Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
net/publication/322397902
CITATIONS READS
0 21
3 authors, including:
Some of the authors of this publication are also working on these related projects:
Interdisciplinary analysis of the cemetery "Kudachurt 14". Evaluating indicators of social inequality, oral health and
diet during the Bronze Age key period betweeen 2150-1650 BCE in the Northern Caucasus View project
CRC 1266 "Scales of transformation: Human-environmental interaction in prehistoric and archaic societies"" View
project
All content following this page was uploaded by Sabine Reinhold on 19 January 2018.
Band 7
herausgegeben von
Peter Trebsche, Nils Müller-Scheeßel
und Sabine Reinhold
Der vorliegende Band entstand aus zwei voneinander unabhängig veranstalteten Tagungen
zur Frage des Verhältnisses von Sozialstrukturen und Raumgefüge in vormodernen Kul-
turen. Anlässlich des Archäologenkongresses im Mai 2008 in Mannheim veranstalteten
Nils Müller-Scheeßel und Sabine Reinhold eine Sektion der »Arbeitsgemeinschaft Theorie
in der Archäologie« zu dem Thema »Der konstruierte Raum – Sozialgefüge und Raum-
strukturierung in ur- und frühgeschichtlichen Siedlungen«. Der kleinere Teil der Beiträge
dieses Bandes entstammt dieser Tagung. Im Februar 2009 wurde dann in Wien von Peter
Trebsche und Nils Müller-Scheeßel ein noch stärker transdisziplinär orientierter Workshop
mit dem Titel »Bausteine einer Soziologie vormoderner Architekturen« organisiert, aus
dem der größere Teil der vorliegenden Beiträge hervorging.
Allen Beteiligten beider Veranstaltungen, den Vortragenden wie den Diskussionsteil-
nehmern, sei herzlich gedankt. Das Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität
Wien stellte dankenswerterweise die Räumlichkeiten für den Wiener Workshop bereit. Die
Universität Wien und die Römisch-Germanische Kommission des Deutschen Archäologi-
schen Instituts übernahmen freundlicherweise dessen Schirmherrschaft. Der Dank der Her-
ausgeber geht weiterhin an die Bremer Stiftung für Kultur- und Sozialanthropologie, die
einen Zuschuss zu den Reisekosten der Referenten der Mannheimer Sektion beitrug, sowie
an die Gerda Henkel-Stiftung, die Anreise und Übernachtung der Teilnehmer des Wiener
Workshopes finanzierte und die Publikation des vorliegenden Bandes ermöglichte.
Wir bedanken uns ferner bei den Autoren für die äußerst pünktliche Abgabe der
Manuskripte und die angenehme Zusammenarbeit. Manfred K. H. Eggert und Ulrich Veit
ermöglichten das Erscheinen des Buches innerhalb der von ihnen herausgegebenen Reihe
»Tübinger Archäologische Taschenbücher«. Schließlich möchten wir Beate Plugge vom
Waxmann-Verlag ganz herzlich für die ebenfalls stets angenehme und gute Zusammen-
arbeit danken.
Die Herausgeber, November 2009
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
PETER TREBSCHE, NILS MÜLLER-SCHEESSEL UND SABINE REINHOLD
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Einleitung
Zusammenfassung: Architektur – verstanden als vom Menschen gebaute Umwelt – ist in den
letzten Jahren verstärkt in das Forschungsinteresse vieler Disziplinen gerückt. Es hat sich die
Ansicht durchgesetzt, dass sie einen der wichtigsten Bestandteile materieller Kultur darstellt.
Die Metapher von der Architektur als »Spiegel der Gesellschaft« ist in Archäologie, Ethno-
logie, Soziologie und Architektur mittlerweile en vogue, und vor kurzem hat sich die Archi-
tektursoziologie als eine eigene Disziplin etabliert (vgl. Schäfers 2009). Ihr Blick richtet sich
jedoch hauptsächlich auf moderne und postmoderne Architekturen und Gesellschaften.1 Das
ausdrückliche Ziel des vorliegenden Bandes besteht nun darin, eine Brücke zu vormodernen,
so genannten elementaren, vernakulären oder traditionellen Architekturen zu schlagen. Dafür
scheint ein transdisziplinärer, kulturvergleichender, theoretisch fundierter und empirisch abge-
sicherter Ansatz am vielversprechendsten. Durch die Diskussion zwischen den genannten Dis-
ziplinen soll der Theoriefluss von der Soziologie und Architekturtheorie hin zu Archäologie und
Ethnologie angeregt werden. Die beiden letztgenannten Fächer verfügen über ein reiches – wenn
auch oft lückenhaft überliefertes – Quellenmaterial, von dem wiederum Architekturgeschichte
und Soziologie profitieren können, weil es einen historischen Blick auf Jahrtausende zurückrei-
chende Entwicklungen menschlicher Gebäudeformen und Raumkonzepte ermöglicht.
