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Psychotherapie: Praxis

Die Reihe Psychotherapie: Praxis unterstützt Sie in Ihrer täglichen Arbeit –


­praxisorientiert, gut lesbar, mit klarem Konzept und auf dem neuesten wissenschaft-
lichen Stand.

Mehr Informationen zu dieser Reihe auf http://www.springer.com/series/13540


Hinrich Bents
Annette Kämmerer
Hrsg.

Psychotherapie
und Würde
Herausforderung in der psychotherapeutischen Praxis
Herausgeber
Hinrich Bents Annette Kämmerer
Zentrum für Psychologische Praxis für Psychotherapie
Psychotherapie (ZPP) Heidelberg
Universität Heidelberg Deutschland
Heidelberg
Deutschland

Psychotherapie: Praxis
ISBN 978-3-662-54309-2    ISBN 978-3-662-54310-8 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54310-8
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V

Vorwort

Das vorliegende Buch entstand aus einer Vortragsreihe, die von den Herausgebern
2014/2015 am Zentrum für Psychologische Psychotherapie der Universität Heidelberg
veranstaltet worden ist. Ziel dieser Vortragsreihe war es, das Verhältnis von Psychothe-
rapie und Würde aus unterschiedlichen Anwendungsperspektiven zu beleuchten und
damit den grundlegenden Fragen einer psychotherapeutischen Ethik Raum zu geben.

Die moderne Psychotherapie hat sich in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten
stark an einer empirischen Absicherung der Wirkungsweisen ihrer therapeutischen
Interventionen und damit auch an einer störungsspezifischen Präzisierung orientiert.
Es sind große Fortschritte erzielt worden, die der Behandlung von Patientinnen und
Patienten im Sinne differenzieller Indikation zugute kommen. Eine sorgfältige und
wissenschaftsorientierte Ausbildung angehender Psychotherapeutinnen und Psycho-
therapeuten garantiert zudem in wachsendem Maße, dass diese vielfältigen psycho-
therapeutischen Möglichkeiten auch „lege artis“ zur Anwendung kommen.

Doch reicht das aus? Mit diesem Buch möchten wir den Grundlegungen des psy-
chotherapeutischen Handelns und damit explizit auch den ethischen Implikationen
der psychotherapeutischen Arbeit Aufmerksamkeit schenken. Die Fragen, die wir
uns gestellt haben, waren solche nach dem moralischen Hintergrund unserer the-
rapeutischen Arbeit, nach dem Beitrag, den Psychotherapie zu einer Verbesserung
des Allgemeinwohls leistet, nach ihren Angeboten für spezifische Personengruppen,
nach den möglicherweise vorhandenen Hürden und Fallstricken in der Arbeit mit
Patienten und in der Entwicklung neuer, bisher noch wenig erprobter therapeuti-
scher Verfahren. Wir haben Kolleginnen und Kollegen um Vorträge gebeten, die die
erwähnte Vielfalt des therapeutischen Arbeitsfeldes aus unserer Sicht aufs Schönste
widerspiegeln.

Allen Vortragenden danken wir von Herzen für ihre interessanten und bereichernden
Ausführungen und für die Mitarbeit an diesem Buch.

Hinrich Bents
Annette Kämmerer
Heidelberg, im Herbst 2017
Kurzvitae

Dr. Hinrich Bents


Zentrum für Psychologische Psychotherapie, Universität Heidelberg. Psychologischer
Psychotherapeut/Supervisor (VT). Promovierte nach dem Studium der Psychologie und
Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 1987–2004 Leitender
Psychologe der Fachklinik Bad Pyrmont, der Christoph-Dornier-Klinik Münster und der
Nexus-Klinik Baden-Baden. Seit 2005 Direktor des ZPP Heidelberg. Dozent an zahlrei-
chen Weiterbildungsinstituten für Psychotherapie in Deutschland und der Schweiz. Be-
fasst sich in Forschung und Lehre mit störungsspezifischen Behandlungskonzepten und
Motivation in der Psychotherapie.

Prof. Dr. Thomas Berger


Universität Bern. Nach dem Studium der Psychologie in Bern 2005 Promotion in Psy-
chologie und verhaltenstherapeutische Weiterbildung an der Universität Freiburg i.
Br. Praktische Tätigkeit an verschiedenen Institutionen. Postdoc an den Universitäten
Genf und Linköping (Schweden). 2010 Habilitation an der Universität Bern. Seit 2013
Förderungsprofessur des Schweizerischen Nationalfonds mit Schwerpunkt internet-
basierte Präventions- und Therapieansätze an der Universität Bern. Weitere Forschungs-
schwerpunkte: Training von Psychotherapeuten, neuere Ansätze in der Psychotherapie,
Prozess-Outcome-Forschung.

Prof. Dr. Martin Bohus


Ordinarius für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin der Universität
Heidelberg und wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Psychiatrische und Psy-
chosomatische Psychotherapie (IPPP) am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in
Mannheim. Wegweisende Forschungen zu Grundlagen und Anwendungen der Psycho-
therapie, insbesondere zu Trauma und Borderline-Persönlichkeitsstörungen sowie zu
modernen Ansätzen psychotherapeutischer Versorgung.

Prof. Dr. Henning Freund


Evangelische Hochschule Marburg. Studium der Psychologie und Europäischen Eth-
nologie, Psychologischer Psychotherapeut (Verhaltenstherapie), Supervisor (BDP),
1999–2013 Psychologischer Leiter der Tagesklinik Hohe Mark in Frankfurt/M., seit 2014
Professur für Religionspsychologie an der Evangelischen Hochschule Marburg, dort Stu-
dienleiter des berufsbegleitenden Masterstudiengangs „Religion und Psychotherapie“
(www.studium-religion-psychotherapie.de), Tätigkeit in eigener Psychotherapiepra-
xis in Heidelberg.
VII
Kurzvitae

Dipl.-Psych. Christoph Grober


Basel (Schweiz). 2014 Abschluss des Psychologiestudiums mit der Diplomarbeit zu „Exis-
tenziellen Themen in der Kognitiven Verhaltenstherapie“. Gegenwärtig in Ausbildung zum
Psychotherapeuten mit kognitiv-verhaltenstherapeutischem Schwerpunkt in Basel, wo er in
einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Praxis arbeitet. Er beschäftigt sich mit philoso-
phischen Elementen in der Psychotherapie und dem Thema Achtsamkeit.

Prof. Dr. phil. Thomas Heidenreich


Hochschule Esslingen. Diplom-Psychologe und approbierter Psychologischer Psychothera-
peut. Er war von 1994 bis 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter/Assistent am Psychologischen
Institut der Universität Frankfurt und an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der
dortigen Universitätsklinik. Seit 2006 hat er eine Professur „Psychologie für Soziale Arbeit
und Pflege“ an der Hochschule Esslingen inne.

Prof. Dr. phil. Annette Kämmerer


Akademische Direktorin i. R. am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg, lang-
jährige Mitgliedschaft im Senat und im Universitätsrat der Universität Heidelberg, Fellow am
Marsilius-Kolleg; wissenschaftliche Schwerpunktsetzung im Bereich moralischer Gefühle,
Ehre und Würde, interkulturelle Bedingungen der Depression. Leitung des „Deutsch-Chileni-
schen Doktorandenkollegs“ von 2007–2013. In eigener Psychotherapiepraxis tätig, Appro-
bation in Verhaltenstherapie, Supervisorin.

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse


Direktor des Instituts für Gerontologie an der Universität Heidelberg, Dekan der Fakultät
für Verhaltens- und Empirische Kulturwissenschaften von 2007–2011, ausgewiesen in viel-
fältigen gerontologischen Fragestellungen, wie etwa Gerontopsychosomatik, Demenz-
forschung, Alterns- und Menschenbilder, Kreativität im Alter; wissenschaftliche Leitung des
interdisziplinären Graduiertenkollegs „Demenz“, Mitglied in zahlreichen Expertenkommis-
sionen zu Fragen der alternden Gesellschaft.

Prof. Dr. phil. Johannes Michalak


Universität Witten-Herdecke. Diplom-Psychologe und approbierter Psychologischer Psycho-
therapeut. Von 1995 bis 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter/Assistent an der Ruhr-Universi-
tät Bochum. Vertretungsprofessuren in Heidelberg (2006–2007) und Bochum (2009–2010),
2009 Gastprofessur an der Queen’s University Kingston (Kanada). Von 2011 bis 2014 Profes-
sur für Klinische Psychologie an der Universität Hildesheim, seit 2014 Lehrstuhlinhaber für
Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke.
VIII Kurzvitae

Prof. Dr. David Orlinsky


Emeritierter Professor am „Department of Comparative Human Development“ an der Uni-
versität Chicago. In seiner wissenschaftlichen Tätigkeit hat er zahlreiche wegweisende Pro-
jekte im Bereich der Psychotherapieforschung initiiert und publiziert, z. B. gemeinsam mit
Kenneth Howard 1968 die „Society for Psychotherapy Research“ gegründet. David Orlinsky
entwickelte das „Generic Model of Psychotherapy“, ein umfassendes theoretisches Konzept
zur Erklärung von empirisch gesicherten Fakten aus der Psychotherapieforschung. Aktuell
untersucht Orlinsky in der weltweit durchgeführten „SPRISTAD-Studie“ die Entwicklung von
Therapeuten während ihrer Ausbildung.

Prof. Dr. med. Luise Reddemann


Nervenärztin, Fachärztin für psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytikerin (DPG,
DGPT). Honorarprofessorin der Universität Klagenfurt.
IX

Hinweis an die Leser

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwenden wir in diesem Buch überwiegend
das generische Maskulinum. Dies impliziert immer beide Formen, schließt also die
weibliche Form mit ein.
XI

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Annette Kämmerer, Hinrich Bents

2 „Bei meiner Ehre … “ – Zum Nutzen des Ehrbegriffs für die


Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Annette Kämmerer
2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2.2 Ehre – was ist das?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.3 Zum Begriff der Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.4 Innere Ehre und das System „Psychotherapie“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
2.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

3 Betrachtungen zur Würde als Wort und Handlung: Ergebnisse


aus der psychotherapeutischen Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
David E. Orlinsky
3.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
3.2 Bedeutung des Begriffs Würde in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
3.3 Forschungen zum Thema „Psychotherapie und Würde“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
3.4 Würde im therapeutischen Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
3.5 Missachtung im therapeutischen Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.6 Beispiele aus der klinischen Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
3.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

4 Dimensionen der Würde in der Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35


Luise Reddemann
4.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
4.2 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

5 Zur Bedeutung von Werten und Zielen als motivationale


Komponenten in der Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Martin Bohus, Hinrich Bents
5.1 Motivation in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
5.2 Werte in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
5.3 Ordnen und Erfassen von Werten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
5.4 Zur Bedeutung von Werten in der Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
5.5 Motivation in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
5.6 Präventionsprogramm „Lebe Balance“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
5.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
XII Inhaltsverzeichnis

6 Würde aus der Perspektive der Gerontologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61


Andreas Kruse
6.1 Altersbild und Menschenbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
6.2 Allgemeine Menschenwürde und spezifische Würde des Menschen . . . . . . . . . 65
6.3 Würde im Kontext von Grundbefähigungen und Verwirklichungschancen. . . 67
6.4 Würde aus der Perspektive alter Menschen mit Pflegebedarf und ihrer
Angehörigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
6.5 Würde am Ende des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
6.6 Verwirklichung von Würde in der Mitverantwortung (Sorge) für andere
Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
6.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

7 Religion und Spiritualität in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79


Henning Freund
7.1 Das „Etwas“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
7.2 Religion und Spiritualität im psychotherapeutischen Rahmen. . . . . . . . . . . . . . . 81
7.3 Würde und Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
7.4 Kennen – Erkennen – Anerkennen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
7.5 Religionssensible Kompetenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
7.6 „Nur was wir würdigend betrachten, öffnet sich uns“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
7.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

8 Würde und Akzeptanz in der Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91


Thomas Heidenreich, Christoph Grober, Johannes Michalak
8.1 Würde – Hintergrund und Konzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
8.2 Akzeptanz – Hintergrund und Konzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
8.3 Würde in der Psychotherapie und angrenzenden Disziplinen. . . . . . . . . . . . . . . . 96
8.4 Akzeptanz in der Psychotherapie und angrenzenden Disziplinen. . . . . . . . . . . . 99
8.5 Verhältnis von Würde und Akzeptanz in der Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . 101
8.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

9 Die therapeutische Beziehung in internetbasierten


Behandlungsansätzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Thomas Berger
9.1 Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
9.2 Internetbasierte Behandlungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
9.3 Die therapeutische Beziehung in internetbasierten Behandlungsansätzen. . . 110
9.4 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
9.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
XIII

Mitarbeiterverzeichnis

Bents, Hinrich, Dr. phil. Dipl.-Psych. Flandernstraße 101


Zentrum für Psychologische Psychotherapie 73732 Esslingen am Neckar
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg thomas.heidenreich@hs-esslingen.de
Bergheimer Straße 58a
69115 Heidelberg Kämmerer, Annette, Prof. Dr. phil.
hinrich.bents@zpp.uni-hd.de Psychologisches Institut
Rupprecht-Karls-Universität Heidelberg
Berger, Thomas, Prof. Dr. phil. Dipl.- Hauptstraße 47-51
Psych. Praxis für Psychotherapie
Klinische Psychologie Landfriedstr. 2
Universität Bern 69117 Heidelberg
Fabrikstraße 8 annette.kaemmerer@psychologie.uni-
3012 Bern heidelberg.de
thomas.berger@ptp.unibe.ch
Kruse, Andreas, Univ.-Prof. Dr. phil. Dr.
Bohus, Martin, Prof. Dr. med. h. c. Dipl. Psych.
Inst. für Psychiatrische und Institut für Gerontologie
Psychosomatische Psychotherapie (IPPP) Universität Heidelberg
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Bergheimer Straße 20
Mannheim 69115 Heidelberg
J5 andreas.kruse@gero.uni-heidelberg.de
68159 Mannheim
martin.bohus@zi-mannheim.de Michalak, Johannes, Prof. Dr. phil.
Dipl.-Psych.
Freund, Henning, Dr. phil. Dipl.-Psych. Fakultät für Gesundheit, Department für
Praxis für Psychotherapie und Supervision Psychologie und Psychotherapie
Wilhelmstraße 11 Universität Witten-Herdecke
69115 Heidelberg Alfred-Herrhausen-Straße 44
info@praxis-drfreund.de 58455 Witten
johannes.michalak@uni-wh.de
Grober, Christoph, Dipl.-Psych.
Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Orlinsky, David E., PhD
Pflege Apt. C-16
Hochschule Esslingen 5555 S. Everett Ave.
Flandernstraße 101 60637 Chicago, Illinois
73732 Esslingen am Neckar d-orlinsky@uchicago.edu

Heidenreich, Thomas, Prof. Dr. phil. Reddemann, Luise, Prof. Dr. med.
Dipl.-Psych. c/o Gunde Hartmann
Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Schulberg 5
Pflege 89435 Finningen
Hochschule Esslingen l.reddemann@t-online.de
1 1

Einleitung
Annette Kämmerer, Hinrich Bents

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


H. Bents, A. Kämmerer (Hrsg.), Psychotherapie und Würde, Psychotherapie: Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54310-8_1
2 Kapitel 1 · Einleitung

Dass die Würde des Menschen unantastbar sei, ist nicht nur eine Aufforderung an jeden Men-
42
1 schen, das eigene Handeln nach dem Grundsatz der Wahrung von Würde auszurichten, sondern
sie ist auch eine durch staatliche Organisationen repräsentierte Grundhaltung demokratisch
geprägter Gesellschaften. Und dennoch müssen wir beobachten, dass die Würde des Menschen
immer wieder und auf vielfältige Weise verletzt wird, individuell, sozial, gesellschaftlich: „Homo
homini lupus“, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Umso mehr ist der Einsatz zur Wahrung
der Würde, zur Gestaltung von Mitmenschlichkeit, Achtung und Achtsamkeit eine Aufgabe, die
auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern bearbeitet werden muss.
Ein solches Feld ist die Psychotherapie. Ihre Aufgabe ist es, die Aufforderung zur Mitmensch-
lichkeit in professioneller Weise zu verwirklichen. Psychotherapie begründet sich aus dem
Anspruch, jenen Menschen Hilfe und Unterstützung zu geben, deren Würde angetastet und
verletzt worden ist. Aus dieser Haltung heraus hat sie sich vor mehr als hundert Jahren entwickelt:
Sie war von Beginn an der Versuch, das scheinbar Unwürdige – in den Anfängen der Konzep-
tualisierung von Psychotherapie war das insbesondere die weibliche Sexualität – zu normalisie-
ren und seine Hintergründe und individuellen Ausprägungen zu thematisieren und zu lindern.
Sigmund Freud sah in der „talking cure“, womit er die psychotherapeutische Arbeit meinte,
eine wichtige Möglichkeit, das Verdrängte ans Licht zu holen und den betroffenen Menschen
verständlich zu machen. Darin bestand die Würdigung des individuellen Leids, nämlich als ein
Befinden, das der Beachtung und des Verstehens würdig war.
In der Folge entwickelte sich Psychotherapie auch durchaus aus pragmatischen Notwen-
digkeiten heraus. Insbesondere in den USA war die Situation in den 1950-er Jahren dadurch
gekennzeichnet, dass die nach den verschiedenen amerikanischen Kriegshandlungen traumati-
sierten Soldaten einer Behandlung bedurften und die psychoanalytische Herangehensweise dafür
nicht hinreichend oder passend erschien. Die Orientierung an der zeitgleich sich entwickelnden
Grundlagenforschung der Psychologie eröffnete Möglichkeiten, mit Hilfe von lerntheoretischen
Zugängen eine Veränderung im Erleben und Verhalten von betroffenen Menschen zu bewirken.
In diesen Anfängen der Verhaltenstherapie stand die Würde des Menschen sehr auf dem Prüf-
stand, denn die ersten Versuche, durch Konditionierungsexperimente unerwünschtes Verhal-
ten, beispielsweise Alkoholanhängigkeit oder Homosexualität, mittels elektrischer Stromstöße
zu bestrafen und damit zu löschen, waren nicht unbedingt durch die Wahrung der menschlichen
Würde gekennzeichnet.
Erst allmählich besann sich die Verhaltenstherapie ihres Auftrags, für leidvolle Erfahrungen
von Menschen würdevolle Behandlungsangebote zu machen. Die kontinuierliche Orientierung
an der anspruchsvoller werdenden Grundlagenforschung war dabei ebenso hilfreich wie eine
Besinnung auf die gesellschaftlichen Ursachen für seelisches Leid, die sich in den USA wie in
Europa hauptsächlich in einer massiven Kritik an den psychiatrischen Institutionen entzündete
und zu Veränderungen führte, die der Würde betroffener Menschen einen wesentlichen Platz
einräumten. Daneben entwickelte sich eine intensive ätiologische Forschung zu verschiedenen
Störungsbildern, die den Nährboden für die Entwicklung differenzierter therapeutischer Stra-
tegien bildete.
Verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie wurde zunehmend ausdifferenzierter,
sie eröffnete immer mehr Möglichkeiten, mit differenzierten Mitteln, die auch einer nachhalti-
gen empirischen Prüfung unterzogen wurden, maßgeschneiderte Behandlungsangebote für die
betroffenen Patienten zu machen. Genau diese Differenzierung erlaubt die Würdigung des Ein-
zelnen und seiner jeweils spezifischen Situation in nachhaltiger Weise.
Dennoch bleibt ein Spannungsfeld erhalten: Die psychotherapeutische Würdigung und
Mitmenschlichkeit kann sich auch angesichts eines differenzierten Methodeninventars nicht
Einleitung
3 1
darin erschöpfen, Patienten gegenüber parteilich zu sein, sich auf Bedauern oder Mitleid zu
beschränken; sie heißt auch, den persönlichen Hintergrund von Patienten, ihre Anteile an belas-
tenden Situationen, an ihrem Unglück, zu erkennen und zu reflektieren – und eben auch damit
zu würdigen.
Und gleichzeitig ist auch die andere, die institutionelle Seite in den Blick zu nehmen:
55 Wie gestaltet sich die institutionelle Verankerung von Psychotherapie in der
Gegenwart?
55 Wie wird der Zugang zur Psychotherapie gewährleistet?
55 Wie würdigen gegenwärtig die Institutionen, in denen Psychotherapie angeboten wird,
ihre Patienten?
55 Für wen ist dieses sich in den letzten Jahren so differenziert entwickelnde gesundheit-
liche Handeln zugänglich?
55 Welche Voraussetzungen müssen Patienten mitbringen?
55 Und ist das würdevoll?

Psychotherapie begründet sich aus dem Anspruch, das Normabweichende, das Pathologische,
das nicht Gesunde im Menschen in den Blick zu nehmen und wertzuschätzen – also den Men-
schen auch dann zu würdigen (in seinem Anliegen, in seinem So-Sein, in seinen Ansichten und
in seinem Verhalten), wenn uns genau diese Seiten nicht gefallen oder wir selbst uns dadurch
angegriffen fühlen. Es ist eben auch zu fragen, wie es uns als Psychotherapeuten gelingt, auch den
Menschen zu würdigen, dem gegenüber es uns schwer fällt, Empathie aufzubringen.
Würdigung ist ein aktiver Vorgang, der nur dann heilend ist, wenn er auch die nicht norm-
gerechten, die problematischen und schwierigen, ja die „unsympathischen“ Seiten des Patienten
umfasst. Denn nur, wenn Patienten sich in allen ihren Facetten wahrgenommen und wertge-
schätzt fühlen, ist eine kritische Auseinandersetzung mit ihren pathologischen Mustern möglich –
wohl wissend, dass das sowohl die Überwindung als auch eine Akzeptanz des kranken Anteils
bedeuten kann.
Weiterhin ist die Frage zu stellen, inwiefern Psychotherapie sich einspannen lässt in die Anfor-
derungen und Leistungsvorgaben der modernen Arbeitswelt. So lange sie besteht, war eine der
Kernfragen psychotherapeutischen Handelns immer die nach der Solidarität mit dem System
oder mit dem Einzelnen: Ist die Psychotherapie letztlich ein Erfüllungsgehilfe gesellschaftlicher
Normvorgaben, die durch die therapeutische Arbeit bewahrt werden? Oder ist sie Solidarpart-
ner der Betroffenen und im Zweifelsfall unterstützende Instanz des Einzelnen gegenüber nor-
mativen, institutionellen Forderungen? Und wo bleibt da die Würde?
Nicht zuletzt die Ätiologieforschung hat uns gezeigt, wie stark bestimmte psychopatholo-
gische Konzepte mit den gesellschaftlichen Bedingungen, dem „Zeitgeist“ verbunden sind. Die
lange Geschichte der Hysterie, die sich dann in die Neurasthenie verwandelte, dann in soge-
nannten psychovegetativen Symptomen zum Ausdruck kam, um schließlich – im Zuge der Dif-
ferenzierung – zu Essstörungen, Borderline-Persönlichkeitsstörungen oder Burnout zu mutie-
ren, zeigt uns die enge Verwobenheit von gesellschaftlichen Prozessen, Tabuisierungen, Etiket-
tierungen und dem Vokabular, dessen sich Psychotherapie bedient. Das einzige, was übrigens in
diesen verschiedenen Zeiten und ihren Störungsbildern gleich geblieben ist, ist das Geschlecht
der Betroffenen, denn es waren vorwiegend die Frauen, die diese Etikettierungen erhalten haben.
Daran hat sich in den vergangenen hundert Jahren nichts geändert.
Psychotherapie und Würde, so selbstverständlich diese Begriffe auf den ersten Blick zusam-
men gehören, so wenig trivial ist dieses Bündnis, wenn es um seine Umsetzung geht. Würdigung
des Patienten geht also in der Psychotherapie weit über die Aufgabe hinaus, dessen verletzte
4 Kapitel 1 · Einleitung

Würde zu lindern, zu heilen oder wiederherzustellen. Sie berührt vielmehr den substanziellen
42
1 Kern einer Variante gesundheitlichen Handelns, die zunehmend an Bedeutung und auch an
Akzeptanz gewinnt.
Die einzelnen Kapitel des Buches beleuchten sehr unterschiedliche Facetten des Zusammen-
hangs von Würde und Psychotherapie genauer.
Den Anfang macht das Kapitel von Annette Kämmerer, in dem sie den verschiedenen Defi-
nitionen eines Begriffs der Würde nachgeht und dabei auch den verwandten Begriff der Ehre
beleuchtet. Ihr Fazit ist eine Mahnung an psychotherapeutisch Handelnde, die Ehre des Patienten
zu beachten und sorgsam zu reflektieren, welche möglichen Verletzungen von Ehre und Würde
im therapeutischen Arbeiten auftreten können.
Im nächsten Kapitel beleuchtet der amerikanische Psychotherapieforscher David Orlinsky,
welche impliziten Aussagen zu Würde in den von ihm weltweit bei Psychotherapeuten unter-
schiedlichster Schulen erhobenen Daten zur Wirksamkeit therapeutischer Strategien vorhanden
sind. Insbesondere beleuchtet er Fragen zur Kompetenz von Psychotherapeuten, Empathie und
Verständnis für ihre Patienten zu finden – auch und gerade dann, wenn die Beziehungsgestaltung
besonderen Aufwand erfordert, um Patienten die ihnen gebührende Würdigung zu erweisen.
Luise Reddemann setzt sich kritisch mit modernen und postmodernen Strömungen in der
Psychotherapie auseinander. Sie betont die Bedürfnisse und Rechte von Patienten ebenso wie die
von Behandlern und widmet sich der Frage, wie diese in der Psychotherapie gewürdigt werden.
Kritisch untersucht sie, ob durch die Orientierung an der Pharmaforschung und an ökonomi-
scher Effizienz und publizistischer Wirkung die Würde von Patienten nicht auch bedroht wird.
Ausführlich geht sie auf einen möglichen Gegensatz von Erkenntnis und Mitgefühl ein, auf die
Würdigung von Grenzen, von Verschiedenheit, von Intimität.
Einen anderen Blick eröffnet das Kapitel von Martin Bohus und Hinrich Bents. Sie wenden
sich der Frage zu, wie aktuelle und vor allem wie zukünftige Entwicklungen der Psychotherapie,
etwa die Etablierung modularer und internetgestützter Verfahren, das psychotherapeutische
Handeln verändern werden. Besonderes Augenmerk legen die Autoren auf die Bedeutung von
Motivation für Änderungen im Erleben und Verhalten. Dabei kommt den persönlichen Werten
von Patienten besondere Bedeutung zu, sodass es sich lohnt, über die Erforschung und aktive
Prozessierung von persönlichen Werten in der Psychotherapie nachzudenken, um auf diesem
Weg die Grundbedürfnisse von Psychotherapiepatienten zu würdigen.
Das Kapitel von Andreas Kruse widmet sich den Alternsbildern in unserer Gesellschaft. Der
Autor zeigt auf, wie Alternsbilder mit gesellschaftlich geprägten Menschenbildern zusammen-
hängen und wie sehr jene Menschenbilder, die sich hauptsächlich an der kognitiven Leistungs-
fähigkeit eines (alternden) Menschen orientieren, potenzielle Verletzungen der menschlichen
Würde darstellen können, weil sie in sich die Gefahr der Demütigung und Diskriminierung
tragen. Anhand von drei für das Altern thematischen Bereichen, nämlich der Pflegebedürftigkeit,
der Sorge für und um andere Menschen und dem Sterben, expliziert der Autor einen anschau-
lichen, praktischen Zugang zur Verwirklichung von Würde im Alter.
Auch das nächste Kapitel von Henning Freund behandelt existenzielle Fragen, die in der
Psychotherapie relevant sind, nämlich die Spiritualität und Religiosität von Patienten, deren
Würdigung nach Meinung des Autors in der Psychotherapie unbedingt gewährleistet sein soll.
Er zeigt auf, welche Möglichkeiten die Psychotherapie bietet, über den Glauben ins Gespräch zu
kommen, betont gleichzeitig, das psychotherapeutisch Handelnde sich ihrer eigenen Haltung zu
religiösen Fragen bewusst sein sollten.
Thomas Heidenreich und Kollegen betonen den Zusammenhang von Würde und Akzep-
tanz in der Psychotherapie. Beide Begriffe werden in ihrer historischen und konzeptuellen
Einleitung
5 1
Entwicklung für die Psychotherapie und verwandte Disziplinen dargestellt und in ihrer aktuel-
len Bedeutung als wichtige Leitlinie für Therapieansätze wie z. B. der Dialektisch Behavioralen
Therapie von Linehan oder der Acceptance Committment Therapy von Hayes erläutert.
Thomas Berger schließlich befasst sich mit der Frage, wie denn das Konstrukt der Würde,
vermittelt über die therapeutische Beziehung, in internetbasierten Therapieansätzen zur Geltung
und Wirkung kommen kann. Chancen und Bedenken gleichermaßen reflektierend zeigt der
Autor, wie genuine und grundlegende Bedürfnisse von Patienten auch in diesen – auf den ersten
Blick unpersönlich erscheinenden – Therapieformen berücksichtigt und zum Wohl der Patien-
ten gewürdigt werden können.
7 2

„Bei meiner Ehre … “ – Zum


Nutzen des Ehrbegriffs für
die Psychotherapie
Annette Kämmerer

2.1 Vorbemerkungen – 8

2.2 Ehre – was ist das? – 9

2.3 Zum Begriff der Würde – 12

2.4 Innere Ehre und das System „Psychotherapie“ – 16

2.5 Fazit – 18

Literatur – 18

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


H. Bents, A. Kämmerer (Hrsg.), Psychotherapie und Würde, Psychotherapie: Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54310-8_2
8 Kapitel 2 · „Bei meiner Ehre … “ – Zum Nutzen des Ehrbegriffs für die Psychotherapie

2.1 Vorbemerkungen

Wir leben in einer unruhigen Zeit. Von außen und von innen erfahren wir Bedrohungen durch
2 politisch-ideologische und religiös-ideologische Gruppen, die mit der Art unseres gesellschaft-
lichen Zusammenlebens und unseren liberalen Werten nicht einverstanden sind. Sie drücken
das aus durch Ausgrenzung und Verfolgung Andersdenkender, durch moralische Anklage, und
auch mit den Mitteln der Gewalt. Was viele Menschen beängstigt und schockiert, ist die verbale
und tätliche Radikalität, mit der diese Auseinandersetzung geführt wird.
Aus Angst vor Vielfalt und Andersartigkeit findet auch im Inneren unseres Landes ein Kampf
um Abgrenzung statt, werden Menschen anderer Herkunft und Religion diffamiert, und es wird
versucht, ein Feindbild aufzubauen, das als Begründung für Fremdenhass und Gewaltbereit-
schaft herhalten muss. Die Sozialpsychologie lehrt uns: Nichts stärkt die Kohäsion innerhalb
einer Gruppe so sehr wie ein Außenfeind. Alle gruppeninternen Konflikte verblassen, wenn
ein außerhalb der Gruppe stehendes Feindbild aufgebaut werden kann. Die Etablierung eines
solchen Außenfeindes ist die zugleich undifferenzierteste, aber eben auch leichteste Art, die Viel-
falt von Meinungen und die daraus resultierenden Konflikte in den eigenen Reihen zu überse-
hen und zu ignorieren.
Von außen strömt ebenfalls eine Bedrohung durch Gewalt in europäische bzw. westliche
Gesellschaften, die in Europa lange gebannt schien. Die Schrecknisse der beiden Weltkriege hatten
in Europa weitgehend zu einem Klima von Kompromisssuche und Friedfertigkeit geführt, das
für unsere gesellschaftliche Entwicklung in den vergangenen 60–70 Jahren maßgeblich war und
zu Wohlstand und Wachstum beigetragen hat. Aber nun sind wir konfrontiert mit einer wach-
senden Gruppe von Menschen – es handelt sich nahezu ausschließlich um Männer, – die aus reli-
giös-ideologischer Überzeugung eine große Brutalität und Gewalt an den Tag legen. Als habe
sich ein Ventil geöffnet, entstand eine Gewaltbereitschaft, die vor nichts haltmacht und uns die
Destruktivität menschlichen Handelns in erschreckender Weise vor Augen führt.
Die Etablierung der virtuellen Kommunikation hat den Charakter der menschlichen Begeg-
nung verändert; wir sind vernetzt, können uns jederzeit weltweit mit Menschen in Verbindung
bringen. Diese Ubiquität des Austauschs hat – wie jeder weiß – nicht nur Vorteile, denn wir
sind schnell anonymen Anfeindungen ausgesetzt, es werden Informationen über uns preis-
gegeben, die niemals für die Öffentlichkeit vorgesehen waren. Mit dem virtuellen Netz ist
der mittelalterliche Pranger zurückgekehrt, die öffentliche Diffamierung von Menschen ist
– unter der Maske der Anonymität, aber auch akzeptiert von Teilen der Bevölkerung – jeder-
zeit möglich. Auch hier haben wir zu klären, inwiefern Ehre in diesem Zusammenhang von
explikativer Relevanz ist.
Der kürzlich verstorbene Sozialwissenschaftler Ulrich Beck hat uns den Begriff der „Risi-
kogesellschaft“ (Beck 1986) hinterlassen. In den hinter uns liegenden Jahrzehnten, aber auch
bis in unsere Gegenwart, geht – so die Meinung von Beck – die gesellschaftliche Produktion
von Wachstum und Reichtum systematisch einher mit der gleichzeitigen gesellschaftlichen
Produktion von Risiken. Das sind einerseits ökologische Risiken, man denke an den Klima-
wandel, und andererseits ökonomische Risiken; die ganze Finanzmarktmisere ist ein beredtes
Beispiel dafür. Und es sind schließlich Risiken der individuellen Lebensgestaltung bzw. der psy-
chischen Verfasstheit von Menschen. Die Einbettung des Einzelnen in die schützenden, wohl
auch begrenzenden Mauern von Tradition und Gruppenzugehörigkeit ist von einem indivi-
dualistischen Menschenbild abgelöst worden, das gekennzeichnet ist durch das Versprechen
der Vervielfältigung von Möglichkeiten, die sich nicht mehr begrenzen durch jene Schranken
2.2 · Ehre – was ist das?
9 2
von Religionszugehörigkeit, Ökonomie, Weltbild, die noch für vorangehende Generationen
bestimmend waren.
Das, was wir allerdings tun müssen, um diese Chancen zu nutzen, ist, risikobereit zu sein, wir
sollten flexibel sein, anpassungsfähig, konform, unerschrocken. Reichtum, Ansehen, Macht –
alles scheint möglich, wenn wir nur wollen und es richtig machen. Als Psychotherapeuten wissen
wir, dass diese Hochglanzversprechungen so nicht zu halten sind, dass die Risikobereitschaft
ihren Preis hat und Depression, Angst, Traumata hinter den Verheißungen der Fassade lauern.
Auch hier haben wir zu prüfen, ob und inwieweit der Begriff von der Ehre das Verständnis dieser
Phänomene bereichern kann.

2.2 Ehre – was ist das?

Vergleicht man die verschiedenen Bedeutungsfacetten, die dem Ehrbegriff eigen sind, so wird
deutlich, dass ihr gemeinsamer Nenner die Wertschätzung ist. Im ursprünglichen Wortsinn meinte
die Ehre vor allem die Wertschätzung Gottes, die Achtung der göttlichen Ehre (Grimm’sches Wör-
terbuch), die eng verknüpft war mit der Furcht, der Angst vor Strafe, was sich in dem Begriff der
Ehrfurcht nach wie vor niederschlägt.
Auch ohne den göttlichen Bezug hat sich der Ehrbegriff bis heute den Charakter der Wert-
schätzung, der Achtung gegenüber einer Person erhalten. Diese Achtung ist verknüpft mit
bestimmten Leistungen, die eine Person vorweisen kann, wobei diese Leistungen auf Tüchtig-
keit beruhen können, aber auch auf normativ-moralischen Standards, wie etwa Tugendhaftig-
keit, Ehrlichkeit etc. Ehre zu haben beeinflusst die Stellung eines Menschen im gesellschaftlichen
Gefüge, ist verknüpft mit bestimmten Möglichkeiten, in einer Gesellschaft zu handeln: „Lebens-
chancen und Handlungsräume … werden von Ehre beeinflusst“ (Vogt 1997, S. 17). Ehre wird
demnach determiniert vom sozialen Ansehen einer Person, das ihr von anderen zugeschrieben
wird. Aber Ehre hat noch eine weitere Bedeutung, nämlich die der inneren Ehre, der Würde, die
einem Menschen schlichtweg aufgrund seines Menschseins zusteht.
Ehre – so machen diese ersten Ausführungen deutlich – steht in einem Spannungsverhält-
nis von Außen und Innen, von Gesellschaft und Individuum, dem Ansehen einer Person, ihrem
Status und Verdienst auf der einen Seite und der inneren Ehre als der Würde eines Menschen auf
der anderen (Vogt 1997, S. 19). Insofern ist die Ehre ein Verhalten und ein Empfinden. Das Ver-
halten wird von anderen bewertet, sei es als ehrbar oder als ehrlos, und das Selbst-Erleben folgt
auf diese Bewertung. Wobei mit dem Begriff des „Folgens“ nicht automatisch die Zustimmung zu
dieser Bewertung gemeint ist: Die innere Ehre kann nämlich der Motor dafür sein, ein bestimm-
tes Verhalten zu zeigen, welches durch die Gesellschaft kritisiert wird, z. B. als unehrenhaft, von
der handelnden Person aber gerade als Ausdruck ehrenhaften Handelns angesehen wird. Das ist
die Innenorientierung der Ehre.
Speitkamp (2010) verzichtet auf diesen Aspekt der Innenorientierung, betont stattdessen
den sozialen Charakter der Ehre: „Der Mensch hat (zwar) qua Geburt Würde, aber Ehre hat er
nur in sozialer Interaktion“ (Speitkamp (2010, S. 18). Aus seiner Sicht reflektiert Ehre zunächst
einmal die Internalisierung der Werte einer sozialen Gruppe (bis hin zur Gesellschaft). Aber
sie repräsentiert auch die Externalisierung eines Selbstbildes in der sozialen Welt, nämlich sich
auf eine bestimmte Weise in der Gesellschaft zu zeigen. Ehre fungiert als Mediator zwischen
einer Haltung, einem Anspruch einer Person an sich selbst und dessen Bewertung durch die
Gesellschaft.
10 Kapitel 2 · „Bei meiner Ehre … “ – Zum Nutzen des Ehrbegriffs für die Psychotherapie

Der britische Anthropologe Julian Pitt-Rivers (1919–2001) hat die soziale Einbettung der
Ehre recht systematisch analysiert (Pitt-Rivers 1968):
55 Ehre als sozialer Rang, als soziale Bevorzugung:
2 44Ehre ist das Zeichen einer sozialen Schichtzugehörigkeit, in der Vergangenheit vor
allem die Zugehörigkeit zum Adel. Um diese (adelige) Ehre zu bewahren, ist vor allem
Tapferkeit vonnöten. Feigheit galt und gilt als sicherer Garant, Ehrverlust zu erleiden.
44Mit diesem Verständnis von Ehre als sozialem Rang ist auch der Anspruch nach
Führung verbunden, nach Macht. Etwa einen (militärischen) Sieg zu erringen, d. h. die
Macht genutzt zu haben, ist der ultimative Garant für die Wahrung der Ehre.
44Während in der Vergangenheit die Ehre an solche zumeist von Geburt festgelegte
Statuszugehörigkeiten gekoppelt war, vor allem eben an die Zugehörigkeit zum
Adel, sind heute stärker ökonomische Fakten zuständig für den Erhalt von Ehre, also
Wohlstand und Besitz.
44Für die Gegenwartsgesellschaft ist daher auch das Mäzenatentum als eine Quelle für Ehre
zu nennen. Wohltätigkeit, Großzügigkeit verwandeln ökonomischen Erfolg in Ehre.
Zu hinterfragen bleibt, ob Ehre hier nicht auch durch den Ehrverlust des Empfängers
erworben wird. Pitt-Rivers (1968) beschreibt die subtilen Prozesse, die die Regulation
von Ehrgewinnung und Ehrverlust kennzeichnen: „By giving it away, you show that
you have it; by striving for it, you imply that you need it … The struggle of honor takes
place … only where precedence is both of value and in doubt“ (Pitt-Rivers 1968, S. 508).
Bourdieu (1976) sprach in diesem Zusammenhang von der Ehre als symbolischem
Kapital. Diese Kapitalform ist ein zwar sanftes, aber gleichwohl wirksames Medium zur
Bildung von Machtbeziehungen und gesellschaftlichen Ungleichheiten.
55 Kollektive Ehre der Familie, der Gruppe/Sippe, der Nation:
44Bis in die heutige Zeit ist die Familie eine bedeutende Quelle der persönlichen Ehre; das
mag in verschiedenen Kulturen unterschiedlich intensiv ausgeprägt sein, vorhanden
ist es auch in jenen Kulturen, in denen der Einfluss der Familie auf das eigene Leben als
wenig bedeutsam angegeben wird. Jeder Psychotherapeut, der vertraut ist mit biogra-
phischen Anamnesen, weiß um die Relevanz der Familiengeschichte für die Identität
von Menschen.
44Bezogen auf die Familie ist Ehre vererbbar, nämlich als Familienehre, womit die
moralischen Qualitäten aller Mitglieder dieser Familie gemeint sind. Ehrverlust für
einen bedeutet demnach sehr schnell auch Ehrverlust für alle.
44Aber das Gebot der Ehrenhaftigkeit ist keineswegs auf alle Familienmitglieder gleich-
mäßig verteilt; es ist vor allem die Ehre der weiblichen Mitglieder einer Familie, die
auch für die Ehre der männlichen Mitglieder steht. Beschädigt wird die Familienehre
hauptsächlich durch (vermeintliches) sexuelles „Fehlverhalten“ der Frauen/Töchter;
sexuelles Fehlverhalten der Männer ist vom Ehrenkodex in Familien weitgehend
abgekoppelt.
44Auf bestürzende Weise schlägt sich diese Haltung in den sog. Ehrenmorden nieder.
2011 haben Dietrich Oberwittler und Julia Kasselt vom Freiburger Max-Planck-
Institut für ausländisches und internationales Strafrecht eine beeindruckende
Übersicht über Ehrenmorde und ihre Hintergründe in Deutschland für den Zeitraum
1995–2006 vorgelegt. Sie betonen, dass Ehrenmorde ein fester Bestandteil des Krimina-
litätsgeschehens und damit der Gesellschaft in Deutschland sind. Anhand von Delikt-
akten analysieren sie für den genannten Zeitraum 78 Mordtaten, die sie als Ehrenmorde
bezeichnen. Sie definieren Ehrenmorde anhand von drei Merkmalen:
2.2 · Ehre – was ist das?
11 2
–– Ein Ehrenmord wird vornehmlich an Frauen oder Mädchen durch ihre männlichen
Verwandten begangen.
–– Er hat die Wiederherstellung der kollektiven Familienehre, nicht der Ehre des Täters
allein, zum Ziel.
–– Er wird von den Tätern und dem relevanten sozialen Umfeld als eine notwendige
Reaktion auf eine Verletzung von Verhaltensnormen durch das Opfer gerecht-
fertigt, die einer strengen, spezifisch für Frauen geltenden Sexualmoral entspringen
(Oberwittler und Kasselt 2011, S. 12).
Oberwittler und Kasselt (2011) betonen, dass das hinter dem Ehrenmord stehende
Normsystem die Verantwortung für die Kontrolle und die Bestrafung von Mädchen und
Frauen deren Herkunftsfamilien zuweist. Es handelt sich in aller Regel um patrilinear
organisierte Großfamilien, als Täter kommen Brüder, Onkel, Cousins und – seltener –
der eigene Vater in Betracht.
44Auch wenn die Zahl dieser Tötungsdelikte in Deutschland zum Glück relativ klein ist,
so ist es dennoch ein Problem, dem wir uns als Gesellschaft nicht verschließen dürfen.
Hier zeigt der Begriff der Ehre sein zu Gewalt fähiges Gesicht, verankert in einem
Normsystem, das den Gegebenheiten einer modernen, offenen Gesellschaft zuwider
läuft. Aber nicht jede Gewalt aus Ehrverlust ist ein Mord! Die Palette ist viel breiter.
Ehre dient als Begründungsfolie für eine zur Gewalt bereite Gruppe, es entstehen
unter dem Primat der Ehre Gewaltgemeinschaften, die sich über Gewaltpraktiken
und Gewaltverherrlichung definieren. Die alten Symbole von Tapferkeit oder anders
herum das absolute Vermeiden von Feigheit sind handlungsleitende Impulsgeber. In
der Gewalt entsteht ein Gefühl der Mächtigkeit, der Möglichkeit, die Staatsgewalt,
die herrschenden Institutionen unwirksam zu machen, und die gemeinsame Ehre,
dieser Code der Verbundenheit, wirkt dabei als sozialer Kitt. Aber – wie der Historiker
Speitkamp (2010) sehr luzide herausarbeitet: „Wenn die Gewalt vorüber ist, bleibt
dennoch die Demütigung, die Entehrung“ (Speitkamp 2010, S. 21). Und das Spiel geht
von vorne los.
44Die Verbindung von Ehre und Gewalt bzw. Gewaltbereitschaft ist in den Sozialwissen-
schaften auch unter dem Begriff der „Honour-and-shame-Gesellschaften“ diskutiert
worden. Besonders aus dem US-amerikanischen Sprachraum liegen empirische
Befunde vor, die Gewaltbereitschaft bei weißen, männlichen Südstaatenbewohnern
mit einem traditionellen Ehrenkodex und der dadurch verhinderten potenziellen
Beschämung in Verbindung bringen (Cohen et al. 1996; Leung und Cohen 2011). Der
kulturelle Hintergrund für diese Annahmen wird in der Notwendigkeit zur Selbstver-
teidigung in den im Süden der USA weit verbreiteten, traditionellen Viehwirtschaftsge-
sellschaften gesehen, bei denen der eigene Besitz zum einen schwer zu überwachen und
zum anderen daher auch stark bedroht war. Hier gehörte es zu den Notwendigkeiten,
bei drohendem Ehrverlust, etwa durch erfahrenen Diebstahl, die eigene Ehre durch
Selbstjustizwiederherzustellen.
55 Ehre ist an den Körper gebunden:
44Das Beispiel des Ehrenmordes hat bereits deutlich gemacht, dass Ehre eng mit der
weiblichen Sexualität verbunden ist, sie ist eine Sollensforderung an Frauen, sich
sexuell enthaltsam zu verhalten. Interessanterweise ist das bei Männern genau
umgekehrt: Da ist die Ehre an sexuelle Potenz geknüpft und vor allem an Tapferkeit,
Mut. Der unmittelbarste Verlust der Ehre droht dem Mann bei Feigheit und bei
sexuellem Versagen.
12 Kapitel 2 · „Bei meiner Ehre … “ – Zum Nutzen des Ehrbegriffs für die Psychotherapie

44Wie schon ausgeführt wurde, spielt das Blut eine wichtige Rolle: Ehrverlust muss und kann
nur mit Blut bezahlt werden. Die lange Geschichte des Duells (Burkhart 2006) gibt hierzu
beredtes Zeugnis. Bis ins 19. Jahrhundert war das Duell für Männer der herrschenden
2 Klasse eine Möglichkeit, einen Mord zu begehen, ohne dafür juristisch belangt zu werden;
es kam auch nicht darauf an, in einer Streitsache im Recht zu sein oder nicht, sondern
lediglich darauf, sich in seiner (Standes-)Ehre beleidigt zu fühlen. Erst als das Duell
zu einer gängigen Praxis auch niedrigerer sozialer Schichten, etwa von Handwerkern,
wurde, begann die Ächtung des Duells. Appiah (2011) macht dafür die Etablierung des
Verwaltungsstaats im 19. Jahrhundert verantwortlich und auch die Entwicklung einer
Massenpresse, die eine gruppenspezifische Institution, nämlich das Ehrduell, in ein auch
für Außenstehende zugängliches Spektakel verwandelte, und schließlich die Schwächung
des Glaubens an die eigene Überlegenheit in weiten Kreisen des Adels.
44Ehre ist symbolisch auch an das Herz gebunden, als dem Sitz von Integrität, Wahrhaf-
tigkeit und Autonomie. Ebenso spielt die aufrechte Haltung eine Rolle als Symbol
für Ehre und Ehrenhaftigkeit: Sehenden Auges dem Feind begegnen, ihm ins Auge
schauen. Der Gegensatz dazu ist der gesenkte Blick des Schämens, dem unmittelbaren
Zeichen von Ehrverlust.

