Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Hilgers, Philipp Von Kriegsspiele Eine Geschichte Der Ausnahmezustände Und Unberechenbarkeiten
Hilgers, Philipp Von Kriegsspiele Eine Geschichte Der Ausnahmezustände Und Unberechenbarkeiten
.ULHJVVSLHOHHLQH*HVFKLFKWHGHU$XVQDKPH]XVWlQGHXQG8QEHUHFKHQEDUNHLWHQ
0QFKHQ
39$
XUQQEQGHEYEEVE
'LH3')'DWHLNDQQHOHNWURQLVFKGXUFKVXFKWZHUGHQ
PHILIPP VON HILGERS
KRIEGSSPIELE
EINE GESCHICHTE DER AUSNAHMEZUSTÄNDE
UND UNBERECHENBARKEITEN
WILHELM FINK
FERDINAND SCHÖNINGH
Umschlaggestaltung:
Joulia Strauss (Berlin), „Papierkrieg" - Eine Hommage an Michelangelo Antonioni
PVA
2008.
1353
Internet:
www.fink.de
www.schoeningh.de
Printed in Germany.
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
W. Fink I Schöningh
ISBN 978-3-7705-4645-9 I ISBN 978-3-506-76553-6
Bayerische
Staatsbibliothek
München
0 ? P/vf
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG 7
I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER 11
1. Formationen des Zahlenkampfs 11
2. Einpflanzung der Mathematik 15
3. Zeichenwerdung 19
ABBILDUNGSNACHWEIS 199
DANKSAGUNG 201
PERSONENREGISTER 203
EINLEITUNG
Es gibt zwei Felder, die gängige Kulturgeschichten des Spiels - so ernst und
intensiv sie es aufnehmen - Lügen strafen: das Schlachtfeld und die Sphäre
mathematischer Operationen. Denn spätestens nach dem Ersten Weltkrieg
wird in Deutschland in mathematischen wie auch militärischen Diskursen
nicht nur um die Grundlegung und Mächtigkeit ihres jeweiligen Operations-
feldes gerungen, sondern sie entdecken auch gleichzeitig das Spiel als pro-
duktiven Begriff. Seit diesem Moment stellen „Kriegsspiele" und schließlich
„war games" keine seltsame Wortfügung mehr dar, die einem Oxymoron
gleichkämen, sondern das vermutlich wirkungs- und gleichzeitig verhängnis-
vollste Konzept, das das 20. Jahrhundert zur Bewältigung seiner Krisen her-
vorgebracht hat.
Allerdings ist dem Begriff und der Sache des Kriegsspiels nicht gerecht zu
werden, wenn seine lange, alles andere als geradlinig verlaufende und nicht
immer ins Offensichtliche drängende Geschichte unberücksichtigt bleibt. Als
Konsequenz ist der zeitliche Rahmen der vorliegenden Studie, die im Mittel-
alter einsetzt und bis an den Zweiten Weltkrieg heranreicht, sehr weitgefaßt.
Ihm steht eine deutliche Begrenzung des Untersuchungsraums entgegen: Er
erstreckt sich von den mittelalterlichen, auf Pergament gebannten Spielflächen
deutscher Bistümer über die Spielkammern barocker Fürstenstaaten bis hin zu
den papiernen Planspielen des Deutschen und „Dritten" Reiches.
Auf einen heute oft zu Recht eingeforderten Blick, der schon allein zu Ver-
gleichszwecken über Ländergrenzen hinwegschaut, wurde weitgehend ver-
zichtet. Denn anstatt Relationen in den Vordergrund zu rücken, werden sehr
spezifische Konstellationen untersucht. Die Entscheidung, Ausnahmezustände
allein der deutschen Geschichte herauszustellen, erscheint schon deswegen
angezeigt, weil hier spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts, sowohl hin-
sichtlich der Kriegsmaschinen als auch des mathematischen Betriebes, eine
bemerkenswerte Meisterschaft zum Vorschein kommt, die ihresgleichen
sucht.'
Zu diesem Schluß kamen schon in den 1950er Jahren Vera Riley und John P. Young, die das
Potential des Kriegsspiels für die damals neue Forschungsdisziplin des Operation Research
systematisch erschlossen. Siehe: Bibliograph}' on War Gaming, Chevy Chase, Maryland,
1957. Die Aktualität des Kriegsspiels führen sie im Wesentlichen auf zwei Faktoren zurück:
Erstens auf den Erfolg, den die deutschen Streitkräfte damit verbuchten und die „wahrschein-
lich den größten Nutzen aus Kriegsspielen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zogen."
Ebenda, S. 8. Zweitens führen sie John von Neumanns Spieltheorie an, die, schon 1928 vor-
gelegt, dann nach dem Zweiten Weltkrieg eine tiefgreifende Theoretisierung von taktischen
und strategischen Spielen ermöglichte. Vgl. ebenda, S. 9.
s EINLEITUNG
von Clausewitz, Carl, Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz.
hg. v. Werner Hahlweg, Bonn, [1832] 1980, S. 262.
EINLEITUNG 9
eine der rechten Befehlsgewaltanwendung, womit der Krieg auf dem Papier
erst in beispielloser Weise entfacht wird. Clausewitz' Kriegslehre antizipiert
auf theoretische Art diese Entwicklung, doch faktisch implementiert wird die
Befehlsgewalt erst im Medium des taktischen Kriegsspiels, das nicht zuletzt
auch das Format des Buches sprengt, also jenem Medium dem Clausewitz
noch seine Lehren bis zu seinem plötzlichen Choleratod anvertraute.
In der Forschung ist bis heute nicht erkannt worden, welche entscheidende
Rolle der Kriegsdomänenrat George Leopold von Reiswitz bei der Entfaltung
dieses neuen, zeichenbasierten Operationsfeldes spielt. In diesem Zusammen-
hang ist auch auf Heinrich von Kleist einzugehen, der im Zuge der von Frei-
herr vom Stein formulierten und initiierten Reformen keineswegs nur Theater-
spiele entwarf, sondern sich auch auf Kriegsspiele einließ.
Nach der Rekonstruktion des historischen Rahmens, der die mathemati-
schen und militärischen Praktiken und ihre Ausbildung gleichermaßen erfaßt,
wird es in den drei letzten Kapiteln möglich sein, die generelle Fragestellung
in einem einzigen Fluchtpunkt zu bündeln. Gefragt wird nach dem Bereich, in
dem das Operieren im Krieg und im Reich der Zahlen konvergiert. Daß Mili-
tär und Mathematik immer wieder zusammengefunden haben, wäre indes
keine neue Behauptung.' Die Verbindungslinien wurden jedoch bis jetzt vor
allem im Bereich technischer Errungenschaften gezogen, deren Entwicklung
Mathematiker und deren Nutzung Strategen interessiert. Nimmt man jedoch
als verbindendes Element das Spiel an, so gelingt es einen Raum auszuma-
chen, der nicht immer schon durch ein teleologisches Moment determiniert
ist. Das Spiel erweist sich vielmehr als Ort, dem militärische wie mathemati-
sche Praktiken überhaupt erst entspringen, noch bevor konkrete Anwendun-
gen sie zu rechtfertigen vermögen. So ist für den mathematischen Diskurs der
1920iger Jahre der Nachweis zu führen, daß sich seine Polarisierung in for-
malistische und intuitionistische Positionen zwar vordergründig an der Be-
gründung oder Verwerfung einer mathematischen Metasprache entwickelte,
hintergründig jedoch mit dem Spielbegriff längst ein metasprachliches Objekt
den Kontroversen einen gemeinsamen Grund bereitet hatte.
Die Kriegsspiele der Reichswehr zeigen demgegenüber, auf welche Para-
meter es ankommt, sodaß Regime ihre konkreten Machtapparate im Anschluß
an diese papierenen Operationsbasen errichten können. Kriegsspielen fällt
damit eine besondere Funktion zu: Aufgefaßt als Medien, geben sie Auskunft
über eine generalstabsmäßige Geschichtsschreibung, die selbst Teil einer
Kriegstechnik geworden ist. Anstatt weiterhin Herrschaftsansprüche aus der
Vergangenheit abzuleiten, sichert ihre Historiographie in enger Kopplung mit
Vgl. einschlägige Publikationen: Booß-Bavnbek, Bernhelm und Jens Heyrup (Hg.), Mathe-
matics and War. Basel, Boston, Berlin, 2003 und Mehrtens, Herbert, „Mathematics and War.
Germany 1900-1945", in: National Military Establishments and the Advancement of Science
and Technology. Studies in 20th-Century History, hg. v. Paul Forman u. Jose Manuel San-
chez-Ron (= Boston Studies in Philosophy of Science, Bd. 180), Dordrecht, Boston, London,
1996, S. 87-134.
10 EINLEITUNG
So Bernays' Wort für den Grundverdacht, der dem Spezialfach der Logik entgegengebracht
wurde. Siehe Bernays, Paul, „Probleme der theoretischen Logik", in: Abhandlungen zur Phi-
losophie der Mathematik. Darmstadt, [1927] 1976, S. 1-16, hier S. 1.
I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER
Nach Adam Ries gilt es zwischen Rechnung auff der linihen vnd federn"
strikt zu unterscheiden: Zahlen können als Marken auf den Linien des Aba-
kus', des antiken Rechenbretts, aufgestellt werden oder in Gestalt indisch-ara-
bischer Ziffern aus der Feder fließen. Doch als Ries in der frühen Neuzeit die
Vorzüge der anschreibbaren Ziffern pries, tat er das in einem Medium, das
nicht neutral zu den dargestellten Zahlenkonzepten stand. Gutenbergs Buch-
druck hob Operationen der Schrift besser auf und gab sie auch besser wieder
als alles andere. Als die okzidentalen und Orientalen Formen zu rechnen im
Mittelalter in Italien und Spanien erstmals aufeinandertrafen, kamen nicht
bloß unterschiedliche Darstellungsformen von Rechenoperationen zum Vor-
schein, sondern es zeigte sich, daß die Zahlenkonzeptionen sich schon auf
allen Ebenen ihrer materiellen Verköperung unterschieden. Der dramatischste
Unterschied tritt im Vergleich ihrer Stellenwertsysteme hervor: Während beim
Abakus, der tabula abachi, die Stelle, die nicht zählt, schlicht durch einen
Stein nicht verkörpert wird, kennzeichnet das indisch-arabische Zahlensystem
unterschiedslos einen Wert und die Nichtvorhandenheit desselben durch
Zeichen. Die Kunde von der Null wird von einigen Autoren deshalb mit
einigem Recht an den Anfang der Geschichte der Neuzeit gesetzt.5
Die Geschichte eines Zahlenkampfes schuf allerdings überhaupt erst eine
Plattform, auf der verschiedene Mathematiken in Konkurrenz haben treten
können." Was der Sache nach im 11. Jahrhundert seinen Anfang nahm, bekam
im 12. Jahrhundert seinen Namen: „Rhythmos" und „machia" fügten Kleriker
zu „Rhythmomachia"7 zusammen - einem Kunstwort, dessen erster Wortbe-
standteil nicht nur „arithmos" -„Zahl"- meint, sondern auch als musikalische
Qualität gelesen wird. Dabei hatte der Römer Boethius im 6. Jahrhundert die
Mathematik von der Musik losgelöst, als er jene Zahlenproportionen auf-
5
Eine überzeugende Darstellung der Geschichte der Null und des Nichts gibt beispielsweise
Rotman, Brian, Signifying Nothing. The. Semiolics ofZero, New York, 1987.
Durch die systematische Erschließung mittelalterlicher Quellen ist es dem Mediävisten Arno
Borst gelungen, die Geschichte des Zahlenkampfs aus der Versenkung zu holen und die
„Rhythmomachia" auch außerhalb des Kreises einiger Spezialisten lesbar zu machen. Borsts
maßgebliche Veröffentlichungen zum Zahlenkampf sind: Derselbe, Das mittelalterliche Zah-
lenkampfspiel (= Supplemente zu den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der
Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Bd. 5), Heidelberg, 1986. Sowie: Dersel-
be, „Rithmimachie und Musiktheorie", in: Geschichte der Musiktheorie: Rezeption des anti-
ken Fachs im Mittelalter, Bd. 3, hg. v. Frieder Zaminer, Darmstadt, 1990, S. 253-288.
Die Genese des Wortes samt seiner verschiedenen Schreibweisen faßt Borst zusammen in:
„Rithmimachie und Musiktheorie", S. 256, 261 und 281.
12 I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER
stellte, aus der der Zahlenkampf nun seine Konfigurationen bezieht. Cassiodor
trieb die Ablösungen der Zahlenkonzeptionen von allem „materiellen Bei-
werk"8 noch weiter - die Aufteilung des Quadriviums, die auf unterschiedli-
chen Anwendungen fußte, schien ihm hinfällig, und er faßte sie kurzerhand
als mathematica zusammen. Der Zahlenkampf indes setzt einen operativen
Umgang mit Arithmetik wieder in Gang. Indem der Zahlenkampf die Kon-
frontation gerader und ungerader Zahlengrößen auf das Tableau führt, schließt
er an ein Grundkonzept der pythagoreischen Mathematik an.
Das Wort Zahlenkampf wird anfänglich nicht mit dem Attribut des Spiels
zusammengebracht. Erst verhältnismäßig spät ist von ludus im Zusammen-
hang mit dem conflictus numerorum9 die Rede.10 Angesichts der Verwerfun-
gen auf der Ebene der Zeichenpraktiken, die mit dem Zahlenkampf ausgetra-
gen werden, kann man sich seiner Grenzen, als derer eines Spiels, nicht sicher
sein. Der Kontrast und Abstand zum reinen Spiel wird spätestens durch seine
Rezeption im Barock augenfällig, das in seiner Sammelwut den Zahlenkampf
nur noch als ein kaum mehr verstandenes Spiel mit stummen Zeichen auf-
nimmt."
Dennoch ist die Rhythmomachia wohl das erste Instrument, das in den
Schriften nicht nur beschrieben wird, sondern aus der Schrift hervorgeht
(Abb. 1-2). Diagrammatische Entwürfe in dieser Komplexität sucht man in
vorangegangenen Epochen jedoch vergeblich. Vielmehr breitete der Zahlen-
kampf seine Anschreibungsformen mit einer Ausführlichkeit aus, die die Dif-
ferenz zwischen Beschreiben und Berechnen im Medium der Schrift schwin-
den läßt - in einem Moment, in dem das schriftliche Rechnen arabischer Ma-
thematiker in Westeuropa Einzug hielt.
Eine der herausragendsten Figuren unter den Gelehrten des
12. Jahrhunderts, Hermann der Lahme, ordnet den Zahlenkampf dem Arsenal
mittelalterlicher Instrumente, nämlich Astrolab, Abakus und Monochord zu
und betont seinen Instrumentcharakter.'2 Dabei dient er in erster Linie als
Mittel zur Einübung in figürlich aufzufassende Zahlen. Ziel ist die Anordnung
der eigenen Steine in der gegnerischen Spielhälfte, gemäß der Proportionsleh-
re arithmetischer, geometrischer oder musikalischer Harmonien. Mit den ma-
thematischen Begründungsakten der Pythagoreer fallen Rechen- und Spiel-
grundlagen zusammen und geben Archäologen und Philologen bei ihrer Re-
* Ebenda, S. 258
Der Zahlenkampt' wurde 1070 das erste Mal an der Domschule in Lüttich beim Namen
genannt, ebenda, S. 276.
10
Erst in der Frühscholastik beginnen Kommentatoren den Zahlenkampf als ein Spiel zu
bezeichnen, vgl. ebenda: „Rithmimachie und Musiktheorie", S. 256, 285.
1
Herzog August II. von Braunschweig-Lüneburg, von dem im zweiten Kapitel noch die Rede
sein wird, nahm eine Anleitung zur Rythmomachia in sein berühmtes Schachbuch als eine
Kuriosität auf.
Vgl. Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampf spiel, S. 96.
1 ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER 13
konstruktion bis heute Rätsel auf.13 Der Zahlenkampf grenzt sich vom Astro-
lab und Monochord jedoch dadurch ab, daß er nicht auf äußere Gegebenheiten
wie Stern- oder Klangbilder verweist. Und was den Abakus angeht, so wird er
für ganz unterschiedliche Praktiken herangezogen: Er dient den Händlern ge-
nauso wie den Geometern.'4 Der Zahlenkampf stellt jedoch die Übertragungs-
leistungen des Abakus auf den Kopf. Im Gegensatz zum Abakus, dessen ein-
ziger Gegenstand die Rechnung selbst ist, räumt der Zahlenkampf im Verlauf
seiner Entwicklung immer mehr Sinn- und Sachzusammenhänge ein: Musika-
lische Intervalle, Schlachtordnungen, mithin ganze Weltordnungen werden im
Zahlenkampf aufgeführt, ohne daß dabei besondere figurative und ikonische
Anstrengungen unternommen werden. In den Skripten des Zahlenkampfes, die
immerhin über sechs Jahrhunderte lang angefertigt wurden, sind die Spiel-
steine durch wenige Farben und geometrische Formen beschrieben. Der Zah-
lenkampf ist in einer Weise symbollastig, die bei einer Epoche, in der sonst
vor allem das Imaginäre herrscht, überrascht. Anders als etwa beim Schach ist
bis heute kein Spielbrett des Zahlenkampfes aufgefunden worden. Dies belegt
ex negativo, daß der Zahlenkampf allein den Möglichkeiten des Mediums des
Pergaments verbehalten blieb.
Abb. 1: Das älteste bekannte Beschreibung des Spielfelds des Zahlenkampfes. Ange-
fertigt für die Domschule in Hildesheim um 1100, begleitend zur Anleitung von Odo
von Tournai
" Auf diesen Sachverhalt hat wohl zuerst Gottfried Friedlein hingewiesen, vgl. derselbe, „Das
Rechnen mit Columnen vor dem 10. Jahrhundert", in: Zeitschrift für Mathematik und Phvsik,
Bd. 9, 1863, S. 297-330, hier S. 298.
14
Daß der Abakus die Berechnung geometrischer Figuren übernimmt und damit zur Arithme-
tik, die auf Zahlenbegriffe und Verhältnisse abhebt, mitunter auf Distanz gerät, darauf ver-
weist Bergmann, Werner, Innovation im Quadrivium des 10. und 11. Jahrhunderts. Studien
zur Einführung von Astrolab und Abakus im lateinischen Mittelalter, Stuttgart, 1985, S. 117.
I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER
r—i 1 1 i—i i :9 : 15
i 49 l
i 1
i 28
l J LL6J : .'
25
1 1 1 1 i—s
im i i 66 i 12 i
I I 'b : 45 Kl
fcaJ !
l
i
1
i 36 i
i ö 0 i
l_ J I_4J :25;
I i M m i
1 L4J gg 20
i 56 I
1 i
@ m ——
;
! u'Ll B :42 :
ih-l 1
1 j
i
0 tu L?_l ia : 49 :
r_^
im i
i i
1
1120 i
L_ j
i i
190 i
i
1
i
— , —
;72; „1 161
( 1 r~n
i .161 i U90i MO« | 81: 153 289
L i i i 1 1
Abb. 2: Nach der Lütticher Tabelle von Arno Borst rekonstruierte Spielfläche des
Zahlenkampfs mit nach unterschiedlichen Proportionsklassen abgeleiteten geraden und
ungraden Spielsteinen
I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER 15
Vgl. etwa Busch, Oliver, Logos syntheseos. Die euklidische Sectio canonis, Aristoxenos und
die Rolle der Mathematik in der antiken Musiktheorie, Berlin, 1998, S. 126.
2
Vgl. Knobloch, Eberhard. „Musik", in: Maß, Zahl und Gewicht. Mathematik als Schlüssel zu
Weltverständnis und Weltbeherrschung, hg. v. Menso Folkerts, Eberhard Knobloch u. Karin
Reich, Ausstellungskatalog, Weinheim, 1989, S. 243-250, hier S. 243.
Vgl. Bischof!', Bernhard, „Das griechische Element in der abendländischen Bildung des
Mittelalters", in: derselbe. Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde
und Literaturgeschichte, Bd. 2, Stuttgart, 1967, S. 246-275. hier S. 256 u. 259.
24
Ebenda, S. 255 u. 259.
Vgl. Friedlein, „Das Rechnen mit Columnen", S. 313.
2
" Zitiert nach Friedieins Übersetzung, ebenda, S. 299.
I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER 17
gonale Gangarten der Spiel- und Rechensteine weitere Dimensionen der Flä-
che für Zeichenoperationen erschließen, er wird Zeichen zur Pyramide türmen
und von der Fläche ins Räumliche abheben. Kurzum: Indem sich einmal der
Griff lockert, der die Richtung des Schreibens vorgibt, tun sich gleich mehr-
dimensionale Räume auf, in die Zeichensysteme einziehen und einer Element-
arisierung ausgesetzt werden. Lehren des Abakus beschränken den Zug der
Marken indes auf bestimmte Achsen, schon um die Logik des Stellenwert-
systems nicht zu durchkreuzen. Im Zahlenkampf verschränken sich dagegen
drei Ebenen, die als Zahlenrepräsentanz auftreten können: Was gleichermaßen
und gleichzeitig zählt, sind sowohl die Felder der schachbrettartigen Spielflä-
che, die Anzahl der Spielmarken als auch die Zahlzeichen auf den Spielstei-
nen. Der Zahlenkampf gibt als Instrument Zahlenverhältnisse zu berechnen
auf, anstatt zu ihrer Berechnung zu verhelfen. Doch geht es im Zahlenkampf
nicht um Numerik, sondern um Numerologie, um Maximierung von Zahlen-
verhältnissen und -bezügen, nicht um die Berechnung von Quantitäten. Ge-
schickt hält der Zahlenkampf die Berechnung der Zahlenverhältnisse dabei in
Grenzen: Denn einzig Steine mit kleinen Zahlengrößen lassen sich zu einer
Vielzahl von Produkten und Summen kombinieren, die den Steinen mit höhe-
ren Größen entsprechen und damit zu schlagen vermögen. Umgekehrt gilt im
Zahlenkampf, daß auf Steine mit den höchsten Zahlengrößen nur die Division
anzuwenden bleibt, um Steine mit geringeren Zahlengrößen durch einen ihrer
Teiler aus dem Feld zu schlagen.
Die hohe Dichte an arithmetischen Beziehungen, die der Zahlenkampf er-
zeugt, ist durch Kopfrechnungen zu bewältigen. Spielern, die sich damit
schwer tun, stehen zunehmend Tabellen mit Verhältniszahlen zur Verfügung,
und der Zahlenkampf artet - zum Leidwesen seiner Erfinder - zum Krieg der
Tabellen aus.
Zahlzeichen unterschiedlicher Kulturen und Epochen finden im Zahlen-
kampf ihren Spielraum. Buchstäblich wird hier ein Kampf um die Vorherr-
schaft der verschiedenen Zahlenkonzepte ausgetragen: römischer, arabischer,
griechischer."
Römische Zahlen stehen schon deshalb nicht außer Konkurrenz, weil sie
mit zunehmender Größe dazu tendieren, viel Schreibfläche zu brauchen, was
daher auf gleich große Spielsteine ebenso schwer zu applizieren sind. Aber
erst griechische Buchstabenzahlen und Gobarziffern dürften gleichermaßen
vorgeführt haben, daß Skalarität auch auf Zahlenzeichen angewandt werden
und Schreib- oder Leserichtungen im Falle der Gobarziffern wechseln kön-
nen. Der Zahlenkampf steht im Schnittpunkt einer Dekodierung der versunke-
nen Zahlzeichen der griechischen und römischen Epoche und der zukünftigen
des Morgenlandes.28
7
Vgl. Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, zu griechischen Zahlzeichen im Zahlen-
kampf: S. 132-134 u. 147 und zu arabischen: S. 117.
"8 Vgl. Bergmann, Innovation im Quadrivium, S. 210.
18 I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER
29
Ebenda, S. 209.
Vgl. Vossen, Peter, Der Libellus Scolasticus des Walther von Speyer. Ein Schulbericht aus
dem Jahre 984. Berlin, 1962, S. 139. Ebenso: Bergmann, Innovation im Quadrivium, S. 196-
197.
31
Vgl. Vossen, Der Libellus Scolasticus, S. 141-142, wobei offen ist, ob es sich dabei um
Gobarziffern oder griechische Buchstabenzahlen handelt. Vgl. auch Bergmann, Innovation
im Quadrivium, S. 210.
3
~ Gegen Walther als Begründer des Zahlenkampfs spricht sich Borst aus: Derselbe, Das
mittelalterliche Zahlenkampf spiel, S. 42-43. Ebenso Vossen, Der Libellus Scolasticus, S.145.
Dafür, Cantor, Moritz, Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik, Bd. 1, Leipzig,
Berlin, 1922, S. 851-852.
J
Walther von Speyer zitiert nach Vossen, Der Libellus Scolasticus, S. 52.
I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER ll>
3. Zeichenwerdung
Wie steht es nun um die Fragilität der Dinge, die Insistenz der Grapheme und
materielle und zeichensystemische Überträge? Über die Partition der Marken
auf der Spielfläche verraten die ersten Zahlenkampfschriften nichts und auch
Spielpläne sind bei ihnen nicht zu finden. Die ersten überlieferten tabellari-
schen Aufstellungen der Spielsteine zeigen jedoch auf einen Schlag eine sehr
differenzierte Gruppierung der Marken. Ihr Schema folgt exakt den griechi-
schen Heeresaufstellungen.34 Den Marken sind unterschiedliche Schrittweiten
eingeräumt. Sie ziehen bei jedem Zug ein, zwei oder drei Felder weit,35 so als
ob schwer bewaffnete Hopliten, beweglichere Fußsoldaten und Reiter auf der
Spielfläche über die Flügel ihren Angriff unternähmen. Strategeme und Zah-
lenfigurationen zusammenzudenken ist eine griechische Errungenschaft.56
Mit dem Zahlenkampf holte die geistlichen Gelehrten trotz oder gerade
aufgrund seiner Abstraktion eine kriegerische Wirklichkeit ein. Schon römi-
sche Kriegschroniken sprachen von ihren Armeen wie von Zeichen: So stehen
Wendungen wie beispielsweise „signa promovere" oder „signa constituere""
für das Vorrücken und Haltmachen ganzer Truppen, die selbst nicht mehr an-
gesprochen werden. Zu den „signa" zählte das römische Militär nicht nur
Fahnen, sondern auch akustische Signale. Bestimmte Akkorde einzelner Hör-
ner hatten als „Trommeln" nur einen einzigen Adressaten - den Unteroffizier
und Fahnenträger, den signifer. Dieser setzte die akustischen Signal folgen in
optische um.
Das 11. Jahrhundert, in dem der Zahlenkampf aufkam, scheint solche Quel-
len des Zeichengebrauchs aufgegriffen zu haben. Folgt man Carl Erdmanns
Untersuchung zum Aufkommen des „Kreuzzugsgedankens", dann schlägt sich
dieser weniger in einer christlichen Ikonologie nieder, als vielmehr in Zei-
chenpraktiken, die für die mittelalterlichen Schlachtfelder bezeichnend sind.
Eine Theosophie wurde damit möglich, die Kriege nicht mehr nur ethisch
verdammte oder rechtfertigte, sondern selbst Kriegsgründe schuf. Erdmanns
Aufmerksamkeit richtete sich deshalb zunächst auf die heiligen Fahnen, die
lllmer, Detlef u.a., Rhythmomachia. Ein uraltes Zahlenspiel neu entdeckt, München, 1987,
S. 48-57.
Vgl. Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, S. 69.
36
Huffman, Carl A., Philolaus of Croton, Pythagorean and Presocratic, Cambridge, 1993,
S.419.
Domaszewski, Alfred von, „Die Fahnen im römischen Heere", in: Abhandlungen des archäo-
logisch-epigraphischen Seminars der Universität Wien, Bd. 5, Hft. 5, 1885, S. 1-80, hier:
S. 5-6. Dort heißt es: „Die formelhafte Ausprägung dieser Wendungen führt darauf, in ihnen
technische Ausdrücke zu erkennen, welche der Commandosprache des römischen Militärs
entnommen sind."
20 I. ZAHLENKAMPF IM MITTELALTER
Steinen wird deren Wegnahme mit Ausdrücken der Arithmetik belegt, das
Schlagen dieses Steins dagegen wird einzig durch eine kriegerische Termino-
logie artikuliert.4" Wird die im Vergleich zu anderen Spielsteinen ohnehin
gefährdete Pyramide geschlagen, dann sind auch alle Spielmarken hinfällig,
die zu den Quadratzahlen der Pyramide zählen.41 Kein anderer Spielstein sonst
unterhält solche rein intersignifikanten Abhängigkeiten. Die Regeln der auf-
kommenden Ritterorden werden die gleiche Zeichenlogik für die Schlacht
vorsehen: Fällt der Bannerträger, dann geben sich auch die ihm beigegebenen
Mannen geschlagen.42 Der Zahlenkampf deckt sich somit mit den Regeln der
Ritterorden und hat, so die These, für deren eigentümliche Mittelstellung
zwischen Krieger- und Klerikerstand einen Kodex geschaffen.43
0
Vgl. Borst, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel, S. 72.
41
Ebenda, S. 86.
42
Vgl. Körner, Karl, Die Templerregel, Jena, 1902, S. 88-89, Regel 317.
Fleckenstein, Josef, „Die Rechtfertigung der geistlichen Ritterorden nach der Schrift ,De lau-
de novae militiae' Bernhards von Clairvaux", in: Die geistlichen Ritterorden Europas, hg. v.
Josef Fleckenstein u. Manfred Hellmann, Sigmaringen 1980, S. 9-22, hier S. 19-20.
II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK
1. Spielräume entfaltet
Ausgerechnet das 17. Jahrhundert, das die Vernunft hervorgebracht und die
Mathematik aus obskuren, geheimbündlerischen Zeichenpraktiken und ideal-
staatlichen Zeichenregimen zu einer Disziplin zusammenfügte, hat in Spielen
ein epistemisches Reservoir getan. Allen voran Gottfried Wilhelm Leibniz
entdeckte in Spielen einen Spielraum des Wissens. Der Raum, den Spiele bei
ihm einnehmen, dient nicht den Anspielungen und Allegorien, sondern zeich-
net sich durch seine eigene genuine Technizität und Materialität aus. Gerade
Spielen fällt die Aufgabe zu, die Universalität der Kulturtechniken wie Mes-
sen und Zeichnen, Rechnen und Kombinieren aufzuzeigen und zwar vor-
zugsweise im beschränkten Raum des Buches. Zeichensysteme kommen auf,
die Spielmomente nicht nur beschreiben, sondern auch operativ umsetzen und
damit weitertreiben. Bücher weisen damit Handlungs- und Zeichenspielräume
auf, an die andere Bücher anschließen können, ohne in Exegesen und Kom-
mentaren aus einem Quell autorisierter Rede schöpfen zu müssen. Die Intero-
perabilität, die das Spiel mit Zeichen und graphischen Elementen in Texte
verpflanzt, begründet jedoch kein geschlossenes System des Textes, sondern
etabliert in ihnen Plattformen, aus denen Dinge und Artefakte allererst her-
vorgehen.
In den Spielen des 17. Jahrhunderts erleiden repräsentative Formen einen
Einbruch, und an ihre Stelle rücken Zeichenoperationen zum prosperierenden
Umschlagplatz des Wissens auf. Spiele sind selbst davon entbunden, zweck-
frei zu sein. Sie können jederzeit in ein teleologisches Modell umschlagen,
dem selbst staatstragende Elemente herauszustellen zugetraut wird: Fortifika-
tionen und Theaterbauten, Feuerwaffen und Feuerwerk oder Mathematik und
Spiele sind Kunstfertigkeiten, deren Darstellung in ein und dieselben Bücher
Eingang findet.44
Mehr noch als Spiele gilt es im folgenden, Spielflächen im Blick zu halten.
Sie sind es, auf die Leibniz zur Entfaltung seiner Ars charactehstica immer
wieder zurückgreift. Als Kern seiner Ars ist indes die Hervorbringung von
Sach- und Weltzusammenhängen auszumachen, die sich auf dem und durch
das Papier entfaltet und deren Prüfung einem Kalkül zu unterstellen ist. Doch
Leibniz' Programm ist nicht einfach als eine Progression immer abstrakterer
Zeichenbeziehungen zu lesen, das sich von den gegebenen Sprachen ab- und
mathematischen Notationen zuwendet. Die Frage lautet vielmehr, was verlo-
rengegangen ist oder verlorengehen mußte, bevor die Forschung spätestens
seit dem 19. und 20. Jahrhundert in Leibniz' Schriften einen Reduktionismus
am Werk sah, den sie aufgriff und weitertrieb, um letztlich in seinem Pro-
gramm auf lauter Zirkelschlüsse zu stoßen.45
Die Ars characteristica mochte zwar auf zwei Künsten gründen, die Leib-
niz als Ars inveniendi und Ars iudicandi auf den Begriff brachte. Der Sache
nach verschränkte er jedoch zwei Entwicklungslinien, die in Buchstabenope-
rationen auf ihren Modus operandi gestoßen waren. Denn zum einen hatten
zunächst Francois Vietes und im Anschluß Rene Descartes' Algebra geomet-
rische Figuren auf Buchstabenrechnungen zurückzuführen vermocht. Und
zum anderen war Leibniz selbst in seiner Dissertation über die Ars combinato-
ria der systematischen Zerfallung von Wörtern nachgegangen, die ebenfalls
im Buchstaben ein operatives Grundelement offenbarte. Umgekehrt können
synthetisch aus Buchstabenpermutationen und -Variationen genauso Wörter
und selbst Neologismen hervorgehen, wie aus algebraischen Berechnungen
geometrische, und bis dahin unbesehene Evidenzen. War letzteres - die Her-
vorbringung neuer Sachzusammenhänge - Aufgabe der Ars inveniendi, so
hatte die Ars iudicandi sowohl die Folgerichtigkeit der Zerlegung vorhande-
ner Wörter und geometrischer Bilder einem Kalkül zu unterwerfen als auch
den Vorgang ihrer Neuschöpfungen. Jede Wahrheitsfindung liefe damit in
letzter Konsequenz auf den Nachweis einer fehlerlosen Rechnung hinaus.46
Schon die Renaissance hatte diagrammatische Konstruktionen hervorge-
bracht, die jenseits mimetischer Bezüge von Kunst und Natur mathematische
Funktionen zur Schau stellten. Leon Battista Alberti hat sie in einem Buch
versammelt, das bezeichnenderweise Spiel zur Sache der Mathematik erklär-
te.47 Hier erfahrt der „schlaue Bombardier", wie er mit Hilfe einer Planisphäre
Winkelabstände entfernter Gegenstände und durch ein Pendel die geeignete
Ausrichtung seines Kanonenrohrs berechnen kann. Alberti dienten die ma-
thematischen Instrumente auch für die vergnüglichere Aufgabe, Rom zu
kartographieren.48
Samuel Edgerton geht soweit, anzunehmen, daß in der Neuzeit dank per-
spektivischer Darstellungstechniken Konstruktionen von Kraftmaschinen und
5
Vgl. Knobloch, Eberhard, Die mathematischen Studien von G. W. Leibniz zur Kombinatorik
(= Studia Leibnitiana, Supplementa 11), Wiesbaden, 1973-1976, S. 56 und Krämer, Sybille,
Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriß, Darmstadt,
1988, S. 107.
Vgl. Leibniz, im hohen Alter, zurückblickend auf sein Projekt in einem Brief an Pierre
Remond de Montmort: Die philosophischen Schriften, Bd. 3, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt.
Berlin, 1887, S. 605. Vgl. auch Krämer, Symbolische Maschinen, S. 104.
Alberti, Leon Battista, „Ludi Rerum Mathematicarum", in: derselbe, Opere Volgari, Bd. 3,
hg. v. Cecil Grayson, Bari 1973, S. 130-173.
8
Vgl. Henniger-Voss, Marie J.. „How the .New Science' of Cannons Shook up the Aristote-
lian Cosmos", in: Journal ofthe Hislory ofldeas, Bd. 63, 2002, S. 371 -397, hier S. 377.
II, SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 25
Edgerton, Samuel Y., „The Renaissance Artist as Quantifier", jn: The Perception ofPictures
I. Alberti 's Window. The Projective Model ofPictures, hg. v. Margaret A. Hagen, New York,
1980, S. 179-212, hier S. 195.
Mahoney, Michael S., „Diagrams and Dynamics. Mathematical Perspectives on Edgerton's
Thesis", in: Science and ihe Ans in the Renaissance, hg. v. John W. Shirley u. F. David
Hoeniger, Washington, London, Toronto 1985, S. 198-220, hier S. 195 u. S. 210-217.
" Siehe das einleitende Kapitel „The Battle of the Scholars", in: Ore, Oystein, The Gambling
Scholar, Princeton, 1956, welches das komplexe Geflecht aus oralen und gedruckten Infor-
mationsflüssen innerhalb der mathematischen Praxis im Plagiatstreit zwischen Girolamo Car-
dano und Niccolö Tartaglia behandelt. Zur neuen Diskursrolle Tartaglias: Henniger-Voss,
„.New Science' of Cannons", S. 380.
'" Eines der ersten Bücher dieser Art, das von Spielen mathematischer Probleme spricht und
optische Meßsysteme meint, findet sich bei Alberti, Ludi Rerum Mathematicarum, S. 130-
173.
Instrumenten, die Büchern zum Vermessen, Zeichnen und Tabulieren entnommen und zum
Büchermachen wieder auf sie angewendet werden können, ist eine eigene Gattung an Bü-
chern gewidmet. Siehe dazu Faulhaber, Johann, New erfunden Instrument zu den Irregulär
Fortification, Ulm 1610; derselbe, Mechanische ReißLaden, Augsburg, 1644; Bramer, Ben-
jamin, Beschreibung eines sehr leichten Perspectiv und grundreissenden Instruments aujf
einem Stande. AuffJohan Faulhabers weitere Continuation seine mathematischen Kunstspie-
gels geordnet, Frankfurt, 1630; derselbe, Bericht zu M. Jobsten Burgi seligen Geometrischen
Triangulär Instruments. Mit schönen Kupfferstücken hierzu geschnitten, Kassel, 1648. Faul-
haber gab seiner Schrift Kupferstiche bei, die ausgeschnitten auf hölzerne und metallene
Scheiben und Zirkel befestigt zur Schablone für Skalen werden, die Strecken ohne Rechnung
zu ermitteln ermöglichen. Über Faulhabers Zeichengeräte schreibt Schneider, Ivo. Johannes
Faulhaber 1580 -1635. Rechenmeister in einer Welt des Umbruchs, Basel, Boston, Ber-
lin, 1993, S. 161-164.
26 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK
die Illusion einer nicht gegebenen räumlichen Tiefe beizubringen ist.54 Dia-
grammatische Verschränkungen sind hier gefordert, die die imaginative Wir-
kung von Bildern mittels Buchstaben ein Stück weit wieder aufheben und als
Konstruktion kenntlich machen. Die Algebra soll aus eben solchen Abkür-
zungen hervorgegangen sein, die spezifische geometrische Elemente der
Abbildungen bezeichneten, dann selbst zu einem Gegenstand der Mathematik
wurden und damit allgemeine Verfahren von konkreten Aufgabenstellungen
ablösten.55 Mit der Übersetzungsarbeit antiker Texte zur Geometrie und Arith-
metik ging ihre grundlegend neue Visualisierung einher. Denn mathematische
Texte griechischer Ursprünge erreichten das Abendland ohne Abbildungen
und Diagramme.56 Die Algebra hat nicht bloß den Weg geebnet, Bildverhält-
nisse in Buchstabenverhältnisse zu überführen, sondern umgekehrt hat sie
auch in Umgehung der sprechenden und symbolfreien Präpositionen und
Schlußweisen der Griechen aus reinen Buchstabenverhältnissen neue Bildfin-
dungs- und Darstellungsverfahren hervorgehen lassen.
Leibniz mutet der Algebra schließlich zu, den Entwurf von Maschinen vom
Blatt weg zu leisten, ohne noch auf figürliche und perspektivische Darstellun-
gen angewiesen zu sein:
Ich kann mit Charakteren ohne Figuren und Modelle höchst verwickelte Maschi-
nen so vorstellen, als wenn sie von mir gemalt und im Modell entworfen wären;
oder gar besser, denn mit dieser zeichenhaften Repräsentation kann ich gleich-
sam rechnen, die Maschine auf dem Papier versetzen und verändern und die
rechten Stellungen durch Analysen suchen, wohingegen ich sonst unzählige Fi-
54
Furttenbach, Mannhafter Kunst-Spiegel, Kupferblatt 28. Wie sehr Leibniz sich von den
Bühnentechniken seiner Zeit faszinieren ließ, hat Bernhard Siegert ausgelotet: Passage des
Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500 1900, Berlin 2003,
S. 161-162.
5
Klein, Jacob, „Die griechische Logistik und die Entstehung der Algebra", in: Quellen und
Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Physik, Bd. 3, 1936, S. 18-105 u.
S. 122-235, hier S. 127 u. 128.
6
Vgl. Schnelle, Helmut, Zeichensysteme zur wissenschaftlichen Darstellung. Ein Beitrag zur
Entfaltung der Ars characteristica im Sinne von G. W. Leibniz, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1962,
S. 15 und Becker, Oskar, Mathematische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontotogie
mathematischer Phänomene, Tübingen, [1927] 1973, hier S. 191-192, insbesondere Anmer-
kung 2. Becker weist darauf hin, daß eine mathematische Bezeichnung „ursprünglich bloße
Markierung einer bestimmten Stelle der Figur (.dort, wo A steht') [ist], später wird sie mit
dem mathematischen Gegenstand selbst sprachlich identifiziert. Diese Tendenz gipfelt
schließlich in der modernen formalistischen Mathematik: ,Wo Begriffe fehlen, da stellt ein
Zeichen zur rechten Zeit sich ein' (Bernays)". Ebenda. Vgl. auch Gow, James, Short History
ofGreek Mathematics, Cambridge/MA, 1884, S. 105 u.169. Gow führt Aristoteles als denje-
nigen an, der die Vorzüge von allgemeinen Bezeichnungen als erster explizit hervorhob -
wenn auch nur zum Vergleich unbekannter Größen.
II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK. 27
Das Mittelalter kannte sieben freie Künste, die alle Kunstfertigkeiten des
Redens, Schreibens, Rechnens, Zeigens und Zeichnens abdeckten. Das Sach-
register, das erst ansatzweise Gottfried Wilhelm Leibniz' noch vorhandenen
75.000 Schriftstücken und 15.000 Briefen berücksichtigt,59 kann insofern als
Index des 17. Jahrhunderts gelten, als die Epoche in Leibniz ein Höchstmaß
ihrer Verkörperung erfahren hat: Wer mag die mehr als 150 Künste alle zäh-
len, bis er nach über sechs Spalten am Ende bei „Ars vivendi" angekommen
ist?60 In Leibniz' Register ist die Ars inveniendi nicht bloß Bestandteil, son-
dern auch als ihre Wurzel vorauszusetzen. Allein Leibniz' tentative Entfaltung
der Ars inveniendi hat schon zu seinen Lebzeiten zu einer enormen Aktenfülle
und Sammlung von Artefakten geführt sowie eine Vielzahl von wissenschaft-
lichen Einrichtungen und Korrespondenznetzwerken hervorgebracht. All die-
7
Leibniz' „Ausführliche Aufzeichnung für den Vortrag bei Kaiser Leopold 1" in der sprachlich
modernisierten Fassung von Bredekamp, Horst, Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm
Leibniz' Theater der Natur und Kunst (= Acta humaniora. Schriften zur Kunstwissenschaft
und Philosophie), Berlin, 2004. S. 86.
So Gottfried Wilhelm Leibniz im Schreiben an Oldenburg vom 28. Dezember 1675. Zitiert
nach der Übersetzung von Schnelle, Zeichensysteme, S.16.
Busche, Hubertus, Leibniz' Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter
der Berechnung (= Paradeigmata Bd. 17), Hamburg, 1997, S. XIII.
Vgl. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften,
http://www.bbaw.de/forschung/leibniz/potsdam/bin/Sachregister.pdf, S. 52-56.
28 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK
werbe der Kaufmannsschulen.66 Doch auch wenn Harsdörffer das Werk des
Sprachgelehrten und Mathematikers Daniel Schwenters aufgreift, stehen seine
poetologischen Ausführungen der Inventio als Teil der rhetorischen Lehre
näher als der aufkommenden Ingenieurspraxis. Ebenso dienen Techniken der
Kompilation noch ganz dem Schreiben, und erst Leibniz wird daraus die
Kombinatorik ableiten, die der Mathesis universalis zur epistemischen Zent-
ralstellung verholfen hat.
Auch wenn Harsdörffers „Mathematische Erquickstunden" dem Papier und
der Poetik verhaftet bleiben, so bieten sie gerade deshalb neue Formen der
Mechanisierung auf: Der Buchbinder ist aufgefordert, ein Blatt mit der Abbil-
dung des fünffachen Denkrings der „Teutschensprache" in eben so viele
Ringe zu zerschneiden, auf festerem Papier aufzuziehen und schließlichkon-
zentrisch und drehbar zu befestigen (Abb. 3).
Daß Räderwerke - „ex papyro" - nunmehr Bestandteil von Büchern sein
können, entgeht Leibniz in seiner Ars combinatoria nicht.67 Und er wird Hars-
dörffers mathematische Rekreationen, was noch zu zeigen ist, für Haupt- und
Staatsaktionen zu nutzen wissen. Die Weichen dazu sind bei Harsdörffer
schon gestellt. Denn dieser scheint die Konstruktion des „teutschen Denk-
ring[s]" nicht den Diagrammen der Ars magna des katalanischen Mönchs
Raymundus Lullus abgeschaut zu haben, sondern hielt sich an eine Vorlage
des hugenottischen Militärschriftstellers Sieur du Praissac de Braissac:
„Briefve methode pour resoudre facilement toute question militaire proposee".
