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Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt

als Frau und Indígena

Die an einem 11. November 1852 im peruanischen Cuzco geborene Clorinda


Matto de Turner war noch nicht einmal vier Jahre alt, als Flauberts erster großer
Roman im französischen Feuilleton erschien. Wir könnten die peruanische Au-
torin einer dritten Generation der Romantik zwischen zwei Welten zurechnen,
zumindest dann, wenn wir die hispanoamerikanischen Literaturen als eine ein-
zige Literatur verstünden und nicht differenziert nach verschiedenartigen Areas
unterschieden, die ihre eigene Geschichtlichkeit und ihre eigenen historischen
und ästhetischen Kontexte entwickelt haben und noch immer entwickeln.1
Wir werden sehen, dass eine solche Zurechnung zur Romantik bei Clorinda
Matto de Turner nicht unproblematisch ist. Nicht problematisch aber ist ihre
klar feministische Haltung gegen eine patriarchalisch strukturierte Gesellschaft,
gegen die sie Zeit ihres Lebens ankämpfte und damit in gewisser Weise jene Ein-
schätzungen von Flauberts Figur Emma Bovary übernahm, die voller Enttäu-
schung über ihr bisheriges Leben die Begrenztheiten und Abhängigkeiten von
Frauen in den Gesellschaften des 19. Jahrhunderts bitter beklagte. Die peruani-
sche Schriftstellerin, Journalistin und Intellektuelle lamentierte nicht nur, son-
dern kämpfte unverdrossen gegen jene Grenzen an, welche damals dem Leben
von Frauen gesetzt waren, wobei sie der Frauenbildung eine besondere politi-
sche Bedeutung beimaß.
In einer anderen Vorlesung, jener über die Romantik zwischen zwei Welten,
habe ich mich mit der immer wichtiger werdenden Rolle weiblicher Autorinnen
innerhalb der hispanoamerikanischen Romantik, aber auch anderenorts beschäf-
tigt; eine geschichtliche Entwicklung mit so herausragenden Figuren wie Gertru-
dis Gómez de Avellaneda, Juana Borrero, aber auch bereits an der Wende zum
19. Jahrhundert Rahel Levin Varnhagen. Es geht also um einen Prozess, dem ich
in unserer aktuellen Vorlesung nicht noch einmal aufgreifen kann. Die Geburt
der Peruanerin im Jahr 1852 liegt wenige Monate nach dem Sieg von Caseros
über die Truppen von Juan Manuel de Rosas und situiert sich historisch kurz
nach dem Ende der Rosas-Diktatur im Nachbarland Argentinien. Dort sollte die
Clorinda Matto de Turner die letzten Jahre ihres Lebens verbringen; und dort, in
Buenos Aires, sollte sie, deren Werke in Lima – wie diejenigen des späteren pe-

1 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, insb. S. 425 ff., S. 493 ff., S. 519 ff.,
S. 1038 ff.

Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-029
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ruanischen Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa – öffentlich verbrannt


wurden, am 25. Oktober 1909 sterben.
Doch lassen Sie uns einige Biographeme dieser Schriftstellerin aus Peru
besser chronologisch ordnen! Sie stammte aus einer guten Familie, ihre Mutter
war Angehörige der adeligen Oberschicht; und sie genoss eine gute, für Frauen
zweifellos weit überdurchschnittliche und im Übrigen stark literarisch orien-
tierte Ausbildung im Colegio zu Cuzco. Ihr Vater war ein Großgrundbesitzer,
der sich ebenfalls als Literat betätigte und über eine Hacienda unweit von
Cuzco verfügte, wo die Tochter das Leben der indigenen Bevölkerung aus der
Nähe kennen und auch Quechua erlernen konnte. Diese Biographeme wurden
später für die Schriftstellerin sehr wichtig, gilt sie doch gemeinhin als Begrün-
derin des indigenistischen Romans. Wir werden uns mit dieser Zurechnung zum
Indianismus (wie ihn etwa eine Gertrudis Gómez de Avellaneda vertrat) oder
aber zum Indigenismus noch auseinandersetzen.

Abb. 76: Clorinda Matto de Turner (1852–1909), circa 1890.

Clorinda musste ihre gute Ausbildung freilich schon mit zehn Jahren abbre-
chen, als ihre Mutter starb und sich das Mädchen – der Frauenrolle entspre-
chend – um die jüngeren Geschwister zu kümmern hatte. Ebenso wenig erfüllte
der Vater Clorindas Bitten, in den USA Medizin studieren zu dürfen. Doch bald
schon heiratete sie durchaus standesbewusst: Denn ihren zweiten Nachnamen
verdankte die junge Peruanerin dem Engländer Turner, der über ausgedehnten
landwirtschaftlichen Großgrundbesitz verfügte und mit dem sie sich bereits
1871 verband. Mit ihrem Mann zog sie in das Andendorf Tinta.
An der Seite ihres Mannes lernte Clorinda Matto de Turner hoch zu Ross
einen guten Teil Perus kennen – Erfahrungen, die auch in ihren sicherlich be-
kanntesten Roman Aves sin nido Eingang fanden. Zugleich trat sie schon früh
durch die Veröffentlichung ihrer Tradiciones cuzqueñas in Limas wichtigster Ta-
geszeitung Correo del Perú hervor, wo sie kostumbristische literarische Texte pu-
blizierte, die den Tradiciones des Ricardo Palma nahestanden. 1876 gab sie die
Zweiwochenzeitschrift El Recreo heraus, in der wichtige peruanische Schriftstel-
ler wie Palma oder Fernánd Caballero, vor allem aber auch Schriftstellerinnen
wie die Romanautorin Juana Manuela Gorriti publizierten. Ein Jahr später freilich
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musste sie aus gesundheitlichen Gründen die Arbeit an diesem Periodikum wie-
der aufgeben und nach Arequipa umziehen.
Nach zehn Jahren glücklicher, aber kinderloser Ehe starb 1881 ihr Mann.
Ihre Geschäftstüchtigkeit konnte die junge Frau erst nach seinem Tod unter Be-
weis stellen, da sie nicht als Ehefrau, wohl aber als Witwe nach peruanischem
Gesetz geschäftsfähig war und nun sowohl das Unternehmen ihres Mannes sa-
nieren als auch die umfangreichen, zum Teil elterlich ererbten Besitzungen ver-
walten musste. Es sind für Peru bittere Jahre, da das Land ab 1879 an der Seite
Boliviens in den Salpeter- und Guanokrieg gegen Chile verwickelt wurde, der
trotz aller anfänglichen Euphorie zu einer militärischen Niederlage, der Beset-
zung Limas durch chilenische Truppen 1881 und schließlich zum Friedensvertrag
von 1883 führte. Dieser Friede sollte dem Land erhebliche und empfindliche terri-
toriale Verluste einbringen. Etwas mehr als ein halbes Jahrhundert nach Erlan-
gung seiner politischen Unabhängigkeit im Jahr 1824 war Peru in die wohl tiefste
Krise seiner Geschichte geraten.
Auch für Clorinda Matto de Turner sind es schwierige Jahre, verliert sie
doch auf Grund des Einflusses korrupter Richter und Rechtsanwälte einen be-
trächtlichen Teil ihres Vermögens. Zwischen 1884 und 1885 ist sie Chefredak-
teurin der Zeitung La Bolsa von Arequipa, wo auch ihre Schrift Elementos de
Literatura según el Reglamento de Instrucción para Uso del Bello Sexo erschien,
in der sie bildungspolitische Verbesserungen für die Frauen einforderte. 1886
geht sie nach Lima: Die peruanische Hauptstadt bietet Clorinda sowohl journa-
listisch wie literarisch bessere Möglichkeiten. Es gelang ihr, eine wichtige Rolle
innerhalb der peruanischen Literaturgesellschaft zu spielen, da sie seit 1887
einen literarischen Salon leitete, in welchem ebenso männliche wie weibliche
Talente ihre Schöpfungen vorstellen konnten. Diese Rolle als Literaturvermittle-
rin beruhte vor allem auf ihrer Tätigkeit in und Herausgabe von literarischen
Periodika, zu denen nach der Mitarbeit in Zeitschriften in Cuzco und später
auch bei La Bolsa in Arequipa nun in Lima unter anderem La Revista social und
El Perú Ilustrado zählten. Stets versuchte sie dabei, Frauen eine Chance zu
geben, eigene literarische Texte zu veröffentlichen.
Darüber hinaus gelang es Clorinda Matto de Turner ebenso, diese publizis-
tisch wichtige Funktion sowohl auf der politischen als auch auf der literari-
schen Ebene weiter zu stärken und unterdrückten Bevölkerungsgruppen in
Peru – etwa der indigenen Bevölkerung im andinen Hochland, aber auch den
Frauen im gesamten Land – Hilfe zukommen zu lassen. Gegen all diese Aktivi-
täten regt sich bald Widerstand: Als sie 1889 fast gleichzeitig Chefredakteurin
von El Perú Ilustrado wird und ihr Roman Aves sin nido erscheint, beschließen
ihre Feinde, massiv gegen die Autorin und Journalistin vorzugehen. Ein aufge-
brachter Pöbel greift ihr Haus an, vom Klerus fanatisierte Frauen gehen in Are-
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quipa und Cuzco auf die Straße, ihre Bücher werden auf den Index gesetzt und
im Oktober 1890 in Cuzco öffentlich verbrannt. Wenig später wurde sie vom
Erzbischof von Lima exkommuniziert, die Lektüre ihrer Bücher verboten. Zeit
also, um aufzugeben?
Nicht eine Clorinda Matto de Turner! Als sie trotzig zusammen mit ihrem
Bruder in Lima 1892 die Druckerei La equitativa gründet, in welcher nur Frauen
beschäftigt werden, reagieren ihre Feinde mit immer stärkeren Gegenmaßnah-
men. Seit sie exkommuniziert worden war, wurde ihre Situation in Lima immer
bedrohlicher. 1895 schließlich werden ihr Haus und ihre Druckerei geplündert;
am 25. April 1895 muss die Schriftstellerin Lima verlassen und ins Exil nach
Buenos Aires flüchten, wo sie als Lehrerin an einer Lehrerinnenschule und in
Frauenorganisationen aktiv wird. Als erste Frau wird sie in das Ateneo de Buenos
Aires aufgenommen; eine Auszeichnung, die sich vor der literarischen Autorin
verneigt. In ihren späten Jahren unternimmt sie Reisen nach Spanien, Frank-
reich, Italien, Deutschland und England, wo sie der Frauenfrage eine internatio-
nale Dimension zu geben versucht. Bis zu ihrem Tod im argentinischen Exil
sollte sie der Sache der Frauen treu bleiben und für Frauenrechte kämpfen.
Literatur und Leben der peruanischen Autorin, die von ihrem peruanischen
Landsmann Mario Vargas Llosa einmal unpassenderweise als Matrone bezeich-
net worden ist, stehen im Zeichen sozialen und politischen Engagements. Die
Schriftstellerin kann aus diesem Blickwinkel – wie zu zeigen sein wird – in vie-
lerlei Hinsicht als eine literarische Figur des Übergangs gesehen werden. Weit-
aus mehr als Gertrudis Gómez de Avellaneda hat sich Clorinda Matto de Turner
für die Belange der Frauen eingesetzt, so dass man sie mit guten Gründen als
Vorläuferin feministischer Positionen in Hispanoamerika ansprechen darf.
Auch auf Ebene einer literarischen Beschäftigung mit indigenen Gruppen
darf Clorinda Matto de Turner für sich aus literarhistorischer Perspektive in An-
spruch nehmen, den Bannkreis indianistischen Schreibens und einer indianisti-
schen Beschäftigung mit der autochthonen Bevölkerung Amerikas durchbrochen
und einer indigenistischen, für die Belange der im Lande lebenden Indianer
kämpfenden Literatur den Weg geebnet zu haben. Dieses Engagement geht auf
ihre frühen Kindheitsjahre und ihre große Vertrautheit mit indigenen Kulturen,
aber auch auf ihre Sprachkenntnisse des Quechua zurück. Es sind vor allem
diese beiden Aspekte, die uns in der Folge interessieren sollen: ihr Kampf für die
Rechte der Frauen und ihr Kampf für die Rechte der indigenen Bevölkerung.
Vor diesem Hintergrund ist es keineswegs eine Überraschung, dass ihr si-
cherlich wirkungshistorisch wichtigster Roman Aves sin nido, der 1889 erstmals
erschien, von Anfang an auf ein breites Leserinteresse stieß und bis heute immer
wieder neu aufgelegt wird, auf die Entwicklung der sozialen Literatur in Peru in
ungewöhnlichem Maße Einfluss nahm. Ihre Exkommunikation, die zahlreichen
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Verbote, die Zensur wie die öffentliche Bücherverbrennung weisen auch in ihrem
Fall auf die zumindest für möglich gehaltene gesellschaftliche Spreng- und
Durchschlagskraft ihres Werkes und dienen – allgemeiner formuliert – als Seis-
mographen für das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Ge-
sellschaft diskutierbar und mehr noch grundlegend veränderbar ist. Wir hatten
dies am Beispiel des Immoralismus-Prozesses rund um Flauberts Madame Bovary
bereits beobachtet und zugleich gesehen, in welchem Maße derartige Verbote
das Interesse der Leserschaft zusätzlich erhöhen. So haben weder die Zensur
noch die zahlreichen Verbote und Angriffe den Erfolg von Clorinda Matto de Tur-
ners Roman verhindern können. Aves sin nido ist ein Klassiker der sozialen Lite-
ratur Lateinamerikas geworden; eine Funktion, die wir erst verstehen können,
sobald wir diesen Roman zumindest in Teilen detailliert untersucht haben.
In diesem Text aus dem Jahr 1889 spielt – wie häufig in den Romanen der
Romantik und des 19. Jahrhunderts – der Inzest, spielt das Inzesttabu eine
wichtige, strukturierende Rolle. Dies hatten wir bereits bei Chateaubriands
Atala, aber auch bei ungezählten späteren Romanen der Romantik zwischen
zwei Welten gesehen.2 Dabei ist allerdings dieses durchgängige Element ro-
mantischen Schreibens an eine präzise gesellschaftliche Funktion rückgebun-
den und mit einer Anklage gegen die Katholische Kirche verbunden. Denn es
kommt erst zur unglücklichen Situation jener Vögel ohne Nest, wie wir den Titel
übersetzen könnten, weil die Unmenschlichkeit des Zölibats (das die Autorin
schon in ihrem Vorwort anklagt) dogmatisch eine tragische Situation heraufbe-
schwören konnte. Sie führte dazu, dass Geliebter und Geliebte, aus unter-
schiedlichen Familien stammend, uneheliche Geschwister, da Kinder ein und
desselben Mannes sind: des früheren Priesters von Kíllac und späteren Bi-
schofs. Kein Wunder also, wenn der Erzbischof von Lima gegen ein solches
Werk, zumal aus der Feder einer Frau stammend, mit all seiner Macht vorging
und die peruanische Schriftstellerin exkommunizierte!
Die Tatsache, dass das Inzestmotiv zugleich mit einer denunziatorischen
Anklage verbunden ist und damit eine stark gesellschaftskritische Spitze erhält,
zeigt bereits eine Grundstruktur des Romans auf. Gleich im ersten Satz ihres
kurzen, auf 1889 datierten Proemio äußert sich die Autorin zur gesellschaftli-
chen Bedeutung ihres Textes beziehungsweise zur Verbindung zwischen Litera-
tur und Gesellschaft, die in Aves sin nido zum Ausdruck komme:

