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PHILIPP VON HILGERS

KRIEGSSPIELE
EINE GESCHICHTE DER AUSNAHMEZUSTÄNDE
UND UNBERECHENBARKEITEN

WILHELM FINK
FERDINAND SCHÖNINGH
Umschlaggestaltung:
Joulia Strauss (Berlin), „Papierkrieg" - Eine Hommage an Michelangelo Antonioni

PVA
2008.
1353

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen


Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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Zugl.: Humboldt-Universität zu Berlin, Diss., 2006

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W. Fink I Schöningh
ISBN 978-3-7705-4645-9 I ISBN 978-3-506-76553-6
Bayerische
Staatsbibliothek
München
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INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG 7

I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER 11
1. Formationen des Zahlenkampfs 11
2. Einpflanzung der Mathematik 15
3. Zeichenwerdung 19

II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 23


1. Spielräume entfaltet 23
2. Leibniz' graphemische Strategien 27
3. Christoph Weickmanns Machtspiel 32
4. Spiel als Hort des Wissens 40

III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 43


1. Vom Kriegsspiel 43
2. Kleists Kriegsspiele 45
3. Clausewitz' „Taktik-Fabrik" 53
4. Order out of order: Reiswitz' taktisches Kriegsspiel 58
5. Das Kriegsspiel als Kriegsschule 65

IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 73


1. Kriegstheater 73
2. Das Reale der Simulationen 79
3. Eugen Otts Kriegsspiel des Ausnahmezustands 82
4. Applikatorische Methode 92
5. Geschichte des laufenden Kriegs 96
6. Führerprinzip 100
7. Befehlsketten 107
V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 113
1. Höhere Mathematik in der Allgemeinen Kriegsschule 113
2. Fabrikation physiko-mathematischer Gegenstände 123
3. Wendungen der Mathematik 124

Vi. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 129


1. Die Doppelte Buchführung des Aufklärungsoffiziers Wittgenstein 129
2. Krieg auf dem Mars: Wittgensteins erstes Sprachspiel 144
3. Zeichenspiel 151
4. Beweisfiguren jenseits des souveränen Subjekts 154
5. Gleichursprünglichkeit von Spieltheorie und Universeller Maschine 165

QUELLEN UND LITERATUR 181


Quellen 181
Literatur 182

ABBILDUNGSNACHWEIS 199

DANKSAGUNG 201

PERSONENREGISTER 203
EINLEITUNG

Es gibt zwei Felder, die gängige Kulturgeschichten des Spiels - so ernst und
intensiv sie es aufnehmen - Lügen strafen: das Schlachtfeld und die Sphäre
mathematischer Operationen. Denn spätestens nach dem Ersten Weltkrieg
wird in Deutschland in mathematischen wie auch militärischen Diskursen
nicht nur um die Grundlegung und Mächtigkeit ihres jeweiligen Operations-
feldes gerungen, sondern sie entdecken auch gleichzeitig das Spiel als pro-
duktiven Begriff. Seit diesem Moment stellen „Kriegsspiele" und schließlich
„war games" keine seltsame Wortfügung mehr dar, die einem Oxymoron
gleichkämen, sondern das vermutlich wirkungs- und gleichzeitig verhängnis-
vollste Konzept, das das 20. Jahrhundert zur Bewältigung seiner Krisen her-
vorgebracht hat.
Allerdings ist dem Begriff und der Sache des Kriegsspiels nicht gerecht zu
werden, wenn seine lange, alles andere als geradlinig verlaufende und nicht
immer ins Offensichtliche drängende Geschichte unberücksichtigt bleibt. Als
Konsequenz ist der zeitliche Rahmen der vorliegenden Studie, die im Mittel-
alter einsetzt und bis an den Zweiten Weltkrieg heranreicht, sehr weitgefaßt.
Ihm steht eine deutliche Begrenzung des Untersuchungsraums entgegen: Er
erstreckt sich von den mittelalterlichen, auf Pergament gebannten Spielflächen
deutscher Bistümer über die Spielkammern barocker Fürstenstaaten bis hin zu
den papiernen Planspielen des Deutschen und „Dritten" Reiches.
Auf einen heute oft zu Recht eingeforderten Blick, der schon allein zu Ver-
gleichszwecken über Ländergrenzen hinwegschaut, wurde weitgehend ver-
zichtet. Denn anstatt Relationen in den Vordergrund zu rücken, werden sehr
spezifische Konstellationen untersucht. Die Entscheidung, Ausnahmezustände
allein der deutschen Geschichte herauszustellen, erscheint schon deswegen
angezeigt, weil hier spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts, sowohl hin-
sichtlich der Kriegsmaschinen als auch des mathematischen Betriebes, eine
bemerkenswerte Meisterschaft zum Vorschein kommt, die ihresgleichen
sucht.'

Zu diesem Schluß kamen schon in den 1950er Jahren Vera Riley und John P. Young, die das
Potential des Kriegsspiels für die damals neue Forschungsdisziplin des Operation Research
systematisch erschlossen. Siehe: Bibliograph}' on War Gaming, Chevy Chase, Maryland,
1957. Die Aktualität des Kriegsspiels führen sie im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurück:
Erstens auf den Erfolg, den die deutschen Streitkräfte damit verbuchten und die „wahrschein-
lich den größten Nutzen aus Kriegsspielen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zogen."
Ebenda, S. 8. Zweitens führen sie John von Neumanns Spieltheorie an, die, schon 1928 vor-
gelegt, dann nach dem Zweiten Weltkrieg eine tiefgreifende Theoretisierung von taktischen
und strategischen Spielen ermöglichte. Vgl. ebenda, S. 9.
s EINLEITUNG

In den ersten beiden Kapiteln, die beim mittelalterlichen Zahlenkampf ein-


setzen und sich bis zu Leibniz' barocken Symbol- und Maschinenkonfigurati-
onen erstrecken, ist zunächst das Argument zu entwickeln, wie mathematische
und militärische Zeichenkonzepte durchaus noch im Begriff des Spiels in eins
fallen konnten und nur sehr allmählich eine Ausdifferenzierung erfuhren. Nur
so kann deutlich werden, daß schließlich die geschiedenen mathematischen
und militärischen Professionen des 20. Jahrhunderts vom Spiel als Medium
untergründig weiterhin eingenommen bleiben.
Insbesondere der Entwurf ihrer Regelsysteme ist einer genauen Analyse zu
unterziehen, die den Blick auf die Durchlässigkeiten am Rand ihrer Spielbeg-
riffe und Spielszenarien keinesfalls ausschließt. Schließlich gilt es auch zu
beobachten, wie hier die einerseits hochabstrakten mathematischen und ande-
rerseits sehr konkreten wehrtechnischen Spielkonfigurationen in den Bereich
allgemeiner kulturtechnischer Praktiken übergehen.
Die mittleren Kapitel sind dann einer Zeit gewidmet, in der vor allem Carl
von Clausewitz - mit dem Blick auf die Friktionen des Kriegs und des „fog of
war" - dem Postulat genereller Berechenbarkeit eine Absage erteilte, und da-
mit ausdrücklich einen dem Spiel nahestehenden Wahrscheinlichkeitbegriff
umreißt, der erst mit der Thermodynamik zum epistemologisehen Rüstzeug
von Mathematik und Physik werden sollte. Für Clausewitz sprach alles dafür,
strategisches und mathematisches Wissen strikt zu trennen, während die in
seinen Augen überkommene Kriegslehre weiterhin versuchte, Napoleons ver-
streut operierenden Scharfschützen mit Formationen streng geometrischen
Zuschnitts zu begegnen. Clausewitz' Lehre vom Krieg der Kontingenzen stellt
ohne Zweifel einen Meilenstein in der Wissenschaftsgeschichte dar, weil
seine Art, den Krieg zu denken, Wirksamkeiten auf den Begriff bringt, die
weit über eine Philosophie des Krieges hinausreichen, damit aber auch mit der
beunruhigenden Tatsache konfrontieren, daß bestimmte Episteme erstmalig
und ausschließlich im Krieg zum Vorschein kommen und nach dessen Been-
digung nicht ihre Geltung verlieren. Und dennoch: Man wird Clausewitz' An-
spruch auf Generalität nicht gerecht, wenn man ihn allein vor seinem eigenen
Zeithorizont liest. Dann nämlich erschiene Clausewitz bloß als Advokat von
bis dahin ausgeblendeten Wirklichkeiten, die der „Krieg", in seinen Worten,
„auf dem Papier"2 nicht zu erfassen in der Lage ist. Diese Prämisse Clause-
witz' verliert - kaum ist sie formuliert - ihre Gültigkeit: Auf Zeichen ge-
stützte Koordinations- und Formationssysteme bleiben bald schon nicht mehr
nur auf die Darstellung entweder vergangener oder möglicher zukünftiger
Schlachten beschränkt, sondern beginnen maßgeblich in den Verlauf des
Schlachtgeschehens steuernd einzugreifen. Die Sicherstellung bestimmter
Lebensverhältnisse innerhalb ausgemachter Räume und Zeiträume erscheint
damit weniger als bloße Frage der rechten Gewaltanwendung, sondern als

von Clausewitz, Carl, Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz.
hg. v. Werner Hahlweg, Bonn, [1832] 1980, S. 262.
EINLEITUNG 9

eine der rechten Befehlsgewaltanwendung, womit der Krieg auf dem Papier
erst in beispielloser Weise entfacht wird. Clausewitz' Kriegslehre antizipiert
auf theoretische Art diese Entwicklung, doch faktisch implementiert wird die
Befehlsgewalt erst im Medium des taktischen Kriegsspiels, das nicht zuletzt
auch das Format des Buches sprengt, also jenem Medium dem Clausewitz
noch seine Lehren bis zu seinem plötzlichen Choleratod anvertraute.
In der Forschung ist bis heute nicht erkannt worden, welche entscheidende
Rolle der Kriegsdomänenrat George Leopold von Reiswitz bei der Entfaltung
dieses neuen, zeichenbasierten Operationsfeldes spielt. In diesem Zusammen-
hang ist auch auf Heinrich von Kleist einzugehen, der im Zuge der von Frei-
herr vom Stein formulierten und initiierten Reformen keineswegs nur Theater-
spiele entwarf, sondern sich auch auf Kriegsspiele einließ.
Nach der Rekonstruktion des historischen Rahmens, der die mathemati-
schen und militärischen Praktiken und ihre Ausbildung gleichermaßen erfaßt,
wird es in den drei letzten Kapiteln möglich sein, die generelle Fragestellung
in einem einzigen Fluchtpunkt zu bündeln. Gefragt wird nach dem Bereich, in
dem das Operieren im Krieg und im Reich der Zahlen konvergiert. Daß Mili-
tär und Mathematik immer wieder zusammengefunden haben, wäre indes
keine neue Behauptung.' Die Verbindungslinien wurden jedoch bis jetzt vor
allem im Bereich technischer Errungenschaften gezogen, deren Entwicklung
Mathematiker und deren Nutzung Strategen interessiert. Nimmt man jedoch
als verbindendes Element das Spiel an, so gelingt es einen Raum auszuma-
chen, der nicht immer schon durch ein teleologisches Moment determiniert
ist. Das Spiel erweist sich vielmehr als Ort, dem militärische wie mathemati-
sche Praktiken überhaupt erst entspringen, noch bevor konkrete Anwendun-
gen sie zu rechtfertigen vermögen. So ist für den mathematischen Diskurs der
1920iger Jahre der Nachweis zu führen, daß sich seine Polarisierung in for-
malistische und intuitionistische Positionen zwar vordergründig an der Be-
gründung oder Verwerfung einer mathematischen Metasprache entwickelte,
hintergründig jedoch mit dem Spielbegriff längst ein metasprachliches Objekt
den Kontroversen einen gemeinsamen Grund bereitet hatte.
Die Kriegsspiele der Reichswehr zeigen demgegenüber, auf welche Para-
meter es ankommt, sodaß Regime ihre konkreten Machtapparate im Anschluß
an diese papierenen Operationsbasen errichten können. Kriegsspielen fällt
damit eine besondere Funktion zu: Aufgefaßt als Medien, geben sie Auskunft
über eine generalstabsmäßige Geschichtsschreibung, die selbst Teil einer
Kriegstechnik geworden ist. Anstatt weiterhin Herrschaftsansprüche aus der
Vergangenheit abzuleiten, sichert ihre Historiographie in enger Kopplung mit

Vgl. einschlägige Publikationen: Booß-Bavnbek, Bernhelm und Jens Heyrup (Hg.), Mathe-
matics and War. Basel, Boston, Berlin, 2003 und Mehrtens, Herbert, „Mathematics and War.
Germany 1900-1945", in: National Military Establishments and the Advancement of Science
and Technology. Studies in 20th-Century History, hg. v. Paul Forman u. Jose Manuel San-
chez-Ron (= Boston Studies in Philosophy of Science, Bd. 180), Dordrecht, Boston, London,
1996, S. 87-134.
10 EINLEITUNG

Planspielen den Zugriff auf unmittelbar ausstehende Zeiträume. Dabei wird


vor allem dem Auftauchen einer doppelten Kontingenz Rechnung zu tragen
sein, die darin besteht, einen Kontigenzrahmen im Planspiel zu verankern,
dessen unberechenbare Durchbrechnungen im Verlauf der Planspiele dann die
maßgeblichsten Folgen für reale militärische Kommandostrukturen haben.
Mit Spieltheorien und Medientheorien, die das Fiktionale und die Simula-
tion in Opposition zur Realität setzen, ist gerade mit Blick auf Kriegsspiele
kritisch umzugehen. Wenn etwa der Soziologe Jean Baudrillard längst die
Zeit der Simulakren hat anbrechen sehen, die nicht einmal mehr als Schein der
Realität zu erfassen sind, sondern die sich durch Selbstreferenzialitäten be-
gründen, dann steht dieser Soziologie eine Geschichte der Simulationen ent-
gegen, deren Verwerfungen für die Ausbildung von Strategien mitunter nicht
weniger produktiv sind wie ihr Aufgehen in der Virtualität.
Die untersuchten Spielkonfigurationen sind als Techniken zu begreifen, an
denen Subjekte sich überhaupt erst ausgebildet haben. Insbesondere Mathe-
matiker des beginnenden 20. Jahrhunderts konnten noch glauben, einer Dis-
ziplin anzugehören, die allenfalls der „Spielerei"4 verdächtigt würde, welche
sie jedoch tatsächlich ziemlich unbemerkt in die Position brachte, die Opera-
tionsfelder des Zweiten Weltkriegs zu entwerfen. Davon, mit John von Neu-
mann als Begründer der Spieltheorie im Zentrum, handelt das abschließende
Kapitel.

So Bernays' Wort für den Grundverdacht, der dem Spezialfach der Logik entgegengebracht
wurde. Siehe Bernays, Paul, „Probleme der theoretischen Logik", in: Abhandlungen zur Phi-
losophie der Mathematik. Darmstadt, [1927] 1976, S. 1-16, hier S. 1.
I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER

1. Formationen des Zahlenkampfs

Nach Adam Ries gilt es zwischen Rechnung auff der linihen vnd federn"
strikt zu unterscheiden: Zahlen können als Marken auf den Linien des Aba-
kus', des antiken Rechenbretts, aufgestellt werden oder in Gestalt indisch-ara-
bischer Ziffern aus der Feder fließen. Doch als Ries in der frühen Neuzeit die
Vorzüge der anschreibbaren Ziffern pries, tat er das in einem Medium, das
nicht neutral zu den dargestellten Zahlenkonzepten stand. Gutenbergs Buch-
druck hob Operationen der Schrift besser auf und gab sie auch besser wieder
als alles andere. Als die okzidentalen und Orientalen Formen zu rechnen im
Mittelalter in Italien und Spanien erstmals aufeinandertrafen, kamen nicht
bloß unterschiedliche Darstellungsformen von Rechenoperationen zum Vor-
schein, sondern es zeigte sich, daß die Zahlenkonzeptionen sich schon auf
allen Ebenen ihrer materiellen Verköperung unterschieden. Der dramatischste
Unterschied tritt im Vergleich ihrer Stellenwertsysteme hervor: Während beim
Abakus, der tabula abachi, die Stelle, die nicht zählt, schlicht durch einen
Stein nicht verkörpert wird, kennzeichnet das indisch-arabische Zahlensystem
unterschiedslos einen Wert und die Nichtvorhandenheit desselben durch
Zeichen. Die Kunde von der Null wird von einigen Autoren deshalb mit
einigem Recht an den Anfang der Geschichte der Neuzeit gesetzt.5
Die Geschichte eines Zahlenkampfes schuf allerdings überhaupt erst eine
Plattform, auf der verschiedene Mathematiken in Konkurrenz haben treten
können." Was der Sache nach im 11. Jahrhundert seinen Anfang nahm, bekam
im 12. Jahrhundert seinen Namen: „Rhythmos" und „machia" fügten Kleriker
zu „Rhythmomachia"7 zusammen - einem Kunstwort, dessen erster Wortbe-
standteil nicht nur „arithmos" -„Zahl"- meint, sondern auch als musikalische
Qualität gelesen wird. Dabei hatte der Römer Boethius im 6. Jahrhundert die
Mathematik von der Musik losgelöst, als er jene Zahlenproportionen auf-

5
Eine überzeugende Darstellung der Geschichte der Null und des Nichts gibt beispielsweise
Rotman, Brian, Signifying Nothing. The. Semiolics ofZero, New York, 1987.
Durch die systematische Erschließung mittelalterlicher Quellen ist es dem Mediävisten Arno
Borst gelungen, die Geschichte des Zahlenkampfs aus der Versenkung zu holen und die
„Rhythmomachia" auch außerhalb des Kreises einiger Spezialisten lesbar zu machen. Borsts
maßgebliche Veröffentlichungen zum Zahlenkampf sind: Derselbe, Das mittelalterliche Zah-
lenkampfspiel (= Supplemente zu den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der
Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Bd. 5), Heidelberg, 1986. Sowie: Dersel-
be, „Rithmimachie und Musiktheorie", in: Geschichte der Musiktheorie: Rezeption des anti-
ken Fachs im Mittelalter, Bd. 3, hg. v. Frieder Zaminer, Darmstadt, 1990, S. 253-288.
Die Genese des Wortes samt seiner verschiedenen Schreibweisen faßt Borst zusammen in:
„Rithmimachie und Musiktheorie", S. 256, 261 und 281.
12 I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER

stellte, aus der der Zahlenkampf nun seine Konfigurationen bezieht. Cassiodor
trieb die Ablösungen der Zahlenkonzeptionen von allem „materiellen Bei-
werk"8 noch weiter - die Aufteilung des Quadriviums, die auf unterschiedli-
chen Anwendungen fußte, schien ihm hinfällig, und er faßte sie kurzerhand
als mathematica zusammen. Der Zahlenkampf indes setzt einen operativen
Umgang mit Arithmetik wieder in Gang. Indem der Zahlenkampf die Kon-
frontation gerader und ungerader Zahlengrößen auf das Tableau führt, schließt
er an ein Grundkonzept der pythagoreischen Mathematik an.
Das Wort Zahlenkampf wird anfänglich nicht mit dem Attribut des Spiels
zusammengebracht. Erst verhältnismäßig spät ist von ludus im Zusammen-
hang mit dem conflictus numerorum9 die Rede.10 Angesichts der Verwerfun-
gen auf der Ebene der Zeichenpraktiken, die mit dem Zahlenkampf ausgetra-
gen werden, kann man sich seiner Grenzen, als derer eines Spiels, nicht sicher
sein. Der Kontrast und Abstand zum reinen Spiel wird spätestens durch seine
Rezeption im Barock augenfällig, das in seiner Sammelwut den Zahlenkampf
nur noch als ein kaum mehr verstandenes Spiel mit stummen Zeichen auf-
nimmt."
Dennoch ist die Rhythmomachia wohl das erste Instrument, das in den
Schriften nicht nur beschrieben wird, sondern aus der Schrift hervorgeht
(Abb. 1-2). Diagrammatische Entwürfe in dieser Komplexität sucht man in
vorangegangenen Epochen jedoch vergeblich. Vielmehr breitete der Zahlen-
kampf seine Anschreibungsformen mit einer Ausführlichkeit aus, die die Dif-
ferenz zwischen Beschreiben und Berechnen im Medium der Schrift schwin-
den läßt - in einem Moment, in dem das schriftliche Rechnen arabischer Ma-
thematiker in Westeuropa Einzug hielt.
Eine der herausragendsten Figuren unter den Gelehrten des
12. Jahrhunderts, Hermann der Lahme, ordnet den Zahlenkampf dem Arsenal
mittelalterlicher Instrumente, nämlich Astrolab, Abakus und Monochord zu
und betont seinen Instrumentcharakter.'2 Dabei dient er in erster Linie als
Mittel zur Einübung in figürlich aufzufassende Zahlen. Ziel ist die Anordnung
der eigenen Steine in der gegnerischen Spielhälfte, gemäß der Proportionsleh-
re arithmetischer, geometrischer oder musikalischer Harmonien. Mit den ma-
thematischen Begründungsakten der Pythagoreer fallen Rechen- und Spiel-
grundlagen zusammen und geben Archäologen und Philologen bei ihrer Re-

* Ebenda, S. 258
Der Zahlenkampt' wurde 1070 das erste Mal an der Domschule in Lüttich beim Namen
genannt, ebenda, S. 276.
10
Erst in der Frühscholastik beginnen Kommentatoren den Zahlenkampf als ein Spiel zu
bezeichnen, vgl. ebenda: „Rithmimachie und Musiktheorie", S. 256, 285.
1
Herzog August II. von Braunschweig-Lüneburg, von dem im zweiten Kapitel noch die Rede
sein wird, nahm eine Anleitung zur Rythmomachia in sein berühmtes Schachbuch als eine
Kuriosität auf.
Vgl. Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampf spiel, S. 96.
1 ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER 13

konstruktion bis heute Rätsel auf.13 Der Zahlenkampf grenzt sich vom Astro-
lab und Monochord jedoch dadurch ab, daß er nicht auf äußere Gegebenheiten
wie Stern- oder Klangbilder verweist. Und was den Abakus angeht, so wird er
für ganz unterschiedliche Praktiken herangezogen: Er dient den Händlern ge-
nauso wie den Geometern.'4 Der Zahlenkampf stellt jedoch die Übertragungs-
leistungen des Abakus auf den Kopf. Im Gegensatz zum Abakus, dessen ein-
ziger Gegenstand die Rechnung selbst ist, räumt der Zahlenkampf im Verlauf
seiner Entwicklung immer mehr Sinn- und Sachzusammenhänge ein: Musika-
lische Intervalle, Schlachtordnungen, mithin ganze Weltordnungen werden im
Zahlenkampf aufgeführt, ohne daß dabei besondere figurative und ikonische
Anstrengungen unternommen werden. In den Skripten des Zahlenkampfes, die
immerhin über sechs Jahrhunderte lang angefertigt wurden, sind die Spiel-
steine durch wenige Farben und geometrische Formen beschrieben. Der Zah-
lenkampf ist in einer Weise symbollastig, die bei einer Epoche, in der sonst
vor allem das Imaginäre herrscht, überrascht. Anders als etwa beim Schach ist
bis heute kein Spielbrett des Zahlenkampfes aufgefunden worden. Dies belegt
ex negativo, daß der Zahlenkampf allein den Möglichkeiten des Mediums des
Pergaments verbehalten blieb.

Abb. 1: Das älteste bekannte Beschreibung des Spielfelds des Zahlenkampfes. Ange-
fertigt für die Domschule in Hildesheim um 1100, begleitend zur Anleitung von Odo
von Tournai

" Auf diesen Sachverhalt hat wohl zuerst Gottfried Friedlein hingewiesen, vgl. derselbe, „Das
Rechnen mit Columnen vor dem 10. Jahrhundert", in: Zeitschrift für Mathematik und Phvsik,
Bd. 9, 1863, S. 297-330, hier S. 298.
14
Daß der Abakus die Berechnung geometrischer Figuren übernimmt und damit zur Arithme-
tik, die auf Zahlenbegriffe und Verhältnisse abhebt, mitunter auf Distanz gerät, darauf ver-
weist Bergmann, Werner, Innovation im Quadrivium des 10. und 11. Jahrhunderts. Studien
zur Einführung von Astrolab und Abakus im lateinischen Mittelalter, Stuttgart, 1985, S. 117.
I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER

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Abb. 2: Nach der Lütticher Tabelle von Arno Borst rekonstruierte Spielfläche des
Zahlenkampfs mit nach unterschiedlichen Proportionsklassen abgeleiteten geraden und
ungraden Spielsteinen
I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER 15

2. Einpflanzung der Mathematik

Arno Borst hat das diskursive Umfeld süddeutscher Reformklöster um das


Jahr 1000 rekonstruiert, innerhalb dessen der Zahlenkampf aufkommt. Auslö-
ser war dabei der sogenannte Wormser Schulstreit. Die beiden Klosterschulen
Würzburg und Worms rangen um die Gunst von Zöglingen und letztlich um
die des salischen Kaisers Konrad II. selbst. Für sich genommen hätte der Streit
nicht dazu führen müssen, vom Prinzip mündlich wetteifernder Rhetorik Ab-
stand zu nehmen. Doch der Kanzler und Vetter des Kaisers dekretierte wohl
ausdrücklich, ihn schriftlich auszutragen, und ein Mönch namens Asilo kam
darauf, einen Zahlenkampf zu verfassen.15 Schon der Auslöser des Streits,
nämlich die effiziente Summenberechnung beliebig langer Reihen und Auf-
stellung von Verhältniszahlen, begünstigt die Schreibunterlage und evoziert
Formen der Verschriftlichung. Frühe Kommentatoren bezeichnen den Zahlen-
kampf bereits als novellae plantantiones.16 Mit ihm kommt ein tentatives
Schreiben zum Zuge," das sich Insistenz verschafft durch eine Anordnung,
die immer wieder neue Ordnungen evoziert: Begonnen in Form eines Rund-
briefes, fortgeschrieben in Sammelhandschriften, entziehen sich die ver-
sprengten Skripte über den Zahlenkampf jedoch allen Prachtbänden und ka-
nonischen Schriften.18 In den dogmatischen Wissensbestand fließt die „Weg-
werfliteratur"19, in der der Zahlenkonflikt ausgetragen wird, nicht ein - wobei
eine Ausnahme bezeichnend scheint: In einem einzigen Fall werden Ausfüh-
rungen zum Zahlenkampf in einer Prunkhandschrift neben altehrwürdigen
Texten zu regula und ordo der monastischen Disziplin aufgenommen. Ob
diese Ausnahme einzig auf eine Verwechslung - hervorgerufen durch den
regen Gebrauch des Signifikanten regula - beruht20 oder ob tatsächlich der
Aufstellung von Ordensregeln ein Spielraum eingeräumt wird, darüber läßt
sich streiten.
Was die drei einführenden und vier weiterführenden freien Künste des Mit-
telalters vereint und spaltet, ist der Gebrauch ihrer einerseits buchstaben-
treuen, andererseits zahlenmäßigen Zeichensysteme. Allein die Konzentration
auf den Schriftgebrauch kennzeichnet sämtliche Fächer der artes liberales.
Haftet erst römischen Zahlzeichen eine versichernde Logik des Zählens an, ist
es griechischen Buchstabenzahlen noch gegeben, Gezähltes entlang des Al-
phabets namhaft zu machen. Die Einfachheit des umstandslos Verlaut- und
5
Vgl. Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, S. 55.
6
Vgl. Friedlein, „Das Rechnen mit Columnen", S. 327. Vgl. auch Borst, Das mittelalterliche
Zahlenkampfspiel, S. 473.
Vgl. Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, S. 278.
8
Borst zum neuen, stratifizierenden Format der Sammelhandschrift: Die „Intellektuellen, die
sich mit dem Zahlenkampf befaßten, waren kommentierwütig; sie konnten kaum etwas hören
oder lesen, ohne sogleich darüber zu schreiben. Die zuständige Gattung für solche kurzen,
schriftlichen, vorläufigen Mitteilungen war die Sammelhandschrift". Ebenda, S. 276.
" Ebenda. S. 326.
20
Ebenda. S. 277.
16 I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER

Sagbaren konnte neben dem geometrisch Zeigbaren in der pythagoreischen


Mathematik immer wieder zur letzten klärenden Instanz erhoben werden,21
zumal Mathematik und Musiktheorie bis in ihre termini technici miteinander
verbunden sind." Da sich aber den westlichen Reichen des Mittelalters
sprachbedingt die griechischen Quellen mehr und mehr verschließen,23 bleibt
zunehmend mit griechischen Zeichen nur als solchen zu operieren. In griechi-
schen Buchstaben entdecken karolingische Mönche das Gelenk, das Ordnun-
gen der Schrift in zahlenmäßige Ordnungen umsetzt: Namen lassen sich in
den Kryptogrammen der päpstlichen Kuriere durch Zahlen verrätsein und
Summen, die griechisch angeschriebene Namen ergeben, eröffnen über alle
Komputistik hinaus die Schau auf apokalyptisch sich anbahnende Ereignisse.24
Handgreiflich betriebene Arithmetik unterscheidet sich jedoch von ihrer An-
schreibung bis zum ersten Jahrtausend fundamental: Während Monochorde,
Sandtafeln, hölzerne Abaki, ihre psephoi und apices und selbst Fingerstellun-
gen unterschiedlichste räumliche und zeitliche Konfigurationen annehmen,
münden ihre schriftlichen Niederlegungen in Anschreibungsordnungen, die an
Lese- und Schreibrichtungen gebunden und letztlich unverrückbar sind.25 Es
gibt, soweit sich das feststellen läßt, bis zum Erscheinen des Zahlenkampfes
im 11. Jahrhundert keine Funde von beweglichen und diskreten Elementen,
die Zahlzeichen aufweisen und ihre Anordnung nicht arretieren. Festgestellte
numerische Bezeichnungen nehmen vielmehr auf ihren Schreibuntergründen
gerade auf bewegliche Elemente - etwa die zeichenlosen Marken des Abakus
oder die Saiten des Monocords - in fortlaufender, sequentieller Weise Bezug.
Daß Schreiben im fortwährenden Modus des Festschreibens keine Trivialität
darstellt, wird erst mit dem Einbruch arabisch-algorithmischer Schreibweisen
klar: Rückläufige Lesebewegungen, sich Platz suchende Schreibrichtungen,
Durchstreichungen, die Lese- und Schreiboperationen im schnellen Wechsel
an diskreten Zeichen unternehmen, sind für sich genommen allesamt basal -
sie aufnehmen, dazu hatte es zuvor jedoch niemanden gedrängt. Umgekehrt
bezeugt eine prominente Stelle bei Herodot, daß das Hantieren auf dem Aba-
kus der Bewegung des Schreibens folgt: „Bei dem Schreiben der Buchstaben
und bei dem Rechnen mit Rechensteinen bewegen die Griechen die Hand von
der Linken zur Rechten, die Aegypter aber von der Rechten zur Linken."2"
Erst der Zahlenkampf wird systematisch durch horizontale, vertikale und dia-

Vgl. etwa Busch, Oliver, Logos syntheseos. Die euklidische Sectio canonis, Aristoxenos und
die Rolle der Mathematik in der antiken Musiktheorie, Berlin, 1998, S. 126.
2
Vgl. Knobloch, Eberhard. „Musik", in: Maß, Zahl und Gewicht. Mathematik als Schlüssel zu
Weltverständnis und Weltbeherrschung, hg. v. Menso Folkerts, Eberhard Knobloch u. Karin
Reich, Ausstellungskatalog, Weinheim, 1989, S. 243-250, hier S. 243.
Vgl. Bischof!', Bernhard, „Das griechische Element in der abendländischen Bildung des
Mittelalters", in: derselbe. Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde
und Literaturgeschichte, Bd. 2, Stuttgart, 1967, S. 246-275. hier S. 256 u. 259.
24
Ebenda, S. 255 u. 259.
Vgl. Friedlein, „Das Rechnen mit Columnen", S. 313.
2
" Zitiert nach Friedieins Übersetzung, ebenda, S. 299.
I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER 17

gonale Gangarten der Spiel- und Rechensteine weitere Dimensionen der Flä-
che für Zeichenoperationen erschließen, er wird Zeichen zur Pyramide türmen
und von der Fläche ins Räumliche abheben. Kurzum: Indem sich einmal der
Griff lockert, der die Richtung des Schreibens vorgibt, tun sich gleich mehr-
dimensionale Räume auf, in die Zeichensysteme einziehen und einer Element-
arisierung ausgesetzt werden. Lehren des Abakus beschränken den Zug der
Marken indes auf bestimmte Achsen, schon um die Logik des Stellenwert-
systems nicht zu durchkreuzen. Im Zahlenkampf verschränken sich dagegen
drei Ebenen, die als Zahlenrepräsentanz auftreten können: Was gleichermaßen
und gleichzeitig zählt, sind sowohl die Felder der schachbrettartigen Spielflä-
che, die Anzahl der Spielmarken als auch die Zahlzeichen auf den Spielstei-
nen. Der Zahlenkampf gibt als Instrument Zahlenverhältnisse zu berechnen
auf, anstatt zu ihrer Berechnung zu verhelfen. Doch geht es im Zahlenkampf
nicht um Numerik, sondern um Numerologie, um Maximierung von Zahlen-
verhältnissen und -bezügen, nicht um die Berechnung von Quantitäten. Ge-
schickt hält der Zahlenkampf die Berechnung der Zahlenverhältnisse dabei in
Grenzen: Denn einzig Steine mit kleinen Zahlengrößen lassen sich zu einer
Vielzahl von Produkten und Summen kombinieren, die den Steinen mit höhe-
ren Größen entsprechen und damit zu schlagen vermögen. Umgekehrt gilt im
Zahlenkampf, daß auf Steine mit den höchsten Zahlengrößen nur die Division
anzuwenden bleibt, um Steine mit geringeren Zahlengrößen durch einen ihrer
Teiler aus dem Feld zu schlagen.
Die hohe Dichte an arithmetischen Beziehungen, die der Zahlenkampf er-
zeugt, ist durch Kopfrechnungen zu bewältigen. Spielern, die sich damit
schwer tun, stehen zunehmend Tabellen mit Verhältniszahlen zur Verfügung,
und der Zahlenkampf artet - zum Leidwesen seiner Erfinder - zum Krieg der
Tabellen aus.
Zahlzeichen unterschiedlicher Kulturen und Epochen finden im Zahlen-
kampf ihren Spielraum. Buchstäblich wird hier ein Kampf um die Vorherr-
schaft der verschiedenen Zahlenkonzepte ausgetragen: römischer, arabischer,
griechischer."
Römische Zahlen stehen schon deshalb nicht außer Konkurrenz, weil sie
mit zunehmender Größe dazu tendieren, viel Schreibfläche zu brauchen, was
daher auf gleich große Spielsteine ebenso schwer zu applizieren sind. Aber
erst griechische Buchstabenzahlen und Gobarziffern dürften gleichermaßen
vorgeführt haben, daß Skalarität auch auf Zahlenzeichen angewandt werden
und Schreib- oder Leserichtungen im Falle der Gobarziffern wechseln kön-
nen. Der Zahlenkampf steht im Schnittpunkt einer Dekodierung der versunke-
nen Zahlzeichen der griechischen und römischen Epoche und der zukünftigen
des Morgenlandes.28

7
Vgl. Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, zu griechischen Zahlzeichen im Zahlen-
kampf: S. 132-134 u. 147 und zu arabischen: S. 117.
"8 Vgl. Bergmann, Innovation im Quadrivium, S. 210.
18 I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER

„Caracteres" - ein neuer Begriff, der diesem Kreuzungspunkt entspringt -


impliziert die Auflösung der strikten Trennung von aufgeschriebenen Zahlzei-
chen auf der einen Seite und der an sich Schriftzeichenlosen Operationalität
der Instrumentarien auf der anderen. Zahlzeichen erreichen nunmehr im Zuge
unverbrüchlicher Überlieferungsgegebenheiten der Schrift Autonomie, wäh-
rend ihre instrumenteilen Implementierungen in Form des Abakus' und ande-
rer Rechengeräte längst verlorengegangen sind. Ihre Rekonstruktion wird zur
Rätselfrage. Und so üben sich Gelehrte des Mittelalters erstmals in mathema-
tischen Deskriptionen, zu deren Verständnis die Materialität des Pergaments
ausreicht.29 Schon vor der Jahrtausendwende setzte Gerbert von Aurillac in
seinen Regulae de numerorum rationibus den Abakus nicht einfach voraus,
sondern entwarf ihn gänzlich neu, um die Zahlenverhältnisse, die in den Sät-
zen seiner Quelle vorkommen, einzuüben.10 Die Rechensteine können auch
schon deshalb nicht mehr vorausgesetzt werden, weil sie umgekehrt zum hyb-
riden Konstrukt werden, dem nun erstmals der Stempel der Schrift aufgeprägt
wird: Um sie mit neun Gobarziffern versehen zu können, gab Gerbert in Auf-
trag, sie aus Hörn zu fertigen.31 Caracteres bezeichnen somit sehr präzise
Zahlzeichen, die erstmalig auf Seiten mobiler Elemente wie Spiel- und Re-
chensteinen erscheinen. Die Kreuzungen der Stellenwertsysteme, die dabei
Zustandekommen, mögen zunächst vor allem Unberechenbarkeiten erzeugt
haben, darüber hinaus aber zeichnet sich schon eine kombinatorische Matrix
mit beweglichen Lettern ab, auf die nicht zuletzt auch die Gutenberg-Galaxis
gründen wird.
Uneins ist die Forschung darin, ob der Zahlenkampf nicht schon beim
Schulbericht Walther von Speyers von 948 anhebt." Die personifizierte Geo-
metrie beginnt hier mit besagten caracteres „einen spielerischen Kampf"3,
allerdings dominieren Kolumnen von Einer- und Zehnerzahlen des Abakus'
das Geschehen, und nicht wie beim Mönch Asilo ein halbes Jahrhundert spä-
ter Boethius' Proportionsklassen. Dennoch verdichtet Walther in der Form
daktylischer Verse Zahlenproportionen, Rechenoperationen auf den Linien,
Zahlenfiguren und musikalische Intervallbildungen zum Programm der ma-
thesis. In der Entwicklung des Zahlenkampfes wird alles, was hier noch meta-

29
Ebenda, S. 209.
Vgl. Vossen, Peter, Der Libellus Scolasticus des Walther von Speyer. Ein Schulbericht aus
dem Jahre 984. Berlin, 1962, S. 139. Ebenso: Bergmann, Innovation im Quadrivium, S. 196-
197.
31
Vgl. Vossen, Der Libellus Scolasticus, S. 141-142, wobei offen ist, ob es sich dabei um
Gobarziffern oder griechische Buchstabenzahlen handelt. Vgl. auch Bergmann, Innovation
im Quadrivium, S. 210.
3
~ Gegen Walther als Begründer des Zahlenkampfs spricht sich Borst aus: Derselbe, Das
mittelalterliche Zahlenkampf spiel, S. 42-43. Ebenso Vossen, Der Libellus Scolasticus, S.145.
Dafür, Cantor, Moritz, Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik, Bd. 1, Leipzig,
Berlin, 1922, S. 851-852.
J
Walther von Speyer zitiert nach Vossen, Der Libellus Scolasticus, S. 52.
I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER ll>

phorisch anklingt, auf dem gleichen Schreibgrund eine berechenbare und


spiel bare Gestalt annehmen.

3. Zeichenwerdung

Wie steht es nun um die Fragilität der Dinge, die Insistenz der Grapheme und
materielle und zeichensystemische Überträge? Über die Partition der Marken
auf der Spielfläche verraten die ersten Zahlenkampfschriften nichts und auch
Spielpläne sind bei ihnen nicht zu finden. Die ersten überlieferten tabellari-
schen Aufstellungen der Spielsteine zeigen jedoch auf einen Schlag eine sehr
differenzierte Gruppierung der Marken. Ihr Schema folgt exakt den griechi-
schen Heeresaufstellungen.34 Den Marken sind unterschiedliche Schrittweiten
eingeräumt. Sie ziehen bei jedem Zug ein, zwei oder drei Felder weit,35 so als
ob schwer bewaffnete Hopliten, beweglichere Fußsoldaten und Reiter auf der
Spielfläche über die Flügel ihren Angriff unternähmen. Strategeme und Zah-
lenfigurationen zusammenzudenken ist eine griechische Errungenschaft.56
Mit dem Zahlenkampf holte die geistlichen Gelehrten trotz oder gerade
aufgrund seiner Abstraktion eine kriegerische Wirklichkeit ein. Schon römi-
sche Kriegschroniken sprachen von ihren Armeen wie von Zeichen: So stehen
Wendungen wie beispielsweise „signa promovere" oder „signa constituere""
für das Vorrücken und Haltmachen ganzer Truppen, die selbst nicht mehr an-
gesprochen werden. Zu den „signa" zählte das römische Militär nicht nur
Fahnen, sondern auch akustische Signale. Bestimmte Akkorde einzelner Hör-
ner hatten als „Trommeln" nur einen einzigen Adressaten - den Unteroffizier
und Fahnenträger, den signifer. Dieser setzte die akustischen Signal folgen in
optische um.
Das 11. Jahrhundert, in dem der Zahlenkampf aufkam, scheint solche Quel-
len des Zeichengebrauchs aufgegriffen zu haben. Folgt man Carl Erdmanns
Untersuchung zum Aufkommen des „Kreuzzugsgedankens", dann schlägt sich
dieser weniger in einer christlichen Ikonologie nieder, als vielmehr in Zei-
chenpraktiken, die für die mittelalterlichen Schlachtfelder bezeichnend sind.
Eine Theosophie wurde damit möglich, die Kriege nicht mehr nur ethisch
verdammte oder rechtfertigte, sondern selbst Kriegsgründe schuf. Erdmanns
Aufmerksamkeit richtete sich deshalb zunächst auf die heiligen Fahnen, die

lllmer, Detlef u.a., Rhythmomachia. Ein uraltes Zahlenspiel neu entdeckt, München, 1987,
S. 48-57.
Vgl. Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, S. 69.
36
Huffman, Carl A., Philolaus of Croton, Pythagorean and Presocratic, Cambridge, 1993,
S.419.
Domaszewski, Alfred von, „Die Fahnen im römischen Heere", in: Abhandlungen des archäo-
logisch-epigraphischen Seminars der Universität Wien, Bd. 5, Hft. 5, 1885, S. 1-80, hier:
S. 5-6. Dort heißt es: „Die formelhafte Ausprägung dieser Wendungen führt darauf, in ihnen
technische Ausdrücke zu erkennen, welche der Commandosprache des römischen Militärs
entnommen sind."
20 I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER

mit der Jahrtausendwende aufkamen.38 Die ordinatio, die Weihegewalt, errich-


tete mit den Anfängen des christlichen Sendungsbewußtseins die Hierarchie
der Kirche, schied Bischöfe von Priestern, Priester von Laien, sakrale Gegens-
tände von profanen Dingen. Aber erst im 11. und 12. Jahrhundert kommt es
zu einem Grenzübertritt der Zeichenordnungen: die Weihe von Fahnen und
Schwertern unterstellte Insignien kriegerischer Ordnung der kirchlichen.
Genaugenommen wiesen Fahnen bis dahin eine Dreifaltigkeit auf, die sich der
christlichen zutiefst widersetzte. Fahnen waren nicht nur als Lanzenwaffe und
- verheerender noch - durch Götzenbilder belastet. Sie zählten darüber hinaus
zu den signa - zu den Feldzeichen. Als solche machten sie die Schlacht und
den Kampf lesbar, sie regelten Anfang, Verlauf und Ende. Sie waren von dem
Krieg, den sie führten, nicht mehr zu lösen. Chiastisch entwarf die Kirche ihre
eigenen Fahnen, gab sie den Heereszügen mit und führte umgekehrt Passions-
züge mit Königsfahnen an. Die Schlacht wird nun nicht mehr bloß mit Zei-
chen, sondern um Zeichen geführt. Schilderungen und Miniaturen der Kreuz-
züge unterscheiden auf fremdem und unbekanntem Boden häufig sich völlig
gleichende Franken und Sarazenen allein dadurch, daß erstere Zeichen führten
und letztere nicht. Das siegreiche Ende einer Schlacht wurde mit der Rücker-
oberung heiliger Fahnen besiegelt, durch den König, der sie ergriff.
Zeichen erfuhren nunmehr eine Eigengesetzlichkeit unbekannten Ausma-
ßes. Wohl unübertroffen waren in dieser Hinsicht die carroccio, die Fahnen-
wagen, in jenen lombardischen Städten, die sich 1176 im Sieg über Barbaros-
sa ihre Unabhängigkeit bewahrten. Dort wurde vor jeder Schlacht der carroc-
cio aus der Domkirche geholt, unter einem städtischen Aufgebot, dem nicht
nur die Krieger zuzählten, zum Markplatz gebracht, mit allerlei Insignien
bestückt und schließlich zum Schlachtfeld geführt. In der Schlacht selbst
beschützte eine Schutzmannschaft den Wagen, während auf seiner Plattform
Trompeter taktische Signale erklingen Hessen, Notare Befehle schrieben,
Verluste verzeichnten und vorsorglich Belobigungen, Bestrafungen und Ent-
schädigungen vorbereiteten, Priester sich um die Verwundeten kümmerten
und den Sterbenden die Sakramente erteilten. „So diente der klassische car-
roccio der nord- und mittelitalienischen Stadtgemeinschaften gleich mehreren
Zwecken: als eine Art fahrbarer Feldherrenhügel, Befehlzentrale, optischer
Orientierungspunkt", als Verbandplatz und Refugium für die müden Krieger."
Vor allem aber sorgt der Fahnenwagen für einen gehegten Krieg, denn ihn
einzunehmen heißt, sich des Signum civile zu bemächtigen - ohne die
Schlacht auf die Stadt selbst auszuweiten.
Mit der Pyramide erhebt sich im Zahlenkampf nun ein Spielstein über alle
anderen. Sie verkörpert gleich mehrere Quadratzahlen. Bei allen anderen

Erdmann, Carl, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart, 1935, S. 30.


Voltmer, Ernst, „Standart, Carroccio, Fahnenwagen. Zur Funktion der Feld- und Herrschafts-
zeichen mittelalterlicher Städte am Beispiel der Schlacht von Worringen 1288", in: Blätter
fir deutsche Landesgeschichte, Bd. 127, 1988, S. 187-209, hier S. 188-189.
1. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER 21

Steinen wird deren Wegnahme mit Ausdrücken der Arithmetik belegt, das
Schlagen dieses Steins dagegen wird einzig durch eine kriegerische Termino-
logie artikuliert.4" Wird die im Vergleich zu anderen Spielsteinen ohnehin
gefährdete Pyramide geschlagen, dann sind auch alle Spielmarken hinfällig,
die zu den Quadratzahlen der Pyramide zählen.41 Kein anderer Spielstein sonst
unterhält solche rein intersignifikanten Abhängigkeiten. Die Regeln der auf-
kommenden Ritterorden werden die gleiche Zeichenlogik für die Schlacht
vorsehen: Fällt der Bannerträger, dann geben sich auch die ihm beigegebenen
Mannen geschlagen.42 Der Zahlenkampf deckt sich somit mit den Regeln der
Ritterorden und hat, so die These, für deren eigentümliche Mittelstellung
zwischen Krieger- und Klerikerstand einen Kodex geschaffen.43

0
Vgl. Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, S. 72.
41
Ebenda, S. 86.
42
Vgl. Körner, Karl, Die Templerregel, Jena, 1902, S. 88-89, Regel 317.
Fleckenstein, Josef, „Die Rechtfertigung der geistlichen Ritterorden nach der Schrift ,De lau-
de novae militiae' Bernhards von Clairvaux", in: Die geistlichen Ritterorden Europas, hg. v.
Josef Fleckenstein u. Manfred Hellmann, Sigmaringen 1980, S. 9-22, hier S. 19-20.
II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK

1. Spielräume entfaltet

Ausgerechnet das 17. Jahrhundert, das die Vernunft hervorgebracht und die
Mathematik aus obskuren, geheimbündlerischen Zeichenpraktiken und ideal-
staatlichen Zeichenregimen zu einer Disziplin zusammenfügte, hat in Spielen
ein epistemisches Reservoir getan. Allen voran Gottfried Wilhelm Leibniz
entdeckte in Spielen einen Spielraum des Wissens. Der Raum, den Spiele bei
ihm einnehmen, dient nicht den Anspielungen und Allegorien, sondern zeich-
net sich durch seine eigene genuine Technizität und Materialität aus. Gerade
Spielen fällt die Aufgabe zu, die Universalität der Kulturtechniken wie Mes-
sen und Zeichnen, Rechnen und Kombinieren aufzuzeigen und zwar vor-
zugsweise im beschränkten Raum des Buches. Zeichensysteme kommen auf,
die Spielmomente nicht nur beschreiben, sondern auch operativ umsetzen und
damit weitertreiben. Bücher weisen damit Handlungs- und Zeichenspielräume
auf, an die andere Bücher anschließen können, ohne in Exegesen und Kom-
mentaren aus einem Quell autorisierter Rede schöpfen zu müssen. Die Intero-
perabilität, die das Spiel mit Zeichen und graphischen Elementen in Texte
verpflanzt, begründet jedoch kein geschlossenes System des Textes, sondern
etabliert in ihnen Plattformen, aus denen Dinge und Artefakte allererst her-
vorgehen.
In den Spielen des 17. Jahrhunderts erleiden repräsentative Formen einen
Einbruch, und an ihre Stelle rücken Zeichenoperationen zum prosperierenden
Umschlagplatz des Wissens auf. Spiele sind selbst davon entbunden, zweck-
frei zu sein. Sie können jederzeit in ein teleologisches Modell umschlagen,
dem selbst staatstragende Elemente herauszustellen zugetraut wird: Fortifika-
tionen und Theaterbauten, Feuerwaffen und Feuerwerk oder Mathematik und
Spiele sind Kunstfertigkeiten, deren Darstellung in ein und dieselben Bücher
Eingang findet.44
Mehr noch als Spiele gilt es im folgenden, Spielflächen im Blick zu halten.
Sie sind es, auf die Leibniz zur Entfaltung seiner Ars charactehstica immer
wieder zurückgreift. Als Kern seiner Ars ist indes die Hervorbringung von
Sach- und Weltzusammenhängen auszumachen, die sich auf dem und durch
das Papier entfaltet und deren Prüfung einem Kalkül zu unterstellen ist. Doch
Leibniz' Programm ist nicht einfach als eine Progression immer abstrakterer
Zeichenbeziehungen zu lesen, das sich von den gegebenen Sprachen ab- und
mathematischen Notationen zuwendet. Die Frage lautet vielmehr, was verlo-
rengegangen ist oder verlorengehen mußte, bevor die Forschung spätestens

Furttenbach d. Ältere, Joseph, Mannhafter Kunst-Spiegel, Augsburg, 1663.


24 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK

seit dem 19. und 20. Jahrhundert in Leibniz' Schriften einen Reduktionismus
am Werk sah, den sie aufgriff und weitertrieb, um letztlich in seinem Pro-
gramm auf lauter Zirkelschlüsse zu stoßen.45
Die Ars characteristica mochte zwar auf zwei Künsten gründen, die Leib-
niz als Ars inveniendi und Ars iudicandi auf den Begriff brachte. Der Sache
nach verschränkte er jedoch zwei Entwicklungslinien, die in Buchstabenope-
rationen auf ihren Modus operandi gestoßen waren. Denn zum einen hatten
zunächst Francois Vietes und im Anschluß Rene Descartes' Algebra geomet-
rische Figuren auf Buchstabenrechnungen zurückzuführen vermocht. Und
zum anderen war Leibniz selbst in seiner Dissertation über die Ars combinato-
ria der systematischen Zerfallung von Wörtern nachgegangen, die ebenfalls
im Buchstaben ein operatives Grundelement offenbarte. Umgekehrt können
synthetisch aus Buchstabenpermutationen und -Variationen genauso Wörter
und selbst Neologismen hervorgehen, wie aus algebraischen Berechnungen
geometrische, und bis dahin unbesehene Evidenzen. War letzteres - die Her-
vorbringung neuer Sachzusammenhänge - Aufgabe der Ars inveniendi, so
hatte die Ars iudicandi sowohl die Folgerichtigkeit der Zerlegung vorhande-
ner Wörter und geometrischer Bilder einem Kalkül zu unterwerfen als auch
den Vorgang ihrer Neuschöpfungen. Jede Wahrheitsfindung liefe damit in
letzter Konsequenz auf den Nachweis einer fehlerlosen Rechnung hinaus.46
Schon die Renaissance hatte diagrammatische Konstruktionen hervorge-
bracht, die jenseits mimetischer Bezüge von Kunst und Natur mathematische
Funktionen zur Schau stellten. Leon Battista Alberti hat sie in einem Buch
versammelt, das bezeichnenderweise Spiel zur Sache der Mathematik erklär-
te.47 Hier erfahrt der „schlaue Bombardier", wie er mit Hilfe einer Planisphäre
Winkelabstände entfernter Gegenstände und durch ein Pendel die geeignete
Ausrichtung seines Kanonenrohrs berechnen kann. Alberti dienten die ma-
thematischen Instrumente auch für die vergnüglichere Aufgabe, Rom zu
kartographieren.48
Samuel Edgerton geht soweit, anzunehmen, daß in der Neuzeit dank per-
spektivischer Darstellungstechniken Konstruktionen von Kraftmaschinen und

5
Vgl. Knobloch, Eberhard, Die mathematischen Studien von G. W. Leibniz zur Kombinatorik
(= Studia Leibnitiana, Supplementa 11), Wiesbaden, 1973-1976, S. 56 und Krämer, Sybille,
Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriß, Darmstadt,
1988, S. 107.
Vgl. Leibniz, im hohen Alter, zurückblickend auf sein Projekt in einem Brief an Pierre
Remond de Montmort: Die philosophischen Schriften, Bd. 3, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt.
Berlin, 1887, S. 605. Vgl. auch Krämer, Symbolische Maschinen, S. 104.
Alberti, Leon Battista, „Ludi Rerum Mathematicarum", in: derselbe, Opere Volgari, Bd. 3,
hg. v. Cecil Grayson, Bari 1973, S. 130-173.
8
Vgl. Henniger-Voss, Marie J.. „How the .New Science' of Cannons Shook up the Aristote-
lian Cosmos", in: Journal ofthe Hislory ofldeas, Bd. 63, 2002, S. 371 -397, hier S. 377.
II, SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 25

Hebelmechanismen allein auf dem Papier zu entwickeln möglich wurde.49


Dagegen spricht, daß faktisch keine neuen Kraftmaschinen für diese Zeit zu
verzeichnen und methodisch inhärente Kräfte so nicht zu bemessen sind.50
Darüber hinaus schöpften Eingeweihte diskursstrategisch ihr Wissen und ihre
Macht aus der richtigen Anwendung der Bücher. Den Schlüssel zu deren
Handhabung jedoch galt es tunlichst einzubehalten - etwa durch Zurschau-
stellung der geometrischen Lösung und durch Verheimlichung des algebrai-
schen Rechenwegs.51
Vorsichtiger formuliert läßt sich sagen, daß die Apparaturen, die die Neu-
zeit in ihren Büchern erfand, optische Apparaturen waren, die Darstellungs-
methoden verbreiteten und ausdifferenzierten.53 Nur wenn es um perspektivi-
sche Konstruktionen ging, erlangten Bücher eine bis dahin unerreichte Selbst-
genügsamkeit, die im Fall von Spielen auf die Spitze getrieben wurde: Schon
die Erklärung zeichnerischer Verfahren bediente sich in ihrer Argumentation
visueller Hilfskonstruktionen, empfahl notwendige Konstruktionshilfen wie
Proportionalzirkel und Triangulatoren zum Nachbau und entfaltete schließlich
die anvisierte Wirkung in Bildern.53
Insbesondere Bücher über Theaterbauten lassen sich in ihren Abbildungen
auf das Wagnis ein, die perspektivischen Mittel der Scheinarchitekturen mit
eben diesen Mitteln darzustellen, um zu demonstrieren, wie Bühnenräume
aufzustellen sind und wie ihnen durch perspektivisch bemalte Kulissenwände

Edgerton, Samuel Y., „The Renaissance Artist as Quantifier", jn: The Perception ofPictures
I. Alberti 's Window. The Projective Model ofPictures, hg. v. Margaret A. Hagen, New York,
1980, S. 179-212, hier S. 195.
Mahoney, Michael S., „Diagrams and Dynamics. Mathematical Perspectives on Edgerton's
Thesis", in: Science and ihe Ans in the Renaissance, hg. v. John W. Shirley u. F. David
Hoeniger, Washington, London, Toronto 1985, S. 198-220, hier S. 195 u. S. 210-217.
" Siehe das einleitende Kapitel „The Battle of the Scholars", in: Ore, Oystein, The Gambling
Scholar, Princeton, 1956, welches das komplexe Geflecht aus oralen und gedruckten Infor-
mationsflüssen innerhalb der mathematischen Praxis im Plagiatstreit zwischen Girolamo Car-
dano und Niccolö Tartaglia behandelt. Zur neuen Diskursrolle Tartaglias: Henniger-Voss,
„.New Science' of Cannons", S. 380.
'" Eines der ersten Bücher dieser Art, das von Spielen mathematischer Probleme spricht und
optische Meßsysteme meint, findet sich bei Alberti, Ludi Rerum Mathematicarum, S. 130-
173.
Instrumenten, die Büchern zum Vermessen, Zeichnen und Tabulieren entnommen und zum
Büchermachen wieder auf sie angewendet werden können, ist eine eigene Gattung an Bü-
chern gewidmet. Siehe dazu Faulhaber, Johann, New erfunden Instrument zu den Irregulär
Fortification, Ulm 1610; derselbe, Mechanische ReißLaden, Augsburg, 1644; Bramer, Ben-
jamin, Beschreibung eines sehr leichten Perspectiv und grundreissenden Instruments aujf
einem Stande. AuffJohan Faulhabers weitere Continuation seine mathematischen Kunstspie-
gels geordnet, Frankfurt, 1630; derselbe, Bericht zu M. Jobsten Burgi seligen Geometrischen
Triangulär Instruments. Mit schönen Kupfferstücken hierzu geschnitten, Kassel, 1648. Faul-
haber gab seiner Schrift Kupferstiche bei, die ausgeschnitten auf hölzerne und metallene
Scheiben und Zirkel befestigt zur Schablone für Skalen werden, die Strecken ohne Rechnung
zu ermitteln ermöglichen. Über Faulhabers Zeichengeräte schreibt Schneider, Ivo. Johannes
Faulhaber 1580 -1635. Rechenmeister in einer Welt des Umbruchs, Basel, Boston, Ber-
lin, 1993, S. 161-164.
26 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK

die Illusion einer nicht gegebenen räumlichen Tiefe beizubringen ist.54 Dia-
grammatische Verschränkungen sind hier gefordert, die die imaginative Wir-
kung von Bildern mittels Buchstaben ein Stück weit wieder aufheben und als
Konstruktion kenntlich machen. Die Algebra soll aus eben solchen Abkür-
zungen hervorgegangen sein, die spezifische geometrische Elemente der
Abbildungen bezeichneten, dann selbst zu einem Gegenstand der Mathematik
wurden und damit allgemeine Verfahren von konkreten Aufgabenstellungen
ablösten.55 Mit der Übersetzungsarbeit antiker Texte zur Geometrie und Arith-
metik ging ihre grundlegend neue Visualisierung einher. Denn mathematische
Texte griechischer Ursprünge erreichten das Abendland ohne Abbildungen
und Diagramme.56 Die Algebra hat nicht bloß den Weg geebnet, Bildverhält-
nisse in Buchstabenverhältnisse zu überführen, sondern umgekehrt hat sie
auch in Umgehung der sprechenden und symbolfreien Präpositionen und
Schlußweisen der Griechen aus reinen Buchstabenverhältnissen neue Bildfin-
dungs- und Darstellungsverfahren hervorgehen lassen.
Leibniz mutet der Algebra schließlich zu, den Entwurf von Maschinen vom
Blatt weg zu leisten, ohne noch auf figürliche und perspektivische Darstellun-
gen angewiesen zu sein:
Ich kann mit Charakteren ohne Figuren und Modelle höchst verwickelte Maschi-
nen so vorstellen, als wenn sie von mir gemalt und im Modell entworfen wären;
oder gar besser, denn mit dieser zeichenhaften Repräsentation kann ich gleich-
sam rechnen, die Maschine auf dem Papier versetzen und verändern und die
rechten Stellungen durch Analysen suchen, wohingegen ich sonst unzählige Fi-

54
Furttenbach, Mannhafter Kunst-Spiegel, Kupferblatt 28. Wie sehr Leibniz sich von den
Bühnentechniken seiner Zeit faszinieren ließ, hat Bernhard Siegert ausgelotet: Passage des
Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500 1900, Berlin 2003,
S. 161-162.
5
Klein, Jacob, „Die griechische Logistik und die Entstehung der Algebra", in: Quellen und
Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Physik, Bd. 3, 1936, S. 18-105 u.
S. 122-235, hier S. 127 u. 128.
6
Vgl. Schnelle, Helmut, Zeichensysteme zur wissenschaftlichen Darstellung. Ein Beitrag zur
Entfaltung der Ars characteristica im Sinne von G. W. Leibniz, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1962,
S. 15 und Becker, Oskar, Mathematische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontotogie
mathematischer Phänomene, Tübingen, [1927] 1973, hier S. 191-192, insbesondere Anmer-
kung 2. Becker weist darauf hin, daß eine mathematische Bezeichnung „ursprünglich bloße
Markierung einer bestimmten Stelle der Figur (.dort, wo A steht') [ist], später wird sie mit
dem mathematischen Gegenstand selbst sprachlich identifiziert. Diese Tendenz gipfelt
schließlich in der modernen formalistischen Mathematik: ,Wo Begriffe fehlen, da stellt ein
Zeichen zur rechten Zeit sich ein' (Bernays)". Ebenda. Vgl. auch Gow, James, Short History
ofGreek Mathematics, Cambridge/MA, 1884, S. 105 u.169. Gow führt Aristoteles als denje-
nigen an, der die Vorzüge von allgemeinen Bezeichnungen als erster explizit hervorhob -
wenn auch nur zum Vergleich unbekannter Größen.
II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK. 27

guren und Modelle haben müßte, um dergleichen und damit versuchsweise zu


tun."
Doch Leibniz kündigt mitnichten den Bezug zum Bildraum auf. Ganz im
Gegenteil setzt mit der Algebra für Leibniz die Bedingung der Möglichkeit
eines „blinden Denkens" ein, das davon entlastet ist, Sachverhältnisse vorzu-
stellen. Es grenzt an die Entledigung von ,,geistige[r] Arbeit", da „Argumen-
te" ihre Schlüssigkeit „auf Grund von materiellen Daten" beziehen. Dem
Denken sei vielmehr das Sehen eines Fadens zu unterstellen, „der mit den
Sinnen wahrnehmbar ist und der den Geist quasi mechanisch leitet, so daß
auch der Dümmste ihm zu folgen vermag" und somit „die Wahrheit [...] abge-
bildet, und wie mit einer Maschine auf ein Blatt gedruckt, erfaßt werden
könne."58
Anstatt bloß Folgerungen nachzugehen, die aus Leibniz' Zeichenabstrakti-
onen gezogen werden können, öffnen sich hier Türen, um Zeichenrealisatio-
nen schärfer zu konkretisieren. Denn nicht erst auf einer ins Mentale versetz-
ten Bühne kollidieren logische Konstrukte, sondern schon auf dem materiellen
Grund, der durch Aufzeichnungs- und Einschreibungstechniken zu erfassen
ist und ihm gleichzeitig angehört.

2. Leibniz' graphemische Strategien

Das Mittelalter kannte sieben freie Künste, die alle Kunstfertigkeiten des
Redens, Schreibens, Rechnens, Zeigens und Zeichnens abdeckten. Das Sach-
register, das erst ansatzweise Gottfried Wilhelm Leibniz' noch vorhandenen
75.000 Schriftstücken und 15.000 Briefen berücksichtigt,59 kann insofern als
Index des 17. Jahrhunderts gelten, als die Epoche in Leibniz ein Höchstmaß
ihrer Verkörperung erfahren hat: Wer mag die mehr als 150 Künste alle zäh-
len, bis er nach über sechs Spalten am Ende bei „Ars vivendi" angekommen
ist?60 In Leibniz' Register ist die Ars inveniendi nicht bloß Bestandteil, son-
dern auch als ihre Wurzel vorauszusetzen. Allein Leibniz' tentative Entfaltung
der Ars inveniendi hat schon zu seinen Lebzeiten zu einer enormen Aktenfülle
und Sammlung von Artefakten geführt sowie eine Vielzahl von wissenschaft-
lichen Einrichtungen und Korrespondenznetzwerken hervorgebracht. All die-

7
Leibniz' „Ausführliche Aufzeichnung für den Vortrag bei Kaiser Leopold 1" in der sprachlich
modernisierten Fassung von Bredekamp, Horst, Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm
Leibniz' Theater der Natur und Kunst (= Acta humaniora. Schriften zur Kunstwissenschaft
und Philosophie), Berlin, 2004. S. 86.
So Gottfried Wilhelm Leibniz im Schreiben an Oldenburg vom 28. Dezember 1675. Zitiert
nach der Übersetzung von Schnelle, Zeichensysteme, S.16.
Busche, Hubertus, Leibniz' Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter
der Berechnung (= Paradeigmata Bd. 17), Hamburg, 1997, S. XIII.
Vgl. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften,
http://www.bbaw.de/forschung/leibniz/potsdam/bin/Sachregister.pdf, S. 52-56.
28 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK

se Hervorbringungen zusammengenommen erlauben zu fragen, was die immer


wieder geforderte aber niemals erreichte Vollendung seiner Erfindungskunst
an wissenschaftlichen Erträgen hätte eigentlich noch anderes darüberhinaus
erbringen können.
Seine Ars characteristica entfaltete Leibniz nicht nur durch Buchstabenan-
ordnungen, sondern bemühte zunehmend zweidimensionale graphisch-
geometrische Gefüge, wie topologische Baumstrukturen, verschiedene Netze
oder quadratische Flächenunterteilungen. Helmut Schnelle hat sämtliche
graphematischen Operatoren gewissenhaft aufgelistet - zu einer Zeit, als die
Kybernetik sich anschickte, nahezu alle Wissenschaften zu durchqueren.61 Er
bemerkte nicht ohne Verwunderung, daß die Grapheme nicht ohne weiteres
den überlieferten Quellen zu entnehmen waren.62 In der Leibnizliteratur, in der
die Herauslösung des Metaphysikers der Vernunft aus einer Epoche okkulter
Zeichenpraktiken oberste Priorität hat, finden sich nur verstreut Hinweise, daß
Leibniz den Spielen einige seiner mathematischen Grundlegungen und gra-
phischen Anordnungen verdankt. In seiner ersten Veröffentlichung, die „Dis-
sertatio de arte combinatoria"63, wird neben Clavius' kombinatorischen Aus-
führungen in seinem Kommentar zu Johannes de Sacrobosco vor allem Georg
Philipp Harsdörffers und Daniel Schwenters' „Mathematische Erquickstun-
den"64 herangezogen. Und noch am Ende seines Wirkens mutet er der mathe-
matischen Analyse aller bekannten Spiele, die irgendwie mit Zahlen in Bezie-
hung stehen, die Verwirklichung seiner Ars characteristica zu, eine Aufgabe,
die er dem Mathematiker Pierre Remond de Montmort zu unternehmen mit
Nachdruck rät.65
In die gelehrte Mathematik seiner Zeit überhaupt erst hineinbegeben hat
sich der neunzehnjährige Leibniz mit seiner Ars combinatoria. Die Schrift
fällt zusammen mit einem Einschnitt, der die Lehre der Mathematik in der
Mitte des 17. Jahrhunderts allgemein kennzeichnet. So eröffnen auch Hars-
dörffers „Mathematische und philosophische Erquickstunden" mathemati-
schen Praktiken ein Feld jenseits des Drills der Volksschulen und dem Ge-

Schnelle, Zeichensysteme, S. 15.


62
Ebenda. S. 15.
Leibniz, Gottfried Wilhelm, „Dissertatio de Arte Combinatoria", in: derselbe, Die philosophi-
schen Schriften, Bd. 4, Abt. 2, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Berlin, [1666] 1880, S. 15-
104.
64
Harsdörffer, Georg Philipp, Delitice Mathematicce et Physica. Der Mathematischen und
Philosophischen Erquickstunden Zweyter Teil, Neudruck der Ausgabe Nürnberg, 1651
(=Texte der Frühen Neuzeit), hg. v. Jörg Jochen Berns, Frankfurt/M., 1990.
Brief vom 17. Januar 1716 an Remond de Montmort in: G.W.L., Die philosophischen Schrif-
ten, Bd. 3, Abt. 1, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Berlin. 1887, S. 667.
11. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 29

werbe der Kaufmannsschulen.66 Doch auch wenn Harsdörffer das Werk des
Sprachgelehrten und Mathematikers Daniel Schwenters aufgreift, stehen seine
poetologischen Ausführungen der Inventio als Teil der rhetorischen Lehre
näher als der aufkommenden Ingenieurspraxis. Ebenso dienen Techniken der
Kompilation noch ganz dem Schreiben, und erst Leibniz wird daraus die
Kombinatorik ableiten, die der Mathesis universalis zur epistemischen Zent-
ralstellung verholfen hat.
Auch wenn Harsdörffers „Mathematische Erquickstunden" dem Papier und
der Poetik verhaftet bleiben, so bieten sie gerade deshalb neue Formen der
Mechanisierung auf: Der Buchbinder ist aufgefordert, ein Blatt mit der Abbil-
dung des fünffachen Denkrings der „Teutschensprache" in eben so viele
Ringe zu zerschneiden, auf festerem Papier aufzuziehen und schließlichkon-
zentrisch und drehbar zu befestigen (Abb. 3).
Daß Räderwerke - „ex papyro" - nunmehr Bestandteil von Büchern sein
können, entgeht Leibniz in seiner Ars combinatoria nicht.67 Und er wird Hars-
dörffers mathematische Rekreationen, was noch zu zeigen ist, für Haupt- und
Staatsaktionen zu nutzen wissen. Die Weichen dazu sind bei Harsdörffer
schon gestellt. Denn dieser scheint die Konstruktion des „teutschen Denk-
ring[s]" nicht den Diagrammen der Ars magna des katalanischen Mönchs
Raymundus Lullus abgeschaut zu haben, sondern hielt sich an eine Vorlage
des hugenottischen Militärschriftstellers Sieur du Praissac de Braissac:
„Briefve methode pour resoudre facilement toute question militaire proposee".
Zur Idee, strategische Maßnahmen mit Hilfe von Applikationen zu treffen,
könnte du Praissac wiederum durch Moritz von Nassau angeregt worden sein,
den er auf seinen Feldzügen als Berichterstatter begleitete. Moritz und Lud-
wig Wilhelm von Nassau gehören nachweislich zu den ersten, die ihre
Schlachtordnungen griechischen und selbstredend bildlosen Quellen entneh-
men und in Kriegsspielen erproben.68 Insbesondere die Erfindung der Linear-
taktik geht auf Wilhelm Ludwig von Nassau zurück, der in einem Brief an
seinen Cousin Moritz das Prinzip rotierender Musketiere vorschlägt, die, zu

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts drängten Nürnberger Bürger zu einer Schulreform, „damit
[...] die Schul kein Carnificina sondern vere Ludus sey". Zitiert nach Radbruch, Kurt, Ma-
thematische Spuren in der Literatur, Darmstadt, 1997, S. 21. Vgl. auch Leibniz' Lehrer Wei-
ge), Erhard, „Arithmetische Beschreibung der Moral-Weißheit von Personen und Sachen", in:
derselbe, Werke (=Clavis pansophiae 3), Bd. 2, hg. v. Thomas Behme, Stuttgart-Bad Cann-
statt, 2004, S. 7.
Leibniz, Dissertatio de Arte Combinatoria, S. 73.
Vgl. van Haaren zitiert nach Jahns, Max, Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich
in Deutschland. XV11. undXV 117. Jahrhundert bis zum Auftreten Friedrichs des Großen 1740.
Bd. 2 (=Geschichte der Wissenschaften in Deutschland Neuere Zeit 22). München, Leipzig,
1890, S. 881: „Graf Wilhelm Ludwig war der erste nach den Zeiten der Römer, der die Tak-
tik studiert und seine Erkenntnisse praktisch verwertet hat. [Everard van] Reyd übersetzte
dazu aus den griechischen und römischen Autoren alles, was sich auf das Kriegswesen be-
zog, und der Graf studierte das dann im Verein mit dem Obristen Cornput. Dies geschah an
einem großen Tische, auf welchem alle Evolutionen mit bleiernen Figuren so viel wie mög-
lich nachgeahmt und untersucht wurden. Ich habe selbst noch dergleichen Figuren gesehen."
30 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK

neunt in fünf Reihen aufgestellt, während des Ladevorgangs ihrer Feuerwaf-


fen immer um eine Reihe vorrücken, um sich schließlich nach dem erfolgten
Schuß in der letzten Reihe wieder anzustellen. Die Lineartaktik sorgte für eine
höhere Kontinuität der Feuersalven und gewährte damit einen besseren Schutz
der Musketiere im Moment des Nachladens. Auf Wilhelm Ludwigs Briefbo-
gen ist von alldem noch nichts weiter zu erkennen als das Regelsystem einer
periodischen Buchstabenvertauschung, das es qua Disziplin den Soldaten
einzuschreiben galt69 (Abb. 4).

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Abb. 3: Philipp Harsdörffers fünffacher Denkring der deutschen Sprache mit Anwei-
sung seiner Installation innerhalb des Buches an Buchbinder

Hahlweg, Werner, Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Grafen Johann von
Nassau-Siegen, hg. v. der Historischen Kommission für Nassau, Wiesbaden, 1973, S. 610.
Anlage 13.
II SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 31

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Abb. 4: Entwurf der „Lineartaktik" von Wilhelm Ludwig von Nassau, 1594
Du Praissacs Applikation steht für den Versuch, analog zu Wilhelm Ludwig
von Nassaus taktischer Anordnung nun auch die Strategie an einer rotierenden
Mechanik festzumachen. Systematisch wird hier ein Inventar von Fragen zur
Kriegsführung durchgespielt. Harsdörffers Denkring, der die „ganze Teutsche
Sprache auf einem Blätlein [zu] weisen"70 unternimmt, überführt durch Rück-
griff auf du Praissacs Vorlage letztlich bloß Syntagmata der Schlachtfelder ins
Reich der deutschen Sprache. Diesem poetologischen Programm nicht weni-
ger verpflichtet, beschreibt sein Freund und Kollege, der Wolfenbütteler
Sprachgelehrte Justus Georg Schottelius, die Zerfällung und den Autbau der
deutschen Sprache als „schrecklichen Sprachkrieg" gleichsam als Folge des
Dreißigjährigen Krieges.71
Die Ars combinatoria hätte Leibniz eine Professur an der Universität in
Altdorf bei Nürnberg einbringen sollen, an der auch Daniel Schwenter und
Philipp Harsdörffer gewirkt hatten. Doch Leibniz brach aus dem akademi-
schen Zirkel aus und zog es bekanntlich vor, in diplomatischem Dienste des
Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn mit einem Angriffsplan
auf Ägypten nach Paris zu reisen, um die Machtinteressen Ludwigs XIV. von
Mitteleuropa auf Ägypten zu lenken.72 Nicht also den Entwurf einer Rechen-
maschine als Eintrittskarte für die dortige Academie des sciences hatte er
zuvorderst im Gepäck, sondern einen Entwurf, der seine juristische und dip-
lomatische Tauglichkeit unter Beweis stellen sollte - womit er bekanntlich
scheiterte. Leibniz erprobte sein diplomatisches Geschick jedoch zuvor unter
der Ägide seines Fürsprechers, des kurmainzischen Ministers Johann Christi-

HarsdörfTer, Deiitice Mathematicce et Physicce, S. 516.