Eigentlich könnte man nach diesen Aufzählungen der Auffassung sein, dass der Begriff der Ehre
einer ist, auf den wir getrost verzichten können. Im Namen der Ehre ist viel Leid geschehen und
geschieht noch immer. Der Begriff diente und dient als Begründung für ideologischen Hass, für
Frauenfeindlichkeit und körperliche sowie sexuelle Gewalt; er wurde funktionalisiert für eine
politische und moralische Haltung, die dem Machterhalt männlicher Pfründe und der sozialen
Ausgrenzung diente und immer noch dient, er ist verbunden mit einer Blut-und-Boden-Ideo-
logie, gegen die zu opponieren gerade wir in Deutschland alle Gründe haben.
Insofern kann man durchaus die Meinung vertreten, es sei gut, wenn diese Form der sozialen
Differenzierung aus dem Erleben in einer offenen, emanzipierten Gesellschaft verschwindet. Mit
dieser Meinung wäre man übrigens in guter Gesellschaft, denn schon vor mehr als 30 Jahren hat
der amerikanische Soziologe Peter Berger die Ehre als einen Anachronismus bezeichnet, der so
obsolet geworden sei wie die Keuschheit (Berger und Luckmann 1980).
Allerdings gibt es eine weitere Facette der Ehre, die uns wohl mehr kümmern kann und sollte
als die Ehre als soziale Reputation, nämlich die innere Ehre. Sie wird verstanden als „die Moral,
die Sittlichkeit, die Tugend, die Selbstwertschätzung und das Schamgefühl eines Individuums,
seine Unbescholtenheit und Ehrlichkeit, seine Maxime ethischen und maßvollen Handelns“
(Burkhart 2006, S. 12). Dieses Verständnis der „inneren Ehre“ berührt nun aufs Direkteste jenen
Begriff, der dieser Publikation ihren Namen gab: Die Würde.

2.3 Zum Begriff der Würde

Es ist noch gar nicht so lange her, dass der Begriff der Würde in politischen Texten erstmals
auftauchte: Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, nämlich 1948, wird er in der Allgemeinen Men-
schenrechtserklärung der Vereinten Nationen erwähnt und findet ein Jahr später Eingang in das
Grundgesetz der frisch gegründeten Bundesrepublik Deutschland. Hier heißt es in Artikel 1:

» Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung
aller staatlichen Gewalt.
2.3 · Zum Begriff der Würde
13 2
Seither ist die Menschenwürde als juristisch-gesellschaftliches Anliegen prominent gewor-
den und taucht in vielen Verfassungen und Deklarationen auf, zuletzt 2009 im Vertrag von Lis-
sabon, mit dem die 27 Mitgliedstaaten der EU ihre völkerrechtliche Beziehung sicherten (Stoe-
cker 2014). Aber was ist das eigentlich, die Würde?
Versucht man, im Interesse einer Klärung, der Begriffsgeschichte nachzugehen, stößt
man auf zwei unterscheidbare Konzeptualisierungen der Würde: Einmal ist die Rede von
­„Mitgift-Konzeptionen“ der Würde und ein anderes Mal von „Leistungs-Konzeptionen“ (Stoe-
cker 2014, S. 20).
Mitgift-Konzeptionen verstehen die Würde vor allem religiös. Denn nach christlicher Über-
zeugung ergibt sich die Würde des Menschen aus der Gottesebenbildlichkeit und der Gottesge-
schöpflichkeit des Menschen (Stoecker 2014, S. 20; Spaeman 1987). Da alle Menschen von Gott
geschaffen sind, ist die Menschenwürde von Geburt gegeben, sie ist unverlierbar und konstitutiv
für das Humane, denn sie ist dem Menschen ja von Gott verliehen.
Ein erstes Verständnis der Verknüpfung von Gottesebenbildlichkeit und Würde findet sich
bei dem Renaissance-Philosophen Pico della Mirandola (1463–1494). In seiner Schrift „Oratio
de hominis dignitate“ (1496, posthum veröffentlicht) erläutert er, dass Gott den Menschen am
Schluss der Schöpfung geschaffen hat, nachdem er den niederen Lebewesen (Tieren und Pflan-
zen) und den höheren (Engeln und himmlischen Geistern) ihre jeweiligen unveränderlichen
Bestimmungen und Orte zugeteilt hatte.
Dem Menschen als einzigem Wesen hat der Schöpfer die Eigenschaft verliehen, nicht fest-
gelegt zu sein. Daher ist der Mensch – so Pico della Mirandola – „ein Werk von unbestimmter
Gestalt“. Alle übrigen Geschöpfe sind von Natur aus mit Eigenschaften ausgestattet, die ihr mög-
liches Verhalten auf einen bestimmten Rahmen begrenzen. Der Mensch hingegen ist frei in die
Mitte der Welt gestellt, damit er sich dort umschauen, alles Vorhandene erkunden und dann seine
Wahl treffen kann. Damit wird er zu seinem eigenen Gestalter, der nach seinem freien Willen
selbst entscheidet, wie und wo er sein will. Hierin liegen das Wunderbare seiner Natur und seine
besondere Würde, und insofern ist er Abbild Gottes.
Aus der Konzeptualisierung von Würde als Gottesebenbildlichkeit entstehen allerdings nicht
unerhebliche Zwiespalte. Der erste ist der, dass dieses Verständnis von Würde eines ist, das uns
die Würde des Menschen als einen göttlichen Gnadenakt erscheinen lässt, demgegenüber wir uns
– entsprechend der christlichen Theologie – in unserem irdischen Leben immer wieder bewei-
sen müssen und Gefahr laufen, uns diesem Gnadenakt gegenüber letztlich als nicht „würdig“ zu
erweisen: „Die dem Menschen von Gott verliehene Würde hat also den Effekt, seine eigentliche
Unwürdigkeit nur umso schärfer hervortreten zu lassen“ (Stoecker 2011). Der zweite Zwiespalt
ist der, dass eine ethische Begründung der Menschenwürde sinnvollerweise nicht abhängig sein
sollte von religiösen Überzeugungen, vielmehr der Mensch um seiner selbst willen gewürdigt
werden sollte und nicht bloß aus Achtung vor Gott. Auch eine säkulare Ethik sollte den Begriff
der Menschenwürde definieren können.
Hier kommen nun die sog. Leistungs-Konzeptionen der Menschenwürde (Stoecker 2014)
ins Spiel. Auch diese haben eine lange Tradition, die bei Cicero (106 v. Chr. bis 43 v. Chr.)
beginnt. In seiner Schrift „Über die Pflichten“ definiert Cicero Verpflichtungen, die jeder
Mensch in seinem Leben zu erfüllen hat, nämlich erstens die Verpflichtung, jene Rolle auszu-
füllen, die einem Menschen durch seine Herkunft vorgegeben ist; dann zweitens die Verpflich-
tung, gemäß den eigenen körperlichen Anlagen und Talenten zu leben; drittens die Pflicht,
eine selbst gewählte Lebensaufgabe auszufüllen, und schließlich viertens die Verpflichtung,
als Mensch nach Vernunft und Einsicht zu handeln, da es diese Vernunft ist, die das Richtige
14 Kapitel 2 · „Bei meiner Ehre … “ – Zum Nutzen des Ehrbegriffs für die Psychotherapie

und Gute beinhaltet. Nur, so Cicero, wer seine Lebensaufgaben angemessen und vernünftig
bewältigt, benimmt sich würdig1.
Die Würde an die Vernunft zu binden wurde in der Folge dann vor allem von Immanuel Kant
2 ausgearbeitet. Würde ist bei ihm eng mit moralphilosophischen Überlegungen verknüpft, insbe-
sondere zu dem kategorischen Imperativ, demzufolge wir nur nach derjenigen Maxime handeln
sollten, von der wir zugleich wollen, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Dieses Verständnis
von Vernunft ist bei Kant keineswegs eines, das allein der Rationalität und Einsicht verpflichtet
ist, es geht bei ihm viel weiter: Denn indem wir der Vernunft folgen, handeln wir autonom, und
daher ist nach Kant „Autonomie der Grund der Würde der menschlichen … Natur“ (Kant 1965).
Dieses Verständnis von Autonomie/Würde hat Implikationen, vor allem diejenige, den Men-
schen nicht allein als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu betrachten. Genauer formu-
liert Kant es in dem Satz „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der
Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“; und
an anderer Stelle: „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem
Menschen (weder von anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muss jeder-
zeit zugleich als Zweck gebraucht werden und darin besteht eben seine Würde“ (Kant, Metaphy-
sik der Sitten, Tugendlehre, § 38).
Für Kant ist das Vernünftige absolut allgemeingültig, denn jede vernünftige Überlegung oder
Entscheidung gilt, wenn sie richtig ist, für jedermann gleichermaßen. Indem wir diese Vernunft,
man kann vielleicht schon sagen, diese würdevolle Vernunft, einsetzen, gewinnen wir – und das
ist das Revolutionäre an Kant – Freiheit (Kulenkampff 2014).
Deutlich wird, dass das Verständnis von Würde, das Kant uns lehrt, weit weg von der Got-
tesebenbildlichkeit des Menschen ist. Bei ihm ist die Würde an die Vernunft, genauer an den
Gebrauch der Vernunft, die zu Freiheit führt, gebunden, insofern ist die Kennzeichnung als Leis-
tungs-Konzeption durchaus nachvollziehbar.
Aber klärt sich dadurch der Begriff der Würde wirklich? Gibt es nicht auch Menschen, die –
im Sinne das kategorischen Imperativs – nicht vernunftfähig sind, beispielsweise Kinder, geistig
Behinderte, Komatöse, vielleicht auch psychisch kranke Menschen – um einige Beispiele zu
nennen. Nach Kants Überlegungen hätten sie wohl keine Würde, wenn sie nicht über Vernunft
verfügten.
Es sollte uns nachdenklich machen, dass dann, wenn man die Menschenwürde an irgendwie
hervorragende Eigenschaften von Menschen koppelt – etwa an die Vernunft –, der Fall eintritt,
dass offensichtlich viele Menschen diese Eigenschaften zeitweise oder auch dauerhaft gar nicht
haben. Ähnlich das Dilemma, wenn die Würde verstanden wird als etwas dem Menschen res-
pektive der ganzen Menschheit Verliehenes. Weder ist dabei klar, was ihr in Tat und Wahrheit
verliehen wurde, noch von wem.
Ein Ausweg aus dieser Zwickmühle ergibt sich, wenn die Menschenwürde nicht als positives
Konstrukt zu definieren versucht wird, sondern wenn umgekehrt Verletzungen der Menschen-
würde, also die Entwürdigung, in den Fokus genommen werden.
Diesen Weg geht (unter anderen) der israelische Philosoph Avishai Margalit (geb. 1939). Er
geht der Frage nach, wie eine „anständige Gesellschaft“ beschaffen sei, und gibt die Antwort,
dass in einer derartigen Gesellschaft Menschen weder von den gesellschaftlichen Institutionen
noch untereinander gedemütigt werden (Margalit 2012). Dabei definiert er Demütigung als alle

1 Viele Jahrhunderte später tauchen diese Vorstellungen der zu erfüllenden Rollen als Stufenmodelle der
menschlichen Entwicklung wieder auf, etwa bei Erik H. Erikson, aber auch in den Stufenmodellen der Gesund-
heitspsychologie, z.B. bei Prochaska und DiClemente.
2.3 · Zum Begriff der Würde
15 2
„Verhaltensformen und Verhältnisse, die einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer
Selbstachtung verletzt zu sehen“ (Margalit 2012, S. 21). Selbstachtung ist für ihn quasi gleichbe-
deutend mit Würde, wobei er die Würde als die Verkörperung, die Sichtbarmachung der Selbst-
achtung versteht, denn sie zeigt den äußeren Aspekt der Selbstachtung:

» Selbstachtung ist jene Haltung, die Menschen ihrem eigenen Menschsein gegenüber
einnehmen, und Würde ist die Summe aller Verhaltensweisen, die bezeugen, dass ein
Mensch sich selbst tatsächlich achtet: Würde tritt dadurch zutage, dass Menschen sich
würdevoll verhalten, also auf eine Weise, welche die Selbstachtung zum Ausdruck bringt,
die sie verspüren.
(Margalit 2012, S. 61).

Würde, so Margalit, ist also ein Merkmal der Person, eine innere Haltung, die dann zum Ausdruck
kommt bzw. kommen kann, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen so sind, dass Selbstach-
tung möglich wird. Ich finde diese Sichtweise insofern bemerkenswert, als sie die Würde in die
Person verlagert, sie als einen Teil der individuellen Ausstrahlung oder der individuellen Mög-
lichkeiten eines Menschen begreift.
Folgerichtig unterscheidet Margalit auch zwischen Selbstachtung und Selbstwertgefühl. Ein
Selbstwertgefühl, so der Autor, könne man ohne Selbstachtung haben, und als Beispiel führt er
Menschen an, die sich auf ihre Leistung und Erfolge zwar einiges zugute halten, aber dennoch
ohne Zögern vor jedem zu Kreuze kriechen, um sich unter Missachtung ihrer Selbstachtung
Vorteile zu verschaffen.
Die von Margalit ins Spiel gebrachte Selbstachtung führt uns nun direkt wieder zum Aus-
gangspunkt der Betrachtungen, nämlich zu der Ehre, zurück.
Fassen wir vorher zusammen, was uns der Exkurs zu Würde gezeigt hat:
55 Würde kann verstanden werden als eine für das Humane konstitutive Eigenschaft, die von
Gott gegeben wird und daher nicht weiter definiert werden muss (Gottesebenbildlichkeit).
55 Würde ist an menschliches Tun gebunden; sie kann sich
44in der Erfüllung von Pflichten im Sinne von Lebensanforderungen zeigen (Cicero),
44in der Verpflichtung auf die Vernunft, die moralische Autonomie ermöglicht (Kant),
44aber auch und vor allem in einer bestimmten Haltung sich selbst gegenüber, die sich am
besten mit dem Begriff der Selbstachtung beschreiben lässt.

Wir hatten ja herausgearbeitet, dass die Ehre, hierin ganz vergleichbar der Würde, ebenfalls
einen „Außenaspekt“ und einen „Innenaspekt“ hat. Der Außenaspekt meint die Ehre im Sinne
der sozialen Anerkennung, während die „innere Ehre“ der Selbstachtung vergleichbar ist, die
zugleich ein Kennzeichen der Würde darstellt. Margalit arbeitet das heraus: In einer anständi-
gen Gesellschaft ist Ehre nicht graduierbar (Margalit 2012, S. 53), sie muss jedem Menschen in
gleichem Maße gewährt werden „allein aufgrund dessen, was er ist, und nicht aufgrund dessen,
was er getan hat“ (Margalit 2012). Er schlussfolgert, dass in der anständigen Gesellschaft Ehre im
Sinne von Menschenwürde relevant ist und damit jene Ehre gemeint ist, deren Verletzung dazu
führt, dass Menschen sich gedemütigt fühlen.
Der „Umweg“ über die Würde hat uns also den Aspekt der „inneren Ehre“ verdeutlicht, der
als eine wichtige Ergänzung zum Begriff der „äußeren Ehre“ (verstanden als soziale Anerken-
nung und sozialer Rang) zu verstehen ist. Bei der inneren Ehre geht es um die Selbstachtung eines
Menschen, und diese nicht zu verletzen ist ein Gebot humanen Miteinanders. Sie verpflichtet uns,
den anderen in seinem Sosein zu achten, ihm als Subjekt und nicht nur als Objekt zu begegnen.
16 Kapitel 2 · „Bei meiner Ehre … “ – Zum Nutzen des Ehrbegriffs für die Psychotherapie

Das bedeutet, jedem menschlichen Individuum im Bewusstsein genau dieser Individualität zu


begegnen und dazu beizutragen, dass jeder Mensch seine individuelle Identität bewahren und
weiterentwickeln kann (Goffman 1963), ihm also innere Ehre zu ermöglichen.
2
2.4 Innere Ehre und das System „Psychotherapie“

Wie verhält es sich nun also mit der Ehre und der Psychotherapie?
Ich möchte dieser Frage in zwei Schritten nachgehen, erstens in Bezug auf die Entstehung
und Aufrechterhaltung psychischer Störungen und zweitens in Bezug auf die psychotherapeu-
tische Behandlung.

2.4.1 Ehre und psychische Störungen

In der Liste von Risikofaktoren, die eine psychische Störung nach sich ziehen können, fehlt zwar
zumeist der Ehrverlust als direkte Ursache und auch als Folge psychischen Leidens. Es fehlen aber
nicht vielfältige Umschreibungen dieses Ehrverlusts, etwa Erniedrigungen, Mobbing, Beschä-
mungen, sozialer Ausschluss – ich habe eingangs einen Aspekt davon erwähnt, der uns durch
die Möglichkeiten virtueller Kommunikation in der jüngsten Vergangenheit stark beschäftigt.
In der Konsistenztheorie von Klaus Grawe (2004) wäre diese Erfahrung von Demütigung und
Ehrverlust im Bereich der Verletzung des Bedürfnisses nach Orientierung und Kontrolle konzep-
tuell zu verorten. Innerhalb der sozialphilosophischen Diskussion um Ehre und Würde ist – mit
einer anderen Begrifflichkeit, aber gleichem Sinngehalt – von der Bedeutungslosigkeit der Opfer
die Rede (Stoecker 2014). Besonders entwürdigend und entehrend es ist, nicht zu zählen, Luft zu
sein für die Entscheidungen anderer Menschen (Schaber 2010). Margalit (2012) hat hierfür den
in meinen Augen treffenden Begriff der „Menschenblindheit“ gewählt.
Alle diese Erfahrungen kennen wir aus der psychotherapeutischen Arbeit, wir wissen, wie
Instrumentalisierung, mangelnde Kontrolle, soziales und emotionales Desinteresse Menschen
schwächt. Und auch wenn die gegenwärtige Ätiologieforschung mehr an den biologischen Deter-
minanten psychischen Empfindens interessiert ist, bleibt diese Erfahrung von Ehrverlust eine,
die im sozialen Leben von Patienten eine nicht unerhebliche Rolle spielt.
Sie spielt auch deshalb eine Rolle, weil sie mit Freiheitsverlust einhergeht, und zwar mit dem
Verlust der inneren Freiheit. Im Fall einer psychischen Erkrankung übernimmt die Krankheit
das Ruder, sie „entscheidet“, was geht und was nicht geht. Freude geht z. B. nicht mehr (depres-
sive Erkrankungen), oder Verbundenheit mit anderen Menschen (soziale Phobie), oder die freie
Wahl des Ortes, an dem man sein möchte (Agoraphobie), oder die Kontrolle über den Körper
geht verloren (Bulimie). Patienten spüren das, es ist ihnen bewusst, dass sie diese Freiheit der
Lebensvielfalt und der Lebensmöglichkeiten verloren haben, und das geht einher mit beträcht-
lichen Einbußen an Selbstachtung. Die innere Ehre, die Freiheit des Handelns und Wollens, sie
wird im Zuge einer psychischen Beeinträchtigung immer weniger. Der betreffende Mensch ver-
liert die Macht über sich selbst, und das hat zur Folge, dass er auch in den Augen der anderen
nicht mehr so recht zählt (Stoecker 2014, S. 22). Goffman (1963) macht uns darauf aufmerksam,
wie stark die Würde, also die innere Ehre eines Menschen an ein soziales Umfeld geknüpft ist,
innerhalb dessen seine individuelle Identität gelebt und bewahrt werden kann.
Aber nicht nur der Verlust der Selbstachtung als Verlust der Macht über sich selbst ist bedeut-
sam, wenn wir das Verhältnis von Ehre und psychischer Störung ausloten wollen. Es geht auch
2.4 · Innere Ehre und das System „Psychotherapie“
17 2
um Stigmatisierungen, also um die Zuschreibung von Attributen, die geeignet sind, einen Men-
schen gegenüber anderen zu diskreditieren. Das sind nicht unbedingt seelische Eigenschaften, es
können vielmehr auch andere Attribute sein, etwa die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozia-
len Gruppe, körperliche Gebrechen, sexuelle Vorlieben. Sie können der Anlass sein für Demü-
tigungen, die den Verlust der inneren Ehre zur Folge haben und dann zu den intrapsychischen
Beeinträchtigungen führen, die ich bereits erwähnt habe.
Meine Schlussfolgerung ist nun die, dass dann, wenn die innere Ehre bedroht ist, wenn Selbst-
achtung, das Gefühl für die eigene Würde, aus vielfältigen Gründen, die im Einzelnen aufzuführen
hier zu weit führen würde, verloren gehen, dass dann die äußere Ehre umso bedeutsamer wird.
Kann die eigene Person, kann das eigene Selbst nicht mehr die für eine funktionierende Identität
notwendige Selbstachtung aufbringen, weil die Verletzungen der inneren Ehre zu intensiv sind,
dann werden Zeichen der äußeren Ehre als Substitute herangezogen. Dann müssen die vielfälti-
gen Zeichen sozialer Anerkennung herhalten. Die Begründungen für das Einfordern von Ehre
liegen insofern außerhalb einer Person, als sie nicht der eigenen Identität entsprechen, sondern
einer sozialen Norm folgen, die von anderen vorgegeben wird. Diese Norm füllt die Leerstelle der
inneren Ehre, sie wird zur unhinterfragten allgemein gültigen Handlungsmaxime, die – wenn es
der Ehrenkodex erfordert, und er tut das nicht selten – über Leichen geht.
Nun könnte man einwenden, dass die Klinische Psychologie für diese Formen von Iden-
titätsunsicherheit andere bewährte Konstrukte bereithält, z. B. Achse-1-Störungen oder auch
verschiedene Formen von Persönlichkeitsstörungen etc., sodass wir die Rede von der Ehre gar
nicht benötigen. Ich plädiere gleichwohl für eine Berücksichtigung des Ehrbegriffs innerhalb
des psychotherapeutischen Handelns, weil er eine soziale Erfahrung und eine soziale Tatsache
reflektiert, die für viele unserer Patienten auf mehr oder weniger bewusste Weise bedeutsam ist.
Es geht um Selbst-Respekt und um Respekt durch andere, und damit um eine genuin mensch-
liche, alltägliche Erfahrung.

2.4.2 Ehre und das psychotherapeutische Handeln

Wir haben Ehre – und auch Würde – als Ausdruck der Selbstachtung eines Menschen kennenge-
lernt, als die Möglichkeit, die eigene Identität in einer sozialen Gemeinschaft zu leben. Um das zu
erreichen, so Niklas Luhmann (1965), ist Selbstdarstellung notwendig. Er zählt die Möglichkeit
zur Selbstdarstellung zu den wichtigsten Schutzgegenständen unserer verfassungsrechtlichen
Gegebenheiten, denn sie ermöglicht die Kommunikation mit anderen Menschen. Und erst in
dieser Kommunikation ist die Entwicklung und Entfaltung von Selbstdarstellung und in deren
Folge der Identitätsbildung möglich.
Das verweist nicht zuletzt auf die Notwendigkeiten einer angemessenen Kommunikation in
der Psychotherapie: Hier finden sich Menschen, die in ihrer Identitätsbildung behindert worden
sind, deren Ehre und Würde durch vielfältige Lebenserfahrungen beeinträchtigt wurde. Psycho-
therapie, die würdevoll ist, muss also diesen identitätsbildenden Möglichkeiten breiten Raum ein-
räumen. Das klingt möglicherweise sehr selbstverständlich, ist es aber nicht unbedingt. Intrans-
parentes therapeutisches Handeln, Ziel- und Planlosigkeit im Therapieprozess, mangelndes Fach-
wissen, autoritäres Verhalten und vor allem Bloßstellung sind keineswegs unbekannte Größen
in der Therapie und können schnell zu Beeinträchtigungen auf Seiten des Patienten führen, die
den Charakter der Entehrung oder Würdelosigkeit in sich bergen.
Psychotherapie ist keineswegs per se eine Kommunikation auf Augenhöhe, auch wenn das
immer wieder behauptet wird. Vielmehr ist sie zunächst strukturell durch Deutungshoheit
18 Kapitel 2 · „Bei meiner Ehre … “ – Zum Nutzen des Ehrbegriffs für die Psychotherapie

gekennzeichnet: Sie hat den Anspruch, in einer leidvollen Situation für Menschen einen adäqua-
ten, weil wissenschaftlich begründeten Ausweg zu finden. Insofern steht sie, allein durch die ins-
titutionellen Verankerungen, denen sie als System verpflichtet ist, durchaus in der Gefahr, die
2 Selbstachtung eines Menschen zu beschädigen. Die Bandbreite ist groß und reicht von temporä-
ren Einbußen der Freiheit bei Zwangseinweisungen bis hin zu Sprachgewohnheiten, die das the-
rapeutische Gespräch kennzeichnen. Alle diese Maßnahmen, so gut sie gemeint sind, können auf
subtile oder auch direkte Art zu dem führen, wogegen sie eingesetzt werden, nämlich zu Demü-
tigungen und somit zu Ehrverlust.

2.5 Fazit

Ich habe zu zeigen versucht, dass der Begriff der Ehre nicht nur ein verstaubtes Vokabular aus
einer längst vergangenen Zeit darstellt und bestenfalls noch gültig ist für autoritäre Gesellschafts-
systeme, die sich von der unsrigen durch Rückwärtsgewandtheit unterscheiden. Vielmehr hat
er vor allem durch seine konzeptuelle Nähe zur Würde eine aktuelle Relevanz und begegnet uns
viel häufiger als auf den ersten Blick sichtbar.
Er ist auch bedeutsam für die Psychotherapie – einerseits als Hintergrundfolie für das Ver-
ständnis psychischer Störungen, die oftmals durch Ehrverlust entstanden sind und von diesem
begleitet werden. Aber er hat auch Bedeutung für die Psychotherapie, insbesondere als Mahnung,
im Therapieprozess die Würde des Menschen, sein Bedürfnis nach Ehre nicht als eine Selbstver-
ständlichkeit anzusehen, die durch die Therapie von vornherein befriedigt wird, sondern den
subtilen Erniedrigungen, die auch das therapeutische Handeln bereithält, mit Wachsamkeit und
Sorgfalt zu begegnen.

Literatur

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Berger, P. & Luckmann, T. (1980). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt.
Bourdieu, P. (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Praxis.
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Luhmann, N. (1965). Grundrechte als Institution. Berlin: Duncker & Humblot.
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Prozessakten. München: Luchterhand.
Pico della Mirandola (1496/1997). Oratio de hominis dignitate /Rede über die Würde des Menschen: Lat. /Dt. Ham-
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Pitt-Rivers, J. (1968). Honor. International Encyclopedia of the Social Sciences, Vol. 6, pp. 503–511.
Schaber, P. (2010). Instrumentalisierung und Würde. Paderborn: Mentis.
Literatur
19 2
Simmel, G. (2008). Individualismus der modernen Zeit und andere soziologische Abhandlungen. Frankfurt:
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Speitkamp, W. (2010). Ohrfeige, Duelle und Ehrenmord. Stuttgart: Reclam.
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Stoecker, R. (2011). Die philosophischen Schwierigkeiten mit der Menschenwürde – und wie sie sich vielleicht
lösen lassen. Information Philosophie 2011 (1), 8–19.
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Vogt, L. (1997). Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp.
21 3

Betrachtungen zur Würde


als Wort und Handlung:
Ergebnisse aus der
psychotherapeutischen
Forschung
David E. Orlinsky

3.1 Einleitung – 22

3.2 Bedeutung des Begriffs Würde in der


Psychotherapie – 22

3.3 Forschungen zum Thema „Psychotherapie und


Würde“ – 23

3.4 Würde im therapeutischen Verhalten – 25

3.5 Missachtung im therapeutischen Verhalten – 27

3.6 Beispiele aus der klinischen Praxis – 32

3.7 Fazit – 33

Literatur – 34

Übersetzung durch Hinrich Bents

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


H. Bents, A. Kämmerer (Hrsg.), Psychotherapie und Würde, Psychotherapie: Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54310-8_3
22 Kapitel 3 · Betrachtungen zur Würde als Wort und Handlung

3.1 Einleitung

Beim Verfassen dieses Artikels sah ich mich mit zwei Problemen konfrontiert. Zuerst musste ich
die Bedeutung des Begriffs „Würde“ verstehen und anschließend (nachdem ich zumindest eine
ungefähre Vorstellung von der Bedeutung hatte) musste ich mir die Frage stellen, ob ich etwas
Bedeutsames und Sinnvolles zu diesem Thema beitragen kann. Diese beiden Probleme konnte
3 ich zu meiner – und hoffentlich auch zu Ihrer – Zufriedenheit bewältigen.
Ich möchte Ihnen zunächst einen kurzen Überblick über die in diesem Kapitel behandelten
Themen geben.
Zu Beginn werde ich Ihnen beschreiben, wie ich die Bedeutung des Begriffs Würde im Englischen
mit ein wenig Hilfe von „Google Translate“ und noch größerer Unterstützung durch meinen geschätz-
ten Kollegen Dr. Hinrich Bents verstanden habe. Im Anschluss werde ich darlegen, wie meine gemein-
sam mit Kollegen in den letzten 25 Jahren angestellten Forschungsarbeiten im Bereich der Psycho-
therapie zum Verständnis von „Würde in der Psychotherapie“ beitragen können. Wir verfügen in der
Tat über umfangreiches Wissen zu den Einflussfaktoren, die die Fähigkeit von Therapeuten, Würde
in ihren Patienten wahrzunehmen oder zu erkennen, beeinträchtigen. Es scheint– so mein Ein-
druck – allerdings kein deutsches Wort zu geben, welches das Gegenteil von Würdigung beschreibt.
Mir wurden einige Begriffe wie etwa Missachtung, Geringschätzung oder Abwertung als Alter-
native vorgeschlagen. Aus Gründen der Einfachheit habe ich in den Daten, die hier tabellarisch
präsentiert werden, den Begriff Missachtung verwendet. Diese Tabellen zeigen interessante Kor-
relationen zwischen verschiedenen Variablen und therapeutischer Missachtung, verstanden als
die Unfähigkeit eines Therapeuten, Sympathie oder Respekt für einen Patienten zu empfinden.
Abschließend soll ein persönliches Beispiel für Missachtung geschildert werden, die ich als The-
rapeut vor einigen Jahren empfunden habe. Abschließend wird auf auf einige praktische Impli-
kationen unserer Forschungserkenntnisse eingegangen.

3.2 Bedeutung des Begriffs Würde in der Psychotherapie

Es mag seltsam erscheinen, dass ich – gerade im Zusammenhang mit der Psychotherapie – die
Bedeutung des Begriffs „Würde“ nicht verstanden habe. In Anbetracht meiner nur rudimentären
Deutschkenntnisse habe ich das Wort „Würde“ in „Google Translate“ eingegeben und als engli-
sche Übersetzung „Dignity“ erhalten. Dies hat mich irritiert, weil die Psychotherapie (wie ich sie
sowohl aus der Sicht des Therapeuten als auch des Patienten kenne) alles andere als würdevoll ist.
Tatsächlich ist die Psychotherapie in unserer modernen Welt für Patienten eine Erfahrung, in
der sie sich in einem alles andere als würdevollen Licht dem Therapeuten öffnen und versuchen,
die beschämenden Aspekte ihres Wesens sowie das Schuldgefühl, etwas getan oder nicht getan
zu haben, zu bekämpfen und zu überwinden. Für den Therapeuten wiederum bedeutet Psycho-
therapie, Stunde um Stunde und Tag für Tag mitfühlender Zeuge der menschlichen Fehler und
manchmal hässlichen Verzerrungen des menschlichen Wesens zu werden, die Patienten dem
Therapeuten in der Hoffnung offenbaren, seelische Linderung zu finden und zu lernen, wie sie
ihr Leben verbessern können.
Die englischen Synonyme für den Begriff „Dignity“ (Würde) lauten
55 „self-respect“ (Selbstachtung),
55 „decorum“ (Anstand),
55 „formality“ (Förmlichkeit) und „nobility“ (Vornehmheit) sowie „good manners“ (gute
Manieren),
3.3 · Forschungen zum Thema „Psychotherapie und Würde“
23 3
55 „respectability“ (Achtbarkeit),
55 „correctness“ (Korrektheit),
55 „pride“ (Stolz) und
55 „decency“ (Ehrsamkeit).

Psychotherapie beschäftigt sich jedoch in der täglichen Praxis eher mit Unanständigkeit und
schlechtem Verhalten, fehlender Selbstachtung und Verhaltensweisen, die alles andere als stolz
machen. Wenn meine Erfahrungen und mein Verständnis der Psychotherapie nicht völlig ver-
kehrt sind, frage ich mich, wo darin die „Würde“ liegt? Welche Bedeutung kann „Würde“ mög-
licherweise im Zusammenhang mit Psychotherapie haben?
Meine Fragen und Zweifel habe ich in meiner Korrespondenz mit Dr. Bents geschildert
und hierbei gelernt (ich hoffe, das richtig verstanden zu haben), dass „Würde“ neben seiner
üblichen Bedeutung im Deutschen auch noch eine umfassendere und übergeordnete Bedeu-
tung hat, die sogar in der deutschen Verfassung verankert ist. Dies kann im Englischen mit der
Phrase „grundlegende Menschenwürde“ umschrieben werden – etwas, das über gute Manieren
und Ehrbarkeit hinausgeht; ein im Kern der menschlichen Persönlichkeit verankerter Wert –
egal ob der einzelne Mensch diesen Wert in sich erkennt oder gelernt hat, diesen Wert durch
seine Handlungen auszudrücken oder nicht, oder ob er diesen Wert in seinem Leben hoch-
hält oder nicht.
Wenn ich die englische Phrase „basic human dignity“ in „Google Translate“ eingebe, erhalte
ich als Übersetzung „grundlegende Menschenwürde“. Auch wenn Google nur eine Übersetzungs-
maschine ist, hoffe ich, dass diese Übersetzung richtig ist. Sie fühlt sich für mich zumindest
richtig an und eröffnete mir in der Vorbereitung meiner Ausführungen einen Weg, dem ich
folgen konnte.

3.3 Forschungen zum Thema „Psychotherapie und Würde“

Dieser Weg führte zu dem bereits erwähnten zweiten Problem: Der Frage, was ich, wenn über-
haupt, zum Thema „Würde in der Psychotherapie“ beizutragen hätte. Ich bin, oder war, prakti-
zierender Psychotherapeut und habe in diesem Fachgebiet eine Theorie mit dem Titel „Allge-
meines Modell der Psychotherapie“ aufgestellt. Mein Schwerpunkt besteht jedoch bereits seit
einigen Jahren und bis heute in der Forschungsarbeit zu Psychotherapie und Psychotherapeuten.
Als Professor im Ruhestand kann ich mich voll und ganz der Forschung widmen. Ich habe daher
nach forschungsbasierten Informationen zum Thema „Würde in der Psychotherapie“ gesucht.
An der Tatsache, dass heute dieser Artikel vorliegt, können Sie erkennen, dass die Antwort auf
die Frage, die ich mir selbst gestellt habe, „ja“ lautete.
Ich habe in den letzten 25 Jahren im Rahmen einer Langzeitstudie zu Psychotherapeuten mit
zahlreichen internationalen Kollegen zusammengearbeitet. Als Mitglieder der Society for Psy-
chotherapy Research (oder SPR) bezeichneten wir unsere Kollegengruppe als „SPR Collaborative
Research Network“. Zu den Kollegen, mit denen ich in dieser Gruppe eng zusammengearbeitet
habe, zählen unter anderem
55 Prof. Michael Helge Rønnestad von der Universität Oslo,
55 Prof. Ulrike Willutzki, heute an der Universität Witten/Herdecke tätig,
55 Prof. Thomas Schröder von der Universität Nottingham in Großbritannien,
55 Prof. Hadas Wiseman von der Universität Haifa in Israel und
55 PD Dr. Armin Hartmann vom Universitätsklinikum in Freiburg.
24 Kapitel 3 · Betrachtungen zur Würde als Wort und Handlung

Ich erwähne diese Namen, um hervorzuheben, dass der Inhalt dieses Beitrags das Ergebnis der
Zusammenarbeit zahlreicher Kollegen ist.
Das „SPR Collaborative Research Network“ hat in enger Kooperation über die Jahre Daten
über die beruflichen und persönlichen Eigenschaften von nahezu 12.000 Therapeuten verschiede-
ner Fachrichtungen und mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen und auf allen beruflichen
Ebenen in 33 Ländern gesammelt. Wir entwickelten zur Erfassung dieser Informationen einen
3 20-seitigen Fragebogen mit dem Titel Development of Psychotherapists Common Core Question-
naire. Dieser (einem Gespräch zwischen Kollegen nachempfundene) Fragebogen wurde in die
meisten europäischen und zahlreiche außereuropäische Sprachen übersetzt.
Dieser lange, ausführliche Fragebogen im Stil eines persönlichen Gesprächs umfasst eine
Vielzahl von Themen wie etwa die berufliche Ausbildung, die berufliche Identität und Praxis der
Therapeuten, ihren persönlichen Hintergrund und ihr Privatleben sowie ihre jüngsten Erfahrun-
gen in der therapeutischen Arbeit. Die Therapeuten werden beispielsweise im Hinblick auf das
letzte Thema gefragt, in welchem therapeutischen Umfeld sie arbeiten, welche Art von Patienten
sie üblicherweise behandeln sowie zu ihren üblichen Therapiezielen, den medizinisch-therapeu-
tischen Fähigkeiten, ihrer Sozialkompetenz oder dem Umgang mit Patienten, den in der Praxis
auftretenden Problemen, den zur Bewältigung dieser Probleme verwendeten Strategien, ihren
eigenen Gefühlen während der letzten Patientensitzungen und wie oft Therapeuten zwischen
den Sitzungen an ihre Patienten denken.
Jedes Themengebiet wird durch eine Reihe spezieller Items erfasst, sodass umfangreiche Infor-
mationen gesammelt werden konnten, die zu einem Großteil in einem 2005 von der American
Psychological Association veröffentlichten Buch mit dem Titel How Psychotherapists Develop
von Orlinsky, Rønnestad und unseren Kollegen im SPR Collaborative Research Network ana-
lysiert und interpretiert wurden.
Während meiner Überlegungen, wie all die erfassten Daten ein Licht auf das Thema „Würde
in der Psychotherapie“ werfen könnten, erinnerte ich mich an einen Abschnitt unseres Fragebo-
gens, der sich mit den Problemen der Therapeuten in der therapeutischen Praxis befasste, und
insbesondere an eine der in diesem Abschnitt enthaltenen Fragen.
Diese Fragen beginnen grundsätzlich mit „Wie oft haben Sie derzeit das Gefühl … ?“, gefolgt
von 20 spezifischen Fragen. Eine dieser Fragen erschien mir besonders relevant für das Thema
der Würde in der Psychotherapie, nämlich:
55 „Wie oft haben Sie das Gefühl,
44nicht in der Lage zu sein, ein gewisses Maß an Sympathie oder Respekt für einen
Patienten zu empfinden?“

Therapeuten, die in der Lage sind, die grundlegende Würde eines Patienten auch vor dem Hinter-
grund seines aktuellen Leidens und seiner Krankheit zu sehen, sollten etwas an ihrem Patienten
finden, das sie mögen oder respektieren können – und sei es auch nur das Entwicklungs- oder
Heilungspotenzial.
Darüber hinaus wurde ich an eine Aussage von Sigmund Freud in seinem Kurz-Essay mit
dem Titel „Freud’s Psychoanalytic Procedure“ erinnert, das in einem 1904 von Löwenfeld her-
ausgegebenen Buch zu Zwangsneurosen enthalten war. Hier erklärte Freud zum Ende des Textes
(1904, S. 254) in der dritten Person schreibend:

» Eine erfolgreiche Psychoanalyse setzt verschiedene Qualifikationen des Patienten


voraus. Dieser muss zunächst einmal zu einem seelisch normalen Zustand fähig sein …
Darüber hinaus ist ein gewisses Maß an natürlicher Intelligenz und ethischer Entwicklung
3.4 · Würde im therapeutischen Verhalten
25 3
erforderlich. Wenn der Arzt sich mit einem wertlosen Charakter befassen muss, verliert er schnell
das nötige Interesse, um tief in das Seelenleben des Patienten einzudringen [Hervorhebung
hinzugefügt].

Ich denke, was Freud hiermit ausdrücken wollte, ist, dass Therapeuten – um einen Patienten
effektiv behandeln zu können – in der Lage sein müssen, irgendetwas zu finden, dass sie an einem
Patienten mögen oder respektieren können; sei es auch noch so gering oder unsichtbar für andere.

3.4 Würde im therapeutischen Verhalten

Im Folgenden gebe ich Ihnen einen kurzen Überblick über unsere Forschungsergebnisse mit
dem erwähnten Fragebogenformat; es geht um die Probleme, die Therapeuten aktuell im Pra-
xisalltag zu bewältigen haben. Beginnen wir mit . Tab. 3.1. Sie zeigt die 5 häufigsten und die am
seltensten geschilderten Probleme auf der Grundlage der Rückmeldungen von Therapeuten in
vielen Ländern, aus verschiedenen Berufen, in verschiedenen Fachrichtungen und Positionen.

. Tab. 3.1 Seltenste und häufigste Probleme der Therapeuten in der Praxis

Mehr als
Wie oft haben Sie das Gefühl … Selten oder nie Gelegentlich gelegentlich

… dass Sie nicht in der Lage sind, Sympathie 88% 9% 3%


oder Respekt für Ihren Patienten zu empfin-
den?

… Angst zu haben, etwas zu tun, das dem Pa- 85% 11% 4%


tienten mehr schadet als hilft?

… dass Ihre persönlichen Wertvollstellungen es 80% 14% 6%


Ihnen erschweren, eine angemessene Einstel-
lung zu einem Patienten zu bewahren?

… mit einem Patienten Ihre Zeit zu 79% 14% 7%


­verschwenden?

… nicht in der Lage zu sein, Mitgefühl für Ihren 78% 16% 6%


Patienten zu empfinden?

… wütend auf einen Patienten zu sein, der sich 57% 28% 15%
gegen Ihre Bemühungen sperrt?

… nicht in der Lage zu sein, genügend Energie 56% 29% 15%


aufzubringen, um eine Therapie mit einem
Patienten in eine konstruktive Richtung zu
lenken?

… verzweifelt zu sein, weil Sie nicht in der Lage 48% 26% 26%
sind, die tragische Lebenssituation eines Pa-
tienten zu ändern?

… einem Patienten nicht helfen zu können? 45% 33% 22%

… nicht sicher zu sein, wie Sie am besten mit 31% 36% 34%
einem Patienten umgehen sollen?
26 Kapitel 3 · Betrachtungen zur Würde als Wort und Handlung

Die Ergebnisse zeigen, dass es unter allen analysierten Problemen den Therapeuten nur
sehr selten schwerfällt, Sympathie oder Respekt für ihre Patienten zu empfinden. Insgesamt 88%
(nahezu 9 von 10 Befragten) in dieser sehr großen und vielfältigen Gruppe von nahezu 12.000 Psy-
chotherapeuten gaben an, dass sie „nie“ oder nur „selten“ das Gefühl hatten, nicht in der Lage
zu sein, Sympathie oder Respekt für einen Patienten zu empfinden. 9% hatten dieses Problem
„gelegentlich“ und nur 3% „mehr als nur gelegentlich“.
3 Dies ist eine bemerkenswerte Tatsache: Therapeuten scheinen insgesamt und durchgängig
sehr wohl in der Lage zu sein, die grundlegende menschliche Würde ihrer Patienten – bei Anwen-
dung dieses Kriteriums – zu respektieren.
Wie konsistent die Ergebnisse sind, wird deutlich, wenn man in . Tab. 3.2 die Antworten aus
jenen Ländern vergleicht, in denen jeweils mehr als 100 Therapeuten an der Studie teilgenom-
men haben. Die linke Spalte zeigt, dass mehr als 80% dieser Therapeuten in 23 von 25 Ländern

. Tab. 3.2 „Missachtung“: Inzidenzrate nach Ländern

Land Unfähigkeit, Sympathie oder Respekt zu empfinden Gesamt

Selten oder nie Gelegentlich Mehr als gelegentlich


Dänemark 97% 2% 1% 152
Australien 95% 5% 0% 983
Mexiko 95% 5% 1% 129
Schweiz 95% 4% 1% 293
Neuseeland 94% 4% 3% 321
Belgien 93% 6% 2% 127
Norwegen 92% 8% 1% 1,623
Großbritannien 92% 6% 2% 1,087
Chile 92% 5% 3% 147
Kanada 92% 6% 2% 259
Österreich 91% 7% 1% 231
USA 90% 7% 3% 966
Spanien 90% 9% 1% 178
Irland 89% 7% 4% 100
Frankreich 89% 5% 6% 116
Israel 89% 10% 2% 202
Indien 88% 9% 3% 276
Griechenland 88% 12% 0% 102
Russland 87% 8% 5% 111
Portugal 86% 9% 6% 385
Deutschland 85% 13% 3% 1,116
Schweden 82% 13% 5% 114
Malaysia 81% 7% 12% 111
China 77% 16% 7% 461
Südkorea 58% 27% 15% 519
3.5 · Missachtung im therapeutischen Verhalten
27 3
sich nie oder nur selten außerstande fühlen, Sympathie oder Respekt für ihre Patienten zu emp-
finden. Die zwei erkennbaren Ausnahmen sind ostasiatischer Herkunft und müssen möglicher-
weise in einem anderen kulturellen Zusammenhang gesehen werden.
Überdies ist es interessant, auch kurz die Ergebnisse in der vorletzten Spalte zu betrachten,
die die Prozentsätze der Therapeuten zeigen, die sich „mehr als gelegentlich“ – d. h. mindestens
mit moderater Häufigkeit – außerstande sehen, Sympathie oder Respekt für einen Patienten zu
empfinden. Diese Zahl betrug in 20 der 25 Länder 5% oder weniger. Diese Daten geben allerdings
keine Auskunft darüber, ob Therapeuten nur selber glauben, dass sie in der Lage sind, Würde bei
Patienten anzuerkennen und zu respektieren, oder ob dies auch von anderen Personen, die diese
Therapeuten kennen, und insbesondere von den Patienten selbst so wahrgenommen wird. Eine
vorsichtige Interpretation der Daten ließe den Schluss zu, dass Therapeuten in jedem Land einem
Ideal im Hinblick auf die Wahrnehmung der grundlegenden Würde ihrer Patienten folgen, auch
wenn sie dieses Ziel manchmal nicht erreichen.
Es kann zumindest festgestellt werden, dass Würde ein starker und fest im Selbstverständnis
der Psychotherapeuten verankerter Wert ist und eine große Mehrzahl der Therapeuten weltweit
dieses Wertkonzept erfolgreich umzusetzen versucht.
Im Gegensatz hierzu steht das ebenfalls genannte Problem der Therapeuten, „unsicher zu sein,
wie sie am effektivsten mit einem Patienten umgehen“ und „fehlendes Vertrauen in die eigenen
Fähigkeiten, dem Patienten helfen zu können“. Diese Probleme unterstreichen die berufliche
Bescheidenheit und Reflexionsbereitschaft der Therapeuten und deren hohen Anspruch an das
eigene berufliche Handeln.

