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MARK DAWSON
INHALT
Der Cleaner
Prolog
Teil I
Der Traum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Teil II
Der Traum
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Teil III
Der Traum
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Teil IV
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Teil V
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Epilog
Der Heilige Tod
Prolog
Emails
I. Erster Tag
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
II. Zweiter Tag
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
III. Dritter Tag
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
IV. Vierter Tag
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Epilog
Der Fahrer
Teil I
Tabby Wilson
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Teil II
Meg Gabbert
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Teil III
Miley Van Dyken
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Teil IV
Karly Hammil
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Teil V
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Epilog
Hol dir zwei gratis Geschichten von Mark Dawson!
Über den Autor
DER CLEANER
JOHN MILTON REIHE
PROLOG
ie Straße durch den Wald lag friedlich da, die sanfte Stille wurde
D untermalt vom Gurgeln eines Bergbachs und dem Zwitschern der Vögel
im Laubdach der Bäume. Die Route Forestière Domaniale de la Combe
d‘Ire war schmal und voller Schlaglöcher. An manchen Stellen war nur Platz
für ein einzelnes Auto auf einmal. Immergrüne Fichtenwälder drängen sich
zu beiden Seiten dicht heran und warfen ein feuchtes Zwielicht über die
Straße, das die warme Sonne überall da zerstreute, wo die Bäume
zurückgeschnitten worden waren. Das Massiv des Montagne de Charbon mit
seinen dunstigen Hängen ragte über der Baumgrenze auf, Streifen von Fels
und Geröll zogen sich durch die Vegetation. Die Straße folgte einer sorgsam
angelegten Route an der Bergflanke hinauf; sie bog scharf nach links und
wieder nach rechts und kehrte manchmal zu sich selbst zurück auf der Suche
nach dem sichersten Weg nach oben. Sie kreuzte hin und her über den Bach,
und die bucklige Brücke dort war aus uralten Backsteinen gebaut, die von
den feuchten Flechten, die daran klebten, ebenso zusammengehalten wurden
wie von dem langsam zerbröckelnden Mörtel. Die Brücke wölbte sich neben
einer kleinen, eingefriedeten Fläche, die auf einer Tafel als Parkplatz
ausgewiesen wurde, was die Wahrheit allerdings ein wenig strapazierte. Es
war kaum mehr als eine in den Berg gesprengte Ausweichbucht, kaum groß
genug, um Platz für vier Autos nebeneinander zu bieten.
Es war ein stilles, isoliertes Fleckchen, vor der Außenwelt fast so
abgeschieden, als habe jemand eine Tür geschlossen.
Milton hatte seinen Renault dicht an der Bergwand geparkt. Es war ein
unauffälliger Leihwagen, und genau deshalb hatte er ihn ausgesucht. Er war
rückwärts auf den Platz gefahren und hatte den Motor laufen lassen, als er
ausgestiegen und zum Kofferraum gegangen war. Er schloss ihn auf, öffnete
ihn und blickte hinunter auf das Bündel in dem kleinen Stauraum des
Wagens. Er schlug die Ecken der Wolldecke zurück und legte das
Sturmgewehr frei, das am Abend zuvor in dem toten Briefkasten hinterlegt
worden war. Es war ein HK53-Karabiner mit integriertem Schalldämpfer, das
Gewehr, das der SAS oft einsetzte, wenn Lautlosigkeit ebenso wichtig war
wie Mannstoppwirkung. Milton hob das Gewehr aus dem Kofferraum und
schob ein neues 25-Schuss-Magazin in den Schacht. Er klappte den Kolben
aus, richtete die Waffe auf die Mitte der Straße und zielte. Als er sicher war,
dass das Gewehr einwandfrei funktionierte, ging er zur Brücke und legte es
ins Unterholz, wo es nicht zu sehen war.
Er hatte die Umgebung erkundet und kannte sie gut. In nördlicher
Richtung führte die Straße irgendwann nach Saint-Jorioz, einem mittelgroßen
Urlaubsort am Ufer des Lac d’Annecy. Südwärts ging es hinunter zu dem
kleinen Dorf Chevaline. Das Dorf lebte von der Landwirtschaft, und im
Nebenerwerb vermietete man malerische Bauernhäuser an Touristen, die zum
Radfahren und Wandern herkamen. Milton hatte in den letzten drei Tagen in
genau so einem Haus gewohnt. Er hatte die Zeit damit verbracht, die Gegend
zu erforschen; früh morgens war er mit dem Fahrrad losgefahren und erst
spät abends zurückgekehrt. Dabei hatte er sich unauffällig verhalten und war,
von diesen Ausflügen abgesehen, die meiste Zeit im Haus geblieben.
Er hörte den Motor des BMW lange, bevor er ihn sah. Er holte das
Gewehr und schob sich hinter einen Eichenstamm. So war er von der Straße
aus nicht zu sehen, konnte sie aber gut beobachten. Der weinrote Kombi fuhr
im zweiten Gang; er hatte seine Mühe mit der Steigung der Straße. Er kam
aus einer scharfen Rechtskurve, und die Scheinwerfer schnitten einen Weg
durch die Dämmerung.
Der Wagen wurde langsamer und bog auf den Parkstreifen, wo der
Renault stand. Milton hielt den Atem an, und sein Puls beschleunigte sich.
Sein Zeigefinger schob sich unter den Abzugbügel. Der Fahrer parkte neben
dem Renault und stellte den Motor ab. Milton hörte Musik aus dem BMW.
Die Beifahrertür öffnete sich, und die gedämpfte Musik wurde lauter.
Französischer Pop, austauschbar und harmlos. Der Beifahrer stiegt aus,
beugte sich in den Wagen zurück und sprach in scharfem Ton hinein. Die
Musik brach ab. Einen Moment lang hörte Milton nur das Knirschen der
Schritte des Mannes auf dem Kies, das Rauschen des Wassers und den Wind
in den Bäumen. Er fasste das Gewehr fester und konzentrierte sich darauf,
ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Die Fahrertür wurde geöffnet, und eine große, dunkelhäutige Frau stieg
aus.
Milton erkannte sie beide. Der Beifahrer war Jehja Alonzo Moussa, und
die Fahrerin hieß Samira Nadschib.
