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Architekturpsychologie
Perspektiven
Band 1 Forschung und Lehre
Architekturpsychologie Perspektiven
Tanja C. Vollmer
(Hrsg.)
Architekturpsychologie
Perspektiven
Band 1 Forschung und Lehre
Hrsg.
Tanja C. Vollmer
School of Engineering and Design,
Department of Architecture
Technische Universität München
München, Deutschland
Wer erstmals das Haus von Salvador Dalí in Portlligat betritt, spürt sofort, dass
es sich hier um eine ganz besondere Behausung handelt. Es ist das einzige
Haus, das der spanische Künstler besaß. Das Haus ist gemessen am Ruhm des
weltbekannten Surrealisten klein und bescheiden. Manch einem werden die ein-
zelnen Räume sogar winzig erscheinen. Und gerade das macht den Besitzer, den
Schöpfer dieser Architektur, so erfahrbar. Wie kleine Zellen reihen sich einzelne
Räume aneinander, die stets ihre Maße, ihren Charakter ändern und einen ande-
ren, neuen Abschnitt im Leben Dalís preisgeben. Sie sind ineinander verwoben,
von hoher Dichte und dem Wunsch nach Integration und Einkehr geprägt. Gleich-
zeitig gelingt von jedem Standpunkt aus ein bezaubernder Blick auf die kleinen
Fischerboote und das türkisblaue Mittelmeer, in das die steile Küste von Cadaqués
ragt. Als junger Mann erwarb Dalí zunächst eine alte Fischerhütte, die gerade so
viel Quadratmeter besaß, dass seine Staffelei und ein Bett darin Platz hatten. Im
Laufe der Jahre kamen angrenzende Hütten hinzu und er transformierte sie in ein
einheitliches Gebilde, das jeder Tradition entsagte und einzig Ausdruck seiner
ins Detail verschachtelten Gedanken, seines geistreichen Lebens war. Zu diesem
Leben gehörte auch Gala, seine Frau und Muse, mit der er ebenso verwoben war
wie jede einzelne der Zellen in diesem häuslichen Organismus. Als Gala starb,
verlies Dalí das Haus und kehrte nie wieder zurück.
„Das verstehe ich nicht“, ruft eine Architekturstudierende beinah empört durch
den Berliner Hörsaal, in dem ich 2016 meine erste Vorlesung in Architekturpsy-
chologie halte. „Warum verlässt er einen so schönen, individuellen Ort, der doch
auch die Erinnerung an seine Frau und das gemeinsame Leben mit ihr trägt?“
Der Tod eines geliebten Menschen ist eine traumatische Erfahrung, die es zu
überwinden gilt, um selbst weiterleben zu können. Während sich die einen zum
V
VI Vorwort
Überleben an die Erinnerung klammern, rettet die anderen, sich so weit wie mög-
lich von diesen zu entfernen. Das Haus war immer Ausdruck der Veränderungen
im Leben des Künstlers, es wuchs rhythmisch mit diesen mit und wurde von
Dalí stetig weitergestaltet. Die Veränderung, die er mit dem Tod von Gala erfuhr,
war die des schmerzlichen Abschieds. Wie hätte er diese Erfahrung architek-
tonisch ausdrücken und im Haus weiterleben können? Ich bin überwältigt, wie
viele Studierende sich gleich im ersten Jahr meiner Gastprofessur an der TU
Berlin einer solchen Entwurfsaufgabe stellen und sich im Kurs zum bedürfnis-
orientierten, psychologisch unterlegten Entwerfen anmelden. Die Ungeduldigen
haken schnell ab, denn den Menschen in seinen wechselhaften, individuellen
Gefühlen, seinem Erleben zunächst gründlich zu studieren bevor man sich an
das Schöpfen seiner Umwelten, seiner Räume wagt, ist eine große Herausfor-
derung und braucht Zeit. Was wissen wir aus wissenschaftlichen Studien? Was
lernen wir aus der Beobachtung? Was aus dem Experiment an uns selbst? Und
wie machen wir dieses Wissen als junge Architektinnen und Architekten auf dem
Weg in unseren Traumberuf nutzbar?
