stämme, Genera-
tionen, die Angehörigen unterschiedlicher Kulturen und alle Arten von Rassen
ins Visier zu nehmen;
• der Ökonomie der islamischen Mission im Verborgenen, ihrem Alleinver-
tretungsanspruch, ihrer Definition des Glaubens an jene, und ihrer Weige-
rung, detailliert über sie nachzudenken. Dies hat die islamische Doktrin dazu
veranlasst, ihr großes Potenzial für das freie Denken aufzuwenden, das sich
für alles Neue und Geheimnisvolle im Universum eignet, es mit dem Leben
bekanntzumachen und zum Wissen über das Tagesgeschehen hinaus zu
befähigen, ohne sich in Details verlieren zu müssen, die als weltfremd gelten;
• der Erleichterung des Glaubenslebens, infolgedessen der Islam in den Angelegen-
heiten des Gottesdienstes auf universelle Dinge und die allgemein umfassenden
Grundlagen verkürzt wurde. So sollte die Tür für freie Koranauslegungen in Hin-
sicht auf das Gebet, die Almosen, das Fasten und die Pilgerfahrt aufgestoßen wer-
den, von denen einige sich den Umständen entsprechend wandeln. Das nämlich
ist die Frage, die sich in Geschichte und Inhalt des islamischen Fiqh offenbart;
• der Tatsache, dass der Islam in seinen konstitutiven Texten (dem Koran) weder
in alle Einzelheiten der Entstehung des Universums, des Lebens, der Mensch-
heit, ihrer Zeitdauer, ihrem Weg und ihrem Schicksal auf der Erde, noch in
das Wesen und die Eigenschaften Gottes involviert ist. Deswegen ist der Islam
niemals in Konflikt mit den wissenschaftlichen Entdeckungen des Universums
geraten, wie dies bei anderen Religionen der Fall war. Dennoch haben die
Muslime sich mit diesen Themen beschäftigt und in den isrāʾīliyāt1 nach Ant-
worten auf ihre Fragen gesucht. Gegenwärtig aber müssen wir uns losmachen
von diesen fremden Grundannahmen, die in die Äußerungen hineingelegt
werden, die man dem Propheten zuschreibt, angefangen von den āḥād-
Überlieferungen bis zu einigen Auslegungen des Koran;

1Sammelbegriff für verschiedene Erzählungen in den Korankommentaren, zum Teil histori-

scher, zum Teil erbaulicher Natur. (Anm. d. Ü.).


Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 79

• dass der Islam sich nicht mit irgendwelchen Details zur Geschichte der Natio-
nen und der Propheten abgibt, deren Umstände der Koran zur Gänze oder in
einigen Details präsentiert, um damit die Gemeindetraditionen im Leben
der Propheten zu erklären. Von daher fürchtet der Islam nicht die materielle
Erzählung der Geschichte, die die Wissenschaft uns mittels der Archäologie
überliefert hat, sondern kann seine eigene Deutung entwickeln, um diese dem
fortschreitenden Wissen unterzuordnen; und
• dass der Islam die freie Auslegung (iǧtihād)2 zur Grundlage des Lebens
gemacht hat, um so den wandelnden und fortschreitenden Bedürfnissen Rech-
nung zu tragen. Daher haben die Juristen anerkannt, dass das Leben nicht ohne
ein Mass an muǧtahids auskommt und gefordert, dass die Menschen in jedem
Zeitalter ihre Anzahl an muǧtahids erhalten sollen.

Diese sechs Fundamente haben Ḫūlī veranlasst, furchtlos über die Entwicklung
des Glaubens und der religiösen Praktiken der Gläubigen gegenüber Gott
(ʿibādāt) sowie der Gläubigen untereinander (muʿāmalāt) zu sprechen, wobei er
mit Entwicklung die Natur der Differenzen meint, die während der islamischen
Geschichte um diese drei Säulen herum entstanden sind. Denn die Differenz um
die Glaubensartikel erstreckt sich bis zum Wesen Gottes, seinen Eigenschaften,
der Natur des Koran, ob erschaffen oder nicht, und dem Disput der Sunniten
mit der Muʿtazila über die Kausalität und die Erschaffenheit des Koran. Was
die Gott-Mensch-Beziehungen betrifft, so sind unter den Anhängern der prakti-
schen Rechtsschulen Meinungsverschiedenheiten nicht unbekannt. Es gibt freie
Auslegungen (iǧtihādāt), die nicht haltmachen vor den vier praktischen Säulen
des Islam: dem Gebet, dem Almosen, dem Fasten und der Pilgerfahrt, um sie
den Bedürfnissen einer unerbittlich sich entwickelnden Realität anzupassen. Die
Beziehungen der Gläubigen untereinander sind weniger kompliziert und die Ent-
wicklung der Bandbreite darin deutlich sichtbar (al-Ḫūlī 2001, S. 51–67).
Ḫūlī endet mit den Worten: „Die religiöse Erneuerung ist ein Entwicklungs-
prozess und die religiöse Entwicklung ist das Ende des wahren iǧtihād“ (Ebd.,
S. 66), aber Entwicklung heißt für ihn nicht, die Wurzel der Religion zu entfernen
und eine neue Religion hervorzubringen, sondern er knüpft die Erneuerung an
die Rückkehr zur Wurzel, weil alles, was an Kontroverse in die Glaubensartikel
eindringt, kein Ende nimmt, wenn wir dies nicht beenden, zum unverfälschten

2Gemeint ist: Freie Auslegung des Koran abseits der Tradition der Rechtsschulen.
(Anm. d. Ü.).
80 A. A. Hassan

Glauben zurückkehren und es fortan vermeiden, infragen des Verborgenen zu


schwelgen. Diese nämlich sind der Vernunft nicht zugänglich, sodass es kei-
nen Sinn ergibt, sich über sie zu streiten. Was die Mensch-Gott-Beziehungen
anbetrifft, so unterliegen deren Regelungen und Einzelheiten einer dauernden
Entwicklung und erstrecken sich in der Breite über die Beziehungen der Gläu-
bigen untereinander, was zum Kern des Islam gehört. Aber Ḫūlī dekonstruiert
in seiner Vision vieles von den kulturellen Strukturen, die kraft der Starrheit des
Fiqh unveränderlich sind, und zweifelt an vielen Überzeugungen, die dank der
Schließung des Tores des iǧtihād oder zumindest durch dessen Verengung bis zur
Grösse eines Nadelöhrs in den Köpfen der Muslime verharren.
ʿAbdalmutaʿāl al-Ṣaʿīdī (1996, S. 7) wiederum versucht in seinem Buch Die
Erneuerer im Islam: Vom 1. bis zum 14. Jahrhundert nachzuweisen, dass die
Erneuerung nicht auf die moralischen und symbolischen Dinge reduziert wer-
den dürfe, sondern auch die materiellen Fragen beinhalten müsse. Somit wäre es
abwegig, in Bezug auf Erneuerer unseren Blick auf reine Gelehrte, Juristen und
gesellschaftliche Reformer einzuengen, da wir auch die Aktivisten in den Blick
nehmen müssen, die versucht haben, den Islam anzupassen, das Gesetz weiter-
zuentwickeln und Maßnahmen zu ergreifen, die mit einer stetig sich wandelnden
Realität Schritt halten. Von daher betrachtet er die Geschichte der Erneuerung
im Islam als „die muslimische Geschichte der Bewältigung von weltlichen
Angelegenheiten, bevor es eine Geschichte der Bewältigung von jenseitigen
Angelegenheiten ist. Dabei dürfen wir nur von Erneuerer sprechen, wer dieses
Ziel tatsächlich anstrebt. Wir zählen niemanden dazu, der sich mit Ruhm in der
Wissenschaft begnügt.“
Deshalb rechnet al-Ṣaʿīdī viele Führer, Herrscher, Aktivisten und Revolutio-
näre zu den Erneuerern, darunter die vier „rechtgeleiteten Kalifen“, al-Ḥusain
b. ʿAlī, Ḫālid b. Yazīd, ʿUmar b. ʿAbdalʿazīz, die Abbasidenkalifen al-Maʾmūn,
al-Wāthiq und al-Muhtadī, den Osmanensultan Sulaimān I., Schah ʿAbbās und
Nādir Schah, Muḥammad ʿAlī Pascha, Aḥmad Ḫān, Midhat Pascha, Mīrzā
ʿAlī Muḥammad, Ġulām Aḥmad, Mustafa Atatürk und ʿAbdalʿazīz Āl Saʿūd.
Diese kommen bei ihm Seite an Seite mit Juristen, Philosophen, Mystikern
und Gelehrten vor, wie al-Imām al-Šafiʿī, Maʿrūf al-Karḫī, Aḥmad b. Ḥanbal,
al-Kindī, al-Razī, Abū al-Ḥasan al-Ašʿarī, al-Fārābī, die „Brüder der Lauter-
keit“, Abū Ḥāmid al-Ġazālī, Avicenna, Ibn Ḥazm, Abū ʿAlāʾ al-Maʿarrī, Averroes,
al-Šarīf al-Idrīsī, Abū Faraǧ b. al-Ǧauzī, Naṣīraddīn al-Ṭūsī, Ibn Taimiyya, Ibn
Daqīq al-ʿĪd, Muḥīddīn b. ʿArabī, Ibn Ḫaldūn, Ibn al-Qayyim al-Ǧauzīya, Abū
Isḥāq al-Šāṭibī, Sirāǧaddīn al-Bulqīnī, Uluġ Beg, al-Qāḏī Zakarīyā al-Anṣārī, Ibn
al-Qazīr al-Yamanī, Šamsaddīn al-Ramlī, Imam (Muḥammad b. Pīr ʿAlī) Birgivi,
Ibrāhīm al-Kūrānī, al-Muqbilī al-Yamanī, Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, Walīllāh
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 81

al-Dihlawī, al-Šaukānī, Ǧamāladdīn al-Afġānī, Muḥammad ʿAbduh, Muḥammad


Rashīd Riḍā und Muḥammad Muṣṭafā al-Marāġī.
Das heißt allerdings nicht, dass al-Ṣaʿīdī mit allem einverstanden wäre, was
die genannten Personen gesagt und getan haben; ihm ist sogar daran gelegen,
Topoi zu benennen, in denen er einige von ihnen kritisiert und ihre Ansichten
und Einstellungen widerlegt. Gleichwohl betrachtet er sie alle angesichts dessen,
was sie auf den Weg gebracht haben, als Modernisierer, gleich ob die Mehrheit
der Gelehrten mit ihrem Tun einverstanden war oder nicht oder ob es der über-
wiegenden Mehrheit der Menschen recht war oder nicht. Er war wie der sprich-
wörtliche Stein, der in den stillen See des Fiqh geworfen wurde und diesen davor
bewahrte zu kippen. Indem er das Tor des iǧtihād öffnete, forderte er den musli-
mischen Verstand heraus, der auf diese Weise angeregt wurde und manchmal über
den eigenen Schatten springen musste, um Antworten auf die Fragen der Refor-
mer zu erhalten.
Al-Ṣaʿīdī betont, dass die Erneuerung ein beständiger Prozess ist, der
nur periodisch innehält, und fordert ein Ende der Gründe, die den Fluss des
Erneuerungsprozesses, seine Entschlossenheit und Fähigkeit hemmen, mit einer
beständig sich verändernden Realität, einschließlich der politischen Tyrannei,
der Mutlosigkeit der Herrschenden zu Reformmassnahmen, der geringen Zahl
der Reformer, der Neigung der meisten Menschen zu Traditionalisten und Ultra-
konservativen und dem Kampf der Feinde des Islam gegen die Erneuerungs-
bewegung Schritt zu halten, sodass es für Muslime schwierig ist, ihren verlorenen
Ruhm zurückzugewinnen (Ebd., S. 435–437).
Ǧamāl al-Bannā führt die Erneuerer im Islam wieder in den Bereich des Fiqh,
des Denkens und der Philosophie zurück, fügt jedoch andere Namen zu jenen
hinzu, die al-Ṣaʿīdī im Auge hatte, z. B. Abū Ḥanīfa al-Nuʿmān, Naǧmaddīn
al-Ṭūfī, al-ʿIzz b. ʿAbdassalām, Ḥasan al-Bannā, Muḥammad Iqbāl, ʿAlī Šarīʿatī,
ʿAllāl al-Fāsī, Rifāʿa al-Ṭahṭāwī, ʿAbdarraḥmān al-Kawākibī, Abū al-Ḥasan
al-Nadwī, Abū al-Aʿlā al-Maudūdī, ʿAbdalḥamīd b. Bādīs, Badīʿ al-Zamān Saʿīd
al-Nursī, Sayyid Quṭb, Qāsim Amīn, Muḥammad al-Ġazālī, Muḥammad Asad,
Maḥmūd Šaltūb, Raǧāʾ Ǧārūdī, Šakīb Arslān und Malik b. Nabī.
Obwohl das, was al-Bannā in dieser Hinsicht geleistet hat, nicht mehr ist als eine
sporadische Sammlung und eine Dekonstruktion dessen, was er nicht einzupassen
oder dem er Kontext und Struktur zu verleihen vermochte, so weitet er doch die
Grenzen des Fiqh oder des islamischen Denkens hin zu einer „Erneuerung des Islam“
aus. Diese Ausweitung verknüpft er allerdings mit einer „Neudefinition des islami-
schen Wissenssystems“, wie es in den ersten drei Jahrhunderten n. d. H. entworfen
worden war, und gerinnt bei ihm zu einer unausweichlichen „religiösen Reform“,
ohne die es keine Renaissance gibt und die den Vorrang vor allen anderen Arten von
82 A. A. Hassan

Reform genießen soll: der politischen, der ökonomischen, der gesellschaftlichen und
der kulturellen, wobei er jedoch das Wort „Reform als“ unzureichend betrachtet, weil
es nicht den erwünschten Wandel ausdrückt.
In al-Bannās „Aufruf zur islamischen Renaissance“3 steht der Mensch im
Mittelpunkt und wird ermuntert, die Weisheit (ḥikma) als Grundlage des Gesetzes
dem Koran und der Sunna zur Seite zu stellen. Al-Bannā macht die Vernunft zum
Schiedsrichter über alle Dinge, zieht Gemeinwohl im Zweifelsfalle dem Text vor,
stellt sicher, dass der Islam Religion und Umma ist, nicht Religion und Staat, und
tilgt die Fiqh-Tradition vollständig, um sie durch den direkten Zugang zum Koran
zu ersetzen. Dazu konsultiert er die Hadithe auf Grundlage des tradierten Tex-
tes und nicht allein der Überlieferungskette, weist die muslimische Pflicht zum
Rechtsgutachten zurück, die er als neues Priestertum sieht, und lehnt die Exis-
tenz von Organisationen ab, die auf der Religion basieren, indem er sie als Klerus
betrachtet, den der Islam nicht kennt.
Das Thema Erneuerung beschränkt sich hierbei nicht auf die Produzenten des
islamischen Wissens und ihren Diskurs, sondern besteht in der Arbeit vieler arabi-
scher Schriftsteller und Intellektueller, darunter Nationalisten ebenso wie Liberale.
Beispielhaft dafür ist Zakī Naǧīb Maḥmūd, der sich dem Thema der „Erneuerung
des arabischen Denkens“ widmet, von „Werten der Tradition“ spricht und vom
„Rationalen und Irrationalen in unserer geistigen Tradition“, nachdem er jahrelang
damit zugebracht hat, sich in westliches Denken und westliche Philosophie zu
versenken, die er beide für Zeitverschwendung hielt. Als er dann die Gelegenheit
bekam, sich mit der arabisch-islamischen Kultur vertraut zu machen, sah er, dass
einiges der besonderen Aufmerksamkeit und Fürsorge bedurfte, um es zu erneuern
und unseren Lebensbedingungen anzupassen. Dies machte er sich zur Aufgabe,
wobei er mit viel Reflexion und Erkenntnis zu Werke ging.4

3Ǧamāl al-Bannā hat seine Vision in verschiedenen Büchern dargelegt, vor allem in: Die
Erneuerung des Islam und die Wiederbegründung des islamischen Wissenssystems (Arab.),
Für einen neuen Fiqh (drei Bde., Arab.), Der Islam ist Religion und Umma, nicht Religion
und Staat (Arab.), die alle im Verlag Dār al-Fikr al-Islāmī erschienen sind, der al-Bannā
gehört und dessen Werke druckt.
4Zakī Najīb Maḥmūd hat mehrere Bücher zu diesem Thema verfasst, darunter Die

Erneuerung des arabischen Denkens (Arab.), Werte der Kultur (Arab.), Das Rationale und
das Irrationale in unserer geistigen Kultur (Arab.), Unsere Kultur im Angesicht des Zeit-
alters (Arab.), Über die Modernisierung der arabischen Kultur (Arab.) und Islamische
Vision (Arab.). Diese Bücher wurden mehrfach vom Kairiner Verlag Dār al-Shurūq auf-
gelegt; einige wurden vom Verlag Mashrūʿ Makatabat al-Usra neu gedruckt.
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 83

Der Terminus „Erneuerung“ jedoch hat sich in seiner aktuellen Ausdeutung


zurückentwickelt, bis er sich auf die „Erneuerung des religiösen Diskurses“ ver-
engte (vgl. al-Qāḍī 2008, passim). Diese Rückentwicklung ist freilich nur eine
partielle und der Weg niemals denjenigen versperrt gewesen, die die Erneuerung
auf ein höheres Niveau heben wollen, wie es Ḫūlī, Ṣaʿīdī und Bannā getan haben.
Die offiziellen religiösen Institutionen sind sofort aktiv geworden, nachdem die
arabischen Regierungen dieses Thema für sich entdeckt hatten, um nach den
Ereignissen des 11. September eine Antwort auf den amerikanischen Druck parat
zu haben. So wurden in kurzer Zeit mehrere Bücher veröffentlicht, darunter Die
Erneuerung des religiösen Diskurses von Sālim ʿAbdalǧalīl, Die Erneuerung des
intellektuell-religiösen und missionarischen Diskurses von Saʿīd Muḥammad ʿAlī
und Die Führung des Imam zur Erneuerung des religiösen Diskurses von einer
Anzahl von Gelehrten, Scheichs und Forschern.
Die erklärten Ziele dieses Trends sind die Neuformierung des muslimi-
schen Bewusstseins und Verständnisses, sowie muslimischer Wahrnehmung und
Vision, und zwar im Einklang sowohl mit der Offenbarung als auch mit der Ver-
nunft, damit das verloren gegangene islamische Modell wieder aufersteht – und
zwar gemäß den Anforderungen der Gegenwart, den Ansprüchen der Umma,
der Inspiration durch die Traditionen der Wandels, der Entwicklung in der isla-
mischen Geschichte, der Anwendung des Fiqh auf die Realität, der Ausweitung
des iǧithād, und der Unterweisung der Menschen in der Essenz und Wahrheit der
Religion, nachdem sie diese verlassen und ihre Balance verloren haben. So mach-
ten sie die religiöse Pflicht zu einem Mittel und dieses Mittel wieder zur Pflicht,
betonten den islamischen Mittelweg und reinigten die Kultur (ʿAbdalwahhāb
2008, S. 27).
Dennoch war jene Rückkehr in die Vergangenheit aus zwei wesentlichen
Gründen nichts rein Negatives: Erstens haben diejenigen, die die Erneuerung for-
derten, entweder vor den Schlüsselstellungen oder den Grundprinzipien zurück-
geschreckt, oder sie waren an der Neuzusammensetzung dessen gescheitert, was
sie dekonstruiert hatten, wie auch an der Präsentation einer kohärenten theoreti-
schen Struktur, die ihre Ambitionen belohnt hätte, die sie mit der Erneuerung an
den Tag gelegt haben. So machten sie es ihren Kritikern leicht, sie als „Beharrer“
anstatt als „Modernisierer“ zu bezeichnen. Zweitens war die letzte Phase der
Erneuerung breit und vielfältig und hatten wissenschaftliche Vereinigungen und
Forschergruppen an ihr Anteil, die verschiedenen wissenschaftlichen Schulen,
Denkrichtungen und Orientierungen angehörten, sodass sie nicht vor den Gren-
zen derer halt machten, die an den religiösen Wissenschaften interessiert sind,
sondern sich auf Fachvertreter der Soziologie, Politikwissenschaften, Philo-
sophie, Pädagogik, Literatur und Geschichte bezogen, gleich ob sie Muslime
84 A. A. Hassan

oder Orientalisten waren. Aber diese Anstrengung unterliegt immer noch dem
Reaktionsprozess auf die Aufforderung des Westens an uns, unseren Diskurs zu
modernisieren, was ihre Kraft und ihren Einfluss erheblich mindert und Zweifel
an ihrem Zweck und an ihrer Wirkung sät.

Von der Erneuerung zur Aufklärung

Zeitgenössische Muslime sind, neben der Notwendigkeit einer klaren Begriff-


lichkeit und Kursbestimmung, in drei Probleme oder Illusionen hinsichtlich der
Aufklärung befangen, weswegen die Aufklärung nicht zustande kam oder in man-
chen Fällen zu einer Frühgeburt wurde. Behauptungen, dass die Aufklärung ein
Kind sozialer Einflüsse und eines andersartigen historischen Kontextes, folglich
ein uns fremdes und nicht bindendes Gut sei, was seinen Import und Konsum für
uns schädlich mache, sollten ignoriert und am besten angezweifelt und zurück-
gewiesen werden. Die Urheber jener Behauptungen haben viel Unsinn in Umlauf
gebracht, der viele veranlasst hat zu glauben, dass Aufklärung dem Glauben
abträglich sei.
Die Behauptung, dass wir die Krise hinter uns gelassen haben, hat nichts mit
Aufklärung zu tun, deren Absicht darin besteht, Fortschritte in der Geschichte
zu machen, sondern ist eine Rückkehr zur Vergangenheit, aus deren Erfahrung
sie ihre Inspiration zieht. Die Urheber dieser Behauptung klammern sich an das
Reden und Verhalten derer, die damals als „einzigartige Generation“ gelebt haben
und auf deren Schultern der Islam gegründet wurde, doch ändern diese nichts
daran, wie man den Islam versteht, was seine Ziele sind und wie man ihn ver-
breitet. Wann immer jemand neue Ideen vorbringt, die wir in unsere Lebensreali-
tät umsetzen müssten, nachdem andere sie ausprobiert haben, und die ihnen dazu
verholfen haben, ihre Rückständigkeit für den Fortschritt zu verlassen, behaupten
die Anhänger jener Strömung, dass alles in uns selbst liege und wir andere um
nichts beneiden müssen.
Zakī Naǧīb Maḥmūd (2004, S. 178–179) hat es wie folgt auf den Punkt
gebracht:

Ich bin mir des Ausmasses der Motivation bewusst, von der viele beseelt sind,
unsere geistige Kultur zu verteidigen, wobei sie glauben, dass diese Verteidigung bei
ihnen nur insoweit Grundlage und Pfeiler hat, wenn sie die Dokumente der Ahnen
ausgraben und ein Wort hier und eines dort, einen Satz aus diesem Buch und einen
aus jenem nehmen, um zu beweisen, dass die Werte dieses neuen Zeitalters – ich
meine die hehren, edlen Werte – allesamt in unserer Kultur anzutreffen sind und wir
das Blendwerk der Modernisten nicht nötig haben. Wenn die Modernisten Freiheit,
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 85

Gleichheit, Wissenschaft und Gerechtigkeit sagen, halten wir ihnen schwärmerisch


entgegen: Träumt weiter, wir haben schon vor euch ein Jahrhundert der Frei-
heit, Gleichheit, Wissenschaft, Gerechtigkeit und anderer erhabener Werte erlebt,
doch versäumen wir es immer sicherzustellen, dass diese Wortgefässe noch ihren
ursprünglichen Inhalt tragen und dieser nicht ersetzt wurde, denn durch jenen allein
fliesst der Zeitgeist in unseren Körpern; ohne ihn würden wir zurückbleiben und er
ist es, der dafür sorgt, dass wir in Wort und Bedeutung, in Form und Inhalt mit den
Ahnen leben.

Die Verfechter dieser verdrehten Position, die uns einen fatalen Verlust beschert
haben, behaupten, dass sie sich nur an das halten, was feststeht und gar nicht strit-
tig sein könne, weil seine Autorität absolut sei, selbst wenn sich die gesellschaft-
lichen Bedingungen änderten und die Generationen sich wandelten. Deswegen
fragt sich auch Zakī Naǧīb Maḥmūd, ob es hierbei einen Widerspruch zwischen
unserer Akzeptanz für jene in Stein gemeißelten Standards einerseits und unse-
rem Reden andererseits gibt, wonach die Wahrheit sich mit dem Standpunkt, den
wir einnehmen, wie auch mit dem Problem, das wir behandeln, ändert. Mit Ver-
weis auf ein Beispiel für seine Vorgehensweise, dass auf seinem Weg zur Küste
lauter Hindernisse liegen, die er umschiffen müsse, um sein Ziel zu erreichen,
entgegnet er: „Ebenso verhält sich die Sache in Hinsicht auf unsere unvergäng-
lichen, festgefügten Werte einerseits, und unsere relativen, sich wandelnden
Werte andererseits. Erstere sind der Kompass, letztere die notwendigen Mass-
nahmen für die unerwarteten Probleme“ (Maḥmūd 1989, S. 190–191).
Freilich scheint diese Antwort, bei allem, was sie an Rationalismus und Fort-
schritt beinhaltet, weder hilfreich noch befriedigend, da Extremisten und Radi-
kale die Definition der Konstanten, über die sie sprechen, ausgeweitet und viele
Dinge in übertriebener Weise als in die Religion eingedrungen dargestellt haben,
die dann nach ihrer Sichtweise über die Religion hinausgehen. Daher müssen wir
Anstrengungen machen, jene Konstanten zu definieren und die meisten von ihnen
in Relation zu den Kernfragen setzen, die mit dem Glauben verbunden sind, wie
Muslime ihn kennen (der Glaube an Gott, seine Engel, Schriften und Propheten
sowie das Jüngste Gericht). Was aber die speziellen Fragen der Scharia anbetrifft,
so bedürfen sie einer erweiterten Diskussion, um ihre Konstanten und Variablen
ausfindig zu machen.5 Dies ist wichtig, um das Labyrinth zu verlassen, in dem wir
herumirren und aus dem wir bis heute keinen echten Ausweg gefunden haben.

5Es gibt zwei wichtige Bücher, die zu dieser Debatte beitragen können: ʿAbdalḥalīm Maḥmūd:
Islam ist Doktrin und Gesetz (Arab.), Kairo 1998, und Muḥammad ʿAbduh: Die Botschaft des
Tauḥīd (Arab.), Kairo 2008.
86 A. A. Hassan

Behauptungen, wonach Dinge, die uns gegeben sind, und sei es innerhalb der
Grenzen, die für Stabilität und Festigkeit sorgen, sich auch ändern müssen, wenn
die dringende Notwendigkeit dies erfordert, können nicht auf die Tradition mit-
samt ihrem Wissen, ihrer Werte und ihrer Tendenzen zurückgreifen, weswegen
der Raum, der für Veränderungen zur Verfügung steht, eher zur Überlieferung
statt zur Vernunft genutzt wird. Doch besteht kein Zweifel, dass der edle Koran
zahlreiche Verse enthält, die sich der Aufklärung nicht nur nicht widersetzen, son-
dern sie geradezu fordern, sie verbindlich machen und auf ihr bestehen, indem
diese Verse nämlich zur Notwendigkeit aufrufen, die Vernunft in die Praxis umzu-
setzen, über die irdischen Dinge, die Schöpfungen der Natur und den Glauben an
die Evolution nachzusinnen, die Freiheit des Denkens, Äußerns und Reflektierens
hochzuhalten und jeglicher Mittlerschaft zwischen Mensch und Gott eine Absage
zu erteilen – mit anderen Worten: den menschlichen Willen von der Knechtschaft
und dem Nützlichkeitsdenken zu befreien.
Aufklärung tut not, nicht nur für uns, sondern für die Menschheit insgesamt,
einschließlich des Westens, über dessen Aufklärung wir unablässig sprechen. So
sagt Tzvetan Todorov unter dem Titel Darum brauchen wir permanent ein auf-
klärerisches Denken:

Die Prinzipien der Aufklärung bleiben mehr denn je aktuell. Beispielsweise liegt es
in unserer Macht, auf sie zurückzugreifen, um die Evolutionstheorie zu verteidigen
oder die Folter zu verurteilen, die im Namen einer höheren Staatsräson praktiziert
wird, wie wir in der Aufklärung auch eine mächtige Waffe haben, um die Kriege der
Gegenwart zu verurteilen, die vorgeblich dazu dienen, Freiheit und Demokratie zu
verbreiten, und aufgrund der wir die Vielfalt der Kulturen und Politiken respektieren
und den ökonomischen Erfolg als Mittel, nicht als Zweck betrachten.6

Die Aufklärung ist wahrhaftig vonnöten, aber nicht in Gestalt dessen, was der-
zeit als „Erneuerung des religiösen Diskurses“ gehandelt wird7, denn dies bildet
die unterste Grenze, von dem ich mir nicht vorstellen kann, dass es die Muslime
aus der Krise hinauszuführen imstande ist, in der sie gegenwärtig leben, nach-
dem einige muslimische Radikale die Religion von einer Quelle der Glückselig-
keit zu einer Ursache für Unglück gemacht zu haben. Ohnehin wird eine blosse

6Zurückübersetzt aus dem Arabischen. (Anm. d. Ü.).


7Es sind viele Studien erschienen, die eine Erneuerung des religiösen Diskurses fordern, es
dabei aber belassen, u. a.: Aḥmad Maḥmūd Karīma: Zeitgenössischer islamischer Diskurs
(Arab.), Kairo 2011; Muḥammad Yūnus: Die Erneuerung des islamischen Diskurses von
der Kanzel bis zum Internet (Arab.); Kairo 2013.
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 87

Erneuerung des religiösen Diskurses nicht mit etwas enden, für das wir brennen
und für das wir uns engagieren werden, weil das, was jenem Erneuerungsprozess
entgegenstehen wird, bzw. diejenigen, die diesen Widerstand leisten werden, die
religiösen Institutionen selbst sind, die den gegenwärtigen Diskurs mit seinem
schweren Defizit angestoßen haben. Solche Institutionen werden das verteidigen,
was ihnen vertraut ist und was den Interessen und dem Nutzen derer dient, die von
ihnen profitieren. Deshalb werden sie den Forderungen nach Erneuerung entweder
ausweichen, sie ihres Inhaltes entleeren oder kleinere Anpassungen vornehmen,
die nicht dem genügen können, was um des Fortschritts willen gefordert wird.
Dabei spielt es keine Rolle, ob sich diese Forderungen auf die religiöse Vision
oder auf die Wechselwirkungen der Religion mit anderen Gebieten beziehen.
Es reicht auch nicht, von der „Erneuerung des Fiqh“ zu sprechen und dies als
Ziel dessen zu betrachten, was wir anstreben, denn das wird uns zu einer ganz
anderen religiösen Situation führen, wie z. B. ʿUṯmān al-Ḫašt (2015, S. 4–5) aus-
führt, der am Ende eines Artikels die Fähigkeit zur Erneuerung des islamischen
Fiqh wie folgt hinterfragt: „Auf diese Weise landen wir nur erneut bei der Not-
wendigkeit eines geistigen Wandels als absolute Grundvoraussetzung, zu der
wir beständig drängen, um ein neues religiöses Zeitalter zu begründen.“ Diese
Begrenzung des Denkens und der Reflexion wird definitiv nicht in ein neues reli-
giöses Zeitalter führen, sondern das alte mit leuchtenden Farben übertünchen,
was nur Ignoranten und Ahnungslose als Novität halluzinieren. Hier und jetzt
ohne zu zögern geboten ist die religiöse Aufklärung, die nicht nur altruistischen
Zwecken dient, sondern auch, weil sie im Interesse der Religion, der Gläubigen
und dem Rest der Menschheit liegt. Diese Ziele sind folgende:
Das Image des Islam zu retten, das durch die Worte und Taten der Extremisten
großen Schaden genommen hat, indem sie sich dieser Religion bedienen, um Tod
und Zerstörung zu rechtfertigen. Ihr Ausgangspunkt ist das Verhältnis zu anderen
Menschen, seien es Muslime, die nicht Teil ihrer extremistischen Vereinigungen
sind, oder Nichtmuslime. Dies ist der offene Konflikt, in dem von allen Tricks
Gebrauch zu machen erlaubt ist. Diese Extremisten haben im Laufe der islami-
schen Geschichte viele schlechte Dinge verbrochen, die den Zustand und das
Image des Islam befleckt haben. Einige Versuche, diese Leute anzugehen wie auch
der Einsatz traditioneller religiöser Institutionen, die Religion von solch toxischen
Elementen zu säubern, sind fehlgeschlagen, weil diese Anstrengung, anstatt den
Radikalismus „entschieden kognitiv und ethisch“ zu konfrontieren, nur spora-
disch, marginal, oberflächlich und zögerlich erfolgte, da jeder, der sie unternimmt,
einiges an geistigem Gepäck mit sich trägt, das auch die Extremisten tragen.
Sobald die Aufklärung einsetzt, wird sie den Radikalismus konfrontie-
ren und den Terrorismus einhegen und positiv auf das Image des Islam und der
88 A. A. Hassan

Muslime einwirken, das zutiefst Schaden genommen hat durch den orientalisti-
schen, impressionistischen, kolonialistischen und hetzerischen Diskurs, der eben
nicht auf die Suche, das Studium und die Erlangung der Wahrheit abzielt. Dieses
negative Image war jedoch in vielen Curricula des Westens vorherrschend, wäh-
rend die Verfasser von Enzyklopädien, von Fach- und Lehrbüchern in den Län-
dern des Westens den edlen Koran, den Islam, den Propheten Muḥammad, die
Araber und Muslime auf eine Weise darstellten, die nicht nur weit von wissen-
schaftlicher Objektivität und Integrität entfernt ist, sondern zuweilen ebenso von
menschlichem Gefühl, Geschmack und Kultur.8 Seinen Höhepunkt hat dies mit
den beleidigenden Karikaturen des edlen Propheten erreicht, die den Gefühlen
der Muslime große Verletzungen zufügten, indem sie sich ihnen gegenüber einer
groben, überheblichen, beleidigenden, widerlichen und rassistischen Sprache
bedienten.
Es gilt, die Muslime zu retten, die nicht nur dank des Diskurses und der
Praktiken der Extremisten einen hohen Preis bezahlen, sondern ebenso dank
der Anhänger einer starren und salafistischen Vision von Modernisierung, stam-
men sie nun aus den traditionellen Institutionen oder folgen Missionaren und
Predigern. Denn der Eintritt in den Horizont der Moderne verlangt, dass die
Voraussetzungen für den Fortschritt verinnerlicht werden. Dazu gehören das
wissenschaftliche Denken, die Offenheit gegenüber dem Anderen, der Gebrauch
der Vernunft in der Bewältigung des Alltags, der Glaube an Pluralismus und Viel-
falt innerhalb der Gesellschaft, die Weigerung, alles religiös einzufärben und
eine spezifische religiöse Vorstellung über alles richten zu lassen, was Menschen
sagen und tun, wobei die Vernunft ausgeschaltet oder ignoriert, der Bereich des
ḥarām ausgeweitet, der des ḥalāl eingeengt und im weitesten Sinne alles, was mit
dem „Vergeben“ zusammenhängt, vergessen wird. So waren die Muslime häufig
als Ergebnis der Tatsache zurückgeblieben, dass der Scheich-al-Islam im Osmani-
schen Reich per Rechtsgutachten den Buchdruck verboten hatte und die Scheichs
in allen möglichen Ländern vielfach seinem Kurs gefolgt waren, sodass die Mittel
und Produkte der Modernisierung auf gesellschaftlicher, politischer und wissen-
schaftlicher Ebene verboten wurden.
Es muss Schluss damit sein, die Anhänger anderer Religionen in den musli-
mischen Ländern zu beleidigen. Die Rhetorik der Extremisten, Engstirnigen und

8Für weitere Details zu diesem Punkt s. Das Bild der Araber und Muslime in den inter-

nationalen Lehrplänen: Amerika, Grossbritannien, Frankreich, Italien, Deutscbland, Spa-


nien, Russland, Indien, Korea, Brasilien und Israel (Arab.), (Hrsg.) von einer Gruppe von
Forschern, Riad 2003.
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 89

Hardliner, die Gott nur dem Wortlaut nach anbeten, besteht darin, den Glauben
jener zu verleumden, ihn zu verachten, aus Unwissenheit zu verwerfen und zu
versuchen, Andersgläubige dauerhaft die vollen staatsbürgerlichen Rechte vor-
zuenthalten. Dazu ziehen sie entweder historische Verfahren heran, die keine
Gültigkeit mehr beanspruchen können, oder diskriminieren Andersgläubige am
Arbeitsplatz, im Bildungswesen oder beim Erhalt von Dienstleistungen etc., oder
betrachten sie gar als Freiwild und greifen ohne die geringste Rücksicht oder
Zögern ihr Leben, ihren Besitz und ihre Ehre an.
Wir müssen den Schaden kitten, der den nichtmuslimischen Gemeinschaften
von Extremisten und Terroristen zugefügt worden ist, die im Namen des Islam
töten und zerstören, nachdem sie die Welt in zwei Hälften geteilt haben, wie der
verstorbene al-Qaida-Führer Osama bin Laden es formuliert hat, als er auf das
historisch überlieferte Konzept einer Einteilung der Welt in das „Haus des Krie-
ges“ und das „Haus des Friedens“ zurückgriff, mit dem die imperiale Expansion
der Umayyaden, Abbasiden und Osmanen im Namen der Verbreitung und des
Schutzes des Islam rechtfertigt worden war. Denn die Terrororganisationen haben
viele Länder im Orient wie im Okzident ins Visier genommen und es geschafft,
terroristische Anschläge gegen Einrichtungen, Institutionen, Menschen, Staats-
bürger und deren Interessen auszuführen. Sie schüchtern Menschen dadurch ein,
dass sie sie für Ungläubige erklären, zu mittelalterlichen Fehden aufrufen oder
nicht zwischen solchen Ländern unterscheiden, die die Araber, Muslime u. a.
angreifen, und solchen, die es nicht tun. Letztere fallen dann allein deshalb der
terroristischen Bestrafung anheim, weil sie westliche Länder sind oder die Mehr-
heit ihrer Bevölkerung sich zum Christentum bekennt.

Fünf Voraussetzungen für die religiöse Aufklärung

Wer die Gedankengänge der religiös-politischen Gemeinschaften näher betrachtet,


wird sich bestätigt sehen, dass die „religiöse Reform“ zu einer dringenden
Angelegenheit geworden ist, damit die Zukunft der Araber und der Muslime eine
andere wird. Denn viele Probleme, die dem Weg des Fortschritts entgegenstehen,
wie auch der Krisen, die sich immer wieder erheben, seien sie politischer oder
intellektueller Natur, haben ihre Ursache darin, dass es stets irgendjemanden gibt,
der die Vergangenheit in die Gegenwart zurückruft – und dies nicht, um daraus
Nutzen zu ziehen, Lektionen zu lernen oder um nach einem Weg zur Authentizi-
tät zu suchen, sondern um das gegenwärtig Bestehende komplett auszulöschen.
Es wird so getan, als ob dieses Schmutz und Dreck sei, rückständig und erstarrt,
damit das, was in den frühen Jahrhunderten geschehen war, zwangsläufig als
90 A. A. Hassan

heilig, unverfälscht, fortschrittlich und maßgeblich erscheinen muss. Diese Auf-


fassung ignoriert die Tatsache, dass die Ahnen schwerwiegende Fehler gemacht
haben, wie uns von vertrauenswürdigen Historiografen überliefert wurde.
„Religiöse Reform“ heißt in diesem Zusammenhang weder, die Religion zu
modifizieren, noch, sie zu ersetzen, wohl aber, sie in Hinblick auf korrupte Mus-
ter von „Religiosität“, die aus der Religion eine Ideologie, Folklore, Geschäft,
Neurose oder Märchen machen, zu überdenken und zugleich vieles von den
„religiösen Disziplinen“ auszusieben, die in Form von Übernahme, Auswahl,
Transformation und Wiederbelebung die ältere Literatur der Juristen und der
Überlieferer heranziehen und sakralisieren. Was die religiös-politischen und mis-
sionarischen Gruppen betrifft, so werden diese ihre Gedanken und Vorstellungen
nur dadurch entwickeln, dass sie ernsthaft, unparteiisch und wissenschaftlich die
folgenden vier Tatsachen zur Kenntnis nehmen:

1. Es muss scharf unterschieden werden zwischen Offenbarung und Geschichte,


wobei erstere auf letzterer aufbaut und letztere eine Erfahrung darstellt, die
man berücksichtigen kann, die aber keine Basis für Analogien oder eine Richt-
schnur für Urteile über Handlungen, Verhaltensweisen oder daran anknüpfende
Ansichten abgibt oder irgendeiner Sache oder Vorhaben Heiligkeit verleiht.
2. Es muss scharf unterschieden werden zwischen Text und Diskurs, d. h. zwi-
schen dem Koran als einem einzigen feststehenden, abgeschlossenen Text
und den einzelnen zahlreichen Überlieferungen, die Gegenstand von Studium,
Erörterung und Rechtsdenken sind, die ihrerseits menschliche Tätigkeiten dar-
stellen, die permanent überprüft und kritisiert werden müssen.
3. Es muss scharf unterschieden werden zwischen allgemeinen, elementaren
Prinzipien oder Werten einerseits, die durch den Islam definiert sind, und
ihren gesellschaftlichen und historischen Manifestationen andererseits, damit
sich eine Tür für die Erneuerung letzterer öffnet, ohne dass die Prinzipien
selbst unterdrückt oder verfälscht würden. Dies darf sich nicht auf die etab-
lierten Manifestationen begrenzen, bei denen man nicht stehen bleiben darf,
denn auch wenn einige von ihnen in der Vergangenheit ihre Tauglichkeit
bewiesen und es geschafft haben mögen, die angestrebten Ziele und Zwecke
zu erreichen, so sind sie für unsere Zeit nunmehr ungeeignet.
4. Es muss scharf unterschieden werden zwischen der Historizität der religiösen
Symbole, selbst wenn sie von den Prophetengefährten stammen, und der Heilig-
keit der Prinzipien, die der Islam gesetzt hat. Denn der einzelne Mensch erwirbt
seine Stellung aus der Hingabe an das Prinzip, in dessen Dienst er sein Tun
stellt, sodass er, wenn er von jenem abrückt, seine Stellung verliert. Der Islam
überzeugt keinen einzelnen Menschen von sich, sondern der einzelne Mensch
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 91

überzeugt alle. Die Männer anerkennen das Recht, aber das Recht anerkennt die
Männer nicht.

Im Prinzip reden die Anhänger dieser Gruppen auf eine Weise, die deutlich macht,
dass sie diese vier Unterscheidungen zwar nicht völlig bestreiten und dass sie dar-
auf aus sind, nach der Quelle oder Wurzel zu forschen und nicht nach dem, was in
den Glauben von außen eingedrungen ist. Wenn sie jedoch anfangen, diese Vor-
stellung in einen Diskurs zu übertragen oder versuchen, sie auf die Lebenswirk-
lichkeit anzuwenden, verfallen sie in gravierende Fehler, indem sie z. B. Göttliches
mit Menschlichem vermischen, Text und Diskurs gleichsetzen, oder leugnen,
dass der heutige gesellschaftliche Kontext mit seinen Problemen und Heraus-
forderungen ein anderer ist als der, mit denen die Ahnen konfrontiert waren.
Es gibt engstirnige und extremistische religiöse Vereinigungen, die dazu über-
gegangen sind, sich einigen dieser Probleme zu stellen. Dies ist insbesondere in
den arabischen Ländern Fall, wo sie in großen Schritten auf die Politik zusteuern
und diese Probleme in erschreckender Weise offen zutage treten. Diese Ver-
einigungen sind, sobald sie ihre Anschauungen offenbaren, die sich in ihren Köp-
fen über die komplexe Realität festgesetzt haben, und die sich einbilden, sie seien
fähig, Schwierigkeiten zu überwinden, Probleme zu lösen und zufriedenstellende
und adäquate Antworten auf sich erneuernde Fragen zu liefern, klar und deutlich
gescheitert. Einige von ihnen haben immerhin begonnen, den „Interessen“ der
Menschen das Gewicht beizumessen, das sie verdienen, und das Tor des iǧtihād
so weit zu öffnen, dass es diesen Interessen entgegenkommt.
Aber es wird immer welche geben, die den Wandel ablehnen und die jeden,
der sich zum Besseren wandelt, als jemanden darstellen, der das religiöse Gesetz
übertritt, die Religion verfälscht oder beleidigt, und die dabei Menschen fin-
den werden, die ihnen bewundernd und leidenschaftlich zuhören und unkritisch
und blind in ihren Fußstapfen folgen. Damit startet eine neue Staffel der Sala-
fismus-Serie, die noch nachglimmt, wenn sie erloschen, und sich noch ausdehnt,
wenn sie in sich zusammengefallen ist. Sie bringt die Herzen all derer zum Schla-
gen, die daran glauben, dass der Salafismus die „geheime Lösung“ für die Pro-
bleme und Krisen der Gegenwart bildet, die sich unentwegt erneuern, verknoten
und außer Kontrolle geraten.
Genauer gesagt, ist es uns nicht möglich, selbst kleine Schritte in Richtung
Aufklärung zu machen, ohne die fünf elementaren Dinge anzuerkennen, die man
wie folgt formulieren und umreißen kann:
1. Der Glaube ist eine individuelle Angelegenheit, was bedeutet, dass es keine
Mittlerinstanz zwischen dem Gläubigen und seinem Gott gibt und niemand das
Recht hat, den Glauben eines Menschen zu verurteilen oder über ihn zu richten,
92 A. A. Hassan

wie er auch kein Recht hat, sich in anderer Weise in die Definition seines Glaubens
einzumischen als durch Erinnerung oder Mahnung, keinesfalls aber durch Vor-
mundschaft, Kontrolle oder Zwang den Menschen ihren Glauben verkünden darf.
Diese Auffassung steht nicht nur im Einklang mit dem Inhalt des koranischen Tex-
tes, sondern ist auch mit der natürlichen Vernunft vereinbar. Jegliche Handlung, die
dem entgegengesetzt ist, korrumpiert die Wahrheit des Glaubens, macht die Reli-
gion zu einer Quelle des Unglücks und verbreitet Heuchelei, um ein Tor für die
wenigen zu öffnen, die daraus ihren Lebensunterhalt bestreiten, Prestige gewinnen
oder eine Lebensaufgabe gefunden haben, indem sie die Religion schändlich aus-
nutzen.
Gott der Allmächtige sagt, zum Propheten Muḥammad gewandt, wie es der
Koran (88:21–22) überliefert: „So ermahne: du bist nur ein Ermahner, du hast
keine Macht über sie“, womit Gott das Amt des Propheten als Übermittlung defi-
niert, nicht als Zwang im Glauben. Dennoch traten mit den Jahren Gruppen oder
Individuen auf, die den Glauben aufzwingen, d. h. den Beitritt und die Bindung
an ihn über das Prinzip namens al-amr bi-l-maʿrūf wa-l-nahy ʿan al-munkar („das
Gute gebieten und das Schlechte verbieten“) erzwingen wollten, obwohl das
amr (Gebieten) wie auch das nahy (Verbieten) nicht über Mitteilung, Erinnerung
und Mission hinausgehen und nicht bedeuten, dass die Menschen zu einem
bestimmten Verhalten gezwungen werden. Schließlich ist dieses Prinzip von Men-
schen gemacht oder sie haben es mit dem Inhalt der Offenbarung vermischt, näm-
lich durch Exegese, historische Überlieferungen, sowie Regeln und Rituale, die
sie festlegen, um dann von den Menschen zu verlangen, dass sie sie befolgen,
sonst würden sie aus der Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen und samt ihrem
Besitz und ihrer Ehre von den Extremisten geächtet werden. Gleichzeitig muss
ein „Wandel vom blinden Glauben zum Glauben als Wettbewerb“ (Lakhdar 2014,
S. 13) stattfinden, d. h. der Glaube muss auf Verstehen, Bewusstsein und freier
Entscheidung beruhen und nicht darauf, dass der Mensch das übernimmt, was vor
ihm war und er damit umgeht, als handele es sich um eine ihm überreichte Sache,
über die er weder nachzudenken noch zu reflektieren braucht.
2. Die Vernunft ergänzt den Vorgang der Offenbarung: Den traditionellen
religiösen Annahmen zufolge ist die Vernunft entweder ein Gegner der Offen-
barung, oder sie strebt danach, diese zu unterdrücken und einzuengen, oder sie ist
unzureichend zum Verständnis der Offenbarung, d. h. wie ein Blinder, und damit
unfähig, ihrem Inhalt zu folgen. Manchmal geschieht dies unter der Parole „Kein
iǧtihād bei eindeutigem Text“, besonders wenn dieser Text gemäß der bekannten
Klassifizierung als „absolut feststehend und absolut bewiesen“ gilt, und manch-
mal in der Auffassung, dass die Altvorderen ein grösseres Verständnis von der
Religion hatten als die nachfolgenden Generationen.
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 93

Muḥammad Aḥmad Ḫalafallāh (1984, S. 140–145) meint dazu:

Für den Menschen ist Gott der Erhabene die Quelle der Wissenschaft und des Wis-
sens, indem er sich den Propheten offenbart und von ihnen verlangt hat, die Offen-
barung den Menschen und damit dem menschlichen Verstand zu übermitteln, der
das Universum, mit allem und allen, die darin sind, betrachtet, durchdenkt und
reflektiert. Wenn wir über die wissenschaftliche Wahrheit im Sinne der religiösen
Wahrheit reden, deren Grundlage die Offenbarung ist, so bedeutet dies nicht, dass
die andere wissenschaftliche Wahrheit, deren Grundlage die menschliche Vernunft
ist, außerhalb des Genannten liegt, das von der Lehre und der Erforschung der
koranischen Begriffe handelt.

In den Augen von Ḫalafallāh bleibt die Offenbarung grundlegende Quelle für
unser Wissen über Gott, das Universum, die Schöpfung und vieles von dem,
was in der Natur um uns herum liegt. Aber dies hält das Wissen nicht davon
ab, für den Verstand verfügbar zu sein, um Gegenstand des Nachdenkens zu
werden. Zugleich gibt es nichts, was den Verstand daran hindern könnte, über
andere Dinge nachzudenken, die weit davon entfernt sind und von den Ent-
wicklungen erzwungen werden, von denen das menschliche Leben geprägt ist.
Lafif Lakhdar trägt diese Fragestellung noch einige Schritte weiter, wenn er
für die „Reform des Islam“ im Sinne dessen plädiert, was er „Rationalismus“
nennt, und sagt: „Das Ziel der Reform des Islam ist es, den zeitgenössischen
Islam dahin zu bringen, dass er den islamischen religiösen Rationalis-
mus annimmt, weil er dadurch zu den anderen Religionen, mono- wie poly-
theistische, aufschließen wird, die ebenfalls den religiösen Rationalismus
angenommen haben, und er so mit dem absoluten unverdorbenen Glauben der
Alten zusammenfällt“ (Lakhdar 2014, S. 19).
Für Lakhdar meint „religiöser Rationalismus“, die Institutionen, Wissen-
schaften und Werte der zeitgenössischen Welt, sowie den entschiedenen Glauben
an die Menschenrechte zu akzeptieren und die geistige Lähmung zu überwinden,
zu der es zwangsläufig kommt, wenn der Blinde dem Altvorderen folgt und
dessen Denkweise und Religiosität übernimmt (Ebd., S. 19–20), obwohl die
Umstände unserer Zeit von denen ihrer Zeit verschieden sind und viele der Fra-
gen, die sich uns jetzt stellen, von jenen unterscheiden, die sich ihnen gestellt
haben.
3. Das moralische Bewusstsein und alles, womit sich die religiösen Visio-
nen befassen, die aus extremer Armut hervorgegangen sind, existiert seit der
Frühzeit der arabisch-islamischen Kultur. Was aus dem „Sieg des Fiqh über
die Philosophie, der Scharia über die Moral und das unabhängige mensch-
liche Bewusstsein, sowie der Religiosität über die Religion hervorgegangen
94 A. A. Hassan

ist, hat nicht zum Durchbruch einer islamischen Ethik beigetragen, die von
Selbstdisziplin, Autonomie und Verallgemeinerungsfähigkeit geprägt ist“
(Barhūma 2014, S. 76–77). Das Fehlen des moralischen Aspektes, der eng mit
der Spiritualität und Wachheit des Geistes verbunden ist, hat die Gottesdienste
(ʿibādāt) in ein Bündel leerer Rituale verwandelt und die zwischenmenschlichen
Beziehungen (muʿāmalāt) dem Nützlichkeitsdenken unterworfen, indem man
entweder schnelle diesseitige Profite erwirbt, oder danach strebt, spätere Profite
im Jenseits zu erlangen, indem man durch nüchtern kalkulierte Taten Pluspunkte
sammelt. Vertreter dieses Denkens glauben, dass es in ihrer Macht liegt, davon
zu profitieren, wenn sie sich an die Gerechtigkeit Gottes halten, nicht etwa an
seine Gnade oder Gunst, wobei sie Fiqh und Koranexegese zur Anwendung brin-
gen, die ihnen in ihrer Auffassung, die zum Äußeren der Texte neigt, entgegen-
kommen.
Natürlich ist

eine Anstrengung oder ein Projekt namens Renaissance, Aufklärung oder Reforma-
tion in der arabischen Region oder muslimischen Welt im allgemeinen nicht voll-
ständig, wenn es sich nicht hinreichend mit der Idee der Reform religiöser Ideale
und Werte befasst und wissenschaftlich ernst zu nehmende Anstrengungen theo-
retischer und philosophischer Art unternommen hat, die sich mit der Natur der
Beziehung von Religion und Ethik befassen (Ebd., S. 7).

Folglich muss, wer eine Reform begehrt, danach streben, eine offene Moral zu
etablieren, die auf den Werten der Freiheit, des Rationalismus und der Gleich-
heit unter den Menschen beruht, um, ungeachtet ihrer Verschiedenheit in vie-
len Dingen, eine Vision zu artikulieren, die mehr auf den Menschen vertraut
und gegenüber den Vorstellungen und Angeboten des starren und geschlossenen
Fiqh mitsamt seinen verzweifelten und holprigen Auslegungen in Bezug auf den
Menschen standhaft bleibt, die Existenz ethischer Annahmen, die nicht religiö-
ser Natur sind, anerkennt, und der Überlieferung des Volkes in Urteilen, Sprich-
wörtern, Erzählungen und aller Arten von Philosophie, Kontemplation, Literatur
und Kunst etc. seine Reverenz erweist (Ebd., S. 19–50).
Im allgemeinen gibt es im religiösen Feld theoretisch mindestens zwei
Paradigmen für den Wandel. Das erste geht von den Propheten aus, die als
inspirierende Persönlichkeiten an einer Veränderung der öffentlichen Moral
arbeiten, was dann zur sozialen Reform führt. Das zweite bilden die sozialen
Bewegungen, die sich um Autoritäten oder spirituelle Führer gruppieren, die
ihrerseits darauf bedacht sind, eine spirituelle Revolution ins Rollen zu bringen
(Acquaviva und Pace 2011, S. 148). Alle beide, Ethik und Geist, mangeln der
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 95

„religiösen Erfahrung“ der Engstirnigen und Extremisten, die mit Trivialitäten


und Äußerlichkeiten handeln und in der Religion nach etwas suchen, das ihren
verqueren Lebenswandel rechtfertigt und ansonsten weit entfernt ist von einer
Befragung der Herzen, einer Konsultation der Sinne oder einem Verständnis für
die Absichten der Religionen.
Damit dies nicht nur Wunschdenken oder Rechthaberei bleibt, müssen wir Wege
definieren, die zur Verwirklichung dieser Glaubensvorstellungen, zur Anwendung
der Vernunft und Verpflichtung zur Ethik führen, damit sich all dies von den Buch-
seiten, Seminarräumen und schmalen Intellektuellenzirkeln auf die Gesellschaft in
ihrer ganzen Breite überträgt. Dies soll durch Unterricht, Curricula und das Bildungs-
wesen geschehen, sowie über Medien und Informationskanäle, Institutionen und Pro-
jekte der Zivilgesellschaft.
4. Religion und politische Macht zu verknüpfen macht die Religion zu einer
Ideologie oder einen Rahmen, in dem Macht zum Selbstzweck wird, bzw. das
Verhalten der Macht um ihrer selbst willen rechtfertigt wird, nachdem man sie
erlangt und verinnerlicht hat oder indem man Unterstützer und Anhänger rekru-
tiert, um ihren Einfluss zu stärken, und versucht, ihre Grundpfeiler zu festigen,
indem man verbietet, gegen sie aufzubegehren, oder ihr die Opponenten dadurch
vom Leib hält, dass man sie des Unglaubens und der Ignoranz (i. S. d. ǧāhiliyya)
bezichtigt und sie verleumdet.
Die Erfahrung der Geschichte zeigt uns, dass das Streben nach politischer
Macht der vergiftete Dolch war, der ohne Ausnahme alle Religionen durchbohrt
hat. Deswegen ist es im Interesse der Religion erforderlich, dass man zwischen
dieser und jener unterscheidet und das Interesse der Politiker und all derer, die
die Religion als machtlegitimierend präsentieren oder behaupten, zur Macht zu
gelangen sei notwendig, um die Religion und ihre Verbreitung sicherzustellen, erst
an zweiter Stelle kommt. In Wahrheit wird sonst die Religion manipuliert und ohne
Anstand oder Rücksicht um des weltlichen Nutzens wegen ausgenutzt, der oft mit
Täuschung, Falschheit, Trickserei, Doppelmoral und Spiegelfechterei einhergeht.
Vielleicht bildet die „Herrschaftsliteratur“ einen praktischen, klaren Beweis
für die Korruption und Verkommenheit dessen, was die Vermischung der Religion
mit der staatlichen Macht in der islamischen Geschichte hervorgerufen hat. Die
„Herrschaftsliteratur“ sind

jene politischen Schriften, deren ursprüngliches Erscheinen zeitlich mit dem


zusammenfällt, was die meisten Menschen als Umschwung des Kalifats zum
Königtum bezeichnen, wobei jenes grösstenteils vom persischen politischen
Erbe überliefert und übernommen worden war, mit dessen Hilfe die Geschäfte
des entstehenden islamischen Staates organisiert wurden. Dabei handelt es sich
96 A. A. Hassan

um eine Literatur, deren Genre der Ratschlag zur Erleichterung der Staats-
angelegenheit darstellt. Sie enthält in allen Abschnitten eine gewaltige Menge an
ethischen Empfehlungen und Verhaltensregeln, die der Herrscher befolgen muss:
angefangen von seinen persönlichen Verpflichtungen bis hin zur Art und Weise,
wie er mit seinen Untertanen umgeht, seine Diener auswählt und überprüft, und
schliesslich, wie er sich seinen Feinden gegenüber zu verhalten hat. In der Prä-
sentation ihrer Ratschläge, die auf die Stärkung der Macht und Dauer des König-
tums abzielen, folgt diese Literatur einer Methodologie, oder sagen wir: einer
paradigmatischen praktischen Vorstellung, die aus den Ratschlägen letztlich ein
anwendungsorientiertes politisches Denken macht, wobei sie weder auf Theore-
tisierung aus ist, insoweit diese sich auf Erfahrung stützt, noch nach einer Ganz-
heitlichkeit strebt, die sich an den Grenzen der herrscherlichen Realität bemisst
(ʿAllām 2006, S. 8–9).

Tatsächlich sind viele Rechtsgelehrte und Produzenten des religiösen Diskurses


in der Erstellung von Ansichten und Ideen im Bereich der „Herrschaftsliteratur“
aktiv, die meistens mehr auf die Verlängerung der Überlebensdauer des Herr-
schers auf seinem Thron abzielt als auf die Herstellung von Gerechtigkeit unter
den Untertanen. Am problematischsten in dieser Hinsicht ist, dass die Recht-
fertigung dieses Ziels aus einer religiösen Richtung kommt und sich für die Aus-
beutung der Wissenschaften des Islams und seiner Texte geöffnet hat, um die
Interessen der politischen Macht umzusetzen. Dieser Prozess hat den Muslimen
großen Schaden zugefügt, die immer noch den Preis dafür zahlen müssen und
vielleicht noch in der Zukunft zahlen werden. Deshalb muss dieses Übel unter der
Ägide der Aufklärung, die allein imstande ist, ihm Grenzen zu setzen, ein Ende
haben, nachdem die Weisen, Wissenden und alle, die nach einer Verbesserung der
Lebensumstände streben, solange darauf gewartet haben.
Wenn die politisch-religiösen Gruppen, um ihr politisches Projekt zu recht-
fertigen, dagegen einwenden, dass der Prophet selbst Politik gemacht und sich
wie ein Staatspräsident verhalten habe, so entkräftet der Rückgriff auf die pro-
phetische Erfahrung in Wissen und Bewusstsein diese Vorstellung. Hierzu sagt
ʿAbdalilāh Bilqazīz (2005, S. 200): „Gewiss, in der prophetischen Erfahrung sind
das Religiöse und das Politische zusammengefallen, aber dies bedeutet nicht das,
was Ḥasan al-Bannāʾ9 geglaubt und verteidigt hat. Im prophetischen Projekt war
die Politik nicht von der Religion getrennt, aber zugleich wurde sie von ihr auch
nicht dominiert oder bildete einen ihrer Zweige.“

9Ḥasan al-Bannāʾ (1906–1949): Gründer der Muslimbrüder. (Anm. d. Ü.).


Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 97

ʿAlī ʿAbdarrāziq10 (2002, S. 88, 105, 113) ist noch darüber hinausgegangen,
als er in seinem Buch, das noch immer heftige Kontroversen hervorruft, die Frage
stellte:

Wieviel von einem König ist kein Prophet oder Gesandter Gottes? Wieviel Pres-
tige zöge Gott aus den Gesandten, wenn sie Könige wären, wo doch die meisten
Gesandten, die wir kannten, einfach nur Gesandte waren? … Muḥammad war nur
ein Gesandter für die rein religiöse Mission zur Religion, ohne einer Neigung zum
König oder einer Mission für den Staat verdächtig zu sein. Tatsächlich verfügte der
Prophet weder über eine Herrschaft noch über eine Regierung und er hat auch kein
Königreich in dem Sinne begründet, dass er unter diesem und ähnlichen Begriffen
eine Politik verstanden hätte, die nicht die eines Propheten war, wie dies auf seine
Brüder zutrifft, die keine Propheten waren. Er war weder ein König noch ein Staats-
gründer noch rief er zur Herrschaft auf … Der Koran ist darin eindeutig, dass
Muḥammad nur das Recht der Offenbarung über seine Gemeinde hatte.

Die Verknüpfung des Islam mit der politischen Macht führt zur Formierung des
„religiösen Staates“ –

ein Begriff, der im zeitgenössischen politischen Denken Ängste weckt, insofern als
er dem Staat das Monopol über die Deutung des religiösen Textes verleiht, was ihn
zum Eigentümer der göttlichen Macht erhebt, die diesem Text inhärent ist. Sie ist
nämlich ihrer Natur nach eine absolute Macht und geschützt durch Bestrafungen,
die bis zur Todesstrafe reichen … Daher sollte der Staat seine Gewalt aus einer
zweifachen Macht beziehen: Der natürlichen Macht des Staates selbst und der
himmlischen Macht der verborgenen Autorität (Yāsīn 2009, S. 350).