1 Zu den Gründen, warum sich die deutschsprachige Soziologie im Allgemeinen – ganz im Gegen-
satz zur französischen (Vogt 1981) – hauptsächlich mit modernen Gesellschaften beschäftigt, siehe
Mergel 1998.
10 Peter Trebsche, Nils Müller-Scheeßel und Sabine Reinhold
tursoziologie eine Definition wie die von Bernhard Schäfers (2003) zugrunde, welche
Architektur als die materielle, gebaute Umwelt konzeptualisiert, kommt man nicht
umhin, die Architektursoziologie als einen Teilbereich und zugleich als Korrektiv
der Raumsoziologie aufzufassen.2 Die Raumsoziologie beinhaltet nämlich nicht nur
den um- bzw. gebauten Raum, sondern umfasst Landschaften ebenso wie imaginäre
Traumwelten und den virtuellen Cyberspace. Anders als die Architektursoziologie
unterliegt die Raumsoziologie aber wesentlich stärker der Gefahr, die jede Diskussion
des Raumbegriffes in sich birgt: einer allgemeinen Beliebigkeit oder der Begriffskos-
metik lang bekannter Diskurse. Die Verwendung des Begriffs »Raum« bedeutet nicht
automatisch auch einen konzeptuellen spatial turn, sofern der Raumbegriff nicht auch
als eigenständige Analysekategorie eingesetzt wird (dazu Bachmann-Medick 2006,
302 ff.; vgl. auch Döring / Thielmann 2008; Frank u. a. 2008). Durch den unmittelba-
ren Rückbezug auf das Materielle – Häuser, Wände, Fenster, Türen, die den Men-
schen physische Widerstände entgegensetzen und ihr Tun und Handeln durch ihre
»handfeste« Form in bestimmte Bahnen lenken – ist die Architektursoziologie eher
als die viel abstraktere Raumsoziologie in der Lage, die Forderung nach einer empi-
risch begründeten und prüfbaren Theorie des Verhältnisses zwischen Gesellschaft
und Raum zu erfüllen.
Dies kommt insbesondere der Prähistorischen Archäologie entgegen, die sich ja
per definitionem nur mit materiellen Hinterlassenschaften beschäftigen kann. Die
archäologischen Quellen lassen lediglich Ausschnitte aus raumsoziologischen Dis-
kursen zu, da der Quellenbestand oft zu fragmentarisch ist. Es lassen sich in der
Archäologie zwar auch raumsoziologisch bedeutsame Aspekte beobachten, die eben
nicht unmittelbar dem Bereich der gebauten Umwelt angehören; zu denken wäre
etwa an die räumliche Anordnung von Gegenständen in Gräbern, der Lagebezug von
Deponierungen zu markanten Punkten in der Landschaft, die Repräsentation von Bau-
werken in Form von Hausurnen oder Felsbilder von Siedlungen, wie sie aus den Alpen
oder aus Sibirien bekannt sind (Abb. 1). Da ein viel größerer Teil der archäologischen
Quellen aber unmittelbar zur gebauten Umwelt zählt, bietet die Architektursoziologie
für die Archäologie vorerst ein wesentlich größeres heuristisches Potenzial als die
Raumsoziologie.
Abb. 1. Bol’šaja Bojarskaja Pisanica. Ausschnitt aus einem Felsbild der sibirischen Tagar
Kultur (2–1. Jh. v. Chr.). Dargestellt sind eine wohl idealisierte Siedlung und ihre Bewoh-
ner zwischen Wild- und Haustieren, Blockbauten, Jurten, mobilen Einrichtungsobjekten
wie Bronzekesseln, Trocknungsgestellen u. ä. (nach Devlet 1976, Taf. VI 1).
chen, es genügte einfach »Architektur«. Wenn wir es im Titel dennoch tun, so bedeutet
es kein Zugeständnis oder gar Akzeptanz der Ausgrenzung, welche die Moderne erst
geschaffen hat. Vielmehr dient der Begriff »vormoderne Architektur« der einfacheren
Verständigung; er soll zu einem Verständnis der allgemein gültigen Eigenschaften
von Architektur führen, welche seit den Jägerzelten der Altsteinzeit über die ersten
Häuser der jungsteinzeitlichen Bauern und mittelalterliche Burgen bis zum modernen
Wohnbau und zum postmodernen Fußballstadion der Gegenwart gelten.
