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1 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, insb. S. 425 ff., S. 493 ff., S. 519 ff.,
S. 1038 ff.
Open Access. © 2022 Ottmar Ette, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter
einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
https://doi.org/10.1515/9783110751321-029
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 925
Clorinda musste ihre gute Ausbildung freilich schon mit zehn Jahren abbre-
chen, als ihre Mutter starb und sich das Mädchen – der Frauenrolle entspre-
chend – um die jüngeren Geschwister zu kümmern hatte. Ebenso wenig erfüllte
der Vater Clorindas Bitten, in den USA Medizin studieren zu dürfen. Doch bald
schon heiratete sie durchaus standesbewusst: Denn ihren zweiten Nachnamen
verdankte die junge Peruanerin dem Engländer Turner, der über ausgedehnten
landwirtschaftlichen Großgrundbesitz verfügte und mit dem sie sich bereits
1871 verband. Mit ihrem Mann zog sie in das Andendorf Tinta.
An der Seite ihres Mannes lernte Clorinda Matto de Turner hoch zu Ross
einen guten Teil Perus kennen – Erfahrungen, die auch in ihren sicherlich be-
kanntesten Roman Aves sin nido Eingang fanden. Zugleich trat sie schon früh
durch die Veröffentlichung ihrer Tradiciones cuzqueñas in Limas wichtigster Ta-
geszeitung Correo del Perú hervor, wo sie kostumbristische literarische Texte pu-
blizierte, die den Tradiciones des Ricardo Palma nahestanden. 1876 gab sie die
Zweiwochenzeitschrift El Recreo heraus, in der wichtige peruanische Schriftstel-
ler wie Palma oder Fernánd Caballero, vor allem aber auch Schriftstellerinnen
wie die Romanautorin Juana Manuela Gorriti publizierten. Ein Jahr später freilich
926 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
musste sie aus gesundheitlichen Gründen die Arbeit an diesem Periodikum wie-
der aufgeben und nach Arequipa umziehen.
Nach zehn Jahren glücklicher, aber kinderloser Ehe starb 1881 ihr Mann.
Ihre Geschäftstüchtigkeit konnte die junge Frau erst nach seinem Tod unter Be-
weis stellen, da sie nicht als Ehefrau, wohl aber als Witwe nach peruanischem
Gesetz geschäftsfähig war und nun sowohl das Unternehmen ihres Mannes sa-
nieren als auch die umfangreichen, zum Teil elterlich ererbten Besitzungen ver-
walten musste. Es sind für Peru bittere Jahre, da das Land ab 1879 an der Seite
Boliviens in den Salpeter- und Guanokrieg gegen Chile verwickelt wurde, der
trotz aller anfänglichen Euphorie zu einer militärischen Niederlage, der Beset-
zung Limas durch chilenische Truppen 1881 und schließlich zum Friedensvertrag
von 1883 führte. Dieser Friede sollte dem Land erhebliche und empfindliche terri-
toriale Verluste einbringen. Etwas mehr als ein halbes Jahrhundert nach Erlan-
gung seiner politischen Unabhängigkeit im Jahr 1824 war Peru in die wohl tiefste
Krise seiner Geschichte geraten.
Auch für Clorinda Matto de Turner sind es schwierige Jahre, verliert sie
doch auf Grund des Einflusses korrupter Richter und Rechtsanwälte einen be-
trächtlichen Teil ihres Vermögens. Zwischen 1884 und 1885 ist sie Chefredak-
teurin der Zeitung La Bolsa von Arequipa, wo auch ihre Schrift Elementos de
Literatura según el Reglamento de Instrucción para Uso del Bello Sexo erschien,
in der sie bildungspolitische Verbesserungen für die Frauen einforderte. 1886
geht sie nach Lima: Die peruanische Hauptstadt bietet Clorinda sowohl journa-
listisch wie literarisch bessere Möglichkeiten. Es gelang ihr, eine wichtige Rolle
innerhalb der peruanischen Literaturgesellschaft zu spielen, da sie seit 1887
einen literarischen Salon leitete, in welchem ebenso männliche wie weibliche
Talente ihre Schöpfungen vorstellen konnten. Diese Rolle als Literaturvermittle-
rin beruhte vor allem auf ihrer Tätigkeit in und Herausgabe von literarischen
Periodika, zu denen nach der Mitarbeit in Zeitschriften in Cuzco und später
auch bei La Bolsa in Arequipa nun in Lima unter anderem La Revista social und
El Perú Ilustrado zählten. Stets versuchte sie dabei, Frauen eine Chance zu
geben, eigene literarische Texte zu veröffentlichen.
Darüber hinaus gelang es Clorinda Matto de Turner ebenso, diese publizis-
tisch wichtige Funktion sowohl auf der politischen als auch auf der literari-
schen Ebene weiter zu stärken und unterdrückten Bevölkerungsgruppen in
Peru – etwa der indigenen Bevölkerung im andinen Hochland, aber auch den
Frauen im gesamten Land – Hilfe zukommen zu lassen. Gegen all diese Aktivi-
täten regt sich bald Widerstand: Als sie 1889 fast gleichzeitig Chefredakteurin
von El Perú Ilustrado wird und ihr Roman Aves sin nido erscheint, beschließen
ihre Feinde, massiv gegen die Autorin und Journalistin vorzugehen. Ein aufge-
brachter Pöbel greift ihr Haus an, vom Klerus fanatisierte Frauen gehen in Are-
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quipa und Cuzco auf die Straße, ihre Bücher werden auf den Index gesetzt und
im Oktober 1890 in Cuzco öffentlich verbrannt. Wenig später wurde sie vom
Erzbischof von Lima exkommuniziert, die Lektüre ihrer Bücher verboten. Zeit
also, um aufzugeben?
Nicht eine Clorinda Matto de Turner! Als sie trotzig zusammen mit ihrem
Bruder in Lima 1892 die Druckerei La equitativa gründet, in welcher nur Frauen
beschäftigt werden, reagieren ihre Feinde mit immer stärkeren Gegenmaßnah-
men. Seit sie exkommuniziert worden war, wurde ihre Situation in Lima immer
bedrohlicher. 1895 schließlich werden ihr Haus und ihre Druckerei geplündert;
am 25. April 1895 muss die Schriftstellerin Lima verlassen und ins Exil nach
Buenos Aires flüchten, wo sie als Lehrerin an einer Lehrerinnenschule und in
Frauenorganisationen aktiv wird. Als erste Frau wird sie in das Ateneo de Buenos
Aires aufgenommen; eine Auszeichnung, die sich vor der literarischen Autorin
verneigt. In ihren späten Jahren unternimmt sie Reisen nach Spanien, Frank-
reich, Italien, Deutschland und England, wo sie der Frauenfrage eine internatio-
nale Dimension zu geben versucht. Bis zu ihrem Tod im argentinischen Exil
sollte sie der Sache der Frauen treu bleiben und für Frauenrechte kämpfen.