Wenn wir uns mit der Natur der Rolle des Propheten befassen, müssen wir zwi-
schen „Führerschaft“ und „Präsidentschaft“ unterscheiden, denn erstere ist von
gesellschaftlicher Natur, d. h. sie basiert auf den Eigenschaften und Qualitäten
der Person, die die Akzeptanz der Gemeinschaft genießt, zu der er gehört und die
ihm Verehrung, Respekt und Liebe entgegenbringt, ohne ihr gegenüber offiziell
verpflichtet zu sein und ohne, dass sie eine offizielle Macht über sie hätte. Die
zweite wiederum verfolgt einen offiziellen Zweck, dessen Wesen an die Existenz
eines Amtes gebunden ist, wobei jemand, der dieses ausübt, nicht notwendiger-
weise Liebe, Respekt oder Verehrung genießt. Er hat nur kraft dessen, was sein
Amt ihn an Kompetenzen zur Verfügung stellt, Gewalt über die Menschen. Ich

10ʿAlīʿAbdarrāziq (gest. 1966): Ägypt. Jurist und Verfasser des einflussreichen Buches Der
Islam und Grundlagen der Herrschaft (1925). (Anm. d. Ü.).
98 A. A. Hassan

glaube, dass die Stellung des Propheten die eines „Führers“ der Muslime war,
nicht die eines Präsidenten und dass sein politisches Verhalten Ausdruck seiner
Führerschaft war und nicht der Präsidentschaft entsprang.
Aus all diesem ergibt sich, dass es keine wahre Aufklärung gibt, ohne diese
Unterscheidung zu treffen, die nicht die Trennung der Religion von der Politik
meint, was ein rein theoretischer Vorschlag wäre, der deshalb schwer umzusetzen
ist, weil Politik und Religion gemeinsam fallen und steigen und sich in allen Kul-
turen, Gesellschaften und in allen geschichtlichen Epochen vielfach gekreuzt
haben und in unterschiedlicher Stärke begegnet sind. Was ich meine, ist viel-
mehr eine vollständige Scheidung der Religion von der politischen Macht, damit
die Religion sich nicht in eine Ideologie (politische Überzeugung) verwandelt,
irgendein Herrscher behaupten kann, dass sich seine Macht von Gott herleite, er
die Religion für seine politische Propaganda ausbeutet oder dem Konflikt zwi-
schen den Wettbewerbern auf dem politischen Feld ein Spielraum eingeräumt
wird, innerhalb dessen sie in der politischen Praxis von der Richtig/Falsch-Linie
zur Glaube/Unglaube-Linie übergehen könnten.
5. Die Modernisierung der Gesellschaft ist ein weiterer Punkt. Viele glauben,
dass in der Dürftigkeit der Anstrengungen von Rationalisten und Aufklärern der
Grund dafür liegt, dass es bei den heutigen arabischen Modernisten zu keiner
Aufklärung und keiner echten religiösen Reform gekommen ist. Dies ist jedoch
nicht das ganze Dilemma, sondern nur ein Aspekt davon und auch nur ein gerin-
ger und untergeordneter Aspekt gegenüber der dringenden Notwendigkeit, die
Modernisierung in allen ihren Dimensionen überhaupt zu verwirklichen. Hierzu
sagt Maḥmūd Amīn al-ʿĀlim, der die Schriften einer Reihe von arabischen Philo-
sophen und Intellektuellen eingehend studiert hat, die sich der Frage widmeten,
warum die Aufklärung eines Averroes bei uns versandet ist, während die Europäer
sie zu nutzen wussten:

Die Rückständigkeit der objektiven, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen


Bedingungen, die es erlaubt hätten, dass sich in unseren Gesellschaften die Auf-
klärung manifestiert und der Rationalismus zur Blüte erhebt, wie auch die
Abwesenheit der Aufklärung, sind objektiv das Ergebnis einer verscheuchten
Modernisierung, gibt es doch ohne Modernisierung auch keine Aufklärung. Deshalb
existiert kein Unterschied zwischen der Aufklärung eines Averroes in Europa und
seiner Verdunkelung in unserer, der arabischen Welt; umso mehr einen zwischen
einer Gesellschaft, die gewachsen, und einer anderen, die zurückgeblieben und
noch immer im Rückstand befindlich ist. Darum macht es auch keinen Sinn, Aver-
roes wiederbeleben, sich von ihm inspirieren lassen und ihn als Vorbild nehmen, ja
ihn sogar übertreffen zu wollen, ohne ein umfassendes strukturelles Entwicklungs-
projekt für die landwirtschaftlich-industrielle Produktion in Gang zu setzen, das
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 99

die grundlegenden Strukturen unserer arabischen Gesellschaften verändert und ent-


wickelt (ʿĀlim 2010, S. 92).

Allerdings gibt es Leute, die dazu aufrufen, nicht länger auf die Entstehung
gesellschaftlicher Bedingungen zu warten, damit sich Aufklärung und Demo-
kratie einstellen. So sagt Muḥammad Ǧābir al-Anṣārī (1992): „Wenn das
allgemeine soziale Klima das Hindernis für die intellektuelle Befruchtung dar-
stellt, wann war dann die Geschichte gnädig mit den Intellektuellen und Kultur-
schaffenden?“ Hat Europa nicht seine frühen Gelehrten verbrannt, als sie von
der Kugelform der Erde und ähnlichem sprachen? Trotz allem schritt das euro-
päische Denken auf seinem Weg voran, um zu geben und zu erneuern, und hatte
zwar nicht auf das Kommen der Demokratie gewartet, diese jedoch letzten Endes
hervorgebracht, indem es neue Gedanken, praktische Programme und passende
Formeln präsentierte. Dies ist ein Faktum, über das man nachdenken sollte. Das
europäische Denken ist der historische Vater der europäischen Demokratie, nicht
umgekehrt, dass also die Demokratie das Produkt eines bahnbrechenden, inno-
vativen Denkens ohne Vorläufer wäre. Die arabischen Intellektuellen bestehen
allerdings naiverweise darauf, dass der Karren vor das Pferd gespannt wird, und
sagen: Gebt uns Demokratie, dann geben wir euch ein entsprechendes Denken,
und wenn nicht, dann nicht. „So begreifen sie die Realität ihrer Gesellschaften.“
In Wahrheit liegt kein Widerspruch zwischen diesen beiden Richtungen, denn
wer die Aufklärung in allen seinen Spielarten mit der Modernisierung verknüpft,
verbleibt auf der authentischen Seite der Realität, und wer die Intellektuellen
dazu aufruft, nicht auf die politische Reform zu warten, mit der sie die intellek-
tuelle Reform unternehmen könnten, verbleibt ebenfalls auf der authentischen
Seite der Realität, die nicht weniger bedeutend ist als die erste. Denn die Intel-
lektuellen müssen für die Aufklärung kämpfen, was auch immer die Bedingungen
ihrer Gesellschaften sein mögen, und wenn diese Bedingungen noch nicht
geschaffen sein sollten, dann dürfen sie nicht schweigend, seufzend und untätig
herumsitzen, sondern müssen die geeigneten Ideen und Vorstellungen vorlegen,
die für eine Anpassung an diese Herausforderungen sorgen. Sie müssen sie den
Menschen unterbreiten und wenn diese sie verstehen und an sie glauben, wer-
den sie Druck zugunsten der Aufklärung machen oder sich individuell in ihrem
Sinne verhalten. Dann wird sie Realität werden und sei es nur schrittweise, weil
die Macht, wenn ihre Stunde gekommen ist, der Aufklärung nicht im Wege stehen
wird, wenn es darum geht, auf das, was die Menschen verlangen, eine Antwort
zu finden. Anderenfalls würde sie ihre Legitimation verlieren und sich zu einer
Macht wandeln, die stürzt und unvermeidlich fällt und, je länger sie sich hält, um
so mehr an die Herrschaft klammert.
100 A. A. Hassan

Die Reform des Islam

Es gibt Leute, die sich über einen Titel von dieser Klarheit wundern und mit vor
Staunen aufgerissenen Augen fragen: Braucht der Islam überhaupt eine Reforma-
tion? Sollte sich der erstaunt Fragende nun bis zur Ermüdung mit dem Denken,
der Suche und der Lektüre der Literatur zum Thema Geschichte, Fiqh, Exegese
und Umma sowie vorab derjenigen zur vergleichenden Religionswissenschaft
beschäftigt haben, dann wird er feststellen, dass der Islam gekapert worden ist.
Was wir von ihm besitzen, ist nicht mehr das, was der Prophet hinterlassen hat,
wie auch die Essenz des Islam, die auf zwei zentralen Werten basiert, nämlich
dem strikten Monotheismus (tauḥīd) und der Gnade (raḥma), sich zu unterschied-
lichen Formen von Ideologien, Legenden, Folklore, Kommerz und Neurosen
gewandelt haben. Institutionen und Individuen haben dies durch die Geschichte
hindurch ausgenutzt oder instrumentalisiert, bis wir nichts mehr vom Islam zu
sehen bekamen. Schwerer Schutt hat sich über ihm aufgetürmt, seine sprudeln-
den Quellen zum Versiegen gebracht und seine Natur und Essenz zerstört, wie es
zuvor schon anderen Religionen widerfahren ist. Deswegen bedarf es der Refor-
mation.
Die Salafisten werden einwenden, dass sie doch die eigentlichen Reforma-
toren seien, verlangten sie doch die Rückkehr zur den Wurzeln. Allerdings ent-
behrt diese Auffassung einer wissenschaftlichen Methodik, die nach der Wahrheit
sucht, nicht bloss nach dem „forensischen Beweis“, der aus dem Text, dessen
Exegese, sowie der Geschichte und seinen Ereignissen abgeleitet wird. Was in
dem Jahrhundert nach dem Tod des Propheten kodifiziert wurde, kann nicht das
sein, was sich damals genau zugetragen hat, da vieles hinzugefügt wurde, was
den damaligen Vorstellungen und Anforderungen sowie dem gesellschaftlichen
Entwicklungsstand mit einer großen Bandbreite an Absichten und Interessen ent-
sprach.
Auch die Methode, der die Salafisten folgen, um zur Quelle zu gelangen, ist
ein menschliches Konstrukt, das sich nicht bruchlos in der Geschichte der Mus-
lime fügt (Ibn Ḥanbal, Ibn Taimiyya, Ibn ʿAbdalwahhāb, einschließlich vie-
ler ihrer Schüler und Anhänger). Würden die Salafisten anerkennen, dass ihre
Lehre lediglich iǧtihād und damit eine Facette des Islam darstellt, so wäre die
Sache nicht weiter der Rede wert, doch bedauerlicherweise bilden sie sich ein,
dass ihre „die wahre Religion“ sei. So wie sie machen es viele Gruppen, Ver-
einigungen und Organisationen, die sich mehr mit der Religion beschäftigt haben
als es ihnen guttut und die sie in ein Instrument verwandelt haben, mit dem sie
Ziele und Zwecke verwirklichen, die nicht mit der Rolle vereinbar sind, die die
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 101

Menschen von der Religion zu spielen erwarten. Was sich die Menschen von Gott
wünschen, ist spirituelle Erfüllung, ethische Erhabenheit und das Hochhalten von
Werten wie Gnade, Freiheit, Gleichheit, Würde, Glück und Mitmenschlichkeit.
Viele sagen, dass all dies im Koran vorhanden sei, sei dieser doch der „konsti-
tutive Text“ des Islam, der, solange er uns zur Verfügung steht, uns die Möglich-
keit gibt, zur Wurzel derjenigen Religion zurückzukehren, die auf Muḥammad
herabgesandt worden war. Die Salafisten vergessen dabei vier Dinge:
Erstens, dass der Koran binnen weniger Tagen dem Vergessen anheimgefallen
war und zu einem Buch wurde, das mehr um des Segens willen gelesen wird als
über seinen Inhalt nachgedacht, möglichst präzise verstanden und mit modernen
wissenschaftlichen Methoden sich ihm angenähert wird. Den Platz des Koran ein-
genommen haben, wenn auch die meisten von uns sich dessen nicht bewusst sind,
andere menschengemachte Texte, die ihn interpretieren und seine Bedeutungen
und Absichten erläutern sollten, ihn jedoch allmählich überlagert und überdeckt
haben, sodass er aus unserem Blickfeld geraten ist.
Das zweite ist, dass der Koran häufig unvollständig gelesen wird, wodurch
seine wahre und natürliche Präsenz aus unserem Leben entschwindet. Das macht
ihn zu einem Objekt der Manipulation durch Extremisten und Ideologen, die ihn
dahin gehend ausnutzen, dass er ihren verdrehten Lebensstil rechtfertigt, ihre
Interessen bedient, selbst wenn diese dem Wesen der Religion entgegenstehen,
und überhaupt ihnen Vorteile verschafft, wie bösartig diese auch immer sein
mögen. Obwohl wir in unserem politischen und rechtlichen Dasein beteuern, dass
die „Verfassung“ nur als organische Einheit gelesen werden kann, weil jeder ihrer
Artikel nur einen Teil von ihr auslegt, wie es auch bei literarischen Texten der
Fall ist, wo jeder Teil nur im Rahmen seines Ganzen gelesen wird, so begreifen
dies viele von denen nicht, die mit dem Koran herumhantieren, indem sie
einzelne Suren nehmen, sie auf spezifische Ereignisse anwenden und behaupten,
dies sei der Standpunkt Gottes, der den Koran herabgesandt hat.
Drittens hat der Koran im Laufe seiner Zeit mit dem muslimischen Leben
interagiert, wobei einige Muslime ihn, angefangen vom Schiedsgericht zwischen
ʿAlī und Muʿāwiya11 bis hin zu dem, was extremistische Gruppen in unserer Zeit
anrichten, ausgenutzt haben.

11Dabei ging es um die Frage, wer das Kalifat innehaben sollte: Ein Schiedsgericht hatte
den Anspruch von Muʿāwiya, damals Gouverneur von Damaskus, bestätigt und ʿAlī, der
656 von den Medinensern zum Kalifen gewählt worden war, bevor er sich starken Wider-
stands seitens der Mekkaner ausgesetzt sah, erkannte das Urteil an, was jedoch nicht zur
Befriedung führte, sondern radikale Kräfte befeuerte (Anm. d. Ü.).
102 A. A. Hassan

Viertens existiert der Koran nicht in einem Vakuum, damit die Menschen ihn
als einen Text verstehen, der unabhängig von Zeit und Ort existiert. Daher gibt
es Leute, die an den „Begleitumständen seiner Herabsendung“ (asbāb nuzūlihi)
festhalten und seine Historizität und schließlich seine relative Bedeutung in der
Zeit einfordern. Es gibt aber auch Leute, die unablässig behaupten, dass sie seine
Intention verstünden, und genau sie sind es, die dem Koran so häufig schaden,
indem sie an seinem Buchstaben und an seiner Rezitation kleben und dann durch
die Randbemerkungen vom Text und durch die äußere Form vom Inhalt abgelenkt
sind.
Aus all diesen Gründen benötigen wir heute eine „religiöse Reform“, die uns
dazu führt, einen „neuen religiösen Diskurs“ zu initiieren, anstatt uns damit zu
begnügen, allein von der „Erneuerung“ des religiösen Diskurses zu reden, die nur
eine frische Tünche auf der alten, abgeblätterten Fassade bedeutet, ohne diese nie-
derzureißen zu wollen. Der Einwand, dass die religiöse Reform allein dem west-
lichen Christentum, nicht dem Islam spezifisch sei, fordert zum Sarkasmus heraus,
sind doch einige islamische Vorstellungen und religiöse Stiftungen schon längst dazu
übergegangen, die Rolle eines sich selbst im Wege Stehenden zu spielen, wie sie die
Religion in Europa einzunehmen pflegte. Religionsgelehrte in den muslimischen
Ländern erklären Tag und Nacht, dass es keine Priesterschaft im Islam gebe, aber sie
selbst verwandeln sich durch ihr Auftreten, ihre Vorstellungen und die Verteidigung
ihrer eigenen Interessen – unter dem Vorwand, dass diese die der Religion seien – auf
eklatante Weise in eine Priesterschaft. So wie Positionen des Fiqh, der Exegese, dem
Propheten zugeschriebene Hadithe, sowie Ereignisse und Lebensläufe der Frühzeit
des Islam eine umfassende Revision erfordern, so benötigen wir eine Antwort auf die
wichtige Frage, ob der Koran ein Text oder ein Diskurs ist.
Wie oben erwähnt, lässt sich nur unter fünf Bedingungen über religiöse
Reform reden, deren erste die ist, anzuerkennen, dass der Glaube eine indivi-
duelle Angelegenheit darstellt, in die sich keiner einzumischen hat, gleich ob
er Religionsgelehrter oder Laie ist; und dass wir die Vernunft als etwas berück-
sichtigen, das dem Lauf der Offenbarung zuträglich ist, nicht ihn bekämpft. Wir
sollten uns aber nicht damit begnügen, ersteres und letzteres einfach zusammen-
zuflicken, wie es die Prediger heutzutage machen, sondern uns den ethischen
Aspekten zuwenden und sie als Essenz der Religion sehen, nicht als Rituale, wie
wir uns auch um die soziale Reform kümmern sollten, damit die Religion sie
befördert, nicht bekämpft. Zudem gilt es, dass wir klar und unzweideutig zwi-
schen der Religion und der politischen Macht unterscheiden, die eine zivile sein
muss, deren Führung für die Menschen und deren Gesetzgebung für die Institu-
tionen, die sie wählen, da ist. Der zentrale Wert im Islam ist die „Barmherzig-
keit“ (raḥma), nach der wir suchen sollten und wo auch immer wir sie finden,
Chancen und Horizonte einer Erneuerung im Islam 103

finden wir den wahren Islam, weit weg von der Kasuistik, den Kontroversen und
Klassifizierungen, die jene produzieren, die behaupten, sie seien die Lordsiegel-
bewahrer des Islam jenseits seiner langen Geschichte.
Es gibt verschiedene Wissenschaften, die auf zwei Ebenen Einzug in die isla-
mischen Studien, oder „Wissenschaften des Islam“, halten müssen: Die erste ist
die Präsenz dieser Wissensgebiete innerhalb der Curricula, die in den religiösen
Instituten, Medresen und Fakultäten gelehrt werden. Die zweite ist die Reflexion
der Tendenzen, die gegenwärtig in Fiqh, Exegese, Hadithwissenschaft, Kalām
und den Doktrinen etc. gelehrt werden. Denn innerhalb dieser Felder widersetzen
sich viele Theologen und Exegeten dem Einzug der vergleichenden Religions-
lehre, Religionssoziologie, Geschichtswissenschaft, Linguistik, Philologie,
Anthropologie, Archäologie und Psychologie in die Curricula, die sie studieren
und lehren.
(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

Literatur

ʿAbdarrāziq, ʿAlī. 2002. [Arab.] Der Islam und die Grundlagen der Regierung. Kairo: Dar
al-Hilal.
ʿAbdalwahhāb, Muḥammad Ḥilmī. 2008. [Arab.] Die Erneuerung des religiösen Diskurses:
Eine Lektüre des Erneuerungsdiskurses. In Rowāq ʿArabī, Nr. 47: Markaz al-Qahira
li-dirasat huquq al-insan.
Acquaviva, Sabino, und Enzo Pace. 2011. [Arab.] Religionssoziologie: Probleme und Kon-
texte (übers. aus dem Ital., Originaltitel: Sociologia delle religioni: problemi e prospet-
tive Rom 1996). Abu Dhabi: Hayat Abu Dhabi li-l-taqafa wa-l-turat.
al-ʿAllām, ʿIzzaddīn. 2006. [Arab.] Literaturen der Macht: Eine Studie über Struktur und
Parameter des politischen Diskurses. Kuwait-Stadt: al-maglis al-watani li-l-taqafa
wa-l-funun wa-l-adab.
al-Anṣārī, Muḥammad Ǧābir. 1992. [Arab.] Die Erneuerung der Nahḍa durch Selbst-
findung und Kritik. Beirut: al-Muassasa al-arabiyya li-l-dirasat wa-l-nasr.
al-ʿĀlim, Maḥmūd Amīn. 2010. [Arab.] Kritische Positionen zur Kultur. Dubai: Muassasat
Sultan Ibn Ali al-Uwais al-taqafiyya.
al-Ḫašt, Muḥammmad ʿUṯmān. 2015. [Arab.] Kann sich der islamische Fiqh entwickeln?
In al-Miṣrī al-Yaum.
al-Ḫūlī, Amīn. 2001. [Arab.] Erneuerer im Islam. Kairo: al-Haya al-misriyya al-amma
li-l-kitab.
al-Marʿšlī, Hānī ʿAbdalwahhāb. 1983. [Arab.] Die Erneuerung im zeitgenössischen islami-
schen Denken: Ǧamāladdīn al-Afġānī und die Probleme der islamischen Gesellschaft.
Alexandria: Dar al-marifa al-gamiiyya.
al-Qāḍī, ʿAḥmad ʿArafāt. 2008. [Arab.] Die Erneuerung des religiösen Diskurses. Kairo:
al-Haya al-misriyya al-amma li-l-kitab.
104 A. A. Hassan

al-Ṣaʿīdī, ʿAbdalmitʿāl. 1996. [Arab.] Erneuerer im Islam: Vom ersten bis zum 14. Jahr-
hundert. Kairo: Maktabat al-adab.
Barhūma, Muḥammad ʿAuda. 2014. Das ethische Bewusstsein und seine Rolle in der reli-
giösen Reform (Arab.). Abu Dhabi: Markaz al-Imarat li-l-dirasat wa-l-buhut al-istrati-
giyya.
Bilqazīz, ʿAbdalilāh. 2005. [Arab.] Die Bildung der islamischen Politiksphäre (Arab.). Bei-
rut: Markaz Dirasat al-Wahda al-Arabiyya.
Ḫalafallāh, Muḥammad Aḥmad. 1984. [Arab.] Koranische Begriffe. Kuwait-Stadt: al-mag-
lis al-watani li-l-taqafa wa-l-funun wa-l-adab.
Lakhdar, Lafif. 2014. [Arab.] Die Reform des Islam in Studium und Lehre der Religions-
wissenschaften. Bagdad und Beirut: Dar al-Gamal.
Maḥmūd, Zakī Naǧīb. 1989. [Arab.] Über unser rationales Leben. Kairo: Dar al-Suruq.
Maḥmūd, Zakī Naǧīb. 2004. [Arab.] Die Erneuerung des arabischen Denkens. Kairo:
al-haya al-misriyya al-amma li-l-kitab.
Yāsīn, ʿAbdalǧawād. 2009. [Arab.] Die Macht im Islam: Kritik der politischen Theorie.
Casablanca und Beirut: al-Markaz al-taqafi al-arabi.
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die
Theologie des Salafismus

Aladdin Sarhan

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind im Diskurs muslimischer Intellektuel-


ler verstärkt reformistische Bestrebungen zu verzeichnen. Sie zielen darauf ab,
dem traditionalistischen und islamistischen Gedankengut entgegenzutreten und
ein zeitgemäßes Islamverständnis zu entwickeln. Dabei gilt als Prämisse, dass
der Islam in keinem Widerspruch zur modernen Welt stehe, sondern mit Demo-
kratie und Säkularismus sowie mit den als modern definierten Werthaltungen,
Verhaltensweisen und Institutionen vereinbar sei. Diesen Bestrebungen dia-
metral entgegengesetzt ist der Salafismus mit seiner Forderung nach religiö-
ser Erneuerung (al-tağdīd al-dīnī) auf Basis der Rückkehr zum „richtigen
Islam“ (al-islām al-ṣaḥīḥ), der mit der Widerlegung und sogar Bekämpfung und
Beseitigung aller Glaubensanschauungen einhergeht, die sich selbst zwar als
„islamisch“ bezeichnen, aber in der Wirklichkeit vom „wahren Islam“ abwichen.
Die Erneuerung des Islam sollte aus salafistischer Sicht also nicht dazu führen,
dass der Islam etwa mit Moderne, Demokratie oder Menschenrechten im Ein-
klang stehe, sondern dass der Islam von Fremdeinflüssen „gereinigt“ und seine
angeblich vom Verschwinden bedrohte Authentizität bewahrt wird.
In Abgrenzung zur Mehrheit der Muslime lehnen Salafisten jede Anpassung der
Interpretation der religiös-autoritativen Quellen des Islam (Koran und Propheten-
tradition [sunna]) an veränderte gesellschaftliche und politische Gegebenheiten
kategorisch ab. Für sie ist der „authentische Islam“ der einzig rechtmäßige Glaube.
Da die Vorväter der muslimischen Gemeinschaft, die rechtschaffenen Altvorderen

A. Sarhan ()
Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz, Deutschland
E-Mail: aladdin@sarhan-online.de

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 105
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_7
106 A. Sarhan

(al-salaf al-ṣāliḥ, kurz: salaf)1 angeblich am ehesten dazu fähig waren, die reine
Botschaft des Islam zu verstehen, zu verinnerlichen und ihr Leben danach auszu-
richten, müssten die Muslime heute die religiöse Praxis, die Lebensführung sowie
Staats- und Rechtsordnung an der Tradition der salaf ausrichten. Nur so ließe sich
der richtige Islam wiederherstellen bzw. gewährleisten.
In den salafistischen Diskursen wird die salaf-Epoche zur „goldenen Ära“
(al-ʿasr al-ḏahabī) des „reinen Islam“ (al-islām al-naqī) verklärt. In dieser Epo-
che konnten „wahrhafte Muslime“ ein Weltreich begründen. Diese Glorifizierung
steht der Abwertung der zeitgenössischen, als „dekadent“ empfundenen Gesell-
schaften und der Spaltung der Muslime weltweit gegenüber, die auf Fehlent-
wicklungen in der Religionspraxis zurückzuführen seien. In den nachfolgenden
Generationen sei der „wahre Islam“ Entstellungsprozessen ausgesetzt, die bis in
die Gegenwart fortwirkten. Dies habe zum tendenziellen Niedergang des Islam
und der politischen Ohnmacht der Muslime weltweit geführt. Der Salafismus
lässt sich somit beschreiben als eine religiöse Erneuerungsbewegung, die sich
durch die Rückbesinnung auf ein imaginiertes Idealbild der „Urmuslime“ konsti-
tuiert. In diesem Beitrag wird das Augenmerk auf die wesentlichen Merkmale der
salafistischen Theologie gerichtet.

„Bewahrer des wahren Islam“

Die Lektüre der einschlägigen, apologetischen Schriften zeitgenössischer sala-


fistischer Autoren zeigt, dass der Salafismus eine religiös-puritanische Geistes-
haltung ist, die in verschiedenen, in ideologischer Hinsicht zum Teil differenten,

1Die islamischen Überlieferungen schreiben den rechtschaffenen Altvorderen einen from-

men Lebenswandel sowie eine hohe Einsatzbereitschaft für die Sachen des Glaubens und
der Gemeinschaft der Muslime (umma) zu. Deshalb kommt diesen Generationen von Gläu-
bigen eine Vorbildfunktion für die Mehrheit der Muslime auf der Ebene der Ethik und Moral
zu. Salafisten gehen genau an diesem Punkt weiter. Sie ikonisieren die salaf-Generationen
und sind der Ansicht, dass das geistige Erbe der rechtschaffenen Altvorderen das beinhalte,
was einzig als der „richtige Islam“ gelten könne. Sie fordern vehement die akribische Nach-
ahmung der rechtschaffenen Altvorderen in allen Lebensbereichen. Es gelte daher, vermeint-
lich unstatthafte Neuerungen, die nicht in Koran, Propheten- und Gefährtentradition zu
belegen sind, zurückzuweisen und konsequent aus der religiösen Praxis und Lebensführung
zu verbannen. Selektiv blenden Salafisten jedoch jene Überlieferungen aus, die von Kon-
flikten, Spaltungen und Uneinigkeiten unter den Muslime während der Lebzeiten der salaf
berichten – vor und nach dem Tod des Propheten. Deswegen lässt sich das Idealbild der
salaf, an dem sich Anhänger des Salafismus kompromisslos orientieren wollen, in vielerlei
Hinsicht als „Utopie“ beschreiben.
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 107

Strömungen des sunnitischen Islam existiert. Im Wesentlichen fasst der von allen
salafistischen Strömungen getragene Grundsatz „ittibāʿ al-qurʾān wa-l-sunna
bi-fahm salaf al-umma“2 zusammen, was die Botschaft des Salafismus aus-
macht. Salafisten sind der Auffassung, dass der Islam zu Lebzeiten des Propheten
Muḥammad (570–632) und der salaf in perfekter Art und Weise praktiziert, spä-
ter jedoch durch Fremdeinflüsse und unstatthafte Neuerungen (bidaʿ, sing. bidʿa)
„verunreinigt“ bzw. „verfälscht“ worden sei (Ibn Bāz 2000, S. 10 f.; Ḥassān o. D.,
S. 7 ff., al-Maqdisī o. D., S. 5 ff.).
Das arabische Substantiv „salaf“, das dem Wort „salafiyya“ zugrunde
liegt, leitet sich von dem Verb „salafa“ ab, welches „etwas/jemanden voraus-
gegangen sein“ bedeutet. Das Wort salaf umschreibt im Allgemeinen die-
jenigen, die zeitlich vor der noch existierenden Generation lebten, also die
„Ahnen, Altvorderen, Vorgänger, Vorväter“. Verbunden mit dem Adjektiv
„ṣāliḥ“ (fromm, rechtschaffen) bedeutet al-salaf al-ṣāliḥ die „rechtschaffenen
Altvorderen“. Traditionell steht der Sammelbegriff al-salaf al-ṣāliḥ für die ers-
ten drei Generationen von Gläubigen, die nach muslimischer Auffassung die
Grundlagen des Islam überlieferten und in den ersten drei Jahrhunderten der
hiğra3 lebten. Mit „salafī“ (Salafist, pl. salafiyyūn) wird jemand bezeichnet, der
in den Bereichen der gottesdienstlichen Handlungen (ʿibādāt) und der religiös
bestimmten Umgangsvorschriften der Menschen untereinander (muʿāmalāt) der
Methode (manhağ) der salaf bezüglich der Ableitung (istinbāṭ) der religiösen
Rechtsurteile (aḥkām, sing. ḥukm) aus Koran und sunna folgt. Salafisten ver-
stehen sich also als legitime Erben der salaf und Bewahrer des „wahren“ Islam.
Daher beanspruchen sie für sich die Deutungshoheit über die islamische Ortho-
doxie und Orthopraxie.
Diese generationsgebundene Bestimmung eines vermeintlich unkorrumpierten
und unverfälschten Islamverständnisses, wonach ausschließlich die salaf als
Vorbild für die späteren Generationen dienen dürfen, wird in der Regel mit der
Aussage des Propheten Muḥammad (Hadith) begründet: „Die beste Generation
ist meine Generation, dann jene, die nach ihr kommt, dann jene, die nach ihr
kommt.“ (Ibn al-Ḥağğāğ 2006, S. 806). Diese „hierarchische“ Aufteilung in drei

2„Befolgungdes Koran und der Sunna nach dem Verständnis der Vorfahren der (muslimi-
schen) Gemeinschaft.“
3hiğra (Auswanderung) bezeichnet die Übersiedlung des Propheten Muḥammad von

Mekka nach Medina im Jahr 622. Dieses Jahr markiert den Beginn der islamischen Zeit-
rechnung.
108 A. Sarhan

Generationen weist den ṣaḥāba (Prophetengefährten) die höchste Stellung zu.4


Muslimen, die zumindest dieser Gruppe der salaf folgen, verspricht der Koran die
Belohnung mit dem Paradies im Jenseits:

Die vorausgeeilten Ersten von den Auswanderern und den Helfern und diejenigen,
die ihnen auf beste Weise gefolgt sind – Gott hat Wohlgefallen an ihnen, und sie
haben Wohlgefallen an Ihm. Und Er hat für sie Gärten bereitet, durcheilt von Bächen,
ewig und auf immer darin zu bleiben; das ist der großartige Gewinn (Sure 9: 100).5

Die zweite Generation der salaf umfasst die tābiʿūn (Gefolgsmänner bzw. Schü-
ler) der ṣaḥāba, also diejenigen Muslime, die den Prophetengefährten begegneten
und sich von ihnen in religiösen und profanen Fragen unterweisen ließen. Die
Schüler der tābiʿūn werden tābiʿū al-tābiʿīn genannt und sind die dritte und
letzte Generation der salaf. Nach salafistischer Auffassung ist es unerlässlich, auf
die Koranexegesen der salaf zurückzugreifen und ihre Interpretationsmethode
zu übernehmen. So wie es einst die salaf taten, sei die Koraninterpretation auch
heute nur als wortwörtliche Auslegung der Suren und Verse zulässig. Dies hat
u. a. zur Folge, dass alle im Lauf der islamischen Geschichte anzutreffenden
rationalen, philosophischen oder allegorischen Lesarten des Koran als Häresie
(zandaqa) gebrandmarkt werden, da sie einen so wahrgenommen menschlichen
Angriff auf die Heiligkeit des Textes implizieren (ʿImāra 1994, S. 23). Jegliche
Form von spekulativer Theologie (kalām) wird von Salafisten strikt ablehnt. Des-
wegen befindet sich der Salafismus traditionell in unversöhnlicher Rivalität zu den

4Die Glorifizierung der ṣaḥāba lässt sich nach muslimischer Überlieferung u. a. damit
begründen, dass sie den Propheten Muḥammad persönlich kannten und Kronzeuge für
seine koranischen Verkündungen waren. Darüber hinaus begleiteten sie den ihn, hör-
ten seine Aussprüche und erlebten seine Handlungen aus unmittelbarer Nähe. Sowohl im
Koran als auch in der islamischen Geschichtsschreibung nehmen die ṣaḥāba deshalb eine
herausragende Stellung ein, weil sie zum einen als Frühmuslime (sābiqūn) die allerersten
Menschen waren, die sich in der mekkanischen Phase (610–622) zum Islam bekannten, als
Auswanderer (muhāğirūn) mit Muḥammad um 622 nach Medina übersiedelten oder dort
als Unterstützer (anṣār) der aus Mekka ausgewanderten Frühmuslimen auftraten. Zum
anderen weil die ṣaḥāba den Islam nach dem Tode des Propheten weitertrugen, indem sie
maßgeblich an der Sammlung des Koran und der Überlieferung von Hadithen mitwirkten.
Für ausführliche Darstellungen zum Leben und Wirken Muḥammads und seiner Gefährten
siehe besonders Bobzin (2000); Endreß (1997); Noth (1987, S. 11–100); Schoeler (1996);
Schöller (1998); Watt und Welch (1980).
5Koranverse sind hier durchgehend unter Angabe der Suren- und Versnummern aus der

Koranübersetzung von Paret (1993) übernommen.


Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 109

vom ­Hellenismus beeinflussten rational-logischen Denkschulen6, deren Vertreter


als „Theologen des Verirrung“ (mutakallimū al-ḍalāl) abgewertet werden (Ḥilmī
1996, 65 ff.).
Den islamischen Quellen ist zwar kein konkreter Zeitpunkt für die Ent-
stehung des Begriffs salafiyya zu entnehmen, jedoch kann der Gebrauch des
Adjektivs salafī zumindest ab dem 12. Jahrhundert nachgewiesen werden. Der
Hadithgelehrte und Historiker Abū Saʿd al-Samʿānī (1112–1166) erwähnt in sei-
nem Buch über die Genealogie (Kitāb al-ansāb) eine Reihe von Menschen, die
zu seiner Zeit den Beinamen (nisba) „al-salafī“ trugen und stellt fest, „diese
Zuschreibung beruht auf den salaf und der Befolgung ihrer Lehre“ (as-Samʿānī
2005, S. 395). In seinem Kommentar zum Kitāb al-ansāb bestätigt ʿIzzaddīn
Ibn al-Aṯīr (1160–1233), „dass eine Gruppe von Menschen durch diese nisba
bekannt war“ (Ibn al-Aṯīr 1980, S. 126). Die wohl älteste bekannte Quelle, in der
die Orientierung am Leitbild der salaf eindeutig erwähnt und verteidigt wird, ist
das mehrbändige Werk Die großen religiösen Rechtsätze (al-Fatawā al-kubrā)
des Taqiyyaddīn Ibn Taimiyya: „Jemand, der die Lehre der salaf verkündet, an
ihr festhält und sich auf sie bezieht, ist nicht zu kritisieren. Vielmehr ist es obliga-
torisch, dies von ihm gemäß dem Konsens der Gelehrten einzufordern, denn die
Lehre der salaf ist nichts anders als die Wahrheit“ (Ibn Taimiyya 1997, S. 148).
All dies führt zu der Annahme, dass es bereits zur Frühzeit des Islam eine reli-
giöse Geisteshaltung gab, die den Islam auf eine authentische Basis zurückführen
wollte, die dem Vorbild der salaf entspricht (Lauzière 2010, S. 372).

6Als einflussreiche rational-logische Denkschulen im Islam gelten die Muʿtazila, die

Ǧahmiyya und die Ašʿariyya. Die Mu‘tazila ist eine von Hellenismus beeinflusste rationale
Denkschule der islamischen Theologie. Sie entstand im 8. Jahrhundert innerhalb der reli-
giösen, spekulativen Wissenschaft des kalām und wurde vor allem von dem abbasidischen
Kalifen al-Maʾmūn (786–833) gefördert. Die Muʿtaziliten wollten mithilfe der Vernunft
den Koran verstehen, erklären und gegenüber Andersgläubigen verteidigen. Die stark von
der Muʿtazila beeinflusste Denkschule der Ǧahmiyya geht auf deren Gründer Ğahm Ibn
Ṣafwān (696–746) zurück. Die Ğahmiten vertraten die muʿtazilitsche Ansicht, dass der
Koran ein Geschöpf Gottes sei, d. h. von ihm erschaffen und damit nicht zu seinem Wesen
gehörend. Hieraus folgerten sie, dass Gottes Namen, die Koran erwähnt werden, nicht wört-
lich zu verstehen seien. Die vom Abū al-Ḥasan al-Ašʿarī (873–935) gegründete theologische
Denkschule der Ašʿariyya stellte eine Gegenströmung zur Muʿtazila und Ǧahmiyya dar.
Sie versuchte, Traditionalismus und Rationalismus zu verbinden, indem ihre Gelehrten die
These von der Unerschaffenheit des Koran vertraten und den Koran anhand rational-logi-
schen Methoden auslegten. Für ausführliche Darstellung der Positionen und Auseinander-
setzungen dieser Denkschulen siehe besonders Van Ess (1992, Bd. 3), Nagel (1994).
110 A. Sarhan

Was die Haltung der Salafisten zu schiitischen Muslimen angeht, so wer-


den die Schiiten wegen ihrer Ablehnung einiger ṣaḥāba als „die Ablehnenden“
(al-rāfiḍa) bezeichnet. Darüber hinaus werden sie aufgrund der Verunglimpfung
der Prophetengefährten und der Nähe zu Schrein- und Heiligenkult des
Unglaubens (kufr) bezichtigt. Mystische Sufi-Orden machen sich nach Ansicht
der Salafisten durch die Anrufung von Mittelsmännern und Frauen zur Fürsprache
bei Gott der „Beigesellung [Gottes]“ (širk) schuldig. Auch weitverbreitete Prak-
tiken des Volksislam, die keine Grundlage im Koran oder der Prophetentradition
haben, wie der Besuch der Gräber von Heiligen, die volkstümlichen Praktiken
des Exorzismus, die nicht auf der Rezitation des Koran basierten, oder das Feiern
des Geburtstags des Propheten Muḥammad, prangern Salafisten als unislamische
Neuerungen an.
Für Salafisten markiert das Jahr 610 (Beginn des Prophetentums Muḥammads)
den Anfang der gesegneten Periode der salaf. Sie endet mit dem Ableben Aḥmad
Ibn Ḥanbals im Jahre 855. Somit fallen die Begründer der vier etablierten sun-
nitischen Rechtsschulen (maḏāhib, sing. maḏhab)7 in diese idealisierte Epoche
und werden als salaf anerkannt. Ihre Lehrmeinungen werden dementsprechend
gewürdigt. Dennoch sind die Salafisten die großen Kritiker der Existenz

7Die maḏāhib sind von muslimischen Gelehrten etablierten Rechtsschulen, die islamische
Quellen (Koran und Sunna) mittels diverser Rechts- und Erkenntnismethoden auslegen
und daraus juristische Bestimmungen ableiten. Heute bestehen folgende vier sunnitische
Rechtsschulen: die ḫanafitische, mālikitische, šāfʿitische und ḥanbalitische Rechtsschule.
Die ḥanafitische Rechtsschule geht auf Abū Ḥanīfa al-Nuʿmān Ibn Ṯābit (699–767) zurück
und räumt der Methodik der pragmatischen Urteilsbildung relativ großen Raum ein. Die
malikitische Rechtsschule geht auf Mālik Ibn Anas (711–795) zurück. In der malikitischen
Jurisprudenz (fiqh) werden in starkem Maße Nützlichkeitserwägungen (maṣāliḥ mursala)
im Rahmen der Rechtsfindung berücksichtigt. Die šāfiʿitische Rechtsschule wurde von
Muḥammad ibn Idrīs al-Šāfiʿī (767–820) begründet. Während die Malikiten eine konserva-
tive Linie vertraten und sich streng an die Tradition hielten, bejahten die Ḥanafiten dagegen
die Möglichkeit, neue Rechtsnormen zu entwickeln und dabei das eigene Urteil für maß-
geblich zu halten, versuchte al-Šāfiʿī, einen Mittelweg zu finden. Er bekannte sich zur
Wichtigkeit der Übereinstimmung der Rechtsgelehrten (iğmāʿ) und sprach sich dafür aus,
die Möglichkeit der Rechtsfindung durch Analogieschluss (qiyās) bedachter zu handhaben.
Die ḥanbalitische Rechtsschule geht auf Aḥmad Ibn Ḥanbal zurück. Er trat prinzipiell für
die alleinige Anerkennung von Koran und Überlieferung als Rechtsquellen ein und lehnte
jede Form menschlicher Rechtsfindung ab, weil dies zu unerlaubten Neuerungen und Will-
kür führe. Auch der qiyās fand nur unter Einschränkungen seine Zustimmung. Was die
Erfüllung der religiösen Pflichten betrifft, waren für ihn nur diejenigen Praktiken statthaft,
die von Koran und Sunna vorgeschrieben werden. Für einen umfassenden Überblick über
die islamischen Rechtsschulen siehe besonders Johansen (1999); Motzki (1991).
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 111

v­erschiedener islamischen Rechtsschulen. Sie lehnen das Nachahmen bzw. die


blinde Befolgung (taqlīd) dieser Rechtsschulen als bidʿa und Ursache für die Spal-
tung der muslimische Gemeinschaft (umma) ab. Salafisten betrachten sich selbst
als Anhänger einer rechtsschulenübergreifenden Denkschule, die eine nach eige-
nem Verständnis die „wissenschaftliche“ Methode der Beweisführung aus Koran
und Hadith (istidlāl) anwendet und Rechtsurteile der jeweiligen Rechtsschulen
nur dann übernimmt, wenn sie im Einklang mit der Koran und Propheten- bzw.
Gefährtentradition stehen (Fahmy 2011, S. 12). Anstatt der Meinung eines Rechts-
gelehrten bzw. einer Rechtsschule zu einem bestimmten Thema „blind“ zu folgen,
solle der Muslim möglichst sich selbst von den Beweisen (dalāʾil, sing. dalīl) und
ihrer Anwendung (al-ʿamal bi-l-dalīl) durch einen Rechtsgelehrten überzeugen
lassen (ʿAbbāsī 2002, S. 21 ff.).
Die Salafisten verstehen sich selbst als eine vor der Bestrafung mit dem
Höllenfeuer im Jenseits gerettete Gruppe (al-firqa al-nāğiyya) gemäß dem, was
Muḥammad in einem Hadith prophezeite:

Bei dem, in dessen Händen meine Seele ruht, meine umma wird sich in 73 Grup-
pen spalten. Außer einer Gruppe werden alle in die Hölle geworfen. Als der Prophet
gefragt wurde, wer nun die gerettete Gruppe sei, so antwortete er: Jene (Gruppe),
die sich nach dem richtet, wonach ich und meine Gefährten heutzutage uns richten
(Ibn al-Hağğāğ 2006, S. 841).

Die Distanzierung von anderen Glaubensrichtungen des Islam sowie der


Anspruch, im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, kommen in den salafis-
tischen Selbstbezeichnungen als „siegreiche Gruppe“ (al-ṭāʾifa al-manṣūra)
am deutlichsten zum Ausdruck. Dieses Selbstverständnis begründen Salafisten
durch die Bezugnahme auf den Hadith „Eine Gruppe aus meiner umma wird
immer siegreich bleiben, bis der Befehl Gottes zu ihnen kommt (der Jüngste Tag
anbricht) und sie immer noch siegreich sind“ (Ibn al-Ḥağğāğ 2006, S. 842).
Die Salafisten sind der Überzeugung, aufgrund der Orientierung an den salaf den
Weg zum Heil gefunden zu haben und die gerettete Gruppe zu sein (Wiktorowicz
2001, S. 120). Bestärkt fühlen sie sich durch Muḥammads Worte in der Abschieds-
predigt vom Jahre 632: „Ich habe euch zwei Dinge hinterlassen. Wenn ihr daran
festhaltet, werdet ihr nie in die Irre gehen: das Buch Gottes und meine sunna“ (Ibn
al-Ḥağğāğ 2006, S. 511). Die Salafisten verstehen unter „Festhalten“ die Bemühung,
das Verständnis der salaf von Koran und Sunna als unveränderbare Grundlage
zu übernehmen und jegliche Anpassungen der Islamauslegung an veränderte
gesellschaftliche und politische Gegebenheiten zu bekämpfen. Durch die Verbreitung
dieser Interpretation glauben Salafisten, die Menschen zum Heil führen zu können.
112 A. Sarhan

Salafistische Grundüberzeugungen

Wie eingangs bereits erwähnt, stellen salafistische Strömungen keinen Mono-


lithen dar, da sie zum Teil gegensätzliche ideologische Positionen vertreten.
Jedoch teilen alle Salafisten eine gemeinsame, puritanische Glaubenslehre
(ʿaqīda), deren konstituierende Momente in der islamrechtlichen Methode
(manhağ) der salaf begründet liegen.
Die salafistische Glaubenslehre (al-ʿaqīda al-salafiyya) umfasst grundlegende
Dogmen, die den Kern des Glaubens bilden. So beschäftigt sie sich mit ent-
scheidenden Fragen wie der Natur Gottes, der Natur des Koran, der Rolle der
menschlichen Vernunft, der Deutung der im Koran und in der Sunna enthaltenen
göttlichen Gebote und Verbote sowie der Art und Weise von deren Umsetzung.
Zudem bietet sie Ordnungsprinzipien und Referenzrahmen für die Herausbildung
religiöser Rechtspositionen zu aktuellen Themen. Die salafistische Glaubenslehre
verankert zudem eine Dichotomie, die die Welt in zwei sich feindlich gegen-
über stehende Sphären unterteilt: islamkonform und nicht-islamkonform bzw.
Glaube (īmān) und Unglaube (kufr). So gibt die salafistische Glaubenslehre ein
festes Gerüst vor, welches jede so wahrgenommene Abweichung oder Diffe-
renz nicht duldet. Rasterartig wird jedes menschliche Verhalten bewertet und
das Individuum dementsprechend einer Kategorie zugeordnet: wahrhafter Gläu-
biger (muʾmin), Heuchler (munāfiq), Frevler (fāsiq), Polytheist (mušrik) oder
Ungläubiger (kāfir) (Wiktorowicz 2006, S. 208 ff.).
Im Zentrum der salafistischen Glaubenslehre steht die Aufforderung, den
manhağ al-salaf bei der Ableitung (istidlāl) der Rechtsurteile aus den sakra-
len Texten ausschließlich zu befolgen. Die Verpflichtung hierzu basiert auf dem
Grundsatz „die Befolgung sakraler Texte und die Missbilligung der Einführung
unstatthafter Neuerungen (al-ittibāʿ wa ḏamm al-ibtidāʿ). So zeichnet sich diese
Methodik durch ihre enge Ausrichtung an Koran und Sunna sowie die Ablehnung
jeglicher unerlaubter Neuerungen in allen Bereichen des religiösen Lebens aus.

Dem Koran als primäre und der Sunna als sekundäre Rechtsquelle folgt in der Rang-
folge der Rechtsfindungsmethoden der Konsens bzw. die Urteile der Propheten-
gefährten (Fahmy 2011, S. 12).

Aufgrund ihrer Loyalität gegenüber der Prophetentradition geben Salafisten sogar


solchen als schwach (ḍaʿīf) kategorisierten Hadithen sowie den Hadithen mit
unvollständiger Überlieferungskette (isnād) den Vorzug vor dem Analogieschluss.
Anhand der Maxime „lā iǧtihād maʿa al-naṣṣ“ (da, wo es einen Offenbarungs-
text gibt, ist das eigenständige Räsonieren unzulässig) schränken Salafisten die
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 113

Möglichkeiten der Ableitung von religiösen Rechtsurteilen durch iǧtihād ein. Sie
vertreten zwar die Meinung, dass ein korrekt überlieferter Text (naṣṣ ṣaḥīḥ) nie-
mals einer nachvollziehbaren Schlussfolgerung der Vernunft (ʿaql ṣarīḥ) wider-
sprechen würde. Da die menschliche Vernunft aber nicht unfehlbar sei, stehe die
Rechtsfindung durch die Orientierung am Koran und den überlieferten Traditio-
nen (naql) weit vor der Rechtsfindung durch den menschlichen Intellekt (ʿaql)
(Ḥilmī 1996, S. 192 ff.). Begründet wird diese Position u. a. damit, dass die
menschliche Vernunft ohne eine Orientierung an den sakralen Texten nie alleine
den Weg zur vollkommenen Erkenntnis des Glaubens finden könnte. Dem ʿaql
wird daher die Führungsrolle (matbūʿ) auf dem Weg zur menschlichen Gottes-
erkenntnis aberkannt. Allerdings wird der menschliche Intellekt nicht völlig außer
Acht gelassen, vielmehr wird er als Instrument zum Verständnis dieser Texte im
jeweiligen Kontext betrachtet. Daher gilt der ʿaql nur als „Befolger“ (tābiʿ) der
Überlieferung (Fahmy 2011, S. 11).

tauḥīd als Dreh- und Angelpunkt des Salafismus

Die salafistische Glaubenslehre misst dem Bekenntnis zur Einzigkeit bzw. „Eins-
heit“ Gottes eine zentrale Bedeutung zu. Das hier zugrunde liegende Konzept
ist das des tauḥīd. Die Einzigkeit Gottes ist eines der Grundprinzipien des Islam
und stellt im allgemeinen Sinne die wichtigste Aussage der islamischen Theo-
logie dar. Das arabische Wort tauḥīd, abgeleitet von dem Verb waḥḥada, bedeutet
„Vereinigen/Vereinheitlichen“ bzw. „etwas zu wāḥid (eins) machen“. So ent-
spricht tauḥīd im islamischen Kontext dem Begriff „Monotheismus“ und bedeutet
„Glaube an die Einheit und Einzigkeit Gottes“ (Nagel 1994, S. 108).
Der Eingottglaube ist die Grundlage aller monotheistischen Religionen. Im
Islam ist das Bezeugen „Es gibt keinen Gott außer Gott“ ein Bestandteil des
islamischen Glaubensbekenntnisses und eine der fünf Säulen des Islam. Für die
meisten Muslime ist das Bekenntnis zur Einheit Gottes und zum Prophetentum
Muḥammads ausreichend, um als Muslim anerkannt zu werden. Für Salafisten
hingegen impliziert der tauḥīd zusätzlich ein aktives Handeln. Dies bedeutet,
dass jegliches Tun, das darauf hinweist, dass etwas oder jemand anderes als Gott
angebetet wird, širk und damit ein Zeichen des Unglaubens ist (Peskes 1993,
S. 23 ff.). Von dieser Interpretation aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt,
Muslime aufgrund ihrer vermeintlich gegen tauḥīd gerichteten religiösen Praxis
oder weltlichen Überzeugungen zu exkommunizieren.
Für Salafisten ist tauḥīd also nicht nur das mündliche Bekenntnis zur Ein-
heit und Einzigkeit Gottes, sondern die Verinnerlichung, Verwirklichung und
114 A. Sarhan

Aufrechterhaltung dieses Bekenntnisses in allen menschlichen Handlungen, die


direkt oder indirekt mit Gott zu tun haben. Tauḥīd beinhaltet nach salafistischem
Verständnis drei Grundlagen (uṣūl), deren Erfüllung erforderlich ist, um als ein
wahrer Muslim gelten zu können: Einheit der Göttlichkeit (tauḥīd al-rubūbiyya),
Einheit Gottes in seiner Verehrung (tauḥīd al-ulūhiyya) und Einheit der Namen
und Attribute Gottes (tauḥīd al-asmāʾ wa-l-ṣifāt). Diese Grundlagen des tauḥīd
werden zwar von allen islamischen Denkrichtungen beansprucht. Was die salafis-
tische Glaubenslehre jedoch ausmacht, ist

die Strenge bzw. Konsequenz in der Forderung, Einhaltung und Umsetzung dieser
Grundlagen in allen Bereichen des rituellen und profanen Lebens der Glaubens-
gemeinschaft […] und des Einzelnen (Fahmy 2011, S. 10).

Während das salafistische Verständnis des tauḥīd al-rubūbiyya sich auch mit dem
allgemeinen Verständnis aller Muslime von tauḥīd deckt, kann man bei tauḥīd
al-ulūhiyya und tauḥīd al-asmāʾ wa-l-ṣifāt von einem spezifisch salafistischen
Verständnis dieser beiden Kategorien von tauḥīd sprechen.
Die erste Kategorie, tauḥīd al-rubūbiyya, beschreibt Gott als den alleinigen
Schöpfer und den einzigen wahren Herrn bzw. Herrscher (rabb) des Universums.
Dies impliziert vor allem die Pflicht, daran zu glauben, dass Gott alleine die
Schöpfung entstehen ließ und dass zuvor nichts existierte. Zudem wird Gott als
einzigartig in seinen Handlungen beschrieben. Er hält die Schöpfung aufrecht und
stützt sie, ohne dafür irgendeine Hilfe zu benötigen und ohne dass es eine reale
Herausforderung für seine Souveränität darstellt. In der Schöpfung geschieht
nichts ohne seine Erlaubnis. So ist Gott die einzige wirklich existierende Macht.
Diese Dimension des tauḥīd wird von allen Muslimen akzeptiert und stellt kei-
nen Streitpunkt zwischen den islamischen Glaubensrichtungen dar (Wiktorowicz
2001, S. 114).
Durch die zweite Kategorie, tauḥīd al-ulūhiyya – manchmal auch tauḥīd
al-ʿibāda (Einheit der Anbetung) genannt, wird verankert, dass Gott der Einzige
ist, dem das Anrecht auf Anbetung zusteht. Dies umfasst jede Art von Anbetung
durch sichtbare und unsichtbare Taten sowie die Negation des Rechts ande-
rer, angebetet zu werden. Demgemäß müssen alle Formen des Gottesdienstes
und das Bitten um Beistand nur unmittelbar an den einen Gott gerichtet wer-
den. Obwohl diese Grundlage des tauḥīd als ein unstrittiges Element des Mono-
theismus erscheinen mag, birgt sie eine nicht zu unterschätzende interpretative
Komplexität, die zu diametralen Positionen innerhalb der muslimischen Gemein-
schaft führt. So denunzieren Salafisten die sufischen Praktiken der Heiligen-
verehrung als einen klaren Verstoß gegen den tauḥīd al-ulūhiyya. Die Sufis, so
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 115

a­ rgumentieren die Salafisten, stellen in ihrer religiösen Praxis Partner neben Gott,
indem sie Geschöpfe um Fürsprache und Vermittlung zwischen Mensch und Gott
bitten. Durch religiöse Handlungen, wie die Verehrung von Menschen, Opfergabe
an Heilige und der Besuch von deren Gräbern, machen sich Sufis des širk schul-
dig, da sie Gott Partner in ­seiner Göttlichkeit und Anbetung zuschreiben würden
(ʿAbbāsī 2002, S. 15 ff.).
Der tauḥīd in seiner dritten Kategorie als tauḥīd al-asmāʾ wa-l-ṣifāt erteilt im
Wesentlichen eine Absage an den Anthropomorphismus. Da kein Geschöpf die
Eigenschaften Gottes teilen kann, sind Gottes Attribute exklusiv, nicht vergleich-
bar mit menschlichen Eigenschaften und dürfen von den Menschen weder anthro-
pomorphistisch verstanden, noch geändert, umgedeutet oder verneint werden.
So müssen die in Koran und Hadith enthaltenen Attribute Gottes in ihrem wört-
lichen Sinne verstanden werden. Diese Dimension von tauḥīd stellt eine wichtige
Quelle für Meinungsverschiedenheiten unter Muslimen in Bezug auf die ʿaqīda
dar und sorgte im Laufe der islamischen Geschichte immer wieder für Differen-
zen und Spannungen zwischen den rationalistisch und den literalistisch geprägten
­islamischen Denkschulen.
Rationalisten wie die Muʿtaziliten vertraten die Meinung, dass die im Koran
erwähnten Eigenschaften Gottes als Metaphern zu verstehen seien. Wenn im
Koran von Gottes Hand die Rede ist, so bedeutet dies nicht, dass Gott wie die
Menschen Hände hat, sondern dass „Hand“ als Metapher für die Macht Gottes
steht. Literalisten wie die Salafisten argumentieren diesbezüglich, dass der Koran
als Wort Gottes nicht offen für Interpretation ist. Gottes Eigenschaften sind weder
Metaphern noch vergleichbar mit denen seiner Schöpfung. Vielmehr sind sie mit
menschlichem Verstand nicht erfassbar, da sie jenseits der menschlichen Sinne
und Wahrnehmungen (ġaib) angesiedelt sind. Wenn der Koran von der Hand
Gottes spricht, so muss das bedeuten, dass Gott Hände hat. Diese sind aber nicht
vergleichbar mit den menschlichen Händen. Der Mensch kann zwar mit seinem
beschränkten Denkvermögen die Attribute Gottes nicht begreifen. Dennoch sind
sie real, da sie im Koran erwähnt werden. Darüber hinaus sind sie unantastbar von
jeglicher Form der Verzerrung (taḥrīf), Aussetzung (taʿṭīl), Vergleich mit mensch-
lichen Eigenschaften (tamṯīl) oder Anthropomorphisierung (tašbīh). In theo-
logischen Debatten über diesen Aspekt des tauḥīd, die sich oft eher als einseitige
polemische Angriffe beschreiben lassen, werfen Salafisten den Muʿtaziliten auf-
grund ihres metaphorischen Interpretationsansatzes Tendenzen zur Aussetzung
und Neutralisierung der Attribute Gottes vor (Wiktorowicz 2001, S. 114 f.).
Diese drei Grundlagen des tauḥīd werden im Salafismus derart unzertrenn-
lich angesehen, dass jede Vernachlässigung oder jedes Weglassen einer Grund-
lage zum Verderbnis der ʿaqīda und zur Nichtannahme des Gottesdienstes durch
116 A. Sarhan

Gott führen würde. Die einzige Garantie für die Reinheit der ʿaqīda und der
­Aufrechterhaltung des tauḥīd bietet

(…) die strenge Orientierung an dem von den [salaf] überlieferten Verständnis
des Glaubens, des Korans und der gelebten Prophetentradition […]. Die Orien-
tierung an bzw. eine Befolgung [ittibāʿ] der salaf (im Gegensatz zur von Salafi[s]
ten abgelehnten Nachahmung [taqlīd]8), besonders in der Methodik [manhağ] der
Zurückführung von Entscheidungen in religiösen Grundfragen und Rechtsurteilen
auf Koran und Prophetentradition [istinbāṭ al-aḥkām], bildet daher die Grundlage
für das Selbstverständnis der Salafi[s]ten, aber auch für die Namensgebung dieser
Denkschule (Fahmy 2011, S. 11).

Inflationäres Verständnis von širk

Sowohl von den Salafisten als auch von den meisten Muslimen wird al-širk
bi-l-lāh (kurz „širk“, wörtl. Gott Partner beigesellen) als die schwerste aller
Sünden angesehen. Während der Koran die Vergebungen aller Arten von Sün-
den durch Gott für möglich hält, schließt er den širk explizit von der göttlichen
Begnadigung aus:

Allāh vergibt nicht, dass man ihm (andere Götter) beigesellt. Was darunter liegt, ver-
gibt er, wem er (es vergeben) will. Wenn einer (dem einen) Allāh (andere Götter)
beigesellt, hat er (damit) eine gewaltige Sünde ausgeheckt (4: 48).9

Salafistische und nicht-salafistische Muslime sind sich darüber einig, dass der širk,
also Polytheismus/Vielgötterei bzw. der Glaube an die Existenz mehrerer Gott-
heiten sowie die Verehrung und Anbetung von Personen, Gegenständen oder Natur-

8Für Salafisten bedeutet ittibāʿ „die Anerkennung und Befolgung von religiös-recht-
lichen Standpunkten und Urteilen islamischer Gelehrter nach selbstständiger Verifizierung
der Korrektheit der Argumentation und Beweisführung durch den Fragesteller bzw. den
Urteilssuchenden. Taqlīd hingegen wird gleichgesetzt mit dem „blinden“ Vertrauen auf die
Urteile eines Gelehrten“ (Fahmy 2011, S. 11).
9Betrachtet man den historischen Kontext, in dem Muḥammad diese medinensischen

Koranverse verkündete, stellt man fest, dass sie sich vornehmlich gegen den Götzenkult
der polytheistischen Bewohner der Arabischen Halbinsel im siebten Jahrhundert richte-
ten. Diese manifestierte sich u. a. in der Anbetung von Skulpturen, Götzenbildern, Steinen,
Bäumen Feuer und Sonne. Der Tenor dieser Verse liegt auf der massiven Verurteilung der
Götzenkult als Ursache des širk, die Aufforderung von den bisherigen Kulthandlungen
abzulassen und alle Verehrung stattdessen dem einzigen Gott zukommen zu lassen.
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 117

erscheinungen, im eindeutigen Widerspruch zur zentralen Botschaft des Islam von


der Einsheit und Transzendenz Gottes steht.10 Sie sehen die polytheistische Gott-
vorstellung als unvereinbar mit dem ersten Teil der šahāda11 an.12 Was die Salafis-
ten jedoch von den meisten Muslimen unterscheidet, ist ihre Konzeption des širk.
Während die Mehrheit der Muslime die offensichtliche Beigesellung von Partnern
zu Gott – manifestiert in der direkten Anbetung von weiteren Gottheiten – als Viel-
götterei begreifen, gehen Salafisten genau an diesem Punkt weiter und behaupten,
es gebe Formen der Vielgötterei, die sich nur dann als solche enttarnen lassen,
wenn man sie an den Kriterien des tauḥīd misst (Ibn Bāz 2001, S. 9 f.). Salafis-
ten vertreten die Position, dass Aussagen, Denk- oder Verhaltensweisen, denen ein
Muslim möglicherweise keine religiöse Relevanz zuordnet, polytheistische Ten-
denzen implizieren können. Diese würden den Eingottglauben auslöschen und zur
unverzeihlichen Sünde des širk führen. Somit erfährt der Begriff širk in der salafis-
tischen Geisteshaltung eine konzeptionelle Erweiterung als Gegenteil von tauḥīd.
Da der širk nach salafistischer Auffassung zum Abfall vom Islam führt und einen
Akt der Rebellion gegenüber dem einen Gott gleichkommt, wird er durch Gott mit
der Auslöschung aller guten Taten, die eine Person zuvor geleistet hat, und der ewi-
gen Verdammnis in der Hölle geahndet (Ibn Bāz 2001, S. 37 ff.).
Die Warnung vor dem Abdriften in den širk als Ergebnis der Befolgung von
bidaʿ oder von Personen, die die „wahre“ Bedeutung des tauḥīd nicht verstehen,
ist eines der zentralen Themen des salafistischen Diskurses. Demzufolge bleibt die
šahāda solange ein Lippenbekenntnis bis sie durch die tätige Verehrung des Einen
Gottes verwirklicht wird. Die šahāda ist eine notwendige aber keine hinreichende
Bedingung, um als Muslim zu gelten. Manche Menschen, die sich als Muslime
begreifen, manchen sich des širk schuldig, wenn sie direkt oder indirekt bzw. offen
oder verdeckt den Universal- und Absolutheitsanspruch Gottes auf Herrschaft und
Verehrung verletzen. Indirekte und verdeckte Formen des širk werden durch den
Volksglauben verursacht, wie das Tragen von Amuletten zum Schutz vor Neid und

10Von den meisten Muslimen wird die christliche Trinität auf den Tritheismus (Drei-­Gott-

Lehre) reduziert und deswegen als širk abgewiesen.