Schottelius, Justus Georg, Der schreckliche Sprachkrieg. Horrendum Bellum Grammatieale,
hg. v. Friedrich Kittler u. Stefan Rieger, Leipzig, [1673] 1991.
Vgl. Moll, Konrad, „Von Erhard Weigel zu Christian Huygens", in: Studia Leibnitiana,
Bd. 14, H. 1, 1982, S. 56-72, hier S. 68-69.
32 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK

an Freiherr v. Boineburg. Sein Vorgehen ist der genaueren Untersuchung


wert.
Als 1668 der König in Polen, Johann II. Kasimir, abdankte, drohten der
Kurpfalz die zaristischen Einflußmöglichkeiten auf Mitteleuropa im Falle der
Wahl ihres Thronanwärters übermächtig zu werden. Es galt, einen Gegenkan-
didaten auf den vakanten Thron zu setzen. Leibniz versuchte, durch einen
syllogistisch geführten Beweisgang zu demonstrieren, daß kein anderer als
Pfalzgraf Philipp Wilhelm von Neuburg als König für Polen in Frage käme.
Der britische Nationalökonom John Maynard Keynes hat in Leibniz' Schrift
die Anfänge einer neuen, die Wahrscheinlichkeitslehre umfassenden Logik
gesehen;" der deutsche Logiker Heinrich Scholz hat ihm darin widersprochen:
Leibniz habe bloß die althergebrachte Syllogistik auf ein neues Feld ange-
wandt.74 Tatsächlich scheint Leibniz jedoch du Praissacs Methode aufgegrif-
fen zu haben, die er von Harsdörffer kannte. Wird im Sinne dieser Methode
eine aus Gemeinplätzen zusammengefügte Frage bejaht, dann bildet sie den
Ausgangspunkt für eine Reihe sich daran anschließender Fragen, die durch
entsprechende Drehung der Ringe von du Praissacs Kreisschemata erzeugt
werden: „Ist nun der Krieg beschlossen", das heißt, wurde die Frage, „Ob man
Krieg machen soll", bejaht, „so muß man die Fragen deß ersten und vierdten
Reyens zusammen halten / zu bedencken / ob man verbleiben / ob man wei-
chen / ob man fechten" etc. soll.75 Genau nach diesem verkettenden Schema,
das du Praissac selbst nicht auf militärische Anwendung beschränkt wissen
wollte,76 verfährt auch Leibniz' „Catena definitionum",77 um zu dem Schluß zu
kommen, daß der Pfalzgraf von Neuburg der einzig legitime Anwärter auf den
polnischen Thron sei.

3. Christoph Weickmanns Machtspiel

1616, drei Jahre bevor Descartes im Traum die Grundlegung einer neuen
Wissenschaft erschien, die er in seinen „Regeln zur Leitung des Geistes"
ausbuchstabieren wird, fällt in des nachmaligen Herzogs August zu Braun-
schweig-Lüneburg großem Schachbuch der Satz, daß die Physik „den Zahlen/
den Massen/ und Abtheilungen/ materien darzu leihet: obgleich/ in diesem

Keynes, John Maynard. A Treatise on Probability, London, 1921, S. 3.


4
Scholz, Heinrich, Geschichte der Logik. (=Geschichte der Philosophie in Längsschnitten 4).
Berlin, 1931, S. 19-20.
Harsdörffer, Delitice Mathematicce et Physicce, S. 412, folgt seiner Quelle, wie der Vergleich
mit der Ausgabe Sieur du Praissacs ergab: derselbe. The Art of Warre or Militarie discour-
ses..., Cambridge, 1639, S. 1-8 (Anhang zur Hauptschrift).
Vgl. Du Praissac, The Art of Warre, S. 8: „These common places may be applied as well to
divers other actions as to that of warre, provided that you know which to choose, and how
many."
Vgl. Voise, Wlademar, „Leibniz' Model of Political Thinking", in: Organon, Bd. 4, 1967.
S. 187-195, hier S. 196-197.
II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 33

Spiel/ die Materie durch den verstand/ wan sie demselben/ nebst einer guten
gedechtnus / fest eingebildet worden / kan absondert werden [...]."78 Radikaler
als Herzog August hätte man einen sich verzweigenden Lauf der Res cogitans
und Res extensa kaum vorzeichnen können: Körper mögen nunmehr „fehren,
reiten oder spazieren", während der Verstand „auswendig" alle möglichen
„gänge und Züge" eines Schachspiels nachgeht - was zugegebenermaßen
„aber zimlich schwer/ ins werck zu richten"79 ist.
Nachdem dem Dreißigjährigen Krieg, 1664, hatte auch der Ulmer Patriziers
und Handelsherrn Christoph Weickmann einen Traum: Nach einem Tag
ausgiebiger Schachpartien erschien ihm im Schlaf ein Spiel, von allen äußerli-
chen „Objectis" befreit, in ganz ,,neue[r] Form" und „Gestalt".80 Anstelle der
quadratischen Felder des Schachbretts bildete die Spielgrundlage ein Netz aus
lauter geraden und sich überkreuzenden Linien. Weickmann brachte das Spiel
zu Papier und gab es als „New-erfundenes großes Königs-Spiel" in Druck.
Sein Werk lehnte sich nicht nur im Titel an Augusts Schachbuch an, sondern
bedachte ihn auch mit einer Widmung. Die Schrift gliedert sich in zwei Bü-
cher, deren erstes die äußerliche Beschaffenheit des Spiels und sein Regel-
werk aufzeigt. Dieses Spiel bietet für das zweite Buch einen vordergründigen
Anlaß, um sechzig „Observationen" in barocker Weitschweifigkeit anzustel-
len, aus denen nach etlichen historischen Beispielen und zahlreichen Autoritä-
ten schließlich Regiments- und Kriegsregeln gefolgert werden. Das erste
Buch, das weniger als ein Sechstel der gesamten Schrift ausmacht, informiert
über die Anfertigung des Spiels, seine Figuren, die Schlag- und Gangarten
und seine Zielsetzung. Letztere läuft wie beim Schach auf die Mattstellung
des Königs hinaus. Die Anfertigung der Spielflächen bleibt nun nicht mehr
wie bei Harsdörffers „Mathematischen Erquickstunden" einem Buchbinder
überlassen, sondern wird dem Leser aufgetragen. Vier verschiedene Spielflä-
chen sind von Kupferstichen auf festes Papier zu übertragen und auf Holz
aufzuziehen, wobei der Maßstab mitunter zu verdoppeln oder zu verdreifa-
chen ist.81
Die vier Spielflächen ermöglichen ein Spiel mit zwei, drei, vier, sechs und
acht Spielern. Statt der 16 Figuren des Schachs, von dem Weickmann sein
Spiel ausdrücklich ableitete, verfügen die Spielenden in seiner Version an-
fänglich über jeweils 30 Figuren, denen 14 unterschiedliche Gangarten zuge-
ordnet sind. Kreise markieren die Standflächen der Spielfiguren und Linien
die Zugrichtungen. Während beim Schach ein Feld, das nicht am Rand liegt,
jeweils an acht andere angrenzt, verknüpft Weickmann nicht alle benachbar-

Selenus, Oustavus alias Herzog August II. von Braunschweig-Lüneburg, Das Schach- oder
Königsspiel, hg. v. Viktor Kortschnoi u. Klaus Lindörfer, Nachdruck v. 1616, Leipzig. Zü-
rich, 1978, S. 4.
Ebenda, S. 111.
Weickmann, Christoph, New-erfundenes grosses Königs-Spiel etc. Ulm, 1664, S. 5.
Faulhabers ebenfalls durch Bücher zu beziehender und aus Papier zu schneidender Proportio-
nalzirkel könnte dabei dienlich gewesen sein.
34 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK

ten Felder miteinander. Sein Netz besteht vielmehr aus Elementen, die ab-
wechselnd vier- und achtfach miteinander verknüpft sind. Er unterteilt die
Verknüpfungslinien in jeweils zwei verschiedene Klassen diagonaler und
orthogonaler Linien und fordert dazu auf, sie unterschiedlich zu kolorieren.
Mit der topologischen Ausgestaltung des Schachbretts, die nun nicht nur
Standflächen, sondern auch die Züge selbst graphisch und farblich abbildet
und mit Zeichen behaftet, werden Gangarten diagrammatisch adressierbar.
Sind beim Schach mögliche Züge allein durch die Figuren gegeben, sorgt bei
Weickmanns Spiel die Fläche für unterschiedliche Zugmöglichkeiten und
zwingt bestimmte Figuren auf vorgezeichnete Bahnen (Abb. 5).
Erwähnte Herzog August in seinem Schachbuch noch zum Amüsement des
Lesers Schachfiguren, die Insignien höfischer Würdenträger tragen, vollführt
Weickmann in seinem Tableau ausgewiesenermaßen eine Gleichsetzung von
bildlich getreu dargestellten Amtsträgern, Spielfiguren in floralen Formen
barocker Drechselarbeiten und astronomischen Zeichen, die sich auch auf den
Darstellungen der Spielflächen zur Anordnung der Figuren wiederfinden
(Abb. 6).

Abb. 5: Spielfläche aus Weickmanns Königs-Spiel, Ulm 1664

Nicht so sehr an der Unterhaltung ist Weickmann mit seinem Spiel gelegen,
als vielmehr daran, einen „Staats- und Kriegsrath" daraus abzuleiten, wobei
„nöthigste Politische und Militairische Axiomata und Regeln/ Spielweise [...]
ohn einige grosse Müh und Lesung vieler Bücher/ gleichsam als in einem
II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 35

Compendio, gewiesen und vorgestellt werden [...]."** Eine Folge des Dreißig-
jährigen Kriegs ist wohl, daß die Figur des Königs von Figuren umringt ist,
die als Marschall, Kanzler, Rat oder Geistlicher nicht direkt der militärischen
Sphäre angehören, sondern als beratende „Amtsleute" fungieren. Dann erst
folgen Figuren, die „Kriegsleuth" darstellen. Anstelle einer Kriegsmetaphorik,
wie sie bei Grimmeishausen und anderen barocken Dichtern vorherrscht, ist in
der Spielbeschreibung Weickmanns von „Beleidigung" und „Protestation" die
Rede.83 Wenn eine Figur, die einen einfachen Soldaten abgibt, eine hierar-
chisch höherstehende Figur schlagen kann, dann muß sie sich entscheiden, ob
sie dessen Amt annehmen will oder nicht. Verzichtet sie darauf, kann sie im
weiteren Spielgeschehen womöglich das Feld einer noch höherstehenden
Figur einnehmen. Hat sie das Amt einer Figur jedoch erst einmal angenom-
men, dann ist sie bis zum Ende des Spiels auf deren Rolle festgelegt. Stand
das Schachspiel seit jeher für die kriegerische Auseinandersetzung unter
Herrschern, gerät das Königs-Spiel bei Weickmann nun zum Sinnbild des
Kampfes um die Ämter eines Reiches.

Abb. 6: Figuren und Bezeichnungen aus Weickmanns Königs-Spiel

Das Titelblatt von Weickmanns Schrift setzt mit ikonologischen Mitteln


genau eine solche Machtkonstellation in Szene: Sieben Kurfürsten sind in
Weickmanns Spiel versenkt, während der Kaiser84 auf das Niveau der Spiel-
fläche gehoben und gleichsam aufs Spiel gesetzt wird (Abb. 7).

82
Ebenda, S. 7.
83
Ebenda, S. 36.
Marion Faber vermutet das Porträt Leopolds L in der Herrschergestalt, siehe: dieselbe, Das
Schachspiel in der europäischen Graphik (1550-1700), (=Wolfenbütteler Arbeiten zur Ba-
rockforschung 15), Wiesbaden, 1988, S. 100.
36 H. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK

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Abb. 7: Titelkupfer aus Christoph Weickmanns „Königs-Spiel". Ulm 1664


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II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 37

Den Kurfürsten sind auf Spruchbändern die Kardinaltugenden angeheftet. Sie


haben einen Brief, ein Buch oder Marschallstäbe vorzuweisen, jedoch keine
Waffen. Waffenstarrende Krieger säumen demgegenüber den Rand der Szene.
Im Vordergrund erschlagen sie böse Kreaturen. Unter dem Tisch, auf dem
sich das Spiel befindet, sind Dämonen an die Kette gelegt. Weickmann stellt
die Frage der Macht vor die Macht, die von den Waffen ausgeht. Aus all den
Klugheitslehren seiner Schrift stechen Fragen zur Bewaffnung heraus: Ob
„den Unterthanen Wehr und Waffen in Händen zu lassen"85 sind, ob ihre
Herrscher sie „in Kriegsübungen/ Wehr und Waffen/ wol und genugsam
underweisen und unterrichten"86 und ob „privat-Personen/Burgern und Un-
derthanen/ nicht gestattet noch zugelassen werden solle/ gar zu viel Wehr und
Waffen zu haben?"87 In Weickmanns Königs-Spiel zeichnet sich der moderne
Staat mit seinen stehenden Heeren, seinem Beamtenstand und dem Gewalt-
monopol ab.
Immer entscheidender wird, wer im Dienste des Königs die Rede führt und
wie er sie führt. Das Königs-Spiel fällt in einer Hinsicht mit dem Kern eines
jeden Streitfalls zusammen: Denn „Gemüthsausbrüche" sprengen den Rahmen
des fiktiven Spiels, insofern Affekte sich dem Register der Simulation und
Dissimulation entziehen. Aus diesem Grund empfahl Weickmann sein Spiel
zur Erprobung neuer Staatsträger und behauptete: „Daß also durch dieses
Spiel eine hohe Person aller dero vornemmen Beambten Gemüther / gar
leichtlichen und ohne alle Müh erforschen und erkundigen köndte / welches
sonsten auf andere Weiß nichtso leichtlich geschehen kan [...]."8S Um die
Beamtengemüter auf die Probe zu stellen, forderte das Spiel seine Spieler zur
Bildung von Allianzen heraus. Die Wahlarithmetik, die im Spiel zum Aus-
druck kommt, gleicht der fortwährenden Bedrohung des 17. Jahrhunderts, daß
bei Ernennung eines achten Kurfürsten eine Stimmengleichheit sich einstellen
könnte, die jede souveräne Machtentfaltung verhindern würde. Schließlich
hatte gerade die Infragestellung der drei geistlichen und vier weltlichen Kur-
fürsten, die den König wählten, sowohl was ihre Anzahl als auch was ihre
konfessionelle Zugehörigkeit anging, den Dreißigjährigen Krieg mit ausge-
löst. Weickmanns Titelblatt steht deshalb auch für Repräsentanten - verstrickt
im Ringen um die eigene Herrschaftsform. An erster Stelle der Adressaten,
denen die Schrift gewidmet ist, steht wohl nicht zufällig Kurfürst Maximilian
Heinrich, Erzbischof zu Köln. Das Königs-Spiel inszeniert nicht eine feindli-
che Macht, die von außen einzubrechen droht. Sie zeigt einen nach innen
gekehrten Kampf.
Weickmann hat vermutlich an den Entwürfen seines Freundes, des Ulmer
Architekten und Ingenieurs Joseph Furttenbach, zur Ausgestaltung seiner

5
Ebenda, S. 167.
86
Ebenda, S. 168.
8
' Ebenda, S. 169.
88
Ebenda, S. 7.
38 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK

Spielflächen Maß genommen. Er wird vielleicht auch die kreuzförmigen


Schlachtordnungen des profiliertesten deutschen Militärhistorikers des
17. Jahrhunderts, Johann Jacob von Wallhausen, im Blick gehabt haben (Abb.
8-9).
Ganz gleich, ob es sich bei den sternförmigen Formationen um die Aufstel-
lungen von Redouten im Sinne von Simon Stevin handelte oder um Fortifika-
tionen nach der Maßgabe Furttenbachs, sie sind auf ein Außen gerichtet in
Erwartung des Feindes und seiner Kräfte. In Weickmanns Spiel wie auch in
seinem programmatischen Titelblatt drehen sich alle Kräfte um ein Zentrum,
das im Mittelpunkt der sternförmigen Anlage liegt. Furttenbach hat einen
bemerkenswerten Entwurf veröffentlicht, der vom gleichen oktogonalen
Grundriß ausgeht und vier Kammern als Spielbühnen ausweist. Im Mittel-
punkt der Anlage ist eine Tafel für zwölf Personen vorgesehen, die durch eine
Drehvorrichtung auf die Bühnen ausgerichtet werden kann. Die Bühnenkulis-
sen sind ebenfalls beweglich konzipiert, sodaß von einem doppelten Multi-
perspektivismus gesprochen werden kann (Abb. 10).
Hat Weickmann mit seinem Spiel eine Topologie und ein Regelwerk ent-
wickelt, das die Macht des einen durch die Vielstimmigkeit der Spieler ge-
fährdet, so bindet Furttenbach den Blick des Potentaten an eine Bühnenma-
schinerie, die das Weltentheater in mehrere Bühnen aufsplittet.
II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 39

Abb. 8: Spielfläche aus Weickmanns Königs-Spiel 1664

Abb. 9: Angriff auf eine Verteidigungsformation der Fußsoldaten, Dar-


stellung aus Johann Jacob von Wallhausen: „Kriegskunst zu Fuß"; Op-
penheim 1615

Abb. 10: Grundriß des „Schawspilsaais" von Joseph Furttenbach mit


drehbarer Tafel in der Mitte und vier Bühnen, Augsburg 1663
4. Spiel als Hort des Wissens

Ob Leibniz mit seiner Neugier für Spiele und Instrumente auch Weickmanns
Königs-Spiel kannte, ist nicht gewiß, jedoch sehr gut möglich. Die Bibliothek
in Wolfenbüttel, an die Leibniz als Bibliothekar berufen wurde, verfügt
selbstverständlich über ein Exemplar jenes Buches, das schließlich auch dem
Begründer der Bibliothek, Herzog August, gewidmet ist. Durch Leibniz'
Sekretär Joachim Friedrich Feller ist überliefert, daß Leibniz von einem „Kö-
nigsspiel", „wo der durch Loos erwählte Fürst Befehle giebt"8' gesprochen
hatte. Weickmann schlug tatsächlich vor, durch Los zu entscheiden, welche
Spieler gegen- und miteinander antreten sollten. Doch selbst wenn Leibniz es
gekannt hätte, gingen seine eigenen Kriegsspielentwürfe in eine andere Rich-
tung. Er notierte bei Gelegenheit, daß „Anordnungen des gemahlten Kriegs-
spiels" neben Fortifikationsmodellen erlauben würden, geschlagene Schlach-
ten nocheinmal durchzuspielen.1" In seinen Gedanken zu einer „teutschen
Kriegsverfassung" führt er den Vorschlag weiter aus:
Neu erfundenes Kriegsspiel, darinn Kriegsobristen und Hauptleüte, auch andere
befehlichhaber anstatt des schachbret- und karten spiels sich üben und zu großer
wißenschafft, geschwindigkeit und erfindung kommen; man köndte damit auff
dem tisch mit gewißen spielsteinen, gewiße schlachten und Scharmützel, auch
die gelegenheit der waffen und des bodens vorstellen, sowohl nach belieben, als
auch aus der Histori, als wenn man zum exempel die Lünzener Schlacht, das
scharmüzel mit den Franzosen bey Ensisheim, und dergleichen andere geschich-
te spielen wolte[;] dabey man offimahls finden würde, was andere versehn, und
wie wir mit der vorfahren schaden klug werden köndten.""
Leibniz, der mit seiner Theodizee den Raum für die Vorstellung möglicher
anderer Welten eröffnete, um deren beste herauszustellen, ist auch Erfinder
der kontrafaktischen Kriegsgeschichtsschreibung. Er beließ es aber nicht bei
dem Gedanken, im Spiel vergangene Schlachten wieder aufzuführen. Kam
Weickmann nicht ohne aufwendige Färb- und Zahlkodierungen der Spielflä-
chen und Figuren aus, um das Spielgeschehen zu orchestrieren, so schlägt
Leibniz gleichermaßen in seiner Kriegsverfassung eine Lösung vor, wie zer-
streute Soldaten
in einer schlacht [sich] samein können, nehmlich wenn die regimenter mit fär-
ben, die Compagnien aber mit den strichen oder lineamenten der färben oder

Leibniz, Gottfried Wilhelm, „Zufällige Gedanken von der Erfindung nützlicher Spiele. Aus
den mündlichen Unterredungen aufgezeichnet von J. F. Feller", in: derselbe, Leibniz's Deut-
sche Schriften, Bd. 2, hg. v. Gottschalk Eduard Guhrauer, Berlin, 1840, S. 493.
Leibniz, Gottfried Wilhelm, „Agenda", in: Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. d. Akade-
mie der Wissenschaften der DDR, 4. Reihe, Bd. 3, Berlin, 1986, S. 894-902, hier S. 901.
Leibniz, Gottfried Wilhelm, „Gedanken zum Entwurf der teutschen Kriegsverfassung", in:
Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. d. Akademie der Wissenschaften der DDR, 4. Reihe,
Bd. 2, Berlin, 1986, S. 577-593, hier S. 589.
II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 41

numern unterscheiden. Also kan ieder von weiten sein regiment und [...aus der
Nähe seine] compagnie erkennen.92
Leibniz stellt nicht nur die Frage nach der richtigen Formation der Zeichen-
systeme, sondern auch, wie andere Felder - und seien es Schlachtfelder95-
Formationen von Zeichensystemen annehmen können.
Lebensbereichen, die sich Leibniz' Programm der rigiden Berechenbarkeit
entziehen, ist mit der Angleichung an Spiele beizukommen. Anders als seine
Veröffentlichungen preisgeben, hat er vielfältige Spiele systematisch analy-
siert: Er zählt zu den ersten, die Einsicht in den Briefwechsel zwischen Blaise
Pascal und Pierre de Fermat über Glücksspiele nahmen, stellte ein eigenes
probabilistisches Kalkül dagegen,94 drängte im Briefwechsel mit Jakob Ber-
noulli zur Herausgabevon dessen Ars conjectandi, die das Gesetz der Großen
Zahlen formulierte und untersuchte gerade erst aufgekommene Spiele wie das
Solitaire.*5 Leibniz' Entwürfe einer Akademie der Spiele und seine Dröle de
Pensee sind Orte, die Spiele offensichtlich zur Schau stellen, während er
seinen Spielanalysen eher im geheimen und in aller Ernsthaftigkeit nachging.
Leibniz vermochte schließlich nach vielen vergeblichen Anläufen nicht zu-
letzt auch deshalb in Berlin eine Akademie einzurichten, weil er ihre Finan-
zierung aus Erträgen eines noch zu schaffenden Lotteriemonopols vorschlug.96
In ihrer ersten Zeitschriftenausgabe mit dem programmatischen Titel „Berli-
ner Sammlung zur Förderung der Wissenschaften" hebt Leibniz mit einer
Epistemologie der Spiele an: In ihnen seien Menschen erfindungsreicher als
irgend sonst. Die Mathematik der Spiele verdiene jedoch nicht der Sache
wegen Aufmerksamkeit, sondern hinsichtlich der Ars inveniendi?1 Was
Glückspiele für die Mathematik leisten, hätten Blaise Pascals, Christian Huy-
gens und Pierre de Fermats Berechnungen der Wahrscheinlichkeit gezeigt.
Doch Spiele, die Zufall und Geschick verbinden, vermögen weit mehr. Sie
repräsentieren das menschliche Leben am besten, besonders in militärischen

Ebenda, S. 585.
Leibniz gibt zu bedenken: „die alten teutschen sind (so zu sagen) gebohrne Soldaten gewesen,
unsere heutige müßen durch Kunst und fleiß dazu gemacht werden." Ebenda, S. 578.
Vgl. Struve, Horst und Rolf Struve, „Leibniz als Wahrscheinlichkeitstheoretiker", in: Studio
Leibnitiana Bd. 29, Nr. 1, 1997, S. 112-122.
Vgl. de Mora Charles, Maria Sol, „Quelques jeux de hazard selon Leibniz (Manuscrits
inedits)", in: Historia Mathematica, Bd. 19, Nr. 2, 1992, S. 125-158.
Harnack, Adolf, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaft, Bd. 1,
erste Hälfte, Berlin, 1900, S. 91. Leibniz' Vorschlag wurde unter der Regentschaft Friedrich
II. verwirklicht und bescherte Leonard Euler an der Akademie die Berechnung von Gewin-
nerwartung bei Losverfahren. Vgl. Maistrov, Leonid Efimovich, Prohability Theory. A His-
troical Sketch, Übers, u. hg. v. Samuel Kotz. New York, London, 1974, S. 101-103.
In dem schon in Anmerkung 22 erwähnten Brief an Remond de Montmort greift Leibniz
diesen Satz noch einmal auf und verschärft ihn dahingehend, daß Menschen nicht im Spiel,
sondern beim Erfinden derselben am erfindungsreichsten seien.
42 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK

Angelegenheiten und in der medizinischen Praxis, die teils auf Kunstfertigkei-


ten und teils auf Zufälligkeiten beruhen.98
Leibniz exemplifiziert sein Programm mit eigenen Analysen zum Solitai-
respiel und an seiner Erfindung eines Spiels, das Schiffsmanöver simuliert.
Schließlich führt er noch eine Abbildung an, die Asiaten bei einem Spiel
zeigt, das uns heute als Go bekannt ist. Das Spiel, so Leibniz, beruhe allein
auf Kunstfertigkeit und nicht auf Zufall und werde in China meist von hohen
Staatsträgern ganze Tage lang gespielt. Die Spielsteine werden hier nicht
geschlagen, sondern umringt. Derjenige gewinnt, der dem anderen die Bewe-
gungsfreiheit nimmt:
sozusagen ohne Mord und Blut. Dies passiert zwar nicht selten auch in anderen
Spielen, hier aber zwangsläufig. [... Es] ist bekannt, daß die Völker Hinterin-
diens sich sozusagen christlicher in dieser Sache verhalten, als die, die sich
Christen nennen, und in der Regel gerade im Krieg das Töten vermeiden."
Am Ende eines Jahrhunderts, das in der Verheerung seiner konfessionellen
Bürgerkriege zu versinken drohte, am Ende eines Gelehrtenlebens, das neue
Welten allein in der Entfaltung seiner Zeichen und Zeichenoperationen ent-
deckte und am Anfang einer mathematischen Wirkungsmächtigkeit, die sich
von ihren magischen und mystischen Wurzeln freizumachen anschickte, gibt
sich diese späte Veröffentlichung - auf die ein Beitrag zu seiner Rechenma-
schine folgt - wie die Verdichtung eines Begehrens zu erkennen, das am Spiel
der Zeichenoperationen das Naheliegendste und zugleich eine unermeßliche
Weite abzulesen suchte.
Es bleibt abschließend daran zu erinnern, daß Martin Heidegger das Sein
als Gründendes ohne Grund, auch am Wort und der Sache der Calculi festge-
macht hat insofern, als es Rechensteine wie auch Spielsteine heißen kann.
„Wenn Gott rechnet, wird Welt"100 hat er Leibniz' „Cum Deus calculat fit
mundus" deshalb übersetzt, um dann noch eine weitere Lesart anzubieten:
„Während Gott spielt, wird Welt."'01

Leibniz, Gottfried Wilhelm, „Annotatio de quibusdam Ludis; mprimis de Ludo quoddam


Sinico, differentiaque Scachici & Latrunculorum, & novo genere Ludi Navalis", in: Miseel-
lanea Berolinensia, 1710, S. 22-26, hier S. 23.
Ebenda, S. 26. Übers, n. Wehking, Ulrich, „Leibniz und Go", in: Deutsche Go Zeitung, Bd.
63, Nr. 3, 1988, S. 37-39, hier S. 39.
Heidegger. Martin. „Der Satz vom Grund", in: derselbe, Gesamtausgabe. 1. Abteilung, Bd.
10, hg. v. Petra Jaeger, Frankrurt/M., 11957] 1997, S. 151.
101
Ebenda, S. 167.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT

1. Vom Kriegsspiel

Angesichts der verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges verfolgte


Christoph Weickmann mit seinem Königsspiel zur Feststellung „vornehmer
Beamtengemüter" offensichtlich die Absicht, den Potentaten seiner Zeit glei-
chermaßen die Stärkung eines Berufsstands, wie auch ein Mittel zu ihrer
Erhebung nahezulegen. Hätte sein Werk eine breitere Aufnahme erfahren als
es tatsächlich der Fall war, dann wäre er - nicht ganz uneigennützig - wohl
selbst zum Prototyp jenes verbeamteten Beraters und Verwalters in militäri-
schen Dingen geworden, dem er in seinem Spiel eine entscheidende Rolle
zuwies. Tatsächlich aber sollte noch ein halbes Jahrhundert vergehen, bis der
„Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm I. nach dem Spanischen Erbfolgekrieg
1713 zu der Einsicht kam, daß es nicht reiche, nur Soldaten permanent in
Stellung zu halten. Denn um den Unterhalt eines stehenden Heeres sicherzu-
stellen, waren zuallererst Beamte mit kameralistischen Fähigkeiten gefragt. Er
rekrutierte sie auch unter den Offizieren seiner Armee und eröffnete ihnen
somit die Möglichkeit, von einer rein militärischen Karriere in eine administ-
rative Laufbahn zu wechseln. In den Officien, jenen Kanzleien, die das Heili-
ge Römische Reich zur Verwaltung seiner Provinzen hervorgebracht hat,
fanden nun verstärkt Offiziere Eingang, die über Jahrhunderte allen Alphabe-
tisierungskampagnen getrotzt hatten.
Ausgestattet mit dem höchsten Beamtenstatus bezogen sie ihre Stellung in
dem 1723 von Friedrich Wilhelm I. eigens gegründeten General-Ober-Finanz-
Kriegs- und Domänen-Direktorium und in den zahlreichen Kriegs- und Do-
mänenkammern der Provinzen. Kriegskontributionen und Steuereinnahmen
flössen nun unter einem Dach zusammen. Pläne zur Versorgung der Heere
und die genaue Ausarbeitung von Aufmarschplänen bewerkstelligten die
Kriegs- und Domänenkammern vor Ort. Die Verwaltungsstrukturen der auf-
strebenden preußischen Macht gingen damit gegen die Grenzen der deutschen
Kleinstaaterei an und schufen mit ihren Kriegsräten einen Verbund von Be-
amten und Militärs. Der Soldatenkönig ließ sich zwar zu Lebzeiten kaum auf
eine größere Schlacht ein, doch schon die Ausmaße seiner Schlachtpläne
erzwangen, über existierende Grenzen hinauszuschauen. Zudem sollte sich
Preußens strategische Planungsarbeit über Generationen von Hohenzollernkö-
nigen erstrecken. Initiiert durch Friedrich Wilhelm I., wurde die Ausarbeitung
von Schlachtplänen über Friedrich IL bis zu Friedrich Wilhelm III fortgesetzt.
Doch letztlich stießen die strategischen Entwürfe Für unterschiedliche Kriegs-
schauplätze an eine Grenze, die weder aus unüberwindlichen natürlichen
Beschaffenheiten resultierten, noch von überlegenen Hegemonialmächten
44 III. DAS K.R1EÜSSP1EL, DAS STAAT MACHT

diktiert wurden. Als absolute Grenze der strategischen Kabinettskriege ent-


puppte sich die Unberechenbarkeit des taktischen Raumes.
Versuche, die Taktik als Sonderfall der Strategie zu subsumieren, scheitern
auf allen Ebenen. Im Maßstab des Strategischen kommt das Partikulare nicht
vor, sondern verschwindet als vernachlässigbare Größe im Gleichgewicht der
Kräfte, die sich in den ersten Bevölkerungserhebungen Johann Peter Süss-
milchs abzeichnen, sich in den Handelsbilanzen prosperierender Provinzen
widerspiegeln oder bei der Aushebung immer größerer Armeen und der An-
werbung von Söldnerheeren zum Tragen kommen. Die von Adam Smith in
Anschlag gebrachte unsichtbare Hand erscheint dabei umso transparenter, je
wirkungsvoller es den Kriegs- und Domänenkammern gelingt, die Produktivi-
tät des Volkskörpers in ihren Aktenstücken zum Vorschein zu bringen und mit
administrativen Mitteln zu orchestrieren.
Der taktische Raum des Schlachtfelds entzieht sich indes einer kameralisti-
schen Ordnung; im taktischen Raum gehorchen die Ereignisse ganz anderen
zeitlichen Konstituenten. Ereignisse sind einzig dem Moment verpflichtet und
verwandeln den Raum in ein operatives Feld von Sicht- und Unsichtbarkeiten,
das sich jedweder nachträglichen Darstellbarkeit verweigert.
An drei außergewöhnlichen Biographien, deren Spuren sich in Berlin kurz
vor den Befreiungskriegen kreuzen, läßt sich festmachen, wie Auseinander-
setzung mit dem taktischen Raum auf unausweichliche Weise an die Preußi-
sche Militärmacht herangetragen wurde. Zunächst ist Carl von Clausewitz zu
nennen, der 1810/1811 an der Allgemeinen Kriegsschule seine Theorie des
kleinen Kriegs entwickelte. Gleichzeitig sorgte Clausewitz tür die militärische
Ausbildung der Prinzensöhne am Hof der Hollenzollern, bis er schließlich
1812 in russische Dienste überwechselte. Die Lücke, die er am Preußischen
Hof hinterließ, füllte in taktischen Fragen Kriegsrat Baron George Leopold
von Reiswitz aus. Dessen Soldatenlaufbahn war durch Familientradition
vorgezeichnet. Ein ärztlicher Kunstfehler jedoch hatte ihn die dazu nötige
körperliche Unversehrtheit gekostet. Reiswitz verlegte sich daraufhin auf die
Entwicklung eines Kriegsspiels, das zunächst innerhalb der Preußischen
Armee und schließlich weltweit Furore machen sollte. Seine Wirkungsstätte
war zunächst die Kriegs- und Domänenkammer in Breslau.102 Die hier erwor-
benen Verdienste brachten ihn schließlich an den Hof in Berlin.103 Auch der
aus der Armee ausgeschiedene Seconde Lieutenant der Preußischen Leibgarde
namens Heinrich von Kleist kehrte nach einer im Vergleich zu Reiswitz weni-
ger erfolgreich verlaufenen Karriere an der Königsberger Kriegs- und Domä-
nenkammer nach Berlin zurück und hoffte nach weiteren beruflichen Fehl-
schlägen, dem Preußischen Hof wieder als Soldat zu Diensten sein zu können.

Vgl. Poten, Bernhard, „Reiswitz", in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. durch die histori-
sche Commission bei der königl. Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1889, 28. Bd., S.
153-154, hier 153.
Vgl. Reiswitz, George Leopold von, Taktisches Kriegs-Spiel oder Anleitung zu einer mecha-
nischen Vorrichtung um taktische Manoeuvres sinnlich darzustellen, Berlin, 1812, S.XI.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 45

Es sollte Heinrich von Kleists letzter Versuch sein, seinem Vaterland jenen
absoluten Dienst zu erweisen, den er mit jedem seiner Schauspiele propagier-
te.
Doch letztlich werden vor allem die Kriegsspiele des Barons von Reiswitz
die Armeen auf eine bis dahin völlig unbekannte Weise mobilisieren. Größten
Anteil hatte daran Reiswitz' Sohn, laut Zeitgenossen ein „militärischer
Faust""", der seinem Leben genauso wie Kleist selbst ein Ende setzte, als die
Berufung in ein militärisches Amt ausblieb. Die beiden folgenden Kapitel
seien deshalb insbesondere jenen beiden preußischen Soldaten gewidmet,
deren Kriegsspiele als erstes Opfer ihr eigenes Leben einforderten.

2. Kleists Kriegsspiele

Die Teichoskopien und Botenberichte in Kleists Dramen greifen nicht zum


alten Theatertrick griechischer Tragödien, die, statt große Schlachten in Szene
zu setzen - wie sollten sie auch - bloß ihre Schilderung legitimieren. Demge-
genüber zeigen Kleists Stücke wie Die Hermannschlacht, Die Familie Schrof-
fenstein oder Der Prinz von Homburg, wie allein schon die Übermittlung
schlechter Nachrichten, von Kriegserklärungen und Angriffsbefehlen, Dramen
auszulösen vermögen und damit das Leben des Boten aufs Spiel zu setzen
oder der Bote das Leben anderer. Weniger die prekären Inhalte der Botschaf-
ten beschwören damit die dramatischen Wendungen herauf als vielmehr jene
unberechenbaren Momente, in denen das geschriebene Wort außer Kraft
gesetzt wird; so etwa, wenn der Prinz von Homburg sich über einen konzer-
tierten Schlachtplan hinwegsetzt und eigenmächtig zum Angriff übergeht.
Solche Übermittlungsstörungen avant la lettre generiert der Wechsel vom
Medium der Schrift zum Wort, als dessen drastischsten kommunikativen
Effekt Kleist den Affekt inszeniert.1"5 Präziser und knapper als mit Wolf Kitt-
lers Worten läßt sich wohl nicht festhalten, daß Kleists Dramen ausnahmslos
von der Entfaltung der „Funktion der Schrift" als Affektion handeln.106 So
suchen sich Kleists Schauspiele und Novellen in Schlachtfelder und kriegeri-
sche Herzen einzuschreiben, tiefer als der härteste Drill und das vernehmlichs-
te Kommando es je könnten.

Anonymus, „Zum Kriegsspiel", in: Militair-Wochenblatt, Nr. 35 u. 37, 1869. S. 276-277 und
S. 292-S. 295, hier S. 276. Hinter dem Verfassersigel 98 verbirgt sich laut Konstantin von
Altrock. Theodor von Troschke.
Trotzdem bleibt anzumerken, daß Kleist auch sehr hellhörig auf die Nachricht von neueren
Medien reagierte: Für die Verbreitung der Kunde von Sömmerings elektrolytischem Telegra-
phen sorgte er in dem von ihm entwickelten Format der Tageszeitung höchstselbst.
Vgl. Kittler, Wolf, „Militärisches Kommando und tragisches Geschick. Zur Funktion der
Schrift im Werk des preußischen Dichters Heinrich von Kleist", in: Heinrich von Kleist. Stu-
dien zu Werk und Wirkung, hg. v. Dirk Grathoff, Opladen. 1988, S. 56-68.
46 III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT

Doch Kleists Patriotisierung der Herzen im Vorfeld von Preußens Befrei-


ungskriegen hat einen Preis: Eine mit poetologischen Mitteln herbeigeführte
Aufrüstung wird umso erfolgreicher die Massen mobilisieren, je weniger sie
sie letztlich kontrolliert. Allein für den Prinzen Friedrich von Homburg geht
der Traum vom lorbeerbekränzten Kriegshelden in Erfüllung, der sich über
die königliche Ordre hinwegsetzt, waghalsig sein Leben und das seiner Mit-
streiter gefährdet, am Ende aber seinem Vaterland zum Sieg verhilft und
begnadigt wird. Als Kleist das Stück zwischen 1809 und 1810 schrieb, moch-
te er gehofft haben, daß eine nicht minder leichtsinnige Aktion, die allerdings
am Rande eines Schlachtfeldes bei Aspern stattfand, und die er selbst zu
vertreten hatte, ein ebenso gutes Ende nähme. Ein Gedenkstein am Kleinen
Wannsee, der den Ort markiert, an dem Kleist Selbstmord beging, bezeugt,
daß das Gegenteil eintraff.
Die Umstände, die Kleist in den Tod trieben, lassen sich zurückführen auf
ein doppeltes Spiel, das er trieb, während in der Schlacht zwischen Bonaparte
und dem Erzherzog Karl von Österreich bei Aspern mehr Soldaten ihren Tod
fanden als auf irgendeinem Kriegsschauplatz zuvor. Rückblickend scheint
hier der massenhafte Schlachtentod des 20. Jahrhunderts vorweggenommen
worden zu sein. Um ein Haar hätte Bonaparte bei Aspern nicht nur zum ersten
Mal eine entscheidende Schlacht verloren, sondern auch Österreich die Gele-
genheit geboten, seinen fliehenden Armeen nachzustellen und sie zu zerschla-
gen - zumal denn, wenn Preußen zuhilfe geeilt wäre.
Kleist, der mit Friedrich Christoph Dahlmann, dem Historiker, Politiker
und Führer der Göttinger Sieben, nach Böhmen aufgebrochen war, um „nach
allen Kräften dahin zu wirken, daß aus dem österreichischen Kriege ein deut-
scher werde"107, zog es in Erwartung einer Schlacht nach Aspern. Unterge-
kommen in einem Wirtshaus schenkte er der sich anbahnenden Schlacht
jedoch kaum Aufmerksamkeit. Während die Truppen Herzog Karls von Öster-
reich und Napoleons aufeinanderstießen, blieb Kleist mit Dahlmann im
Wirtshaus in ein Kriegsspiel vertieft, welches von seinem Freund Ernst von
Pfuel „gerade [...] sehr verbessert worden war"108 und das sie in Böhmen oft
zu dritt gespielt hatten.10'Aus Dahlmanns Bericht geht ebenfalls hervor, daß
sich im selben Wirtshaus auch der preußische Major von Knesebeck einfand.
Der Anblick, den Kleist als Krieg spielender Ex-Offizier bot, entlockte Kne-
sebeck eine abfällige Bemerkung. Kleist entgegnete ihm nur knapp, in dem

' Friedrich Christoph Dahlmann zitiert nach Sembdner, Helmut (Hg.), Heinrich von Kleists
Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, Bremen 1957, S. 233. Dokument
Nr. 316.
8
Dahlmann zitiert nach Sembdner, ebenda, Dokument Nr. 317, S. 233.
Ebenda. Dokument Nr. 318a, S. 235. Noch fast ein halbes Jahrhundert später ist Dahlmann
und von die Erinnerung an die gemeinsam unternommenen „Militärspiele" präsent, wie ein
Treffen der beiden dokumentiert: „Dahlmann! - 40 Jahre! Denken Sie an Prag, an Kleist, ans
Militärspiel?" „Wohl, Exzellenz", erwiderte ich, „es sind 47 Jahre, ich bin Historiker." Fried-
rich Christoph Dahlmann zitiert nach Sembdner, Dokument Nr. 318b, S. 235.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 47

Spiel sei alles enthalten."0 Erst als tags darauf Kleist und Dahlmann, die
immer noch oder wieder in das Kriegsspiel vertieft waren, vom Wirt darauf
hingewiesen wurden, daß die Schlacht ihren Höhepunkt erreicht hatte, eilten
die beiden zum Schlachtfeld.
Die Schwelle, an der Kleist bei Aspern operierte, markierte nicht weniger
als ein Feld von Kontingenzen, deren Darstellbarkeit Schriftsteller und be-
richterstattende Offiziere gleichermaßen herausforderte. Der Begründer des
modernen Generalstabssystems, General Gerhard von Scharnhorst, fürchtete
nichts mehr, als ein narratives Moment, das aus fragmentarischen Nachrichten
und Meldungen über eine Schlacht eine Geschichte wob, die sich so nie zuge-
tragen hatte und hinsichtlich zukünftiger Schlachten nur zu Fehlschlüssen
führen konnte. Vor den geschichtlichen Darstellungen vergangener Kriege
warnte er deshalb; sie seien doch nicht mehr als ein „an Wahrscheinlichkeiten
grenzender Roman".1" Stattdessen regte Scharnhorst an, alle Aufzeichnungen,
die vor, während und nach einem Feldzug entstehen, systematisch zu sam-
meln, ganz gleich wie unvollständig sie auch seien. Durchzuspielen, wie diese
Daten ein kohärentes Bild der jüngsten Schlacht erkennen ließen, sei für die
Generalstabsoffiziere die beste Vorbereitung auf die nächste kriegerische
Auseinandersetzung.
Schriftsteller, deren Begabung sich nicht an der Performanz mißt, mit der
sie an die Erstellung eines Textes herangehen, sondern allein am Resultat,
haben es seit Aspern schwer. Selbst der realistischste unter ihnen, Honore de
Balzac, scheiterte am Ende seines Lebens an der selbstauferlegten Aufgabe,
die Schlacht bei Aspern in Romanform zu bringen, obwohl er sich bei seinen
Recherchen keine Mühen ersparte und selbst die Gelegenheit, mit Soldaten,
die an der Schlacht teilgenommen hatten, zu sprechen und die Schlachtfelder
zu besuchen nicht ausließ."2 Übriggeblieben von seinem Vorhaben ist allein
die Ankündigung des Romans und ein Fragment: „Die Schlacht. Erstes Kapi-
tel. Groß-Aspern. Am 16. May im Jahr 1808 gegen mittag..."."3 So manifes-
tiert sich ausgerechnet im Vorfeld eines letztlich auf ganzer Linie gescheiter-
ten Romanprojekts eine kristallklare Vorstellung davon, zu welchen, ans
Halluzinatorische grenzenden Wirkungen der Roman nunmehr befähigen soll:
Ich sage Ihnen, „Die Schlacht" ist ein unmögliches Buch. Darin werde ich Sie
mit allen Greueln, allen Schönheiten eines Schlachtfeldes vertraut machen. Mei-
ne Schlacht ist Essling [Aspern]. Essling mit allen seinen Konsequenzen. Es soll
so sein, daß ein kühler Kopf soll in seinem Sessel die Gegend vor sich sehen, die
Einzelheiten des Geländes, die Menschenmassen, die strategischen Begebenhei-

1,0
Ebenda, S. 233.
' " Scharnhorst, Gerhard Johann David von, Nutzen der militärischen Geschichte; Ursach ihres
Mangels. Ein Fragment aus dem Scharnhorst-Nachlass, Faksimilie d. Handschrift mit Über-
tragung und Einführung v. Ursula von Gersdorff, Osnabrück, 1973, S. 49.
112
Vgl. Robb, Graham, Balzac. A Biography. London, 1994, S. 189.
113
de Balzac, Honore, La Comedie humaine, hg. v. Pierre-Georges Castex, Paris, 1981, Bd. XII,
S.653.
4H III. DAS K.RIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT

ten, die Donau, die Brücken, soll die Details und den Kampf als Ganzes bewun-
dern, die Artillerie hören, sich für die Bewegungen der schachbrettförmigen
Aufstellung interessieren, alles sehen, in jeder Äußerung dieses großen Heers
Napoleon spüren, den ich nicht zeigen werde oder den ich am Abend auftreten
lasse, wie er in einem Boot die Donau überquert. Kein weibliches Gesicht, nur
Kanonen, Pferde, zwei Armeen, Uniformen; auf der ersten Buchseite ertönt die
Kanone, auf der letzten verstummt sie; Sie werden sich durch den Rauch hin-
durchlesen, und wenn Sie das Buch wieder zuschlagen, sollten Sie alles intuitiv
gesehen haben und die Schlacht in Erinnerung behalten, als hätten Sie dort mit-
gemacht.114
Tatsächlich traute der preußische Generalstab der Schrift allein die Darstel-
lung solcher Kriegspanoramen gar nicht mehr zu und zog es kurz darauf vor,
die schriftlichen Daten mit dem Kriegsspielapparat des Barons von Reiswitz
zu verkoppeln. Das Phantasma blieb sich indes gleich, denn auch Reiswitz
gedachte mit seinem Kriegsspiel zu bedienen, was er in einem Provinzblatt
eingefordert fand: Einem Offizier solle zukünftig die Reise zu den „vier
Schlachtfeldern] Schlesiens" erspart bleiben, weil ein Kriegsspiel diese samt
der „übrigen ewig denkwürdigen Schlachttheater Schlesiens in sein Zimmer
zaubern könne, um mit [...] Figuren darauf mannigfaltig zu manoeuvriren

Knesebeck indes dürfte im Wirtshaus von Aspern zur letzten Generation


von Generalstabsoffizieren gehört haben, denen ein Kriegsspiel noch reichlich
absurd vorkam. Um zu ermessen, welch rasante Entwicklung das Kriegsspiel
durchlief, um schließlich, restlos eingelassen in die kriegerischen Wirklichkei-
ten zweier Weltkriege, zu einer entscheidenden Basis militärischen Handelns
zu werden, genügt es, eine einzige Episode anzuführen, die Historical Divisi-
on, Headquarters, US Army, Europe festgehalten hat und zwar im Zuge ihrer
Aufklärung darüber, auf welcher Grundlage die deutschen Streitkräfte ihre
Blitzkriegoperationen überhaupt hatten planen können. Sie ließ zu diesem
Zweck nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kasernierte Wehrmachtsgene-
räle eine Studie erstellen."6 Besonderen Eindruck hinterließ dabei der Bericht
des Infanteriegenerals Rudolf Hofmann: Im Zuge der Ardennenoffensive hielt
am 2. November 1944 der Stab der 5. Panzerarmee ein Planspiel zur Abwehr
des Angriffs durch amerikanische Streitkräfte ab. Die Leitung übernahm
Generalfeldmarschall Walter Model, (der den Hitlergegner und Kleist-

114
de Balzac, Honore, teures ä Madame Hanska, hg. v. Roger Pierrot, Paris, 1967, Bd. 1, S. 27-
28. Honore de Balzac' BriefTragment ist datiert auf den Januar 1833.
15
Reiswitz, Taktisches Kriegsspiel, S. XXVI.
16
Diese Studie wird im Bundesarchiv-Militärarchiv aufbewahrt: Hofmann, Rudolf (General der
Infanterie), Über ..Kriegsspiele". Bestand P-094. Eine Übersetzung auf Amerikanisch hat P.
Luetzkendorf (Historical Division. Headquarters, US Army, Europe 1952) im gleichen Jahr
angefertigt: War Games. U.S. Army Historical Document MS P-094, Department of the
Army, Office of the Chief of Military History, 1952. Am US Army War College, Carlisle
Barracks. Pennsylvania wurde das Dokument 1983 neu aufgelegt: German Army War Games
with a Foreword by Generaloberst Franz Halder. Art ofWar Colloquium.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 49

Nachkommen Generalfeldmarschall Ewald von Kleist abgelöst hatte). Alle


maßgeblichen Kommandeure und deren Generalstabsoffiziere hatten sich im
Hauptquartier versammelt. Das Planspiel war kaum in Gang gekommen, als
eine Meldung verkündete, daß die amerikanischen Streitkräfte tatsächlich eine
Gegenoffensive begonnen hätten. Die versammelten Kommandeure wollten
daraufhin zu ihren Posten eilen, doch Feldmarschall Model ordnete an, den
Raum nicht zu verlassen und das Spiel fortzusetzen. Allerdings wurde das
Planspiel eiligst an die fortlaufenden Frontmeldungen angepaßt. „Die Lage an
der Front - und sinngemaess im Planspiel - spitzte sich waehrend der
naechsten Stunden [...] zu". Indes, die Befehlsketten hätten durch die zum
Planspiel versammelten Befehlshaber und ihre Generalstabsoffiziere kaum
kürzer sein können, so daß bereits „nach wenigen Minuten [...] General von
Waidenburg seine weiteren Einsatzbefehle anstatt theoretisch am Kartentisch
nunmehr praktisch an seinen bei ihm befindlichen Ia und seine Befehl-
sempfaenger" durchgab. „Damit wurde die alarmbereite Division in denkbar
kuerzester Zeit in Bewegung gesetzt. Der Zufall hatte eine einfache Planue-
bung in den Ernst der Wirklichkeit uebergeleitet.""7
Das preußische Nachrichtenwesen von Aspern war selbstredend noch von
der Echtzeitigkeit der per UKW übermittelten Funksprüche der Wehrmacht
weit entfernt. Es war allein Sache Knesebecks gewesen, die Lage auf dem
Kriegstheater von Aspern zu sondieren und Friedrich Wilhelm 111. persönlich
darüber zu berichten."8 Das uneingeschränkte Vertrauen des preußischen
Königs hatte Knesebeck unmittelbar nach der katastrophalen Niederlage der
Preußen in der Doppelschlacht von Jena und Auerstädt gewonnen, bei der
Napoleons überlegende Kommandoführung auch die desolate und überkom-
mene Verfassung der Preußischen Armee offenlegte. Unmittelbar nach der
Schlacht irrte Friedrich Wilhelm, im freien Feld umher und setzte sich der
Gefahr aus, von Napoleons Truppen aufgegriffen zu werden, als „Major von
dem Knesebeck vom Generalstabe" auf ihn stieß. Knesebeck kannte aus
„früheren Recognoscirungen" die Gegend und führte den König in Sicherheit.
„Diesen Dienst hat der König ihm nie vergessen, und von dem Augenblicke
an mußte er bei dessen Person verbleiben."1" Nach Aspern hatte der König
Knesebeck geschickt, um auskundschaften zu lassen, ob sich eine günstige
militärische Allianz mit der kaiserlichen Armee Österreichs böte. Als sich
Napoleons Niederlage in der Schlacht abzeichnete, erkannte Knesebeck den
äußerst günstigen Moment, in einer Allianz mit Österreich Frankreich um
seine Vormachtstellung zu bringen. Clausewitz beurteilte die Lage rückbli-

7
Hofmann, „Kriegsspiele", S. Bl. 28-29.
8
Sehr informiert berichtet darüber das halbamtliche biographische Nachschlagewerk, wobei
die ausgelassene Nennung des Namens eines Nationaldichters nicht minder beredt ist, von
Priesdorff, Kurt, „Karl Friedrich von dem Knesebeck", Nr. 1346, in: Soldatisches Führertum,
Hamburg, 1936-1942, Bd. 7, S. 344-348, hier S. 346-347.
von Reiche, Ludwig, Memoiren des königlich preußischen Generals der Infanterie, Erster
Theil: Von 1775 bis 1814, hg. v. Louis von Weltzien, Leipzig, 1857, S. 166-167.
50 III. DAS KRIKGSSPIEL, DAS STAAT MACHT

ckend ähnlich und nannte Aspern eine verpaßte Chance, Bonapartes nachtei-
lige Lage auszunutzen.1-0 Daß Knesebeck daran gehindert wurde, nach Kö-
nigsberg zu reisen, wo sich Friedrich Wilhelm III. aufhielt, und ihn persön-
lich von der Notwendigkeit eines Kriegseintritts zu überzeugen, ist nicht etwa
durch Napoleons Spione vereitelt worden, durch einen Akt, den man heute als
counter intelligence bezeichnen würde, sondern ausgerechnet von Preußens
glühendstem Verächter Napoleons, der keine Gelegenheit ausgelassen hatte,
gegen Napoleon anzuschreiben. In Aspern hatte Kleist, der die Armee längst
verlassen und die Waffe gegen die Feder eingetauscht hatte, zwei für ihn
verhängnisvolle Dinge in die Hand genommen: neben Pfuels Kriegsspiel noch
zwei Pistolen.
Im Krieg, wird Clausewitz lehren, haben noch die geringsten Zufälle mit-
unter erhebliche Folgen. Daß Preußen nicht schon 1809 eine Allianz mit
Österreich einging, die Napoleons Hegemonie hätte beenden können, wurde
womöglich durch eine einzige Kugel verhindert. Kleist nämlich weitete sein
Kriegsspiel im Wirtshaus aus. Er lud ein Paar tags zuvor erstandene Pistolen
und legte sie - unter Protest Dahlmanns - auf den Wirtshaustisch. Dort blie-
ben sie dann über Nacht liegen. Am nächsten Morgen ergriff ein Adjutant
Knesebecks eine der Pistolen zum Spaß und drückte ab. Er konnte nur noch
einer Kugel hinterherblicken, die an Dahlmanns Schläfe knapp vorbeiging.
Letztlich meldete sich aber Knesebeck mit den Worten: „Aber Gotts Donner-
wetter, ich habe es gekriegt!"121 Ein herbeigerufener Chirurg mußte die Kugel
in Knesebecks Schulter belassen. Knesebeck blieb aufgrund der Schußverlet-
zung nur übrig, seinen Lagebericht an Friedrich Wilhelm, durch einen Boten
zu übermitteln, wissend, daß seine Worte in Königsberg ihre Eindringlichkeit
verloren haben würden. Als nach Wochen und mehrmaliger Korrespondenz
Friedrich Wilhelm. Knesebeck anwies, Österreich volle militärische Unter-
stützung zu versprechen, hatte Napoleon bereits den Pakt mit Österreich durch
seine Heirat mit Marie-Louise von Habsburg besiegelt. Die Biographie Kne-
sebecks schließt mit den Zeilen: Die „preuß. Patrioten waren um eine neue
Hoffnung betrogen."122 Daß ausgerechnet wohl Preußens patriotischster Dich-
ter an der Schußverletzung Knesebecks den größten Anteil hatte, verrät die
öuelle zum soldatischen Führertum mit keinem Wort. So kann die Kleistfor-
schung in weiten Teilen bis heute die Legende weiterschreiben, Kleist sei mit
jeder seiner Unternehmungen an einem Staat und einer Gesellschaft geschei-
tert, die für seine Lebensentwürfe noch nicht bereit waren. Vielleicht ist es an

von Clausewitz, Carl, „Die wichtigsten Grundsätze des Kriegführens zur Ergänzung meines
Unterrichts bei Sr. Königlichen Hoheit dem Kronprinzen", in: Vom Kriege, Hinterlassenes
Werk des Generals Carl von Clausewitz, Hg. v. Wemer Hahlweg, Bonn, [1832] 1980.
S. 1047-1086, hier S. 1076.
Dahlmann zitiert nach Sembdner, Heinrich von Kleists Lebensspuren, S. 232. Dokument Nr.
317.
122
Vgl. Priesdorft", Soldatisches Führertum, S. 347.
III. DAS KRIEGSSPIEL. DAS STAAT MACHT 51

der Zeit, umgekehrt zu fragen, wie weit die Experimente und die Risikobereit-
schaft der preußischen Reformer gingen.
Als 1811 jenen preußischen Reformkräften - mit dem Militär Gneisenau
und dem Staatsmann Stein an der Spitze - eine Allianz, diesmal mit dem
russischen Zarenreich möglich schien, die einen aussichtsreichen Krieg gegen
Napoleons Herrschaft in Preußen und Vorherrschaft in Europa zu führen
versprach, machte sich auch Kleist erneut Hoffnung auf ein militärisches Amt.
Jedes Amt und jede Aufgabe, der sich der märkische Junker bis dahin gestellt
hatte, um sein Schreiben zu sichern, hatte im Fiasko geendet: Als Schweizer
Landwirt gescheitert, im Königsberger Staatsdienst für ein halbes Jahr als
Spion in französische Gefangenschaft genommen, als Zeitschriften- und
Zeitungsherausgeber finanziell ruiniert. Womöglich erhoffte er nun für sich
selbst, was er dem Prinzen von Homburg als Plot vorgeschrieben hatte: Das
Erwachen aus einem Traum in eine Realität, die sich als Alptraum erweist,
doch die zu guter Letzt noch die Wendung, die Erfüllung des ersehnten
Traums bringt. Nach dem Vorfall während der Schlacht bei Aspern wäre
schon ein ungeheures Maß an Diplomatie und Wissen um die jüngsten militä-
rischen Praktiken für eine Wiederaufnahme Kleists in die preußischen Armee
nötig gewesen. Dieses Kunststück zustandezubringen, wäre beinahe niemand
anderem als seiner engsten Vertrauten und Cousine Marie von Kleist ge-
glückt. Sie schickte ihn erstens mit „militärischen Aufsätzen" zu General
Gneisenau und empfahl ihn zweitens dem König für seine Leibgarde.123 Zuvor
hatte sie über Kleist geschrieben:
Mein gnädiger gütiger König glaube nicht, daß seine Jugendabentheuer, seine
dichterischen Schrollen mir unbekannt sind, alle diese Dinge haben seinen patri-
otischen Sinn gehoben und vermehrt, nur anthousiastische Menschen werden
jetzt etwas heißen.124
Spätestens in diesem Moment scheinen Kleists abenteuerliches Leben und die
Auswüchse seiner dichterischen „Schrollen" ineins zu fallen: Wohl nur in
seinen Dramen würde man sonst damit rechnen müssen, daß ausgerechnet
jene tragische Figur sich seiner Majestät als Leibgardist empfiehlt, die zuvor
das Leben einer anderen Person leichtsinnig aufs Spiel gesetzt hatte, einer
Person, deren Verdienst es war, den König aus einer gefährlichen Lage geret-
tet zu haben und der der Hohenzoller daraufhin sein Leben anvertraut hatte.
Marie von Kleist bat jedoch nicht nur um Nachsicht für Kleists vergangene
Übertretungen, sondern führte auch seine Vorzüge an: „Auch hat er seit eini-
gen Jahren sich viel mit Taktick beschäfftiget. Krieges Spiele gespielt etc.

Vgl. Marie von Kleist in einem Schreiben an Friedrich Wilhelm 111. , am 26. Dezember,
1811, in: Sembdner, Helmut (Hg.), Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Be-
richte der Zeilgenossen, Bremen 1975, S. 343. Dokument Nr. 509a.
Marie von Kleist in einem Schreiben an Friedrich Wilhelm 111., am 9. Sept. 1811, in: Sembd-
ner, Helmut (Hg.), Heinrich von Kleists Lehensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitge-
nossen, Bremen 1975, S. 339-340. Dokument Nr. 507a.
52 111. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT

etc."125 Das Schreiben übergab Kleist dem König höchstselbst - in einer Au-
dienz, die dieser ihm gewährte.126 Friedrich Wilhelm III. erließ vermutlich
noch am selben Tag eine Ordre, die ihm angesichts des aufziehenden Krieges
gegen Bonaparte ein militärisches Amt in Aussicht stellte. Doch Friedrich
Wilhelm III. zog schon kurz darauf eine Allianz mit Napoleon vor und
durchkreuzte die Insurrektionspläne der preußischen Reformer um Reichsfrei-
herr vom Stein. Sowohl Gneisenau als auch Grolmann und Clausewitz wech-
selten darauf die Fronten und stellten sich den russischen, österreichischen
und spanischen Armeen zur Verfügung. Sich als Offizier in den Dienst ver-
schiedener Heerführer zu stellen, war für Jahrhunderte gängige Praxis gewe-
sen. Von nun an hieß, sich nicht mit der heimatlichen Armee zu identifizieren,
nicht mehr nicht für das Vaterland zu kämpfen. Im Gegenteil, für das Vater-
land kämpfen hieß vor allem einen absoluten Feind auszumachen.
Kurz bevor Kleist nach Aspern gereist war, traf er sich in Österreich neben
anderen Reformern auch mit Stein, er teilte mit Clausewitz Freunde gleicher
Gesinnung und auch die Tafel.127 Gneisenau empfing ihn wohl schon deshalb
zu ausführlichen Gesprächen. Doch als Friedrich Wilhelm III. eine kriegeri-

Ebenda. Siehe auch Wolf Kiltler, „Militärisches Kommando und tragisches Geschick", S. 56-
68.
26
Sembdner, Helmut, „Heinrich und Marie von Kleist", in: Jahrbuch der deutschen Schillerge-
selhchafl, 1. Jg. 1957, S. 157-178, hier S. 166.
27
Vgl. Paret, Peter, „Kleist und Clausewitz: A Comparative Sketch", in: Festschriftßr Eber-
hard Kessel zum 75. Geburtstag, hg. v. Heinz Duchhardt u. Manfred Schlenke, München,
1982, S. 130-139. Paret geht im Zuge seines Vergleichs zweier Karrieren auch auf eine tat-
sächliche Begegnung von Clausewitz und Kleist ein. Indirekt scheinen einmal mehr Frauen
für Kontakte gesorgt und Information sehr gezielt gestreut zu haben. Marie von Kleist war
mit Clausewitz' späterer Frau Marie von Brühl eng befreundet. Es war ihr Bruder Karl, der
Kleists Theaterstück „Prinz von Homburg" schließlich auf die Bühne brachte. Und es ist Ma-
rie von Kleists andere Freundin, Frau von der Marwitz, geborene Gräfin Moltke, die Kleist
über den König aufklärt: „Er wird seine Natur nie verändern; ewig unentschlossen, wird er
alle wohlberechnete Pläne vereiteln und die Kräfte derer, die sich für ihn aufopfern wollen,
lähmen." Zitiert nach Sembner, Helmut, „Heinrich und Marie von Kleist", in: Jahrbuch der
deutschen Schillergesellschaft, 1. Jg., 1957, S. 157-178, hier S. 166.
Daß Kleist Mitglied der christlich-teutschen Tischgesellschaft war, zu der Clausewitz zählte,
ist von Hans Joachim Kreutzer bezweifelt worden: „Heinrich von Kleists Lebensspuren", in:
Euphorion, Bd. 62, 1968, S. 188-224, hier S.210-212. Kreutzers Zweifel entspringen weniger
den Fakten als seinen Vorbehalten gegenüber einer Eßgesellschaft, die sich insbesondere
durch Achim v. Arnims Äußerungen antijüdisch gibt und gegen Reinhold Steig als Kleistbio-
graphen. Daß Kleist und Clausewitz an der Tischgesellschaft gleichermaßen aktiv teilnah-
men, geht aus einem Schreiben Arnims hervor, das die Mitglieder zur Abstimmung über die
Verlegung des Treffpunkts zur Sommerzeit in den Tiergarten auffordert. Kleist stimmt neben
anderen namentlich dafür, Clausewitz und einige andere Mitglieder dagegen. Das Schrift-
stück zitiert Steig, Reinhold, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe, Berlin, 1901 S. 39.
Kreutzer hält dagegen, daß er Kleist in Arnims Nachlaß im Zusammenhang mit der Tische-
gesellschaft nirgends finden kann, räumt aber ein, daß Steig vermutlich noch Arnims voll-
ständiger Nachlaß vorlag, der auf verschlungen Wegen und unvollständig nach Weimar fand.
Der Schluß Kreutzers, Kleist hätte der Gesellschaft nicht wirklich angehört, ist wenig über-
zeugend, da Kleist zu den wenigen Teilnehmern zählte, die sich flir einen bestimmten Ver-
sammlungsort aussprachen.
111. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 53

sehe Auseinandersetzung mit Napoleon scheute, verfügte Kleist - anders als


die radikalsten Reformer Preußens - nicht einmal über die Möglichkeiten, die
Fronten zu wechseln. Am kleinen Wannsee lud er ein weiteres Mal zwei
Pistolen - diesmal für sich, den Lebensmüden, und seine totkranke Freundin.