Einen zweiten Perspektivenwandel versuchen wir ebenfalls im Titel zum Ausdruck
zu bringen: In Bezug auf die Baugeschichte kann nicht von einer einzigen »Architek-
tur« die Rede sein, zu komplex, zu vielfältig, mit Fort- und Rückschritten verbunden
ist die Entwicklung, zu groß sind die kulturellen Unterschiede der menschlichen
Baukulturen. Von der gebauten Umwelt in ihrer materiellen Ausprägung kann daher
nur im Plural gesprochen werden. Akzeptiert man diese Vielfalt, so ergibt sich ein
kulturvergleichender Ansatz, wie er im vorliegenden Band verfolgt wird, von selbst.
Der Fokus des Bandes liegt insbesondere auf Wohngebäuden und Siedlungskon-
figurationen, da durch sie das Alltagsleben und die Sozialstrukturen am stärksten
geprägt und repräsentiert werden. Darüber hinaus besteht auf dem Gebiet der Wohnar-
chitektur der größte Forschungsbedarf, da von Seiten der Architekturgeschichte, aber
auch der Archäologie den Prestige- und Monumentalbauten bisher überproportional
viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Architektursoziologische Fragestellungen
können sich außerdem nicht in der Betrachtung einzelner Gebäude erschöpfen. Zum
einen ergeben sich erst über einen Vergleich von Gebäuden Ansatzmöglichkeiten zu
ihrer Interpretation. Zum anderen stehen im Fokus architektursoziologischer For-
schungen die Struktur von Gebäudeensembles bis hin zu ganzen Siedlungen. Es ist
daher Anliegen dieses Bandes, nicht nur die Unterscheidung zwischen modernen
und »vormodernen« Architekturen zu hinterfragen, sondern auch die Trennung zwi-
schen »Hochkultur« und »Massenkultur« für eine architektursoziologische Analyse
aufzuheben. Erst die gemeinsame Betrachtung von Palästen und Armenvierteln, von
Tempelanlagen und Wohnhütten ermöglicht einen angemessenen Zugang zur sozialen
(Um-) Welt vergangener und gegenwärtiger Kulturen.
Die Beiträge des Bandes sind um theoretisch fundierte Ansätze bemüht, die auch
ausführlich empirische Beispiele mit einbeziehen, was uns für die Akzeptanz archi-
tektursoziologischer Arbeiten von besonderer Bedeutung erscheint. Dabei kann der
Anspruch dieses Bandes keine umfassende Darstellung einer Architektursoziologie
vormoderner Gesellschaften sein, vielmehr befasst er sich mit konkreten Problemen
und Fragestellungen: Was zeichnet die Architektur in vormodernen Gesellschaften
gegenüber anderen Bestandteilen der materiellen Kultur besonders aus? Welche The-
Einleitung 13
orien verknüpfen die konkreten Erscheinungsformen von Architektur mit den sie
hervorbringenden Gesellschaftsstrukturen? Gibt es allgemein gültige Merkmale von
Architektur, wie Prestige oder soziale Unterschiede vermittelt werden?
Die Palette der hier präsentierten Anwendungsbeispiele ist sowohl thematisch als
auch geographisch ausgesprochen vielfältig. Einen Überblick der behandelten ethno-
graphischen, archäologischen und zeitgenössischen Gesellschaften bieten die Karte in
Abbildung 2 und Tabelle 1. Repräsentativität in chronologischer Hinsicht war dabei
nie angestrebt, vielmehr versuchten wir, Schwerpunkte in drei Epochen zu setzen:
dem Neolithikum, der Eisenzeit sowie dem frühen und hohen Mittelalter.
Der Band ist in drei Abschnitte gegliedert: Der erste enthält theoretische Bausteine
aus Architektursoziologie und Ethnologie, der zweite methodische und praktische
Beiträge aus der Archäologie in chronologischer Reihenfolge. Im dritten Kapitel sind
genuin interdisziplinäre Analysen und Fallbeispiele aus der Ethnologie, Ethnoarchä-
ologie, Bauforschung und angewandter Architektur gebündelt. Im Folgenden sollen
– leicht abweichend von der Reihenfolge im Inhaltsverzeichnis – der Beitrag und
Nutzen für die einzelnen Disziplinen zusammengefasst werden.