3.5 Missachtung im therapeutischen Verhalten

Was können wir aus dem begrifflichen Gegenteil von Würde, das wir für den Zweck dieser Überle-
gungen „Missachtung“ nennen, über Würde und Würdigung lernen? Insgesamt 12% der befragten
Therapeuten gaben an, nicht fähig zu sein, Sympathie oder Respekt für ihre Patienten zu emp-
finden – 9% „gelegentlich“ und 3% „mehr als gelegentlich“. Wer sind die Therapeuten, die dieses
Problem erfahren, und unter welchen Umständen tritt dieses Problem auf?
Betrachten wir zunächst einmal, welche weiteren Probleme diese Therapeuten noch schildern
und wie sie versucht haben, diese zu bewältigen. . Tab. 3.3 zeigt eine sehr starke Korrelation zwi-
schen mangelndem Mitgefühl oder Respekt für einen Patienten und der Unfähigkeit, sich von der
emotionalen Not eines Patienten abzugrenzen. Dies deutet eindeutig darauf hin, dass möglicher-
weise das Gefühl, von der emotionalen Not des Patienten zu sehr berührt oder gar angegriffen zu

. Tab. 3.3 „Missachtung“: Korrelationen mit anderen Problemen

Unfähigkeit, Sympathie oder Respekt für einen Patienten zu empfinden Korrelation

Unfähigkeit, sich von der emotionalen Not eines Patienten abzugrenzen .49**

Unfähigkeit, das Wesen der Probleme eines Patienten zu verstehen .41**

Unfähigkeit, Mitgefühl für die Erlebnisse eines Patienten zu empfinden .41**

Befürchtung, dass Ihre persönlichen Wertvorstellungen die Therapie beeinträchtigen .41**

Das Gefühl, mit einem Patienten Ihre Zeit zu verschwenden .41**


28 Kapitel 3 · Betrachtungen zur Würde als Wort und Handlung

. Tab. 3.4 „Missachtung“: Korrelationen mit Bewältigungsstrategien

Unfähigkeit, Sympathie oder Respekt für einen Patienten zu empfinden Korrelation

Den Patienten kritisieren, weil er Probleme macht .30**

3 Ernsthafte Erwägung, die Therapie abzubrechen .26**

Die Behandlung des Problems vermeiden .25**

Dem Patient zeigen, dass Sie frustriert sind .20**

werden, den Therapeuten für die Würde eines Patienten blind macht. Der Therapeut muss sich
in einem so hohen Maß emotional schützen, dass Gefühle der Sympathie oder des Respekts für
den Patienten unterdrückt werden.
Die erlebte Unfähigkeit der Therapeuten, Sympathie oder Respekt für einen Patienten zu
empfinden, war in geringerem aber immer noch hohem Maß mit der „Unfähigkeit, das Wesen
der Probleme des Patienten zu verstehen“ und der „Unfähigkeit, Mitgefühl für die Erlebnisse des
Patienten zu empfinden“, der „Befürchtung, dass die eigenen persönlichen Wertvorstellungen
die Therapie beeinträchtigen“ und dem „Gefühl, mit dem Patienten nur Zeit zu verschwenden“,
verbunden. Hierbei handelt es sich um die subjektive Ablehnung des Patienten als Partner in
einer therapeutischen Beziehung.
. Tab. 3.4 zeigt, wie Therapeuten reagieren, wenn sie sich unfähig fühlen, Sympathie oder
Respekt für einen Patienten zu empfinden. Sie sind geneigt, den Patienten dafür zu kritisieren,
dass er Probleme verursacht, oder erwägen ernsthaft, die Therapie abzubrechen, um sich nicht
weiter mit dem Problem befassen zu müssen, oder erklären dem Patienten, dass sie deswegen
frustriert sind.
Therapeuten empfanden daher nicht nur persönliche Aversion, wenn dies geschah – und wir
erinnern uns, dass dies nicht sehr oft passiert –, sondern gaben auch an, diese Ablehnung gegen-
über dem Patienten direkt oder indirekt zum Ausdruck zu bringen. Wenn dies passiert, ist die
Wahrscheinlichkeit, dass die Therapie misslingt oder der Patient sogar Schaden nimmt, sehr hoch.
. Tab. 3.5 beschreibt die von den Therapeuten erlebten Gefühle gegenüber Patienten, für
die sie keine Sympathie oder keinen Respekt während der Sitzungen empfinden können. In den
meisten Fällen fühlen sie sich während der Sitzungen gelangweilt und erleben sich selbst gegen-
über dem Patienten als unaufmerksam. Sie fühlen sich darüber hinaus müde, abwesend, unter
Druck gesetzt, gefangen, ängstlich oder überwältigt – das Gegenteil eines positiven Interesses an
dem Patienten, das sich bei den meisten Therapeuten während der Sitzung in einem Gefühl der
Anregung oder Inspiration ausdrückt.
Versuchen wir zunächst, etwas mehr über die wenigen Therapeuten zu erfahren, bei denen
die höchste Wahrscheinlichkeit besteht, keine Sympathie oder keinen Respekt für einen Patien-
ten zu empfinden (. Tab. 3.6). Erfreulicherweise kann festgestellt werden, dass die theoretische
Orientierung der Therapeuten nicht wesentlich damit verbunden ist. Bei psychoanalytisch orien-
tierten, kognitiven Verhaltens-, humanistischen und systemischen Therapeuten besteht eine glei-
chermaßen geringe Wahrscheinlichkeit für diese Erfahrung.
Auch der berufliche Status eines Therapeuten ist kein wesentlicher Faktor. Ein Auftreten dieser
Missachtung ist bei Therapeuten am Anfang, in der Mitte und in der fortgeschrittenen Phase ihrer
beruflichen Laufbahn gleichermaßen wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Andererseits scheint
aber der berufliche Hintergrund des Therapeuten ein wichtiger Faktor zu sein. Therapeuten mit einer
3.5 · Missachtung im therapeutischen Verhalten
29 3

. Tab. 3.5 „Missachtung“: Korrelationen mit den eigenen Gefühlen der Therapeuten während der Sit-
zungen mit Patienten

Unfähigkeit, Sympathie oder Respekt für einen Patienten zu empfinden Korrelation

Fühlt sich gelangweilt .24**

Fühlt sich unaufmerksam .20**

Fühlt sich unter Druck gesetzt .18**

Fühlt sich müde .17**

Fühlt sich abwesend .17**

Fühlt sich gefangen .16**

Fühlt sich ängstlich .14**

Fühlt sich überwältigt .13**

Fühlt sich nicht angeregt –.13**

Fühlt sich nicht inspiriert –.10**

. Tab. 3.6 „Missachtung“: Inzidenzrate nach therapeutischer Berufsrichtung

Tätigkeit Unfähigkeit, Sympathie oder Respekt zu empfinden Gesamt

Selten oder nie Gelegentlich Mehr als gelegentlich

Beratung 91% 7% 2% 1,978

Psychologie 90% 7% 2% 4,620

Andere Berufe 90% 7% 3% 1,027

Sozialarbeit 86% 11% 3% 668

Medizin/Psychiatrie 81% 14% 5% 2,297

Gesamt 88% 9% 3% 10,590

medizinischen oder psychiatrischen Berufsausbildung weisen eine geringe, aber signifikant höhere
Wahrscheinlichkeit auf, vor diesem Problem zu stehen – möglicherweise, weil ihre medizinische Aus-
bildung eher eine Versachlichung des Patienten als Krankheitsträger oder Diagnose betont, anstatt den
Patienten als einen unter einer Krankheit leidenden Menschen zu sehen (. Tab. 3.6).
Diese Überlegungen sind jedoch angesichts der unterschiedlichen Datenerfassung zu den
Berufen in den verschiedenen Ländern mit Vorsicht zu genießen. Die meisten unserer Daten zu
medizinisch ausgebildeten Psychotherapeuten und Psychiatern stammen aus Südkorea, Deutsch-
land und Norwegen und scheinen insbesondere für Südkorea charakteristisch zu sein (wie in
. Tab. 3.2 zu sehen ist), da hier der höchste Prozentsatz an Therapeuten mit diesem Problem der
Missachtung von Patienten verzeichnet wurde. Analysiert man hingegen die Daten der 1.115
deutschen und 1.678 norwegischen Therapeuten unserer Studie, stellt man keinen wesentlichen
Unterschied zwischen den verschiedenen Berufen fest.
30 Kapitel 3 · Betrachtungen zur Würde als Wort und Handlung

Hieraus kann geschlossen werden, dass keine der grundlegenden beruflichen Eigenschaf-
ten eines Therapeuten – d. h. die theoretische Ausrichtung, der Berufsstatus oder der berufliche
Hintergrund – einen wesentlichen Einfluss auf die Missachtung hat, wenn diese als Unfähigkeit,
Sympathie oder Respekt für einen Patienten zu empfinden, definiert wird. Es gilt jedoch noch
die persönlichen Eigenschaften der Therapeuten zu beleuchten.
. Tab. 3.7 zeigt, dass männliche Therapeuten signifikant häufiger Missachtung empfinden als
3 weibliche Therapeuten, auch wenn dieser Unterschied nur 5% beträgt.
Wie aus . Tab. 3.8 ersichtlich, scheinen jüngere Therapeuten und insbesondere jene in der
Altersgruppe zwischen 21 und 35 Jahren deutlich häufiger Probleme zu haben, Sympathie oder
Respekt für einen Patienten zu empfinden, als ältere Therapeuten. Hier beträgt die Differenz zwi-
schen den Therapeuten 10%.
. Tab. 3.9 bietet ein umfassenderes Bild dieser Differenzen durch Angabe der kombinier-
ten Häufigkeit nach Alter und Geschlecht: Junge männliche Therapeuten sehen sich wesentlich
häufiger außerstande, Sympathie oder Respekt für einen Patienten zu empfinden, als jede andere
Gruppe. Nur 77% gaben an, Antipathie und Missachtung nie oder nur selten zu empfinden,
während 23% (nahezu ein Viertel) dies gelegentlich oder sogar häufiger erleben.
Ganz im Gegensatz hierzu sind weibliche Therapeuten über 45 Jahre am besten in der Lage,
Sympathie oder Respekt für einen Patienten zu empfinden: 94% hatten hiermit nie oder nur
selten Probleme.

. Tab. 3.7 „Missachtung“: Inzidenzrate nach Geschlecht der Therapeuten

Geschlecht Unfähigkeit, Sympathie oder Respekt zu empfinden Gesamt

Selten oder nie Gelegentlich Mehr als gelegentlich

Weiblich 90% 7% 3% 6.605

Männlich 85% 11% 4% 3.923

Gesamt 9.271 931 326 10.528

88% 9% 3% 100,0%

. Tab. 3.8 „Missachtung“: Inzidenzrate nach Alter der Therapeuten

Alter (Jahre) Unfähigkeit, Sympathie oder Respekt zu empfinden Gesamt

Selten oder nie Gelegentlich Mehr als gelegentlich

21–35 82% 13% 5% 2.418

36–45 87% 9,5% 3,5% 4.695

46–60 92% 6% 2% 2.913

61–90 92% 6% 2% 433

Gesamt 9.208 923 328 10.459

88% 9% 3% 100,0%
3.5 · Missachtung im therapeutischen Verhalten
31 3

. Tab. 3.9 „Missachtung“: Inzidenzrate nach Geschlecht und Alter der Therapeuten

Geschlecht und Alter Unfähigkeit, Sympathie oder Respekt zu empfinden Gesamt

Selten oder nie Gelegentlich Mehr als gelegentlich

Frauen

Frauen zwischen 21 und 35 85% 11% 5% 1.613

Frauen zwischen 36 und 45 88% 9% 3% 1.856

Frauen zwischen 46 und 60 93% 5% 2% 2.500

Frauen zwischen 61 und 90 94% 5% 1% 561

Alle Frauen 90% 7% 3% 6.529

Männer

Männer zwischen 22 und 35 77% 17% 6% 827

Männer zwischen 36 und 45 86% 10% 4% 1.275

Männer zwischen 46 und 60 89% 9% 2% 1.410

Männer zwischen 61 und 90 90% 7% 3% 375

Alle Männer 85% 11% 4% 3.885

Ich persönlich (als älterer Mann) finde es beruhigend, zu sehen, dass ältere männliche The-
rapeuten schließlich das Durchschnittsniveau der Frauen jeden Alters, d. h. 90% erreichen, auch
wenn sie ihre weiblichen Kollegen nie ganz einholen.
Es liegt nahe, diese Ergebnisse als Folge der unterschiedlichen Sozialisierung von Männern
und Frauen einerseits als Individuen und andererseits auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen
Sozialisation im 20. Jahrhundert, in dem ja alle diese Therapeuten geboren wurden und aufge-
wachsen sind, anzusehen. Auch die unterschiedlichen kulturellen Konzepte und Ideale können
eine Rolle spielen. Welche Gründe auch immer vorliegen mögen, die Ergebnisse erscheinen nicht
allzu überraschend.
Doch Alter und Geschlecht sind lediglich demographische Faktoren und sagen nicht notwendi-
gerweise viel über die Persönlichkeit der Therapeuten aus – im Gegensatz zu den Daten aus einem
anderen Teil unseres Fragebogens. Therapeuten wurden zu ihrer eigenen Wahrnehmung in ihren
engen persönlichen Beziehungen befragt – den Beziehungen, in denen ihre Persönlichkeit erwar-
tungsgemäß am meisten involviert ist. Sie bewerteten sich bei der Beantwortung dieser Frage selbst
auf der Grundlage von 26 verschiedenen Eigenschaften, die das Temperament und den typischen
Umgang mit anderen Menschen widerspiegeln. Die Korrelationen wurden anschließend zwischen
diesen persönlichen Eigenschaften und der beruflichen Schwierigkeit, Sympathie oder Respekt für
einen Patienten zu empfinden, ermittelt. Die Ergebnisse sind in . Tab. 3.10 dargestellt.
Therapeuten, die dieses Problem der Missachtung von Patienten erfahren, bewerten sich
selbst am häufigsten als kalt, fatalistisch, zurückhaltend und skeptisch in ihren persönlichen
Beziehungen!
Im Sinne der Bindungstheorie gelten diese persönlichen Eigenschaften typischerweise als
ablehnendes Bindungsverhalten. Dies erklärt meiner Ansicht nach zu einem großen Teil, warum
32 Kapitel 3 · Betrachtungen zur Würde als Wort und Handlung

. Tab. 3.10 „Missachtung“: Korrelationen zwischen der Selbstwahrnehmung von Therapeuten in en-
gen persönlichen Beziehungen

Unfähigkeit, Sympathie oder Respekt für einen Patienten zu empfinden Korrelation

persönlich kalt .20**


3 persönlich fatalistisch .18**

persönlich zurückhaltend .16**

persönlich skeptisch .14**

persönlich reserviert .11**

persönlich kritisch .10**

nicht persönlich warmherzig –.15**

nicht persönlich freundlich –.14**

nicht persönlich optimistisch –.13**

nicht persönlich tolerant –.11**

nicht persönlich empfänglich –.10**

nicht persönlich fürsorglich –.10**

solche Personen häufiger nicht in der Lage sind, die Würde ihrer Patienten anzuerkennen. Im
Gegensatz hierzu haben Therapeuten, die sich persönlich als warmherzig, freundlich und opti-
mistisch empfinden – d. h. Eigenschaften, die als für enge Beziehungen geeignet gelten –, ten-
denziell nur wenige oder gar keine Schwierigkeiten, Sympathie oder Respekt für ihre Patienten
zu empfinden.
Ich möchte die Daten nicht überbewerten. Es ist zu bedenken, dass Therapeuten sich selbst
nur sehr selten als kalt, fatalistisch, zurückhaltend oder skeptisch in ihren persönlichen Beziehun-
gen einschätzen. Weit häufiger beschreiben sie sich selbst als warmherzig, freundlich und opti-
mistisch. Auch ist nicht zu vergessen, dass eine große Mehrzahl der Therapeuten – nahezu 90%
– keine oder nur wenige Probleme hat, Sympathie oder Respekt für ihre Patienten zu empfinden.
Insgesamt und auf die Gruppe bezogen ist die Fähigkeit, die Würde eines Menschen anzu-
erkennen, der von anderen tendenziell abgelehnt wird, als weit verbreitete therapeutische Fähig-
keit anzusehen. Unsere Ergebnisse zeigen jedoch, dass einige Therapeuten ein ablehnendes Bin-
dungsverhalten besitzen, das in bestimmten beruflichen Situationen ausgelöst werden kann,
sodass bei ihnen durchaus ein eindeutiges Potenzial für die Missachtung von Patienten in der
Therapie besteht.

3.6 Beispiele aus der klinischen Praxis

So viel zu den Zahlen. Die Geschichten, die diese Zahlen erzählen, haben mich dazu angeregt,
über meine eigenen Erfahrungen als Therapeut nachzudenken und zu versuchen, mich an Situ-
ationen zu erinnern, in denen es mir vielleicht schwergefallen ist, Sympathie oder Respekt für
einen Patienten zu empfinden. Ich erinnere mich z. B. an eine Situation vor einigen Jahren, als
3.7 · Fazit
33 3
mich eine weibliche Patientin, deren Ehemann ihre Kinder sexuell missbraucht hatte, bat, ihren
Ehemann zu behandeln, nachdem sie ihre anfängliche Entscheidung, ihn zu verlassen, verwor-
fen hatte. Ich tat dies mit großem Widerwillen, weil ich seine Taten für wirklich widerwärtig und
verabscheuungswürdig hielt – möglicherweise noch mehr, weil einem Mitglied meiner Familie
etwas Ähnliches passiert war und ich dies noch nicht wirklich verarbeitet hatte.
Ich traf ihn für einige Sitzungen und fand es in der Tat sehr schwierig, ihm in irgendeiner
Weise Sympathie oder Respekt entgegenzubringen. Er war ein wortkarger Mann, ein Arbeiter
mit geringer Bildung oder kultureller Entwicklung. Möglicherweise spielten hier also auch Klas-
senvorurteile eine Rolle. Vielleicht hätte jemand mit einer anderen Familie und einem anderen
sozialen Hintergrund das Potenzial für eine positive Entwicklung in ihm sehen und ihm helfen
können, wo ich es nicht konnte.
Ein zweites Beispiel aus meiner Praxis führte zu einem positiveren Ergebnis. Ebenfalls vor
vielen Jahren wurde eine sozial isolierte junge Frau, die mit ihrer Mutter in einer von gegensei-
tiger Feindseligkeit geprägten Ko-Abhängigkeitsbeziehung lebte und deren Vater sie beide in
jungen Jahren verlassen hatte, für eine ambulante Therapie an mich überwiesen. Ich wurde sehr
schnell zum Ziel ihrer mit enormer Intensität vorgetragenen Wut.
Dennoch gelang es mir, in gewisser Weise mitfühlend auf ihren Zorn zu reagieren und
sie auszuhalten. Ich war in der Lage, ihre tiefe emotionalen Not zu sehen. Dies war mir einzig
und allein aufgrund einiger sehr intensiver und heilender Erfahrungen in meiner kürzlichen
persönlichen Therapie möglich. Darüber hinaus war diese Frau intelligent, relativ gebildet
und wir hatten denselben kulturellen Hintergrund, was es mir leichter machte, ihr echte Sym-
pathie entgegenzubringen. Sie hatte außerdem einen sehr selbstironischen Humor, der mir
wirklich gefiel, sodass wir eine recht lange und sehr erfolgreiche Therapiebeziehung unter-
hielten. Wäre ich ein anderer Therapeut oder Mensch gewesen, hätte mich diese Patientin
höchstwahrscheinlich eher abgestoßen, und die Behandlung wäre erfolglos gewesen oder
von mir abgebrochen worden.

3.7 Fazit

Zusammenfassend bin ich der Ansicht, dass meine Überlegungen zum Thema „Würde in Wort
und Tat“ mehrere Schlussfolgerungen zulassen. Zunächst einmal deuten die Fakten darauf hin,
dass Therapeuten im Allgemeinen durchaus in der Lage sind, bei ihren Patienten die grundle-
gende menschliche Würde zu erkennen und anzuerkennen, die tatsächlich oder potenziell jedem
Menschen zu eigen ist – auch in Patienten, die sich selbst als anormal empfinden oder von den
Menschen in ihrem Umfeld als anormal empfunden werden. Diese Fähigkeit erlaubt es uns, als
Therapeuten tätig zu sein.
Darüber hinaus lässt sich meiner Ansicht nach mit Fug und Recht behaupten, dass niemand
vollständig gegen Missachtung, Geringschätzung, Abwertung – oder wie auch immer man das
Gegenteil von Würdigung nennen mag – gefeit ist. Die Wahrnehmung, die Empathie und das
Verständnis eines jeden Menschen haben ihre Grenzen.
Angesichts der relativ hohen Anzahl an jungen männlichen Therapeuten, die dieses
Problem laut unseren Daten schildern, würde ich den Ausbildern und Vorgesetzten dieser
jungen Männer empfehlen, bereit zu sein, sie zu unterstützen und ihnen zu helfen, ihre Empa-
thie und ihr Verständnis zu verbessern. Darüber hinaus würde ich Kollegen, die für die Auswahl
der für die Ausbildung geeigneten Kandidaten verantwortlich sind, dringend raten, beson-
ders auf persönlichen Ausdruck eines ablehnenden Verhaltens zu achten, d. h. Menschen, die
34 Kapitel 3 · Betrachtungen zur Würde als Wort und Handlung

irgendwie kalt, zurückhaltend, skeptisch und reserviert selbst in ihren persönlichen Beziehun-
gen sind. Welche sonstigen großartigen Vorzüge diese Menschen auch sonst haben mögen; sie
werden wahrscheinlich nicht die Therapeuten, die Sie selber aufsuchen oder an die Sie andere
Patienten überweisen würden.

3 Literatur

Freud, S. (1904). [GWS496a1] Besprechung von Leopold Löwenfeld. Die psychischen Zwangserscheinungen,
Wiesbaden 1904 1 (1904). Gesammelte Werke: Texte aus den Jahren 1885 bis 1938, S 496–499.
Orlinsky, D.E., Ronnestad, M.H. (2005). How Psychotherapists Develop: A Study of Therapeutic Work an Professional
Growth. Washington, DC: American Psychological Association.
35 4

Dimensionen der Würde in


der Psychotherapie
Luise Reddemann

4.1 Einleitung – 36

4.2 Fazit – 45

Literatur – 45

Teile dieses Textes wurden bereits publiziert: Reddemann, Luise (2015) Zur Dimension
der Würde in der Traumatherapie. In: Gahtleitner S, Frank C, Leitner A (Hrsg) Ein Trauma
ist mehr als ein Trauma. Weinheim: Verlagsgruppe Beltz, S. 222–236. Alle Rechte daran
liegen bei der Autorin.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


H. Bents, A. Kämmerer (Hrsg.), Psychotherapie und Würde, Psychotherapie: Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54310-8_4
36 Kapitel 4 · Dimensionen der Würde in der Psychotherapie

4.1 Einleitung

Zunächst soll hier ein Statement des Chirurgen Christian Friedrich Vahl im Deutschen Ärzte-
blatt Raum bekommen, das mich nachdenklich gestimmt hat:

» Ein guter Chirurg setzt so wenig Chirurgie wie möglich ein … Ein guter Chirurg ist nicht ein
fanatischer Diener einer imaginären Göttin namens „Chirurgie“, … sondern ein Mensch, der
seine Meisterschaft von anderen Meistern erworben hat und diese im Dienst der Patienten
4 mit Augenmaß einsetzt. (Vahl 2014)

Dies lässt sich m. E. auf Psychotherapie übertragen. „Im Dienst der Patienten“ und „mit Augen-
maß“ kann aus meiner Sicht nur bedeuten: unter Berücksichtigung der Würde der Patientinnen
und Patienten.
Seit vielen Jahren beschäftigt mich das Thema Beachtung des Würdeaspekts in der Psycho-
therapie. Daher sollen zuerst allgemeine Gesichtspunkte des Würdeaspektes in der Psychothe-
rapie beleuchtet werden, um dann auf einige spezifischere Fragen bezüglich des Würdeaspekts
zu kommen. Ohne Einbezug politischer Dimensionen kann ich mir eine Auseinandersetzung
mit Würde nicht vorstellen, daher werde ich hier einige Bezüge herstellen.
Viele werden argumentieren, Würde sei der Psychotherapie quasi inhärent. Leider trifft das
keinesfalls zu. Es gibt auch in der Psychotherapie Würdeverletzungen, teils massive, z. B. durch
sexuelle Übergriffe, teils subtile. Bei diesen subtilen Würdeverletzungen geht es meist darum,
dass Patientinnen und Patienten Vorstellungen von der „richtigen“ Behandlung oder der „rich-
tigen“ Deutung mehr oder weniger aufgedrängt werden – in der Chirurgie wären das operative
Eingriffe ohne ausreichende Notwendigkeit. So scheint mir der folgende Satz von Bieri sehr viel
Wahres zu enthalten:

» Würde ist nicht eine einzige Sache, sondern viele. Es kommt darauf an zu verstehen, wie
diese vielen Sachen im Leben eines Menschen zusammenhängen. (Bieri 2013)

Oder um den Palliativmediziner Gian Domenico Borasio auf die Frage „Ihr wichtigster Rat für
angehende Ärzte“ zu zitieren:

» Mut, Demut und Achtsamkeit. (Borasio 2014), [Hervorhebung L. R.]

Dies bedenkend scheint es mir in der Psychotherapie unter Würdeaspekten vor allem darum zu
gehen, die Individualität von Patientinnen und Patienten mit Demut zu respektieren und nicht
der Versuchung zu unterliegen, unreflektiert in Manualen – welcher Art auch immer – empfoh-
lene Interventionen den Patientinnen und Patienten quasi überzustülpen.
Nach dem kürzlich in Deutschland verabschiedeten Patientenrechtegesetz ist das übrigens
auch nicht mehr erlaubt. Es gilt, dass wir nur tun dürfen, womit die Patientinnen und Patien-
ten ausdrücklich einverstanden sind, nachdem wir sie umfassend aufgeklärt und sie auch über
Alternativen informiert haben. Ausnahmen bestehen nur bei Lebensgefahr, die es so in der
Psychotherapie aber nicht gibt. Das Patientenrechtegesetz halte ich für einen wichtigen Schritt
in Richtung auf die Anerkennung der Würde von Patientinnen und Patienten, wie ich sie in
Anlehnung an Philosophen, vor allem Kant, deute.
4.1 · Einleitung
37 4
Es scheint einen gesellschaftlichen Trend zu geben, die zunehmende Legitimität der sozia-
len Kontrolle durch die Medizin, wozu ich auch die Psychotherapie rechne, anzuerkennen, was
einige Vorteile haben kann, jedoch erscheint bedenklich, dass die Definitionsmacht und Auto-
rität des professionellen Gesundheitswesens gegenüber anderen Subsystemen und Professionen
zunimmt (Meyer 2011).
Heute haben wir einerseits die Situation, dass die Medikalisierung zunimmt, aber anderer-
seits auch vermehrt partiell umstritten ist (Meyer 2011). Nach Meyer ist die Medikalisierung
u. a. umstritten, weil traditionelle Autoritäten wie auch Ärzte und bis zu einem gewissen Grad
sicher auch Psychotherapeuten einem Prozess der Illegitimisierung unterliegen. So wird dann
der Arzt durch neue Autoritäten ersetzt. Interessanterweise handelt es sich dabei nicht mehr
um Menschen, sondern z. B. um empirische, wissenschaftliche Evaluation und um Maschinen.
Darauf weist Rainer Funk, ein Schüler von Erich Fromm, in seiner Analyse postmoderner Men-
schen hin (Funk 2005).
„Diversity“ wird als Chance gesehen und Individualisierung in einer „Multioptionsgesell-
schaft“ geschätzt. Und andererseits finden massive Restriktionen statt, „deren Grundlagen die
Evidence Based Medicine, die Analyse von Wirkungen, und Fragen nach der Zweckmäßigkeit,
Wirtschaftlichkeit und Qualität der medizinischen Maßnahmen“ sind (Meyer 2011). Diese Ana-
lysen könnten sinnvoll sein, so lange sie nicht den Interessen spezifischer Gruppen dienen. Wir
werden uns daher fragen müssen, ob die Restriktionen unter den oben genannten Bedingun-
gen sogar das Unerwünschte verstärken. Der gottähnliche Arzt wird jetzt durch die gottähnli-
che Wissenschaft und den gottähnlichen Markt ersetzt. Nicht zuletzt deshalb erscheint mir die
Orientierung an einem Wert wie dem der Menschenwürde bedeutsam. Denn es geht ja immer
noch um „lebende Wesen“, die Kant vernünftige Wesen nennt.
Eine Betroffene schrieb mir in Reaktion auf mein Buch zur Würde (Reddemann 2008):

» Während meiner Therapiezeiten hat die Defizitorientierung bei mir zuweilen zu richtigen
Auswüchsen geführt. Schließlich war ich nicht mehr stolz auf eigene Leistungen und
Fähigkeiten, sondern stolz, wenn ich weitere Übel in mir entdeckt hatte. Das hat meinen
Therapeutinnen immer sehr gut gefallen. Und ich selbst war dem Wahn, der Hoffnung
verfallen, dass ich nur auf diese Weise wieder heil werden kann.

Und sie ergänzt:

» Die Therapeutinnen wurden mehr oder minder aggressiv, wenn es ihnen nicht gelang, ihre
eigene Theorie in meinem Kopf zu installieren.

Das gibt zu denken. Hier ermutigt das Patientenrechtegesetz die Patientin, der übergroßen Macht
der Behandlerinnen und Behandler entgegenzutreten. Wenn der neue Gott der Evidenzbasierung
im Interesse der Patientinnen und Patienten angebetet wird, mag das angehen.
Schopenhauer war es wohl bewusst, wie schwer es Menschen mit der Würde haben, und
beklagte die Leerheit des Ausdrucks Würde. Er erklärte den Begriff für eine „hohle Hyperbel“
(Wetz 2005, S. 188). Ich verstehe Schopenhauer so, dass er darauf hinweisen wollte, wie wenig
der Würdegedanke in Taten umgesetzt worden ist und wird. Würde braucht Handlungen, kein
Gerede.
Bei dem Philosophen Peter Bieri fand ich in seinem Buch „Eine Art zu leben: Über die
Vielfalt menschlicher Würde“ eine mich überzeugende Definition: Es gehe darum, ein Subjekt
38 Kapitel 4 · Dimensionen der Würde in der Psychotherapie

zu sein und damit Urheber meines Verhaltens, also selbstbestimmt zu sein und darüber hinaus
ein Selbstzweck zu sein und als solcher behandelt zu werden (Bieri 2013, S. 2). Bieris auf Kant
zurückgehende Definition, die er in seinem Buch sehr praxisnah reflektiert, halte ich gerade auch
für unsere psychotherapeutische Arbeit für hilfreich.
Was heißt in einer Psychotherapie, Patientinnen und Patienten als „Urheberinnen bzw.
Urheber ihres Verhaltens“ zu betrachten, und wozu fordert das Behandlerinnen und Behandler
heraus? Zunächst einmal zu starkem Interesse an diesem einmaligen Menschen in seiner Viel-
falt, an seinen Problemen und an seinen gesunden Seiten und nicht nur an seiner Diagnose. Das
4 bedeutet für mich konkret: Eine ausschließlich störungsspezifische Behandlung ist würdever-
letzend, weil damit dem Subjekt seine Einzigartigkeit abgesprochen wird.
Was kann heißen, Patientinnen und Patienten als „Selbstzweck“ ernst zu nehmen? Ich ver-
stehe darunter, unbeirrbar an der Idee festzuhalten, dass Menschen, wie beschädigt sie auch sein
mögen, in sich sehr viel Weisheit und Wissen über sich selbst haben, mehr jedenfalls, als wir als
anderer Mensch je für ihn haben könnten; und dass sie auch über Fähigkeiten und Fertigkeiten
verfügen, sodass wir uns behutsam fragend und nicht besserwissend einbringen sollten mit dem,
was uns richtig erscheint.
Woher können wir die Gewissheit nehmen, was der Selbstzweck eines Menschen ist? Bieri
bezieht sich – aus gutem Grund, wie ich meine – auf Immanuel Kants „Grundlegung zur Meta-
physik der Sitten“ (1785, Erster Abschnitt; Übergang von der gemeinen Sittlichen Vernunfter-
kenntniß zur philosophischen):

» Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an
sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen,
sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen
gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ (zit. in Bieri 2013,
S. 375 f.)

Und weiter:

» Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl
in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals
bloß als Mittel brauchest.“ (AA IV 429/BA 66–67) (zit. in Bieri 2013)

„Die Menschheit, sowohl in meiner Person als in der Person eines jeden anderen“ und jeman-
den niemals nur als Mittel zur Erreichung von Zwecken zu brauchen, erscheint mit vor allem
deshalb bedeutsam, weil Kant uns auffordert, auch unsere eigene Würde zu bedenken. Wir
schaden uns und der Menschheit in uns selbst und außerhalb von uns selbst, wenn wir gegen
Würdegrundsätze verstoßen. Wenn Kant Recht hat, dass wir „unter dem Gesetz der Vernunft“
stehen, andere nicht als Mittel zur Erreichung von Zwecken zu gebrauchen, dürfte es derzeit
um die Vernunft schlecht stehen. Möglicherweise ist sie an dieser Stelle auch überfordert, und
Kant hätte sie überschätzt. Wir brauchen einen Begleiter der Vernunft, das Mitgefühl. Ich
komme darauf zurück.
Unser derzeitiges, vom Neoliberalismus geprägtes Denken und Handeln widerspricht den
Kant’schen Ideen diametral und scheint Schopenhauers zynischer Beobachtung Recht zu geben.
Mir scheint es wichtig, die schleichend sich einnistenden Auswirkungen der neoliberalen Kon-
zepte auf uns und die Menschen unserer Umgebung zu erkennen und zu benennen, um ihre
Menschenverachtung zu durchschauen.
4.1 · Einleitung
39 4
z Was kann das nun für den Bereich psychotherapeutischer Arbeit heißen?
Heute bestimme das Messen und die Messbarkeit in erster Linie, was Qualität sei. Dadurch ent-
stehe ein Tunnelblick … Was nicht vom Messsystem erfasst werden könne, liefere keine Ergeb-
nisse, weshalb es sich nicht lohne, Zeit dafür zu opfern, so beschreibt es der belgische Psychoana-
lytiker und Professor für Psychologie Paul Verhaeghe in einer scharfsinnigen Analyse zur Frage,
inwieweit der Neoliberalismus uns alle im Griff hat (Verhaeghe 2013, S. 131).

» Man glaubt tatsächlich, die Qualität psychologischer und sozialer Hilfeleistung mit
Methoden messen zu können, die aus der pharmakologischen Forschung herübergeweht
sind. (Verhaeghe 2013, S. 132)

Mir scheint, man glaubt es nicht nur, sondern scheint es für eine unumstößliche Wahrheit zu
halten.
Verhaeghe zieht das Fazit

» [Es] lautet die Schlußfolgerung, dass nur die begrenzte Gruppe von Behandlungsmög-
lichkeiten wirksam sei … dass die übrigen Therapiemodelle ihre Existenzberechtigung …
einbüßen und sogar aus dem Studienangebot verschwinden … “ (Verhaeghe S. 132)

Oder wie jüngst in der Süddeutschen Zeitung zum Neoliberalismus zu lesen war:

» Humanitär und legitim ist jetzt, was den Menschen angeblich nützt, nicht was „gerecht“
oder „unantastbar“ ist“ (Zielke 2014).

Im deutschen Grundgesetz heißt es, dass die Würde des Menschen unantastbar sei.
So kann der Eindruck entstehen, dass klinische Erfahrungen diskriminiert werden, damit
die Gesetze des angeblich sich selbst regulierenden Marktes auch in unserem Bereich voll zur
Anwendung kommen, koste es auch die Würde der Behandelten und der Behandler.
Dem Begriff der Würde kann man sich am besten annähern, wenn man bei ihrem Gegenteil
beginnt. Das sind Entwürdigung, Demütigung, Beschämung. Alle drei beinhalten die Erfah-
rung, dass uns unsere Würde genommen wird. Daraus erfolgt ein Ohnmachtserleben, gepaart
von einem Erleben von Willkür, und Beschämung und Scham, meint Bieri. Beim Täter rufe das
einen „Genuß, den anderen ohnmächtig zu sehen“ hervor (Bieri 2013, S. 34 f.).
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die sich sagen lassen müssen, ihre Arbeit sei
nicht anerkennenswert, da sie sich ja nicht an das, was inzwischen als einzig existenzberechtigte
Psychotherapie gilt, nämlich die evidenzbasierten Methoden, halten, sehen sich zunehmend am
Pranger. Um nicht beschämt zu werden, werden dann Techniken – man beachte den verräteri-
schen Begriff – angewendet, selbst wenn man Patientinnen und Patienten damit instrumentali-
siert, also zumindest partiell entwürdigt.
Um dies durchzusetzen, wird übrigens der Begriff der Evidenzbasierung missbraucht, was
leider die wenigsten wissen. Zwar ist die klinische Erfahrung in diesem Konzept weniger hoch
angesehen als randomisiert kontrollierte Studien (RCT), aber es trifft nicht zu, dass sie nicht doch
einen Stellenwert hat, insbesondere dann, wenn RCT für die zu behandelnde Gruppe kaum oder
gar nicht vorliegen. Schwer traumatisierte Patientinnen und Patienten z. B. kann man auch aus
ethischen Gründen kaum in RCT erfassen, es sei denn, man nähme eine Schädigung bewusst in
Kauf. Fragebögen werden von diesen Patientinnen und Patienten oft bereits als bedrohlich erlebt,
sodass viele von ihnen schon an ihnen scheitern.
40 Kapitel 4 · Dimensionen der Würde in der Psychotherapie

Die Suche nach Evidenzbasierung war ursprünglich dafür gedacht, Patientinnen und Patien-
ten umfassend über den Stand der Forschung informieren zu können, damit diese selbst dann
zu einem Urteil gelangen können, für welche Behandlungsform sie sich entscheiden möchten,
was natürlich sinnvoll ist. RCT können im Übrigen immer nur Aussagen über Gruppen machen,
niemals über Individuen. Wer also stets und ständig Evidenzbasierung reklamiert, setzt sich über
das Recht eines Menschen, seinen Zweck selbst als Individuum zu bestimmen, hinweg.
Bei der Entscheidung für eine Behandlung spielen für viele Patientinnen und Patienten Para-
meter eine Rolle, die in den bisherigen auf RCT basierenden Studien überhaupt nicht vorkom-
4 men und erst neuerdings mehr in den Blick der Forscher geraten, vor allem die Persönlichkeit
der Behandlerinnen und Behandler. Neuerdings sagen uns die Psychotherapieforscher, dass sie
die Forschung über Methoden und die Streitigkeiten darüber nicht mehr interessieren, sondern
es jetzt darum gehe, über welche Merkmale Behandlerinnen und Behandler verfügen sollten,
damit eine fruchtbare Arzt-Patient-Beziehung gelingt (Strauß 2013).
Es darf schon jetzt vermutet werden, dass nicht wenige Patientinnen und Patienten solchen
Behandlerinnen und Behandlern den Vorzug geben, die ihre Würde in vollem Umfang achten.
Denn die Beachtung der Würde gerade in einer Beziehung, in der ein gewisses Gefälle nie ganz
zu vermeiden ist, hilft Patientinnen und Patienten, Hoffnung zu entwickeln, dass ihnen gehol-
fen wird.
Rechte sind, so hebt Bieri hervor, ein Bollwerk gegen Abhängigkeit und Willkür. In diesem
Sinn sind Patientenrechte ein wichtiger Schutz, unter anderem gegen Ohnmacht, damit wir uns
als mündige Wesen erleben und artikulieren können. Denn wir wollen verstehen und nachvoll-
ziehen können, was von uns erwartet wird und was mit uns geschieht, und wir wollen uns als
Therapeutinnen und Therapeuten wie als Patientinnen und Patienten mit unserer Individualität
respektiert wissen (s. Bieri 2013, S. 37 f.).
Hier kommt für mich in Kontext der Würde insbesondere die Diskursethik ins Spiel: Denn
dieser Ansatz vertritt, dass jede Stimme ein Recht darauf hat, gehört zu werden. Das wiederum
gilt ja genau genommen auch, wenn wir Freud mit seiner Grundregel ernst nehmen oder auch
therapeutische Ansätze, die mit Konzepten menschlicher Vielfalt arbeiten, sowie humanistische
therapeutische Ansätze.
Die Diskursethikerin Seyla Benhabib fordert uns auf, „die kritische Untersuchung ungeprüf-
ter normativer Dualismen“ zu wagen, und dies dann auch noch unter dem Aspekt von Gender-
Kontexten und -Subtexten (Benhabib 1995, S. 130). Ein normativer Dualismus ist der der rando-
misiert kontrollierten Studien versus klinische Erfahrung. Auch andere Gegensatzpaare spielen
in unsere Arbeit hinein, insbesondere Normen versus Werte, z. B. repräsentiert als „so schnell
wie möglich“ versus „mit so viel Zeit wie nötig“, Interessen versus Bedürfnisse u. a. im Kontext
von männlich geprägter Medizin und Psychotherapie versus Bedürfnisse z. B. von Frauen, z. B.
nach frauengerechter Psychotherapie.
Die Anwendung von Benhabibs Diskursethik finde ich für unsere Arbeit besonders lehrreich,
da es in der Psychotherapie ja immer um Diskurse geht. Und wenn wir ihre Maßstäbe auch nur
zeitweise anlegen, können wir bemerken, wie häufig dagegen verstoßen wird. So werden Patien-
tinnen und Patienten gerne als „ansprüchlich“ bezeichnet oder mit anderen diskriminieren-
den Etiketten belegt, wenn sie um die Anerkennung ihrer als authentisch erlebten Bedürfnisse
kämpfen, auch als „aggressiv“ oder eben „widerständig“ – häufig Begriffe, die uns zur Rechtfer-
tigung unseres Nichtverstehens dienen oder dazu, dass wir Grenzen haben, ohne diese offenzu-
legen, was nach meiner Erfahrung von den allermeisten Patientinnen und Patienten verstanden
und anerkannt werden kann.
4.1 · Einleitung
41 4
Benhabib plädiert für eine kontrafaktische Vorannahme von Gleichheit – keine Gleichheit
der Fähigkeiten, aber eine Gleichheit hinsichtlich der Ansprüche – fehle diese, resultiere daraus
schlechte Pädagogik oder erstickende, übertriebene, „bestrafende Fürsorge“ (Benhabib 1995).
Ich möchte ergänzen: Wenn diese Gleichheit nicht ernst genommen wird, entsteht ein therapeu-
tischer Diskurs, der diesen Namen nicht mehr verdient, denn jegliche Neugier auf noch nicht
Einzuordnendes wird zerstört.
Ein weiterer Bereich, der mit Würde zu tun hat, ist der der Gender-Gerechtigkeit, die mir
im Bereich der Psychotherapie nicht durchgängig zu gelten scheint: Bernhard Taureck, Philo-
soph in Brauschweig, weist ausdrücklich auf den Widerspruch hin, der in der Aussage „Frei-
heit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ steckt (Taureck 2006). Hätte uns nicht längst der Satz: Freiheit,
Gleichheit, Geschwisterlichkeit einfallen können? Wer denkt darüber in der Mainstream-Psy-
chotherapie je nach?
Die Unsichtbarmachung von Frauen in der deutschen Psychotherapiesprache scheint mir
nicht der optimale Umgang mit Frauen in unserer Gesellschaft zu sein. In Österreich und in der
Schweiz sieht es anders aus. Dort scheint es nicht zu umständlich zu sein, die weibliche Form
genauso zu nutzen wie die männliche. In Deutschland wird frau/man dafür noch immer ver-
spottet (Reddemann 2014).
Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass „Frauen und ihre Belange weiterhin unsichtbar in
zeitgenössischen Gerechtigkeits- und Gemeinschaftstheorien bleiben“ (Benhabib 1995, S. 9). Ben-
habib sagt pointiert, es handle sich dabei um ein epistemologisches Defizit, nicht nur eine poli-
tische Unterlassungssünde oder einen blinden Fleck auf dem moralischen Auge. Einen erkennt-
nistheoretischen Irrtum also. Das ist eine deutliche Aussage.
So bedürfen auch unsere erkenntnistheoretischen Diskurse einer kritischen Reflexion und
Revision, denn, so Benhabib:

» Man muss dem Subjekt der Moraltheorie ein Geschlecht geben – nicht, um Moralfor-
derungen zu relativieren, das heißt, sie den unterschiedlichen Geschlechterrollen
anzupassen, sondern um eine Sensibilität für und ein Wissen um die Unterschiede zu
erreichen. (Benhabib 1995, S. 123)

Immer wieder geht es um Vielfalt, um Verschiedenheit, die anerkannt sein will.


Nach Benhabib (1995, S. 129) ist das Diskursmodell „ein äußerst wirksames Instrument zur
Entschleierung von Herrschaftsdiskursen und ihrer impliziten Zielsetzungen … “. Das sehe ich
auch so, aber beliebt sind diese Diskurse nicht. Es sollte daraus folgen, dass der praktische Diskurs
„frauenorientierter“ wird, nicht zuletzt deshalb, weil eine Mehrzahl der Patienten weiblich ist
und eine Mehrzahl der Therapeuten auch.

» Nur Beziehungen auf der Grundlage egalitärer Reziprozität, der gegenseitigen Achtung der
Teilnehmer und des Austauschs zwischen ihnen [können] … fair sein (Benhabib 1995,
S. 125)

Konkret auf den Punkt gebracht, bedeutet das z. B., dass Frauen das Recht haben, von Frauen
behandelt zu werden, wenn sie das wünschen, und dass es Räume für Frauen gibt, wo sie unter sich
sein können, wenn sie es wollen, und nicht mit dem Hinweis abgewimmelt werden, sie müssten
ja in der Welt auch mit Männern zurechtkommen. Das ist zumindest eine faule Ausrede, aber
auch eine Würdeverletzung der betroffenen Frauen. Übrigens gilt für mich selbstverständlich
42 Kapitel 4 · Dimensionen der Würde in der Psychotherapie

auch das Umgekehrte, das heißt, Männer haben ein Recht auf Behandlungen durch Männer und
Räume nur für Männer. Gibt es hierzulande Kliniken, die sich daran halten?
Theoretiker argumentieren ähnlich. Doch wie sieht die Praxis aus? Dazu müssen wir unsere
Menschenbilder, die in Psychotherapien wirksam sind, unter die Lupe, ja vielleicht sogar unter
das Mikroskop legen, und was wir in der Praxis tun. Handeln wir nach dem Prinzip der Egalität,
wenn wir Konzepte umsetzen, statt geduldig Phänomene zu betrachten auf der Basis der Über-
zeugung, dass es letztlich die Patientin selbst ist, die weiß, was sie braucht? Handeln wir nach
egalitärer Reziprozität, wenn wir, ohne unsere Hypothesen für unsere Vorannahmen genau zu
4 begründen, diagnostizieren und dann auch behandeln auf der Basis von derzeit in Mode gekom-
menen Ansätzen?
In den gut 40 Jahren meiner ärztlichen Berufstätigkeit gab es etliche Moden des Diagnostizie-
rens und auch des Behandelns, von denen man heute kaum oder gar nichts mehr hört. Grundsätz-
lich entspricht das wohl dem Lauf der Welt, aber es könnte uns wacher dafür machen, mit unseren
eigenen „heiligen Kühen“ und deren Milch etwas vorsichtiger umzugehen; es könnte sein, dass
die Milch, die so manchem Patienten frühzeitig sauer aufstößt, die wir aber für nahrhaft halten –
u.a. deshalb, weil wir sie selbst gar nicht probieren! – auch uns irgendwann nicht mehr schmeckt.
Warum nehmen wir dann – unter Würde- und Diskursaspekten – nicht gleich die Einwände
unserer Patientinnen und Patienten ernst? Es sei der Hinweis erlaubt, dass in aktuellen Gerech-
tigkeitsdiskursen das Recht jedes Einzelnen auf seine Sicht der Dinge sehr hervorgehoben wird,
so auf einem Kongress von Medico International zum Thema „Beyond Aid – Von Wohltätigkeit
zu Solidarität“ (2014: https:/www.medico.de/von-wohltaetigkeit-zu-solidaritaet-14673/).
Auch dort wird das Problem betont, dass es meist Interessen von einzelnen Personen oder
auch mächtigen Gruppen sind, die diese Interessen als allgemeine bzw. allgemein verbindliche
ausgeben.
Es gehe nicht so sehr um die Identifikation des „allgemeinen Interesses“ als vielmehr um die
Aufdeckung jener Teilinteressen, die sich als allgemeine ausgeben, hebt Benhabib (1995) hervor,
sodass „in der diskursiven Rechtfertigung und Einschätzung von Wahrheitsansprüchen kein
Moment das Privileg“ hat, „eine Gegebenheit, ein endgültig bewiesenes, nicht mehr hinterfrag-
bares Gefüge zu sein“ (Benhabib 1995).
Kürzlich hat der – an Jahren junge – Philosoph Markus Gabriel in seinem Essay „Warum es
die Welt nicht gibt“ (Gabriel 2015) dargelegt, dass es „eine Vielzahl der Welten“ gibt. Das erscheint
mir ein brauchbarer Ausgangpunkt für Diskurse. Wir alle fühlen uns mehr oder weniger Schulen
verpflichtet. Das sollten wir in unseren Diskursen berücksichtigen, nicht um Schulenorientierung
zu verteufeln, sondern um wachsam für deren Grenzen zu sein bzw. zu werden.

z Machtinteressen, die die Würde beschädigen, sollten benannt werden.