Ohne die Bedürfnisse einzelner, spezifischer Nutzergruppen genau zu ver-
stehen, sie wissenschaftlich exakt zu beschreiben und so nach Möglichkeiten
suchen zu können, diese Bedürfnisse mithilfe bestimmter Entwurfsfaktoren und -
kriterien zu sättigen, ist Architekturpsychologie sinn- und wirkungslos. Am Ende
des Semesters, damals wie heute, sind nur noch die Studierenden übrig, die
Architekturpsychologie als Mitgestalterin begreifen. Jene, die die Inhalte nur pas-
siv konsumieren möchten, nur über oder mit Psychologie reden wollen, fallen
durch. „Wie lang werden Sie an der TU bleiben“, fragt ein Studierender, dessen
Masterarbeit den Zusammenhang von häuslicher Gewalt und Wohnumgebungen
untersucht. „Am liebsten bis es Dir gelingt, auf der ganzen Welt Wohnhäuser
zu entwerfen und zu bauen, die keine Gewalt mehr zulassen“, antworte ich. Der
eigenen Disziplin und dem beruflichen Selbstverständnis – auch nach all den Jah-
ren hoher Akzeptanz und medialer Begeisterung – weiterhin kritisch reflektierend
gegenüber zu stehen, ist mir wichtig. Gleichzeitig weiter daran zu arbeiten, dass
Deutschland endlich eine nachhaltige, in der akademischen Forschung und Lehre
fest verankerte Architekturpsychologie erhält, auch.
Ich danke allen Autorinnen und Autoren dieses Buches für ihre wertvollen
Beiträge, die nicht zuletzt dieses Anliegen unterstützen.
1 Architekturpsychologie. Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Tanja C. Vollmer
2 Vom Bedürfnis zum Beweis: Architekturpsychologie als
Schlüsselkonzept der Heilenden Architektur und Evidence Based
Design Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Tanja C. Vollmer und Gemma Koppen
3 Anthropologisch-phänomenologische Forschung: Eine
methodologische Skizze über deren Beitrag zur evidenzbasierten
Architektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Christian Rittelmeyer
4 Über das (Un-)Vermögen, das sinnliche Erleben von Stadträumen
zu planen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Anne Brandl
5 Architekturpsychologie an der Süddänischen Universität . . . . . . . . . . 61
Kirsten K. Roessler
6 Metadisziplinäre Ästhetik: Ein Konzeptrahmen für Architektur,
Gestaltung und Evidence Based Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Michael Heinrich
VII
Metadisziplinäre Ästhetik: Ein
Konzeptrahmen für Architektur,
6
Gestaltung und Evidence Based Design
Michael Heinrich
Inhaltsverzeichnis
6.1 Theoretische und konzeptionelle Grundlagen eines integrativen
Ästhetik-Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... 80
6.2 Das Drei-Ebenen-Modell der ästhetischen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... 82
6.3 Das Prozess-Modell der ästhetischen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... 85
6.4 Vorbewusste, atmosphärische Wahrnehmung als primäre intuitive
Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... 87
6.5 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... 90
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..... 91
M. Heinrich (B)
Hochschule Coburg, Fakultät Design, Coburg, Deutschland
E-Mail: michael.heinrich@hs-coburg.de
Wenn über Architektur diskutiert wird, sind sich alle Parteien in der Regel
darin einig, dass „der Mensch im Mittelpunkt“ stehen sollte. Häufig hört die
Einigkeit hier auf, denn das Bild des „Menschen“ samt seiner Bedürfnisse
war und ist in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Milieus, in ver-
schiedenen Berufssparten, in verschiedenen Altersklassen und Generationen und
nicht zuletzt in verschiedenen Kulturen völlig unterschiedlich profiliert. Men-
schenbilder sind in der Regel historisch gewachsen, implizit und unbewusst in
Lebenswelten und Lebensvollzüge eingebettet und mit Rollenbildern, normativen
Erwartungen und gesellschaftlichen Ethiken verknüpft; Menschenbilder können
christlich-altruistische, hedonistische, funktionalistische, individualistische, kol-
lektivistische, kulturalistische oder biologistische Ausrichtungen einnehmen. Vom
Schönheits- und Erhabenheitsdiskurs des 18. Jh. über die Einfühlungstheorien bis
hin zur Gestaltpsychologie, weiter zum Offenbacher Ansatz der Designtheorie,
zur Postmoderne, zum Atmosphäre-Diskurs (vgl. Heinrich, 2020, 2022; Fuchs,
2000, 193–244; Ginsburg, 1986) und schließlich zur Neuroästhetik des 21. Jh.