3. Clausewitz' „Taktik-Fabrik"

Am Ende des Ersten Weltkriegs blieb General Ludendorff nach einer geschei-
terten letzten Offensive nur noch, öffentlich das Versagen der Politik zu
reklamieren und insgeheim zu konstatieren, daß seine „Strategie durch die
herrschende Taktik besiegt wurde."128 Dabei war die Bedeutung der Taktik
schon ein Jahrhundert zuvor ins Blickfeld der Strategen geraten: So hatte
Gerhard von Scharnhorst beizeiten Clausewitz die Mark Brandenburg auf-
grund ihrer Terrainbeschaffenheit zum Studium des kleinen Krieges empfoh-
len. Clausewitz bemerkte daraufhin, daß dem kleinen Krieg eigen wäre, was
„dem großen Kriege ziemlich fremd ist, Beobachtung des Feindes'."129 Im
Unterschied zu den Bataillonen der großen Heereszüge mit ihren täglich
ausgegebenen Marsch- und einmal erteilten Angriffsbefehlen bekamen die
frei flottierenden und leichten Truppeneinheiten des kleinen Krieges keine
Befehle mitgeteilt, sondern „Aufträge""0. Das Signal zum Angriff leitete sich
aus fortlaufender Beobachtung und eingeholten Nachrichten von Terrain und
Feind ab. Daß dabei der Nachrichtenlage grundsätzlich zu mißtrauen sei, ist,
wie Clausewitz feststellt, „ein elender Büchertrost und gehört zu der Weisheit,
zu welcher System- und Kompendienschreiber in Ermangelung von etwas
Besserem ihre Zuflucht nehmen."1"
Der kleine Krieg sollte sich noch erheblich ausweiten. Die taktischen Ein-
sichten, die ihm abgewonnen worden waren, begannen sich letztlich zu den
beherrschenden Anschauungsformen der Schlachtfelder zu entwickeln. Offi-
ziere mit eigenständigem Urteilsvermögen heranzuziehen, erschien nunmehr
unumgänglich. Die Kantische Philosophie des aufgeklärten Subjekts fand in

Ludendorff zitiert nach Miksche, Ferdinand Otto, Vom Kriegsbild, Stuttgart-Degerloch, 1976,
S. 102.
29
Clausewitz, Carl von: „Meine Vorlesungen über den kleinen Krieg, gehalten auf der Kriegs-
Schule 1810 und 1811", in: derselbe, Schriften, Aufsätze, Studien, Briefe. Dokumente aus
dem Clausewitz-, Scharnhorst- und Gneisenau-h'achlaß sowie aus öffentlichen und privaten
Sammlungen (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 49), hg. v.
Werner Hahlweg, Bd. 1, Göttingen, 1966, S. 208- 599, hier S. 234-235.
Vgl. von Cochenhausen, Friedrich, „Einleitung", in: Carl von Clausewitz: Die wichtigsten
Grundsätze des Kriegsführens, Berlin, 1936, S. 5-8, hier S. 6. Van Creveld datiert den
Durchbruch der Auftragstaktik in der Ära Moltkes. Vgl. Martin van Creveld, Kampfkraft
Militärische Organisation und militärische Leistung 1939-1945. (=Einzelschriften zur Mili-
tärgeschichte, Bd. 31), übers, a. d. Engl. v. Tilla Stumpf, Freiburg, 1989. S. 43.
Clausewitz, Vom Kriege. S. 258.
54 III DAS KRIEGSSP1EL, DAS STAAT MACHT

der Doktrin des aufklärenden Soldaten der Preußischen Armee deshalb einen
frühen Verbündeten.
Die womöglich griffigste Formel, was Aufklärung sei, findet sich bei Im-
manuel Kant in einer Fußnote:
Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in
seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist
die Aufklärung.132
Kants Definition der Aufklärung ist Bestandteil einer Schrift, die sich pro-
grammatisch an eine breitere Öffentlichkeit wandte: „Was heißt: sich im
Denken orientieren?" Der Begriff der Orientierung, so gibt Kant dort zu
verstehen, ist wörtlich aufzufassen, das heißt zunächst geographisch:
Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gege-
benen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, na-
mentlich den Aufgang zu finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel, und weiß,
daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu
finden.
Kant entwickelt demnach die Möglichkeitsbedingung eines Orientierungsbeg-
riffs, der zunächst vom geometrisch empirischen Datum ausgeht, dann Rück-
schlüsse aus der „zufälligen Wahrnehmung durch Sinne"131 zuläßt und
schließlich aufgrund reiner „Verstandesbegriffe"134 Verortungen vornimmt.
Die Szenarien, an denen Kant diese drei Formen der Orientierung exemplifi-
ziert, lassen, obschon unausgesprochen, auch eine kulturtechnische Entwick-
lung sichtbar werden. Die geographische Orientierung weiß das Subjekt durch
die Unterscheidung natürlicher Gegebenheiten herbeizuführen, so etwa durch
die Erfassung der Sonnenstände. Die mathematische Orientierung ist jedoch
auch „im Finstern" eines geschlossenen Zimmers möglich, weil es sich bei
ihm und den in ihm befindlichen Gegenständen um konstruierte, und damit
leicht zu ermessende Räume und Körper handelt. Doch erst mit einer auf
subjektiven Gründen beruhenden Vernunft, der erlaubt ist, „etwas vorauszu-
setzen und anzunehmen, was sie durch objektive Gründe zu wissen sich nicht
anmaßen darf"", setzt auch ein Denken ein, dem „im unermeßlichen und für
uns mit dicker Nacht erfülleten Räume des Übersinnlichen"136 sich zu orientie-
ren zur Notwendigkeit wird. Kant erprobt den Begriff der Aufklärung als
Orientierungsaufgabe vor dem Hintergrund einer buchstäblich begriffenen
Verfinsterung. Tatsächlich gebraucht er den Begriff der Aufklärung und den

"* Kant, Immanuel, „Was heißt: Sich im Denken orientieren?", in: derselbe, Kant's Gesammelte
Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abt., Bd. VIII,
Berlin, Leipzig 1923, S. 131-146, hier S. 146. (Zuerst erschienen in: Berlinische Monats-
schrift. Oktober, 1766.) Hervorhebung im Orginal.
133
Ebenda, S. 133.
134
Ebenda.
135
Ebenda, S. 137.
136
Ebenda.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 55

der Verdunkelung zunächst nicht im metaphorischen Sinne, sondern läßt die


Erschließung des Raumes durch Verstandesmaßnahmen mit der Möglichkeit
der unmittelbaren Wahrnehmung physisch ausgeleuchteter Räume in Konkur-
renz treten. Erst mit dem letzten Schritt seiner Ableitung ist der Begriff des
„mit dicker Nacht erfülleten Raume[s] des Übersinnlichen" als Analagon zu
verstehen. Hier konkurrieren nicht mehr physische und metaphysische Orien-
tierungsweisen um die Erschließung von Räumen, sondern es werden Räume
von vornherein durch den Umstand bestimmt, sich den Sinnen nicht zu er-
schließen, eben „übersinnlich" zu sein. Die Konsequenzen, die Kants Meta-
physik einer letztlich rein sinnlich nicht erfahrbaren Natur mit sich brachte,
müssen hier nicht weiter interessieren. Entscheidend für die Frage neuer
Anschauungsformen des Krieges ist das Zusammenfallen von Kants Trans-
zendentalphilosophie mit der Schaffung eines Feindschemas, das nicht mehr
seine Macht durch Herrschaftszeichen von unübersehbarer Präsenz ausübt,
sondern sich nach Möglichkeit im Raum verbirgt, um so zu einer Erscheinung
zu werden, die potentiell überall auftauchen kann. Eine feindlich gestimmte
Natur und ein auf die Natur eingestimmter Feind fordern ein kriegerisches
Subjekt ein, das sich nun zwangsläufig zuallererst im Denken selbst zu orien-
tieren hat und ganz auf seine Vernunft zurückgeworfen ist, während jedwe-
dem Vertrauen auf vermeintlich objektive Gründe der Boden entzogen ist.13'
Nur so erklärt sich, daß der „geschärfte Befehl zum Selbstdenken" des Mi-
nisters v. Fürst, adressiert an Preußens Universitäten, zunächst und vor allem

Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist Kleists sogenannte Kant-Krise. Kleists gab


bekanntlich nach einer Kantlektüre zu bedenken, daß grüne Gläser anstelle von Augen ver-
schleiern, daß nicht alle Dinge grün sind und entsprechend Augen eben erst gar nicht zeigen,
was sie denn an den Dingen auf ewig verschleiern. Mit dem Verstand verhielte es sich ent-
sprechend. Vgl. Heinrich von Kleist, Brief vom 22. März an Wilhelmine von Zenge,
iniderselbe. Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner, Bd. 11, Darmstadt, 1961,
S. 634. Ernst Cassirer hat Kleists Kantlektüre als Mißverständnis abtun wollen. Vgl. Cassirer.
Ernst, „Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie", in: derselbe, Idee und Gestalt,
Berlin, 1921, S. 157-202, hier S. 170-171. Cassirer zählt Kleists Beispiel zu den Geschmacks-
urteilen; doch die Verständigung etwa auf Farben sei explizit in Kants Transzendentalphilo-
sophie ausgeklammert worden. Cassirers Einwand verfehlt jedoch den Kern der Sache und
kommt einer Kritik gleich, die beispielsweise beim Vier-Farben-Problem das Problem in der
Auswahl der Farben sieht, nicht in ihrer Verteilung auf einer Karte. Kleists alarmierende
Kantlektüre ist jedoch vielmehr ein frühes Zeugnis für das erwachende Bewußtsein, daß ent-
bergende und verbergende „Naturphänomene" von Wahrnehmungs- und Verstandesvorgän-
gen nicht mehr zu trennen sind. Was bei Kleist sich andeutet, wird in einer berühmten Pres-
semitteilung ein späterer Kampfpilot und Verteidigungsminister der USA, Donald Rumsfeld,
in seiner ganzen paranoischen Disposition noch ausbuchstabieren, um Kriegsgründe für den
zweiten Irakkrieg zu schaffen: „As we know, / friere are known knowns. / There are things
we know we know. / We also know /There are known unknowns. / That is to say / We know
there are some things / We do not know. / But there are also unknown unknowns, / The ones
we don't know / We don't know."
56 III. DAS KRIEGSSPIEL. DAS STAAT MACHT

das militärische Bildungswesen erfaßte."8 Dafür sorgte nicht zuletzt auch


Kants Schüler Johann Kiesewetter, dessen Vorlesungen an der Berliner Pepi-
niere auch von Clausewitz gehört wurden.IW Preußens Befreigungskrieg be-
gann nicht nur mit einer im Stillen geplanten Heeresreform, sondern auch mit
einer offen ausgetragenen Bildungsoffensive, die angehenden Staatsdienern
und Offizieren gleichermaßen galt. So klagte Clausewitz Gneisenau sein Leid,
als 1810 nicht nur die Berliner Universität, sondern gleichzeitig auch die
Allgemeine Kriegsschule ihre Tore öffnete:
Außerdem bin ich halb wider meinen Willen Professor geworden; ich soll nehm-
lich mit Tidemann gemeinschaftlich der Taktik bei der künftigen KriegsSchule
für Offiziere lehren. Außerdem unterrichte ich den Kronprinzen - Sie sehen
meine Beschäftigungen sind beinahe eben so friedlich als Kohl pflanzen [..,]."140
Die „Tiedemann-Clausewitzsche Taktik-Fabrik"'41 lehrte die 13 und 15 Jahre
alten Prinzen am Hof und die Offiziersanwärter auf der Kriegschule den
kleinen Krieg, der „eine nützliche Einführung in die neuere Kriegskunst
insgesamt"142 abgab. In den Vorlesungen zur Kriegstheorie, die Clausewitz
dem Kronprinzen hielt, entfaltete er Wahrscheinlichkeit und Friktion zu
Schlüsselbegriffen seiner Theorie. Zwei Jahrzehnte sollten vergehen, bis eine
Phase des Friedens ihm erlaubte, seine Theorien in der Schrift Vom Kriege
zusammenzufassen, auch wenn sein Buch aufgrund seines plötzlichen Chole-
ratodes unvollendet blieb.
Noch vor den Befreiungskriegen hatte Clausewitz die künftigen Offiziere
der Kriegsschule mit der Rolle eines neuen Soldatentypus' vertraut gemacht,
dessen „UntemehmungsGeist" dem „Husar und Jäger" entspricht, und der sich
im kleinen Krieg auf ein ,,freie[s] Spiel des Geistes [...] diese geschickte
Verbindung von Kühnheit und Vorsicht"1'" einzustellen hat. Vor seinen könig-
lichen Schülern gesteht der Professor wider Willen indes, daß die zur Verfü-
gung stehenden Veranschaulichungsmittel des Kriegs kaum hinreichen:

Vgl. Bosse, Heinrich, „Der geschärfte Befehl zum Selbstdenken. Ein Erlaß des Ministers v.
Fürst an die preußischen Univeritäten im Mai 1770", in: Institution Universität, Diskursana-
lysen 2, hg. v. Friedrich Kittler, Manfred Schneider und Samuel Weber, Opladen, 1990, S.
31-62, hier S. 33.
3I)
Vgl. Hossbach, Friedrich, „Einflüsse Immanuel Kants auf das Denken preußisch-deutscher
Offiziere. Bohnenrede, gehalten am 22. April 1953 vor der Gesellschaft der Freunde Kants in
Göttingen", in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr., Bd. IV, Kitzingen/M..
1954, S. 139-145, hier S.142-143.
140
Paret, Peter, Clausewitz und der Staat. Der Mensch, seine Theorien und seine Zeit, Bonn.
[1976] 1993, S. 232.
"" Ebenda, S. 232.
142
Ebenda, S. 234.
Ebenda.
111. DAS KRIF.ÜSSP1EL, DAS STAAT MACHT 57

Das ganze Kriegfuhren gleicht der Wirkung einer zusammengesetzten Maschine


mit ungeheurer Friktion, so daß Kombinationen, die man mit Leichtigkeit auf
dem Papier entwirft, sich nur mit großen Anstrengungen ausfuhren lassen.144
Clausewitz' Kriegsmaschine eröffnet das Jenseits newtonscher Mechanik und
der Gleichungssysteme der Algebra - auf die noch Leibniz' Kriegskunst
setzte. Es war nicht mehr haltbar, unberechenbare Reibungsverluste durch
Idealisierungen von vornherein auszuschalten. Zudem gründet Clausewitz'
Kriegsmaschine nicht allein in der physikalischen Domäne, sondern hängt
gleichermaßen von psychischen Anstrengungen und einer Kampfmoral ab, die
dort einzusetzen hatte, wo mit Gesetzmäßigkeiten der Mechanik nicht mehr zu
rechnen war.
Während die Aufmerksamkeit des Kronprinzen für Clausewitz' Kriegstheo-
rien nur schwer zu gewinnen war, zeigten sich sein jüngerer Bruder Wilhelm
und sein niederländischer Cousin begeistert.145 Sie stießen 1811 zu Clause-
witz' Unterricht hinzu,146 während sie schon zuvor von Kapitän Ludwig von
Reiche in „Befestigungskunst, Aufnehmen und militärisches Zeichnen" unter-
richtet worden waren.147
Reiche hatte noch einen weiteren Lehrmeister hinzugezogen: Kriegsrat Ba-
ron von Reiswitz.148 Anders als Clausewitz versuchte Reiswitz erst gar nicht,
auf dem Papier Pläne zu entwickeln, die eine Antwort auf Napoleons Taktiken
hätten sein können. Reiswitz griff zum Sandkasten, um den Prinzen zu zeigen,
wie man Napoleons viele kleinen - und damit sehr beweglichen - Truppen-
einheiten am besten begegnete. Die Fußsoldaten der in Massen ausgehobenen
Revolutionsarmeen mochten zunächst noch so schlecht ausgerüstet wie unge-
übt in der Formation von Streitkörpern gewesen sein. Napoleons Infanterie,
die daraus schließlich hervorging, war durch ihre leichte Bewaffnung und die
Beweglichkeit ihrer kleinen Einheiten vor allem eins: weitaus unberechenba-
rer als Preußens reguläre Truppenformationen. In der kritischen Auseinander-
setzung mit Heinrich von Bülows Kriegslehren hatte Clausewitz argumentiert,
daß dem Schlachtgeschehen, das Napoleons Einheiten bestimmten, mit geo-
metrischen Mitteln genauso wenig beizukommen sei, wie mit der Vorstellung,
alles Taktische vollziehe sich im Angesicht des Feindes, während die Strate-
gie für die logistischen Maßnahmen jenseits der unmittelbaren Schlachtfelder
stehe.149

Clausewitz, Vom Kriege, S. 1080.


Zumindest formal wird Wilhelm am Ende seiner Regierungszeit als Oberster Kriegsherr den
Oberbefehl im deutschen Reich führen.
Paret, Clausewitz und der Staat, S. 240.
Reiche, Memoiren des königlich preußischen Generals der Infanterie, S. 220.
Anonymus, „Zur Vorgeschichte des v. Reiswitz'schen Kriegsspiels", in: Militair-
Wochenblatt, Nr. 73, 1874, S. 693-694, hier S. 693.
Die Schrift, gegen die Clausewitz polemisiert: von Bülow, Heinrich Dietrich, Geist des
neuern Kriegssystems: hergeleitet aus dem Grundsatze einer Basis der Operationen / auch
für Laien in der Kriegskunst faßlich vorgetragen von einem ehemaligen Preußischen Offizier,
Hamburg, 1799.
58 III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT

Doch erst Reiswitz lieferte mit seinem Sandkasten ein Medium, das es er-
laubte, mit Unberechenbarkeiten operativ und performativ umzugehen, anstatt
sie auf dem Exerzierplatz auszutreiben. Reiswitz' Kriegsspiel verliert sich
dabei im Unterschied zu anderen Kriegsspielen seiner Zeit nicht in zeitlich
und räumlich ausgreifenden, strategischen Maßnahmen, sondern beschränkt
seine Mittel allein auf die taktische Ebene, die sich zwischen Auftragsanfang
und -ende innerhalb einer Schlacht erstreckte.

4. Order out of order: Reiswitz' taktisches Kriegsspiel

Reiswitz gewann mit seinem Kriegsspiel umgehend das Interesse von Prinz
Wilhelm - der als Kaiser und Oberster Kriegsherr auf Generalstabschef Hel-
muth von Moltke hören sollte, ebenfalls ein Kriegsspieler der ersten Stunde.IS0
Wilhelm brachte mit seiner Begeisterung für Reiswitz' Spiel seinen Vater
dazu, diesem eine königliche Audienz zu gewähren.151 Daß Marie von Kleist
1811, genau zur selben Zeit, dem König in einem Empfehlungsschreiben die
taktischen Fähigkeiten und Kriegsspielkenntnisse ihres Cousins Heinrich
anpreist, zeigt, wie gut sie über die militärischen Ausbildungspraktiken am
preußischen Hof im Bilde gewesen sein mußte.
Reiswitz wollte allerdings unter keinen Umständen sein Kriegsspiel auf
dem Stand „eines Sandkastenfs] dem König vorlegen". Er
werde aber sofort ein Terrain aus festerm Material anfertigen lassen und das dem
König zu Füßen legen. Dies geschah erst im Laufe des Jahres 1812; Der König
hatte es fast vergessen und war nicht wenig erstaunt, nach so langer Zeit, eine
der Form nach mächtige Komode angebracht zu sehen (Siehe Abb. 11-14).'52
Friedrich Wilhelm, ließ Reiswitz' Kriegsspiel umgehend ins Potsdamer
Schloß bringen, wo ihn kurz darauf Meldungen vom Russisch-Französischen
Krieg erreichten.153 In exhaustiven Kriegsspielen stellte er mit seinen Söhnen,
Offizieren und Adjutanten anhand der Meldungen die Kriegstheater und
Feldzüge im Vorfeld der Befreiungskriege nach, wobei „häufiger die sonst
zum Auseinandergehen der hohen Familie festgesetzte Stunde weit überschrit-
ten""4 wurde.

Ebenda, S. 693 und Reiswitz' Freund, nunmehr General der Infanterie, Ernst Heinrieh
Dannhauer: „Das Reiswitzsche Kriegsspiel von seinem Beginn bis zum Tode des Erfinders
1827", in: Mililair-Wochenblatt. Nr. 56. 1874. S. 527-532. Hier S. 531.
51
Anonymus, „Zur Vorgeschichte des v. Reiswitz'schen Kriegsspiels", S. 693.
152
Ebenda, S. 698.
153
Ebenda, S. 694.
154
Ebenda.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 59

Abb. 11: Leopold George von Reiswitz taktisches Kriegsspiel von 1812

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Abb. 12: Schubladen mit Spielelementen für Reiswitz' taktisches Kriegsspiel


60 III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT

Abb. 13: Schubladen mit Spielzubehör für Reiswitz' taktisches Kriegsspiel

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Abb. 14: Detailansicht von Reiswitz' taktischem Kriegsspiel


III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 61

An Kriegsspielentwürfen hatten sich vor Reiswitz schon andere versucht, so


der am braunschweigischen Hof tätige Mathematiker und Naturwissenschaft-
ler Johann Christian Ludwig Hellwig. Auf ihn ging der „Versuch eines aufs
Schachspiel gebauten taktischen Spiels" zurück, den er 1780 veröffentlich-
te.155 Der braunschweigische Ingenieursoffizier und Militärschriftsteller Georg
Venturini gab 1797 die Schrift „Beschreibung und Regeln eines neuen Kriegs-
Spiels, zum Nutzen und Vergnügen" heraus.156 Kriegsspiele dieser Art tat das
Militär als Produkte reiner Buchgelehrsamkeit ab und gestand ihnen besten-
falls einen Unterhaltungswert im Offizierscasino zu. Daß Reiswitz' taktisches
Kriegsspiel eine ganz andere Aufnahme erfuhr, ist deshalb nicht einfach durch
seine Epoche zu begründen.
Reiswitz verstand sein „uneigentliches Spiel" als eine „mechanische Vor-
richtung, um taktische Manöver sinnlich darzustellen"157. Damit war aber
schon mit dem Titel seiner Schrift die Trennung zweier Regelsysteme ange-
zeigt. Keine seiner Kriegsspielregeln schrieb taktische Grundsätze vor, wäh-
rend seine Vorgänger eben darauf Wert gelegt hatten und in ihren Spielen
suggerierten, Schlachtverläufe folgten dem Determinismus überkommener
Kabinettskriege. Um „taktische Manöver sinnlich darzustellen" regelt Reis-
witz' „mechanische Vorrichtung" die Darstellung der Sichtbarkeiten, Nach-
richtenflüsse, Bewegungen, Treffer und Verluste von Truppen während einer
Schlacht. Sein Regelsystem ist dabei offen für die Kontingenzen, die unter-
schiedliche taktische Manöver hervorrufen können. Mehr noch, durch das
taktische Kriegsspiel wird die Disponibilität taktischer Manöver überhaupt
erst sichtbar, und es darf deshalb als Antwort auf die leidvolle Begegnung mit
Napoleons neuen Taktiken verstanden werden. Frühere Kriegsspiele bildeten
im Grunde nur das Durchexerzieren bestimmter Formationen ab. Reiswitz'
taktisches Kriegsspiel dagegen ist ein System, das seine Spieler mit Unbere-
chenbarkeiten konfrontiert, die nicht mehr durchexerziert, sondern nur noch
durchgespielt werden können. Der systematische Einsatz von Würfeln trägt
zur Unvorhersehbarkeit und Irreversibilität simulierter Schlachtverläufe bei.
Auch darin zeigt sich, daß Reiswitz und Clausewitz Antworten auf die sel-
ben Fragen suchten. Clausewitz, der eine mathematische Ausbildung genos-
sen hatte und auch die Mathematik als Fach auf der Kriegsschule durchaus
empfahl, erteilte nichtsdestotrotz mechanischen Auffassungen vom Krieg eine
Absage. Die Mechanik seiner Zeit hatte noch ohne einen mathematischen
Begriff der Wahrscheinlichkeit auszukommen, für Clausewitz glich der Krieg

55
Über Reiswitz' Vorläufer und überhaupt zum Forschungsgegenstand der Kriegsspiele in der
Geschichtswissenschaft informiert Daniel Hohrath, „Prolegomena zu einer Geschichte des
Kriegsspiels", in: „Das Wichtigste ist der Mensch". Festschrift für Klaus Gerteis zum
60. Geburtstag, hg. v. Angela Giebmeyer u. Helga Schnabel-Schule, Mainz, 2000, S. 139-
152, hier S. 145.
156
Ebenda, S. 146-147.
57
Reiswitz, Taktisches Kriegs-Spiel oder Anleitung zu einer mechanischen Vorrichtung um
taktische Manoeuvres sinnlich darzustellen, Berlin, 1812.
62 III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT

jedoch weniger einem mechanischem System als einem Kartenspiel, in dem


Unberechenbarkeiten sowohl aus der Mischung der Karten als auch aus der
nicht zu antizipierenden Spielweise der Kontrahenten entspringen.158
Clausewitz wird ideengeschichtlich als Vordenker nichtlinearer Systeme,
von der Thermodynamik bis zur Chaostheorie, angesehen. Auch wenn struk-
turelle Homologien mit späteren Theorien bemerkenswert sind,159 so bleibt
dennoch festzuhalten, daß Clausewitz in der Domäne des Kriegs die Abwe-
senheit von Gesetzmäßigkeit und Berechenbarkeiten absolut setzte, was nicht
gerade zu Theorietransfers einlud.
Reiswitz' Apparat erweist sich in dieser Hinsicht im Vergleich zu Clause-
witz' Analogien als anschlußfähiger. Er verpflichtet nicht zur Befolgung von
taktischen Vorschriften, sondern gibt stattdessen die militärischen Standards
aus, wie Räume und Zeit überhaupt zu lesen sind. Und diese Standards wie-
derum sollten sich in der Folge nicht mehr nur auf die Anwendung auf
Schlachtfelder beschränken, sondern die Weichen für die Informations- und
Verkehrswege der preußischen Länder insgesamt stellen.
Reiswitz' Apparat erscheint zuvörderst als Angriff auf eine schier unbere-
chenbare und undurchdringliche Natur, die noch sichtbar romantische Züge
trägt und der doch ein strenges Raster unterstellt wird. Er folgt damit Kants
aufklärerischem Programm, dem geographischen Raum ein mathematisches
und logisches Fundament zu unterstellen. Auch fallt das Kriegsspiel nicht
zufällig zusammen mit den zeitgleichen Bestrebungen, deutsche Provinzen
flächendeckend zu kartographieren (Abb. 15).
Spielmarken kommen bei Reiswitz' taktischem Kriegsspiel erst dann auf
den Tisch, wenn sie durch Aufklärungsmaßnahmen im Zuge des Spiels als
feindliche Stellungen entdeckt werden. Jeder Spielstein ist folglich Triumph
der eigenen Aufklärung in einer Merkwelt, die sich zu camouflieren begonnen
hat. Das Kriegsspiel arbeitet auf diese Weise dem Verstand zu und bekämpft
den unsichtbaren Feind, indem es ihm eine Gestalt gibt:
Den Zustand des Feindes sieht man nicht, den eigenen hat man vor Augen; daher
wirkt der letztere auf gewöhnliche Menschen stärker als der erstere, weil bei ge-
wöhnlichen Menschen die sinnlichen Eindrücke stärker sind als die Sprache des
Verstandes.160
Bis zu Napoleon galt noch, daß die letzten schriftlichen Befehle und Direkti-
ven am Abend vor der Schlacht an die einzelnen Kommandeure verschickt
wurden. In Reiswitz' taktischem Kriegsspiel hingegen lautet die wichtigste
Regel, daß nicht gesprochen wird, sondern Nachrichten innerhalb der eigenen
Reihen, die sich in der Regel aus mehreren Spielern in verschiedenen militäri-
schen Positionen zusammensetzen, nur über Schiefertafeln ausgetauscht

Clausewitz: Vom Kriege, S. 208.


Siehe etwa Alan Beyerchen, Clausewitz, Nonlinearitv and the Unpredictability of War, in:
International Security. Bd. 17, Nr. 3, 1992, S. 59-90.
Clausewitz, Vom Kriege, S. 1083.
111. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 63

werden. So ist sichergestellt, daß den gegnerischen Parteien nicht zu Ohren


kommt, was ihre Opponenten kommunizieren und kommandieren, auch wenn
sie sich an Reiswitz' Apparat unmittelbar gegenüberstehen. Wohl kein Zufall
ist, daß von dieser Zeit an, die schriftliche Erteilung von Befehlen auf den
Schlachtfeldern eine Rolle zu spielen beginnt, die bis dahin den Einsatz von
Papier nur in Form von Patronenhülsen kannten. Beim Kriegsspiel werden
nicht nur Kommandos durch die Verschriftlichung diskret behandelt um sie
vor den Ohren der Gegenspieler zu schützen, sondern viel grundsätzlicher und
in einem technischen Wortsinne erfahren Zeit und Raum eine Diskretisierung,
die die implizite analoge Weltauffassung verabschiedet.
Unwegsamkeiten, hervorgerufen durch morastige Wiesen, und Reibungs-
verluste in der Kommunikation bildet das Kriegsspiel gleichermaßen ab. Das
Steckenbleiben einer Nachricht oder eines Truppenteils zählt gleichviel und
unterliegt dem gleichen Diktat der Zeit. Alle Züge haben einen zeitlichen
Maßstab von zwei Minuten zu berücksichtigen, d.h. sie stellen dar, was in
einer Minute im Gefecht gesagt und getan werden kann.161 Unter Gefechtsbe-
dingungen brauchte die Artillerie für das Laden und Abfeuern eines Geschüt-
zes in der Regel zwei Minuten. Von der alles dominierenden Feuerkraft der
schweren Geschütze im Zweiminutentakt leitet sich deshalb auch das Zeit-
fenster der Spielzüge ab.
Das Reiswitzsche Kriegsspiel bricht mit bis dahin gängigen Modellen, die
von analogischen Bewegungen ausgehen und räumliche und zeitliche Verläu-
fe im Maßstab variieren. Es hält stattdessen nur die Wirkungen fest, die nach
zwei Minuten aufgrund von Erfahrungswerten auch auf dem Schlachtfeld zu
verzeichnen wären. Reiswitz' Kriegsspiel appelliert nicht so sehr an die Ein-
bildungskraft, sondern operiert innerhalb eines symbolischen Rahmens, der
auch dadurch nicht außer Kraft gesetzt würde, wenn die Kommandaten von
Freund und Feind sich in einem Raum gegenüberstünden. Die Bewegungen
einzelner Truppensteine gehorchen der Ordnung des Apparates, nicht der des
Schlachtfeldes. Egal wie und in welcher Reihenfolge die Truppensteine auch
bewegt werden, ihre Endposition muß mit entscheidenden Merkmalen eines
Schlachtverlaufs konform gehen, der zwei Minuten weiter fortgeschritten ist.
Braucht eine Partei für ihre Züge weniger als zwei Minuten, dann operiert das
Kriegsspiel im Zeitraffer, braucht sie länger, dann zeigt sie das Geschehen wie
in einer Zeitlupe. Die beiden Parteien wechseln sich zwar mit der Ausführung
ihrer Züge ab, simulieren aber in diesem Nacheinander parallel ablaufende
Prozesse. Unser digitales Dasein kennt dafür den Begriff der Pseudoparalleli-
tät. Das Prinzip, Ereignisse, die sich nicht bedingen und sich nicht aufeinan-
der auswirken, einfach getrennt nach den effizientesten Ordnungsschemata zu
organisieren, findet sich bei heutigen Computerarchitekturen als „Out-of-
order-Bussysteme" implementiert. Reiswitz' Kriegsspiel hat dieses Prinzip
vorweggenommen.

In der ursprünglichsten Form des taktischen Kriegsspiels lag der Zeittakt bei einer Minute.
64 III. DAS KRIEGSSPIF.L. DAS STAAT MACHT

Stößt nun ein Truppenfiihrer während des Spiels auf eine feindliche Truppe
und ergreift bestimmte Maßnahmen, dann teilt er diese nur dem Schiedsrich-
ter, dem sogenannten Vertrauten mit. Dieser wiederum schätzt die Dauer in
Spielzügen, die für die Übermittlung der Nachricht zum Oberbefehlshaber
anfällt:
Ist die bestimmte Anzahl von Zügen vorüber, so empfängt der Oberbefehlshaber
die Meldung über die Bewegung des Feindes, und was hierauf von dem zu-
nächststehenden Truppen-Führer angeordnet worden ist, und muß, bevor er an
den Plan tritt, dem Vertrauten das was er anordnen will, dictiren. - Hierbei wird
eine Uhr zur Hand genommen, um zu sehen, wie viel Zeit zur Mittheilung der
Meldung, dem zu fassenden Entschluß und zur Ertheilung der Disposition nöthig
war. Halb so viel Züge als Minuten vergangen sind, werden in Rechnung ge-
bracht, und dazu wiederum die Zahl der Züge addirt, welche erforderlich sind,
die gegebenen Befehle den Truppentheilen zu überbringen. Erst alsdann, wenn
diese Züge vorübergegangen sind, werden sie den betroffenen Spielern mit-
getheilt.162
Da schriftliche Befehle für ihre Mitteilungen mehr Zeit benötigen als mündli-
che - wie sie auf dem Schlachtfeld noch üblich sind - wird ihre Übermitt-
lungsdauer einfach halbiert, und schon sind im Kriegsspiel Verhältnisse wie-
derhergestellt, die mit denen des Schlachtfelds korrelieren. Wohl niemals
zuvor wurden mit Hilfe von Uhren die Kosten der Kommunikation so genau
gemessen.
Konstruktion und Destruktion sind im taktischen Kriegsspiel - das nicht
nur miniaturisierte Brücken und Gebäude aus Holz und Stein bereithält, son-
dern auch Angaben über den Zeitaufwand für ihre Vernichtung - aufs Engste
aufeinander bezogen. Auf den Schiedsrichter des Kriegsspiels kommen um-
fangreiche Datenerhebungen zu. Er hat über den Status der Sichtbarkeit von
Truppenteilen genauso Buch zu führen, wie über die angefallenen Verluste.
Sie werden in Bruchzahlen festgehalten und addieren sich im Fall des Total-
verlusts einer Truppe zu Eins.
Da man wußte, daß die Feuerwaffen unter Gefechtsbedingungen stärker
streuen als auf dem Schießplatz und im Manöver, kommen Würfel ins Spiel.
Sie erlauben, die Richtwerte in Reiswitz' Regelwerk mit zufälligen Abwei-
chungen zu versehen. Zudem dezimieren vor Spielbeginn schon einmal Zu-
fallswürfe die Divisionen der beiden Parteien, sodaß ungewiß ist, mit wievie-
len und welchen Truppensteinen die Gegenspieler operieren.
Das Spielfeld wird aus Terrainsteinen gebildet, die Reiswitz in Anlehnung
an das Prinzip des Setzkastens „Typen" nannte. Reiswitz entwickelte im
Anschluß an das Kriegsspiel ein System für den Druck von Karten. Anstatt für
die Erstellung von Karten auf die zeitraubende Metallographie zurückzugrei-
fen, sah er ein System vergleichbar dem Bleidruck vor, bei dem unterschiedli-
che Lettern zur Bezeichnung sowohl von Kreisstädten, Festungen und anderen

Reiswitz, Taktisches Kriegsspiel, S. 5.


III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 65

Bauwerken als auch für Haupt- und Nebenstraßen, Wälder, Seen und andere
geographische Merkmale vorgesehen waren. Reiswitz erhoffte sich von seiner
Technik eine schnellere Erstellung von Aufmarschpiänen.
Den Bruch, der Kommandeure und Befehlsempfänger in existentieller Wei-
se trennt, hat Reiswitz vermutlich als erster registriert, als er die Korrespon-
denz zweier Freunde analysierte, die ihr Kriegsspiel postalisch abhielten. „Ein
Schreibfehler, besage dieser Correspondenzacten beyder Freunde, kostete
einmal einen Infanteristen das Leben, ein Fall der auch wohl sonst vorge-
kommen seyn mag."163 Das Kriegsspiel übt in die Kommunikation ein, die
eine nackte Existenz über lauter Stellvertreter mit einer letzten Instanz verbin-
det. Die strategisch distanzierte Dimension des Kabinettkrieges ist nun mit der
realen Dimension der Schlachtfelder verschränkt.
Reiswitz hatte 1812 zu der „mächtigen Komode" eine sechzig Seiten um-
fassende Anleitung herausgebracht. Sie blieb unvollständig, da erste Heeres-
bewegungen die Zeit des Kriegsrats einforderten. Doch es ist zweifelhaft, daß
über die Konstruktion des Kriegsspiels jemals uneingeschränkt informiert
werden sollte. Reiswitz veröffentlichte einzig die Anleitung und verzichtete
mit Absicht auf Kupferstichabbildungen seiner Konstruktion. Es galt, unauto-
risierte Nachbauten zu verhindern.
Schließlich gab Reiswitz 1816 nur noch den historischen Teil seiner
Kriegsspielschrift heraus, legte aber den neuesten Stand der Dinge nicht mehr
offen. In dem Augenblick, in dem sein Kriegsspiel Aufnahme seitens des
Militärs erfuhr, erklärte er seine Anleitung von 1812 kurzerhand zu Makula-
tur. Reiswitz wollte seine Unterlagen „ohne allen gelehrten Prunk denen in die
Hände" legen, „welche sie bloß zum eigentlichen Kriegs-Zweck benutzen
wollten."164 Reiswitz überließ in aller Konsequenz alles weitere seinem Sohn,
der sich anschickte, zum Seconde-Lieutenant der preußischen Gardeartillerie
aufzusteigen.

5. Das Kriegsspiel als Kriegsschule

Nachdem Prinz Wilhelm auch im Kriegsspiel von Leutnant Reiswitz probe-


halber das Kommando geführt hatte, verzichtete er diesmal darauf, wieder für
eine königliche Audienz zu sorgen, so wie er es noch für Reiswitz' Vater
getan hatte. Stattdessen schickte er Reiswitz - als gälte es, künftigen Macht-
verhältnissen Rechnung zu tragen - zum Generalstabschef, ein Amt, das
eigens für Karl von Müffling eingerichtet worden war, und von dem in zu-

Ebenda, S. IX.
Reiswitz, George Leopold von, Literarisch-kritische Nachrichten über die Kriegsspiele der
Alten und Neuern. o.O., o.J. S. VI.
66 III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT

nehmendem Maße die militärische Befehlsgewalt ausgehen sollte. Ein Mit-


streiter Reiswitz' schildert das Treffen:
Bei unserem Eintritt fanden wir den General von den Offizieren des großen Ge-
neralstabes umgeben. „Meine Herren, sagte der General zu denselben, der Herr
Lieutenant v. Reiswitz wird uns etwas Neues zeigen." - Reiswitz ließ sich durch
diesen etwas kühlen Empfang nicht abschrecken. Er legte ruhig einen Kriegsplan
auf. Verwundert äußerte der General: Ihr Spiel wird also auf einem wirklichen
Situationsplan und nicht auf einem Schachbrett gespielt? - Nun, dann machen
Sie uns mit den Truppenzeichen die Rendevous-Aufstellung einer Division. „Ich
bitte Euer Excellenz," erwiederte Reiswitz, „für diesen Plan die General- und
Spezial-Idee zu einem Manöver zu geben und zwei Ihrer Herrn Offiziere zu
bestimmen, die gegen einander manövriren sollen. Ich bitte aber auch, in jeder
der beiden Spezial-Ideen nur das aufnehmen zu wollen, was der eine Theil von
dem andern in Wirklichkeit wissen würde." - Der General staunte, schrieb aber
folglich das Erforderliche nieder. Wir wurden nun den beiden Kommandieren-
den als Truppenführer zugetheilt. Das Spiel begann. Man kann wohl sagen, daß
der Anfangs so kühle alte Herr, als das Manöver sich mehr und mehr entwickel-
te, bei jedem Zuge desselben wärmer wurde, und am Schlüsse mit Enthusiasmus
ausrief: „Das ist ja kein Spiel in gewöhnlicher Art, das ist eine Kriegsschule. Das
muß und werde ich der Armee auf das wärmste empfehlen." Er hielt Wort [...].**
Daß Müffling Wort hielt, ist durch das Militair-Wochenblatt belegt - jenes
Organs, dessen Redaktion Müffling gerade übernommen hatte und das bis
zum Zweiten Weltkrieg eines der einflußreichsten Foren des deutschen Mili-
tärs blieb. Anfang 1824 führte Müffling dort aus:
Es ist schon öfter versucht worden, den Krieg auf eine solche Art darzustellen,
daß Belehrung und angenehme Unterhaltung dadurch entstehe. Man hat diesen
Versuchen den Namen des Kriegsspiels beigelegt. Indes fanden sich immer bei
der Ausführung Schwierigkeiten mancher Art, und zwischen dem ernsten Kriege
und dem leichten Spiel blieb eine große Verschiedenheit. - Merkwürdig genug
ist es, daß bisher sich nur Männer aus anderen Ständen als dem Soldatenstande
mit dieser Erfindung beschäftigten, und daher durch eine unvollkommenere
Nachahmung desselben nie die Forderung gründlich gebildeter Offiziere befrie-
digen konnten. Endlich hat ein Offizier eine Reihe von Jahren hindurch mit
Aufmerksamkeit, Einsicht und Ausdauer diesen Gegenstand verfolgt, und das
was sein Vater, der Regierungsrath v. Reiswitz begonnen hatte, bis dahin erwei-
tert, daß der Krieg auf eine einfache und lebendige Art dargestellt wird. Wer die
Kriegsführung in allen ihren Beziehungen versteht, kann unbedenklich die Rolle
eines Führers größerer oder kleinerer Truppenmassen bei diesem Spiel überneh-
men, selbst wenn er es gar nicht kennt und nie hat spielen sehen. Die Ausführung
auf guten Aufnahmen von wirklichem Terrain, und ein öfterer Wechsel, damit
durch viele neue Dispositionen die Mannigfaltigkeit vermehrt wird, machen das
Spiel noch belehrender. Gern werde ich mit allen Mitteln, welche mir zu Gebote
stehn, dazu mitwirken, die Zahl der vorhandenen Blätter zu vermehren.
Wenn der Premier-Lieutenant v. Reiswitz durch den Beifall der Prinzen des Kö-
niglichen Hauses, des Herrn Kriegsministers und der höheren Offiziere, welche

Dannhauer, „Das Reiswitzsche Kriegsspiel", S. 529.


111. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 67

sein Kriegsspiel kennen lernten, einen angenehmen Lohn fiir seine Bemühungen
gefunden hat, so wird er durch die Bekanntmachung und Verbreitung desselben
sich auch unfehlbar den Dank der Armee erwerben.

Berlin, den 25sten Februar 1824. v. Müffling.166


Die entscheidenden Neuerungen, die Leutnant Reiswitz am taktischen Kriegs-
spiel vornahm, griffen militärische Entwicklungen auf, die seinem Vater so
noch nicht zur Verfügung gestanden haben. Erstens verlangte seine Version
des taktisches Kriegsspiels, die „Geschäfte des General-Stabes-Officiers"167
nicht zu vernachlässigen - eine Forderung, die mit den Gründungen des Gene-
ralstabs und der Kriegsschulen nunmehr generell gegenüber Offizieren erho-
ben wurde. Zweitens erprobte Leutnant Reiswitz als Mitglied der Artillerie-
prüfungskommission zusammen mit Clausewitz' Mentor Gerhard von
Scharnhorst auf dem Berliner Schießplatz die Reich- und Streuweiten aller
erhältlichen, das heißt auch ausländischen Feuerwaffen und ließ die systema-
tisch erhobenen Daten ins Kriegsspiel einfließen."8 Um die Streuungen im
Kriegsspiel nachzubilden, sah Reiswitz, wie schon sein Vater, die Anwendung
von Würfeln vor. Und drittens verlegte er das Spiel auf Situationspläne, auf
topographische Karten also, die mit ihrem vergleichsweise großen Maßstab
von 1:8000 auch als Ausgangsmaterial für die Erstellung von Übersichtskar-
ten dienten (Abb. 15).
Die kombinatorische Konfiguration aus Terrainsteinen, die der Kriegsrat
als Grundlage für seinen Kriegsspielapparat ersonnen hatte, war hinfällig
geworden, seit Müffling mit seinen Vermessungsarbeiten die Kartenbestände
erheblich vermehrt hatte. Sein vehementer Einsatz für Reiswitz' taktisches
Kriegsspiel läßt erkennen, daß ihm die Ausweitung der operativen Möglich-
keiten seiner Kartenwerke sofort aufging.

166
von Müffling, Karl, „Anzeige", in: MMtair-Wochenblatt, Nr. 402, 1824, S. 2973.
Reiswitz, „Taktisches Kriegsspiel", S. 3.
Vgl. Dannhauer, „Das Reiswitzsche Kriegsspiel", S. 528 und von Reiswitz, Georg Heinrich
Rudolf Johann, Anleitung zur Darstellung militairischer Manöver mit dem Apparat des
Kriegs-Spiels, Berlin, 1924. S. 9-10.
68 III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT

$cd: iL M

Abb. 15: Sektion E/16 des Kriegsspielplans im Maßstab 1:8000 von Leutnant d. Inf.
Ernst Heinrich Dannhauer. Der Kartenausschnitt zeigt das Brandenburger Tor und den
Tiergarten
III. DAS KRIEÜSSPIEL, DAS STAAT MACHT 69

Noch bevor Karl von Müffling zum Generalstabschef ernannt wurde, herrsch-
te er über die Kartographierung deutscher Länder in einem Ausmaß, das selbst
die Schauplätze von „Die Leiden des jungen Werther" einholte. Goethes
Roman hält sich an eine Topographie, die sich im Unterschied zu allen ande-
ren seiner literarischen Werken auf einer Karte genau nachvollziehen läßt."""
Müffling hat unter dem Deckmantel seiner Präsidentschaft eines zivilen Lan-
deskollegiums einem Weimarer Dichterfürsten durch seine Vermessung und
Umgestaltung des Landes wohl nicht nur die für dessen Roman topographisch
exakten Vorlagen geliefert, sondern womöglich noch für die Figur des
Hauptmanns in den „Wahlverwandtschaften" als Modell gedient.
Begönnen hatte Müffling seine Karriere mit Vermessungsarbeiten im
Rheinland, die an Cassinis großes französisches Kartenwerk anknüpfen konn-
ten. Die Kartographierung hatte unter seiner Leitung gerade Preußen erfaßt,
als Leutnant Reiswitz ihm das taktische Kriegsspiel vorstellte. So überrascht
es kaum, daß Carl von Decker, der unter Müffling nach den Befreiungskrie-
gen und einer durchgreifenden Militärreform die Leitung des „Aufnahme- und
Zeichenbureau[s]" übernahm,'70 auch als einer der ersten Reiswitz' Regelwerk
ergänzte.,71 In der Generalstabsausbildung läßt sich gleichermaßen feststellen,
daß Techniken zur Herstellung von Karten und deren operative Anwendung in
taktischen Kriegsspielen mit wechselseitiger Bezugnahme vermittelt wurden.
Auffällig ist, daß keine Institution beanspruchte, die Entwicklung des
Kriegsspiels zu regulieren oder sein Regelwerk festzuschreiben, selbst als
man es zur Prüfung von Offiziersanwärtern heranzog. Änderungsvorschläge
und Regelergänzungen entfielen immer auf den nichtamtlichen Teil des Mili-
tär-Wochenblatts und wurden von Autoren, nicht von Institutionen verantwor-
tet. Recht bald bildeten sich Vereine, in denen sich Offiziere dem Kriegsspiel
widmeten - darunter Helmuth von Moltke, der von Beginn seiner Karriere an
ein „eifriger Kriegsspieler"172 war und zu der ersten Generation der Absolven-
ten der Kriegsschule gehörte, die auch am Kriegsspiel ausgebildet wurden.173
Daß das Kriegsspiel nicht nur indirekt seine Karriere beförderte, geht aus
seiner Autobiographie hervor. Als mittelloser und beurlaubter Generalstabsof-
fizier kam er auf Vermittlung Müfflings nur deshalb zu seinem ersten militäri-
schen Amt im Osmanischen Reich, weil der türkische Kriegsminister Chosref
Pascha nach einer Einführung in das Kriegsspiel verlangte. Chosref war nicht
nur am preußischen Landwehrsystem interessiert, sondern insbesondere an

So Friedrich Kittlers Befund in: Dichter - Mutter - Kind, München, 1991, S. 119-148, hier
S. 134-147.
0
Grüger, Gert und Jörg Schnadt, „Die Entwicklung der geodätischen Grundlagen für die
Kartographie und die Kartenwerke 1810-1945", in: Berlin-Brandenburg im Kartenbild, hg. v.
Wolfgang Scharfe u. Holger Scheerschmidt. Berlin. 2000. S. 113-136, hier S. 116.
Altrock, Konstantin von, Das Kriegsspiel. Eine Anleitung zu seiner Handhabung Mit Bei-
spielen und Lösungen. Berlin, 1908, S. 165.
Dannhauer, „Das Reiswitzsche Kriegsspiel", S. 530.
Lüdecke, Cornelia, Carl Ritters Lehrtätigkeit an der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin
1820-1853, Berlin 2002, S.30.
7(1 111. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT

dem sonderbaren Geschenk des Kriegsspiels, das Friedrich Wilhelm ihm


gemacht hatte. Um Chosref das Spiel näherzubringen, legte Moltke einen Plan
von Leipzig auf,
improvisierte eine Generalidee und arrangierte ein kleines Gefecht von Kavalle-
rie gegen Infanterie vor einem Defilee und machte wie Squenz der Rollenfresser
so ziemlich den Vertrauten der beiden Parteien zugleich.174
Daraufhin ließ Chosref Pascha bei der preußischen Regierung anfragen, ob
man Moltke für drei Monate überstellen könne, um weitere Lehrstunden zu
erhalten. Als die Antwort auf sich warten ließ und ein ablegendes Schiff zur
Entscheidung für oder gegen eine Abreise drängte, scheint der Takt des
Kriegsspiels sich in Moltkes Überlegung eingeschrieben zu haben. In seinem
Brief an die Heimat, der den Grund einer letztlich vierjährigen Abwesenheit
zu entschuldigen suchte, heißt es lapidar: mußte „in der Minute (?) meine
Parthie(?) machen (?)".175
Hellsichtig sah Georg Brandes, daß sich in Moltke der Blick eines Topo-
graphen mit dem eines Historikers vereint, der Hinterlassenschaften der Ge-
schichte nicht anders korrigierte als der Topograph Landkarten."6 Doch auch
andere Generalstabsoffiziere, die in den Generatsrang aufstiegen und die
militärischen Geschicke der Wilhelminischen Zeit bestimmten, waren wie
Moltke durch die Kriegsschule des Kriegsspiels gegangen.177
All die Uhren, Zirkel, Maßstäbe und Kartenwerke, mit denen sie auf der
Kriegsschule im Kriegsspiel einer feindlichen Natur begegneten, haben sie in
Kurs- und Codebücher von Eisenbahnen und Telegraphen externalisiert und
damit die Schlachtfelder den medialen Bedingungen des Kriegsspiels angegli-
chen. Das Kriegsspiel mag anfänglich ein preußischer Fetisch gewesen sein.
Am Ende, und ohne daß es sich grundlegend gewandelt hätte, spiegelte es
sehr präzise die Medien wieder, die das Deutschen Reiches zusammenhielten.
Nicht erst Moltke, sondern schon Reiswitz hatte das Kriegsspiel auch über
die Grenzen des Preußischen Königreiches hinaus bekanntgemacht. Der
nachmalige Zar Nikolaus II. war sein wißbegierigster Schüler. Auch in der
Armee Englands und Frankreichs griff man das Kriegsspiel auf, wenn auch
erst sehr viel später.'78 Das Kriegsspiel war nicht nur Gastgeschenk für Ver-
bündete, sondern gegnerische Armeen griffen es von sich aus auf. Man spielte
nicht nur die gegnerischen Parteien, sondern die gegnerischen Parteien spiel-

Moltke, Helmut von, Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren
1835 bis 1839, Berlin, 1911, S. 466.
Ebenda, S. 466.
Vgl. Brandes, Georg, „Feldmarschall Moltke", in: derselbe, Gesammelle Schriften. Deutsche
Persönlichkeiten, Bd. 1, München, 1902, S.l 1-36, hierS. 24.
Neben Reiswitz' Freunden, den späteren Generalen Griesheim und Dannhauer, nennt dieser
neben Moltke u.a. noch von Finckenstein und Verdy du Vernois. Siehe Dannhauer, „Das
Reiswitzsche Kriegsspiel", S. 531.
Altrock, Das Kriegsspiel, S. 152-159.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 71

ten es auch. Mit anderen Worten, das Kriegsspiel unterlief Freund-Feind-


Schemata, um sie auszutragen.
Reiswitz, der Europas Kriegsherren in das Kriegsspiel einführte, scheiterte
am Ende an seinen unmittelbaren Vorgesetzten. Eine vakante Kompaniechef-
stelle blieb ihm nicht nur verwehrt, er wurde zudem von der Garde zur Linie
in die Provinz versetzt. Reiswitz erschoß sich während seines ersten Heimat-
urlaubs. Ein Jahr nach seinem Tod erschien ein Supplement, das an Reiswitz'
Kriegsspielanleitung anschloß, ohne diese oder ihn auch nur mit einem Wort
zu erwähnen. Zu den Neuerungen des Supplements gehörten der Ausnahme-
wurf und ein Notwürfel. Gelang ein unwahrscheinlicher Ausnahmewurf,
entschied der Notwürfel, ob die Ausnahme auch zum Tragen kam. Denn wenn
es darum ging, „keinen im Kriege möglichen, wenn auch noch so unwahr-
scheinlichen Fall vom Spiel auszuschließen, muß auch das Spiel Ausnahmen
von der Regel gestatten, die aber wieder ihre eigenen Regeln haben müs-
sen."179
Carl Schmitt hat nach dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts bekanntlich
die Formel vom Souverän geprägt, der sich dadurch behauptet, daß er über
den Ausnahmefall gebietet. Doch das Subjekt des Souveräns ist ein Kriegs-
spiel. Als Schmitt sich dessen bewußt wurde, mußte er gleichzeitig feststellen,
längst Teil desselben geworden zu sein.

Anonymus (laut Dannhauer: Carl von Decker), „Supplement zu den bisherigen Kxiegsspiel-
Regeln", in: Zeitschrift für Kunst, Wissenschaft und Geschichte des Krieges, Jg. 13, Nr. 4,
1828, S. 6 8 - S . 105, hier S. 78.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

1. Kriegstheater

Nach dem Zweiten Weltkrieg zog Carl Schmitt sich in die Privatsphäre seiner
sauerländischen Heimat zurück und blieb die letzten 38 Jahre seines langen
Lebens seinem Geburtsort Plettenberg und dem Elternhaus verhaftet.180
Schmitt galt zu diesem Zeitpunkt als „Kronjurist des Dritten Reiches"18', sein
Titel als Preußischer Staatsrat hatte die Gültigkeit verloren, seine Professur
der Staatsrechtslehre mußte er aufgeben, und aus dem Staatsdienst war er
entlassen worden. Er wurde wegen Kriegsverbrechen angeklagt und kam für
zwei Jahre in Haft; verurteilt wurde er jedoch nicht.
Zurück in Plettenberg setzte sich Schmitt mit der politisch unverfänglich
scheinenden Figur des Hamlet auseinander. Bevor er seine Studien veröffent-
lichte, trug er sie zunächst an der Volkshochschule in Düsseldorf vor.'82
Genauer besehen, führen Schmitts Hamletlektüren nicht nur zu Fragen nach
künstlerischer Form und Gattung, sondern auch zu drei zentralen Problemfel-
dern seines politischen Werks. Erstens antwortet er (erst jetzt) Walter Benja-
min, der in seiner Schrift über das barocke Trauerspiel Schmitts Definition der
Souveränität aufgriff und diesem im Dezember 1930 sein Buch zusammen mit
einem emphatischen Brief zugesandt hatte.183 Auch wenn Schmitt Benjamins
Trauerspielbuch schätzte, so bezweifelte er, daß sein Souveränitätsbegriffsich
auch in Hamlets Dramen widerspiegelt. Ihm scheinen die insularen politi-
schen Verhältnisse in England von den Entwicklungen souveräner Staaten in
Kontinentaleuropa zu geschieden, die erst eine legistische „Einheit von Ort
und Zeit und Handlung" des klassischen Theaters hervorzubringen vermoch-
ten.184 Zweitens drängt in Schmitts Hamletstudien einmal mehr die Situation
auf, in der ein überkommenes Herrschaftssystem sein Recht vergeblich zu

Immerhin entwickelte Plettenberg für Alexandre Kojeve, die Leitfigur der französischen anti-
hermeneutischen Philosophen, eine Anziehungskraft, die ihm jede andere Einladung, auch
die der Freien Universität Berlin, dagegen gleichgültig werden ließ. Vgl. Taubes, Jacob, Ad
Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin, 1987, S. 24.
' So die bekannte und die häufig aufgegriffene Titulierung des ehemaligen Schmitt- Schülers
Waldemar Gurian nach Schmitts Apologie des „Röhmputschs". Siehe Paul Müller alias Wal-
demar Gurian, „Entscheidung und Ordnung. Zu den Schriften von Carl Schmitt", in: Schwei-
^ zerische Rundschau, 34. Jhg., 1943, S. 566-576, hier S. 567.
2
Vgl. Schmitts Vorwort in dem von seiner Tochter Anima Schmitt besorgten Übersetzung von
Lilian Winstanley, Hamlet. Sohn der Maria Stuart, Pfullingen, 1952. S.7-25. Und Schmitt,
Carl, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Düsseldorf, Köln, 1956, hier
S. 73.
3
Vgl. Benjamin, Walter, Brief an Schmitt vom 9. Dez. 1930, in: Gesammelte Briefe, hg. v.
Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Bd. 3, Frankfurt/M., 1997, S.558.
J
Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 66.
74 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

bewahren sucht, letztlich jedoch aufstrebenden Mächten weichen muß. So


liefert laut Schmitt Jakob Stuart, der als Jakob I. die englische Thronfolge
anstrebte, einen unverbrüchlichen Wahrheitskern für Shakespeares Hamletfi-
gur, der nicht etwa das Fiktionspotential von Sprach- und Spielregeln be-
schränkt, sondern Spiel und „Ernstfall"185 in ein Spannungsverhältnis setzt,
das durch den Einbruch gegenwärtiger Zeit in das Spiel das Drama zum Dra-
ma aller werden läßt.
Was sich in Shakespeares revolutionärem Jahrhundert abspielt, ist nichts
Geringeres als die Wandlung Englands zur Seemacht, die mit der Hinwen-
dung zur Seenahme ihr Imperium begründet.186 Drittens interessiert Schmitt
das Medium, in dem der Widerstreit alter und neuer Mächte ausgetragen wird.
Shakespeares Theater ist für Schmitt kein Ort, an dem die Um- und Einbrüche
einer Zeit im Ausnahmezustand bloß reflektiert werden, sondern an dem sie
ihre unmittelbare Darstellung und Klärung auf der Bühne finden, freilich
unter Aufwendung aller Mittel höchster Kunst.'87
Besondere Bedeutung ist dabei dem Kunstgriff des Spiels im Spiel in
Shakespeares Rachedrama einzuräumen:
Das berühmte Schauspiel im Schauspiel im II. Akt des Hamlet ist [...] doppelt
gefilterte Aktualität, Theater höherer, gesteigerter Potenz. Die im Drama auf die
Bühne gebrachte Wirklichkeit wird innerhalb des Dramas auf der Bühne noch-
mals auf einer Bühne gezeigt. Diese Art von Theater im Theater ist nur dort
möglich und nur dort sinnvoll, wo die Wirklichkeit des gegenwärtigen Lebens
selbst als Theater empfunden wird, als Theater erstens Grades, und wo infolge-
dessen das Theater selbst wesentlich Theater zweitens Grades, Theater im Thea-
ter des Lebens ist. Nur dort kann die doppelte Spiegelung eintreten, durch die
das Theater im Theater zu einer Steigerung und nicht zu einer Auflösung des
Theaters führt.188
Die Potenzierung, die er am Werk sieht, verläuft rückwirkend: Indem Hamlet
das höfische Spiel einsetzt, um den Mörder seines Vaters (und neuen Gemahl
seiner Mutter) zu überführen, wird dem Spiel generell eine erkenntniseröff-
nende Funktion eingeräumt, die anders nicht zu haben ist. Shakespeares
Schauspiel im Schauspiel unterscheidet Schmitt deshalb streng von späteren
Doppelungsstrategien des bürgerlichen Theaters, das das Spiel als solches
kenntlich macht. Jenes verweist auf eine Realität, die sich dem Spiel gerade

Ebenda, S. 42.
Vgl. ebenda, S. 62 und S. 66-67. Verfassungsgeschichtlich macht Schmitt in einem weiteren
Exkurs geltend, daß das Festhalten am mittelalterlich-feudalen, sakralen Geblütsrecht die
Stuarts zur Hoffnungslosigkeit verdammt und untergehen läßt, da sich eine neue Wahlmonar-
chie etabliert. Hierbei gilt es allerdings zu beachten, daß bei Wahl keinesfalls eine demokrati-
sche Staatsform gemeint ist, sondern die Einschränkung des göttlichen Rechts des Königs.
Vgl. Schmitt, Hamlet oder Hekuba, Exkurs I, S. 57-61.
Schmitt geht sogar soweit zu behaupten, in Hamlets Zaudern manifestiere sich die Haltung
Shakespeares, nicht eindeutig Partei zu ergreifen, um seinen eigenen Kopf nicht aufs Spiel zu
setzen. Vgl. Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 20-21.
Schmitt, „Vorwort", in: Lilian Winstanley, Hamlet. Sohn der Maria Stuart, S. 13.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 75

entzieht, etwa wenn der Schauspieler scheinbar seine Rolle ablegt, beiseite
spricht und sich nun - vermeintlich ganz Privatperson - als Schauspieler zu
erkennen gibt.1*9 Für Schmitt ist das spätere doppelte Spiel des 19. Jahrhun-
derts bloß heruntergekommen, um eine Realität zu konstituieren, die ebenso
wenig wert ist wie das Spiel, von dem sie getrieben ist. Shakespeares Spiel
war dagegen Ultima ratio.
Um den Leser den Unterschied spüren zu lassen, bringt Schmitt einen dras-
tischen Vergleich:
Die Ermordung von Jakobs Vater, die Heirat der Mutter mit dem Mörder, die
Hemmungen und Schwächen des philosophierenden und theologisierenden Kö-
nigs, das alles war für Dichter, Schauspieler und Zuschauer ebenso aktuelle Ge-
genwart, wie etwa [...] für ein Berliner Publikum des Jahres 1934 die damalige
Röhm-Affäre. Man denke sich einmal, daß solche unmittelbar aktuellen Ereig-
nisse damals in [...] Berlin in Gegenwart der Prominenten des Regimes und des
Publikums der Hauptstadt in ähnlicher Weise auf die Bühne gebracht worden
wären, wie das Schicksal Jakobs 1603/5 in London tatsächlich auf die Bühne ge-
bracht worden ist.190
Schmitts Gebrauch des Konjunktivs hat durchaus seine Berechtigung. Denn
keine Bühne brachte 1934 eine Szene, die etwa zeigt, wie Kurt von Schlei-
cher, der letzte Kanzler vor Hitlers Machtergreifung, während des „Röhm-
Putschs" am Schreibtisch seiner Neubabelsberger Villa den Schüssen eines
SS-Kommandos zum Opfer fällt.'1"
Schmitt hatte Schleichers Ressort als „hintergründiger Berater"192 auch und
gerade beim Abwehrversuch der Machtergreifung der NSDAP zur Verfügung
gestanden. Nach dem „Röhm-Putsch" verteidigte jedoch Schmitt den Partei-
vorsitzenden, Kanzler und Führer Adolf Hitler durch eine juristische Apolo-
gie, die sicherlich zu jenen seiner Schriften zu zählen ist, die ihm die größten
Anfeindungen einbrachten.193 An seine Verteidigungsschrift ein eindeutiges
Freund-Feind-Schema anzulegen, fallt jedoch schwer, denn meinungsma-
chende SS-Funktionäre ließen sich von Schmitts unbedingtem Bekenntnis
zum politischen Führer nicht davon abbringen, ihn öffentlich zu diffamie-

Vgl. Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 43.


Schmitt, „Vorwort", in: Lilian Winstanley, Hamlet. Sohn der Maria Stuart, S. 12.
Eine Urszene für Carl Schmitt im übrigen: Als Assessor der Stadtkommandantur in München
war er am Tag, als die Räterepublik ausgerufen wurde „wie üblich, zur Arbeit erschienen,
etwas später wurden Schmitt und seine Kollegen von Revolutionären unterbrochen, und einer
von diesen erschoß einen Offizier neben dem Schreibtisch." Kennedy, Ellen, „Carl Schmitt
und Hugo Ball. Ein Beitrag zum Thema .Politischer Expressionismus'", in: Zeitschrift flir
Politik, 35. Jhg., 1988, S. 143-162, hier S. 147.
So Schmitts eigenes Rollenverständnis, zitiert nach Pyta, Wolfram, und Gabriel Seiberth,
„Die Staatskrise der Weimarer Republik im Spiegel des Tagebuchs von Carl Schmitt", in:
Der Staat, Bd. 38, 1999. S. 423 - 448 und S.594 -610, hier S. 424
Vgl. Schmitt, Carl, „Der Führer schützt das Recht", in: Deutsche Juristen-Zeitschrift vom
1. August, Hft. 15, 39. Jhg. 1934, Spalten 945 -950.
76 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

Nachkriegszeit das Bild von Shakespeare, dem Autor, der mit seinem Drama
letztlich in einer Zeit unklarer Machtverhältnisse sein eigenes Leben aufs
Spiel setzt und gleichzeitig durch die künstlerische Form zu schützen sucht.'95
Brisanter noch als die Frage, vor welcher Darstellung politischer Ereignisse
die Kunst des 20. Jahrhunderts kapituliert, ist jene, die auf das Verbindende
von Schmitts Vergleich zielt. Ein Bühnenstück hat es unmittelbar nach dem
„Röhm-Putsch" nicht gegeben, jedoch ein Spiel im Vorfeld, das im Machtbe-
reich Schleichers im Reichswehrministerium stattfand, und bei dem als „Zu-
schauer" von den „Prominenten des Regimes" immerhin „der Staatssekretär
des Auswärtigen Amts, Herr v. Bülow"196 teilnahm. Diesem Planspiel - wie
jedem anderen Planspiel auch - mag eine besondere ästhetische Form abge-
hen; von üblichen Kriegsspielen unterschied es sich dennoch in entscheiden-
der Hinsicht, und die betrifft eben jene politische Ebene, wie sie Schmitt bei
Hamlet auf die Bühne gebracht sieht. Denn zum Erstaunen der Weimarer
Reichsregierung konnte sie vom Spiel ihrer Militärs nur lernen, wie von
Mannstein, der sich als Hitlers in strategischer Sicht fähigster General erwei-
sen sollte, feststellte:
Wir hatten den Eindruck, daß auch den Herren des Auswärtigen Amtes, denen
ein solches Durchspielen möglicher Konfliktfalle etwas völlig Neues zu sein
schien, dessen Wert durchaus einleuchtete."7
Von Manstein unterläßt es, das Planspiel zu datieren. Er deutet lediglich an,
daß er es zu Beginn seiner Karriere im Truppenamt für seinen Vorgesetzten
Walter Adam entwarf, der 1930 zum Chef des Truppenamts ernannt wurde.198
Manstein hatte die Leitung der Operationsabteilung des Truppenamtes ein
Jahr zuvor übernommen. So gehörte zu seinen vornehmlichsten Aufgaben,
als Organ des Chefs der Heeresleitung bzw. des Chefs des Truppenamts die
Großen Kriegsspiele und Übungsreisen zu bearbeiten, die der199operativen Schu-
lung der höheren Führer und der Generalstabsoffiziere dienten.

194
Siehe etwa den Artikel Anonymus, „Eine peinliche Ehrenrettung", in: Das Schwarze Korps
vom 3. Dezember 1936, Folge 49, S. 3.
195
In dieselbe Richtung weist auch Schmitts Gleichsetzung seiner selbst mit der Romanfigur des
Kapitäns Benito Cereno in Herman Melvilles „Moby Dick", die er in seinen Briefen an Ernst
Jünger 1941 vornimmt. In Melvilles Roman wird Benito Cereno als weißer Kapitän einer
schwarzen Besatzung, die gemeutert hat, gezwungen, anderen Schiffen gegenüber den Schein
des souveränen Befehlshabers zu wahren. Vgl. Ernst Jünger - Carl Schmitt Briefe 1930-
1983, hg. v. Helmuth Kiesel. Transkription der Briefe Isolde Kiesel, Stuttgart, 1999, Carl
Schmitt an Ernst Jünger, ohne Ort, d. 17. September 1941. S.128-130, hier insbesondere
S.129.
,%
Manstein, Erich von, Aus einem Soldatentehen. 1887-1939, Bonn, 1958. S. 131.
197
Ebenda, S. 133.
198
Ebenda, S. 107. Post weist daraufhin, daß die Kooperation zwischen Auswärtigen Amt und
Truppenamt von Blomberg eingeleitet wurde. Siehe Post, Gaines. The Civil-Military Fabric
of Weimar Foreign Policy, Princeton, 1973, S. 209.
199
Ebenda, S. 106.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 77

Das Kriegsspiel behandelte den „damals keineswegs auszuschließenden Fall,


daß sich aus einer allmählich wachsenden politischen Spannung ein polni-
scher Gewaltstreich auf Ostpreußen oder Oberschlesien entwickelte".200 Man-
stein schlug deshalb Adam vor, „dem eigentlichen Kriegsspiel ein politisches
Vorspiel vorausgehen zu lassen, an dem auch das Auswärtige Amt teilnehmen
sollte."201 Adam stimmte zu.
Mansteins Vorschlag, dem militärpolitischen Aspekt mehr Bedeutung ein-
zuräumen, ist vor allem als eine Konzession an die veränderte interne Macht-
konstellation anzusehen. Die höchsten militärischen Organe des Ersten Welt-
kriegs, der Generalstab - in Form seiner Nachfolgeinstitution, des Truppe-
namts - und auch die Heeresleitung hatten zunehmend Kompetenzen an
Schleichers Ministeramt202 abtreten müssen. Hervorgegangen war Schleichers
Amt aus der Wehrmachtsabteilung, die sich wiederum als militärpolitischer
Bereich von der Tl-Abteilung des Truppenamts abgelöst hatte. Nachdem
Schleicher zum beamteten Staatssekretär des Ministeramts aufgerückt war
(und dafür aus der Reichswehr im Rang eines Generalmajors ausgeschied),
übernahm sein langjähriger Mitarbeiter Eugen Ott die Leitung der Wehr-
machtsabteilung.203
Wie schon Manstein, so kommt auch Ott im Rückblick auf seinen Aufga-
benbereich auf ein Kriegsspiel besonderer Art zu sprechen. Eine genaue
Datierung spart auch er aus, doch Details seiner Schilderungen lassen den
Schluß zu, daß es sich dabei um Mansteins Planspiel mit dem politischen
„Vorspiel" handelt.204 Während Schleicher und sein Mentor, Reichswehrmi-
nister Groener, auf oberster Ebene den Einfluß der Chefs der Heeresleitung
und des Truppenamtes nun zu kontrollieren begannen,2"5 kooperierten eine
Ebene tiefer ihre Mitarbeiter längst bei gemeinsamen Planspielen zum Lan-
desschutz an der Ostgrenze, deren Verlauf in den Verträgen von Locarno
nicht restlos geregelt worden war. Manstein verteilte in dem Planspiel die
Rollen: „Geheimrat Köpke" hatte
den Präsidenten des Völkerbundsrats darzustellen. Je ein höherer Beamter des
auswärtigen Dienstes übernahm die Rolle des deutschen und des polnischen Au-

Ebenda, S. 131.
"" Ebenda.
"" Das 1929 eingerichtete Ministeramt fasste die dem Reichswehrminister direkt unterstellte
Adjutantur, die Haushaltsabteilungen von Heer und Marine, die Rechtsabteilung, die Wehr-
macht-Abteilung und die Abwehrabteilung zusammen.
03
So rückblickend Ott, Eugen, „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung des Nationalsozia-
lismus' vor dem Rhein-Ruhr-Klub e.V. am 19. Mai 1965 in Düsseldorf, in: RW 265-21410,
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Hauptstaatsarchiv. Bl. 9. Mein Dank gilt Prof. Dr. Jürgen
Becker für die erteilte Genehmigung, auf dieses Dokument aus dem Nachlaß von Carl
Schmitt zugreifen zu dürfen. Bestätigt wird die Darstellung durch Huber, Ernst Rudolf, „Carl
Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", in: Complexio Oppositorum. Über Carl
Schmitt, hg. v. Helmut Quaritsch, Berlin, 1988, S. 33-50. Aussprache S. 51-70, hier S. 40.
204
Ott, „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung", Bl. 7.
205
Vgl. Carsten, Francis L.. Reichswehr und Politik. 1918-1933, Köln, Berlin, 1964, S. 326-330.
78 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

ßenministers. Die militärischen Führerstellen waren durch Generalstabsoffiziere


besetzt.

Es wurde die Entwicklung von einer zunehmenden politischen Spannung über il-
legale polnische Bandenaktionen bis zum Eingreifen des polnischen Heeres und
damit bis zum Beginn des offiziellen Krieges durchgespielt. Die Leitung gab den
Parteien das Bild der allgemeinen, sich täglich zuspitzenden Lage. Die beidersei-
tigen militärischen Führer hatten der Leitung ihre jeweiligen Anträge und Maß-
nahmen anzumelden, der „Pole" im Sinn der beabsichtigten Aggression, der
„Deutsche" hinsichtlich der Vorbereitung einer wirksamen Abwehr, wie z.B. des
Aufrufs des Grenzschutzes.

Gleichzeitig oblag es den beiderseitigen Außenministern, die Noten an den Völ-


kerbundsrat zu verfassen, durch die sie diesen in der Richtung der Interessen ih-
res Staates beeinflussen zu können glaubten. Für den Legationsrat v. Rintelen.
der den polnischen Außenminister darstellte, kam es also darauf an, in Genf
glaubhaft zu machen, daß Polen allein durch deutsche Provokationen zum Ein-
schreiten gezwungen würde. Sein deutscher Gegenspieler hatte die ständig zu-
nehmende Bedrohung durch die polnischen Maßnahmen in den Vordergrund zu
stellen. Dabei erwies sich Herr v. Rintelen als der weit überlegene. Seine Erfin-
dungsgabe hinsichtlich angeblicher deutscher Provokationen machte seinen Ge-
genspieler völlig sprachlos.

Geheimrat Köpke, der die Genfer Phraseologie vortrefflich beherrschte, verstand


es ausgezeichnet, die in einem solchen Fall wahrscheinliche Haltung des Völ-
kerbundsrates zur Darstellung zu bringen. Beschwichtigende Antworten, die
Aussicht auf Einsetzung einer Völkerbundskommision, das Hin und Her über ih-
re Vollmachten, kurz alles, was man später in deren Fällen in der Praxis erleben
sollte, brachte er vor, nur keine energische Maßnahme, die den Agressor wirk-
lich zurückgeschreckt hätte.206
Für Manstein beweist das Planspiel, daß „ein nochmaliges ,Hineinschliddern'
in einen ungewollten Krieg wie 1914" vermieden werden sollte.207 Ganz ande-
re, gegenläufige Intentionen offenbart das Planspiel jedoch, wenn man neben
den Fakten auch der „normativen Kraft des Fiktionalen" Aufmerksamkeit
schenkt. Dann nämlich fällt auf, daß, jenseits aller konkret durchgespielten
Szenarien, der fiktionale Rahmen einer Grenzverletzung gleich bleibt und
schließlich 1939, mit dem vorgetäuschten Überfall polnischer Aufständischer
auf den Sender Gleiwitz, zum vorgeschobenen Kriegsgrund wird.
Der Zweite Weltkrieg hätte als Hörspiel beginnen sollen: mit SS-Männer in
der Uniform und Rolle polnischer Grenzpolizisten und vermeintlich niederge-
schossene Insurgenten als Staffage. Tatsächlich stammten die polnischen

132-133.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 79

Uniformen aus Wehrmachtsbeständen208, die Opfer aus KZs und einem nahe
gelegenen Gefängnis, in dem eines der Opfer absichtsvoll festgesetzt wurde.
Die Inszenierung sah die Erstürmung des Senders Gleiwitz durch polnische
Grenzsoldaten vor. Weil der Sender jedoch kein eigenes Programm ausstrahl-
te, sondern sein Programm von der Rundfunkanstalt Breslau bezog, mußte
man sich bei den auf polnisch eigens einstudierten Proklamationen mit einem
Gewittermikrophon beheifen. Mit geringer Reichweite gestattete es, vor
lokalen Unwettern zu warnen.209 Zur großen Enttäuschung Reinhard Heydrich,
der Funkoffizier gewesen war und nun in seiner neuen Rolle als Leiter der
Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienst den Scheinüberfall initiert hatte,
brachte der Rundfunk am Abend des 31. August 1939 in Berlin nicht wie
geplant die Direktübertragung des Überfalls.21" Die Ausrufung des Kriegs
erfolgte deshalb erst einen Tag später im Reichstag und im alten Medium der
Zeitung. Mit dem Satz „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!" konnte
deshalb bloß nur wieder mit den Mitteln der Narration behaupten werden, was
das neue Medium des Rundfunks in Echtzeit hätte simulieren sollen.

