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LEITFADEN ZUR

KRIEGSSCHULDFRAGE

GRAF MAX MONTGELAS


MITHERAUSGEBER DER „DEUTSCHEN DOKUMENTE ZUM
KRIEGSAUSBRUCH"

1923

WALTER DE GRUYTER & CO.


VORMALS G . J . G Ö S C H E N ' S C H E VERLAGSHANDLUNG- J . GUTTENTAG, VERLAGS-
BUCHHANDLUNG - G E O R G REIMER - KARL J . TRÜBNER - VEIT & COMP.

BERLIN UND LEIPZIG


III

Inhaltsverzeichnis.

I. TEIL.
Die Anklage. geite
1. Die These von Versailles 1
2. Die politischen Ziele der Großmächte 2
3. Günstige Gelegenheiten zum Kriege 4

II. TEIL.
Die Vorgeschichte.
1. Die Weltlage im Jahre 1907 8
2. Die beiden Haager Konferenzen von 1899 und 1907
a) Die Rüstungen 11
b) Das Schiedsverfahren 15
8. Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina 17
4. Der russisch-italienische Vertrag von Racconigi 1909 . . . 23
6. Die Entspannung 1910 24
6. Die zweite Marokkokrise 1911 26
7. Der tripolitanische Krieg 1911 . . . . 31
8. Deutsche Annäherungsversuche an England und Frankreich
zu Beginn des Jahres 1912 32
9. Der erste Balkankrieg, H«rbst 1912 36
10. Der zweite Balkankrieg, Februar bis Mai 1918 46
11. Der dritte Balkankrieg, Sommer 1913 57
12. Die Entwicklung der Meerengenfrage 68
13. Die Zusammenkünfte von Miramar, Konopischt und Paris . . 74
14. Oesterreich-Ungarn und Serbien 77
15. Die Rüstungen 1907—1914
&Ì Rüstungen zu Lande 81
b) Rüstungen zur See 85
c) Militär- und Marinekonventionen 86

III. TEIL.
Die Krise.
1. Das Attentat von Serajewo 88
2. Die Mission Hoyos 90
3. Die Reise Poincaré s nach Petersburg 94
4. Das österreichische Ultimatum . 97
5. Lokalisierung oder Weltkrieg? 100
6. Sechs Tage deutsch-englischer Vermittlung
Sonnabend, 25. Juli 102
Sonntag, 26. Juli 104
Montag, 27. Juli 105
Dienstag, 28. Juli 108
Mittwoch, 29. Juli 111
Donnerstag, 30. Juli 118
IV

Seite
7. Die Haltung Frankreichs und Rußlands während der deutsch-
englischen Vermittlung 125
8. Die Bedeutung der russischen allgemeinen Mobilmachung . . 133
9. Die Entschlüsse des 31. Juli
Berlin und Wien 136
London 140
Paris 142
Petersburg 144
10. Die Intrigen gegen Deutschland
a) Die Antwort des Zaren an den König von England . . . 145
b) Der Runderlaß Vivianis vom 1. August und die Beein-
flussung des britischen Botschafters in Paris . . . . 147
c) Der Besuch. Schebekos und Dumaines bei Berchtold . . . 148
11. Die englische Vermittlung am 1. August
a) Die zweite Sasonowsche Formel 149
b) Das Telegramm Berchtolds vom Morgen des 1. August 150
12. Die Kriegserklärungen Deutschlands und Oesterreich-Ungarns
an Rußland 153
13. Die Kriegserklärung- Deutschlands an Frankreich und die
Frankreichs an Oesterreich-Ungarn 159
14. Die Kriegserklärung Englands an Deutschland 161
15. Siebenzehn Schlußthesen 164

IV. TEIL.
E i n z e l h e i t e n der Krise.
1. Das Telegramm Szögyenys vom 5. Juli 168
2. Die Legende des Kronrats vom 5. Juli 170
3. Die angebliche kaiserliche Instruktion an Tschirschky . . . 172
4. Das Telegramm Szögyenys vom 27. Juli 175
5. Das angebliche deutsche Ultimatum an Rußland vom 29. Juli . 176
6. Der Vorschlag des Zaren betreffend das Haager Schiedsgericht 177
7. Das Extrab'att des „Berliner Lokalanzeigers" 178
8. Der französische Schachzug der zehn Kilometer 180
9. Der Ursprung der Meldung über den Bombenabwurf auf
Nürnberg 182
10. Die Haltung' Italiens 183
11. Die belgische Frage 185

V. TEIL.
B e 1 e g e Nr. 1—28. 187

VI. TEIL.
A n 1 a £ e n.
1. Verzeichnis der im III. und IV. Teil genannten Personen . . 202
2. Verzeichnis der öfter angeführten Quellen nebst abgekürzten
Bezeichnungen 205

Nachträge.
1. Erlaß des russischen Außenministers Iswolsky über die Zu-
sammenkunft von Reval im Januar 1908 207
2. Ein russisch-japanischer Geheimvertrag vom Juli 1912 . . . 208
I. Teil.

Die einklage.

1. Die These von Versailles.


Im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts ist
das Wort Bismarcks wahr geworden von dem furchtbaren
Kriege, der Europa in Flammen setzen werde von Moskau bis
zu den Pyrenäen, und nach dessen Ende man nicht mehr
wissen werde, warum man sich geschlagen. Wie konnte dieses
Völkerringen entstehen, das weite Länderstrecken verwüstete,
viele Millionen Männer im blühenden Alter dahinraffte und die
wirtschaftliche Kraft unseres Erdteils auf Generationen lähmte?
Es gibt eine Antwort, die' sagt: Der allgemeine Krieg war
unvermeidlich, weil alle Großmächte ohne Ausnahme von im-
perialistischem Drange erfaßt waren, nur darauf bedacht, ihre
Macht zu mehren und sie durch einen Wettlauf der Rüstungen
zu Lande, zu Wasser und in der Luft zu sichern; der Krieg
mußte kommen, weil die Regierenden vergessen hatten, daß
nur der Friede den wahren Interessen der Völker diene, und
weil das Bewußtsein der wirtschaftlichen Solidarität aller
Länder geschwunden war. Diese Erklärung deckt wohl einige
der tieferen Ursachen der großen Katastrophe auf, wennschon
die Hinnahme des Weltkrieges als eines unvermeidlichen Ereig-
nisses allzu fatalistisch sein dürfte und den Einfluß der
leitenden Politiker allzusehr auszuschalten scheint. Doch ist
es im Rahmen dieser Schrift nicht nötig, die Berechtigung
solcher Resignation nachzuprüfen. Hier handelt es sich darum,
die Richtigeit einer anderen Antwort zu untersuchen, die in
Versailles gegeben wurde von Anklägern, die zugleich als
Richter sich aufwarfen, zu einer Zeit, da noch keines der Ar-
chive der kriegführenden Mächte völlig geöffnet war. Männer,
die weder die Dokumente der Gegner noch die ihrer Verbün-
deten kannten, ihre eigenen Akten aber sorgfältig geheim
hielten, haben in Artikel 231 des Friedensdiktats die These auf-
gestellt, daß der Krieg ihnen „durch den Angriff Deutschlands
und seiner Verbündeten aufgezwungen" worden sei. Und wenn
man aus dem Wortschwall des Ultimatums vom 16. Juni 1919,
durch das Deutschland die Unterschrift unter sein politisches
I
9 Die These von Versailles

und moralisches Todesurteil abgepreßt worden ist, den Kern


herausschält, so geht er dahin, daß
Deutschland allein von allen Mächten für einen großen
Krieg g'erüstet gewesen sei, daß
Deutschland seit Jahrzehnten einen Angriffs-, Eroberungs-
und Unterjochungskrieg planmäßig vorbereitet und
diesen Krieg im Jahre 1914 mit Vorbedacht entfesselt
habe, um
die „Vorherrschaft in Europa" zu erlangen und seine
„Weltherrschaftspläne" zu verwirklichen.
Die gegnerischen Nationen aber seien nur darauf bedacht
gewesen „ihre Freiheit zu retten".

2. Die politischen Ziele der Großmächte.


Bei den vielen Verteilungen der Welt in früheren Zeiten
war Deutschland leer ausgegangen und auch bei denen der
letzten Jahrzehnte war es äußerst kärglich bedacht worden.
Zählte doch das Deutsche Reich im Jahre 1914 im Mutterlande
67 Millionen Menschen, in seinen Kolonien aber nur 12. Nicht
Weltherrschaft strebte das deutsche Volk an, sondern einen be-
scheidenen „Platz an der Sonne", ein Ziel, das ohne kriege-
rische Konflikte und ohne Schädigung der Interessen anderer
Staaten wohl erreichbar war. Gerade im August des Unglücks-
jahres sollte ja das im Entwurf schon fertige Kolonialabkommen
mit England unterzeichnet werden, das den berechtigten und
gemäßigten deutschen Wünschen Rechnung getragen hätte.
Dem gegenüber war es Frankreich mit seiner stagnieren-
den Bevölkerung von 39 Millionen gelungen, nach 1871 aus
bescheidenen Anfängen ein mächtiges Kolonialreich mit
53 Millionen farbiger Untertanen aufzubauen. Das war nur
möglich gewesen dank der moralischen und diplomatischen
Unterstützung Bismarcks. Die Rückendeckung, die der erste
Kanzler durch die Zusicherung gewährte, daß kein deutscher
Angriff erfolgen werde, wenn noch so viele französische Truppen
über See entsendet würden, gestattete der Republik in dem
Zeitraum von 1879 bis 1885 den Erwerb von Tunis, Annam,
Tonkin, Laos, wertvoller Gebiete in Westafrika sowie der Insel
Madagaskar. Das letzte Jahrzehnt aber hatte den von Ver-
tragsverletzung zu Vertragsverletzung schreitenden Franzosen
den Besitz von Marokko gesichert, von wo, wie später gezeigt
werden wird, der Anstoß zum Weltkrieg^ ausgehen sollte.
Noch gewaltiger war das britische Imperium. Nur 46
Millionen wohnten auf den englischen Inseln, aber 376 Millio-
nen, mehr als ein Fünftel der Erdbewohner, waren Untertanen
Seiner britischen Majestät. Trotzdem ruhten die Pläne der eng-
lischen Imperialisten nicht. In Afrika sollte die große Nord-
Südlinie Cairo-Cap geschaffen, von ihr über Palästina, Arabien
Die politischen Ziele der Großmächte 3

und Mesopotamien, die West-Ostverbindung über Land nach


Indien hergestellt werden. Die auch im Frieden unermüdlich
tätige Seestrategie der britischen Admiralität aber war bemüht,
die Herrschaft über den Ozean durch Erwerb neuer Flotten-
stützpunkte und durch Verweigerung solcher Stützpunkte an
die Gegner des Dreiverbandes immer mehr zu sichern.
Wie England über alle Meeresstraßen und die zahlreichsten
Völker der verschiedensten Rassen, Religionen und Sitten, so
herrschte Rußland über die weitesten Ländermassen. Räumlich
hingen seine unermeßlichen Besitzungen zusammen, aber fremd-
stämmig waren viele der Völker, die unter dem Szepter des
Zaren vereinigt waren.
Selbst kleine Länder wie Holland und das neutrale Belgien
besaßen Kolonien, geräumiger und volksreicher als die Deutsch-
lands.
Ebenso steht es mit dem zweiten Punkt der Anklage, dem
Streben nach „ V o r h e r r s c h a f t i n E u r o p a " . Deutsch-
land begehrte in Europa nicht einen Fußbreit Landes über das
hinaus, was ihm 1871 geworden war. Die Insel Helgoland,
schon früher von England angeboten, war 1890 auf gütlichem
Wege durch weitgehenden Verzicht auf afrikanischen Besitz
hinzugekommen.
Anders in Frankreich und in Rußland. Als Irrtum hat
sich die Auffassung etwiesen, Frankreich habe nach 1871 nur an
Elsaß und Lothringen gedacht. Wir wissen jetzt aus den Be-
richten des französischen Botschafters Baron Courcel, daß so-
gar Ende 1884, also zu einer Zeit, da Deutschland den franzö-
sischen Wünschen besonders weit entgegenkam, maßgebende
französische Politiker sich auch mit den Verträgen von 1815
noch nicht abgefunden hatten, sondern das im ersten Pariser
Frieden von 1814 unbegreiflicherweise bei Frankreich belassene
deutsche Saargebiet zurückerobern wollten.1) Die Berichte
Delcasses über die im Sommer 1899 von ihm erreichte, nach
seinen eigenen Worten „außerordentliche" Erweiterung des
französisch-russischen Bündnisses enthüllten nach Elsaß-Loth-
ring'en und dem Saargebiet ein drittes Ziel: im Falle der Auf-
lösung des Habsburger Reichs sollte der Zusammenschluß
Deutsch-Oesterreichs mit dem großen Stammlande verhindert
werden, nötigenfalls mit Waffengewalt.2) Das Jahr 1913 wird so-
dann zeigen, wie anderthalb Jahre vor Kriegsausbruch Del-
casse, der Vertrauensmann Poincares, mit Sasonow über terri-
toriale Krie'gsziele Frankreichs in Europa verhandelt. Die
Niederlage von Sedan hatte ebenso wenig wie die von Waterloo
das französische Streben nach dauernder Vorschiebung der
Grenzen gegen Osten zurückzudrängen vermocht.
») Siehe Beleg Nr. 1, S. 187.
a
) Siehe Beleg Nr. 2, S. 187.
*i
4 Die politischen Ziele der Großmächte

Auch Rußland hielt sein Augenmerk nicht mehr ausschließ-


lich auf asiatisches Gebiet gerichtet. Die Ursachen, die seinen
Expansionsdrang wieder nach Europa zurückleiteten, werden
bei der Weltlage von 1907 erörtert werden. Nur soviel sei hier
schon erwähnt, daß man in Petersburg zu Beginn des Jahres
1914 sich die Auflassung zu eigen gemacht hatte, die an-
gestrebte Herrschaft über Bosporus und Dardanellen könne
nur „im Rahmen eines europäischen Krieges" verwirklicht
werden.
Neben diesen weitgreifendeo Plänen der Mächte des Drei-
verbandes und dem Wunsche Deutschlands nach einem Platz an
der Sonne war das einzige Ziel Oesterreichs die Erhaltung des
Bestehenden. Mag man auch dieses Ziel gegenüber den Wün-
schen gewisser Teile der Südslawen nach Schaffung eines
großserbischen Nationalstaates als unberechtigten Anachronis-
mus bezeichnen, so wird sich doch kaum ein ernsthafter Poli-
tiker finden, der dem Donaustaate Weltherrschaftspläne und
Gelüste nach Vorherrschaft in Europa andichten wollte.
Nicht in Berlin also und nicht in Wien hegte man Wünsche,
die nur durch ein Meer von Blut und Thränen Wirklichkeit
wenden konnten. Auch die hochfliegenden Ideen des eng-
lischen Imperialismus waren ja schließlich ohne Kämpfe in
Europa durchzuführen, da sie sich nur gegen wehrlose Na-
tionen in anderen Erdteilen richteten. Die territorialen Ambi-
tionen Frankreichs, Rußlands und der russischen Schutz-
befohlenen hingegell konnten nur auf europäischen Schlacht-
feldern Erfüllung* finden.

3. Günstige Gelegenheiten zum Kriege.


Einen dritten Punkt der Anklage des Ultimatums bildet der
seit Jahrzehnten vorbereitete Angrifskrieg. Der Verfasser der
Anklageschrift — es soll ein Engländer sein — hat vergessen,
daß knapp ein Jahrzehnt vor Ausbruch der Katastrophe Groß-
britannien sich eifrigst um ein Bündnis mit Deutschland be-
worben hat, um ein Bündnis, das gleicherweise gegen Frank-
reich und gegen Rußland, seine späteren Alliierten, sich richten
sollte1.
Zur Widerlegling ist es wohl nicht nötig, auf die Zeit Bis-
marcks zurückzugreifen. Die große Aktenpublikation des Aus-
wärtigen Amts hat in einer Fülle von streng vertraulichen Denk-
schriften, Diktaten und Anweisungen die geheimsten Pläne
und Ziele des ersten Kanzlers offen vor der ganzen Welt dar-
gelegt, und staunend hat diese erkannt, in wie hohem Maße
seine Politik seit Gründung des Reichs eine Politik des Frie-
dens gewesen ist, dete Friedens nicht nur für Deutschland, son-
dern für ganz Europa, gegründet nicht auf irgend welche pazi-
fistische Theorien, sondern auf die realpolitische Erkenntnis,
daß nur damit den wahren Interessen von Reich und Volk
Günstige Gelegenheiten zum Kriege 5

gedient werde. Bismarck wollte nicht nur vermeiden, die so


schwer errungene deutsch« Einheit durch kriegerische Aben-
teuer zu gefährden, sondern er war ebenso auch bestrebt, den
wiederholt drohenden Zusammenstoß zwischen Oesterreich und
Rußland, zwischen England und Rußland, zwischen England
und Frankreich zu verhüten. Eines der ehrenvollsten Zeugnisse
für dieses Streben ist die Weisung an den deutschen Vertreter
in Paris vom 5. Oktober 1884, als in der ägyptischen Frage
ein englisch-französischer Waffengang drohte, worin es heißt:
„Wir haben mit Frankreich das gleiche Interesse, daß
Bruch mit England und namentlich Krieg verhütet und die
ägyptische Frage friedlich gelöst werde. Ein französisch-
englischer Krieg würde für uns, auch wenn wir unbe-
teiligt blieben, eine ähnliche Kalamität sein wie ein russisch-
österreichischer. ' '*)
Lebhaft sind in den Denkwürdigkeiten des Feldmarschalls
Grafen Waldersee die Klagen, daß Bismarck insbesondere iin
Jahre 1887 dem Drängen gewisser militärischer Kreise zum
Präventivkriege so entschiedenen Widerstand entgegensetzte.*)
Sehr zutreffend schreibt das „Journal of British Institute of In-
ternational Affairs" im Januarheft 1923 (Seite 2), wenn die
veröffentlichten Dokumente tatsächlich alles Wissenswerte
wiedergeben, so ist „unser Glaube bestätigt, daß Bismarck von
1871 bis zu seinem Sturze die Säule des europäischen Friedens
gewesen ist". Es ist wohl nunmehr zu hoffen, daß endlich
auch aus der englischen und französischen Geschichtsschreibung
die Legenden verschwinden werden, Deutschland habe1 1875
anläßlich der raschen französischen Armeereorganisation und
1887 anläßlich des harmlosen Schnäbelezwischenfalls Frankreich
mit Krieg überziehen wollen.
In der Zeit nach Bismarck war die deutsche Politik
zweifelsohne von weit weniger zielsicherer Hand geleitet. Mit
Recht kann vieles an den Methoden dieser Wilhelminischen
Epoche getadelt werden. Mancher diplomatische Schachzug
geschah, den ein überlegener Spieler wie der erste Kanzler
niemals gutgeheißen hätte. Unnötig starkes Hervortreten der
Person des Monarchen, herausfordernde Reden, kriegerisch
klingende Phrasen, theatralische Gesten gaben böswilligen
Kreisen im Auslande Teichlichen Anlaß zu hetzerischer Propa-
ganda, ohne dabei die Gesrner einzuschüchtern, da sie wohl
erkannten, daß hinter diesen Worten und Gesten kein starker
Wille stand. Aber nach der unter Eid vor Gericht abgegebenen
Aussage von Männern, die die vielen tausend Aktenbände des
Auswärtigen Amts durchforscht haben, findet sich in ihnen kein
„Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871—1914",
Sammlung der Akten des Auswärtigen Amts, Band in, Nr. 693, S. 431.
*) Siehe Beleg Nr. 3, S. 187.
6 Günstige Gelegenheiten zum Kriege

einziges Dokument, das einen Kriegswillen bekundet.5) Die


einfachste Ueberlegung ergibt doch ferner, daß wenn der Wunsch
nach einem Argriffskriege oder auch nur nach einem Präventiv-
kriege seit Jahrzehnten bestanden hätte, dieser Krieg dann
herbeigeführt worden wäre, als die politisch-militärische Lage
dafür günstig war. An solchen günstigen Gelegenheiten hat es
wahrlich nicht gefehlt.
Zunächst darf an die Lage im Herbst 1898 erinnert werden.
Damals mußte Frankreich auf Britanniens Geheiß bei Faschoda
die Trikolore niederholen. In den englischen Häfen wurden
schon die Kriegsschiffe gerüstet, um gegen Frankreichs Küste
und Kolonien auszulaufen. England hatte zudem im Frühjahr
Bündnisverhandlungen mit Deutschland zum Schutz gegen fran-
zösische und russische Bedrohung eingeleitet und wäre daher
der Berliner Regierung wohl kaum in den Arm gefallen, wenn
diese die Gelegenheit ausgenützt hätte, um die Rechnung mit
dem westlichen Nachbarn endgültig zu begleichen.
Während der ganzen Dauer des Bürenkrieges von 1899
bis 1902 wäre England sodann nicht in der Lage gewesen, auch
nur einen Mann oder ein Geschütz zur Unterstützung Frank-
feichs auf den Kontinent zu entsendet. Auch setzte das Lon-
doner Kabinett seine Werbung um ein Bündnis mit Deutschland
bis Ende 1901 andauernd fort, sodaß schon aus diesem Grunde
eine Stellungnahme zu Gunsten Frankreichs gegen Deutschland
als ausgeschlossen angesehen werden darf.
Wenn man nun einwenden kann, daß sowohl 1898 als auch
während des Burenkrieges ein Anlaß zu einem deutsch-franzö-
sischen Kriege nicht gegeben war, so ist darauf zu erwidern,
daß für den, der den Krieg will, sich ein Anlaß leicht findet;
jedenfalls aber gilt dieser Einwurf nicht für die nun folgende
weitaus günstigste Gelegenheit zu einem deutschen Präventiv-
kriege während des Marokkokonflikts von 1905/06, als Ruß-
land durch die Niederlagen in der Mandschurei und die innere
Revolution völlig gelähmt und zur Waffenhilfe an Frankreich
unfähig war. Zwar bestand damals schon die' Entente cordiale
der Westmächte, die Besprechungen des französischen und eng-
lischen General- und Admiralstabes hatten im Januar 1906 be-
gonnen,") die englische Flotte konnte ebenso wie während des
Weltkrieges die deutsche Flagge von allen Meeren vertreiben
und die Eroberung der deutschen Kolonien ermöglichen, aber
auf dem entscheidenden europäischen Kriegsschauplatz boten
die wenigen Divisionen des britischen Expeditionskorps keinen
irgendwie zureichenden Ersatz für die ausfallenden Millionen-
e
) Aussagen von Dr. Friedrich Thimme und Dr. Johannes Lepsius
im Prozeß Fechenbach-Coßmann (betr. die Fälschungen bayerischer Ge-
sandtschaftsberichte). „Süddeutsche Monatshefte", Mai 1922.
•) Rede Grey's im Unterhanse am 3. August 1914 (Anhang zum
englischen Blaubuch) und Viscount Haldame „Before the War", S. 30—31.
Günstige Gelegenheiten zum Kriege 7

heere des Zaren, sie konnten zudem nach dem Zeugnis des
Kriegsministers Häldane im Jahre 1906 nicht vor zwei Monaten
und selbst dann zunächst nur in der geringen Stärke von 80 000
Mann, der halben Stärke von 1914, operationsbereit auf dem
Kontinent erscheinen.7) Auch im französischen Heerwesen selbst
klaiften noch bedenkliche Lücken, wie die französische Presse
im Frühjahr 1922 erneut bestätigt hat.8) Deutschland konnte
damals den Schutz des Ostens ruhig der Landwehr
und dem Landsturm überlassen, die gesamte Macht
an aktiven und Reservetruppen aber nach dem Westen
werfen. Nimmt man im übrigen einen ähnlichen
Verlauf der Ereignisse an wie 1914, so war Frank-
reich völlig niedergeworfen, bevor der erste englische Soldat
seinen iBoden betrat. Der Anlaß zum Kriege war in der Marokko-
frage gegeben. In Paris wollte ihn Deleasse, in Berlin war Herr
von Holstein zum mindesten kein unbedingter Gegner solcher
Lösung. Die deutsche Politik ging jedoch ganz andere Wege.
Man mag manches an ihrem Verfahren aussetzen, insbesondere
die dem Kaiser gegen seinen Wunsch abgerungene Landung
in Tanger scharf tadeln, aber ein Herfallen über die Nachbarn
lag nicht im Plane der Berliner Regierung. Sie war davon so-
weit entfernt, daß sie im Gegenteil dem Phantom eines-Kon-
tinentalbundes nachjagte. Das mag töricht, ja utopisch genannt
werden, kriegslüstern war es sicher nicht. Dabei darf noch auf
ein Moment hingewiesen werden. Die beiden Männer, die da-
mals Kriegspolitik trieben, Deleasse mit entschiedenem Willen,
Holstein mit schwankenden! Entschlüsse, mußten vom Schau-
platz abtreten. Deleasse kam später wieder, Holsteins Rolle
war mit seiner Entlassung für immer ausgespielt.
Somit hat die deutsche Politik während der ersten fünfzehn
Jahre nach Bismarcks Abgang, den Lehren des ersten Kanzlers
getreu, nicht weniger als dreimal den Gedankeli eines Prä-
ventivkrieges trotz günstiger militärisch-politischer Lage1 abge-
lehnt. In der folgenden zusammenhängenden Darstellung der
Ereignisse vom Jahre 1907 ab wird sich ergeben, daß noch
weitere drei Gelegenheiten zu einem solchen vorbeugenden
Waffengang nicht ausgenützt wurden, so während der bos-
nischen Krise von 1908/09, der zweiten Marokkokrise von 1911,
endlich der drei Balkankriege von 1912 und 1913.
Ein vierter Punkt der These von Versailles, die angeb-
lichen übertriebenen d e u t s c h e n R ü s t u n g e n , wird
gleichfalls im nachstehenden zweiten Teile behandelt werden,
und zwar für die Zeit bis 1907 bei den Haager Conferenzen, fiir
die Zeit von 1907 bis 1914 in einem besonderen Abschnitt.
Haidane loc. cit., S. 165.
8
) „Eclair" vom 17. und „Gaulois" vom 19. Mäxz 1922.
8

II. Teil.

Die Vorgeschichte.
1. Die Weltlage im Jahre 1907.
Die Jahrhundertwende zeigt eine Hochblüte des Imperia-
lismus, der Bich damals insbesondere den Osten Asiens und
Afrikas zum Ziele erkoren hat. Japan und die Vereinigten
Staaten sind in die Weltpolitik und in die Reihe der großen
Kolonialmächte eingetreten. Großbritannien steht im politischen
Zwieifrontenkampf gegen Rußland in Ostasien und bis 1899
gegeh Frankreich in Afrika. Die englischen Bündnisangebote
an Deutschland gingen nicht etwa aus von englischen Pazi-
fisten, diese waren vielmehr Gegner einer solchen Bindung, son-
dern vbn den ausgeprägtesten Vertretern des Imperialismus.
Die Rede Ohambe'rlains in Birmingham vom 12. Mai 1898 ist
geradezu ein Hilferuf um einen Verbündeten gegen Rußland,
der dann 1902 in Japan gefunden wurde. Der Burenkrieg' stieß
zwar auf eine heftige Opposition in England selbst, aber gerade
damals kapitulierte die Masse des englischen Liberalismus vor
den Imperialisten. Asquith, Grey und Haidane, führende Mit-
glieder des Cobden-Clubs, wurden Vizepräsidenten der imperia-
listischen liberalen Liga. Im Sommer 1900 zogen alle Mächte
gemeinsam nach China, wo die fortwährenden Amputationen
am chinesischen Staatskörper den Anlaß zu einer sehr begreif-
lichen fremdenfeindlichen Bewegung gegeben hatten.
Das Jahr 1904 brachte dann einerseits den Krieg Rußlands
und Japans um Gebiete, auf die weder die eine noch die andere
Macht Anspruch erheben konnte, andererseits den französisch-
englischen Vertrag gleichfalls über Länder, die Eigentum keiner
der beiden Mächte waren, und zwar in den verschiedensten
Teilen der Welt. Die Abmachung über Marokko und Aegypten
bildete nicht nur in ihren veröffentlichten Teilen eine flagrante
Verletzung eines internationalen Vertrags, der Madrider Con-
vention von 1880, sondern war auch ein Muster von seltener
Doppelzüngigkeit, da die 1911 bekannt gewordenen Geheim-
artikel die Aufteilung und Annexion von Gebieten vorsahen,
deren Integrität und Unabhängigkeit im offenen Vertrag aus-
drücklich anerkannt war.
Nach dem russisch-japanischen Kriege, durch den England
mittels japanischer Waffen den russischen Nebenbuhler aus
Dia Weltlage 1907 9

Ostasien vertrieben hatte, gelang es 1907 der britischen Diplo-


matie, das so tief gedemütigte Zarenreich an sich zu ziehen und
es trotzdem gleichzeitig auch im mittleren Orient vom eisfreien
Meere fernzuhalten, indem Persien de facto zwischen beiden
Mächten geteilt und die Küste dabei zur „Interessensphäre"
Englands geschlagen wurde, das außerdem durch ein Protekto-
rat über Tibet und ein Aufsichtsrecht über Afganistan das
„Glacis" im Norden Indiens sich gesichert hatte. Japan aber
durfte zum Lohne für seine Dienste die Unabhängigkeit Koreas
völlig vernichten.1)
So hatte' sich im Jahre 1907 eine Weltlage herausgebildet,
gänzlich verschieden von der beim Abgang Bismarcks. 1890
gab es in Europa kein Bündnis, bei dem Deutschland nicht
offener oder wie beim englisch-österreichisch-italienischen
Mittelmeerabkomme'n stiller Teilhaber gewesen wäre, Frank-
reich war isoliert. Siebenzehn Jahre später besteht der fran
zösisch-russisch-englische Dreiverband, Japan ist vierter Partner
im fernen Osten, Italien seit 1902 durch den Neutralitätsvertrag
mit Frankreich dem Dreibund innerlich entfremdet.") Deutsch-
land und Oesterreich-Ungarn sind politisch vereinsamt. Es war
schon die Gruppierung der Kräfte vollzogen, wie sie der Aus-
bruch des Weltkrieges zeigte. Auf der einen Seite drei Staaten,
zu Lande und zur See' an Streitkräften und Streitmitteln ge-
waltig überlegen, insgesamt über 700, mit Japan und Italien
über 800 Millionen Menschen in allen Erdteilen verfügend, auf
der anderen Seite zwei Staaten in der Mitte Europas, die bei
einem Kriege, in dem England als Gegner auftrat, sofort von
allem überseeischen Verkehr abgeschnitten waren und auf knapp
1,20 Millionen Menschen zählen konnten.
Die den Frieden gefährdenden Momente dieser Gruppie-
rung aber waren die folgenden: Rußland, das den lange ge-
suchten Ausweg zum Weltmere sich nunmehr im fernen und mitt-
leren Orient endgültig verlegt sah, wendete sich mit Natur-
notwendigkeit seinen früheren Zielen im nahen Orient wieder
zu, denen es seit 1897 zur Beruhigung Europas entsagt hatte:
dem Balkan, den Meerengen, Constantinopel. Und diese „Rück-
kehr Rußlands nach Europa" war gefährlich für den Frieden
insbesondere deshalb, weil Rußland beim Zurückgreifen auf
seine früheren Ambitionen nicht mehr wie früher die immer
abschreckend auf Petersburg wirkende Gegnerschaft Englands
zu fürchteh hatte, sondern zum mindesten auf dessen Neutra-
lität, wenn nicht sogar auf dessen aktive Unterstützung rechnen
durfte.
*) Die Hochblüte des Imperialismus ist ausführlicher dargestellt in
..Deutschland und die Scliuldfrage", S. 78—81 (Verlag für Politik und
Wirtschaft, Berlin 1922).
3
) Französisches Gelbbuch 1920 ..Les Accords franco-italiens
1901—02", Nr. 7.
10 Die Weltlage 1907

Schlimm war ferner, daß sich seit dem Scheitern der


deutsch - englischen Bündnisverhandlungen neben der Jahr-
hunderte alten deutsch-französischen und der Jahrzehnte alten
russisch-österreichischen Gegnerschaft immer mehr ein durch die
deutsche Flottenpolitik genährter deutsch-englischer Gegensatz
herausbildete, der von Paris und Petersburg eifrig geschürt
wurde. Und dieser Antagonismus Englands gegen Deutschland
übertrug sich dann auch auf Oesterreich-Ungarn, das so oft ge-
meinsam mit Großbritannien der russischen Expansion auf dem
Balkan entgegengetreten war, ja geradezu als dessen tradi-
tioneller Verbündeter gegen das Zarenreich gelten konnte.
D,ie englisch-russische Verständigung über den nahen Orient
war um so schwerwiegender, als das einzige großzügige Ziel
deutscher Politik, der Bau der Bagdadbahn, das Deutsche
Reich gleichzeitig in Gegensatz zu England und Rußland brachte
und diese beiden alten Rivalen immer enger zusammenführte.
Das Unternehmen war ja ursprünglich rein wirtschaftlich ge-
dacht; es sollte deutscher Intelligenz und Tatkraft, deutschem
Unternehmungsgeist und Schaffensdrang ein Feld der Betäti-
gung bieten und einen Ersatz für die mangelnde koloniale Ex-
pansion. Deswegen wurde dieser „letzte offene Weg in dio
weite Welt" ein Lieblingsplan aller derer, die der berechtigten
Meinung waren, daß ein ständig sich mehrendes Volk von 60
Millionen nicht dauernd an die Scholle der engen Heimat ge-
bunden sein dürfe. Doch das Unternehmen hatte politische
Folgen und ging insofern über das rein Wirtschaftliche hinaus,
als es die Türkei nicht nur wirtschaftlich, sondern auch mili-
tärisch kräftigen mußte. Diese Wirkung aber Wollte Rußland
nicht, da es hierin ein Hindernis für seine historischen Ziele
sah. England seinerseits scheint von der schwer verständlichen
Besorgnis erfaßt worden zu sein, Deutschland könne Indien
bedrohen, wenn es einen Schienenstrang an den Persischen
Golf lege.
Diese für den Frieden Europas und die Sicherheit der
Mittelmächte höchst bedrohliche Lage war entstanden nicht
ohne schwere Versäumnisse der deutschen Politik, als deren
schwerste wohl die1 Nichterneuerung des Rückversicherungs-
vertrags mit Rußland im Jahre 1890 und das Verschleppen der
englischen Bündnisang'ebote von 1898 bis 1901 bezeichnet
werden müssen. Aber die wesentlichste Ursache war doch der
imperialistische Wettlauf der großen Kolonialmächte, ihr Be-
streben, immer weitere Teile der Erdoberfläche sich zu unter-
werfen, wobei die1 schlimmsten Sünden geg'en die Freiheit und
Unabhängigkeit der Völker Asiens und Afrikas begangen
wurden. Auch Deutschland war an diesem Wettlauf und an
diesen Sünden beteiligt durch die Wegnahme von Kiautschou,
den Zug nach China und die harte Unterdrückung des Herero-
Der Plan zur ersten Haager Konferenz 11

Aufstandes, aber der deutsche Anteil war wahrlich bescheiden


im Vergleich zur Beute und zu den Sünden der anderen.

2. Die beiden Haager Konferenzen von 1899 und 1907.


Auf den Haager Konferenzen handelte es sich um zwei
große Probleme: Herbeiführung eines Stillstandes der Rüstun-
gen und Auffindung von Mitteln zur friedlichen Beilegung
internationaler Konflikte. Ein großer Teil des Auslandes
glaubt, und auch in Deutschland selbst glauben noch viele, daß
einzig und allein das Deutsche Reich eine glückliche Lösung
dieser beiden Probleme verhindert habe. Die Tatsachen belehren
uns eines anderen.
Auch die Auffassung, daß der Zar und seine Minister bei
dem Vorschlage 1898 von reiner Friedensliebe geleitet gewesen
seien, kann nicht mehr aufrecht erhalten wenden. Wie Dr.
Thimme am 2. Mai 1923 auf Grund der deutschen Akten im
Parlamentarischen Untersuchungsausschuß nachgewiesen hat,
strebte der damals einflußreichste russische Minister Witte
einen deutsch-russisch-französischen K ontinentalbund an und
setzte dem deutschen Botschafter immer wieder auseinander,
daß das von den Kontinentalmächten so töricht in Rüstungen
gegeneinander verschwendete Geld weit besser zu Flotten-
rüstungen gegen England verwendet werden könnte. Tatsäch-
lich wurde auch gerade 1898 das russische Flottenbauprogramm
erheblich erweitert. Aus den Memoiren Wittes (französische
Ausgabe S. 83 f.) geht ferner hervor, daß der Abrüstungsplan
mit aus dem Grunde entstand, weil Oesterreich-Ungarn eine'
starke Artillerievermehrung beabsichtigte, zu der Rußland einst-
weilen die Mittel fehlten. An Stelle der von Kriegsminister
Kuropatkin vorgeschlagenen Verständigung mit Oesterreich, die
Witte für „unpraktisch" und „bizarr" hielt, schien ihm eine all-
gemeine Rüstungspause vorteilhafter zu sein. Unter Hinweis
auf den Krieg mit Japan schreibt Witte dann noch: „Auf jeden
Fall zeigten wir selbst, daß unser Gerede über Abrüstung und
Frieden nur hohle Phrase war".

a) D i e Rüstungen.s)
Deutschland hat von 1871 bis 1890 an einer Heeres-
stärke von etwa eineta Prozent festgehalten, obwohl infolge
dieses geringen Satzes viele Taugliche alljährlich vom Waffen-
dienst befreit wurden. Die Friedensstärke betrug 1871 bei
einer Bevölkerung von etwas über 40 Millionen 402 000 Unter-
offiziere und Männschaften und 1890, als sich die Bevölkerung
auf 49 Millionen erhöht hatte, 487 000.
') Näheres über die Abrüstungsversuche von 1899 und 1907 siehe
„Deutschland und die Schuldfrage", S. 73—78 und 81—91.
12 Die Frage der Rflstungseinschränlcung 1899

Frankreich hatte schon 1875 sein Heer wieder vollkommen


reorganisiert und ihm eine dem deutschen gleiche Stärke ge-
geben. Es hielt bis 1889 an der veralteten fünfjährigen Dienst-
zeit fest, und als es in jenem Jahre endlich zur dreijährigen
überging, wurde die allgemeine Wehrpflicht, die in Deutsch-
land nur auf dem Papier stand, auch tatsächlich durchgeführt.
So kam efe, daß in dem Zeitraum 1890—1892 im Jahresdurch-
schnitt an Rekruten eingestellt wurden:
in Deutschland bei einer Bevölkerung von rund 50 Millio-
nen einschließlich der Einjährig-Freiwilligen 198 000 Mann,
in Frankreich bei einer Bevölkerung von nicht ganz 40
Millionen 216 000 Mann, von denen ein Teil jedoch nur ein
Jahr unter der Fahne gehalten wurde.
Nach weiteren drei Jahren würde Frankreich trotz einer
um 10 Millionen geringeren Bevölkerung in den jüngsten Jahr-
gäng-en 100 000 ausgebildete Soldaten mehr ins Feld haben
stellen können als Deutschland. Deswegen und mit Rücksicht
auf das inzwischen vollzogene russisch-französische Bündnis
entschloß man sich in Deutschland zu einer etwas weitergehen-
den Anspannung der Wehrkraft, jedoch unter gleichzeitiger
Herabsetzung der aktiven Dienstpflicht bei den nicht berittenen
Waffeh von drei auf zwei Jahre. Durch das Reichsmilitärgesetz
von 1893 wurde mit 557 000 Unteroffizieren und Mannschaften
bei einer Bevölkerung von 51 Millionen das Prozentverhältnis
auf 1,09 gesteigert. Aber schon das nächstfolgende Gesetz von
1899 hielt mit der Volkszunahme nicht mehr gleichen Schritt.
Diese betrug vier Millionen, die Heeresverstärkung indes nicht
40 000, sondern nicht einmal die Hälfte, nämlich 16 000 Köpfe.
Bei Zusammentritt der ersten Haager Konferenz waren die
Friedenspräsenzstärken der Heere der kontinentalen Groß-
mächte die folgenden:

Staat Bevölkerung Friedenspräsenzstarke Prozent-


einschl. Offiziere, Ärzte, Bemerkung
in Millionen Beamte satz

Deutschland 55 604 000 *) 14 *) ohne


Offiziere usw.
Österreich 45,3 346 000 0,76 u n d o h n e Ein-
Italien 32 258 000 0,8 jährige
570 000 = 1,04°/o
Frankreich 88,5 574 000 1,49
Rußland 130 896 000 0,69

Der absoluten Zahl nach stand Rußland weitaus an erster


Stelle, der prozentualen Belastung der Bevölkerung nach aber
weitaus Frankreich.
Sehr schwach war 1899 die deutsche Rüstung zur See.
In einer 1893 von der britischen Admiralität herausgegebenen
Flottenübersicht stand Deutschland mit 87 Schiffseinheiten an
Die Frage der Rflstungsemschränkung 1899 und 1907 13

fünfter Stelle, während Großbritannien 325, Frankreich 220,


Rußland 130, Italien 93 Einheiten zählten. Erst 1897 stellte
Deutschland das erste, sehr bescheidene Flottenprogramm auf.
Oesterreich-Ungarn kam als Seemacht überhaupt noch nicht in
Betracht.
Der russische Gedanke, einen Stillstand der Rüstungen
herbeizuführen, war von allen Großmächten mit der größten
Skepsis aufgenommen worden, wie die Instruktionen der deut-
schen, amerikanischen und englischen Delegierten sowie der
französische Konferenzbericht beweisen.4) Die auf der Kon-
ferenz formulierten russischen Anträge waren wenig glücklich.
Sie sahen einen fünfjährigen Stillstand der Friedensstärken der
Landheere und der Heeresausgaben vor, nahmen davon jedoch
die Kolonialtruppen aus, worunter nach russischer Erläuterung
auch die Truppen in Zentralasien und im Amurgebiet zu ver-
stehen waren. Das war denn doch für alle Mächte, die keine
Kolonialtruppen besaßen, von vornherein unannehmbar. Die
Anträge fielen denn auch sowohl in der Unterkommission als
in der Vollkommission mit allen Stimmen g'egen die des völlig
isolierten russischen Vertreters.
Die russischen Anträge über die Flotten waren ähnlicher
Art und hatten kein besseres Los. Eine grausame Ironie ist
die wenig bekannte Tatsache, daß die britische Admiralität
Ende Juli, noch vor Schluß der Konferenz, 472 Millionen Mark
für Schiiisneubauten forderte mit der Begründung, daß Ruß-
land sein Flottenbauprogramm nicht abgeändert habe.
Das russische Programm für die zweite Haager Konferenz
sprach nicht mehr von Abrüstung, man war infolge des japani-
schen Krieges an diesem Gedanken irre geworden. Ein öffent-
licher Feldzug, den der englische Premierminister Sir Henry
Campbell Bannermann im Frühjahr 1907 zu Gunsten der Auf-
nahme der Abrüstungsfrage in das Konferenzprogramm ein-
leitete, stieß auf Ablehnung, nicht etwa nur in Deutschland,
sondern ganz besonders auch in Frankreich, wo der „Temps"
eine in den schärfsten Tönen gehaltene Absage erteilte.5) Es
scheint, daß Rußland schließlich aus Rücksicht auf England zu
einem gewissen Entgegenkommen hinsichtlich deT formellen
Behandlung der Angelegenheit bereit war, aber infolge der
Stellungnahme nicht nur Deutschlands, sondern, wie nochmals
betont werden muß, insbesondere auch Frankreichs wurde das
Problem auf der zweiten Konferenz überhaupt nicht erörtert
sodaß es wiederum bei einer nichtssagenden Resolution ver-
blieb.
4
) Diese Instruktionen und den französischen Konferenzbericht
siehe loc. cit., S. 81—82.
B
) Artikel Campbell Bannermanns in der ,.Nation" vom 1. März 1907
und die Antwort des „Temps" siehe loc. cit., S. 86—87.
14 Die Frage der Rtistungseinachränfcnng 1907

Die Stärken der Landheere waren 1907:

Bevölkerung Friedenspräsenzstärke Prozent-


Staat Bemerkung
in Millionen einschl. Offiziere usw. satz

Deutschland 6 2 629 000 *) 1,01 * ) ohne


Offiziere usw.
Oesterreich 48,2 382 000 0,79 und E i n j ä h r i g e
Italien 33,8 284000 0,84 585 000 = 0,94o/o

Frankreich 39,2 559 000 1,43


Kußland 150 1 254 000 0,83

Wiederum steht wie 1899 Rußland der absoluten Zahl


nach, Frankreich der prozentualen Belastung nach weitaus an
erster Stelle. Rußland ist dreimal so stark wie Oesterreich,
zweimal so stark wie Deutschland, für sich allein deü. beiden
Mittelmächten erheblich überlegen. In Deutschland ist der
Prozentsatz an Mannschaften und Unteroffizieren bedenklich
unter das 1871 bis 1890 festgehaltene eine Prozent herunter-
gegangen. Oesterreich vernachlässigt seine Wehrkraft in einer
kaum mehr verantwortlichen Weise. Es zählt 9 Millionen Ein-
wohner mehr als Frankreich, sein Friedensheer erreicht jedoch
nur zwei Drittel der Stärke des französischen; außerdem wurden
alljährlich noch eine Anzahl Ersatzreservisten einer militäri-
schen Ausbildung unterzogen, die damals indes nur acht
Wochen betrug.
Zur See hatte Deutschland nun allerdings das kleine Pro-
gramm von 1897 im Jahre 1900 verdoppelt, sodaß bis 1917 —
nach dem 1907 bestehenden Plane — 34 Linienschiffe vor
handen gewesen wären. Auch war man 1906, dem englischen
Beispiele folgend, zum Bau von Großkampfschiffen überge-
gangen und hatte in demselben Jahre die Zahl der großen
Kreuzer vermehrt. Endlich war eine Flottennovelle in Vorbe-
reitung, die die Lebensdauer der Schiffe nach dem Muster
anderer Seemächte herabsetzen und infolgedessen das Tempo
für Neubauten beschleunigen sollte. Alle diese Maßnahmen be-
deuteten ganz gewiß keine „Bedrohung" des immer noch ge-
waltig überlegenen Englands, aber da die deutschen Maß-
nahmen jenseits des Kanals als Bedrohung aufgefaßt wurden,
würde es politisch klug gewesen sein, die öffentliche Meinung
dort durch ein Flottenabkommen zu beruhigen.
Zu Lande hingegen war es wahrlich nicht an Deutschland
und seinem einzigen noch treuen Verbündeten, mit einer effek-
tiven Rüstungsminderung voranzugehen. Jedoch würde es so-
wohl 1899 wie 1907 weise gewesen sein, diese Frage großzügig
von hoher Warte aus anzufassen. Gerade die ungünstige poli-
tische Lage von 1907 hätte dazu auffordern sollen. Ein Vor-
schlag zum Beispiel nach dem sozialdemokratischen Erfurter
"Verhandlungen über Schiedsverfahren 1899 und 1907 15

Programm „Erziehung des ganzen Volkes zur Wahrhaftigkeit"


bei starker Verkürzung der Dienstzeit oder ein Vorschlag da-
hin, daß die Friedenspräsenzstärke einschl. Offiziere usw. ein
Prozent der Bevölkerung nicht übersteigen dürfe, würde
Deutschland die Sympathien der ganzen Welt erworben, seine
Annahme zugleich die deutschen Lande auf immer vor fran-
zösischer Besetzung1 gesichert haben. Frankreich freilich, mit
seiner ungeheuerlichen Anspannung der Wehrkraft, würde
schwerlich auf solche Vorschläge eingegangen sein. Aber es
wäre dann der unzweideutige Beweis dafür erbracht gewesen,
durch wessen Schuld der europäische Kontinent nicht von der
Last der großen stehenden Heere befreit werden konnte.

b) D a s Schiedsverfahren.
Auf der ersten Konferenz erhob Deutschland zuerst Wider-
spruch gegen die Errichtung eines ständigen Schiedshofes, ließ
seinen Widerstand aber dank der energischen Vorstellung des
deutschen Delegierten, Professors Zorn fallen, sodaß ein durch-
aus befriedigendes Ergebnis erzielt wurde. Die letzte Sitzung
trug „einen geradezu dramatischen Charakter im Sinne all-
gemeinen Friedenswillens" und die Konferez endete in „voller
Eintracht aller Staaten". 6 )
Auf der zweiten Konferenz allerdings stimmte Deutschland
zusammen mit Oestetreich-Ungarn, der Türkei, der Schweiz und
vier Balkanstaateh gegen den vorgeschlagenen o b l i g a t o -
r i s c h e n Schiedshof, während Italien, Japan und Luxemburg
sich der Abstimmung enthielten/) sodaß infolge mangelnder
Einstimmigkeit das Obligatorium zu Fall kam.
Dieses Obligatorium bezog sich indessen nur auf den
„Schiedshof", der in erster Linie zur Schlichtung j u r i s t i -
s c h e r Streitfragen bestimmt war. Eine Einführung des Ob-
ligatoriums für die Institutionen, die der Schlichtung rein
p o l i t i s c h e r Streitfälle dienen sollten, also für die „Ver-
mittlung", für die „guten Dienste" und für die „internatio-
nalen Untersuchungskommissionen" kam auch auf der zweiten
Konferenz nicht in Frage. Für diese Schlichtungsmittel blieb
es nach allgemeiner Uebereinstimmuung bei der „Umstands-
klausel" und der „Ehrenklausel", die eine Anwendung in wirk-
lich ernsten Fällen von vornherein ausschlössen.
Ferner hatte Deutschland mit zwei Schiedsverträgen, die
es 1904 mit England und den Vereinigten Staaten abgeschlossen
hatte, schlechte Erfahrungen gemacht. Bei der Entschädigung
") Prof. Phil. Zorn „Die beiden Haager Friedenskonferenzen' 4 ,
S. 39.
7
) A. H. Fried „Handbuch der Friedensbewegung", 1911, S. 252.
Zorn gibt das Stimmenverhältnis etwas anders an.
16 Das Verhalten Deutschlands im Haag

deutscher Reichsangehöriger für die im südafrikanischen


Kriege erlittenen Verluste lehnte England die schiedsgericht-
liche Regelung ab, weil die Streitmaterie nicht eine Rechtsfrage,
sondern eine politische Frage sei, auch Fragen dieser Art die
Lebensinteressen der Nation berührten. Der Schiedsvertrag
mit den Vereinigten Staaten aber scheiterte daran, daß der
amerikanische Senat sich in jedem Einzelfalle das Recht vor-
behalten wollte, den vorgeschlagenen Ausgleich anzunehmen
oder zu verwerfen.
In dritter Linie darf nicht übersehen werden, daß Deutsch-
land in sehr vielen Handels- und ähnlichen Verträgen die
Schiedsklausel eingeführt hat, ja mit der Anzahl solcher Ver-
träge — siebenzehn —• an der Spitze aller Staaten stand.
Endlich sind gerade 1907, dank dem deutsch-engliaejieii
Zusammenarbeiten, große Fortschritte auf dem Gebiete der
Schiedsgerichtsbarkeit erzielt worden. Dahin gehört die Grün-
dung eines internationalen Prisenhofes, nach A. H. Fried des
„ersten wirklichen internationalen Schiedsgerichtshofes, der
ohne Einschränkung durch Ehrenklauseln zu entscheiden habe".
Ebenso verdienstvoll war die Regelung des Seekriegsrechts, die
als Folge der zweiten Haager Konferenz in der Londoner See-
rechtserklärung vom Februar 1909 zum Ausdruck kam.
Leider wurden beide Entwürfe nicht zur großen Tat, da die
englische Regierung wegen der militaristisch-imperialistisch m
Opposition des Oberhauses die Ratifikation nicht vorzunehmen
wagte.
Der Vorwurf, Deutschland habe ein auf obligatorische Schlich-
tung aller Streitfragen abzielendes Abkommen, gleichviel ob
die Fragen juristischer oder politischer Art wären, gleichviel
ob sie Lebensinteressen und Ehre beträfeil oder nicht, auf der
zweiten Haager Konferenz zu Fall gebracht, ist unwahr. Er
beruht auf Unkenntnis oder Lüge und. ist-ein Kind der Kriegs-
propaganda und des Deutschenhasses, genau so wie die Le-
gende von den übertriebenen deutschen Rüstungen und dem
einseitigen, gänzlich isolierten Widerstande des Deutschen
Reichs gegen angeblich ausführbare Abrüstungsvorschläge.
Daß im Einzelnen das taktische Verhalten der deutschen Re-
gierung im Haag nicht durchweg glücklich war, soll durch
Entlarvung dieser Lügen nicht bestritten werden. Wie wenig
aber Rußland, Frankreich, England, die Vereinigten Staaten
und Japan gerade auf Grund ihrer von 1899 bis 1907 befolgten
Politik berufen sind, sich als Vertreter des Friedensg'edankens
und als Beschützer der Unabhängigkeit der Nationen hinzu-
stellen, das beweisen die Auswüchse des Imperialismus, wie sie
bei Schilderung der Weltlage von 1907 (Seite 8 £f.) kurz gestreift
worden sind.
17

3. Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina.


Es war ein Moment von weittragender Bedeutung, daß
Oesterreich-Ungarn sich zur Umwandlung der seit 1878 beste-
henden Okkupation von Bosnien und der Herzegowina in eine
Annexion erst entschloß, nachdem Rußland infolge der Ver-
riegelung des Ausweges zum Ozean im fernen und mittleren
Orient sich nach dem nahen zurückgewendet hatte, und nach-
dem der lange für unüberbrückbar geltende russisch-englische
Gegensatz beglichen war. Auch ein Personenwechsel war
wichtig. Der Mann, der im Mai 1906 die Leitung der auswärtigen
Politik des Zarenreiches übernommen hatte, Minister Iswolsky,
war ein besonders überzeugter Anhänger der ^europäischen
Orientierung" und entschiedener Gegner aller „Abenteuer" in
Mittel- und Ostasien. Schon in einem Ministerrat vom 3. Fe-
bruar 1908 führte er aus, daß der britische Botschafter ihm von
der Gemeinsamkeit russischer und britischer Interessen im
nahen Orient gesprochen habe, und entwickelte den Gedanken,
daß sich dort sehr wohl militärische Operationen beider Mächte
kombinieren ließen. Aber seine Frage, ob es möglich sei, den
Boden einer streng defensiven Politik jetzt schon zu ver-
lassen, wurde sowohl vom Kriegsminister als auch vom Minister-
präsidenten Stolypin unter Hinweis auf die Nachwehen des
verlorenen Krieges und der Revolution entschieden verneint.")
Die ersten Früchte seiner europäischen Politik durfte
Iswolsky jedoch alsbald ernten bei dem gemeinsamen Wider-
stande des Dreiverbandes gegen den völlig harmlosen und
in den Verträgen begründeten Plan Oesterreich-Ungarns zum
Bau einer Bahn durch das Sandschak Nowibazar, den zwischen
Serbien und Montenegro liegenden Landstreifen, nach Salo-
niki. Noch größer war der Erfolg der am 9. und 10. Juni 190S
stattfindenden Zusammenkunft der russischen und englischen
Monarchen und ihrer leitenden Minister in R e v a 1. Dort
sprach man über die Notwendigkeit starker russischer Rüstun-
gen zu Wasser und zu Lande, übet Reformen in Mazedonien
sowie über Persien und Afganistan.')
Nunmehr wendete sich Iswolsky dem eigentlichen Ziel
seines Ehrgeizes zu, die Durchfahrt durch Bosporus und Darda-
nellen in einer mit den Interessen und dem Ansehen Rußlands
vereinbaren Weise zu lösen. Das schmähliche Servitut, das die
Westmächte im Pariser Vertrag von 1856 dem großen Reiche
aufgezwungen hatten, auf dem Schwarzen Meere als Kriegs-
schiffe nur Nußschalen und an seinen Küsten keine Arsenale
zu unterhalten, war zwar durch die Pontuskonferenz von 1871
dank der deutschen Siege und dank der diplomatischen Unter-
8
) Prof. M. Pokrowski (Vorstand des Archivs der Sowjetregierung;)
„Drei Konferenzen", S. 17—30.
") B. von Siebert „Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte der
Ententepolitik der Vorkriegsjahre" S. 777—79.
s
18 Meerengenfrage und Annexion von Bosnien und Herzegowina

Stützung Bismarcks beseitigt worden, aber noch immer durfte


kein Kriegsschiff ohne Erlaubnis des Sultans die Meerengen
passieren. Die Flotte des Schwarzen Meeres mußte untätig zu-
sehen, als die Japaner die Schwesterschiffe vernichtetet. In-
des, wohl wissend, daß er in London für diesen Wunsch
schwerer ein geneigtes Ohr finden werde als für mazedonische
und persische Pläne, suchte der russische Minister zunächst
Fühlung mit dem Wiener Käbinet.
Auch in der Donaumonarchie hatte 1906 ein wichtiger
Personenwechsel stattgefunden. An die' Stelle des passiven
Grafen Goluchowsky war der aktive Freiherr von Aehrenthal
getreten. Der neue Außenminister war schon lange det An-
sicht gewesen, daß die fortwährenden großserbischen Agita-
tionen, die eine ernste Gefahr für den Fortbestand der Habs-
burger Monarchie bildeten, nur dann wirksam unterbunden
werden könnten, wenn die seit 1878 auf englischen Vorschlag
nach Beschluß des Berliner Kongresses von Oesterreich Un-
garn okkupierten und verwalteten Provinzen Bosnien und Her-
zegowina Bestandteile des Donaustaates würden.
Auf dieser Basis: für Oesterreich-Ungarn die Annexion der
genannten Gebiete, für Rußland freie Durchfahrt seiner Kriegs-
schiffe durch die Meerengen, sollten die beiden Staatsmänner
sich finden. Schon am 2. Juli 1908, wenige Wochen nach der
Revaler Zusammenkunft übersandte Iswolsky dem Wiener Ka-
binett ein aide-mémoire, in dem ausgeführt war, Annexion und
Meerengendurchfahrt seien zwar europäische Fragen, über die
endgültig nur die Gesamtheit der Großmächte entscheiden
könne, aber Rußland sei bereit, über beide Punkte mit Oester-
reich einen Gedankenaustausch „im Geiste freundschaftlicher
Wechselseitigkeit" zu pflegen.10) Es darf hier daran erinnert
werden, daß der russische Minister damit durchaus keine völlig
neue Konzession machte. In den Reichstadter Abmachungen
vom Juli 1876, den Konventionen vom Januar 1877 und Juli
1878, den deutsch-österreichisch-russischen Neutralitätsver-
trägen von 1881 und 1884 hatte Rußland immer und immer
wieder dem Donaustaate das Recht zur Annexion zuerkannt.
Als 1887 nur mehr ein deutsch-russisches Abkommen ohne
Oesterreich zustande kam, erklärte Minister von Giers, daß die
Monarchie deswegen „der Freiheit, von der Okkupation zur
Annexion zu schreiten" nicht verlustig gehe; allerdings war
später bei der österreichisch-russischen Vereinbarung^ von
1897 über den Balkan eine Einigung in der Annexionsfrage
nicht erzielt worden.1")
10
) Heinrich FYiedjung „Das Zeitalter des Imperialismus" II. S. 220.
11
) Erklärung Giers siehe „Die Große Politik der Europäischen
Kabinette 1871—1914", Band V, Nr. 1074, S. 266. Oesterreiohisch-
russische Vereinbarung 1897 siehe Dr. A. Fr. Pribram „Die politischen
Geheim vertrage Oesterreich-Ungarns 1879—1914", S. 18 urd 57.
Die Besprechungen von Buchlau 19

Da kam im Juli 1908 der Sturm der j u n g t ü r k i s c h e n


R e v o l u t i o n , die in zweifacher Richtung die zwischsn
Petersburg und London einerseits, zwischen Petersburg und
Wien andererseits besprochenen Fragen beeinflußte. England
sah nun plötzlich in der Türkei nicht mehr einen kranken, der
Bevormundung bedürfenden Mann, sondern ein zu neuem Leben
erblühendes Staatswesen, von dem man annahm, es werde die
Freundschaft mit dem „autokratischen" Deutschland gerne
gegen die der westlichen „Demokratien" vertauschen. Von
einem scharfen Druck auf Konstantinopel war nicht mehr die
Rede, die englisch-russischen Abmachungen über Mazedonien
waren erledigt. Auf der anderen Seite wurde für Wien die
Frage der Annexion nunmehr tatsächlich dringlich. Schon for-
derten die Jungtürken, deren nationales Selbstbewußtsein sich
kräftig bekundete, die Rückgabe der beiden Provinzen an den
Sultan. Ferner sollte der jungen Türkei eine Verfassung ge-
geben werden. Das mußte daher auch endlich in Bosnien und
der Herzegowina geschehen. Der Kaiser von Oesterreich aber
konnte das nur tun, wenn er nicht nur der Okkupant und
Administrator, sondern der Suverän der beiden Länder ge-
worden war.
Am 27. August antwortete Aehrenthal auf das aide-me-
moire Iswolskys. Der Kuraufenthalt des russischen Ministers
in Karlsbad erleichterte weitere Unterhandlungen. Schon am
4. September gab Iswolsky dort dem serbischen Ministerpräsi-
denten Milowanowitsch einen Wink, er möge sich in das „Un-
vermeidliche" fügen.12) Der Serbe war damals der Ansicht,,
daß die Annexion für sein Land annehmbar sei, wenn Oester-
reich auf den Sandschak verzichte, wie das Aehrenthal von
Anfang an in Aussicht genommen hatte.13)
Am 15. September trafen sich Aehrenthal und Iswolsky
in Buchlau, dem Landsitze des Grafen Berchtold, österreichi-
schen Botschafters in Petersburg. Die dortigen Besprechungen
wurdet nicht schriftlich niedergelegt, indes stimmen die Be
richte von beiden Seiten über folgende Punkte überein:
Oesterreich wird in der Annexionsfrage selbständig vor-
gehen, jedoch den Sandschak räumen;
ebenso kann Rußland die diplomatische Regelung der
Meerengenfrage' nach eigenem Ermessen in Angriff nehmen,
Oesterreich wird die russischen Wünsche unterstützen;
nach Regelung der beiden Fragen soll der neue Zustand
auf einer europäischen Konferenz sanktionniert werden;
der russische Außenminister wird von der bevorstehenden
Annexion vorher verständigt werden.
u
) H. Friedjung „Das Zeitalter des Imperialismus 1884—1914" II.
5. 226.
" ) Dr. M. Boghitschewitsch (ehemaliger serbischer Geschäftsträger
m Berlin) „Kriegsursachen", S. 152.

so Iswolakys Enttäuschung in London

Aehrenthal hatte schon vorher, Anfang September, mit


Deutschland, und Italien Fühlung genommen und von beiden
Widerspruch nicht erfahren.") Iswolsky aber hatte den En-
tentegenossen von seinen Unterhandlungen nichts mitgeteilt,
ihnen auch das aide-mémoire vom 2. Juli vorenthalten.16) Erst
Anfang Oktober machte er sich auf, um nunmehr in Paris und
London die Meerengenfrage zu betreiben, ward aber sehr kühl
aufgenommen, da man nicht mit Unrecht darüber erstaunt war,
daß solche Fragen zuerst mit dem Dreibund besprochen worden
seien. Deutlich läßt sich auch verfolgen, wie Iswolsky allmäh-
lich umgestimmt wurde. Noch von Paris, wo den russischem
Minister der Brief seines österreichischen Kollegen über die
unmittelbar bevorstehende (am 6. Oktober ausgesprochene)
Annexionserklärung erreichte,16) berichtet der serbische Ge-
sandte am 5. Oktober, Iswolsky habe ihm gesagt:
„Serbien und das serbische Volk verlieren nichts,
sondern gewinnen effektiv. . . . Ich habe diesen Schritt
Oesterreich-Ungarns vorausgesehen, und er hat mich nicht
überrascht. Deshalb habe ich unsere Zustimmung dazu
von der oben ausgesprochenen Bedingung (Räumung des
Sandschaks) abhängig gemacht."17)
Aber acht Tage später, am 13. Oktober, als die russischen
Meerengenwünsche in London eine ungnädige Aufnahme ge-
funden hatten, meldet der dortige Vertreter Serbiens in gegen-
teiligem Sinne:
„Iswolsky verhehlte nicht seinen Unwillen gegan
Oesterreich und protestierte auf das energischste gegen
die Behauptung, als ob er der Annexion zugestimmt
hätte'."18)
In London war man russischer als die Russen. Der sich
um die Frucht seiner geheimen Abmachungen betrogen sehende
russische Minister stimmte in den Chor des Unwillens ein und
erging sich, im Widerspruch mit den Verabredungen von Buch-
lau, in lauten und heftigen Protesten. Rußland werde nicht in
die Annexion einwilligen, Oesterreich müsse zum Erscheinen
auf einer Konferenz gezwungen werden. In dem nun folgen-
den diplomatischen Konflikt ergab sich folgende Gruppierung
der Mächte:
England verlangte kategorisch die für Oesterreich de-
mütigende Konferenz.
Deutschland trat entschieden für Oesterreich ein. Italien
aber fiel um und leugnete sein früheres Einverständnis.18)
") Friedjung II., S. 227.
") loc. cit, S. 220.
") loc. cit., S. 232 und 247.
") Boghitschewitsch, S. 152 f.
") loc. cit., S. 157.
") Siehe Beleg Nr. 4, S. 187.
Rußland verschiebt den Kampf 21

Rußland hätte gerne gefochten, konnte aber wegen Un-


fertigkeit des HeeTes nicht daran denken.
Frankreich endlich war damals noch nicht so wie später
gewillt, für russische Balkanziele Gut und Blut seines Volkes
zu opfern.
Daß Rußland damals militärisch noch nicht bereit war zu
kämpfen, andererseits aber auf den Kampf nicht endgiltig
verzichten, sondern ihn nur auf einen späterem günstigeren
Zeitpunkt verschieben wollte, bezeugen mehrere Berichte des
serbischen Vertreters in Petersburg. So meldet dieser am 3.
März, das einflußreiche Dumamitglied Gutschkow habe ihm
gesagt:
„Ist unsere Rüstung einmal vollkommen ausgeführt,
dann werden wir uns mit Oesterreich-Ungarn auseinander-
setzen. Beginnt jetzt keinen Krieg, denn es wäre Selbst-
mord. Verschweigt Euere Absichten und bereitet Euch
vor. Es weiden die Tage Euerer Freuden kommen."20)
Am 10. März kann der Gesandte folgende Aeußerung Is-
wolskys berichten:
„Serbien werde solange zu einem kärglichen Leben
verurteilt sein, bis der Moment des Verfalls Oesterreich-
Ungarns eingetreten sein wird. Die Annexion habe diesen
Moment näher gerückt, und wenn er eintritt, wird Ruß-
land die serbische Frage aufrollen und lösen. Iswolsky
sehe ein, daß der Kampf mit dem Germanentum unaus-
weichbaT sei, doch sei die Politik Rußlands eine rein sli-
wophile."")
Am 19. März konnte er melden, der Zar habe zum Duma-
präsidenten sich dahin geäußert:
„er habe die Empfindung, daß der Zusammenstoß mit
dem Germanentum unvermeidlich sei, und daß man sich
darauf vorbereiten müsse."
Schon im November 1908 hatte der russische Monarch dem
serbischen Ministerpräsidenten Paschitsch gesagt:
„die bosnisch-herzegowinische Frage werde nur durch
einen Krieg entschieden werden."")
Bei dieser Konstellation siegte der deutsche Vermitt-
lungsvorschlag, der am 23. März in Petersburg mit großer Ent-
schiedenheit vorgebracht, dort trotzdem aber nicht ungern ge-
sehen wurde, da er dem auswärtigen Minister einen ehren-
vollen Rückzug aus einer recht gefährlichen Position bot. Der
Vorschlag Berlins ging dahin, daß die Mächte nicht gemeinsam
auf einer Konferenz, sondern einzeln jede für sich die Zu-
stimmung zur Annexion aussprechen sollten.23)
M
) Deutsches Weißbuch Juni 1919 „Deutschland Bchuldig?" S. 112.
n
) loc. cit.. S. 114.
") Boghitschewitsch, S. 151 und 150.
23
) Siehe Beleg; Nr. 5, S. 188.
22 Rußlands Groll gegen Oesterreich

Es war für den Augenblick ein großer diplomatischer Er-


folg der Mittelmächte. Schon glaubte man in Berlin und "Wien,
den Kreis der Entente gesprengt zu haben. Das jedoch war
ein Trugbild. Man muß im Gegenteil sagen, daß wie die Ma-
rokkokrise von 1904—06 die französisch-englische Entente,
ebenso die Annexionskrise von 1908—09 den französisch,-eng-
lisch-russischen Dreiverband fest zusammengekittet hat. Be-
sonders groß war der Haß Rußlands gegen Oesterreich. Drei-
mal schon hatte das mächtige Zarenreich vor der schwachen
verachteten Donaumonarchie zurückweichen müssen: 1854 im
Krimkriege, 1878 nach dem Frieden von San Stefano, als die
russischen Heere bereits vor den Toren Konstantinopels stan-
den, 1887 in der bulgarischen Frage. Und jetzt ein viertes Mal!
Der weltpolitische Unterschied aber war der, daß die ersten
drei Male Gioßbritannien auf Seite Oesterreichs, das vierte
Mal hingegen auf der Rußlands gestanden hatte. Dieser Haß
Rußlands übertrug sich auch auf Deutschland, das den Bundes-
genossen gedeckt hatte, und fand besonders scharfen Ausdruck
in der russisch-bulgarischen Militärkonvention vom Dezember
1909, deren Artikel 5 mit den Worteh begann:
„In Anbetracht dessen, daß die Verwirklichung der
hohen Ideale der slawischen Völker auf der Balkanhalb-
insel, die dem Herzen Rußlands so nahe stehen, nur nach
einem günstigen Ausgang des Kampfes Rußlands mit
Deutschland und Oesterreich-Ungarn möglich ist". . . ,21)
Dazu ist noch zu bemerken, daß nach Artikel 1 des Ver-
trags Bulgarien zur Waffenhilfe an Rußland verpflichtet war
im Falle eines bewaffneten Zusammenstoßes Rußlands mit
Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Rumänien oder Rußlands
mit der Türkei mit dem ausdrücklichen Zusatz „ungeachtet
dessen, wer die1 Initiative zu diesen Zusammenstößen ergriffen
haben sollte",46) also selbst im Falle eines zweifellosen An-
griffs von russischer Seite.
Wie würden die Gegner es in hellem Jubel ausbeuten, wenn
in deutschen Aktenschränken ähnliche Dokumente zu finden
wären, die in gleicher Weise Kriegswillen und Kriegswunsch
bekunden! Man mag während der Annexionskrise manches
tadeln an dem Vorgehen Aehrenthals und an der bedingungs-
losen Unterstützung, die Deutschland ihm gewährte; denn
schließlich war es immerhin, so gering auch die Aenderung
des tatsächlichen Zustandes sein mochte, die einseitige Kündi-
gung eines internationalen Vertrags. Sicherlich bestand jedoch
keine Absicht, einen allgemeinen Krieg zu entfesseln. Im
Gegenteil, die v i e r t e G e l e g e n h e i t z u e i n e m P r ä -
v e n t i v k r i e g w u r d e n i c h t e r g r i f f e n . Die militä-
") Boghitschewitsch, S. 117.
") loc. cit. S. 115.
Deutschland für friedliche Regelung 23

rische Lage war nicht mehr ganz so günstig wie 1905/06, aber
das russische Heer war noch bei weitem nicht erholt, die Bal-
kanstaaten durch den Sieg über die Türkei noch nicht gekräf-
tigt, vor allem Frankreich noch nicht gesonnen, für serbische
Zwecke zu fe'chten. Ein Neujahrsartikel des „Temps" sprach
das mit aller Deutlichkeit aus. Wie wenig Berlin damals den
großen Konflikt wünschte, beweist wohl zur Genüge die Tat-
sache, daß es gerade zur Zeit schwerster Krise, am 9. Februar
1909, mit Frankreich einen neuen Vertrag über Marokko schloß.
Der kleine Konflikt aber, der Krieg Oesterreichs gegen
Serbien, wäre damals, wie aus den drei Berichten der serbischen
Gesandtschaft in Petersburg vom 3., 10. und 19—März hervor-
geht, aller Wahrscheinlichkeit nach ohne Einmischung dritter
Mächte möglich gewesen. Schwer enttäuscht war der öster-
reichische Generalstabschef, als am 28. März der von ihm er-
wartete Mobilmachungsbefehl gegen Serbien nicht erteilt wurde.
In seinen Erinnerungen schreibt er:
„Nie entschlossen, die ihm günstigen Momente zu er-
fassen, wankte nun das alte Reich dem Unheil zu.26)
Vom rein militärischen Standpunkt wird man dem General
zustimmen müssen. Politisch jedoch waren die leitenden Staats-
männer Deutschlands und Oesterreichs im Recht, wenn sie
solchen Wünschen nicht entsprachen.