Zur Idee, strategische Maßnahmen mit Hilfe von Applikationen zu treffen,
könnte du Praissac wiederum durch Moritz von Nassau angeregt worden sein,
den er auf seinen Feldzügen als Berichterstatter begleitete. Moritz und Lud-
wig Wilhelm von Nassau gehören nachweislich zu den ersten, die ihre
Schlachtordnungen griechischen und selbstredend bildlosen Quellen entneh-
men und in Kriegsspielen erproben.68 Insbesondere die Erfindung der Linear-
taktik geht auf Wilhelm Ludwig von Nassau zurück, der in einem Brief an
seinen Cousin Moritz das Prinzip rotierender Musketiere vorschlägt, die, zu
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts drängten Nürnberger Bürger zu einer Schulreform, „damit
[...] die Schul kein Carnificina sondern vere Ludus sey". Zitiert nach Radbruch, Kurt, Ma-
thematische Spuren in der Literatur, Darmstadt, 1997, S. 21. Vgl. auch Leibniz' Lehrer Wei-
ge), Erhard, „Arithmetische Beschreibung der Moral-Weißheit von Personen und Sachen", in:
derselbe, Werke (=Clavis pansophiae 3), Bd. 2, hg. v. Thomas Behme, Stuttgart-Bad Cann-
statt, 2004, S. 7.
Leibniz, Dissertatio de Arte Combinatoria, S. 73.
Vgl. van Haaren zitiert nach Jahns, Max, Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich
in Deutschland. XV11. undXV 117. Jahrhundert bis zum Auftreten Friedrichs des Großen 1740.
Bd. 2 (=Geschichte der Wissenschaften in Deutschland Neuere Zeit 22). München, Leipzig,
1890, S. 881: „Graf Wilhelm Ludwig war der erste nach den Zeiten der Römer, der die Tak-
tik studiert und seine Erkenntnisse praktisch verwertet hat. [Everard van] Reyd übersetzte
dazu aus den griechischen und römischen Autoren alles, was sich auf das Kriegswesen be-
zog, und der Graf studierte das dann im Verein mit dem Obristen Cornput. Dies geschah an
einem großen Tische, auf welchem alle Evolutionen mit bleiernen Figuren so viel wie mög-
lich nachgeahmt und untersucht wurden. Ich habe selbst noch dergleichen Figuren gesehen."
30 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK
Abb. 3: Philipp Harsdörffers fünffacher Denkring der deutschen Sprache mit Anwei-
sung seiner Installation innerhalb des Buches an Buchbinder
Hahlweg, Werner, Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Grafen Johann von
Nassau-Siegen, hg. v. der Historischen Kommission für Nassau, Wiesbaden, 1973, S. 610.
Anlage 13.
II SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 31
m n a * a «t <l <*. «V
9 \ f Q\ f'' ; f
':
b '•. /*: /'; r\
c c • c • <: • <•
c C c '.
3 ^ ; > * i ' 7> ;
3 '• J • > ; . » •.
*
< c e
t c <: ; f c •
•«. C .
m .-' « . " A • * „•" \ ; A. »•»
Abb. 4: Entwurf der „Lineartaktik" von Wilhelm Ludwig von Nassau, 1594
Du Praissacs Applikation steht für den Versuch, analog zu Wilhelm Ludwig
von Nassaus taktischer Anordnung nun auch die Strategie an einer rotierenden
Mechanik festzumachen. Systematisch wird hier ein Inventar von Fragen zur
Kriegsführung durchgespielt. Harsdörffers Denkring, der die „ganze Teutsche
Sprache auf einem Blätlein [zu] weisen"70 unternimmt, überführt durch Rück-
griff auf du Praissacs Vorlage letztlich bloß Syntagmata der Schlachtfelder ins
Reich der deutschen Sprache. Diesem poetologischen Programm nicht weni-
ger verpflichtet, beschreibt sein Freund und Kollege, der Wolfenbütteler
Sprachgelehrte Justus Georg Schottelius, die Zerfällung und den Autbau der
deutschen Sprache als „schrecklichen Sprachkrieg" gleichsam als Folge des
Dreißigjährigen Krieges.71
Die Ars combinatoria hätte Leibniz eine Professur an der Universität in
Altdorf bei Nürnberg einbringen sollen, an der auch Daniel Schwenter und
Philipp Harsdörffer gewirkt hatten. Doch Leibniz brach aus dem akademi-
schen Zirkel aus und zog es bekanntlich vor, in diplomatischem Dienste des
Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn mit einem Angriffsplan
auf Ägypten nach Paris zu reisen, um die Machtinteressen Ludwigs XIV. von
Mitteleuropa auf Ägypten zu lenken.72 Nicht also den Entwurf einer Rechen-
maschine als Eintrittskarte für die dortige Academie des sciences hatte er
zuvorderst im Gepäck, sondern einen Entwurf, der seine juristische und dip-
lomatische Tauglichkeit unter Beweis stellen sollte - womit er bekanntlich
scheiterte. Leibniz erprobte sein diplomatisches Geschick jedoch zuvor unter
der Ägide seines Fürsprechers, des kurmainzischen Ministers Johann Christi-
1616, drei Jahre bevor Descartes im Traum die Grundlegung einer neuen
Wissenschaft erschien, die er in seinen „Regeln zur Leitung des Geistes"
ausbuchstabieren wird, fällt in des nachmaligen Herzogs August zu Braun-
schweig-Lüneburg großem Schachbuch der Satz, daß die Physik „den Zahlen/
den Massen/ und Abtheilungen/ materien darzu leihet: obgleich/ in diesem
Spiel/ die Materie durch den verstand/ wan sie demselben/ nebst einer guten
gedechtnus / fest eingebildet worden / kan absondert werden [...]."78 Radikaler
als Herzog August hätte man einen sich verzweigenden Lauf der Res cogitans
und Res extensa kaum vorzeichnen können: Körper mögen nunmehr „fehren,
reiten oder spazieren", während der Verstand „auswendig" alle möglichen
„gänge und Züge" eines Schachspiels nachgeht - was zugegebenermaßen
„aber zimlich schwer/ ins werck zu richten"79 ist.
Nachdem dem Dreißigjährigen Krieg, 1664, hatte auch der Ulmer Patriziers
und Handelsherrn Christoph Weickmann einen Traum: Nach einem Tag
ausgiebiger Schachpartien erschien ihm im Schlaf ein Spiel, von allen äußerli-
chen „Objectis" befreit, in ganz ,,neue[r] Form" und „Gestalt".80 Anstelle der
quadratischen Felder des Schachbretts bildete die Spielgrundlage ein Netz aus
lauter geraden und sich überkreuzenden Linien. Weickmann brachte das Spiel
zu Papier und gab es als „New-erfundenes großes Königs-Spiel" in Druck.
Sein Werk lehnte sich nicht nur im Titel an Augusts Schachbuch an, sondern
bedachte ihn auch mit einer Widmung. Die Schrift gliedert sich in zwei Bü-
cher, deren erstes die äußerliche Beschaffenheit des Spiels und sein Regel-
werk aufzeigt. Dieses Spiel bietet für das zweite Buch einen vordergründigen
Anlaß, um sechzig „Observationen" in barocker Weitschweifigkeit anzustel-
len, aus denen nach etlichen historischen Beispielen und zahlreichen Autoritä-
ten schließlich Regiments- und Kriegsregeln gefolgert werden. Das erste
Buch, das weniger als ein Sechstel der gesamten Schrift ausmacht, informiert
über die Anfertigung des Spiels, seine Figuren, die Schlag- und Gangarten
und seine Zielsetzung. Letztere läuft wie beim Schach auf die Mattstellung
des Königs hinaus. Die Anfertigung der Spielflächen bleibt nun nicht mehr
wie bei Harsdörffers „Mathematischen Erquickstunden" einem Buchbinder
überlassen, sondern wird dem Leser aufgetragen. Vier verschiedene Spielflä-
chen sind von Kupferstichen auf festes Papier zu übertragen und auf Holz
aufzuziehen, wobei der Maßstab mitunter zu verdoppeln oder zu verdreifa-
chen ist.81
Die vier Spielflächen ermöglichen ein Spiel mit zwei, drei, vier, sechs und
acht Spielern. Statt der 16 Figuren des Schachs, von dem Weickmann sein
Spiel ausdrücklich ableitete, verfügen die Spielenden in seiner Version an-
fänglich über jeweils 30 Figuren, denen 14 unterschiedliche Gangarten zuge-
ordnet sind. Kreise markieren die Standflächen der Spielfiguren und Linien
die Zugrichtungen. Während beim Schach ein Feld, das nicht am Rand liegt,
jeweils an acht andere angrenzt, verknüpft Weickmann nicht alle benachbar-
Selenus, Oustavus alias Herzog August II. von Braunschweig-Lüneburg, Das Schach- oder
Königsspiel, hg. v. Viktor Kortschnoi u. Klaus Lindörfer, Nachdruck v. 1616, Leipzig. Zü-
rich, 1978, S. 4.
Ebenda, S. 111.
Weickmann, Christoph, New-erfundenes grosses Königs-Spiel etc. Ulm, 1664, S. 5.
Faulhabers ebenfalls durch Bücher zu beziehender und aus Papier zu schneidender Proportio-
nalzirkel könnte dabei dienlich gewesen sein.
34 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK
ten Felder miteinander. Sein Netz besteht vielmehr aus Elementen, die ab-
wechselnd vier- und achtfach miteinander verknüpft sind. Er unterteilt die
Verknüpfungslinien in jeweils zwei verschiedene Klassen diagonaler und
orthogonaler Linien und fordert dazu auf, sie unterschiedlich zu kolorieren.
Mit der topologischen Ausgestaltung des Schachbretts, die nun nicht nur
Standflächen, sondern auch die Züge selbst graphisch und farblich abbildet
und mit Zeichen behaftet, werden Gangarten diagrammatisch adressierbar.
Sind beim Schach mögliche Züge allein durch die Figuren gegeben, sorgt bei
Weickmanns Spiel die Fläche für unterschiedliche Zugmöglichkeiten und
zwingt bestimmte Figuren auf vorgezeichnete Bahnen (Abb. 5).
Erwähnte Herzog August in seinem Schachbuch noch zum Amüsement des
Lesers Schachfiguren, die Insignien höfischer Würdenträger tragen, vollführt
Weickmann in seinem Tableau ausgewiesenermaßen eine Gleichsetzung von
bildlich getreu dargestellten Amtsträgern, Spielfiguren in floralen Formen
barocker Drechselarbeiten und astronomischen Zeichen, die sich auch auf den
Darstellungen der Spielflächen zur Anordnung der Figuren wiederfinden
(Abb. 6).
Nicht so sehr an der Unterhaltung ist Weickmann mit seinem Spiel gelegen,
als vielmehr daran, einen „Staats- und Kriegsrath" daraus abzuleiten, wobei
„nöthigste Politische und Militairische Axiomata und Regeln/ Spielweise [...]
ohn einige grosse Müh und Lesung vieler Bücher/ gleichsam als in einem
II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 35
Compendio, gewiesen und vorgestellt werden [...]."** Eine Folge des Dreißig-
jährigen Kriegs ist wohl, daß die Figur des Königs von Figuren umringt ist,
die als Marschall, Kanzler, Rat oder Geistlicher nicht direkt der militärischen
Sphäre angehören, sondern als beratende „Amtsleute" fungieren. Dann erst
folgen Figuren, die „Kriegsleuth" darstellen. Anstelle einer Kriegsmetaphorik,
wie sie bei Grimmeishausen und anderen barocken Dichtern vorherrscht, ist in
der Spielbeschreibung Weickmanns von „Beleidigung" und „Protestation" die
Rede.83 Wenn eine Figur, die einen einfachen Soldaten abgibt, eine hierar-
chisch höherstehende Figur schlagen kann, dann muß sie sich entscheiden, ob
sie dessen Amt annehmen will oder nicht. Verzichtet sie darauf, kann sie im
weiteren Spielgeschehen womöglich das Feld einer noch höherstehenden
Figur einnehmen. Hat sie das Amt einer Figur jedoch erst einmal angenom-
men, dann ist sie bis zum Ende des Spiels auf deren Rolle festgelegt. Stand
das Schachspiel seit jeher für die kriegerische Auseinandersetzung unter
Herrschern, gerät das Königs-Spiel bei Weickmann nun zum Sinnbild des
Kampfes um die Ämter eines Reiches.
82
Ebenda, S. 7.
83
Ebenda, S. 36.
Marion Faber vermutet das Porträt Leopolds L in der Herrschergestalt, siehe: dieselbe, Das
Schachspiel in der europäischen Graphik (1550-1700), (=Wolfenbütteler Arbeiten zur Ba-
rockforschung 15), Wiesbaden, 1988, S. 100.
36 H. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK
•HSH/r": ^ 3 >'
1.s" •
« »lt- 1 ^ %
. fc ***
h^
Stall
4P
15» süTi
B "5
- •
^ vi
iorit|r*#j|1 i * ü^ J
^ BR-1 • w ^ l I l ^ ' M ' / 3
I *.'K M
• •^ttf * V P
^Bffii .jSBBnv * ' Bm F l y
"^"^Sm
II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 37
5
Ebenda, S. 167.
86
Ebenda, S. 168.
8
' Ebenda, S. 169.
88
Ebenda, S. 7.
38 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK
Ob Leibniz mit seiner Neugier für Spiele und Instrumente auch Weickmanns
Königs-Spiel kannte, ist nicht gewiß, jedoch sehr gut möglich. Die Bibliothek
in Wolfenbüttel, an die Leibniz als Bibliothekar berufen wurde, verfügt
selbstverständlich über ein Exemplar jenes Buches, das schließlich auch dem
Begründer der Bibliothek, Herzog August, gewidmet ist. Durch Leibniz'
Sekretär Joachim Friedrich Feller ist überliefert, daß Leibniz von einem „Kö-
nigsspiel", „wo der durch Loos erwählte Fürst Befehle giebt"8' gesprochen
hatte. Weickmann schlug tatsächlich vor, durch Los zu entscheiden, welche
Spieler gegen- und miteinander antreten sollten. Doch selbst wenn Leibniz es
gekannt hätte, gingen seine eigenen Kriegsspielentwürfe in eine andere Rich-
tung. Er notierte bei Gelegenheit, daß „Anordnungen des gemahlten Kriegs-
spiels" neben Fortifikationsmodellen erlauben würden, geschlagene Schlach-
ten nocheinmal durchzuspielen.1" In seinen Gedanken zu einer „teutschen
Kriegsverfassung" führt er den Vorschlag weiter aus:
Neu erfundenes Kriegsspiel, darinn Kriegsobristen und Hauptleüte, auch andere
befehlichhaber anstatt des schachbret- und karten spiels sich üben und zu großer
wißenschafft, geschwindigkeit und erfindung kommen; man köndte damit auff
dem tisch mit gewißen spielsteinen, gewiße schlachten und Scharmützel, auch
die gelegenheit der waffen und des bodens vorstellen, sowohl nach belieben, als
auch aus der Histori, als wenn man zum exempel die Lünzener Schlacht, das
scharmüzel mit den Franzosen bey Ensisheim, und dergleichen andere geschich-
te spielen wolte[;] dabey man offimahls finden würde, was andere versehn, und
wie wir mit der vorfahren schaden klug werden köndten.""
Leibniz, der mit seiner Theodizee den Raum für die Vorstellung möglicher
anderer Welten eröffnete, um deren beste herauszustellen, ist auch Erfinder
der kontrafaktischen Kriegsgeschichtsschreibung. Er beließ es aber nicht bei
dem Gedanken, im Spiel vergangene Schlachten wieder aufzuführen. Kam
Weickmann nicht ohne aufwendige Färb- und Zahlkodierungen der Spielflä-
chen und Figuren aus, um das Spielgeschehen zu orchestrieren, so schlägt
Leibniz gleichermaßen in seiner Kriegsverfassung eine Lösung vor, wie zer-
streute Soldaten
in einer schlacht [sich] samein können, nehmlich wenn die regimenter mit fär-
ben, die Compagnien aber mit den strichen oder lineamenten der färben oder
Leibniz, Gottfried Wilhelm, „Zufällige Gedanken von der Erfindung nützlicher Spiele. Aus
den mündlichen Unterredungen aufgezeichnet von J. F. Feller", in: derselbe, Leibniz's Deut-
sche Schriften, Bd. 2, hg. v. Gottschalk Eduard Guhrauer, Berlin, 1840, S. 493.
Leibniz, Gottfried Wilhelm, „Agenda", in: Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. d. Akade-
mie der Wissenschaften der DDR, 4. Reihe, Bd. 3, Berlin, 1986, S. 894-902, hier S. 901.
Leibniz, Gottfried Wilhelm, „Gedanken zum Entwurf der teutschen Kriegsverfassung", in:
Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. d. Akademie der Wissenschaften der DDR, 4. Reihe,
Bd. 2, Berlin, 1986, S. 577-593, hier S. 589.
II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK 41
numern unterscheiden. Also kan ieder von weiten sein regiment und [...aus der
Nähe seine] compagnie erkennen.92
Leibniz stellt nicht nur die Frage nach der richtigen Formation der Zeichen-
systeme, sondern auch, wie andere Felder - und seien es Schlachtfelder95-
Formationen von Zeichensystemen annehmen können.
Lebensbereichen, die sich Leibniz' Programm der rigiden Berechenbarkeit
entziehen, ist mit der Angleichung an Spiele beizukommen. Anders als seine
Veröffentlichungen preisgeben, hat er vielfältige Spiele systematisch analy-
siert: Er zählt zu den ersten, die Einsicht in den Briefwechsel zwischen Blaise
Pascal und Pierre de Fermat über Glücksspiele nahmen, stellte ein eigenes
probabilistisches Kalkül dagegen,94 drängte im Briefwechsel mit Jakob Ber-
noulli zur Herausgabevon dessen Ars conjectandi, die das Gesetz der Großen
Zahlen formulierte und untersuchte gerade erst aufgekommene Spiele wie das
Solitaire.*5 Leibniz' Entwürfe einer Akademie der Spiele und seine Dröle de
Pensee sind Orte, die Spiele offensichtlich zur Schau stellen, während er
seinen Spielanalysen eher im geheimen und in aller Ernsthaftigkeit nachging.
Leibniz vermochte schließlich nach vielen vergeblichen Anläufen nicht zu-
letzt auch deshalb in Berlin eine Akademie einzurichten, weil er ihre Finan-
zierung aus Erträgen eines noch zu schaffenden Lotteriemonopols vorschlug.96
In ihrer ersten Zeitschriftenausgabe mit dem programmatischen Titel „Berli-
ner Sammlung zur Förderung der Wissenschaften" hebt Leibniz mit einer
Epistemologie der Spiele an: In ihnen seien Menschen erfindungsreicher als
irgend sonst. Die Mathematik der Spiele verdiene jedoch nicht der Sache
wegen Aufmerksamkeit, sondern hinsichtlich der Ars inveniendi?1 Was
Glückspiele für die Mathematik leisten, hätten Blaise Pascals, Christian Huy-
gens und Pierre de Fermats Berechnungen der Wahrscheinlichkeit gezeigt.
Doch Spiele, die Zufall und Geschick verbinden, vermögen weit mehr. Sie
repräsentieren das menschliche Leben am besten, besonders in militärischen
Ebenda, S. 585.
Leibniz gibt zu bedenken: „die alten teutschen sind (so zu sagen) gebohrne Soldaten gewesen,
unsere heutige müßen durch Kunst und fleiß dazu gemacht werden." Ebenda, S. 578.
Vgl. Struve, Horst und Rolf Struve, „Leibniz als Wahrscheinlichkeitstheoretiker", in: Studio
Leibnitiana Bd. 29, Nr. 1, 1997, S. 112-122.
Vgl. de Mora Charles, Maria Sol, „Quelques jeux de hazard selon Leibniz (Manuscrits
inedits)", in: Historia Mathematica, Bd. 19, Nr. 2, 1992, S. 125-158.
Harnack, Adolf, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaft, Bd. 1,
erste Hälfte, Berlin, 1900, S. 91. Leibniz' Vorschlag wurde unter der Regentschaft Friedrich
II. verwirklicht und bescherte Leonard Euler an der Akademie die Berechnung von Gewin-
nerwartung bei Losverfahren. Vgl. Maistrov, Leonid Efimovich, Prohability Theory. A His-
troical Sketch, Übers, u. hg. v. Samuel Kotz. New York, London, 1974, S. 101-103.
In dem schon in Anmerkung 22 erwähnten Brief an Remond de Montmort greift Leibniz
diesen Satz noch einmal auf und verschärft ihn dahingehend, daß Menschen nicht im Spiel,
sondern beim Erfinden derselben am erfindungsreichsten seien.
42 II. SPIELRÄUME DER MÄCHTE IM BAROCK
1. Vom Kriegsspiel
Vgl. Poten, Bernhard, „Reiswitz", in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. durch die histori-
sche Commission bei der königl. Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1889, 28. Bd., S.
153-154, hier 153.
Vgl. Reiswitz, George Leopold von, Taktisches Kriegs-Spiel oder Anleitung zu einer mecha-
nischen Vorrichtung um taktische Manoeuvres sinnlich darzustellen, Berlin, 1812, S.XI.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 45
Es sollte Heinrich von Kleists letzter Versuch sein, seinem Vaterland jenen
absoluten Dienst zu erweisen, den er mit jedem seiner Schauspiele propagier-
te.
Doch letztlich werden vor allem die Kriegsspiele des Barons von Reiswitz
die Armeen auf eine bis dahin völlig unbekannte Weise mobilisieren. Größten
Anteil hatte daran Reiswitz' Sohn, laut Zeitgenossen ein „militärischer
Faust""", der seinem Leben genauso wie Kleist selbst ein Ende setzte, als die
Berufung in ein militärisches Amt ausblieb. Die beiden folgenden Kapitel
seien deshalb insbesondere jenen beiden preußischen Soldaten gewidmet,
deren Kriegsspiele als erstes Opfer ihr eigenes Leben einforderten.
2. Kleists Kriegsspiele
Anonymus, „Zum Kriegsspiel", in: Militair-Wochenblatt, Nr. 35 u. 37, 1869. S. 276-277 und
S. 292-S. 295, hier S. 276. Hinter dem Verfassersigel 98 verbirgt sich laut Konstantin von
Altrock. Theodor von Troschke.
Trotzdem bleibt anzumerken, daß Kleist auch sehr hellhörig auf die Nachricht von neueren
Medien reagierte: Für die Verbreitung der Kunde von Sömmerings elektrolytischem Telegra-
phen sorgte er in dem von ihm entwickelten Format der Tageszeitung höchstselbst.
Vgl. Kittler, Wolf, „Militärisches Kommando und tragisches Geschick. Zur Funktion der
Schrift im Werk des preußischen Dichters Heinrich von Kleist", in: Heinrich von Kleist. Stu-
dien zu Werk und Wirkung, hg. v. Dirk Grathoff, Opladen. 1988, S. 56-68.
46 III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT
' Friedrich Christoph Dahlmann zitiert nach Sembdner, Helmut (Hg.), Heinrich von Kleists
Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen, Bremen 1957, S. 233. Dokument
Nr. 316.
8
Dahlmann zitiert nach Sembdner, ebenda, Dokument Nr. 317, S. 233.
Ebenda. Dokument Nr. 318a, S. 235. Noch fast ein halbes Jahrhundert später ist Dahlmann
und von die Erinnerung an die gemeinsam unternommenen „Militärspiele" präsent, wie ein
Treffen der beiden dokumentiert: „Dahlmann! - 40 Jahre! Denken Sie an Prag, an Kleist, ans
Militärspiel?" „Wohl, Exzellenz", erwiderte ich, „es sind 47 Jahre, ich bin Historiker." Fried-
rich Christoph Dahlmann zitiert nach Sembdner, Dokument Nr. 318b, S. 235.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 47
Spiel sei alles enthalten."0 Erst als tags darauf Kleist und Dahlmann, die
immer noch oder wieder in das Kriegsspiel vertieft waren, vom Wirt darauf
hingewiesen wurden, daß die Schlacht ihren Höhepunkt erreicht hatte, eilten
die beiden zum Schlachtfeld.
Die Schwelle, an der Kleist bei Aspern operierte, markierte nicht weniger
als ein Feld von Kontingenzen, deren Darstellbarkeit Schriftsteller und be-
richterstattende Offiziere gleichermaßen herausforderte. Der Begründer des
modernen Generalstabssystems, General Gerhard von Scharnhorst, fürchtete
nichts mehr, als ein narratives Moment, das aus fragmentarischen Nachrichten
und Meldungen über eine Schlacht eine Geschichte wob, die sich so nie zuge-
tragen hatte und hinsichtlich zukünftiger Schlachten nur zu Fehlschlüssen
führen konnte. Vor den geschichtlichen Darstellungen vergangener Kriege
warnte er deshalb; sie seien doch nicht mehr als ein „an Wahrscheinlichkeiten
grenzender Roman".1" Stattdessen regte Scharnhorst an, alle Aufzeichnungen,
die vor, während und nach einem Feldzug entstehen, systematisch zu sam-
meln, ganz gleich wie unvollständig sie auch seien. Durchzuspielen, wie diese
Daten ein kohärentes Bild der jüngsten Schlacht erkennen ließen, sei für die
Generalstabsoffiziere die beste Vorbereitung auf die nächste kriegerische
Auseinandersetzung.
Schriftsteller, deren Begabung sich nicht an der Performanz mißt, mit der
sie an die Erstellung eines Textes herangehen, sondern allein am Resultat,
haben es seit Aspern schwer. Selbst der realistischste unter ihnen, Honore de
Balzac, scheiterte am Ende seines Lebens an der selbstauferlegten Aufgabe,
die Schlacht bei Aspern in Romanform zu bringen, obwohl er sich bei seinen
Recherchen keine Mühen ersparte und selbst die Gelegenheit, mit Soldaten,
die an der Schlacht teilgenommen hatten, zu sprechen und die Schlachtfelder
zu besuchen nicht ausließ."2 Übriggeblieben von seinem Vorhaben ist allein
die Ankündigung des Romans und ein Fragment: „Die Schlacht. Erstes Kapi-
tel. Groß-Aspern. Am 16. May im Jahr 1808 gegen mittag..."."3 So manifes-
tiert sich ausgerechnet im Vorfeld eines letztlich auf ganzer Linie gescheiter-
ten Romanprojekts eine kristallklare Vorstellung davon, zu welchen, ans
Halluzinatorische grenzenden Wirkungen der Roman nunmehr befähigen soll:
Ich sage Ihnen, „Die Schlacht" ist ein unmögliches Buch. Darin werde ich Sie
mit allen Greueln, allen Schönheiten eines Schlachtfeldes vertraut machen. Mei-
ne Schlacht ist Essling [Aspern]. Essling mit allen seinen Konsequenzen. Es soll
so sein, daß ein kühler Kopf soll in seinem Sessel die Gegend vor sich sehen, die
Einzelheiten des Geländes, die Menschenmassen, die strategischen Begebenhei-
1,0
Ebenda, S. 233.
' " Scharnhorst, Gerhard Johann David von, Nutzen der militärischen Geschichte; Ursach ihres
Mangels. Ein Fragment aus dem Scharnhorst-Nachlass, Faksimilie d. Handschrift mit Über-
tragung und Einführung v. Ursula von Gersdorff, Osnabrück, 1973, S. 49.
112
Vgl. Robb, Graham, Balzac. A Biography. London, 1994, S. 189.
113
de Balzac, Honore, La Comedie humaine, hg. v. Pierre-Georges Castex, Paris, 1981, Bd. XII,
S.653.
4H III. DAS K.RIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT
ten, die Donau, die Brücken, soll die Details und den Kampf als Ganzes bewun-
dern, die Artillerie hören, sich für die Bewegungen der schachbrettförmigen
Aufstellung interessieren, alles sehen, in jeder Äußerung dieses großen Heers
Napoleon spüren, den ich nicht zeigen werde oder den ich am Abend auftreten
lasse, wie er in einem Boot die Donau überquert. Kein weibliches Gesicht, nur
Kanonen, Pferde, zwei Armeen, Uniformen; auf der ersten Buchseite ertönt die
Kanone, auf der letzten verstummt sie; Sie werden sich durch den Rauch hin-
durchlesen, und wenn Sie das Buch wieder zuschlagen, sollten Sie alles intuitiv
gesehen haben und die Schlacht in Erinnerung behalten, als hätten Sie dort mit-
gemacht.114
Tatsächlich traute der preußische Generalstab der Schrift allein die Darstel-
lung solcher Kriegspanoramen gar nicht mehr zu und zog es kurz darauf vor,
die schriftlichen Daten mit dem Kriegsspielapparat des Barons von Reiswitz
zu verkoppeln. Das Phantasma blieb sich indes gleich, denn auch Reiswitz
gedachte mit seinem Kriegsspiel zu bedienen, was er in einem Provinzblatt
eingefordert fand: Einem Offizier solle zukünftig die Reise zu den „vier
Schlachtfeldern] Schlesiens" erspart bleiben, weil ein Kriegsspiel diese samt
der „übrigen ewig denkwürdigen Schlachttheater Schlesiens in sein Zimmer
zaubern könne, um mit [...] Figuren darauf mannigfaltig zu manoeuvriren
114
de Balzac, Honore, teures ä Madame Hanska, hg. v. Roger Pierrot, Paris, 1967, Bd. 1, S. 27-
28. Honore de Balzac' BriefTragment ist datiert auf den Januar 1833.
15
Reiswitz, Taktisches Kriegsspiel, S. XXVI.
16
Diese Studie wird im Bundesarchiv-Militärarchiv aufbewahrt: Hofmann, Rudolf (General der
Infanterie), Über ..Kriegsspiele". Bestand P-094. Eine Übersetzung auf Amerikanisch hat P.
Luetzkendorf (Historical Division. Headquarters, US Army, Europe 1952) im gleichen Jahr
angefertigt: War Games. U.S. Army Historical Document MS P-094, Department of the
Army, Office of the Chief of Military History, 1952. Am US Army War College, Carlisle
Barracks. Pennsylvania wurde das Dokument 1983 neu aufgelegt: German Army War Games
with a Foreword by Generaloberst Franz Halder. Art ofWar Colloquium.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 49
7
Hofmann, „Kriegsspiele", S. Bl. 28-29.
8
Sehr informiert berichtet darüber das halbamtliche biographische Nachschlagewerk, wobei
die ausgelassene Nennung des Namens eines Nationaldichters nicht minder beredt ist, von
Priesdorff, Kurt, „Karl Friedrich von dem Knesebeck", Nr. 1346, in: Soldatisches Führertum,
Hamburg, 1936-1942, Bd. 7, S. 344-348, hier S. 346-347.
von Reiche, Ludwig, Memoiren des königlich preußischen Generals der Infanterie, Erster
Theil: Von 1775 bis 1814, hg. v. Louis von Weltzien, Leipzig, 1857, S. 166-167.
50 III. DAS KRIKGSSPIEL, DAS STAAT MACHT
ckend ähnlich und nannte Aspern eine verpaßte Chance, Bonapartes nachtei-
lige Lage auszunutzen.1-0 Daß Knesebeck daran gehindert wurde, nach Kö-
nigsberg zu reisen, wo sich Friedrich Wilhelm III. aufhielt, und ihn persön-
lich von der Notwendigkeit eines Kriegseintritts zu überzeugen, ist nicht etwa
durch Napoleons Spione vereitelt worden, durch einen Akt, den man heute als
counter intelligence bezeichnen würde, sondern ausgerechnet von Preußens
glühendstem Verächter Napoleons, der keine Gelegenheit ausgelassen hatte,
gegen Napoleon anzuschreiben. In Aspern hatte Kleist, der die Armee längst
verlassen und die Waffe gegen die Feder eingetauscht hatte, zwei für ihn
verhängnisvolle Dinge in die Hand genommen: neben Pfuels Kriegsspiel noch
zwei Pistolen.
Im Krieg, wird Clausewitz lehren, haben noch die geringsten Zufälle mit-
unter erhebliche Folgen. Daß Preußen nicht schon 1809 eine Allianz mit
Österreich einging, die Napoleons Hegemonie hätte beenden können, wurde
womöglich durch eine einzige Kugel verhindert. Kleist nämlich weitete sein
Kriegsspiel im Wirtshaus aus. Er lud ein Paar tags zuvor erstandene Pistolen
und legte sie - unter Protest Dahlmanns - auf den Wirtshaustisch. Dort blie-
ben sie dann über Nacht liegen. Am nächsten Morgen ergriff ein Adjutant
Knesebecks eine der Pistolen zum Spaß und drückte ab. Er konnte nur noch
einer Kugel hinterherblicken, die an Dahlmanns Schläfe knapp vorbeiging.
Letztlich meldete sich aber Knesebeck mit den Worten: „Aber Gotts Donner-
wetter, ich habe es gekriegt!"121 Ein herbeigerufener Chirurg mußte die Kugel
in Knesebecks Schulter belassen. Knesebeck blieb aufgrund der Schußverlet-
zung nur übrig, seinen Lagebericht an Friedrich Wilhelm, durch einen Boten
zu übermitteln, wissend, daß seine Worte in Königsberg ihre Eindringlichkeit
verloren haben würden. Als nach Wochen und mehrmaliger Korrespondenz
Friedrich Wilhelm. Knesebeck anwies, Österreich volle militärische Unter-
stützung zu versprechen, hatte Napoleon bereits den Pakt mit Österreich durch
seine Heirat mit Marie-Louise von Habsburg besiegelt. Die Biographie Kne-
sebecks schließt mit den Zeilen: Die „preuß. Patrioten waren um eine neue
Hoffnung betrogen."122 Daß ausgerechnet wohl Preußens patriotischster Dich-
ter an der Schußverletzung Knesebecks den größten Anteil hatte, verrät die
öuelle zum soldatischen Führertum mit keinem Wort. So kann die Kleistfor-
schung in weiten Teilen bis heute die Legende weiterschreiben, Kleist sei mit
jeder seiner Unternehmungen an einem Staat und einer Gesellschaft geschei-
tert, die für seine Lebensentwürfe noch nicht bereit waren. Vielleicht ist es an
von Clausewitz, Carl, „Die wichtigsten Grundsätze des Kriegführens zur Ergänzung meines
Unterrichts bei Sr. Königlichen Hoheit dem Kronprinzen", in: Vom Kriege, Hinterlassenes
Werk des Generals Carl von Clausewitz, Hg. v. Wemer Hahlweg, Bonn, [1832] 1980.
S. 1047-1086, hier S. 1076.
Dahlmann zitiert nach Sembdner, Heinrich von Kleists Lebensspuren, S. 232. Dokument Nr.
317.
122
Vgl. Priesdorft", Soldatisches Führertum, S. 347.
III. DAS KRIEGSSPIEL. DAS STAAT MACHT 51
der Zeit, umgekehrt zu fragen, wie weit die Experimente und die Risikobereit-
schaft der preußischen Reformer gingen.
Als 1811 jenen preußischen Reformkräften - mit dem Militär Gneisenau
und dem Staatsmann Stein an der Spitze - eine Allianz, diesmal mit dem
russischen Zarenreich möglich schien, die einen aussichtsreichen Krieg gegen
Napoleons Herrschaft in Preußen und Vorherrschaft in Europa zu führen
versprach, machte sich auch Kleist erneut Hoffnung auf ein militärisches Amt.
Jedes Amt und jede Aufgabe, der sich der märkische Junker bis dahin gestellt
hatte, um sein Schreiben zu sichern, hatte im Fiasko geendet: Als Schweizer
Landwirt gescheitert, im Königsberger Staatsdienst für ein halbes Jahr als
Spion in französische Gefangenschaft genommen, als Zeitschriften- und
Zeitungsherausgeber finanziell ruiniert. Womöglich erhoffte er nun für sich
selbst, was er dem Prinzen von Homburg als Plot vorgeschrieben hatte: Das
Erwachen aus einem Traum in eine Realität, die sich als Alptraum erweist,
doch die zu guter Letzt noch die Wendung, die Erfüllung des ersehnten
Traums bringt. Nach dem Vorfall während der Schlacht bei Aspern wäre
schon ein ungeheures Maß an Diplomatie und Wissen um die jüngsten militä-
rischen Praktiken für eine Wiederaufnahme Kleists in die preußischen Armee
nötig gewesen. Dieses Kunststück zustandezubringen, wäre beinahe niemand
anderem als seiner engsten Vertrauten und Cousine Marie von Kleist ge-
glückt. Sie schickte ihn erstens mit „militärischen Aufsätzen" zu General
Gneisenau und empfahl ihn zweitens dem König für seine Leibgarde.123 Zuvor
hatte sie über Kleist geschrieben:
Mein gnädiger gütiger König glaube nicht, daß seine Jugendabentheuer, seine
dichterischen Schrollen mir unbekannt sind, alle diese Dinge haben seinen patri-
otischen Sinn gehoben und vermehrt, nur anthousiastische Menschen werden
jetzt etwas heißen.124
Spätestens in diesem Moment scheinen Kleists abenteuerliches Leben und die
Auswüchse seiner dichterischen „Schrollen" ineins zu fallen: Wohl nur in
seinen Dramen würde man sonst damit rechnen müssen, daß ausgerechnet
jene tragische Figur sich seiner Majestät als Leibgardist empfiehlt, die zuvor
das Leben einer anderen Person leichtsinnig aufs Spiel gesetzt hatte, einer
Person, deren Verdienst es war, den König aus einer gefährlichen Lage geret-
tet zu haben und der der Hohenzoller daraufhin sein Leben anvertraut hatte.
Marie von Kleist bat jedoch nicht nur um Nachsicht für Kleists vergangene
Übertretungen, sondern führte auch seine Vorzüge an: „Auch hat er seit eini-
gen Jahren sich viel mit Taktick beschäfftiget. Krieges Spiele gespielt etc.
Vgl. Marie von Kleist in einem Schreiben an Friedrich Wilhelm 111. , am 26. Dezember,
1811, in: Sembdner, Helmut (Hg.), Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Be-
richte der Zeilgenossen, Bremen 1975, S. 343. Dokument Nr. 509a.
Marie von Kleist in einem Schreiben an Friedrich Wilhelm 111., am 9. Sept. 1811, in: Sembd-
ner, Helmut (Hg.), Heinrich von Kleists Lehensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitge-
nossen, Bremen 1975, S. 339-340. Dokument Nr. 507a.
52 111. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT
etc."125 Das Schreiben übergab Kleist dem König höchstselbst - in einer Au-
dienz, die dieser ihm gewährte.126 Friedrich Wilhelm III. erließ vermutlich
noch am selben Tag eine Ordre, die ihm angesichts des aufziehenden Krieges
gegen Bonaparte ein militärisches Amt in Aussicht stellte. Doch Friedrich
Wilhelm III. zog schon kurz darauf eine Allianz mit Napoleon vor und
durchkreuzte die Insurrektionspläne der preußischen Reformer um Reichsfrei-
herr vom Stein. Sowohl Gneisenau als auch Grolmann und Clausewitz wech-
selten darauf die Fronten und stellten sich den russischen, österreichischen
und spanischen Armeen zur Verfügung. Sich als Offizier in den Dienst ver-
schiedener Heerführer zu stellen, war für Jahrhunderte gängige Praxis gewe-
sen. Von nun an hieß, sich nicht mit der heimatlichen Armee zu identifizieren,
nicht mehr nicht für das Vaterland zu kämpfen. Im Gegenteil, für das Vater-
land kämpfen hieß vor allem einen absoluten Feind auszumachen.
Kurz bevor Kleist nach Aspern gereist war, traf er sich in Österreich neben
anderen Reformern auch mit Stein, er teilte mit Clausewitz Freunde gleicher
Gesinnung und auch die Tafel.127 Gneisenau empfing ihn wohl schon deshalb
zu ausführlichen Gesprächen. Doch als Friedrich Wilhelm III. eine kriegeri-
Ebenda. Siehe auch Wolf Kiltler, „Militärisches Kommando und tragisches Geschick", S. 56-
68.
26
Sembdner, Helmut, „Heinrich und Marie von Kleist", in: Jahrbuch der deutschen Schillerge-
selhchafl, 1. Jg. 1957, S. 157-178, hier S. 166.
27
Vgl. Paret, Peter, „Kleist und Clausewitz: A Comparative Sketch", in: Festschriftßr Eber-
hard Kessel zum 75. Geburtstag, hg. v. Heinz Duchhardt u. Manfred Schlenke, München,
1982, S. 130-139. Paret geht im Zuge seines Vergleichs zweier Karrieren auch auf eine tat-
sächliche Begegnung von Clausewitz und Kleist ein. Indirekt scheinen einmal mehr Frauen
für Kontakte gesorgt und Information sehr gezielt gestreut zu haben. Marie von Kleist war
mit Clausewitz' späterer Frau Marie von Brühl eng befreundet. Es war ihr Bruder Karl, der
Kleists Theaterstück „Prinz von Homburg" schließlich auf die Bühne brachte. Und es ist Ma-
rie von Kleists andere Freundin, Frau von der Marwitz, geborene Gräfin Moltke, die Kleist
über den König aufklärt: „Er wird seine Natur nie verändern; ewig unentschlossen, wird er
alle wohlberechnete Pläne vereiteln und die Kräfte derer, die sich für ihn aufopfern wollen,
lähmen." Zitiert nach Sembner, Helmut, „Heinrich und Marie von Kleist", in: Jahrbuch der
deutschen Schillergesellschaft, 1. Jg., 1957, S. 157-178, hier S. 166.
Daß Kleist Mitglied der christlich-teutschen Tischgesellschaft war, zu der Clausewitz zählte,
ist von Hans Joachim Kreutzer bezweifelt worden: „Heinrich von Kleists Lebensspuren", in:
Euphorion, Bd. 62, 1968, S. 188-224, hier S.210-212. Kreutzers Zweifel entspringen weniger
den Fakten als seinen Vorbehalten gegenüber einer Eßgesellschaft, die sich insbesondere
durch Achim v. Arnims Äußerungen antijüdisch gibt und gegen Reinhold Steig als Kleistbio-
graphen. Daß Kleist und Clausewitz an der Tischgesellschaft gleichermaßen aktiv teilnah-
men, geht aus einem Schreiben Arnims hervor, das die Mitglieder zur Abstimmung über die
Verlegung des Treffpunkts zur Sommerzeit in den Tiergarten auffordert. Kleist stimmt neben
anderen namentlich dafür, Clausewitz und einige andere Mitglieder dagegen. Das Schrift-
stück zitiert Steig, Reinhold, Heinrich von Kleists Berliner Kämpfe, Berlin, 1901 S. 39.
Kreutzer hält dagegen, daß er Kleist in Arnims Nachlaß im Zusammenhang mit der Tische-
gesellschaft nirgends finden kann, räumt aber ein, daß Steig vermutlich noch Arnims voll-
ständiger Nachlaß vorlag, der auf verschlungen Wegen und unvollständig nach Weimar fand.
Der Schluß Kreutzers, Kleist hätte der Gesellschaft nicht wirklich angehört, ist wenig über-
zeugend, da Kleist zu den wenigen Teilnehmern zählte, die sich flir einen bestimmten Ver-
sammlungsort aussprachen.
111. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 53
3. Clausewitz' „Taktik-Fabrik"
Am Ende des Ersten Weltkriegs blieb General Ludendorff nach einer geschei-
terten letzten Offensive nur noch, öffentlich das Versagen der Politik zu
reklamieren und insgeheim zu konstatieren, daß seine „Strategie durch die
herrschende Taktik besiegt wurde."128 Dabei war die Bedeutung der Taktik
schon ein Jahrhundert zuvor ins Blickfeld der Strategen geraten: So hatte
Gerhard von Scharnhorst beizeiten Clausewitz die Mark Brandenburg auf-
grund ihrer Terrainbeschaffenheit zum Studium des kleinen Krieges empfoh-
len. Clausewitz bemerkte daraufhin, daß dem kleinen Krieg eigen wäre, was
„dem großen Kriege ziemlich fremd ist, Beobachtung des Feindes'."129 Im
Unterschied zu den Bataillonen der großen Heereszüge mit ihren täglich
ausgegebenen Marsch- und einmal erteilten Angriffsbefehlen bekamen die
frei flottierenden und leichten Truppeneinheiten des kleinen Krieges keine
Befehle mitgeteilt, sondern „Aufträge""0. Das Signal zum Angriff leitete sich
aus fortlaufender Beobachtung und eingeholten Nachrichten von Terrain und
Feind ab. Daß dabei der Nachrichtenlage grundsätzlich zu mißtrauen sei, ist,
wie Clausewitz feststellt, „ein elender Büchertrost und gehört zu der Weisheit,
zu welcher System- und Kompendienschreiber in Ermangelung von etwas
Besserem ihre Zuflucht nehmen."1"
Der kleine Krieg sollte sich noch erheblich ausweiten. Die taktischen Ein-
sichten, die ihm abgewonnen worden waren, begannen sich letztlich zu den
beherrschenden Anschauungsformen der Schlachtfelder zu entwickeln. Offi-
ziere mit eigenständigem Urteilsvermögen heranzuziehen, erschien nunmehr
unumgänglich. Die Kantische Philosophie des aufgeklärten Subjekts fand in
Ludendorff zitiert nach Miksche, Ferdinand Otto, Vom Kriegsbild, Stuttgart-Degerloch, 1976,
S. 102.
29
Clausewitz, Carl von: „Meine Vorlesungen über den kleinen Krieg, gehalten auf der Kriegs-
Schule 1810 und 1811", in: derselbe, Schriften, Aufsätze, Studien, Briefe. Dokumente aus
dem Clausewitz-, Scharnhorst- und Gneisenau-h'achlaß sowie aus öffentlichen und privaten
Sammlungen (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 49), hg. v.
Werner Hahlweg, Bd. 1, Göttingen, 1966, S. 208- 599, hier S. 234-235.
Vgl. von Cochenhausen, Friedrich, „Einleitung", in: Carl von Clausewitz: Die wichtigsten
Grundsätze des Kriegsführens, Berlin, 1936, S. 5-8, hier S. 6. Van Creveld datiert den
Durchbruch der Auftragstaktik in der Ära Moltkes. Vgl. Martin van Creveld, Kampfkraft
Militärische Organisation und militärische Leistung 1939-1945. (=Einzelschriften zur Mili-
tärgeschichte, Bd. 31), übers, a. d. Engl. v. Tilla Stumpf, Freiburg, 1989. S. 43.
Clausewitz, Vom Kriege. S. 258.
54 III DAS KRIEGSSP1EL, DAS STAAT MACHT
der Doktrin des aufklärenden Soldaten der Preußischen Armee deshalb einen
frühen Verbündeten.