2. Das Reale der Simulationen

Längst breiten sich Medientheorien darüber, wie Medien die Welt in Simula-
tionen aufzufassen vorgeben. Daß Medien selbst nicht auf Virtualitäten, son-
dern auf Realitäten gründen, die zu beherrschen selbst ehemaligen Funkoffi-
zieren mitunter schwerfällt, wird nicht selten übersehen. So hat der Soziologe
Jean Baudrillard das Simulakrum zwar zum zentralen Begriff für die Zu-
slandsbeschreibung der westlichen Welt erhoben, ohne jedoch nach der Ent-
wicklungsgeschichte der Simulation zu fragen.
Simulakren haben für ihn in eskalatorischer Weise zunächst das Spiel mit
dem Realen aufgenommen, sich dann an die Stelle seiner Erscheinungen
gesetzt und schließlich selbst eine Grundlage geschaffen, die auf das Reale
nicht mehr angewiesen ist.2" Insbesondere das Bezugssystem des Bildes hat

Spieß, Alfred und Heiner Lichtenstein, Das Unternehmen Tannenberg. München, 1979,
S. 27. Die Uniformen stellte auf Geheiß Hitlers die Amtsgruppe Ausland/Abwehr im Ober-
kommando der Wehrmacht zur Verfügung. Siehe Spieß/Lichtenstein, S. 38. Dabei mußte im
übrigen von Manstein, der sich ebenfalls um polnische Uniformen bemüht hatte, das Feld
Himmler und Heydrich überlassen. Erwin Lahousen Edler von Vivremont notierte im Kriegs-
tagebuch der Abwehr II: „Auf meine Anfrage, warum die Bitte des Generals Mansteins betr.
Einsatz von 3 Sturm Bat. mit polnischen Uniformen abgewiesen worden ist, dafür aber im
gleichen Raum eine Unternehmung des SS-Reichsführers Himmler durchgeführt werden soll,
wird geantwortet, dass dies auf Wunsch des Führers geschieht, der die Wehrmacht unter allen
Umständen aus allen Unternehmungen, die ausgesprochen illegalen Charakter haben, heraus-
halten will." Zitiert nach Spieß/Lichtenstein, S. 39.
Ebenda, S. 138-140.
Ebenda, S. 147.
Vgl. Baudrillard, Jean, Der symbolische Tausch und der Tod, übers, a. d. Franz. v. Gerd
Bergfleth. München, [1974] 1982, S. 86-97.
80 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

dabei eine Wandlung durchlaufen, die von der Reflexion zur Selbstreferenz
führt.212 Die Logik dieser Lesart bringt jedoch mit sich, daß das Reale der
Simulationsmedien ausgeklammert und ihre Geschichte zum Verschwinden
gebracht wird.
Dabei zeigt gerade die Entwicklung der Kriegsspiele, wie sehr das Reale in
die Simulationsmedien einbricht. Das ist immer dann der Fall, wenn die Simu-
lation an ihre Grenzen gelangt und Störungen erleidet. Dasjenige, was simu-
liert werden soll, ist davon gleichermaßen betroffen, nimmt es doch mitunter
die technischen Formen der Simulation an. Insbesondere treten Effekte des
Realen auf der kommunikativen und medialen Ebene auf. Im militär-
politischen Planspiel mag hinter der Position des polnischen Außenministers
das Einfühlungsvermögen eines preußischen Legationsrats stecken, die dabei
erprobten Kommunikationspraktiken könnten indes realer nicht sein.
Im Kriegsspiel tritt die Differenz von Simulation und Kommunikation am
deutlichsten ans Licht. Infanterieeinheiten, die im Kriegsspiel nicht scharf
schießen - und wenn doch, dann nur auf Scheiben - und Panzerverbände, die
in Ermangelung noch nicht vorhandener Panzer mit Attrappen oder gänzlich
auf dem Papier operieren, blenden einen Raum realer Tücken zwar von vorn-
herein aus; allein, ihre Nachrichtenverbände gehen im Kriegsspiel nicht an-
ders als im Krieg vor:
Das Stabsquartier oder der Gerechtsstand wird dabei in Haeusern, im Freien, in
Fahrzeugen oder Zelten eingerichtet. Das Nachrichtenpersonal richtet die vorge-
sehenen Draht- und Funkverbindungen ein, sodass der gesamte Nachriehtenbe-
tieb einschliesslich der Melder waehrend der Uebung kriegsmaessig laeutt.2"
Um auch den übrigen Verbänden ihre Lage „kriegsmaessig" erscheinen zu
lassen, konnte auf eine alte Allianz zwischen der Filmindustrie und dem
Militär zurückgegriffen werden. Es sei daran erinnert, daß der Chef der Obers-
ten Heeresleitung, Erich Ludendorff, schon beizeiten, nämlich 1917, die
Gründung der Universal-Film AG (UFA) für Propaganda und zur psychologi-
schen Kriegsführung betrieb. Das Kriegsspiel machte jedoch nicht von Film-
inhalten, sondern von seinen Produktionsmethoden Gebrauch, und zwar in
einem Umfang, daß im Sprachgebrauch des Generals der Nachrichtentruppe
Praun „Film" zu einem Synonym für „Kriegsspiel" wird:
Meist wird die Leitung [des Kriegsspiels] ihre „Einlagen" in einer Art „Dreh-
buch" zusammengestellt haben, nach dem dann der Film ablaeuft.2'4

12
Vgl. Baudrillard, Jean, „Die Präzession der Simulakra", in, derselbe, Die Agonie des Realen.
übers, a. d. Franz. v. Lothar Kurzawa u. Volker Schaefer, Berlin 1978, S. 7-69, hier S. 15.
213
Hofmann, Über „Kriegsspiele", Bl. 30. Siehe auch Praun, Albrecht (General der Nachrich-
tentruppe), „Nachrichtenverbindungen bei Kriegsspielen und Rahmenuebungen", in: Rudof
Hofmann, Über „Kriegsspiele", Anhang 3. BA-MA:P-094, Bl. 203. Dort heißt es: „[Die]
Nachrichtenverbaende [stellen] die im Ernstfall vorgesehenen Nachrichtenverbindungen tat-
saechlich her."
214
Hofmann, Über „Kriegsspiele", Bl. 30.
IV HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 81

„Einlagen" sind Maßnahmen der Kriegsspielleitung, die während akribischer


Planungen im Vorfeld des Spiels oder während desselben durch den Einsatz
von Horchkompanien vorgenommen werden, um einerseits die Kriegsspiel-
teilnehmer mit Ausnahmesituationen zu konfrontieren, und andererseits die
215
eigene Nachrichtenaufklärung zu optimieren. Die Anleihen beim Film
dienen damit einer psychologischen Kriegsführung, die sich nicht gegen
Gegner richtet, sondern die eigenen Verbände Belastungstests aussetzt:
Der Stab muss staendig in kriegsmaessiger Form beschaeftigt sein, also gewis-
sermassen unter Druck gesetzt werden. Hauptkunst des Leitenden ist dabei, die
zahlreichen „Friktionen", die im Krieg ununterbrochen auftreten, wahrheitsnah
in Erscheinung treten zu lassen. Diese muss der Leitende in Form von „Einla-
gen" gut vorbereitet haben. Hierzu gehoeren die Ueberfuelle von Meldungen, die
sich gerade in kritischen Situationen draengen, Falschmeldungen, „Geruechte",
ueberholte Befehle und Meldungen, Taeuschungsnachrichten, Wuensche der
Nachbarn, Anfragen uebergeordneter Kommandostellen sollen auf den Stab her-
unterprasseln und die Teilnehmer bei Tag und Nacht zur schnellen Auswertung
und zum Erkennen des Wesentlichen zwingen. Zu den zahllosen Einzelvorgaen-
gen des Krieges gehoeren Leitungsstoerungen, unverstaendliche Fernschreiben
und Funkmeldungen, Entschluesslungsaufgaben, Gefangenenvernehmungen,
Auswerten von Luftbildern, von vorgesetzten Stellen geforderte Feindbeurtei-
lungen, Versorgeaufgaben. Auch eine erbeutete Feindkarte mit fremdsprachli-
cher Beschriftung kann den verantwortlichen Spezialisten zum Kopfzerbrechen
bringen. Solche Spezialisten, oder einzelne Fuehrer oder einen ganzen Stabsteil
kann man im entscheidenden Moment auch ganz oder zeitweise ausfallen lassen,
waehrend der Stabsbetrieb wie im Ernstfall weiterlaufen muss. Solche Ausfaelle,
hervorgerufen durch Volltreffer, Fallschirmjaeger oder Partisanen zwingen dann
den uebrigbleibenden Reststab zu lehrreichen Aushilfen.216

Nach einem Vierteljahrhundert sei schlicht nicht mehr haltbar, so General


Praun, daß die Armee beherrscht werde
von dem genialen Zukunftsbild des Grafen von Schlieffen aus dem Jahre 1909 in
seinem Aufsatz: „Der Krieg in der Gegenwart": „Der Feldherr befindet sich wei-
ter zurueck in einem Haus mit geraeumigen Schreibstuben, wo Draht- und Funk-
telegraphen, Fernsprech- und Signalapparate zur Hand sind, Scharen von Kraft-
wagen und Motorraedern, fuer die weitesten Fahrten geruestet, der Befehle har-
ren. Dort, auf einem bequemen Stuhle vor einem breiten Tisch hat der moderne
Alexander auf einer Karte das gesamte Schlachtfeld vor sich, von dort telepho-
niert er zuendende Worte, und dort empfaengt er die Meldungen der Armee- und
Korpsfuehrer, der Fesselballone und der lenkbaren Luftschiffe, welche die ganze
Linie entlang die Bewegungen des Feindes beobachten, dessen Stellung ueber-
wachen."217
Tatsächlich bedurfte es mitunter nicht einmal Drehbücher, die Störungen
eigens vorsahen, um bei der simulierten Inbesitznahme neuer Infrastrukturen

Vgl. Praun, „Nachrichtenverbindungen bei Kriegsspielen", Bl. 205-206.


2,6
Hofmann, Über „Kriegsspiele", Bl. 30-31
Praun. „Nachrichtenverbindungen bei Kriegsspielen", S. 193.
S2 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

ins Stocken zu geraten und in einem allgemeinen Chaos zu versinken. Die


Jagdgeschwader, die bei der „Krafhvagen-Transportuebung" 1937 einen
Scheinangriff hätten fliegen sollten, waren wieder abzubestellen. ' Der
Verkehr kam an sich schon nicht voran. Erste Reichsautobahnen waren zwar
vorhanden, Tankstellen aber noch nicht erfunden. So standen die Tankwagen
am Ende des vermutlich ersten Staus auf den neuen Autobahnen.21" Nicht viel
besser erging es den Nachrichtenkompanien, deren Ausrüstung aus dem
1. Weltkrieg sich mit neuen Komponenten für den kommenden als völlig
inkompatibel erwies. Erst ein weiteres Kriegsspiel 1939 zeigte Fortschritte in
der Beherrschung neuer Nachrichtenmittel im Zusammenspiel mit Panzerver-
bänden.220

3. Eugen Otts Kriegsspiel des Ausnahmezustands

Das Reale der Kriegsspiele war insbesondere für kommunikative Erprobungen


von Bedeutung. Daraus resultiert aber auch die besondere Beziehung, die sie
zur Zeitlichkeit unterhalten. Der Lakonismus des militärischen Jargons bringt
den Sachverhalt auf den Punkt: „Die Oertlichkeit war gewöhnlich »Annahme',
gespielt wurde die tatsaechliche Zeit."211
Die Kriegs- und Planspiele lösten zeitliche Bezugnahmen nicht einfach
durch ein symbolisches System auf, sondern ließen eine zeitliche Ausdehnung
eintreten, wie sie der angenommenen Lage zu entsprechen schien. Eben weil
Planspiele der Zeit unbegrenzten Raum zugestanden, konnte eintreten, was
nicht geplant war. Reichswehr und Wehrmacht hofften damit, Ausnahmezu-
stände nicht bloß zu bewältigen, sondern überhaupt in einem kontrollierten
Rahmen stattfinden zu lassen.
Von daher wäre es leichtfertig zu glauben, daß Kriegsspiele allein der ge-
nerellen militärischen Ertüchtigung dienten, wenn etwa die festgesetzten
Wehrmachtsgenerale nach dem Zweiten Weltkrieg auf die zunehmende Be-
deutung der Kriegsspiele seit 1918 hinweisen:
In seinen „Grundlegenden Gedanken fuer den Wiederaufbau der Wehrmacht",
die der erste Chef der Heeresleitung nach dem Kriege 1914/18, Generaloberst
von Seeckt, mit eigener Hand verfasste, schrieb er unter anderem: „Gelaende-

2,8
Fangohr, Friedrich-Joachim (General der Infanterie). „Beitrag zur Studie ueber Zweck und
Art der Durchfüehrung von Kriegsspielen, Planuebungen usw. im deutschen Heer", in: Ru-
dolf Hofmann, Ober „Kriegsspiele•". Anhang 1. BA-MA:P-094. Bl. 131,133, 135.
2
" Ebenda, Bl. 140.
20
So das Fazit Prauns nach einem Vergleich zwischen der gescheiterten „Fuehrer- und Nach-
richtenrahmenuebung" in Schlesien 1935 und der erfolgreichen zwischen Kassel und Rhön
1939. Siehe Praun, „Nachrichtenverbindungen bei Kriegsspielen", Bl. 207-209.
221
Ebenda, Bl. 201, Hervorhebung im Original.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 83

und Operationsstudien sind zu betreiben unter Annahme moeglicher Kriegslagen


im Westen und im Osten."222
Selbst wenn Generaloberst Hans von Seeckt sich aufgrund des Versailler
Vertrags die Mühe gemacht hätte, die defensive Einstellung der Armee zu
betonen, so wäre sie im Zusammenhang von Kriegsspielstudien von geringer
Bedeutung. Denn einerseits wird bei jedem Kriegsspiel immer rund die Hälfte
aller militärischen Kräfte den Angriff proben, seien sie nun blau gekennzeich-
net oder rot, wie üblicherweise der Feind. Andererseits entwickelten sich die
Kriegsspiele in der Weimarer Zeit nicht erst dann zu einem politischen In-
strument, als sie begannen, politische Instanzen miteinzubeziehen. Vielmehr
vermochten allein Kriegsspiele sich exakt der Lage anzunähern, die es auf
jeden Fall zu vermeiden galt. So negativ im Ergebnis, wie sie denn häufig
ausfielen, ließen sich Aufrüstungsforderungen und Ansprüche auf Verstär-
kung von Grenzbefestigungen seitens der Reichswehr nachdrücklich und
konkret stellen. Auch Manstein kam in seinem Kriegsspiel zu dem nicht sehr
überraschenden Schluß, daß die Reichsregierung einem Angriff Polens wenig
entgegenzusetzen hätte und auf Interventionen durch den Völkerbund nicht
hoffen durfte.
Eugen Ott vergaß nicht, den negativen Ausgang von Mansteins Planspiel in
seinem rückblickenden Vortragstyposkript zu betonen, was in Carl Schmitts
Exemplar - er stand mit Ott seit 1931 in freundschaftlich engem Austausch"5
- noch eigens unterstrichen ist.224 Für Ott und Schmitt dürfte Mansteins nega-
tives Ergebnis deshalb bemerkenswert gewesen sein, weil in einem weitaus
folgenreicheren Planspiel der Negativbefund zur umstürzenden Größe wurde,
die am 2. Dezember 1932 von Papen um seine Kanzlerschaft brachte und von
Schleicher zu seinen Nachfolger werden ließ. Das Planspiel, von Ott initiiert
und geleitet und von Schleicher im Kabinett zur Vorlage gebracht, zeigte, daß
im Fall erheblicher innerer Unruhen die Verhängung des Ausnahmezustandes
an zu erwartenden erheblichen Widerständen scheitertern würde. Der Ein-
schätzung der Lage, wie sie Otts Planspiel manifestierte, hatte auch Schmitt
nichts mehr entgegenzusetzen.225 Hinfällig waren damit alle staatsrechtlichen
Instrumente, die er bis dahin Ott geliefert hatte, um der Präsidialregierung die
Ausrufung des Ausnahmezustands auf staatsrechtlichem Grund zu ermögli-
chen.
Schmitt kapitulierte nicht unmittelbar vor einer konkreten Gewaltbereit-
schaft, die der Ausübung des Rechts entgegenstand. Er überließ vielmehr die
Initiative Oberstleutnant Ott auf dem Feld fiktiver Annahmen, welche er am

Fangohr, „Beitrag zur Studie ueber Zweck und Art der Durchfuehrung von Kriegsspielen",
Bl. 77
Vgl. Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", S. 61.
Vgl. Ott, „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung", Bl. 7.
Vgl. Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", S. 46.
X4 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

Beginn seiner Karriere für die Rechtslehre noch als äußerst fruchtbar ausge-
wiesen hatte.226
Mit von Mansteins und Otts Planspielen schickte sich der militärische
Komplex, indem er seine Gewaltmittel für unzureichend erklärte, an, eben
jenen Raum der symbolischen Operationen zu erobern, der bis dahin allein
Sache der Politik gewesen war.
Seit nun Schmitts engster Mitarbeiter in der Weimarer Endzeit, Ernst Ru-
dolf Huber, erstmals Mitte der 1980er Jahre, also kurz nach Schmitts Tod,
sein Schweigen brach und auf dessen geheime Missionen als Rechtsberater
der Reichsregierung zu sprechen kam, ist auch Otts Planspiel wieder in den
Fokus der Forschung gerückt.227 Immerhin wurde dabei mit der These aufge-
räumt, Otts Planspiel sei eigens von Schleicher dazu veranstaltet worden, um
von Papen in intriganter Absicht als Reichskanzler zu stürzen,228 indes, den
Stellenwert des Planspiels richtig einzuordenen, unterblieb bis heute und so
konnte die Plötzlichkeit, mit der ein Planspiel die politische Bühne einnahm,
Beobachtern heute wie damals als beispiellos erscheinen.229 Seine eigentlichen

Höchste richterliche Entscheidungen nämlich berühren auch ein fiktionales Moment, wie er
sie in Hans Vaihingers Schmitt Philosophie des Als-Ob angelegt fand. Der Bereich fiktiver
Annahmen ist, so Schmitt, bei der Betrachtung von Tatbeständen keinesfalls auszuklammern,
da sie - frei nach Wagner - „nie ohn* ein'gen Wahn gelingen." Carl Schmitt zitiert hier Ri-
chard Wagner. Siehe Schmitt, Carl, „Der Adressat", in: Die Rheinlande, Bd. 21, 11. Jhg., 12.
Hft., 1911, S. 429-430. Vgl. auch Schmitt, Carl, „Juristische Fiktionen", in: Deutsche Juris-
tenzeitung. 18. Jhg. 12. Hft. 1913. S. 804-805. Sowie, Schmitt, Carl, „Richard Wagner und
eine neue .Lehre vom Wahn'", in: Bayreuther Blätter. 35. Jhg. 1912, S.239-241. Generell zur
Bedeutung der Fiktion beim frühen Schmitt, siehe Villinger, Ingeborg, „Politische Fiktionen.
Carl Schmitts literarische Experimente", in: Technopathologien, hg. v. Bernhard Dotzler,
München, 1992, S. 191-222.
Vgl. Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit".
Die These wurde zunächst von v. Papen selbst aufgestellt, siehe Franz von Papen, Der
Wahrheit eine Gasse, München, 1952, S. 247-249. Auch Carsten griff sie auf: Reichswehr
und Politik, S. 431-437, insbesondere S. 434. Ott hat die These bestritten: „Aus der Vorge-
schichte der Machtergreifung", Bl. 2. Zu Recht, wie Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise
der Weimarer Endzeit", S. 46, verdeutlicht. Ebenso Pyla, Wolfram, „Vorbereitungen für den
militärischen Ausnahmezustand unter den Regierungen Papen / Schleicher", in: Militärge-
schichtliche Mitteilungen, 51. Jhg., 2. Hft., 1992, S. 385 - 428.
Selbst Wolfram Pyta, der bis lang die umfangreichste Quellenforschung zum Regime von
Papen und Schleicher betrieben hat, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, durch die Gren-
zen seines Untersuchungszeitraums und die Reduzierung der Sicht auf die politische F^bene
hinsichtlich des Planspiels falsche Schlüsse zu ziehen. Wenn er daraufhinweist, daß die Not-
standspläne, die aus Otts Planspiel abgeleitet wurden, auch nach Beginn von Schleichers
Kanzlerschaft „keineswegs ad acta gelegt, sondern als politische Option in Reserve gehalten"
wurden, dann schließt seine Fragestellung jegliche militärisch-strategische Anschluß-
möglichkeiten aus. Vgl. Pyta,"Vorbereitungen für den militärischen Ausnahmezustand",
S.387. Pyta bezieht weder in Betracht zieht, daß Otts Planspiel weitere folgten, noch daß ihm
andere vorausgegangen waren; er hält Otts Planspiel schlicht „für ein Novum: Es wurde ab-
gehalten, weil die Reichswehr 1932 eine qualitativ andere und schwierigere Aufgabe als
1923/24 zu bewältigen hatte." Ebenda, S. 388. Dabei hätte er schon aus Otts Bericht entneh-
men können, daß dem Planspiel zumindest ein anderes vorausgegangen war und zwar eins
mit derselben innen- und außenpolitischen Ausrichtung.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 85

Akteure aus dem Reichswehrministerium indes betrieben Planspiele mit einer


noch kaum erforschten Systematik. Dabei zeigt schon ein Vergleich mit von
Mansteins Planspiel, mit welcher Kontinuität Planspiele zum Zuge kamen,
unabhängig vom Wechselspiel der Machtkonstellationen. Nicht nur bindet
von Mansteins Planspiel unterschiedliche Instanzen des Staatsapparats ein,
was für Otts Fassung noch im gesteigerten Maße gilt. Auch das Schreckens-
szenario, das aufzulösen von Mansteins Planspiel unter den gegebenen Vor-
aussetzungen und den gegebenen Mitteln sich versagt, taucht in Otts Kriegs-
spiel wieder auf und bestimmt ebenfalls dessen negativen Ausgang: Jede
Instabilität im Inneren des Reichs schwäche auch den Landesschutz, vor allem
an der Ostgrenze und fordere Polens Streitkräfte zu einem Angriff regelrecht
heraus.230
Allerdings ist Otts Planspiel im Vergleich zu von Meinsteins, was die poli-
tische Dimension angeht, unvergleichlich zeitkritischer. Denn in erster Linie
versucht es, die Folgen einer Notverordnung abzuschätzen, die auszurufen das
Präsidialkabinett der Weimarer Endzeit gleichzeitig vorbereitete, während die
Nationalsozialisten auf die Übernahme der Kanzlerschaft aufgrund ihrer
Mehrheit im Parlament immer vehementer pochten.
Schon während des Ausnahmezustandes 1923/1924, in dem die ausführen-
de Staatsgewalt auf von Seeckt als Chef der Heeresleitung überging, über-
nahm Schleicher die Planungsarbeit für den über das ganze Reich zu verhän-
genden militärischen Ausnahmezustand. Die konkrete Ausführung überließ er
seinen engen Mitarbeitern Eugen Ott, Erwin Planck, dem Sohn Max Plancks,
und Erich Marcks, dem Sohn des gleichnamigen Historikers."' 1932 steigt
Planck zum Staatssekretär auf, Marcks zum Reichspressechef und Ott zum

Vgl. auch Gaines, The Civil-Military Fabric. S. 320. Pyta kommt auf Grundlage von Otts
Spiel zum gegenteiligen Schluß, das Widerstandspotential der NSDAP und KPD sei tatsäch-
lich erheblich geringer gewesen als von der Planspielleitung angenommen und Notverord-
nungen hätten sich deshalb sehr wohl durchsetzen lassen. Vgl. Pyta, „Vorbereitungen für den
militärischen Ausnahmezustand", S. 392. Das Bedrohungspotential im Falle eines Angriffs
durch Polen schätzt er jedoch sogar noch höher ein als von den Planspielteilnehmern ange-
nommen: „wenn sie [die Reichswehr] schon mit polnischen Übergriffen rechnete, hätte sie
dieses Szenario sicherheitshalber [über Ostpreußen hinaus] noch auf Hinterpommern und
Oberschlesien ausdehnen müssen. Indem sie diesen Schritt bei der Planübung unterließ und
eine Bedrohung deutscher Grenzen allein auf Ostpreußen beschränkte, war die gespielte Lage
im Vergleich zu der der Reichswehrfuhrung eingentlich vorschwebenden Bedrohungsvorstel-
lung sogar noch geschönt." Pyta, „Vorbereitungen für den militärischen Ausnahmezustand".
S. 390. Mit anderen Worten, man hätte die innenpolitische Lage durch eine Notverordnung
möglicherweise kontrollieren können, für einen Konflikt mit Polen wäre die Präsidialregie-
rung jedoch auf keinen Fall mehr gewappnet gewesen. Pytas Fazit, die Präsidialregierung
hätte sich die tatsächliche Gefahr im Planspiel größer gezeichnet als sie war und damit ihren
politischen Gestaltungsspielraum verspielt, steht im Widerspruch zu den Fakten, die er selber
zu Tage befördert hat.
Vgl. Ott, „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung", Bl. 4-5.
86 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

Leiter der Schaltzentrale Schleichers, der Wehrmachtsabteilung.-12 Horst


Michael, seinerzeit Oberassistent des Historikers Erich Marcks und gut be-
kannt mit dessen Sohn, dem Leiter des Reichspressesamts, verkehrte aufs
engste mit diesem Kreis. Er besuchte gleichfalls Carl Schmitts staatswissen-
schaftliche Arbeitsgemeinschaften an der Handelshochschule Berlin.-'3 Er ist
derjenige, der Schmitt mit Schleichers engsten Mitarbeitern in Kontakt
bringt.234 Nach dem sogenannten Preußenschlag - der Auflösung der sozial-
demokratischen Regierung Preußens 1932 - vertritt Schmitt nun mit zwei
Kollegen die Reichsregierung. Danach instruiert Schmitt Ott über verfas-
sungstechnische Möglichkeiten, die sich auf die nach Artikel 48 geregelte
Notverordnungsvollmacht beziehen, und sich gegen Biockadestrategien der
NSDAP, KPD und SPD richten, gegen jene Parteien also, die im Preußischen
Landtag über die Mehrheit der Mandate verfügen.235 In der Diktion von
Schmitts Schüler Michael klingt die staatsrechtliche Empfehlung indes wie
Schlachtenbeschreibung eines Partisanenkriegs:
Derjenige Angriff ist am besten, der den Gegner aus einer gedeckten Stellung
herauswirft und einem selbst zu einer gedeckten Stellung verhilft. Bei Weg 1
kann der Gegner in einen Hinterhalt ausweichen. Parteien außerhalb des
Reichstages sind keine Gegner, die die Regierung fassen kann. Sie arbeiten auf
einem Gebiet, wohin ihnen die Regierung nicht folgen kann. Die Regierung
selbst müßte sich sozusagen auf eine ungedeckte Anhöhe begeben, wo sie allen
Schüssen ausgesetzt wäre. — Bei Weg II sitzt der Gegner gewissermassen in ei-
nem Talkessel, wo seine Stellungen eingesehen und beschossen werden können,
während die Regierung in Deckung bleibt.

Weg I bringt das Volk in noch größere Unruhe und schiebt ihm mehr Verantwor-
tung zu, als es ertragen kann. Ist die offene Diktatur und wegen ungenügenden
Anlasses mit dem Odium der Willkür behaftet. Weg II dient dem Volk, die Re-
gierung führt, erzieht und gibt ein Vorbild.236
Nachdem von Papen es versäumt hatte, die Notstandsverordnungen zu einem
Zeitpunkt durchzusetzen, als die Nationalsozialisten kurzzeitig in der Wähler-
gunst gefallen waren, und die Präsidialregierung nun selbst weiter an Rück-
halt verlor, schlug Ott Schleicher vor, im besagten Planspiel zu sondieren, wie

Pyta, Wolfram, „Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront: Schleichers Versuche zur


Fernhaltung Hitlers von der Reichskanzlerschaft August 1932 - Januar 1933", in: Gestal-
tungskraft des Politischen, hg. v. Wolfram Pyta u. Ludwig Richter. Berlin, 1998. S. 173 -
197, hier S. 177.
33
Pyta, Wolfram, „Konstitutionelle Demokratie statt monarchischer Restauration. Die verfas-
sungspolitische Konzeption Schleichers in der Weimarer Staatskrise", in: Vierteljahrshefte
für Zeitgeschichte, Bd. 47, 1999, S. 417-441.
' 4 Vgl. ebenda und Pyta, „Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront", S. 178.
Vgl. Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", S. 40.
36
Horst Michael, „Wie bewahrt man eine arbeitsfähige Präsidialregierung vor der Obstruktion
eines arbeitsunwilligen Reichstages mit dem Ziel ,die Verfassung zu wahren' bzw. zu ret-
ten?"zitiert nach Wolfram Pyta, „Konstitutionelle Demokratie statt monarchischer Restaura-
tion", Dokument 2, (HstAD, Nachlaß Carl Schmitt, RW 265-18891), S. 433-441, hier S. 438.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 87

selbst unter diesen Bedingungen der Ausnahmezustand zu verhängen und


aufrechtzuerhalten wäre. Am 18. November lädt der Chef des Ministeramts,
Oberst Ferdinand von Bredow, daraufhin ins Reichswehrministerium zum
Kriegsspiel ein, das eine Woche später an zwei vollen Tagen stattfinden wird
und die Teilnahme von Regierungsbeamten, Führerstabsoffizieren, Oberhee-
resanwälten, Stabsnachrichtenoffizieren, Leitern der Technischen Nothilfe,
insgesamt an die 50 Personen, vorsieht.2" Im Reichswehrministerium sehen
sich sämtliche Teilnehmer mit der fiktiven Annahme konfrontiert, daß am 22.
November das Streikrecht für lebenswichtige Betriebe verschärft würde,
woraufhin damit zu rechnen sei, daß an den nächsten beiden Tagen SPD und
KPD den Generalstreik ausrufen, dem sich die NSDAP anzuschließen drohe.
Am 24. November käme daraufhin das Reichskabinett zusammen, um dann
per Rundfunk den Ausnahmezustand im gesamten Reichsgebiet zu verkünden.
Am 25. und 26. November begann das Spiel. Der Kriegsspielmaxime, „die
tatsaechliche Zeit" zu spielen, konnte wohl kaum mehr entsprochen werden.
Teile des Staatsapparats reagierten nun auf eine fiktive Lage, für die etwa der
damals jüngste Berliner Verkehrsstreik als Muster diente. So wird einerseits
im Zuge des Planspiels die „Notverordnung für den Ausnahmezustand" -
unter Rückgriff auf die Vorlage aus dem Krisenjahr 1926 - ausformuliert,238
während andererseits Schmitt und Michael eine Woche später eine Proklama-
tion des Reichspräsidenten zur Verhängung der Notverordnungen entwer-
fen.239 Die legislativen und exekutiven Bereiche des Staats reagieren zwar nur
auf fingierte Lagebeschreibungen, jedoch in einer Konzentration und mit einer
Bereitschaft zur Kooperation in bisher nicht gekannten Ausmaß, das über den
Rahmen einer bloß nachahmenden Simulation weit hinausgeht.
Für Ott offenbarte das Planspiel die doppelte Erkenntnis, wie überhaupt ein
Ausnahmezustand technisch zu realisieren sei, und daß seine Umsetzung unter
den gegebenen Umständen zu scheitern drohte.240 Die Bewältigung des Aus-
nahmezustands war mit den gegebenen infrastrukturellen Mitteln der Wehr-
kreise, des Grenzschutzes, der Polizei und der Technischen Nothilfe einfach
deshalb nicht zu erreichen, weil man diese Kräfte zum einem selbst von An-

Dokumente zum Planspiel Ott und Kommentar bei Pyta, „Vorbereitungen für den militäri-
schen Ausnahmezustand", S. 385-395 und S.395-414. Pyta weist den Begriff „Kriegsspiel" in
diesem Zusammenhang zurück, siehe ebenda S. 387. „Kriegsspiel" wird als Überbegriff so
aber beim Militär und auch in diesem Zusammenhang von Mitwirkenden wie Ott verwendet.
Allerdings wird in den militärischen Quellen „Kriegsspiel" nicht nur als Überbegriff ange-
wandt, sondern auch in Unterscheidung zum Planspiel. Während in diesem Fall unter Kriegs-
spiel das Durchspielen eines Kriegsszenarios durch zwei gleichartige Parteien gemeint ist,
übernimmt beim Planspiel die Führung einer Partei die Spielleitung. Vgl. List, Wilhelm (Ge-
neralfeldmarschall), „Beitrag zu einer Abhandlung ueber den Zweck und die Art der Durch-
fuehrung von Kriegsspielen im deutschen Heer", in: Rudolf Hofmann, Über „Kriegsspiele",
Anhang 2. BA-MA:P-094, Bl. 144-190, hier Bl. 148.
Vgl. Pyta, „Vorbereitungen für den militärischen Ausnahmezustand", S.400.
Vgl. Pyta, „Konstitutionelle Demokratie statt monarchischer Restauration", S. 432.
Vgl. Ott, „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung", Bl. II.
SS IV HISTORKXiRAPHlE IN ECHTZEIT

hängern der extremen linken und rechten Parteien als unterwandert ansah, und
zum anderen Streiks und Sabotagen ihrerseits auf die systematische Lahmle-
gung der Versorgungs- und Verkehrsinfrastruktur wie den Hamburger Hafen
und die Kohleförderung im Ruhrgebiet zielen konnten. Plünderungen von
Sprengstoff- und Waffendepots würden zudem noch für Waffengleichheit
sorgen.241 Wie planvoll man also im Reichswehrministerium den Feinden der
inneren Sicherheit eine Gestalt zu geben versuchte, so planvoll zeichneten
sich eben jene Feinde im Planspiel ab. An die Stelle von Clausewitz' Psycho-
logismus, wonach der Feind ob seiner Unsichtbarkeit im Unterschied zur
eigenen Sichtbarkeit auf paranoische Art das Imaginäre befeuert, tritt nun eine
gefährliche Logistik, über die zu verfügen dem Feind unterstellt wird, und die
diesem erst seine bedrohlichste Gestalt gibt. Daß genau zu dieser Zeit ein
junger Mathematiker namens Johann von Neumann eine mathematische
Theorie formuliert, die immer den strategisch am gerissensten agierenden
Gegenspieler annimmt, wird man nicht als bloße Koinzidenz verbuchen kön-
nen. Im abschließenden Kapitel wird deshalb auf von Neumanns Spieltheorie
noch genauer einzugehen sein.
Als von Papen - um auf Otts Planspiel zurückzukommen - sich im Kabi-
nett für einen Kurs ausspricht, der einen Verfassungsbruch nicht ausschließt,
um die Reichsregierung durch Notstandsverordnungen und gegen den zu
erwartenden erheblichen Widerstand an der Macht zu halten und sich selbst
erneut als Reichskanzler empfiehlt, bittet Schleicher Ott ins Kabinett, um die
Lehren aus dem Planspiel vorzustellen. Nach einer eindrucksvollen Vorstel-

Für die „Sonderlage für die Provinz Sachsen und Anhalt umfassenden Teile des Wehrkreises
IV" wird beispielsweise angenommen: „Das Kraftwerk Golpa-Zschornewitz (Nähe Bitter-
feld) ist im Laufe der Nacht stillgelegt worden, an den nach Halle und Merseburg führenden
Hochspannungsleitungen sind Sabotageakte durch Absprengen einiger Leitungsmasten er-
folgt. In der Nacht haben kommunistische Elemente einen Einbruch in das Sprengstoffwerk
Reinsdorf bei Wittenberg ausgeführt und dabei erhebliche Mengen Sprengstoffe entwendet."
Zitiert nach Pyta, „Vorbereitung für den militärischen Ausnahmezustand", Dokument 8 (BA-
MA, RM 20/1051, Bl. 226), S. 403. Die „Sonderlage für Breslau" entwickelt indes folgendes
Szenario: „Die Fernverbindung mit Berlin ist seit 24.11. 21 Uhr gestört." Zitiert nach Pyta.
„Vorbereitung für den militärischen Ausnahmezustand", Dokument 9 (BA-MA, RM
20/1051, Bl. 227), S. 403. Für die „Sonderlage Berlin" gilt: „Das Preußische Ministerium des
Innern Unter den Linden wurde dabei durch ein Sprengstoffattentat stark beschädigt. [...] Im
Nordosten von Berlin (Stettiner Bahnhof, Nordbahnhof) stärkere Störungen infolge Terrors
im Wedding", zitiert nach Pyta, „Vorbereitung für den militärischen Ausnahmezustand", Do-
kument 10 (BA-MA, RM 20/1051, Bl. 229), S. 404. Schließlich wird in dem Szenario der
Planübung am 25./26.11.32 „Lage im Wehrkreis VI" gewarnt: „Mit Sabotageakten an Eisen-
bahnwagen und in lebenswichtigen Betrieben in den nächsten Tagen muß gerechnet werden."
Zitiert nach Pyta, „Vorbereitung für den militärischen Ausnahmezustand", Dokument 11
(BA-MA, RM 20/1051, Bl. 2300, ebenda, S. 404-405, hier S. 405.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 89

lung entziehen sämtliche Minister von Papen das Vertrauen und bedrängen
Schleicher, sich von Hindenburg zum Kanzler ernennen zu lassen.242
Im Kriegsspiel hat so die Weimarer Reichsregierung ein Medium zur Fort-
setzung ihrer Politik im Ausnahmezustand gefunden. Das dem Spiel inne-
wohnende kriegerische Moment blieb davon indes gänzlich unberührt. Als
wäre die Wandlung von Schleichers Wehrmachtsabteilung aus einem ehema-
ligen Ressort der Operationsabteilung des Truppenamts in ein Ministeramt
nicht bezeichnend genug, so kommt noch hinzu, daß alle verfassungsrechtli-
chen Fragen zunächst im Reichswehrministerium Klärung fanden, bevor das
Innenministerium ins Vertrauen gezogen wurde. Daß Carl Schmitts engster
Vertrauensmann der Rcichsregierung, Oberstleutnant Eugen Ott, im Reichs-
wehrministerium saß, sorgte denn auch nach Hubers Bericht für rege Nach-
frage seitens seiner Zuhörerschaft.243 Seine formaljuristische Entgegnung, die
ausführende Gewalt unterstünde letztlich dem Reichspräsidenten, wirkt be-
müht, im übrigen wenig konform mit Schmitts Rechtsauffassungen vom
Machthaber.
Prekärer noch ist ein Staatsgebilde, das wie eine Kleinsche Flasche die
prinzipielle Unterscheidung von Innen und Außen ablegt. Seine innenpoliti-
schen Instabilitäten werden vor allem in Auswirkung auf die ungeklärte Ost-
grenze gesehen, die durch den polnischen Korridor nur noch aus einer Außen-
grenze besteht und den Anschluß an Ostpreußen hält. So malte schon Otts
Planspiel aus, „daß Kommunisten, anscheinend unter polnischer Führung, sich
in den Besitz von Grenzschutz-Waffenlagern" bringen.244 Doch gerade daran
lassen sich Forderungen nach Aufstockungen der Grenzdivisionen und Schaf-
fung von Milizen knüpfen, die offiziell dem Innenministerium, und nicht wie
die Reichswehr dem Reichswehrministerium unterstehen.
Nach von Papens Rücktritt findet Otts Planspiel deshalb eine Fortsetzung
in zwei Varianten. Die eine sucht nach Wegen, innenpolitisch motivierte
Aufstände unter Kontrolle zu bringen. Dazu gehört unter anderem auch die
Überlegung Tränengas, das bis dahin nur in Kriegsspielen der Armee zum

" Vgl. Graf Schwerin von Krosigk, Lutz, „Tagebuchaufzeichnung des Reichsfinanzministers
über den Verlauf der Ministerbesprechung vom 2. Dezember 1932, 9 Uhr.", in: Akten der
Reichskanzlei: Das Kabinett von Papen 1. Juni bis 3. Dezember 1932, bearbeitet von Karl-
Heinz Minuth, Bd. 2, Boppard, 1989, S. 1037. Vgl. auch Pyta, „Vorbereitungen für den mili-
tärischen Ausnahmezustand", S. 387. Sowie „Vortragsnotiz des Oberstlt. Ott für den Reichs-
wehrminister von Schleicher", in: Thilo Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP. Beiträge
zur deutschen Geschichte 1930-1932, Dokument 38, Stuttgart, 1962, S. 484-485.
"4 Vgl. Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", S. 65. Ebenfalls
kritisch, Pyta: In „den besonders heiklen Verfassungsangelegenheiten zeichnete nicht der
eigentlich dafür zuständige „Verfassungsminister" Gayl, sondern der Reichswehrminister für
die operative Planung verantwortlich." Pyta, „Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Quer-
front", S. 177.
~ Anonymus, „Lage im Wehrkreis I." zitiert nach Pyta, „Vorbereitung für den militärischen
Ausnahmezustand", Dokument 14 (BA-MA, RM 20/1051, Bl. 2350, S. 407
90 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

Einsatz kam, auch im Straßenkampf zu verwenden.245 In der anderen Variante


wird auf Veranlassung des Chefs der Heeresleitung Walter Adam im Januar
1933, als Schmitt und Ott immer noch gemeinsamen über Notstandsverord-
nungen nachdenken,246 der Fall durchgespielt, daß 40 bis 46 polnische Groß-
verbände gegen Deutschland vorrücken. Dem Reichsheer stünden nach Lage
der Dinge zur Abwehr 27 Felddivisionen, 34 schwache Grenzdivisionen und 3
Kavalleriedivisionen zur Verfügung. Bevor die Deutschen nach 21 Tagen der
Mobilisierung überhaupt zurückschlagen könnten, wäre Ostpreußen fast schon
verloren, und zwei polnische Armeen zögen alsbald östlich von Berlin auf. Zu
diesem Schluß kam jedenfalls Adam in einem Planspiel, das einfach die Kon-
sequenzen aus von Mansteins und Otts Vorarbeiten zieht.247 Die Vereidigung
eines neuen Reichskanzlers, der sich als erster Soldat seines Landes versteht,
durch einen Reichspräsidenten, einen Generalfeldmarschall a.D., am Ende des
selben Monats wartete Adam bemerkenswertereweise gar nicht erst ab.
Die unaufhaltsame Kontinuität, die sich in der Serie der Kriegsspiele ab-
zeichnet, scheint nicht zuletzt darin begründet, daß in den Spielen mit Re-
gimestürzen und Ausnahmezuständen immer schon gerechnet wird. Darum
sind die Daten, die als Schicksalsstunden in deutschen Schulbüchern stehen,
zu korrigieren: Anstelle der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 wäre
das Planspiel am 25. und 26. November 1932 zu nennen, weil es zur Mög-
lichkeitsbedingung von Hitlers Kanzlerschaft wurde. Anstatt alle Aufmerk-
samkeit auf den 1. September 1939, den Überfall auf Polen, zu richten, ver-
dient der Scheinüberfall auf den Sender in Gleiwitz am 31. August als Mene-
tekel des Mediums des kommenden Kriegs hervorgehoben zu werden. Statt
allein die Operation „Barbarossa", den Angriff gegen die Sowjetunion am 22.
Juni 1941, hervorzuheben, wäre es ebenso lohnend, das vorausgegangene
Planspiel „Otto" hervorzuheben, das seine Grundlage dem Operationsentwurf
„Ost", und damit niemand anderem als von Schleichers ehemaligem Reichs-
pressesprecher und Schmitts gutem Bekannten,248 Generalmajor Erich Marks,

Vgl. Pyta, „Vorbereitungen für den militärischen Ausnahmezustand", S. 393 und Anmerkung
77 auf S. 415, sowie dort Zaeschmar, „Bereitstellung von Tränengas zur Bekämpfung innerer
Unruhen",Dokument 20 (BA-MA. RM 48/82, Bl. 60-63), ebenda, S. 415-417 und Anonymus
„Richtlinien für den Einsatz von Tränengas", Dokument 21 (BA-MA, RM 48/82, Bl. 64 ff.).
ebenda, S. 417-418.
Vgl. Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", S. 49.
Vgl. Dirks, Carl, und Karl-Heinz Janßen, Der Krieg der Generäle. Hitler als Werkzeug der
Wehrmacht. Berlin, 1999, S. 45. Die Darstellung beruht, nach freundlicher Auskunft von Carl
Dirks, auf dem Dokument: „Erste operative Aufgabe des Truppenamtschefs vom 10.1.1933",
Nr. 899/32. (Archiv Dirks)
Vgl. Pyta, „Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront", S. 178 und Anmerkung
S.19I.
l
IV. HISTORKXiRAPHlE IN FX'HTZEIT )l

verdankte.249 Statt allein den 20. Juli zu erinnern, wäre die Beschäftigung mit
dem Plan „Walküre" angezeigt, der in entscheidenden Punkten Otts Planspiel
glich: General Friedrich Olbricht, der den Plan entwarf, zeigt vorderhand, wie
im Fall innerer Unruhen, hervorgerufen durch ein immer größer werdendes
Heer an Zwangsarbeitern im Reichsinneren, diese durch ein Ersatzheer nie-
derzuschlagen seien. Der Plan, den Hitler selbst abzeichnete,250 war jedoch
tatsächlich Teil der Staatsstreichpläne gegen ihn selbst und hätte nach einem
erfolgreichen Anschlag auf ihn die Übernahme der Befehlsgewalt im Reich
sicherstellen sollen.251 Daß die Umsetzung von Olbrichts und Oberst Henning

Als Hitler nach dem Frankreichfeldzug Ende Juli 1940 Krieg gegen die Sowjetunion zu
führen beschloß, war Marcks als Chef des Generalstabes der 18. Armee längst ohne „Füh-
rer"-Auftrag von Franz Halder schon berufen worden, gegen Rußland einen ersten Operati-
onsplan zu entwerfen. Vgl. Ueberschär, Gerd, „Die militärische Planung für den Angriff auf
die Sowjetunion", in: Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941, hg. v. Gerd Ueberschär
und Lev A. Bezymenskij, Darmstadt, 1998, S. 21-37, hier S. 24. Vgl. auch Dirks/Janßen,
Der Krieg der Generäle, S. 138 und Hofmann, Über „Kriegsspiele, Bl. 67. Marcks' Operati-
onsentwurf, der Moskau als entscheidendes Kriegsziel auswies - wovon Hitler bekanntlich
abrückte - ist abgedruckt bei Ueberschär, „Der deutsche Angriff', S. 223-234.
Die Entwicklung der Gesamtunternehmung „Barbarossa" beschreibt Hofmann auf ausdrück-
liche Nachfrage der Historical Division der amerikanischen Armee als eine iteratives Verfah-
ren, das persönliche Verantwortlichkeiten ständig wieder aufhebt: Erste Entwürfe entwickel-
ten unabhängig Marcks, die Operationsabteilung des OKH, der Chef des Generalstabes des
Heeres, sowie etwas später General Friedrich Paulus. Die Operationsabteilung erstellte an-
hand der Entwürfe dann Aufmarschanweisungen, die wiederum in Kriegsspielen überprüft
wurden. Der Generalstab des Heeres unternahm unabhängig die gleichen Schritte und ver-
glich seine Ergebnisse mit denen des OKH. Danach erging die „Weisung für Barbarossa" am
18.12.1940 durch den obersten Befehlshaber der Wehrmacht. Hitlers Weisung durchlief dar-
auf eine genaue Ausarbeitung in der Heeresgruppe A unter der Leitung des Generals von So-
denstern in Form des Planspiels „Otto". Planspiele auf der Ebene der Heeresgruppenober-
kommandos schlössen sich an. Schließlich erfolgte die Aufmarschanweisung des OKH am
31. Januar 1941. Wieder waren es Planspiele der Panzergmppenkommandos und einzelner
Dvisionskommandos, um sich mit den Implikationen der Anweisung vertraut zu machen.
Vgl. Hofmann, Über „Kriegsspiele", BI.46-63 u. 67-71.
" Vgl. Finker, Kurt, Der 20. Juli 1944. Militärputsch oder Revolution?, Berlin, 1994, S. 239.
' Die „genial zu nennende Idee", so Hans Mommsen, geht nicht, wie von Dirks und Janßen
vermutet, auf Oberst Henning von Tresckow zurück, sondern auf Friedrich Olbricht, dem die
Idee schon im Winter 1941/42 kam. Vgl. Dirks/Janßen, Der Krieg der Generäle, S. 170. Vgl.
dagegen Page, General Friedrich Olbricht, S. 186 und Finker, Der 20. Juli 1944, S. 238-239.
Daß es sich bei Olbrichts „Walküre Plan" nicht um einen Geniestreich handelte, sondern um
eine Neuauflage von Otts Planspiel, wenn auch unter anderem Vorzeichen, legt Olbrichts
Karriere beim Truppenamt in der Abteilung T 3 (Fremde Heere) nahe, deren beide Abteilun-
gen Tl und T2 maßgeblich zur selben Zeit in Otts Planspiel eingeschaltet waren. Vgl, Ano-
nymus, „Ausgangslage der Planübung", in: Pyta, „Vorbereitung für den militärischen Aus-
nahmezustand", Dokument 2 (BA-MA, RM 20/1051, Bl. 209), S. 396-397.
Als Olbricht 1940 die Leitung der Nachfolgeeinrichtung des Truppenamtes des Allgemeinen
Heeresamtes übernahm, hatte er Zugriff auf alle Akten über die damaligen Notstandspläne.
Ihre Umarbeitung erfolgte mit der bekannten generalstabsmäßigen Routine: „Es wird allzuoft
vergessen - besonders bei denen, die die Rolle Stauffenbergs in der Verschwörung hervorhe-
ben wollen -, daß die offiziellen „Walküre"-Befehle insgesamt 220 mal überarbeitet worden
sind, und die Fassung vom 31. Juli 1943 - noch 2 Monate vor dem Amtsantritt Stauffenbergs
und sogar vor seiner Einweihung in die Verschwömng - schon die 83. Fassung dieser Befeh-
le darstellte!" Page, General Friedrich Olbricht, S. 190.
92 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

von Tresckows Staatsstreichplänen letztlich scheiterte, lag wohl auch an


einem prinzipiellen Dilemma: Die Pläne konnten höchstens in dem Rahmen
durchgespielt werden, den sie fingierten, aus Geheimhaltungsgründen jedoch
nicht unter dem Vorzeichen des beabsichtigten Staatsstreichs. Als dennoch
einmal der Versuch unternommen wurde, unter dem Deckmantel des Katast-
rophenschutzes ein Kriegsspiel zu absolvieren, und Panzereinheiten im Regie-
rungsviertel einrückten, zeigte sich Goebbels sofort alarmiert und erregt.252
Kurz, die Staatsstreichpläne konnten sich den Anschein von Kriegsspielen
geben, doch sie konnten nicht innerhalb solcher erprobt werden.
Und schließlich ist wohl weniger das Ende des letzten deutschen Reichs-
kanzlers, vermutlich als verkohlte Leiche irgendwo auf dem Grundstück der
Reichskanzlei am 30. April 1945, bezeichnend, als vielmehr dessen letzte
Tage. An diesen tat Hitler zwar, was er im Grunde in den letzten sechs
Kriegsjahren immer getan hatte, nämlich fortwährend Lagebesprechungen
abzuhalten. Doch glaubt man seinem Rüstungsminister, Albert Speer, dann
blieb dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht gerade deshalb bis zuletzt er-
spart, den totalen Zusammenbruch seiner Armee überhaupt zu registrieren.
Speer argwöhnte vielmehr,
daß der Generalstab unter General Krebs es endgültig aufgegeben habe, Hitler
sachgerecht zu informieren und ihn statt dessen gewissermaßen mit Kriegsspie-
len beschäftigte.2"
In all diesen Momenten trugen Kriegsspiele der Fortgang der deutschen Ge-
schichte doppelt aus: Sie setzten eine gewaltige Wirksamkeit im Bereich des
Symbolischen frei und griffen doch nicht in den Lauf der Dinge soweit ein,
daß katastrophale Entwicklungen durch Simulationen hätten antizipiert und
vermieden werden können.

4. Applikatorische Methode

Versuche, von der Geschichte auf die Zukunft zu schließen, sind womöglich
nirgends intensiver unternommen worden als beim Generalstab. Auch Julius
von Verdy du Vernois, General der Infanterie, Lehrer an der Allgemeinen
Kriegsschule in Berlin und schließlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch
für kurze Zeit Kriegsminister, verfolgte innerhalb der „Führerausbildung" mit

" Vgl. Hoffmann, Peter, „Oberst i. G. Henning von Tresckow und die Staatsstreichpläne im
Jahr 1943", in: Vierteljahrshefte für Zeilgeschichte, Jhg. 55, Heft 2, 2007, S. 331-364, hier S.
343-344.
253
Speer, Albrecht, Erinnerungen, Frankfurt/M., Berlin. [1969] 1996, S. 463.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 93

der ,,applikatorische[n] Methode" dieses Ziel254: Offiziersanwärter, so sah es


seine Lehrmethode vor, hatten sich in Lagen zu bewähren, deren Beschrei-
bung ihre Ausbilder aus dem unausschöpflichen kriegsgeschichtlichen Arse-
nal zogen und bis zu dem Moment ausbreiteten, in dem Schlüsselentscheidun-
gen zu treffen waren. Die angehenden Offiziere hatten dann auf sich gestellt
Kommandos zu erteilen und Maßnahmen zu treffen und so ihre Führungsqua-
litäten unter Beweis zu stellen. Wer sich schwer tat, allein aufgrund von
Beschreibungen ein Kriegstheater zu imaginieren, dem half das Zeichensys-
tem des Kriegsspiels auf die Sprünge.2" Auf die applikatorische Methode wird
man bis ans Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr verzichten.
Mit der Gründung der Bundeswehr und des Militärgeschichtlichen For-
schungsamtes entbrannte eine Debatte darüber, ob nicht über den Zweiten
Weltkrieg hinaus ein applikatorischer Umgang mit der Militärgeschichte
weiter Bestand haben sollte. Die bundesrepublikanischen Historiker waren
sich schnell einig: Aus der Militärgeschichte könne man nichts lernen, was
von praktischem Nutzen sei.256 Allenfalls eine kontemplative Einlassung auf
die Geschichte brächte einen Erkenntnisgewinn. Doch bevor sich die Gemüter
darüber beruhigen konnten, intervenierte der Historiker (und Oberst der Bun-
deswehr) Hermann Heidegger. Daß praktischer Nutzen aus der Kriegsge-
schichte zu ziehen ist,
bejahen unsere ehemaligen Gegner offensichtlich: Das in ihrer Hand befindliche
kriegsgeschichtliche deutsche Quellen-Material könnte sonst sofort zurückgege-
ben werden.257
Einen Gegensatz von Theorie und Praxis hielt Heidegger zudem für überholt:
„Alle Wissenschaften - auch die Geisteswissenschaften - haben technisch-
praktischen Charakter angenommen."258 Mit Verweis auf Ernst Jüngers „Krieg
und Krieger" erinnert Heidegger daran - gleichsam in stellvertretender Fort-

Eine instruktive Auseinandersetzung mit Verdy du Vernois' Einsatz der applikatorischen


Methode liefert Lange, Sven, „,Der große Schritt vom Wissen zum Können' die .applikato-
rische Methode' in der amtlichen Kriegsgeschichtsschreibung des Kaiserreichs", in: Terra et
Mars: Aspekte der Landes- und Militärgeschichte; Festschrift für Eckardt Opitz zum 65. Ge-
burtstag, hg. v. Michael Busch, Neumünster, 2003, S. 218-239. Die Wirkungsgeschichte der
Methode setzt er jedoch zu spät an. Zu den vermeintlichen Anfängen der applikatorischen
Methode: ebd., S. 225. Daß die applikatorische Methode vielmehr mit der mathematischen
Ausbildung zu Beginn der Einrichtung der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin zusammen-
fällt, wird durch Fragestellung des nächsten Kapitels ersichtlich,
von Verdy du Vernois, Julius, Beitrag zum Kriegsspiel, Berlin, 1881, S. VIII.
' Ausgelöst wurde die Debatte durch einen Beitrag von Meier-Welcker, Hans, „Unterricht und
Studium in der Kriegsgeschichte angesichts der radikalen Wandlung im Kriegswesen", in:
Wehrkunde, 9. Jhg., 1960, S. 608-612. Eine Sammlung der Beiträge zur Debatte, die sich
darauf zwischen Welcker, Hermann Heidegger, Friedrich Forstmeier und Gerhard Papke ent-
spann, findet sich in: Die Militärgeschichte. Probleme-Thesen-Wege. (= Beiträge zur Militär-
und Kriegsgeschichte, Bd. 25), hg. v. Manfred Messerschmidt, Stuttgart, 1982.
Heidegger, Hermann, „Kann Kriegsgeschichtsunterricht heute noch einen praktischen
Nutzen haben?", in: Wehrkunde, 10. Jg., 1961, S. 195-199, hier S. 196.
5K
Ebenda, S. 195.
94 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

führung eines Dialogs seines Philosophenstiefvaters - daß sich mit dem Ers-
ten Weltkrieg die Ausweitung eines „gigantischen Arbeitsprozesses"25" voll-
zogen habe. Allerdings sieht er den zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen aus
der Geschichte Nutzen zu schlagen ist, immer enger werden. Carl von Clau-
sewitz hielt Rückblicke auf militärgeschichtliche Ereignisse, die weniger als
75 Jahre zurücklagen, noch für strategisch relevant. „Die Zeitspanne", gibt
Heidegger nun zu bedenken, „in der Ereignisse noch praktisch lehrreich für
uns sind, schrumpft infolge der raschen Entwicklung der Waffen- und Ver-
kehrstechnik zusammen."260 Heidegger greift zur Formel des Historikers
Hermann Heimpels, um eine Grenze zu bezeichnen: Die „Gegenwart ist die
erste Geschichtsquelle des Historikers".261 Am Ende, so muß man folgern,
sorgt die applikatorische Methode dafür, daß Momente historischer Abläufe
mit der Gegenwärtigkeit computergestützter Operationen konvergieren. Ge-
schichte wird so zu einem System, das in Echtzeit verläuft.
Schon das Kompendium „Der Dienst des Generalstabs", von Bismarcks
General General Paul Bronsart von Schellendorf, erwartet nach dem deutsch-
französischen Krieg vom Offizier vor allem die Beherrschung einer Registra-
tur: Der Eingang noch der überraschendsten Nachricht erfordert keine origi-
nelle Reaktion, sondern das Absuchen des Archivs nach vergleichbaren Fäl-
len, um so der empirischen Mannigfaltigkeit durch rekursive Verfahren Herr
zu werden.262
Preußens erster Generalstabschef Müffling hatte zuvor seinen Offizieren
eine Darstellung des Siebenjährigen Krieges abverlangt, die in drei Bänden
unter seinem Nachfolger erschien. Es folgte die Aufarbeitung der preußischen
Schlachten gegen Napoleon bis zu den Befreiungskriegen, und auch diesmal
reichte die Amtszeit eines Generalstabschefs für die Erledigung der Aufgabe
nicht aus. Die Kriegsgeschichlliche Abteilung unter Leitung Verdy du Ver-
nois' wertete die Berichte der Kriege von 1864 und 1866 aus und gab das
Ergebnis als amtliches Werk heraus. Ergänzt um die Angaben zur Verwen-
dung von Eisenbahnen und Telegraphen ging hieraus die „Verordnung für die
höheren Truppenführer vom 24. Juni 1869" hervor - pünktlich vor Beginn des
deutsch-französischen Kriegs.263 Generalstabschef Moltke gab immerhin noch
selbst die Dokumentation des deutsch-französischen Kriegs in Auftrag und
schloß damit zu einem Krieg auf, den er selbst geführt hatte. Ab da währte
kein Frieden mehr lang genug, um den letzten Krieg vor Ausbruch eines

Ernst Jünger zitiert nach Heidegger, „Kann Kriegsgeschichtsunterricht heute noch einen
praktischen Nutzen haben?", S. 195
260
Ebenda, S. 197.
261
Ebenda.
262
SchellendortT, Paul Bronsart von, Der Dienst des Generalstabes, Zwei Teile in einem Band.
Berlin, 1875, Teil I, S. 138.
63
Vgl. Brühl, Reinhard. Militärgeschichte und Kriegspolitik: zur Militärgeschichtsschreibung
des preußisch-deutschen Generalstabes 1816-1945 (= Schriften des Militärgeschichtlichen
Instituts der Deutschen Demokratischen Republik), Berlin, 1973, S. 80.
IV. HISTORKXiRAPHlE IN ECHTZEIT 95

neuen Kriegs nach Aktenlage restlos geschichtlich zu erschließen, zumal in


der Weimarer Zeit die Abarbeitung einer steigenden Zahl an operativ-
taktischen Einzelfragen die Arbeit an einer Gesamtdarstellung bremste.264
Zudem wuchs die Anzahl der herauszugebenden Bände und mit ihr die Re-
daktionszeit. Der Abschluß der amtlichen Darstellung des Ersten Weltkriegs
fällt schließlich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen. Der vor-
letzte, dreizehnte Band „Der Weltkrieg 1914 bis 1918" erschien noch 1943 in
kleiner Auflage: „Nur zum Dienstgebrauch!"265 Der vierzehnte Band hätte
amtlich machen sollen, daß nach der operativen und taktischen Lage266 der
Oktober/November 1918 keinesfalls zur Aufgabe zwang. Er erschien 1956 in
Koblenz.
Brüsteten sich Generale zu Zeiten Friedrichs des Großen noch damit, nicht
schreiben zu können, so geht der Offizierstypus in der Zeit nach den Befrei-
ungskriegen einem Studium generale nach. So auch Hauptmann Griesheim,
der an Leutnant Reiswitz' Entwurf des taktischen Kriegsspiels mitwirkte.267
Griesheim zog es „zu der Universität, vor die Lehrstühle C. Ritter's, Erman's,
Hegel's, A. von Humboldt's und anderer Männer von ausgezeichnetem Ruf
und Namen, während zugleich die Berufsstudien der Kriegskunst und Kriegs-
geschichte Gegenstand der fleißigsten Leetüre"268 waren.
Bismarcks nachmaligem Kriegsminister Albrecht von Roon bleibt in sei-
nem Nachruf auf Griesheim nur festzustellen, daß dessen „Charakter-
Tüchtigkeit in einer der eigentlichen kriegerischen Thätigkeit im engeren
Sinne nur nahe liegenden Sphäre, nicht in ihr selbst, zu bewähren beschieden
war."269 Die „Sphäre" war nichts anderes als ein Campus, der auf engstem
Raum Reiswitz' Artilleriekaserne, die naheliegende Friedrich-Wilhelms-
Universität und Hegels Haus am Kupfergraben umschloß. Daß Griesheim
mehr als nur einer der vielen Hörer Hegels war, läßt Roon nicht unerwähnt:
Als in späteren Jahren Professor Gans, nach Hegels Tode, dessen philosophische
Vorlesungen herausgab, [griff er] zu Griesheim's, seines befreundeten Lieblings-
Schülers, wohlgeordneten Heften [...], um die unvollständigen Aufzeichnungen
des berühmten Lehrers zu ergänzen [...]. Wer aber Hegel jemals gehört oder
auch nur eine seiner hinterlassenen Schriften angesehen hat, wird ermessen, was
es sagen will, wenn Fachmänner in solchem Falle zu der Arbeit eines militairi-
schen Dilettanten ihre Zuflucht zu nehmen sich gedrungen fühlten; - dieser ge-

Otto, Helmut, „Das ehemalige Reichsarchiv. Streiflichter seiner Geschichte und der wissen-
schaftlichen Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges", in: Potsdam: Staat, Armee, Residenz in
der preussisch-deutschen Militärgeschichte, hg. v. Bernhard R. Kroener unter Mitarb. v. Hei-
ger Ostertag, Frankfurt/M., Berlin 1993, S. 421-434, hier S. 427.
Ebenda, S. 431.
Ebenda, S. 432.
Vgl. Reiswitz, Anleitung zur Darstellung militairischer Manöver, S. X.
Anonymus [Albrecht von Roon], „Zur Erinnerung an den Griesheim, gestorben als erster
Commandant von Coblenz und Ehrenbreitenstein, am 1. Januar 1854", in: Beiheft zum Mili-
tair-Wochenblatt 1854, S. 1-29, hier S. 8.
Ebenda. S. 3.
96 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

hörte daher jedenfalls zu den Wenigen, welche den so schwer und deshalb meist
mißverstanden Philosophen richtig aufgefaßt hatten.270
Das richtige Auffassen gründet auf ein generalstabsmäßig eingespieltes Auf-
schreibesystem, mit dem Griesheim und seine Mitstreiter Hegel zur Hilfe
kamen:
Wo er [Hegel] von einer guten Nachschrift eines Zuhörers hörte, [ließ er] diese
kopieren, und sie ward bei abermaligem Lesen zugrunde gelegt, so daß sich an
sie Veränderungen und Erweiterungen schlössen [...]. Obgleich Hegel stets seine
Vorträge nach einem Hefte hielt, so konnte schon der Zuhörer aus dem steten
Hin- und Herblättern, aus dem bald oben, bald unten Herumsuchen, auf die Kor-
rekturen, Einschiebsel usw. zurückschließen/7'
Griesheim machte zudem noch aus verschiedenen Mitschriften ein einziges
Kompilat, um jegliche Facetten Hegelscher Performanz über die Geschichte
der Philosophie aufzuheben - ein Verfahren, das im Generalstab üblich war,
um aus unzähligen Offizierstagebüchern neue Direktiven und Kriegsdarstel-
lungen abzuleiten. Schließlich sollte Griesheim selber Vorlesungen halten,
wenn auch zur Kriegsgeschichte an der Kriegsschule.
Nach Roons Bilanz „hätte [Griesheim] vorzugsweise im Generalstab der
Armee [...] Verwendung finden sollen."272 Doch als es tatsächlich soweit war,
erhielt das Kriegsministerium den Vorzug.

5. Geschichte des laufenden Kriegs

Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Sphäre, in der sich Griesheims Karriere
so beispielhaft bewegte, und die nach Roon mit der eigentlichen „kriegeri-
schen Täthigkeit" nicht in Berührung kam, schlicht kassiert. Mit der Auflö-
sung des Großen Generalstabs ging der „namenlose Geist des Generalstabsof-
fiziers"- um mit dem dafür verantwortlichen Chef des Truppenamtes Hans
von Seeckt zu sprechen - auf ganz andere Einrichtungen und Institutionen
über. Letzteres hatten die Siegermächte sicherlich nicht im Sinn, als sie im
Versailler Vertrag forderten, was in Weimar zum Gesetz wurde: „Der deut-
sche Große Generalstab und alle anderen ähnlichen Formationen werden
aufgelöst und dürfen in keiner anderen Gestalt neu gebildet werden."27' Die
Legende vom Großen Generalstab, der verdeckt im neugegründeten Truppe-
namt des Reichswehrministeriums weiter operiert, greift indes zu kurz. Sugge-
riert sie doch eine Kontinuität preußisch-militärischer Wirksamkeit, deren
270
Ebenda. S. 8.
i71
Johann Eduard Erdmann zitiert nach Günther Nicotin (Hg.), Hegel in Berichten seiner
Zeitgenossen, Berlin 1971, S. 442.
272
Anonymus, „Zur Erinnerung an den Griesheim", S. 9.
73
Anonymus, Reichsgesetzblatt 1919, Teil I, Nr. 140 zitiert nach Model, Hansgeorg, Der
deutsche Generalstabsoffizier. Seine Auswahl und Ausbildung in Reichswehr, Wehrmacht
und Bundeswehr, Frankfurt/M., 1968, S. 21
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 97

vermeintliches Machtpotential vermutlich gering ausgefallen wäre im Ver-


gleich mit den neuen hybriden militärisch-politischen Verbindungen, die die
Auflösung des Generalstabs erst ermöglichten. Daß ein Ministerium nunmehr
über vormalige Generalstabsoffiziere verfügt, die zuhauf in das Truppenamt
einziehen, und daß die Kommandogewalt verfassungsbedingt nicht mehr
allein vom Obersten Kriegsherrn ausgeht, sondern jetzt auch eines Beschlus-
ses des Parlaments bedarf, bedeutet eine tatsächliche Zäsur.274 Damit ist aber
nicht alles gesagt, denn die Teilung der Kommandogewalt verschafft zunächst
einem erweiterten Personenkreis die Möglichkeit, Kommandogewalt recht-
mäßig auszuüben.275 Der Große Generalstab ist jedenfalls nicht einfach in
getarnter Gestalt wiedererstanden. Vielmehr verursachte die Teilung der
operativ verschränkten Bereiche des Generalstabs und ihre Einbettung in
verschiedene Organe der Exekutive eine Transformation, die die Siegermäch-
te mehr hätte schrecken müssen als sein Weiterbestehen. Während sich Rekru-
tierungs-, Ausbildungs- und operative Planungsstäbe im Reichswehrministeri-
um ansiedelten, ging der Bestand der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des
Generalstabs in der Neugründung des Reichsarchivs auf, das dem Reichsin-
nenministerium unterstellt war. Das Reichsarchiv hört aber nicht schon auf-
grund seiner ziviler klingenden Umbenennung auf, die operative Basis der
Reichswehr zu sein. Im Gegenteil, alle Aufzeichnungen der aus außenpoliti-
schen Gründen ausgetragenen Kriege waren nun mit einem innenpolitischen
Ressort verknüpft.276 Kaum zu unterscheiden ist deshalb, was zuerst auf den
Plan trat: Das permanente Angstszenario des Bürgerkriegs während der Wei-
marer Anfangs- und Endzeit, oder die Wappnung vor ebendiesem Szenario.
Als Hermann Göring schließlich in Funktion des Reichinnenministers
drängte, „die alte Kriegsgeschichtliche Abteilung des Generalstabes in ir-
gendeiner Weise wieder als Einrichtung der Reichswehr aufleben zu lassen"277
und damit auf die kurz danach erfolgte Umbenennung des Truppenamtes in

Vgl. Huber, Ernst Rudolf. Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg, 1937,
S. 267-268.
Schon an der Kommandogewalt, die während des Ersten Weltkriegs laut Verfassung bei
Wilhelm 11. als oberstem Kriegsherrn lag, von ihm aber nicht in Anspruch genommen wurde,
läßt sich studieren, wie Mittel und Wege, sich auf sie zu berufen, faktisch entscheidender
werden, als normativ über sie zu verfügen. Das Staatsoberhauptgesetz von 1934, das den O-
berbefehl über die Reichswehr dem Führer und Reichskanzler unterstellte, bewirkte keine
Restauration der Machtverhältnisse der Wilhelminischen Zeit. Denn sich überlappende An-
sprüche auf die Befehlsgewalt nahmen faktisch zu und nicht ab. Welche andere Armee hätte
sich auf ein Oberkommando der Wehrmacht und Oberkommando des Heeres mit sich über-
schneidenden Machtbereichen eingelassen?
Vgl. Otto, „Das ehemalige Reichsarchiv", S. 423. Nach Auflösung des Großen Oeneralstabes
am 30. September 1919 verfügte Reichspräsident Friedrich Ebert zum 1. Oktober die Grün-
dung eines Reichsarchivs, das dem Reichsministerium des Innern unmittelbar nachgeordnet
war.
Hermann Göring zitiert nach Stahl, Friedrich-Christian, „Die Organisation des Heeresar-
chivwesens in Deutschland 1936-1945", in: Schriften des Bundesarchivs, 25. Jhg., 1977,
S. 69-101, hier S. 72.

Bayerische
Staatsbibliothek
München
98 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

„Generalstab des Heeres" hinarbeitete, hatte bereits der vormalige Reichs-


wehroffizier und Militärhistoriker Walter Elze 1931 eine „kriegsgeschichtli-
che Abteilung am historischen Seminar der Friedrich-Wilhelm-Universität"
eingerichtet und seine Direktion angetreten.278 An demselben historischen
Seminar hatte nur ein Jahrzehnt zuvor noch Hans Delbrück mit Generalmajor
a.D. Hans v. Haeften und seinen Archivaren um die amtliche Darstellung des
Ersten Weltkriegs gestritten. Zehn Jahre später sind mit Beginn von Elzes
Direktorium die Grenzen zwischen militärischen Geschichtsschreibern und
akademischen Militärhistorikern nicht mehr leicht zu ziehen. Eberhard Kessel
und Werner Hahlweg, die in herausgehobener Stellungen die Neuausrichtung
der Militärgeschichtsschreibung der Bundesrepublik maßgeblich gestalten
sollten, sind aus Elzes Seminar ebenso hervorgegangen wie Felix Hartlaub,
der mit der Abfassung des Kriegstagebuchs des Oberkommandos der Wehr-
macht betraut werden sollte, und den Elze noch 1939 promoviert hatte. Wenn
hier kurz auf Hartlaub eingegangen wird, dann, weil die von ihm in schrift-
stellerischer Absicht privat verfaßten Tagebücher in komplementärer Weise
die Rekonstruktion der Funktion der amtlichen Kriegstagebücher ermögli-
chen.
Hartlaub hatte, noch während er zwischen dem Beruf des Schriftstellers
und dem des Wissenschaftlers schwankte - die ihm beide gleichermaßen
aussichtslos erschienen - die Einberufung ereilt. Die Versetzung von der
Front in die historische Archivkommission des Auswärtigen Amtes nach Paris
verdankte er seinem Doktorvater. Auch der anschließenden Stationierung im
umkämpften Gebiet der rumänischen Ölfelder entkam Hartlaub wieder nur
aufgrund der Intervention seines akademischen Lehrers Walter Elze. Und so
konnte Hartlaub schließlich seiner Geliebten, der immigrierten Tochter eines
russischen Generals im jüdisch oppositionellen Freundeskreis, vom Leben im
Führerhauptquartier schreiben, daß er auch alles nur „durch das Medium der
Akten"2"' sieht:
Nach der Arbeit fragst du. Über das Inhaltliche darf natürlich nichts verlauten, es
dreht sich da wirklich um das Allerdiskreteste, die großen Linien und Planungen
der obersten Führung, die hier in dem Kriegstagebuch abgehandelt werden. Ein
Denken in großen Massen und Räumen unter weitgehender Einbeziehung des
Wirtschaftlichen und Politischen mit einzelnen kleinen Verbänden und Ge-
schehnissen halten wir uns nicht gross auf.[...] Wir [...] reihen einfach gedrängte
Inhaltsangaben und Zusammenfassungen der Aktenstücke, die unmittelbar aus

Vgl. Hartlaub, Felix, „In den eigenen Umriss gebannt". Kriegsaufzeichnungen, literarische
Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945, hg. v. Gabriele Lieselotte Ewenz.
Bd. 2, Kommentar, Frankfurt/M., 2002, S. 330.
Hartlaub. Felix, Brief an Melita Laenebach vom 15.1.1943, in: „In den eigenen Umriss
gebannt". Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis
1945. hg. v. Gabriele Lieselotte Ewenz, Bd. 1. Texte. Frankfurt/M. 2002, S. 567.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 99

den Händen der geschichtemachenden Männer in unsere Mappen geflattert


kommen aneinander.280
Daß die „kriegsgeschichtliche Erhellung dieses Krieges" - der gerade stattfin-
det - einem „Kriegshistoriker" wie ihm zugemutet wurde, und nicht einem
„mit Generalstabsausbildungen versehenen Offizier"281, registrierte Hartlaub
mit Verwunderung. Eine „unglückselige Doktorarbeit über eine olle See-
schlacht"282 hatte ihn auf Betreiben von Bekannten in der „Kriegsgeschichtli-
chen Abteilung am historischen Seminar" landen lassen und nun auch in der
„Kriegsgeschichtlichen Abteilung des OKW". Hartlaub, dessen Prosa von
„fast dichterischer Einfühlungskraft"283 sein Doktorvater Elze - ein Schüler
Stefan Georges -, schon an seiner Promotion rühmt hatte, erstellte nun das
Kriegstagebuch des OKW.284 Die großen Lageberichte und Gesamtansichten
auf das Kriegsgeschehen entspringen einer kollektiven Archivarbeit, die der
laufende Krieg ständig nährt, und an deren Spitze Hartlaub stand. Er ließ sich
durch ein erhebliches Arbeitspensum jedoch nicht davon abhalten, noch ein
eigenständiges Tagebuch zu fuhren. Es versammelte Material für eine präzise
Ekphrasis der Machtapparate in den Führerhauptquartieren. Die Zeit sollte
Hartlaub nicht mehr gegeben sein, die Aufzeichnungen seines Tagebuchs zu
einem Roman über einen „Kriegstagebuchführer"285 auszugestalten. Im letzten
Kriegsmonat verliert sich seine Lebensspur in den Wirren der Berliner Häu-
serkämpfe. Weitgehend erhalten geblieben sind dagegen seine privaten Auf-
zeichnungen. Derjenige, der das Kriegstagebuch von über 18 Millionen
Wehrmachtssoldaten zu fuhren hatte, kann nur seine eigene Auflösung zum
bloßen „Schreibfinger, Leseauge, Sehkanal" registrieren.286 Gemessen an
Edmund Husserls Konzept eines inneren Zeitbewußtseins kennt Hartlaubs
Dasein im zweiten Bannkreis des Hauptquartiers nur Protentionen und Relen-
tionen, jedoch keine durch irgendwelche Intentionen noch ausgefüllte unmit-
telbare Präsenz:
Die Zeit hier, das ist eine Sache für sich, mit gewöhnlicher Zeit hat das nichts zu
tun, schon eher mit Ewigkeit. Es ist immer derselbe Tag, dieselbe [Leerraum]
Kurve und dasselbe Jahr, das alle sechs Kriegsjahre vertritt, alle Zeitpunkte des
Krieges sind hier auf einem Haufen, die vergangenen sind nicht richtig vergan-
gen und die gegenwärtigen sind nicht voll da, der Kalender wurde nur zur Ver-
ständigung mit der Aussenwelt gebraucht, zur Festsetzung von X-Tagen, Melde-

;" Ebenda, S. 568


'' Ebenda.
L
Ebenda.
Hartlaub, „ In den eigenen Umriss gebannt", Bd. 2, S. 24.
'A Hartlaubs unmittelbarer Vorgesetzter in der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Oberkom-
mandos der Wehrmacht war der Mediävist Percy Ernst Schramm.
Vgl. Marose, Monika, Unter der Tarnkappe. Felix Hartlaub. Eine Biographie, Berlin, 2005,
S. 151-152.
6
Hartlaub, Felix, „Im Dickicht des Südostens", in: „In den eigenen Umriss gebannt".
Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945, hg.
v. Gabriele Lieselotte Ewenz. Bd. 1, Texte, Frankfurt/M., [1955] 2002, S. 187.
100 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

terminen, aber hier, innerhalb des Sperrkreises gilt er nur im beschränkten Mas-
se.287
Selbst eine Explosion im Führerhauptquartier am 20. Juli 1944 reißt Hartlaub
nicht aus der Arbeitsroutine. Erst ein im nachhinein entworfenes und dann
verworfenes Gedicht läßt „die Erde eine einzige Sekunde lang in ihrer Dre-
hung" innehalten,288 während das Tagebuch einräumt „beim Hören des Knal-
les nichts dergleichen empfunden zu haben, das musste zugegeben werden."
289
Eine vereinzelte Explosion im Krieg kann alles mögliche bedeuten: ein
Reh, das in ein Minenfeld gelaufen ist, ein Diktator, dessen Blut sich über
Generalstabskarten ergießt.250 Der Sinn im Krieg läßt auf sich warten - wenn
er sich denn überhaupt einstellt.

