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MICHEL FOUCAULT

Die Ordnung des Diskurses

Inauguralvorlesung
am College Jde:France,
2.Dezember 1970
In den Diskurs, den ich heute zu halten hab~, und in die Di~­
kurse, die ich vielleicht durch Jahre hindurch hier werde hal-
ten müssen, hätte ich mich gern verstohlen eingeschlichen.
Anstatt das Wort zu ergreifen, wäre ich von ihm lieber um-
garnt worden, um jedes Anfangens enthoben zu sein. Ich
hätte gewünscht, während meines Sprechens eine Stimme
ohne Namen zu vernehmen, die mir immer schon voraus
war: ich wäre es dann zufrieden gewesen, an ihre Worte anzu-
schließen, sie fortzusetzen, mich in ihren Fugen unbemerkt
einzunisten, gleichsam, als hätte sie mir ein Zeichen gegeben,
· indem sie für einen Augenblick aussetzte. Dann gäbe es kein
Anfangen. Anstatt der Urheber des Diskurses zu sein, wäre
ich im Zufall seines Ablaufs nur eine winzige Lücke und viel-
leicht sein Ende.
Ich hätte gewünscht, daß es hinter mir eine Stimme gäbe, die
schon seit langem das Wort ergriffen hätte und im vorhinein
alles, was ich sage, verdoppelte und daß diese Stimme so sprä-
che: »Man muß weiterreden, ich kann nicht weitermachen,
man muß weiterreden, man muß Wörter sagen, solange es
welche gibt; man muß sie sagen, bis sie mich finden, bis sie
mich sagen- befremdende Mühe, befremdendes Versagen;
man .muß weiterreden; vielleicht ist es schon getan, vielleicht
haben sie mich schon gesagt, vielleicht haben sie mich schon
an die Schwelle meiner Geschichte getragen, an das Tor, wel-
ches sich schon auf meine Geschichte öffnet (seine Öffnung
würde mich erstaunen).«
Ich glaube, es gibt bei vielen ein ähnliches Verlangen, nicht
anfangen zu müssen; ein ähnliches Begehren, sich von vorn-
herein auf der anderen Seite des Diskurses zu befinden und
nicht von außen ansehen zu müssen, was er Einzigartiges,
Bedrohliches, ja vielleicht Verderbliches an sich hat. Auf die-
sen so verbreiteten Wunsch gibt die Institution eine ironische
Antwort, indem sie die Anfänge feierlich gestaltet, indem sie

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sie mit ehrfürchtigem Schweigen .umgibt und zu weithin sellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert,
sichtbaren Zeichen ritualisiert. selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch
Das Begehren sagt: »Ich selbst möchte nicht in jene gefähr- gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die
liche Ordnung des Diskurses eintreten müssen; ich möchte Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Er-
nichts zu tun ·haben mit dem, was es Einschneidendes und eignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Mate-
Entscheidendes in ihm gibt; ich möchte, daß er ui:n mich her- rialität zu umgehen.
um eine ruhige, tiefe und unendlich offene Transparenz bilde, In einer Gesellschaft wie der unseren kennt man sehr wohl
in der die anderen meinem Erwarten antworten und aus der Prozeduren der Ausschließung. Die sichtbarste und vertrau-
die Wahrheiten eine nach der anderen hervorgehen; ich teste ist das Verbot. Man weiß, daß man nicht das Recht hat,
möchte nur in ihm und von ihm wie ein glückliches Findel- alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem
kind getragen werden.« Und die Institution antwortet: >>Du sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alles
brauchst vor dem Anfangen keine Angst zu haben; wir alle beliebige reden kann. Tabu des Gegenstandes, Ritual der Um-
sind da, um dir zu zeigen, daß der Diskurs in der Ordnung stände, bevorzugtes oder ausschließliches Recht des sprechen-
der Gesetze steht; daß man seit jeher über seinem Auftreten den Subjekts- dies sind die drei Typen von Verboten, die sich
wacht; daß ihm ein Platz bereitet ist, der ihn ehrt, aber ent- überschneiden, verstärken oder ausgleichen und so einen
waffnet; und daß seine Macht, falls er welche hat, von uns komplexen Raster bilden, der sich ständig ändert. Ich möchte
und nur von uns stammt.« nur anmerken, daß es heute zwei Bereiche gibt, in denen der
Aber vielleicht sind diese Institution und dieses Begehren nur Raster besonders eng ist und die Verbote immer zahlreicher
zwei entgegengesetzte Antworten aufein und dieselbe Un- werden: dieBereiche derSexualitätund der Politik. Offensicht-
ruhe: Unruheangesichts dessen, was der Diskurs in seiner lichist der Diskurs keineswegs jenes transparente und neutrale
materiellen Wirklichkeit als gesprochenes oder geschriebenes Element, in dem die Sexualität sich entwaffnet und die Politik
Ding ist; Unruhe angesichts jener v~rgänglichen Existenz, die sich befriedet, vielmehr ist er ein bevorzugter Ort, einige ihrer
zweifellos dem Verschwinden geweiht ist, aber nach einer bedrohlichsten Kräfte zu entfalten. Der Diskurs mag dem An-
Zeitlichkeit, die nicht die unsere ist; Unruhe, die unter jener schein nach fast ein Nichts sein- die Verbote, die ihn treffen,
alltäglichen und unscheinbaren Tätigkeit nicht genau vor- offenbaren nur allzubald seine Verbindung mit dem Begehren
stellbarer Mächte und Gefahren zu verspüren ist; verdächtige und der Macht. Und das ist nicht erstaunlich. Denn der Dis-
Unruhe von Kämpfen, Siegen, Verletzungen, Überwältigun- kurs- die Psychoanalyse hat es uns gezeigt- ist nicht einfach
gen und Knechtschaften in so vielen Wörtern, deren Rauhei- das, was das Begehren offenbart (oder verbirgt): er ist auch
ten sich seit langem abgeschliffen haben. Gegenstand des Begehrens; und der Diskurs - dies lehrt uns
Aber was ist denn so gefährlich an der Tatsache, daß die Leute immer wieder die Geschichte- ist auch nicht bloß das, was die
sprechen und daß ihre Diskurse endlos weiterwuchern? Wo Kämpfe oder die Systeme der Beherrschung in Sprache über-:-
liegt die Gefahr? setzt: er ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die
. Macht, deren man !lieh zu bemächtigen sucht.
Die Hypothese, die ich heuteabendentwickeln möchte, um Es gibt in unserer Gesellschaft noch ein anderes Prinzip der.
den Ort - oder vielleicht das sehr provisorische Theater - Ausschließung: kein Verbot, sondern eine Grenzziehung
meiner Arbeit zu fixieren: Ich setze voraus, daß in jeder Ge- und eine Verwerfung. Ich denke an die Entgegensetzung von