Architektursoziologie
Am Beginn stehen Beiträge der sich seit einigen Jahren als Teildisziplin der Sozio-
logie etablierten Architektursoziologie (Schäfers 2003; Delitz 2009). Sie behandeln
die theoretische Fundierung des Verhältnisses zwischen menschlicher Gesellschaft
und umbautem Raum sowie die methodische Vorgehensweise bei der Analyse des
Verhältnisses von Mensch und Architektur.
Bernhard Schäfers, der Begründer der Architektursoziologie im deutschsprachi-
gen Raum, umreißt klar und präzise die Aufgabenfelder dieser Disziplin und gibt
einen Überblick der möglichen theoretischen Zugänge. Für ihn ist das »Verhältnis
Mensch–Architektur unentrinnbar« und deshalb die Architektur in ihrer »Omniprä-
senz« von zentraler Relevanz für die gesamte Lebenswelt der Menschen, auch frühe-
rer Epochen und Kulturen. Herbert Schubert plädiert für eine prozesshafte Betrach-
tung der Architektur, die auf der Zivilisationstheorie von Nobert Elias gründet. Er
stellt einen Mehrebenen-Ansatz für eine »integrierte Sozialraumanalyse« vor, die
Zugänge verschiedener Disziplinen integriert. Seine prozesstheoretische Perspektive
wendet sich ausdrücklich gegen einen »Hodiezentrismus«, der die Soziologie in der
Moderne kennzeichnet. Für architektursoziologische Betrachtungen über lange Zeit-
räume hinweg, wie sie in Archäologie und Geschichte verfolgt werden (sollten), ist
die Prozesstheorie sicherlich fruchtbar, wie Schubert am Beispiel der Synthese des
Architekturbegriffs und am Prozess der Verhäuslichung erläutert.
Während Schäfers und Schubert in ihren Beiträgen jeweils die Bedeutung semi-
otischer Ansätze und dementsprechend die »Lesbarkeit« von Architektur betonen,
14
Peter Trebsche, Nils Müller-Scheeßel und Sabine Reinhold
Abb. 2. Lage der ethnographischen (■) und archäologischen (●) Fallbeispiele (zur Nummerierung s. Tab. 1).
Einleitung 15
Tab. 1. Übersicht über die ethnographischen und archäologischen Fallbeispiele (zur Lage
s. Abb. 2).
Dass auch die Archäologie der Architekturtheorie und -soziologie Einiges zu geben
hat, soll im Folgenden exemplarisch anhand der Diskussion um die so genannte
»Urhütte« bzw. genauer: deren Erörterung durch Joseph Rykwert gezeigt werden, die
während der Schlussdiskussion des Wiener Workshop ausführlich zur Sprache kam.
In einem in der Architekturgeschichte und -theorie ausgesprochen einflussreichen
Essay befasste sich der Architekturhistoriker Rykwert (2005 [1972]) mit den verschie-
denen architekturgeschichtlichen Versuchen, einen ideellen Fixpunkt für den Beginn
menschlichen Bauens, eine erste »Urhütte« zu finden (s. auch den Beitrag H. P. Hahn).
3 Einen systematischen »Theorienband« zur Architektursoziologie bieten seit kurzem Fischer / De-
litz 2009; vgl. auch Delitz 2009.
Einleitung 17
Abb. 3. Ausschnitt aus der »Histoire de l’habitation« der Pariser Weltausstellung von 1889
(nach Amman 1889, 11; 15).
6 Ausgewählte Literatur: Narr 1982; Jelínek 1986; Bosinski 1987; Müller-Karpe 1998, 52–5; Auf-
fermann / Orschiedt 2002.
Einleitung 19
Wie Andreas Pastoors in seinem Mannheimer Vortrag zudem zeigte, folgt die
Raumgestaltung in einer solchen Bilderhöhle durchaus Regeln, wie sie in der Archi-
tekturtheorie diskutiert werden: Lichteinfall, Zugänglichkeit, Klangdimensionen.
Einem zivilisatorischen Fortschrittsglauben in der Konzeption von Raum und dessen
Gestaltung ist damit eigentlich die Grundlage entzogen. Der Gegensatz zwischen
»entdecktem« und »gebautem« Raum war offensichtlich für diejenigen, die ihn
genutzt haben, nur ein scheinbarer. Es handelt sich keineswegs um sich ausschlie-
ßende oder voneinander ableitbare Wohnformen, sondern vielmehr muss man davon
ausgehen, dass bereits die frühen Menschen alle sich bietenden Möglichkeiten der
Gestaltung und Aneignung von Raum kreativ genutzt haben.