6. Führerprinzip

Sache der Historiographie des Krieges ist, dem versprengten soldatischen


Subjekt ein leviathaneskes Gesamtbild zu liefern, das aus der idiotäischen,
eigensinnigen Perspektive nicht zu gewinnen ist. So wenig das soldatische
Subjekt für sich besteht, so wenig bekommt es das laufende Kriegsgeschehen
zu fassen. Die Momente des Krieges gehen vielmehr vollständig in Retentio-
nen und Protentionen auf; so wird die vergangene Schlacht allein und zuerst
rekonstruiert, um handlungsanweisend für die künftige zu werden. Der an
Kriegsspielen ausgebildete Soldat ficht deshalb in einer laufenden Schlacht
längst vergangene Schlachten, und zwar so, wie diese eigentlich hätten verlau-
fen sollen. Gleichzeitig wird die gerade laufende Schlacht erst in Erscheinung
treten, wenn sie für die kommende Schlacht zur Planungsgrundlage wird. Paul
Virilio, der seinen Militärdienst als Kartograf leistete und seinen Einsatz im
Algerienkrieg seine Universität nannte,21" hat sehr hellsichtig die zeitliche
Dimension des Kriegsspiels erkannt und die von ihm umrissene Dromoskopie
als Lehre von der Fluchtgeschwindigkeit zu einer ,,hochentwickelte[n] Form
des Kriegsspiels" erklärt, „bei dem sich die militärischen Praktiken des Füh-
rungsstabes ständig vervollkommnen". Der Dromoskopie ist die „Version

287
Ebenda, S. 191-192.
288
Ebenda, S. 187.
^ Ebenda, S. 188.
m
Tatsächlich schützte der Kartentisch, an dem Stauffenberg seine mit Sprengstoff und Zeit-
zünder präparierte Tasche zurückließ, Hitler vor der Hauptwucht der Explosion. So war nicht
dessen Blut an den „zerfetzten blutigen Karten", die Hartlaub angeboten wurden - wobei der
Überbringer komentierte: „auf so etwas [...müsse] die Kriegsgeschichte doch größten Wert"
legen. Hartlaub, ebenda, S. 188.
1
Vgl. Kirchmann, Kay, Blicke aus dem Bunker. Paul Virilios Zeil- und Medientheorie aus der
Sicht einer Philosophie des Unbewußten, Stuttgart 1998, S. 16.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 101

einer Welt" eigen, „die untergeht, sobald sie wahrgenommen worden ist".2'2
Mit Virilios Theorie der Dromoskopie läßt sich erklären, wie die zunächst von
den Siegermächten auferlegte Beschränkung der Reichswehr auf ein Hundert-
tausendmannheer letztlich zu einem gewaltigen strategischen Potential führen
konnte. Über Jahre virtuell durchgespielte Aufrüstungs- und Angriffsmaß-
nahmen bieten dem Gegner weder politisch noch militärisch konkrete An-
griffspunkte und Möglichkeiten, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Dabei wird
gerade die Entwicklung der Befehlsgewalt forciert, die allein als Schlüssel zur
Schaffung von Tatsachen übrig bleibt. Einerseits ist dabei die Befehlsgewalt
vom Status des Virtuellen ausgenommen, andererseits läßt auch sie sich virtu-
alisieren, indem Befehlsstrukturen regeln, wie und wann die Befehlsgewalt
von einem Subjekt zum nächsten übergeht und so nicht nur für die Ausbrei-
tung eines Befehls, sondern auch der Befehlsgewalt selber sorgt. Virtualisierte
Befehlsgewalt ist deshalb anbefohlene Befehlsgewalt, die mit dem Komplex
fertig werden muß, gleichzeitig Befehlen zu gehorchen wie auch das Befehlen
zu beherrschen.
Derartige Befehlsstrukturen setzten einen bestimmten Führertypus voraus.
Auch daran ist in Walter Elzes „Kriegsgeschichtlicher Abteilung" an der
Friedrich-Wilhelms-Universität gearbeitet worden - und zwar noch vor der
Errichtung des nationalsozialistischen Führerstaats. Mit Friedrich von Co-
chenhausen, der sich im April 1932 für zwei Semester am historischen Semi-
nar der Berliner Universität einschrieb,2"' fand sich zu Übungen der Kriegsge-
schichtlichen Abteilung ein Teilnehmer ein, dem in Fragen der militärischen
Ausbildung nichts mehr beizubringen war. Vor dem ersten Weltkrieg war
Cochenhausen bereits Lehrer an Artillerie- und Ingenieur-Schulen gewesen,
während des Krieges zum Großen Generalstab abkommandiert worden, und
nach 1920 als Referent des Reichswehrministeriums in der Heeres-
Ausbildungs-Abteilung (T4) tätig. Mit Cochenhausen, der zum General der
Artillerie berufen, wie zum Dr. phil. promoviert wurde,2'4 schwinden klare
Lehrer-Schüler-Verhältnisse ebenso wie Grenzen zwischen militärischen
Ausbildungszielen und sogenannten akademischen Bildungsidealen. Bevor
Cochenhausen in Elzes historischer Abteilung eine kurze Abhandlung über
den österreichischen Generalstabschef Conrad von Hoetzendorf verfaßte,2"5

Virilio, Paul, Der negative Horizont. Bewegung - Geschwindigkeit - Beschleunigung, übers,


aus. d. Franz. v. Brigitte Weidmann, München, Wien, 1989, S. 142-143.
Laut Auskunft des Archivs der Humboldt-Universität zu Berlin.
Vgl. Hildebrand, Karl Friedrich, Die Generale der deutschen Luftwaffe: 1935 - 1945; die
militärischen Werdegänge der Flieger-, Flakartillerie-, Fallschirmjäger-, Luftnachrichten-
und Ingenieur-Offiziere einschliesslich der Arzte, Richter, Intendanten und Ministerialbeam-
ten im Generalsrang, Bd. 1, Osnabrück, 1990, S. 161-162. Das Archiv der Humboldt-
Universität konnte nicht ermitteln, daß Cochenhausen an der Friedrich-Wilhelms-Universität
promoviert wurde.
von Cochenhausen, Friedrich, „Conrad von Hoetzendorf. Eine Studie über seine Persönlich-
keit", in: Schriften der kriegsgeschichtlichen Abteilung im historischen Seminar der Fried-
rich-Wilhelms-Universität Berlin, Berlin, 1934.
102 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

hatte er im Reichswehrministerium junge Reichswehroffiziere zur Mitarbeit


an der Schrift „Führertum" angeregt und sie herausgegeben.296 Unmittelbar
nach seinem kurzen Engagement am historischen Seminar gab Cochenhausen
als „Führerschulung" eine Anleitung zur Leitung für Planübungen und
K_riegsspielen samt geeignetem Spielapparat heraus.297
Ein Werdegang wie der von Cochenhausen zeigt, wie sehr Michel Foucault
irrte, wenn er davon ausging, daß „das Erwachen der beiden Friedriche und all
derer, die die Führer der Nation gewesen sind," stattfand, um „den Staatsras-
sismus in einer ideologisch-mythischen Landschaft funktionieren zu las-
sen."298 Denn die einschlägigen militärischen Quellen der Weimarer Endzeit
geben zu erkennen, daß der Begriff des „Führers" ein militärisch-technischer
Terminus ist, mit einer ganz bestimmten Funktion: Im Begriff des „Führers"
ist die Differenz von Machtanspruch, Machtausübung und Machtteilhabe
suspendiert, um eben diese Trinität situationsgebunden zu regeln.
So wird die Bezeichnung „Führer" schon in den Anfängen der Reichswehr
zum Schlüsselbegriff und fällt damit in die Zeit der ersten deutschen Demo-
kratie. Sie steht für eine spezifische Organisationsform, die Hitler selbst vom
„Leistungs- und Führerprinzip"299 der Wehrmacht hat reden lassen. Nach dem

296
Groener, Wilhelm (Hg.), Führertum. 25 Lebensbilder von Feldherren aller Zeiten, Auf
Veranl. d. Reichswehrniin, Dr. Groener, bearb. v. Offizieren d. Reichsheeres und zusammen-
gestellt von Generalleutnant von Cochenhausen, Berlin 1930. Unter den beitragenden Reichs-
wehroffizieren ist auch Schmitts guter Bekannter Hrich Marcks. In seinem Führer-Lebensbild
heißt es: „Er hatte früh aufgehört, die Menschen zu lieben; er durchschaute sie, und die
Kleinheit und Niedrigkeit der Gesinnung, die er bei so vielen kennengelernt hatte, setzte er
bald bei allen voraus. Wer ihn kannte, liebte ihn nicht; aber alle unterlagen bald der bezwin-
genden Kraft, die von ihm ausging. Noch war seine Gestalt hager, sein Gesicht gelblich und
eckig, aber die Sicherheit seines Wesens imponierte, und aus seinen grauen Augen loderte die
Flamme des Genius. Mit vollendeter Kunst wußte er die Menschen zu behandeln: ihre Triebe,
Vaterlandsliebe und Ruhmsucht, Ehrgeiz und Geldgier, Liebe und Furcht waren ihm wie ein
Instrument, das er nach Belieben zu spielen verstand. In vollendetem Maße beherrschte er die
Gemüter seiner Soldaten. Ihre edlen und niederen Leidenschaften wußte er so völlig in seinen
Dienst zu stellen, daß bald an die Stelle der ,Bürgertugend' das Streben nach militärischem
Heldentum, an die Stelle des Ideals der Republik der Kult seiner Person trat." Die Rede ist
nicht etwa von einem Zeitgenossen, sondern von - Napoleon!
von Cochenhausen, Friedrich, Anleitung fiir die Anlage und Leitung von Planübungen und
Kriegsspielen, Berlin, 1934.
2 8
Foucault, Michel. Vom Lichte des Krieges zur Geburt der Geschichte, (Vorlesung vom 21.
und 28.1. 1976 am College de France), übers, v. Walter Seiner, Berlin, 1986, S. 52. Hervor-
hebung im Orginal.
2
Zitiert nach van Creveld, Kampfkraft, S. 178.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 103

Zweiten Weltkrieg griffen erst die Streitkräfte der Vereinigten Staaten die
Doktrin des Leistungs- und Führerprinzips auf, dann ihre Wirtschaftsführer.3m
Mit der geläufig gewordenen Gleichsetzung von Führertum und Führerkult
droht dagegen eine Sprachregelungsmaßnahme des Propagandaministers des
„Dritten Reiches", sich im nachhinein eine Geltung zu verschaffen, die sie so
uneingeschränkt nie bestanden hatte. Jeden, der nur danach fragt, belehrt eine
so einschlägige Quelle wie das von v. Cochenhausen 1936 herausgebene
Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften unter dem Stichwort „Füh-
rertum" eines besseren: „Zum Führer sind nicht nur die berufen, denen die
Natur reiche Gaben schenkte. Jeder kann vielmehr ein brauchbarer Führer
sein."301 Was hier beschworen wird, ist nicht eine charismatische Führerge-
stalt, der sich die Masse unterwerfen, sondern eine, die die Masse in ihren
eigenen Reihen herausbildet um noch unausgeschöpfte Potenziale der Selbst-
organisation zu erschliessen.
Um den Bedeutungs- und Funktionswandel, den die Bezeichnung „Führer"
durchläuft, zu erfassen, lohnt sich also der Blick in die militärischen Handbü-
cher von Moltke dem Älteren an bis in die 30er Jahre. Als Führer werden
Soldaten bezeichnet, die situationsbedingt ein Kommando übernehmen und es
mit Erledigung ihres Auftrags wieder abgeben. Ihre Autorität kommt ihnen
von außen zu. Sie sind die Begünstigten des Ausnahmezustands. Weder kön-
nen sie ihre Machtbefugnis allein von ihrer Person ableiten, noch auf Dauer
sicherstellen. Die Bezeichnung „Führer" hilft zudem während der militäri-

ln einer Publikation der American Management Association über ein Wirtschaftsspiel, das als
das erste überhaupt angesehen wird, heißt es: „In the war games conducted by the Armed
Forces, command officers of the Army, Navy, and Air Force have an opportunity to practice
decision making creatively in a myriad of hypothetical yet true-to-life competitive situations.
Moreover, they are forced to make decisions in areas outside their own speciality; a naval
Communications officer, for example, may play the role of a task force Commander. Why
then, shouldn't businessmen have the same opportunity? Why shouldn't a vice president, say,
in Charge of advertising have a chance to play the role of Company President for fun and for
practice? Why not a business ,war game', in which teams of executives would make basic
decisions of the kind that face every top management-and would see the results immediately?
From these questions grew AMA's Top Management Decision Simulation. After an explora-
tory visit to the Naval War College, a research group was formed and work began on a game
which would eventually become part of an AMA course in decision making. This in turn, it
was hoped, might lead to a sort of ,war College' for business executives." Franc M. Ricciardi
et al., Top Management Decision Simulation: The AMA Approach. hg. v. Elizabeth Marting,
New York, 1957, S. 59. IBM und Mackinsey&Company waren dann die ersten, die die Wirt-
schaftsspiele einerseits auf Rechnern und andererseits in Papierform implementierten. Vgl.
Cohen, Kaiman J. und Eric Rhenman, „The Role of Management Games in Education and
Research", in: Management Science, Bd. 7, Nr. 2, 1961, S. 131-166. Für einen allgemeinen
Oberblick siehe: Hausrath, Alfred H„ Venture Simulation in War, Business, and Politics,
New York, 1971.
von Cochenhausen, Friedrich, „Führertum", in: Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissen-
schaften. Herausgegeben im Auftrage der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehr-
wissenschaften und unter Mitarbeit umstehend aufgeführter Sachverständiger von Hermann
Franke: Wehrpolitik und Kriegsführung, Bd. 1, Berlin, Leipzig, 1936. S. 102-103, hier
S. 102.
104 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

sehen Ausbildung über den prekären Umstand hinweg, daß gerade in Kriegs-
spielen zur Einübung Positionen eingenommen werden, die auszufüllen Offi-
ziersanwärtern und Offizieren ihrem Rang nach nicht zusteht. Auf Kriegs-
spielfibeln findet sich deshalb mitunter der Satz: Das Kriegsspiel ist nur so
gut wie sein Führer. Bei Cochenhausen zeichnet sich folglich ab, wie ein nur
mäßig positiv besetzter Begriff eine neue funktionale Autladung erfährt und
zur kollektiven Verinnerlichung drängt. Beschränkte sich die Rolle des Füh-
rers zunächst auf eine bestimmte Situation und war dem Führer seine Ersetz-
barkeit immer bewußt, so entwickelt sich nun jenes eskalatorisches Momen-
tum, daß jeder Ausnahmezustand, und nur dieser, die Möglichkeit mit sich
bringt, diesen Zustand zu erhalten und damit die einmal errungene Befehls-
gewalt.
Später, während des Zweiten Weltkrieges, sind es die in Ausnahmesituati-
onen gezeigten Führungsqualitäten, die ungeachtet des Dienstsalters mit
Auszeichnungen und Beförderungen honoriert werden.303 Da Beförderungen
nicht nach einem vorgezeichneten Schema erfolgen, erhält jeder militärische
Rang seinen Wert vor allem durch die Möglichkeit, einen noch höheren zu
erreichen. Mit anderen Worten: Militärs werden durch Ausnahmezustände
zum Führen getrieben.
Da Führer in Ausnahmesituationen unmittelbar aus dem Kreis ihrer Gefolg-
schaft hervortreten müssen, dürfen ,,Unterschied[e] der Dienstgrade'"0' nicht
allzuschwer ins Gewicht fallen. Vielmehr muß sogar dafür gesorgt werden,
daß Offiziere unterschiedlicher Ränge für Führungsaufgaben- und Situationen
gleichermaßen gut gerüstet sind. Der gemeinsame Wirkungsbereich splittert
sich dabei auf in solche mit wechselseitigen, wenn auch nicht gleichwertigen
Abhängigkeiten: „Je größer der Wirkungskreis des Führers ist, um so weniger
vermag er alles zu überblicken. Er braucht Unterführer, denen er Aufträge
gibt. Arbeitsteilung ist wesentlich."304 Die Ausbildung von Führergehilfen
verlangt deshalb danach, die „Entschlüsse der Führer und Unterführer [...]
nach der Lage oder dem Eindruck, unter denen diese handelten [zu beurtei-
len]. Es ist wichtig festzustellen, ob die vom Auftrage abweichenden Ent-
schlüsse im Sinne des höheren Führers lagen".3"5 Führergehilfen haben sich
während ihrer Ausbildung in diese rekursive Funktion aus Unterführer, Füh-
rer, höherer Führer hineinzudenken, an deren Ende jener Führer und Reichs-
kanzler stand, der immer weniger Wert darauf legte, seinen zweiten, verfas-
sungsrechtlich eingeräumten Titel überhaupt noch zu führen.

Laut Martin van Creveld unterschied sich das deutsche Heer in dieser Hinsicht wesentlich
von den Streitkräften der USA. Vgl. Creveld, Kampfkraft, S. 128-144.
Cochenhausen, Führertum, S 102.
Ebenda, S. 103.
von Taysen, Adalbert, „Führerausbildung", in: Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissen-
schaften: Wehrpolitik und Kriegsflihrung, Bd. 1 Herausgegeben im Auftrage der Deutschen
Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften und unter Mitarbeit umstehend aufge-
führter Sachverständiger von Hermann Franke, Berlin, Leipzig 1936, S. 97-102, hier S. 99.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 105

Josef Goebbels mag unter Rückgriff auf die Lehren der führenden „Mar-
kentechniker" seiner Zeit30* die Bezeichnung „Führer" als Monopol für die
Person Hitlers geschaffen haben307 - allerdings keineswegs aus einem „mehr
oder minder naturwüchsigen Beiwort".308 Die sprachpolitische Dimension, die
sich hier auftat, ist gewaltiger. Per Propagandaministerium zu verfügen, daß
Wendungen wie „Führer des Betriebs" unterbleiben sollen, und allenfalls
Wörter wie „Betriebsführer" toleriert werden, ist eine Seite. Daß Goebbels'
Sprachregelung jedoch an Grenzen stieß, die andere. Hitler wußte darum:
Wenn heute begriffliche Überschneidungen aufträten, es z.B. unter Fotografien
heiße: „neben dem Führer der Oberführer soundso, sein Adjutant" [...] so spiele
das keine Rolle, so lange er lebe. Wenn er aber einmal nicht mehr sei, müsse
man das ändern und den Ausdruck „Führer" zu einem einmaligen Begriff erhe-
ben. Schließlich falle es ja keinem Menschen ein, den Straßenbahn-Führer als
Straßenbahn-Kaiser zu bezeichnen.309
Daß der „Führer" neben dem „Oberführer" rein nominal betrachtet kein gutes
Bild für die Nachwelt abgibt, haben die Nationalsozialisten mit ihrer Sprach-
regelung selbst verursacht. Denn bevor Goebbels „den Ausdruck ,Führer' zu
einem einmaligen Begriff'310 erhob - die ursprüngliche Idee ging indes auf
Reichsarbeitsführer Hierl zurück3" - verwendeten die bewaffneten Formatio-
nen der nationalsozialistischen Partei die Bezeichnung „Führer" durchgängig
in der Bezeichnung ihrer Dienstgrade.312 Die Reichswehr hatte im Unterschied
dazu, bis auf wenige Ausnahmen, nur im internen Sprachgebrauch von Füh-
rern gesprochen, wenn auch, wie schon erwähnt, ausgiebig.313 Auch nach der
Wandlung der Reichswehr zur Wehrmacht war informell weiter von „Füh-
rern" die Rede, während offiziell die Nomenklatur des preußischen General-
stabs wieder zum Zuge kam.314 Es steht zu vermuten, daß mit den nationalso-
zialistischen Formationen nicht bloß eine interne Bezeichnung der Reichs-
wehr aufgegriffen und nun zum offiziellen Namensbestandteil ihrer Dienst-
grade erhoben wurde, sondern mit ihr vor allem das Prinzip des rasanten
Wachstums. Schließlich hatte die Reichswehr gerade erst vorgemacht, wie

306
Voigt, Gerhard, „Goebbels als Markentechniker", in: Warenästhetik. Beiträge zur Diskussi-
on, Weiterentwicklung und Vermittlung ihrer Kritik, hg. v. Wolfgang Fritz Haug, Frank-
furt/M., 1975, S. 231-260.
307
Vgl. ebenda, S. 250-251.
308
Ebenda.
309
Ebenda, S. 249.
310
Vgl., ebenda, S. 249.
311
Vgl. ebenda, S: 259.
312
Die Dienstgrade der Schutzstaffel erstreckten sich bekanntlich vom „Reichsführer" Himmler,
über den „Obergruppenführer", „Oberführer", „Obersturmbannführer", „Standartenführer"
und so fort bis herab zum „Rottenführer".
Einzige Ausnahme im Sprachgebrauch der Reichswehr: Der „Führergehilfe" beim General-
stab, der sich in der Ausbildung zum Generalstabsofftzier (ia) befand.
So war zum Beispiel war vom Generalstab in allen möglichen Verbindungen wieder die Rede
oder vom Generalquartiermeister.
106 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

Unterführer an die Aufgaben von Führern, und Führer an die von Oberführern
usw. heranzuführen sind, um ein Heer schlagartig zu vervielfachen. Daß
Goebbels durchgesetzt habe, das Wort „Führer" als Titel für eine einzige
Person zu reservieren, ist eine Legende, deren Dauerhaftigkeit wohl Goebbels
eigentliche Propagandaleistung darstellt.
Das Dilemma, das die Bezeichnung „Führer" birgt, kommt in der Meldung
zum Ausdruck, die der Verschwörerkreis um Claus von Stauffenberg nach
einem geglückten Anschlag auf Hitler an die Wehrkreiskommandeure hätten
funken sollen: „Der Führer Adolf Hitler ist tot."' 5 Dieser Verlautbarung sollte
eine Meldung folgen, die den Eindruck erweckte, Hitler sei einem Macht-
kampf innerhalb seiner eigenen Partei zum Opfer gefallen. Darauf war der
allen Wehrkreiskommandos zugegangene Plan gegen innere Unruhen per
Losungswort „Walküre" umzusetzen. Auch wenn - abgesehen von Hitler
selbst - einzig Generaloberst Friedrich Fromm berechtigt war, die Losung
auszugeben, so konnte Stauffenberg als sein Vertreter zumindest per Fern-
schreiben von dem Losungswort gebrauch machen. Militärische und wirt-
schaftliche Anlagen, Nachrichtenzentren, Transportanlagen usw. wären dann
im Sinne des Plans durch ein Ersatzheer zu sichern gewesen.316 Die Verschwö-
rer haben sich, mit anderen Worten, auf
den absoluten Gehorsam ihrer Untergebenen und Kameraden verlassen und ver-
sucht, nicht gegen den Militärapparat, sondern durch ihn ihre hochverräterischen
Ziele zu verfolgen.3'7
Mit der Verkündung des Todes des Führers hätten ausgerechnet die Ver-
schwörer ein letztes Mal im Namen einer unteilbaren Befehlsgewalt sprechen
wollen, um das ältere Führerprinzip wieder einzusetzen.1'8 Denn gerade dieses
sah beim Tod eines Führers die Situation gegeben, die notgedrungen und
spontan einen neuen Führer einzusetzen erforderte.
Allein im Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften von 1936 wer-
den die gegenstrebigen Fügungen offensichtlich, die in der Bezeichnung
„Führer" zusammentreffen: Im von Carl Schmitt verfaßten Beitrag läuft die
Entwicklung - politisch aufgefaßt - auf den „nationalsozialistischen Führer-

515
Finker, Der 20. Juli 1944, S. 239.
3,6
Ebenda, S. 239.
317
Page, Helena P., General Friedrich Ulbricht. Ein Mann des 20. Juli, Bonn, Berlin, 1989, S.
190-191. Hervorhebung im Original.
18
Im Fall von Stauffenberg ist es nicht einmal eine ältere Führungstechnik, die die neuere
aufzuheben hat, sondern der geheimbündlerische Schwur auf Georges „Geheimes Deutsch-
land", der den Bruch des Treueids auf den „Führer und Reichskanzler" legitimiert und for-
dert. Daß schon George „die Rolle der Poesie [im Politischen] überschätzt" haben könnte, so
der Dichter Thomas Kling (mit Ernst Osterkamp), kam Stauffenberg nicht in den Sinn. Vgl.
Kling, Thomas, Auswertung der Flugdaten, Köln, 2005, S. 65.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 107

Staat" hinaus,119 und in Cochenhausens militärisch operativer Einlassung auf


ein Führerheer. Der Zusammenschluß im Kollektivsingular von Staat und
Heer gründet auf ein System der Selbstähnlichkeiten und der Arbeitsteiligkeit,
bei dem prinzipiell jeder - in der Praxis ab einem gewissen Rang - auch die
Position des anderen einnehmen können muß. Nichts anderes formulierte
Hitler in seiner Rede vor dem Reichstag zu Beginn des Zweiten Weltkriegs:
Ich will jetzt nichts anderes sein, als der erste Soldat des Deutschen Reiches! [...]
Sollte mir in diesem Kampf etwas zustossen, dann ist mein erster Nachfolger
Parteigenosse Göring. Sollte Parteigenossen Göring etwas zustossen, ist der
nächste Nachfolger Parteigenosse Heß. Sie würden diesem dann als Führer ge-
nauso zu blinder Treue und Gehorsam verpflichtet sein wie mir!
Für den Fall, daß auch Parteigenosse Heß etwas zustoßen sollte, werde ich durch
Gesetz nunmehr den Senat berufen, der dann den Würdigsten, d.h. den Tapfers-
ten, aus seiner Mitte wählen soll.520
Der Machtapparat gründet nicht mehr auf einer Ämterhierarchie, in der sich
die Macht von einer Spitze her bis zu einer breiteren Basis mit zunehmender
Beschränkung verteilt, sondern sie definiert sich durch einen Zirkel der Erset-
zungen, die allein durch Ausnahmefälle ausgelöst und angetrieben werden.
Zum Staatssouverän wird nicht einfach, wer im Ausnahmefall das Sagen
behält, sondern Souverän wird man nunmehr überhaupt nur im Ausnahmezu-
stand.

7. Befehlsketten

Bis zu Seeckts Übernahme der Heeresleitung kurz nach dem Ersten Weltkrieg
hat immer das ungeschriebene Gesetz gegolten, daß allein kriegserfahrene
Offiziere das Feuer der Wehrhaftigkeit und die Angriffslust weitertrugen.
Friedenszeiten, die länger währten als 25 Jahre, versetzten den Generalstab in
Alarmbereitschaft, weil nun die dienstältesten Offiziere, die im jeweils letzten
Krieg noch mitgekämpft hatten, aus dem aktiven Dienst ausschieden. Seeckt
jedoch, dem der Versailler Vertrag beim Aufbau der Reichswehr nicht mehr
als 4000 Offiziere einzusetzen zugestand, entließ gegen erhebliche Wider-
stände vor allem kampferprobte und -bewährte Kommandanten und zog über-
proportional viele Offiziere aus den Planungsstäben des Generalstabs zusam-
men. Eine Autorität, die sich auf Kriegserfahrung und damit auf einen Aus-
nahmezustand berief, konnte von Untergebenen, die über solche Erfahrungen
nicht verfügten, nicht untergraben werden. Anders verhielt es sich in einer

Schmitt, Carl, „Politik", in: Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften: Wehrpoiitik


und Kriegsführung, Herausgegeben im Auftrage der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik
und Wehrwissenschaften und unter Mitarbeit umstehend aufgeführter Sachverständiger von
Hermann Franke, Bd. 1, Berlin, Leipzig 1936, S. 547-549, hier S. 549.
Hitler zitiert nach Domarus, Max, Hitler Reden und Proklamationen 1932-1945 Untergang,
Erster Halbband 1939-1940, Bd. 2, München, 1965, S. 1316.
108 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

Armee, die konsequent auf Ausbildung und Planübungen setzte. Mit der
geglückten Übermittlung taktischen und strategischen Wissens gleicht sich
auch das Niveau autoritärer Macht zwischen Ausbilder und Auszubildendem
an und geht schließlich, da Wissens- und Planungsvorsprünge ihr alleiniges
Maß sind, leicht verloren. Und nicht nur das Wissen geht auf den Untergebe-
nen über, sondern auch das Wissen um die Technik seiner Übermittlung und
Gewinnung.
Ein Heer von Ausbildern bildete nicht nur Offiziere, sondern auch Offi-
ziersausbilder aus. Wer aufrückte, nahm deshalb nicht bloß die Position seines
Vorgesetzten ein, sondern offiziell auch eine Funktion, die er zuvor virtuell
schon durchzuspielen hatte. Insbesondere im Kriegsspiel fand Seeckt für sein
Führerheer ein Medium zur kriegerischen Entfaltung, das Autoritäten nicht
desavouierte:
Die Fuehrergehilfen mussten in staendigem Wechsel als Leitende und Fuehrer
taetig sein. In jedem Ausbildungsjahr auf der Kriegsakademie hatte jeder kom-
mandierte Offizier mindestens ein Kriegsspiel und eine Gelaendebesprechung
anzulegen und zu leiten.321
Während jeder einzelne angehende Generalstabsoffizier die Rolle seines
Vorgesetzten, sowohl als Spielleiter als auch in seiner realen Befehlsfunktion
zu übernehmen hatte, wurden die Truppenverbände insgesamt nach gleichem
Prinzip geschult:
Fuer die Einteilung der Teilnehmer mag als Norm dienen: Jeder Fuehrer fuehrt
im Spiel den gleichen Verband, den er tatsaechlich fuehrt oder den naechsthoeh-
reren, also z.B.:

ein junger Bataillonskommandeur ein Bataillon,


ein aelterer " ein Regiment,
ein junger Regimentskommandeuer ein Regiment,
ein aelterer " eine Division usf.322
Doch nicht nur die entscheidenden Offiziere im Kriegsspiel erproben sich in
der Funktion ihres eigenen und höheren Ranges, sondern auch der vollständi-
ge Truppen verband:
Der Rahmen des Spieles wird zwecksmaessig so gewaehlt, dass er um eine Stufe
hoeher ist als der Verband des Stabes bei dem gespielt wird, also:
beim Bataillon ein Spiel im Regiments-Rahmen,
beim Regiment ein Spiel im Divisions-Rahmen,
bei der Division ein Spiel im Korps-Rahmen.323

1
Fangohr. „Beitrag zur Studie ueber Zweck und Art der Durchfuehrung von Kriegsspielen".
Bl. 83.
List, „Beitrag zu einer Abhandlung ueber den Zweck und die Art der Durchfuehrung von
Kriegsspielen im deutschen Heer", Bl. 157.
3
Ebenda, Bl. 154.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 109

Der Militärhistoriker Martin van Creveld ist der Frage nachgegangen, warum
die Wehrmachtskräfte im Vergleich mit amerikanischen und anderen Armeen
bei Aufbietung einer gleich groß zugrundegelegten Menge an Mann und
Waffen in der Regel „um 20 bis 30 Prozent effektiver waren als die britischen
und amerikanischen Kräfte, die ihnen gegenüberstanden" und zwar unabhän-
gig davon, ob die Schlachten insgesamt mit einer Über- oder Unterzahl an
Truppen geführt wurden.324 Ein Teil seiner Antwort lautete, daß die Auftrags-
taktik der Wehrmacht, die Art und Weise der Ausführung einer Mission den
jeweils rangniedrigeren Führern überließ und sie mit aller dazu notwendigen
Befehlsgewalt ausstattete. Unvorhergesehene Situationen oder gar der Ausfall
eines Truppenführers ließen sich in einem Verband, der durch „einheitliches
Denken"325 geprägt war, besser bewältigen, so van Crevelds Schluß, als von
einer Armee wie der amerikanischen, deren Kommandotechnik zwar auf sehr
präzise Befehlsgebungen und kaum zu überwindende Hierarchien setzte, die
sich aber nur schwer an veränderte Bedingungen anpassen ließ. Bei der
Reichswehr war durchaus auch die Botschaft der psychoanalytischen Bewe-
gung angekommen war:
Der Verlust des Führers [.,.] bringt die Panik bei gleichbleibender Gefahr zum
Ausbruch; mit der Bindungen an den Führer schwinden - in der Regel - auch die
gegenseitingen Bindungen der Massenindividuen.326
Doch während Anhänger der Psychoanalyse noch in der Behandlung von
Kriegstrauma nach dem Ersten Weltkrieg ein immenses Behandlungsfeld
ausmachten, waren Militärausbilder unterstützt von der Psychiatrie ihrer Zeit
längst dazu übergegangen einen Führertypus auszubilden, der schon im
Kriegsspiel und das heißt prophylaktisch auf traumatische Szenarien einge-
richtet wurde.327
In anderen Armeen war diese Sichtweise nur teilweise aufgekommen: Van
Creveld erwähnt den Fall eines amerikanischen Offiziers und Sozialwissen-
schaftlers, der in der deutschen Vorschrift zur Truppenführung darauf stieß,
„daß Führer aller Ebenen [...] gezwungen werden, ihre eigene Lage wie auch
die ihrer nächsten höheren Führungsebene zu analysieren" und dazu anmerk-
te, „höhere Führungsebene" stehe wohl aufgrund eines Schreibfehlers für
„niedrigere Führungsebene".328
In Kriegen, die um Grenzen und über sie hinweg geführt werden, entsprin-
gen Kampftechniken wohl am wenigsten einem strategischen Scharfsinn, der
Sache einer und nur einer Nation ist. Der amerikanische Offizier und Sozial-
324
Creveld, Kampfkraft, S. 7-8.
325
Ebenda, S. 43.
Freud, Sigmund, „Massenpsychologie und Ich-Analyse", in: derselbe, Gesammelte Werke,
hg. v. Anna Freud u.a.. Bd 13. Frankfurt/M. [1921] 1940, S. 71-161, hier S. 106.
Im Detail beschreibt diese diskursive Neuausrichtung der Psychiatrie Wolfgang Schaffner,
„Psychiater machen mobil durch Arbeit und Kriegsspiel. Zur Allianz von Militär und Psychi-
atrie" in: Messungen. Zeitschrift für Interpretationswissenschaften, Bd. 1, 1991, S.25-33.
328
Ebenda, S. 44-50.
110 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

Wissenschaftler, der nicht, wie angenommen, auf preußischen Kadavergehor-


sam stieß, wäre vielleicht noch überraschter gewesen, wenn er erfahren hätte,
daß eine Ordnung, die „vom jüngsten Soldaten aufwärts [...] überall selbst-
ständiges Einsetzen der ganzen geistigen und körperlichen Kraft'"29 einforder-
te, vermutlich zuerst bei hessischen Truppen auftauchte, die aus dem ameri-
kanischen Unabhängigkeitskrieg zurückkehrten.330
Doch man muß nicht bis zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu-
rückgehen, um auf das Prinzip einer Befehlsgebung zu stoßen, die situations-
bedingt, und insbesondere bei Ausfällen von Führungsstäben, möglichst jede
Einheit in den Stand versetzt, das Kommando zu übernehmen. Die US Navy
im Ersten Weltkrieg setzte, im Unterschied zu den amerikanischen Landstreit-
kräften des Zweiten, auf eben dieses Prinzip. Warren McCulloch, der als einer
der Initiatoren der Kybernetik und als Neurophysiologe von sich reden ma-
chen sollte, erfuhr von dem Prinzip als junger Marineoffizier:
[When] America joined World War 1, McCulloch, given a family history of pa-
triotism, wanted to join the Navy. He therefore moved to Yale University, where
he joined the Officers' Training Program. There he divided his time between of-
ficers' training courses and time on a ship, combining "marlin spike sailing" and
signaling by semaphore. Perhaps some of his ideas about coding in the nervous
System were shaped by his concern for coding messages and transmitting them
from ship to ship. Another idea from the World War 1 Navy, to which we will re-
turn, was what he refers to as "redundancy of potential command." in a naval
battle, there are many ships widely separated at sea, and normally command rests
in the ship with the Admiral. But if some fighting breaks out or some crucial In-
formation becomes available locally, then temporarily the ship that has that in-
formation is the one with command. This notion of redundancy of potential
command, rooted in McCulloch's experience in World War I, came in the 1960s
to yield the view that the nervous System is not to be seen as a pure hierarchy but
rather operates by cooperative computation.'31

Das Prinzip der "redundancy of potential command" eröffnet einen epistemi-


schen Raum, der zwischen Innen und Außen, Mensch und Maschine nicht
mehr streng unterscheidet. Die Modellbildungen der Kybernetik erhellen in
ihren Gleichungssystemen Mensch und Maschine jeweils wechselseitig. Das
Wissen um die Redundanz potentieller Befehlsgebung, wie es sich in See-

29
Anonymus, „Felddienstordnung von 1908", Nr. 37, zitiert nach Creveld, Kampfkraft. S. 43
;30 Ebenda, S. 43
" Arbib, Michael A., „Warren McCulloch's Search for the Logic of the Nervous System", in:
Perspectives in Biology and Mediane, Bd. 43, Nr. 2, 2000, S. 193-216, hier S. 195. Ebenso:
Arbib, Michael A., „Toward an Automata Theory of Brains", in: Communications of the
ACM, Bd. 15, Nr. 7, 1972, S. 521-527, hier, S. 525. Vgl. auch Stafford Beer, der McCulloch
nachsagt, die Kommandotechnik bis zu Nelson zurückverfolgt zu haben: Beer, Stafford,
„World in Torment. A Time Whose Idea Must Come", in: Kybernetes, Bd. 22, Nr. 1, 1993,
S. 15-43, hier S. 33. Den in diesem Zusammenhang wertvollen Hinweis auf das Konzept des
"redundancy of potential command" verdanke ich Michael S. Mahoney. Die überraschende
Erkenntnis, daß die deutschen Landstreitkräfte im Unterschied zu den amerikanischen diese
Befehlstechnik aufgriffen, verdanke ich Friedrich Kittler.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 111

schlachten manifestiert, findet sich deshalb für McCulloch in retikulären


Formationen des Hirnstammes verkörpert.332
Innerhalb der Wissenstransfers kommt dabei dem Begriff der Information
eine tragende Rolle zu. Information wird zum Maß, das sowohl menschliche
als auch maschinelle Kommunikation in „the presence of noise""3 durch
redundante Kodierungen aufrechterhält. Was dabei Signal, was Rauschen und
wer ihr Trägermedium ist, kann vorerst offen bleiben; bezeichnend ist über-
haupt die Unterscheidung dieser Größen. In Claude Shannons Kommunikati-
onstheorie ist diese Einsicht in ein mathematisches Modell eingegangen. Den
eindrücklichsten Anschauungsunterricht für das zugrunde liegende Paradig-
ma, das den theoretischen Standard des Nachkriegs vorgeben wird, referiert
Feldmarschall Wilhelm List jedoch mit Blick auf das Schlachtfeld:
Es bleibt [...] zu beachten, dass der Weg vom Kopf des Fuehrers bis zur han-
delnden Truppe weit ist, dass viel Zeit verstreicht von dem Zeitpunkt der Ent-
schlussfassung bis zur der Umsetzung in die Tat. Reibungen verschiedener Art,
Missverstaendnisse, Hoerfehler, Unterlassungen u.a., verlaengern diese Zeit.334
Für die Geburtstunde der Kybernetik hält McCulloch ein Treffen im Winter
1943-1944, das neben ihm weitere Biologen, Mediziner, Ingenieure und
Mathematiker, wie Norbert Wiener und John von Neumann zusammenbrach-
te, um von Kommunikationsweisen in lebenden Organismen auf technische
Lösungen zu schließen. Als Gegenstand der Tagung kristallisierte sich ein
fiktiver Fund heraus: „two hypothetical black boxes", von den Deutschen
erbeutet.3" Die erste Box wird geöffnet und explodiert sofort. Die zweite, die

Ebenda, S. 203.
Ebenda, S. 212.
List, „Beitrag zu einer Abhandlung ueber den Zweck und die Art der Durchfuehrung von
Kriegsspielen im deutschen Heer", Bl. 166-167.
Im Nachhinein erscheint die fiktive Annahme der erbeuteten „black boxes" auf einen spezifi-
schen Wahrheitskern hinzudeuten, den zu benennen sich aus Gründen höchster Geheimhal-
tung verbot. Unter allen erbeuteten feindlichen Kriegsgeräten kam der deutschen Chiffrier-
und Dechiffriermaschine „ENIGMA" die größte Bedeutung zu. Mit der Entschlüsselung
deutscher Funksprüche entschied sich maßgeblich der U-Boot Krieg im Atlantik. Auch wenn
es den Briten immer wieder gelang „EN1GMAS" oder Teile derselben zu erbeuten, bevor die
deutschen Besatzungen für ihre Zerstörung sorgen konnten, so liefen letztlich die Bemühun-
gen darauf hinaus, die jeweilig letzte technische Konfiguration der „ENIGMA" allein von der
Beschaffenheit der verschlüsselten Funksprüche abzuleiten. Wieners und von Neumanns fik-
tives Szenario fällt deshalb mit den tatsächlichen Anstrengungen in Bletchley Park in Groß-
britannien zusammen, wo vor allem die Mathematiker Alan Turing und Gordon Welchman
mit Hilfe sogenanter „bombs" - elektronischer SpezialComputer - die Entschlüsselung deut-
scher Marinefunksprüche vorantrieben. Die Unternehmungen der britischen Kryptologen wa-
ren zu diesem Zeitpunkt jedoch außerhalb Englands kaum bekannt. Ob von Neumann, der
sich 1943 dort aufhielt, in irgendeiner Weise eingeweiht wurde, ist fraglich. Ganz gleich nun,
ob die Erfindung der fiktiven „black box" eine hochspezialisierte Kommunikationstechnik
antizipierte oder deckte: Sie wird mit dem Aufkommen der Systemtheorie generell das Mo-
dell abgeben, an dem sich jede Form der Kommunikation messen lassen muß. Vgl. bei-
spielsweise Watzlawick, Paul, Janet H. Beavin und Don D. Jackson, Menschliche Kommuni-
kation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern, Stuttgart, Wien 1982, S. 45.
112 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT

wie die erste über „Input" und „Outpuf'-Schnittstellen verfügt, fuhrt zur
erkenntnisleitenden Frage:
This is the enemy's machine. You have tofindout what it does and how it does
it. What shall we do?"6
Norbert Wiener schlug vor, die Input-Schnittstelle mit weißen Rauschen zu
speisen: „you might call this a Rorschach". Von Neumann hielt mit „feature-
filters" dagegen.3" Letztlich einigte man sich darauf, sich in interdisziplinärer
Zusammensetzung häufiger zu treffen. Der Grund für die berühmt-
berüchtigten Macy-Konferenzen und mit ihr für die Kybernetik als neue
Leitwissenschaft war gelegt. Zwar mag heute „Cybernetics" Geschichte sein,
die Vorstellung daß Neuronen in unseren Köpfen feuern, ist dagegen nicht
bloß in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen, sondern sogar in den
Sprachgebrauch.

„Warren McCulloch's Search for the Logic of the Nervous


System", S. 200.
Es sollte nicht der letzte große Schlagabtausch zwischen beiden sein. Dieses Mal jedoch
sollen sie Arm in Arm zum Lunch gegangen sein. Vgl. ebenda, S. 200.
V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE

1. Höhere Mathematik in der Allgemeinen Kriegsschule

Kriegerische Zustände sind offensichtlich dazu angetan, Formen und Prozesse


in allen Bereichen des Lebens auf ein bestimmtes Telos auszurichten - zu-
mindest bestimmter, als friedlichere Zeiten es je könnten. Die Zuspitzung
menschlichen Lebens auf das Erreichen weniger, dafür aber umso schärfer
umrissener Ziele kommt einerseits mathematischen Disziplinen entgegen und
läßt anderseits andere Disziplinen und weitläufigere Diskurse Anschluß an
ihre rigorosen Kalküle und Verfahren suchen.
Diese Lage der Dinge läßt sich jedenfalls einem Brief entnehmen, der auf
zwei zivile für die Rüstungsindustrie jedoch entscheidende Akteure zu spre-
chen kommt:
Last week President Conant is reported to have said to President Jewett. ,The
last was a war of chemistry but this one is a war of physics.' To which President
Jewett replied: ,1t may be a war of physics but the physicists say it is a war of
mathematics.'338
Es ist also nicht die Generalität, die sich hier an eine Einschätzung des lau-
fenden Weltkrieges wagt, sondern mit James Conant, Präsident der Harvard
Universität, und mit Frank Jewett, Präsident der Bell Telephone Laboratories
und der National Academy of Sciences zwei Wissenschaftler, die beide vom
Wissenschaftsfunktionär Vannevar Bush als Führungsmitglieder zum Natio-
nal Defense Research Committee (NDRC) berufen worden waren. Unter der
Ägide dieser zivilen Forscher wird das NDRC seine größten, kriegsentschei-
denden Forschungsinitiativen auf den Weg bringen: Ein Mirkowellen-
RADAR-System und in Los Alamos das Atombombenprojekt.w Zunächst ist
folglich festzustellen, daß der Zweite Weltkrieg nicht nur ein Krieg der Mili-
tärs war, sondern auch einer der Zivilisten, und zwar nicht nur in der Rolle der
Leidtragenden, sondern auch in der der Aktivisten. Inwiefern der Zweite
Weltkrieg indes zum Krieg der Mathematiker wurde, ist schwieriger zu er-
gründen. Fallen Hochfrequenztechnik und atomare Kettenreaktion nicht in das
Ressort der Physiker, denen die Mathematik, wie komplex und innovativ sie
auch immer sein mag, nur eine Hilfswissenschaft ist?

Brief R.G.D. Richardson (Brown Univeristy Providence) an Douglas C. Jackson (MIT).


19.11.1942, in: The Institute Archives and Special Collections, MIT, NWP, Kasten 4, Ordner
62.
Vgl. Genuth, Joel, „Microwave Radar, the Atomic Bomb, and the Background to U.S.
Research Priorities in World War II", in: Science, Technology, and Human Values, Bd. 13,
1988, S. 276-289.
114 V. HÖHERF. MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE

Um dieser Frage nachzugehen, lohnt es auch hier, sich auf die Kybernetik
zu konzentrieren, deren Anfänge zurecht in der Forschung während des Zwei-
ten Weltkriegs ausgemacht werden: Die Ontologie des Lebens, die die Kyber-
netik entwirft, geht historisch gesehen zurück auf eine Ontologie des Fein-
des.340 Allerdings löst das von Norbert Wiener, dem Mitinitiator und Namens-
stifter der Kybernetik begründete Konzept der positiven und negativen Rück-
kopplung ein dichotomisch verstandenes Freund-Feind-Schema auf: Denn
nach Wiener stand im Zweiten Weltkrieg, kurz vor Gründung des Clubs der
„Teleological Society","" nichts dringlicher auf dem Programm als die Kon-
struktion eines Anti- Aircraft Predictors, der die flugphysikalischen Spielräu-
me (früher hätte man dazu Natur gesagt), die individuellen aviatischen Mög-
lichkeiten feindlicher Flugezeugpiloten und die eigene Flugabwehr zu einem
einzigen Feedback-System fusionieren sollte. Nach Wieners mathematischem
Modell, dessen Implementierung an seiner eigenen Komplexität und der
damaligen technischen Machbarkeit scheiterte, schlagen sich die drei Instan-
zen einzig als Zeitreihe vergangener Meßwerte nieder, die auf einen zukünfti-
gen Systemzustand schließen lassen. Ob dieser vorausgesagte Zustand als
Abschußposition eines Flugzeugs oder als Gefahrenzone gelesen wird, hängt
allein vom Standpunkt in Bezug auf eine Demarkationslinie ab, die nunmehr
zwischen Erde und Himmel verläuft.
Ein funktionstüchtiger Anti-Aircraft Predictor, geriete er in Feindes Hand,
könnte nicht nur als solcher eingesetzt werden, sondern auch als Anti Gun-
Fire Predictor. Durch die Feststellung dieser schlichten Asymmetrie kommt
zum Vorschein, daß Wieners System auf sich selbst angewendet werden kann,
und daß dessen Ausdifferenzierung innerhalb seiner eigenen Rahmenstellung
den widerstreitenden Parteien als Programm aufgegeben ist. Allgemeiner
gesagt, Mathematiker brachten ihr Wissen auf eine Weise in den Zweiten
Krieg ein, die nicht einfach zu neuen Waffen von größerem Destruktionspo-
tential führte; es sind keine Waffen als solche, die sie schmieden, sondern
Systeme und Plattformen, innerhalb deren Bereichen Schlachten ausgetragen
werden und die nicht wie Waffen direkt aufeinander gerichtet sind. Während
Physiker und Chemiker buchstäblich an den Materialschlachten beteiligt sind,
kommt den Mathematikern eine andere, vorgelagerte Aufgabe zu. Sie entber-
gen ganz grundsätzlich neue Schlachtfelder, indem sie Räume beherrschbar
machen, die sonst jeder Sichtbarkeit entzogen sind und an sich schon das
Leben tendenziell auf letale Weise ausschließen: Räume atomarer Strahlung,
verdunkelte und abgeschottete Räume, solche, die von Wassermassen, unwirt-
lichen Landmassen oder Lufträumen umgeben sind, und schließlich Räume,
die ob ihrer schieren Größe keine Orientierung bieten. Diese Räume werden
durch Medien erst passier-, navigier- und kommunizierbar gemacht - Medien,

' Vgl. Galison, Peter, „The Ontology of the Enemy: Norbert Wiener and the Cybernetic
Vision", in: Critical Inquiry, Bd. 21, 1994, S. 228-266.
341
Vgl. Ebenda, 242.
V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 1 15

die selbst dem Register unmittelbarer Sichtbarkeit entzogen sind: So das


Sonar, der Ultrakurzwellenfunk oder das Zentimeterwellen-RADAR. Ihnen
werden mathematisch wohldefinierte Strukturen aufmodelliert. Die Technik,
die diesen Medien ihre räumlichen und zeitlichen Struktureigenschaften
abtrotzt, ist eben nichts anderes als die Mathematik (und nicht - wie ein litera-
risch sehr beschlagener, technisch aber ahnungsloser Medientheoretiker aus
Kanada glauben machen wollte - wieder nur irgendein anderes Medium).
Mathematik ist kein Medium. Sie muß gelehrt und gelernt werden, sie muß
kommunizierbar und vor allem auch zeigbar sein. Mathematik mag sich durch
ihre Abstraktheit auszeichnen, sie verlangt trotzdem auch nach Formen der
Evidenz und Sichtbarkeit.
Sucht man nach dem Zeitmoment, in dem die Mathematik in ihrer ganzen
Abstraktheit ohne Rücksichten auf ihre Anwendbarkeit zur Entfaltung kam
und hierfür einen bestimmten, ihr gemäßen Raum einnahm, dann läßt sich
dieses, zumindest mit Blick auf die deutschen Verhältnisse, ziemlich einfach
bestimmen. Denn dokumentiert sind das Jahr und die Stunde, in der sich die
Mathematik in deutschen Landen ein letztes Mal als unvermittelbar erwies:
Franz Neumann, der noch als Begründer der mathematischen Physik in Kö-
nigsberg von sich reden machen sollte, hatte sich im Wintersemester 1817/18
nach Berlin aufgemacht. Er hoffte, daß hier anders als in Jena, daß hier Ma-
thematik gelehrt würde. Neumann hielt in seiner Vorlesungsmitschrift fest:
Der Professor kam ins Auditorium, stellte sich aufs Katheder und schrieb, mit
dem Rücken gegen uns gewendet, ununterbrochen mathematische Formeln an
die Tafel, sprach kein Wort, zeichnete weiter, bis die Zeit um war; dann machte
er uns eine Verbeugung und ging fort. Am zweiten Tage kamen nur noch drei
Zuhörer. Der Professor stellte sich wieder an die Tafel, zeichnete wieder unun-
terbrochen mathematische Formeln an dieselbe, sprach kein Wort, machte seine
Verbeugung, und die zweite Vorlesung war beendet. Den dritten Tag kam außer
mir nur noch ein Zuhörer. Der Professor erschien, ging aufs Katheder, wandte
sich zu uns und sagte: „Sie sehen, meine Herren, es kommt kein Kolleg zu stän-
de", machte seine Verbeugung und verschwand.342
Tres faciunt collegium hieß es schon auf der mittelalterlichen Universität und
daran erinnert auch Jacques Lacan: Als denkbar kleinste Einheit zur Heraus-
bildung von Intersubjektivität sind mindestens drei Leute nötig. Ihre Selbstbe-
hauptung läßt Lacan aus einem stummen Spiel mit Zeichen auf einem Ge-
fängnishof hervorgehen.543 Bemerkenswert an der Berliner Vorlesung, die
Neumann besuchte ist, daß auch sie nahezu ohne Worte auskommt. Der Pro-

Zitiert nach Lorey, Wilhelm, Das Studium der Mathematik an den deutschen Universitäten
seit Anfang des 19. Jahrhunderts (^Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in
Deutschland, Bd. 3), Leipzig, Berlin 1916, S. 31.
Vgl. Lacan, Jacques, „Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewißheit. Ein
neues Sophisma", in: derselbe, Schriften HI, hg. v. Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger,
übers, a. d. Franz. v. Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin, [1945] 1986, S. 101-121,
hierS. 119.
116 V. HÖHERE MATHEMATIK UNO NOMOS DER ERDE

fessor zählt nach drei Tagen die verbliebenen zwei Hörer ab und hebt mit dem
einzigen, zum Nachvollzug bestimmten Rechenakt die Vorlesung auf. So
endete eine der wenigen, wenn nicht die einzige mathematische Lehrveran-
staltung in deutschen Landen noch bevor sie richtig begann.
Rückblickend benötigt die Wissenschaftsgeschichte gerade einmal zwei
Sätze, um den Beginn der Institutionalisierung der Mathematik in Preußen,
das für alle deutschen Staaten den Ton angeben wird, zu bestimmen:
Die Blüte der Mathematik begann mit der durch A. v. Humboldt gegen den Wil-
len der [Berliner] Fakultät durchgesetzten Berufung von Dirichlet, der 1828 zu-
nächst an die Kriegsschule kam. [...] Dirichlet schuf die noch heute übliche Art
mathematischer Vorlesungen.344
Weniger als eine Generation nach Gustav Lejeune Dirichlet gehört die Berli-
ner Universität nicht bloß zu einer der wenigen möglichen, sondern zur ersten
Adresse für mathematische Lehre. Dafür sorgt vor allem das Triumvirat Edu-
ard Kummer, Karl Weierstraß und Leopold Kronecker. Kummer und Kron-
ecker sind Schüler Dirichlets. Dieser selbst hatte seine Geburtsstadt, das zur
preußischen Rheinprovinz gehörige Aachen noch verlassen müssen, um Ma-
thematik studieren zu können. Höhere Mathematik wurde ihm nur in Paris
gelehrt. Daß jedoch Dirichlets beispiellose Karriere als Mathematiklehrer auf
der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin begann, ist mit einer biographischen
Randbemerkung nicht zu erledigen. Denn vor allem in Dirichlets Briefwech-
seln zeichnet sich schon jene Verbindung zwischen Generalstabsausbildung
und mathematischem Seminar ab, die als tiefliegendes Sediment dem militär-
technologischen Komplex des 20. Jahrhunderts zur Basis wurde. Schließlich
fand die Mathematik in Deutschland zur Form ihrer Wissensvermittlung erst
mit Dirichlets Wirken auf der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin und erober-
te erst von dort aus die Universität.
Ebenso ist nicht als Zufall zu werten, daß Generalstabschef Karl von
Müffling sich beim preußischen König Gehör verschaffte, um auf die mißli-
che Lage bei der Vermittlung der Mathematik hinzuweisen:
Ich habe dem König gesagt, dass der Staats-Unterricht in der Mathematik bei
andern Nationen da anfangt, wo er bei uns schliesst, dass sich zwar immer Ma-
thematiker bei uns finden werden, dass aber dadurch, dass sie sich durch Selbst-
studium bilden müssen, die Leute in der Regel so schroff und einseitig werden,
dass der Staat dann am Ende keinen Nutzen von ihnen hat.'45
Daß Mathematiker wie eine seltene Spezies anzusehen sind, deren Seltenheit
sie häufig seltsam und für den Staat untauglich werden ließ, gedachte

Scharlau, Winfried und Eberhard Knobloch, „Berlin. Universität", in: Mathematische Institu-
te in Deutschland 1800 - 1945 (=Dokumente zur Geschichte der Mathematik. Bd. 5), Braun-
schweig, Wiesbaden, 1989, S. 25-48, hier S. 32.
Brief Nr. 11. Karl v. MüfTling an Bernhard v. Lindenau am 1. April 1823, in: Briefe zwischen
A. v. Humboldt und Gauß. Zum hundertjährigen Geburtstage von Gauß am 30. April 1877,
hg. v. Karl Bruhns, Leipzig, 1877, S. 11.
V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 117

Müffling zu ändern. In Alexander von Humboldt fand er seinen engsten Ver-


bündeten. Humboldts Bruder Wilhelm hatte als Chef der Sektion des Kultus
und des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Inneren die Berliner
Universität zwar auf eine neue, humanistische Basis gestellt, doch die mittel-
alterliche Einteilung der Fakultäten in Theologische, Medizinische, Philoso-
phische und Juristische ließ er unangetastet. Gar nicht mehr so neuhumanis-
tisch klingt deshalb, was Müffling der Universität und Akademie entgegenzu-
halten hatte, nachdem sein Vorhaben, eine Ecole polytechnique in Berlin zu
gründen, auf Widerstand stieß. Er fand,
dass unsere deutschen Philologen ebenso intolerant wie die Jesuiten sind, und
dass eine Verbrüderung stattfindet, die Mathematik nicht aufkommen zu las-
sen.346
Mit deutschen Philologen war also kein Staat zu machen. Dabei sahen
Müffling und Humboldt nicht nur die Gründung einer Ecole polytechnique
nach Pariser Vorbild vor, sondern sie bemühten sich, Carl Friedrich Gauß,
Deutschlands Mathematikerfürsten, dem Königreich Hannover abzuwerben.
Noch Jahrzehnte später klingt in einem Brief von Humboldt an Gauß an, daß
man nicht allein vorgehabt hatte, ihn für die Berliner Universität oder die
preußische Akademie zu verpflichten, sondern geopolitisch für „sein Vater-
land".347
Für einen Moment schien Müfflings und Humboldts Plan, Gauß zu berufen,
auch aufzugehen. Müffling - von König Friedrich Wilhelm 111. autorisiert -
kümmerte sich um Gauß' Forderungen und versprach, den Berufungsvorgang
streng geheimzuhalten.348 Und Alexander von Humboldt nutzte die
7. Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte in Berlin als vorder-
gründigen Anlaß, um Gauß schon einmal vorab nach Berlin einzuladen. Man
frühstückte zuhause bei Humboldt, der neben Dirichlet so prominente For-
scher wie Charles Babbage dazubat. Der Erfinder „der Maschine, die rechnet
und druckt",349 so ließ Humboldt Gauß wissen, „freut sich unendlich Ihrer
Ankunft."350 Gauß, eigentlich für seine Nüchternheit bekannt, schwärmte in
seinem Dankesbrief an Humboldt von den glücklichsten Tagen seines Lebens.
Dann beging Müffling einen taktischen Fehler. Auf Gauß' Forderung, von
Lehrtätigkeiten an der Universität befreit zu werden, ging er zwar ein; doch
schätzte er falsch ein, daß Gauß Gefallen daran finden würde, „grossen Ein-
fluss auf das ganze mathematische Unterrichtswesen des Staats" und das noch

Ebenda. S. 10.
Brief Nr. 38, Alexander v. Humboldt an Carl Friedrich Gauß am 12. Juli 1849, ebenda, S. 55.
Brief Nr. 7, Karl von Müffling an Carl Friedrich Gauß am 14. April 1821, ebenda, S. 8.
Brief Nr. 15. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 16. Sept. 1828, in: Briefwechsel
zwischen Alexander von Humboldt und Peter Gustav Lejeune Dirichlet. übers, aus dem
Franz. und hg. v. Kurt-Reinhard Biermann, Berlin, 1982, S. 49.
Brief Nr. 21, Alexander v. Humboldt an Carl Friedrich Gauß am 8. Sept. 1828, in: Briefe, hg.
v. Bruns, S. 22.
118 V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE

zu gründende polytechnische Institut zu nehmen.151 Gauß sah lediglich „Mi-


nisterialgeschäfte" auf sich zukommen, was seiner einzigen mit Nachdruck
gestellten Forderung nach möglichst großem „Spielraum für eigene Arbei-
ten"3" widersprach. Während Preußen in eine Verhandlungskrise geriet,
reagieren die Statthalter des englischen Königshauses in Hannover unverzüg-
lich und banden Gauß weiterhin an Göttingen durch die Zusage, ihn noch
stärker zu unterstützen.
Zwar sollte am Ende auch die polytechnische Schulgründung scheitern,
doch Alexander von Humboldt hatte vorgesorgt. Auf das Frühstück mit Di-
richlet, Gauß und Babbage folgte eine Woche später ein weiteres. Geladen
waren diesmal Generalstabschef Müffling, Major Joseph Maria von Radowitz
und wieder Hofrat Gauß und Dirichlet. Major von Radowitz zeichnete sich
schon allein dadurch aus - wie Humboldt sich ausdrückte -, daß er als „West-
fale einstiger Absolvent der Ecole polytechnique"353 war. Für die Gründung
einer polytechnischen Schule in Berlin schien er deshalb unentbehrlich. Kon-
sequenterweise übernahm er, nachdem alle Anstrengungen einer Schulgrün-
dung im Sande verlaufen waren, die Studiendirektion der Allgemeinen
Kriegsschule, die am ehesten leistete, was man sich von einer Ecole polytech-
nique in Berlin erhofft hatte. Von der Allgemeinen Kriegsschule ist zwar nach
zwei Weltkriegen nichts übrig geblieben, und ein Bombenvolltreffer im April
1945 auf das Heeresarchiv hat schließlich auch den größten Teil ihrer Akten-
bestände und Dokumente in Flammen aufgehen lassen.354 Doch das nahezu
spurlose Verschwinden einer höheren Schule, die auch auf General Scharn-
horsts Betreiben zustande gekommen war, sollte nicht darüber hinwegtäu-
schen, daß sie anfänglich mit der Berliner Universität auf eine Stufe gestellt
wurde. Die Allgemeine Kriegsschule und die Universität öffneten 1810 am
selben Tag ihre Türen.'55 Die Bildungsoffensive, die mit Karl Freiherr von
Stein zu Altensteins Reformen zum Tragen kam, war von Anfang an eine
doppelte.
Es bleibt die Frage, wie Dirichlet zunächst in Humboldts Frühstücksrunde
zwischen einflußreiche preußische Militärs und Hofrat Gauß geriet und
schließlich in der Allgemeinen Kriegsschule zu einem Amt kam. Als Hum-
boldt den 23-jährigen Dirichlet zum Frühstück einlud, instruierte er ihn, daß

1
Brief Nr. 14, Karl von Müffling an Bernhard v. Lindenau am 28. Nov. 1824, ebenda, S. 13.
2
Biermann, Kurt-Reinhard, „Zum Verhältnis zwischen Alexander von Humboldt und Carl
Friedrich Gauß", in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Ma-
them.-Naturw. Reihe, Jg. VIII, Nr. 1, 1958/1959, S. 121-130, hier S. 125.
3
Brief Nr. 10. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 9 April 1828, in: Briefwechsel,
hg.v. Biermann, S. 38.
4
Vgl. Löbel, Uwe, „Neue Forschungsmöglichkeiten zur preußisch-deutschen Heeresgeschich-
te. Zur Rückgabe von Akten des Potsdamer Heeresarchivs durch die Sowjetunion" in: Mili-
tärgeschichtliche Mitteilungen, Bd. 51, Hft. 1, 1992, S. 143-149, hier S. 144 u. 146 und Lü-
decke, Carl Ritters Lehrtätigkeit an der Allgemeinen Kriegsschule, S. 7-8.
5
Vgl. Lampe, Emil, „Dirichlet als Lehrer der Allgemeinen Kriegsschule", in: Naturwissen-
schaftliche Rundschau 38. Jg. XXI, 1906, S. 482-485, hier S. 483.
V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 119

er - ganz zufällig - Major von Radowitz' „Handbuch für die Anwendung


Reiner Mathematik"556 unter dem Arm tragen solle. Von dem Buch, dessen
Titel heute einen Widerspruch in sich darzustellen scheint, ist leider kein
Exemplar mehr zu finden. Doch den damaligen Quellen nach bestand es aus
Tafeln trigonometrischer Formeln, die, einmal versammelt, ihrer Anwendung
auf der Allgemeinen Kriegsschule harrten. Richtig eingesetzt, konnte mit
trigonometrischen Kenntnissen die Landesvermessung vorangetrieben wer-
den, was die Erstellung von Generalstabskarten ermöglichte. Auch zur Be-
rechnung von Richtwerten in der Artillerie waren sie zu gebrauchen.
Doch Dirichlet hätte von einer Mathematik, die ihre Anwendung im freien
Feld suchte, nicht weiter entfernt sein können. Zeit seines Lebens werden
seine mathematischen Operationen nicht über den Raum seines Schreibtisches
oder der Tafel hinausgehen. Schon in Paris hatte er mit einem Teilbeweis von
Fermats letztem Satz - bei Verwendung Gaußscher Methoden - auf sich
aufmerksam gemacht.
Wenn Dirichlet als Mitbegründer der mathematischen Physik angesehen
wird, dann ist darin jedoch kein Widerspruch zu sehen, sondern ein Hinweis
darauf, daß die Mathematik sich davon freimachte, sich in den Dienst experi-
menteller Physik zu stellen. Dirichlets Problemlösungen beziehen sich auf
Randbedingungen, die weitaus tiefer in Annahmen der Analysis wurzeln als in
der Physis. Überhaupt blieb Gauß' zahlentheoretisches Buch auf Dirichlets
Schreibtisch das ihm unerschöpflichste Studienobjekt. Dirichlet hat es für
andere Mathematiker erst erschlossen.3" Als Jacob Jacobi dem Kultusministe-
rium über die Verdienste seines Kollegen und Freundes Dirichlet zu berichten
hatte, nannte er dessen Anwendungen der Fourierreihen auf die Theorie der
Primzahlen an erster Stelle.558 Fourierreihen vermochten die Ausbreitung der
Wärme in einem Leiter zu beschreiben - allerdings zu einem Preis, der eine
physikalische Vorstellung in lauter diskrete, graphemisch sehr anschauliche,
sonst jedoch unbegreifbare Kurven auflöste.359 Und Dirichlet wandte nun die
Fourieranalyse, die schon physikalische Phänomene wie Wärme- und
Klangausbreitung aus dem Feld des sensuell Anschaulichen verdrängt hatte,
auf die rein zahlentheoretische Bestimmung von Primzahlen an. Er begann,
mit anderen Worten, verschiedene mathematische Zweige aufeinander anzu-
wenden. Schon Descartes hatte bekanntlich geometrische Fragestellungen der
Analysis unterstellt und Dirichlet wird in Anlehnung an Descartes dafür

Brief Nr. 17. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 22. Sept. 1828. in: Briefwech-
sel, hg. v. Biermann, S. 50.
Vgl. ebenda, S. 4 1 .
Pieper, Herbert, Netzwerk des Wissens und Diplomatie des Wohltuns. Alexander von Hum-
boldt, Carl Friedrich Gauß und Gustav Dirichlet, Jacob Jacobi, Eduard Kummer, Gotthold
Eisenstein (=Berliner Manuskripte zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 20), Berlin,
2003, S. 28.
Dazu ausführlich Siegert, Passage des Digitalen, S. 240-252.
120 V. HÖHERB MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE

gepriesen, nun die „Anwendung der Analysis auf die Zahlentheorie"360 vorge-
führt zu haben. Doch während Descartes' analytische Geometrie gerade me-
thodisch das Reale zu erfassen suchte, begann sich zur Zeit von Dirichlet und
mit ihm als treibender Kraft, die systemische Schließung und Binnenausdiffe-
renzierung der Mathematik zu vollziehen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich umso mehr die Frage, welche mathema-
tischen Kenntnisse Dirichlet bei seinem Antritt an der Allgemeinen Kriegs-
schule überhaupt weitergeben sollte. Ein Schreiben Humboldts an Dirichlet
umreißt das Problem:
Herr von Radowitz weiß wie ich, daß Sie sich bisher nur sehr wenig mit dem
Teil der angewandten Mathematik befaßt haben, der mit der Geodäsie und der
Artillerie in Verbindung steht. Aber die moderne Physik, die Ballistik selbst, lau-
fen auf Analysis hinaus, und mit Ihrem Scharfsinn werden Sie in Kürze mehr
davon verstehen, als Puissant und Poission, der unlängst gezwungen war, die
Form von Rädern und Lastwagen zu diskutieren. Sie werden vor allem erkennen,
was wesentlich an diesem Problem der Geschosse ist, und welches die positiven
Daten sind, die der Versuch liefern muß. Man verlangt nicht, daß Sie selbst diese
Versuche anstellen oder leiten, man will nur, daß Sie sie da angeben, wo Sie sie
als für den analytischen Kalkül erforderlich erachten. Nun kann Ihnen Herr von
Radowitz nicht nützlich sein und nicht hoffen, Sie durch den Kriegsminister aus-
wählen zu lassen, insofern er nicht eine kleine Arbeit von Ihnen auf dem Gebiet
der auf Ballistik angewandten Analysis vorweisen kann. Ohne diese Arbeit wer-
den der Minister und der Prinz August von Preußen, der Generalinspekteur der
Artillerie, Ihrer Ernennung entgegenhalten, daß Sie zwar ein bedeutender Ma-
thematiker sind, daß aber nichts Ihren Wunsch beweist, in ihr Tätigkeitsgebiet
herabzusteigen. Man plagt sich hier mit bestimmten analytischen Berechnungen
der Rotation von Hohlkugeln, ihrer vom Luftwiderstand verursachten Abwei-
chung [...]. Herr von Radowitz sagt, daß er selbst erfolglos daran gearbeitet hat,
weil er glaubt, nicht den wahren analytischen Weg gefunden zu haben; er möch-
te daher, um dem Ministerium eine kleine Probe Ihrer Arbeit in Anwendungen
der Analysis auf die Bewegung von Geschossen zeigen zu können, Ihnen (durch
meine Vermittlung) gewisse Fragen unterbreiten, über die Sie ihm Ihre Ideen
darlegen würden, ob vielleicht infolge des Fehlens von Versuchen oder vielmehr
von numerischen, durch diese Versuche gelieferten Daten eine endgültige Lö-
sung unmöglich sei.361

Humboldt sieht sich veranlaßt, Dirichlet in einem weiteren Schreiben an die


Notwendigkeit einer ballistischen Arbeit zu erinnern und fügt erläuternd
hinzu:
Die Probleme der Geodäsie interessieren den Kriegsminister und Herrn von Ra-
dowitz nicht. Das trigonometrische Gebiet gehört ausschließlich dem General-

Kummer, Ernst Eduard, „Gedächtnisrede auf Gustav Peter Lejeune-Dirichlet", in: Nachrufe
auf Berliner Mathematiker des 19. Jahrhunderts: C.G.J. Jacobi, P.G.L. Dirichlet, E.E.
Kummer, L. Kronecker, K. Weierslrass, hg. v. Hans Reichardt (=Teubner-Archiv zur Mathe-
matik. Bd. 10), Leipzig, [1861] 1988, S. 36-71, hier 5. 52.
61
Brief Nr. 12. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 27. Mai 1828, in: Briefwechsel,
hg.v. Biermann, S. 43-44.
V. HÖHERE MATHEMATIK UNDNOMOS DER ERDE 121

Stab und dem General Müffling, der der Sache vollständig gewachsen zu sein
glaubt.362
Und Humboldt fordert Dirichlet noch ein drittes Mal auf, eine analytische
Behandlung der Ballistik von Hohlkugeln, also den Vorläufern von Granaten,
abzuliefern, da er mittlerweile davon ausgeht, daß sie schon geschrieben sei.
Doch von einer solchen Arbeit ist nichts weiter überliefert. Dirichlets Nach-
folger, Eduard Kummer, wird fast ein halbes Jahrhundert später - kurz nach
dem Deutsch-Französischen Krieg - sich des Problems annehmen. Er kommt
jedoch sehr schnell zu dem Schluß, daß ihr „auf rein mathematischem Wege
noch nicht beizukommen" und „zum Experimente [zu] greifen" sei, was er
dann auch tat.363 Bei Dirichlet sucht man vergeblich nach Arbeiten, die von
physikalischen Experimenten ausgehen und nicht immer schon von mathema-
tischen Konstrukten.
Dennoch bekommt Dirichlet auf der Kriegsschule eine Anstellung. Mit Hil-
fe ein und desselben Verfahrens war man dort nach der Katastrophe von Jena
und Auerstedt im Oktober 1806 bestrebt, mathematische als auch militärische
Operationen zu vermitteln. Und dieses Verfahren nannte sich applikatorische
Methode. Schon das Napoleonische Ausbildungssystem zielte auf ein
„heureux melange des etudes theoretiques avec les applications pratiques".364
Auf Vorlesungsstunden folgte ein ausführlicher Kursus, der Schülern „ma-
thematisches Zeichnen" beibrachte und sie schließlich in die Lage versetzte,
selbständig die „Aufnahme von Terrain, Gebäuden und Maschinen" anzufer-
tigen.365 Nach der Ecole polytechnique folgte die Spezialisierung auf einer der
Ecoles d'appplication, den Bau- und Kriegsschulen.366 Es zeugt von Hum-
boldts strategischem Geschick, daß er noch von Paris aus die Aufmerksamkeit
des Preußischen Kultusministers auf Dirichlet lenkte, indem er schrieb, dieser
würde gewiß eine Stelle an einem großen [Berliner] Gymnasium jeder hiesigen
Anstellung bei französischen Kriegsschulen (denn er kann französisch wie
deutsch dociren) vorziehen.367
So durfte das Kultusministerium bei Dirichlets Einstellung in Berlin anneh-
men, ihn dem Erzfeind entrissen zu haben. Auf Dirichlet kam zunächst die
bescheidene Rolle zu, als „Repetent [...] für die Applikation" mit Offiziersan-
wärtern einzuüben, was Professoren an Mathematik vortrugen.368 Der Mathe-

* Brief Nr. 13. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 12. Juni 1828, ebenda, S. 45.
Hensel, Kurt, „Gedächtnisrede auf Ernst Eduard Kummer", in: Nachrufe auf Berliner Ma-
thematiker des 19. Jahrhunderts. C.G.J. Jacobi, P.G.L. Dirichlet, E.E. Kummer, L. Kron-
ecker, K Weierstrass, hg. v. Hans Reichardt, Leipzig, [1910] 1988, S. 75-111, hier S. 91.
4
Ambroise Fourcy zitiert nach Manegold, Karl-Heinz, „Eine Ecole Polytechnique in Berlin",
in: Technikgeschichte, Bd. 33, Nr. 2, 1966, S. 182-196, hier S. 183.
5
Jacobi, Carl Gustav Jacob, „Über die Pariser Polytechnische Schule", in: derselbe, Gesam-
melte Werke, hg. v. Karl Weierstrass, Bd. 7, Berlin, [1835] 1891, S. 355-370, hier S. 357.
6
Ebenda, S. 366.
Alexander von Humboldt zitiert nach Biermann, Briefwechsel, S. 32-33.
Lampe, „Dirichlet als Lehrer der Allgemeinen Kriegsschule", S. 483.
122 V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE

matiker Erich Lampe, der als Nachfolger Dirichlets und Kummers an der
Kriegsschule lehrte, vergaß im Nachruf an Dirichlet nicht, darauf hinzuwei-
sen, daß
der seminaristische Betrieb, den die Universitäten erst in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts allgemein eingeführt haben, gleich bei der Organisation der
Allgemeinen Kriegsschule planmäßig vorgeschrieben worden [ist].369
Kleists alter Freund Otto August Rühle von Lilienstern hatte - als Leiter der
Kriegsschule - niemand anderen als Radowitz beauftragt, den mathemati-
schen Unterricht umzustellen. Radowitz griff daraufhin auf das französische
„repetitorische System" zurück, das er aus seiner Zeit auf der Ecole polytech-
nique kannte370 und forderte, daß der „dogmatische [...] Vortrag" von einer
,,geregelte[n] Selbstbeschäftigung" begleitet werde."1 Rühle von Lilienstern
konnte nun mit Nachdruck Dirichlet empfehlen, denn dieser sei
in der polytechnischen Schule zu Paris gebildet worden [und] scheint sich vor-
zugsweise für den Vortrag der Mathematik in der Königlichen allgemeinen
Kriegsschule zu eignen, da er mit der seit zwei Jahren in der Anstalt zur Ausfüh-
rung gebrachten applications Methode auf das genauste bekannt ist.372
Liliensterns Behauptung, Dirichlet sei mit der Applikationsmethode schon in
Paris bekannt gemacht worden, verrät den Wunsch als Vater des Gedankens.
Denn Dirichlet hat die polytechnische Schule in Paris nie betreten.373 Auf
Paris' große Mathematiker wie Fourier, Possion oder Laplace traf Dirichlet an
der Pariser Akademie der Wissenschaften und am College de France, das
damals wie heute jedem Eintritt gewährt. Als Gewährsmann für eine applika-
torische Methode nach französischem Muster taugte Dirichlet genauer bese-
hen also kaum. Was immer 1826 mit der applikatorischen Methode an der
Kriegsschule eingeführt wurde, war ein größeres Experiment, als man sich in
Preußen eingestand. Es stellte sich bald heraus, daß kein Repetitor in den
Applikationsstunden auch nur annähernd den Stoff der Vorträge einüben
konnte oder wollte.374 Sehr bald schon kritisierte von Radowitz, daß Dirichlets
Schüler in den Applikationsstunden vermeintlich „mehr Constructionen und

370
Hassel, Paul, Joseph Maria von Radowitz. 1797-1848. Bd. 1, Berlin, 1905, S. 24.
37
' Ebenda.
* Biermann, Kurt-R., Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet. Dokumente ßr sein Leben und
Wirken. Zum 100. Todestag. Dok. Nr. 23. J.J.O.A Rühle von Lilienstern an Karl v. Altenstein
am 4. Juli 1828 (= Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.
Klasse für Mathematik. Physik und Technik, Jg. 1958. Nr. 2) Berlin, 1959. S. 41-42.
Ein Gesuch Dirichlets, eben jene Schule als Hospitant besuchen zu dürfen, scheiterte am
Preußischen Geschäftsträger in Paris. Siehe hierzu Kummer. ., Gedächtnisrede auf Gustav
Peter Lejeune-Dirichlet", S. 4L
Scharfenort, Louis A. von. Die Königlich Preussische Kriegsakademie. 1810-1910, Berlin
1910, S. 112.
V, HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 123

einen nicht bloß analytischen Gang""5 erwarten. Mit umso größerem Schre-
cken stellte er fest, daß Dirichlet die ihm anvertrauten Offiziere in den Appli-
kationsstunden auf deren Wunsch in die Infinitesimalrechnung einführte und
damit in einen Stoff, der zur höheren Mathematik gezählt und deshalb von
den Lehrplänen der Vorlesungen auf der Kriegsschule verbannt worden war."6
Man befürchtete, daß gestandene Offiziere, die auf dem Schlachtfeld als
unschlagbar sich erweisen sollten, im Examen aufgrund von Aufgaben zur
höheren Mathematik einbrechen könnten. Um zumindest die Kluft zwischen
Vorlesung und applikatorischem Unterricht zu schließen, wies die Direktion
Dirichlet an, beide Veranstaltungen abzuhalten. Der wiederum setzte alsbald
die Aufnahme der Infinitesimalrechnung im Lehrplan durch."7 Dirichlet, der
so alt war wie seine auszubildenden Offiziere, vertrat ein System aus Theorie
und Praxis, was in Frankreich das institutionelle Zusammenspiel zweier Schu-
len voraussetzte: Die Ecole polytechnique und sich die daran anschließende
Ecole d'appplication.
Das „repetitorische System", das in Frankreich dazu bestimmt war, Analy-
sis in Anwendung auf Zeichenpraktiken einzuüben, änderte Dirichlet zur
applikatorischen Methode, die den Umgang mit jenen Teilen höherer Mathe-
matik schulte, die zunächst in den Vorlesungen nicht behandelt worden wa-
ren. Aus dem applikatorischen Unterricht ging schließlich ein Seminar hervor,
das nicht bloß mathematische Kenntnisse wiederholte, sondern ein Wissen
formulierte, dessen Anwendbarkeit noch zur Disposition stand.