Literatur und Leben der peruanischen Autorin, die von ihrem peruanischen
Landsmann Mario Vargas Llosa einmal unpassenderweise als Matrone bezeich-
net worden ist, stehen im Zeichen sozialen und politischen Engagements. Die
Schriftstellerin kann aus diesem Blickwinkel – wie zu zeigen sein wird – in vie-
lerlei Hinsicht als eine literarische Figur des Übergangs gesehen werden. Weit-
aus mehr als Gertrudis Gómez de Avellaneda hat sich Clorinda Matto de Turner
für die Belange der Frauen eingesetzt, so dass man sie mit guten Gründen als
Vorläuferin feministischer Positionen in Hispanoamerika ansprechen darf.
Auch auf Ebene einer literarischen Beschäftigung mit indigenen Gruppen
darf Clorinda Matto de Turner für sich aus literarhistorischer Perspektive in An-
spruch nehmen, den Bannkreis indianistischen Schreibens und einer indianisti-
schen Beschäftigung mit der autochthonen Bevölkerung Amerikas durchbrochen
und einer indigenistischen, für die Belange der im Lande lebenden Indianer
kämpfenden Literatur den Weg geebnet zu haben. Dieses Engagement geht auf
ihre frühen Kindheitsjahre und ihre große Vertrautheit mit indigenen Kulturen,
aber auch auf ihre Sprachkenntnisse des Quechua zurück. Es sind vor allem
diese beiden Aspekte, die uns in der Folge interessieren sollen: ihr Kampf für die
Rechte der Frauen und ihr Kampf für die Rechte der indigenen Bevölkerung.
Vor diesem Hintergrund ist es keineswegs eine Überraschung, dass ihr si-
cherlich wirkungshistorisch wichtigster Roman Aves sin nido, der 1889 erstmals
erschien, von Anfang an auf ein breites Leserinteresse stieß und bis heute immer
wieder neu aufgelegt wird, auf die Entwicklung der sozialen Literatur in Peru in
ungewöhnlichem Maße Einfluss nahm. Ihre Exkommunikation, die zahlreichen
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Verbote, die Zensur wie die öffentliche Bücherverbrennung weisen auch in ihrem
Fall auf die zumindest für möglich gehaltene gesellschaftliche Spreng- und
Durchschlagskraft ihres Werkes und dienen – allgemeiner formuliert – als Seis-
mographen für das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Ge-
sellschaft diskutierbar und mehr noch grundlegend veränderbar ist. Wir hatten
dies am Beispiel des Immoralismus-Prozesses rund um Flauberts Madame Bovary
bereits beobachtet und zugleich gesehen, in welchem Maße derartige Verbote
das Interesse der Leserschaft zusätzlich erhöhen. So haben weder die Zensur
noch die zahlreichen Verbote und Angriffe den Erfolg von Clorinda Matto de Tur-
ners Roman verhindern können. Aves sin nido ist ein Klassiker der sozialen Lite-
ratur Lateinamerikas geworden; eine Funktion, die wir erst verstehen können,
sobald wir diesen Roman zumindest in Teilen detailliert untersucht haben.
In diesem Text aus dem Jahr 1889 spielt – wie häufig in den Romanen der
Romantik und des 19. Jahrhunderts – der Inzest, spielt das Inzesttabu eine
wichtige, strukturierende Rolle. Dies hatten wir bereits bei Chateaubriands
Atala, aber auch bei ungezählten späteren Romanen der Romantik zwischen
zwei Welten gesehen.2 Dabei ist allerdings dieses durchgängige Element ro-
mantischen Schreibens an eine präzise gesellschaftliche Funktion rückgebun-
den und mit einer Anklage gegen die Katholische Kirche verbunden. Denn es
kommt erst zur unglücklichen Situation jener Vögel ohne Nest, wie wir den Titel
übersetzen könnten, weil die Unmenschlichkeit des Zölibats (das die Autorin
schon in ihrem Vorwort anklagt) dogmatisch eine tragische Situation heraufbe-
schwören konnte. Sie führte dazu, dass Geliebter und Geliebte, aus unter-
schiedlichen Familien stammend, uneheliche Geschwister, da Kinder ein und
desselben Mannes sind: des früheren Priesters von Kíllac und späteren Bi-
schofs. Kein Wunder also, wenn der Erzbischof von Lima gegen ein solches
Werk, zumal aus der Feder einer Frau stammend, mit all seiner Macht vorging
und die peruanische Schriftstellerin exkommunizierte!
Die Tatsache, dass das Inzestmotiv zugleich mit einer denunziatorischen
Anklage verbunden ist und damit eine stark gesellschaftskritische Spitze erhält,
zeigt bereits eine Grundstruktur des Romans auf. Gleich im ersten Satz ihres
kurzen, auf 1889 datierten Proemio äußert sich die Autorin zur gesellschaftli-
chen Bedeutung ihres Textes beziehungsweise zur Verbindung zwischen Litera-
tur und Gesellschaft, die in Aves sin nido zum Ausdruck komme:
Wenn die Geschichte jener Spiegel ist, in welchem die künftigen Generationen das Bildnis
früherer Generationen betrachten sollen, dann muss der Roman die Photographie sein,
2 Vgl. hierzu den vierten Band der Reihe „Aula“ in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Wel-
ten (2021), passim.
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welche die Laster und die Tugenden eines Volkes mit der nachfolgenden Moral als Kor-
rektiv für jene und als ehrende Bewunderung für diese stereotypiert.
Daher ist die Wichtigkeit des kostumbristischen Romans so groß, da er auf seinen
Blättern viele Male das Geheimnis der Reform einiger Typen, wenn nicht deren schlichte
Auslöschung enthält.3
Wieder tritt ein Spiegel in Aktion. Doch diesmal betrachtet sich darin nicht eine
Frau, die wie Emma Bovary Auskunft über ihr eigenes Leben erhalten möchte,
sondern eine ganze Generation, die aus der Zukunft auf die jetzige Gegenwart
blicken und wissen möchte, wie diese Gesellschaft einstens war und von wel-
chen Typen sie geprägt wurde. Wider bietet der Spiegel Erkenntnis; und auch
diesmal geht es nicht nur um die Vergangenheit, die darin zu sehen ist, son-
dern vor allem um die Zukunft. Denn die Literatur und speziell der Roman hat
für Clorinda Matto de Turner eine prospektive Aufgabe und die Bedeutung, als
Korrektiv mit Blick auf das Kommende zu wirken, Fehler zu erkennen, zu korri-
gieren oder vollständig auszumerzen.