(als Überblick: vgl. Zeki, 2001, 2008; Pearce et al., 2016; Chatterjee, 2013;
Ramachandran & Hirstein, 1999) reichen die zahllosen Versuche, die Komple-
xität ästhetischen Erlebens – und damit einen großen Bereich des Bewusstseins
an sich – zu beschreiben und zu modellieren. Viele dieser Beobachtungen
und Schlüsse weisen vielfältige metadisziplinäre Übereinstimmungen auf. Und
obwohl ästhetisches Erleben und die damit verbundene affektive und emotionale
Bewertung (vgl. Flade, 2008; Bower et al., 2019) häufig unbewusst oder vorbe-
wusst stattfinden (vgl. Roth, 2004, 2008; Vollmer & Koppen, 2010; Faerber &
Carbon, 2012), sind die meisten solcher Erkenntnisse auch einer reflektierten
Alltagswahrnehmung zugänglich. Mit der rasanten Entwicklung der empirischen
Psychologie und Biologie bis in die Neurowissenschaften hinein hat sich aber
auch das wissenschaftliche Verständnis menschlichen Bewusstseins und Verhal-
tens und menschlicher ästhetischer Erfahrung entwickelt. Dadurch ist auch eine
6 Metadisziplinäre Ästhetik: Ein Konzeptrahmen für Architektur … 81
Ä S T H E T I K _ W A H R N E H M U N G _ D E U T U N G _ E VA L UAT I O N
DREI-EBENEN-MODELL DER ÄSTHETISCHEN WAHRNEHMUNG, DEUTUNG UND BEWERTUNG
S PAT I O T E M P O R A L E E R FA H R U N G
& kontextspezifisches ästhesches Urteil und ästhesches Empfinden
IDENTIFIZIERUNG BOTTOM-UP
gerichtete Prozesse
KULTUR
BIOGRAFIE
individuelle Lebenserfahrung, frühe soziale Prägungen, persönliche Analogien, Deutungs- und Bewer-
BIOLOGIE
angeborene Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale, AAMs (via Schlüsselreize), physiologische
S E N S O R I S C H E S R E I Z F E L D
Abb. 6.1 Das Drei-Ebenen-Modell der ästhetischen Wahrnehmung, Deutung und Bewer-
tung auf metadisziplinär-wissenschaftlicher Grundlage. (Aus Heinrich, 2019)
verstärken oder hemmen. Auch mit dieser reduzierten Struktur lässt sich die
Widersprüchlichkeit ästhetischer Alltagspräferenzen bereits grob modellieren: In
einem Restaurant mag sich ein Besucher auf der biologischen Ebene zu einem
Platz hingezogen fühlen, der im evolutionären Sinne „gut“ ist, zum Beispiel zu
einer Sitzbank mit der besten Aussicht auf das ganze Lokal, geschützt durch die
Wand und neben dem warmen Kamin. Auf der kulturellen Ebene wäre unser
Beispielgast jedoch in seinem Impuls gehemmt, weil es in seinem Milieu üblich
ist, der Begleiterin den attraktivsten Platz zu überlassen. Dennoch: Auf der bio-
grafischen Ebene entscheidet er, sich trotzdem dort niederzulassen, weil seine
neue Freundin immer die Augen rollt, wenn er sie „wie eine hilflose Prinzes-
sin“ behandelt. Die wenigsten alltäglichen ästhetischen Erfahrungen dürften also
frei von inneren Widersprüchen sein. Wenn aber doch einmal eine Reaktion auf
einer der Ebenen alle anderen, widersprechenden Impulse verdrängt und dadurch
besondere Intensität entfaltet, erinnern wir uns vielleicht später an die Situation
als an eine außergewöhnliche ästhetische Erfahrung, sei sie schön, merkwür-
dig, erstaunlich, beeindruckend, unheimlich, beängstigend, heiter oder erhebend.