11Das islamische Glaubensbekenntnis „ašhadu an lā ilāha illā Allah, wa-ašhadu anna

Muḥammadan rasūlu Allah“ (Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer Gott gibt und dass
Muḥammad der Gesandte Gottes ist).
12Im Koran wird das exklusive Anrechts des einen Gottes auf Anbetung strikt betont; z. B.

„Und ich habe die Dschinn und Menschen nur dazu geschaffen, dass sie mir dienen“ (51:
56). Diejenigen, die „Nebengötter“ als Partner Gottes in der Göttlichkeit oder Herrschaft
beigesellen, werden hingegen aufs Schärfste verurteilt. Ihnen wird vorgeworfen, von Gott
erschaffenen Gegenständen oder Personen anzubeten und sie somit als Partner an der
­alleinigen Göttlichkeit Allahs teilhaben zu lassen.
118 A. Sarhan

dem bösen Blick oder die Befolgung von astrologischen Vorhersagen und Horo-
skopen. Für Salafisten implizieren solche von ihnen als abergläubisch gebrand-
markten Verhaltensweisen den Glauben daran, dass es neben Gott etwas anderes
gibt, das über den Menschen herrscht, sie beschützt, das Böse von ihnen abwendet
und über ihre Gegenwart und Zukunft bestimmt (al-Mīlī 2001, S. 253 ff.).
Im salafistischen Diskurs wird die islamische Mystik, insbesondere die sufi-
schen Praktiken der Heiligen- und Gräberverehrung zur Häresie erklärt. Sie
werden als polytheistische Praktiken des Erbittens von Beistand, Segen- oder
Zufluchtssuche bei anderen als bei dem einen Gott gebrandmarkt. Im Mittel-
punkt der salafistischen Polemik gegen sufische Praktiken steht die Verurteilung
jener Vorstellung, dass Geschöpfe auf Gott einwirken und die Änderung seiner
Vorherbestimmung herbeiführen können. Es wundert daher nicht, dass die weit-
verbreitete Praxis des Bittens um Fürsprache (tawassul)13 seitens der Salafisten
massiv verurteilt und als širk bezeichnet wird. Ebenso verworfen wird das Ver-
richten des Gebets an Grabstätten von Heiligen und das Pilgern zu Mausoleen, in
denen fromme Muslime begraben sind, um Segen (baraka) zu erlangen:

Gott näher kommen zu wollen, indem man sich an Tote, Anwesende oder
Abwesende wendet und sie um Hilfe bittet, ist širk und widerspricht dem tauḥīd.
Diejenigen [, die derartiges machen,] sind nicht mehr als Muslime anzusehen. Ihre
Bittrufe zur Gewährung des Nützlichen und Abwendung des Schädlichen sind Akte
des Gottesdienstes und Ausdrücke der Demut und Unterwerfung. Gottesdienst,
Demut und Unterwerfung müssen direkt an Gott gerichtet werden. Wenn Gebete
oder Bittrufe an irgendjemanden oder irgendetwas anderes gerichtet werden, gilt
dies als širk al-rubūbiyya (Al-Albānī 2001, S. 42 ff.).

Ferner werten Salafisten die von Menschen geschaffenen Organe der Legislative
Judikative, Exekutive als institutionalisierte Formen des širk ab.14 Vom weltlichen

13Tawassul manifestiert sich in dem sich Wenden an Menschen, von denen man glaubt,
dass sie Gott besonders nah stehen, wie ahl al-bait (wörtl. Leute des Hauses, Mitglieder
der Familie des Propheten Muḥammads) oder äußerst fromme Personen, awliyāʾ Allah
al-ṣāliḥūn (wörtl. rechtschaffene Gottesfreunde), um sie zu Mittlern und Fürsprechern bei
Gott zu erklären.
14An dieser Stelle ist anzumerken, dass Salafisten zwischen jenen von Menschen gemachten

Gesetzen, deren Anwendung Ungehorsam gegenüber Koran und Sunna nach sich zieht (z. B.
Lebenspartnerschaftsgesetz), und jenen, die der Regelung der Angelegenheiten der Men-
schen untereinander dienen (z. B. Verkehrsgesetz), ohne dabei Gottes Geboten zu wider-
sprechen, unterscheiden.
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 119

Herrscher wird verlangt, dass er nur nach dem salafistischen Verständnis von
Koran und Sunna regiert. Anderenfalls wird er als ṭāġūt (wörtl.: etwas/jemand, der
Grenzen überschreitet) bezeichnet und die Unterwerfung unter seine Herrschaft
bzw. Rechtsordnung als Götzendienst (ʿibādat al-ṭāġūt) abqualifiziert. Sowohl die
Aussetzung von göttlichen Bestimmungen als auch deren Veränderung, zeitmäßi-
gen Anpassung oder Ergänzung seien Übertretungen gegen den tauḥīd und wer-
den von Vertretern des Salafismus als Tatbestände des širk al-rubūbiyya betrachtet.
Hierzu konstatiert Ibn al-ʿUṯaimīn:

Das Anfertigen von Gesetzen und Verfassungen, um mit ihnen anstatt mit Gottes
Gesetzen zu regieren, führt zwangsläufig dazu, dass das, was Gott erlaubt, durch die
Menschen verboten wird und das, was Gott verbietet, durch die Menschen erlaubt
wird. Die Gesetzgebung obliegt daher nur Gott, dem Schöpfer des Universums.
Die Befolgung der von Menschen gemachten Gesetzten und Verfassungen ist Bei-
gesellung in der Herrschaft Gottes. Denn sie verleihen dem Regenten Befugnisse,
das zu erlauben oder zu verbieten, was er will oder worüber sich die Mehrheit der
Menschen einigt (al-ʿUṯaimīn 1993, S. 142).

Für Salafisten gebühren Herrschaft (ḥākimiyya) und Unterwürfigkeit (ʿubūdiyya)


nur dem einem Gott, dem absoluten Souverän. Sowohl die menschliche
Gesetzgebung als auch die Rechtsprechung und Vollstreckung der von Men-
schen gemachten Gesetzten und Urteile werden von salafistischen Gelehrten
als Aggression gegen die Gottesherrschaft (ḥākimiyyat Allāh) auf Erden ver-
urteilt. Denn sie bestätigen demnach die Herrschaft der Menschen (ḥākimiyyat
al-bašar). Dabei werden konkurrierende Gesetze, die neben den göttlichen wir-
ken und von Koran und Sunna abweichen als „Erlassen von Gesetzen neben
(denen von) Gott“ (tašrīʿ min dūn Allāh) aufgefasst. Auch das Unterlassen des
Richtens bzw. Regierens mit den Gesetzen Gottes (tark al-ḥukm bi-mā anzala
Allāh), indem der weltliche Herrscher sie durch andere Rechtsgrundlagen (al‐
ḥukm bi-ġair mā anzala Allāh) ersetzt, werden als Häresie aufgefasst. Diese
Häresie entspringt der Suspendierung von Gottes absoluter Souveränität. So
werden die Geschöpfe an der Herrschaft des Schöpfers beteiligt. Dies ist für
die salafistische Weltanschauung nicht tragbar. Es besteht unter allen Salafisten
Einigkeit darüber, dass

das Rechtssystem, das von den Regeln abweicht, die in Koran und Sunna festgelegt
worden sind, eine Übertretung gegen das System Gottes [ist]. Dieses [göttliche Sys-
tem] bestimmte der, der alle Dinge erschaffen hat und am besten weiß, wie sie funk-
tionieren. Gepriesen sei Gott, der darüber erhaben ist, einen Gesetzgeber neben Sich
zu haben. […] Die Anfertigung, Anwendung oder Anerkennung von Gesetzen, die
Gottes Urteilen widersprechen, indem sie beispielsweise Polygamie verbieten oder
120 A. Sarhan

das Steinigen von Ehebrechern und das Abtrennen der Hand für barbarische Taten
erklären und unter Strafe stellen, ist širk gegenüber der Herrschaft des Schöpfers
von Himmel und Erde (Al-Fauzān o. J., S. 48–49).

Širk kommt zustande, wenn die Verrichtung einer Handlung nicht die ausschließ-
liche Absicht zugrunde liegt, dem einen Gott zu dienen. Denn gemäß dem Wort-
laut der Koranverse 6:162–16315 betrachten Salafisten menschliches Handeln als
Gottesdienst. Wendet man sich in einem Gottesdienst etwas oder jemand ande-
rem zu als dem einen Gott, so begeht man nach salafistischer Auffassung Götzen-
dienst. Als der „wahre“ Muslim wird hingegen ein gehorsamer Knecht Gottes
(ʿabd) propagiert, der sich in allen Lebensbereichen dem Willen seines einzigen
Schöpfer vollständig unterwirft. Dieser Schöpfer ist gleichwohl der absolute
Herrscher, dessen göttlicher Wille Koran und Sunna – ausschließlich nach der
Leseart der salaf – entnommen werden kann. Dies ist die Konsequenz dessen,
dass die Altvorderen das Wort Gottes genauso wie der Prophet verstanden und in
allen Lebensbereichen in die Tat umsetzten, sodass jegliche Abweichung davon
als bidʿa zurückzuwiesen ist.

bidʿa versus Sunna

Der islamische Terminus bidʿa (Neuerung) ist ein Synonym für muḥdaṯa und
umschreibt im Allgemeinen jede Überzeugung oder Verhaltensweise, die weder
eine Erwähnung im Koran findet noch vom Propheten Muḥammad überliefert
wurde (Robson 1979, S. 1199 f.). Zeitwandel und veränderte (Lebens-)Umstände
bringen selbstverständlich immer wieder zahlreiche Neuerungen mit sich. Neue-
rungen in der Glaubenspraxis und im Alltag, die mit den Regeln der autoritativen
Quellen des Islam unvereinbar sind, das Prinzip des tauḥīd verletzen oder mit
Tradition und Konsens der salaf nicht im Einklang stehen, betrachten die Sala-
fisten als unstatthaft. Islamrechtlich unbestimmte, materielle Neuerungen, die
dem Propheten nicht bekannt sein konnten (z. B. Flugzeug, Telefon, Internet, Ein-
richtungen wie etwa Krankenhäuser und Schulen usw.) seien hingegen erlaubt,
wenn sie einen individuellen oder kollektiven Nutzen darstellen. Solche weltliche
Neuerungen beschreiben Salafisten als „vom guten Nutzen für das Gemeinwohl“

15„Sag: Mein Gebet (salāt) und meine Opferung, mein Leben und mein Tod gehören Allāh,
dem Herrn der Menschen in aller Welt (al-ʿālamīn). Er hat keinen Teilhaber (an der Herr-
schaft). Dies (zu bekennen) wurde mir befohlen. Und ich bin der erste von denen, die sich
(Allāh) ergeben haben (al-muslimīn).“
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 121

(maṣlaḥa ḥasana) (Al-Qaraḍwī 2007, S. 15 ff.). Sie tun dies, um den umstrittenen
Begriff gute Neuerungen (bidʿa ḥasana) zu vermeiden.16 Die Vermeidung dieses
Begriffes lässt sich u. a. darauf zurückführen, dass der Prophet in einem Hadith
jede Art von bidaʿ verwirft: #

Hütet euch vor den neu eingeführten Dingen, denn wahrlich sind die schlimmsten
Dinge die neuen; alles Neue ist eine bidʿa; jede bidʿa ist ein Irrweg, und jeder Irr-
weg führt ins Höllenfeuer (Ibn al-Ḥağğāğ 2006, S. 512).

Trotz der Einsicht, dass die eine oder andere Neuerung außerhalb der religiösen
Sphäre durchaus einen positiven Charakter besitzen kann, weisen Salafisten dem
Begriff bidʿa vorrangig eine spezifisch technische Bedeutung zu, nämlich die von
unzulässigen und deswegen in jedem Fall abzulehnenden Gebräuchen und Ideen.
Der Begriff wird in diesem negativen Sinne definiert, nämlich als Erscheinung,
die der als mustergültig angesehenen Form der prophetischen Glaubensausübung
und Lebensführung nicht entspricht. Dadurch rückt die bidʿa in einen deut-
lichen Kontrast zur Sunna. Dieser Umstand führt in letzter Konsequenz dazu, ahl
al-bidaʿ bzw. ahl al-hawā, also denjenigen, die aus Sicht der Salafisten Neuerun-
gen in die Religion einführen, des Bruchs mit der Sunna und der Entstellung des
islamischen Glaubens zu bezichtigen (Gronke 2002, S. 137 f.).

16Die Definition guter/lobenswerter (ḥasana/maḥmūda) und schlechter/missbilligter


(saiyʾa/maḏmūma) Neuerungen geht auf Muḥammad ibn Idrīs al-Šāfiʿī (767–820), den
Begründer der šafiitischen Rechtsschule zurück. Demnach wird zunächst alles, was zu Leb-
zeiten des Propheten nicht existent war, als bidʿa bezeichnet. Sollte eine Neuerung von
Nutzen für die Gemeinschaft der Muslime sein und nicht im Widerspruch zu Koran, Sunna
oder Konsens der Gelehrten stehen, so ist sie eine bidʿa ḥasana bzw. bidʿa maḥmūda.
Zudem hob al-Šāfiʿī hervor, dass es bidaʿ wāğiba (obligatorische Neuerungen) gäbe, wie
beispielsweise das Studium der Grammatik, das zu einem besseren Verständnis von Koran
und Sunna führen kann, die Zuverlässigkeitsüberprüfung von Hadithüberlieferern und die
Feststellung von schwachen Hadithen (al-ğarḥ wa-l-taʿdīl), die Kodifizierung von Geset-
zen/Eheverträgen und die Widerlegung von ketzerischen Sekten. Weitere Arten guter
Neuerungen seien empfehlenswerte Neuerungen (bidaʿ mandūba), wie beispielsweise die
Einrichtung von Krankenhäusern und Schulen, und erlaubte Neuerungen (bidaʿ mubāḥa),
die nicht in den islamrechtlichen Bereich des Verbotenen (ḥarām) fällen, wie neue Mode,
Lebensmitteln, Getränken und Kleidung. Meinungen oder Lehren, deren Anhänger sie in
die Religion einführen oder zu Sunna erheben oder den Menschen Schaden zufügen, seien
hingegen bidaʿ saiyʾa und werden von aš-Šāfiʿī entweder als verbotene (muḥarrama)
Neuerungen gewertet, wie Verrichtung von drei Gebeten am Tag statt fünf, das Fasten
nur von 10 Tagen im Ramadan oder (makrūha). Für mehr siehe hierzu Gronke (2002,
S. 135 ff.); al-Qaraḍwī (2007, S. 12 ff.).
122 A. Sarhan

So plausibel die salafistische Auffassung ist, die die Sunna des Propheten als
das Ideal der religiösen und weltlichen Praxis beschreibt, so problematisch ist
zugleich die salafistische Überzeugung, dass die heute als bidaʿ abqualifizierten
Praktiken im Bereichen ʿibādāt und muʿāmalāt zu Lebezeiten Muḥammads nicht
existierten und von ihm nicht akzeptiert oder gar praktiziert worden seien.17 So
findet eine selektive Bezugnahme auf die Sunna statt, die oft zusammenhangslos
ist und den historischen Kontext außer Acht lässt. Die salafistische Verwerfung
bestimmter religiöser Verhaltensweisen ist eine offenkundige Rückprojektion
bloß imaginierter Idealzustände in der Generation des Propheten.
Die Verurteilung der im Bereich der ʿibādāt aufgetretenen Neuerungen nimmt
eine zentrale Stellung in den fatāwā-Werken zeitgenössischer salafistischer
Gelehrte ein. Als rigorose Verfechter einer fiktiven idealen Glaubensausübung,
„wie sie sie in der Zeit des Propheten vorzufinden meinen, muss vor dem Hinter-
grund dieses Ideals das Neue zwangsläufig negativ erscheinen, und so wird es
dann auch beschrieben“ (Gronke 2002, S. 134). Durch die vehemente Zurück-
weisung vermeintlicher Neuerungen im Bereich ʿibādāt und die Berufung auf die
von den salaf überlieferte religiöse Praxis erheben die Salafisten den Anspruch,
eine „korrekte“ Form der Glaubensausübung zu vertreten. Nicht nur die Praktiken
des Sufismus und des Volksislam, sondern auch weitere unzählige, unter Muslimen
sehr weit verbreitete Bräuche werden von den salafistischen Gelehrten verworfen.
Die Ablehnung wird in den meisten Fällen so begründet, dass nicht bekannt
sei, ob der Prophet oder die salaf diese Bräuche kannten oder pflegten. Auf
Grundlage dieser Argumentation Verbietet der saudische Gelehrte Muḥammad
Ibn Ṣālih al-ʿUṯaimīn (1929–2001) das Feiern des Geburtstags (maulid) des Pro-
pheten Muḥammad und das Aussprechen von Bittgebeten (duʿāʾ) unmittelbar
nach dem Pflichtgebet. Das gleiche gilt auch für das Händeschütteln mit anderen
Gläubigen nach dem Gemeinschaftsgebet. Unter den Muslimen weit verbreitete
Praktiken wie beispielsweise, einem Mitbetenden zu wünschen, „möge Gott
dein Gebet annehmen“, das Küssen eines Koranexemplars (muṣḥaf), um Segen
zu erlangen, das Schwören auf den Koran, um die eigene Aussage zu bekräftigen
oder der Abschluss einer Koranrezitation mit der Aussage „Gott, der Allherrliche,

17Im ihrem hier zitierten Aufsatz „‚Alles Neue ist ein Irrweg‘. Zum mittelalterlichen ara-
bischen Schrifttum über religiöse Missbräuche“ führt Gronke einige Beispiele für Prakti-
ken auf, die zwar von mittelalterlichen salafistischen Gelehrten Autoren als bidaʿ erklärt
wurden, aber laut Überlieferung von dem Propheten und den salaf-Generationen gepflegt
worden waren, wie beispielsweise das Feiern von Festen und die Diskussion über profane
Themen in der Moschee.
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 123

hat die Wahrheit gesprochen“ (ṣadaqa Allāhu al-ʿaẓīm) seien ebenfalls Neuerun-
gen. Zudem bezeichnete er das Feiern von Geburtstagen und nichtmuslimischen
Festen sowie Nationalfeiertagen und ebenso diesbezügliche Gratulationen als
Dinge, die nach der Zeit der salaf aufgekommen seien und die der Prophet weder
praktiziert noch den Muslimen angeordnet habe (al-ʿUṯaimīn 2009, S. 10 ff.).
Aufgrund der Überzeugung, dass die Glaubenspraxis, dem Wesen des „wah-
ren“ Islam entsprechend, tief in die Verrichtung des Alltags hineinreicht, sind
vermeintliche Neuerungen in Bereich der muʿāmalāt ebenfalls Gegenstand der
Fatwas salafistischer Gelehrter. Dass die salafistischen Gelehrten sich über ver-
meintliche bidaʿ auch in weltlichen Angelegenheiten beklagen, macht deut-
lich, dass der Salafismus das Ziel verfolgt, alle Lebensbereiche zu regeln.
Muḥammad Nāṣiraddīn al-Albānī (1914–1999), einer der einflussreichen sala-
fistischen Gelehrten, warnte in seinen zahlreichen Predigten Muslime davor,
die „Ungläubigen“ in Europa und den USA zu imitieren, indem sie Bräuche
aus fremden Kulturen übernähmen. Im Zusammenhang mit der Eheschließung
bezeichnete er beispielsweise Handlungen wie den Verzicht der Frau auf Braut-
gabe, den Austausch von Hochzeitsringen, das Feiern von Hochzeitstagen, das
Unternehmen einer Hochzeitsreise als üble Neuerungen, die vom „ungläubigen
Westen“ übernommen worden seien (Al-Albānī 2007, S. 263 ff.).
Somit fungiert bidʿa im salafistischen Kontext als ein regulativer Begriff, mit
dem die autoritative Stellung von salafistischen Gelehrten gegenüber der eigen-
ständigen Meinungs- und Urteilsbildung der Gläubigen verteidigt wird. Dadurch
erlangen die Gelehrten eine Machtposition und erheben den Anspruch, über das
Authentisch-Islamische zu bestimmen. Von ihren Positionen abweichende Mei-
nungen und Praktiken lehnen sie als unislamische Innovationen oder Einflüsse
von anderen Religionen und Kulturen ab.

Fazit

Der Salafismus glorifiziert die utopische Konzeption eines „wahren Islam“, der
vermeintlich in der Zeit der salaf vorherrschend war und gelebt wurde. Auf-
grund der Überzeugung, dass die salaf den Koran und die Sunna am besten ver-
standen hätten, habe der „wahre Islam“ den sakralen Raum dominiert und sowohl
das Leben der Gläubigen als auch den Umgang der Menschen untereinander
bestimmt. Daher gelte es, den Koran und die Sunna ausschließlich im Verständ-
nis der Vorväter der muslimischen Gemeinschaft zu befolgen. Mit dieser Glori-
fizierung der salaf sowie dem daraus resultierenden Handlungsbedarf bezüglich
der Auslegung und Umsetzung der islamischen Ge- und Verbote geht eine strikte
124 A. Sarhan

Ablehnung einher, die sich gegen Andersgläubige – Muslime wie Nichtmuslime –


richtet und jegliche fortschreitende Entwicklung in den Interpretationsmethoden
sakraler Texte oder Neuerungen in der islamischen Religionspraxis für unstatthaft
erklärt. Obwohl Salafisten Neuerungen vehement ablehnen, nutzen sie technische
und wissenschaftliche Errungenschaften, um u. a. ihre Mission durchzusetzen. So
sind Salafisten keineswegs, wie oftmals behauptet wird, rückständige und mittel-
alterliche religiöse Fanatiker, sondern mit moderner Technik durchaus vertraut.
Das, was sie ablehnen, sind die mit diesen Errungenschaften verbundenen Werte
und Normen. Eine Reformation im Islam hätte u. a. die Aufgabe, die Religion
von den Fesseln des Salafismus zu befreien und zentrale theologische Konzepte
mit reformierten Inhalten füllen. Die reformorientierten muslimischen Gelehrten
sollten aufzeigen, dass die theologischen Konzepte der Salafisten lediglich eine
der möglichen Interpretationen des Islam darstellen und nicht bindend sind.
Die stetige Rückbesinnung auf die salaf-Generationen suggeriert, dass es unter
den salaf stets Konsens vorherrschte. Dies steht jedoch im Widerspruch zu der
historisch belegten Vielfalt an theologischen Positionen unter den salaf. Diese
Vielfalt entstand trotz der vorgeblich engen Orientierung am Wortlaut des Koran
und der akribischen Nachahmung des Propheten Muḥammad. Die frühislamische
Geschichte bzw. die Geschichte der salaf zeugt von apodiktischen Positio-
nen in Bezug auf zentrale Fragen der Religion, die zu Schimisen und brutalen
Bürgerkriegen führten und bis heute das Leben der Muslime weltweit prägen.
Eine reformorientierte islamische Theologie sollte anhand von Beispielen auch
aus der Gegenwart davor warnen, dass die starren Positionen des Salafismus zu
blutigen Konflikten unter Muslimen führen und die Beziehungen der Muslime
zu Andersgläubigen in der modernen Welt erheblich schaden. Wenn die fried-
liche Koexistenz dem Geist des Islam innewohnt, sollte eine Reformation diese
Religion mit den universellen Werten und Menschenrechten versöhnen oder gar
islamisch begründen. Den Salafisten die Deutungshoheit über den Islam strittig
machen, ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg.

Literatur
Abbāsī, ʿĪd. 2002. ad-Daʿwa-l-salafiyya wa-mawqifuhā min al-ḥarakāt al-uḫrā. Alexand-
ria: Dar al-Iman.
Al-Albānī, Muḥammad Nāṣiraddīn. 2001. al-Tawassul: Anwāʿihu wa-aḥkāmihu. Jeddah:
Maktabat al-Malik Fahd.
Al-Albānī, Muḥammad Nāṣiraddīn. 2007. Qāmūs al-bidaʿ (Red. von al-Salmān, Mašhūr
Ibn Ḥasan und al-Šukūkānī, ʿAbdallāh Ibn Ismāʿīl). Doha: Dār al-Imām al-Buḫārī.
Erneuerung durch Rückbesinnung – Die Theologie des Salafismus 125

Al-Fauzān, Ṣāliḥ Ibn Fauzān. o. J. Kitāb at-tauḥīd. http://d1.islamhouse.com. Zugegriffen:


3. Jan. 2017.
Al-Maqdisī, Abū Muḥammad. o. D. Millat Ibrāhīm. http://www.mediafire.com/?ydjgmj-
mnwmo. Zugegriffen: 1. Apr. 2011.
Al-Mīlī, Mubārak Ibn Muḥammad. 2001. Risālat al-širk wa-maẓāhirihi. Riad: Dār
ar-Rāiyya.
Al-Qaradāwī, Yūsuf. 2007. al-Sunna wa-l-bidʿa. Kairo: Maktabat Wahba.
Al-Samʿānī, Abū Saʿd. 2005. Kitāb al-Ansāb, Bd. 2. Riad: Dār al-Fikr.
Al-ʿUṯaimīn, Muḥammad Ibn Ṣāliḥ. 1993. Mağmūʿ al-fatawā wa-l-rasāiʾl (Red. von Fahd
Ibn Nāṣir Ibn Ibrāhīm as-Sulaimān), Bd. 2. Riad: Dār al-Waṭan.
Al-ʿUṯaimīn, Muḥammad Ibn Ṣāliḥ. 2009. al-Ibdāʿ fī-aʿmāl al-šarʿ wa-ḫaṭr al-ibtidāʿ.
Riad: Maktabat al-Malik Fahd.
Bobzin, Hartmu. 2000. Mohammed. München: Beck.
Endreß, Gerhard. 1997. Der Islam. Eine Einführung in seine Geschichte. München: Beck.
Famhy, Karim. 2011. Salafismus: Definition, Ideologie und Islamismusbezug. Berlin: o.V.
Gronke, Monika. 2002. „Alles Neue ist ein Irrweg“. Zum mittelalterlichen arabischen
Schrifttum über religiöse Missbräuche“. In Islamstudien ohne Ende: Festschrift für
Werner Ende zum 65. Geburtstag, Hrsg. Rainer Brunner, Monika Gronke, Jens P. Laut
und Ulrich Rebstock, 127–138. Würzburg: Ergon.
Ḥassān, Muḥammad. o. D. Ḫawāṭir ʿalā ṭarīq al-daʿwa – ǧirāḥ wa-afrāḥ. http://www.
maktbtna2211.com/vb. Zugegriffen: 5. Apr. 2017.
Ḥilmī, Muṣtafā. 1996. Qawaʿid al-manhğ al-salafī fī-l-fikr al-islamī. Alexandria: Dār
ad-Daʿwa.
Ibn al-Aṯīr, ʿizzaddīn. 1980. al-Lubāb fī tahḏīb al-ansāb, Bd. 2. Bagdad: Maktabat
al-Muṯnā.
Ibn al-Ḥağğāğ, Muslim. 2006. al-Ǧāmiʿ al-ṣaḥīḥḥ al-musammā ṣaḥīḥ Muslim, Bd. 7.
Kairo: al-Maktaba al-ʿaṣriyya.
Ibn Bāz, ʿAbdalʿazīz Ibn Abdʿallāh. 2000. al-ʿAqīda al-ṣaḥīha wa mā yuḍḍādahā wa
nawāqiḍ al-Islām. Riad: o.V.
Ibn Bāz, ʿAbdalʿazīz Ibn Abdʿallāh. 2001. Šarḥ kitāb at-tauḥīd. Tanta: Dār Al-Ḍiyāʾ.
Ibn Taimiyya, Taqiyyaddīn. 1997. al-Fatawā al-Kubrā, Bd. 4. Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya.
ʿImāra, Muḥammad. 1994. as-Salafiya. Sousse: Dār al-Maʿārif.
Johansen, Baber. 1999. Contingency in a sacred law. Legal and ethical norms in the
­Muslim Fiqh. Leiden: Brill.
Lauzière, Henri. 2010. “The construction of Salafiyya: Reconsidering Salafism from the
perspective of conceptual history”. International Journal of Middle East Studies 42
(03): 369–389.
Motzki, Harald. 1991. Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz. Stuttgart: Steiner.
Nagel, Tilman. 1994. Geschichte der islamischen Theologie: Von Mohammed bis zur
Gegenwart. München: Beck.
Noth, Albrecht. 1987. Früher Islam. In Geschichte der arabischen Welt, Hrsg. Ulrich Haar-
mann, 11–100. München: Beck.
Paret, Rudi. 1993. Der Koran: Übersetzung. Stuttgart: Kohlhammer.
Peskes, Esther. 1993. Muhammad B. ͑Abdalwahhāb (1703–92) im Widerstreit. Unter-
suchungen zur Rekonstruktion der Frühgeschichte der Wahhābīya. Stuttgart: Steiner.
Robson, James. 1979. Bidʿa. In Encyclopedia of Islam 2nd ed., Vol. 1, 1199–1201. Leiden:
Brill.
126 A. Sarhan

Schoeler, Gregor. 1996. Charakter und Authentizität der muslimischen Überlieferung über
das Leben Mohammeds. Berlin: de Gruyter.
Schöller, Marco. 1998. Exegetisches Denken und Prophetenbiographie: Eine quellen-
kritische Analyse der Sīra-Überlieferung zu Muḥammads Konflikt mit den Juden. Wies-
baden: Harrassowitz.
Van Ess, Josef. 1992. Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra,
Bd. 3. Berlin: de Gruyter.
Watt, Montgomery, und Alford Welch, Hrsg. 1980. Der Islam I. Mohammed und die Früh-
zeit – Islamisches Recht – Religiöses Leben. Stuttgart: Kohlhammer.
Wiktorowicz, Quintan. 2001. The management of Islamic activism. Salafis, the muslim
brotherhood, and state power in Jordan. New York: State University of New York Press.
Wiktorowicz, Quintan. 2006. Anatomy of the Salafi Movement. Studies in Conflict and Terro-
rism 29 (3): 207–239. Cerium. http://www.cerium.ca/IMG/pdf/WIKTOROWICZ_2006_
Anatomy_of_the_Salafi_Movement.pdf. Zugegriffen: 1. Febr. 2018.
Islam in Europa: zwischen Reformen
und Konfrontation

Marwan Abou Taam

Der Islam ist eine politische Realität in Europa. Diese Feststellung verlangt eine
neuartige Strategie, die einerseits die Religion als Quelle der Spiritualität bewahrt
und anderseits die Muslime im Westen für die zivilisatorischen Errungenschaften
der Aufklärung gewinnt (Tibi 2002). Hierbei hilft nur eine Integrationspolitik, die
eine verbindliche Werteorientierung bietet – ein schwieriges Unterfangen, wenn
man bedenkt, dass das zivilisatorische Bewusstsein in Europa sehr niedrig ist,
während die Muslime Teil der Rebellion gegen die westliche Vormundschaft dar-
stellen (Bull und Watson 1985, S. 217–228).
Die „Wiederkehr der Götter“ (Graf 2004) trifft Europa in einer Zeit multip-
ler Krisen1. Verbindende Werte wie Menschenwürde und Menschenrechte, Frei-
heit und soziale Gerechtigkeit aber auch Säkularität und Rationalität werden
zunehmend mit vormodernen Denkstrukturen und Traditionen konfrontiert
und gar infrage gestellt. Die Säkularisierung war ein europäisches Phänomen.
Für die Mehrheit der Weltbevölkerung wurde die Trennung von Staat und Reli-
gion nicht vollzogen. Nun leben Menschen in Europa, für die die Religion
Teil der Inszenierung ihrer Identität ist. Religion fördert ihre Gemeinschafts-
bildung, wobei normative Gewissheiten neu vergegenwärtigt werden. Die welt-
weite Konfrontation des politischen Islam mit dem Westen wirkt sich auf diesen

1So spitzt sich offensichtliche die Krise der Eurozone zu; der massive Zustrom von Flücht-
lingen hat die Defizite der gemeinsamen Asylpolitik offengelegt und nicht zuletzt das
Votum der Briten für den Brexit gefährden das gemeinsame europäische Projekt.

M. Abou Taam (*)


Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz, Deutschland
E-Mail: Abou-Taam@web.de

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 127
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_8
128 M. Abou Taam

Gemeinschaftsbildungsprozess aus. Aus den Mitgliedern einer verunsicherten


Islam-Community können von den gut aufgestellten Islamisten leicht Dschihadis-
ten rekrutiert werden. Problematisch ist, dass den meisten sicherheitspolitischen
Akteuren die Religiosität der Muslime völlig fremd ist. Der Zusammenhang
­zwischen der Funktion des Religiösen und der Artikulation des Politischen wird
nicht in die soziopolitische Analyse einbezogen. Umso mehr ist man überrascht,
dass Konflikteskalationen und Gewaltausbrüche nicht rechtzeitig erkannt bzw.
verstanden werden.
Die Gesellschaftspolitik muss sich prinzipiell auf zwei Szenarien vorbereiten,
die ihrerseits unterschiedlicher Instrumente und Strategien bedürfen bedürfen
(Tibi 2002a):

• einen politisierten Islam mit Herrschaftsansprüchen,


• eine säkulare Islamkultur mit sinnstiftender Spiritualität.

Die Politik, der Staat und die Gesellschaft müssen durch Dialog auf die zweite
Form hinarbeiten, denn ein politischer Islam in Europa gefährdet die Identi-
tät Europas und führt in eine europäische Katastrophe. Im Dialog und durch
Reformanstrengungen der Muslime selbst müssen für ein friedliches konstrukti-
ves Zusammenleben drei zentrale Bereiche durch die islamische Gelehrsamkeit
geklärt werden:

a) das Gottesbild und die Gott-Mensch-Beziehung


b) das Verhältnis der Muslime zu ihrer Nicht-muslimischen-Umgebung
c) das Verhältnis von Islam zu säkularen Herrschaft/zum säkularen Recht

Alle drei Bereiche bedürfen jedoch intensiver Reformanstrengungen, denn die


bestehenden religiösen Positionen sind größtenteils nicht kompatibel mit den
existierenden säkularen, an den Werten der Moderne orientierten Gesellschafts-
ordnungen in Europa. Hierbei ist die islamische Position hinsichtlich des histo-
risch erwachsenen Konzeptes der säkularen Herrschaft mit der Volkssouveränität
als Grundlage und Gesellschaftskonsens von zentraler Relevanz. Diese Ordnung
ist das Fundament des gesellschaftlichen Friedens und basiert auf die Bereitschaft
einzelner Gruppen und Individuen sich jenseits religiöser Begründungen unterzu-
ordnen. Hierbei geht es darum, dass sich die Religion mit der säkularen Ordnung
versöhnt oder sie im Optimalfall gar begründet begründet (Vgl. Tibi 2002b, S.
265 ff.).
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 129

Zum Verhältnis von Islam und politischer Herrschaft

Eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis des Islam zur Herrschaft sieht
sich mit der Tatsache Konfrontiert, dass unterschiedliche Ebenen des Argu-
mentes zusammengeführt werden müssen, um eine haltbare Aussage treffen zu
können: Die Beziehungsverhältnisse „Islam und Staat“, „Muslime und Staat-
lichkeit“, „Islam und Säkulare Verfassung“, „Muslime und Säkularismus“
sind verschiedene von vielen Variablen abhängige Komponenten, die in ihrer
Beantwortung oftmals Orts-, Zeits- und Gesellschaftsabhängig sind. Weder der
Koran noch die Tradition des Propheten äußern sich zur Gestaltung eines Staats-
wesens. In diesem Sinne argumentierte der al-Azhar Gelehrte und Richter ʿAlī
ʿAbdarrāziq im Rahmen einer Auseinandersetzung über die Beziehung von Herr-
schaft und Islam, dass man in der islamischen Offenbarung keine Aussagen über
die Verfasstheit eines Staates finden kann. und führt fort:

Das Kalifat hat auch nichts mit den religiösen Angelegenheiten zu tun. Gleiches gilt
für Gerichtswesen, für Regierungsposten oder Stellen im Staatsdienst. Das alles sind
reine politische Angelegenheiten, mit denen die Religion nichts zu tun hat, denn sie
hat sie weder gekannt noch abgelehnt, weder vorgeschrieben noch verboten (Ebert
und Hefny 2010, S. 93).

Obwohl im koranischen Text Könige und Königreiche diskutiert werden, wird


die politische Konstituierung der frühen islamischen Gemeinde nicht festgelegt.
Ferner werden in der Prophetentradition zwei Aussagen Muḥammads als authen-
tisch zitiert, die sehr verwirrend wirken, wenn man bedenkt, dass oft in der aktu-
ellen islamischen Debatte die Untrennbarkeit von Religion und Politik betont
wird. Muḥammad soll von Gott vor die Wahl gestellt worden sein, König oder
Diener werden zu wollen und er habe sich für letzteres entschieden (Ibn Ḥanbal
7160).2 So gab es zu keiner Zeit eine offizielle staatsamtliche Bezeichnung des
Propheten. Vielmehr betont Muḥammad „… ihr wisst zu Dingen eurer Welt bes-
ser Bescheid“ (Muslim15/116). Erst im Jahr 661 entstand mit den Umayyaden
in Damaskus die erste islamische Dynastie als Folge eines Bürgerkrieges und
vieler Krisen, die sich mit der Frage der rechtgeleiteten Führung der Gläubigen
auseinandersetzten. Nicht Medina oder Mekka sondern Damaskus, eine byzanti-
nische Verwaltungsstadt, war nun die Hauptstadt der ersten islamischen Dynastie.

2Der Hadith wurde in der Sammlung von al-Buḫārī, bei Muslim und bei Aḥmad Ibn Ḥanbal
(7160) überliefert.
130 M. Abou Taam

Die Umayyaden gaben sich den Titel „Statthalter Gottes“, während Mohammad
Diener und gesandter Gottes war.
Unter den Muslimen existierten seither verschiedene religiöse Auffassungen
über die Bedeutung des Staates und seiner Wirkungsrationalität. Oft findet
man in den Argumente eine staatsphilosophische Verknüpfung, wonach staat-
liche Ordnung eine Voraussetzung für die Erfüllung religiöser Pflichten sei.
Ein Blick in den Koran macht jedoch deutlich, dass sich die Offenbarung nicht
zu diesem Thema geäußert hat. An keiner Stelle des Korans wird eine islam-
konforme Staatsform beschrieben. Die Frage der staatlichen Organisation, des
Rechts und der Herrschaftskontinuität ist zwar erst mit dem Tod des Propheten
aktuell geworden, jedoch werden oft Bezüge auf das Wirken Muḥammads in
Jathrib genommen. Diese Stadt, die heute Medina (Stadt des Propheten) genannt
wird, dient als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Interpretationen des
Islam bezüglich seines Verhältnisses zur Staat und Herrschaft. Sowohl Ortho-
doxe, Modernisierer, als auch Islamisten beziehen sich auf die frühislamische
Geschichte, und insbesondere auf die Rolle des Propheten in Jathrib, um daraus
Argumente für ihre jeweilige Staatsauffassung abzuleiten (Tibi 1997).

Jathrib und das Wirken Muḥammads

Die sozialpolitische Situation auf der arabischen Halbinsel unmittelbar vor dem
Offenbarungsbeginn war geprägt von stammesorientierten Gemeinwesen, die
ihrerseits in kleineren Klans und Großfamilien unterteilt waren. Im Zentrum jener
patriarchalischen Struktur stand die Ehre, die unmittelbar mit der Blutrache ver-
bunden war. Während die Nomaden mit ihren Tieren in der Wüste von Oase zur
Oase umherzogen, betrieben die Stadtbewohner Handelskarawanen. Beduinische
Wegelagerer kontrollierten die Handelsrouten, sodass das Verhältnis zwischen
Nomaden und Städtern entsprechend von Raub- und Rachezügen bestimmt war.
Die Zugehörigkeit zu einem Stamm eröffnete Schutz und war Loyalitätsver-
pflichtung zugleich. Lebensentscheidend waren auch jene Allianzen zwischen den
Stämmen, die dazu beigetragen haben, dass trotz fehlender politischer Struktur
das soziale Gefüge stabil gehalten wurde.
In Mekka, also in der Geburtsstätte des Islams, lebte der Stamm der Quraischi-
ten, die Haschemiten bildeten eine Großfamilie innerhalb dieses Stammes, aus
der Mohammad hervorging. Sowohl die marokkanische als auch die jordanische
Königsfamilien berufen sich bis heute auf die Abstammung aus der haschemit-
ischen Familie und legitimieren ihre Macht durch das Verwandtschaftsverhältnis
zum Propheten Muḥammad.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 131

Die von Mohammad gepredigte Religion des Islam zog ihre revolutionäre
Kraft gerade daraus, das unverfälschte Alte zurückgebracht zu haben. Dabei ver-
folgt der Islam weder den jüdischen Traum von der Erlösung eines auserwählten
Volkes noch der christlichen Versprechung von der individuellen Erlösung durch
das Leiden Gottes. Auf eine undramatische Art und Weise wird die Beziehung
der Menschen zu Gott nüchtern und in vielen Teilen pragmatisch bestimmt. Gott
wird in einer strickt monotheistischen Perspektive als der absolute, transzendente
in einem alles übersteigenden Anderssein unmittelbar Wirkende interpretiert. Das
Grundanliegen des Islam besteht also in der Transzendenz des einen Gottes, des
Schöpfers von Himmel und Erde (Abou Taam und Sarhan 2016). Bald fand der
Prophet Anhänger unter den jüngeren Mekkanern vornehmer Familien und den
Sklaven. Bei den Stadtvätern Mekkas stieß er auf die Ablehnung. Diese hatten
Angst, dass der Stammessohn Muḥammad durch seinen propagierten Monotheis-
mus, die gesonderte Stellung der Pilgerstadt Mekka, als Handelsmetropole und
religiöses Zentrum gefährdet. Muḥammads Predigten hinterfragten den Götter-
kult und die Wallfahrtsfeste, die sich um das Heiligtum in Mekka konzentrierten
und den führenden Familien wirtschaftliche Vorteile brachten.
Die Quraischiten beschlossen, Muḥammad und seine Anhänger zu boy-
kottieren. Als Muḥammads Onkel Abū Ṭālib im Jahre 619 starb, steigerten die
Mekkaner den Druck auf Muḥammad, schließlich beschlossen sie ihn zu töten.
Daraufhin erlaubte er seinen Anhängern Mekka zu verlassen, um in Jathrib
Schutz zu finden. Schließlich folgte er ihnen im Jahre 622 nach Jathrib auf die
Aufforderung einiger Stämme hin, die einen Friedensrichter suchten. Jathrib
bekam später den Namen Medina (Die Stadt des Propheten). Diese Migration
wird Hidscha genannt und markiert den Beginn der islamischen Zeitrechnung.
Heilsgeschichtlich bedeutet diese Auswanderung einen Einschnitt zwischen Islam
und Ǧāhiliyya. Es ist die Überwindung des „Nicht-Wissen“ und „Nicht-Wahr-
nehmen“ der Zeichen des Schöpfers und somit eine Manifestation des Wan-
dels einer sozialen Situation, die durch die Realisierung einer neuen sozialen
Verfassung in Medina verfestigt werden sollte. Hierin sehen die islamischen
Gelehrten eine Parallele zur biblischen Geschichte Moses, die im Quran mit den
Worten wiedergegeben wird:

Und wahrlich, wir entsandten schon Moses mit unsern Zeichen (und sprachen zu ihm:)
Führe dein Volk aus den Finsternissen zum Licht und erinnere sie an die Tage Allahs’.
Siehe, hierin sind wahrlich Zeichen für alle Standhaften und Dankbaren (Sure14,5).

Muḥammad wurde in erster Linie von den Bewohnern Medinas als Schieds-
richter akzeptiert, um ihre Fehden zu schlichten. Diesbezüglich liefert die Charta
(ṣaḥīfa) von Medina einen Einblick in die pragmatisch begründete Abmachung
132 M. Abou Taam

zwischen Muḥammad und den Bewohnern der Stadt. Es entstand in Medina eine
politische Solidargemeinschaft (Umma). Muslime, heidnische und jüdische Clans
akzeptierten die richterliche Funktion von Muḥammad. In der ṣaḥīfa findet man
die Formulierung: „Immer wenn zwischen den Leuten dieser etwas geschieht
oder zwischen ihnen Streit entsteht, woraus Unheil zu befürchten ist, so ist dies
Gott und Mohammad, seinem Gesandten, vorzulegen.“ Diese Stellung des Pro-
pheten ist eine weitere Zäsur, die den Islam bis heute prägt, denn viele Muslime
interpretieren den räumlichen Bruch mit Mekka als Befreiung vom Unglauben.
Die neue Rolle des Propheten wird verstanden als die erste islamische Grund-
ordnung, in der der ehemals von seiner Heimatstadt verkannte und abgelehnte
Prophet zum Oberhaupt einer Gemeinde aufgestiegen ist (Tibi 2001).
Tatsächlich lassen sich auch im Offenbarungstext stellen finden, die diese Ver-
änderung der Rolle Muḥammads belegen. Während die predigten Muḥammads
in Mekka vor der Hidschra sich mit der Beziehung der Menschen zur Gott, der
Erwartung des Jüngsten Gerichtes, sowie mit Aufforderung zu sozialen Hand-
lungen beschäftigten, zeugen die Aussagen des Propheten in Medina von einer
praktisch orientierten Umsetzung der Botschaft innerhalb einer bestimmten
Sozialordnung. Auch sprachlich unterscheiden sich die beiden Phasen der Offen-
barung. Maßgeblich für diese Veränderung war die historische Notwendigkeit,
die sich aus dem Verhältnis des Propheten zum sozialen Komplex ergeben hat.
Für den größten Teil der Muslime sind diese Veränderung und ihre Rahmen-
bedingungen ein zentraler Bestandteil der Offenbarung, ohne die die Texte des
Korans kaum auslegbar sind. Obwohl oft das Wirken des Propheten in Medina
herangezogen wird, um eine islamische Herrschaftsordnung zu bestimmen, muss
man jedoch konstatieren, dass Muḥammad zu keiner Zeit eine Offizielle Amts-
bezeichnung innehatte. Er hat keine Dynastie begründet und schuf keinerlei
­staatlichen Strukturen.
Die Autorität Muḥammads lässt sich auf Koranverse zurückführen, wonach
die Gläubigen Gott und den Gesandten gehorchen sollten (Sure 4,80; Sure 5,92;
Sure 8,1 etc.), denn „[…] Vielleicht lasst ihr euch führen! Aus euch soll eine
Gemeinschaft derer entstehen, die zum Guten rufen, das Rechte gebieten und das
Verwerfliche untersagen“. In einem anderen Vers wird der Zirkel von Autoritäts-
trägern erweitert. In Sure 4 im Vers 59 heißt es, „O ihr, die ihr glaubt! Gehorcht
Allah und gehorcht dem Gesandten und denen, die Befehl unter euch haben“. Die
muslimischen Exegeten waren sich nie einig über die Interpretation des letzten
Teils dieses Verses. Wer sind diejenigen, die Befehl unter den Muslimen haben?
So sieht al-Ṭabari (839–923) darin die Grundlage einer islamischen Herrschaft
gelegt (Schakir 2000, S. 67 ff.). Andere Exegeten gehen jedoch davon aus, dass
sich hierbei um die Gefährten des Propheten handelt.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 133

Herrschaftskonzeptionen – zwischen Philosophie und


Theologie

Ein Blick in die politische Theorie bei islamischen Philosophen (Anawati 1959)
und Rechtsgelehrten macht deutlich, dass sie bei der Formulierung ihrer Theo-
reme in Bezug auf Herrschaft und Herrschaftslegitimation sehr beeinflusst waren
von den politischen und gesellschaftlichen Konstellationen, die ihre jeweilige Zeit
geprägt haben.
Islamische Philosophen wie al-Fārābīi (Walzer 1998), Averroes (Ibn Rušd
1956), Ibn Sīnā, Ibn Ḫaldūn sowie religiöse Gelehrte wie al-Māwardī, al-Ġazālī
und Ibn Taimiyya bieten die Basis der meisten islamisch begründeten Visionen
politischer Herrschaft der heutigen Zeit (Lipson 1993; Tibi 1993; Watt 1972).
Reformorientierte und sich der Demokratie verpflichtende Debatten beziehen sich
oft auf die Frühislamische Geschichte in Kombination mit den Ausführungen der
islamischen Philosophie. Währenddessen beziehen sich die Vertreter einer theo-
kratisch bestimmten Herrschaftsform auf die theologischen Ausarbeitungen in
Kombination mit einer staatszentrierten Lesart der frühislamischen Geschichte.
Mit anderen Worten prägen Diskurse und Debatten, die in der Zeit der Umay-
yaden- und der Abbasidendynastien vom 7. Jahrhundert bis zum 12. Jahrhundert
(Tibi 1997, S. 179–219) geführt worden sind, den aktuellen politischen Diskurs
(Tibi 1997, S. 363–384).
Ibn Ḫaldūn argumentiert, dass die grundlegenden Ursachen geschicht-
licher Entwicklung in den gesellschaftlichen und sozialen Strukturen gesucht
werden müssen (Talbi 1986; Sayah 2000). Er folgte dem Grundsatz, dass das
Beobachtbare Rückschlüsse auf den Wahrheitsgehalt gibt, während das, was
mit der Empirie nicht übereinstimmt, verworfen werden muss. Aufbauend auf
dieser Grundlage entwickelte er in seiner Muqaddima (Einführung in die Welt-
geschichte) (Rosenthal 1989) den Kreislauf vom Aufstieg und Zerfall der Zivi-
lisationen.3 Bezüglich des Staates, so beschreibt er die Integration politischer,
sozialer und wirtschaftlicher Faktoren als Grundlagen seiner Funktion. Für ihn
sind gute Finanzen und die Gewährung der öffentlichen Sicherheit eine unabding-
bare Voraussetzung für eine gute Regierungsführung. Ibn Ḫaldūn verlangt, dass

3Ibn Ḫaldūn schreibt im Bezug auf die im Rahmen seiner Muqaddima beabsichtigten Grün-
dung einer neuen Wissenschaft: „es ist dies gleichsam eine in sich selbständige Wissen-
schaft, denn sie hat ein Objekt, und das ist die menschliche Kultur und die menschliche
Gesellung; sie hat Frage(stellungen), und sie erklärt die Zustände, die mit dem Wesen (die-
ser Kultur) zusammenhängen, einen nach dem anderen. So ist es mit jeder Wissenschaft,
die sich auf eine Autorität oder den Verstand gründet.“ (Schimmel 1951, S. 11).
134 M. Abou Taam

die natürlichen Anlagen der Menschen respektiert werden und sie deswegen nicht
überfordert werden sollen.
Als Theoretiker stellt er fest, dass die Entwicklung von Herrschaft und Staa-
ten höchst unterschiedlich verlaufen kann. Je nachdem wie sich das politische
System gegenüber Wirtschaft, Religion sowie gesellschaftlichen Gruppen ver-
hält, kann dieses fortexistieren oder nicht. Er veranschaulicht dies anhand sei-
ner Abhandlung über die Auswirkung hoher Steuern und plädiert dafür, dass
diese als Voraussetzung für eine florierende Wirtschaft niedrig gehalten werden.
Ibn Ḫaldūn argumentierte, dass der Staat durch eine Kraft gehalten wird, die er
ʿasabiyya (Esprit de Corps) nennt. Demnach hängt der Zusammenhalt einer
Gesellschaft vom Wertebewusstsein einer Zivilisation, also von der auf ihrer
Weltanschauung aufbauenden Solidarität ab (Tibi 1993, S. 124). Auch für Ibn
Ḫaldūn unterstützt in diesem Sinne die Religion den Staatszusammenhalt ent-
scheidend. In seiner Abhandlung stellt er fest, dass der Staat fünf Phasen durch-
läuft (Schimmel 1951, S. 92 ff.):

• gemeinschaftlicher Sieg
• Konsolidierung der Macht
• Ruhm
• Zufriedenheit und Nachahmung
• Vergeudung und Verschwendung.

Je nachdem wie stark die ʿaṣabiyya ausgebildet ist, verhält es sich mit der Ver-
weichlichung der Menschen, davon hängen die Stärke der Staatsmacht ab und
somit ihre Fähigkeit Ordnung durchzusetzen und damit für Sicherheit zu sorgen.
Inspiriert von Platons Staat beschäftigte sich auch der islamische Philosoph Aver-
roes (Ibn Rušd) mit gesellschaftlichen Entwicklungen und der Bedeutung des
Staates (Ibn Rušd 1982; Ibn Rušd 1995).
Auch mit Bezug auf Platon billigt al-Fārābī in seiner Abhandlung al-madīna
al- fāḍila (al-Fārābī 1982) dem Herrscher die Abänderung von religiösen Geset-
zen zu. Hierbei distanzieren sich beide von der islamischen Vorstellung, wonach
die Legitimation der Herrschaft des Sultans auf der Grundlage einer meta-
physischen Weltvorstellung geschieht, wie dies beispielsweise al-Ġazālī tut. Die
islamischen Rationalisten „glauben nicht, dass das Kalifat authentisch religiös
islamisch ist“ (Tibi 1996, S. 83). Tatsächlich kennt die islamische Tradition in der
praktischen Herrschaftsausübung das istiḥsān als Methode des Herrschers welt-
liche Gesetze, die alleine auf seinem Willen beruhen, zu verabschieden, um auf
eine gesellschafts- oder machtpolitische Situation reagieren zu können. Derartige
Vorschriften „wurden zunächst gewöhnlich in die Scharia aufgenommen,
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 135

durch Vermittlung der Sunna oder auch auf Grund juristischer Überlegungen“
(Kummerer 1989, S. 112).
Das politische Erstarken der Rechtsgelehrten und die zunehmende Schwä-
chung der Philosophie seit der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts führten zur
Beendigung dieser Praxis, was sicherlich mit der zunehmenden Kodifizierung
der Sunna und Hadithe in Zusammenhang stand. Die Bedeutung der islamischen
Philosophen ergibt sich aus ihren stetigen Versuchen, einen auf Recht beruhenden
Staat zu entwerfen. Dabei bedienten Sie sich nicht ausschließlich genuin islami-
schen Quellen, vielmehr schufen sie eine Brücke zur griechischen Philosophie.
Dies taten sie als gläubige Muslime, die von der Existenz Gottes und der Prophe-
tie Muḥammads überzeugt waren. Der von ihnen entworfene Staat sollte sowohl
die von Gott gewollte gerechte Ordnung darstellen, als auch Platz für die geis-
tige Freiheit seiner Bewohner einräumen. Darin sahen sie keinen Widerspruch zur
Offenbarung.
Für al-Ġazālī (Marmura 2000) ist ein starker Sultan, der seine Herrschaft auf
dem quranischen Vers: „Gehorcht Gott und dem Propheten und denjenigen von
euch, welche die Macht besitzen“ (Koran 4:59) gründet, sehr zentral. Diese Koran-
stelle unterstreicht durchaus die Hierarchie von göttlicher Allmacht gegenüber
der Macht unter den Menschen. Wenn man bedenkt, dass Islam nicht nur „Hin-
gabe“ an Gott, sondern zugleich bedingungslose „Unterwerfung“ unter Seinen
Willen bedeutet, so hat der politische Führer die Aufgabe diesen Willen zu durch-
setzen. Entsprechend beruht al-Ġazālīīs Theorie auf der Annahme, dass die ideale
Gemeinschaft diejenige ist, die sich dem islamischen Herrscher unterordnet. Er
erklärt die Bedeutung des Verses „Gehorcht Gott und dem Propheten und den-
jenigen von euch, welche die Macht besitzen“ als Gehorsam gegenüber Gott, dem
Propheten und den Emiren, d. h. den faktischen Herrschern. Somit hat der Sultan
göttlichen Glanz, und ihm ist als dem Gotterwählten Gehorsam zu leisten.
Die erwähnte Koranstelle bildet auch für al-Māwardī die Grundlage zur
koranischen Herleitung des Kalifats und wird von den islamischen Gelehrte, ins-
besondere im Sunnitentum, herangezogen, um die Scharia als endgültige und
autoritative Rechtsquelle zu bestimmen. Die Wechselwirkung zwischen Politik
und Religion ergibt hierbei aus der Vorstellung, dass nur ein starker Sultan ein
Garant für die Durchsetzung der Scharia sein kann. Die Scharia steht im Mittel-
punkt, denn: „the obligation of the Shari‘ah is to provide the well-being of all
mankind, which lies in safeguarding their faith, their human self (nafs), their
intellect (‘aql), their progeny (nasl) and their wealth (mal)“ (Umer 2000, S. 118).
Ibn Taimiyya betont, dass irgendein Herrscher immer noch besser als Auf-
ruhr und Chaos sei. Selbst wenn die Herrschaft nicht religiös legitimiert sei, so
136 M. Abou Taam

sei diese notwendig zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Die Machtausübung


und die Unterordnung sind somit religiöse Pflichten, durch die der Mensch Gott
näher kommt (Hourani 1962, S. 3 ff.). Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass Ibn
Taimiyya eine säkulare Herrschaft akzeptieren würde, vielmehr gilt für ihn die
frühislamische Gemeinde als die ideale islamische Gemeinschaft. Die Muslime
müssen sich daran orientieren und ihren Staat entsprechend aufbauen, denn die
Verbindung von Religion und Staat ist dem Islam inne. Er begründet dies damit,
dass es ohne den Staat nicht möglich sei, die Normen der Religion durchzusetzen.
Damit hat der Staat für Ibn Taimiyya die Funktion, der Religion zum Sieg zu ver-
helfen, denn ohne Religion würden Tyrannei und Willkür die Oberhand gewin-
nen. Nur innerhalb eines solchen Staates ist es möglich, dass der von Natur aus
schwache Mensch dazu angehalten wird, den Gesetzen Gottes zu folgen. Hier
stehen erneut die Gesetze Gottes im Mittelpunkt (Laoust 1939). Ibn Taymiyyas
Schriften sind zentral für den islamischen Fundamentalismus.
Die moderne westliche Staatlichkeit basiert auf der Volkssouveränität, die
auch als Basis für die Gewährung von Sicherheit dient, während die islamischen
Gelehrten Gott als einziger absoluter Souverän durch seine Offenbarung die Scha-
ria als Grundlage der Staatlichkeit festlegte. Die westliche neuzeitliche Staatsphilo-
sophie begründet den Staat immer weltlich, während die islamische Philosophie
den Gottesbezug betont. Aus diesem Unterschied entstehen viele Schwierigkeiten
hinsichtlich der Kompatibilität westlicher Ideen mit dem islamischen politischen
Denken. Ist der souveräne Staat in der westlichen Ideengeschichte Träger und
Garant von Sicherheit, so ist die Erfüllung und Durchsetzung des Gesetzes Got-
tes die Hauptfunktion des islamischen Staates. Legitimiert sich die Staatsmacht im
Westen auf der Grundlage der Volkssouveränität, so ist in der islamischen Zivilisa-
tion Gott der einzige Souverän. Sein Wille muss geschehen, dies zu erfüllen ist die
Funktion des politischen Herrschers. Der Staat muss nach außen hin die Mission
vorantreiben, um das Wort Gottes und die Scharia zur Geltung zu bringen. Damit
ist der islamische Staat prinzipiell expansiv angelegt. Der Staat als souveräne poli-
tische Ordnungseinheit, die Wohlfahrt und gesellschaftlichen Frieden organisiert,
ist zwar der islamischen Philosophie nicht fremd, jedoch wurden seine Hauptver-
fechter isoliert. Der religiöse Diskurs gewann die Oberhand.

Der islamische Staat – eine aktuelle Debatte

Die Grundlage des islamischen Staates basiert auf dem universalistischen


Anspruch und der Absolutheit der göttlichen Wahrheit. Das impliziert, dass die
ḥākimiyya (Herrschaft) ausschließlich vom einzigen Souverän getragen wird,
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 137

sodass das Prinzip der ḥākimiyyat Allāh (Gottesherrschaft) (Quṭb 1988, S. 94 f.;
Maudūdī 1979, S. 4 ff.) eine der wichtigsten Säulen der islamischen Ordnung
darstellt. Hierin wird Gott als die einzige legitime rechtsetzende Instanz ver-
standen, in der er sich durch die Offenbarung und die darin beschriebenen
Gesetze für alle Zeiten geäußert hat. Diese Gesetze sind Bestandteil der Scharia.
Aus der Offenbarung sollen somit alle Rechtsprinzipien abgeleitet werden. Der
Muslim hat sich diesen unterzuordnen (Quṭb 1965, S. 150). Hier baut der poli-
tische Islam eine Brücke zum orthodoxen Islam auf, die sich in Bezug auf die
Einheit Gottes äußert, aus der jedoch ein politisches Konzept entwickelt wird,
das alle Bereiche des Lebens auf der Grundlage religiöser Regeln strukturiert und
bestimmt. Es handelt sich um eine Basis politischen Denkens, die sich gegen jeg-
liche menschlich-philosophisch anmutende politische Ordnung stellt, die Gott
nicht im Zentrum ihrer Gedanken hat. Der Islam ist genauso ein Widersacher
des Unglaubens, wie der politische Islam ein Widersacher der auf das Prinzip der
Volkssouveränität bauenden Demokratie ist, schrieb Sayyid Quṭb (1965, S. 12 f.).
Die Politisierung religiöser Inhalte vereinfacht die Strukturen gesellschaft-
licher Interaktionen und reduziert sie auf einen stetigen Kampf zwischen Gut
und Böse. Ein dichotomes Denkmuster entsteht, das uns immer wieder bei der
Analyse des Phänomens begegnet. Die Anhänger Gottes sind die Kämpfer für
das Gute und ordnen ihr Leben nach den von Gott geoffenbarten Regeln und
Gesetzen. Ihr einziger Souverän ist Gott. Die anderen, nämlich die Ungläubigen,
erkennen menschliche Gesetze an, die von irdischen Souveränen gemacht werden
(Maudūdī 1984, S. 5 ff.). Somit definiert der politische Islam ideologisch zwei
Entitäten: die Hizbollah/Partei Gottes, die aus den Anhängern der Einheit Got-
tes besteht und die Ḥizb al-shayṭāan (Partei des Teufels), die aus all denjenigen
besteht, die nicht getreu den Gottesgesetzen und Vorgaben leben. Dabei kann es
sich um Individuen, Kollektive oder gar politische Systeme handeln.