Damit ist die gesellschaftliche Wirkkraft des Romans aufgerufen. Schon die
ersten Sätze dieses Vorworts weisen auf die Verbindung zwischen Erzähltext
und Geschichte. Sie beschwören die Spiegelmetaphorik, die seit Stendhal für
den Roman des 19. Jahrhunderts zu einer durchgängigen Legitimationsebene
und Authentizitätsbegründung wurde: der Roman als Spiegel der Gesellschaft.
Clorinda Matto de Turner ‚modernisiert‘ diese Metaphorik dabei insoweit, als
sie zum einen die Schreibmetaphorik durch die Stereotypie beschleunigt. Zum
anderen betont sie im Roman die mimetische Wirkungsweise der Photographie,
womit sie auf ein modernisiertes Medium mechanischer Reproduktion und
Wirklichkeitsdarstellung verweist. Sie tat dies in ähnlicher Weise wie die natu-
ralistischen Romanciers Frankreichs, allen voran Emile Zola, den die Peruane-
rin selbstverständlich gelesen hatte und dessen Vorstellungen sie auf den
Andenraum projizierte beziehungsweise für die lateinamerikanische Hemi-
sphäre umschrieb.
Diese Tatsache erscheint als besonders bedeutungsvoll, da es gerade die
Aspekte sozioökonomischer Modernisierung waren, die den Schlussteil dieses
Andenromans bestimmen, wie noch zu zeigen sein wird. Bei der Romangattung
handelt es sich freilich nicht um ein in ausländischen Händen befindliches,
sondern ein von einer Peruanerin selbst benutztes und bewusst eingesetztes In-
strument literarischer und gesellschaftlicher Modernisierung. Der Erzähltext
3 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido. La Habana: Casa de las Américas 1974, S. 7;
vgl. auch dies.: Aves sin nido (novela peruana). Lima: Imprenta del Universo de Carlos Prinz
1889 (Faksimile-Reprint Ann Arbor – London 1979).
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4 Vgl. hierzu Asholt, Wolfgang / Ette, Ottmar (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissen-
schaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen: Gunter Narr Verlag 2010; zur Rezeption
dieses Begriffes in Lateinamerika vgl. Ette, Ottmar / Ugalde Quintana, Sergio (Hg.): La filología
como ciencia de la vida. México, D.F.: Universidad Iberoamericana 2015.
5 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido, S. 7.
6 Vgl. hierzu auch Müller, Hans-Joachim: Clorinda Matto de Turner: „Aves sin nido“. In: Ro-
loff, Volker / Wentzlaff-Eggebert, Harald (Hg.): Der hispanoamerikanische Roman. Band 1: Von
den Anfängen bis Carpentier. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992, S. 78–91.
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Es war ein wolkenloser Morgen, an den eine vor Glück lächelnde Natur den Hymnus zur
Anbetung des Schöpfers ihrer Schönheit erhob.
Das Herz gab sich, ruhig wie das Nest einer Taube, der Betrachtung dieses großarti-
gen Gemäldes hin.
Der einzige Platz des Dorfes Kílac misst dreihundertvierzehn Quadratmeter, und der
Weiler hebt sich ab, indem er die bunten, ofengebrannten Ziegeldächer mit den einfachen,
von unbearbeitetem Holz gestützten Strohdächer vermengt, so dass sich der Unterschied
zwischen dem Namen Haus für die Notablen und Hütte für die Naturales herausschält.8
7 Vgl. hierzu die Ausführungen in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 425 ff.
u. 733 ff.
8 Matto de Turner, Clorinda: Aves sin nido, S. 9.
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Aus dem Beginn dieses Romans habe ich Ihnen die ersten drei Sätze ausgewählt,
die als Abschnitte jeweils eine Rahmung bilden, welche zunächst die herrliche
Natur, dann die Ansicht dieser Natur durch den Menschen als ein Gemälde und
schließlich die Wohnstätte des Menschen porträtieren: ein Andendorf, das be-
reits von Anfang an in seiner sozialen Differenzierung und Gegensätzlichkeit vor
Augen geführt wird. Wir befinden uns in dem kleinen peruanischen Andenstädt-
chen Kíllac, einem doch etwas heruntergekommenen Provinznest um das Jahr
1885. Und die gesellschaftliche, in der Natur nicht vorhandene Spaltung lässt
sich bereits an den Benennungen und an den Häusern im Sinne distinktiver
Merkmale ablesen.
Diese Häuser und Hütten bilden wiederum den Rahmen für das Geschehen
auf diesem einzigen Platz, formieren also jene Arena, in welcher gleich schon
die Helden der zu berichtenden Ereignisse erscheinen werden. Der schöne Mor-
gen weist schon auf diesen Auftritt; und dass er wolkenlos ist, zeigt nicht nur
den guten Willen der Natur, sondern ermöglicht auch den Überblick, der uns
Kíllac gleichsam im Vogelflug zeigt. Clorinda Matto de Turner bedient sich
einer jahrtausendealten literarischen Konvention der abendländischen Litera-
tur, indem sie das Geschehen an einem Morgen beginnen lässt.
Die belebte wie die unbelebte Natur haben noch ein höheres Wesen über
sich, das alles mit Leben erfüllt. Nicht ohne Hintersinn wird dieses höhere
Wesen als Autor bezeichnet, wodurch sich ein eigenartiges Spannungsverhält-
nis zwischen der Schöpfung der Natur und der Schöpfung dieser Fiktion ergibt:
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde das Gottesprädikat auf den literarischen
Schöpfer übertragen und entsakralisiert.9 Gott in seiner Schöpfung, der „Autor
de su belleza“, ist von Beginn an in der Natur präsent, die in der Großschrei-
bung gleichsam personifiziert wird und mit den „naturales“ in ein eigentümli-
ches Spannungsverhältnis tritt, stehen diese doch auf Seiten der Stadt und
damit der Kultur.
An die Seite des Schöpfergottes tritt in der Kontemplation aber der Mensch
mit einem Herzen, das so ruhig wie das Nest einer Taube sei, womit durch die-
sen Vergleich sofort die dem Roman durch den Titel vorgegebene Metaphorik
des Vogelnestes eingeblendet wird. Die Taube – auch sie Bestandteil der Drei-
faltigkeit – zählt zweifellos nicht zu den Vögeln ohne Nest, sondern wäre eher
jenem menschlichen Herzen zuzuordnen, das aus der Kontemplation dieser
Szene den Text entwickeln wird. Und an erster Stelle folgt die auf den Quadrat-
meter genaue Beschreibung des peruanischen Örtchens.
9 Vgl. hierzu Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 42 ff., 52 ff., 811 ff., 902 ff.
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wird bereits deutlich, dass Clorinda Matto de Turner das Fortbestehen kolonialer
Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse unter dem Deckmantel politisch un-
abhängiger republikanischer Formen scharf kritisiert und den Roman als Waffe
gegen diese evidenten Ungerechtigkeiten einsetzt. Wir begreifen die Gründe für
die gegen sie eingesetzten Zwangsmittel nun besser: Eine gesellschaftliche Elite
fürchtet um den Fortbestand ihrer Privilegien – eine Situation, an der sich in den
meisten Ländern Lateinamerikas bis heute wenig verändert hat.