Er trat hinter der Eiche hervor, hob das HK53, schaltete auf Automatik
und gab einen Feuerstoß ab. Die Kugeln trafen Najdschib in den Oberkörper
und perforierten Leber und Lunge. Sie griff sich mit der Hand an die Brust
und machte ein verblüfftes Gesicht. Dann drehte sie sich um sich selbst und
fiel rückwärts gegen den Wagen. Jehja schrie auf und reagierte schnell; er
duckte sich unter die Silhouette des BMW. Milton machte zwei geschmeidige
Schritte zur Seite, um den Schusswinkel wieder zu öffnen, und feuerte ein
zweites Mal. Der Wissenschaftler versuchte, in den Wagen
zurückzugelangen, aber die Kugeln stanzten eine Linie in seinen Körper, vom
Hals bis zum Schritt.
Die Schüsse hallten einen Moment lang zwischen den Bäumen nach.
Vögel waren explosiv über den Bäumen aufgeflattert, und ihre Flügelschläge
klangen wie ein Applaus. Das Echo der Schüsse verklang, und wenige
Augenblicke nach dem brutalen Ausbruch von Gewalt war wieder alles still:
Der Wind raschelte in den Bäumen, das Wasser plätscherte unter der Brücke,
und von hoch oben rief eine Nachtigall.
Milton hielt inne. Da war noch ein Geräusch.
Ein zweites Auto näherte sich.
Sich zu verstecken hätte keinen Sinn; das blutige Tableau würde ihn
verraten. Der Wagen kam aus dem Wald hervor. Es war ein Renault Mégane,
blau mit weißen und roten Siebdruckstreifen auf der Motorhaube. Der
Polizist vorn im Wagen sah ihn offenbar sofort. Der Mégane hielt fünfzehn
Meter entfernt unvermittelt an.
Milton warf das Magazin aus und schob ein neues ein.
Der Polizist öffnete die Tür und stieg aus. Seine Hand lag auf dem
Kolben seiner Pistole im Holster. »Arrét!«, rief er.
Milton dachte nicht lange nach. Seine Reaktion war fest programmiert
und im Laufe seiner jahrelangen Gefechtserfahrung so sehr in Fleisch und
Blut übergegangen, dass sie jetzt automatisch ablief, ein Ausdruck des
Muskelgedächtnisses ohne Gewissensprüfung, plötzlich und furchtbar
tödlich. Er schwenkte das Gewehr herum, drückte ab und ließ einen längeren
Feuerstoß los. Der Polizeiwagen wurde vom Kugeln durchsiebt. Ein halbes
Dutzend durchschlug den Kühler, eine weitere Handvoll zerschmetterte die
Frontscheibe. Der Polizist wurde in Gesicht und Brust getroffen. Er taumelte
rückwärts, fiel auf den Rücken und lag einen Moment lang schrecklich
zuckend da. Milton ging auf ihn zu, senkte das Gewehr und jagte ihm eine
letzte Kugel in den Kopf. Endlich lag der Mann still.
Wieder herrschte friedvolle Ruhe, jetzt aber ornamentiert durch den
Klang der Glasscherben, die aus dem Rahmen der Windschutzscheibe fielen
und am Boden zersprangen.
Milton ging quer über die Straße zu seinem Renault. Er öffnete den
Kofferraum, wickelte das Gewehr in die Decke und verstaute es sorgfältig
unter dem Ersatzrad im doppelten Boden. Dann zog er ein Paar
Latexhandschuhe an und sammelte die ausgeworfenen Patronenhülsen aus
seinem Gewehr auf. Es waren vierzig, und sie waren noch heiß. Er warf sie in
einen kleinen Asservatenbeutel. Dann hockte er sich neben Najdschibs
Leiche und durchsuchte sie schnell und effizient. Ihr Smartphone und ein
USB-Stick wanderten ebenfalls in einen Beutel.
Er ging um den Wagen herum und kniete sich neben al Moussa. Die
Wagentür stand offen, und als er aufblickte, um hineinzuschauen, starrte ihm
ein kleines, blasses Gesicht entgegen. Milton blieb ruhig. Es gab keinen
Grund zur Eile. Das Gesicht gehörte einem kleinen Jungen von vielleicht fünf
oder sechs Jahren. Haut und Haare waren dunkel, und sein Gesicht erinnerte
an eines seiner Elternteile. Er kauerte im Fußraum und hatte einen Streifen
Blut auf der Stirn, als hätte man ihn mit Farbe bespritzt. Es war jedoch nicht
sein Blut, sondern stammte von seinem Vater.
Milton griff nach der Sig Sauer in seinem Schulterholster, und seine
Finger berührten den Kolben. Der Junge blickte ihm fest in die Augen. Er
war grau vor Angst und zitterte, aber er wandte sich nicht ab. Er war tapfer.
Milton fühlte, wie ihm die Galle in die Kehle stieg, als seine Erinnerung ihn
um zwanzig Jahre zurück und tausend Meilen weit weg versetzte. Er dachte
an einen anderen kleinen Jungen, ungefähr so alt wie dieser, sein Gesicht
friedlich trotz der Obszönität seines Todes.
Milton ließ die Sig los, richtete sich auf und wich zurück. Sanft zog er die
Leiche des Mannes auf den ungepflasterten Parkstreifen und ging wieder zum
Wagen.
»Bleib da«, sagte er zu dem Jungen. »Gleich kommt Hilfe.«
Er schloss die Wagentür, vergewisserte sich, dass er die Spuren seiner
Anwesenheit beseitigt hatte. Dann stieg er in den Renault, startete den Motor
und fuhr ab.
Er bog nach Norden, und fuhr bergauf in Richtung See.
TEIL I
Der Mann lag im Bett, die Hände über dem Herzen in die Brust gekrallt, und
knirschte immer wieder mit den Zähnen. Seine Lider flatterten, und
manchmal stöhnte er und brachte ein paar erstickte Worte hervor, die
unverständlich gewesen wären, selbst wenn jemand im Zimmer gewesen
wäre. Sein Körper war starr und schweißnass wie die Laken. Der Traum kam
jetzt öfter, fast jede Nacht, und es war immer der gleiche. Er lag flach
ausgestreckt auf den weichen warmen Sanddünen. Die Sonne stand senkrecht
über ihm, eine Mittagssonne, deren brutale Hitze auf die Wüste
herunterbrannte und die Luft zum Flimmern brachte, sodass die Berge in der
Ferne waberten, als sähe man sie durch das Wasser eines Aquariums. Die
Landschaft war ausgetrocknet, eine endlose Ebene von totem Sand, so weit
das Auge reichte. Das einzige Grün fand sich am Ufer des langsam
fließenden Flusses, der irgendwann in den Tigris mündete. Ein einzelnes
Asphaltband war im weiten Umkreis die einzige Straße, und tiefe Sandwehen
zogen sich quer darüber hinweg.
