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KRIEGSSCHULDFRAGE
1923
Inhaltsverzeichnis.
I. TEIL.
Die Anklage. geite
1. Die These von Versailles 1
2. Die politischen Ziele der Großmächte 2
3. Günstige Gelegenheiten zum Kriege 4
II. TEIL.
Die Vorgeschichte.
1. Die Weltlage im Jahre 1907 8
2. Die beiden Haager Konferenzen von 1899 und 1907
a) Die Rüstungen 11
b) Das Schiedsverfahren 15
8. Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina 17
4. Der russisch-italienische Vertrag von Racconigi 1909 . . . 23
6. Die Entspannung 1910 24
6. Die zweite Marokkokrise 1911 26
7. Der tripolitanische Krieg 1911 . . . . 31
8. Deutsche Annäherungsversuche an England und Frankreich
zu Beginn des Jahres 1912 32
9. Der erste Balkankrieg, H«rbst 1912 36
10. Der zweite Balkankrieg, Februar bis Mai 1918 46
11. Der dritte Balkankrieg, Sommer 1913 57
12. Die Entwicklung der Meerengenfrage 68
13. Die Zusammenkünfte von Miramar, Konopischt und Paris . . 74
14. Oesterreich-Ungarn und Serbien 77
15. Die Rüstungen 1907—1914
&Ì Rüstungen zu Lande 81
b) Rüstungen zur See 85
c) Militär- und Marinekonventionen 86
III. TEIL.
Die Krise.
1. Das Attentat von Serajewo 88
2. Die Mission Hoyos 90
3. Die Reise Poincaré s nach Petersburg 94
4. Das österreichische Ultimatum . 97
5. Lokalisierung oder Weltkrieg? 100
6. Sechs Tage deutsch-englischer Vermittlung
Sonnabend, 25. Juli 102
Sonntag, 26. Juli 104
Montag, 27. Juli 105
Dienstag, 28. Juli 108
Mittwoch, 29. Juli 111
Donnerstag, 30. Juli 118
IV
Seite
7. Die Haltung Frankreichs und Rußlands während der deutsch-
englischen Vermittlung 125
8. Die Bedeutung der russischen allgemeinen Mobilmachung . . 133
9. Die Entschlüsse des 31. Juli
Berlin und Wien 136
London 140
Paris 142
Petersburg 144
10. Die Intrigen gegen Deutschland
a) Die Antwort des Zaren an den König von England . . . 145
b) Der Runderlaß Vivianis vom 1. August und die Beein-
flussung des britischen Botschafters in Paris . . . . 147
c) Der Besuch. Schebekos und Dumaines bei Berchtold . . . 148
11. Die englische Vermittlung am 1. August
a) Die zweite Sasonowsche Formel 149
b) Das Telegramm Berchtolds vom Morgen des 1. August 150
12. Die Kriegserklärungen Deutschlands und Oesterreich-Ungarns
an Rußland 153
13. Die Kriegserklärung- Deutschlands an Frankreich und die
Frankreichs an Oesterreich-Ungarn 159
14. Die Kriegserklärung Englands an Deutschland 161
15. Siebenzehn Schlußthesen 164
IV. TEIL.
E i n z e l h e i t e n der Krise.
1. Das Telegramm Szögyenys vom 5. Juli 168
2. Die Legende des Kronrats vom 5. Juli 170
3. Die angebliche kaiserliche Instruktion an Tschirschky . . . 172
4. Das Telegramm Szögyenys vom 27. Juli 175
5. Das angebliche deutsche Ultimatum an Rußland vom 29. Juli . 176
6. Der Vorschlag des Zaren betreffend das Haager Schiedsgericht 177
7. Das Extrab'att des „Berliner Lokalanzeigers" 178
8. Der französische Schachzug der zehn Kilometer 180
9. Der Ursprung der Meldung über den Bombenabwurf auf
Nürnberg 182
10. Die Haltung' Italiens 183
11. Die belgische Frage 185
V. TEIL.
B e 1 e g e Nr. 1—28. 187
VI. TEIL.
A n 1 a £ e n.
1. Verzeichnis der im III. und IV. Teil genannten Personen . . 202
2. Verzeichnis der öfter angeführten Quellen nebst abgekürzten
Bezeichnungen 205
Nachträge.
1. Erlaß des russischen Außenministers Iswolsky über die Zu-
sammenkunft von Reval im Januar 1908 207
2. Ein russisch-japanischer Geheimvertrag vom Juli 1912 . . . 208
I. Teil.
Die einklage.
heere des Zaren, sie konnten zudem nach dem Zeugnis des
Kriegsministers Häldane im Jahre 1906 nicht vor zwei Monaten
und selbst dann zunächst nur in der geringen Stärke von 80 000
Mann, der halben Stärke von 1914, operationsbereit auf dem
Kontinent erscheinen.7) Auch im französischen Heerwesen selbst
klaiften noch bedenkliche Lücken, wie die französische Presse
im Frühjahr 1922 erneut bestätigt hat.8) Deutschland konnte
damals den Schutz des Ostens ruhig der Landwehr
und dem Landsturm überlassen, die gesamte Macht
an aktiven und Reservetruppen aber nach dem Westen
werfen. Nimmt man im übrigen einen ähnlichen
Verlauf der Ereignisse an wie 1914, so war Frank-
reich völlig niedergeworfen, bevor der erste englische Soldat
seinen iBoden betrat. Der Anlaß zum Kriege war in der Marokko-
frage gegeben. In Paris wollte ihn Deleasse, in Berlin war Herr
von Holstein zum mindesten kein unbedingter Gegner solcher
Lösung. Die deutsche Politik ging jedoch ganz andere Wege.
Man mag manches an ihrem Verfahren aussetzen, insbesondere
die dem Kaiser gegen seinen Wunsch abgerungene Landung
in Tanger scharf tadeln, aber ein Herfallen über die Nachbarn
lag nicht im Plane der Berliner Regierung. Sie war davon so-
weit entfernt, daß sie im Gegenteil dem Phantom eines-Kon-
tinentalbundes nachjagte. Das mag töricht, ja utopisch genannt
werden, kriegslüstern war es sicher nicht. Dabei darf noch auf
ein Moment hingewiesen werden. Die beiden Männer, die da-
mals Kriegspolitik trieben, Deleasse mit entschiedenem Willen,
Holstein mit schwankenden! Entschlüsse, mußten vom Schau-
platz abtreten. Deleasse kam später wieder, Holsteins Rolle
war mit seiner Entlassung für immer ausgespielt.
Somit hat die deutsche Politik während der ersten fünfzehn
Jahre nach Bismarcks Abgang, den Lehren des ersten Kanzlers
getreu, nicht weniger als dreimal den Gedankeli eines Prä-
ventivkrieges trotz günstiger militärisch-politischer Lage1 abge-
lehnt. In der folgenden zusammenhängenden Darstellung der
Ereignisse vom Jahre 1907 ab wird sich ergeben, daß noch
weitere drei Gelegenheiten zu einem solchen vorbeugenden
Waffengang nicht ausgenützt wurden, so während der bos-
nischen Krise von 1908/09, der zweiten Marokkokrise von 1911,
endlich der drei Balkankriege von 1912 und 1913.
Ein vierter Punkt der These von Versailles, die angeb-
lichen übertriebenen d e u t s c h e n R ü s t u n g e n , wird
gleichfalls im nachstehenden zweiten Teile behandelt werden,
und zwar für die Zeit bis 1907 bei den Haager Conferenzen, fiir
die Zeit von 1907 bis 1914 in einem besonderen Abschnitt.
Haidane loc. cit., S. 165.
8
) „Eclair" vom 17. und „Gaulois" vom 19. Mäxz 1922.
8
II. Teil.
Die Vorgeschichte.
1. Die Weltlage im Jahre 1907.
Die Jahrhundertwende zeigt eine Hochblüte des Imperia-
lismus, der Bich damals insbesondere den Osten Asiens und
Afrikas zum Ziele erkoren hat. Japan und die Vereinigten
Staaten sind in die Weltpolitik und in die Reihe der großen
Kolonialmächte eingetreten. Großbritannien steht im politischen
Zwieifrontenkampf gegen Rußland in Ostasien und bis 1899
gegeh Frankreich in Afrika. Die englischen Bündnisangebote
an Deutschland gingen nicht etwa aus von englischen Pazi-
fisten, diese waren vielmehr Gegner einer solchen Bindung, son-
dern vbn den ausgeprägtesten Vertretern des Imperialismus.
Die Rede Ohambe'rlains in Birmingham vom 12. Mai 1898 ist
geradezu ein Hilferuf um einen Verbündeten gegen Rußland,
der dann 1902 in Japan gefunden wurde. Der Burenkrieg' stieß
zwar auf eine heftige Opposition in England selbst, aber gerade
damals kapitulierte die Masse des englischen Liberalismus vor
den Imperialisten. Asquith, Grey und Haidane, führende Mit-
glieder des Cobden-Clubs, wurden Vizepräsidenten der imperia-
listischen liberalen Liga. Im Sommer 1900 zogen alle Mächte
gemeinsam nach China, wo die fortwährenden Amputationen
am chinesischen Staatskörper den Anlaß zu einer sehr begreif-
lichen fremdenfeindlichen Bewegung gegeben hatten.
Das Jahr 1904 brachte dann einerseits den Krieg Rußlands
und Japans um Gebiete, auf die weder die eine noch die andere
Macht Anspruch erheben konnte, andererseits den französisch-
englischen Vertrag gleichfalls über Länder, die Eigentum keiner
der beiden Mächte waren, und zwar in den verschiedensten
Teilen der Welt. Die Abmachung über Marokko und Aegypten
bildete nicht nur in ihren veröffentlichten Teilen eine flagrante
Verletzung eines internationalen Vertrags, der Madrider Con-
vention von 1880, sondern war auch ein Muster von seltener
Doppelzüngigkeit, da die 1911 bekannt gewordenen Geheim-
artikel die Aufteilung und Annexion von Gebieten vorsahen,
deren Integrität und Unabhängigkeit im offenen Vertrag aus-
drücklich anerkannt war.
Nach dem russisch-japanischen Kriege, durch den England
mittels japanischer Waffen den russischen Nebenbuhler aus
Dia Weltlage 1907 9
a) D i e Rüstungen.s)
Deutschland hat von 1871 bis 1890 an einer Heeres-
stärke von etwa eineta Prozent festgehalten, obwohl infolge
dieses geringen Satzes viele Taugliche alljährlich vom Waffen-
dienst befreit wurden. Die Friedensstärke betrug 1871 bei
einer Bevölkerung von etwas über 40 Millionen 402 000 Unter-
offiziere und Männschaften und 1890, als sich die Bevölkerung
auf 49 Millionen erhöht hatte, 487 000.
') Näheres über die Abrüstungsversuche von 1899 und 1907 siehe
„Deutschland und die Schuldfrage", S. 73—78 und 81—91.
12 Die Frage der Rflstungseinschränlcung 1899
b) D a s Schiedsverfahren.