Wenn die Geschichte jener Spiegel ist, in welchem die künftigen Generationen das Bildnis
früherer Generationen betrachten sollen, dann muss der Roman die Photographie sein,

2 Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Wel-
ten (2021), passim.
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welche die Laster und die Tugenden eines Volkes mit der nachfolgenden Moral als Kor-
rektiv für jene und als ehrende Bewunderung für diese stereotypiert.
Daher ist die Wichtigkeit des kostumbristischen Romans so groß, da er auf seinen
Blättern viele Male das Geheimnis der Reform einiger Typen, wenn nicht deren schlichte
Auslöschung enthält.3

Wieder tritt ein Spiegel in Aktion. Doch diesmal betrachtet sich darin nicht eine
Frau, die wie Emma Bovary Auskunft über ihr eigenes Leben erhalten möchte,
sondern eine ganze Generation, die aus der Zukunft auf die jetzige Gegenwart
blicken und wissen möchte, wie diese Gesellschaft einstens war und von wel-
chen Typen sie geprägt wurde. Wider bietet der Spiegel Erkenntnis; und auch
diesmal geht es nicht nur um die Vergangenheit, die darin zu sehen ist, son-
dern vor allem um die Zukunft. Denn die Literatur und speziell der Roman hat
für Clorinda Matto de Turner eine prospektive Aufgabe und die Bedeutung, als
Korrektiv mit Blick auf das Kommende zu wirken, Fehler zu erkennen, zu korri-
gieren oder vollständig auszumerzen.
Damit ist die gesellschaftliche Wirkkraft des Romans aufgerufen. Schon die
ersten Sätze dieses Vorworts weisen auf die Verbindung zwischen Erzähltext
und Geschichte. Sie beschwören die Spiegelmetaphorik, die seit Stendhal für
den Roman des 19. Jahrhunderts zu einer durchgängigen Legitimationsebene
und Authentizitätsbegründung wurde: der Roman als Spiegel der Gesellschaft.
Clorinda Matto de Turner ‚modernisiert‘ diese Metaphorik dabei insoweit, als
sie zum einen die Schreibmetaphorik durch die Stereotypie beschleunigt. Zum
anderen betont sie im Roman die mimetische Wirkungsweise der Photographie,
womit sie auf ein modernisiertes Medium mechanischer Reproduktion und
Wirklichkeitsdarstellung verweist. Sie tat dies in ähnlicher Weise wie die natu-
ralistischen Romanciers Frankreichs, allen voran Emile Zola, den die Peruane-
rin selbstverständlich gelesen hatte und dessen Vorstellungen sie auf den
Andenraum projizierte beziehungsweise für die lateinamerikanische Hemi-
sphäre umschrieb.
Diese Tatsache erscheint als besonders bedeutungsvoll, da es gerade die
Aspekte sozioökonomischer Modernisierung waren, die den Schlussteil dieses
Andenromans bestimmen, wie noch zu zeigen sein wird. Bei der Romangattung
handelt es sich freilich nicht um ein in ausländischen Händen befindliches,
sondern ein von einer Peruanerin selbst benutztes und bewusst eingesetztes In-
strument literarischer und gesellschaftlicher Modernisierung. Der Erzähltext