Staat und Herrschaft im politischen Islam –


die sunnitische Spielart

Als Maßstab für die Einordnung und Unterscheidung dient abstrakt der Glaube
an die Einheit Gottes, was sich in der Realität durch die Umsetzung von ver-
meintlichen Gottesgesetzen ausdrückt. Sowohl al-Bannā als auch al-Maudūdī
betonen die Unmöglichkeit der Koexistenz beider Entitäten in einem politischen
System, denn dies würde den göttlichen Auftrag der daʿwa (Mission) nicht nur
verhindern, vielmehr erschwere dies den Kampf gegen das Böse (Al-Bannā
1934, S. 269; Khomeini 1982, S. 122 f.). Dieser ist allerdings in Z ­eiten
138 M. Abou Taam

sich ausbreitender Ǧāhiliyya4 umso aktueller geworden, insbesondere weil die


beanspruchte Führungsrolle spätestens seit dem Zusammenbruch des Osma-
nischen Reiches und dem damit verbundenen Niedergang des Kalifats sichtlich
verloren gegangen ist (Quṭb 1952, S. 116). Aus den Ausführungen wird deutlich,
dass die Weltanschauung des politischen Islam eine dualistische Weltsicht dar-
stellt, die die menschliche Geschichte als einen permanenten Kampf zwischen
Gut und Böse interpretiert. Diese Weltanschauung ist jedoch keine Erfindung
der Islamisten, vielmehr betonen sie konsequent grundsätzliche Annahmen des
orthodoxen Islams. Sie politisieren diese Annahmen und machen sie zu absoluten
Leitlinien einer Ideologie.
Aus der Perspektive des politischen Islam gilt es mittelfristig, den National-
staat im Dschihad zu bekämpfen, um die wahre Trennungslinie zwischen Glau-
ben und Unglauben wiederherzustellen. Die geografische Grenze, die dem
Konzept des Nationalstaates innewohnt, wonach die Bevölkerung durch ethnische
oder ideologische Bindungen, Sprache, Institutionen und Werte wahrgenommen
wird, soll dem Islam fremd sein. Die Idee von der Nation ist nach islamistischer
Überzeugung eine zerstörerische und daher abzulehnende Ideologie. Weiter wird
angeführt, dass es sich hierbei um ein Werk von Ungläubigen handelt, die durch
die Zergliederung der muslimischen Umma in Völker und Stämme, das Ziel
verfolgten diese zu beherrschen. Denn, so wird argumentiert, als die Welle des
Nationalismus die Türken, Araber, Perser und andere Völker erreicht habe, wurde
die islamische Bindungskraft zugunsten jener Ideologie zerstört und die Muslime
geschwächt. Demzufolge richtet sich der Kampf gegen den Westen auch und ganz
besonders gegen den Nationalstaat.
Dabei wird die islamische Geschichte, in der seit dem Tode des Propheten
Muḥammad bis in die Gegenwart Kriege innerhalb des Islam, die die Rechts-
gelehrten mit fitna5 beschreiben, zu finden sind, ausgeblendet. Dem wird das
islamische Konzept der Umma/Gemeinschaft aller Muslime entgegengesetzt, das

4Zeit der „Unwissenheit“ = Die Zeit vor dem Islam.


5Tibi stellt fest, dass es im Islam vier unterschiedliche Bezeichnungen für kriegerische Aus-
einandersetzungen gibt. Der Dschihad, der, wie noch gezeigt wird, nicht, wie fälschlich
verbreitet „Heiliger Krieg“, sondern Anstrengung als Hingabe zu Gott bedeutet, schließt
jedoch auch die kriegerische Aufgabe zur Verbreitung des Islams ein. Vom Begriff „Dschi-
had“, den also nur Muslime führen, wird der Begriff ḥarb (Krieg) abgegrenzt. Das arabi-
sche Wort wird für die kriegerischen Handlungen, die die Feinde des Islams durchführen,
verwendet. Das im Koran aufgeführte Wort qitāl (Kampf) ist die Bezeichnung für den mili-
tärischen Teil des „Dschihad“. Für den nicht erlaubten innermuslimischen Konflikt, wird
dagegen der der Begriff fitna angewendet. Vgl. (Tibi 1997, S. 59 ff.; Sadiq 199).
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 139

seinerseits auf dem Einheitsprinzip fußt. Es ist eine weltanschauliche Bindung,


die in der ʿaqīda/Glaube6 begründet wird, die das Fundament des neuen islami-
schen Staates bildet. Die Grundlage dieses Staates ist nicht das säkulare Recht,
sondern das religiöse Gesetz (Juergensmeyer 1993, S. 40). In der theoretischen
Konstruktion gehört jeder, der sich zum „wahren Islam“ bekennt zum islami-
schen Staat. Alle Muslime sollen eine Solidargemeinschaft darstellen, die sich
Gottesrecht unterordnet. Damit entscheidet die religiöse Zugehörigkeit über den
rechtlichen Status der Menschen. Die rechtliche Gleichheit aller Bürger im Ver-
hältnis zum Staat und zu anderen Individuen, die den modernen Nationalstaat
kennzeichnet, wird hierbei komplett aufgehoben. Dies impliziert die Ablehnung
der Idee von der Volkssouveränität, die wichtigste Legitimationsbasis des moder-
nen Nationalstaates. Vertreter des politischen Islam aber auch weite Teile der isla-
mischen Orthodoxie lehnen dieses Prinzip kategorisch ab, mit der Begründung,
dass nur Gott der Souverän sein kann. Folglich werden Gesetze aus der Offen-
barung abgeleitet und durch die Scharia formuliert.
Was den Vertretern des politischen besonders beunruhigt, ist die ste-
tige Orientierung islamischer Gesellschaften an westlichen Lebensarten. So
beanstanden sie die Übernahme westlicher Wissenschaften, Wirtschaftsmodelle
und gar politischer Strukturen und behaupten, dass dies die Unterentwicklung
dieser Gesellschaften festigt (Al-Nadawi 1984, S. 260 f.). Dabei hätten die
Muslime die Aufgabe, die Menschheit zu retten und sich nicht in diese aktu-
ell vorherrschenden Systeme zu integrieren. Die vehemente Ablehnung welt-
licher „Politiken“ und die Bereitschaft das eigene Leben und die Umwelt nach
Gottesgesetzen zu organisieren bei gleichzeitigem Drang der Ausweitung dieser
Gesetze in Form von daʿwa (Mission) kennzeichnen den wahren Gläubigen und
beschreiben die Hauptfunktion eines islamischen Staates. Wobei jeder, der

Übel und Chaos effektiv von der Erde bannen will […] verschwendet seine Zeit
nutzlos, solange er sich auf bloßes Predigen beschränkt. Er sollte stattdessen auf-
stehen und alles tun, um die Regierung, die nach falschen Prinzipien handelt zu
Ende zu bringen, sollte die Macht aus den Händen der Übeltäter an sich reißen und
eine Regierung erstellen, die auf korrekten Prinzipien aufbaut und das richtige Sys-
tem befolgt (Maudūdī 1978, S. 187 f.).

6Zur ʿaqīda gehören die verinnerlichten Inhalte des Glaubens, in diesem Sinne muss ein
Muslim überzeugt sein, ohne Zweifel oder Bedenken. Zur Vertiefung vgl. Wahbat az-Zu-
haili (1992): al-tafsīr al-munīr fī al-ʿaqīda wa al-sharīʿa wa al-manhaǧ (Kurankommentar,
welcher die Aspekte der Glaubensinhalte, des islamischen Rechtes und der Herangehens-
weise beleuchtet), 32 Bände, Damaskus/Beirut.
140 M. Abou Taam

Diese „korrekten Prinzipien“ sind die religiösen Normen und Gesetze, die in der
Scharia beschrieben werden. Wer nicht danach strebt, ist ein kāfir (Ungläubiger),
der sich anmaßt, Gesetze schaffen zu können. Das steht jedoch nur Gott zu.
An dieser Stelle hebt sich die Salafiyya insofern von den Gedanken Maudūdīs
und Sayyid Quṭb ab, als dass sie es gemäß den oben zitierten Lehren von Ibn
Taimiyya für unislamisch halten, gegen die politische Autorität vorzugehen. Die
Salafiyya lehnt ebenfalls die Vorstellung ab, dass Menschen sich selbst Gesetze
geben können, denn sie seien nicht fähig, die langfristigen Auswirkungen solcher
Gesetze zu ermessen. Daher sollten sich Muslime am aṣl7 (Fundament) orien-
tieren, was durch die offenbarte Sharia seinen Ausdruck bekommen hat. Nur
dadurch können sie die Ǧāhiliyya von sich abwenden und ihre Unterentwicklung
überwinden. Die Mittel hierfür wurden im islamistischen Konzept ebenfalls durch
die göttliche Offenbarung bestimmt. So wird der Dschihad als eine vielfältige,
fast allumfassende, Möglichkeit interpretiert, die oben beschriebene Ǧāhiliyya zu
bekämpfen. Zentraler Gedanke hierbei ist, dass der Dschihad ein Wesensmerk-
mal des Islam ist und damit eine individuelle Pflicht darstellt. So ist der ǧihād fī
sabīl Allāh (Kampf für die Sache Gottes) eine moralisch-religiöse Verpflichtung,
der jeder Muslim nachzugehen hat (Ibn Taimiyya 1987, S. 128–135). Prinzipiell
stimmt dieser Gedanke mit den Vorstellungen der Orthodoxen überein, denn diese
sehen das Ziel des Dschihads in der Festigung des Anspruches Gottes auf Erden
und der Ablehnung und Bekämpfung anderer Gottheiten.
Bereits die islamische Orthodoxie interpretierte den Dschihad als eine farḍ
kifāya (kollektive Verpflichtung), die sich von den farḍ ʿayn (individuellen Ver-
pflichtungen) insofern unterscheidet, als die farḍ kifāya vom Kalifen/Herrscher
im Namen der ganzen Gemeinschaft auf sich genommen werden muss. Dadurch
wurde frühzeitig der Dschihad zum Mittel der Politik (Robinson 1996, S. 173).
Es soll nicht allgemein eine Gleichstellung des Dschihad-Begriffs in der Ortho-
doxie und in der Salafiyya impliziert werden, jedoch kann man trotz aller Dif-
ferenzierung und trotz Würdigung der tatsächlichen Vielfältigkeit des Islam in
seiner 14. Jahrhunderte langen Geschichte stets radikale Elemente entdecken, die
den Dschihad als einen eindeutigen Auftrag Gottes betrachten, für den Glauben
in den Kampf zu ziehen. Hierauf bauende Ideologien sind kein gänzlich neues
Phänomen. So sind die Ḫāriǧiten im siebten Jahrhundert, die Schriften von Ibn

7Eine weitere Selbstbezeichnung von Islamisten in der arabischen Sprache ist Uṣūliyūn,
was eine Ableitung vom arabischen Wort aṣl ist und „sich am Fundament orientierende“
bedeutet.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 141

­ aimiyya im dreizehnten Jahrhundert und die Wahhābiten-Bewegung im acht-


T
zehnten Jahrhundert als eindeutige Beispiele zu nennen.
Die Salafiyya als eine Sonderform des politischen Islam vertritt den Ansatz,
dass Muslime zu den Fundamenten des Islam, d. h. zum unverfälschten Islam,
wie ihn Muḥammad gelehrt hatte, zurückkehren müsse, wenn sie wieder erfolg-
reich sein wollten, wie ihre Vorfahren unter Mohammad und in der Frühzeit des
Islam. In Bezug auf die Staatsorganisation impliziert dies, dass wenn der Islam
die einzig wahre Religion ist, so muss auch das auf ihm basierende Ordnungs-
system das einzig wahre und folglich den anderen möglichen Modellen weit-
aus überlegene sein. Damit distanzieren sich Vertreter der Salafiyya Konsequent
von jeder nicht auf dem Islam basierenden politischen Grundordnung. So wer-
den wichtige Grundlagen der Demokratie als širk (Beigesellung) abgelehnt. Die
vornehmste Aufgabe der Herrschaft ist hierbei die Durchsetzung des göttlichen
Rechts und die Fortführung der daʿwa. Als moralische Orientierung und religiös
verpflichtende Vorgabe dient hierbei das Wirken des Propheten und die Organisa-
tion der jungen islamischen Gemeinde in Medina des 7. Jahrhunderts.

Der Staat im schiitischen Islam

Man kann auf der Ebene des politischen Islam in Sunnitentum feststellen, dass
sich bei den Ideologen vornehmlich um Laien handelt, die nicht der religiösen
ʿUlamāʾ-Kaste angehören. Dadurch, dass die Legitimität dieser Führer nicht auf
der Grundlage ihrer religiösen Autorität fußt, kommt es bei diesen Gruppen oft
zu Spaltungen und Neugründungen von Gruppen, die ideologisch gleich sind,
aber sich in ihrer Führungsstruktur erheblich unterscheiden und sich gegenseitig
bekämpfen. Dies ist im schiitischen politischen Islam anders. Die Führer und
Interpretern der fundamentalistischen Ideologien im Schiitentum sind fast aus-
schließlich religiöse Würdenträger. Damit verfügen sie über eine Autorität, die
gemäß schiitischen Traditionen von oben bis in die Basis wirken.
Nach dem Tode des Propheten spaltete sich die junge islamische Gemeinde.
Dabei ist die bedeutendste der sektiererisch-religiösen Spaltungen innerhalb
der islamischen Umma hinsichtlich Autorität und Legitimität die zwischen der
Doktrin des Kalifats im sunnitischen Islam und der des Imamats im schiitischen
Islam. Für die Schiiten gilt der Schwiegersohn des Propheten als rechtmäßiger
Nachfolger und damit erster Imam der islamischen Gemeinde. Die Reihe der
schiitischen Imame endete mit dem zwölften Imam, der 874 n. Chr. in die ġaiba
al-kubrā (große Verborgenheit) gegangen sein soll. Mit dem zwölften Imam
Muḥammad al-Mahdī verlor die schiitische Gemeinschaft ihren politischen und
142 M. Abou Taam

religiösen Führer. Damit existiert nach schiitischer Lehre seit dem 9. Jahrhundert
keine legitime Herrschaft mehr (Arjomand 2001, S. 301 ff.).
Erst im letzten Jahrhundert entwickelten die Gelehrten in Qom und Nad-
schaf durch Uminterpretationen eine neue ganzheitliche Lehre von Theologie,
Politik und Gesellschaft. Muḥammed Bāqir al-Ṣadr wollte durch den Ausbau
der Marǧaʿiyya8 den bereits vorhandenen marǧaʿa al-taqlīd (Quelle der Nach-
ahmung) mit mehr Befugnissen ausstatten. Dagegen spricht Khomeinis Lehre
von der welāyat-e faqīh (Stellvertreterschaft des obersten Rechtsgelehrten) den
Theologen eine Führungsrolle zu. Dabei wird dem bestqualifizierten Rechts-
gelehrten stellvertretend für den Mahdī die direkte Machtausübung gestattet
(Fenske 1993, S. 836). Den Klerikern werden Kompetenzen im politischen
Bereich zugesprochen, die in der bisherigen Lehre als Prärequisiten des Imams
galten. Damit schwächt Khomeini die traditionelle Rolle des unfehlbaren Mahdi,
der als schiitischer „Messias“ und Endzeitherrscher einst das gerechte Reich Got-
tes gründen wird. Der oberste Rechtsgelehrte soll nach der neuen Lehre stellver-
tretend für den Mahdi die Herrschaft ausüben und seine „gerechte Ordnung […]
errichten, welche die Durchführung des göttlichen Rechts ermögliche“ (Rosiny
1996, S. 86). Durch die Delegierung von politischen Aufgaben und die Schaf-
fung einer staatstragenden Theorie reformierte Khomeini die schiitische Lehre
zugunsten der Theologen, denn die welāyat-e faqīh bildet innerhalb des Doktri-
nengebäudes der Schia eine Innovation.
Mit ihr hat Khomeini die schiitische Theologie revolutioniert, da er mit der
bis dato vom hochrangigen schiitischen Klerus geübten Praxis der Abstinenz in
politischen Fragen brach (Buchta 2004, S. 7). Er ebnete den Weg für eine schiiti-
sche Theokratie, die die Scharia als Grundlage ihrer Herrschaft haben soll. Durch
die neue Interpretation der schiitischen Tradition schuf Khomeini eine politische
Brücke zwischen Sunniten und Schiiten. Die Lehre der welāyat-e faqīh bildet
die Grundlage für das iranische System seit der islamischen Revolution (Razi
1990, S. 69 ff.), die prinzipiell so angelegt ist, dass ihr Export auf dem Wege der
Durchsetzung islamistischer Ideologien impliziert ist. (Tibi 1999, S. 63 ff.) Damit
strahlt die iranische Revolution gewollt vom System in Teheran auf andere Regio-
nen mit schiitischen Bevölkerungsmehrheiten aus (Shapira 1988, S. 115–130).

8Die Quelle der Nachahmung bildet, bei den Schiiten die Spitze der theologischen Hier-

archie. Es können mehrere Theologen gleichzeitig den Rang der Marja´iya erlangen. Um
diesen Rang zu erhalten, muss er eine theologische Abhandlung (risāla ʿamaliyya) ver-
öffentlichen, die in den theologischen Zentren in Qom und Nadschaf diskutiert wird.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 143

Islamischer Staat und Demokratie

In Bezug auf die Demokratie als Ergebnis der Volkssouveränität konstatiert


Maudūdī, dass die Demokratie mit dem Islam nichts zu tun hat. „Daher darf die
Bezeichnung demokratisch nicht auf ein islamisches System angewendet wer-
den, vielmehr sollte man von der ḥākimiyyat Allāh (Gottesherrschaft) sprechen“
(Maudūdī 1985, S. 33). Im Gedankenkonstrukt von Maudūdī kann man feststellen,
dass die Scharia die Grundlage der Herrschaft ist, jedoch dort, wo sowohl die
Offenbarung als auch die Tradition keine Reglementierung vorweisen, können auf
der Grundlage von iǧmāʿ (Konsens) Gesetze verabschiedet werden. Dieser Sach-
verhalt wird oft von Beobachtern, als Ansatz von Demokratie bewertet (Esposito
und Voll 1996, S. 40 f.). Dies ist allerdings eine falsche Einschätzung, weil es sich
hier um einen Konsens unter den Rechtsgelehrten handelt. Auch wenn man das
islamische Prinzip der šūrā (Rat) hinzuzieht, kann man keineswegs von demo-
kratischen Grundstrukturen sprechen. Die šūrā ist lediglich eine eher beratende als
eine gesetzgebende Institution (Al-Shawi 1992, S. 459) und bedeutet nicht Parla-
ment im westlichen Sinne. Gott alleine hat das Recht zu gebieten und zu verbieten.
In der shūrā als einer traditionellen Herrschaftspraxis werden islamische Vor-
läufer der Demokratie gesehen, die Tibi zu Recht als eine „Projektion der Idee einer
modernen Demokratie auf den Islam des 7. Jahrhunderts“ bewertet (Tibi 1992,
S. 155). Der sudanesische Rechtswissenschaftler An-Na´im teilt diese Einschätzung
und stellt fest, dass die Scharia-Bestimmungen nicht nur in Bezug auf den Schutz
von Minderheiten unvereinbar mit gültigem Völkerrecht sind, und sieht lediglich
in der grundlegenden Reformierung des islamischen Rechts eine Möglichkeit zur
Demokratisierung islamischer Gesellschaften (An-Na´im 1992, S. 177 f.). Maudūdī,
einer der wichtigsten Ideologen des Islamismus, betont nicht nur die Unvereinbar-
keit von Islam und Demokratie, er spricht in seinem Werk polemisierend von einer
„Theo-Demokratie“, als Alternative zum westlich-säkularen Modell, in der die
Gemeinschaft aller Gläubigen zum kollektiven Statthalter Gottes auf Erden wir-
ken soll (Maudūdī 1967 S. 147 f.). Sein Konzept impliziert jedoch den Verzicht des
Einzelnen zugunsten einer herrschenden Elite, die ihrerseits den Willen Gottes voll-
streckt. Hier sieht man einen eindeutigen Bezug zur Orthodoxie, die im Endeffekt
eine Entsubjektivierung der Menschen normativ festschreibt, denn „[D]ie Menschen
sind die Diener Gottes, die Herrscher vertreten Gott bei seinen Geschöpfen, und sie
sind Ermächtigte über diese selbst“ (Ibn Taimiyya 1987, S. 25). Dabei handelt es
sich natürlich nicht um eine Theokratie, wie sie das Christentum kennt, sondern:

…[I]slamic theocracy is something altogether different from the theocracy of which


Europe has had bitter experience wherein a priestly class, sharply marked off from
144 M. Abou Taam

the rest of the population, exercises unchecked domination and enforces laws of its
own making in the name of God (Maudūdī 1967, S. 147).

Der islamische Staat soll unter der absoluten Souveränität Gottes regiert werden
(Maudūdī 1967, S. 178). In einem solchen System erhalten Nicht-Muslime nur einen
nachgeordneten Status. Das wird damit begründet, dass die staatstragende Ideologie
der Islam sei. Dies impliziert, dass nur wer sich zum Islam bekennt, bei der Organi-
sation des Staates involviert werden kann. Hier kommt die oben beschriebene Wahr-
nehmung der Welt in zwei sich entgegengesetzten Polen erneut zum Ausdruck.

Politische Theorien jenseits des islamistischen Projektes

Šādiq Ǧalāl al-ʿAẓm, Mohammed Arkoun, Muḥammad ʿAbid al-Ǧābrī und


Naṣr Ḥāmid Abū Zaid stehen in einer Reihe von Denkern, die angetreten sind,
um islamisches Denken und Moderne zu versöhnen. Dabei unterscheiden sich
Ihre Ansätze. Während sich al-ʿAẓm dezidiert nicht als islamischer Denker ver-
steht und deutlich die Trennung von Religion und Politik fordert, waren Arkoun
und Abū Zaid bemüht, die klassischen islamischen Quellen, mit dem Ziel eine
Modernisierung innerhalb des Islam herbeizuführen, zeitgemäß auszulegen. Naṣr
Ḥāmid Abū Zaid sieht wie eine Reihe anderer muslimischer Intellektueller in der
Anknüpfung an die Muʿtazila die Möglichkeit, die koranischen Texte „modern“
zu lesen (Shamsuddin 2012, S. 21 ff.).
Bei der Muʿtazila handelt es sich um eine rationalistische Schule des Islam,
die im 8. und 9. Jahrhundert einflussreich war. Die Anhänger nutzten Verstand
und Vernunft als Grundlage für den Umgang mit der göttlichen Offenbarung
und prägten den Islam lange Zeit. Sie lasen die religiösen Texte mit der Brille
der griechischen Philosophie unter Anwendung der Scholastik als wissenschaft-
liche Denkweise und Methode der Beweisführung. Ihre vernunftgebundene Inter-
pretation des Korans in seinem historischen, kulturellen und sprachlichen Kontext
bietet heutigen Reformern die Möglichkeit den Koran in seinem zeitgeschicht-
lichen Kontext zu interpretieren und damit von den Zwängen vergangener
Auslegungen zu lösen. Diese versuche islamischer Reformer erschöpfen sich
allerdings darin, ehemalige islamischer Debatten wiederzubeleben. Diese Debat-
ten wurden jedoch bereits vor Jahrhunderten zugunsten einer traditionellen, text-
orientierten Lesart des Koran entschieden.
Trotz der wertvollen Vorlagen der islamischen Philosophen sind in den ver-
gangenen Jahrhunderten kaum tiefergehende Werke entstanden, die eine
umfassende islamische Gesellschaftslehre beschreiben und sich gegen die Ortho-
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 145

doxie oder gar den Diskurs des politischen Islam durchsetzen konnten. Das fin-
det bei al-ʿAẓm Bestätigung. Al-ʿAẓm geht zwar davon aus, dass die Aufklärung
auch im islamisch geprägten Raum ihren Lauf finden wird. Er schöpft daraus
Hoffnung, dass „[I]n der muslimischen Welt […] der de-facto-Säkularismus sehr
verbreitet; vor allem in der arabischen Welt. Aber man hat nie eine säkulare Ideo-
logie entwickelt, oder säkulare Parteien, mit eindeutig weltlichen Programmen,
basierend auf einer Trennung von Staat und Religion“ (Sabra 2004). Ausschlag-
gebend für die Modernisierung ist jedoch die Definition und Deutungsmacht über
Quellen, „weil die Religion auch heute noch die doktrinäre Basis muslimischer
Gesellschaften ist […]“ (al-ʿAẓm 2008). Allerdings konnten sich, so al-ʿAẓm,
„die modernen Lesarten des Korans und der islamischen Basistexte, die deren
Aussagen durch eine symbolische, metaphorische oder historische Interpretation
auflösen wollten, bisher nicht durchsetzen“ (al-ʿAẓm 2008).
Al-Ǧābrī in seinem Werk „Kritik der arabischen Vernunft“ ein unabhängiges
politisches Feld. Seine Forderung nach der „Säkularisierung des Denkens“ impli-
ziert somit die Trennung der Politik von den Bereichen Theologie, Philosophie,
Recht und Geschichte. Dabei kritisiert er heftig, dass innerhalb der islamischen
Zivilisation durch die dominante Rolle der religiösen Gelehrten und ihrer tradi-
tionell engen Verzahnung mit der politischen Macht die Grundlage für eine von
der Religion unabhängigen Vernunft zerstört wurde. Das islamische denken
bezieht damit alle Bereiche, auch die politischen, auf die Offenbarung und sucht
in der Methode des Analogieschlusses einen Ausweg zu finden, wenn die Offen-
barung sich nicht konkret zu einem Sachverhalt äußert. Die Tatsache, dass die
Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Theologie spätestens im 13. Jahr-
hundert zugunsten letzterer entschieden wurde, führte schließlich dazu, dass seit-
her nicht die Produktion neuer Diskurse die islamische Kultur bestimmt, sondern
die Reproduktion alter Gedanken (al-Ǧābrī 2009, S. 45 ff.). Diese radikale Kritik
al-Ǧābrīs mündet in seiner klaren Forderung, wonach nur durch die Trennung von
Religion und Politik die Manifestation einer lebensfähigen Diskurskultur erfolgt,
die die Muslime in die moderne führen könnte. Al-Ǧābrī betont die Heterogenität
der arabischen Geschichte als Referenzpunkt, um seine Forderung nach Plurali-
sierung und Demokratisierung zu untermauern.

Fazit

Im Diskurs über Islam und Herrschaft ist es wichtig Begriffe mit Inhalt zu fül-
len. Wenn vom Staat gesprochen wird, wird oft das westliche Staatsverständnis
als Basis zugrunde gelegt. Es ist jedoch so, dass in der islamischen Zivilisation
146 M. Abou Taam

der Staat theoretisch eine andere Funktion erfüllt als der westliche Staat. Durch
die Expansion der Europäer wurde der moderne Staat auch in die islamische Welt
getragen. Die ihm zugrunde liegenden Ideen wurden dort jedoch nicht verinner-
licht. Politische Ideen entspringen einer vorherrschenden Weltanschauung. Der
Nationalstaat, der auf dem Prinzip der Volkssouveränität basiert, ist von diesem
Grundsatz her mit dem Islam in seiner orthodoxen Form nicht vereinbar. Nach
islamischem Glauben kommt weder dem einzelnen Menschen noch einer poli-
tischen Gruppe Souveränität zu. Der einzige Souverän ist Gott. Auch wenn der
Koran keine konkrete Staatsform definiert, wurde aus den religiösen Quellen
durch die islamischen Gelehrten spätestens mit der Manifestation der Umayya-
dendynastie eine Herrschaftsform abgeleitet, die bis heute das religiöse Denken
prägt und die Grundlage eines islamischen Staatsverständnisses darstellt.
Die Autorität des Kalifen gründet auf der uneingeschränkten Souveränität
Gottes. Der Kalif leitet die Umma und ist gleichzeitig Stellvertreter des Prophe-
ten. Das Verhältnis des Herrscher zu seiner Bevölkerung wird entlang religiö-
ser Kategorien definiert: Er ist Hirte und kann Gehorsam und Unterordnung
abverlangen. Dies zu leisten ist wiederum Gottesdienst. Die islamische Ortho-
doxie kennt das Konzept der Bürgerschaft nicht und bestimmt das Verhältnis
des Individuums zum Staat entlang seiner Religionszugehörigkeit. Das von den
Islamisten erneut angestrebte Kalifat mit seinem universalen Anspruch leitet sich
hiervon ab. Der heutige Islamismus entwirft eine Gegengesellschaft, die sich am
Kalifat der Periode der rechtgeleiteten Kalifen orientiert, in der Religion und
Politik in vollem Einklang zueinander stehen.
In der Auseinandersetzung zwischen Philosophen und aṣḥāb al-ḥadīṯ (Tradi-
tionarier) obsiegten letztere. Ihr schärfster Vertreter Ibn Hanbal propagierte vor-
wurfsvoll im 9. Jahrhundert als Reaktion auf die Philosophie der Muʿtazila, sie
würde dem Verstand Vorrang gegenüber der Tradition geben. Diese Vernunft-
feindlichkeit in Bezug auf die Auslegung des Korans und das starre und weitest-
gehend unkritische Festhalten an der Tradition prägen auch heute das islamische
Denken und die religiöse Praxis. Ibn Ḥanbal lehnte die Kultur der Mehrdeutig-
keit ab. Bis heute haben sich innerhalb der islamischen Theologie kaum Stimmen
durchgesetzt, die dem erfolgreich entgegentreten können. Die Rückkopplung an
die goldene Zeit der islamischen Philosophie scheint auf dem ersten Blick erfolg
versprechend zu sein, jedoch sind zeitgenössische Vertreter eher eine kleine
Gruppe. Die Mehrheit der muslimischen politischen Elite fordert eher eine engere
Orientierung an den Quellen des Islams gemäß orthodoxer Auslegung bei der
Gestaltung des politischen. Eine säkulare politische Ordnung im politischen Dis-
kurs islamischer Eliten ist kaum vorhanden.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 147

Die Islam-Diaspora durchläuft in den meisten westlichen Gesellschaften einen


Konsolidierungsprozess. Die Menschen sind dabei, sich in der sie umgebenden
Gesellschaft zu positionieren. Diese Prozesse beeinflussen sich gegenseitig und
werden von den lokalen, regionalen und globalen Ereignissen massiv gelenkt.
Geprägt sind Muslime von einer islamischen Weltanschauung oder zumindest
einer den Werten des Islam entsprungenen Erziehung. Heute können wir
beobachten, dass sowohl die Mehrheitsgesellschaft als auch die muslimischen
Migranten in Krisenzeiten überfordert sind. Zwischen der westlichen und der isla-
mischen Weltanschauung gibt es große Unterschiede, die handfeste Wertekonflikte
produzieren. Diese nehmen heute die Form eines weltanschaulichen Zusammen-
pralls an. Diese kann im Extremfall zur kompletten Entkoppelung der Muslime von
der europäischen Mehrheitsgesellschaft führen (Vgl. hierzu Tibi 2018).
Das stört natürlich den inneren Frieden, denn Feindbilder und Verschwörungs-
theorien gewinnen an Bedeutung, während die innergesellschaftliche Solidarität
schwindet. Aus der Perspektive der Gesellschaftspolitik stellt sich hier die Frage,
wie sich Aufnahmegesellschaft und Muslime in Bezug auf die liberale Demo-
kratie des Grundgesetzes positionieren. Die eleganteste Lösung ist, dass sich
langfristig auch innerhalb der Islam-Community das Säkularisierungskonzept
durchsetzt. Damit ist verbunden, dass sich ein Selbstbild des Muslims als ver-
nünftiges autonomes Wesen konsolidiert, das sich die Regeln selbst gibt und
reflektiert, jenseits absolutistischer klerikaler Zwänge. Die Loslösung von tradier-
ten Weltbildern, die heute die Grundlage der dschihadistischen Weltanschauung
darstellen, ist die Grundlage eines europäischen Islams, der sich mit den Werten
Europas vereinbaren lässt. Diese Transformation muss innerhalb des Islams statt-
finden und europäische Werte enthalten, die islamisch begründet sind (Tibi 2006,
S. 210 f.). Die reformerische Interpretation des Islam, die ihn mit Europa ver-
bindet, basiert auf den Werten:

• Trennung von Religion und Politik


• Demokratie
• Menschenrechte
• religiöser und kultureller Pluralismus
• Zivilgesellschaft.
148 M. Abou Taam

Literatur

Abou Taam, Marwan, und Aladdin Sarhan. 2016. Vom Islam zum „Islamischen Staat“:
Muslime zwischen Religion und Ideologie. Erfurt: Landeszentrale für Politische Bildung
Thüringen.
Al-Bannā, Ḥasan. 1934. al-Maʾṯūrāt. Kuwait: al-Zarqa.
al-Fārābī, Abū Naṣr. 1982. al-Madina al-fadila (der Musterstaat). Beirut: Dar al-Masriq.
Al-Ghazālī [al-Ġazālī], Abū Hāmid Muḥammad. 2000. The incoherence of the philo-
sophers. Übers.: von Michael E. Marmura. Provo: Brigham Young University Press.
Al Jabri, Mohammad Abed. 2009. Kritik der arabischen Vernunft. Berlin: Perlen.
Al-Nadawī, A. ʿAlī. 1984. Māḏā ḫasira al-ʿālam bi-inḥiṭāṭ al-Islām? (Was verlor die Welt
mit dem Untergang des Islam?). Beirut: Dar al-Qalam.
Al-Šāwī, Ṭaufīq. 1992. fiqh al-šūrā wa-l-istišāra (Jurisprudenz der Beratung und des Rat-
schlages). Kairo: Dar al-Wafa li-l-tibaa wa-l-nasr.
Al-Ṭabarī, Abū Ǧaʿfar Muḥammad. 2000. Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āyāt al-qurʾān
(Sammlung von Erläuterungen zur Interpretation der Koranverse), Hrsg. und kommen-
tiert von Aḥmad Muḥammad Šākir. Beirut: Dar Hagar.
Al-Zuḥailī, Wahba. 1992. al-Tafsīr al-munīr fi al-ʿaqīda wa al-šarīʿa wa-l-manhaǧ [Koran-
kommentar, welcher die Aspekte der Glaubensinhalte, des islamischen Rechtes und der
Herangehensweise beleuchtet], Bd. 32. Damaskus und Beirut: Dar al-Fikr.
An-Na´im, Abdullah. 1992. Toward an Islamic reformation: Civil liberties, human rights,
and international law. Kairo: American University in Cairo Press.
Anawati, Marie-Marcel. 1959. Philosophie médiévale en terre d’Islam. Kairo: Dar
al-Maarif.
Arjomand, Said Amir. 2001. Authority in Shiism, and Constitutional Developments in the
Islamic Republic of Iran. In The twelver shia in modern times: Religious culture & poli-
tical history, Hrsg. Rainer Brunner und Werner Ende, 301–332. Leiden: Brill.
Averroes [Ibn Rušd]. 1956. Commentary on Plato’s Republic. Übers.: von Erwin Rosen-
thal. Cambridge: Cambridge University Press.
Buchta, Wilfried. 2004. Ein Vierteljahrhundert Islamische Republik Iran. Aus Politik und
Zeitgeschichte, B9: 6–17.
Bull, Hedley, und Adam Watson. 1985. The expansion of international society. Oxford:
Clarendon Press.
Chapra, M. Umer. 2000. The future of economics: An Islamic perspective. Leicester: Isla-
mic Foundation.
Ebert, Hans-Georg, und Assem Hefny. 2010. Der Islam und die Grundlagen der
Herrschaft, Übersetzung und Kommentar des Werkes von Ali Abd ar-Raziq. Frankfurt a.
M.: Lang.
Esposito, John L., Tamara Sonn, und John O. Voll. 1996. Islam and democracy. New York:
Oxford University Press.
Fenske, Hans. 1993. Politisches Denken im 20. Jahrhundert. In Politische Theorien von der
Antike bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Hrsg. Hans-Joachim Lieber. Bonn: Bundeszentrale
für Politische Bildung.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 149

Graf, Friedrich Wilhelm. 2004. Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kul-
tur. München: Beck.
Hourani, Albert. 1962. Arabic thought in the liberal age, 1798–1939. Cambridge:
Cambridge University Press.
Ibn Rušd. 1982. Tahäfut al-tahäfut [Destructio destructionis]. 2. Aufl. Beirut: Dar al-Mas-
riq.
Ibn Rušd. 1995. Kitāb faṣl al-maqāl wa-taqrīr mā bayna l-šarīʿa wa-l-ḥikma min al-ittiṣāl
[Buch über die Beziehung zwischen Schari´a und Philosophie], 2. Aufl. Beirut: Dar
al-Masriq.
Ibn Taimiyya, Taqiyyaddīn A. 1987. al-siyāsa al-šarʿiyya fi-iṣlāḥ al-rāʿī wa-l-r aʿiyya (Die
an der Scharia orientierte Politik für die Leitung des Hirten und seiner Schafherde).
Neudruck Beirut: Dar al-Ufuq al-Gadida.
Juergensmeyer, Mark. 1993. The new cold war? Religious nationalism confronts the secu-
lar state. Delhi: Oxford University Press.
Khomeini, Ruhollah Musawi. 1982. al-ḥukūma al-islāmiyya [Die islamische Herrschaft].
Beirut: o. A.
Kummerer, Christian. 1989. Der Fürst als Gesetzgeber in den lateinischen Übersetzungen
von Averroes. Ebelsbach: Gremer.
Laoust, Henri. 1939. Essai sur les doctrines sociales et politiques de Taki-al-Din Ahmad b.
Taimiya. Kairo: Le Caire Imprimerie de l’Inst. Français d’Archéol. orient.
Lipson, Leslie. 1983. The ethical crises of civilization. London: Sage.
Maudūdī, Abul A’la. 1967. The Islamic law and constitution. Lahore: Islamic Publ.
Maudūdī, Abul A’la. 1978. Wāqiʿ al-muslimīn wa-sabīl al-nuhūḍ bihim, 3. Aufl. Beirut:
o.A.
Maudūdī, Abul A’la. 1979. A short history of revivalist movement in Islam. Lahore: Islamic
Publ.
Maudūdī, Abul A’la. 1984. Der Islam: Eine geschichtliche Perspektive. Lützelbach: Haus
des Islam.
Maudūdī, Abul A’la. 1985. Political theory of Islam. Lahore: Islamic Publ.
Quṭb, Sayyid. 1952. Maʿrakat al-Islām wa-l-raʾsmaliyya [Der Kampf zwischen Islam und
Kapitalismus]. Kairo: Dar al-Suruq.
Quṭb, Sayyid. 1965. al-mustaqbal li-hāḏā al-dīn [Die Zukunft ist für diese Religion], 2.
Aufl. Kairo: Dar al-Suruq.
Quṭb, Sayyid. 1988. Maʿālim fi l-ṭarīq [Wegzeichen], 4. Aufl. Beirut: Dar al-Suruq.
Razi, G. Hossein. 1990. Legitimacy, religion, and nationalism in the Middle East. Ameri-
can Political Science Review 84: 69–91.
Robinson, Francis. (Hrsg.) 1996. Cambridge illustrated history: Islamic world. Cambridge:
Cambridge University Press.
Rosenthal, Franz. (Hrsg.) 1989. Ibn-Khaldun’s Muqaddima. Princeton: Princeton Uni-
versity Press.
Rosiny, Stephan. 1996. Islamismus bei den Schiiten im Libanon: Religion im Übergang von
Tradition zur Moderne. Hamburg: Klaus Schwarz.
150 M. Abou Taam

Sabra, Martina. 2004. Würdigung dreier Persönlichkeiten der islamischen Welt. http://
de.qantara.de/Wuerdigung-dreier-Persoenlichkeiten-der-islamischen-Welt/3123c3217
i1p396/. Zugegriffen: 10. Mai 2018.
Sadik Jalal al-Azm. 2008. Der Kampf um die Bedeutung des Islam: Perspektiven auf den
radikalen Islamismus. Qantara.de, 05.12. https://de.qantara.de/inhalt/perspektiven-auf-
den-radikalen-islamismus-der-kampf-um-die-bedeutung-des-islam-0. Zugegriffen: 22.
Apr. 2019.
Sayah, Jamil. 2000. Philosophie politique de l´islam. L´idée de l´Etat, de Ibn Khaldoun á
aujourd´hui. La Ferté-Saint-Aubin: L’Atelier de l’Archer.
Schimmel, Annemarie. 1951. Ibn Khaldun. Ausgewählte Abschnitte aus der Muqaddima.
Tübingen: J.C.B. Mohr.
Shamsuddin, Salaḥuddin. 2012. Issue of „The created Qurʾān“ between Muʿtazila and Naṣr
ʾAbu Zayd. British Journal of Humanities and Social Sciences 6 (1): 21–33, June.
Shapira, Shimon. 1988. The Origins of Hizballah. The jerusalem quarterly 46 (Spring):
115–130.
Talbi, M. 1986. Ibn Khaldun. In The Encyclopaedia of Islam. 2. Aufl., Bd. III, Leiden:
Brill.
Tibi, Bassam. 1992. Die islamistische herausforderung. Der Islam und die weltpolitik.
Darmstadt: Primus.
Tibi, Bassam. 1993. Politisches Denken im klassischen und mittelalterlichen Islam zwi-
schen Religio-Jurisprudenz (Fiqh) und hellenisierter Philosophie (Falsafa). Pipers
Handbuch der politischen Ideen 2:87–140.
Tibi, Bassam. 1996. Das arabische Staatensystem. Ein regionales Subsystem der Welt-
politik. Mannheim: B.I.-Taschenbuchverl.
Tibi, Bassam. 1997. Der wahre Imam. Der Islam von Mohamed bis zur Gegenwart. 2. Aufl.
München: Piper.
Tibi, Bassam. 1999. The failed export of the Islamic revolution into the Arab World. In
Islamisme et sécurité: l´islam politique et le monde occidental = Islamism and secu-
rity: Political Islam and the Western World, Hrsg. F. Grare, 63–101. Genf: Programme
for Strategic and International Security Studies-Graduate Institute of International Stu-
dies.
Tibi, Bassam. 2001. Einladung in die islamische Geschichte. Darmstadt.
Tibi, Bassam. 2002. Leitkultur als Wertekonsens, Bilanz einer missglückten deutschen
Debatte in Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ). https://www.bpb.de/apuz/26535/
leitkultur-als-wertekonsens?p=all. Zugegriffen: 10. Okt. 2018.
Tibi, Bassam. 2002a. Muslim Migrants in Europe: Between Euro-Islam and Ghettoization.
In Muslim Europe or Euro-Islam, Hrsg. Al Sayyad, Nezar und Castells, Manuel. New
York.
Tibi, Bassam. 2002b. „Habermas and the Return of the Sacred“. Religion, Staat und Gesell-
schaft 3 (2): 265–296.
Tibi, Bassam. 2006. Europeanizing Islam or the Islamization of Europe: political democra-
cyvs. Cultural difference. In Religion in anexpanding Europe, Hrsg. Katzenstein, Peter
J. und Byrnes Timothy A. Cambridge.
Islam in Europa: zwischen Reformen und Konfrontation 151

Tibi, Bassam. 2018. Islamische Zuwanderung und ihre Folgen. Der neue Antisemitismus,
Sicherheit und die neuen Deutschen. Stuttgart.
Watt, William Montgomery. 1972. The Influence of Islam on medieval Europe. Edinburgh:
Edinburgh University Press.
Teil III
Reformation und die Geschlechterfrage
Das Dilemma der religiösen
Modernisierung

Amal Grami

Es hat zahlreiche Ansätze gegeben, das zeitgenössische religiöse Denken einer


Kritik zu unterziehen, wie es auch Aufrufe gegeben hat, diese auf den dringend
notwendigen Wandel der arabischen und islamischen Gesellschaften in politi-
scher, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht hin zu gestalten.
(Mohammed Arkoun, Naṣr Ḥāmid Abū Zaid, Ṣādiq Ǧalāl al-ʿAẓm, Muḥammad
ʿĀbid al-Ǧābrī, Fouad Zakariyya et al.) In den vergangenen Jahren hat dies noch
einmal zugenommen. Vor allem, seitdem die Organisation des sogenannten Isla-
mischen Staates aufgetreten ist, hat es Versuche gegeben, die Hindernisse für eine
Modernisierung des religiösen Denkens ausfindig zu machen, sowie Wege zu fin-
den, das religiöse Wissen von seinen Fesseln zu befreien.1
Weil eine Anzahl von Forschern, die die islamische Welt an der Schwelle zur
Moderne sehen, dem religiösen Diskurs der Gelehrten, Propagandisten und ande-
ren aktiven Gefolgsleuten der religiösen Institutionen weiterhin kritisch gegen-
überstehen, glauben wir, dass ein Studium der Gründe dafür, warum die Versuche
einer religiösen Reform gescheitert sind, mehr als nur einen Zugang voraussetzt
und vielmehr danach ruft, verschiedene Ansätze und Annäherungen zu verfolgen.

1Hier sei z. B. verwiesen auf ʿAbdalmaǧīd al-Šarafī, Revolution, Moderne, Islam [Arab.],
Tunis 2011 (rez. von Kulṯūm al-Saʿafī); Saʿīd Nāšīd, Die Moderne und der Koran [Arab.],
Tunis und Beirut [2.] 2016 (der Verfasser besteht darauf, dass der Koran ein Diskurs auf-
richtiger Anbetung ist); Nabīl ʿAbdalfattāḥ, Die Erneuerung des religiösen Denkens [Arab.],
o. O. 2016; Aḥmad Zāyid, Die Stimme des Imams: Der religiöse Diskurs vom Kontext zur
Wahrnehmung [Arab.], Kairo 2017.

A. Grami (*)
University of Manouba, Tunis, Tunesien

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 155
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_9
156 A. Grami

Dementsprechend wollen wir den Fokus oder Blickwinkel auf die Problematik
einer Erneuerung des religiösen Denkens verschieben, weswegen wir die Schrif-
ten einiger Theoretiker des Dschihad2 herangezogen haben, um der Frage nach
einer Modernisierung des religiösen Denkens auf den Grund zu gehen. Daher
haben wir uns darangemacht, den Diskurs der dschihadistischen Gruppierun-
gen in der Öffentlichkeit zu beobachten, um so die Problematik der religiösen
Modernisierung in Augenschein zu nehmen: Wie gehen die Vordenker der dschi-
hadistischen Strömungen mit der Frage nach der Modernisierung des religiö-
sen Denkens um? Haben die Vordenker dieser Gruppierungen, angefangen von
Al-Qaida bis zum sogenannten Islamischen Staat, die Thematik überhaupt einer
Erörterung für wert befunden oder gilt sie ihnen als läppisch oder bedeutungslos?

Zur Methodik

Hierbei geht es uns um die Ideologiekritik und insbesondere die der dschihadis-
tischen Ideologien. Unseren Untersuchungsgegenstand bilden eine Anzahl dschi-
hadistischer Schriften, die eine ideologische Vereinnahmung der religiösen Texte
reflektieren, indem sie darauf aus sind, Koran, Hadith und Fiqh auf die Doktrin des
Dschihad zu reduzieren. Wir setzen voraus, dass diese Schriften in ihrer taktischen
Art, ihrer provokativen Sprache und ihrem emotionsgeladenen Stil Gemeinsamkeiten
aufweisen, ohne dabei wesentlich von der in der Protestliteratur üblichen Methodik
abzuweichen, deren Zielgruppe besonders die Jugendlichen sind. Diese rufen sie
dazu auf, am Dschihad teilzunehmen und sich auf das Märtyrertum vorzubereiten.

2Insbesondere haben wir folgende Literatur verwendet: Abū Ǧandal al-Azadī (alias Fāris

al-Zahrānī), Die Aufwiegelung der heldenhaften Mujahideen zur Wiederbelebung des Atten-
tats, http://www.rihanapress.com/index.php/ar/bibliotheque/407-2014-07-02-14-48-53.html
[Zugegriffen: 07.Aug.2017]. Abū Anas al-Ṭāʾifī, Ein Tor zum Paradies [Arab.], https://
www.alkutubcafe.com/book/CjNrB1.html (datiert 25.03.423 n.H.); al-Ḥāfiẓ b. Ḥaǧar, Das
Wiehern der Pferde bei der Erläuterung des Buches vom Dschihad angesichts des bevor-
stehenden Ziels [Arab.], erläutert von Scheich ʿAbdarraḥīm Murād b. al-Šāfiʿī, veröff.
25. Rajab 1424 n.H. (21.09.2003) https://www.almeshkat.net/book/1400 [Zugegriffen:
12.Aug.2017]; ʿAlī al-Ḫuḍair, Eine Mitteilung an die Modernisten: Aus der Einleitung
der Erläuterung des Unglaubens (kufr) derer, die den Amerikanern beistehen: Von Scheich
Nāṣir al-Fahd [Arab.], 12.08.2012, https://archive.org/details/1232012-08-12 (Abruf
25.07.2017); Scheich ʿAbdullāh ʿAzzām, Die Hinlenkung der Gläubigen zu den Vor-
zügen des Dschihad [Arab.], https://archive.org/details/2.ithaf [Zugegriffen: 13.Juli.2017];
Muḥhammad b. Saʿīd al-Qaḥṭānī, „al-walāʾ wa-l-barāʾ “im Islam [Arab.], Riyadh 2014,
https://islamhouse.com/ar/books/468544/ (Abruf 17.04.2018).
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 157

In Kenntnis des Forschungsstandes, soweit es um die Analyse der vorherrschenden


Geistesstrukturen unter den Theoretikern dschihadistischer Gruppierungen und ihrer
Anhänger geht, behaupten wir, dass vorliegender Aufsatz sich von der Behandlung
dieses Themas in Hinsicht auf Methodik und Blickwinkel unterscheidet.
Der Mehrwert, den wir erzielen wollen, zeigt sich erstens in der Erstellung
eines Samples dschihadistischer Literatur, um die Position der dschihadistischen
Ideologie, sei sie offen oder verdeckt, gegenüber der religiösen Modernisierung
und der Art ihrer Repräsentation von Moderne zu verorten, wobei wir davon
ausgehen, dass dieses Thema zu selten die Aufmerksamkeit der Forscher unter-
schiedlichster Denkrichtungen gefunden hat; und zweitens in der Verbindung
der dschihadistischen Ideologie mit der Männlichkeitsideologie. Indem wir ver-
schiedene Ansätze aus den Men Studies/Masculinity Studies einbeziehen, wollen
wir versuchen, eine neue Lesart dessen anzubieten, was die Theoretiker dschi-
hadistischer Gruppierungen in Bezug auf religiöse Modernisierung vertreten.

Die Modernisierung des religiösen Denkens und das


Problem des Verstehens

Wenn Ideologie theoretisch auf einer anderen Realität gründet (Al-ʿArūyi 1973,
S. 181), dann ist es nicht verwunderlich, dass die Reform des religiösen Fel-
des, die Erneuerung oder Modernisierung des religiösen Diskurses oder die
Restrukturierung und Entwicklung der religiösen Institutionen in der dschihadis-
tischen Literatur keinen dauerhaften Gegenstand darstellen, weil solche Pub-
likationen nicht an der Gegenwart interessiert sind. Sie meißeln Konturen einer
Zukunft, die allein ihr Interesse an einer Vergegenwärtigung der Vergangen-
heit wie auch an dem widerspiegeln, was sie als Erfolgserlebnisse begreifen,
als es den Muslimen gelungen war, fremde Heerlager zu erobern und den
Thron der „Ungläubigen“ zu zerstören. In dieser Sichtweise steht der Dschi-
had im Mittelpunkt und wird es zur Obsession seiner Vordenker, sich Verse aus
dem Gründungstext herauszupicken, die zum Dschihad und zum Kampf (qitāl)3
drängen, um so eine Kultur des Todes und des Hasses zu propagieren. Schon
seit der Zeit der salaf4 gibt es Beispiele dafür. Geschichte wird als eine Abfolge

3Dschihad (ǧihād) und qitāl werden gemeinhin als Synonyme verstanden. (Anm. d. Ü.).
4salaf
= Altvordere, gemeint sind al-salaf al-ṣāliḥ, d.h. die ersten drei Generationen der
Anhänger des Propheten Muhammad, die als besonders vorbildlich und tugendhaft gelten.
(Anm. d. Ü.).
158 A. Grami

von Schlachten dargestellt, in denen die Muslime Heldentaten vollbracht haben,


sodass die Wiederherstellung der Texte im Lichte einer dringenden pragmatischen
Notwendigkeit erfolgt, um den Zustand der eigenen Schwäche und Fragmentie-
rung zu überwinden. Sich auf die Verse zu berufen, die auf den Kampf hindeuten,
ist dabei nur ein Mittel, die Zuflucht zur Gewalt zu legitimieren, um damit den
erwünschten Wandel herbeizuführen, der sich in der Errichtung des islamischen
Staates manifestiert.
Damit wird deutlich, dass jemand, der ein solches politisches Projekt ver-
anschlagt, weder die Zeit noch den Willen oder den Wunsch hat, über Wege der
Modernisierung nachzusinnen; vielmehr besteht für ihn das Wichtigste darin, den
Koran und die Hadithe sowie einige Aussprüche der Salaf auswendig zu lernen
und die selektive und wortwörtliche Lesart der religiösen Texte zu festigen. Dazu
sagte Abū Murād al-Šāfiʿī: „Wisse, dass die beste Wissenschaft die des Mono-
theismus (tauḥīd) ist; darum musst du dir die Schriften der Salaf aneignen und
sollst Nutzen aus ihnen ziehen, indem du dich in sie vertiefst“ (Šāfiʿī 2003, S. 3).
Der Prozess der Selektion und Vereinnahmung führte zur Abschaffung des fiqh
al-iḫtilāf5 und zur Marginalisierung von Vielfalt in der Koranauslegung zugunsten
einer Hegemonie der monolithischen Lesart sowie der unkritisch-dogmatischen
Deutung.
Aus der Sicht derer, die an die Überlieferung und Befolgung wie auch an
die Sakralisierung des religiösen Erbes glauben, sowie derer, die Ibn Taimiyya,
Ibn al-Qayyim, Ibn Ḥanbal und andere Rechtsgelehrte zu zentralen Persönlich-
keiten machen und die Predigten von ʿAbdalʿzīz b. Bāz, Nāṣir al-Dīn al-Albānī,
ʿAbdallāh ʿAzzām, Ayman al-Ẓawāhirī, Usāma b. Lādin, ʿUmar ʿAbdalḥakīm,
genannt Abū Muṣʿab al-Sūrī, Abū Bakr Nāǧī u. a. auswendig lernen, gibt es kei-
nen Spielraum, um nach den Pfaden einer Modernisierung des religiösen Den-
kens oder einer Erneuerung des religiösen Diskurses zu suchen.
Solange der Koran in der Wahrnehmung der dschihadistischen Führerschaften
die „Verfassung der Muslime“ und ein Reservoir von Gesetzesvorschriften dar-
stellt, das Lösungen für sämtliche Aspekte des Lebens bereithält, bleibt nur die
Rückkehr zum Gesetz Gottes und die Anwendung seiner Gebote. Somit ist die
Suche nach Modernisierungsvorhaben ausgeschlossen, weil es Erlösung nur in
der Rückkehr zur Ausführung der göttlichen Gebote geben kann. Solange die
„Gelehrten“ zur Anwendung des göttlichen Rechts drängen, gelten Gehorsam
und Loyalität nur diesen Errettern. Eine solche Wahrnehmung offenbart eine

5Rechtswissenschaft, die Differenz zulässt. (Anm. des Ü.).


Das Dilemma der religiösen Modernisierung 159

rückwärtsgewandte Sicht auf die Zeit, indem sie die Muslime an eine Vergangen-
heit bindet, die ihre Gegenwart und Zukunft verschlingt und die den Wert auf
den Horizont ihres eigenen Denkens legt, womit sie zur Kreativität im Denken
unfähig werden, außer wenn es darum geht, sich in Imitation, Nachahmung und
Befolgung zu üben, um die Erfüllung der Glaubensgrundlagen sicherzustellen.
In den Augen der Dschihadisten ist das Denken an die Religion gebunden,
sodass, wenn die Religion unveränderlich ist und nicht entwicklungsfähig, es für
den Hadith keinen Spielraum zur Modernisierung des religiösen Denkens geben
kann. Somit gibt es keine Distanz zwischen dem Subjekt und dem Objekt, die es
noch erlauben würde, Dinge zu analysieren, zu untersuchen und zu überprüfen.
Da die Dschihadisten nur die Existenz einer einzigen Autorität anerkennen, näm-
lich die der Salaf, sehen sie keinen Bedarf, sich eine neue Autorität zuzulegen,
indem sie neuartige Konzepte hervorbringen und Begriffe bilden, Alternativen
und Lösungen anbieten oder unterschiedliche Methodiken bereitstellen. Alles
Neugeschaffene ist nur bidʿa6 und jede bidʿa führt in die Irre.
Diese Sichtweise spiegelt die Sinnlosigkeit der historischen Dimension wider
und damit das Narrativ der Salaf und des Autoritarismus, wonach die forma-
tive Epoche und die Entschlossenheit, dem ausgetretenen Pfad zu folgen, keine
Abweichung erlauben und nur noch die Möglichkeit übrig lassen, das Ursprüng-
liche nachzuahmen, ohne den Rahmen dessen zu verlassen, den die Alten
definiert haben. Hier wird das Ausmaß klar, mit dem die Vorreiter des dschihadis-
tischen Diskurses auf der intellektuellen Abschottung in allen Fragen der Diffe-
renz bestanden, wobei sie ihn einhegten und Differenz nur in den Abteilungen der
Rechtswissenschaft zuließen. Diese völlige Gewissheit erlaubt keinerlei Möglich-
keit zur Reflexion, Kritik, Revision oder Modifikation.
Allerdings ist nach unserer Auffassung die Absicherung der Literatur
einer Anzahl von Salaf, die eine begrenzte Sichtweise auf die Welt und einen
bestimmten Kontext widerspiegelt, nichts als ein Versuch, die Tatsache zu ver-
schleiern, dass die dschihadistischen Führungspersönlichkeiten unfähig sind, mit
den kognitiven Transformationen Schritt zu halten und das zu verinnerlichen, was
die Moderne an Wissenschaften, Methoden und Ansätzen etabliert hat, die ihrer-
seits den menschlichen Blick auf sich selbst, den anderen und das Universum ver-
ändert haben. Der Unterschied zwischen den „Dschihadisten“ und denjenigen, die
Projekte einer Modernisierung des islamischen Denkens verfolgen, liegt nicht in
unterschiedlichen Lösungswegen für das, was die islamischen Gesellschaften an

6bidʿa = unerlaubte Neuerung. (Anm. des. Ü.).


160 A. Grami

Krisen befallen hat, sondern in der Differenz, die zwischen der Bereitschaft zum
angewandten Wissen und der zugeschriebenen Autorität des Wissens zutage tritt.7
Während die „Aufklärer“ versuchen, verschiedene Methoden und Paradigmen
anzuwenden, über Lösungen für Probleme der lebendigen Realität nachzu-
denken und die Abhängigkeit von einem schematischen Fiqh aufzubrechen, um
auf die Bedürfnisse ihrer Zeitgenossen einzugehen, sind die „Dschihadisten“ ent-
schlossen, die Probleme, die die wechselhafte Realität aufwirft, zu ignorieren,
und alte Probleme als Vorbereitung auf den Dschihad zu hervorzuholen, z. B. die
Familie um Erlaubnis zu bitten, Geld zu sammeln und Kriegsbeute zu verteilen
etc. Dies wird von jedem erwartet, der sich von seinen Altersgenossen abwendet,
die Isolation wählt und sein Denkvermögen ausschaltet, das ihm erlaubt hätte,
Dinge neu zu bewerten, zu modifizieren und von alten Positionen abzurücken.
Das religiöse Denken besteht in der Sicht der Vordenker der dschihadistischen
Ideologie darin, die früheren Generationen nachzuahmen, sie zurückzugewinnen
und heraufzubeschwören, wie auch das wiederzubeleben, was die Gelehrten der
Sultane bewegt hat und was die „Verwestlichten“, die „Pseudointellektuellen“
und die „Modernisten“ an Diskursen verdammen, die ihnen als Aufstachelung
zur Gewalt erscheinen, zumal die Vordenker selber sie als Aufwiegelung zur
Machtergreifung betrachten. Die Texte des Dschihad stärken die Entschlossenheit,
bringen den Glauben der Muslime an sich selbst zurück und ermöglichen ihnen,
in die großen Schlachten einzugreifen. So äußert al-Azadī (2017, S. 25) über den
Umgang mit den Büchern des Fiqh: „Wir entnehmen ihnen einige Rechtsgrund-
sätze, den die Gelehrten der Salaf in ihren grossen Rechtsbüchern entwickelt
und die die meisten Studenten der Koranwissenschaften heute aufgegeben haben
… wie auch die Frage des Ausschlusses von Fragen, über deren Zulässigkeit
niemand einen Dissens mit den Salaf der Gemeinde (umma) hat“ (Šāfiʿī 2003,
S. 2). Demgegenüber sehen die „Aufklärer“ in dieser dschihadistischen Literatur
eine Verherrlichung von Hass und dahin gehend einen Aufruf zur Tötung ande-
rer Menschen, dass der Kampf gegen die Ungläubigen fundamental, die Knech-
tung von Frauen notwendig und die islamischen Minderheitenregelungen (aḥkām
al-ḏimma) in einem Zeitalter, in dem die Ressourcen der Umma geplündert wer-
den und die Ehre der Muslime verletzt wird, Pflicht sei.