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Vernunft und Wahnsinn. Seit dem Mittelalter ist der Wahn- dem überraschen, was wir selbst artikulieren: in dem winzi-
sinnige derjenige, dessen Diskurs nicht ebenso zirkulieren gen Riß, in dem uns entgeht, was wir sagen. Aber noch soviel
kann wie der der andern: sein Wort gilt für null und nichtig, Aufmerksamkeit beweist nicht, daß die alte Grenze nicht
es hat weder Wahrheit noch Bedeutung, kann vor Gericht mehr besteht. Man denke nur an den ganzen Wissensapparat,
nichts bezeugen, kein Rechtsgeschäft und keinen Vertrag be- mit dem wir jenes Wort entziffern; man denke nur an das
glaubigen, kann nicht einmal im Meßopfer die Transsubstan- ganze Netz von Institutionen, das einein -Arzt oder Psycho-
tiation sich vollziehen lassen 'und aus dem Brot einen Leib analytiker- erlaubt, jenes Wort zu hören, und das gleichzei-
machen; andererseits kann es aber auch geschehen, daß man tig dem Patienten erlaubt, seine armseligen Wörter hervorzu-
dem Wort des Wahnsinnigen im Gegensatz zu jedem andern holen oder verzweifelt zurückzuhalten. Man braucht nur an
eigenartige Kräfte zutraut: die Macht, eine verborgene Wahr- all das zu denken, um den Verdacht zu erwecken, daß die
heit zu sagen oder die Zukunft vorauszukünden oder in aller Grenze keineswegs beseitigt ist, daß sie nur anders gezogen
Naivität das zu sehen, was die Weisheit der andern nicht ist: nach anderen Linien, durch neue Institutionen und mit
wahrzunehmen vermag. Seltsamerweise wurde in Europa Wirkungen, die nicht dieselben sind. Und selbst wenn die
jahrhundertelang das Wort des Wahnsinnigen entweder nicht Rolle des Arztes nur die wäre, das Ohr einem endlich freien
· vernommen oder, wenn es vernommen wurde, als Wahr- Wort zu leihen- das Horchen läßt die Zäsur immer bestehen.
spruch gehört. Entweder fiel es ins Nichts, indem es mit sei- Es wird _s~inem Diskurs gelauscht, der vom Begehren durch-
nem Auftauchen sofort verwoden wurde; oder man entzif- drungen ist und sich - in seinem äußersten Hochgefühl oder
. ferte darin eine naive oder listige Vernunft, eine vernünftigere in seiner äußersten Angst- mit schrecklichen Mächten begabt
Vernunft als die der vernünftigen Leute. Ob es nun ausge- glaubt. Wenn es des Schweigens der Vernunft bedad, um die
sperrt wurde oder insgeheim die Weihen der Vernunft erhielt Ungeheuer zu heilen, so muß das Schweigen doch auf der
- es existierte nicht. Zwar hat man an seinen Worten den Hut sein: ~so bleibt die Grenzziehung.
Wahnsinnigen erkannt; seine Worte zogen die Grenze, aber . Vielleicht ist es gewagt, den Gegensatz zwischen dem Wahren
niemals wurden sie gesammelt, niemals hörte man wirklich und dem Falschen als ein drittes Ausschließungssystem zu
auf sie. Vor dem Ende des I8.Jahrhunderts ist kein Arzt auf betrachten - neben den beiden, von denen ich eben sprach.
die Idee gekommen, sich zu fragen, was denn in diesem Wort Wie sollte man vernünftigerweise den· Zwang der Wahrheit
gesagt wird (und wie und warum es gesagt wird)- in dem mit solchen Grenzziehungen vergleichen können, die von
Wort, das doch den Unterschied setzte. Der ganze unermeß- vomherein willkürlich sind oder sich zumindest um ge-
liche Diskurs des Wahnsinnigen wurde wieder zu sinnlosem schichtliche Zufälligkeiten herum organisieren, mit Grenz-
Geräusch. Nur symbolisch erteilte man ihm das Wort: auf ziehungen, die nicht nur verändert werden können, sondern
dem Theater, wo er entWaffnet und versöhnt auftrat, weil er sich tatsächlich ständig verschieben, die von einem ganzen
die Rolle der maskierten Wahrheit spielte. Netz von Institutionen getragen sind, welche sie aufzwingen
Man wird mir sagen, daß all das heute zu Ende ist oder zu und absichern, und die sich zwangsweise, ja zum Teil gewalt-
Ende geht; daß das Wort des Wahnsinnigen nicht mehr auf sam durchsetzen? .
der anderen Seite steht; daß es nicht mehr null und nichtig ist; Gewiß, auf der Ebene eines Urteils innerhalb eines Diskurses
daß es uns vielmehr auflauert; daß wir in ihm einen Sinn su- ist di.e Grenzziehung zwischen dem Wahren und dem Fal-
chen oder die Ruinen eines Werks; und daß wir es bereits in schen weder willkürklich noch veränderbar, weder institutio-