Auf der ersten Konferenz erhob Deutschland zuerst Wider-
spruch gegen die Errichtung eines ständigen Schiedshofes, ließ
seinen Widerstand aber dank der energischen Vorstellung des
deutschen Delegierten, Professors Zorn fallen, sodaß ein durch-
aus befriedigendes Ergebnis erzielt wurde. Die letzte Sitzung
trug „einen geradezu dramatischen Charakter im Sinne all-
gemeinen Friedenswillens" und die Konferez endete in „voller
Eintracht aller Staaten". 6 )
Auf der zweiten Konferenz allerdings stimmte Deutschland
zusammen mit Oestetreich-Ungarn, der Türkei, der Schweiz und
vier Balkanstaateh gegen den vorgeschlagenen o b l i g a t o -
r i s c h e n Schiedshof, während Italien, Japan und Luxemburg
sich der Abstimmung enthielten/) sodaß infolge mangelnder
Einstimmigkeit das Obligatorium zu Fall kam.
Dieses Obligatorium bezog sich indessen nur auf den
„Schiedshof", der in erster Linie zur Schlichtung j u r i s t i -
s c h e r Streitfragen bestimmt war. Eine Einführung des Ob-
ligatoriums für die Institutionen, die der Schlichtung rein
p o l i t i s c h e r Streitfälle dienen sollten, also für die „Ver-
mittlung", für die „guten Dienste" und für die „internatio-
nalen Untersuchungskommissionen" kam auch auf der zweiten
Konferenz nicht in Frage. Für diese Schlichtungsmittel blieb
es nach allgemeiner Uebereinstimmuung bei der „Umstands-
klausel" und der „Ehrenklausel", die eine Anwendung in wirk-
lich ernsten Fällen von vornherein ausschlössen.
Ferner hatte Deutschland mit zwei Schiedsverträgen, die
es 1904 mit England und den Vereinigten Staaten abgeschlossen
hatte, schlechte Erfahrungen gemacht. Bei der Entschädigung
") Prof. Phil. Zorn „Die beiden Haager Friedenskonferenzen' 4 ,
S. 39.
7
) A. H. Fried „Handbuch der Friedensbewegung", 1911, S. 252.
Zorn gibt das Stimmenverhältnis etwas anders an.
16 Das Verhalten Deutschlands im Haag
rische Lage war nicht mehr ganz so günstig wie 1905/06, aber
das russische Heer war noch bei weitem nicht erholt, die Bal-
kanstaaten durch den Sieg über die Türkei noch nicht gekräf-
tigt, vor allem Frankreich noch nicht gesonnen, für serbische
Zwecke zu fe'chten. Ein Neujahrsartikel des „Temps" sprach
das mit aller Deutlichkeit aus. Wie wenig Berlin damals den
großen Konflikt wünschte, beweist wohl zur Genüge die Tat-
sache, daß es gerade zur Zeit schwerster Krise, am 9. Februar
1909, mit Frankreich einen neuen Vertrag über Marokko schloß.
Der kleine Konflikt aber, der Krieg Oesterreichs gegen
Serbien, wäre damals, wie aus den drei Berichten der serbischen
Gesandtschaft in Petersburg vom 3., 10. und 19—März hervor-
geht, aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Einmischung dritter
Mächte möglich gewesen. Schwer enttäuscht war der öster-
reichische Generalstabschef, als am 28. März der von ihm er-
wartete Mobilmachungsbefehl gegen Serbien nicht erteilt wurde.
In seinen Erinnerungen schreibt er:
„Nie entschlossen, die ihm günstigen Momente zu er-
fassen, wankte nun das alte Reich dem Unheil zu.26)
Vom rein militärischen Standpunkt wird man dem General
zustimmen müssen. Politisch jedoch waren die leitenden Staats-
männer Deutschlands und Oesterreichs im Recht, wenn sie
solchen Wünschen nicht entsprachen.
M
) Französisches Gelbbuch über Marokko, Bd. VI. Nr. 418.
Diese Folgerung ergibt sich aus der von Grey in seiner Rede
vom 27. November 1911 mitgeteilten Aeußerung an den deutschen
Botschafter, England habe sich Frankreich gegenüber in Marokko des-
interessiert, aber gewisse „wirtschaftliche und strategische Forde-
rungen" stipuliert.
M
) Freiherr von Schoen „Erlebtes", S. 136. Das französische
Gelbbuch über Marokko enthält nur in Nr. 439 eine Anfiage vom 8. Juli,
ob England nicht auf eine Zurückziehung des „Panther" hinwirken
könne.
28 Die Drohrede Lloyd Georges
)
1B0 „Affaires Balkanicraes" I., Nr. 234 nnd Siebert, S. 688.
1M) Siebert. S. 687—690.
)
1BS loc. cit., S. 691.
1M) loc. cit., S. 695.
72 Die Mission Liman von Sanders
Besuch schließt mit dem Satze: „Rußland ist nach des Erz-
herzogs Meinung nicht zu fürchten; die inneren Schwierigkeiten
seien zu groß, um dieseta Lande eine aggressive äußere Politik
zu gestatten." Das waren die letzten politischen Worte, die der
Thronfolger vierzehn Tage vor seiner Ermordung zum deutschen
Kaiser sprach. Kein Wort von Kriegsplänen, geschweige von
Kriegslust, ja nicht einmal von Kriegssorge. Da von unwissender
und böswilliger Seite um diese Zusammenkünfte die törichtsten
Legenden gewoben worden sind, werden die geheimeh Berichte
über die Unterredungen in vollem Wortlaut nach den Akten des
deutschen Auswärtigen Amtes in den Belegen angefügt.1")
Bei der Rückkehr von Konopischt fand Kaiser Wilhelm
auf seinem Schreibtisch den bekannten, vom russischen KriegB-
ininister inspirierten Artikel „Rußland ist fertig, Frankreich
muß es auch sein". Er erkennt nunmehr, wem die russischen
Rüstungen gelten, und zieht den Schluß, daß Frankreich und
Rußland auf einen baldigen Krieg gegen Deutschland hin-
arbeiten. Wer einen Präventivkrieg plante, der würde nunmehr
in Randbemerkungen, die menschlichem Ermessen nach niemals
an die Oeffentlichkeit gelangen konnten, unumwunden betont
haben, daß es dringend geboten sei, dem französisch-russi-
schen Angriff zuvorzukommen. Statt dessen sprechen die
Randglossen von neuen Steuern und von Einstellung der in
Deutschland immer noch nicht vollzählig einbezogenen taug-
lichen Wehrpflichtigen, also von einer neuen Wehrvorlage, die
nicht vor dem Frühjahr 1915 vom Reichstag beschlossen werden,
nicht vor dem Frühjahr 1916 die ersten ausgebildeten Rekruten
liefern konnte.166) Dieser grundsätzlichen Ablehnung des Prä-
ventivkrieges, die sich bei allen dazu verleitenden Gelegen-
heiten gezeigt hatte, besteht also fort im letzten Monat vor
'Ausbruch des Weltkrieges. Sie war auch nochmals bestätigt
worden in einer Unterredung des Reichskanzlers mit dem bayri-
schen Gesandten vom 4. Juni. Nach einer ziemlich pessi-
mistischen Beurteilung der politischen Gesamtlage berührte man
die Frage des von manchen Militärs gewünschten vorbeugenden
Losschlagens. Beide Politiker waren der Ansicht, daß der
richtige Augenblick für eine solche Aktion vorüber sei, für die
das Jähr 1905 die größten Aussichten geboten haben würde, und
de* Reichskanzler fügte hinzu:
„Der Kaiser hat keinen Präventivkrieg geführt und
wird keinen führen".1"8)
Eifrig-er als in Miramar und Konopischt beschäftigte man
sich mit Kriegsgedanken bei dem Besuch, den das englische
Königspaar zur zehnjährigen Feier der Entente cordiale vom
,6,
1 Siehe Beleg Nr. 11, S. 189.
165
) ..Deutsche Dokumente zum Kriegsausbruch" Nr. 2.
1M
) .,Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch" S. 113.
Die Verhandlungen in Paria (April 1914) 77
Frankreich 39.15 794 000 "*) 2,0 ' " ) Ohne 88000 Ein-
geborene und ohne
Fremdenlegionire
Rußland 170 1 4 4 5 000 0,85
(Winter:
1845000)
Französisch-russische
Jahr Rußland-Frankreich Mittelmachte Ueberlegenheit
1899 1 47ö 000 950 000 (1208 000) 520 000 (262 000)
6*
84 Die französisch-russische Ueberlegenheit an Kriegsmaterial
1M
) Siehe Beleg Nr. 15, S. 194.
186
) Kriegsminister von Falkenhayn am 18. Juni 1914 an Reichs-
kanzler von Bethmann Hollweg mit Nr. 1150/14gA4 Geheim Etat 1915.
Akten des früheren Preußischen Kriegsministeriums.
"•) Palöologue in der .Revue des deux Mondes1' vom 15. Januar
1921, S. 230.
Die Kapitulation der französischen AntimilitariBten 85
b) R ü s t u n g e n zur S e e .
Zur See hat Deutschland nach der zweiten Haager Konie
renz im Rahmen des 1917 zu vollendenden Flottenprogramms
weiter gebaut. Die Novelle über die Herabsetzung der Lebens-
dauer der Schiffe (Seite 14), die 1908 vom Reichstag an-
genommen wurde, bedingte eine Beschleunigung defe Bautempos,
wodurch in England unbegründeterweise eine große „Flotten-
panik" hervorgerufen wurde, zum Teil geschürt durch ganz über-
triebene Nachrichten. Die deutsche Regierung trat damals in
Erwägungen ein, ob der Bau nicht verlangsamt werden könnte,
und ob es nicht geraten wäre, anstelle von großen Schlacht-
schiffen mehr die Mittel des defensiven Küstenschutzes wie
Unterseeboote, Minen und Küstenbefestigungen zu vermehren.
Aber der Staatssekretär des Reichsmarineamts, Herr von Tir-
pitz, hielt an der Parole fe'st „jedes Schiff mehr ist ein Bollwerk
des Friedens". Nach dem Zwischenfall von Agadir schlug der
Admiral vor, den diplomatischen Mißerfolg durch eine weitere
Verstärkung der Seestreitkräfte wettzumachen.18*) Der Grund-
gedanke der Novelle von 1912 war nun zwar nicht eine Ver-
mehrung der Schiffszahl, die ganz unerheblich war, sondern die
Aktivierung eines Reservegeschwaders, sodaß statt zwei Ge-
schwadern künftig stets drei in Dienst gehalten werden sollten.
So zweckmäßig der Vorschlag auch vom marinetechnischen
Standpunkt ans gewesen sein mag, die politische Begründung
ist befremdend, sodaß die Zustimmung des Reichskanzlers, die
allerdings nicht gerne erteilt wurde, nicht völlig verständlich
ist. Tatsächlich hat die Novelle schädliche politische Folgen
gehabt. Sie trug wesentlich mit zum Scheitern der Mission
Haidane bei (S. ff.) und verursachte, daß 1912 nur eine ganz
ungenügende Vermehrung des Landheeres stattfand, eine
Unterlassung, die 1913 nicht mehr vollkommen ausgeglichen
werden konnte. Das Gesamtergebnis der deutschen Flotten-
politik war, daß die Beziehungen zu England getrübt und der
prozentuale Ausbau der deutschen Landmacht behindert wurde.