7Wer sich mit der dschihadistischen Literatur befasst, wird die Dominanz bestimmter
Bücher bemerken, darunter das Buch des Dschihad [Arab.] von Ibn al-Mubārak (gest. 181
n.H.), Das Vorbild des Eroberers [Arab.] von Abū Zamanain (gest. 399 n.H.), sowie die
Fatwas von Ibn Taimiyya.
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 161

Diese dschihdistischen Diskurse mit ihrer geschlossenen Struktur weisen auf


eine funktionale Wahrnehmung der Moderne hin. Der Gebrauch von Technologie
und modernen Kommunikationsmitteln ist erlaubt, weil diese in den Dienst der
Ideologie und der Mächtigkeit der Muslime gestellt werden. Was die Moderni-
sierung im Sinne eines Appells zur Schaffung eines kritischen Verstandes und
Begründung eines Systems von Werten wie Gleichheit, Freiheit und Würde etc.
auf staatsbürgerlicher Grundlage betrifft, so ist davon keine Rede. Der Gebrauch
moderner Methoden (wie Strukturalismus und Dekonstruktionismus) zur Analyse
von religiösen Texten und die Dekonstruktion althergebrachter mentaler Struktu-
ren gilt nur als Beweis für das Ausmaß der Verwestlichung und dafür, wie sehr
die Intellektuellen dem Dienst am kolonialen Projekt verfallen sind.
In dieser Darstellung erscheint die Moderne ihres Kontextes beraubt, durch
die sie geschichtlich herausragt, und wird stattdessen zu etwas Isoliertem, da die
„Dschihadisten“ sich nur für das interessieren, was die westliche Moderne an
materiellen Errungenschaften hervorgebracht hat und was sie selbst in die Lage
versetzt, ihre Ziele zu erreichen. Zugleich präsentieren sie ihre Gedanken inner-
halb des Horizontes, in dem sich die Moderne bewegt. Wenn die Modernisierung
ein Appell an die Benutzung des kritischen Verstandes ist, eine Verpflichtung
zur Verhältnismäßigkeit, zur Vielfalt an Meinungen und Ansichten, zur Wert-
schätzung von Differenz und zur Verankerung kognitiver und gesellschaftlicher
Beziehungen, die auf gegenseitigem Respekt beruhen, sowie zum Dialog und zur
Partnerschaft, dann basiert der dschihadistische Diskurs auf Beharrung, Über-
lieferung, Wiederholung und Pflicht zur Anleitung. Auf dieser Grundlage wird die
Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen nach den Werten des Gehorsams
und der Unterwürfigkeit unter alle diejenigen beurteilt, die – gemäß der hierarchi-
schen Abfolge, in der der Kalif der Muslime den ersten Platz einnimmt, gefolgt
von den Prinzen, dann von den Führern und den Gelehrten der Umma – als
„Erben der Propheten“ gelten.
Bemerkenswert an dieser Sichtweise ist, dass sie die althergebrachte gesellschaft-
liche Struktur konserviert, in der sich die einzelnen Gruppen einer pyramiden-
förmigen Hierarchie unterwerfen. Wer Einblick in die dschihadistische Literatur
nimmt, wird zu dem Schluss kommen, dass die Lektüre der religiösen Texte zum
Ziel hat, diese Hierarchie zu begründen und die Werte des Gehorsams, des gegen-
seitigen Vertrauens und der Unterordnung unter eine zentrale, transzendente, legi-
time und heilige Autorität zu festigen. Niemand ist in der Lage, die Entscheidungen
eines Kalifen der Muslime zu hinterfragen, sich den Anweisungen der Prinzen ent-
gegenzustellen oder die Gedanken der Vordenker zu kritisieren, sodass die Über-
legenheit der Führungsschicht garantiert, ihre Autorität gesichert und eine neue
Knechtschaft installiert wird.
162 A. Grami

Es ist klar, dass auf diese Texte nur deshalb zurückgegriffen wird, um dem
politischen Projekt der Theoretiker des Dschihad Legitimation zu verschaffen,
nicht aber, um sich in ihre inneren Strukturen zu vertiefen, ihre Bestandteile oder
historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte zu verstehen. Vielleicht
ist der Grund für diesen Umgang darauf zurückzuführen, dass die meisten Führer
eine solide Ausbildung vermissen lassen. Mehrheitlich sind sie keine Absolventen
renommierter religiöser Lehranstalten wie beispielsweise der Azhar-Universität in
Kairo oder der theologischen Seminare der Schia (hauzas), sondern kommen aus
spezifisch technischen Berufen wie der Medizin, dem Maschinenbau u. ä. Zudem
haben sie Schwierigkeiten, sich mit dem Zeitalter und dem Denken der Moderne
zu arrangieren, das in der allgemeinen Sicht auf die Religion und in der Ana-
lyse der Realität die rationalistische Methode zum bestimmenden Faktor macht.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Modernität, die einen zum Verteidiger der
Kultur der Emanzipation werden lässt und auf rationales Verstehen setzt, in den
Köpfen der meisten Konservativen gar nicht vorhanden ist. Weil diese sich am
religiösen Erbe festklammern, haben nur wenige die Herde verlassen, darunter
Muḥammad Iqbāl und ʿAlī Šarīʿatī.

Die Modernisierung des religiösen Denkens: Der fremde


Newcomer und das neue Kolonialismusprojekt

Die Modernisierung hat sich als ein neues Kolonialprojekt herausgestellt, als eine
intellektuelle Invasion und eine Form von Unterstützung der Ungläubigen, aber
auch als ein Marker der Nicht-Muslime in Wort und Tat. Wer für die Notwendig-
keit einer Modernisierung des religiösen Denkens plädiert, wird als verwest-
licht, abtrünnig, Agent oder Verräter und überhaupt in jeder erdenklichen Weise
charakterisiert, die darauf abzielt, Feinde zu produzieren und dem Anderen seine
Qualitäten abzusprechen, bis es gerechtfertigt ist, ihn zu beseitigen. Einzig zu dem
Zweck, den Geist der Kreativität zu beseitigen und Denkversuche zu unterbinden,
wird Krieg gegen Initiativen zu einer religiösen Reform und eine Modernisierung
des religiösen Diskurses sowie der religiösen Erziehung geschürt, weil es im reli-
giösen Denken keinen Spielraum für Reflexion gibt, solange die Texte für alle Zei-
ten und an allen Orten gültig sind und solange der Maßstab für die Ereignisse, die
Ibn Taimiyya (gest. 1328) oder Ibn al-Naḥḥās (gest. 1411) u. a. erlebt haben, auch
an die Krisen angelegt wird, die die islamische Umma von heute durchmacht.
Die Struktur des dschihadistischen Diskurses basiert daher auf der Angst: Der
Angst vor dem Verlust der Identität und der religiösen Eigentümlichkeit, sowie
der Angst vor Werten, die in die islamischen Gesellschaften eingesickert sind und
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 163

die die Frauen dazu gebracht haben, Gleichberechtigung zu fordern und sich auf
eine Weise zu benehmen, die die männliche Vormundschaft und Vorherrschaft
über die Frauen herausfordert usw. Folglich greift dieser Diskurs auf Gewalt
zurück, um sein Ziel zu erreichen: auf die Gewalt der Sprache und die Gewalt
der (Koran-)Deutung, und verwendet einen militärischen Wortschatz, sodass das
dschihadistische Projekt im Gewand eines Widerstandsprojektes auftritt. Denn in
den Augen der Dschihadisten ist die Moderne mit dem Kolonialismus verbunden.
Legitimation und Glaubwürdigkeit bei den Massen verschafft den islamisti-
schen und dschihadistischen Diskurses alles, was im Gewand des Widerstands-
kämpfers auftritt. Denn dieser Diskurs verbirgt seine Feindschaft gegenüber
allem Neuem einschließlich den modernen Wissenschaften und gibt sich als
Widerstandskämpfer gegen die koloniale Intervention, die Hegemonie, die impe-
riale Invasion und Brutalität aus. In den Augen der dschihadistischen Anführer
waren es diese externen Faktoren, die die Muslime daran gehindert haben, ihren
Ruhm wiederherzustellen, sodass nur durch die Kraft der dschihadistischen Tat
Abhilfe schaffen kann, nicht die Modernisierung. Ein solcher Opferdiskurs
widerspricht dem, was die „Aufklärer“ an Erklärungen für die Rückständigkeit
der Muslime geliefert haben, sodass in den Augen mancher Intellektueller der
Niedergang ein Resultat der Hegemonie westlichen Denkens, des Aberglaubens,
der populären Mythen, der Schwäche des Erziehungssystems, des Analphabeten-
tums usw. darstellt.
Wenn wir der unerschütterlichen Überzeugung Aufmerksamkeit schenken, mit
dem die Vordenker des Dschihadismus dem Islam die Totalität in allen Aspekten
des Lebens zuerkennen, dann wird uns klar, warum die Literatur, die die Zentralität
des Dschihad betont, so sehr auf die Salaf hin orientiert ist, denn diese bekräftigen
die engen Verbindungen zwischen Religion und Staat, um den Kampf gegen die
(inneren) Feinde abzuschließen, Niederlagen zu überwinden, und gegen den
Imperialismus und die westliche Invasion vorzugehen. Es ist klar, dass das reli-
giös-dschihadistische Denken sich im Kontext von Texten bewegt, die dem politi-
schen Projekt dienen, das sich in der Errichtung des religiösen Staates manifestiert,
der dann für die Durchsetzung der Scharia-Bestimmungen verantwortlich ist.
Die Vordenker der dschihadistischen Gruppierungen stellen sich vor, dass die
Umsetzung all der Verse im Buch Gottes, die zum Kampf drängen, es den Musli-
men erlaubt, den Imperialismus und Zionismus zu beseitigen, um dadurch Stabili-
tät herzustellen. In den Augen der Vordenker des Dschihad wird sich das Leben
der Muslime erst dann verbessern, wenn sie den Anderen beseitigen, da es keinen
Spielraum für Koexistenz und Toleranz zwischen den Konfliktparteien gibt. Ent-
weder man beugt sich dem, was als Wahrheit und Gerechtigkeit wahrgenommen
wird und fügt anderen den Tod zu, oder akzeptiert den göttlichen Willen und fällt
164 A. Grami

selbst der Vernichtung anheim. So sagt al-Azadī (2017, S. 25) über den Westen:
„Warum soll es uns verwehrt sein, sie zu töten, zu bombardieren, anzugreifen
und umzubringen, bis wir in etwa die Zahl unserer Opfer erreichen? Lasst sie uns
wegen Bush, Blair und Sharon töten, so wie diese die unseren wegen diesem und
jenem getötet haben. Denn wir müssen qualitativ gleichziehen, sodass sie getötet
werden, wie sie töten, und angegriffen werden, wie sie angreifen.“
Die USA sind nach dieser Sichtweise eine ignorante Macht und ein großer
Götze (ṭāġūt), wie Ayman al-Ẓawāhirī8 sagt: „Wir können den Konflikt mit dem
äusseren Feind nicht aufschieben. Die Allianz aus Juden und Kreuzrittern wird
uns nur solange zurückhalten, wie wir den inneren Feind noch nicht besiegt
haben; dann rufen wir den Dschihad gegen ihn aus“.9 Nachdem die USA der
Hauptfeind in den Augen all jener geworden waren, die sich als „Ritter unter dem
Banner des Propheten“ betrachteten, da wurde auch Europa zu einem erbitterten
Feind und einsame Wölfe fühlten sich angespornt, einzusickern, Menschen zu
misshandeln, zu terrorisieren und die Welt von den „Franken“ zu heilen. Al-Šāfiʿī
sagt: „Alles, was die Ungläubigen ärgert, ängstigt und einschüchtert, ist Teil
der Kraft, auf die sich vorzubereiten wir angeordnet haben. Dazu gehören auch
die Märtyreroperationen, besonders in einer Zeit, da die Feinde wüten und sie
Unterstützung von den Herrschenden erhalten, um in einer neuen Variante des
Kolonialismus Krieg gegen den Islam zu führen und die islamischen Länder zu
besetzen“ (Šāfiʿī 2003, S. 71).
Diese Auffassung spiegelt eine Obsession für die globale Vorherrschaft und
eine Entschlossenheit wider, den Islam und die Muslime erneut zum Mittelpunkt
der Welt zu machen, wozu alle anderen besiegt und beherrscht werden müssen.
Dazu meint al-Qaḥṭānī: „Die Muslime von heute müssen diese Dinge, ihr Ver-
trauen in sich und ihren Glauben als Gegenstrategie begreifen, sodass sie gegneri-
sche Positionen mit dem beantworten, was der Koran und die Prophetentradition
ihnen aufgetragen haben. So sollen ihre Gegner wissen, dass Gott ihnen nichts
anvertraut und zu nichts beauftragt und nur der Satan ihnen etwas vorgegaukelt
hat, das ohne Substanz ist“ (Al-Qaḥṭānī 2014, S. 55).
Solange es, wie die „Dschihadisten“ behaupten, das Ziel des Dschihad ist,
Gottes Wort zum höchsten zu machen, den islamischen Staat zu errichten, sobald
der abtrünnige Staat des Unglaubens beseitigt worden ist, und den Islam den

8Der Nachfolger von Osama bin Laden als Anführer von al-Qaida. (Anm. d. Ü.).
9„Erklärung der Globalen Islamischen Front zum Kampf gegen die Juden und Kreuzritter“
[Arab.], veröff. am 12.08.2017, http://23-february-1998-fatwa.blogspot.com/2013/01/text-
of-1998-fatwa-in-arabic.html [Zugegriffen: 13.Febr.2018].
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 165

Muslimen zurückzugeben, nachdem die Säkularisten ihn gekapert haben und der
Westen ihn angegriffen hat, gibt es keine Möglichkeit, ein Denken zu moderni-
sieren, das geschaffen wurde, um mittels des Schwertes und der Einschüchterung
ein politisches Projektes voranzutreiben – ein Denken, das zur „Instrumentalisie-
rung des Islam“ geführt hat. Vielleicht ist der Gedanke nicht abwegig, dass der
politische Diskurs in der dschihadistischen und sonstigen zeitgenössischen ara-
bischen Literatur latent vorhanden ist, da alle Initiativen zur Modernisierung von
einem ideologischen Konzept und dem Willen eines politischen Bewusstseins
beherrscht bleiben, das den Anderen ausschließt und ihm den Boden unter den
Füssen wegziehen will.

Die Modernisierung des religiösen Denkens im Kontext


des konträr-binären Systems

Es gibt keine Nuancen, will man die Modernisierungspfade des religiösen Den-
kens im Rahmen einer dominanten hierarchisch-pyramidenförmigen Struktur
und einem gängigen Diskurs erörtern, der von Begriffen lebt, die einem System
von Gegensatzpaaren entstammen: ḥalāl/ḥarām, Leben/Tod, gut/schlecht, Para-
dies/Hölle, Kraft/Schwäche, Islam/andere Religionen, Orient/Okzident etc. Aus-
gehend von dieser Auffassung, die auf Gegensätzlichkeit und der Ablehnung von
Überschneidung, Überlappung und Zusammenhang basiert, werden Relativismus,
Pluralismus und Akkulturation, sowie der Aufruf zur Achtung von Diversität und
zur Akzeptanz von Andersartigkeit und Vielfalt zu schändlichen Konzepten und
Sabotageakten, die auf die Beseitigung der Umma und auf den Kampf gegen den
Islam abzielen, der herrschen muss und nicht beherrscht werden darf, da er die
beste Religion für die Menschen ist. Das Festhalten an der literalistischen Lesart,
die gemäß den Theoretikern des Dschihad als treueste gegenüber dem Text gilt
und als Ausdruck seiner wahren Absichten, ist daher die bevorzugte Methode, um
die Muslime zur besten Gemeinschaft (Umma) und als solche stark zu machen.
Das Denken innerhalb von Gegensätzen erlaubt es nicht, Vielfalt, Plurali-
tät und Andersartigkeit zu akzeptieren, denn entweder bin ich für oder gegen
etwas, weswegen Dinge wie der takfīr10 oder die Feindschaft gegenüber dem
Andersdenkenden die Essenz des dschihadistischen Diskurses darstellt. In die-
ser Sichtweise sind Pfade zur Modernisierung des religiösen Diskurses sinnlos,

10takfīr= Unter Dschihadisten häufige Praxis, andersdenkende Muslime zu Ungläubigen


zu erklären. (Anm. d. Ü.).
166 A. Grami

denn entweder teilen wir dieselbe Autorität: die Fatwas von Ibn Taimiyya, die
Ansichten von Ibn al-Naḥḥās, Autor von Wo man den Durst der Begierden stillt
u. a., oder man löst alle Bindungen und die Gewalt wird zum Herrscher in der
Arena. Im Kontext eines utopischen, unkritischen und selbstbezogenen Diskurses
wird der Verstand ausgesetzt, um im kosmischen Wissen zu schwelgen. Man sieht
keine Notwendigkeit, sich für vielfältige Lesarten und unterschiedliche Ansätze
zu öffnen, sodass die Beschäftigung mit der Modernisierung des religiösen Den-
kens widersinnig wird.

Die Modernisierung des religiösen Denkens im Kontext


einer Dominanz der maskulinen Ideologie

Nicht die Gegensatzpaare gut/böse, heilig/profan, Glaube/Unglaube, Islam/


Ǧāhiliyya (Ignoranz)11, Rechtleitung/Irrtum etc. allein dominieren die dschi-
hadistische Literatur, sondern man findet bei deren Lektüre auch Begriffspaare
wie männlich/weiblich, Härte/Nachgiebigkeit, heiß/kalt und alles, was sich in
den Beziehungen symbolisiert, die auf Effektivität und Machbarkeit sowie auf
der Dominanz des Starken über den Schwachen beruhen. Wenn der Okzident
in einer Weise auf den Orient blickt, in der er in diesem ein weibliches Wesen
erblickt, dieses vergewaltigt, ehelicht und in ein Behältnis verwandelt, so bildet
das, wozu die Anhänger der dschihadistischen Ideologie aufrufen, das Herz dieser
Gleichung, nämlich die Wiedererrichtung des dominanten maskulinen Modells,
das geeignet ist, die USA und ihre Verbündeten zu feminisieren. In diesem
Sinne wird der dschihadistische Diskurs zu einem Projekt der Weltaneignung,
mit der eine dominante und autoritäre Männlichkeit begründet werden soll, die
die Niederlage, die Abhängigkeit, die Erniedrigung und die Schande abschüttelt.
Es ist eine Männlichkeit, die sich gegen das Konzept einer pulverisierten Form
von Männlichkeit richtet, das die Vordenker einer Erneuerung des religiösen Dis-
kurses wie auch die Verfechter des interreligiösen Dialogs und der Koexistenz mit
ihrer Betonung auf Toleranz und Frieden begründet haben.
Der dschihadistische Diskurs hat genau dieses Konzept der Männlichkeit ver-
innerlicht und basiert auf der Betonung „herkulischer“ Heldenhaftigkeit, die der
Tat Bedeutung auf Kosten des vertieften Wissens verleiht und das Schwert über
die Feder stellt. Es ist eine Männlichkeit gegen die Moderne, gegen den Westen,

11Jāhiliyya= wörtl. Ignoranz; Bezeichnung des Zeitalters vor dem Islam. In der Sprache
der Dschihadisten wird die Gegenwart als neue Jāhiliyya bezeichnet. (Anm. d. Ü.).
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 167

gegen die Ungläubigen, gegen die amerikanische Vorherrschaft, gegen die Globali-
sierung und den Imperialismus und überhaupt gegen die Kultur des Lebens. Man
kann sagen, dass die Verblendung der Jugend durch die dschihadistische Industrie
nicht vom Inhalt des Diskurses rührt, sondern mehr inspiriert ist durch die Aussicht
auf den Erwerb von Macht, denn die Muslime haben es nicht zuwege gebracht,
dem Westen mit militärischen oder bewaffneten Mitteln, in der Wissensproduktion
oder in der Realisierung ökonomischer Prosperität etwas entgegenzusetzen.
Dafür haben sie die Möglichkeit, das Image des kriegerischen Islam, des
kämpferischen und erobernden Helden und des Zerstörers feindlicher Macht – wie
Ḥamza b. ʿAbdalmuṭṭalib12, ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb13, Ṣalāḥaddīn al-Ayyūbī14 u. a. –
ins Bewusstsein zurückzubringen. Wir behaupten sogar, dass das, was junge
Leute zum dschihadistischen Diskurs verführt, eben dieser Aufruf zur Schaffung
von Männlichkeit ist, die den Anderen ohne Gnade niederkämpft – eine Männ-
lichkeit, die sich an dem rächt, was die US-Armee mit den Muslimen im Gefäng-
nis von Abu Ghraib und in Guantanamo gemacht hat; eine Männlichkeit, die das
desolate Selbst über den Mythos der Vergangenheit, die Salaf, den Lobpreis des
Märtyrertums, sowie die Notwendigkeit, das Individuum für die Sache der Umma
zu opfern, zu rehabilitieren ersehnt. Ginge es nach den Vordenkern des Dschihad,
ist die Tötung der Ungläubigen und derer, die sie unterstützen, durch den Wunsch
gerechtfertigt, mit einem „Paukenschlag in die Geschichte einzutreten“. Tatsäch-
lich verzeichnen die Geschichtsbücher nur die großen Persönlichkeiten, machen
nur die Erinnerung an Helden unsterblich und bewahren nur ihre Interessen, ihre
Wahrheit, ihre Opfer und ihre Standpunkte (Šāfiʿī 2003, S. 52).
Der dschihadistische Diskurs, der diese narzisstische Wunde zu überwinden
sucht, sieht in den Plädoyers für Waffenstillstand und Kooperation mit dem Wes-
ten seitens derer, die zur Aufklärung im religiösen Denken aufrufen, nur einen
schwachen weiblichen Standpunkt, der nach einem Beschützer und Behüter ver-
langt. Sie sind allesamt Plädoyers für Unterwürfigkeit, Inaktivität, Niederlage und
Demütigung und nur darauf angelegt, jene pulverisierte Männlichkeit zu schaf-
fen, die zu einem Gefühl von Scham und Schande führt. Vor diesem Hintergrund
sind wir nicht überrascht, wenn die dschihadistischen Vordenker Verleumdungs-
kampagnen führen, „um die Intellektuellen und die ‚Gelehrten des Irrtums‘ bloss-
zustellen, die Obskurantismen der Irreführer offenzulegen, die Aberrationen der

12Onkel des Propheten, der für seinen Kampfesmut berühmt war (Anm. d. Ü.).
13Zweiter muslimischer Kalif, gest. 644, unter dessen Herrschaft sich das islamische Herr-
schaftsgebiet drastisch vergrösserte. (Anm. d. Ü.).
14Der auch in Europa bekannte Sultan Saladin (1138–1193) ist als Bezwinger der Kreuz-

ritter bis heute eine populäre muslimische Identifikationsfigur. (Anm. d. Ü.).


168 A. Grami

Abweichler, d. h. der Säkularisten und Heuchler, aufzudecken, und die Saboteure,


Gerüchtestreuer, Illoyalen und geistig Minderbemittelten unter den Gelehrten
der Sultane sowie die Prediger von Koexistenz und Toleranz gegenüber den
Ungläubigen zu entlarven“ (Šāfiʿī 2003, S. 20).
Zusätzlich zu all dem scheint es in der dschihadistischen Literatur das Gegen-
satzpaar Schleier/Nacktheit bzw. Aufdeckung/Verborgenheit zu geben, das in
vielen Bürgern schlummert und eng mit dem Diskurs der Männlichkeit und Weib-
lichkeit verbunden ist. Denn wenn der Diskurs der Säkularisten auf der Kritik
bzw. der Praxis besteht, beharrlich den Schleier lüften zu wollen, was u. a. auf
besagte Unterstützer der dschihadistischen „Idee“ gemünzt ist, dann wird die
Modernisierung des religiösen Denkens mit solcherlei Enthüllung gleichgesetzt.
Damit stellt sie aber auch das Material bereit, das den Westen dazu bringt, sich
zu amüsieren, Spott zu treiben, sich zu vergnügen, die Muslime zu verurteilen
und die Religionen zu verachten. Modernisierungsinitiativen stoßen bei Dschi-
hadisten daher auf heftige Gegenwehr, da sie als Gründer der Schule für Helden-
fabrikation, die allein imstande ist, „das Gesicht Amerikas in den Staub zu treten“
und die Würde der Nation wiederherzustellen, weder auf einer Ebene mit denen
stehen, die zu Toleranz, Koexistenz, Kräftegleichgewicht und Pragmatismus auf-
rufen, noch mit solchen, die ihr Vertrauen verraten haben.
In der dschihadistischen Literatur ist nur die Rede von den Scheichs, Prin-
zen, Gelehrten, Kämpfern, Märtyrern und stolzen Helden, wie auch eine Rheto-
rik des Krieges und der Gewalt vorherrscht: Eine Rhetorik, in der es um Tötung,
Gefangennahme, Ergreifung und Rückkehr geht. Es ist der männliche Staat, in
dem Frauen keinen Platz in der Öffentlichkeit haben. Politisches Denken ist
männliches Denken, das nur die männliche Führung anerkennt, unabhängig
davon, ob sie von den Rechten oder von den Linken ausgeht. Auch wimmeln
die dschihadistischen Texte von Handlungen, die zum Wortschatz des Militärs
gehören, ergehen sich in physischer Gewalt, deren hervorstechendste Manifes-
tationen Totschlag, Mord, Ergreifung, Erstickung und Blutvergießen sind, und
sind gespickt mit den Namen von Schwertern, Mitteln zur Unterdrückung des
Anderen, Heldengedichten und Panegyriken. Diese Kriegsimagination trägt
in erheblichem Masse dazu bei, dass die Konsumenten dieser Rhetorik in ihrer
Männlichkeit bestärkt werden. Denn diese jungen Leute, die in Frustration und
Verzweiflung leben, finden nur Ruhe, wenn sie sich in die Arme der Scheichs
werfen, die den Garten Eden und die paradiesischen Jungfrauen predigen.
Wer die Texte der Autoren dschihadistischer Literatur eingehend betrachtet,
wird feststellen, dass diese zwischen einer realen und einer Scheinwelt unter-
scheiden. So glauben sie in ersterer die volle Männlichkeit abgebildet, w ­ ährend
letztere die gebrochene Männlichkeit symbolisiert, die Angst hat, in die Schlacht
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 169

zu ziehen. So sagt al-Azadī (2017, S. 10, 11) in einer Beschreibung von ʿAbdullāh
ʿAzzām15:

Die Feinde dieser Umma sind nicht damit vertraut, eine Welt von dieser Art zu
sehen, die Waffen trägt und Ungläubige und Atheisten bekämpft, um noch in diesem
Jahrhundert die Religion Gottes auf Erden zu errichten, wie das Anliegen unseres
Scheichs und geliebten Imams ʿAzzām es war, der sich für den Dschihad rüstete,
indem er mit seiner Feder und seinem Speer zugleich für die Sache Gottes kämpfte.
Er war die Stimme der Wahrheit, die den Namen des Dschihad in der Welt ver-
kündete. Gott segne ʿAbdullāh ʿAzzām, der den Ruhm des Islam im 20. Jahrhundert
begründet hat.

Der Scheich ruft dazu auf, den Koran auswendig zu lernen, das Schwert zu tragen
und sich einer „heißen“ Sprache zu bedienen, während es nicht erlaubt ist, mit
„kalter“ Rede an Konferenzen oder Satellitensendungen teilzunehmen.
Das Narrativ der großen Männer, frommen Märtyrer und anderer Ele-
mente, die die gesellschaftliche Imagination etabliert haben, trägt dazu bei, eine
bestimmte Art von Männlichkeit zu verankern, nämlich die kämpfende Männlich-
keit, die darin besteht, Heldentum und Heldenfabrikation zu feiern (Segell 2005,
passim; Langman und Morris 2002, passim). Sie ist eine heroische Männlichkeit,
die ihre Entsprechung im reitenden Kämpfer findet, der die Hidschra macht und
die Grenzen des Islam befestigt. In der dschihadistischen Literatur stoßen wir so
auf eine Art von Aussenseiter-Männlichkeit, die den Inaktiven, Schwachen, Trä-
gen, Ängstlichen und Geizigen etc. ebenso anprangert wie denjenigen, der sich
dem Dschihad verweigert, im Anti-Terrorismus-Projekt engagiert und seine Feder
und seinen Geist dafür einsetzt, die „Dschihadisten“ auszurotten.
Im Kontext der Tyrannei der maskulinen Ideologie und ihrer Identifkation mit
der dschihadistischen Ideologie findet weder die Meinung von Frauen in religiö-
sen Angelegenheiten noch ihr Anteil an der Schaffung von religiösem Wissen
Anerkennung. In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, dass der Literatur
von Frauen, die in Bezug auf die Reform des religiösen Diskurses geschaffen wor-
den war, keine Beachtung geschenkt wird und dass nur die Positionen von
Prophetengefährtinnen und ihren Nachfolgerinnen, wie auch allein die Expertise der
Dschihadistinnen und Märtyrerattentäterinnen u. a., die das „dschihadistische Den-
ken“ gefördert haben, zitiert werden. Tatsache ist, dass wir diese Auffassung z. B.
bei einer Anzahl von männlichen wie auch weiblichen Vertretern des „modernen
Denkens“ antreffen, die einer Gender-Blindheit das Wort reden und doch nur das
zur Kenntnis nehmen, was Männer hervorgebracht haben und was Männer wissen.

15ʿAbdullāh ʿAzzām (1941–1989): Palästinensischer Islamist, Theologe und Mitbegründer


verschiedener Terrororganisationen, darunter al-Qaida und Hamas. (Anm. d. Ü.).
170 A. Grami

Abschließende Gedanken

In dem Masse, wie die islamischen Gesellschaften die Moderne zunehmend


akzeptiert haben, blieben sie jedoch darüber gespalten, was deren Verinnerlichung
und Interpretation anbetrifft, denn es ist schwierig, Wirtschaft, Politik, Soziales
und Kultur mit strukturellen und mentalen Strukturen zu verbinden. So kam es zu
einer Vermischung von Moderne und Modernisierung, die selektiv, instrumentell
und missverständlich war. Die Moderne wurde manchmal gepriesen, manchmal
kritisiert, und erfuhr Ablehnung und Widerstand dafür, dass sie die traditionellen
Autoritäten des Einzelnen geschwächt und seine Wahrnehmung von Zugehörig-
keit, Identität und religiösem Status, sowie seine Beziehung zu Politik und kultu-
rellen Werten durcheinandergebracht hat.
Der dschihadistische Diskurs tritt ahistorisch auf, indem er sich dem Verkauf
von Illusionen und der Manipulation des Bewusstseins verpflichtet hat und so
die Realität und die fortschreitende Geschichte kaschiert. In seinem Widerstand
gegen die Modernisierungsinitiativen ist der Diskurs radikal. Diese ablehnende
Haltung gegenüber der Praxis der Selbstkritik wie auch die Herablassung gegen-
über der Einsetzung von Autoritäten geht auf die wesensmäßige Unvereinbarkeit
und gegenseitige Abstossung zwischen den Unterstützern des dschihadistischen
Diskurses und denen der radikalen Modernisierung zurück. Die Theoretiker
des Fiqh nämlich sind der Ansicht, dass ihre Auffassungen der Kritik enthoben
sein müssten, weil sie in Kontakt mit einer heiligen Autorität stehen, während
die „Modernisten“ glauben, dass sie fähiger als jene seien, die Realität zu ana-
lysieren, die verschiedenen Kontexte zu begreifen und folglich den Anderen, der
gegen den Strom schwimmt, zu beurteilen.
Die Befreiung aus den Fesseln der Vorurteile, Stereotypen und klassischen
Lesarten, sowie das Vertrauen auf das, was Orientalisten verfasst haben, führt
dazu, dass die Suche nach den Hindernissen der Modernisierung sich nicht auf
die Durchforstung der islamistischen und dschihadistischen Literatur beschränken
darf, da niemand jenseits aller Kritik steht, wie es auch keine geistige Strömung
gibt, die sich der Möglichkeit von Dekonstruktions- und Überprüfungsprozessen
entzieht. Anstatt Pfeile der Kritik aufeinander zu richten, den Anderen einen
„reaktionären Obskurantisten“ zu zeihen und eine Kultur der gegenseitigen Aus-
grenzung zu fördern, müssen wir aus der Binarität des Ich/der Andere heraus-
treten, um nach unserer gemeinsamen Verantwortung zu suchen, sowie nach
den Hindernissen, zu deren Entstehung wir beigetragen haben. Vielleicht besteht
das größte Hindernis darin, die Absicht der Ideologie bestätigt, anstatt daran
gearbeitet zu haben, die Traditionen des Willens zum Wissen abzusichern, wie
Foucault es formuliert hat.
Das Dilemma der religiösen Modernisierung 171

Die Befreiung von den Fesseln der Autoritäten bezieht sich nicht allein auf
die „Dschihadisten“; vielmehr müssen diejenigen, die zu einer Modernisierung
des islamischen Denkens aufrufen, sich selbst aus den Fesseln der orientalisti-
schen Ansätze und Methoden befreien. Diese nämlich werden einer andersartigen
Realität übergestülpt und hindern den Intellektuellen/die Intellektuelle daran,
seine/ihre Lage umfassend zu betrachten. Über diese außerhalb der Standard-
muster nachzudenken, die den Anderen hervorgebracht haben, ist er/sie folglich
gezwungen. Es ist das Recht der nachfolgenden Generationen, zu analysieren und
zu dekonstruieren und ihre eigenen Methoden und Lesarten hervorzubringen.
Die Modernisierung des religiösen Denkens in unseren Gesellschaften basiert
nicht auf dem praktischen Dialog, sondern auf Parolen, die Illusionen verkaufen:
Illusionen von der Demokratie und der Akzeptanz des Andersseins. Doch meist
verurteilen und verfolgen sie das Andersartige, anstatt zu versuchen, es zu ver-
stehen. Dieses Verhalten ist nicht den Intellektuellen vorbehalten, sondern eng
verbunden mit der Krise der wissenschaftlichen und akademischen Institutionen,
die weder eine Revisionskultur noch ein Eingeständnis von Irrtümern etabliert
haben. Schon Karīm Muruwwa16 hat die Art und Weise kritisiert, mit der Wissen-
schaftler islamische Gruppen und Parteien behandeln. Seiner Ansicht nach dürfe
man diesen nicht einfach unterstellen, dass die Religion die alleinige Quelle ihres
Denkens darstellt. Es sei falsch, das eigene Urteil über diese Parteien, ob negativ
oder positiv, einseitig an ihre Beziehung zur Religion zu knüpfen. Jene können
sich ebensowenig von ihrer Verstrickung in die Widersprüche der bestehenden
Klassen- und politischen Verhältnisse befreien, „wie von den darin herrschen-
den Spaltungen, die zugleich auf der geistigen und auf der Interessenebene statt-
finden“ (Murūwa 1990, S. 36).
Es ist nach unserer Überzeugung nicht die Aufgabe der Religion, Kriege zu
führen und den Anderen zu vernichten; vielmehr ist die Aufgabe des Islam wie
auch der übrigen monotheistischen Religionen eine spirituelle und moralische,
die zudem wichtiger sein muss als die gesellschaftlich-politische, da die Essenz
der muhammadischen wie allgemein der monotheistischen Offenbarungen die
Realisierung des moralischen und spirituellen Fortschritts ist. Deswegen müssen
sich die Akteure im religiösen Feld und diejenigen, die an der Modernisierung
des religiösen Denkens interessiert sind, auf diese Dimension konzentrieren und
diese wesentliche Funktion wiedergewinnen.

16Libanesischer kommunistischer Intellektueller. (Anm. d. Ü.).


172 A. Grami

Es scheint, dass die Krise des religiösen Denkens komplex ist und Ver-
bindungen zur politischen Despotie, zur geistigen Dominanz und zu einem Werte-
system aufweist, das auf Gehorsam und Nachahmung hin geeicht ist. Aus dieser
kritischen Situation herauszukommen, ist nach unserer Meinung nicht möglich,
solange wir auf der Stellung Gottes gegenüber dem Menschen bestehen, indem
wir über Gott als einen Rächer und Gewaltherrscher reden und ignorieren, dass er
der Vergebende und Barmherzige ist, und solange wir darauf beharren, den Ande-
ren manchmal im Namen Gottes, manchmal im Namen der Moderne zu bevor-
munden. Tatsächlich gehört zu den Voraussetzungen, sich eine reformerische
modernistische Vision zu eigen zu machen, dass wir uns von den ausgrenzenden
Ideologien emanzipieren, den Willen zum Wissen ergreifen, unsere Sicht auf
uns selbst, den Anderen und die Welt ändern, und Beziehungen auf Augenhöhe
etablieren, die ihrerseits Herrschaft und Dominanz ausschließen, den Ande-
ren willkommen heißen und ihm gastfreundliche Räume eröffnen – das sollte
Humanismus sein.
(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

Literatur

ʿAbdalfattāḥ, Nabīl. 2016. Die Erneuerung des religiösen Denkens [Arab.]. o. O.: al-Mar-
kaz al-arabi li-l-buhut wa-l-dirasat.
Abū Ǧandal al-Azadī (alias Fāris al-Zahrānī). 2017. [Arab.] Die Aufwiegelung der helden-
haften Mujahideen zur Wiederbelebung des Attentats. http://www.rihanapress.com/
index.php/ar/bibliotheque/407-2014-07-02-14-48-53.html. Zugegriffen: 07. Aug. 2017.
Al-ʿArūyi, ʿAbdallāh. 1973. [Arab.] Zeitgenössische arabische Ideologie. Beirut: Dar
al-Haqiqa.
Al-Ḥāfiẓ Ibn Ḥaǧar. 2003. [Arab.] Das Wiehern der Pferde bei der Erläuterung des Buches
vom Dschihad angesichts des bevorstehenden Ziels: Erläutert von Scheich ʿAbdarraḥīm
Murād b. al-Šāfiʿī. o. O.
Al-Qaḥṭānī, Muḥammad ibn Saʿīd. 2014. Al-walāʾ wa-l-barāʾ fī l-Islām. Riyad: Dar Tayyib
ali-l-nasr wa-l-tauzi. https://islamhouse.com/ar/books/468544. Zugegriffen: 18. Apr. 2019.
Langman, Lauren, und Doug Morris. 2002. Islamic modernity: Barriers and possibilities.
Logos Journal 1 (2):61–77.
Murūwa, Karīm. 1990. [Arab.] Dialoge über Nationalismus und Sozialismus, Religion and
Revolution. Beirut: Dar al-Farabi.
Nāšīd, Saʿīd. 2016. Al-ḥadāṯa wa-l-Qurʾān (Die Moderne und der Koran). Tunis und Bei-
rut [2.]: Dar al-tanwir li-l-tibaa wa-l-nasr.
Segell, Glen. 2005. 9/11: Wahabism/Hegemony and Agenic Man/Heroic Masculinity. Stra-
tegic Insights IV 3 (March). http://www.ccc.nps.navy.mil/si/2005/Mar/segellMar05.asp.
Zugegriffen: 16. Mai 2005.
Zāyid, Aḥmad. 2017. Die Stimme des Imams: Der religiöse Diskurs vom Kontext zur Wahr-
nehmung [Arab.]. Kairo: Dar al-Ayn li-l-nasr.
Keine Reformation ohne
Gleichberechtigung – Feminismus
vs. Fundamentalismus:
Gleichberechtigung vs. Familie?

Dana Fennert

Einleitung

Frauen waren und sind Teil der christlichen Reformationsbewegung. Sie haben
die lutherische Überzeugung der Gleichberechtigung aller Menschen vor Gott
entgegen vieler Widerstände in der Öffentlichkeit verbreitet (vgl. Domröse 2014).
In einem Brief an den Adel 1520 manifestiert Luther seine Idee von der
gleichberechtigten theologischen Deutungshoheit aller Menschen: „Darum
sind alle Christenmänner Priester, alle Frauen Priesterinnen, jung oder alt,
Herr oder Knecht, Herrin oder Magd, Gelehrter oder Laie. Hier ist kein Unter-
schied“ (Luther zitiert nach Marquard 2003, S. 55). Die revolutionäre Über-
zeugung Luthers, dass es keiner theologischen Instanz bedarf, um Gottes Wort
zu verstehen, sondern jeder selbst in der Lage sei, dieses zu entschlüsseln und
daraus Handlungsmaxime zu schließen, ist auch die Überzeugung von Reform-
denkerinnen und Reformdenkern im Islam.
„Denken und reflektieren, verstehen können und fragen dürfen“ (Käßmann
2014 zitiert nach Mawick) werden von Käßmann, die vom Rat der Evangelischen
Kirche in Deutschland (EKD) als Botschafterin für das Reformationsjubiläum
2017 beauftragt worden ist, als Hauptanliegen der Reformation bezeichnet. Libe-
ralen Musliminnen und Muslimen werden einerseits durch rechtspopulistische
Agitatoren diese reformatorischen Eigenschaften abgesprochen und a­ ndererseits

D. Fennert (*)
Marburg, Deutschland
E-Mail: dfennert@web.de

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 173
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_10
174 D. Fennert

wird ihnen durch muslimische Reformgegner1 die Berechtigung dazu verweigert.


Sie selbst empfinden es aber als ihre Pflicht und Aufgabe, selbstständig und ver-
nunftgemäß die normativen Quellen des Islams, den Koran und die Sunna, zu
interpretieren (iǧtihād). Für konservative und fundamentalistische Muslime
sind hingegen alle Fragen, die durch die Religion geklärt werden müssten, seit
der Etablierung der Rechtsschulen2 beantwortet, weshalb sie die Tür des freien,
eigenständigen Urteilens3 verschlossen haben. So meinen sie jedenfalls.

• Der Islam hat keine Türen


• Der Islam grenzt niemanden aus
• Der Islam kann sich an gesellschaftliche Wandlungsprozesse anpassen

Folgendes Zitat von Iqbāl drückt die uneinheitliche Meinung über den Stillstand
von neuen Interpretationsangeboten aus:

Das Verschließen des Tores zum Idschtihad ist reine Fiktion, die teilweise von der
Herauskristallisierung des Rechtsdenkens im Islam suggeriert wird und teilweise
von jener intellektuellen Trägheit, die besonders in Zeiten des Niedergangs große
Denker zu Götzen wendet. Wenn auch einige der späteren Gelehrten an dieser Fik-
tion festgehalten haben, ist doch der moderne Islam nicht an diese freiwillige Kapi-
tulation geistiger Unabhängigkeit gebunden (Iqbāl zitiert nach Rohe 2009, S. 168).

Und dementsprechend beherzt, mutig und progressiv gehen sie gleichermaßen


vor, die Reformatorinnen und Reformatoren des Islams, um die von Fundamenta-
listen imaginär konstruierten Mauern, die den freien Geist umzingeln sollen, ein-
zureißen.
Islamisten und Salafisten sind nicht die einzigen, die für sich die alleinige
Verfügungshoheit über eine Religion beanspruchen, sondern auch in anderen
Glaubensgemeinschaften sind Fundamentalisten beheimatet. Die Reformations-
botschafterin Käßmann stellt dementsprechend dieselbe Einstellung bei jüdi-

1Auf eine geschlechtergerechte Schreibweise wird an Stellen, an denen diese nicht


unbedingt notwendig ist, aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet. Die weib-
liche Form kennzeichnet immer Begriffe oder Akteursformate, die hauptsächlich Frauen
umfassen.
2Dazu zählen die sunnitischen Schulen von Abū Ḥanīfah Nuʿmān ibn Thābit (gest. 767),

Mālik ibn Anas al-Aṣbaḥi (gest. 795), Muḥammad ibn Idrīs al-Shāfiʿī (gest. 820), Aḥmad
ibn Ḥanbal (gest. 855) oder die schiitische Lehre von Jaʿfar al-Ṣadiq (gest. 765) (vgl.
Kamali 2006, S. 65–90).
3bāb al-iǧtihād.
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 175

schen, christlichen, islamischen und hinduistischen Hardlinern im Widerspruch


zum selbstständigen Denken, dem reformatorischen Hauptanliegen, fest: „Nicht
fragen, schlicht glauben!“ (Käßmann 2014 zitiert nach Mawick) Eng an diese
gemeinsame Haltung der religiösen Konservativen ist die Überzeugung geknüpft,
dass Frauen sich Männern unterwerfen müssen, da es ihre „natürliche, gott-
gegebene Bestimmung“ sei. Um diese Geschlechterordnung, die gleichzeitig mit
dem Funktionieren der traditionellen Kernfamilie gleichgesetzt wird, gegen femi-
nistische Gleichberechtigungsansprüche zu bewahren, mobilisieren sich Funda-
mentalisten der Religionen seit Mitte der 1990er Jahre, in einem transnationalen
interreligiösen Bewegungsformat: der Pro-Familie-Bewegung (Vgl. Fennert 2015).
Geschlossen forderten die Frauenrechtlerinnen auf den Konferenzen der Uni-
ted Nations (UN) die Umsetzung der Konvention zur Beseitigung jeder Form
von Diskriminierung der Frau ein (Convention on the Elimination of all Forms
of Discrimination of Women – CEDAW), das bisher wichtigste Instrument zur
völkerrechtlichen Vereinbarung von Frauenrechten (Vgl. Wichterich 2007, S. 6).
Doch seitdem sich das anfängliche Netzwerk, bestehend aus dem Vatikan, mus-
limischen und christlich-konservativen Regierungsvertretern sowie NGOs, zu
einer transnationalen Bewegung ausbreitete, und fortan internationale Debat-
ten von ihrem Agenda Setting beeinflusst werden, verliert die Frauenbewegung
zunehmend an innerem Zusammenhalt und internationalem Verhandlungsboden.
Folgende Fragen bleiben in diesem Zusammenhang offen: Wie steht es
angesichts dieser weltweiten fundamentalistischen Gegenbewegung zur trans-
nationalen Frauenbewegung um die Gleichberechtigung der Geschlechter? Steht
das zumindest in westlichen Kontexten angenommene Gesellschaftsideal wieder
auf der Verhandlungsagenda? Inwieweit wurde dieses Geschlechterideal durch
die Reformationsbewegung beeinflusst?
Welche Chance auf Emanzipation haben Musliminnen durch diesen Umstand –
da sie uneingeschränkte Unterstützung weder auf der UN-Ebene noch in ihrer
eigenen Glaubensgemeinschaft erwarten können? Und welche Aussichten ergeben
sich dabei für die Reformation im Islam?
Folgende These wird in diesem Artikel vertreten:
Da sich die Pro-Familie-Bewegung, bestehend aus fundamentalistischen
Akteuren aller Religionen, mit dem Ziel, die für sie gottgegebene Geschlechter-
ordnung zu bewahren, mobilisiert, kann nur ein Zusammenwirken aller
liberalen religiösen und nicht-religiösen Kräfte zu einer Geschlechtergleich-
berechtigung führen. Um die Fragen zu diskutieren, wird zunächst auf die
Gleichberechtigungsbestrebungen in der evangelischen Kirche eingegangen,
die Situation von muslimischen Feministinnen aufgezeigt und anschließend die
gegenwärtige Problemlage für beide religiösen Kontexte beleuchtet.
176 D. Fennert

Gleichberechtigung in der
lutherisch-evangelischen Kirche

Einerseits waren Frauen aktiv an der Mobilisierung der Reformationsbewegung


beteiligt und wurden durch das Priestertum aller Getauften als gleichberechtigte
Kirchenmitglieder anerkannt, anderseits wurde ihnen durch die lutherische Auf-
wertung der Ehe zunächst der zentrale Platz in der Familie als Mutter und Ehe-
frau zugewiesen. In ihrer Predigt im Rahmen der Reihe „Luther bewegt“ fasst
Kohlstruck diesen Widerspruch wie folgt zusammen:

Mit der Kritik und der Auflösung der Klöster ging nicht nur ein weibliches Lebens-
modell eines Lebens ohne Mann verloren, es wurde auch eine neue Norm gesetzt.
Eine Frau hatte künftig eine Ehefrau zu sein, denn dem Mann zu dienen und Kinder
zu gebären – das sei die Bestimmung der Frau. Bei aller Wertschätzung seiner eige-
nen Frau gegenüber, bei aller prinzipiell propagierten Gleichheit der Geschlechter,
rückte auch Luther nicht von dieser Bestimmung der Frau ab (Kohlstruck 2014).

Frauen, die als Nonnen Bildung in den Klöstern erlangten, blieb jenseits des zöli-
batären Lebens lediglich der Platz neben einem Ehemann. Luther brachte seine
Ansicht über Frauen wie folgt zum Ausdruck: „Das Weib ist geschaffen dem
Mann zu einem geselligen Helfer in allen Dingen, besonders, Kinder zu brin-
gen“ (Luther zitiert nach Domröse 2016). Die Ehefrau Luthers, Katharina von
Bora4, die als vorbildliches Beispiel galt, wie eine Frau zu leben hatte, war nach
ihrem Klosterleben als Hausfrau und Mutter aktiv und unterstützte Luther in allen
Angelegenheiten (Luther zitiert nach Domröse 2016).
1523 verfasste die 31-jährige Laientheologin Argula von Grumbach einen
Brief an die Gelehrten der Universität Ingolstadt, in dem sie die Professoren
aufforderte, mit ihr die Auslegungen der heiligen Schrift zu diskutieren. Damit
verfolgte sie das Ziel, die Verbannung des Lutheranhängers Arsacius Seehofer,
aufgrund der Verbreitung reformatorischer Ideen, aufzuheben. Darin heißt es:
„Ich finde an keinem Ort der Bibel, dass Christus noch seine Apostel oder Pro-
pheten jemanden eingekerkert, gebrannt noch gemordet haben oder das Land
verboten“ (Von Grumbach zitiert nach Domröse 2014, S. 19). Dabei orientierte
sie sich an dem lutherischen Prinzip „sola scriptura“, nach dem die Heilige
Schrift als einzige Quelle maßgeblich ist für Glaubensfragen (Vgl. von Grum-
bach zitiert nach Domröse 2014, S. 19; Kohlstruck 2014). Weitere Briefe folgten

4IhreFlucht aus dem Kloster Nimbschen galt für sie als Befreiungsakt (Vgl. Kohlstruck
2014).
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 177

und erlangten als Flugschriften hohe Auflagen. Als weitere Verteidigerin refor-
matorischer Ideen gilt Katharina Schütz Zell. Ohne Angst vor Konsequenzen
forderte sie Gelehrte heraus, indem sie diese korrigierte und die Heilige Schrift
über kirchliche Würdenträger stellte. Zudem hielt sie öffentlich im Rahmen von
Bestattungen Predigten ab (Domröse 2016a).
Mit der Reformation und der einhergehenden Trennung der römisch-katho-
lischen und evangelischen Kirche war nicht zugleich ein gleichgeschlechtlicher
Zugang zu den Pfarrämtern gewährleistet, welcher die logische Konsequenz aus
dem Postulat des gleichberechtigten Priestertums gewesen wäre. Zwar ist die
evangelische Kirche von allen religiösen Gemeinschaften heute die, in der Frauen
per Kirchengesetz formell Männern gleichgestellt sind, doch auch hier kämpften
Frauen gegen patriarchale Strukturen an. Frauen blieb der Zugang zu Kirchen-
ämtern lange verwehrt:

Für den Ausschluss der Frauen vom Pfarramt war maßgeblich, dass einerseits das
Pfarramt als Leitungsamt und damit als Herrschaftsposition verstanden wurde,
andererseits aus der Bibel die Forderung nach einer prinzipiellen Unterordnung der
Frauen unter Männer abgeleitet wurde. Wenn Frauen eine Gemeinde leiten, öffent-
lich das Wort verkündigen, Sakramente verwalten und die Seelsorge an Männern
üben, dann – so die Auffassung der Gegner der Frauenordination – würden sie sich
Männern überordnen. Der universalisierenden Tendenz des Protestantismus, die
sich im Priestertum aller Gläubigen ausdrückt, wird damit eine partikularistische,
auf der Annahme einer unüberbrückbaren Differenz der Geschlechter beruhende
­Argumentation entgegengesetzt (Sammet 2010, S. 83).

Seit den 1960er Jahren öffneten sich die Türen der evangelischen Kirchen-
gemeinden auch für weibliche Pfarrerinnen, wenn auch nur langsam.5 Frauen war
es seither erlaubt, als Pfarrerin zu arbeiten, aber mit deutlichen Einschränkungen
im Vergleich zu männlichen Amtskollegen. Als Pfarrerin durften sie nur tätig
sein, wenn sie nicht verheiratet waren, denn für sie galt das Zölibat (Vgl. Sammet
2010, S. 83). „Eine schwangere Frau auf der Kanzel überstieg die Vorstellungs-
kraft der Kirchenmänner“, betont Millhahn (2013). Die Rollenzuweisung der
Frau als Ehefrau und Mutter war auch in der evangelischen Kirche präsent.
Durch die Aufhebung der „kirchenrechtlichen Beschränkungen für Frauen“ gilt
seither das evangelische Pfarramt als „geschlechtsneutraler Beruf“ (Sammet
2010, S. 83). Die evangelisch-lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe hat

5Durch das Kirchengesetz vom 1. September 1958 der Evangelisch-Lutherischen Kirche in


Lübeck war es Elisabeth Haseloff möglich, als erste Pastorin zu arbeiten (vgl. Nordkirche
2016).
178 D. Fennert

aber erst im Jahr 1991 Frauen als Pfarrerinnen zugelassen, während die ande-
ren Landeskirchen bereits seit den 1970er Jahren diese Ämter geschlechtsneutral
besetzten, galt hier folgende Auffassung: „Die von Jesus eingesetzten Apostel
waren ausschließlich Männer, und man muss Rücksicht auf die römisch-katho-
lischen und orthodoxen Brüder nehmen“ (Evangelisch-lutherische Landeskirche
­Schaumburg-Lippe zitiert nach Millhahn 2013).
Obwohl heute lediglich 33 % der Pfarrämter durch Frauen besetzt werden,
macht Hauschildt (2014) auf die Warnung von Männern vor einer Feminisie-
rung des Pfarrberufs aufmerksam. Mehrere Faktoren werden in der Literatur mit
dem Wandel der Männer besetzten Domäne in Verbindung gebracht. Unter ande-
rem werden die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse und einhergehenden
Umbrüche der Rollenzuweisungen seit den 1960er Jahren erwähnt, welche auch
die bis dahin konservative evangelische Kirche zu einem Umdenken gezwungen
habe (Vgl. Sammet 2010). Sammet betont in diesem Zusammenhang: „Sie ist,
was die Beteiligung und Gleichstellung von Frauen angeht, nicht Vorreiterin, son-
dern gerät angesichts ihrer Rückständigkeit unter Rechtfertigungsdruck“ (Vgl.
ebd.). Dabei spielte weder die feministische Theologie eine entscheidende Rolle,
noch sollte gesellschaftlichen und politischen Emanzipationsforderungen Rech-
nung getragen werden (Vgl. ebd.).
Die eingangs gestellte Frage, ob die Reformation eine Gleichberechtigung
der Geschlechter nach sich zog, kann schlussfolgernd weder mit einem kla-
ren ja noch nein beantwortet werden. Zwar erkennt Kohlstruck in ihrer Predigt
die mit der Reformation einhergehenden neuen Lebensentwürfe von Frauen an,
kommt aber zu dem Schluss: „Aufs Ganze gesehen haben die Reformation und
ihr neues Frauenbild aber zu einer Festlegung der Frau als Ehefrau und Mut-
ter geführt, einer Festlegung, die für die folgenden Jahrhunderte Bestand haben
sollte“ (Kohlstruck 2014). Die Ideen der Reformation konnten dann erst im
Zuge gesellschaftlicher Wandlungsprozesse für Frauen zum Tragen kommen.
Wäre dies nicht geschehen, gäbe es 2017 auch keinen Grund zum Feiern, denn
die Reformation könnte ohne ihre Profitierung durch Frauen nicht als gelungene
Erneuerungsbewegung definiert werden. Auf die Situation von muslimischen
Frauenrechtlerinnen wird nun eingegangen.

Gleichberechtigungsforderungen im Islam

Zu behaupten der Islam sei nicht reformierbar untermauert zum einen die Argu-
mentation von Salafisten und Islamisten, die Reformen für nicht nötig erachten,
da sich lediglich auf die Zeit des Propheten bezogen werden müsse, um alle
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 179

h­ eutigen Probleme zu lösen (vgl. Krämer 2016 Interview mit Meier). Zum ande-
ren werden dadurch rechtspopulistische Meinungen gestärkt, die im Islam eine
rückwärtsgewandte und mit demokratischen Werten unvereinbare Religion pos-
tulieren. Es bestehen dennoch Herausforderungen, die eine zeitnahe Reforma-
tion unwahrscheinlich werden lassen, denn der Gegendruck von muslimischen
Reformkritikern ist zu stark und ihre interreligiös-fundamentalistischen Alli-
anzen, mit denen sie den wichtigsten Reformationsantrieb von Feministinnen
unterbinden, sind zu mächtig. Seit ihrer Formierung in den 1980er Jahren haben
die Akteurinnen des islamischen Feminismus gezeigt, dass die Situation nicht
hoffnungslos ist. Diese transnationale Bewegung versucht die regressiven Vor-
stellungen der Geschlechterverhältnisse gegen jeden Widerstand aufzubrechen,
und setzt damit Reformprozesse in Gang. Wie bei allen sozialen Bewegungen,
verlief auch ihre Mobilisierung entlang ihrer Gegner (Vgl. Fennert 2015).
Mir-Hosseini, die selbst als zentrale Aktivistin innerhalb der Reformbewegung
involviert ist, äußert diesbezüglich:

To understand a movement that is still is in formation – is still in making – we might


start by considering how its opponents depict it, in other words the resistance which
it has to struggle. Because most of the time when we resisting against a movement,
an opponent, that opponent defines us. It’s always a reaction (Mir-Hosseini zitiert
nach Fennert 2015a).

Das Hauptanliegen der Frauenrechtlerinnen ist es vor allem, die Rechtsbereiche


zu erneuern, die in erheblicher Weise das Leben von Frauen bestimmen: die mus-
limischen Familien- und Personenstandsgesetze. Diese reglementieren Eheschlie-
ßungen, Scheidungen, Sorgerechtsangelegenheiten von mehr als einer Milliarde
Muslimen (Vgl. An-Naʼim 2002, S. 2; Derichs 2010, S. 416). Frauen werden
durch diese Gesetze in allen muslimischen Mehrheitsgesellschaften in erheb-
lichem Maße diskriminiert. Während andere Rechtsbereiche im Rahmen der Ent-
kolonialisierungen weitestgehend säkularisiert worden sind, blieben Auslegungen
des Korans und der Sunna weiterhin die Bezugsquelle für familienrechtliche
Angelegenheiten. Deshalb entflammen die Debatten zwischen den konservati-
ven oder traditionellen und den feministischen Akteuren besonders entlang die-
ser Thematik. Daraus schlussfolgert El-Azhary Sonbol: „[…] any effort to change
personal status laws is an attack on the very basic principles of Islam“ (El-Azhary
Sonbol 2009, S. 179).
Islamisch konservative oder islamistische Reformgegner argumentieren, dass
diese Gesetze nicht verändert werden können, gerade weil sie sich ihrer Meinung
nach an der Scharia orientieren, und deshalb sakral seien. Die ­Vertreterinnen
180 D. Fennert

des transnationalen Netzwerks Musawah, die sich dezidiert um Reformen


von Familiengesetzen bemühen, deuten hingegen, dass es sich dabei nicht um
Scharia-Gesetze handelt, sondern lediglich um Auslegungen dieser. Das Netz-
werk unterscheidet zwischen der Scharia als der Offenbarung Gottes6 und den
Fiqh7-Regelungen, also den Versuchen, diese zu entschlüsseln. Die Scharia-Aus-
legungen, die bis heute für die Formulierung der unterschiedlichen Gesetzestexte
herangezogen werden, sind die der klassischen Rechtsgelehrten. Seit dem 4. Jahr-
hundert A.H. (10. Jh. n. Chr.), dem Beginn der „klassischen Zeit des islamischen
Rechts“ (Rohe 2009, S. 76), setzte sich die Meinung durch, dass, basierend auf
den anerkannten Rechtsschulen, die bis dahin formulierte Rechtsliteratur alle
Rechtsbereiche hinreichend darlegen und deshalb nur noch diese Gültigkeit hat
(vgl. Schacht 1982, S. 70 f.). Abweichende Interpretationen werden seither nur
von ausgebildeten islamischen Rechtsgelehrten anerkannt, aber nur wenn diese
allgemeine Anerkennung finden.
Die klassischen Rechtsgelehrten waren bei ihrer Urteilsfindung bzw. Inter-
pretation des Korans und der Sunna bezüglich familienrechtlicher Angelegen-
heiten aber von den kulturellen und traditionellen Geschlechterordnungen ihrer
Zeit mitbeeinflusst, die Mir-Hosseini wie folgt zusammenfasst: „[…] women are
created of men and for men; women are inferior to men; women need to be pro-
tected; men are guardians and protectors of women; and male and female sexu-
ality differ and the latter is dangerous to the social order“ (Mir-Hosseini 2006,
S. 643).
Heute noch spiegeln sich diese Wahrnehmungen der Geschlechterordnungen
und die Interpretationen der normativen Quellen der klassischen Rechtsgelehrten,
die Ehen als Vertrag des Austausches (ʿaqd al-nikāḥ)8 angesehen haben, in den
kodifizierten Gesetzestexten wider. Demnach sind Ehen weltliche Verträge, die
eine eindeutige Rollenverteilung beinhalten: Der Mann wird als das Oberhaupt
und Versorger der Familie betrachtet, die Frau hingegen hat eine Gehorsamkeits-
pflicht. Die reziproken Rechte und Pflichten werden durch die Begriffe tamkin
(Gehorsamkeit) und nafaqa (Unterhalt) verdeutlicht. Durch eine Heirat ist eine

6„…the totality of God’s law as revealed to the Prophet Muhammad“ (Mir-Hosseini 2003,
S. 2).
7Rechtswissenschaft oder Rechtskorpus, der durch die Auslegungen des Korans und der

Sunna durch klassische Rechtsgelehrte entwickelt worden ist.


8Während dieser Begriff normalerweise mit „Ehevertrag“ übersetzt wird, bezeichnet

Mir-Hosseini ihn als Vertrag des Geschlechtsaktes (contract of coitus) (Mir-Hosseini 2009,
S. 28).
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 181

Frau damit der Autorität ihres Mannes untergeordnet (Mir-Hosseini 2009, S. 31).
Eine Verstoßung (ṭalāq), also die Auflösung der Ehe ohne richterliche Ent-
scheidung, kann insofern heute noch wirksam werden, wenn die Ehefrau ihrem
Ehemann gegenüber ungehorsam ist (nušūz). Mir-Hosseini und Zainah Anwar
weisen aber auf die moralische Unzulänglichkeit dieser Praktik hin und berufen
sich auf eine Aussage des Propheten, der feststellte, dass bei ihrer Vollziehung
„God’s throne shake“ (Mir-Hosseini und Zainah 2012).
Geleitet durch die Überzeugung, dass nicht die Scharia frauendiskriminierend
ist, sondern lediglich die Interpretationen der Männer, die sich nun in den
Familiengesetzen niederschlägt, interpretieren die Netzwerk-Aktivistinnen die
normativen Quellen neu. Ähnlich wie Feministinnen im christlichen Kontext,
die nicht die Religion per se aufgrund Frauen diskriminierender Bibeltextstellen
ablehnen. Musawah zufolge müsse dementsprechend der allem übergeordnete
Zweck (maqāṣid)9 des Islams, den es in den Werten „Freiheit, Gerechtigkeit und
Gleichheit“ sieht, herausgestellt werden (Mir-Hosseini 2006, S. 642).
Der Schlüssel zur Abschaffung frauendiskriminierender Gesetze liegt laut den
Feministinnen in folgendem Koranvers verborgen:

Men are qawwamun [protectors/maintainers] in relation to women, according to


what God has favored some over others and according to what they spend from their
wealth. Righteous women are qanitat [obedient] guarding the unseen according
to what God has guarded. Those [women] whose nushuz [disobedience] you fear,
admonish them, and abandon them in bed, and strike them. If they obey you, do
not pursue a strategy against them. Indeed, God is Exalted, Great (Koran 4:34 über-
setzt von Kecia Ali zitiert nach Mir-Hosseini und Zainah 2012, Hervorhebung im
­Original).