1
ontrol blinzelte durch die Frontscheibe des Jaguar XJS, als er auf die
C leere Überholspur wechselte und Gas gab, um einen schwerfälligen
Sattelschlepper zu überholen. Der Himmel am vergangenen Abend war
blutrot gewesen, und als die Sonne am Morgen zurückkehrte, war sie in einen
klaren, makellos blauen Himmel hinaufgestiegen. Wärme und Licht lag in
diesen ersten Strahlen, und er klappte die Sonnenblende herunter, um seine
Augen abzuschirmen. Im Radio lief die Nachrichtensendung Today, und der
Wetterbericht sagte für die kommende Woche sengende Hitze voraus. Auf
das Wetter folgten die Sieben-Uhr-Nachrichten, und die erste Meldung betraf
die Erschießung zweier Touristen und eines Polizisten in den französischen
Alpen. Die Opfer hatte man identifiziert, aber ein Motiv für die Morde war
noch nicht gefunden worden. Eine »sinnlose Tat«, schloss ein französischer
Polizist.
Aber das, dachte Control, stimmte nicht. Die Operation war das Ergebnis
einer langen und präzisen Planung. Sechs Monate lang waren die
Zielpersonen gepflegt worden, um ihr Vertrauen zu gewinnen, und dann hatte
man noch Wochen gebraucht, um das Treffen zu arrangieren. Das Ziel war
erreicht worden, aber sauber war es nicht gelaufen. Es gab zwei Fehler, die
sorgfältiger Nachbehandlung bedurften, Fehler, die Zweifel an der
Performance des Mannes weckten, der die Operation durchgeführt hatte.
Die Tatsache, dass es sich dabei um Nummer eins handelte, war
beunruhigend.
Es war Controls Operation gewesen. Er war mit den Zielpersonen
persönlich sehr gut bekannt. Jehja al Moussa war Atomphysiker gewesen,
Samira Nadschib Expertin für Mikrowellentechnologie. Sie waren ein
Ehepaar, und bis vor kurzem waren sie beide bei der irakischen
Atomenergiebehörde beschäftigt gewesen. Nach dem Sturz Saddams war das
Ahmadinedschad-Regime auf seinem Weg zur Atommacht vorangekommen.
Irgendwo beim MI 6 war entschieden worden, dass das Paar zu gefährlich
sei, um am Leben zu bleiben. Diese Entscheidung war in einem anonymen
grauen Büro in Whitehall besiegelt worden, die Akten der beiden wurden rot
gekennzeichnet und an Gruppe fünfzehn weitergeleitet, damit diese tätig
wurde. Es war wichtig, und deshalb hatte Control Nummer eins für diesen
Auftrag ausgewählt.
Als er den Jaguar an der Ausfahrt Central London von der Autobahn
hinuntersteuerte, ließ Control sich seine Vorbereitungen noch einmal durch
den Kopf gehen. Die beiden Wissenschaftler waren unter dem Vorwand eines
seit langem verdienten Urlaubs in Frankreich gewesen. Der wahre Grund
jedoch — und der Grund für ihren Abstecher in die Alpenlandschaft — war
ein Treffen mit einem Mitarbeiter von Cezus gewesen, einem
Tochterunternehmen von Areva, dem Marktführer im Handel mit Zirkonium.
Dieses Metall wurde unter anderem zur Ummantelung von nuklearem
Brennstoff verwendet. Der Iran benötige Zirkonium für seine Reaktoren, und
al Moussa und Nadschib hatte man glauben lassen, ihr Kontaktmann könne
davon so viel liefern, wie sie benötigten. Aber es hatte keinen Kontaktmann
gegeben. Es gab kein Zirkonium, und es sollte auch kein Treffen stattfinden,
jedenfalls keins von der Art, die sie erwarteten.
Control trommelte rhythmisch auf dem Lenkrad, als er nach London
hineinfuhr. Nein, dachte er, die Vorbereitungen waren fehlerlos gewesen.
Alle Probleme hatte Milton zu verantworten. Der tote gendarme würde der
französischen Polizei ein starkes emotionales Motiv geben, den Mörder
ausfindig zu machen: Einer der Ihren war ermordet worden. Das würde sie
hartnäckiger machen, und sie würden nicht so schnell bereit sein, die
Ermittlungen zurückzustellen, wenn die Spur kalt geworden wäre — und
Control wusste, dass das passieren würde. Das war schlecht. Aber noch
schlechter war die Sache mit dem Jungen. Ein Kind, von dem Killer zum
Waisen gemacht, kauerte im Auto und sah zu, wie seine Eltern ermordet
wurden. Das war Dynamit — der Haken, an dem die Presse ihre komplette
Berichterstattung aufhängen konnte. Es würde dafür sorgen, dass die Story
endlos lief.
Control fuhr langsamer und steuerte den Jaguar in die Tiefgarage unter
einem kleinen Gebäude am Nordufer der Themse. Es stammte aus den
sechziger Jahren, ohne Stil oder Anmut aus Backstein und Beton errichtet.
Fünf Geschosse, anonym. Der Motor tuckerte im Leerlauf, während das
Garagentor mit müdem metallischem Quietschen hochrollte. Auf dem Tor
stand GLOBAL LOGISTICS.
Er fuhr hinein, hielt neben dem gesicherten Aufzug und stieg aus. Der
Lift kam, er betrat die Kabine und drückte den Knopf für den zweiten Stock.
Der Fahrstuhl kam sanft zum Stehen, die Tür glitt seufzend beiseite, und er
trat hinaus in ein betriebsames Großraumbüro. Analysten starrten auf
Monitore und tippten klackernd auf Keyboards, Drucker ratterten, und
ununterbrochen klingelten Telefone. Control ging durch den chaotischen
Raum zu einem mit dickem Teppichboden ausgelegten Korridor, der nach
rechts abbog, sodass der Lärm hinter ihm zu einem leisen Rumoren
verblasste. Ein paar mit grünem Filz bezogene Türen reihten sich aneinander,
und er ging bis zur letzten, stieß sie auf und trat hindurch.