3 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido. La Habana: Casa de las Américas 1974, S. 7;
vgl. auch dies.: Aves sin nido (novela peruana). Lima: Imprenta del Universo de Carlos Prinz
1889 (Faksimile-Reprint Ann Arbor – London 1979).
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will auf Grundlage einer Darstellung geschichtlichen Lebenswissens Zukunft


gestalten, um auf diese Weise das in der Literatur akkumulierte Wissen vom
Leben im Leben für ein Leben in der Zukunft nutzbar zu machen.4
Aus diesem Grunde enthält die gesellschaftlich verantwortliche Gattung
des Romans für Clorinda Matto de Turner zugleich in der Funktion eines sozia-
len Korrektivs die „moraleja“, also die ‚Moral der Geschichte‘: keineswegs nur
für die kommenden Generationen, sondern vor allem als Wirkkraft für die ge-
genwärtige Situation und deren Veränderung. Spricht Clorinda Matto auch von
der „novela de costumbres“,5 so sind doch hiermit nicht die konservativen und
statischen Elemente kostumbristischen Schreibens gemeint,6 sondern ein dyna-
misches, gesellschaftsveränderndes Verständnis, das die behandelten Typen
nicht nur deskribiert, sondern seziert, analysiert und wenn nötig exterminiert.
Vor diesem Hintergrund zeigt sich zugleich, dass der Konzeption des Ro-
mans eine interessante Abgrenzung zwischen Geschichte als Spiegel und Roman
als Photographie zugrunde liegt, wobei sich freilich in beiden Fällen die Frage
nach Rahmung und Tiefendimension mit besonderer Dringlichkeit stellt. Der ra-
dikalisierte Abbildanspruch des Romans – Matto spricht von der Exaktheit ihrer
in der Natur gemachten Beobachtungen, die sie über einen Zeitraum von mehr
als fünfzehn Jahren durchgeführt habe – begründet dessen gesellschaftspolitisch
gleich zu Beginn eingeklagte Sprengkraft. Dies gilt umso mehr, als sich – nach
Aussage des „Proemio“ – die Literatur in Peru noch in ihrer Wiege befinde. Für
Clorinda Matto de Turner besteht die Aufgabe als Romancière folglich darin, die
peruanische Nationalliteratur zunächst einmal zu begründen und jene aktive Le-
serschaft zu schaffen, welche die vorgelegten ‚Kopien‘ der gespiegelten Realität
beurteilen und gesellschaftlich wirksam reformerisch umsetzen könnte. Dank
eines derartigen Verständnisses von Literatur war Aves sin nido folglich ein hoch-
politischer Roman.
Dieser Text, so macht das „Proemio“ unmissverständlich klar, ist eingebet-
tet in die Liebe der Autorin zur indigenen Bevölkerung oder, wie es im Text
unter Verwendung des kulturellen „raza“-Begriffs heißt, zur ‚indigenen Rasse‘.
Den „Indios“ in den Anden werden die Vertreter gesellschaftlicher Autorität ge-

4 Vgl. hierzu Asholt, Wolfgang / Ette, Ottmar (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissen-
schaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2010; zur Rezeption
dieses Begriffes in Lateinamerika vgl. Ette, Ottmar / Ugalde Quintana, Sergio (Hg.): La filología
como ciencia de la vida. México, D.F.: Universidad Iberoamericana 2015.
5 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido, S. 7.
6 Vgl. hierzu auch Müller, Hans-Joachim: Clorinda Matto de Turner: „Aves sin nido“. In: Ro-
loff, Volker / Wentzlaff-Eggebert, Harald (Hg.): Der hispanoamerikanische Roman. Band 1: Von
den Anfängen bis Carpentier. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, S. 78–91.
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genübergestellt, die autoritären Vertreter der Gesellschaft, die oftmals nichts


anderes als miserable Tyrannen seien. Deutlich erkennbar ist in diesem Kontext
die indigenistische und nicht mehr indianistische Perspektive des Romans: Es
geht explizit um die Verbesserung des Loses der Indianer und nicht mehr um
die lacrimogene Aufarbeitung von Taten historisch gewordener indianischer
Helden, wie sie etwa eine Gertrudis Gómez de Avellaneda oder ein Manuel de
Jesús Galván gestalteten.7 Beim melancholisch-romantischen Rückblick auf die
in anderen, nicht-andinen Areas größtenteils verschwundenen Indianer konn-
ten sich die betroffenen Autor*innen und Gesellschaften – wenn Sie mir diesen
Ausdruck gestatten – höchstens noch deren Skalps an die Weste nationaler
Identitätskonstruktion heften. In der Area der Karibik konnte nur ein toter Indi-
aner ein guter Indianer sein, nicht aber in den Literaturen der andinen Kordille-
ren. Zumindest für Clorinda Matto de Turner galt es, das soziale Los und die
gesellschaftliche Partizipation der indigenen Bevölkerung zu verbessern. Denn
die Indianer erschienen aus ihrer Sicht als zutiefst moralisch gut; genau daher
durften sie nicht rücksichtslosen Tyrannen und Ausplünderern unterworfen
werden und sterben. Es galt also, diesen bislang unkontrollierten Vertretern
staatlicher Autorität nicht nur genauer auf die Finger zu schauen, sondern voll-
ständig das Handwerk zu legen und die Strukturen staatlicher Institutionen zu
verändern. Daher sprach sie in ihrem „Proemio“ auch von der Auslöschung be-
stimmter Typen.
Der Roman Aves sin nido ist in zwei Teile und diese wiederum in eine Viel-
zahl kurzer Kapitel unterteilt, was die Romanstruktur als leicht zugänglich er-
scheinen lässt. Dies entsprach dem Gebot leichter Verständlichkeit. Auch auf
anderen Ebenen ist die Grundstruktur des Romans von Beginn an leicht durch-
schaubar, was bereits das Incipit mit der Situierung der Romandiegese verrät. Be-
trachten wir also den Beginn des ersten Kapitels des ersten Teils dieses Romans:

Es war ein wolkenloser Morgen, an den eine vor Glück lächelnde Natur den Hymnus zur
Anbetung des Schöpfers ihrer Schönheit erhob.
Das Herz gab sich, ruhig wie das Nest einer Taube, der Betrachtung dieses großarti-
gen Gemäldes hin.
Der einzige Platz des Dorfes Kílac misst dreihundertvierzehn Quadratmeter, und der
Weiler hebt sich ab, indem er die bunten, ofengebrannten Ziegeldächer mit den einfachen,
von unbearbeitetem Holz gestützten Strohdächer vermengt, so dass sich der Unterschied
zwischen dem Namen Haus für die Notablen und Hütte für die Naturales herausschält.8

7 Vgl. hierzu die Ausführungen in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 425 ff.
u. 733 ff.
8 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido, S. 9.
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Aus dem Beginn dieses Romans habe ich Ihnen die ersten drei Sätze ausgewählt,
die als Abschnitte jeweils eine Rahmung bilden, welche zunächst die herrliche
Natur, dann die Ansicht dieser Natur durch den Menschen als ein Gemälde und
schließlich die Wohnstätte des Menschen porträtieren: ein Andendorf, das be-
reits von Anfang an in seiner sozialen Differenzierung und Gegensätzlichkeit vor
Augen geführt wird. Wir befinden uns in dem kleinen peruanischen Andenstädt-
chen Kíllac, einem doch etwas heruntergekommenen Provinznest um das Jahr
1885. Und die gesellschaftliche, in der Natur nicht vorhandene Spaltung lässt
sich bereits an den Benennungen und an den Häusern im Sinne distinktiver
Merkmale ablesen.
Diese Häuser und Hütten bilden wiederum den Rahmen für das Geschehen
auf diesem einzigen Platz, formieren also jene Arena, in welcher gleich schon
die Helden der zu berichtenden Ereignisse erscheinen werden. Der schöne Mor-
gen weist schon auf diesen Auftritt; und dass er wolkenlos ist, zeigt nicht nur
den guten Willen der Natur, sondern ermöglicht auch den Überblick, der uns
Kíllac gleichsam im Vogelflug zeigt. Clorinda Matto de Turner bedient sich
einer jahrtausendealten literarischen Konvention der abendländischen Litera-
tur, indem sie das Geschehen an einem Morgen beginnen lässt.
Die belebte wie die unbelebte Natur haben noch ein höheres Wesen über
sich, das alles mit Leben erfüllt. Nicht ohne Hintersinn wird dieses höhere
Wesen als Autor bezeichnet, wodurch sich ein eigenartiges Spannungsverhält-
nis zwischen der Schöpfung der Natur und der Schöpfung dieser Fiktion ergibt:
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde das Gottesprädikat auf den literarischen
Schöpfer übertragen und entsakralisiert.9 Gott in seiner Schöpfung, der „Autor
de su belleza“, ist von Beginn an in der Natur präsent, die in der Großschrei-
bung gleichsam personifiziert wird und mit den „naturales“ in ein eigentümli-
ches Spannungsverhältnis tritt, stehen diese doch auf Seiten der Stadt und
damit der Kultur.
An die Seite des Schöpfergottes tritt in der Kontemplation aber der Mensch
mit einem Herzen, das so ruhig wie das Nest einer Taube sei, womit durch die-
sen Vergleich sofort die dem Roman durch den Titel vorgegebene Metaphorik
des Vogelnestes eingeblendet wird. Die Taube – auch sie Bestandteil der Drei-
faltigkeit – zählt zweifellos nicht zu den Vögeln ohne Nest, sondern wäre eher
jenem menschlichen Herzen zuzuordnen, das aus der Kontemplation dieser
Szene den Text entwickeln wird. Und an erster Stelle folgt die auf den Quadrat-
meter genaue Beschreibung des peruanischen Örtchens.