Die Interpretationen klassischer Rechtsgelehrter sind heute immer noch die


Grundlage für die Familiengesetze. Die Begriffe qiwāma (Schutz und Ver-
sorgung) sowie wilāya (Vormundschaft) werden als Legitimierung männlicher
Herrschaft herangezogen und gelten als Ursprung der Diskriminierung von
Frauen (Musawah 2014; Mir-Hosseini und Zainah 2012). Qiwāma (Schutz und
Versorgung) komme aber kein einziges Mal im Koran vor und wilāya (Vormund-
schaft) werde nicht im Zusammenhang mit männlicher Herrschaft über Frauen,

9Maqāṣid: Begriff für Ziele und Absichten der Scharia (Kamali 2006, S. 115); Roth über-

setzt den Begriff mit Zwecke der Scharia. Kamali bemerkt: „It is naturally meaningful to
understand the broad outlines of the objectives of Sharīʿah in the first place before one tries
to move on to the specifics“ (Kamali 2006, S. 131).
182 D. Fennert

sondern mit Freundschaft und gegenseitiger Unterstützung erwähnt. Frauen


werden durch diese Begriffe unter männlichen Schutz gestellt und unterliegen
damit der männlichen Herrschaft. Auch die Vielehen würden durch das qiwāma-
Konzept gerechtfertigt.
Frauen werden von Konservativen generell als schwächer charakterisiert, und
durch ihre biologische Fähigkeit, Kinder zu gebären, werden sie dem häuslichen
Bereich zugeordnet. Diese Geschlechterordnung ist rechtlich durch die Gesetze
verankert und steht laut Musawah weder im Einklang mit den islamischen Prin-
zipien noch mit den international vereinbarten Menschenrechtsnormen (Musawah
2014, S. 2). Zudem stehen diese Zuordnungen im Widerspruch zu der heutigen
Situation von Frauen und Männern, demnach kommen Männer häufig nicht mehr
ihrer „eigentlichen“ Funktion als alleinigem Ernährer nach und Frauen müssen
ebenso für den Unterhalt der Familien Sorge leisten. „The disconnect between the
theoretical construction of the family and today’s reality demands fresh perspecti-
ves on marriage and family relations in line with Islamic and human rights princi-
ples“ (Musawah 2014, S. 2).
Durch den Koran bestätigt, in dem es auch heißt, dass alle Menschen „agents
(khalifah) of God“ sind, besitzt laut dem Netzwerk jeder die Fähigkeit, Gottes
Willen umzusetzen, ohne theologische Vorbildung (Musawah 2009, S. 19). Dar-
aus leiten die Frauenrechtsaktivistinnen ab, dass es nicht nur das Recht, sondern
auch die Pflicht eines jeden (Muslim oder Nicht-Muslim) sei, sich an den Gesetz-
gebungsprozessen zu beteiligen, um Gerechtigkeit und Gleichheit innerhalb der
Familien herzustellen, damit das Wesen des Islams zur Geltung kommt.
Einhellig heißt es im offiziellen Deutungsrahmen des Netzwerks: „We hold
the principles of Islam to be a source of justice, equality, fairness and dignity for
all human beings. We declare that equality and justice are necessary and possible
in family laws and practices in Muslim countries and communities“ (Musawah
2009, S. 12). Nach diesen Prinzipien müssen auch die Beziehungen zwischen den
Geschlechtern im privaten wie im öffentlichen Bereich ausgerichtet sein. Dem-
entsprechend müssten die normativen Quellen des Islams, der Koran und die
Aussprüche des Propheten, im sozio-historischen Kontext betrachtet werden.
Also muss laut Musawah gefragt werden, zu welcher Zeit und unter welchen
Umständen diese entstanden sind.
Das von den Islamisten dargestellte heilige Normenkonstrukt ist gemäß
Musawah also nicht die Scharia, sondern lediglich eine Auslegung männlicher
Rechtsgelehrter. Demzufolge diskriminiert nicht die Scharia Frauen, sondern
die Familiengesetze, die auf den Interpretationen der Männer basieren. Damit
sind Familiengesetze nicht heilig und können und müssen reformiert werden, um
Geschlechtergleichheit zu implementieren, die eine zeitgemäße Geschlechter-
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 183

ordnung sei. Da die Diskurse um Geschlechterordnungen zunehmend von Isla-


misten beeinflusst sind, kann nur eine islamische Argumentation zum Ziel führen.
Das System müsse also von innen heraus reformiert werden (Mir-Hosseini 2006,
S. 644). Indem Musawah für sich selbst beansprucht, religiöse Quellen zu deuten,
und auch Muslime sowie Nicht-Muslime auffordert, sich für Gerechtigkeit und
Gleichheit einzusetzen, fordert es Konservative heraus, die lediglich islamische
Rechts- bzw. Religionsgelehrte als dafür befähigt halten.
Musawah kämpft aber nicht nur innerhalb des islamischen Referenzrahmens,
sondern integriert auch den säkularen Ansatz in seine Reformbemühungen. Die
CEDAW, so das Netzwerk, stimme eher mit den Prinzipien der Scharia überein
als die zurzeit implementierten muslimischen Familiengesetze (Musawah 2009,
S. 20). Die parallele Argumentation mit islamischen als auch säkularen Prinzipien
hat Musawah von der marokkanischen Frauenbewegung adaptiert, deren Kampf
in der Reform des Personenstandsrechts 2004 mündete und seither Männer und
Frauen zu gleichen Teilen für die Familie in die Verantwortung zieht. Da das
Netzwerk wie andere Feministinnen auch für die Umsetzung der CEDAW eintritt,
kann es auch innerhalb der transnationalen Frauenrechtsbewegung eingeordnet
werden. Auch wenn Aktivistinnen, die ausschließlich mit säkularen Argumenten
Frauenrechte einfordern, und religiöse Argumentationen ablehnen, müssen sie
zusammen mit muslimischen Feministinnen, die für die CEDAW eintreten,
innerhalb einer sozialen Bewegung agierend betrachtet werden. Zudem werden
Frauenrechtlerinnen jeglicher Couleur durch die Pro-Familie-Gegenbewegung zu
einer Bewegung vereint.

Die Pro-Familie-Bewegung

Gegen diese hat sich, ausgehend von der internationalen Ebene, initiiert
durch den Vatikan ab 1993 die Pro-Familie-Bewegung formiert: mit dem Ziel,
die traditionelle Familie zu bewahren. Die Annahme, dass die patriarchale
Geschlechterordnung gottgegeben ist, verbindet die religionsübergreifenden
fundamentalistischen Anhänger dieser transnationalen Bewegung. Fanden
anfänglich lediglich Koalitionsbildungen im Rahmen von UN-Konferenzen zwi-
schen dem Vatikan, christlichen und muslimischen NGOs oder Regierungsver-
tretern statt, verdichten sich die Netzwerke heute über die internationale Ebene
hinaus.
Der World Congress of Families (WCF) ist eines der aktivsten Netzwerke und
beeinflusst im Wesentlichen die Mobilisierung dieser Bewegung, indem es regel-
mäßige Konferenzen in unterschiedlichen Staaten um einen antifeministischen
184 D. Fennert

Themenschwerpunkt organisiert, an denen Anhänger aller Weltreligionen


­teilnehmen (Vgl. Plummer 2006, S. 161). Die traditionelle Familie als Basis-
zelle der Gesellschaft sei bedroht und müsse zum Erhalt der Gesellschaft bewahrt
werden. Dieser einheitsstiftende Deutungsrahmen wurde durch das in Rockford
(Illinois) ansässige Howard Center for Family, Religion & Society konzipiert,
welches laut Plumer eine Schlüsselfunktion innerhalb der Bewegung einnimmt
(Ebd., S. 161). Der erste Kongress 1997 des WCF10 wurde von diesem christ-
lich-rechten Forschungsinstitut, einberufen. 147 Repräsentanten von Pro-Fa-
milie-Institutionen aus 45 Staaten, darunter zahlreiche Gesandte des Vatikans,
nahmen an der Auftaktveranstaltung teil.
Buss und Herman beschreiben das Netzwerk als „attempt by the CR UN to
construct a permanent, global interfaith institution“ (Buss und Herman 2003,
S. 80). Eine besondere Bedrohung sahen die Anwesenden in den zahlreichen
UN-Beschlüssen, die feministischen Forderungen entsprechen und ihrer Ansicht
nach die Institution der Familie zerbrechen würden. Islamisch-konservative
und islamistische Akteure sind direkt an der Mobilisierung dieser Bewegung
beteiligt. Mit einem offenen Brief an Papst Benedikt XVI im Oktober 2006 leg-
ten muslimische Pro-Familie-Anhänger den Grundstein für das interreligiöse
Forum A Common Word (vgl. Open Letter to His Holiness Pope Benedict XVI
2006). Die Gülen-Bewegung beteiligt sich fortlaufend an Veranstaltungen, die
zur Bewahrung der traditionellen Familie und entsprechend zur interreligiösen
Zusammenarbeit aufrufen (Vgl. Fennert 2015, S. 248). Als interreligiös
betriebener Think Tank ist in diesem Zusammenhang auch das Building Bridges
Seminar zu erwähnen, das seit 2002 Workshops mit muslimischen und christ-
lichen Wissenschaftlern veranstaltet (Vgl. Berkley Center 2015).
In einem Beschluss vom 20. Oktober 2010 erklärte die UN-Generalver-
sammlung die erste Februarwoche zur World Interfaith Harmony Week und ruft
seither alle Staaten auf, unter dem Motto „Love of the God, and Love of the
Neighbour“11 Veranstaltungen zu initiieren, die einen Beitrag zum interreligiösen
und interkulturellen Dialog leisten (Vgl. UN 2010). Das A-Common-Word-Netz-
werk wird als beispielgebend dafür erwähnt (Vgl. ebd.). Damit wird auch eine
Plattform für konservative und islamistische Akteure gegeben, um weiterhin

10Dieser fand vom 19.–22. März 1997 statt und wurde durch das Howard Center in
Kooperation mit zahlreichen Institutionen und NGOs veranstaltet (vgl. www.worldcong-
ress.org).
11Unter diesem Motto trafen sich auch erstmals die Gründer des Forums A Common Word

2008 im Vatikan.
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 185

Abb. 1 Der transnationale feminismus und seine gegenbewegung. (© Dana Fennert/


Philipps-Universität Marburg/epubli; Quelle: Fennert 2015, S. 271)

Netzwerke um den Erhalt der traditionellen Familie knüpfen zu können. Abb. 1


veranschaulicht die Gemeinsamkeiten, aber auch die Unterschiede der einzelnen
Bewegungsakteure dar, die international, transnational und national die Debatten
um Geschlechterordnungen bestimmen.

Fazit

Die CEDAW hat das Ziel, Diskriminierung von Frauen auf allen Ebenen abzu-
schaffen. 1995 wurden auf der vierten UN-Weltfrauenrechtskonferenz in Peking
weitere Strategien vereinbart, um dieses Ziel zu erreichen. Allerdings zeigte sich
bei den Bilanzkonferenzen (Peking + 5, Peking + 10) in New York deutlich, dass
die Gegenbewegung weitere Zugeständnisse für Frauenrechte verhindern wird.
Die Bush-Regierung versuchte, auf der Bilanz-Konferenz Peking + 10 in New
York 2005 Vereinbarungen der Aktionsplattform neu zu verhandeln und den
186 D. Fennert

Passus zu integrieren, dass diese für Staaten nicht rechtsverbindlich sei. Unter-
stützung erhielten die USA durch NGOs aus dem christlich-rechten Spektrum
der USA, durch Regierungsvertreter aus Ägypten, Katar, Costa Rica, Nicaragua
und Panama sowie dem Vatikan. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass
die USA, neben den Inselstaaten Tonga und Palau sowie den islamischen Mehr-
heitsgesellschaften Iran, Somalia sowie Sudan, zu den wenigen Staaten gehören,
die die CEDAW bis heute nicht ratifiziert haben12 (Vgl. UN 2014; UN Women
Nationales Komitee Deutschland 2014). Der wesentliche Erfolg, den die Pro-
Familie-Bewegung für sich erreicht hat, ist die Infragestellung von offiziellen
UN-Frauenrechtskonferenzen seitens der transnationalen Frauenbewegung. Das
Netzwerk Development Alternatives with Women for a New Era (DAWN) stellt
beispielsweise fest: „For the sake of our hard won gains. No official negations
of any kind!“ (Zit. nach Chappell 2006, S. 518). Über die Notwendigkeit einer
fünften UN-Weltfrauenkonferenz ist sich die Frauenbewegung uneinig, da in
Anbetracht ihrer Gegenbewegung damit Neuverhandlungen von bisher hart
erkämpften Errungenschaften riskiert würden.
Die politischen Gelegenheitsstrukturen schließen sich zunehmend für alle
Feministinnen und Feministen, auf der UN-Ebene, aber auch innerhalb natio-
naler Kontexte. Wie gezeigt worden ist, haben es Musliminnen doppelt schwer.
Einerseits können sie innerhalb ihrer eigenen Reihen nicht auf hinreichende
Unterstützung hoffen, andererseits erobern auf der UN-Ebene anti-feministische
Akteure das Terrain. Aber auch in westlichen Staaten spitzen sich anti-feminis-
tische Strömungen zu. Während die etablierten Kirchengemeinden zunehmend
Mitglieder verlieren, gewinnen Freikirchen oder evangelikale Strömungen überall
an Zulauf (Vgl. Upadeck 2016). In Deutschland beispielsweise sind mittlerweile
1,3 Millionen Menschen unter dem Dachverband „Deutsche Evangelische Alli-
anz“ (DEA) der christlichen Freikirchen und charismatischen Bewegungen orga-
nisiert (Ebd.). Ihre Mitglieder werden als „evangelikal“ bezeichnet, was nicht mit
„evangelisch“ der Selbstbezeichnung der Amtskirchen zu verwechseln ist (Ebd.).
Eher „dogmatische Auslegungen der Bibel“ vereinten unter dem Begriff Evan-
gelikalismus zum Ende des 19. Jahrhunderts Kritiker der Moderne (Upadeck
2016). Grundlage der Fundamentalisten als auch der liberalen Protestanten ist
das Neue Testament. Dass sich Konservative aller Couleur um antifeministische
Themen verbünden, bringt Thielmann auf den Punkt: „Manche Evangelikale

12Auch der Staat Niue, der frei mit Neuseeland assoziiert ist und kein UN-Mitglied ist,
verweigert die Ratifizierung der CEDAW (UN Women Nationales Komitee Deutschland
2014).
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 187

verbünden sich gern mit Rechtskatholiken und mit Anti-Abtreibungsinitiativen,


deren Repräsentanten mit AfD-Funktionären verbunden sind: Für die Ordnung
und die guten alten Sitten ist ihnen jede Koalition recht“ (Thielmann 2016). Fol-
gendes Zitat macht deutlich, welche Geschlechterordnung sie für erstrebenswert
halten:

Als Christen haben wir die Hoffnung und den Auftrag, dass Männer und Frauen
durch die Erkenntnis der Liebe Gottes in Christus fähig werden, einander in
ihrer ursprünglichen Würde wahrzunehmen. Die Genderideologie bestreitet die
Zuordnung des Mannes zur Frau und der Frau zum Mann und ihr gegenseitiges
‚Erkennen‘. Für sie ist Gleichstellung erst erreicht, wenn der Unterschied zwischen
den beiden unkenntlich gemacht und überwunden ist. Sollte das stimmen, wäre auch
die kleinste Einheit der Gesellschaft, die Ehe, durch andere Lebensformen ersetzbar.
Was aber soll der Gesellschaft Bestand und Dauer geben, wenn nicht die auf Liebe
und Treue gründende Verbindung, in welcher Kinder möglich, willkommen und
geborgen sind? Wo kann die Versöhnung der Geschlechter besser und nachhaltiger
gelingen als im fruchtbaren Miteinander von Mann und Frau? (Sipos 2010).

Zum Evangelikalismus wird auch die Pfingstbewegung gezählt, die beispiels-


weise in Brasilien 40 Mio. AnhängerInnen zählt, und in den USA 64 Mio. (Upa-
deck 2016).
Feministinnen im Islam haben neue Lesarten der überlieferten Quellen
angeboten. Doch stoßen sie international und transnational auf ihre Gegner, die
Akteure der Pro-Familie-Bewegung. In den muslimischen nationalen Kontex-
ten sind dies vor allem islamisch-konservative und islamistische Anhänger die-
ser Bewegung. Die Forderung nach Gleichberechtigung wird mit westlicher
Indoktrination und der damit verbundenen intrinsischen Absicht, den Islam zu
zerstören, gleichgesetzt. Die transnationale Frauenbewegung, die international für
die CEDAW eintritt, ist angesichts der Pro-Familie-Bewegung in sich gespalten.
Solang sich die fundamentalistischen Vorstellungen der Geschlechterhierarchien
weiter in den Gesellschaften ausbreiten, und Religionsanhänger aller Religionen
an dem kleinsten gemeinsamen Nenner der männlichen Herrschaft über Frauen
festhalten, solang stehen Feministinnen vor einer großen Herausforderung – und
damit auch die Reformatorinnen und Reformatoren des Islams.
All, das, was von der Reformation im Christentum gelernt werden könnte,
wird bereits von den muslimischen Frauenrechtlerinnen umgesetzt: eine
sozio-historische Auslegung der religiösen Quellen, der Glaube an die eige-
nen Fähigkeiten, die Botschaft zu entschlüsseln, sich gegen patriarchale Wider-
stände zur Wehr setzten. Da aber auch gezeigt worden ist, dass diese Widerstände
nicht allein von islamistischen Akteuren ausgehen, sondern diese transnational
188 D. Fennert

i­nterreligiös vernetzt sind, bleibt nur die Kooperation aller liberalen Akteure. Was
muslimische Feministinnen heute deutlich machen, ist, dass es keiner Reforma-
tion im Islam bedarf, da sie bereits in Gang gesetzt worden ist. Ob sie langfristig
ihre Forderungen durchsetzen können, bleibt allerdings fraglich.
Der Blick sollte insofern nicht nur auf konservative Muslime und Muslimin-
nen gerichtet bleiben, sondern sich weiter auf alle Fundamentalisten richten, die
eine Gleichberechtigung als konträr zur göttlich vorgesehenen Geschlechter-
ordnung betrachten und versuchen, diese auf allen Ebenen einzuschränken.

Literatur

An-Naʼim, Abdullahi. 2002. Islamic family law in a chaning world: A global resource
book. London: Zed Books Ltd.
Berkley Center for Religion, Peace & World Affairs. Georgetown University. 2015. The
Building Bridges Seminar: https://berkleycenter.georgetown.edu/projects/the-buil-
ding-bridges-seminar. Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Buss, Doris, und Didi Herman. 2003. Globalizing family values: The Christian right in
international politics. Minneapolis: University of Minnesota Press.
Chappell, Louise. 2006. Contesting women’s rights: Charting the emergence of a trans-
national conservative counter-network. Global Society 20 (4): 491–520.
Derichs, Claudia. 2010. Transnational women’s movements and networking: The case of
Musawah for equality in the family. Gender, Technology and Development 14 (3): 405–421.
Domröse, Sonja. 2014. Frauen der Reformationszeit: Gelehrt, mutig und glaubensfest. Göt-
tingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Domröse, Sonja. 2016a. 500 Jahre Reformation: Von Frauen gestaltet. Katharina von Bora.
http://www.frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=6. Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Domröse, Sonja. 2016b. 500 Jahre Reformation: Von Frauen gestaltet. Katharina Zell.
http://www.frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=20. Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Fennert, Dana. 2015a. Islamischer Feminimsus versus Pro-Familie-Bewegung: Trans-
nationale Organisationsformen. Berlin: epubli.
Fennert, Dana. 2015b. Musawah: Der Kampf um Gleichberechtigung im Islam (Film).
https://vimeo.com/ondemand/islamischerfeminismus. Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Hauschildt, Eberhard. 2014. Pfarrerinnen verändern die Theologie des Pfarramts und der Kir-
che. https://www.ev-theol.uni-bonn.de/fakultaet/PT/hauschildt/vortrag-2.6.2014-hauschildt.-
pfarrerinnen-verandern-die-theologie-des-pfarramts-und-der-kirche.pdf. Zugegriffen: 14.
Nov. 2016.
Kamali, Mohammad Hashim. 2006. An introduction to Sharīʿah. Kuala Lumpur: Ilmiah.
Kohlstruck, Barbara. 2014. Ermutigt, bestärkt, befreit!? Was brachte die Reformation den
Frauen? Predigt im Rahmen der Reihe „Luther bewegt“. http://www.kulturkirche-ludwigs-
hafen.de/Predigt%20Dekanin%20Kohlstruck.pdf. Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Marquard, Reiner. 2003. Protest für und nicht gegen die Kirche: Anstöße zur Überwindung
der Krise des Protestantismus. In Der Protestantismus vor den Herausforderungen
des Säkularen. In Rostocker Theologische Studien Band 12, Hrsg. Hans Martin Barth,
53‒61. Münster: LIT.
Keine Reformation ohne Gleichberechtigung … 189

Mawick, Reinhard. 2014. EKD (Evangelische Kirche in Deutschland). Kernbotschaft der


Reformation: „Selbst denken!“. EKD-Botschafterin Margot Käßmann würdigt Jan Hus
in Prag. https://www.ekd.de/presse/pm48_2014_kernbotschaft_der_reformation_kaess-
mann_in_prag.html. Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Meier, Christian. 2016. FAZ. „Muslime brauchen keinen Martin Luther“. Interview mit
Gudrun Krämer. http://www.faz.net/aktuell/politik/islamwissenschaftlerin-gudrun-krae-
mer-im-interview-ueber-islam-14221630.html?printPagedArticle=true#/elections.
Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Millhahn, Ulrike. 2013. Evangelisch-Lutherische landeskirche hannovers. Seit 50 Jahren:
Pastorinnen. https://www.landeskirche-hannovers.de/evlka-de/presse-und-medien/front-
news/2013/12/14. Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Mir-Hossein, Ziba, und Zainah Anwar. 2012. Decoding the “DNA of Patriarchy” in Mus-
lim family laws. http://www.opendemocracy.net/5050/ziba-mir-hosseini-zainah-anwar/
decoding-%E2%80%9Cdna-of-patriarchy%E2%80%9D-in-muslim-family-laws.
Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Mir-Hosseini, Ziba. 2003. The construction of Gender in Islamic legal thought and strate-
gies for reform. Hawwa 1 (1): 1–28.
Mir-Hosseini, Ziba. 2006. Muslim women’s quest for equality: Between Islamic law and
feminism. Critical Inquiry 32 (4): 629–645.
Mir-Hosseini, Ziba. 2009. Towards gender equality: Muslim family laws and the Shari’ah.
In Wanted: Equality and justice in the Muslim family, Hrsg. Zainah Anwar, 23‒63. Peta-
ling Jaya: Musawah.
Musawah. 2009. Wanted: Equality and justice in the Muslim family. http://www.musawah.
org/wp-content/uploads/2018/11/MusawahWanted_En.pdf. Zugegriffen: 18. Apr. 2019.
Musawah. 2014. Musawah Knowledge Building Initiative on Qiwamah and Wilayah. http://
www.musawah.org/sites/default/files/Qiwamah%20Initiative%20Overview%20.pdf.
Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Nordkirche. 2016. Nordkirche mit neuer Handreichung zur Frauenordination. https://www.
nordkirche.de/nachrichten/nachrichten-detail/nachricht/nordkirche-mit-neuer-hand-
reichung-zur-frauenordination/. Zugegriffen: 18. Apr. 2019.
Open Letter to His Holiness Pope Benedict XVI. 2006. http://www.ccjr.us/images/stories/
Muslim_reply_to_B16_2006Oct13.pdf. Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Plummer, Ken. 2006. Rights Work: Constructing lesbian, gay and sexual rights in late
modern times. In Rights: Sociological perspectives, Hrsg. Lydia Morris, 152‒167.
Abingdon: Routledge.
Rohe, Mathias. 2009. Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl. München:
Beck.
Sammet, Kornelia. 2010. Die Bedeutung des Geschlechts im evangelischen Pfarramt. Gen-
der 1:81–99.
Schacht, Joseph. 1982. An introduction to Islamic law, 2. Aufl. New York: Oxford Uni-
versity Press.
Sipos, Irisz. 2010. Gebetsbewegung der Evangelischen Allianz. Identität von Mann und Frau.
Monatliches Allianzgebet für Juli 2010. http://www.ead.de/gebet/monatliches-allianz-
gebet/archiv/identitaet-von-mann-und-frau.html. Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Sonbol, Amira El-Azhary. 2009. “The Genesis of Family Law: How “Shari’ah”, Custom
and Colonial Laws influenced the Development of Personal Status Codes”. In Wanted:
Equality and justice in the Muslim family, 179–203.
190 D. Fennert

Thielmann, Wolfgang. 2016. Evangelikale Kirche. Der Wächterrat steht vor der Tür. http://
www.zeit.de/2016/13/evangelikale-krise-evangelische-allianz-afd?print. Zugegriffen:
14. Nov. 2016.
UN Women (Nationales Komitee Deutschland). 2014. Internationale Konventionen:
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. http://
www.unwomen.de/schwerpunkte/internationale-konventionen.html. Zugegriffen: 14.
Nov. 2016.
United Nations (General Assembly). 2010. Resolution adopted by the General Assem-
bly on 20 October 2010. 65/5. World Interfaith Harmony Week. http://daccess-dds-ny.
un.org/doc/UNDOC/GEN/N10/512/84/PDF/N1051284.pdf?OpenElement. Zugegriffen:
14. Nov. 2016.
United Nations. 2014. Treaty Collection: Chapter IV Human Rights: 8. Convention on the
Elimination of All Forms of Discrimination against Women (Status as at: 14.11.2016).
Chapter IV Human Rights: 8. Convention on the Elimination of All Forms of Discri-
mination against Women (Status as at 14.11.2016). https://treaties.un.org/Pages/View-
Details.aspx?src=IND&mtdsg_no=IV-8&chapter=4&clang=_en. Zugegriffen: 14.
Nov. 2016.
Upadek, Carsten. 2016. Religiöse Bewegungen. Evangelikale Christen – konservativ bis
radikal. http://www.planet-wissen.de/kultur/religion/jenseits_der_traditionellen_kirchen/
pwieevangelikalechristenkonservativbisradikal100.html. Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Wichterich, Christa. 2007. Transnationale Frauenbewegungen und Global Governance.
http://www.fu-berlin.de/sites/gpo/int_bez/globalisierung/Transnationale_Frauen-
bewegungen/wichterich.pdf. Zugegriffen: 14. Nov. 2016.
Teil IV
Vergleichende Perspektiven
Islam und moderne Zivilgesellschaft –
Reformation und Humanismus als
Paradigmen der Entwicklung

Jörn Rüsen

Worum geht es?

Ich gehe davon aus, dass der Islam in seinen dominanten Formen der Gegenwart
mit der Kultur der westlichen modernen Gesellschaft unverträglich ist. Diese
Unverträglichkeit lässt sich an folgenden Gesichtspunkten erläutern:

• Säkulare Grundwerte stehen gegen religiös konzipiertes Recht (z. B. bei der
Frage der Gleichheit der Geschlechter, der Gewaltenteilung in der Organisa-
tion politischer Herrschaft);
• kultureller Pluralismus und religiöse Toleranz stehen einem Allgemeingültig-
keitsanspruch des muslimischen Glaubens gegenüber;
• religiöser Universalismus widerspricht dem säkularen Charakter der modernen
Zivilgesellschaft: Entsprechend setzt sich ein theologischer Fundamentalismus
der zeitgenössischen aufgeklärten Theologie der meisten christlichen Konfes-
sionen entgegen.

Es bedarf also einer religiösen Affirmation des kulturellen Säkularismus der


modernen Zivilgesellschaft. Dafür ist das Beispiel der Interpretation der Menschen-
und Bürgerrechte von Hans Joas (2015) wegweisend. Entgegen der bisher dominie-
renden historischen Interpretation betont er den Einfluss christlichen Denkens auf
die Entstehung und Entwicklung der Grundrechte und ersetzt die klare Trennung
zwischen Säkularismus und Religionskritik auf der einen und christlich-religiöser

J. Rüsen (*)
Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI), Essen, Deutschland
E-Mail: joern.ruesen@t-online.de

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 193
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_11
194 J. Rüsen

Einstellungen auf der anderen Seite durch ein recht kompliziertes wechselseitiges
Bedingungsverhältnis.
Ausgehend von dieser Problemlage stehen die Veränderungschancen des
Islam und seiner inneren Historizität infrage. Der Islam hatte eine kulturelle
Blütezeit vom 9. bis zum 13. Jahrhundert. Er konnte aber das damals erreichte
intellektuelle Niveau nicht halten und verfiel. Im 19. Jahrhundert gab es dann
Versuche, ihn an die westliche Entwicklung anzupassen. Diese Versuche haben
zu keinem bleibenden Ergebnis geführt. Gegenwärtig gibt es Ansätze in Europa,
der Erwartung oder gar dem Gebot der Anpassung des Islam an die kulturellen
Normen der westlichen Modernität zu entsprechen. Dafür stehen beispielhaft die
kürzlich verstorbenen Kulturwissenschaftler Mohammad Arkoun (2005, 2009)
und Nasr Abu Said (2008).
Die Forderung einer solchen Anpassung stellt für den Islam und seine Kritiker
ein Problem dar: Die oben aufgelisteten Widersprüche und Probleme und die dar-
aus folgenden Zumutungen seiner Veränderung kommen dem Islam zumeist nur
von außen zu. Diese Veränderungen sind aber nur dann erfolgreich und langfristig
wirksam, wenn sie von innen, aus dem Glaubensleben der Muslime und seiner
theologischen Auslegung stammen.
Als historisches Beispiel für eine solche innere Verwandlung werden heute
die Reformation und der europäische Humanismus angeführt.1 Was lässt sich aus
­diesen Beispielen für die gegenwärtige Situation des Islam ableiten oder lernen?

Historische Exempla als Paradigmen

Dazu ist zunächst einmal anzumerken, dass das historische Denken über eine
sehr lange Zeit seiner Geschichte sich selbst als Sammlung von Beispielen für
die Regelung aktueller Probleme aus der historischen Erfahrung verstanden hatte.
Es folgte der Logik einer exemplarischen Sinnbildung, für die der Slogan Ciceros
„historia vitae magistra“ steht: die Geschichte lehrt Beispiele dafür, wie mensch-
liches Handeln mit welchen Konsequenzen erfolgt. Aus ihr lassen sich also
durchaus Anweisungen für die Praxis der Gegenwart gewinnen.2
Diese Denkweise gibt es immer noch, aber sie ist durch eine spezifisch moderne
Ausprägung des historischen Denkens überholt (Koselleck 1979, passim). Seit
dem Ende des 18. Jahrhunderts hat sich die Logik des historischen Denkens ver-

1So z. B. bei Ourghi (2016, S. 13).


2Zu den Typen historischer Sinnbildung siehe Rüsen (2013a, S. 209 ff.).
Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation und Humanismus … 195

ändert: Zukunftserwartungen lassen sich nicht mehr hinreichend aus der Erfahrung
der Vergangenheit herleiten und Handlungen relevant begründen. (Dafür steht das
bekannte Zitat des großen deutschen Historikers des 19. Jahrhunderts, Leopold von
Rankes (1795–1886): „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu rich-
ten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: So hoher
Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es
eigentlich gewesen.“ (Ranke 1855, S. VIII; 1973, S. 137).
Es ist also aus grundsätzlichen geschichtstheoretischen Überlegungen ein Irr-
weg, historische Entwicklungen der Vergangenheit zum Muster erwünschter Ent-
wicklungen in der Zukunft zu nehmen. Somit ist die schlichte Heranziehung der
Reformation als Vorbild nicht überzeugend. Ist damit aber die Geschichte aus
dem Spiel des Denkens ausgeschieden, das die Modernitätsverträglichkeit des
Islam aus historischen Erfahrungen erörtern möchte? Nein, denn das moderne
historische Denken hat ja seine eigene Logik der Beziehung der Vergangenheit
auf gegenwärtige Lebensumstände und Problemlagen. Statt Beispielen aus der
Vergangenheit, aus denen sich allgemeine Regeln ableiten und auf gegenwärtige
Verhältnisse anwenden lassen, geht es ihm um Entwicklungen oder Tendenzen,
die in der Vergangenheit angelegt sind, die gegenwärtigen Lebensverhältnisse in
ihrer zeitlichen Dimension bestimmen und Zukunftsperspektiven eröffnen.
Hinsichtlich der Problemlage im Verhältnis von Islam und Moderne möchte
ich drei solcher Tendenzen in der geschichtlichen Entwicklung des Westens von
der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart herausgreifen:

• eine Pluralisierung des religiösen Glaubens,


• eine generelle Rationalisierung der kulturellen Orientierung (hier kann die
Religion als regressive Eingrenzung und Schwächung der aufklärenden Ver-
nunft oder aber als Fundierung dieser durch die mentale Tiefe des religiösen
Glaubens wirken),
• eine Individualisierung des Menschen, die zur Autonomie seiner Subjektivität
über alle gesellschaftlichen Vorgaben hinausführen kann.

Die Reformation im historischen Selbstverständnis


der Moderne

Auf den ersten Blick ist die Reformation alles andere als ein Modell für die
Modernisierung des Islam. Luther war, wie die historische Forschung überzeugend
nachgewiesen hat, ein durch und durch mittelalterlicher Mensch und hätte die Kul-
tur der Moderne aus seinem Glaubensüberzeugungen heraus abgelehnt. Nichts-
196 J. Rüsen

destoweniger sind aber aus den Folgen seines Wirkens und dann insbesondere aus
verwandten reformatorischen Bewegungen wie den protestantischen Sekten und
dem Calvinismus mächtige Impulse der Modernisierung hervorgegangen. Diesen
von Luther und den anderen Reformatoren durchaus nicht beabsichtigten Ent-
wicklungen wäre zu folgen, wenn es darum geht, den Islam in eine historische
Perspektive zu rücken, in der eine ähnliche Verwandlung geschehen könnte.
Ich möchte eine Tendenz herausgreifen, die mir aus bestimmten Gründen
besonders wichtig zu sein scheint: die Subjektivierung und Individualisierung des
religiösen Glaubens. Sie betrifft den Kernbestand aller Weltreligionen. Die Welt-
religionen haben sich in einem kulturellen Evolutionsschritt herausgebildet, den
wir im Anschluss an Karl Jaspers als „Achsenzeit“ bezeichnen (Jaspers 1949,
1963, Teil I/10).
Um zu verdeutlichen, worum es geht, möchte ich von einer anthropologisch
universellen Grund-Unterscheidung der menschlichen Lebensform zwischen dem
Menschen und seiner Kultur, der ihn umgebenden Natur und der übernatürlichen
Welt ausgehen. Die achsenzeitliche Wendung zur Weltreligion bedeutet eine
schärfere Trennung und komplexere Vermittlung dieser drei Dimensionen. Die
menschliche Subjektivität formiert sich als ein eigenes Verhältnis des Menschen
zu sich selbst, die göttliche Welt bekommt eine transzendente Dimensionierung,
und die Natur gewinnt an Gegenständlichkeit.
Das ist natürlich äußerst abstrakt formuliert, aber es ermöglicht eine scharfe
Profilierung des Faktors, der für die Reformation hinsichtlich der Formierung
menschlicher Subjektivität in der Neuzeit und Moderne wesentlich ist. Die Refor-
mation wirft das menschliche Selbst gleichsam auf sich selbst zurück, indem sie
die von der Kirche angebotenen Vermittlungen mit der göttlichen Welt als Ver-
fälschung der Beziehung zu ihr zurückweist. Dadurch gewinnt das Selbst in sei-
ner religiösen Grundeinstellung (Glaube) eine fundamentale Bedeutung. Luther
hat das mit seiner Formulierung „sola fide“ zum Ausdruck gebracht. Sie besagt,
dass der Mensch allein durch den Glauben und nicht durch irgendwelche kulti-
schen Handlungen seine Erlösung erfährt.
In seiner frühen Reformationsschrift „Von der Freiheit eines Christen-
menschen“ (1520) unterscheidet er scharf zwischen der Innenbeziehung des reli-
giösen Glaubens zu Gott und der Außenbeziehung des menschlichen Selbst zur
Welt. In der Innenbeziehung ist der Mensch „ein freier Herr über alle Dinge und
niemand untertan“, während er in der Außenbeziehung „ein dienstbarer Knecht
aller Dinge und jedermann untertan“ ist. Es kommt nun alles auf die innere
Beziehung an: „Ich habe kurzweg alles auf den Glauben gestellt, dass, wer ihn
hat, alles haben und selig sein soll; wer ihn nicht hat, soll nichts haben.“ (Luther
1964, S. 162, 167). Diese Freiheitsvorstellung hat im Lichte ihrer späteren
Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation und Humanismus … 197

Interpretation seit der Aufklärung im deutschen Kulturprotestantismus Epoche


gemacht. Sie ließ sich in den Grenzen des religiösen Glaubens nicht halten, son-
dern wirkte sich auf die kulturelle Orientierung insgesamt bis zu einer geradezu
säkularen Dimensionierung (etwa bei Richard Rothe [1799–1867]) aus.
Für diese epochale Wirkung möchte ich drei Belege anführen: einmal die
Hegelsche These vom Beginn der Neuzeit mit der Reformation. Hegel (1770–
1831) war als Zeitgenosse der Französischen Revolution mit der Frage konfron-
tiert, ob es nicht in Deutschland eine zu dieser Revolution analoge Veränderung
des menschlichen Weltverhältnisses gegeben habe. Er hat diese Frage nach-
drücklich bejaht und darauf hingewiesen, dass die Kultur Deutschlands eine sol-
che Revolution deshalb nicht brauche, weil der von ihr bewirkte Freiheitsschub
schon durch die Reformation stattgefunden habe. „Hiermit ist das neue, das letzte
Panier aufgetan, um welches sich die Völker sich sammeln, die Fahne des freien
Geistes […]. Dies ist die Fahne, unter der wir dienen und die wir tragen. Die Zeit
von da bis zu uns hat kein anderes Werk zu tun gehabt und zu tun, als dieses Prin-
zip in die Welt hinein zu bilden […].“ (Hegel 1970, S. 496).
Mein zweiter Zeuge ist Ernst Troeltsch (1865–1923), der große Theologe des
Kulturprotestantismus. In seiner 1911 erschienenen Schrift „Die Bedeutung des
Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ hat er zusammenfassend
so geurteilt: „Die moderne Kultur ist […] hervorgegangen aus dem großen Zeit-
alter der kirchlichen Kultur, die auf dem Glauben an eine absolute und unmittel-
bare göttliche Offenbarung und auf der Organisation dieser Offenbarung in der
Erlösung- und Erziehungsanstalt der Kirche beruhte.“ (Troeltsch 1911, S. 9).
Er meint damit nicht nur die Reformation, sondern das Christentum insgesamt.
Dem Protestantismus weist er dann eine sehr komplexe Rolle bei der Entstehung
der Moderne zu. Einerseits ist er ganz vormodern; dann aber hat sich aus seiner
Vertiefung und Verschärfung des persönlichen Glaubens als einziger Quelle des
religiösen Heils – durchaus gegen die Absichten der Reformatoren – eine Grund-
einstellung moderner Weltdeutung und menschlicher Selbstverständigung ent-
wickelt. Dafür steht kein einheitlicher Protestantismus und keine einheitliche Idee
der Reformation, sondern in ganz unterschiedlichen Verbindungen und Kontexten
seine Ausprägung in verschiedene Gruppierungen und Glaubensausrichtungen. In
dieser komplexen Gemengelage reformatorischer Bewegungen kommt es dann in
zum Individualismus der menschlichen Subjektivität, zum Pluralismus religiö-
ser Einstellungen, zur Trennung von Kirche und Staat, der „Überzeugungs- und
Meinungsfreiheit in allen Dingen der Weltanschauung und der Religion“, zur
Auffassung von der „Unantastbarkeit des persönlich-inneren Lebens durch den
Staat.“ (Ebd., S. 63) Mit all dem war die Anerkennung einer säkularen Dimension
der menschlichen Welt verbunden.
198 J. Rüsen

Religiöse Subjektivität und säkulare Welt stehen sich nicht mehr als Gegen-
sätze gegenüber, sondern die eine versteht die andere als Ort ihrer Bewährung
und Verwirklichung. Im Anschluss an Georg Jellinek (1895) (dessen Thesen kürz-
lich von Joas aufgegriffen und in neuer Form verteidigt wurden) spricht Troeltsch
dem Sektentum und dem Spiritualismus, die beide Ableger der Reformation sind,
die Vaterschaft an den Menschen- und Bürgerrechten zu (Troeltsch 1911, S. 62).
Der Protestantismus wirkte in diesen Tendenzen zur Moderne hin ganz unter-
schiedlich. Durchschlagend war seine Verbindung mit der Aufklärung, die ihm
eine „emphatisch-emanzipatorische Ausrichtung“, insbesondere in der deutschen
intellektuellen Elite verlieh. Im 19. Jahrhundert wurde Protestantismus zu einem
„Bewegungsbegriff für die Einheit von denkender Religion, fortschreitender Kul-
tur und freiheitlichem Staat.“ (Graf und Sparn 2009, Lemma „Protestantismus“
S. 503). Seine „Verbindung von Weltfrömmigkeit wurde in aktive Bürgerfreiheit
und fortschrittliche Modernitätsfreude überführt.“ (Ebd.).
Mein dritter Zeuge schließlich ist einer der bedeutendsten protestantischen
Theologen nach Ernst Troeltsch, Paul Tillich (1886–1956). Er hat die besondere
Beziehung des religiösen Glaubens zur Profanität der Welt betont, die seiner
Ansicht nach das geistige Profil des Protestantismus ausmacht. „Der Protestantis-
mus fordert gerade aus seinem Wesen heraus eine profane Wirklichkeit. Er for-
dert einen konkreten Protest gegen die sakrale Sphäre und gegen den kirchlichen
Stolz, einen Protest, der in der Profanität verkörpert ist. Protestantische Profani-
tät ist ein Wesenselement der protestantischen Gestaltung. Der Prüfstein für die
gestaltende Kraft des Protestantismus ist immer seine Beziehung zur Profanität.
[…] Protestantische Gestaltung ist eine Gestaltung, in der die ausdrücklich reli-
giösen Formen bezogen sind auf eine sie infrage stellende Profanität.“ (Tillich
1962, S. 62). Mit diesen Aussagen beschreibt Tillich keine historische Tendenz
der Reformation, sondern eine Konstellation von Subjektivität und Welt, die die
Reformation hervorgebracht hat und die seines Erachtens den Protestantismus in
allen seinen historischen Formen grundsätzlich bestimmt.
Für den Islam kann diese Modernisierungsbewegung und ihr Resultat einer
spezifischen Affinität zwischen dem Religiösen und dem Profanen durchaus
anregend sein. Schließlich ist auch er durch eine religiöse Formierung mensch-
licher Subjektivität in Bezug auf einen transzendenten Gott bestimmt. Ob sich
dieser Bezug freilich vergleichbar radikalisieren und dann in einem zweiten
Schritt zur Säkularität der Welt hin öffnen lässt, steht dahin. Es hängt sicher
von den Umständen ab – der Unterschied einer Modernisierung im Kontext der
Moderne und einer Modernisierung zur Moderne hin ist ja eklatant und gewaltig –
aber entscheidend dürfte die religiöse Substanz des Transzendenzbezuges sein: In
der historisch umgreifenden Dialektik zwischen Subjektivierung des Selbst und
Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation und Humanismus … 199

Objektivierung der Welt, in der sich die Weltreligionen ausgebildet haben ist ein
solche Säkularisierung der Welt durchaus angelegt. Freilich bedarf es dazu einer
Befreiung der gläubigen Subjektivität vom Dogmatismus vorgegebener Glaubens-
deutungen und Lebensregeln, wie sie der Protestantismus in seiner Entwicklung
zum Kulturprotestantismus durchgemacht hat. Ein analoger „Kulturislamismus“
könnte ein starkes Gegengewicht zum islamischen Fundamentalismus abgeben.
Dass der Islam ein Potenzial zu solcher „Kulturalisierung“ hat, zeigt ja seine
eigene Geschichte.3

Humanismus

Das Paradigma des westlichen Humanismus ist im Islam anschlussfähig. Dieser


kennt in seiner kulturellen Blütezeit einen Bezug zur klassischen Antike, der sich
durchaus mit dem frühneuzeitlichen Humanismus im Westen vergleichen lässt (und
zu dessen historischen Voraussetzungen gehört). Auch hier wurden Spielräume
intellektueller Diskurse eröffnet, die einen religiösen Dogmatismus nicht zuließen.
Aber einen über diesen intellektuellen Aufschwung hinausgehenden modernen
Humanismus hat es, wenn überhaupt, nur in Ansätzen gegeben (Reichmuth et al.
2012, passim). Diese Ansätze wurden, inspiriert durch ihren Kontext, in Europa ent-
wickelt. Beispielhaft dafür stehen die Namen Naṣr Ḥāmid Abū Zaid und Moham-
mad Arkoun (s. o.). Eine breite intellektuelle Entwicklung, die den Menschen ins
Zentrum der Erörterungen gestellt hätte und von seiner Würde aus Grundlinien
einer kulturellen Orientierung entwickeln könnte, gibt es nicht. Noch nicht?
Der moderne westliche Humanismus ist im Unterschied zum frühneuzeitlichen
überwiegend säkular geprägt. Er verdankt sich der Religionskritik der Aufklärung
und entwickelt eine Vorstellung vom Menschen, die ihn ins Zentrum der Welt-
deutung in theoretischer und in praktischer Hinsicht stellt. Maßgebend für ihn
sind eine universalistische, zugleich empirisch ausgelegte und normativ angelegte
Vorstellung von der Menschheit, eine generelle Historisierung der Weltdeutung
und Individualisierung des menschlichen Selbst und eine am Menschheitsideal
ausgerichtete Bildungskonzeption. Dieses Menschheitsideal hebt auf Gleichheit
und Würde ab. Es inspiriert die Ende des 18. und im 19. Jahrhundert entstehenden
und sich institutionalisieren Geisteswissenschaften mit dem hermeneutischen

3Ein Beispiel dafür ist die „Freiburger Deklaration – Gemeinsame Erklärung der Reform-
muslime in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ vom 16.9.2016 (http://freiburger-­
deklaration.info/ – 23.9.2016).
200 J. Rüsen

Prinzip, jeder menschlichen Lebensform einen Wert in sich zuzusprechen.


‚Würde‘ kommt also nicht nur dem einzelnen Menschen als Selbstzweck (Kant)
zu, sondern auch den Lebensformen, die er als seine eigenen empfindet. Ver-
bunden mit dem Individualitätsprinzip ist diese Hermeneutik also pluralistisch
verfasst (Rüsen 2010, passim; 2012, passim; 2016, passim).
Im Islam hat dieser Humanismus noch keine Wurzeln geschlagen, und er
hat von ihm auch (noch) keine Ausprägungen erfahren, die als interkulturelle
Bereicherung angesehen werden könnte. Die oben genannten Ansätze sind Aus-
nahmen. Sie stehen aber dafür, dass ein islamisch geprägter und befruchteter
Humanismus grundsätzlich möglich ist. Dazu wäre das Verhältnis des religiö-
sen Glaubens zur Säkularität der modernen Lebensformen und ihres kulturel-
len Pluralismus neu zu bestimmen, – ganz im Sinne der oben am Paradigma der
Reformation ausgeführten protestantischen Vermittlung des religiösen Glaubens
mit einem säkularen Weltverhältnis.
Eine solche Vermittlung von Religiosität und Säkularität in der Auslegung des
Menschen als Prinzip menschheitlicher und menschlicher Weltdeutung ist auch
im westlichen Humanismus noch nicht durchgängig geleistet (Rüsen 2013b, pas-
sim). Umso mehr käme es darauf an, das humanistische Prinzip kultureller Viel-
falt und ihrer hermeneutischen Erschließung und Anerkennung in gemeinsamen
Anstrengungen zur Geltung zu bringen.
Freilich steht dem eine Humanismus-Kritik entgegen, die im Laufe des 19.
Jahrhunderts Platz gegriffen und in Friedrich Nietzsche einen radikalen Vertreter
gefunden hat. Sie wurde von den sogenannten ‚Meisterdenkern‘ des 20. Jahr-
hunderts (wie etwa von Heidegger und Foucault) gepflegt. Hinzu kommt, dass der
westliche Humanismus im Zeitalter der Globalisierung sich interkulturell neu for-
mieren müsste. Dabei hätte er der Kritik zu begegnen, Ideologie der Unterdrückung
nicht-westlicher Völker und Kulturen gewesen zu sein (Sanjay 2011, passim). So
dürfte er auch gegenwärtig in den islamisch geprägten Ländern eher als Bedrohung
und weniger als Chance eines interkulturellen Brückenschlags angesehen werden.

Ausblick: religiöser Pluralismus als


Stabilisierung der Moderne

Der Islam wird gegenwärtig mit der Herausforderung konfrontiert, sich im Ver-
hältnis zu anderen religiösen Glaubensrichtungen zu positionieren. Das dafür in
der modernen Zivilgesellschaft maßgebende Kriterium ist seit dem Ende des kon-
fessionellen Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert die Toleranz. Toleranz ist das Zuge-
ständnis an die säkulare zivile Lebensform der Moderne, religiöse D ­ ifferenzen
Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation und Humanismus … 201

nicht mehr gewalttätig auszutragen, sondern pluralistisch stehen zu lassen. Damit


schaltet sich der religiöse Glaube von den säkularen kulturellen Prinzipien der
Zivilgesellschaft ab und unterwirft sich ihnen. Mit dieser Neutralität begibt er
sich der Chance, selber noch etwas in der Dimension des Säkularen auszurichten
wie zum Beispiel die Stärkung der menschlichen Würde durch Zuschreibung
eines sakralen Fundaments.4 Das wäre dann möglich, wenn sich die unterschied-
lichen Glaubensausrichtungen nicht mehr im Modus toleranter Neutralität, son-
dern der wechselseitigen Anerkennung zueinander verhielten.
Eine solche Anerkennung verlangt eine grundsätzliche Überwindung des
exklusiven universellen Wahrheitsanspruchs, der traditionell mit dem Monotheis-
mus verbunden war. Der Monotheismus verbindet seinen Glauben mit universalen
Geltungsansprüchen und setzt sich damit zu den gleichen Geltungsansprüchen
anderer Religionen in ein konfliktreiches Verhältnis (Assmann 2003, passim). Wenn
der religiöse Glaube auf seinen Wahrheitsanspruch nicht relativistisch verzichten
will und kann, bedarf es einer neuen Theologie religiöser Pluralität. Ansätze dazu
sind zur gleichen Zeit entwickelt worden wie der moderne westliche Humanismus.
Maßgebend dafür sind (in heutiger Perspektive) die „Reden über die Religion. An
die Gebildeten unter ihren Verächtern“ von Friedrich Schleiermacher (1799).
Hier werden die Kontextbedingtheit des religiösen Glaubens und die aus ihr fol-
gende Perspektivierung seiner Beziehung zur numinosen Welt betont. Unterschied-
liche Perspektiven widersprechen sich dann nicht, sondern können sich wegen ihres
gemeinsamen Bezuges auf das Numinose gegenseitig bereichern und ergänzen.
„Die Religion muss also ein Prinzip, sich zu individualisieren, in sich haben, weil
sie sonst garnicht dasein und wahrgenommen werden könnte; eine unendliche
Menge endlicher und bestimmter Formen, in denen sie sich offenbart, müssen wir
also postulieren und aufsuchen“ (Schleiermacher 1913, S. 122 f.) Die unterschied-
lichen Religionen können daher nur so verstanden werden, „daß Jede eine von den
besonderen Gestalten war, welche die ewige und unendliche Religion unter end-
lichen und beschränkten Wesen notwendig annehmen mußte“ (Ebd. S. 125).
Ich würde dieses Konzept religiöser Relativität im Verhältnis bedingter
menschlicher Lebensformen zur unbedingten Transzendenz des Göttlichen zu
demjenigen Erbe des Protestantismus und Humanismus rechnen, an dessen Rezep-
tion Islam und Christentum sich gegenwärtig in einem produktiven Verhältnis
zueinander ausrichten und die kulturellen Grundlagen der Moderne bereichern
könnten.

4Dazu noch einmal der Hinweis auf die Arbeiten von Hans Joas (2015).
202 J. Rüsen

Literatur

Abu Zaid, Nasr Hamid. 2008. Gottes Menschenwort. Für ein humanistisches Verständnis
des Koran. Ausgewählt, übersetzt und mit einer Einleitung von Thomas Hildebrandt.
Freiburg: Herder.
Arkoun, Mohammed. 2005. Humanisme et Islam. Combat et proposition. Paris: Vrin.
Arkoun, Mohammed. 2009. A return to the question of humanism in islamic contexts. In
Humanism in intercultural perspective. Experiences and expectations, Hrsg. Jörn Rüsen
und Henner Laass, 91–110. Bielefeld: Transcipt 2009. Deutsch: 2009. Auf den Spuren
humanistischer Traditionen im Islam. In Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit
in der Vielfalt der Kulturen, Hrsg. Jörn Rüsen und Henner Laass, 145–175. Schwalbach:
Wochenschau.
Assmann, Jan. 2003. Die mosaische unterscheidung oder der preis des monotheismus.
München: Hanser.
Graf, Friedrich Wilhelm, und Walter Sparn. 2009. Protestantismus. In Enzyklopädie der
neuzeit, Hrsg. Friedrich Jaeger, Bd. 10, 503. Stuttgart: Metzler.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. 1970. Werke 12: Vorlesungen über die Philosophie der
Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Jaspers, Karl. 1949, 2015. Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. In Karl Jaspers Gesamt-
ausgabe, Teil I, Band 10, Hrsg. Kurt Salamun. Basel: Schwabe.
Jellinek, Georg. 1895. Die erklärung der menschen- und bürgerrechte. Leipzig.
Joas, Hans. 2015. Die sakralität der person. Eine neue genealogie der menschenrechte.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Koselleck, Reinhart. 1979. Historia magistra vitae. Über die auflösung des topos im hori-
zont neuzeitlich bewegter geschichte. In Reinhart Koselleck Vergangene zukunft. Zur
semantik geschichtlicher zeiten, 38–66. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Luther, Martin. 1964. Von der Freiheit eines Christenmenschen. Fünf Schriften aus den
Anfängen der Reformation. In Calwer Luther-Ausgabe, Bd. 2. München: Siebenstern.
Ourghi, Abdel-Hakim. 2016. Mohammed war ein mann der politik und des schwerts.
Mekka gegen medina: Der Islam braucht eine reformation, die seine fatalen politischen
ausprägungen unterbindet. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 200: 13, 27. August.
Ranke, Leopold von. 1855. Geschichten der romanischen und germanischen Völker von
1494–1514. In Sämtliche Werke Bd. 33, VIII. Leipzig: Duncker und Humblot.
Reichmuth, Stefan, Jörn Rüsen, und Aladdin Sarhan, Hrsg. 2012. Humanism and muslim
culture. Historical heritage and contemporary challenges. Göttingen: V&R unipress.
Rüsen, Jörn. 2010. Klassischer humanismus. Eine historische ortsbestimmung. In Perspek-
tiven der humanität. Menschsein im diskurs der disziplinen, Hrsg. Jörn Rüsen, 273–315.
Bielefeld: Transcript.
Rüsen, Jörn. 2012. Humanism: Anthropology – Axial Ages – Modernities. In Shaping a
humane world. Civilizations – Axial Times – Modernities – Humanisms, Hrsg. Oliver
Kozlarek, Jörn Rüsen, Ernst Wolff, 55–79. Bielefeld: Transcript.
Rüsen, Jörn. 2013a. Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln: Böhlau.
Rüsen, Jörn. 2013b. Humanismus und Religion – Anmerkungen zu einem prekären Ver-
hältnis. In Anvertraute Worte. Festschrift Helwig Schmidt-Glintzer zum 65. Geburtstag,
Hrsg. Susanne Rode-Breymann, Achim Mittag, 85–91. Hannover: Wehrhahn Verlag.
Islam und moderne Zivilgesellschaft – Reformation und Humanismus … 203

Rüsen, Jörn. 2016. Interkultureller Humanismus. In Der neue weltengarten. Jahrbuch


für literatur und interkulturalität 2016, Hrsg. Michael Hofmann, Iulia-Karin Patrut,
Hans-Peter Klemme, 37–48. Hannover: Wehrhahn.
Seth, Sanjay. 2011. Two cheers for humanism. Taiwan Journal of East Asian Studies, 8 (2):
37–57.
Schleiermacher, Friedrich. 1913. Über die religion. Reden an die gebildeten unter ihren
verächtern. 3. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Tillich, Paul. 1962. Der Protestantismus als kritik und gestaltung. Schriften zur theologie I
(Gesammelte Werke, Bd. VII). Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk.
Troeltsch, Ernst. 1911. Die bedeutung des protestantismus für die entstehung der modernen
welt. München: Oldenbourgh.
von Ranke, Leopold. 1973. The theory and practice of history. Indianapolis: The
Bobbs-Merrill Company.
Reformation, Humanismus und Islam –
Eine nahöstliche Perspektive

Mona Ahmad Abuzaid

Einleitung

Der Begriff „Humanismus“ hat einen besonderen Zauber, weil er wie ein magi-
scher, funkelnder Lichtschimmer daherkommt, den man sonst nur mit Aladdins
Wunderlampe in Verbindung bringt. Viele sind überwältigt von diesem Begriff,
der ein individualistisches und rationalistisches Interesse sowie den Drang nach
Emanzipation weckt. Das, was heutzutage Humanismus genannt wird, ist zu jeder
Zeit und an jedem Ort greifbar, wo Zivilisation und Kultur zu finden sind, wobei
seine Natur zwischen Klarheit und Dunkelheit schwankt. Ebenso, wie er in der
westlichen Geschichte unter den Griechen und Römern zu finden war und danach
von der Renaissance bis heute, kann man ihn auch im muslimischen Orient fin-
den. Zwar waren die Rahmenbedingungen in Ost und West verschieden, bedingt
durch die jeweilige Kultur, wie auch geprägt von Zeit und Raum, aber auch im
Okzident selbst waren sie verschieden als Ergebnis der Divergenz seiner Völker
und der Verschiedenheit ihrer Kulturen und Weltanschauungen.
Heutzutage bedarf es – im Okzident wie im Orient – der verstärkten Ver-
netzung und Begegnung durch den interkulturellen Dialog sowie der gegenseitigen
Annäherung auf einer gemeinsamen Grundlage der Völkerverständigung. Dabei
sollte die besondere Identität eines jeden von uns bewahrt und nicht die eine Seite
gezwungen werden, der anderen zu folgen. Was uns aber verbindet, ist der Mensch
als Wert an sich, sowie die Bereitschaft, sein Glück und seine Güte zu verteidigen
und ihn gegen die despotische materialistische Flut zu verteidigen, die alle Werte
und alle Menschen in pure Zahlen verwandelt, denen kein realer Wert entspricht,

M. A. Abuzaid ()
Helwan University, Kairo, Ägypten

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 205
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_12
206 M. A. Abuzaid

den es zu respektieren gelte. Damit wir uns gegenseitig annähern können, müs-
sen wir uns notwendigerweise mit den Voraussetzungen des Humanismus auf bei-
den Seiten, im Orient wie im Okzident, vertraut machen und herausfinden, was
die offensichtlichsten Unterschiede zwischen beiden sind, welche von ihnen über-
wunden werden können, und worin die Eigenarten der jeweiligen Seite bestehen,
die keine Seite aufzugeben in der Lage ist.

Der Begriff „Humanismus“

Das arabische Wort insāniyya ist eine Übersetzung des Begriffes „Humanis-
mus“, der sich vom Wort „human“ (Arabisch: insān) ableitet und die Authentizi-
tät des Menschen sowie die Zentralität seiner Existenz in der Welt ausdrücken
soll. Der Begriff al-nazʿa al-insāniyya dürfte dem arabischen Wortschatz neu
sein und obwohl er in einem Großteil der okzidentalen Literatur mehr als nur eine
Bedeutung oder Sinn hat, so läuft es doch auf „the study of the humanities; lear-
ning in the liberal arts“ sowie „a system of thought that focuses on humans and
their values, capacities, and worth“ hinaus.1
Nach ähnlicher Definition ist Humanismus „the belief that human problems
can be solved through science rather than religion.“2
Tatsächlich meint Humanismus all jene Tendenzen und Aktivitäten, durch
die der Mensch über die Normalität hinausgelangt. Das Konzept des Humanis-
mus ist daher weder der natürliche noch der übernatürliche Mensch, sondern ein
Amalgam, dass sich aus dem natürlichen Menschen und seinen Fähigkeiten zur
Sublimierung zusammensetzt (Perry 1961, S. 10). Lalande (1996) definiert diese
Haltung als eine ideologische Bewegung, wie sie die Humanisten der Renais-
sance repräsentieren, die ihrerseits gekennzeichnet ist durch den erhöhten Res-
pekt für das menschliche Denken, dessen Wertschätzung sie dadurch begründet,
dass sie die moderne Kultur an die Antike zurückbindet. Dies bedeutet nicht ein-
fach eine Liebe zur Antike, denn das wäre blosse Verherrlichung. Eine solche
wird strikt zurückgewiesen, denn Verherrlichung wird der antiken Kultur nicht
gerecht, die zu verbreiten man sich vielmehr bemühen muss.3

1The American Heritage Dictionary of the English Language (Pub. Dell Publishing co. Inc.
New York), 1997.
2Longman Dictionary of Contemporary English (Great Britain, Longman), 1990, S. 511.

3Lalande Encylopedia of Philosophy, Manshurat Aawidat, Beirut, vol. 1, 1996, Lemma

„Humanism“, S. 566.
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 207

Die konzeptionelle Vielfalt von Humanismus macht deutlich, dass es keinen


Konsens über diesen in den einzelnen Wissenschaften gibt, was nicht in Bezug
auf die philosophischen Strömungen gilt.