David Tanner, sein Privatsekretär, blickte von seinem Computer auf.
»Guten Morgen, Sir«, sagte er. Tanner war ein ehemaliger Infanteriesoldat —
wie Control selbst und all die Agenten, die für ihn arbeiteten. Tanners
Karriere war durch eine Sprengfalle an einer Straße außerhalb von Kabul
beendet worden. Sie hatte ihn das rechte Bein unterhalb des Knies und die
Versetzung zum SAS gekostet, die er sich so sehr gewünscht hatte. Er war
ein guter Mann, entspannt und angenehm als Partner bei einem Drink, und er
bewachte den Zugang zu seinem vorgesetzten Offizier mit wütender
Entschlossenheit.
»Morgen, Captain«, sagte Control. »Was liegt für den Vormittag an?«
»Sie sprechen heute Mittag mit dem Direktor. Er will ein Update in der
französischen Sache.«
»Das glaube ich. Und Nummer eins?«
»Wartet drinnen auf Sie, Sir.«
»Sehr gut.«
Er ging durch das Vorzimmer in sein Büro. Es war ein großer Raum mit
einem Panoramablick auf die Themse. Auf einem Tisch in der Mitte stand
eine Blumenvase, und zu beiden Seiten des Kamins warteten zwei bequeme
Clubsessel. Aktenschränke gab es hier nicht und auch sonst nichts amtlich
Aussehendes.
Milton stand vor dem Panoramafenster am anderen Ende des Zimmers,
rauchte eine Zigarette und schaute hinunter auf die weite Fläche der Themse.
Control blieb in der Tür stehen und musterte ihn. Er trug einen einfachen
dunklen Anzug, der ziemlich billig aussah, ein weißes Hemd und eine
schwarze Krawatte.
»Guten Morgen, Nummer eins«, sagte Control.
»Guten Morgen, Sir.«
»Nehmen Sie Platz.«
Er sah zu, wie Milton sich setzte. Dessen Blick war unversöhnlich. Er sah
ein wenig schäbig aus, verschlissen an den Rändern. Control erinnerte sich
noch, wie er in den Dienst eingetreten war. Er hatte Anzüge aus der Savile
Row getragen, Hemden von Turnbull & Asser, und er war jederzeit makellos
gepflegt gewesen. Aber das schien ihn nicht mehr zu interessieren. Control
war es egal, wie seine Agenten aussahen, solange sie gut in ihrem Job waren,
und Milton war sein bester Mann. Deswegen war sein letztes Missgeschick
so beunruhigend.
Es klopfte. Tanner kam herein. Er trug ein Tablett mit einer Kanne Tee
und zwei Porzellantassen, das er auf das Sideboard stellte. Nachdem er sich
vergewissert hatte, dass Control nichts weiter brauchte, ließ er die beiden
allein.
Control schenkte den Tee ein und beobachtete Milton dabei. Für einen
solchen Job bewarb man sich nicht, man wurde auserwählt, und wie er es bei
allen Agenten gehandhabt hatte, die für ihn arbeiteten, hatte Control auch ihn
persönlich ausgesucht und das ein Jahr dauernde rigorose Training
beaufsichtigt, das die rauen Kanten abschliff und ihn auf seine neue Rolle
vorbereitete. Es hatte Augenblicke gegeben, in denen Milton seine Eignung
für diese Position bezweifelte, und Control hatte nicht so sehr versucht, ihm
diese Zweifel zu nehmen, sondern ihn vielmehr dafür gerügt, dass er auch nur
die Möglichkeit in Betracht zog, er könne mit seinem Urteil danebengelegen
haben. Er hielt sich für einen ausgezeichneten Menschenkenner, und er hatte
gewusst, dass Milton ein perfekter Außendienstagent sein würde. Und er
hatte sich nicht getäuscht. Milton hatte seine Laufbahn als Nummer zwölf
begonnen, wie es üblich war, und jetzt, acht Jahre später, waren seine
Vorgänger nicht mehr da, und er war Nummer eins.
Milton war angespannt. Er umfasste die Armlehne des Sessels so fest,
dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Er war unrasiert, und die
kraftvollen Konturen seines Unterkiefers waren mit dunklen Stoppeln
bedeckt. »Der Junge?«, fragte er.
»Traumatisiert, aber sonst okay, nach allem, was wir in Erfahrung
bringen können. Wie man es erwarten würde. Die Franzosen kümmern sich
um ihn. Aber wir glauben nicht, dass sie schon mit ihm gesprochen haben.
Hat er Sie gesehen?«
»Ja.«
»Das könnte heikel werden.«
Milton ging nicht darauf ein. »Haben Sie es gewusst?«
»Was gewusst?«
»Dass er da sein würde.«
»Wir wussten, dass er in Frankreich ist. Wir dachten aber nicht, dass sie
ihn zu dem Meeting mitbringen würden.«
»Und Sie haben nicht daran gedacht, mir zu sagen, dass sie es vielleicht
tun würden?«
»Vergessen Sie nicht, mit wem Sie reden«, antwortete Control verärgert.
»Hätte das etwas geändert?«
Miltons eiskalter Blick brannte sich in ihn hinein.
»Es hat keinen Sinn, darum herumzureden — der Junge ist ein Problem.
Und der verdammte Polizist auch. Ohne sie wäre es eine saubere Sache
gewesen, aber jetzt — tja, jetzt haben wir zwei unerledigte Angelegenheiten.
Das macht die Sache kompliziert. Erzählen Sie mir lieber, was passiert ist.«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich habe mich buchstabengetreu an den
Plan gehalten. Die Waffe war da, wo sie sein sollte. Ich war vor den
Zielpersonen an Ort und Stelle. Sie sind pünktlich gekommen. Ich habe sie
beide eliminiert. Ich war noch beim Aufräumen, als der Gendarm aufkreuzte.
Da habe ich ihn ebenfalls erschossen.«
»Die Einsatzregeln waren klar.«
»Allerdings, Sir. Keine Zeugen. Ich glaube, ich hatte keine Wahl.«
»Hatten Sie auch nicht. Das stelle ich nicht in Frage.«
»Aber Sie stellen etwas in Frage?«, sagte Milton.