4. Der russisch-italienische Vertrag von Racconigi 1909.


Schon im Jahre 1908, zwischen den Besprechungen von
Buchlau und seiner Reise nach den westmächtlichen Haupt-
städten, hatte Iswolsky den italienischen Außenminister und den
König selbst in die Abmachungen mit Aehrenthal über Meer-
engen und Annexion eingeweiht. Der Umschwung in der Hal-
tung1 des Kabinetts von Rom gegenüber Wien, der infolge des
Drucks der öffentlichen Meinung Englands eingetreten war,
führte nunmehr Italien und Rußland noch enger zusammen.
Der gemeinsame Haß gegen Oesterreich war auch hier det eini-
gende Kitt. Bisher hatte Nikolaus II. aus Furcht vor den
Drohungen der italienischen Sozialisten den Besuch Victor
Emanuels nicht erwidert. Im Herbst 1909 aber fuhr er, öster-
reichisches Gebiet ostentativ in weitem Bogen vermeidend, von
Odessa zu Schiff nach Italien und hatte in dem südlich Turin
liegenden Schloß Racconigi am 24. Oktober eine Zusammen-
kunft mit dem König. Dort kam ein Vertrag zustande, nach
dem die beiden Mächte u. a. sich zu einer wohlwollenden Hal-
tung verpflichteten, Italien, wenn Rußland die Meerengtenfrage
aufwerfe, Rußland, wenn Italien nach Tripolis gehe. Längst
vergangen waren die Zeiten, da Crispi erklärte, Italien könne
„unter keinen Umständen zugeben, daß Rußland am Mittellän-
26
) Feldmarschall Conrad „Aus meiner Dienstzeit" I., S. 174.
24 Italiens Annäherung an Rußland

dischen Meere Fuß fasse" und da er Oesterreich im Falle eines


russischen Angriffs auf die Monarchie oder die Türkei 100 bis
200 000 Mann zur Verfügung stellte.")
Die grundsätzliche Bedeutung des Vertrags lag darin,
daß Italien, das mit Großbritannien seit jeher befreundet und
mit Frankreich seit 1902 eng verbunden war, nun auch mit
der dritten Macht der Entente enge Beziehungen angeknüpft
hatte. Schon Ende 1908 hatte der italienische Außenminister
erklärt, Italien sei entschlossen, beim Dreibund zu bleiben, habe
aber auch eine „althergebrachte Freundschaft zu England,
eine erneuerte Freundschaft zu Frankreich und eine neue
Freundschaft zu Rußland in Form einer intimen Annähe-
rung".")

5. Die Entspannung 1910.


Das Jahr 1910 schien mit einer großen Entspannung be-
ginnen zu sollen. Nikolaus II. teilte Wilhelm II. brieflich mit,
daß vier russische Armeekorps von der Westgrenze in das
Innere des Reichs zurückverlegt werden sollten.29) Tatsächlich
handelte es sich um etwas ganz anderes. Die 1910 in Angriff
genommene russische Heeresreorganisation vermehrte die Zahl
der russischen Armeekorps um sechs, von 31 auf 37. Gleich-
zeitig wurden allerdings zwei, nicht vier Korps aus den west-
lichen Grenzbezirken in das Innere verlegt, aber das geschah
lediglich zu dem Zwecke, um die Truppen behufs Erleichterung
der Mobilmachung in den Bezirken unterzubringen, aus denen sie
ihre Ergänzungsmannschaften erhielten, und die von der Grenze
weggezogenen zwei Korps wurden durch zwei neugebildete er-
setzt, Es ist schwer anzunehmen, daß der Zar sich über den
Vorgang so vollkommen im Unklaren gewesen, daß er so voll-
kommen von seinen militärischen Ratgebern hinters Licht ge-
führt worden sei. Hat Wilhelm n . die Unaufrichtiglceit d^r
Mitteilung später durchschaut? Jedenfalls war, wenn seine
Briefe an den Zaren sämtlich veröffentlicht sind, der Brief,
worin er für die erwähnte Mitteilung dankte, sein letztes
Schreiben politischen Inhalts an Nikolaus H.
Zwischen Rußland und Oesterreich trat eine äußerliche
Entspannung insofern ein, als die während der Annexionskrise
unterbrochenen normalen diplomatischen Beziehungen wieder-
hergestellt wurden. Gleichzeitig traf man eine Vereinbarung
S7
) Vollständigen Text des Vertrages von Racconigi siehe in „Un
Livre Noir. Diplomatie d'Avant-Guerre d'après les Documents des
Archives Russes" I., S. 357/8. Erklärung Crispis im Oktober 1887, siehe
„Die Große Politik", Bd. IV. Nr. 917, S. 352.
2S
) Angeführt vom Abgeordneten Haussmann am 10. Dezember 1908
im Reichstag, Stenographischer Bericht, S. 6103.
" ) Wilhelm II. dankt dafür am 11. Januar. Prof. Dr. W. Goeti
„Briefo Wilhelms II an den Zaren 1894—1914" S. 258.
Die Potsdamer Abmachungen 25

über Aufrechterhaltung des status quo auf dem Balkan. Serbien


wurde darüber durch Iswolsky am 4. März beruhigt. Es bestehe
„kein Anlaß zu Besorgnissen", es handle sich „weder um eine
Aufteilung in Interessensphären noch um die Rückkehr zu
früheren Verhältnissen" das hauptsächlichste Ziel
sei der status quo sowie die „friedliche Entwicklung und die
Unabhängigkeit der Balkanstaaten". 30 ) Etwas deutlicher hatte
Tags vorher der russische Botschafter Nelidow an Iswolsky
geschrieben, das Abkommen würde Rußland in den Stand
setzen „in aller Sicherheit seine militärischen Kräfte auszu-
bilden und sich für die Ereignisse vorzubereiten, die nicht
vermieden werden können". 81 ) Rußland brauchte noch einige
Jahre Zeit für Durchführung seines „großen Programms".
Auch der Tod Eduards VII. am 6. Mai und der Rücktritt
Iswolskys am 28. September vom Posten des Außenministers,
den sein bisheriger „Gehilfe" Sasonow erhielt, brachten nicht
die Entspannung, die man von beiden Ereignissen im Inter-
esse des Friedens erhoffte. Die Anwesenheit Wilhelms II. bei
der Beisetzung seines Oheims wurde von der öffentlichen Mei-
nung Englands zwar hoch gewertet, aber die Leitung der
Politik blieb in den Händen des gelehrigen Schülers des Königs,
Sir Edward Greys. Iswolsky ging als Botschafter nach Paris
und wirkte am Quai d'Orsay nicht weniger eifrig als bisher
an der Sängerbrücke als Todfeind Oesterreich-Ungarns und da-
her auch Deutschlands.
Zu einer wirklichen Entspannung kam es trotzdem im
November bei einem Besuch Nikolaus II. in Potsdam durch die
sogenannten P o t s d a m e r A b m a c h u n g e n . Darin ge-
stand Deutschland den besonderen Einfluß Rußlands in Nord-
persien zu, während Rußland versprach, dem deutschen Handel
dort keine Schwierigkeiten zu bereiten, seinen Widerstand
gegen die Bagdadbahn aufgab und der Herstellung einer
deutschen Zweigbahn von Bagdad bis zur türkisch-persischen
Grenze zustimmte. Außerdem, und das war das Wichtigste,
erstreckten sich die Besprechungen auch auf die Verpflichtung,
daß „kein Teil sich auf etwas einlassen werde, was eine ag-
gressive Spitze gegen den anderen Teil haben könnte". Aber
die schriftliche Fixierung gerade dieses Punktes wurde später
von Sasonow verweigert, und zwar infolge des dreifachen
Widerstandes, den die russische Intelligenz, die französische
öffentliche Meinung und die britische Diplomatie einer ernst-
lichen Annäherung Rußlands an Deutschland entgegen-
setzten.32)
30
) B. von Siebert (bis zum Kriegsausbruch Sekretär der russischen
Botschaft in London) „Diplomatische Aktenstücke zur Geschichte der
Ententepolitik der Vorkriegsjahre", S". 120.
31
) loc. cit., S. 118.
") Siehe Beleg Nr. 6, S. 188.
26

6. Die zweite Marokkokrise 1911.


Der deutsch-französische Vertrag von. 1909 über Marokko
(S. 000) führte nicht zum angestrebten Ziele. Sobald die Re-
gierungen von Berlin und Paris eine wirtschaftliche Verständi-
gung angebahnt hatten, klagten Kapitalistengruppen in beiden
Ländern über die Preisgabe vaterländischer Interessen. Die
französischen Kolonialpolitiker wurden ungeduldig und
drangen auf die Ausnützung der geheimen Verträge von 1904.
England habe die Vorteile daraus in Aegypten längst geerntet,
Warum solle Frankreich solange auf Marokko warten?
Das Jahr 1911 brachte den ersehnten Vorwand zum Ein-
schreiten. Im Januar wurde eine französische Kolonne über-
fallen, im Februar brach ein Aufstand gegen den Sultan aus.
Nachdem die Regierung noch am 9. und 10. März erklärt hatte,
sie werde sich mit Bestrafung der am Ueberfall Schuldigen be-
gnügen, fordert© eine Woche später die Pariser Presse das
Protektorat. Im April wurden Nachrichten verbreitet, die
Hauptstadt des Scherifenlandes werde von Aufständischen be-
lagert, die europäische Kolonie sei in Gefahr. Einen Tag nach-
dem die englische Regierung im Unterhause erklärt hatte
(25. April) „Leib und Leben der Europäer sei nicht gefährdet"
wurden diese von den Franzosen befreit".33) Als diese zunächst
geheim gehaltene Tatsache der Besetzung von Fez bekannt ge-
geben wurde, löste sie in ganz Frankreich großen Jubel aus.
Vergeblich hatte die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine
Zeitung" am 30. April erklärt, daß die Unabhängigkeit des
marokkanischen Herrschers „einen wesentlichen Bestandteil
der Algecirasakte" bilde, und für den Fall einer Verschiebung
der Verhältnisse infolge des Vorgehens Frankreichs „volle Ak-
tionsfreiheit der Mächte" in Aussicht gestellt. In Paris hielt
man es für überflüssig, mit dem politisch immer mehr verein-
samten Berlin auch nur zu sprechen. Die wachsende Unzu-
friedenheit der öffentlichen Meinung in Deutschland, die teil-
weise sogar die Erwerbung von Westmarokko forderte, ver-
anlaßte endlich am 20. Juni die Anweisung an den französi-
schen Botschafter Jules Cambon, mit dem Staatssekretär von
Kiderlen Wächter über Kompensationen zu verhandeln.
Gleichzeitig erging der Befehl zur Räumung von Fez, die erst
Mitte Juli in der eigenartigen Weise zur Ausführung kam, daß
an allen wichtigen Punkten von der Hauptstadt bis zur Küste
französische Garnisonen zurückgelassen wurden. Inzwischen
hatte auch Spanien, um der Vorteile des geheimen Vertrags
nicht verlustig zu gehen, Truppen nach der ihm zugesprochenen
marokkanischen Zone geworfen, worüber die französische
Presse mit nicht sehr logischer Einseitigkeit heftig zürnte. Das
33
) Bansard's „Parliamentary Debates", 1911, Bd. 24, S. 1601, und
französisches Gelbbuch tlber Marokko Bd. VI, Nr. 255.
Der „Panther" vor Agadir 27

lange Schweigen des Pariser Kabinetts hatte in Berlin zu dem


Entschluß geführt, das Kanonenboot „Panther", ein kleines
Fahrzeug von 1000 Tonnen mit 125 Mann Besatzung nach
Agadir an der Westküste Marokkos zu entsenden, wo es am
1. Juli Anker warf. Erst die Veröffentlichung der deutschen
Akten wird darüber Aufschluß bringen, ob anfänglich die Ab-
sicht bestan.d, sich dieses guten Hafenplatzes als Faustpfand zu
bemächtigen. Tatsächlich geschah nichts dergleichen. Kein
Mann wurde gelandet. Eine in Paris übergebene deutsche
Note erklärte „die Auffassung der Akte von Algeciras über
die Suveränität des Sultans und die Integrität Marokkos sei
mit der tatsächlichen Lage unvereinbar. Die deutsche' Regie-
rung sei bereit, in einen freundlichen Meinungsaustausch über
eine Lösung der marokkanischen Frage einzutreten, und geneigt,
jeden Vorschlag der französischen Regierung zu erörtern".34)
Die Aufregung über das Erscheinen des „Panther" vor
Agadir war in London größer als in Paris. Sir E. Grey sah in
dem deutschen Vorgehen eine Bedrohung britischer Interessen
und verkündete, Großbritannien müsse unbedingt an den
deutsch-französischen Verhandlungen teilnehmen. Er schien
also zu befürchten, daß Deutschland von Frankreich Rechte
zugestanden werden könnten, die Englands wirtschaftliche
oder •— durch Einräumung einer Flottenstation an der Nord-
küste Afrikas — strategische Interessen bedrohen würdeh.3")
Auf eine französische Anfrage in London scheint sogar die
Antwort erteilt worden zu sein „es dürfte sich empfehlen, den
deutschen Eindringling durch eine Gegendemonstration lahm-
zulegen und zum Abzug zu veranlassen".30) Glücklicherweise
war in Paris am 26. Juni ein neues Ministerium mit Josef
Caillaux an der Spitze' ans Ruder gekommen, einem Manne,
der ein wirtschaftliches Zusammengehen mit Deutschland an-
strebte und daher Ratschlägen, die zum Kriege führen mußten,
kein williges Ohr lieh, sondern die eingeleiteten Besprechung 3n
fortsetzen ließ. Bei diesen griff Staatssekretär Kiderlen
einen Gedanken auf, der schon 1905 die deutsche Diplomatie
beschäftigt hatte. Er bot Jules Cambon volle Freiheit in Ma-
rokko, dazu Togo, sowie ein Stück von Kamerun und forderte
als Entgelt den Teil des französischen Kongogebiets, der
Kamerun vom großen Strome trennte. Wenn früher in Berlin

M
) Französisches Gelbbuch über Marokko, Bd. VI. Nr. 418.
Diese Folgerung ergibt sich aus der von Grey in seiner Rede
vom 27. November 1911 mitgeteilten Aeußerung an den deutschen
Botschafter, England habe sich Frankreich gegenüber in Marokko des-
interessiert, aber gewisse „wirtschaftliche und strategische Forde-
rungen" stipuliert.
M
) Freiherr von Schoen „Erlebtes", S. 136. Das französische
Gelbbuch über Marokko enthält nur in Nr. 439 eine Anfiage vom 8. Juli,
ob England nicht auf eine Zurückziehung des „Panther" hinwirken
könne.
28 Die Drohrede Lloyd Georges

die Absicht bestanden haben sollte, Kompensationen in Ma-


rokko selbst zu fordern, so war sie nunmehr jedenfalls aufge-
geben. Frankreich wollte' jedoch nur den nicht an der Küste
liegenden Teil seiner Kongokolonie abtreten.
Als nach Mitte Juli die Verhandlungen stockten, griff
plötzlich England mit außerordentlicher Schärfe ein. Die
„Times" schlugen am 20. Juli Alarm und verstiegen sich zu
der Behauptung, Deutschland erhebe Anspruch auf unbedingte
Vorherrschaft in Europa (a claim for absolute European pre-
dominance). Dabei besaß Frankreich in Afrika ein nach Flächen-
inhalt und Bevölkerung dreimal so großes Gebiet wie Deutsch-
land.37) Am folgenden Tage erklärte Grey dem deutschen Bot-
schafter, man höre von unannehmbaren Förderungen Deutsch-
lands, Gerüchte sprächen von deutschen Landungen in Agadir
und ven der Absicht, dort einen Kriegshafen anzulegen, es
empfehle sich, England zu den Besprechungen hinzuzuziehen.
Am Abend hielt Lloyd George nach Rücksprache mit Asquith
und Grey bei einem öffentlichen Festmahle eine Rede, worin er
nach Verherrlichung der Friedensliebe Englands folgende Dro-
hung ausstieß:
„Wenn uns jedoch eine Lage aufgezwungen würde, in
der der Friede nur erhalten werden könnte durch das
Aufgeben der großen und wohltätige^ Stellung, die Eng-
land sich in Jahrhunderten von erfolgreichen heldenhaften
Anstrengungen errungen hat, und nur dadurch, daß Groß-
britannien in Fragen, die seine Lebensinteressen berühren,
in einer Weise behandelt würde, als ob es kein Gewicht
mehr im Rate der Nationen besäße, dann — ich betone
es •— würde ein Friede um jeden Preis eine Erniedrigung
sein, die ein großes Land wie das unsrige nicht hinnehmen
könnte."
Eine solche Sprache gegenüber einer Großmacht ist nur
am Vorabend eines Krieges üblich. Die deutsche Regierung
schwieg in der Oeffentlichkeit völlig und legte nur auf diplo-
matischem Wege Verwahrung ein. Auf die schroffen Aeuße-
rungen Greys vom 21. war von Berlin schon die versöhnliche
Antwort abgegangen, daß Deutschland keine übermäßigen
Forderungen an Frankreich stelle und Landungen in Agadir
weder vorgenommen habe noch auch beabsichtige. Nachdem
aber der Wortlaut der Rede Lloyd Georges bekannt geworden
war, wurde die Anfrage Greys, ob er diese Mitteilungen im
Parlament verwerten könne, verneinend beantwortet. Ein
schärfet Protest gegen die von deutsch-feindlicher Seite aus-
gehenden „Insinuationen" und gegen die „Halluzinationen"
von der Schaffung eines deutschen Kriegshafens in Marokko
S7
) Die Besitzungen Deutschlands in Afrika umfaßten 2.7 Millionen
qkm mit 11.16 Millionen Einwohnern die Frankreichs 9,58 Millionen qkm
mit 35^63 Millionen Einwohnern.
Dent8ch-franggsi8ches Abkommen (November 1911) 29

schloß mit dem Satze: „Sollte die englische Regierung die


Absicht haben, die politische Lage zu verwickeln und zu ver-
wirren und einer gewaltsamen Entladung entgegenzuführen,
80 hätte sie allerdings kein besseres Mittel wählen können
als die Rede des Schatzkanzlers." Da manche' Ministerkollegen
und viele Parteifreunde Greys mit der Drohrede durchaus
nicht einverstanden waren, antwortete der britische Staats-
sekretär auf diese wohlverdiente Lektion sehr gemäßigt.
Die Oeffentlichkeit erfuhr jedoch von diesen Auseinandar-
setzungen nichts. Die Erregung dauerte fort. In Frankreich
herrschte ein wahrer Freudentaumel über die Demütigung
Deutschlands, aber auf die Beteiligung Englands an den Ver-
handlungen ging man auch am Quai d'Orsay nicht ein. Die Be-
sprechungen zwischen Kiderlen und Cambon nahmen ihren Fort-
gang, stockteh indessen von neuem bald nach Mitte August. In
ganz Europa steigerte' sich die Aufregung bis zur Fieberhitze;
besonders über englische Rüstungen ist nachträglich viel be-
kannt geworden. Abkühlend aber wirkte auf London und Paris,
daß man in Petersburg den Ententegenossen abwinkte und
der Meinung Ausdruck gab, Deutschland wolle die Verständi-
gung.38) Am 19. August 1911 wurden die deutsch-russischen
Vereinbarungen über Persien und die kleinasiatischen Eisen-
bahnen unterzeichnet, die Potsdamer Abmachungen vom Vor-
jahre (S. 25) übten somit gerade in einem entscheidenden
Moment doch eine erfreuliche Wirkung aus. Andererseits be-
tonten halbamtliche österreichische Aeußerungen, daß der Ma-
rokkostreit die Donaumonarchie nichts angehe. Immerhin
blieb die Stimmung noch lange gespannt, bis endlich am 4. No-
vember zwei Verträge zustande kamen, in denen Frankreich
gegen die Zusage der Wahrung der wirtschaftlichen Interessen
Deutschlands die freie Verfügung über Marokko, Deutschland
eine Gebietsentschädigung am Kongo erhielt.
Für die vorliegende Betrachtung kommt es darauf an, wio
der Zwischenfall von Agadir gegenüber der These von Ver-
sailles zu bewerten ist. Der „Panthersprung" war sicher keine
geschickte diplomatische Handlung. Er war geeignet, das
französische Selbstbewußtsein zu verletzen und gleichzeitig als
maritime Demonstration England auf den Plan zu rufen. Daß
aber mit einem Boote von 1000 Tonnen mit 125 Mann Be-
satzung eine Kriegshandlung nicht eingeleitet werden kann,
bedarf keines Nachweises. Sowie' die Lage ernst wurde, zog
die Reichsregierung die diplomatische Niederlage der Störung
des Friedens vor. Im übrigen mögen die Berichte der russischen
Botschafter in London und Berlin sprechen."9) Am 16. August
berichtete Graf Benckendorff, Grey habe ihm gesagt:
M
) Französisches Gelbbuch über Marokko Band VI. Nr. 518 und
527; Siebert, S. 408 ff.
3
») Siebert, S. 435 und 445.
30 Die fünfte Gelegenheit zum Präventivkrieg

„Ich glaube nicht, daß Kaiser Wilhelm den Krieg ge-


wollt hat, als dieser Zwischenfall entstand. Ich glaube
auch nicht, daß er den Krieg heute will."
Am 13. Oktober schrieb Graf Osten-Sacken:
„Erstens hat Kaiser Wilhelm beim ersten Ausbruch
der Krise beschlossen, es nicht zum Kriege kommen zu
lassen."
Ueber die Gegenseite aber meldete der serbische Ge-
schäftsträger in London am 8. September:
„Herr Cambon ist der Ansicht, daß die jetzigen Ver-
handlungen mit Deutschland zu Ende geführt und ein
Uebereinkommen erzielt werden wird. Aber mit diesem
Uebereinkommen wird und kann die Gefahr, welche durch
die Ueberrumpelungspolitik Deutschlands droht, nicht auf
die Dauer abgewendet werden. Dessen Ergebnis bestände
nur darin, daß der Krieg' auf drei bis vier Jahre hinausge-
schoben werden würde."
„Frankreich ist davon überzeugt, daß ihm der Krieg
aufgedrungen werden wird. Aber sowohl Frankreich wie
auch seine Bundesgenossen sind der Ansicht, daß der
Krieg — selbst um den Preis größerer Opfer — auf
spätere Zeit, das ist auf die Jahre 1914—1915, verschoben
werden müsse. Die Notwendigkeit dieses Aufschubs er-
heischt weniger die materielle Kriegsbereitschaft Frank-
reichs, weiche vollendet ist, als die Organisierung deä
Oberkommandos, welche noch nicht beendet ist. Diese
Frist ist auch für Rußland erforderlieh. Hiervon wird nur
England keinen Nutzen haben, da sich seine Flottenüber-
macht gegenüber der deutschen mit jedem Jahre verringert.
Mit Rücksicht auf die Bereitschaft der Bundesgenossen rät
Frankreich, sich jetzt zu verständigen".40)
Wie bei Rußland 1908/09, so handelte es sich 1911 bei
Frankreich nicht um Verzicht auf den Krieg, sondern um dessen
Verschiebung auf einen günstigeren Zeitpunkt. Die Rede Lloyd
Georges aber war eine ausgesprochene Kriegsdrohung gewesen.
Ein Deutschland, das den Waffengang zur Erringung der Vor-
herrschaft in Europa suchte, hatte die f ü n f t e G e l e g e n -
h e i t z u m P r ä v e n t i v k r i e g 1 . Die militärischen Kräfte-
verhältnisse waren zwar bei weitem nicht mehr so günstig wie
1905/06 und auch weniger günstig als 1908^09. Immerhin
hatte aber Rußland eben erst sein großes Rüstungsprogramm
begonnen, Serbien war erst halb so stark wie 1914, Frankreich
hatte noch nicht die dreijährige Dienstzeit, das französische
Friedensheer war noch-nicht um 40 000 Mann stärker als das
deutsche. An der Bundestreue Oesterreich-Ungarns endlich
war, wenn es Ernst wurde, trotz der lauen diplomatischen
Unterstützung nicht zu zweifeln.
40
) Boghitschewitsch, S. 141—2.
31

7. Der tripolitanische Krieg 1911.


Das Vorgehen der Franzosen in Marokko wurde der An-
laß zur Unternehmung Italiens gegen Tripolis. Die italienischen
Wünsche auf dieses Gebiet waren im zweiten Dreibundvertrag
1887, noch bestimmter im dritten 1891 von Deutschland und
damit auch von Oesterreich-Ungarn zugestanden. Mit Frank-
reich war 1901 die Verabredung getroffen worden: Marokko
für Frankreich, Tripolis für Italien.41) Vermutlich schon gleich-
zeitig, spätestens jedoch bei der Zusammenkunft der beiden
Könige in Gaeta im April 1907 wurde die Einigung mit Eng-
land erzielt. Rußland hatte sein Einverständnis 1909 in Racco-
nigi erteilt (Seite 23). Als nun im Herbst 1911 feststand,
daß das französische Protektorat über Marokko Tatsache
würde, befürchtete man auf der Consulta, Frankreich könnte,
der eigenen Beute sicher, Italien die seinige nicht gönnen, und
entschloß sich rasch zuzugreifen. Wie Fürst Bülow erzählt,
zog eines Tages Marquis von San Giuliano die Uhr und sagte
zu seinen Sekretären:
„Merken Sie sich diese Stunde und dieses Datum.
Heute hat es sich entschieden, daß wir nach Tripolis
gehen. Es bleibt uns keine andere Wahl". . .42)
Am 28. September 1911 wurde der Pforte ein Ultimatum
mit 24stündiger Frist gestellt, das nur die Wahl ließ zwischen
italienischer Okkupation und Krieg. Es sei ein Lebensinteresse
Italiens, so hieß es darin, Tripolis und die Cyrenai'ka auf eine
hohe Stufe der Zivilisation zu heben; da die Türkei dieser Auf-
gabe nicht gewachsen sei, bleibe Italien nichts übrig als beide
Provinzen zu besetzen. Die Pforte bewilligte die wirtschaft-
lichen Forderungen, lehnte aber die Okkupation ab. Der Krieg
begann. England beschwichtigte seine 1908 so laut und heftig
geäußerten Gewissensbedenken gegen dit Verletzung inter-
nationaler Verträge dadurch, daß es, vermutlich auf GTMKI
früherer Abmachungen, die zu Tripolis gehörende, an der
Grenze Aegyptens liegende Bucht von Sollum in Besitz nahm.
Nicht so ruhig nahm Frankreich die Ausdehnung der roma-
nischen Schwestetnation im Mittelmeerbecken hin. Man Keß
sich in Paris zwar kaum mehr von dem Gedanken Napoleons III.
leiten, der 1857 zu Bismarck gesagt hatte, er wolle aus dem
Mitte'lmeer „nicht gerade einen französischen See, jedoch un-
gefähr dasselbe machen",43) man wollte aber die Stellung
Frankreichs als zweite Mittelmeermacht nach England un-
bedingt wahren, gleichzeitig wohl auch in Italien den immer
noch nominellen Verbündeten Deutschlands treffen. Eine
41
) Französisches Gelbbuch „Les Accords franco-italiens 1901—02",
Nr. 1.
") Fürst von Bülow „Deutsche Politik", Ausgabe 1917 S. 107.
4S
) „Die Große Politik", Bd. VI, Nr. 1207, S. 103.
32 Die Stellung der Mächte zum tripolitanischen Kriege

offene Stellungnahme war nach dem Vertrag von 1901 nicht


wohl möglich, aber insgeheim wurde der Waffenschmuggel für
die Türken begünstigt, was nach der Beschlagnahme zweier
französischer Schiffe durch die italienische Marine zu diplo-
matischen Weiterungen führte, in denen Italien, obwohl das
Recht zweifellos auf seiner Seite war, sich zum Nachgeben ent-
schloß.
Während Oesterreich-Ungarn die Ablenkung Italiens nach
der Südküste des Mittelländischen Meeres nicht ungern sah,
bedeutete das tripolitanische Unternehmen für die Stellung
Deutschlands in Konstantinopel einen schweren Schlag. Die
deutschfreundlichen Politiker mußten solchen weichen, die zu
England neigten. Der Kriegszug des Dreibundgenossen war in
der diplomatischen Rechnung der Mittelmächte nicht als Ge-
winn zu buchen. Deutschland hatte weder die befreundete
Türkei gegen einen Friedensbruch durch seinen Verbündeten
noch das verbündete Italien gegen französische Uebergriffe zu
schützen vermocht.
8. Deutsche Annäherungsversuche an England und Frankreich
zu Beginn des Jahres 1912.
Die Ereignisse des Sommers 1911 hatten in England und
Frankreich ganz verschiedene Wirkungen zur Folge. Jenseits
des Kanals begann man zu erkennen, wohin die seit 1908 ein-
geschlagenen Wege führen müßten. Der radikale Flügel der
liberalen Partei erhob Einspruch gegen ein diplomatisches
System, das Europa an den Rand eines allgemeinen Krieges
gebracht habe. Sogar das Verlangen nach einem Rücktritt
Greys wurde laut. Einer der eifrigsten Vorkämpfer dieser
Richtung war der Pazifist E. D. Morel, bekannt durch sein
mutiges Vorgehen gegen die in der belgischen Kongokolonie
an den Eingeborenen verübten Greuel. Der überwiegende Teil
der öffentlichen Meinung billigte zwar die Richtlinien der bis-
herigen Politik, wollte aber doch, von der Kriegspartei der
Jingos abgesehen, keinen Krieg. Grey entschloß sich, seine
Methode zu ändern.
In Frankreich zeigte sich die entgegengesetzte Erschei-
nung. Das zur wirtschaftspolitischen Verständigung mit
Deutschland bereite Ministerium Caillaux stürzte. Der Januar
1912 sah das „zweite große Ministerium der dritten Republik"
so genannt, weil es zehn frühere Minister, darunter zwei
frühere Ministerpräsidenten, zählte. Die führenden Männer
waren: Der Lothringer Poincaré als Ministerpräsident und
Minister des Auswärtigen, der einstige Sozialist und nunmehrige
Militarist Millerand für den Krieg, für die Marine Delcassé, die
Seele des Bündnisses mit Rußland, der Vater der Entente cor-
diale mit England, der Mann, der 1905 deh Krieg gewollt hatte.
RalcLane in Berlin (Februar 1912) 33

Mit vollem Recht konnte gegen Jahresende der russische Bot-


schafter Iswolsky schreiben:
„Wenn die Krise kommt, was Gott verhütet), möge,
wird die Entscheidung gefällt werden von den drei starken
Persönlichkeiten an der Spitze des Kabinetts: Poincaré,
Millerand und Delcassé. Und unser Glück ist es, daß
wir es gerade mit diesen Persönlichkeiten und nicht mit
diesen oder jenen anderen Zufallspolitikern zu tun haben
werden, die sich im Laufe der letzten Jahre in der franzö-
sischen Regierung gefolgt sind."")
Dieser Eindruck bestand bei den Pariser Diplomaten un-
verändert fort, noch am 16. Januar 1914 meldete der dortige
belgische Gesandte Baron Guillaume:
„Ich hatte schon die Ehre, Ihnen zu berichten, daß
es die Herren Poincaré, Delcassé, Millerand und ihre
Freunde gewesen sind, die die nationalistische, milita-
ristische und chauvinistische Politik erfunden und befolgt
haben, deren Wiederkehr wir feststellen konnten. Sie
bildet eine Gefahr für Europa."16)
Die neue Richtung in London wurde eingeleitet durch eine
Reise des bekannten Finanzmannes Sir Ernest Cassel nach
Berlin, der dort unter Berufung auf einen gemeinsamen Auftrag
von Grey, Lloyd George und Churchill eine nicht amtliche
Denkschrift vorlegte, die anregte, Deutschland möge seine
Schiffsbauten einschränken, England werde dann die deutschen
kolonialen Wünsche unterstützen; zu weiterer Besprechung
könnte ein englischer Minister nach Berlin kommen.") Die
deutsche Regierung erklärte sich bereit, die neue Flottenvor-
lage, von der in Kapitel 15 die Rede sein wird, vor der Ver-
öffentlichung dem Londoner Kabinett mitzuteilen; das Ein-
gehen auf etwaige Wünsche und Einwände Englands hänge
jedoch davon ab, daß dieses sich zu einem politischen Ab-
kommen entschließe, worin Deutschland eine gewisse Sicher-
heit im Falle eines Festlandkrieges gegeben würde. Nach
diesen Vorbesprechungen traf der englische Kriegsminiater
Haidane am 8. Februar 1912 in Berlin ein.
Der Reichskanzler von Bethmann Hollweg war bereit,
sich für äußersten Verzicht in der Frage der Flottennovelle
einzusetzen, wenn in einem politischen Abkommen ein Gegen-
gewicht geschaffen würde. Aber gerade hinsichtlich des poli-
tischen Abkommens gelang es nicht, eine beide Teile be-
friedigende Formel zu finden, obschon die Verhandlungen
nach der Abreise Haldanete am 12. Februar noch bis Ende
") „Livre Noir" I. S. 364. Iswolsky an Sasonow 5. Dez. 1912.
") „Zur Europäischen Politik 1897—1914", herausgegeben unter
Leitung vo Bernhard Schwertfeger, Bd. IV, S. 174.
**) Bethmann Hollweg „Betrachtungen zum Weltkrieg" I. S. 50 ff.;
Viscount Haidane „Before the War", S. 65 ff.
3
34 Versuche zu einem deutsch-englischen Neutralitätsabkommen

März fortgesetzt wurden. Der erste Wunsch Deutschlands


„Neutralität Englands in einem Kriege, in den Deutschland
verwickelt würde", war zweifelsohne zu weitgehend, da er Eng-
land auch bei einem deutschen Angriffskrieg zur Neutralität
verpflichtet hätte. Das erste englische Gegenangebot „keine
Teilnahme an einem unprovizierten Angriff gegen Deutschland"
war hingegen allzu wenig. Als diese Formel durch den Zu-
satz „Enthaltung von einer aggressiven Politik gegen Deutsch-
land" erweitert worden war, äußerte der Kanzler den als ge-
rechtfertigt anzusehenden Wunsch, es möge noch hinzugefügt
werden „wohlwollende Neutralität, sollte Deutschland ein Krieg
aufgezwungen werden". Nach einem Bericht des deutschen
Botschafters Grafen Metternich vom 17. März erklärte Grey
jedoch „ein direktes Neutralitätsabkommen würde unbedingt
die französische Empfindlichkeit reizen, dies müsse die eng-
lische Regierung vermeiden". Am 29. März meldete Mettar-
nich, der Staatssekretär habe gesagt: „Irgend ein Hinausgehen
Deutschlands über das bestehende Flottengesetz gestatte der
englischen Regierung nicht, ein politisches Abkommen mit uns
einzugehen, ein völliges Aufgeben der Flottennovelle liege
aber wohl nicht im Bereich der Diskussion". Darauf erfolgte
von Berlin die Mitteilung, „weil kein befriedigendes Neutra-
litätsabkommen zu erlangen, entfalle die Möglichkeit, die
Flottennovelle in einer den englischen Wünschen entgegen-
kommenden Weise abzuändern. Die deutsche Regierung sei
bereit, den begonnenen Meinungsaustausch über territoriale und
koloniale Fragen fortzusetzen."")
Die am 17. März berichtete Aeußerung Greys macht es
wahrscheinlich, und Meldungen des russischen Botschafters in
Paris bestätigen es, daß der Staatssekretär sich mit Frank-
reich ins Benehmen gesetzt hatte. Nach einem Telegramm
Iswolskys vom 1. März 1912 war Poincaré anfänglich einer
deutsch-englischen Verständigung nicht abgeneigt, aber die
französischen Militärs waren anderer Ansicht, da sie fürchteten,
Deutschland werde mehr für seine Armee aufwenden, wenn
es die Ausgaben für die Flotte einschränke.48) Dieser An-
sicht der Militärs scheint sich Poincaré alsbald angeschlossen
zu haben, denn Iswolsky meldete später auf Grund von Mit-
teilungen Poincarés und Paléologue's, des damaligen Direktors
des politischen Departements:
„Das Londoner Kabinet unterrichtete Poincaré und
schwankte offenbar, ob es den Vorschlag annehmen
oder ablehnen solle. Poincaré sprach sich auf das
entschiedenste gegen ein solches Abkommen aus; er
,7
) Botschafterberichte und Antwort der deutschen Regierung nach
unteci ruckten Akten des Auswärtigen Amts in ,.Deutschland und der
Weltkrieg" (Oncken) S. 598.
,8
) Siebert, S. 761—2.
Frankreichs Unversôiinlichkeit 35

bedeutete der englischen Regierung, daß zu einem


Zeitpunkt, da zwischen Frankreich und England kein Ab-
kommen allgemeiner politischer Art bestehe, die Unter-
zeichnung einer solchen Vereinbarung mit Deutschland
durch England sofort den bestehenden französisch-eng-
lischen Beziehungen ein Ende machen werde. Der erwähnte
Einwand hatte den erwarteten Erfolg, und das Londoner
Kabinett lehnte den deutschen Vorschlag ab, was in Berlin
lebhafte Verstimmung verursachte.40)
Nach der Darstellung Haldanes hätte die Stimmung in
England deshalb umgeschlagen, weil die britische .^Admiralität
die neue deutsche Flottenvorlage als zu weitgehend ansah.
In Wahrheit werden wohl beide Ursachen zusammengewirkt
haben, der Einspruch des französischen Ministerpräsidenten und
die Bedenken der Admiralität. Die schon länger eingeleiteten
Verhandlungen zwischen Berlin und London über die eventuelle
Aufteilung der portugiesischen Kolonien in Afrika und über
die Bagdadbahn nahmen ihren Fortgang.
Nach amtlicher französischer Quelle versuchte Deutsch-
land bald nach dem Scheitern der Mission Haldanes sich Frank-
reich zu nähern, und zwar auf der Basis einer weitgehenden
Autonomie für Elsaß-Lothringen. Damals sagte Poincaré dem
französischen Botschafter in Berlin:
„Das einzige, was an all dem interressiert, ist die
Haltung der deutschen Regierung. Sie scheint mit un-
ablässiger Hartnäckigkeit eine Annäherung zu betreiben,
die doch nur durch eine völlige Wiederherstellung des
früheren Zustandes möglich wäre. Wenn wir auf solche
Vorschläge hörten, würden wir uns mit England und Ruß-
land überwerfen. Wir würden aller Vorteile verlustig
gehen, die wir dank der von Frankreich seit vielen
Jahren verfolgten guten Politik erzielt haben."50)
Somit trägt Poincaré an dem Scheitern der deutsch-eng-
lischen Annäherung zum mindesten eine Mitschuld, an dem
Scheitern der deutsch-französischen Annäherung aber die
Alleinschuld.
Uebe'r die Haltung der deutschen Regierung in jener Zeit
urteilte der durchaus nicht deutschfreundliche englische
Schriftsteller Begbie:
40
) „Livre Noir" I. S. 365—6, Iswolsky an Sasonow 5. Dez. 1912.
Im Dezember bestand schon ein schriftliches französisch-englisches Ab-
kommen allgemein politischer Art durch den Briefwechsel Cambon-Grey
vom 22. und 23. November 1912, nicht aber zur Zeit der Mission Hal-
danes.
60
) Bericht an den französischen Senat, Nr. 704 vom Jahre 1919
„Rapport de la Commission d'Enquête sur les Faits de la Guerre" I,
S. 363.
3*
36 Annäherung an England das Ziel Deutschlands

„Es ist nicht Geschichte* es ist nicht einmal ein


Roman, e's ist barer Unsinn anzunehmen, daß die deutsche
Regierung in diesem Augenblick nicht nach Frieden
strebte. Der Kaiser wünschte Frieden, der Kanaler
wünschte Frieden, und Annäherung an England war das
Ziel, dem Kiderlen Wächter (wie uns der Korrespondent
der „Daily Mail" versichert) seine Kräfte widmete. Die
Kriegspartei arbeitete natürlich auf den Krieg hin, aber
die verantwortliche Regierung des Landes wirkte ernst-
lich für den Frieden."")
9. Der erste Balkankrieg Herbst 1912.
Das Unwetter, das sich 1909 über dem Balkan zusammen-
geballt hatte, ohne zur Entladung zu kommen, zog auf dem
Umwege über Marokko und Tripolis von neuem dorthin. Wie
die Vernichtung der Unabhängigkeit Marokkos den Zug nach
Tripolis veranlaßt hatte, so löste die Verwicklung der Türkei
in einen Krieg mit einer Großmacht bei den Balkanstaaten
den von ihrem Standpunkt wohlberechtigten Entschluß aus,
ihre noch unter türkischer Fremdherrschaft stehenden Stam-
mesbrüder zu befreien. Auch in Petersburg drängten die Be-
fürworter einer aktiven Politik zum Handeln. Die Mehrzahl,
an ihrer Spitze der rassische Gesandte Hartwig in Belgrad,
wollte einen unter russischem Schutz stehenden Bund der
Balkanvölker gegen die Türkei; der russische Botschafter
Tscharykow in Konstantinopel hingegen riet dazu, die Türkei
gegen Zugeständnisse an Rußland in der Meerengenfrage in
diesen Bund einzubeziehen. Nachrichten über die Verhand-
lungen mit der Pforte drangen jedoch in die Oeffentlichkeit,
der Außenminister Sasonow leugnete jede Mitwissenschaft und
ließ die Sache fallen.62)
Die Anhänger des gegen die Türkei gerichteten Balkan-
bundes hatten gesiegt. Besonderen Eifer bei dessen Grün-
dung entwickelte nunmehr der serbische Minister Milowano-
witsch, der dem Bunde von vornherein auch eine Spitze gegen
Oesterreich gab. Er war der Ansicht, daß der Zerfall der
Donaumonarchie die Lösung der zwischen den Balkanstaaten
schwebenden territorialen Streitfragen bedeutend „verein-
fachen" würde. So äußerte er zum bulgarischen Minister-
präsidenten Geschow:
„Wenn zu gleicher Zeit die Auflösung der Türkei
und der Zerfall Oesterreich-Ungarns eintreten könnten, so
wäre die Lösung bedeutend vereinfacht; Serbien erhielte
Bosnien und die Herzegowina, wie Rumänien Sieben-
M
62
)Harold Begbie „Vindication of England" 1916, S. 142.
) Näheres über den Plan Tscharykows siehe 12. Kapitel „Die
Entwicklung der Meerengenfrage".
Bulgarisch-serbischer Vertrag (Marz 1912) 37

bürgen, und wir hätten keine Einmischung' Rumäniens in


unseren Krieg mit der Türkei zu befürchten."")
Am 13. März wurde der unter angeblicher Mitwirkung
Hartwig« vereinbarte serbisch-bulgarische Vertrag unter-
zeichnet, dessen zweiter Artikel lautete:
„Beide vertragschließenden Seiten verpflichten sich,
auch in dem Falle einander mit allen Kräften zu unter-
stützen, daß irgend eine der Großmächte den Versuch
machen sollte, irgend ein auf dem Balkan liegendes und
gegenwärtig unter türkischer Herrschaft befindliches Ge-
biet, wenn auch nuT zeitweilig, an sich zu reißen, zu okku-
pieren oder mit Truppen zu besetzen — falls auch nur
einer der beiden Staaten dies als schädlich für seine
Lebensinteressen oder als Anlaß zum Kriege (casus belli)
betrachtet."")
Das bezog sich auf eine allenfallsige Wiederbesetzung des
Sandschaks durch Oesterreich-Ungarn. Eine geheime Anlage
bestimmte Rußland als Schiedsrichter sowohl für den Zeit-
punkt des Beginns des Krieges gegen die Türkei als auch für
jede aus den Abmachungen sich ergebende, auf andere Weise
nicht beizulegende Streitfrage zwischen beiden Parteien. Ein
merkwürdiges Zusammentreffen war es, daß am Vortage der
Unterzeichnung des Vertrags, am 12. M!ärz, in Rußland folgen-
der Befehl ergangen war:
„Laut allerhöchster Entschließung ist ein telegraphi-
scher Befehl zur Anordnung der Mobilmachung in den
europäischen Militärbezirken aus Anlaß politischer Kom-
plikationen an den Westgrenzen gleichzeitig als Befehl
zur Eröffnung- der Feindseligkeiten gegen Oesterreich und
Deutschland aufzufassen. Was dagegen Rumänien be-
trifft, soll die Eröffnung der Feindseligkeiten erst auf
direkten Befehl erfolgen."65)
Im Mai und Juli wurden die bulgarisch-serbischen Ab-
machungen durch Militärkonventionen ergänzt, wonach Bul-
garien 200.000 Mann Hilfstruppen an Serbien zu stellen hatte,
nicht nur wenn Oesterreich-Ungarn dieses Land angreife,
sondern auch für den Fall
„daß Oesterreich-Ungarn nach Vereinbarung mit der
Türkei oder ohne eine solche, unter irgend einem Vorwand
seine Truppen in den Sandschak von Nowibazar einrücken
lassen und hierdurch Serbien nötigen sollte, entweder
M
) Ueber die Tätigkeit von Milowanowitsch siehe Friedjung III.
S. 174 ff. -und die dort angeführten Quellen.
M
") Boghitschewitsch, S. 130.
86
) Schreiben des russischen Generalstabs an den Oberbefehls-
haber des Militärbezirks Warschau vom 11. April 1912, Nr. 545, Ori-
ginal im Reichsarehiv zu Potsdam.
38 Poincaré Aber den „Kriegsvertrag"

Oesterreich-Ungarn den Krieg zu erklären oder seine Trup-


pen nach dem Sandschak zur Verteidigung seiner dortigen
Interessen zu entsenden, wodurch Serbien einen Zusammen-
stoß mit Oesterreich-Ungarn hervorrufen würde.5")
Ein Ende Mai von Bulgarien mit Griechenland geschlosse-
ner Vertrag beschränkte sich auf die Bestimmung, daß die zwei
Staaten ihren Volksgenossen in Mazedonien zu ihrem Recht
verhelfen und sie mit den Waffen unterstützen werden, wenn
es deshalb zum Kriege mit der Türkei kommen sollte.'^
Zwischen dem Abschluß der ersten und zweiten bulgarisch-
serbischen Militärkonvention machten im Juni die Könige von
Bulgarien und Montenegro Besuche in Wien. Sie wurden dort,
wo im Februar Graf Berchtold die Nachfolge Aehrenthals an-
getreten hatte, mit größter Vertrauensseligkeit in freundschaft-
lichster Weise aufgenommen. In demselben Monat fand in
Baltisch-Port eine Zusammenkunft des deutschen und russischen
Kaisers statt, nach der eine halbamtliche russische Erklärung
verkündete, die Begegnung bezeuge einerseits die feste und
dauernde Freundschaft zwischen beiden Reichen, andererseits
sei sie ein Ausdruck der friedlichen Grundlinien, welche deren
Politik gleichmäßig bestimme. Glaubten der Zar und seine
Minister wirklich, daß die Rußland zugestandene Entscheidung
über den Beginn des Krieges ihnen die Macht geben werde, den
Frieden zu erhalten?
Der Inhalt des bulgarisch-serbischen Vertrags ging auch
dem französischen Verbündeten zu weit. Als Poincaré im Au-
gust in Petersburg Einblick darein gewann, schrieb er nach
Paris:
„Der Vertrag enthält also im Keime nicht nur einen
Krieg gegen die Türkei, sondern einen Krieg gegen Oester-
reich. Er errichtet außerdem eine Hegemonie Rußlands
über die beiden slawischen Königreiche, da Rußland zum
Schiedsrichter in allen Fragen bestimmt ist.
Ich bemerkte Sasonow, diese Vereinbarung entspreche
in keiner Weise den mir darüber gegebenen Aufklärungen,
sie sei geradezu ein „Kriegsvertrag" und enthülle nicht
nur Hintergedanken bei den Serben und Bulgaren, sondern
man müsse auch befürchten, daß Rußland ihre Hoffnungen
zu ermutigen scheine, und daß die mögliche Teilung einen
Anreiz für ihre Begehrlichkeiten bilde.
Er (Sasonow) gibt zu, daß bei UebeTmittlung des
Vertrags nach Petersburg der russische Gesandte in Sofia
selbst ihn als Kriegsvertrag bezeichnete, aber da Serbien
M
) Die bulgarisch - serbischen Verträge nach Boghitschewitsch,
R. 180, 132, 134, 136—8. Sie sind mir teilweise wiedergegeben im
deutschen Weißbuch vom Juni 1919 „Deutschland schuldig?" S. 137
und 139.
•7) Friedjung III., S. 178.
Die Mobilmachung der Balkanataaten 89

und Bulgarien sich verpflichtet hätten, ohne die Billigung


Rußlands nicht den Krieg zu erklären und nicht einmal
zu mobilisieren, könne Rußland ein den Frieden sicherndes
Vetorecht ausüben und werde nicht verfehlen, das zu
tun."88)
Poincaj-é gab damals in Petersburg auch zu verstehen,
daß die öffentliche Meinung Frankreichs der Regierung der
Republik nicht gestatten werde, für Balkanfragen zu den
Waffen zu greifen, wenn nicht Deutschland sich einmische,8®)
drang aber nicht auf eine Aenderung der bedenklichen Ver-
träge, obwohl er glaubte, daß Oesterreich auf keinen Fall deren
Ausführung dulden würde1, wenn es davon Kenntn'13 erhielte.
Diese Sorge war unbegründet, da das Wiener Kabinett,
als es Mitte September das Bestehen des Balkanbundes erfuhr,
sich damit begnügte, die Nachricht nach Berlin weiterzugeben.
Das Vertrauen auf das Vetorecht Rußlands erwies sich
als trügerisch. Nachdem seit Anfang August drohende An-
zeichen den bevorstehenden Sturm angekündigt hatten,
machten am 30. September Bulgarien, Serbien und Montenegro
mobil, Griechenland einen Tag später. An demselben 30. Sep-
tember wurde der Befdhl, daß „die Verkündung der Mobil-
machung auch die Verkündung des Krieg'es gegen Deutschland"
sei, dem VI. Armeekorps in Warschau und sicher auch anderen
Armeekorps mitgeteilt."0) Gleichzeitig wurde das russische
Heer wesentlich verstärkt durch Probemobilmachungen großen
Stils an der Grenze, die nicht wie in früheren Zeiten zuvor amt-
lich mitgeteilt worden Waren."1) Der Befehl offenbart, was eine
allgemeine Mobilmachung in Rußland bedeutet haben würde;
sein zeitliches Zusammentreffen mit der Kriegsbereitschaft der
Balkanstaaten und die gleichzeitige Heeresverstärkung be-
weisen ferner, daß man in Petersburg von den Ereignissen doch
nicht gänzlich überrascht gewesen sein kann. Den großen
Krieg aber wollte die politische Leitung Rußlands damals nicht,
sondern sie schloß sich den Bemühungen der anderen Mächte
an, das nach Poincaré's Urteil „von ihr entfesselte Unheil" zu
beschwören, da sie fürchtete, daß „ein sich in die Länsre ziehen-
der Krieg für die' Balkanstaaten, deren Hilfskräfte beschränkt
seien, wenig vorteilhaft wäre".62)
M
) Ministère des Affaires Etrangères Documents Diplomatiques.
Les Affaires Balkaniques 1913—14" I., Nr. 57, S. 38 ff. Auch der
englische Unterstaatssekretär Sir A. Nicolson betrachtete die Konven-
tion als gegen die Möglichkeit österreichischer Uebergriffe gerichtet"
(Siebert, S. 552).
") Siebert, S. 549; vgl. auch „Affaires Balkaniques" I, Nr. 184,
S. 111—114.
«°) Siehe Beleg Nr. 7, S. 188.
„Deutschland schuldig?" S. 141.
®2) „Affaires Balkaniques" I. Nr. 181 und 184. Die letztere Nummer
zeigt das schlechte öewissen Poincarés gegenüber London wegen Ver-
heimlichung der „Kriegsverträge", die er nunmehr mitteilt.
40 Die grundsätzliche Schwenkung der französischen Politik

Noch nach dem 30. September wiegten sich die Groß-


mächte in dem Wahne, durch eine die Friedensbrecher be-
drohende und die Aufrechterhaltung des status quo ohne Rück-
sicht auf die Kriegsergebnisse dekretierende Formel den Frieden
retten zu können. Als dieses Verbot am 8. Oktober in Cetinje
mitgeteilt wurde, erwiderte König Nikita, er habe soeben den
Krieg an die Türkei erklärt. Am 17. und 18. folgten die drei
Verbündeten seinem Beispiel.
Der in Berlin und Wien erwartete, in Petersburg und Paris
befürchtete Sieg der osmanischen Waffen trat nicht ein. Ent-
gegen früheren Ratschlägen des FeldmaTschalls Freiherrn von
der Goltz traten die Türken, anstatt in rückwärtigen Stellungen
die vollständige Versammlung ihrer aus weit entfernten Gegen-
den nur allmählich heranzuführenden Streitkräfte abzuwarten,
an allen Grenzen dén Gregnern offensiv entgegen. Numerisch
noch weit unterlegen, wurden sie in Rumelien von den Bul-
garen, in Mazedonien von den Serben und Griechen entschei-
dend geschlagen. Zwar mißglückte Mitte November der
schlecht angelegte bulgarische Angriff auf die, Konstantinopel
schützende, stark befestigte Tschataldschalinie, und d«T Traum
König Ferdinands, auf der Hagia Sofia das Kreuz aufzu-
pflanzen, ging nicht in Erfüllung. Doch völlig erschöpft mußte
die Pforte um Waffenstillstand nachsuchen, der am 3. Dezember
mit Bulgarien und Serbien zustande kam, jedoch unter Fort-
dauer der Belagerung von Adrianopel und Skutari, während
Griechenland die Feindseligkeiten nicht einstellte.
Der bis Ende Oktober klar erkennbare Sieg der Balkan-
staaten führte nun zu einer g r u n d s ä t z l i c h e n S c h w e n -
k u n g d e r f r a n z ö s i s c h e n P o l i t i k . Während man in
Paris anfänglich bestrebt srewesen war, den Konflikt zu ver-
hüten oder wenigstens zu lokalisieren, erkannte man nunmehr,
eih wie wertvoller Bundesgenosse der siegreiche Balkanbund im
Kampfe gegen die Mittelmächte werden könnte. Die franzö-
sische Politik begrab sich im Gegensatz zu ihrer Haltung während
der Annexionskrise 1908/09 völlig ins Schlepptau Rußlands, ja
sie unterstützte die Wünsche der russischen Kriegspartei und
die Pläne der Balkanstaaten mitunter eifriger als die Peters-
burger politische Leitung. Schon die am 30. Oktober von Poin-
caré vorgeschlagene Formel, die Großmächte sollten ihr „unbe-
dingtes Desinteressement" erklären,83) hatte eine unverkenn-
bare Spitze gegen Oesterreich. Das erhellt deutlich aus einem,
wenige Tage später an Iswolsky gerichteten Schreiben des
französischen Ministerpräsidenten, worin er sagt, im Einver-
nehmen mit dem Ministerrat halte er es für angezeigt, „jetzt
schon gemeinsame Richtlinien festzulegen für den Fall, daß
Oesterreich territoriale Vergrößerungen anstrebe.""*) In Peters-
6S
) loc. cit. I., Nr. 210.
M
) loc. cit. I., Nr. 226.
Frankreich im Schlepptau Rußlands 41

bürg war man für diese, russischen Wünschen zuvorkommende


Initiative dankbar, bezeichnete jedoch die allgemeine Formel
„grundsätzliche* Feindseligkeit gegen jede Erwerbung türki-
schen Gebiets durch eine Großmacht" wegen der eigenen
Wünsche in der Meerengenfrage als „zu positiv".65)
Aus seinen Gesprächen am Quai d'Orsay gewann der
russische Botschafter immer mehr die Ueberzeugung von dev
Neuorientierung der französischen Politik, sodaß er am 7. No-
vember berichtete:
„Während bisher Frankreich uns erklärt hatte, daß
lokale, gewissermaßen ausschließlich den Balkan be-
treffende Ereisrnisse seinerseits nur diplomatische Maß-
nahmen und keinesfalls eine aktive Intervention veran-
lassen könnten, scheint es jetzt anzuerkennen, daß ein
Gebietserwe'rb Oesterreichs das allgemeine europäische
Gleichgewicht und damit die eigenen Interessen Frank-
reichs gefährden würde."6")
In den nächsten Tagen wurde Sasonow durch den franzö-
sischen Botschafter verständigt, daß die Stellungnahme Frank-
reichs, falls Oesterreich gegen Serbien vorginge, von der Hal-
tung Rußlands abhängig gemacht werde.67) Noch weiter aber
ging die Erklärung, die Poincaré am 17. November Iswolsky
machte:
„In einer Frage, in der Rußland der Hauptinteressent
isti kommt es Rußland zu, die Initiative zu ergreifen. Die
Rolle Frankreichs besteht darin, ihm den wirksamsten
Beistand zu leisten"
und er fügte hinzu:
„Schließlich kommt das alles darauf hinaus zu sageh,
daß wenn Rußland den Krieg macht, Frankreich ihn auch
machen wird."*8)
Am folgenden Tage wurde diese Zusage zwar dahin er-
läutert. daß Frankreich nur marschieren werde „wenn der durch
die Allianz vorgesehene Bündnisfall eintrete, das heißt, wenn
Deutschland mit den Waffen Oesterreich-Ungarn gegen Ruß-
land unterstützen würde". Diese Erläuterung enthielt aber
nicht die vom Bündnisvertrag vorgesehene Einschränkung
auf einen von Deutschland unterstützten A n g r i f f Oester-
reich-Ungarns gegen Rußland.68) Ebenso wurde am 20. No-
vember ohne solche Einschränkung dem italienischen Bot-
schafter mitgeteilt:
w
) „Livre Noir", I. S. 345.
66
ì loc. cit., S. 342; Siebert S. 575.
67
) „Affaires Balkanierues" I., Nr. 257.
") ..Livre Noir". L S. .346.
M
) Siehe Beleg Nr. 8, S. 188.
42 Frankreich kriegswilliger als Rußland

„Wenn der österreichisch-serbische Konflikt zum all-


gemeinen Kriege führen sollte, kann Rußland völlig auf
den bewaffneten Beistand Frankreichs zählen".70)
Es ist sicher kein Zufall, daß gerade in dieseh Tagen, am
22. und 23. November, auf französische Initiative der Brief-
wechsel Cambon-Grey stattfand, durch den die seit 1906 üb-
lichen Besprechungen der französischen und englischen
General- und Admiralstäbe durch ein von Poincaré im Früh-
jahr noch vermißtes (Seite 35) diplomatisches Abkommen
allgemeiner Art, wenn auch nur in der Form eines Notenaus-
tausches, ergänzt wurden,71) den Lloyd George am 7. August
1918 im Parlament als einen „Pakt" und auf Zwischenrufe als
eine „Ehrenverpflichtung" bezeichnete.
Nicht ohne Interesse ist auch eine Meldung der deutschen
Botschaft in Paris vom 11. November, daß nach Mitteilungen
eines durchaus verlässigen. Gewährsmannes der französische
Ministerpräsident seinen Ministerkollegen vertraulich die Not-
wendigkeit dargelegt habe,
„in dem Augenblick, wo ein kriegerischer Konflikt un-
vermeidlich werde, mit einem überraschenden Vorstoß
über unsere Grenzen den französischen Waffen einen
Vorsprung und den für das französiche Temperament
so wichtigen ersten moralischen Erfolg zu sichern. Zu
diesem Zweck müsse man sich des Zeitgewinns halber kühn
über konstitutionelle Bedenken hinwegsetzen und das Par-
lament, ohne es über Kriegserklärung zu befragen, vor ein
fait accompli stellen."71)
Diese spontanen Versicherungen der Bundestreue an
Rußland, die Mitteilung der Kampfbereitschaft Frankreichs an
Italien, das festere Knüpfen des Verhältnisses mit England
sind umso auffallender, als in Petersburg die Lage weit ruhiger
beurteilt wurde. Sasonow erklärte am 14. November: „Serbien
dürfe nicht hoffen, Rußland mit fortzureißen, das entschlossen
sei, es wegen eines serbischen Hafens an der Adria nicht zum
bewaffneten Konflikt kommen zu lassen" und am 18. No-
vember, er glaube nicht an eine unmittelbare Gefahr oder an
den Wunsch Oesterreichs nach einem Bruche, in Belgrad über-
treibe man die (militärischen) Vorbereitungen der Donau-
monarchie. Wenn er beunruhigt «ei, so sei er das im Gegenteil
nur „wegen der Schwierigkeiten der endgültigen Regelung und
der sehr lebhaften Empfindlichkeit eines Teiles der öffentlichen
Meinung". In Paris wurde aber die Notwendigkeit, in Belgrad
wegen der Stellungnahme Rußlands zum Nachgeben zu raten,
fast unangenehm empfunden, und der französische Vertreter
70
) ..Livre Noir«, I. S. 348.
") Englisches Blaubuch 1914. Nr. 105.
") Ungedruckte Akten des Deutschen Auswärtigen Amts.
Das Österreichiso,he BaJkanprogramm Ende 1912 43

angewiesen ,.die Ratschläge in freundschaftlichstem Sinne zu


formulieren, Rußland den Vortritt zu lassen und nichts zu
sagen, was den Glauben erwecken könnte, als ob die Haltung
Frankreichs die Ursache sei, daß Rußland Mäßigung em-
pfehle". 73 )
Die ruhige Auffassung Sasonows war durchaus gerecht-
fertigt. Denn Oesterreich hatte aus den Siegen der Balkan-
staaten mit Resignation die Folgerung gezogen „der Balkan
den Balkanvölkern". Die Aspirationen auf Saloniki, falls sie
überhaupt noch in einigen Kreisen bestanden, wurden end-
giltig begraben, als am 8. November die Griechen dort einzogen.
Das bescheidene, am 30. Oktober in Berlin und Rom mitgeteilte,
dort gebilligte und dann auch in den anderen Hauptstädten
bekannt gegebene Programm Berchtolds sah nur vor: Keine
Ausdehnung Serbiens bis zum Meer, Handelsabkommen mit
Serbien und Montenegro als Garantie für Verzicht auf eine der
Monarchie feindliche Politik, freie Entwicklung Albaniens, an-
gemessene Kompensationen für Rumänien, rein lokale Grenz-
berichtigungen in Bosnien, Erklärung Salonikis zum Frei-
hafen.74) Von diesen Forderungen kann nur der Widerstand
gegen eine serbische Gebietserweiterung bis zur Adria Be-
denken erregen. Doch war es neben der Schaffung eines
selbständigen Albaniens gerade dieser Punkt, der in Rom die
freudigste Zustimmung fand, da man dort eine Festsetzung
der Südslawen am Ostufer der Adria ebenso ungern sah wie
in Wien. Diese Uebereinstimmung erleichterte auch die Er-
neuerung des Dreibundes am 5. Dezember 1912, umsomehr als
Italien gegen Frankreich wegen der Ansammlung der gesamten
französischen Flotte im Mittelmeer und wegen der, durch
Waffenschmuggel der tripolitanischen Unternehmung be-
reiteten Schwierigkeiten verstimmt war. Die Geschäftigkeit
Poincares aber gegen die angebliche Absicht österreichischer
Gebietserweiterungen kann nur auf bösen Willen zurückge-
führt werden, denn schon Anfang November war das Berch-
told'sche Programm in Paris zur Kenntnis gebracht worden.
Gegenüber den nicht rückgängig gemachten nissischen
Heeresverstärkungen hatte man allerdings auch in Wien
Maßnahmen getroffen. Die Bestände der drei in Galizien ste-
henden Armeekorps sowie der Trappen an der Grenze Bosniens
wurden durch Einziehung von Reservisten und Ersatzres^r-
visten erhöht. Das waren die Anordnungen, die unrichtigcr-
weise in der Literatur und sogar in amtlichen Schriftstücken
als ..Mobilmachung" bezeichnet wurden. Auch die Wieder-
berufung des Generals Conrad von Hötzendorf an die Spitze
des Generalstabs war ein Schritt von politischer Bedeutung.
73
..Affaires Ralkanioues" T.. Nr. 258 und 260.
74
) loc. cit. I., Nr. 247.
44 Deutsche Mahnungen an Oesterreich

Was nun die Haltung des Berliner Kabinetts betrifft, so


stellte sich dieses keineswegs so bedingungslos in den Dienst
der Wiener Politik wie die französische Republik in den des
Zarenreichs, sondern übte sowohl in der Frage eines serbischen
Hafens an der Adria als auch in der Frage der Ausdehnung
Albaniens eine vermittelnde Tätigkeit aus. In Schreiben
Kaiser Wilhelms an das Auswärtige Amt vom 7., 9. und 11. No-
vember ist zu lesen:
,,Aus der Haltung der österreichischen Presse scheint
mir hervorzugehen, daß Oesterreich sich ernstlich dem
Versuch Serbiens widersetzen will, sich an der adriatischen
Küste festzusetzen. Serbien will auch ans Meer wie seine
Nlachbarn und wie schließlich alle sich erweiternden
Binnenlandsstaaten. Ich sehe absolut gar keine Gefahr»
für Oesterreichs Existenz oder gar Prestige in einem ser-
bischen Hafen an der Adria".
„Habe mit Reichskanzler eingehend gesprochen und
bestimmt erklärt, daß wegen Albanien und Durazzo ich
unter keinen Umständen gegen Paris und Moskau mar-
schieren werde".
..Der Dreibundvertrag sichert nur den gegenseitigen
wirklichen Besitzstand der drei Staaten, nicht aber ver-
pflichtet er zum bedingungslosen Mitgehen in Reibungen
im Besitz anderer. Der casus foederis tritt allerdings ein,
wenn Oesterreich von Rußland angegriffen wird. Aber nur
dann, wetin Oesterreich Rußland nicht zum Angriff pro-
voziert hat".75)
Auf einer Hofjagd in Springe bei Hannover am 22. No-
vember ,,wollte Erzherzog Franz Ferdinand dem deutschen
Kaiser die Notwendigkeit kräftigen Vorgehens gegen Serbien
beweisen, was der Kaiser nicht bestritt: er wünschte aber da-
bei das Unterlassen jeden Schritts, der den Bruch mit Rußland
zur Folge haben könnte".7')
Bei derselben Gelegenheit antwortete der Chef des deut-
schen Generalstabs, General von Moltke, dem österreichischen
Thronfolger auf die Frage, ob er einen Angriff Rußlands auf
Oesterreich als wahrscheinlich ansehe:
„Wenn Oesterreich den Krieg vermeiden will, so muß
es erstens den Kabinetten klar mitteilen, welche Forde-
rungen es an Serbien stellt, und wenn die sehr minimalen
Wünsche Oesterreichs bekannt gegeben würden, so wird
Oesterreich sicher die Sympathien der Mächte ge-
winnen. Sodann muß der Dreibundvertrag unter Zu-
") Ungredruckte Akten des Deutschen Auswärtigen Amts, mit-
geteilt im Prozeß Fechen-bach - Cossmann „Süddeutsche Monatsheft«"
Mai 1922. S. 99—101.
n
) Friedjung III., S. 228.
Französisch-russische Zeugnisse für Deutschlands Friedenswillen 45

rückstellung der Sonderwünsche Oesterreichs beschleunigt


erneuert werden. Das wird die Wirkung haben, daß
Rußland sich zurückhält".")
Der französische Gesandte in Belgrad berichtete am
27. Novetaber, man habe offiziös erfahren, daß die deutsche
Regierung sich bemühe „einen Kompromiß zwischen der in-
transigenten Haltung Serbiens und Oesterreichs ausfindig zu
machen".7") Der belgische Gesandte in Berlin, nicht mehr der
sehr deutschfreundliche Baron Greindl, sondern sein reser-
vierter Nachfolger Baron Beyens meldete drei Tage später:
„Es besteht kein Zweifel, daß der Kaiser, det Kanzler
und der Staatssekretär des Aeußern leidenschaftliche An-
hänger des Friedens sind".™)
Im Reichstage betonte der Reichskanzler am 2. Dezember,
daß wenn sich entgegen seinen Hoffnungen unlösbare Kon-
flikte ergäben, es Sache der direkt beteiligten Mächte sein
würde, ihre Ansprüche zur Geltung zu bringen, und fügte hin-
zu: „Wenn aber unsere Verbündeten bei Wahrung ihrer
Rechte gegen alles Erwarten von dritter Seite angegriffen und
in ihrer Existenz bedroht würden, werden wir getreu unserer
Pflicht uns mit festem Entschluß an ihre Seite stellen". Wegen
dieser letzten Worte versuchte Frankreich in London und
Petersburg gegen Deutschland zu hetzen, bei Grey nicht ganz
ohne Erfolg, Sasonow aber erklärte, es finde sich in der Rede
nichts, als was man Rußland schon gesagt habe, nämlich:
„Deutschland wird sich nur dann auf Seite Oesterreichs stellen,
wenn dieses angegriffen wird".80)
Ein unerwarteter Zeuge erstand endlich Deutschland in
der französischen Kammer während der Debatte über die
Kriegsschuldfrage am 6. Juli 1922 in Poincaré, der erklärte:
„Es steht außer Zweifel, daß während des ganzen
Jahres 1912 Deutschland aufrichtige Anstrengungen ge-
macht hat, um sich mit uns im allgemeinen Interesse
Europas und zur Erhaltung des Friedens zu vereinigen."81)
Eine unwürdige Insinuation war der nach einer Kunst-
pause gemachte Zusatz „es war noch nicht bereit", — den ur-
teilslosen Zuhörern entging der Mangel an Logik, daß Deutsch-
land nach Poincaré im Sommer 1911 einen Krieg gewollt habe,
zu dem es sich erst nach Ende des folgenden Jahres 1912 bereit
machte.
77
) Ungedruckte Akten des Deutschen Auswärtigen Amts.
78
) „Affaires Balkaniques" I., Nr. 296.
79
) Belgische Aktenstücke Nr. 96.
80
) „Affaires Balkaniques" I., Nr. 309 und IL, Nr. 8.
81
) „Journal Officiel" 6. Juli 1922, S. 2327, Sp. 1.
46