Unter anderem weist Fürstenau (2007, S. 165 ff.) auf die verschwiegenen Macht- und Geldinter-
essen im Zusammenhang mit den deutschen Psychotherapierichtlinien und deren Anerkennung
von nur einigen wenigen Verfahren hin. Maddux, Snyder und Lopez (2004, S. 325 ff.) zeigen die
Macht von Interessengruppen im Kontext der Modelle von Krankheit und Gesundheit auf, die
das therapeutische Handeln bestimmen. Die jeweiligen Diskurse können verschleiernd sein und
verschleiern dann auch Würdeverletzungen. Für uns könnte das bedeuten, stets unsere Diag-
nosen quasi wie in Anführungszeichen zu setzen, wir benötigen sie – vielleicht –, aber sie sind
keine Aussagen über Wahrheiten.
„Nur weil man Analphabet ist, fehlt es einem nicht an Würde“, sagten die afrikanischen
Gesprächspartner von Henning Mankell in Bezug auf die weißen Hilfswilligen und deren Kon-
zepte über richtigen und falschen Umgang mit Aids. Nur weil man kein psychotherapeutisches
4.1 · Einleitung
43 4
Fachwissen hat, fehlt es einem nicht an Würde und dem Wunsch, als Individuum ernst genom-
men zu werden.
Das Recht auf Würde sei zu achten wie ein Grundbedürfnis, meint der Philosoph Peter
Baumann (2002). Das heißt, Einfühlung in dieses Grundbedürfnis führt dazu, dass man die
Würde achten kann und will. Wir brauchen uns nur klar zu machen, dass es wirklich ein Grund-
bedürfnis ist, und es jeder und jedem von uns auch darum geht.
Der amerikanische Philosoph Richard Rorty äußert den interessanten Gedanken, dass nicht
Erkenntnis, sondern Mitgefühl zu ethischem Verhalten führe. Harriet Beecher Stowe mit ihrem
Roman „Onkel Toms Hütte“ habe mehr für die Menschenrechte getan als jede Ethik. Das könnte
uns Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ansprechen (Rorty 2003, S. 244). Laut neuerer
neurobiologischer Forschung ist es nämlich der mitfühlende Arzt, der am erfolgreichsten ist
(Benedetti 2011).
Dazu benötigen wir ein Verständnis für soziale Verhältnisse als Hintergrundsfolie und Sinn
für Gerechtigkeit.
Unter Würdegesichtspunkten erscheint es dringlich, den Einfluss sozialer Verhältnisse auch
in der Psychotherapie wieder mehr zu beachten, und dass sich Identität durch gesellschaftli-
che Einflüsse und mehr oder weniger bewusste Ideologien bildet. Während in den 1970-er bis
80-er Jahren sozialpsychiatrische Ideen beinahe Allgemeingut waren und sozialkritische Über-
legungen auch in psychotherapeutischen Schulen einen Platz hatten, z. B. diejenigen von Paul
Parin in der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, scheinen derartige Überlegungen entwe-
der der Akzeptanz des Neoliberalismus wegen Sachzwängen oder dem Jammern darüber gewi-
chen zu sein.
Paul Verhaeghe (2013) meint: Jede Identität gehe auf eine zusammenhängende Ideologie
zurück „als Gesamtheit von Ansichten über zwischenmenschliche Ansichten und die bestmög-
liche Art, diese zu regeln“ (Verhaeghe 2013, S. 29). So kommt er zu dem Schluss, dass Identität
„nur zusammen mit Ethik gedacht werden“ kann (Verhaeghe 2013, S. 37).
Was kann das für psychotherapeutisches Handeln bedeuten? Ich erinnere noch einmal an
Kant:

» Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an
sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen,
sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen
gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. (zit. in Bieri 2013)

Daraus ergibt sich für mich:


55 Respekt vor der Autonomie der anderen zu entwickeln und diese unbedingt zu berück-
sichtigen, will sagen, unbedingt den Willen unserer Patientinnen und Patienten zu
respektieren, denn sie sind im Vollbesitz ihres Verstandes und ihres Wollens.
55 Würde der Verletzlichkeit und des Scheiterns anzuerkennen. Das bedeutet in der
Behandlung Traumatisierter, anzuerkennen, dass manche von ihnen aufgeben wollen, statt
zu kämpfen.
55 Respekt vor den Wünschen nach Verbundenheit ernst zu nehmen. Das verstehe ich so, dass
manche Menschen sich auch von denen, die ihnen schaden und geschadet haben, nicht
trennen wollen und können.
55 Würde der Individualität und Verschiedenheit zu achten. Das heißt, um die Beschrän-
kungen jeglichen Manuals zu wissen.
44 Kapitel 4 · Dimensionen der Würde in der Psychotherapie

Und nicht zuletzt


55 Würde der Intimität ernst zu nehmen. Patientinnen und Patienten haben ein Recht darauf,
über bestimmte Dinge nicht sprechen zu wollen.

Welche Konsequenzen könnten sich daraus ergeben? Ich stelle hier einen berühmten Menschen
vor, der sein Leid erschütternd zum Ausdruck bringen konnte. Wie würden wir mit ihm arbei-
ten, wenn er zu uns als Patient käme und uns das Folgende erzählte? Ich zitiere ihn aus einem
seiner Werke:
4
» Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge vor seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir grade noch ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf
dunkeln Schluchzens. Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt.

Das ist der Anfang von Rilkes Erster Duineser Elegie. Diese Elegien sind ganz ohne Zweifel ein
Meisterwerk der Weltliteratur. Und doch war Rilke auch ein Mensch mit komplexen Traumati-
sierungen, Vernachlässigung und emotionalem Missbrauch als Kind und sexualisierter Gewalt
und Gewalt in der Jugend sowie vielfältigen Kränkungserfahrungen.
Wie würden wir die Würde eines so beschädigten Menschen zu achten versuchen? Viel-
leicht würden wir uns an Lévinas Idee orientieren, dass die Sorge für den Anderen über die
Sorge um uns selbst und unsere Konzepte siegen sollte. Lévinas nennt diese Haltung „Heiligkeit“.
Unsere Menschlichkeit bestehe darin, dass wir den Vorrang des Anderen anerkennen können.
Die Sprache wende sich immer dem Anderen zu, so als ob man gar nicht denken könne, ohne sich
bereits um den Anderen zu sorgen. (E. Levinas 2006, „Die Unvorhersehbarkeit der Geschichte“,
S. 173).

z Dazu formuliere ich Fragen:


Würden wir diesen Patienten als Individuum und seine Autonomie ernst nehmen, wenn wir uns
ausschließlich an Leitlinien orientieren würden, die gar nicht für Behandlungsherausforderun-
gen durch Individuen konzipiert sind?
Was wäre aber, wenn wir ihm Zeit lassen würden? 10 Jahre hat er an seinen Elegien gearbei-
tet, sie sind der Ausdruck einer Selbsttherapie, und wir würden ihm nur manchmal Mut machen,
seine eigenen heilsamen Imaginationen mehr zu nutzen? Die Elegien sind voll davon und andere
seiner Werke ebenso. Vielleicht würden wir ihn fragen, ob es ihm hilfreich erscheint, sich wieder
und wieder mit seiner Todessehnsucht zu trösten, vielleicht würde er die tatsächlich über lange
Zeit brauchen und dass wir, die wir ihn begleiten, das respektieren und ihm weder Medikamente
noch eine stationäre Therapie aufdrängen.
Literatur
45 4
Wären wir bereit, seine tiefe Verbundenheit mit der Natur und seine Spiritualität als Ressource
zu achten, ohne ihn zu drängen, seine Beziehungsprobleme zu bearbeiten, so lange er das nicht
explizit erbitten würde? Und würden wir ihm trotzdem sein Bild von den „bösen“ destruktiven
Engeln lassen können, weil ihm das hilft, sich metaphorisch über die Qualen, die ihm bedeutsame
Andere zugefügt haben, zu äußern? Sogar dann, wenn das so ein bedeutender Mensch gewesen
wäre wie die Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé?
Wären wir bereit, ihm seine Art der Auseinandersetzung mit den Katastrophen seines Lebens
zu lassen? Zumindest später wüssten wir ja, dass er nach den Duineser Elegien die „Sonette an
Orpheus“ schreiben konnte. Wir könnten auch wissen, dass er möglicherweise eine Art selbst-
therapeutisch-konfrontierende Arbeit schon früh mit seinem „Cornett“ gemacht hätte. Würden
wir also seine Ressourcen respektieren und damit seine Würde?
Sie können mir jetzt sagen, dass Rilke ein Sonderfall ist. Ja, einerseits, nein, andererseits
würde ich einwenden, nicht alle unsere Patientinnen und Patienten sind große Dichter, das ist
wahr, aber fördern wir in unseren Therapieansätzen noch die Kreativität unserer Patienten, die
vielleicht auch für die, die keine Rilkes sind, Räume eröffnen würde, sich selbst zu entdecken?
Ich vermute, dass eine explizite Würdeorientierung in der Psychotherapie nicht nur dazu
führen würde, dass wir Demütigungen, Beschämungen und Entwürdigungen unserer Patien-
tinnen und Patienten erkennen, was wir ja gut können, sondern auch, dass wir mehr Interesse an
ihrer jeweils individuellen Lebendigkeit entwickeln könnten – „Leben, das leben will, inmitten
von Leben, das leben will“, wie es Albert Schweitzer ausgedrückt hat.
Wäre Ethik und Würdeorientierung im „Kleinen“ der Psychotherapie vielleicht ein Gewinn,
und sollten wir diesem Kleinen, das so klein gar nicht ist, so viel Beachtung schenken wie den
„großen“ Problemen wie z. B. Verstoß gegen das Abstinenzgebot durch sexuelle Ausbeutung?

4.2 Fazit

Behandlungsansätze nach Leitlinien, die auf das individuelle Kreative ebenso wenig eingehen wie
auf das jeweils spezifische Leiden, scheinen mir nicht gänzlich ungeeignet, weil sie uns, wenn wir
verunsichert sind, was als Gegenübertragungsphänomen natürlich gerade in der Behandlung von
schwer kranken Menschen häufig der Fall ist, eine gewisse Sicherheit geben können. Wir sollten
sie also beherrschen, und doch ist es unter Würdegesichtspunkten mein Wunsch, dass wir den
Mut haben, uns dem individuellen Menschen zuzuwenden, uns für seine ganz und gar indivi-
duelle Geschichte unter Berücksichtigung gesellschaftlicher und geschichtlicher Prägungen zu
interessieren, um dann gemeinsam eine Behandlungsplanung vorzunehmen und immer wieder
zu überdenken, die seinen Bedürfnissen entspricht. Und vor allem sollte diese Behandlungspla-
nung alles berücksichtigen, was dieser Mensch bereits an Selbstheilungspotenzial hat und dies
nicht durch Therapie erschüttern oder gar außer Kraft setzen.

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Wetz, F.J. (2005). Illusion Menschenwürde: Aufstieg und Fall eines Grundwerts. Stuttgart: Klett-Cotta.
Zilke, A. (2014). „Sieg über das Gesetz“; in Süddeutsche Zeitung vom 3.5.2014.
47 5

Zur Bedeutung von


Werten und Zielen als
motivationale Komponenten
in der Psychotherapie
Martin Bohus, Hinrich Bents

5.1 Motivation in der Psychotherapie – 48

5.2 Werte in der Psychotherapie – 51

5.3 Ordnen und Erfassen von Werten – 54

5.4 Zur Bedeutung von Werten in der


Psychotherapie – 55

5.5 Motivation in der Psychotherapie – 56

5.6 Präventionsprogramm „Lebe Balance“ – 58

5.7 Fazit – 59

Literatur – 59

Wir danken Frau Brune für die professionelle Transkription und redaktionelle
Überarbeitung des Vortrags von Prof. Bohus, womit sie wesentlich zur Struktur und
Klarheit und damit zur Lesbarkeit des Manuskripts beigetragen hat.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


H. Bents, A. Kämmerer (Hrsg.), Psychotherapie und Würde, Psychotherapie: Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54310-8_5
48 Kapitel 5 · Zur Bedeutung von Werten und Zielen als motivationale Komponenten in der Psychotherapie

5.1 Motivation in der Psychotherapie

Der Aufbau von Änderungsmotivation ist sicher zentrales Element jeder Psychotherapie. Zwar scheint
ein Patient, der zu einer Therapiesitzung kommt, zunächst einmal offensichtlich motiviert zu sein,
„irgendeine“ Art von Psychotherapie in Anspruch nehmen zu wollen. Das heißt jedoch nicht auto-
matisch, dass er dazu motiviert ist, sein eigenes Verhalten und Erleben tatsächlich auch zu hinterfra-
gen oder gar zu verändern, geschweige denn, dass er bereit ist, den jeweiligen interventionellen Kon-
zepten seines Therapeuten Folge zu leisten. Wenn Patienten zur Therapie kommen, erhoffen sie sich
zunächst meist lediglich, dass sich durch diese Therapie „irgendetwas“ zu ihrem Vorteil ändern wird.
So könnten Patienten etwa Therapeuten aufsuchen, um sich Bestätigung ihrer Selbstsicht einzuho-
5 len, weil sie sich von ihrem Umfeld ungerecht behandelt fühlen; oder sie haben die Vorstellung, eine
schwerwiegende Beeinträchtigung erlitten zu haben, die sie selbst nicht korrigieren können, und sie
daher therapeutischen Beistand erwarten, um mit den Beeinträchtigungen leben zu können.
Iterative Klärungsprozesse sollten den Patienten ermöglichen zu erkennen, dass es meist
unumgänglich ist, das eigene Erleben und Verhalten zu ändern, um die erhofften Verbesserun-
gen zu erreichen – und dass dies auch möglich ist. Diesem ersten Schritt folgt die zweite moti-
vationale Aufgabe von Psychotherapie, nämlich die Patienten dazu zu ermutigen, in ihre Verän-
derungen „zu investieren“, indem sie dafür tätig werden, Mühe auf sich nehmen, Hausaufgaben
erledigen, sich Anforderungen stellen, sich auf Expositionsübungen einlassen, sich mit unan-
genehmen Erinnerungen konfrontieren und sich auf neue Erfahrungen einlassen. Diese moti-
vationale Aufgabe, die sich über den gesamten Therapieverlauf erstrecken kann, wird auch als
Adherence- oder Micro-Motivation bezeichnet.
Es ist hilfreich für Psychotherapeuten, sich mit drei grundlegenden theoretischen Konstruk-
ten vertraut zu machen:
55 Das bis heute populärste und einfachste Konzept ist das Erwartung-mal-Wert-Modell von
Kurt Lewin (1944).
44Demnach beinhaltet der Wert die subjektive Bedeutung dessen, was man erreichen möchte.
44Die Erwartung umfasst die Bemühungen, die für das Ziel investiert werden müssen. Die
Erwartung beinhaltet auch Überlegungen darüber, wie wahrscheinlich das gesetzte Ziel
erreicht werden kann, und was man verliert, wenn man es nicht erreicht.
44Das Produkt aus Wert und Erwartung ergibt dann ein Maß für die Stärke der
Motivation.
44Je weniger einem klar ist, was man möchte oder je weiter ein Ziel von den persön-
lichen Werten entfernt ist, desto geringer ist die Motivation. Ein geringer Wert kann
aber durch einen hohen Erwartungsanreiz kompensiert werden, indem man sich der
Zielerreichung sehr sicher ist oder bei der Verfehlung des Ziels nichts zu verlieren hat.
Anderenfalls würde das motivationale System nicht aktiviert, d. h. die Motivation zur
Veränderung und zum Handeln wäre zu gering.
55 Weitere Anreiztheorien machen Annahmen darüber, was den Anreiz fördert. So kann dem
Risikowahl-Modell zufolge der Anreiz nicht nur aus einem Ziel und seiner subjektiven
Bedeutung bestehen, sondern es wird auch durch die Handlung selbst bestimmt und
gefördert (Atkinson 1964).
44Ein schwieriges Projekt angehen zu können, kann ein Wert an sich sein. Es gibt
Menschen, die hoch motiviert an möglichst aufwendigen, mühevollen oder riskanten
Projekten arbeiten, da „Schwierigkeit“ an sich als reizvoll wahrgenommen wird. Diese
Menschen haben wenig Interesse daran, mittelmäßige oder leicht umsetzbare Ziele zu
erreichen. Einer narzisstisch konfigurierten Person kann man deshalb z. B. eher das
5.1 · Motivation in der Psychotherapie
49 5
Gefühl vermitteln, dass ihre Therapieziele nur schwer zu erreichen sind und man nur
ihr zutraut, diese Ziele zu erreichen.
44Therapeuten müssen somit nicht immer tröstend, Hoffnung machend oder beruhigend
arbeiten; manchmal ist es motivational zielführender, das implizite Motivationssystem
des Patienten zu berücksichtigen und eher provozierend als relativierend aufzutreten.
44Oder: Gerade bei schwer traumatisierten Borderline-Patienten kann die Antizipation
von Scham bei Misserfolg essenziell sein. Die Vorstellung zu scheitern ist für diese
Patienten häufig so fürchterlich, dass sie nicht in der Lage sind, einen Anreiz zu
antizipieren – sie sehen deshalb kaum eine Chance, überhaupt eine Zielorientierung
zu formulieren. Hier ist dann die Vorhersage von Misserfolg, von Scheitern und Scham
durch ihren „Erlaubnis-Charakter“ motivierend.
55 Die Kontrollerwartungs-Theorie(Rotter 1966) schließlich erweitert das Konzept der
Erwartung um das Konstrukt der Selbstwirksamkeit.
44Motivation hängt demnach auch davon ab, ob man davon überzeugt ist, in der Lage zu
sein, schwierige Ziele zu erreichen, und ob dies mit eigenen Mitteln und Kompetenzen
gelingen wird.
44Eine gezielte Fokussierung von persönlichen Ressourcen des Patienten, die mit seinen
eigenen Erfahrungen kompatibel sind, kann, verbunden mit der Antizipation von Stolz
und Zufriedenheit, als weitere motivationale Strategie eingesetzt werden. Das gelingt
umso besser, je schneller im Therapieprozess (möglichst noch in der diagnostischen
Phase) erkennbare Kompetenzen des Patienten (Gewissenhaftigkeit, Kreativität,
Frustrationstoleranz, Sensibilität usw.) vom Therapeuten verstanden und dem Patienten
gegenüber hervorgehoben werden.

Allgemein gilt:
Je stärker die Motivation, desto wahrscheinlicher führt eine Person zielgerichtete Handlun-
gen aus, desto intensivere Anstrengung investiert sie, desto mehr Ausdauer hat sie, desto stärker
kämpft sie gegen Widerstände und desto schwierigere Ziele kann sie erreichen.
Psychotherapieziele sind größtenteils sehr anspruchsvolle Ziele, da es meistens um die Ver-
änderung von änderungsresistenten Verhaltensgewohnheiten geht. „Gewohnheit“ kann als Anti-
zipation von Verhaltensweisen betrachtet werden, also als Handlungsregel oder -plan, wobei das
konkrete Handeln die Resultante der Gewohnheit ist. Gewohnheiten haben die Eigenschaft, sich
selbst zu replizieren, da sie Sicherheit suggerieren und Energie sparen.
In der Psychotherapie wird jedoch gezielt daran gearbeitet, Gewohnheiten zu ändern. Das
ist oft aufwendig (kostet Energie und Zeit) und bedeutet Unsicherheit und Risiko. Es ist deshalb
davon auszugehen, dass jeder Patient, der eine Therapie beginnt, zunächst immer auch starke
negative Valenzen gegenüber seinen Änderungszielen hat. Eine der Grundaufgaben von Thera-
peuten ist, Menschen motivational zu unterstützen, weil diese ihre Ziele aufgrund starker Ambi-
valenzen nicht alleine realisieren können.

5.1.1 Interventionelle Techniken, die die Motivation des Patienten fördern

z Beziehungsgestaltung
Es gibt eine Reihe von interventionellen Techniken, um gezielt die Motivation des Patienten
zu fördern. Das in der Therapie am häufigsten angewendete Werkzeug ist die Beziehungsge-
staltung. Da die therapeutische Beziehung in der Regel positiv konnotiert und mit positiven
50 Kapitel 5 · Zur Bedeutung von Werten und Zielen als motivationale Komponenten in der Psychotherapie

Erwartungen verbunden sind, kann davon ausgegangen werden, dass eine gute therapeutische
Beziehung immer auch Änderungsmotivation aufbaut. Man könnte sagen, dass mit therapeuti-
schen Mitteln Sympathie hergestellt wird, um auf dieser Grundlage Erwartungen an den Patienten
zu stellen, sein Verhalten und Erleben zu ändern – auch wenn diese Änderungen mit Anstren-
gung oder Verunsicherungen einhergehen. Gleichzeitig wird dem Patienten konkrete therapeu-
tische Unterstützung bei der Umsetzung der einerseits angestrebten, andererseits gefürchteten
Änderungen angeboten.
Dieses Vorgehen zielt darauf ab, die Kooperation und die Compliance des Patienten zu
erhöhen.
Therapieprogramme der klassischen Verhaltenstherapie oder der Dialektisch-Behavioralen
5 Therapie (DBT) nutzen diese Art von Beziehungsmanagement explizit und ereigniskontingent:
Zuwendung (positive Beziehungsgestaltung) wird dabei als positiver Verstärker für funktiona-
les (zielorientiertes) Verhalten, Reduktion von Zuwendung wird bei dysfunktionalem (therapie-
schädlichem) Verhalten eingesetzt. Dieses, – dem Patienten gegenüber transparente Beziehungs-
management – dient explizit dazu, die Änderungsmotivation der Patienten zu steuern, und zwar
nicht nur zu Beginn der Therapie, sondern auch im Verlauf der oft schwierigen Behandlung.

z Psychoedukation
Auch eine transparente und für den Patienten nachvollziehbare Psychoedukation trägt wesentlich
zur Änderungsmotivation bei. Therapeuten verfügen über das Wissen und die Expertise, mit der
sie die Erfolgswahrscheinlichkeit der geplanten Behandlung einschätzen, und sie kennen die im
Verlauf einer Therapie zu erwartenden Schwierigkeiten und Nebenwirkungen. Sie können ihre
Patienten über die realistischen Ziele einer Psychotherapie aufklären, sie können helfen, über die
Formulierung konkreter Zwischenziele positive Änderungserwartungen und damit eine realis-
tische Perspektive für den Behandlungsprozess herzustellen.

z Spaß
Eine weitere Möglichkeit für Motivationsaufbau ist ganz einfach Spaß. Freude, Genuss und
Humor werden in der Psychotherapie oft vernachlässigt und finden auffällig selten Anwendung,
obwohl gerade Spaß zu den stärksten Motivatoren im menschlichen Leben zählt. Spaß wird hof-
fentlich eine der maßgeblichen Variablen der neuen Psychotherapie, denn eine internetbasierte
Therapie, die keinen Spaß macht, wird sich nicht durchsetzen.
Das Beziehungsmanagement wird in der internetbasierten Therapie an Bedeutung verlieren,
wenn Patienten nicht mehr fürchten müssen, die Zuwendungen ihres Therapeuten zu verlieren.

z Soziale Verstärkung
In Gruppentherapien wird als weitere motivationale Komponente die unmittelbare soziale Ver-
stärkung durch die „peers“ der Gruppe eingesetzt. Viele Studien weisen darauf hin, dass die in
Gruppen wirksame soziale Verstärkung die Erfolgsquote von Psychotherapien stark erhöhen
kann. Dieser Effekt lässt sich mit Konstrukten wie soziale Erwartung, Bedürfnisse nach Bindung
und Zugehörigkeit oder Gruppenkohäsion erklären, die als starke motivationale Faktoren gelten.

z Innovative Konzepte – Gamification


Es gibt aber auch eine Reihe neuerer psychotherapeutischer Konzepte, deren innovatives Poten-
zial mit dem Begriff „Gamification“ beschrieben werden kann. Mit „Gamification“ ist ein Zugang
zu Änderungsprozessen gemeint, der den hoch elaborierten motivationalen Konzept von Com-
puter- und Online-Spielen entlehnt ist, indem Wettbewerb, Herausforderung, Freude, und Spaß
5.2 · Werte in der Psychotherapie
51 5
am Spiel dazu motivieren, sich Herausforderungen und Problemlöseprozessen zuzuwenden.
Psychotherapie, und damit auch Veränderungen „liebgewonnener“ Gewohnheiten, kann durch
dieses Konzept attraktiver gemacht werden. Es bleibt abzuwarten, inwieweit Elemente der Gami-
fication Eingang in traditionelle Behandlungskonzepte finden können.

5.2 Werte in der Psychotherapie

R. Sachse et al. (2012) prägten den Begriff der „Alienation“. Damit ist die bei vielen Patienten
mit psychischen Störungen zu findende Entfremdung gegenüber den eigenen Werten gemeint.
Es ist diese Entfremdung von den eigenen Werten, die dafür verantwortlich gemacht wird, dass
Patienten zu Beginn ihrer Psychotherapie tatsächlich nicht gut bestimmen können, was genau
sie eigentlich von der Psychotherapie erwarten oder befürchten. Besonders bei schwer gestörten
Patienten tritt Alienation relativ häufig auf.
Somit erhalten Werte und Ziele für die Psychotherapie besondere Bedeutung. Das gilt auch
für modular aufgebaute Behandlungskonzepte, deren Vorgehen sich ja zunächst primär aus den
mit ihnen zu behandelnden Diagnosen oder Störungsbildern abzuleiten scheint. Auch in Psycho-
therapien, die sich an strukturierte Manuale anlehnen, empfiehlt es sich, zunächst die persönli-
chen Werte des Patienten zu definieren. So kann man konkrete Ziele ableiten und erarbeiten, wie
diese Ziele erreicht werden können. Jede Psychotherapie sollte versuchen, Veränderungsprozesse
an persönliche Werte zu koppeln.

5.2.1 Die Definition von Werten

Man sollte die Bedeutung von Werten für psychische Gesundheit nicht diskutieren, ohne die
Arbeiten von Viktor Frankl, dem Begründer der Existenzialanalyse, zu erwähnen, der als Begrün-
der der „dritten Wiener Schule“ sowohl das Gewahrwerden als auch die Realisierung von Werten
als zentrale Parameter für psychische Gesundheit ins Spiel brachte (Frankl 1984). Werte sind abs-
trakte, situationsübergreifende Grundüberzeugungen, die sich im Laufe des Lebens in Interaktion
mit dem sozialen und kulturellen Umfeld entwickeln. Aus individualpsychologischer Sicht sind
Werte bewusstseinsnahe Überzeugungen oder Grundhaltungen, die als „Muster“ oder „Matri-
zen“ unser Handeln und Erleben prägen und gestalten können.
Werte bedienen vier primäre Domänen:
55 Identitätssicherung,
55 Handlungsorientierung,
55 Motivation und
55 Sinnstiftung.

Identitätssicherung
Moderne psychologische Konzepte sehen Identität als ein relativ inhomogenes Konstrukt, welches
sich aus mindestens vier Domänen konstituiert:
55 personale Identität,
55 relationale Identität,
55 soziale Identität und
55 kulturelle Identität (Robin et al. 1999).
52 Kapitel 5 · Zur Bedeutung von Werten und Zielen als motivationale Komponenten in der Psychotherapie

Das Zusammenwirken dieser Domänen kreiert beim Individuum die Wahrnehmung von Konsis-
tenz, Kohärenz und sozialer Zugehörigkeit und steuert so die Interaktion zwischen Individuum
und sozialer Mikro- bzw. Makro-Umgebung.
Werte spielen bei diesen Steuerungsprozessen eine zentrale Rolle. Aus evolutionspsychologi-
scher Sicht können Werte als internalisierte ethische, motivationale und kulturelle Grundüber-
zeugungen von Klein- und Großgruppen verstanden werden. Die Kollektive erzielen damit mit
Hilfe moralischer Automatismen ein gewisses Maß an Homogenität, Sicherheit und Handlungs-
kompetenz. Das Individuum erlebt diese Werte meist unreflektiert als Bestandteil seiner (per-
sonalen, relationalen, sozialen und kulturellen) Identität. Die Umsetzung von Werten erzeugt
daher Kohärenz, Konsistenz, Sicherheit und insbesondere soziale Zugehörigkeit.
5 Im Gegenzug kann man natürlich auch "Wertekrisen“ ausmachen: Das sind Situationen, in welchen
die individuellen oder kollektiven Werte plötzlich in Frage gestellt werden. Migration, Kriegseinsätze,
technische oder soziale Umwälzungen gehen häufig mit plötzlichen Einbrüchen des Wertesystems
einher, die sich individuell als Störungen der Identität manifestieren und die damit sicherlich als Risi-
kovariablen für psychische Störungen verstanden werden müssen (s. auch Bohus und Missmahl 2016).

Handlungsorientierung
Menschen wählen eher Handlungen aus, die ihrem Wertesystem entsprechen, und sie meiden
Personen und Handlungen, die ihrem Wertesystem nicht entsprechen. Dieser Aspekt ist bei der
Betrachtung von Verhaltensanalysen oder kognitiven Prozessen nicht unerheblich. Die Akti-
vierung von Handlungen, Emotionen und Kognitionen ist immer auch motivational gesteuert.
Motive und Ziele wiederum hängen von überdauernden Werten ab. Man kann Werte als
relativ stabile Matrizen betrachten, die allerdings gewissen Veränderungsprozessen im Laufe des
Lebens unterworfen sind. Bei einem 17-jährigen Teenager ist der Wert „Familie und Fürsorge“
wahrscheinlich weniger ausgeprägt. Hingegen wäre dieser Wert bei einer 28-jährigen Mutter
eher im Vordergrund ihres motivationalen Systems. Für einen 75-Jährigen sind wahrscheinlich
andere Werte wie Gesundheit oder Vertrautheit und Regelmäßigkeit relevant.
Es gibt demgemäß Veränderungsprozesse, in denen sich Wertesysteme mit der Zeit verschie-
ben, sodass Psychotherapie immer auch in gewisser Weise „Therapy of the Lifespan“ bedeutet.
Beispielsweise stellen Paare bei der Veränderung von beruflichen oder familiären Situationen
fest, dass sich ihre Wertesysteme nicht mehr decken oder dass sie bemerken, dass relevante Wer-
tesysteme primär durch die Kindererziehung abgedeckt waren und sich die neuen Systeme nun
nicht mehr dazu eignen, die bisherigen Werte zu erfüllen.
Die meisten Psychotherapien erstrecken sich allerdings maximal über 1 bis 2 Jahre – in dieser
Zeitspanne kann man weitgehend davon ausgehen, dass das Wertesystem stabil bleibt, wenn der
Klient sich nicht in einer Umbruchphase befindet. Individuelle Werte von Patienten stellen somit
die vermutlich stabilste Plattform dar, mit der Psychotherapeuten arbeiten.
Andererseits, wie bereits ausgeführt, können soziale Veränderungen immer auch zu Insta-
bilität des Wertesystems führen, damit zu ausgeprägten Identitätsstörungen mit allen intrapsy-
chischen Auswirkungen. Die an Werte gebundene Handlungsorientierung von Patienten zeigt
sich z. B. in der Gestaltung ihrer persönlichen Beziehungen.
Die einfachste Art, die persönlichen Werte eines Patienten herauszuarbeiten, besteht darin,
gemeinsam zu überlegen, was die zwei bis drei besten Freunde des Patienten charakterisiert. In
aller Regel sucht sich ein Mensch seine Freunde gezielt aus. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass
jemand Freunde wählt, die nicht mit seinem Wertesystem übereinstimmen. Freunde können
durchaus unterschiedliche Persönlichkeitszüge haben, ihre Wertesysteme müssten jedoch passen.
5.2 · Werte in der Psychotherapie
53 5
Haben Patienten große Schwierigkeiten, sich ihrer eigenen Werte bewusst zu werden, kann es
also hilfreich sein, sich die zwei bis drei besten Freunde beschreiben zu lassen oder den Werte-
Fragebogen (s. unten) für einen Freund ausfüllen zu lassen. Auf diese Weise erhalten Patienten
manchmal leichteren Zugang zu den Werten, die für sie selbst wichtig sind.

Motivation
Entsprechend den eigenen Werten zu handeln ist belohnend, setzt Energie und Kreativität frei und
stärkt die Änderungsmotivation. Wie diese motivationalen Prozesse entstehen, wodurch Energie
oder Kreativität entfacht werden, welche Rolle Belohnungssysteme in diesem Prozess spielen, ist
bislang kaum erforscht. Rein phänomenologisch betrachtet scheinen sich jedoch Handlungen,
die einer Person wichtig sind, nachhaltig mit Energie zu speisen.
Zur Erläuterung dieses Aspekts kann man Patienten folgendes Bild anbieten: Stellen Sie sich vor, es
ist 1 Uhr nachts und Sie liegen im Bett, haben hart gearbeitet, und der Schlaf ist wohl verdient. Schon
fast eingeschlafen hören Sie, dass Ihre 17-jährige Tochter nach Hause kommt und sich schluchzend auf
die Treppe setzt. Natürlich könnten Sie sich sagen: „Ich habe hart gearbeitet und schlafe jetzt weiter.“
Stattdessen stehen Sie natürlich auf und fragen die Tochter, was sie bedrückt. Die Tochter erklärt, dass
ihr Freund mit ihr Schluss gemacht habe. Wieder könnten Sie sagen: „Ich bin müde, ich gehe wieder
ins Bett und löse das Problem morgen.“ Auch das werden Sie kaum denken, wenn es Ihnen wichtig
ist, eine gute Mutter oder ein guter Vater zu sein, wenn Ihnen also der Wert „Familie“ bedeutsam ist.
In diesem Fall werden Sie ganz automatisch auf ihre Tochter eingehen, mit ihr reden und sie trösten.
Der entscheidende Punkt ist, dass Sie plötzlich nicht mehr müde sein werden, obwohl Sie
noch vor wenigen Minuten am Einschlafen waren. Handlungen, die implizit stark im eigenen
Wertesystem verankert sind, liefern Energie. Wertekohärente Handlungen sind deutlich stärker
mit Energie besetzt und können wesentlich länger aufrechterhalten werden als von Werten unab-
hängige Tätigkeiten.

Sinnstiftung
Dem Leben einen Sinn zu geben ist eine der zentralen Aufgaben, an der Menschen während ihres
gesamten Lebens arbeiten. Mittels welcher Mechanismen das Gehirn Sinnhaftigkeit kreiert, ist
deshalb auch eine der zentralen Fragen der Psychologie. Wir leben heute – zumindest in großen
Teilen, und trotz immer wieder aufflammender gegenläufiger Tendenzen – in einer zunehmend
säkularisierten Gesellschaft, in der die normative Kraft von Ideologien in den Hintergrund getre-
ten ist. Religionen und gesellschaftliche Dogmen dominieren nicht mehr in dem Maße wie früher,
was gedacht werden darf, sondern es ist mehr und mehr in die persönliche Entscheidung eines
jeden Einzelnen gelegt, welche moralischen Urteile man heranzieht, und wie man etwas bewer-
tet. Die Entscheidung ist also zurückgebunden in die Eigenheit jedes einzelnen Individuums.
Wenn sich in säkularisierten Kulturen Religionen und Ideologien der Sinnstiftung entzie-
hen, kann dies dazu führen (und führt wohl auch dazu), dass wir Psychotherapeuten zunehmend
mit diesen als existenziell erlebten Fragen konfrontiert werden. Besonders deutlich wird dies in
der Arbeit mit älteren Menschen. Die Psychotherapie, die sich mit älteren Menschen beschäf-
tigt, muss sich mit der Frage nach der Sinnhaftigkeit dessen befassen, was der Mensch in seinem
Leben getan oder gelebt hat. Erfolgreiches Altern gelingt besser, wenn man über kognitive Auto-
matismen verfügt, die sich auf jene Werte fokussieren, die jeweils sinnstiftend für ein Individuum
waren oder noch sind. Besonders im Angesicht des eigenen gelebten Lebens wird dann deutlich,
dass man durch die Umsetzung der eigenen Werte Sinn kreieren kann.
54 Kapitel 5 · Zur Bedeutung von Werten und Zielen als motivationale Komponenten in der Psychotherapie

Es bleibt ein kontroverses Thema, ob Psychotherapeuten jenseits ihres Fokus auf Psycho-
pathologien ihre Aufgabe auch darin haben, Menschen zu helfen, einen sinnerfüllten Weg zu
finden. Sicher scheint jedoch, dass ein sinnerfülltes Leben durchaus positiv mit Lebenszufrieden-
heit korreliert und damit in vielfältiger Weise mit Resilienzprozessen und Prophylaxe gegenüber
psychischen Störungen assoziiert ist.

5.3 Ordnen und Erfassen von Werten

Die Arbeitsgruppe um Shalom H. Schwartz hat ein valides und reliables Messinstrument geschaf-
5 fen, dem eine große Zahl von Datensätzen zu persönlichen Werten von Menschen aus 54 Ländern
zugrunde liegt (Schwartz et al. 2012, adaptiert durch Beierlein 2014). In diesem System werden
19 Werte definiert, die sich in vier Wertekategorien höherer Ordnung gliedern lassen:
55 Offenheit für neue Erfahrungen (Unabhängigkeit; Freiheit im Denken, Kreativität;
Anregung, Abwechslung; Genuss);
55 Selbsterhöhung (Leistung und Erfolg, Macht und Einfluss, Wohlstand, soziales Ansehen);
55 Tradition (Regeltreue, Anpassungsbereitschaft, Sicherheit, Gesundheit);
55 Universalismus (Bescheidenheit, Fürsorglichkeit, Zuverlässigkeit, Toleranz, Gerechtigkeit,
Umweltbewusstsein).

Schwartz et al. (2012) ordneten diese Werte in Form eines Zirkels an, basierend auf den jeweili-
gen Ähnlichkeiten und Zusammenhängen (. Abb. 5.1). Auf diesem Zirkel stehen ähnliche Werte

„Freiheit im Denken“/
Kreativität
Umweltschutz 6 Unabhängigkeit/Selbstbestimmung

Gerechtigkeit und 5
Anregung/Abwechslung
Chancengleichheit
4

Toleranz 3 Genuss

Zuverlässigkeit 1 Leistung und Erfolg

Fürsorglichkeit Macht und Einfluss

Bescheidenheit Wohlstand

Regeltreue Soziales Ansehen

Anpassungsbereitschaft Sicherheit/Gesundheit Wichtigkeit


Tradition Umsetzung heute

. Abb. 5.1 Spinnennetz der Werte. (Nach Schwartz et al. 2012; modifiziert nach Bohus et al. 2013)
5.4 · Zur Bedeutung von Werten in der Psychotherapie
55 5
nebeneinander, während widersprüchliche Werte sich gegenüberstehen. Auf diesem Zirkel lassen
sich auch die individualisierten Werte von den sozial orientierten Werten gut trennen.
Die personale Ausprägung dieses Schwartz’schen Wertesystems bzw. deren relative Bedeu-
tung kann mit Hilfe eines gut etablierten Fragebogens erfasst werden: deutsche Übersetzung des
Priority Values Questionnaire (PVQ-RR; Schwartz et al. 2012, modifiziert durch Beierlein et al.
2014). Der PVQ-RR erfasst mittels 57 Items die oben genannten 19 Subskalen und 4 Werteka-
tegorien. Bei guter externer und diskriminanter Validität beschreibt jedes Item das Verhalten
bzw. die Einstellung einer fiktiven Person („Wohlstand ist für ihn sehr wichtig“). Die Probanden
bewerten auf einer 6-stufigen Likert-Skala deren Ähnlichkeit mit dieser fiktiven Person.
Neben der relativen Bedeutung der persönlichen Werte („Wie wichtig ist Ihnen Macht und
Einfluss?“), kann mit Hilfe einer Modifikation dieses Fragebogens auch deren Umsetzung erfasst
werden: („Wie ausgeprägt schätzen Sie derzeit Ihre Macht und Ihren Einfluss ein?“) (Bohus
et al. 2013). Skaliert man, wie in . Abb. 5.1 ersichtlich, diese beiden Bewertungen der Bedeutung
und Umsetzung seiner Werte nebeneinander, so zeigen sich auf den ersten Blick, welche Werte
derzeit entsprechend ihrer individuellen Bedeutung bzw. zu viel oder zu wenig umgesetzt werden.
Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Der Patient, auf dessen Analysen . Abb. 5.1
beruht, kommt mit einem durchgehenden Syndrom von Antriebsverlust, Desinteresse und Nie-
dergeschlagenheit zur Sprechstunde. Er kann nicht genau angeben, woran dies liegen mag. Die
Partnerschaft ist in Ordnung, die Arbeit „irgendwie auch“. Zieht man das Werteprofil heran, so
fällt auf, dass diesem Patienten Werte wie Kreativität, Unabhängigkeit und Abwechslung sehr
wichtig sind. Hinzu kommen Leistung und Erfolg, Macht und Einfluss sowie Wohlstand. Weniger
wichtig erscheinen ihm Bescheidenheit, Regeltreue, Anpassungsbereitschaft und Konformität.
Wie in . Abb. 5.1 ersichtlich sind einige wesentliche Werte in seinem gegenwärtigen Leben
unterrepräsentiert: Kreativität und Abwechslung leiden offensichtlich zu Gunsten von Prozessen,
die Routine und Regeltreue erfordern. Dieses Ungleichgewicht ergab sich durch eine berufliche
Veränderung vor wenigen Jahren: Er hatte zunächst in einem kleinen Start-Up-Unternehmen
zusammen mit einigen Freunden Software entwickelt. Diese Entwicklung erforderte viel Kreativi-
tät und gewährte doch zeitliche Flexibilität und Unabhängigkeit. Auf Grund seiner guten Erfolge
wurde das kleine Unternehmen von einer größeren Firma aufgekauft, und er erhielt dort einen
festen Job als Leiter einer Entwicklungsabteilung. Diese Aufgabe erforderte nun jedoch relativ
viele repräsentative Tätigkeiten und entfernte ihn deutlich von seinen eigentlichen Interessen.
Da er sehr gut bezahlt wird, und auch über Entscheidungskompetenzen verfügt, zwei Werte,
die ihm ebenfalls wichtig sind, wird diese diskrepante Problematik nicht sofort ersichtlich. Die
Folge sind jedoch Einbrüche der Motivation und des Sinnerlebens, welche er sich auf den ersten
Blick nicht erklären kann.
Mit Hilfe des Werteprofils lässt sich diese Diskrepanz aufdecken. Ein guter Therapeut könnte
nun darüber nachdenken, den Patienten zu ermuntern, sich neue Tätigkeitsfelder zu erschließen,
um sein Bedürfnis nach Kreativität und Abwechslung zu befriedigen.

5.4 Zur Bedeutung von Werten in der Psychotherapie

Wir können also davon ausgehen, dass jeder Mensch über ein persönliches Wertesystem verfügt,
das eine wesentliche Komponente seiner personalen und sozialen Identität darstellt. Störungen
dieses Systems, also etwa Wertekonflikte, oder die Irritation der sozialen Akzeptanz seiner Werte,
die Unmöglichkeit, wichtige Werte umzusetzen, oder der Zwang, gegen seine Werte zu handeln,
führen zu Irritationen, die die Identität des Betroffenen und deren Subkomponenten, also etwa
56 Kapitel 5 · Zur Bedeutung von Werten und Zielen als motivationale Komponenten in der Psychotherapie

das Selbstwertgefühl destabilisieren. Da Störungen des Wertesystems sich meist nicht auf der
Ebene kategorialer Emotionen abbilden, ist es für die Betroffenen oft schwierig, diese Probleme
überhaupt zu erkennen. Denjenigen Therapeuten, die mit der grundlegenden Bedeutung von
Werten vertraut sind und wissen, wie damit zu arbeiten ist, erwächst aus diesem Wissen nicht
unbedeutende Behandlungskompetenz.
Zunächst sollte man sich als Therapeut jedoch vergegenwärtigen, dass Werte eine relativ lange
Halbwertszeit aufweisen. Soll heißen, sie ändern sich nur langsam, sie sorgen also – im Gegensatz
zu rasch sich ändernden Emotionen oder Stimmungen – für psychische Stabilität. Andererseits
sind auch individuelle Werte Friktionen ausgesetzt und allfälligen Veränderungen unterworfen
– immer dann, wenn sich die Werte der kulturellen Umgebung ändern – oder das Individuum
5 sich in eine neue Lebensphase begibt.
Typische Beispiele für kulturbedingte Werteänderungen wären etwa rasche soziotechnologi-
sche Veränderungen oder Migration. Die Konfrontation mit fremden Kulturen und Wertesyste-
men ist nicht nur für Migranten eine oft extreme psychische Beanspruchung, sondern auch für
deren Gastgeber, die sich bislang der Relativität ihrer Wertesysteme nicht bewusst waren. Typi-
sche Phasen, in welchen Veränderungen der Lebensspanne Adaptationen des Wertesystems ver-
langen, sind etwa Schulabschlüsse, Elternwerden, Berentung, aber auch plötzlich einschneidende
Ereignisse wie schwere Erkrankungen oder Verluste naher Angehöriger.
Die persönlichen Werte eines Patienten zu würdigen, auch wenn sie zueinander wider-
sprüchlich oder nicht konsistent mit allgemeinen kulturell anerkannten Werten erschei-
nen oder nicht mit den Werten des Psychotherapeuten in Einklang stehen, ist wesentliche
Grundlage und eine Methode zugleich, um eine gegenseitige Verständigung und Beziehung
in der Psychotherapie zu gestalten. Mit der Würdigung der persönlichen Werte des Patien-
ten können gemeinsam Möglichkeiten für realistische Zielsetzungen und deren Umsetzung
gefunden werden, z. B. indem – ausgehend von den Werten des Patienten – einfache Prio-
ritäten oder Hierarchien von Bedürfnissen erstellt werden. So kann man Verständnis dafür
ausdrücken, dass ein Patient aufgrund unterschiedlicher Werte Probleme hat, allem und allen
gerecht zu werden. Das Wertesystem an sich sollte nicht in Frage gestellt werden, sondern
so wertgeschätzt werden, wie es ist.
Das oben abgebildete Modell der Wertespinne kann dabei helfen, individuelle Wertesys-
teme besser zu verstehen und angemessen zu verbalisieren. Sie macht Werte in der Psychothe-
rapie anschaulich und griffig. Patienten stufen ihre Werte selbst ein und skizzieren so ihre per-
sönliche Wertespinne.

5.5 Motivation in der Psychotherapie

Die vorgestellten theoretischen Konzepte sollen im Folgenden durch Anwendungsbeispiele und


konkrete psychotherapeutische Techniken verdeutlicht werden. In der Psychotherapieausbildung
wird oft vermittelt, therapeutische Prozesse seien bewusst geplant und vom Therapeuten indu-
ziert. Patienten, denen es sehr schlecht geht, haben zu Beginn der Therapie oft große Schwierig-
keiten, ihre eigenen Werte und Ziele zu definieren. Ihr wichtigstes Ansinnen ist, dass es ihnen
„besser geht“, dass Probleme sich lösen, dass sich Umstände verändern, oder dass sie mehr Selbst-
bewusstsein erwirken.
Dennoch erscheint es uns häufig sinnvoll, auch in solchen Fällen zunächst die persönlichen
Werte dieser Patienten zu verstehen (Was ist Ihnen im Leben wirklich wichtig?) und vor diesem
Hintergrund zunächst probatorische Behandlungsziele zu formulieren. Wenn diese (was die
5.5 · Motivation in der Psychotherapie
57 5
Regel ist) zunächst auch vage bleiben müssen, so können sie doch im Laufe der Therapie immer
wieder angesprochen, spezifiziert und konkretisiert werden. Damit entsteht in der Psychothe-
rapie ein spiralförmiger Annäherungsprozess der beständigen Selbstreflexion, Korrektur und
Neuentscheidungen.
Als Beispiel für einen solchen wertorientierten, indikativen psychotherapeutischen
Ansatz sei die Behandlungsform DBT-PTSD (Bohus 2011) dargestellt, die am Zentralins-
titut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim konzipiert wurde. DBT-PTSD wurde ent-
wickelt für Borderline-Patienten, die schwerwiegenden sexuellen Missbrauch meist noch
vor dem Alter von 12 Jahren erlitten haben. Das Behandlungsprogramm richtet sich also
an Patienten mit chronifizierten Störungen, bei denen multiple massive Problembereiche
wie Suizidalität, Selbstverletzung, Flashbacks, Intrusionen, Dissoziationen und Drogen und
Selbsthass relevant sind.
Bei der DBT-PTSD handelt es sich um ein multimodales Konzept, das aus verschiedenen
Behandlungsmodulen besteht. Neben Diagnostik, Edukation und spezifischen traumabezoge-
nen Interventionen beinhaltet es explizite Übungen zum Motivationsaufbau. Der erste Schritt
ist hier die Klärung der Werte in leicht verständlicher Form.
Die einfachste Frage, um sich dieser Thematik anzunähern, lautet schlicht: „Was ist Ihnen im
Leben wirklich wichtig“. Und wenn es dem Patienten schwerfällt, diese Frage zu beantworten,
weil etwa die gegenwärtige Selbstwahrnehmung beeinträchtigt ist von fundamentaleren Prob-
lemen wie Gesundheit, soziale Absicherung oder soziale Zugehörigkeit, so lässt sich eine zweite
Frage formulieren: „Wenn Sie an Ihre drei besten Freunde denken, was zeichnet diese aus, was
ist diesen Freunden im Leben wirklich wichtig.“ In aller Regel fällt es einfacher, seine Freunde
zu beschreiben. Und häufig teilen Freunde die wichtigsten Werte – auch wenn sie sich hinsicht-
lich ihrer Persönlichkeitscharakteristika oft erheblich unterscheiden.
Ein anderes Beispiel aus dem Manual zur DBT-PTSD (Bohus et al., im Druck) ist eine leicht
abgewandelte Form der „Grabsteinübung“, die aus der Akzeptanz- und Commitment-Therapie
(ACT) von Steven Hayes (Hayes et al. 1999) übernommen ist. Seine Arbeitsgruppe ist Vorreiter
in der Arbeit mit Werten und Werteklärung.
Zu Beginn der Übung stellen sich die Patienten vor, was auf ihrem Grabstein eines Tages
geschrieben sein sollte. Fällt ihnen nichts dazu ein, kann man im Sinne eines „advocatus diaboli“
fragen, ob darauf vielleicht stehen sollte, dass die Person ihr Leben lang mit Selbstverletzungen
zu kämpfen hatte. Das werden Patienten in der Regel verneinen und erneut überlegen. Viel-
leicht fallen ihnen dann auch wohlwollendere Aspekte ihres Lebenskonzepts ein – so könnte auf
dem Grabstein stehen, dass man hilfsbereit war und dass man sich viel um Kinder kümmerte.
Wenn sich so ein Satz für den Patienten stimmig anfühlt, könnte dies als Ausdruck eines zent-
ralen Wertes zu werten sein, der jetzt konkreter formuliert werden kann. Die Übung kann wei-
tergeführt werden, indem für die Rückseite des Steins eine Aussage formuliert wird, die nur für
die Person selbst bestimmt ist, sodass auch weniger sozial erwünschte Aspekte als „persönliches
Geheimnis“ formulierbar werden. Bei dieser „spielerischen“ Art der Wertbestimmung sollten
also sowohl die sozial erwünschten als auch die sozial verborgenen Seiten der betroffenen Person
gewürdigt werden.
Basierend auf diesen Werteanalysen werden Patienten angeregt, „Lebensmottos“ zu formu-
lieren, wie etwa:
55 Mir ist es wichtig, anderen zu helfen.
55 Mir ist es wichtig, eine Familie zu gründen.
55 Mir ist es wichtig, für Gerechtigkeit zu kämpfen.
55 Mir ist es wichtig, die Kultur meiner Heimat zu pflegen.
58 Kapitel 5 · Zur Bedeutung von Werten und Zielen als motivationale Komponenten in der Psychotherapie

Auf der Grundlage dieser Lebensmottos werden anschließend konkrete Therapieziele formuliert.
Diese Änderungsziele sollten konkret, positiv, messbar und machbar sein. Die persönliche Valenz
erhalten sie durch ihre Orientierung an den persönlichen Werten oder Wertesystemen des Patien-
ten. Vielleicht möchte eine Patientin kreativ sein, Leistung erbringen oder Lehrerin werden. Dann
wäre ein Ziel, einen Englisch-Abschluss zu erwerben, um dann die Aufnahmeprüfung für ein
Studium machen zu können. Dabei ist essenziell, dass das Ziel außerhalb der Psychopathologie
der Patientin liegt, denn die Reduktion auf die Psychopathologie an sich ist kein guter Motiva-
tor. Gerade wenn Patienten sich von gegenwärtigen Problemen wie überwältigt erleben, schaf-
fen diese konkreten Utopien jedoch etwas Hoffnung und aktivieren motivationale Perspektiven.
Wann immer man einen schwierigen Veränderungsprozess initiiert, gilt es, an höher gewer-
5 tete Werte, Lebensmottos oder auch an konkrete Ziele anzuknüpfen: „Sie haben doch den Plan,
Lehrerin zu werden und sich endlich für den Englischkurs anzumelden? Nun, Ihre soziale Angst
scheint Sie daran zu hindern. Wie wäre es, wenn wir dieses Problem nun konkret angehen, um
damit einen kleinen Schritt weiter zu kommen, auf dem Weg zur Englischlehrerin?“
Es ist wichtig, Werte früh herauszuarbeiten, sodass sie für die Mikro- und Makro-Thera-
piemotivation verwendbar sind. Auch spezifische Trauma-Therapie sollte also möglichst nicht
begonnen werden, bevor persönlich relevante, pathologieferne Werte und Ziele erarbeitet worden
sind. Auch während des weiteren Behandlungsverlaufs ist es hilfreich, sich immer wieder zu ver-
gegenwärtigen, welche persönlich relevanten Werte und Ziele Ihre Patienten haben, um sie in
kritischen Situationen daran erinnern zu können.