Wieder war sein Tonfall schroff. Aber Control ging darüber hinweg. »Sie
haben es selbst gesagt. Keine Zeugen.«
»Also der Junge? Warum ich ihn nicht erschossen habe?«
»Es mag abscheulich sein, aber Sie wissen, wie klar wir uns über unser
Verhalten im Einsatz sind.« Control war angespannt. Das Gespräch
entwickelte sich nicht so, wie er es erwartet hatte, und er war es nicht
gewohnt, sich überraschen zu lassen. Miltons Lippen hatten einen weißen
Rand. Die blauen Augen blickten starr und leer, fast ohne etwas zu sehen.
»Ich habe eine Menge Tote gesehen, seit ich für Sie arbeite, Sir.«
Control antwortete so geduldig, wie er konnte. »Natürlich haben Sie das,
Milton. Sie sind ein Killer. Da gehört das zum Geschäft.«
Es war, als habe Milton ihn gar nicht gehört. »Ich kann mir nichts mehr
vormachen. Wir treffen Entscheidungen darüber, wer leben und wer sterben
soll, aber es ist nicht alles schwarz und weiß, wenn man mittendrin steckt.
Wie Sie sagten, die Einsatzregeln waren klar. Ich hätte ihn erschießen sollen.
Vor acht Jahren, als ich für das hier unterschrieben habe« — in seinem Ton
lag ein Hauch von Verachtung — »hätte ich ihn wahrscheinlich auch
erschossen. Wie ein guter Soldat.«
»Aber Sie haben es nicht getan.«
»Ich konnte es nicht.«
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Acht Jahre sind eine lange Zeit für diese Arbeit, Sir. Nicht viele in der
Gruppe haben so lange durchgehalten. Und ich war in letzter Zeit nicht mehr
glücklich. Ich glaube, ich war nie wirklich glücklich.«
»Ich erwarte auch nicht, dass Sie glücklich sind.«
Milton war in Erregung geraten und ließ sich nicht bremsen. »Ich habe
Blut an den Händen. Ich habe mir immer das Gleiche gesagt, um es zu
rechtfertigen, aber es funktioniert nicht mehr. Dieser Polizist hatte den Tod
nicht verdient. Dieser Junge hat nicht verdient, seine Eltern zu verlieren.
Wegen einer Lüge haben wir eine Witwe und ein Waisenkind hinterlassen.
Und das mache ich nicht mehr, Sir. Ich bin fertig.«
Control antwortete mit Sorgfalt. »Versuchen Sie, zu kündigen?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Mein Entschluss steht fest.«
Control stand auf. Er brauchte einen Augenblick, um seine Wut in den
Griff zu bekommen. Die Sache kam einer Insubordination gefährlich nah,
und statt gleich zu explodieren, ging er zum Kaminsims und rückte das Foto
seiner Familie zurecht. »Was ist die Aufgabe der Gruppe, Milton?«, fragte er
bedächtig.
»Elimination.«
»Aufgaben, die für die Sicherheitsdienste Ihrer Majestät zu schmutzig
sind.«
»Ganz recht, Sir.«
»Und was ist Ihr Job?«
»Ich bin Cleaner.«
»Und das bedeutet?«
»›Von Zeit zu Zeit muss die Regierung Ihrer Majestät Personen
beseitigen, deren fortgesetzte Existenz eine Gefahr für die effiziente
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung darstellt. Die Regierung benötigt
Profis mit besonderen Fähigkeiten, die bereit sind, auf der Grundlage der
Nicht-Zuschreibbarkeit solche Probleme aus der Welt zu schaffen.‹ Cleaner.«
Control lächelte ohne Heiterkeit. Das war die Stellenbeschreibung, die er
benutzt hatte, als er Milton vor all den Jahren rekrutiert hatte. Lauter neutrale
Euphemismen, allesamt dazu gedacht, den Job genießbar zu machen. »Für
diese Arbeit braucht man eine besondere Art Mann. Es gibt so wenige von
ihnen, und darum sind Sie leider schwer zu ersetzen.« Er schwieg kurz.
»Wissen Sie, wie viele Personen Sie für mich eliminiert haben?«
Milton brauchte nicht nachzudenken. »Einhundertsechsunddreißig.«
»Sie sind mein bester Cleaner.«
»Vielleicht früher einmal. Aber jetzt nicht mehr. Das kann ich nicht
länger ignorieren. Ich schaffe es nicht, den Mund zu halten, nur um nicht
unprofessionell zu sein. Ich belüge mich selbst. Wir müssen den Fakten ins
Auge sehen, Sir. Nennen Sie es, wie Sie wollen — neutralisieren, eliminieren
—, aber das sind doch nur Euphemismen für das, was ich in Wirklichkeit tue.
Ich werde dafür bezahlt, Menschen zu ermorden.«
Control drang nicht zu ihm durch. »Ermorden?«, rief er. »Was reden Sie
denn da, Mann? Seien Sie nicht so zimperlich. Sie wollen moralisieren? Sie
wissen, was passieren würde, wenn die Iraner die Bombe bekämen. Es würde
Krieg geben. Einen richtigen Krieg, neben dem der im Irak aussehen würde
wie ein Spaziergang durch den verdammten Park. Tausende von Menschen
würden sterben. Hunderttausende. Die Beseitigung dieser beiden macht die
Aussicht darauf ein bisschen weniger wahrscheinlich. Und sie wussten,
welches Risiko sie eingingen. Wenn Sie wollen, nennen Sie es Mord, aber
diese Leute waren nicht unschuldig. Sie waren Kombattanten.«
»Und der Polizist? Der Junge?«
»Unglückselig, aber notwendig.«
»Kollateralschäden?«
Control hatte das Gefühl, der Mann wolle ihn reizen. Er atmete tief durch
und sagte knapp: »So ist es.«
Milton verschränkte die Arme. »Bedaure, Sir. Ich bin fertig mit Ihnen. Ich
mache Schluss.«
Control ging auf Milton zu, umkreiste ihn in nächster Nähe und sah die
Anspannung in den Schultern und den geballten Fäusten. »Niemand ist
jemals wirklich fertig mit mir. Sie können nicht kündigen. Sie können sich
nicht zur Ruhe setzen. Sie sind ein Mörder, wie Sie sagen. Etwas anderes
können Sie nicht. Was wollen Sie tun, wenn Sie gehen? Ihre Talente sind
sehr speziell. Was könnten Sie tun? Mit Kindern arbeiten? Oder in einem
Büro? Nein, Sie sind eine ungelernte Arbeitskraft, Mann. Das sind Sie.«
»Dann suchen Sie sich eine andere ungelernte Kraft.«
Control schlug frustriert mit der Faust auf den Kaminsims. »Sie arbeiten
für mich, solange ich das verdammt noch mal will, oder ich lasse Sie
vernichten!«
Milton stand auf und sah ihn an. Seine Gestalt war imposant, und sein
eisiger Blick hatte seine konzentrierte Klarheit wiedergefunden. Es war der
Blick eines Killers, und er fixierte Control erbarmungslos. »Ich glaube, wir
sind fertig, Sir — oder nicht? Wir werden uns nicht einigen.«
»Ist das Ihr letztes Wort?«
»Ja.«
Control ging hinter seinen Schreibtisch und setzte sich. »Sie machen
einen schrecklichen Fehler. Sie sind hiermit beurlaubt. Ohne Bezüge. Ich
werde Ihre Akte durchsehen, aber Sie halten Disziplin. Nehmen Sie sich Zeit,
um Ihre Position zu überdenken. Es ist noch nicht zu spät, den Schaden zu
reparieren, den Ihre törichte Haltung Ihnen zugefügt hat.«
»Jawohl, Sir.« Milton zog sich die Krawatte zurecht.
