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2023
https://www.bpb.de/themen/inklusion-teilhabe/behinderungen/539319/ableismus-und-behindertenfeindlichkeit/
Behinderte Menschen werden vielfach diskriminiert. Ihr Zugang zu Institutionen und zur
baulichen Umwelt ist erschwert, Alltagsbegegnungen offenbaren stereotype und abwertende
Bilder. Neben Behindertenfeindlichkeit hat sich dafür ein weiterer Begriff etabliert: Ableismus.
Ableistische Begegnungen
In der Bäckerei. Ich stehe in der Schlange vor der Brötchentheke. Nein – ich sitze. Ich bin
Rollstuhlfahrerin und kleinwüchsig. Schaue ich geradeaus, sehe ich auf den Hosenbund der vor
mir Wartenden. Die Verkäuferin sieht mich augenscheinlich nicht. Wie soll sie auch: Die Theke
ist etwa ein Meter fünfzig hoch, ihr Blickwinkel ist ungünstig. Oder sieht sie mich doch?
Schwer zu sagen. Eine andere Person kommt vor mir dran, obwohl eigentlich ich an der Reihe
wäre. Das kann passieren. Als sie die nächste stehende Person drannehmen will, mache ich auf
mich aufmerksam. Ich winke und rufe laut „Hallo, hier unten!“. Sie sieht hinunter und sagt
„Ach Entschuldigung! Ich dachte die Person neben Ihnen wäre Ihr Betreuer“. Peinlich berührt
kommt sie um die Theke herum und nimmt meine Bestellung entgegen. Es ist ein freundlicher
Austausch, das Missverständnis ist schnell geklärt. Als ich die Brötchentüte entgegennehme
und in meiner Tasche hinten am Rollstuhl verstaue sagt sie anerkennend: „Ich sehe schon, Sie
brauchen meine Hilfe nicht. Sie sind Vollprofi - sehr versiert!“.
In diesem Aufsatz geht es um Diskriminierung behinderter Menschen, alltagssprachlich auch
Behindertenfeindlichkeit genannt. Warum beginnt er mit dieser Szenerie in der Bäckerei?
Augenscheinlich spielt sich hier doch ein ganz normales Zusammentreffen ab, eine alltägliche
kleine Karambolage aus Missverständnissen, ungünstig gebauter Umwelt, vielleicht
Überforderung im stressigen Arbeitsalltag. Wo ist hier die Diskriminierung, ja
Behindertenfeindlichkeit?
In der Tat ist hier von offener Feindlichkeit gegen behinderte Menschen wenig zu spüren.
Niemand hat mich rausgeworfen, mich beleidigt oder mir das Lebensrecht abgesprochen. Im
Gegenteil – alle waren freundlich, es gab sogar Entschuldigungen und Komplimente.
Diskriminierung ist jedoch mehr als „Feindlichkeit“. Sie zeigt sich nicht nur in offener Gewalt
oder Ausschluss. Sie kann sich auch in freundlich gemeinten Bemerkungen oder Handlungen
ausdrücken, und sie ist in Institutionen und in die gestaltete Umwelt eingelassen. Wer bekommt
Zugang und wer nicht? Und welche Annahmen sind über Menschen in der Welt? All dies sind
Fragen nach Diskriminierung, nach „Unterscheidungen, die Unterschiede behaupten und in
Ungleichheiten verwandeln“ (Scherr, 2016, VII).
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Auch das Kompliment über meine vermeintliche „Versiertheit“ im Verstauen meiner Brötchen
offenbart einiges über gängige ableistische Bilder von Behinderung. Die Absicht ist alles andere
als abwertend – es ist als Lob gemeint und soll den Austausch auflockern. Gleichzeitig offenbart
es eine verbreitete Vorstellung: Dass behinderten Menschen kaum etwas zuzutrauen ist, dass
sie für alles fremde Hilfe brauchen und wenn nicht, dies eine bemerkenswerte Höchstleistung
darstellen muss. Verknüpft damit ist das Bild des Leidens: Behinderung, so wird angenommen,
ist eine rein negative, leidvolle Erfahrung, die unbedingt vermieden oder beseitigt werden muss.
Behinderte Menschen sehnten sich vor allem danach, nichtbehindert und „normal“ zu sein oder
geheilt zu werden. Mitleidige Bemerkungen speisen sich aus diesem Mythos, etwa die
Vorstellung des „schweren Schicksals“. Umgekehrt kann aber auch das Lob für Alltägliches –
etwa die Anerkennung dafür, allein einkaufen zu gehen und „das Leben zu meistern“, oder den
Applaus dafür, auch auf der Tanzfläche einer Party zu finden zu sein, abwertend wirken. Eine
gelassene Normalität eines Lebens mit Behinderung – die Lebenswirklichkeit sehr vieler
behinderter Menschen – ist für viele nicht vorstellbar.