5.6 Präventionsprogramm „Lebe Balance“

Die Idee, das psychotherapeutische Konzept der Werteumsetzung einer breiteren Öffentlichkeit
zugänglich und damit alltagstauglich zu machen, entstand durch eine Anfrage der AOK Baden-
Württemberg. Diese wünschte eine niederschwellig wirksame Initiative zur Prävention von psy-
chischen Störungen, woraufhin wir das Präventionsprogramm „Lebe Balance“ entwickelten. Es
sollte wissenschaftlich fundiert, innovativ und vor allem einfach zu vermitteln sein. Die beson-
dere Herausforderung war, ein Therapieprogramm zu entwickeln, das Personen motivieren kann,
ohne therapeutische Unterstützung an Änderungen ihres Verhaltens und Erlebens zu arbeiten.
Dazu musste das Programm Spaß machen und verständlich sein. Die Konzeption des Programms
orientiert sich hauptsächlich am achtsamkeitsbasierten Vorgehen von DBT und ACT.
Lebenszufriedenheit gilt als ein wichtiger Resilienzfaktor. Und Lebenszufriedenheit wird zu
etwa 50% von Selbsteinschätzung, Selbstwert, Selbstwirksamkeit und dem Erleben von Kont-
rolle erklärt. Weitere 25% werden durch selbstkonkordante, also wertebasierte Ziele bestimmt.
Die Zielerreichung an sich ist dabei nicht entscheidend. Es geht also nicht primär darum,
etwas erreicht zu haben und dann zufrieden zu sein. Vielmehr ist Lebenszufriedenheit prozess-
oral organisiert: Es geht darum, an Aufgaben zu arbeiten, die einem wichtig sind und zu deren
Bewältigung man sich in der Lage fühlt, also um die Balance von Erwartung und Anforderungs-
profil. Darüber nachzudenken, ob die eigenen Ziele selbstkonkordant sind, ist im Kontext eines
Präventionsprogrammes durchaus realisierbar. Daher konzentrierte sich unser Programm haupt-
sächlich auf „Werte“. Das entsprechende Modul heißt „Wissen, was wirklich zählt“ und ist bewusst
spielerisch aufgebaut, um Werte, Lebensmottos, Ziele und Handlungen möglichst konkret und
alltagsnah umsetzen zu können.
Bisher wurden Ergebnisse von „Lebe Balance“ bei mehr als 5.000 Kursteilnehmern evaluiert.
Als wichtigste und wirksamste Kursinhalte des Programms, das insgesamt sehr gut angenommen
Literatur
59 5
wurde, konnten Achtsamkeit, Selbstfürsorge und die Arbeit mit Werten identifiziert werden
(Lyssenko et al. 2016). Die Effektstärke der Gesamtstichprobe liegt bei .35, was in der Psycho-
therapie von psychisch kranken Menschen kein starker Effekt ist. Effektstärken einer gesunden
Population sind jedoch anders zu interpretieren als diejenige einer klinischen Population, da die
bei Gesunden erreichbaren Änderungsgrößen naturgemäß weniger Umfang haben. Die ermit-
telte Effektstärke weist deshalb darauf hin, dass das Programm in großer Breite wirksam ist und
signifikante Veränderung erreicht.
In einem speziell für Personen in Leitungspositionen entwickelten Training werden Werte
bearbeitet, die im Kontext von Führungsaufgaben relevant sein können. Dabei werden zum
einen sozial orientierte Werte wie Ehrlichkeit, Loyalität, Kollegialität, Fairness und Unterstüt-
zung fokussiert, zum anderen Ego-zentristische Werte wie Durchsetzungskraft und Zielpriori-
sierung. Teilnehmer schätzen ein, welche Werte sie persönlich für bedeutsam halten. Dazu geht
es um Einschätzungen wie „Erfolg an sich ist kein moralischer Wert“ oder „Es kommt nicht nur
darauf an, was man erreicht, sondern wie man es erreicht!“

5.7 Fazit

Dieses Kapitel erläutert die zunehmende Bedeutung von Werten, die die Handlungsorientierung,
den Aufbau von Motivation und Sinnstiftung betreffen, als psychotherapeutischem Fokus und
Änderungsansatz. Dazu werden konkrete Interventionen in der psychotherapeutischen Arbeit
mit Werten vorgestellt. Forschungsergebnisse liefern wichtige Hinweise für die Bedeutsamkeit
von individuellen Wertenprofilen für die Planung und Durchführung von Psychotherapien bei
schwer gestörten Patienten, aber auch für Präventivprogramme wie „Lebe Balance“, mit denen
breitere Bevölkerungsschichten erreicht werden können. Gemeinsam ist diesen Ansätzen das
Bestreben, Gesundheit durch die besondere Würdigung der persönlichen Werte zu stärken –
unabhängig davon, wie sehr oder wodurch Patienten in ihrer psychischen Funktion gestört sein
mögen.

Literatur

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60 Kapitel 5 · Zur Bedeutung von Werten und Zielen als motivationale Komponenten in der Psychotherapie

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61 6

Würde aus der Perspektive


der Gerontologie
Andreas Kruse

6.1 Altersbild und Menschenbild – 62

6.2 Allgemeine Menschenwürde und spezifische Würde


des Menschen – 65

6.3 Würde im Kontext von Grundbefähigungen und


­Verwirklichungschancen – 67

6.4 Würde aus der Perspektive alter Menschen mit


­Pflegebedarf und ihrer Angehörigen – 70

6.5 Würde am Ende des Lebens – 71

6.6 Verwirklichung von Würde in der Mitverantwortung


(Sorge) für andere Menschen – 72

6.7 Fazit – 75

Literatur – 76

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


H. Bents, A. Kämmerer (Hrsg.), Psychotherapie und Würde, Psychotherapie: Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54310-8_6
62 Kapitel 6 · Würde aus der Perspektive der Gerontologie

6.1 Altersbild und Menschenbild

In Beiträgen zur psychischen Entwicklung im hohen Alter wird betont, dass die zunehmende
Erfahrung von Endlichkeit und Endgültigkeit zu einer qualitativ neuen Selbst- und Weltsicht
beitragen kann, die mit Begriffen wie Generativität und Integrität umschrieben wird: Zu nennen
sind hier vor allem die theoretischen Beiträge von Erik H. Erikson (1966) sowie von Dan P.
McAdams (2009).
Der Begriff der Generativität bezieht sich auf das Bedürfnis, einen über die Begrenzt-
heit des eigenen Lebens hinausgehenden Beitrag zu leisten, wobei generatives Verhalten im
familiären wie auch im gesellschaftlichen Kontext verwirklicht werden kann. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass Generativität im Kern ein interpersonales, die Passung zwischen Person
und sozialem Umfeld oder zwischen Person und Gesellschaft bezeichnendes Konzept dar-
stellt. Generatives Verhalten resultiert also nicht alleine aus dem Bedürfnis nach symbolischer
6 Immortalität (Arendt 1960), sondern setzt auch Vertrauen in die Natur des Menschen und die
jeweilige Gesellschaft voraus, das ein Engagement für andere Menschen als zumindest sinn-
voll erscheinen lässt.
Der Begriff der Integrität bezieht sich explizit auf die Fähigkeit, gelebtes wie ungelebtes Leben
zu akzeptieren, die eigene Entwicklung als stimmig, das eigene Leben als sinnvoll zu erleben. Die
Entwicklung von Integrität wird dadurch gefördert, dass sich die Person von Nebensächlichkei-
ten löst oder diese zu transzendieren in der Lage ist. Ähnlich wie die Entwicklung von Genera-
tivität verweist auch die Entwicklung von Integrität auf die in einer gegebenen Gesellschaft ver-
fügbaren Möglichkeiten, eigenes Handeln an Sinnentwürfen zu orientieren und als sinnvoll zu
erfahren (Kruse 2012).
Im hohen Alter stellt sich dem Menschen vermehrt die psychologisch anspruchsvolle Aufgabe,
sich innerlich und äußerlich von nahestehenden Menschen zu lösen und einzelne Ziele, Interes-
sen und Aktivitäten aufzugeben. Eine tragfähige Lebensperspektive kann nur aufrechterhalten,
gegebenenfalls auch wiederhergestellt werden, wenn es gelingt, trotz einer nicht mehr zu leug-
nenden Zunahme von Verlusten und eigener Verletzlichkeit das eigene Leben im Sinne einer im
Werden begriffenen Totalität wahrzunehmen (Rentsch 2013; Rosenmayr 2013). Dies kann viel-
leicht auch gerade wegen der Erfahrung von Endlichkeit, Vergänglichkeit und Endgültigkeit als
wertvoll erkannt werden.
Eine tragfähige Lebensperspektive kommt in einer Bindung an das Leben (Lawton et al. 1999)
zum Ausdruck, die sich als positive Lebensbewertung, als Erwartung, auch die verbleibenden
Jahre noch sinnvoll gestalten und nutzen zu können, sowie als Wunsch nach sozialer Teilhabe
äußert. Empirische Untersuchungen zeigen, dass sich in dieser Bindung an das Leben unabhän-
gig vom körperlichen und psychischen Zustand der betroffenen Menschen erhebliche Unter-
schiede finden (Jopp et al. 2008).
Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich in einer erhaltenen Bindung an das Leben die jeweils
bestehenden Möglichkeiten einer fortgesetzten Teilhabe widerspiegeln. Wenn das eigene Leben
im hohen Alter als „nutzlos“ empfunden wird, so spiegeln sich in dieser Überzeugung nicht nur
die von einem Menschen für ein „gutes Leben“ als nicht mehr gegeben erachteten Kriterien wider.
Vielmehr verweist eine derartige Haltung gegenüber dem eigenen, durch Verluste und Verletz-
lichkeit geprägten Leben in besonderer Weise auch auf das Ausmaß an Demütigung, die einem
Menschen zugefügt wird (Margalit 2012).
Dies heißt aber auch: Würde kann sich in Situationen verwirklichen („leben“), die frei von
Demütigungen sind. Eine Gesellschaft ist dann „anständig“, wenn ihre Institutionen die Men-
schen nicht demütigen.
6.1 · Altersbild und Menschenbild
63 6
In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass die im Jahre 2007 veröffentlichte Pflegecharta
die angedeutete Problematik ausdrücklich aufnimmt. Denn in ihrer Präambel stellt sie fest, dass
der uneingeschränkte Anspruch auf Respektierung ihrer Würde und Einzigartigkeit für alle Per-
sonen gilt. Aus der Tatsache, dass sich Menschen, die Hilfe und Pflege benötigen, häufig nicht
selbst vertreten können, erwächst für Staat und Gesellschaft große Verantwortung mit Blick auf
den Schutz ihrer Würde am Ende des Lebens (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend 2007).
Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Paul Kirchhof beantwortet die
Frage: „Was ist menschliches Leben, was ist der Mensch?“ im Rahmen gesicherter Recht-
serkenntnisse; unter jenen fünf Antworten, die auf diese Frage gegeben werden, findet sich
die folgende, für die hier angesprochene Thematik (Schutz der Würde am Ende des Lebens)
besonders wichtige:

» Die Würde des Menschen stützt sich auf die Vorbefindlichkeit, dass jeder Mensch auf
eine zum Tod bestimmte Entwicklung angelegt ist. Diese Bestimmung begründet den
Auftrag der Medizin, Krankheiten zu heilen und Schmerzen zu lindern, sowie den Auftrag
von Staat und Recht, die Lebensbedingungen ständig zu verbessern. Deshalb darf die
Rechtsgemeinschaft nur so handeln, dass sie keine ernsthafte Gefährdung des Lebens und
der Gesundheit verursacht, dass das Leben der Menschen in Zukunft möglich bleibt und
in seinen Bedingungen – soweit erreichbar – verbessert wird. In diesem Lebensschutz ist
aber auch der Respekt vor dem Sterben angelegt, der Anspruch jedes einzelnen Menschen,
das ihm bestimmte Lebensende in Freiheit anzunehmen und in Würde erfahren zu dürfen.
(Kirchhof 1997, S. 54).

In Altersbildern spiegeln sich Menschenbilder – wie auch Vorstellungen von der Würde des Men-
schen in spezifischen Grenzsituationen – wider. So ist z. B. möglich, dass Menschen mit einer
weit(er) fortgeschrittenen Demenz das Humane abgesprochen wird, was vor allem der Fall ist,
wenn in einer Gesellschaft primär eine in hohem Maße rationale Konzeption von Menschsein
vertreten wird (Maio 2015).
Es ist auch zu beobachten, dass bei fortgeschrittener Demenz grundlegende Zweifel in
Bezug auf die Menschenwürde vorgebracht werden, wobei diese Zweifel vielleicht weniger
mit der Vorstellung von Menschenwürde zu tun haben, die bei Erkrankten selbst vorherrscht,
als mit der Vorstellung von Menschenwürde, die der Außenstehende vertritt (Kruse 2015a).
Bei einem derart reduktionistischen Menschenbild ist zunächst die Kommunikation mit
dem demenzkranken Menschen tiefgreifend gestört, weil wesentliche Voraussetzungen der
Kommunikationsfähigkeit als nicht mehr gegeben erachtet werden (Kitwood 2000). Zudem
besteht die Tendenz, dem demenzkranken Menschen das Recht auf qualitativ hochwertige
medizinisch-rehabilitative, psychologische und pflegerische Versorgung abzusprechen, weil
dieser – einem derartigen Menschenbild zufolge – von dieser Versorgung angeblich nicht
mehr profitiert.
Doch auch bei weniger reduktionistischen Menschenbildern besteht die Gefahr, dass emotio-
nale Ressourcen, über die viele demenzkranke Menschen selbst in einem weit fortgeschrittenen
Stadium der Erkrankung verfügen, nicht erkannt werden: Damit bleibt ein wichtiges Potenzial
zur Bewältigung dieser Grenzsituation unerkannt und ungenutzt.
Bei körperlich erkrankten älteren Menschen ergeben sich besondere Beziehungen zwischen
Altersbild und Körperbild (de Beauvoir 1965, 1972). Gerade bei körperlich erkrankten Menschen –
wenn diese nach außen hin sichtbare funktionale Einbußen zeigen – besteht die Gefahr, dass sie
64 Kapitel 6 · Würde aus der Perspektive der Gerontologie

den gesellschaftlich dominierenden Bildern eines intakten Körpers nicht entsprechen (Allen
2015). Und gerade in diesen Situationen besteht die Tendenz, von der körperlichen Dimension
auf andere Dimensionen der Person zu schließen: Einschränkungen körperlicher Unversehrt-
heit werden dann gleichgesetzt mit generellen Defiziten der Person.
Die Herstellung dieser Beziehung ist nicht nur für das Alter charakteristisch, aber sie gewinnt
im Alter zunehmend an Bedeutung, weil in diesem Lebensabschnitt körperliche Einbußen wie
auch Angewiesensein auf Hilfe häufiger werden (Schmitt 2012). Schließlich sind Menschen mit
schweren körperlichen Einbußen davon bedroht, dass die soziale Umwelt den Kontakt zu ihnen
deutlich reduziert oder ganz aufgibt – vielfach aufgrund von Ängsten, die die Begegnung mit
einem körperlich schwer versehrten Menschen hervorruft.
Angesichts der schweren körperlichen und psychischen Erkrankungen im hohen Alter wird
die kritische Reflexion des in unserer Gesellschaft dominierenden Menschenbildes (bzw. Per-
sonenbegriffs) als wichtige individuelle und gesellschaftlich-kulturelle Aufgabe betrachtet (von
6 Poser et al. 2012). Diese Aufgabe stellt sich nicht alleine älteren Menschen, sie ist genauso für
jüngere Menschen bedeutsam, die in Beziehung zu älteren Menschen stehen: Ohne diese – auch
gesellschaftlich-kulturell unterstützte – Reflexion des Menschenbildes ist die Gestaltung und
Aufrechterhaltung von Beziehungen und Begegnungen mit der älteren Generation deutlich
erschwert.
Hinzu kommt, dass auch die Antizipation eigener Grenzsituationen (soweit diese möglich
ist) das Individuum vor die Aufgabe stellt, darüber zu reflektieren, von welchem Menschen-
bild es sich leiten lässt und inwiefern dieses möglicherweise unvollständig ist – schon die
Abfassung eines Patiententestaments ist implizit oder explizit mit dieser Aufgabe verknüpft.
Darüber hinaus berühren diese Aussagen das Berufsethos und die fachlich-ethische Kom-
petenz jener Personen, die unmittelbar oder mittelbar für eine qualitativ hochwertige The-
rapie, Pflege, Begleitung und Beratung chronisch kranker Menschen verantwortlich sind.
In erster Linie sind hier Angehörige der medizinischen, psychologischen und pflegerischen
Berufe angesprochen, die vor die Aufgabe gestellt sind, im Angesicht eines schwer kranken
Menschen ihr eigenes Menschenbild (und Altersbild) zu hinterfragen. Diese Aussage trifft
aber auch auf Entscheidungsträger auf politischer und organisationaler Ebene zu, die sich
ebenfalls vor die Aufgabe gestellt sehen, kritisch zu reflektieren, inwieweit ihre Menschen-
und Altersbilder ihre Überlegungen, Entscheidungen und Handlungen leiten oder zumin-
dest beeinflussen (Kruse 2015b).
Diese Aussagen führen in das Zentrum der Überlegungen zum Respekt vor der Würde des
alten Menschen. Diese Überlegungen lassen sich zunächst mit Friedrich Schillers Distichon über
die „Würde des Menschen“ aus dem Jahre 1796 umschreiben (Schiller 1962):

» Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen,
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.

Dieses Distichon lässt sich in folgender Weise deuten: Der Mensch besitzt als Mensch Würde,
diese kann ihm nicht gegeben werden, diese kann ihm auch nicht genommen werden. Die Würde
des Menschen ist nicht an Leistungen, an Fähigkeiten, an Erfolgen, an das spezifische Wesen der
Persönlichkeit – mithin nicht an Attribute – gebunden. Vielmehr lässt sich nur eine Bedingung
für die Würde nennen: Die Ausstattung mit Gütern, die den Menschen dazu befähigen, zu über-
leben. In dieser Weise lässt sich die Forderung, dem Menschen zu essen und zu wohnen zu geben,
wie auch die Aussage, dass sich die Würde dann von selbst gebe, wenn die Blöße des Menschen
bedeckt wurde, interpretieren.
6.2 · Allgemeine Menschenwürde und spezifische Würde des Menschen
65 6
6.2 Allgemeine Menschenwürde und spezifische Würde des
Menschen

Gerade im thematischen Kontext der Verletzlichkeit (Vulnerabilität) im hohen Alter, der


Erhaltung und Förderung von Lebensqualität in stationären Einrichtungen, der Betreuung
und Versorgung Sterbender, der Autonomie des Menschen am Lebensende, der Sterbehilfe
und des (ärztlich) assistierten Suizids werden der Respekt vor der Würde des Menschen
wie auch deren Achtung und Wahrung als zentrales Motiv und Ziel ethisch begründeten
Handelns hervorgehoben (Kruse 2015c). Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, dass der
Begriff der Würde in unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen sehr unterschied-
lich verwendet wird.
Einerseits besteht Konsens, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, Menschen also
unabhängig von der Situation, in der sie sich aktuell befinden, mit ihrer Personalität immer auch
Würde besitzen, die ihnen unabhängig von Schädigungen und Erniedrigungen, die ihnen andere
zufügen mögen, nicht genommen werden kann (Fuchs et al. 2010). Andererseits ist nicht zu über-
sehen, dass sich hinter dem häufigen Verweis auf die Würde des Menschen und den Respekt, mit
dem dieser zu begegnen ist, die Einschätzung verbirgt, dass wichtige Aspekte der Würde des Men-
schen sehr wohl von situativen Bedingungen abhängen und entsprechend auch in unterschiedli-
chem Maße gegeben sein können.
Unabhängig von seinem häufigen Gebrauch kann das Konzept der Würde als in beson-
derem Maße unterbestimmt („overused and underdefined“, s. Sharkey 2014) bezeichnet
werden; verwiesen werden kann in diesem Zusammenhang etwa auf die sehr unterschied-
lichen Positionen zu aktiver und passiver Sterbehilfe, die sich allesamt auf die Würde des
Menschen berufen.
Vor diesem Hintergrund wurde von verschiedenen Autoren eine Differenzierung des Wür-
debegriffs vorgeschlagen. Schroeder (2012) unterscheidet hier zwischen der – häufig in engem
Zusammenhang mit der Begründung von Menschenrechten gesehenen – unantastbaren („invoi-
lable“) Menschenwürde und einer auf Ansprüchen gründenden, aspirationalen („aspirational“)
Würde, die Menschen in unterschiedlichem Maße zukommt und die durch Verhaltensweisen und
Haltungen anderer durchaus erhöht oder gemindert werden kann. Diese aspirationale Würde
differenziert sie weiter in
55 eine durch gesellschaftliche Rollen und Positionen begründete Würde („aristocratic
dignity“),
55 eine durch eine Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Sichtweisen angemessenen
Verhaltens und angemessener Haltungen begründete Würde („comportement dignity“)
sowie
55 eine auf individuellen Tugenden, vor allem auch ehrenvollem Verhalten in kritischen
Situationen gründende Würde („meritorious dignity“).

Bostrom (2008) unterscheidet neben der unantastbaren Würde des Menschen eine durch Verhal-
ten und Haltungen der Person begründete Würde („dignity as a quality“) von einer durch soziale
Rollen und Positionen begründeten Würde („dignity as status“).
Nordenfelt (2004) differenziert aspirationale Würde weiter in
55 eine auf individuellen Leistungen gründende Würde („dignity of merit“),
55 eine auf individuellen Überzeugungen und Maximen gründende Würde („dignity of moral
or existential staure“) und
55 eine auf der personalen Identität fußenden Würde.
66 Kapitel 6 · Würde aus der Perspektive der Gerontologie

Die letztgenannte, im Kontext eines Forschungsprojekts („Dignity and Older Europeans”) entwi-
ckelte „dignity of identity” definiert Nordenfelt als „the dignity we attach to ourselves as integra-
ted and autonomous persons, persons with a history and persons with a future with all our rela-
tionships with other human beings“ (Nordenfelt 2004, S. 75).
Nach Nordenfelt hängt insbesondere diese personale Würde in hohem Maße von externen
Ereignissen, von dem Verhalten anderer Menschen sowie von Beeinträchtigungen und Schädi-
gungen, nicht zuletzt auch infolge von Erkrankungen, ab. Folgt man Nordenfelt, dann besteht
gerade im hohen Alter ein stark ausgeprägtes Risiko, dass die so verstandene personale Würde
verlorengeht.
Des Weiteren kann im hohen Alter von einer besonderen ethischen Problematik ausgegan-
gen werden, wenn man die auf individuelle Leistungen gründende „dignity of merit“ (Norden-
felt) wie auch die auf Verhalten und Haltungen fundierte „dignity as quality“ (Bostrom) betrach-
tet. Dies nicht nur, weil die Verletzlichkeit des Menschen im hohen Alter deutlich zunimmt und
6 damit soziale, gesundheitliche, kognitive und zeitliche Ressourcen zunehmend verloren gehen,
sondern auch, weil gesellschaftliche Repräsentationen des hohen Alters die Verwirklichung von
Potenzialen („Kräften“) des Alters erheblich erschweren. Zudem wirkt die wiederholte Konfron-
tation mit solchen Stereotypen und Diskriminierungen, die die Verluste („Schwächen“) im Alter
besonders betonen, als chronischer Stressor (Geronimus 1992), der körperliche Probleme (Allen
2015) wie auch vorzeitig auftretende Alternsprozesse und chronische Erkrankungen erheblich
begünstigt (Baillie und Matiti 2013).
Das hohe Lebensalter, in der Literatur beschrieben als die Zeitspanne ab Mitte des 9. Lebens-
jahrzehnts, konfrontiert das Individuum in zunehmendem Maße mit der Erfahrung erhöhter
körperlicher und kognitiver, nicht selten auch emotionaler Verletzlichkeit (Baltes und Smith
2003; Brown und Lovis 2003).
Eine wachsende Anzahl von – vielfach chronischen – Krankheiten, verbunden mit zum Teil
schmerzhaften Symptomen und passageren oder bleibenden Einschränkungen der Selbstständig-
keit, eine deutlich erhöhte körperliche Erschöpfung und Ermüdbarkeit, schließlich die häufiger
werdenden Phasen reduzierter kognitiver Leistungsfähigkeit bilden den Grund für die Erfahrung
erhöhter Verletzlichkeit (Kruse 2014a, b). Dabei erinnert diese das Individuum in besonderem
Maße an die eigene Vergänglichkeit und Endlichkeit (Brandtstädter 2014; Erikson et al. 1986).
Gerade in solchen Phasen nimmt dessen Angewiesenheit auf eine Art der medizinisch-pflegeri-
schen Versorgung wie auch der psychologischen Begleitung zu, die eine hohe Sensibilität für zen-
trale Lebens- und Sinnfragen des Menschen zeigt (Kruse 2007). Grundlage für die Erfassung und
Thematisierung solcher Lebens- und Sinnfragen bildet die daseinsthematische Analyse des Erle-
bens eines Individuums. Diese Art der Analyse lässt sich von der Frage leiten, welche Themen –
Anliegen, Bedürfnisse, Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen, Befürchtungen und Ängste – das
individuelle Erleben bestimmen.
Dabei wäre es allerdings falsch, ginge man davon aus, dass die objektive Lebenssituation
ebenso wie das Erleben im hohen Lebensalter ausschließlich von Verlusten, von Verletzlichkeit,
von Verletzlichkeits-, Vergänglichkeits- und Endlichkeitserleben bestimmt wäre (Ardelt et al.
2013; Bano und Benbow 2010; Tornstam 2005). Vielmehr lassen sich bei einer psychologischen
Analyse des hohen Lebensalters seelische und geistige Qualitäten beobachten, die dafür sprechen,
die Verletzlichkeitsperspektive um eine Potenzialperspektive zu ergänzen, die
55 (a) ganz allgemein nach seelisch-geistigen Potenzialen (d. h. nach möglichen seelisch-
geistigen Stärken) und
55 (b) nach derartigen Potenzialen in der Auseinandersetzung mit erhöhter Verletzlichkeit
fragt (Kruse 2013).
6.3 · Würde im Kontext von Grundbefähigungen
67 6
Die Integration der Verletzlichkeits- mit der Potenzialperspektive erscheint gerade mit
Blick auf das hohe Lebensalter als eine besondere wissenschaftliche (deutliche Differen-
zierung der Kategorien, mit denen diese Lebensphase umschrieben wird) und praktische
(gezielte Ansprache persönlicher Stärken oder Kräfte auch in Phasen von Grenzerfahrun-
gen) Herausforderung.

6.3 Würde im Kontext von Grundbefähigungen und


Verwirklichungschancen

Ein umfassenderes, in aktuellen Diskursen stärker beachtetes Verständnis von Menschen-


würde bildet der vor allem mit Arbeiten von Martha Nussbaum verbundene Befähigungs-
ansatz („capability approach“), dessen Wurzeln in der Wohlfahrtsökonomie liegen und die
eine Grundlage für den „Human Development Index“ der Vereinten Nationen bilden, der
das Bruttosozialprodukt als Hauptindikator zur Messung von Fortschritten abgelöst hat.
Den Ausgangspunkt dieses Ansatzes bildet die Ableitung von Tugenden oder Grundbefähi-
gungen aus verschiedenen grundlegenden Lebenssituationen oder Wesensmerkmalen des
Menschen. Aus der Menschenwürde ergeben sich in dieser Sichtweise Menschenrechte, die im
Sinne von Verwirklichungschancen, Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten gedeutet
werden, oder umfassender als „the answers to the question ‚What is this person able to do
and to be?‘“ (Nussbaum 2011, S. 20 f.). Dabei liegt der Fokus des Ansatzes auch auf Fragen
der sozialen Gerechtigkeit.
Die im Verständnis von Nussbaum zentralen Grundbefähigungen bzw. Verwirklichungs-
chancen umfassen (Nussbaum 2006):
55 Leben („life“):
44ein lebenswertes Leben führen,
44nicht vorzeitig sterben müssen.
55 Körperliche Gesundheit(„bodily health“):
44gute Gesundheit,
44ausreichende Ernährung,
44angemessene Unterkunft.
55 Körperliche Unversehrtheit („bodily integrity“):
44Schutz vor Gewalt oder sexuellen Übergriffen,
44Möglichkeit zur sexuellen Befriedigung und zur Reproduktion,
44Möglichkeit, sich frei von Ort zu Ort zu bewegen.
55 Kognitive Aktivität („senses, imagination and thought“):
44Nutzung von Phantasie und Intellekt,
44Zugang zu Bildung,
44Recht auf Religion.
55 Gefühle („emotions“):
44Bindungen an Personen und Dinge,
44Liebe und Sorge,
44Freude,
44Vermeidung von Schmerz und Trauma.
55 Praktische Vernunft („practical reason“):
44Vorstellung von Gut und Böse,
44Präferenzbildung,
68 Kapitel 6 · Würde aus der Perspektive der Gerontologie

44Planung,
44Reflexion.
55 Bezogenheit auf andere („affiliation“) im Sinne von
44Interaktion,
44Identifikation und Achtung,
44Schutz vor Diskriminierung.
55 Ökologisches Bewusstsein („other species“):
44Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen, Natur.
55 Spiel („Play“):
44Lachen, Freude,
44Rekreation.
55 Kontrolle („control over one’s environment“):
44politische Partizipation,
6 44materielle Ressourcen.

Im Sinne der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit wird im Ansatz von Nussbaum gefordert, dass
alle Personen mit Blick auf alle Grundbefähigungen oder Verwirklichungschancen zumindest
einen generellen Schwellenwert erreichen, was gleichbedeutend damit ist, dass geeignete Unter-
stützung und Hilfe vorzuhalten ist. Dabei sieht Nussbaum derartige Schwellenwerte auch als gültig
bzw. verbindlich für jene Menschen an, die in starkem Maße eingeschränkt oder behindert sind.
Mit Blick auf die Betreuung und Versorgung ergibt sich daraus die Forderung einer individuali-
sierten Rehabilitation und Pflege (Baillie und Matiti 2013).
Die Alternative spezifischer Schwellenwerte für körperlich oder kognitiv in starkem Maße
eingeschränkte Personen verwirft sie mit dem Argument, es wäre zu einfach, a priori davon aus-
zugehen, dass bestimmte Verwirklichungschancen nicht hergestellt werden könnten: In vielen
Fällen sei mehr möglich, als vielfach vorschnell angenommen werde.
In diesem thematischen Zusammenhang sei auch verwiesen auf das Konzept der relationa-
len Autonomie (Heggestad et al. 2015). Dieses verdeutlicht, dass mögliche Folgen zunehmender
Verletzlichkeit für die Würde des Menschen weniger von objektiven körperlichen und kognitiven
Verlusten als vielmehr von den sozialen Beziehungen des Menschen bestimmt sind. Sherwin und
Winsby (2011) heben das kritische Potenzial dieses Konzepts hervor, wenn sie betonen, dass die
meisten Bewohner stationärer Einrichtungen einem traditionellen Verständnis von Autonomie,
das von einem unabhängigen, rationalen, freien und selbstbestimmten Individuum ausgeht, nicht
mehr gerecht werden können. Ein angemessenes und faires Verständnis von Autonomie habe
die Interdependenz wie auch die soziale Bezogenheit auf andere ausdrücklich zu berücksichti-
gen. Diese werde durch institutionelle und soziokulturelle Kontexten zum Teil eingeschränkt,
zum Teil zugelassen, zum Teil ermöglicht, zum Teil gefördert (Mackenzie und Stoljar 2000).
Auf der Grundlage dieses Konzepts lässt sich auch eine Antwort auf die Frage geben, welche
Merkmale eine gute Institution für jene alten Menschen konstituieren, bei denen eine hohe kör-
perliche, kognitive und emotionale Vulnerabilität besteht; die relationale Autonomie gewinnt
bei der Beantwortung dieser Frage besonderes Gewicht (Kruse 2015d).
Auch wenn Verletzlichkeit und – in Teilen bestehende – Abhängigkeit im hohen Alter in
letzter Konsequenz nicht zu vermeiden sind (Baltes 1996), so gilt doch: Nicht Abhängigkeit und
Verletzlichkeit bedrohen Autonomie und Würde der Person. Vielmehr ist entscheidend, wie eine
Person als verletzliches und von anderen abhängiges Individuum behandelt wird, wie sozialer
Kontext und institutionelle Strukturen die Verwirklichungschancen von Autonomie erkennen,
schaffen und garantieren oder aber unterminieren (Kruse 2005). Dies bedeutet mit Blick auf ein
Pflegeheim, mit Blick auf ein Hospiz:
6.3 · Würde im Kontext von Grundbefähigungen
69 6
» Respecting the autonomy, here means to respect the right to make significant decisions
regarding everyday-life when living in a nursing home. This means that we should support
the residents in nursing homes, so that they may be able to live their life in accordance to
their will, their wishes and values (Heggestad et al. 2015, S. 45).

Einen wichtigen Beitrag zum Verständnis relationaler Autonomie ist in den von Nolan ent-
wickelten konzeptionellen Zugängen zu einem umfassenden, Sorge- oder Care-orientierten
Verständnis der Rehabilitation und Pflege alter Menschen zu sehen (Nolan et al. 1996). Nolan
et al. umschreiben diese Zugänge mit „senses“ und tun dies, weil sie damit sowohl die subjek-
tive Wahrnehmung als auch die subjektive Deutung (im Sinne von Sinnerfahrung) rehabilita-
tiv-therapeutischen und pflegerischen Handelns umschreiben wollten – und zwar auf Seiten
der Therapeuten und Pflegefachpersonen genauso wie auf Seiten jener Menschen, die Rehabi-
litation und Pflege erhalten.
Die „sechs Sinne“ (es sei noch einmal betont: diese stellen immer auch Aspekte des Sinner-
lebens dar), lauten (Nolan et al. 1996):
55 Erleben von Sicherheit („security“),
55 Kontinuität („continuity“),
55 Zugehörigkeit („belonging“),
55 Absicht,
55 Ziel („purpose“),
55 Erfüllung („fulfilment“),
55 Bedeutung und Sinn („significance“).

Als Ziel ihrer anwendungsbezogenen Forschung nennen Nolan et al. die Verbesserung der Reha-
bilitation und Pflege alter Menschen durch einen beziehungsorientierten Ansatz. Die sechs genann-
ten Zugänge zu einer beziehungsorientierten Pflege konzentrieren sich dabei eben nicht alleine
auf die Lebenssituation alter Menschen, sondern auch und in gleichem Maße auf die berufliche
Situation und das berufliche Leitbild jener Personen, die mit der Rehabilitation und Pflege alter
Menschen befasst sind.
Um zwei Beispiele zu wählen: Unter „Zugehörigkeit“ werden mit Blick auf alte Menschen die
Schaffung von Möglichkeiten zur Herstellung persönlich bedeutsamer Beziehungen sowie die
Überzeugung, geachtetes Mitglied einer Gemeinschaft oder Gruppe zu sein, als Ziele genannt.
Mit Blick auf die in der Rehabilitation und Pflege involvierten Fachpersonen lautet das Ziel wie
folgt: Überzeugung, Teil eines Teams zu sein und dieses befruchten zu können, zu einer Gruppe
von Personen zu gehören, die über praxisbezogene gerontologische Expertise verfügen. Unter
„Erfüllung“ werden mit Blick auf alte Menschen Möglichkeiten, persönlich bedeutsame und
wertgeschätzte Ziele zu verwirklichen und im eigenen Handeln Zufriedenheit zu erfahren, ange-
führt, mit Blick auf die in der Rehabilitation und Pflege tätigen Fachpersonen die Fähigkeit, gute
Arbeit zu leisten, sowie die Zufriedenheit mit dem eigenen therapeutischen und pflegerischen
Handeln.

Ich möchte nun auf empirische Beiträge zu sprechen kommen, in denen das Thema „Würde
im hohen Alter“ aus drei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird:
55 aus der Perspektive alter Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, und ihrer Angehörigen,
55 aus der Perspektive sterbender alter Menschen und ihrer Angehörigen,
55 aus der Perspektive alter Menschen, die selbstständig in ihrer eigenen Wohnung oder in
einem Wohnstift leben.
70 Kapitel 6 · Würde aus der Perspektive der Gerontologie

Warum wähle ich diese drei Perspektiven? Die beiden ersten Perspektiven sind jene, die im the-
matischen Kontext der Würdediskussion am häufigsten gewählt werden: Welche Situationsmerk-
male tragen dazu bei, dass aus Sicht des kranken oder sterbenden Menschen die eigene Würde
gewahrt bleibt? Die dritte Perspektive ist mir sehr wichtig, weil sie zeigt, dass die eigene Würde im
Erleben alter Menschen zutiefst an die Erfahrung gebunden ist, von anderen Menschen gebraucht
zu werden, wichtig für andere Menschen zu sein. Diese Erfahrung ist grundlegend für die Über-
zeugung, neben einem selbstverantwortlichen Leben ein mitverantwortliches Leben zu führen,
mithin Selbstgestaltung und Weltgestaltung miteinander verbinden zu können.
Diese Erfahrung ist aber auch noch aus einem anderen Grunde essenziell: Sie zeigt, wie
wichtig es im Erleben des Individuums ist, dass sich die eigene Würde „leben“ lässt, dass sich
diese Würde „verwirklichen“ kann. Und die Würde verwirklicht sich vor allem in der erlebten
Bezogenheit auf andere Menschen, im Austausch mit Menschen, die einem nahestehen, die
einem bedeutsam sind.
6
6.4 Würde aus der Perspektive alter Menschen mit Pflegebedarf
und ihrer Angehörigen

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass alte Menschen, die in stationären Einrichtungen leben,
nach allgemeiner Einschätzung vergleichsweise häufig mit Situationen konfrontiert werden, in
denen Fragen der Achtung und Wahrung von Würde thematisch werden (Baillie und Matiti
2013). Entsprechend finden sich empirische Untersuchungen, in denen aus der Perspektive von
Bewohnern/Patienten, Angehörigen und Pflegefachpersonen der Frage nachgegangen wird, was
im Einzelnen unter Würde verstanden wird, inwieweit in bestimmten Situationen Würde verletzt
wird, inwieweit diese gewahrt werden kann.
Høy et al. (2016) haben narrative Interviews mit 28 Bewohnerinnen und Bewohnern von sechs
skandinavischen Pflegeheimen geführt. Die Bedeutung von Würde wurde in diesen Gesprächen in
einen thematischen Zusammenhang mit der Erfahrung von Verletzlichkeit gebracht. Dabei erwiesen
sich in der Deutung der Bewohner die drei folgenden, aufeinander bezogenen Themen als zentral:
55 (1) als menschliches Wesen angesprochen und einbezogen zu sein,
55 (2) a ls die Person, die man gegenwärtig ist, und jene, die man in Zukunft zu sein sich
bemüht, angesprochen und einbezogen zu sein,
55 (3) als ein integriertes Mitglied der Gesellschaft angesprochen und einbezogen zu sein.

In diesem empirischen Beitrag zeigt sich die Wahrung von Würde in Pflegeheimen als fortwäh-
render Identitätsprozess, der auf Möglichkeiten der Teilhabe und der identitätsstützenden Bezie-
hungen zu signifikanten Anderen gründet.
In einer Interviewstudie haben Caspari et al. (2014) Angehörige um eine Einschätzung
hinsichtlich der für die Achtung und Wahrung von Würde in Pflegeheimen entscheidenden
Bedürfnisse und Anliegen der Bewohner gebeten. Als wichtigste Themen erwiesen sich in dieser
Untersuchung
55 (1) d
 ie Gestaltung der Wohnumwelt im Sinne einer Verbindung von Komfort und
Zweckmäßigkeit,
55 (2) enge persönliche Kontakte zu Familie, Freunden und Pflegepersonal,
55 (3) ästhetische Bedürfnisse und Anliegen,
55 (4) die für das Individuum bedeutsamen ethischen Ansprüche und intrinsischen Werte,
55 (5) kulturelle und spirituelle Bedürfnisse und Anliegen.
6.5 · Würde am Ende des Lebens
71 6
Die in dieser Studie gewonnenen Befunde rechtfertigen die Annahme, dass Angehörige im All-
gemeinen ein gutes Verhältnis zu Pflegefachpersonen haben und entsprechend die Begegnun-
gen überwiegend positiv bewerten. Zudem wurde deutlich, dass Ereignisse, die als unwürdig
oder beschämend erlebt wurden, gegenüber den Pflegefachpersonen nicht erwähnt werden. Die
Autoren deuten dies als Hinweis auf Sorgen vor möglichen Verletzungen von Würde („Demüti-
gungen“), die die Bewohner möglicherweise nach Beschwerden durch die Angehörigen in Kauf
nehmen müssen.
Nach Black und Dobbs (2014) bilden Fragen der Würde für alle Menschen ein bedeutsames
Thema, das aber vor dem Hintergrund multipler Verluste im hohen Alter noch einmal an Gewicht
gewinnt. Nicht umsonst bilde die Wahrung von Würde im Alter ein zentrales Ziel der Altenpolitik
und der Vorhaltung von Versorgungsleistungen für ältere Menschen. Vor diesem Hintergrund
überrascht es, dass zu den alltäglichen Sichtweisen und Erfahrungen von alten Menschen in Pri-
vathaushalten lange Zeit keine empirische Forschung vorlag.
Durch eine Kombination von Fokusgruppen- und Survey-Untersuchung identifizieren die
Autoren drei zentrale Komponenten von Würde:
55 Autonomie
55 soziale Bezogenheit,
55 persönliche Identität.

6.5 Würde am Ende des Lebens

Hinsichtlich der Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit es gerechtfertigt erscheint, von einem
„guten Tod“ oder „erfolgreichem Sterbeprozess“ („successful dying“) zu sprechen, besteht wenig
Einigkeit (Meier et al. 2016). Aus einer Literaturanalyse, in der qualitative und quantitative Studien
gesichtet und nach ihrer Definition eines „guten Todes“ kategorisiert wurden, wurde zwischen
Patienten, Angehörigen, Hinterbliebenen und Pflegefachpersonen als wichtigen Gruppen diffe-
renziert. Von jenen 60 Studien, die die Einschlusskriterien erfüllten, beschäftigen sich etwa die
Hälfte mit der Perspektive von Patienten im Alter von über 60 Jahren. In dieser Gruppe identi-
fizierten die Autoren 11 Themen:
55 (1) Präferenzen für einen spezifischen Sterbeprozess,
55 (2) Schmerzfreiheit,
55 (3) Religiosität/Spiritualität,
55 (4) emotionales Wohlbefinden,
55 (5) einen Abschluss des eigenen Lebens finden („life completion“),
55 (6) Behandlungspräferenzen,
55 (7) Würde,
55 (8) Familie,
55 (9) Lebensqualität,
55 (10) Beziehung zu Pflegefachpersonen,
55 (11) Sonstige.

Über alle Gruppen hinweg waren auf den Sterbeprozess bezogene Präferenzen (94%), Schmerz-
freiheit (81%) und emotionales Wohlbefinden die bedeutsamsten Themen (64%). Darüber hinaus
zeigten sich zum Teil deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen: Aus der
Perspektive von Angehörigen wurden das Finden eines Lebensabschlusses (80%), Lebensquali-
tät (70%), Würde (70%), und die Anwesenheit von Familienmitgliedern (70%) häufiger genannt
72 Kapitel 6 · Würde aus der Perspektive der Gerontologie

als aus der Perspektive der Patienten (jeweils 35%–55%). Dagegen waren Religiosität/Spirituali-
tät für die Patienten im Vergleich zu den Familienangehörigen wichtiger (65% gegenüber 50%).
Die Autoren deuten ihre Ergebnisse vor allem als Hinweis auf die Notwendigkeit einer besseren
Kommunikation zwischen den verschiedenen Gruppen im Interesse des Patienten.
In einer Untersuchung von Kinoshita et al. (2015) zum Zusammenhang zwischen Sterbeort,
Einschätzungen der Qualität von Sterben und Tod sowie Belastungen von Angehörigen krebs-
kranker Patienten am Ende des Lebens wurde deutlich, dass der Sterbeort als ein zentrales Ziel
von End-of-Life-Care anzusehen ist. In zwei in den Jahren 2008 und 2011 durchgeführten Surveys
mit Hinterbliebenen wurden insgesamt 2.247 pflegende Angehörige von Krebspatienten befragt,
die Qualität von Sterben und Tod wurde mit Hilfe des Good Death Inventory, die Belastungen
Angehöriger mit Hilfe des Caregiving Consequences Inventory erhoben. Nach Kontrolle rele-
vanter Merkmale der Patienten und der Art der Erkrankung ergaben sich für die Qualität von
Sterben für jene, die zu Hause verstarben (Vertrauensintervall 95% 4,9–5,2), höhere Werte als
6 für Menschen, die in Palliative Care Units (Vertrauensintervall 95% 4,5–4,7) oder im Kranken-
haus (Vertrauensintervall 95% 4,2–4,4) verstarben. Alle Paarvergleiche erwiesen sich als hoch-
signifikant bei moderater (Vergleich: Zu Hause vs. im Krankenhaus) bzw. geringer Effektstärke.
Bezogen auf die mit den beiden Inventaren erfassten Aspekte zeigten sich für das Sterben zu
Hause gegenüber dem Sterben in einer Palliative-Care-Einrichtung oder im Krankenhaus güns-
tigere Werte hinsichtlich der Variablen
55 (1) Präferenz des Sterbeorts,
55 (2) Beziehung zu den Mitarbeitern der medizinischen und pflegerischen Teams,
55 (3) Beziehungen zu Angehörigen sowie
55 (4) Aufrechterhaltung von Hoffnung und Wohlbefinden.