Die womöglich griffigste Formel, was Aufklärung sei, findet sich bei Im-
manuel Kant in einer Fußnote:
Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in
seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist
die Aufklärung.132
Kants Definition der Aufklärung ist Bestandteil einer Schrift, die sich pro-
grammatisch an eine breitere Öffentlichkeit wandte: „Was heißt: sich im
Denken orientieren?" Der Begriff der Orientierung, so gibt Kant dort zu
verstehen, ist wörtlich aufzufassen, das heißt zunächst geographisch:
Sich orientieren heißt, in der eigentlichen Bedeutung des Worts: aus einer gege-
benen Weltgegend (in deren vier wir den Horizont einteilen) die übrigen, na-
mentlich den Aufgang zu finden. Sehe ich nun die Sonne am Himmel, und weiß,
daß es nun die Mittagszeit ist, so weiß ich Süden, Westen, Norden und Osten zu
finden.
Kant entwickelt demnach die Möglichkeitsbedingung eines Orientierungsbeg-
riffs, der zunächst vom geometrisch empirischen Datum ausgeht, dann Rück-
schlüsse aus der „zufälligen Wahrnehmung durch Sinne"131 zuläßt und
schließlich aufgrund reiner „Verstandesbegriffe"134 Verortungen vornimmt.
Die Szenarien, an denen Kant diese drei Formen der Orientierung exemplifi-
ziert, lassen, obschon unausgesprochen, auch eine kulturtechnische Entwick-
lung sichtbar werden. Die geographische Orientierung weiß das Subjekt durch
die Unterscheidung natürlicher Gegebenheiten herbeizuführen, so etwa durch
die Erfassung der Sonnenstände. Die mathematische Orientierung ist jedoch
auch „im Finstern" eines geschlossenen Zimmers möglich, weil es sich bei
ihm und den in ihm befindlichen Gegenständen um konstruierte, und damit
leicht zu ermessende Räume und Körper handelt. Doch erst mit einer auf
subjektiven Gründen beruhenden Vernunft, der erlaubt ist, „etwas vorauszu-
setzen und anzunehmen, was sie durch objektive Gründe zu wissen sich nicht
anmaßen darf"", setzt auch ein Denken ein, dem „im unermeßlichen und für
uns mit dicker Nacht erfülleten Räume des Übersinnlichen"136 sich zu orientie-
ren zur Notwendigkeit wird. Kant erprobt den Begriff der Aufklärung als
Orientierungsaufgabe vor dem Hintergrund einer buchstäblich begriffenen
Verfinsterung. Tatsächlich gebraucht er den Begriff der Aufklärung und den
"* Kant, Immanuel, „Was heißt: Sich im Denken orientieren?", in: derselbe, Kant's Gesammelte
Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abt., Bd. VIII,
Berlin, Leipzig 1923, S. 131-146, hier S. 146. (Zuerst erschienen in: Berlinische Monats-
schrift. Oktober, 1766.) Hervorhebung im Orginal.
133
Ebenda, S. 133.
134
Ebenda.
135
Ebenda, S. 137.
136
Ebenda.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 55
Vgl. Bosse, Heinrich, „Der geschärfte Befehl zum Selbstdenken. Ein Erlaß des Ministers v.
Fürst an die preußischen Univeritäten im Mai 1770", in: Institution Universität, Diskursana-
lysen 2, hg. v. Friedrich Kittler, Manfred Schneider und Samuel Weber, Opladen, 1990, S.
31-62, hier S. 33.
3I)
Vgl. Hossbach, Friedrich, „Einflüsse Immanuel Kants auf das Denken preußisch-deutscher
Offiziere. Bohnenrede, gehalten am 22. April 1953 vor der Gesellschaft der Freunde Kants in
Göttingen", in: Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg/Pr., Bd. IV, Kitzingen/M..
1954, S. 139-145, hier S.142-143.
140
Paret, Peter, Clausewitz und der Staat. Der Mensch, seine Theorien und seine Zeit, Bonn.
[1976] 1993, S. 232.
"" Ebenda, S. 232.
142
Ebenda, S. 234.
Ebenda.
111. DAS KRIF.ÜSSP1EL, DAS STAAT MACHT 57
Doch erst Reiswitz lieferte mit seinem Sandkasten ein Medium, das es er-
laubte, mit Unberechenbarkeiten operativ und performativ umzugehen, anstatt
sie auf dem Exerzierplatz auszutreiben. Reiswitz' Kriegsspiel verliert sich
dabei im Unterschied zu anderen Kriegsspielen seiner Zeit nicht in zeitlich
und räumlich ausgreifenden, strategischen Maßnahmen, sondern beschränkt
seine Mittel allein auf die taktische Ebene, die sich zwischen Auftragsanfang
und -ende innerhalb einer Schlacht erstreckte.
Reiswitz gewann mit seinem Kriegsspiel umgehend das Interesse von Prinz
Wilhelm - der als Kaiser und Oberster Kriegsherr auf Generalstabschef Hel-
muth von Moltke hören sollte, ebenfalls ein Kriegsspieler der ersten Stunde.IS0
Wilhelm brachte mit seiner Begeisterung für Reiswitz' Spiel seinen Vater
dazu, diesem eine königliche Audienz zu gewähren.151 Daß Marie von Kleist
1811, genau zur selben Zeit, dem König in einem Empfehlungsschreiben die
taktischen Fähigkeiten und Kriegsspielkenntnisse ihres Cousins Heinrich
anpreist, zeigt, wie gut sie über die militärischen Ausbildungspraktiken am
preußischen Hof im Bilde gewesen sein mußte.
Reiswitz wollte allerdings unter keinen Umständen sein Kriegsspiel auf
dem Stand „eines Sandkastenfs] dem König vorlegen". Er
werde aber sofort ein Terrain aus festerm Material anfertigen lassen und das dem
König zu Füßen legen. Dies geschah erst im Laufe des Jahres 1812; Der König
hatte es fast vergessen und war nicht wenig erstaunt, nach so langer Zeit, eine
der Form nach mächtige Komode angebracht zu sehen (Siehe Abb. 11-14).'52
Friedrich Wilhelm, ließ Reiswitz' Kriegsspiel umgehend ins Potsdamer
Schloß bringen, wo ihn kurz darauf Meldungen vom Russisch-Französischen
Krieg erreichten.153 In exhaustiven Kriegsspielen stellte er mit seinen Söhnen,
Offizieren und Adjutanten anhand der Meldungen die Kriegstheater und
Feldzüge im Vorfeld der Befreiungskriege nach, wobei „häufiger die sonst
zum Auseinandergehen der hohen Familie festgesetzte Stunde weit überschrit-
ten""4 wurde.
Ebenda, S. 693 und Reiswitz' Freund, nunmehr General der Infanterie, Ernst Heinrieh
Dannhauer: „Das Reiswitzsche Kriegsspiel von seinem Beginn bis zum Tode des Erfinders
1827", in: Mililair-Wochenblatt. Nr. 56. 1874. S. 527-532. Hier S. 531.
51
Anonymus, „Zur Vorgeschichte des v. Reiswitz'schen Kriegsspiels", S. 693.
152
Ebenda, S. 698.
153
Ebenda, S. 694.
154
Ebenda.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 59
Abb. 11: Leopold George von Reiswitz taktisches Kriegsspiel von 1812
fr
JLÄ2
>«UP"»P ^ j g
55
Über Reiswitz' Vorläufer und überhaupt zum Forschungsgegenstand der Kriegsspiele in der
Geschichtswissenschaft informiert Daniel Hohrath, „Prolegomena zu einer Geschichte des
Kriegsspiels", in: „Das Wichtigste ist der Mensch". Festschrift für Klaus Gerteis zum
60. Geburtstag, hg. v. Angela Giebmeyer u. Helga Schnabel-Schule, Mainz, 2000, S. 139-
152, hier S. 145.
156
Ebenda, S. 146-147.
57
Reiswitz, Taktisches Kriegs-Spiel oder Anleitung zu einer mechanischen Vorrichtung um
taktische Manoeuvres sinnlich darzustellen, Berlin, 1812.
62 III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT
In der ursprünglichsten Form des taktischen Kriegsspiels lag der Zeittakt bei einer Minute.
64 III. DAS KRIEGSSPIF.L. DAS STAAT MACHT
Stößt nun ein Truppenfiihrer während des Spiels auf eine feindliche Truppe
und ergreift bestimmte Maßnahmen, dann teilt er diese nur dem Schiedsrich-
ter, dem sogenannten Vertrauten mit. Dieser wiederum schätzt die Dauer in
Spielzügen, die für die Übermittlung der Nachricht zum Oberbefehlshaber
anfällt:
Ist die bestimmte Anzahl von Zügen vorüber, so empfängt der Oberbefehlshaber
die Meldung über die Bewegung des Feindes, und was hierauf von dem zu-
nächststehenden Truppen-Führer angeordnet worden ist, und muß, bevor er an
den Plan tritt, dem Vertrauten das was er anordnen will, dictiren. - Hierbei wird
eine Uhr zur Hand genommen, um zu sehen, wie viel Zeit zur Mittheilung der
Meldung, dem zu fassenden Entschluß und zur Ertheilung der Disposition nöthig
war. Halb so viel Züge als Minuten vergangen sind, werden in Rechnung ge-
bracht, und dazu wiederum die Zahl der Züge addirt, welche erforderlich sind,
die gegebenen Befehle den Truppentheilen zu überbringen. Erst alsdann, wenn
diese Züge vorübergegangen sind, werden sie den betroffenen Spielern mit-
getheilt.162
Da schriftliche Befehle für ihre Mitteilungen mehr Zeit benötigen als mündli-
che - wie sie auf dem Schlachtfeld noch üblich sind - wird ihre Übermitt-
lungsdauer einfach halbiert, und schon sind im Kriegsspiel Verhältnisse wie-
derhergestellt, die mit denen des Schlachtfelds korrelieren. Wohl niemals
zuvor wurden mit Hilfe von Uhren die Kosten der Kommunikation so genau
gemessen.
Konstruktion und Destruktion sind im taktischen Kriegsspiel - das nicht
nur miniaturisierte Brücken und Gebäude aus Holz und Stein bereithält, son-
dern auch Angaben über den Zeitaufwand für ihre Vernichtung - aufs Engste
aufeinander bezogen. Auf den Schiedsrichter des Kriegsspiels kommen um-
fangreiche Datenerhebungen zu. Er hat über den Status der Sichtbarkeit von
Truppenteilen genauso Buch zu führen, wie über die angefallenen Verluste.
Sie werden in Bruchzahlen festgehalten und addieren sich im Fall des Total-
verlusts einer Truppe zu Eins.
Da man wußte, daß die Feuerwaffen unter Gefechtsbedingungen stärker
streuen als auf dem Schießplatz und im Manöver, kommen Würfel ins Spiel.
Sie erlauben, die Richtwerte in Reiswitz' Regelwerk mit zufälligen Abwei-
chungen zu versehen. Zudem dezimieren vor Spielbeginn schon einmal Zu-
fallswürfe die Divisionen der beiden Parteien, sodaß ungewiß ist, mit wievie-
len und welchen Truppensteinen die Gegenspieler operieren.
Das Spielfeld wird aus Terrainsteinen gebildet, die Reiswitz in Anlehnung
an das Prinzip des Setzkastens „Typen" nannte. Reiswitz entwickelte im
Anschluß an das Kriegsspiel ein System für den Druck von Karten. Anstatt für
die Erstellung von Karten auf die zeitraubende Metallographie zurückzugrei-
fen, sah er ein System vergleichbar dem Bleidruck vor, bei dem unterschiedli-
che Lettern zur Bezeichnung sowohl von Kreisstädten, Festungen und anderen
Bauwerken als auch für Haupt- und Nebenstraßen, Wälder, Seen und andere
geographische Merkmale vorgesehen waren. Reiswitz erhoffte sich von seiner
Technik eine schnellere Erstellung von Aufmarschpiänen.
Den Bruch, der Kommandeure und Befehlsempfänger in existentieller Wei-
se trennt, hat Reiswitz vermutlich als erster registriert, als er die Korrespon-
denz zweier Freunde analysierte, die ihr Kriegsspiel postalisch abhielten. „Ein
Schreibfehler, besage dieser Correspondenzacten beyder Freunde, kostete
einmal einen Infanteristen das Leben, ein Fall der auch wohl sonst vorge-
kommen seyn mag."163 Das Kriegsspiel übt in die Kommunikation ein, die
eine nackte Existenz über lauter Stellvertreter mit einer letzten Instanz verbin-
det. Die strategisch distanzierte Dimension des Kabinettkrieges ist nun mit der
realen Dimension der Schlachtfelder verschränkt.
Reiswitz hatte 1812 zu der „mächtigen Komode" eine sechzig Seiten um-
fassende Anleitung herausgebracht. Sie blieb unvollständig, da erste Heeres-
bewegungen die Zeit des Kriegsrats einforderten. Doch es ist zweifelhaft, daß
über die Konstruktion des Kriegsspiels jemals uneingeschränkt informiert
werden sollte. Reiswitz veröffentlichte einzig die Anleitung und verzichtete
mit Absicht auf Kupferstichabbildungen seiner Konstruktion. Es galt, unauto-
risierte Nachbauten zu verhindern.
Schließlich gab Reiswitz 1816 nur noch den historischen Teil seiner
Kriegsspielschrift heraus, legte aber den neuesten Stand der Dinge nicht mehr
offen. In dem Augenblick, in dem sein Kriegsspiel Aufnahme seitens des
Militärs erfuhr, erklärte er seine Anleitung von 1812 kurzerhand zu Makula-
tur. Reiswitz wollte seine Unterlagen „ohne allen gelehrten Prunk denen in die
Hände" legen, „welche sie bloß zum eigentlichen Kriegs-Zweck benutzen
wollten."164 Reiswitz überließ in aller Konsequenz alles weitere seinem Sohn,
der sich anschickte, zum Seconde-Lieutenant der preußischen Gardeartillerie
aufzusteigen.
Ebenda, S. IX.
Reiswitz, George Leopold von, Literarisch-kritische Nachrichten über die Kriegsspiele der
Alten und Neuern. o.O., o.J. S. VI.
66 III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT
sein Kriegsspiel kennen lernten, einen angenehmen Lohn fiir seine Bemühungen
gefunden hat, so wird er durch die Bekanntmachung und Verbreitung desselben
sich auch unfehlbar den Dank der Armee erwerben.
166
von Müffling, Karl, „Anzeige", in: MMtair-Wochenblatt, Nr. 402, 1824, S. 2973.
Reiswitz, „Taktisches Kriegsspiel", S. 3.
Vgl. Dannhauer, „Das Reiswitzsche Kriegsspiel", S. 528 und von Reiswitz, Georg Heinrich
Rudolf Johann, Anleitung zur Darstellung militairischer Manöver mit dem Apparat des
Kriegs-Spiels, Berlin, 1924. S. 9-10.
68 III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT
$cd: iL M
Abb. 15: Sektion E/16 des Kriegsspielplans im Maßstab 1:8000 von Leutnant d. Inf.
Ernst Heinrich Dannhauer. Der Kartenausschnitt zeigt das Brandenburger Tor und den
Tiergarten
III. DAS KRIEÜSSPIEL, DAS STAAT MACHT 69
Noch bevor Karl von Müffling zum Generalstabschef ernannt wurde, herrsch-
te er über die Kartographierung deutscher Länder in einem Ausmaß, das selbst
die Schauplätze von „Die Leiden des jungen Werther" einholte. Goethes
Roman hält sich an eine Topographie, die sich im Unterschied zu allen ande-
ren seiner literarischen Werken auf einer Karte genau nachvollziehen läßt."""
Müffling hat unter dem Deckmantel seiner Präsidentschaft eines zivilen Lan-
deskollegiums einem Weimarer Dichterfürsten durch seine Vermessung und
Umgestaltung des Landes wohl nicht nur die für dessen Roman topographisch
exakten Vorlagen geliefert, sondern womöglich noch für die Figur des
Hauptmanns in den „Wahlverwandtschaften" als Modell gedient.
Begönnen hatte Müffling seine Karriere mit Vermessungsarbeiten im
Rheinland, die an Cassinis großes französisches Kartenwerk anknüpfen konn-
ten. Die Kartographierung hatte unter seiner Leitung gerade Preußen erfaßt,
als Leutnant Reiswitz ihm das taktische Kriegsspiel vorstellte. So überrascht
es kaum, daß Carl von Decker, der unter Müffling nach den Befreiungskrie-
gen und einer durchgreifenden Militärreform die Leitung des „Aufnahme- und
Zeichenbureau[s]" übernahm,'70 auch als einer der ersten Reiswitz' Regelwerk
ergänzte.,71 In der Generalstabsausbildung läßt sich gleichermaßen feststellen,
daß Techniken zur Herstellung von Karten und deren operative Anwendung in
taktischen Kriegsspielen mit wechselseitiger Bezugnahme vermittelt wurden.
Auffällig ist, daß keine Institution beanspruchte, die Entwicklung des
Kriegsspiels zu regulieren oder sein Regelwerk festzuschreiben, selbst als
man es zur Prüfung von Offiziersanwärtern heranzog. Änderungsvorschläge
und Regelergänzungen entfielen immer auf den nichtamtlichen Teil des Mili-
tär-Wochenblatts und wurden von Autoren, nicht von Institutionen verantwor-
tet. Recht bald bildeten sich Vereine, in denen sich Offiziere dem Kriegsspiel
widmeten - darunter Helmuth von Moltke, der von Beginn seiner Karriere an
ein „eifriger Kriegsspieler"172 war und zu der ersten Generation der Absolven-
ten der Kriegsschule gehörte, die auch am Kriegsspiel ausgebildet wurden.173
Daß das Kriegsspiel nicht nur indirekt seine Karriere beförderte, geht aus
seiner Autobiographie hervor. Als mittelloser und beurlaubter Generalstabsof-
fizier kam er auf Vermittlung Müfflings nur deshalb zu seinem ersten militäri-
schen Amt im Osmanischen Reich, weil der türkische Kriegsminister Chosref
Pascha nach einer Einführung in das Kriegsspiel verlangte. Chosref war nicht
nur am preußischen Landwehrsystem interessiert, sondern insbesondere an
So Friedrich Kittlers Befund in: Dichter - Mutter - Kind, München, 1991, S. 119-148, hier
S. 134-147.
0
Grüger, Gert und Jörg Schnadt, „Die Entwicklung der geodätischen Grundlagen für die
Kartographie und die Kartenwerke 1810-1945", in: Berlin-Brandenburg im Kartenbild, hg. v.
Wolfgang Scharfe u. Holger Scheerschmidt. Berlin. 2000. S. 113-136, hier S. 116.
Altrock, Konstantin von, Das Kriegsspiel. Eine Anleitung zu seiner Handhabung Mit Bei-
spielen und Lösungen. Berlin, 1908, S. 165.
Dannhauer, „Das Reiswitzsche Kriegsspiel", S. 530.
Lüdecke, Cornelia, Carl Ritters Lehrtätigkeit an der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin
1820-1853, Berlin 2002, S.30.
7(1 111. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT
Moltke, Helmut von, Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren
1835 bis 1839, Berlin, 1911, S. 466.
Ebenda, S. 466.
Vgl. Brandes, Georg, „Feldmarschall Moltke", in: derselbe, Gesammelle Schriften. Deutsche
Persönlichkeiten, Bd. 1, München, 1902, S.l 1-36, hierS. 24.
Neben Reiswitz' Freunden, den späteren Generalen Griesheim und Dannhauer, nennt dieser
neben Moltke u.a. noch von Finckenstein und Verdy du Vernois. Siehe Dannhauer, „Das
Reiswitzsche Kriegsspiel", S. 531.
Altrock, Das Kriegsspiel, S. 152-159.
III. DAS KRIEGSSPIEL, DAS STAAT MACHT 71
Anonymus (laut Dannhauer: Carl von Decker), „Supplement zu den bisherigen Kxiegsspiel-
Regeln", in: Zeitschrift für Kunst, Wissenschaft und Geschichte des Krieges, Jg. 13, Nr. 4,
1828, S. 6 8 - S . 105, hier S. 78.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
1. Kriegstheater
Nach dem Zweiten Weltkrieg zog Carl Schmitt sich in die Privatsphäre seiner
sauerländischen Heimat zurück und blieb die letzten 38 Jahre seines langen
Lebens seinem Geburtsort Plettenberg und dem Elternhaus verhaftet.180
Schmitt galt zu diesem Zeitpunkt als „Kronjurist des Dritten Reiches"18', sein
Titel als Preußischer Staatsrat hatte die Gültigkeit verloren, seine Professur
der Staatsrechtslehre mußte er aufgeben, und aus dem Staatsdienst war er
entlassen worden. Er wurde wegen Kriegsverbrechen angeklagt und kam für
zwei Jahre in Haft; verurteilt wurde er jedoch nicht.
Zurück in Plettenberg setzte sich Schmitt mit der politisch unverfänglich
scheinenden Figur des Hamlet auseinander. Bevor er seine Studien veröffent-
lichte, trug er sie zunächst an der Volkshochschule in Düsseldorf vor.'82
Genauer besehen, führen Schmitts Hamletlektüren nicht nur zu Fragen nach
künstlerischer Form und Gattung, sondern auch zu drei zentralen Problemfel-
dern seines politischen Werks. Erstens antwortet er (erst jetzt) Walter Benja-
min, der in seiner Schrift über das barocke Trauerspiel Schmitts Definition der
Souveränität aufgriff und diesem im Dezember 1930 sein Buch zusammen mit
einem emphatischen Brief zugesandt hatte.183 Auch wenn Schmitt Benjamins
Trauerspielbuch schätzte, so bezweifelte er, daß sein Souveränitätsbegriffsich
auch in Hamlets Dramen widerspiegelt. Ihm scheinen die insularen politi-
schen Verhältnisse in England von den Entwicklungen souveräner Staaten in
Kontinentaleuropa zu geschieden, die erst eine legistische „Einheit von Ort
und Zeit und Handlung" des klassischen Theaters hervorzubringen vermoch-
ten.184 Zweitens drängt in Schmitts Hamletstudien einmal mehr die Situation
auf, in der ein überkommenes Herrschaftssystem sein Recht vergeblich zu
Immerhin entwickelte Plettenberg für Alexandre Kojeve, die Leitfigur der französischen anti-
hermeneutischen Philosophen, eine Anziehungskraft, die ihm jede andere Einladung, auch
die der Freien Universität Berlin, dagegen gleichgültig werden ließ. Vgl. Taubes, Jacob, Ad
Carl Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin, 1987, S. 24.
' So die bekannte und die häufig aufgegriffene Titulierung des ehemaligen Schmitt- Schülers
Waldemar Gurian nach Schmitts Apologie des „Röhmputschs". Siehe Paul Müller alias Wal-
demar Gurian, „Entscheidung und Ordnung. Zu den Schriften von Carl Schmitt", in: Schwei-
^ zerische Rundschau, 34. Jhg., 1943, S. 566-576, hier S. 567.
2
Vgl. Schmitts Vorwort in dem von seiner Tochter Anima Schmitt besorgten Übersetzung von
Lilian Winstanley, Hamlet. Sohn der Maria Stuart, Pfullingen, 1952. S.7-25. Und Schmitt,
Carl, Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Düsseldorf, Köln, 1956, hier
S. 73.
3
Vgl. Benjamin, Walter, Brief an Schmitt vom 9. Dez. 1930, in: Gesammelte Briefe, hg. v.
Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Bd. 3, Frankfurt/M., 1997, S.558.
J
Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 66.
74 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
Ebenda, S. 42.
Vgl. ebenda, S. 62 und S. 66-67. Verfassungsgeschichtlich macht Schmitt in einem weiteren
Exkurs geltend, daß das Festhalten am mittelalterlich-feudalen, sakralen Geblütsrecht die
Stuarts zur Hoffnungslosigkeit verdammt und untergehen läßt, da sich eine neue Wahlmonar-
chie etabliert. Hierbei gilt es allerdings zu beachten, daß bei Wahl keinesfalls eine demokrati-
sche Staatsform gemeint ist, sondern die Einschränkung des göttlichen Rechts des Königs.
Vgl. Schmitt, Hamlet oder Hekuba, Exkurs I, S. 57-61.
Schmitt geht sogar soweit zu behaupten, in Hamlets Zaudern manifestiere sich die Haltung
Shakespeares, nicht eindeutig Partei zu ergreifen, um seinen eigenen Kopf nicht aufs Spiel zu
setzen. Vgl. Schmitt, Hamlet oder Hekuba, S. 20-21.
Schmitt, „Vorwort", in: Lilian Winstanley, Hamlet. Sohn der Maria Stuart, S. 13.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 75
entzieht, etwa wenn der Schauspieler scheinbar seine Rolle ablegt, beiseite
spricht und sich nun - vermeintlich ganz Privatperson - als Schauspieler zu
erkennen gibt.1*9 Für Schmitt ist das spätere doppelte Spiel des 19. Jahrhun-
derts bloß heruntergekommen, um eine Realität zu konstituieren, die ebenso
wenig wert ist wie das Spiel, von dem sie getrieben ist. Shakespeares Spiel
war dagegen Ultima ratio.
Um den Leser den Unterschied spüren zu lassen, bringt Schmitt einen dras-
tischen Vergleich:
Die Ermordung von Jakobs Vater, die Heirat der Mutter mit dem Mörder, die
Hemmungen und Schwächen des philosophierenden und theologisierenden Kö-
nigs, das alles war für Dichter, Schauspieler und Zuschauer ebenso aktuelle Ge-
genwart, wie etwa [...] für ein Berliner Publikum des Jahres 1934 die damalige
Röhm-Affäre. Man denke sich einmal, daß solche unmittelbar aktuellen Ereig-
nisse damals in [...] Berlin in Gegenwart der Prominenten des Regimes und des
Publikums der Hauptstadt in ähnlicher Weise auf die Bühne gebracht worden
wären, wie das Schicksal Jakobs 1603/5 in London tatsächlich auf die Bühne ge-
bracht worden ist.190
Schmitts Gebrauch des Konjunktivs hat durchaus seine Berechtigung. Denn
keine Bühne brachte 1934 eine Szene, die etwa zeigt, wie Kurt von Schlei-
cher, der letzte Kanzler vor Hitlers Machtergreifung, während des „Röhm-
Putschs" am Schreibtisch seiner Neubabelsberger Villa den Schüssen eines
SS-Kommandos zum Opfer fällt.'1"
Schmitt hatte Schleichers Ressort als „hintergründiger Berater"192 auch und
gerade beim Abwehrversuch der Machtergreifung der NSDAP zur Verfügung
gestanden. Nach dem „Röhm-Putsch" verteidigte jedoch Schmitt den Partei-
vorsitzenden, Kanzler und Führer Adolf Hitler durch eine juristische Apolo-
gie, die sicherlich zu jenen seiner Schriften zu zählen ist, die ihm die größten
Anfeindungen einbrachten.193 An seine Verteidigungsschrift ein eindeutiges
Freund-Feind-Schema anzulegen, fallt jedoch schwer, denn meinungsma-
chende SS-Funktionäre ließen sich von Schmitts unbedingtem Bekenntnis
zum politischen Führer nicht davon abbringen, ihn öffentlich zu diffamie-
Nachkriegszeit das Bild von Shakespeare, dem Autor, der mit seinem Drama
letztlich in einer Zeit unklarer Machtverhältnisse sein eigenes Leben aufs
Spiel setzt und gleichzeitig durch die künstlerische Form zu schützen sucht.'95
Brisanter noch als die Frage, vor welcher Darstellung politischer Ereignisse
die Kunst des 20. Jahrhunderts kapituliert, ist jene, die auf das Verbindende
von Schmitts Vergleich zielt. Ein Bühnenstück hat es unmittelbar nach dem
„Röhm-Putsch" nicht gegeben, jedoch ein Spiel im Vorfeld, das im Machtbe-
reich Schleichers im Reichswehrministerium stattfand, und bei dem als „Zu-
schauer" von den „Prominenten des Regimes" immerhin „der Staatssekretär
des Auswärtigen Amts, Herr v. Bülow"196 teilnahm. Diesem Planspiel - wie
jedem anderen Planspiel auch - mag eine besondere ästhetische Form abge-
hen; von üblichen Kriegsspielen unterschied es sich dennoch in entscheiden-
der Hinsicht, und die betrifft eben jene politische Ebene, wie sie Schmitt bei
Hamlet auf die Bühne gebracht sieht. Denn zum Erstaunen der Weimarer
Reichsregierung konnte sie vom Spiel ihrer Militärs nur lernen, wie von
Mannstein, der sich als Hitlers in strategischer Sicht fähigster General erwei-
sen sollte, feststellte:
Wir hatten den Eindruck, daß auch den Herren des Auswärtigen Amtes, denen
ein solches Durchspielen möglicher Konfliktfalle etwas völlig Neues zu sein
schien, dessen Wert durchaus einleuchtete."7
Von Manstein unterläßt es, das Planspiel zu datieren. Er deutet lediglich an,
daß er es zu Beginn seiner Karriere im Truppenamt für seinen Vorgesetzten
Walter Adam entwarf, der 1930 zum Chef des Truppenamts ernannt wurde.198
Manstein hatte die Leitung der Operationsabteilung des Truppenamtes ein
Jahr zuvor übernommen. So gehörte zu seinen vornehmlichsten Aufgaben,
als Organ des Chefs der Heeresleitung bzw. des Chefs des Truppenamts die
Großen Kriegsspiele und Übungsreisen zu bearbeiten, die der199operativen Schu-
lung der höheren Führer und der Generalstabsoffiziere dienten.
194
Siehe etwa den Artikel Anonymus, „Eine peinliche Ehrenrettung", in: Das Schwarze Korps
vom 3. Dezember 1936, Folge 49, S. 3.
195
In dieselbe Richtung weist auch Schmitts Gleichsetzung seiner selbst mit der Romanfigur des
Kapitäns Benito Cereno in Herman Melvilles „Moby Dick", die er in seinen Briefen an Ernst
Jünger 1941 vornimmt. In Melvilles Roman wird Benito Cereno als weißer Kapitän einer
schwarzen Besatzung, die gemeutert hat, gezwungen, anderen Schiffen gegenüber den Schein
des souveränen Befehlshabers zu wahren. Vgl. Ernst Jünger - Carl Schmitt Briefe 1930-
1983, hg. v. Helmuth Kiesel. Transkription der Briefe Isolde Kiesel, Stuttgart, 1999, Carl
Schmitt an Ernst Jünger, ohne Ort, d. 17. September 1941. S.128-130, hier insbesondere
S.129.
,%
Manstein, Erich von, Aus einem Soldatentehen. 1887-1939, Bonn, 1958. S. 131.
197
Ebenda, S. 133.
198
Ebenda, S. 107. Post weist daraufhin, daß die Kooperation zwischen Auswärtigen Amt und
Truppenamt von Blomberg eingeleitet wurde. Siehe Post, Gaines. The Civil-Military Fabric
of Weimar Foreign Policy, Princeton, 1973, S. 209.
199
Ebenda, S. 106.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 77
Ebenda, S. 131.
"" Ebenda.
"" Das 1929 eingerichtete Ministeramt fasste die dem Reichswehrminister direkt unterstellte
Adjutantur, die Haushaltsabteilungen von Heer und Marine, die Rechtsabteilung, die Wehr-
macht-Abteilung und die Abwehrabteilung zusammen.
03
So rückblickend Ott, Eugen, „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung des Nationalsozia-
lismus' vor dem Rhein-Ruhr-Klub e.V. am 19. Mai 1965 in Düsseldorf, in: RW 265-21410,
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Hauptstaatsarchiv. Bl. 9. Mein Dank gilt Prof. Dr. Jürgen
Becker für die erteilte Genehmigung, auf dieses Dokument aus dem Nachlaß von Carl
Schmitt zugreifen zu dürfen. Bestätigt wird die Darstellung durch Huber, Ernst Rudolf, „Carl
Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", in: Complexio Oppositorum. Über Carl
Schmitt, hg. v. Helmut Quaritsch, Berlin, 1988, S. 33-50. Aussprache S. 51-70, hier S. 40.
204
Ott, „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung", Bl. 7.
205
Vgl. Carsten, Francis L.. Reichswehr und Politik. 1918-1933, Köln, Berlin, 1964, S. 326-330.
78 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
Es wurde die Entwicklung von einer zunehmenden politischen Spannung über il-
legale polnische Bandenaktionen bis zum Eingreifen des polnischen Heeres und
damit bis zum Beginn des offiziellen Krieges durchgespielt. Die Leitung gab den
Parteien das Bild der allgemeinen, sich täglich zuspitzenden Lage. Die beidersei-
tigen militärischen Führer hatten der Leitung ihre jeweiligen Anträge und Maß-
nahmen anzumelden, der „Pole" im Sinn der beabsichtigten Aggression, der
„Deutsche" hinsichtlich der Vorbereitung einer wirksamen Abwehr, wie z.B. des
Aufrufs des Grenzschutzes.
132-133.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 79
Uniformen aus Wehrmachtsbeständen208, die Opfer aus KZs und einem nahe
gelegenen Gefängnis, in dem eines der Opfer absichtsvoll festgesetzt wurde.
Die Inszenierung sah die Erstürmung des Senders Gleiwitz durch polnische
Grenzsoldaten vor. Weil der Sender jedoch kein eigenes Programm ausstrahl-
te, sondern sein Programm von der Rundfunkanstalt Breslau bezog, mußte
man sich bei den auf polnisch eigens einstudierten Proklamationen mit einem
Gewittermikrophon beheifen. Mit geringer Reichweite gestattete es, vor
lokalen Unwettern zu warnen.209 Zur großen Enttäuschung Reinhard Heydrich,
der Funkoffizier gewesen war und nun in seiner neuen Rolle als Leiter der
Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienst den Scheinüberfall initiert hatte,
brachte der Rundfunk am Abend des 31. August 1939 in Berlin nicht wie
geplant die Direktübertragung des Überfalls.21" Die Ausrufung des Kriegs
erfolgte deshalb erst einen Tag später im Reichstag und im alten Medium der
Zeitung. Mit dem Satz „Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!" konnte
deshalb bloß nur wieder mit den Mitteln der Narration behaupten werden, was
das neue Medium des Rundfunks in Echtzeit hätte simulieren sollen.
Längst breiten sich Medientheorien darüber, wie Medien die Welt in Simula-
tionen aufzufassen vorgeben. Daß Medien selbst nicht auf Virtualitäten, son-
dern auf Realitäten gründen, die zu beherrschen selbst ehemaligen Funkoffi-
zieren mitunter schwerfällt, wird nicht selten übersehen. So hat der Soziologe
Jean Baudrillard das Simulakrum zwar zum zentralen Begriff für die Zu-
slandsbeschreibung der westlichen Welt erhoben, ohne jedoch nach der Ent-
wicklungsgeschichte der Simulation zu fragen.
Simulakren haben für ihn in eskalatorischer Weise zunächst das Spiel mit
dem Realen aufgenommen, sich dann an die Stelle seiner Erscheinungen
gesetzt und schließlich selbst eine Grundlage geschaffen, die auf das Reale
nicht mehr angewiesen ist.2" Insbesondere das Bezugssystem des Bildes hat
Spieß, Alfred und Heiner Lichtenstein, Das Unternehmen Tannenberg. München, 1979,
S. 27. Die Uniformen stellte auf Geheiß Hitlers die Amtsgruppe Ausland/Abwehr im Ober-
kommando der Wehrmacht zur Verfügung. Siehe Spieß/Lichtenstein, S. 38. Dabei mußte im
übrigen von Manstein, der sich ebenfalls um polnische Uniformen bemüht hatte, das Feld
Himmler und Heydrich überlassen. Erwin Lahousen Edler von Vivremont notierte im Kriegs-
tagebuch der Abwehr II: „Auf meine Anfrage, warum die Bitte des Generals Mansteins betr.
Einsatz von 3 Sturm Bat. mit polnischen Uniformen abgewiesen worden ist, dafür aber im
gleichen Raum eine Unternehmung des SS-Reichsführers Himmler durchgeführt werden soll,
wird geantwortet, dass dies auf Wunsch des Führers geschieht, der die Wehrmacht unter allen
Umständen aus allen Unternehmungen, die ausgesprochen illegalen Charakter haben, heraus-
halten will." Zitiert nach Spieß/Lichtenstein, S. 39.
Ebenda, S. 138-140.
Ebenda, S. 147.
Vgl. Baudrillard, Jean, Der symbolische Tausch und der Tod, übers, a. d. Franz. v. Gerd
Bergfleth. München, [1974] 1982, S. 86-97.
80 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
dabei eine Wandlung durchlaufen, die von der Reflexion zur Selbstreferenz
führt.212 Die Logik dieser Lesart bringt jedoch mit sich, daß das Reale der
Simulationsmedien ausgeklammert und ihre Geschichte zum Verschwinden
gebracht wird.
Dabei zeigt gerade die Entwicklung der Kriegsspiele, wie sehr das Reale in
die Simulationsmedien einbricht. Das ist immer dann der Fall, wenn die Simu-
lation an ihre Grenzen gelangt und Störungen erleidet. Dasjenige, was simu-
liert werden soll, ist davon gleichermaßen betroffen, nimmt es doch mitunter
die technischen Formen der Simulation an. Insbesondere treten Effekte des
Realen auf der kommunikativen und medialen Ebene auf. Im militär-
politischen Planspiel mag hinter der Position des polnischen Außenministers
das Einfühlungsvermögen eines preußischen Legationsrats stecken, die dabei
erprobten Kommunikationspraktiken könnten indes realer nicht sein.
Im Kriegsspiel tritt die Differenz von Simulation und Kommunikation am
deutlichsten ans Licht. Infanterieeinheiten, die im Kriegsspiel nicht scharf
schießen - und wenn doch, dann nur auf Scheiben - und Panzerverbände, die
in Ermangelung noch nicht vorhandener Panzer mit Attrappen oder gänzlich
auf dem Papier operieren, blenden einen Raum realer Tücken zwar von vorn-
herein aus; allein, ihre Nachrichtenverbände gehen im Kriegsspiel nicht an-
ders als im Krieg vor:
Das Stabsquartier oder der Gerechtsstand wird dabei in Haeusern, im Freien, in
Fahrzeugen oder Zelten eingerichtet. Das Nachrichtenpersonal richtet die vorge-
sehenen Draht- und Funkverbindungen ein, sodass der gesamte Nachriehtenbe-
tieb einschliesslich der Melder waehrend der Uebung kriegsmaessig laeutt.2"
Um auch den übrigen Verbänden ihre Lage „kriegsmaessig" erscheinen zu
lassen, konnte auf eine alte Allianz zwischen der Filmindustrie und dem
Militär zurückgegriffen werden. Es sei daran erinnert, daß der Chef der Obers-
ten Heeresleitung, Erich Ludendorff, schon beizeiten, nämlich 1917, die
Gründung der Universal-Film AG (UFA) für Propaganda und zur psychologi-
schen Kriegsführung betrieb. Das Kriegsspiel machte jedoch nicht von Film-
inhalten, sondern von seinen Produktionsmethoden Gebrauch, und zwar in
einem Umfang, daß im Sprachgebrauch des Generals der Nachrichtentruppe
Praun „Film" zu einem Synonym für „Kriegsspiel" wird:
Meist wird die Leitung [des Kriegsspiels] ihre „Einlagen" in einer Art „Dreh-
buch" zusammengestellt haben, nach dem dann der Film ablaeuft.2'4
12
Vgl. Baudrillard, Jean, „Die Präzession der Simulakra", in, derselbe, Die Agonie des Realen.
übers, a. d. Franz. v. Lothar Kurzawa u. Volker Schaefer, Berlin 1978, S. 7-69, hier S. 15.
213
Hofmann, Über „Kriegsspiele", Bl. 30. Siehe auch Praun, Albrecht (General der Nachrich-
tentruppe), „Nachrichtenverbindungen bei Kriegsspielen und Rahmenuebungen", in: Rudof
Hofmann, Über „Kriegsspiele", Anhang 3. BA-MA:P-094, Bl. 203. Dort heißt es: „[Die]
Nachrichtenverbaende [stellen] die im Ernstfall vorgesehenen Nachrichtenverbindungen tat-
saechlich her."
214
Hofmann, Über „Kriegsspiele", Bl. 30.
IV HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 81
2,8
Fangohr, Friedrich-Joachim (General der Infanterie). „Beitrag zur Studie ueber Zweck und
Art der Durchfüehrung von Kriegsspielen, Planuebungen usw. im deutschen Heer", in: Ru-
dolf Hofmann, Ober „Kriegsspiele•". Anhang 1. BA-MA:P-094. Bl. 131,133, 135.
2
" Ebenda, Bl. 140.
20
So das Fazit Prauns nach einem Vergleich zwischen der gescheiterten „Fuehrer- und Nach-
richtenrahmenuebung" in Schlesien 1935 und der erfolgreichen zwischen Kassel und Rhön
1939. Siehe Praun, „Nachrichtenverbindungen bei Kriegsspielen", Bl. 207-209.
221
Ebenda, Bl. 201, Hervorhebung im Original.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 83
Fangohr, „Beitrag zur Studie ueber Zweck und Art der Durchfuehrung von Kriegsspielen",
Bl. 77
Vgl. Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", S. 61.
Vgl. Ott, „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung", Bl. 7.
Vgl. Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", S. 46.
X4 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
Beginn seiner Karriere für die Rechtslehre noch als äußerst fruchtbar ausge-
wiesen hatte.226
Mit von Mansteins und Otts Planspielen schickte sich der militärische
Komplex, indem er seine Gewaltmittel für unzureichend erklärte, an, eben
jenen Raum der symbolischen Operationen zu erobern, der bis dahin allein
Sache der Politik gewesen war.
Seit nun Schmitts engster Mitarbeiter in der Weimarer Endzeit, Ernst Ru-
dolf Huber, erstmals Mitte der 1980er Jahre, also kurz nach Schmitts Tod,
sein Schweigen brach und auf dessen geheime Missionen als Rechtsberater
der Reichsregierung zu sprechen kam, ist auch Otts Planspiel wieder in den
Fokus der Forschung gerückt.227 Immerhin wurde dabei mit der These aufge-
räumt, Otts Planspiel sei eigens von Schleicher dazu veranstaltet worden, um
von Papen in intriganter Absicht als Reichskanzler zu stürzen,228 indes, den
Stellenwert des Planspiels richtig einzuordenen, unterblieb bis heute und so
konnte die Plötzlichkeit, mit der ein Planspiel die politische Bühne einnahm,
Beobachtern heute wie damals als beispiellos erscheinen.229 Seine eigentlichen
Höchste richterliche Entscheidungen nämlich berühren auch ein fiktionales Moment, wie er
sie in Hans Vaihingers Schmitt Philosophie des Als-Ob angelegt fand. Der Bereich fiktiver
Annahmen ist, so Schmitt, bei der Betrachtung von Tatbeständen keinesfalls auszuklammern,
da sie - frei nach Wagner - „nie ohn* ein'gen Wahn gelingen." Carl Schmitt zitiert hier Ri-
chard Wagner. Siehe Schmitt, Carl, „Der Adressat", in: Die Rheinlande, Bd. 21, 11. Jhg., 12.
Hft., 1911, S. 429-430. Vgl. auch Schmitt, Carl, „Juristische Fiktionen", in: Deutsche Juris-
tenzeitung. 18. Jhg. 12. Hft. 1913. S. 804-805. Sowie, Schmitt, Carl, „Richard Wagner und
eine neue .Lehre vom Wahn'", in: Bayreuther Blätter. 35. Jhg. 1912, S.239-241. Generell zur
Bedeutung der Fiktion beim frühen Schmitt, siehe Villinger, Ingeborg, „Politische Fiktionen.
Carl Schmitts literarische Experimente", in: Technopathologien, hg. v. Bernhard Dotzler,
München, 1992, S. 191-222.
Vgl. Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit".
Die These wurde zunächst von v. Papen selbst aufgestellt, siehe Franz von Papen, Der
Wahrheit eine Gasse, München, 1952, S. 247-249. Auch Carsten griff sie auf: Reichswehr
und Politik, S. 431-437, insbesondere S. 434. Ott hat die These bestritten: „Aus der Vorge-
schichte der Machtergreifung", Bl. 2. Zu Recht, wie Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise
der Weimarer Endzeit", S. 46, verdeutlicht. Ebenso Pyla, Wolfram, „Vorbereitungen für den
militärischen Ausnahmezustand unter den Regierungen Papen / Schleicher", in: Militärge-
schichtliche Mitteilungen, 51. Jhg., 2. Hft., 1992, S. 385 - 428.
Selbst Wolfram Pyta, der bis lang die umfangreichste Quellenforschung zum Regime von
Papen und Schleicher betrieben hat, muß sich den Vorwurf gefallen lassen, durch die Gren-
zen seines Untersuchungszeitraums und die Reduzierung der Sicht auf die politische F^bene
hinsichtlich des Planspiels falsche Schlüsse zu ziehen. Wenn er daraufhinweist, daß die Not-
standspläne, die aus Otts Planspiel abgeleitet wurden, auch nach Beginn von Schleichers
Kanzlerschaft „keineswegs ad acta gelegt, sondern als politische Option in Reserve gehalten"
wurden, dann schließt seine Fragestellung jegliche militärisch-strategische Anschluß-
möglichkeiten aus. Vgl. Pyta,"Vorbereitungen für den militärischen Ausnahmezustand",
S.387. Pyta bezieht weder in Betracht zieht, daß Otts Planspiel weitere folgten, noch daß ihm
andere vorausgegangen waren; er hält Otts Planspiel schlicht „für ein Novum: Es wurde ab-
gehalten, weil die Reichswehr 1932 eine qualitativ andere und schwierigere Aufgabe als
1923/24 zu bewältigen hatte." Ebenda, S. 388. Dabei hätte er schon aus Otts Bericht entneh-
men können, daß dem Planspiel zumindest ein anderes vorausgegangen war und zwar eins
mit derselben innen- und außenpolitischen Ausrichtung.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 85
Vgl. auch Gaines, The Civil-Military Fabric. S. 320. Pyta kommt auf Grundlage von Otts
Spiel zum gegenteiligen Schluß, das Widerstandspotential der NSDAP und KPD sei tatsäch-
lich erheblich geringer gewesen als von der Planspielleitung angenommen und Notverord-
nungen hätten sich deshalb sehr wohl durchsetzen lassen. Vgl. Pyta, „Vorbereitungen für den
militärischen Ausnahmezustand", S. 392. Das Bedrohungspotential im Falle eines Angriffs
durch Polen schätzt er jedoch sogar noch höher ein als von den Planspielteilnehmern ange-
nommen: „wenn sie [die Reichswehr] schon mit polnischen Übergriffen rechnete, hätte sie
dieses Szenario sicherheitshalber [über Ostpreußen hinaus] noch auf Hinterpommern und
Oberschlesien ausdehnen müssen. Indem sie diesen Schritt bei der Planübung unterließ und
eine Bedrohung deutscher Grenzen allein auf Ostpreußen beschränkte, war die gespielte Lage
im Vergleich zu der der Reichswehrfuhrung eingentlich vorschwebenden Bedrohungsvorstel-
lung sogar noch geschönt." Pyta, „Vorbereitungen für den militärischen Ausnahmezustand".