»Sie können gehen.«
»Guten Tag, Sir.«
2
ilton suchte sich eine Bar. Sein anonymes, leeres Hotelzimmer gefiel
M ihm nicht, und es war erst kurz vor Mittag. Die Konfrontation mit
Control hatte ihn aus der Fassung gebracht, und seine Hände zitterten
vor Wut und Angst.
Es gab ein Lokal mit einem breiten Panoramafenster an der Wasserseite.
Er fand einen Tisch mit Blick auf den offenen Fluss, die Gebäude am anderen
Ufer und die Vergnügungsboote und Frachtkähne, die sich durch die Wellen
pflügten. Die grelle Sonne schien von einem makellos blauen Himmel. Er
hatte Verlangen nach einem großen Whiskey. Er wollte den Alkohol spüren
und fühlen, wie sein Kopf anfing, sich ganz sanft zu drehen. Er wusste, eine
Möglichkeit mit dem Denken — an was auch immer — aufzuhören, fand sich
auf dem Grund eines Glases. Aber es gelang ihm, dem Drang zu widerstehen.
Es wäre eine kurzfristige Erleichterung mit langfristigen Konsequenzen. Er
konzentrierte sich auf die Zahl, die er im Kopf hatte — 691 — und bestellte
stattdessen einen Orangensaft. Brütend saß er da, drehte das Glas zwischen
den Fingern und schaute den Booten zu.
Über der Bar hing ein Fernseher. Er war stummgeschaltet, aber am
unteren Bildschirmrand liefen die Untertitel eines 24-Stunden-
Nachrichtensenders. Das Interview mit einem Minister auf dem
Parlamentsrasen wurde abrupt abgelöst von der Hubschrauberaufnahme einer
bewaldeten Gebirgslandschaft. Laut der Bildunterschrift handelte es sich um
die Gegend am Lac d’Annecy in Frankreich. Die Kamera schwenkte
ruckartig und zoomte nach unten, bis ein BMW den Bildschirm ausfüllte. Er
parkte auf einer kleinen Lichtung. Die Kamera zoomte zurück und erfasste
ein zweites Fahrzeug, blau mit weiß-roten Streifen. Auf dem Lehmboden bei
den Autos waren Blutflecken zu sehen. In der Laufschrift am unteren Rand
erschienen die Worte »Massaker« und »Gräueltat«.
Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Haben Sie das gesehen?«
Milton grunzte.
»Wissen Sie, dass die im Auto einen Jungen gefunden haben?«
Milton antwortete nicht.
»Ich verstehe nicht, wie einer so was tun kann — eine Familie im Urlaub
ermorden. Wie kaltblütig muss man da sein? Wenn Sie mich fragen, hat der
Kleine Glück gehabt. Ich schätze, wenn der Täter ihn gefunden hätte, wäre er
wohl auch erschossen worden.«
Die Sendung wechselte zur nächste Story, aber es half nichts. Milton
trank seinen Saft aus und stand auf. Er musste gehen.
3
ilton war ein wenig benommen und vergaß, dass er mit dem Auto ins
M Büro gekommen war. Ziellos ging er hinunter in den nächsten U-
Bahnhof. Auf dem Bahnsteig herrschte Hochbetrieb. Eine Reisegruppe
von jungen Ausländern, die es nicht besser wussten, hatte sich vor der Rampe
versammelt. Sie versperrten den Weg mit ihrem Gepäck und plapperten
aufgeregt auf Portugiesisch. Ihre Koffer waren mit Stickern beklebt, auf
denen ihre früheren Reiseziele abzulesen waren. Brasilianer, vermutete er.
Studenten. Milton schlängelte sich zwischen ihnen hindurch, um am
ruhigeren, weniger bevölkerten Ende des Bahnsteigs zu warten. Dort stand
eine einzelne Reisende an der Bahnsteigkante. Sie war schwarz, Anfang
dreißig, und sie trug die Uniform einer der Fastfood-Ketten, die es in der
Umgebung der U-Bahnstation gab. Sie wirkte erschöpft, und Milton sah, dass
sie weinte. Ihre Unterlippe zitterte, und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Milton hatte kein Talent für Empathie, und er hätte nicht gewusst, wo er
anfangen sollte, um sie zu trösten, aber er hatte auch kein Interesse daran.
Nicht heute. Er hatte zu viel anderes im Kopf. Also ging er weiter.
Seine Stimmung hatte sich wieder verschlechtert, und er fühlte sich
abscheulich. Ihm war schwindlig, und er ließ sich auf eine freie Bank fallen.
Er fing an zu schwitzen, erst an den Handflächen, dann auf dem Rücken.
Salzige Tropfen liefen ihm von seiner Kopfhaut in die Augen und den Mund.