Des Weiteren war das Sterben zu Hause im Vergleich zum Sterben im Krankenhaus mit einer
geringeren allgemeinen Belastung der pflegenden Angehörigen sowie mit geringeren finanziel-
len Belastungen verbunden.

6.6 Verwirklichung von Würde in der Mitverantwortung (Sorge)


für andere Menschen

Es wurde schon hervorgehoben, wie wichtig die „gelebte“, „verwirklichte“ Würde für ein tiefe-
res Würdeverständnis ist. Die Würde lebt sich vor allem in Beziehungen zu anderen Menschen,
die einem nahestehen, die einem viel bedeuten. Dies zeigte sich in einer Untersuchung unseres
Instituts zu den „Daseinsthemen“ (Lebensthemen) und Sorgeformen alter Menschen. In dieser
Interviewstudie wurden 400 Personen (66% Frauen, 34% Männer, Altersbereich 85–98 Jahre)
untersucht, die über Verbände und Vereine, Kirchen, Bildungseinrichtungen, stationäre und
ambulante Pflegedienste und niedergelassene Ärzte gewonnen wurden (Kruse 2014b; Kruse und
Schmitt 2015a, b). Ausschlusskriterien bildeten neurokognitive Symptome, die auf das Vorlie-
gen einer Demenz schließen ließen, sowie psychische Symptome, die auf eine klinisch manifeste
depressive Störung deuteten.
Für die Thematik der Würdeverwirklichung sind zwei Ergebnisse dieser Untersuchung
wichtig:
55 die in den Interviews ermittelten Anliegen, Themen und zentralen Aspekte der Selbstsicht
(die mit dem Begriff „Daseinsthemen“ umschrieben werden),
55 die in den Interviews identifizierten, spezifischen Sorgeformen.
6.6 · Verwirklichung von Würde in der Mitverantwortung (Sorge)
73 6
Es wurden in unserer Untersuchung insgesamt 27 Daseinsthemen erfasst. In . Tab. 6.1 sind jene
12 Daseinsthemen aufgeführt, die jeweils von mindestens 30% der Interviewpartner berich-
tet wurden. In der rechten Spalte ist der prozentuale Anteil jener Personen aus der Stichprobe
(n = 400 Personen) angeführt, bei denen das jeweilige Daseinsthema ermittelt werden konnte.
Betrachtet man die in . Tab. 6.1 genannten Daseinsthemen aus der Perspektive der gelebten
oder verwirklichten Würde, dann lässt sich die große Bedeutung konstatieren, die die Begegnung
mit anderen Menschen, das Engagement für andere Menschen und die Erfahrung, von anderen
Menschen gebraucht zu werden, für die „gelebte“ Würde besitzen.
„Der Andere“ bzw. „die Andere“ (Lévinas 1995) spielt im Erleben hochbetagter Menschen
eine große Rolle. Hier sei vor allem auf das 2. Thema („Intensive Beschäftigung mit der Lebens-
situation und Entwicklung nahestehender Menschen“), das 4. („Bedürfnis, auch weiterhin
gebraucht zu werden und geachtet zu sein“) und das 7. Thema („Überzeugung, Lebenswissen
und Lebenserfahrungen gewonnen zu haben, das Angehörigen nachfolgender Generationen eine
Bereicherung oder Hilfe bedeuten kann“) hingewiesen. Die Übernahme von Verantwortung für

. Tab. 6.1 Daseinsthemen in einer Gruppe hochbetagter Menschen (Altersbereich: 85–98 Jahre)

Häufigkeit
Daseinsthema der Nennung

1 Freude und Erfüllung in einer emotional tieferen Begegnung mit anderen Men- 76%
schen

2 Intensive Beschäftigung mit der Lebenssituation und Entwicklung nahestehen- 72%


der Menschen – vor allem in der eigenen Familie und in nachfolgenden Genera-
tionen

3 Freude und Erfüllung im Engagement für andere Menschen 61%

4 Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht zu werden und geachtet zu sein – vor allem 60%
von nachfolgenden Generationen

5 Sorge vor dem Verlust der Autonomie (im Sinne von Selbstverantwortung und 59%
Selbstständigkeit)

6 Bemühen um die Erhaltung von (relativer) Gesundheit und (relativer) Selbststän- 55%
digkeit

7 Überzeugung, Lebenswissen und Lebenserfahrungen gewonnen zu haben, das 44%


Angehörigen der nachfolgenden Generationen eine Bereicherung oder Hilfe be-
deuten kann

8 Intensivere Auseinandersetzung mit sich selbst, differenziertere Wahrnehmung 41%


des eigenen Selbst, vermehrte Beschäftigung mit der eigenen Entwicklung,
Rückbindung von Interessen und Tätigkeiten an frühe Phasen des Lebens

9 Phasen von Einsamkeit 39%

10 Fehlende oder deutlich reduzierte Kontrolle über den Körper und spezifische Kör- 36%
perfunktionen, Sorge vor immer neuen körperlichen Symptomen

11 Fragen der Wohnungsgestaltung (Erhaltung von Selbstständigkeit, Teilhabe, 34%


Wohlbefinden)

12 Phasen der Niedergedrücktheit 31%


74 Kapitel 6 · Würde aus der Perspektive der Gerontologie

den Anderen und die sich darin widerspiegelnde Bereitschaft zur mitverantwortlichen Lebens-
gestaltung werden in diesen Themen deutlich.
Die Tatsache, dass in drei Themen – nämlich dem 2. Thema („Unterstützende, anteilnehmende
Gespräche mit nachfolgenden Generationen der Familie“), dem 4. („Bedürfnis, auch weiterhin
gebraucht zu werden und geachtet zu sein“) und dem 7. Thema („Gezielte Wissensweitergabe
an junge Menschen“) – die Mitverantwortung für die nachfolgenden Generationen (und dies
heißt immer auch: für die junge Generation) im Zentrum stehen, weist auf die Bedeutung der
zu Beginn dieses Beitrags thematisierten Generativität als zentrales Element der Sinnerfahrung
und Wertverwirklichung im hohen Alter hin.
Nachfolgend sei der Blick auf die „praktizierten“ Formen eines mitverantwortlichen Lebens
gerichtet. Diese lassen sich auch im Sinne der Sorge für andere Menschen und um andere Men-
schen deuten. In unserer Untersuchung konnten wir 20 Sorgeformen differenzieren, von denen
in . Tab. 6.2 jene 12 Sorgeformen aufgeführt sind, die von mindestens 30% aller Interviewpart-
6 ner genannt wurden; in der Tabelle ist wieder der Anteil der Teilnehmer angegeben, bei denen
sich die jeweilige Sorgeform identifizieren ließ.
Die in unserer Untersuchung ermittelte Vielfalt der Sorgeformen sowie die Häufigkeit,
mit der diese genannt wurden, deuten darauf hin, dass das mitverantwortliche Leben ein
wichtiges Motiv alter Menschen darstellt. „Die Anderen“ verlieren mithin im Erleben alter
Menschen nicht an Bedeutung; vielmehr besitzen sie eine überaus große Bedeutung – ein
Aspekt, der vor Augen führt, wie wichtig teilhabeförderliche Sozialraumstrukturen für die
gelebte (verwirklichte) Würde und damit für die Lebensqualität alter Menschen sind (Exper-
tenkommission 2016).

. Tab. 6.2 Sorgeformen in einer Gruppe hochbetagter Menschen (Altersbereich: 85–98 Jahre)

Häufigkeit
Sorgeform der Nennung

1 Intensive Beschäftigung mit dem Lebensweg nachfolgender Generationen der 85%


Familie

2 Unterstützende, anteilnehmende Gespräche mit nachfolgenden Generationen 78%


der Familie

3 Intensive Beschäftigung mit dem Schicksal nachfolgender Generationen 72%

4 Unterstützung von Nachbarn im Alltag 68%

5 Unterstützung von Familienangehörigen im Alltag 65%

6 Unterstützung junger Menschen in ihren schulischen Bildungsaktivitäten 58%

7 Gezielte Wissensweitergabe an junge Menschen (berufliches Wissen, 54%


­Lebenswissen)

8 Finanzielle Unterstützung nachfolgender Generationen der Familie 49%

9 Beschäftigung mit der Zukunft des Staates und der Gesellschaft 48%

10 Freizeitbegleitung junger Menschen 41%

11 Besuch bei kranken oder pflegebedürftigen Menschen 38%

12 Existenzielle Gespräche vor allem mit jungen Familienangehörigen 33%


6.7 · Fazit
75 6
Die bereits angesprochene Annahme, dass gerade mit Blick auf die eigene Endlichkeit
altruistische und generative Einstellungen zunehmend an Gewicht gewinnen (Brandtstäd-
ter 2014; Kruse 2007), kann durch die hier berichteten Ergebnisse bestätigt werden. Die
differenzierten Sorgeformen lassen sich auch als Umschreibung des von Viktor Frankl ver-
wendeten Begriffs der Selbst-Transzendierung begreifen. Wenn man davon ausgeht, dass
die Selbst-Transzendierung eine Grundlage für Sinnerleben (Frankl 2005) oder Stimmig-
keitserleben (Thomae 1986) bildet, so lassen sich Folgerungen im Hinblick auf die mit der
Wahrung und Achtung von Würde im hohen Alter verbundenen Anforderungen ziehen:
Würde im Alter kann „sich leben“, wenn sich die Person – im Sinne der Selbst-Transzendie-
rung – sorgend „einem Anderen“ zuwendet, sich um diesen bzw. für diesen sorgt. Stärker im
Sinne der unzureichenden Achtung von Würde wird man deuten müssen, wenn Menschen
im hohen Alter keine Möglichkeit geboten wird, für „einen Anderen“ zu sorgen oder sich
um diesen zu sorgen.
Die ersten drei Sorgeformen, aber auch weitere Sorgeformen (6., 7., 8., 10., 12.; . Tab. 6.2)
deuten auf Generativität und symbolische Immortalität hin. Auch in der Beschäftigung mit der
Zukunft des Staates und der Gesellschaft lässt sich ein Generativitätsmotiv erkennen: Inwie-
fern werden die nachfolgenden Generationen gleiche Chancen auf die Verwirklichung ihrer
Kriterien für ein gutes Leben haben wie die eigene Generation? Die große Bedeutung „des“
bzw. „der Anderen“ – und zwar des bzw. der in einer Grenzsituation stehenden und damit in
besonderer Weise auf die Solidarität angewiesenen Anderen – zeigt sich in drei Sorgeformen
(4., 5., 11.; . Tab. 6.2). Dabei ist bemerkenswert, dass diese Mitverantwortung auch von Men-
schen gelebt wird, die vielfach selbst in einer (gesundheitlichen, sozialen oder existenziellen)
Grenzsituation stehen.

6.7 Fazit

Der Würdebegriff besitzt für die psychotherapeutische Behandlung große Bedeutung. Denn
wie dargelegt, tangiert der Alternsprozess – vor allem im hohen Alter – das Würdeverständnis
in unserer Gesellschaft und Kultur ganz zentral. Die kollektiven Deutungen von Würde im Alter,
in denen sich auch Alters- und Menschenbilder widerspiegeln, bleiben nicht ohne Folgen für das
individuelle Würdeverständnis. Dieses beeinflusst Lebensqualität, Wohlbefinden, schließlich die
individuelle Auseinandersetzung mit Grenzsituationen des Lebens (Verlust nahestehender Men-
schen, körperliche Erkrankungen und Funktionseinbußen, neurokognitive Störungen, Umzug
in eine stationäre Einrichtung, herannahender Tod).
Die Thematisierung individueller Vorstellungen von Altern und Alter wie auch von allge-
meiner und spezifischer Würde im Alter erscheint vor dem Hintergrund der hier berichteten
theoretisch-konzeptionellen und empirischen Beiträge als eine wichtige Aufgabe der Psycho-
therapie. Diese kann alte Menschen auch darin unterstützen, jene Attribute, die für das indivi-
duelle – mithin spezifische – Würdeverständnis konstitutiv waren und die durch Krankheiten,
Beeinträchtigungen und Verluste (in Teilen) verloren gegangen sind, durch die Akzentuierung
anderer Attribute (in Teilen) zu kompensieren. Hier kommt den seelisch-geistigen Qualitäten im
hohen Alter, zu denen vor allem die praktizierte Sorge um und für andere Menschen – vor allem
der jungen Generation – gehört, großes Gewicht zu.
Aber auch die Unterstützung bei der Deutung des gesamten Lebens – als Werden zu sich selbst
wie auch als Möglichkeit des Über-sich-hinaus-Seins – ist als eine wichtige Aufgabe der psycho-
therapeutischen Begleitung alter Menschen zu werten.
76 Kapitel 6 · Würde aus der Perspektive der Gerontologie

Schließlich dürfen die in dem Beitrag angesprochenen relationalen Aspekte von Würde nicht
vernachlässigt werden: In dem Austausch mit einem Psychotherapeuten kann die Erfahrung
gewonnen werden, dass das Gegenüber in seiner Haltung, seinem Handeln, seinem Verhalten
den Respekt vor der eigenen Würde zum Ausdruck bringt – wobei sich dieser Respekt auch darin
ausdrückt, dass Psychotherapeuten alte Menschen dazu anregen und motivieren, die sich bie-
tenden Gelegenheitsstrukturen zur Verwirklichung von seelisch-geistigen Potenzialen vermehrt
zu nutzen. Diese liegen zum einen in Möglichkeiten zur Aufnahme von Kultur, wofür die eigene
Biografie durchaus einen Resonanzboden bieten kann. Diese liegen zum anderen – und wesent-
lich – in der praktizierten Sorge um und für andere Menschen.
Nicht wenige alte Menschen äußern Furcht, von anderen Menschen – vor allem der jungen
Generation – abgelehnt zu werden; der „alte“ Körper, das „nicht mehr zuverlässige“ Gedächtnis
und Denken sind Gründe für diese Furcht. Hier nun ist ein großes Potenzial der psychothera-
peutischen Begleitung zu sehen (Heuft et al. 2006): nämlich auf dem Wege positiver Bekräfti-
6 gung, ausdrücklicher Anerkennung der Würde und ausdrücklicher Achtung des Verlangens, als
Person wahr- und ernstgenommen zu werden, dazu beizutragen, dass sich alte Menschen trauen,
mit ihren Kräften und Stärken ebenso wie mit ihren Schwächen und ihrer Verletzlichkeit in den
öffentlichen Raum einzutreten, „sich aus der Hand zu geben und in der Einzigartigkeit des Seins
zu zeigen“, wie dies Hannah Arendt (1960) einmal ausgedrückt hat.

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78 Kapitel 6 · Würde aus der Perspektive der Gerontologie

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Religion und Spiritualität


in der Psychotherapie
Henning Freund

7.1 Das „Etwas“ – 80

7.2 Religion und Spiritualität im psychotherapeutischen


Rahmen – 81

7.3 Würde und Psychotherapie – 82

7.4 Kennen – Erkennen – Anerkennen – 83

7.5 Religionssensible Kompetenzen – 86

7.6 „Nur was wir würdigend betrachten, öffnet


sich uns“ – 88

7.7 Fazit – 88

Literatur – 89

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


H. Bents, A. Kämmerer (Hrsg.), Psychotherapie und Würde, Psychotherapie: Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54310-8_7
80 Kapitel 7 · Religion und Spiritualität in der Psychotherapie

» „ … etwas, was uns unbedingt angeht“

7.1 Das „Etwas“

In einer Psychotherapiesitzung kündigte eine Patientin an, über etwas sehr Persönliches reden zu
wollen. Sie berichtete, dass es bis vor einiger Zeit etwas Übergeordnetes in ihrem Leben gegeben
habe, das ihr ein Gefühl von Halt und Sinn gegeben habe. Dieses „Etwas“ fühlte sich gut und
geborgen an. Das haltgebende Übergeordnete sei einfach da gewesen und sie habe auch keine
Bezeichnung oder Personifizierung dafür gehabt.
Seit einiger Zeit meldeten sich jedoch massive Zweifel bei ihr, ob sie dies weiterhin so für
sich in Anspruch nehmen und glauben könne. Sie frage sich, ob diese Erfahrung einer rationa-
len Überprüfung standhalte und fürchte, dass aus einer wissenschaftlichen Perspektive heraus
dann nichts mehr übrig bleibe. Diese Überlegung fühle sich wie ein Verlust an, und sie müsse
dann weinen und sei sehr traurig. Aktueller Auslöser für diese Zweifel seien ein Todesfall in der
7 Familie und die damit verbundenen Fragen an die Endlichkeit unseres Seins gewesen. Als Anlie-
gen formulierte sie, verstehen zu wollen, was sie erlebt habe.
Wie kann man das begrifflich fassen, was die Patientin, die nicht religiös aufgewachsen und
erzogen worden ist, mir da anvertraute und in ihrer Umschreibung „Etwas“ nennt? Dabei sind
zwei Definitionen hilfreich, die das Thema Religion bzw. Spiritualität aus ihrer jeweiligen diszi-
plinären Perspektive betrachten. Es sind zwei sehr kurze und prägnante Definitionen, die dem
angesprochenen Phänomen in ihrer Komplexität sicher nicht in Gänze gerecht werden, aber doch
eben wesentliches hervorheben.
An erster Stelle betrachten wir eine Formulierung des evangelischen Theologen und Reli-
gionsphilosophen Paul Tillich, die gerade in ihrer interdisziplinären Vermittlung des Religions-
begriffs sehr einflussreich war. Paul Tillich versuchte eine existenzielle Verständigung über das,
was Religion ist. Er definierte: „Religion in diesem weitesten und grundsätzlichsten Sinn ist Ergrif-
fenheit von etwas, was uns unbedingt angeht.“ (Tillich 1959, S. 94). Er begreift Religion als etwas,
was letzte Sinnhorizonte vermittelt. Gleichzeitig beschreibt Tillich auch eine psychologische
Kategorie, nämlich das Ergriffensein; also eine tiefe emotionale Berührung von dem was uns
im Innersten unseres Wesens und unserer Existenz berührt. Das sind Fragen nach dem Sinn,
der Zugehörigkeit und den Dingen von letzter Bedeutung. Das Religiöse ist das, was den Men-
schen total ergreifen kann und aus der Neutralität der Lebensgeschichte herauszieht. Wenden
wir diesen Formulierungsvorschlag von Paul Tillich auf das geschilderte Anliegen der Patientin
an: Es liegt nahe zu sagen, dass es bei dem „Etwas“ im Kern um eine religiöse Frage geht, die die
Patientin umtreibt und unbedingt angeht.
An zweiter Stelle ist ein Definitionsvorschlag des amerikanischen Religionspsychologen
Kenneth Pargament hilfreich. Er greift die von Rudolf Otto in die Religionswissenschaft ein-
geführte Kategorie des Heiligen auf (Otto 2004), um den heute so inflationär gebrauchten
Spiritualitätsbegriff zu verstehen. Spiritualität bezeichnet er als die „Suche nach dem Heili-
gen“ (Pargament 2007, S. 32) und präzisiert die Begegnung mit dem Heiligen in dreifacher
Weise, als
55 die Erfahrung von etwas Transzendentem, was unseren alltäglichen Erfahrungshorizont
übersteigt;
55 die Erfahrung von etwas Grenzenlosem, das unsere Zeit- und Raumbegriffe übersteigt;
55 die Erfahrung von etwas Ultimativem, das uns existenziell und unbedingt berührt.
7.2 · Religion und Spiritualität im psychotherapeutischen Rahmen
81 7
Diese Qualitäten können sich auf eine Gottesvorstellung beziehen oder aber auch auf die Vor-
stellung von etwas Übergeordnetem, das nicht in personaler Form gedacht wird. Letzteres wurde
ja von der Patientin so ausgedrückt.
Auch der zweite Kernbegriff der Spiritualitätsdefinition nämlich die „Suche nach“ etwas,
lässt sich in der kurzen Fallvignette gut wiederfinden. Die Patientin ist unter anderem durch eine
existenzielle Verunsicherung – nämlich einen Todesfall in der Familie – dazu gekommen, ihre
bislang selbstverständliche Erfahrung von „etwas“ Halt- und Sinngebendem in ihrem Leben zu
hinterfragen und in Zweifel zu ziehen. Mit anderen Worten befindet sie sich in einem Prozess
des Suchens und Antwortsuchens auf existenzielle Fragen und Geborgenheitserfahrungen ihres
Lebens, die plötzlich nicht mehr selbstverständlich sind.

7.2 Religion und Spiritualität im psychotherapeutischen Rahmen

Nachdem die Begriffe Religion und Spiritualität mit Hilfe der Ansätze von Paul Tillich und
Kenneth Pargament besser verstanden werden konnten, ist nun zu fragen, was dies für die Psy-
chotherapie und vor allem für den Begriff der Würde in der Psychotherapie bedeuten.
Wenn Religion und Spiritualität auch bei Psychotherapiepatienten und -therapeuten das ist,
was diese unbedingt oder existenziell angeht bzw. ihre Suche nach dem Heiligen umfasst, dann
lassen sich daraus mehrere Schlüsse ziehen:
55 Religion und Spiritualität berühren den Kernbereich der Persönlichkeit und der Identität,
weil es um existenzielle und unbedingte Sachverhalte geht. Vielleicht ist der Begriff
Sachverhalte hier auch zu technisch, da es für viele Menschen um Verbundenheit und
Beziehung mit etwas Heiligem geht, z. B. Gott, Jesus oder eine übergeordnete Macht.
Nach Émile Durkheim (1912) sind heilige Dinge genau das, was von den profanen Dingen
isoliert und besonders geschützt werden muss. Somit könnte man auch von einem
sensiblen Intimbereich in der Psychotherapie sprechen.
55 Da es um einen Intimbereich des persönlich für heilig Gehaltenen geht, muss dieser
Bereich unbedingt vor Beschädigungen, Verletzungen und Verunreinigungen geschützt
werden. Dafür spricht z. B. die starke Zurückhaltung von hochreligiösen Menschen sich
überhaupt in eine Richtlinienpsychotherapie zu begeben (Sonnenmoser 2010). Sie meiden
eine psychotherapeutische Behandlung, arbeiten eher mit Seelsorgern oder suchen nach
Behandlung auf einem großen Alternativmarkt von weltanschaulich und spirituell passend
erscheinenden Anbietern. Falls ein hochreligiöser Mensch doch den Weg in eine reguläre
Psychotherapie findet, kommt es nicht selten zu einem gemeinsamen Beschweigen der
religiösen Überzeugungen und spirituellen Erfahrungen. Sie werden bisweilen zu einem
Tabubereich, um den herum Psychotherapie gestaltet wird.
55 Dieser Tabubereich ist aber trotzdem höchst virulent, da er für den religiösen oder spirituellen
Patienten mit starken Gefühlen und Motivationen verbunden ist. Bei den Emotionen können
neben der „Ergriffenheit“, von der Paul Tillich spricht, auch fast alle weiteren Emotionen
stark mit dem Religiösen/Spirituellen verbunden sein: zu denken ist hier etwa an die Begriffe
„Gottesfurcht“, „Dankbarkeit“, religiöse Schuldgefühle oder Glaubenseifer. Hochreligiöse
Menschen tendieren dazu, fast alle Lebensbereiche ihren Überzeugungen unterzuordnen und
quasi ihre Religion „zu leben“. Für diese Tendenz hat Gordon Allport (Allport & Ross 1967) die
Bezeichnung „intrinsisch religiös motivierte“ Menschen geprägt. Im Rahmen einer Psycho-
therapie wäre es ein Problem, diese starken Emotionen und Motivationen außer Acht zu lassen.
82 Kapitel 7 · Religion und Spiritualität in der Psychotherapie

55 Religion und Spiritualität sind keine statischen Bereiche im Leben eines Menschen, sie
sind Veränderungs- und Suchprozessen unterworfen, so wie es Pargament mit der „Suche
nach dem Heiligen“ beschreibt. Menschen entwickeln sich religiös oder spirituell weiter,
sie erleben Transformationsschritte ihres Glaubens wie z. B. Konversionen (Bekehrungen)
oder Dekonversionen (Abwendungen vom Glauben). Alle diese Transformationsschritte
sind psychologisch höchst bedeutsam. Wenn wir Psychotherapie als veränderungs- und
lösungsorientierten Prozess sehen, sollten wir auch das Such- und Veränderungspotenzial
von Religion und Spiritualität nicht übersehen.

7.3 Würde und Psychotherapie

Die genannten Punkte legen nahe, dass die existenziellen Fragen und das Ergriffensein durchaus
das Thema Würde in der Psychotherapie tangieren. Doch wie kann der Begriff der Würde in Bezug
auf Religion bzw. Spiritualität in der Psychotherapie genauer gefasst werden? Die Musterberufs-
7 ordnung für Psychologische Psychotherapeuten setzt an einer einzigen Stelle beide Begriffe in
einen unmittelbaren Zusammenhang. Dort findet sich unter § 3 der Allgemeinen Berufspflich-
ten im Absatz 3 der sehr vertraut klingende Satz:

» Psychotherapeuten haben die Würde ihrer Patienten zu achten, unabhängig insbesondere


von Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung, sozialer Stellung, Nationalität, ethnischer
Herkunft, Religion oder politischer Überzeugung. (Stellpflug und Berns 2012, S. 32)

Vertraut ist diese Allgemeine Berufspflicht der Psychotherapeuten deshalb, weil sie sich an dem
Begriff der Menschenwürde aus dem Grundgesetz orientiert. Das Grundgesetz geht von der
Würde des Menschen als Wesensmerkmal aus, unabhängig von persönlichen Eigenschaften,
biologischen Merkmalen oder sozialen Zugehörigkeiten (Will 2011). Damit ist auch für Psycho-
therapiepatienten ein wichtiger Schutzraum der Unversehrtheit ihres Achtungsanspruchs als
menschliches Wesen festgelegt worden. Dieser Schutzraum ist absolut notwendig und stellt eine
wichtige Rahmenbedingung unseres psychotherapeutischen Handelns dar.
Dennoch braucht diese Achtung von Würde für die Psychotherapie noch eine Ergänzung. Wenn
wir die Würde unserer Patienten nämlich ausschließlich unabhängig von Geschlecht, Alter, sexuel-
ler Orientierung, sozialer Stellung, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder politischer
Überzeugung achten, dann könnte es sein, dass uns gleichzeitig etwas sehr Wichtiges verloren geht.
Wir könnten nämlich versäumen, die Würde unserer Patienten als Frau, älterer Mensch, Transves-
tit, Arbeiter, Türke, Kurde, Muslim oder FDP-Mitglied in den Blick zu bekommen und zu achten.
Diese umgekehrte Blickrichtung geht davon aus, dass es neben der Würde des Menschen als
unabhängiges Wesensmerkmal in der Psychotherapie quasi komplementär eine weitere Würde
zu achten gilt. Dieser zweite Würdebegriff kann als Würde des einzelnen Patienten gerade in
seiner spezifischen Zugehörigkeit und persönlichen Identität bezeichnet werden. Aus diesem
Grunde wird hier ergänzend zur Allgemeinen Berufspflicht eine weitere Facette der Patienten-
würde vorgeschlagen, die da lautet:
Psychotherapeuten haben die Würde ihrer Patienten zu achten, gerade in Bezug auf deren
Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, soziale Stellung, Nationalität, ethnischer Herkunft,
Religion oder politischer Überzeugung.
Warum ist das so wichtig? Stellen wir uns vor, wir würden als Therapeuten Psychotherapie
betreiben, ohne in den Blick zu nehmen, dass unsere Patienten weiblich oder betagt, homosexuell
7.4 · Kennen – Erkennen – Anerkennen
83 7
oder Hartz IV-Empfänger, Afghane oder Katholik usw. sind. Wir würden wesentliche Elemente
ihrer soziokulturellen Zugehörigkeit und ihrer Identität übersehen, die zudem noch für die Psy-
chotherapie von größter Bedeutung sind. Wir würden übersehen, was diesen Menschen kons-
titutionell kennzeichnet und was ihm existenziell wichtig ist. Ein Nichtbeachten dieser Aspekte
in der Therapie kommt einer Würdeverletzung gleich.
Aus diesem Grunde haben auch eine Psychologie der Frau, eine Psychotherapie des Alters,
eine kultursensible Psychotherapie und eine verstärkte Aufmerksamkeit auf die religiösen Über-
zeugungen und spirituellen Erfahrungen unserer Patienten ihre unbedingte Berechtigung.
Im Zusammenhang von Religion/Spiritualität und Psychotherapie lässt sich also zugespitzt
folgendes formulieren:
Psychotherapeuten haben die Würde ihrer Patienten zu achten, gerade in Bezug auf deren
religiöse Überzeugungen und spirituelle Erfahrungen.

7.4 Kennen – Erkennen – Anerkennen

Der bekannte Dreischritt wertschätzender Interaktion in asymmetrischen Beziehun-


gen Kennen – Erkennen – Anerkennen (Goesmann und Fischer 2014) kann dabei prakti-
sche Leitlinie für eine Würdigung der Religion und Spiritualität von Patienten durch den
­Psychotherapeuten sein.

z Kennen
Kennen beinhaltet in diesem Kontext eine kognitive Komponente, nämlich ein Wissen um seine
religiösen Überzeugungen bzw. seine Glaubensinhalte und seine Zugehörigkeit zu einer religiö-
sen Gemeinschaft oder Kirche. Dazu gehört auch das Wissen um bedeutsame spirituelle Erfah-
rungen oder Konflikte im Leben eines gläubigen Menschen. Um dieses Wissen zu erlangen,
muss man danach fragen. Dennoch unterbleibt dieses Nachfragen oftmals im Zusammenspiel
zwischen der wechselseitigen Tabuisierung dieses Themenfeldes sowohl durch Therapeuten als
auch durch den Patienten.
Dabei würde eine einzige Frage in den umfangreichen Anamnesebögen helfen, diese Sprach-
losigkeit zu überwinden und als Interessenssignal ein Türöffner zu sein. Diese Frage könnte bei-
spielsweise lauten:
55 „Verstehen Sie sich selbst als einen religiösen oder spirituellen Menschen oder haben sie
eine bestimmte Weltanschauung?“

Im Sinne der Definition von Pargament (2007) könnte man stattdessen auch sehr implizit fragen:
55 „Was ist Ihnen heilig in Ihrem Leben?“

Oder im Sinne von Paul Tillich (1959):


55 „Was gibt Ihrem Leben Sinn oder was gibt Ihnen ganz grundlegend Halt im Leben?“

Falls dieses Signal vom Patienten positiv aufgenommen wird und der Türspalt zur religiös/spi-
rituellen Sphäre sich weiter öffnet, kann sich noch eine weitere explizite Anamnese anschließen.
Ein sehr brauchbarer Leitfaden für eine solche Anamnese ist das SPIR-Interview, ein halbstruk-
turiertes klinisches Interview von Eckhard Frick und Kollegen (Frick et al. 2005). Wenn dieses
Interessenssignal vom Patienten nicht aufgefangen und positiv beantwortet wird, dann kann man
durchaus auf eine weitere Bearbeitung dieses Themas verzichten.
84 Kapitel 7 · Religion und Spiritualität in der Psychotherapie

z Erkennen
Der nächste Schritt der Würdigung von Religiosität und Spiritualität eines Patienten betrifft das
Erkennen. Nach der im ersten Schritt erfolgten Sondierung, ob dieses Thema überhaupt eine Rele-
vanz besitzt, geht es nun darum zu erkennen, wie diese Relevanz aussieht und ob es überhaupt
einen fachlichen Bezug zu Aspekten und Zielsetzungen der Therapie gibt. Die Forschungslite-
ratur über die psychologische Bedeutung von Religion für die Psychotherapie ist in den letzten
beiden Jahrzehnten sprunghaft angewachsen (. Abb. 7.1).
Dazu einige kurze Schlaglichter auf die Fülle der Befunde und Modelle:
Religion ist nicht per se als pathologischer Faktor im Leben eines Patienten zu sehen und
trägt auch nicht per se zu seiner Problematik bei. Diese Aussage mag vielleicht verwundern.
Doch wurde das Thema Religion im vergangenen Jahrhundert oft genug unter Pathologie-
verdacht gestellt. Denken wir dabei nur an einflussreiche Protagonisten der Therapieschulen
wie Sigmund Freud, der Religion mit einer universellen Zwangsneurose oder einer infanti-
len Illusion verglich (Freud 1927). Auch Albert Ellis, der Begründer der Rational-Emotiven-
Therapie (RET) war der Meinung, dass religiöse Glaubensinhalte als irrationale Überzeugun-
7 gen maßgeblich zu psychischen Instabilitäten beitragen und deshalb in ihrem Dogmatismus
und in ihrer Rigidität durch rationalere Überzeugungen ersetzt werden müssen (Ellis 1983).
Diese Positionen haben Generationen von Therapeuten beeinflusst und deren therapeutisches
Handeln geprägt.
Dieses einseitige Bild konnte erst durch großangelegte empirische Untersuchungen zum
Zusammenhang von Religiosität und psychischer Gesundheit korrigiert werden (Larson
et al. 1992; Koenig et al. 2001; Bonelli 2014a). In diesen waren die Befunde nämlich höchst
uneinheitlich. Es gab nur wenige Untersuchungen, die Religiosität mit psychischer Insta-
bilität in Zusammenhang brachten, hingegen viele Untersuchungen, die positive Korrela-
tionen zu Variablen psychischer Gesundheit aufzeigten, und einige Studien, die gar keine
Zusammenhänge zeigten.
Zusammengefasst ergab sich eine mäßig positive Korrelation zwischen Religiosität und psy-
chischer Gesundheit, die weder eine Aussage über die Kausalbeziehungen erlaubt noch poten-
zielle Mediatorvariablen deutlich werden lässt.

400
350
300
250
200
Religi***
150 Spiritu***
100
50
0
1954- 1964- 1974- 1984- 1994- 2004-
1963 1973= 1983= 1993- 2003+ 2013+

. Abb. 7.1 Anzahl der gemeinsamen Verwendungen der trunkierten Bergriffe Psychotherap***
(Psychotherapie) und Religi*** (Religiosität) bzw. Spiritu*** (Spiritualität) in der Datenbank PsychINFO (Recherche
des Autors)
7.4 · Kennen – Erkennen – Anerkennen
85 7
Übertragen wir diese Befunde auf den einzelnen Menschen oder Patienten, dann können wir
drei Zusammenhänge vermuten:
55 Religiosität bzw. Spiritualität kann manchmal durchaus zu psychischen Problemen
beitragen.
55 Häufiger jedoch muss sie als salutogenetischer Faktor aufgefasst werden.
55 Schließlich kann Religion in diesem Zusammenhang auch ohne erkennbare Wirkungs-
beziehung zur psychischen Gesundheit eines Menschen funktional autonom sein.

Es ist sogar wahrscheinlicher, dass wir bei einem Menschen von einer unauflöslichen Mischung
aller drei Funktionszusammenhänge ausgehen müssen. Jedenfalls ist die häufig anzutreffende
Polarisierung von „good religion“ versus „bad religion“ (Klassen 2010) eine nicht hilfreiche
Kategorisierung.
In den letzten 25 Jahren wurden deutliche Fortschritte in der Formulierung und empirischen
Überprüfung von Modellen gemacht, die den Funktionszusammenhang von Religiosität und
psychischer Gesundheit/Krankheit aufklären könnten. Aus der Vielzahl von psychologischen
Modellen hat die Theorie des religiösen Copings bislang am meisten Aufmerksamkeit erfah-
ren (Pargament 1997). Diese Theorie knüpft nahtlos an ein bekanntes Modell aus der klinischen
Psychologie an, nämlich das Stress-Coping-Modell von Lazarus und Folkman (1984) und ist
deshalb auch anschlussfähig für den psychotherapeutischen Kontext. Das religiöse Coping-Mo-
dell geht davon aus, dass Religiosität und Spiritualität bedeutsame Coping-Strategien oder Bewäl-
tigungsmechanismen darstellen, die als Moderatorvariablen die Beziehung zwischen Stressoren
und Merkmalen psychischer Beeinträchtigung beeinflussen. Wichtige Fragen sind dabei, welche
Formen religiösen Copings sich unterscheiden lassen und wie sie zur psychischen Gesundheit
bzw. Krankheit beitragen. Die empirischen Befunde in diesem Feld sind heute fast schon unüber-
schaubar (z. B. Ano und Vasconcelles 2005; Klein und Lehr 2011).

z Anerkennen
Besonders wichtig ist der dritte und letzte Aspekt einer würdigenden Therapiebeziehung mit Blick
auf Religion und Spiritualität – das Anerkennen. Ohne diese Anerkennung wird es nicht gelingen,
in einer guten konstruktiven Weise mit Patienten über das ins Gespräch zu kommen, was sie als
die persönlichste und intimste Dimension betrachten bzw. was ihnen heilig ist.
Ein wichtiger Aspekt ergibt sich direkt aus den eben diskutierten Modellen und Befunden zu
Religiosität und psychischer Gesundheit. Diese könnten uns Psychotherapeuten nämlich dazu
verleiten, Religion nur unter einer funktionalen Perspektive zu betrachten. Mit anderen Worten:
Sind die Glaubensüberzeugungen eines Menschen seiner seelischen Gesundheit zuträglich oder
schaden sie eher?
Sicher, die moderne evidenzbasierte Medizin richtet sich genau nach solchen Sachverhalten.
Und schon William James hat in seinem religionspsychologischen Klassiker „Die Vielfalt religiö-
ser Erfahrung“ (James 2014) pragmatisch argumentiert, dass religiöse Erfahrungen nur dann als
positiv zu werten seien, wenn sie sich im Leben eines Menschen als förderlich erweisen. Hier stellt
sich die Frage, ob wir nicht dadurch die Würde eines religiösen Menschen verletzen, wenn wir
das, was er persönlich für substanziell und existenziell wahr in seinem Leben hält, nur nach Funk-
tionalitätskriterien beurteilen. Viele Religionen haben nämlich nicht als erstes Ziel, dass es ihren
Gläubigen psychisch oder körperlich besser geht oder sie geheilt werden, sondern dass sie das
Richtige tun und glauben, um erlöst und erleuchtet zu werden oder das Heil zu erfahren. Pointiert
formuliert bedeutet dies, dass sich das funktionale Heilungssystem Psychotherapie dem substan-
ziellen Heilssystem Religion mit jeweils partiell inkompatiblen Zielsetzungen gegenüberstehen.
86 Kapitel 7 · Religion und Spiritualität in der Psychotherapie

Dieses Dilemma lässt sich an der derzeitigen Achtsamkeitswelle in der Psychotherapie


gut illustrieren. Wie lässt sich das Achtsamkeitskonzept, das seine Wurzeln in den spirituellen
Übungen des Buddhismus hat und dort gerade aus einer Skepsis gegenüber zweckrationaler
Funktionalisierung und Optimierung formuliert wurde, in der Psychotherapie so zweckrational
einsetzen (Harrington und Pickles 2009)?
Aus anerkennungstheoretischer Sicht bedeutet das Ausgeführte, die Glaubensüberzeugun-
gen der Patienten auch in ihrer Eigenlogik zu respektieren. Und ihre spirituellen Erfahrungen als
eine Erfahrung sui generis gelten zu lassen, die nicht unbedingt unter ein höheres funktionales
oder psychologisches Konzept eingeordnet werden müssen. Erst wenn wir der religiösen Glau-
benssphäre unserer Patienten diesen Respekt erweisen, werden diese sich anerkannt fühlen und
sich dementsprechend auch öffnen.

7.5 Religionssensible Kompetenzen

7 Übersetzen wir diese drei Schritte der Würdigung – Kennen, Erkennen und Anerkennen – in
Fähigkeiten und Kompetenzen, die vielleicht sogar in einem Curriculum zur Ausbildung von
Psychotherapeuten Platz finden könnten, dann bietet sich die Formulierung der in . Tab. 7.1
zusammengefassten religionssensiblen Kompetenzen an.
Kennen könnte man als kognitive Kompetenz verstehen, und zwar als einen Wissenserwerb
über Religionen, deren spezifische Lehre und Überzeugungen und die Besonderheiten von reli-
giösen Gruppierungen wie Großkirchen, Konfessionen, Gemeinschaften, sogenannte Sekten oder
neue religiöse Gemeinschaften. Dies ist natürlich keinesfalls eine Aufgabe für die Psychothera-
pieausbildung, aber heutzutage ist es gerade angesichts der wachsenden Zahl von Migranten, die
sich in Psychotherapie begeben, keinesfalls übertrieben, neben Grundzügen des Christentums
auch Basiswissen über den Islam oder den Buddhismus zu besitzen. Die Spezifika anderer Reli-
gionen und Gruppierungen kann man interessiert beim Patienten erfragen oder selbst nach-
schlagen (Richards und Bergin 1999).
Erkennen könnte man als fachliche Kompetenz verstehen, und zwar im Sinne von Kenntnis-
sen über die psychologische und psychotherapeutische Relevanz von Religion, religiöse Fakto-
ren in der Psychotherapie und grundlegende Modelle und Theorien in diesem Zusammenhang.
Mittlerweile existiert sogar zu diesen fachlichen Kompetenzen ein deutschsprachiges Lehrbuch

. Tab. 7.1 Religionssensibles Kompetenzmodell

Kognitive Dimension Wissen über Religionen und religiöse Gruppierungen


Religiöse Gesundheits- und Krankheitskonzepte

Fachliche Dimension Kenntnisse über die Spezifika des Arbeitens mit religiösen Menschen und
Einfluss religiöser Faktoren auf Gesundheit und Krankheit

Affektive Dimension Registrieren von Faszination, Irritation, Befremden, Ablehnung


Vermitteln von Wohlwollen, Respekt, Offenheit, Toleranz

Selbstreflektive Dimension Wahrnehmung von sich selbst als religiös oder weltanschaulich geprägter
Mensch;
Reflexion über die eigene Sozialisation in bestimmten Psychotherapie-
schulen und deren Haltung zu Religion und Spiritualität
7.5 · Religionssensible Kompetenzen
87 7
(Utsch et al. 2014) mit Kapiteln zu Themen wie hochreligiöse Patienten in der Psychotherapie,
Ausschluss oder Einbeziehung spiritueller Interventionen, Zwangsstörungen und Spiritualität,
religiöser Wahn oder Gebet – Psychodynamik, Wirksamkeit, Therapie usw.
Bei den nächsten beiden Kompetenzen richten wir den Blick vom Patienten weg hin zu uns
als Therapeuten.
Anerkennen könnte man auch als eine affektive Kompetenz verstehen, der Spiritualität des
Patienten mit Offenheit und Neugier zu begegnen, Wohlwollen zu zeigen und die Bereitschaft zum
lernenden Zuhören als Signal zu setzen. Natürlich bleibt es nicht aus, auch das eigene Befremden
und Irritiertsein über dogmatische Überzeugungen oder übersinnliche Erfahrungen zu registrie-
ren. Diese Irritationen können im tiefenpsychologischen Sinne eine wichtige Informationsquelle
sein, was das Gehörte in uns selbst auslöst oder was im Patienten vor sich geht. Entspringen diese
einem eigenen antireligiösen Affekt (Bonelli 2014b), einer eigenen religiösen Uninformiertheit
oder religiösen Unmusikalität, wie Max Weber oder Jürgen Habermas dies für sich formulier-
ten (Kaesler 2009)? Oder ist das Religiöse in einen dysfunktionalen bzw. psychopathologischen
Zusammenhang einzuordnen? Um diese Unterscheidung besser treffen zu können, ist die selbst-
reflektive Kompetenz gefordert.
Diese selbstreflexive Kompetenz beinhaltet ein Wissen des Psychotherapeuten über sich
selbst als weltanschaulich oder religiös bzw. antireligiös geprägter Mensch. Damit ist auch ein
Wissen darüber gemeint, welche anthropologischen Prämissen und Menschenbilder die von
mir präferierte Therapietradition transportiert. Die Förderung dieser selbstreflexiven Kompe-
tenz ist sicher in der Selbsterfahrung von Psychotherapieausbildungen am besten aufgehoben.
Wie sieht es aber eigentlich mit den religiösen Überzeugungen und spirituellen Erlebnis-
sen der Psychotherapeuten in Deutschland aus? Bislang herrschte in der Fachwelt immer die
Ansicht, dass es sich bei den Psychotherapeuten um eine der säkularsten Berufsgruppen handelt,
die im Unterschied („religiosity gap“) zur Durchschnittsbevölkerung und insbesondere zu ihren
eigenen Patienten wenig persönliche Affinität zur Religion besitzen. Glücklicherweise haben wir
dazu aktuelle Daten aus einem repräsentativen Survey, durchgeführt mit ambulant arbeitenden
Psychologischen Psychotherapeuten in Deutschland (Hofmann und Walach 2011). Aus diesen
Daten geht hervor, dass durchschnittlich 22% der Patienten das Thema Religiosität oder Spiri-
tualität in der Psychotherapie von selbst anschneiden. In Bezug auf Ausbildungsfragen formu-
lieren 81% der befragten Psychotherapeuten, dass dieses Thema nicht oder kaum in der Thera-
pieausbildung vorkam, und 66% wünschen sich deshalb eine stärkere Berücksichtigung in den
Ausbildungscurricula.
Überraschend ist, wie sich die deutschen ambulanten Psychologischen Psychotherapeuten
selbst weltanschaulich einordnen. Nach diesen Daten besteht nämlich keinesfalls ein „religiosity
gap“ zwischen Psychotherapeuten und der Bevölkerung (Religionsmonitor der Bertelsmann-
Stiftung 2007). Etwas zwei Drittel der befragten Psychotherapeuten (bei 56% Rücklauf) glauben
an eine höhere Wirklichkeit, und ca. 60% bezeichneten ihre eigene Weltanschauung als spiri-
tuell oder religiös, wobei die Selbstzuschreibung „spirituell“ deutlich überwog. Lediglich 15%
bezeichnen sich dezidiert als Atheisten oder Agnostiker. Auch das Vorkommen von eigenen
bedeutsamen religiösen Erfahrungen im Sinne einer Life-time-Prävalenz ist mit ca. 50% der
Psychotherapeuten recht hoch.
Betrachtet man die Unterschiede zwischen den psychotherapeutischen Schulorientierungen
der Befragten (kognitive Verhaltenstherapie, analytisch-psychodynamische Therapie, integrativ,
humanistische Psychotherapie), dann ergab sich in dieser Untersuchung ein recht einheitliches
Muster. Während die Verhaltenstherapeuten die größte Distanz zum Thema Religiosität und Spi-
ritualität in der Psychotherapie aufwiesen, gefolgt von den psychodynamischen Kollegen, zeigten
88 Kapitel 7 · Religion und Spiritualität in der Psychotherapie

die humanistisch orientierten Therapeuten die größte Affinität. Dieser Befund hängt wohl maß-
geblich mit den in den Therapieschulen vertretenen wissenschaftstheoretischen Grundannah-
men zusammen (z. B. Freund 2014).

7.6 „Nur was wir würdigend betrachten, öffnet sich uns“

In ihrem Buch „Würde – Annäherung an einen vergessenen Wert in der Psychotherapie“ zeigt
Luise Reddemann (2013), dass gerade die Psychotherapiesituation für Würdeverletzungen ver-
schiedenster Art ein sensibles Setting ist. Sie macht es insbesondere am Umgang mit der Würde
der Frau und an der Würde und der Verletzlichkeit von traumatisierten Patienten deutlich. Sie
zeigt auf, dass in der Geschichte der westlichen Psychotherapie auch systemimmanente Würde-
verletzungen vorkamen, die in den Blick genommen werden müssen.
Der vorliegende Beitrag möchte einen von Luise Reddemann unerwähnten Aspekt als
einen weiteren würdesensiblen Bereich in Erinnerung rufen: Das was unsere Patientinnen und
7 Patienten „unbedingt angeht“ bzw. das, was sie für sich als heilig erachten. Dieser „würdesensi-
ble Bereich“ verdient Schutz vor Würdeverletzung. Die häufigsten Würdeverletzungen in Bezug
auf Religion und Spiritualität lassen sich den schon erwähnten Schritten einer wertschätzenden
Interaktion in asymmetrischen Beziehungen zuordnen (. Tab. 7.2).
Auf die Möglichkeiten der Würdeverletzung „Ignorieren“, „Unkenntnis“ und „Pathologisie-
ren“ wurde in den bisherigen Ausführungen detailliert eingegangen.
Aber auch ein unreflektiertes und begeistertes „Idealisieren“ von Religion birgt seine Gefah-
ren. Gemeint sind damit der Verlust einer wachen und kritischen Distanz und die Tendenz,
in der Religion ein singuläres für sich allein stehendes Heilungssystem zu sehen. In diesem
Sinne wäre das unkritische Idealisieren von Religion im Psychotherapiesetting ebenfalls eine
Würdeverletzung und ein Nichtausschöpfen der Potenziale einer wissenschaftlich begründe-
ten Psychotherapie.
Insgesamt gesehen beinhaltet das Berührungsfeld von Religion/Spiritualität und Psychothe-
rapie eine ganze Reihe von ethischen Problemstellungen wie die mögliche Beeinflussung durch
die religiöse Einstellung des Therapeuten oder den Einsatz von sogenannten spirituellen Inter-
ventionen (Richard und Freund 2012).