S. 390. Mit anderen Worten, man hätte die innenpolitische Lage durch eine Notverordnung
möglicherweise kontrollieren können, für einen Konflikt mit Polen wäre die Präsidialregie-
rung jedoch auf keinen Fall mehr gewappnet gewesen. Pytas Fazit, die Präsidialregierung
hätte sich die tatsächliche Gefahr im Planspiel größer gezeichnet als sie war und damit ihren
politischen Gestaltungsspielraum verspielt, steht im Widerspruch zu den Fakten, die er selber
zu Tage befördert hat.
Vgl. Ott, „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung", Bl. 4-5.
86 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
Weg I bringt das Volk in noch größere Unruhe und schiebt ihm mehr Verantwor-
tung zu, als es ertragen kann. Ist die offene Diktatur und wegen ungenügenden
Anlasses mit dem Odium der Willkür behaftet. Weg II dient dem Volk, die Re-
gierung führt, erzieht und gibt ein Vorbild.236
Nachdem von Papen es versäumt hatte, die Notstandsverordnungen zu einem
Zeitpunkt durchzusetzen, als die Nationalsozialisten kurzzeitig in der Wähler-
gunst gefallen waren, und die Präsidialregierung nun selbst weiter an Rück-
halt verlor, schlug Ott Schleicher vor, im besagten Planspiel zu sondieren, wie
Dokumente zum Planspiel Ott und Kommentar bei Pyta, „Vorbereitungen für den militäri-
schen Ausnahmezustand", S. 385-395 und S.395-414. Pyta weist den Begriff „Kriegsspiel" in
diesem Zusammenhang zurück, siehe ebenda S. 387. „Kriegsspiel" wird als Überbegriff so
aber beim Militär und auch in diesem Zusammenhang von Mitwirkenden wie Ott verwendet.
Allerdings wird in den militärischen Quellen „Kriegsspiel" nicht nur als Überbegriff ange-
wandt, sondern auch in Unterscheidung zum Planspiel. Während in diesem Fall unter Kriegs-
spiel das Durchspielen eines Kriegsszenarios durch zwei gleichartige Parteien gemeint ist,
übernimmt beim Planspiel die Führung einer Partei die Spielleitung. Vgl. List, Wilhelm (Ge-
neralfeldmarschall), „Beitrag zu einer Abhandlung ueber den Zweck und die Art der Durch-
fuehrung von Kriegsspielen im deutschen Heer", in: Rudolf Hofmann, Über „Kriegsspiele",
Anhang 2. BA-MA:P-094, Bl. 144-190, hier Bl. 148.
Vgl. Pyta, „Vorbereitungen für den militärischen Ausnahmezustand", S.400.
Vgl. Pyta, „Konstitutionelle Demokratie statt monarchischer Restauration", S. 432.
Vgl. Ott, „Aus der Vorgeschichte der Machtergreifung", Bl. II.
SS IV HISTORKXiRAPHlE IN ECHTZEIT
hängern der extremen linken und rechten Parteien als unterwandert ansah, und
zum anderen Streiks und Sabotagen ihrerseits auf die systematische Lahmle-
gung der Versorgungs- und Verkehrsinfrastruktur wie den Hamburger Hafen
und die Kohleförderung im Ruhrgebiet zielen konnten. Plünderungen von
Sprengstoff- und Waffendepots würden zudem noch für Waffengleichheit
sorgen.241 Wie planvoll man also im Reichswehrministerium den Feinden der
inneren Sicherheit eine Gestalt zu geben versuchte, so planvoll zeichneten
sich eben jene Feinde im Planspiel ab. An die Stelle von Clausewitz' Psycho-
logismus, wonach der Feind ob seiner Unsichtbarkeit im Unterschied zur
eigenen Sichtbarkeit auf paranoische Art das Imaginäre befeuert, tritt nun eine
gefährliche Logistik, über die zu verfügen dem Feind unterstellt wird, und die
diesem erst seine bedrohlichste Gestalt gibt. Daß genau zu dieser Zeit ein
junger Mathematiker namens Johann von Neumann eine mathematische
Theorie formuliert, die immer den strategisch am gerissensten agierenden
Gegenspieler annimmt, wird man nicht als bloße Koinzidenz verbuchen kön-
nen. Im abschließenden Kapitel wird deshalb auf von Neumanns Spieltheorie
noch genauer einzugehen sein.
Als von Papen - um auf Otts Planspiel zurückzukommen - sich im Kabi-
nett für einen Kurs ausspricht, der einen Verfassungsbruch nicht ausschließt,
um die Reichsregierung durch Notstandsverordnungen und gegen den zu
erwartenden erheblichen Widerstand an der Macht zu halten und sich selbst
erneut als Reichskanzler empfiehlt, bittet Schleicher Ott ins Kabinett, um die
Lehren aus dem Planspiel vorzustellen. Nach einer eindrucksvollen Vorstel-
Für die „Sonderlage für die Provinz Sachsen und Anhalt umfassenden Teile des Wehrkreises
IV" wird beispielsweise angenommen: „Das Kraftwerk Golpa-Zschornewitz (Nähe Bitter-
feld) ist im Laufe der Nacht stillgelegt worden, an den nach Halle und Merseburg führenden
Hochspannungsleitungen sind Sabotageakte durch Absprengen einiger Leitungsmasten er-
folgt. In der Nacht haben kommunistische Elemente einen Einbruch in das Sprengstoffwerk
Reinsdorf bei Wittenberg ausgeführt und dabei erhebliche Mengen Sprengstoffe entwendet."
Zitiert nach Pyta, „Vorbereitung für den militärischen Ausnahmezustand", Dokument 8 (BA-
MA, RM 20/1051, Bl. 226), S. 403. Die „Sonderlage für Breslau" entwickelt indes folgendes
Szenario: „Die Fernverbindung mit Berlin ist seit 24.11. 21 Uhr gestört." Zitiert nach Pyta.
„Vorbereitung für den militärischen Ausnahmezustand", Dokument 9 (BA-MA, RM
20/1051, Bl. 227), S. 403. Für die „Sonderlage Berlin" gilt: „Das Preußische Ministerium des
Innern Unter den Linden wurde dabei durch ein Sprengstoffattentat stark beschädigt. [...] Im
Nordosten von Berlin (Stettiner Bahnhof, Nordbahnhof) stärkere Störungen infolge Terrors
im Wedding", zitiert nach Pyta, „Vorbereitung für den militärischen Ausnahmezustand", Do-
kument 10 (BA-MA, RM 20/1051, Bl. 229), S. 404. Schließlich wird in dem Szenario der
Planübung am 25./26.11.32 „Lage im Wehrkreis VI" gewarnt: „Mit Sabotageakten an Eisen-
bahnwagen und in lebenswichtigen Betrieben in den nächsten Tagen muß gerechnet werden."
Zitiert nach Pyta, „Vorbereitung für den militärischen Ausnahmezustand", Dokument 11
(BA-MA, RM 20/1051, Bl. 2300, ebenda, S. 404-405, hier S. 405.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 89
lung entziehen sämtliche Minister von Papen das Vertrauen und bedrängen
Schleicher, sich von Hindenburg zum Kanzler ernennen zu lassen.242
Im Kriegsspiel hat so die Weimarer Reichsregierung ein Medium zur Fort-
setzung ihrer Politik im Ausnahmezustand gefunden. Das dem Spiel inne-
wohnende kriegerische Moment blieb davon indes gänzlich unberührt. Als
wäre die Wandlung von Schleichers Wehrmachtsabteilung aus einem ehema-
ligen Ressort der Operationsabteilung des Truppenamts in ein Ministeramt
nicht bezeichnend genug, so kommt noch hinzu, daß alle verfassungsrechtli-
chen Fragen zunächst im Reichswehrministerium Klärung fanden, bevor das
Innenministerium ins Vertrauen gezogen wurde. Daß Carl Schmitts engster
Vertrauensmann der Rcichsregierung, Oberstleutnant Eugen Ott, im Reichs-
wehrministerium saß, sorgte denn auch nach Hubers Bericht für rege Nach-
frage seitens seiner Zuhörerschaft.243 Seine formaljuristische Entgegnung, die
ausführende Gewalt unterstünde letztlich dem Reichspräsidenten, wirkt be-
müht, im übrigen wenig konform mit Schmitts Rechtsauffassungen vom
Machthaber.
Prekärer noch ist ein Staatsgebilde, das wie eine Kleinsche Flasche die
prinzipielle Unterscheidung von Innen und Außen ablegt. Seine innenpoliti-
schen Instabilitäten werden vor allem in Auswirkung auf die ungeklärte Ost-
grenze gesehen, die durch den polnischen Korridor nur noch aus einer Außen-
grenze besteht und den Anschluß an Ostpreußen hält. So malte schon Otts
Planspiel aus, „daß Kommunisten, anscheinend unter polnischer Führung, sich
in den Besitz von Grenzschutz-Waffenlagern" bringen.244 Doch gerade daran
lassen sich Forderungen nach Aufstockungen der Grenzdivisionen und Schaf-
fung von Milizen knüpfen, die offiziell dem Innenministerium, und nicht wie
die Reichswehr dem Reichswehrministerium unterstehen.
Nach von Papens Rücktritt findet Otts Planspiel deshalb eine Fortsetzung
in zwei Varianten. Die eine sucht nach Wegen, innenpolitisch motivierte
Aufstände unter Kontrolle zu bringen. Dazu gehört unter anderem auch die
Überlegung Tränengas, das bis dahin nur in Kriegsspielen der Armee zum
" Vgl. Graf Schwerin von Krosigk, Lutz, „Tagebuchaufzeichnung des Reichsfinanzministers
über den Verlauf der Ministerbesprechung vom 2. Dezember 1932, 9 Uhr.", in: Akten der
Reichskanzlei: Das Kabinett von Papen 1. Juni bis 3. Dezember 1932, bearbeitet von Karl-
Heinz Minuth, Bd. 2, Boppard, 1989, S. 1037. Vgl. auch Pyta, „Vorbereitungen für den mili-
tärischen Ausnahmezustand", S. 387. Sowie „Vortragsnotiz des Oberstlt. Ott für den Reichs-
wehrminister von Schleicher", in: Thilo Vogelsang, Reichswehr, Staat und NSDAP. Beiträge
zur deutschen Geschichte 1930-1932, Dokument 38, Stuttgart, 1962, S. 484-485.
"4 Vgl. Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", S. 65. Ebenfalls
kritisch, Pyta: In „den besonders heiklen Verfassungsangelegenheiten zeichnete nicht der
eigentlich dafür zuständige „Verfassungsminister" Gayl, sondern der Reichswehrminister für
die operative Planung verantwortlich." Pyta, „Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Quer-
front", S. 177.
~ Anonymus, „Lage im Wehrkreis I." zitiert nach Pyta, „Vorbereitung für den militärischen
Ausnahmezustand", Dokument 14 (BA-MA, RM 20/1051, Bl. 2350, S. 407
90 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
Vgl. Pyta, „Vorbereitungen für den militärischen Ausnahmezustand", S. 393 und Anmerkung
77 auf S. 415, sowie dort Zaeschmar, „Bereitstellung von Tränengas zur Bekämpfung innerer
Unruhen",Dokument 20 (BA-MA. RM 48/82, Bl. 60-63), ebenda, S. 415-417 und Anonymus
„Richtlinien für den Einsatz von Tränengas", Dokument 21 (BA-MA, RM 48/82, Bl. 64 ff.).
ebenda, S. 417-418.
Vgl. Huber, „Carl Schmitt in der Reichskrise der Weimarer Endzeit", S. 49.
Vgl. Dirks, Carl, und Karl-Heinz Janßen, Der Krieg der Generäle. Hitler als Werkzeug der
Wehrmacht. Berlin, 1999, S. 45. Die Darstellung beruht, nach freundlicher Auskunft von Carl
Dirks, auf dem Dokument: „Erste operative Aufgabe des Truppenamtschefs vom 10.1.1933",
Nr. 899/32. (Archiv Dirks)
Vgl. Pyta, „Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront", S. 178 und Anmerkung
S.19I.
l
IV. HISTORKXiRAPHlE IN FX'HTZEIT )l
verdankte.249 Statt allein den 20. Juli zu erinnern, wäre die Beschäftigung mit
dem Plan „Walküre" angezeigt, der in entscheidenden Punkten Otts Planspiel
glich: General Friedrich Olbricht, der den Plan entwarf, zeigt vorderhand, wie
im Fall innerer Unruhen, hervorgerufen durch ein immer größer werdendes
Heer an Zwangsarbeitern im Reichsinneren, diese durch ein Ersatzheer nie-
derzuschlagen seien. Der Plan, den Hitler selbst abzeichnete,250 war jedoch
tatsächlich Teil der Staatsstreichpläne gegen ihn selbst und hätte nach einem
erfolgreichen Anschlag auf ihn die Übernahme der Befehlsgewalt im Reich
sicherstellen sollen.251 Daß die Umsetzung von Olbrichts und Oberst Henning
Als Hitler nach dem Frankreichfeldzug Ende Juli 1940 Krieg gegen die Sowjetunion zu
führen beschloß, war Marcks als Chef des Generalstabes der 18. Armee längst ohne „Füh-
rer"-Auftrag von Franz Halder schon berufen worden, gegen Rußland einen ersten Operati-
onsplan zu entwerfen. Vgl. Ueberschär, Gerd, „Die militärische Planung für den Angriff auf
die Sowjetunion", in: Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941, hg. v. Gerd Ueberschär
und Lev A. Bezymenskij, Darmstadt, 1998, S. 21-37, hier S. 24. Vgl. auch Dirks/Janßen,
Der Krieg der Generäle, S. 138 und Hofmann, Über „Kriegsspiele, Bl. 67. Marcks' Operati-
onsentwurf, der Moskau als entscheidendes Kriegsziel auswies - wovon Hitler bekanntlich
abrückte - ist abgedruckt bei Ueberschär, „Der deutsche Angriff', S. 223-234.
Die Entwicklung der Gesamtunternehmung „Barbarossa" beschreibt Hofmann auf ausdrück-
liche Nachfrage der Historical Division der amerikanischen Armee als eine iteratives Verfah-
ren, das persönliche Verantwortlichkeiten ständig wieder aufhebt: Erste Entwürfe entwickel-
ten unabhängig Marcks, die Operationsabteilung des OKH, der Chef des Generalstabes des
Heeres, sowie etwas später General Friedrich Paulus. Die Operationsabteilung erstellte an-
hand der Entwürfe dann Aufmarschanweisungen, die wiederum in Kriegsspielen überprüft
wurden. Der Generalstab des Heeres unternahm unabhängig die gleichen Schritte und ver-
glich seine Ergebnisse mit denen des OKH. Danach erging die „Weisung für Barbarossa" am
18.12.1940 durch den obersten Befehlshaber der Wehrmacht. Hitlers Weisung durchlief dar-
auf eine genaue Ausarbeitung in der Heeresgruppe A unter der Leitung des Generals von So-
denstern in Form des Planspiels „Otto". Planspiele auf der Ebene der Heeresgruppenober-
kommandos schlössen sich an. Schließlich erfolgte die Aufmarschanweisung des OKH am
31. Januar 1941. Wieder waren es Planspiele der Panzergmppenkommandos und einzelner
Dvisionskommandos, um sich mit den Implikationen der Anweisung vertraut zu machen.
Vgl. Hofmann, Über „Kriegsspiele", BI.46-63 u. 67-71.
" Vgl. Finker, Kurt, Der 20. Juli 1944. Militärputsch oder Revolution?, Berlin, 1994, S. 239.
' Die „genial zu nennende Idee", so Hans Mommsen, geht nicht, wie von Dirks und Janßen
vermutet, auf Oberst Henning von Tresckow zurück, sondern auf Friedrich Olbricht, dem die
Idee schon im Winter 1941/42 kam. Vgl. Dirks/Janßen, Der Krieg der Generäle, S. 170. Vgl.
dagegen Page, General Friedrich Olbricht, S. 186 und Finker, Der 20. Juli 1944, S. 238-239.
Daß es sich bei Olbrichts „Walküre Plan" nicht um einen Geniestreich handelte, sondern um
eine Neuauflage von Otts Planspiel, wenn auch unter anderem Vorzeichen, legt Olbrichts
Karriere beim Truppenamt in der Abteilung T 3 (Fremde Heere) nahe, deren beide Abteilun-
gen Tl und T2 maßgeblich zur selben Zeit in Otts Planspiel eingeschaltet waren. Vgl, Ano-
nymus, „Ausgangslage der Planübung", in: Pyta, „Vorbereitung für den militärischen Aus-
nahmezustand", Dokument 2 (BA-MA, RM 20/1051, Bl. 209), S. 396-397.
Als Olbricht 1940 die Leitung der Nachfolgeeinrichtung des Truppenamtes des Allgemeinen
Heeresamtes übernahm, hatte er Zugriff auf alle Akten über die damaligen Notstandspläne.
Ihre Umarbeitung erfolgte mit der bekannten generalstabsmäßigen Routine: „Es wird allzuoft
vergessen - besonders bei denen, die die Rolle Stauffenbergs in der Verschwörung hervorhe-
ben wollen -, daß die offiziellen „Walküre"-Befehle insgesamt 220 mal überarbeitet worden
sind, und die Fassung vom 31. Juli 1943 - noch 2 Monate vor dem Amtsantritt Stauffenbergs
und sogar vor seiner Einweihung in die Verschwömng - schon die 83. Fassung dieser Befeh-
le darstellte!" Page, General Friedrich Olbricht, S. 190.
92 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
4. Applikatorische Methode
Versuche, von der Geschichte auf die Zukunft zu schließen, sind womöglich
nirgends intensiver unternommen worden als beim Generalstab. Auch Julius
von Verdy du Vernois, General der Infanterie, Lehrer an der Allgemeinen
Kriegsschule in Berlin und schließlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch
für kurze Zeit Kriegsminister, verfolgte innerhalb der „Führerausbildung" mit
" Vgl. Hoffmann, Peter, „Oberst i. G. Henning von Tresckow und die Staatsstreichpläne im
Jahr 1943", in: Vierteljahrshefte für Zeilgeschichte, Jhg. 55, Heft 2, 2007, S. 331-364, hier S.
343-344.
253
Speer, Albrecht, Erinnerungen, Frankfurt/M., Berlin. [1969] 1996, S. 463.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 93
führung eines Dialogs seines Philosophenstiefvaters - daß sich mit dem Ers-
ten Weltkrieg die Ausweitung eines „gigantischen Arbeitsprozesses"25" voll-
zogen habe. Allerdings sieht er den zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen aus
der Geschichte Nutzen zu schlagen ist, immer enger werden. Carl von Clau-
sewitz hielt Rückblicke auf militärgeschichtliche Ereignisse, die weniger als
75 Jahre zurücklagen, noch für strategisch relevant. „Die Zeitspanne", gibt
Heidegger nun zu bedenken, „in der Ereignisse noch praktisch lehrreich für
uns sind, schrumpft infolge der raschen Entwicklung der Waffen- und Ver-
kehrstechnik zusammen."260 Heidegger greift zur Formel des Historikers
Hermann Heimpels, um eine Grenze zu bezeichnen: Die „Gegenwart ist die
erste Geschichtsquelle des Historikers".261 Am Ende, so muß man folgern,
sorgt die applikatorische Methode dafür, daß Momente historischer Abläufe
mit der Gegenwärtigkeit computergestützter Operationen konvergieren. Ge-
schichte wird so zu einem System, das in Echtzeit verläuft.
Schon das Kompendium „Der Dienst des Generalstabs", von Bismarcks
General General Paul Bronsart von Schellendorf, erwartet nach dem deutsch-
französischen Krieg vom Offizier vor allem die Beherrschung einer Registra-
tur: Der Eingang noch der überraschendsten Nachricht erfordert keine origi-
nelle Reaktion, sondern das Absuchen des Archivs nach vergleichbaren Fäl-
len, um so der empirischen Mannigfaltigkeit durch rekursive Verfahren Herr
zu werden.262
Preußens erster Generalstabschef Müffling hatte zuvor seinen Offizieren
eine Darstellung des Siebenjährigen Krieges abverlangt, die in drei Bänden
unter seinem Nachfolger erschien. Es folgte die Aufarbeitung der preußischen
Schlachten gegen Napoleon bis zu den Befreiungskriegen, und auch diesmal
reichte die Amtszeit eines Generalstabschefs für die Erledigung der Aufgabe
nicht aus. Die Kriegsgeschichlliche Abteilung unter Leitung Verdy du Ver-
nois' wertete die Berichte der Kriege von 1864 und 1866 aus und gab das
Ergebnis als amtliches Werk heraus. Ergänzt um die Angaben zur Verwen-
dung von Eisenbahnen und Telegraphen ging hieraus die „Verordnung für die
höheren Truppenführer vom 24. Juni 1869" hervor - pünktlich vor Beginn des
deutsch-französischen Kriegs.263 Generalstabschef Moltke gab immerhin noch
selbst die Dokumentation des deutsch-französischen Kriegs in Auftrag und
schloß damit zu einem Krieg auf, den er selbst geführt hatte. Ab da währte
kein Frieden mehr lang genug, um den letzten Krieg vor Ausbruch eines
Ernst Jünger zitiert nach Heidegger, „Kann Kriegsgeschichtsunterricht heute noch einen
praktischen Nutzen haben?", S. 195
260
Ebenda, S. 197.
261
Ebenda.
262
SchellendortT, Paul Bronsart von, Der Dienst des Generalstabes, Zwei Teile in einem Band.
Berlin, 1875, Teil I, S. 138.
63
Vgl. Brühl, Reinhard. Militärgeschichte und Kriegspolitik: zur Militärgeschichtsschreibung
des preußisch-deutschen Generalstabes 1816-1945 (= Schriften des Militärgeschichtlichen
Instituts der Deutschen Demokratischen Republik), Berlin, 1973, S. 80.
IV. HISTORKXiRAPHlE IN ECHTZEIT 95
Otto, Helmut, „Das ehemalige Reichsarchiv. Streiflichter seiner Geschichte und der wissen-
schaftlichen Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges", in: Potsdam: Staat, Armee, Residenz in
der preussisch-deutschen Militärgeschichte, hg. v. Bernhard R. Kroener unter Mitarb. v. Hei-
ger Ostertag, Frankfurt/M., Berlin 1993, S. 421-434, hier S. 427.
Ebenda, S. 431.
Ebenda, S. 432.
Vgl. Reiswitz, Anleitung zur Darstellung militairischer Manöver, S. X.
Anonymus [Albrecht von Roon], „Zur Erinnerung an den Griesheim, gestorben als erster
Commandant von Coblenz und Ehrenbreitenstein, am 1. Januar 1854", in: Beiheft zum Mili-
tair-Wochenblatt 1854, S. 1-29, hier S. 8.
Ebenda. S. 3.
96 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
hörte daher jedenfalls zu den Wenigen, welche den so schwer und deshalb meist
mißverstanden Philosophen richtig aufgefaßt hatten.270
Das richtige Auffassen gründet auf ein generalstabsmäßig eingespieltes Auf-
schreibesystem, mit dem Griesheim und seine Mitstreiter Hegel zur Hilfe
kamen:
Wo er [Hegel] von einer guten Nachschrift eines Zuhörers hörte, [ließ er] diese
kopieren, und sie ward bei abermaligem Lesen zugrunde gelegt, so daß sich an
sie Veränderungen und Erweiterungen schlössen [...]. Obgleich Hegel stets seine
Vorträge nach einem Hefte hielt, so konnte schon der Zuhörer aus dem steten
Hin- und Herblättern, aus dem bald oben, bald unten Herumsuchen, auf die Kor-
rekturen, Einschiebsel usw. zurückschließen/7'
Griesheim machte zudem noch aus verschiedenen Mitschriften ein einziges
Kompilat, um jegliche Facetten Hegelscher Performanz über die Geschichte
der Philosophie aufzuheben - ein Verfahren, das im Generalstab üblich war,
um aus unzähligen Offizierstagebüchern neue Direktiven und Kriegsdarstel-
lungen abzuleiten. Schließlich sollte Griesheim selber Vorlesungen halten,
wenn auch zur Kriegsgeschichte an der Kriegsschule.
Nach Roons Bilanz „hätte [Griesheim] vorzugsweise im Generalstab der
Armee [...] Verwendung finden sollen."272 Doch als es tatsächlich soweit war,
erhielt das Kriegsministerium den Vorzug.
Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Sphäre, in der sich Griesheims Karriere
so beispielhaft bewegte, und die nach Roon mit der eigentlichen „kriegeri-
schen Täthigkeit" nicht in Berührung kam, schlicht kassiert. Mit der Auflö-
sung des Großen Generalstabs ging der „namenlose Geist des Generalstabsof-
fiziers"- um mit dem dafür verantwortlichen Chef des Truppenamtes Hans
von Seeckt zu sprechen - auf ganz andere Einrichtungen und Institutionen
über. Letzteres hatten die Siegermächte sicherlich nicht im Sinn, als sie im
Versailler Vertrag forderten, was in Weimar zum Gesetz wurde: „Der deut-
sche Große Generalstab und alle anderen ähnlichen Formationen werden
aufgelöst und dürfen in keiner anderen Gestalt neu gebildet werden."27' Die
Legende vom Großen Generalstab, der verdeckt im neugegründeten Truppe-
namt des Reichswehrministeriums weiter operiert, greift indes zu kurz. Sugge-
riert sie doch eine Kontinuität preußisch-militärischer Wirksamkeit, deren
270
Ebenda. S. 8.
i71
Johann Eduard Erdmann zitiert nach Günther Nicotin (Hg.), Hegel in Berichten seiner
Zeitgenossen, Berlin 1971, S. 442.
272
Anonymus, „Zur Erinnerung an den Griesheim", S. 9.
73
Anonymus, Reichsgesetzblatt 1919, Teil I, Nr. 140 zitiert nach Model, Hansgeorg, Der
deutsche Generalstabsoffizier. Seine Auswahl und Ausbildung in Reichswehr, Wehrmacht
und Bundeswehr, Frankfurt/M., 1968, S. 21
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 97
Vgl. Huber, Ernst Rudolf. Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, Hamburg, 1937,
S. 267-268.
Schon an der Kommandogewalt, die während des Ersten Weltkriegs laut Verfassung bei
Wilhelm 11. als oberstem Kriegsherrn lag, von ihm aber nicht in Anspruch genommen wurde,
läßt sich studieren, wie Mittel und Wege, sich auf sie zu berufen, faktisch entscheidender
werden, als normativ über sie zu verfügen. Das Staatsoberhauptgesetz von 1934, das den O-
berbefehl über die Reichswehr dem Führer und Reichskanzler unterstellte, bewirkte keine
Restauration der Machtverhältnisse der Wilhelminischen Zeit. Denn sich überlappende An-
sprüche auf die Befehlsgewalt nahmen faktisch zu und nicht ab. Welche andere Armee hätte
sich auf ein Oberkommando der Wehrmacht und Oberkommando des Heeres mit sich über-
schneidenden Machtbereichen eingelassen?
Vgl. Otto, „Das ehemalige Reichsarchiv", S. 423. Nach Auflösung des Großen Oeneralstabes
am 30. September 1919 verfügte Reichspräsident Friedrich Ebert zum 1. Oktober die Grün-
dung eines Reichsarchivs, das dem Reichsministerium des Innern unmittelbar nachgeordnet
war.
Hermann Göring zitiert nach Stahl, Friedrich-Christian, „Die Organisation des Heeresar-
chivwesens in Deutschland 1936-1945", in: Schriften des Bundesarchivs, 25. Jhg., 1977,
S. 69-101, hier S. 72.
Bayerische
Staatsbibliothek
München
98 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
Vgl. Hartlaub, Felix, „In den eigenen Umriss gebannt". Kriegsaufzeichnungen, literarische
Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945, hg. v. Gabriele Lieselotte Ewenz.
Bd. 2, Kommentar, Frankfurt/M., 2002, S. 330.
Hartlaub. Felix, Brief an Melita Laenebach vom 15.1.1943, in: „In den eigenen Umriss
gebannt". Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis
1945. hg. v. Gabriele Lieselotte Ewenz, Bd. 1. Texte. Frankfurt/M. 2002, S. 567.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 99
terminen, aber hier, innerhalb des Sperrkreises gilt er nur im beschränkten Mas-
se.287
Selbst eine Explosion im Führerhauptquartier am 20. Juli 1944 reißt Hartlaub
nicht aus der Arbeitsroutine. Erst ein im nachhinein entworfenes und dann
verworfenes Gedicht läßt „die Erde eine einzige Sekunde lang in ihrer Dre-
hung" innehalten,288 während das Tagebuch einräumt „beim Hören des Knal-
les nichts dergleichen empfunden zu haben, das musste zugegeben werden."
289
Eine vereinzelte Explosion im Krieg kann alles mögliche bedeuten: ein
Reh, das in ein Minenfeld gelaufen ist, ein Diktator, dessen Blut sich über
Generalstabskarten ergießt.250 Der Sinn im Krieg läßt auf sich warten - wenn
er sich denn überhaupt einstellt.
6. Führerprinzip
287
Ebenda, S. 191-192.
288
Ebenda, S. 187.
^ Ebenda, S. 188.
m
Tatsächlich schützte der Kartentisch, an dem Stauffenberg seine mit Sprengstoff und Zeit-
zünder präparierte Tasche zurückließ, Hitler vor der Hauptwucht der Explosion. So war nicht
dessen Blut an den „zerfetzten blutigen Karten", die Hartlaub angeboten wurden - wobei der
Überbringer komentierte: „auf so etwas [...müsse] die Kriegsgeschichte doch größten Wert"
legen. Hartlaub, ebenda, S. 188.
1
Vgl. Kirchmann, Kay, Blicke aus dem Bunker. Paul Virilios Zeil- und Medientheorie aus der
Sicht einer Philosophie des Unbewußten, Stuttgart 1998, S. 16.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 101
einer Welt" eigen, „die untergeht, sobald sie wahrgenommen worden ist".2'2
Mit Virilios Theorie der Dromoskopie läßt sich erklären, wie die zunächst von
den Siegermächten auferlegte Beschränkung der Reichswehr auf ein Hundert-
tausendmannheer letztlich zu einem gewaltigen strategischen Potential führen
konnte. Über Jahre virtuell durchgespielte Aufrüstungs- und Angriffsmaß-
nahmen bieten dem Gegner weder politisch noch militärisch konkrete An-
griffspunkte und Möglichkeiten, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Dabei wird
gerade die Entwicklung der Befehlsgewalt forciert, die allein als Schlüssel zur
Schaffung von Tatsachen übrig bleibt. Einerseits ist dabei die Befehlsgewalt
vom Status des Virtuellen ausgenommen, andererseits läßt auch sie sich virtu-
alisieren, indem Befehlsstrukturen regeln, wie und wann die Befehlsgewalt
von einem Subjekt zum nächsten übergeht und so nicht nur für die Ausbrei-
tung eines Befehls, sondern auch der Befehlsgewalt selber sorgt. Virtualisierte
Befehlsgewalt ist deshalb anbefohlene Befehlsgewalt, die mit dem Komplex
fertig werden muß, gleichzeitig Befehlen zu gehorchen wie auch das Befehlen
zu beherrschen.
Derartige Befehlsstrukturen setzten einen bestimmten Führertypus voraus.
Auch daran ist in Walter Elzes „Kriegsgeschichtlicher Abteilung" an der
Friedrich-Wilhelms-Universität gearbeitet worden - und zwar noch vor der
Errichtung des nationalsozialistischen Führerstaats. Mit Friedrich von Co-
chenhausen, der sich im April 1932 für zwei Semester am historischen Semi-
nar der Berliner Universität einschrieb,2"' fand sich zu Übungen der Kriegsge-
schichtlichen Abteilung ein Teilnehmer ein, dem in Fragen der militärischen
Ausbildung nichts mehr beizubringen war. Vor dem ersten Weltkrieg war
Cochenhausen bereits Lehrer an Artillerie- und Ingenieur-Schulen gewesen,
während des Krieges zum Großen Generalstab abkommandiert worden, und
nach 1920 als Referent des Reichswehrministeriums in der Heeres-
Ausbildungs-Abteilung (T4) tätig. Mit Cochenhausen, der zum General der
Artillerie berufen, wie zum Dr. phil. promoviert wurde,2'4 schwinden klare
Lehrer-Schüler-Verhältnisse ebenso wie Grenzen zwischen militärischen
Ausbildungszielen und sogenannten akademischen Bildungsidealen. Bevor
Cochenhausen in Elzes historischer Abteilung eine kurze Abhandlung über
den österreichischen Generalstabschef Conrad von Hoetzendorf verfaßte,2"5
296
Groener, Wilhelm (Hg.), Führertum. 25 Lebensbilder von Feldherren aller Zeiten, Auf
Veranl. d. Reichswehrniin, Dr. Groener, bearb. v. Offizieren d. Reichsheeres und zusammen-
gestellt von Generalleutnant von Cochenhausen, Berlin 1930. Unter den beitragenden Reichs-
wehroffizieren ist auch Schmitts guter Bekannter Hrich Marcks. In seinem Führer-Lebensbild
heißt es: „Er hatte früh aufgehört, die Menschen zu lieben; er durchschaute sie, und die
Kleinheit und Niedrigkeit der Gesinnung, die er bei so vielen kennengelernt hatte, setzte er
bald bei allen voraus. Wer ihn kannte, liebte ihn nicht; aber alle unterlagen bald der bezwin-
genden Kraft, die von ihm ausging. Noch war seine Gestalt hager, sein Gesicht gelblich und
eckig, aber die Sicherheit seines Wesens imponierte, und aus seinen grauen Augen loderte die
Flamme des Genius. Mit vollendeter Kunst wußte er die Menschen zu behandeln: ihre Triebe,
Vaterlandsliebe und Ruhmsucht, Ehrgeiz und Geldgier, Liebe und Furcht waren ihm wie ein
Instrument, das er nach Belieben zu spielen verstand. In vollendetem Maße beherrschte er die
Gemüter seiner Soldaten. Ihre edlen und niederen Leidenschaften wußte er so völlig in seinen
Dienst zu stellen, daß bald an die Stelle der ,Bürgertugend' das Streben nach militärischem
Heldentum, an die Stelle des Ideals der Republik der Kult seiner Person trat." Die Rede ist
nicht etwa von einem Zeitgenossen, sondern von - Napoleon!
von Cochenhausen, Friedrich, Anleitung fiir die Anlage und Leitung von Planübungen und
Kriegsspielen, Berlin, 1934.
2 8
Foucault, Michel. Vom Lichte des Krieges zur Geburt der Geschichte, (Vorlesung vom 21.
und 28.1. 1976 am College de France), übers, v. Walter Seiner, Berlin, 1986, S. 52. Hervor-
hebung im Orginal.
2
Zitiert nach van Creveld, Kampfkraft, S. 178.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 103
Zweiten Weltkrieg griffen erst die Streitkräfte der Vereinigten Staaten die
Doktrin des Leistungs- und Führerprinzips auf, dann ihre Wirtschaftsführer.3m
Mit der geläufig gewordenen Gleichsetzung von Führertum und Führerkult
droht dagegen eine Sprachregelungsmaßnahme des Propagandaministers des
„Dritten Reiches", sich im nachhinein eine Geltung zu verschaffen, die sie so
uneingeschränkt nie bestanden hatte. Jeden, der nur danach fragt, belehrt eine
so einschlägige Quelle wie das von v. Cochenhausen 1936 herausgebene
Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften unter dem Stichwort „Füh-
rertum" eines besseren: „Zum Führer sind nicht nur die berufen, denen die
Natur reiche Gaben schenkte. Jeder kann vielmehr ein brauchbarer Führer
sein."301 Was hier beschworen wird, ist nicht eine charismatische Führerge-
stalt, der sich die Masse unterwerfen, sondern eine, die die Masse in ihren
eigenen Reihen herausbildet um noch unausgeschöpfte Potenziale der Selbst-
organisation zu erschliessen.
Um den Bedeutungs- und Funktionswandel, den die Bezeichnung „Führer"
durchläuft, zu erfassen, lohnt sich also der Blick in die militärischen Handbü-
cher von Moltke dem Älteren an bis in die 30er Jahre. Als Führer werden
Soldaten bezeichnet, die situationsbedingt ein Kommando übernehmen und es
mit Erledigung ihres Auftrags wieder abgeben. Ihre Autorität kommt ihnen
von außen zu. Sie sind die Begünstigten des Ausnahmezustands. Weder kön-
nen sie ihre Machtbefugnis allein von ihrer Person ableiten, noch auf Dauer
sicherstellen. Die Bezeichnung „Führer" hilft zudem während der militäri-
ln einer Publikation der American Management Association über ein Wirtschaftsspiel, das als
das erste überhaupt angesehen wird, heißt es: „In the war games conducted by the Armed
Forces, command officers of the Army, Navy, and Air Force have an opportunity to practice
decision making creatively in a myriad of hypothetical yet true-to-life competitive situations.
Moreover, they are forced to make decisions in areas outside their own speciality; a naval
Communications officer, for example, may play the role of a task force Commander. Why
then, shouldn't businessmen have the same opportunity? Why shouldn't a vice president, say,
in Charge of advertising have a chance to play the role of Company President for fun and for
practice? Why not a business ,war game', in which teams of executives would make basic
decisions of the kind that face every top management-and would see the results immediately?
From these questions grew AMA's Top Management Decision Simulation. After an explora-
tory visit to the Naval War College, a research group was formed and work began on a game
which would eventually become part of an AMA course in decision making. This in turn, it
was hoped, might lead to a sort of ,war College' for business executives." Franc M. Ricciardi
et al., Top Management Decision Simulation: The AMA Approach. hg. v. Elizabeth Marting,
New York, 1957, S. 59. IBM und Mackinsey&Company waren dann die ersten, die die Wirt-
schaftsspiele einerseits auf Rechnern und andererseits in Papierform implementierten. Vgl.
Cohen, Kaiman J. und Eric Rhenman, „The Role of Management Games in Education and
Research", in: Management Science, Bd. 7, Nr. 2, 1961, S. 131-166. Für einen allgemeinen
Oberblick siehe: Hausrath, Alfred H„ Venture Simulation in War, Business, and Politics,
New York, 1971.
von Cochenhausen, Friedrich, „Führertum", in: Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissen-
schaften. Herausgegeben im Auftrage der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehr-
wissenschaften und unter Mitarbeit umstehend aufgeführter Sachverständiger von Hermann
Franke: Wehrpolitik und Kriegsführung, Bd. 1, Berlin, Leipzig, 1936. S. 102-103, hier
S. 102.
104 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
sehen Ausbildung über den prekären Umstand hinweg, daß gerade in Kriegs-
spielen zur Einübung Positionen eingenommen werden, die auszufüllen Offi-
ziersanwärtern und Offizieren ihrem Rang nach nicht zusteht. Auf Kriegs-
spielfibeln findet sich deshalb mitunter der Satz: Das Kriegsspiel ist nur so
gut wie sein Führer. Bei Cochenhausen zeichnet sich folglich ab, wie ein nur
mäßig positiv besetzter Begriff eine neue funktionale Autladung erfährt und
zur kollektiven Verinnerlichung drängt. Beschränkte sich die Rolle des Füh-
rers zunächst auf eine bestimmte Situation und war dem Führer seine Ersetz-
barkeit immer bewußt, so entwickelt sich nun jenes eskalatorisches Momen-
tum, daß jeder Ausnahmezustand, und nur dieser, die Möglichkeit mit sich
bringt, diesen Zustand zu erhalten und damit die einmal errungene Befehls-
gewalt.
Später, während des Zweiten Weltkrieges, sind es die in Ausnahmesituati-
onen gezeigten Führungsqualitäten, die ungeachtet des Dienstsalters mit
Auszeichnungen und Beförderungen honoriert werden.303 Da Beförderungen
nicht nach einem vorgezeichneten Schema erfolgen, erhält jeder militärische
Rang seinen Wert vor allem durch die Möglichkeit, einen noch höheren zu
erreichen. Mit anderen Worten: Militärs werden durch Ausnahmezustände
zum Führen getrieben.
Da Führer in Ausnahmesituationen unmittelbar aus dem Kreis ihrer Gefolg-
schaft hervortreten müssen, dürfen ,,Unterschied[e] der Dienstgrade'"0' nicht
allzuschwer ins Gewicht fallen. Vielmehr muß sogar dafür gesorgt werden,
daß Offiziere unterschiedlicher Ränge für Führungsaufgaben- und Situationen
gleichermaßen gut gerüstet sind. Der gemeinsame Wirkungsbereich splittert
sich dabei auf in solche mit wechselseitigen, wenn auch nicht gleichwertigen
Abhängigkeiten: „Je größer der Wirkungskreis des Führers ist, um so weniger
vermag er alles zu überblicken. Er braucht Unterführer, denen er Aufträge
gibt. Arbeitsteilung ist wesentlich."304 Die Ausbildung von Führergehilfen
verlangt deshalb danach, die „Entschlüsse der Führer und Unterführer [...]
nach der Lage oder dem Eindruck, unter denen diese handelten [zu beurtei-
len]. Es ist wichtig festzustellen, ob die vom Auftrage abweichenden Ent-
schlüsse im Sinne des höheren Führers lagen".3"5 Führergehilfen haben sich
während ihrer Ausbildung in diese rekursive Funktion aus Unterführer, Füh-
rer, höherer Führer hineinzudenken, an deren Ende jener Führer und Reichs-
kanzler stand, der immer weniger Wert darauf legte, seinen zweiten, verfas-
sungsrechtlich eingeräumten Titel überhaupt noch zu führen.
Laut Martin van Creveld unterschied sich das deutsche Heer in dieser Hinsicht wesentlich
von den Streitkräften der USA. Vgl. Creveld, Kampfkraft, S. 128-144.
Cochenhausen, Führertum, S 102.
Ebenda, S. 103.
von Taysen, Adalbert, „Führerausbildung", in: Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissen-
schaften: Wehrpolitik und Kriegsflihrung, Bd. 1 Herausgegeben im Auftrage der Deutschen
Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften und unter Mitarbeit umstehend aufge-
führter Sachverständiger von Hermann Franke, Berlin, Leipzig 1936, S. 97-102, hier S. 99.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 105
Josef Goebbels mag unter Rückgriff auf die Lehren der führenden „Mar-
kentechniker" seiner Zeit30* die Bezeichnung „Führer" als Monopol für die
Person Hitlers geschaffen haben307 - allerdings keineswegs aus einem „mehr
oder minder naturwüchsigen Beiwort".308 Die sprachpolitische Dimension, die
sich hier auftat, ist gewaltiger. Per Propagandaministerium zu verfügen, daß
Wendungen wie „Führer des Betriebs" unterbleiben sollen, und allenfalls
Wörter wie „Betriebsführer" toleriert werden, ist eine Seite. Daß Goebbels'
Sprachregelung jedoch an Grenzen stieß, die andere. Hitler wußte darum:
Wenn heute begriffliche Überschneidungen aufträten, es z.B. unter Fotografien
heiße: „neben dem Führer der Oberführer soundso, sein Adjutant" [...] so spiele
das keine Rolle, so lange er lebe. Wenn er aber einmal nicht mehr sei, müsse
man das ändern und den Ausdruck „Führer" zu einem einmaligen Begriff erhe-
ben. Schließlich falle es ja keinem Menschen ein, den Straßenbahn-Führer als
Straßenbahn-Kaiser zu bezeichnen.309
Daß der „Führer" neben dem „Oberführer" rein nominal betrachtet kein gutes
Bild für die Nachwelt abgibt, haben die Nationalsozialisten mit ihrer Sprach-
regelung selbst verursacht. Denn bevor Goebbels „den Ausdruck ,Führer' zu
einem einmaligen Begriff'310 erhob - die ursprüngliche Idee ging indes auf
Reichsarbeitsführer Hierl zurück3" - verwendeten die bewaffneten Formatio-
nen der nationalsozialistischen Partei die Bezeichnung „Führer" durchgängig
in der Bezeichnung ihrer Dienstgrade.312 Die Reichswehr hatte im Unterschied
dazu, bis auf wenige Ausnahmen, nur im internen Sprachgebrauch von Füh-
rern gesprochen, wenn auch, wie schon erwähnt, ausgiebig.313 Auch nach der
Wandlung der Reichswehr zur Wehrmacht war informell weiter von „Füh-
rern" die Rede, während offiziell die Nomenklatur des preußischen General-
stabs wieder zum Zuge kam.314 Es steht zu vermuten, daß mit den nationalso-
zialistischen Formationen nicht bloß eine interne Bezeichnung der Reichs-
wehr aufgegriffen und nun zum offiziellen Namensbestandteil ihrer Dienst-
grade erhoben wurde, sondern mit ihr vor allem das Prinzip des rasanten
Wachstums. Schließlich hatte die Reichswehr gerade erst vorgemacht, wie
306
Voigt, Gerhard, „Goebbels als Markentechniker", in: Warenästhetik. Beiträge zur Diskussi-
on, Weiterentwicklung und Vermittlung ihrer Kritik, hg. v. Wolfgang Fritz Haug, Frank-
furt/M., 1975, S. 231-260.
307
Vgl. ebenda, S. 250-251.
308
Ebenda.
309
Ebenda, S. 249.
310
Vgl., ebenda, S. 249.
311
Vgl. ebenda, S: 259.
312
Die Dienstgrade der Schutzstaffel erstreckten sich bekanntlich vom „Reichsführer" Himmler,
über den „Obergruppenführer", „Oberführer", „Obersturmbannführer", „Standartenführer"
und so fort bis herab zum „Rottenführer".
Einzige Ausnahme im Sprachgebrauch der Reichswehr: Der „Führergehilfe" beim General-
stab, der sich in der Ausbildung zum Generalstabsofftzier (ia) befand.
So war zum Beispiel war vom Generalstab in allen möglichen Verbindungen wieder die Rede
oder vom Generalquartiermeister.