2. Fabrikation physiko-mathematischer Gegenstände

Kaum war Dirichlet endlich auch an die Berliner Universität berufen worden,
richtete er auch dort ein mathematisches Seminar ein, das sich im Kolleg
ungelösten mathematischen Problemen widmete. Zudem nutzte er Vorlesun-
gen, um neueste Forschungsergebnisse vorzustellen - was ein Novum dar-
stellte."8 Auch wenn ihm als außerordentlichem Professor für zwei Dekaden
verwehrt war, Studenten zu promovieren, hielt ihn das nicht davon ab, seine
Lehrpraktiken zu verbreiten. Sein Freund und Kollege Jacob Jacobi griff sie
auf und gründete in Königsberg das erste mathematisch-physikalische Semi-
nar. Aus dem Seminar wird eine Schule hervorgehen und aus dieser Schule

Brief Nr. 21. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 22. Febr. 1829, in: Briefwechel,
hg. v. Biermann, S. 53.
Darüber dank seiner dortigen Stellung gut unterrichtet war Lampe, „Dirichlet als Lehrer der
Allgemeinen Kriegsschule", S. 484.
Ebenda.
Vgl. Butzer, Paul L., Manfred Jansen und Hubert Zilles, „Zum bevorstehenden 125. Todestag
des Mathematikers Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet (1805-1859). Mitbegründer der
mathematischen Physik im deutschsprachigen Raum", in: Sudhoffs Archiv, Bd. 68, Nr. 1,
1984, S. 1-20, hier S. 9.
124 V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE

schließlich der Mathematiker David Hubert, der am Anfang des 20. Jahrhun-
derts berufen war, der Mathematik ein eigenes Programm vorzugeben. Dirich-
lets Nachfolger Eduard Kummer sorgte dafür, daß das mathematische Seminar
an der Berliner Universität zur festen Institution wurde. Noch ungelöste ma-
thematische Probleme, die deshalb nicht Bestandteil der Vorlesung sein konn-
ten, legten sie nun gemeinsam Professoren und Studenten im Seminar vor.
Und von eben diesem mathematischen Seminar geht seit der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts ein über die Landesgrenzen hinausreichender Ruf aus
wie von kaum einer anderen mathematischen Wirkungsstätte.
Der Transfer der Ausbildungsmethode von der Allgemeinen Kriegsschule
zur Universität hat letztlich bewirkt, daß aus der Universität als einer Stätte
der Wissenskunde ein Ort genuiner Wissensproduktion wurde, in dem Theorie
und Praxis zusammenfallen. Den vier klassischen Fakultäten bleibt mit ihren
Diskursen nur, eine Praxis zu umkreisen, die ihnen zumindest in deutschen
Landen lange äußerlich bleiben mußte. Schließlich ist die Universität keine
Kirche, kein Gerichtssaal und kein Krankenhaus. Und was die Philosophie
angeht, so sah zumindest Felix Klein die Mathematik ihr überlegen, weil sie
das Denken nicht nur betreibe, sondern auch auf seine Axiome zurückführe
und ihm zur Anwendung verhülfe."9
Alexander v. Humboldt hatte seinerzeit tür Berlins Bildung „die erste
Sternwarte, die erste chemische Anstalt, den ersten botanischen Garten [...
und] die erste Schule für transzendentale Mathematik'"80 gefordert und bekam
zuallererst letztere. Während chemische, physikalische und biologische La-
bors und Krankenhäuser erst begannen, in die Universitäten einzuziehen, war
das mathematische Seminar längst dazu übergegangen, „physiko-
mathematische Gegenstände"381 zu fabrizieren. Mit der Mathematik an der
Universität holte das Wissen seinen Gegenstand ein.

3. Wendungen der Mathematik

Die Mathematik kommt seit Dirichlet gleich auf drei Wegen zur Anwendung:
Erstens erfahren selbst abstrakte zahlentheoretische Konzepte ihre Anwen-
dung auf geodätischen und erdmagnetischen Feldern. Es scheint, daß die
tellurische Sondierung, die mit der traditionsreichen Astronomie gleichzuzie-
hen beginnt, sich zu einer deutschen Spezialität entwickelt. Riemannsche

9
Klein, Felix, „Über die Aufgaben und die Zukunft der philosophischen Fakultät", in: Jahres-
bericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 13, Hft. 5, 1904, S. 267-276, siehe
insbesondere: S. 274-275.
0
Alexander von Humboldt zitiert nach Biermann, Kurt-Reinhard, Die Mathematik und ihre
Dozenten an der Berliner Universität. 1810-1933. Stationen auf dem Wege eines mathemati-
schen Zentrums von Weltrang, Berlin, 1988, S. 39.
Biermann. „Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet", S. 43.
V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 125

Flächen und Hilberträume sind aus Gauß' differentialgeometrischen Erder-


kundungen hervorgegangen.
Zweitens findet die Mathematik nicht nur zu Anwendungen, die Räume
aufgrund ihrer Zeichenoperationen und Messungen durchdringen und rein
phänomenale Deskriptionen aus dem Felde schlagen; die Mathematik schafft
sich nunmehr ihre eigenen Gegenstände, die sie in den mathematisch zu be-
herrschenden Raum einläßt. Beispiele hierfür sind Instrumente wie Gauß'
Heliotrop und Magnetometer. Die zunächst zur Erdvermessung entwickelten
Instrumente entpuppen sich nahezu beiläufig als Alternative zu optischen
Telegraphen und legen den Grund für neue Kommunikationssysteme.3*2 Fran-
cis Bacons Bild vom Experiment, das die Natur vor das Tribunal lade, um sie
zum Sprechen zu bringen, geht noch von einer verborgenen, metaphysischen
Sprache aus. Ganz anders ist der Trost zu werten, den der greise Alexander v.
Humboldt dem sterbenskranken Gauß in einem letzten Brief spenden wird:
Gauß habe wie kein anderer „der electrischen Sprache, die jetzt über Meer
und Land geht, zuerst Sicherheit, Maass und Flügel verliehen'"83. Humboldts
poetologische Formel verklammert Gauß' instrumenteile Erfassung des Erd-
magnetismus, die Humboldts eigene, bloß beschreibende Forschung einst zu
Humboldts eigenem Leidwesen hatte obsolet werden lassen, mit den Instru-
menten, die Räumen nunmehr ihre Signale aufprägen.
Drittens wird die Mathematik mit einer Anwendung bedacht, die ihr selbst
gilt. Erst in dem Moment, in dem die Vermittlung der Mathematik ebenfalls
durch klar umrissene Prozeduren geregelt wird, ist eine Entkopplung möglich,
die zwischen angewandter und reiner Mathematik unterscheidet. So gesehen
gibt es die reine Mathematik erst von dem Augenblick an, in dem sie in Semi-
naren Raum erhält und Aufgabenstellungen und Prüfungen ihre Ausübung als
solche einfordern. Allein die Art der Praktiken, Anwendungen und Räume
unterscheidet angewandte und reine Mathematik.
Was nach 1806, also nach Preußens militärischem Zusammenbruch, zuse-
hends aufhört, ist der Versuch, militärische Operationen mit mathematischen
in idealisierender Weise kurzzuschließen. Nur noch kopfschüttelnd erinnern
sich Offiziere der Neigung ihrer Lehrer zur Mathematik.
[Einer der Lehrer hatte] die beste Zahl der Züge, in die ein Bataillon geteilt wer-
den müsse, [noch damit begründet], daß beim Karree Front und Flanke gleich
groß sein müßten und daß er eine quadratische Gleichung ansetzte, x2 fand, die
Wurzel zog und eine Zahl 13.2415987 fand [...].384

Ausfuhrlich dazu Aschhoff, Volker, Geschichte der Nachrichtentechnik: Nachrichtentechni-


sche Entwicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bd. 2, Berlin u.a., 1995, S. 68-
69 u. S. 95-98.
Biermann, „Zum Verhältnis zwischen Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß",
S. 124.
Hohenlohe zitiert nach Scharfenort, Die Königlich Preussische Kriegsakademie, S. 161.
126 V HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE

Um solchem Nonsens zu entgehen, wurde Mathematik ganz allgemein zur


„Verstandes-Bildungs-Wissenschaft"385 erhoben. Das Schlachtfeld des 18.
Jahrhunderts entsprach noch dem Ideal des Euklidischen Raums, dessen
krümmungsfreie Flächen die Plattform für das Regelsystem kämpfender
Einheiten aufboten. Human war an dieser Form der Schlacht und des Schlach-
tens immerhin, daß die zur Anwendung kommende Mathematik insofern eine
Grenze fand, als sie an den der Zeit und dem Raum verhafteten Menschen
Maß nahm, selbst wenn diese bis zum Äußersten gingen. In dem Moment, in
dem die abstrakte und avancierte Mathematik sich auf das Tellurische stürzt,
auf die Erdvermessung und den Erdmagnetismus, wendet sich das Blatt. Die
Mathematik modelliert nunmehr das Schlachtfeld, in dessen Beherrschung die
Gestalt des Feindes zwar indirekt, doch als absolut aufscheint.
In der Einrichtung von Räumen, die es erlauben, in aller Ausschließlichkeit
Zeichenoperationen nachzugehen, treffen sich das preußische Militär und das
mathematische Seminar. Und eben diese Verbindung hat selbst dann noch
Bestand, wenn die reine Mathematik nicht offensichtlich in Dienst genommen
wird, um Technologien hervorzubringen. Dirichlets mathematisches Seminar
und Jacob Jacobis Königsberger Ableger, das physikalisch-mathematische
Seminar, erschaffen sich zahlreiche fiktive Objekte, wie Kummerflächen und
später Möbiusbänder oder Kleinsche Flaschen, die zugegebenermaßen so
schön wie harmlos wirken. Daß diese Objekte physikalisch realisierbar sind,
wird zwar zur Bedingung, ist jedoch nicht ausschlaggebend. Entscheidend ist,
daß sie vollständig aus mathematischen Operationen hervorgehen, die ihnen
durch geschlossene Ausdrücke der Analysis vorgeschrieben werden. Doch
weil mathematische Forschungen immer weniger schon im Vorfeld auf eine
außermathematische Anwendbarkeit abonniert sind, steigert nichts mehr als
ihr ubiquitärer Einsatz das Maß an Kontingenz, das ungeahnte Sachverhalte
hervorbringt. Der Mathematiker Paul Du Bois-Reymond kann deshalb schon
1874, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Mathematik noch als Hilfswissen-
schaft angesehen wird, auf die Frage „Was ist Mathematik?" schlicht erwi-
dern: „Was ist nicht Mathematik?"™ Er vertritt - kurz nach dem Deutsch-
Französischen Krieg - die Einschätzung, die nach dem Ersten Weltkrieg auch
für den französischen Mathematiker Jean Dieudonne gilt: Die Gebilde der
reinen Mathematik sind zwar auf keinen Zweck gerichtet, doch füllen sie
schon vorab Arsenale mit symbolischen Direktiven, von denen kein Mensch,
und selbst kein Mathematiker wissen kann, wie und ob sie sich in das Reale

August Leopold Grelle zitiert nach Manegold, „Eine Ecole Polytechnique", S. 190.
Du Bois-Reymond, Paul, „Was will die Mathematik und der Mathematiker? Rede heim
Antritt der ordentlichen Professur der Mathematik an der Universität Tübingen (1874) gehal-
ten", in: Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 19, 1910, S. 190-198,
hierS. 195.
V, HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 127

einlassen werden.'87 So steht hinter aller Zweckfreiheit der Mathematik der


reine Utilitarismus, der sich nicht an den Unzulänglichkeiten der Gegenwart
aufreibt, sondern immer schon auf etwas noch unberechenbares Zukünftiges
setzt. Geradezu naiv fällt dagegen die Kritik Adornos und Horkheimers aus,
die, anscheinend gebannt von der humanen Katastrophe des Zweiten Welt-
kriegs, in der radikalen Ausweitung der Mathematik nur das Primat der Be-
rechnung zu sehen vermochten. Daß Mathematik nicht Rechnen heißt, son-
dern Berechenbarmachung, ist ihnen entgangen. Berechenbarmachung setzt
jedoch das Unberechenbare voraus, man kann sogar mit Alan Turing sagen,
das Unberechenbare der Berechnung. Industriekriege und Weltkriege haben
gelehrt, daß es allein auf den unberechenbaren Eintritt des Berechenbaren
ankommt. Führende Mathematiker und Militärs haben deshalb zumindest
eines gemeinsam: daß sie selbst dann noch Operationen durchfuhren, wenn sie
keine Vorstellung haben, wohin diese fuhren werden.
Umso fundamentaler sind zur Absicherung eines solchen Vorgehens Spu-
ren, die die Operationen hinterlassen. In der Mathematik ist die Verschrän-
kung des Operierens mit seiner Aufzeichnung mehr als in jeder anderen Dis-
ziplin kultiviert worden. Jede Operation wird von einer Spur fast restlos auf-
gehoben oder, anders gesagt, jede Operation fällt mit ihrer graphemisch aus-
geklügelten Spur nahezu zusammen. Daß der jeweils letzte Beitrag der Ma-
thematik immer auch eine Geschichtsvergessenheit ausstrahlt, liegt daran, daß
die Mathematik ihre Geschichte ständig überschreibt und ausrichtet auf den
Moment des Operierens. Was Dirichlet auf Anordnung von Major von Rado-
witz seinen Offizieren per applikatorischer Methode beibrachte, war nicht,
wie in Frankreich, die Analysis auf Konstruktions- und Terrainzeichnungen
anzuwenden, sondern das Lesen der graphemischen Spur der Analysis selbst.
Diese Wendung auf sich selbst, die innerhalb der Mathematik radikaler voll-
zogen wurde als irgend sonst, hat Ludwig Wittgenstein zur Philosophie erho-
ben und ihm ist deshalb das folgende Kapitel gewidmet. Seinem Diktum: „Die
Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache"388 läßt jedoch
gerade keinen Wechsel zu einer Metasprache zu, die theoretische Übersicht
verschafft. Was folgt, ist deshalb die Rekonstruktion eines Spiels mit mathe-
matischer Sprache, das nicht weniger als das Leben des Aufklärungsoffiziers
Wittgenstein zum Einsatz hatte.

Ebenda. S. 198. Vgl. auch Bourbaki, Nicolas, „L'architecture des mathematiques", in: Les
grands courants de la pensee mathematique (=L'Humanisme scientifique de demain. Bd. I).
hg. v. Francois le Lionnais, Paris, 1948, S. 35-47, hier S. 46-47.
Ludwig Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen", in: derselbe, Werkausgabe, Bd. I,
Frankfurt/M., 1995, S. 225-580, hier S. 262 (§ 43).
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN
MASCHINE

1. Die Doppelte Buchführung des Aufklärungsoffiziers Wittgenstein

Am 6.4.1916 lautet der einzige Kriegstagebucheintrag: „Das Leben ist ei-


ne...". Unter der Datumsangabe des darauffolgenden Tages heißt es dann
weiter „Tortur, von der man nur zeitweise heruntergespannt wird, um für
weitere Qualen empfänglich zu bleiben."389 Wovon man nicht sprechen kann,
darüber muß man schweigen. „Ein erschöpfender Marsch, eine durchhustete
Nacht, eine Gesellschaft von Besoffenen, eine Gesellschaft von gemeinen und
dummen Leuten."390 Der von der österreichisch-ungarischen Armee als „voll-
kommen untauglich"3" gemusterte Kanonier Ludwig Wittgenstein hat sein
privilegiertes Leben im familiären Freundeskreis, in dem sich Wiener Hochfi-
nanz wie Künstler gleichermaßen trafen, ebenso hinter sich gelassen wie
Cambridges Mathematikerelite und auch noch zuletzt seine norwegische
Hütte, das Refugium seiner philosophischen und homoerotischen Existenz. Im
Krieg ist er dennoch nicht ganz angekommen. Zunächst steht Wittgenstein am
Suchscheinwerfer eines gekaperten russischen Patrouillenbootes und hilft, die
Weichsel an der russischen Grenze zu sichern. Ein Oberleutnant, der durch
Zufall von seiner mathematischen und ingenieurstechnischen Ausbildung
hört, betraut ihn zunächst mit organisatorischen Aufgaben, dann stellvertre-
tend mit der Oberaufsicht über die Artilleriewerkstatt der Festung Krakau.
Das heißt für Wittgenstein „Kanzleiarbeit"392, nicht selten bis in die Nacht.
Doch der an den Tag gelegte Sachverstand scheitert in seiner Umsetzung am
Mangel an Befehlsgewalt. Wittgensteins Mannschaft weigert sich ein ums
andere Mal, seinen Anordnungen zu folgen. Sein Vorgesetzter steckt ihn
daraufhin in die Uniform eines Landsturmingenieurs393, bis das Kriegsministe-
rium einschreitet, das Beförderungsgesuch als Anmaßung einstuft und ab-
lehnt. Nachdem auch der Versetzung zur Ballon-Abteilung nicht stattgegeben
wird394, bittet Wittgenstein, an die Front zur 4. Batterie des
5. Feldhaubitzenregiments abkommandiert zu werden. Die „Mannschaft mit
wenigen Ausnahmen" indes haßt ihn - den „Freiwilligen" - nach wie vor.39<

Wittgenstein, Ludwig, Geheime Tagebücher 1914-1916, hg. u. dok. v. Wilhelm Baum, Wien,
Berlin, 1991. S. 68.
Ebenda.
" Ebenda. S. 131.
'2 Ebenda. S. 50.
13
Ebenda. S. 130.
14
Ebenda. S. 47.
" Ebenda. S. 69.
130 VI VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Jemand, der sich, obwohl vom Dienst befreit, dennoch für den Krieg und nicht
bloß für die Militärlaufbahn entscheidet und nun befiehlt, ohne daß ihm der
Dienst am Krieg befohlen wurde, erscheint den Kameraden suspekt. Wittgen-
stein läßt sich ein weiteres Mal abkommandieren:
Komme morgen vielleicht auf mein Ansuchen zu den Aufklärern hinaus. Dann
wird für mich erst der Krieg anfangen. Und kann sein - auch das Leben! Viel-
leicht bringt mir die Nähe des Todes das Licht des Lebens.396
Erst jetzt ist Wittgenstein im Krieg angekommen, in vorderster Front. Das
fortwährende Klagen über seine Kameraden, die ihn an Duellforderungen
denken lassen,"" hat in seinen Tagebüchern nun ein Ende. Stattdessen finden
sich nunmehr Stoßgebete. Er ist auf vorgeschobenem Posten im „Aufklärer-
stand".3'8
Die Zusammenlegung von leichter Feldartillerie und schwerer Haubitzen-
batterie unter ein zentrales Kommando, taktisch eingebundene Ballon-
Abteilungen und vorgeschobene Aufklärungsoffiziere sind allesamt Erfindun-
gen des Ersten Weltkrieges. Seine Artillerie glich in ihren Anfangstagen noch
der Napoleons, bevor sie schließlich zu Formen und Standards gefunden hat,
die noch heute in westlichen Armeen vorherrschen."* Die europäischen Mäch-
te nutzten die Friedensjahre vor dem Ersten Weltkrieg, um die Anzahl ihrer
Geschütze und deren Durchschlagskraft zu steigern. Die Taktiken der Artille-
rie blieben jedoch auf dem Stand der jeweilig letzten noch erinnerlichen
Schlachten. Niemand mochte sich vorstellen, daß die Infanterie auf dem
Schlachtfeld vorstoßen würde, ohne gemeinsam mit der eigenen Artillerie den
Feind im Blick zu haben. Doch als sich mit den ersten Gefechten die gewalti-
ge Feuerkraft offenbarte, blieb lediglich der Abzug der Batterien aus dem
Sichtfeld der Gegner. Die gesteigerte Durchschlagskraft der Geschosse erfuhr
kurzerhand eine Umwertung: was nunmehr zählte, war die Distanz, die die
Geschosse überwanden. Mit 9000 Metern fiel sie erheblich weiter aus, als
Ballistiker in ihren Tafeln bedacht hatten.400 Der Krieg erweist sich einmal
nicht als Vater aller Dinge, sondern vielmehr als Hort unbedachter und unaus-
geführter Tatsachen.
Zu einem Zentrum dieses Horts und das heißt zum taktischen Experimen-
tierfeld wird ausgerechnet Wittgensteins erstes Einsatzgebiet als Aufklä-
rungsoffizier nördlich der Karpaten.401 Was Wittgensteins Kriegstagebuch von

6
Ebenda. S. 70.
'7 Ebenda. S. 57.
Ebenda. S. 70. Wittgensteins kafkaeske Positionsbeschreibung: „Bin wie der Prinz im
verwünschten Schloß auf dem Aufklärerstand." Im militärischen Sprachgebrauch der Zeit
gängiger ist die Bezeichnung „Beobachtungsstand" - oder „-stelle", oder kurz „B-stelle".
Vgl. Zabecki, David T., Steel Wind. Colone! Georg Bruchmüller and the Birth of Modern
Artillery (= The Military profession), Westport, London, 1994, S. 2.
10
Ebenda, S. 7.
" Vgl. auch ebenda. S. 17.
VI VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 131

da an festhält, läßt sich als „doppelte Buchführung [...]"402 zweier Experimente


lesen: Zum einen als Vorstoß zu „einer Logik, die für sich selbst sorgt"401 und
sich damit von einer Russellschen Typentheorie löst, die zu ihrer Begründung
nicht umhinkommt, auf eine metamathematische Ebene auszuweichen. Und
zum anderen als Aufzeichnung auf einem Vorposten, wie er gerade erst einge-
richtet worden war.404 Beide Experimente laufen auf eine Selbstaufgabe zu,
die einerseits nächtens den suizidalen Denkzwängen im Verfassen von Vor-
schriften für das eigene Leben zu entkommen suchen405 und andererseits
tagsüber die minutiöse Befolgung von taktischen Schießvorschriften erfordert,
um durch den Feuerschutz in erster Linie die eigenen kämpfenden Einheiten
zu schützen und letztlich auch die eigene Existenz. Vorschriften für Aufklä-
rungsoffiziere erheben selbstredend nicht den Ewigkeitsanspruch, den Alfred
North Whitehead und Bertrand Russell schon im Titel ihrer Principia Mathe-
matica anklingen ließen. Und doch scheint es der Mühe wert, zu rekonstruie-
ren, woran sich Wittgenstein in zweieinhalb Jahren als Aufklärungsoffizier an
der Front und während mehrerer Fortbildungsmaßnahmen abarbeitete, wenn
nicht an Russells Werk - zu dem er im übrigen zu dieser Zeit jede Kommuni-
kation einstellte.406
Seitdem die Brussilow-Offensive im Sommer 1916 in der Bukowina die
ungarisch-österreichische Armee um mehr als die Hälfte dezimiert hatte, stand
ihr verbliebener Rest - zu dem Wittgenstein zählte407 - faktisch unter preußi-
schem Kommando.408 Die preußische Obere Heeresleitung hörte wiederum,
was artilleristische Taktiken betraf, auf den Rat von Oberst Georg Heinrich
Bruchmüller. Dessen bemerkenswerte zweite militärische Karriere begann an
der Ostfront und endete, ausgezeichnet mit dem Pour le Merite, an der West-
front nach Erich Ludendorffs März-Offensive. Vielleicht hat Bruchmüller
Eduard Kummer in seinen letzten Jahren auf der Friedrich-Wilhelms-
Universität noch über die Berechnungen von Geschoßbahnen dozieren hören,
sicher ist jedenfalls, daß er sein Studium der Mathematik und Physik recht
bald aufgab und es vorzog, sich einer Fuß-Artillerie-Kompanie anzuschlie-
ßen.40' Seine aktive Zeit entfiel auf Nach- und Vorkriegsjahre, ohne daß seine

~ Blumenberg, Hans, „Doppelte Buchführung. Synopse der Kriegstagebücher Wittgensteins


1914-1916", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 96 v. 25.04.1990, S. N3.
0
Wittgenstein, Ludwig, Notebooks 1914-1916, hg. v. Georg Henrik von Wright und Gertrude
Elizabeth Margaret Anscombe, übers, aus dem Englischen v. G.E.M Anscombe, Oxford,
1961, S. 2. (Die Herausgeber hatten den in Geheimschrift verfaßten Teil von Wittgensteins
Tagebüchern nicht ediert und seine Existenz verschwiegen. Vgl. dazu Baum, Geheime Tage-
bücher 1914-1916, S. 159-186). Zur Frage der Logik vgl. auch Blumenberg, „Doppelte
Buchführung", S. N3.
14
Auf der rechten Seite des Tagebuchs trug Wittgenstein die logischen Betrachtungen ein und
auf der linken solche zur persönlichen Lage - verschlüsselt durch eine Caesar-Chiffre.
Wittgenstein, Geheime Tagebücher 1914-1916, S. 42.
16
Ebenda, S. 136.
17
Ebenda, S. 137.
18
Stone, Norman, The Eastern Front 1914-1917, New York, 1975, S. 252-254.
19
Vgl. Zabecki, Steel Wind, S. 27-28.
132 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Karriere jemals eine Entwicklung nahm, die angelsächsische Militärhistoriker


mit „fast track"410 bezeichnen. Nach einem Sturz vom Pferde und anschließen-
dem Nervenzusammenbruch schied Bruchmüller aus dem aktiven Dienst aus.
Erst als sich die vorderen Reihen im Ersten Weltkrieg lichteten, wurde er
wieder eingezogen und übernahm ein Kommando weit unter seinem Rang und
fernab von der Front. Bruchmüllers Stunde schlug, als er im Sommer 1915 in
Przacnycz erstmalig ein Artilleriefeuer erprobte, das sich in mehreren Phasen
auf die feindlichen Stellungen zuschob und „hinter einer Rauch- und Staub-
maske"4" der eigenen Infanterie ermöglichte, nachzurücken. Als berühmt-
berüchtigte Feuerwalze wird sie den Stellungskrieg an beiden Fronten revolu-
tionieren. Das „genaueste Einspielen von Infanterie und Artillerie zu dieser
Kampfhandlung, wie sie im Osten seit Anfang 1916 und im Westen wohl von
Beginn des Jahres 1918 an zur Regel wurde", sollen auch in diesem Zusam-
menhang „besondere Beobachtungen verdienen."412
Am See Narotsch in Weißrussland im April 1916 bahnte die Feuerwalze
gegen eine zahlenmäßig überlegene russische Armee einen Durchbruch und
1917, im galizischen Tarnopol, nicht minder wirkungsvoll, eine Konteratta-
cke. Schließlich hatte Bruchmüllers zentrales Kommando in Riga, das die
Feuerwalze im Verbund mit mehreren Divisionen, unterschiedlichen Geschüt-
zen und Geschoßarten koordinierte, an der Zerschlagung der zaristischen
Armee keinen geringen Anteil. Sein Ruf eilte Bruchmüller in Riga schon
voraus und erforderte aus Geheimhaltungsgründen eine umständliche Anreise
von Galizien über Berlin zur Festungsstadt.413 Sein Name galt schlicht als
Synonym für Durchbruchabsichten: Die Armee kannte ihn nur als „Durch-
bruchmüller" - ein Name, den Ludendorff so in Stein hauen ließ, und der
1948 auf seinem Grabkreuz aus Holz stehen wird. Bruchmüller verkörpert
jedoch nicht den Korpsgeist der Elite. Die Geschichte der militärischen Elite
im Ersten Weltkrieg findet mit der Herausbildung der Sturmbataillone ihren
Höhepunkt.414 Doch auch Sturmbataillone wurde nicht vom Generalstab er-
funden, sondern formierten sich spontan angesichts des Stellungskriegs.4" Die
Sturmtruppen konnten sich ihrer Spitzenstellung in der militärischen Hierar-
chie von Anfang an sicher sein, denn aus einer solchen Position heraus hatte

410
Ebenda. S. 27-28.
Bruchmüller, Georg, Die deutsche Artillerie in den Durchbruchschlachten des Weltkrieges.
Zweite, wesentl. erw. Aufl. Berlin, 1922, S. 109.
412
Ebenda, S. 109.
413
Vgl. Zabecki, Steel Wind. S. 29.
414
Dazu zuletzt Kittler, Friedrich, „II fiore delle trappe scelte", in: Der Dichter als Kommandant.
D'Annunzio erobert Fiume, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht, Friedrich Kittler u. Bernhard Sie-
gert, München, 1996, S. 205-225, siehe hier vor allem S. 205-207 und S. 219.
41
Übereinstimmend Kittler, ebenda S. 209, und Lupfer, Timothy T., The Dynamics of Doctrine.
Changes in German Tactical Doctrine During the First World War. Leavenworth Papers No.
4, U.S. Army Combat Studies Institute, Fort Leavenworth/Kansas. 1981, S. 8-12 u. S.42 und
Zabecki, Steel Wind. S. 2.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 133

ihr Initiator Willy Rohr sie geschaffen.416 Wenn Bruchmüller in Riga mit
seinen eigenen Artillerietaktiken zusammenbrachte, was an der Westfront an
infanteristischer Taktik der Sturmtruppen heraufgezogen war, dann ist darin
nicht der Oberbefehl der militärischen Elite auszumachen, sondern das „ein-
zigartige Ergebnis einer Autopoiesis"4" der Schlachtfelder. Bruchmüller hatte
sein Kommando 1915 abgegeben und war seitdem strenggenommen lediglich
ein Oberst a. D., der vorübergehend die Position eines Artillerieberaters inne-
hatte, - auch wenn Kronprinz Friedrich Wilhelm seine Heeresgruppe während
der Champagne-Marne Offensive kurzerhand instruierte, Bruchmüllers Emp-
fehlungen mit den Befehlen der Obersten Heeresleitung gleichzusetzen.418
Und den Artilleristen impfte Bruchmüller ein, den Dank der Infanterie höher
zu schätzen als Orden und Auszeichnungen, „die nur einzelne für die Gesamt-
heit erhalten" können.4"
Wohl nur ein Berater ohne hohen Rang und Kommando konnte vorschla-
gen, die unterschiedlichen Batterien aus der autonomen Verantwortlichkeit
ihrer Kommandeure zu lösen und oberhalb von Divisionen zentral zu koordi-
nieren.420 Doch auch hier blieb Kommandanten letztlich nur übrig, Befehle
auszugeben, die aus über Wochen minutiös entwickelten Angriffsplänen
ergingen und jeweils nur auf spezifische Lagen und Witterungen zugeschnit-
tenen waren. Leichter als Kommandanten können jedoch Pläne die Aufhe-
bung einer zentralisierten Befehlsgewalt vorsehen, wenn zentral koordinierte
Aktionen - wie der zur Feuerwalze gebündelte Artilleriebeschuß - in lauter
Einzelaktionen zerfallen - etwa um eroberte Stellungen zu sichern. Ebenso
sahen Bruchmüllers Pläne ein Wechselspiel der Kommandoführung zwischen
Artillerie und Infanterie vor, sofern eine bestimmte Lage danach verlangte.
Den größten Vorteil einer Kriegsführung, die Tatsachen zunächst konsequent
auf dem Papier schuf und nicht erst auf dem Schlachtfeld, liegt offenbar in
ihrem Überraschungsmoment. Anstatt Geschütze, deren Geschoßtrajektorien
durch jeweils vorherrschende Einflüsse mehr oder minder stark von ihren
Richtwerten abwichen, über Stunden oder gar Tage auf bekannte Zielmarken
einzuschießen und zu kalibrieren, und damit wohlmöglich die eigenen Stel-
lungen und Absichten an den Feind zu verraten, vertrat Bruchmüller die
Methode seines Hauptmanns Pulkowski, die nahelegte, im Vorfeld unter-
schiedlichste Einflußgrößen systematisch zu ermitteln. Die Artilleriekomman-
danten schössen nunmehr von Schlachtbeginn an nicht nur auf uneinsehbare

16
Vgl. Kittler, „II fiore delle trappe scelte", S. 207.
417
Ebenda. S. 206
418
Vgl. Bruchmüller, Die deutsche Artillerie, S. 34. Vgl auch Zabecki, Steel Wind, S. 29-30.
Bruchmüller, Die deutsche Artillerie, S. 82.
4it
Bruchmüller spricht von der einheitlichen „Regelung" einer Feuerwalze, „wodurch die
Selbständigkeit der Unterfuhrer allerdings bis zu einem gewissen Grade beeinträchtigt wur-
de". Bruchmüller, Die deutsche Artillerie, S. 109.
1 34 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

feindliche Stellungen, sondern auch mittels einer Methode, die anstelle ihres
Erfahrungswissens auf ein wissenschaftliches System zurückgriff.421
Weil jedoch an der Ausführung der Pläne alles hing, führte Bruchmüller
vor jeder Offensive ausgiebige Lagebesprechungen in den Infanterie- und
Artillerietruppen ein. Rückkopplung fand damit nicht nur zwischen Mann-
schaftsdienstgraden statt, die sich sonst einer eindirektionalen Befehlshierar-
chie zu fügen hatten, Rückkopplung war auch auf dem Schlachtfeld vorgese-
hen, sobald die Infanterie mit Leuchtmunition der Artillerie zu erkennen gab,
daß die Feuerwalze in die nächste Phase übergehen sollte. Auch das von der
Infanterie erfahrene Grauen wird wohl durch Rückkopplung als kriegspsycho-
logische Maßnahme auf feindliche Stellungen angewandt worden sein. Effi-
zienz hieß nicht mehr, durch den üblich gewordenen, wochenlangen Artille-
riebeschuß eine totale physische Vernichtung zu erreichen und letztendlich
doch nur minimale Geländestreifen einzunehmen, sondern die Neutralisierung
des Feindes - seine physische und psychologische Paralyse, während die
eigenen materiellen und soldatischen Kräfte nach Möglichkeit geschont wur-
den. Bruchmüller predigte den Schock der ersten Angriffswelle, anstatt auf
irgendwann stoisch hingenommenes Trommelfeuer zu setzen. Im raschen
Wechsel ließ er feindliche Stellungen beschießen, allerdings mit einer Will-
kür, die der gegnerischen Infanterie so selbst in Feuerpausen kaum aus der
Deckung hervorzukommen erlaubte. Die Kontingenz eines allfälligen Todes
bekam damit neben der räumlichen Streuung der Geschosse noch eine zeitli-
che Dimension. In Riga schließlich ließ Bruchmüller Gas statt knapper wer-
dender Sprenggranaten verschießen. Das Gas, nur wenig schwerer als Luft,
drang selbst in unterirdische Stellungen ein und war so gemischt, daß Tränen-
gas hinter die russischen Gasmasken trat und sie untragbar machte. Zusätzli-
che tödliche Gase konnten dann ihre Wirkung ungehindert entfalten. Die
Verwendung von Gas führte zu mehr Verwundeten und weniger Toten, was
als taktischer Vorteil angesehen wurde. Denn die hohe Zahl an medizinisch zu
versorgenden Opfern bedeutele nicht nur den Verlust an Kampfkraft, sondern
band zudem noch Kräfte, die zur Bewältigung logistischer Probleme nötig
waren, von den Gewissensnöten, die sie beim Gegner hervorriefen, ganz zu
schweigen. Die Effizienz der Neutralisierung gegenüber schlichter Destrukti-
on lief folglich auf den Aufschub des Todes hinaus, um letztlich desto mäch-
tiger über ihn zu herrschen. Am Ende machte die Effizienz auch vor der eige-
nen Mannschaft nicht halt: Der ihr gezollte Dank kam nicht ohne die Bedin-
gung aus, das Leben in kalkulierter Weise aufs Spiel zu setzen. Denn die
Artillerie konnte in der Schlacht nicht gleichzeitig alle feindlichen Stellungen,
die die anstürmende Infanterie bekämpfte, unter Beschuß nehmen - was im

421
Darin mag der Grund liegen, warum die sogenannte Pulkowski-Methode an der Westfront
auf massive Ablehnung bei der Obersten Heeresleitung stieß, so daß Bruchmüller sie still-
schweigend einführte. Siehe Zabecki, Steel Wind, S. 64-65 u. S. 70.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 135

Fachjargon mit „Target Rieh Environment"422 bezeichnet wird. Anhand von


„in besonders großem Maßstabe hergestellten Plänen, in denen die einzelnen
Zeitabschnitte der Zielbekämpfung zur Darstellung gebracht waren", hatten
Infanteristen deshalb einen Schlachtablauf zu verinnerlichen, der sie gegen
feindliche Stellungen auch dann noch anrennen ließ, wenn die Unterstützung
durch die eigene Artillerie erst zu einem späteren Zeitpunkt auf dem Plan
stand.425 Doch Bruchmüllers Taktiken forderten von der Infanterie nicht nur,
daß sie ihr Leben der Stichhaltigkeit der Operationen auf dem Papier anver-
trauten, sondern auch, daß sie ihr Leben unter das Gesetz der großen Zahl
stellten. Aus überindividueller Sicht war ihnen ein existentieller Vorteil ver-
sprochen: Sturmtruppen täten besser daran, im Zweifelsfall ins eigene Artille-
riefeuer der ihr Deckung gebenden Feuerwalze zu geraten als vor die Visiere
der MGs ihrer Feinde, denen Zeit gelassen würde, unter der Feuerwalze ab-
und vor ihrem Feind wieder aufzutauchen.424 Die Infanterie führte durch
Einsatzpläne nicht bloß räumlich an eine Feuerwalze heran, sondern stürmte
zudem noch auf eine zeitweilig tödliche Zone zu. Denn auf Bruchmüller mit
seiner Vorliebe für Kampfgas ging die Erfindung zurück, noch vor der
Hauptwalze eine Vorwalze aus versprengtem Gas über das Schlachtfeld rollen
zu lassen - Gas, das nur im günstigsten Fall sich restlos verflüchtigt hatte,
wenn kurze Zeit nach Abschuß Sturmtruppen auf der Höhe des Zielgebiets
eingetroffen waren.425
Die Ostfront ist nahezu einem kollektiven Vergessen zum Opfer gefallen,
und nur wenige Fachhistoriker erinnern noch daran, daß sie zum ersten
Kriegsschauplatz solcher taktischer Experimente wurde und letztlich mehr,
und vor allem mehr namenlose Leichen produzierte als die Westfront.426
Vielleicht hat es mit den realen Schrecken zu tun, daß die persönlichen Ta-
gebuchaufzeichnungen Wittgensteins nicht die kühle Distanz eines Martin
Heidegger bewahren, für den Friedrich Kittler nachgewiesen hat, daß er aus
3
Ebenda, S. 45.
Bruchmüller, Die deutsche Artillerie. S. 44.
4
Hermann Geyer führt aus: „Der Grundsatz, daß die Infanterie beim Angriff in das eigene
Artillerie- und Minenwerferfeuer hineinlaufen muß, bei der den Sturmbataillonen mit so gro-
ßem Erfolg ausgebildet wurde, muß Gemeingut der ganzen Infanterie werden. Erfordert rück-
sichtslosen Schneid und überlegene Moral, weil vereinzelte Verluste durch eigenes Artillerie-
feuer in Kauf genommen werden müssen. Durch dieses Hineinlaufen wird aber andererseits
der Nahkampf mit der feindlichen Infanterie und deren Maschinengewehren erleichtert. Die
Gesamtverluste werden daher wesentlich geringer werden. Dies muß möglich sein. Die Ener-
gie des Infanterieangriffs und sein Erfolg hängen wesentlich davon ab." Geyer, Hermann,
„Der Angriff im Stellungskrieg", in: Urkunden der Obersten Heeresleitung über ihre Tätig-
keit 1916/1918, hg. v. Erich Ludendorff. Berlin, 1921, S. 672. Vgl. auch Kittler, Kittler, „II
fiore delle truppe scelte", S. 222.
3
Vgl. ebenda, S. 107 und Zabecki, Steel Wind, S. 56.
6
Für Wittgenstein jedenfalls bedeutet es, in der gen Osten ausgerichteten Beobachtungsstelle
Platz zu nehmen, eine Überlebenswahrscheinlichkeit von sechs Wochen eingeräumt zu be-
kommen. Vgl. dazu auch den Tagungsbericht von Kellerhoff, Sven Felix, „Die vergessene
Front. Eine Berliner Tagung rekonstruiert den anderen Krieg, der von 1914 bis 1918 den Os-
ten Europas verwüstete", in: Die Welt vom 02.06.2004.
136 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

dem sicheren Abstand eines Angehörigen der Frontwetterwarte an der West-


front über Sturmtaktiken nachgedacht haben muß. In „Sein und Zeit" scheint
die Feuerwalze jedenfalls der existentialen Grundbewegung des Daseins als
Modell gedient zu haben: „Das Vorlaufen erschließt der Existenz als äußerste
Möglichkeit die Selbstaufgabe und zerbricht so jede Versteifung auf die je
erreichte Existenz."427
Wittgenstein konnte sich - sehr zum Entsetzen seiner Freunde - in der
Nachkriegszeit „denken, was Heidegger mit Sein und Angst meint. Der
Mensch hat den Trieb, gegen die Grenzen der Sprache anzurennen."428 Bleibt
einmal mehr zu klären, was vor diesem Hintergrund Sprache meint.
Während der Abwehr der Brussilow-Offensive blieb Wittgenstein nicht die
Zeit, seinem Kriegstagebuch auch nur eine Zeile anzuvertrauen - abgesehen
von einem Stoßgebet. Bei seinem ersten Einsatz als Aufklärungsoffizier war
es seine Aufgabe, das eigene Artilleriefeuer auf feindliche Stellungen zu
lenken. Nach einem Monat ,,kolossale[r] Strapazen" hat er „viel über alles
Mögliche nachgedacht, kann aber merkwürdigerweise nicht die Verbindung
mit [seinen] mathematischen Gedankengängen herstellen."42' Tags darauf
verzeichnet in seinem Tagebuch: „Aber die Verbindung wird hergestellt! Was
sich nicht sagen läßt, läßt sich nicht sagen!"450 An dieser, und nur an dieser
Stelle ist die „Doppelte Buchführung" des Tagebuches durchbrochen. Seine
private Aufzeichnungen, ganz nach den Vorschriften Für Aufkläreroffiziere
sonst verschlüsselt, erstrecken sich nur hier im Klartext über beide Seiten.
Dieses eine Mal verschränken sich die Eingeständnisse, Beschwörungen,
Selbstaufgaben und Kriegserfahrungen mit den rechtsseitigen unverschlüssel-
ten Philosophemen - aus denen der „Tractatus Logico-philosophicus" hervor-
gehen wird. Thomas Macho ist voll und ganz zuzustimmen: „In mancher
Hinsicht ist der .Tractatus' das seltsamste Kriegstagebuch, das jemals verfaßt
wurde."431 Auch Wittgensteins spätere Betrachtungen insistieren auf das Pri-
mat diagrammatischer und kartographischer Konstrukte, auf mathematische
Sätze, Operationen und Befehle, die dem Denken vorgelagert sind. Die Aus-
bildung seiner Philosopheme ist offenbar vom System des Stellungskriegs
gekennzeichnet, allerdings viel grundsätzlicher als Wittgensteins Biographen
einräumen, wenn sie in seinen Aufzeichnungen bloß das Aufkommen von
Kriegsmetaphern registrieren. Ihnen scheint es allenfalls darum zu gehen, eine
angeblich immer schon genial anmutende Art des Nachsinnens nun in seiner

So Martin Heidegger in „Sein und Zeit" zitiert nach Kittler, „II fiore delle truppe scelte",
S. 224.
8
Ludwig Wittgenstein zu Heidegger in: derselbe, Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der
Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus dem Nach-
laß von Brian F. McGuinness, Frankfurt/M., 1989, S. 68.
Wittgenstein. Geheime Tagebücher, S. 72.
0
Ebenda, S. 73.
1
Macho, Thomas, „Über Wittgenstein", In: Wittgenstein. Ausgewählt und vorgestellt von
Thomas Macho (= Philosophie jetzt!), München, 1996, S. 11- 87, hier S. 42.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 1 37

Verstörung durch den Krieg zu dokumentieren. Wenn Wittgensteins Auf-


zeichnungen metaphorisch von „der Belagerung"432 seiner mathematischen
und logischen Probleme reden, von ihrer Erstürmung und „dem Blut", das er
eher vor der Festung zu lassen bereit ist als „unverrichteter Dinge"431 abzuzie-
hen, dann ist am auffälligsten an dieser martialischen Bildsprache das Ana-
chronistische, in dessen Bann nicht nur Wittgenstein - noch vor jeder Front-
berührung - geriet. Doch an die Stelle von Festungsbelagerungen und Erstür-
mungen sowie heroischen Blutopfern treten alsbald totale sensuelle Depriva-
tion, Erstickungstod und Grabensysteme im Niemandsland. Der Krieg, den
Wittgenstein - nachdem er die Festungsstadt Krakau hinter sich gelassen hat -
von der Beobachtungsstelle aus aufziehen sah, ist nicht mehr durch die Ein-
nahme von Festungen zu entscheiden. Räume gilt es vor allem deshalb zu
erobern, weil allein ihre Überwindung einen Machtvorteil verspricht, während
das eroberte Terrain nach jeder Offensive unwirtlicher erscheint. Gelingt die
Eroberung eines erheblichen Geländeabschnitts, wie in der Märzoffensive
1918, dann kann die Verteidigung der ausgedehnten Front wiederum zum
Verhängnis werden. Wenn nun Zonen visueller Deprivation keine Metaphorik
der Festungsbauwerke mehr abzugewinnen ist, so doch Instrumenten der
Koordination, auf die Wittgenstein am Lehrstuhl für Moral Science an der
Universität Cambridge nicht mehr verzichten wird:
Die Sprache hat für Alle die gleichen Fallen bereit; das ungeheure Netz gut
gangbarer Irrwege. Und so sehen wir also Einen nach dem Andern die gleichen
Wege gehn, und wissen schon, wo er jetzt abbiegen wird, wo er geradeaus fort-
gehen wird, ohne die Abzweigung zu bemerken, etc. etc. Ich sollte also an allen
Stellen, wo falsche Wege abzweigen, Tafeln aufstellen, die über die gefährlichen
Punkte hinweghelfen.434
Daß Wittgenstein sich nur vordergründig an der Alltagssprache und Alltagssi-
tuation orientiert, insgeheim aber auf seine militärischen Praktiken zurück-
greift, kann man in seinen Akten im Wiener Kriegsarchiv nachlesen:
Fähnrich Wittgenstein hat während der Kämpfe bei Ldziany [...] den Dienst als
Aufklärungsoffizier in mustergültiger Weise versehen. Auf seinem Platze im
schwersten Artillerie-Feuer ausharrend, war es der Batterie nur so möglich, das
Feuer auf bedrohte Punkte zu lenken, auf welche der Batteriekommandant nicht
sehen konnte. Auf diese Weise wurden dem Feinde in entscheidenden Momen-
ten empfindliche Verluste beigebracht.435

2
Wittgenstein, Geheime Tagebücher, S. 41.
433
Ebenda, S. 37.
434
Wittgenstein, Ludwig, „Vermischte Bemerkungen", in: derselbe, Werkausgabe, Bd. 8,
Frankfurt/M., 1989, S. 474. Vgl. auch Macho zu Wittgensteins visuellen Strategien: „Über
Wittgenstein", S. 30-34
435
Belohnungsantrag im Kriegsarchiv, Wien, zitiert nach Wittgenstein, Geheime Tagebücher,
S. 141-142. Dem Antrag wurde stattgeben: er erhielt die silberne Tapferkeitsmedaille - die
nicht seine erste und letzte Auszeichnung sein sollte.
138 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Und schließlich sind exakt die Medientranspositionen, die ein Aufklärungsof-


fizier zu leisten hatte, Grundlage dessen, was in Cambridges analytischen
Philosophievorlesungen ganz allgemein Denken heißen wird:
We can Substitute a plan for words. And a thougth may be a wish or an order.
Truth and falsehood then consist in obedience or disobedience to Orders. Think-
ing means operating with plans. [...] How do we know that someone had under-
stood a plan or order? He can only show his understanding by translating it into
other Symbols. He may understand without obeying. But if he obeys he is again
translating - i.e. by co-ordinating his action with Symbols.416
Von den Koordinationen (ein Wort, was unter Artillerietaktikern Konjunktur
hatte437), Kartenoperationen, alphanumerischen Verschlüsselungen und Befeh-
len im Beobachtungsstand vermittelt folgende Schilderung einen Eindruck:
„Außer dem Hauptmann ist noch ein Leutnant da, ein Unteroffizier zur Be-
dienung des Telefons und einer zur Messarbeit auf der Karte, die über ein
Brett gespannt ist." Die „ernste militärische Arbeit" läuft darauf hinaus, „ra-
scher und knapper Schlagworte [...] fast immer in Zahlen" anzusagen, die dem
zivilen Berichterstatter bloß als „eine unverständliche Sprache"438 in Erinne-
rung bleiben. Anders als der erregende Lärm des Trommelfeuers der eigenen
wie auch der feindlichen Artillerie, wird Wittgenstein die Erinnerung an die
permanenten Kommandos, die er über das Feldtelefon durchzugeben hatte,
verhaßt bleiben.439 Dennoch befindet sich Wittgenstein im Aufklärungsstand
erstmalig in einer Position, in der die Integrität der Befehlskette außer Frage
steht. In vorgelagerter Stellung müssen mit Scherenfernrohren sowohl gegne-
rische Minenwerfer und Geschütze als auch „bedrohte Punkte" der eigenen
Linie durch die anstürmende feindliche Infanterie erspäht, Koordinaten auf
einer Gefechtskarte ermittelt und telefonisch Lageberichte an den Batterie-
kommandanten weitergegeben werden. Schließlich ist der zielgenaue Beschuß
durch die eigene Artillerie zu beobachten und gegebenenfalls durch weitere
Anweisungen sicherzustellen. Im medialen Regelsystem aus telefonischen
Kommandos, Rückmeldungen und indexikalischen Gefechtskarten wird die
Befehlskette zum Circulus vitiosus. Es gibt keinen Oberbefehl mehr, sondern
nur noch Rückkoppelungen und Differenzen zwischen dem, was gesagt und
was gezeigt werden muß, unterbrochen von ausgefallenen Telefonverbindun-
gen, ohrenbetäubendem feindlichen Beschuß oder dem Schweigen der Kano-
nen, die weder durch Lärm noch durch Mündungsfeuer vorzeitig ihre Position
offenbaren.

436
Wittgenstein, Ludwig, Wittgenstein 's Lectures - Cambridge. 1930-1932. From the Notes of
John King and Desmond Lee, hg. v. Desmond Lee, Oxford, 1980, S. 24. Vgl. Pichler, Alois,
Wittgensteins philosophische Untersuchungen. Vom Buch zum Album (=Studien zur österrei-
chischen Philosophie, Bd. 36), Amsterdam, New York, 2004, S. 105.
437
Vgl. Zabecki, Steel Wind, S. 45.
438
Ganghofer, Ludwig, Reise zur deutschen Front 1915, Berlin, Wien, 1915, S. 198.
439
McGuinness, Brian, Wittgenstein: A Life. Young Ludwig 1889-1921, London, 1988, S. 240.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 139

Im Beobachtungsposten sind alle Instrumente und Medien auf das Hantie-


ren mit Zeichen und Befehlen abgestellt und werden zu jenen Grundtätigkei-
ten, die der Philosophie des 20. Jahrhunderts noch zum Denken gereichen. Ein
Instrument indes fehlt völlig: Von Waffengebrauch ist auch hier schon keine
Rede mehr. Auch wenn Artilleriebeobachter ähnlich weit vorrücken wie die
Sturmtruppen in ihrer Ausgangsstellung, und jenen damit näher sind als der
eigenen Batterie, so besteht zwischen beiden eine grundlegende Differenz. Sie
geht aus den Schilderungen Ernst Jüngers, einem Stoßtruppführer der ersten
Stunde, deutlich hervor.440 Als Jünger aufgrund einer Verwundung am Bein
zeitweilig „der Posten eines Beobachtungsoffiziers übertragen"441 wird, nimmt
er die vordersten feindlichen Stellungen nicht mehr ins Visier des Sturmge-
wehrs, sondern beobachtet sie mit dem Fernglas:
Die Beobachtungsstelle [...] bestand aus einem eingebauten Scherenfernrohr,
durch das ich die mir wohlbekannte vordere Linie beobachtete. Bei stärkerem
Feuer, bunten Leuchtkugeln oder besonderen Ereignissen war die Division tele-
fonisch zu benachrichtigen. [...] Der Beobachtungsstand war unauffällig in das
Gelände gebaut. Von außen war nur ein schmaler Schlitz zu sehen, der sich halb
unter einer Graskuppe verbarg. So kamen nur Zufallstreffer in die Nähe, und ich
konnte aus dem sicheren Versteck bequem das Benehmen der einzelnen Leute
und kleinen Abteilungen verfolgen, auf das man weniger achtet, wenn man
selbst den beschossenen Raum durchquert. Die Landschaft glich zuweilen, vor
allem in den Stunden der Dämmerung, einer großen Steppe, die von Tieren be-
völkert ist. Besonders, wenn auf in regelmäßigen Abständen beschossene Punkte
immer wieder neue Ankömmlinge zustrebten, um sich dann plötzlich zu Boden
zu werfen und in höchster Geschwindigkeit davonzueilen, drängte sich der Ver-
gleich mit einer bösartigen Naturlandschaft auf. Der Eindruck war wohl deshalb
so stark, weil ich gleichsam als ein vorgeschobenes Sinnesorgan der Führung die
Vorgänge in aller Ruhe betrachtete. Ich hatte eigentlich weiter nichts zu tun, als
die Stunde des Angriffs abzuwarten.442

In der Koordination und Synchronisation einzelner Waffengattungen realisiert


Ernst Jünger nun als „vorgeschobenes Sinnesorgan" die so autopoetische wie
operative Schließung des Streitkörpers. Mit gleich großem identifikatorischem
Interesse verfolgt er neben der Feindbewegung auch die eigenen Kampfein-
heiten, die erst von der Beobachtungsstelle aus preisgeben, was auf der opera-
tiven Ebene selbst einem Sturmtruppführer verborgen bleiben muß. Die „vor-
geschobene", organisch-mediale Extension zeigt im Zusammenspiel der
einzelnen Waffengattungen auch operative Beschränkungen und Abhängig-
keiten. Wenn der verhinderte Sturmtruppführer in der Funktion des Beobach-
tungsoffiziers seine Tätigkeit nun allein auf das Erwarten der Stunde des

440
Vgl. Kittler, „11fioredelle truppe scelte", S. 210.
441
Jünger, Ernst, In Stahlgewittern. [Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppfiihrers], in: derselbe.
Sämtliche Werke: Der Erste Wellkrieg, Tagebücher I, Erste Abt., Bd. 1, Stuttgart, [1920]
1978, S. 9-300, hier S. 126.
140 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Angriffs beschränkt, dann kommt die Zerrissenheit, die im Realen des


Schlachtfeldes gründet, zur Sprache.
An der Somme gibt Jünger, körperlich wiederhergestellt, einem Reflex
nach, wodurch die Entkopplung von Schießen und Beobachten wieder in eins
fällt:
Am Vormittag dieses erfolgreichen Morgens schlenderte ich durch meinen Gra-
ben und sah auf einem Postenstand den Leutnant Pfaffendorf, der von dort mit
einem Scherenfernrohr das Feuer seiner Minenwerfer leitete. Neben ihn tretend,
bemerkte ich sofort einen Engländer, der hinter der dritten feindlichen Linie über
Deckung ging und sich in seiner khakibraunen Uniform scharf vom Horizont ab-
zeichnete. Ich riß dem nächsten Posten das Gewehr aus der Hand, stellte Visier
sechshundert, nahm den Mann scharf aufs Korn, hielt etwas vor den Kopf und
zog ab. Er tat noch drei Schritte, fiel dann auf den Rücken, als ob ihm die Beine
unter dem Leib fortgezogen wären, schlug ein paar Mal mit den Armen und roll-
te in ein Granatloch, aus dem wir durch das Glas noch lange seinen braunen Är-
mel leuchten sahen.443
Das Gewehr immer schußbereit am losen Riemen zu tragen, ist eine Vor-
schrift der im Sturm erprobten Infanterie, an der wohl Jünger selbst mitge-
wirkt hat.444 Für den Artilleriebeobachter gilt indes das genaue Gegenteil: Er
hat jeden Waffengebrauch nach Möglichkeit zu vermeiden. Geheimhaltung
der Beobachtungsstelle ist oberstes Gebot, seitdem das gegnerische Abwehr-
feuer auf sie zu zielen drohte.445 Die Beobachtungsstelle zu treffen, hieß auch,
ihre telefonisch verbundene Batterie außer Funktion zu setzen. Beobachtungs-
stellen, die durch Camouflage der Sicht entzogen sind und Waffen nicht
unmittelbar einsetzen, laufen zumindest nicht wie Batterien Gefahr, daß
Lichtmeßverfahren ihr Mündungsfeuer von unterschiedlichen Positionen
anpeilen und präzise orten, oder mithilfe von Schallmeßverfahren Abschußor-
te berechnen. Gemessen an den Anordnungen, die der Stellungskrieg hervor-
gebracht hat, ist Jüngers Schuß verwerflich - denn er gefährdet die eigene
Mannschaft mehr als er der gegnerischen Seite schadet. Seine Demonstration
eines gezielten Schusses zelebriert vielmehr ein überkommenes Minimalmo-
dell des Krieges: das Duell. Denn nicht nur „ein Engländer" geht in der Schil-
derung „hinter der dritten feindlichen Linie über Deckung", sondern auch
Jünger selbst schlendert so ostentativ zum Postenstand, daß er sich aus der
Deckung erst gar nicht zu erheben braucht.

Ebenda, S. 134.
Vgl. Kittler, „II fiore delle truppe scelte", S. 207. Anmerkung 14.
Vgl. Linnenkohl, Hans, Vom Einzelschuß zur Feuerwalze. Der Wettlauf zwischen Technik
und Taktik im Ersten Weltkrieg, Koblenz, 1990, S. 150-151. In den Schießvorschriften der
Artillerie heißt es ausdrücklich: „Die Feuereröffnung befiehlt der Truppenfiihrer. Vorzeitige
Feuereröffnung verrät dem Feinde die Stellung." Anonymus, „Die Ausbildung der Artillerie
auf Grund der Kampfschule und Schießvorschrift (A.B.A). Nach amtlichem Material für alle
Waffen bearbeitet", zugleich 5. Beiheft zum 107. Jg. des Militär-Wochenblatt, Berlin, 1923.
S. 14.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 141

Als Jünger dann während des Zweiten Weltkriegs mitten im kaukasischen


Gebirge eine versprengte russische Einheit auf dem gegenüberliegenden
Bergrücken ausmacht, versetzte ihn der Blick ins Fernrohr auf eine Mond-
landschaft, war nur heißen kann, die Erinnerung an die von Granattrichtern
übersäten Schlachtfelder des Stellungskrieges. Mit traumwandlerischer Präzi-
sion sucht ihn ein Gedanke heim: „Während des Ersten Weltkrieges hätte man
noch drauf schießen lassen."446
„Vom Einzelschuß zur Feuerwalze"447 wird die einschlägige Literatur vom
irreversiblen Gang der Geschichte zusammengefaßt, angetrieben von einem
Wettlauf zwischen Technik und Taktik. Das Duell, auf dessen Prinzip sich bis
zum ersten Weltkrieg im Zweifelsfall alle Komplexitäten des Krieges noch
reduzieren, hat damit endgültig ausgedient. Der Dreißigjährige Krieg mag das
Gewaltmonopol hervorgebracht haben, restlos durchgesetzt hat es erst der
Weltkrieg. Weder die Androhung der Todesstrafe im preußischen Landrecht
hat mit der Ausübung des Duells Schluß gemacht noch Kants Appelle an die
Vernunft, Duellanten bewiesen keineswegs den Mut des Kriegers, der Staaten
förderlich sei.448 Gegen eine Institution, die zur Wiederherstellung der Ehre
das Erleiden und das Ausüben von Gewalt gleichermaßen zuließ, kam keine
staatliche Macht an. Daß das Duellwesen mit dem Ersten Weltkrieg endgültig
aufgegeben wird, liegt in den ureigenen Tötungsmechanismen des Weltkriegs
begründet, die die Gleichung vom Zweikampf aufheben. Mehr noch als das
Recht der Gewaltausübung ist der Kodex, das eigene Leben aufs Spiel zu
setzen, umgeschrieben worden. Dramatiker wie Kleist konnten noch mit dem
Prinzen von Homburg die Freiheit des Todesmutes beschwören, der jede
Insubordination vergessen macht. Der Stellungskrieg hat mit einem Standes-
denken, wie es die altgedienten Regimenter der Totenkopfhusaren verkörper-
ten, weitgehend aufgeräumt zugunsten funktioneller Kampfeinheiten, die auf
Akronyme wie FEKA (Fernkampfartillerie) hören und in einer zirkulären
Logik per se und nicht erst im Ausnahmezustand die Existenz der eigenen
Einheiten zur Absicherung einer anderen einsetzen. Die Kriegsmaschine
desavouiert die Möglichkeit des Einzelenen, zur Ehrenrettung selbst den Tod
zu suchen, um stattdessen auf ganz bestimmte Weise und Weisung das Leben
vielen lebensgefahrlichen Risiken auszusetzen.

Jünger, Ernst, „Kaukasische Aufzeichnungen", in: derselbe, Sämtliche Werke: Strahlungen


IL Tagebücher II, Erste Abt., Bd. 2, Stuttgart, [1949] 1979, S. 407-492, hier S. 455. Die Sze-
ne erinnert an Jüngers Frontbeobachtung an der Somme, allerdings kommt ihm nun nicht
mehr der eigenmächtige Griff zum Gewehr in den Sinn, sondern doch noch der Befehl, den
die Schießvorschrift gefordert hätte: Schießen zu lassen. Die Kriegsmaschine der Weltkriege
ist beherrscht von einer Logik des Lassens: Man läßt schießen oder man läßt selbst das
Schießen-lassen sein.
Linnenkohl, Vom Einzelschuß zur Feuerwalze.
Vgl. Kant, Immanuel, „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", in: Kant's gesammelte
Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, 1. Abt.,
Berlin, [1798] 1917, S. 117-333, hier S. 259.
142 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Der tiefe Einschnitt, den die Logik im Dasein besorgt, spricht noch aus
Wittgensteins Kriegstagebuch: „Wenn der Selbstmord erlaubt ist, dann ist
alles erlaubt"449, heißt es dort im Einklang mit dem Argument axiomatischer
Mathematik, wonach eine Kontradiktion nicht etwa auszuschließen sei, weil
darin etwas Falsches oder Unwahres zu erblicken sei, sondern weil sonst die
vollständige Indifferenz sämtlicher Beweisgänge drohe. Umgekehrt mag es
kaum Zufall sein, daß Wittgenstein zur Veranschaulichung mathematischer
und zeichentheoretischer Zusammenhänge ein Bild vom Zweikampf wählt:
„A ficht mit B".450 Wittgenstein kommt auf das Beispiel in seinen Aufzeich-
nungen mehrmals zurück - bevor schließlich die Duellforderung zur realen
Option der Lebensbewältigung wird.45' Paare kämpfender Männer, so führt
Wittgenstein aus, können allein dadurch dargestellt werden, daß von einem
kämpfenden Paar auf weitere geschlossen wird.452 Damit verweist eine Zei-
chenbeziehung nicht mehr notwendig auf das Bezeichnete zurück, sondern
beerbt andere zeichenhafte Strukturen mit ihren eigenen logischen Beziehun-
gen. Zwischen Zeichen und Bezeichnetem muß keineswegs eine „logische
Identität" bestehen, wenn interne, d.h. nicht aussagbare, jedoch zeigbare
logische Relationen sie in Beziehung setzen. Zur Herstellung der Identität mit
dem Signifikat haben für Wittgenstein Zeichen und Bezeichnungsweisen
einen Verbund einzugehen, der ihre logischen Eigenschaften mit der Logik
der Sachverhalte der Welt in Deckung bringt. Sätze beschreiben damit nicht
einfach Sachverhalte der Welt, sondern bilden sie vielmehr nach: „Im Satz
wird eine Welt probeweise zusammengestellt. (Wie wenn im Pariser Gerichts-
saal ein Automobilunglück mit Puppen etc. dargestellt wird.)"453 Den Zusam-
menhang zwischen Modellen, Bildern und „den Zeichen auf dem Papier"454
auf der einen, und einem „Sachverhalt draußen in der Welt" auf der anderen
Seite zu finden, macht sich Wittgenstein an der Ostfront zur Aufgabe, wann
immer ihm die Zeit dazu bleibt.455 Auch wenn nicht „alle Sachverhalte in
Bildern aufs Papier" gebracht werden können, ist sich Wittgenstein gewiß,
daß sich zumindest alle „logischen Eigenschaften der Sachverhalte in einer
zweidimensionalen Schrift abbilden"456 lassen. In einer Welt, deren Sachver-
halte sich ohne Zutun in Zeichenbeziehungen spiegeln und deren Logik für
sich selbst zu sorgen hat, haben Subjekte letztlich keinen Platz: „Das denken-

9
Wittgenstein, Notebooks 1914-1916, S. 91.
0
Ebenda, S. 7.
' Vgl. Ebenda.
2
Ebenda, S. 19.
3
Ebenda, S. 7.
4
Ebenda, S. 19.
5
Vgl. ebenda, S. 7 und von Wright, Georg Henrik, „Ludwig Wittgenstein: A Biographical
Sketch", in: The PhilosophicalReview, Bd.4, Nr. 64, 1955, S. 527-545, hier S. 532-533.
6
Wittgenstein, Notebooks 1914-1916, S. 7.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 143

de, vorstellende Subjekt gibt es nicht."457 Es wird zur unüberwindlichen Gren-


ze, die sich nicht selbst überwinden kann, um sich zu ermessen: „Das Subjekt
gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt."458 Wittgenstein
bringt Jüngers „vorgeschobenes Sinnesorgan" damit auf den Punkt. Im Auf-
klärungsstand, der der feindlichen Sicht entzogen ist, und von wo aus das
Schlachtfeld durch die sprachliche Vermittlung seine Grenzen erfährt,
„schrumpft" das „Ich des Solipsismus [...] zum ausdehnungslosen Punkt
zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte Realität."459 In der solipsisti-
schen Betrachtung, die sich laut Tagebucheintrag auf dem Weg in die Feuer-
stellung einstellt460, läßt nichts „am Gesichtsfeld [...] daraufschließen, daß es
von einem Auge gesehen wird. [...] Das Gesichtsfeld hat nämlich nicht etwa
eine solche Form:"461 (Abb. 16)

Auge —

Abb. 16: Wittgensteins Schema aus dem Tractatus


Genausowenig läßt das camouflierte Schlachtfeld durch irgendetwas darauf
schließen, daß überall spähende Augen auf es gerichtet sind. Das Subjekt
konvergiert zu einem Stück Papier und zur Netzhaut, die das Denken in
Zweikämpfen aufgegeben hat, jedoch ganzen Batterien die Richtung weist.
Wittgenstein begann sein Kriegstagebuch zwei Wochen nachdem er als
Freiwilliger in die österreichisch-ungarische Armee eintrat mit eben jenem
Satz, daß die „Logik [...] für sich selbst sorgen"462 muß, so daß „ihr nur
zu[zu]sehen [sei], wie sie es macht."463 Am Ende, als die Doppelmonarchie
und mit ihr die österreichisch-ungarische Armee der Auflösung anheim fällt,

Wittgenstein, Ludwig „Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philo-


sophicus", in: Werkausgabe, Bd.l, Frankfurt/M., [1922] 1995, S. 8-85, hier S. 67, (Nr.
5.631).
18
Ebenda, S. 68 (Nr. 5.632).
" Wittgenstein. Notebooks 1914-1916, S. 82.
,0
Wittgenstein, Geheime Tagebücher 1914-1916, S. 74.
Wittgenstein, „ Tractatus logico-philosophicus", S. 68 (Nr. 5.633 u. 5.6331).
'2 Wittgenstein, Notebooks 1914-1916, S. 2.
13
Ebenda. S . U .
144 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

hat sich seine Arbeit „ausgedehnt von den Grundlagen der Logik zum Wesen
der Welt."464 Ist ein Problem gelöst oder eine Lage bewältigt, verlieren sie ihre
Bedeutung. Für Wittgenstein sind Sätze lediglich „Leitern", die - sobald sie
ihre Funktion unter Beweis gestellt haben - weggeworfen werden können.465
Jünger kommt in seiner Studie über die Tätigkeit des Arbeiters, dessen Typus
aus dem Weltkrieg hervorgegangen ist, zum selben Schluß:
Alle diese Begriffe (Gestalt, Typus, organische Konstruktion, total) sind notabe-
ne zum Begreifen da. Es kommt uns auf sie nicht an. Sie mögen ohne weiteres
vergessen oder beiseite gesellt werden, nachdem sie als Arbeitsgrößen zur Erfas-
sung einer bestimmten Wirklichkeit, die trotz und jenseits jedes Begriffes be-
steht, benutzt worden sind; der Leser hat durch die Beschreibung wie durch ein
optisches System hindurchzusehen.466
Im Krieg verraten letztlich noch die durchschlagendsten Techniken und Tak-
tiken ihre Machart an den Feind, wie wirkungsvoll sie anfänglich auch waren
und fordern ihre eigene Überbietung ein. Diese Logik der Überbietung bedeu-
tet der Krieg des frühen 20. Jahrhunderts nicht ein letztes Mittel politischer
Klarstellung, sondern markiert den unüberwindlichen Spielraum eines Plan-
spiels, das unsagbare und unvorstellbare Tatsachen schafft.