Erscheinung und Entwicklung des okzidentalen


Humanismus

Der Humanismus geht auf das 14. Jahrhundert zurück – obwohl es schon zuvor ein
Aufkeimen gegeben hat –, als der Begriff geprägt wurde. Der Begriff markiert die
Verbindung der modernen okzidentalen Kultur mit der antiken und damit den Aus-
tritt aus dem Mittelalter. Daher wird die Vergangenheit nur vom Standpunkt einer
Erneuerung der Gegenwart her betrachtet, und zwar im Lichte des Denkens, wie es
zur Zeit der alten Griechen und Römer vorherrschend war. Jenes machte den Men-
schen zum Gegenstand des Interesses und des Studiums, womit er an die Spitze
der Diskussion und des Denkens aufstieg. Damit wurden die vorherrschenden Strö-
mungen des Mittelalters verdrängt, die Gott den höchsten Rang zugewiesen hatten.
Der Humanismus – im Okzident – wurzelt in der griechischen Mythologie,
die er wiederzubeleben trachtet. In dieser versucht der Mensch sich selbst von
der Tyrannei, der Unterdrückung und den Fesseln zu befreien, die die Götter
ihm angelegt haben, was er über das Wissen und Selbstverständnis zu erreichen
beabsichtigt, die ihn aus der Macht der Götter entkommen lassen. Zugleich erfolgt
seine Suche nach Freiheit und Unabhängigkeit außerhalb der Obrigkeit. Dieser
Humanismus hat vor langer Zeit bei den Griechen begonnen. Er bedeutete eine
Haltung, mit der der Mensch danach strebt, über die Natur zu herrschen, um
auf diese Weise Zeus zu stürzen – den höchsten Gott, der über das menschliche
Schicksal entscheidet – und sich von seiner Macht zu befreien. Hier ist der Anfang
für die feindliche Beziehung zwischen Gott und dem Menschen zu suchen.
Damals entstand die Verschmelzung zwischen dem Konzept des Göttlichen
und dem des Menschen, während Homer die Götter noch auf der Spitze des
Berges Olympia angesiedelt hatte, wo sie ein menschliches Leben mit all den
Defiziten führten, die auch der Menschheit zu eigen sind. Auch die Intellektuellen
jener Zeit schrieben sich Eigenschaften des Göttlichen zu und bezeichneten sich
anfänglich selber als Weise, was eigentlich den Göttern vorbehalten war. Mit die-
ser Vermischung des Göttlichen mit dem Menschlichen wurde Gott vermensch-
licht und der Mensch vergöttlicht.
Als der Sophismus als Emanzipation von der Herrschaft der Götter und der
Naturgewalten über den Menschen auftauchte, begannen die religiösen Über-
zeugungen ihren Einfluss auf die gebildete Klasse zu verlieren, während die
208 M. A. Abuzaid

Wissensgebiete expandierten, die ideologischen Strömungen zunahmen und


die Überlieferungen der griechischen Gelehrten nicht länger geeignet schienen,
Leben und Gesellschaft zu organisieren. Somit wurde es notwendig, ein politi-
sches, moralisches und epistemologisches Denken zu begründen, das mit dem
einzelnen Menschen, seinen Problemen und besonderen Bedürfnisse, sowie
seinen vielfältigen Ambitionen verbunden ist, das ihn Weisheit und die welt-
lichen Angelegenheiten lehrt. Ebenso gelangte der bürgerliche Staat (al-dawla
al-madaniyya) Griechenlands zu einem Gefühl, dass es notwendig sei, einige
Individuen in den Künsten der Staatsführung auszubilden. Damals war die Athe-
nische Demokratie auf der Freiheit der Meinungsäußerung und der Gleichheit der
Rechte gegründet.
Die Sophisten nahmen diese Sache auf sich, sodass ihre Arbeit sich der Suche
nach dem Menschen, seiner Natur und der Qualität seiner Lebensweise sowie
seiner Umgangsformen gegenüber anderen zu widmen begann. Ihre Suche galt
der Ethik und Politik, während sie Naturphänomene außer Acht ließen, die zuvor
die Grundlage der Philosophie gebildet hatten. Schließlich kam der Humanismus
auf, dessen Trachten der Kunst und der Kultur gilt, wovon das Wort das Pythago-
ras: „Der Mensch ist das Mass aller Dinge“ Zeugnis ablegt. Dem Menschen ist es
nicht erlaubt, sich allein mit nicht-menschlichen Dingen zu befassen, denn was
die Götter betrifft, so weiß er nicht, ob sie existieren oder nicht. Diese Aussage ist
„gleich einem kompletten Programm für jeden, der nach der humanen rationalis-
tischen Kultur strebt.“ (Bréhier 1987, S. 108).
Daher wurde der Sophismus zu einer Philosophie der Emanzipation; eine
Philosophie, die sich auf Wissen und Ethik bezieht; eine Philosophie der
beständigen Suche nach neuen Pfeilern der Wahrheit, die das Denken selbst zu
einem Ort des philosophischen Interesses macht, m. a. W. sie ist die Philosophie
der Aufklärung und der Emanzipation. Die Philosophie der Suche und der Kritik
beruht auf der Kritik an den mytho-religiösen Überzeugungen, wie es in der grie-
chischen Epoche geschah, die eine des Interesses am Menschen war. Diese Blick-
richtung dauerte bis in die römische Zeit, bevor das Christentum auftauchte, die
römischen Zustände wandelte und den Menschen auf einen neuen Kurs brachte,
der um Gott und seine civitas kreist, nachdem er in der Epoche zuvor auf den
Menschen und seine Bedürfnisse hin ausgerichtet war. So tat sich ein tiefer Gra-
ben zwischen beiden Seiten darüber auf, wie sie den Menschen betrachteten.
Der Katholizismus übte während des Mittelalters seine Autorität über den
Menschen, die Gelehrten und die Wissenschaft aus, legte im Namen Gottes
dem Denken Fesseln an und widersetzte sich dem griechischen Humanismus.
Womöglich war dieser für das spätere Aufleben des Humanismus verantwort-
lich. Die Kirche wollte das wissenschaftliche Denken und die philosophische
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 209

Entwicklung innerhalb ihrer Weltanschauung einhegen und weiter ihre Hegemo-


nie über die Konzepte des Seins und des Menschen ausüben. Zu diesem Zwe-
cke bediente sie sich der Inquisitionsgerichte, mit denen sie exemplarisch das
Gewissen durchforschte, wie es bei Kopernikus und Galilei der Fall war, aber
auch bei Siger de Brabant. Auf diese Weise verhinderte die Kirche das kritische
rationalistische Denken und unterband den lateinischen Averroismus (Bréhier
1987, S. 199).
Die Kirche hatte auch die Vorstellungen von den Künsten beeinflusst, sodass
diese sich in der Kirche auf die Darstellung von Engeln, Propheten und Heili-
gen konzentrierte. Der Glaube regierte das künstlerische Bewusstsein, was sich
in einer großen Anzahl von Künsten niederschlug, darunter Malerei, Architektur
und Bildhauerei, die enorme Leistungen vorzuweisen hatten. In dieser Phase kon-
zentrierten sich die Künste auf den außergewöhnlichen Menschen, dessen Bild
sich in Darstellungen von Propheten und Heiligen niederschlug, deren Gesichter
hinter einem Heiligenschein verblassten. Damals waren das Denken, die Wissen-
schaften und die Künste darauf angelegt, Inspiration im Christentum zu suchen,
um eine Theorie des Seins und des Werdens zu begründen, die auf Gott und Glau-
ben basiert, während der Mensch mit seiner Erfahrung, Individualität und Freiheit
in diesem Denksystem keinen Platz hatte. Am Ausgang des Mittelalter kämpften
daher zwei Seiten miteinander:
Die erste ist die religiöse. Ihr Fundament ist der Gottesglaube, der seine
Anhänger zum Königreich der Himmel führt und die Doktrinen der Dreifaltig-
keit, Erlösung und Menschwerdung proklamiert. Religion lehrt Askese und Rück-
zug vom irdischen Leben, sucht nach dem Weg zur Erlösung und orientiert sich
an der Harmonie mit supranaturalen Überzeugungen oder folgt dem Vorbild einer
Person, die die Kausalitäten und Gesetze der Natur in die Knie gezwungen hat.
Dies zeigt sich in den Briefen des Hl. Paulus, der die Weisheit des Christentums
gegenüber der griechischen Philosophie und den Glauben an Christus gegenüber
der Vernunft – bei den Griechen – festgelegt und die Erlösung durch das Kreuz
und die Errettung der Menschheit gepriesen hat, wobei er sowohl die Philosophie
als auch die Philosophen kritisierte. Die zweite ist die Philosophie in ihrem Glau-
ben an die Notwendigkeit und ihrer Orientierung an der Vernunft; sie studiert die
Phänomene und die Dinge ohne Vorbehalte und ohne höhere absolute Macht.
Anzeichen für diesen Kurs wurden seit dem 12. Jahrhundert sichtbar, das Zeuge
einer großen intellektuellen Neugier wurde und sich selbst „in mancherlei Hin-
sicht als Rückkehr zum antiken Humanismus“ verstand (Bréhier 1987, S. 61).
In ihrem Menschenbild unterschieden sich beide Seiten immens voneinander,
wobei die Lehren von Paulus und anderen Aposteln davon ausgehen, dass der
Mensch in seinem innersten Wesen amoralisch und unfähig ist, sich selbst dem
210 M. A. Abuzaid

Bösen zu entsagen, mit dem er als Ergebnis der Ursünde verwoben ist. Auch
unterscheidet sich der pessimistische Blick auf den Menschen enorm von der
Sichtweise, wie sie von den Griechen überliefert ist, da in der griechischen und
römischen Epoche der Mensch die Achse der Suche bildete, bevor er im Mittel-
alter durch Gott ersetzt wurde. So wie das griechische und römische Denken der
Antike versuchte, sich der göttlichen Mächte zu entledigen, versuchte das west-
liche Denken der Renaissance sich vom Göttlichen, wie der Katholizismus es ver-
stand, zu lösen. Damit trat der Humanismus erneut als eine Haltung hervor, die
danach strebte, dass sich die menschliche Seele von den Einflüssen des rigiden
Katholizismus befreit.
Als die Dissonanz zwischen dem Geist des Mittelalters und dem der Renais-
sance offenbar wurde, reagierte ersterer auf die göttliche Offenbarung, indem er
sich der Askese und dem Spiritualismus zuwandte, der die Furcht vor dem Körper
und die Angst vor dessen Neigungen und Passionen beinhaltete. Er respektierte
die Freude an der Schönheit und gab sich mit der Unwissenheit der Menschen
zufrieden, die auf diese Weise gezwungen waren, mit den Vorschriften der Reli-
gion konform zu gehen. Damit wurde die Suche eingeengt auf den Fortschritt des
spirituellen Daseins und dem Verlangen nach Erlösung, was auf die Befreiung
vom Leben und die Peinigung des Körpers hinauslief und letztlich zur Ver-
dammung der Bildhauerei wie auch der experimentellen Wissenschaften führte.
Dieser Geist reduzierte das Wissen auf Theologie und Metaphysik, weil diese den
einzigen Weg zur Erlösung bedeuteten.
Was das Zeitalter der Renaissance betrifft, so verhielt es sich spiegelbildlich,
da ihm das völlige Vertrauen in die Vernunft zu eigen war und es in der Liebe
zum Wissen schwelgte. Es hatte ein starkes Interesse an der Wissenschaft und
ebensolchen Respekt vor ihren Vertretern, liebte das Schöne, begeisterte sich für
die Natur und entflammte sich für das Heiligtum des Lebens. Seit damals wur-
den körperliche Darstellungen in den Künsten vielfältiger und die Wissenschaft
nahm sich der Beobachtung von Naturphänomenen an, wobei sie willkürliche
Doktrinen aufgab und mit althergebrachten Traditionen wie auch verbreiteten
Annahmen brach (Tawil 1976, S. 160–1).
Die Gelehrten und Vorreiter der Renaissance versuchten, die Lehren und die
Kultur des Mittelalters zu unterbinden und riefen dazu auf, die antike klassische
Kultur wiederzubeleben. So wurden die Menschen allesamt (der Poet, der Künstler,
der Autor, der Prediger und der Durchschnittsbürger) zu Humanisten. Das hervor-
stechende Merkmal im Denken jener ist das starke Festhalten an allem, was mit der
griechischen Epoche verbunden war, seitdem die Renaissance um des wahren Wis-
sens willen auf die Antike schaute (Perry 1961, S. 106). Der westliche Humanis-
mus trank aus derselben Quelle wie die alten Griechen. Der humanistische Geist
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 211

verbreitete sich und wurde unter vielen intellektuellen, literarischen und künst-
lerischen Strömungen populär, bis seine Wesenszüge in jedem Element der west-
lichen Kultur auftauchten, von denen folgende zu nennen sind:

1. Die Reformation. Zunächst festigte die Vernunft ihre kraftvolle Mittelstellung


zwischen den religiösen Ideen, bevor sie eine Schneise in die christliche Tradi-
tion zu schlagen vermochte. Dann tauchten zum ersten Mal tauchten religiöse
Ideen auf, die klar und deutlich aus dem Mittelalter kamen und die sich in der
Reformation manifestierten. Etwas von der humanistischen Strömung und
ihrer Zurückweisung des traditionellen Begriffs vom Niedergang der mensch-
lichen Natur und ihrer Schwäche sickerte in die Religion ein, während sie die
Moral und das Ideal des Menschen stärkte. Ebenso drang der Geist der neuen
Wissenschaft in sie ein, der darauf abzielte, all die Überzeugungen und Tradi-
tionen der Vernunft und dem diesseitigen Nutzen unterzuordnen, während es
die religiöse Tradition heftig kritisierte (Randall 1958, S. 413–4).
2. Der Angriff auf die aristotelische Wissenschaft. Die Menschen im Westen
begannen, sich im Angesicht einer Wissenschaft unwohl zu fühlen, die als Aus-
gangspunkt von Problemen erschien, die mit dem komplizierten neuen bürger-
lichen Leben verbunden waren, gleich ob es die Welt der Menschen oder die
der Natur betraf. Pierre Ramus, ein französischer Gelehrter und Anhänger des
Humanismus im 16. Jahrhundert, erklärte öffentlich, dass „alles, was Aristote-
les lehrte, falsch [ist], während er uns ein lebendiges Bild für den Missbrauch
des demonstrativen Beweises gab.“ Francis Bacon kritisierte in seinem Buch
De dignitate et augmentis scientiarum, erschienen 1605, die Wissenschaften
des Mittelalters dahin gehend, dass die meisten Menschen einer Methodik
bedürften, um der neuen Wahrheiten teilhaftig zu werden und es nicht genüge,
sie die bekannten Fakten zu lehren und zu beweisen. Descartes hat 1637 die
Dinge derart auf den Punkt gebracht, dass die Art der Analogie und die meis-
ten Lehrmethoden mehr zu einer Interpretation dessen taugen, was Menschen
bereits wissen, als dazu, neues zu lehren (Randall 1958, S. 323).
3. Die Befreiung des Verstandes. Vor der Renaissance war der Mensch ein Indivi-
duum innerhalb einer Gemeinschaft, das mit dessen Mitgliedern weiterzog und
in dessen Bewusstsein handelte. In der Renaissance forderte er dann die Auto-
nomie seiner Persönlichkeit zurück und perfektionierte seinen Individualismus,
der nach der griechisch-römischen Epoche ausgeschaltet worden war. Die Vor-
reiter dieses neuen Denkens stimmten darin überein, dass die alten Bücher und
die religiöse Herrschaft als Quelle der Wissenschaft über die Natur des Seins
zurückzuweisen sei, während die Vernunft in ihrem Versuch, das Unbekannte
zu erforschen, verschiedene Formen annahm (Koyré 1937). Sie erhielt nicht
212 M. A. Abuzaid

zuletzt durch die Erfindung der Druckerpresse weiteren Auftrieb und weitere
Verbreitung, infolgedessen das Wissen der Menschen zunahm und viele ihrer
falschen Annahmen korrigiert wurden. Dies führte zu einer massiven Zunahme
an Intellektuellen, sodass es in Europa um 1500 mindestens neun Millionen
Bücher gab, die 30.000 Titel in einer Auflage von mehr als tausend Stück
umfassten. Die Kultur dehnte sich aus, nachdem sie zuvor in hohem Masse auf
die Priesterschaft begrenzt gewesen war. Mit der Möglichkeit der schnellen
Verbreitung von Wissen und Überzeugung kam es zu dem, was man das Zeit-
alter der Aufklärung nennt (Randall 1958 191–192).
4. Freiheit. Der Humanismus war in seiner Anfangsphase ein Ruf nach Frei-
heit (Perry 1961, S. 57), wobei die Hauptströmung dagegen rebellierte, dass
der Freiheit in der Sphäre der Ethik und der Umgangsnormen wie auch in der
der Wissenschaften, Philosophie und Künste Fesseln angelegt wurden. Als das
Band der Ethik und der Umgangsnormen gelöst wurde, erstarkten die Leiden-
schaften und griff die Korruption um sich. Diese verschluckte das ganze
Zeitalter, bis fast jeder von ihr erfasst war, auch wer sich mit den Gewohn-
heiten nicht arrangieren mochte. Das größte Debakel dieser Epoche war der
Verlust des Glaubens und die Emanzipation von der Ethik, woran auch der
Klerus nicht unbeteiligt war. Im Jahre 1701 veröffentlichte Pierre Charron
ein Buch unter dem Titel De la sagesse, in dem er behauptet, dass Ethik nicht
auf der Religion basiert, und in dem er die Geschichte des Christentums auf
eine Weise darstellt, dass vor allem die Übel deutlich werden, die es zu ver-
antworten hat. Charron zufolge steht die Lehre von der Unsterblichkeit der
Seelen den Überzeugungen der Menschen am nächsten, sie sei jedoch für die
menschliche Vernunft die unglaubwürdigste.

Der Humanismus entwickelte sich während der Renaissance, durchlief die


moderne Philosophie und tauchte bei René Descartes (1596–1650) auf, der
gemeinhin als „Vater der modernen Philosophie“ bezeichnet wird, da in seinem
Denken der Mensch eine zentrale, bis dahin nicht gekannte Rolle einnimmt. Des-
cartes schuf eine verbesserte geistige Grundlage für Ideen und Theorien, deren
Kern die Auffassung bildet, dass sein Bewusstsein der Ausgangspunkt für alles
ist, was den Menschen umgibt. Descartes’ Wort „Ich denke, also bin ich“ ist die
Achse, um die alle Dinge kreisen. Der Mensch muss sich selbst auf die bestmög-
liche Weise kennenlernen, ohne dass Gott eingreift.
Es war Blaise Pascal, der Descartes beschuldigte, der Vernunft größeren Wert
als Gott beizumessen, und deshalb sagte: „Ich kann Descartes nicht vergeben,
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 213

noch mich mit ihm abfinden, dass seine Philosophie Gott keine wichtige Stellung
zubilligt.“ Viele europäische Philosophen folgten jedoch Descartes, angeführt von
dem deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724–1804), dessen kritische Denk-
weise den Menschen aufwertete, indem er ihn zur Essenz der Dinge und zu ihrem
verborgenen Geheimnis machte. So gab er dem modernen Humanismus eine neue
Definition vom Menschen, dessen Wert nun nicht länger von seinen göttlichen
Wurzeln abhängig ist, sondern von seinen geistigen Fähigkeiten und seinem Kön-
nen herrührt, seine Umwelt zu organisieren.
Man kann sagen, dass die Geschichte der okzidentalen Kultur die eines Kamp-
fes zwischen diesen beiden gegensätzlichen Strömungen ist: der wissenschaft-
lichen und der religiösen. In ihrer gegenwärtigen Form haben beide ungeachtet
ihres unterschiedlichen Verlaufs ihre Wurzeln im westlichen Humanismus, der im
Okzident einzigartig ist. Im zeitgenössischen Denken finden sich unterschiedliche
Weltanschauungen – Marxismus, Existenzialismus, Liberalismus –, die sich nicht
auf einen gemeinsamen Begriff des Menschen einigen können. Was auch immer
die Definition sein mag, so ist sie u. a. abhängig von der religiösen Überzeugung,
der wissenschaftlichen Perspektive oder der Philosophie, denn es gibt keine prä-
zise Definition von Humanismus, ob logisch oder mathematisch, weil „die unter-
schiedlichen Bedeutungen, die mit diesem Ausdruck verbunden sind, nur das
Denken unterschiedlicher Zeitalter der Menschheit und verschiedener Personen
und sozialer Inhalte widerspiegeln.“ (Perry 1961, S. 9).
Es gibt so viele Begriffe wie es Strömungen gibt und jeder Philosoph ist über-
zeugt davon, dass er die tragende Idee gefunden hat. Doch unterscheiden sich die
Interpretationen dramatisch, sodass der eine dem anderen widerspricht, wobei
jeder einzelne Denker uns das Bild präsentiert, das er von der menschlichen Natur
zeichnet. So hat Nietzsche sich dem Prinzip des Willens zur Macht verschrieben,
Freud der enttäuschten Libido, hat Marx den ökonomischen Instinkt betont und
jede Theorie presst die Fakten in das Prokrustesbett einer Deutung, die die Fakten
entsprechend ihrer Tauglichkeit als Symptom behandelt (Cassirer 1961, S. 61).
Wegen dieser Vielfalt hat die moderne Theorie vom Menschen ihr geisti-
ges Zentrum verloren, an dessen Stelle das theoretische Chaos getreten ist. Wie
wunderbar war der große Mangel an Meinungen und Theorien zu diesem Thema
in früheren Epochen, gab es doch zumindest eine allgemeine Richtung, während
heutzutage der persönliche Faktor überwiegt und die persönlichen Neigungen
des Autors die entscheidende Rolle spielen. Folglich ist jeder Autor nur auf seine
eigene Meinung und seine eigene Methodik bedacht, wenn es um die Anthropo-
logie geht.
214 M. A. Abuzaid

Der östliche Standpunkt gegenüber dem westlichen


Humanismus

Zunächst sei gefragt, wie es uns als orientalisch Denkende möglich ist, vom
okzidentalen Humanismus zu profitieren. Können wir uns, im Okzident wie im
Orient, auf einen gemeinsamen Standpunkt einigen? Verfügen wir über dieselben
Voraussetzungen, die zur Herausbildung dieses Phänomens im Okzident geführt
haben und haben wir dieselben Motive? Hat der Orient eine besondere huma-
nistische Sicht, die von seiner Kultur zehrt? Oder ist der okzidentale Humanis-
mus das Ziel unserer Wünsche? Ist der Humanismus im Westen nicht gescheitert
und bedarf er nicht der Abmilderung, um ihn dem Orient in einer humaneren und
akzeptableren Form näherzubringen?
Heutzutage ist es für uns Orientalen schwierig, einen präzisen Begriff zu fin-
den, der den westlichen Humanismus bezeichnet, vor allem, da der Begriff je
nach Ideologie anders verstanden wird. Einmal wird mit ihm die Arbeiterklasse
verherrlicht, ein anderes Mal der Pragmatismus gepriesen und ein drittes Mal die
Freiheit glorifiziert. Das ist nicht unsere Meinung, sondern die eines westlichen
Intellektuellen, Max Scheler, der sagt: „Zu keiner Zeit des menschlichen Wissens
war der Mensch, was er heute in unserer Epoche ist. Wir verfügen über keine
klare und solide Vorstellung von Anthropologie; unsere Vorstellung vom Men-
schen ist zunehmend chaotisch und dunkel geworden, anstatt klarer.“ (Scheler
1928, S. 13).4
Wir werden dies anhand einiger philosophischer Ausdrücke demonstrie-
ren, die in diese Richtung gehen. So sieht Nietzsche den Menschen als höchstes
Wesen, von dem er prophezeit, dass es erst in einem paganen Zeitalter zur Exis-
tenz gelangen werde. Karl Jaspers wiederum betont, dass der Mensch kein Gott,
aber der Schöpfer von Werten ist. Albert Camus ging sogar so weit zu sagen, dass
nichts auf dieser Erde von Bedeutung sei und erst der Mensch den Dingen eine
Bedeutung abfordere. Wenn Camus die Gegenwart des Menschen bestätigt, dann
macht Sartre diese Gegenwart von der Abwesenheit Gottes abhängig. Denn der
Mensch existiert nur, wenn er jede absolute Existenz verwirft. Seine Ansicht geht
so weit, Gott den Erhabenen durch den menschlichen Gott zu ersetzen, indem er
verkündet, dass „die humanistischen Philosophen nicht versucht haben und nicht
versuchen, sich selbst von der Knechtschaft Gottes und den Glauben an seine
erhabene Existenz zu emanzipieren, sodass alles, was sie getan haben, nur die
Ersetzung eines Namens durch einen anderen ist.“ (Davies 1927, S. 124).

4Rückübersetzt aus dem Arabischen, da mir das dt. Original nicht zugänglich war (Anm. d. Ü.).
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 215

Karl Marx betrachtet den Sozialismus als weiteren Ausdruck des Humanis-
mus und sieht in jenem das höchste Gut, das die Entfremdung des Menschen von
sich selbst aufheben werde. Selbst wenn die Theorie des Naturrechtes plausibel
wäre, bliebe sie doch eine Täuschung, weil sich hinter ihr Klassenunterschiede
und ökonomische Privilegien verbärgen. Dies nimmt Marx zum Ausgangspunkt,
um die schädlichen Elemente aufzudecken, die in den Ansprüchen des Liberalis-
mus enthalten sind.
Obwohl diese Denker sich gegen eine Vereinnahmung ihrer Gedanken wehr-
ten, so haben sie sie doch selbst kanonisiert. Sie wollten den Menschen an die
Stelle Gottes setzen, die Philosophie an die der Religion und die göttliche Mytho-
logie zu einer Anthologie machen, die von einer Gleichung ausgeht, die im
Wesentlichen besagt, dass jede Negierung des Göttlichen den Menschen stärkt
und alles, was den Menschen stärkt, das Göttliche negiert. Diese Einstellung ver-
menschlicht das Göttliche allein durch die Vergöttlichung des Menschen, enthebt
diesen allein deshalb von seinen religiösen Bindungen, um ihn unter die Tyran-
nei der Gesellschaft zu stellen, setzt der äußeren Knechtschaft nur Grenzen, um
Knechtschaft beständiger zu machen, und zieht die Zügel fester, indem sie die
äussere Knechtschaft zu einer inneren macht. Wenn dies auch die okzidentale
Position gegenüber dem Göttlichen war, so war es doch nicht die orientalische,
denn es gibt einen Unterschied zwischen beiden, der sich in folgenden Eigen-
schaften und Grundpfeilern niederschlägt:

• In der griechischen Vorstellung haben die Götter Prometheus dafür bestraft,


dass er das heilige Feuer vom Himmel stahl und zur Erde brachte, damit die
Menschheit Nutzen aus ihm ziehen könne. Die Bestrafung der Götter war hart.
Was den Islam betrifft, so hat Gott Luzifer dafür verflucht, dass er sich nicht vor
dem ersten Menschen, Adam, niedergeworfen hat, doch als Adam seinem Herrn
erst nicht gehorchte, dann aber bereute, da vergab Gott ihm seine Schuld. Dies
steht im Widerspruch zur griechischen wie auch zur katholischen Auffassung.
• Gott hat sein Vertrauen in den Menschen gesetzt, als er ihm das Wissen gab
(„Und er lehrte Adam aller Dinge Namen …“)5 und die Offenbarung seinen
Propheten sandte, damit sie die Menschen dazu aufrufen, die Dunkelheit zu
verlassen und ins Licht zu treten. So wurde der Mensch zu Gottes Stellver-
treter (ḫalīfat Allāh) auf Erden und von Gott beauftragt, diese zu kultivieren,
ist sie doch die Bühne seines Wirkens, auf der er Belohnung und Strafe erhält.

5Koran 2: 31, dt. Übers. hier und im folgenden von Max Henning (Anm. d. Ü.).
216 M. A. Abuzaid

• Der Mensch wird im Islam dafür geehrt, dass er die Brücke zwischen der
himmlischen und der irdischen Welt darstellt. Dieser Ehre wird er teilhaftig,
weil alle Engel sich vor ihm niederwerfen, während die Natur ihm unter-
worfen ist, denn „Er ist’s, der für euch alles auf Erden erschuf.“6
• Der Islam betrachtet den Menschen als Schöpfer des göttlichen Willens, Voll-
strecker der göttlichen Gerechtigkeit und Bewahrer der universellen Gesetze.
Er geht in seiner Wertschätzung aber nicht so weit zu übertreiben und anstelle
eines gemäßigten Menschenbildes ein überzogenes zu setzen, das den Men-
schen vergöttlicht, wie dies einige westliche Intellektuelle getan haben.
• Der Himmel hat den Menschen von den übrigen Geschöpfen dadurch unter-
schieden, dass er ihm die Vernunft gegeben hat – diesem großartigen
Geschöpf, dem nach Gott kein anderes im Universum gleichkommt. „Das
erste, was Gott schuf, war die Vernunft. Zu ihr sagte Er: „Komm hervor!“ und
sie kam hervor. Dann sagte er zu ihr: „Wende dich!“ Und sie wandte sich.
Dann sagte Er zu ihr: „Sei mein Stolz und meine Herrlichkeit, denn es gibt
nichts, was edler wäre als du. Durch dich nehme ich, durch dich gebe ich,
durch dich belohne und durch dich bestrafe ich“.“7

Das Merkmal, mit dem der Himmel den Menschen vor allen anderen Geschöpfen
ausgezeichnet hat, ist – aus der Sicht des Islam – die Vernunft. Sie ist, was dem
Menschen die Eignung zur Verpflichtung (taklīl) und zur Übernahme von Loyalität
gibt, sodass er zur Rechenschaft gezogen und belohnt oder bestraft werden kann.

• Der Mensch verfügt im Islam über die volle Freiheit des Willens und der Mei-
nung. Im Islam gibt es keine Institutionen, die willkürlich über seine Welt-
anschauung urteilen, wo es doch eine Verbindung zwischen ihm und dem
Himmel gibt. Jeder Mensch steht für sich in Beziehung zum Heiligen, die eine
besondere und einzigartige Beziehung ist, die keine persönliche oder institu-
tionelle Einmischung kennt.

Daher existierte die religiöse Unterdrückung, die in die humanistische Bewegung


in Europa hineinstieß, als die Kirche – neben ihrem spirituellen Einfluss – die
Stelle eines weltlichen Herrschers einnahm und die Freidenker bestrafte, indem
sie ihre Bücher konfiszierte, den Autor oder Verleger einkerkerte oder beide zur

6Koran 2: 29 (Anm. d. Ü.).


7Hadith, cf. Biḥār al-Anwār, Bd. 1, S. 97: 9 (Anm. d. Ü.).
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 217

Abbitte drängte, wie es in Form der Autodafés bekannt wurde, im Islam nicht.
Der Islam hat seine Männer vielmehr ihrer weltlichen Macht beraubt und dann
Gottes Propheten zu einem Verkünder und Mahner gemacht anstatt zu einem
Herrscher (musayṭir). Die religiöse Macht wurde gebannt und den Koran und die
Sunna zu interpretieren wurde das legitime Recht aller Gläubigen. Unfehlbarkeit
ist selbst für den Beherrscher der Gläubigen ausgeschlossen, sodass, wenn die-
ser einen Fehler macht, er verpflichtet ist, ihn zu korrigieren, denn „es gibt kei-
nen Gehorsam für ein Geschöpf, das sich dem Schöpfer widersetzt“, wie es in der
Prophetentradition heißt.
Diese Unterdrückungszustände, wie sie in der Geschichte vorkamen, gehen
zurück auf „politische Gründe und persönliche Motive, während der Islam jede
Sünde registriert, die seine Männer sich zuschulden kommen lassen, wobei seine
Offenbarung deutlich macht, dass sie die Freiheit des Individuums in der Wahl
seiner Religion bekräftigt.“ (Tawil 1976, S. 287, 288). Tatsächlich findet sich im
islamischen Mittelalter sowohl die Freiheit zur Religionskritik als auch deren
Ablehnung, gab es doch Menschen, die das Göttliche anerkannten, die Prophetie
jedoch ablehnten, wie es auch andere gab, die das Göttliche anzuerkennen sich
weigerten und dennoch weder vertrieben, noch getötet oder ihrer Freiheit beraubt
wurden. Wir erinnern hier nur an Abū al-ʿAlāʾ al-Maʿarrī,8 Ibn al-Rāwandī,9 Abū
Ḥayyān al-Tauḥīdī10 u. a. (Kraus 1949, passim) Keiner von ihnen wurde bestraft
oder aus seiner Heimat vertrieben, keiner wurde zu bestimmten religiösen Über-
zeugungen gezwungen und keiner wurde seiner Gedanken wegen bekämpft. Sie
alle genossen die Freiheit zu glauben, was sie wollten.
Der Islam war der Quell der großen geistigen Renaissance, die ihren Anteil an
den gemeinsamen mächtigen philosophischen Erfahrungen der Menschheit hatte
und zur Entwicklung eines menschlichen Bewusstseins beitrug, bis sie zu einem
unauflöslichen Bestandteil des kulturellen Erbes der geistigen und künstlerischen
Entwicklung der Menschheit wurde. Der Islam strebte danach, die Religion mit
der Welt zu vereinen und die spirituelle mit der weltlichen Macht zu versöhnen.
Er blickte auf die erkennbaren wie auch abwesenden Dinge in einer holistischen

8Abū al-ʿAlāʾ al-Maʿarrī, 973–1057, berühmter syrischer Dichter, Autor von risālat al-
ġufrān, einer Parodie auf islamische Vorstellungen vom Jenseits sowie gewissen theo-
logischen Auffassungen (Anm. d. Ü.).
9Aḥmad Ibn Yaḥyā al-Rāwandī, 820–910, berühmter Freidenker, wird meist der Hetero-

doxie oder dem Atheismus zugerechnet. Autor von mehr als 100 Werken (Anm. d.Ü.).
10Abū Ḥayyān al-Tauḥīdī, ca. 932–1023, Literat und Philosoph, als Häretiker verfolgt.

Autor einer Anthologie namens Baṣāʾir al-Qudamāʾ in zehn Bänden (Anm. d. Ü.).
218 M. A. Abuzaid

und umfassenden Weise, während er auf dem Prinzip des Monotheismus (tauḥīd)
ein System des Denkens, der Philosophie, der Politik und Kultur errichtete. So
schlug sich in seiner Kultur der Humanismus mit all seinen Prinzipien nieder, die
zu Freiheit, Vernunft und Kritik aufrufen.
Diesen Humanismus hat Herder betont, als er die Beschuldigung zurückwies,
die Orientalen wüssten mit der Bedeutung von Humanismus nichts anzufangen,
weil dieser Begriff sich nicht in ihrem Wortschatz befinde. In der Tat hat es diesen
Humanismus sehr wohl bei den Muslimen gegeben. Darauf hat Pico della Miran-
dola 1486 hingewiesen, als er den Muslimen attestierte, dem Menschen einen ein-
zigartigen Platz einzuräumen: „Ich las in den Büchern der Araber und konnte in
der Welt nichts finden, was dem Menschen mehr Bewunderung gezollt hätte.“11
Denn der Islam als Dogma, Gesetz und Philosophie hegt Wertschätzung für
den Menschen. Diesen zu ergründen ist auch nichts, was aus den Bestandteilen
seiner Kultur verschwunden wäre, sondern etwas, das stets existent war und in
offenkundiger Weise praktiziert worden ist. Mohammed Arkoun betont, dass der
klassische Islam schon so etwas wie einen Humanismus gekannt habe, bevor
Europa ihn während der Renaissance für sich entdeckt habe. Tatsächlich waren
es Leute wie al-Ǧāḥiẓ,12 al-Tauḥīdī13 oder Miskawaih14, die den Humanismus
geformt haben, der darin bestand, die griechische Philosophie mit dem islami-
schen Denken sowie mit dem zu verschmelzen, „was sich gänzlich der Frage des
Menschen als Mensch verschrieb.“ (Arkoun 2001, S. 8). Wir erinnern auch daran,
dass jeder Bestandteil dieses Humanismus die menschliche Dimension und des-
sen Offenbarung in der islamischen Kultur betont.
Der Humanismus erschien zunächst in der Literatur, als man versuchte,
das Leben des Menschen und seine Zuneigungen, Gefühle und Verlangen zu
beschreiben. Ein Beispiel dafür ist die Abhandlung Das Halsband der Taube von
Ibn Ḥazm (gest. 1064), einem Richter und Rechtsgelehrten, der sich eingehend mit
Themen des Alltags befasste. Sein enormes Talent verband sich mit einer Offen-
herzigkeit gegenüber der Bildung sowie einem religiösem Engagement, was ihm

11Universalis, Bd. 8, S. 604, Lemma „Humanisten“, Ins Arabische übersetzt von


Muḥammad ʿAlī al-ʿAǧīlī: al-Nazʿa al-insāniyya fī ʿaṣr al-Tauḥīdī – al-qarn al-rābiʿ al-
hiǧrī [Humanismus in der Ära von al-Tauhidi, 4. Jhd. n.d.H.], Damaskus: Ministerium für
Kultur 2006, S. 36.
12ʿAmr al-Ǧāḥiẓ, 767–869, Berühmter Autor aus Basra (Anm. d. Ü.).

13Abū Ḥayyān al-Tauḥīdī, ?-990, bekannter Linguist, Grammatiker und Autor persischer

­Herkunft (Anm. d. Ü.).


14Aḥmad Ibn Miskawayh, ?-1030, Philosoph und Historiker persischer Herkunft (Anm. d. Ü.).
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 219

zu höherer Kultur verhalf. So systematisierte er alle Erscheinungsarten von Liebe


(Ibn Ḥazm 1953, Bd. 1, S. 469), wobei er sich allgemein auf seine persönliche
Erfahrung und die seiner Bekannten verließ. Sein Buch gilt als sozio-historisches
Dokument, das lebendige und authentische Geschichten erzählt (Giffen o. J., Bd. 1,
S. 603).
Die Geschichten von Tausend und einer Nacht wiederum widmen sich ein-
gehend der Beschreibung der Frau und stellen ihre Schönheit und ihren Zauber
dar, wie er auch in anderen Künsten und nicht zuletzt in der Dichtung zum Aus-
druck kommt. Fraglos ist dies eine Spielart von Humanismus (insāniyya) und
auch wenn darin ein Widerspruch zu dem liegt, was man vom Islam zu kennen
glaubt, so haben die Muslime sie zwar von fremden Elementen übernommen und
ihren eigenen Vorstellungen hinzugefügt, doch ohne Scham darüber zu empfinden
oder von der Religion abzuweichen.
Wenden wir uns einem Nebenstrom dieser Kultur zu, nämlich der „Wissen-
schaft des Glaubens“, die eine Wissenschaft ist, die den Glauben durch Ver-
nunft beweist, dann werden wir ebenfalls Muster finden, die auf ein Interesse
am Menschen hindeuten. So finden wir unter den Mu‛taziliten15 eine klare und
offensichtliche humanistische Auffassung, wenn in schonungsloser Offenheit
und apodiktischer Strenge verkündet wird, dass der Mensch frei und auf eigene
Handlungsentscheidungen hin erschaffen sei. Damit wird ein Fundament für Ver-
antwortlichkeit gelegt, die ihrerseits am Anfang von Belohnung und Strafe steht
und folglich der göttlichen Gerechtigkeit untersteht, deren Existenz nur durch
besagte Verantwortlichkeit zustande kommt. Für die Muʿtaziliten war nichts wert-
voller als die Freiheit, durch die das Individuum seinen Stolz begründet und seine
Würde bewahrt. Beides sind zentrale Aspekte, die den Menschen über die übrige
Schöpfung herausheben.
Auf dieselbe Art und Weise war es in den Zirkeln der Rechtsexperten zu einem
Interesse am Menschen gekommen. Soweit das Studium des Fiqh16 betroffen
ist, sind alle seine Themen solche des praktischen Lebens: des Menschen mit
sich selbst, mit seiner Familie, der Gesellschaft und seinem Schöpfer. Auch ist
der Fiqh die Beschreibung des Menschen in der Welt (Ḥanafī 1982, S. 309). In
der Art, wie die Rechtsgelehrten auf persönliche Begebenheiten schauen und
den Menschen zum Mittelpunkt ihrer Betrachtung machen, auf dessen Rechte,

15Die Mu‛taziliten (Muʿtazila) waren eine Gruppe im frühen Islam, die im Disput zwischen

ʿAlī und seinen Widersachern eine neutrale Position bezog. Sie weigerten sich, Sünder und
Ungläubige als Feinde der muslimischen Gemeinschaft zu bezeichnen. Später wurde der
Name Muʿtazila für die sog. rationalistische Schule im Islam verwandt (Anm. d. Ü.).
16Islamisches Recht (Anm. d. Ü.).
220 M. A. Abuzaid

Pflichten und seine Behandlung innerhalb dessen, was angemessen ist, sie gro-
ßen Wert legen, wird der wahre Wert des Menschen deutlich, ohne dass es die-
sem erlaubt wäre, die natürlichen Grenzen zu überschreiten oder die angeborenen
Beschränkungen zu missachten, durch die sich die Ordnung auf der Erde, in der
er den Spitzenplatz einnimmt, von der im Himmel unterscheidet, um die er sich
zu wenig kümmert. So lässt er von ersterer nicht ab, liebt sich selbst nicht und
rebelliert gegen letztere.
Die Scharia macht deutlich, dass die Religion den Menschen erhöht und zur
wichtigsten ihrer Absichten und Zwecke gemacht hat. Daher hat die Scharia fünf
Zwecke: Die Seele, die Religion, die Vernunft, die Nachkommenschaft und den
Besitz. Diese sind die Konstituenten des menschlichen Lebens und vier davon
sind direkt mit dem Menschen verbunden. Die Scharia definiert die praktischen
Grundsätze für die Bewahrung dieser Zwecke und ihre Entwicklung gemäß den
wechselnden Gegebenheiten von Zeit und Ort und soweit sie in Übereinstimmung
mit dem Menschen und seinen Interessen sind. Dies hebt seine Bedeutung inner-
halb des islamischen Systems als Glaube und Recht hervor.
Wenden wir uns der Philosophie zu, so werden wir feststellen, dass die
Bewegung der „Brüder der Lauterkeit“17 ein gutes Beispiel für die humanistische
Einstellung im geistigen Feld abgibt. Für die „Brüder“ war die Realität ein Pro-
dukt der Vernunft und der Tradition zugleich, sowie eine Frucht der Entwicklung
in der Natur und in der Geschichte. Sie riefen zur Einheit unter den Menschen als
Ideal auf Erden auf, um so die Essenz des Humanismus (insāniyya) zu verwirk-
lichen. Daher verschmolzen sie die Wissenschaften miteinander, um ihren Aufruf
zur Universalität des Menschseins und zur Versöhnung voranzutreiben, und elimi-
nierten in gleicher Weise die unterschiedlichen Sichtweisen, Überzeugungen und
Religionen, bis sie ihre Ansicht, die sie vielfach verteidigten, bestätigt fanden,
dass immer der Wert des Menschen zentral ist. Ihr berühmter Spruch lautete: „In
dir, o Mensch, ist das höchste Sein verborgen.“ (Brüder der Lauterkeit o. J., Bd. 2,
Nr. 12). Ähnlich sagten sie, dass der Mensch das kleinste Universum, die Welt der
größte Mensch sei und beide aus identischen Einzelteilen bestünden, wobei der
Mensch das Zentrum des Universums bilde.
Um noch ein Beispiel aus der Philosophie für das Interesse am Menschen zu
nennen, verweisen wir auf Ibn Ṭufail (gest. 1185) und seinen Roman Ḥayy Ibn
Yaqẓān. Der Held dieser Geschichte ist ein Mensch, der auf einer fernen Insel
geboren wurde und, ohne jeden Kontakt mit der Gesellschaft und ohne jede

17Die „Brüder der Lauterkeit“ (Iḫwān al-ṣafāʾ wa-ḫillān al-wafāʾ) waren eine philosophische

Gruppe im 10. Jahrhundert und Verfasser einer philosophischen Enzyklopädie (Anm. d. Ü.).
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 221

Kenntnis von Religion, durch den Gebrauch seiner geistigen Kräfte und in Etap-
pen, die analog der geistigen Entwicklung der Menschheit verlaufen, aller Wahr-
heiten der Natur und der Metaphysik teilhaftig wird. Indem der Autor den Wert
des Menschen anerkennt und seine Vernunft preist, die allein dazu fähig ist, sämt-
liche Wahrheiten zu erkennen, lässt er Ḥayy Ibn Yaqẓān zufällig einigen Men-
schen begegnen, die ihm von diesen Wahrheiten berichten. Da wird ihm klar, dass
die Wahrheiten, die ihm zuteil geworden ist, voll und ganz mit jenen überein-
stimmen, die er von ihnen zu hören bekommen hat. „Es ist nicht überraschend,
dass dieses Buch aufgrund seines philosophisch-humanistischen Inhalts das Inter-
esse nachfolgender Generationen von Intellektuellen geweckt hat.“ (Cachia 1992,
S. 469).
Die humanistische Haltung lässt sich unter Muslimen in allen Bestandteilen
ihrer Kultur finden – in der Literatur, den Künsten, dem Glauben, dem Recht und
der Philosophie – und speist sich aus einem Impetus ihrer Religion, die versucht,
die spirituellen und materiellen Aspekte im Gleichgewicht zu halten und Himmel
und Erde in Harmonie zu vereinen. Eine letzte Frage bleibt: Ist das Muster, das
der Okzident präsentiert, das einzige, das dem Begriff Humanismus (insāniyya)
gerecht wird?
Die Wahrheit ist, dass die Tragödien und Katastrophen, die in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts stattgefunden haben, vor allem die beiden Weltkriege, zu
einigen Zweifeln geführt haben, was die Fähigkeit des abendländischen huma-
nistischen Denkens anbetrifft, das zu realisieren, wonach der Mensch strebt. Wie
Kingsley Martin 1962 bemerkt hat, haben „die beiden Weltkriege zu einem Zwei-
fel aller Menschen in die Fähigkeit zu Entwicklung und Fortschritt geführt. Der
Zweifel hat nicht einfach nur die Pfeiler des Traums zerstört, die perfekte Stadt18
zu erlangen, sondern auch den Wunsch verhindert, eine Gesellschaft von grösse-
rer Glückseligkeit zu verwirklichen.“.
Randall Hepburn, ein Professor für Philosophie an der Universität Edin-
burgh, ruft die Humanisten dazu auf, die religiösen und mystischen Erfahrungen
für sich zu nutzen, da, wie er glaubt, Religion imstande sei, die Schwäche der
humanistischen Strömungen zu kurieren (Kulbayikani 2009, S. 114). Denis Duc-
los wiederum beschreibt die Phase, die die Welt gegenwärtig durchläuft, als eine
nicht-humanistische, in der die Vernunft über allem steht und alle anderen huma-
nistischen Aspekte negiert, sodass „das spirituelle System die früheren, Körper

18Ar.al-madīna al-fāḍila. Anspielung auf das gleichnamige, von Platon inspirierte Buch
des Philosophen al-Fārābī (gest. 950) (Anm. d. Ü.).
222 M. A. Abuzaid

und Geist verbindenden Vorstellungen aufnimmt und weiterführt und damit zum
zentralen Ort des Humanismus geworden ist.“ (Duclos 2003, S. 51. 52).
Marcel Gauchet betont, wie wichtig die Beständigkeit der religiösen Form für
die Beständigkeit der menschlichen Gesellschaften ist. Diese Form manifestiert
sich in drei grundlegenden Aspekten: Tradition, Partizipation und Hierarchie.
Diese Aspekte hat Europa zu überwinden versucht, um seinen eigene Humanis-
mus zu verwirklichen und ihn vollkommen zu beherrschen, „wobei er mit einer
Art Defizit ausgestattet wurde. Dieser verschaffte den Europäern zwar die voll-
kommene Autonomie, beraubte aber der kollektiven Macht ihrer Essenz. Er
verlieh ihnen eine nie gekannte Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung, doch
vernachlässigte er das Gemeinschaftsgefühl. Kein Zusammenleben schien mehr
vorstellbar unter den Menschen, außer in Form eines gemeinsamen Marktes.“
(Gouchet 2003, S. 56).
Heutzutage durchlebt der Mensch eine Krise in beiden Welten, der abend-
ländischen wie der orientalischen, wobei der Mensch unserer Krise von der
Industrie zermalmt, von der elektronischen Buchhaltung eingeengt und von
handbetriebenen Kränen und elektrischen Knöpfen domestiziert wird. Unsere
Krise liegt im spezialisierten Menschen, der alle holistische Betrachtung des
Lebens verloren hat und in einer Ecke des quantitativen Wissens verharrt, in der
er zählt und rechnet. Unsere Krise ist eine der Vorherrschaft materieller Werte
über das Leben und des Verlustes an Geist. Unsere Krise ist eine des Umsturzes
aller Werte, die alles durcheinander von oben nach unten und von unten nach
oben kehrt. Unsere Gemeinschaft kennt keine Freundschaft mehr, keine Zuge-
hörigkeit und kein Ziel. Unsere Krise besteht im Zweifel an allem, in der Auf-
gabe aller Prioritäten und in der Grübelei. Unsere Krise liegt in der Herrschaft
des Durchsetzungsvermögens über den Verstand, des Willens über den Geist, der
Zersplitterung über die Ganzheit und des Fanatismus über die Toleranz, bis der
Rassismus zur Grundlage der Menschheit geworden ist.
Heute benötigen wir alle zusammen, in Orient und Okzident, eine gemeinsame
Formel, wobei der Okzident für Wissenschaft, der Orient für Religion, ersterer
für die Materie und letzterer für den Geist steht. Der Okzident steht für den Fort-
schritt, der Orient für das Herz, und keiner von beiden kann für sich alleine leben;
vielmehr sind beide aufeinander angewiesen und müssen in einem einzigen Sys-
tem zusammenfinden, weil der eine nicht ohne den anderen leben kann. Hierbei
können wir auf den Satz von Samuel Dresden zurückgreifen, wonach „Wissen-
schaft ohne Herz ein Ruin für die Seele ist.“ (Dresden 1972, S. 121). Sozial- und
Naturwissenschaftler haben vielfach darauf verwiesen, dass das unkontrollierte
und ungezügelte Wachstum der Technologie eine große Bedrohung darstellt, wes-
wegen ich die populäre Ansicht teile, „dass die Wissenschaft ausserstande ist, alle
Reformation, Humanismus und Islam – Eine nahöstliche Perspektive 223

menschlichen Probleme zu lösen.“ (Dubos 1987, S. 46). Und um John Dewey zu


zitieren: „A civilization that allows science to destroy the existing values with no
capacity to create new ones is a self-destructive civilization.“.
Heute steht die Wissenschaft im Verdacht, die religiösen und philosophischen
Werte zu vernichten, ohne Ersatz zu finden, an dem das Verhalten sich orientiert.
Wir werden nicht imstande sein, unsere Verhaltensweisen zu ändern, solange
wir keine neue Ethik oder neue Werte geschaffen haben, die im Einklang und in
Übereinstimmung mit dem Menschen und der Natur stehen und nicht auf Unter-
drückung und Dominanz hin ausgerichtet sind. Vielleicht wird es Orient und
Okzident gerecht, wenn wir diesen Aufsatz mit den luziden Worten von Zakiyy
Naǧīb Maḥmūd beschließen, einem Intellektuellen, der mit dem Okzident ver-
traut ist und zum Okzident gehört: „Die okzidentalische Zivilisation ist para-
lysiert, indem sie auf einem Bein geht, während ihr das andere Bein abhanden
gekommen ist. Daher wurde die Zivilisation als Folge eines angeborenen Han-
dicaps mit einem Humpeln beschlagen.“ (Maḥmūd 1986, S. 168, 169). Das kann
kein aufrichtiger Mensch in dieser Welt bestreiten.
Wir alle haben die Pflicht, uns in einem gemeinsamen und konvergierenden
System geteilter Werte zu begegnen, das nicht die eine Seite zugunsten der ande-
ren ausschließt und nicht versucht, über die andere zu herrschen, sondern in dem
der eine den anderen ergänzt, um das Wissen und das Licht für jeden einzelnen
und die Zufriedenheit und das Wohlbefinden für die Welt zu vermehren, während
jede Seite ihre besondere Identität bewahrt und den Pluralismus im Glauben und
in der Politik anerkennt.
(Aus dem Arabischen von Michael Kreutz)

Literatur

Arkoun. Mohammed [Muḥammad Arkūn]. 2001. [Arab.] Maʿārik min aǧl al-ansuna fi
al-siyāqat al-Islām [= Humanisme et Islam: combats et propositions]: Ins Arabische
übersetzt von Hisham Saleh. Beirut: Dar al-Saqi.
Bréhier, Emile. 1987. [Arab.] Tārīḫ al-falsafa [Geschichte der Philosophie]: Ins Arabische
übersetzt von George Tarabishi. 2 Bde. Beirut: Dar al-Taliaa.
Brüder der Lauterkeit, Die. o. J. [Arab.] al-Rasāʾil, al-risāla al-ṯāniyya ʿašra „fī qawl
al-ḥukamāʾ inna al-insān ʿālam ṣaġīr“ [Die Episteln, Epistel Nr. 12: „Über das Wort
der Gelehrten, dass der Mensch eine kleine Welt sei“], Hrsg. von Ḫairaddīn al-Ziriklī,
Bd. 2. Beirut: Dar Sadir.
Cachia, Pierre. 1992. [Arab.] al-Ḥaḍāra al-ʿarabiyya fī al-Andalus [Die arabisch-islami-
sche Zivilisation in al-Andalus, 2. Aufl. Beirut: Markaz Dirasat al-Wahda la-Arabiyya.
224 M. A. Abuzaid

Cassirer, Ernst. 1961. [Arab.] Falsafat al-ḥaḍāra al-insāniyya aw maqāl fī al-insān [= Was
ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur]. Ins Arabische
übersetzt von Ihsan Abbas. Beirut: Dar al-Andalus in Kooperation mit der Franklin
Foundation, Beirut.
Davies, Tony. 1927. Humanism. London: o.A.
Dresden, Samuel. 1972. [Arab.] al-Ḥaraka al-insāniyya wa-l-nahḍa [Humanismus und
Renaissance]. Ins Arabische übersetzt von ʿUmar Šaḫḫā Šīrad. Damaskus: Kultus-
ministerium.
Dubos, René. 1987. [Arab.] Insāniyyat al-insān: naqd ʿilmī li-l-ḥaḍāra al-māddiyya [= So
human an animal]. Ins Arabische übersetzt von Dr. Nabil Subhi al-Tawil, 3. Aufl.
­Beirut: Muʾassasat al-Risala.
Duclos, Denis. 2003. [Arab.] Hal huwa al-taǧarrud min al-insāniyya am huwa iḫtifāʾ
al-taʿaddudiyya?! Diogène, Hrsg. von der UNESCO, Kairo, August.
Giffen, Lois A. o. J. [Arab.] Adab al-ḥubb wa-ṭauq al-ḥamāma li-Ibn Ḥazm [Die Literatur der
Liebe und Ibn Hazm’s Halsband der Taube]. In Giffen, Lois A., al-Ḥaḍāra al-ʿarabiyya fī
al-Andalus [Die arabische Zivilisation in al-Andalus], Bd. 1, o.O.
Gouchet, Marcel. 2003. [Arab.] Mā allaḏī faqadnāhu bi-inḥisār sayṭarat al-dīn? [What did
we lose with the limitation of the rule of religion?]. In Diogène, Hrsg. UNESCO, Kairo,
August.
Ḥanafī, Ḥasan. 1982. [Arab.] Dirāsāt islāmiyya [Arabische Studien]. Kairo: Dar al-Tanwir.
Ibn Hazm. 1953. The ring of dove, a treatise on the art and practice of Arab love (Übers. A.
J. Arberry). London: Luzac.
Koyré, Alexandre. 1937. Trois leçon sur Descartes. Ins Arabische (Übers. von Yusuf
Karam). Kairo: Nashr al-Gamia al-Misriyya.
Kraus, Paul. 1949. [Arab.] Tārīḫ al-ilḥād fī Islām [= Alchemie, ketzerei, apokryphen im
frühen Islam]. Ins Arabische übersetzt von Abdarrahman Badawi. Kairo: o.V.
Maḥmūd, Zakiyy Naǧīb. 1986. Insāniyyat al-insān [Die Menschlichkeit des Menschen]. In
Zakiyy Naǧīb Maḥmūd ʿAn al-ḥurriyya ataḥaddath [Über Freiheit spreche ich]. Kairo:
Dar El-Shorouk.
Perry, Ralph Barton. 1961. [Arab.] Insāniyyat al-insān [= The humanity of man]. Ins Ara-
bische übers. von salma khadra al-jayyusi. Beirut: Manshurat Maktabat al-Maarif, in
Kooperation mit der Franklin Foundation, New York.
Kulbāyikānī, ʿAlī Rabbānī. 2009. [Arab.] al-Insānawiyya wa-ǧihat naẓar al-islāmiyya
[Humanismus und die islamische Perspektive]. Ins Arabische übers. von Muhammad
Hasan Zuraqit. In Mahajja, Hrsg. vom Maʿhad al-maʿārif al-ḥikmiyya li-l-dirāsāt
al-dīniyya wa-l-falsafiyya, Bd. 10 (Dossier „Der Mensch“). Beirut: o. V.
Randall, John Herman. 1958. Takwīn al ʿaql al-ḥadīṯ [= The making of the modern mind].
Ins Arabische übers. von George Tuaima, Bd. 1. Beirut: Nashr Dar al-Taqafa.
Scheler, Max. 1928. [Arab.] Mawqif al-insān fī al-kawn [= Die Stellung des menschen im
kosmos]. Dar Mustat Rishl.
al-Ṭawīl, Ṭaufīq. 1976. [Arab.] Qiṣṣat al-ṣirāʿ bayn al-dīn wa-l-falsafa [Geschichte des
ringens zwischen religion und philosophie]. 3. Aufl. Kairo: Dar al-Nahda al-Arabiyya.
Islam und Moderne – Warum gelingt
den muslimischen Kulturen nicht, was
anderen gelingt?

Michael Kreutz

In den muslimischen Ländern sind Demokratien liberal-konstitutionellen


Zuschnitts Mangelware Es fehlt ihnen an inklusiven Institutionen und allgemein
an Rahmenbedingungen, die zu zivilgesellschaftlicher Aktivität ermutigen. Der
Gedanke liegt nahe, dass der Islam hieran nicht ganz unschuldig ist und ein
reformierter Islam geeignet wäre, zur Triebkraft gesellschaftlichen Wandels zu
werden, doch scheint dieser Gedanke heute weniger populär zu sein als noch vor
einhundert Jahren. Das übliche Argument gegen eine Reform des Islam lautet,
dass dieser weder ein Priestertum noch eine der Kirche ähnliche Organisations-
struktur aufweise, eine Reformation im islamischen Kontext folglich nicht
benötigt werde (z. B. Hamid 2016, S. 25–6).
Dagegen lässt sich einwenden, dass sich durchaus strukturelle Paralle-
len im Islam finden lassen, wenn wir aufhören, immer nur über einen abstrak-
ten Islam zu reden, den es nicht gibt, und uns stattdessen dem sunnitischen
Islam zuwenden, dem heute ca. 90 % aller Muslime weltweit angehören. Denn
der sunnitische Islam hat sehr wohl Denkweisen, Strukturen und Institutionen
hervorgebracht, deren Verträglichkeit mit den Errungenschaften der Moderne
(Säkularismus, den Institutionen des liberal-demokratischen Gemeinwesens,
der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Bejahung ökonomischen Fort-
schritts) mindestens fraglich ist. Zudem hat die Reformation mehr als nur inner-
kirchliche Strukturen verändert, sondern weit in die Gesellschaft hinein gewirkt
und ist dabei vielfach mit dem Humanismus verschlungen, der das westliche
Europa nicht minder geprägt hat.

M. Kreutz (*)
Bochum, Deutschland
E-Mail: kontakt@michaelkreutz.net

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 225
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_13
226 M. Kreutz

Viele Humanisten waren Befürworter der Reformation und Verbreiter lutheri-


scher Schriften, wie auch der Humanismus seit dem beginnenden 16. Jahrhundert
nicht ohne Eindruck auf die Klöster geblieben war. Eine Reform der christlichen
Theologie war auch das Programm des Humanisten Erasmus von Rotterdam
(1466/9–1536), der die Bibel im Urtext und im Rückgriff auf die Kirchenväter
studierte, deren Schriften er edierte und kommentierte. Zudem machte er sich
dafür stark, die Bibel in der Volkssprache seiner Zeit wiederzugeben (Kauf-
mann 2010, S. 110, 114, 176, 118, 120–1). Aus diesen theologischen Anfängen
entwickelte sich eine gesellschaftliche Kraft von erheblicher Tragweite. In der
Rückschau wird uns diese Tragweite bewusst und vielleicht lässt sich daraus die
Zuversicht schöpfen, dass dies auch im Kontext des Islam gelingen könnte – nicht
in der Absicht, westliche Entwicklungen zu kopieren, sondern die eigene Krise zu
überwinden.

Humanismus und Reformation

Man kann mit Lauster (2015, S. 255) in der Renaissance eine im Kern christ-
liche Epoche sehen, aus der man später ein heidnisches Zeitalter gemacht hat, wie
schon der Reformtheologe Johann Salomo Semler (1725–1791) den Humanis-
ten Erasmus von Rotterdam für die Begründung der protestantischen Theologie
in Beschlag genommen hat (Cassirer 1973, S. 188). Doch wenn auch die Refor-
mation vom Humanismus der Renaissance zehrte, so hatte letzterer doch keine
christliche Wurzel (Nelson 2010, S. 2). Hier sehen wir schon einen ersten Unter-
schied zur islamischen Kulturgeschichte, von der häufig gesagt wird, dass sie –
hierin sich von Europa unterscheidend – die Antike fortgeführt habe, weswegen
man eine eigenständige Epoche des Humanismus ebenso vergeblich suche wie
eine Notwendigkeit für islamische Reform.
Dies ist unzutreffend, denn auch wenn die arabisch-islamische Philosophie
im 9. Jahrhundert platonischen Vorstellungen zugänglich wurde, wurde Platon
im Original praktisch nicht studiert und übersetzt. Während es im Abendland
mit Nikolaus von Kues (1401–1464) und Marsilio Ficino (1433–1499) Vertreter
einer geistigen Strömung gab, die von einem vertieften Interesse an dem griechi-
schen Philosophen getrieben war, hat es in der islamischen Welt Vergleichbares
nicht gegeben (Arnzen 2011, S. 211). Folglich musste die arabische Welt, in den
Worten von Rémi Brague (1993, S. 103), nie „der ganzen Wucht der Konkurrenz
eines Gesamtentwurfs des vorislamischen Menschen die Stirn bieten.“ An einer
solchen hätte sie eigene kulturelle Prämissen hinterfragen und daran wachsen
können.
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen … 227

Europäische Humanisten orientierten sich aber nicht nur an der platonischen


Lehre vom Eros, sondern auch an der stoischen Autarkie des Willens, die in
letzter Konsequenz die Offenbarung überflüssig zu machen drohten. Dem sollte
sich die Reformation entgegenstellen (Cassirer 1973, S. 184–6): Die Reformato-
ren Luther (1483–1546) und Calvin (1509–1564) beriefen sich auf Augustinus,
für den der freie Wille die göttliche Gnade nicht zu ersetzen vermochte (Ebd.).
Dies war der Ausgangspunkt für das reformatorische Ethos einer innerweltlichen
Askese, die auf Kosten der Mystik ging und Seelenheil in dieser Welt zu erlangen
zuließ (Cohen 2010, S. 175, 255). Max Weber hat darin bekanntlich die reli-
giöse Motivation für die Weltbeherrschung der kapitalistischen Moderne gesehen
(Weber 2005a, S. 455, 911 ff.). In ihr kommt ein absoluter Individualismus zum
Ausdruck, der vor allem im Alten Testament wurzelt (Schluchter 1998, S. 324–5),
wo sich sowohl die Umrisse einer Idee der autonomen Person findet, die mit der
Reformation gesellschaftlich zum Durchbruch gelangt, wie auch die Vorstellung
von der Willensfreiheit, ohne die es heute kein Wahlrecht gäbe und die der atheni-
schen Demokratie noch unbekannt war (Wokart 2014, S. 126–7).
In England war die Freiheit der Person und des Eigentums schon vor der
Reformation, nämlich in der Magna Carta von 1215, verbürgt worden (Dreier
2015, S. 330–1), bevor im 17. Jahrhundert protestantische Gruppen wie die Leve-
lers auftraten, die Urteile über den Glauben in letzter Instanz an das Individuum
banden und damit der allgemeinen Meinungsfreiheit Vorschub leisteten (Dreier
2015, S. 340–1). Das ganze vollzieht sich im Medium einer politischen Lesart
der Bibel – Stichwort: „politischer Hebraismus“ –, die über akademische Kreise
hinaus Einfluss gewann (Sutcliffe 2004, S. 45–6; Nelson 2010, S. 139). Auch in
Deutschland machte sich diese Entwicklung bemerkbar, wie Heinrich Heine im
Rückblick notierte: „Jetzt aber, seit Luther machte man gar keine Distinktion
mehr zwischen theologischer und philosophischer Wahrheit, und man disputierte
auf dem öffentlichen Markt, und in der deutschen Landessprache ohne Scheu und
Furcht. Die Fürsten, welche die Reformation annahmen, haben diese Denkfreiheit
legitimiert.“ (Heine 1834, 1995, S. 210).
Die Reformation ist in ihrer Wirkung durchaus ambivalent. Die ältere These
von Helmuth Plessner (1959, S. 52 und passim), wonach das Luthertum eine
Aufklärung in Deutschland eher verhindert als befördert hat, ist nach wie vor
plausibel. Luther hatte sich 1524 auch gegen den Überseehandel mit Indien
ausgesprochen und dies damit begründet, dass exotische Gewürze und andere
Genüsse im Gegensatz zum Ideal der Selbstgenügsamkeit stünden (Häberlein
2016, S. 96–7); er fiel damit in die Zeit vor dem kanonischen Recht zurück, das
die kaufmännische Tätigkeit unter gewissen Voraussetzungen als Weg zum Heil
gewürdigt hatte (Berman 1991, S. 535). Auch der Fanatismus der Täufer, die im
228 M. Kreutz

Münster des 16. Jahrhunderts für kurze Zeit die politische Herrschaft erlangten,
ist Teil der Reformationsgeschichte (F. Meier 2008, S. 94–5).
Dennoch war der Fortschritt nicht aufzuhalten. So nahm im 17. Jahrhundert
die Bibelkritik ihren Anfang, als Pietro della Valle eine Abschrift des samarita-
nischen Pentateuch aus Damaskus beschafft hatte, die zahlreiche Textvarianten
gegenüber der kodifizierten Version enthielt (Sutcliffe 2004, S. 26). Diese Bibel-
kritik erreichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihren Höhepunkt.
(Schulte 2002, S. 62, 90) In ihr manifestiert sich eine Aufwertung der Vernunft,
der sich nach Hugo Grotius (1583–1645), einem Schüler des Erasmus von Rotter-
dam, selbst das Gesetz zu beugen habe (Nelson 2010, S. 97–100; Taylor 2012,
S. 221–2); Die Lehre seines Landsmannes Jacobius Arminius (1560–1609), nach
der es dem Menschen sogar offen steht, sich von Gott ganz abzuwenden, ver-
breitete sich über England bis nach Nordamerika (Harrison 1990, S. 23; Hoch-
geschwender 2007, S. 57). In Frankreich war es u. a. Pierre Bayle (1647–1706),
der den christlichen Glauben der Vernunft unterwarf und diese an die persönliche
Autonomie des einzelnen knüpfte (Sutcliffe 2004, S. 97; Cassirer 1973, S. 223).
Heute wissen wir, dass auch die katholische Kirche nicht ganz abseits die-
ser Entwicklungen stand, sondern sich theologisch schon im 11. und 12. Jahr-
hundert vom jenseitigen asketischen Ideal gelöst (Berman 1991, S. 533) und
mit dem Jansenismus auch eine innerkatholische Reformation hervorgebracht
hat (Vgl. Van Kley 1996, S. 6; Zippelius 1997, S. 100–1). Die Forschung vertritt
daher nicht mehr den schroffen Gegensatz von lutherischem und katholischem
Autoritarismus einerseits und calvinistischem Individualismus und Freiheits-
gedanken andererseits, was zur Folge hat, dass auch Menschenrechte nicht länger
monokausal, sondern als Produkt aller Konfessionen und religiösen Gruppierun-
gen erklärt werden, wenngleich deren Anteil unterschiedlich groß gewesen sein
mag (Schilling 2009, S. 313–4).
Mit ihrer Hinwendung zur Vernunft und innerweltlichen Askese hatte die
Reformation auch neue Formen der Naturerkenntnis möglich gemacht. Nach-
dem diese noch im frühen 17. Jahrhundert in den Verdacht des Sakrilegs geraten
konnten, änderte sich dies mit dem Westfälischen Frieden von 1648, seitdem die
Glaubenskämpfe einer gewissen Milde gegenüber Andersdenkenden gewichen
waren, sowie mit der Entdeckung und Eroberung fremder Erdteile (Cohen 2010,
S. 139–40), als der Konkurrenzkampf zwischen Spanien, Frankreich, England
und den Niederlanden mathematische und astronomische Erkenntnisse politi-
sches Interesse weckte: Um den Längengrad auf dem Meer bestimmen zu kön-
nen, mussten Galileis Entdeckungen für die Seefahrt nutzbar gemacht werden.
Dies gelang Giovanni Domenico Cassini und Christian Huygens, die Erfinder des
Pendeluhrwerks, die beide von Ludwig XIV. nach Paris geholt worden waren,
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen … 229

das fortan neben London zum neuen ökonomischen, politischen und kulturel-
len Schwerpunkt Europas avancierte (Cohen 2010, S. 141, 172, 254; Tilly 1999,
S. 187).
All dies bildete den Hintergrund dafür, dass sich im westlichen Europa die
rule of law durchsetzen konnte, was zumindest indirekt auf die Reformation
zurückgeht, die die Autorität der Kirche geschwächt und eine Säkularisierung
geistlicher Güter in die Wege geleitet hatte (Fukuyama 2011, S. 289). Der neue
Staat war zwar ein konfessioneller, kein säkularer, aber der Boden für eine
weltliche Reform war bereitet (Dreier 2015, S. 315), bevor neue Theorien von
Souveränität dem säkularen Staat auch philosophisch Legitimation verschafften
(Fukuyama 2011, S. 289). Die Aufklärung, die diesen Gedanken weitertrug,
fand ihren Höhepunkt in der Idee der Menschen- und Bürgerrechte, die zum Teil
auf die mittelalterliche Kanonistik und dessen Naturrechtskonzeption, zum Teil
auf ebenjene reformatorischen Gruppen, die mit der englischen Revolution ver-
bunden waren, zurückgeht, bevor sie mit der amerikanischen bill of rights, ins-
besondere der von Virginia 1776, politisch zum Durchbruch fand (Jellinek 1919,
S. 42–3, 55–6, 58; Berman 1991, S. 272, vgl. ebd. S. 327–8; Rhonheimer 2012,
S. 89–90; vgl. Dreier 2015, S. 327–8, 342).
Geschichte ist kontingent, sie folgt keinem vorgezeichneten Pfad. Aber sie
verläuft auch nicht willkürlich, sondern unter kulturellen Bedingungen, die
ihrerseits dem historischen Wandel unterworfen sind. Daher bleiben die Leis-
tungen der Reformation anzuerkennen, denn diese ist Produkt und Triebfeder
einer Kultur, die das westliche Europa maßgeblich umgestaltet und das, was wir
heute mit dem Begriff der Moderne verbinden, möglich gemacht hat. Die Frage
ist daher, welche Unterschiede und Parallelen wir im islamischen Kontext finden
und welche Schlussfolgerungen wir daraus für die Frage nach dem Sinn und der
Möglichkeit einer islamischen Reformation ziehen können.