106 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
Unterführer an die Aufgaben von Führern, und Führer an die von Oberführern
usw. heranzuführen sind, um ein Heer schlagartig zu vervielfachen. Daß
Goebbels durchgesetzt habe, das Wort „Führer" als Titel für eine einzige
Person zu reservieren, ist eine Legende, deren Dauerhaftigkeit wohl Goebbels
eigentliche Propagandaleistung darstellt.
Das Dilemma, das die Bezeichnung „Führer" birgt, kommt in der Meldung
zum Ausdruck, die der Verschwörerkreis um Claus von Stauffenberg nach
einem geglückten Anschlag auf Hitler an die Wehrkreiskommandeure hätten
funken sollen: „Der Führer Adolf Hitler ist tot."' 5 Dieser Verlautbarung sollte
eine Meldung folgen, die den Eindruck erweckte, Hitler sei einem Macht-
kampf innerhalb seiner eigenen Partei zum Opfer gefallen. Darauf war der
allen Wehrkreiskommandos zugegangene Plan gegen innere Unruhen per
Losungswort „Walküre" umzusetzen. Auch wenn - abgesehen von Hitler
selbst - einzig Generaloberst Friedrich Fromm berechtigt war, die Losung
auszugeben, so konnte Stauffenberg als sein Vertreter zumindest per Fern-
schreiben von dem Losungswort gebrauch machen. Militärische und wirt-
schaftliche Anlagen, Nachrichtenzentren, Transportanlagen usw. wären dann
im Sinne des Plans durch ein Ersatzheer zu sichern gewesen.316 Die Verschwö-
rer haben sich, mit anderen Worten, auf
den absoluten Gehorsam ihrer Untergebenen und Kameraden verlassen und ver-
sucht, nicht gegen den Militärapparat, sondern durch ihn ihre hochverräterischen
Ziele zu verfolgen.3'7
Mit der Verkündung des Todes des Führers hätten ausgerechnet die Ver-
schwörer ein letztes Mal im Namen einer unteilbaren Befehlsgewalt sprechen
wollen, um das ältere Führerprinzip wieder einzusetzen.1'8 Denn gerade dieses
sah beim Tod eines Führers die Situation gegeben, die notgedrungen und
spontan einen neuen Führer einzusetzen erforderte.
Allein im Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften von 1936 wer-
den die gegenstrebigen Fügungen offensichtlich, die in der Bezeichnung
„Führer" zusammentreffen: Im von Carl Schmitt verfaßten Beitrag läuft die
Entwicklung - politisch aufgefaßt - auf den „nationalsozialistischen Führer-
515
Finker, Der 20. Juli 1944, S. 239.
3,6
Ebenda, S. 239.
317
Page, Helena P., General Friedrich Ulbricht. Ein Mann des 20. Juli, Bonn, Berlin, 1989, S.
190-191. Hervorhebung im Original.
18
Im Fall von Stauffenberg ist es nicht einmal eine ältere Führungstechnik, die die neuere
aufzuheben hat, sondern der geheimbündlerische Schwur auf Georges „Geheimes Deutsch-
land", der den Bruch des Treueids auf den „Führer und Reichskanzler" legitimiert und for-
dert. Daß schon George „die Rolle der Poesie [im Politischen] überschätzt" haben könnte, so
der Dichter Thomas Kling (mit Ernst Osterkamp), kam Stauffenberg nicht in den Sinn. Vgl.
Kling, Thomas, Auswertung der Flugdaten, Köln, 2005, S. 65.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 107
7. Befehlsketten
Bis zu Seeckts Übernahme der Heeresleitung kurz nach dem Ersten Weltkrieg
hat immer das ungeschriebene Gesetz gegolten, daß allein kriegserfahrene
Offiziere das Feuer der Wehrhaftigkeit und die Angriffslust weitertrugen.
Friedenszeiten, die länger währten als 25 Jahre, versetzten den Generalstab in
Alarmbereitschaft, weil nun die dienstältesten Offiziere, die im jeweils letzten
Krieg noch mitgekämpft hatten, aus dem aktiven Dienst ausschieden. Seeckt
jedoch, dem der Versailler Vertrag beim Aufbau der Reichswehr nicht mehr
als 4000 Offiziere einzusetzen zugestand, entließ gegen erhebliche Wider-
stände vor allem kampferprobte und -bewährte Kommandanten und zog über-
proportional viele Offiziere aus den Planungsstäben des Generalstabs zusam-
men. Eine Autorität, die sich auf Kriegserfahrung und damit auf einen Aus-
nahmezustand berief, konnte von Untergebenen, die über solche Erfahrungen
nicht verfügten, nicht untergraben werden. Anders verhielt es sich in einer
Armee, die konsequent auf Ausbildung und Planübungen setzte. Mit der
geglückten Übermittlung taktischen und strategischen Wissens gleicht sich
auch das Niveau autoritärer Macht zwischen Ausbilder und Auszubildendem
an und geht schließlich, da Wissens- und Planungsvorsprünge ihr alleiniges
Maß sind, leicht verloren. Und nicht nur das Wissen geht auf den Untergebe-
nen über, sondern auch das Wissen um die Technik seiner Übermittlung und
Gewinnung.
Ein Heer von Ausbildern bildete nicht nur Offiziere, sondern auch Offi-
ziersausbilder aus. Wer aufrückte, nahm deshalb nicht bloß die Position seines
Vorgesetzten ein, sondern offiziell auch eine Funktion, die er zuvor virtuell
schon durchzuspielen hatte. Insbesondere im Kriegsspiel fand Seeckt für sein
Führerheer ein Medium zur kriegerischen Entfaltung, das Autoritäten nicht
desavouierte:
Die Fuehrergehilfen mussten in staendigem Wechsel als Leitende und Fuehrer
taetig sein. In jedem Ausbildungsjahr auf der Kriegsakademie hatte jeder kom-
mandierte Offizier mindestens ein Kriegsspiel und eine Gelaendebesprechung
anzulegen und zu leiten.321
Während jeder einzelne angehende Generalstabsoffizier die Rolle seines
Vorgesetzten, sowohl als Spielleiter als auch in seiner realen Befehlsfunktion
zu übernehmen hatte, wurden die Truppenverbände insgesamt nach gleichem
Prinzip geschult:
Fuer die Einteilung der Teilnehmer mag als Norm dienen: Jeder Fuehrer fuehrt
im Spiel den gleichen Verband, den er tatsaechlich fuehrt oder den naechsthoeh-
reren, also z.B.:
1
Fangohr. „Beitrag zur Studie ueber Zweck und Art der Durchfuehrung von Kriegsspielen".
Bl. 83.
List, „Beitrag zu einer Abhandlung ueber den Zweck und die Art der Durchfuehrung von
Kriegsspielen im deutschen Heer", Bl. 157.
3
Ebenda, Bl. 154.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 109
Der Militärhistoriker Martin van Creveld ist der Frage nachgegangen, warum
die Wehrmachtskräfte im Vergleich mit amerikanischen und anderen Armeen
bei Aufbietung einer gleich groß zugrundegelegten Menge an Mann und
Waffen in der Regel „um 20 bis 30 Prozent effektiver waren als die britischen
und amerikanischen Kräfte, die ihnen gegenüberstanden" und zwar unabhän-
gig davon, ob die Schlachten insgesamt mit einer Über- oder Unterzahl an
Truppen geführt wurden.324 Ein Teil seiner Antwort lautete, daß die Auftrags-
taktik der Wehrmacht, die Art und Weise der Ausführung einer Mission den
jeweils rangniedrigeren Führern überließ und sie mit aller dazu notwendigen
Befehlsgewalt ausstattete. Unvorhergesehene Situationen oder gar der Ausfall
eines Truppenführers ließen sich in einem Verband, der durch „einheitliches
Denken"325 geprägt war, besser bewältigen, so van Crevelds Schluß, als von
einer Armee wie der amerikanischen, deren Kommandotechnik zwar auf sehr
präzise Befehlsgebungen und kaum zu überwindende Hierarchien setzte, die
sich aber nur schwer an veränderte Bedingungen anpassen ließ. Bei der
Reichswehr war durchaus auch die Botschaft der psychoanalytischen Bewe-
gung angekommen war:
Der Verlust des Führers [.,.] bringt die Panik bei gleichbleibender Gefahr zum
Ausbruch; mit der Bindungen an den Führer schwinden - in der Regel - auch die
gegenseitingen Bindungen der Massenindividuen.326
Doch während Anhänger der Psychoanalyse noch in der Behandlung von
Kriegstrauma nach dem Ersten Weltkrieg ein immenses Behandlungsfeld
ausmachten, waren Militärausbilder unterstützt von der Psychiatrie ihrer Zeit
längst dazu übergegangen einen Führertypus auszubilden, der schon im
Kriegsspiel und das heißt prophylaktisch auf traumatische Szenarien einge-
richtet wurde.327
In anderen Armeen war diese Sichtweise nur teilweise aufgekommen: Van
Creveld erwähnt den Fall eines amerikanischen Offiziers und Sozialwissen-
schaftlers, der in der deutschen Vorschrift zur Truppenführung darauf stieß,
„daß Führer aller Ebenen [...] gezwungen werden, ihre eigene Lage wie auch
die ihrer nächsten höheren Führungsebene zu analysieren" und dazu anmerk-
te, „höhere Führungsebene" stehe wohl aufgrund eines Schreibfehlers für
„niedrigere Führungsebene".328
In Kriegen, die um Grenzen und über sie hinweg geführt werden, entsprin-
gen Kampftechniken wohl am wenigsten einem strategischen Scharfsinn, der
Sache einer und nur einer Nation ist. Der amerikanische Offizier und Sozial-
324
Creveld, Kampfkraft, S. 7-8.
325
Ebenda, S. 43.
Freud, Sigmund, „Massenpsychologie und Ich-Analyse", in: derselbe, Gesammelte Werke,
hg. v. Anna Freud u.a.. Bd 13. Frankfurt/M. [1921] 1940, S. 71-161, hier S. 106.
Im Detail beschreibt diese diskursive Neuausrichtung der Psychiatrie Wolfgang Schaffner,
„Psychiater machen mobil durch Arbeit und Kriegsspiel. Zur Allianz von Militär und Psychi-
atrie" in: Messungen. Zeitschrift für Interpretationswissenschaften, Bd. 1, 1991, S.25-33.
328
Ebenda, S. 44-50.
110 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
29
Anonymus, „Felddienstordnung von 1908", Nr. 37, zitiert nach Creveld, Kampfkraft. S. 43
;30 Ebenda, S. 43
" Arbib, Michael A., „Warren McCulloch's Search for the Logic of the Nervous System", in:
Perspectives in Biology and Mediane, Bd. 43, Nr. 2, 2000, S. 193-216, hier S. 195. Ebenso:
Arbib, Michael A., „Toward an Automata Theory of Brains", in: Communications of the
ACM, Bd. 15, Nr. 7, 1972, S. 521-527, hier, S. 525. Vgl. auch Stafford Beer, der McCulloch
nachsagt, die Kommandotechnik bis zu Nelson zurückverfolgt zu haben: Beer, Stafford,
„World in Torment. A Time Whose Idea Must Come", in: Kybernetes, Bd. 22, Nr. 1, 1993,
S. 15-43, hier S. 33. Den in diesem Zusammenhang wertvollen Hinweis auf das Konzept des
"redundancy of potential command" verdanke ich Michael S. Mahoney. Die überraschende
Erkenntnis, daß die deutschen Landstreitkräfte im Unterschied zu den amerikanischen diese
Befehlstechnik aufgriffen, verdanke ich Friedrich Kittler.
IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT 111
Ebenda, S. 203.
Ebenda, S. 212.
List, „Beitrag zu einer Abhandlung ueber den Zweck und die Art der Durchfuehrung von
Kriegsspielen im deutschen Heer", Bl. 166-167.
Im Nachhinein erscheint die fiktive Annahme der erbeuteten „black boxes" auf einen spezifi-
schen Wahrheitskern hinzudeuten, den zu benennen sich aus Gründen höchster Geheimhal-
tung verbot. Unter allen erbeuteten feindlichen Kriegsgeräten kam der deutschen Chiffrier-
und Dechiffriermaschine „ENIGMA" die größte Bedeutung zu. Mit der Entschlüsselung
deutscher Funksprüche entschied sich maßgeblich der U-Boot Krieg im Atlantik. Auch wenn
es den Briten immer wieder gelang „EN1GMAS" oder Teile derselben zu erbeuten, bevor die
deutschen Besatzungen für ihre Zerstörung sorgen konnten, so liefen letztlich die Bemühun-
gen darauf hinaus, die jeweilig letzte technische Konfiguration der „ENIGMA" allein von der
Beschaffenheit der verschlüsselten Funksprüche abzuleiten. Wieners und von Neumanns fik-
tives Szenario fällt deshalb mit den tatsächlichen Anstrengungen in Bletchley Park in Groß-
britannien zusammen, wo vor allem die Mathematiker Alan Turing und Gordon Welchman
mit Hilfe sogenanter „bombs" - elektronischer SpezialComputer - die Entschlüsselung deut-
scher Marinefunksprüche vorantrieben. Die Unternehmungen der britischen Kryptologen wa-
ren zu diesem Zeitpunkt jedoch außerhalb Englands kaum bekannt. Ob von Neumann, der
sich 1943 dort aufhielt, in irgendeiner Weise eingeweiht wurde, ist fraglich. Ganz gleich nun,
ob die Erfindung der fiktiven „black box" eine hochspezialisierte Kommunikationstechnik
antizipierte oder deckte: Sie wird mit dem Aufkommen der Systemtheorie generell das Mo-
dell abgeben, an dem sich jede Form der Kommunikation messen lassen muß. Vgl. bei-
spielsweise Watzlawick, Paul, Janet H. Beavin und Don D. Jackson, Menschliche Kommuni-
kation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern, Stuttgart, Wien 1982, S. 45.
112 IV. HISTORIOGRAPHIE IN ECHTZEIT
wie die erste über „Input" und „Outpuf'-Schnittstellen verfügt, fuhrt zur
erkenntnisleitenden Frage:
This is the enemy's machine. You have tofindout what it does and how it does
it. What shall we do?"6
Norbert Wiener schlug vor, die Input-Schnittstelle mit weißen Rauschen zu
speisen: „you might call this a Rorschach". Von Neumann hielt mit „feature-
filters" dagegen.3" Letztlich einigte man sich darauf, sich in interdisziplinärer
Zusammensetzung häufiger zu treffen. Der Grund für die berühmt-
berüchtigten Macy-Konferenzen und mit ihr für die Kybernetik als neue
Leitwissenschaft war gelegt. Zwar mag heute „Cybernetics" Geschichte sein,
die Vorstellung daß Neuronen in unseren Köpfen feuern, ist dagegen nicht
bloß in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen, sondern sogar in den
Sprachgebrauch.
Um dieser Frage nachzugehen, lohnt es auch hier, sich auf die Kybernetik
zu konzentrieren, deren Anfänge zurecht in der Forschung während des Zwei-
ten Weltkriegs ausgemacht werden: Die Ontologie des Lebens, die die Kyber-
netik entwirft, geht historisch gesehen zurück auf eine Ontologie des Fein-
des.340 Allerdings löst das von Norbert Wiener, dem Mitinitiator und Namens-
stifter der Kybernetik begründete Konzept der positiven und negativen Rück-
kopplung ein dichotomisch verstandenes Freund-Feind-Schema auf: Denn
nach Wiener stand im Zweiten Weltkrieg, kurz vor Gründung des Clubs der
„Teleological Society","" nichts dringlicher auf dem Programm als die Kon-
struktion eines Anti- Aircraft Predictors, der die flugphysikalischen Spielräu-
me (früher hätte man dazu Natur gesagt), die individuellen aviatischen Mög-
lichkeiten feindlicher Flugezeugpiloten und die eigene Flugabwehr zu einem
einzigen Feedback-System fusionieren sollte. Nach Wieners mathematischem
Modell, dessen Implementierung an seiner eigenen Komplexität und der
damaligen technischen Machbarkeit scheiterte, schlagen sich die drei Instan-
zen einzig als Zeitreihe vergangener Meßwerte nieder, die auf einen zukünfti-
gen Systemzustand schließen lassen. Ob dieser vorausgesagte Zustand als
Abschußposition eines Flugzeugs oder als Gefahrenzone gelesen wird, hängt
allein vom Standpunkt in Bezug auf eine Demarkationslinie ab, die nunmehr
zwischen Erde und Himmel verläuft.
Ein funktionstüchtiger Anti-Aircraft Predictor, geriete er in Feindes Hand,
könnte nicht nur als solcher eingesetzt werden, sondern auch als Anti Gun-
Fire Predictor. Durch die Feststellung dieser schlichten Asymmetrie kommt
zum Vorschein, daß Wieners System auf sich selbst angewendet werden kann,
und daß dessen Ausdifferenzierung innerhalb seiner eigenen Rahmenstellung
den widerstreitenden Parteien als Programm aufgegeben ist. Allgemeiner
gesagt, Mathematiker brachten ihr Wissen auf eine Weise in den Zweiten
Krieg ein, die nicht einfach zu neuen Waffen von größerem Destruktionspo-
tential führte; es sind keine Waffen als solche, die sie schmieden, sondern
Systeme und Plattformen, innerhalb deren Bereichen Schlachten ausgetragen
werden und die nicht wie Waffen direkt aufeinander gerichtet sind. Während
Physiker und Chemiker buchstäblich an den Materialschlachten beteiligt sind,
kommt den Mathematikern eine andere, vorgelagerte Aufgabe zu. Sie entber-
gen ganz grundsätzlich neue Schlachtfelder, indem sie Räume beherrschbar
machen, die sonst jeder Sichtbarkeit entzogen sind und an sich schon das
Leben tendenziell auf letale Weise ausschließen: Räume atomarer Strahlung,
verdunkelte und abgeschottete Räume, solche, die von Wassermassen, unwirt-
lichen Landmassen oder Lufträumen umgeben sind, und schließlich Räume,
die ob ihrer schieren Größe keine Orientierung bieten. Diese Räume werden
durch Medien erst passier-, navigier- und kommunizierbar gemacht - Medien,
' Vgl. Galison, Peter, „The Ontology of the Enemy: Norbert Wiener and the Cybernetic
Vision", in: Critical Inquiry, Bd. 21, 1994, S. 228-266.
341
Vgl. Ebenda, 242.
V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 1 15
Zitiert nach Lorey, Wilhelm, Das Studium der Mathematik an den deutschen Universitäten
seit Anfang des 19. Jahrhunderts (^Abhandlungen über den mathematischen Unterricht in
Deutschland, Bd. 3), Leipzig, Berlin 1916, S. 31.
Vgl. Lacan, Jacques, „Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewißheit. Ein
neues Sophisma", in: derselbe, Schriften HI, hg. v. Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger,
übers, a. d. Franz. v. Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin, [1945] 1986, S. 101-121,
hierS. 119.
116 V. HÖHERE MATHEMATIK UNO NOMOS DER ERDE
fessor zählt nach drei Tagen die verbliebenen zwei Hörer ab und hebt mit dem
einzigen, zum Nachvollzug bestimmten Rechenakt die Vorlesung auf. So
endete eine der wenigen, wenn nicht die einzige mathematische Lehrveran-
staltung in deutschen Landen noch bevor sie richtig begann.
Rückblickend benötigt die Wissenschaftsgeschichte gerade einmal zwei
Sätze, um den Beginn der Institutionalisierung der Mathematik in Preußen,
das für alle deutschen Staaten den Ton angeben wird, zu bestimmen:
Die Blüte der Mathematik begann mit der durch A. v. Humboldt gegen den Wil-
len der [Berliner] Fakultät durchgesetzten Berufung von Dirichlet, der 1828 zu-
nächst an die Kriegsschule kam. [...] Dirichlet schuf die noch heute übliche Art
mathematischer Vorlesungen.344
Weniger als eine Generation nach Gustav Lejeune Dirichlet gehört die Berli-
ner Universität nicht bloß zu einer der wenigen möglichen, sondern zur ersten
Adresse für mathematische Lehre. Dafür sorgt vor allem das Triumvirat Edu-
ard Kummer, Karl Weierstraß und Leopold Kronecker. Kummer und Kron-
ecker sind Schüler Dirichlets. Dieser selbst hatte seine Geburtsstadt, das zur
preußischen Rheinprovinz gehörige Aachen noch verlassen müssen, um Ma-
thematik studieren zu können. Höhere Mathematik wurde ihm nur in Paris
gelehrt. Daß jedoch Dirichlets beispiellose Karriere als Mathematiklehrer auf
der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin begann, ist mit einer biographischen
Randbemerkung nicht zu erledigen. Denn vor allem in Dirichlets Briefwech-
seln zeichnet sich schon jene Verbindung zwischen Generalstabsausbildung
und mathematischem Seminar ab, die als tiefliegendes Sediment dem militär-
technologischen Komplex des 20. Jahrhunderts zur Basis wurde. Schließlich
fand die Mathematik in Deutschland zur Form ihrer Wissensvermittlung erst
mit Dirichlets Wirken auf der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin und erober-
te erst von dort aus die Universität.
Ebenso ist nicht als Zufall zu werten, daß Generalstabschef Karl von
Müffling sich beim preußischen König Gehör verschaffte, um auf die mißli-
che Lage bei der Vermittlung der Mathematik hinzuweisen:
Ich habe dem König gesagt, dass der Staats-Unterricht in der Mathematik bei
andern Nationen da anfangt, wo er bei uns schliesst, dass sich zwar immer Ma-
thematiker bei uns finden werden, dass aber dadurch, dass sie sich durch Selbst-
studium bilden müssen, die Leute in der Regel so schroff und einseitig werden,
dass der Staat dann am Ende keinen Nutzen von ihnen hat.'45
Daß Mathematiker wie eine seltene Spezies anzusehen sind, deren Seltenheit
sie häufig seltsam und für den Staat untauglich werden ließ, gedachte
Scharlau, Winfried und Eberhard Knobloch, „Berlin. Universität", in: Mathematische Institu-
te in Deutschland 1800 - 1945 (=Dokumente zur Geschichte der Mathematik. Bd. 5), Braun-
schweig, Wiesbaden, 1989, S. 25-48, hier S. 32.
Brief Nr. 11. Karl v. MüfTling an Bernhard v. Lindenau am 1. April 1823, in: Briefe zwischen
A. v. Humboldt und Gauß. Zum hundertjährigen Geburtstage von Gauß am 30. April 1877,
hg. v. Karl Bruhns, Leipzig, 1877, S. 11.
V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 117
Ebenda. S. 10.
Brief Nr. 38, Alexander v. Humboldt an Carl Friedrich Gauß am 12. Juli 1849, ebenda, S. 55.
Brief Nr. 7, Karl von Müffling an Carl Friedrich Gauß am 14. April 1821, ebenda, S. 8.
Brief Nr. 15. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 16. Sept. 1828, in: Briefwechsel
zwischen Alexander von Humboldt und Peter Gustav Lejeune Dirichlet. übers, aus dem
Franz. und hg. v. Kurt-Reinhard Biermann, Berlin, 1982, S. 49.
Brief Nr. 21, Alexander v. Humboldt an Carl Friedrich Gauß am 8. Sept. 1828, in: Briefe, hg.
v. Bruns, S. 22.
118 V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE
1
Brief Nr. 14, Karl von Müffling an Bernhard v. Lindenau am 28. Nov. 1824, ebenda, S. 13.
2
Biermann, Kurt-Reinhard, „Zum Verhältnis zwischen Alexander von Humboldt und Carl
Friedrich Gauß", in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Ma-
them.-Naturw. Reihe, Jg. VIII, Nr. 1, 1958/1959, S. 121-130, hier S. 125.
3
Brief Nr. 10. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 9 April 1828, in: Briefwechsel,
hg.v. Biermann, S. 38.
4
Vgl. Löbel, Uwe, „Neue Forschungsmöglichkeiten zur preußisch-deutschen Heeresgeschich-
te. Zur Rückgabe von Akten des Potsdamer Heeresarchivs durch die Sowjetunion" in: Mili-
tärgeschichtliche Mitteilungen, Bd. 51, Hft. 1, 1992, S. 143-149, hier S. 144 u. 146 und Lü-
decke, Carl Ritters Lehrtätigkeit an der Allgemeinen Kriegsschule, S. 7-8.
5
Vgl. Lampe, Emil, „Dirichlet als Lehrer der Allgemeinen Kriegsschule", in: Naturwissen-
schaftliche Rundschau 38. Jg. XXI, 1906, S. 482-485, hier S. 483.
V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 119
Brief Nr. 17. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 22. Sept. 1828. in: Briefwech-
sel, hg. v. Biermann, S. 50.
Vgl. ebenda, S. 4 1 .
Pieper, Herbert, Netzwerk des Wissens und Diplomatie des Wohltuns. Alexander von Hum-
boldt, Carl Friedrich Gauß und Gustav Dirichlet, Jacob Jacobi, Eduard Kummer, Gotthold
Eisenstein (=Berliner Manuskripte zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 20), Berlin,
2003, S. 28.
Dazu ausführlich Siegert, Passage des Digitalen, S. 240-252.
120 V. HÖHERB MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE
gepriesen, nun die „Anwendung der Analysis auf die Zahlentheorie"360 vorge-
führt zu haben. Doch während Descartes' analytische Geometrie gerade me-
thodisch das Reale zu erfassen suchte, begann sich zur Zeit von Dirichlet und
mit ihm als treibender Kraft, die systemische Schließung und Binnenausdiffe-
renzierung der Mathematik zu vollziehen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich umso mehr die Frage, welche mathema-
tischen Kenntnisse Dirichlet bei seinem Antritt an der Allgemeinen Kriegs-
schule überhaupt weitergeben sollte. Ein Schreiben Humboldts an Dirichlet
umreißt das Problem:
Herr von Radowitz weiß wie ich, daß Sie sich bisher nur sehr wenig mit dem
Teil der angewandten Mathematik befaßt haben, der mit der Geodäsie und der
Artillerie in Verbindung steht. Aber die moderne Physik, die Ballistik selbst, lau-
fen auf Analysis hinaus, und mit Ihrem Scharfsinn werden Sie in Kürze mehr
davon verstehen, als Puissant und Poission, der unlängst gezwungen war, die
Form von Rädern und Lastwagen zu diskutieren. Sie werden vor allem erkennen,
was wesentlich an diesem Problem der Geschosse ist, und welches die positiven
Daten sind, die der Versuch liefern muß. Man verlangt nicht, daß Sie selbst diese
Versuche anstellen oder leiten, man will nur, daß Sie sie da angeben, wo Sie sie
als für den analytischen Kalkül erforderlich erachten. Nun kann Ihnen Herr von
Radowitz nicht nützlich sein und nicht hoffen, Sie durch den Kriegsminister aus-
wählen zu lassen, insofern er nicht eine kleine Arbeit von Ihnen auf dem Gebiet
der auf Ballistik angewandten Analysis vorweisen kann. Ohne diese Arbeit wer-
den der Minister und der Prinz August von Preußen, der Generalinspekteur der
Artillerie, Ihrer Ernennung entgegenhalten, daß Sie zwar ein bedeutender Ma-
thematiker sind, daß aber nichts Ihren Wunsch beweist, in ihr Tätigkeitsgebiet
herabzusteigen. Man plagt sich hier mit bestimmten analytischen Berechnungen
der Rotation von Hohlkugeln, ihrer vom Luftwiderstand verursachten Abwei-
chung [...]. Herr von Radowitz sagt, daß er selbst erfolglos daran gearbeitet hat,
weil er glaubt, nicht den wahren analytischen Weg gefunden zu haben; er möch-
te daher, um dem Ministerium eine kleine Probe Ihrer Arbeit in Anwendungen
der Analysis auf die Bewegung von Geschossen zeigen zu können, Ihnen (durch
meine Vermittlung) gewisse Fragen unterbreiten, über die Sie ihm Ihre Ideen
darlegen würden, ob vielleicht infolge des Fehlens von Versuchen oder vielmehr
von numerischen, durch diese Versuche gelieferten Daten eine endgültige Lö-
sung unmöglich sei.361
Kummer, Ernst Eduard, „Gedächtnisrede auf Gustav Peter Lejeune-Dirichlet", in: Nachrufe
auf Berliner Mathematiker des 19. Jahrhunderts: C.G.J. Jacobi, P.G.L. Dirichlet, E.E.
Kummer, L. Kronecker, K. Weierslrass, hg. v. Hans Reichardt (=Teubner-Archiv zur Mathe-
matik. Bd. 10), Leipzig, [1861] 1988, S. 36-71, hier 5. 52.
61
Brief Nr. 12. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 27. Mai 1828, in: Briefwechsel,
hg.v. Biermann, S. 43-44.
V. HÖHERE MATHEMATIK UNDNOMOS DER ERDE 121
Stab und dem General Müffling, der der Sache vollständig gewachsen zu sein
glaubt.362
Und Humboldt fordert Dirichlet noch ein drittes Mal auf, eine analytische
Behandlung der Ballistik von Hohlkugeln, also den Vorläufern von Granaten,
abzuliefern, da er mittlerweile davon ausgeht, daß sie schon geschrieben sei.
Doch von einer solchen Arbeit ist nichts weiter überliefert. Dirichlets Nach-
folger, Eduard Kummer, wird fast ein halbes Jahrhundert später - kurz nach
dem Deutsch-Französischen Krieg - sich des Problems annehmen. Er kommt
jedoch sehr schnell zu dem Schluß, daß ihr „auf rein mathematischem Wege
noch nicht beizukommen" und „zum Experimente [zu] greifen" sei, was er
dann auch tat.363 Bei Dirichlet sucht man vergeblich nach Arbeiten, die von
physikalischen Experimenten ausgehen und nicht immer schon von mathema-
tischen Konstrukten.
Dennoch bekommt Dirichlet auf der Kriegsschule eine Anstellung. Mit Hil-
fe ein und desselben Verfahrens war man dort nach der Katastrophe von Jena
und Auerstedt im Oktober 1806 bestrebt, mathematische als auch militärische
Operationen zu vermitteln. Und dieses Verfahren nannte sich applikatorische
Methode. Schon das Napoleonische Ausbildungssystem zielte auf ein
„heureux melange des etudes theoretiques avec les applications pratiques".364
Auf Vorlesungsstunden folgte ein ausführlicher Kursus, der Schülern „ma-
thematisches Zeichnen" beibrachte und sie schließlich in die Lage versetzte,
selbständig die „Aufnahme von Terrain, Gebäuden und Maschinen" anzufer-
tigen.365 Nach der Ecole polytechnique folgte die Spezialisierung auf einer der
Ecoles d'appplication, den Bau- und Kriegsschulen.366 Es zeugt von Hum-
boldts strategischem Geschick, daß er noch von Paris aus die Aufmerksamkeit
des Preußischen Kultusministers auf Dirichlet lenkte, indem er schrieb, dieser
würde gewiß eine Stelle an einem großen [Berliner] Gymnasium jeder hiesigen
Anstellung bei französischen Kriegsschulen (denn er kann französisch wie
deutsch dociren) vorziehen.367
So durfte das Kultusministerium bei Dirichlets Einstellung in Berlin anneh-
men, ihn dem Erzfeind entrissen zu haben. Auf Dirichlet kam zunächst die
bescheidene Rolle zu, als „Repetent [...] für die Applikation" mit Offiziersan-
wärtern einzuüben, was Professoren an Mathematik vortrugen.368 Der Mathe-
* Brief Nr. 13. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 12. Juni 1828, ebenda, S. 45.
Hensel, Kurt, „Gedächtnisrede auf Ernst Eduard Kummer", in: Nachrufe auf Berliner Ma-
thematiker des 19. Jahrhunderts. C.G.J. Jacobi, P.G.L. Dirichlet, E.E. Kummer, L. Kron-
ecker, K Weierstrass, hg. v. Hans Reichardt, Leipzig, [1910] 1988, S. 75-111, hier S. 91.
4
Ambroise Fourcy zitiert nach Manegold, Karl-Heinz, „Eine Ecole Polytechnique in Berlin",
in: Technikgeschichte, Bd. 33, Nr. 2, 1966, S. 182-196, hier S. 183.
5
Jacobi, Carl Gustav Jacob, „Über die Pariser Polytechnische Schule", in: derselbe, Gesam-
melte Werke, hg. v. Karl Weierstrass, Bd. 7, Berlin, [1835] 1891, S. 355-370, hier S. 357.
6
Ebenda, S. 366.
Alexander von Humboldt zitiert nach Biermann, Briefwechsel, S. 32-33.
Lampe, „Dirichlet als Lehrer der Allgemeinen Kriegsschule", S. 483.
122 V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE
matiker Erich Lampe, der als Nachfolger Dirichlets und Kummers an der
Kriegsschule lehrte, vergaß im Nachruf an Dirichlet nicht, darauf hinzuwei-
sen, daß
der seminaristische Betrieb, den die Universitäten erst in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts allgemein eingeführt haben, gleich bei der Organisation der
Allgemeinen Kriegsschule planmäßig vorgeschrieben worden [ist].369
Kleists alter Freund Otto August Rühle von Lilienstern hatte - als Leiter der
Kriegsschule - niemand anderen als Radowitz beauftragt, den mathemati-
schen Unterricht umzustellen. Radowitz griff daraufhin auf das französische
„repetitorische System" zurück, das er aus seiner Zeit auf der Ecole polytech-
nique kannte370 und forderte, daß der „dogmatische [...] Vortrag" von einer
,,geregelte[n] Selbstbeschäftigung" begleitet werde."1 Rühle von Lilienstern
konnte nun mit Nachdruck Dirichlet empfehlen, denn dieser sei
in der polytechnischen Schule zu Paris gebildet worden [und] scheint sich vor-
zugsweise für den Vortrag der Mathematik in der Königlichen allgemeinen
Kriegsschule zu eignen, da er mit der seit zwei Jahren in der Anstalt zur Ausfüh-
rung gebrachten applications Methode auf das genauste bekannt ist.372
Liliensterns Behauptung, Dirichlet sei mit der Applikationsmethode schon in
Paris bekannt gemacht worden, verrät den Wunsch als Vater des Gedankens.
Denn Dirichlet hat die polytechnische Schule in Paris nie betreten.373 Auf
Paris' große Mathematiker wie Fourier, Possion oder Laplace traf Dirichlet an
der Pariser Akademie der Wissenschaften und am College de France, das
damals wie heute jedem Eintritt gewährt. Als Gewährsmann für eine applika-
torische Methode nach französischem Muster taugte Dirichlet genauer bese-
hen also kaum. Was immer 1826 mit der applikatorischen Methode an der
Kriegsschule eingeführt wurde, war ein größeres Experiment, als man sich in
Preußen eingestand. Es stellte sich bald heraus, daß kein Repetitor in den
Applikationsstunden auch nur annähernd den Stoff der Vorträge einüben
konnte oder wollte.374 Sehr bald schon kritisierte von Radowitz, daß Dirichlets
Schüler in den Applikationsstunden vermeintlich „mehr Constructionen und
370
Hassel, Paul, Joseph Maria von Radowitz. 1797-1848. Bd. 1, Berlin, 1905, S. 24.
37
' Ebenda.
* Biermann, Kurt-R., Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet. Dokumente ßr sein Leben und
Wirken. Zum 100. Todestag. Dok. Nr. 23. J.J.O.A Rühle von Lilienstern an Karl v. Altenstein
am 4. Juli 1828 (= Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin.
Klasse für Mathematik. Physik und Technik, Jg. 1958. Nr. 2) Berlin, 1959. S. 41-42.
Ein Gesuch Dirichlets, eben jene Schule als Hospitant besuchen zu dürfen, scheiterte am
Preußischen Geschäftsträger in Paris. Siehe hierzu Kummer. ., Gedächtnisrede auf Gustav
Peter Lejeune-Dirichlet", S. 4L
Scharfenort, Louis A. von. Die Königlich Preussische Kriegsakademie. 1810-1910, Berlin
1910, S. 112.
V, HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 123
einen nicht bloß analytischen Gang""5 erwarten. Mit umso größerem Schre-
cken stellte er fest, daß Dirichlet die ihm anvertrauten Offiziere in den Appli-
kationsstunden auf deren Wunsch in die Infinitesimalrechnung einführte und
damit in einen Stoff, der zur höheren Mathematik gezählt und deshalb von
den Lehrplänen der Vorlesungen auf der Kriegsschule verbannt worden war."6
Man befürchtete, daß gestandene Offiziere, die auf dem Schlachtfeld als
unschlagbar sich erweisen sollten, im Examen aufgrund von Aufgaben zur
höheren Mathematik einbrechen könnten. Um zumindest die Kluft zwischen
Vorlesung und applikatorischem Unterricht zu schließen, wies die Direktion
Dirichlet an, beide Veranstaltungen abzuhalten. Der wiederum setzte alsbald
die Aufnahme der Infinitesimalrechnung im Lehrplan durch."7 Dirichlet, der
so alt war wie seine auszubildenden Offiziere, vertrat ein System aus Theorie
und Praxis, was in Frankreich das institutionelle Zusammenspiel zweier Schu-
len voraussetzte: Die Ecole polytechnique und sich die daran anschließende
Ecole d'appplication.
Das „repetitorische System", das in Frankreich dazu bestimmt war, Analy-
sis in Anwendung auf Zeichenpraktiken einzuüben, änderte Dirichlet zur
applikatorischen Methode, die den Umgang mit jenen Teilen höherer Mathe-
matik schulte, die zunächst in den Vorlesungen nicht behandelt worden wa-
ren. Aus dem applikatorischen Unterricht ging schließlich ein Seminar hervor,
das nicht bloß mathematische Kenntnisse wiederholte, sondern ein Wissen
formulierte, dessen Anwendbarkeit noch zur Disposition stand.
Kaum war Dirichlet endlich auch an die Berliner Universität berufen worden,
richtete er auch dort ein mathematisches Seminar ein, das sich im Kolleg
ungelösten mathematischen Problemen widmete. Zudem nutzte er Vorlesun-
gen, um neueste Forschungsergebnisse vorzustellen - was ein Novum dar-
stellte."8 Auch wenn ihm als außerordentlichem Professor für zwei Dekaden
verwehrt war, Studenten zu promovieren, hielt ihn das nicht davon ab, seine
Lehrpraktiken zu verbreiten. Sein Freund und Kollege Jacob Jacobi griff sie
auf und gründete in Königsberg das erste mathematisch-physikalische Semi-
nar. Aus dem Seminar wird eine Schule hervorgehen und aus dieser Schule
Brief Nr. 21. Alexander v. Humboldt an Gustav Dirichlet am 22. Febr. 1829, in: Briefwechel,
hg. v. Biermann, S. 53.
Darüber dank seiner dortigen Stellung gut unterrichtet war Lampe, „Dirichlet als Lehrer der
Allgemeinen Kriegsschule", S. 484.
Ebenda.
Vgl. Butzer, Paul L., Manfred Jansen und Hubert Zilles, „Zum bevorstehenden 125. Todestag
des Mathematikers Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet (1805-1859). Mitbegründer der
mathematischen Physik im deutschsprachigen Raum", in: Sudhoffs Archiv, Bd. 68, Nr. 1,
1984, S. 1-20, hier S. 9.
124 V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE
schließlich der Mathematiker David Hubert, der am Anfang des 20. Jahrhun-
derts berufen war, der Mathematik ein eigenes Programm vorzugeben. Dirich-
lets Nachfolger Eduard Kummer sorgte dafür, daß das mathematische Seminar
an der Berliner Universität zur festen Institution wurde. Noch ungelöste ma-
thematische Probleme, die deshalb nicht Bestandteil der Vorlesung sein konn-
ten, legten sie nun gemeinsam Professoren und Studenten im Seminar vor.
Und von eben diesem mathematischen Seminar geht seit der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts ein über die Landesgrenzen hinausreichender Ruf aus
wie von kaum einer anderen mathematischen Wirkungsstätte.
Der Transfer der Ausbildungsmethode von der Allgemeinen Kriegsschule
zur Universität hat letztlich bewirkt, daß aus der Universität als einer Stätte
der Wissenskunde ein Ort genuiner Wissensproduktion wurde, in dem Theorie
und Praxis zusammenfallen. Den vier klassischen Fakultäten bleibt mit ihren
Diskursen nur, eine Praxis zu umkreisen, die ihnen zumindest in deutschen
Landen lange äußerlich bleiben mußte. Schließlich ist die Universität keine
Kirche, kein Gerichtssaal und kein Krankenhaus. Und was die Philosophie
angeht, so sah zumindest Felix Klein die Mathematik ihr überlegen, weil sie
das Denken nicht nur betreibe, sondern auch auf seine Axiome zurückführe
und ihm zur Anwendung verhülfe."9
Alexander v. Humboldt hatte seinerzeit tür Berlins Bildung „die erste
Sternwarte, die erste chemische Anstalt, den ersten botanischen Garten [...
und] die erste Schule für transzendentale Mathematik'"80 gefordert und bekam
zuallererst letztere. Während chemische, physikalische und biologische La-
bors und Krankenhäuser erst begannen, in die Universitäten einzuziehen, war
das mathematische Seminar längst dazu übergegangen, „physiko-
mathematische Gegenstände"381 zu fabrizieren. Mit der Mathematik an der
Universität holte das Wissen seinen Gegenstand ein.
Die Mathematik kommt seit Dirichlet gleich auf drei Wegen zur Anwendung:
Erstens erfahren selbst abstrakte zahlentheoretische Konzepte ihre Anwen-
dung auf geodätischen und erdmagnetischen Feldern. Es scheint, daß die
tellurische Sondierung, die mit der traditionsreichen Astronomie gleichzuzie-
hen beginnt, sich zu einer deutschen Spezialität entwickelt. Riemannsche
9
Klein, Felix, „Über die Aufgaben und die Zukunft der philosophischen Fakultät", in: Jahres-
bericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 13, Hft. 5, 1904, S. 267-276, siehe
insbesondere: S. 274-275.
0
Alexander von Humboldt zitiert nach Biermann, Kurt-Reinhard, Die Mathematik und ihre
Dozenten an der Berliner Universität. 1810-1933. Stationen auf dem Wege eines mathemati-
schen Zentrums von Weltrang, Berlin, 1988, S. 39.
Biermann. „Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet", S. 43.
V. HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 125
August Leopold Grelle zitiert nach Manegold, „Eine Ecole Polytechnique", S. 190.
Du Bois-Reymond, Paul, „Was will die Mathematik und der Mathematiker? Rede heim
Antritt der ordentlichen Professur der Mathematik an der Universität Tübingen (1874) gehal-
ten", in: Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 19, 1910, S. 190-198,
hierS. 195.
V, HÖHERE MATHEMATIK UND NOMOS DER ERDE 127
Ebenda. S. 198. Vgl. auch Bourbaki, Nicolas, „L'architecture des mathematiques", in: Les
grands courants de la pensee mathematique (=L'Humanisme scientifique de demain. Bd. I).
hg. v. Francois le Lionnais, Paris, 1948, S. 35-47, hier S. 46-47.
Ludwig Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen", in: derselbe, Werkausgabe, Bd. I,
Frankfurt/M., 1995, S. 225-580, hier S. 262 (§ 43).
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN
MASCHINE
Wittgenstein, Ludwig, Geheime Tagebücher 1914-1916, hg. u. dok. v. Wilhelm Baum, Wien,
Berlin, 1991. S. 68.
Ebenda.
" Ebenda. S. 131.
'2 Ebenda. S. 50.
13
Ebenda. S. 130.
14
Ebenda. S. 47.
" Ebenda. S. 69.
130 VI VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
Jemand, der sich, obwohl vom Dienst befreit, dennoch für den Krieg und nicht
bloß für die Militärlaufbahn entscheidet und nun befiehlt, ohne daß ihm der
Dienst am Krieg befohlen wurde, erscheint den Kameraden suspekt. Wittgen-
stein läßt sich ein weiteres Mal abkommandieren:
Komme morgen vielleicht auf mein Ansuchen zu den Aufklärern hinaus. Dann
wird für mich erst der Krieg anfangen. Und kann sein - auch das Leben! Viel-
leicht bringt mir die Nähe des Todes das Licht des Lebens.396
Erst jetzt ist Wittgenstein im Krieg angekommen, in vorderster Front. Das
fortwährende Klagen über seine Kameraden, die ihn an Duellforderungen
denken lassen,"" hat in seinen Tagebüchern nun ein Ende. Stattdessen finden
sich nunmehr Stoßgebete. Er ist auf vorgeschobenem Posten im „Aufklärer-
stand".3'8
Die Zusammenlegung von leichter Feldartillerie und schwerer Haubitzen-
batterie unter ein zentrales Kommando, taktisch eingebundene Ballon-
Abteilungen und vorgeschobene Aufklärungsoffiziere sind allesamt Erfindun-
gen des Ersten Weltkrieges. Seine Artillerie glich in ihren Anfangstagen noch
der Napoleons, bevor sie schließlich zu Formen und Standards gefunden hat,
die noch heute in westlichen Armeen vorherrschen."* Die europäischen Mäch-
te nutzten die Friedensjahre vor dem Ersten Weltkrieg, um die Anzahl ihrer
Geschütze und deren Durchschlagskraft zu steigern. Die Taktiken der Artille-
rie blieben jedoch auf dem Stand der jeweilig letzten noch erinnerlichen
Schlachten. Niemand mochte sich vorstellen, daß die Infanterie auf dem
Schlachtfeld vorstoßen würde, ohne gemeinsam mit der eigenen Artillerie den
Feind im Blick zu haben. Doch als sich mit den ersten Gefechten die gewalti-
ge Feuerkraft offenbarte, blieb lediglich der Abzug der Batterien aus dem
Sichtfeld der Gegner. Die gesteigerte Durchschlagskraft der Geschosse erfuhr
kurzerhand eine Umwertung: was nunmehr zählte, war die Distanz, die die
Geschosse überwanden. Mit 9000 Metern fiel sie erheblich weiter aus, als
Ballistiker in ihren Tafeln bedacht hatten.400 Der Krieg erweist sich einmal
nicht als Vater aller Dinge, sondern vielmehr als Hort unbedachter und unaus-
geführter Tatsachen.
Zu einem Zentrum dieses Horts und das heißt zum taktischen Experimen-
tierfeld wird ausgerechnet Wittgensteins erstes Einsatzgebiet als Aufklä-
rungsoffizier nördlich der Karpaten.401 Was Wittgensteins Kriegstagebuch von
6
Ebenda. S. 70.
'7 Ebenda. S. 57.