9 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 42 ff., 52 ff., 811 ff., 902 ff.
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Die an dieser frühen Stelle des Romans bereits erscheinende photogra-


phisch-soziologische Mimesis zeigt jene „chozas“, jene Hütten, welche uns im
Verlauf unserer Betrachtung der Literaturgeschichte einer Romantik zwischen
zwei Welten gerade im Gefolge von Chateaubriands Atala in romantischer Ver-
klärung erschienen waren. Bei Clorinda Matto de Turner jedoch findet sich
keine Spur einer solchen Verklärung, sondern eher der Gegensatz zu den besse-
ren Behausungen, die als einzige den Namen „casa“ tragen dürfen, zumindest –
so zeigt uns die Kursivierung – in der Sprache der dort ansässigen Bewohner
von Kíllac.
Die kurz hintereinander eingeführten Schöpferfiguren Gott und Autor treten
in Kontrast mit der kurz danach eingeführten Figur des ehemaligen Priesters von
Kíllac und späteren Bischofs, der das Verhängnis über Manuel Pancorvo und
Margarita Yupanqui bringen wird. Die Problematik des Zölibats wird auf der
Ebene des récit beziehungsweise des Plot also schon sehr früh in den Roman ein-
geblendet und tritt in einen existierenden Kontrast zwischen der natürlichen
Schönheit des von Gott geschaffenen Landes und der kulturell vom Menschen
ausgeformten Struktur der Kultur und insbesondere der Religion, wie sie die Ka-
tholische Kirche verkörpert.
Die histoire oder Story dieses Romans ist in ihren Grundzügen rasch er-
zählt. Die beiden von Lima nach Kíllac gezogenen Angehörigen der Oberschicht,
Don Fernando Marín und seine Frau Lucía, beschäftigen sich wohlwollend-
paternalistisch mit den Sitten der ortsansässigen indigenen Bevölkerung, er-
fahren aber rasch anhand der Geschichte der Familie Yupanqui, was es heißt, in
diesen andinen Regionen als „Indio“ unter der Herrschaft der „Notables“ leben
zu müssen. In der Tat hatten die von Simón Bolívar eingebrachten Reformen seit
1824 die tatsächliche Situation der indigenen Bevölkerung keineswegs verbessert,
waren die „Indios“ teilweise doch ihres dürftigen Schutzes während der Kolonial-
zeit entkleidet worden. Sie waren in noch größere Abhängigkeit geraten, da nun
auch ihr Indianerland zum Verkauf angeboten werden konnte, das damit der
zuvor begrenzten Ausweitung des Großgrundbesitzes zur Verfügung stand. Durch
ihre familiäre Herkunft wusste Clorinda Matto de Turner bestens, wovon sie in die-
ser gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Anlage ihres Romans sprach.
Als die Maríns – vor allem von Lucía als gutem Gewissen der Geschichte ge-
trieben – versuchen, den Yupanquis zu helfen und diese Familie vor den Unge-
rechtigkeiten und Ausplünderungen der lokalen Herrschaftsclique zu beschützen,
müssen sie erleben, wie sie selbst zur Zielscheibe von Angriffen der sich gegen
den Verlust ihrer Privilegien wehrenden Notables werden. Es kommt zu einem
nächtlichen Angriff auf das Haus der Maríns, bei dem nicht diese, wohl aber Vater
und Mutter Yupanqui getötet werden. Die Töchter der Getöteten werden in der
Folge von aufgeklärten Limanern adoptiert. An dieser dramatischen Situation
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wird bereits deutlich, dass Clorinda Matto de Turner das Fortbestehen kolonialer
Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse unter dem Deckmantel politisch un-
abhängiger republikanischer Formen scharf kritisiert und den Roman als Waffe
gegen diese evidenten Ungerechtigkeiten einsetzt. Wir begreifen die Gründe für
die gegen sie eingesetzten Zwangsmittel nun besser: Eine gesellschaftliche Elite
fürchtet um den Fortbestand ihrer Privilegien – eine Situation, an der sich in den
meisten Ländern Lateinamerikas bis heute wenig verändert hat.
Zu den positiven Gestalten des Romans zählt der noch junge Sohn des kor-
rupten „Gobernador“ Pancorvo namens Manuel. Er weiß noch nicht, dass er –
ebenso wie die mestizische Schönheit Margarita Yupanqui – ein unehelicher
Nachkomme des vermaledeiten Priesters ist, der seine Stellung im Dorf unter an-
derem zur Erzwingung von Liebesdiensten ausnutzte. Auch dies ist ein Thema,
das die Katholische Kirche bis heute so gut als möglich unter den Teppich kehrt.
Da bleibt freilich die Frage offen, warum gerade seine Kinder so schöne und mo-
ralisch integre Menschen sind. Aber oft, so trösten wir uns, stammen die guten
Früchte eben vom Baum des Bösen.
Der Roman jedenfalls treibt – Sie haben es schon erraten! – auf die unlösbare
Problematik des Inzesttabus zu, da sich die beiden jungen Leute romantisch
rasch und natürlich unsterblich ineinander verliebt haben. Denn sie können
nicht ahnen, dass sie denselben abgrundtief bösen Vater haben. Der Roman
kann hierfür keine Lösung mehr anbieten, sondern nur das Tabu noch stärker
zementieren. Er kann allenfalls dafür sorgen wollen, dass derlei Vorkommnisse
nicht mehr geschehen – und Sie sehen, hier liegt die ‚Moral von der Geschicht‘,
von der die Autorin in ihrem Vorwort sprach: Traue keinem Priester nicht! – vor
allem unter den Vorzeichen des unhinterfragbaren Zölibats. Das romantische In-
zestmotiv wird in Aves sin nido fortgeschrieben, zugleich aber unter einen gesell-
schaftspolitischen und religionskritischen Blickwinkel genommen. Dass eine
Frau allein diese Problematik nicht erfolgreich bekämpfen konnte, leuchtet aus
heutiger Sicht ein – in einer Gegenwart, in welcher diese Probleme noch immer
nicht beseitigt wurden.
Die herzensgute Lucía verkörpert den Typus der peruanischen Schönheit,
doch sagt ihr Marcela Yupanqui auch, dass sie das Gesicht jener Jungfrau habe,
zu der sie immer beteten. Kein Wunder also, dass sich die „candorosa paloma“
im Herzen Lucías rührt, als sie von der rücksichtslosen Ausbeutung Marcelas
und ihrer Familie erfährt. Die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung geschieht
auf vielfache, im Roman teils dargestellte, teils als Wissen vorausgesetzte Weise
die von der „mita“ über den „reparto antelado“10 bis hin zu kleineren Formen

10 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido, S. 14.


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wie der „carta de recomendación“ reicht, wobei die Indianer stets gezwungen
sind, ihre Arbeit – und bei den Frauen teilweise auch ihren Körper – unentgelt-
lich zur Verfügung zu stellen. Die Abhängigkeiten der indigenen Gruppen aus
der Kolonialzeit wurden im andinen Raum Perus also nicht beseitigt, sondern
noch durch republikanische Ausbeutungssysteme ergänzt. Dies überrascht nicht,
war die Trägerschicht der hispanoamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung
doch die kreolische Oberschicht, die sorgsam darauf achtete, dass keines ihrer
zahlreichen Privilegien beim Übergang in die Independencia verlorenging. Die
Verfasserin von Aves sin nido, selbst aus der Oberschicht stammend, auf dem vä-
terlichen Großgrundbesitz aufgewachsen und später mit einem englischen Groß-
grundbesitzer verheiratet, kannte diese Bedingungen nur zu gut.
Die vorzügliche Aufgabe des Erzählerdiskurses ist es immer wieder, die Le-
serschaft auf einige Funktionsweisen derartiger Abhängigkeitsverhältnisse in
denunziatorischem Ton aufmerksam zu machen, so dass die gesellschaftskriti-
sche Färbung des Romans nicht nur den Stimmen der einzelnen Figuren, son-
dern vor allem auch dem zentralisierenden Erzählerdiskurs überantwortet wird.
Lucía jedenfalls beginnt bald zu verstehen, dass sich hinter den „seres civiliz-
ados“ dieses Ortes in Wirklichkeit „mónstruos de codicia y aun de lujuria“,11
sich hinter den scheinbar Zivilisierten also wahre Ungeheuer verstecken, die
letztlich barbarisch handeln sowie Neid und Wollust ergeben sind.
Die Zivilisierten erscheinen hier als die Wilden und Barbaren,12 doch wird
dieser Gegensatz nicht etwa aufgelöst, sondern nur verschoben, zeichnet sich
der Roman doch sehr wohl auf kulturtheoretischer Ebene durch eine Struktur
aus, die an der Präponderanz abendländischer Kulturmodelle keinen Zweifel
lässt. Clorinda Matto de Turner war keineswegs eine Revolutionärin: Sie war
ebenso eine Vertreterin des christlichen Glaubens an Gott wie eines Gesell-
schaftssystems, in welchem sie groß geworden war.
Allerdings kämpfte sie sehr wohl gegen die Abhängigkeiten der Frau in
einem phallokratischen System sowie gegen die Ausbeutung der indigenen Be-
völkerung durch Reiche, die noch reicher werden wollten. Ihr Kampf richtete
sich gegen die konkreten Praktiken und gegen die „abusos“, gegen alle Formen
des Missbrauchs der Macht, die dem christlichen Geiste von Schöpfer und
Natur nach ihrer Ansicht zuwiderliefen und gegen die Gleichheit von Mann und
Frau verstießen. Doch dies reichte schon, um sie in Peru zur Persona non grata

11 Ebda.
12 Vgl. zu diesem Gegensatz Bitterli, Urs: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer
Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München: dtv 1982.
936 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena

zu machen und ins Exil zu treiben. Erst Jahrzehnte nach ihrem Tod wurden ihre
sterblichen Überreste wieder dorthin überführt.
Wie sehr sich der indigenistische Ansatz von Clorinda Matto de Turner von
jenem indianistischen unterscheidet, für dessen Aufbau und Funktionsweise
uns in unserer Vorlesung über die Romantik zwischen zwei Welten die Romane
Sab von Gertrudis Gómez de Avellaneda und Enriquillo von Manuel de Jesús
Galván als Beispiele gedient hatten, mag an der das dritte Kapitel eröffnenden
Passage deutlich werden, welche den die gesamte Erzählstruktur durchziehen-
den Modus des Erzählerdiskurses vorstellt. Schauen wir uns eine der vielen Me-
thoden ständiger Ausplünderung der „Indios“ einmal näher an:

In jenen Provinzen, in denen Alpacas gezogen werden – und der Handel mit Wolle ist
von wenigen Ausnahmen abgesehen die hauptsächliche Quelle des Reichtums –, gibt es
die Sitte des Reparto antelado, den die Handel treibenden Potentaten, die wohlhabends-
ten Leute des Ortes, ausüben.
Für die von ihnen aufgezwungenen Vorauszahlungen, welche die Laneros leisten,
legen sie einen so lächerlich niedrigen Preis fest, dass der Ertrag das notwendig verwen-
dete Kapital um ein Fünfhundertfaches übersteigt; dies ist ein Wucherzins, der zusätzlich
zu den begleitenden Zwangsmitteln geradezu die Existenz einer Hölle für diese Barbaren
notwendig macht.
Die indigenen Besitzer von Alpacas wandern aus ihren Hütten in den Zeiten des Re-
parto aus, um nicht jenes vorgestreckte Geld zu erhalten, das für sie ebenso verflucht ist
wie die dreizehn Silberlinge des Judas. Doch sorgt die Aufgabe der Heimstatt und das Um-
herirren in den einsamen Weiten der hohen Berge für ihre Sicherheit? Nein...13