Das Urteil der Geschichte dürfte dereinst lauteil: Deutschland
hat seine Seewehr unnötig stark gemacht, insbesondere den für
die Hochsee bestimmten Teil, seine' Landmacht aber, nachdem
nun einmal eine allgemeine Rüstungsminderung nicht, erzielt
war, im Verhältnis zum französisch-russischen Zweibund zu
schwach gehalten und erst zu spät das Versäumte nachzuholen
versucht.
187
) Siehe Belep Nr. 16. S. 194.
198
) von Tirpitz „Erinnerungen", S. 182.
66 Die deutsche Flotte keine Bedrohung Englands
c) M i l i t ä r - u n d Marinekonventionen.
Nicht nur an Zahl der Streiter, Geschütze und Schiffe war
der Dreiverband deT Gegenseite überlegen, sondern auch durch
sehr genaue militärische Vereinbarungen.
Deutschland und Oesterreich hatten trotz 35jährigen Bünd-
nisses keine Militärkonvention abgeschlossen. Die in den 80er
Jahren Bismarck mühsam abgerungenen Besprechungen d3r
Generalstäbe trugen keinen verbindlichen Charakter und waren
sehr unbestimmt gehalten. Nach 1896 Tuhte der Gedankenaus-
tausch über Führung der Operationen im Falle eines gemeinsamen
Krieges volle zwölf Jahre und wurde erst während der Krise
1908/09 wieder aufgenommen. Aber auch damals kam es zu
keinerlei verpflichtenden Abmachungen über den Zeitpunkt der
Mobilmachung und über die auf den verschiedenen Fronten ein-
zusetzenden Kräfte. General von Conrad schildert ausführlich
seine letzte Unterredung mit Moltke am 12. Mai 1914 während
dessen Kuraufenthalts in Karlsbad und würde bei seiner Offen-
herzigkeit sicher nicht! verfehl haben, solche Abmachungen
in größter Breite vorzutragen.190) Noch am 22. Juli 1914 ver-
weigerte der österreichische Generalstabschef dem deutschen
Militärattache Auskunft über die eintretendenfalls gegen Serbien
zu mobilisierenden Korps.191) Nur Italien war 1887 eine Militär-
konvention mit Deutschland eingegangen, und 1913 kam infolge
der in Rom als, bedrohlich empfundenen französischen Flotten-
verstärkung im Mittelmeer ein neues deutsch-österreichisch-ita-
lieüisches Marineabkommen zustande.192)
Andels als Bismarck verfuhr Frankreich beim Abschluß
seiner Bündnisse. Es legte stets den Nachdruck auf den mili-
tärischen Teil. Das, was Bismarck befürchtete, die Verab-
redungen der Militärs könnten im Augenblick der Gefahr den
Politikern die Hände binden, war gerade das, was man in Paris
begünstigte. Auf das diplomatische Abkommen mit Rußland
18e
) Die Zahlen beziehen sich auf die Stärken von 1914 und sind
„Nauticus"
19
entnommen.
1M
°) Siehe Beleg Nr. 17, S. 194.
) Deutscher Militärbericht Wien vom 22. Juli 1914.
m
) Prihram L, S. 808.
Militär und Marinekonventionen der Entante 87
UI. TeU.
Die Krise
1. Das Attentat von Serajewo.
In die mit Zündstoff geschwängerte Atmosphäre des Kon-
tinents wurde die Brandfackel geschleudert, als am 28. Juni 1914
österreichisch-ungarische Staatsangehörige serbischer Nationali-
tät den österreichischen Thronfolger und seine Gemahlin er-
mordeten. Die durch die Erfolge der Balkankriege maßlos ge-
steigerte großserbische Agitation hatte Nationalisten zu dieser
Tat getrieben.
Die Einleitung des englischen Blaubucha sagt:
„Niemals hat ein Verbrechen in ganz Europa größeren
Abscheu in allen Kreisen erregt, niemals war ein Ver-
brechen weniger gerechtfertigt"
„Oesterreich war provoziert. Es hatte eich über eine
gefährliche Volksbewegung gegen seine Regierung zu be-
klagen."
Viviani ist am 5. Juli 1922 in der französischen Kammer
da« Geständnis entschlüpft:
„Man würde es verstanden haben, wenn Oesterreich
Tags darauf in einem Augenblick der Erregung ein Ulti-
matum, sogar ein brutales Ultimatum, an Serbien ge-
richtet hätte".')
Ueber die Wirkung des Attentats urteilte der serbische
Konsul in Odessa im Jahre 1915 in einer mit Erlaubnis der russi-
schen Zensur veröffentlichten Schrift:
„Vom Jahre 1908 bis 1914 hat der hilflose, kleine sla-
wische Staat es gewagt, an dem schwer bewaffneten euro-
päischen Frieden zu rütteln. Die' Südslawen hörten nicht
auf, den Ungarn und den Deutschen zuzurufen: „Wir
fürchten uns nicht vor euch, denn hinter uns steht Serbien,
hinter Serbien Rußland und seine Freunde!" Die Südslawen
haben das kleine Serbien in den Krieg1 mit Oesterreich-Un-
garn gezwungen, indem sie den Vorfall in Serajewo herbei-
führten. Die Schüsse in Serajewo setzten die ganze Wolt
in Brand".')
») ..Journal Officiel", Juli 1922, S. 2836.
s
) Friedjunsr II. S. 186 nach der russischen Schrift: „Der Friede
und die internationale Gleichberechtigung".
Die Hintermänner des Attentats 89
9
) „Belgische Aktenstücke" Nr. 119.
Die militärischen Empfange am E. und 6. Jnli
Badeaufenthalt nicht abzukürzen.10) An demselben Nachmittag
wurde auch ein Offizier des Admiralstabs vom Kaiser empfangen,
ferner am folgenden Morgen zwischen dem um 8y& Uhr statt-
findenden Frühstück und der dreiviertel Stunden später erfolgen-
den Abreise nach Kiel je ein Vertreter des Reichsmarineamts
und des Generalstabs. Diese drei Offiziere verständigte der
Kaiser einzeln in Unterredungen von wenigen Minuten über den
Empfang des österreichischen Botschafters mit dem Hinzufügen
„er glaube nicht an größere kriegerische Verwicklungen, der
Zar werde sich nicht auf Seite der Prinzenmöxder stellen, Ruß-
land und Frankreich seien nicht kriegsbereit, es sei nicht nötig,
besondere Anordnungen zu treffen" — D, S. XIII ff.11)
Das ist die Wahrheit über die während des Krieges als
Hauptbeweisstück für den Kriegswillen Deutschlands propa-
gierte Legende des „Kronrats vom 5. oder 6. Juli", deren Ent-
stehung auf Hotelklatsch zurückzuführen ist.") Kein Chef der
obersten Militär und Marinebehörden wurde aus Urlaub zu-
rückgerufen, keine militärischen Vorbereitungen wurden ge-
troffen, Kaiser Wilhelm trat die alljährliche Nordlandreise plan-
mäßig an.
3. Die Reise Polncarés nach Petersburg.
Wie 1912 als Ministerpräsident, so wollte im Sommer 1914
Poincaré auch als Staatschef der Republik dem russischen Zaren
seine Huldigung darbringen. Vor zwei Jahren hatte er den
serbisch-bulgarischen „Kriegsvertrag" scharf kritisiert und Vor-
behalte wegen der Bündnispflicht bei Balkanfragen gemacht.
Nunmehr war er zu der Auffassung bekehrt, daß jede Gebiets-
vergrößerung Oesterreichs auf der südöstlichen Halbinsel eine
auch die Interessen Frankreichs schädigende Störung des euro-
päischen Gleichgewichts bedeute. Die Störung dieses Gleich-
gewichts durch den Machtzuwachs russischer Schutzbefohlener
aber hatte er hochwillkommen geheißen.
Am 20. Juli warf der Panzerkreuzer „France" auf der
Reede von Peterhof Anker. Freudig fühlte der französische
Botschafter Paléologue, der Schulgefährte und Jugendfreund
des Präsidenten, sein Herz schlagen. Er ist Fatalist, überzeugt
vom baldigen Ausbruch des Krieges, hat für den Fall der Ab-
lehnung der dreijährigen Dienstzeit durch die französische Kam-
mer mit seiner Demission gedroht und eben noch dem, die Frie-
densliebe Wilhelms n. beteuernden Zaren widersprochen. Mit
Genugtuung bemerkt er, daß beim ersten Gespräch zwischen
den beiden Staatsoberhäuptern alsbald Poincaré allein das
Wort führt.
10
) Brief Falkenhayns siehe Beleg Nr. 19, S. 196.
") Zeiten nach dem Journal des Hoffuriers und Angaben der Eisen-
bahndirektion Potsdam.
") Siehe IV. Abschnitt 2. Kapitel 8. 170.
KrägBBtimnmiiff in Petersburg 95
Im Festsaal der Kaiserin Elisabeth, bei feenhaftem Glänze,
wie nur der Petersburger Hof ihn kannte, werden abends die
ersten Trinksprüche gewechselt. Der französische scheint bei
den russischen Würdenträgern den Gedanken zu wecken „so
sollte ein Selbstherrscher sprechen." Das russische Volk nahm
weniger Anteil am Besuche. Streikende Arbeiter gerieten mit
der Polizei in Konflikt. Französische Agenten berichteten, das
sei das Werk deutscher Umtriebe.
Beim Empfang des diplomatischen Korps am folgenden
Tage erteilt Poincaré dem japanischen Botschafter Belehrungen
über den notwendigen Beitritt seines Landes zum Dreiverband;
dem britischen gibt er die Versicherung, daß Rußland in der
persischen Frage England tunlichst entgegenkommen werde,
und betont die Notwendigkeit der Umwandlung des Dreivor-
bandes in einen Dreibund; dem österreichischen setzt er in
längerer, taktloser, wie eine Drohung klingender Rede ausein-
ander, daß Serbien „Freunde" habe — man beachte die Mehr-
zahl. Zu Japan, zu Großbritannien, zu Oesterreich-Ungarn
sprach Poincaré also zugleich im Namen Rußlands. Dem Jugend-
freund sagte er dann: „Sasonow muß fest bleiben und wir
müssen ihn unterstützen." Die Gesandten der kleineren Staaten
konnte der Führer des russisch-französischen Zweibundes- nur
flüchtig durch Händedruck begrüßen. Einzig der Vertreter
Serbiens wurde durch einige teilnahmsvolle Worte ausgezeich-
net. In der Hauptstadt dauerten die Unruhen an. Jedoch hatte
die Polizei dafür gesorgt, daß bei den Fahrten des Präsidenten
an jeder Straßenecke „eine Gruppe armer Teufel unter Aufsicht
des Kommissars Hurrarufe ausstieß."
Am dritten Tage Festtafel, gegeben im Lager von Krasnoje-
Sjelo vom Haupt der russischen Kriegspartei, Großfürsten Niko-
laus Nikolaj e witsch. Seine Gemahlin, Großfürstin Anastasia,
eine Tochter des Königs von Montenegro, begrüßte mit ihrer
Schwester Militza den französischen Botschafter enthusiastisch.