Ebenda. S. 70. Wittgensteins kafkaeske Positionsbeschreibung: „Bin wie der Prinz im
verwünschten Schloß auf dem Aufklärerstand." Im militärischen Sprachgebrauch der Zeit
gängiger ist die Bezeichnung „Beobachtungsstand" - oder „-stelle", oder kurz „B-stelle".
Vgl. Zabecki, David T., Steel Wind. Colone! Georg Bruchmüller and the Birth of Modern
Artillery (= The Military profession), Westport, London, 1994, S. 2.
10
Ebenda, S. 7.
" Vgl. auch ebenda. S. 17.
VI VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 131
410
Ebenda. S. 27-28.
Bruchmüller, Georg, Die deutsche Artillerie in den Durchbruchschlachten des Weltkrieges.
Zweite, wesentl. erw. Aufl. Berlin, 1922, S. 109.
412
Ebenda, S. 109.
413
Vgl. Zabecki, Steel Wind. S. 29.
414
Dazu zuletzt Kittler, Friedrich, „II fiore delle trappe scelte", in: Der Dichter als Kommandant.
D'Annunzio erobert Fiume, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht, Friedrich Kittler u. Bernhard Sie-
gert, München, 1996, S. 205-225, siehe hier vor allem S. 205-207 und S. 219.
41
Übereinstimmend Kittler, ebenda S. 209, und Lupfer, Timothy T., The Dynamics of Doctrine.
Changes in German Tactical Doctrine During the First World War. Leavenworth Papers No.
4, U.S. Army Combat Studies Institute, Fort Leavenworth/Kansas. 1981, S. 8-12 u. S.42 und
Zabecki, Steel Wind. S. 2.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 133
ihr Initiator Willy Rohr sie geschaffen.416 Wenn Bruchmüller in Riga mit
seinen eigenen Artillerietaktiken zusammenbrachte, was an der Westfront an
infanteristischer Taktik der Sturmtruppen heraufgezogen war, dann ist darin
nicht der Oberbefehl der militärischen Elite auszumachen, sondern das „ein-
zigartige Ergebnis einer Autopoiesis"4" der Schlachtfelder. Bruchmüller hatte
sein Kommando 1915 abgegeben und war seitdem strenggenommen lediglich
ein Oberst a. D., der vorübergehend die Position eines Artillerieberaters inne-
hatte, - auch wenn Kronprinz Friedrich Wilhelm seine Heeresgruppe während
der Champagne-Marne Offensive kurzerhand instruierte, Bruchmüllers Emp-
fehlungen mit den Befehlen der Obersten Heeresleitung gleichzusetzen.418
Und den Artilleristen impfte Bruchmüller ein, den Dank der Infanterie höher
zu schätzen als Orden und Auszeichnungen, „die nur einzelne für die Gesamt-
heit erhalten" können.4"
Wohl nur ein Berater ohne hohen Rang und Kommando konnte vorschla-
gen, die unterschiedlichen Batterien aus der autonomen Verantwortlichkeit
ihrer Kommandeure zu lösen und oberhalb von Divisionen zentral zu koordi-
nieren.420 Doch auch hier blieb Kommandanten letztlich nur übrig, Befehle
auszugeben, die aus über Wochen minutiös entwickelten Angriffsplänen
ergingen und jeweils nur auf spezifische Lagen und Witterungen zugeschnit-
tenen waren. Leichter als Kommandanten können jedoch Pläne die Aufhe-
bung einer zentralisierten Befehlsgewalt vorsehen, wenn zentral koordinierte
Aktionen - wie der zur Feuerwalze gebündelte Artilleriebeschuß - in lauter
Einzelaktionen zerfallen - etwa um eroberte Stellungen zu sichern. Ebenso
sahen Bruchmüllers Pläne ein Wechselspiel der Kommandoführung zwischen
Artillerie und Infanterie vor, sofern eine bestimmte Lage danach verlangte.
Den größten Vorteil einer Kriegsführung, die Tatsachen zunächst konsequent
auf dem Papier schuf und nicht erst auf dem Schlachtfeld, liegt offenbar in
ihrem Überraschungsmoment. Anstatt Geschütze, deren Geschoßtrajektorien
durch jeweils vorherrschende Einflüsse mehr oder minder stark von ihren
Richtwerten abwichen, über Stunden oder gar Tage auf bekannte Zielmarken
einzuschießen und zu kalibrieren, und damit wohlmöglich die eigenen Stel-
lungen und Absichten an den Feind zu verraten, vertrat Bruchmüller die
Methode seines Hauptmanns Pulkowski, die nahelegte, im Vorfeld unter-
schiedlichste Einflußgrößen systematisch zu ermitteln. Die Artilleriekomman-
danten schössen nunmehr von Schlachtbeginn an nicht nur auf uneinsehbare
16
Vgl. Kittler, „II fiore delle trappe scelte", S. 207.
417
Ebenda. S. 206
418
Vgl. Bruchmüller, Die deutsche Artillerie, S. 34. Vgl auch Zabecki, Steel Wind, S. 29-30.
Bruchmüller, Die deutsche Artillerie, S. 82.
4it
Bruchmüller spricht von der einheitlichen „Regelung" einer Feuerwalze, „wodurch die
Selbständigkeit der Unterfuhrer allerdings bis zu einem gewissen Grade beeinträchtigt wur-
de". Bruchmüller, Die deutsche Artillerie, S. 109.
1 34 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
feindliche Stellungen, sondern auch mittels einer Methode, die anstelle ihres
Erfahrungswissens auf ein wissenschaftliches System zurückgriff.421
Weil jedoch an der Ausführung der Pläne alles hing, führte Bruchmüller
vor jeder Offensive ausgiebige Lagebesprechungen in den Infanterie- und
Artillerietruppen ein. Rückkopplung fand damit nicht nur zwischen Mann-
schaftsdienstgraden statt, die sich sonst einer eindirektionalen Befehlshierar-
chie zu fügen hatten, Rückkopplung war auch auf dem Schlachtfeld vorgese-
hen, sobald die Infanterie mit Leuchtmunition der Artillerie zu erkennen gab,
daß die Feuerwalze in die nächste Phase übergehen sollte. Auch das von der
Infanterie erfahrene Grauen wird wohl durch Rückkopplung als kriegspsycho-
logische Maßnahme auf feindliche Stellungen angewandt worden sein. Effi-
zienz hieß nicht mehr, durch den üblich gewordenen, wochenlangen Artille-
riebeschuß eine totale physische Vernichtung zu erreichen und letztendlich
doch nur minimale Geländestreifen einzunehmen, sondern die Neutralisierung
des Feindes - seine physische und psychologische Paralyse, während die
eigenen materiellen und soldatischen Kräfte nach Möglichkeit geschont wur-
den. Bruchmüller predigte den Schock der ersten Angriffswelle, anstatt auf
irgendwann stoisch hingenommenes Trommelfeuer zu setzen. Im raschen
Wechsel ließ er feindliche Stellungen beschießen, allerdings mit einer Will-
kür, die der gegnerischen Infanterie so selbst in Feuerpausen kaum aus der
Deckung hervorzukommen erlaubte. Die Kontingenz eines allfälligen Todes
bekam damit neben der räumlichen Streuung der Geschosse noch eine zeitli-
che Dimension. In Riga schließlich ließ Bruchmüller Gas statt knapper wer-
dender Sprenggranaten verschießen. Das Gas, nur wenig schwerer als Luft,
drang selbst in unterirdische Stellungen ein und war so gemischt, daß Tränen-
gas hinter die russischen Gasmasken trat und sie untragbar machte. Zusätzli-
che tödliche Gase konnten dann ihre Wirkung ungehindert entfalten. Die
Verwendung von Gas führte zu mehr Verwundeten und weniger Toten, was
als taktischer Vorteil angesehen wurde. Denn die hohe Zahl an medizinisch zu
versorgenden Opfern bedeutele nicht nur den Verlust an Kampfkraft, sondern
band zudem noch Kräfte, die zur Bewältigung logistischer Probleme nötig
waren, von den Gewissensnöten, die sie beim Gegner hervorriefen, ganz zu
schweigen. Die Effizienz der Neutralisierung gegenüber schlichter Destrukti-
on lief folglich auf den Aufschub des Todes hinaus, um letztlich desto mäch-
tiger über ihn zu herrschen. Am Ende machte die Effizienz auch vor der eige-
nen Mannschaft nicht halt: Der ihr gezollte Dank kam nicht ohne die Bedin-
gung aus, das Leben in kalkulierter Weise aufs Spiel zu setzen. Denn die
Artillerie konnte in der Schlacht nicht gleichzeitig alle feindlichen Stellungen,
die die anstürmende Infanterie bekämpfte, unter Beschuß nehmen - was im
421
Darin mag der Grund liegen, warum die sogenannte Pulkowski-Methode an der Westfront
auf massive Ablehnung bei der Obersten Heeresleitung stieß, so daß Bruchmüller sie still-
schweigend einführte. Siehe Zabecki, Steel Wind, S. 64-65 u. S. 70.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 135
So Martin Heidegger in „Sein und Zeit" zitiert nach Kittler, „II fiore delle truppe scelte",
S. 224.
8
Ludwig Wittgenstein zu Heidegger in: derselbe, Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der
Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus dem Nach-
laß von Brian F. McGuinness, Frankfurt/M., 1989, S. 68.
Wittgenstein. Geheime Tagebücher, S. 72.
0
Ebenda, S. 73.
1
Macho, Thomas, „Über Wittgenstein", In: Wittgenstein. Ausgewählt und vorgestellt von
Thomas Macho (= Philosophie jetzt!), München, 1996, S. 11- 87, hier S. 42.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 1 37
2
Wittgenstein, Geheime Tagebücher, S. 41.
433
Ebenda, S. 37.
434
Wittgenstein, Ludwig, „Vermischte Bemerkungen", in: derselbe, Werkausgabe, Bd. 8,
Frankfurt/M., 1989, S. 474. Vgl. auch Macho zu Wittgensteins visuellen Strategien: „Über
Wittgenstein", S. 30-34
435
Belohnungsantrag im Kriegsarchiv, Wien, zitiert nach Wittgenstein, Geheime Tagebücher,
S. 141-142. Dem Antrag wurde stattgeben: er erhielt die silberne Tapferkeitsmedaille - die
nicht seine erste und letzte Auszeichnung sein sollte.
138 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
436
Wittgenstein, Ludwig, Wittgenstein 's Lectures - Cambridge. 1930-1932. From the Notes of
John King and Desmond Lee, hg. v. Desmond Lee, Oxford, 1980, S. 24. Vgl. Pichler, Alois,
Wittgensteins philosophische Untersuchungen. Vom Buch zum Album (=Studien zur österrei-
chischen Philosophie, Bd. 36), Amsterdam, New York, 2004, S. 105.
437
Vgl. Zabecki, Steel Wind, S. 45.
438
Ganghofer, Ludwig, Reise zur deutschen Front 1915, Berlin, Wien, 1915, S. 198.
439
McGuinness, Brian, Wittgenstein: A Life. Young Ludwig 1889-1921, London, 1988, S. 240.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 139
440
Vgl. Kittler, „11fioredelle truppe scelte", S. 210.
441
Jünger, Ernst, In Stahlgewittern. [Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppfiihrers], in: derselbe.
Sämtliche Werke: Der Erste Wellkrieg, Tagebücher I, Erste Abt., Bd. 1, Stuttgart, [1920]
1978, S. 9-300, hier S. 126.
140 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
Ebenda, S. 134.
Vgl. Kittler, „II fiore delle truppe scelte", S. 207. Anmerkung 14.
Vgl. Linnenkohl, Hans, Vom Einzelschuß zur Feuerwalze. Der Wettlauf zwischen Technik
und Taktik im Ersten Weltkrieg, Koblenz, 1990, S. 150-151. In den Schießvorschriften der
Artillerie heißt es ausdrücklich: „Die Feuereröffnung befiehlt der Truppenfiihrer. Vorzeitige
Feuereröffnung verrät dem Feinde die Stellung." Anonymus, „Die Ausbildung der Artillerie
auf Grund der Kampfschule und Schießvorschrift (A.B.A). Nach amtlichem Material für alle
Waffen bearbeitet", zugleich 5. Beiheft zum 107. Jg. des Militär-Wochenblatt, Berlin, 1923.
S. 14.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 141
Der tiefe Einschnitt, den die Logik im Dasein besorgt, spricht noch aus
Wittgensteins Kriegstagebuch: „Wenn der Selbstmord erlaubt ist, dann ist
alles erlaubt"449, heißt es dort im Einklang mit dem Argument axiomatischer
Mathematik, wonach eine Kontradiktion nicht etwa auszuschließen sei, weil
darin etwas Falsches oder Unwahres zu erblicken sei, sondern weil sonst die
vollständige Indifferenz sämtlicher Beweisgänge drohe. Umgekehrt mag es
kaum Zufall sein, daß Wittgenstein zur Veranschaulichung mathematischer
und zeichentheoretischer Zusammenhänge ein Bild vom Zweikampf wählt:
„A ficht mit B".450 Wittgenstein kommt auf das Beispiel in seinen Aufzeich-
nungen mehrmals zurück - bevor schließlich die Duellforderung zur realen
Option der Lebensbewältigung wird.45' Paare kämpfender Männer, so führt
Wittgenstein aus, können allein dadurch dargestellt werden, daß von einem
kämpfenden Paar auf weitere geschlossen wird.452 Damit verweist eine Zei-
chenbeziehung nicht mehr notwendig auf das Bezeichnete zurück, sondern
beerbt andere zeichenhafte Strukturen mit ihren eigenen logischen Beziehun-
gen. Zwischen Zeichen und Bezeichnetem muß keineswegs eine „logische
Identität" bestehen, wenn interne, d.h. nicht aussagbare, jedoch zeigbare
logische Relationen sie in Beziehung setzen. Zur Herstellung der Identität mit
dem Signifikat haben für Wittgenstein Zeichen und Bezeichnungsweisen
einen Verbund einzugehen, der ihre logischen Eigenschaften mit der Logik
der Sachverhalte der Welt in Deckung bringt. Sätze beschreiben damit nicht
einfach Sachverhalte der Welt, sondern bilden sie vielmehr nach: „Im Satz
wird eine Welt probeweise zusammengestellt. (Wie wenn im Pariser Gerichts-
saal ein Automobilunglück mit Puppen etc. dargestellt wird.)"453 Den Zusam-
menhang zwischen Modellen, Bildern und „den Zeichen auf dem Papier"454
auf der einen, und einem „Sachverhalt draußen in der Welt" auf der anderen
Seite zu finden, macht sich Wittgenstein an der Ostfront zur Aufgabe, wann
immer ihm die Zeit dazu bleibt.455 Auch wenn nicht „alle Sachverhalte in
Bildern aufs Papier" gebracht werden können, ist sich Wittgenstein gewiß,
daß sich zumindest alle „logischen Eigenschaften der Sachverhalte in einer
zweidimensionalen Schrift abbilden"456 lassen. In einer Welt, deren Sachver-
halte sich ohne Zutun in Zeichenbeziehungen spiegeln und deren Logik für
sich selbst zu sorgen hat, haben Subjekte letztlich keinen Platz: „Das denken-
9
Wittgenstein, Notebooks 1914-1916, S. 91.
0
Ebenda, S. 7.
' Vgl. Ebenda.
2
Ebenda, S. 19.
3
Ebenda, S. 7.
4
Ebenda, S. 19.
5
Vgl. ebenda, S. 7 und von Wright, Georg Henrik, „Ludwig Wittgenstein: A Biographical
Sketch", in: The PhilosophicalReview, Bd.4, Nr. 64, 1955, S. 527-545, hier S. 532-533.
6
Wittgenstein, Notebooks 1914-1916, S. 7.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 143
Auge —
hat sich seine Arbeit „ausgedehnt von den Grundlagen der Logik zum Wesen
der Welt."464 Ist ein Problem gelöst oder eine Lage bewältigt, verlieren sie ihre
Bedeutung. Für Wittgenstein sind Sätze lediglich „Leitern", die - sobald sie
ihre Funktion unter Beweis gestellt haben - weggeworfen werden können.465
Jünger kommt in seiner Studie über die Tätigkeit des Arbeiters, dessen Typus
aus dem Weltkrieg hervorgegangen ist, zum selben Schluß:
Alle diese Begriffe (Gestalt, Typus, organische Konstruktion, total) sind notabe-
ne zum Begreifen da. Es kommt uns auf sie nicht an. Sie mögen ohne weiteres
vergessen oder beiseite gesellt werden, nachdem sie als Arbeitsgrößen zur Erfas-
sung einer bestimmten Wirklichkeit, die trotz und jenseits jedes Begriffes be-
steht, benutzt worden sind; der Leser hat durch die Beschreibung wie durch ein
optisches System hindurchzusehen.466
Im Krieg verraten letztlich noch die durchschlagendsten Techniken und Tak-
tiken ihre Machart an den Feind, wie wirkungsvoll sie anfänglich auch waren
und fordern ihre eigene Überbietung ein. Diese Logik der Überbietung bedeu-
tet der Krieg des frühen 20. Jahrhunderts nicht ein letztes Mittel politischer
Klarstellung, sondern markiert den unüberwindlichen Spielraum eines Plan-
spiels, das unsagbare und unvorstellbare Tatsachen schafft.
„Was ist der Unterschied zwischen der Sprache (M) [wie Mathematik] und
einem Spiel? Man könnte sagen: Das Spiel hört dort auf, wo der Ernst be-
ginnt, und der Ernst ist die Anwendung."467 Wittgenstein ist aus italienischer
Kriegsgefangenschaft nach Wien zurückgekehrt. Er hat seine Untersuchungen
der Grundlegung der Mathematik wieder aufgenommen - entgegen dem Fazit
seines Tractatus', das das Problem der Logik ein für alle Mal als gelöst erklär-
te, und damit zeige, wie wenig damit getan sei.468
In Wittgensteins Fragen nach der Grundlage der Mathematik ist der Krieg
wieder gegenwärtig: Nun hat er die Form des Kriegsspiels angenommen, das
jeden Krieg überdauert und dem das Material niemals ausgeht:
Denken wir an das Schachspiel! Heute bezeichnen wir es als Spiel. Gesetzt aber,
ein Krieg würde so geführt werden, daß die Truppen auf einer schachbrettförmi-
gen Wiese miteinander kämpfen, und daß derjenige, der matt gesetzt wird, den
465
Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, S. 85 (Nr. 6.53).
466
Jünger. Ernst, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt zitiert nach Heidegger, Martin, Über die
.Linie'", in: Freundschaftliche Begegnungen, hg. v. Armin Mohler, Frankfurt/M., 1955, S. 9-
45, hier S. 24.
467
Wittgenstein, Ludwig, „Kalkül und Anwendung", in: Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und
der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus dem
Nachlaß von B.F. McGuinness, Frankfurt/M., 1989, S. 170.
468
Vgl.Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung, S. 3
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 145
Krieg verloren hat. Dann würden sich die Offiziere genau so über das Schach-
brett beugen, wie heute über die Generalstabskarten. Das Schach wäre jetzt kein
Spiel mehr, sondern Ernst.469
Wittgenstein erinnert nicht an einen durchlebten Krieg, sondern begibt sich
auf die Ebene seiner Führung. Die Distanz, die aus seiner Analogie spricht, ist
zweischneidig. In dem Maße, in dem das Schlachtfeld nicht mehr die taktische
Grundlage des Krieges bildet, sondern eine zunehmend losgelöste Ebene
symbolischer Konfigurationen, heißt gerade Distanz zum Schlachtfeld halten,
buchstäblich Krieg führen.
Mit dem Spiel teilt sich das Kriegsspiel bis zur UnUnterscheidbarkeit eine
Sphäre, die eine freie Entfaltung durch Tatsachen und Sachverhalte nach
Möglichkeit nicht behindert. Deren Umbildung jedoch behält sich das Kriegs-
spiel im Unterschied zum bloßen Spiel vor.
Wittgenstein läßt anklingen, daß das Schach wohl nicht immer schon als
Spiel anzusehen war. Denn daß das Spiel überhaupt - gewissermaßen phylo-
genetisch - in eine Fundamentalopposition zum Ernst treten konnte, ist wohl
eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts. Ontogenetisch gesehen, zeichnet sich
für Indologen immer deutlicher ab, daß das Schach aus einem Kriegsspiel
hervorging: Nordindische Herrscher des 6. Jahrhunderts zogen probeweise
Terrakottafiguren über den Sandboden, deren Konfiguration ihrem vierglied-
rigen Heer glich.470 Wittgensteins Schachanalogie impliziert damit eine An-
nahme und wirft eine doppelte Frage auf: Tatsache ist, daß Offiziere auch
gerade auf Generalstabskarten operieren, obwohl kein Krieg herrscht - wie
Wittgensteins Gebrauchs des Präsens verdeutlicht. Doch wodurch ist sicher-
gestellt, daß hier kein bloßes Spiel betrieben wird? Und wodurch ist sicherge-
stellt, daß bei einer Partie Schach kein Krieg geführt wird? Die Antwort auf
beide Fragen ist dieselbe: durch nichts. Genau aus diesem Grund wird auch
Wittgensteins Philosophie der Sprachspiele eine Kritik nicht treffen: Sie
manifestiere schon wegen ihres Namens ihre Irrelevanz. Als irrelevant mögen
Sprachspiele sich durchaus erweisen, doch keine definitorische Macht kann
solchen Nachweisen vorgreifen. Die Grenzen des Spiels können nur erspielt
werden und so beginnt auch mit jedem Kriegsende das strategische und takti-
sche Durchspielen eines zukünftigen. Geht das Spiel in einer Anwendung auf.
71
Wittgenstein, Ludwig, „Was in Königsberg zu sagen wäre", in: Werkausgabe: Ludwig
Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd.
3, hg. aus dem Nachlaß von B.F. McGuinness. Frankfurt/M., 1989, S. 102-107, hier S. 104.
72
Ebenda, S. 103.
73
Weyls entsprechender Beitrag im Symposium wird explizit genannt und dies, obwohl Witt-
genstein sonst ablehnte, den akademischen Apparat durch Zitierungen zu bedienen. Dies hielt
ihn auch davon ab, in Cambridge eine Dissertationsschrift einzureichen. Tatsächlich geht aus
Waismanns Aufzeichnungen hervor, daß Wittgenstein auch Weyls Beitrag im Handbuch der
Philosophie kannte, der den Schematismus des Schachspiels und Huberts Beweisverfahren
ebenfalls aufführt. Vgl. Weyl, Hermann, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft,
München, Wien, [1927] 1982, S. 40.
74
Vgl. Wittgenstein, Ludwig, „Philosophische Grammatik", in: derselbe, Werkausgabe, Bd. 4.
hg. v. Rush Rhees, Frankfurt/M., 1984, S. 47-51, insbesondere S. 51.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 147
Waismann war kurzfristig zur Tagung eingeladen worden. Allerdings erreichte das Typo-
skript seines Beitrages die Herausgeber des Tagungsbandes nicht. Vgl. Waismann, Friedrich.
„Vorbemerkung", in: Erkerminis. Bericht über die 2. TagungfiirErkenntnislehre der exakten
Wissenschaften in Königsberg 1930, Bd. 2, Hft. 2-3, 1931, S. 87.
Mancosu, Paolo, „Between Vienna and Berlin. The immediate Reception of Gödel's Incom-
pleteness Theorems", in: History and Philosophy of Logic, Bd. 20, 1999, S. 33-45, hier S. 37.
Brouwer war im selben Jahr von Hubert aus dem Herausgeberkreis der mathematischen
Annalen gedrängt worden. Solange der Grundlagenstreit in Zeitschriften wie jener und an
Lehrstühlen wie dem Hilberts in Göttingen ausgetragen worden war, kam es zu keinem ein-
schneidenden Bruch, sondern erst als Brouwer einen Ruf nach Göttingen ausschlug, sich in
Berlin für einen Lehrstuhl umwerben ließ und in Amsterdam ein Zentrum ausbaute, das ande-
re Mathematiker anziehen sollte. Am Ende schien es, als würde der Streit mehr durch die
Ausweitung von Institutionen und weniger von der Ausbreitung von Intuitionen angefeuert
werden.
148 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
staltung hatte erst überredet werden müssen.478 Laut Herbert Feigl, der sich
Waismann und Wittgenstein an jenem Abend anschloß, brachte der Vortrag
dann jedoch Wittgenstein dazu, seine philosophischen Ergründungen der
Mathematik wieder aufzunehmen.479
Ob Wittgensteins Position als eine weitere mathematische Herangehens-
weise anzusehen sei, wurde auf der Tagung in Königsberg zumindest verhan-
delt.480 Begriffen wurde sein Standpunkt jedenfalls dahingehend, daß die
Bedeutung eines Begriffes in seinem Gebrauch liegt.481 Damit wird auch klar,
daß er vor allem von Brouwers und Weyls früheren Angriffen auf die forma-
listische Mathematik ausging, die darin gipfelten, Mathematik sei mehr Tun
denn eine Lehre.482
Es sind nicht mehr die Gründer der mathematischen Schulen selbst, son-
dern mittlerweile die Generation ihrer Nachfolger, die in Königsberg auf die
Grundlagen der Mathematik zurückblicken. Anstelle von Hubert sprach John
von Neumann über den Formalismus. Brouwer war durch seinen Schüler
Arend Heyting vertreten und Russells logizistische Position führte Rudolf
Carnap aus.
Fragt man einmal nicht nach den strittigen mathematischen Konstrukten,
um die der Grundlagenstreit ging, sondern nach einem Referenzsystem, das
als Voraussetzung des Grundlagenstreits keiner Einführung bedarf und von
keiner Seite angezweifelt wird, dann lautet die Antwort: Das Spiel. Von Neu-
mann, Heyting oder auch Gödel, sie alle griffen auf der Tagung in Königsberg
den Begriff des Formelspiels auf: Laut Heyting bedeutet das „Wort Mathe-
matik'" für den Intuitionisten „eine gedankliche Konstruktion", für den For-
malisten „ein Spiel mit Formeln"48', in dem - so läßt sich mit Hubert hinzufü-
gen - eine „Technik des Denkens"484 sich überhaupt erst konstituiert. Von
Neumann stellte in seinem Beitrag zur formalistischen Grundlegung der
Mathematik heraus, daß sich zwar die
Vgl. McGuinness, Brian, „Vorwort", in: Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der Wiener
Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus dem Nachlaß von
B.F. McGuinness, Frankfurt/M., 1989, S. H-31, hier S. 16.
Monk, Ray, Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius, London, 1990, S. 249.
Vgl. Rudolf Carnap in der Diskussion zur Grundlegung der Mathematik, in: Erkenntnis,
S. 141.
1
Vgl. Rudolf Carnap in der Diskussion zur Grundlegung der Mathematik, in: Erkenntnis.
Bericht über die 2. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften in Königsberg
1930, Bd. 2, Hft. 2-3, 1931, S. 135-145, hierS. 143.
So Weyl, Hermann, „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik", in: Gesammelte
Abhandlung, Bd. 2, hg. v. Komaravolu Chandrasekharan, Berlin, Heidelberg, New York.
[1921] 1968, S. 143-180, hier S. 157.
3
Diskussion zur Grundlegung der Mathematik am Sonntag, dem 7. Sept. 1930, in: Ebenda,
S. 146.
4
Hubert, David, „Die Grundlagen der Mathematik", in: Abhandlungen aus dem Seminar der
Hamburgischen Universität, Bd. 6, 1928, S. 65-85, hier S. 79.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 149
von Neumann, John, „Die formalistische Grundlegung der Mathematik", in: Erkenntnis,
Bericht über die 2. Tagung für Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften in Königsberg
1930, Bd. 2, Hft. 2-3, 1931, S. 116-121, hier S. 117.
6
Ebenda, S. 117.
Wittgenstein, „Was in Königsberg zu sagen wäre", S. 103.
Bemerkenswerterweise stützt sich von Neumann bei seiner Darstellung des Formalismus wie
Wittgenstein ebenfalls auf die Schriften Weyls.
Diskussion zur Grundlegung der Mathematik am Sonntag, dem 7. Sept. 1930, in: Erkenntnis.
S. 144.
1 50 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
Tatsachen [...] in den Symbolen der mathematischen Systeme [...] zum Aus-
druck bringen" lassen.490
Das Spiel mit Formeln war also keineswegs mit dem Ausklingen des
Grundlagenstreits außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil: Kein Verfahren der Welt
kann mögliche Widersprüche kombinatorischer Tatsachen aufzeigen, außer
diese selber. Gödel konnte das Spiel mit Zeichen auch deswegen zur kombi-
natorischen Tatsache erklären, weil an ihm die Grundlegung oder die Boden-
losigkeit der Mathematik auszuloten unter Mathematikern längst geläufig war.
Wie unterschiedlich die mathematischen Standpunkte Gottlob Freges, Weyls,
Brouwers, Huberts oder Bernays im Grundlagenstreit sich ausnahmen, allen
gemeinsam ist, daß sie das Wesen der Mathematik in der Differenz oder an
der Übereinstimmung mit dem Spiel festmachten.491 So nimmt es nicht wun-
der, daß auch die ersten Mathematikhistoriker wie Oskar Becker und Jean
Dieudonne Huberts Formalismus als ein Spiel mit Formeln bezeichneten.4"2
Kam also um 1930 unter Mathematikern die Rede auf das Spiel, dann verband
sich damit nicht mehr zwangsläufig jener pejorative Sinn, der dem Begriff
Gödel, Kurt, „Nachtrag", in: Erkenntnis. Bericht über die 2. Tagung für Erkenntnislehre der
exakten Wissenschaften in Königsberg 1930, Bd. 2, Hfl. 2-3, 1931, S. 147-151, hier S. 150.
" Schon Frege wehrte einen Formalismus ab, der nicht über den Stand eines Spiels hinauskä-
me: „Wenn sie [die formale Arithmetik] ein Spiel mit Figuren ist, so gibt es in ihr ebensowe-
nig Lehrsätze und Beweise wie im Schachspiel." Frege, Gottlob, Grundgesetze der Arithme-
tik II, Jena, 1903, S. 101. Wittgenstein, der ja auf Empfehlung Freges zu Russell nach Cam-
bridge gegangen war, fand in dieser Äußerung Freges allen Anschein den Grund, der Hubert
hindere, zur Kontrolle eines Regelsystems auf seine Metaebene zu wechseln: „Ich kann mit
den Schachfiguren spielen nach gewissen Regeln. Ich könnte aber auch ein Spiel erfinden, in
dem ich mit den Regeln selbst spiele: Die Figuren meines Spiels sind jetzt die Regeln des
Schachspiels und die Spielregeln sind etwa die logischen Gesetze. Dann habe ich wieder ein
Spiel und nicht ein Metaspiel. Was Hubert macht, ist Mathematik und nicht Metamathematik.
Es ist wieder ein Kalkül, gerade so gut wie ein jeder andere." Wittgenstein, Ludwig, „Wider-
spruchsfreiheit 111", in: Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gesprä-
che, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus dem Nachlaß von B F . McGuin-
ness, Frankfurt/M., 1989, S. 119-121, hier S. 120-121.
Hermann Weyl brachte die Schachanalogie erstmals in seinem Beitrag: „Randbemerkungen
zu Hauptproblemen der Mathematik", in: Mathematische Zeitschrift, Bd. 20, 1924, S. 131-
150, hier S. 147-148. Der Beitrag antwortet auf Huberts „Neubegründung der Mathematik"
(1922), zu der sich Hubert wiederum durch Weyls Beitrag „Über die neue Grundlagenkrise
der Mathematik" (1921) herausgefordert sah. Immerhin hatte Weyl zum innersten Kreis um
Hubert in Göttingen gezählt. Hubert griff in weiteren Entgegnungen die Analogie vom For-
melspiel auf: Siehe Hubert „Die Grundlagen der Mathematik", S. 77 u. 79. Derweil publizier-
te Weyl die Gleichsetzung formalistischer Mathematik mit dem Schachspiel insbesondere
auch an Orten, die nicht allein Fachmathematiker ansprechen: so z.B. in der Zeitschrift Sym-
^ posion (1925), S. 25-30 oder im Handbuch der Philosophie (1927), S. 40.
Vgl. Becker, Oskar, Mathemalische Existenz. Untersuchungen zur Logik und Ontotogie
mathematischer Phänomene, Tübingen 1973. (Die Schrift erschien erstmals im gleichen
Band von Husserls Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung wie Martin
Heideggers Schrift „Sein und Zeit I". Becker selbst hebt in seiner Schrift mehrmals darauf
ab.) Zum Formel- und Zeichenspiel siehe S. 71, 75, 76 u. S. 166. Siehe auch Dieudonne,
Jean, „Les methodes axiomatiques modernes et les fondements des mathematiques", in: Les
Grands Courants de la Pensee mathematique, hg. v. F. Le Lionnais, Paris, [1939] 1962,
S. 543-555, hier S. 550-551.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 151
zuvor häufig noch beigelegt wurde, so etwa wenn noch Gauß vom „inhaltslee-
ren Formelspier493 gesprochen hatte; aber auch Hilbert selbst, der 1919 noch
in einer Vorlesung mahnte, daß die Mathematik „nicht wie ein Spiel" sei, „bei
dem die Aufgaben durch willkürlich erdachte Regeln bestimmt werden"494.
Indem der mathematische Diskurs das Spiel als ein Zeichensystem aufnimmt,
erfährt er vielmehr eine radikale Ausweitung seiner Spiel-Räume.
3. Zeichenspiel
Der erste, der nach Leibniz Spiele wieder ernsthaft auf ihre mathematische
Wirksamkeit hin untersuchte, war Paul Du Bois-Reymond. Anders als sein
Bruder Emile, der wie kaum ein anderer für den Aufstieg der Physiologie zur
Leitwissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts gesorgt hatte, hörte Paul
Du Bois-Reymond neben seinem medizinischen Studium auch die Vorlesun-
gen Dirichlets über die Integration der partiellen Differentialgleichungen und
hatte schließlich Lehrstühle in reiner und angewandter Mathematik inne.
Daß eine Zäsur innerhalb der Mathematik dennoch weniger mit Paul Du
Bois-Reymond und mehr mit seinem Bruder in Verbindung gebracht wird,
liegt an den Verwerfungen, die auch Institutionen und die Stellung der Ma-
thematik zu anderen Disziplinen erfaßte.
„Ignoramus et ignorabimus" lautete Emile Du Bois-Reymonds abschlie-
ßendes Wort in der Leibniz-Sitzung in der Akademie der Wissenschaften
1880: Bewegende Kräfte und Bewußtsein sind von einer transzendenten
Unergründlichkeit.495 In „der Mathematik gibt es kein Ignorabimus!"496 - mit
diesen Worten eröffnete Hilbert den 2. Internationalen Mathematikerkongreß
1900 in Paris. Noch 30 Jahre später wird er nicht müde, für die Radiohörer zu
wiederholen: „Wir müssen wissen, wir werden wissen!"497 Als Hilbert auf dem
Kongreß das grundlegende Programm des anbrechenden Jahrhunderts ausgab,
erteilte er damit auch einem Gelehrtenstand, wie ihm die Brüder Du Bois-
Reymond noch angehörten, eine Absage. Huberts Liste von 23 Problemen, die
Vgl. Mehrtens, Herbert, Moderne ~ Sprache - Mathematik, Eine Geschichte der Disziplin
und des Subjekts formaler Systeme, Frankfurt/M., 1990, S. 108.
Hubert formuliert diesen Anspruch am konsequentesten in seinem Beitrag „Axiomatisches
Denken" von 1919: „Ich glaube: Alles, was Gegenstand des wissenschaftlichen Denkens ü-
berhaupl sein kann, verfällt, sobald es zur Bildung einer Theorie reif ist, der axiomatischen
Methode und damit mittelbar der Mathematik. Durch Vordringen zu immer tieferliegenden
Schichten von Axiomen [...) gewinnen wir auch in das Wesen des wissenschaftlichen Den-
kens selbst immer tiefere Einblicke und werden uns der Einheit unseres Wissens immer mehr
bewußt. In dem Zeichen der axiomatischen Methode erscheint die Mathematik berufen zu
einer führenden Rolle in der Wissenschaft überhaupt." Hubert, David, „Axiomatisches Den-
ken", in: derselbe, Gesammelte Abhandlungen: Zahlentheorie, Bd. 3, Berlin, Heidelberg,
New York, [1918] 1965, S. 146-156, hier S. 156. Mehrtens spricht in diesem Zusammenhang
von Huberts „nachgerade imperialistische[n] Zügefn]". Mehrtens. Moderne - Sprache - Ma-
thematik, S. 132.
Hubert, David, Wissen und mathematisches Denken. Vorlesungen von Prof. D. Hubert. WS.
1922/23, ausgearb. v.W. Ackermann, Typoskript (=Bibiliothek des Mathematischen Semi-
nars der Univ. Göttingen), Göttingen, 1988, S. 65 und gleichlautend: Du Bois-Reymond,
Paul, „Was will die Mathematik und der Mathematiker", S. 195. Vgl. auch Mehrtens, Mo-
derne ~ Sprache - Mathematik, S. 133.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 153
seinen Mathematiker-Bruder Paul, der als erster von der Möglichkeit alterna-
tiver Grundlagen, und nicht bloß von Systemen in der Mathematik ausging.501
Im Zuge dessen hatte Paul Du Bois-Reymond 1882 den Formalismus schon
beim Namen genannt und für tot erklärt - lange bevor Hubert eine formalisti-
sche, auf Axiomen beruhende Mathematik zum Programm erhob. Es sei des-
halb erlaubt, Du Bois-Reymond ausgiebiger zu zitieren:
Ein rein formalistisch-literales Gerippe der Analysis, worauf die bei Trennung
von Zahl und Zeichen von der Grösse hinausliefe, würde diese Wissenschaft,
welche in Wahrheit eine Naturwissenschaft ist, wenn sie auch nur die allge-
meinsten Eigenschaften des Wahrgenommenen in den Bereich ihrer Forschung
zieht, schließlich, wie bemerkt, zum blossen Zeichenspiel hinabwürdigen, wo
den Schriftzeichen willkürliche Bedeutungen beigelegt werden, wie den Schach-
figuren und Spielkarten. So ergötzlich ein solches Spiel sein kann, ja so nützlich
für analytische Zwecke die Lösung der Aufgabe sich erweist, die Regeln zwi-
schen den Zeichen, welche aus der Grössenvorstellung hervorgingen, nun bis in
ihre letzten formalen Consequenzen zu verfolgen, so würde dennoch diese litera-
le Mathematik, wenn sie von dem Boden, auf dem sie gewachsen, völlig losge-
löst würde, bald genug in unfruchtbaren Trieben sich erschöpfen, während die
von Gauss so wahr und tief Grössenlehre genannte Wissenschaft in dem natürli-
chen stets an Umfang zunehmenden Wahrnehmungsgebiet des Menschen eine
unversiegbare Quelle neuer Forschungsgegenstände und ersprießlicher Anregun-
gen besitzt. Ohne Frage wird man mit Hilfe von sogenannten Axiomen, von
Conventionen, ad hoc erdachten Philosophemen, unfassbaren Erweiterungen ur-
sprünglich deutlicher Begriffe nachträglich ein System der Arithmetik construi-
ren können, welches dem aus dem Grössenbegriff hervorgegangenen in allen
Puncten gleicht, um so die rechnende Mathematik gleichsam durch einen Cordon
von Dogmen und Abwehrdefinitionen gegen das psychologische Gebiet abzu-
sperren. Auch kann ein ungewöhnlicher Scharfsinn auf solche Construktionen
verwendet worden sein. Allein man würde auf dieselbe Weise auch andere arith-
metische Systeme sich ausdenken können, wie dies ja geschehen ist. Die ge-
wöhnliche Arithmetik ist eben die einzige dem linearen Grössenbegriff entspre-
chende, ist gleichsam seine erste Registrierung, während die Analysis, mit dem
Grenzbegriff an der Spitze seine höchste Entwicklung bildet. Auch die Schwie-
rigkeiten des Grenzbegriffes, denen wir alsbald furchtlos die Stirne bieten wer-
den, mag man durch Symbolik beseitigen zu können glauben. Es wird schwer-
lich gelingen. Denn jeder Analyst, in dem mehr steckt, als ein Combinatoriker,
wird dem Ursprung des Zeichenspieles nachgehen wollen, und also doch wieder
vor die umgangenen Probleme sich gestellt sehen.502
Du Bois-Reymond fordert also, anstatt durch einen „Cordon von Dogmen und
Abwehrdefinitionen" das „psychologische Gebiet" abzusperren, „wirkliche
Grössen" aus „einem an Umfang zunehmenden Wahrnehmungsgebiet des
Vgl. auch McCarty, David, „David Hubert and Paul Du Bois-Reymond. Limits and Ideals",
in: One hundredyears of Russell's paradox. Mathematics, logic, philosophy, hg. v. Godehard
Link, Berlin, 2004, S. 517-532, hier S. 517-523.
Du Bois-Reymond, Paul, Die Allgemeine Funktionentheorie: Metaphysik und Theorie der
mathematischen Grundbegriffe: Grösse, Grenze, Argument und Function, erster Teil, Tübin-
gen, 1882, S. 53-55. (Der zweite Teil ist nie erschienen.)
154 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
Menschen" zu ziehen. Daß dabei selbst ein Beweis der Existenz einer Grenze
stetiger Folgen, der unter Zuhilfenahme diskreter Dezimalbrüche läuft, nicht
zum Paradox wird, hat außermathematische Gründe. Nicht erst diskrete Zei-
chen zerlegen das Kontinuum in diskrete Größenfolgen, sondern die „Ei-
genthümlichkeit des Denkens" selbst, das „bei den Gesichtswahrnehmungen"
im ,,ruckweise[n] Drehen des Augapfels"501 sein äußeres Zeichen hat. Du
Bois-Reymond, der anfänglich mit Studien zum blinden Fleck hervortrat,504
stellte die Mathematik auf Grundlagen, die an die Psychologie und Physiolo-
gie des Menschen gebunden bleiben. Ferner unterschied er wirkliche von
mathematischen Größen, die er jeweils nochmals differenzierte. Wirkliche
Größen bezogen sich, seiner Lesart nach, jeweils auf eine äußere oder innere
Wahrnehmungswelt. Mathematische Größen indes, fassen kombinatorische
und „logische Vorgänge" zusammen.505 Du Bois-Reymond würde sie restlos in
die Domäne des Geistes verweisen, wenn nicht noch ein weiteres „Combina-
tionsgebiet" aufträte - nämlich das des Spiels:
Es kann nicht geläugnet werden, dass die Rösselsprungprobleme, besonders aber
die sogenannten Endpartien des Schachspiels [...] den Charakter acht mathemati-
scher Aufgaben zeigen, nur innerhalb eines höchst beschränkten Combinations-
gebiets.506
Einem Feld, das im ausgehenden 19. Jahrhundert sonst nur als Unterhal-
tungsmathematik wahrgenommen wurde, gewinnt Du Bois-Reymond eine
neue Dimension ab, jedoch nur, um sie gleich wieder zu verwerfen: Die
„Spielgrößen" haben mit den mathematischen Größen „die Unwirklichkeit
gemein", ohne allerdings wie letztere mit der Wirklichkeit in „enger Bezie-
hung" zu stehen.507
Der Bezug zum Spiel innerhalb der Mathematik, obwohl oder gerade weil er
nebensächlich auf den Plan tritt, ist der einzige, der von einer ,,gemeinsame[n]
Plattform aller Diskussionen" bestehen bleibt, als Hilbert, wie Weyl lakonisch
resümierte, „seine Beweistheorie aufstellte" und die Mathematik als „ein
System inhaltlicher, sinnerfüllter, einsichtiger Wahrheiten"508 umstürzte. Du
Bois-Reymond war „im Zeichenspiel" zwar auf ein „formalistisch-Iiterales
Gerippe" gestoßen, doch als mathematische Grundlage kam es wegen seines
„beschränkten Combinationsgebietfs]" nicht ernsthaft in Betracht. Die Kritik,
Ebenda, S. 166.
Vgl. McCarty, „David Hilbert and Paul Du Bois-Reymond", S. 522.
Du Bois-Reymond, Die Allgemeine Funktionentheorie, S. 38.
Ebenda, S. 40.
Ebenda, S. 41.
Weyl, „Diskussionsbemerkungen", S. 147.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 155
Figuren oder, wie wir lieber sagen wollen, Gestallen [...]. Ist das eine Grundlage
für Zahlentheorie? Zweifellos nicht. Man erhält so, wenn man die nötige Phanta-
sie hat, hübsche Zierleisten oder Tapetenborten und für jede eine Fabrikmarke,
aber keine Mathematik.5"
Die Kritik abzuwenden überließ Hubert Paul Bernays, der nicht umhin kam,
sprachliche Eingeständnisse zu machen. Statt von Zeichen spräche man zu-
künftig besser von Figuren512 - anstatt von Zahlen lieber von Ziffern.513 In der
Sache zeigte sich die Hilbertschule jedoch hartnäckiger. Wo die Grenze ver-
lief zwischen „sinnlosen Figuren"514 und Zeichen, die sie etablierten, stand
weiterhin zur Disposition.
Das Paradox, Infinität und Stetigkeit mit endlichen und diskreten Zeichen
zur Darstellung zu bringen, sucht Hubert einfach dadurch zu lösen, daß er sie
allein zur Sache axiomatischer Setzungen, und damit von Zeichensystemen
erklärte. Im Unterschied zu Du Bois-Reymond und allen Mathematikern, die
mit Leibniz davon ausgingen, die Welt mache keine Sprünge, schloß Hubert
Unendlichkeiten aus der physischen Welt aus:
Denn es gibt überall nur endliche Dinge. Es gibt keine unendliche Geschwindig-
keit und keine unendlich rasch sich fortpflanzende Kraft oder Wirkung. Zudem
ist die Wirkung selbst diskreter Natur und existiert nur quantenhaft. Es gibt ü-
berhaupt nichts Kontinuierliches, was unendlich oft geteilt werden könnte. Sogar
das Licht hat atomische Struktur, ebenso wie die Wirkungsgröße. Selbst der
Weltraum ist, wie ich sicher glaube, nur von endlicher Ausdehnung, und einst
werden uns die Astronomen sagen können, wie viel Kilometer der Weltraum
lang, hoch und breit ist. Wenn auch in der Wirklichkeit Fälle von sehr großen
Zahlen oft vorkommen, z.B. die Entfernung der Sterne in Kilometern oder die
Anzahl der wesentlich verschiedenen möglichen Schachspiele, so ist doch die
Endlosigkeit oder die Unendlichkeit, weil sie eben die Negation eines überall
herrschenden Zustandes ist, eine ungeheuerliche Abstraktion - ausführbar nur
durch die bewußte oder unbewußte Anwendung der axiomatischen Methode. Die
Auffassung vom Unendlichen, die ich durch eingehende Untersuchungen be-
gründet habe, löst eine Reihe von prinzipiellen Fragen, insbesondere werden da-
durch die Kantschen Antinomien über den Raum und über die unbegrenzten Tei-
lungsmöglichkeiten gegenstandslos und also die dabei auftretenden Schwierig-
keiten gelöst.515
Aloys Müller, „Überzahlen als Zeichen", in: Mathematische Annalen, Bd. 90, 1923, S. 153-
158, hier S. 156.