Der Roman tritt an dieser wie an ähnlichen Stellen in die Funktion einer sozio-
logischen Analyse. Wucher, Zwangsverkauf zu lächerlichen Preisen, Ausbeu-
tung und Verfolgung: Dies sind die Umstände jener „costumbres“, die von der
Erzählerfigur in dieser Passage vorgestellt und kommentiert werden. Dass die
Vertreter einer solchen Zivilisation als Barbaren erscheinen, überrascht ebenso
wenig wie die Verknüpfung eines derart radikalen Wuchers mit dem Namen
Judas; eine Verbindung mit antisemitischem Beigeschmack, die gleichsam inner-
halb der christlichen Tradition eingespeichert und jederzeit abrufbar scheint.
Denn wo in christlichen Ländern Wucherzinsen erhoben werden, ist der Vor-
wurf – und der Erzählerdiskurs macht an dieser Stelle keine Ausnahme – an die
Adresse der Juden nicht weit.
Antisemitische Tendenzen sind freilich in dieser Passage lediglich implizit
vorhanden und sollen der sozial engagierten Autorin auch nicht unterstellt wer-
den – selbst wenn später die finanziellen Transaktionen Don Fernandos an

13 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido, S. 14.


Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 937

Juden zu zwanzig Prozent ausgeführt werden. Die Einordnung aller vorgegebe-


nermaßen ‚beschriebenen‘ Sitten in christliche Erklärungsmuster wird aber auch
an dieser Stelle deutlich und belegt, wie sehr die christlich-abendländische Kul-
turtradition als Vorratsspeicher impliziter Bildfolgen und Erklärungsmuster diese
Darstellung der interethnischen und interkulturellen (Wirtschafts-)Beziehungen
im peruanischen Hochland prägt.
Es ist nicht zuletzt diese zutiefst christliche Gesinnung – vertreten von
Lucía und der Erzählerfigur, gerade nicht aber vom Priester des Ortes und sei-
nem Vorgänger –, welche die positiven Phänomene wie die vorgeschlagenen
Lösungsmuster dargestellter Probleme vorgibt. Dabei wird die fundamentale
Abhängigkeit der indigenen Bevölkerung keineswegs überwunden: Die „In-
dios“ bleiben abhängig, sollen dies nun aber von guten, moralisch und ethisch
untadeligen Figuren sein. Auch in derlei Lösungsvorschlägen können wir noch
immer eine patriarchalische Ordnung hinter dem Gesellschaftsmodell erken-
nen, für das die Erzählerfigur steht.
Halten wir also fest: Aves sin nido ist ein Roman, der keine radikale Verände-
rung gesellschaftlicher Verhältnisse, wohl aber zwischenmenschlicher Beziehun-
gen vorschlägt! Dabei müssen natürlich auch politische Strukturen geschaffen
werden, die derartig fürsorgliche Beziehungsverhältnisse ermöglichen und för-
dern. Mag dies auch aus der Perspektive unseres 21. Jahrhunderts als dürftig er-
scheinen, so zeigt die Passage doch auch, wie grundlegend die Distanz zu den
romantisierenden, exotisierenden, historisch deplatzierenden Diskursen und
Darstellungsmechanismen indianistischer Schreibweise ist. Clorinda Matto de
Turner ist es um die Lage der indigenen Bevölkerungen zu tun; bei diesem Anlie-
gen spricht sie in Gestalt ihrer Figuren und Erzähler für die „Indios“, anstelle der
„Indios“, lässt diese selbst jedoch nicht zu Wort kommen. Ich würde ihren
Roman Aves sin nido daher nur höchst eingeschränkt als indigenistisch bezeich-
nen, da er zweifellos den Weg für den indigenistischen Roman bereitete – aber
auch nicht mehr!
Die kurzen, knappen Szenen des Romans wirken wie kleine „Estampas“, wie
kleine Holzschnitte, eine bewährte, im Costumbrismo und auch später vielverwen-
dete Technik, wobei zwischen den einzelnen „Estampas“ geradezu Filmschnitte
liegen. Die laufenden Szenenwechsel unterbinden die breite Entwicklung einer
Szenerie und ermöglichen die Präsenthaltung parallel zueinander verlaufender Er-
zählstränge, welche nach und nach miteinander verwoben werden. Auf diese
Weise entsteht eine narrative Struktur, die man im peruanischen Literaturbereich
vielleicht mit einigem guten Willen als Vorläuferin der von Mario Vargas Llosa in
La casa verde verwendeten strukturellen Anlage verstehen könnte.
Die auf symbolischer Ebene grundlegende Differenz ist die zwischen den
Vögeln (etwa Lucía, die Taube, die beiden Töchter Yupanquis etc.) einerseits
938 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena

und den Schlangen wie etwa dem Pfarrer Pascual Vargas andererseits, der mit
einem „nido de sierpes lujuriosas“ verglichen wird, einem wollüstigen Schlan-
gennest, das von jeglicher Frauenstimme sofort erweckt und befeuert würde.
Der Pfarrer oder der Gobernador Pancorvo sind für die Bitten der Taube Lucía un-
zugänglich, die ein gutes Wort für die Indianer im Allgemeinen und für Marcela,
die Frau Juan Yupanquis, im Besonderen einlegen möchte. Lucías Taubenherz,
ihr „corazón de paloma“, kann hier nichts ausrichten: Für die Dorfpotentaten ist
die Limanerin eine „forastera“, eine Ausländerin, welche (wie die Romanauto-
rin selbst) die alten „costumbres“ der Region – und gemeint ist damit die Aus-
beutung letztlich kolonialen Typs – über den Haufen werfen und so die ererbte
patriarchalische Ordnung stören wolle. Sie solle einfach verschwinden – ganz
so, wie es später Clorinda Matto de Turner widerfuhr.
Die notablen Potentaten und ihre Anhänger werden sprachlich im Roman
als dumm und beschränkt abqualifiziert, da sie ständig Wörter wie „franca-
mente“ und „cabal“ wiederholen, wobei gerade letzteres Wörtchen nicht unin-
teressant ist, da es in José Mármols Amalia bereits Zeichen des Barbarischen
und Ungebildeten war.14 In jedem Falle ist diesen Sprechern klar, dass gegen-
über den Ausländern aus Lima die alten „costumbres“ von „mita“ und „re-
parto“ aufrechterhalten werden müssten. Erneut wird deutlich, dass an diesem
Punkt mit den „costumbres“ gerade auch das Überkommene, das dringend Ab-
zuschaffende und nicht etwa das nostalgisch zu Konservierende gemeint ist.
Zu ihnen gehört auch, dass die „Potentados“, die juristisch, kirchlich, öko-
nomisch und politisch alle Macht in ihren Händen konzentrieren, die kleine
vierjährige Tochter Rosalía mitnehmen, als ihr Vater nicht die geforderte Menge
Alpaka-Wolle auf den Tisch legen kann. Sie soll verschleppt und wie viele an-
dere dann nach Arequipa weiterverkauft werden; ein Menschenhandel reinsten
Stils, wie wir ihn oft nicht nur im 19. Jahrhundert vorfinden. Nicht umsonst
heißt es an anderer Stelle, dass oft in den „pueblos chicos“ eben „infiernos
grandes“ herrschten: Die weißen Notablen machen der indigenen Bevölkerung
das Leben wahrlich zur Hölle.
Dies gilt gerade auch für die indigenen Frauen, die einerseits auf Grund ihrer
ethnischen Zugehörigkeit, andererseits wegen ihres Geschlechts doppelt diskri-
miniert werden. Eine Hölle ist das Leben auch für die schöne Margarita, die sich
im Dorf verdingen muss und aufgrund ihrer Schönheit (die wenig später in ihrer
Exuberanz übrigens als Folge des Klimas gedeutet wird) dem Nachfolger des
zum Bischof avancierten Pfarrers ins Auge sticht. Fürwahr: die katholische Kir-
che kommt in Clorinda Matto de Turners Vögel ohne Nest nicht gut weg, zumal