10. Der zweite Balkankrieg Februar bis Mai 1913.


Eine Machtverschiebung von weltgeschichtlicher Be-
deutung war in den Monaten Oktober und November 1912
im Südosten Europas vor sich gegangen. Die trotz mancher
Schwankungen im Grunde doch zu Deutschland hinneigeude
Türkei war fast völlig nach Kleinasien zurückgeworfen, der
siegreiche Bund von 15 Millionen Serben, Montenegrinern, Bul-
garen und Griechen riegelte die Mittelmächte zu Lande vom
Orient ab und brachte dem Dreiverband einen ansehnlichen
Kräftezuwachs. Als einziger, vielleicht nur vorübergehender
Ausgleich stand dem gegenüber, daß Italien wegen semer Ab-
neigung gegen südslawische Expansion sich Oesterreich und
Deutschland wieder näherte. Schon im September 1912 hatten
in Frankreich die Sachverständigen die Aussichten Rußlands
und Frankreichs im Falle einer allgemeinen Konflagration „mit
viel Optimismus betrachtet"; 82 ) wie günstig mußten sie jetzt
nach den unerwartet großen Erfolgen der russischen Hilfs-
truppen die Möglichkeiten eines Zusammenstoßes ansehen.
Galt doch in den Augen der Welt die Niederlage der Türkei
auch als eine Niederlage des deutschen Lehrmeisters, war doch
angeblich die Ueberlegenheit der französischen Geschütze über
das deutsche Artilleriematerial der Türketi unzweifelhaft er-
wiesen. Die kühnsten Hoffnungen der Panslawisten schienen
der Erfüllung nahe zu sein, die französischen Nationalisten sahen
den Tag der Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen in greif-
bare Nähe gerückt, wie der Royalist Graf de Mun in öffent-
licher Rede verkündete. Rußland und damit der gesamte
Dreiverband hatte in Teichem Maße seine Revanche für die
diplomatische Niederlage von 1909. Diesem Einfinden gab der
russische Botschafter in London Graf Benkendorff am 24. No-
vember mit folgenden Worten Ausdruck;
„Wenn ich mich nicht irre, so will mir scheinen, daß
die öffentliche Meinung in Rußland sich vor allem von dem
Gedanken einer Revanche für 1909 leiten läßt; ich selbst
hege dieses Gefühl zu sehr, als daß es mir erlaubt wäre,
ein derartiges Gefühl in Rußland abfällig zu beurteilen.
Aber es scheint mir auch, daß wir diese Revanche schon
in weitgehendem Maße erreicht haben."83)
Zur Wiederherstellung des Friedens traten in London unteT
dem Vorsitze Greys zwei Konferenzen zusammen, eine der
kriegführenden Staaten und eine Botschafterkonferenz, der die
bescheidene Aufgabe zufiel, die künftigen Grenzen Albaniens
festzusetzen und die Inseln des Ae'gäischen Meeres zu ver-
teilen. Ein beunruhigendes Moment war es, daß nicht nur,
wie selbstverständlich, die Armeen der Kriegsteilnehmer in
8a
) „Livre Noir" I., S. 326.
8S
) Siebert, S. 594.
Frankreich macht Rußland nervös 47

kampfbereitem Zustand verblieben, sondern auch Rußland und


Oesterreich die Erhöhungen ihrer Friedensstände nicht rück-
gängig machten. Besonders lebhaft beschäftigte man sich in
Paris auch während der Waffenruhe mit Kriegsgedanken. Um
Mitte Dezember hatte Rußland Serbien geraten, sich wegen
des Adriahafens der Entscheidung der Mächte zu unter-
werfen, Nikolaus II. hatte in bestimmtester Weise seinem Willen
zum Frieden Ausdruck gegeben, der russische Kriegsminister
war von der Aufrechterhaltung des Friedens so überzeugt, daß
er ins Ausland zu reisen beabsichtigte, der russische General-
stab erklärte, daß Oesterreich an der russischen Grenze nur
Verteidigungsmaßnahmen treffe, daß ein Angriff Oesterreichs
auf Serbien höchst unwahrscheinlich sei, und daß Rußland selbst
in diesem Falle nicht das Schwert ziehen werde. In Paris
aber rechnete man auf Grund alarmierender Berichte der Ver-
treter in Wien und Belgrad, die in London keinen Glauben
fanden, „ernstlich mit der Kriegsmöglicheit" und war über die
friedliche Auffassung an der Newa „höchst bestürzt und auf-
geregt", da man „vom kriegerischen Charakter der österreichi-
schen Vorbereitungen überzeugt war und eine Ueberrumpelung
Rußlands befürchtete, die ein militärisches Vorgehen Deutsch-
lands gegen Frankreich erleichtern würde".84) Als Iswolsky
auf seine Meldung vom 14. Dezember über diese Bestürzung
nicht sofort Antwort erhielt, meldete er vieT Tage später:
„Während noch vor kurzem die französische Regie-
rung und Presse geneigt waren, uns der Aufhetzung Ser-
biens zu beschädigen, und die dominierende Note lautete:
„Frankreich will nicht für einen serbischen Hafen Krieg
führen", betrachtet man jetzt mit Erstaunen und unver-
hüllter Besorgnis unsere Gleichgültigkeit gegenüber der
Tatsache der österreichischen Mobilmachung"
und er wiederholte, daß die' erwähnten Nachrichten aus Peters-
burg' bei Poincaré und allen Ministern „großes Erstaunen" her-
vorgerufen hätten. Er fügte hinzu, daß die französische Mo-
bilmachung an der Ostgrenze geprüft sei und das Kriegsmate-
rial bereit liege.86)
Die Nervosität Frankreichs übertrug sich nunmehr auch
auf Rußland. Sasonow drohte mit der Verstärkung der russi-
schen Armee, wenn Oesterreich seine „Mobilmachungsmaß-
nahmen" nicht zurücknehme, und erklärte, der Generalstab sei
zu weit gegangen, als er sagte, Rußland werde nicht Krieg
führen, auch welm Oesterreich Serbien angreife; so bestimmt
habe er sich nie' ausgesprochen. Am 23. Dezember erging
ferner eine Erklärung, daß die Neutralität Rußlands „nicht mehr
84
) „Affaires Balkaniques" II., Nr. 9—14. Ferner Iswolsky an
Sasonow am 14. Dezember 1912 „Süddeutsche Monatshefte", Juli 1922,
S. 207.
85
) ..Livre Noir" I., S. 369.
48 Rußland gegen österreichisch-serbische Aussöhnung

gewährleistet" sei, falls die Pforte nicht auf Adrianopel, Skutari


und Janina verzichte, eine Aeußerung, die später dementiert,
dann aber wiederholt wurde.66) Die anfängliche Zurückhaltung
Rußlands war freilich nicht in tiefwurzelnder Friedensliebe, son-
dern im Vertrauen auf noch günstigere Zukunftsaussichten be-
gründet gewesen. So hatten am 13. November 1912 die Ge-
sandten Frankreichs und Rußlands in Bukarest ihrem serbi-
schen Kollegen in der Frage des Ausganges zur Adria des-
halb zur Geduld geraten, weil es besser sei,
„daß Serbien, das mindestens zweimal so groß würde, als ea
bisher war, sich kräftige und sammle, um möglichst vor-
bereitet die gewichtigen Ereignisse abzuwarten, die unter
den Großmächten eintreten müßten".87)
So versicherte Sasonow am 27. Dezember dem serbischen
Vertreter in Petersburg
„er habe nach den großen Erfolgen Serbiens Vertrauen zur
Kraft Serbiens und glaube, daß es Oesterreich erschüttern
werde; deshalb solle Serbien sich mit dem begnügen, was
es bekommen werde, und dies nur als eine Etappe be-
trachten, denn die Zukunft gehöre Serbien".88)
Eine aufrichtige Versöhnung Oesterreichs mit Serbien
wünschte man in Petersburg trotz des Rates zur Nachgiebig-
keit wegen des Adriahafens nicht. Mit brutaler Offenheit sprach
das ein Bericht Benckendorffs vom 30. Oktober aus. Der Bot-
schafter erachtete1 insbesondere ein „als Bedingung auferlegtes"
Handelsabkommen — wie das in dem österreichischen Programm
vorgesehen war (S. 43) — als eine „mit den russischen Inter-
essen unvereinbare Kompensation", aber Rußland dürfe, so
sagt er weiter, nicht merkeh lassen, daß es diese Verständigung
nicht wünsche, denn
„wenn wir schon heute voraussehen lassen würden, daß
wir in Zukunft zu verhindern suchen werden, daß Oester-
reich sich in ökonomischer Hinsicht mit den vergrößerten
Balkanstaaten verständigt, wären die Rollen ausgewechselt.
Ich bezweifle, daß wir in diesem Falle eine wirkliche
Unterstützung bei den Westmächten finden würden. Denn
wenn eine ökonomische Verständigung zwischen suve-
ränen Staaten und entsprechend ihren gegenseitigen Inter-
essen in Zukunft der Gefahr eines europäische^ Krieges
vorbeugen kann, so scheint mir, daß eine derartige Ver-
ständigung sowohl von der öffentlichen Meinung als auch
von den Regierungen der Westmächte gebilligt werden
wird."8')
86
) „Affaires Balkaniques" II., Nr. 83, 34, 37, 39, 40, 45.
") Boghitsche witsch, S. 127.
») loe. cit., S. 128.
89
) Benckendorff an Sasonow am 30. Oktober 1912, Siebert, S.
559—60.
Poincaré Präsident der Republik 49

Mit großer Spannung sah die politische Welt um


die Jahreswende 1912/13 den Präsidentenwahlen in Frank-
reich entgegen, bei denen Poincaré kandidierte. Iswolsky
war von quälender Sorge erfüllt, denn eine Nieder-
lage des bisherigen Ministerpräsidenten bedeutete nach
ihm für Rußland „eine Katastrophe und den Beginn
einer neuen Aera von Combismus".9") Doch der treue Ver-
bündete wurde zwar am 16. Januar bei der Probeabstimmung
geschlagen, Tags darauf aber Dank der Unterstützung der
Royalisten gewählt. Diese Entscheidung war so viel wie ein
gefährliches Programm der Außenpolitik, nach Ansicht mancher
Franzosen sogar geradezu „der Krieg"."1) Der neue Staatschef
versicherte' dem Botschafter, daß er auch fernerhin die Be-
handlung der auswärtigen Fragen direkt beeinflussen könne, und
betonte,
„es sei für die französische Regierung von der größten
Wichtigkeit, die öffentliche Meinung im voraus auf die
Beteiligung auf den Krieg vorzubereiten, der wegen 1er
Balkanfrage entstehen könne"."'')
Iswolsky war nun sicher, daß während der kommenden
sieben Jahre nicht „Männer wie Caillaux, Cruppi, Monis usw.
an der Spitze der Regierung oder der politischen Leitung er-
scheinen würden". Unterredungen mit Poincaré und dem
Außenminister Jonnart gaben ihm die Gewißheit, daß das neue
Kabinet nicht nur die Bündnispflichten im ganzen Umfang er-
füllen werde, sondern daß es auch
„mit vollem Bewußtsein und aller nötigen Kaltblütigkeit
zugibt, daß das schließliche Ergebnis der gegenwärtigen
Verwicklungen vielleicht die Notwendigkeit der Teilnahme
Frankreichs an einem allgemeinen Kriege sei".93)
Am 18. Februar zog Poincaré ins Elysée ein, am 19. be-
schloß er die Abberufung des bisherigen, in beruhigendem Sinne
wirkenden Botschafters in Petersburg Georges Louis, der im
März Delcassé den Platz räumen mußte, ein Vorgang, der
nach dem belgischen Gesandten in Paris „wie eine Bómbe" ein-
schlug.") In einem besonderen persönlichen Schreiben an Ni-
kolaus H. empfahl der Präsident den neuen Vertreter, der das
Bündnis zwischen de* Republik und dem Zarenreich „noch fester
knüpfen" und insbesondere auf die „raschere Ausführung
einiger Eisenbahnlinien an der Westgrenze Rußlands" dringen
solle, von denen Poincaré schon im vorigen Sommer in Peter-

„Livre Noir" IL, S. 9.


91
) Gustave Dupin „Considérations sur les Responsabilités de la
Guerre" Paris 1921.
M
) „Livre Noir" IL, S. 15.
") loc. cit. IL, S. 20.
•*) Belgische Aktenstücke Nr. 99.
60 Frankreich auf der Londoner Konferenz (1918)

hof gesprochen habe, und die „infolge der großen Anstren-


gtrng, die Frankreich zum Zwecke der Aufrechterhaltung des
Gleichgewichts der europäischen Kräfte zu machen beabsich-
tige" — gemeint ist die Wiedereinführung der dreijährigen
Dienstzeit — noch nötiger geworden seien. )
Inzwischen waren die Arbeiten der beiden Londoner Kon-
ferenzen nicht vom Glück begleitet. Die Versammlung der
Kriegsteilnehmer fand schon am 7. Januar ein rasches Ende,
da die Türkei die Abtretung Adrianopels verweigerte, das Bul-
garien erhalten sollte, damit es Serbien in Mazedonien weiter
entgegenkomme, als die Verträge von 1912 vorgesehen hatten.
Diese Forderung wurde nun von der Botschafterkonferenz auf-
gegriffen, auch Deutschland schloß sich zögernd an, um die
Eintracht nicht zu stören. Schweren Herzens brachte die tür-
kische Regierung das Opfer, wurde aber deswegen von Enver
Bey gestürzt. Die Jungtürken erlangten wieder die Führung
und lehnten die Friedensbedingungen des Balkanbundes ab.
Am 3. Februar begann der zweite Balkankrieg.
Rußland ßah den Wiederausbruch der Feindseligkeiten nicht
gern, da es besorgte, die Bulgaren könnten doch noch in
Konstantinopel einziehen, das sie schon „Zarigrad" nannten.
Auch die Zusage König Ferdinands, er werde nur zwei Tage
dort verweilen, um den Wunsch von Heer und Volk wenigstens
in etwas zu befriedigen, genügte Sasonow nicht, sondern er
ließ dem bulgarischen Gesandten sagen, er brauche ihn nicht
zu besuchen, da seine Regierung doch tue, was ihr gut
dünke.") In ein merkwürdiges Licht wird hinge'gen die
Haltung Frankreichs auf der Londoner Konferenz durch einen
Bericht Benckendorffs vom 25. Februar gestellt, worin es u. a.
heißt:
„Während man sich darüber einig war, daß die Unter-
stützung Englands rein diplomatischer Art sein würde,
jedoch ohne Präjudiz für die schließlichen Folgen, war von
Frankreich keinerlei Vorbehalt dieser Art gemacht worden.
Das war so wenig der Fall, man darf sich darüber nicht
täuschen, daß so groß auch die kluge', obwohl niemals
rätselhafte Mäßigung Cambons in den Sitzungen war, er
sich in Wirklichkeit mehr nach mir als nach seinen eigenen
Eingebungen gerichtet hat; im Gegenteil, wenn ich alle
seine Unterredungen mit mir, die gewechselten Worte
überdenke und dazu die Haltung Poincar6s in Betracht
ziehe, so kommt mir der Gedanke, der einer Ueberzeugung
ähnlich ist, daß von allen Mächten Frankreich allein den
Krieg, um nicht zu sagen wünscht, doch ohne großes Be-
dauern sehen würde. Jedenfalls hat mir nichts angezeigt,
daß es aktiv zur Arbeit im Sinne eines Kompromisses
")
M jjLivre Noir« IL, S. 52—54.
) Friedjung HI., S. 241.
Delcassé über Kriegaziela (Frühjahr 1913) 51

beiträgt. Nun der Kompromiß ist der Friede, jenseits des


Kompromisses liegt der Krieg." . . .
„Die Lage, so wie ich sie beobachten konnte, scheint
miT zu sein, daß alle Mächte in der Tat für den Frieden
arbeiten. Aber von allen ist es Frankreich, das den Krieg
mit dem größten Gleichmut hinnehmen würde.'"7)
So urteilte der Bundesgenosse über das Auftreten Frank-
reichs in London. In Petersburg aber beschränkte sich Delcasse
nicht auf die Erörterungen über den Bau strategischer Eisen-
bahnen als Korrelat zur Wiedereinführung der dreijährigen
Dienstzeit, sondern er führte mit Sasonow auch "Verhandlungen
über die Ziele eines Krieges gegen Deutschland. Ein Tele-
gramm Iswolskys an Sasonow vom 13. Oktober 1914, das zu-
gleich die Absichten Frankreichs schon im dritten Monat des
Weltkrieges enthüllt, zu einer Zeit, da die französische Re-
gierung nach Bordeaux geflüchtet war, und Delcassß wieder
wie 1898—1905 an der Spitze der auswärtigen Geschäfte stand,
sagt darüber:
„Delcasse hat sehr oft und vollkommen offen mit Ihnen
gesprochen und hat sich überzeugen können, daß die von
Rußland und Frankreich verfolgten Ziele identisch sind.
Für sich selbst sucht Frankreich in Europa keine terri-
torialen Erwerbungen, mit Ausnahme natürlich der Rück-
erstattung von Elsaß-Lothringen. In Afrika erstrebt es
ebenfalls keine neuen Erwerbungen und wird sich damit
begnügen, die letzten Reste der Algecirasakte zu vernich-
ten und einige koloniale Grenzen zu berichtigen. Sodann
besteht das hauptsächlichste Ziel Frankreichs — und in
dieser Hinsicht sind alle drei verbündeten Mächte durch-
aus solidarisch — darin, daß das Deutsche Reich vernichtet
und die militärische und politische Kraft Preußens soviel
wie möglich geschwächt wird. Man muß die Sache so
machen, daß die einzelnen deutschen Staaten hieran selbst
interessiert sind."98)
Nach Einzelheiten über die zukünftige Gliederung Deutsch-
lands sowie' nach allgemeinen Andeutungen über die territorialen
Forderungen Rußlands und dessen Meerengenwünsche fuhr der
Botschafter fort:
„Hierbei berief sich Delcasse auf die Verhandlungen,
die in Petersburg im Jahre 1913 stattgefunden haben, und
bat inständigst, Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu
lenken, daß die Forderungen und Wünsche Frankreichs die-
selben geblieben sind, mit Ausnahme des notwendigen
t7
) „Livre Noir" II. S. 303—306.
") Iswolsky an Sasonow 13. Oktober 1914, Nr. 347, „Berliner Tage-
blatt« 28. Dezember 1922, Nr. 589.
4*
62 Deutach-engliache ZuBammenaxbeit in London

Wunsches, die politische und ökonomische Kraft Deutsch-


lands zu vernichten".
Mit viel weniger „Gleichmut" als in Paris stand man in
Berlin der Kriegsmöglichkeit gegenüber. Am 29. Januar, am
Tage, nach dem Bulgarien und Serbien den Waffenstillstand
mit der Türkei gekündigt hatten, sagte Reichskanzler von Bath-
mann Hollweg m einem Gespräch über das Los der Türkei zu
Jules Cambon:
„Wenn der Krieg in Europa ausbräche, würde es ein
entsetzliches Unglück für die ganze Welt sein mit Aus-
nahme von Japan und den Vereinigten Staaten, und die
Nachwelt würde uns alle als Narren ansehen, wenn es uns
nicht gelänge, ihn zu vermeiden".99)
Als Staatssekretär des Auswärtigen stand dem Kanzler
nach dem plötzlichen Hinscheidet Kiderlen Wächters seit An-
fang 1913 Herr von Jagow zur Seite, der mehr als sein Vor-
gänger zur „westlichen Orientierung" neigte. Die Verhand-
lungen mit England über die beiderseitigen Flottenstärken
scheinen infolge de'ssen lebhafter gefördert worden zu sein, da
Admiral von Tirpitz am 7. Februar im Reichstag erklärte,
Deutschland werde mit den Großkampfschiffen nicht über das
Verhältnis 10 :16 hinausgehen. Auf der Londoner Konferenz
ergab sich eine freundschaftliche deutsch-englische Zusammen-
arbeit im Interesse des Friedens. Grey wirkte mäßigend auf
Rußland, in Berlin waren nicht nur die politischen, sondern auch
die militärischen Kreise bestrebt, Wien von übereilten Schritten
abzuhalten. Anfang Februar schickte Herr von Bethmann dem
Chef des Generalstabs einen Brief des Herzogs Albrecht von
Württemberg, wonach der österreichische Thronfolger sich sehr
bestimmt gegen einen Krieg mit Serbien ausgesprochen hatte;
man gewinne im besten Falle nur unzuverlässige Untertanen
und „einen Haufen Zwetschgenbäume". General von Moltke
antwortete, diese Auffassung des Erzherzogs stimme mit früheren
Aeußerungen desselben überein, sogar der Ausspruch über die
Zwetschgenbäume sei ihm erinnerlich, und er schloß seih
Schreiben:
„Die Hauptaufgabe E. E. dürfte sein, nach Möglichkeit
österreichische Torheiten zu verhüten, keine angenehme und
keine leichte Aufgabe".100)
An seinen österreichischen Kollegen, General von Conrad,
schrieb Moltke um dieselbe Zeit, jederman würde es ver-
standen haben, wenn Oesterreich die Besetzung des Sandschaks
als casus belli angesprochen haben würde, ebenso wie jederman
es verstand, daß Oesterreich das Entstehen eines serbischen
M
} „Affaires Baücaniques" H, Nr. 90.
lo6
) Ungedruckte Akten <des Deutschen Auswärtigen Amts.
Moltke und Bethmann an Conrad und Berohtold 53

Kriegshafens nicht dulden konnte ohne Preisgabe vitalster


Interessen. Diese beiden Punkte seien indes jetzt erledigt. Der
Generalstabschef beurteilt zwar die allgemeine Lage pessimistisch
und glaubt an den über kurz oder lang kommenden europäischen
Krieg, auf deh sich vorzubereiten Pflicht sei, doch er fügt hinza:
„Der Angriff muß aber von den Slawen ausgehen".101)
Ebenso mahnte Bethmann am 10. Februar den Grafen
Berchtold, er halte eine gewaltsame Lösung in diesem Augen-
blick für
„einen Fehler von unermeßlicher Tragweite."102)
Oesterreich-Ungarn hatte inzwischen einen Schritt getan,
der Rußland weit entgegenkam. Als nämlich gegen Ende Januar
auf der Konferenz die Meinungsverschiedenheiten zwischen Wien
und Petersburg über das Albanien zuzuteilende Gebiet bedroh-
lich zu werden begannen, entschloß sich Kaiser Franz Josef, den
Prinzen Gottfried zu Hohenlohe mit einem persönlichen Schrei-
ben 7," Kaiser Nikolaus IT. zu senden, „um in Rußland die Miß-
verständnisse zu beseitigen, die, wie es scheint, anläßlich unserer
Politik im Entstehet begriffen sind, und den Fabeln ein Ende
zu bereiten, welche den guten Beziehungen, die zum Glück
zwischen unseren Ländern bestehen, schaden könnten".103) Die
Mission Hohenlohes führte nach unfreundlichem Anfang zu einer
Entspannung. Rußland gestand Albanien einige Ortschaften zu,
die Frage deT Rückführung der österreichischen und russischen
Heere auf normalen Stand kam in Fluß. Um diese Maßnahme
zu fördern, schrieb Kaiser Wilhelm am 20. Februar eigen-
händig dem österreichischen Thronfolger:
„Ich möchte glauben, daß Ihr die allmähliche Rück-
gängigmachung der getroffenen Maßnahmen unbedenklich
ins Auere fassen könntet, natürlich unter der Voraussetzung,
daß Rußland dasselbe tut. Das würde aber nach meinen
Nachrichten zweifellos auch eintreten. Vielleicht hat die
Mission von Hohenlohe in dieser Hinsicht schon die Wege
geebnet. Ich würde es sehr be'grüßen. Oesterreich-Un-
garn würde dadurch der Welt beweisen, daß es nicht
nervös ist, und zugleich die Sympathie aller auf seine
Seite ziehen".1®*)
Erzherzog Franz Ferdinand sprach sich zum deutschen
Militärattache Grafen Kageneck sehr befriedigt über das Nach-
101
) Wie Nr. 100, mitgeteilt im Prozeß Fechenbach-Coßmann.
J0ä
) Wie Nr. 100.
10a
) Brief Kaiser Franz Josef vom 1. Februar 1913, Boghitsche-
witsch, S. 139 f.
1M
) Friedjung III., S. 244, vermutlich nach österreichischen Akten.
Für „24." Februar dürfte „20." zu lesen sein.
64 Conrads Klagen über Deutschland

lassen der Spannung aus und wiederholte ihm sein politischas


Glaubensbekenntnis:
„Dreikaiserbündnis mit tunlichstem Anschluß Englands".10")
Der deutsche Botschafter von Tschirschky berichtete am
28. Februar:
„Ich benütze jede Gelegenheit, die sich mir bietet, und
ich sehe fast tätlich maßgebende Leute, um ihnen die Vor-
teile einer friedlichen Politik vor Augen zu führen. Ich
variiere dabei das Thema, daß die Idee der famosen „Ab-
rechnung" mit Serbien lediglich ein Ausdruck unbestimmter
Gefühle sei, daß man aber auf solche Gefühle ein© ge-
sunde Politik nicht gründen könne".108)
Wenn Herr Dumaine, der französische Kollegre Tschirschkys,
aus einer zwei Wochen später von diesem gemachten Aeußerung,
Oesterreich werde in der Frage von Skutari sicher nicht nach-
geben, den Schluß zieht, Deutschland werde Oesterreich, auch
wenn dieses wolle, nicht gestatten einzulenken,107) bo stellt diese
Insinuation die Verhältnisse geradezu auf den Kopf. Deutsch-
land war nicht der treibende, sondern der hemmende Faktor.
Der österreichische Generalstabschef beklagte sich wie früher,
so auch jetzt wieder über das „retardierende Element, daß von
Berlin ausgehe". So schreibt er in seinen Erinnerungen im
März 1913:
„Nicht nur der Kaiser, auch der Brief von General von
Moltke erweckt das Gefühl, daß man der abwartende, der
defensive Teil bleiben will."
„Seine Kaiserliche Hoheit (der Thronfolger) möge uich
nicht so sehr vom deutschen Kaiser beeinflussen lassen,
man hat uns 1909 zurückgehalten und fällt uns jetzt wieder
in den Arm".108)
Auf dem Kriegsschauplatz brachte der März den Verbün-
deten großen Gewinn durch den Fall der beiden Festungen
Janina und Adrianopel, aber zum Einzug der Bulgaren in Kon-
stantinopel, den sie jetzt nicht mehr durch Erstürmung der
Tschataldschalinie, sondern durch Vorgehen gegen die Halbinsel
Gallipoli anstrebten, kam es nicht. Der russische Protektor
würde seinem ehrgeizigen Schützling solchen Triumph auch
nicht gegönnt haben, sondern war entschlossen, in diesem Falle
seine Schwarzemeerflotte nach dem Bosporus zu schicken.19*)
Beiderseitige Kriegsmüdigkeit führte am 16. April zu neuem
Waffenstillstand.
105
) Ungedruekter deutscher MilitArbericht aus Wien.
10
") Uns-edrukte Akten des Deutschen Auswärtigen Amts.
107
) „Affaires Balkaniques" II., Nr. 160.
10s
) Feldmarschall Conrad „Aus meiner Dienstzeit" III., S. 167
und 169.
109
) „Affaires Balkaniques" n.. Nr. 193 und 220.
Die Einnahme von Skntari (April 1013) 56

Nur Montenegro setzte mit aller Kraft und mit Unter-


stützung eines serbischen Hilfskorps die viele Opfer fordernde
Belagerung von Skutari fort, obwohl die Stadt von der Bot-
schafterkonferenz Albanien zugesprochen worden war. Am
1. April hatten die Diplomaten in London sogar eine gemein-
same Flottendemonstration beschlossen, um dem von Grey im
Parlament als „verbrecherische Torheit" bezeichneten Gemetzel
ein Ende' zu machen. Doch Sasonow war zwar persönlich über
den Herrscher der Schwarzen Berge entrüstet, der „die Welt
in Brand setzen wolle, um seine Eier zu sieden", wagte ab9r
nicht, gegen den slawischen Staat vorzugehen mit Rücksicht
auf die öffentliche Meinung, die in Petersburg Kundgebungen
zu Gunsten der Gesandten Bulgariens und Serbiens sowie des
Großfürsten Nikolaus Nikolajewitsch, Schwiegersohnes des
Königs von Montenegro, veranstaltete. Infolge der Weigerung
Rußlands sträubte sich auch Frankreich gegen die Demon-
stration und konnte zur Teilnahme daran nur durch die Drohung
Greys bewogen werden, anderenfalls werde auch England seine
Schiffe nicht schicken, er selbst aber die Botschaftersitzungen
nicht mehr besuchen. Frankreich sabotierte dann schließlich
das Unternehmen durch die Forderung, daß nur eine „friedliche"
Blockade stattfinden dürfe. So (?estaüete sich die Versammlung
der Kriegsschiffe von fünf Großmächten an der Mündung der
Drina zu einer Komödie, die Montenegro nicht einschüchterte,
sondern lediglich Oesterreich durch eine Scheinkonzession die
Hände band. Die Beregnung der Festung nahm ihren Fortgang,
am 22. April mußte Skutari die weiße Flagge hissen.110)
Ein Jubelruf ging bei dieser Kunde durch alle slawischen
Lande mit Ausnahme Polens, nicht nur in Rußland, sondern
auch im Habsburger Staate selbst; man frohlockte über die
Demütigung und die Verlegenheit der Monarchie, die seit Ende
November ihre bewaffnete Macht im Südosten des Reichs bedeu-
tend verstärkt habe, aber wegen der Haltung des Dreiverbandes
nicht wage, davon Gebrauch zu machen. Nunmehr empfand
auch die Botschafterkonferenz die Lächerlichkeit der Lage und
forderte die Uebergabe Skutaris an die Flottenkommandanten.
Doch Montenegro trotzte ganz Europa, wohl wissen!, daß
Rußland und Frankreich innerlich auf seiner Seite standen. Da
ließ Graf Berchtold die Mächte wissen, wenn sie sich nicht zu
militärischen Maßregeln entschlössen, werde Oesterreich selbst-
ständig die Räumung Skutaris erzwingen. Auch Deutschland
erklärte am 28. April in London, Oesterreich habe seit Beginn
der Krise schon wichtigste Interessen der Aufrechthaltung des
europäischen Konzerts untergeordnet, die Mächte seien es daher
sowohl dem Donaustaate als ihrer eigenen Würde schuldig, dem
unerträglichen Zustand ein Ende zu machen. Wenn eine allge-
meine Aktion nicht zu erreichen sei, möge man Oesterreich und
110
) loc. cit. IL, Nr. 199, 205, 208, 209, 211, 218, 228, 265.
56 Montenegro räumt Skutari

Italien ein gemeinsames Mandat gegen Montenegro übertragen,


und wenn Italien das ablehne, Oesterreich allein.111) General
von Conrad verzeichnet während dieser Tage, daß der Erzherzog
Thronfolger am 27. April „umgestimmt, Kaiser Wilhelm aber
noch immer gegen den Krieg" gewesen sei. Am 2. Mai glaubt
er zwar „Deutschland hält absolut zur Monarchie und wäre für
die Austragung des großen Konflikts", muß aber schon am
übernächsten Tage erkennen, daß diese Stimmung vorüber
ist.1") Auch der französische Botschafter in Berlin berichtete
Ende April über den mäßigenden deutschen Einfluß auf das
Wiener Kabinett, das nunmehr zu Kompensationen an Montene-
giö bereit sei, sobald dieses Skutari geräumt habe."8) Ueber
die Gegenseite' aber meldete der serbische Gesandte in Paris,
daß nach Mitteilungen einer kompetenten Persönlichkeit man
schon Anfang April — sonach z. Z. der Verhandlungen über die
Flottendemonstration — unmittelbar vor der Gefahr eines
europäischen Krieges gestanden habe, und daß der Grund, wes-
halb dieser Krieg mit gewissen moralischen Opfern vermieden
worden sei
„u. a. auch auf den Wunsch zurückzuführen ist, den
Balkanverbündeten Gelegenheit zur Erholung, Sammlung
und Vorbereitung für Eventualitäten zu gewähren, die in
einer nicht fernen Zukunft eintreten könnten".11*)
Das wäre somit, falls die „kompetente Persönlichkeit" zu-
treffend unterrichtet war, wiederum nicht Gegnerschaft gegen
den Krieg, sondern nur Verschiebung des W&ffengangs auf
einen günstigeren Zeitpunkt eewesen. Einstweilen aber mußte
König Nikolaus einsehen, daß Oesterreich Ernst machen und
die anderen Mächte ihm Aktionsfreiheit gewähren würden. Er
lenkte daher endlich ein und räumte am 4. Mai Skutari, wobei
er deti Platz, um den Schein zu wahren, nicht an Oesterreich,
sondern an die Gesamtheit der Mächte tibergab. An demselben
Tage zogen die Serben von Durazzo ab, um die Monatsmitte
besetzte ein internationales Detachement Skutari, die Grenzen
Albaniens waren gesichert. Auch im Südosten der Monarchie
konnten nunmehr die österreichisch-ungarischen Truppen auf
Friedensfuß gesetzt werden.
Ein halbes Jahr, nachdem die Konferenz der Kriegführenden
zusammengetreten war, Ende Mai 1913, wurde in London endlich
der Erfolg erzielt, daß die Delegierten der Türkei und der Bal-
kanstaaten ihre Namen unter das Dokument der Friedensprä-
liminarien setzten. Bulgarien, dem die Festsetzung am Bosporus
verweigert worden war, hatte sich der Hoffnung hingegeben,
loc. cit. IL, Nr. 268.
"'I Conrad ITT., S. 275. 294 und 298.
113
) Jules Camhon an Pichón am 30. April 1913, „Affaires Bal-
kaniques" IT., Nr. 271.
Bericht vom 9. April 1918, Boghitschewitsch, S. 168.
Die Londoner Friedenspräliminarien (Mai 1913) 67

es werde wenigstens am Marmarameer Fuß fassen dürfen.


Doch Rußland und Großbritannien hatten es anders beschlossen.
Die Grenze der europäischen Türkei sollte von Enos an der
Aegäis nach Midia am Schwarzen Meere ziehen, sodaß beide
Ufer der Dardanellen und des Bosporus sowie des zwischen
beiden Engen liegenden Meeres in türkischeta Besitz blieben.
Die übrig'en Mächte waren einverstanden. Bulgarien gab nach,
da schon der Konflikt mit den anderen Verbündeten drohte.
Der Vorfriede legte nämlich nur die von der Türkei abzutreten-
den Gebiete fest, regelte' aber nicht deren Verteilung unter
die Sieger. Der bulgarische Delegierte beschränkte sich auf die
Erklärung, die Grenze solle etwas vorgeschoben werdet, Im
Süden bis zum Kap Iwridje (40 km östl. Enos); doch Rußland
wollte nicht, daß die Bulgaren der türkischen Hauptstadt so
nahe kämen.1")
Um das Bild der großen Aufregung zu vervollständigen,
die während deT ersten Monate des Jahres 1913 Europa in Atem
hielt, muß noch daran erinnert, werden, (Laß gleichzeitig in
Deutschland und Frankreich die großen Rüstungsvorlagen, über
die im 15. Kanitel gesprochen werden wird, in den Parlamenten
verhandelt wurden und zu einer äußerst heftigen Zeitungs-
fehde von Land zu Land Anlaß gaben.

11. Der dritte Balkankrieg Sommer 1913.


Nach der Zertrümmerung der europäische^ Türkei konnten
die Wünsche der Bulgaren und Griechen nach nationaler Voll-
endung in den eroberten Gebieten ihre Befriedigung finden, die
der Serben und Rumänen aber zielten nicht nur dorthin gegen
Süden, sondern vor allem nordwärts (Serbien) und westwärts
(Rumänien) nach der österreichisch-ungarischen Monarchie; der
serbische Antteil an der türkischen Erbschaft war zudem durch
die nicht nur von Oesterreich, sondern auch von Italien ge-
wünschte Schaffung Albaniens stark beschnitten. Da nun die
Stunde der von der slawischen Welt mit Ausnahme der Polen
ersehnten Auflösung des Habsburger Reichs noch nicht ge-
schlagen hatte, suchten Serben und Rumänen einstweilige Ent-
schädigung in südlicher Richtung, auf Kosten Bulgariens. Ru-
mänien, bisher passiver Zuschauer am Kampfe, verlangte als
Kompensation für die' Vergrößerung der übrigen Balkanstaaten
einen Streifen auf dem rechten Ufer der Donau. Serbien forderte
die Abänderung des Vertrags von 1912 (Seite S7 ff.), der Bul-
garien fünf Sechstel von Mazedonien zugesprochen hatte. Auch
Griechenland erhob Anspruch auf diese von hellenischen und
serbischen Truppen eroberte und besetzte Landschaft, in der
seit Jahrhunderten griechische, serbische und bulgarische
Volkssplittet bis zur Unentwirrbarkeit durcheinander ge-
lle
) ff air es Balkaniques" II., Nr. 308.
58 Rußlands Versprechungen an Serbien

würfelt waren. Bulgarien hingegen bestand auf dem Wortlaut


des Teilungsvertrags, der unter anderer Voraussetzung, näm-
lich ohne Rücksicht auf Albanien, abgeschlossen war, und dessen
genaue Durchführung ihm unter den neuen Verhältnissen den
Rang als Vormacht auf dem Balkan gesichert hätte. So ent-
stand folgende Gruppierung: Serbien, Griechenland und Ru-
mänien gegen Bulgarien.
Schon gegen Mitte April 1913, sechs Wochen vor Unter-
zeichnung der Londoner Präliminarien, war die Spannung
zwischen beiden Gruppen sehr scharf geworden. König Fer-
dinand wandte sich um diese Zeit an den Zaren mit der Bitte
um baldigen Schiedsspruch. In Petersburg sah man den Balkan-
bund bedroht, die Frucht der diplomatischen Arbeit der letzton
Jahre' vernichtet, und suchte den Bruderstreit zu schlichten. Da-
bei wurde auf Serbien besonders mit dem Hinweis eingewirkt,
daß ihm doch bald Teile des morschen Donaustaates zufallen
müßten. In diesem Sinne schrieb Sasonow am 6. Mai dem
Gesandten Hartwig:
„Serbien hat erst das erste Stadium seines historischen
Weges durchlaufen. Zur Erreichung seines Zieles muß es
noch einen furchtbaren Kampf aushalten, bei dem seine
ganze Existenz in Frage gestellt ist".
„Serbiens verheißenes Land liegt im Gebiet des
heutigen Oesterreich-Ungarns und nicht dort, wohin es
jetzt strebt, und wo auf seinem Wege die Bulgaren stehen.
Unter diesen Umständen ist es ein Lebensinteresse Serbiens,
einerseits die Bundesgenossenschaft mit Bulgarien zu er-
halten, und andererseits sich in zäher und geduldiger Ar-
beit in den erforderlichen Grad der Bereitschaft für den
in der Zuknnft unausweichlichen Kampf zu versetzen. Die
Zeit arbeitet für Serbien und zum Verderben seiner
Feinde, die schon deutliche Zeichen der Zersetzung auf-
weisen."118)
Eine Woche später telegraphierte der serbische Gesandte
in Petersburg:
„Wiederum sagte mir Sasonow, daß wir für künftige
Zeiten arbeiten müssen, da wir viel Land von Oe'sterreich-
Ungarn bekommen werden. Ich entgegnete ihm, daß wir
Monastir (Bitolia) gerne den Bulgaren geben werden, wCnn
wiT Bosnien und andere Länder Oesterreichs bekommen".117)
Doch Serbien wollte sich nicht ausschließlich auf die Zu-
kunft vertrösten lassen. Ministerpräsident Paschitsch, der Nach-
folger de's im Juli 1912 verstorbenen Milowanowitsch, legte Ende
Mai diesen Standpunkt nicht nur in Petersburg dar, sondern
lla
) „Deutschland schuldig?", S. 99.
"') Boghltschewitsch, S. 129.
Bulgarien gegen Serbien nnd Griechenland 59

auch in öffentlicher, die Brücken zum Rückzug abbrechender


Rede und schloß ein Bündnis mit Griechenland gegen Bulga-
rien. Eine Zusammenkunft des serbischen und bulgarischen
Kabinettschefs Anfang Juni brachte keinen Ausgleich der
Gegensätze. Da ließ der Zar die Ministerpräsidenten der vier
Balkanstaaten nach Petersburg laden, um seine Entscheidung
entgegenzunehmen, obwohl nur Bulgarien und SeTbien ihn im
voraus als Schiedsrichter anerkannt hatten. Auch diese nahmen
nur mit dem Vorbehalt einer kriegerischen Entscheidung zur
Wahrung ihrer Interessen an, Griechenland wünschte die Bei-
ziehung einer zweiten Macht zum Schiedsamte.118) Die Sorge in
Petersburg wuchs. Ein Sieg Bulgariens auch gegen ein mit
Griechenland verbündetes Serbien wurde von russischen Sach-
verständigen für möglich gehalten, eine zu weitgehende Er-
starkung des selbstbewußten Staates, dessen Ansprüche auf tür-
kisches Gebiet man schon als den russischen Interessen gefähr-
lich bekämpft hatte (Seite 57) war nicht erwünscht,, in den
Augen von Männern wie Hartwig würde eine Niederlage Ser-
biens in diesem Kampfe sogar „eine Katastrophe für den
Panslawismus" bedeutet haben."^ Vergeblich hatte König
Ferdinand nach dem Scheitern der Besprechung von Anfang
Juni gehofft, durch Berufung des unbedingten Russenfreundes
Danew an die Spitze des Ministeriums, Rußland der Sache
Bulgariens geneigter zu machen. Der Zar bestand auf dem Er-
scheinen in seiner Hauptstadt. Paschitsch war schließlich dazu
bereit, auch Danew entschloß sich nach langem Schwanken zur
Reise, die jedoch infolge eines anscheinend hinter seinem
Rücken gefaßten Entschlusses hinfällig wurde.

Da nämlich damit gerechnet werden mußte, daß außer


Serbien und Griechenland auch Rumänien und die Türkei die
Waffen gegeh Bulgarien ergreifen würden, reifte bei den Gene-
ralen König Ferdinands der von diesem genehmigte tollkühne
Plan, durch rasche Offensive gegen die früheren Verbündeten
die Arme frei zu bekommen für den Kampf gegen die neuen
Feinde'. Am Abend des 29. Juni griffen die Bulgaren an, mit
halbem Entschlüsse, auf Grund unklaren Befehls. Das
Schlachtenglück entschied gegen sie. Die gleichfalls zum Los-
schlagen bereiten und entschlossenen Serben warfen sie fron-
tal zurück, von Süden bereitete sich eine vernichtende Um-
klammerung durch die Griechen vor. Rußland, das noch im
September 1912 in Bukarest hatte wissen lassen, daß es im
Falle eines rumänisch-bulsrarischen Zusammenstoßes nicht un-
beteiligter Zuschauer bleiben könne, ließ nunmehr trotz des
Vertrags mit Bulgarien von 1909 (Seite 22) dort wissen, daß
es „unter den gegebenen Verhältnissen Bulgarien nicht bei-

u ") Friedjung HL, S. 291 ff., „Affaires Balkaniques« IL, 332—334


uo) loc. cit. II.. Nr. 326 und 345.
60 Der Friede von Bukarest (10. August 1913)

stehen werde"."0) Am 11. Juli überschritten die Rumänen


Grenze und Donau zum Vormarsch auf Sofia. Auch die Türken
setzten sich in Bewegung und rückten am 22. in das von den
Bulgaren eilig geräumte Adrianopel ein.
Von vier Seiten bedrängt, mußte Bulgarien, das vor
einem halben Jahre von einem großen Reich mit der
Herrschaft über den Bosporus geträumt hatte, seine
Fahnen einrollen. Auf die Bitte König Ferdinands ver-
mittelten Oesterreich und Rußland einen Waffenstillstand,
der am 30. Juli vereinbart wurde. Der am 10. August von den
fünf Balkanstaaten unterzeichnete Friede von Bukarest beraubte
das durch übergroßen Ehrgeiz ins Verderben gestürzte Land des
größten Teiles seiner Eroberungen. Während Serbien und
Griechenland ihre Bevölkerung um etwa je Millionen Ein-
wohner vermehrten, erhöhte Bulgarien die seinige nur um oin
Drittel dieser Zahl. An der Küste der Aegäis blieb ihm nichts
als ein schmaler Streifen. Vergeblich bemühte es sich, wenigstens
den Hafen von Kawalla zu erhalten. Anfangs trat hierfür außor
Oesterreich auch Rußland ein, das trotz seiner Vorliebe für
Serbien doch Bulgarien nicht zu sehr schwächen lassen wollte.
Deutschland aber sprach für Griechenland, ebenso Frankreich,
das die Rücksicht auf Rußland vor der Sorge zurückstellte,
Deutschland könne ihm in Athen den Rang ablaufen.1") Es
mutet heute merkwürdig an, daß am 5. August 1913 cW
deutsche Staatssekretär die Hoffnung ausdrückte, daß die
deutsch-französische Lösung von den beteiligten Ländern ange-
nommen werde, und mit leichter Ironie die Erwartung hinzu-
fügte, daß „Oesterreich und Rußland, diese neuen Freunde, sich
mit der vollendeten Tatsache abfinden werden". Kurz vor der
Unterzeichnung schwenkte Rußland um, Italiens Stellung war
unentschieden, Oesterreich stand allein auf Seite Bulgariens.1'5)
Die Kabinette von Berlin und Wien waren überhaupt in
diesem Jahre in den Balkanfragen nicht immer einig gegangen.
Bei einer Zusammenkunft im März entwickelte Jagow den
Plan, Rumänien, die Türkei und Griechenland deh Mittel-
mächten zu nähern, auch Serbien möglichst entgegenzukommen,
das unlösbar an Rußland gebundene Bulgarien aber fallen zu
lassen. Berchtold hingegen war der Meinung, Bulgarien sei der
russischen Vormundschaft müde und zum Anschluß an die
Mittelmächte reif, während Serbien gegenüber die Monarchie
an der Grenze des Entgegenkommens angelangt wäre. Ein
nahes Verhältnis zu Griechenland sei zwar erwünscht, dieses
Land aber wegen Albaniens mit Italien verfeindet, so daß
Schwierigkeiten bestünden, gleichzeitig mit Italien und
Griechenland auf gutem Fuß zu bleiben. Als dann Anfang
12
°) Siehe Bele? Nr. 9. S. 189.
m
) Affaires Balkaniques" IT., Nr. 441 und 467.
1M
) loc. cit. II., Nr. 452, 456 und 462.
Meinungsverschiedenheiten Berlin-Wien 61
Mai Montenegro mit Unterstützung Serbiens wegen Skutaris
einen Weltkrieg zu entfesseln bereit war, gab Jagow zu, daß von
österreichischer Seite die serbisch-montenegrinische Politik
richtiger beurteilt worden war.123)
Auch im rumänisch-bulgarischen Konflikt stimmten die
Ansichten von Berlin und Wien nicht überein. Rumänien hatte
ja schon am ersten Balkankrieg teilnehmen wollen, damit
nicht Bulgarien die Vormacht auf dem Balkan werde. Den
Mittelmächten g'elang es, diese Teilnahme durch das Ver-
sprechen zu verhindern, Bulgarien werde Rumänien eine ge-
nügende Kompensation gewähren. Dank dieser Zusage
konnten Anfang Februar 1913 die rumänischen Verträge mit
dem Dreibund erneuert werden. Da abet die deutsch-österrei-
chischen Bemühungen in Sofia erfolglos blieben, gewann man
in Bukarest die von französischer Seite eifrig geiörderte Em-
pfindung, daß man vom Dreibund wenig Vorteil habe, und
wendete sich nach Petersburg. Eine Botschafterkonferenz in
der Hauptstadt des Zaren beschloß auch, daß Silistria mit Um-
gebung an Rumänien abgetreten werden solle."4) Als nun Bul-
garien dauernd unnachgiebig blieb, wurde man in Berlin dar-
über sehr unwillig und nahm völlig für Rumänien Partei. Das
Wiener Kabinett aber arbeitete trotzdem weiter an deT Vermitt-
lung zwischen Bukarest und Sofia in der Hoffnung, daß es doch
noch gelingen werde, über Rumänien und Bulgarien die Land-
verbindung mit der Türkei herzustellen und dadurch Serbien
im Zaum zu halten. Der Starrsinn König Ferdinands machte
diesen Plan zu Schanden.
Die größte Meinungsverschiedenheit zwischen der WllheLm-
straße und dem Ballhausplatz aber ergab sich, als nach dem
Scheitern des bulgarischen Angriffs auf die serbischen Linien
ein Telegramm des deutschen Botschafters in Wien von
Tschirschky vom 3. Juli eintraf:
„Graf Berchtold bat mich heute zu sich. Der Minister
sagte, er halte es für seine Pflicht, die deutsche Regierung
über den Ernst der Lage für die Monarchie nicht im Un-
klaren zu lassen. Die Südslawenfrage — d. h. der unge-
störte Besitz der von Südslawen bewohnten Provinzen —
sei eine Lebensfrage für die Monarchie wie auch für den
Dreibund. Gegenüber einein am Balkan übel-mächtigen
Serbien würden die südslawischen Provinzen der Monarchie
nicht zu halten sein, darüber seien hier alle maßgebenden
Faktoren einig. Die Monarchie würde demgemäß möglicher-
weise gezwungen werden, einzugreifen, falls Serbien im

"') Die Angaben tiber einen Gedankenaustausch Jagow-Berchtold


im März 1913 nach Friedjung III., S. 275, der vermutlich aus öster-
reichischen Akten schöpft.
1M
) „Affaires Balkamques" n., Nr. 239 und 297.
62 Die mißverstandenen Enthüllungen Giolittia

Verein mit Rumänien und Griechenland Bulgarien vernich-


tend schlagen und Serbien sich Länderstrecken aneignen
würde, die über das Gebiet etwa Altserbiens hinausgingen.
Monastir könne keinenfalls Serbien überlassen bleiben.
Auf meine Frage, wann und wie er sich das Ein-
greifen denke, bemerkte' der Minister, der psychologische
Moment werde wohl gefunden werden können. Ueber die
Art und Weise des Einschreitens könne er jetzt natürlich
sich noch nicht äußern, das werde von den Umständen
abhängen. Er denke sich, daß es wohl mit einer diploma-
tischen Konversation in Belgrad zu beginnen haben werde,
die, falls ohne Resultat, militärischen Nachdruck erhalten
müßte. Trete Rußland dann auf den Plan, so würde da-
mit die Aktion nach Petersburg verlegt sein.
Der Minister betonte nochmals, er hoffe, man begreife
in Berlin die Zwangslage der Monarchie. Weit ehtfernt da-
von, eine abenteuerliche oder eine Eroberungspolitik treiben
zu wollen, habe sie nur die Wahrung ihres südslawischen
Besitzstandes im Auge, der ja auch Triest mit einschließe.
Ein kleines, von dem Feinde geschlagenes Serbien sei ihm
natürlich die angenehmste Lösung der Frage, die er einer
eventuellen Besetzung Serbiens seitens der Monarchie bei
weitem vorziehen würde. Aber wenn die erstere Alternative
nicht eintreten sollte, so werde die Monarchie eben handeln
müssen, um ihren Besitzstand zu wahren. Ueber die Ge-
fährlichkeit eines großen, militärisch ins Gewicht fallenden
„Piemont" an den Grenzen der Monarchie dürfe man sich
keiner Täuschung hingeben.
Graf Berchtold wird heute abend eine Besprechung
mit dem Getieralstabschef haben und morgen nach Ischl
reisen."
In Berlin war man mit dem Plane durchaus nicht einver-
standen und sandte dem Botschafter umgehend nachstehende
Weisung:
„Zur Orientierung und Regelung der Sprache. Der
Gesandte im Allerhöchsten Gefolge war beauftragt worden,
E. E. Telegramm Nr. 162 S. M. vorzutragen und dabei
folgenden Standpunkt zu vertreten: Zu besonderer Nervosi-
tät liegt für Wien vorläufig wohl kaum Anlaß vor, da von
Gefahr eines Großserbiens schwer schon gesprochen werden
kann. Unsere Aufgabe dürfte es sein, auf Wien beruhigend
einzuwirken, es von Ueberellungen abzuhalten und zu ver-
anlassen, daß es uns über seine Absichten ständig auf dem
Laufenden hält und keinerlei Entschlüsse faßt, ohne uns
vorher gehört zu haben. Herr von Treutier meldet: S. M.
billigt die von E. H. festgelegten Richtlinien, hält es aber
Berlín gegen den Plan Berchtolds (Juli 1918) 63

für einen schweren Fehler des Grafen Berchtold, sich jetzt


mit Monastir ähnlich wie früher mit Durazzo festzulegen."1"4)
Da sich Marquis von San Giuliano gerade in Deutschland
befand, wo er mit Herrn von Jagow am 2. Juli eine Besprechung
in Kiel hatte, antwortete Italien erst eine Woche später als
Deutschland, und zwar ebenso ablehnend wie dieses."") Berch-
told verzichtete daraufhin auf die übereilte Aktion.
Dieser Zwischenfall wird in den Ententeländern trotz mehr-
facher zutreffender Veröffentlichungen von deutscher und öster-
reichischer Seite immer noch völlig unrichtig dargestellt, als ob
Deutschland damals dem Wiener Plane zugestimmt habe, der
nur durch den Einspruch Italiens verhindert worden sei. Diese
Verleumdung stützt sich auf die sogenannten „Giolittischen Ent-
hüllungen". Am 5. Dezember 1914 gab nämlich der frühere
italienische Ministerpräsident in der Kammer folgende Erklä-
rung ab:
„Im Laufe des Balkankrieges, genauer am 9. August 1913,
empfing ich während meiner Abwesenheit von Rom von meinem
Kollegen, dem Onorevole di San Giuliano, folgendes Telegramm:
„Oesterreich hat an uns ebenso wie an Deutschland seine
Absicht mitgeteilt, gegen Serbien vorzugehen, und es bezeichnet
diese Aktion als eine defensive Maßnahme, in der Hoffnung, für
den Dreibund den Bündnisfall (casus foederis) in Anwendung
zu bringen, den ich für unanwendbar halte. Ich suche mit
Deutschland Bemühungen zu vereinbaren, diese österreichische
Aktion zu verhindern; es könnte jedoch nötig werden, klipp und
klar zu erklären, daß wir diese eventuelle Aktion nicht als
defensiv betrachteten und wir daher nicht glaubten, daß der
Bündnisfall vorliege. Ich bitte Dich, mir nach Rom zu telegra-
phieren, ob Du damit übereinstimmst!"
Ich antwortete folgendermaßen:
„Wenn Oesterreich gegen Serbien vorgeht, so liegt offen-
sichtlich der Bündnisfall nicht vor. Es ist eine Aktion, die es
für seine eigene Rechnung unternimmt, denn ©ine Verteidi-
gung kommt gar nicht in Frage, da niemand daran denkt, es
anzugreifen. Es muß das Oesterreich in ausgesprochenster Form
erklärt werden, und es ist zu wünschen, daß Deutschlands Ein-
fluß Oesterreich von diesem gefährlichen Abenteuer abhalte!""7)
Diese Erklärung behauptet also durchaus nicht, daß
Deutschland damals einem Angriff Oesterreichs auf Serbien zu-
gestimmt habe, sondern sagt nur, Italien habe sich mit Deutsch-
land verständigen wollen, um Oesterreich zurückzuhalten, und
12S
) Beide Telegramme nach Akten des Deutschen Auswärtigen
Amts vom Verfasser veröffentlicht in der „Deutschen Allgemeinen Zei-
tung uvom 7. März 1920, Nr. 123.
3 Pribam I., S. 301 f.
" 7 ) Anhang zum serbischen Blaubuch.
04 Oesterreich allein gegen den Bukarester Frieden

dabei auf den wirksamen Beistand Deutschlands gerechnet. In


Wirklichkeit liegt die Sache, wie aus der oben angeführten Wei-
sung an Tschirschky hervorgeht, noch günstiger für Deutsch-
land, da dieses sofort aus eigener Initiative, ohne sich vorher
mit Italien in Verbindung zu setzen, eine sehr schroffe Absage
erteilt hat. Ein schwer verständlicher Irrtum ist es, daß Gio-
litti den Vorgang vom Juli in den August verlegt."") Anfang
August war ein deutsch-österreichischer Plan, Bulgarien durch
einen österreichischen Angriff auf Serbien zu entlasten, erat
recht ausgeschlossen, einmal deshalb, weil schon am 30. Juli
die Feindseligkeiten eingestellt worden waren, ferner deshalb,
weil in der Frage von Kawalla Deutschland nicht für, sondern
gegen Bulgarien Partei nahm. Der Vorgang, auf den Giolitti
6ich bezog und den er persönlich auch gar nicht gegen Deutsch-
land ausbeutete, beweist das genaue Gegenteil von dem, was d;e
feindliche Kriegspropaganda daraus gemacht hat. Die Wahrheit
ist, daß Deutschland im Juli 1913, wie schon so oft früher, das
Schwert Oesterreichs in der Scheide gehalten hat. Ueber die
damalige, sehr verschiedene Haltung der Mittelmächte liegen
auch französische Zeugnisse vor. So schilderte der Gesandte
der Republik in Belgrad am 24. Juli die gegensätzliche Auf-
fassung seines deutschen und österreichischen Kollegen über
die serbischen Siege und bemerkte dazu, daß „der von Deutsch-
land peinlich eingehaltene Grundsatz der Nichtintervention
dieser Macht den Beginn einer Beliebtheit verschaffe, die mit
dem Mißtrauen gegen Rußland zunehme". Eine Woche später
schrieb Delcassö aus Petersburg, Graf Pourtalfcs spreche über
Oesterreich „mit einer Gereiztheit, die er immer weniger zu ver-
bergen sich bemühe".1")
Der Friede von Bukarest bestimmte Grenzen, die vom natio-
nalen wie vom geographischen Standpunkt gleich unbegründet
waren. Oesterreich und Rußland dachten an Revision, allerdings
auB verschiedenen Gründen, Oesterreich wünschte Aenderung
der serbisch-bulgariBchen, Rußland der griechisch-bulgarischen
Grenze.1*") Rumänien wehrte sich lebhaft dagegen, wori'if
Rußland seinen Wunsch zurückzog. Abermals blieb Oesterreich
grollend allein. In Berlin war man anderer Ansicht als in
Wien,m) da man die Beziehungen zu Rumänien und Griechenland
besonders pflegen wollte. Wilhelm II. bekundete das deutlich
durch die Ernennung König Konstantins zum deutschen General-
feldmarschall und in einer für Oesterreich besonders peinlichen
Weise durch ein Glückwunschtelegramm an König Karol. Die
Verstimmung zwischen Berlin und Wien ging damals so weit,
1M
) Giolitti hält diesen Irrtum auch aufrecht in seinem Buch
,Denkwürdigkeiten meines Lebens", deutsche Ausgabe S. 218.
"") „Affaires Balkaniques" II., Nr. 422 und 438.
"*)
131
loc. cit III., Nr. 7.
) loc. cit. EL,. Nr. 466.
Frankreich verzichtet nicht anf Elsaß-Lothringen 65

daß die OesterreicheT keine Abordnung zu den deutschen


Kaisermanövern schicken wollten.132) Alle diese V orgänge fallen
in die erste Hälfte August und sind ein weiterer Beweis für
die Unmöglichkeit der aus den Mitteiltingen Giolittis fälschlich
gezogenen Schlußfolgerung, Deutschland habe in jenen Tagen
einem österreichischen Angriff auf Serbien zugestimmt. Be-
zeichnend für die allgemeine Haltung der deutschen Politik ist
ferner, daß Sasonow am 28. Juli die englische Anregung,
Deutschland und Rußland sollten sich über Zwangsmaßnahmen
gegen die Türkei zur Räumung Adrianopels verständigen, mit
folgenden Worten ablehnte:
„Wie kann Sir E. Grey auf den Gedanken kommen
zu wünschen, daß wir eine Unterhaltung mit Deutschland
beginnen? Das ist ja gerade, was Deutschland wünscht.
Kein Tag vergeht, ohne daß es uns auffordert, zum „Drei-
kaiserbund" zurückzukehren, aber wir Russen gehören zum
Dreiverband und nicht zum Dreibund."133)
Für die Auffassung in Frankreich jedoch ist charakteri-
stisch, daß es im November in der Frage der türkischen Finanzen
und der Bagdadbahn die Verhandlungen mit Deutschland voll-
kommen auf das wirtschaftliche Gebiet beschränken will und
entschlossen ist
„unbedingt ein Abkommen allgemeiner Art zu ver-
meiden, das von der öffentlichen Meinung als die Sanktion
des gegenwärtigen Zustandes, folglich als der endgültige
Verzicht Frankreichs auf die 1870 verlorenen Provinzen,
angesehen werden könnte".134)
Nach dem Bukarester Frieden trat noch lange nicht Ruhe
aut dem Balkan ein. Friede mit der Türkei wurde erst ge-
schlossen von Bulgarien End© September, wobei es auch auf
Adrianopel verzichten mußte, von Serbien erst Mitte März des
folgenden Jahres, während Griechenland trotz eines vorläu-
figen Vertrags im November überhaupt zu keiner endgültigen
Vereinbarung mit der Pforte gelangte, sodaß noch im Juli
1914 eine Wiederaufnahme der Feindseligkeiten als möglich
galt. Die Serben waren äußerst säumig bei Räumung Alba-
niens, steckten dort nach französischen Berichten die Dörfer
in Brand und machten die muselmanische Bevölkerung nieder.
Der Gesandte in Wien suchte die widerrechtliche Okkupation
mit einer „kompromittierenden Initiative" der Militärs, die
„Metzeleien und Zerstörungen" mit Rache für die angeblich von
Albanesen auf serbischem Gebiet (?) begangenen Verwüstungen
zu rechtfertigen.135) Um diesem Verhalten auf dem Boden eines
132
133
)Conrad III., S. 429.
m
)
„Affaires BaLkaniques" II., Nr. 426 und 433.
) Bericht Tswolskys vom 18. November 1913, „Livre Noir" II.,
S. 175.
1M
) „Affaires Balkaniques« HI., Nr. 100 und 108.
5
00 Da» Ergebnis dea dritten Balkankriegeä
durch internationalen Beschluß geschaffenen selbstständigen
Staates ein Ende zu machen, forderte Oesterreich am 18. Oktober
in Belgrad mit achttägiger Frist die Räumung. Die serbische
Regierung entschloß sich infolge ihres schlechten Gewissens
schon am nächsten Tage zum Nachgeben, ohne abzuwarten, ob
ihr vielleicht Unterstützung gegen die österreichische Som-
mation zuteil würde. Die französischen Akten sind sehr schweig-
sam über die Haltung der Mächte gegenüber diesem Schritt.
General Conrad schreibt darüber: Rußland war bestürzt, doch
war von ihm keine Gegenaktion zu erwarten, Frankreich hielt
den Schritt anfänglich nicht für gerecht, wurde aber vom
Gegenteil überzeugt, Deutschland hatte energische Unter-
stützung zugesagt, auch Italien stand auf Seite Oesterreichs.134)
Eine damals von Wilhelm II. zu Conrad gemachte, im Gegensatz
zu den Erklärungen des verantwortlichen Reichskanzlers
stehende Aeußerung1 „Ich gehe mit Euch. Die anderen sind nicht
bereit, sie werden nichts dagegen tun. In ein paar Tagen müßt
Ihr in Belgrad stehen. Ich war stets ein Anhänger des Friedens;
aber das hat seine Grenzen"137) wurde von der französischen
Presse dahin ausgelegt, daß Deutschland einer militärischen
Aktion Oesterreichs gegen Serbien zugestimmt habe. Der Ver-
lauf der Ereignisse aber zeigt, daß der Kaiser sich der Ansicht
des Kanzlers gefügt hat.
Wie ist nun das Ergebnis des dritten Balkankriegs hinsicht-
lich seiner Wirkung auf das „Gleichgewicht der europäischen
Kräfte", das vereinbarte Ziel der französisch-russischen Allianz,
das angebliche Leitmotiv der britischen Politik, zu bewerten?
Der Traum Katharinas der Großen und Josefs IL über Teilung
der Balkanhalbinsel in einen russischen Osten und einen öster-
reichichen Westen war endgültig vorüber, ebenso die spätere
gemässigtere Lösung Bismarcks der Scheidung in zwei Inter-
essensphären. Der Balkan gehörte den Balkanvölkern. Wem
kam das zugute? Der von der russischen Diplomatie in ziel-
bewußter Arbeit gebildete Balkanblock war zerfallen, die ge-
waltige Machtverschiebung von Ende November 1912 zu Un-
gunsten der Mittelmächte bestand in solchem Umfang'e nicht
mehr. Trotzdem ergab sich gegenüber der Lage v o r dem ersten
Balkankrieg eine große Stärkung der Position des Dreiverbands.
Die Türkei blieb trotz des Wiedergewinns von Adrianopel aus
Europa so gut wie verdrängt. Serbien, das Lieblingskind Ruß-
lands, war erheblich vergrößert, sein Selbstbewußtsein maßlos
gesteigert. Es hatte die einstweiligen Kompensationen auf
Kosten Bulgariens mit dem Schwerte festgehalten, ohne deshalb
das Begehren nach weiterer Vergrößerung auf Kosten Oester-
reich-Ungarns einzudämmen. Rumänien war von den Mittel-
mächten abgerückt; der französische Kammerpräsident Deschanel
"') Conrad III., S. 474.
137
) loc. cit. III., S. 470.
Rußlands Gewinn aus den Balkankriegen m
lobte öffentlich den Gesandten Blondel, weil er das Land zum
Kriege gegen Bulgarien veranlaßt habe, wodurch der Kampf
zu einem so raschen und glücklichen Abschluß gebracht und
die rumänischen Sympathien für Frankreich erweckt worden
seien.138) Eine deutsche Anleihe nahm man in Bukarest gerne,
doch die Hinneigung zu Frankreich blieb unverändert. In
Griechenland hoffte der französische Einfluß auf Sieg über den
deutschen. König Konstantin betonte, daß er seine Waffener-
folg'e der deutschen militärischen Schulung verdanke, aber seine
Armee behielt französische, seine Flotte englische Instrukteure.
Obendrein war die Uneinigkeit des Dreibundes in wichtigen
Fragen offenkundig geworden. Oesterreich war, was Salisbury
1887 als mit dessen Interessen unvereinbar erklärt hatte,18")
endgültig vom Aegäischen Meere abgedrängt, seine Ohnmacht
gegenüber der von Rußland begünstigten Balkangruppe hatte
das Ansehen der Monarchie schwer geschädigt, der Haupt-
punkt des Wiener Programms, ein zu selbständigem Leben be-
fähigtes Albanien, war nur sehr unvollkommen durchgesetzt
worden. So blieb trotz des Schlages, den das Slawentum durch
die Sprengung des Balkanbundes erlitten hatte, ein ansehnlicher
Gewinn für die Koalition, der Rußland und Frankreich an-
gehörten.
Ganz in diesem Sinne äußerte sich der russische Botschafter
Schebeko in Wien im April 1914. Er sagte, daß der letzte Balkan-
krieg zwar vom Standpunkt des Slawentums beklagenswert, für
die speziell russischen Interessen aber vorteilhaft gewesen sei.
Wenn in Bulgarien die Stimme der Vernunft gesiegt hätte, so
Würden die Folgen für Rußland ungünstig gewesen sein, denn
„Bulgarien wäre, was Ausdehnung seines Territoriums
und Stärke seiner Bevölkerung anbelangt, der größte Bal-
kanstaat geworden; Rumänien hätte sich beeilt, sich ihm
zu nähern, wahrscheinlich auch die Türkei; und wenn
schließlich auch noch eine Annäherung an Oesterreich
stattgefunden hätte — was ich stets für möglich gehalten
habe, sogar noch vor dem Krieg mit Serbien — so würde
sich auf dem Balkan ein uns feindlicher Block gebildet
haben, der aus Oesterreich, Bulgarien, Rumänien und der
Türkei bestanden hätte. Jetzt aber ist unter den obwalten-
den politischen Bedingungen Oesterreich auf dem Balkan
völlig isoliert, und j e d e r Versuch seinerseits, den b e s t e h e n d e n
Zustand zu ändern, würde einen entschiedenen Widerstand
von Seite des Blocks Rumänien, Serbien und Griechenland
auslösen".140)
l;l8
) Friedjung III., S. 296 nach F. Gheorgow, Professor in Sofia,
in der „Oesterreichischen Rundschau" 1916, 2. Heft. Vgl. auch Sche-
beko an Sasonow am 3. April 1914, Siebert, S. 622—624.
1M
) „Große Politik" IV Nr. 913, S. 346.
14
°) Siebert, S. 622—624.
4*
68 Verschiebung dea europäischen Gleichgewichte

Das Gleichgewicht der europäischen Kräfte blieb somit auch


nach dem dritten Balkankrieg stark zu Ungunsten der Mittel-
mächte verschoben.141) Eine Politik, die den Grundsatz des
Gleichgewichts ehrlich und unparteiisch auffaßte, hätte gegen,
nicht für die russisch-französische Koalition Stellung nehmen
müssen. Doch jede Macht des Dreiverbands verstand unter Auf-
rechterhaltung des Gleichgewichts nur die unbedingte Verhinde-
rung einer Verschiebung zu Gunsten Deutschlands und Oester-
reichs, eine gegenteilige aber war immer willkommen. Die
Kriegsgefahr war neuerdings gewachsen. Es galt nunmehr für
den neuen Block Rumänien—Serbien—Montenegro—Griechen-
land, was Poincaré im August 1912 für den ersten Balkanbund
richtig erkannt hatte, daß dessen Hoffnungen durch Rußland
„ermutigt zu sein scheinen" und daß dadurch „der Ehrgeiz für
seine Begehrlichkeiten" gesteigert war. Infolgedessen hatte
sich die Möglichkeit vergrößert, daß die Kette Marokko—Tri-
polis—Balkankriege um das verhängnisvollste Glied — Welt-
krieg — verlängert würde.