Sie spricht von historischen Tagen. Ihr Vater habe telegraphiert,
daß vor Monatsschluß der Krieg ausbrechen werde. Sie zeigt
eine Bonbonniere, die sie stets bei sich trage, gefüllt mit loth-
ringischer Erde, die sie vor zwei Jahren auf den Manövern dort
gesammelt hatte. Die Blume Lothringens, die Distel, bildet dan
ausschließlichen Schmuck der Ehrentafel. „Der Krieg wird
kommen Von Oesterreich wird nichts bleiben
Sie werden Elsaß und Lothringen wieder nehmen ..
Unsere Armeen werden sich in Berlin vereinigen
Deutschland wird vernichtet werden " Das ist das
Tischgespräch, das vor einem strengen Blick des Zaren ver-
stummt.
Am letzten Tage, am 23. Juli, nach glänzender Truppen-
schau in Krasnoje-Sjelo, Abschieds mahl an Bord der „France".
Der Trinkspruch des französischen Präsidenten schloß mit den
96 Die feste Sprache Poincaré«
nach Norwegen aus, obwohl man wußte, daß die britische Flott©
am folgenden Tage mit 460 Wimpeln zu einer Probemobil-
machung mit Manövern um Portland versammelt sein würde. Die
kaiserliche' Weisung an die Flotte vom 19. „Zusammenhalten
in Flotte" (also nicht sich auflösen) bis zum 25. derart, daß ein
Befehl zum Abbruch der Reise schnell ausgeführt werden könne
— D 82 — war eine selbstverständliche Vorsichtsmaßnahme.
Noch am 24. wurde sogar das Einlaufen in einen norwegischen
Hafen gestattet — D 175, und erst am folgenden Abend auf
die Nachricht von der serbischen Mobilmachung erfolgte die
Rückberufung — D 182.
Die Diplomatie warb nicht um neue Bundesgenossen. Der
Abschluß eines Vertrags mit B u l g a r i e n wurde verschoben —
D 19, 21, 22, Oe I. 11 — und erst am 1. August, als der Krieg
unvermeidlich geworden war, wieder aufgegriffen — D 549. Die
Frage eines Anschlusses der Türkei an den Dreibund wurde am
14. Juli verneint >— D 45, erst auf die Erklärung der Pforte, daß
sie den Anschluß an den Dreibund dringend wünsche und im
Falle einer Abweisung „schwöret! Herzens sich zu einem Pakt
mit der Triple-Entente entschließen werde" — wurde am 24. Juli
dem türkischen Wunsch näher getreten — D 117, 144. Mit
R u m ä n i e n wurde über die Bündnisfrage nicht verhandelt.
G r i e c h e n l a n d wurde nicht, wie mitunter behauptet wird,
zu einem Bündnis aufgefordert, sondern es wurde ihm am
23. Juli nur geraten, rechtzeitig von Serbien abzurücken, damit
es nicht in dessen Konflikt mit Oesterreich hineingezogen werde
— D 122. Am 27. Juli lehnte König Konstantin nicht etwa eine
Aufforderung zur Teilnahme am Kriege gegen Serbien ab, son-
dern verwahrte sich gegen den Vorwurf, daß er zum Kriege
gegen die Türkei rüste — D 243. Eine Ausnahme bildet ein
Telegramm an S c h w e d e n vom 23. Juli, das darauf hinwies,
falls der dringende Wunsch Deutschlands auf Lokalisierung
scheitere, müsse das Land sich über den Ernst der Stunde klar
sein — D 123.
M o n t a g , 27. J u l i .
Die überraschende Nachricht des L o n d o n e r K o n f e -
r e n z v o r s c h l a g s traf in der ersten Morgenstunde des
27. Juli in Berlin ein — D 236. Ihr folgte unmittelbar ein weit
besserer Vorschlag aus Petersburg, ein Telegramm des dortigen
Botschafters, das die Einleitung d i r e k t e r B e s p r e c h u n -
g e n zwischen dem österreichischen und russischen Kabinett
meldete. Graf Pourtales hatte bei Sasonow angeregt, falls das
Wiener Kabinett darauf einginge, seine Forderungen in der
Form etwas zu mildern, den Versuch zu machen „mit Oesterreich-
Ungarn zu diesem Zweck unverzüglich Fühlung zu nehmen";
der russische Minister ging bereitwillig darauf ein und wollte
sofort in diesem Sinne an seinen Wiener Botschafter telegra-
phieren — D 238.
In Berlin zog man begreiflicherweise den deutsch-russischen
Vorschlag dem englischen vor. Fürst Lichnowsky erhielt den
Bescheid, daß Deutschland sich an einer Konferenz nicht be-
teiligen könne, sondern seine Vermittlungstätigkeit auf den
eventuellen österreichisch - russischen Konflikt beschränken
müsse; im österreichisch-serbischen Konflikt scheine dagegen
der Weg direkter Verständigung zwischen Petersburg und Wien
gangbar — D 248, E 43.
Wie der deutsche Kanzler, so lehnte auch Sasonow den
Konferenzgedanken zunächst ab. Er war zwar im Prinzip da-
mit einverstanden, gab aber den schon eingeleiteten direkten
Besprechungen den Vorzug — R 32, E 53. Grey selbst erklärte
auf die Nachricht von der deutschen Ablehnung, die Konferenz
Bei zwar nicht als Schiedsgericht gedacht, wie man in Berlin
31
) Die Unterredung1 Cambon-Grey vom 24. Juli ist in E 10 und
P 32 ganz verschieden wiedergegeben.
*) „Livte Noir" II. S. 329.
106 Die serbische Antwort als Grundlage für Besprechungen
D i e n s t a g , 2 8. J u l i .
Die serbische Antwort wurde und wird auch heute noch
sehr verschieden beurteilt. Einige sehen darin die Annahme
aller österreichischen Forderungen mit Ausnahme von Punkt 5
und 6 (Teilnahme österreichischer Organe bei Unterdrückung
der großserbischen Agitation und bei den Erhebungen für ge-
richtliche Untersuchung gegen die Urhebet des Attentats).
Andere bezeichnen die an manchen Stellen gemachten Vor-
behalte als hinterhältige Ausflüchte. Sehr günstig beurteilte die
Note jedenfalls Kaiser Wilhelm, der sie am Morgen des 28. las
und darunter schrieb:
M ) Schreiben des Generalkommandos 16. Armeekorps (Metz) I a
Nr. 1203 g.
37 l Moltke „Erinnerungen, Briefe, Dokumente" S. 381.
M ) „Prawda" Nr. 7 vom 9. März 1919.
Die Beurteilung der serbischen Antwort 109
M i t t w o c h , 29. J u l i .
Am Vormittag des 29. traf Telegramm auf Telegramm über
russische Kriegsvorbereitungen ein. Bis Mittag waren seit dem
Morgen des 26. insgesamt 18 amtliche Meldungen über russische'
Mobilmachungsmaßnahmen eingegangen, davon 10 über die
deutsche Front.43) Manche Berichte waren unbestimmt, der eine
oder andere wurde auch widerrufen. Selbst für den Sachverstän-
digen war es schwierig, sich ein klares Bild zu machen von dem,
was jenseits der östlichen Grenze vor sich ging. Auch aus
41
) Bericht des Großen Generalstabs an das Auswärtige Amt vom
28. Juli 4° Uhr nachm. (in den „Deutschen Dokumenten" nicht ab-
gedruckt).
Früheres Preußisches Kriegsministerium Nr. 12 gg A 1 und.
Schreiben des Reichskanzlers vom 27. Juli Nr. 3339.
43
) D 194, 216, 230, 242, 264, 274, 275, 276, 281, 291,
294, 295, 296, 327, 330, 331, 333, 335 a„ Beim Generalstab und Admiral-
stab lagen noch eine Reihe weiterer, dem Auswärtigen Amt nur münd-
lich mitgeteilter Nachrichten vor.
112 Bathraann warnt in Paria und Petersburg
8
114 Amtliche Mitteilung der russischen Teilmobilmachung
9*
182 Frankreich erfährt sofort die Mobilmachung Rußlands
Dobrorolski S. 29.
) „Deutsche Allgemeine Zeitung" vom 20. Mai 1919, Nr. 242.
78
" ) F 102 ist doppelt gefälscht Es ist aus zwei Telegrammen zu-
sammengezogen und unterdrückt den oben angeführten Satz.
M ) Untersuchungsausschuß 2. Heft, S. 72 und 73.
Jules Gr6vy lind Alexander HL über Mobilmachung 133
London.
In Downingstreet fiel an diesem Tage die Entscheidung,
daß man in Petersburg zunächst keine energischem Vorstellun-
gen wegen der russischen Rüstungten erheben werde. Zwar
versprach Grey dem deutschen Botschafter auf dessen Mit-
teilung von dem Entgegenkommen Oesterreichs hinsichtlich
der direkten Besprechungen, er wolle „versuchen) in diesem
Sinne zu wirken" — D 489. An Buchanan aber drahtete er
1W
) Geheimer Zusatz zu diesem Telegramm siehe Beleg Nr. 26,
S. 200.
"*) F 116, Bericht an den französischen Senat S. 125; E 108. D 488.
Grey erhebt keine Vorstellungen in Petersburg 141
Paris.
Der Bericht Cambons über die Erklärung „der drohenden
Kriegsgefahr" in Deutschland und über deren Veranlassung
bestätigte dem französischen Außenminister die ihm am Abend
zuvor zugegangene erste Nachricht über die allgemeine rus-
sische Mobilmachung. Nachdem eine Havasdepesche aus Berlin
die dritte Mitteilung von der russischen Totalmobilmachung
gebracht hatte,108) fand sich der deutsche Botschafter gegen
7 Uhr abends bei Viviani ein, um die ihm aufgetragene Anfrage
zu stellen. Das geschah nach dem französischen Bericht in so
milder Form, daß niemals die Empfindung aufkommen konnte,
es habe sich um eine ultimative Forderung gehandelt— F 117.
Der Minister gab keine Auskunft über die Haltung Frankreichs
in einem deutsch-russischen Kriege und brachte es über sich,
zu behaupten, daß er „in gar keiner Weise über die russische
Vollmobilmachung unterrichtet sei". Kurz darauf (8 Uhr 30
abends) traf ein 10 Uhr 45 vormittags = 8 Uhr 45 Pariser Zeit
aufgegebenes Telegramm Paléologues ein, das nunmehr zum
vierten Male die allgemeine Mobilmachung in Rußland mel-
1M
) Deutsches Weißbuch Mai 1915, kleine Ausgabe S. 106.
106
) „Prawda" 9. März 191a Nr. 7.
1M
) Romberg S. 40.
Frankreichs Entschluß zum Kriege 143
Petersburg.
Die Sommation in Petersburg richtete Graf Pourtales um
Mitternacht vom 31. Juli zum 1. August aus. Sasonow verwies
auf die „technische Unmöglichkeit, Kriegsmaßnahmen einzu-
stellen" und wiederholte sein altes Argument, daß die russische
Mobilmachung mit der in anderen Ländern „nicht zu ver-
gleichen" sei — D 536.