Von einer Zusammenarbeit der Disziplinen hat die Archäologie vermutlich den größ-
ten Nutzen, da die Überreste, mit denen sie zu tun hat, die umfangreichste ›Deutungs-
arbeit‹ verlangen. Gleichzeitig ist die Archäologie den anderen Disziplinen insbeson-
dere dank der großen zeitlichen Tiefe ihrer faktischen Belege voraus, was den Blick
auf langfristige Entwicklungen, aber auch Konvergenzen in Raumkonzeptionen wie
in konkreten Bauvorgängen oder Bauformen erleichtert. Zudem ist es eine dringliche
Aufgabe der Archäologie, über die Rezeption der empirischen Befunde des Faches
hinaus der fachspezifischen Diskussion um eine angemessene Interpretation Gehör
zu verschaffen, um auf diese Weise verkürzten Darstellungen und Auslegungen von
archäologischen Funden entgegenzutreten.
Raum und Architektur sind seit jeher ein Forschungsfeld sämtlicher archäolo-
gischer Disziplinen.7 Meist ist ihre Analyse jedoch auf die Bildung typologischer
Reihen, chronologischer Abfolgen oder den Versuch funktionaler Interpretationen
beschränkt. Soziale Fragestellungen wurden und werden zumindest in der ur- und
frühgeschichtlichen Archäologie vor allem anhand der Gräber und Grabfunde behan-
delt. Von einer architektur- oder raumsoziologischen Analyse prähistorischer Siedlun-
gen und ihrer Baustrukturen ist daher ein wesentlicher Erkenntnisgewinn bzw. ein
Korrektiv für die bislang gewonnenen Hypothesen zu erwarten. Für eine Architek-
tursoziologie in der Archäologie kann indes – aufgrund der lückenhaften Quellenlage
und Überlieferungssituation – nicht einfach das methodische Instrumentarium aus
Soziologie oder Ethnologie übernommen werden. Vielmehr müssen eigene Ana-
7 In Bezug auf die soziale und politische Deutung von Architektur (vor allem von Herrschafts-
und Sakralarchitektur) sind die Klassische und Vorderasiatische Archäologie der Prähistorischen
Archäologie voraus, was nicht zuletzt am besseren Erhaltungszustand der Bauwerke aus Stein und
Lehmziegeln liegen dürfte. Vgl. z. B. Schuller u. a. 1989; Weiler 2001; Schwandner / Rheidt 2004;
Ault / Nevett 2005; Westgate u. a. 2007.
20 Peter Trebsche, Nils Müller-Scheeßel und Sabine Reinhold
8 Aufsatzsammlungen zu Siedlung, Architektur und deren sozialer Lesbarkeit finden sich momen-
tan im frankophonen (Bocquet 1997; Coudart 1998; Braemer u. a. 1999) sowie im anglophonen
Sprachraum (Brandt / Karlsson 2001; Westgate u. a. 2007).
Einleitung 23
In der Völkerkunde stand das Haus lange Zeit nur als Objekt der materiellen Kultur
im Blickpunkt. In diesem Kontext trat in den letzten Jahrzehnten die Bedeutung von
Architektur als Träger von Symbolik (Blier 1987; Bourdieu 2000) und als soziale Tat-
sache (house societies nach C. Lévi-Strauss, vgl. Carsten / Hugh-Jones 1995) in den
Vordergrund. Dabei rückte allerdings – zum Leidwesen der Archäologie – die kon-
krete materielle Ausgestaltung in den Hintergrund, ihre Dokumentation verkam sogar
– wie es Claude Lévi-Strauss (1999, 370) ausdrückte – zu »irgendeiner umständlichen
und sinnlosen Aufgabe […], wie etwa, die Entfernung zwischen den Hütten zu mes-
sen oder einen nach dem anderen die Äste zu zählen, die für den Bau der verlassenen
Wohnstätten verwendet worden sind«.