Bernays, Paul, „Erwiderung auf die Note von Herrn Aloys Müller: .Zahlen als Zeichen'", in:
Mathematische Annalen, Bd. 90, 1923, S. 159-63, hierS. 159.
Siehe Bernays editorische Anmerkung in: Hubert, David, „Neubegründung der Mathematik.
Erste Mitteilung", in: derselbe. Gesammelte Abhandlungen: Zahlentheorie, Bd. 3, Berlin,
Heidelberg, New York, [1922] 1965, S. 157-177, hier S. 163.
Bernays, „Erwiderung", S. 160.
Hubert, „Naturerkennen und Logik". S. 380.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 157
516
Ebenda, S. 385.
517
Weyl konstatiert, daß mit der sich abzeichnenden Durchsetzung des Formalismus „die
Phänomenologie als philosophische Grundwissenschaft gerichtet ist". Weyl zitiert nach Man-
cosu, Paolo, „Phenomenology and Mathematics. Weyl at a crossroads", in: Die Philosophie
und die Wissenschaften. Zum Werk Oskar Beckers, hg. v. Jürgen Mittelstrass und Annemarie
Gethmann-Siefert, München, 2002, S. 129-148, hier S. 145.
' „Auf die Frage, worin die wissenschaftliche Exaktheit dann wohl besteht, antworten beide
Parteien verscheiden; der Intuitionist sagt: im menschlichen Intellekt, der Formalist: auf dem
Papier." Brouwer zitiert Weyl, Hermann, „Ober den Symbolismus der Mathematik und ma-
thematischen Physik", in: derselbe. Gesammelte Abhandlungen, Bd. 4, hg. v. Komaravolu
Chandrasekharan, Berlin, Heidelberg. New York. [1953] 1968. S. 527-536. hier S. 529.
158 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
Holland was created and was kept in existence by the Sedimentation of the great
rivers. There was natural balance of dunes and deltas, of tides and drainage.
Temporary flooding of certain areas of the delta was a part of that balance. And
in this land could live and thrive a streng branch of the human race.
But people were not satisfied; in order to regulate or prevent flooding they built
dykes along the rivers; they changed the course of rivers to improve drainage or
to facilitate travel by water, and they cut down forests. No wonder the subtle
balance of Holland became disturbed; the Zuyder Zee was eaten away and the
dunes slowly but relentlessly destroyed. No wonder that nowadays even strenger
measures and ever more work are needed to save the country from total destruc-
tion.51"
An seiner Dissertation über die Grundlegung der Mathematik entzündete sich
bald darauf ein Streit mit seinem Doktorvater.520 Dieser lehnte weite Teile
seiner Doktorarbeit ab und strich auch den Satz, die Wissenschaft diene den
Menschen einzig im Kampf gegen ihresgleichen und gegen die Natur; sie
habe letztlich nur den Wert einer Waffe.521 Selbst astronomische Modelle
seien dem Willen einzelner unterworfen. Sie verstünden, von den Meßinstru-
menten jene Werte abzulesen, die sich zur Errichtung von Theorien anböten.
Brouwer beschied deshalb: ,,[T]he laws of astronomy are no more than the
laws of our measuring instruments."522 Für Brouwer selbst hatte die Mathema-
tik, rückwärtsgewandt über die konträren Positionen Kants und Leibniz'
hinaus, zu einer mystisch aufgeladenen Urintuition zurückzufinden.523
Umso überraschender fällt die Wende in Brouwers Karriere aus, als dem
Lehrstuhlinhaber für angewandte Mathematik wider Willen dieselbe tatsäch-
lich zur Waffe wurde. Vielleicht um der niederländischen Armee als Reservist
nicht noch ein weiteres mal dienen zu müssen - seine erste Dienstzeit muß
traumatisch verlaufen sein - trat Brouwer die Flucht nach vorne an und be-
gann sich von 1915 an in die Photogrammetrie zu vertiefen und dem Ministe-
Brouwer, Luitzen Egbertus Jan, „Life, Art, and Mysticism", in: Notre Dame Journal of
Formal Logic, übers, v. Walter P. van Stigt, Bd. 36, Nr. 3, [1906] 1996, S. 389-429, hier
S. 391.
520
Brouwers Verhältnis zu seinen Mentoren ist bemerkenswert: Sein Betreuer Diederik Johan-
nes Kortweg sollte ihm trotz heftiger Auseinandersetzungen seinen eigenen Lehrstuhl für
angewandte Mathematik an der Amsterdamer Universität überlassen. Brouwer fragte im Vor-
feld Hubert, der ihm über Jahre freundschaftlich verbunden war, um Rat, ob ausgerechnet er
einen Lehrstuhl für angewandte Mathematik annehmen solle oder besser einen vakanten Pos-
ten für reine Mathematik an einer Provinzuniversität. Hubert riet zu ersterem. Vgl. van Stigt,
Walter P., Brouwers Intuitionism (=Studies in the History & Philosophy of Mathematics),
Amsterdam, 1990, S. 59.
52
' Ebenda, S. 410.
22
Brouwer zitiert nach van Stigt, Brouwer 's Intuitionism, S. 40.
23
Dazu betrieb er Mathematik vorzugsweise nicht vom Schreibtisch aus, sondern mit geschlos-
senen Augen liegend oder im Schneidersitz in seiner „Hut". Dieses Domizil hielt Distanz zur
Amsterdamer Großstadt und seinem dortigen Lehrstuhl und stand nur dem kleineren Kreis
seiner Anhänger und ausgewähltem Besuch offen - dazu zählte auch Hubert. Einzelheiten bei
van Stigt, Brouwer's Intuitionism, S. 49.
VI. VON FORMF.LSP1ELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 1 59
dum für Verteidigung ein Memorandum vorzulegen.524 1915, das war das
Jahr, in dem er bei einem Besuch in Göttingen durch Schönflies erfahren
hatte, daß viele der dortigen jungen Mathematiker vom Militär für Messungen
und Transformationsberechnungen der Luftbildaufnahmen eingesetzt wurden
und Akademiemitglieder dem Generalstab beratend zur Seite standen.525 1915
ist aber auch das Jahr, in dem für die Photogrammetrie überhaupt eine neue
Ära anbrach. Damals meldete Oskar Messter sein „Verfahren zur Herstellung
photographischer Aufnahmen vom Flugzeug aus" zum Patent an.526 Aviatik
und Photographie konnten damit einen medientechnischen Verbund eingehen,
der in einer durchgängigen technischen Verarbeitungskette - also unter
Ausschluß menschlicher Wahrnehmung - aus Meßbildern Karten erstellte.
Brouwer rechnete dem niederländischen Generalstab vor, wie Dank trigono-
metrischer Verfahren unvermeidliche Winkelunterschiede bei Reihenaufnah-
men vom Gelände abgeglichen, und topographische Karten mit größerem
Maßstab als dem bis dahin üblichen erstellt werden könnten.527 Doch der
Generalstabschef winkte ab und erklärte den derzeitig zugrundegelegten
Maßstab für hinreichend. Die Arbeiten zur Photogrammetrie blieben ohne
Resonanz und Brouwer verfiel in eine Depression.
Als Weyl sich nach Kriegsende Brouwers Standpunkt zu mathematischen
Grundlagen zu eigen machte, sind geopoiitische Anklänge von Anfang an mit
im Spiel. Hubert kam darin Weyl zwar noch zuvor, als er 1917 auf Schweizer
Boden im Vortrag über das axiomatische Denken eine Analogie zog zwischen
dem „Leben der Wissenschaft" und Staaten, die nicht nur jeweils „gut geord-
net werden müssen", sondern auch in ihren Beziehungen zueinander.528 Weyl
spitzte die Lage drastischer zu, gliche sie doch der „Lösung des Okzidents
vom Orient" zu Zeiten der Perserkriege, deren Spannung und Überwindung
Vgl. van Daten, Dirk, Mystic, Ceometer, and Intuitionist. The Life ofL.EJ. Brouwer: Dawn-
ing, Bd. 1, Oxford, 1999, S. 277. Das Memorandum arbeitete Brouwer zu Beiträgen aus, die
gleich in mehreren Publikationen erschienen: Brouwer, L.E.J., „Luchtvaart en Photogram-
metrie", in: Nieuw Tijdschrift voor Wiskunde. Bd. 7 u. 8., 1919/1920, S. 311-331 u. S. 300-
307. Brouwer hatte schon zuvor Beiträge in Avia (1916) und Het Vilegveid (1917) zur Pho-
togrammetrie veröffentlicht.
Vgl. van Dalen, Mystic, Geometer, and Intuitionist, S. 276-277.
Eine kurze und pointierte Darstellung der Rolle der Meßbilder und Kartenherstellung mit
Beginn des Ersten Weltkriegs findet sich in einem Beitrag Bernhard Siegerts, „L'Ombra della
macchina alata. Gabriele d'Annunzios ,renovatio imperii' im Licht der Luftkriegsgeschichte
1909-1940", in: Der Dichter als Kommandant. D'Annunzio erobert Fiume, hg. v. Hans Ul-
rich Gumbrecht, Friedrich Kittler u. Bernhard Siegert, München, 1996, S. 261-305, siehe ins-
besondere: S. 268-278.
Brouwers photogrammetrische Arbeiten sind nicht in die Gesamtausgabe seiner Schriften
aufgenommen und wohl auch sonst nicht aus dem Niederländischen übersetzt worden. Herr
Prof. Jürgen Albertz, der Experte für Photogrammetrie ist und ihre Geschichte gut kennt, ließ
mich auf meine Anfrage hin wissen, daß er von Brouwers Beiträgen zur Photogrammetrie
noch nicht gehört hätte.
Hubert, „Axiomatisches Denken", S. 146.
160 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
„für den Griechen [...] zum treibenden Motiv der Erkenntnis" wurde."" Die
„Antinomien der Mengenlehre" werden vor diesem Hintergrund
als Grenzstreitigkeiten betrachtet, die nur die entlegensten Provinzen des ma-
thematischen Reichs angehen und in keiner Weise die innere Solidität und Si-
cherheit des Reiches selber, seiner eigentlichen Kerngebiete gefährden können.
[...] In der Tat: jede ernste und ehrliche Besinnung muß zu der Einsicht fuhren,
daß jene Unzuträglichkeiten in den Grenzbezirken der Mathematik als Sympto-
me gewertet werden müssen; in ihnen kommt an den Tag, was der äußerlich
glänzende und reibungslose Betrieb im Zentrum verbirgt: die innere Haltlosig-
keit der Grundlagen, auf denen der Autbau des Reiches ruht.530
Schließlich bleibt Weyl nur noch, in „der drohenden Auflösung des Staatswe-
sens der Analysis [...] festen Boden zu gewinnen" und auszurufen: „Brouwer
- das ist die Revolution!"531 Weyl und Brouwer sagte Hubert daraufhin einen
„Putschversuch", „Terror" und eine „Verbotsdiktatur" nach.532 Keine Frage,
der Einsatz einer Rhetorik zur Fortsetzung des Krieges mit verbalen Mitteln
mag über die Zeit nach 1918/1919 soviel aussagen wie über die Schärfe des
mathematischen Grundlagenstreits. Daß jedoch bei aller Metaphorik effektive
Verfahren zur Berechnung von Räumen und Grenzen Konjunktur hatten, darf
nicht übersehen werden.
So wie Beweisfiguren in den Vordergrund der mathematischen Diskurse
rücken, tritt das Metaphorische zurück. Die Vermessung eines naturgegebe-
nen Raumes unter Kontrolle zu bringen, ist nunmehr weniger dringlich, als
Räume, die aus einem zeichenbasierten Apparat entspringen, und die alles
andere als mathematisch gesichert sind, zu skizzieren.
Operativ betrachtet, stehen grundsätzliche Fragen zur Errichtung eines
„mathematischen Apparats"533 und eines Staatsapparats nunmehr auf dem
gleichen Blatt. Brouwer etwa mahnt an, daß vom Vertrauen in die von ihm
inkriminierten Prinzipien der klassischen Logik nicht „nur theoretische Wis-
senschaften wie die Paläontologie oder Kosmogonie" abhingen, „sondern
auch staatliche Einrichtungen wie die Strafprozeßordnung."534 Er stellt in
Frage, daß ein Theorem oder eine Formel schon deshalb als wahr anzusehen
sei, wenn ein Beweis, der vom Gegenteil ausgeht, zu einer Kontradiktion
führt. Umgekehrt mag eine Theorie noch nicht deshalb falsch sein, weil die
Annahme eines Gegenbeweises keine Kontradiktion aufweist. Um seinem
Weyl, „Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik", in: Symposium, Bd. I., Hft. 1, 1925,
S. 1-23, hierS. 1.
Weyl, „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik", S. 143.
Ebenda, S. 56.
Hubert, „Neubegründung der Mathematik", S. 160, 174 u. 159.
Hubert, David, „Über das Unendliche", in: Mathematische Annalen, Bd. 95, 1926, S. 161-
190, hier S. 171.
Brouwer, Luitzen Egbertus Jan, „Mathematik, Wissenschaft und Sprache", in: derselbe,
Collected Works, Bd. I, hg. v. Arend Heyting, Amsterdam, [1929] 1975, S. 159.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 161
Ebenda, S. 14.
Weyl, „Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik". S. 20.
Pachukanis, Eugen, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristi-
schen Grundhegriffe (^Archiv sozialistischer Literatur, Bd. 3), übers, v. Edith Hajos, Frank-
furt/M., [1924] 1970, S. 23-24.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 163
42
Weyl, „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik", S. 155.
543
Weyl, „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik", S. 153. Siehe zum Begriff des
Mediums bei Weyl auch Roller, Niels, Medientheorie im epistemischen Obergang. Hermman
Weyls Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaflen und Ernst Cassirers Philoso-
phie der symbolischen Formen und im Wechselverhältnis. (-Medien', Bd. 9), Weimar, 2000.
Du Bois-Reymond, Die Allgemeine Funktionentheorie, S. 87.
45
Weyl, „Über die Grundlagenkrise der Mathematik", S. 166. Hervorhebung im Orginal.
1 64 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
Bergson, Henri, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen
Körper und Geist, übers, v. Julius Frankenberger, Frankfurt/M., Berlin, [1896] 1982, S. 191.
Hervorhebungen im Original.
Vgl. Smith, Adam, „History of Astronomy", in: Essays on Philosophical Subjects, hg. v.
William P. D. Wightman, and J.C. Bryce, Oxford, [1749] 2003, S.33-105, hier S. 66. Es geht
Smith in diesem Zusammenhang um die Etablierung des Begriffs des Systems als allumfas-
senden Begriff: „Systems in many respects resemble machines. A machine is a little System,
created to perform, as well as to connect together, in reality, those different movements and
effects which the artist has occasion for. A System is an imaginary machine invented to con-
nect together in the fancy those different movements and effects which are already in reality
performed." Ebenda.
166 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
' Galton, Francis, „Statistics of Mental Imagery", Mind, Bd. 5, No.19, 1880, S. 301-318.
* Siehe die Illustrationen in Galton, Francis, Natural Inheritance. London, New York 1889, S.
63 und 107. Seine berühmteste „mechanical Illustration" ist als Galtonbrett bekannt gewor-
den. Sie veranschaulicht statistische Zusammenhänge wie Gauß-Verteilungen und Korrelati-
onen.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 167
tur.553 An ihnen ließen sich auf kontroverse Weise Grenzen erfahren, was
einerseits symbolisiert und formalisiert und andererseits imaginiert und ge-
dacht werden kann. Der Streit ging schließlich nicht zuletzt auch darum, ob in
der Mathematik ein Wechsel auf eine Metaebene möglich wäre. Während
David Hubert genau diesen Wechsel zum Programm erhob und sich von einer
Metasprache erhoffte, sie könnte eine operativ statthabende symbolische
Sprache präzise beschreiben, meldete E. J. Brouwer erhebliche Zweifel an.
Als unüberwindliches epistemisches Problem führt er die Zeitlichkeit an, die
einer mathematischen Operation eigen und wesentlich ist, und die für ihn
durch einen Gedankenakt vollzogen wird. Für Brouwer geht sie unwieder-
bringlich bei dem Versuch verloren, im Nachhinein auf die Operation Bezug
zu nehmen, nicht zuletzt, weil die Bezugnahme wiederum einer eigenen Zeit-
lichkeit unterliegt.554
In der Anführung fiktiver Maschinen ist jedoch eine Plattform zu erkennen,
die den sich aufspaltenden mathematischen Diskurs der Grundlagenkrise
überbrückte und in produktiver Bewegung hielt. Im Unterschied zu einer
festgelegten und festlegenden Metasprache heben die fiktiven Maschinen jene
zeitlich-performative Struktur auf, die mitzubedenken der Intuitionist Brou-
wer einforderte, und die der Formalist Hubert als jenes vor-läufige Operieren
ansah, das gedanklich einzuholen die Herausforderung des Mathematikers ist.
Die in Form fiktiver Maschinen und Modelle und als Zeichenspiele gedachten
Grundlagen der Mathematik tauchen jedoch auf, ohne daß sie systematisch
und in begrifflicher Strenge eingeführt worden wären. Die fiktiven Maschinen
sind dabei keineswegs als bloße Beispiele anzusehen, sondern bilden Diskurs-
ebenen, die sich regelrecht einspielen.
Jemand, der noch aus nächster Nähe die „Technisierung der formal-
mathematischen Denkarbeit"555 wahrnahm, war Edmund Husserl:
" Neben dem Schachspielschema als Analagon einer formalisierten Mathematik führt zum
Beispiel Weyl auch eine Maschine an, die später als sogenannte Zeus-Maschine aufgegriffen
wird, und die in einem endlichen Prozeß von „Entscheidungsakten" die Menge sämtlicher
natürlicher Zahlen durchläuft, und zwar indem angenommen wird, daß die Zeit, die für eine
Entscheidung aufgewendet wird, sich stetig halbiert. Vgl. Weyl, „Die heutige Erkenntnislage
in der Mathematik", S. 22 und Weyl, Philosophie der Mathematik, S. 34. Auch Hans Rei-
chenbach führt, um die Mathematik des Kontinuums ins Verhältnis zu setzen zu einer Ma-
thematik diskreter Elemente, Maschinengewehre und Wasserkanonen ins Feld. Vgl. Rei-
chenbach, Hans. „Stetige Wahrscheinlichkeitsfolgen", in: Zeitschrift für Physik, Bd. 53,
1929, S. 274-307, hier S. 275-276.
Vgl. Brouwer, Luitzen Egbertus Jan, „Historical lntroduction and fundamental notions", in:
derselbe, Brouwer's Cambridge lectures ort intuitionism, hg. v. Dirk van Dalen, Cambridge
u.a„ 1981, S. 1-20, hier S. 4. Die Konzeption von Brouwers zeitlichem Dispositiv geht auf
seine Dissertation zurück. Anläßlich seiner Vorträge in Wien führte Brouwer seine Überle-
gungen zur Wahrnehmung der Zeit (tijdsgewaarwording) noch weiter aus. Vgl. auch Dirk
van Dalen, Mystic, Geometer, and Intuitionist. The Life ofL.E.J. Brouwer: Hope and Disillu-
sion, Bd. 2, Oxford 1999. S. 562-566.
555
Husserl, Edmund, „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale
Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie", in: Gesammelte
Werke, hg.v. Walter Biemel, Bd. 6, Haag, [1936] 1976, S. 1-276, hier S. 48.
168 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
Eine Technisierung ergreift [...] alle der Naturwissenschaft sonst eigenen Me-
thoden. Nicht nur, daß diese hinterher sich „mechanisieren". Zum Wesen aller
Methode gehört die Tendenz, sich in eins mit der Technisierung zu veräußerli-
chen.556
Seine in den dreißiger Jahren abgefaßte Krisis-Schrift, daran sei erinnert,
sucht nicht in erster Linie die Gründe für „die Krisis unser Kultur"557 in den
humanistischen Wissenschaften, deren Wissenschaftlichkeit zu hinterfragen
nicht neu wäre. Er macht vielmehr eine drastische „Sinnverschiebung"558
ausgerechnet bei den prosperierenden positiven Wissenschaften aus, allen
voran bei der reinen Mathematik.55" Husserls Krisis-Schrift steht offenbar -
seiner und der allgemeinen politischen kritischen Lage geradezu zum Trotz -
noch im Bann der mathematischen Grundlagenkrise.560 Wissenschaft gerät für
ihn zur Texvn,, weil nicht erst das Denken zu Mechanisierungen drängt, son-
dern sich selbst schon als Mechanik zu denken gibt:
Gleicht die Wissenschaft und ihre Methode nicht einer offenbar sehr Nützliches
leistenden und darin verläßlichen Maschine, die jedermann lernen kann, richtig
zu handhaben, ohne im mindesten die innere Möglichkeit und Notwendigkeit
sogearteter Leistungen zu verstehen? Aber konnte die Geometrie, konnte die
Wissenschaft im voraus wie eine Maschine entworfen worden sein aus einem in
ähnlichem Sinne vollkommenen - wissenschaftlichen Verständnis? Führt das
nicht auf einen „regressus in infinitum?5"
Noch zu Husserls Lebzeiten hätte das Erscheinen einer Schrift seine rhetori-
schen Fragen in fundamentaler Weise ins Wanken geraten lassen, wenn diese
Schrift nicht zunächst nur die Aufmerksamkeit eines sehr kleinen Kreises an
Mathematikern erhalten hätte. 1936, zwei Jahre vor seinem Tod und inmitten
in der Abfassungszeit der Krisis-Schrift, verfertigte der britische Mathemati-
ker Alan Turing am King's College in Cambridge seine heute so berühmte
Schrift „On Computable Numbers with an Application to the Entscheidungs-
problem".562 Daß Turing in dieser Schrift einen entscheidenden Beweis zur
Frage der Formalisierbarkeit von Entscheidbarkeit anhand einer fiktiven
6
Ebenda, S.48.
Ebenda, S. 3.
8
Ebenda, S. 59.
9
Ebenda, S. 1.
0
Mit Vorsicht ist deshalb Lesarten zu begegnen, die ihr schon Hinweise auf die Härten zu
entnehmen versuchen, die Husserl noch am eigenen Leib in seinen letzten Lebensjahren
durch den nationalsozialistischen Führerstaat erlitt.
1
Ebenda, S. 52.
Turing, Alan, „On computable numbers, with an application to the Entscheidungsproblem",
in: Proceedings of the London Mathematical Society, Series 2, Bd. 42, 1936 - 1937, S 230 -
265. „Corrections" erschienen in: Proceedings of the London Mathematical Society. Series 2,
Vol.43.1937. S. 544-546.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 169
Maschine, einer Papiermaschine,"'3 durchführte, ging über die bis dahin vor-
herrschende, supplementierende Bedeutung fiktiver Maschinenkonstrukte
hinaus. Turings Maschinenfiktion dient in dieser Schrift nicht zur Exemplifi-
zierung seines Beweises, sie ist der Beweis.
Diese Wendung war für Husserl nicht absehbar; sein Blick galt noch ganz
der Praxis einer durchaxiomatisierten formalen Mathematik:
Bloß jene Denkweisen und Evidenzen sind nun in Aktion, die einer Technik als
solcher unentbehrlich sind. Man operiert mit Buchstaben, Verbindungs- und Be-
ziehungszeichen (+,x, = usw.) und nach Spielregeln ihrer Zusammenordnung, in
der Tat im wesentlichen nicht anders wie im Karten- oder Schachspiel.564
Einer derartig praktizierten formalen Mathematik sprach Husserl einen epis-
temologisch offenen Horizont ab und er räumt ihr ein, nur noch eine „bloße
Kunst"565 zu sein. Die „in intersubjektiver Vergemeinschaftung" methodisch
eingeübten Idealisierungen und Konstruktionen seien nur noch „habituell-
verfügbare" Aneignungen, „mit welchen man immer Neues erarbeiten kann:
eine unendliche und doch in sich geschlossene Welt idealer Gegenständlich-
keiten als Arbeitsfeld." Den mathematischen Symbolen kommt dabei der
Status zu, stets
objektiv erkennbar und verfügbar [zu sein], auch ohne daß ihre Sinnbildung stets
wieder explizit erneuert werden müßte; sie werden aufgrund sinnlicher Verkör-
perung, z.B. durch Sprache und Schrift, schlicht apperzeptiv erfaßt und operativ
behandelt. In ähnlicher Weise fungieren die sinnlichen „Modelle", zu welchen
insbesondere gehören die während der Arbeit beständig verwendeten Zeichnun-
gen auf dem Papier [...].566
Die mathematischen Symbole entsprächen letztlich deshalb Werkzeugen wie
Zange und Bohrer, nur eben geschaffen für „geistiges Hantieren".567 Indem
aber Turing die Minimaldefinition zur Kennzeichnung mathematischer Arbeit
auf eine Maschine übertrug um sicherzustellen, daß jeder Schritt, den sie
vollziehen würde, auch von einem Mathematiker vollzogen werden könnte,
erhob sich sein Maschinenentwurf zur Episteme. An ihr hat sich nun über-
haupt zu ermessen, was ein Mathematiker und was die Mathematik zu ent-
scheiden vermag. Radikaler hätte man mit unhinterfragten Operationen und
Eine Papiermaschine ist sie im doppelten Wortsinn: Konstrukt auf dem Papier und gleichzei-
tig auch Annahme einer Maschine, die im Wesentlichen aus einem endlosen Papierband be-
steht, das mit einem begrenzten Vorrat an Zeichen, nach festen Regeln und an bestimmten
Positionen beschrieben wird. Auch können Löschungen der Zeichen vorgenommen werden.
Die Prozedur, die ein Regelsystem befolgt, wird dabei als Turingmaschine aufgefaßt, die
Prozedur, die alle möglichen Prozeduren umfaßt, als universelle Turingmaschine. Vgl. auch
Hodges, Andrew, Alan Turing, Enigma (=Computerkultur, Bd. 1), übers, a. d. Engl. v. Rolf
Herken u. Eva Lack, Wien, New York, [1989] 1994, S. 115-125.
564
Husserl, „Die Krisis der europäischen Wissenschaften", S. 46. Hervorhebung im Orginal.
Ebenda.
SM
Ebenda, S. 23.
sei Ebenda, S. 24.
170 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
Daß damit alle bisherigen Maschinenvorstellungen ad acta zu legen sind, die in der Repro-
duktion den Modus operandi sahen, versteht sich von selbst.
Ausgehend von Turings Arbeit entwickelten Mathematiker wie Andrey Nikolaevich Kolmo-
gorov und Gregory J. Chaitin einen algorithmischen Begriff der Zufälligkeit. Siehe dazu ein-
führend Chaitin, Gregory J., The Limits of Mathematics. A Course on Information Theory
and the Limits of Formal Reasoning (= Discrete Mathematics and Theoretical Computer Sci-
ence), Singapore, 1998, S. 11.
Vgl. Hodge, Alan Turing, S. 146.
Manzano, Maria, „Alonzo Church: His Life, His Work and Some of His Miracles", in:
History and Philosophy of Logic, Bd. 18, 1997, S. 211-232, hier S. 221.
Church verzichtete selbst auf die Benutzung einer Schreibmaschine und zog es zeitlebens
vor, Papier und verschiedenfarbige Tinten für das Anschreiben seiner index- und zeichenrei-
chen Logikkalküle zu verwenden.
Husserl, „Die Krisis der europäischen Wissenschaften", S. 4.
172 VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
kenntniskritik zuwenden, so tun sie, was ich wünsche. Dies ist der Sinn des Sat-
zes vom Untergang des Abendlandes.574
Trotz der Kritik, die Scholz an Spenglers Buch übte, muß man von einem
Damaskuserlebnis ausgehen, als Scholz kurz darauf Whiteheads und Russells
Principia Mathematica in die Hände fielen."5 Seine Professur für Religions-
philosophie gab er auf, um den ersten Lehrstuhl für mathematische Logik und
Grundlagenforschung in Münster einzurichten.
Scholz schloß zu einem Kreis von Mathematikern auf, der sich ganz David
Huberts Programm zur Klärung mathematischer Grundlagen verschrieben
hatte. Dabei gehörte Scholz zu den wenigen, die die Bedeutung der funda-
mentalen Arbeit „On computable numbers" des britischen Mathematikers
Alan Turing sofort erkannten. Und er war der einzige, der Turing um einen
Separatdruck bat.576 Wäre Scholz nicht der Zweite Weltkrieg dazwischen
gekommen, dann hätte er schon 1939 dafür gesorgt, daß Turings fundamenta-
le Einsichten durch einen Eintrag in die ehrwürdige Enzyklopädie der mathe-
matischen Wissenschaften mathematisches Allgemeingut geworden wären.577
Anders als Turing, der schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs seine
mathematischen Fähigkeiten dem britischen Geheimdienst für die Erfor-
schung kryptologischer Verfahren zur Verfügung stellte, ließ sich Scholz
zunächst nicht von einem Studium der Logistik abbringen, die er von Gottlob
Freges „Begriffsschrift" bis zu Leibniz zurückverfolgte.578 Doch 1944 trat er
eine Reise nach Berlin an, um auf Einladung des noch gänzlich unbekannten
Ingenieurs Konrad Zuse dessen elektromechanische Rechenmaschine Z4 zu
inspizieren. Ein Fliegeralarm und der dadurch erzwungene gemeinsame Auf-
Scholz, Heinrich, Zum „ Untergang des Abendlandes ". Eine Auseinandersetzung mit Oswald
Spengler, Berlin, 1920, S. 5.
Vgl. Stock, Eberhard, Die Konzeption einer Metaphysik im Denken von Heinrich Scholz
(=Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 44), Berlin, New York, 1987, S. 31.
Die einzige Ausnahme stellt ein Kollege am Cambridge King's College dar, an dem Turing
selbst akademisch beheimatet war. Vgl. Hodges, Alan Turing, S. 146. Weder von Hermann
Weyl noch von John von Neumann erhielt Turing eine Resonanz auf seine Arbeit - beiden
hatte er seine Arbeit zukommen lassen. Vgl. Hodges, Alan Turing, S. 146. Dabei war er auf
Anraten seines Cambridger Mentors Newman für einen längeren Forschungsaufenthalt nach
Princeton gegangen, wo neben Alonzo Church, seinem dortigen Betreuer, mit Weyl und
Neumann auch jene beiden Mathematiker lehrten, die bis dahin im Grundlagenstreit um die
Frage der Berechenbarkeit zuletzt am stärksten involviert gewesen waren.
Vgl. Hodge, Alan Turing, S. 178.
Das Naziregime konnte nicht verhindern, daß Scholz weiterhin Kontakt zur Polnischen
Logikerschule hielt, er insbesondere Jan Lukasiewicz unterstützte. Ebensowenig ein Zuge-
ständnis an die Machthaber war Scholz' Verleihung des Ernst-Schröder Preises an den Logi-
ker J. C. C. McKinsey in den USA 1941. McKinsey gehörte nach dem Krieg zur Kerngruppe
von Amerikas prominentestem strategischem think tank, der Research and Development Cor-
poration (RAND), allerdings nur solange, wie ihn die Kritik an von Neumanns Spieltheorie
und seine Homosexualität nicht dazu zwangen, die Institution zu verlassen. McKinsey ließ
sich dadurch jedoch nicht davon abbringen, nach von Neumann ein Standardwerk der Spiel-
theorie zu schreiben. Vgl. auch Mirowski, Philip, Machine Dreams. Economics Becomes a
Cyborg Science. Cambridge, New York, 2002, S. 320-321.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 173
Zuse, Konrad, Der Computer, mein Lebenswerk, Berlin, Heidelberg, New York, u.a. 1986.
S. 76. Scholz begutachtete im März 1945 sehr wohlwollend Zuses Dissertationsschrift über
Ansätze einer Theorie des allgemeinen Rechnens, die Vorarbeiten seiner algorithmischen
Sprache, dem Plankalkül, darstellten. Als Dissertation eingereicht hatte Zuse die Arbeit je-
doch nicht. Vgl. Petzold, Hartmut, Moderne Rechenkünstler - Die Industrialisierung der Re-
chentechnik in Deutschland, München, 1992.
0
Zuse berichtet, erst später von Turings Arbeiten gehört zu haben. Vgl. Zuse, Konrad, „Kom-
mentar zum Plankalkül", in: derselbe, Der Plankalkül. Hg. v. Gesellschaft für Mathematik
und Datenverarbeitung, Nr. 63, 1972, S. 1-35, hier S. 5.
' Vgl. Bauer, Friedrich L., Decrypted Secret. Methods and Maxims of Cryptology, Berlin,
Heidelberg, New York u.a. 1997, S. 385-393.
2
Ironischerweise blieb Hasenjäger Turing auch nach dem Krieg über Maschinenkonfiguratio-
nen verbunden, denn er entwickelte als Assistent und Nachfolger von Scholz am Münsteraner
Lehrstuhl für mathematische Logik und Grundlagenforschung eine ganze Sammlung unter-
schiedlich gearteter Turingmaschinen.
Winterbotham, Frederick W., The Ultra Secret, London 1974.
174 VI. VON EORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
Zuse, Konrad, „Einleitung", in: Der Plankalkül, hg. v. Gesellschaft für Mathematik und
Datenverarbeitung, Nr. 63, 1972, S. 1-4, hier S. 1.
Zuse, Der Computer, S. 51.
Vgl. Zuse, Plankalkül, S. 35.
Vgl. Turing, Alan, „Chess", in: Fasler Than Thought. A Symposium on Digital Computing
Machines, hg. v. Bertram Vivian Bowden, London, 1953, S. 286-295. Turings Unterkapitel
gehört zu dem Beitrag Digital Computers Applied to Games, dessen Einleitung und andere
Kapitel, laut Hodges, allerdings nicht von Turing stammen. Turing hatte erste schachspielen-
de Papiermaschinen bereits während des Zweiten Weltkriegs in Bletchley Park ersonnen.
Vgl. auch Shannon, Claude E., „Programming a Computer for Playing Chess", in: Philoso-
phical Magazine, Series 7, Bd. 41, Nr. 314, 1950, S. 256-275. Und Shannon, Claude E„ „A
Chess-Playing Machine", in: Scientific American, Bd. 182, Nr. 2, 1950, S. 2124-2133.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 175
selbst. Zumindest erhellt das Spiel als Anwendungsfall des Computers dessen
Potenz als Plattform höchster Konkretion und gleichsam modellhafter Offen-
heit. So nahm Shannon anläßlich der Verleihung der höchsten Auszeichnung,
die Ingenieure in den USA bekommen konnten, für seine „game playing
machines" in Anspruch, daß sie auch alles andere bewältigen könnten, was in
der Zeit nach dem Krieg an Herausforderungen anstehe.588 Programme, die
einen „general purpose Computer" in den Stand setzten, Schach zu spielen,
ermöglichen laut Shannon auch langfristig Sprachen zu übersetzen, strategi-
sche Entscheidungen bei einfachen militärischen Operationen zu treffen, eine
Melodie zu instrumentieren oder logische Deduktionen auszuführen.58l)
Den ersten Schritt, Ernst mit dem Spiel zu machen, hat allerdings ein ande-
rer ausgeführt: John von Neumann. Bei ihm wird dem Spiel ein Stellenwert
eingeräumt, der sich von dem geläufigen Status während des Grundlagen-
streits merklich unterschiedet. Wenn dort das Spiel mit Zeichen half, dem
Formalismus über Tautologien hinwegzuhelfen, dann stand das Spiel selbst
nie im Zentrum des Erkenntnisinteresses, auch dann nicht, wenn konkrete
Spiele wie das Schachspiel verhandelt wurden.590 Ganz anders ging der große
Vgl. Shannon, Claude E., „Game Playing Machines", in: Journal ofthe Franklin Institute,
Bd. 260, Nr. 6, 1955, S. 447-453.
Vgl. Shannon, „Programming a Computer for Playing Chess", S. 637.
Zum Anwendungsfall seiner axiomatischen Mengenlehre erhöh das Schachspiel Ernst
Zermelo auf dem fünften internationalen Kongreß der Mathematik. Ausgangslage für Zerme-
los Beweis ist die Tatsache, daß das reguläre Schachspiel eine endliche Anzahl an Spielkons-
tellationen kennt, jedoch theoretisch endlos viele regelkonforme Züge zu machen einräumt.
Zermolo stellt eine Behauptung über die Determiniertheit auf, mit der eine Matt-Stellung,
wenn sie denn möglich ist, eintritt, auch wenn der Gegner theoretisch unendlich viele Züge
machen kann. Zermelo, Ernst, „Über eine Anwendung der Mengenlehre auf die Theorie des
Schachspiels", in: Proceedings ofthe Fiflh International Congress of Mathematicians, Cam-
bridge, 1912, hg. v. E. W. Hobson u. A. E. H. Love, Bd. 2, Cambridge, 1913, S. 501-504.
Die beiden ungarischen Mathematiker Läszlö Kalmar und Denes König haben 1928 und
1929 Zermolos Ansatz aufgegriffen. Wie dehnbar die Anwendung theoretischer Mathematik
auf den Gegenstand des Spiels ausfällt, zeigt sich darin, daß nun auch Lösungen für Schach-
bretter mit endlos vielen Feldern und Zugmöglichkeiten angenommen werden. Daß schon
Zermelos Ansatz für das Schachspiel folgenlos ist, gilt für ihre Beiträge indes gleichermaßen.
Schließlich hat sich noch Max Euwe in die Diskussion eingeschaltet, um am selben Beispiel
Brouwers intuitionistische Herangehensweise zu demonstrieren. Er stutzt Königs endloses
Schachbrett wieder auf ein konstruktives Maß zurück, da sich Intuitionisten verbieten, Exis-
tenzaussagen zu Eigenschaften von unabzählbaren Elementen zu machen. Max Euwe wird
übrings noch als Schachweltmeister von sich reden machen, und er wird als einziger Mathe-
matiker am Grabe L.E.J Brouwers, die Trauerrede auf ihn halten.
Kalmar, König und Euwe haben jeweils nicht unerwähnt gelassen, daß sie Anregungen von
einem Herrn Dr. von Neumann erhalten haben. Vgl. König, Denes, „Über eine Schlussweise
aus dem Endlichen ins Unendliche" in: Acta Litterarum ac Scientiarum, Sectio Seien. Math..
Bd. 2, Hfl. 26, 1927, S 121-130, Kalmar, Läszlö, „Zur Theorie der abstrakten Spiele", in:
Acta Litterarum ac Scientiarum, Sectio Seien. Math., Bd. 8, Hft. 15, 1928, S 65-85 und Eu-
we, Max, „Mengentheoretische Betrachtungen über das Schachspiel", in: Proceedings. Ko-
ninklijke Akademie van Wetenschappen Te Amsterdam. (Kommuniziert durch Prof. R. Weit-
zenböck), Bd. 32, Nr. 5, 1929, S. 633-642. Das 6. Kapitel dieser Schrift setzt sich eingehen-
der mit der Rolle des Spiels zur Zeit des Grundlagenstreits auseinander.
176 VI VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
Reduktionist von Neumann zu Werk: er zielte auf das Spiel selbst und durfte
sich mit einigem Recht als Begründer der Spieltheorie sehen. Ganz so, wie
von Neumann viel später Norbert Wiener vorschlagen wird, das Wesen des
Lebens besser nicht an der Komplexität gemessener Gehirnströme, sondern in
seiner denkbar einfachsten Form, der Zelle, zu studieren, so wandte sich der
junge von Neumann vom Schachspiel ab und den kinderleichtesten Spielen
zu: Dem „Grad und Ungrad"-Spiel oder „Papier, Schere, Stein". Von Neu-
mann räumte ein, daß die meisten Spiele kompliziertere Regeln aufweisen und
zudem noch vom Zufall beherrscht werden. Man denke hier nur an Karten-
und Würfelspiele. Vom Zufall abhängige Züge und die kalkulierten Schritte
der Spieler scheinen nach einer Unterscheidung zu verlangen. Darüber hinaus
sollte man annehmen, daß die Wechselwirkungen zwischen den Spielern ein
unabhängiges mathematisches Modell erfordern:
[Insbesondere] die Konsequenzen des (für alles soziale Geschehen so charakte-
ristischen!) Umstandes [sind zu berücksichtigen], daß jeder Spieler auf die Re-
sultate aller anderen einen Einfluß hat und dabei nur am eigenen interessiert
ist.591
Von Neumann führt all diese Unterscheidungen und Variablen nur ein, um sie
wieder vom Tisch zu fegen. Die bewußten Schritte oder zufälligen Züge sind
durch das Regelwerk des Spiels bestimmt oder durch Zufallsverteilungen
umrissen. Es gibt in von Neumanns Theorie des Spiels keinen Grund, die
Strategie, nach der man spielt, nicht schon vor dem Spiel festzulegen.592 Was
sich berechnen läßt, läßt sich auch vor dem Spiel zu einer „Spielmethode"5'3
berechnen. Was vor dem Spiel nicht zu berechnen ist, ist auch im Spiel nicht
zu berechnen, und von Neumann setzt zu einem verwickelten Beweis an, der
anhand einer bilinearen Funktion die Gültigkeit seines Mini-Max-Theorems
aufzeigt. Dem Theorem nach existieren Spielmethoden, die höchstmögliche
Gewinne garantieren, selbst wenn optimale Spielmethoden ihnen entgegenge-
setzt werden. Allein die Annahme eines zusätzlichen Teilnehmers an einem
Spiel, für das der Nachweis des Mini-Max-Theorems zu beweisen von Neu-
mann gelungen ist, wirft Probleme auf, deren mögliche Lösung er nur ansatz-
weise aufzeigen kann. Ob und wie Mini-Max-Theoreme für Regelwerke
beliebiger Spiele zu berechnen sind, vermag seine Theorie nicht aufzuzeigen,
auch nicht, als er sie 1944 unter reger Anteilnahme von Oskar Morgenstern
zur „Game Theory" ausbaut. Mit anderen Worten: Ausgesuchte Spiele mögen
durch von Neumann berechenbar geworden sein; Spiele, wie sie generell
vorzufinden sind, jedoch nicht.
Dennoch ist von Neumanns Theorie der Gesellschaftsspiele epistemisch
gesehen, von hoher Bedeutung, auch wenn er selbst erst im Prioritätsstreit mit
Neumann, John von, „Zur Theorie der Gesellschaftsspiele", in: Mathematische Annalen.
Bd. 100,1928, S. 295-320, hier S. 298.
592
Ebenda, S 299-300.
593
Ebenda, S. 300.
VI. VON FORMELSPIELEN ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE 177
Während Borel die Frage der Priorität selbst nicht mehr besonders interessiert zu haben
scheint, ergriff Maurice Frechet nach seinem Tod für ihn Partei. Bemerkenswert an der Aus-
einandersetzung, die 1953 in der Zeitschrift Economelrics austrugen wurde, ist Frechets
Hinweis, daß Georges Guilbaud es war, der ihn auf Boreis spieltheoretische Schriften über-
haupt hingewiesen hatte. Der Prioritätsstreit erweist sich mit Guilbaud im Hintergrund als
Symptom der wachsenden Aufmerksamkeit, die der Spieltheorie im intellektuellen Paris nach
1950 zukommt. Vgl. Frechet, Maurice, „Emile Borel, Initiator of the Theory of Psychological
games and its Application", in: Econometrica, Bd. 21, 1953, S. 95-96, hier S. 95.
Vgl. Ulam, Stanislaw, „John von Neumann, 1903-1957", in: Bulletin of the American
Mathematical Society, Bd. 64, Nr. 8, Teil 2, 1958, S. 1-49, hier S. 10, Anmerkung 3.
Die im übrigen auch die Finanzierung von Huberts Neubau des Mathematischen Instituts
übernahm, das nur wenige Jahre später verwaist sein wird. Vgl. Hubert, David, „Über meine
Tätigkeit in Göttingen", in: Hubert. Gedenkband, hg. v. Kurt Reidemeister, Berlin, Heidel-
berg, 1971, S. 78-82, hier S. 82.
Von Neumann hat bei der Veröffentlichung der Arbeit 1928 daraufhingewiesen, sie sei „mit
einigen Kürzungen" vorgetragen worden, was annehmen läßt, daß seine Theorie 1926 ausge-
arbeitet vorlag. Dem Zeitpunkt seines Vortrags kommt eine besondere Bedeutung zu, weil
insbesondere seine Arbeiten zur Quantenmechanik früher erschienen, aber erst später in Göt-
tingen entstanden. Daß schon der junge von Neumann zu einer zentralen Figur im Kreis der
Mathematiker um David Hubert wurde, indem er gleich auf mehreren ihrer Forschungsfelder
äußerst produktiv war, ist in der Forschung reichhaltig belegt und besprochen. Umso erstaun-
licher mutet an, daß über von Neumanns Göttinger Zeit, abgesehen von seinen Publikationen,
kaum etwas bekannt ist. In Göttingens Universitätsarchiv finden sich nach Aussage der dorti-
gen Archivare keine Spuren von v. Neumanns Aufenthalt. Neumanns Biograph Norman
Macrae vermutet, dieser könnte schon im Frühherbst in Göttingen angetroffen sein und spe-
kuliert über vorangegangene Aufenthalte. Siehe Macrae, John von Neumann, S. 115. Dabei
gibt es keinen Zweifel darüber, daß von Neumann am 12. November 1926 zum erstenmal
nach Göttingen kam und dort bis zum 1. Juli 1927 blieb. Belegt sind die Daten durch das
Göttinger Stadtarchiv, das das Melderegister mit von Neumanns Eintrag aufbewahrt. Die An-
gaben des Zeitraums stimmen mit den Angaben in Dokumenten des Rockefeller Archive
Center überein, aus denen zudem von Neumanns Abwesenheit zwischen den Semestern her-
vorgeht: Siehe von Neumanns Brief an Trowbridge vom 12. Mai 1927. Rockefeiler Archive
Center: International Education Board (IEB), Series 1, Subseries, 3, Box 55, Folder 896
[John L. Newmann / 1926-1938])
178 Vi VON FORMELSPIELF.N ZUR UNIVERSELLEN MASCHINE
Vgl. Shannon, Claude E., „Communication Theory of Secrecy Systems", in: Bell System
Technical Journal, Bd. 28, 1949, S. S.656-715, hier S. 662-663. Deutsch: „Die mathemati-
sche Kommunikationstheorie der Chiffriersysteme", in: derselbe, Ein/Aus. Ausgewählte
Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie, hg. v. Friedrich Kittler, Peter Berz
u.a. übers, a. d. Engl. v. Bernhard Siegert, Berlin 2000, S. 101-175.