Kurz vorher hatte der russische Minister den Botschaftern
in den fünf europäischen Hauptstädten die überraschende Nach-
richt telegraphiert, Szäpäry habe ihm die Bereitschaft Oester-
reichs mitgeteilt, in einen Meinungsaustausch über den I n h a l t
seines Ultimatums einzutreten. Die diesbezüglichen Verhand-
lungen würden nach Ansicht Sasonows am besten in London
geführt werden. 111 ) Wie nun aber aus dem sehr ausführlichen
Bericht Szäpärys hervorgeht, hatte der Botschafter die Unter-
redung wesentlich deshalb herbeigeführt, weil es ihm „taktisch
opportun erschien, noch einen äußersten Beweis guten Willens
gegeben zu haben, um Rußland tunlichst ins Unrecht zu setzen",
und er hatte während der Konversation fortwährend auf die
„Diskrepanz" hingewiesen, die zwischen dem österreichischen
und russischen Standpunkt bestehe, indem Sasonow die „Milde-
rung" der Note wünsche, Berchtold aber nur eine „Erläuterung"
zulasse •— Oe' III. 75, 97. Der österreichische Bericht spricht sich
so deutlich und so eingehend aus, daß ein Mißverständnis nicht
denkbar ist. Wie kam nun Sasonow, der früher den Unter-
schied des russischen und österreichischen Standpunktes so
scharf betont und sogar wirklich entgegenkommende Erklä-
rungen Szäpärys verschwiegen hatte, plötzlich dazu, diese „Dis-
krepanz" ganz zu übersehen, und warum wollte er auf einmal
diesen Gedankenaustausch seiner persönlichen direkten Ein-
wirkung entziehen und nach London verlegen? Dafür gibt es
keine andere Erklärung als diese: der russische Minister hatte
beim Zaren durchgesetzt, was er zunächst erstrebte, die allge-
meine Mobilmachung; nun galt es im Sinne des Protokolls vom
November 1912 „durch geschickte diplomatische' Verhand-
lungen Zeit zu gewinnen". Die Einleitung von Verhand-
lungen an einem neuen Orte mit neuen Instruktionen für die Ver-
m
) Telegramm Sasonows vom 31. Juli 1914 Nr. 1592 siehe „Rotes
Archiv" I. S. 186, Romberg S. 39.
Sasonow will Zeit für die Mobilmachung gewinnen 145
113
Sperrdruck vom Verfasser.
) Telegramme Georgs V. und Nikolaus IL siehe „Times"
5. August 1914.
Iswolsky und Poincaré über die Erklärungen Oesterreichs 147
b) D e r R u n d e r l a ß V i v i a n i s v o m 1. A u g u s t u n d
die B e e i n f l u s s u n g des b r i t i s c h e n B o t s c h a f -
t e r s in P a r i s .
Das Telegramm Sasonows über die Bereitschaft Oester-
reichs zur Erörterung des Inhalts des Ultimatums — E 133 —
scheint in Downingstreet zunächst keinen besonderen Eindruck
gemacht zu haben, vermutlich deshalb, weil Buchanan auf
Grund der ihm vom russischen Minister selbst gegebenen Mit-
teilung über die Unterredung Sasonow—Szàpàry einen Bericht
erstattete, der sich weit eher mit der kühlen Darstellung des
österreichischen Botschafters als mit dem optimistischen Tele-
gramm Sasonows deckte —. E 139. Erst später hat sich auch
in London die Auffassung von einem besonderen Zugeständnis
Oesterreichs gebildet — D 687, E Seite VIII.
Der Bericht Paléologues über die Unterredung Sasonow—
Szàpàry am Abend des 31. Juli ist im französischen Gelbbuch
unterdrückt. Die Mitteilung des Grafen Szécsen, daß Oesterreich
weder die Integrität noch die Suveränität Serbiens antasten
wolle, war, wie erwähnt, am späten Abend des 31. am Quai
d'Orsay zunächst als sehr nebensächlich angesehen worden. Als
Poincaré am folgenden Tage mit Iswolsky darüber sprach, be-
zeichnete dieser, dem ja Sasonow die diesbezüglichen Erklä-
rungen Szäpärys vom 28. und 29. vorenthalten hatte, die Ver-
sicherung Szécsens als „ganz erlogen", worauf Poincaré er-
widerte:
„Derartige Erklärungen seien von Oesterreich auch in
London abgegeben worden, wo sie einen sehr gefährlichen
Eindruck machen können, und deshalb sollte man sie auch
dort dementieren".11")
Bei dieser Sachlage ist es doppelt befremdend, daß das
französische Gelbbuch als erste Nummer des 1. August einen
Runderlaß Vivianis enthält, daß am vergangenen Abend der
österreichische Botschafter in Paris einen unbestimmten, der
in Petersburg einen bestimmten Schritt im versöhnlichen
Sinne gemacht hätte, daß aber die von Oesterreich gezeigten
friedlichen Dispositionen durch die Haltung Deutschlands zu
nichte gemacht seien. Das deutsche Ultimatum an Rußland sei
114)Paléolofpie S. 264.
"») Baron Kosen „Forty Years of Diplonuacv" H S. 171.
»•) Romberg S. 45/46.
10*
148 Die Erfindungen Viviania, Bertheiota uni Poimcaréa
c) D e r B e s u c h S c h e b e k o s u n d D u m a i n e s b e i
Berchtold.
Am 1. August erhielt der österreichische Minister in auf-
fallend rascher Aufeinanderfolge die Besuche de's russischen
und französischen Botschafters, die beide sich bemühten,
Deutschland als den Friedensstörer hinzustellen. Berchtold ant-
wortete dem russischen Botschafter ausweichend, dem franzö-
sischen anscheinend gar nicht — Oe IH. 99. Das russische und
französische Buntbuch schweigen völlig über die ergebnislose
merkwürdige Demarche der beiden Diplomaten. Der öster-
Der Keil zwischefa Deutschland und Oesterreich 149
m
) Darüber, daß statt „Serbien" zu setzen gewesen wäre „den
Mächten" siehe Gooss S. 236 f.
152 Grey über Berchtolcl6 Telegramm vom 1. August
Romberg S. 45.
128
) Generalstabsprotokolle „Russisches Rlaubuch" S. 697 ff.
159
1M
) „Times" 15. Dezember 1914.
142
) „Revue de France" 1. Juli 1921.
l
") Corbett S. 29.
m
) „Deutsche Allgemeine Zeitung" 22. Mai 1919 Nr. 246.
ii*
164 Vom europäischen Krieg zum Weltkrieg
2.
Die Rüstungen Deutschlands zu Lande waren nach der
politischen Konstellation, nach geographischer Lage, nach Länge
der ungeschützten Grenzen und nach Bevölkerungsziffer wesent-
lich geringer als die Frankreichs, ab 1913 sogar hinsichtlich der
1,s ) Haidane S. 35.
"•) Englisches Blaubuch II. S. 93 ff.
" ' ) Poincaré 18. März 1921 S. 277.
Schlußthesea 3—7 165
4.
Das Deutsche Reich hat auch in der Zeit nach Bismarck
wiederholt günstige Gelegenheiten zu einem Präventivkriege
nicht benützt.
5.
Die russische Anregung zur ersten Haager Konferenz be-
ruhte nicht auf reiner Friedensliebe. Der Rüstungsminderung
standen alle Großmächte ohne Ausnahme mit der größten Skep-
sis gegenüber, der russische Antrag von 1899 wurde allerseits
abgelehnt, der Anregung Campbell Bannermanns von 1907 trat
die öffentliche Meinimg Frankreichs in der denkbar schärfsten
Weise' entgegen.
Ein Vorschlag zur Regelung ernster internationaler Kon-
flikte, welche die Ehre und die Lebensinteressen einer Nation
berühren, ist weder auf der ersten noch auf der zweiten Haager
Konferenz von irgend einer Großmacht angeregt oder unter-
stützt worden.
6.
Am 5. Juli 1914 wurde in Potsdam nicht der Weltkrieg be-
schlossen, sondern die deutsche Zustimmung zu einem Kriege
Oesterreichs gegen Serbien erteilt.
Die Möglichkeit, daß der österreichisch-serbische Krieg wie
jeder andere — Burenkieg, Marokkokrieg, Tripoliskrieg, Bal-
kankrieg — weitere Verwicklungen nach sich ziehen könne,
wurde dabei wohl erwogen, aber die Gefahr in Anbetracht des
besonderen Anlasses als sehr gering1 eingeschätzt.
7.
Nach dem Bekanntwerden der serbischen Antwortnote
wollte Deutschland auch den Krieg gegen Serbien nicht mehr,
166 Sdhlußtheseii &—13
sondern nur eine sehr eng umgrenzte militärische Aktion, deren
Berechtigung auch in London anerkannt wurde.
8.
Deutschland hat zwar die Fristverlängerung nicht unter-
stützt und den Konferenzgedanken abgelehnt, aber nicht nur
alle übrigen von London mitgeteilten Vermittlungsvorschläge
angenommen, sondern aus eigener Initiative die beiden geeig-
netsten Verhandlungsmethoden vorgeschlagen, nämlich die
direkten Besprechungen Wien-Petersburg und das von Grey
aufgegriffene „Halt in Belgrad".
Die erste Formel Sasonows erachtete auch London für un-
annehmbar, die zweite war sogar eine wesentliche Verschlech-
terung der ersten.
9.
Auf den beiden, zuerst von Deutschland angeregten Wegen
der direkten Besprechungen Wien-Petersburg und der Be-
schränkung der militärischen Aktion gegen Serbien war man
einer Verständigung nahe gekommen, als die russische all-
gemeine Mobilmachung jäh die Fäden zerriß.
10.
Daß diese Mobilmachung unfehlbar den Krieg nach sich
ziehen müßte, darüber waren sich die führenden Männer in Paris
und Petersburg ebenso klar wie in Berlin.
Daß derjenige der Angreifer ist, der zuerst zu einer all-
gemeinen Mobilmachung schreitet, hat Viviani noch am
1. August nach London gedrahtet, wobei er wider besseres
Wissen die Priorität der Mobilisierung Deutschland zuschob.
11.
Frankreich hat in Petersburg während der Krise nicht zur
Mäßigung geraten. Nachdem der erste Versuch den Unwillen
Sasonows erregt hatte, verzichtete das Pariser Kabinett auf
weitere Schritte in dieser Richtung.
12.
Frankreich hat Rußland von der allgemeinen Mobilmachung
nicht nur nicht abgeraten, sondern ihm listige Ratschläge er-
teilt, wie es seine Vorbereitungen insgeheim fortsetzen könne,
ohne Deutschland zu rechtzeitigen Gegenmaßnahmen heraus-
zufordern.
13.
Rußland war die erste Macht, die zu einer allgemeinen
Mobilmachung geschritten ist.
Schlußthesen 14—17 167
14.
England hat in Petersburg niemals mit der gleichen Ent-
schiedenheit wie Deutschland in Wien zum Einlenken geraten.
Grey hat im Gegensatz zu anderen englischen Diplomaten
die Bedeutung der russischen Mobilmachung erst erkannt, als
es zu spät war, und Petersburg nicht mehr damit einhalten
wollte.
15.