Zu den positiven Gestalten des Romans zählt der noch junge Sohn des kor-
rupten „Gobernador“ Pancorvo namens Manuel. Er weiß noch nicht, dass er –
ebenso wie die mestizische Schönheit Margarita Yupanqui – ein unehelicher
Nachkomme des vermaledeiten Priesters ist, der seine Stellung im Dorf unter an-
derem zur Erzwingung von Liebesdiensten ausnutzte. Auch dies ist ein Thema,
das die Katholische Kirche bis heute so gut als möglich unter den Teppich kehrt.
Da bleibt freilich die Frage offen, warum gerade seine Kinder so schöne und mo-
ralisch integre Menschen sind. Aber oft, so trösten wir uns, stammen die guten
Früchte eben vom Baum des Bösen.
Der Roman jedenfalls treibt – Sie haben es schon erraten! – auf die unlösbare
Problematik des Inzesttabus zu, da sich die beiden jungen Leute romantisch
rasch und natürlich unsterblich ineinander verliebt haben. Denn sie können
nicht ahnen, dass sie denselben abgrundtief bösen Vater haben. Der Roman
kann hierfür keine Lösung mehr anbieten, sondern nur das Tabu noch stärker
zementieren. Er kann allenfalls dafür sorgen wollen, dass derlei Vorkommnisse
nicht mehr geschehen – und Sie sehen, hier liegt die ‚Moral von der Geschicht‘,
von der die Autorin in ihrem Vorwort sprach: Traue keinem Priester nicht! – vor
allem unter den Vorzeichen des unhinterfragbaren Zölibats. Das romantische In-
zestmotiv wird in Aves sin nido fortgeschrieben, zugleich aber unter einen gesell-
schaftspolitischen und religionskritischen Blickwinkel genommen. Dass eine
Frau allein diese Problematik nicht erfolgreich bekämpfen konnte, leuchtet aus
heutiger Sicht ein – in einer Gegenwart, in welcher diese Probleme noch immer
nicht beseitigt wurden.
Die herzensgute Lucía verkörpert den Typus der peruanischen Schönheit,
doch sagt ihr Marcela Yupanqui auch, dass sie das Gesicht jener Jungfrau habe,
zu der sie immer beteten. Kein Wunder also, dass sich die „candorosa paloma“
im Herzen Lucías rührt, als sie von der rücksichtslosen Ausbeutung Marcelas
und ihrer Familie erfährt. Die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung geschieht
auf vielfache, im Roman teils dargestellte, teils als Wissen vorausgesetzte Weise
die von der „mita“ über den „reparto antelado“10 bis hin zu kleineren Formen
wie der „carta de recomendación“ reicht, wobei die Indianer stets gezwungen
sind, ihre Arbeit – und bei den Frauen teilweise auch ihren Körper – unentgelt-
lich zur Verfügung zu stellen. Die Abhängigkeiten der indigenen Gruppen aus
der Kolonialzeit wurden im andinen Raum Perus also nicht beseitigt, sondern
noch durch republikanische Ausbeutungssysteme ergänzt. Dies überrascht nicht,
war die Trägerschicht der hispanoamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung
doch die kreolische Oberschicht, die sorgsam darauf achtete, dass keines ihrer
zahlreichen Privilegien beim Übergang in die Independencia verlorenging. Die
Verfasserin von Aves sin nido, selbst aus der Oberschicht stammend, auf dem vä-
terlichen Großgrundbesitz aufgewachsen und später mit einem englischen Groß-
grundbesitzer verheiratet, kannte diese Bedingungen nur zu gut.
Die vorzügliche Aufgabe des Erzählerdiskurses ist es immer wieder, die Le-
serschaft auf einige Funktionsweisen derartiger Abhängigkeitsverhältnisse in
denunziatorischem Ton aufmerksam zu machen, so dass die gesellschaftskriti-
sche Färbung des Romans nicht nur den Stimmen der einzelnen Figuren, son-
dern vor allem auch dem zentralisierenden Erzählerdiskurs überantwortet wird.
Lucía jedenfalls beginnt bald zu verstehen, dass sich hinter den „seres civiliz-
ados“ dieses Ortes in Wirklichkeit „mónstruos de codicia y aun de lujuria“,11
sich hinter den scheinbar Zivilisierten also wahre Ungeheuer verstecken, die
letztlich barbarisch handeln sowie Neid und Wollust ergeben sind.
Die Zivilisierten erscheinen hier als die Wilden und Barbaren,12 doch wird
dieser Gegensatz nicht etwa aufgelöst, sondern nur verschoben, zeichnet sich
der Roman doch sehr wohl auf kulturtheoretischer Ebene durch eine Struktur
aus, die an der Präponderanz abendländischer Kulturmodelle keinen Zweifel
lässt. Clorinda Matto de Turner war keineswegs eine Revolutionärin: Sie war
ebenso eine Vertreterin des christlichen Glaubens an Gott wie eines Gesell-
schaftssystems, in welchem sie groß geworden war.
Allerdings kämpfte sie sehr wohl gegen die Abhängigkeiten der Frau in
einem phallokratischen System sowie gegen die Ausbeutung der indigenen Be-
völkerung durch Reiche, die noch reicher werden wollten. Ihr Kampf richtete
sich gegen die konkreten Praktiken und gegen die „abusos“, gegen alle Formen
des Missbrauchs der Macht, die dem christlichen Geiste von Schöpfer und
Natur nach ihrer Ansicht zuwiderliefen und gegen die Gleichheit von Mann und
Frau verstießen. Doch dies reichte schon, um sie in Peru zur Persona non grata
11 Ebda.
12 Vgl. zu diesem Gegensatz Bitterli, Urs: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer
Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München: dtv 1982.
936 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
zu machen und ins Exil zu treiben. Erst Jahrzehnte nach ihrem Tod wurden ihre
sterblichen Überreste wieder dorthin überführt.
Wie sehr sich der indigenistische Ansatz von Clorinda Matto de Turner von
jenem indianistischen unterscheidet, für dessen Aufbau und Funktionsweise
uns in unserer Vorlesung über die Romantik zwischen zwei Welten die Romane
Sab von Gertrudis Gómez de Avellaneda und Enriquillo von Manuel de Jesús
Galván als Beispiele gedient hatten, mag an der das dritte Kapitel eröffnenden
Passage deutlich werden, welche den die gesamte Erzählstruktur durchziehen-
den Modus des Erzählerdiskurses vorstellt. Schauen wir uns eine der vielen Me-
thoden ständiger Ausplünderung der „Indios“ einmal näher an:
In jenen Provinzen, in denen Alpacas gezogen werden – und der Handel mit Wolle ist
von wenigen Ausnahmen abgesehen die hauptsächliche Quelle des Reichtums –, gibt es
die Sitte des Reparto antelado, den die Handel treibenden Potentaten, die wohlhabends-
ten Leute des Ortes, ausüben.