Mit der Begründung einer Architectural Anthropology (Amerlinck 2001) und der
stärkeren Berücksichtigung der Funktionsweise materieller Kultur (Hahn 2005) ist das
ethnologische Interesse an der Architektur zwar wieder erwacht, in der Zwischenzeit
hatte sich jedoch die Dokumentation traditioneller Bauwerke zu einem beträchtli-
chen Teil außerhalb der Völkerkunde verselbständigt und wird nunmehr in ande-
rem institutionellen Rahmen betrieben, so zum Beispiel am Institut für Baukunst der
Technischen Universität Wien, in der Vernacular Architecture Group, der Construc-
tion History Society oder der International Association for the Study of Traditional
Environments, aber auch im Rahmen ethnoarchäologischer Forschungen (Kent 1990;
Piesbergen 2007). Dementsprechend heterogen ist die Gruppe der in diesem Abschnitt
zusammengefassten Beiträge und reicht von der theoretischen Ethnologie im ersten
Kapitel des Buches (H. P. Hahn, A. Dafinger) über kultur- und sozialanthropologi-
sche Fallstudien (H. Mückler), Ethnoarchäologie (Th. Piesbergen), Bauforschung (E.
Lehner) bis zur angewandten Siedlungsplanung und Architektur (A. Rieger-Jandl) im
dritten Kapitel.
Zuerst positioniert Hans Peter Hahn die ethnologische Beschäftigung mit Raum
und Architektur im Rahmen der postmodernen Architektur und der Debatten nach
dem »spatial turn«. Er prüft kritisch die These einer »sozialen Logik des Raumes«,
deren Grundannahmen in der »Baumeisterperspektive« liegen. Seiner Auffassung
nach greift diese aber zu kurz, da sie die Handlungsbezüge nicht berücksichtigt,
die – mehr als die Struktur und Konfigurationen des gebauten Raumes – tatsächlich
konstitutiv für den Zusammenhang von Raum und Bedeutung sind. Überzeugend
demonstriert Hahn dies am Beispiel des Zusammenhangs zwischen Geschlecht und
Raum, den er als Universalie menschlicher Gesellschaften herausstellt.
Wie ein roter Faden ziehen sich Kritik und Kommentare zu dem Buch »The Social
Logic of Space« von Bill Hillier und Julienne Hanson (1984), das in seinem Einfluss
wohl kaum zu unterschätzen ist, sowohl durch den archäologischen wie den ethnolo-
gischen Teil des vorliegenden Bandes. Andreas Dafinger setzt sich ausführlich mit der
Rezeptionsgeschichte und den Kernaussagen der »Space Syntax Theory« auseinander.
24 Peter Trebsche, Nils Müller-Scheeßel und Sabine Reinhold
Literaturverzeichnis
Amerlinck 2001: M.-J. Amerlinck (Hrsg.), Architectural Anthropology. Westport, Connecticut,
London: Bergin & Garvey 2001.
Amman 1889: A. Amman, Guide historique a travers l’exposition des habitations humaines
reconstituées par Charles Garnier. Paris: Librairie Hachette 1889.
Auffermann / Orschiedt 2002: B. Auffermann / J. Orschiedt, Die Neandertaler. Eine Spurensu-
che. Archäologie in Deutschland Sonderheft. Stuttgart: Theiss 2002.
Ault / Nevett 2005: B. A. Ault / L. C. Nevett (Hrsg.), Ancient Greek Houses and Households.
Chronological, Regional, and Social Diversity. Philadelphia: University of Pennsyl-
vania Press 2005.
Bachmann-Medick 2006: D. Bachmann-Medick, Cultural turns: Neuorientierungen in den Kul-
turwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006.
Binding 2004: G. Binding, Meister der Baukunst. Geschichte des Architekten- und Ingenieur-
berufes. Darmstadt: Primus Verlag 2004.
Blier 1987: S. P. Blier, The Anatomy of Architecture: Ontology and Metaphor in Batammaliba
Architectural Expression. Cambridge: Cambridge University Press 1987.
Bocquet 1997: A. Bocquet (Hrsg.), Espaces physiques, espaces sociaux dans l’analyse interne
des sites du néolithique à l’âge du Fer. Actes du 119e congrès national des sociétés
historiques et scientifiques, Amiens, 26–30 octobre 1994. Paris: Édition du CTHS
1997.
Bosinski 1987: G. Bosinski, Die große Zeit der Eiszeitjäger. Europa zwischen 40 000 und
10 000 v. Chr. Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 34, 1987,
3–139.
Bourdieu 2000: P. Bourdieu, The Berber House or the World Reversed. In: J. Thomas (Hrsg.),
Interpretive Archaeology. A Reader. London, New York: Leicester University Press
2000, 495–509 [Erstveröffentlichung: Social Science Information 9, 1972, 151–70].