Das Gründungsmanifest der französischen Mathematikergruppe, die unter dem Namen
Nicolas Bourbaki auftrat, beginnt mit der Frage: „La Mathematique, ou les Mathematiques?"
Vgl. Bourbaki, „L'architecture des mathematiques", S. 35.
Vgl. Heidegger, Martin, „Das Wesen der Sprache. Dritter Vortrag am 7. Februar 1958 im
Studium generale", in: derselbe, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart. [1953] 1993. S. 196-216,
hier S. 215.
QUELLEN UND LITERATUR
Quellen
Bei der ersten Zitation aus einem Text oder einem Dokument wird grundsätzlich die
vollständige Quellenangabe angeführt, bei wiederholten Zitationen derselben Quelle
werden nur noch Autor und Kurztitel genannt. Jahresangaben in eckigen Klammern
bezeichnen das Jahr der Erstveröffentlichung, sofern diese in signifikanter Weise vom
Erscheinungsjahr der verwendeten Quelle abweicht.
Unveröffentlichte Dokumente
Göttinger Stadtarchiv:
Melderegister Johann von Neumann
Bundesarchiv-Militärarchiv:
BA-MA Bestand P-094
Rudolf Hofmann über „Kriegsspiele", Bl. 8-74
Anlage 1: Ausarbeitung des ehemaligen Generals der Inf. Fangohr
Teil 1: „Beitrag zur Studie ueber Zweck und Art der
Durchfuehrung von Kriegsspielen, Planuebungen usw. im
deutschen Heer", B. 75-128
Teil 2: „Rekonstruktion der Kraftwagen-Transport-ue-
bung 1937" Bl. 129-143
Anlage 2: Ausarbeitung des ehemaligen Feldmarschalls List, B1.144-
190
Anlage 3: Ausarbeitung des ehemaligen Generals der Nachrichten-
truppe Praun: Nachrichtenverbindungen bei Kriegsspielen
und Rahmenuebungen
Eine Übersetzung auf Amerikanisch hat P. Luetzkendorf (Historical Division, Head-
quarters, US Army. Europe 1952) im gleichen Jahr angefertigt: War Games, U.S. Ar-
my Historical Document MS P-094, Department of the Army, Office of the Chief of
Military History, 1952.
182 LITERATUR
Literatur
Alberti, Leon Battista, „Ludi Rerum Mathematicarum", in: derselbe, Opere Volgari,
Bd. 3, hg. v. Cecil Grayson, Bari 1973, S. 130-173.
Altrock, Konstantin von, Das Kriegsspiel. Eine Anleitung zu seiner Handhabung. Mit
Beispielen und Lösungen, Berlin, 1908.
Anonymus (laut Dannhauer: Carl von Decker), „Supplement zu den bisherigen Kriegs-
spiel-Regeln", in: Zeitschrift für Kunst, Wissenschaft und Geschichte des Krieges,
Jg. 13, Nr. 4, 1828, S. 68-S. 105.
Anonymus [Albrecht von Roon], „Zur Erinnerung an den Griesheim, gestorben als
erster Commandant von Coblenz und Ehrenbreitenstein, am 1. Januar 1854", in:
Beiheft zum Militair-Wochenblatt 1854, S. 1-29.
Anonymus, „Zum Kriegsspiel", in: Militair-Wochenblatt, Nr. 35 u. 37, 1869, S. 276-
277 und S. 292-S. 295. (Hinter dem Verfassersigel 98, verbirgt sich laut Konstantin
von Altrock, Theodor von Troschke.)
Anonymus, „Zur Vorgeschichte des v. Reiswitz'schen Kriegsspiels", in: Militair-Wo-
chenblatt, Nr. 73, 1874, S. 693-694.
Anonymus, „Die Ausbildung der Artillerie auf Grund der Kampfschule und Schieß-
vorschrift (A.B.A). Nach amtlichem Material für alle Waffen bearbeitet", zugleich
5. Beiheft zum 107. Jg. des Militär-Wochenblatt, Berlin, 1923. S. 14.
Anonymus, „Eine peinliche Ehrenrettung", in: Das Schwarze Korps vom 3. Dezember
1936, Folge 49, S. 3.
Arbib, Michael A., „Toward an Automata Theory of Brains", in: Communications of
theACM, Bd. 15, Nr. 7, 1972, S. 521-527.
- „Warren McCulloch's Search for the Logic of the Nervous System", in: Perspectives
in Biology and Mediane, Bd. 43, Nr. 2, 2000, S. 193-216.
Aschhoff, Volker, Geschichte der Nachrichtentechnik: Nachrichtentechnische Ent-
wicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bd. 2, Berlin u.a., 1995.
LITERATUR 183
de Balzac, Honore, Lettres ä Madame Hanska, hg. v. Roger Pierrot, Paris, 1967.
La Comedie humaine, hg. v. Pierre-Georges Castex, Paris, 1981
Baudrillard, Jean, „Die Präzession der Simulakra", in, derselbe, Die Agonie des Rea-
len, übers, a. d. Franz. v. Lothar Kurzawa u. Volker Schaefer, Berlin 1978, S. 7-69.
- Der symbolische Tausch und der Tod, übers, a. d. Franz. v. Gerd Bergfleth, Mün-
chen, [1974] 1982.
Bauer, Friedrich L., Decrypted Secret. Methods and Maxims of Cryptology, Berlin,
Heidelberg, New York u.a. 1997.
Becker, Oskar, Mathematische Existenz, Untersuchungen zur Logik und Ontotogie
mathematischer Phänomene, Tübingen, [1927] 1973.
Beer, Stafford, „World in Torment. A Time Whose Idea Must Come", in: Kyerber-
netes, Bd. 22, Nr. 1, 1993, S. 15-43.
Benjamin, Walter, Gesammelte Briefe, hg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, Bd. 3,
Frankfurt/M., 1997.
Bergmann, Werner, Innovation im Quadrivium des 10. und 11. Jahrhunderts. Studien
zur Einführung von Astrolab und Abakus im lateinischen Mittelalter, Stuttgart, 1985.
Bergson, Henri, Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwi-
schen Körper und Geist, übers, v. Julius Frankenberger, Frankfurt/M., Berlin, [1896]
1982.
Bernays, Paul, „Erwiderung auf die Note von Herrn Aloys Müller: .Zahlen als Zei-
chen'", in: Mathematische Annalen, Bd. 90, 1923, S. 159-63.
- „Probleme der theoretischen Logik", in: Abhandlungen zur Philosophie der Mathe-
matik. Darmstadt, [1927] 1976, S. 1-16.
Beyerchen, Alan, „Clausewitz, Nonlinearity and the Unpredictability of War", in: In-
ternational Security, Bd. 17, Nr. 3, 1992, S. 59-90.
Biermann, Kurt-Reinhard, „Zum Verhältnis zwischen Alexander von Humboldt und
Carl Friedrich Gauß", in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu
Berlin, Mathem.-Naturw. Reihe, Jg. VIII, Nr. 1, 1958/1959, S. 121-130.
- Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet. Dokumente für sein Leben und Wirken. Zum
100. Todestag. Dok. Nr. 23. J.J.O.A Kühle von Lilienstern an Karl v. Altenstein am
4. Juli 1828 (= Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Ber-
lin. Klasse für Mathematik, Physik und Technik, Jg. 1958. Nr. 2) Berlin, 1959.
5. 41-42.
- Briefwechsel zwischen Alexander von Humboldt und Peter Gustav Lejeune Dirichlet,
übers, aus dem Franz. und hg. v. Kurt-Reinhard Biermann, Berlin, 1982.
- Die Mathematik und ihre Dozenten an der Berliner Universität. 1810-1933. Statio-
nen auf dem Wege eines mathematischen Zentrums von Weltrang, Berlin, 1988.
Bischoff, Bernhard, „Das griechische Element in der abendländischen Bildung des
Mittelalters", in: derselbe, Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur
Schriftkunde und Literaturgeschichte, Bd. 2, Stuttgart, 1967, S. 246-275.
Blumenberg, Hans, „Doppelte Buchführung. Synopse der Kriegstagebücher Wittgen-
steins 1914-1916", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 96 v. 25.04.1990, S. N3.
Booß-Bavnbek, Bernhelm und Jens Hoyrup (Hg.), Mathematics and War, Basel, Bos-
ton, Berlin, 2003.
Borst, Arno, Das mittelalterliche Zahlenkampfspiel (= Supplemente zu den Sitzungs-
berichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische
Klasse, Bd. 5), Heidelberg, 1986.
- „Rithmimachie und Musiktheorie", in: Geschichte der Musiktheorie: Rezeption des
antiken Fachs im Mittelalter, Bd. 3, hg. v. Frieder Zaminer, Darmstadt, 1990,
S. 253-288.
184 LITERATUR
Bosse, Heinrich, „Der geschärfte Befehl zum Selbstdenken. Ein Erlaß des Ministers v.
Fürst an die preußischen Univeritäten im Mai 1770", in: Institution Universität, Dis-
kursanalysen 2, hg. v. Friedrich Kittler, Manfred Schneider und Samuel Weber,
Opladen, 1990, S. 31-62.
Bourbaki, Nicolas, „L'architecture des mathematiques", in: Les grands courants de la
pensee mathematique (= L'Humanisme scientifique de demain. Bd. 1), hg. v. Fran-
cois le Lionnais, Paris, 1948, S. 35-47.
Bramer, Benjamin, Beschreibung eines sehr leichten Perspectiv und grundreissenden
Instruments auff einem Stande. Auff Johan Faulhabers weitere Continuation seine
mathematischen Kunstspiegels geordnet, Frankfurt, 1630.
- Bericht zu M. Jobsten Burgi seligen Geometrischen Triangulär Instruments. Mit
schönen Kupfferstücken hierzu geschnitten, Kassel, 1648.
Brandes, Georg, „Feldmarschall Moltke", in: derselbe, Gesammelte Schriften. Deut-
sche Persönlichkeiten, Bd. 1, München, 1902.
Bredekamp, Horst, Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz' Theater der
Natur und Kunst (= Acta humaniora. Schriften zur Kunstwissenschaft und Philoso-
phie), Berlin, 2004.
Brouwer, Luitzen Egbertus Jan, „Luchtvaart en Photogrammetrie", in: Nieuw
Tijdschrift voor Wiskunde. Bd. 7 u. 8., 1919/1920, S. 311-331 u. S. 300-307.
- „Mathematik, Wissenschaft und Sprache", in: derselbe, Collected Works, Bd. 1., hg.
v. Arend Heyting, Amsterdam, [1929] 1975.
- „Historical Introduction and fundamental notions", in: derselbe, Brouwer's Cam-
bridge lectures on intuitionism, hg. v. Dirk van Dalen, Cambridge u.a., 1981.
- „Life, Art, and Mysticism", in: Notre Dame Journal of Formal Logic, übers, v.
Walter P. van Stigt, Bd. 36, Nr. 3, [1906] 1996, S. 389-429.
Bruchmüller, Georg, Die deutsche Artillerie in den Durchbruchschlachten des Welt-
krieges. Zweite, wesentl. erw. Aufl. Berlin, 1922.
Brühl, Reinhard, Militärgeschichte und Kriegspolitik: zur Militärgeschichtsschreibung
des preußisch-deutschen Generalstabes 1816-1945 (= Schriften des Militärge-
schichtlichen Instituts der Deutschen Demokratischen Republik), Berlin, 1973.
Brunns, Karl (Hg.), Briefe zwischen A. v. Humboldt und Gauß. Zum hundertjährigen
Geburtstage von Gauß am 30. April 1877, Leipzig, 1877.
Busch, Oliver, Logos syntheseos. Die euklidische Sectio canonis, Aristoxenos und die
Rolle der Mathematik in der antiken Musiktheorie, Berlin, 1998.
Busche, Hubertus, Leibniz' Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im
Zeitalter der Berechnung (= Paradeigmata Bd. 17), Hamburg, 1997.
Bülow, Heinrich Dietrich von, Geist des neuern Kriegssystems: hergeleitet aus dem
Grundsatze einer Basis der Operationen / auch für Laien in der Kriegskunst faßlich
vorgetragen von einem ehemaligen Preußischen Offizier, Hamburg, 1799.
Butzer, Paul L., Manfred Jansen und Hubert Zilles, „Zum bevorstehenden 125. To-
destag des Mathematikers Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet (1805-1859). Mit-
begründer der mathematischen Physik im deutschsprachigen Raum", in: Sudhoffs
Archiv, Bd. 68, Nr. 1, 1984, S. 1-20.
Cantor, Moritz, Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik, Bd. 1, Leipzig,
Berlin, 1922.
Carsten, Francis L., Reichswehr und Politik. 1918-1933, Köln, Berlin, 1964.
Chaitin, Gregory J., The Limits of Mathematics. A Course on Information Theory and
the Limits of Formal Reasoning (= Discrete Mathematics and Theoretical Computer
Science), Singapore, 1998.
LITERATUR 185
Cassirer, Ernst, „Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie", in: derselbe,
Idee und Gestalt, Berlin, 1921, S. 157-202.
Clausewitz, Carl von: „Meine Vorlesungen über den kleinen Krieg, gehalten auf der
Kriegs-Schule 1810 und 1811", in: derselbe, Schriften, Aufsätze, Studien, Briefe.
Dokumente aus dem Clausewitz-, Scharnhorst- und Gneisenau-Nachlaß sowie aus
öffentlichen und privaten Sammlungen (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und
20. Jahrhunderts. Bd. 49), hg. v. Werner Hahlweg, Bd. 1, Göttingen, 1966, S. 208-
599.
- Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz, hg. v. Werner
Hahlweg, Bonn, [1832] 1980.
- „Die wichtigsten Grundsätze des Kriegführens zur Ergänzung meines Unterrichts bei
Sr. Königlichen Hoheit dem Kronprinzen", in: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des
Generals Carl von Clausewitz, Hg. v. Werner Hahlweg, Bonn, [1832] 1980,
S. 1047-1086.
Cochenhausen, Friedrich von, „Conrad von Hoetzendorf. Eine Studie über seine Per-
sönlichkeit", in: Schriften der kriegsgeschichtlichen Abteilung im historischen Semi-
nar der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, Berlin, 1934.
- Anleitung für die Anlage und Leitung von Planübungen und Kriegsspielen, Ber-
lin, 1934.
- „Einleitung", in: Carl von Clausewitz: Die wichtigsten Grundsätze des Kriegsfüh-
rens, Berlin, 1936, S. 5-8.
- „Führertum", in: Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften. Herausgegeben
im Auftrage der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften
und unter Mitarbeit umstehend aufgeführter Sachverständiger von Hermann Franke:
Wehrpolitik und Kriegsführung, Bd. 1, Berlin, Leipzig, 1936. S. 102-103.
Cohen, Kaiman J. und Eric Rhenman, „The Role of Management Games in Education
and Research", in: Management Science, Bd. 7, Nr. 2, 1961, S. 131-166.
Dannhauer, Ernst Heinrich, „Das Reiswitzsche Kriegsspiel von seinem Beginn bis zum
Tode des Erfinders 1827", in: Militair-Wochenblatt, Nr. 56, 1874, S. 527-532.
Dieudonne, Jean, „Les methodes axiomatiques modernes et les fondements des ma-
thematiques", in: Les Grands Courants de la Pensee mathematique, hg. v. F. Le
Lionnais, Paris, [1939] 1962, S. 543-555.
Dirks, Carl, und Karl-Heinz Janßen, Der Krieg der Generäle. Hitler als Werkzeug der
Wehrmacht. Berlin, 1999.
Domarus, Max, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945: Untergang, Erster
Halbband 1939-1940, Bd. 2, München, 1965.
Domaszewski, Alfred von, „Die Fahnen im römischen Heere", in: Abhandlungen des
archäologisch-epigraphischen Seminars der Universität Wien, Bd. 5, Hft. 5, 1885,
S. 1-80.
Du Bois-Reymond, Emil, „Die sieben Welträtsel. In der Leibniz-Sitzung der Akade-
mie der Wissenschaften am 8. Juli 1880 gehaltene Rede", in: derselbe, Vorträge
über Philosophie und Gesellschaft, hg. u. eingel. v. Siegried Wollgast, Hamburg,
1974, S. 159-187.
Du Bois-Reymond, Paul, „Was will die Mathematik und der Mathematiker? Rede
beim Antritt der ordentlichen Professur der Mathematik an der Universität Tübingen
(1874) gehalten", in: Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung,
Bd. 19, 1910, S. 190-198.
186 LITERATUR
Edgerton, Samuel Y., „The Renaissance Artist as Quantifier", in: The Perception of
Pictures I. Alberti's Window. The Projective Model of Pictures, hg. v. Margaret A.
Hagen, New York, 1980, S. 179-212.
Erdmann, Carl, Die Entstehung des Kreuzzugsgedankens, Stuttgart, 1935.
Euwe, Max, „Mengentheoretische Betrachtungen über das Schachspiel", in: Procee-
dings. Koninklijke Akademie van Wetenschappen Te Amsterdam. (Kommuniziert
durch Prof. R. Weitzenböck), Bd. 32, Nr. 5, 1929, S. 633-642.
Galison, Peter, „The Ontology of the Enemy: Norbert Wiener and the Cybernetic Vi-
sion", in: Critical Inquiry, Bd. 21, 1994, S. 228-266.
Galton, Francis, „Statistics of Mental Imagery", Mind, Bd. 5, No.19, 1880, S. 301-318.
- Natural Inheritance, London, New York 1889.
Ganghofer, Ludwig, Reise zur deutschen Front 1915, Berlin, Wien, 1915.
Genuth, Joel, „Microwave Radar, the Atomic Bomb, and the Background to U.S. Re-
search Priorities in World War II", in: Science, Technology, and Human Values, Bd.
13, 1988, S. 276-289.
Geyer, Hermann, „Der Angriff im Stellungskrieg", in: Urkunden der Obersten Hee-
resleitung über ihre Tätigkeit 1916/1918, hg. v. Erich Ludendorff. Berlin, 1921, S.
648-671.
Gödel, Kurt, „Nachtrag", in: Erkenntnis. Bericht über die 2. Tagung ßr Erkenntnis-
lehre der exakten Wissenschaften in Königsberg 1930, Bd. 2, Hft. 2-3, 1931, S. 147-
151.
Gow, James, Short History ofGreek Mathematics, Cambridge/M A, 1884.
LITERATUR 187
Groener, Wilhelm (Hg.), Führertum. 25 Lebensbilder von Feldherren aller Zeiten, Auf
Veranl. d. Reichswehrmin, Dr. Groener, bearb. v. Offizieren d. Reichsheeres und
zusammengestellt von Generalleutnant von Cochenhausen, Berlin 1930.
Grüger, Gert und Jörg Schnadt, „Die Entwicklung der geodätischen Grundlagen für
die Kartographie und die Kartenwerke 1810-1945", in: Berlin-Brandenburg im Kar-
tenbild, hg. v. Wolfgang Scharfe u. Holger Scheerschmidt. Berlin, 2000, S. 113-136.
Paul Müller alias Gurian, Waldemar, „Entscheidung und Ordnung. Zu den Schriften
von Carl Schmitt", in: Schweizerische Rundschau, 34. Jhg., 1943, S. 566-576.
Hahlweg, Werner, Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Grafen Johann
von Nassau-Siegen, hg. v. der Historischen Kommission für Nassau, Wiesbaden,
1973.
Harnack, Adolf, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaft,
Bd. 1, erste Hälfte, Berlin, 1900, S. 91.
Harsdörffer, Georg Philipp, Delitice Mathematicce et Physicce. Der Mathematischen
und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Teil, Neudruck der Ausgabe Nürn-
berg, 1651 (= Texte der Frühen Neuzeit), hg. v. Jörg Jochen Berns, Frankfurt/M.,
1990.
Hartlaub, Felix, ,,In den eigenen Umriss gebannt". Kriegsaufzeichnungen, literarische
Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945, hg. v. Gabriele Lieselotte E-
wenz, Bd. 1, Text, Frankfurt/M., [1955] 2002.
- „In den eigenen Umriss gebannt". Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente
und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945, hg. v. Gabriele Lieselotte Ewenz, Bd. 2,
Kommentar, Frankfurt/M. 2002.
Hausrath, Alfred H., Venture Simulation in War, Business, and Politics, New York,
1971.
Heidegger, Hermann, „Kann Kriegsgeschichtsunterricht heute noch einen praktischen
Nutzen haben?", in: Wehrkunde, 10. Jg., 1961, S. 195-199.
Heidegger, Martin, Über die .Linie'", in: Freundschaftliche Begegnungen, hg. v. Ar-
min Mohler, Frankfurt/M., 1955, S. 9-45.
- „Das Wesen der Sprache. Dritter Vortrag am 7. Februar 1958 im Studium generale",
in: derselbe, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart, [1953] 1993, S. 196-216.
- „Der Satz vom Grund", in: derselbe, Gesamtausgabe. I. Abteilung, Bd. 10, hg. v.
Petra Jaeger, Frankfurt/M., [1957] 1997.
Henniger-Voss, Marie J., „How the ,New Science' of Cannons Shook up the Aristote-
lian Cosmos", in: Journal ofthe History ofldeas, Bd. 63, 2002, S. 371-397.
Hensel, Kurt, „Gedächtnisrede auf Ernst Eduard Kummer", in: Nachrufe auf Berliner
Mathematiker des 19. Jahrhunderts. C.G.J. Jacobi, P.G.L. Dirichlet, E.E. Kummer,
L. Kronecker, K. Weierstrass, hg. v. Hans Reichardt, Leipzig, [1910] 1988, S. 75-
111.
Hubert, David, „Über das Unendliche", in: Mathematische Annalen, Bd. 95, 1926,
S. 161-190.
„Die Grundlagen der Mathematik", in: Abhandlungen aus dem Seminar der Ham-
burgischen Universität, Bd. 6, 1928, S. 65-85.
- „Axiomatisches Denken", in: derselbe, Gesammelte Abhandlungen: Zahlentheorie,
Bd. 3, Berlin, Heidelberg, New York, [1918] 1965, S. 146-156.
- „Mathematische Probleme", in: derselbe, Gesammelte Abhandlungen: Zahlentheorie,
Bd. 3, Berlin, Heidelberg, New York, [1901] 1965, S. 290-329.
- „Naturerkennen und Logik", in: derselbe, Gesammelte Abhandlungen: Zahlentheo-
rie, Bd. 3, Berlin, Heidelberg, New York, [1930] 1965, S. 378-387.
188 LITERATUR
lllmer, Detlef u.a., Rhvthmomachia. Ein uraltes Zahlenspiel neu entdeckt, München,
1987.
Jacobi, Carl Gustav Jacob, „Über die Pariser Polytechnische Schule", in: derselbe,
Gesammelte Werke, hg. v. Karl Weierstrass, Bd. 7, Berlin, [1835] 1891, S. 355-370.
Jahns, Max, Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland. XVII.
und XVIII. Jahrhundert bis zum Auftreten Friedrichs des GroJSen 1740 (= Ge-
schichte der Wissenschaften in Deutschland Neuere Zeit 22), Bd. 2, München, Leip-
zig, 1890.
Jünger, Ernst, „Kaukasische Aufzeichnungen", in: derselbe, Sämtliche Werke: Strah-
lungen II, Tagebücher II, Erste Abt., Bd. 2., Stuttgart, [1949] 1979, S. 407-492.
LITERATUR 189
Kalmar, Läszlö, „Zur Theorie der abstrakten Spiele", in: Acta Litterarum ac Scientia-
rum, Sectio Seien. Math., Bd. 8, Hft. 15, 1928, S 65-85.
Kant, Immanuel, „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", in: Kant's gesammelte
Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 7, 1.
Abt.,'Berlin, [1798] 1917, S. 117-333.
- „Was heißt: Sich im Denken orientieren?", in: derselbe, Kant's Gesammelte Schrif-
ten, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abt., Bd.
VIII, Berlin, Leipzig 1923, S. 131-146.
Kellerhoff, Felix Sven, „Die vergessene Front. Eine Berliner Tagung rekonstruiert den
anderen Krieg, der von 1914 bis 1918 den Osten Europas verwüstete", in: Die Welt
vom 02.06.2004.
Kennedy, Ellen, „Carl Schmitt und Hugo Ball. Ein Beitrag zum Thema politischer
Expressionismus'", in: Zeitschrift für Politik, 35. Jhg., 1988, S. 143-162.
Keynes, John Maynard, A Treatise on Probability, London, 1921.
Kiesel, Helmuth (Hg.), Ernst Jünger - Carl Schmitt. Briefe 1930-1983,. Transkription
der Briefe Isolde Kiesel, Stuttgart, 1999.
Kirchmann, Kay, Blicke aus dem Bunker. Paul Virilios Zeit- und Medientheorie aus
der Sicht einer Philosophie des Unbewußten, Stuttgart 1998, S. 16.
Kittler, Friedrich, „Ottilie Hauptmann", in: derselbe, Dichter - Mutter - Kind, Mün-
chen, 1991, S. 119-148.
- „II fiore delle truppe scelte", in: Der Dichter als Kommandant. D'Annunzio erobert
Fiume, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht, Friedrich Kittler u. Bernhard Siegert, Mün-
chen, 1996, S. 205-225.
Kittler, Wolf, „Militärisches Kommando und tragisches Geschick. Zur Funktion der
Schrift im Werk des preußischen Dichters Heinrich von Kleist", in: Heinrich von
Kleist. Studien zu Werk und Wirkung, hg. v. Dirk Grathoff, Opladen, 1988, S. 56-68.
Klein, Felix, „Über die Aufgaben und die Zukunft der philosophischen Fakultät", in:
Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 13, Hft. 5, 1904,
S. 267-276.
Klein, Jacob, „Die griechische Logistik und die Entstehung der Algebra", in: Quellen
und Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Physik, Bd. 3, 1936,
S. 18-105 u. S. 122-235.
Kleist, Heinrich von, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Helmut Sembdner, Bd. II,
Darmstadt, 1961.
Kling, Thomas, Auswertung der Flugdaten, Köln, 2005.
Knobloch, Eberhard, Die mathematischen Studien von G. W. Leibniz zur Kombinatorik
(= Studia Leibnitiana, Supplementa 11), Wiesbaden, 1973-1976
- „Musik", in: Maß, Zahl und Gewicht. Mathematik als Schlüssel zu Weltverständnis
und Weltbeherrschung, hg. v. Menso Folkerts, Eberhard Knobloch u. Karin Reich,
Ausstellungskatalog, Weinheim, 1989, S. 243-250.
König, Denes, „Über eine Schlussweise aus dem Endlichen ins Unendliche" in/ Acta
Litterarum ac Scientiarum, Sectio Seien. Math., Bd. 2, Hft. 26, 1927, S 121-130.
Körner, Karl, Die Templerregel, Jena, 1902.
Krämer, Sybille, Symbolische Maschinen. Die Idee der Formatierung in geschichtli-
chem Abriß, Darmstadt, 1988.
190 LITERATUR
Kreutzer, Joachim: „Heinrich von Kleists Lebensspuren", in: Euphorion, Bd. 62, 1968,
S. 188-224.
Kummer, Ernst Eduard, „Gedächtnisrede auf Gustav Peter Lejeune-Dirichlet", in:
Nachrufe auf Berliner Mathematiker des 19. Jahrhunderts: C.G.J. Jacobi, P.G.L.
Dirichlet, E.E. Kummer, L. Kronecker, K. Weierstrass, hg. v. Hans Reichardt (=
Teubner-Archiv zur Mathematik. Bd. 10), Leipzig, [1861] 1988, S. 36-71.
Lacan, Jacques, „Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewißheit. Ein
neues Sophisma", in: derselbe, Schriften III, hg. v. Norbert Haas und Hans-Joachim
Metzger, übers, a. d. Franz. v. Hans-Joachim Metzger, Weinheim, Berlin, [1945]
1986, S. 101-121.
Lampe, Emil, „Dirichlet als Lehrer der Allgemeinen Kriegsschule", in: Naturwissen-
schaftliche Rundschau 38. Jg. XXI, 1906, S. 482-485.
Lange, Sven, ,„Der große Schritt vom Wissen zum Können' - die ,applikatorische
Methode' in der amtlichen Kriegsgeschichtsschreibung des Kaiserreichs", in: Terra
et Mars: Aspekte der Landes- und Militärgeschichte; Festschrift für Eckardt Opitz
zum 65. Geburtstag, hg. v. Michael Busch, Neumünster, 2003.
Leibniz, Gottfried Wilhelm, „Annotatio de quibusdam Ludis; inprimis de Ludo quod-
dam Sinico, differentiaque Scachici & Latrunculorum, & novo genere Ludi Nava-
lis", in: Miscellanea Berolinensia, 1710, S. 22-26.
- „Zufällige Gedanken von der Erfindung nützlicher Spiele. Aus den mündlichen Un-
terredungen aufgezeichnet von J. F. Feller", in: derselbe, Leibniz 's Deutsche Schrif-
ten, Bd. 2, hg. v. Gottschalk Eduard Guhrauer, Berlin, 1840.
- „Dissertatio de Arte Combinatoria", in: derselbe, Die philosophischen Schriften, Bd.
4, Abt. 2, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Berlin, [1666] 1880, S. 15-104.
- „Agenda", in: Sämtliche Schriften und Briefe, hg. v. d. Akademie der Wissenschaf-
ten der DDR, 4. Reihe, Bd. 3, Berlin, 1986, S. 894-902.
- „Gedanken zum Entwurf der teutschen Kriegsverfassung", in: Sämtliche Schriften
und Briefe, hg. v. d. Akademie der Wissenschaften der DDR, 4. Reihe, Bd. 2, Berlin,
1986, S. 577-593.
- Die philosophischen Schriften, Bd. 3, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Berlin, 1887.
Lilian Winstanley, Hamlet. Sohn der Maria Stuart, übers, a. d. Engl. v. Anima
Schmitt, Pfullingen, 1952.
Linnenkohl, Hans, Vom Einzelschuß zur Feuerwalze. Der Wettlauf zwischen Technik
und Taktik im Ersten Weltkrieg, Koblenz, 1990, S. 150-151.
Löbel, Uwe, „Neue Forschungsmöglichkeiten zur preußisch-deutschen Heeresge-
schichte. Zur Rückgabe von Akten des Potsdamer Heeresarchivs durch die Sowjet-
union" in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, Bd. 51, Hft. 1, 1992, S. 143-149.
Lorey, Wilhelm, Das Studium der Mathematik an den deutschen Universitäten seit
Anfang des 19. Jahrhunderts (- Abhandlungen über den mathematischen Unterricht
in Deutschland, Bd. 3), Leipzig, Berlin 1916.
Lüdecke, Cornelia, Carl Ritters Lehrtätigkeit an der Allgemeinen Kriegsschule in Ber-
lin 1820-1853, Berlin, 2002.
Lupfer, Timothy T., The Dynamics of Doctrine. Changes in German Tactical Doctrine
During the First World War, Leavenworth Papers No. 4, U.S. Army Combat Studies
Institute, Fort Leavenworth/Kansas, 1981.
Müller, Aloys „Über Zahlen als Zeichen", in: Mathematische Annalen, Bd. 90, 1923,
S. 153-158.
Neumann, John von, „Zur Theorie der Gesellschaftsspiele", in: Mathematische Anna-
len, Bd. 100,1928, S. 295-320.
- „Die formalistische Grundlegung der Mathematik", in: Erkenntnis, Bericht über die
2. Tagung fiir Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften in Königsberg 1930, Bd.
2,Hft.2-3, 1931, S. 116-121.
Nicolin, Günther (Hg.), Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, Berlin 1971.
Pachukanis, Eugen, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der
juristischen Grundbegriffe (= Archiv sozialistischer Literatur, Bd. 3), übers, v. Edith
Hajos, Frankfurt/M., [1924] 1970.
Page, Helena P., General Friedrich Ulbricht. Ein Mann des 20. Juli, Bonn, Berlin,
1989.
von Papen, Franz, Der Wahrheit eine Gasse, München, 1952.
von Priesdorff, Kurt, „Karl Friedrich von dem Knesebeck", Nr. 1346, in: Soldatisches
Führertum, Hamburg, 1936-1942, Bd. 7, S. 344-348.
Paret, Peter, „Kleist und Clausewitz: A Comparative Sketch", in: Festschriftför Eber-
hard Kessel zum 75. Geburtstag, hg. v. Heinz Duchhardt u. Manfred Schlenke,
München, 1982, S. 130-139.
- Clausewitz und der Staat. Der Mensch, seine Theorien und seine Zeit, Bonn, [1976]
1993.
Petzold, Hartmut, Moderne Rechenkünstler - Die Industrialisierung der Rechentechnik
in Deutschland, München, 1992.
Pichler, Alois, Wittgensteins philosophische Untersuchungen. Vom Buch zum Album
(= Studien zur österreichischen Philosophie, Bd. 36), Amsterdam, New York, 2004.
Pieper, Herbert, Netzwerk des Wissens und Diplomatie des Wohltuns. Alexander von
Humboldt, Carl Friedrich Gauß und Gustav Dirichlet, Jacob Jacobi, Eduard Kum-
mer, Gotthold Eisenstein (= Berliner Manuskripte zur Alexander-von-Humboldt-
Forschung, Bd. 20), Berlin, 2003.
Post, Gaines, The Civil-Militarv Fabric of Weimar Foreign Policy, Princeton, 1973,
S.320.
Poten, Bernhard, „Reiswitz", in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. durch die histo-
rische Commission bei der königl. Akademie der Wissenschaften, Leipzig 1889, 28.
Bd., S. 153-154.
du Praissac, Sieur, The Art ofWarre or Militarie discourses..., Cambridge, 1639.
Pyta, Wolfram, „Vorbereitungen für den militärischen Ausnahmezustand unter den
Regierungen Papen / Schleicher", in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 51. Jhg., 2.
Hft.,1992, S. 385-428.
-„Verfassungsumbau, Staatsnotstand und Querfront: Schleichers Versuche zur Fern-
haltung Hitlers von der Reichskanzlerschaft August 1932 - Januar 1933", in: Gestal-
tungskraft des Politischen, hg. v. Wolfram Pyta u. Ludwig Richter, Berlin, 1998.
S. 173-197.
LITERATUR 193
Schaffner, Wolfgang, „Psychiater machen mobil durch Arbeit und Kriegsspiel. Zur
Allianz von Militär und Psychiatrie" in: Messungen. Zeitschrift für Interpretations-
wissenschaften, Bd. 1, 1991, S.25-33.
Scharfenort, Louis A. von, Die Königlich Preussische Kriegsakademie. 1810-1910,
Berlin 1910.
Scharlau, Winfried und Eberhard Knobloch, „Berlin. Universität", in: Mathematische
Institute in Deutschland 1800 - 1945 (= Dokumente zur Geschichte der Mathematik.
Bd. 5), Braunschweig, Wiesbaden, 1989, S. 25-48.
Scharnhorst, Gerhard Johann David von, Nutzen der militärischen Geschichte; Ursach
ihres Mangels. Ein Fragment aus dem Scharnhorst-Nachlass, Faksimilie der Hand-
schrift mit Übertragung und Einführung von Ursula von Gersdorff, Osnabrück,
1973.
Schellendorff, Paul Bronsart von, Der Dienst des Generalstabes, Zwei Teile in einem
Band, Berlin, 1875.
Schmitt, Carl, „Der Adressat", in: Die Rheinlande, Bd. 21, 11. Jhg., 12. Hft., 1911,
S. 429-430.
- „Richard Wagner und eine neue ,Lehre vom Wahn"', in: Bayreuther Blätter.
35. Jhg. 1912, S.239-241.
- „Der Führer schützt das Recht", in: Deutsche Juristen-Zeitschrift vom 1. August,
Hft. 15, 39. Jhg. 1934, Spalten 945 -950.
- „Juristische Fiktionen", in: Deutsche Juristenzeitung. 18. Jhg. 12. Hft., 1913, S. 804-
805.
194 LITERATUR
Ueberschär, Gerd, „Die militärische Planung für den Angriff auf die Sowjetunion", in:
Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941, hg. v. Gerd Ueberschär und Lev A.
Bezymenskij, Darmstadt, 1998, S. 21-37.
Ulam, Stanislaw, „John von Neumann, 1903-1957", in: Bulletin of the American
Mathematical Society. Bd. 64, Nr. 8, Teil 2, 1958, S. 1-49.
Vossen, Peter, Der Libellus Scolasticus des Walther von Speyer. Ein Schulbericht aus
dem Jahre 984, Berlin, 1962.
Waismann, Friedrich, „Vorbemerkung", in: Erkenntnis. Bericht über die 2. Tagung für
Erkenntnislehre der exakten Wissenschaften in Königsberg 1930, Bd. 2., Hft. 2-3,
1931, S. 87.
Watzlawick, Paul, Janet H. Beavin und Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation.
Formen, Störungen, Paradoxien, Bern, Stuttgart, Wien 1982.
Wehking, Ulrich, „Leibniz und Go", in: Deutsche Go Zeitung, Bd. 63, Nr. 3, 1988,
S. 37-39.
Weickmann, Christoph, New-erfitndenes grosses Königs-Spiel etc, Ulm, 1664.
Weigel, Erhard, „Arithmetische Beschreibung der Moral-Weißheit von Personen und
Sachen", in: derselbe, Werke (= Clavis pansophiae 3), Bd. 2., hg. v. Thomas Behme,
Stuttgart-Bad Cannstatt, 2004.
Weyl, Hermann, „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik", in: Gesammelte
Abhandlung, Bd. 2, hg. v. Komaravolu Chandrasekharan, Berlin, Heidelberg, New
York, [1921] 1968, S. 143-180.
- „Randbemerkungen zu Hauptproblemen der Mathematik", in: Mathematische Zeit-
schrift, Bd. 20, 1924, S. 131-150.
- „Die heutige Erkenntnislage in der Mathematik", in: Symposium, Bd. 1., Hft. 1,
1925, S. 1-23.
- „Über den Symbolismus der Mathematik und mathematischen Physik", in: derselbe,
Gesammelte Abhandlungen, Bd. 4, hg. v. Komaravolu Chandrasekharan, Berlin,
Heidelberg, New York, [1953] 1968, S. 527-536.
Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft, München, Wien, [ 1927] 1982.
Winterbotham, Frederick W., The Ultra Secret, London 1974.
Wittgenstein, Ludwig, Notebooks 1914-1916, hg. v. Georg Henrik von Wright und
Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe, übers, aus dem Englischen v. G.E.M Ans-
eombe, Oxford, 1961.
- Wittgenstein 's Lectures - Cambridge. 1930-1932. From the Notes of John King and
Desmond Lee, hg. v. Desmond Lee, Oxford, 1980.
„Philosophische Grammatik", in: derselbe, Werkausgabe, Bd. 4, hg. v. Rush Rhees,
Frankfurt/M., 1984, S. 47-51.
- „Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus", in: derselbe,
Werkausgabe, Bd.l, Frankfurt/M., [1922] 1995, S. 8-85.
- „Philosophische Untersuchungen", in: derselbe, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M.,
1995, S. 225-580.
- „Kalkül und Anwendung", in: derselbe, Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der
Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus
dem Nachlaß von B.F. McGuinness, Frankfurt/M., 1989, S. 170.
- „Vermischte Bemerkungen", in: derselbe, Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt/M., 1989,
S. 474.
- „Was in Königsberg zu sagen wäre", in: Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der
Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus
dem Nachlaß von B.F. McGuinness. Frankfurt/M., 1989, S. 102-107.
- Geheime Tagebücher 1914-1916, hg. u. dok. v. Wilhelm Baum, Wien, Berlin, 1991.
- Werkausgabe: Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis. Gespräche, aufgezeichnet
von Friedrich Waismann, Bd. 3, hg. aus dem Nachlaß von Brian F. McGuinness,
Frankfurt/M., 1989.
LITERATUR 197
Zabecki, David T., Steel Wind. Colonel Georg Bruchmüller and the Birth of Modern
Artillery (= The Military profession), Westport, London, 1994.
Zermelo, Ernst, „Über eine Anwendung der Mengenlehre auf die Theorie des Schach-
spiels", in: Proceedings of the Fifth International Congress of Mathematicians,
Cambridge, 1912, hg. v. E. W. Hobson u. A. E. H. Love, Bd. 2, Cambridge, 1913,
S. 501-504.
Zuse, Konrad, „Einleitung", in: Der Plankalkül, hg. v. Gesellschaft für Mathematik
und Datenverarbeitung, Nr. 63, 1972, S. 1-4.
- „Kommentar zum Plankalkül", in: derselbe, Der Plankalkül. Hg. v. Gesellschaft für
Mathematik und Datenverarbeitung, Nr. 63, 1972, S. 1-35, hier S. 5.
-Der Computer, mein Lebenswerk, Berlin, Heidelberg, New York, u.a. 1986.
ABBILDUNGSNACHWEIS
Abb. 1-2: Borst, Arno, „Rithmimachie und Musiktheorie", in: Geschichte der Musik-
theorie: Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter, Bd. 3, hg. v. Frieder Zaminer,
Darmstadt, 1990, S. 278 und S. 279, Abb. 2-3.
Abb. 3: Harsdörffer, Georg Philipp, Delitia Mathematica et Physicce. Der Mathemati-
schen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Teil, Neudruck der Ausgabe
Nürnberg, 1651 (= Texte der Frühen Neuzeit), hg. v. Jörg Jochen Berns, Frankfurt/M.,
1990, S. 517.
Abb. 4: Hahlweg, Werner, Die Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Grafen
Johann von Nassau-Siegen, hg. v. der Historischen Kommission für Nassau, Wiesba-
den, 1973. S. 610. Anlage 13.
Abb. 5-8: Weickmann, Christoph, New-erfundenes grosses Königs-Spiel etc, Ulm,
1664, Abb. 6, nach der Widmung, Abb. 5 u. 8, nach dem Inhaltsverzeichnis, Abb. 7
Titelkupfer. Princeton University Library. Eugen B. Cook Chess Collection. Rare
Books Division. Department of Rare Books and Special Collections. Princeton Univer-
sity Library.
Abb. 9: von Wallhausen, Johann Jacob, Kriegskunst zu Fuß, Oppenheim, 1615,
Abb. 6.
Abb. 10: Furttenbach d. Ältere, Joseph, Mannhaffter Kunstspiegel, Augsburg, 1663.
Abb. 11-14: Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, (Foto
Roman März, Berlin).
Abb. 15: Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Kartenabteilung, Kar-
tensignatur N 3660 /bpk.
Abb. 16: Wittgenstein, Ludwig, „Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus lo-
gico-philosophicus", in: Werkausgabe. Bd. 1, Frankfurt/M., [1922] 1995, S. 68.
DANKSAGUNG
Tina Zürn, Gebhard Reul, Gerhard Scharbert und Günther Bergmann danke
ich für Manuskriptkorrekturen und wertvolle Verbesserungsvorschläge sowie
Joulia Strauss tür das schöne Buchcover. Dank für entscheidende Anregungen
gebührt Friedrich Kittler und den Freunden und Kollegen der Seminare der
Humboldt-Universität in der Sophienstraße zu Berlin. Danken möchte ich
auch Michael S. Mahoney für seine Gastfreundschaft und Unterstützung in
Princeton. Raimar Zons und Andreas Knop sei für ihr Interesse an dem Buch
gedankt sowie für die angenehme Verlagszusammenarbeit. Meiner Familie
schließlich schulde ich Dank tür jenen Rückhalt, den nur sie bieten kann.
PERSONENREGISTER
Schmitt, Carl 71, 73, 74, 75, 76, 77, Vietes, Francois 24
83,84,86,87,89,90, 106, 161, Virilio, Paul 100
162, 163, 164 Vivremont, Erwin Lahousen Edler
Scholz, Heinrich 32, 171, 172, 173 von 79
Schönborn, Johann Philipp Kurfürst
von 31 Wagner, Richard 84
Schönflies, Arthur Moritz 159 Waismann, Friedrich 146-148
Schottelius, Justus Georg 31 Waidenburg, Siegfried von 49
Schramm, Percy Ernst 99 Wallhausen, Johann Jacob von 38,
Schwenters, Daniel 28, 29 39, 199
Seeckt, Hans von 82, 83, 85, 96, 107f Walther von Speyer 18
Shakespeare, William 74-76 Weickmann, Christoph 33f, 37f, 40,
Shannon, Claude E. 111, 174f, 179 43, 199
Smith, Adam 44, 165 Weierstraß, Karl 116
Sömmering, Samuel Thomas von 45 Welchman, Gordon 111, Ml
Speer, Albrecht 92 Weyl, Hermann 146f, 149, 150, 154,
Spengler, Oswald 171 f 155,157, 159-163,767, 172
Stanislaw, Ulam 178 Whitehead, Alfred North 131
Stauffenberg, Claus von 700,106 Wiener, Norbert 11 lf, 114, 129, 137,
Stein, Heinrich Friedrich Karl vom 176
und zum 9, 51 f Wilhelm Friedrich Karl von Oranien-
Stevin, Simon 38 Nassau, Prinz der Niederlande 57
Wilhelm I., König von Preußen sowie
Tartaglia, Niccolö 25 Deutscher Kaiser 43, 57f, 65
Tresckow, Henning von 91, 92 Wilhelm von Preußen 133
Troscke, Theodor von 45 Withehead, North 131
Turing, Alan 77/, 127, 168-174 Wittgenstein, Ludwig 127,129-131,
135-138, 142-149,750, 199
Vaihinger, Hans 84
van Creveld, Martin 109 Zenge, Wilhelimine von 55
van Reyd, Everard 29 Zermelo, Ernst Friedrich Ferdinand
Venturini, Georg 61 175, 177
Verdy du Vernois, Julius von 70, 92, Zuse, Konrad 172-174
95,94
( Bayerisch»
l Staatsbibliothek
l . München