Damit verknüpft, aber im ideologischen Ursprung und den Auswirkungen erheblich
tiefgreifender, ist die Vorstellung eines „nicht lebenswerten Lebens“ mit Behinderung. Oft wird
mit dem Befund, eine Behinderung würde keinerlei Lebensqualität bieten, ein
dahinterstehendes Urteil verschleiert: dass behinderte Menschen vor allem eine Last für die
Gesellschaft darstellten. Das Narrativ der „Erlösung“ hat Tradition in der Legitimierung von
Morden an behinderten Menschen. Menschen mit Behinderungen „(…) waren mit Beginn des
NS-Patientenmordes, der euphemistisch als ,Euthanasie‘ bezeichnet und als Erlösung von
unmenschlichem Leid propagiert wurde, dem erhöhten Risiko der Tötung im Rahmen von
,Kindereuthanasie‘, zentral gesteuerter Gasmord ,Aktion T4‘ und dezentraler ,Euthanasie‘
ausgesetzt“ (Fuchs 2023). Auch in gegenwärtigen Tötungen behinderter Menschen spielen
Erlösungserzählungen eine Rolle, wenn auf die Schwere der Beeinträchtigung der Opfer
hingewiesen wird. Außerdem überdeckt im öffentlichen Diskurs oft das Verständnis für
überlastete Angehörige oder ausgebeutetes Pflegepersonal die Unmenschlichkeit der Tat
(Oberstein 2023). So geschehen beispielsweise beim vierfachen Mord an behinderten
Menschen durch eine Pflegekraft im Potsdamer Oberlin-Haus im Jahr 2021, oder auch bei
vielen anderen Gewalttaten in Behinderteneinrichtungen, die medial kaum wahrgenommen
werden (Bradl 2022; AbilityWatch 2022).
Der Diskurs ist ebenfalls bestimmend in Debatten um Techniken der Pränataldiagnostik, bei
denen meist die vermuteten Belastungen der werdenden Eltern diskutiert werden, aber kaum
eine Kritik an einer noch nicht inklusiven Gesellschaft geübt wird, die den Eltern behinderter
Kinder Unterstützung vorenthält und ihnen die Verantwortung für die Behinderung des Kindes
zuschiebt. (Achtelik 2015). Darüber hinaus durchzieht er Debatten zum assistierten Suizid.
Auch in Kontroversen um schulische Inklusion greift das Narrativ der „Belastung“. Nicht nur
Parteien wie die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall
eingestufte AfD behaupten, dass behinderte Kinder den Schulerfolg nichtbehinderter Kinder
ausbremsen würden und Inklusion schlicht nicht funktionieren würde – auch wenn viele Studien
klar das Gegenteil belegen (z.B. Feyerer 1998, Preuss-Lausitz 2009).
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mediale Instrumentalisierung von Behinderung, die in nichtbehinderten Menschen Gefühle von
Bewunderung und Rührung auslösen soll, aber die Normalität eines Lebens mit Behinderung
ausblendet (Young 2014). Begleitet werden schablonenhafte Darstellungen auch heute noch
von ableistischen Phrasen wie etwa „an den Rollstuhl gefesselt“ oder der generalisierenden
Formulierung, dass jemand „an einer Behinderung leidet“, beispielhaft nachzulesen auf der
Online-Plattform Leitmedien.
Zurück in der Bäckerei zeigt sich auch in der gebauten Umwelt die Ausblendung behinderter
Menschen: Die Theke ist auf Stehhöhe ausgerichtet, was auch die Blickgewohnheiten der
Verkäuferin und der Kund*innen prägt. Immerhin ist die Bäckerei barrierefrei zugänglich –
keine Selbstverständlichkeit, schließlich ist in Deutschland die Privatwirtschaft nicht zu
Barrierefreiheit verpflichtet. Architektur und Stadtplanung, Brandschutz- und
Denkmalschutzregeln stellen Barrierefreiheit oft hinten an und beziehen behinderte Menschen
nicht mit in die Planungen ein. Zugänge werden in Deutschland oft nur durch „ausgebildetes“
Personal gewährleistet, für alles andere sei man „nicht versichert“ – auch so bleiben behinderte
Menschen allzuoft draußen. Beispiel Deutsche Bahn: Um Fernverkehrszüge zu nutzen, müssen
sich Rollstuhlfahrer*innen 24 Stunden vorher anmelden. Dies ist jedoch keine Garantie dafür,
auch am Ziel ankommen: Zugverspätungen etwa, verpasste Anschlusszüge, fehlende
Duchsagen oder nicht funktionierende Aufzüge werfen manche Voranmeldungen über den
Haufen. Spontanes Reisen im Zug ist unmöglich – eine klare Ungleichbehandlung gegenüber
nichtbehinderten Kund*innen (Rosigkeit 2023).
Braucht eine behinderte Person im Alltag viel Assistenz, ist ihr Radius ohnehin davon abhängig,
ob ihre finanziellen Ressourcen für die notwendige Unterstützung ausreichen. Die Beantragung
von Geldern für Hilfsmittel, Assistenz und Pflege ist kompliziert. In Zeiten von knappen
personellen Ressourcen sind behinderte Menschen dabei meist auf sich selbst zurückgeworfen.
Leben sie in einer Wohneinrichtung ist ihr Alltag vom Dienstplan des Heimpersonals abhängig.
Sich selbstständig in die Bäckerei zu bewegen wäre dann kaum möglich. Auch finanziell sind
viele behinderte Menschen schlechter gestellt. Ihre Arbeitslosenquote ist im Schnitt knapp
doppelt so hoch wie die nichtbehinderter Arbeitnehmer*innen (Aktion Mensch 2022) – und die
Skepsis von Personalchefs gegenüber behinderten Bewerber*innen ist beträchtlich (v. Kardorff
et.al 2013). Arbeiten behinderte Menschen in einer Behindertenwerkstatt, beträgt ihr
Stundenlohn durchschnittlich 1,35 €. Dies ist legal, da Beschäftigte in Werkstätten nicht als
reguläre Arbeitnehmer*innen mit den entsprechenden Rechten gelten, sondern als
Rehabilitand*innen.
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eigenen Leerstellen beim Thema Behinderung bewusst werden und Ableismus als etwas
verstehen, das auch sie selbst betrifft.