Für die von ihnen aufgezwungenen Vorauszahlungen, welche die Laneros leisten,
legen sie einen so lächerlich niedrigen Preis fest, dass der Ertrag das notwendig verwen-
dete Kapital um ein Fünfhundertfaches übersteigt; dies ist ein Wucherzins, der zusätzlich
zu den begleitenden Zwangsmitteln geradezu die Existenz einer Hölle für diese Barbaren
notwendig macht.
Die indigenen Besitzer von Alpacas wandern aus ihren Hütten in den Zeiten des Re-
parto aus, um nicht jenes vorgestreckte Geld zu erhalten, das für sie ebenso verflucht ist
wie die dreizehn Silberlinge des Judas. Doch sorgt die Aufgabe der Heimstatt und das Um-
herirren in den einsamen Weiten der hohen Berge für ihre Sicherheit? Nein...13
Der Roman tritt an dieser wie an ähnlichen Stellen in die Funktion einer sozio-
logischen Analyse. Wucher, Zwangsverkauf zu lächerlichen Preisen, Ausbeu-
tung und Verfolgung: Dies sind die Umstände jener „costumbres“, die von der
Erzählerfigur in dieser Passage vorgestellt und kommentiert werden. Dass die
Vertreter einer solchen Zivilisation als Barbaren erscheinen, überrascht ebenso
wenig wie die Verknüpfung eines derart radikalen Wuchers mit dem Namen
Judas; eine Verbindung mit antisemitischem Beigeschmack, die gleichsam inner-
halb der christlichen Tradition eingespeichert und jederzeit abrufbar scheint.
Denn wo in christlichen Ländern Wucherzinsen erhoben werden, ist der Vor-
wurf – und der Erzählerdiskurs macht an dieser Stelle keine Ausnahme – an die
Adresse der Juden nicht weit.
Antisemitische Tendenzen sind freilich in dieser Passage lediglich implizit
vorhanden und sollen der sozial engagierten Autorin auch nicht unterstellt wer-
den – selbst wenn später die finanziellen Transaktionen Don Fernandos an
und den Schlangen wie etwa dem Pfarrer Pascual Vargas andererseits, der mit
einem „nido de sierpes lujuriosas“ verglichen wird, einem wollüstigen Schlan-
gennest, das von jeglicher Frauenstimme sofort erweckt und befeuert würde.
Der Pfarrer oder der Gobernador Pancorvo sind für die Bitten der Taube Lucía un-
zugänglich, die ein gutes Wort für die Indianer im Allgemeinen und für Marcela,
die Frau Juan Yupanquis, im Besonderen einlegen möchte. Lucías Taubenherz,
ihr „corazón de paloma“, kann hier nichts ausrichten: Für die Dorfpotentaten ist
die Limanerin eine „forastera“, eine Ausländerin, welche (wie die Romanauto-
rin selbst) die alten „costumbres“ der Region – und gemeint ist damit die Aus-
beutung letztlich kolonialen Typs – über den Haufen werfen und so die ererbte
patriarchalische Ordnung stören wolle. Sie solle einfach verschwinden – ganz
so, wie es später Clorinda Matto de Turner widerfuhr.
Die notablen Potentaten und ihre Anhänger werden sprachlich im Roman
als dumm und beschränkt abqualifiziert, da sie ständig Wörter wie „franca-
mente“ und „cabal“ wiederholen, wobei gerade letzteres Wörtchen nicht unin-
teressant ist, da es in José Mármols Amalia bereits Zeichen des Barbarischen
und Ungebildeten war.14 In jedem Falle ist diesen Sprechern klar, dass gegen-
über den Ausländern aus Lima die alten „costumbres“ von „mita“ und „re-
parto“ aufrechterhalten werden müssten. Erneut wird deutlich, dass an diesem
Punkt mit den „costumbres“ gerade auch das Überkommene, das dringend Ab-
zuschaffende und nicht etwa das nostalgisch zu Konservierende gemeint ist.
Zu ihnen gehört auch, dass die „Potentados“, die juristisch, kirchlich, öko-
nomisch und politisch alle Macht in ihren Händen konzentrieren, die kleine
vierjährige Tochter Rosalía mitnehmen, als ihr Vater nicht die geforderte Menge
Alpaka-Wolle auf den Tisch legen kann. Sie soll verschleppt und wie viele an-
dere dann nach Arequipa weiterverkauft werden; ein Menschenhandel reinsten
Stils, wie wir ihn oft nicht nur im 19. Jahrhundert vorfinden. Nicht umsonst
heißt es an anderer Stelle, dass oft in den „pueblos chicos“ eben „infiernos
grandes“ herrschten: Die weißen Notablen machen der indigenen Bevölkerung
das Leben wahrlich zur Hölle.
Dies gilt gerade auch für die indigenen Frauen, die einerseits auf Grund ihrer
ethnischen Zugehörigkeit, andererseits wegen ihres Geschlechts doppelt diskri-
miniert werden. Eine Hölle ist das Leben auch für die schöne Margarita, die sich
im Dorf verdingen muss und aufgrund ihrer Schönheit (die wenig später in ihrer
Exuberanz übrigens als Folge des Klimas gedeutet wird) dem Nachfolger des
zum Bischof avancierten Pfarrers ins Auge sticht. Fürwahr: die katholische Kir-
che kommt in Clorinda Matto de Turners Vögel ohne Nest nicht gut weg, zumal
14 Vgl. das Kapitel zu Mármol in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei Welten, S. 659 ff.
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 939
auch der Mordplan an den Maríns im Hause des Pfarrers ausgeheckt und be-
schlossen wird! Fernando und Lucía haben freilich schon erkannt, wie gefährdet
Margarita im Dienste eines solchen Seelenhirten ist: Sie wollen für ihre Erziehung
aufkommen und sie aus den Fängen einer dem Missbrauch zugewandten und
bestenfalls alles vertuschenden Kirche befreien.
Der Erzählerdiskurs beschränkt sich keineswegs auf ein kleines Andendorf
namens Kíllac. Ein gutes halbes Jahrhundert nach der politischen Unabhängig-
keit, so stellt die Erzählerstimme fest, würde sich das Landesinnere immer wei-
ter von der Zivilisation entfernen. Dem Land Peru gingen immer mehr wichtige
Bereiche verloren. In diesen und vergleichbaren Passagen wird die Frage des
Nationalstaats als Staatsräson gestellt: Sie ist nicht hinterfragbar, sondern nur
mehr oder minder gut koordinierbar und durchsetzbar. Allerdings lassen sich
die Gesetze des Staates nicht mit der verschworenen Gemeinschaft von Geset-
zesbrechern, mit jener „trinidad aterradora“, mit jener grässlichen Dreifaltigkeit
von Pfarrer, Gobernador und Cobrador oder auch mit einem indianischen Kazi-
ken wie in Kíllac durchsetzen.