12. Die Entwicklung der Meerengenfrage.


Im Jahre 1908 begnügte sich Iswolsky noch mit folgender
Lösung der Meerengenfrage: Kriegsschiffe der Uferstaaten des
Schwarzen Meeres dürfen, solange die Türkei sich nicht im
Kriegszustand befindet, die Meerengen in beiden Richtungen
durchfahren, jedoch sollen nie mehr als drei Schiffe eines Staates
gleichzeitig zwischen dem Schwarzen und Aegäischen Meece
unterwegs sein; den Kriegsschiffen aller übrigen Mächte bleiben
die Engen verschlossen. Aehrenthal stimmte dem in Buchlau
zu (Seite 19), nicht aber das Londoner Kabinett. In einer
Note vom 14. Oktober 1908 sagte Grey, Rußland könne doch
nicht, nachdem es gegen die Annexion von Bosnien und der
Herzegowina protestiert habe, die Gelegenheit ausnützen, um
sich ein solches Vorrecht zu sichern. Durch einen so ein-
seitigen Vertrag werde das ganze Schwarze Meer für die Ufer-
staaten „eine uneinnehmbare Festung, aus der Kreuzer und
Torpedoboote nach Belieben auslaufen könnten, ohne jede Be-
sorgnis, von einem der Kriegführenden verfolgt zu werden."
D ; e britische Regierung sei „im Prinzip" nicht gegen die Oeff-
nung der Meerengen, ein Abkommen darüber aber müsse auf
Gegenseitigkeit beruhen und „im Kriegsfalle die Krieg-
führenden hinsichtlich der Durchfahrt durch die Meerengen
auf dem Fuße' der Gleichheit behandeln." Auch sei die Zu-
stimmung der Türkei eine Vorbedingung für jede Regelung."2)
,41
) Siehe Beleg Nr. 10, S. 189.
" 2 ) „LÌVTC Noir" II., S. 457—8. Nach Siebert S. 675 wäre die
Antwort Greys vom 18. Oktober datiert. Die Berichte Benekendorffs
in der Siebert'schen Sammlung über die bosnische Krise beginnen erst
im November.
Der Plan Tgcharykows (Herbst 1911) 69

Der englische Gegenvorschlag der Oeffnung der Meerengen für


die Kriegsschiffe aller Nationen war nun gerade die für Eng-
land günstigste Regelung, die Rußland früher am wenigsten ge-
wünscht hatte; denn dann konnte die gewaltige britische Flotte
wieder wie im Krimkriege die Häfen des Schwarzen Meeres
blockieren und zusammenschießen. Diese Antwort Greys zeigt
deutlich, warum er seinerzeit so scharf gegen die Annexion von
Bosnien und der Herzogewina aufgetreten ist; der Grund waren
nicht serbische oder russische Interessen, auch nicht die grund-
sätzliche Achtung vor Verträgen, sondern das englische Inter-
esse am Bosporus und den Dardanellen. Daher die Niederlage
Iswolskys im Herbst 1908. In den späteren Berichten der russi-
schen Botschaft in London wird auffallenderweise der grundsätz-
liche Unterschied der Auffassung nicht scharf betont; Graf
Benckendorff erwähnt als hauptsächliche englische Einwände
immer nur, daß für die russischen "Wünsche „nicht der geeignete
Zeitpunkt" gekommen und daß eine vorherige Verständigung
mit der Türkei geboten sei." 3 )
Erst nach drei Jahren, im Herbst 1911, wurde die Frage
erneut aufgegriffen. Der russische Botschafter Tscharykow in
Konstantinopel erhielt die Weisung, die Schwierigkeiten der
Türkei infolge des Krieges mit Italien und infolge der deutsch-
französischen Verhandlung über Marokko zu einem neuen Vor-
stoß auszunutzen. Ein Vertragsentwurf vom 12. Oktober schlug
der Pforte vor: Rußland gewährt, der Türkei wirksame Unter-
stützung zur Aufrechterhaltung der Bedingungen über die Meer-
engen und „dehnt diese Unterstützung in gleiche* Weise auf
die anliegenden Gebiete aus, falls diese von feindlichen Streit-
kräften bedroht würden." Als Gegenleistung verpflichtet sich
die Türkei „weder in Friedens- noch in Kriegszeiten sich der
Durchfahrt russischer Kriegsschiffe durch die Meerengen zu
widersetzen unter der Bedingung, daß diese' Schiffe außer im
Falle besonderer Vereinbarung sich nicht in den Gewässern der
Meereneren aufhalten." 1 ") Dieser Entwurf sah also eine' russische
Garantie an die Pforte für Konstantinopel und Umgegend vor.
In London machte man wieder Schwierigkeiten. Nach
einigem Zaudern ließ man zwar den Einwand fallen, daß der
Zeitpunkt „schlecht gewählt sei", aber Grey dachte noch immer
an die Lösung im Sinne seiner Antwort vor drei Jahren vom
14. Oktober. Benckendorff befürchtete sehr irriger Weise
„weniger von Seiten Englands als von Seiten Europas über-
haupt" Einwendungen dagegen „das Schwarze Meer im Kriegs-
falle in einen großen Zufluchtshafen für die russische Flotte zu

_ Siebert, S. 678 und andere Stellen . Benckendorff ist augen-


scheinlich bemüht, die Meinungsverschiedenheiten zwischen Petersburg
und London zu beschönigen.
1M ) „Livre Noir« IL, S. 46&-4.
70 Entgegenkommen der Mittelmächte gegen Rußland

verwandeln."" 5 ) Aus Rücksicht auf England verhielt sich auch


Frankreich, dessen Politik damals noch nicht durch Poincarö
gelenkt wurde, nicht sehr entgegenkommend gegen den russi-
schen Verbündeten, sondern erklärte sich nach fast drei-
monatigem Briefwechsel am 4. Januar 1912 nur bereit zu einem
Gedankenanstausch, „wenn neue Umstände eine Prüfung der
Meerengenfrage notwendig machen sollten."1")
Weit entgegenkommender verhielt sich Deutschland. Schon
am 11. November konnte Graf Osten-Sacken aus Berlin be-
richten, daß das dortige Kabinett „sich in keiner Weise den
Vereinbarungen mit der Türkei widersetze". Auch Oesterreich
erkannte bald darauf die besonderen Interessen Rußlands in den
Meerengen an mit dem Vorbehalt einer Sicherung gegen einen
Angriff durch die nissische Flotte.1*7") Po nahmen also die
Mittelmächte in einer der für Rußland wichtigsten Fragen eine
wohlwollendere Haltung ein als die beiden Ententegenossen.
Deutschland handelte dabei im Sinne der Tradition Bismarck;?,
der ja die Regelung des Meerengenproblems in einem Vertrag
Rußlands mit der Pforte gesehen hatte. 1 ") Wenn man freilich in
Berlin und Wien geahnt hätte, doß man in Petersburg gleich-
zeitig an die Bildung eines Balkanbundes mit Einschluß der Tür-
kei gegen Oesterreich dachte ("Seite 36 f.). würden die Antworten
wohl anders gelautet haben. Zunächst geriet jedoch die Ange-
legenheit wieder ins Stocken, da die Oeffentlichkeit vorzeitig
von den Verhandlungen erfuhr, worauf Sasonow Anfang De-
zember der Botschaft in Konstantinopel telegraphierte, es sei
unmöglich, die Besprechunsren in der vorgesehenen Weise
weiter zu führen.1*9) In Petersburg arbeitete man dann nicht,
mehr an einem Garantievertrag für die Türkei und einem diese
einschließenden Balkanbund, sondern an einem gegen sie ge-
richteten Bündnis.
Als elf Monate später, Anfang November 1912, nach dem
überraschenden Waffenerfolg der Bulgaren mit deren Ein-
marsch in Konstantinopel gerechnet werden mußte, erwog
Sasonow. eintretendenfalls die Flotte des Schwarzen- Meeres
nach dem Bosporus zu senden, um den Abzug der Truppen
König Ferdinands zu erzwingen. Grey hingegen schlug vor,
Saloniki und Konstantinopel zu neutralisieren und internatio-
ia
) Siebert, S. 675—6. 678 ,681, 682. 684.
,M
) ..Livre Noir" II., ?. 466.
m
) loo. oit. IL, 8. 469 und 470. Siebert P. 686.
1M
) „Große Politik", Bd. V. Nr. 1074. S. 227, Randbemerk. 3; Bd. VI,
Nr. 1175, S. 45. Randbem. 1. Ferner ..Gedanken und Erinnerungen" IT.,
F. 300 ff. Staatssekretär von Kiderlen Wächter verfolgt, den Bismarek -
sehen Gedanken entgegen der Ansieht des Botschafters in Konstanti-
nopel Frh. von Marschall; siehe Karl Helfferich „Der Weltkrieg".
S. 93 f.
"•) „Livre Noir" II., S. 468.
Rußland gegen „internationale Garantien" 71

nalisieren.150) Das würde die russischen Zukunftshoffnungen end-


giltig zerstört haben. Eine lange Denkschrift des russischen
Außenministers vom 28. November sprach sich denn auch da-
hin aus, daß den Interessen Rußlands solche internationalen
Garantien nicht genügeh, da diese einerseits „immer umgangen
werden könnten", andererseits „in Zukunft ein Hindernis
bilden könnten, die Frage der Meerengen endgiltig den russi-
schen Interessen gemäß zu lösen". Man sollte sich daher lieber
darauf beschränken, den Gedanken von 1908 wieder aufzu-
nehmen.161) Grey stimmte nunmehr dem russischen Plan von
1908 zu, wenigstens berichtete Benckendorff in diesem Sinne,
hielt abeT ein vorheriges Einvernehmen mit der Türkei nach
wie vor für nötig. 1 ")
Der englisch-rassische Gegensatz über die Zugänge zum
Pontus war somit Ende 1912 keineswegs ausgeglichen. Ja,
innerlich verschärfte er sich sogar. Der Umstand, daß während
des Krieges mit Italien und während der drei Balkankriege die
Dardanellen ständig gesperrt waren, erwies sich nämlich als
ebenso nachteilig für die russische Wirtschaft, da das Getreide
aus den südlichen Provinzen nicht, ausgeführt werden konnte,
wie für das Prestige des großen Zarenreiches, da es über „den
Schlüssel zu seinem Hause" nicht frei verfügen durfte. Daher
wuchs ständig die Zahl de'r russischen Politiker, die mit der
Durchfahrt durch die Engen nicht mehr zufrieden waren,
sondern die Herrschaft darüber erstrebten. So schrieb z. B. der
Nachfolger Tscharykows, Herr von Giers, im Mai 1913, als der
Vorschlag einer internationale^ Finanzkontrolle über die Türkei
beraten wurde, daß „die Einführung eines internationalen Ele-
ments in unsere bisherigen Beziehungen mit der Türkei unser
historisches Streben, uns der Meerengen zu bemächtigen, nur
hindern und verzögern kann". 15 ')
Trotz des unausgeglichenen Gegensatzes w*urden jedoch
die' Kabinette von Petersburg und London in der Türkenpolitik
immer wieder zusammengeführt infolge des gemeinsamen
Widerstrebens gegen die deutschen Bemühungen, das Reich des
Sultans nach seinen schweren Einbußen an Macht und Ansehen
wie de'r zu stärken. Zwar war die britische Sorge vor einer
deutschen Flottenbasis am Persischen Golf dadurch behoben,
daß das Endstück der Bagdadbahn in englische Verwaltung
kommen sollte, zwar war 1911 mit Rußland ein Abkommen
über die Verteilung der Bahnlinien in Kleinasien getroffen.
(Seite 29), aber die Vollendung eines Schienenstranges von
Stambul bis zur Münduns: des Shatt el Arab mußte mit der Zeit
das Osmanenreich militärisch und wirtschaftlich sehr erheblich

)
1B0 „Affaires Balkanicraes" I., Nr. 234 nnd Siebert, S. 688.
1M) Siebert. S. 687—690.
)
1BS loc. cit., S. 691.
1M) loc. cit., S. 695.
72 Die Mission Liman von Sanders

kräftigen. Dietee Erstarkung aber wünschte man weder in


Petersburg, wo man nach den Meerengen strebte, noch auch
in London, wo man den Landweg von Aegypten nach Süd-
peTsien zu gewinnen hoffte.
Als daher der Führer der neuen deutschen Militärmission
General Liman von Sanders am 2. Dezember 1913 zum Komman-
deur des Armeekorps von Konstantinopel ernannt wurde, erhob
sich scharfer Widerspruch des Dreiverbands. Seine Botschafter
wurden bei der Pforte vorstellig; ohne Erfolg. Mit befremdender
Uebertreibung hieß es in der Instruktion für den britischen Ver-
treter „daß in Konstantinopel beglaubigte diplomatische Korps
würde unter der Abhängigkeit Deutschlands stehen; der
Schlüssel der Meerengen sich in deutschen Händen befindan,
ein deutscher General könnte durch seine Maßnahmen dw
Suveränität des Sultans in Schach halten".1") Rußland for-
derte, um die Türken gefügig zu machen, die Ernennung russi-
scher Offiziere zu Kommandanten der armenischen Gendarmerie,
Anwendung der russischen Spurweite auf die armenischen Eisen-
bahnen und Einstellung des Ausbaus der Befestigungen an den
Meerengen. Aus Paris konnte Iswolsky Mitte1 Dezember melden,
daß auch das neue Kabinett Doumergue seine „Solidarität" mit
Rußland und die Absicht, „den tatkräftigsten Beistand zu
leisten," ausgesprochen habe. Auch die französische Presse lobt
der Botschafter, denn sie ,,kritisiert nur unsere Versuche, diese
Frage mittels freundschaftlicher Besprechungen mit Deutsch-
land zu regeln"."6) Annäherung an Deutschland war und blieb
in Paris seit dem Sturz des Ministeriums Caillaux eines der
größten denkbaren Vergehen. So war Frankreich, wie schon
erwähnt, anläßlich der Frage der türkischen Finanzen und der
Bagdadbahn darauf bedacht gewesen, die Verhandlungen mit
Deutschland allein auf das wirtschaftliche Gebiet zu be-
schränken und „unbedingt ein Abkommen allgemeiner Art zu
vermeiden, das von der öffentlichen Meinung als die Sanktioii
des gegenwärtigen Zustandes angesehen, folglich als der end-
gültige Verzicht Frankreichs auf die 1870 verlorenen Provinzen
betrachtet werden könnte."15")
Am 1. Januar 1914 schlug Frankreich sogar vor, Rußland
solle ein Kriegsschiff in den Bosporus einlaufen lassen und er-
klären, daß dieses „sich erst entfernen werde, wenn der Ver-
trag mit Liman von Sanders und seinen Offizieren abgeändert
sei"."7) War man sich wirklich nicht klar, daß diese flagrante
1M
) „Affaires Balkaniques" III., Nr. 157.
«o) „Livre Noir" II., S. 218.
1M
) loc. cit. II., S. 175.
**") loc. cit. IL. S. 223. Dieser hetzerische Ratschlag wird im
französischen Balkangelbbuch unterdrückt, das überhaupt vom 3. De-
zember bis 21. Januar nichts über die Angelegenheit Liman Sattlers
mitteilt.
Da« russische Protokoll vom 21. Februar 1914 73

Verletzung der Pontusverträge von 1856 und 1871 das Signal


zum Kriege gewesen wäre? Der im französischen Balkancelb-
buch vorsorglich unterdrückte Vorschlag fährt allerdings fort
„der Sultan werde nicht wagen feuern zu lassen". Welche
Garantie hatte man dafür?
Solche Anregungen gab man in Paris, wo man den
„Panthersprung" von Agadir so arg übel genommen hatte.
Vier Tage später berichtete Iswolsky, Frankreich sei ent-
schlossen, sich unter den obwaltenden Verhältnissen nicht den
Verpflichtungen zu entziehen, die ihm das Bündnis mit Ruß-
land auferlegte".1")
Eine Woche später, am 12. Januar, wurde öffentlich bekannt
gegteben, daß Deutschland um des Friedens willen schon einen
vollen Rückzug angetreten und eingewilligt habe, daß Liman
von Sanders des Kommandos über das Korps von Konstanti-
nopel enthoben und zum Generalinspekteur des türkischen
Heeres ohne direktes Truppenkommando ernannt worden sei. Ein
russischer Ministerrat vom 18. Januar beschloß daher auch, den
Krieg mit Deutschland zu vermeiden, obwohl der Kriegsminister
und der Chef des Generalstabs „kategorisch die volle Bereit-
schaft Rußlands zum Zweikampf mit Deutschland, von einem
Zweikampf mit Oesterreich schon gar nicht zu reden" hervorge-
hoben hatte.1™) Tags darauf äußerte Nikolaus II. dem deutschen
Botschafter Grafen Pourtales seine Freude darüber, daß die
Sache „aplanieVt" sei.160) Wieder einmal war Frankreich zur be-
dingungslosen Waffenhilfe an Rußland bereit gewesen, wieder
einmal hatte Deutschland eine diplomatische Niederlage einem
bewaffneten Konflikt vorgezogen.
Bedenklicher als die' Beschlüsse der Konferenz vom 13.
Januar lautet das Protokoll einer späteren Beratung vom
21. Februar im Zusammenhalt mit einer begleitenden Denk-
schrift des nissischen Außenministeriums. In diesen beiden
Dokumenten waren folgende Ansichten niedergelegt:
1. Die historische Mission Rußlands erfordert, daß es sich
nicht mehr mit der freien Durchfahrt durch Bosporus und
Dardanellen begnüge, sondern die Beherrschung beidor
Wasserstraßen anstrebe.
2. Der Besitz der Meerengen kann nicht durch einen loka-
lisierten Krieg gegen die Türkei, sondern nur „im Rahmen
eines europäischen Krieges" orreicht werden.
3. Einen günstigen politischen Boden „für die Operationen
zur Besetzung der Meerengen vorzubereiten", bildet gegcn-
,M
) Siebert, S. 669.
1W
) Pokrowski, S. 42.
lM
) „Deutschland schuldig?", S. 167.
74 Eventuelle gewaltsame Oeffimng der Meerengen

wärtig die Aufera.be der zielbewußten Arbeit des Ministe-


riums des Aeußern. 1 " 1 )
Das hieß ja nicht, daß man unbedingt den großen K r i e g
in der nächsten Zeit wollte, es hieß aber zum mindesten, daß
man es als geschichtliche Pflicht betrachtete, ein Ziel zu ver-
folgen, v o n dem man wußte, daß es nur durch einen europäi-
schen K r i e g zu erreichen sei. Es muß dahingestellt bleiben,
welche Erwägung in erster Linie zu diesem verhängnisvollen
Beschluß beigetragen hat: war es die Ueberzeugung, daß
Deutschland unter allen Umständen der Türkei beistehen werde,
oder war es die Ansicht, daß England sich zwar einem lokali-
sierten K r i e g e Rußlands gegen die Türkei widersetzen, jedoch
im Falle einer allgemeinen Konflagration seine Einwilligung
zum Uebergang der Meerengen in russischen Besitz geben
werde, wie' das tetsächlich ein halbes Jahr nach Ausbruch d?r
Katastrophe der Fall gewesen ist?
In ähnlichem Gedankengang wie die Konferenz v o m
21. Februar bewegt sich eine Aeußerungr Nikolaus IT. v o m April
1914. Er besprach mit, Sasonow die Möglichkeit eines W5eder-
ausbruchs der Feindseligkeiten zwischen Griechenland und dar
Türkei. Rußland könne eine abermalige Sperrung der MeeVengan
nicht dulden. „Um sie wieder zu öffnen — sagte Seine Ma-
jestät — würde ich sogar Gewalt anwenden". Dann wird er-
wogen, daß Deutschland sich möglicherweise auf Seite der
Türkei stellen werde. Um nun zu verhindern, daß Deutschland
diesen Beistand leiste, wünschte der Zar lebhaft, den baldigen
Abschluß eines russisch-englischen Abkommens" 1 " 1 ) (ähnlich den
französisch-englischen diplomatischen und militärischen Verein-
barlingen \ Das kaiserliche Programm ist also im Falle aber-
maliger Sperrung der Dardanellen gewaltsame Oeffnung auf die
Gefahr eines allgemeinen europäischen Waffenganges.

13. Die Zusammenkünfte von Miramar, Konopischt und Paris.


Das Jahr 1 Ol4 hatte wegen der Meinungsverschiedenheiten
über die deutsche Militärmission in Konstantinopel und infolge
der vussi=fhen Forderungen über Armenien unter düsteren A n -
zeichen begonnen. Dazu kam die Fortdauer der Spannung
zwischen Griechenland und der Türkei, e'ndlich der Zwist über
das neu geschaffene Albanien, auf dessen Norden Serbien, auf
dessen Süden Griechenland Anspruch erhob. Prinz Wilhelm zu
Wied hatte im November 1013 die albanische Fürstenwürde in-
genommen, aber schon im März kam es zu einem Aufstand, der
zum mindesten indirekt von Griechenland unterstützt wurde.

Pokrowski, S. 49, 50, und „Deutschland schuldig?", S. 171,


172, 17R.
1<B) PaJpoloe-ue (seit 12. Januar 1914 Botschafter in Petersburg)
am 18. Anrii 1014 an Donmercue „Livre N o i r " TT., S. 258: wepwn der
Art des russisch-englischen Abkommens siehe auch loc. cit. S. 260.
Wilhelm II. in Wien und Miramar 75

Ende desselben Monats verkündete der serbische Minister-


präsident den Abschluß eines Bündnisses zwischen Serbien,
Griechenland und Montenegro. Besuche des rumänischen Thron-
folgerpaares in Petersburg' und der Zarehfamilie in Costanza
stärkten erheblich den Einfluß der Entente in Bukarest. Der
ganze Balkan war noch immer in Gärung. Das unruhigste
Element blieb nach wie vor Serbien."®)
Bei dieser Sachlage ist es durchaus begreiflich, daß bei Zu-
sammenkünften, die Wilhelm II. im März mit Kaiser Franz
Joseph in Wien, ferner mit dem österreichischen Thronfolger
in demselben Monat in Miramar und im Juni in Konopischt
hatte, die Balkanfrage im Vordergrund der Unterredungen
stand.
In Wien sprach man mit Sorge über die Haltung Rumäniens,
das Franz Josepf und Graf Berchtold für den Dreibund schon
so gut wie verloren hielten, während der deutsche Kaiser auf
eine Besserung der Verhältnisse hoffte. Von den russischen
Rüstungen meinte er, daß sie nicht in erster Linie kriegerischen
Absichten geeen Oesterreich und Deutschland entsprängen,
sondern dem Wunsche, bei einem eventuellen Vorgehen gegen
die Türkei an der deutschen und österreichischen Grenze durch
eine starke Rückendeckung gesichert zu sein. Graf Tisza erab
beruhigende Aufschlüsse über das Verhältnis zu den ungarlän-
dischen Rumänen. Die Vereinigung Serbiens und Montenegros
hielt er für unabwendbar, nur bleibe es ein wichtiges Interesse
Oesterreich-Ungarns, Serbien als Vornosten Rußlands von der
Adria fern zu halten. Er emnfahl, daß der Dreibund ebenso wie
der Dreiverband auf dem gesainten Gebiet der Politik, be-
sonders abeV auf dem Balkan, planmäßig zusammengehe. Es sei
kein Zweifel, daß die Balkanstaaten mit der Zeit, als Sturmbock
gegen Oesterreich-Ungarn für den Fall eines großen europäischen
Krieges verwendet werden sollten.
In Miramar war zuerst von der Anwesenheit, des Königs von
Italien bei den großen deutschen Manövern die Rede. Dann
wurde ein Zusammenstehen Rumäniens und Griechenlands, wo
möglich auch der Türkei, auf dem Balkan gegen die Slawen als
wünschenswert bezeichnet. Schließlich kamen die inneren sla-
wischen Schwierigkeiten der Monarchie an die Reihe.
In Konopischt bildeten das erste Thema die ernsten Streitig-
keiten zwischen der Türkei und Griechenland. Man war einic
in der persönlichen Abneigung gegen den König von Bulgarien
und mißbilligte ebenso einmütig das italienische Vorgehen in
Albanien. Der Erzherzog äußerte sich dann sehr scharf über das
Verhalten der Pester Regierung gegenüber allen nicht-un-
garischen Elementen. Der amtliche deutsche Bericht über diesen
1M
) Nähere« über die Lace inn die Jahreswende 1013-14, siehe
Fiiedjung III., Nachwort von Professor Hoetzsch, S. 311 ff.
76 Das Ergebnis von Konopischt

Besuch schließt mit dem Satze: „Rußland ist nach des Erz-
herzogs Meinung nicht zu fürchten; die inneren Schwierigkeiten
seien zu groß, um dieseta Lande eine aggressive äußere Politik
zu gestatten." Das waren die letzten politischen Worte, die der
Thronfolger vierzehn Tage vor seiner Ermordung zum deutschen
Kaiser sprach. Kein Wort von Kriegsplänen, geschweige von
Kriegslust, ja nicht einmal von Kriegssorge. Da von unwissender
und böswilliger Seite um diese Zusammenkünfte die törichtsten
Legenden gewoben worden sind, werden die geheimeh Berichte
über die Unterredungen in vollem Wortlaut nach den Akten des
deutschen Auswärtigen Amtes in den Belegen angefügt.1")
Bei der Rückkehr von Konopischt fand Kaiser Wilhelm
auf seinem Schreibtisch den bekannten, vom russischen KriegB-
ininister inspirierten Artikel „Rußland ist fertig, Frankreich
muß es auch sein". Er erkennt nunmehr, wem die russischen
Rüstungen gelten, und zieht den Schluß, daß Frankreich und
Rußland auf einen baldigen Krieg gegen Deutschland hin-
arbeiten. Wer einen Präventivkrieg plante, der würde nunmehr
in Randbemerkungen, die menschlichem Ermessen nach niemals
an die Oeffentlichkeit gelangen konnten, unumwunden betont
haben, daß es dringend geboten sei, dem französisch-russi-
schen Angriff zuvorzukommen. Statt dessen sprechen die
Randglossen von neuen Steuern und von Einstellung der in
Deutschland immer noch nicht vollzählig einbezogenen taug-
lichen Wehrpflichtigen, also von einer neuen Wehrvorlage, die
nicht vor dem Frühjahr 1915 vom Reichstag beschlossen werden,
nicht vor dem Frühjahr 1916 die ersten ausgebildeten Rekruten
liefern konnte.166) Dieser grundsätzlichen Ablehnung des Prä-
ventivkrieges, die sich bei allen dazu verleitenden Gelegen-
heiten gezeigt hatte, besteht also fort im letzten Monat vor
'Ausbruch des Weltkrieges. Sie war auch nochmals bestätigt
worden in einer Unterredung des Reichskanzlers mit dem bayri-
schen Gesandten vom 4. Juni. Nach einer ziemlich pessi-
mistischen Beurteilung der politischen Gesamtlage berührte man
die Frage des von manchen Militärs gewünschten vorbeugenden
Losschlagens. Beide Politiker waren der Ansicht, daß der
richtige Augenblick für eine solche Aktion vorüber sei, für die
das Jähr 1905 die größten Aussichten geboten haben würde, und
de* Reichskanzler fügte hinzu:
„Der Kaiser hat keinen Präventivkrieg geführt und
wird keinen führen".1"8)
Eifrig-er als in Miramar und Konopischt beschäftigte man
sich mit Kriegsgedanken bei dem Besuch, den das englische
Königspaar zur zehnjährigen Feier der Entente cordiale vom
,6,
1 Siehe Beleg Nr. 11, S. 189.
165
) ..Deutsche Dokumente zum Kriegsausbruch" Nr. 2.
1M
) .,Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch" S. 113.
Die Verhandlungen in Paria (April 1914) 77

21.—24. April in Paris abstattete. Poincaré und Doumergue


benützten die Gelegenheit, um Georg Y. und Grey die Not-
wendigkeit eines intimeren Zusammenschlusses von Rußland und
England auseinanderzusetzen. Dabei sollte die französisch-eng-
lische „politische Konvention" als Muster dienen. In den
Trinksprüchen redete man nicht bloß vom Frieden, sondern bo-
tante auch sehr stark das „europäische Gleichgewicht", das mau
bekanntlich so erfolgreich auf dem Balkan gestört hatte. Dou-
mergue bemühte sich besonders, den Abschluß einer englisch-
russischen Marinekonvention zu empfehlen, der einen Teil der
britischen Flotte frei machen und ihr gestatten würde, nicht nur
in der Nord- und Ostsee, sondern auch im Mittelmeer größere
Tätigkeit zu entfalten. Grey war ganz einverstanden, wies je-
doch darauf hin, daß nicht nur in der Regierungspartei, sondern
auch im Kabinett selbst einige Mitglieder nicht gern die Bande
mit Rußland enger knüpfen wollten. Die militärischen Ab-
machungen müßten sich unbedingt auf die Marine beschränken,
da alle Landstreitkräfte Englands schon ihre Bestimmung
hätten und mit der russischen Armee nicht gemeinsam operieren
könnten.1"7) Im Mai begannen dann die Unterhandlungen über
die russisch-englische Marinekonvention. Auch wurde der Brief-
wechsel Grey-Cambon vom November 1912 an Rußland mit-
geteilt.168) Als Gerüchte über die Marinekonvention in die
Oeffentlichkeit drangen, war Grey sehr besorgt, wie er sie ab-
leugnen solle. Er beriet sich mit dem russischen Botschafter,
der die vom Staatssekretär für das Parlament ersonnene aus-
weichende Antwort vorzüglich fand. Ebenso sinnreich war die
etwas anders formulierte Aufklärung ausgedacht, die Grey dem
deutschen Botschafter in Urlaub mitgab; darin hieß es u. a., die
Dardanellenfrage sei „seit fünf Jahren" zwischen London und
Petersburg nicht erörtert worden. Als Ende Juni die Marine-
verhandlungen etwas stockten, meinte Benckendorff, vielleicht
wünsche Grey, daß zuerst die Aufregung in Berlin sich lege,
denn es sei in der Tat für den Staatssekretär „nicht leicht, gleich-
zeitig abzuleugnen und zu verhandeln. Diese Rolle' müßte er
aber durchführen, sowohl gegenüber Deutschland als gegen-
über einem beträchtlichen Teil seiner Partei und der englischen
Presse." 1 " )

14. Oesterreich-Ungarn und Serbien.


Die Schlacht auf dem Amselfelde 1389 hatte dem serbischen
Reich den Todesstoß versetzt, 70 Jahre später war es türkische
Provinz. Der erste, der an diesen Ketten rüttelte, war Prinz
Eugen. Er brachte durch die Einnahme von Belgrad 1717 die
167
) „Livre Noir" II., S. 259—61.
1M
) loc. cit. H., S. 265—67; vgl. auch S. 315 und 321.
im
) loc. cit. H., S. 326 und Anm. 2, S. 327, 328 und Anm.
78 Die russenfreundliche Schwenkung Serbiens (1903)

Hoffnung auf Befreiung, aber nach zwei Jahrzehnten wehte


wieder der Halbmond von der Aeg&is bis zur Donau/70) Doch
das Streben nach Unabhängigkeit war durch die österreichischen
Waffen geweckt worden und blieb fortan lebendig, bald mehr
von russischer, bald mehr von österreichischer Seite gefördert.
Schritt für Schritt wurde um die Selbständigkeit gerungen, bis
endlich 1867 auf Anraten Oesterreichs die letzten türkischen
Truppen die serbischen Festungen räumten. Der russische Sieg
im Türkenkrieg vervollständigte die Unabhängigkeit und brachte
Gebietserweiterung. Doch war es auf dem Berliner Kongreß
allgemeine Voraussetzung, daß, wie der östliche Balkan zur
russischen, so der westliche zur österreichischen Interessen-
sphäre gehören sollte. Oesterreich - Ungarn erhielt auf
englischen Antrag durch Kongreßbeschluß das Recht zur
Okkupation, in geheimen, mehrmals bestätigten, bis 1887 gil-
tigen Abmachungen mit Rußland auch das Recht zur Annexion
von Bosnien und der Herzogewina (Seite 18). Von 1881—1891
bestand sogar ein österreichisch-serbischer Bündnisvertrag,171)
auf Grund dessen die Monarchie 1885 den siegreichen Bulgaren
ein die Serben rettendes Halt entgegenrief. Aber andauernd
rangen im Konak der „Weißen Stadt" russischer und öster-
reichischer Einfluß miteinander. Als in der Schreckensnacht vom
11. Juni 1903 der letzte Obrenowitsch, der junge König
Alexander, seine Gemahlin und seine Minister durch die
Schwerthiebe russenfreundlicher Offiziere niedergemetzelt
waren, hatte Rußland die Oberhand gewonnen. Das Haus Kara-
georgewitsch, von dem der russische Außenminister von Giers
1884 erklärt hatte, daß es „niemals auf Unterstützung der
russischen Regierung rechnen könne'"") drehte das Steuer nach
Petersburg. Ein serbisches Regierungsprogramm vom März 1904
stellte folgende Richtlinien auf:
„Aktion in Bosnien behufs Anschlusses an Serbien.
Diskreditierung der österreichisch-ungarischen Administra-
tion durch systematisch-publizistische Propaganda und Näh-
rung der Unzufriedenheit der orthodoxen und muhameda-
nischen Bevölkerung Bosniens und der Herzogewina."1")
Die großserbische Idee, die außer Serben auch Kroaten,
Slowenen, Dalmatiner und Bosniaken in einem Reiche vereinen
wollte, gewann immer mehr an Boden. Die Aussicht auf Ver-
wirklichung solcher Pläne wuchs, als England und Rußland 1907
ihreVersöhnung vollzogen hatten. England, dessen Vertreter nach
defri Königsmord aus Belgrad abberufen worden war, wurde fünf
170
) Näheres über die Entwicklung der großserbischen Idee siehe
H. Delbrück „Serbien, Oesterreich und Kußland" in „Deutschland und
die Schuldfrage", S. 95 ff.
m
) Pribram I., S. 18 ff., S. 57 ff. und Anm. 2.
„Große Politik", Bd. i n . , Nr. 646, S. 371.
"V L. Mandl „Oesterreich'Ungarn und Serbien", S. 15.
Großserbische Aspirationen 79

Jahre später, wenn auch aus selbstsüchtigen Motiven (Seite 20),


der lauteste Rufer beim Protest gegen die Annexion. Doch da
das russische Schwert noch nicht geschliffen war, mußte Serbien
damals sich bescheiden und sich im März 1909 feierlich ver-
pflichten, „die Richtung seiner gegenwärtigen Politik gegen
Oesterreich zu ändern und künftighin mit diesem letzteren auf
dem Fuß freundnachbarlicher Beziehungen zu leben."
Daß solche Versprechungen wertlos sind, ist klar. Im
Gegenteil begann jetzt erst recht die geistige Vorbereitung für
die großen kommenden Dinge. Die serbische Presse schürte
nach Kräften, die Schulen lehrten den Krieg, die Agitation über-
schritt die Grenze und bearbeitete die Kroaten und Slowenen.
Der serbische Ofliziersverein gründete 1910 eine Zeitung
„Piemont", im Volksmunde die „Schwarze Hand" genannt, die
systematisch zu Attentaten gegen die leitenden Politiker der
Monarchie aufreizte und die Mörder als Nationalhelden feierte.17')
Das Jahr 1910 sah ein Attentat auf den Landeschef von Bosnien,
1912, 1913 und 1914 folgten solche auf den Banus von Kroatien.
Die Gegenmaßnahmen in Wien und Budapest waren nicht
glücklich. Die Ungarn wendeten gegen die Kroaten die
schärfsten polizeilichen Mittel an, die das Gegenteil von dem
Gewollten erreichten. Einen Zugang zur Adria gewährte man
den Serben nicht; sie sollten ausschließlich auf die Wasser-
straße der Donau und damit auf Oesterreich-Ungarn als einziges
Absatzgebiet angewiesen bleiben. Die serbischen Landwirte
konnten ihre Erzeugnisse nur mit den größten Schwierigkeiten
absetzen, andererseits aber wollte die österreichische Industrie
den serbischen Markt ganz beherrschen. Vom Frühjahr 1900
bis zum Herbst 1908 und wiederum vom Frühjahr 1909 bis
Anfang 1911 kam es zum offenen Zollkrieg. Diese Schikanen
haben zweifellos die Lage ungemein verschärft, doch muß man
bezweifeln, ob auf wirtschaftlichem Wege allein eine befrie-
digende Lösung zu finden war. Ein kräftiges Volk mit ausge-
prägtem Nationalgefühl verzichtet nicht auf seine Ideale wegen
des Linsengerichts ökonomischer Vorteile. Dazu kam, daß man
in Rußland solche serbisch-österreichische Verständigung gar
nicht wünschte (Seite 48). Vielleicht wäre es möglich ge-
wesen, das Recht der Serben auf nationale Entwicklung mit dem
Recht des Habsburger Staates auf Erhaltung des Bestehenden
zu versöhnen durch Umgestaltung der Doppelmonarchie in
einen dreifach oder noch mehr gegliederten Föderativstaat, dein
das Königreich Serbien als Bundesstaat sich anschloß.175) Erz-
herzog Franz Ferdinand, der mit solchen Pänen sich trug, sollte
den Thron der Habsburger nicht mehr besteigen.
Der reiche Gewinn der Balkankriege bewirkte in Serbien
mit nichten den Verzicht auf weitergehende Aspirationen. Mit
174
) loc. cit., S. 32.
176
) So urteilt auch H. Delbrück, loc. cit., S. 97.
80 Rußland wird! „für Serbien alles tun"

eiserner Konsequenz behielt Paschitsch, der im Juli 1912 Milo


wanowitsch als Ministerpräsident gefolgt war, sein großes Ziel
im Auge. Er, der sclxou 1908 für den Krieg gegen Oesterreich
gestimmt hatte, sagte nach der Unterzeichnung des Bukarest3r
Triedens im August 1913:
„Die erste Manche ist gewonnen, jetzt muß die zweite
Manche geg'en Oesterreich vorbereitet werden."
Bald darauf vertraute er einem serbischen Diplomaten an:
„Ich hätte schon im ersten Balkankrieg, um Bosnien
und die Herzogewina zu erwerben, es auf einen europäischen
Krieg ankommen lassen können; da ich aber befürchtete,
daß wir dann Bulgarien gegenüber in Mazedonien größere
Konzessionen zu machen genötigt wären, wollte ich zunächst
den Besitz Mazedoniens für Serbien sichern, um dann erst
zur Eroberung Bosniens und der Herzogewina schreiten zu
können."17")
Der Hoffnung auf das groß-serbische Reich gab Paschitsch
auch Ausdruck in einer Audienz beim Zaren am 2. Februar 1914.
Er meinte zunächst, man könne Bulgarien gewisse Zugeständ-
nisse machen, „wenn es bei der Lösung der serbisch-kroatischen
Frage behilflich sein wolle", in offener Sprache also, wenn es
am Kriege' gegen Oesterreich teilnähme. Dann richtete er an den
Selbstherrscher aller Reußen die Worte:
„Wenn es uns beschieden ist, eine Tochter des Kaisers
von Rußland zur Königin zu haben, dann wird sie die Sym-
pathien des ganzen serbischen Volkes genießen, und eie
kann, wenn Gott und die Verhältnisse es zulassen, die Zarin
des südslawischen, serbisch-kroatischen Volkes werden. Ihr
Einfluß und ihr Glanz wird die ganze Balkanhalbinsel um-
fassen".
Nikolaus H. wehrte nicht ab, sondern hörte mit sichtlicher
Freude zu und versicherte beim Abschied:
„Für Serbien werden wir alles tun, grüßen Sie den
König1 und sagen Sie ihm: „Für Serbien werden wir alles
tun."177)
Ein halbes Jahr später löste der russische Monarch sein Wort
ein, wenn auch persönlich wohl nur schweren Herzens dem
Drängen seiner Umgebung gehorchend. Er tat für Serbien allss,
sich selbst, seinem Lande und Volke und ganz Europa zum
Unheil.

"') Boghitschewitsch, S. 65 und Anm.


177
) loc. cit., S. 177, 179 und 180.
81

15. Die Rüstungen 1907—1914.


a) R ü s t u n g e n zu L a n d e .
In D e u t s c h l a n d hielten die nach der zweiten Haager
Konferenz folgenden Heeresvermehrungen von 1911 und 1912
mit dem Anwachsen der Bevölkerung nicht gleichen Schritt.
Die Friedensstärke betrug 1912 nur 623 000 Unteroffiziere und
Mannschaften bei einer Volkszahl von 65 Millionen, sie war
demnach von 1,09% im Jahre 1893 auf weniger als 1% ge-
sunken und prozentual noch geringer als 18711
In O e s t e r r e i c h - U n g a r n , das 10 Millionen Einwohner
mehr zählte als Frankreich, blieb die Rekrutetiquote bis 1910
mit 126 000 Mann nur halb so stark wie die französische und
stieg bis 1912 nur auf 175 000. Eine Aushilfe war, daß die Aus-
bildungszeit der Ersatzreservisten von acht auf zwölf Wochen
erhöht wurde.1™)
Die Verschiebung der europäischen Machtverhältnisse, wio
sie Ende November 1912 durch den ersten Balkankrieg einge-
treten war, bedeutete, daß bei einem Konflikt zwischen d«n
Mittelmächten und dem Dreiverband dieser auf die Waffenhilfe
von mehr als einer halben Million kriegserprobter Soldaten des
damals noch einigen Balkanbundes zählen konnte. Dadurch
wären sehr erhebliche Kräfte der ohnehin so schwach ge-
rüsteten Donaumonarchie im Südosten festgehalten worden, so-
daß nur ein ganz unzulänglicher Teil gegen die russischen
Massen zur Verfügung blieb. Es war daher die Pflicht der ver-
antwortlichen Stellen in Berlin und Wien, zu erwägen, wie der
gewaltige Machtzuwachs des Dreiverbandes einigermaßen aus-
geglichen werden konnte. In D e u t s c h l a n d beantragte eine
Denkschrift des Generalstabs Ende November, die jährliche
Rekrutenzahl um 150 000 zu erhöhen, sodaß also binnen zwei
Jahren die Friedensstärke um 300 000 Köpfe gewachsen wäre,
und mindestens drei neue Armeekorps zu errichten.17") Die
Wehrvorlage von 1913 brachte jedoch keine Vermehrung der
Armeekorps und nur ein Mehr von 60 000 Rekruten.
Auch O e s t e r r e i c h spannte seine Wehrkraft etwas
stärker an und erhöhte die Rekrutenquote auf 200 000 oder etwa
*/» der französischen Ziffer.
Auf der Gegenseite hatte R u ß l a n d schon 1905, also
kurz vor der Einladung zur zweiten Haager Friedenskonferenz,
179
) Genauen Nachweis der Zahlen siehe Parlamentarischer Unter-
suchungssauschuß, 1. Unterausschuß, Heft 1, S. 100 ff. und Heft 2,
S. 152 f.
17
*) Ludendorff „Französische Fälschung meiner Denkschrift von.
1912 über den drohenden Krieg" (Berlin 1919, Mittler und Sohn). Dia
Denkschrift ist im französischen Gelbbuch Nr. 2 in gröbster Weise ge-
fälscht. Schon äußerlich fällt auf, daß am 2. April 1913 noch Jonnaxt
als Außenminister genannt ist, obwohl er schon am 22. März zu-
rückgetreten war.
«
82 D i e Friedensstärken 1914

die Zahl der alljährlich einzustellenden. Mannschaften von


337 000 auf 445 000 gesteigert. Im Jahre 1913 brachte das
schon länger geplante „große Programm" eine weitere Er-
höhung auf 580 OOO180). Außerdem wurde die Dienstzeit um
ein halbes Jahr verlängert, sodaß im Winter bei der Infanterie
vier, bei den übrigeil Waffen fünf Jahrgänge unter den Fahnen
standen.
F r a n k r e i c h hatte erst 1905, also 12 Jahre später als
Deutschland, die Dienstzeit auf zwei Jahre herabgesetzt, griff
jedoch 1913 auf die dreijährige zurück. Ueberzeugehde Be-
weise dafür, daß dieser Entschluß gefaßt war, bevor die deutsche
Wehrvorlage in Paris bekannt wurde, liegen meines Erachte na
nicht vor. Sicher aber ist, daß der Gesetzentwurf sofort vor-
gelegt werden konnte, als die erste Nachricht von der deutschen
Heeresvermehrung in die Oeffentlichkeit drang; er muß also wohl
schon länger vorbereitet gewesen sein.181) Gleichzeitig wurde
die Aushebung der Rekruten vom 21. auf das 20. Lebensjahr
vorverlegt, die Wehrpflicht vom 45. bis zum 48. Lebensjahr ver-
längert, sodaß mit einem Schlage volle vier Jahresklassen für
deh Mobilmachungsfall gewonnen waren. Ein Vorstoß der So-
zialisten gegen den verlängerten aktiven Dienst scheiterte. Am
13. Juni 1914 bewilligte die Kammer nicht nur die Beibehaltung
der dreijährigen Dienstzeit, sondern auch bedeutende Mittel für
die militärische Jugenderziehung und die Reorganisation der
Reserven.

Die Friedensstärken im Sommer 1914 waren:


Bevölker- Friedenspr&senzst&rke Pro-
Staat ung In einschl. Olfiziere usw. zent- Bemerkungen
Millionen und Einjährige satz

Deutschland 66 761 0 0 0 ' ) 1,15 *) ohne Offiziere usw.


und Einjährige
695000 = 1,08 »/o
Oesterreich 51 478000 0,94

Italien 36 273000") 0,76 *') Ohne Eingeborene

Frankreich 39.15 794 000 "*) 2,0 ' " ) Ohne 88000 Ein-
geborene und ohne
Fremdenlegionire
Rußland 170 1 4 4 5 000 0,85
(Winter:
1845000)

Das ständige Anwachsen der russisch-französischen Ueber-


legenheit gegenüber den Mittelmächten von der ersten Haager
Konferenz bis 1914 ergibt sich aus der nachstehenden Ueber-
sicht (die Zahlen in Klammem sind die des ganzen Dreibundes
einschließlich Italien):
18ü
) Siehe B e l e g Nr. 12, S. 194.
181
) Siehe B e l e g Nr. 13, S. 194.
Die zahlenmäßige XJeberlegenheit Frankreichs—Rußlands 83

Französisch-russische
Jahr Rußland-Frankreich Mittelmachte Ueberlegenheit

1899 1 47ö 000 950 000 (1208 000) 520 000 (262 000)

1907 1813000 1011000 (1295 000) 802 000 (518 000)

1914 2 239 000 1239000 (1512 000) 1000000 (727 000)


Hinsichtlich der Kriegsstärke hatte der französische Ge-
neralstab schon 1892 berechnet, daß Frankreich—Rußland
700 000 Mann mehr ins Feld stellen könnten als die1 Mittel-
mächte.182) Die planmäßige Kriegsstärke der Truppen erster und
zweiter Linie 1914 war:
Frankreich—Rußland 5 070 000
Deutschland—Oesterreich 3 358 000
Französisch-russische XJeberlegenheit 1 712 000
oder nach Abrechnung von 500 000 Mann
für die erst später eintreffenden außer-
europäischen russischen Truppen = 1 212 000
Was insbesondere das Verhältnis zwischen der deutschau
und französischen Rüstung betrifft, so schreibt darüber der erste
militärische Sachverständige Frankreichs, General Buat:18S)
„Es ist nicht nur unrichtig, zu sagen, daß Deutschland
1914 die prößtmögliche Gesamtanstrengung gemacht hat,
deren es fähig war, sondern es ist überhaupt falsch, zu be-
haupten, daß Deutschland in Ausnützung der Reserven so
weit gegangen sei wie Frankreich."
Buat bespricht dann sehr abfällig die ungenügende Ein-
stellung von Rekruten in Deutschland und die ihm ganz unver-
ständliche Befreiung vom Militärdienst wegen sehr geringer
körperlicher Fehler. Er gibt an, daß das französische Heer im
Frieden stärker war als das deutsche, daß die Gesamtzahl der
im Mobilmachungsfall verfügbaren Wehrpflichtigen in beiden
Ländern die gleiche war, und sagt über das Verhältnis der
Kräfte an der Westfront zu Kriegsbeginn, daß
„an Zahl der großen Einheiten (Divisionen) Frankreich
für sich allein auch ohne die englische und belgische Hilfe
seinem furchtbaren Gegner zum mindesten gleich, wenn
nicht überlegen gewesen sei."
Tatsächlich wurden in Deutschland bis einschließlich 1912
nur 50—55, 1913 etwa 65% der Wehrpflichtigen in das Heer
eingestellt, in Frankreich aber 78—82%. Es dienten also in
18S) Französisches Gelbbuch „L'Alliance franco-rusae", S. 88—39.
Auf S. 45 wird die Ueberinacht gegenüber Deutschland und Oester-
reich (ohne Italien) sogar auf 800.000 Mann angegeben.
183) Siehe Beleg Nr. 14, S. 194.

6*
84 Die französisch-russische Ueberlegenheit an Kriegsmaterial

Deutschland von je 10 Männern 5—6, in Frankreich aber 8 mit


den Waffen. Zum Vergleich des letzten Rüstungsanlaufs von
1913 ist noch zu bemerken, daß die Rückkehr zur dreijährigen
Dienstzeit und die Vermehrung des Kraftreservoirs an ausge-
bildeten Wehrpflichtigen um vier Jahrgänge in Frankreich so-
fort ihre volle Wirkung äußerte, während eine weitere Steige-
rung der militärischen Leistungsfähigkeit in der Folge davon
nicht mehr zu erwarten war. Dasselbe gilt von der Verlängerung
der Dienstzeit in Rußland für den Fall eines Winterfeldzugs.
Die Erhöhung der Rekrutenkontingente in Deutschland, Oester-
reich und Rußland hingegen war eine Maßnahme, die eist nach
vielen Jahren zur vollen Geltung kommen konnte. In Deutsch-
land war bei Kriegsausbruch erst eine einmalige Erhöhung um
60 000 Mann im Oktober 1913 fällig gewesen, die zweite ver-
stärkte Quote wäre erst im Herbst 1914 eingestellt worden, die
Wirkung für die Reserven hätte sich 1919, für die Landwehr
1931, für den Landsturm 1936 im ganzen Umfang fühlbar ge-
macht. Es war eine Maßnahme auf lange1, lange Sicht, nicht
ein Anlauf zu sofortiger Verwertung.
Auch an Waffen und Munition waren die Rüstungen
Deutschlands geringer als die seines westlichen Nachbarn.
Frankreich, das nur auf einer Front zu kämpfen hatte, verfügte
über 340 Millionen Infanteriepatronen und eine halbe Million
Feldartillerieschuß mehr als Deutschland, das seine Streitmacht
auf zwei Fronten verteilen mußte. Nur an Munition für die
schwere Artillerie des Feldheeres bestand ein kleiner Ueber-
schuß auf deutscher Seite.18*) Am 18. Juni schrieb der preu-
ßische Kriegsminister an den Reichskanzler, daß nach den Er-
fahrungen der Balkankriege die Vermehrung der Munitions-
bestände der Feldartillerie dringend notwendig sei, und be-
antragte, die dafür erforderliche Summe von 20 Millionen
Mark in drei Raten in die Etats der Jahre 1915, 1916 und 1917
einzusetzen, sodaß also der als dringend notwendig angefor-
derte Bedarf erst zu Beginn des Jahres 1918 vorhanden ge-
wesen wäre.186) An demselben 18. Juni erklärte der in Paris
sich aufhaltende Petersburger Botschafter Paleologue, der am
12. Januar Delcasse ersetzt hatte, dem neuen Ministerpräsiden-
ten und Außenminister Viviani:
„Ich glaube, daß der Krieg uns nahe bevorsteht, und
daß wir uns auf ihn vorzubereiten haben".181)

1M
) Siehe Beleg Nr. 15, S. 194.
186
) Kriegsminister von Falkenhayn am 18. Juni 1914 an Reichs-
kanzler von Bethmann Hollweg mit Nr. 1150/14gA4 Geheim Etat 1915.
Akten des früheren Preußischen Kriegsministeriums.
"•) Palöologue in der .Revue des deux Mondes1' vom 15. Januar
1921, S. 230.
Die Kapitulation der französischen AntimilitariBten 85

Et empfing die beruhigende Versicherung, daß die friedens-


freundliche Mehrheit der Kammer vor den Nationalisten kapi-
tuliert lind das Dreijahrgesetz angenommen habe.187)

b) R ü s t u n g e n zur S e e .
Zur See hat Deutschland nach der zweiten Haager Konie
renz im Rahmen des 1917 zu vollendenden Flottenprogramms
weiter gebaut. Die Novelle über die Herabsetzung der Lebens-
dauer der Schiffe (Seite 14), die 1908 vom Reichstag an-
genommen wurde, bedingte eine Beschleunigung defe Bautempos,
wodurch in England unbegründeterweise eine große „Flotten-
panik" hervorgerufen wurde, zum Teil geschürt durch ganz über-
triebene Nachrichten. Die deutsche Regierung trat damals in
Erwägungen ein, ob der Bau nicht verlangsamt werden könnte,
und ob es nicht geraten wäre, anstelle von großen Schlacht-
schiffen mehr die Mittel des defensiven Küstenschutzes wie
Unterseeboote, Minen und Küstenbefestigungen zu vermehren.
Aber der Staatssekretär des Reichsmarineamts, Herr von Tir-
pitz, hielt an der Parole fe'st „jedes Schiff mehr ist ein Bollwerk
des Friedens". Nach dem Zwischenfall von Agadir schlug der
Admiral vor, den diplomatischen Mißerfolg durch eine weitere
Verstärkung der Seestreitkräfte wettzumachen.18*) Der Grund-
gedanke der Novelle von 1912 war nun zwar nicht eine Ver-
mehrung der Schiffszahl, die ganz unerheblich war, sondern die
Aktivierung eines Reservegeschwaders, sodaß statt zwei Ge-
schwadern künftig stets drei in Dienst gehalten werden sollten.
So zweckmäßig der Vorschlag auch vom marinetechnischen
Standpunkt ans gewesen sein mag, die politische Begründung
ist befremdend, sodaß die Zustimmung des Reichskanzlers, die
allerdings nicht gerne erteilt wurde, nicht völlig verständlich
ist. Tatsächlich hat die Novelle schädliche politische Folgen
gehabt. Sie trug wesentlich mit zum Scheitern der Mission
Haidane bei (S. ff.) und verursachte, daß 1912 nur eine ganz
ungenügende Vermehrung des Landheeres stattfand, eine
Unterlassung, die 1913 nicht mehr vollkommen ausgeglichen
werden konnte. Das Gesamtergebnis der deutschen Flotten-
politik war, daß die Beziehungen zu England getrübt und der
prozentuale Ausbau der deutschen Landmacht behindert wurde.
Das Urteil der Geschichte dürfte dereinst lauteil: Deutschland
hat seine Seewehr unnötig stark gemacht, insbesondere den für
die Hochsee bestimmten Teil, seine' Landmacht aber, nachdem
nun einmal eine allgemeine Rüstungsminderung nicht, erzielt
war, im Verhältnis zum französisch-russischen Zweibund zu
schwach gehalten und erst zu spät das Versäumte nachzuholen
versucht.
187
) Siehe Belep Nr. 16. S. 194.
198
) von Tirpitz „Erinnerungen", S. 182.
66 Die deutsche Flotte keine Bedrohung Englands

Aber wenn man auch die deutsche Flottenpolitik als ver-


fehlt ansieht, einen Kriegswillen kann man aus ihr ganz sicher
nicht ableiten. Eine Seemacht von 35 Großkampfschiffen und
insgesamt 1,02 Millionen Tonnen konnte dem alle Meere beherr-
schenden Britannien mit seinen 60 Großkampfschiffen und 2,17
Millionen Tonnen nicht gefährlich werden.189) England besaß
also 17 gegen 10 Großkampfschiffe. Churchill bezeichnete am
18. März 1912 schon 16 gegen 10 als genügend; Tirpitz erklärte
am 7. Februar 1913, daß Deutschland dieses Verhältnis nicht
überschreiten werde.

c) M i l i t ä r - u n d Marinekonventionen.
Nicht nur an Zahl der Streiter, Geschütze und Schiffe war
der Dreiverband deT Gegenseite überlegen, sondern auch durch
sehr genaue militärische Vereinbarungen.
Deutschland und Oesterreich hatten trotz 35jährigen Bünd-
nisses keine Militärkonvention abgeschlossen. Die in den 80er
Jahren Bismarck mühsam abgerungenen Besprechungen d3r
Generalstäbe trugen keinen verbindlichen Charakter und waren
sehr unbestimmt gehalten. Nach 1896 Tuhte der Gedankenaus-
tausch über Führung der Operationen im Falle eines gemeinsamen
Krieges volle zwölf Jahre und wurde erst während der Krise
1908/09 wieder aufgenommen. Aber auch damals kam es zu
keinerlei verpflichtenden Abmachungen über den Zeitpunkt der
Mobilmachung und über die auf den verschiedenen Fronten ein-
zusetzenden Kräfte. General von Conrad schildert ausführlich
seine letzte Unterredung mit Moltke am 12. Mai 1914 während
dessen Kuraufenthalts in Karlsbad und würde bei seiner Offen-
herzigkeit sicher nicht! verfehl haben, solche Abmachungen
in größter Breite vorzutragen.190) Noch am 22. Juli 1914 ver-
weigerte der österreichische Generalstabschef dem deutschen
Militärattache Auskunft über die eintretendenfalls gegen Serbien
zu mobilisierenden Korps.191) Nur Italien war 1887 eine Militär-
konvention mit Deutschland eingegangen, und 1913 kam infolge
der in Rom als, bedrohlich empfundenen französischen Flotten-
verstärkung im Mittelmeer ein neues deutsch-österreichisch-ita-
lieüisches Marineabkommen zustande.192)
Andels als Bismarck verfuhr Frankreich beim Abschluß
seiner Bündnisse. Es legte stets den Nachdruck auf den mili-
tärischen Teil. Das, was Bismarck befürchtete, die Verab-
redungen der Militärs könnten im Augenblick der Gefahr den
Politikern die Hände binden, war gerade das, was man in Paris
begünstigte. Auf das diplomatische Abkommen mit Rußland
18e
) Die Zahlen beziehen sich auf die Stärken von 1914 und sind
„Nauticus"
19
entnommen.
1M
°) Siehe Beleg Nr. 17, S. 194.
) Deutscher Militärbericht Wien vom 22. Juli 1914.
m
) Prihram L, S. 808.
Militär und Marinekonventionen der Entante 87

von 1891 folgte schon, im nächsten Jahre die so friedensgefähr-


liche Militärkonvention, auf deren Charakter später noch ein-
zugehen sein wird. Sehr häufig, schließlich sogar alljährlich
kamen die Generalstäbe zusammen, um alle Punkte in gemein-
samen Konferenzen genauestens durchzuberaten. Ihre Beschlüsse
wurden ab 1911 von den Regierungen ratifiziert und damit poli-
tisch bindend.193)
Zwischen Frankreich und England aber waren die militä-
rischen Abmachungen, die schon um die Jahreswende 1905/06
begonnen hatten, dem diplomatischen Notenwechsel sogar um
sechs Jahre vorausgegangen. Ihr Inhalt wird noch sorgfältig
in den Archiven geheimgehalten, doch Iswolsky konnte im
Frühjahr 1914 berichten, daß sie „technisch noch vollkommener"
als die französisch-russische Konvention seien, allerdings nur
fakultativen Charakter trügen.1**) Mit der im August 1912 ab-
geschlossenen französisch-russischen Marmekonvention be-
zweckte Poincaré zwar zunächst nur, durch Konzentration der
Hauptseemacht im Mittelmeer einerseits einen Druck auf Italien
auszuüben, andererseits — ganz im Gegensatz zu der 1911 von
seinem Vorgänger beobachteten Zurückhaltung (Seite 70) —
den russischen Meerengenwünschen tunlichst entgegenzu-
kommen. Aber dieser Dislokation der französischen Flotte, die
damals auch ihr letztes Geschwader aus dem Kanal heranzog,
kam eine außerordentliche Tragweite deshalb zu, weil sie im
Einvernehmen mit England getroffen war,19') das damit zum
mindesten eine moralische Verpflichtung zur Verteidigung der
von eigenem Schutz entblößten Nordküste Frankreichs in jedem
Kriege übernahm, gleichviel aus welchem Grunde dieser ent-
stehen mochte.
Auch zwischen Rußland und England sollte, da ja die Ver-
ständigung von 1907 keinen bündnisartigen Charakter hatte,
das militärische Abkommen dem diplomatischen vorangehen.
Rußland wollte' dabei die bekanntlich nicht mehr zum Abschloß
g'elanerende Marinekonvention sogar dahin ausgebaut haben,
daß England schon im Frieden Transportschiffe für Landungen
an der pommerschen Rüste nach den baltischen Häfen schicke,
eine Zumutung, die Benckendorff so weitgehend fand, daß er
dringend riet, davon Abstand zu nehmen.1")
"') Protokolle der Konferenzen von 1911, 1912 und 1913 im so-
genannten „Russischen Blaubuch", S. 697 ff., deutsche Uebereetzunp
in den „Süddeutschen Monatsheften August 1922.
1M
) „Livre Noir« IL, S. 249.
»») loc. cit. I., S. 326.
"•) „Livre Noir" IL, S. 325.
88

UI. TeU.
Die Krise
1. Das Attentat von Serajewo.
In die mit Zündstoff geschwängerte Atmosphäre des Kon-
tinents wurde die Brandfackel geschleudert, als am 28. Juni 1914
österreichisch-ungarische Staatsangehörige serbischer Nationali-
tät den österreichischen Thronfolger und seine Gemahlin er-
mordeten. Die durch die Erfolge der Balkankriege maßlos ge-
steigerte großserbische Agitation hatte Nationalisten zu dieser
Tat getrieben.
Die Einleitung des englischen Blaubucha sagt:
„Niemals hat ein Verbrechen in ganz Europa größeren
Abscheu in allen Kreisen erregt, niemals war ein Ver-
brechen weniger gerechtfertigt"
„Oesterreich war provoziert. Es hatte eich über eine
gefährliche Volksbewegung gegen seine Regierung zu be-
klagen."
Viviani ist am 5. Juli 1922 in der französischen Kammer
da« Geständnis entschlüpft:
„Man würde es verstanden haben, wenn Oesterreich
Tags darauf in einem Augenblick der Erregung ein Ulti-
matum, sogar ein brutales Ultimatum, an Serbien ge-
richtet hätte".')
Ueber die Wirkung des Attentats urteilte der serbische
Konsul in Odessa im Jahre 1915 in einer mit Erlaubnis der russi-
schen Zensur veröffentlichten Schrift:
„Vom Jahre 1908 bis 1914 hat der hilflose, kleine sla-
wische Staat es gewagt, an dem schwer bewaffneten euro-
päischen Frieden zu rütteln. Die' Südslawen hörten nicht
auf, den Ungarn und den Deutschen zuzurufen: „Wir
fürchten uns nicht vor euch, denn hinter uns steht Serbien,
hinter Serbien Rußland und seine Freunde!" Die Südslawen
haben das kleine Serbien in den Krieg1 mit Oesterreich-Un-
garn gezwungen, indem sie den Vorfall in Serajewo herbei-
führten. Die Schüsse in Serajewo setzten die ganze Wolt
in Brand".')
») ..Journal Officiel", Juli 1922, S. 2836.
s
) Friedjunsr II. S. 186 nach der russischen Schrift: „Der Friede
und die internationale Gleichberechtigung".
Die Hintermänner des Attentats 89

Ueber die Hintermänner des Attentats berichtete der zur


Untersuchung nach Serajewo entsendete österreichische Beamto
am 13. Juli, die Mitwissenschaft, der serbischen Regierung an
der Leitung oder Vorbereitung des Mordes und die Beistellung
der Waffen durch die Regierung sei nicht erwiesen oder auch
nur zu vermuten, sei vielmehr als ausgeschlossen anzusehen.
Hingegen sei in kaum anfechtbarer Weise festgestellt, daß das
Komplott in Belgrad beschlossen wurde, und daß ein serbischer
Staatsbeamter und ein serbischer Offizien dazu Bomben, Munition
und Gift geliefert haben. Der Ursprung der Bomben aus einem
serbischen Armeemagazin sei objektiv einwandfrei erwiesen,
doch fehlten Anhaltspunkte dafür, daß sie eigens zu diesem
Zweck dort entnommen seien. Nach deh Aussagen Beschul-
digter sei endlich kaum zweifelhaft, daß die Attentäter mit
Bomben und Waffen von serbischen Grenzhauptmännern und
Finanzwachorganen geheimnisvoll über die Grenze nach Bos-
nien geschmuggelt worden seien.')
Seitdem ist bekannt geworden, daß der Chef der Nach-
richtenabteilung des serbischen Generalstabs, Oberst Dimitri-
jewitsch, die ganze Aktion geleitet hat. Er teilte in einer Sitzung
der „Schwarzen Hand" am 15. Juni 1914 mit, seiner Ansicht
nach bildeten die bevorstehenden österreichische^ Manöver in
Bosnien nur die Einleitung zu einem Kriege gegen Serbien, Erz-
herzog Franz Ferdinand sei die Seele dieses Unternehmens, er
habe daher alle Vorbereitungen getroffen, um den Thronfolger
aus dem Wege zu räumen und so den Krieg zu verhindern. Da
alle Anwesenden mit Ausnahme von zweien gegen den Plan sich
erklärten, versprach der Oberst, von seinem Vorhaben abzu-
stehen, ließ aber in Wirklichkeit den schon getroffenen Vorbe-
reitungen freien Lauf. Während der Weltkrieges, im Frühjahr
1917, wurde Dimitrijewitsch mit einigen anderen Offizieren
kriegsgerichtlich zum Tode verurteilt und erschossen, angeb-
lich wegen einer Verschwörung gegen den Prinzregenten von
Serbien. Nach glaubwürdigen Nachrichten erfolgten Verurteilung
und Erschießung jedoch deswegen, weil die Urheberschaft
Dimitrijewitschs am Attentat festgestellt worden war, und die
serbische Regierung sich durch die Bestrafung des Offiziers den
Weg zu einem Sonderfrieden mit Wien frei machen wollte. Eine
Mitschuld der politischen Leitung ist auch damit nicht erwiesen,
umsoweniger als im Jahre 1914 die Beziehungen zwischen ihr
und der „Schwarzen Hand" eher gespannt waren.*) Es würde
jedoch für die öffentliche Meinung der Welt von sehr großer Be-
deutung gewesen sein, wenn während der kritischen Tage be-
kannt geworden wäre, daß ein angesehener, in höchst
3
) Beleg Nr. 18 S. 195.
*) Alle Angaben über Dimitrijewitsch nach Mitteilungen des frühe-
ren Keichstagsabgeordneten Wendel, eines Hervorragenden Kenners Ser-
biens, im Parlamentarischen Untersuchungsausschuß.
90 Die Attentäter als NationaLhelden gefeiert

verantwortlicher Stellung befindlicher serbischer Generalstabs-


offizier der Anstifter des Mordes war.
Unmittelbar nach dem Waffenstillstand 1918 forderten ser-
bische Offiziere in "Wien alle auf den Prozeß von Serajewo und
die großserbische Bewegung bezüglichen Akten ein. Entlastend
für Belgrad dürfte das Material kaum gewesen sein, sonst wäre
es sicher veröffentlicht worden. Im Jahre 1919 hat sodann die
serbische Regierung die Attentäter durch eine kirchliche Feier
am Orte der Tat als Nationalhelden gefeiert.
2. Die Mission Hoyos.
Die ganze Welt erwartete, daß die Monarchie scharf gegen
Serbien vorgehen werde. Auch die deutsche Regierung war der
Ansicht, daß energische Schritte angezeigt seien. Die „Einge-
nommenheit" Kaiser Wilhelms für Serbien, über die Graf Tisza
noch am 1. Juli klagte — Oe I. 2,5) war zu Ende, wie manche
sehr drastische Randbemerkungen deutlich zeigen. In Berlin
bestand die Auffassung, daß hinter den Umtrieben, die das
Attentat veranlaßt hatten, die serbische Regierung stehe.
Als Abgesandter des Grafen Berchtold erschien am 5. Juli
in der Reichshauptstadt Legationsrat Graf Hoyos, der ein Hand-
schreiben Kaiser Franz Josephs und eine Denkschrift der öster-
reichisch-ungarischen Regierung überbrachte — D 13 u. 14.
Die Denkschrift geht davon aus, daß die Mittelmächte eine kon-
servative Politik, der russisch-französische Zweibund aber
offensive Ziele verfolge, und zieht dann eine Bilanz der Balkan-
kriege. Als aktive Posten werden die Gründung eines selb-
ständigen Albaniens, die dreibundfre'unclliche Haltung Griechen-
lands und die Befreiung Bulgariens vom russischen Einfluß ge-
nannt. Größer aber seien die Passiva: die Schwächung der
Türkei; die außerordentliche Vergrößerung Serbiens, dessen
möglicherweise bevorstehende Vereinigung mit Montenegro
und ganz besonders die Annäherung Rumäniens an Rußland
und Serbien, wodurch das bisherige Bündnis der Mittelmächte
mit Rumänien kaum mehr „verläßlich und tragfähig" gestaltet
werden könne. Infolge dieser Kräfteverschiebung sei die Haupt-
bürgschaft des europäischen Friedens, die „militärische Supe-
riorität" der Mittelmächte, im Begriff zu verschwinden. Auch
seien Rußland und Frankreich mit dem für sie so günstigen Er-
gebnis der Balkankriege noch nicht zufrieden, sondern strebten

D = Deutsche Dokumente zum Kriegsausbruch.