2. Krieg auf dem Mars: Wittgensteins erstes Sprachspiel

„Was ist der Unterschied zwischen der Sprache (M) [wie Mathematik] und
einem Spiel? Man könnte sagen: Das Spiel hört dort auf, wo der Ernst be-
ginnt, und der Ernst ist die Anwendung."467 Wittgenstein ist aus italienischer
Kriegsgefangenschaft nach Wien zurückgekehrt. Er hat seine Untersuchungen
der Grundlegung der Mathematik wieder aufgenommen - entgegen dem Fazit
seines Tractatus', das das Problem der Logik ein für alle Mal als gelöst erklär-
te, und damit zeige, wie wenig damit getan sei.468
In Wittgensteins Fragen nach der Grundlage der Mathematik ist der Krieg
wieder gegenwärtig: Nun hat er die Form des Kriegsspiels angenommen, das
jeden Krieg überdauert und dem das Material niemals ausgeht:
Denken wir an das Schachspiel! Heute bezeichnen wir es als Spiel. Gesetzt aber,
ein Krieg würde so geführt werden, daß die Truppen auf einer schachbrettförmi-
gen Wiese miteinander kämpfen, und daß derjenige, der matt gesetzt wird, den

465
Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, S. 85 (Nr. 6.53).
466
Jünger. Ernst, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt zitiert nach Heidegger, Martin, Über die
.Linie'", in: Freundschaftliche Begegnungen, hg. v. Armin Mohler, Frankfurt/M., 1955, S. 9-
45, hier S. 24.
467
Wittgenstein, Ludwig, „Kalkül und Anwendung", in: Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und
der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus dem
Nachlaß von B.F. McGuinness, Frankfurt/M., 1989, S. 170.
468
Vgl.Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, S. 3
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 145

Krieg verloren hat. Dann würden sich die Offiziere genau so über das Schach-
brett beugen, wie heute über die Generalstabskarten. Das Schach wäre jetzt kein
Spiel mehr, sondern Ernst.469
Wittgenstein erinnert nicht an einen durchlebten Krieg, sondern begibt sich
auf die Ebene seiner Führung. Die Distanz, die aus seiner Analogie spricht, ist
zweischneidig. In dem Maße, in dem das Schlachtfeld nicht mehr die taktische
Grundlage des Krieges bildet, sondern eine zunehmend losgelöste Ebene
symbolischer Konfigurationen, heißt gerade Distanz zum Schlachtfeld halten,
buchstäblich Krieg führen.
Mit dem Spiel teilt sich das Kriegsspiel bis zur UnUnterscheidbarkeit eine
Sphäre, die eine freie Entfaltung durch Tatsachen und Sachverhalte nach
Möglichkeit nicht behindert. Deren Umbildung jedoch behält sich das Kriegs-
spiel im Unterschied zum bloßen Spiel vor.
Wittgenstein läßt anklingen, daß das Schach wohl nicht immer schon als
Spiel anzusehen war. Denn daß das Spiel überhaupt - gewissermaßen phylo-
genetisch - in eine Fundamentalopposition zum Ernst treten konnte, ist wohl
eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts. Ontogenetisch gesehen, zeichnet sich
für Indologen immer deutlicher ab, daß das Schach aus einem Kriegsspiel
hervorging: Nordindische Herrscher des 6. Jahrhunderts zogen probeweise
Terrakottafiguren über den Sandboden, deren Konfiguration ihrem vierglied-
rigen Heer glich.470 Wittgensteins Schachanalogie impliziert damit eine An-
nahme und wirft eine doppelte Frage auf: Tatsache ist, daß Offiziere auch
gerade auf Generalstabskarten operieren, obwohl kein Krieg herrscht - wie
Wittgensteins Gebrauchs des Präsens verdeutlicht. Doch wodurch ist sicher-
gestellt, daß hier kein bloßes Spiel betrieben wird? Und wodurch ist sicherge-
stellt, daß bei einer Partie Schach kein Krieg geführt wird? Die Antwort auf
beide Fragen ist dieselbe: durch nichts. Genau aus diesem Grund wird auch
Wittgensteins Philosophie der Sprachspiele eine Kritik nicht treffen: Sie
manifestiere schon wegen ihres Namens ihre Irrelevanz. Als irrelevant mögen
Sprachspiele sich durchaus erweisen, doch keine definitorische Macht kann
solchen Nachweisen vorgreifen. Die Grenzen des Spiels können nur erspielt
werden und so beginnt auch mit jedem Kriegsende das strategische und takti-
sche Durchspielen eines zukünftigen. Geht das Spiel in einer Anwendung auf.

Wittgenstein, Kalkül und Anwendung, S. 170.


Vgl. Syed, Renate, Kanauj, Maukharis und das Caturanga. Der Ursprung des Schachspiels
und sein Weg von Indien nach Persien, Kelkheim 2001, S. 10. Syed untermauert die These
des großen Schachforschers Harold J. Ruthen Murray, dem zufolge das Schach „auf einen
Schlag" als Kriegsspiel entworfen wurde. Die Frage stellt sich auch deshalb, weil es Elemen-
te aufweist, wie sie in keinem anderen Spiel zu finden sind. Caturanga, wie das Schachspiel
aber auch das Heer in Indien heißt, taucht erstmalig im sechsten Jahrhundert als Geschenk
eines nordindischen Herrschers in den Urkunden des Persischen Königshofs auf. Syed ver-
mutet in dem ungenannten Herrscher den nordindischen König Sarvavarman. Auf ihn geht
die indische viergliedrige Heeresformation bestehend aus Elefanten, Pferden, Wagen und
Fußsoldaten zurück - eine Gliederung, die auch die ersten überlieferten Formen des Schach-
spiels kennzeichnet.
146 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

dann führt es zum Ernstfall, und die Anwendung zur wissenschaftlichen


Anwendung, wie Wittgenstein an derselben Analogie von Schachspiel und
Kriegsspiel zeigt:
Wenn es Menschen auf dem Mars gäbe und sie so Krieg miteinander führten wie
die Figuren auf dem Schachfeld, dann würde der Generalstab die Regeln des
Schachspiels zum Prophezeien benutzen. Es wäre dann eine wissenschaftliche
Frage, ob sich der König bei einer bestimmten Spielkonstellation matt setzen
läßt, ob er sich in drei Zügen matt setzen läßt und so weiter.471
Die Differenz zwischen der Anwendung von Zeichen und Anwendungen, die
aus der Anwendung von Zeichen hervorgehen, tilgt Wittgensteins Analogie:
Der Zeichengebrauch kann sich im Spiel genauso gut erschöpfen wie er ganze
Kriegsverläufe voraussagt. Beide Extreme unterliegen womöglich ein und
demselben „System von Spielregeln"472 - einem System, das gerade den
Gebrauch dessen, was es regelt, letztlich nicht festlegt.
Anhand dieser dramatischen Indifferenz kommt Wittgenstein erstmals auf
das Spiel zu sprechen und verbindet es mit Fragen zu Grundlagen der Mathe-
matik und ihrer Sprache. Kommentatoren, die indes das Sprachspiel für ein
originäres Philosophem Wittgensteins halten, sehen über langwierige Ausei-
nandersetzungen hinweg, in denen zur Klärung mathematischer Grundlagen
notorisch auf Zeichenspiele rekurriert wurde. Zuletzt und vielleicht am ein-
drücklichsten überführte Hermann Weyl Huberts axiomatisch-formalistische
Beweisverfahren in Begriffe des Schachspiels und lieferte Wittgenstein damit
ein Grundschema seiner Sprachspiele.473 Erst als Wittgenstein in seinen Be-
trachtungen von mathematisch begriffenen Schachspielen zu allgemeinen
Sprachspielen übergeht, erfährt seine Philosophie mathematischer Sprachkon-
struktionen ihre Ausweitung um eine generelle Ontologie grammatikalischer
Regeln.474
Wittgensteins Ausführungen zum Spiel, Kriegsspiel und zu mathemati-
schen Formalisierungen protokollierte Friedrich Waismann, um sie auf der
„2. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften" in Königsberg

71
Wittgenstein, Ludwig, „Was in Königsberg zu sagen wäre", in: Werkausgabe: Ludwig
Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd.
3, hg. aus dem Nachlaß von B.F. McGuinness. Frankfurt/M., 1989, S. 102-107, hier S. 104.
72
Ebenda, S. 103.
73
Weyls entsprechender Beitrag im Symposium wird explizit genannt und dies, obwohl Witt-
genstein sonst ablehnte, den akademischen Apparat durch Zitierungen zu bedienen. Dies hielt
ihn auch davon ab, in Cambridge eine Dissertationsschrift einzureichen. Tatsächlich geht aus
Waismanns Aufzeichnungen hervor, daß Wittgenstein auch Weyls Beitrag im Handbuch der
Philosophie kannte, der den Schematismus des Schachspiels und Huberts Beweisverfahren
ebenfalls aufführt. Vgl. Weyl, Hermann, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft,
München, Wien, [1927] 1982, S. 40.
74
Vgl. Wittgenstein, Ludwig, „Philosophische Grammatik", in: derselbe, Werkausgabe, Bd. 4.
hg. v. Rush Rhees, Frankfurt/M., 1984, S. 47-51, insbesondere S. 51.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 147

wiederzugeben.475 Auf der Tagung kamen Anhänger der logizistischen, forma-


listischen und intuitionistischen Schule zusammen, um noch einmal ihre
mathematischen Standpunkte zu markieren. David Hubert hatte mit Beginn
des 20. Jahrhunderts die Mathematik zu einem Formalismus verpflichtet, der
nicht wie Russells und Whiteheads Logizimus in dem Versuch verharren
sollte, allein mit logischen Elementen die Mathematik zu begründen. Seine
Beweisverfahren vereinten arithmetische und logische Operatoren, um eine
axiomatische Basis zu errichten. Vor allem der Niederländer Brouwer, und
mit Beginn der 20er Jahre auch Hermann Weyl warfen Hubert mathematische
Operationen vor, deren behauptete Existenz und Wirkung durch keine ma-
thematische Intuition und durch kein konstruktives Verfahren sichergestellt
werden könne.
Zum Zeitpunkt der Königsberger Tagung hatte der Grundlagenstreit der
Mathematik seinen Gipfelpunkt bereits überschritten. Weyl hatte sich wieder
auf Hilberts Seite geschlagen, denn mochte ihm der Formalismus ontologisch
auch fragwürdig erschienen sein, so fügte er sich dem Erfolg, den die Anwen-
dung von Hilberts Methode innerhalb der theoretischen Physik versprach.
Darüber hinaus stellte Kurt Gödel auf der Tagung erstmals die Grundzüge
seines bahnbrechenden Beweises vor, der Hilberts Traum der Sicherstellung
einer widerspruchsfreien Mathematik zwar zum Scheitern brachte, den Be-
weis jedoch allein mit Hilberts formalistischen Instrumenten führte und
Brouwers Intuitionismus außen vor ließ.476 Auch wenn Hilberts formalisti-
sches Fernziel der Widerspruchsfreiheit und Entscheidbarkeit sich als uner-
reichbar erwies, so hatte sich die formalistische Methode aufgrund von Gödels
Arbeiten zumindest als konkurrenzlos erwiesen, wenn es darum ging, ihre
eigenen Grenzen zu ermessen.
Brouwer hatte sich zuletzt zwei Jahre zuvor in Wien mit zwei Vorträgen in
den Diskurs eingebracht. Sie sollten für lange Zeit seine letzten öffentlichen
Auftritte bleiben - der Streit mit Hubert war eskaliert, und es ging längst nicht
mehr allein um mathematische Existenzen.477 Zu Brouwers Zuhörern zählte
auch Wittgenstein, der von Waismann zum Besuch der öffentlichen Veran-

Waismann war kurzfristig zur Tagung eingeladen worden. Allerdings erreichte das Typo-
skript seines Beitrages die Herausgeber des Tagungsbandes nicht. Vgl. Waismann, Friedrich.
„Vorbemerkung", in: Erkerminis. Bericht über die 2. TagungfiirErkenntnislehre der exakten
Wissenschaften in Königsberg 1930, Bd. 2, Hft. 2-3, 1931, S. 87.
Mancosu, Paolo, „Between Vienna and Berlin. The immediate Reception of Gödel's Incom-
pleteness Theorems", in: History and Philosophy of Logic, Bd. 20, 1999, S. 33-45, hier S. 37.
Brouwer war im selben Jahr von Hubert aus dem Herausgeberkreis der mathematischen
Annalen gedrängt worden. Solange der Grundlagenstreit in Zeitschriften wie jener und an
Lehrstühlen wie dem Hilberts in Göttingen ausgetragen worden war, kam es zu keinem ein-
schneidenden Bruch, sondern erst als Brouwer einen Ruf nach Göttingen ausschlug, sich in
Berlin für einen Lehrstuhl umwerben ließ und in Amsterdam ein Zentrum ausbaute, das ande-
re Mathematiker anziehen sollte. Am Ende schien es, als würde der Streit mehr durch die
Ausweitung von Institutionen und weniger von der Ausbreitung von Intuitionen angefeuert
werden.
148 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

staltung hatte erst überredet werden müssen.478 Laut Herbert Feigl, der sich
Waismann und Wittgenstein an jenem Abend anschloß, brachte der Vortrag
dann jedoch Wittgenstein dazu, seine philosophischen Ergründungen der
Mathematik wieder aufzunehmen.479
Ob Wittgensteins Position als eine weitere mathematische Herangehens-
weise anzusehen sei, wurde auf der Tagung in Königsberg zumindest verhan-
delt.480 Begriffen wurde sein Standpunkt jedenfalls dahingehend, daß die
Bedeutung eines Begriffes in seinem Gebrauch liegt.481 Damit wird auch klar,
daß er vor allem von Brouwers und Weyls früheren Angriffen auf die forma-
listische Mathematik ausging, die darin gipfelten, Mathematik sei mehr Tun
denn eine Lehre.482
Es sind nicht mehr die Gründer der mathematischen Schulen selbst, son-
dern mittlerweile die Generation ihrer Nachfolger, die in Königsberg auf die
Grundlagen der Mathematik zurückblicken. Anstelle von Hubert sprach John
von Neumann über den Formalismus. Brouwer war durch seinen Schüler
Arend Heyting vertreten und Russells logizistische Position führte Rudolf
Carnap aus.
Fragt man einmal nicht nach den strittigen mathematischen Konstrukten,
um die der Grundlagenstreit ging, sondern nach einem Referenzsystem, das
als Voraussetzung des Grundlagenstreits keiner Einführung bedarf und von
keiner Seite angezweifelt wird, dann lautet die Antwort: Das Spiel. Von Neu-
mann, Heyting oder auch Gödel, sie alle griffen auf der Tagung in Königsberg
den Begriff des Formelspiels auf: Laut Heyting bedeutet das „Wort Mathe-
matik'" für den Intuitionisten „eine gedankliche Konstruktion", für den For-
malisten „ein Spiel mit Formeln"48', in dem - so läßt sich mit Hubert hinzufü-
gen - eine „Technik des Denkens"484 sich überhaupt erst konstituiert. Von
Neumann stellte in seinem Beitrag zur formalistischen Grundlegung der
Mathematik heraus, daß sich zwar die

Vgl. McGuinness, Brian, „Vorwort", in: Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der Wiener
Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus dem Nachlaß von
B.F. McGuinness, Frankfurt/M., 1989, S. H-31, hier S. 16.
Monk, Ray, Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius, London, 1990, S. 249.
Vgl. Rudolf Carnap in der Diskussion zur Grundlegung der Mathematik, in: Erkenntnis,
S. 141.
1
Vgl. Rudolf Carnap in der Diskussion zur Grundlegung der Mathematik, in: Erkenntnis.
Bericht über die 2. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften in Königsberg
1930, Bd. 2, Hft. 2-3, 1931, S. 135-145, hierS. 143.
So Weyl, Hermann, „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik", in: Gesammelte
Abhandlung, Bd. 2, hg. v. Komaravolu Chandrasekharan, Berlin, Heidelberg, New York.
[1921] 1968, S. 143-180, hier S. 157.
3
Diskussion zur Grundlegung der Mathematik am Sonntag, dem 7. Sept. 1930, in: Ebenda,
S. 146.
4
Hubert, David, „Die Grundlagen der Mathematik", in: Abhandlungen aus dem Seminar der
Hamburgischen Universität, Bd. 6, 1928, S. 65-85, hier S. 79.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 149

Behauptung eines klassisch-mathematischen Satzes [...] nicht immer finit (d.h.


überhaupt) kontrollieren [läßt], wohl aber der formale Weg, auf dem man zu ihr
gelangt.485
Deshalb seien weniger die Aussagen selber zu untersuchen, sondern vielmehr
die Beweismethoden, die als „kombinatorisches Spiel mit den Grundsymbo-
len" aufzufassen seien.486 Eine im Vorfeld der Tagung gemachte Feststellung
Wittgensteins scheint von Neumanns Ausführungen vorauseilend zu kommen-
tieren:
Etwas am Formalismus ist richtig und etwas ist falsch. Die Wahrheit am Forma-
lismus ist die, daß sich jede Syntax als ein System von Spielregeln auffassen
läßt. Ich habe darüber nachgedacht, was Weyl wohl meinen kann, wenn er sagt,
der Formalist fasse die Axiome der Mathematik wie die Regeln des Schachspiels
auf. ich möchte sagen: Nicht nur die Axiome der Mathematik, sondern alle Syn-
tax ist willkürlich.487
Daß Axiome der Begründung entbehren, war mathematischer Konsens: Sollen
Axiome die Basis aller Ableitungen bilden, entziehen sie sich selbst jeder
Ableitung. Doch von Neumann und - unter anderem Vorzeichen - auch Witt-
genstein sehen nun auch Beweisverfahren der Willkür eines Zeichenspiels
entspringen.488 Damit entfallen jedoch auch alle Ursprungslegenden, die Be-
weisfiguren letztlich noch aus dem Genius und der Eingebung von Mathema-
tikern hervorgehen sahen.
Von Neumann widersprach Carnap jedenfalls vehement und bestand dar-
auf, daß „tatsächlich sinnlose Symbole eingeführt [werden]. Aber die Einfüh-
rung dieser sinnlosen Symbole ist bei Hubert kein Selbstzweck."489 Von Neu-
mann ging die Konsequenz von Gödels Beweis als erstem auf der Tagung auf,
und er baute ihm mit seiner Einlassung dort eine Brücke. Gödels im Tagungs-
band eingebrachter Kommentar, der noch einmal auf seinen Beweis der Un-
möglichkeit einer unumstößlichen Widerspruchsfreiheit in der Mathematik
eingeht, greift von Neumanns Charakterisierung des Formalismus' auf und
übernimmt auch dessen Begrifflichkeiten. Im Formalismus, so Gödel, geht es
um eine „rein kombinatorische Eigenschaft gewisser Zeichensysteme und der
für sie geltenden »Spielregeln'", mit denen sich schließlich „kombinatorische

von Neumann, John, „Die formalistische Grundlegung der Mathematik", in: Erkenntnis,
Bericht über die 2. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften in Königsberg
1930, Bd. 2, Hft. 2-3, 1931, S. 116-121, hier S. 117.
6
Ebenda, S. 117.
Wittgenstein, „Was in Königsberg zu sagen wäre", S. 103.
Bemerkenswerterweise stützt sich von Neumann bei seiner Darstellung des Formalismus wie
Wittgenstein ebenfalls auf die Schriften Weyls.
Diskussion zur Grundlegung der Mathematik am Sonntag, dem 7. Sept. 1930, in: Erkenntnis.
S. 144.
1 50 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Tatsachen [...] in den Symbolen der mathematischen Systeme [...] zum Aus-
druck bringen" lassen.490
Das Spiel mit Formeln war also keineswegs mit dem Ausklingen des
Grundlagenstreits außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil: Kein Verfahren der Welt
kann mögliche Widersprüche kombinatorischer Tatsachen aufzeigen, außer
diese selber. Gödel konnte das Spiel mit Zeichen auch deswegen zur kombi-
natorischen Tatsache erklären, weil an ihm die Grundlegung oder die Boden-
losigkeit der Mathematik auszuloten unter Mathematikern längst geläufig war.
Wie unterschiedlich die mathematischen Standpunkte Gottlob Freges, Weyls,
Brouwers, Huberts oder Bernays im Grundlagenstreit sich ausnahmen, allen
gemeinsam ist, daß sie das Wesen der Mathematik in der Differenz oder an
der Übereinstimmung mit dem Spiel festmachten.491 So nimmt es nicht wun-
der, daß auch die ersten Mathematikhistoriker wie Oskar Becker und Jean
Dieudonne Huberts Formalismus als ein Spiel mit Formeln bezeichneten.4"2
Kam also um 1930 unter Mathematikern die Rede auf das Spiel, dann verband
sich damit nicht mehr zwangsläufig jener pejorative Sinn, der dem Begriff

Gödel, Kurt, „Nachtrag", in: Erkenntnis. Bericht über die 2. Tagung für Erkenntnislehre der
exakten Wissenschaften in Königsberg 1930, Bd. 2, Hfl. 2-3, 1931, S. 147-151, hier S. 150.
" Schon Frege wehrte einen Formalismus ab, der nicht über den Stand eines Spiels hinauskä-
me: „Wenn sie [die formale Arithmetik] ein Spiel mit Figuren ist, so gibt es in ihr ebensowe-
nig Lehrsätze und Beweise wie im Schachspiel." Frege, Gottlob, Grundgesetze der Arithme-
tik II, Jena, 1903, S. 101. Wittgenstein, der ja auf Empfehlung Freges zu Russell nach Cam-
bridge gegangen war, fand in dieser Äußerung Freges allen Anschein den Grund, der Hubert
hindere, zur Kontrolle eines Regelsystems auf seine Metaebene zu wechseln: „Ich kann mit
den Schachfiguren spielen nach gewissen Regeln. Ich könnte aber auch ein Spiel erfinden, in
dem ich mit den Regeln selbst spiele: Die Figuren meines Spiels sind jetzt die Regeln des
Schachspiels und die Spielregeln sind etwa die logischen Gesetze. Dann habe ich wieder ein
Spiel und nicht ein Metaspiel. Was Hubert macht, ist Mathematik und nicht Metamathematik.
Es ist wieder ein Kalkül, gerade so gut wie ein jeder andere." Wittgenstein, Ludwig, „Wider-
spruchsfreiheit 111", in: Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gesprä-
che, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus dem Nachlaß von B F . McGuin-
ness, Frankfurt/M., 1989, S. 119-121, hier S. 120-121.
Hermann Weyl brachte die Schachanalogie erstmals in seinem Beitrag: „Randbemerkungen
zu Hauptproblemen der Mathematik", in: Mathematische Zeitschrift, Bd. 20, 1924, S. 131-
150, hier S. 147-148. Der Beitrag antwortet auf Huberts „Neubegründung der Mathematik"
(1922), zu der sich Hubert wiederum durch Weyls Beitrag „Über die neue Grundlagenkrise
der Mathematik" (1921) herausgefordert sah. Immerhin hatte Weyl zum innersten Kreis um
Hubert in Göttingen gezählt. Hubert griff in weiteren Entgegnungen die Analogie vom For-
melspiel auf: Siehe Hubert „Die Grundlagen der Mathematik", S. 77 u. 79. Derweil publizier-
te Weyl die Gleichsetzung formalistischer Mathematik mit dem Schachspiel insbesondere
auch an Orten, die nicht allein Fachmathematiker ansprechen: so z.B. in der Zeitschrift Sym-
^ posion (1925), S. 25-30 oder im Handbuch der Philosophie (1927), S. 40.
Vgl. Becker, Oskar, Mathemalische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontotogie
mathematischer Phänomene, Tübingen 1973. (Die Schrift erschien erstmals im gleichen
Band von Husserls Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung wie Martin
Heideggers Schrift „Sein und Zeit I". Becker selbst hebt in seiner Schrift mehrmals darauf
ab.) Zum Formel- und Zeichenspiel siehe S. 71, 75, 76 u. S. 166. Siehe auch Dieudonne,
Jean, „Les methodes axiomatiques modernes et les fondements des mathematiques", in: Les
Grands Courants de la Pensee mathematique, hg. v. F. Le Lionnais, Paris, [1939] 1962,
S. 543-555, hier S. 550-551.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 151

zuvor häufig noch beigelegt wurde, so etwa wenn noch Gauß vom „inhaltslee-
ren Formelspier493 gesprochen hatte; aber auch Hilbert selbst, der 1919 noch
in einer Vorlesung mahnte, daß die Mathematik „nicht wie ein Spiel" sei, „bei
dem die Aufgaben durch willkürlich erdachte Regeln bestimmt werden"494.
Indem der mathematische Diskurs das Spiel als ein Zeichensystem aufnimmt,
erfährt er vielmehr eine radikale Ausweitung seiner Spiel-Räume.

3. Zeichenspiel

Der erste, der nach Leibniz Spiele wieder ernsthaft auf ihre mathematische
Wirksamkeit hin untersuchte, war Paul Du Bois-Reymond. Anders als sein
Bruder Emile, der wie kaum ein anderer für den Aufstieg der Physiologie zur
Leitwissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts gesorgt hatte, hörte Paul
Du Bois-Reymond neben seinem medizinischen Studium auch die Vorlesun-
gen Dirichlets über die Integration der partiellen Differentialgleichungen und
hatte schließlich Lehrstühle in reiner und angewandter Mathematik inne.
Daß eine Zäsur innerhalb der Mathematik dennoch weniger mit Paul Du
Bois-Reymond und mehr mit seinem Bruder in Verbindung gebracht wird,
liegt an den Verwerfungen, die auch Institutionen und die Stellung der Ma-
thematik zu anderen Disziplinen erfaßte.
„Ignoramus et ignorabimus" lautete Emile Du Bois-Reymonds abschlie-
ßendes Wort in der Leibniz-Sitzung in der Akademie der Wissenschaften
1880: Bewegende Kräfte und Bewußtsein sind von einer transzendenten
Unergründlichkeit.495 In „der Mathematik gibt es kein Ignorabimus!"496 - mit
diesen Worten eröffnete Hilbert den 2. Internationalen Mathematikerkongreß
1900 in Paris. Noch 30 Jahre später wird er nicht müde, für die Radiohörer zu
wiederholen: „Wir müssen wissen, wir werden wissen!"497 Als Hilbert auf dem
Kongreß das grundlegende Programm des anbrechenden Jahrhunderts ausgab,
erteilte er damit auch einem Gelehrtenstand, wie ihm die Brüder Du Bois-
Reymond noch angehörten, eine Absage. Huberts Liste von 23 Problemen, die

Gauß zitiert nach Becker, Mathematische Existenz, S. 41.


Hilbert, David, „Die übliche Auffassung von der Mathematik und ihre Widerlegung", in:
Natur und mathematisches Erkennen. Vorlesungen gehalten 1919-1920 in Göttingen, nach
der Ausarbeitung von Paul Bernays hg.v. David Rowe, Basel, Boston, Berlin, 1992, S. 14.
Du Bois-Reymond, Emile, „Die sieben Welträtsel. In der Leibniz-Sitzung der Akademie der
Wissenschaften am 8. Juli 1880 gehaltene Rede", in: derselbe, Vorträge über Philosophie
und Gesellschaft, hg. u. eingel. v. Siegried Wollgast, Hamburg, 1974, S. 159-187, hier
S. 160, 167-171.
Hilbert, David, „Mathematische Probleme", in: derselbe, Gesammelte Abhandlungen:
Zahlentheorie, Bd. 3, Berlin, Heidelberg, New York, [1901] 1965, S. 290-329, hier S. 297.
Hilbert, David, „Naturerkennen und Logik", in: derselbe. Gesammelte Abhandlungen:
Zahlentheorie, Bd. 3, Berlin, Heidelberg, New York, [1930] 1965, S. 378-387, hier S. 387.
Das homerische Lachen, in das Hilbert darauf ausbrach, wurde zwar nicht mehr in der Radio-
sendung übertragen, jedoch von Tontechnikern noch aufgezeichnet, wie seine Biographin
Constance Reid schreibt.
152 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

er zunächst den Kongreßteilnehmern - und den Mathematikern zum Teil bis


heute - zur Lösung aufgab, sorgte wohl auch deshalb für Furore, weil sie
Schluß mit der Demut einer Hilfswissenschaft machte, die auf die jährliche
Auslobung einer Preisfrage seitens der Akademien wartete. An die Stelle des
monolithisch verkörperten Wissens, das Akademien in ihren Sektionen auffä-
cherten, stellte Hubert den mathematischen Betrieb des mathematischen
Instituts.498
Sein Programm war nicht bloß an der generellen Lösbarkeit mathemati-
scher Probleme interessiert, sondern an der Entwicklung der axiomatischen
Methode zu einem Erkenntnisverfahren, an dem letztlich überhaupt keine
Wissenschaft mehr vorbeikäme.499 Auf Emile Du Bois-Reymonds lateinische
Sentenz, die auf Erkenntnisgrenzen des belebten, metaphysischen Körpers
abhob, brauchte Huberts in ostpreußischem Dialekt vorgebrachter Positivis-
mus, der sich zuallererst auf Zeichensysteme richtete, gar nicht ernsthaft
einzugehen. Allerdings kamen Du Bois-Reymonds Zweifel bereits von einer
Ebene aus, die den Maßstäben der Mathematik längst unterstand. Vehement
hatte er sich dafür eingesetzt, daß am humanistischen Gymnasium Mathema-
tik verstärkt auf die Lehrpläne kam, im Zweifelsfall zu Lasten der Alten
Sprachen. Sein Bruder Paul Du Bois-Reymond und Hubert kannten auf die
Frage, worauf die Mathematik sich anwenden ließe, nur die gleiche positive
Gegenfrage: „Was ist nicht [angewandte] Mathematik?".500
Doch die entscheidende, epochale Zäsur um 1900 zeigt sich nicht etwa an
verschiedenen Auffassungen, wie materielle Grundlagen der Kraft und des
Bewußtseins oder des Lebens mathematisch zu erfassen seien. Sie manifestiert
sich vielmehr in dem Ringen, die Mathematik auf andere Grundlagen als den
Platonischen Ideenhimmel zurückzuführen. Genauer besehen richtet sich
Huberts Programm deshalb weniger gegen Emil Du Bois-Reymond als gegen

Vgl. Mehrtens, Herbert, Moderne ~ Sprache - Mathematik, Eine Geschichte der Disziplin
und des Subjekts formaler Systeme, Frankfurt/M., 1990, S. 108.
Hubert formuliert diesen Anspruch am konsequentesten in seinem Beitrag „Axiomatisches
Denken" von 1919: „Ich glaube: Alles, was Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens ü-
berhaupl sein kann, verfällt, sobald es zur Bildung einer Theorie reif ist, der axiomatischen
Methode und damit mittelbar der Mathematik. Durch Vordringen zu immer tieferliegenden
Schichten von Axiomen [...) gewinnen wir auch in das Wesen des wissenschaftlichen Den-
kens selbst immer tiefere Einblicke und werden uns der Einheit unseres Wissens immer mehr
bewußt. In dem Zeichen der axiomatischen Methode erscheint die Mathematik berufen zu
einer führenden Rolle in der Wissenschaft überhaupt." Hubert, David, „Axiomatisches Den-
ken", in: derselbe, Gesammelte Abhandlungen: Zahlentheorie, Bd. 3, Berlin, Heidelberg,
New York, [1918] 1965, S. 146-156, hier S. 156. Mehrtens spricht in diesem Zusammenhang
von Huberts „nachgerade imperialistische[n] Zügefn]". Mehrtens. Moderne - Sprache - Ma-
thematik, S. 132.
Hubert, David, Wissen und mathematisches Denken. Vorlesungen von Prof. D. Hubert. WS.
1922/23, ausgearb. v.W. Ackermann, Typoskript (=Bibiliothek des Mathematischen Semi-
nars der Univ. Göttingen), Göttingen, 1988, S. 65 und gleichlautend: Du Bois-Reymond,
Paul, „Was will die Mathematik und der Mathematiker", S. 195. Vgl. auch Mehrtens, Mo-
derne ~ Sprache - Mathematik, S. 133.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 153

seinen Mathematiker-Bruder Paul, der als erster von der Möglichkeit alterna-
tiver Grundlagen, und nicht bloß von Systemen in der Mathematik ausging.501
Im Zuge dessen hatte Paul Du Bois-Reymond 1882 den Formalismus schon
beim Namen genannt und für tot erklärt - lange bevor Hubert eine formalisti-
sche, auf Axiomen beruhende Mathematik zum Programm erhob. Es sei des-
halb erlaubt, Du Bois-Reymond ausgiebiger zu zitieren:
Ein rein formalistisch-literales Gerippe der Analysis, worauf die bei Trennung
von Zahl und Zeichen von der Grösse hinausliefe, würde diese Wissenschaft,
welche in Wahrheit eine Naturwissenschaft ist, wenn sie auch nur die allge-
meinsten Eigenschaften des Wahrgenommenen in den Bereich ihrer Forschung
zieht, schließlich, wie bemerkt, zum blossen Zeichenspiel hinabwürdigen, wo
den Schriftzeichen willkürliche Bedeutungen beigelegt werden, wie den Schach-
figuren und Spielkarten. So ergötzlich ein solches Spiel sein kann, ja so nützlich
für analytische Zwecke die Lösung der Aufgabe sich erweist, die Regeln zwi-
schen den Zeichen, welche aus der Grössenvorstellung hervorgingen, nun bis in
ihre letzten formalen Consequenzen zu verfolgen, so würde dennoch diese litera-
le Mathematik, wenn sie von dem Boden, auf dem sie gewachsen, völlig losge-
löst würde, bald genug in unfruchtbaren Trieben sich erschöpfen, während die
von Gauss so wahr und tief Grössenlehre genannte Wissenschaft in dem natürli-
chen stets an Umfang zunehmenden Wahrnehmungsgebiet des Menschen eine
unversiegbare Quelle neuer Forschungsgegenstände und ersprießlicher Anregun-
gen besitzt. Ohne Frage wird man mit Hilfe von sogenannten Axiomen, von
Conventionen, ad hoc erdachten Philosophemen, unfassbaren Erweiterungen ur-
sprünglich deutlicher Begriffe nachträglich ein System der Arithmetik construi-
ren können, welches dem aus dem Grössenbegriff hervorgegangenen in allen
Puncten gleicht, um so die rechnende Mathematik gleichsam durch einen Cordon
von Dogmen und Abwehrdefinitionen gegen das psychologische Gebiet abzu-
sperren. Auch kann ein ungewöhnlicher Scharfsinn auf solche Construktionen
verwendet worden sein. Allein man würde auf dieselbe Weise auch andere arith-
metische Systeme sich ausdenken können, wie dies ja geschehen ist. Die ge-
wöhnliche Arithmetik ist eben die einzige dem linearen Grössenbegriff entspre-
chende, ist gleichsam seine erste Registrierung, während die Analysis, mit dem
Grenzbegriff an der Spitze seine höchste Entwicklung bildet. Auch die Schwie-
rigkeiten des Grenzbegriffes, denen wir alsbald furchtlos die Stirne bieten wer-
den, mag man durch Symbolik beseitigen zu können glauben. Es wird schwer-
lich gelingen. Denn jeder Analyst, in dem mehr steckt, als ein Combinatoriker,
wird dem Ursprung des Zeichenspieles nachgehen wollen, und also doch wieder
vor die umgangenen Probleme sich gestellt sehen.502

Du Bois-Reymond fordert also, anstatt durch einen „Cordon von Dogmen und
Abwehrdefinitionen" das „psychologische Gebiet" abzusperren, „wirkliche
Grössen" aus „einem an Umfang zunehmenden Wahrnehmungsgebiet des

Vgl. auch McCarty, David, „David Hubert and Paul Du Bois-Reymond. Limits and Ideals",
in: One hundredyears of Russell's paradox. Mathematics, logic, philosophy, hg. v. Godehard
Link, Berlin, 2004, S. 517-532, hier S. 517-523.
Du Bois-Reymond, Paul, Die Allgemeine Funktionentheorie: Metaphysik und Theorie der
mathematischen Grundbegriffe: Grösse, Grenze, Argument und Function, erster Teil, Tübin-
gen, 1882, S. 53-55. (Der zweite Teil ist nie erschienen.)
154 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Menschen" zu ziehen. Daß dabei selbst ein Beweis der Existenz einer Grenze
stetiger Folgen, der unter Zuhilfenahme diskreter Dezimalbrüche läuft, nicht
zum Paradox wird, hat außermathematische Gründe. Nicht erst diskrete Zei-
chen zerlegen das Kontinuum in diskrete Größenfolgen, sondern die „Ei-
genthümlichkeit des Denkens" selbst, das „bei den Gesichtswahrnehmungen"
im ,,ruckweise[n] Drehen des Augapfels"501 sein äußeres Zeichen hat. Du
Bois-Reymond, der anfänglich mit Studien zum blinden Fleck hervortrat,504
stellte die Mathematik auf Grundlagen, die an die Psychologie und Physiolo-
gie des Menschen gebunden bleiben. Ferner unterschied er wirkliche von
mathematischen Größen, die er jeweils nochmals differenzierte. Wirkliche
Größen bezogen sich, seiner Lesart nach, jeweils auf eine äußere oder innere
Wahrnehmungswelt. Mathematische Größen indes, fassen kombinatorische
und „logische Vorgänge" zusammen.505 Du Bois-Reymond würde sie restlos in
die Domäne des Geistes verweisen, wenn nicht noch ein weiteres „Combina-
tionsgebiet" aufträte - nämlich das des Spiels:
Es kann nicht geläugnet werden, dass die Rösselsprungprobleme, besonders aber
die sogenannten Endpartien des Schachspiels [...] den Charakter acht mathemati-
scher Aufgaben zeigen, nur innerhalb eines höchst beschränkten Combinations-
gebiets.506
Einem Feld, das im ausgehenden 19. Jahrhundert sonst nur als Unterhal-
tungsmathematik wahrgenommen wurde, gewinnt Du Bois-Reymond eine
neue Dimension ab, jedoch nur, um sie gleich wieder zu verwerfen: Die
„Spielgrößen" haben mit den mathematischen Größen „die Unwirklichkeit
gemein", ohne allerdings wie letztere mit der Wirklichkeit in „enger Bezie-
hung" zu stehen.507

4. Beweisfiguren jenseits des souveränen Subjekts

Der Bezug zum Spiel innerhalb der Mathematik, obwohl oder gerade weil er
nebensächlich auf den Plan tritt, ist der einzige, der von einer ,,gemeinsame[n]
Plattform aller Diskussionen" bestehen bleibt, als Hilbert, wie Weyl lakonisch
resümierte, „seine Beweistheorie aufstellte" und die Mathematik als „ein
System inhaltlicher, sinnerfüllter, einsichtiger Wahrheiten"508 umstürzte. Du
Bois-Reymond war „im Zeichenspiel" zwar auf ein „formalistisch-Iiterales
Gerippe" gestoßen, doch als mathematische Grundlage kam es wegen seines
„beschränkten Combinationsgebietfs]" nicht ernsthaft in Betracht. Die Kritik,

Ebenda, S. 166.
Vgl. McCarty, „David Hilbert and Paul Du Bois-Reymond", S. 522.
Du Bois-Reymond, Die Allgemeine Funktionentheorie, S. 38.
Ebenda, S. 40.
Ebenda, S. 41.
Weyl, „Diskussionsbemerkungen", S. 147.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 155

die Brouwer und Weyl gegen Huberts Formalisierungsprogramm erhoben,


lautete nunmehr diametral entgegengesetzt: Der Formalismus betreibt ein
Formelspiel, das über Bereiche hinausgeht, die durch Denkakte - im Sinne
Brouwers - noch zu erschließen sind.
Anstatt nun bloß von unterschiedlichen Phasen in der Auseinandersetzung
um mathematische Grundlagen auszugehen,5OT die an der zunehmend wechsel-
seitigen Bezugnahme ihrer mathematischen Gebilde zu tragen haben, ist nach
eben den Bezugnahmen zu fragen, die selbst durch das rigide Referenzsystem
axiomatischer Setzungen nicht in Schranken gehalten werden. Erst hier zeigen
sich die Zäsur und die Verwerfung, die den Diskurs um mathematische
Grundlagen ereilten. Und die betrifft vor allem das mathematische Zeichen,
das nunmehr als Gegenstand und Grundlage zugleich angenommen wird:
Die Mathematik wie jede andere Wissenschaft kann nie durch Logik allein be-
gründet werden; vielmehr ist als Vorbedingung für die Anwendung logischer
Schlüsse und für die Bestätigung logischer Operationen uns schon etwas in der
Vorstellung gegeben: gewisse außerlogische konkrete Objekte, die anschaulich
als unmittelbares Erlebnis vor allem Denken da sind. Soll das logische Schließen
sicher sein, so müssen sich diese Objekte vollkommen in allen Teilen überbli-
cken lassen und ihre Aufweisung, ihre Unterscheidung, ihr Aufeinanderfolgen
oder Nebeneinandergereihtsein ist mit den Objekten zugleich unmittelbar an-
schaulich gegeben als etwas, das sich nicht noch auf etwas anderes reduzieren
läßt oder einer Reduktion bedarf. Dies ist die philosophische Grundeinstellung,
die ich für die Mathematik wie überhaupt zu allem wissenschaftlichen Denken,
Verstehen und Mitteilen als erforderlich erachte. Und insbesondere in der Ma-
thematik sind Gegenstand unserer Betrachtung die konkreten Zeichen selbst, de-
ren Gestalt unserer Einstellung zufolge unmittelbar deutlich und wiedererkenn-
bar ist. Dies ist das geringste Maß an Voraussetzung, das kein wissenschaftlicher
Denker entbehren kann und daher jedermann, sei es bewußt oder unbewußt, in-
nehalten muß.510

Was wissenschaftliche Denker sich bewußt zu vergegenwärtigen haben - und


alle anderen unbewußt nachvollziehen - sind Zeichen, die als Referenten
nicht über sich hinausweisen. Daß jedoch „Zahlzeichen, die Zahlen sind und
die Zahlen vollständig ausmachen" alleiniger Gegenstand der Betrachtung
werden, „aber sonst keinerlei Bedeutung" haben, provozierte erste kritische
Nachfragen: „Kann es ein Zeichen ohne Bedeutung geben?" Aloys Müller,
der diese Frage an Hubert richtete, machte auch selbst einen Versuch, eine
Antwort zu geben:
Ein Zeichen bezeichnet stets etwas, das von dem Zeichen selbst verschieden ist.
Zeichen und bezeichneter Gegenstand sind einander zugeordnet. [...] Wenn Herr
Hubert daran festhalten will, daß 1 und + ohne Bedeutung sind, dann sind sie
keine Zeichen, sondern es handelt sich in diesem Falle bloß um Zeichnungen,
S09
Hermann Weyl sieht Hubert und Brouwer als dritte Epoche der Grundlagenforschung. Die
erste macht er bei Dedekind und Cantor aus und die zweite schreibt er Russell zu: „Randbe-
merkungen zu Hauptproblemen der Mathematik", S. 147.
510
Hubert, „Die Grundlagen der Mathematik", S. 65-66.
156 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Figuren oder, wie wir lieber sagen wollen, Gestallen [...]. Ist das eine Grundlage
für Zahlentheorie? Zweifellos nicht. Man erhält so, wenn man die nötige Phanta-
sie hat, hübsche Zierleisten oder Tapetenborten und für jede eine Fabrikmarke,
aber keine Mathematik.5"
Die Kritik abzuwenden überließ Hubert Paul Bernays, der nicht umhin kam,
sprachliche Eingeständnisse zu machen. Statt von Zeichen spräche man zu-
künftig besser von Figuren512 - anstatt von Zahlen lieber von Ziffern.513 In der
Sache zeigte sich die Hilbertschule jedoch hartnäckiger. Wo die Grenze ver-
lief zwischen „sinnlosen Figuren"514 und Zeichen, die sie etablierten, stand
weiterhin zur Disposition.
Das Paradox, Infinität und Stetigkeit mit endlichen und diskreten Zeichen
zur Darstellung zu bringen, sucht Hubert einfach dadurch zu lösen, daß er sie
allein zur Sache axiomatischer Setzungen, und damit von Zeichensystemen
erklärte. Im Unterschied zu Du Bois-Reymond und allen Mathematikern, die
mit Leibniz davon ausgingen, die Welt mache keine Sprünge, schloß Hubert
Unendlichkeiten aus der physischen Welt aus:
Denn es gibt überall nur endliche Dinge. Es gibt keine unendliche Geschwindig-
keit und keine unendlich rasch sich fortpflanzende Kraft oder Wirkung. Zudem
ist die Wirkung selbst diskreter Natur und existiert nur quantenhaft. Es gibt ü-
berhaupt nichts Kontinuierliches, was unendlich oft geteilt werden könnte. Sogar
das Licht hat atomische Struktur, ebenso wie die Wirkungsgröße. Selbst der
Weltraum ist, wie ich sicher glaube, nur von endlicher Ausdehnung, und einst
werden uns die Astronomen sagen können, wie viel Kilometer der Weltraum
lang, hoch und breit ist. Wenn auch in der Wirklichkeit Fälle von sehr großen
Zahlen oft vorkommen, z.B. die Entfernung der Sterne in Kilometern oder die
Anzahl der wesentlich verschiedenen möglichen Schachspiele, so ist doch die
Endlosigkeit oder die Unendlichkeit, weil sie eben die Negation eines überall
herrschenden Zustandes ist, eine ungeheuerliche Abstraktion - ausführbar nur
durch die bewußte oder unbewußte Anwendung der axiomatischen Methode. Die
Auffassung vom Unendlichen, die ich durch eingehende Untersuchungen be-
gründet habe, löst eine Reihe von prinzipiellen Fragen, insbesondere werden da-
durch die Kantschen Antinomien über den Raum und über die unbegrenzten Tei-
lungsmöglichkeiten gegenstandslos und also die dabei auftretenden Schwierig-
keiten gelöst.515

Von Du Bois-Reymonds mathematischen Fundierungen, die in letzter Instanz


immer auch von Grenzen aus wahrgenommenen und wahrnehmenden Kör-
pern ausgingen, ist nichts geblieben. Allenfalls gestalttheoretische Überlegun-

Aloys Müller, „Überzahlen als Zeichen", in: Mathematische Annalen, Bd. 90, 1923, S. 153-
158, hier S. 156.
Bernays, Paul, „Erwiderung auf die Note von Herrn Aloys Müller: .Zahlen als Zeichen'", in:
Mathematische Annalen, Bd. 90, 1923, S. 159-63, hierS. 159.
Siehe Bernays editorische Anmerkung in: Hubert, David, „Neubegründung der Mathematik.
Erste Mitteilung", in: derselbe. Gesammelte Abhandlungen: Zahlentheorie, Bd. 3, Berlin,
Heidelberg, New York, [1922] 1965, S. 157-177, hier S. 163.
Bernays, „Erwiderung", S. 160.
Hubert, „Naturerkennen und Logik". S. 380.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 157

gen bestimmen noch die Diskussion der Nachkriegsjahre. Im Grundlagenstreit


spielen Körper keine Rolle mehr, sehr wohl jedoch und allenthalben der
Raum.
Daß der Körper, psychologisch begriffen, für ein mathematisches Bezugs-
system ausfällt, mag noch auf eine fachliche Ausdifferenzierung zurückzufüh-
ren sein. Die Legitimationstrategie innerhalb der Mathematik, ihre Inan-
spruchnahme durch andere Disziplinen, und damit ihre eigene Notwendigkeit
herauszustellen, wird entbehrlich. Doch auch die formalistische Mathematik
Huberts greift noch über ihren eigenen Diskurs hinaus, indem sie allgemeine
Begriffe ihrer Wahl in spezifischer Weise auflädt.
Der Begriff des Körpers ist dazu nicht geeignet. Er kann Gegenstand ma-
thematischer Prozeduren sein, die seine Berechenbarkeit unter Beweis stellen,
seine Kontrolle indes, ist anderen Disziplinen überlassen. Ganz anders steht es
um den Raum, dessen Entfaltung im Zentrum des Grundlagenstreits steht. Die
Mathematik der Nachkriegszeit erhob vor allen anderen Disziplinen Anspruch
auf einen genuinen Begriff des Raums und schickte sich an, Mittel und Tech-
niken zu seiner Beherrschung auszugeben. Entscheidend dabei ist, der „Kant-
schen Apriori-Theorie" die letzten Reste ,,anthropomorphe[r] Schlacken"516
auszutreiben. Sowohl Huberts formal aufgezogene Mathematik als auch ihre
intuitionistische Fassung beanspruchen einen unvermittelten Zugriff auf
raumschaffende Elemente. Während der Formalismus mit phänomenologi-
schen Lesarten517 aufräumt und sich selbst als ein in Zeichen ausgebreitetes
Objekt zu berechnen aufgibt, stellt der Intuitionismus ein raumgreifendes
Kontinuum unter das Primat der Zeit. Mathematik hat für Brouwer deshalb
restlos in ihrer Tätigkeit aufzugehen, für Hubert dagegen auf dem Papier:
Op de vraag, warr de wiskundige exactheid dan wel bestaat, antwoorden beide
partijen verschillend; de intuitionist zegt: in het menschelijk intellect, de forma-
list: op het papier."518
Unterfüttert ist die Auseinandersetzung um die Grundlage mathematischer
Operationen von einem geopohtischen Subtext, für dessen Einschleusung in
erster Linie Brouwer sorgt. Noch vor grundlegenden mathematischen Veröf-
fentlichungen publiziert er über mythische Vorzeiten und ihre Entzauberung
durch Techniken der Landnahme:

516
Ebenda, S. 385.
517
Weyl konstatiert, daß mit der sich abzeichnenden Durchsetzung des Formalismus „die
Phänomenologie als philosophische Grundwissenschaft gerichtet ist". Weyl zitiert nach Man-
cosu, Paolo, „Phenomenology and Mathematics. Weyl at a crossroads", in: Die Philosophie
und die Wissenschaften. Zum Werk Oskar Beckers, hg. v. Jürgen Mittelstrass und Annemarie
Gethmann-Siefert, München, 2002, S. 129-148, hier S. 145.
' „Auf die Frage, worin die wissenschaftliche Exaktheit dann wohl besteht, antworten beide
Parteien verscheiden; der Intuitionist sagt: im menschlichen Intellekt, der Formalist: auf dem
Papier." Brouwer zitiert Weyl, Hermann, „Ober den Symbolismus der Mathematik und ma-
thematischen Physik", in: derselbe. Gesammelte Abhandlungen, Bd. 4, hg. v. Komaravolu
Chandrasekharan, Berlin, Heidelberg. New York. [1953] 1968. S. 527-536. hier S. 529.
158 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Holland was created and was kept in existence by the Sedimentation of the great
rivers. There was natural balance of dunes and deltas, of tides and drainage.
Temporary flooding of certain areas of the delta was a part of that balance. And
in this land could live and thrive a streng branch of the human race.

But people were not satisfied; in order to regulate or prevent flooding they built
dykes along the rivers; they changed the course of rivers to improve drainage or
to facilitate travel by water, and they cut down forests. No wonder the subtle
balance of Holland became disturbed; the Zuyder Zee was eaten away and the
dunes slowly but relentlessly destroyed. No wonder that nowadays even strenger
measures and ever more work are needed to save the country from total destruc-
tion.51"
An seiner Dissertation über die Grundlegung der Mathematik entzündete sich
bald darauf ein Streit mit seinem Doktorvater.520 Dieser lehnte weite Teile
seiner Doktorarbeit ab und strich auch den Satz, die Wissenschaft diene den
Menschen einzig im Kampf gegen ihresgleichen und gegen die Natur; sie
habe letztlich nur den Wert einer Waffe.521 Selbst astronomische Modelle
seien dem Willen einzelner unterworfen. Sie verstünden, von den Meßinstru-
menten jene Werte abzulesen, die sich zur Errichtung von Theorien anböten.
Brouwer beschied deshalb: ,,[T]he laws of astronomy are no more than the
laws of our measuring instruments."522 Für Brouwer selbst hatte die Mathema-
tik, rückwärtsgewandt über die konträren Positionen Kants und Leibniz'
hinaus, zu einer mystisch aufgeladenen Urintuition zurückzufinden.523
Umso überraschender fällt die Wende in Brouwers Karriere aus, als dem
Lehrstuhlinhaber für angewandte Mathematik wider Willen dieselbe tatsäch-
lich zur Waffe wurde. Vielleicht um der niederländischen Armee als Reservist
nicht noch ein weiteres mal dienen zu müssen - seine erste Dienstzeit muß
traumatisch verlaufen sein - trat Brouwer die Flucht nach vorne an und be-
gann sich von 1915 an in die Photogrammetrie zu vertiefen und dem Ministe-

Brouwer, Luitzen Egbertus Jan, „Life, Art, and Mysticism", in: Notre Dame Journal of
Formal Logic, übers, v. Walter P. van Stigt, Bd. 36, Nr. 3, [1906] 1996, S. 389-429, hier
S. 391.
520
Brouwers Verhältnis zu seinen Mentoren ist bemerkenswert: Sein Betreuer Diederik Johan-
nes Kortweg sollte ihm trotz heftiger Auseinandersetzungen seinen eigenen Lehrstuhl für
angewandte Mathematik an der Amsterdamer Universität überlassen. Brouwer fragte im Vor-
feld Hubert, der ihm über Jahre freundschaftlich verbunden war, um Rat, ob ausgerechnet er
einen Lehrstuhl für angewandte Mathematik annehmen solle oder besser einen vakanten Pos-
ten für reine Mathematik an einer Provinzuniversität. Hubert riet zu ersterem. Vgl. van Stigt,
Walter P., Brouwers Intuitionism (=Studies in the History & Philosophy of Mathematics),
Amsterdam, 1990, S. 59.
52
' Ebenda, S. 410.
22
Brouwer zitiert nach van Stigt, Brouwer 's Intuitionism, S. 40.
23
Dazu betrieb er Mathematik vorzugsweise nicht vom Schreibtisch aus, sondern mit geschlos-
senen Augen liegend oder im Schneidersitz in seiner „Hut". Dieses Domizil hielt Distanz zur
Amsterdamer Großstadt und seinem dortigen Lehrstuhl und stand nur dem kleineren Kreis
seiner Anhänger und ausgewähltem Besuch offen - dazu zählte auch Hubert. Einzelheiten bei
van Stigt, Brouwer's Intuitionism, S. 49.
VI. VON FORMF.LSP1ELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 1 59

dum für Verteidigung ein Memorandum vorzulegen.524 1915, das war das
Jahr, in dem er bei einem Besuch in Göttingen durch Schönflies erfahren
hatte, daß viele der dortigen jungen Mathematiker vom Militär für Messungen
und Transformationsberechnungen der Luftbildaufnahmen eingesetzt wurden
und Akademiemitglieder dem Generalstab beratend zur Seite standen.525 1915
ist aber auch das Jahr, in dem für die Photogrammetrie überhaupt eine neue
Ära anbrach. Damals meldete Oskar Messter sein „Verfahren zur Herstellung
photographischer Aufnahmen vom Flugzeug aus" zum Patent an.526 Aviatik
und Photographie konnten damit einen medientechnischen Verbund eingehen,
der in einer durchgängigen technischen Verarbeitungskette - also unter
Ausschluß menschlicher Wahrnehmung - aus Meßbildern Karten erstellte.
Brouwer rechnete dem niederländischen Generalstab vor, wie Dank trigono-
metrischer Verfahren unvermeidliche Winkelunterschiede bei Reihenaufnah-
men vom Gelände abgeglichen, und topographische Karten mit größerem
Maßstab als dem bis dahin üblichen erstellt werden könnten.527 Doch der
Generalstabschef winkte ab und erklärte den derzeitig zugrundegelegten
Maßstab für hinreichend. Die Arbeiten zur Photogrammetrie blieben ohne
Resonanz und Brouwer verfiel in eine Depression.
Als Weyl sich nach Kriegsende Brouwers Standpunkt zu mathematischen
Grundlagen zu eigen machte, sind geopoiitische Anklänge von Anfang an mit
im Spiel. Hubert kam darin Weyl zwar noch zuvor, als er 1917 auf Schweizer
Boden im Vortrag über das axiomatische Denken eine Analogie zog zwischen
dem „Leben der Wissenschaft" und Staaten, die nicht nur jeweils „gut geord-
net werden müssen", sondern auch in ihren Beziehungen zueinander.528 Weyl
spitzte die Lage drastischer zu, gliche sie doch der „Lösung des Okzidents
vom Orient" zu Zeiten der Perserkriege, deren Spannung und Überwindung

Vgl. van Daten, Dirk, Mystic, Ceometer, and Intuitionist. The Life ofL.EJ. Brouwer: Dawn-
ing, Bd. 1, Oxford, 1999, S. 277. Das Memorandum arbeitete Brouwer zu Beiträgen aus, die
gleich in mehreren Publikationen erschienen: Brouwer, L.E.J., „Luchtvaart en Photogram-
metrie", in: Nieuw Tijdschrift voor Wiskunde. Bd. 7 u. 8., 1919/1920, S. 311-331 u. S. 300-
307. Brouwer hatte schon zuvor Beiträge in Avia (1916) und Het Vilegveid (1917) zur Pho-
togrammetrie veröffentlicht.
Vgl. van Dalen, Mystic, Geometer, and Intuitionist, S. 276-277.
Eine kurze und pointierte Darstellung der Rolle der Meßbilder und Kartenherstellung mit
Beginn des Ersten Weltkriegs findet sich in einem Beitrag Bernhard Siegerts, „L'Ombra della
macchina alata. Gabriele d'Annunzios ,renovatio imperii' im Licht der Luftkriegsgeschichte
1909-1940", in: Der Dichter als Kommandant. D'Annunzio erobert Fiume, hg. v. Hans Ul-
rich Gumbrecht, Friedrich Kittler u. Bernhard Siegert, München, 1996, S. 261-305, siehe ins-
besondere: S. 268-278.
Brouwers photogrammetrische Arbeiten sind nicht in die Gesamtausgabe seiner Schriften
aufgenommen und wohl auch sonst nicht aus dem Niederländischen übersetzt worden. Herr
Prof. Jürgen Albertz, der Experte für Photogrammetrie ist und ihre Geschichte gut kennt, ließ
mich auf meine Anfrage hin wissen, daß er von Brouwers Beiträgen zur Photogrammetrie
noch nicht gehört hätte.
Hubert, „Axiomatisches Denken", S. 146.
160 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

„für den Griechen [...] zum treibenden Motiv der Erkenntnis" wurde."" Die
„Antinomien der Mengenlehre" werden vor diesem Hintergrund
als Grenzstreitigkeiten betrachtet, die nur die entlegensten Provinzen des ma-
thematischen Reichs angehen und in keiner Weise die innere Solidität und Si-
cherheit des Reiches selber, seiner eigentlichen Kerngebiete gefährden können.
[...] In der Tat: jede ernste und ehrliche Besinnung muß zu der Einsicht fuhren,
daß jene Unzuträglichkeiten in den Grenzbezirken der Mathematik als Sympto-
me gewertet werden müssen; in ihnen kommt an den Tag, was der äußerlich
glänzende und reibungslose Betrieb im Zentrum verbirgt: die innere Haltlosig-
keit der Grundlagen, auf denen der Autbau des Reiches ruht.530
Schließlich bleibt Weyl nur noch, in „der drohenden Auflösung des Staatswe-
sens der Analysis [...] festen Boden zu gewinnen" und auszurufen: „Brouwer
- das ist die Revolution!"531 Weyl und Brouwer sagte Hubert daraufhin einen
„Putschversuch", „Terror" und eine „Verbotsdiktatur" nach.532 Keine Frage,
der Einsatz einer Rhetorik zur Fortsetzung des Krieges mit verbalen Mitteln
mag über die Zeit nach 1918/1919 soviel aussagen wie über die Schärfe des
mathematischen Grundlagenstreits. Daß jedoch bei aller Metaphorik effektive
Verfahren zur Berechnung von Räumen und Grenzen Konjunktur hatten, darf
nicht übersehen werden.
So wie Beweisfiguren in den Vordergrund der mathematischen Diskurse
rücken, tritt das Metaphorische zurück. Die Vermessung eines naturgegebe-
nen Raumes unter Kontrolle zu bringen, ist nunmehr weniger dringlich, als
Räume, die aus einem zeichenbasierten Apparat entspringen, und die alles
andere als mathematisch gesichert sind, zu skizzieren.
Operativ betrachtet, stehen grundsätzliche Fragen zur Errichtung eines
„mathematischen Apparats"533 und eines Staatsapparats nunmehr auf dem
gleichen Blatt. Brouwer etwa mahnt an, daß vom Vertrauen in die von ihm
inkriminierten Prinzipien der klassischen Logik nicht „nur theoretische Wis-
senschaften wie die Paläontologie oder Kosmogonie" abhingen, „sondern
auch staatliche Einrichtungen wie die Strafprozeßordnung."534 Er stellt in
Frage, daß ein Theorem oder eine Formel schon deshalb als wahr anzusehen
sei, wenn ein Beweis, der vom Gegenteil ausgeht, zu einer Kontradiktion
führt. Umgekehrt mag eine Theorie noch nicht deshalb falsch sein, weil die
Annahme eines Gegenbeweises keine Kontradiktion aufweist. Um seinem

Weyl, „Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik", in: Symposium, Bd. I., Hft. 1, 1925,
S. 1-23, hierS. 1.
Weyl, „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik", S. 143.
Ebenda, S. 56.
Hubert, „Neubegründung der Mathematik", S. 160, 174 u. 159.
Hubert, David, „Über das Unendliche", in: Mathematische Annalen, Bd. 95, 1926, S. 161-
190, hier S. 171.
Brouwer, Luitzen Egbertus Jan, „Mathematik, Wissenschaft und Sprache", in: derselbe,
Collected Works, Bd. I, hg. v. Arend Heyting, Amsterdam, [1929] 1975, S. 159.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 161

Argument Gewicht zu verleihen, setzt er mathematische mit strafrechtlichen


Verfahren gleich:
[An] incorrect theory remains incorrect even if it cannot be disproved by contra-
diction, in the same way that a criminal policy remains criminal even if it cannot
be condemned and stopped by any legal process.535
Auch Weyl greift zum Vergleich mathematischer und polizeistaatlicher Me-
thoden. So müsse man sich
vor der Vorstellung hüten, daß, wenn eine unendliche Menge definiert ist, man
nicht bloß die für ihre Elemente selber sozusagen ausgebreitet vor sich liegen
habe und man sie nur der Reihe nach durchzugehen brauche, wie ein Beamter
auf dem Polizeibüro seine Register, um ausfindig zu machen, ob in der Menge
ein Element von dieser oder jener Art existiert. Das ist gegenüber einer unendli-
chen Menge sinnlos.536
Brouwer und Weyl halten sich ganz offensichtlich nicht mehr an Huberts
lehrbuchartige Beispielsätze, die jeden Gegenwartsbezug ausklammern, wenn
es bei ihm noch schön scholastisch heißt: „Aristides ist bestechlich". Um der
formalisierten Mathematik ihren Mangel an konstruktiven Verfahren zur
Sicherstellung des Unendlichen mit endlichen Mitteln vorzuführen, hielten
sich Brouwer und Weyl im Unterschied dazu an Staatsorgane, deren rechtli-
che Verfassung zu der Zeit nicht weniger strittig war. Brouwer unterstellt, daß
der Fall, in dem der sträfliche Tatbestand die Exekutive selber trifft, die ge-
setzgebende Kraft nicht anficht. Und Weyl geht davon aus, daß die Polizei mit
einem Register operiert, das eine wohldefinierte und klar begrenzte Menge
umfaßt. Tatsächlich berühren sie mit ihren Analogien Bereiche der staatlichen
Verfassung, die unter Staatsrechtsgelehrten ihrer Zeit umstrittener nicht hätten
sein können. Carl Schmitt, dessen Dominanz im verfassungsrechtlichen Dis-
kurs mit der Weimarer Endzeit durchschlug, hätte gegenüber Brouwer nicht
zugestimmt, daß das Gesetz noch in Kraft sei, wenn es an der Exekutive dazu
fehle. Im Gegenteil, für Schmitt beweist „die Autorität, dass sie, um Recht zu
schaffen, nicht Recht zu haben braucht".537 Der letztlich entscheidende Aus-
nahmefall
macht die Frage nach dem Subjekt der Souveränität, das heißt die Frage der
Souveränität überhaupt, aktuell. Es kann weder mit subsumierbarer Klarheit an-
gegeben werden, wann ein Notfall vorliegt, noch kann inhaltlich aufgezählt wer-
den, was in einem solchen Fall geschehen darf.538
Juristen mögen noch ganz alltagssprachlich von Aufzählen reden, während
Formalisten der Worte längst mehrerer bedürfen: Sie wissen abzählbare endli-

Brouwer zitiert nach Walter P. van Stigt, Brouwer's Intuitionism, S. 87.


6
Weyl, „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik", S. 45.
7
Schmitt, Carl, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin,
[1922] 1993, S. 19.
8
Ebenda, S. 14.
1 62 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

che Mengen von überabzählbaren unendlichen zu unterscheiden, und diese


wiederum vom Hinüberzählen zu transfiniten Zahlen.
In mathematischer Hinsicht weiß man seit Georg Cantors Mengenlehre,
daß es unendliche Mengen unterschiedlicher Mächtigkeit gibt. Zumindest die
mächtigste Zahlenmenge der reellen Zahlen kann deshalb überhaupt nicht
deterministisch durch ein Ordnungssystem umschrieben werden. Das Prob-
lem, daß das souveräne Subjekt sowohl außerhalb der „normal geltenden
Rechtsordnung" steht und „doch zu ihr gehört", da sie ihm das Recht gibt, sie
zu suspendieren,539 verdoppelt einen Sachverhalt, der schon formale Systeme
als solche trifft. Und Weyl, wie noch genauer zu zeigen ist, ruft eine Revolu-
tion gerade auch deshalb aus, weil er mit Brouwer nicht mehr allein von
„gesetzmäßig determiniertefn]" Zahlenfolgen ausgeht, sondern auch von
solchen, „die von Schritt zu Schritt durch freie Wahlakte"540 entstehen.
Der Diskurs, den Rechtswissenschaftler und Mathematiker jeweils fuhren,
korreliert auch hinsichtlich der Herausbildung ihrer Fraktionen. Schmitts
Definition des Souveräns, der über den Ausnahmefall entscheidet, wendet sich
gegen die rein formalistische Rechtslehre seines Kontrahenten Hans Kelsen.
Schmitt hält Kelsen vor, daß der Fall, der erst eintreten muß, um beurteilt und
entschieden werden zu können, sich der Regelungsmöglichkeit normativer
Gesetzgebung entzieht. Neben Schmitt reihte sich mit Eugen Paschukanis ein
Hauptvertreter marxistischer Staatsrechtslehre am gegenüberliegenden Rand
des politischen Spektrums in der Reihe der Kritiker Kelsens ein. Kelsens
neukantianischem Rechtspositivismus begegnete er als einer „von allen psy-
chologischen und soziologischen ,Schlacken' gesäubertefn] Gesetzmäßigkeit
des Sollens", die
überhaupt keine vernunftgemäße Bestimmung hat oder haben kann. [.,.] In der
Ebene des juristischen Sollens gibt es nur einen Uebergang von einer Norm zur
andern über die Stufen einer hierarchischen Leiter, auf deren oberster Stufe sich
die alles zusammenschließende, höchste normsetzende Autorität befindet, - ein
Grenzbegriff, von dem die Jurisprudenz wie von etwas Gegebenem ausgeht. [...]
Eine solche allgemeine Rechtstheorie, die nichts erläutert, die von vornherein
den Tatsachen der Wirklichkeit, d. h. des gesellschaftlichen Lebens den Rücken
kehrt und mit Normen hantiert, ohne sich fiir deren Ursprung (eine metajuristi-
sche Frage!) noch für deren Zusammenhang mit irgendwelchen materiellen Be-
langen zu interessieren, kann freilich nur höchstens in dem Sinne auf den Namen
Theorie Anspruch erheben, in dem man z. B. von einer Theorie des Schachspiels
zu sprechen pflegt.541
Die Vorbehalte, die Brouwer und Weyl schon hinsichtlich der formalistischen
Mathematik aussprachen, scheint Paschukanis aufgegriffen und gegen Kel-

Ebenda, S. 14.
Weyl, „Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik". S. 20.
Pachukanis, Eugen, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristi-
schen Grundhegriffe (^Archiv sozialistischer Literatur, Bd. 3), übers, v. Edith Hajos, Frank-
furt/M., [1924] 1970, S. 23-24.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 163

sens formalistische Rechtslehre gerichtet zu haben - nicht zuletzt seine Wort-


wahl und die Analogie zum Schachspiel deuten darauf hin. Weyl hat dem
diskursiven Übersprung durchaus nachgeholfen, vermag er selbst schlichten
Quantoren der Prädikatenlogik geradezu eine politisch-polizeiliche Funktion
beizulegen: „Das ,es gibt' verhaftet uns dem Sein und dem Gesetz, das jeder'
stellt uns ins Werden und die Freiheit."542
Seit Cantors und Freges mengentheoretischen Entwürfen sind Raumvorstel-
lungen der Mathematik nicht mehr nur vom Grenzwertproblem der Analysis
dominiert, sondern von Ordnungsmöglichkeiten der messenden und zählenden
Zahlenfolgen und -mengen selbst. Darauf zielt auch Weyl ab, wenn er ein
„Kontinuum" entwirft, „in welches wohl die einzelnen reellen Zahlen hinein-
fallen, das sich aber selbst keineswegs in eine Menge fertig seiender reeller
Zahlen auflöst", sondern „vielmehr ein Medium freien Werdens" abgibt.543
Schon Du Bois-Reymond hatte über Reihen spekuliert, die sich jedem Ge-
setz entzögen, weil sie entweder auf Würfelwürfen beruhen oder sich „von der
menschlichen Begleitung" losreißen und „selbständig den Weg ins Endlose"
fortsetzen durch „eine feste Vorschrift", die ihnen „mit auf den Weg gegeben"
sei. Letztlich rückte Du Bois-Reymond bei einer empirischen Betrachtung der
Mathematik jedoch davon ab, „Dinge anzunehmen und in den mathemati-
schen Denkvorgang zu verflechten, von denen wir keine Vorstellung haben
und haben können."544
Weyl hingegen, angeregt durch Brouwer und gestützt auf eigene Untersu-
chungen rekursiver Reihen von Dualbrüchen, machte ernst mit dem Entwurf
von „Urteilsanweisungen", die „sich selbst genug sind" und „sogar eine un-
endliche Fülle wirklicher Urteile in ihrem Innern" bergen. Die klar umrisse-
nen Urteilsanweisungen „formulieren", so Weyl, „den Rechtsgrund für alle
aus ihnen einzulösenden' singulären Urteile." Die Urteile selbst sind nicht
anders „einzulösen" als durch Ausführungen des Prozesses, der sie hervor-
bringt:
Dies geschieht, indem wir zulassen, daß die werdende Wahlfolge bei jedem
Schritt eine Zahl oder nichts erzeugt oder aber den Abbruch des Prozesses, ihren
eigenen Tod, herbeiführt und die Vernichtung seines bisherigen Erzeugnisses.545
Das Kontinuum, und mit ihm der Raum, erscheint Weyl nunmehr „als ein
nach innen hinein ins Unendliche werdendes." Er entfaltet einen Raum, der
mit Carl Schmitts Entwurf einer völkerrechtlichen Großraumordnung in we-
sentlichen Punkten korrespondiert. Bezeichnend an Schmitts berühmt-

42
Weyl, „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik", S. 155.
543
Weyl, „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik", S. 153. Siehe zum Begriff des
Mediums bei Weyl auch Roller, Niels, Medientheorie im epistemischen Obergang. Hermman
Weyls Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaflen und Ernst Cassirers Philoso-
phie der symbolischen Formen und im Wechselverhältnis. (-Medien', Bd. 9), Weimar, 2000.
Du Bois-Reymond, Die Allgemeine Funktionentheorie, S. 87.
45
Weyl, „Über die Grundlagenkrise der Mathematik", S. 166. Hervorhebung im Orginal.
1 64 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

berüchtigter Schrift zur Großraumordnung ist zunächst die Verdrängung des


juristisch geprägten Begriffs des Reiches durch den des Raumes. Schmitt
unterläßt es in seiner Schrift nicht, sich eingangs und abschließend mit dem
Begriff „Großraum" auseinanderzusetzen. Wenn auch „Raum" noch einen
mathematisch-physikalischen Sinn hat, umfaßt „Großraum" mehr einen
„technisch-industriell-wirtschaftlich-organisatorischen Bereich."546 Er ist nicht
mehr als mathematisch neutraler Raum anzusehen, in dessen Leere „das
wahrnehmende Subjekt die Objekte seiner Wahrnehmung" einträgt, um sie zu
„lokalisieren".547 Mit „Großraum" sucht Schmitt das „mathematisch-
naturwissenschaftlich-neutrale Bedeutungsfeld", das dem Begriff des „Rau-
mes" noch anhängt, hinter sich zu lassen:
Statt einer leeren Flächen- oder Tiefendimension, in der sich körperliche Ge-
genstände bewegen, erscheint der zusammenhängende Leistungsraum, wie er zu
einem geschichtserfullten und geschichtsmäßigen Reich gehört, das seinen eige-
nen Raum, seine inneren Maße und Grenzen mit sich bringt und in sich trägt.548
Zu diesem Schluß kommt Schmitt erst 1941. Er formulierte ihn in einem
Kapitel, das er seiner 1939 erschienen Schrift zur Großraumordnung noch
hinzufügte. Erst in diesem Kapitel sieht Schmitt durch Max Plancks „Weltbild
der neuen Physik" und Victor von Weizsäckers biologischem „Leistungs-
raum" die Naturwissenschaften zum „Großraum" aufschließen. Dabei hätte es
für seinen Raumbegriff weder der Erfahrung und der Anschauung des Blitz-
krieges, noch der naturwissenschaftlichen Vermittlung bedurft. Im Medium
des Papiers, das als mathematische Grundlage selbst zur Disposition stand,
hatten sich Mathematiker in Göttingen, Amsterdam und Zürich schon längst
über Ordnungen und Anordnungen des Raumes ausgebreitet. Bei aller Kritik,
die Schmitt in Einschätzung der Folgen seiner juristischen und politischen
Einlassungen getroffen hat, ist die Frage nach Quellen, die er absichtsvoll
nicht nennt, ausgeblieben. Sein Großraumbegriff ist offenkundig nicht bloß
durch eine politische Bewegung motiviert, sondern auch durch einen mathe-
matischen Diskurs geprägt, der schon aus sich heraus einen politischen Über-
schuß entwickelt hatte. So hielt Schmitt noch an der Existenz eines souverä-
nen Subjektes fest, das über einen geschichtserfullten Raum entscheidet,
während Mathematiker längst dazu übergegangen waren, die Möglichkeitsbe-

Schmitt, Carl, Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde


Mächte. Ein Beitrag zum Rechtshegriff im Volke/recht. Berlin, [1939/1941] 1991. S. 1 1-12.
Ebenda, S. 80.
Ebenda, S. 76. Schmitt führt in diesem Zusammenhang aus: „Daß es zwischen dem geschlos-
senen Staatsgebiet und dem - wenn ich so sagen darf - nichtstaatlichen völkerrechtlichen
Nichts in Wirklichkeit viele eigentümliche, weder rein innerstaatliche noch rein außenstaatli-
che Bildungen gibt, daß nicht nur staatliche Gebietshoheit, sondern Raumhoheiten mancher
Art zur Wirklichkeit des Völkerrechts gehören, wurde in dem einfachen Entweder-oder von
zwischenstaatlich in ähnlicher Weise verkannt, wie der Dualismus von zwischenstaatlichem
und innerstaatlichem Recht keinerlei übergreifende Zusammenhänge zu konstruieren ver-
mochte." Ebenda, S. 66-67.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 165

dingung eines Mediums freien Werdens zu studieren, dessen Entscheidungs-


kraft aus der Kontingenz eines Zeichenspiels entspringt.