Die frühzeitige deutsche Kriegserklärung an Rußland war
ein durch die ungeheuere Gefahr der Zweifrontenlage erklär-
licher politischer Fehler, die an Frankreich ein rein formaler
Akt.
Weder die eine noch die andere war das entscheidende
Ereignis. Nicht auf die Erklärung des Krieges kam es an,
sondern auf die Handlung, die ihn unvermeidlich machte, und
diese Handlung war die allgemeine Mobilmachung in Rußland.
16.
England hat Deutschland den Krieg erklärt, weil es eine
zweite Niederlage Frankreichs mit seinen Interessen nicht für
vereinbar erachtete. Die Interessen Belgiens und der Vertrag
von 1839, den Salisbury 1887 preiszugeben bereit war, bildeten
dafür den populären Grund.
Das Marineabkommen mit Frankreich von 1912 zwang
England obendrein, aus seiner Neutralität herauszutreten, bevor
die Belgiens verletzt war.
17.
Das größere diplomatische Geschick war während der Krise
auf Seite der Entente.
Durch die unwahren Angaben über deutsche Kriegsvorbe-
reitungen, insbesondere über die angebliche Priorität der deut-
schen Mobilmachung, durch Aufbauschung unbedeutender
Grenzzwischenfälle zu Angriffen auf französisches Gebiet, und
durch die Zurücknahme des Grenzschutzes um 10 Kilometer1*8)
schuf Frankreich in London die Vorbedingung, die Benckendorff
schon Ende 1912 als nötig für ein Eingreifen Englands bezeich-
net hatte: es erzeugte in London den Eindruck, daß „die Ver-
antwortung für den Angriff auf die Gegner der Entente
falle"."1')
lla
) Ueber diesen Schachzug, die öffentliche Meinung zu täuschen,
siehe IV. Teil 8. Kapitel S. 180.
1U
) Siebert S. 588.
168
IV. Teil.
vom 10. Juli '— D 28, Anm. 2 — gibt lediglich ein Bukarester
Telegramm an die Wiener Botschaft weiter. Sonach fehlen in
den „Deutschen Dokumenten" zwischen dem 6. und 10. Juli nur
die zwei Telegramme Nr. 114 und 115, von denen das erste die
bulgarische Anleihe behandelt und Bedenken des österreichi-
schen Kabinetts wegen der allgemeinen Haltung Bulgariens be-
schwichtigt, während das zweite sich auf den Aufenthalt des
seit lange nach dem Mittelmeer entsandten deutschen Panzer-
kreuzers „Goeben" in Pola bezieht. Es fehlt somit kein Tele-
gramm des Auswärtigen Amts an den Botschafter über die ser-
bische Frage, weder v o r noch n a c h dem 6. Juli.
2. Auch im Archiv der deutschen Botschaft in Wien ist kein,
nicht veröffentlichtes Telegramm über die serbische Frage vor-
handen. Die Akten der Botschaft sind von Professor Schücking
und mir eingefordert und durchforscht worden, und zwar für den
ganzen Zeitraum vom Attentat von Serajewo bis zum Kriegs-
ausbruch. Diesen Akten sind ja auch die auf andere Weise nicht
feststellbaren Eingangszeiten der Berliner Telegramme auf der
Wiener Botschaft entnommen. Auch die handschriftlichen
Notizen, die Herr von Tschirschky bei seinen Besprechungen
auf dem Ballhausplatz auf den Erlassen des Berliner Amts
machte, und die vom Parlamentarischen Untersuchungsaus-
schuß (1. Heft) veröffentlicht sind, wurden den Akten der Bot-
schaft entnommen.
3. Um festzustellen, ob der Botschafter eine Instruktion
vielleicht zu seinen Privatpapieren genommen habe, ist eine
diesbezügliche Anfrage an die Familie gerichtet worden, die
in negativem Sinne beantwortet wurde. (Aussage des Prinzen
Hatzfeldt, Schwiegersohnes des Herrn von Tschirschky, liegt
beim Untersuchungsausschuß.)
4. Nachforschungen sind auch angestellt worden darüber,,
ob Kaiser Wilhelm nach seiner Abreise von Potsdam am 6. Juli
9 Uhr 20 vormittags, entgegen allem sonstigen Brauch, vielleicht
von Bord der „Hohenzollern", auf die er sich nach Ankunft in
Kiel um 3 Uhr nachmittag^ sofort begab, direkt an den Bot-
schafter telegraphiert habe. Ein offenes Telegramm war aus-
geschlossen. Ueber die Möglichkeit eines Zifferntelegramms
haben die auf der „Hohenzollern" während der Nordlandreise
1914 tätigen Chiffrierbeamten angegeben: „Ziffern, für streng
geheime Sachen, wie sie im vorliegenden Falle hätten verwendet
werden müssen, wurden an Bord überhaupt nicht mitgeführt.
Telegramme in gewöhnlichen Ziffern waren möglich, aber auch
diese gingen sämtlich über das Auswärtige Amt in Berlin und
müssen daher in den dortigen Akten nachzuweisen sein". Zur
Nachprüfung wurde das Postbuch der „Hohenzollern" nach-
gesehen, das die Richtigkeit der angeführten Aussagen be-
stätigt.
174 Der angebliehe „Verweis" an Tsohirsohky
nicht dadurch zu einem legalen Akt, daß ein anderer Staat die
gleiche Verletzung plant. Die Begründung des deutschen Vor-
gehens liegt ausschließlich auf militärischem Gebiet. Es war
damals die heutzutage nicht mehr allseitig1 geteilte Auffassung
der militärischen Sachverständigen nicht nur in Deutschland,
sondern auch in den anderen Staaten, daß der deutschen Heeres-
leitung in einem Zweifrontenkriege keine andere Wahl bleibe,
als mit tunlichster Beschleunigung einen entscheidenden Schlag
im Westen zu führen. Beschleunigung aber war nicht möglich
bei frontalem Ansturm gegen die stark befestigte französische
Ostfront Verdun—Beifort, sondern nur bei deren Umgehung im
Norden durch Luxemburg und Belgien. Die Frage, ob ein an-
derer Kriegsplan mit Defensive im Westen und Offensive im
Osten genügende Aussicht auf Erfolg geboten hätte, könnte
nur in einer militärischen Spezialstudie erschöpfend behandelt
werden.
Wenn abe'r das deutsche Unrecht offen zugestanden wiTd, so
ist damit keineswegs den anderen Mächten das Recht einge-
räumt, über Deutschland zu Gericht zu sitzen. Kriegsminister
Haidane hat ehthüllt, daß er im Januar 1906, nachdem Sir Ed-
ward Grey die schon von Lord Lansdowne Frankreich gegen-
über eingegangenen Verpflichtungen3) übernommen hatte, sich
sofort mit dem französischen Militärattache ins Benehmen setzte,
um einen Raum für die Versammlung des britischen Expedi-
tionskorps gegenüber der belgischen Grenze auszusuchen.*)
Wenn nun das französische Heer, wie in den Generalstabsproto-
kollen von 1911, 1912 und 1913 vorgesehen ist, nach Durch-
führung seiner Mobilmachung unverzüglich die Offensive er-
greift, so können die auf dem Nordflügel der französischen
Streitmacht gegenüber der belgischen Grenze in der Gegend
von Maubeuge versammelten britischen Korps nirgends anders
hinmarschieren als nach Belgien hinein. Der französisch-eng-
lische Kriegsplan führte daher ebenso wie der deutsche zu einer
Verletzung der Neutralität des Königreichs. Auch hat niemand
anders als der König der Belgier selbst noch im Mai 1914 dem
deutschen Militärattache mitgeteilt, daß er die französische Ge-
fahr für die größte halte und daß er die Spionage des franzö-
sischen Generalstabs auf belgischem Gebiet mit Sorge verfolge.8)
Nicht aufrichtige Entrüstung, sondern pharisäerhafte An-
maßung ist es, wenn von französischer und englischer Seite der
deutsche Kriegsplan als ein unerhörtes Verbrechen hingestellt
wird. Die Beispiele von Neutralitätsverletzungen durch ihr
eigenes Land sollten die Politiken und Historiker in London
und Paris zu größerer Vorsicht in ihrem Urteil mahnen.
3
) Lieut. Col. Repington „The first World War 1914—1918" S. 4.
«) Haidane loc. cit. S. 31 u. 168.
5
) Bericht des deutschen Militärattaches in Brüssel vom 7. Mai
1914 siehe Untersuchungsausschuß 2. Heft S. 95.
187
V. Teil.
Belege.
Nr. 1. Am 3. Dezember 1884 berichtet CourceL, Bismarck habo
ihm gesagt: „Ich wünsche dahin zu kommen, daß Sie uns Sedan ver-
geben, wie Sie Waterloo vergeben haben", und fährt dann fort: „Wenn
wir darauf hörten, würde vielleicht ein Nachfolger Bismarcks unseren
Enkeln sagen: Ich wünsche, daß Sie uns eine neue Niederlage und eine
neue Zerstückelung verzeihen, wie Sie Sedan verziehen haben. Das
beweist, wie ruchlos, verhängnisvoll und folgenschwer der Leichtsinn
derer gewesen ist, die, verblendet durch vorübergehende Parteiinter-
essen und irregeführt durch trügerische Geschichtslehren, es versucht
haben, in den Augen Frankreichs die Verträge von 1815 zu recht-
fertigen und in den Herzen der Franzosen den Groll über die schmerz-
lichen Amputationen jener Zeit zu beschwichtigen". Auch am 20. Januar
protestiert Courcel wiederum nicht nur gegen die Verträge von 1871,
sondern auch gegen die von 1815. (Poincaré in der „Revue de la
Semaine" vom 11. Februar 1921 S. 185—137.)
Nr. 2. Delcasse erreichte damals, daß die Allianz, die ursprüng-
lich nur der „Erhaltung des Friedens" dienen sollte, erweitert wurde
durch den Zusatz „und der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der
Kräfte in Europa". Gleichzeitig wurde die Militärkonvention, die
ursprünglich nur währen sollte, solange der Dreibund bestand, auf die
Dauer des diplomatischen Abkommens verlängert. Dar.u schrieb Del-
cassé, daß ja gerade dann die Militärkonvention notwendig wäre, wenn
der Dreibund aufhörte. „Was würde geschehen, wenn der Dreibund
sich auflöste, wenn z. B. Kaiser Franz Josef plötzlich
verschwände, und wenn Oesterreich von einer Auflösung bedroht wäre,
die man vielleicht anierswo begünstigen und von der man jedenfalls
Vorteil ziehen wollte? . . . . Welches Ereignis würde dringender er-
fordern, daß Frankreich und Rußland nicht nur einig sind in einem ge-
meinsamen Ziele, sondern auch bereit, es zu erreichen?" (Französisches
Gelbbuch „L'AlÜance franco-russe" Nr. 93—95.)
Nr. 3. Nur einmal, am 16. Mai 1888, glaubt Waldersee, daß Bis-
marck endlich für den Gedanken des Präventivkrieges gewonnen sei.