7.7 Fazit

Es lässt sich zusammenfassen, dass die würdesensiblen Bereiche Religion und Spiritualität nicht
nur Schutz vor Würdeverletzung verdienen, sondern im positiven Sinne eine Würdigung in den
Teilschritten: kennen, erkennen und anerkennen.

. Tab. 7.2 Dreischritt wertschätzender Interaktion in asymetrischen Beziehungen und entsprechende


Gefahren von Würdeverletzungen

Kennen Erkennen Anerkennen

Ignorieren Unkenntnis Pathologisieren


Idealisieren
Literatur
89 7
Eine Sentenz des Schriftstellers Ulrich Schaffer drückt dies treffend aus: „Nur was wir würdi-
gend betrachten, öffnet sich uns.“ (zit. nach Pfeifer 2014; S. 97). Auf diese Öffnungsbereitschaft
unserer Patienten sind wir Psychotherapeuten unbedingt angewiesen.

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7
91 8

Würde und Akzeptanz in


der Psychotherapie
Thomas Heidenreich, Christoph Grober, Johannes Michalak

8.1 Würde – Hintergrund und Konzepte – 92

8.2 Akzeptanz – Hintergrund und Konzepte – 94

8.3 Würde in der Psychotherapie und angrenzenden


Disziplinen – 96

8.4 Akzeptanz in der Psychotherapie und angrenzenden


Disziplinen – 99

8.5 Verhältnis von Würde und Akzeptanz in der


­Psychotherapie – 101

8.6 Fazit – 102

Literatur – 103

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


H. Bents, A. Kämmerer (Hrsg.), Psychotherapie und Würde, Psychotherapie: Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54310-8_8
92 Kapitel 8 · Würde und Akzeptanz in der Psychotherapie

» Unser Leben als denkende, erlebende und handelnde Wesen ist zerbrechlich und stets
gefährdet – von außen wie von innen. Die Lebensform der Würde ist der Versuch, diese
Gefährdung in Schach zu halten. … Es kommt darauf an, sich von erlittenen Dingen nicht
nur fortreißen zu lassen, sondern ihnen mit einer bestimmten Haltung zu begegnen, die
lautet: Ich nehme die Herausforderung an.
(Bieri 2013, S. 14 f., [Hervorhebungen im Original])

8.1 Würde – Hintergrund und Konzepte

8.1.1 Hinleitung – Begriff in Praxis und Theorie

Der Begriff „Würde“ erlaubt eine Vielzahl möglicher Assoziationen und Verbindungen auf indivi-
dueller und gesellschaftlicher Ebene. Ein intuitiver, alltäglicher Gebrauch dieses Begriffs steht der
Nutzung desselben in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen entgegen. So stehen Aussa-
gen wie „Das ist unter meiner Würde!“ und Forderungen nach einem „Sterben in Würde“ neben
staatsrechtlichen Paragraphen wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Art. 1 Abs. 1 GG).
8 Eine grundsätzliche Ausleuchtung der vielfältigen Begriffsnutzung wurde bereits in früheren
Kapiteln dieses Bandes vorgenommen und soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Vielmehr soll
zunächst ein Abriss über die ideengeschichtliche Entwicklung des Begriffs aus philosophischer
Sicht gegeben werden, um in der Folge zwei aktuelle Kategorisierungsversuche der Facetten von
Würde vorzustellen. Dies kann helfen, unterschiedliche implizite Verständnisse und Konflikte
in gegenwärtigen (gesellschaftlichen) Diskussionen (z. B. Sterbehilfe, Abtreibung) besser einzu-
ordnen. Zudem liefert dies eine Grundlage für das Verständnis und die Umsetzung von Würde
in der Psychotherapie und angrenzenden Disziplinen.

8.1.2 Würde in historischer Entwicklung

Brandhorst (2014) gibt einen skizzenhaften Überblick über die historische Entwicklung des Kon-
zepts „Würde“ aus philosophischer Sicht. Er unterscheidet sechs Abschnitte: die Antike, das Chris-
tentum, das Mittelalter, die Renaissance, die Moderne und die Zeit nach 1945. In der Antike war
Würde ursprünglich lediglich in Form einer Haltung in Verbindung mit Erwartungen und Pri-
vilegien („Amtswürde”) bekannt. Daraus entwickelte sich eine Würde des Menschen auf Grund-
lage seiner Vernunft, die allerdings vor allem als Pflichten „gegen sich selbst“ (Brandhorst 2014,
S. 7) konzeptualisiert wurde. Würde wurde damit als individuelle Haltung gesehen, die in Ver-
bindungen mit Begriffen wie Selbstbeherrschung und Schicklichkeit stand.
Mit dem Christentum, wo der Mensch als Gottes Ebenbild verstanden wurde, entwickelte
sich die Idee einer fundamentalen moralischen Gleichheit der Menschen. Diese verlangte auch
Achtung und Respekt der Würde des jeweils anderen Menschen. Im Laufe des Mittelalters wurde
die Würde als Person zunehmend auf die eigene Tugend bezogen. Somit konnte nun mit der
Tugend auch die Würde durch Sünde verloren werden – Würde wurde zum „gradierbaren und
variablen Status“ (Brandhorst 2014, S. 9). In der Renaissance wiederum war „Freiheit des Willens“
der Aspekt, der zu Würde führte.
In der Moderne geriet die solide Auffassung eines religiös fundierten, privilegierten Rangs
der Menschen zunehmend in die Kritik. Die Ethik Kants, wo der Respekt der Würde des Men-
schen auf der Grundlage des moralischen Gesetzes als verbindlich gesehen wird, gilt Brandhorst
8.1 · Würde – Hintergrund und Konzepte
93 8
(2014) dabei als letzter übergeordneter Versuch der „Verteidigung der Idee der menschlichen
Würde“ (Brandhorst 2014, S. 11). Würde bekam immer mehr den Beiklang eines entschlosse-
nen “Trotzdem!“ im Angesicht der Nichtigkeit des Menschen als Teil der überwältigend großen,
eigengesetzlichen, geistlosen und moralisch unempfänglichen Natur (Brandhorst 2014, S. 10).
Erst nach 1945 nahm der Begriff Würde des Menschen eine zentrale Rolle als Rechtsbegriff
in Deutschland und der Welt ein und wurde in Verbindung mit Menschenrechten viel diskutiert.
Prominentestes Beispiel ist Art. 1 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes:

» Die Würde des Menschen ist unantastbar.

8.1.3 Kategorisierung und Begriffsbestimmung der Würde

Vor dem Hintergrund der historischen Betrachtung kommt Brandhorst (2014) zu folgendem
Schluss:

» Die Rede von menschlicher Würde bündelt viele zum Teil gegenläufige Traditionen, und
jede Einheit, die sie an anderen Orten zu anderen Zeiten gehabt haben mag, ist unwieder-
bringlich verloren.“ (Brandhorst 2014, S. 14).

Obwohl eine Einheit des Begriffes wegen der historischen Entwicklung sicherlich nicht gegeben
ist, können Systematisierungen zu einem Erkenntnisgewinn führen.
Doris Schroeder (2008, 2010) expliziert in ihrem Modell fünf Konzepte der Würde („Kantian
dignity, aristocratic dignity, comportment dignity, meritorious dignity und traditional christian
dignity“) und trägt so zu einem erweiterten Verständnis bei:
55 (1) Würde im Sinne Kants als unantastbare Eigenschaft, die jedem Menschen das Recht
gibt, nie einfach als Mittel, sondern immer gleichzeitig als Zweck behandelt zu werden.
55 (2) Würde im „aristokratischen“ Sinne als äußerlich dargestellte Qualität eines Menschen,
der gemäß seiner überlegenen Position handelt. Würde hängt dabei mit dem nach außen
sichtbaren gesellschaftlichen Status zusammen.
55 (3) Würde als Haltung, die sich auf ein äußerlich gezeigtes Verhalten eines Menschen
bezieht, der sich im Sinne gesellschaftlicher Erwartungen an wohlerzogenes Verhalten hält.
55 (4) Würde als Errungenschaft, wenn Kardinaltugenden eingehalten werden und dies mit
einem erlebten Selbstwert einhergeht. Würde in diesem Sinn ist mit dem persönlichen
Umgang mit schwierigen Lebenssituationen und innerer Stärke verbunden.
55 (5) Würde im traditionell christlichen Sinne, als unantastbare Eigenschaft, mit der Gott alle
Menschen ausgestattet hat.

Auf Grundlage dieser fünf verschiedenen Bedeutungen entwickelte Schroeder (2010) zwei
Gruppen mit übergreifenden Eigenschaften. Sie fasst die Bedeutungen 2–4 unter der Annahme
zusammen, dass Würde bewusstes Bemühen beinhaltet. Würde ist Ziel einer Bestrebung (im
Englischen „aspirational“). Die Definitionen 1 und 5 hingegen enthalten kein Element einer
bewussten Anstrengung. Sie sind bedingungslos und unantastbar (im englischen Original „invio-
lable“). Möglicherweise schließen sich diese beiden Grundverständnisse von Würde auch nicht
vollständig aus, da z. B. das bewusste Bemühen um ein der Würde des Handelnden und der
Mitmenschen entsprechendes Verhalten aus dem Bewusstsein der unantastbaren Würde jeder
Person erfolgen kann.
94 Kapitel 8 · Würde und Akzeptanz in der Psychotherapie

Peter Bieri (2013) wiederum wendet sich von der Sichtweise von Würde als Eigenschaft oder
Anrecht ab und sieht sie vielmehr als „bestimmte Art und Weise, ein menschliches Leben zu
leben“ (Bieri 2013, S. 12). Würde ist für ihn damit als „Muster des Denkens, Erlebens und Tuns“
(Bieri 2013, S. 12) eine Lebensform. Er vermeidet eine Definition oder abstraktere Kategorisie-
rung der Inhalte von Würde. Sein Ansatz ist es, „den intuitiven Gehalt der Würdeerfahrung aus-
zuschöpfen“ (Bieri 2013, S. 12), welche sich in vielfältiger Weise in konkreten Erfahrungen und
Momenten widerspiegelt. Es geht bei dieser Sichtweise also nicht mehr darum, als „was“ Würde
beschreibbar ist, sondern um die konkrete Suche, „wo“ Würde erfahrbar ist.
Würde ist dabei nicht mehr nur etwas im Individuum Verankertes, sondern spielt sich oft in
zwischenmenschlichen Beziehungen ab. Nach Bieri (2013) existieren für diese Lebensform der
Würde drei Dimensionen.
55 Erstens „ … die Art, wie ich von anderen Menschen behandelt werde“ (Bieri 2013, S. 12).
55 Zweitens, die Frage, wie ein Mensch bzw. ein Subjekt die Mitmenschen, mit „denen er
zusammenlebt“, behandelt und „welche Einstellung es zu ihnen hat“ (Bieri 2013, S. 13), und
55 drittens, die Art, wie ein Subjekt „zu sich selbst steht“ (Bieri 2013, S. 13).

Würde wird zu einem Begriff, der – abhängig von inneren und äußeren Einflüssen – verloren
8 und wiedergewonnen werden kann. Gewisse Situationen können zu einer starken Bedrohung
für die eigene Würde werden.
Anhand von konkreten, prototypischen Situationen zeigt Bieri (2013) Widersprüche und
Fallstricke dieser Lebensform auf. Er beschäftigt sich auch mit dem Spannungsfeld der „Unan-
tastbarkeit“ der Würde und der konkreten Erfahrung, dass sie häufig verletzt wird. Das Modell
ist damit nahe an konkreter psychotherapeutischen Arbeit und weist Verbindungen mit thera-
peutischen Konzepten wie Traumatisierungen durch „man-made disasters“, aber auch invalidie-
rende biografische Erfahrungen (Linehan 1993) auf.
Wie bereits J.J. Rousseau (2011), Wegbereiter der französischen Revolution, im Gesellschafts-
vertrag 1762 treffend anmerkte:

» Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. (Rousseau 2011, S. 1)

8.2 Akzeptanz – Hintergrund und Konzepte

8.2.1 Hinleitung – Begriff in Praxis und Theorie

Im Gegensatz zu Würde werden mit Akzeptanz weniger Eigenschaften von Individuen verbun-
den. Der Begriff beinhaltet vielmehr eine Prozesshaftigkeit. So wird im Alltag auch eher die Verb-
form verwendet (z. B. „Das muss ich akzeptieren“). Dies findet sich in der lateinischen Wurzel
„accipere“, was mit „nehmen, was angeboten wird“ übersetzt werden kann. Akzeptanz scheint
also im weiteren Sinne mit einer „Handlung“ verbunden zu sein. Eine historische Entwicklung
des Begriffs vor dem Hintergrund unterschiedlicher Epochen und Weltsichten findet sich philo-
sophisch nicht. Nach Lucke (1998) fehlte das Wort sogar bis 1980 im Duden.
Akzeptanz in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung findet sich auf verschiedenen
Ebenen. Zunächst spielt der Begriff in der Meinungsforschung und der Beschreibung gesell-
schaftlicher Entscheidungsprozesse eine Rolle. Oft verwendet wird die Phrase „Akzeptanz (in)
der Bevölkerung“. In diesem tendenziell soziologischen und politischen Sinne wird Akzeptanz
von „Toleranz“ oder „Legitimität“ abgegrenzt (Lucke 1998).
8.2 · Akzeptanz – Hintergrund und Konzepte
95 8
Lucke (1995) betont dabei in ihrem Akzeptanzmodell die drei Betrachtungsebenen Akzeptanzsub-
jekt, Akzeptanzobjekt und Akzeptanzkontext. Eine vollständige Betrachtung von Akzeptanz beinhal-
tet damit nicht nur die Frage, „was“ akzeptiert wird, sondern auch von „wem“ unter welchen Voraus-
setzungen und Bedingungen. Akzeptanz hat demzufolge oft eine zwischenmenschliche Perspektive.
In diesem Rahmen nennt Lucke (1998) unterschiedliche akademische Disziplinen, in denen
Akzeptanz diskutiert wird:

» Die Fragen nach Akzeptanz und Akzeptierbarkeit stellen und stellten sich außer einer an
menschlichem Verhalten und zwischenmenschlicher Interaktion interessierten Philosophie
und Psychologie, in der Politologie und der Jurisprudenz, ebenso wie in den Wirtschafts-,
oder in den Religions- und Sprachwissenschaften. (Lucke 1998, S. 10).

Potenzielle Akzeptanzobjekte sind Verhaltensweisen, Lebensstile, Handlungen, Personen,


Gruppen, Geschlechtszugehörigkeiten und Berufe. Ob ein Subjekt ein Objekt akzeptiert, wird
von seinen Grundhaltungen und Verhaltensdispositionen beeinflusst. Objekte und Subjekte
stehen wiederum in Wechselwirkung mit subkulturellen und sozialen Kontexten, womit unter
anderem maßgebliche Bezugsgruppen und Milieuumfelder gemeint sind.
Auf intrapsychischer Ebene steht Akzeptanz für einen aktiven Prozess, der die Bereitwillig-
keit, auch unangenehme Zustände zu erleben, bezeichnet. Aktuelle psychotherapeutische Ent-
wicklungen betonen Akzeptanz als zentrale Komponente der Psychotherapie.
Akzeptanz ist dabei kein verbales Lernen, sondern eine erfahrungsgesteuerte Fertigkeit. Die
Arbeitsgruppe um Steve Hayes (z. B. Hayes et al. 1999) entwickelte mit der „Akzeptanz- und
Commitmenttherapie” (ACT) einen Ansatz, der „Ja-Sagen“ und offenes Annehmen als Aspekte
der Akzeptanz beschreibt.
Linehan (1993) spricht in der „Dialektisch-Behavioralen Therapie“ (DBT) gar von „radikaler
Akzeptanz“. Akzeptanz muss dabei von Resignation abgegrenzt werden. Diese Unterscheidung
findet sich besonders deutlich in dem im Volksmund bekannten „Gelassenheitsgebet“, dessen
bekannteste Version dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr zugesprochen wird:

» Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Dinge „hinzunehmen“ (im englischen Original „accept“) steht hier eingebettet in die Fähigkeit,
zu unterscheiden, was veränderbar ist und was nicht. Es ist nicht das Ziel, negative veränderbare
Lebensumstände resigniert zu ertragen. „Das muss ich akzeptieren“ kann dort für Menschen,
die z. B. in depressiven Symptomen oder unzumutbaren Lebensumständen feststecken, zu einer
Falle werden. Gleichzeitig kann das unreflektierte Ankämpfen gegen allgemein menschliche,
existenzielle Gegebenheiten wie z. B. Altern und Tod zur Belastung werden (ausführliche The-
matisierung s. Noyon und Heidenreich 2012).

8.2.2 Zusammenfassung der Begriffsbestimmungen

Würde wird als inhaltlich komplexer Begriff verstanden, der sich über die Zeit verändert hat. Er
kann als individuelle Eigenschaft, Anrecht oder sogar als Lebensform gedeutet werden. Würde
wird dabei durchgehend als etwas Positives und Schützenswertes gesehen. Akzeptanz wird im
96 Kapitel 8 · Würde und Akzeptanz in der Psychotherapie

Gegensatz dazu als vom Verb abgeleitete Handlung gesehen. Eine potenzielle Gefahr liegt darin,
dass in diesem Prozess auch Situationen und Zustände akzeptiert werden können, die veränder-
bar sind.
Daraus ergeben sich wichtige Fragen, die in der konkreten medizinischen und psychothera-
peutischen Praxis relevant werden können:
55 Was soll und was muss man akzeptieren?
55 Wie kann man „lernen“, etwas zu akzeptieren?

Bezüglich Würde fragt Peter Bieri (2013) treffend:

» Welche Art, mich selber zu sehen, zu bewerten und zu behandeln, gibt mir die Erfahrung
der Würde? (Bieri 2013, S. 13)

8.3 Würde in der Psychotherapie und angrenzenden Disziplinen

8.3.1 Würde in medizinischer Ethik und Pflegewissenschaft


8 Im Rahmen medizinischer Fortschritte und der damit verbundenen Veränderungen sind ethi-
sche Fragen allgegenwärtig. Welche medizinisch möglichen Eingriffe und Zustände wollen „wir“?
Wie soll mit Menschen in einem zunehmend professionalisierten medizinischen Umfeld umge-
gangen werden? Diese Fragen weisen eine Verbindung mit dem Konzept der Würde des/eines
Menschen auf.
Der Aspekt Würde hat kontroverse Diskussionen in der medizinischen Ethik ausgelöst. Ruth
Macklin (2003) bezeichnet Würde bereits im Titel ihres Artikels als „ein nutzloses Konzept“ und
fährt mit der Aussage fort, dass es „nicht mehr bedeuten würde als Respekt für Personen oder
ihrer Autonomie“ (Übersetzung T. H.).
Ist Würde also ein inhaltsleerer, unklarer Begriff, der leicht durch andere präzisiert werden kann?
Michael Marmot (2004) ist anderer Meinung und verknüpft Würde mit verschiedenen Situationen
im Gesundheitssystem und betont damit die soziale Dimension des Begriffs. Er sieht Würde als
„Bewusstseinseinstellung, die unser Verhalten gegenüber anderen Menschen leiten sollte“ (Marmot
2004, S. 1021). Diese Einstellung solle zudem „sozialpolitische Arrangements“ beeinflussen.
Aus dem Bereich der Pflegewissenschaften kommen Impulse bezüglich der Integration des
Begriffs Würde im Gesundheitssystem. In ihrer Metasynthese bestehender qualitativer Forschung
entwickeln Sabatino und Kollegen (2014) den Begriff „nursing professional dignity“ als basales
Konzept des pflegerischen Berufsstandes. Dabei werden sowohl Aspekte der gepflegten Person,
der pflegenden Person und Rahmenbedingungen des Arbeitsplatzes integriert.

8.3.2 Würde in der Psychotherapie

Luise Reddemann (2008, s. auch 7 Kap. 4 im vorliegenden Band) spricht bezüglich Würde von
einer „Annäherung an einen vergessenen Wert in der Psychotherapie“. Für sie kann „jede und
jeder … Würdeverletzungen ausgesetzt sein, nicht nur durch andere, sondern auch durch Lebens-
ereignisse, die wir als entwürdigend empfinden und die uns aufrufen, uns unserer Würde bewuss-
ter zu werden und sie gerade in Zeiten der Entwürdigung und – vermeintlicher – Würdelosigkeit
zu verteidigen, auch und gerade vor uns selbst (Reddemann 2008, S. 8).
8.3 · Würde in der Psychotherapie und angrenzenden Disziplinen
97 8
Für Elisabeth Lukas (2003) als Vertreterin von Viktor E. Frankls sinnzentrierter Psycho-
therapie steht für eine „Psychotherapie in Würde“ vor allem der Aspekt der Sinnerfüllung des
menschlichen Lebens im Vordergrund. Der Aspekt des Schützenswerten und Erstrebenswerten
wird in diesen Sichtweisen auch aus der psychotherapeutischen Perspektive deutlich. Gleichzei-
tig scheint Würde ein „indirekter Zustand“ zu sein, der durch positive und negative (innere und
äußere) Faktoren bestimmt wird.
Die Beschäftigung mit Würde spielte gerade in der klassischen verhaltensorientierten Psycho-
therapie nur eine untergeordnete Rolle. Zu Beginn der Verhaltenstherapie gab es einen starken
Fokus auf konkrete, beobachtbare Konstrukte auf der Grundlage lerntheoretischer Konzepte (zur
Entwicklung der Verhaltenstherapie s. Heidenreich et al. 2007). Neben Verhaltensanalysen und
Verstärkerplänen war „kein Platz“ für philosophische Begriffe wie Würde bzw. diese wurden vor
dem Hintergrund eines „Bottom-up-Prozesses“ verstanden.
Erhellend ist dafür die behavioristische Argumentation von Skinner (1971) in seinem Werk
„Beyond freedom and dignity“. Operante Analysen von Verhalten führen für ihn zu der Einsicht,
dass Leistungen umgebungsgesteuert sind. „Würde“ ist somit für Skinner (1971) keine unkondi-
tionale menschliche Eigenschaft, sondern das Ergebnis besonderer Leistungen.

8.3.3 Dignity Therapy

Eine direktere Thematisierung und Bearbeitung von Würde findet sich bei lebensbedrohlich und
terminal erkrankten Patienten. Chochinov und Kollegen (2005) entwickelten eine individua-
lisierte, manualisierte Kurzzeitpsychotherapie mit dem Namen „Dignity Therapy“, die bereits
empirisch evaluiert wurde (z. B. Chochinov et al. 2011, Review der quantitativen und qualitati-
ven Studien s. Fitchett et al. 2015).
Hintergrund sind Forschungen zur Suizidbeihilfe, die Zusammenhänge zwischen subjek-
tiv erlebtem Würdeverlust und Wunsch nach Sterbehilfe fanden. So berichteten z. B. 79,3% der
Personen, die in Oregon (USA) ärztliche Suizidbeihilfe in Anspruch nahmen, einen „Verlust von
Würde“ (Oregon Public Health Division 2015).
Die Sichtweise der Dignity Therapy basiert auf der Unterscheidung zwischen „grundlegender
Würde“ (im Englischen „basic dignity“) und dem „persönlichen Würdegefühl“ (im Englischen
„personal dignity“) (Pullman 1999). Die Dignity Therapy fokussiert das persönliche Würdege-
fühl aus Patientenperspektive (Schramm et al. 2014).
Chochinov und Kollegen (2002) fanden in der qualitativen Inhaltsanalyse halbstrukturierter
Interviews mit terminal an Krebs erkrankten Patienten drei Hauptkategorien, die den Würde-
begriff der Befragten bestimmten. In einem ersten Modell wurde dabei angenommen, dass die
Hauptkategorie „Würde bewahrendes Repertoire“ eine Pufferfunktion bei Belastungen durch
die beiden anderen Kategorien „soziale Würde“ und „krankheitsbezogenen Belangen“ haben
könnte. Die „krankheitsbezogenen Belange“ setzen sich aus dem Unabhängigkeitsgrad und der
Symptombelastung zusammen, denn wenn die kognitive Verfassung und funktionelle Kapazität
deutlich beeinträchtigt ist oder wenn starkes physisches oder psychisches Leiden herrscht, wird
dies häufig als Würdeverlust erlebt.
Auf die „erlebte soziale Würde“ haben unter anderem die Privatsphäre, die soziale Unterstüt-
zung und das Gefühl, anderen eine Last zu sein, Einfluss. Das „Würde bewahrende Repertoire“
setzt sich aus Perspektiven und Handlungen zusammen, die dazu beitragen, Würde trotz ihrer
Gefährdung aufrechtzuerhalten, etwa indem es gelingt, ein Gefühl von Selbstkontinuität, Stolz,
Autonomie, Hoffnung oder Normalität zu bewahren.
98 Kapitel 8 · Würde und Akzeptanz in der Psychotherapie

Die Interventionen der Dignity Therapy fokussieren auf die Stärkung des „Würde bewahren-
den Repertoires“, welches sich nach dem Modell weiter in „Würde bewahrende Perspektiven“ und
„Würde bewahrendes Handeln“ aufteilt (eine detaillierte Unterteilung der drei Kategorien findet
sich in Chochinov et al. 2002 bzw. auf Deutsch in Schramm et al. 2014).
Bei der Dignity Therapy werden in mehreren Sitzungen folgende Fragen zu bedeutsamen
Lebensbereichen des Patienten besprochen:
55 Erzählen Sie mir ein wenig aus Ihrem Leben; besonders über die Ereignisse, an die Sie sich
am meisten erinnern oder die am wichtigsten in Ihrem Leben waren. Was war Ihre beste
Zeit?
55 Gibt es bestimmte Dinge, die Sie Ihrer Familie über sich mitteilen wollen? Gibt es
bestimmte Erinnerungen, die Sie mit Ihrer Familie teilen wollen?
55 Was waren die wichtigsten Rollen, die Sie in Ihrem Leben eingenommen haben (familiär,
beruflich, gesellschaftlich etc.)? Warum waren Ihnen diese Rollen wichtig, und was haben
Sie Ihrer Meinung nach darin erreicht?
55 Was waren Ihre wichtigsten Taten, worauf sind Sie besonders stolz?
55 Gibt es Dinge, von denen Sie merken, dass sie noch ausgesprochen werden wollen? Oder
auch Dinge, die Sie Ihren Angehörigen gerne noch einmal sagen möchten?
8 55 Was sind Ihre Hoffnungen und Wünsche für Ihre Angehörigen?
55 Was haben Sie über das Leben gelernt, was Sie gerne anderen weitergeben möchten?
Welchen Rat oder welche Lebensweisheiten würden Sie gerne an Ihren … (Sohn, Tochter,
Mann, Frau, Eltern etc.) weitergeben?
55 Gibt es Worte/Botschaften oder vielleicht sogar dringende Empfehlungen, die Sie Ihren
Angehörigen mitgeben möchten, um ihnen zu helfen, ihre Zukunft gut zu bewältigen?
55 Gibt es andere Dinge, die Ihnen während dieses Gesprächs einfallen und die Thema sein
sollten?

Die Gespräche werden aufgenommen und transkribiert. Das finale Transkript kann vom Patien-
ten an wichtige Mitmenschen weitergegeben werden. In diesem Prozess sollen „die Wertschät-
zung für das eigene Leben erhöht, die Sinnfindung unterstützt und die Bedeutung des eigenen
Lebenswerks erkannt oder verstärkt werden“ (Schramm et al. 2014).

8.3.4 Würde und spezifische Störungsbilder

Möglicherweise spielen (ein Ringen um) Würde bzw. ein sehr unterschiedliches Verständnis von
Würde auch bei spezifischen Störungsbildern eine Rolle. So scheint es beispielsweise im Kern
von sozialen Angststörungen auch um die Frage der eigenen Würde zu gehen. Patienten nehmen
diese eben nicht als bedingungslos und unantastbar („inviolable“ nach Schroeder 2010, s. oben)
wahr, sondern sehen diese gerade in sozialen Situationen ständig bedroht. Es könnte angenom-
men werden, dass Würde in dieser Störungsgruppe eher als von außen zuschreibbar definiert
wird. Sie muss in diesem Sinne durch Handlungen und Leistung unter dem „Blick der Anderen“
erworben werden und hängt davon ab, wie diese Anderen mit einem umgehen.
Bezüge lassen sich auch zu depressiven Erkrankungen herstellen. Gerade bei schweren depres-
siven Episoden scheint die eigene Würde schwer angegriffen; allerdings nicht (nur) von anderen
Personen, sondern auch von der Art und Weise, wie die Person zu sich selber steht. Negative
Stimmung, Selbstzweifel und Selbstvorwürfe dominieren und verunmöglichen zum Teil jegli-
che Stärkung von außen.
8.4 · Akzeptanz in der Psychotherapie und angrenzenden Disziplinen
99 8
8.3.5 Zusammenfassung Psychotherapie und Würde

Würde wird von bekannten Vertretern als Grundlage und Voraussetzung für Psychotherapie
gesehen. Verbindung zu verschiedenen Therapieschulen und Störungsbildern sind herstellbar.
Gleichzeitig wird sie aber selten so explizit und systematisch als Therapiethema behandelt wie
in der Dignity Therapy.

8.4 Akzeptanz in der Psychotherapie und angrenzenden Disziplinen

Bereits von Karl Jaspers (1956) wurde Akzeptanz im Sinne des Annehmens von „Grenzsitua-
tionen“ hervorgehoben: Er bezeichnet damit „Situationen wie die, daß … ich nicht ohne Kampf
und ohne Leid leben kann, daß ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, daß ich sterben
muß, ….“ (Jaspers 1956, S. 203).
Viktor Frankl (1996) stellt Akzeptanz als Haltung, die Menschen gegenüber schicksalhaften
Gegebenheiten ihres Lebens einnehmen, dar. Er spricht dabei von „tragischem Optimismus“
als Bereitschaft und Haltung eines Menschen, auch den negativen und tragischen Aspekten des
Lebens einen individuellen Sinn abzuringen.
Rollo May (1999) sieht Akzeptanz in dem Spannungsfeld von „Freiheit und Schicksal“. Er
beschreibt Schicksal als Muster an Gegebenheiten, die letztlich zu akzeptieren sind, um mit diesen
Einschränkungen das Leben bestmöglich gestalten zu können. Für den Umgang mit dem Schick-
sal nennt Rollo May fünf Schritte:
55 (1) Kooperation,
55 (2) bewusst sein und anerkennen,
55 (3) in das eigene Schicksal treten,
55 (4) konfrontieren und herausfordern und
55 (5) begegnen und rebellieren.

May (1999) zitiert dabei Ortega y Gasset wie folgt:

» The sense of life … is no thing other than eachone’s acceptance of his inexorable
circumstance and, on accepting it, converting it into his own creation. (Ortega y Gasset, zit.
in May 1999, S. 93).

Auch in der Gestaltung der therapeutischen Beziehung spielt Akzeptanz eine besondere Rolle. So
beschreibt Rogers (1956) in seiner klientenzentrierten Psychotherapie, das „unbedingtes Anneh-
men“ („unconditional positive regard“) von Patienten als zentral für das therapeutische Arbeiten.
In neueren verhaltenstherapeutischen Entwicklungen wird Akzeptanz als ein zentrales
Element in Balance mit Veränderung gesehen (Heidenreich et al. 2007). Aber auch in frühe-
ren Entwicklungen taucht diese Idee auf. So betonen Kanfer, Reinecker und Schmelzer (Kanfer
et al. 2012) in ihrer Selbstmanagement-Therapie die zentrale Bedeutung der Unterscheidung von
„Problemen“ und „Tatsachen“: Während die Mehrzahl der in Therapien anzutreffenden Schwie-
rigkeiten Problemcharakter hat und dementsprechend „ … immer gewisse Aussichten auf eine
„objektiv“ mögliche Änderung oder Lösung … “ (Kanfer et al. 2012, S. 47) implizieren, sind Tat-
sachen „solche Ereignisse, Zustände oder Prozesse des Lebens, die ‚objektiv‘ nicht (oder nicht
mehr) änderbar sind“ (Kanfer et al. 2012, S. 47). „Probleme“ stellen insofern einen Ist-Zustand
dar, der sich in einen Soll-Zustand transformieren lässt. Diese Transformation ist bei „Tatsachen“
100 Kapitel 8 · Würde und Akzeptanz in der Psychotherapie

allerdings nicht möglich. Nach Kanfer et al. (2012) beruhen also „viele emotionale Schwierig-
keiten von Menschen […] auch darauf, dass Personen dort Änderungen versuchen, wo keine
möglich sind, oder umgekehrt Änderungen dort unterlassen, wo sie durchaus möglich wären“
(Kanfer et al. 2012, S. 47).
Die aktuelle Verhaltenstherapie versteht in diversen Therapieansätzen Akzeptanz als elemen-
tares Prinzip. Hier sollen nun die beiden bereits erwähnten Ansätze ACT von Hayes und Kolle-
gen (1999) sowie die DBT von Linehan (1993) vor dem Hintergrund ihrer Bekanntheit lediglich
kurz erwähnt werden.
55 ACT betont die Förderung von Akzeptanz in Bezug auf inneres Erleben (vor allem
Gefühle und Gedanken). Dabei stellt Akzeptanz als Alternative zu „Erfahrungsver-
meidung“ („experiential avoidance“) einen der sechs Kernprozesse im Therapiemodell dar.
Akzeptanz beinhaltet das „aktive und bewusste Annehmen der individuellen Begeben-
heiten, die durch die persönliche Geschichte veranlasst sind, ohne unnötige Versuche
die Häufigkeit oder Form zu verändern … “ (Hayes et al. 2006, S. 7; Übersetzung T. H.).
Akzeptanz ist kein Selbstzweck, sondern eine Voraussetzung dafür, wieder zielbezogen in
Richtung bedeutsamer persönlicher Werte zu handeln.
55 Innerhalb der DBT hat Akzeptanz verschiedene Konnotationen und wichtige Abgren-
8 zungen (Linehan 1993). Eine erste Unterscheidung ist die von Akzeptanz und Resig-
nation. Letztere wird verstanden als kognitive Akzeptanz bei emotionaler Ablehnung.
Gelassenheit ist eine weitere Ebene und bezieht sich auf das Hinnehmen von Dingen, die
nicht geändert werden können. Die dritte Ebene ist die radikale Akzeptanz, die dadurch
charakterisiert ist, dass die Dinge so, wie sie sind, angenommen und bejaht werden.

Eine zentrale Erweiterung der klassischen kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) zur Umsetzung
der Akzeptanz von schwer kontrollierbarem innerem Erleben ist das Prinzip der Achtsamkeit
(Heidenreich und Michalak 2006). Die weiter oben im Text in den Raum gestellte Frage „Wie
kann man ‚lernen‘ etwas zu akzeptieren?“ findet hier eine „Antwort“. Achtsamkeit, im Sinne einer
spezifischen Form der Aufmerksamkeitslenkung (nach Kabat-Zinn 1990: „Auf den gegenwär-
tigen Moment bezogen, absichtsvoll und nicht wertend“) gilt als wichtige Methode zur Erlan-
gung von Akzeptanz.
Systematische Achtsamkeitstrainings im Rahmen von Programmen wie „Mindfulness-
Based Stress Reduction“ (MBSR, Kabat-Zinn 1990) ermöglichen das Erlernen einer akzeptie-
renden Grundhaltung. Es wird hierbei der achtsame Kontakt mit dem gegenwärtigen Augen-
blick betont. Sowohl angenehme als auch unangenehme Erfahrungen sollen so gut es geht in
dem Moment angenommen werden, in dem sie auftreten. Konkrete Übungen wie „Body Scan“,
Atemübungen und die Übertragung von Achtsamkeit in den Alltag ermöglichen dabei eine
Festigung dieser Fähigkeit. Auf dieser Grundlage wurde zudem der therapeutische Ansatz
„mindfulness-based cognitive therapy“ (MBCT) zur Rückfallprävention bei depressiven Stö-
rungen entwickelt (Segal et al. 2002).
Erste Verbindungen zwischen Achtsamkeit, Akzeptanz und Würde werden in der konkreten
Durchführung von Achtsamkeitsübungen deutlich. So werden beispielsweise bei der Sitzmedi-
tation die Übenden dazu angeregt, eine aufrechte und würdevolle Körperposition einzunehmen.
Dieser Aspekt des „embodiment“ signalisiert bereits, dass mit den Achtsamkeitsübungen eine
Würdigung der Erfahrungen jeden Augenblicks verbunden ist – jede Erfahrung ist einzigartig
und hat das Potenzial, wenn sie richtig erschlossen wird, eine bedeutsame Bereicherung für den
Achtsamkeit Übenden dazustellen.
8.5 · Verhältnis von Würde und Akzeptanz in der Psychotherapie
101 8
8.4.1 Zusammenfassung Psychotherapie und Akzeptanz

Akzeptanz spielte ursprünglich vor allem im Rahmen humanistischer und existenzieller


­Psychotherapieansätze eine Rolle. Die neueren Ansätze der Verhaltenstherapie (z. B. ACT, DBT)
betonten die Bedeutung von Akzeptanz und die Wichtigkeit, sich des dialektischen Spannungs-
verhältnisses von Akzeptanz und Veränderung bewusst zu sein. Achtsamkeit kann dabei die
Bereitschaft zu Akzeptanz fördern.

8.5 Verhältnis von Würde und Akzeptanz in der Psychotherapie

Wie bereits erläutert kann die Würde im Sinne Kants als unverletzbare Eigenschaft, die jedem
Menschen das Recht gibt, nie einfach als Mittel, sondern immer gleichzeitig als Zweck behan-
delt zu werden, verstanden werden. Nach Bieri (2013) bezieht sich Würde darauf, wie man von
Anderen behandelt wird, wie man Andere behandelt und welche Einstellung man zu anderen
hat und wie man zu sich selbst steht.
Führt man die Würde im Sinne Kants und Akzeptanz in der Psychotherapie zusammen,
erschließt sich, dass es um das Akzeptieren von Patienten mit ihren Eigenheiten geht. Ferner
kann abgeleitet werden, dass Akzeptanz schwieriger Lebenslagen die Möglichkeit bietet, Würde
auch im Leiden zu erleben. Die Akzeptanz, Hilfe in einer Therapie zu brauchen, ist dabei nach
Bieri (2013) zwar evtl. eine temporäre „Kränkung“, nicht jedoch eine Verringerung der Selbst-
bestimmung und Verlust der Würde (Bieri 2013, S. 83 ff).
Gemeinsam mit dem Therapeuten kann der Patient im Sinne von Kanfer und Kollegen (2012)
lernen, zwischen (zu akzeptierenden) „Tatsachen“ und (lösbaren) „Problemen“ zu differenzieren.
Für den Therapeuten heißt, die Würde des Patienten ernst zu nehmen, dabei auch, seine inneren
Kämpfe und Widerstände zu akzeptieren.
Nicht immer ist z. B. Sterben eine „akzeptierte Reise in die Nacht“ (Bieri 2013, S. 343). Viel-
mehr ist es ein individueller, oft widersprüchlicher Prozess. Der Dichter Dylan Thomas (1971)
fängt dies in seinem Gedicht „Do Not Go Gentle into that Good Night” eindrucksvoll ein. Er
beschreibt die Vielschichtigkeit zwischen Hilflosigkeit bezüglich des Alterns und Sterbens, die
akzeptiert werden muss, und dem Anspruch, dennoch dagegen anzukämpfen, sich bis zum
(eigenen) Ende aufzulehnen. Dies findet sich komprimiert in der Verszeile „Rage, rage against
the dying of the light.“
Anhand der drei Elemente von Peter Bieris Modell (2013) der Würde als Lebensform lassen
sich weitere Zusammenhänge zwischen Würde und Akzeptanz finden.
55 Auf der Ebene „wie man von Anderen behandelt wird“ kann die therapeutische Beziehung
ein wichtiges Lernfeld für Patienten sein. Der Kontakt mit einem Therapeuten ist im
Extremfall für einen Patienten das erste Mal, dass ein würdevoller und respektvoller
Umgang mit ihm gepflegt wird. Der Patient fühlt sich „akzeptiert“, kann Vertrauen
schöpfen und sich auch schwierigen Themen stellen. Oft berichten Patienten dann von
Begegnungen und Situationen, in denen ihre Würde z. B. durch Missbrauch oder invali-
dierende Umgebungen verletzt wurde. Hier gilt es, diese vorsichtig zu explorieren und
„gesunde“, mit Würde verbundene Anteile im therapeutischen Prozess aktiv zu stärken
(„Es ist nicht OK, dass XY so mit mir umgeht/umgegangen ist.“). Fehlgeleitete Akzeptanz
äußerer Umstände in Form von Resignation ist dabei zu verhindern. Es geht darum, die
Entwicklung und die Lerngeschichte zu ergründen und zu hinterfragen. Ob die eigene
Würde von anderen Menschen geachtet wurde, welche Spuren Missachtung der eigenen
102 Kapitel 8 · Würde und Akzeptanz in der Psychotherapie

Würde durch andere hinterlassen hat und ob eine posttraumatische Verbitterungsstörung


(Linden et al. 2004) vorliegt.
55 Auf der Ebene „wie man andere Menschen behandelt“ ist eine Analyse der Beziehungs-
muster und des interaktionellen Verhaltens des Patienten zentral. Achtet der Patient die
Würde anderer Menschen und auch die des Therapeuten? Gerade bei Persönlichkeits-
störungen sind dysfunktionale Interaktionsmuster und „manipulative“ Strategien oft
vorhanden (Sachse 2013). Dies ist allerdings nach Sachse (2013) ein Umgang mit der
Tatsache, dass wichtige Bezugspersonen in der Kindheit der Patienten zentrale Bezie-
hungsmotive durchgängig frustriert haben. Das dysfunktionale Handeln von heute war
damals die einzige Möglichkeit zu „überleben“. Störungswissen kann vor diesem Hinter-
grund helfen, auch schwierige Verhaltensweisen eines Patienten in seiner Funktionalität
zu verstehen. Für den Therapeuten geht es darum, den Patienten als Menschen mit einer
eigenen Lebensgeschichte zu akzeptieren und dessen Würde zu respektieren – ohne
einzelne Verhaltensweisen kritiklos hinzunehmen! Konfrontation mit wiederkehrenden
Verhaltensweisen ist notwendig, um zu überprüfen, ob dem Patienten dieses Muster
überhaupt bewusst ist.
55 Auf der Ebene, wie ein Patient „zu sich selbst steht“ ist eine Exploration der Selbstsicht
8 unumstößlich. Achtet der Patient seine eigene Würde? Sollte er dies nicht tun, ergibt sich
wiederum die Frage, inwieweit ihm dies bewusst ist. Die Identifikation dysfunktionaler
Selbst-Einstellungen und maligner Introjekte macht einen großen Bestanteil dieser
Ebene aus. Selbstakzeptanz unter Wahrung der persönlichen Würde ist entsprechend
ein zentrales Lernziel in Therapien (s. Potreck-Rose und Jacob 2013). Im Sinne einer
„radikalen Akzeptanz“ (Linehan 1993) geht es darum, zu sehen und zu akzeptieren, was ist.

Auf einer abstrakten Ebene könnten zudem integrative Modelle, die Konzepte der Würde mit
denen der Akzeptanz verbinden, stärker entwickelt werden. Eventuell könnten damit gewinn-
bringend Überschneidungen und Möglichkeiten der praktischen Anwendbarkeit erzeugt werden.
Beispielhaft könnte das ursprüngliche Modell von Chochinov et al. (2002) um die Konzeption
der Würde als Lebensform (mit ihren drei Unterteilungen) nach Bieri (2013) sowie der Balance
von Akzeptanz und Veränderung nach Linehan (1993) ergänzt werden.
Wir verstehen „Würde als Lebensform“ dabei als Ziel und lebenslangen Prozess, der sich auf
verschiedenen Ebenen abspielt. Die eigenen Kompetenzen in der Balance von Veränderung und
Akzeptanz auf den drei Ebenen der Würde können dabei zu einem gelungenen Lebensentwurf
beitragen.

8.6 Fazit

Dieses Kapitel informierte über die Bedeutung von Würde und Akzeptanz in der Psychotherapie
und ging dabei auf historische und philosophische sowie auf die Bedeutung der Konzepte in der
Psychotherapie ein. Akzeptanz ist folglich als eine vom Verb accipere abgeleitete „Handlung“ oder
als „Prozess“ zu verstehen und Würde als eine „Eigenschaft“, „Zustand“ oder „Lebensform“. Beide
Konzepte sind elementare Bestanteile therapeutischen Handelns und erscheinen – gerade auch
im Lichte neuerer therapeutischer Ansätze – als wichtige Leitschnur therapeutischen Handelns.
Metaphorisch könnte man die bestehende Metapher der „Gratwanderung“ zwischen Akzeptanz
und Veränderung um das Konzept Würde erweitern. Würde als Lebensform wäre dabei das Ziel
dieses Balanceaktes und dient gleichzeitig zur Überprüfung, ob die Balance gelingt.
Literatur
103 8
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8
105 9

Die therapeutische
Beziehung in
internetbasierten
Behandlungsansätzen
Thomas Berger

9.1 Einführung – 106

9.2 Internetbasierte Behandlungsansätze – 106

9.3 Die therapeutische Beziehung in internetbasierten


Behandlungsansätzen – 110

9.4 Diskussion – 114

9.5 Fazit – 115

Literatur – 116

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


H. Bents, A. Kämmerer (Hrsg.), Psychotherapie und Würde, Psychotherapie: Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54310-8_9
106 Kapitel 9 · Die therapeutische Beziehung in internetbasierten Behandlungsansätzen

9.1 Einführung

Die Präsenz des Internets in der heutigen Gesellschaft hat auch der psychosozialen Versorgung
neue Möglichkeiten eröffnet. Leichter als je zuvor können Menschen eine Fülle von Gesundheits-
informationen finden und sich mit anderen Betroffenen austauschen. Gesundheitsfachleute wie-
derum können ihre Hilfe auf Distanz mit zeitlicher Flexibilität anbieten und damit Betroffene
erreichen, die z. B. aufgrund geographischer Gegebenheiten, beschränkter Mobilität oder zeit-
licher Einschränkungen keine psychotherapeutische Unterstützung finden.
Die Erforschung und Anwendung internetbasierter psychosozialer Interventionen haben
in den letzten Jahren enormen Zuwachs erfahren. Bereits jetzt existiert ein breites Spektrum an
Online-Hilfen in diesem Bereich. Angebote reichen von webbasierten Selbsthilfeprogrammen
und mobilen Apps zu E-Mail-, Chat- oder Videotherapien, von Prävention über Beratung und
Therapie zu Nachsorge- und Rückfallpräventionsprogrammen, und von Interventionen, die
internetvermittelte Teile in Face-to-Face durchgeführte Psychotherapien integrieren bis hin zu
vollständig via Internet durchgeführten Interventionen.
Die Verwendung neuer Technologien in der psychosozialen Versorgung ist dabei nicht mit der
Einführung eines neuen therapeutischen Ansatzes zu vergleichen. Vielmehr werden bestehende
psychologische und psychotherapeutische Interventionen via Internet vermittelt. Wesentliche
Unterschiede zwischen internetbasierten und herkömmlichen Behandlungsansätzen bestehen
darin, dass Patienten einerseits relativ selbstständig an ihren Problemen arbeiten – z. B. wenn sie
9 psychoedukatives Wissen und verhaltenstherapeutische Übungen nicht zusammen mit einem
Therapeuten erarbeiten und durchführen, sondern sich alleine zu Hause mit einem Selbsthilfe-
programm aneignen, und dass andererseits die Kommunikation zwischen Patient und Thera-
peut nicht von Angesicht zu Angesicht stattfindet, sondern medienvermittelt und meist textba-
siert geschieht.
Die selbstständige Arbeit und das geschriebene Wort stehen also häufig im Vordergrund, und
Vertreter internetbasierter Behandlungsansätze sehen sich mitunter deswegen häufig mit der
Frage konfrontiert, welche Rolle die therapeutische Beziehung in diesen Ansätzen spielt, ob der
Aufbau einer therapeutischen Beziehung möglich ist und ob internetbasierte Behandlungsan-
sätze überhaupt funktionieren können, wenn doch der Aufbau einer tragfähigen Therapiebezie-
hung zwischen Patient und Therapeut in Psychotherapien einen zentralen Stellenwert einnimmt.
In diesem Kapitel werden zunächst einige internetbasierte Behandlungsansätze dargestellt,
um anschließend vertiefter auf die Bedeutung der therapeutischen Beziehung in diesem Kontext
einzugehen.