Braemer u. a. 1999: F. Braemer / S. Cleuziou / A. Coudart (Hrsg.), Habitat et Société. Antibes:
Edition APDCA 1999.
Brandt / Karlsson 2001: J. R. Brandt / L. Karlsson (Hrsg.), From Huts to Houses: Transforma-
tions of Ancient Societies. Proceedings of an International Seminar Organized by
the Norwegian and Swedish Institutes in Rome, 21–24 September 1997. Stockholm:
Svenska Institutet i Rom 2001.
Carsten / Hugh-Jones 1995: J. Carsten / S. Hugh-Jones (Hrsg.), About the house: Lévi-Strauss
and beyond. Cambridge: Cambridge University Press 1995.
26 Peter Trebsche, Nils Müller-Scheeßel und Sabine Reinhold
Coudart 1998: A. Coudart, Architecture et société néolithique. Paris: Éditions de la Maison des
Sciences de l’Homme 1998.
Delitz 2009: H. Delitz, Architektursoziologie. Bielefeld: Transcript 2009.
Devlet 1976: M. A. Devlet, Bol’šaja Bojarskaja pisanica. Rock engravings in the Middle Yenisei
Basin. Moskau: Nauka 1976.
Döring / Thielmann 2008: J. Döring / T. Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma
in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld: Transcript 2008.
Feinman 1995: G. M. Feinman, The Emergence of Inequality. A Focus on Strategies and Pro-
cesses. In: T. D. Price / G. M. Feinman (Hrsg.), Foundations of Social Inequality. Fun-
damental Issues in Archaeology. New York, London: Plenum Press 1995, 255–79.
Fischer 2009: J. Fischer, Zur Doppelpotenz der Architektursoziologie: Was bringt die Soziologie
der Architektur – Was bringt die Architektur der Soziologie? In: Fischer / Delitz 2009,
385–414.
Fischer / Delitz 2009: Ders. / H. Delitz (Hrsg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für
die Architektursoziologie. Bielefeld: Transcript 2009.
Frank u. a. 2008: M. C. Frank / B. Gockel / T. Hauschild / D. Kimmich / K. Mahlke, Räume - Zur
Einführung. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2, 2008, 7–16.
Grøn 1991: O. Grøn, A Method for Reconstruction of Social Structure in Prehistoric Societies
and Example of Practical Applications. In: Ders. (Hrsg.), Social Space. Human Spatial
Behaviour in Dwellings and Settlements. Proceedings of an Interdisciplinary Confe-
rence. Odense: Odense University Press 1991, 100–17.
Hahn 2005: H. P. Hahn, Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin: Reimer 2005.
Hillier / Hanson 1984: B. Hillier / J. Hanson, The Social Logic of Space. Cambridge: Cambridge
University Press 1984.
Jelínek 1986: J. Jelínek, Das Dach über dem Kopf. Die Anfänge der menschlichen Architektur.
Katalog zur Ausstellung aus den Sammlungsfonds des Anthropos-Instituts des Mähri-
schen Landesmuseums Brünn. Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums
Neue Folge 318. Asparn a. d. Zaya: Museum für Urgeschichte des Landes Nieder-
österreich 1986.
Jung im Druck: M. Jung, Anmerkungen zur sozialhistorischen Interpretation der Lehmzie-
gelmauer der Heuneburg. In: P. Trebsche / I. Balzer / Ch. Eggl / J. Fries-Knoblach / J.
Koch / J. Wiethold (Hrsg.), Architektur: Interpretation und Rekonstruktion. Beiträge
zur Sitzung der AG Eisenzeit während des 6. Deutschen Archäologie-Kongresses in
Mannheim 2008. Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte Mitteleuropas 55. Langenweiß-
bach: Beier und Beran im Druck.
Kent 1990: S. Kent (Hrsg.), Domestic Architecture and the Use of Space. An Interdisciplinary
Cross-Cultural Study. Cambridge: Cambridge University Press 1990.
Klotz 2001: H. Klotz (Hrsg.), Von der Urhütte zum Wolkenkratzer. 25 Modelle zur Geschichte
der Architektur. Frankfurt a. M.: Deutsches Architektur Museum 22001.
Läpple 1991: D. Läpple, Essay über den Raum. Für ein gesellschaftswissenschaftliches Raum-
konzept. In: H. Häußermann u. a. (Hrsg.), Stadt und Raum. Pfaffenweiler: Centaurus-
Verlag 1991, 157–207 [http://www.tu-harburg.de / stadtplanung / html / ab / ab_106 / ag_
1 / publikationen / laepple / essay.pdf].