Er schreibt, der Kronprinz (der spätere Kaiser Wilhelm II.) habe ihm
„unter dem Siegel der Verschwiegenheit" anvertraut, daß der Kanzler
„sich nunmehr entschlossen habe, den Krieg nicht mehr zu scheuen"
(Band I. S. 399). Auch vom Kriegsminister will Waldersee die Kriegs-
neigung des Kanzlers bestätigt erhalten haben (loc. cit. S. 401). Aber
schon im folgenden Monat, Ende Juni, stellt Waldersee von neuem fest,
seine eigene Auffassung unterscheide sich von der des Kanzlers dahin,
daß dieser „uns jeden Krieg fernhalten will" (loc. cit. S. 410).
Nr. 10. Dieses Urteil weicht erheblich ab von Friedjung III. S. 304
und Prof. Hoetzsch loc. cit. S. 311, die beide einen Mißerfolg der rus-
sischen Politik annehmen. Mir scheint, daß man mit Schebeko zwischen
Slawentum und Rußland unterscheiden muß. Die Interessen der Balkan-
staaten waren aber für die russische Politik nur das Aushängeschild,
nicht das wahre Leitmotiv. Friedjung ist zu seinem Urteil auch durch
die Auffassung verleitet, daß das große Rüstungsprogramm erst durch
den dritten Balkankrieg veranlaßt worden sei. General Dobrorolski hat
aber enthüllt, daß dieses Programm schon viel früher beschlossen war
Nr. 11. a) B e r i c h t d e s d e u t s c h e n Botschafters
v o n T s c h i r s c h k y v o m 2 3. M ä r z 1 9 1 4 ü b e r d i e U n t e i -
r e d u n g e n i n W i e n („Deutsche Politik" vom 11. Juni 1920).
Ueber die Unterredungen, die S. M. heute hier mit S. M. dem Kaiser
Franz Joseph, dem Grafen ijerchtold und dem Grafen Tisza gehabt hat,
hatte Allerhöchstdieselbe die Gnade, mir nachstehendes behufs Mel-
dung an E. E. mitzuteilen.
Mit S. M. dem Kaiser Franz Joseph und dem Grafen Berchtold
sei er über allgemeine Besprechungen über die politische Lage eigentlich
nicht hinausgekommen. Beide hätten sich sehr besorgt in betreff Ru-
mäniens und Rußlands gezeigt. Nach ihrer Ansicht sei Rumänien für
den Dreibund 6chon so gut wie verloren. Er habe sich bemüht, sie nach
beiden Richtungen hin zu beruhigen. Was Rumänien anlange, so habe er
ihnen das mitgeteilt, was der Kronprinz von Rumänien jüngBt in Berlin
erklärt hat«: Rumäniens Interessen wiesen es gebieterisch an die Seite
des Dreibundes, eine Suprematie des slawischen Rußlands mit Serbien
im Rücken sei für Rumänien unerträglich; allerdings werde infolge der
Gestaltung der Verhältnisse während und nach dem zweiten Balkan-
kriege die Verbindungsstelle zwischen Rumänien und dem Dreibunde
jetzt mehr in Berlin zu suchen sein.
S. M. bemerkten hier, daß er in dieser Beziehung sowohl bei K liser
Franz Joseph als beim Grafen Berchtold volles Verständnis gefunden
habe und beide diese Sachlage akzeptiert und die Hoffnung ausgedrückt
hätten, daß Berlin in dieser Richtung alles tun werde, was möglich wäre.
Er habe dann sehr eindrücklich darauf hingewiesen, daß, wenn er aucli
gewiß in Bukarest nach Kräften und Tunlichkeit wirken wolle, es doch
auch Sache Oesterreich-Ungarns sei, mit allen Kräften daran zu arbeiten,
daß das Verhältnis zwischen Wien und Bukarest sich wieder bessere.
Von beiden Seiten sei dem lebhaft zugestimmt worden.
In Bezug auf die russischen Rüstungen habe er ausgeführt, daß
diese gewiß nicht zu leugnen wären, und daß wir alle Ursache hätten,
sie scharf zu beobachten, daß er aber nicht glaube, daß sie in erster
Linie kriegerischen Absichten gegen Oesterreich oder Deutschland ent-
sprängen. Einmal sei Rußland durch Frankreich gezwungen, gewisse
190 Beleg Nr. 11 (Wilhelm II. in Wien 1914)
wende, der mit der Zeit als Sturmbock gegen Oesterreich-Ungarn für
den Fall eines großen europäischen Krieges verwendet werden solle.
Die Monarchie solle im Ernstfall durch den Vorstoß aiis Südosten völlig
beschäftigt und auf diese Weise verhindert werden, Deutschland gegen
Rußland beizustehen, um es dem doppelseitigen Angriff allein zu über-
lassen. von Tschirschky.
b) B e r i c h t d e s G e s a n d t e n a m K a i s e r l i c h e n H o f l a g e r
v o n T r e u t l e r ü b e r d e n B e s u c h i n M i r a m a r („Deutsche
Politik" vom 11. Juni 1920).
S. M. haben den Erzherzog-Thronfolger in ausgezeichneter Dis-
position gefunden. Zunächst war derselbe außerordentlich erfreut, als
er hörte, daß er bei den Manövern den König von Italien treffen würde.
Er hat in diesen Mitteilungen keinen Augenblick etwas Unangenehmes
erblickt, sondern sofort erklärt, daß es ihm sehr lieb sei, dem König
auf neutralem Boden zu begegnen und dadurch Gelegenheit zu haben,
eingehend mit ihm zu sprechen.
Bei der Fortsetzung des Gesprächs über Fragen der großen Politik
erklärte der Thronfolger: Rumänien und Griechenland müßten im Bal-
kan für den Dreibund wie eine Mauer gegen die Slawen stehen; wenn
möglich auch die Türkei. Er nahm bei dieser Gelegenheit in der
schärfsten Weise gegen Graf Berchtolds Verhalten bezüglich Bulgariens
und Rumäniens Stellung, weil er nicht über Bukarest mit Sofia ver-
handelt habe.
S. M. hat ihm gesagt, der begangene Fehler könne voraussichtlich
wieder gutgemacht werden, wenn nur in Wien aufrichtige Loyalität
Bukarest gegenüber beobachtet würde; denn König und Kronprinz
hätten wiederholt erklärt, sie blieben treu beim Dreibund. Vor allem
sei nötig, daß in Ungarn die rumänische Frage wieder so behandelt
würde, wie Tisza es offenbar schon getan habe und nach seinen eigenen
Erklärungen weiter zu tun beabsichtige. Bei dieser Gelegenheit hat S. M.
dem Thronfolger den guten Eindruck geschildert, den er von Tisza emp-
fangen hätte, und ihm nahe gelegt, diesem wirklichen Staatsmann sein
Vertrauen zu schenken. Der Thronfolger hat zugesichert, dies in ernste
Erwägung zu ziehen.
Dann berührte der Erzherzog ganz spontan die innere Politik Oester-
reichs und sagte mit einiger Erregung, die Slawen würden allzu heraus-
fordernd und frech, er betrachte das für eine große Gefahr. Da ging
S. M. auf diese heikle Frage ein und sagte dem Thronfolger ganz offen:
seiner Ueberzeugung nach müsse die österreichische Politik germanisch
orientiert werden; man solle doch die Opposition und Obstruktion der
Tschechen benutzen, um ihnen einmal wirklich den Kopf zu waschen.
Der Erzherzog hat darauf erwidert, daß das ganz seiner Ueberzeugung
entspräche; die deutschen Politiker seien freilich größtenteils unsym-
pathisch; er stehe auf dem Standpunkt, daß man diese wichtige Kern-
frage nicht den jeweiligen Abgeordneten zu Liebe oder zu Leide regeln,
sondern höheren Gesichtspunkten unterordnen müsse.
Unter diesen Umständen verlief der Besuch in Miramar außerordent-
lich gut. S. M. besuchte von der vor dem Schloß vor Anker liegenden
Flotte den Dreadnought Virivus unitis", der ihm und den anderen
Herren der Marine einen sehr guten Eindruck gemacht hat. Der Thron-
folger und die Frau Herzogin waren sichtlich bemüht, ihrem hohen Gast
den Aufenthalt so angenehm als möglich zu gestalten. Der Abschied
trug dementsprechend einen sehr herzlichen Charakter. Treutier.
c) B e r i c h t d e s G e s a n d t e n a m K a i s e r l i c h e n H o f l a g e r
v o n T r e u t i e r v o m 14. J u n i 1 9 1 4 ü b e r d i e U n t e r r e -
d u n g e n i n K o n o p i s c h t („Deutsche Politik" vom 14. Mai 1920).
S. M. der Kaiser und König haben am zweiten Tage des Aufenthalts
in Konopischt, am 13. d. M., vor und nach dem Diner je eine politische
Aussprache mit dem Erzherzog-Thronfolger gehabt.
192 Beleg Nr. 11 (Wilhelm II. in Konopiseht 1914)
Nr. 22. Der Abdruck des Protokolls der Sitzung: des Preußischen
Staatsministeruims vom 30. Juli in D 456 enthält, wie im Sommer 1922
durch Vergleich mit dem im Preußischen Staatsministerium des Innern
befindlichen Original festgestellt wurde, einen, sinnstörenden Druck-
fehler, der hiermit im. Einverständnis mit den beiden anderen Heraus-
gebern der Dokumente, Herrn Karl Kautsky und Professor Walter
Schücking, berichtigt wird. Bethmann hat nicht als eigene Ansicht ge-
äußert, daß „die russischen Mobilisierungsmaßnahmen mit dem west-
europäischen nicht zu vergleichen." seien. Auf S. 177 ZI. 1 v. o. ist
nämlich das Wort „sei" zu streichen und dafür die im Nachstehenden
gesperrt gedruckten Worte einzusehalten, sodaß der ganze Satz lautet:
„Die Mobilisierung Rußlands h a b e d i e s e S c h r i t t e kontra
k a r r i e r t , B u ß l a n d h a b e zwar erklärt, seine Mobilisierunga-
maßnahinen seien mit den westeuropäischen nicht zu vergleichen".
Der Ministerrat tagte wahrscheinlich um die Mittagszeit, nicht
erst am Abend des 30. Juli, da die in der Sitzung genehmigte „Siche-
rung" für die Marine noch an demselben Tage angeordnet wurde
(„Deutschland schuldig?" S. 75). Andererseits darf die Sitzung des-
wegen, weil der Kanzler nur je ein Telegramm des Kaisers und des
Zaren ausführlich mitteilte, nicht auf den 29. verlegt werden; denn auf
S. 177 Schluß von Abs. 2 ist ausdrücklich gesagt, daß wahrscheinlich
„heute" die Entscheidung in. Wien über die deutschen und englischen
Vorschläge fallen werde, was nicht vor dem 30. erwartet werden
konnte.
Nr. 23. T e l e g r a m m S v e r b e j e w s ü b e r s e i n e U n t e r -
r e d u n g m i t J a g o w a m N a c h m i t t a g d e s 3 0. J u l i ü b e r
die erste Sasonows''sehe Formel. (..Rotes Archiv" I.