9.2 Internetbasierte Behandlungsansätze

Stefan sitzt im Zug auf dem Weg zur Universität und schaut auf sein Smartphone. Der 25-jährige
Student liest noch einmal, was er am Vorabend auf seinem Laptop in ein Selbsthilfeprogramm
zur Behandlung sozialer Ängste eingetragen hat. „Ich werde mich morgen im Seminar mindes-
tens zweimal melden“, hat er sich vorgenommen. Und: „Sätze nicht vorher im Kopf ausformu-
lieren, einfach mal drauflosreden und den Blickkontakt mit den anderen Studenten und der
Dozentin halten“.
In den letzten Wochen hatte Stefan mit Hilfe eines Online-Selbsthilfeprogramms gelernt,
worauf er in sozialen Situationen achten soll. Und er hat geübt – beispielsweise freies Reden
vor einem auf dem Bildschirm dargebotenen Publikum. Vor dem Bildschirm ist ihm das ganz
9.2 · Internetbasierte Behandlungsansätze
107 9
gut gelungen, aber jetzt, als es ernst wird, ist er doch sehr nervös. Er liest noch einmal die auf-
munternden Worte, die ihm seine Therapeutin gestern in der geschützten Selbsthilfeumgebung
geschrieben hat.
Therapeutenunterstützte Selbsthilfe wird diese Form der Behandlung genannt. Stefan arbeitet
sich Schritt für Schritt durch verschiedene Therapiemodule eines Selbsthilfeprogramms und wird
gleichzeitig von einer Therapeutin unterstützt. Seine Therapeutin hat Stefan nie gesehen. Einmal
in der Woche erhält er eine schriftliche Rückmeldung. Die Therapeutin gibt ihm ein kurzes Feed-
back zu den Einträgen im Selbsthilfeprogramm, macht ihm Mut, beantwortet Fragen und erklärt
kurz, welche Aufgaben als Nächstes auf ihn warten.

9.2.1 Definition und Formen internetbasierter Behandlungen

Eine einheitliche Definition und Beschreibung internetbasierter Interventionen ist nicht einfach,
da verschiedene Perspektiven, Begriffe, technische und inhaltliche Lösungen existieren (Barak
et al. 2009). Im Folgenden werden verschiedene Formen internetbasierter Behandlungen zunächst
nach verschiedenen Kriterien unterschieden.

z Internet als Kommunikations- und/oder Informationsmedium


Grundsätzlich kann das Internet zu Kommunikationszwecken zwischen Hilfesuchenden und Pro-
fessionellen und zur interaktiven Vermittlung von Wissen verwendet werden. Die oben beschrie-
bene von Stefan genutzte geleitete Selbsthilfeintervention kombiniert die Möglichkeiten des Inter-
nets als Informations- (Selbsthilfeprogramm) und Kommunikationsmedium (Kontakt mit einer
Therapeutin).
Geleitete Selbsthilfeinterventionen sind die bisher am häufigsten eingesetzten und erforschten
Internet-Interventionen und existieren inzwischen für alle häufigen psychischen Störungen wie
Depression, verschiedene Angststörungen, Essstörungen, aber auch für körperliche Probleme
wie Tinnitus oder sexuelle Dysfunktionen (Andersson 2016). Der Austausch zwischen Patienten
und Therapeuten erfolgt dabei meist via E-Mail bzw. in einem in die passwortgeschützte Selbst-
hilfeplattform integrierten sicheren Nachrichtensystem. Therapeuten können nachvollziehen,
welche Inhalte ein Patient im Selbsthilfeprogramm wie bearbeitet, und, falls Prozessmessungen
integriert sind, wie sich die Symptomatik über die Zeit verändert. Auf der Basis dieser Informa-
tion und aufgrund von Fragen, die Patienten im Programm stellen, geben Therapeuten meist
einmal wöchentlich ein kurzes schriftliches Feedback.
Neben geleiteten Selbsthilfeprogrammen existieren auch reine Kommunikationsanwen-
dungen wie E-Mail, Chat- und Videotherapien (z. B. Psychotherapie via Skype) sowie ungelei-
tete Selbsthilfeprogramme und mobile Apps, die das Internet nur als interaktives Informations-
medium verwenden. Während Therapeuten in ungeleiteten Selbsthilfeprogrammen höchstens
in einer diagnostischen Phase involviert sind, sind das Ausmaß des Kontaktes und der zeitliche
Aufwand der Therapeuten bei E-Mail-, Chat- oder Videotherapien etwa gleich groß wie in Face-
to-Face-Therapien. Weil schreiben länger dauert als reden, kann der zeitliche Aufwand der The-
rapeuten in E-Mail-Therapien sogar etwas größer sein als in konventionellen Psychotherapien,
was einer der Gründe ist, weshalb reine E-Mail-Therapien bisher kaum erforscht wurden (Vern-
mark et al. 2010).
Insgesamt ist zu beobachten, dass E-Mail, Chat- und Videotherapien sich stärker als Selbst-
hilfeprogramme aus der Therapiepraxis entwickeln, weil Therapeuten und Patienten die ent-
sprechende Technik (z. B. E-Mail) unmittelbar zur Verfügung steht, während die aufwendig zu
108 Kapitel 9 · Die therapeutische Beziehung in internetbasierten Behandlungsansätzen

programmierenden Selbsthilfeprogramme eher von Universitäten entwickelt und unmittelbar


erforscht werden.

z Therapeutische Ansätze
Mit Begriffen wie E-Mail-, Online- oder Internettherapie ist nicht definiert, welche inhaltlichen
therapeutischen Ansätze realisiert werden. Das Internet ist letztlich nur ein Medium, über welches
alle möglichen Inhalte vermittelt werden können. Die meisten der bisher erforschten geleiteten
Selbsthilfeprogramme basieren auf störungsspezifischen, empirisch validierten, kognitiv-verhal-
tenstherapeutischen (KVT-)Manualen. Allgemein wird angenommen, dass sich KVT-Ansätze
aufgrund ihrer starken Strukturierung, Standardisierung, Direktivität und den vielen psycho-
edukativen Elementen und Hausaufgaben besonders gut für die Vermittlung via Internet und
im Selbsthilfeformat eignen (Klein und Berger 2013).
Inzwischen gibt es aber auch Studien zu internetbasierten psychodynamisch ausgerichteten
geleiteten Selbsthilfeinterventionen (Andersson et al. 2012a), zu internetbasierten Selbsthilfe-
programmen, die auf der Interpersonellen Psychotherapie (IPT) basieren (Donker et al. 2013),
und zu Programmen, die einen integrativen Ansatz verfolgen (Meyer et al. 2009).
Neben störungsspezifischen Interventionen wurden in jüngerer Zeit auch vermehrt störungs-
übergreifende wie transdiagnostische Ansätze und individualisierte Interventionen, in welchen
die Inhalte der Selbsthilfeprogramme aus einem Pool verschiedener Interventionsmodule indi-
viduell zusammengestellt werden, evaluiert (Berger et al. 2014; Carlbring et al. 2011; Titov et al.
9 2010).

z Kombination mit konventionellen Psychotherapien


Eine weitere Unterscheidung internetbasierter Interventionen betrifft die Frage, wie diese Inter-
ventionen mit konventionellen Psychotherapien kombiniert und in welcher Phase der psycho-
sozialen Versorgung sie eingesetzt werden. Bisher wurden vor allem Interventionen untersucht,
die vollständig via Internet vermittelt wurden. In jüngerer Zeit werden vermehrt sogenannte
„blended treatments“ erforscht: Eine Mischung aus konventionellen Psychotherapiesitzungen und
Online-Selbsthilfeprogrammen und Apps (Kleiboer et al. 2016; Krieger et al. 2014). Die Online-
Interventionen dienen hier dazu, Inhalte zwischen den Therapiesitzungen vorzubereiten oder zu
vertiefen und den Alltagstransfer neuer Verhaltens- und Denkweisen zu fördern.
In einer der noch wenigen Studien zu diesem Ansatz erwies sich das Kombinationsformat
als genauso wirksam wie eine konventionelle Psychotherapie, wobei die Anzahl der konventio-
nellen Therapiesitzungen durch die zusätzliche Verwendung der Online-Intervention deutlich
reduziert werden konnte (Ly et al. 2015).
Eine Art Mischbehandlung sind auch Interventionen, die von Patienten auf Wartelisten zur
Vorbereitung einer Face-to-Face-Therapie genutzt werden, und Ansätze, die der Rückfallprä-
vention und Nachbetreuung dienen, beispielsweise im Übergang von stationärer Therapie zum
poststationären Alltag bzw. zu einer ambulanten Anschlussbehandlung (Bauer et al. 2012; Ebert
et al. 2013; Holländare et al. 2011).

9.2.2 Vorteile und Risiken

Zu einer konventionellen Psychotherapie wäre Stefan nach eigenen Angaben nicht fähig gewesen.
Zu groß waren seine Hemmungen, einen Therapeuten aufzusuchen und jemandem von seinen
Problemen zu erzählen. Die Hemmschwelle, sich für die Online-Behandlung anzumelden, war
9.2 · Internetbasierte Behandlungsansätze
109 9
hingegen geringer. Zudem gab sie ihm die Möglichkeit, relativ anonym zu bleiben, seine Prob-
leme offener anzusprechen. Für Stefan war es einfach auch bequemer, von zu Hause aus und zu
selbstbestimmten Zeiten an seinen Problemen zu arbeiten. Er gab auch an, wiederholt über das
Geschriebene reflektiert und einzelne Module auch mehrmals durchgearbeitet zu haben.
Internetbasierte Interventionen weisen im Vergleich zu konventionellen Psychotherapien
Besonderheiten auf, die gleichzeitig von Vorteil, aber auch von Nachteil sein können (Berger
2015). So hat die von Stefan erwähnte niedrigschwellige und leichte Verfügbarkeit zwar den
Vorteil, dass viele Menschen erreicht werden können, zugleich aber den Nachteil, dass auch unse-
riöse Angebote mit zweifelhafter Professionalität leicht verbreitet werden können. Die Möglich-
keit der zeitlich flexiblen Nutzung hat den Vorteil, dass Interventionen außerhalb von üblichen
Arbeitszeiten, zu günstigen Lernzeitpunkten und mit flexiblem Tempo genutzt werden können,
aber auch den Nachteil, dass die fehlende zeitliche Struktur von Patienten einiges an Disziplin
und Motivation erfordert.
Die relativ anonyme Behandlung auf Distanz wiederum hat es Stefan erlaubt, offen seine Pro-
bleme zu kommunizieren. Die Behandlung auf Distanz bedeutet aber auch, dass die Vertrau-
lichkeit der Daten durch die Übertragung gefährdet und die Identität der Nutzer und Anbieter
möglicherweise nicht gesichert sind. Zudem ist es schwieriger, in Krisensituationen angemes-
sen zu reagieren.
In seriösen Angeboten wird deshalb versucht, auf geeignete Weise mit diesen Risiken umzu-
gehen. So besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich internetbasierte Interventionen auf-
grund der physischen Distanz und oft zeitverzögerten Kommunikation nicht eignen, um in
akuten Krisen angemessen zu reagieren. Entsprechend werden Patienten schon auf der Home-
page über diese Einschränkung informiert, und es wird auf Notfallnummern verwiesen. Außer-
dem wird meist ein Notfallplan erarbeitet, in dem definiert wird, wohin sich Patienten wenden
können, falls sie während der Intervention in eine Krise geraten.
Als wichtiger Beitrag zum Datenschutz sollten nicht nur technische Maßnahmen wie die Ver-
schlüsselung der Datenübertragung und Datenspeicherung realisiert werden, Patienten sollten
auch darüber informiert werden, dass die Vertraulichkeit der Datenübermittlung und -speiche-
rung auch von ihrem Verhalten abhängt. So können z. B. das Verwenden öffentlicher Compu-
ter und die unsachgemäße Aufbewahrung von Passwörtern Dritten den Zugang zu den Daten
ermöglichen, selbst wenn die Anbieter geeignete Maßnahmen zum Datenschutz getroffen haben.

9.2.3 Empirische Evidenz

Obwohl die Forschung zu internetbasierten Interventionen noch verhältnismäßig jung ist, exis-
tieren schon viele kontrollierte Wirksamkeitsstudien. Die vorhandenen Studien decken ein
breites Spektrum an psychischen und verhaltensmedizinischen Problemen und Störungen ab,
wobei am häufigsten Interventionen für verschiedene Angststörungen und Depression evaluiert
wurden (Andersson 2016). In den meisten Studien wurden geleitete oder ungeleitete Selbsthil-
feprogramme untersucht. Zu E-Mail- und Chat-Therapien liegen erst wenige Studien vor, deren
Ergebnisse allerdings vielversprechend sind (Kessler et al. 2009; Vernmark et al. 2010).
Verschiedene Metaanalysen (zusammenfassende empirische Studien über mehrere Einzel-
studien) zu den inzwischen über 100 kontrollierten Studien im Bereich internetbasierter gelei-
teter Selbsthilfeansätze zeigen, dass im Schnitt Behandlungseffekte erreicht werden, die mit der
Wirkung von konventionellen Psychotherapien vergleichbar sind (Andersson et al. 2014; ­Hedman
et al. 2012).
110 Kapitel 9 · Die therapeutische Beziehung in internetbasierten Behandlungsansätzen

Weil der zeitliche Aufwand von Therapeuten im Vergleich zu konventionellen Psychothera-


pien reduziert ist (der durchschnittliche Aufwand für Therapeuten beträgt 10–20 Minuten pro
Woche und Patienten), haben sich geleitete Selbsthilfeansätze auch als kosteneffizienter erwiesen
als konventionelle Psychotherapien (Hedman et al. 2012). Einschränkend muss zu diesen Studien
erwähnt werden, dass häufig selbstselegierte Stichproben untersucht wurden. Die Studienteilnehme-
rInnen wurden meist über Zeitungsannoncen und -artikel oder Internetforen rekrutiert und haben
sich damit gezielt und aus eigener Initiative für die Teilnahme an einer entsprechenden Interven-
tion entschieden. Sie waren damit möglicherweise besonders motiviert und deshalb geeignet für
den internetbasierten Ansatz. Es stellt sich also die Frage, ob die Ergebnisse auch auf Patienten
generalisiert werden können, die Therapeuten sonst in der Routinepraxis sehen. Ergebnisse aus
ersten Studien, in welchen geleitete Selbsthilfeansätze in der herkömmlichen Versorgungspraxen
untersucht wurden, deuten darauf hin, dass entsprechende Interventionen auch in routinemäßi-
gen Anwendungen sehr vielversprechende Ergebnisse erzielen (Andersson und Hedman 2013).
Gut gesichert ist im Weiteren, dass auch ungeleitete Selbsthilfeprogramme im Vergleich zu
Wartelistekontrollgruppen wirksam sein können, wobei typischerweise kleinere Effekte als bei
geleiteten Selbsthilfeprogrammen gefunden werden (Baumeister et al. 2010; Spek et al. 2007).
Die Unterschiede in den Effekten sind dabei wesentlich auf höhere Abbrecherquoten in ungelei-
teten Behandlungen zurückzuführen.
Der therapeutischen Unterstützung in geleiteten Selbsthilfeprogrammen scheint also eine
wichtige Rolle zuzukommen. Dabei könnte auch die therapeutische Beziehung von Bedeutung
9 sein. Darauf wird im Folgenden eingegangen.

9.3 Die therapeutische Beziehung in internetbasierten


Behandlungsansätzen

Die meisten Psychotherapeuten teilen wohl die Auffassung, dass der Aufbau einer tragfähigen
Therapiebeziehung zwischen Patient und Therapeut einen zentralen Stellenwert einnimmt. Damit
übereinstimmend zeigt sich in Metaanalysen – unabhängig davon, ob die Beziehungsqualität
von Patienten, Therapeuten oder objektiven Beobachtern eingeschätzt wurde – ein moderater,
aber konsistenter Zusammenhang zwischen der Güte der Beziehung und dem Therapieergeb-
nis (Horvath et al. 2011).
Die Forschung folgt bei der Definition und Messung der Therapiebeziehung häufig der weit
verbreiteten schulübergreifenden Konzeption des amerikanischen Psychologen Edward Bordin
(Bordin 1979). Nach Bordin beinhaltet die Therapiebeziehung drei wesentliche Komponenten:
55 den Aufbau einer emotionalen Bindung („bond“),
55 die Übereinstimmung zwischen Patienten und Therapeuten in den Behandlungszielen
(„goal“) und
55 die Übereinstimmung darin, wie diese Ziele zu erreichen sind („task“).

Die erste Komponente kann als affektive Beziehung umschrieben werden, in der Faktoren wie
Empathie, positive Wertschätzung und Echtheit nach Carl Rogers zentral sind. Die beiden
anderen Komponenten – Aufgaben- und Zielübereinstimmung – können als Arbeitsbündnis
zusammengefasst werden:
55 Was will ein Patient oder eine Patientin erreichen?
55 Welche Vorgehensweisen erscheinen ihm respektive ihr nachvollziehbar und realisierbar?
55 Wie müssen Techniken eingesetzt werden, damit sie für ihn oder sie maximal attraktiv sind?
9.3 · Die therapeutische Beziehung in internetbasierten . . .
111 9
Zur Messung der Therapiebeziehung wird in der Forschung entsprechend oft ein Fragebogen
oder Beobachter-Rating, welches diese drei Komponenten abbildet, das sogenannte Working
Alliance Inventar eingesetzt (Horvath und Greenberg 1989). Auch in Studien zur Therapiebe-
ziehung in internetbasierten Behandlungsansätzen wurde meist das Working Alliance Inven-
tar eingesetzt, wobei die Therapiebeziehung meist aus der Patientenperspektive und deut-
lich seltener aus der Therapeutenperspektive eingeschätzt wurde (Berger 2016). Studien, in
welchen die Therapiebeziehung aus der Beobachterperspektive eingeschätzt wurde, liegen
meines Wissens noch nicht vor.
Die Ergebnisse der vorliegenden Studien werden im Folgenden zusammengefasst und
diskutiert.

9.3.1 Kann in internetbasierten Ansätzen eine gute Therapiebeziehung


aufgebaut werden?

Viele der Studien zur Therapiebeziehung in internetbasierten Behandlungsansätzen wurden bei


geleiteten Selbsthilfeprogrammen durchgeführt, in welchen der Kontakt zwischen Therapeu-
ten und Patienten textbasiert, zeitlich versetzt (z. B. E-Mail) und im Vergleich zu konventionel-
len Psychotherapien auch vom Umfang her reduziert ist – meist schreiben Therapeuten einmal
wöchentlich eine kurze Nachricht und beantworten Fragen der Patienten.
Über die verschiedenen Studien hinweg zeigt sich konsistent, dass Patienten die Task- und
Goal-, aber auch die Bond-Komponente der Therapiebeziehung im Schnitt gut und etwa gleich
gut einschätzen, wie dies Patienten in Face-to-Face-Therapien tun (Berger 2016). Auf Fragen
wie „Ich spüre, dass mich die Therapeutin wertschätzt“ antworten Patienten in Online-Inter-
ventionen also im Schnitt vergleichbar positiv wie in konventionellen Psychotherapien. Auch in
Interventionen, in welchen der textbasierte Kontakt zwischen Patienten und Therapeuten etwas
intensiver ist als in anderen internetbasierten Interventionen (Knaevelsrud und Maercker 2006,
2007; Preschl et al. 2011), in videobasierten Therapien (Simpson und Reid 2014) und in den
wenigen Studien, in denen die Therapiebeziehung aus der Therapeutenperspektive eingeschätzt
wurde (Day und Schneider 2002; Knaevelsrud und Maercker 2007; Preschl et al. 2011), zeigen
sich vergleichbare Ergebnisse.
Wie können diese Resultate interpretiert werden?
Aus der Perspektive von Bordins Konzeption der therapeutischen Beziehung ist die Ziel-
und die Aufgabenübereinstimmung wohl deshalb oft gegeben, weil in den kontrollierten Studien
diagnostisch klar umrissene Zielgruppen untersucht werden, auf die die Intervention spezifisch
abgestimmt war. Entsprechend gut stimmen die Ziele und Vorgehensweisen im Schnitt mit den
Vorstellungen der Patienten überein.
Wie aber lassen sich die Resultate zur affektiven Komponente der Therapiebeziehung
erklären?

z Realisieren förderlicher Faktoren der Therapiebeziehung


Eine Erklärung für die in der Regel gute affektive Therapiebeziehung in Online-Interventionen
ist, dass Therapeuten in den kurzen schriftlichen Nachrichten häufig die gleichen förderlichen
Faktoren der Therapiebeziehung (z. B. Wertschätzung, Empathie, Verständnis zeigen) realisie-
ren wie dies Therapeuten in konventionellen Therapien tun (Andersson et al. 2012b; Paxling
et al. 2013). Die Wirkung dieser förderlichen therapeutischen Verhaltensweisen scheint demnach
nicht auf physische Nähe und gesprochene Sprache angewiesen zu sein.
112 Kapitel 9 · Die therapeutische Beziehung in internetbasierten Behandlungsansätzen

Zwischenmenschliche Nähe kann nach dieser Vorstellung auch durch schriftliche Botschaf-
ten entstehen. Dafür sprechen letztlich auch Brieffreundschaften oder Partnerschaften, die im
Internet auf Dating-Plattformen beginnen.
Berichte von Teilnehmern an Studien zu internetbasierten Ansätzen zeigen auch, dass sich
manche Patienten von ihren Therapeuten ein Bild machen und die Therapeuten auch während
der Bearbeitung der Selbsthilfematerialien als sehr präsent erleben („so als würde mir die Thera-
peutin über die Schulter schauen“). Diese Präsenz eines repräsentierten Therapeuten kann nach
Patientenberichten entscheidend dafür sein, ob die teils schwierigen Übungen, die in den Selbst-
hilfeprogrammen eingeführt werden (z. B. Expositionsübungen), auch tatsächlich in Angriff
genommen und durchgeführt werden.
Im Zusammenhang mit geleiteten Selbsthilfeinterventionen wurde im Weiteren argumen-
tiert, dass auch die Texte in den Selbsthilfeprogrammen Wärme, Verständnis und Empathie
ausdrücken und die Therapiebeziehung positiv beeinflussen können (Andersson et al. 2012b;
Richardson et al. 2010).

z Kompensieren medienbedingter Einschränkungen durch verändertes Patienten- und


Therapeutenverhalten
Eine andere Erklärung für die in den Studien gefundenen guten Beziehungswerte verweist auf ein
in Online-Therapien verändertes, an das Medium angepasstes Patienten- und Therapeutenver-
halten, mit welchem medienbedingte Einschränkungen aktiv kompensiert werden, sodass sich
9 die Therapiebeziehung trotz Fehlen sozialer und nonverbaler Signale wie Stimmfarbe, Körper-
sprache oder Augenkontakt letztlich genau so gut entwickeln kann wie in konventionellen Thera-
pien. So ist in textbasierten therapeutischen Kontakten z. B. zu beobachten, dass Stimmungs- und
Gefühlszustände verstärkt verbalisiert werden. In Analysen videobasierter Therapien wiederum
wurde gefunden, dass Therapeuten und Patienten nonverbal sehr viel aktiver als in konventio-
nellen Therapien sind und ein Verhalten zeigen, welches im Face-to-Face-Setting wohl als über-
trieben wahrgenommen würde (Bischoff et al. 2004; Day und Schneider 2002).
Viele Praktiker der Online-Beratung und -Therapie berichten auch, dass sich Ratsuchende
in Online-Settings rascher öffnen und intime Probleme und Themen schneller ansprechen, als
dies im Face-to-Face-Setting geschieht (Brunner 2009). Dieses Phänomen wird auch als „online
disinhibition effect“, also Online-Enthemmungseffekt bezeichnet (Suler 2004) und im Zusam-
menhang mit der Äquilibrium-Theorie der Intimität nach Argyle und Dean (1965) diskutiert.
Die Äquilibrium-Theorie der Intimität beruht auf der Annahme, dass zwei Personen in der
Interaktion einen als angenehm erlebten Grad der Intimität herzustellen versuchen. Die verschie-
denen Kanäle der Kommunikation wie Augenkontakt, körperliche Distanz oder Mimik werden
dabei zu einem kompensatorischen Ausgleich verwendet, wenn eine Abweichung vom Intimi-
tätsideal vorliegt. Gemäß dieser Theorie vermeiden wir den Blickkontakt in einem Aufzug, weil
wir uns körperlich schon in einer (zu) intimen Distanz befinden.
In der Anwendung dieser Theorie auf die medienvermittelte, textbasierte Kommunikation
kann angenommen werden, dass die Netzkommunikation letztlich einen sehr intimen verbalen
Austausch erlaubt, weil die Nähe auf anderen Kanälen reduziert ist (z. B. körperliche Distanz,
fehlende nonverbale Kommunikation).

z Methodische Erklärungen
Eine weitere mögliche Erklärung berücksichtigt, dass Patienten andere Erwartungen an Online-
und Face-to-Face-Therapien herantragen und dass diese Erwartungen auch die Einschätzung der
Therapiebeziehung beeinflussen. Illustriert wird dies mit Aussagen von Studienteilnehmern an
9.3 · Die therapeutische Beziehung in internetbasierten . . .
113 9
Online-Interventionen, die bezüglich der Therapiebeziehung interviewt wurden. Auf die posi-
tive Einschätzung der therapeutischen Beziehung in den Fragebogen angesprochen, antworte-
ten einige: „Dafür, dass der Kontakt nur online und textbasiert stattfand, war die Beziehung mit
dem Therapeuten sehr gut“ (Berger 2016).
Bei der Beantwortung von Fragebogenitems zur therapeutischen Beziehung werden also der
Kontext bzw. die möglicherweise reduzierten Erwartungen an die Beziehung in Online-Kontakten
berücksichtigt, was den Vergleich von Ratings, die in konventionellen und Online-Interventionen
gewonnen werden, verbietet. Würden an eine Online-Beziehung die gleichen Maßstäbe angelegt
wie an Face-to-Face-Therapien, würde die Online-Beziehung wahrscheinlich anders eingeschätzt.
Erwartungen und die Einstellung zu neuen Technologien spielen wohl auch bei der Einschät-
zung der Beziehung aus der Therapeutenperspektive eine Rolle. In einem interessanten Labor-
experiment zeigten Rees und Stone (2005) Therapeuten zufällig entweder die Videoaufzeich-
nung einer Face-to-Face-Therapiesitzung oder eine Therapiesitzung, die auf Distanz über ein
Videokonferenzsystem durchgeführt wurde. Obwohl das Therapeuten- und Patientenverhalten
in beiden Sitzungen identisch war – Rees und Stone arbeiteten mit Schauspielern – wurde die
Therapiebeziehung von den Therapeuten in der Videokonferenzbedingung signifikant schlech-
ter eingeschätzt. Die Autoren erklärten dieses Ergebnis mit den negativeren Erwartungen und
Einstellungen der Therapeuten gegenüber videovermittelten Therapien.
Diese Beispiele verdeutlichen, dass insbesondere, wenn die Therapiebeziehung über verschie-
dene Formate verglichen wird, es in Zukunft Studien braucht, in welchen die Therapiebeziehung
aus der Beobachterperspektive eingeschätzt wird. Unabhängige Beobachterratings erlauben eine
bessere Kontrolle von Beurteilungsverzerrungen und Kontexteffekten (Webb et al. 2011).
Eine weitere methodische Erklärung für die in der Regel gute Therapiebeziehung in Online-
Interventionen ist die Tatsache, dass in vielen Studien – wie oben erwähnt – selbstselegierte Stich-
proben untersucht wurden. Die Studienteilnehmer wurden meist über Medienberichte oder
Online-Foren rekrutiert und waren entsprechend interessiert, motiviert und für Internet-Inter-
ventionen möglicherweise besonders geeignet.
Da in den vorhandenen naturalistischen, in der Routinepraxis durchgeführten Studien die
Therapiebeziehung noch nie erhoben wurde, bleibt die Frage, ob sich die positiven Ergebnisse
zur Therapiebeziehung auf die Routinepraxis generalisieren lassen.

9.3.2 Welche Rolle spielt die Therapiebeziehung für den


Behandlungserfolg?

Wie erwähnt findet sich in konventionellen Psychotherapien ein moderater, aber konsisten-
ter Zusammenhang zwischen der Güte der Therapiebeziehung und dem Therapieergebnis. In
den bisherigen Studien zu Online-Interventionen sind die Zusammenhänge weniger eindeutig.
Tendenziell wurde in Online-Interventionen, die einen zeitlich intensiveren Kontakt zwischen
Patienten und Therapeuten beinhalten (Knaevelsrud und Maercker 2007; Preschl et al. 2011) eher
Zusammenhänge gefunden als in weniger kontaktintensiven Ansätzen (Andersson et al. 2012b).
Die bisherigen Befunde deuten auch darauf hin, dass die Übereinstimmung zwischen Zielen
und Vorgehensweisen (Goal- und Task-Komponente) wichtiger zu sein scheint als die Güte der
affektiven Beziehung (Bond-Komponente). In den Studien, in welchen die drei Komponenten
unterschieden wurden, zeigten sich oft bedeutungsvolle und statistisch signifikante Zusammen-
hänge zwischen der Goal- und und Task-Komponente der Therapiebeziehung und dem Behand-
lungserfolg, während in keiner der Studien ein statisch signifikanter Zusammenhang zwischen
114 Kapitel 9 · Die therapeutische Beziehung in internetbasierten Behandlungsansätzen

der Bond-Komponente und dem Behandlungsergebnis berichtet wird (Berger 2016). In Internet-
Interventionen scheint also die affektive Beziehung zwischen Patient und Therapeut im Schnitt
weniger wichtig zu sein als in konventionellen Psychotherapien.
Gerade aus Studien zu geleiteten Selbsthilfeansätzen gibt es aber auch Hinweise, dass die
Beziehung zum Therapeuten für manche Patienten wichtiger ist als für andere. Während manche
Patienten praktisch nur mit dem Selbsthilfeprogramm arbeiten und die Möglichkeit zum Aus-
tausch mit dem Therapeuten kaum nutzen, schreiben andere Patienten sehr viel und oft. In einer
Re-Analyse von Daten einer geleiteten Selbsthilfeintervention fanden wir in der Subgruppe jener
Patienten, die in intensiverem Austausch mit den Therapeuten standen, substantielle und sta-
tistisch signifikante Zusammenhänge zwischen der zu verschiedenen Zeitpunkten gemessenen
Bond-Komponente Und dem Behandlungsergebnis (Berger et al. 2009). In der Subgruppe mit
geringem Kontakt fanden sich keine Zusammenhänge.
Internetbasierte Ansätze regen also auch dazu an, die Therapiebeziehung unter differentiel-
len Gesichtspunkten zu betrachten und könnten in Zukunft dazu beitragen, Moderatoren des
Zusammenhangs zwischen Therapiebeziehung und Therapieergebnis und Charakteristiken von
Klienten, für die eine gute Therapiebeziehung wichtig oder weniger wichtig ist, zu identifizieren.
Insgesamt muss festgehalten werden, dass die Studien zum Zusammenhang zwischen der The-
rapiebeziehung und dem Therapieergebnis bisher nicht von der gleichen methodischen Qualität
sind wie viele Studien im Bereich konventioneller Psychotherapien. So wurde die therapeutische
Beziehung bisher kaum wiederholt gemessen und entsprechend fehlen auch Untersuchungen,
9 in welchen z. B. der zeitliche Zusammenhang zwischen frühen Symptomveränderungen und
Beziehungsvariablen evaluiert wurden.

9.4 Diskussion

Die bisherigen Ergebnisse zur therapeutischen Beziehung in internetbasierten Behandlungsan-


sätzen müssen im Kontext des aktuellen Forschungsstandes zu diesem neuen Behandlungsfor-
mat interpretiert werden. So befand sich die Forschung bisher vornehmlich in einer Legitima-
tionsphase, d. h. es ging um die Frage, ob Internet-Interventionen überhaupt wirken und ob sie
ähnlich wirksam sein können wie konventionelle Psychotherapien. Auch die Art der bisherigen
Forschung zur Therapiebeziehung lässt sich dieser Legimitationsphase zuordnen. Erfragt werden
mögliche Gemeinsamkeiten zwischen Online-Interventionen und konventionellen Psychothera-
pien: Schätzen Patienten die Therapiebeziehung ähnlich gut ein wie in Psychotherapien und gibt
es auch in Internet-Interventionen Zusammenhänge zwischen Beziehungsvariablen und dem
Behandlungsergebnis? Die oben diskutierten Ergebnisse zu diesen Fragen werden denn auch
häufig zur weiteren Legitimation internetbasierter Interventionen verwendet („auch via Internet
kann eine tragfähige Beziehung aufgebaut werden, was für diese Ansätze spricht“).
In Zukunft sollten vermehrt spezifische Charakteristiken der Online-Beziehung und Unter-
schiede zwischen der Online- und Face-to-Face-Therapiebeziehung erforscht werden. Die oben
genannten möglichen Unterschiede, wie das verstärkte Verbalisieren von Stimmungs- und
Gefühlszuständen oder das raschere Ansprechen intimer Themen („Online-Enthemmungsef-
fekt“) in Internet-Interventionen sind insgesamt noch wenig erforscht.
Es ist auch anzunehmen, dass noch viele weitere Unterschiede bestehen. Beispielsweise
basiert die beschriebene Offenheit der Klienten in internetbasierten Interventionen möglicher-
weise weniger auf gewachsenem Vertrauen und einer vertrauensvollen Beziehung, sondern kann
eher als ein Stranger-in-the-train-Phänomen verstanden werden (Brunner 2009). Damit ist die
Literatur
115 9
Beobachtung gemeint, dass wir aufgrund einer wahrgenommenen Anonymität einer uns unbe-
kannten Person – z. B. einer fremden Person, die wir im Zug treffen – manchmal intimere Dinge
erzählen als unseren besten Freunden. Wenn wir nach einer solchen Zugfahrt gebeten würden,
einen Fragebogen zur Beziehung mit dieser fremden Person auszufüllen, würden wir die Fragen
möglicherweise auch positiv beantworten. Trotzdem ist diese Beziehung nicht vergleichbar mit
einer guten Beziehung zu einer uns nahestehenden Person. Insgesamt steckt die Forschung zu
spezifischen Merkmalen der Online-Therapiebeziehung noch in ihren Anfängen.
Kaum erforscht ist auch die Frage, ob die Therapiebeziehung in Internet-Interventionen
nicht nur einen förderlichen Kontext schafft, damit Patienten die vermittelten therapeutischen
Techniken erfolgreich anwenden können, sondern auch die Rolle eines therapeutischen Agens
übernehmen kann (z. B. indem sich der Therapeut anders verhält, als es frühere Beziehungser-
fahrungen nahelegen). Auch über mögliche Beziehungsbrüche wurde bisher kaum publiziert
(Svartvatten et al. 2015). Möglicherweise lässt die internetbasierte Kommunikation auch weniger
Raum für therapeutische Verhaltensweisen, die der Beziehung schaden. Das könnte bedeuten,
dass es in Internet-Interventionen – im Gegensatz zu konventionellen Therapien – auch keine
Therapien mit wirklich schlechter Therapiebeziehung gibt, was die im Schnitt guten Beziehungs-
werte miterklären könnte.

9.5 Fazit

Internetbasierte Behandlungsansätze – insbesondere geleitete Selbsthilfeprogramme – haben


sich bei verschiedenen psychischen Störungen als wirksam erwiesen. Auch via Internet kann
gemäß Patienteneinschätzung eine gute Therapiebeziehung aufgebaut werden. Diese Aussagen
basieren auf sehr konsistenten Befunden über viele Studien hinweg und können als gut gesichert
angenommen werden.
Weniger klar sind die Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen der Güte der Therapiebe-
ziehung und dem Therapieergebnis. Die bisherigen Befunde deuten darauf hin, dass die affektive
Beziehung zwischen Patient und Therapeut (Bond-Komponente der therapeutischen Allianz)
im Schnitt weniger wichtig scheint als in konventionellen Psychotherapien, wobei in kontakt-
intensiveren Online-Behandlungen eher ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen
Therapiebeziehung und -ergebnis berichtet wird.
Insgesamt tragen die bisherigen Untersuchungen zur Online-Therapiebeziehung vor allem
zur weiteren Legitimation internetbasierter Behandlungsansätze bei („auch via Internet kann
eine tragfähige Beziehung aufgebaut werden“). Zukünftige Forschung sollte sich weniger um die
Legitimation, sondern um ein besseres Verständnis der Besonderheiten und Unterschiede der
Online- und Face-to-Face-Therapiebeziehung bemühen.

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116 Kapitel 9 · Die therapeutische Beziehung in internetbasierten Behandlungsansätzen

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119

Serviceteil
Stichwortverzeichnis – 120

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


H. Bents, A. Kämmerer (Hrsg.), Psychotherapie und Würde, Psychotherapie: Praxis,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-54310-8
120

Stichwortverzeichnis

A C Erwartung-mal-Wert-
Modell 48
Abwertung 33 Care-Orientierung 69 Ethik, medizinische 96
Achtbarkeit 23 Compliance 50 Evidenzbasierung 39
Achtsamkeit 59, 100 Expertise 50
Achtsamkeitskonzept 86
advocatus diaboli 57
Akzeptanz 92, 94–95
D F
Akzeptanzmodell 95 Dankbarkeit 81
Daseinsthemen 72 Face-to-Face-Therapie 108
Alienation 51
Datenschutz 109 Familie 10
Allgemeines Modell der Psycho-
DBT-PTSD 57 –– als Quelle für Ehre 10
therapie 23
Demenz 63 –– am Lebensende 74
Alter 62
Demut 36 Fertigkeit,
Altersbild 62–63
Demütigung 14, 39, 45, 62, 71 erfahrungsgesteuerte 95
Ambivalenzen 49
depressive Erkrankung 98 Forschungsergebnisse 25
Andersartigkeit 8
Deutungshoheit 17 Freiheit 99
Änderungserwartungen 50
Development of Psychotherapists Freiheitsverlust 16
Änderungsmotivation 48, 50, 53
Common Core Fürsorge 41
Änderungsziele 58
Anerkennen 83, 85 Questionnaire 24
Angststörung 98
Anstand 22
Dignity Therapy 97–98
Diskursethik 40 G
Äquilibrium-Theorie 112 Dogmen 53
Gamification 50
Arbeitsbündnis 110 Duell 12
Gefühle, des Therapeuten
Arbeitswelt 3 gegenüber
Autonomie 65, 68, 71
Aversion, persönliche 28 E Patienten 28
Gender-Gerechtigkeit 41
Ehre 9 Generativität 62, 74

B –– Innenorientierung 9 Gerechtigkeit, soziale 68


–– innere 9, 12 Gerechtigkeitsdiskurs 42
Ehrenmord 10 Geringschätzung 33
Balance 58
Ehrsamkeit 23 Gesundheit 85
Bedürfnisse 40
Ehrverlust 10–11 –– Grundbefähigung 67
Befähigungsansatz 67
embodiment 100 –– Grundbefähigung zu 67
Behandlungsmodul 57
emotionale Not 27 –– psychische 51, 84
Behandlungsziele 110
End-of-Life-Care 72 –– seelische 85
Belohnungssysteme 53
Endlichkeit 66, 80 Gesundheitsinformationen 106
Berufsausbildung, psychiatri-
Entfremdung 51 Gewalt 8, 11
sche 29
Entwürdigung 39, 45 Gewohnheit 49
Berufsethos 64
Erfahrungen Glaubenseifer 81
Beschämung 39, 45
–– als Therapeut 32 Glaubensinhalte 83
Beziehung
–– spirituelle 80 Glaubensüberzeugungen 85
–– identitätsstützende 70
Erfahrungshorizont 80 Gleichheit 41
–– therapeutische 101
Erfolgsquote 50 Gottesebenbildlichkeit 13, 15
Beziehungsgestaltung 49
Erfüllung 69 Gottesfurcht 81
Beziehungsmanagement 50
Ergriffenheit 81 Grabsteinübung 57
Bezogenheit, soziale 71
Erkennen 83 Grenzsituation 64, 75, 99
Bindung 110
Erkrankungen im hohen Grundbedürfnis 43
–– an das Leben 62
Alter 64 Grundbefähigungen 67
Bindungstheorie 31
Erwartung 48 Grundüberzeugungen 51
blended treatments 108
Stichwortverzeichnis
121 A–R

H körperliche Einbußen 64
Korrektheit 23
Neoliberalismus 38
neue Technologien 113
Handlungskompetenz 52 Kulturen, andere 56 Not, emotionale 27, 33
Handlungsorientierung 51–52 KVT 100 nursing professional dignity 96
Handlungsregel 49
Honour-and-shame-Gesell-
schaft 11 L O
Leben, mitverantwortliches 70 Online-Hilfen 106

I Lebensabschluss 71
Lebensende 65, 71
Online-Interventionen 111
Orientierung 16, 28
Identität 17, 51, 81, 83 Lebensform 94 –– Bedürfnis nach 16
–– berufliche 24 Lebensmottos 57 –– theoretische 28
–– kulturelle 51 Lebensqualität 65, 71
Lebenszufriedenheit 54, 58
–– personale 51
–– persönliche 71 Legitimationsphase 114
Legitimität 94
P
–– relationale 51
Leid 44 Pathologieverdacht 84
–– soziale 51
Leistungs-Konzeptionen 13 Patientenrechte 40
Identitätssicherung 51
Patientenrechtegesetz 36
Identitätsstörungen 52
Persönlichkeit 81
Ideologien 43, 53
Individualität 15 M Persönlichkeitsstörungen 102
Pflege 68, 96
–– Patient 36, 43
Mainstream-Psychotherapie 41 –– individualisierte 69
–– Therapeut 40
Mäzenatentum 10 Pflegecharta 63
inneres Erleben 100
–– Quelle für Ehre 10 Pflegewissenschaften 96
Integrität 62
Medikalisierung 37 Präventionsprogramm 58
Interessengruppen 42
Menschenbild 42, 62–63 Praxis, klinische 32
internetbasierte Behandlungsan-
–– individualistisches 8 Priority Values Questionnaire 55
sätze 106
Menschenblindheit 16 psychische Störungen 16
internetbasierte Interventio-
Menschenrechte 67 Psychoedukation 50
nen 107, 109, 112
Menschenwürde 13–14 psychosoziale Versorgung 108
internetbasierte Therapie 50
–– aspirational 65 Psychotherapie 16, 113
Interview
–– Unantastbarkeit 65 –– Ehre 16
–– narratives 70
–– Verletzungen der 14 –– konventionelle 113
–– SPIR-Interview 83
Messbarkeit 39 –– Psychotherapieausbildung
Intimität 112
Messinstrument 54 56, 86
Metaanalyse 109–110 –– Psychotherapierichtlinien 42
Mindfulness-Based Stress –– Wertediskussion 51
K Reduction
–– MBSR 100
–– Ziele 49

Kennen 83 Missachtung, therapeutische 22,


Klärungsprozesse 48
Kohärenz 52
26–28, 33
Misserfolg 49
R
Kommunikation 8, 17, 112 Mitgefühl 43 Rang, sozialer 10
–– medienvermittelte 106 Mitmenschlichkeit 2 Rehabilitation 68
–– virtuelle 8 –– psychotherapeutische 2 –– individudualisierte 69
Kompetenz 87 Mitverantwortung 72, 75 Religion 80–81, 84, 88
–– religionssensible 86 Motivation 48, 51, 53 –– Glaubensinhalte 83
–– selbstreflexive 87 Motivationsaufbau 50, 57 –– Glaubensüberzeugungen 85
–– therapeutische 64 Motivator 58 –– Idealisieren von 88
Konsistenz 52 –– psychotherapeutische Rele-
Konsistenztheorie 16 vanz 86
Kontrolle 16
–– Bedürfnis nach 16
N –– Religionsbegriff 80
–– Sinnstiftung 53
Kontrollerwartungs-Theorie 49 Nebenwirkungen von Psychothe- –– Spiritualität 81
Körperbild 63 rapie 50 –– Veränderungspotenzial von 82
122 Stichwortverzeichnis

Religiosität 72, 80 Sorge-Orientierung 69 Verhaltenstherapie 2, 100


–– Coping-Strategie 85 Sorgeformen 74 Verletzlichkeit 62, 65–66
–– psychische Gesundheit 85 –– alte Menschen 72 –– in hohem Alter 66
–– Spiritualität 85 Spaß 50 Vernunft 14, 38
religiosity gap 87 SPIR-Interview 83 Verstärkung, soziale 50
Resignation 100 Spiritualität 72, 79–82 Verwirklichungschancen 67
Resilienzprozess 54 –– Coping-Strategie 85 Videotherapie 106–107
Respekt 17, 24, 26, 32 –– Spiritualitätsbegriff 80 Vornehmheit 22
Ressourcen 49 –– spirituelle Erfahrungen 83 Vulnerabilität 65
Risikogesellschaft 8 –– Veränderungspotenzial von 82
Risikovariablen 52 Sterbehilfe 65
Risikowahl-Modell 48 Sterben 101
–– Qualität von 72 W
Sterbeprozess 71 webbasierte Intervention 106
S Stigmatisierung 16
Stimmigkeitserleben 75
Weltgestaltung 70
Wertbestimmung 57
Scham 49 Stolz 23 Werte 51, 55–56
–– bei Misserfolg 49 Störung, chronifizierte 57 –– Erwartung-mal-Wert-Modell 48
Schamgefühl 12 Störungsbild, spezifisches 98 –– persönliche 52, 55–56
Scheitern 49 Stranger-in-the-train-Phäno- –– Psychotherapie 51
Schicklichkeit 92 men 114 –– Würde als Wert 27
Schicksal 99 Sympathie 24, 26, 32–33 Werteänderungen 56
Schuldgefühl 22, 81 Wertediskussion 51

T
Schulenorientierung 42 Wertefragebogen 53
Schwartz’sches Wertesystem 55 Wertekategorien 54
Selbst-Transzendierung 75 wertekohärente Handlung 53
Technologien, neue 106
Selbstachtung 15–17, 22–23 Wertekonflikt 55
Teilhabe 70
–– fehlende 23 Wertekrise 52
–– soziale, Wunsch nach 62
–– Verlust der 16 Werteprofil 55
Therapeuten 24, 30–31
Selbstbeherrschung 92 Wertespinne 56
–– jüngere 30
Selbstdarstellung 17 Wertesystem 52
–– männliche 30
Selbstfürsorge 59 –– persönliches 55
–– Persönlichkeit 31
Selbstgestaltung 70 Werteumsetzung 58
–– weibliche 30
Selbsthilfe Wertschätzung 9
Therapiebeziehung 99, 106,
–– individualisierte 108 Würde 2, 9, 15, 22, 27, 37, 64, 66,
110–111, 113–114
–– Internet-Intervention 107 69, 73, 82, 92
Therapiemotivation 58
–– Intervention, geleitete 107 –– Achtung von 82
Therapieprozess 49
–– Programm 106–108, 110 –– alter Menschen 64, 69
Therapieschulen 88
–– therapeutenunterstützte 107 –– Außenaspekt, Innenaspekt 15
Therapy of the Lifespan 52
Selbstjustiz 11 –– Begriff der 12
Tod, Sterbeprozess 71
Selbstmanagement-Therapie 99 –– Differenzierung des Würdebe-
Toleranz 94
Selbstreflektion 80 griffs 65
Tugend 92
Selbstsicht 102 –– gelebte 73
Selbstwertgefühl 15 –– historische Entwicklung 92
Selbstwirksamkeit 49
Selbstzweck 38 U –– ideengeschichtliche Entwick-
lung 92
Sexualität 11 –– in medizinischer Ethik 96
Überzeugungen, irrationale 84
Sicherheit 52 –– Lebensende 63
Unanständigkeit 23
Sinnerfüllung 97 –– menschliche 33
Sinnerleben 55, 75 –– personale 66
Sinnhaftigkeit 53
Sinnstiftung 51, 53 V –– Verletzung der 36
–– verwirklichte 73
Skype 107 Veränderungsprozess 58 –– Wahrung von 2
Society for Psychotherapy Re- Verantwortung 63 Würde als Errungenschaft 93
search 23 Verbitterungsstörung 102 Würde als Haltung 93
Sorge 72 Vergänglichkeit 66 Würde als Lebensform 102
Stichwortverzeichnis
123 S–Z

Würde im aristokratischen Sin-


ne 93
Würde im Sinne Kants 93
Würde im traditionell christlichen
Sinne 93
Würdeaspekt in der Psychothera-
pie 36
Würdeerfahrung 94
Würdeorientierung 45
Würdigung 2–3, 22
–– heilende 3
–– psychotherapeutische 2

Z
Zeitgeist 3
Zielerreichung 58
Zugehörigkeit 50, 69
–– soziale 52
–– soziokulturelle 83

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