Er dachte an die Luftaufnahmen des Waldes, die der Hubschrauber des
Fernsehsenders gemacht hatte. Im Boden hatten drei Fähnchen gesteckt und
die Stellen markiert, wo die Leichen gefunden worden waren. Er wusste, er
sollte damit aufhören und an etwas anderes denken, aber er konnte nicht, und
bald war der Albtraum wieder da, die jahrealten Erinnerungsblitze: das
verwüstete Dorf, das Blut auf dem trockenen Boden, die Leiche des Jungen,
der pfeffrige Geruch von hochbrisantem Sprengstoff und der erstickende
Todesgestank. Seine Erinnerungen trieben weiter zu all den anderen Dingen,
die er im Dienst für Königin und Vaterland getan und gesehen hatte.
Schmutzige Zimmer und dunkle Straßen, hundertsechsunddreißig Opfer
nebeneinander aufgebahrt als Beweis für die schrecklichen Dinge, die er
getan hatte. Ein Kopfschuss aus einem Scharfschützengewehr, ein
Messerstich ins Herz, eine Garotte um den Hals geschlungen und
strammgezogen, bis aus dem Keuchen ein Röcheln wurde, das bald
verstummte, ein verzweifelt zuckender und dann erschlaffender Körper.
Einhundertsechsunddreißig Männer und Frauen, die ihn anklagend
anschauten und deren Blut an seinen Händen klebte
Ein lauter Schrei ließ ihn herumfahren.
Die Studenten starrten den Bahnsteig entlang zu ihm herüber. Er nahm
alle Details in sich auf. Zeigten sie auf ihn? Nein. Sie zeigten weg von ihm.
Die Frau war nicht mehr da. Noch ein Schrei, und einer der Studenten zeigte
auf das Gleis. Milton sprang taumelnd von seiner Bank auf und sah sie: Sie
lag quer über einer der Schienen, absichtlich. Der Anblick ergab keinen Sinn.
Zuerst dachte er, sie habe etwas aufheben wollen, das dort hingefallen war,
aber dann begriff er, dass sie sich so hingelegt hatte, weil sie so liegen wollte.
Er drehte sich um. Die digitale Leuchtschrift sagte, dass ein Zug hereinkam,
und dann hörte Milton ihn auch, das leise Rumpeln, mit dem die Wagen um
die letzte Kurve in den Tunnel rollten. Er hatte keine Zeit mehr, sich zu
überlegen, was er tun sollte. Fünfzehn Meter weiter war ein Notrufknopf an
der Wand, aber den würde er nicht mehr rechtzeitig erreichen, und selbst
wenn, würde der Zug kaum noch rechtzeitig anhalten können.
Er sprang vom Bahnsteig auf die Schwellen hinunter.
Er stieg über die Stromschiene.
Der Zug kam näher, und ein Schwall von warmer Luft wehte aus der
Tunnelmündung.
Milton fiel neben der Frau auf die Knie.
»Nein«, sagte sie. »Lassen Sie mich in Ruhe.«
Er schob eine Hand unter ihren Rücken und die andere in ihre
Kniekehlen. Sie war zierlich, und er konnte sie mühelos hochheben. Der Zug
kam mit hellen Scheinwerfern um die Kurve. Seine Sirene gellte schrill und
unerwartet, und Milton wusste, es würde knapp werden. Er stieg über die
Stromschiene zurück und warf die Frau auf dem Bahnsteig. Die Bremsen des
Zuges griffen zu, und die blockierten Räder rutschten mit scheußlichem
Kreischen über die stählernen Schienen, als Milton die Hände auf die
Bahnsteigkante stemmte und sich hochschwang. Er rollte weg, als der
Triebwagen vorbeirauschte und ihn um Haaresbreite verfehlte.
Er fiel auf den Rücken und starrte zu der gewölbten Decke hinauf. Sein
Atem ging stoßweise.
Der Zug war auf halbem Weg in den Bahnhof hinein zum Stehen
gekommen. Der Triebwagenführer öffnete seine Tür und rannte auf dem
Bahnsteig auf ihn zu. »Alles okay, Kollege?«
»Ja ja. Sehen Sie nach ihr.«
Er schloss die Augen und zwang sich, wieder normal zu atmen. Ein, aus.
Ein, aus.
»Ich dachte, Sie wären hin«, sagte der Fahrer. »Ich dachte, ich erwische
euch beide. Was ist denn passiert?«
Milton antwortete nicht. Die Studenten waren herangekommen, und der
Zugführer wandte sich ihnen zu. Sie berichteten ihm in gebrochenem
Englisch in singendem Tonfall, was sie gesehen hatten. Die Frau sei von der
Plattform geklettert und habe sich auf das Gleis gelegt, und Milton sei ihr
gefolgt und habe sie aus der Gefahrenzone gebracht.
»Verdammt, Sie sind ein Held, Kollege«, sagte der Zugführer.
Milton schloss wieder die Augen.
Ein Held?
Er hätte gelacht, wenn es nicht so lächerlich gewesen wäre. Aber es war
ein schlechter Witz.
4
urz darauf kam der Rettungswagen. Milton saß neben der Frau auf der
K Bank, als die Sanitäter sich um sie kümmerten. Sie hatte fünf Minuten
lang hysterisch geweint, sich dann aber beruhigt, und als die Sanitäter
kamen, war sie bewegungslos und stumm und starrte die großen Plakate für
exotische Urlaubsreisen und Dutyfree-Angebote an, die an der gewölbten
Wand auf der anderen Seite der Gleise hingen.
Einer der Sanitäter hatte die Brieftasche der Frau aus ihrer Handtasche
genommen. »Heißen Sie Sharon, Schätzchen?«, fragte er. Sie antwortete
nicht. »Kommen Sie, Darling, Sie müssen mit uns reden.«
Sie schwieg weiter.«
»Wir müssen sie mitnehmen«, sagte der Sanitäter. »Ich glaube, sie hat
einen Schock.«
»Dann komme ich mit«, sagte Milton.
»Sind Sie ein Freund?«
Wenn er sie jetzt verließ, würde er sie im Stich lassen. Er hatte
angefangen, ihr zu helfen, und jetzt wollte er diesen Job auch zu Ende
bringen. Er würde verschwinden, wenn ihre Familie da wäre.
»Ja«, sagte er.
»Kommen Sie, Schatz. Dann wollen wir Sie ordnungsgemäß
auschecken.«
Milton fiel sein Wagen ein. Er holte ihn und folgte dem Rettungswagen,
der die Frau zum Royal Free Hospital brachte. Dort wurde sie in einem
ruhigen Zimmer untergebracht und bekam eine Tasse heißen Tee mit viel
Zucker. »Wir warten nur auf den Arzt«, hieß es. »Trinken Sie das hier.