14 Vgl. das Kapitel zu Mármol in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 659 ff.
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 939

auch der Mordplan an den Maríns im Hause des Pfarrers ausgeheckt und be-
schlossen wird! Fernando und Lucía haben freilich schon erkannt, wie gefährdet
Margarita im Dienste eines solchen Seelenhirten ist: Sie wollen für ihre Erziehung
aufkommen und sie aus den Fängen einer dem Missbrauch zugewandten und
bestenfalls alles vertuschenden Kirche befreien.
Der Erzählerdiskurs beschränkt sich keineswegs auf ein kleines Andendorf
namens Kíllac. Ein gutes halbes Jahrhundert nach der politischen Unabhängig-
keit, so stellt die Erzählerstimme fest, würde sich das Landesinnere immer wei-
ter von der Zivilisation entfernen. Dem Land Peru gingen immer mehr wichtige
Bereiche verloren. In diesen und vergleichbaren Passagen wird die Frage des
Nationalstaats als Staatsräson gestellt: Sie ist nicht hinterfragbar, sondern nur
mehr oder minder gut koordinierbar und durchsetzbar. Allerdings lassen sich
die Gesetze des Staates nicht mit der verschworenen Gemeinschaft von Geset-
zesbrechern, mit jener „trinidad aterradora“, mit jener grässlichen Dreifaltigkeit
von Pfarrer, Gobernador und Cobrador oder auch mit einem indianischen Kazi-
ken wie in Kíllac durchsetzen.
Denn diese Trinität der Macht steht für Kíllac, aber auch für viele andere
Städte und Dörfer in den peruanischen Anden, dies macht die Erzählerstimme
unmissverständlich klar. Kíllac ist folglich nur ein repräsentativer Fall und kei-
neswegs eine besonders schreckliche Ausnahme von der Regel. Die erwähnte
Dreifaltigkeit der Macht steht hier auf ähnliche Weise für die Barbarei, wie dies
in anderen romantischen Romanen Lateinamerikas der Fall ist – denken Sie an
José Mármols Amalia! Es erfolgt ein Angriff gegen das Haus der Zivilisierten,
die zwar überleben, aber mitansehen müssen, wie sie verteidigende Indianer
(unter ihnen die Yupanquis) im Kugelhagel sterben und die geschmackvolle In-
neneinrichtung ihres Hauses zertrümmert wird.
Auch in diesem Roman findet sich mithin erneut, diesmal in der andinen
Area, dieselbe Raumaufteilung wie bei Mármol: Das Intérieur ist Chiffre des Zivi-
lisierten, in welche die Horde der Barbaren eindringt und alles zerstört. Das Haus
wird – zumindest vorübergehend – zu einer Casa tomada im Sinne der Erzählung
Julio Cortázars.15 Nach diesem Angriff ist auch klar, dass die Maríns die Kinder
der Yupanquis, diese „palomas sin nido“, diese „Tauben ohne Nest“, bei sich
aufnehmen und erziehen werden. Diese Formulierung kehrt nochmals wieder,
als Marcela in den Armen Lucías an ihren Verwundungen stirbt und ihre Töchter

15 Vgl. hierzu den Ausklang des Beitrags von Ette, Ottmar: Existe-t-il une frontière entre dé-
mocratie et dictature? Hans Robert Jauss, Michel Houellebecq, Cécile Wajsbrot. In: Suter, Pat-
rick / Fournier-Kiss, Corinne (Hg.): Poétique des frontières. Une approche transversale des
littératures de langue française (XXe – XXIe siècles). Genf: Metis Presses 2021, S. 37–78.
940 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena

als „palomas sin nido, sin árbol y sin madre“ bezeichnet: Es gibt kein Nest, kei-
nen Baum und keine Mutter für diese verlorenen Menschlein!
Diese etwas redundante Wiederholung weist im Übrigen auf Konstruktions-
fehler, die sich in den szenischen Aufbau des Romans von Clorinda Matto de
Turner eingeschlichen haben. Immerhin hat Marcela auf dem Totenbett noch
Zeit, Lucía ein Geheimnis anzuvertrauen, das uns die auktoriale Erzählerfigur
zunächst nicht weitererzählen will. Es ist schlicht die Information, dass Margarita
nicht die Tochter Yupanquis ist, sondern dass der Pfarrer ihr einst Liebesdienste
abgepresst hatte, an denen die Mutter keinerlei Schuld trägt. Es handelt sich viel-
mehr um den massiven Missbrauch indigener Frauen, die eigentlich unter dem
besonderen Schutz der Katholischen Kirche und ihrer Vertreter stehen sollten.
Bemerkenswert ist, dass die gesamte nächtliche Szenerie nicht von der
auktorialen Erzählerfigur kommentiert, sondern von der ‚amante en titre‘ dar-
gestellt wird, der offiziellen Geliebten des Pfarrers, der diese losgeschickt hatte,
um Erkundigungen einzuziehen. Es handelt sich also um eine Erzählsituation
mit deutlich personalen Zügen, da auch das Berichtete Lücken aufweist, inso-
fern die junge Frau nicht unmittelbar dabei war, sondern ihre Informationen
selbst mühsam erfragen muss. Clorinda Matto de Turner bemühte sich offenkun-
dig, die neuen narrativen Entwicklungen in ihren Roman zu integrieren und
damit die allwissende Erzählerposition an einigen Stellen ihres Erzähltextes zu-
mindest zeitweise aufzugeben. Von einer grundlegenden erzähltechnischen Neue-
rung kann man mit Blick auf Aves sin nido freilich nicht sprechen: Die Gestaltung
des gesellschaftskritischen Inhalts ließ bei der peruanischen Schriftstellerin die
formalen Aspekte und Neuerungen in den Hintergrund treten.
Ein zusätzlicher Aspekt sei noch hervorgehoben: Frauen spielen in diesem
Roman der peruanischen Autorin wichtige, aber niemals entscheidende Rollen!
Lucía ist der gute Geist, der über Don Fernando schwebt. Die Frau des Goberna-
dor ist der Inbegriff der guten „Serrana“, aber sie ist nicht in der Lage, dem un-
moralischen Treiben ihres Mannes ein Ende zu bereiten. Marcela ist gewiss
aktiver als ihr Mann Juan, doch kann auch sie nicht wirklich die Initiative er-
greifen und die Geschicke der Familie lenken. Ihre beiden Töchter, die nestlo-
sen Tauben, sind letztlich nur Opfer der sie umgebenden Gesellschaft. Clorinda
Matto de Turner stellte eine patriarchalisch strukturierte peruanische Gesell-
schaft dar, in welcher die Frauen bestenfalls die ‚guten Geister‘ ihrer Männer
sein können, doch in deren Handeln nur selten einzugreifen vermögen.
Daher kann es nicht verwundern, wenn die aktiven, befreienden Kräfte
wiederum von Männern ausgehen, von denen ebenso die negativen Kräfte her-
rühren. Neben Don Fernando Marín ist dies vor allem der junge Manuel, ein
Student der Jurisprudenz im zweiten Jahr, der seine Überzeugungen in einer
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 941

wichtigen Passage fast sprachrohrartig (für die peruanische Autorin) auf den
Punkt bringt:

Dies ist der Kampf der peruanischen Jugend, welche sich in diesen Regionen in der Ver-
bannung befindet. Ich habe die Hoffnung, Don Fernando, dass die Zivilisation, welche
die Fahne des reinen Christentums schwingend verfolgt wird, sich bald schon manifes-
tiert und dabei das Glück der Familie und in logischer Konsequenz das Glück der Gesell-
schaft errichtet.16

In diesen etwas pathetischen Äußerungen des jungen Mannes werden die Stand-
punkte der peruanischen Jugend im Sinne der realen, textexternen Autorin for-
muliert und auf den Punkt gebracht. Es gibt auf dieser Ebene keine ethnischen,
sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen oder religiösen Differenzen: Der
junge Manuel spricht für die nationale Jugend Perus insgesamt. So steht auch
das Individuum für die Nation, die Familienstruktur für die angestrebte Gesell-
schaftsstruktur: Alles löst sich in harmonischen und zugleich homogenen Bezie-
hungen auf.
Spuren der Differenz sind freilich erhalten, weist doch allein schon die Formel
der Verbannung darauf hin, dass letztlich das Zentrum der hier angepriesenen Zi-
vilisation (der Zivilisation überhaupt) Lima ist. Eckpfeiler dieser Vorstellungen
sind ein reines Christentum, die Achtung und Wahrung der Familie und all jener
Werte, für welche die abendländische Kultur stets angerufen wird – im Grunde
nichts also, wofür man die Autorin hätte verfolgen und exkommunizieren müssen.
Es sei denn, man betrachtete sich beispielsweise von Seiten der Katholischen Kir-
che, die im Roman in ihren massiven Missbrauchspraktiken unter Feuer genom-
men wird – und nicht als Vertretung eines reinen Christentums.
An derartigen Schlüsselstellen ist zum einen wieder die uns hinlänglich be-
kannte Strukturanlage präsent, welche die Familie und die Geschlechterbeziehun-
gen zum Nukleus der Gesamtgesellschaft erklärt und somit die Funktionsweise
einer nationalen Allegorese begründet.17 Auf einer zweiten Ebene, jener der unter-
schiedlichen kulturellen Pole, die in Lateinamerika von entscheidender Bedeu-
tung sind, gilt es festzuhalten, dass der abendländischen Kultur letztlich auch die
indigenen Bevölkerungssegmente einzugliedern sind, wenn wir den Vorstellungen
folgen, welche der Roman entwickelt. In der frühindigenistischen Position Clor-
inda Matto de Turners scheinen hier ideologische Elemente auf, die sehr wohl aus
der indianistischen Tradition stammen und die kulturelle Vielpoligkeit im ent-

16 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido, S. 91.


17 Vgl. hierzu Sommer, Doris: Foundational Fictions. The National Romances of Latin America.
Berkeley: University of California Press 1991.
942 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena

scheidenden Augenblick wieder auf die Zentrierung an der abendländischen Kul-


tur zurückschrauben.
Gleichzeitig ist klar, dass die in Aves sin nido eingenommene Perspektive
nicht die der Indigenen ist, die ihre eigene Kultur repräsentieren und in Wert
setzen, sondern dass sie stets abendländisch geprägte Außensicht bleibt, in der
die indianische Kultur bestenfalls als das Andere erscheint, das sich früher
oder später assimilieren wird. Zugleich aber wird deutlich, warum es sich bei
diesem Roman, der sich nach Aussage des „Proemio“ in der Wiege der peruani-
schen Literatur ansiedelt, wieder um ein nationalitätsschaffendes literarisches
Dokument handelt, dessen Wirkkraft darauf beruht, dass Entwicklungen und
Liebesgeschichten zwischen den Individuen (auch hier im Sinne des „mestizaje“
mit der „belleza peruana“ Margaritas) metonymisch auf die kollektive, die natio-
nale Ebene verschoben werden können und zugleich in diesem Prozess der Ver-
schiebung andere kulturelle und politische Alternativen verdrängt werden.
Verschiebung, Verdrängung und Verdichtung: Diese drei zentralen, von
Sigmund Freud ein Jahrzehnt später in seiner Traumarbeit herausgearbeiteten
psychischen Bewegungen kommen zusammen, wenn nationenbildende Liebes-
geschichten als Allegoresen ins Werk gesetzt werden. Die Verdichtung auf einfa-
che Personenkonstellationen, die Verschiebung vom Individuellen ins Kollektive
und die Verdrängung anderer kultureller Pole und Alternativen prägen diesen
Roman der peruanischen Schriftstellerin, deren Identitätsentwurf in der absolu-
ten Sperre des Inzesttabus aber einmal mehr in Lateinamerika zum Scheitern ver-
urteilt ist. Nicht umsonst wird die Vorkämpferin für die Frauenrechte ihre Tage
außerhalb der peruanischen Nation beenden müssen.
Die Ereignisse, die uns der zweite Teil des Romans von 1889 präsentiert, müs-
sen an dieser Stelle unserer Vorlesung nicht detailliert wiedergegeben werden. Die
mehr oder minder subtil gestaltete Problematik des Inzesttabus, das wiederum an-
hand einer sakralisierten, jungfräulichen Mutterfigur (nämlich Lucía) entfaltet
wird, die sich zwischen Manuel und Margarita schiebt, spielt zwar für den Roman-
ablauf eine wichtige Rolle, ist aber außerhalb der narrativen auf der diskursiven
Ebene des Romans von untergeordneter Bedeutung. Da war die Übertretung
des Inzesttabus in zahlreichen Romanen der Romantik und des Kostumbrismus
wie etwa in Cecilia Valdés von Cirilo Villaverde doch um einiges spannender
und libidinös gewürzter.18 In den Aves sin nido kommt es nur zu einem ersten
Kuss: nichts, was einen Immoralismus-Prozess gegen die Autorin hätte lostreten
müssen. Auf dieser Ebene wird der ganze Unterschied zur erotischen Gestaltung

18 Vgl. zu Cirilo Villaverde das entsprechende Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei
Welten, S. 695 ff.
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 943

eines „Fait divers“ in Gustave Flauberts Madame Bovary erkennbar. Keineswegs


belanglos ist in unserem Zusammenhang übrigens die Tatsache, dass sich Ma-
nuel und Margarita justament in jenem Augenblick ineinander verlieben, als sie
am Totenbett der Mutter Margaritas stehen: Denn Eros und Thanatos werden wie
so häufig in Literatur und Kuns aneinander gekoppelt, diesmal aber über den
Körper der toten Mutter, also sozusagen über ihre Leiche.19
Der erste Teil des Romans endet plakativ mit einer Sentenz: „Amar es
vivir“ – Lieben heißt also leben! Das Problem dabei ist wie in vielen Aspekten
der Liebe nur, dass dies der zweite Teil von Aves sin nido nicht einlösen kann.
Daher sind Liebe wie Leben am Ende des Romans für die zunächst noch seligen
Verliebten schnell verpfuscht: Sie bilden keine Familie, erreichen damit nicht
die soziale, die nationenbildende Ebene, deren Kern sie hätten bilden können.
Die nationale Allegorese der Liebesbeziehung scheitert so, wie sich die Träume
von einer Gleichberechtigung von Frau und Mann bei Clorinda Matto de Turner
verflüchtigten.
Denn gänzlich umsonst hatte Margarita in einer schönen Familienszene
gleich zu Anfang des zweiten Teils von Aves sin nido alle Buchstaben des Al-
phabets gelernt und war damit der gesellschaftlichen Bildungsblockade für das
weibliche Geschlecht entgangen. Doch ist dieser Erfolg nur ein scheinbarer:
Denn ihren eigenen Kindern wird sie diese Buchstaben nie beibringen können.
Und auch Manuel bleibt letztlich nur die Außensicht, wenn er jenen „cuadro de
familia“, jenes Familiengemälde betrachtet, das er selbst mit jenem Engel
an Mädchen zusammen niemals in die eigene Lebenspraxis umsetzen können
wird. Clorinda Matto de Turner hätte entgegen ihres eigenen Lebenswissens die
Gesamtstruktur des Romans zu einer Idylle werden lassen müssen, um diese
utopischen Hoffnungen der jungen Liebenden in die fiktionale Wirklichkeit des
Romans umzusetzen.
Ähnlich wie eine andere Priesterfigur in José Mármols Amalia, die aufgrund
ihrer schuldhaften Verstrickung in die Barbarei der Rosas-Diktatur laut Erzäh-
lerdiskurs zu delirieren begann, fällt der Cura Pascual auch am Ende des ersten
Teils von Aves sin nido in einen Fieberwahn, dem er schließlich auch erliegen
wird. Er findet so seine gerechte Strafe, was laut Erzählerdiskurs in Matto de
Turners Roman aber bedauert wird, hätte man ihn doch gerne noch länger
leben gesehen, um an seiner Person weitere Negativmuster darstellen zu kön-
nen. Doch so sei nun einmal das Leben: nicht an den Bedürfnissen des Romans

19 Vgl. hierzu die Ausführungen in ebda., passim; sowie in Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre
Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1994; sowie
dies. (Hg.): Die schöne Leiche. Weibliche Todesbilder in der Moderne. Wien: Goldmann 1992.
944 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena

ausgerichtet! Dies ist wirklich eine recht intelligente und originelle Wendung,
um gerade den Wirklichkeit abbildenden Charakter der romanesken Fiktion zu
unterstreichen und die Differenz zwischen Fiktion und außersprachlicher Reali-
tät zu betonen.
Die literarische Darstellung des Todes des unglückseligen Priesters wird
versöhnlich, allem Schlangengezische zum Trotz, könne man ihm schließlich
doch nur ein requiescat in pace nachrufen. Dies fällt umso leichter, als auch die
anderen Mitglieder der schrecklichen Dreifaltigkeit nach einer politischen Wen-
dung zum Guten in Lima 1885 aus der Macht gedrängt werden – eine klare An-
spielung auf die Präsidentschaft von General Cáceres, dessen Parteigängerin
Clorinda Matto de Turner war und dessen Politik sie auch in einer als propagan-
distisch zu nennenden Zeitschrift vertrat. Von Lima ausgehend also wird die Situ-
ation im andinen Hochland verändert und verbessert: ein deutliches Plädoyer für
eine nationale, zentralisierte peruanische Politik.
Kein Wunder also, dass die Maríns mit allen guten Figuren des Romans nun
nach Lima aufbrechen, um wieder den Boden der Zivilisation und den Hort des
Fortschritts zu erreichen. Selbst eine Reise Lucías und Fernandos nicht nach
Paris oder London, sondern nach Madrid ist geplant, während die armen ‚Vögel
ohne Nest‘ im allerbesten Colegio zu wunderbaren Müttern und Ehefrauen aus-
gebildet werden sollen. Somit ist nach dem politischen Umschwung alles prima
in Lima: Der Nationalstaat zieht die Zügel an und bringt Ordnung in die andinen
Gebirgsregionen, die nun von den hauptsächlichen Protagonisten des Romans
verlassen werden können!
Wir stoßen an dieser Stelle zugleich auf die nationalstaatlich gezogenen
Grenzen des Indigenismus der Clorinda Matto de Turner. Sicherlich: Selbst ein
Mario Vargas Llosa wird hundert Jahre Einsamkeit später letztlich keine ande-
ren Vorstellungen auf der politischen Ebene entwickeln als eben jenen Ver-
such, die Bevölkerung der andinen Bergregionen – so als wären es spanische
Bauern – in die spanischsprachige und einzig seligmachende Zivilisation einzu-
beziehen! Der peruanische „Indigenismo“ wird freilich in der Folge andere, radi-
kalere Lösungsansätze vorschlagen und literarisch vorführen, was wir in einer
der nächsten Vorlesungen am Beispiel José Carlos Mariáteguis erkunden wer-
den. Clorinda Matto de Turner war hierfür eine Wegbereiterin, keineswegs aber
eine Verfechterin derartiger Ideen, wie sie später von Mariátegui oder José
María Arguedas vorgetragen und entfaltet wurden.
Bleibt die Frage der Rolle der Frau in der künftigen Gesellschaft Perus. Wir
hatten gesehen, dass Clorinda Matto de Turner durch ihre vielfältigen Aktivitä-
ten für die Frauenbildung ein breites Terrain zu erobern gesucht hatte. Was fin-
det sich hiervon im Roman? Erstaunlicherweise keineswegs Positionen, die
über eine grundsätzlich passive Frauenrolle hinausgingen. Die weibliche Licht-
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 945

gestalt dieser Seiten der peruanischen Schriftstellerin ist – omen est nomen –
die schöne Lucía, die ihrem Manne Don Fernando die ideale (da nicht zuletzt
ungleiche) Partnerin ist. Dies möge die folgende Passage belegen:

Lucía wurde geboren und wuchs auf in einer christlichen Heimstätte, als sie die weiße
Tunika der Braut anlegte, für sich das neue Heim mit den Freuden akzeptierte, welche ihr
die Zärtlichkeit ihres Ehemannes und die Kinder gaben, wobei sie diesem die Geschäfte
und die Turbulenzen des Lebens überließ, von jener großen Sentenz der spanischen
Schriftstellerin hingerissen, welche in ihrer Kindheit, am Rockzipfel ihrer Mutter sitzend,
mehr als einmal las: „Vergesst, Ihr arme Frauen, Eure Träume von Emanzipation und Frei-
heit. Dies sind Theorien kranker Hirne, welche niemals in die Praxis umgesetzt werden kön-
nen, weil die Frau dazu geboren wurde, um dem Hause poetischen Charme zu schenken.“
Lucía war zum Magisterium der Mutterschaft aufgerufen, und Margarita war die
erste Schülerin, an der sie die Weitergabe der häuslichen Tugenden erprobte.20