E = Englisches Blaubuch.
F = Französisches Gelbbuch.
Oe = Oesterreichiches Rotbuch 1919.
R = Russisches Orangebuch.
Die beigesetzten Zahlen geben die Nummern der Dokumente, nicht
die Seitenzahlen.
Die Denkschrift des Wiener Kabinetts 91

die Bildung eines neuen Balkanbundes an, der die Ueberlegen-


heit der beiden Kaisermächte „durch Hilfstruppen vom Balkan
her brechen" solle, wobei den Balkanstaaten durch „eine staffel-
weise Verrückung der Grenzen von Ost nach West" Gebiets-
erweiterungen auf Kosten Oesterreich-Ungarns in Aussicht ge-
stellt würden. Um dieser Gefahr zu begegnen, schlug die
Wiener Regierung vor, an Stelle von Rumänien nunmehr Bul-
garien zum „Balkanexponenten" der Mittelmächte zu machen
und mit ihm einen Vertrag abzuschließen, der durch ein bul-
garisch-türkisches Bündnis ergänzt werden könnte. In mili-
tärischer Hinsicht wurde lediglich in Außßicht genommen „für
den Kriegsfall andere Dispositionen zu treffen und auch die An-
lage von Befestigungen gegen Rumänien in Betracht zu ziehen".
Beide Maßnahmen, besonders die Anlage von Befestigungen,
waren ein Programm auf lange Sicht. Ueber Serbien war nur in
einem Schlußabsatz gesagt, daß nunmehr „der unzweifelhafte
Beweis für die Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen
der Monarchie und Serbien, sowie für die Gefährlichkeit und
Intensität der vor nichts zurückschreckenden großserbischen
Bestrebungen" erbracht worden sei. Es bestehe daher für die
Monarchie „die Notwendigkeit, mit entschlossener Hand die
Fäden zu zerreißen, die die Gegner zu einem Netze über ihrem
Haupte verdichten wollen". In früheren Entwürfen der Denk-
schrift, die eine lange Vorgeschichte hatte,*) war die Möglich-
keit einer Wiederannäherung Serbiens an Oesterreich-Ungarn
durch rumänische Vermittlung in Betracht gezogen; dieser
Punkt war nunmehr gestrichen. Befremdend ist die Auffassung,
daß vor dem Balkankriege eine militärische Ueberlegenheit der
Mittelmächte bestanden habe und jetzt erst zu schwindet be-
ginne.
Das Handschreiben Kaiser Franz Josephs bewegt sich in
demselben Gedankengang und faßt als Hauptziel die Schaffung
eines neuen, den Mittelmächten freundlichen Balkanbundes ins
Auge. Wenn darin gesagt ist, das Bestreben der Wiener Regie-
rung müsse „in Hinkunft auf die Isolierung und Verkleinerung
Serbiens gerichtet sein", so ist damit nicht ein Eroberungskrieg
Oesterreich-Ungarns angekündigt, sondern die seinerzeit ver-
geblich angestrebte Revision des Bukarester Friedens zu Gun-
sten Bulgariens. Daß die Monarchie nicht weitgreifende
Annexionen für sich, sondern eine Neuordnung des territorialen
Besitzstandes zwischen den BaJkanstaaten anstrebte, geht auch
aus dem viel genannten Bericht des bayrischen Geschäftsträgers
in Berlin vom 18. Juli hervor >— D Anhang IV. 2, dessen In-
halt bei der ersten Veröffentlichung im November 1918 sowohl
durch die Weglassung des ganzen Abschnitts über den Balkan
4
) Dr. Rod. Gooss: „Das Wiener Kabinett und die Entstehung des
Weltkrieges", S. 3 ff.
92 Die deutsche Antwort vom 6. Juli

als auch durch viele andere Auslassungen in schlimmster Weise


entstellt worden ist.7)
Die maßgebende deutsche Antwort auf die österreichische
Denkschrift und deren mündliche Erläuterungen bildet die vom
Reichskanzler als verantwortlichem Leiter der Politik nach Vor-
trag beim Kaiser an den Wiener Botschafter erlassene Weisung
vom 6. Juli — D 15. Darin war gesagt, daß Kaiser Wilhelm
sich der Gefahr nicht verschließe, die Oesterreich-Ungarn und
damit dem Dreibund aus der von russischem und serbischen
Panslawisten betriebenen Agitation drohe". Dem Versuch, Bul-
garien an den Dreibund heranzuziehen, wurde beigestimmt und
zugesichert, in Bukarest auf die Erfüllung der Bündnispflichten
und auf Unterdrückung der rumänischen Agitation gegen Oester-
reich-Ungarn hinzuwirken. Bezüglich Serbiens war lediglich
bemerkt, daß der Kaiser
„in den zwischen Oesterreich-Ungarn und diesem Lande
schwebenden Fragen naturgemäß keine Stellung nehmen
könne, da sie sich seiner Kompetenz entzögen. Kaiser
Franz Joseph könne sich aber darauf verlassen, daß S. M.
im Einklang mit seinen Bündnispflichten und seiner alten
Freundschaft treu auf Seiten Oesterreich-Ungarns stehen
werde".
Der Kanzler hate die im Entwurf hinter „Freundschaft"
eingeschalteten Worte „unter allen Umständen" eigenhändig
gestrichen. Obwohl die Instruktion D 15 nur zur „persönlichen
Orientierung" Herrn von Tschirschkys bestimmt war, ist sie als
die maßgebende Antwort der deutschen Regierung auf das
österreichische Memorandum anzusehen, da sie völlig überein-
stimmt mit den Erklärungen, die der Reichskanzler am 6. Juli
dem österreichisch-ungarischen Botschafter machte, und über
die dieser sehr zutreffend berichtete — Oe I. 7.8)
Die Berliner Regierung ließ also dem Verbündeten freie
Hand und erklärte sich mit allen Maßnahmen, folglich auch
mit einem Kriege gegen Serbien einverstanden. Das bedeutete
zweifellos eine Schwenkung der deutschen Politik. Gerade vor
Jahresfrist war man einem solchen Plane des Wiener Kabinetts
scharf entgegengetreten. Welche Gründe haben diese ver-
änderte Haltung veranlaßt? In erster Linie die Auffassung, die
von der großserbischen Agitation dem Bestand deT Monarchie
drohende Gefahr sei so dringend geworden, daß längere Un-
tätigkeit mit der Pflicht der Selbsterhaltung nicht mehr ver-
einbar sei. Ein zweiter Grund waT die Annahme, daß im vor-
liegenden Falle der Zar sich nicht auf Seite Serbiens stellen
könne. Es war eine beim Charakter Wilhelms II. sehr erklär-
7
) „Süddeutsche Monatshefte". Mai 1922.
8
) Bericht des Grafen Szö'gy6ny vom vorhergehenden Tage (5. Juli)
über die Unterredung mit Kaiser Wilhelm siehe IV. Abschnitt 1. Kapitel.
S. 168.
Die Unterachätzung der Gefahr der Osterreichischen Aktion 93

liehe Ueberschätzung des monarchischen, Solidaritätsgefühls,


die indessen auch an anderen Stellet vorherrschte. Wenigstens
berichtete der belgische Gesandte, man sage sich in Berlin
„Serbien werde es nur dann so weit kommen lassen, wenn es
sich von Rußland gestützt fühlte. Aber die Regierung dos
Zaren werde es nicht unterstützen, denn sie müsse selbst den
Abscheu und die Furcht teilen, die das Verbrechen der Mörder
hervorgerufen habe."9) Dazu kam drittens der nach allen, von
militärischer Seite vorliegenden Nachrichten nicht gerecht-
fertigte Irrtum, daß Rußland „keineswegs kriegsbereit" sei.
Endlich beruhte die optimistische Beurteilung" der Lage' darauf,
daß das gute Verhältnis zu England sich in der letzten Zeit
immer mehr gefestigt hatte. Das große deutsch-englische Ab-
kommen über die portugiesischen Kolonien in Afrika und die
Bagdadbahn stand vor dem Abschluß. Nahm aber England bei
einem etwaigen diplomatischen Konflikt eine für Oesterreich
und Deutschland freundliche Haltung ein, so würde voraussicht-
lich Frankreich den Entschluß zum Kriege nicht finden, und
ohne französische Waffenhilfe werde auch Rußland nicht los-
schlagen. Ueberschätzung des monarchischen Solidaritätsgefühla
des Zaren, Unterschätzung des Kriegs willens und der Kriegs-
bereitschaft Frankreichs und Rußlands, Täuschung über die
Stellungnahme Englands — diese drei Irrtümer bewirkten eine
UnteiSchätzung der ungeheuren Gefahr, mit der die öster-
reichische Aktion gegen Serbien verbunden war.
Nach der Beratung mit dem Reichskanzler am Nachmittag
des 5. Juli ließ Kaiser Wilhelm den Kriegsminister rufen. Gene-
ral von Falkenhayn verständigte, obwohl ohne Auftrag, den zur
Kur in Karlsbad weilenden Generalstabschef von den ihm ge-
machten Eröffnungen. Nach Mitteilungen des österreichischen
Botschafters glaube der Kaiser annehmen zu sollen, daß Oester-
reich-Ungarn die Umtriebe Serbiens nicht länger dulden und „er-
forderlichenfalls" dort einrücken wolle. Der Minister bemerkte
jedoch, daß er aus einem ihm vorgelesenen Regierungsmemo-
randum und kaiserlichen Handschreiben nicht die Ueberzeugung
von einem festen Entschluß des Wiener Kabinetts gewonnen
habe; beide Schriftstücke sprächen „nicht von einem kriege-
rischen Austrag", sondern nur von „energischen politischen
Schritten, z. B. dem Abschluß eines Vertrags mit Bulgarien",
wof üi Wieh sich die Berliner Unterstützung sichern wolle. Auch
der Reichskanzler „könne ebenso wenig wie er selbst daran
glauben, daß es der österreichischen Regierung mit ihrer immer-
hin gegen früher entschiedeneren Sprache emst sei." Die näch-
sten Wochen würden „sicherlich in keinem Falle eine Ent-
scheidung bringen", General von Moltke brauche daher seinen

9
) „Belgische Aktenstücke" Nr. 119.
Die militärischen Empfange am E. und 6. Jnli
Badeaufenthalt nicht abzukürzen.10) An demselben Nachmittag
wurde auch ein Offizier des Admiralstabs vom Kaiser empfangen,
ferner am folgenden Morgen zwischen dem um 8y& Uhr statt-
findenden Frühstück und der dreiviertel Stunden später erfolgen-
den Abreise nach Kiel je ein Vertreter des Reichsmarineamts
und des Generalstabs. Diese drei Offiziere verständigte der
Kaiser einzeln in Unterredungen von wenigen Minuten über den
Empfang des österreichischen Botschafters mit dem Hinzufügen
„er glaube nicht an größere kriegerische Verwicklungen, der
Zar werde sich nicht auf Seite der Prinzenmöxder stellen, Ruß-
land und Frankreich seien nicht kriegsbereit, es sei nicht nötig,
besondere Anordnungen zu treffen" — D, S. XIII ff.11)
Das ist die Wahrheit über die während des Krieges als
Hauptbeweisstück für den Kriegswillen Deutschlands propa-
gierte Legende des „Kronrats vom 5. oder 6. Juli", deren Ent-
stehung auf Hotelklatsch zurückzuführen ist.") Kein Chef der
obersten Militär und Marinebehörden wurde aus Urlaub zu-
rückgerufen, keine militärischen Vorbereitungen wurden ge-
troffen, Kaiser Wilhelm trat die alljährliche Nordlandreise plan-
mäßig an.
3. Die Reise Polncarés nach Petersburg.
Wie 1912 als Ministerpräsident, so wollte im Sommer 1914
Poincaré auch als Staatschef der Republik dem russischen Zaren
seine Huldigung darbringen. Vor zwei Jahren hatte er den
serbisch-bulgarischen „Kriegsvertrag" scharf kritisiert und Vor-
behalte wegen der Bündnispflicht bei Balkanfragen gemacht.
Nunmehr war er zu der Auffassung bekehrt, daß jede Gebiets-
vergrößerung Oesterreichs auf der südöstlichen Halbinsel eine
auch die Interessen Frankreichs schädigende Störung des euro-
päischen Gleichgewichts bedeute. Die Störung dieses Gleich-
gewichts durch den Machtzuwachs russischer Schutzbefohlener
aber hatte er hochwillkommen geheißen.
Am 20. Juli warf der Panzerkreuzer „France" auf der
Reede von Peterhof Anker. Freudig fühlte der französische
Botschafter Paléologue, der Schulgefährte und Jugendfreund
des Präsidenten, sein Herz schlagen. Er ist Fatalist, überzeugt
vom baldigen Ausbruch des Krieges, hat für den Fall der Ab-
lehnung der dreijährigen Dienstzeit durch die französische Kam-
mer mit seiner Demission gedroht und eben noch dem, die Frie-
densliebe Wilhelms n. beteuernden Zaren widersprochen. Mit
Genugtuung bemerkt er, daß beim ersten Gespräch zwischen
den beiden Staatsoberhäuptern alsbald Poincaré allein das
Wort führt.
10
) Brief Falkenhayns siehe Beleg Nr. 19, S. 196.
") Zeiten nach dem Journal des Hoffuriers und Angaben der Eisen-
bahndirektion Potsdam.
") Siehe IV. Abschnitt 2. Kapitel 8. 170.
KrägBBtimnmiiff in Petersburg 95
Im Festsaal der Kaiserin Elisabeth, bei feenhaftem Glänze,
wie nur der Petersburger Hof ihn kannte, werden abends die
ersten Trinksprüche gewechselt. Der französische scheint bei
den russischen Würdenträgern den Gedanken zu wecken „so
sollte ein Selbstherrscher sprechen." Das russische Volk nahm
weniger Anteil am Besuche. Streikende Arbeiter gerieten mit
der Polizei in Konflikt. Französische Agenten berichteten, das
sei das Werk deutscher Umtriebe.
Beim Empfang des diplomatischen Korps am folgenden
Tage erteilt Poincaré dem japanischen Botschafter Belehrungen
über den notwendigen Beitritt seines Landes zum Dreiverband;
dem britischen gibt er die Versicherung, daß Rußland in der
persischen Frage England tunlichst entgegenkommen werde,
und betont die Notwendigkeit der Umwandlung des Dreivor-
bandes in einen Dreibund; dem österreichischen setzt er in
längerer, taktloser, wie eine Drohung klingender Rede ausein-
ander, daß Serbien „Freunde" habe — man beachte die Mehr-
zahl. Zu Japan, zu Großbritannien, zu Oesterreich-Ungarn
sprach Poincaré also zugleich im Namen Rußlands. Dem Jugend-
freund sagte er dann: „Sasonow muß fest bleiben und wir
müssen ihn unterstützen." Die Gesandten der kleineren Staaten
konnte der Führer des russisch-französischen Zweibundes- nur
flüchtig durch Händedruck begrüßen. Einzig der Vertreter
Serbiens wurde durch einige teilnahmsvolle Worte ausgezeich-
net. In der Hauptstadt dauerten die Unruhen an. Jedoch hatte
die Polizei dafür gesorgt, daß bei den Fahrten des Präsidenten
an jeder Straßenecke „eine Gruppe armer Teufel unter Aufsicht
des Kommissars Hurrarufe ausstieß."
Am dritten Tage Festtafel, gegeben im Lager von Krasnoje-
Sjelo vom Haupt der russischen Kriegspartei, Großfürsten Niko-
laus Nikolaj e witsch. Seine Gemahlin, Großfürstin Anastasia,
eine Tochter des Königs von Montenegro, begrüßte mit ihrer
Schwester Militza den französischen Botschafter enthusiastisch.
Sie spricht von historischen Tagen. Ihr Vater habe telegraphiert,
daß vor Monatsschluß der Krieg ausbrechen werde. Sie zeigt
eine Bonbonniere, die sie stets bei sich trage, gefüllt mit loth-
ringischer Erde, die sie vor zwei Jahren auf den Manövern dort
gesammelt hatte. Die Blume Lothringens, die Distel, bildet dan
ausschließlichen Schmuck der Ehrentafel. „Der Krieg wird
kommen Von Oesterreich wird nichts bleiben
Sie werden Elsaß und Lothringen wieder nehmen ..
Unsere Armeen werden sich in Berlin vereinigen
Deutschland wird vernichtet werden " Das ist das
Tischgespräch, das vor einem strengen Blick des Zaren ver-
stummt.
Am letzten Tage, am 23. Juli, nach glänzender Truppen-
schau in Krasnoje-Sjelo, Abschieds mahl an Bord der „France".
Der Trinkspruch des französischen Präsidenten schloß mit den
96 Die feste Sprache Poincaré«

Worten: „Beide Länder haben dasselbe Ideal: Friede in Stärke,


Ehre und Würde". Beifallssalven ertönen. Großfürst Nikolaua
und seine Gemahlin werfen dem verbündeten Botschafter feu-
rige Blicke zu. Sie hatten verstanden, was die Worte „Friede
in Stärke, Ehre und Würde" bedeuteten. „Diese Worte werden
einen Markstein in der Weltgeschichte bilden," weissagt die
Tochter der Schwarzen Berge. Der Zar versichert dem Bot-
schafter auf der Rückfahrt nach Petersburg: „Je schwieriger
die Lage wird, desto mehr müssen wir einig und fest bleiben."13)
Weniger als über den äußeren Verlauf des Bewuchs wissen
wir über die geheimen Besprechungen jeneT Tage.1*) Wahr-
scheinlich, wenn auch nicht sicher nachweisbar ist, daß die
Franzosen noch in Petersburg den Konsiliarbericht aus Wien
vom 20. Juli erhielten — F 14 —, worin die allgemeine Tendenz
und vier wesentliche Punkte der österreichischen Note gemeldet
waren. Sicher jedoch ist Folgendes: Sasonow wußte schon am
22. Juli, angeblich nach Gerüchten, daß Oesterreich eine Inter-
vention in Belgrad vorbereite, und hatte bei seinen Besprechun-
gen mit Viviani die Gewißheit gewonnen, daß
„auch Frankreich sehr besorgt wegen der möglichen Wen-
dung der österreichisch-serbischen Beziehungen und nicht
geneigt sei, eine durch die Umstände nicht gerechtfertigte
Demütigung Serbiens hinzunehmen."16)
Die russischen und französischen Staatsmänner hatten femer
vereinbart, nicht nur ihrerseits auf Oesterreich einzuwirken, daß
es keine Forderungen stelle, die als Einmischung in die inneren
Angelegenheiten Serbiens angesehen werden könnten, sondern
auch England zu gleichem Vorgehen in Wien aufzufordern —
F 22. Somit waren noch vor genauer Kenntnis der österreichi-
schen Demarche die Vorbereitungen getroffen, den serbisch-
österreichischen Konflikt aus der Lokalisierung herauszuführen
und zu einer europäischen Frage zu machen. Der Geist der Ver-
handlungen erhellt weiterhin aus dem, was Nikolaus II. 1915 zu
dem französischen Minister a. D. Cruppi sagte:
„Ich habe stets in meinem Geiste die so feste Sprache
gegenwärtig, die der Präsident der Republik am 22. Juli
1914 im Augenblick, da er Rußland verließ, mir gegenüber
geführt hat".")

") Vorstehende Schilderung des Besuchs nach Pateologue in der


„Revue des deux Mondes" vom 15. Januar 1921 S. 282—247, ferner Be-
richt Szäpäry — Oe I. 45.
") E 6 sollte nach dem Inhaltsverzeichnis über die Ergebnisse des
Besuchs Poincar6s Aufschluß geben, aber dieser Teil des Textes ist vor-
sichtigerweise unterdrückt worden.
„Livre Noir" II. S. 275.
") „Matin" 26. August 1915. Für 22. Juli dürfte der 23. zu lesen
sein.
97

4. Das österreichische Ultimatum.


Die deutsche Regierung hat bei Aufstellung der an Ser-
bien zu richtenden Forderungen nicht mitgewirkt. Einen Grund
hierfür gibt eine kaiserliche Randbemerkung vom 4. Juli —
D 7 — es sei „lediglich Oesterreichs Sache, was es zu tun ge-
denkt. Nachher heißt es dann, wenn's schief geht, Deutschland
hat nicht gewollt." In Berlin kannte man die österreichische
Empfindlichkeit und wollte sich später nicht vorwerfen lassen,
daß man abermals dem Bundesgenossen in den Arm gefallen sei.
Der wichtigere Grund jedoch war, daß man für den Fall eines
ernsten diplomatischen Konflikts mit Rußland sich die Möglich-
keit wahren wollte, als bisher unbeteiligte Partei die Vermitt-
lung zu übernehmen. Das der Wiener Diplomatie durch diese
Zurückhaltung gewährte Vertrauen sollte sich in der Folge
allerdings als nicht gerechtfertigt erweisen. Das Berliner Ka-
binett hat nicht nur keine Ratschläge erteilt, sondern auch auf
Wiener Sondierungen darüber, welche Forderungen in Belgrad
zu stellen seien, eine Meinung nicht geäußert. Umgekehrt kam
vom Ballhausplatz keine volle Aufklärung über die dortigen Ab-
sichten. Kein Beleg findet sich dafür, daß an den Botschafter
von Tschirschky eine Weisung ergangen sei, mit vollem Nach-
druck zur Aktion gegen Serbien zu treiben.17)
Nur in zwei Beziehungen suchte man in der Wilhelmstraße
auf Wien einzuwirken, man wünschte nämlich eine rasche Aktion
und für den Fall militärischen Vorgehens die Unterlassung aller
Mobilmachungsmaßnahmen in Galizien.18) Beschleunigung schien
geboten, damit der Schritt zu einer Zeit erfolge, da die Welt
noch unter dem frischen Eindruck des von der öffentlichen Mei-
nung scharf verurteilten Attentats stehe. Dieses Drängen war
ganz im Sinne des Zugeständnisses Vivianis (S. 88.) Ebenso
berechtigt war andererseits, nachdem einmal viel Zeit versäumt
war, der Wiener Entschluß, die Note in Belgrad nicht gerade
dann übergeben zu lassen, als der französische Besuch in Peters-
burg in überreizter chauvinistischer Stimmung gefeiert wurde,
was leicht übereilte Beschlüsse der Gegner hervorrufen konnte.
Es bekundet einen merkwürdigen Mangel an Logik, Deutsch-
land gleichzeitig aus dem Drängen zu raschem Handeln und aus
der späteren, nicht einmal auf deutsche Initiative eingetretenen
Verzögerung einen Vorwurf zu machen. Von jeder Mobilmachung
in Galizien wurde abgeraten, weil man aus dem Munde' des rus-
sischen Militärbevollmächtigten Tatischtschew wußte, daß Ruß-
land während der Krise 1912/13 durch die österreichischen
Heereteverstärkungen an den Südostgrenzen der Monarchie sich
t7
) Siehe IV. Abschnitt, 3. Kapitel S. 172.
18
) Oe I. 15, D Anhang IV. 2, Jagow Untersuchungsausschuß'1
1. Heft, S. 29.
7
98 Allgemeine Kenntnis einzelner Punkte des Ultimatums

in keiner Weise beunruhigt gefühlt hatte, sondern nur durch die


nördlich der Karpathen.19)
Von der österreichischen Note kannte man schließlich in
Berlin die allgemeine, auf Ablehnung zielende Tendenz, die' Frist
von 48 Stunden, die Forderung einer Proklamation und folgende
Bedingungen: Auflösung von Vereinen, Entlassung kompromit-
tierter Offiziere und Beamter, Ueberwachung der großserbischen
Umtriebe durch österreichische Organe, gerichtliche Unter-
suchung unter Mitwirkung österreichischer Delegierter bei den
bezüglichen Erhebungen (Punkt 2, 4, 5 u. 6 des Ultimatums)20).
Annähernd ebenso gilt war man aller Wahrscheinlichkeit nach
noch vor dem 23. Juli am Quai d'Orsaay durch den erwähnten
Konsularbericht vom 20. Juli •— F 14 — unterrichtet, denn
dieser teilte mit: sichere Bürgschaft der Ablehnung, daraufhin
militärisches Vorgehen, kurze Frist, ferner: Unterdrückung des
Nationalismus, Auflösung von Vereinen, Polizeimaßnahmen
gegen die Schulen, Grenzüberwachimg gemeinsam mit öster-
reichischen Kommissaren (Punkt 1, 2, 3, u. 8). In Petersburg
wußte man vermutlich ebenso viel wie in Paris. In London war
schon am 16. ein Telegramm über die österreichischen Absichten
eingetroffen — E 161. Wie weit diese Aufklärung ging, ist in-
dessen noch Geheimnis der englischen Archive. Die Verbands-
mächte geben somit der Wahrheit nicht die Ehre, wenn sie be-
haupten, von der österreichischen Note vollkommen überrascht
worden zu sein. Besonders unrichtig waren die Angaben Greys
fcu Fürst Lichnowsky am 20. Juli, er habe in letzter Zeit von
Wien nur gehört, daß Graf Berchtold den Ernst der Lage be-
stritten habe — E l.21)
Am Tage der Abreise Poincares von Petersburg, am 23. Juli
abends, wurde das Ultimatum in Belgrad übergeben. Knapp
24 Stunden vorher hatte der österreichische Botschafter die
Note in Berlin überreicht. Das Schriftstück soll weder nach
Ton noch nach Inhalt verteidigt werden; es stellte Forderungen,
die mit der Würde eines unabhängigen Staates nicht vereinbar
waren. Die Gerechtigkeit gebietet jedoch, darauf hinzuweisen,
daß in englischen Blättern, auch solchen, die der Regierung nahe
standen, die Bedingungen Oesterreichs als berechtigt anerkannt
wurden.") Unzutreffend ist die Meinung, Deutschland hätte
noch in de'r verfügbaren Zeit auf eine Milderung der Note hin-
wirken oder gar deren Uebergabe in Belgrad verhindern können.
Oesterreich war kein Vasallenstaat Deutschlands, sondern ein
ebenbürtiger, sehr empfindlicher Bundesgenosse, der seine
19
) „Süddeutsohe Monatshefte", Mai 1922, S. 69.
20
) D 29 und Anhang IV. 2 — Privatbrief Tschirschkys vom 11. Juli
„Untersuchungsausschuß" 1. Heft S. 119.
21
) E 161 wurde nachträglich ins Blaubuch aufgenommen, wobei
der Verfasser augenscheinlich den Widerspruch mit E 1 übersehen hat.
22
) Beleg Nr. 20 S. 196.
Keine militärischen Maßnahmen in Deutsehland 99

eigene Meinung hatte und Befehle von deutscher Seite entgegen-


zunehmen nicht geneigt war.23) Das Wiener Kabinett würde
mit Recht darauf hingewiesen haben, daß man ihm ja freie Hand
gelassen hatte.
Gänzlich unhaltbar ist die Behauptung, daß in der neueren
Zeit noch niemals einem selbständigen Staate ähnliche Be-
dingungen gestellt worden seien. Abgesehen von den viel weifer
gehenden Forderungen des Dreiverbands an Griechenland in
den Jahren 1916 und 1917, sind befristete, von Kriegsdrohun-
gen begleitete Noten gerichtet worden: von England und Frank-
reich an Aegypten 1882, von England an Portugal 1890, von
den Vereinigten Staaten an Spanien 1898, von England an
Frankreich in demselben Jahre, von England an die Türkei
1906, von Italien an die Türkei 1911. Im Vergleich endlich
mit den beispiellos demütigenden Schriftstücken, die Deutsch-
land seit 1918 hat entgegennehmen müssen, ist das öster-
reichische Ultimatum an Serbien sogar ein rücksichtsvolles
Dokument zu nennen.
Militärische Maßnahmen sind in der Zeit vom 5.'—23. Juli
weder in Deutschland noch in Oesterreich getroffen worden.21)
Was insbesondere Deutschland betrifft, so wären folgende An-
ordnungen kaum zu erklären, wenn die obersten Militärbehörden
auf einen baldigen Kriegsausbruch hingearbeitet hätten:
Die Etatsabteilung des Preußischen Kriegsministeriums
strich von der am 4. Juli vorgelegten Munitionsforderung für
1915 zufolge Vortragsentscheid vom 27. Juli den Betrag von
3Vs Millionen Mark. — Am 9. Juli wurde genehmigt, daß der
Verproviantierungstermin für die Festung Straßburg vom 12.
auf den 20., für die Festung Neubreisach vom 8. auf den 15.
•Mobilmachungstag hinausgeschoben werde, und erneuter Be-
richt über diese Frage zum 1. Anril 1915 befohlen.26) — Es wurde
unterlassen, die zwischeh dem 10. und 27. Juli fälligen alljähr-
lichen Nachweise über die im Mobilmachungsfalle verfügbaren
Mannschaften beschleunigt einzufordern und zu bearbeiten. <—
Am 21. Juli wurde im Preußischen Kriegsministerium die Fort-
setzung einer Besprechung über alljährliche Mobilmachungs-
arbeiten des 21. Armeekorps (Saarbrücken) auf Ende August
angesetzt. — Am 22. Juli wurden auf dem Truppenübungsplatz
Arys zur Uebung eingezogene Reservisten entlassen und in die
Heimat zurückbefördert.26) — Die Hochseeflotte lief am 15. Juli
23
) Der in Hohenfinow befindliche Reichskanzler kannte den Wort-
laut der Note uim Mitternacht noch nicht •— D 116. Der Kaiser erfuhr
ihn erst aus den Zeitungen — D 231.
24
) Beleg Nr. 21 S. 197.
25
) Die Franzosen besetzten schon am 8. August 1914 {am 7. deut-
schen Mobilmachungstag) das nur einen starken Tagmarsch von dem
noch nicht völlig verproviantierten Neubreisaöh entfernte Miihlhausen.
26
) Zuschrift des Reichsarchivs vom 12. Mai 1923 Nr. 5736.
7*
100 Deutschland wirbt nicht um Bundesgenossen

nach Norwegen aus, obwohl man wußte, daß die britische Flott©
am folgenden Tage mit 460 Wimpeln zu einer Probemobil-
machung mit Manövern um Portland versammelt sein würde. Die
kaiserliche' Weisung an die Flotte vom 19. „Zusammenhalten
in Flotte" (also nicht sich auflösen) bis zum 25. derart, daß ein
Befehl zum Abbruch der Reise schnell ausgeführt werden könne
— D 82 — war eine selbstverständliche Vorsichtsmaßnahme.
Noch am 24. wurde sogar das Einlaufen in einen norwegischen
Hafen gestattet — D 175, und erst am folgenden Abend auf
die Nachricht von der serbischen Mobilmachung erfolgte die
Rückberufung — D 182.
Die Diplomatie warb nicht um neue Bundesgenossen. Der
Abschluß eines Vertrags mit B u l g a r i e n wurde verschoben —
D 19, 21, 22, Oe I. 11 — und erst am 1. August, als der Krieg
unvermeidlich geworden war, wieder aufgegriffen — D 549. Die
Frage eines Anschlusses der Türkei an den Dreibund wurde am
14. Juli verneint >— D 45, erst auf die Erklärung der Pforte, daß
sie den Anschluß an den Dreibund dringend wünsche und im
Falle einer Abweisung „schwöret! Herzens sich zu einem Pakt
mit der Triple-Entente entschließen werde" — wurde am 24. Juli
dem türkischen Wunsch näher getreten — D 117, 144. Mit
R u m ä n i e n wurde über die Bündnisfrage nicht verhandelt.
G r i e c h e n l a n d wurde nicht, wie mitunter behauptet wird,
zu einem Bündnis aufgefordert, sondern es wurde ihm am
23. Juli nur geraten, rechtzeitig von Serbien abzurücken, damit
es nicht in dessen Konflikt mit Oesterreich hineingezogen werde
— D 122. Am 27. Juli lehnte König Konstantin nicht etwa eine
Aufforderung zur Teilnahme am Kriege gegen Serbien ab, son-
dern verwahrte sich gegen den Vorwurf, daß er zum Kriege
gegen die Türkei rüste — D 243. Eine Ausnahme bildet ein
Telegramm an S c h w e d e n vom 23. Juli, das darauf hinwies,
falls der dringende Wunsch Deutschlands auf Lokalisierung
scheitere, müsse das Land sich über den Ernst der Stunde klar
sein — D 123.

5. Lokalisierung oder Weltkrieg?


Von B e r l i n wurde der Wunsch nach Lokalisierung des
österreichisch-serbischen Konflikts nach Petersburg, London und
Paris in einem Erlaß mitgeteilt, der den Satz enthielt:
„Wir wünschen dringend die Lokalisierung des Kon-
flikts, weil jedes Eingreifen einer anderen Macht infolge
der verschiedenen Bündnisverpflichtungen unabsehbare
Konsequenzen nach sich ziehen würde" — D 100.
In W i e n hatte Graf Berchtold im Ministerrat vom 7. Juli
nach dem ursprünglichen Protokoll zwar den Krieg mit Ruß-
land im Falle eines österreichischen Einmarsches in Serbien füi
Verschiedenheit der Auffassung in Petersburg und London 101

„sehr wahrscheinlich" erklärt,27) berichtigte diese Auffassung


jedoch bei Durchsicht des Protokolls dahin, er sei „sich klar
darüber, daß ein Waffengang mit Serbien den Krieg mit Ruß-
land zur Folge haben könnte". Sein Wunsch ging selbstver-
ständlich dahin, die Angelegenheit mit Serbien ohne Einmischung
Rußlands oder anderer Mächte durchzuführen.
In P e t e r s b u r g war am Abend des 24. Juli nach fünf-
stündigem Ministerrat ein amtliches Communiqué erschienen,
das besagte:
„Die russsiche Regierung verfolgt aufs aufmerksamste
den Verlauf des österreichisch-serbischen Konflikts, dem
Rußland nicht gleichgiltig gegenüberstehen kann" — R. 10.
In L o n d o n war man bekanntlich der Ansicht, daß Oester-
reich „provoziert" sei (S. 88). Grey vertrat daher, wie er dem
deutschen Botschafter am 24. und 25. mitteilte — E 11, 25,
D 157, 180 — und wie die Einleitung zum Blaubuch dann
wiederholte, den Standpunkt, daß ihn der österreichisch-serbische
Streit
„nichts angehe, und daß er nicht berechtigt sei, zwischen
Oesterreich und Serbien zu intervenieren", aber daß die
Frage' anders würde, wenn „der Streit die Interessen Ruß-
lands berühre und damit den Frieden Europas gefährde"
— E Seite V.
Noch nach Kenntnisnahme von der serbischen Antwort
sagte am 27. der britische Staatssekretär dem österreichischen
Botschafter:
„wenn sie (die österreichische Regierung) Krieg gegen Ser-
bien führen und gleichzeitig Rußland zufrieden stellen
könnte, dann, sei alles in Ordnung" — E 48.
Selbst am Tage nach der österreichischen Kriegserklärung
an Serbien, am 29. Juli, erklärte er noch:
„natürlich müsse eine gewisse Demütigung Serbiens statt-
finden" — E 90.
Sasonow war auf Grund der ihm vorliegenden Nachrichten
sogar der Ansicht, daß
„Oesterreich unmittelbar vor seinem Schritt in Belgrad
hoffen zu können glaubte, seine Forderungen würden keinen
Einwendungen von Seiten Englands begegnen, und daß sein
Entschluß bis zu einem gewissen Grade auf diese Berech-
nung' gegründet sei.'"8)
Aus P a r i s berichtete der deutsche Botschafter am 24. Juli,
Justizminister Bienvenu Martin, der Stellvertreter Vivianis wäh-
1T
) Gooss S. 52 Anm. 1.
») „Livre Noir" II. S. 276.
102 Paris wünscht anfänglich die Lokalisierung

rend dessen Petersburger Reise, sei nach Mitteilung der deut-


schen Aulfassung „sichtlich erleichtert" gewesen. Er habe zwar
auf die Schwierigkeit für Rußland hingewiesen, sich völlig zu
desinteressieren, aber für die französische Regierung erklärt, sie:
„teile aufrichtig' den "Wunsch, daß Konflikt lokalisiert
bleibe, und werde sich in diesem Sinne im Interesse der
Erhaltung des europäischen Friedens bemühen" — D 154.
Auch am 25. kam ein günstiger Bericht über die Pariser
Auffassung:
„Unsere Erklärung über Lokalisierung des Konflikts
hat großen Eindruck gemacht" >— D 169.
Am 26. gab der französische Justizminister vertraulich
zu, daß
„der Gedanke Sasonows, wonach nur Gesamtheit der Mächte
Verhalten Serbiens aburteilen könne, juristisch schwer halt-
bar sei" — D 235.
Die Berichte im französischen Gelbbuch über die Unter-
redungen mit dem deutschen Botschafter vom 24. und 26. Juli
sind durch Unterdrückung wichtiger Stellen gefälscht.29)
In London wurde also die russische Ansicht von der Un-
möglichkeit einer Lokalisierung des Konflikts nicht geteilt. Auch
König Georg glaubte noch am 26., daß der Kampf zwischen
Oesterreich und Serbien lokalisiert werden könne — D 374. Da
man in der Wilhelmstraße ebenso befriedigende Nachrichten aus
Paris erhielt, die Besprechungen Poincares mit Sasonow aber
nicht kannte, lag kein Anlaß vor, den ursprünglichen Plan sofort
fallen zu lassen. Die Kritik, daß es eine an Irrsinn grenzende
Illusion gewesen sei, auch nur einen Augenblick an die Mög-
lichkeit der Lokalisierung zu glauben, kann gegenüber all diesen
Zeugnissen nicht aufrecht erhalten werden. Noch schlagender
wird sie durch die Tatsache widerlegt, daß schließlich dank
deutscher Vermittlung eine Aussicht auf Verständigung erzielt
worden ist, die nur durch die in ihren Bestrebungen insgeheim
von Frankreich unterstützte russische Militärpartei zunichte ge-
macht wurde.
6. Sechs Tage deutsch-englischer Vermittlung.30)
S o n n a b e n d , 2 5. J u l i .
Die erste am frühen Morgten des 25. Juli in Berlin ein-
treffende englische Anregung einer Vermittlung — D 157, E l l
— enthielt zwei Vorschläge:
26
) Die in F 28 und 56 unterdrückten Stellen ergeben sich aus Ver-
gleich mit den Telegrammen des russischen Geschäftsträgers in Paris
Nr. 184 vom 24. und Nr. 188 vom 26. Juli („Livre Noir" II. S. 275/76 und
278/79).
M
) Eingehende Darstellung der diplomatischen Verhandlungen siehe
B. W. von Bülow „Die Krisis" und „Die ersten Stundenschläge dea
Weltkrieges".
Fristverlängerung1 und Vermitthing zu Vieren 103
1. V e r l ä n g e r u n g der schon an demselben Tage 6 Uhv
abehds ablaufenden Frist für die serbische Antwort,
2. für den Fall einer gefährlichen österreichisch-russischen
Spannung eine V e r m i t t l u n g z u V i e r e n , auszu-
üben in Wien und Petersburg1 durch die vier nicht un-
mittelbar beteiligten Mächte Deutschland, England, Frank-
reich und Italien.
Der Vorschlag der F r i s t v e r l ä n g e r u n g wurde von
deutscher Seite nicht unterstützt, sondern lediglich der Bot-
schaft in Wien mitgeteilt — D 171. Auf den Gang der Ereig-
nisse war die deutsche Haltung ohne Einfluß, da das öster-
reichische Kabinett einen analogen russischen Vorschlag, der
die Fristverlängerung zu dem Zwecke forderte, den Mächten
Zeit zur Nachprüfung des österreichischen Materials zu geben,
schon am Vormittag abgelehnt hatte, bevor ein deutsches Er-
suchen am Ballhausplatz eintreffen konnte — Oe II. 29.
Zur Vermittlung zu Vieren zwischen Oesterreich und Ruß-
land wurde dem britischen Geschäftsträger sofort mündlich die
deutsche Zustimmung mitgeteilt >— E 18. Als Grey diesen
Vorschlag im Laufe des 25. dahin präzisierte, die Vermittlung
solle dann eintreten, wenn „der österreichischen Mobilmachung
die russische folge" — D 180, 179, E 24, 25 — wiederholte
Berlin sein Einverständnis unter Vorbehalt der Bündnispflichten
— D 192. Unter „russischer Mobilmachung" ist hierbei die Teil-
mobilmachung Rußlands gegen Oesterreich zu verstehen. In
Downingstreet unterschied man also an diesem Tage noch ebenso
wie in der Wilhelmstraße zwischen österreichisch-serbischem
und österreichisch-russischem Konflikt und erachtete eine Ver-
mittlung nur bei letzterem für nötig.
Auf Grund der von Paris und London eingehenden Nach-
richten meldete der Kanzler dem Kaiser, daß man in beiden
Orten „eifrig1 auf Lokalisierung des Konflikts arbeite" — D 191.
Ein am Abend eintreffender vierter englischer Vorschlag,
Deutschland möge auf Wien einwirken, die — weder in London
noch Berlin bekannte •—• s e r b i s c h e A n t w o r t a l s b e -
f r i e d i g e n d anzusehen — D 186, war durch die Ereignisse
überholt, da der österreichische Gesandte die Note als un-
genügend betrachtet und Belgrad verlassen hatte. Serbien
hatte schon 3 Uhr nachmittags mobilisiert, Oesterreich ordnete
am Abend eine Teilmobilmachung (8 Armeekorps) gegen Ser-
bien an. Trotzdem wurde der Vorschlag, zu dem Grey durch
eine allzu optimistische Meldung über den voraussichtlichen
Inhalt der serbischen Erwiderung veranlaßt worden war —
D 191a, E 21, an den Wiener Botschafter weitergegeben, der
den englischen Wunsch am Ballhausplatz „auftragsgemäß"
vortrug — Oe II. 57.
104 Der Konfereilzvorsohlag
S o n n t a g , 2 6. J u l i .
Die ersten Morgenstunden des 26. brachten eine alarmie-
rende Nachricht aus Rußland über plötzlichen Abbruch dei
Lagerübungen, Rückkehr sämtlicher Truppen in die Standorte,
vorzeitige Beförderung von Offizieren, Vorbereitungen zur
Mobilmachung gegen Oesterreich — D 194. Herr von Beth-
mann Hollweg arbeitete um so eifriger im Sinne der Beruhigung.
Er verwertete eine Mitteilung aus Wien, daß die Monarchie
keinerlei serbisches Gebiet beanspruchen werde — D 155, nicht
nur zur schleunigen Weitergabe nach den Hauptstädten der
Entente, sondern verband damit einen Appell an die Friedens-
liebe Rußlands, eine Bitte an Frankreich um mäßigenden Ein-
fluß in Petersburg und eine Bitte an England, einer russischen
Mobilmachung entgegenzuwirken — D 198, 199, 200. Abetids
folgte ein zweiter Appell an Rußland, der das territoriale Des-
interessement Oesterreichs nochmals stark betonte und warnend
hervorhob, daß vorbereitende militärische Maßnahmen Ruß-
lands gegeli Deutschland dieses zur Mobilmachung zwingen
würden, die „den Krieg1 bedeute" — D 219. Beide Telegramme
machten in Petersburg einen „sehr guten Eindruck" 1— D 282;
der Schritt in Paris berührte dort zwar „ungemein wohltuend",
jedoch wurde kein Versprechen gegeben, den Bundesgenossen
in mäßigendem Sinne zu beeinflussen — D 235; in London
konnte der Auftrag zunächst wegen des Sonntags nicht aus-
gerichtet werden — D 218, aber auch später ist die erbetene
Einwirkung auf Petersburg nicht eingetreten.
Dem Kaiser sandte der Kanzler um die Mittagszeit einen
hoffnungsvoll klingenden Bericht: Aus Rußland liege erst eine
einzige verbürgte Nachricht vor, die zu Besorgnissen Anlaß
gebe; im Falle eines österreichisch-russischen Konflikts werde
England vermitteln und rechne dabei auf französische Unter-
stützung; die deutsche Haltung müsse daher eine ruhige blei-
ben; der Generalstabschef stimme dieser Auffassung zu — D 197.
Abends ging Bethmann in seiner Friedenszuversicht so weit,
daß er auf Grund der unzutreffenden Nachricht, die zur Probe-
mobilmachung versammelte englische Flotte entlasse ihre Reser-
visten, beim Kaiser beantragte, die Hochseeflotte in Norwegen
zu belassen, was mit Recht abgelehnt wurde — D 221. Aus
Wien kam Meldung, man habe dort den Eindruck, daß Ruß-
land nicht über diplomatische Mittel hinausgehen werde —
D 222.
Im Laufe dieses Sonntags war nun in London ein völliger
Wechsel der Auffassung vor sich gegangen. An Stelle der in
Wien und Petersburg1 auszuübenden Vermittlung zu Vieren zwi-
schen Oesterreich und R u ß l a n d machte Grey einen fünften
Vorschlag, den einer K o n f e r e n z von Delegierten der vier
nicht direkt beteiligten Mächte in L o n d o n , bis zu deren Be-
endigung alle militärischen Operationen von Belgrad, Wien und
Konferenz oder direkte Besprechungen? 105

Petersburg eingestellt werden sollten •—E 36, D 236, 304. Dag


hieß also Vermittlung zwischen Oesterreich und S e r b i e n .
Der Sinneswechsel war vielleicht veranlaßt durch den Wunsch
nach beschleunigter Regelung des Konflikts, bedeutete aber
jedenfalls ein Nachgeben gegen französische Wünsche. Schon
bei der ersten Unterredung1 am 24. Juli ¿wischen Cambon und
Grey war der französische Botschafter im Gegensatz zur da-
maligen Auffassung des britischen Staatssekretärs für eine Ver
mittlung zwischen Oesterreich und Serbien eingetreten.31)
Der russische Botschafter war freilich an diesem Tage mit
der Haltung Greys noch nicht zufrieden. Es war ihm noch
nicht gelungen, den Staatssekretär „vorwärts zu bringen". Er
besorgte, daß Grey „der öffentlichen Meinung nicht ganz sicher
sei, und daß er befürchte, man würde ihn nicht unterstützen,
wenn er iu früh hervortrete".32)

M o n t a g , 27. J u l i .
Die überraschende Nachricht des L o n d o n e r K o n f e -
r e n z v o r s c h l a g s traf in der ersten Morgenstunde des
27. Juli in Berlin ein — D 236. Ihr folgte unmittelbar ein weit
besserer Vorschlag aus Petersburg, ein Telegramm des dortigen
Botschafters, das die Einleitung d i r e k t e r B e s p r e c h u n -
g e n zwischen dem österreichischen und russischen Kabinett
meldete. Graf Pourtales hatte bei Sasonow angeregt, falls das
Wiener Kabinett darauf einginge, seine Forderungen in der
Form etwas zu mildern, den Versuch zu machen „mit Oesterreich-
Ungarn zu diesem Zweck unverzüglich Fühlung zu nehmen";
der russische Minister ging bereitwillig darauf ein und wollte
sofort in diesem Sinne an seinen Wiener Botschafter telegra-
phieren — D 238.
In Berlin zog man begreiflicherweise den deutsch-russischen
Vorschlag dem englischen vor. Fürst Lichnowsky erhielt den
Bescheid, daß Deutschland sich an einer Konferenz nicht be-
teiligen könne, sondern seine Vermittlungstätigkeit auf den
eventuellen österreichisch - russischen Konflikt beschränken
müsse; im österreichisch-serbischen Konflikt scheine dagegen
der Weg direkter Verständigung zwischen Petersburg und Wien
gangbar — D 248, E 43.
Wie der deutsche Kanzler, so lehnte auch Sasonow den
Konferenzgedanken zunächst ab. Er war zwar im Prinzip da-
mit einverstanden, gab aber den schon eingeleiteten direkten
Besprechungen den Vorzug — R 32, E 53. Grey selbst erklärte
auf die Nachricht von der deutschen Ablehnung, die Konferenz
Bei zwar nicht als Schiedsgericht gedacht, wie man in Berlin
31
) Die Unterredung1 Cambon-Grey vom 24. Juli ist in E 10 und
P 32 ganz verschieden wiedergegeben.
*) „Livte Noir" II. S. 329.
106 Die serbische Antwort als Grundlage für Besprechungen

annehme, aber er wolle, so lange Aussicht auf einen direkten


Gedankenaustausch zwischen Oesterreich und Rußland bestehe,
jede andere Anregung zurückstellen, denn er halte den direkten
Weg für „das allerbeste Verfahren" — E 67. Der Staatssekre-
tär hatte auch schon am 20. Juli in einem Telegramm nach
Petersburg und drei Tage später gegenüber dem österreichisch-
ungarischen Botschafter eine direkte Aussprache als wünschens-
wert bezeichnet.33)
Man kann in der deutschen Ablehnung der Konferenz einen
politischen Fehler sehen, man kann aber nicht behaupten, daß
dieser Vorschlag der erste und beste, ja die einzige Möglichkeit
zur Erhaltung des Friedens gewesen sei. Vor allem kann dar-
aus nicht der Vorwurf abgeleitet werden, Deutschland habe
„alle" Vermittlungsvorschläge zurückgewiesen. Das Berliner
Kabinett hatte zuvor schon die Vermittlung zu Vieren an-
genommen, es hat die Anregung direkter Besprechungen will-
kommen geheißen, es hat später noch, wie sich zeigen wird,
nicht nur andere Vermittlungsarten unterstützt, sondern auch
aus eigener Initiative solche angeraten.
Dem aus Norwegen zurückkehrenden Kaiser hielt der
Kanzler in den ersten Nachmittagsstunden Vortrag. In einem,
vorbereitenden Telegramm hatte er die Lage sehr zuversichtlich,
geschildert: Oesterreich könne nicht vor dem 12. August in eine
kriegerische Aktion eintreten; die serbische Antwort nehme an-
geblich alle Punkte an (wohl nach Pressenachrichten); England
und Frankreich wünschten Frieden; Rußland scheine noch nicht
zu mobilisieren -— D 245. Bei der Rückkehr ins Amt fand Herr
von Bethmann die von Wien zurückgehaltene, von Berlin
wiederholt vergeblich verlangte, endlich vom serbischen Ge-
schäftsträger persönlich übergebene Belgrader Antwort —
D 271 — sowie ein Telegramm aus London vor, wonach Grey
auf Grund der auch ihm eben erst bekanntgewordenen ser-
bischen Note die Bitte aussprach, Deutschland möge in Wien da-
hin wirken, daß man das Schriftstück „ e n t w e d e r a l s g e -
nügend betrachte' oder aber als G r u n d l a g e
f ü r B e s p r e c h u n g e n " — D 258. Das Telegramm Lich-
nowskys enthielt einen deutlichen Hinweis, der in zwei bald
darauf folgenden Depeschen wiederholt wurde — D 265, 266,
daß bei intransigenter Haltung Oesterreichs und einer daraus
entstehenden europäischen Konflagration Deutschland „mit den
englischen Sympathien und der britischen Unterstützung nicht
mehr zu rechnen hätte". Die erste Londoner Meldung wurde
an demselben Abend in vollem Wortlaut an die Wiener Bot-
schaft gedrahtet mit dem Zusatz:
„Nachdem wir bereits einen englischen Konferenzvor-
schlag abgelehnt haben, ist es uns unmöglich, auch diese
33
) Oman „The Outbreak of the War 1914—1918" S. 18; Oe I. 59;
E 3.
Deutschland vermittelt im. österreichisch-serbischen Konflikt 10T

englische Anregung a limine abzuweisen. Durch eine Ab-


lehnung jeder Vermittlungsaktion würden wir von der
ganzen Welt für die Konflagration verantwortlich gemacht
und als die eigentlichen Treiber zum Kriege hingestellt
werden. Das würde auch unsere eigene Stellung im Lande
unmöglich machen, wo wir als die zum Kriege Gezwungenen
dastehen müssen. Unsere Situation ist um so schwieriger,
als Serbien scheinbar sehr weit nachgegeben hat. Wir
können daher die Rolle des Vermittlers nicht abweiset und
müssen den englischen Vorschlag dem Wiener Kabinett
zur Erwägung unterbreiten, zumal London und Paris fort-
gesetzt auf Petersburg einwirken. Erbitte Graf Berch-
tolds Ansicht über die englische Anregung, ebenso wie über
Wunsch Herrn Sasonows, mit Wien direkt zu verhandeln"
— D 277.
Damit war der s t a r r e G r u n d s a t z , s i c h i n d e n
österreichiäch-serbischen Konflikt nicht
e i n z u m i s c h e n , von d e u t s c h e r Seite aufge-
g e b e n . Denn eine Einwirkung auf die Stellung des Wiener
Kabinetts zur serbischen Antwort bedeutete eine Vermittlung
zwischen Oesterreich und Serbien. London wurde sofort von
diesem Schritt verständigt — P 278, 279.
Sehr zurückhaltend war auch an diesem Tage die militä-
rische Behörde. Obwohl mehrere Berichte über außerordent-
liche militärische Maßnahmen aus Rußland vorlagen, telegra-
phierte der Große Generalstab dem Militärattache in Petersburg
(9 Uhr 19 abends):
„Auf Sasonows Erklärung hin diesseits keine militä-
rischen Maßnahmen beabsichtigt. Es steht aber fest, daß
Grenzwache bereits mobilisiert und Grenzabsperrung be-
ginnt. Auch Grenzschutz scheint zu beginnen. Daher
dauernde Beobachtung russischer Maßnahmen und Meldung
erbeten."34)
Dem Generalstab konnten damals folgende Tatsachen nicht
bekannt sein: In Rußland Anordnung der „Kriegsvorbereitungs-
periode" für das ganze Reich schon am 26., in Frankreich Befehl
zum Heranziehen der in Marokko stehenden Divisionen nach
dem Mutterlande schon am 24., ferner allgemeines Urlaubsver-
bot, Einstellung des Abtransports von Truppen aus den Garni-
sonen und Anordnung des nichtmilitärischen Bahnschutzes am
26., des militärischen Bahnschutzes am 27.M) Hingegen lagen
bestimmte Nachrichten vor über Versetzung der an der deutschen
Front liegenden Festung Kowno in Kriegszustand — D 264 —
und über Abbruch der Manöver in Südfrankreich •— D 341,
M
) Untersuchungsausschuß. 2. Heft, S. 59.
„Victoire" vom 23. März 1918; II. Belgisches Graubuch S. 118
Anl. 1; Messimy in der Revue de France" 1. August 1921.
108 Der „nützliche Eindruck" eines Telegramms Buchanans

Anm. 3. Das Zusammenhalten, der mobilisierten britischen


Flotte war öffentlich bekannt gegeben worden — F 66. Der
deutsche Entschluß, von allen militärischen Maßnahmen abzu-
sehen, übertraf somit das zulässige Maß von Zurückhaltung.
Lediglich die zu Erntearbeiten beurlaubten Mannschaften der
bayerischen Regimenter der Garnison Metz wurden zurückbe-
ordert, von weiteren Rückberufungen auch in Metz abgesehen."8)
Die außerordentlich ruhige Auffassung Generals von Moltke be-
kundet ein Brief, den et um die Mittagszeit nach einer langen
Unterredung mit dem Kanzler an seine Frau richtete:
„Die Lage ist dauernd recht unklar. Sehr schnell wird
sie sich nicht klären, es werden noch etwa 14 Tage ver-
gehen, bevor man etwas Bestimmtes wissen oder sagen
kann. Du kannst in Bayreuth ruhig zu Ende bleiben''.")
Graf Benckendorff war am 27. mit Grey wesentlich zu-
friedener als Tags zuvor. Er schrieb an Sasonow:
„Die Sprache Greys ist heute viel klarer und merkbar
fester als bisher. Er rechnet sehr auf den Eindruck, der
durch die bei der Flotte veranlaßten, heute veröffentlichten
und Sonnabend (25. Juli) abends beschlossenen Maßnahmen
hervorgerufen würde. Das gestetn eingetroffene Tele-
gramm Buchanans machte anscheinend einen sehr nütz-
lichen Eindruck. Jedenfalls hat die Zuversicht Berlins und
Wiens in Bezug auf die Neutralität Englands keinen Grund
mehr".38)
Das interessante Telegramm Buchanans vom 26. Juli ist
leider im englischen Blaubuch nicht zu finden, oder sollte das
vom 25. gemeint sein, nach dem Sasonow erklärt hatte, Rußland
werde „wenn des Beistandes Frankreichs sicher, alle Gefahren
eines Krieges auf sich nehmen"? — E 17.

D i e n s t a g , 2 8. J u l i .
Die serbische Antwort wurde und wird auch heute noch
sehr verschieden beurteilt. Einige sehen darin die Annahme
aller österreichischen Forderungen mit Ausnahme von Punkt 5
und 6 (Teilnahme österreichischer Organe bei Unterdrückung
der großserbischen Agitation und bei den Erhebungen für ge-
richtliche Untersuchung gegen die Urhebet des Attentats).
Andere bezeichnen die an manchen Stellen gemachten Vor-
behalte als hinterhältige Ausflüchte. Sehr günstig beurteilte die
Note jedenfalls Kaiser Wilhelm, der sie am Morgen des 28. las
und darunter schrieb:
M ) Schreiben des Generalkommandos 16. Armeekorps (Metz) I a
Nr. 1203 g.
37 l Moltke „Erinnerungen, Briefe, Dokumente" S. 381.
M ) „Prawda" Nr. 7 vom 9. März 1919.
Die Beurteilung der serbischen Antwort 109

„Eine brillante Leistung für eine Frist von blos


48 Stunden! Das ist mehr als man erwarten konnte'! Ein
großer moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder
Kriegsgrund fort, und Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben
sollen! Daraufhin hätte i c h niemals Mobilmachung be-
fohlen!" — D 271.
Wenn der Wünsch zum europäischen Kriege bestanden
hätte, so würden die für einen kleinen streng verschwiegenen
Kreis berechneten Bemerkungen ganz anders gelautet und der
Enttäuschung darüber Ausdruck gegeben haben, daß die Ge-
legenheit zum Losschlagen entschwunden sei. Doch Wilhelm II.
begnügte sich nicht mit diesem Monolog, sondern richtete
(10 Uhr vorm.) an Staatssekretär von Jagow ein Schreiben, wo-
rin er wiederholte, daß jeder Grund zum Kriege entfalle, und
vorschlug, man solle Oesterreich sagten:
„Det Rückzug Serbiens in demüthigender Form sei er-
zwungen, und man gratuliere dazu. Natürlich sei damit
'ein K r i e g s g r u n d nicht mehr vorhanden.
Wohl aber eine G a r a n t i e nöthig, daß die Versprechun-
gen a u s g e f ü h r t würden. Das würde durch die mili-
tärische v o r ü b e r g e h e n d e Besetzung eines Theils
von Serbien wohl erreichbar sein. Aehnlich wie wir 1871
in Frankreich Truppen stehen ließen bis die Milliarden
gezahlt waren. Auf dieser B a s i s bin ich bereit, d e n
F r i e d e n in Oesterreich zu vermitteln" — D 293.
Der Chef des Generalstabs wurde gleichfalls sofort von
dieser Auffassung verständigt.39)
Im Auswärtigen Amt mag man vielleicht die serbische Ant-
wort nicht ganz so günstig beurteilt haben, sah darin aber
jedenfalls eine Grundlage für Unterhandlungen. Während eine
reichlich lange Note nach Wien ausgearbeitet wurde, gingen
einstweilen zwei Beruhigungstelegramme dorthin ab. Das eine
behauptete, daß die militärischen Nachrichten über Rußland
noch nicht bestätigt seien — eine sehr optimistische Auffassung
1
— daher scheine, auch nach Auffassung Moltkes, eine katego-
rische Erklärung in Petersburg, wie sie von österreichischer
Seite gewünscht werde, noch nicht geboten — D 281, 299. Das
andere Telegramm übermittelte friedliche Versicherungen Saso-
nows — D 282, 309.
Bevor noch die Weisung an Tschirschky abgehen konnte, traf
(gegen 7 Uhr abends) die Nachricht der österreichischen Kriegs-
erklärung an Serbien ein,40) bald darauf die Meldung, daß das
Wiener Kabinett den gesteh übermittelten und empfohlenen
englischen Vermittlungsvorschlag (die serbische Antwort als
OT
) Brief an Moltke siehe „Deutsche Politik" vom 18. Juli 1919.
Daß die Kriegserklärung für den 28. oder 29. beabsichtigt war
wußte man in Berlin seit dem 27. — D 257.
110 Der deutsche Vorschlag „Halt in Belgrad"

genügend oder als Grundlage für Verhandlungen anzunehmen)


•wegen der inzwischen erlassenen Kriegserklärung als „zu spät
erfolgt" ansehe — D 311, 313. Um dem schädlichen Eindruck
dieser Entschlüsse tunlichst rasch entgegenzuwirken, wurde
nicht nur Petersburg, sondern auch London, Paris und Wien
selbst umgehend verständigt, daß man in Berlin dauernd be-
müht bleibe, Wien zu einer offenen Aussprache mit Petersburg
zu veranlassen, und daß die österreichische Kriegserklärung
hieran nichts ändere 1— D 315 und Anm. 2. Die schließlich 10"
abends abgesandte große-Note nach Wien hielt sich im Rahinen
des kaiserlichen Gedankengangs und forderte das öster-
reichische Kabinett auf, in Petersburg die bestimmte Erklärung
zu wiederholen, daß ihm
„territoriale Erwerbungen in Serbien durchaus fernliegen,
und daß die militärischen Maßnahmen lediglich eine vor-
übergehende Besetzung von Belgrad und anderen be-
stimmten Punkten des serbischen Gebiets bezwecken, um
die serbische Regierung zu völliger Erfüllung aller Forde-
rungen und zur Schaffung von Garantien für künftiges Wohl-
verhalten zu zwingen" . . . . .
Botschafter von Tschirschky wurde beauftragt, sich um-
gehend in diesem Sinne nachdrücklich auszusprechen und eine
entsprechende Demarche in Petersburg anzuregen. Allerdings
solle nicht der Eindruck erweckt werden, als wünsche man
Oesterreich zurückzuhalten. Es handle sich lediglich darum
„einen Modus zu finden, der die' Verwirklichung des
von Oesterreich-Ungarn erstrebten Zieles, der großserbischen
Propaganda den Lebensnerv zu unterbinden, ermöglicht,
ohne, gleichzeitig einen Weltkrieg zu entfesseln, und wenn
dieser schließlich nicht zu vermeiden sei, die Bedingungen,
unter denen er zu führen ist, für uns tunlichst zu ver-
bessern" — D 323.
Das war der unter den gegebenen Verhältnissen, bei der
Empfindlichkeit Wiens und dessen voreiliger Kriegserklärung
sehr geschickte, deutscher Initiative zu verdankende Vorschlag
„ H a l t i n B e l g r a d " , der wie kaum ein anderer geeignet
war, einen Ausweg aus der schwierigen Lage zu zeigen.
Nachdem er den Entwurf der Note unterzeichnet hatte,
überflog der Kanzler die ihm vorgelegten Zeitungsausschnitte
und las die verfrühte Nachricht, daß Rußland 14 Armeekorps
im Süden mobilisiert habe. Sofort ließ er den britischen Bot-
schafter zu sich bitten, erklärte ihm die Gründe, warum Deutsch-
land auf den Konferenzvorschlag nicht eingegangen sei, er-
wähnte seine Bemühungen um eine direkte Aussprache
zwischen Wien und Petersburg', wies auf die Gefahren einer
russischen Mobilmachung gegen Oesterreich hin und versicherte
seine feste Absicht, mit England im Interesse des Friedens zu-
Deutschland vermittelt — Rußland mobilisiert 111

sammenzuarbeiten. Er schloß mit den. Worten: „Ein Krieg


zwischen den Großmächten muß vermieden werden" •— E 71.
Die deutsche Vermittlungstätigkeit an diesem Tage war
damit noch nicht beendet. Eine halbe Stunde, nachdem die In-
struktion an Tschirschky abgesandt war, hatte der Kaiser den
Entwurf zu einem Telegramm an Nikolaus II. in Händen, worin
die Hoffnung ausgesprochen war, der Zar werde mit Deutsch-
land zusammenwirken, um die allenfalls noch entstehenden
Schwierigkeiten zu beseitigen — D 335. Die Drahtbotschaft
kreuzte sich mit einer des russischen Monarchen, der den
mäßigenden Einfluß Deutschlands auf Oesterreich erbat, aber
die Befürchtung aussprach, er werde bald dem auf ihn geübten
Drucke erliegen und gezwungen sein, „äußerste Maßnahmen zu
ergreifen, die1 zum Kriege führen werden" — D 332. Die Be-
fürchtung sollte sich erfüllen.
Im Generalstabe waren seit den ersten Nachmittagsstunden
folgende Maßnahmen aus Ost und West bekannt: In Rußland
wahrscheinlich Ausspruch der „Kriegsvorbereitungsperiode" für
das ganze Reich. Ziemlich sicher Mobilmachung in Odessa und
Kijew, Moskau noch ungewiß, Warschau nicht bestätigt. Sicher
die Anordnung gewisser Kriegsvorbereitungen auch an der
deutschen Grenze. Alle Truppen zurück in die Standorte.
Grenzwache überall kriegsmäßig ausgerüstet und marschbereit.
— In Frankreich höhere Offiziere aus Urlaub zurückberufeli,
Truppen in die Standorte zurückbefördert, Eisenbahnkunst-
bauten in den Grenzbezirken bewacht, Beifort alarmbereit.41)
•— Obwohl man all das wußte, beschränkte man sich in Deutsch-
land darauf, die zu „sofortiger" oder „beschleunigter" Mobil-
machung bestimmten Truppen in die Standorte zurückzurufen
und die Bahnen durch Bahnbeamte bewachen zu lassen.42)

M i t t w o c h , 29. J u l i .
Am Vormittag des 29. traf Telegramm auf Telegramm über
russische Kriegsvorbereitungen ein. Bis Mittag waren seit dem
Morgen des 26. insgesamt 18 amtliche Meldungen über russische'
Mobilmachungsmaßnahmen eingegangen, davon 10 über die
deutsche Front.43) Manche Berichte waren unbestimmt, der eine
oder andere wurde auch widerrufen. Selbst für den Sachverstän-
digen war es schwierig, sich ein klares Bild zu machen von dem,
was jenseits der östlichen Grenze vor sich ging. Auch aus
41
) Bericht des Großen Generalstabs an das Auswärtige Amt vom
28. Juli 4° Uhr nachm. (in den „Deutschen Dokumenten" nicht ab-
gedruckt).
Früheres Preußisches Kriegsministerium Nr. 12 gg A 1 und.
Schreiben des Reichskanzlers vom 27. Juli Nr. 3339.
43
) D 194, 216, 230, 242, 264, 274, 275, 276, 281, 291,
294, 295, 296, 327, 330, 331, 333, 335 a„ Beim Generalstab und Admiral-
stab lagen noch eine Reihe weiterer, dem Auswärtigen Amt nur münd-
lich mitgeteilter Nachrichten vor.
112 Bathraann warnt in Paria und Petersburg

Frankreich kamen weitere Nachrichten, darunter eine, daß der


französische Generalstab über die geringen Schutzmaßnahmen
in Deutschland erstaunt sei — D 372. Der Große Gene'ralstal>
wurde nun doch etwas beunruhigt und unterbreitete dem
Reichskanzler eine Denkschrift kurz folgenden Inhalts: „Ruß-
land bereitet Mobilisierung von 12 Armeekorps vor, trifft mili-
tärische' Maßnahmen auch an der deutschen Grenze und droht,
die 12 Korps zu mobilisieren, wenn Oesterreich in Serbien ein-
rückt. Dann wird Oesterreich, das bisher nur acht Korps gegen
Serbien aufgeboten hat, zur Mobilmachung der anderen Hälfte
seines Heeres gezwungen. Der Zusammenstoß wird damit un-
vermeidlich, sodaß für Deutschland der BüncLnisfall eintritt.
Rußland wird dann sagen, Oesterreich habe zuerst mobilisiert
und damit seinen Angriffswillen bekundet. Es ist daher von
größter Wichtigkeit, möglichst bald Klarheit darüber zu er-
halten, ob Rußland und Frankreich gewillt sind, es auf den
Krieg ankommen zu lassen" >— D 349") Der Gedanke, daß
Rußland v o r Oesterreich zu einer Gesamtmobilmachung
schreiten könnte, wurde somit nicht einmal erwogen. Immerhin
war klar, daß die bisherige militärische Zurückhaltung nicht
mehr andauern durfte; indessen beschränkte man sich einstweil 3n
darauf, alle Truppen in die Standorte zurückzuführen, die Luft-
schiffanlagen zu sichern und Kriegsmaterial für Rußland uncf
Serbien anzuhalten.")
Der Kanzler aber wendete sich in der ersten Nachmittags-
stunde mit eindringlichen Vorstellungen nach Paris und Peters-
burg. Herr von Schoen sollte die französischen Kriegsvorberei-
tungen und die Notwendigkeit deutscher Gegenmaßnahmen zur
Sprache bringen:
„Wir müßten „Kriegsgefahr" proklamieren, was zwar
noch nicht Mobilisierung und keine Einberufungen bedeute,
aber immerhin Spannung erhöhen würde" — D 341.
Graf Pourtales wurde beauftragt, Sasonow
„sehr ernst darauf hinzuweisen, daß weiteres Fortschreiten
russischer Mobilmachungsmaßnahmen uns zur Mobil-
machung zwingen würde, und daß dann europäischer Krieg
kaum noch aufzuhalten sein würde" — D 342.
Herr von Bethmann begnügte sich nicht mit diesen War-
nungssignalen, sondern ließ wiederum den britischen Botschafter
zu sich bitten, um ihm sein Bedauern auszudrücken, daß das
österreichische Kabinett den von Berlin befürworteten Vor-
schlag, die serbische Antwort als Grundlage für Verhandlungen
anzusehen (Seite 106), abgelehnt habe. Er gab Sir Edward
") D 349 dürfte schon am Vormittag verfaßt und in den „Deutschen
Dokumenten" weiter vorne einzureihen sein.
") Untersuchungsausschuß, 2. Heft, S. 10.
Die deutschen Maßnahmen am Abend des 29. Juli 118

Goschen ferner Kenntnis von der gestern nach Wien gerichteteu


Aufforderung „Halt in Belgrad", damit die Hoffnung verbindend,
man werde in London in dieser streng vertraulichen Mitteilung,
von der nicht einmal Fürst Lichnowsky Kenntnis habe, einen
Beweis aufrichtiger Friedensbemühungen erblicken — E 75.'")
Grey ließ umgehend in waxmen Worten danken — D 353, E 77,
Nunmehr wurde das Antworttelegramm an den Zaren ent-
worfen. Es wendete sich gegen die Behauptung, daß Oesterreich
einen „unwürdigen Krieg" gegen Serbien führe, und schloß:
„Ich halte eine direkte Verständigung zwischen Deiner
Regierung und Wien für möglich und wünschenswert und,
wie ich Dir schon telegraphiert habe, setzt meine Regierung
ihre Bemühungen fort, diese Verständigung zu fördern.
Natürlich würden militärische Maßnahmen von Seiten Ruß-
lands, die Oesterreich als Drohungen ansehen würde, ein
Unheil beschleunigen, das wir beide' zu vermeiden wün-
schen, und meine Stellung als Vermittler gefährden, die ich
auf Deinen Appell an meine Freundschaft und meinen Bei-
stand bereitwillig übernommen habe" — D 359 (offen ab
6 Uhr 30 abends).
Drei Stunden, bevor diese versöhnliche Botschaft abbe-
fördert wurde, hatte Graf Pourtales gemeldet, daß Rußland
heute noch die Militärbezirke an der österreichischen Grenze
mobilisieren werde — D 343. Eine Täuschung über den Ernst
der Lage war nicht mehr möglich. Schon auf Grund der bis-
herigen beunruhigenden Nachrichten hatte der Kaiser, dem dar
Text des Telegramms Pourtales erst am Morgen des 30. vor-
gelegt wurde — D 399, für den Abend den Kanzler und die
militärischen Chefs zu Vorträgen nach Potsdam berufen. Dort
beantragte Moltke „entsprechende Gegenmaßnahmen" gegen
die russischen und französischen Kriegsvorbereitungen — D
Anhang IV, 15, also vermutlich die Erklärung des „Zustande«
drohender Kriegsgefahr", drang jedoch damit gegen die ent-
gegengesetzte Ansicht Bethmanns nicht durch. Es hat am
29. weder ein „Kronrat" stattgefunden, noch sind Anordnungen
für die „Mobilmachung" getroffen worden.47) Am späten Abend
würden lediglich folgende dürftige militärische Vorsichtsmaß-
nahmen angeordnet: militärischer Bahnschutz, Rückberufung
der Urlauber, Ausbau der Armierungsstellungen der Festungen,
Verstärkung der Besatzung der In§el Borkum.*8)
Eine Vorbereitung für den schlimmsten Fall war, daß
durch Feldjäger das Ultimatum an Belgien in verschlossenem,
nur auf besonderen Befehl zu öffnenden Umschlag der Gesandt-
46 ) Der Satz, daß Lichnowsky nicht verständigt wurde, ist in E 75

nach Oman S. 74/75 einzuschalten.