Denn diese Trinität der Macht steht für Kíllac, aber auch für viele andere
Städte und Dörfer in den peruanischen Anden, dies macht die Erzählerstimme
unmissverständlich klar. Kíllac ist folglich nur ein repräsentativer Fall und kei-
neswegs eine besonders schreckliche Ausnahme von der Regel. Die erwähnte
Dreifaltigkeit der Macht steht hier auf ähnliche Weise für die Barbarei, wie dies
in anderen romantischen Romanen Lateinamerikas der Fall ist – denken Sie an
José Mármols Amalia! Es erfolgt ein Angriff gegen das Haus der Zivilisierten,
die zwar überleben, aber mitansehen müssen, wie sie verteidigende Indianer
(unter ihnen die Yupanquis) im Kugelhagel sterben und die geschmackvolle In-
neneinrichtung ihres Hauses zertrümmert wird.
Auch in diesem Roman findet sich mithin erneut, diesmal in der andinen
Area, dieselbe Raumaufteilung wie bei Mármol: Das Intérieur ist Chiffre des Zivi-
lisierten, in welche die Horde der Barbaren eindringt und alles zerstört. Das Haus
wird – zumindest vorübergehend – zu einer Casa tomada im Sinne der Erzählung
Julio Cortázars.15 Nach diesem Angriff ist auch klar, dass die Maríns die Kinder
der Yupanquis, diese „palomas sin nido“, diese „Tauben ohne Nest“, bei sich
aufnehmen und erziehen werden. Diese Formulierung kehrt nochmals wieder,
als Marcela in den Armen Lucías an ihren Verwundungen stirbt und ihre Töchter
15 Vgl. hierzu den Ausklang des Beitrags von Ette, Ottmar: Existe-t-il une frontière entre dé-
mocratie et dictature? Hans Robert Jauss, Michel Houellebecq, Cécile Wajsbrot. In: Suter, Pat-
rick / Fournier-Kiss, Corinne (Hg.): Poétique des frontières. Une approche transversale des
littératures de langue française (XXe – XXIe siècles). Genf: Metis Presses 2021, S. 37–78.
940 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
als „palomas sin nido, sin árbol y sin madre“ bezeichnet: Es gibt kein Nest, kei-
nen Baum und keine Mutter für diese verlorenen Menschlein!
Diese etwas redundante Wiederholung weist im Übrigen auf Konstruktions-
fehler, die sich in den szenischen Aufbau des Romans von Clorinda Matto de
Turner eingeschlichen haben. Immerhin hat Marcela auf dem Totenbett noch
Zeit, Lucía ein Geheimnis anzuvertrauen, das uns die auktoriale Erzählerfigur
zunächst nicht weitererzählen will. Es ist schlicht die Information, dass Margarita
nicht die Tochter Yupanquis ist, sondern dass der Pfarrer ihr einst Liebesdienste
abgepresst hatte, an denen die Mutter keinerlei Schuld trägt. Es handelt sich viel-
mehr um den massiven Missbrauch indigener Frauen, die eigentlich unter dem
besonderen Schutz der Katholischen Kirche und ihrer Vertreter stehen sollten.
Bemerkenswert ist, dass die gesamte nächtliche Szenerie nicht von der
auktorialen Erzählerfigur kommentiert, sondern von der ‚amante en titre‘ dar-
gestellt wird, der offiziellen Geliebten des Pfarrers, der diese losgeschickt hatte,
um Erkundigungen einzuziehen. Es handelt sich also um eine Erzählsituation
mit deutlich personalen Zügen, da auch das Berichtete Lücken aufweist, inso-
fern die junge Frau nicht unmittelbar dabei war, sondern ihre Informationen
selbst mühsam erfragen muss. Clorinda Matto de Turner bemühte sich offenkun-
dig, die neuen narrativen Entwicklungen in ihren Roman zu integrieren und
damit die allwissende Erzählerposition an einigen Stellen ihres Erzähltextes zu-
mindest zeitweise aufzugeben. Von einer grundlegenden erzähltechnischen Neue-
rung kann man mit Blick auf Aves sin nido freilich nicht sprechen: Die Gestaltung
des gesellschaftskritischen Inhalts ließ bei der peruanischen Schriftstellerin die
formalen Aspekte und Neuerungen in den Hintergrund treten.
Ein zusätzlicher Aspekt sei noch hervorgehoben: Frauen spielen in diesem
Roman der peruanischen Autorin wichtige, aber niemals entscheidende Rollen!
Lucía ist der gute Geist, der über Don Fernando schwebt. Die Frau des Goberna-
dor ist der Inbegriff der guten „Serrana“, aber sie ist nicht in der Lage, dem un-
moralischen Treiben ihres Mannes ein Ende zu bereiten. Marcela ist gewiss
aktiver als ihr Mann Juan, doch kann auch sie nicht wirklich die Initiative er-
greifen und die Geschicke der Familie lenken. Ihre beiden Töchter, die nestlo-
sen Tauben, sind letztlich nur Opfer der sie umgebenden Gesellschaft. Clorinda
Matto de Turner stellte eine patriarchalisch strukturierte peruanische Gesell-
schaft dar, in welcher die Frauen bestenfalls die ‚guten Geister‘ ihrer Männer
sein können, doch in deren Handeln nur selten einzugreifen vermögen.
Daher kann es nicht verwundern, wenn die aktiven, befreienden Kräfte
wiederum von Männern ausgehen, von denen ebenso die negativen Kräfte her-
rühren. Neben Don Fernando Marín ist dies vor allem der junge Manuel, ein
Student der Jurisprudenz im zweiten Jahr, der seine Überzeugungen in einer
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 941
wichtigen Passage fast sprachrohrartig (für die peruanische Autorin) auf den
Punkt bringt:
Dies ist der Kampf der peruanischen Jugend, welche sich in diesen Regionen in der Ver-
bannung befindet. Ich habe die Hoffnung, Don Fernando, dass die Zivilisation, welche
die Fahne des reinen Christentums schwingend verfolgt wird, sich bald schon manifes-
tiert und dabei das Glück der Familie und in logischer Konsequenz das Glück der Gesell-
schaft errichtet.16
In diesen etwas pathetischen Äußerungen des jungen Mannes werden die Stand-
punkte der peruanischen Jugend im Sinne der realen, textexternen Autorin for-
muliert und auf den Punkt gebracht. Es gibt auf dieser Ebene keine ethnischen,
sozialen, ökonomischen, politischen, kulturellen oder religiösen Differenzen: Der
junge Manuel spricht für die nationale Jugend Perus insgesamt. So steht auch
das Individuum für die Nation, die Familienstruktur für die angestrebte Gesell-
schaftsstruktur: Alles löst sich in harmonischen und zugleich homogenen Bezie-
hungen auf.