Es scheint auch unausweichlich, dass die intersubjektiven Gemeinsamkeiten der
ästhetischen Vorlieben auf einer Ebene (z. B. der Biologie-Ebene), die wir mit
unseren Mitmenschen teilen, leicht durch die Unstimmigkeiten und Unterschiede
der Vorlieben auf einer anderen Ebene gestört oder überlagert werden können.
Wir alle mögen liebevolle Gefühle für ein Kleinkind haben, aber wir können uns
ernsthaft über die Farbe von Mädchen- und Jungenkleidung streiten, etwa wenn
wir aus verschiedenen Kulturen stammen. Als Grundlage dieses Drei-Ebenen-
Modells dienen einerseits eine Vielzahl empirischer Studien, die aufgrund der
Zeichenvorgabe dieses Beitrags nicht beschrieben aber beim Autor angefordert
werden können, andererseits ein integratives Prozess-Modell der ästhetischen
Erfahrung auf psychologischer, neuro- und kognitionswissenschaftlicher Basis,
das nachfolgend vorgestellt wird.
Was passiert eigentlich in unserem Geist und in unserem Gehirn, wenn wir etwas
sinnlich erfahren und ästhetisch bewerten? Wenn wir eine Vorstellung davon
haben, wie die menschliche Wahrnehmung, Deutung und Bewertung von Archi-
tektur, Kunst und gestalterischen Sprachen aller Art von statten geht, können wir
auch gezielter mit Gestaltungsinterventionen Einfluss auf diesen Prozess nehmen.
Werfen wir hierzu einen Blick auf Abb. 6.2, die das prozessorientierte Modell
der ästhetischen Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung zeigt (Heinrich,
86 M. Heinrich
S PAT I O T E M P O R A L E E R FA H R U N G
& kontextspezifisches ästhesches Urteil und ästhesches Empfinden
Rückschlüsse, Kausal-Aribuonen
narrave Einbeung ästhesch- morphodynam. Hinweise
BOTTOM-UP
gerichtete Prozesse
BEWUSSTSEINS-RAUM
ähnlichkeit, Varianz, Abgrenzungsschärfe, Tiefengradienten,
Emergenz von
Komplexität, Rhythmus, Figur & Grund, Symmetrie, Selbst-
-
Bedeutung
BIOGRAFIE
Variable Incepon of Meaning Assignment
ORGANISATION
(embodied meaning),
somasche Marker
spontane Emergenz
von Bedeutung (AAMs,
biologisch verankerte
Reakonen)
Erwartungen,
BIOLOGIE gezielte Selbsürsorge
Anzipaonen
Schlüsselreize), physiologische und (inkl. sensomotorische Systeme), Bedürfnisgleichgewicht, Belohnungssysteme, Erregung, Neu-
- -
© Michael Heinrich 2020
T O P - D O W N
gerichtete Prozesse
biologisch verankert
selekve Aufmerksamkeit, sensorischer
Reakonsbereitscha Input
ungerichtete Aufmerksamkeit (Wachheit/ Vigilanz)
S E N S O R I S C H E S R E I Z F E L D
Abb. 6.2 Das Prozess-Modell der visuell-ästhetischen Wahrnehmung, Deutung und Bewer-
tung unter Berücksichtigung von Modellen von Chatterjee, Damasio, Leder, Vartanian, Nadal
und anderen. (Aus Heinrich, 2021a)
6 Metadisziplinäre Ästhetik: Ein Konzeptrahmen für Architektur … 87
6.5 Schlussbetrachtung
Literatur
Prof. Dr. Michael Heinrich ist Professor für Entwurf & Darstellen, Szenografie und Psy-
chologische Ästhetik an der Fakultät Design der Hochschule Coburg. Promoviert in Human-
biologie in München (LMU), erhält er 2021/2022 ein Visiting Fellow- und Scholarship an
der Cambridge University, Großbritannien. Seit 2022 leitet er das interdisziplinäre Institut
Mensch & Ästhetik für die Hochschule Coburg und in Kooperation mit der Universität Bam-
berg. Als fachlicher Sprecher des Forums Kultur der Europäischen Metropolregion Nürnberg
engagiert er sich für die kulturelle Bildung in Nordbayern.
michael.heinrich@hs-coburg.de