* 7 ) Monatsschrift .„Die Kriegsschuldfrage" Juli 1923, S. 8 ff.
M ) Untersuchungsausschuß Heft 2 S. 12.

8
114 Amtliche Mitteilung der russischen Teilmobilmachung

schaft in Brüssel zugestellt wurde — D 375, 376. Im Zusammen-


hang damit ließ der Kanzler nach Rückkehr von Potsdam noch
am späten Abend den britischen Botschafter nochmals ersuchen,
sich zu ihm zu bemühen. Er sprach die Hoffnung aus, daß wenn
Deutschland durch einen russischen Angriff auf Oesterreich zur
Erfüllung seiner Bündnispflichten gezwungen werden sollte,
England neutral bleiben werde. Deutschland denke nicht an eine
Zerschmetterung Frankreichs, sondern werde im Falle des
Sieges kein europäisches Gebiet von Frankreich fordern. Es
werde' die Neutralität und Integrität Hollands achten, solange
dies von gegnerischer Seite geschehe. Was Belgien betreffe, so
hänge es von den französischen Operationen ab, zu welchen
Maßnahmen man genötigt sein würde. Jedenfalls werde die
Integrität des Königreichs nicht angetastet werden, wenn es
nicht gegen Deutschland Partei ergreife. Die Neutralität Eng-
lands in einem allenfallsigen Konflikt würde eine geeignete
Grundlage für eine dauernde deutsch-englische Verständigung
bilden. Auf eine Frage des Botschafters wegen der französischen
Kolonien wurde die Uebernahme einer Verpflichtung abgelehnt
— D 373, E 85.
Der Gesandte in Kopenhagen erhielt zwar „für den Fall
eines Kriegsausbruchs" Auftrag, Dänemark auf den Ernst der
Situation hinzuweisen, jedoch wurde von diesem Lande nichts
anders als eine neutrale Haltung erwartet — D 371, 494.
Nach Schluß der Potsdamer Vorträge wurde Wilhelm II.
eine Antwort des Zaren auf das Telegramm von 6*° überreicht:
„Danke für Dein versöhnliches und freundschaftliches
Telegramm. Dagegen war die heute von Deinem Bot-
schafter meinem Minister übergebene offizielle1 Mitteilung in
einem ganz anderen Ton gehalten. Bitte Dich, diese Ver-
schiedenheit aufzuklären. Es würde sich empfehlen, das
österreichisch-serbische Problem der Haager Konferenz
vorzulegen. Vertraue auf Deine Weisheit und Freund-
schaft" — D 366 (8 Uhr 42 abends im Neuen Palais auf-
genommen).
Der russische Botschafter aber teilte, wenn nicht früher,
so um diese Zeit im Auswärtigen Amt die Mobilmachung der
vier Bezirke Kijew, Odessa, Moskau und Kasan amtlich mit,
dabei betonend, daß diese Maßnahme „keineswegs gegen
Deutschland gerichtet sei" — D 380, Anm. 3.") Gleichzeitig
etwa (9 Uhr 45 abends) ging die Meldung des Militärattaches aus
Petersburg ein, der Kriegsminister habe ehrenwörtlich ver-
sichert, daß bis drei Uhr nachmittags kein Mann und kein Pferd
Siehe auch Telegramm Swerbejews Nr. 140 vom 29. Juli im
„Roten Archiv" S. 177, wonach die Mitteilung der russischen Mobil-
machung anscheinend während der Abwesenheit des Kanzlers in Potsdam
erfolgt ist.
Die Bedeutung der russischen Teilmobilmachung 115

eingezogen war — D 370. Tatsächlich hatte das Telegramm


des Kaisers von 630 vorzüglich gewirkt. Es hatte den Zaren
veranlaßt, die schon angeordnete allgemeine Mobilmachung in
eine Teilmobilmachung gegen Oesterreich umzuwandeln.50) Das
aber wußte man in Berlin nicht. Man hatte hingegen die offi-
zielle Mitteilung der russischen Regierung tiber die Mobil-
machung einer, der österreichisch-ungarischen weit überlegenen
russischen Heeresmacht (55 russische gegen 28 österreichisch-
ungarische' Infanteriedivisionen, da von der Gesamtzahl 50 ja
22 durch Serbien gefesselt waren), wodurch das Ehrenwort des
russischen Kriegsministers als ein Schachzug auf Zeitgewinn
entlarvt war, man mußte nach zahlreichen Meldungen be-
zweifeln, ob die jetzige Versicherung, daß nicht gegen Deutsch-
land mobilisiert werde, aufrichtig war, und sah endlich einen
Vorschlag schiedsrichterlicher Entscheidung1, die Wochen in
Anspruch nehmen und den russischen Massen reichlich Zeit ge-
währen konnte, sich an der österreichischen und vielleicht auch
an der deutschen Grenze zu sammeln. Das Wichtigste war
daher, die Mobilmachung, wenn noch möglich, anzuhalten, wes-
halb der Kanzler nach Petersburg drahten ließ:
„Russische Mobilmachung an österreichischer Grenze
wird, wie ich annehme, entsprechende österreichische Maß-
regel zur Folge haben. Wieweit dann die rollenden Steine
noch aufzuhalten sind, ist schwer zu sagen Um,
wenn möglich, drohende Katastrophe noch abzuwenden,
wirken wir in Wien darauf hin, daß die österreichisch-un-
garische Regierung in Bestätigung ihrer früheren Versiche-
rung Rußland noch einmal formell erklärt, daß ihr terri-
toriale Erwerbunsren in Serbien fernliegen, und ihre mili-
tärischen Maßnahmen lediglich eine vorübergehende Be-
setzung bezwecken, um Serbien zur Schaffung von Garan-
tien für künftiges Wohlverhalten zu zwingen Wir
erwarten daher, daß Rußland, falls unser Schritt in Wien
Erfolg hat, keinen kriegerischen Konflikt mit Oesterreich
herbeiführt" D 380.
Die feindliche Propaganda hat in der „Beratung" von Pots-
dam und im Schritte des Kanzlers beim britischen Botschafter
Beweise für den Willen Deutschlands zum Kriege sehen wollen.
Wie unrichtig dieser Schluß ist, ergibt sich daraus, daß der
Reichskanzler gerade jetzt seine Bemühungen tun Erhaltung des
Friedens verdoppelte. Eine große Sorge hatte Bethmann den
ganzen Tag gequält: das Ausbleiben einer Antwort aus Wien
auf den Vorschlag „Halt in Belgrad". Mit gerechtfertigter Un-
geduld ließ er zwischen der zehnten und elften Abendstunde
zweimal deswegen bei Tschirschky monieren — D 377 und
Anm. 3.
s0
) Dobrorolski S. 26.
8*
116 Ernste Nachrichten aus Petersburg und London

Dann lagen ihm wichtige Nachmittagsmeldungen aus


Petersburg und London vor. Pourtalös hatte telegraphiert,
Sasonow beschwere sich, daß der direkte Gedankenaustausch
weder in Petersburg noch in Wien in Fluß komme — D 343.
Lichnowsky hatte dieselbe Klage berichtet und eine Erklärung
des serbischen Geschäftsträgers in Rom übermittelt, Serbien
werde auch die beiden Punkte über Beteiligung österreichischer
Agenten annehmen, wenn die Art der Beteiligung erläutert
würde — D 357.
Daß Grey bei diesem Gespräch erneut auf die Vermittlung
zu Vieren hingewiesen hatte — E 84, kam in dem Telegramm
nicht scharf zum Ausdruck. Das war jedoch nicht von erheb-
lichem Belang, da nunmehr infolge der russischen Mobilmachung
gegen Oesterreich a u s d e m ö s t e r r e i c h i s c h - s e r b i -
s c h e n K o n f l i k t ein ö s t e r r e i c h i s c h - r u s s i s c h e r
geworden war, und Deutschland für diesen Fall, wie man in
London wußte, die Vermittlung zu Vieren angenommen hatte.
Auf Grund der Meldungen der beiden Botschafter gingen
etwa um Mittemacht drei Depeschen nach Wien •— D 383, 884,
385. Die erste übermittelte die beiden am gestrigen Tage
zwischen Kaiser und Zar gewechselten Telegramme „zur Ver-
wertung" bei Graf Berchtold. Die zweite empfahl den eben von
London gedrahteten Vorschlag aus Rom. Es war nach der Ver-
mittlung zu Vieren, den direkten Besprechungen, der Annahme
der serbischen Antwort als Basis für Verhandlungen und dem
.,Halt in Belgrad" die f ü n f t e von Deutschland angenommene
Vermittlungsart. Die dritte' Depesche an Tschirschky teilte die
russische Mobilmachung gegen Oesterreich mit und wiederholte
auf Grund der Beschwerde Sasonows den dringenden Wunsch
nach Beginn und Fortsetzung des unmittelbaren Gedankenaus-
tausches.
Als diese Depeschengruppe erledigt war, wurden dem
Kanzler noch ernstere Nachrichten von Downingstreet und der
Sängerbrücke vorgelegt. Lichnowsky hatte eine zweite Unter-
redung mit Grey gehabt — D 368, E 88, 89. Darin bezeichnete
der Staatssekretär als geeignete Grundlage für eine Vermittlung
zu Vieren, daß „Oesterreich etwa nach Besetzung von Belgrad
oder anderer Plätze seine Bedingungen kundgebe". Das war an-
nähernd der deutsche Vorschlag, den Goschen zur Kenntnis
gebracht hatte (Seite 113). Es erwies sich jetzt doch als nach-
teilig, daß Lichnowsky nicht gleich verständigt worden war;
er würde dann in der Lage gewesen sein, zu antworten, eine
ähnliche Anregung habe seine Regierung schon vor 24 Stunden
gegeben. Nach diesem Vorschlag kam dann aber weiter die
nicht mißzuverstehende Warnung Greys, daß England zwar in
einem russisch-österreichischen Konflikt abseits stehen könne,
nicht aber, wenn Deutschland und Frankreich hineingezogen
würden. In diesem Falle würde die britische Regierung „unter
Energische Mahnungen Bethmanna an Wien 117

Umständen, sich zu schnellen Entschlüssen gedrängt sehen" — D


368. Das war ein schwerer Schlag, doppelt schwet nach dem
eben mit Goschen über die englische Neutralität geführten Ge-
spräch. Zugleich aber war es ein Ansporn, noch energischor
im Sinne der Erhaltung des Friedens zu wirken. In vollem Wort-
laut ging die Meldung Lichnowskys nach Wien mit dem
Zusatz:
„Wir stehen somit, falls Oesterreich jede Vermittlung
ablehnt, vor einer Konflagration, bei der England gegen
uns, Italien und Rumänien allen Anzeichen nach nicht mit
uns gehen würden und wir 2 gegen 4 Großmächte ständen.
Deutschland fiele durch Gegnerschaft Englands das Haupt-
gewicht des Kampfes zu. Oesterreichs politisches Prestige,
die Walfenehre seiner Armee, sowie seine berechtigten
Ansprüche Serbien gegenüber könnten durch Besetzung
Belgrads oder anderer Plätze hinreichend gewahrt werdeu.
Es würde durch Demütigung Serbiens seine Stellung im
Balkan wie Rußland gegenüber wieder stark machen.
Unter diesen Umständen müssen wir der Erwägung das
Wiener Kabinetts dringend und nachdrücklich anheim-
geben, die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen
Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die
sonst eintretenden Folgen wäre für Oesterreich und uns
eine ungemein schwere" — D 395.
Damit war die V e r m i t t l u n g zu V i e r e n , über die
das Berliner Kabinett bisher nur gegenüber London eine zu-
stimmende Erklärung abgegeben hatte, auch in W i e n d r i n -
g e n d e m p f o h l e n . Gleichzeitig war noch eine andere Sache
mit dem Ballhaueplatz zu regeln. Wie erwähnt, war schon um
3 Uhr nachm. eine Beschwerde Sasonows über österreichische
Verweigerung direkter Besprechungen eingegangen. Zwei Stun-
den später hatte jedoch Tschirschky über eine Unterredung
Schebeko—Berchtold berichtet — D 356. Nach weiteren drei-
einhalb Stunden aber kam eine neue, noch schärfere Klage
Sasonows über „kategorische' Ablehnung" des unmittelbaren
Gedankenaustausches durch Wien — 365. Diese Meldungen
waren unvereinbar — sollte ein Mißverständnis vorliegen? Der
Kanzler war wegen des Ausbleibens einer Antwort auf den
letzten Vorschlag, dann auch wegen unverantwortlicher Reden
der österreichischen Diplomaten in London über „Niederbegeln"
und Aufteilung' Serbiens — D 301, 361 — ohnehin arg verstimmt
gegen den starrsinnigen Bundesgenossen und schritt nun bis
zur Drohung einer Aufkündigung des Bündnisses. Das Tele-
gramm Pourtales ging nach Wien mit dem Zusatz:
„Diese Meldung steht nicht im Einklang mit der Dar-
stellung, die Ew. pp. in dem Verlauf der Unterredung mit
Herrn Schebeko gegeben haben. Anscheinend liegt Miß-
118 Wien gibt mir teilweise nach

Verständnis vor, das ich aufzuklären bitte. Wir können


Oesterreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu verhan-
deln, mit dem es im Kriegszustand begriffen ist. Die Ver-
weigerung jeden Meinungsaustausches mit Petersburg aber
würde schwerer Fehler sein, da er kriegerisches Eingreifen
Rußlands geradezu provoziert, das zu vermeiden Oester-
reich-Ungarn in erster Linie interessiert ist.
Wir sind zwar bereit, unsere Bündnispflicht zu erfüllen,
müssen es aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und.
ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand
hineinziehen zu lassen. Auch in italienischer Frage scheint
Wien unsere Ratschläge zu mißachten.
Bitte sich gegen Graf Berchtold sofort mit allem Nach-
druck und großem Ernst aussprechen" —D 396.
Während die beiden langen Noten nach Wien chiffriert
wurden, unterzeichnete der Kanzler noch zwei beruhigende
Telegramme nach Petersburg des Inhalts, daß Deutschland
weiter vermittle, solange sich Rußland jeder Feindseligkeit
gegen Oesterreich enthalte, und daß die Ablehnung der direkten
Besprechungen durch Wien vor dem letzten deutschen Schritt
erfolgt sein müsse —• D 392, 397. Der Gedanke der Haager
Konferenz wurde allerdings abgelehnt — D 391. Auf diese An-
regung des Zaren wird noch gesondert eingegangen werden,")
vorläufig sei nur bemerkt, daß sie niemals zwischen Sasonow
und Pourtales berührt, die' Ablehnung von Seite des deutschen
Botschafters auch gar nicht erwähnt worden ist» sodaß sie keiner-
lei Einfluß auf den Gang der Ereignisse haben konnte. Auch nach
London ging noch ein Telegramm ab, daß man in Wien weiter
vermittle und dringend zur Annahme der Grey'schen Vorschläge
rate — D 393. Es war weitgehende Bescheidenheit, nicht an-
zudeuten, daß man zuvor schon einen ähnlichen Gedanken ge-
habt und empfohlen hatte.
Fünf Mahnungen nach Wien hatten in den drei Stunden
nach Mitternacht die Wilhelmstraße verlassen, fünf Mahnungeu
zum Einlenken. Während dieser Zeit war endlich auch eine Ant-
wort von Tschirschky eingetroffen, aber eine wenig befriedigende.
Berchtold war zwar bereit, die Erklärung des territorialen Des-
interessements zu wiederholen, aber noch nicht in der Lage, über
das Anhalten der militärischen Operationen in Belgrad eine Ant-
wort zu erteilen — D 388. Dieses enttäuschende Telegramm
scheint dem Kanzler erst am Vormittag des 30. vorgelegt worden
zu sein.
D o n n e r s t a g , 3 0. J u l i .
Mit der wenig erfreulichen Lektüre der eben erwähnten
dilatorischen Antwort aus Wien begann für den Kanzler zu früher
Stunde der neue Tag. Dann telegraphierte Pourtalös, das kaiser-
61
) Siehe IV. Absschnitt 6. Kapitel, S. 177.
Mahnworte nach Petersburg 119

liehe Telegramm habe seine Wirkung nicht verfehlt, aber er


fürchte, daß Sasonow „eifrig bemüht sei, daran zu arbeiten, daß
der Zar fest bleibt" — D 401. Es folgten Meldungen über den
Vormarsch russischer Truppen von Kowno gegen die deutsche
Grenze und über den Umfang der russischen Mobilmachung
nebst Bestätigung der Nachricht, daß aus den nördlichen Gou-
vernements Matrosen einberufen seien, die doch kaum gegen
Oesterreich Verwendung finden konnten — D 404, 410.
lieber die Vorgänge während der Nacht erstattete Beth-
mann dem Kaiser Bericht und 6andte ihm gegen Mittag das vor
der Haltung Englands warnende Telegramm Lichnowskys —
D 407. Dieser Vorgang zeigt, mit welcher Vorsicht von Fall zu
Fall die Randbemerkungen Wilhelms IL bewertet werden
müssen. Die deutsche Mahnnote nach Wien war 3 Uhr morgens
abgesendet worden, dem Kaiser aber wurde das Telegramm,
das Anlaß zur Mahnung gegeben hatte, erst neun Stunden
später vorgelegt, sodaß seine, in diesem Fall sehr impulsiven
Marginalien auf den längst gefaßten Entschluß des verantwort-
lichen Leiters der Politik keinerlei Einfluß haben ausüben
können. Doch der Kanzler begnügte sich nicht mit referierender
Tätigkeit, alle die ungünstigen Nachrichten waren für ihn nur
ein Ansporn zu um so intensiverer Tätigkeit für den Frieden.
Gleichzeitig mit der Meldung Lichnowkys legte er daher Jon
Entwurf zu einem dritten Telegramm an den Zaren vor und bat
dabei insbesondere, der Kaiser möge nicht, wie er in einer
Randglosse (zu D 399) geschrieben hatte, von dem Scheitern,
sondern nur von der Gefährdung seiner Vermittlerrolle sprechen
>— D 408. Die den Entwurf fast wörtlich übernehmende De-
pesche war, obschon sie den Haager Vorschlag nicht erwähnte,
in zwar ernstem, aber sehr versöhnlichem Tone gehalten und
läutete:
„Besten Dank für Telegramm. Es ist ganz ausge-
schlossen, daß die Sprache meines Botschafters mit dem
Inhalt meines Telegramms in Widerspruch gestanden haben
könnte. Graf Pourtales war angewiesen, Deine Regierung
auf die Gefahr und die ernsten Folgen einer Mobilmachung
aufmerksam zu machen. Das gleiche sagte ich in meinem
Telegramm an Dich. Oesterreich hat nur gegen S e r b i e n
mobil gemacht und nur einen T e i l seines Heeres. Wenn,
wie es jetzt nach Deine* und Deiner Regierung Mitteilung
der Fall ist, Rußland gegen Oesterreich mobil macht, so wird
meine Vermittlerrolle, mit der Du mich gütigerweise be-
traut hast, und die ich auf Deine ausdrückliche Bitte über-
nommen habe, gefährdet, wenn nicht unmöglich gemacht
werden. Das ganze Gewicht der Entscheidung ruht jetzt
ausschließlich auf Deinen Schultern, sie haben die Verant-
wortung für Krieg oder Frieden zu tragen" — D 420 (3 Uhr
30 nachm. zum Haupttelegraphenamt).
120 Der Preußische Ministerrat vom 30. Juli

Wie durch den Kaiser in Petersburg, so suchte der Kanzler


auf diplomatischem Wege in London zu wirken. Er ließ dort
sagen, daß die Hoffnung auf Vermittlung durch die russische
Mobilmachung gegen Oesterreich sowie die französischen
Kriegsvorbereitungen in Frage gestellt sei, und bat, Grey möge
Frankreich bewegen, mit seinen militärischen Maßnahmen s o -
f o r t einzuhalten, und bei Rußland durchsetzen, daß der rus-
sische A u f m a r s c h gegen die österreichische Grenze ver-
hindert werde — D 409. In ähnlichem Sinne sprach Staats-
sekretär von Jagow auf den britischen Botschafter ein — E 98.
Die Hälfte des Tages ging vorUber, aus Wien war keine
Antwort eingetroffen.
Der fortschreitende Ernst der Lage veranlaßte die Einbe-
rufung eines Preußischen Ministerrats.") Dort gab der Kanzler
als Ministerpräsident einen Ueberblick über die Entwicklung
der politischen Lage und erklärte am Schluß seiner Darlegung,
er gebe
„solange seine Demarche in Wien noch nicht abgeschlagen
sei, d i e H o f f n u n g e n u n d B e m ü h u n g e n a u f
E r h a l t u n g des F r i e d e n s noch nicht auf".
Aus dem Verlauf der Sitzung ergibt sich:
1. Deutschland wird, obwohl Rußland gegen Oesterreich
mobilisiert hat, weder mobilisieren noch auch nur lau
„Zustand drohender Kriegsgefahr" erklären. Lediglich die
bei der Marine (nicht beim Landheer) bestehende Maß-
nahme der „Sicherung" darf getroffen werden.
2. Bei der Beratung am vorhergehenden Abend in Potsdam
hatte der Generalstab nicht die Mobilmachung, sondern
nur „drohende Kriegsgefahr" beantragt.
Allerhand Gerüchte schwirrten an diesem Vormittag in den
europäischen Hauptstädten umher. In Paris meldete ein Blatt
C..Paris du Midi") eine Teilmobilmachung, in Berlin ward um
ein Uhr ein Extrablatt des „Lokalanzeigers" mit der falschen
Nachricht des kaiserlichen Entschlusses zur Mobilmachung aus-
gegeben. Der Zwischenfall wurde durch sofortige telephonische
Benachrichtigung der drei Ententebotschafter erledigt und hat
auf den Gang der Ereignisse nicht eingewirkt.")
Im Laufe des Nachmittags ergaben sich einige Licht-
blicke. Fürst Lichnowsky meldete, daß er Grey sofort von der
dauernden deutschen Einwirkung auf Wien zur Annahme der
englischen Vorschläge verständigt habe, und fügte hinzu, daß er
persönlich London nicht als geeigneten Konferenzort ansehe —
D 418. Daraus konnte man schließen, daß dieser Gedanke, den
Grey selbst ja schon am 28. zurückgestellt hatte — E 67, in
M
) Der Ministerrat fand wahrscheinlich um die Mittagszeit statt.
Siehe Beleg Nr. 22 S. 198.
M
) Siehe IV. Abschnitt 7. Kapitel, S. 178.
Die erste Formel Sasonows 121

der englischen Hauptstadt immer mehr in den Hintergrund ge-


treten sei. Später kam noch das Versprechen Grey's, er wolle
versuchen, wegen der russischen Rüstungen „im gewünschten
Sinne durch Graf Benckendorff heute noch zu wirken" — D
435, während er die französischen Kriegsvorbereitungen infolge
der Pariser Falschmeldungen in Abrede stellte. Weniger erfreu-
lich war, daß die britische Flotte die O s t k ü s t e entlang in
die schottischen Häfen (ihre Kriegsstation) gefahren sei —
D 438.
Aus Petersburg wurde ein auf Bitte des deutschen Bot
schafters von Sasonow formulierter Vorschlag1 übermittelt, —
die e r s t e S a s o n o w ' s c h e F o r m e l :
„Wenn Oesterreich anerkennt, daß der Streitfall mit
Serbien den Charakter einer Frage von europäischem
Interesse angenommen hat und sich bereit erklärt, aus
seinem Ultimatum die Punkte zu entfernen, die den Suverä-
nitätsrechten Serbiens zu nahe treten, veroflichtet sich
Rußland, alle militärischen Vorbereitungen einzustellen" —•
D 421.
Der Kanzler hat anscheinend in seiner großen Versöhnlich-
keit an diesem Wortlaut keinen Anstoß genommen, in gemein-
samer Beratung" kam man jedoch zu der Ueberzeugung, daß
Oesterreich niemals darauf eingehen werde, von seiner vor einer
Woche übetgebenen Note etwas zurückzunehmen.") Herr von
Jagow erklärte dem ihn aufsuchenden russischen Botschafter,
die Formel sei seiner Ansicht nach für Oesterreich unannehmbar,
fügte jedoch hinzu, daß Szäpäry beauftragt sei, die' Verhand-
lungen mit Sasonow fortzuführen, und daß außerdem ein neuer
Vorschlag Greys vorhanden sei, der aller Wahrscheinlichkeit
nach in Petersburg schon bekannt sein müsse. Der Staats-
sekretär hat also keineswegs die Türe für Verhandlungen zuge-
schlagen, sondern im Gegenteil Wege zu deren Fortführung
gezeigt. Die Verteidiger des Zarismus haben lange Zeit die all-
gemeine russische Mobilmachung mit der Ablehnung der Formel
zu begründen versucht. Dieser Versuch ist gescheitert. Als die
Meldung von Pourtalös gegen halb vier Uhr (halb fünf Uhr
russische Zeit) in Berlin eintraf, hatte Sasonow zum zweiten
Male, und dieses Mal unwiderruflich, dem Zaren den Entschluß
zur allgemeinen Mobilmachung abgerungen.65)
In London wurde' der Vorschlag Sasonows nicht günstiger
beurteilt als in Berlin. Etwa zu derselben Zeit, da Swerbejew
M
) Siehe Randbemerkungen des Kanzlers und Aktennotiz Zimmer-
manns — D 421 Anmerkung: 2.
") Nach Palöologue um 4 Uhr — nach Dobrorolski spätestens um
2 Uhr. Die Unterredung Jagow—Swerbejew kann, da in ihr die erst
gegen 6 Uhr in Berlin bekannt gewordene Instruktion an Szäpäry er-
wähnt wird, erst nach 6 Uhr stattgefunden haben. Telegramm Swer-
bejews über die Unterredung siehe Beleg Nr. 23 S. 198.
122 066terreiob au direkten Besprechungen bereit

bei Jagow vorsprach, schlug Grey in Petersburg vor, die Formel


dahin abzuändern, daß wenn Oesterreich seinen Vormarsch
nach der Besetzung von Belgrad einstelle, die Mächte prüfen
sollten, wie Serbien ohne Schädigung seiner Rechte und Un-
abhängigkeit Oesterreich Genugtuung geben könne. Er hoffe
ferner, daß bei derartiger Begrenzung der Operationen Oester-
Teichs auch Rußland seine militärischen Vorbereitungen ein-
stellen werde. Auf Wunsch Lichnowskys war in der abge-
änderten Formel der anstößige Punkt der Abänderung des Ulti-
matums ausgeschaltet worden — E 103, D 439, 460.
Auch Poincaré war der Ansicht, daß. Oesterreich nicht dar-
auf eingehen würde, die von Serbien nicht angenommenen Be-
dingungen des Ultimatums einer internationalen Diskussion zu
unterstellen — E 99.
Zwei Stunden nach dem russischen Vorschlag (gegen halb
sechs Uhr) traf wieder eine Ablehnung aus Wien ein, sie betraf
die Anregung des serbischen Vertreters in Rom (S. 116) -— D 432.
Aber wenige Minuten später kam endlich, endlich eine halbwegs
befriedigende1 Botschaft. Tschirschky drahtete, daß an Szàpàry
Instruktion ergangen sei, die Konversation mit Sasonow zu be-
ginnen. Ferner würde Berchtold mit Schebeko sprechen und
ihm mitteilen, daß der Monarchie territoriale Erwerbungen
ferne lägen, und daß sie „nach Friedensschluß" lediglich vor-
übergehende Besetzung serbischen Gebiets bezwecke — D 483.
Das war also die Annahme der direkten Besprechungen, die in
Wirklichkeit entgegen den Behauptungen Sasonows niemals
eingestellt waren, und es war die Wiederholung des Verzichts
auf territoriale Erwerbungen, es war aber nicht die Beschrän-
kung der militärischen Operationen auf Belgrad und Umgebung.
Nach einer weiteren Viertelstunde kam denn auch die Meldung,
daß Berchtold auf diesen Punkt erst „nach Einholung der Be-
fehle des Kaisers Franz Josef" Antwort erteilen könne — D 434.
Telephonisch wurde dann noch ermittelt, daß die Antwort
frühestens um Mittag des nächsten Tages zu erwarten sei 1—
D 440.
Das lange Zögern Wiens hatte auch Wilhelm II. ungeduldig
gemacht, sodaß er beschloß, sich persönlich an Kaiser Franz
Josef zu wenden. Die vom Kanzler auf Befehl im Entwurf
vorgelegte und nur wenig abgeänderte Depesche lautete:
„Die persönliche Bitte des Zaren, einen Vermittlungs-
versuch zur Abwendung eines Weltbrandes und Erhaltung
des Weltfriedens zu unternehmen, habe ich nicht ablehnen
zu können geglaubt und Deiner Regierung durch meinen
Botschafter gestern und heute Vorschläge unterbreiten
lassen. Sie gehen unter andern darauf, daß Oesterreich
nach Besetzung von Belgrad oder anderer Plätze seine Be-
dingungen kundgäbe. Ich wäre Dir zu aufrichtigem Dank
verpflichtet, wenn Du mir Deine Entscheidung möglichst
Mitteilung dea österreichischen Entgegenkommens nach London 183

bald zugehen lassen wolltest" — D 437 (ab 7 Uhr 15


abends).
Sehr verstimmt über die endlose Verzögerung sandte der
Kanzler noch eine eigenhändig entworfene und in den schärf-
sten Ausdrücken gefaßte Instruktion an Tschirschky — D 441,
deren Ausführung jedoch wegen bedrohlicher Meldungen aus
Rußland zunächst sistiert — D 451, dann jedoch durch einen
schonenderen, aber vielleicht wirksameren Druck ersetzt wurde,
nämlich durch Uebermittlung eines Telegramms des Königs von
England an Prinz Heinrich von Preußen, worin der Vorschlag
„Halt in Belgrad" warm empfohlen wurde. Der Botschafter
wurde beauftragt, das Telegramm unverzüglich Graf Berchtold
mitzuteilen und ihm auf Wunsch Abschrift zur eventuellen Ver-
wertung gegenüber Kaiser Franz Josef zu überlassen — D 464.
Kaiser und Kanzler appellierten nunmehr von dem zögernden
Minister an den Herrscher des Habsburger Reichs.
Auf der anderen Seite wurde jedoch das Entgegenkommen
Oesterreichs in der Frage des direkten Gedankenaustausches
keineswegs geringschätzig bei Seite geschoben. Wie oben er-
wähnt, hatte es Jagow schon gegenüber Schebeko verwertet.
Die diesbezügliche Meldung Tschirschkys wurde nach London
und Petersburg übermittelt, nach der englischen Hauptstadt mit
dem Zusatz:
„Das Telegramm bezieht sich auf unsere frühere An-
regung direkter Besprechungen zwischen Wien und Peters-
burg und zeigt so viel Entgegenkommen Wiens, daß wir
hoffen, daß England in Petersburg auf gleiches Entgegen-
kommen und namentlich auf Einstellung seiner Kriegsmaß-
nahmen wirken wird" — D 444 und Anm. 3.
'Es kam nun alles darauf an, so dachte man in Berlin, ob
Grey seinem Versprechen getreu auf Einstellung der russischen
Kriegsvorbereitungen dringen werde. In der milden Form, wie
er es bei Abänderung der Sasonowschen Formel getan hatte,
war ein Erfolg nicht denkbar. Wird er sich zu gleich ener-
pischer Sprache aufraffen, wie man selbst sie in Wien seit drei
Tagen führte? Die ganze Rechnung war freilich auf Sand ge-
baut. Denn während man in Berlin Mahnung auf Mahnung
nach Wien sandte und London mit Bitten bestürmte, waren in
Petersburg die Würfel schon gefallen.
Welches waren nun aber die Gründe für das unbegreiflich
scheinende Zögern in Wien? Das vorgeschützte ..Einholen der
Befehle des Kaisers" war ja selbstverständlich nötig, doch der
Weg vom Ballhausplatz bis zur Hofburg, wohin Franz Josef am
30. von Ischl zurückgekehrt war. ist nicht weit. Die wahren
Ursachen sind sicherlich andere gewesen. Zunächst mußt»
Tisza gehört werden — D 440. Das war der Fluch der Doppel-
monarchie, daß die auswärtige Politik an zwei Orten zugleich
124 Militärische Passivität in Wien

gemacht werden mußte. Dann kam aller Wahrscheinlichkeit


nach eine noch wenig' erörterte militärische Schwierigkeit. Die
Beschränkung der Operationen auf Belgrad und Umgebung war
einfach durchzuführen, wenn der österreichische Krie'gsplan
den direkten Vormarsch dorthin vorsah. Conrad aber wollte
auf weiten Umwegen an der Nordwestecke defe Königreichs die
Offensive ansetzen, so daß er auf denkbar schlechtesten Ver-
bindungen halb Nordserbien von West nach Ost durchziehen
mußte, bis er zur Hauptstadt gelangte. In dieses strategische
Geheimnis war man in Berlin nicht eingeweiht, sonst würde man
vielleicht das Wort Belgrad weniger betont haben.
Zur diplomatischen Passivität gesellte sich die militärische.
Graf Berchtold hatte die russische Mobilmachung gegen Oester-
Teich am Abend des 29. erfahren — Oe III. 1, 18, D 386. Damit
waren 55 aktive und Reservedivisionen der Infanterie gegen
die Monarchie aufgeboten, die ihrerseits nur noch über 28 ver-
fügte, da 22 von der vorhandenen Gesamtzahl von 50 gegen
Serbien bestimmt waren."") „Mobilmachung gegen Mobil-
machung" ist Regel auch für die strengsten Pazifisten. In Wien
aber verstrich der ganze Tag des 80. ohne eine' solche Maß-
nahme. Statt dessen wünschte der österreichische Minister als
„letzten Versuch, den europäischen Krieg hintanzuhalten", eine
gemeinsame deutsch-österreichische warnende Erklärung in
Petersburg und Paris, ähnlich derjenigen, die von Berlin in der
französischen Hauptstadt schon einmal (am 29. — D 341), in
der russischen aber schon dreimal (erstmals am 26., zweimal
am 29. — D 219, 342, 380) abgegeben worden war. Eine
Wiederholung ohne neuen dringenden Anlaß würde jedem diplo-
matischen Brauch widersprochen und als herausfordernde
Drohung gewirkt haben, so daß man dem Wiener Kabinett an-
heim Ereben mußte, diese Demarche allein zu unternehmen. —
D 427, 429, 442. Dazu jedoch fand man in Wien die Ent-
schlußkraft nicht.57) Erst am Abend unterbreitete deT General-
stabschef Kaiser Franz Joseph den Antrag zur Gegenmobil-
machung — D 498, Oe III 50, die am folgenden Tage (31. Juli)
gegen Mittag ausgesprochen wurde und also sowohl der Zeit
als der Zahl nach eine rein defensive Maßnahme war.
Mit vollem Recht beunruhigt über das Zaudern, riet der
deutsche Generalstabschef am Abend des 30. dem österreichi-
schen Militärattache dringend die sofortige allgemeine Mobil-
machung an. Das war die Pflicht Moltkes, seine selbstverständ-
liche Pflicht. Nur ein völliges Hinwegsehen über alle Stärke-
verhältnisse kann zu der seltsamen Auffassung führen, Oester-
reich hätte seine ihm noch verbleibenden 28 Divisionen gegen-
M
) Untersuchungsausschuß 2. Heft, S. 22.
") Die k. u. k. Botschafter in Paris und Petersbure: sollten den
Schritt nur dann unternehmen, wenn ihre deutschen Kollegen eine
analoge Instruktion erhielten — Oe III. 15.
Militärische Zurückhaltung in Deutschland 125

über der russischen Bedrohung durch die doppelte Uebermacht


von 55 in immobilem Zustand belassen sollen"). Hinsichtlich der
eigenen Maßnahmen legte man sich in Deutschland wiederum
die äußerste Zurückhaltung auf. Ein Antrag des 16. Armee-
korps (Metz), wegen sehr viel weitergehender französischer Maß-
nahmen am folgenden Tage den Grenzschutz ausrücken zu
laßsen, wurde abgelehnt, nur bei einigen Korps im Osten er-
folgte diese Maßnahme. Eine Anregung des Kaisers, die Grenz-
korps durch Einziehung von Reservisten zu verstärken, ge-
langte nach Vortrag des Kriegsministers nicht zur Ausführung.
Wenn daher auch die aus zweiter Hand stammende Meldung
Cambons, die militärischen Spitzen in Berlin drängten auf die
Mobilmachung — F 105, richtig sein sollte, so haben sie jeden-
falls beim Kriegsministerium und bei der politischen Leitung
ihre Ansicht nicht durchgesetzt.

7. Die Haltung Frankreichs und Rußlands während der


deutsch-englischen Vermittlung.
Die 6echs Tage deutsch-englischer Vermittlung zeigen
Deutschland und Oesterreich-Ungarn zwar einig über zwei Ziele:
militärisches Vorgehen gegen Serbien und Vermeidung eines
europäischen Krieges, aber doch mit einer allmählich wachsen-
den Meinungsverschiedenheit darüber, welcher Umfang dem
ersten Ziele gegeben werden darf, falls das zweite erreicht
werden soll. Während in Berlin, je länger desto mehr, die Er-
kenntnis durchdringt, daß die allgemeine Konflagration nur ver-
meidbar ist, wenn die Aktion gegen Serbien eingeschränkt
wird, glaubt man in Wien auf dem Standpunkt verharren zu
können, daß den militärischen Operationen eine Grenze nicht
gezogen zu werden braucht. Einheitlicher ist das Bild auf
Seiten des französisch-russischen Zweibundes. Von Anfang an
war Rußland entschlossen, seine schützende Hand über Serbien
zu breiten, auch auf die Gefahr eines Weltbrandes. In Frank-
reich waren, wenn auch nicht der Stellvertreter des Außen-
ministers, so doch Poincaré und Viviani von Anfang an zu vor-
behaltloser Unterstützung Rußlands bereit und sie wurden dazu
um so bereiter, je schärfér die' Krise sich aussprach, selbst dann,
als Rußland zu „äußersten Maßnahmen" schritt, von denen Niko-
laus n . vorhergesehen hatte, daß sie „zum Kriege führen
werden".
Bei der ersten Konferenz mit Sasonow nach dem Bekannt-
werden des Ultimatums in Petersburg am 24. Juli gab Paléologue,
zweifelsohne auf Grund der kurz vorher von Poincaré erhaltenen
Direktiven, dem russischen Minister die Zusicherung, daß Frank-
reich alle Bündnispflichten erfüllen werde — E 6. Wie der
Botschafter das meinte, hat er selbst durch die Schilderung
M
) Beleg Nr. 24 S. 19».
126 Fälschungen der rusaichen und französischen Dokumente

seines Abschieds von Iswolsky am folgenden Abend erläutert,


als beide sich sagten: „Dieses Mal ist es der Krieg."68) Die
weitere Haltung des Pariser und Petersburger Kabinetts war
lange Zeit nur unvollständig bekannt, denn in den Dokumenten,
die beide Regierungen nach Kriegsausbruch veröffentlichten,
waren sorgfältig alle Stellen ausgemerzt, welche die Haltung
Deutschlands in günstigem, die eigene in ungünstigem Lichte
erscheinen ließen. Allmählich wurden jedoch manche schwer
belastende Tatsachen enthüllt. Durch die im Frühjahr 1922
veröffentlichte wahre Korrespondenz Paris-Petersburg ist so-
dann das erste russische Orangebuch 1914 als ein geradezu un-
erreichtes Muster von Fälschungen entlarvt worden.60) Von
60 Dokumenten waren 29 ganz unterdrückt, 18 mehr oder min-
der gefälscht, nur 13 richtig wiedergegeben. Ein Vergleich
zeigt, daß auch im französischen Gelbbuch wichtige Stücke
ausgelassen oder entstellt sind.61)
Den leichtesten Grad unwahrer Darstellung bilden die
Unterdrückungen der Bestrebungen Deutschlands, den öster-
reichisch-serbischen Konflikt zu lokalisieren. Die in dieser Hin-
sicht wichtigsten, bisher auf Seite der Entente verheimlichtea
Tatsachen sind folgende: Am 24. Juli hatte sich der deutsche
Botschafter in Paris seines Auftrags über die Stellungnahme
der Berliner Regierung in einem Tone erledigt, aus dem man
ersehen konnte, „daß die Hoffnung auf eine Beilegung des
Zwischenfalls durch österreichisch-serbische Verhandlungen
nicht verloren sei". Ein neuer Schritt Herrn von Schoens am
25. beruhigte im französischen Ministerium als ein „Anzeichen
dafür, daß Deutschland nicht in jedem Falle den Krieg suche".
Am 26. äußerte der Direktor der politischen Abteilung am Quai
d'Orsay nochmals, daß „Deutschland und Oesterreich-Ungarn
zwar einen glänzenden diplomatischen Sieg erstreben, aber nicht
auf alle Fälle den Krieg wollen". Am 27. machte Herr von
Schoen einen neuen Vorschlag „einer Intervention Frankreichs
und Deutschlands zwischen Rußland und Oesterreich-Ungarn".
Am 28. versicherte er, daß „Deutschland bereit sei, in Gemein-
schaft mit den anderen Mächten für die Erhaltung des Friedens
zu arbeiten". Am 29. Juli ist dann unterschlagen, daß Deutsch-
land sich genötigt sah, wegen der „militärischen Vorbereitungen
Frankreichs" vorstellig zu werden.
Wichtiger als die Feststellung dieser Unwahrheiten sind
die Enthüllungen über die enge Zusammenarbeit von Petersburg
und Paris. Am 25. Juli hatte der französische Botschafter be-
") Pal6ologue S. 251.
«°) Russisches Blaubuch S. 513—526, „Livre Noir" IL S. 275—300,
Romberg „Die Fälschungen des russischen Orangebuohes".
M
) Auslassungen oder Fälschungen sind nachzuweisen bei F 28, 36,
56, 54, 62, 78, 80, 94, 101, 102, 103, 116, 117, 120, 125, 127. Außerdem
sind neun wichtige Vorgänge im französischen Gelbbuch nicht erwähnt.
Frankreich und die militärischen Maßnahmen Rußlands 127

kanntlich gemeldet, daß ein Ministerrat unter Vorsitz des Zaren


die Mobilmachung von 13 Armeekorps gegen Oesterreich-Un-
garn beschlossen habe, für den Fall, daß dieses „mit Waffen-
gewalt gegen Serbien vorgehe" — F 50. Doch er hatte weit
mehr erfahren. Der Bericht des französischen Militärattaches
über eine Besprechung mit dem Großfürsten Nikolaus Nikola-
jewitsch und dem Kriegsminister am Abend des 25.02) ruht zwar
noch im Dunkel der französischen Archive, aber Palöologue
sandte am 26. das folgende, im Gelbbuch unterschlagene Tele-
gramm:
„Gestern (am 25. Juli) hat mir in Krasnoje der Kriegs-
minister die Mobilmachung der (13) Armeekorps der vier
Militärbezirke Kijew, Odessa, Kasan und Moskau be-
stätigt. Die Militärbezirke Wilna, Warschau und Peters-
burg erhalten außerdem geheime Weisungen. Ueber die
Städte sowie über die Gouvernements Petersburg und Mos-
kau wird der Belagerungszustand verhängt. In dem dies-
bezüglichen Erlaß folgt dann ein Verzeichnis der Gegen-
stände, über die die Zeitungen nicht schreiben dürfen, und
die in der Tat nur militärische Fragen betreffen.
Die Beförderung der jungen Offiziere, die, wie üblich,
am 18. August stattfinden sollte, ist gestern. (25. Juli)
abends um 6 Uhr eiligst erfolgt. Gleichzeitig wurde der
Befehl gegeben, das Lager in Krasnoje abzubrechen. In
diesem Augenblick treffen die Truppen wieder in ihren
Standorten ein. Der Kriegsminister hat uns von neuem
seine Absicht erklärt, Deutschland die Initiative eines
eventuellen Angriffs zu überlassen.""3)
Paris wußte also, daß Rußland auch an der deutschen
Front (Petersburg—Wilna—Warschau) militärische Vorberei-
tungen traf, es wird ferner erfahren haben, daß nach Ansicht des
russischen Generalstabs schon seit dem 24.
„der Krieg beschlossene Sache war".")
Das überraschend genaue Zusammenfallen der ersten um-
fassenden militärischen Maßnahmen in Frankreich (S. 107) mit
der Erklärung der „Kriegsvorbereitungsperiode" für ganz Ruß-
land (am 26.) ist nunmehr aufgeklärt.
An eben diesem Tage begann Sasonow die von Pourtalös
angeregten Besprechungen mit Szäpäry. Als der russische
Minister dabei insbesondere die Punkte 4 und 5 des Ultimatums
(Entlassung serbischer Offiziere1 und Beamten, Mitwirkung
österreichischer Organe bei Unterdrückung der großserbischen
Agitation) beanstandete, erhielt et sofort die Erläuterung, daß
bei Punkt 5 nur an die Errichtung eines geheimen „bureau de
w) Pal6ologue S. 251.
" 3 ) Bericht an den französischen Senat 3. 39, 127.
M ) Dobrorolski S. 21.
128 Rußland leimt Vermittlung ab

súretó" ähnlich den russischen Einrichtungen in Paris und


Berlin gedacht sei — Oe II. 38, 73.66) Dieses außerordentlich
wichtige Zugeständnis, wodurch eine Hauptdifferenz zwi3chen
Petersburg und Wien beseitigt war, hat Sasonow unterschlagen
— R 25. Auch die ursprüngliche Besorgnis des Ministers, daß
Oesterreich Serbien „verschlingen" wolle, war inzwischen durch
die Erklärung über territoriales Desinteressement behoben.
Als nun, gleichfalls noch am 26., der russische Geschäfts-
träger in Paris meldete, der deutsche Botschafter habe bei Be-
kanntgabe des österreichischen Verzichts auf Gebietserwerb die
Hoffnung ausgedrückt, Frankreich werde „seinen Einfluß in
Petersburg in mäßigendem Sinne gebrauchen" erhielt er von
Sasonow die Antwort:
„es läge mir jedoch daran, rechtzeitig ein Mißverständnis
zu beseitigen, welches sich in die Antwort des Verwesers
des Außeüministeriums an den deutschen Botschafter einge-
schlichen habe. Wenn es sich darum handelt, irgend einen
mäßigenden Einfluß in Petersburg auszuüben, so weisen
wir einen solchen von vornherein ab, da wir von Anfang an
einen Standpunkt eingenommen haben, an dem wir nichts
ändern können, da wir bereits allen annehmbaren Forde-
rungen Oesterreich-Ungarns entgegengekommen sind".86)
Jede Vermittlung beruht nun aber doch darauf, daß zwi-
schen den verschiedenen Standpunkten ein Mittelweg gesucht
wird; durch die Erklärung, an dem eigenen Standpunkte1 nichts
ändern zu können, lehnte somit Rußland jede Vermittlung ab.
Diese schroffe Haltung ist um so auffallender, als Oesterreich
schon die zwei eben erwähnten wesentlichen Zugeständnisse ge»
macht hatte. In Paris genügte' das Stirnerunzeln Sasonows, um
sofort die reumütige Entschuldigung zu erwirken, der stellver-
vertretende Außenminister habe „keinen Augenblick die Mög-
lichkeit eines mäßigenden Einflusses in Petersburg zugelassen",
vielmehr „es abgelehnt, den deutschen Vorschlag anzuneh-
men".'7)
Iswolsky hatte richtig gesehen, als er sogleich nach Rück-
kehr auf seinen Posten (27. Juli) meldete, er sei
..überrascht, wie richtig der Verweser des Ministeriums
des Auswärtigen und seine Mitarbeiter die Lage verstehen,
und wie fest und ruhig ihr Entschluß ist, uns die voll-
kommenste Unterstützung zu erweisen und auch den leise-
sten Anschein einer Uneinigkeit mit uns zu vermeiden".68)
An der Sängerbrücke war man nunmehr sicher, daß der
Quai d'Orsay nicht mit unangenehmen Ratschlägen zur Nach-
M
) Oe II. 73 ist vom 26., nicht vom 27. zu datieren.
Romberg S. 18 und 19.
")
M
loe. cit. S. 26.
) loc. cit. S. 28.
Sasonow will die Mobilmachung (28. Juli) 129

giebigkeit lästig fallen werde. Der französische Stimmungs-


Umschlag kam auch in einem Runderlaß vom 27. deutlich zum
Ausdruck — F 62. Es mag dem französischen Volke überlassen
bleiben, zu ergründen, worauf der Wechsel der bisherigen ver-
söhnlichen Haltung zurückzuführen ist, ob auf das Eingreifen
Paul Cambons, der vom 25.—27. London verlassen hatte, oder
auf die Rückkehr Iswolskys oder auf Weisungen von Bord der
,,France", die Poincaré und Viviani heimwärts trug. Nach der
Kriegserklärung an Serbien am 28. telegraphierte Sasonow nach
London, daß damit jeder Gedanke eine's direkten Verkehrs
zwischen Oesterreich und Rußland erledigt sei — E 70. Am
folgenden Tage aber beschwerte er sich timgekehrt bei Pour-
talès und ebenso in London und Paris, daß Oesterreich die
direkten Besprechungen verweigere — D 343, 365, E' 78, R 50.
In Wirklichkeit hatten diese Besprechungen überhaupt nicht
aufgehört, sondern am 28. hatte sowohl Berchtold mit Schebeko
wie Szäpäry mit Sasonow eine Unterredung — Oe IL 95,
EU. 16.6') Allerdings bestand Meinungsverschiedenheit über
den Inhalt des Gedankenaustausches. Wien wollte nur eine
nachträgliche E r l ä u t e r u n g seiner Note zulassen, Peters-
burg wollte deren A b ä n d e r u n g . Das berechtigte den
russischen Minister aber nicht, so unzutreffende Anschuldigun-
gen vorzubringen; würde er sich wahrheitsgemäß geäußert
haben, so würde das Berliner Kabinett genauer haben vermitteln
können.
Sasonow hat jedoch am 28. noch weit Schlimmeres getan.
Er wies den Generalstabschef auf die „Notwendigkeit hin, mit
der Mobilmachung nicht länger zu zögern", und zwar mit Wor-
ten, aus denen General Januschkjewitsch das „Erstaunen" her-
auslas, daß die Mobilmachung nicht früher begonnen habe. Der
Generalstab fertigte daraufhin zwei Ukase aus, einen für die
allgemeine Mobilmachung gegen Oesterreich und Deutschland,
einen für die Teilmobilmachung nur gegen Oesterreich.70)
Oesterreich-Ungarn hatte bisher nur die Hälfte seiner
Armee gegen Serbien mobilisiert (25. Juli), acht Armeekorps,
und zwar ausschließlich solche, deren Bezirk nicht an russisches
Gebiet grenzte. Rußland, das über 37 Korps verfügte, konnte
sich in keiner "Weise bedroht fühlen. Der russische Schritt ist
auch nicht durch übertriebene Nachrichteil über die öster-
reichischen Rüstungen zu erklären, der Petersburger General-
stab war vielmehr ganz zutreffend unterrichtet.71) In Frank-
reich waren am 28. die ersten sieben Maßnahmen für die Zeiten
politischer Spannung getroffen, im Kriegsministerium zu Paris
**) In Oe HI. 16 ist statt „heute" zu lesen „gestern".
Dobrorolski S. 23. Tatsächlich hatte die russische Mobil-
machung
71
mit der „Kriegsvorbereitungsperiode" schon am 26. begonnen.
) Untersuchungsausschuß 2. Heft, S. 19 ff., S. 89 ff.
9
180 Erstmaliger Befehl zur allgemeinen russischen Mobilmachung

war man „entzückt", Generalissimus Joffre war hoch erfteut


über die glatte Durchführung aller seiner Anordnungen.72)
Am Vormittag des 29. unterzeichnete Nikolaus II. nicht
den Ukas für die Teilmobilmachung, sondern den für die a l l -
gemeine Mobilmachung gegen Oesterreich-
U n g a r n u n d D e u t s c h l a n d . Die weiter erforderlichen
Formalien nahmen den Nachmittag in Anspruch, am Abend
9% Uhr wollte der Chef der Mobilmachungsabteilung, Oberst
Dobrorolski, den Befehl eben im Haupttelegraphenamt dik-
tieren, als eine Weisung des Zaren eintraf, statt der allgemeinen
nur die M o b i l m a c h u n g g e g e n O e s t e r r e i c h vorzu-
nehmen. Das war dem Telegramm Wilhelms II (S. 113) zu ver-
danken. Inzwischen hatte Szäpäry auf Grund einer schon vom
25. Juli datierten, aber nicht telegraphisch, sondern nur mit der
Post abgesandten Instruktion — Oe II. 42 — Sasonow schon
am 28. und auf Anregung des deutschen Botschafters noch-
mals am 29. die Erklärung abgegeben, Oesterreich hätte
„nicht die Absicht, serbisches Territorium an sich zu
bringen und gedächte auch nicht, die Suveränität Serbiens
anzutasten" — Oe m . 16, 19.
Damit waren alle berechtigten russischen Wünsche erfüllt.
Sasonow erwiderte indessen, in territorialer Hinsicht sei er zwar
überzeugt, die serbische' Suveränität aber werde durch die
österreichischen Bedingungen angetastet. Diese Auffassung
berechtigte ihn jedoch nicht, die Erklärung des Botschafters
wiederum einfach, zu unterschlagen. Keinem der Verbündeten
wurde sie mitgeteilt. Ihre rechtzeitige ehrliche Bekanntgabe
würde die Lage sehr stark zu Gunsten des Friedens beeinflußt
haben. Statt dessen geriet der Minister über die ihm von Pour-
talès ausgerichtete Warnung aus Berlin (S. 112) in große Er-
regung, wollte darin einen Gegensatz zum kaiserlichem Tele-
gramm sehen und suchte den Zaren in diesem Sinne zu beein-
flussen. Die von diesem in einem dritten Telegramm — D 390
— angekündigte Sendung des Generals Tatischtschew nach
Berlin unterblieb. Statt dessen wurde nach Paris gedrahtet:
„Da wir dem Wunsche Deutschlands nicht Folge geben
können, bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere eigenen
Rüstungen zu beschleunigen und mit der wahrscheinlichen
Unvermeidlichkeit des Krieges zu rechnen" — R 58.
Diese Nachricht, die kaum anders aufgefaßt werden konnte,
als daß man sich in Rußland zur allgemeinen Mobilmachung
entschlossen habe, wurde am 30. Juli 3 Uhr morgens von Is-
wolsky in Paris mitgeteilt, wo man schon vorher die Meldung
Paléologues über die Teilmobilmachung erhalten hatte" —
F 100. In einer sofort zwischen Poincaré, Viviani und dem
7S
) loc. cit. S. 75.
Endgiltiger Befehl zur allgemeinen russischen Mobilmachung 131

Kriegsminister Messimy abgehaltenen Beratung wurde be-


schlossen, Rußland zu empfehlen, nicht etwa von seinen, den
Krieg heraufbeschwörenden Maßnahmen abzusehen, sondern
nur, sie insgeheim zu betreiben. Man hat uns gesagt, so drahtete
der Botschafter,
„wir könnten erklären, daß wir im höheren Interesse des
Friedens bereit sind, unsere Mobilmachungsvorbereitungen
zeitweilig zu verlangsamen, was uns nicht hindern würde,
unsere Vorbereitungen fortzusetzen und sogar zu ver-
stärken, wobei wir uns nach Möglichkeit größerer Truppen-
transporte zu enthalten hätten".73)
Um in Paris ja keinen Zweifel über die Entschlossenheit
Rußlands aufkommen zu lassen, sandte Sasonow noch ein „sehr
dringendes" Telegramm:
„bis wir durch die deutsche Regierung eine durchaus be-
friedigende Antwort Oesterreichs erhalten haben, werden
wir unsere Rüstungen fortsetzen. Dieses wird Ihnen sehr
vertraulich mitgeteilt."7*)
Der Sieg des russischen Ministers über seinen schwanken-
den Herrscher wurde vollständig am folgenden Taere (30. Juli).
Gegen 1 Uhr mittags, unmittelbar nachdem Sasonow deta deut-
schen Botschafter seine angebliche Friedensformel diktiert
hatte (S. 121), telephonierte er dem Chef des Generalstabs, daß
der Zar
„es f ü r r i c h t i g b e f u n d e n h a b e , a u f Grund
der letzten Nachrichten aus Berlin die
allgemeine Mobilmachung der gesamten
A r m e e u n d F l o t t e z u v e r k ü n d e n". ™)
Damit die Ausführung nicht wieder durch ein Telegramm
aus Berlin durchkreuzt werde, setzte der Minister hinzu: „Also,
fertigen Sie Ihre Befehle aus, Herr General, und dann •— lassen
Sie sich den ganzen T a g nicht mehr sehen." Zur Zeitbestim-
mung hat General Dobrorolski auf schriftliches Befragen kate-
gorisch erklärt, daß der Befehl des Zaren „nicht später als 2 Uhr
nachmittags" ( = 1 Uhr deutsche Zeit) ergangen sei. Der Zu-
satz „auf Grimd der letzten Nachrichten aus Berlin" ist will-
kürliche Erfindung Sasonows, denn seit dem Entschluß des
Zaren zur Umwandlung der allgemeinen in eine Teilmobil-
machung waren keinerlei beunruhigende Meldungen aus Berlin
eingegangen. 7 ')
Die sechste Stunde des Nachmittags hatte eben ge-
schlagen, als Dobrorolski im großen Saale des Haupttele-
graphenamts von Petersburg das verhängnisvolle Telegramm
7S) Romberg- S. 37.
74> loc. cit. S. 36.
75 ) Dobrorolski S. 28.
7 i ) „Deutsche Rundschau" Juli 1922 „Der 30. Juli in Petersburg".

9*
182 Frankreich erfährt sofort die Mobilmachung Rußlands

den ihn an einigen Dutzend Apparaten in feierlichem Schwei-


gen erwartenden Telegraphisten und Telegraphistinnen dik-
tierte. Die Apparate begannen zu arbeiten. „ D a s w a r d e r
A n f a n g s m o m e n t der g r o ß e n E p o c h e . . . . eine
A b ä n d e r u n g war n i c h t m ö g l i c h , der P r o l o g de3
g r o ß e n D r a m a s h a t t e begönnen."77)
Es mag um die gleiche Zeit gewesen sein, daß Betchtold
dem russischen Botschafter in Wien die tags vorher von Szä-
päry über die Integrität und Suveränität Serbiens abgegebene
Erklärung wiederholte >— Oe III. 45. Schebeko hat über dieses
Gespräch berichtet, daß es den „freundschaftlichsten Charakter"
trug und daß nach seinem Eindruck
„Oesterreich wirklich den Wunsch hegt, zu einer Ver-
ständigung mit uns zu gelangen, es aber nicht für an-
gängig hält, seine Operationen gegen Serbien einzustellen,
bevor man nicht volle Genugtuung und ernste Garantien für
die Zukunft erhalten habe".78)
Sasonow hat auch diese Erklärung unterschlagen und im
Orangebuch unterdrückt.
Mehrere Jahre blieb es ein Rätsel, warum die französische
Regierung, die in so innigem Kontakt mit Petersburg stand,
von diesem entscheidenden Schritt der allgemeinen Mobil-
machung ihres Verbündeten nicht sofort verständigt wurde.
Heute wissen wir, daß noch am Abend des 30. Juli um 11 Uhr
25 ein Telegramm Paleologues in Paris eingetroffen ist, das
meldete, auf Grund beunruhigender Nachrichten des russischen
General- und Admiralstabes über Vorbereitungen der deutschen
Armee und Flotte habe
„die russische Regierung beschlossen,
i n s g e h e i m die e r s t e n M a ß n a h m e n der a l l -
gemeinen Mobilmachung' durchzufüh-
r e n ", 79 )
Die Vorbereitungen der deutschen Armee und Flotte waren
Vorwände, die durch die eigenen Berichte des russischen Gene-
ralstabs aus jenen Tagen widerlegt sind.80) Das Telegramm
aber verkündete die Befolgung des am Morgen von Frankreich
erteilten freundschaftlichen Rats. Neun Jahre ist diese Tat-
sache verschwiegen, neun Jahre lang den Völkern der Entente
vorgeredet worden, die erste allgemeine Mobilmachung sei von
Oesterreich ausgegangen. Nachdem diese Lüge jetzt durch
französische Forscher entlarvt ist, versucht man die Ausflucht,
es habe sich ja nur um die „ersten Maßnahmen" gehandelt. Da

Dobrorolski S. 29.
) „Deutsche Allgemeine Zeitung" vom 20. Mai 1919, Nr. 242.
78

" ) F 102 ist doppelt gefälscht Es ist aus zwei Telegrammen zu-
sammengezogen und unterdrückt den oben angeführten Satz.
M ) Untersuchungsausschuß 2. Heft, S. 72 und 73.
Jules Gr6vy lind Alexander HL über Mobilmachung 133

mau aber in Paris wußte, daß die ,,ersten Maßnahmen" schon am


25. eingeleitet worden waren, konnte man nicht im Zweifel sein,
daß diese Worte hier nichts anderes bedeuteten als den tat-
sächlichen Beginn der allgemeinen Mobilmachung. Frankreich
erhob keinen Einspruch. Sein Schweigen war vielsagend und
wurde in Petersburg richtig verstanden.