Spuren der Differenz sind freilich erhalten, weist doch allein schon die Formel
der Verbannung darauf hin, dass letztlich das Zentrum der hier angepriesenen Zi-
vilisation (der Zivilisation überhaupt) Lima ist. Eckpfeiler dieser Vorstellungen
sind ein reines Christentum, die Achtung und Wahrung der Familie und all jener
Werte, für welche die abendländische Kultur stets angerufen wird – im Grunde
nichts also, wofür man die Autorin hätte verfolgen und exkommunizieren müssen.
Es sei denn, man betrachtete sich beispielsweise von Seiten der Katholischen Kir-
che, die im Roman in ihren massiven Missbrauchspraktiken unter Feuer genom-
men wird – und nicht als Vertretung eines reinen Christentums.
An derartigen Schlüsselstellen ist zum einen wieder die uns hinlänglich be-
kannte Strukturanlage präsent, welche die Familie und die Geschlechterbeziehun-
gen zum Nukleus der Gesamtgesellschaft erklärt und somit die Funktionsweise
einer nationalen Allegorese begründet.17 Auf einer zweiten Ebene, jener der unter-
schiedlichen kulturellen Pole, die in Lateinamerika von entscheidender Bedeu-
tung sind, gilt es festzuhalten, dass der abendländischen Kultur letztlich auch die
indigenen Bevölkerungssegmente einzugliedern sind, wenn wir den Vorstellungen
folgen, welche der Roman entwickelt. In der frühindigenistischen Position Clor-
inda Matto de Turners scheinen hier ideologische Elemente auf, die sehr wohl aus
der indianistischen Tradition stammen und die kulturelle Vielpoligkeit im ent-
18 Vgl. zu Cirilo Villaverde das entsprechende Kapitel in Ette, Ottmar: Romantik zwischen zwei
Welten, S. 695 ff.
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 943
19 Vgl. hierzu die Ausführungen in ebda., passim; sowie in Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre
Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1994; sowie
dies. (Hg.): Die schöne Leiche. Weibliche Todesbilder in der Moderne. Wien: Goldmann 1992.
944 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
ausgerichtet! Dies ist wirklich eine recht intelligente und originelle Wendung,
um gerade den Wirklichkeit abbildenden Charakter der romanesken Fiktion zu
unterstreichen und die Differenz zwischen Fiktion und außersprachlicher Reali-
tät zu betonen.
Die literarische Darstellung des Todes des unglückseligen Priesters wird
versöhnlich, allem Schlangengezische zum Trotz, könne man ihm schließlich
doch nur ein requiescat in pace nachrufen. Dies fällt umso leichter, als auch die
anderen Mitglieder der schrecklichen Dreifaltigkeit nach einer politischen Wen-
dung zum Guten in Lima 1885 aus der Macht gedrängt werden – eine klare An-
spielung auf die Präsidentschaft von General Cáceres, dessen Parteigängerin
Clorinda Matto de Turner war und dessen Politik sie auch in einer als propagan-
distisch zu nennenden Zeitschrift vertrat. Von Lima ausgehend also wird die Situ-
ation im andinen Hochland verändert und verbessert: ein deutliches Plädoyer für
eine nationale, zentralisierte peruanische Politik.
Kein Wunder also, dass die Maríns mit allen guten Figuren des Romans nun
nach Lima aufbrechen, um wieder den Boden der Zivilisation und den Hort des
Fortschritts zu erreichen. Selbst eine Reise Lucías und Fernandos nicht nach
Paris oder London, sondern nach Madrid ist geplant, während die armen ‚Vögel
ohne Nest‘ im allerbesten Colegio zu wunderbaren Müttern und Ehefrauen aus-
gebildet werden sollen. Somit ist nach dem politischen Umschwung alles prima
in Lima: Der Nationalstaat zieht die Zügel an und bringt Ordnung in die andinen
Gebirgsregionen, die nun von den hauptsächlichen Protagonisten des Romans
verlassen werden können!
Wir stoßen an dieser Stelle zugleich auf die nationalstaatlich gezogenen
Grenzen des Indigenismus der Clorinda Matto de Turner. Sicherlich: Selbst ein
Mario Vargas Llosa wird hundert Jahre Einsamkeit später letztlich keine ande-
ren Vorstellungen auf der politischen Ebene entwickeln als eben jenen Ver-
such, die Bevölkerung der andinen Bergregionen – so als wären es spanische
Bauern – in die spanischsprachige und einzig seligmachende Zivilisation einzu-
beziehen! Der peruanische „Indigenismo“ wird freilich in der Folge andere, radi-
kalere Lösungsansätze vorschlagen und literarisch vorführen, was wir in einer
der nächsten Vorlesungen am Beispiel José Carlos Mariáteguis erkunden wer-
den. Clorinda Matto de Turner war hierfür eine Wegbereiterin, keineswegs aber
eine Verfechterin derartiger Ideen, wie sie später von Mariátegui oder José
María Arguedas vorgetragen und entfaltet wurden.
Bleibt die Frage der Rolle der Frau in der künftigen Gesellschaft Perus. Wir
hatten gesehen, dass Clorinda Matto de Turner durch ihre vielfältigen Aktivitä-
ten für die Frauenbildung ein breites Terrain zu erobern gesucht hatte. Was fin-
det sich hiervon im Roman? Erstaunlicherweise keineswegs Positionen, die
über eine grundsätzlich passive Frauenrolle hinausgingen. Die weibliche Licht-
Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena 945
gestalt dieser Seiten der peruanischen Schriftstellerin ist – omen est nomen –
die schöne Lucía, die ihrem Manne Don Fernando die ideale (da nicht zuletzt
ungleiche) Partnerin ist. Dies möge die folgende Passage belegen:
Lucía wurde geboren und wuchs auf in einer christlichen Heimstätte, als sie die weiße
Tunika der Braut anlegte, für sich das neue Heim mit den Freuden akzeptierte, welche ihr
die Zärtlichkeit ihres Ehemannes und die Kinder gaben, wobei sie diesem die Geschäfte
und die Turbulenzen des Lebens überließ, von jener großen Sentenz der spanischen
Schriftstellerin hingerissen, welche in ihrer Kindheit, am Rockzipfel ihrer Mutter sitzend,
mehr als einmal las: „Vergesst, Ihr arme Frauen, Eure Träume von Emanzipation und Frei-
heit. Dies sind Theorien kranker Hirne, welche niemals in die Praxis umgesetzt werden kön-
nen, weil die Frau dazu geboren wurde, um dem Hause poetischen Charme zu schenken.“
Lucía war zum Magisterium der Mutterschaft aufgerufen, und Margarita war die
erste Schülerin, an der sie die Weitergabe der häuslichen Tugenden erprobte.20
Es wäre sicherlich etwas übereilt und zu simpel, diese Position mit derjenigen
Clorinda Mattos gleichzusetzen, wie dies etwa Müller tut.21 Doch vermittelt uns
der Roman keine alternativen Frauenbilder, welche den kranken Geist einer fal-
schen Emanzipation Lügen gestraft hätten. Die Frauenbilder im Roman Aves sin
nido sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache: Die Frauen sind Vögel,
die – psychoanalytisch nicht uninteressant – ihr Nest in einem starken Baum
finden müssen, um sich dann den geschaffenen Innenräumen zuzuwenden. In
logischer Konsequenz wäre dann auch – verschöbe man metonymisch die indi-
viduelle hin zur kollektiven Ebene – die Aufgabe der Schriftstellerin jene, das
Innere des nationalen Hauses zu poetisieren.