5. Gleichursprünglichkeit von Spieltheorie und Universeller Maschine

Zeichenspiele, die ihre eigene Entfaltung in Gang setzen, lassen naturalisti-


sche und lebensphilosophische Anschauungen hinter sich. Für Henri Bergson
etwa war noch ganz undenkbar, daß mathematische Symbole Dauer und
Bewegung anders als nur mittelbar bezeichnen, und sie selber per se unbewegt
sind:
Für den Mathematiker ist alle Bewegung relativ: das will u. E. nur sagen, daß es
kein mathematisches Symbol gibt, welches auszudrücken imstande wäre, daß es
viel mehr der bewegliche Körper ist, der sich bewegt, als die Achsen oder Punk-
te, zu welchen man ihn in Beziehung setzt.549
Für Bergson müßte das mathematische Symbol, das unmittelbar einen sich
bewegenden Körper bezeichnet, mit diesem zusammenfallen. Daß aber Sym-
bole immer schon in Spielen, wie die zeichenbehafteten Spielsteine des mit-
telalterlichen Zahlenkampfs, die Lettern im Buchdruck, die „Typen" in Reis-
witz' taktischem Kriegsspiel, auf Instrumentenanzeigen und in Rechenma-
schinen in Bewegung gebracht werden, kommt Bergson nicht in den Sinn. Er
hätte in diesen Beispielen wohl auch kaum etwas anderes erblickt als Aus-
nahmefälle, bei denen sich die Kategorien auf wirre Weise vermischen.
Tatsächlich begannen aber Mathematiker im 20. Jahrhundert Symbolsy-
steme zu entwerfen, deren Operationen, zumindest der Fiktion nach, von
Bewegungen begleitet werden. Dabei ginge es nicht darum, lebensweltliche
Phänomene der Bewegung in beweglichen gedachten oder tatsächlich kon-
struierten Zeichenkonfigurationen darzustellen, sondern umgekehrt, durch in
Bewegung versetzte Zeichenanordnungen neue Möglichkeiten der Berechen-
barmachung zu erschließen.
Sieht man von Adam Smiths „imaginary machines" ab, die das Prinzip von
Newtons Himmelmechanik auch auf Staatsverfassungen zu übertragen ver-
sprachen,550 dann hat erst der Eugeniker und Statistiker Francis Galton gegen

Bergson, Henri, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen
Körper und Geist, übers, v. Julius Frankenberger, Frankfurt/M., Berlin, [1896] 1982, S. 191.
Hervorhebungen im Original.
Vgl. Smith, Adam, „History of Astronomy", in: Essays on Philosophical Subjects, hg. v.
William P. D. Wightman, and J.C. Bryce, Oxford, [1749] 2003, S.33-105, hier S. 66. Es geht
Smith in diesem Zusammenhang um die Etablierung des Begriffs des Systems als allumfas-
senden Begriff: „Systems in many respects resemble machines. A machine is a little System,
created to perform, as well as to connect together, in reality, those different movements and
effects which the artist has occasion for. A System is an imaginary machine invented to con-
nect together in the fancy those different movements and effects which are already in reality
performed." Ebenda.
166 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Ende des 19. Jahrhunderts konsequent damit angefangen, an sich abstrakte


mathematische Modelle in Maschinenmodellen zur Darstellung zu bringen
und damit den klassischen Gang der Analysis umzudrehen. Galton führte
zunächst Entwicklungen weiter, Statistiken durch graphische Methoden wie-
derzugeben. Hinter seinen Visualisierungsanstrengungen an sich abstrakter
Merkmale durch Mechanismen stand jedoch eine ausgearbeitete Psychologie
der Imagination, die er mit „mental imagery" umschrieb.551 Diese ermögliche
auch das introspektive Entwerfen von „mechanical illustrations".552 Es findet
sich kein Hinweis, daß Galton seine mechanical illustrations als Modell je-
mals mechanisch ausgeführt hat. Deshalb wäre es falsch anzunehmen, seine
Illustrationen seien Konstruktionszeichnungen; vielmehr müssen sie bereits
als fiktive Maschinen überzeugen. Es ist nunmehr nicht notwendigerweise
mehr die Aufgabe der Mathematik, bestimmte Eigenschaften von Mechaniken
oder Maschinen zu berechnen, sondern letztere stehen nun umgekehrt im
Dienste der Mathematik. Sie sind deshalb von jedem anderen Zweck entbun-
den. Und auch die Imagination bekommt damit einen anderen Stellenwert
zugewiesen. Sie ist im Unterschied zum Fiktionalismus der Gedankenexperi-
mente, die auch von kontrafaktorischen Annahmen ausgehen, nicht zwing-
enderweise fiktiv - ganz im Gegenteil. Kein imaginärer Überschuß drängt auf
die Ausleuchtung eines Bereiches, dessen formale Erschließung ein Problem
darstellen würde. Vielmehr wird nur imaginiert und ins Fiktionale versetzt,
was sich auch leicht technisch realisieren ließe. Gäbe die mechanische Reali-
sierung ein Problem auf, so ist auch an der Fiktion nicht festzuhalten. Ist indes
die Realisierung in der Fiktion schon festgestellt, erübrigt sich letztlich auch
jede Realisierungsanstrengung. Galtons mechanical illustrations heben damit
auf eine neue Diskursfigur mit sehr weitreichenden Folgen ab. Im Unterschied
zu einer nur verbalisierten Hypothese zeigen sie einen effektiven Weg, das
Gesagte auch operativ umzusetzen.
Neben Spielkonfigurationen auch fiktive Maschinen anzuführen, hat denn
auch in den Zwanziger Jahren während des mathematischen Grundlagenstreits
zwischen dem Lager der Formalisten und dem der Intuitionisten Konjunk-

' Galton, Francis, „Statistics of Mental Imagery", Mind, Bd. 5, No.19, 1880, S. 301-318.
* Siehe die Illustrationen in Galton, Francis, Natural Inheritance. London, New York 1889, S.
63 und 107. Seine berühmteste „mechanical Illustration" ist als Galtonbrett bekannt gewor-
den. Sie veranschaulicht statistische Zusammenhänge wie Gauß-Verteilungen und Korrelati-
onen.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 167

tur.553 An ihnen ließen sich auf kontroverse Weise Grenzen erfahren, was
einerseits symbolisiert und formalisiert und andererseits imaginiert und ge-
dacht werden kann. Der Streit ging schließlich nicht zuletzt auch darum, ob in
der Mathematik ein Wechsel auf eine Metaebene möglich wäre. Während
David Hubert genau diesen Wechsel zum Programm erhob und sich von einer
Metasprache erhoffte, sie könnte eine operativ statthabende symbolische
Sprache präzise beschreiben, meldete E. J. Brouwer erhebliche Zweifel an.
Als unüberwindliches epistemisches Problem führt er die Zeitlichkeit an, die
einer mathematischen Operation eigen und wesentlich ist, und die für ihn
durch einen Gedankenakt vollzogen wird. Für Brouwer geht sie unwieder-
bringlich bei dem Versuch verloren, im Nachhinein auf die Operation Bezug
zu nehmen, nicht zuletzt, weil die Bezugnahme wiederum einer eigenen Zeit-
lichkeit unterliegt.554
In der Anführung fiktiver Maschinen ist jedoch eine Plattform zu erkennen,
die den sich aufspaltenden mathematischen Diskurs der Grundlagenkrise
überbrückte und in produktiver Bewegung hielt. Im Unterschied zu einer
festgelegten und festlegenden Metasprache heben die fiktiven Maschinen jene
zeitlich-performative Struktur auf, die mitzubedenken der Intuitionist Brou-
wer einforderte, und die der Formalist Hubert als jenes vor-läufige Operieren
ansah, das gedanklich einzuholen die Herausforderung des Mathematikers ist.
Die in Form fiktiver Maschinen und Modelle und als Zeichenspiele gedachten
Grundlagen der Mathematik tauchen jedoch auf, ohne daß sie systematisch
und in begrifflicher Strenge eingeführt worden wären. Die fiktiven Maschinen
sind dabei keineswegs als bloße Beispiele anzusehen, sondern bilden Diskurs-
ebenen, die sich regelrecht einspielen.
Jemand, der noch aus nächster Nähe die „Technisierung der formal-
mathematischen Denkarbeit"555 wahrnahm, war Edmund Husserl:

" Neben dem Schachspielschema als Analagon einer formalisierten Mathematik führt zum
Beispiel Weyl auch eine Maschine an, die später als sogenannte Zeus-Maschine aufgegriffen
wird, und die in einem endlichen Prozeß von „Entscheidungsakten" die Menge sämtlicher
natürlicher Zahlen durchläuft, und zwar indem angenommen wird, daß die Zeit, die für eine
Entscheidung aufgewendet wird, sich stetig halbiert. Vgl. Weyl, „Die heutige Erkenntnislage
in der Mathematik", S. 22 und Weyl, Philosophie der Mathematik, S. 34. Auch Hans Rei-
chenbach führt, um die Mathematik des Kontinuums ins Verhältnis zu setzen zu einer Ma-
thematik diskreter Elemente, Maschinengewehre und Wasserkanonen ins Feld. Vgl. Rei-
chenbach, Hans. „Stetige Wahrscheinlichkeitsfolgen", in: Zeitschrift für Physik, Bd. 53,
1929, S. 274-307, hier S. 275-276.
Vgl. Brouwer, Luitzen Egbertus Jan, „Historical lntroduction and fundamental notions", in:
derselbe, Brouwer's Cambridge lectures ort intuitionism, hg. v. Dirk van Dalen, Cambridge
u.a„ 1981, S. 1-20, hier S. 4. Die Konzeption von Brouwers zeitlichem Dispositiv geht auf
seine Dissertation zurück. Anläßlich seiner Vorträge in Wien führte Brouwer seine Überle-
gungen zur Wahrnehmung der Zeit (tijdsgewaarwording) noch weiter aus. Vgl. auch Dirk
van Dalen, Mystic, Geometer, and Intuitionist. The Life ofL.E.J. Brouwer: Hope and Disillu-
sion, Bd. 2, Oxford 1999. S. 562-566.
555
Husserl, Edmund, „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale
Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie", in: Gesammelte
Werke, hg.v. Walter Biemel, Bd. 6, Haag, [1936] 1976, S. 1-276, hier S. 48.
168 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Eine Technisierung ergreift [...] alle der Naturwissenschaft sonst eigenen Me-
thoden. Nicht nur, daß diese hinterher sich „mechanisieren". Zum Wesen aller
Methode gehört die Tendenz, sich in eins mit der Technisierung zu veräußerli-
chen.556
Seine in den dreißiger Jahren abgefaßte Krisis-Schrift, daran sei erinnert,
sucht nicht in erster Linie die Gründe für „die Krisis unser Kultur"557 in den
humanistischen Wissenschaften, deren Wissenschaftlichkeit zu hinterfragen
nicht neu wäre. Er macht vielmehr eine drastische „Sinnverschiebung"558
ausgerechnet bei den prosperierenden positiven Wissenschaften aus, allen
voran bei der reinen Mathematik.55" Husserls Krisis-Schrift steht offenbar -
seiner und der allgemeinen politischen kritischen Lage geradezu zum Trotz -
noch im Bann der mathematischen Grundlagenkrise.560 Wissenschaft gerät für
ihn zur Texvn,, weil nicht erst das Denken zu Mechanisierungen drängt, son-
dern sich selbst schon als Mechanik zu denken gibt:
Gleicht die Wissenschaft und ihre Methode nicht einer offenbar sehr Nützliches
leistenden und darin verläßlichen Maschine, die jedermann lernen kann, richtig
zu handhaben, ohne im mindesten die innere Möglichkeit und Notwendigkeit
sogearteter Leistungen zu verstehen? Aber konnte die Geometrie, konnte die
Wissenschaft im voraus wie eine Maschine entworfen worden sein aus einem in
ähnlichem Sinne vollkommenen - wissenschaftlichen Verständnis? Führt das
nicht auf einen „regressus in infinitum?5"
Noch zu Husserls Lebzeiten hätte das Erscheinen einer Schrift seine rhetori-
schen Fragen in fundamentaler Weise ins Wanken geraten lassen, wenn diese
Schrift nicht zunächst nur die Aufmerksamkeit eines sehr kleinen Kreises an
Mathematikern erhalten hätte. 1936, zwei Jahre vor seinem Tod und inmitten
in der Abfassungszeit der Krisis-Schrift, verfertigte der britische Mathemati-
ker Alan Turing am King's College in Cambridge seine heute so berühmte
Schrift „On Computable Numbers with an Application to the Entscheidungs-
problem".562 Daß Turing in dieser Schrift einen entscheidenden Beweis zur
Frage der Formalisierbarkeit von Entscheidbarkeit anhand einer fiktiven

6
Ebenda, S.48.
Ebenda, S. 3.
8
Ebenda, S. 59.
9
Ebenda, S. 1.
0
Mit Vorsicht ist deshalb Lesarten zu begegnen, die ihr schon Hinweise auf die Härten zu
entnehmen versuchen, die Husserl noch am eigenen Leib in seinen letzten Lebensjahren
durch den nationalsozialistischen Führerstaat erlitt.
1
Ebenda, S. 52.
Turing, Alan, „On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem",
in: Proceedings of the London Mathematical Society, Series 2, Bd. 42, 1936 - 1937, S 230 -
265. „Corrections" erschienen in: Proceedings of the London Mathematical Society. Series 2,
Vol.43.1937. S. 544-546.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 169

Maschine, einer Papiermaschine,"'3 durchführte, ging über die bis dahin vor-
herrschende, supplementierende Bedeutung fiktiver Maschinenkonstrukte
hinaus. Turings Maschinenfiktion dient in dieser Schrift nicht zur Exemplifi-
zierung seines Beweises, sie ist der Beweis.
Diese Wendung war für Husserl nicht absehbar; sein Blick galt noch ganz
der Praxis einer durchaxiomatisierten formalen Mathematik:
Bloß jene Denkweisen und Evidenzen sind nun in Aktion, die einer Technik als
solcher unentbehrlich sind. Man operiert mit Buchstaben, Verbindungs- und Be-
ziehungszeichen (+,x, = usw.) und nach Spielregeln ihrer Zusammenordnung, in
der Tat im wesentlichen nicht anders wie im Karten- oder Schachspiel.564
Einer derartig praktizierten formalen Mathematik sprach Husserl einen epis-
temologisch offenen Horizont ab und er räumt ihr ein, nur noch eine „bloße
Kunst"565 zu sein. Die „in intersubjektiver Vergemeinschaftung" methodisch
eingeübten Idealisierungen und Konstruktionen seien nur noch „habituell-
verfügbare" Aneignungen, „mit welchen man immer Neues erarbeiten kann:
eine unendliche und doch in sich geschlossene Welt idealer Gegenständlich-
keiten als Arbeitsfeld." Den mathematischen Symbolen kommt dabei der
Status zu, stets
objektiv erkennbar und verfügbar [zu sein], auch ohne daß ihre Sinnbildung stets
wieder explizit erneuert werden müßte; sie werden aufgrund sinnlicher Verkör-
perung, z.B. durch Sprache und Schrift, schlicht apperzeptiv erfaßt und operativ
behandelt. In ähnlicher Weise fungieren die sinnlichen „Modelle", zu welchen
insbesondere gehören die während der Arbeit beständig verwendeten Zeichnun-
gen auf dem Papier [...].566
Die mathematischen Symbole entsprächen letztlich deshalb Werkzeugen wie
Zange und Bohrer, nur eben geschaffen für „geistiges Hantieren".567 Indem
aber Turing die Minimaldefinition zur Kennzeichnung mathematischer Arbeit
auf eine Maschine übertrug um sicherzustellen, daß jeder Schritt, den sie
vollziehen würde, auch von einem Mathematiker vollzogen werden könnte,
erhob sich sein Maschinenentwurf zur Episteme. An ihr hat sich nun über-
haupt zu ermessen, was ein Mathematiker und was die Mathematik zu ent-
scheiden vermag. Radikaler hätte man mit unhinterfragten Operationen und

Eine Papiermaschine ist sie im doppelten Wortsinn: Konstrukt auf dem Papier und gleichzei-
tig auch Annahme einer Maschine, die im Wesentlichen aus einem endlosen Papierband be-
steht, das mit einem begrenzten Vorrat an Zeichen, nach festen Regeln und an bestimmten
Positionen beschrieben wird. Auch können Löschungen der Zeichen vorgenommen werden.
Die Prozedur, die ein Regelsystem befolgt, wird dabei als Turingmaschine aufgefaßt, die
Prozedur, die alle möglichen Prozeduren umfaßt, als universelle Turingmaschine. Vgl. auch
Hodges, Andrew, Alan Turing, Enigma (=Computerkultur, Bd. 1), übers, a. d. Engl. v. Rolf
Herken u. Eva Lack, Wien, New York, [1989] 1994, S. 115-125.
564
Husserl, „Die Krisis der europäischen Wissenschaften", S. 46. Hervorhebung im Orginal.
Ebenda.
SM
Ebenda, S. 23.
sei Ebenda, S. 24.
170 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

habituierten Zeichenspielen nicht aufräumen können als mit dieser Ver-


schränkung gängiger Verweise auf Maschinenfiktionen und Zeichenspiele zu
einer einzigen Konstruktion: Einer gedachten Maschine, die selbständig ein
potentiell endloses, in Quadrate aufgeteiltes Band nach einer endlichen An-
zahl an Regeln mit einer endlichen Anzahl an unterschiedlichen Zeichen
beschreibt oder überschreibt. Eben weil das Operieren mit Zeichen hier zum
mathematischen Untersuchungsgegenstand erhoben ist, ist auch Husserls
kritische Frage außer Kraft gesetzt, jene Frage nach den aus dem Blick gera-
tenen Anfangen einer Wissenschaft, deren Begriffe einem Maschinendisposi-
tiv zu folgen scheinen, ohne daß dabei der Ursprung dieser Begriffe noch
durch eine irgendwie sinnvolle Ableitung geleistet wird. Und wenn Turings
Beweis berechenbarer Zahlen dazu noch die selbstreferentielle Operation
vornimmt, daß die Zeichenoperationen seiner Maschine die Zeichenoperatio-
nen einer anderen simulieren, und schließlich eine universelle Maschine
sämtliche, dieser von Turing definierten Maschinen zu simulieren vermag,
dann erfährt auch Husserls Frage nach dem „regressus in infinitum" einer dem
Maschinendispositiv erlegenen Wissenschaft eine abschlägige Antwort. Denn
schließlich ist der Schluß, zu dem Turing kommt, kein positiver. Dem Ent-
scheidungsproblem, das Hubert zu lösen in der Hoffnung ausgeben hatte,
jeder mathematische Satz eines formalen und mit der Mächtigkeit der Arith-
metik ausgestatteten Systems müsse sich durch ein Verfahren als wahr oder
falsch erweisen, erteilte Turing eine Absage, indem er die prinzipielle Unent-
scheidbarkeit des Problems bewies. Zwar läßt sich eine Klasse berechenbarer
Zahlen, also solcher, die auf effektive Weise erzeugt werden können, ange-
ben, nur, ob generell eine reelle Zahl eine berechenbare Zahl ist, entzieht sich
jeder Berechenbarkeit.
Viel deutlicher noch, als Kurt Gödels Arbeit über formal unentscheidbare
Sätze oder Alonzo Churchs Einführung des Lambda-Kalküls offenbart Tu-
rings Schrift, daß im Medium einer fiktiven Maschine die mathematische
Praxis an eine Grenze kommt. Turings Maschine ist ein Medium, das nicht
selbst wieder von idealer mathematischer Gegenständlichkeit ist, sondern in
die Lebenswelt hineinragt. Schon deshalb ermöglicht das Medium nicht ma-
thematische Autoritäten im abgezirkelten Wetteifern mit werkzeugartigen
Schriftapparaten, ihr „geistiges Hantieren" mit „einer unendlichen und doch in
sich geschlossenen Welt idealer Gegenständlichkeit als Arbeitsfeld." Erst eine
Mathematik, die sich an diesem Medium mißt, gibt zu erkennen, daß sie schon
allein aus intrinsischen Gründen zur Performanz verdammt ist.
Turings Befund, daß, wenn etwas berechenbar ist, es auch von einer Ma-
schine berechnet werden kann, entbindet das Subjekt von einer historisch weit
zurückreichenden Kulturtechnik. Doch Turings Schrift legitimierte nicht
einfach, das Rechnen Maschinen zu überlassen; ganz einfach deshalb nicht,
weil derlei Legitimationsgründe vorzubringen längst Tradition hatte. Daß
seine fiktive Maschine als reale diskrete, Zeichen verarbeitende Maschine
schließlich tatsächlich realisiert werden sollte, ist nicht so sehr durch die
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 171

Möglichkeit begründet, Berechnungen effizient durchführen zu lassen. Was


vielmehr zählt ist, daß die Berechenbarmachung, und nicht erst die Berech-
nung, operativ und an diskrete Zeichen gebunden zu betreiben ist. Ein Ma-
schinenbegriff tritt mit der Turingmaschine auf den Plan, der auf dem denkbar
strengsten Determinismus gründete, um gerade dadurch eine ganz neue Form
der Unberechenbarkeit aufzuzeigen.568 Weil zeichenverarbeitende Prozesse
nur durch ihre Ausführung möglicherweise erweisen, daß sie zu einem Ende
kommen, reicht es nicht, nur die Turingmaschine zu imaginieren, man muß sie
laufen lassen.569
Es gilt jedoch nicht zu übersehen, daß die Turingmaschine sich als fiktives
Objekt während des Zweiten Weltkrieges lange behauptete. Der Logiker
Alonzo Church jedenfalls, der Turings fiktiver Maschine ihren Namen gab,57"
hat sich im Laufe seiner beruflichen Karriere, die immerhin von 1924 bis
1995 währte,571 ein einziges Mal auf die Automatentheorie eingelassen, wäh-
rend die Computer science ohne sein Lambda-Kalkül nicht auskommt.572 Um
so gewaltiger fällt damit aber auch die Zäsur aus, als im Zweiten Weltkrieg
ausgerechnet Papiermaschinen Forschungsoffensiven und Materialschlachten
auslösten.
„Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen" hieß
es noch in Husserls Krisis-Schrift.5" Heinrich Scholz' bemerkenswerte wis-
senschaftliche Karriere, die von einem Übertritt von der Theologie zur Grund-
lagenforschung der Logik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert bestimmt
war, vermag Husserls Einschätzung wie kaum eine andere zu bestätigen, doch
sollte man deshalb Scholz nicht das Bewußtsein über seine eigene Konversion
absprechen. Der evangelische Theologe war der erste, der auf Oswald Speng-
lers radikalen Epochenentwurf antwortete, und ihm entging nicht, daß sich
Spengler - allen prognostizierten Untergängen zum Trotz - vor allem an die
kommende Generation wandte:
Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich Menschen der neuen Generation
der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der Er-

Daß damit alle bisherigen Maschinenvorstellungen ad acta zu legen sind, die in der Repro-
duktion den Modus operandi sahen, versteht sich von selbst.
Ausgehend von Turings Arbeit entwickelten Mathematiker wie Andrey Nikolaevich Kolmo-
gorov und Gregory J. Chaitin einen algorithmischen Begriff der Zufälligkeit. Siehe dazu ein-
führend Chaitin, Gregory J., The Limits of Mathematics. A Course on Information Theory
and the Limits of Formal Reasoning (= Discrete Mathematics and Theoretical Computer Sci-
ence), Singapore, 1998, S. 11.
Vgl. Hodge, Alan Turing, S. 146.
Manzano, Maria, „Alonzo Church: His Life, His Work and Some of His Miracles", in:
History and Philosophy of Logic, Bd. 18, 1997, S. 211-232, hier S. 221.
Church verzichtete selbst auf die Benutzung einer Schreibmaschine und zog es zeitlebens
vor, Papier und verschiedenfarbige Tinten für das Anschreiben seiner index- und zeichenrei-
chen Logikkalküle zu verwenden.
Husserl, „Die Krisis der europäischen Wissenschaften", S. 4.
172 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

kenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche. Dies ist der Sinn des Sat-
zes vom Untergang des Abendlandes.574
Trotz der Kritik, die Scholz an Spenglers Buch übte, muß man von einem
Damaskuserlebnis ausgehen, als Scholz kurz darauf Whiteheads und Russells
Principia Mathematica in die Hände fielen."5 Seine Professur für Religions-
philosophie gab er auf, um den ersten Lehrstuhl für mathematische Logik und
Grundlagenforschung in Münster einzurichten.
Scholz schloß zu einem Kreis von Mathematikern auf, der sich ganz David
Huberts Programm zur Klärung mathematischer Grundlagen verschrieben
hatte. Dabei gehörte Scholz zu den wenigen, die die Bedeutung der funda-
mentalen Arbeit „On computable numbers" des britischen Mathematikers
Alan Turing sofort erkannten. Und er war der einzige, der Turing um einen
Separatdruck bat.576 Wäre Scholz nicht der Zweite Weltkrieg dazwischen
gekommen, dann hätte er schon 1939 dafür gesorgt, daß Turings fundamenta-
le Einsichten durch einen Eintrag in die ehrwürdige Enzyklopädie der mathe-
matischen Wissenschaften mathematisches Allgemeingut geworden wären.577
Anders als Turing, der schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs seine
mathematischen Fähigkeiten dem britischen Geheimdienst für die Erfor-
schung kryptologischer Verfahren zur Verfügung stellte, ließ sich Scholz
zunächst nicht von einem Studium der Logistik abbringen, die er von Gottlob
Freges „Begriffsschrift" bis zu Leibniz zurückverfolgte.578 Doch 1944 trat er
eine Reise nach Berlin an, um auf Einladung des noch gänzlich unbekannten
Ingenieurs Konrad Zuse dessen elektromechanische Rechenmaschine Z4 zu
inspizieren. Ein Fliegeralarm und der dadurch erzwungene gemeinsame Auf-

Scholz, Heinrich, Zum „ Untergang des Abendlandes ". Eine Auseinandersetzung mit Oswald
Spengler, Berlin, 1920, S. 5.
Vgl. Stock, Eberhard, Die Konzeption einer Metaphysik im Denken von Heinrich Scholz
(=Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 44), Berlin, New York, 1987, S. 31.
Die einzige Ausnahme stellt ein Kollege am Cambridge King's College dar, an dem Turing
selbst akademisch beheimatet war. Vgl. Hodges, Alan Turing, S. 146. Weder von Hermann
Weyl noch von John von Neumann erhielt Turing eine Resonanz auf seine Arbeit - beiden
hatte er seine Arbeit zukommen lassen. Vgl. Hodges, Alan Turing, S. 146. Dabei war er auf
Anraten seines Cambridger Mentors Newman für einen längeren Forschungsaufenthalt nach
Princeton gegangen, wo neben Alonzo Church, seinem dortigen Betreuer, mit Weyl und
Neumann auch jene beiden Mathematiker lehrten, die bis dahin im Grundlagenstreit um die
Frage der Berechenbarkeit zuletzt am stärksten involviert gewesen waren.
Vgl. Hodge, Alan Turing, S. 178.
Das Naziregime konnte nicht verhindern, daß Scholz weiterhin Kontakt zur Polnischen
Logikerschule hielt, er insbesondere Jan Lukasiewicz unterstützte. Ebensowenig ein Zuge-
ständnis an die Machthaber war Scholz' Verleihung des Ernst-Schröder Preises an den Logi-
ker J. C. C. McKinsey in den USA 1941. McKinsey gehörte nach dem Krieg zur Kerngruppe
von Amerikas prominentestem strategischem think tank, der Research and Development Cor-
poration (RAND), allerdings nur solange, wie ihn die Kritik an von Neumanns Spieltheorie
und seine Homosexualität nicht dazu zwangen, die Institution zu verlassen. McKinsey ließ
sich dadurch jedoch nicht davon abbringen, nach von Neumann ein Standardwerk der Spiel-
theorie zu schreiben. Vgl. auch Mirowski, Philip, Machine Dreams. Economics Becomes a
Cyborg Science. Cambridge, New York, 2002, S. 320-321.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 173

enthalt im Luftschutzkeller ließen den Gedankenaustausch mit Konrad Zuse


länger als geplant ausfallen.579 Doch auf Turings Maschine wies Scholz Zuse
nicht hin.580 Der Zusammenhang von Zuses konkreter elektromechanischer
Rechenmaschine und Turings Papiermaschine stellte sich noch nicht automa-
tisch ein. In Scholz fand Zuse trotzdem einen frühen und prominenten Für-
sprecher. Die Rüstungsindustrie wußte jedoch nichts mit ihr anzufangen.
Währenddessen war Turing in Großbritanniens Geheimdiensteinrichtung
Bletchley Park mit „bombs" getauften Rechenanlagen die Entschlüsselung des
deutschen Marinecodes geglückt, was entschieden dazu beitrug, daß der
Seekrieg von nun an zugunsten der Alliierten verlief.
Turing und seinem Kollegen Gordon Welchman war es gelungen, aus den
Verdrahtungen der deutschen Ver- und Entschlüsslungsmaschine für Funk-
sprüche, der ENIGMA, selbstreziproke Funktionen abzulesen, eine Möglich-
keit die auf deutscher Seite nicht bedacht worden war. Das Verschlüsselungs-
potential der Maschine war damit desavouiert. Das zu vermeiden, wäre die
Aufgabe Gisbert Hasenjägers gewesen, der seine mathematische Förderung
noch als Abiturient durch Scholz erhalten hatte, bevor er zum Militär einge-
zogen wurde, und auf Vermittlung von Scholz schließlich ins Referat IVa der
Chiffrier-Abteilung des OKW kam, um die kryptologische Effizienz der
Enigma sicherzustellen und zu steigern.581 Von Turings kryptologischem
Einsatz auf britischer Seite wußten Hasenjäger und Scholz indes nichts.582 Erst
zwei Jahrzehnte nach Scholz' Tod gab nach langem Zögern der Britische
Geheimdienst Captain Fredrick William Winterbotha die Einwilligung, über
die Unternehmungen in Bletchley Park zu berichten.S8!
Die eher kleine Gruppe an Grundlagenmathematikern und Logikern war,
während die Millionenheere ihrer Länder sich im Zweiten Weltkrieg aufrie-
ben, in eine spielartige Diskursformation hineingezogen worden, die restlos
zu überblicken, ihnen selbst nicht möglich war. Dabei scheint offensichtlich
die im mathematischen Diskurs schon länger gepflegte Strategie, Problemstel-
lungen auf Spielkonstellationen zu reduzieren, nun jene Mathematiker selber

Zuse, Konrad, Der Computer, mein Lebenswerk, Berlin, Heidelberg, New York, u.a. 1986.
S. 76. Scholz begutachtete im März 1945 sehr wohlwollend Zuses Dissertationsschrift über
Ansätze einer Theorie des allgemeinen Rechnens, die Vorarbeiten seiner algorithmischen
Sprache, dem Plankalkül, darstellten. Als Dissertation eingereicht hatte Zuse die Arbeit je-
doch nicht. Vgl. Petzold, Hartmut, Moderne Rechenkünstler - Die Industrialisierung der Re-
chentechnik in Deutschland, München, 1992.
0
Zuse berichtet, erst später von Turings Arbeiten gehört zu haben. Vgl. Zuse, Konrad, „Kom-
mentar zum Plankalkül", in: derselbe, Der Plankalkül. Hg. v. Gesellschaft für Mathematik
und Datenverarbeitung, Nr. 63, 1972, S. 1-35, hier S. 5.
' Vgl. Bauer, Friedrich L., Decrypted Secret. Methods and Maxims of Cryptology, Berlin,
Heidelberg, New York u.a. 1997, S. 385-393.
2
Ironischerweise blieb Hasenjäger Turing auch nach dem Krieg über Maschinenkonfiguratio-
nen verbunden, denn er entwickelte als Assistent und Nachfolger von Scholz am Münsteraner
Lehrstuhl für mathematische Logik und Grundlagenforschung eine ganze Sammlung unter-
schiedlich gearteter Turingmaschinen.
Winterbotham, Frederick W., The Ultra Secret, London 1974.
174 VI. VON EORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

erfaßt, und jeweils einer beschränkten Funktion zugewiesen zu haben. Der


Reduktionismus, der dem Spielbegriff eigen ist, steht dabei jedoch in einem
sonderbar reziproken Verhältnis zu einem immer unbeschränkteren Begriff
der Berechenbarkeit. Deutlich wird dies auch in einer Begebenheit im Früh-
ling 1945, als Zuse bei der Abfassung des Plankalküls, das sich als erstes
Konzept einer Programmsprache erst noch erweisen sollte, vom strengen
Begriff der Berechenbarkeit abrückt und diesen, wohl noch unter dem Ein-
druck des Krieges, in seiner ganzen alltagssprachlichen Weite zu erfassen
sucht. In einer Programmsprache dürfe der Begriff der Berechenbarkeit nicht
nur auf eine arithmetische Ebene beschränkt bleiben, sondern das Wort „rech-
nen" müsse den gesamten Bedeutungshof erfassen, den das Wort im Deut-
schen hat, und somit auch die Bedeutung in folgendem Beispielsatz: „Ich
rechne damit, dass der Gegner sich zurückziehen wird, wenn seine Zufuhr
abgeschnitten ist und ein Durchbruch mit Erfolg verhindert werden kann."584
Um die Möglichkeiten von Rechenmaschinen auszuloten, die über den Be-
reich des bloß Arithmetischen hinausgehen, schien nichts angebrachter, als
die Programmierung von Spielen, und insbesondere die des Schachspieles
zum Testfall zu erheben. Wann immer der Wehrdienst Zuse daran hinderte,
elektromechanische Komponenten als mathematische Logiken zu realisieren,
griff er zum Reiseschachspiel, das ersatzweise Logikkalküle an einer materiel-
len Basis zu entwickeln ermöglichte.585 Als im April 1945 nicht einmal mehr
ein Schachbrett zur Hand war, und Zuse seinen Rechner Z4 in einem Allgäuer
Heuschuppen vor anrückenden amerikanischen Truppen versteckt hielt, for-
mulierte er das Grundschema heutiger Programmierhochsprachen aus. Sein
„Plankalkül", wie er das Schema nannte, vermochte das Schachspiel samt
seinem Regelwerk als „reine Schreibtischarbeit" aufzugreifen, und somit auf
ein und demselben Papier den Rahmen des Spiels und seine Ausführung
innerhalb derselben „zwei-dimensionellen Notierung" zu behandeln.58* Daß
Alan Turing, und auf amerikanischer Seite der Kommunikationswissenschaft-
ler Claude Shannon, ebenso leidenschaftlich erste digitale Rechner program-
mierten oder bauten, die imstande waren, Schach und andere Spiele zu meis-
tern,587 ohne von Zuses verborgenem Wirken Kenntnis haben zu können,
erweckt die Vermutung, die Spielaffinität entspringe dem Medium Computer

Zuse, Konrad, „Einleitung", in: Der Plankalkül, hg. v. Gesellschaft für Mathematik und
Datenverarbeitung, Nr. 63, 1972, S. 1-4, hier S. 1.
Zuse, Der Computer, S. 51.
Vgl. Zuse, Plankalkül, S. 35.
Vgl. Turing, Alan, „Chess", in: Fasler Than Thought. A Symposium on Digital Computing
Machines, hg. v. Bertram Vivian Bowden, London, 1953, S. 286-295. Turings Unterkapitel
gehört zu dem Beitrag Digital Computers Applied to Games, dessen Einleitung und andere
Kapitel, laut Hodges, allerdings nicht von Turing stammen. Turing hatte erste schachspielen-
de Papiermaschinen bereits während des Zweiten Weltkriegs in Bletchley Park ersonnen.
Vgl. auch Shannon, Claude E., „Programming a Computer for Playing Chess", in: Philoso-
phical Magazine, Series 7, Bd. 41, Nr. 314, 1950, S. 256-275. Und Shannon, Claude E„ „A
Chess-Playing Machine", in: Scientific American, Bd. 182, Nr. 2, 1950, S. 2124-2133.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 175

selbst. Zumindest erhellt das Spiel als Anwendungsfall des Computers dessen
Potenz als Plattform höchster Konkretion und gleichsam modellhafter Offen-
heit. So nahm Shannon anläßlich der Verleihung der höchsten Auszeichnung,
die Ingenieure in den USA bekommen konnten, für seine „game playing
machines" in Anspruch, daß sie auch alles andere bewältigen könnten, was in
der Zeit nach dem Krieg an Herausforderungen anstehe.588 Programme, die
einen „general purpose Computer" in den Stand setzten, Schach zu spielen,
ermöglichen laut Shannon auch langfristig Sprachen zu übersetzen, strategi-
sche Entscheidungen bei einfachen militärischen Operationen zu treffen, eine
Melodie zu instrumentieren oder logische Deduktionen auszuführen.58l)
Den ersten Schritt, Ernst mit dem Spiel zu machen, hat allerdings ein ande-
rer ausgeführt: John von Neumann. Bei ihm wird dem Spiel ein Stellenwert
eingeräumt, der sich von dem geläufigen Status während des Grundlagen-
streits merklich unterschiedet. Wenn dort das Spiel mit Zeichen half, dem
Formalismus über Tautologien hinwegzuhelfen, dann stand das Spiel selbst
nie im Zentrum des Erkenntnisinteresses, auch dann nicht, wenn konkrete
Spiele wie das Schachspiel verhandelt wurden.590 Ganz anders ging der große

Vgl. Shannon, Claude E., „Game Playing Machines", in: Journal ofthe Franklin Institute,
Bd. 260, Nr. 6, 1955, S. 447-453.
Vgl. Shannon, „Programming a Computer for Playing Chess", S. 637.
Zum Anwendungsfall seiner axiomatischen Mengenlehre erhöh das Schachspiel Ernst
Zermelo auf dem fünften internationalen Kongreß der Mathematik. Ausgangslage für Zerme-
los Beweis ist die Tatsache, daß das reguläre Schachspiel eine endliche Anzahl an Spielkons-
tellationen kennt, jedoch theoretisch endlos viele regelkonforme Züge zu machen einräumt.
Zermolo stellt eine Behauptung über die Determiniertheit auf, mit der eine Matt-Stellung,
wenn sie denn möglich ist, eintritt, auch wenn der Gegner theoretisch unendlich viele Züge
machen kann. Zermelo, Ernst, „Über eine Anwendung der Mengenlehre auf die Theorie des
Schachspiels", in: Proceedings ofthe Fiflh International Congress of Mathematicians, Cam-
bridge, 1912, hg. v. E. W. Hobson u. A. E. H. Love, Bd. 2, Cambridge, 1913, S. 501-504.
Die beiden ungarischen Mathematiker Läszlö Kalmar und Denes König haben 1928 und
1929 Zermolos Ansatz aufgegriffen. Wie dehnbar die Anwendung theoretischer Mathematik
auf den Gegenstand des Spiels ausfällt, zeigt sich darin, daß nun auch Lösungen für Schach-
bretter mit endlos vielen Feldern und Zugmöglichkeiten angenommen werden. Daß schon
Zermelos Ansatz für das Schachspiel folgenlos ist, gilt für ihre Beiträge indes gleichermaßen.
Schließlich hat sich noch Max Euwe in die Diskussion eingeschaltet, um am selben Beispiel
Brouwers intuitionistische Herangehensweise zu demonstrieren. Er stutzt Königs endloses
Schachbrett wieder auf ein konstruktives Maß zurück, da sich Intuitionisten verbieten, Exis-
tenzaussagen zu Eigenschaften von unabzählbaren Elementen zu machen. Max Euwe wird
übrings noch als Schachweltmeister von sich reden machen, und er wird als einziger Mathe-
matiker am Grabe L.E.J Brouwers, die Trauerrede auf ihn halten.
Kalmar, König und Euwe haben jeweils nicht unerwähnt gelassen, daß sie Anregungen von
einem Herrn Dr. von Neumann erhalten haben. Vgl. König, Denes, „Über eine Schlussweise
aus dem Endlichen ins Unendliche" in: Acta Litterarum ac Scientiarum, Sectio Seien. Math..
Bd. 2, Hfl. 26, 1927, S 121-130, Kalmar, Läszlö, „Zur Theorie der abstrakten Spiele", in:
Acta Litterarum ac Scientiarum, Sectio Seien. Math., Bd. 8, Hft. 15, 1928, S 65-85 und Eu-
we, Max, „Mengentheoretische Betrachtungen über das Schachspiel", in: Proceedings. Ko-
ninklijke Akademie van Wetenschappen Te Amsterdam. (Kommuniziert durch Prof. R. Weit-
zenböck), Bd. 32, Nr. 5, 1929, S. 633-642. Das 6. Kapitel dieser Schrift setzt sich eingehen-
der mit der Rolle des Spiels zur Zeit des Grundlagenstreits auseinander.
176 VI VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

Reduktionist von Neumann zu Werk: er zielte auf das Spiel selbst und durfte
sich mit einigem Recht als Begründer der Spieltheorie sehen. Ganz so, wie
von Neumann viel später Norbert Wiener vorschlagen wird, das Wesen des
Lebens besser nicht an der Komplexität gemessener Gehirnströme, sondern in
seiner denkbar einfachsten Form, der Zelle, zu studieren, so wandte sich der
junge von Neumann vom Schachspiel ab und den kinderleichtesten Spielen
zu: Dem „Grad und Ungrad"-Spiel oder „Papier, Schere, Stein". Von Neu-
mann räumte ein, daß die meisten Spiele kompliziertere Regeln aufweisen und
zudem noch vom Zufall beherrscht werden. Man denke hier nur an Karten-
und Würfelspiele. Vom Zufall abhängige Züge und die kalkulierten Schritte
der Spieler scheinen nach einer Unterscheidung zu verlangen. Darüber hinaus
sollte man annehmen, daß die Wechselwirkungen zwischen den Spielern ein
unabhängiges mathematisches Modell erfordern:
[Insbesondere] die Konsequenzen des (für alles soziale Geschehen so charakte-
ristischen!) Umstandes [sind zu berücksichtigen], daß jeder Spieler auf die Re-
sultate aller anderen einen Einfluß hat und dabei nur am eigenen interessiert
ist.591
Von Neumann führt all diese Unterscheidungen und Variablen nur ein, um sie
wieder vom Tisch zu fegen. Die bewußten Schritte oder zufälligen Züge sind
durch das Regelwerk des Spiels bestimmt oder durch Zufallsverteilungen
umrissen. Es gibt in von Neumanns Theorie des Spiels keinen Grund, die
Strategie, nach der man spielt, nicht schon vor dem Spiel festzulegen.592 Was
sich berechnen läßt, läßt sich auch vor dem Spiel zu einer „Spielmethode"5'3
berechnen. Was vor dem Spiel nicht zu berechnen ist, ist auch im Spiel nicht
zu berechnen, und von Neumann setzt zu einem verwickelten Beweis an, der
anhand einer bilinearen Funktion die Gültigkeit seines Mini-Max-Theorems
aufzeigt. Dem Theorem nach existieren Spielmethoden, die höchstmögliche
Gewinne garantieren, selbst wenn optimale Spielmethoden ihnen entgegenge-
setzt werden. Allein die Annahme eines zusätzlichen Teilnehmers an einem
Spiel, für das der Nachweis des Mini-Max-Theorems zu beweisen von Neu-
mann gelungen ist, wirft Probleme auf, deren mögliche Lösung er nur ansatz-
weise aufzeigen kann. Ob und wie Mini-Max-Theoreme für Regelwerke
beliebiger Spiele zu berechnen sind, vermag seine Theorie nicht aufzuzeigen,
auch nicht, als er sie 1944 unter reger Anteilnahme von Oskar Morgenstern
zur „Game Theory" ausbaut. Mit anderen Worten: Ausgesuchte Spiele mögen
durch von Neumann berechenbar geworden sein; Spiele, wie sie generell
vorzufinden sind, jedoch nicht.
Dennoch ist von Neumanns Theorie der Gesellschaftsspiele epistemisch
gesehen, von hoher Bedeutung, auch wenn er selbst erst im Prioritätsstreit mit

Neumann, John von, „Zur Theorie der Gesellschaftsspiele", in: Mathematische Annalen.
Bd. 100,1928, S. 295-320, hier S. 298.
592
Ebenda, S 299-300.
593
Ebenda, S. 300.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 177

Frankreichs großem Mathematiker und zeitweiligem Marineminister Emil


Borel auf seine frühe Arbeit zurückkommt.594
Bis von Neumann seine Theorie der Gesellschaftsspiele entwickelte, war er
ein child prodigy, das seinen Berliner Mathematikprofessor mit einer Disser-
tationsschrift über die Axiomatisierung der Mengentheorie ziemlich überfor-
derte.5'5 Wünschenswert erschien deshalb ein engerer Austausch mit Huberts
Göttinger Schule. Kaum drei Wochen, nachdem er als ungarischer Promo-
vend, ausgestattet mit einem Stipendium der Rockefellerdynastie,596 in Göttin-
gen angekommen war, hielt von Neumann seinen ersten öffentlichen Vortrag
überhaupt, und zwar vor der renommierten Göttinger Mathematischen Gesell-
schaft. Der Titel des Vortrags lautete: „Zur Theorie der Gesellschaftsspiele".597
Vorausgeeilt war ihm der Ruf, die Axiomatisierung der Zermelo Fraenkel-
Mengenlehre in einer Weise vorangetrieben zu haben, die das problematische
Auswahlaxiom entbehrlich machte. War von Neumann also als junger Stipen-
diat nach Göttingen gekommen, der sich mit seiner Spieltheorie vorstellte, so
verließ er schließlich Göttingen als enger Mitarbeiter von Hubert, der dessen

Während Borel die Frage der Priorität selbst nicht mehr besonders interessiert zu haben
scheint, ergriff Maurice Frechet nach seinem Tod für ihn Partei. Bemerkenswert an der Aus-
einandersetzung, die 1953 in der Zeitschrift Economelrics austrugen wurde, ist Frechets
Hinweis, daß Georges Guilbaud es war, der ihn auf Boreis spieltheoretische Schriften über-
haupt hingewiesen hatte. Der Prioritätsstreit erweist sich mit Guilbaud im Hintergrund als
Symptom der wachsenden Aufmerksamkeit, die der Spieltheorie im intellektuellen Paris nach
1950 zukommt. Vgl. Frechet, Maurice, „Emile Borel, Initiator of the Theory of Psychological
games and its Application", in: Econometrica, Bd. 21, 1953, S. 95-96, hier S. 95.
Vgl. Ulam, Stanislaw, „John von Neumann, 1903-1957", in: Bulletin of the American
Mathematical Society, Bd. 64, Nr. 8, Teil 2, 1958, S. 1-49, hier S. 10, Anmerkung 3.
Die im übrigen auch die Finanzierung von Huberts Neubau des Mathematischen Instituts
übernahm, das nur wenige Jahre später verwaist sein wird. Vgl. Hubert, David, „Über meine
Tätigkeit in Göttingen", in: Hubert. Gedenkband, hg. v. Kurt Reidemeister, Berlin, Heidel-
berg, 1971, S. 78-82, hier S. 82.
Von Neumann hat bei der Veröffentlichung der Arbeit 1928 daraufhingewiesen, sie sei „mit
einigen Kürzungen" vorgetragen worden, was annehmen läßt, daß seine Theorie 1926 ausge-
arbeitet vorlag. Dem Zeitpunkt seines Vortrags kommt eine besondere Bedeutung zu, weil
insbesondere seine Arbeiten zur Quantenmechanik früher erschienen, aber erst später in Göt-
tingen entstanden. Daß schon der junge von Neumann zu einer zentralen Figur im Kreis der
Mathematiker um David Hubert wurde, indem er gleich auf mehreren ihrer Forschungsfelder
äußerst produktiv war, ist in der Forschung reichhaltig belegt und besprochen. Umso erstaun-
licher mutet an, daß über von Neumanns Göttinger Zeit, abgesehen von seinen Publikationen,
kaum etwas bekannt ist. In Göttingens Universitätsarchiv finden sich nach Aussage der dorti-
gen Archivare keine Spuren von v. Neumanns Aufenthalt. Neumanns Biograph Norman
Macrae vermutet, dieser könnte schon im Frühherbst in Göttingen angetroffen sein und spe-
kuliert über vorangegangene Aufenthalte. Siehe Macrae, John von Neumann, S. 115. Dabei
gibt es keinen Zweifel darüber, daß von Neumann am 12. November 1926 zum erstenmal
nach Göttingen kam und dort bis zum 1. Juli 1927 blieb. Belegt sind die Daten durch das
Göttinger Stadtarchiv, das das Melderegister mit von Neumanns Eintrag aufbewahrt. Die An-
gaben des Zeitraums stimmen mit den Angaben in Dokumenten des Rockefeller Archive
Center überein, aus denen zudem von Neumanns Abwesenheit zwischen den Semestern her-
vorgeht: Siehe von Neumanns Brief an Trowbridge vom 12. Mai 1927. Rockefeiler Archive
Center: International Education Board (IEB), Series 1, Subseries, 3, Box 55, Folder 896
[John L. Newmann / 1926-1938])
178 Vi VON FORMELSPIELF.N ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE

sogenannte Hilbert-Räume für die mathematische Fassung der Quantenmech-


nik fruchtbar gemacht hatte. Es liegt folglich nahe, eine nicht folgenlose
Strategie dahinter zu vermuten, daß zwischen diesen Phasen von Neumann
eine „Theorie der Gesellschaftsspiele" für seinen ersten öffentlichen Auftritt
in Göttingen wählte. Dennoch scheint Philip Mirowski bisher der einzige zu
sein, der den epistemischen Gehalt der frühen Spieltheorie im Kontext seiner
anderen Arbeiten zu erschließen versucht, ohne sich von den schillernden
Begriffen der Spieltheorie allein zu Spekulationen verleiten zu lassen.598
Für von Neumanns späteren Weggefährten und Freund Stanislaw Ulam ist
das Spiel das Medium, daß zur Theorie des Computers geführt hat: Denn
Huberts Programm konsequenter Axiomatisierung verfolge „the goal of trea-
ting mathematics as a finite game. Here one can divine the germ of von Neu-
mann's future interest in Computing machines and the ,mechanization' of
proofs."599 Präzisierend sei jedoch angemerkt, daß von Neumann nicht unmit-
telbar von der formalistischen Mathematik als Spiel mit an sich bedeutungslo-
sen Zeichen zur mathematischen Theorie von Rechenmaschinen überging,
sondern sehr konkreten Spielen mathematische Problemlagen abgewann, die
weder in einem reinen Formalismus, noch in einer reinen Anwendung aufgin-
gen. Daß von Neumann, nach seinem Vortrag in Göttingen, sich aktuellen
Fragestellungen der Physik und vor allem der Quantenmechanik widmet, liegt
damit auch in seiner Spieltheorie begründet, die ermöglichte, Fragen nach
Indeterminiertheiten und Wechselwirkungen komplexer Systeme zuerst zu
stellen und sie dann an die Quantenphysik heranzutragen. Mit der Spieltheorie
als konsequenter Umsetzung der von Hubert eingeforderten Axiomatisierung
und zwar erstmals jenseits der mathematischen Zweige scheint denn auch zum
ersten Mal ein Weltbild auf, das schon im Weltmaßstab offenbart, was erst der
Quantenmechanik nach dem Kopenhagener Modell auf kleinster Ebene eigen
sein wird:
Das Zufallsabhängige („hazarde", „statistische") liegt so tief im Wesen des Spie-
les (wenn nicht im Wesen der Welt) begründet, daß es gar nicht erforderlich ist,
es durch die Spielregeln künstlich einzuführen: auch wenn in der formalen Spiel-
regel davon keine Spur ist, bricht es sich von selbst die Bahn.600
Von Neumann hat somit in dem Moment das Spiel theoretisch zu fassen
gesucht, in dem eine Theorie dessen, was Mathematik ist, am dringlichsten
erschien und ihm die Mittel zur Formulierung seiner Spieltheorie lieferte.
Weder eine unumstößliche Bestimmung der Mathematik noch der Spiele ist
daraus hervorgegangen. Schon deswegen gibt auch von Neumanns „Theorie
der Gesellschaftsspiele" kein frühes mathematisches Modell sozialer Systeme
ab. Seine Spieltheorie hat in ihrem Reduktionismus nicht einen Kern sozialen
und/oder ökonomischen Verhaltens an den Tag gelegt, sondern vielmehr eine

Vgl. Mirowski, Machine Dreams, S. 105-116.


Ulam, „John von Neumann", S. 11-12.
Neumann, „Zur Theorie der Gesellschaftsspiele", S. 306.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 179

auf Zeichenoperationen sich beschränkende Verfahrensweise, die dann im


Zweiten Weltkrieg einen kleinen, aber wirkmächtigen Kreis von Akteuren gar
nicht anders, als in Nullsummenspielen wissentlich und unwissentlich in
Kontakt treten ließ. Als Nullsummenspiele bezeichnete jedenfalls Shannon
jene Ebene des Zweiten Weltkrieges, auf der die kriegsführenden Parteien
versuchten, die Kommunikation des Gegners offenzulegen wie die eigene zu
verschlüsseln.601
Wenn jedoch schon die Mathematik letztlich keine allumfassende Theorie
der Berechenbarkeit von auf Zeichenoperationen zurückgeführten Spielen
hervorgebracht hat, dann kann nicht Ziel dieser Studie sein, einen weiteren
Bestimmungsversuch des Spiels vorzulegen. Deutlich sollte aber geworden
sein, wie gerade Spiele unter hochtechnologischen Bedingungen einer immer
ausgreifenderen Tendenz zur Berechenbarmachung als Trägermedium dienten
und dienen, und welche Unberechenbarkeiten, historisch gesehen, dafür mit-
unter in Kauf genommen wurden.
Spiele, wie auch die Mathematik selbst, scheinen von einer Tautologie be-
stimmt, die entweder alles ein- oder alles ausschließt. Diese Einheit in der
Vielheit zeigt sich auch daran, daß man von „der Mathematik" im Deutschen
spricht, als gebe es nur die eine, während im angelsächsischen Raum oder
auch im Französischen der pluralis tantum „mathematics" und „les mathema-
tiques" mehrere Seinsarten einfordert602
Bezeichnender noch ist eine ontische Dimension, die das Spiel mit der
Sprache teilt, wenn auch hier eine Eigenart des Deutschen als Beleg gelten
mag: Heidegger wußte nur zu gut, daß sprachliche Wendungen wie „Der
Raum räumt" oder „Die Zeit zeitigt" den üblichen Gebrauch der Sprache
unterlaufen.603 Daß Spiele gespielt und Sprachen gesprochen werden müssen,
um das zu sein, was sie sind, läßt sich mit keinem anderen Wort umschreiben.

Vgl. Shannon, Claude E., „Communication Theory of Secrecy Systems", in: Bell System
Technical Journal, Bd. 28, 1949, S. S.656-715, hier S. 662-663. Deutsch: „Die mathemati-
sche Kommunikationstheorie der Chiffriersysteme", in: derselbe, Ein/Aus. Ausgewählte
Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie, hg. v. Friedrich Kittler, Peter Berz
u.a. übers, a. d. Engl. v. Bernhard Siegert, Berlin 2000, S. 101-175.
Das Gründungsmanifest der französischen Mathematikergruppe, die unter dem Namen
Nicolas Bourbaki auftrat, beginnt mit der Frage: „La Mathematique, ou les Mathematiques?"
Vgl. Bourbaki, „L'architecture des mathematiques", S. 35.
Vgl. Heidegger, Martin, „Das Wesen der Sprache. Dritter Vortrag am 7. Februar 1958 im
Studium generale", in: derselbe, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart. [1953] 1993. S. 196-216,
hier S. 215.
QUELLEN UND LITERATUR

Quellen

Bei der ersten Zitation aus einem Text oder einem Dokument wird grundsätzlich die
vollständige Quellenangabe angeführt, bei wiederholten Zitationen derselben Quelle
werden nur noch Autor und Kurztitel genannt. Jahresangaben in eckigen Klammern
bezeichnen das Jahr der Erstveröffentlichung, sofern diese in signifikanter Weise vom
Erscheinungsjahr der verwendeten Quelle abweicht.

Unveröffentlichte Dokumente

Göttinger Stadtarchiv:
Melderegister Johann von Neumann

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Hauptstaatsarchiv:


HStAD,RW 265-21410
Eugen Ott, „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung des Nationalsozia-
lismus' vor dem Rhein-Ruhr-Klub e.V. am 19. Mai 1965 in Düsseldorf, Bl.
1-16

Bundesarchiv-Militärarchiv:
BA-MA Bestand P-094
Rudolf Hofmann über „Kriegsspiele", Bl. 8-74
Anlage 1: Ausarbeitung des ehemaligen Generals der Inf. Fangohr
Teil 1: „Beitrag zur Studie ueber Zweck und Art der
Durchfuehrung von Kriegsspielen, Planuebungen usw. im
deutschen Heer", B. 75-128
Teil 2: „Rekonstruktion der Kraftwagen-Transport-ue-
bung 1937" Bl. 129-143
Anlage 2: Ausarbeitung des ehemaligen Feldmarschalls List, B1.144-
190
Anlage 3: Ausarbeitung des ehemaligen Generals der Nachrichten-
truppe Praun: Nachrichtenverbindungen bei Kriegsspielen
und Rahmenuebungen
Eine Übersetzung auf Amerikanisch hat P. Luetzkendorf (Historical Division, Head-
quarters, US Army. Europe 1952) im gleichen Jahr angefertigt: War Games, U.S. Ar-
my Historical Document MS P-094, Department of the Army, Office of the Chief of
Military History, 1952.
182 LITERATUR

Massachusetts Institute of Technology (MIT), The Institute Archives and Special


Collections:
NWP, Kasten 4, Ordner 62.
Brief R.G.D. Richardson (Brown University Providence) an Douglas C. Jack-
son (MIT) vom 19.11.1942

Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow, New York (RAC):


International Education Board (IEB), box 55, series 1, subseries 3, folder 896, [John L.
Newmann/1926-1938]:
John von Neumanns Brief an Trowbridge vom 12.05.1927.

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1995, S. 225-580.
- „Kalkül und Anwendung", in: derselbe, Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der
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dem Nachlaß von B.F. McGuinness, Frankfurt/M., 1989, S. 170.
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S. 474.
- „Was in Königsberg zu sagen wäre", in: Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der
Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus
dem Nachlaß von B.F. McGuinness. Frankfurt/M., 1989, S. 102-107.
- Geheime Tagebücher 1914-1916, hg. u. dok. v. Wilhelm Baum, Wien, Berlin, 1991.
- Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet
von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus dem Nachlaß von Brian F. McGuinness,
Frankfurt/M., 1989.
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- „Widerspruchsfreiheit III", in: derselbe, Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der


Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus
dem Nachlaß von B.F. McGuinness, Frankfurt/M., 1989, S. 119-121.
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Cambridge, 1912, hg. v. E. W. Hobson u. A. E. H. Love, Bd. 2, Cambridge, 1913,
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Zuse, Konrad, „Einleitung", in: Der Plankalkül, hg. v. Gesellschaft für Mathematik
und Datenverarbeitung, Nr. 63, 1972, S. 1-4.
- „Kommentar zum Plankalkül", in: derselbe, Der Plankalkül. Hg. v. Gesellschaft für
Mathematik und Datenverarbeitung, Nr. 63, 1972, S. 1-35, hier S. 5.
-Der Computer, mein Lebenswerk, Berlin, Heidelberg, New York, u.a. 1986.
ABBILDUNGSNACHWEIS

Abb. 1-2: Borst, Arno, „Rithmimachie und Musiktheorie", in: Geschichte der Musik-
theorie: Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter, Bd. 3, hg. v. Frieder Zaminer,
Darmstadt, 1990, S. 278 und S. 279, Abb. 2-3.
Abb. 3: Harsdörffer, Georg Philipp, Delitia Mathematica et Physicce. Der Mathemati-
schen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Teil, Neudruck der Ausgabe
Nürnberg, 1651 (= Texte der Frühen Neuzeit), hg. v. Jörg Jochen Berns, Frankfurt/M.,
1990, S. 517.
Abb. 4: Hahlweg, Werner, Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Grafen
Johann von Nassau-Siegen, hg. v. der Historischen Kommission für Nassau, Wiesba-
den, 1973. S. 610. Anlage 13.
Abb. 5-8: Weickmann, Christoph, New-erfundenes grosses Königs-Spiel etc, Ulm,
1664, Abb. 6, nach der Widmung, Abb. 5 u. 8, nach dem Inhaltsverzeichnis, Abb. 7
Titelkupfer. Princeton University Library. Eugen B. Cook Chess Collection. Rare
Books Division. Department of Rare Books and Special Collections. Princeton Univer-
sity Library.
Abb. 9: von Wallhausen, Johann Jacob, Kriegskunst zu Fuß, Oppenheim, 1615,
Abb. 6.
Abb. 10: Furttenbach d. Ältere, Joseph, Mannhaffter Kunstspiegel, Augsburg, 1663.
Abb. 11-14: Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, (Foto
Roman März, Berlin).
Abb. 15: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Kartenabteilung, Kar-
tensignatur N 3660 /bpk.
Abb. 16: Wittgenstein, Ludwig, „Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus lo-
gico-philosophicus", in: Werkausgabe. Bd. 1, Frankfurt/M., [1922] 1995, S. 68.
DANKSAGUNG

Tina Zürn, Gebhard Reul, Gerhard Scharbert und Günther Bergmann danke
ich für Manuskriptkorrekturen und wertvolle Verbesserungsvorschläge sowie
Joulia Strauss tür das schöne Buchcover. Dank für entscheidende Anregungen
gebührt Friedrich Kittler und den Freunden und Kollegen der Seminare der
Humboldt-Universität in der Sophienstraße zu Berlin. Danken möchte ich
auch Michael S. Mahoney für seine Gastfreundschaft und Unterstützung in
Princeton. Raimar Zons und Andreas Knop sei für ihr Interesse an dem Buch
gedankt sowie für die angenehme Verlagszusammenarbeit. Meiner Familie
schließlich schulde ich Dank tür jenen Rückhalt, den nur sie bieten kann.
PERSONENREGISTER

Adam. Walter 76f, 90 Cantor, Georg 155, 162f


Alberti, Leon Battista 24 Cardano, Girolamo 25
Alexander der Große 81 Carnap, Rudolf 148f
Altenstein, Karl vom Stein zum 118 Cassini, Jean Dominique Comte de 69
Altrock, Konstantin von 45 Cassiodor, Flavius Magnus Aurelius
Aristoteles 26 Gassiodorus 12
Arnim, Achim von 52 Cassirer, Ernst 55
Asilo 15, 18 Chosref, Mehmed Pascha 69, 70
August der Jüngere, Herzog von Church, Alonzo 171,772
Braunschweig-Lüneburg 32 Clausewitz, Carl von 8f, 44, 49f, 52f,
August, Prinz von Preußen 120 56, 57, 61f, 67, 88,94
Clavius, Christoph 28
Babbage, Charles 117f Cochenhausen, Friedrich von 101-
Balzac, Honore de 47 104, 107
Baudrillard, Jean 10,79 Conant, James 113
Benjamin, Walter 73
Bergson, Henri 165 Dahlmann, Christoph 46, 50
Bernays, Paul 10,26, 150, 156 Dannhauer, Ernst Heinrich 68, 70, 71
Bernoulli, Jakob 41 Decker, Carl von 69, 71
Boethius, Anicius Manlius Severinus Delbrück, Hans 98
11, 18 Descartes, Rene 24, 32, 119f
Boineburg , Johann Christian von 32 Dieudonne, Jean 126,150
Borel, Emil 177 Dirichlet, Gustav Lejeune 116-124,
Borel, Emile 177 126f, 151
Borst, Arno / / , 14f, 199 Du Bois-Reymond, Emil 152f
Bourbaki, Nicolas, Pseudonym einer Du Bois-Reymond, Emile 151 f
Gruppe von Mathematikern, die Du Bois-Reymond, Paul 126, 151-
hauptsächlich an der Ecole 154, 156, 163
Normale Superieure in Paris
ansässzig waren / 79 Edgerton, Samuel 24
Brandes, Georg 70 Elze, Wilhelm 98f, 101
Bredow, Ferdinand von 87 Erdman, Paul 95
Brouwer, Luitzen Egbertus Jan I47f, Euwe, Max 775
150, 155, 157-163, 167
Bruchmüller, Heinrich 131-135 Feigl, Herbert 148
Brühl, Karl von 52 Feller, Joachim Friedrich 40
Brühl, Marie von 52 Fermat, Pierre de 41, 119
Brussilow, Alexej Alexejewitsch 131, Finck von Finckenstein, Wilhelm
136 Leopold Friedrich 70
Bülow, Bernhard Wilhelm von 76 Foucault, Michel 102
Bülow, Heinrich Dietrich von 57 Fourier, Joseph 122
Bush, Vannevar 113 F rechet, Maurice 7 77
Frege, Gottlob 150,163, 172
Friedlein, Gottfried 13
204 PERSONENREGISTER

Friedrich I., Kaiser des Heiligen Hierl, Konstantin 105


Römischen Reiches 20 Hubert, David 124, 146-157, 158,
Friedrich II., König von Preußen 41, 159-161, 167, 170, 172, 177f
43 Himmler, Heinrich 79,105
Friedrich Wilhelm III., König von Hindenburg 89
Preußen 43, 49-52, 58, 70, 116f Hitler, Adolf 75, 91f, 100, 102, 105-
Friedrich Wilhelm IV., König von 107
Preußen 56 Hoetzendorf, Conrad von 101
Fromm, Fritz 106 Hofmann, Rudolf 48,181
Fürst, Carl Joseph Maximilian von 55 Huber, Ernst Rudolf 84, 89
Furttenbach, Joseph 37-39,199 Humboldt, Alexander von 95, 116,
Ulf, 119, 120f, 123, 124f
Galton, Francis 165f Humboldt, Wilhelm von 117
Gans, Eduard 95 Husserl, Edmund 99, 167, 168-171
Gauß, Carl Friedrich 117-119, 125, Huygens, Christian 41
151,153,166
Gayl, Wilhelm von 89 Jacobi, Jacob 119, 123
George, Stefan 99 Jakob I., König der Schotten sowie
Gerbert von Aurillac 18 König von England und Irland 74
Gneisenau, August Neidhardt von Jewett, Frank 113
51f, 56 Johann II. Kasimir, König von Polen
Gödel, Kurt 147-150 32
Goebbels, Josef 92, 105f Johann Moritz von Nassau-Siegen,
Göring, Hermann 97, 107 Fürst 29
Graf Wilhelm Ludwig 29 Johannes de Sacrobosco 28
Griesheim, Karl Gustav Julius von Jünger, Ernst 76, 93, 139, 140f, 143f
70, 95f
Grimmeishausen, Hans Jakob Kalmar, Läszlö / 75
Christoffel von 35 Kant, Immanuel 53-56,62, 141, 156-
Groener, Wilhelm 77 158
Grolmann, Karl Wilhelm Georg von Karl von Österreich, Erzherzog 46
52 Kelsen, Hans 162
Guilbaud, Guilbaud 777 Kessel, Eberhard 98
Gurian, Wlademar 73 Keynes, John Maynard 32
Gutenberg, Johannes 18 Kiesewetter, Johann 56
Kittler, Friedrich 110, 135
Haeften, Hans von 98 Kittler, Wolf 45
Harsdörffer, Georg Philipp 28-33, Klein, Felix 124
199 Kleist, Ewald von 49
Hartlaub, Felix 98-100 Kleist, Heinrich von 9, 44-48, 50-53,
Hasenjäger, Gisbert 173 55, 122, 141
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 95f Kleist, Marie von 51, 52, 58
Heidegger, Hermann 93 f Kling, Thomas 106
Heidegger, Martin 42, 94, 135f, 179 König, Denes 175
Hellwig, Johann Christian Ludwig 61 Konrad der Zweite, Kaiser 15
Hermann der Lahme 12 Köpke, Gerhard 77f
Herodot 16 Krebs, Hans 92
Heß, Rudolf 107 Kronecker, Leopold 116
Heydrich, Reinhard 79 Kummer, Eduard 116, 121f, 124, 131
Heyting, Arend 148
PERSONENREGISTER 205

Lacan, Jacques 115 Olbricht, Friedrich 91


Lampe, Erich 122 Oldenburg, Henry 27
Laplace, Pierre-Simon 122 Osterkamp, Ernst 106
Leibniz, Gottfried Wilhelm von 8,23, Ott, Eugen 77,83-91, 181
24, 26-29, 31 f, 40-42, 57, 151, 156,
158, 172, 184 Papen, von Franz 83f, 86, 88f
Leopold I., Kaiser des Heiligen Pascal, Blaise 41
Römischen Reich Deutscher Nation Paschukanis, Eugen 162
9,59,116 Paulus, Friedrich 91
List, Wilhelm 111, 181 Pfaffendorf 140
Ludendorff, Erich 53,80, 13lf Pfuel, Ernst von 46
Ludwig Wilhelm von Nassau-Siegen Philipp Wilhelm von Neuburg,
29 Pfalzgraf 32
Ludwig XIV., König von Frankreich Planck, Erwin 85
und Navarra 31 Planck, Max 85, 164
Lukasiewicz, Jan 172 Praissac de Braissac, Sieurdu 29
Praun, Albrecht 80, 81, 181
Macho, Thomas 136 Puissant, Louis 120
Macrae, Norman 177 Pulkowski, Erich 133
Mahoney, Michael S. 110
Manstein, Erich von 76-78, 79, 83- Radowitz, Joseph Maria von 118,
85,90 119, 120, 122, 127
Marcks, Erich 85f, 91,102 Raymundus Lullus 29
Marwitz, Charlotte von 52 Reiche, Ludwig von 57
Maximilian Heinrich, Erzbischof 37 Reiswitz, Georg Heinrich Rudolf
McCulloch, Warren S. HOf Johann von 45, 65, 66, 67, 69, 70,
McKinsey, John C. Chenoweth 172 71,95
Melville, Herman 76 Reiswitz, George Leopold von 9, 44,
Messter, Oskar 159 45,48,57,58,59,60,61,62,63,
Mirowski, Philip 178 64,65,66,67,71, 165
Model, Walter 48 Ries, Adam 11
Moltke, Helmuth von 52, 58, 69f, 94, Rintelen, Emil Otto Paul von 78
103 Ritter, Carl 95
Montmort, Pierre Remond de 24, 41 Röhm, Ernst 75, 76
Morgenstern, Oskar 176 Rohr, Willy 133
Müffling, Karl von 65-67, 69, 94, Roon, Albrecht von 95, 96
116-118, 121 Rühle von Lilienstern, Otto August
Müller, Aloys 155 122
Murray, Harold J. Ruthen 145 Rüssel, Bertrand 150,155
Russell, Bertrand 131
Napoleon Bonaparte, Kaiser der
Franzosen 8, 46, 48-53, 57, 61 f, Sarvavarman, Indischer König 145
94,102, 121, 130 Scharnhorst, Gerhard Johann David
Neumann, Franz 115 von 47,53,67, 118
Neumann, John von 7, 10, 88, 11 lf, Schellendorf, Paul Bronsart von 94
115, 148, 149,772, 175-178, 181 Schleicher, Kurt von 75, 76, 77, 83,
Newman, Max 172 84, 85, 86, 88, 89, 90
Nikolaus II., Zar des Russischen Sehlieffen, Alfred von 81
Reiches 70 Schmitt, Anima 73
206 PERSONENREGISTER

Schmitt, Carl 71, 73, 74, 75, 76, 77, Vietes, Francois 24
83,84,86,87,89,90, 106, 161, Virilio, Paul 100
162, 163, 164 Vivremont, Erwin Lahousen Edler
Scholz, Heinrich 32, 171, 172, 173 von 79
Schönborn, Johann Philipp Kurfürst
von 31 Wagner, Richard 84
Schönflies, Arthur Moritz 159 Waismann, Friedrich 146-148
Schottelius, Justus Georg 31 Waidenburg, Siegfried von 49
Schramm, Percy Ernst 99 Wallhausen, Johann Jacob von 38,
Schwenters, Daniel 28, 29 39, 199
Seeckt, Hans von 82, 83, 85, 96, 107f Walther von Speyer 18
Shakespeare, William 74-76 Weickmann, Christoph 33f, 37f, 40,
Shannon, Claude E. 111, 174f, 179 43, 199
Smith, Adam 44, 165 Weierstraß, Karl 116
Sömmering, Samuel Thomas von 45 Welchman, Gordon 111, Ml
Speer, Albrecht 92 Weyl, Hermann 146f, 149, 150, 154,
Spengler, Oswald 171 f 155,157, 159-163,767, 172
Stanislaw, Ulam 178 Whitehead, Alfred North 131
Stauffenberg, Claus von 700,106 Wiener, Norbert 11 lf, 114, 129, 137,
Stein, Heinrich Friedrich Karl vom 176
und zum 9, 51 f Wilhelm Friedrich Karl von Oranien-
Stevin, Simon 38 Nassau, Prinz der Niederlande 57
Wilhelm I., König von Preußen sowie
Tartaglia, Niccolö 25 Deutscher Kaiser 43, 57f, 65
Tresckow, Henning von 91, 92 Wilhelm von Preußen 133
Troscke, Theodor von 45 Withehead, North 131
Turing, Alan 77/, 127, 168-174 Wittgenstein, Ludwig 127,129-131,
135-138, 142-149,750, 199
Vaihinger, Hans 84
van Creveld, Martin 109 Zenge, Wilhelimine von 55
van Reyd, Everard 29 Zermelo, Ernst Friedrich Ferdinand
Venturini, Georg 61 175, 177
Verdy du Vernois, Julius von 70, 92, Zuse, Konrad 172-174
95,94

( Bayerisch»
l Staatsbibliothek
l . München

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