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nell noch gewaltsam. Begibt man sich aber auf eine ande~e auch als das Erscheinen neuer Formen des Willens zur Wahr-·
Ebene, stellt man die Frage nach jenem Willen zur Wahrhe1t, heitgesehen werden. Es gibt ohne Zweifel im 19.]ahrhundert
der seit Jahrhunderten unsere Diskurse durchdringt, oder einen Willen zur Wahrheit, der weder in seinen Formen noch
fragt man allgemeiner, welche Grenzziehung unseren Willen in seinen Gegenstandsbereichen, noch in den von ihm ver-
zum Wissen bestimmt, so wird man vielleicht ein Ausschlie- wendeten Techniken, mit dem Willen zum Wissen überein-
ßungssystem (ein historisch\!s, veränderbares, institutionell stimmt, welcher die Kultur der Klassik charakterisiert. Ge-
zwingendes System) sich abzeichnen sehen. · hen wir noch weiter zurück: .an der Wende vom 16. zum
Zweifellos hat sich diese Grenzziehung geschichtlich konsti- q.Jahrhundert ist (vor allem in England) ein Wille zum Wis-
tuiert. Denn noch bei den griechischen Dichtern des 6.Jahr- sen aufgetreten, der im Vorgriff auf seine wirklichen Inhalte
hunderts war der wahre Diskurs- im starken und wertbeton- Ebenen von möglichen beobachtbaren, meßbaren, klassifi-
ten Sinn des Wortes: der wahre Diskurs, vor dem man zierbaren Gegenständen entwarf; ein Wille zum Wissen, der
Achtung und Ehrfurcht hatte und dem man sich unterwerfen dem erkennenden Subjekt (gewissermaßen vor aller Erfah-
mußte weil er der herrschende war- eben der Diskurs, der rung) eine bestimmte Position, einen bestimmten Blick und
von d;n hierzu Befugten nach dem erforderlichen Ritual ver- eine bestimmte Funktion (zu sehen anstatt zu lesen, zu verifi-
lautbart worden ist; es war der Diskurs, der Recht sprach und zieren anstatt zu kommentieren) zuwies; ein Wille zum Wis-
jedem sein Teil zuwies; es war der Diskurs, der die Zukunft sen, der (in einem allgemeineren Sinn als irgendein techni-
prophezeiend nicht nur ankündigte, was geschehen ~rde, sches Instrument) das technische Niveau vorschrieb, auf dem
sondern auch zu seiner Verwirklichung beitrug, der die Zu- allein die Erkenntnisse verifizierbar und nützlich sein konn-
stimmung der Menschen herbeiführte und sich so mit dex_n ten. Es sieht so aus, als hätte seit der großen Platonischen
Geschick verflocht. Aber schon ein Jahrhundert später lag d1e Grenzziehung der Wille zur Wahrheit seine eigene Ge-
höchste Wahrheit nicht mehr in dem, was der Diskurs war, schichte, welche nicht die der zwingenden Wahrheiten ist:
oder in dem, was er tat, sie lag in dem, was er sagte: eines eine Geschichte der Ebenen der Erkenntnisgegenstände, eine
Tages hatte sich die Wahrheit vom ritualisierten, wirksamen Geschichte der Funktionen und Positionen des erkennenden
und gerechten Akt der Aussage weg und zur Aussage selbst Subj_ekts, eine Geschichte der materiellen, technischen, in-
hin verschoben: zu ihrem Sinn, ihrer Form, ihrem Gegen- strumentellen Investitionen der Erkenntnis.
stand, ihrem referentiellen Bezug. Zwischen Hesiod und Pla- Dieser Wille zur Wahrheit stützt sich, ebenso wie die übrigen
ton hat sich eine Teilung durchgesetzt, welche den wahren Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle Basis: er
Diskurs und den falschen Diskurs trennte; diese Teilung war wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem gan-
neu, denn nunmehr war der wahre Diskurs nicht mehr der zen Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Päd-
kostbare und begehrenswerte Diskurs, der an die Ausübung agogik, dem System der Bücher, der Verlage und der.Biblio-
von Macht gebunden ist. Der Sophist ist vertrieben. theken, den gelehrten Gesellschaften einstmals und den La-
Diese historische Grenzziehung hat unserem Willen zum boratorien heute. Gründlicher noch abgesichert wird er
Wissen zw~ifellos seine allgemeine Form gegeben. Aber sie zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer
hat sich auch immer wieder verschoben: die großen wissen-. Gesellschaft eingesetzt wird, in der es. gewertet und sortiert,
schaftliehen Mutationen können vielleicht manchmal als die verteilt und zugewiesen wird. Es sei hier nur symbolisch. an·
Folgen einer Entdeckung verstanden werden, sie können aber das alte griechische Prinzip erinnert: daß die Arithmetik.in

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den demokratischen Städten betrieben werden kann, da in ihr deckt. Der Grund dafür ist vielleicht dieser: Wenn der wahre
Gleichheitsbeziehungen gelehrt werden; daß aber die Geo- Diskurs seit den Griechen nicht mehr derjenige ist, der dem
metrie nur in den 0 ligarchien unterrichtet werden darf, da sie Begehren antwortet oder der die Macht ausübt, was ist dann
die Proportionen in der Ungleichheit aufzeigt. im Willen z'ur Wahrheit, im Willen, den wahren Diskurs zu
Schließlich glaube ich, daß dieser auf einer institutionellen sagen, am Werk-wenn nicht das Begehren und die Macht?
Basis und Verteilung beruhende Wille zur Wahrheit in unse- Der wahre Diskurs, den die Notwendigkeit seiner Form vom
rer Gesellschaft dazu tendiert, auf die anderen Diskurse Begehren ablöst und von der Macht befreit, kann den Willen
Druck und Zwang auszuüben. Ich denke daran, wie sich die zur Wahrheit; der ihn durchdringt, nicht anerkennen; und
abendländische Literatur seit Jahrhunderten ans Natürliche der Wille _zur Wahrheit, der sich uns seit langem aufzwinit, .
und Wahrscheinliche, an die Wahrhaftigkeit und sogar an die ist so beschaffen, daß die Wahrheit, die er will, gar nicht an-
Wissenschaft- also an den wahren Diskurs - anlehnen muß. ders kann, als ihn zu verschleiern.
Ich denke gleichfalls daran, wie die ökonomischen Praktiken, So bietet sich unseren Augen eine Wahrheit dar, welche
die als Vorschriften oder Rezepte oder auch als Moral kodifi- Reichtum und Fruchtbarkeit ist, sanfte und listig universelle
ziert sind, sich seit dem r6.Jahrhundert zu rationalisieren Kraft. Und wir übersehen dabei den Willen zur Wahrheit-
und zu rechtfertigen suchen, indem sie sich auf eine Theorie jene gewaltige Ausschließungsmaschinerie. Alle· jene, die in
der Reichtümer und der Produktion stützen. Ich denke auch . unserer Geschichte immer wieder versucht haben, diesen
daran, wie das so gebieterische System der Strafjustiz seine Willen zur Wahrheit umzubiegen und ihn gegen die Wahrheit
Grundlage oder seine Rechtfertigung zunächst in einer Theo- zu wenden, gerade dort, wo die Wahrheit es unternimmt, das
rie des Rechts und seit dem r9.]ahrhundert in einem sozio- Verbot zu rechtfertigen und den Wahnsinn zu definieren, alle
logischen, psychologischen, medizinischen, psychiatrischen jene - von Nietzsche zu Artaud und Bataille - müssen uns
Wissen sucht: als ob selbst das Wort des Gesetzes in tinserer nun als - freilich erhabene - Orientierungszeichen unserer
Gesellschaft nur noch durch einen Diskurs der Wahrheit au- · alltäglichen Arbeit dienen.
torisiert werden könnte.
Drei große Ausschließungssysteme treffen den Diskurs: das
verbotene Wort; die.Ausgrenzung des Wahnsinns; der Wille Es gibt offensichtlich viele andere Prozeduren der Kontrolle
zur Wahrheit. Vom letzten habe ich am meisten gesprochen. und Einschränkung des Diskurses. Diejenigen, von denen ich
Denn auf dieses bewegeo. sich die beiden anderen seit Jahr- bis jetzt gesprochen habe, wirken gewissermaßen von außen;
hunderten zu; immer mehr versucht es, sie sich unterzuord- sie funktionieren als Ausschließungssysteme; sie betreffen
nen, um sie gleichzeitig zu modifizieren und zu begründen. den Diskurs in seinem Zusammenspiel mit der Macht und
Während die beiden ersten immer schwächer werden, und dem Begehren.
ungewisser, sofern sie vom Willen zur Wahrheit durchkreuzt Ich glaube, man kann noch eine andere Gruppe ausmachen.
werden, wird dieser immer stärker, immer tiefer und unaus- Interne Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kon-
weichlicher. trolle selbst ausüben; Prozeduren, die als Klassifikations-,
Und doch spricht man von ihm am wenigsten. Es ist, als wür- Anordnungs-, Verteilungsprinzipien wirken. Diesmal geht es
den der Wille zur Wahrheit und seine Wendungen für uns darum, eine andere Dimension des Diskurses zu bändigen:
gerade von der Wahrheit und ihrem notwendigen Ablauf ver- die_ des Ereignisses und des Zufalls.