Islam im Vergleich

Es ist bekannt, dass es mit den Muʿtaziliten im Islam eine Schule gab, die die
Existenz eines freien Willens für notwendig hielt, damit der Mensch sich für
Gott und seine Gebote entscheiden könne. Alles andere würde der Gerechtig-
keit Gottes widersprechen (Ibn al-Murtaḍā und Diwald-Wilzer 2009, S. VII). Der
Hauptstrom der Theologie schlug jedoch einen anderen Weg ein. Frühe Rechts-
theoretiker, die erkannten, dass infragen des Koran zuweilen Interpretation gegen
Interpretation steht, machten nicht zuletzt dem Rechtstheoretiker Abū Ḥanīfa
(ca. 699–767) den Vorwurf der mangelnder Methodik. Sie führten dies auf den
230 M. Kreutz

Gebrauch des raʾy zurück, der persönlichen Ratio oder gesunden Menschen-
verstand (Oberauer 2004, S. 212). Damit enthielt die Rechtstheorie ein subjekti-
ves und schwer zu kalkulierendes Element.
Die maßgebliche Wende leitete der Jurist Muḥammad Ibn Idrīs al-Šāfiʿī
(767–820) ein, der Begründer der nach ihm benannten šāfiʿītischen Rechts-
schule, der den raʾy aus dem Rechtsdenken verbannte (Radtke 2005, S. 64), bis
im 10. Jahrhundert die rationale Schule der Muʿtazila fast völlig verdrängt wurde
(Nagel 1988, S. 226). Dieser erheblichen Verengung der Rechtstheorie stellte sich
zuletzt nur eine Minderheit der Gelehrten entgegen, darunter die philosophische
Gruppe der sog. „Brüder der Lauterkeit“ (Iḫwān al-ṣafāʾ) (Brague 2006, S. 109,
112). So hatten sich die sunnitischen Juristen durchgesetzt, die dem Gläubigen
nur die Möglichkeit ließen, ewige Glückseligkeit allein durch das Befolgen der
göttlichen Gebote zu erlangen. Nach ihrer Vorstellung gibt es keinen Spielraum
für eine autonome Natur des Menschen, dessen Vernunft weniger der Erweiterung
des Wissens als mehr der Erlösung auf dem Wege der Kommentierung und Inter-
pretation der Offenbarung dient. Daran hat auch der griechische Einfluss auf
die arabische Kultur nichts ändern können (Von Grunebaum 1956, S. 91; vgl.
­Rodinson 1986, S. 120).
Anteil an der Prägung des Sunnitentums hatten Theologen, die sich auf
al-Ašʿarī (gest. 935) beriefen, der sämtliche Erscheinungen der realen Welt nur
als Ausdruck göttlichen Willens deutete, über die dann keine weiteren Aussagen
mehr möglich sind (bilā kaifa) (Lazarus-Yafeh 1992, S. 216–7) und der die Sup-
rematie der offenbarten Wahrheit gegenüber der Vernunft betonte (Tamer 2013,
S. 330). Somit bleibt kein Spielraum für eine Autonomie des Individuums mehr.
Zwar finden sich in der islamischen Geistesgeschichte immer wieder Dissidenten,
die sich dem sunnitischen Menschenbild verweigerten, darunter Abū al-Barakāt
al-Baġdādī, der die menschliche Seele frei von jeglicher göttlichen Fügung (amr)
dachte und ihr alle Fähigkeit zur menschlichen Erkenntnis zuerkannte1 (Nagel
1994, S. 194–5). Doch bleiben solche Theorien immer nur Elitenprojekte, denen
eine gesellschaftliche Breitenwirkung versagt blieb.
Die sunnitische Orthodoxie hatte sich für die Lehre vom kasb entschieden, die
zwar den radikalen Prädestinationsglauben (iʿtiqād al-qadar wa-l-ǧabr) zurück-

1Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Abū al-Barakāt al-Baġdādī ausgerechnet Ibn
Taimiyya, den Säulenheiligen heutiger Salafisten, mit rationalistischer Argumentation ver-
sorgte (Tamer 2013, S. 358–9).
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen … 231

weist, aber auch die Vorstellung von einem freien Willen ablehnt, um vielmehr
einen Mittelweg zu beschreiten2 (Ebert 1991, S. 119–20; vgl. Rodinson 1986,
S. 132–4). Ein solcher Mittelweg bedeutet aber auch, dass, wie der neuzeitliche
Theologe Ḥusayn al-Ǧisr (1845–1909) es formuliert hat, Freiheit im Islam nur als
eine „ausgewogene“ (ḥurriyya muʿtadila) gedacht werden kann, die sich gegen
eine negative Freiheit definiert, die vermeintlich „im Irrgarten der Neigungen
und Lüste“ endet (Ebert 1991, S. 116). Dies korrespondiert mit der koranischen
Sicht auf die Welt als Versuchung für den Gläubigen und dessen Suche nach Gott
(Khoury 2001, S. 88; vgl. Koran 87,16–17; 28,60; 8,67 et al.).
Zwar hatte im 12. Jahrhundert der Philosoph Averroes (Ibn Rušd) argumen-
tiert, dass Schöpfung und Offenbarung, indem sie der Logik nicht widersprechen,
dem menschlichen Verstand zugänglich sein müssen, womit sich Erkenntnisse
durch die Naturwissenschaften rechtfertigen ließen (Brett 1981, S. 102–3; Urvoy
1991, S. 50, 53–4, bes. 106–7). Allerdings wurden in Averroes' Heimat, dem
muslimischen Spanien der Almohaden, seine Schriften verbrannt, während sie
in unter europäischen Scholastikern eine umso höhere Wertschätzung genossen
(Strohmaier 2003, S. 25–6). Dies ist durchaus kein Einzelfall. Wissenschaftliche
Erkenntnisse aus dem Orient machten häufig Karriere erst bei den „Franken“
(Europäern):

• So landete die Karte, die der türkische Kartograf Piri Reis 1513 erstellt hatte
und die auf Informationen von Christoph Kolumbus aufbauten, rasch in den
osmanischen Archiven, wo sie erst 1929 von einem westlichen Gelehrten
wiederentdeckt wurde (Lewis 1995, S. 69). Ähnlich haben erst die Erkennt-
nisse des arabischen Mathematikers Ibn al Hayṯam auf dem Gebiet der
Linsenfunktion des Auges (Cohen 2010, S. 116)3 die Erfindung der Brille
möglich gemacht; diese kennt der persische Dichter Ǧāmī im 15. Jahrhundert
jedoch nur als „fränkische Gläser“ (Strohmaier 1996, S. 188).
• Von Ibn al-Hayṯam, dessen Wirken Hans Belting (2008, S. 107) als
Kulminationspunkt des kulturellen Austausches zwischen Ost und West
bezeichnet, zehrte auch der Astronom Johannes Kepler (1571–1630), der das
kosmische Modell des Nikolaus Kopernikus weiterentwickelte, indem er die

2Unter kasb versteht man das Anhäufen von im Jenseits zu erwartende Belohnungen oder
Vergeltungen für irdische Taten (vgl. Koran 2:81, 52:21) (vgl. Lazarus-Yafeh 1992, S.
216–7).
3Seine Leistung war nicht experimenteller Natur, sondern bestand darin, optische Theorien

der Griechen einer Revision unterzogen zu haben (Brentjes 2016, S. 144–5).


232 M. Kreutz

Planetenbahnen als elliptisch erkannte und damit die Umlaufgeschwindig-


keiten der Gestirne zu berechnen vermochte. Dass der Hof Rudolfs II. in
Prag, an dem Kepler seine astronomischen Berechnungen machte, wohl nicht
zufällig auch Heimstatt einer künstlerischen Avantgarde wurde, für die die
optische Verformung ein wichtiges Element darstellte (Blumenberg 2000,
S. 281–3; vgl. Selin. 2008, S. 1817), hat aber wiederum keine Parallele in der
islamischen Welt.
• Während es die Keplerschen Berechnungen möglich gemacht haben, wieder-
kehrende planetarische Erscheinungen wie den Halleyschen Kometen zu
berechnen (Blumenberg, a. a. O., S. 284–7), blieb in den Medressen der isla-
mischen Welt noch bis ins 20. Jahrhundert hinein das ptolemäische Modell
gängig, mit dem sich solche Berechnungen nicht anstellen ließen (Hanif 1997,
S. 326). Dass er das Erscheinen des besagten Kometen, den er selbst 1910
am Himmel über Täbris erblickt hatte, mit der Naturwissenschaft, wie sie an
seiner Medrese gelehrt wurde, nicht erklären konnte, führte den jungen Theo-
logiestudenten Aḥmad Kasrawī (1891–1946) dazu, von einem Anhänger der
Schia zu deren schärfsten Kritiker zu werden (Mottahedeh 1988, S. 87–94).
Heute sind fast alle seine Bücher in Iran verboten.

Apropos Bücher: Der im 15. Jahrhundert aufkommende Buchdruck brachte schon


früh Titel in Umlauf, die die Kulturen fremder Weltregionen zum Thema hat-
ten. Damit erweiterte sich der allgemein Bildungshorizont ebenso wie durch die
Vorläufer der späteren Tageszeitungen, als die global agierenden europäischen
Handelsgesellschaften im 15. und 16. Jahrhundert über ihre europaweiten Post-
systeme sog. Avvisi vertrieben, d. h. Nachrichten über politische und wirtschaft-
liche Ereignisse (Häberlein 2016, S. 168–70). Auch die Reformation wäre ohne
Buchdruck kaum erfolgreich gewesen, ihre Popularität hat wiederum dem Buch-
druck weiteren Auftrieb verschafft. Buchdruck, Renaissance und Reformation
verstärkten sich gegenseitig (Diner 2005, S. 110–1).
Ein ähnlicher Zusammenhang lässt sich auch im chinesischen Kontext stu-
dieren: In China, wo der Buchdruck bereits für die Zeit vor 751 nachgewiesen
ist, wurde er von den Buddhisten gefördert, weil sie in der Verbreitung der
gedruckten Schrift einen Weg zum Heil sahen. Das älteste erhaltene gedruckte
Buch ist eine buddhistische Sutra (Lehrtext) aus dem Jahre 868, doch letztlich
profitierte von dieser Haltung zum Buchdruck das gesamte Bildungs- und Ver-
waltungswesen (Schmidt-Glinzer 2009, S. 197). Im größeren Rahmen betrachtet
widerspiegelt dies eine weltzugewandte Auffassung des Buddhismus, der in sei-
ner Geschichte zwar nicht immer fortschrittlich war, dessen Freiheitsbegriff
jedoch eine moderne Wirtschaftsethik möglich gemacht hat und unter britischem
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen … 233

Einfluss auf Sri Lanka in Form der Sarvōdaya-Philosophie einen „protestanti-


schen Buddhismus“ mitsamt innerweltlicher Askese hervorzubringen imstande
war (Obeyesekere 1992, S. 107, 120, 123–30).
Anders wieder die Entwicklung in der islamischen Welt: Zwar hatte der Buch-
druck dort schon früh Einzug gehalten, als sich im späten 15. Jahrhundert aus
Spanien vertriebene Juden in Istanbul niederließen, doch wurde er 1485 durch
den osmanischen Sultan Bayezit II. wieder verboten, was, wie Diner (2005,
S. 128–33) überzeugend argumentiert, symptomatisch für eine Kultur ist, die
die handschriftliche Weitergabe des Koran über Jahrhunderte als spirituell auf-
geladene und Sakralität vermittelnde Tätigkeit betrachtete. Als Sultan Aḥmed III.
das Verbot 1727 wieder aufhob, wurde der Buchdruck von muslimischer Seite
denn auch nur zögerlich aufgenommen, während die christliche und jüdische
Minderheit umso regeren Gebrauch von ihm machte. Erst mit autoritären Moder-
nisierern wie Muḥammad ʿAlī in Ägypten Anfang des 19. Jahrhunderts sollte sich
dies ändern.
Heute wird von muslimischer Seite gerne der wissenschaftliche Beitrag der
eigenen Kultur zur modernen Wissenschaft hervorgehoben, wobei man sich
meist damit begnügt, die entsprechenden Namen und Errungenschaften aufzu-
listen („Da gab es X, und da gab es Y, und da gab es Z …“). Tatsächlich hat es
im islamischen Raum zwar immer hervorragende Gelehrte gegeben, die sich zu
intellektuellen Höchstleistungen aufschwangen, doch haben die Erträge ihrer For-
schung keine gesellschaftlichen Wandlungsprozesse eingeleitet, wie dies im west-
lichen Europa der Fall war. Inklusive Institutionen, die ökonomische Prosperität
begründeten, blieben in islamischen Gesellschaften die Ausnahme, wo es, mit
Lewis (2010, S. 65) formuliert, Herrschaft, aber keinen Staat; Rechtsprechung,
aber kein Gerichtswesen; Gruppen, aber keine Individuen gibt. Am Ende sorgt
meist das Militär für Ordnung.
Die gegen Max Weber gerichtete These von Acemoglu und Robinson (2012,
S. 57, 60–1, 291), wonach es allenfalls einen schwachen Zusammenhang zwi-
schen Religion und ökonomischem Erfolg gebe und die heutigen inklusiven
Institutionen des Westens auf den Export der Französischen Revolution durch
Napoleon zurückgingen, während der islamischen Welt das Unglück zuteil
geworden sei, unter osmanische Herrschaft zu geraten, ist insoweit nicht plau-
sibel, weil Napoleon die Französische Revolution bis nach Ägypten exportiert
hat, die Ideen französischer Philosophen im ganzen Nahen Osten in ihrer
Breite rezipiert wurden und das Osmanische Reich in seiner Spätphase einen
administrativen Reformprozess initiiert hat (Kreutz 2007, passim; Kreutz 2013,
S. 70–8, 94–111, 159–90, 267–83). Für die Krise der islamischen Welt müs-
sen daher andere, kulturelle Faktoren ursächlich sein, die – vielleicht nicht
234 M. Kreutz

a­ usschließlich, aber doch ganz wesentlich – mit der Religion im Zusammenhang


stehen. Heutzutage wird Religion in einem weitgehend agnostischen Westen frei-
lich kaum noch ernstgenommen.
Im Falle der von der sunnitischen Orthodoxie geprägten Gesellschaften ist das
Hauptproblem, wie oben erwähnt, die mangelnde Freiheit des Einzelnen, wobei
das Kollektiv, die Umma, seine Übermacht mit der koranischen Maxime „das
Gute gebieten und das Schlechte verbieten“ (al-amr bi-l-maʿrūf wa-l-nahy ʿan
al-munkar; vgl. Koran 3:110, 3:114, 9:71, 9:112) rechtfertigt, die allerdings erst
im 11. Jahrhundert von der sunnitischen Gelehrtenschaft zur Grundlage des prak-
tischen muslimischen Gemeindelebens gemacht wurde (Lapidus 1975, S. 369;
Nagel 1988, S. 203). Diese Maxime hält den Gläubigen dazu an, das Verhalten
seiner Glaubensgeschwister im Sinne der muslimischen Moral zu korrigieren
(Lewis 1998, S. 27–31), sodass individuelle Bedürfnisse strukturell unterdrückt
werden und nur auf Umwegen befriedigt werden können (Mernissi 1987, S. 151;
Zein 2010, S. 281–3). In Form der Marktaufsicht bzw. Religionspolizei (ḥisba)
findet die Maxime ihre Ausformung in einer staatlich regulierten Institution. Die
Unterdrückung individueller Lebensentwürfe geht wiederum einher mit einem
Desinteresse der Politik in muslimischen Ländern, Arbeitsplätze zu schaffen und
allgemein die rechtliche und materielle Situation ihrer Bewohner zu verbessern.
(Hamid 2014, S. 18).
Auch wenn es ab dem 16./17. Jahrhundert in der Literatur des Osmanischen
Reiches zu einem verstärkten Ich-Bewusstsein kam und literarische Bildung
sich über Gelehrtenkreise hinaus verbreitete (A. Meier 2008, S. 5–6), wurden
weder gesellschaftliche Konventionen durchbrochen, noch autoritäre Strukturen
gesprengt oder inklusive Institutionen, die technische Innovationen zur Grund-
lage von Prosperität gemacht hätte, begründet. Dieser Zustand hält bis heute an.
Symbolhaft dafür stehen mag die Tatsache, dass das von Fuat Sezgin gegründete
Institut für Geschichte (sic!) der Arabisch-Islamischen Wissenschaften, zu deren
Ziel „die dem arabisch-islamischen Kulturkreis zukommende Stellung in der
universalen Geschichte der Wissenschaften in Forschung und Lehre bekannt zu
machen“ gehört, in Frankfurt beheimatet ist – und nicht etwa in Kairo, Jakarta
oder Istanbul. Überhaupt scheint Innovation im islamischen Kontext vor allem ein
museales Phänomen zu sein.
Der Zustand in der islamischen Welt ist durchaus dem der christlich-ortho-
doxen Länder vergleichbar, denn auch die christliche Orthodoxie kennt weder
eine Veräußerlichung der Askese noch einen Individualismus im Glauben, hat
dafür aber eine Neigung zu Bildungsfeindlichkeit und Weltablehnung entwickelt.
(Makrides 2008, S. 88, 90–1) Das lässt sich bis in die Spätantike zurückver-
folgen. Der byzantinische Suprematismus hatte einen fruchtbaren Austausch mit
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen … 235

anderen Kulturen und lange Zeit selbst mit den Lateinern verhindert, weil man
von ihnen nichts lernen zu können glaubte. Innovationen in Naturwissenschaft
und Philosophie fanden keinen Eingang in die byzantinische Wissenskultur, wäh-
rend westliche Gelehrte sich umso mehr für die Wissensbestände byzantinischer
Bibliotheken interessierten (Borgolte 2002, S. 290).
So hat der orthodox geprägte Osten auch keine Wendung zum Säkularismus
genommen und bleibt die politische Führung in diesen Ländern noch heute weit-
aus stärker der organisierten Religion verpflichtet als dies im Westen der Fall ist
(Makrides 2009, S. 212). Die Orthodoxe Kirche Russlands sieht den Staat noch
nicht einmal als eigene Entität, sondern als Behüter eines Kollektivs von Kirchen-
mitgliedern, wie auch das pessimistische Menschenbild der Orthodoxie der
Herausbildung liberal-demokratischer Werte nicht unbedingt förderlich ist4 (Traut
2011, S. 59, 65–6, 73–5). Jüngst hat ein Arbeitspapier der Weltbank Belege dafür
zusammengetragen, dass in christlich-orthodoxen Ländern bis heute der Kultur-
pessimismus weiter verbreitet ist als in mehrheitlich katholischen oder protestan-
tischen Gesellschaften und in ökonomischen Dingen hier eher als dort dem Staat
vertraut wird (Djankov und Nikolova 2018, passim).
Was den Islam betrifft, so machen seine Apologeten es sich zu einfach,
wenn sie kulturelle Errungenschaften der westlichen Welt einfach als Frucht
ihrer Religion deuten (Nagel 1996, S. 109; Lazarus-Yafeh 1992, S. 218–9). Da
dies immer nur rückwirkend funktioniert, wird Innovation letztlich zur blos-
sen Wiederbelebung degradiert und der Fortschritt aus der Geschichte ver-
bannt. Damit lassen sich die Friktionen zwischen dem Islam und der modernen,
von Individualismus, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und
Menschenrechten geprägten Welt, nicht beseitigen. Um dies zu ändern und ein
Ethos der Weltaneignung auf Grundlage von Immanenz zur Geltung bringen,
wäre eine islamische Reformation erstrebenswert (Weber 2005a, S. 455; Weber
2005b, S. 535; vgl. Kreutz 2016, S. 134–41).
Im Koran nämlich ist es Gott, der die Welt in Ordnung gebracht und dem
Menschen nur noch den Auftrag gelassen hat, sie nicht in Unordnung zu brin-
gen (vgl. Koran 7:56, 85). Überhaupt weist der Koran – in den Worten von Ira
M. Lapidus (1992, S. 165) – vielfach die Neigung auf, „die Welt eher hinzu-
nehmen und zu modifizieren als sie radikal herauszufordern und zu verwandeln.“
Selbst die eines kritischen Ansatzes gegenüber dem Islam unverdächtige ­Angelika

4Die Behauptung von Hans Joas und Hans Wiegandt, es gebe ein „umfassendes gesamt-
europäisches Wertesystem“ ist denn auch auf scharfe Kritik von Makrides (2009, S. 204–7)
gestoßen.
236 M. Kreutz

­Neuwirth (2017, S. 101) räumt ein, dass es im Koran „Gottes Intervention“


ist, die „immer wieder menschliche Errungenschaften zunichte gemacht“ und
damit die „Autonomie des Menschen in ihre Grenzen verwiesen“ hat. In diesem
Zusammenhang hat der katholische Theologe Klaus von Stosch, ein Verfechter
des interreligiösen Dialogs, feststellen müssen, dass, während sich in der moder-
nen christlichen Theologie ein Neuansatz entwickelt hat, „der das Freiheits-
denken ausdrücklich zur Basiskategorie theologischen Denkens macht“, eine
vergleichbare Bewegung innerhalb der modernen muslimischen Theologie „noch
weitgehend ein Desiderat‟ geblieben ist (Von Stosch 2016, S. 125).
Es hat in der islamischen Welt immer auch kluge Köpfe gegeben, die sich die-
ser Problematik bewusst waren, darunter Ismāʿīl Aḥmad Adham (1911–1940), ein
ägyptischer Publizist und bekennender Atheist, der die Tendenz in den muslimi-
schen Gesellschaften kritisierte, die Welt vom Göttlichen her zu betrachten, um
immer nur wieder bei Gott zu enden, der den Menschen an Regeln und Gesetze
gebunden hat. In der orthodox-muslimischen Sicht gründet alle irdische Exis-
tenz in der Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit von Regeln und Gesetzen, die
als in Zeit und Ort unveränderlich gelten (Adham 1938/2009, S. 139–40). Aus
eigener, in einer Vielzahl islamischer Länder gewonnenen Erfahrung hat Anne-
marie Schimmel (1995, S. 311) die Weltanschauung des frommen Muslims dahin
gehend zusammengefasst, dass für diesen sich der Islam überall im Universum
zeigt, nämlich als „Ergebung und Unterwerfung unter das offenbarte göttliche
Gesetz.“ Damit befördert der Koran eine geistige Haltung, die mehr an Gott und
den himmlischen Gesetzen als an der irdischen Welt interessiert ist.
Eine Reformationstheologie wäre vielleicht imstande, das Verhältnis des Islam
zur Welt neu zu bestimmen, sie steht aber vor der Schwierigkeit, dass schon der
Begriff „Theologie“ dem christlichen Kontext entstammt und im Islam allen-
falls im kalām eine gewisse Entsprechung hat. Der kalām war jedoch nie Teil
des traditionellen islamischen Bildungswesens, weil Theologie, indem sie eine
Wissenschaft ist, die Gott zum Gegenstand hat, als unzulässig galt. Alternative
Bildungsideale und ihre Institutionen waren bis Ende des 11. Jahrhunderts weit-
gehend aus der geschichte verschwunden (Borgolte 2002, S. 293). Wenn heute
von „islamischer Theologie“ die Rede ist, ist eine Rechtswissenschaft gemeint,
die an religiösen Grundprinzipien orientiert ist und darauf abzielt, „die religiösen
Vorschriften möglichst linientreu zu verinnerlichen“, wie der schiitische Reform-
theologe Reza Hajatpour (2005, S. 128–9) konstatiert.
Ohnehin hat eine Reformtheologie nicht viele Anhänger im Islam. Forderun-
gen nach einer Reform werden auch mit dem Argument abgebürstet, dass die
Scharia, das islamische Gesetz, doch dermaßen reichhaltig und flexibel sei, dass
man so ziemlich alles in ihr finden und mit ihr begründen könne, angefangen von
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen … 237

den Menschenrechten bis hin zur Kompatibilität des Islam mit der Demokratie.
Diese in apologetischer Absicht vorgetragene Argumentation scheitert jedoch an
der orthodox-sunnitischen Auffassung, dass die Scharia nur als ganzes zu haben
ist und zugleich über allen anderen Religionen stehen soll (Nagel 1988, S. 225;
2004, S. 42), d. h. selbst wenn sich Demokratie und Menschenrechte aus Teilen
der Scharia heraus begründen lassen sollten, so blieben die Leibesstrafen (ḥudūd)
Teil des Gesamtpaketes. Der sunnitischen Orthodoxie sind die Menschenrechte
auch deshalb unbekannt, da aus ihrer Perspektive nur Gott Rechte, der Mensch
allein Pflichten hat. (Lewis 2010, S. 71) Die sog. „Cairo Declaration“ vermag die
Menschenrechte denn auch nur unzureichend aus der sunnitischen Theologie her-
aus zu begründen (Allawi 2009, S. 194).
Schlüssiger sind Forderungen wie die von Bassam Tibi (2009, S. 183; 2012,
S. 185), gleich die ganze Scharia auf Moral zu reduzieren. Ein solch radikaler
Vorschlag wird sich aber nur mit Mühe durchsetzen und auf den Widerstand des
theologischen Establishments stoßen. Aus diesem Dilemma findet die islami-
sche Welt nicht so leicht heraus, aber wenn politische Reformen im Sinne eines
liberal-demokratischen Gemeinwesens in islamischen Mehrheitsgesellschaften
Aussicht auf Erfolg haben wollen, dann müssen die zugrunde liegenden Werte
auch kulturell verinnerlicht werden (Vgl. Tibi 2009, S. 195). Natürlich kann
man die Grundlagen der Moderne auch aus säkularen Zusammenhängen heraus
begründen, wie dies die Vordenker der Nahḍa im 19. und 20. Jahrhundert in zum
Teil sehr origineller und intelligenter Weise getan haben (Kreutz 2007, passim),
doch spricht dies nicht gegen das Projekt einer reformierten Theologie.
In der Vergangenheit haben Reformdenker im Wesentlichen drei Ansätze
verfolgt: Der erste besteht darin, Willensfreiheit und individuelle Verantwort-
lichkeit, wie wir sie aus der Muʿtazila kennen, zum Dreh- und Angelpunkt
einer erneuerten islamischen Frömmigkeit zu machen. Der zweite setzt auf den
Primat der Vernunft und bedient sich dabei der Argumentation des Averroes
(Vgl. von Kügelgen 1994, passim). Der dritte versucht, einen innerislamischen
Rechtspluralismus und damit mehr Spielraum für menschliche Subjektivi-
tät zu erstreiten. Letzterer ist vor allem mit dem Namen Naṣr Ḥāmid Abū Zaid
verbunden, der die Krise des Islam auf eine massive Vereinheitlichung und Ver-
engung des islamischen Rechts durch die Lehre des Šāfiʿī (s. o.) zurückführt
(Abū Zaid 1992, S. 101–2 und passim). Alle drei Ansätze sind bislang gescheitert
und dies nicht aufgrund etwaiger Aporien, sondern weil ihre Vertreter es nicht
vermocht haben, sie populär zu machen. Einer islamischen Reformation wird
wohl so bald kein Erfolg beschieden sein.
In den universitären Islamwissenschaften und angrenzenden Fächern hat ein
reformierter Islam ohnehin kaum Anhänger. Dort begnügt man sich mit dem
238 M. Kreutz

gegenseitigen Verstehen (Dialog), wobei man sich als Gesprächspartner gerne


konservative Muslime und Islamisten aussucht, und ist ansonsten vollauf damit
beschäftigt, das Gemeinsame und Verbindende zwischen den Religionen heraus-
zustellen sowie den Islam in Dauerschleife gegen die Zumutungen aller mög-
lichen „-ismen“ (Orientalismus, Eurozentrismus, Kolonialismus, Neoliberalismus
etc.) zu verteidigen. Man schwelgt in der Erinnerung an Andalusien oder redet
einem islamischen Suprematismus das Wort.5 Die Frage, warum sich manche
Kulturen anders als andere entwickelt haben und welche Rolle die Religion darin
spielt, scheint aus dieser Sicht zweitrangig oder gar unerheblich, sodass die Idee
eines reformierten Islam als sinnlos empfunden wird.6
Wahrscheinlicher ist, dass der gesellschaftliche Wandel von der Globali-
sierung, die Menschen verschiedener Kontinente mit neuen Werten und Rollen-
bildern vertraut macht, angeregt und vor allem von den muslimischen Frauen
eingefordert wird. Wenn Malaysias Chefetagen mittlerweile zu 37 % weiblich
besetzt sind und dies vor allem dem Ehrgeiz der Frauen selbst zu verdanken
ist oder Frauen sogar in den Pilotenberuf der afghanischen Luftwaffe drängen
(Kreutz 2017), dann ist auch für die muslimischen Kulturen die Hoffnung auf
ein Dasein, in dem sich Freiheit, Wohlstand, Partizipation und Menschenrechte
­miteinander verbinden, noch nicht verloren.

Literatur

Abū Zaid, Naṣr Ḥāmid. 1992. [Arab.] al-Imām al-Šāfiʿī wa-taʾsīs al-īdīyulūǧiyya
al-wasaṭiyya. Kairo: Sina li-l-Nasr.
Acemoglu, Daron, und James A. Robinson. 2012. Why nations fail: The origins of power,
prosperity, and poverty. New York: Crown Business.
Adham, Ismāʿīl Aḥmad. 2009. [Arab.] Bayna al-ġarb wa-l-šarq [= Brief Nr. 260 vom 27.
Juni 1938]. In Adham, Ismāʿīl Aḥmad, Min maṣādir at-tārīḫ al-islāmī wa-nuṣūṣ uḫrā,
139–145. Damaskus: Dār Bitrā.

5Z.B. Thomas Bauer (2011) (Vgl. Kreutz 2016, S. 79–102).


6In diesem Sinne stellen die Thesen von Hans Joas den aktuellen Tiefpunkt der Religions-
soziologie dar. Zu meiner Kritik an Joas’ Theorie von der „Sakralität der Person“ s. Zwi-
schen Religion und Politik, a. a. O., S. 40–45, 78, 171–2; Zu Joas’ Kritik an Weber in Die
Macht des Heiligen (2017) s. meine Besprechung „Religionssoziologie auf Abwegen“
(= Kreutz 2018). Wie allen Vertretern des Postkolonialismus geht es auch Joas nicht um
ein Verstehen unterschiedlicher Entwicklungspfade, sondern darum, einen vermeintlichen
„Okzidentalozentrismus“ in der Wissenschaft zu überwinden.
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen … 239

Allawi, Ali A. 2009. The crisis of Islamic civilization. New Haven: Yale University Press.
Arnzen, Rüdiger. 2011. Platonische Ideen in der arabischen Philosophie: Texte und Mate-
rialien zur Begriffsgeschichte von ṣuwar aflāṭūniyya und muṯul aflāṭūniyya. Berlin: de
Gruyter.
Bauer, Thomas. 2011. Die Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islams. Ber-
lin: Verlag der Weltreligionen.
Belting, Hans. 2008. Florenz und Bagdad: Eine westöstliche Geschichte des Blicks. Mün-
chen: Beck.
Berman, Harold J. 1991. Recht und revolution: Die Bildung der westlichen Rechtstradition,
2. Aufl. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Blumenberg, Hans. 2000. Die Vollzähligkeit der Sterne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Borgolte, Michael. 2002. Europa entdeckt seine Vielfalt: 1050–1250. Stuttgart: Ulmer/
UTB.
Brague, Rémi. 1993. Europa: Eine exzentrische Identität. Frankfurt a. M.: Campus.
Brague, Rémi. 2006. Die Weisheit der Welt: Kosmos und Welterfahrung im westlichen Den-
ken. München: C.H. Beck.
Brentjes, Sonja. 2016. Science, religion, and education. In 1001 Distortions: How (Not)
to narrate history of science, medicine, and technology in Non-Western Cultures, Hrsg.
Sonja Brentjes, Taner Edis, und Lutz Richter-Bernburg, 133–149. Würzburg: Ergon.
Brett, Michael. 1981. Das Wesen des Islam. In Brett, Michael, Die Mauren: Islamische
Kultur in Nordafrika und Spanien, 59–72. Freiburg i.B.: Herder.
Cassirer, Ernst. 1973. Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen: Mohr (Erstveröffent-
lichung 1932).
Cohen, Hendrik Floris. 2010. Die zweite Erschaffung der Welt: Wie die moderne Natur-
wissenschaft entstand. Frankfurt a. M.: Campus.
Diner, Dan. 2005. Versiegelte Zeit: Über den Stillstand in der islamischen Welt, 2. Aufl.
Berlin: Propyläen.
Djankov, Simeon, und Elena Nikolova. 2018. Communism as the Unhappy Coming. Policy
Research Working Paper Nr. 8399 der World Bank Group vom 3. April, http://docu-
ments.worldbank.org/curated/en/303241522775925061/pdf/WPS8399.pdf. Zugegriffen:
11. Aug. 2018.
Dreier, Horst. 2015. Zur Bedeutung der Reformation bei der Formierung des säkularen
Staates. In Reformation und Politik: Europäische Wege von der Vormoderne bis heute,
hrsg.Maik Reichel, Hermann Otto Solms, und Stefan Zowislo, 301–346. Halle/Saale:
Mitteldeutscher Verlag.
Ebert, Johannes. 1991. Religion und Reform in der arabischen Provinz: Ḥusayn al-Ĝisr
aṭ-Ṭarābulusī (1845–1909): Ein islamischer Gelehrter zwischen Tradition und Reform.
Frankfurt a. M.: Peter Lang.
Fukuyama, Francis. 2011. The origins of political order: From Prehuman Times to the
French Revolution. London: Profile Books.
Grunebaum, Gustave E. von. 1956. The problem of cultural influence. In Charisteria
orientalia: Praecipue ad Persiam pertinentia, Hrsg. Jan Rypka und Felix Tauer, 86–99.
Prag: Akademie Ved.
Häberlein, Mark. 2016. Aufbruch ins globale Zeitalter: Die Handelswelt der Fugger und
Welser. Darmstadt: WBG.
240 M. Kreutz

Hajatpour, Reza. 2005. Der brennende Geschmack der Freiheit: Mein Leben als junger
Mullah im Iran. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Hamid, Shadi. 2014. Temptations of power: Islamists and lliberal democracy in a New
Middle East. Oxford: Oxford University Press.
Hamid, Shadi. 2016. Islamic exceptionalism: How the struggle over Islam is reshaping the
World. New York: St. Martin’s Press.
Hanif, N. 1997. Islam and modernity. New Delhi: Sarup & Son.
Harrison, Peter. 1990. ‚Religion‘ and the religions in the English Enlightenment. Cam-
bridge: Cambridge University Press.
Heine, Heinrich. 1995. Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In
ders., Werke in fünf Bänden, Bd. 3: Die romantische Schule und andere Schriften über
Deutschland. Köln: Könemann (Erstveröffentlichung 1834).
Hochgeschwender, Michael. 2007. Amerikanische Religion: Evangelikalismus, Pfingstler-
tum und Fundamentalismus. Frankfurt a. M.: Verlag der Weltreligionen.
Ibn al-Murtaḍā, Aḥmad Ibn Yaḥyā. 2009. [Arab.] Kitāb ṭabaqāt al-Muʿtazila [Die Klassen
der Mu’taziliten], Hrsg. von Susanna Diwald-Wilzer. Beirut: Alrayan, in Kommission
bei Klaus Schwarz, Berlin.
Jellinek, Georg. 1919. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 3. Aufl. München:
Duncker & Humblot.
Kaufmann, Thomas. 2010. Geschichte der Reformation. Berlin: Verlag der Weltreligionen.
Khoury, Adel Theodor. 2001. Der Islam und die westliche Welt: Religiöse und politische
Grundfragen. Darmstadt: Primus.
Kreutz, Michael. 2007. Arabischer Humanismus in der Neuzeit. Berlin: LIT.
Kreutz, Michael. 2016. Zwischen Religion und Politik: Die verschlungenen Pfade der
Moderne. Bochum: Verlag Michael Kreutz.
Kreutz, Michael. 2017. Mehr Frauenpower! transatlantic annotations. http://www.transat-
lantic-forum.org/2017/mehr-frauenpower. Zugegriffen: 19. Aug. 2018.
Kreutz, Michael. 2018. Religionssoziologie auf Abwegen. michaelkreutz.net. http://www.
michaelkreutz.net/2018/religionssoziologie-auf-abwegen/ Zugegriffen: 19. Aug. 2018.
Lauster, Jörg. 2015. Die Verzauberung der Welt: Eine Kulturgeschichte des Christentums.
Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung.
Lapidus, Ira M. 1975. The separation of state and religion in the development of early Isla-
mic society. Journal of Middle East Studies 6:363–385.
Lapidus, Ira M. 1992. Islamisches Sektierertum und das Rekonstruktions. und
Umgestaltungspotential der islamischen Kultur. In Kulturen der Achsenzeit, Bd. II: Ihre
institutionelle und kulturelle Dynamik, Teil 3: Buddhismus, Islam, Altägypten, westliche
Kultur, hrsg. Shmuel N. Eisenstadt, 161–88. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Lazarus-Yafeh, Hava. 1992. Die islamische Reaktion auf den Rationalismus. In Kulturen
der Achsenzeit, Bd. II: Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik, Teil 3: Buddhismus,
Islam, Altägypten, westliche Kultur, Hrsg. Shmuel N. Eisenstadt, 210–25. Frankfurt a.
M.: Suhrkamp.
Lewis, Bernard. 1995. Cultures in conflict: Christians, Muslims, and Jews in the age of dis-
covery. New York: Oxford University Press.
Lewis, Bernard. 1998. The multiple identities of the Middle East. New York: Schocken Books.
Lewis, Bernard. 2010. Faith and power: Religion and politics in the Middle East. Oxford:
Oxford University Press.
Islam und Moderne – Warum gelingt den muslimischen Kulturen … 241

Makrides, Vasilios N. 2008. Bildung aus Sicht des Orthodoxen Christentums. In Religion
und Bildung: Orte, Medien und Experten religiöser Bildung, Hrsg. Bertelsmann Stif-
tung, 86–91. Gütersloh: Verlag Bertelsmann-Stiftung.
Makrides, Vasilios N. 2009. Orthodoxes Ost- und Südosteuropa Ausnahmefall oder
Besonderheit? In Die Vielfalt Europas: Identitäten und Räume: Beiträge einer inter-
nationalen Konferenz, Leipzig, 6. bis 9. Juni 2007, Hrsg. Winfried Eberhard, 203–18.
Leipzig: Leipziger Universitäts-Verlag.
Meier, Astrid. 2008a. Dimensionen und Krisen des Selbst in biographischen und histo-
rischen Schriften aus Damaskus im 17. und 18. Jahrhundert. In Zwischen Alltag und
Schriftkultur: Horizonte des Individuellen in der arabischen Literatur des 17. und 18.
Jahrhunderts, Hrsg. Stefan Reichmuth, und Florian Schwarz, 1–21. Beirut: Ergon
­Verlag Würzburg in Kommission.
Meier, Frank. 2008b. Religiöser Fanatismus: Menschen zwischen Glaube und Besessenheit.
Ostfildern: Thorbecke.
Mernissi, Fatima. 1987. Geschlecht – Ideologie – Islam. München: Frauenbuchverlag.
Mottahedeh, Roy. 1988. Der Mantel des Propheten oder Das Leben eines persischen Mul-
lah zwischen Religion und Politik, 2. Aufl. München: Beck.
Nagel, Tilman. 1988. Die Festung des Glaubens: Triumph und Scheitern des islamischen
Rationalismus im 11. Jahrhundert. München: Beck.
Nagel, Tilman. 1994. Geschichte der islamischen Theologie: Von Mohammed bis zur
Gegenwart. München: Beck.
Nagel, Tilman. 1996. Autochthone Wurzeln des islamischen Modernismus. Bemerkungen
zum Werk des Damaszeners Ibn ʿĀbidīn (1784–1836). Zeitschrift der Deutschen
Morgenländischen Gesellschaft 146:92–111.
Nelson, Eric. 2010. The Hebrew Republic: Jewish Sources and the Transformation of Euro-
pean Political Thought. Cambridge: Harvard University Press.
Neuwirth, Angelika. 2017. Die koranische Verzauberung der Welt und ihre Entzauberung
in der Geschichte. Freiburg: Herder.
Oberauer, Norbert. 2004. Religiöse Verpflichtung im Islam: Ein ethischer Grundbegriff und
seine theologische, rechtliche und sozialgeschichtliche Dimension. Würzburg: Ergon.
Obeyesekere, Gananath. 1992. Buddhismus: Die Begegnung einer Achsenzeitreligion mit
dem Modernismus. In Kulturen der Achsenzeit, Bd. II: Ihre institutionelle und kultu-
relle Dynamik, Teil 3: Buddhismus, Islam, Altägypten, westliche Kultur, Hrsg. Shmuel
N. Eisenstadt, 101–150. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Plessner, Helmuth. 1959. Die verspätete Nation. Stuttgart: Kohlhammer.
Radtke, Bernd. 2005. Der sunnitische Islam. In Der Islam in der Gegenwart, Hrsg. Werner
Ende und Udo Steinbach, 55–69. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung.
Rhonheimer, Martin. 2012. Christentum und säkularer Staat: Geschichte – Gegenwart –
Zukunft. Freiburg, Basel und Wien: Herder.
Rodinson, Maxime. 1986. Islam und Kapitalismus. Mit einer Einleitung von Bassam Tibi.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Schilling, Heinz. 2009. Das konfessionelle Europa. In Europäische Religionsgeschichte:
Ein mehrfacher Pluralismus, Hrsg. Hans G. Kippenberg, Jörg Rüpke und Kocku von
Stuckrad, Bd. 1: 289–338. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht/UTB.
Schimmel, Annemarie. 1995. Die Zeichen Gottes: Die religiöse Welt des Islams. München:
Beck.
242 M. Kreutz

Schluchter, Wolfgang. 1998. Die Entstehung des modernen Rationalismus: Eine Analyse
von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Schmidt-Glinzer, Helwig. 2009. Wohlstand, Glück und langes Leben: Chinas Götter und
die Ordnung im Reich der Mitte. Frankfurt a. M.: Verlag der Weltreligionen.
Schulte, Christoph. 2002. Die jüdische Aufklärung: Philosophie, Religion, Geschichte.
München: Beck.
Selin, Helaine, Hrsg. 2008. Encyclopedia of the History of Science, Technology and Medi-
cine in non-Western Cultures, Bd. 2. Berlin: Springer.
Strohmaier. Gotthard. 1996. Spengler redivivus? In ders., Von Demokrit bis Dante: Die
Bewahrung antiken Erbes in der arabischen Kultur [erstmals in: Orientalistische
Literaturzeitung, Nr. 86/1991, Sp. 5–12], 182–89. Hildesheim: Georg Olms.
Strohmaier. Gotthard. 2003. Was Europa dem Islam verdankt. In ders., Hellas im Islam:
Interdisziplinäre Studien zur Ikonographie, Wissenschaft und Religions-geschichte.
Wiesbaden: Harrassowitz.
Sutcliffe, Adam. 2004. Judaism and Enlightenment. Cambridge: Cambridge University Press.
Tamer, Georges. 2013. The curse of philosophy: Ibn Taimiyya as a Philosopher in Con-
temporary Islamic Thought. In Islamic Theology, Philosophy and Law: Debating Ibn
Taimiyya and Ibn Qayyim al-Jawziyya, Hrsg. Birgit Krawietz und Georges Tamer, in
Zusammenarbeit mit Alina Kokoschka, 329–74. Berlin und Boston: de Gruyter.
Taylor, Charles. 2012. Ein säkulares Zeitalter. Berlin: Suhrkamp.
Tibi, Bassam. 2009. Islam’s predicament: Religious reform and cultural change. London:
Routledge.
Tilly, Charles. 1999. Die europäischen Revolutionen. München: Beck.
Traut, Tobias. 2011. Der Staat im Denken der Russisch-Orthodoxen Kirche: Platz für
Demokratie? In Religion in Diktatur und Demokratie: Zur Bedeutung religiöser Werte,
Praktiken und Institutionen in politischen Transformationsprozessen, Hrsg. Simon
Wolfgang Fuchs und Stephanie Garling, 59–78. Berlin: LIT.
Urvoy, Dominique. 1991. Ibn Rushd (Averroes). London: Routledge.
Van Kley, Dale K. 1996. The religious origins of the French Revolution: From Calvin to the
Civil Constitution: 1560–1791. New Haven: Yale University Press.
von Kügelgen, Anke. 1994. Averroes und die arabische Moderne: Ansätze zu einer Neu-
begründung des Rationalismus im Islam. Leiden: Brill.
von Stosch, Klaus. 2016. Herausforderung Islam: Christliche Annäherungen. Paderborn:
Ferdinand Schöningh.
Weber, Max. 2005a. Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie.
Frankfurt a. M.: Zweitausendeins.
Weber, Max. 2005b. Religion und Gesellschaft: Gesammelte Aufsätze zur Religionssozio-
logie. Frankfurt a. M.: Zweitausendeins.
Wokart, Norbert. 2014. Kontaminationen: Antike Spuren in unserem Denken. Würzburg:
Königshausen & Neumann.
Zein, Huda. 2010. Blockierte Individualität durch kollektive Identität. In Feindbild Islam-
kritik: Wenn die Grenzen zur Verzerrung und Diffamierung überschritten werden, Hrsg.
Hartmut Krauss, 271–91. Osnabrück: Hintergrund-Verlag.
Zippelius, Reinhold. 1997. Staat und Kirche: Eine Geschichte von der Antike bis zur
Gegenwart. München: Beck.
Nachwort

Jörgen Erik Klußmann, Michael Kreutz und Aladdin Sarhan

Die Frage, ob der Islam sich auf Dauer mit dem säkularen Staat arrangieren kann,
wird sich entscheidend auf das Verhältnis des Westens zur islamischen Welt aus-
wirken. Für den Westen ist der weitgehend säkularisierte Staat eine Errungen-
schaft, die historisch mit der Schaffung von Rechtsstaatlichkeit und inklusiven
Institutionen einhergegangen ist. Der heutige liberal-demokratische Verfassungs-
staat verdankt seine Existenz zum Teil der Reformation und mehr noch der Auf-
klärung des 18. Jahrhunderts, die in der transatlantischen Doppelrevolution ihren
Höhepunkt fand. Diese Entwicklung wäre nicht möglich ohne ein Menschenbild,
das dem einzelnen zugesteht und zutraut, unabhängig von Staat und Kirche, Rasse
und Herkunft frei seine Überzeugungen und Talente zu entfalten.
Auch wenn heute in den modernen westlichen Industriestaaten Europas und
den USA, sowie Südkoreas und Japans, sowie in zahlreichen Schwellenländern
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das vorherrschende Modell sein mögen, so
gilt dies nicht für Millionen Menschen auf der Welt nicht, wo autoritäre politische
Verhältnisse Hand in Hand mit prekären wirtschaftlichen Verhältnissen der Mas-
sen gehen, auch wenn die absolute Armut auf dieser Welt wohl noch nie so gering
sein dürfte wie heute. Es wäre aber zu einfach, nur die jeweiligen Machthaber für

J. E. Klußmann ()
Evangelische Akademie im Rheinland, Bonn, Deutschland
E-Mail: joergen.klussmann@akademie.ekir.de
M. Kreutz
Bochum, Deutschland
E-Mail: kontakt@michaelkreutz.net
A. Sarhan
Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz, Deutschland
E-Mail: aladdin@sarhan-online.de

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 243
J. E. Klußmann et al. (Hrsg.), Reformation im Islam,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23004-3_14
244 J. E. Klußmann et al.

diese Situation verantwortlich zu machen. Die Ökonomen Daron Acemoglu und


James A. Robinson (2012) haben gezeigt, wie der Nahe Osten noch heute unter
dem institutionellen Erbe des Osmanischen Reiches leidet, einen Zusammenhang
mit dem Islam aber weitgehend ausgeschlossen.
Letzteres kann man bestreiten. Der Islamwissenschaftler Michael Cook (2014,
S. 321) hat darauf hingewiesen, dass Freiheit kein Wert ist, der Eingang in die reli-
giöse Tradition des Islam gefunden hätte, während Egalitarismus umso bedeut-
samer ist (sich aber nicht auf Frauen, Sklaven und Ungläubige erstreckt). Dieser
wird überformt durch eine koranische „Inszenierung von Gerechtigkeit“ (­Neuwirth
2017, S. 113), die auch zentral ist für das islamische Rechtsdenken. In der S
­ charia,
im islamischen Gesetz, „ist die Frage nach der Gerechtigkeit Ausdruck eines per-
vasiven Prinzips, das in alle Formen und Verfahren der Rechtsgewinnung aus-
strahlt.“ (Krawietz 2008, S. 49) Die gerechte Gesellschaft wiederum wird vor
allem im Rahmen der Umma gedacht, weswegen in den muslimischen Ländern
die Identifikation mit der Religionsgemeinschaft meist stärker ist als mit dem
Nationalstaat. Die Türkei, die unter arabisch-muslimischen Intellektuellen lange
als Vorbild gesehen wurde, insofern als sie die Behauptung zu widerlegen schien,
dass ein mehrheitlich muslimisches Land kaum demokratisch sein kann, hat unter
Präsident Erdogan zu mancher Ernüchterung geführt. Zwar dominieren die repub-
likanischen Traditionen auch den neuen türkischen Staat, doch hat der Einfluss der
Religion seit der Einführung des Laizismus durch den Staatsgründer Atatürk schon
seit langem stetig zugenommen.
Weil Gerechtigkeit ein zentraler Begriff der islamischen Geistesgeschichte ist,
versteht es der politische Islam immer wieder, über ihn an Popularität zu gewin-
nen. Letztlich befindet sich die islamische Welt in einer Dauerkrise, auch wenn
diese mal stärker, mal schwächer herrscht, wobei der politische Islam Teil des
Problems ist, da er den Mangel an individueller Freiheit in den muslimischen
Gesellschaften nicht zu überwinden imstande ist und dies auch gar nicht anstrebt.
Gerade weil die Erfahrung gezeigt hat, dass die liberal-demokratische Ordnung
wie keine andere geeignet ist, Wohlstand und Frieden zu schaffen, stellt sich die
Frage, warum die muslimischen Ländern nicht einfach pragmatisch handeln und
sich an diesem Modell orientieren. Braucht es dazu eine Reformation im Islam?
Gesellschaftliche und religiöse Reformen wurden in der muslimischen
Geschichte meist von der Obrigkeit angestoßen und sind von unten, also von
der Gesellschaft, zurückgedrängt werden. Wie lange die Reformen, die derzeit
Kronprinz Muhammad bin Salman in Saudi-Arabien anstößt, Bestand haben
werden, ist daher alles andere als ausgemacht. Weise war auf jeden Fall der Zug,
die Rechte der Frauen zu stärken, denn Frauen dürften am ehesten dafür sorgen,
dass gesellschaftlicher Wandel nachhaltig bleibt. In einer veränderten Welt, in der
Nachwort 245

mehr und mehr Länder Asiens, Afrikas und Südamerikas aufsteigen, mag auch in
der muslimischen Welt bei vielen Menschen der Wunsch geweckt sein, die alten
Sozialstrukturen zu überwinden, um einem neuen Blick auf das Geschlechter-
verhältnis, die Machtverteilung, die Wirtschaft und allgemein auf die Welt zum
Durchbruch zu verhelfen. Dass dies von einem veränderten Verständnis des Islam
sinnvoll flankiert werden könnte, ist ein naheliegender Gedanke, wobei es gleich-
gültig ist, ob wir von einer Reformation, einer Aufklärung oder einem Humanis-
mus im Islam sprechen – es sind Etiketten, die nur zum Ausdruck bringen, dass
die islamische Orthodoxie nicht länger in der Lage ist, ihre Sicht in der modernen
Welt zu behaupten.
Die Beiträge dieses Sammelbandes versuchen daher, die Sinnhaftigkeit einer
Reformation im islamischen Kontext zu ermitteln, wobei es nicht darum gehen
soll, die europäische Reformation 1:1 zu übernehmen, sondern ein Vorgang der
Modernisierung gemeint ist, dessen Zweck die Bejahung der Menschenrechte,
der Rechtsstaatlichkeit und der weitgehenden Entflechtung der politischen Macht
von der Religion ist. Bislang ist die ganze Debatte über den Islam stark von den
Extremen geprägt: Während die einen eine Reformation im Islam für unmöglich
halten, weil der Islam in seinem Menschenbild dafür viel zu autoritär sei, halten
die anderen eine Reformation für unnötig, weil alle Probleme, von den die mus-
limischen Gesellschaften mit dem Islam nichts zu tun haben und ohnehin nur das
Ergebnis westlicher Politik sei.
Eine ganz andere Frage bleibt, welche Rolle in Zukunft die radikal-islamis-
tischen und besonders dschihadistischen Bewegungen in der Region aber auch
im Untergrund Europas spielen werden. Zwar wird es radikale Gruppen wohl
immer geben und werden wir nie in einem Shangri-La zu hause sein, das keine
Extremismen kennt. Sind die Modernisierungsdefizite, unter denen die musli-
mischen Gesellschaften leiden, jedoch erst einmal überwunden, dürfte das dem
islamischen Extremismus zuträgliche soziale Umfeld austrocknen. Als aller-
erstes bedarf es daher einer offenen Debatte, an der jeder ohne Einschüchterung
die Rolle des Islam in der Gesellschaft thematisieren darf. Da die muslimischen
Gesellschaften keine oder kaum so etwas wie eine Tradition der Religionskritik
kennen, sind die Vorbehalte bislang noch immer besonders groß und müssen
Apostaten in muslimischen Ländern mit körperlichen Übergriffen rechnen.
Die individuelle Freiheit ist allgemein stark eingeschränkt und viele Aspekte
des täglichen Lebens werden vom Kollektiv reguliert. Der Hang zur Selbstver-
wirklichung, wie er uns im Westen so selbstverständlich ist, wird in muslimischen
Gesellschaften häufig unterdrückt oder ist oft einfach nicht vorhanden. Natürlich
gibt es Rebellinnen und Rebellen gegen die erdrückenden gesellschaftlichen Kon-
ventionen, doch haben sie in den meisten Fällen kein leichtes Leben, weswegen
sie oft genug in den Westen emigrieren.
246 J. E. Klußmann et al.

Im Westen begegnet ihnen dann das Paradoxon, dass Vertreter der reaktionären
Kräfte, deretwegen sie ihr Heimatland verlassen haben, hierzulande den Schutz
der Meinungsfreiheit genießen. Während die Regierungen einiger muslimischer
Länder, darunter Saudi-Arabien, dazu übergegangen sind, den Extremismus ein-
zudämmen, genießen dessen Vertreter im Westen die Vorzüge einer Ordnung, in
der die Meinungsfreiheit gilt.1 Aufgeklärte Muslime, die eine kritische Haltung
gegenüber ihrer eigenen Religion einnehmen, sehen sich daher Anfeindungen von
genau den Kräften ausgesetzt, die überhaupt erst den Islam in Verruf gebracht
haben.
Daher darf die Debatte über die Sinnhaftigkeit einer Reformation im Islam
nicht von der Gewaltfrage allein bestimmt werden, sondern muss die Bedingungen
unter die Lupe nehmen, unter denen die Moderne zustande gekommen ist, und
danach forschen, inwieweit der Islam ursächlich dafür ist, dass die muslimischen
Länder außerstande sind, sie für sich zu reproduzieren. Dazu fehlen ihnen nicht
nur Rechtsstaatlichkeit und inklusive Institutionen, sondern auch das Ethos, das
diese Strukturen mit Leben füllt. Dass wir heute in einer Welt leben, in der wir
ganz selbstverständlich Smartphones und Fernseher aus Korea und Autos aus
China kaufen, aber keine Computer aus Ägypten, Elektroautos aus Pakistan, Soft-
ware aus dem Jemen oder Medizintechnik aus Nigeria ist kein unabänderliches
Schicksal dieses Planeten.
Die meisten Muslime, die im Westen leben, sind zwar nicht religiös organisiert
und auch nicht entsprechend interessiert. Die islamischen Verbände, wie sie bei-
spielsweise in Deutschland entstanden sind, sind jedoch in der Mehrheit konserva-
tiv und politisch eher zurückhaltend. Ihre Aufmerksamkeit gilt in erster Linie der
Anerkennung als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft mit allen steuerlichen
aber letztlich dann wieder auch politischen Vorteilen. Zwar bekennen sich die
meisten Verbände zum demokratischen Rechtsstaat, doch wie tief die Verbunden-
heit mit dem deutschen Staat reicht, bleibt oftmals fraglich. Von dieser Seite darf
man also nicht viel erwarten.
Ganz anders sieht es dagegen mit den neuen Absolventen einer in Europa aus-
gebildeten islamischen Theologie und natürlich insgesamt der akademischen Elite
junger Muslime aus, die meist hier groß geworden und sozialisiert wurden und
in den allermeisten Fällen ebenfalls akademisch vorgebildeten oder zumindest

1Vgl.„Opinion: UK Cabinet needs to stop making Britain haven for extremists“ by Imam
Tauwhidi and Dhafir Shammery, Albawaba vom 24. Juli 2018. https://www.albawaba.
com/news/uk-cabinet-needs-stop-making-britain-haven-extremists-1163604 Zugegriffen:
31.08.2018.
Nachwort 247

bürgerlichen und relativ wohlhabenden Familien entstammen. Auch wenn eine


Reformation im Islam nicht das Allheilmittel für alle Probleme sein wird, von
denen die muslimischen Gesellschaften geplagt sind, so wäre schon die Bereit-
schaft zu einem kritischen Diskurs über die eigene Religion – wofür es Vorbilder
gibt – ein Schritt in die Moderne.

Literatur

Acemoglu, Daron, und James A. Robinson. 2012. Why nations fail: The origins of power,
prosperity, and poverty. New York: Crown Business.
Cook, Michael. 2014. Ancient religions, modern politics: The islamic case in comparative
perspective. Princeton: Princeton University Press.
Krawietz, Birgit. 2008. Gerechtigkeit als leitidee islamischen rechts. In Islam und rechts-
staat: Zwischen Scharia und Säkularisierung, Hrsg. Birgit Krawietz und Helmut
­Reifeld, 37–52. Sankt Augustin und Berlin: Konrad-Adenauer-Stiftung. https://www.
zmo.de/publikationen/krawietz_islam_rechtsstaat.pdf. Zugegriffen: 21. Aug. 2018.
Neuwirth, Angelika. 2017. Die koranische verzauberung der welt und ihre entzauberung in
der geschichte. Freiburg: Herder.

Das könnte Ihnen auch gefallen