8. Die Bedeutung der russischen allgemeinen Mobilmachung.


Das Wort Mobilmachung wird in doppelter Bedeutung ge-
braucht. In engerem Sinne versteht man darunter lediglich die
Ueberführung des Heeres vom Friedensfuß auf die Kriegsstärke,
ohne daß die Truppen ihre Friedensstandorte verlassen. Solche
Mobilmachungen fanden statt in Oesterreich-Ungarn 1908/09
gegenüber Serbien, in Oesterreich-Ungarn und in Rußland wäh-
rend der Spannung von 1912/13. Sie beschränkten sich auf einen
Teil des Heeres und vollzogen sich in längeren Zeiträumen und
in allmählicher Steigerung auf Grund einer Reihe von Einzel-
befehlen. Anders geartet ist die Mobilmachung in- weiterem
Sinne, in dem das Wort heutzutage gewöhnlich gebraucht wird.
Da beginnt auf den Befehl „allgemeine Mobilmachung" mit einem
Schlage nach genau im voraus festgesetzten Plane automatisch
nicht nur die Ergänzung des Heeres auf Kriegsstärke, sondern
auch der Aufmarsch, das ist die Beförderung der Truppen an
die Grenze. Die russische Mobilmachung von 1914 war eine
Mobilmachung mit Aufmarsch, jeder Vergleich mit den Mobil-
machungen von 1908/09 und 1912/13 ist vollkommen abwegig1.
Daß eine solche Mobilmachung den Krieg bedeutet, haben, fran-
zösische und russische Militärs und Politiker seit langem an-
erkannt. Drastischen Ausdruck gab dieser Auffassung der fried-
liebende Präsident der Republik Jules Grevy im Frühjahr 1887,
als er den Antrag des Generals Boulang'er auf Mobilmachung
gegen Deutschland mit den Worten zurückwies:
„Ihr Vorschlag ist verrückt, das wäre ja der Krieg",
worauf der General antwortete:
„Nun gut, ich bin bereit".81)
Die gleiche Ansicht bekundete Kaiser Alexander HI., als
er im Januar 1888 dem deutschen Botschafter von Schweinitz
auf dessen Vorstellungen wegen der russischen Kavallerie-
massierungen an der deutschen Grenze und auf die Bemerkung,
daß diese binnen wenigen Stunden auf deutschem Boden stehen
könnten, sehr offenherzig sagte:
„Ja, wir müssen suchen, Ihre Mobilmachung zu hemmen".")
Beim Abschluß der französisch-russischen Militärkonven-
tion 1892 setzte der französische Unterhändler, General Bois-
deffre, dem Zaren klipp und klar auseinander:
M
) „Große Politik" Band VI. Nr. 1275 S. 204.
") loc. cit. VT. Nr. 1176, S. 48.
134 Boisdeffre und Obrutschew über Mobilmachung

„Die Mobilmachung ist die Kriegserklärung".83)


Der General meinte freilich damit die deutsche oder öster-
reichische oder italienische Mobilmachung. Da aber die russische
oder französische Mobilisierung auch nach den strengsten pazi-
fistischen Grundsätzen automatisch die deutsche usw. nach
sich ziehen muß, wirken sie genau ebenso wie diese nach An-
sicht Boisdeffres als Kriegserklärung. Alexander III. bedurfte
überdies nach seiner Aeußerung zu Schweinitz solcher Belehrung
nicht und erwiderte:
„Das ist auch ganz meine Auffassung."
Der russische Unterhändler, Generalstabschef Obrutschew
äußerte sich dahin, daß der russischen und französischen Mobil-
machung
„kriegerische Handlungen unmittelbar folgen, kurz daß sie
untrennbar von einem Angriff sein sollten".8*)
Wie 1888 so bestand auch 1892 ein russischer Operations-
plan, nach dem sofort bei Ausspruch der Mobilmachung russische
Kavallerie zum Einfall in Ostpreußen aufzubrechen hatte.86)
Besonders scharf wird als Angreifer der Staat gekennzeichnet,
der zuerst eine allgemeine Mobilmachung anordnet, in einer
Note Boisdeffres vom 10. August:
„Die Anordnung1 einer allgemeinen Mobilmachung
gegen Oesterreich oder Italien allein heißt sich in Europa
in die Rolle des Angreifers begeben und in eine schwierige
Stellung gegenüber den Neutralen versetzen; wenn man
hingegen unter Ergreifung der nötigen Vorsichtsmaßregeln
wartet, bis Deutschland mobil macht, so übernimmt dieses
die Rolle des Angreifers mit allen ihren Nachteilen, wäh-
rend Rußland und Frankreich bis zum Schlüsse ihren
Wunsch nach Erhaltung des Friedens bewiesen und ihre
Absichten reiner Abwehr bekräftigt haben."86)
Die im Frühjahr und Herbst 1912 erlassenen russischen
Befehle, daß die Verkündung der Mobilmachung auch die Ver-
kündung des Krieges gegen Deutschland und Oesterreich be-
deute (Seite 37 ff.), gingen über die Auffassung, daß die Mobil-
machung den Krieg unvermeidlich mache, noch hinaus und
forderten in flagrantem Widerspruch zur Haager Konvention
von 1907 über die „Eröffnung der Feindseligkeiten", daß sofort
nach Ausspruch der Mobilmachung, also ohne Kriegserklärung,
die militärischen Operationen beginnen sollten. Diese Anord-
nung ist allerdings Ende 1912 wieder aufgehoben worden, aus
zwei Gründen. Der erste war die Vermeidung von Mißver-
83 ) Französisches Gelbbuch „L'AJliance franco-russe" Nr. 71,
S. 95 f.
" ) loc. cit. Nr. 42 Aul. S. 56.
loc. cit. Nr. 54 S. 76.
M ) loc. cit. Nr. 53 S. 68.
Französ.-russ. Auffassung über Mobilmachung 1911—1914 136

ständnissen mit solchen Mächten, mit denen der Krieg nicht


von Anfang an beabsichtigt sei. Dagegen läßt sich nichts ein-
wenden. Eine sehr eindeutige Kriegslist aber war der zweite
Grund, der lautete:
„Andererseits kann es vorteilhaft sein, den Aufmarsch
durchzuführen, ohne die Feindseligkeiten zu beginnen, da-
mit dem Gegner nicht unwiederbringlich die Hoffnung ge-
nommen werde, den Krieg noch zu vermeiden. Die militä-
rischen Maßnahmen Rußlands müßten dabei d u r c h g e -
schickte diplomatische Verhandlungen
v e r s c h l e i e r t w e r d e n , um d i e B e f ü r c h t u n -
gen des Gegners m ö g l i c h s t e i n z u s c h l ä f e r n .
Wenn solche Maßnahmen die M ö g l i c h k e i t
g e b e n , e i n i g e T a g e Z e i t zu g e w i n n e n , s o
m ü s s e n sie u n b e d i n g t e r g r i f f e n werden".67)
Nicht davon ist also die Rede, daß man selbst glaubt, der
Krieg könne noch vermieden werden, sondern nur davon, dem
Gegner diesen Glauben beizubringen. Aus den drei angeführten
Sätzen geht vielmehr klar hervor, daß die Verfasser von der
Unvermeidlichkeit des Krieges nach einmal begonnener Mobil-
machung durchdrungen sind. Sehr klug kann die Erwartung,
der Gegner werde sich täuschen lassen, nicht genannt werden,
der Plan jedoch war diabolisch.
Die Protokolle der Konferenzen des französischen und rus-
sischen Generalstabs von 1911, 1912 und 1913 beweisen eben-
falls, daß mit dem automatischen Anschluß der kriegerischen
Operationen an die Mobilmachung gerechnet wurde.88) Niemals
wird in diesen Protokollen, die den politischen Stellen vorgelegt
und von diesen ratifiziert wurden, auch nur die Möglichkeit er-
wähnt» daß auf eine Mobilmachung die Demobilmachung folgen
könne.
Im Jahre 1914 war die Auffassung bei den maßgebenden
Stellen in Frankreich und Rußland nicht anders als 1887, 1892
und 1912. Sasonow beteuerte zwar, daß die russische Mobil-
machung viel langsamer sei als die in den westlichen Län-
dern. Das war eine vollkommene Irreführung. Aus den General-
stabsprotokollen mußte dem Minister bekannt sein, daß die
Mobilmachung' im europäischen Rußland nicht langsamer, son-
dern sogar rascher war als die in Oesterreich. Es war ferner
klar, daß eine russische Mobilmachung automatisch die der
Gegenseite hervorrufen, daher auch dieselbe Wirkung haben
mußte wie eine in westlichen Ländern. Poincaré ging sogar
so weit zu behaupten, daß die Mobilmachung „das beste Mittel
87
) Schrift des deutschen Generalstabs „Die russische Mobil-
machung 1914" Anlage 5; Sperrdruck vom Verfasser.
B8
) Russisches Blaubuch S. 697 ff.: deutsche Uebersetzung „Süd-
deutsche Monatshefte" Juli 1922, S 210 ff.
136 Nikolaus II. tibér Mobilmachung

sei, den Frieden zu sichern".88) Doch wenn er das wirklich


glaubte, warum hat er dann während neun Jahren die Wahr-
heit über die Reihenfolge der Mobilmachungen verschwiegen?
Warum verkündete er nicht, daß der russische Bundesgenosse
dieses Mittel der Friedenssicherung zuerst von allen ergriffen
habe? Er wußte eben zu gut, daß die Völker solchen Beteue-
rungen keinen Glauben schenken würden, daß in Frankreich
und in allen Ländern der Welt derjenige als der Angreifer da-
stehen würde, der zuerst die allgemeine Mobilmachung ausge-
sprochen hatte. Aus der verdrehten Reihenfolge der Mobil-
machungen, aus der Lüge, daß Oesterreich zuerst mobilisiert
habe, wurde sogar ein Hauptanklagepunkt gtegen die Mittel-
mächte geschmiedet.
Eine große Anzahl von Zeugen aus allen Ländern erkennen
direkt oder indirekt an, daß die allgemeine' Mobilmachung in
Rußland den Krieg unvermeidlich machte.90) Der berufenste
Beurteiler dieser Maßnahme, der Chef der Mobilöiachungsabtei-
lung des russisc^eü Generalstabs, schreibt:
„Ist dieser Zeitpunkt (die Mobilmachung) einmal fest-
gesetzt, so ist alles erledigt, es g i b t k e i n Z u r ü c k
m e h r : er b e s t i m m t m e c h a n i s c h d e n B e g i n n
d e s K r i e g e s i m v o r a u s ".M)
Auch Nikolaus II. war sich nicht im Unklaren, was er tat,
als er den Mobilmachungsbefehl unterzeichnete. Er hatte schon
am 25. Juli von den „äußersten Maßnahmen" gesprochen, die
„zum Kriege führen werden". Er hat am 30., als Sasonow ihm
den entscheidenden Befehl zum zweiten Male abgerungen hatte,
blaß und mit zugeschnürter Kehle die Worte hervorgestoßen:
„Denken Sie an die Verantwortung, die Sie mir raten,
auf mich zu nehmen! Denken Sie daran, daß es sich darum
handelt, Tausende und Abertausende in den Tod zu
schicken".93)
9. Die Entschlüsse des 31. Juli.
B e r l i n und Wien.
Der ausführliche Bericht Tschirschkys über die Ausführung
seines letzten Auftrags traf in der Wilhelmstraße in den ersten
Morgenstunden des 31. ein. Berchtold hatte „bleich und schwei-
gend" der zweimaligen Verlesung zugehört, tief durchdrungen
von dem Ernste der deutschen Mahnung, aber — er mußte auf
Tisza warten — D 465. Die Entscheidung stand also noch
immer aus.
89
M
) G. Demartial „Comment on mobilisa les Consciences" S. 128.
w
)Untersuchungsausschuß, 2. Heft, S. 31, 32, 37, 38.
9
) Dobrorolski S. 10.
») Paléologue S. 260.
Berlin erfährt die allgemeine russische Mobilmachung 137

Schwere Sorgen bedrückten seit Mitternacht den Chef des


deutschen Generalstabs. Ihm lagen „zwei zuverlässige, von ein-
ander unabhängige Meldungen vor, wonach in Rußland die
Mobilmachung der gesamten bewaffneten Macht bereits ange-
ordnet war". Aber da er wußte, wie schwer er den Befehl zur
deutschen Mobilmachung durchsetzen konnte, wollte' er noch
eine dritte Bestätigung abwarten. Um die siebente Morgen-
stunde meldete' das Generalkommando Alienstein, die russische
Grenze sei hermetisch gesperrt, die russischen Grenzwachen
würden — wie das für den Mobilmachungsfall vorgesehen waT
— ihre Häuser niederbrennen, in den russischen Grenzorten
seien rote Mobilmachungsbefehle angeschlagen. Noch zögert
Moltke. Zuerst muß ein roter Zettel über die Grenze gebracht
werden. „Früher kann ich keinen Mobilmachungsbefehl er-
wirken".83)
Die dritte Bestätigung kam zwanzig Minuten vor Mittag.
Ein Telegramm der Botschaft Petersburg meldete:
,,Allgemeine Mobilmachung1 Armee und Flotte' befohlen.
Erster Mobilmachungstag 31. Juli" — D 473 (aufgegeben
10 Uhr 40 — 9 Uhr 40 deutsche Zeit).
So stand Deutschland also vor dem Zweifrontenkrieg, der
wie ein Alpdruck schon auf Bismarck gelastet hatte. Daß
Rußland nicht allein fechten würde, war klar. Eine kurze Frist,
dann rückten 192 französische und russische' Divisionen gegen
die deutschen und österreichischen Grenzen, die nur durch 135
geschützt waren.94) Die Zahl, die in den ersten Wochen den
Gegnern an außereuropäischen russischen Truppen fehlte, fiel
auf der eigenen Seite durch den österreichischen Kräfteeinsatz
gegen Serbien aus.
Von den im vorigen Kapitel erwähnten russisch-franzö-
sischen Vereinbarungen war zwar manches damals in Berlin
noch nicht bekannt, aber seit Jahrzehnten rechnete man mit dem
sofortigen Einbruch der an der Grenze massierten russischen
Kavallerie. Man hatte ferner während der Balkankrise 1912
von deta in Rußland erlassenen Befehl „Mobilmachung gleich
Krieg gegen Deutschland und Oesterreich" Kenntnis erhalten,
zwar auch von dessen Aufhebung,") aber die Weisung konnte
während der jetzigen Krise erneuert worden sein. In seinem
Situationsbericht vom 31. Juli sagte der deutsche Generalstab:
„Russische Kavalleriedivisionen könnet, da „Kriegsvorbe-
reitungsperiode" mehrere Tage gedauert, schon einbruchsbereit
sein" — D 524. Raschester Beginn der militärischen Operationen
" ) Aufzeichnungen des damaligen Majors im Generalstabe von
Haeften und des damaligen Generals Hell, siehe Geschiehtskalender
Schulthess i-917 S. 996/97 und 1000.
" ) Untersuchungsausschuß 2. Heft S. 41.
" ) loc. cit. 2. Heft S. 30, 58.
138 Telegramme "Wilhelms II., Georgs V. und Nikolaus H

auf der Front, wo der Kriegsplan die Entscheidung suchte, war


geboten, sofortige Mobilmachung schien eine Pflicht der Selbst-
erhaltung. Doch nicht Mobilmachung, sondern nur „Zustand
drohender Kriegsgefahr" lautete um 1 Uhr nachmittags der
Befehl für das deutsche Heer. Das bedeutete, wie schon am 29.
nach Paris mitgeteilt worden war (Seite 112) „noch nicht Mobi-
lisierung und keine Einberufungen", zog auch nicht notwen-
digerweise die Mobilmachung nach sich.") Nochmals also
wurde entgegen der militärischen Zweckmäßigkeit ein Aufschub
versucht. Vielleicht traf aus Wien doch noch eine wenigstens
teilweise befriedigende' Antwort ein, wie eine telephonische
Nachricht hoffen ließ — D 468, vielleicht wirkte England doch
endlich auf Rußland zurückhaltend ein.
Wilhelm II. verständigte sofort König Georg von dem
russischen Friedensbruch — D 477,97) und sandte dem Zaren ein
viertes Telegramm, das mit den Worten schloß:
„Noch kann der Friede Europas durch Dich erhalten
bleiben, wenn Rußland einwilligt, die militärischen Maß-
nahmen einzustellen, die' Deutschland und Oesterreich-Un-
garn bedrohen müssen" — D 480.
Von Georg V. kam erst nach mehr als 24 Stunden die Ant-
wort, er habe ein dringendes Telegramm an Nikolaus II. ge-
schickt — D 574. Die Botschaft an den russischen Herrscher
kreuzte sich mit einer Depesche von diesem, die nach dem
Dank für die deutsche Vermittlung fortfuhr:
„Es ist technisch unmöglich, unsere militärischen Vor-
bereitungen einzustellen, die infolge Mobil-
m a c h u n g O e s t e r r e i c h s notwendig waren.98) Es
liegt uns ferne, den Krieg zu wünschen. Solange die Ver-
handlungen mit Oesterreich wegen Serbiens dauern, werden
meine Truppen keinerlei herausfordernde Handlung unter-
nehmen. Ich gebe Dir mein feierliches Wort darauf. . % ."
— D 487.
Die genaue Stunde der russischen Mobilmachung war 1914
in Berlin nicht bekannt, aber soviel wußte man nach dem
Telegramm des Grafen Pourtales, daß sie v o r der österreichi-
schen erfolgt war, und daß die Mobilmachung gegen Oester-
reich und D e u t s c h l a n d durch österreichische Maßnahmen
nicht gerechtfertigt werden konnte. Wie kam der Zar dazu,
so unwahre Behauptungen aufzustellen? War er von seiner Um-
96
) Bestimmungen des 1914 giltigen deutschen Mobilmachungs-
planes über „drohende Kriegsgefahr" siehe Beleg Nr. 25 S. 199.
97
) In diesem Telegramm war ebenso wie in D 474 und in mehreren,
im Auswärtigen Amt anscheinend nicht gelesenen Randbemerkungen die
Annahme der direkten Besprechungen durch Wien irrigerweise als An-
nahme des Vorschlags „Halt in Belgrad" aufgefaßt.
,8
) Sperrdruck vom Verfasser.
Oesterreichs Vorbehalte zum Vorschlag „Halt in Belgrad" 139

gebung belogen oder wollte er selbst betrügen? In dem einen


wie dem anderen Falle war sein ,-feierliches Wort" wertlos.
Auch fehlte jede Ge'währ für den Fall, daß die Verhandlungen
wegen Serbiens scheiterten, was Rußland jederzeit herbei-
führen konnte.
Der Kanzler seinerseits drahtete an erster Stelle nach
Wien — D 479. Sein Appell an die Bundestreue Oesterreichs
gegen die russische Bedrohung kreuzte sich mit einem Tele-
gramm Kaiser Franz Josephs an Kaiser Wilhelm:
„. . . . Gleich, nachdem Dein Botschafter meiner
Regierung gestern den Vermittlungsvorschlag Sir Edward
Greys übermittelt hatte1, ist mir die offizielle Meldung
meines Botschafters in St. Petersburg zugekommen, wo-
nach der Kaiser von Rußland die Mobilisierung aller Mili-
tärbezirke an meinen Grenzen angeordnet hat
Im Bewußtsein meiner schweren Pflichten für die Zukunft
meines Reiches habe ich die Mobilisierung meiner ganzen
bewaffneten Macht angeordnet. Die im Zuge befindliche
Aktion meiner Armee gegen Serbien kann durch die be-
drohende und herausfordernde Haltung Rußlands keine
Störung erfahren. Eine neuerliche Rettung Serbiens durch
Rußlands Intervention müßte die ernstesten Folgen für
meine Länder nach sich ziehen, und ich kann daher eine
solche Intervention unmöglich zugeben. Ich bin mir der
Tragweite mein'er Entschlüsse bewußt und habe dieselben
im Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit gefaßt mit der
Sicherheit, daß Deine Wehrmacht in unwandelbarer Bun-
destreue für mein Reich und für den Dreibund einstehen
wird" — D 482.
Diese Bitte um Wiaffenhilfe g'egen den russischen Angriff,
zu dessen Abwehr um 11 Uhr 30 vormittags die Mobilmachung
det zweiten Hälfte des österreichisch-ungarischeii Heeres ver-
fügt worden war,99) enthielt zugleich die bestimmte Ablehnung
des deutsch-englischen Vorschlags „Halt in Belgrad". Ein am
Vormittag in Wien nach Ankunft Tiszas abgehaltener gemein-
samer Ministerrat hatte nämlich beschlossen, den vom deut-
schen Botschafter vorgelegten englischen Vermittlungsvor-
schlag dahin zu beantworten, daß Oesterreich
„zwar nicht abgeneigt sei, den Vorschlag in Erwägung zu
ziehen, s e i n e k r i e g e r i s c h e Aktion gegen
Serbien dürfe hierdurch keine Unter-
b r e c h u n g e r f a h r e n und überdies müßte es für ein
Eingehen auf den Vermittlungsvorschlag zur Bedingung
stellen, daß Rußland alle Mobilmachungsmaßnahmen sofort
einstelle und seine Reserven entlasse" — Oe III. 80.100)
")
10
Untersuchungssauschuß 2. Heft S. 23.
°) Sperrdruck vom Verfasser.
140 Sommation am Petersburg, Anfrage in Paria

Trotz der Aufforderung des österreichischen Kaisers blieb


man in Berlin bei dem Entschlüsse, noch nicht zu mobilisieren.
Freilich durfte die deutsche Mobilmachung, falls Rußland in
der seinigen fortfuhr, nur für ganz kurze Zeit aufgeschoben
werden. Daher ging um 3 Uhr 30 nach Petersburg die Som-
mation, Deutschland sei durch die russische Mobilisierung ge-
zwungen worden
„die drohende Kriegsgefahr auszusprechen, die noch nicht
Mobilisierung bedeutet. Die Mobilisierung muß aber fol-
gen, falls nicht Rußland binnen zwölf Stunden jede Kriegs-
maßnahme gegen uns und Oesterreich-Ungarn einstellt und
hierüber bestimmte Erklärungen abgibt" — D 490.
Die in Petersburg schon dreimal abgegebene Erklärung,
daß die Mobilmachung den Krieg bedeute, wurde nicht wieder-
holt, um der Note keine überflüssige Schärfe zu geben. Die
unabhängig voneinander beschlossene deutsche Sommation und
die vom österreichischen Ministerrat aufgestellten Forderungen
befanden sich in voller Uebereinstimmung. Selbstverständlich
war, daß Oesterreich seine Mobilmachung gegen Rußland ein-
etelMi würde, falls man dort die Truppen wieder auf Friedens-
fuß setzte.
Um Klarheit über die Haltung1 Frankreichs zu erhalten,
wurde Herr von Schoen von der nach Petersburg gerichteten
Note verständigt und beauftragt, die französische Regierung
zu fragen, „ob sie in einem deutsch-russischen Kriege neutral
bleiben will". Um Antwort wurde binnen 18 Stunden ersucht.
Diese Weisung hätte sich wohl auf die Anfrage beschränken
können, die Mitteilung der an Rußland gerichteten Sommation
nach Paris war kaum zweckmäßig.101) Obwohl kein Zweifel be-
stehen konnte, daß der französische Generalstab die Bedeutung
der Worte „drohende Kriegsgefahr" ganz genau kannte, wurde
der Berliner Botschafter der Republik durch Staatssekretär und
Reichskanzler noch eingehend darüber aufgeklärt; London er-
hielt durch mündliche Mitteilungen an Goschen und drahtliche
Weisungen an Lichnowsky Kenntnis von allen Vorgängen.10®)

London.
In Downingstreet fiel an diesem Tage die Entscheidung,
daß man in Petersburg zunächst keine energischem Vorstellun-
gen wegen der russischen Rüstungten erheben werde. Zwar
versprach Grey dem deutschen Botschafter auf dessen Mit-
teilung von dem Entgegenkommen Oesterreichs hinsichtlich
der direkten Besprechungen, er wolle „versuchen) in diesem
Sinne zu wirken" — D 489. An Buchanan aber drahtete er
1W
) Geheimer Zusatz zu diesem Telegramm siehe Beleg Nr. 26,
S. 200.
"*) F 116, Bericht an den französischen Senat S. 125; E 108. D 488.
Grey erhebt keine Vorstellungen in Petersburg 141

neben der Befriedigung über die Wiederaufnahme des direkten


österreichisch-russischen Gedankenaustausches:
„ich sagte dein deutschen Botschafter, daß ich hinsichtlich
der militärischen Vorbereitungen nicht sehen könnte, wie
man Rußland drängen könne, sie einzustellen, wenn nicht
Oesterreich dem Vormarsch seiner Truppen in Serbien eine
Grenze ziehe" — E 110.
Das konnte in Petersburg doch nicht anders aufgefaßt
werden als eine Zustimmung zu den dortigen Maßnahmen, um
so mehr, als ja der österreichische Vormarsch in Serbien noch
gar nicht begonnen war. Grey sagte zu Lichnowsky weiter,
es komme alles darauf an, daß Oesterreich „ein derartiges Zu-
geständnis mache, daß Rußland ins Unrecht versetzt werde",
und er müsse gegebenenfalls in der Lage sein, eine zurück-
haltende Stellungnahme Englands mit „irgend einem greifbaren
Unrecht auf russischer Seite zu begründen" •— D 489. Goschen
überbrachte sodann einen neuen englischen Vermittlungsvor-
schlag — D 496, E 111:
1. Deutschland solle Wien, England wolle Petersburg son-
dieren, ob die vier nicht direkt beteiligten Mächte Oester-
reich volle Satisfaktion verschaffen könnten, ohne daß
dabei die serbische Suveränität« und territoriale Integri-
tät verletzt würde.
2. Oesterreich habe bereits erklärt, beide Punkte zu respek-
tieren.
3. Die vier Mächte könnten Rußland sagen, sie würden dar-
auf achten, daß die erwähnten beiden Punkte nicht ver-
letzt würdeti.
4. Alle Mächte müßten die militärischen Vorbereitungen
und Operationen einstellen.
Bei diesem Vorschlag fällt der zweite Punkt auf, da ja
Sasonow die betreffenden Erklärungen Szäpärys und Berchtolds
nicht weiter gegeben hatte.103) Da nun aber Grey auf andere
Weise davon Kenntnis hatte, so war doch seine erste gegen-
über Lichnowsky geäußerte Vorbedingung erfüllt, Oesterreich
solle „ein derartiges Zugeständnis machen, daß Rußland ins Un-
recht versetzt werde". Der vierte Punkt der Einstellung der
militärischen Operationen aber mußte nunmehr in erste* Linie
an Rußland gerichtet werden; denn für die Erhaltung des Welt-
friedens war es wahrlich wichtiger, die russischen Vorbereitun-
gen gegen Oesterreich und Deutschland zum Stillstand zu
bringen als die österreichischen gegen Serbieh. Staatssekretär
von Jagow äußerte sich daher auch in längerer Besprechung
mit Goschen nach dessen Zeugnis zwar „sehr sympathisch"
103
) Auch der österreichische Botschafter in London war noch am
Abend des 30. der Ansicht, daß eine solche Erklärung nicht vorliege —
Oe HI. 42.
142 Yiviani leugnet die russische Mobilmachung

über den Vorschlag, betonte aber, daß zunächst eine Antwort


über die Einstellung der russischen Rüstungen abgewartet wer-
den müsse — E 121. Die von Grey ohne Kenntnis der rus-
sischen Mobilmachung aufgestellte Anregung muß als durch
die Ereignisse überholt bezeichnet werden.
Die Meldungen über die möglicherweise bevorstehende
deutsche Mobilmachung veranlaßten weiterhin den britischen
Staatssekretär, die Frage der belgischen Neutralität aufzu-
greifen. Der deutsche Operationsplan war höchst wahrschein-
lich seit Jahren in allen Fachkreisen der Welt bekannt, jeden-
falls hatte man in London seit Anfang 1906 davon Kenntnis.104)
Die Anfrage Bethmanns vom 29. hatte Gewißheit darüber ge-
bracht, daß der Plan noch bestand. Für den Fall, daß es zum
Kriege käme, war hier der Grund gegeben, um das Eingreifen
Englands im eigenen Lande populär zu machen. Das war um
so nötiger, als nach einer Meldung Betickendorffs vom 31. Grey
selbst zwar „die Lage ausgezeichnet verstand", aber durch
eine gewisse Reaktion im Parlament zurückgehalten wurde.106)
Der Staatssekretär richtete daher am Abend nach Paris und
Berlin die Anfrage, ob man sich verpflichten wolle, die Neu-
tralität Belgiens zu achten —• E 114. Die deutsche Antwort
war ausweichend, die französische zustimmend, wie vermutlich
in den bestehenden geheimen militärischen Abmachungen schon
vereinbart war — E 122, 125.

Paris.
Der Bericht Cambons über die Erklärung „der drohenden
Kriegsgefahr" in Deutschland und über deren Veranlassung
bestätigte dem französischen Außenminister die ihm am Abend
zuvor zugegangene erste Nachricht über die allgemeine rus-
sische Mobilmachung. Nachdem eine Havasdepesche aus Berlin
die dritte Mitteilung von der russischen Totalmobilmachung
gebracht hatte,108) fand sich der deutsche Botschafter gegen
7 Uhr abends bei Viviani ein, um die ihm aufgetragene Anfrage
zu stellen. Das geschah nach dem französischen Bericht in so
milder Form, daß niemals die Empfindung aufkommen konnte,
es habe sich um eine ultimative Forderung gehandelt— F 117.
Der Minister gab keine Auskunft über die Haltung Frankreichs
in einem deutsch-russischen Kriege und brachte es über sich,
zu behaupten, daß er „in gar keiner Weise über die russische
Vollmobilmachung unterrichtet sei". Kurz darauf (8 Uhr 30
abends) traf ein 10 Uhr 45 vormittags = 8 Uhr 45 Pariser Zeit
aufgegebenes Telegramm Paléologues ein, das nunmehr zum
vierten Male die allgemeine Mobilmachung in Rußland mel-
1M
) Deutsches Weißbuch Mai 1915, kleine Ausgabe S. 106.
106
) „Prawda" 9. März 191a Nr. 7.
1M
) Romberg S. 40.
Frankreichs Entschluß zum Kriege 143

dete.107) Ganz abgesehen von allen früheren schon vorliegen-


den Nachrichten würden nunmehr Ehre und Anstand erfordert
haben, dem deutschen Botschafter umgehend die entschul-
digende Mitteilung zugehen zu lassen, daß die bestrittene Nach-
richt sich als völlig zutreffend herausgestellt habe. Statt dessen
geschah das genaue Gegenteil, über acht Jahre hat es gedauert,
bis die französische Regierung endlich die Unwahrheit
ihrer Angaben eingestanden hat. Yiviani selbst aber leugnet
weiter bis auf den heutigen Tag.
Schon auf die Meldung Cambons war um 4 Uhr nach-
mittags ein Ministerrat zusammengetreten, der beschloß, bei
den fünf Grenzkorps, die Tags zuvor schon die erste Linie des
Grenzschutzes aufgestellt hatten, die „allervollständigsten Maß-
regeln" zu ergreifen. Nach Meldung Iswolskys würden diese
Maßregeln „jedoch nicht den Charakter einer Mobilmachung
tragen, aber am nächsten Tage konnte der russische Militär-
attaché berichten, daß alle fünf Korps sich „in voller Kriegs-
bereitschaft" befänden.108) Nach dem Eintreffen des Tele-
gramms Paléologues traten die Minister wieder zur Beratung
zusammen, die bis Mitternacht dauerte.109) Ueber die gefaßten
Beschlüsse meldete der russische Militârattaché:
„Der f r a n z ö s i s c h e K r i e g s m i n i s t e r eröff-
n e t e mir in g e h o b e n e m h e r z l i c h e n T o n e ,
daß die R e g i e r u n g zum Kriege f e s t ent-
s c h l o s s e n sei, und bat mich, die H o f f n u n g
d e s f r a n z ö s i s c h e n G e n e r a ls t ab e s zu b e -
s t ä t i g e n , daß a l l e u n s e r e An s t r e ng u n g e n
gegen Deutschland gerichtet seien und
O e s t e r r e i c h als Quantité n é g l i g e a b l e be-
h a n d e l t w e r d e n werde".110)
Diese Meldung ging ab am 1. August 1 Uhr morgens (3 Uhr
morgens Petersburger Zeit), das ist 16 Stunden vor der deutschen
Kriegserklärung an Rußland und 2% Tage vor der deutschen
Kriegserklärung an Frankreich. Wie Rußland das erste Land
war, das die allgemeine Mobilmachung anordnete, so war
Frankreich die erste Macht, die den festen Willen zum Kriege
amtlich kundgab.
Während des Ministerrats spielte sich noch ein anderer Vor-
gang ab. Graf Berthold unterrichtete am Abend des 31. die öster-
reichischen Botschafter davon, daß die Monarchie in „Peters-
burg bereits offiziell mitgeteilt hätte, bei der Aktion gegen
Serbien auf keinerlei territoriale Erwerbungen auszugehen und
l07
> Poincarés Erklärung im „Temps" 19. Januar 1923.
10a
) Messimy in „Revue de France" 1. August 1921; „Journal Offi-
ciel" 1. Febr. 1919 Beilage S. 353; Poincaré 18. März 1921; Romberg
S. 39 und 42.
1M
) Messimy und Poincaré wie Anm. 108.
110
) Romberg S. 41.
144 Rußland setzt die Mobilmachung fort

die staatliche Suveränität des Königreichs nicht antasten zu


wollen" — Oe III. 62. Mit dieser Nachricht eilte der öster-
reichische Botschafter Graf Szecsen gegen Mitternacht auf den
Quai d'Orsay und erhielt dort vom Direktor der politischen Ab-
teilung die Antwort, daß seiner persönlichen Ansicht nach „ser-
bische Frage angesichts heutiger deutscher Demarche ganz in
den Hintergrund trete" — Oe HI. 64.

Petersburg.
Die Sommation in Petersburg richtete Graf Pourtales um
Mitternacht vom 31. Juli zum 1. August aus. Sasonow verwies
auf die „technische Unmöglichkeit, Kriegsmaßnahmen einzu-
stellen" und wiederholte sein altes Argument, daß die russische
Mobilmachung mit der in anderen Ländern „nicht zu ver-
gleichen" sei — D 536.
Kurz vorher hatte der russische Minister den Botschaftern
in den fünf europäischen Hauptstädten die überraschende Nach-
richt telegraphiert, Szäpäry habe ihm die Bereitschaft Oester-
reichs mitgeteilt, in einen Meinungsaustausch über den I n h a l t
seines Ultimatums einzutreten. Die diesbezüglichen Verhand-
lungen würden nach Ansicht Sasonows am besten in London
geführt werden. 111 ) Wie nun aber aus dem sehr ausführlichen
Bericht Szäpärys hervorgeht, hatte der Botschafter die Unter-
redung wesentlich deshalb herbeigeführt, weil es ihm „taktisch
opportun erschien, noch einen äußersten Beweis guten Willens
gegeben zu haben, um Rußland tunlichst ins Unrecht zu setzen",
und er hatte während der Konversation fortwährend auf die
„Diskrepanz" hingewiesen, die zwischen dem österreichischen
und russischen Standpunkt bestehe, indem Sasonow die „Milde-
rung" der Note wünsche, Berchtold aber nur eine „Erläuterung"
zulasse •— Oe' III. 75, 97. Der österreichische Bericht spricht sich
so deutlich und so eingehend aus, daß ein Mißverständnis nicht
denkbar ist. Wie kam nun Sasonow, der früher den Unter-
schied des russischen und österreichischen Standpunktes so
scharf betont und sogar wirklich entgegenkommende Erklä-
rungen Szäpärys verschwiegen hatte, plötzlich dazu, diese „Dis-
krepanz" ganz zu übersehen, und warum wollte er auf einmal
diesen Gedankenaustausch seiner persönlichen direkten Ein-
wirkung entziehen und nach London verlegen? Dafür gibt es
keine andere Erklärung als diese: der russische Minister hatte
beim Zaren durchgesetzt, was er zunächst erstrebte, die allge-
meine Mobilmachung; nun galt es im Sinne des Protokolls vom
November 1912 „durch geschickte diplomatische' Verhand-
lungen Zeit zu gewinnen". Die Einleitung von Verhand-
lungen an einem neuen Orte mit neuen Instruktionen für die Ver-
m
) Telegramm Sasonows vom 31. Juli 1914 Nr. 1592 siehe „Rotes
Archiv" I. S. 186, Romberg S. 39.
Sasonow will Zeit für die Mobilmachung gewinnen 145

treter aller Mächte war das beste Mittel, um dem russischen


Millionenheer die Zeit zur Vollendung seiner Kriegsbereitschaft
zu verschaffen. Wenn Sasonow die Mitteilung Szäpärys wirk-
lich so völlig mißverstanden und so günstig aufgefaßt hätte, wie
er in dem Telegramm an die auswärtigen Missionen vorgibt,
so wäre es geradezu unbegreiflich, warum er davon nicht dem
Grafen Pourtales Mitteilung machte, als dieser ihm die deutsche
Sommation ausrichtete.
Auf dem Entwurf des überraschenden russischen Tele-
gramms finden sich zwei Randbemerkungen Nikolaus II. Die
erste1 sagt „Eins hindert nicht das andere —• setzen Sie die
Unterredungen mit dem österreichischen Botschafter fort." Das
hieß offenbar, die Verhandlungen in London und die Unterredung
mit Szäpäry könnten gleichzeitig stattfinden. Die zweite Be-
merkung aber lautet: „Es ist sehr wichtig, das Geheimnis zu be
wahren". Mit diesem „Geheimnis" können weder die Unter-
redungen mit Szäpäry noch die Londoner Verhandlungen ge-
meint sein, denn davon wurden ja alle Kabinette telegraphisch
verständigt. Es bleibt nur die Erklärung, die allgemeine Mobil-
machung solle unter dem Deckmantel der Teilmobilmachung
gegen Oesterreich verheimlicht werden, wie denn ja auch tat-
sächlich kein russischer Botschafter von dieser Maßnahme unter-
richtet wurde. Zar und Ministet scheinen des Glaubens gewesen
zu sein, daß diese Täuschung länger vorhalten könne.

10. Die Intrigen gegen Deutschland.


a) D i e A n t w o r t d e s Z a r e n a n d e n K ö n i g von
England.
Seinen zahlreichen Appellen an England hatte der deutsche
Kanzler am Abend des 31. noch einen weiteren folgen lassen
durch eine ausführliche Schilderung der Krise seit dem 29. Juli
— D 513. Diese Darlegung machte doch endlich großen Ein-
druck auf Grey. Mitten in der Nacht, am 1. August 3 Uhr 30
moTgens, sandte er an Buchanan die Weisung, „sofort eine
Audienz beim russischen Kaiser nachzusuchen und ihm eine per-
sönliche Botschaft des Königs von England zu übermitteln".
Diese Botschaft bestand in Wiederholung des vollen Textes von
Bethmanns Telegramm mit längeren Zusätzen, wobei der König
sagte:
„Ich kann nicht umhin, zu glauben, daß irgendein Miß-
verständnis diesen plötzlichen Abbruch (deadlock) herbei-
geführt hat . . . . Ich appelliere daher an Deine Person,
um das Mißverständnis zu beseitigen, das meinem Gefühl
nach vorliegen muß, und um noch die Möglichkeit zu Unter-
handlungen und Friedensaussichten zu lassen"
Es kann nicht deutlicher ausgesprochen werden, als es hier
durch Georg V. auf Rat seines Ministers geschieht, daß derjenige
10
146 Die Antwort des Zaren an den König von England

sich ins Unrecht setzt, der zuerst zu einer allgemeinen Mobil-


machung schreitet. Die Antwort des Zaren begann:
„Ich hätte sehr gerne Deinen Vorschlag angenommen,
wenn nicht der deutsche Botschafter h e u t e n a c h -
m i t t a g (this afternoon)113) meiner Regierung eine Note
mit der Kriegserklärung übergeben hätte" . . . .
Es folgte die Behauptung, daß „jeder Vorschlag" von
Deutschland und Oesterreich verworfen worden sei, und daß
Deutschland erst, als der geeignete Moment zu einem Druck
auf Oesterreich vorüber war, Neigung zeigte zu vermitteln. Dann
kam die weitere Behauptung, Rußland sei schließlich zur allge-
meinen Mobilmachung gezwungen gewesen
„wegen der österreichischen Totalmobilmachung, des Bom-
bardements von Belgrad, der Versammlung österreichischer
Truppen in Galizien und geheimer militärischer Vorberei-
tungen in Deutschland".1")
Wegen des Zeitpunkts der österreichischen Mobilmachung
mag Nikolaus II. von seiner Umgebung belogen worden sein,
aber daß Deutschland keine geheimen Vorbereitungen getroffen
hatte, wußte er selbst, denn in keinem seiner fünf Telegramme
an Kaiser Wilhelm hat er sich darüber beschwert, auch nicht
in dem letzten vom 1. August 2 Uhr nachmittags — D 546, das
nur wenige Stunden vor der an König Georg gesandten Antwort
abging. Der Zar mußte ferner doch auch einiges von der
deutschen Vermittlung wissen, hatte er doch dem Kaiser eben
noch herzlich für diese Vermittlung gedankt „die Hoffnung zu
geben beginne, daß alles friedlich ende" — D 487. Das Auf-
fallendste an dem Antworttelegramm aber ist, daß die Botschaft
des Königs erst n a c h der deutschen Kriegserklärung in die
Hände des Zaren gekommen sein soll. Zwischen der Weisung
Grey's (3 Uhr 30 morgens = 5 Uhr 30 russische Zeit) und der
Uebergabe der deutschen Kriegserklärung (7 Uhr abends) liegen
über 13 Stunden. Sollte wirklich ein so dringendes Telegramm
so lange unterwegs gewesen sein? Der Verdacht liegt nahe, daß
die Antwort absichtlich verzögert worden ist, sei es, daß der
Zar nicht wußte, was er auf den gerechtfertigten Vorwurf er-
widern sollte, oder daß Sasonow die s o f o r t i g e Audienz des
britischen Botschafters verhindert hat. Dieser Verdacht steigert
sich zur Gewißheit durch die falsche Angabe, daß die deutsche
Kriegserklärung schon a m N a c h m i t t a g ( a f t e r n o o n )
übergeben worden sei. Die wahre Zeit von 7 Uhr abends wird
verschwiegen, damit man in London nicht sofort erkennen soll,
daß die Botschaft Georgs V. früher eingetroffen sein mußte als
die deutsche Kriegserklärung. Auch die Schilderung Palöolo-

113
Sperrdruck vom Verfasser.
) Telegramme Georgs V. und Nikolaus IL siehe „Times"
5. August 1914.
Iswolsky und Poincaré über die Erklärungen Oesterreichs 147

gues bestätigt, daß die Bitte Buchanans um Audienz schon v o r


der Uebergabe der deutschen Kriegserklärung gestellt war.114)
Gegen Sasonow muß die Anklage erhoben werden, daß er nicht
nur die Sendung Tatischtschews nach Berlin verhindert1"),
sondern auch die rechtzeitige Uebermittlung der Botschaft
König Georgs hintertrieben hat.

b) D e r R u n d e r l a ß V i v i a n i s v o m 1. A u g u s t u n d
die B e e i n f l u s s u n g des b r i t i s c h e n B o t s c h a f -
t e r s in P a r i s .
Das Telegramm Sasonows über die Bereitschaft Oester-
reichs zur Erörterung des Inhalts des Ultimatums — E 133 —
scheint in Downingstreet zunächst keinen besonderen Eindruck
gemacht zu haben, vermutlich deshalb, weil Buchanan auf
Grund der ihm vom russischen Minister selbst gegebenen Mit-
teilung über die Unterredung Sasonow—Szàpàry einen Bericht
erstattete, der sich weit eher mit der kühlen Darstellung des
österreichischen Botschafters als mit dem optimistischen Tele-
gramm Sasonows deckte —. E 139. Erst später hat sich auch
in London die Auffassung von einem besonderen Zugeständnis
Oesterreichs gebildet — D 687, E Seite VIII.
Der Bericht Paléologues über die Unterredung Sasonow—
Szàpàry am Abend des 31. Juli ist im französischen Gelbbuch
unterdrückt. Die Mitteilung des Grafen Szécsen, daß Oesterreich
weder die Integrität noch die Suveränität Serbiens antasten
wolle, war, wie erwähnt, am späten Abend des 31. am Quai
d'Orsay zunächst als sehr nebensächlich angesehen worden. Als
Poincaré am folgenden Tage mit Iswolsky darüber sprach, be-
zeichnete dieser, dem ja Sasonow die diesbezüglichen Erklä-
rungen Szäpärys vom 28. und 29. vorenthalten hatte, die Ver-
sicherung Szécsens als „ganz erlogen", worauf Poincaré er-
widerte:
„Derartige Erklärungen seien von Oesterreich auch in
London abgegeben worden, wo sie einen sehr gefährlichen
Eindruck machen können, und deshalb sollte man sie auch
dort dementieren".11")
Bei dieser Sachlage ist es doppelt befremdend, daß das
französische Gelbbuch als erste Nummer des 1. August einen
Runderlaß Vivianis enthält, daß am vergangenen Abend der
österreichische Botschafter in Paris einen unbestimmten, der
in Petersburg einen bestimmten Schritt im versöhnlichen
Sinne gemacht hätte, daß aber die von Oesterreich gezeigten
friedlichen Dispositionen durch die Haltung Deutschlands zu
nichte gemacht seien. Das deutsche Ultimatum an Rußland sei
114)Paléolofpie S. 264.
"») Baron Kosen „Forty Years of Diplonuacv" H S. 171.
»•) Romberg S. 45/46.
10*
148 Die Erfindungen Viviania, Bertheiota uni Poimcaréa

nicht gerechtfertigt, da Rußland den englischen Vorschlag an-


genommen habe, der „die Einstellung de* militärischen Vor-
bereitungen aller Mächte in sich schließe" — F 120.
In diesem Erlaß werden also zum Zwecke der Anschwärzung
Deutschlands zwei österreichische Demarchen verwertet: 1. ein
Schritt Szäpärys, den dieser selbst nur als ein taktisches Ma-
növer ansah, 2. eine Mitteilung Szécsens über Erklärungen, die
von Szàpàry gelegentlich der auf deutschen Druck fortgesetzten
direkten Besprechungen am 28. und 29. abgegeben, von Sasonow
jedoch verheimlicht wordeü waren, und die Poincaré noch am
1. August als „sehr gefährlich" auch fernerhin verheimlichen
wollte. Es wird ferner behauptet, daß Rußland in die Einstellung
seiner militärischen Vorbereitungen eingewilligt habe, während
die russische Mobilmachung ungehemmt weiterschritt, worüber
man in Paris ebenso genau unterrichtet war, wie im deutschen
Generalstab — D 609. Mit diesen Mitteln suchte man einen
deutschen Kriegswillen zu konstruieren. In gleicher Weise
wurde an demselben Tage der britische Botschafter bearbeitet.
Sir F. Bertie berichtete, sowohl Berthelot als Poincaré hätten
ihm gesagt, die allgemeine Mobilmachung in Rußland sei erst
erfolgt, nachdem Oesterreich die seinige angeordnet habe. Der
Präsident der Republik präzisierte dabei den Zeitpunkt genau
„nachdem ein Dekret über die allgemeine Mobilmachung in
Oesterreich ausgegeben worden sei", und fügte hinzu, daß in
Deutschland militärische Maßnahmen verfügt worden seien, die
in Wirklichkeit eine allgemeine Mobilmachung bedeuteten —
E 126, 134. Solche Unwahrheiten oder, um den richtigen Aus-
druck zu gebrauchen, solche unerhörten Lüg'en gab man nach
London, obwohl man fünfmal zutreffende Nachrichten über die
russische allgemeine Mobilmachung erhalten hatte, obwohl man,
abgesehen von der im französischen Generalstab jedenfalls ohne-
hin vorhandenen Kenntnis, genau aufgeklärt worden war, was
der Zustand drohender Kriegsgefahr bedeute, obwohl Rußland
nicht daran dachte, seine Kriegsmaßnahmen einzustellen, und
obwohl man dem russischen Bundesgenossen schon 1 Uhr
morgens den festeh Entschluß zum Kriege mitgeteilt hatte.

c) D e r B e s u c h S c h e b e k o s u n d D u m a i n e s b e i
Berchtold.
Am 1. August erhielt der österreichische Minister in auf-
fallend rascher Aufeinanderfolge die Besuche de's russischen
und französischen Botschafters, die beide sich bemühten,
Deutschland als den Friedensstörer hinzustellen. Berchtold ant-
wortete dem russischen Botschafter ausweichend, dem franzö-
sischen anscheinend gar nicht — Oe IH. 99. Das russische und
französische Buntbuch schweigen völlig über die ergebnislose
merkwürdige Demarche der beiden Diplomaten. Der öster-
Der Keil zwischefa Deutschland und Oesterreich 149

reichische Minister aber verständigte den deutschen Botschafter


sehr loyal von dem- Vorgefallenen, und Herr von Tschirschky
konnte der Weitergabe des Berchtoldschen Briefes nach Berlin
hinzufügen:
Der russische Botschaftsrat habe am 2. August einen
ähnlichen Versuch bei einem jüngeren Herrn des Wiener
Auswärtigen Amtes gemacht, der mit der Gegenfrage ant-
wortete, „ob die russische Mobilisierung vielleicht gegen
die Mongolei gerichtet sei". Man halte am Ballhausplatz
das Ganze für einen „infame'n Schwindel". Das Spiel, einen
Keil zwischen Deutschland und Oesterreich zu treiben, sei
in Wien „völlig durchschaut" — D 704 (vom 3. datiert, aber
am 2. geschrieben).
Infolge der unwahren Anschuldigungen gegen Deutschland
im Telegramm des Zaren an König Georg, infolge des merk-
würdigen Erlasses von Viviani, infolge des Belügens des bri-
tischen Botschafters in Paris, infolge der Ausstreuungen des
russischen und französischen Botschafters in Wien entstand die
Legende, die heute noch, namentlich in Frankreich, verbreitet ist,
Oesterreich habe im letzten Augenblick volle Nachgiebigkeit be-
wiesen und sei wider seinen Willen von Deutschland zum Kriege
gezwungten worden.

11. Die englische Vermittlung am 1. August.


a) D i e z w e i t e S a s o n o w s c h e F o r m e l .
Sir Edward Grey hatte bekanntlich die erste Formel Saso-
nows als ungeeignet befunden und statt dessen vorgeschlagen
(Seite 122) für Oesterreich: „Halt in Belgrad" mit darauffolgen-
der Vermittlung; für Rußland Einstellung weiterer militärischer
Vorbereitungen, vorausgesetzt daß die anderen Mächte das
Gleiche täten. Mit dieser Lösung war Sasonow durchaus nicht
einverstanden, sondern änderte nunmehr seine frühere Formel
in folgender Weise ab:
„Wenn Oesterreich einwilligt, den Vormarsch seiner
Truppen auf serbischem Gebiet einzustellen, und wenn es
anerkennt, daß der österreichisch-serbische Konflikt den
Charakter einer Frage von europäischem Interesse ange-
nommen hat und deshalb zuläßt, daß die Großmächte
prüfen, welche Genugtuung Serbien der österreichisch-un-
garischen Regierung gewähren könne, ohne seine Rechte
als suveräner Staat und seine Unabhängigkeit antasten
zu lassen, so verpflichtet sich Rußland, seine abwartende
Haltung beizubehalten" — R 67, E 120.
Unter dem Vorgeben, seinen Vorschlag mit dem englischen
zu „verschmelzen", wie Buchanan meldete, hatte Sasonow den
150 Die zweite Saaonowsohe Fonnel

englischen Gedanken in das gerade Gegenteil verkehrt. Oester-


reich solle seinen Vormarsch einstellen, von dem jederman
wußte, daß er noch gar nicht begonnen hatte — er begann erst
am 9. August; es durfte also n i c h t , wie Grey vorgeschlagen
hatte, Belgrad besetzen, Rußland aber — und das war eine
sehr erhebliche Verschlimmerung gegenüber der ersten russi-
schen Formel, verpflichtete sich nicht mehr „seine militärischen
Vorbereitungen einzustellen", sondern nur „zu einer abwarten-
den Haltung" also lediglich zum Aufschub des Beginns der
Feindseligkeiten. Damit ja kein Zweifel bestehe, wie das ge-
meint sei, teilte Buchanan in seiner Meldung noch ausdrücklich
mit, der Zar habe dem deutschen Kaiser telegraphiert „es sei
natürlich unmöglich, eine einmal begonnene Mobilmachung ein-
zustellen" — E 120, Absatz 3.
Vielleicht durch das beschönigende Wort „Verschmelzung"
getäuscht, gab Grey diese ihm am 1. August zugesandte Formel
ohne Kommentar an alle Kabinette weiter — E 132. Ein Ver-
fahren, das ein deT eigenen Auffassung widersprechendes Dik-
tat der einen Partei einfach übernimmt, kann nicht mehr Ver-
mittlung genannt werden. In Berlin erhielt man von der ver-
schlechterten russischen Formel erst am 2. August Kenntnis
— D 720. Auch eine frühere Mitteilung hätte einen Erfolg
nicht haben können, denn Einwilligung zum ungestörten Fort-
gang der russischen Mobilmachung war mit der Pflicht der
Selbsterhaltung unvereinbar.
Beim Zustandekommen der zweiten Sasonowschen Fonnel
hatte auch das Pariser Kabinett mitgewirkt. Es unterstützte
am 31. Juli in einer Note nach Petersburg dem Scheine nach
den Vorschlag Greys, suggerierte jedoch an Stelle der Be-
setzung von Belgrad das „Anhalten des österreichischen Vor-
marsches" — F 112, was Sasonow aufgriff. Den zweiten Teil,
Einstellung der russischen Rüstungen, empfahl Viviani. Die
Aufrichtigkeit dieses Rats wird beleuchtet dadurch, daß man
in Paris Tag*s zuvor die geheime Fortsetzung und Beschleuni-
gung dieser Rüstungen nahe gelegt und die Nachricht, daß die
ersten Maßnahmen zur allgemeinen Mobilmachung in Rußland
getroffen seien, ohne: Widerspruch hingenommen hatte.

b) D a s T e l e g r a m m B e r c h t o l d s vom Morgen des


1. A u g u s t .
Auf Grund des Beschlusses des gemeinsamen Ministerrata
vom Vormittag des 31. Juli (Seite 139) wurde am Ballhaus-
platz eine zwei Druckseiten füllende Note ausgearbeitet, in der
nach Darlegung der ernsten Mahnungen und Warnungen
Tschirschkys, Graf Szögyeny beauftragt wurde, in Berlin für
die Mitteilungen zu danken und zu erklären
Das Telegramm Berchtolds vom Morgen des 1. August 151

„daß wir trotz der Aenderung, die in der Situation seither


durch die Mobilisierung Rußlands eingetreten sei, in voller
Würdigung der Bemühungen Englands um die Erhaltung
des Weltfriedens gerne bereit seien, dem Vorschlag Sir
E. Greys, z w i s c h e n u n s u n d S e r b i e n 1 1 7 ) zu ver-
mitteln, näher zu treten.
Die Voraussetzungen unserer Annahme seien jedoch natür-
lich, daß unsere militärische Aktion gegen das Königreich einst-
weilen ihren Fortgang nehme, und daß das englische Kabinett
die russische Regierung vermöge, die gegen uns gerichtete Mo-
bilisierung seiner Truppen zum Stillstand zu bringen, in welchem
Falle wir selbstverständlich auch die uns durch die russische
Mobilisierung aufgezwungenen defensiven militärischen Gegen-
maßresreln in Galizien sofort rückgängig machen würden" —
Oe m . 65.
Diese Note nahm, obwohl sie erst am 1. August gegen
4 Uhr morgens das Chiffrierbüro verließ, noch nicht auf die' in-
zwischen bekannt gewordene allgemeine russische Mobil-
machung, sondern nur auf die Teilmobilmachung gegen Oester-
reich Bezug. Für den Fall der Zurücknahme dieser Teilmobil-
machung war, wennschon das von London und Berlin so warm
empfohlene „Halt in Belgrad" nicht angenommen war, ein Ein-
gehen auf Vermittlung in Aussicht gestellt. Wann der öster-
reichische Botschafter im Laufe des 1. August den vom vorher-
gehenden Tage datierten Auftrag in der Wilhelmstraße aus-
gerichtet hat, läßt sich nicht feststellen, da dort Aufzeichnungen
über mündliche Mitteilungen in der Regel nicht gemacht wurden.
Jedenfalls war inzwischen die Tatsache der Erweiterung der
russischen Teilmobilmachung zur Vollmobilmachung seit 24
Stunden bekannt, auch war das den Grey'schen Vorschlag ab-
lehnende Telegramm Kaiser Franz Josefs an Kaiser Wilhelm
(Seite 139) eingetroffen. Die Einstellung der russischen Mobil-
machung, nicht nur gegen Deutschland, sondern auch gegen
Oesterreich bildete in voller Uebereinstimmung mit der Wiener
Note auch nach Berliner Auffassung die unerläßliche Voraus-
setzung für die von Oesterreich in Aussicht gestellte Annahme
einer Vermittlung.
Graf Berchtold hatte sein Telegramm auch den Botschaf-
tern in Paris und London mitgeteilt, jedoch nur zu „persönlicher
Information". Graf Mensdorff, der es am Nachmittag des
1. August erhielt, entschloß sich trotzdem nach Rücksprache
mit Fürst Lichnowsky dazu, Grey „informativ und vertraulich"
davon Kenntnis zu geben — Oe III. 94. Auf den britischen

m
) Darüber, daß statt „Serbien" zu setzen gewesen wäre „den
Mächten" siehe Gooss S. 236 f.
152 Grey über Berchtolcl6 Telegramm vom 1. August

Staatssekretär, der ebenso wie Mensdorff selbst das Telegramm


Franz Josefs an Wilhelm II. nicht kannte, machte die Note Ein-
druck. Obwohl die Bedingung „Halt in Belgrad" nicht an-
genommen war, sah er in der bedingten Annahme der Vermitt-
lung ein Entgegenkommen des österreichischen Ministers, und
es scheint ihm endlich, endlich die Erkenntnis gekommen zu
sein, daß nicht der österreichische Vormarsch in Serbien, auch
nicht der von Berchtold einstweilen noch ohne Begrenzung ge-
forderte Vormarsch, sondern die russische Mobilmachung, und
zwar schon die russische Mobilmachung gegen Oesterreich allein,
das Hindernis für Verständigung und Vermittlung bilde. Tags
zuvor noch hatte er in Petersburg wissen lassen, er sehe nicht
ein, wie Rußland seine Rüstungen einstellen solle, wenn Oester-
reich seinem Vormarsch in Serbien keine Grenze ziehe — E 110,
soeben erst hatte er die zweite Sasonowsche Formel, die um-
gekehrt wie Berchtold Einstellung des noch gar nicht begonne-
nen österreichischen Vormarsches und Fortsetzung der rus-
sischen Mobilmachung nicht nur gegen Oesterreich, sondern auch
gegen Deutschland forderte, allen Kabinetten mitgeteilt, nun-
mehr aber drahtete er deh Inhalt des Wiener Vorschlags an
Buchanan mit dem Zusatz:

„Sie sollten dem Außenminister satren, daß, wenn in


Anbetracht der Annahme der Vermittlung durch Oester-
reich Rußland einwilligen kann, seine Mobilmachung ein-
zustellen, es noch möglich erscheint, den Frieden zu er-
halten" — E 135.

In Petersburg wurde dieser österreichische, der Auffassung


Sasonows direkt widersprechende Vorschlag abgelehnt, wie
aus dem Verschweigen der russischen Antwort im englischen
Blaubuch deutlich hervorgeht. In Berlin hat man von der gün-
stigen Aufnahme der österreichischen Note in London und von
der Bekehrung1 Greys zu einer richtigen Ansicht über die rus-
sische Mobilmachung erst durch das englische Blaubuch Kennt-
nis erhalten. Am 2. August kam lediglich ein Telegramm Lich-
nowskys, man habe ihm im Foreign Office mitgeteilt „Oester-
reich scheine jetzt bereit, grundsätzlichen Besprechungen
seiner Streitpunkte mit Serbien durch eine Viermächtekonferenz
in London zuzustimmen. Die Mitteilung sei jedoch zu spät ge-
kommen, um noch praktischen Nutzen zu haben" — D 687.
Das, was in Wirklichkeit zu spät kam, war die Erkenntnis
Greys. daß zur Erhaltung des Weltfriedens vor allen Dingen
die Einstellung der russischen Mobilmachung notwendig sei.
Unbegreiflich ist, falls Mensdorff die Note ganz mitgeteilt hat,
wie Grey die darin ausführlich geschilderten Bemühungen
Deutschlands, auf Oesterreich vermittelnd einzuwirken, später
nicht nur verschweigen, sondern direkt ableugnen konnte.
153

12. Die Kriegserklärungen Deutschlands und Oesterreich-


Ungarns an Rußland.
In Frankreich schritten die Kriegsvorbereitungen am
1. August rüstig vorwärts. Seit gestern stand die Kavallerie
der Grenzgarnisonen in ihren Kriegsstellungen, die aus weiter
entfernten Standorten mit der Bahn herangeführten Reiter-
regimenter trafen heute in aller Frühe dort ein. Die fünf
Grenzkorps waren kriegsbereit.118)
Um die achte Morgenstunde forderte General Joflre die
Mobilmachung. Falls sie nicht angeordnet würde, müsse er
den Oberbefehl niederlegen. Ein von 9 Uhr bis Mittag ver-
sammelter Ministerrat beschloß, die Forderung des Generalissi-
mus zu erfüllen und eine Antwort auf die deutsche Anfrage zu
verweigern. Der Kriegsminister wurde ermächtigt, die Mobi-
lisierungsordre noch einige Stunden zurückzuhalten, aber um
3 Uhr 30 erscheint Joffre zum zweiten Male und erhält das ge-
wünschte Dokument. Nach einer Viertelstunde läuft der Be-
fehl über den Draht. Da tritt Yiviani ins Kabinett Messimys,
der deutsche Botschafter habe nach den, ihm von Yiviani ge-
gebenen — unzutreffenden — Mitteilungen über die Zustim-
mung Rußlands zum Einstellen der Mobilmachung und über
die Bereitschaft Oesterreichs zur gründlichen Erörterung seines
Ultimatums geäußert, das sei ein „Schimmer von Hoffnung".
Doch der Kriegsminister erwidert nach telephonischer Anfrage
beim Generalstab:
„Es ist zu spät, der Mechanismus ist losgelassen".11")
Ein vielsagendes Zugeständnis. Selbst dann also, wenn
die Einstellung der russischen Mobilmachung wahr gewesen
wäre, würde es nach französischem Zeugnis infolge der franzö-
sischen Mobilmachung „zu spät" gewesen sein. Noch beredter
ist die nachstehende, mit Bekanntgabe der Mobilmachung von
Iswolsky an Sasonow telegraphierte Meldung des russischen
Militärattaches, Messimy wünsche, daß
auf Serbien eingewirkt werde, damit es schneller zum
Angriff übergehe, und daß er selbst
über den Zeitpunkt des B e g i n n s d e r r u s s i -
s c h e n O f f e n s i v e g e g e n D e u t s c h l a n d auf dem
Laufenden gehalten werde.120)
Das waren nicht unverbindliche Aeußerungen unverant-
wortlicher Militärs, sondern von Regierung an Regierung ge-
richtete Wünsche. Nach London ging sodann die wahrheits-
widrige Darstellung, die deutsche Mobilmachung' sei „in vollem
Gange", die französische daher nur eine „unbedingt notwen-
118
) Untersuchungsausschuß 2. Heft S. 77; Remberg S. 42.
110
) Messimy in der „Revue de France" 1. August 1921; ferner
F 125.
120
) Romberg S. 44.
154 Nikolaus II. bestätigt nochmals die deutsehe Vermittlung

dige Schutzmaßnahme"; wenn der Krieg ausbräche, sei klar,


von welcher Seite der „Angriff" (agression) komme — F 127.
Wiederum ein Geständnis, daß derjenige der Angreifer ist, deT
zuerst die allgemeine Mobilmachung anordnet.
So wenig wie in Paris gab man sich am 1. August in Berlin
einer Täuschung über die Lage hin. Der Aufmarsch der fran-
zösischen Deckungstruppen längs de"r ganzen Grenze wurde
bekannt — D 609. Um Mittag ermächtigte der Bundesrat den
Kanzler, falls Rußland und Frankreich befriedigende Erklärun-
gen verweigerten, beiden Mächten zu erklären, sie hätten den
Kriegszustand mit dem Deutschen Reiche herbeigeführt — D
553. Da der Bericht des Grafen Pourtales über seine mitter-
nächtige Unterredung noch nicht als die endgiltige Antwort
Rußlands auf die deutsche Sommation betrachtet wurde, sah
die kurz vor 1 Uhr nachmittag nach Petersburg gesandte Note
sowohl den Fall eines ablehnenden Becheides als auch den der
Verweigerung jeder Antwort vor — D 542. Die deutsche
Kriegserklärung an Rußland war zwar nichts anderes als die
öffentliche Feststellung eines infolge der russischen Gesamt-
mobilmachung unabwendbar gewordenen Zustandes, trotzdem
aber ein politischer Fehler. Ein militärisches Interesse an
einem baldigen Beginn der Operationen im Osten lag nach dem
deutschen Kriegsplan nicht vor. Es scheint, daß mehr formal-
juristische Gründe den Schritt veranlaßt haben, der um so be-
dauerlicher ist, als nach den jetzt bekannten Tatsachen bei
einigem Zuwarten wahrscheinlich Frankreich, wie mit der
Mobilmachung, so auch mit der Erklärung des Kriegszustandes
Deutschland zuvorgekommen wäre.
Etwa eine1 Stunde nach Absendung des Dokuments an
Pourtales traf ein fünftes Telegramm des Zaren an Kaiser Wil-
helm ein:
„Ich habe Dein Telegramm erhalten. Verstehe, daß
Du gezwungen bist, mobil zu machen, aber ich wünsche von
Dir dieselbe Garantie zu erhalten, wie ich sie Dir gegeben
habe, daß diese Maßnahmen n i c h t Krieg bedeuten, und
daß wir fortfahren werden, zu verhandeln zum Heile un-
serer Länder und des allgemeinen Friedens, der unser aller
Herzen teuer ist. Unserer langbewährten Freundschaft
m u ß es mit Gottes Hilfe gelingen, Blutvergießen zu ver-
meiden. Voll Vertrauen erwarte ich mit Spannung Deine
Antwort" — D 546.
Damit bestätigte der Zar nochmals die deutsche Vermitt-
lungstätigkeit, erkannte die deutsche Mobilmachung, die noch
gar nicht erfolgt war (!), als selbstverständlich an und gab da-
durch auch die Tags vorher noch geleugnete russische Mobil-
machung gegen Deutschland endlich zu. Hinsichtlich der Glaub-
würdigkeit der übrigen Beteuerungen sei an die, wenige Stun-
Englands Giarantieangeboi fflr Frankreichs Neutralität 155

den später an König Georg gesandte, nichts als Unwahrheiten


enthaltende Antwort (S. 146) erinnert.
Als bis 5 Uhr nachmittags noch keine Antwort aus Peters-
burg auf die Sommation vom gestrigen Tage eingetroffen war,
wurde in Deutschland, zuletzt von den vier in den Krieg ein-
tretenden kontinentalen Großmächten, der Befehl zur Mobil-
machung erlassen — D 554. Eine Stunde später traf die Ant-
wort aus Paris ein:
„Frankreich wird tun, was ihm seine' Interessen ge-
bieten" — D 571.
Die angefügte Mitteilung Vivianis über die angebliche Be-
reitwilligkeit Rußlands zur Einstellung seiner Mobilmachung
nahm sieh um so seltsamer aus, als der Zar selbst vor vier Stun-
den das Gegenteil zugegeben hatte. Mit dem Empfang der
französischen Antwort war der in Aussicht genommene Zeit-
punkt für die Kriegserklärung an Frankreich eingetreten, doch
kurz zuvor hatte Lichnowsky gedrahtet, Grey habe sagen lassen
„falls Deutschland Frankreich nicht angriffe, würde Eng-
land neutral bleiben und die Passivität Frankreichs ver-
bürgen" — D 562, 570.
Mit weitgehendem Optimismus, mit einer nach den nun-
mehr bekannten Dokumenten kaum noch begreiflichen Illusion
über den Kriegswillen Frankreichs griffen Kaiser und Kanzler
die Möglichkeit auf, den Krieg mit dem westlichen Nachbarn zu
vermeiden. Wilhelm II. regte an, das ganze deutsche Heer im
Osten aufmarschieren zu lassen, doch Moltke erwiderte, man
müsse aus technischen Gründen zunächst den vorgesehenen
Aufmarsch nach beiden Fronten auslaufen lassen, und könne
dann erst die Truppen vom Westen nach dem Osten über-
führen."1) Dem entsprechend wurden umgehend sowohl König
Georg als sein Minister verständigt, Deutschland gehe auf den
Vorschlag ein, falls England mit seiner gesamten Streitmacht
die unbedingte Neutralität Frankreichs bis zur Beendigung des
deutsch-russischen Konflikts verbürge. Der schon eingeleitete
Aufmarsch im Westen könne zwar nicht mehr geändert werden,
doch würden die deutschen Truppen im Falle einer englischen
Zusage die französische Grenze nicht vor 48 Stunden (3. August
abends 7 Uhr) überschreiten — D 575, 578, 579. Der Befehl
an die Regimenter, die in immobilem Zustand sofort die deut-
schen Bahnen in Luxemburg besetzen sollten, wurde wider-
rufen."2)
Während dieser "Vorgänge hatte Goschen eine längere
Unterredung mit Jagow. Dem Botschafter war ein Telegramm
Greys zugegangen, Rußland habe die Bereitwilligkeit Oester-
m
) Moltke S. 19 f.
12S
) loc. cit. S. 22.
156 Ein letzter Appell Deutschlands an Rußland

reichs zu Besprechungen mitgeteilt — über den Gegenstand der


Besprechungen war in dem Telegramm nichts gesagt — und Ruß-
land (Oesterreich?) habe sein Einverständnis zu einer Vermitt-
lung erklärt, die nicht die gleichen Bedenken errege wie die
erste Formel Sasonows. Es war für Jagow sehr leicht, zu er-
widern, daß die Fortsetzung der direkten Besprechungen ja ein
Verdienst Deutschlands sei, und daß für die in Frage stehende
Vermittlung die Zurücknahme der russischen Mobilmachung
eine selbstverständliche Vorbedingung bilde' — D 595, E 131,
138.123), Diese Auffassung1 telegraphierte Grey selbst etwa um
die gleiche Zeit nach Petersburg — E 135.
Die neunte Abendstunde kam, und noch immer lag keine
Antwort aus Petersburg auf die Sommation vom 31. vor."*) Da
scheint sich die durch die Nachricht aus London erweckte Hoff-
nung, den Krieg mit Frankreich zu vermeiden, dahin gesteigert
zu haben, daß vielleicht auch der mit Rußland vermeidbar sei.
Wilhelm II. drahtete 10 Uhr abends, der Beschleunigung halber
offen und dringend, an den Zaren:
„Danke Dir für Dein Telegramm. Ich habe gestern
Deiner Regierung den Weg angegeben, durch den allein
noch der Krieg vermieden werden kann. Obwohl ich um
Antwort bis heute Mittag gebeten hatte, hat mich bis jetzt
noch kein Telegramm meines Botschafters mit einer Ant-
wort Deiner Regierung erreicht. Ich war daher genötigt,
meine Armee mobil zu machen.
Sofortige bejahende, klare und nicht mißzuverstehende
Antwort Deiner Regierung" ist die' einzige Möglichkeit, end-
loses Elend zu vermeiden. Bis ich diese Antwort erhalten
habe, bin ich leider nicht in der Lage, auf den Gegenstand
Deines Telegramms einzugehen. Ich muß Dich ernstlich
ersuchen, daß Du unverzüglich Deinen Truppen Befehl
gibst, unter keinen Umständen die geringste Verletzung
unserer Grenzeh zu begehen" — D 600.
Doch diese Hoffnung sollte rasch zerstört werden. In
zwischen war nicht nur die Nachricht von der französischen
Mobilmachung eingetroffen — D 590, sondern auch eine längere
Meldung Lichnowskys. Grey hatte ihm zunächst als Kabinetts-
beschluß mitgeteilt, daß die deutsche Antwort wegen der bel-
gischen Neutralität sehr bedauerlich sei. Doch die Frage des
Botschafters, ob er im Falle der Achtung der Neutralität des
Königreichs durch Deutschland eine bestimmte Erklärung über
die Haltung Großbritanniens abgeben könne, verneinte der
m
) In D 595 ist bei der Bereitwilligkeit zur Vermittlung: Rußland,
in E 131 wohl irrtümlich Oesterreich genannt, das ja die erste Formeü
Sasonows gar nicht kannte.
"') Das Telegramm ist von den russischen Behörden angehalten
worden und wurde erst vom Botschafter bei seinem Eintreffen in Berlin
bekannt gegeben.
Beginn dea Kriegszustandes zwischen Deutschland und Bußland 157

Minister. Grey stellte dann seinerseits die im englischen Blau-


buch unterdrückte Frage, ob sich nicht Deutschland und Frank-
reich im Falle eines russischen Krieges bewaffnet gegenüber-
stehen könnten, ohne sich anzugreifen, aber auf die Gegenfrage,
ob Frankreich einen solchen Pakt eingehen würde, antwortete
der Staatssekretär dilatorisch, er wolle sich erkundigen —
D 596, E 123. Eine Stunde später meldete Lichnowsky, daß
durch dieses Gespräch die englische Anregung1 erledigt sei —
D 603. Ein Telegramm König Georgs sprach von einem „Miß-
verständnis" — D 612.1") Der wahre Grund aber war, daß
Grey, wie er später mitteilen ließ, seine Anregung „ohne Füh-
lung mit Frankreich und ohne Kenntnis der Mobilmachung"
gemacht hatte — D 631. Das hieß also, Frankreich habe den
von Deutschland angenommenen Vorschlag zurückgewiesen,
und zwar unter Berufung darauf, daß schon mobilisiert, ein pas-
sives Gegenüberstehen daher nicht mehr möglich sei."")
Graf Pourtalès hatte am 1. August 7 Uhr abends ( = 6 Uhr
deutsche Zeit) die in der Sommation vom 31. enthaltene Frage
nochmals dreimal hintereinander an Sasonow gerichtet, der sie
dreimal verneinte, worauf der Botschafter die Kriegserklärung
übergab —• D 588. Sein Telegramm darüber lag in Berlin bis
lium Morgen des 2. August noch nicht vor, ebenso wenig eine
Antwort des Zaren auf das letzte Angebot Kaiser Wilhelms. Hin-
gegen wurden Grenzüberschreitung'en schwacher russischer Ab-
teilungen gemeldet — D 629. Wenn diesen Vorkommnissen
auch allzu große Bedeutung nicht beizumessen war, so konnte
doch im Zusammenhalt mit der offensichtlich eingetretenen
Unterbindung des telegraphischen Verkehrs kein Zweifel mehr
bestehen, daß die russische Antwort auf die Frage wegen Ein-
stellung der Mobilmachung verneinend gelautet hatte.
Früher als in Berlin war man über die Entscheidung Peters-
burgs in Paris unterrichtet, wo sie Iswolsky schon am 1. August
11 Uhr abends Poincaré mitteilen konnte. Der Präsident erklärte
daraufhin dem Botschafter in der allerkategorischsten Form,
daß
„sowohl er selbst als auch das gesamte Kabinett fest ent-
schlossen seien, die Frankreich durch den Bündnisvertrag
auferlegten Verpflichtungen völlig und ganz zu erfüllen.
Hierbei entstünden jedoch eine Reihe überaus verwickelter
Fragen, sowohl politischer als auch strategischer Natur. Vor
allem ist laut der französischen Verfassung zur Kriegser-
klärung ein Beschluß des Parlaments erforderlich, zu dessen
Einberufung man wenigstens zwei Tage braucht. Obwohl
1M
) 11 Uhr abends in Berlin eingetroffen, „Deutsche Allgemeine
Zeitung" 11. Oktober 1921, Nr. 477.
"•) Im englischen Blaubuch fehlen am 1. August alle Telegramme
von London nach Paris.
168 Frankreichs Gründe für Versohiebiing der Kriegserklärung

Poincaré an diesem Beschluß nicht zweifele, würde er es


vorziehen, eine öffentliche Debatte über die Anwendung
des Bündnisvertrags zu vermeiden. Aus diesem Grunde
und aus Erwägungen, die hauptsächlich England betreffen,
wäre es besser, wenn die Kriegserklärung nicht von Seiten
Frankreichs, sondern von Seiten Deutschlands erfolgte.
Ferner muß man berücksichtigen, daß heute nur der erste
Tag der französischen Mobilmachung ist, und daß es für
beide Verbündeten vorteilhafter wäre, wenn Frankreich die
militärischen Operationen erst beginnen würde, nachdem
die Mobilisation schon weiter fortgeschritten wäre" . . .IST)

Ein Ministerrat trat in allen Punkten der Ansicht Poincarós


bei, aus der deutlich hervorgeht, daß Frankreich die sofortige
Kriegserklärung an Deutschland nur unterließ in erster Linie
aus Rücksicht auf England, dann deswegen, weil man eine
öffentliche Debatte über die Anwendung des französisch-russi-
schen Bündnisvertrags vermeiden wollte. Dieser Vertrag ver-
pflichtete nämlich Frankreich zur Mobilmachung erst dann, wenn
z u v o r eine Dreibundmacht mobil gemacht hatte, in der seit
1906 giltigen, dem französischen Volke bis heute verheimlichten
Abänderung nur dann, wenn diese Dreibundmacht Deutschland
war."8) Das französische Volk kennt heute noch den im Jahre
1914 giltigen Text der Militärkonvention nicht, lebt heute noch
in dem Wahne, daß die 1914 angeordnete Mobilmachung die
Erfüllung einer Bündnispflicht gewesen sei.
Oesterreich-Ungarn hat sofort den Eintritt des Kriegszu-
standes mit Rußland als gegeben anerkannt. Schon am Tage
vor der deutschen Kriegserklärung hatte der österreichische
Generalstab die Versammlung des Restes der Armee in Galizien
mitgeteilt, hatte Kaiser Franz Joseph zu gemeinsamem Kampfe
gegen Rußland aufgerufen — D 498, 482. Dem König von
Italien telegraphierte der österreichische Monarch am 1. August
die bestimmte Erwartung „auf den Beistand der Verbündeten
rechnen zu dürfen" — Oe m . 100 A. Am folgenden Tage forderte
Graf Berchtold von Italien die Anerkennung des Bündnisfalles
— Oe III. 106, am 3. August legte er dem Kaiser den Entwurf
der Kriegserklärung an Rußland vor — Oe III. 124. Ausschließ-
lich aus dem militärischen Grunde „im Aufmarsch in Galizien
möglichst lange ungestört zu bleiben" — D 772 — wurde' die
Absendung der Kriegserklärung bis zum 5. verschoben — D 860.
Die Uebergabe verzögerte sich wegen des Umwegs über Schwe-
den bis zum 6. August — Oe- III. 161.