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Hier ist in erster Linie der Kommentar zu nennen. Ich nehme gen, Gefühle!! oder Gedanken wiederersteht. Angst jenes
an, bin aber nicht ganz sicher, daß es kaum eine Gesellschaft ~anken vonJanet, für den jede geringste Aussage gleichsam
gibt, in der nicht große Erzählungen existieren, die man er- em Wort des Evangeliums war, unerschöpfliche Sinnschätze
zählt, wiederholt, abwandelt; Formeln, Texte, ritualisierte barg und endlos erneuert, wiederholt und kommentiert zu
Diskurssammlungen, die man bei bestimmten Gelegenheiten werden verdiente: »Wenn ich nur daran denke«, sagte er, so-
vorträgt; einmal gesagte Dinge, die man aufbewahrt, weil bald er etwas las oder hörte, »Wenn ich nur daran denke, daß
man in ihnen ein Geheimnis oder einen Reichtum vermutet. dieser Satz in die Ewigkeit eingeht und daß ich ihn vielleicht
In allen Gesellschaftenläßt sich eine Art Gefälle zwischen den noch nicht ganz verstanden habe.«
Diskursen vermuten: zwischen den Diskursen, die im Auf Aber auch hier geht es immer nur darum, eines der Glieder
und Ab des Alltags geäußert werden und mit dem Akt ihres der Relation zu beseitigen, nicht die Beziehung selbst. Diese
Ausgesprochenwerdens vergehen, und den Diskursen, die Beziehung ändert sich ständig in der Zeit und nimint auch
am Ursprung anderer Sprechakte stehen, die sie wieder auf- innerhalb einer Epoche vielfältige und auseinanderstrebende
nehmen, transformieren oder besprechen - also jenen Dis- Formen an. Die juristische Exegese ist (schon seit langem)
kursen, die über ihr Ausgesprochenwerden hinaus. gesagt vom religiösen Kommentar sehr verschieden. Ein einziges li-
sind, gesagt bleiben, und noch zu sagen sind. Wir kennen sie terarisches Werk kann gleichzeitig zu recht unterschiedlichen
in unserem Kultursystem: es sind die religiösen und die juri- Diskurstypen Anlaß geben: die Odyssee als Primärtext wird
stischen Texte, auch die literarischen Texte mit ihrem so gleichzeitig in der Übersetzung von Berard, in unzähligen
merkwürdigen Status, bis zu einem gewissen Grade die wis- Texterklärungen und im Ulysses von J oyce wiederholt.
senschaftlichen Texte. Für den Augenblick möchte ich nur darauf hinweisen, daß im
Gewiß ist diese Abstufung weder stabil noch konstant oder Kommentar die Abstufung von Primärtext und Sekundärtext
absolut. Es gibt nicht auf der einen Seite die ein für allemal .~wei einander ergänzende Rollen spielt. Einerseits ermög-
gegebene Kategorie der grundlegenden oder schöpferischen hcht __es (und zwar endlos), neue Diskurse zu konstruieren:
Diskurse und auf der anderen Seite die Masse der wiederho- der Uberhang des Primärtextes, seine Fortdauer, sein Status
lenden, glossierenden und kommentierenden. Viele Primär- als immer wieder aktualisierbarer Diskurs, der vielfältige
texte verdunkeln sich und verschwinden und manchmal über- oder verborgene Sinn, als dessen Inhaber er gilt, die Ver-
nehmen Kommentare den ersten Platz. Aber wenn sich auch schwiegenheit und der Reichtum, die man ihm wesenhaft
die Ansatzpunkte ändern, so bleibt doch die Funktion; das zuspricht-alldas begründet eine offene Möglichkeit zu spre-
Prinzip der Abstufung tritt immer wieder in Kraft. Die radi- chen. Aber andererseits hat der Kommentar, welche Metho-
kale Aufhebung dieser Abstufung kann niemals etwas ande- den er auch anwenden mag, nur die Aufgabe, das schließlich
res sein als Spiel, Utopie oder Angst. Spiel in der Art von zu sagen, was dort schon verschwiegen artikuliert war. Er
Borges als Kommentar, der nur wörtliche (aber feierliche und muß (einem Paradox gehorchend, das er immer verschiebt,
erwartete) Wiederholung dessen ist, was er kommentiert; aber dem er niemals entrinnt) zum ersten Mal das sagen, was
oder Spiel einer Kritik, die endlos von einem Werk spricht, doch schon gesagt worden ist, und muß unablässig das wie-
das gar nicht existiert. Lyrischer Traum eines Diskurses, der derholen, was eigentlich niemals gesagt worden ist. Das
in jedem seiner Punkte absolut neu und unschuldig wiederge- unendliche Gewimmel der Kommentare ist vom Traum einer
boren wird und der ohne Unterlaß in aller Frische aus Din- maskierten Wiederholung durchdrungen: an seinem Hori-

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zont steht vielleicht nur das, was an seinem Ausgangspunkt Bereich des literarischen Diskurses seit eben jener Zeit die
stand- das bloße Rezitieren. Der Kommentar bannt den Zu- Funktion des Autors verstärkt: all die Erzählungen, Ge-
fall des Diskurses, indem er ihm gewisse Zugeständnisse dichte, Dramen oder Komödien, die man im Mittelalter mehr
macht: er erlaubt zwar, etwas anderes als den Text selbst zu oder weniger anonym zirkulieren ließ, werden nun danach
sagen, aber unter der Voraussetzung, daß der Text selbst ge- befragt (und sie müssen es sagen), woher sie kommen, wer sie
sagt und in gewisser Weise vollendet werde. Die offene Viel- geschrieben hat. Man verlangt, daß der Autor von der Einheit
falt und das Wagnis des Zufalls werden durch das Prinzip des der Texte, die man unter seinen Namen stellt,' Rechenschaft
Kommentars von dem, was gesagt zu werden droht, auf die ablegt; man verlangt von ihm, den verborgenen Sinn, der sie
Zahl, die Form, die Maske, die Umstände der Wiederholung durchkreuzt, zu offenbaren oder zumindest in sich zu tragen;
übertragen. Das Neue ist nicht in dem, was gesagt wird, son- man verlangt von ihm, sie in sein persönliches Leben, in seine
dern im Ereignis seiner Wiederkehr. gelebten Erfahrungen, in ihre wirkliche Geschichte einzufü-
Ich glaube, es gibt noch ein anderes Prinzip der Verknappung gen. Der Autor ist dasjenige, was der beunruhigenden Spra-
des Diskurses, welches das erste bis zu einem gewissen Grade che der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre
ergänzt. Es handelt sich um den Autor. Und zwar nicht um Einfügung in das Wirkliche gibt.
den Autor als sprechendes Individuum, das einen Text ge- Nun wird man mir sagen: »Aber Sie sprechen da vom Autor,