Es wäre sicherlich etwas übereilt und zu simpel, diese Position mit derjenigen
Clorinda Mattos gleichzusetzen, wie dies etwa Müller tut.21 Doch vermittelt uns
der Roman keine alternativen Frauenbilder, welche den kranken Geist einer fal-
schen Emanzipation Lügen gestraft hätten. Die Frauenbilder im Roman Aves sin
nido sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache: Die Frauen sind Vögel,
die – psychoanalytisch nicht uninteressant – ihr Nest in einem starken Baum
finden müssen, um sich dann den geschaffenen Innenräumen zuzuwenden. In
logischer Konsequenz wäre dann auch – verschöbe man metonymisch die indi-
viduelle hin zur kollektiven Ebene – die Aufgabe der Schriftstellerin jene, das
Innere des nationalen Hauses zu poetisieren.
Die Geburt bestimmt das Schicksal eines Geschlechts: Frauen sind dazu ge-
boren, die Schönheiten des Hauses zu vergrößern. Dies war jedoch eine Rolle,
mit der sich Clorinda Matto de Turner in ihrem eigenen Frauenleben niemals
zufrieden gab. Sie kämpfte ebenso auf individueller wie vor allem auf kollekti-
ver Ebene um eine andere Selbstbestimmung ihres Geschlechts und für jene
emanzipierte Freiheit, die sie selbst auch vorlebte. Genau deshalb wurde sie
von den konservativen, katholischen, patriarchalischen Kräften aus diesem
Haus der peruanischen Nation hinausgeworfen. An den in ihrem Roman ent-
worfenen Frauenbildern hatte dies sicherlich nicht gelegen, verwehrte sie ihren
fiktiven Frauengestalten doch die emanzipierte freiheitliche Lebensgestaltung,
wohl aber an ihrer eigenen Lebenspraxis, die innerhalb der patriarchalisch und
katholisch strukturierten politischen Welt Limas offenkundig als gefährlich

20 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido, S. 181.


21 Vgl. Müller, Hans-Joachim: Clorinda Matto de Turner: „Aves sin nido“, S. 78–91.
946 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena

empfunden wurde. In Ihrem Exilland Argentinien konnte sie ihre emanzipatori-


schen Absichten hingegen weitaus stärker verwirklichen.
Mag sein, dass es Clorinda Matto de Turner in Aves sin nido wesentlich mehr
um eine Umgestaltung der indigenen Ungleichheit ging als um jene der Bezie-
hungen zwischen Frau und Mann. Die indigenen Abhängigkeiten waren für sie
vor dem Hintergrund ihrer eigenen Lebenserfahrungen, im Zusammenhang ihres
eigenen Lebenswissen entscheidend für ihre in den Anden angesiedelte Fiktion:
Sie priorisierte diese ethnosoziale Frage gegenüber jener Emanzipation der
Frauen, welche ihr sicherlich im selben Maße am Herzen lag. Doch lassen Sie
mich abschließend zu einem wahren Symbol der Moderne und der sozioöko-
nomischen Modernisierung kommen, die nun auch die Andenregionen erreichte!
Denn längst hatte die dritte Phase beschleunigter Globalisierung mit ihren funda-
mentalen Veränderungen eingesetzt; eine Phase, welche weltweit die Lebenskon-
texte großer Mehrheiten der Bevölkerung – gerade auch in den Amerikas –
grundlegend veränderte.
Begleiten wir die Maríns und ihre Gruppe auf ihrer Fahrt mit der Eisenbahn
nach Lima! Auf diese Fahrt haben sie wegen eventueller Schwindelgefühle und
Unwohlseins Coca in flüssiger Form mitgenommen, ansonsten aber vor allem Bü-
cher, denn eine Zugfahrt ohne Bücher sei eine Folter, ein „tormento“. Doch so ein-
fach ist das mit der Modernisierung nicht, wie sich auch an diesem britischen Zug
mit einem britischen oder US-amerikanischen Lokführer zeigt! Gestatten Sie mir
eine kleine Anmerkung, einen kleinen Seitenverweis am Rande: Die Modernisie-
rung auf Kuba war in Cirilo Villaverdes Cecilia Valdés durch die US-amerikanische
Dampfmaschine nebst US-amerikanischem Maschinisten repräsentiert worden –
Wie die Bilder sich gleichen und nur die jeweiligen industriellen Bezugspartner
der abhängigen Wirtschaftssysteme wechseln! Die Literaturen der Welt bezeugen
die Beschleunigungen dieser dritten Phase akzelerierter Globalisierung geradezu
seismographisch und vermitteln uns ein klares Bild dessen, wie diese Globalisie-
rungsphasen von unterschiedlichen Bevölkerungsschichten erlebt, ja durcherlebt
worden sind.
Wie geht nun eine solche Zugreise in den Anden vonstatten? Bei der Abfahrt
des Zuges verkaufen überall Indianerinnen aus der „Sierra del Perú“ Lebensmit-
tel, aber auch verschiedene Produkte der Handwerkskunst, der „Artesanía“. Im
Zug wird dann die mitgebrachte Lektüre verteilt, unter anderem auch die Tradi-
ciones peruanas von Palma, die sich Don Fernando für die Fahrt vornehmen wird
und die einen wichtigen intertextuellen Bezug für die kostumbristischen Szenen
der Clorinda Matto de Turner darstellten: Hier wird also peruanische Literatur ge-
lesen und zugleich als Lektüre auch in Szene gesetzt.
Noch ist der Zug nicht abgefahren; dann aber wird die „rapidez vertigi-
nosa“, die schwindelerregende Geschwindigkeit des Zuges gesteigert auf fünf-
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 947

zehn Meilen pro Stunde – und dabei auch noch zu lesen wie bei Oliverio Gi-
rondo inmitten urbaner Landschaften: Das die Moderne! Aber wie es so geht mit
ihr: keine Modernisierung ohne Unfall! … In unserem peruanischen Roman pas-
siert dies, weil auf der Brücke unbeaufsichtigt einige Kühe stehen.
Es kommt, wie es kommen muss: Mit der „destructora velocidad del rayo“,
also mit der Blitzgeschwindigkeit des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts,
rast der Zug auf dieses Hindernis zu und erfasst eine zuguntüchtige Kuh. Glück-
licherweise geht alles noch glimpflich ab, was also für die importierte Technik
und die importierte Modernisierung spricht: Die Zuginsassen kommen, anders
als die betroffenen Länder, mit leichten Schrammen und Blessuren davon. Der
Zug fährt bald schon weiter, als ob es keinen Unfall gegeben hätte: So leicht
lässt sich die Moderne nicht aufhalten!
Bei der Ankunft in der Stadt steht schon eine große Menschenmenge am
Bahnhof, die bereits vom Telegraphen über das drohende Unglück informiert wor-
den ist: Eisenbahn und Telegraph, die Embleme der Modernisierung, leiten über
zum Leben in der Hauptstadt Lima. Selbstverständlich steigen Don Fernando und
seine Familie im Hotel Imperial ab, das natürlich einem Franzosen gehört, einem
Monsieur Petit. So ist das halt mit der Moderne an der Peripherie: Sie ist nicht
hausgemacht, sondern wird von Ausländern und von ausländischen Mächten zu-
bereitet – Briten, US-Amerikaner und Franzosen steuern diesen Prozess.
Diese Szenerie ist ein wahres Fraktal22 der abhängigen und peripheren Mo-
dernisierung Perus im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts und Zei-
chen jenes Hurrikans, welcher die dritte Phase beschleunigter Globalisierung
gerade für die Länder Lateinamerikas darstellte. In diesem Fraktal lassen sich
wie in einem „Modèle réduit“, wie unter einem Brennglas, alle Dimensionen
und Aspekte gesellschaftlicher wie ethnischer Ungleichheiten erkennen, wel-
che die andinen Gesellschaften in dieser Area während der dritten Phase be-
schleunigter Globalisierung prägten.
Im Rahmen dieser Beschleunigungsphase aber wurden zugleich die tradier-
ten Gesellschaftsmuster und die überkommenen Herrschaftsmodelle – in Gestalt
der unheiligen Trinität der Macht in Clorinda Mattos Aves sin nido – brüchig. Die
peruanische Schriftstellerin hat in ihrem Leben wie in ihren literarischen Werken
die Geburt als Frau, aber auch die Geburt indigener Menschen in die noch von
traditionellen Mustern beherrschten Gesellschaftsordnungen in den andinen Ge-
birgsregionen wie in der Stadt in den Fokus gerückt. Sie hat gezeigt, wie diese

22 Vgl. zur fraktalen Dimension literarischer Texte im Kontext der Entstehung der Literaturen
der Welt Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler
Verlag 2017.
948 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena

Geburt – ganz im Sinne von Flauberts Emma Bovary – das Leben einer Frau de-
terminiert und auch der indigenen Bevölkerung nur geringe Chancen zur Partizi-
pation in einer solchermaßen hierarchisierten Gesellschaft lässt.
Dass das Hineingeborenwerden als Frau und als „Indígena“ in derart tradi-
tionalistische Gesellschaftsstrukturen das Leben insbesondere für die indige-
nen Frauen vorbestimmt, zeigte sie ebenso auf wie die Notwendigkeit, gegen
derlei Ungerechtigkeiten anzukämpfen. Ihre gesellschaftlichen Zielvorstellun-
gen waren dabei alles andere als revolutionär. Doch in diesem Kampf ließ Clor-
inda Matto de Turner als Schriftstellerin, als Journalistin und als Frau niemals
nach und gab dafür auch ihre Heimat wie ihr nicht unbeträchtliches Vermögen
auf. Dass dieser Kampf noch weit davon entfernt ist, mit Blick auf die Gleich-
stellung von Frauen oder in Hinblick auf die Gleichstellung indigener Völker
und Gruppen ausgefochten zu sein, haben wir in unseren Vorlesungen sehr
deutlich an einer Vielzahl von Beispielen aus den Literaturen der Welt gesehen.
Begeben wir uns nun wieder nach Europa, um die dortigen Entwicklungen und
sich verändernden Rollenbilder der Geschlechter im Kontext von Geburt und
Sterben, von Leben und Tod zu analysieren!

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