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The Project Gutenberg eBook of How to become
a scientist
This ebook is for the use of anyone anywhere in the United
States and most other parts of the world at no cost and with
almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away
or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License
included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you
are not located in the United States, you will have to check the
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eBook.
Language: English
CHEMISTRY,
Mechanics, Acoustics
AND
PYROTECHNICS.
ALSO CONTAINING
New York:
FRANK TOUSEY, Publisher,
24 Union Square.
Entered according to Act of Congress, in the year 1900, by
FRANK TOUSEY,
in the Office of the Librarian of Congress at Washington, D. C.
How to Become a Scientist.
Chemistry, optics, pneumatics, mechanics, and mathematics, all
contribute their share towards furnishing recreation and sport for the
social gathering, or the family fireside. The magical combinations
and effects of chemistry have furnished an almost infinite variety of
pleasant experiments, which may be performed by our youthful
friends with great success if a little care be taken; and the other
branches of natural science are nearly as replete with interest.
The following repertoire of such tricks and illusions will be found
exceedingly complete, although pains have been taken to select only
the best and most startling of them. A large number are entirely new,
but are described with sufficient clearness to enable any person of
ordinary intelligence to become expert in them, with a little practice.
Chemical Amusements.
Chemistry is one of the most attractive sciences. From the beginning
to the end the student is surprised and delighted with the
developments of the exact discrimination, as well as the power and
capacity, which are displayed in various forms of chemical action.
Dissolve two substances in the same fluid, and then, by evaporation
or otherwise, cause them to reassume a solid form, and each
particle will unite with its own kind, to the entire exclusion of all
others. Thus, if sulphate of copper and carbonate of soda are
dissolved in boiling water, and then the water is evaporated, each
salt will be reformed as before. This phenomenon is the result of one
of the first principles of the science, and as such is passed over
without thought; but it is a wonderful phenomenon, and made of no
account, only by the fact that it is so common and so familiar.
It is by the action of this same principle, “chemical affinity,” that we
produce the curious experiments with
Sympathetic Inks.
By means of these, we may carry on a correspondence which is
beyond the discovery of all not in the secret. With one class of these
inks, the writing becomes visible only when moistened with a
particular solution. Thus, if we write to you with a solution of the
sulphate of iron, the letters are invisible. On the receipt of our letter,
you rub over the sheet a feather or sponge, wet with a solution of
nut-galls, and the letters burst forth into sensible being at once, and
are permanent.
2. If we write with a solution of sugar of lead, and you moisten with a
sponge or pencil, dipped in water impregnated with sulphureted
hydrogen, the letters will appear with metallic brilliancy.
3. If we write with a weak solution of sulphate of copper, and you
apply ammonia, the letters assume a beautiful blue. When the
ammonia evaporates, as it does on exposure to the sun, the writing
disappears, but may be revived again as before.
4. If you write with the oil of vitriol very much diluted, so as to prevent
its destroying the paper, the manuscript will be invisible except when
held to the fire, when the letters will appear black.
5. Write with cobalt dissolved in diluted muriatic acid; the letters will
be invisible when cold, but when warmed they will appear a bluish
green.
We are almost sure that our secrets thus written will not be brought
to the knowledge of a stranger, because he does not know the
solution which was used in writing, and, therefore, does not know
what to apply to bring out the letters.
Alum Basket.
Make a small basket, about the size of the hand, of iron wire or split
willow; then take some lamp-cotton, untwist it, and wind it around
every portion of the basket. Then mix alum, in the proportion of one
pound with a quart of water, and boil it until the alum is dissolved.
Pour the solution into a deep pan, and in the liquor suspend the
basket, so that no part of it touch the vessel or be exposed to the air.
Let the whole remain perfectly at rest for twenty-four hours; when, if
you take out the basket, the alum will be found prettily crystallized
over all the limbs of the cottoned frame.
In like manner, a cinder, a piece of coke, the sprig of a plant, or any
other object, suspended in the solution by a thread, will become
covered with beautiful crystals.
If powdered tumeric be added to the hot solution, the crystals will be
of a bright yellow; if litmus be used instead, they will be of a bright
red; logwood will yield them of a purple, and common writing-ink, of
a black tint; or, if sulphate of copper be used instead of alum, the
crystals will be of fine blue.
But the colored alum crystals are much more brittle than those of
pure alum, and the colors fly; the best way of preserving them is to
place them under a glass shade, with a saucer containing water.
This keeps the atmosphere constantly saturated with moisture, the
crystals never become too dry, and their texture and color undergo
but little change.
Optical Amusements.
The science of optics affords an infinite variety of amusements,
which cannot fail to instruct the mind, as well as delight the eye. By
the aid of optical instruments we are enabled to lessen the distance
to our visual organs between the globe we inhabit and “the wonders
of the heavens above us;” to watch “the stars in their courses,” and
survey at leisure the magnificence of “comets importing change of
times and states;” to observe the exquisite finish and propriety of
construction which are to be found in the most minute productions of
the earth;—to trace the path of the planet, in its course around the
magnificent orb of day, and to detect the pulsation of the blood, as it
flows through the veins of an insect. These are but a few of the
powers which this science offers to man; to enumerate them all
would require a space equal to the body of our work; neither do we
propose to notice the various instruments and experiments which are
devoted to purposes merely scientific; it being our desire only to call
the attention of our juvenile readers to such things as combine a vast
deal of amusement with much instruction, to inform them as to the
construction of the various popular instruments; to show the manner
of using them, and to explain some of the most attractive
experiments which the science affords. By doing thus much, we
hope to offer a sufficient inducement to extend inquiry much further
than the information which a work of this nature will enable us to
afford.
The Phantasmagoria.
Between the phantasmagoria and the magic lantern there is this
difference: in common magic lanterns the figures are painted on
transparent glass; consequently the image on the screen is a circle
of light, having figures upon it; but in the phantasmagoria all the
glass is opaque, except the figures, which, being painted in
transparent colors, the light shines through them, and no light can
come upon the screen except that which passes through the figure.
There is no sheet to receive the picture, but the representation is
thrown on a thin screen of silk or muslin, placed between the