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sprochen oder geschrieben hat, sondern um den Autor als wie ihn die Kritik nachträglich erfindet, wenn der Tod einge-
Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ur- treten ist und nur mehr eine verworrene Masse von unver-
sprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammen- ständlichen Texten übrig ist; selbstverständlich muß man
halts. Dieses Prinzip wirkt nicht überall in der gleichen dann ein bißeben Ordnung in alldas bringen; man muß sich

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Weise; vielmehr gibt es um uns herum viele Diskurse, die im einen EntwUrf, einen Zusammenhang, eine Thematik aus-
Umlauf sind, ohne ihren Sinn oder ihre Wirksamkeit einem denken, die man dem Bewußtsein oder dem Leben des viel-
Autor zu verdanken: banale ·Aussagen, die alsbald ver- leicht tatsächlich etwas fiktiven Autors zuschreibt. Aber das
schwinden; Beschlüsse oder Verträge, .die Unterzeichner ändert doch nichts daran, daß er existiert hat, dieser wirkliche
brauchen, aber keinen Autor; technische Anweisungen, die Autor, dieser Mensch, der in all die abgenutzten Wörter ein-
anonym weitergegeben werden. In den Bereichen, in denen gebrochen ist, und sein Genie oder seine Unordnung in sie
die Zuschreibung an einen Autor die Regel ist - Literatur, hineingetragen hat.<<
Philosophie, Wissenschaft -, kann man sehen, daß sie nicht Es wäre sicherlich absurd, die Existenz des schreibenden und
immer dieselbe Rolle spielt. Im Mittelalter war die Zuschrei~ erfindenden Individuums zu leugnen. Aber ich denke, daß -
bung an einen Autor im Bereich des wissenschaftlichen Dis- zumindest seit einer bestimmten Epoche - das Individuum,
kurses unerläßlich, denn sie war ein Index der Wahrheit. Man das sich daranmacht, einen Text zu schreiben, aus dem viel-
war sogar der Auffassung, daß ein Satz seinen wissenschaft- leicht ein Werk wird, die Funktion des Autors in Anspruch
lichen Wert von seinem Autor beziehe. Seit dem q.Jahrhun- nimmt. Was es schreibt und was es nicht schreibt, was es ent-
dert hat sich diese Funktion im wissenschaftlichen Diskurs wirft, und sei es nur eine flüchtige Skizze, was es an banalen
immer mehr abgeschwächt: die Rolle des Autors besteht nur Äußerungen fallen läßt - dieses ganze differenzierte Spiel ist
mehr darin, einem Lehrsatz, einem Effekt, einem Beispiel, von der Autor-Funktion vorgeschrieben, die es von seiner
einem Syndrom den Namen zu geben. Hingegen hat sich im Epoche übernimmt oder die es seinerseits modifiziert. Und

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wenn es das traditionelle Bild, das man sich vom Autor steht nicht aus der Gesamtheit dessen, was man bezüglich der
macht, umstößt, so schafft es eine neue Autor-Position, von Krankheit Wahres sagen kann; die Botanik kann nicht als die
der aus es in allem, was es je sagt, seinem Werk ein neues, Summe aller Wahrheiten, welche die Pflanzen betreffen, defi-
noch verschwommenes Profil verleiht. niert werden. Es gibt dafür zwei Gründe: einmal bestehen die
Um den Zufall des Diskurses in Grenzen zu halten,.setzt der Botanik oder die Medizin, ebenso wie j.ede andere Disziplin,
Kommentar das Spiel der I deniität in der Form der Wieder- nicht nur aus Wahrheiten, sondern auch aus Irrtümern, die
holung und des Se/ben ein. Das Spiel der Identität, mit dem nicht Residuen oder Fremdkörper sind, sondern positive
das Prinzip des Autors denselben Zufall einschränkt, hat die FurJ.ttionen haben, historisch wirksam sind und eine Rolle
Form der Individualität und des Ich. spielen, die von der der Wahrheit oft nicht zu trennen ist.
Auch in dem, was man die »Disziplinen« nennt (nicht die Aber außerdem muß ein Satz, damit er zur Botanik oder zur
Wissenschaften); wäre ein Prinzip der Einschränkung zu er- Medizin gehöre, Bedingungen entsprechen, die in gewisser
kennen. Auch dieses Prinzip ist relativ und beweglich. Auch Weise strenger und komplexer sind, als es die reine und einfa-
es erlaubt zu konstruieren, aber nach ganz bestimmten Spiel- che Wahrheit ist: jedenfalls Bedingungen anderer Art. Er
regeln. muß sich auf eine bestimmte Gegenstandsebene bezie.hen:
Die Organisation der Disziplinen unterscheidet sich sowohl vom Ende des q.Jahrhunderts an muß z. B. ein Satz, um ein
vom Prinzip des Kommentars wie von dem des Autors. Vom »botanischer« Satz zu sein, die · sichtbare Struktur der
Prinzip des Autors hebt sich eine Disziplin ab, denn sie defi- Pflanze, das System ihrer nahen und fernen Ähnlichkeiten
niert sich durch einen Bereich von Gegenständen, ein Bündel oder die Mechanik ihrer Flüssigkeiten betreffen (und er
von Methoden, ein Korpus von als wahr angesehenen Sätzen, durfte nicht, wie noch im I6.Jahrhundert, ihre symbolischen
ein Spiel von Regeln und Definitionen, von Techniken und Bedeutungen einbeziehen oder gar die Gesamtheit der Kräfte
Instrumenten: das alles konstituiert ein anonymes System, und Eigenschaften, die man ihr in der Antike zusprach). Ein
das jedem zur Verfügung steht, der sich seiner bedienen will Satz muß aber auch begriffliche oder technische Instrumente
oder kann, ohne daß sein Sinn oder·sein Wert von seinem verwenden, die einem genau definierten Typ angehören: vom
Erfinder abhängen. Das Prinzip der Disziplin hebt sich aber 19.}ahrhundert an war ein Satz nicht mehr medizinisch, »fiel
auch von dem des Kommentars ab: im Unterschied zu diesem er aus der Medizin heraus« und galt als individuelle Einbil-
wird in der Disziplin nicht ein Sinn vorausgesetzt, der wie- dung oder volkstümlicher Aberglaube, wenn er zugleich me-
derentdeckt werden muß, und auch keine Identität, die zu taphorische, qualitative und substantielle Begriffe enthielt
wiederholen ist; sondern das, was für die Konstruktion neuer (z. B. die Begriffe der Verstopfung, der erhitzten Flüssigkei-
Aussagen erforderlich ist.· Zur Disziplin gehört die Mög- ten oder der ausgetrockneten Festkörper); er konnte aber, ja
lichkeit, endlos neue Sätze zu formulieren. er mußte Begriffe verwenden, die ebenso metaphorisch sind,
Aber es ist noch mehr notwendig - damit weniger möglich aber auf einem anderen Modell aufbauen, einem funktionel-
ist: eine Disziplin ist nicht die Summe dessen, was bezüglich len und physiologischen Modell (so die Begriffe der Reizung,
einer bestimmten Sache Wahres gesagt werden kann; sie ist der Entzündung oder der Degenerierung der Gewebe). Dar-
auch nicht die Gesamtheit dessen, was über eine bestimmte über hinaus muß ein Satz, um einer Disziplin anzugehören,
Gegebenheit aufgrund eines Prinzips der Kohärenz oder der sich einem bestimmten theoretischen Horizont einfügen: es
Systematizität angenommen werden kann. Die Medizin be- sei nur daran erinnert, daß die Suche nach der ursprünglichen