S. 183).
„Da ich bis zum gegebenen Zeitpunkt das Telegramm unter
Nr. 2 mit Ihrem Vorschlag nicht erhalten habe, habe ich mich ent-
schlossen, mich an den Minister des Aeußeren zu wenden, um von dem
Eindruck, den Ihr Vorschlag auf Grund der Mitteilungen von Pourtalfes
auf ihn gemacht hat, zu erfahren. Der deutsche Botschafter resümiert
Ihren Vorschlag folgendermaßen: „Oesterreich anerkennt, daß sein Kon-
flikt mit Serbien die allgemeinen europäischen Interessen berührt, und
drückt seine Bereitwilligkeit aus, diejenigen Punkte, welche die
Suveränitätsrechte Serbiens schädigen, aius seinem Ultimatum auszu-
schließen. In diesem Falle verpflichtet sich Rußland, die militärischen
Vorbereitungen einzustellen." Der Minister des Aeußeren hält den
Vorschlag für Oesterreich für unannehmbar, da er für Oesterreich er-
niedrigend wäre und nicht zu günstigen Resultaten führen würde; er
fügte hinzu, daß im Zusammenhang mit dem Empfang der Nachricht
über unsere Mobilisation gegen Oesterreich sich die Lage verschlimmert
hat, und die Verhandlungen sich immer schwieriger und schwieriger
gestalten. Ungeachtet dessen setzte der Minister des Aeußeren hinzu,
daß Szäpäry beauftragt sei, die Verhandlungen mit Ew. Exzellenz
weiter zu führen, und daß überdies ein neuer Vorschlag Grey's vor-
liege, der höchst wahrscheinlich schon in Petersburg bekannt sei. Es
muß bemerkt werden, daß naefc der Beschießung von Belgrad die nach
serbischen Mitteilungen äußerst gewesen sein soll, Oesterreich,
meines Erachtens, mehr Nachgiebigkeit zeigen könnte."
Im Orangebuch (Nr. 63) war das Telegramm wiedergegeben wie
folgt:
„Ich erhielt Ihr Telegramm vom 16./29. Juli und übermittelte den
Text Ihres Vorschlags dem Staatssekretär des Aeußeren, bei dem ich
soeben war. Er sagte mir, daß er ein gleiches Telegramm vom deut-
schen Botschafter aus S t Petersburg erhalten habe und teilte mir dann
mit, daß er unseren Vorschlag für unannehmbar für Oesterreich halte."
Beleg Nr. 24 und 35 199
anderer Mächte aufzuklären. In dem Falle jedoch, daß infolge der Er-
eignisse die Aufrechterhaltung des status quo in den Gregerden des
Balkans oder der ottomanischen Küsten und Inseln im Adriatischen
und im Aegäischen Meer unmöglich würde, und daß, sei es infolge des
Vorgehens einer dritten Macht, sei es auf andere Weise, Oesterreich-
Ungarn oder Italien sich in die Notwendigkeit versetzt sehen sollte,
durch eine zeitweilige oder dauernde Besitznahme Ihrerseits diesen
status zu ändern, so soll diese Besitznahme erst nach einem vorher-
gehenden Uebereinkommen zwischen den beiden Mächten stattfinden;
dieses Uebereinkommen soll auf dem Grundsaz einer gegenseitigen
Kompensation für jeden territorialen oder sonstigen Vorteil beruhen,
den jede Macht über den gegenwärtigen status quo hinaus erhalten
würde, und soll den Interesen und wohlbegründeten Ansprüchen beider
Parteien Genüge leisten.
202
VI. Teil.
Anlagen.
Anlage 1.
Verzeichnis der im III. und IV. Teil genannten Personen.
Berlin.
W i l h e l m II., Deutscher Kaiser, König' von Preußen.
B e t h m a n n H o l l w e g , Dr. Th. von, Reichskanzler, Preußischer
Ministerpräsident und Minister des Auswärtigen.
J a g o w , Gottlieb von, Staatssekretär des Auswärtigen.
Z i m m e r m a n n , Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt.
S t u m m , Wilhelm von, Dirigent der politischen Abteilung des Aus-
wärtigen Amts.
M o 11 k e , von, Chef des Generalstabs der Armee.
B e r i r a b , von, Oberquartiermeister im Großen Generalstab und
Chef der Landesaufnahme.
W a l d e r s e e , Graf von, Oberquartiermeister I im Großen General-
stab.
F a l k e n h a y n , von, Preußischer Kriegsminister.
T i r p i t z , von, Staatssekretär des Reichsmarineamts.
C a p e l l e , von, Unterstaatssekretär im Reichsmarineamt, Stellvertreter
des beurlaubten Staatssekretärs.
P o h l , von, Chef des Admiralstabs.
B e h n c k e , Paul, Abteilungschef im Admiralstab, Stellvertreter des be-
urlaubten Chefs des Admiralstabs.
S z ö g y e n y - M a r i c h , L. Graf von, österreichisch-ungarischer Bot-
schafter.
G o s c h e n , Sir E., englischer Botschafter.
C a m b o n , Jules, französischer Botschafter.
S w e r b e j e w , S. N., russischer Botschafter.
T a t i s c h t s c h e w . von, russischer Militärbevollmächtigter.
B o 11 a t i , R., italienischer Botschafter.
J o w a n o w i t s c h , Dr. M., serbischer Geschäftsträger.
B e y e n s , Baron, belgischer Gesandter.
L e r c h e n f e l d , Graf Hugo von, bayerischer Gesandter.
S c h o e n , Hans von, bayerischer Legationsrat.
Wien.
F r a n z J o s e p h L, Kaiser von Oesterreich, König von Böhmen etc.,
Apostolischer König von Ungarn.
B e r c h t o l d , Leopold Graf von, Minister des k. u. k. Hauses und des
Aeußern, Vorsitzender des k. u. k. Ministerrats.
M a c e h i o , Freiherr K. von, 1. Sektionschef im k. u. k. Min. des
Aeußern-
203
London.
G e o r g V., König von Großbritannien und Irland.
A s q u i t h , H. H., Ministerpräsident.
G r e y , Sir E., Staatssekretär des Aeußeren.
L i c h n o w s k y , Karl Max Fürst, deutscher Botschafter.
M e n s d o r f f -Pouilly-, Dietrichstem, A. Graf von, österreichisch-
ungarischer Botschafter.
C a m b o n , Paid, französischer Botschafter.
B e n c k e n d o r f f , A. GTaf von, russischer Botschafter.
E 1 1 e r , N. v., russischer Botschaftsrat.
Paris.
P o i n c a r é , Raymond, Präsident der Republik.
V i v i a n i , René, Ministerpräsident und Minister des Aeußern.
F e r r y , Unterstaatssekretär im Ministerium des Aeußern.
M a r g e r i e , J. de, Kabinettschef des Ministers des Aeußern,
Direktor der politischen Abteilung.
B e r t h e l o t , stellvertretender politischer Direktor des Ministeriums
des Aeußern.
B i e n v e n u - M a r t i n , Justizminister und (vom 16.r—89. Juli) stell-
vertretender Ministerpräsident und Minister des Aeußern.
M e 8 8 i n i y , Kriegsminister.
J o f f r e , Chef des Generalstabs und Generalissimus im Kriegsfalle.
P e t e r s b u r g.
N i k o l a u s II., Kaiser von Rußland.
S a s o n o w , S. D., Minister des Aeußern.
S u c h o m l i n o w , W. A., Kriegsminister.
Anlage 2.
Nachtrage.
1. E r l a ß des r u s s i s c h e n A u ß e n m i n i s t e r s I s w o l s k y
ü b e r d i e Z u s a m m e n k u n f t in R e v a l im J u n i 1908.
Bei der Zusammenkunft in Reval hat der britische Unterstaats-
sekretär Sir Charles Harlinge Rußland als den „Schiedsrichter der
Lage" in den Jahren 1915—16 bezeichnet und den Wunsch der eng-
lischen Regierung zum Ausdruck gebracht, daß Rußland aus diesem
Grunde „zu Wasser und zu Lande möglichst stark" werde. Wegen der
Wichtigkeit dieser Besprechungen wird in Ergänzung des auf Seite 17
(II. Abschnitt 3. Kapitel) Gesagten der Erlaß Iswolskys über die Zu-
sammenkunft angefügt (Siebert S. 777—79):
„Der allgemeine Eindruck, den diese Zusammenkunft hinterlassen
hat, ist in politischer Hinsicht ein äußerst günstiger; König Eduard hat
seine Genugtuung offen zum Ausdruck gebracht und erblickt in der Zu-
sammenkunft eine Bestätigung und Befestigung des zwischen Rußland
und England erzielten Uebereinkommens täowie ein Pfand für die weitere
Solidarität der beiden Regierungen. Mit besonderer Genugtuung betonte
Seine Majestät die glückliche Wendung in unserer inneren Politik und
die Zustimmung, die die Tätigkeit des Staatssekretärs Stolypin in ernsten
Kreisen Englands findet
Die verschiedenen Erklärungen Hardinges zusammenfassend, muß
ich vor allem betonen, daß seinerseits kein Versuch gemacht worden
ist, den Boden konkreter Abmachungen, sowohl der schon bestehenden,
als der in Aussicht genommenen zu verlassen und uns in allgemeine poli
tische Kombinationen zu ziehen. Sir Charles bestätigte, daß das Lon-
doner Kabinett unsere Ansicht durchaus teile, daß die Entrevue in Reval
den anderen Staaten keinerlei Beunruhigung einzuflößen brauche; was
speziell Deutschland anbelangt, so wünscht die englische Regierung auf-
richtig, die allerbesten Beziehungen zu ihm zu unterhalten, und glaubt
nicht, daß in allernächster Zukunft diese Beziehungen sich aus irgend-
einem Grunde verschärfen werden. „Trotzdem", sagte mir Sir Charles
Hardinge, „kann man sich nicht der Einsicht verschließen, daß, wenn
Deutschland in demselben beschleunigten Tempo seine Rüstungen zur
See fortsetzen wird, in sieben oder acht Jahren in Europa eine äußerst
beunruhigende und gespannte Lage entstehen kann; dann wird zweifels-
ohne Rußland der Schiedsrichter der Lage sein; und aus diesem Grunde
wünschen wir im Interesse des Friedens und der Erhaltung des Gleich-
gewichts, daß Rußland zu Lande und zu Wasser möglichst stark ist."
Diesen Gedanken hat Sir Charles mehrere Male wiederholt, wobei er
augenscheinlich zu verstehen geben wollte, daß er nicht seine persön-
liche Meinung, sondern die bestimmte politische Ueberzeugung des Lon-
doner Kabinetts zum Ausdruck bringt.
Zu den einzelnen Rußland und England interessierenden Fragen
übergehend, sprach Sir Charles in warmen Ausdrücken von dem glück-
lichen Resultat der im vorigen Jahre unterzeichneten Uebereinkommen,
dank denen keine einzige in letzter Zeit zwischen Rußland und Eng-
land entstandene Frage einen gefährlichen oder akuten Charakter an-
genommen habe. Seinen Worten zufolge hat nur dank der Konvention
und der absoluten Loyalität, mit der Rußland seinen Verpflichtungen
nachgekommen ist, der Zwischenfall an der afghanischen Grenze nicht
208
R o d a r d r u c k v o n C. G. R ö d e r G. m. b. H„ L e l p i l g