Lehner 2003: E. Lehner, Elementare Bauformen außereuropäischer Kulturen. Wien, Graz:
Neuer Wissenschaftlicher Verlag 2003.
Einleitung 27
Lévi-Strauss 1999: C. Lévi-Strauss, Traurige Tropen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999 [Erst-
ausgabe: Paris 1955].
Löw 2001: M. Löw, Raumsoziologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001.
Mergel 1998: T. Mergel, Geschichte und Soziologie. In: H.-J. Goertz (Hrsg.), Geschichte. Ein
Grundkurs. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1998, 621–51.
Müller-Karpe 1998: H. Müller-Karpe, Grundzüge früher Menschheitsgeschichte. 1. Von den
Anfängen bis zum 3. Jahrtausend v. Chr. Stuttgart: Theiss 1998.
Müller-Scheeßel 2001: N. Müller-Scheeßel, Fair Prehistory: Archaeological Exhibits at French
Expositions universelles. Antiquity 75, 288, 2001, 391–401.
Narr 1982: K. J. Narr, Wohnbauten des Jungpaläolithikums in Osteuropa. In: D. Papenfuss / V.
M. Strocka (Hrsg.), Palast und Hütte. Beiträge zum Bauen und Wohnen im Altertum
von Archäologen, Vor- und Frühgeschichtlern. Tagungsbeiträge eines Symposiums
der Alexander von Humboldt-Stiftung Bonn-Bad Godesberg veranstaltet vom 25.–30.
November 1979 in Berlin. Mainz: Philipp von Zabern 1982, 3–19.
Oliver 1997: P. Oliver (Hrsg.), Encyclopedia of Vernacular Architecture of the World Cam-
bridge: Cambridge University Press 1997.
Pétrequin u. a. 1999: P. Pétrequin / A. Viellet / N. Illert, Le Néolithique au nord-ouest des Alpes:
rythmes lents de l’habitat, rythme rapide des techniques et des styles? In: F. Brae-
mer / S. Cleuziou / A. Coudart (Hrsg.), Habitat et Société. XIXe Rencontres Interna-
tionales d’Archéologie et d’Histoire d’Antibes. Antibes: Éditions A.P.D.C.A. 1999,
297–323.
Piesbergen 2007: Th. J. Piesbergen, Der kontextuelle Raum im vorderasiatischen Neolithikum.
Die Entwicklung der Lehmarchitektur, die Sozio-Ökonomie des Bauens und Wohnens
und die kulturelle Organisation des architektonischen Raums. BAR International Series
1589. Oxford: Hedges 2007.
Roscoe 2000: P. Roscoe, New Guinea Leadership as Ethnographic Analogy: A Critical Review.
Journal of Archaeological Method and Theory 7, 2, 2000, 79–126.
Rykwert 2005: J. Rykwert, Adams Haus im Paradies: Die Urhütte von der Antike bis Le Cor-
busier. Berlin: Gebr. Mann 2005 [Erstausgabe: New York 1972].
Schäfers 2003: B. Schäfers, Architektursoziologie. Grundlagen – Epochen – Themen. Opladen:
Leske + Budrich 2003.
Schäfers 2009: B. Schäfers, Architektursoziologie. Zur Geschichte einer Disziplin. In:
Fischer / Delitz 2009, 365–84.
Schroer 2006: M. Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006.
Schroer 2008: M. Schroer, »Bringing space back in«. Zur Relevanz des Raumes als soziologi-
scher Kategorie. In: Döring / Thielmann 2008, 125–48.
Schuller u. a. 1989: W. Schuller / W. Hoepfner / E.-L. Schwandner (Hrsg.), Demokratie und
Architektur. Der hippodamische Städtebau und die Entstehung der Demokratie. Kon-
stanzer Symposion von 17. bis 19. Juli 1987. Wohnen in der klassischen Polis 2. Mün-
chen: Deutscher Kunstverlag 1989.
Schwandner / Rheidt 2004: E.-L. Schwandner / K. Rheidt (Hrsg.), Macht der Architektur –
Architektur der Macht. Bauforschungskolloquium in Berlin vom 30. Oktober bis
2. November 2002 veranstaltet vom Architektur-Referat des DAI. Diskussionen zur
Archäologischen Bauforschung 8. Mainz: Philipp von Zabern 2004.
28 Peter Trebsche, Nils Müller-Scheeßel und Sabine Reinhold