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Sprache, die bis ins 18.]ahrhundert hinein ein durchaus aner- statistischen Regelhaftigkeiten auftaucht und verschwindet.
'
kanntes Thema war,.in der zweiten Hälfte des 19.]ahrhun- f Dieser neue Gegenstand erfordert neue begriffliche Instru-
derts jeden Diskurs nicht bloß zum Irrtum, sondern zu einem mente und neue theoretische Begründungen. Mendel sagte
Hirngespinst, zu einer Träumerei, zu einer sprachwissen- t
t
die Wahrheit, aber er war nicht »im Wahren« des biologischen
schaftlichen Monstrosität werden ließ. ! Diskurses seiner Epoche: biologische Gegenstände und Be-
Innerhalb ihrer Grenzen kem1t jede Disziplin wahre und fal- griffe wurden nach ganz anderen Regeln gebildet. Es mußte
sche Sätze, aber jenseits ihrer Grenzen läßt sie eine ganze Te- der Maßstab gewechselt werden, es mußte eine ganz neue Ge-
ratologie des Wissens wuchern. Das Äußere einer Wissen- genstandsebene in der Biologie entfaltet werden, damit Men-
schaft ist sowohl mehr bevölkert als auch weniger bevölkert, del in das Wahre eintreten und seine Sätze (zu einem großen
als man glaubt: es gibt dort die unmittelbare Erfahrung, die Teil) sich bestätigen konnten. Mendel war ein wahres Mon-
imaginären Themen der Einbildungskraft, die unvordenk- strum, weshalb die Wissenschaft von ihm nicht sprechen
liche Überzeugungen tragen und immer wieder erneuern; konnte. Hingegen hatte Schleiden, 30 Jahre früher, indem er,
aber vielleicht gibt es keine Irrtümer im strengen Sinn, denn mitten im 19.]ahrhundert, aber gemäß den Regeln des biolo-
der Irrtum kann nur innerhalb einer definierten Praxis auftau- gischen Diskurses, die pflanzliche Sexualität leugnete, ledig-
chen und entschieden werden; hingegen schleichen Monstren lich einen disziplinierten Irrtum formuliert.
herum, deren Form mit der Geschichte des Wissens wechselt. Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen
Ein Satz muß also komplexen und schwierigen Erfordernis- die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den
sen entsprechen, um der Gesamtheit einer Disziplin angehö- Regeln einer diskursiven »Polizei« gehorcht, die man in je-
ren zu können. Bevor er als wahr oder falsch bezeichnet wer- dem seiner Diskurse reaktivieren muß.
den l$.ann, muß er, wie Georges Canguilhem sagen würde, Die Disziplin ist ein Kontrollprinzip der Produktion des Dis-
»im Wahren« sein. kurses. Sie setzt ihr Grenzen durch das Spiel einer Identität,
Man hat sich oft gefragt, wie die Botaniker oder die Biologen welche die Form einer permanenten Reaktualisierung der
des 19.]ahrhunderts es fertiggebracht haben, nicht zu sehen, Regeln hat.
daß das, was Mendel sagte, wahr ist. Da.S liegt daran, daß Gewöhnlich sieht man in der Fruchtbarkeit eines Autors, in
Mendel von Gegenständen sprach, daß er Methoden verwen- der Vielfältigkeit der Kommentare, in der Entwicklung einer
dete und sich in einen theoretischen Horizont stellte, welche Disziplin unbegrenzte Quellen für die Schöpfung von Dis-
der Biologie seiner Epoche fremd waren. Zweifellos hatte kursen. Vielleicht. Doch ebenso handelt es sich um Prinzi-.
Naudin vor ihm die These aufgestellt, daß die Erbmerkmale pien der Einschränkung, und wahrscheinlich kann man sie in
diskret sind; aber wie neu -und befremdend dieses Prinzip ihrer positiven und fruchtbaren Rolle nur verstehen, wenn
auch war, es konnte - zumindest als Rätsel - dem biologi- man ihre restriktive und zwingende Funktion betrachtet.
sehen Diskurs angehören. Mendel ist es, der das Erbmerkmal
als absolut neuen biologischen Gegenstand konstituiert, in-
dem er eine bis dahin unbekannte Filterung vornimmt: er löst · Es gibt, glaube ich, eine dritte Gruppe von Prozeduren, wel-
das Erbmerkmal von der Art ab, er löst es vom Geschlecht ab, che die Kontrolle der Diskurs·e ermöglichen. Diesmal handelt
das es weitergibt; und der Bereich, in dem er es beobachtet, es sich nicht darum, ihre Kräfte zu bändigen und die Zufälle
ist die unendlich offene Serie der Generationen, in der es nach ihres Auftauchens zu beherrschen. Es geht darum, die Bedin-
gungenihres Einsatzes zu bestimmen, den sprechenden Indi- ' Doch hält dieser Gedanke einer Prüfung nicht stand. Der
viduen gewisse Regeln aufzuerlegen und so zu verhindern, Austausch und die Kommunikation sind positive Figuren
daß jedermann Zugang zu den Diskursen hat: Verknappung innerhalb komplexer Systeme der Einschränkung; und sie
diesmal der sprechenden Subjekte. Niemand kann in die können nicht unabhängig von die~-en funktionieren. Die
Ordnung des Diskurses eintreten, wenn er nicht gewissen Er- oberflächlichste und sichtbarste Form dieser Einschrän-
fordernissen genügt, wenn er nicht von vornherein dazu qua- kungssysteme besteht in dem, was man unter dem Namen des
lifiziert ist. Genauer gesagt: nicht alle Regionen des Diskur- Rituals zusammenfassen kann. Das Ritual definiert die
ses sind in gleicher Weise offen und zugänglich; einige sind Qualifikation, welche die sprechenden Individuenelfesitzen
stark abgeschirmt (und abschirmend), während andere fast müssen (wobei diese Individuen im Dialog, in der Frage, im
allen Winden offenstehen und ohne Einschränkung jedem Vortrag bestimmte Positionen einnehmen und bestimmte
sprechenden Subjekt verfügbar erscheinen. Aussagen formulieren müssen); es definiert die Gesten, die
Ich möchte zu diesem Thema eine Anekdote erwähnen, die so . Verhaltensweisen, die Umstände und alle Zeichen; welche
schön ist, daß man um ihre Wahrheit zittern muß. Sie faßt alle den Diskurs begleiten müssen; es fixiert schließlich die vor-
Einschränkungen des Diskurses zusammen: die Begrenzun- ausgesetzte oder erzwungene Wirksainkeit der Worte, ihre
gen seiner Macht, die Bändigungen seines zufälligen Auftre- Wirkung auf ihre Adressaten und die Grenzen ihrer ;z;wingen-
tens und die Selektionen unter den sprechenden Subjekten. den Kräfte. Die religiösen, gerichtlichen, therapeutischen
Zu Beginn des I7.Jahrhunderts hatte der Shogun davon ge- Diskurse, und zum Teil auch die politischen, sind von dem
hört, daß die Überlegenheit der Europäer- auf den Gebieten Einsatz eines Rituals kaum zu trennen, welches für die spre-
der Schiffahrt, des Handels, der Politik, der Kriegskunst- in chenden Subjekte sowohl die besonderen Eigenschaften wie
ihrer Kenntnis der Mathematik begründet sei. Er wünschte, die allgemein anerkannten Rollen bestimmt.
sich eines so kostbaren Wissens zu bemächtigen. Als man ihm Ein teilweise abweichendes Funktionieren zeigen die »Dis-
von einem englischen Seemann erzählt hatte, der das Geheim- kursgesellschaften«, welche die Aufgabe haben, Diskurse
nis dieser wunderbaren Diskurse kannte, ließ er ihn in seinen aufzubewahren oder zu produzieren, um sie in einem ge-
Palast kommen und hielt ihn dort fest. Ganz allein nahm er schlossenen Raum zirkulieren zu lassen und sie nur nach be-
bei ihm Unterrichtsstunden. Er lernte Mathematik. Er be- stimmten Regeln zu verteilen, so daß die Inhaber bei dieser
hielt tatsächlich die Macht und wurde sehr alt. Erst im Verteilung nicht enteignet werden. Ein archaisches Modell
19.]ahrhundert gab es dann japanische Mathematiker. Aber bilden jene Gruppen von Rhapsoden, welche die Kenntnis
die Anekdote ist damitnicht zu Ende: sie hat ihre europäische der Dichtungen besaßen, die vorzutragen oder auch zu verän-
Kehrseite. Dieser englische Seemann, Will Adams, soll näm- dern waren. Diese Kenntnis, die einem rituellen Vortrag
lich ein Autodidakt gewesen sein: ein Zimmermann, der bei diente, wurde in einer bestimmten Gruppe aufgrund außer-
seiner Arbeit auf einer Werft die Geometrie gelernt hatte. ordentlicher Gedächtnisleistungen geschützt, verteidigt, be-
Drückt sich nicht in dieser Erzählung einer der großen My- wahrt. Wer sich diese Kenntnis aneignete, trat damit sowohl
then der europäischen Kultur aus? Dem monopolisierten und in eine Gruppe wie in ein Geheimnis ein, das durch den Vor-
geheimen Wissen der orientalischen Tyrannei setzt Europa trag zwar offenbart, aber nicht entweiht wurde. Zwischen
die universale Kommunikation der Erkenntnis, den unbe- dem Sprechen und dem Hören waren die Rollen nicht aus-
grenzten und freien Austausch der Diskurse entgegen. tauschbar.