Die Geburt bestimmt das Schicksal eines Geschlechts: Frauen sind dazu ge-
boren, die Schönheiten des Hauses zu vergrößern. Dies war jedoch eine Rolle,
mit der sich Clorinda Matto de Turner in ihrem eigenen Frauenleben niemals
zufrieden gab. Sie kämpfte ebenso auf individueller wie vor allem auf kollekti-
ver Ebene um eine andere Selbstbestimmung ihres Geschlechts und für jene
emanzipierte Freiheit, die sie selbst auch vorlebte. Genau deshalb wurde sie
von den konservativen, katholischen, patriarchalischen Kräften aus diesem
Haus der peruanischen Nation hinausgeworfen. An den in ihrem Roman ent-
worfenen Frauenbildern hatte dies sicherlich nicht gelegen, verwehrte sie ihren
fiktiven Frauengestalten doch die emanzipierte freiheitliche Lebensgestaltung,
wohl aber an ihrer eigenen Lebenspraxis, die innerhalb der patriarchalisch und
katholisch strukturierten politischen Welt Limas offenkundig als gefährlich
zehn Meilen pro Stunde – und dabei auch noch zu lesen wie bei Oliverio Gi-
rondo inmitten urbaner Landschaften: Das die Moderne! Aber wie es so geht mit
ihr: keine Modernisierung ohne Unfall! … In unserem peruanischen Roman pas-
siert dies, weil auf der Brücke unbeaufsichtigt einige Kühe stehen.
Es kommt, wie es kommen muss: Mit der „destructora velocidad del rayo“,
also mit der Blitzgeschwindigkeit des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts,
rast der Zug auf dieses Hindernis zu und erfasst eine zuguntüchtige Kuh. Glück-
licherweise geht alles noch glimpflich ab, was also für die importierte Technik
und die importierte Modernisierung spricht: Die Zuginsassen kommen, anders
als die betroffenen Länder, mit leichten Schrammen und Blessuren davon. Der
Zug fährt bald schon weiter, als ob es keinen Unfall gegeben hätte: So leicht
lässt sich die Moderne nicht aufhalten!
Bei der Ankunft in der Stadt steht schon eine große Menschenmenge am
Bahnhof, die bereits vom Telegraphen über das drohende Unglück informiert wor-
den ist: Eisenbahn und Telegraph, die Embleme der Modernisierung, leiten über
zum Leben in der Hauptstadt Lima. Selbstverständlich steigen Don Fernando und
seine Familie im Hotel Imperial ab, das natürlich einem Franzosen gehört, einem
Monsieur Petit. So ist das halt mit der Moderne an der Peripherie: Sie ist nicht
hausgemacht, sondern wird von Ausländern und von ausländischen Mächten zu-
bereitet – Briten, US-Amerikaner und Franzosen steuern diesen Prozess.
Diese Szenerie ist ein wahres Fraktal22 der abhängigen und peripheren Mo-
dernisierung Perus im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts und Zei-
chen jenes Hurrikans, welcher die dritte Phase beschleunigter Globalisierung
gerade für die Länder Lateinamerikas darstellte. In diesem Fraktal lassen sich
wie in einem „Modèle réduit“, wie unter einem Brennglas, alle Dimensionen
und Aspekte gesellschaftlicher wie ethnischer Ungleichheiten erkennen, wel-
che die andinen Gesellschaften in dieser Area während der dritten Phase be-
schleunigter Globalisierung prägten.
Im Rahmen dieser Beschleunigungsphase aber wurden zugleich die tradier-
ten Gesellschaftsmuster und die überkommenen Herrschaftsmodelle – in Gestalt
der unheiligen Trinität der Macht in Clorinda Mattos Aves sin nido – brüchig. Die
peruanische Schriftstellerin hat in ihrem Leben wie in ihren literarischen Werken
die Geburt als Frau, aber auch die Geburt indigener Menschen in die noch von
traditionellen Mustern beherrschten Gesellschaftsordnungen in den andinen Ge-
birgsregionen wie in der Stadt in den Fokus gerückt. Sie hat gezeigt, wie diese
22 Vgl. zur fraktalen Dimension literarischer Texte im Kontext der Entstehung der Literaturen
der Welt Ette, Ottmar: WeltFraktale. Wege durch die Literaturen der Welt. Stuttgart: J.B. Metzler
Verlag 2017.
948 Clorinda Matto de Turner oder von der Geburt als Frau und Indígena
Geburt – ganz im Sinne von Flauberts Emma Bovary – das Leben einer Frau de-
terminiert und auch der indigenen Bevölkerung nur geringe Chancen zur Partizi-
pation in einer solchermaßen hierarchisierten Gesellschaft lässt.
Dass das Hineingeborenwerden als Frau und als „Indígena“ in derart tradi-
tionalistische Gesellschaftsstrukturen das Leben insbesondere für die indige-
nen Frauen vorbestimmt, zeigte sie ebenso auf wie die Notwendigkeit, gegen
derlei Ungerechtigkeiten anzukämpfen. Ihre gesellschaftlichen Zielvorstellun-
gen waren dabei alles andere als revolutionär. Doch in diesem Kampf ließ Clor-
inda Matto de Turner als Schriftstellerin, als Journalistin und als Frau niemals
nach und gab dafür auch ihre Heimat wie ihr nicht unbeträchtliches Vermögen
auf. Dass dieser Kampf noch weit davon entfernt ist, mit Blick auf die Gleich-
stellung von Frauen oder in Hinblick auf die Gleichstellung indigener Völker
und Gruppen ausgefochten zu sein, haben wir in unseren Vorlesungen sehr
deutlich an einer Vielzahl von Beispielen aus den Literaturen der Welt gesehen.
Begeben wir uns nun wieder nach Europa, um die dortigen Entwicklungen und
sich verändernden Rollenbilder der Geschlechter im Kontext von Geburt und
Sterben, von Leben und Tod zu analysieren!