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l!
Gewiß ist von derartigen »Diskursgesellschaften« mit ihrem Bedingung die Anerkennung derselben Wahrheiten und die
zweideutigen Spiel von Geheimhaltung und Verbreitung Akzeptierung einer- mehr oder weniger strengen- Regel der
kaum etwas geblieben. Aber man täusche sich nicht. Selbst im Übereinstimmung mit den für gültig erklärten Diskursen.
Bereich des wahren Diskurses, selbst im Bereich des veröf- Wären sie nur das, so wären die Doktrinen von den wissen-
fentlichten und von allem Ritual freien Diskurses, gibt es schaftlichen Disziplinen nicht so sehr verschic:;den, und die
noch Aneignung von Geheimnis und Nicht-Austauschbar- diskursive Kontrolle beträfe nur die Form und'-den Inhalt der
keit. Der Akt des Schreibens, wie er heute im Buch, im Ver- Aussage, nicht auch das sprechende Subjekt. Aber die Zuge-
l3:gswesen und in der Persönlichkeit des Schriftstellers institu- hörigkeit zu einer Doktrin geht sowohl die Aussage wie das
tionalisiert ist, findet in einer »Diskursgesellschaft« statt, die sprechendeSubjektan-und zwarbeidein Wechselwirkung.
vielleicht diffus, gewiß jedoch zwingend und einschränkend Durch die Aussage und von der Aussage her stellt sie das spre-
ist. Die Besonderheit des Schriftstellers, die von ihm selber chende Subjekt in Frage, wie die Auss~hließungsprozeduren
gegenüber der Tätigkeit jedes· anderen sprechenden oder und ·die Verwerfungsmechanismen beweisen, die einsetzen,
schreibenden Subjekts hervorgehoben wird, der intransitive wenn ein sprechendes Subjekt eine oder mehrere unzulässige
Charakter, den er seinem Diskurs verleiht, die fundamentale Aussagen gemacht hat; Häresie und Orthodoxie sind nicht
Einzigartigkeit, die er seit langem dem »Schreiben« zu- fanatische Übertreibungen der Doktrinmechanismen: siege-
spricht, die behauptete Asymmetrie zwischen dem »Schaf- hören wesenhaft zu ihnen. Aber umgekehrt stellt die Doktrin
fen« und irgendeinem anderen Einsatz des sprachlichen Sy- die Aussagen von den sprechenden Subjekten aus in Frage,
stems-all dies verweist in der Formulierung (und wohl auch sofern die Doktrin immer als Zeichen, Manifestation und In-
in der Praxis) auf die Existenz einer gewissen »Diskursgesell- strument einer vorgängigen Zugehörigkeit gilt - einer Klas-
schaft«. Aber es gibt noch viele andere, die in ganz anderer senzugehörigkeit, eines gesellschaftlichen oder rassischen
Weise, nach ganz anderen Spielregeln von Ausschließung und Status, einer Nationalität oder einer Interessengemeinschaft,
Verbreitung funktionieren: man denke an das technische oder einer Zusammengehörigkeit in Kampf, Aufstand, Wider-
wissenschaftliche Geheimnis; man denke daran, wie der me- stand oder Beifall. Die Doktrin bindet die Individuen an be-
dizinische Diskurs verbreitet wird und zirkuliert, man denke stimmte Aussagetypen und verbietet ihnen folglich alle ande-
an jene, die sich den ökonomischen oder politischen Diskurs ren; aber sie bedient sich auch gewisser Aussagetypen, um die
angeeignet haben. Individuen miteinander zu verbinden und sie dadurch von
Auf den ersten Blick bilden die (religiösen, politischen, philo- allen anderen abzugrenzen. Die Doktrin führt eine zweifache
sophischen) »Doktrinen« das Gegenteil von »Diskursgesell- Unterwerfung herbei: die Unterwerfung der sprechenden
schaften«: bei diesen tendiert die Zahl der sprechenden Indivi- Subjekte unter die Diskurse und die Unterwerfung der Dis-
duen, auch wenn sie nicht fixiert ist, dazu, begrenzt zu sein, kurse unter die Gruppe der sprechenden Individuen. ·
und nur unter diesen Individue~ kann der Diskurs zirkulieren In einem viel größeren Maßstab· muß man schließlich tiefe
und weitergegeben werden. Hingegen tendiert die Doktrin Spaltungen in der gesellschaftlichen Aneignung der Diskurse
dazu, sich auszubreiten. Durch die gemeinsame Verbindlich- feststellen. Die Erziehung mag de jure ein Instrument sein,
keit eines einzigen Diskursensembl~s definieren Individuen, das in einer Gesellschaft wie der unsrigen jedem Individuum
wie zahlreich man sie sich auch vorstellen mag, ihre Zusam- den Zugang zu jeder Art von Diskurs ermöglicht- man weiß
mengehörigkeit. Anscheinend ist die einzige erforderliche jedoch, daß sie in ihrer Verteilung, in dem, was sie erlaubt,
und in dem, was sie verhindert, den Linien folgt, die von den
gesellschaftlichen Unterschieden, Gegensätzen und Kämpfen
gezogen sind. Jedes Erziehungssystem ist eine politische Me-
thode, die Aneignung· der Diskurse mitsamt ihrem Wissen
und ihrer Macht aufrechtzuerhalten oder zu verändern.
Ich bin mir darüber im klaren, daß es sehr abstrakt ist, wie ich
es eben getan habe, die Rituale des Sprechens, die Diskursge-
sellschaften, die Doktringruppen und die gesellschaftlichen
Aneignungen zu trennen. Zumeist verbinden sie sich mitein-
ander und bilden große Gebäude, welche die Verteilung der
sprechenden Subjekte auf die verschiedenen Diskurstypen
und die Aneignung der Diskurse durch bestimmte Katego-
rien von Subjekten sicherstellen. Es handelt sich hier, mit
einem Wort, um die großen Prozeduren der Unterwerfung
des Diskurses. Was ist denn eigentlich ein Unterrichtssystem
-wenn nicht eine Ritualisierung des Wortes, eine Qualifizie-
rung und Fixierung der Rollen für die sprechenden Subjekte,
die Bildung einer zumindest diffusen doktrinären Gruppe,
eine Verteilung und Aneignung des Diskurses mit seiner
Macht und seinem Wissen? Was ist denn das »Schreiben« (das
Schreiben der »Schriftsteller«) anderes als ein ähnliches Un-
terwerfungssystem, das vielleicht etwas andere Formen an-
nimmt, dessen große Skandierungen aber analog verlaufen?
Sind nicht auch das Gerichtssystem und das institutionelle
System der Medizin, zumindest unter gewissen Aspekten,
ähnliche Systeme zur Unterwerfung des Diskurses?
MICHEL FOUCAULT

Die Ordnung des Diskurses


Aus dem Fulrffüsischen
von Walter Seitter

Mit einem Essay von


Ralf Konersmann

In der Antrittsvorlesung, die Michel Foucault anläßlich seiner Beru-


fungandas College de France am 2. Dezember I970 gehalten hat, ist
das geschichtsphilosophische Programm, aus dem sich seine späte-
ren großen Werke speisen sollten, in den Grundzügen bereits ent-
worfen. Sie ist ein Schlüsseltext der modernen Ideengeschichte. In
einer subtilen Analyse der literarischen und wissenschaftlichen In-
stitutionen und Mechanismen, die das Geschriebene und Gespro-
chene einschränken, kontrollieren und determinieren, entwickelt
Foucault hier den theoretischen »Diskurs«, der ihn nachmals be-
rühmt gemacht und mit dem er die Grenzen zwischen Historiogra-
phie, Literaturwissenschaft, Philosophie und Rhetorik überschrit-
ten hat.
Ralf Konersmann zeichnet in einem ebenso scharfsichtigen wie
kenntnisreichen Essay die Fahndungsmethoden des Foucaultschen
Denkens unP, die Gründe für dessen andauernde fächerübergrei-
fende Wirkung nach.

Michel Foucault, geboren r926, lehrte von I970 bis zu seinem Tode
r984 »Geschichte der Denksysteme« am College de France. Seine
Arbeiten zur Geschichte des Gefängnisses, der Psychiatrie und
schließlich der Sexualität begründeten seinen internationalen Ruhm.
Im Fischet Taschenbuch Verlag ist ebenfalls lieferbar: Die Geburt
der Klinik (Bd. 7400).

Unsere Adresse im Internet: www.fischerverlage.de FISCHER Taschenbuch


FISCHER WISSENSCHAFT Inhalt

MICHEL FOUCAULT
Die Ordnung des Diskurses 7
/IJ'-.
RALF KONERSMANN __)
Der Philosoph mit der Maske
Michel Foucaults L'ordre du discours

J;j MIX
Papier aus verantwor~
tungsvollen Quellen
FSC
www.hnll.arg FSC" C083411

IJ. Auflage: August 2014

Erweiterte Ausgabe
Erschienen bei FISCHER Taschenbuch,
Frankfurt am Main, März 1991
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des
Carl Hanser Verlags, München
Titel der Originalausgabe: L'ordre du discours,
erschienen bei Gallimard, Paris r 972
©der Originalausgabe by Michel Foucault
Für die deutsche Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag, München I 974
Für Ralf Konersmann, Der Philosoph mit der Maske:
© Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main I 99 I
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN' 978-3-596-roo83-5

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