Romberg S. 45.
128
) Generalstabsprotokolle „Russisches Rlaubuch" S. 697 ff.
159

13. Die Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich und die


Frankreichs an Oesterreich-Ungarn.
Nachdem Frankreich, dann Deutschland mobilisiert hatten,
und der Kriegszustand zwischen dem Deutschen Reiche und
Rußland eingetreten war, war die Erklärung des Kriegszustandes
zwischen Deutschland und Frankreich eine Teine Formsache.
Zudem hatten gleichzeitig mit dem Aufmarsch starker Truppen-
massen an der Grenze kleinere Zusammenstöße begonnen. Wie
nach vierundvierzigjährigem Frieden sehr begreiflich, trachteten
auf beiden Seiten einige ehrgeizige junge Offiziere trotz strenger
Gegenbefehle nach dem Ruhme, den ersten Schlag zu führen.
Nach den Zusammenstellungen des deutschen Generalstabs
haben deutsche Patrouillen etwa 40mal, französische Ab-
teilungen etwa 56mal auf dem Landwege die Grenze über-
schritten, 11 mal ist es nach den Berichten zum Feuergefecht
gekommen."8) In Paris erwog man schon am 2. August die
Möglichkeit, die deutschen Grenzüberschreitungen unter Ver-
schweigen der eigenen dazu auszunutzen, um dem am 4. zu-
sammentretenden Parlament zu erklären, daß „Frankreich über-
fallen sei" und auf diese Weise „eine förmliche Kriegserklärung"
zu vermeiden.180) In der französischen Hauptstadt begann
außerdem auch die Hetze gegen die dort wohnenden Staatsange-
hörigen der Mittelmächte und das völkerrechtswidrige Ver-
halten gegen deren diplomatische Vertretungen.
Vom Morgen des 3. August an wurden alle Zifferntele-
gramme des Berliner Auswärtigen Amts an die Pariser Bot-
schaft und umgekehrt derart verstümmelt, daß sie nur teilweise
oder gar nicht entziffert werden konnten.131) Der bayerische Ge-
sandte sah sich wegen der Haltung der Bevölkerung genötigt,
seine Wohnüng zu verlassen und sich mit dem Personal der Ge-
sandtschaft in das deutsche Botschaftsgebäude zurückzuziehen,
vor deta am Abend die Menge gleichfalls eine drohende Haltung
einnahm.13") Deutsche und österreichisch-ungarische Staatsan-
gehörige wurden aus ihren Wohnungen vertrieben, ihre Ge-
schäfte geplündert, die Mitglieder der beiden Botschaften
konnten kaum mehr wagen, sich auf der Straße zu zeigen oder
eine öffentliche Gaststätte zu besuchen — Oe IH. 119. Die Zei-
tungen hielten sich darüber auf, daß der deutsche Botschafter
noch nicht abgereist sei, und forderten ihn auf, sich „aus dem
Staube zu machen". Auch am Quai d'Orsay scheint man mit
dem Verbleiben Herrn von Schoens in Paris nicht einverstanden
gewesen zu sein, denn sein österreichischer Kollege berichtete
am Abend des 3. August:

"") Siehe Beleg Nr. 27 S. 200.


1M
lal
) Romberg S. 48.
) D 716, 734 a, 749, 776, 809.
la
) „Bayerische Dokumente" S. 183.
160 Die Begründung der Kriegserklärung an Frankreich

„Langes Zögern deutscher Regierung, ihren Botschafter


abzuberufen, wo Feindseligkeiten b e i d e r s e i t s , M ) be-
gonnen hatten, machte hier schlechten Eindruck" — Oe
in. 120.
Auch in Berlin war man inzwischen auf den Gedanken ge-
kommen, die Grenzverletzungen der Gegenseite als Grund für
Eintritt des Kriegszustandes zu verwerten. Man übersah dabei
ebenso wie in Paris, wie unzuverlässig in den Tagen äußerster
Spannung derartige Meldungen sind, da die überhitzte Phantasie
der an den Krieg noch nicht gewohnten Truppen und noch
öfter die Einbildungskraft der erschreckten Grenzbewohner oft-
mals den Feind sieht, wo keiner vorhanden ist. Es wäre besser
gewesen, wie ursprünglich beabsichtigt war, einfach zu sagen:
Da Frankreich keine Zusicherung für eine neutrale Haltung ab-
gibt, kann Deutschland „die Wahl des Zeitpunktes, in dem die
Bedrohung seiner westlichen Grenzen zur Tat wird, nicht Frank-
reich überlassen" — D 608. Die am 3. August, behufs Uebergabe
um .6 Uhr abends, an Herrn von Schoen gesandte Kriegserklä-
rung traf nun wie1 alle chiffrierten Telegramme dieses Tages in
so verstümmeltem Zustande auf der deutschen Botschaft ein,
daß die hauptsächlich betonten französischen Grenzverletzungen
zu Lande nicht entziffert werden konnten. So lautete z. B. der
erste Satz der Depesche: „Deütsche Erwehrungen hatten
Brennerei kel italienischer Botschafter". Hingegen waren einiger-
maßen zu enträtseln die späteren Stellen, wo von Fliegerein-
fällen im allgemeinen die Rede war, und völlig lesbar war der
Satz: „Gestern warf französischer Flieger Bombe auf Bahn bei
Karlsruhe und Nürnberg" — D 734a. Der Botschafter war ge-
nötigt, ein eigenes Schreiben zu verfassen, worin er von feind-
seligen Handlungen französischer Flieger sprach und den nicht
verstümmelten Satz vollständig anführte — D 734b. Auf diese
Weise entstand die Legende, Deutschland habe seine Kriegs-
erklärung an Frankreich ausschließlich mit der bekanntlich auf
Irrtum beruhenden Meldung des Bombenabwurfs bei Nürnberg
begründet.134)
Der Kriegszustand zwischen Oesterreich und den West-
mächten war selbstverständlich, sobald er zwischen diesen und
Deutschland eintreten würde, wie Graf Berchtold schon am
2. August in London erklären ließ — Oe IH. 112. Wegen Be-
sorgnis für die noch nicht mobile österreichische Flotte ver-
schob das Wiener Kabinett jedoch im Einverständnis mit
Deutschland die Kriegserklärung bis zum 12. August, sodaß
Frankreich damit zuvor kam, wobei es seinem Schritt mit der
unrichtigen Behauptung begründete, daß däs Tiroler Armee-
korps nach Deutschland transportiert worden sei, während es
1M
)Sperrdruck vom Verfasser.
m
) Siehe IV. Abschnitt 9. Kapitel S. 182.
Die britische Flotte bleibt mobil 161

tatsächlich ohne Berührung' deutschen Bodens an die galizische


Front abbefördert wurde.136) Der Irrtum Frankreichs war jeden-
falls sehr viel erheblicher als der Deutschlands über die Nürn-
berger Bomben.

14. Die Kriegserklärung Englands an Deutschland.


Das Verhalten der britischen Diplomatie in den Krisen von
1908/09 und 1911 hatte auf die französische und russische
Kriegspartei ermutigend gewirkt. Während der Spannung
1912/13 war die Sprache des Foreign Office zurückhaltender,
wennschon Poincaré auch damals behauptete, er glaube „nach
Ton und Art der Versicherungen des Londoner Kabinetts im
Falle eines Konflikts mit Deutschland in der gegebenen poli-
tischen Lage auf den bewaffneten Beistand Englands rechnen
zu dürfen".136) Im Juli 1914 legten sich nun Grey und seine
Mitarbeiter geringere Reserve auf als anderthalb Jahre vorher.
Schon am 27. Juli gab Unterstaatssekretär Nicolson dem
deutschen Botschafter zu verstehen, daß England sich im Falle
eines europäischen Krieges nicht zur Neutralität verpflichten
werde, und teilte das sofort auch dem französischen Botschafter
mit — F 63. An demselben Tage wurde die Einstellung der
Demobilmachung der britischen Flotte öffentlich bekannt ge-
geben — F 66. Am 29. wiederholte Grey persönlich zu Lich-
nowsky den Wink Nicolsons, er solle sich „durch den freund-
schaftlichen Ton der Unterredungen nicht zu dem Glauben ver-
leiten lassen, daß England abseits stehen werde". Und wiederum
wurde Cambon, diesmal sogar im voraus, von dieser Warnung
an Deutschland verständigt — E 87. Die persönliche
Stellungnahme des britischen Ministers für den Fall einea
Krieges war somit entschieden, bevor die Frage der belgischen
Neutralität aufgeworfen war.
Die mobilisierte britische Flotte lief schon am Morgen dea
29. nach ihren Kriegsstationen aus, am Nachmittag wurde, zwei
Tage früher als in Deutschland, das dem Zustand drohender
Kriegsgefahr entsprechende „Warnungstelegramm" erlassen,
und zwar für Flotte und Landheer.137) Der Umstand, daß die
gewaltige britische Seemacht seit Mitte Juli infolge der Probe-
mobilmachung kriegsbereit war, erwies sich als ein für die Ent-
wicklung der Krise sehr ungünstiges Moment. Die frühzeitigen
Maßnahmen der britischen Admiralität, das Auslaufen der größ-
ten Schiffskolosse, die das Meer noch je getragen hatte, wirkten
außerordentlich stark auf die Stimmung der russischen Kriegs-
" 6 ) Oe III. 163, 165, 166, 169, 170, 173, 175.
1M
) „Livre Noire" II. S. 32 f.
"') Corbett „History of the Great War" S. 26 u. 28.
il
162 England sichert Frankreich Waffenhilfe zur See zu

partei und gaben ihr die Ueberzeugung, daß Großbritannien an


Rußlands Seite kämpfen werde.138)
Als am Tage nach dem Auslaufen der Flotte, am 30. Juli,
der französische Botschafter an den Briefwechsel vom Novem-
ber 1912 erinnerte, gab Grey nach Meldung Cambons die im
englischen Blaubuch unterdrückte Antwort, er teile die Auf-
fassung, daß „der Augenblick gekommen sei, alle Möglichkeiten
ins Auge zu fassen und gemeinsam zu erörtern" •—' E 105,
F 108. Das Kabinett hielt jedoch auch einen Tag später
(31. Juli) den Zeitpunkt für Zusicherung einer Intervention
an Frankreich noch nicht für gegeben — E 119, F 110. Der
britische Botschafter in Paris mußte daher verständigt werden
wie folgt:
„Hier ist niemand der Ansicht, daß durch diesen
Streit im gegenwärtigen Stadium britische Verträge oder
Verpflichtungen berührt werden. Die Stimmung ist ganz
verschieden von jener während der Marokkofrage. Die
damalige Krise bezog sich auf einen Streit, der Frankreich
direkt anging, während jetzt Frankreich in einen Streit
hineingezogen wird, der nicht sein eigener ist" — E 116.
Cambon, der sich weigerte, den Beschluß des englischen
Kabinetts nach Paris zu melden,130) erhielt auf sein Drängen
von Nicolson die Zusicherung, die Interventionsfrage werde
schon am nächsten Tage dem Kabinett wieder vorgelegt wer-
den, und sowohl Grey als sein Gehilfe deuteten an, daß dabei
die Neutralität Belgiens eine wichtige Rolle spielen werde —
F 110. Tatsächlich faßte der Ministerrat auch am folgenden
Vormittag (1. August) den am Abend von Lichnowsky gemelde-
ten Beschluß, daß die deutsche Antwort über Belgien bedauer-
lich sei (S. 156). Der französische Botschafter wurde hiervon
gleichfalls verständigt, und zwar mit dem Beifügen, Grey werde
in der Kabinettssitzung vom Montag (3. August) beantragen,
daß die britische Flotte jedem Vorgehen deutscher Seestreit-
kräfte durch den Kanal oder gegten die französische' Nordsee-
küste entgegenzutreten habe. Damit gab der Staatssekretär
für seine Person die Zusicherung der Waffenhilfe zur See, ob-
wohl nach den in London vorliegenden Nachrichten die all-
gemeine Mobilmachung in Rußland erheblich vor det in Oester-
reich angeordnet worden war — E 113, 127, und obwohl
Deutschland noch gar nicht mobilisiert, geschweige eine Kriegs-
erklärung erlassen hatte. König Georg erteilte jedoch auf die
Bitte Poincarés vom vorhergehenden Tage, England möge sich
mit Rußland und Frankreich solidarisch erklären, noch eine
ausweichende Antwort.140)
138
) Berichte des Petersburger Korrespondenten der „Times" von
Ende Juli 1914.
„Revue de France" 1. Juli 1921 S. 38.
Poincaré 18. März 1921, S. 266 u. 274.
Die Wirkung des Marineabkomniens von 1912 163

Statt am Montag versammelte sich das Londoner Kabinett


entgegen allen Gewohnheiten schon am Sonntag (2. August).
In einer ersten Sitzung drang Grey mit seiner Ansicht noch
nicht durch. Da kam ein Schreiben des Führers der konser-
vativen Opposition Bonar Law an Premierminister Asquith,
worin die Führer der Konservativen die Regierung aufforder-
ten, auf die Seite Frankreichs und Rußlands zu treten.111) In
einer zweiten Sitzung beschloß das Kabinett nunmehr, unter
Vorbehalt der Genehmigung durch das Parlament, die Unter-
stützung Frankreichs gegen allenfallsige Operationen der deut-
schen Flotte — E 148, F 137. Cambon sah damit „das Spiel
als gewonnen" an. Ein großes Land könne, so schreibt er in
seinen Erinnerungen, den Krieg „nicht zur Hälfte" führen; so-
bald es zur See kämpfe, müsse es auch zu Lande fechten.142)
Deutlich zeigte sich jetzt, wie sehr Großbritannien durch das
Marineabkommen mit Frankreich vom Herbst 1912, demzufolge
Frankreich unter Entblößung seiner Nordküste auch die letz-
ten Teile seiner Flotte nach dem Mittelmeer entsendete, sich die
Hände gebunden hatte (S. 87). In einem Gespräch mit Lich-
nowsky wies Asquith nicht nur auf die belgische Neutralität,
sondern auch auf die unbeschützte Nordküste Frankreichs hin,
die dieses „in gutem Glauben auf britische Unterstützung zu-
gunsten seiner Mittelmeerflotte entblößt hätte" — D 676.
Dieser zweite Kriegsgrund wurde für England früher wirksam
als der erste. Denn noch hatte kein deutscher Soldat belgischen
Boden betreten, noch war das Ultimatum in Brüssel nicht über-
geben. Am Abend genehmigte das Kabinett nachträglich die
von der Admiralität in frühester Morgenstunde eigenmächtig
als letztes Stadium der Mobilmachung angeordnete Einberufung
der Flottenreserven."3)
Auf den Rat seines Londoner Botschafters gab Deutschland
am 3. August die Zusage, maritime Unternehmungen jeder Art
gegen Frankreich zu unterlassen — D 714. Als Lichnowsky
diesen Auftrag ausrichtete, erhielt er die überraschende Mit-
teilung, nach den Meldungen des britischen Botschafters in Wien
bestehe in London die Ansicht, daß Deutschland der Angreifer,
Oesterreich daheT nicht zur Anerkennung des Bündnisfalles ver-
pflichtet sei — D 764. Die ständig'en französischen Anschwär-
zungen über vorzeitige deutsche Mobilmachungsmaßnahmen und
über Grenzüberschreitungen hatten gewirkt. Inzwischen be-
mühte sich auf Drängen des Foreign Office der belgische Ge-
sandte, von Brüssel Nachrichten über Neutralitätsverletzungen
durch Deutschland zu erhalten.144) Obwohl dieses Bemühen sich

1M
) „Times" 15. Dezember 1914.
142
) „Revue de France" 1. Juli 1921.
l
") Corbett S. 29.
m
) „Deutsche Allgemeine Zeitung" 22. Mai 1919 Nr. 246.
ii*
164 Vom europäischen Krieg zum Weltkrieg

als vergeblich erwies, wurde 11 Uhr vormittags die Mobil-


machung des britischen Expeditionskorps angeordnet.1*5)
Noch vor Beginn der Sitzung des Unterhauses am Nach-
mittag des 3. August teilte Grey dem französischen Botschafter
mit, daß die Erklärung über die britische Waffenhilfe zur See
nimmehr bindend sei — F 143. Im Parlament hielt der Staats-
sekretär dann seine große Rede, deren Sinn war, daß England
wegen der im Vertrauen auf die Freundschaft Englands be-
stehende1 Entblößung der französischen Küsten und wegen des
eigenen Interesses an Belgien nicht neutral bleiben könne. 1 ")
Die große Mehrheit des Unterhauses war derselben Ansicht.
Am Abend beschloß ein Ministerrat, von Deutschland die Zu-
rücknahme des am 2. August abends 7 Uhr mit zwölfstündiger
Frist übergebenen Ultimatums an Belgien und die Achtung der
belgischen Neutralität zu fordern." 7 )
Am 4. August abends 7 Uhr übergab Sir Edward Goschen
in Berlin die dem Beschluß des Ministerrats entsprechenden
ultimativen Forderungen Englands mit fünfstündiger Frist —
D 839, E 160. Um Mitternacht war det europäische Krieg zum
Weltkrieg geworden.

15. Siebenzehn Schlußthesen.


1.
Deutschland verfolgte weder in Europa noch anderswo ein.
nur durch Krieg zu erreichendes politisches Ziel.
Oesterreich-Ungarn dachte nur an Erhaltung des Bestehen-
den. Die anfängliche Absicht von Grenzberichtigungen auf
Kosten Serbiens wurde auf deutsches Drängen sofort aufgegeben
durch bestimmte Erklärungen über territoriales Desinteresse-
ment, von denen auch Sasonow „sich überzeugen ließ" —
Oe III. 19.
Frankreich strebte die Wiedergewinnung von Elsaß-Loth-
ringen, manche führende französische Politiker auch die
Annexion des Saargebiets, Rußland den Besitz von Konstan-
tinopel und den Meerengen an, beide Mächte wohl wissend, daß
sie diese Bestrebungen nur im Rahmen eines europäischen
Krieges verwirklichen könnten.

2.
Die Rüstungen Deutschlands zu Lande waren nach der
politischen Konstellation, nach geographischer Lage, nach Länge
der ungeschützten Grenzen und nach Bevölkerungsziffer wesent-
lich geringer als die Frankreichs, ab 1913 sogar hinsichtlich der
1,s ) Haidane S. 35.
"•) Englisches Blaubuch II. S. 93 ff.
" ' ) Poincaré 18. März 1921 S. 277.
Schlußthesea 3—7 165

absoluten Zahl der Friedensstärke der weißen Truppen, ganz


abgesehen von einer ständig wachsenden farbigen französischen
Armee.
Die Rüstungen Oesterreich-Ungarns waren gegenüber denen
Rußlands völlig unzulänglich.
Wie an Zahl der Streiter, so war der russisch-französische
Zweibund auch an Menge des Kriegsmaterials den Mittelmäch-
ten weit überlegen.
3.
Der Bau einer deutschen Schlachtflotte an Stelle der Ver-
vollkommnung des defensiven maritimen Schutzes war politisch
unklug, aber das schließlich von Deutschland angebotene Ver-
hältnis von 10 zu 16 Großkampfschiffen wurde auch in London
nicht als eine Bedrohung angesehen.

4.
Das Deutsche Reich hat auch in der Zeit nach Bismarck
wiederholt günstige Gelegenheiten zu einem Präventivkriege
nicht benützt.
5.
Die russische Anregung zur ersten Haager Konferenz be-
ruhte nicht auf reiner Friedensliebe. Der Rüstungsminderung
standen alle Großmächte ohne Ausnahme mit der größten Skep-
sis gegenüber, der russische Antrag von 1899 wurde allerseits
abgelehnt, der Anregung Campbell Bannermanns von 1907 trat
die öffentliche Meinimg Frankreichs in der denkbar schärfsten
Weise' entgegen.
Ein Vorschlag zur Regelung ernster internationaler Kon-
flikte, welche die Ehre und die Lebensinteressen einer Nation
berühren, ist weder auf der ersten noch auf der zweiten Haager
Konferenz von irgend einer Großmacht angeregt oder unter-
stützt worden.
6.
Am 5. Juli 1914 wurde in Potsdam nicht der Weltkrieg be-
schlossen, sondern die deutsche Zustimmung zu einem Kriege
Oesterreichs gegen Serbien erteilt.
Die Möglichkeit, daß der österreichisch-serbische Krieg wie
jeder andere — Burenkieg, Marokkokrieg, Tripoliskrieg, Bal-
kankrieg — weitere Verwicklungen nach sich ziehen könne,
wurde dabei wohl erwogen, aber die Gefahr in Anbetracht des
besonderen Anlasses als sehr gering1 eingeschätzt.

7.
Nach dem Bekanntwerden der serbischen Antwortnote
wollte Deutschland auch den Krieg gegen Serbien nicht mehr,
166 Sdhlußtheseii &—13
sondern nur eine sehr eng umgrenzte militärische Aktion, deren
Berechtigung auch in London anerkannt wurde.

8.
Deutschland hat zwar die Fristverlängerung nicht unter-
stützt und den Konferenzgedanken abgelehnt, aber nicht nur
alle übrigen von London mitgeteilten Vermittlungsvorschläge
angenommen, sondern aus eigener Initiative die beiden geeig-
netsten Verhandlungsmethoden vorgeschlagen, nämlich die
direkten Besprechungen Wien-Petersburg und das von Grey
aufgegriffene „Halt in Belgrad".
Die erste Formel Sasonows erachtete auch London für un-
annehmbar, die zweite war sogar eine wesentliche Verschlech-
terung der ersten.
9.
Auf den beiden, zuerst von Deutschland angeregten Wegen
der direkten Besprechungen Wien-Petersburg und der Be-
schränkung der militärischen Aktion gegen Serbien war man
einer Verständigung nahe gekommen, als die russische all-
gemeine Mobilmachung jäh die Fäden zerriß.

10.
Daß diese Mobilmachung unfehlbar den Krieg nach sich
ziehen müßte, darüber waren sich die führenden Männer in Paris
und Petersburg ebenso klar wie in Berlin.
Daß derjenige der Angreifer ist, der zuerst zu einer all-
gemeinen Mobilmachung schreitet, hat Viviani noch am
1. August nach London gedrahtet, wobei er wider besseres
Wissen die Priorität der Mobilisierung Deutschland zuschob.

11.
Frankreich hat in Petersburg während der Krise nicht zur
Mäßigung geraten. Nachdem der erste Versuch den Unwillen
Sasonows erregt hatte, verzichtete das Pariser Kabinett auf
weitere Schritte in dieser Richtung.

12.
Frankreich hat Rußland von der allgemeinen Mobilmachung
nicht nur nicht abgeraten, sondern ihm listige Ratschläge er-
teilt, wie es seine Vorbereitungen insgeheim fortsetzen könne,
ohne Deutschland zu rechtzeitigen Gegenmaßnahmen heraus-
zufordern.
13.
Rußland war die erste Macht, die zu einer allgemeinen
Mobilmachung geschritten ist.
Schlußthesen 14—17 167

Frankreich war die erste Macht, die den Entschluß zum


europäischen Kriege einer anderen Macht amtlich mitgeteilt hat.

14.
England hat in Petersburg niemals mit der gleichen Ent-
schiedenheit wie Deutschland in Wien zum Einlenken geraten.
Grey hat im Gegensatz zu anderen englischen Diplomaten
die Bedeutung der russischen Mobilmachung erst erkannt, als
es zu spät war, und Petersburg nicht mehr damit einhalten
wollte.

15.
Die frühzeitige deutsche Kriegserklärung an Rußland war
ein durch die ungeheuere Gefahr der Zweifrontenlage erklär-
licher politischer Fehler, die an Frankreich ein rein formaler
Akt.
Weder die eine noch die andere war das entscheidende
Ereignis. Nicht auf die Erklärung des Krieges kam es an,
sondern auf die Handlung, die ihn unvermeidlich machte, und
diese Handlung war die allgemeine Mobilmachung in Rußland.

16.
England hat Deutschland den Krieg erklärt, weil es eine
zweite Niederlage Frankreichs mit seinen Interessen nicht für
vereinbar erachtete. Die Interessen Belgiens und der Vertrag
von 1839, den Salisbury 1887 preiszugeben bereit war, bildeten
dafür den populären Grund.
Das Marineabkommen mit Frankreich von 1912 zwang
England obendrein, aus seiner Neutralität herauszutreten, bevor
die Belgiens verletzt war.

17.
Das größere diplomatische Geschick war während der Krise
auf Seite der Entente.
Durch die unwahren Angaben über deutsche Kriegsvorbe-
reitungen, insbesondere über die angebliche Priorität der deut-
schen Mobilmachung, durch Aufbauschung unbedeutender
Grenzzwischenfälle zu Angriffen auf französisches Gebiet, und
durch die Zurücknahme des Grenzschutzes um 10 Kilometer1*8)
schuf Frankreich in London die Vorbedingung, die Benckendorff
schon Ende 1912 als nötig für ein Eingreifen Englands bezeich-
net hatte: es erzeugte in London den Eindruck, daß „die Ver-
antwortung für den Angriff auf die Gegner der Entente
falle"."1')
lla
) Ueber diesen Schachzug, die öffentliche Meinung zu täuschen,
siehe IV. Teil 8. Kapitel S. 180.
1U
) Siebert S. 588.
168

IV. Teil.

Einzelheiten der Krise.


1. Das Telegramm Szôgyénys vom 5. Juli.
Der französische Außenminister des Juli 1914 Viviani
spricht in seiner „Antwort an den Kaiser" von einem „furcht-
baren" Telegramm des österreichischen Botschafters in Berlin
vom 5. Juli. Diese Depesche berichtet über die Unterredung des
Grafen Szôgyény mit Kaiser Wilhelm am 5. Juli mittags und
lautet wie folgt — Oe I. 6:
„Nachdem ich Kaiser Wilhelm zur Kenntnis gebracht habe,
daß ich ein allerhöchstes Handschreiben Seiner k. u. k. Aposto-
lischen Majestät, welches mir Graf Hoyos heute überbrachte,
ihm zu überreichen habe, erhielt ich eine Einladung1 der
deutschen Majestäten zu einem Déjeuner ins Neue Palais für
heute mittags.
Das allerhöchste Handschreiben und das beigeschlossene
Memorandum habe ich Seiner Maiestät überreicht. In meiner
Gegenwart las der Kaiser mit größter Aufmerksamkeit beide
Schriftstücke.
Zuerst versicherte mir Höchstderselbe, daß er eine ernste
Aktion unsererseits gegenüber Serbien erwartet habe, doch
müsse er gestehen, daß er infolge der Auseinandersetzungen
unseres allergnädigsten Herrn eine ernste europäische Kom-
plikation im Auge behalten müsse und daher vor einer Beratung
mit dem Reichskanzler keine definitive Antwort erteilen wolle.
Nach dem Déjeuner, als ich nochmals Ernst der Situation
mit größtem Nachdruck betonte, ermächtigte mich Seine Ma-
jestät, unserm allergnädigsten Herrn zu melden, daß wir auch
in diesem Falle auf die volle Unterstützung Deutschlands rechnen
können. Wie gesagt, müsse er vorerst die Meinung des Reichs-
kanzlers anhören, doch zweifle er nicht im geringsten daran, daß
Herr von Bethmann Hollweg vollkommen seiner Meinung zu-
stimmen wetde. Insbesondere gelte dies betreffend eine Aktion
unsererseits gegenüber Serbien. Nach seiner (Kaiser Wilhelms)
Meinung muß aber mit dieser Aktion nicht zugewartet werden.
Rußlands Haltung werde jedenfalls feindselig sein, doch sei er
hierauf schon seit Jahren vorbereitet und sollte es sogar zu einem
Krieg zwischen Oesterreich-Ungarn und Rußland kommen, so
könnten wir davon überzeugt sein, daß Deutschland in ge-
wohnter Bundestreue an unserer Seite stehen werde. Rußland
Das Telegramm Sz&gyenys vom 5. Juli 168

sei übrigens, wie die Dinge heute stünden, noch keineswegs


kriegsbereit und werde es sich gewiß noch sehr überlegen, an
die Waffen zu appellieren. Doch werde es bei den anderen
Mächten der Tripleentente gegen uns hetzen und am Balkan das
Fetter schüren.
Er begreife sehr gut, daß es Seiner k. u. k. Apostolischen
Majestät bei seiner bekannten Friedensliebe schwer fallen
würde, in Serbien einzumarschieren; wenn wir aber wirklich
die Notwendigkeit einer kriegerischen Aktion gegen Serbien
erkannt hätten, so würde er (Kaiser Wilhelm) es bedauern,
wenn wir den jetzigen, für uns so günstigen Moment unbenützt
ließen.
Was Rumänien betreffe, so werde er dafür sorgen, daß
König Carol und seine Ratgeber sich korrekt verhalten werden.
Das Eingehen in ein Vertragsverhältnis mit Bulgarien „sei
ihm keineswegs sympathisch"; nach wie vor habe er nicht das
geringste Vertrauen zu König Ferdinand, noch zu seinen frü-
heren und jetzigen Ratgebern. Trotzdem wolle er nicht die ge-
ringste Einwendung gegen die Eingehung eines vertragsmäßigen
Anschlusses der Monarchie an Bulgarien erheben, doch müsse
dafür Vorsorge getroffen werden, daß der Vertrag keine Spitze
gegen Rumänien enthalte und — wie dies auch im Memorandum
hervorgehoben werde — Rumänien zur Kenntnis gebracht
werde.
Kaiser Wilhelm beabsichtigt, sich morgen früh nach Kiel
und von dort auf seine Nordlandsfahrt zu begeben; früher wird
aber Seine Majestät mit Reichskanzler in der in Rede stehenden
Angelegenheit noch Rücksprache pflegen und hat er ihn zu
diesem Zwecke von Hohenfinow für heute abends in das Neue
Palais bestellt.
Jedenfalls werde ich Gelegenheit finden, im Laufe des
morgigen Tages mich mit dem Reichskanzler zu besprechen."
Kaiser Wilhelm wollte also vor dem Frühstück überhaupt
„keine definitive Antwort erteilen" und hat erst nachher, augen-
scheinlich vom Botschafter gedrängt, die volle Unterstützung
Deutschlands im Falle einer europäischen Komplikation zuge-
sagt, jedoch mit dem Hinzufügen, daß Rußland „noch nicht
kriegsbereit sei" und sich den Appell an die Waffen „gewiß noch
sehr überlegen" werde. Zum Schluß erwähnte er nochmals, daß
er mit dem Reichskanzler Rücksprache pflegen werde. Auf
Grund dieser Unterredung zwischen Kaiser und Kanzler am
Nachmittag des 5. ist dann die Anweisung an Tschirschky vom
6. Juli — D 15 — entstanden, die als die maßgebende deutsche
Auffassung anzusehen ist.
Das Ergebnis der Unterredung, die er nach dem Fortgang
des österreichischen Botschafters mit dem Kaiser führte, hat
HeTr von Bethmann dem Grafen Szögyeny am folgenden Tage
(6. Juli) mitgeteilt, worüber dieser in einem zweiten Bericht nun-
170 Vergleich der Berichte Szögy6nys vom 5. und 6. Juli

mehr genau übereinstimmend mit der an Tschirschky erlassenen


Instruktion berichtete — Oe I. 7. Wenn der Botschafter noch
hinzufügte, daß er im weiteren Verlauf des Gesprächs den Ein-
druck gewonnen habe, auch Kanzler und Kaiser würden ein
„sofortiges Einschreiten" als „radikalste und beste Lösung"
der österreichischen Schwierigkeiten auf dem Balkan ansehen,
so ist damit der Berliner Wunsch eines raschen Vorgehens gegen;
Serbien noch unter dem frischen Eindruck des Attentats ge-
meint, was durchaus richtig gedacht war.
Ein Vergleich der beiden Berichte Szögyenys vom 5. und
6. Juli zeigt bei dem ersteren eine schärfere' Tonart infolge des
im zweiten fehlenden Satzes „Sollte es sogar zu einem Kriege
zwischen Oesterreich-Ungarn und Rußland kommen, so könnten
wir davon überzeugt sein, daß Deutschland in gewohnter
Bundestreue an unserer Seite stehen werde". Der Ausdruck
Vivianis von dem „furchtbaren" Telegramm bezieht sich offen-
bar auf diese Worte, die jedoch nicht ohne1 die abschwächenden
Nachsätze von der mangelnden Kriegsbereitschaft Rußlands
gelesen werden dürfen. Jedenfalls konnte das Wiener Kabinett
nach allgemein anerkannten Grundsätzen, wenn es wirklich in
diesem einen Satz eine Verschiedenheit der beiden Telegramme
erblickt haben sollte, nicht den ersten Bericht vom 5. Juli über
ein vom Kaiser ausdrücklich als noch nicht verbindlich be-
zeichnetes Gespräch als maßgebend ansehen, sondern nur den
zweiten Bericht vom 6. Juli über die vom Reichskanzler als ver-
antwortlichem Leiter der Politik nach Vortrag beim Kaiser mit-
geteilte Auffassung der deutschen Regierung.
Graf Hoyos zieht in seiner Schrift „Der deutsch-englische
Gegensatz und sein Einfluß auf die Balkanpolitik Oesterreich-
Ungarn" (S. 80f.) aus dem von ihm gewonnenen r i c h t i g e n
Eindruck, daß die deutsche Regierung für „sofortiges Ein-
schreiten" gegen Serbien war, und daß Bethmann „vom inter-
nationalen Standpunkt den gegenwärtigen Augenblick für gün-
stiger halte als einen späteren" den u n r i c h t i g e n Schluß,
daß dieser Wunsch nach Beschleunigung der Aktion gleichbe-
deutend sei mit einer „rückhaltlosen — gemeint ist wohl vor-
behaltlosen •—• Unterstützung der österreichischen „Kriegs-
politik". Gerade die Worte „unter allen Umständen" hatte der
Kanzler in dem ihm vorgelegten Entwurf der Instruktion an
Tschirschky gestrichen.

2. Die Legende des Kronrats vom 5. Juli.


Im Juli 1917 wurde im Auslande von der feindlichen Pro-
paganda die Nachricht verbreitet, daß am 5. Juli 1914 in Pots-
dam ein Kronrat unter Vorsitz des Kaisers stattgefunden habe,
an dem die Spitzen der deutschen und österreichischen Zivil-
imd Militärbehörden teilgenommen hätten, und in dem der Krieg
Die Legende des Kronrats vom 5. Juli 171

gegen Rußland und Frankreich beschlossen worden sei. Nach-


dem auch im Deutschen Reichstag eine Interpellation über diese
Gerüchte stattgefunden hatte, richtete ein höherer Beamter des
Reichsamts des Innern am 2. August 1917 an seine vorgesetzte
Behörde einen nunmehr bei den Akten des Auswärtigen Amtes
befindlichen Brief, worin über die Entstehung der Fabel fol-
gender Fingerzeig gegeben wurde:
„Am 5. Juli abends war der Vertreter der Frankfurter
Zeitung Herr Stein in einem bekannten Restaurant in
Potsdam. Es traten in das Restaurant eine Anzahl Herren,
die. Stein sofort als hohe Offiziere erkannte, zumal da sich
unter ihnen Conrad von Hötzendorf und Moltke befanden.
Die Herren nahmen in einem reservierten Zimmer Platz.
Nach einiger Zeit trat der Geschäftsführer des Restaurants
an Herrn Stein in ziemlicher Erregung heran mit der Mit-
teilung, was er denn davon halte, soeben habe ihm der
Kellner, der die Herren bediene, gesagt, daß sie von dem
Kriege mit Rußland als von einer vollendetet Tatsache
sprächen."
Herr Stein wurde vom Auswärtigen Amt über den Vorfall
befragt und hat dazu erklärt, daß die Darstellung „frei er-
funden" sei. Richtig sei nur folgender Sachverhalt: „Am
5. Juli zwischen 10 und 11 Uhr abends habe er im Hotel Kaiser-
hof in Berlin gesessen. Da sei ein Angestellter des Hotels an
seinen Nachbar herangetreten und habe ihm zugeflüstert, ein
Kellner, der Potsdamer Gardeoffiziere nebenan bediene, habe
gehört, daß heute in Potsdam eine Zusammenkunft von öster-
reichischen und deutschen Diplomaten und Militärs — genannt
wurden Szogyény, Bethmann Hollweg und Zimmermann —
stattgefunden habe, und daß der Kaiser aus diesem Anlaß seine
Nordlandsreise nicht antreten wolle."
Dieses Hotelgespräch, in dem die „österreichischen Militärs"
zweifelsohne die als Reserveoffiziere in Militäruniform er-
schienenen Mitglieder der österreichisch-ungarischen Botschaft
gewesen sind, bildet den Ursprung der Legende. Da trotz der
ausführlichen Darstellung in den Vorbemerkungen zu den
„Deutschen Dokumenten zum Kriegsausbruch" noch immer
ab und zu im Auslande die Behauptung auftritt, daß am 5. Juli
eine Beratung stattgefunden habe, der die meisten deutschen
Botschafter, ferner die Spitzen der Militär- und Marinebehörden
und die Direktoren der großen Banken anwohnteü, sei noch aus-
drücklich festgestellt:
1. Nach den Personalakten des Auswärtigen Amtes be-
fanden sich am 5. Juli auf ihren Posten: Herr von
Tschirschky in Wien, Graf Pourtalés in Petersburg, Frei-
herr von Schoen in Paris, Herr von Flotow in Rom; Fürst
Lichnowsky hat am 6. die Geschäfte in London wieder
172 Die Legende des Kronrats vom 5. Juli

übernommen, war also am 5. auf Reise dorthin. Nur


Freiherr von Wangenheim (Konstantinopel) war beur-
laubt, befand sich aber nach Aussage seiner Wittwe am
5. Juli weder in Berlin noch in Potsdam. Sogar der
Staatssekretär des Auswärtigen, Herr von Jagow, war
auf Urlaub und hat erst am 7. die Geschäfte des Amtes
wieder übernommen.
2. Von den Militärs war der Chef des Generalstabs Ge-
neraloberst von Moltke zur Kur in Karlsbad, sein Stell-
vertreter Oberquartiermeister I Graf Wialderse'e zur
Beerdigung seiner Tante in Hannover, der Staatssekretär
des Reichsmarineamts Herr von Tirpitz und der Chef
des Admiralstabs von Pohl in Urlaub.
3. Bankdirektoren sind im wilhelminischen Deutschland zu
Kronräten niemals zugezogen worden.

3. Die angebliche kaiserliche Instruktion an Tschirschky.


Am 8. Juli 1914 schrieb Graf Berchtold an Graf Tisza:
„Soeben verläßt mich Tschirschky, der mir mitteilte,
ein Telegramm aus Berlin erhalten zu haben, wonach sein
kaiserlicher Herr ihn be'auftragt, hier mit a l l e m N a c h -
d r u c k zu erklären, daß man in Berlin eine Aktion der
Monarchie gegen Serbien erwarte, und daß es in Deutsch-
land nicht verstanden würde, wenn wir die gegebene Ge-
legenheit vorübergehen ließen, ohne einen Schlag1 zu
führen." — Oe I. 10.
Der österreichische Minister spricht also nicht von einem
kaiserlichen Telegramm, sondern von einem „Telegramm aus
Berlin", worin der Kaiser u. s. w. Diese Ausdrücke treffen genau
zu auf die vom Kanzler am 6. Juli an Tschirschky gesandte In-
struktion — D 15. Sie war ein Telegramm aus Berlin, nicht aus
Potsdam, dem Aufenthaltsort des Kaisers, und in diesem Tele-
gramm bezeichnete Bethmann die Anweisungen als Aufträge
des Kaisers, der nicht weniger als achtmal erwähnt wird. Eine
weitere Instruktion an Tschirschky existiert nicht, wie aus Fol-
gendem hervorgeht:
1. Aus den Akten des Berliner Auswärtigen Amts ist
vom 28. Juni 1914 an jedes auf die Krise sich beziehende
wichtige Dokument veröffentlicht. Ueber die von den drei
Herausgebern ausgeschiedenen unwichtigen Stücke der Korre-
spondenz Berlin—Wien ist außerdem ein Verzeichnis angefertigt,
damit über deren Inhalt jederzeit rasch Aufschluß erteilt
werden kann. Die grundlegende Instruktion für Herrn von
Tschirschky ist nun die vom 6. Juli, Telegramm Nr. 113 —
D 15. V o r dem 6. Juli ist eine Anweisung an Tschirschky über
die Aktion gegen Serbien nicht vorhanden. Das nächste Tele-
gramm der Dokumentensammlung n a c h dem 6. Juli, Nr. 116
Die angebliche kaiserliche Instruktion an Tschirschky 173

vom 10. Juli '— D 28, Anm. 2 — gibt lediglich ein Bukarester
Telegramm an die Wiener Botschaft weiter. Sonach fehlen in
den „Deutschen Dokumenten" zwischen dem 6. und 10. Juli nur
die zwei Telegramme Nr. 114 und 115, von denen das erste die
bulgarische Anleihe behandelt und Bedenken des österreichi-
schen Kabinetts wegen der allgemeinen Haltung Bulgariens be-
schwichtigt, während das zweite sich auf den Aufenthalt des
seit lange nach dem Mittelmeer entsandten deutschen Panzer-
kreuzers „Goeben" in Pola bezieht. Es fehlt somit kein Tele-
gramm des Auswärtigen Amts an den Botschafter über die ser-
bische Frage, weder v o r noch n a c h dem 6. Juli.
2. Auch im Archiv der deutschen Botschaft in Wien ist kein,
nicht veröffentlichtes Telegramm über die serbische Frage vor-
handen. Die Akten der Botschaft sind von Professor Schücking
und mir eingefordert und durchforscht worden, und zwar für den
ganzen Zeitraum vom Attentat von Serajewo bis zum Kriegs-
ausbruch. Diesen Akten sind ja auch die auf andere Weise nicht
feststellbaren Eingangszeiten der Berliner Telegramme auf der
Wiener Botschaft entnommen. Auch die handschriftlichen
Notizen, die Herr von Tschirschky bei seinen Besprechungen
auf dem Ballhausplatz auf den Erlassen des Berliner Amts
machte, und die vom Parlamentarischen Untersuchungsaus-
schuß (1. Heft) veröffentlicht sind, wurden den Akten der Bot-
schaft entnommen.
3. Um festzustellen, ob der Botschafter eine Instruktion
vielleicht zu seinen Privatpapieren genommen habe, ist eine
diesbezügliche Anfrage an die Familie gerichtet worden, die
in negativem Sinne beantwortet wurde. (Aussage des Prinzen
Hatzfeldt, Schwiegersohnes des Herrn von Tschirschky, liegt
beim Untersuchungsausschuß.)
4. Nachforschungen sind auch angestellt worden darüber,,
ob Kaiser Wilhelm nach seiner Abreise von Potsdam am 6. Juli
9 Uhr 20 vormittags, entgegen allem sonstigen Brauch, vielleicht
von Bord der „Hohenzollern", auf die er sich nach Ankunft in
Kiel um 3 Uhr nachmittag^ sofort begab, direkt an den Bot-
schafter telegraphiert habe. Ein offenes Telegramm war aus-
geschlossen. Ueber die Möglichkeit eines Zifferntelegramms
haben die auf der „Hohenzollern" während der Nordlandreise
1914 tätigen Chiffrierbeamten angegeben: „Ziffern, für streng
geheime Sachen, wie sie im vorliegenden Falle hätten verwendet
werden müssen, wurden an Bord überhaupt nicht mitgeführt.
Telegramme in gewöhnlichen Ziffern waren möglich, aber auch
diese gingen sämtlich über das Auswärtige Amt in Berlin und
müssen daher in den dortigen Akten nachzuweisen sein". Zur
Nachprüfung wurde das Postbuch der „Hohenzollern" nach-
gesehen, das die Richtigkeit der angeführten Aussagen be-
stätigt.
174 Der angebliehe „Verweis" an Tsohirsohky

5. Eine Uebermittlung an den Marineattache in Wien durch


die Marinestation Kiel war ausgeschlossen, weil die Militär- und
Marineattaches, wie aus den „Deutschen Dokumenten" hervor-
geht, keinen eigenen Chiffer besaßen, sondern nur durch Ver-
mittlung der Botschaften oder Gesandtschaften Zifferntele-
gramme erhalten oder absenden konnten.
Es ist sodann noch zu erörtern, warum Berchtold in seinem
Briefe an Tisza der Instruktion Tschirschkys eine schärfere
Deutung gab, als mit dem Wortlaut von D 15 vereinbar ist.
Die Erklärung1 dürfte einfach die sein, daß der deutsche1
Botschafter den Erlaß, da er nur „zu seiner persönlichen
Orientierung" bestimmt war, nicht in Abschrift übergeben, son-
dern nur mündlich vortragen konnte, und daß der österreichische
Außenminister das „Telegramm aus Berlin" und die oftmalige
Erwähnung des „kaiserlichen Herrn" dazu verwertete, auf den
der Aktion gegen Serbien noch abgeneigten ungarischen Mi-
nisterpräsidenten einzuwirken.
Im Zusammenhang damit ist noch ein von kleinlichen
Nörglern aufgegriffener Nebenpunkt zu erwähnen, Tschirschky
habe wegen seiner anfänglichen lauen Haltung einen Verweis
erhalten. Tatsächlich berichtete Szögyeny am 8. Juli in einem,
im österreichischen Rotbuch nicht enthaltenen Telegramm Nr.
243 (aufgegeben Berlin 2 Uhr 14 nachmittags):
„Staatssekretär ist gestern von seinem Urlaub zurück-
gekehrt. ich habe ihn bisher nicht sprechen können, doch
hatte ich gestern und heute Gelegenheit, von Unterstaats-
sekretär und verschiedenen maßgebenden Persönlichkeiten
des Auswärtigen Amtes die Anschauung vertreten zu hören,
daß man hier mit Ungeduld unseren Entscheidungen ent-
gegensehe, da man Auffassung habe, daß jetzt der richtig©
Moment wäre, — ein Moment, der so günstig nicht mehr
so leicht wiederkehren würde — gegen Serbien energisch
aufzutreten.
Im Auswärtigen Amte wurde mir erzählt, daß man aus
einem Bericht Herrn von Tschirschkys ersehen habe, daß
derselbe mit einer gewissen „Lauheit" gegenüber Euer
Exzellenz aufgetreten sei. Man habe ihm darauf von hier
aus einen Verweis erteilt"
Dieses Telegramm gewährt Einblick in die Art des Verkehrs
des österreichischen Botschafters in der Wilhelmstraße. Graf
Szögyeny hatte nämlich die Gepflogenheit, stets bei mehreren
Herren des Auswärtigen Amtes Erkundigungen einzuziehen,
nicht nur beim Reichskanzler, Staatssekretär und Unterstaats-
sekretär, sondern auch bei den nachgeordneten Referenten. Da
sich über den „Verweis" nichts in den Akten findet, bleibt nur
die Erklärung, daß eine der nachgeordneten „maßgebenden
Persönlichkeiten" etwas von der kaiserlichen Randbemerkung
175

zum Bericht Tschirschkys vom 30. Juli — D 7 — erfahren hatte


und darüber mit dem österreichischen Botschafter gesprochen
hat.
4. Das Telegramm Szögy£nys vom 27. Juli.
Am 27. Juli telegraphierte der österreichische Botschafter
— Oe II. 68 — (aufgegeben 9 TJhr 15 abends):
„Staatssekretär erklärte mir in streng vertraulicher Form
sehr entschieden, daß in der nächsten Zeit eventuell Vermitt-
fungsvorschläge Englands durch die deutsche Regierung zur
Kenntnis Euer Exzellenz gebracht würden.
Die deutsche Regierung versicherte' auf das Bündigste, daß
sie sich in keiner Weise mit den Vorschlägen identifiziere, so-
gar entschieden gegen deren Berücksichtigung sei und dieselben,
nur um der englischen Bitte Rechnung" zu tragen, weitergebe.
Sie gehe dabei von dem Gesichtspunkte aus, daß es von
der größten Bedeutung sei, daß England im jetzigen Momente
nicht gemeinsame Sache mit Rußland und Frankreich mache.
Daher müsse alles vermieden werden, daß der bisher gut funk-
tionierende Draht zwischen Deutschland und England abge-
brochen werde. Würde nun Deutschland Sir E. Grey glatt er-
klären, daß es seine Wünsche an Oesterreich-Ungarn, von denen
England glaubt, daß sie' durch Vermittlung Deutschlands eher
Berücksichtigung bei uns finden, nicht weitergeben will, so würde
eben dieser vorerwähnte unbedingt zu vermeidende Zustand
eintreten.
Die deutsche Regierung würde übrigens bei jedem einzelnen
derartigen Verlangen Englands in Wien demselben auf das Aus-
drücklichste erklären, daß es in keiner Weise derartige Inter-
ventionsverlangen Oesterreich-Ungarn gegenüber unterstütze
und nur, um Wunsch Englands zu entsprechen, dieselben weiter-
gebe.
So sei bereits gestern die englische Regierung durch den
deutschen Botschafter in London und direkt durch ihren hiesigen
Vertreter an ihn, Staatssekretär, herangetreten, um ihn zu ver-
anlassen, den Wunsch Englands betreffs unserseitiger Milderung
der Note an Serbien zu unterstützen. Er, Jagow, habe darauf
geantwortet, er wolle wohl Sir E. Greys Wunsch erfüllen, Eng-
lands Begehren an Euer Excellenz weiterzuleiten, er selbst könne
dasselbe aber nicht unterstützen, da der serbische Konflikt eine
Prestigefrage der österreichisch-ungarischen Monarchie sei, an
der auch Deutschland partizipiere.
Er, Staatssekretär, habe daher die Note Sir E. Greys an
Herrn von Tschirschkv weitergegeben, ohne ihm aber Auftrag
zu erteilen, dieselbe Euer Exellenz vorzulegen; darauf hätte
er dann dem englischen Kabinett Mitteilung machen können,
daß er den englischen Wunsch nicht direkt ablehne, sondern
sogar nach Wien weitergegeben habe.
176 Das Telegramm Szögyenys vom 27. Juli

Zum Schlüsse wiederholte mir Staatssekretär seine Stellung-


nahme und bat mich, um jedwedem Mißverständnisse vorzu-
beugen, Euer Exzellenz zu versichern, daß er auch in diesem,
eben angeführten Fall, dadurch, daß er als Vermittler aufge-
treten sei, absolut nicht für eine Berücksichtigung des englischen
Wunsches sei."
Sowohl Herr von Bethmann als Herr von Jagow haben auf
das Bestimmteste erklärt, daß sie dem österreichischen Bot-
schafter niemals eine solche Mitteilung gemacht haben.
(„Deutschland schuldig?" S. 60). Vielleicht liegt eine' Ver-
wechslung mit einer nachgeordneten Persönlichkeit des Aus-
wärtigen Amtjä vor. Zum Inhalt der am Morgen des 28. in Wien
eintreffenden Meldung Szögyenys vom 27. ist zu bemerken:
1. Ein Vorschlag auf österreichische „Milderung det Note
an Serbien" (Absatz 5 der Meldung) ist von London nie-
mals gemacht worden.
2. Die deutsche Regierung hat niemals in Wien erklärt, daß»
sie „in keiner Weise derartiges Interventionsverlangen
Oesterreich-Ungarn gegenüber unterstütze und nur, um
Wunsch Englands zu entsprechen weitergebe" (Absatz 4).
3. Die Meldung bezieht sich wahrscheinlich auf ein Gespräch
über den Konferenzvorschlag, der am Abend des 26. von
Lichnowsky gemeldet — D 236 — und im Laufe des 27.
durch den britischen Botschafter vorgebracht worden war
— D 304, E 43. Aber auch in diesem Falle ist das Berliner
Kabinett anders verfahren als Graf Szögyeny angibt. Es
hat nicht gesagt, es wolle „das Begehren Englands
weiterleiten" usw. (Absatz 5), sondern hat den Vorschlag
offen und aufrichtig abgelehnt — D 248, E 43 — und
diese Ablehnung auch ohne unehrliche Beschönigung
nach Wien mitgeteilt — D 277, Oe II. 84.
4. Das am Morgen des 28. eintreffende Telegramm vom 27.
Juli könnte das Wiener Kabinett höchstens dazu veran-
laßt haben, den Konferenzvorschlag abzulehnen, den es
aber auch sonst wohl niemals angenommen hätte — Oe
II. 90. Alle anderen deutschen Vermittlungsvorschläge
sind mit solcher Deutlichkeit in Wien empfohlen worden,
daß über den aufrichtigen Ernst der Mahnungen nicht
der leiseste Zweifel bestehen konnte und auch nicht be-
standen hat, wie der Erfolg hinsichtlich der Fortführung
der direkten Besprechungen und der Teilerfolg hinsicht-
lich des Vorschlags „Halt in Belgrad" beweist.

5. Das angebliche deutsche Ultimatum an Rußland vom 29. Juli.


In der Kammersitzung vom 5. Juli 1922 und in seiner
„Antwort an den Kaiser" hat Viviani behauptet, Deutschland
habe am 29. Juli ein Ultimatum an Rußland gerichtet. An
Da« angebliche deutsche Ultimatum an Rußland vom 29. Juli 17?

diesem Tage wurde um die Mittagszeit, nachdem binnen zwölf


Stunden acht neue amtliche Meldungen über russische Mobili-
sierungsmaßnahmen, darunter fünf über solche an der deutschen
Front, in Berlin eingegangen waren, Graf Pourtales beauftragt,
Sasonow „sehr ernst darauf hinzuweisen, daß weiteres Fort-
schreiten russischer Mobilisierungsmaßnahmen Deutschland zur
Mobilisierung zwingen würde, und daß dann europäischer Krieg
kaum mehr aufzuhalten sein werde" — D 342. Der Botschafter
hat diesen Auftrag kurz vor 8 Uhr abends ausgeführt und dabei
betont, daß es „sich nicht um eine Drohung, sondern um freund-
schaftliche Meinung (Mahnung?)" handle — D 378.
In Petersburg hatte Nikolaus II. schon am Vormittag des
29., lange bevor Pourtales mit Sasonow sprach, den Ukas zur
allgemeinen Mobilmachung unterzeichnet. In letzter Stunde be-
wog ihn ein Telegramm Kaiser Wilhelms, die Umwandlung der
allgemeinen in eine Teilmobilmachung anzuordnen (Seite 130).
Der wahre Sachverhalt ist also das gerade Gegenteil der Dar-
stellung Vivianis. Nicht ein deutsches Ultimatum war am,
29. Juli ergangen, sondern ein freundschaftlicher Schritt Kaiser
Wilhelms war erfolgt. Wenn Sasonow zwischen der Mahnung
Pourtales und dem Telegramm Wilhelms II. einen Gegensatz
zu konstruieren suchte, so lag das daran, daß der russische
Minister vom Morgen des 29. Juli an den Krieg wollte, wie das
erstmalige Durchsetzen des Befehls zur allgemeinen Mobil-
machung an diesem Tage beweist.

6. Der Vorschlag des Zaren betreffend das Haager Schieds-


gericht.
Der zweite Band des „Livre Noir" (S. 283) hat das nach-
stehende Handschreiben Nikolaus II. an Sasonow vom 27. Juli
enthüllt:
„Ich werde Sie morgen um 6 Uhr empfangen. Es ist
mir ein Gedanke gekommen, und um keine Zeit zu verlieren,
die Goldes wert ist, will ich ihn Ihnen mitteilen: Warum
sollten wir nicht nach Verständigung mit Frankreich und
England und dann mit Deutschland und Italien versuchen,
Oesterreich vorzuschlagen, seinen Konflikt mit Serbien der
Prüfung des Haager Schiedsgerichts vorzulegen? Viel-
leicht ist die Zeit dafür noch nicht vorüber, bevor Ereig 1
nisse eintreten, die nicht wieder gut zu machen sind. Ver-
suchen Sie, um Zeit zu gewinnen, heute noch vor Abfassung
Ihres Berichts diesen Schritt zu tun. In mir ist die Hoffnung
auf Frieden noch immer nicht erloschen".
Der russische Minister wurde also beauftragt, noch am 27.
bei Frankreich und England anzufragen, ob sie dem Vorschlage
zustimmen, daß Oesterreich den Streitfall im Haag vorlege. Da
weder das französische noch englische noch russische Buntbuch
12
178 Der Voraohlag des Zaren betr. das Haager Schiedsgericht

die leiseste Andeutung einer solchen Demarche enthalten, hat


Sasonow offenbar den Befehl nicht ausgeführt. Als dann
zwei Tage später, am Abend des 29., die versöhnliche
Depesche Wilhelms II. die Umwandlung der russischen Voll-
mobilmachunsr in die Teilmobilisierung gfegen Oesterreich be-
wirkt hatte, griff der Zar seine Anregung in einem Telegramm
an den deutschen Kaiser nochmals auf. Aber auch jetzt weigerte
sich Sasonow offenbar wieder, auf den Gedanken einzugehen,
denn er erwähnte ihn niemals dem deutschen Botschafter gegen-
über, der daher auch seinerseits keinen Anlaß hatte, sich über
das diesbezügliche Zarentelegramm zu äußern.
Offenbar hielt der russische Minister die Idee seines Mon-
archen für unzweckmäßig und undurchführbar. Bei dieser
Stellungnahme Sasonows war es wahrlich ein starkes Stück,
daß er im Januar 1915 durch Veröffentlichung des Telegramms
Nikolaus II- vom 29. Juli im „Messager Officiel" den Kriegs-
willen Deutschlands zu beweisen versuchte. Wenn die Verwer-
fung des Haager Gedankens wirklich einen solchen Beweis
bildete, so würde der Minister ihn damit gegen sich selbst er-
bracht haben. Zudem wäre am 27. Juli, als der Zar das Hand-
schreiben an Sasonow richtete, der Gedanke allenfalls noch in
Erwägung zu ziehen gewesen. Zwei Tage später aber, am 29.,
konnte ein so zeitraubendes Verfahren nur noch in Betracht
kommen, wenn Rußland gleichzeitig nicht nur die Vollmobil-
machung einstellte, sondern auch die Teilmobilisierung, die
Oestetreich mit doppelter Uebermacht bedrohte.

7. Das Extrablatt des „Berliner Lokalanzeigers".


Am 30. Juli g'egen 1 Uhr mittags brachte ein Extrablatt
des „Berliner Lokalanzeigers" die Falschmeldung der deutschen
Mobilmachung. Das Blatt wurde sofort beschlagnahmt, die drei
Ententebotschaften umgehend telephonisch verständigt, daß die
Nachricht unzutreffend sei. Der russische Botschafter, der die
Falschmeldung nach Petersburg telegraphierte, widerrief pie
zunächst in einer offenen, dann noch in einer chiffrierten De-
pesche. Der Zar, seine Minister und sein Generalstab haben in
zehn amtlichen Kundgebungen aus der Zeit vom 30. Juli bis
2. August die russische Mobilmachung niemals mit der Falsch-
meldung zu begründen versucht.
Erst Anfang Dezember 1914, als die Wahrheit über die
Reihenfolge der Mobilmachungen der verschiedenen Staaten
auch in den Ententeländern durchzusickern begann, suchte Sir
Edward Grey, wie aus einigen von deutscher Seite aufgefangenen
Telegrammen Benckendorffs hervorgeht, dem Petersburger
Kabinett zu suggerieren, die russische Mobilmachung sei durch
das Extrablatt veranlaßt worden, Swerbejew habe die Nach-
richt zwar widerrufen, sein Widerruftelegramm sei jedoch von
Das Extrablatt des „Berliner Lokaianzeigers" 179

der deutschen Regierung einige Zeit zurückgehalten worden,


damit die absichtlich ausgegebene Falschmeldung inzwischen
ihre Wirkung tue und Rußland zur allgemeinen Mobilisierung
verleite. Sasonow scheute sich jedoch offenbar, dieser Intrige
zuzustimmen, die daraufhin auch in London zwei Jahre lang
zurückgestellt wurde, bis im Oktober 1916 der britische Staats-
sekretär in öffentlicher Rede an ausländische Journalisten seine
wenig geschickte Konstruktion über den Ursprung der russischen
Mobilmachung wiederholte. Da das Berliner Haupttelegraphen-
amt schon im Dezember 1914 auf Grund der damals aufgefan-
genen Telegramme Benckendorffs genaue Nachforschungen über
die Beförderung der Depeschen Swerbejews am 30. Juli an-
gestellt hatte, konnte Herr von Bethmann in seiner Rede vom
9. November 1916 den Nachweis erbringen, daß die beiden
Widerrufe des russischen Botschafters ohne Verzögerung ab-
telegraphiert worden waren.
Auf Grund der Nachforschungen vom Dezember 1914 und
der inzwischen erfolgten Enthüllungen über den genauen Zeit-
punkt des Entschlusses und des Befehls zur Mobilmachung sämt-
licher Streitkräfte des russischen Reichs läßt sich nunmehr fest-
stellen:
1. Das Telegramm Swerbejews mit der Falschmeldung der
deutschen Mobilmachung ist am 30. Juli 1914 erst um 3 Uhr
28 nachmittags ( = 4 Uhr 28 russische Zeit) beim Haupttele-
graphenamt in Berlin eingetroffen, das ist nach den Angaben des
Chefs der Mobilmachungsabteilung des russischen Generalstabs
Dobrorolski mehr denn zwei Stunden später, als der Entschluß
des Zaren zur allgemeinen Mobilmachung zum zweiten Male und
dieses Mal unwiederruflich gefaßt wurde.
2. Das Telegramm mit der Falschmeldung ist ferner wegen
Massenauflieferung deutscher Staatstelegramme, und weil die
Leitung nach Petersburg infolge der dort eben stattfindenden
Ausgabe des Mobilmachungsbefehls zeitweise gesperrt war, erst
11 Uhr 20 abends ( = 20 Min. nach Mitternacht russische Zeit)
abtelegTaphiert worden, das ist mehr denn sechs Stunden später,
als der russische Mobilmachungsbefehl über den Draht lief.
3. General Dobrorolski hat auf Anfrage schriftlich bestätigt,
daß die Falschmeldung des Lokalanzeigers „keinen unmittel-
baren Einfluß auf den Mobilmachungsbefehl hatte, da sie zeitlich
später in Petersburg- bekannt wurde". Bei ihrem Eintreffen habe
die Mitteilung allerdings einen starken Eindruck hervorgerufen,
sodaß man im Generalstabe dem Dementi nicht glauben wollte
und in der Meldung eine Bestätigung der Richtigkeit der von
der russischen Regierung getroffenen Entscheidung erblickte.
Die Legende, daß ein Extrablatt einer Berliner Zeitung die
russische Regierung zur allgemeinen Mobilmachung veranlaßt
habe, dürfte damit für jeden ernsten Forscher endgiltig erledigt
sein. (Genauen Nachweis über die im Vorstehenden angeführten
12*
180

Zeiten und die Intrige Greys siehe „Deutsche Rundschau", Mai


1922 „Der Zusammenbruch der Ententelegende über die rus-
sische allgemeine Mobilmachung".)

8. Der französische Schachzug der zehn Kilometer.


(Schon veröffentlicht in der „Frankfurter Zeitung" vom
7. Januar 1923, Nr. 15).
Als einen der wichtigsten Beweise dafür, daß Frankreich
während der Krise 1914 bis zum Schluß eine friedfertige Politik
getrieben habe, führt die offizielle französische Darstellung, und
mit besonderer Vorliebe der Außenminister des Kriegsjahres,
Herr Viviani, den Umstand an, daß bei der Aufstellung des
Grenzschutzes am 30. Juli die Deckungstruppen 10 Kilometer
von der Grenze zurückgehalten worden seien. Diese Maß-
nahme war allerdings wohl geeignet, großen Eindruck überall
da zu machen, wo man mit den Verhältnissen nicht näher ver-
traut war, aber sie hat die Kriegsbereitschaft Frankreichs in
keiner Weise verzögert oder vermindert und kann daher auch
nicht den mindesten Beleg für friedliche Absichten bilden. Nie-
mand anders als Viviani selbst hat in der Kammersitzung vom
31. Januar 1919 (Journal Officiel S. 297 ff.) festgestellt, daß
der Kriegsminister seinerzeit „kein technisches oder militä-
risches Bedenken" gecen die Maßnahme erhoben habe, und nach-
dem der frühere Kriegsminister das durch Zwischenruf aus-
drücklich bestätigt hatte, fuhr Viviani fort: „auch beim General-
stab stieß die Anordnung auf kein Bedenken."
Diese Zustimmung der höchsten militärischen Autoritäten
ist wohl verständlich, wenn man sich die Gestaltung der fran-
zösischen Grenze gegen Deutschland vor Augen hält. Frank-
reich hatte sie bald nach 1871 durch eine Kette von Sperr-
befestigungen gesichert, die im Norden bei Verdun begannen
und mit einer einzigen, knapp 50 Kilometer breiten, zwischen
Toul und Epinal liegenden Lücke ohne Unterbrechung bis zur
Schweizer Grenze sich hinzogen. Vor den nördlichen Teil der
Lücke war das Fort Mannonvillers vorgeschoben, das nur
10 Kilometer vom deutschen Gebiet entfernt lag und mit seinen
Geschützen bis an und über die Grenze reichte. Diese gewal-
tige Festungsbarriere bot einen ausgezeichneten Schutz für den
Aufmarsch des französischen Heeres, gleichviel ob die Deckungs-
truppen etwas näher an die Grenze herangeführt wurden oder
nicht. Denn das Zurücknehmen des Grenzschutzes bedeutete
nicht etwa eine Zurückverlegung des Aufmarsches der Massen,
sondern nur ein näheres Heranziehen der darüber hinaus vorge-
schobenen Sicherungen. Viviani hat in der erwähnten Kammer-
sitzung sogar angeführt, daß die 42. Infanteriedivision, die nach
dem Aufmarschplan 25 Kilometer von der Grenze entfernt hätte
Stellung nehmen sollen, infolge des neuen Befehls vom 30. Juli
Der französische Sobachzng der zehn Kilometer 181

nicht zurückgenommen, sondern sogar erheblich vorgeschoben


wurde. Auf deutscher Seite war gleicher Schutz durch Befesti-
gungen nur auf der Strecke Metz—DieJenhofen vorhanden, eine
ähnliche Maßnahme wie in" Frankreich konnte daher nicht in
Betracht gezogen werden.
Viviani hat am 31. Januar 1919 abt-r nicht nur die Gutachten
des französischen Kriegsministeriums und Generalstabs und das
Vorrücken der 42. Infanteriedivision verraten, sondern auch
den wahren Grund enthüllt, warum das scheinbare Opfer der
Zurückverlegung des Grenzschutzes angeordnet wurde. Schon
in dem Befehl, deü General Joffre am Morgen des 30. Juli bei
Anordnung des Grenzschutzes an alle Armeekommandanten
erließ, wurden „diplomatische Gründe" als Ursache der Maß-
nahme angeführt. Noch deutlicher sprach sich ein Telegramm
aus, das der Kriegsminister am 1. August um 5 Uhr nach-
mittags, also kurz nach Erlaß des Mobilmachungsbefehls, an
Geheral Joffre sandte:
„Um uns die Mitwirkung unserer englischen Nach-
barn zu sichern, bleibt es noch immer unerläßlich, die im
Telegramm Nr. 129 vom 30. Juli festgesetzte allgemeine
Linie durch Patrouillen irnd Detachements außer im Fall
eines ausgesprochenen Angriffs nicht überschreiten zu
lassen."
Ein drittes Telegramm vom 1. August 10,30 Uhr abends
schärft dann ein, daß die 10-Kilometer-Linie auch für die
Kavalleriepatrouillen gelte, und zwar aus gewichtigen diploma-
tischen Gründen." (Alle Befehle nach Angaben Vivianis im
„Journal Officiel".)
Trotz dieser wiederholten Mahnungen ist der Befehl aber
nicht eingehalten worden (Beleg Nr. 27, S. 200). Auch wurde
die französische Grenze keineswegs völlig von jedem Schutz
entblößt, vielmehr die im praktischen Zoll- und Forstdienst
stehenden Beamten — zusammen 1500 höhere und 27 600
niedere Beamte — dort belassen. Diese Organisationen traten
in Frankreich bei der Mobilmachung in den Verband der Armee
und hatten die Aufgabe, beim Grenz- und Küstenschutz mitzu-
wirken, Nachrichten vom Feinde einzuziehen, den Truppen als
Führer zu dienen und dergl. Die Mannschaften waren mit dem
Armeegewehr bewaffnet und wurden schon im Frieden zu
Exerzier- und Schießübungen herangezogen. Aus einer vom
französischen Außenministerium herausgegebenen Schrift geht
hervor, daß die Zollbeamten im Jahre 1914 in Posten in der
Stärke von 4 bis 10 Mann auf 100 bis 500 Meter an die Grenze
herangeschoben waren und gegen deutsche Patrouillen von der
Waffe Gebrauch machten.
Während so die Grenze gegen die allein in Betracht
kommenden Vorstöße schwacher deutscher Patrouillen genügend
182 Die wahren Gründe des 10 Kilometer-Rückzugs

gesichert blieb, wurde die Anordnung in ausgiebigster Weise


gegenüber England verwertet. Yiviani teilte sie sofort am
30. Juli amtlich nach London mit, gleichzeitig eine Anzahl un-
richtiger Angaben über deutsche Truppenbewegungen an-
fügend. Poincaré schrieb darüber am 31. Juli an den König
von England. Der Erfolg der politisch-militärischen List blieb
nicht aus. König Georg antwortete nach der Mitteilung Vivianis
vom 31. Januar 1919, daß er die französische Mäßigung „be-
wundere" und der amerikanische Botschafter in London äußerte
sich später zu Viviani dahin, daß Frankreich „der ganzen Welt
einen klaren Beweis seiner Ehrlichkeit gegeben habe." Wei-
den wahren Sachverhalt und die Enthüllungeil Vivianis in der
französischen Kammer kennt, wird zu wesentlich anderen
Schlüssen gelangen, die sich folgendermaßen zusammenfassen
lassen:
1. In Frankreich ist der Grenzschutz am Morgen des 30. Juli
angeordnet worden, obwohl das Land durch keine' Mobilmachung
eines Nachbarn bedroht war. Der deutsche Grenzschutz im
Westen wurde erst befohlen bei Anordnung des „Zustandes
drohender Kriegsgefahr" am 31. Juli 1 Uhr nachmittags, nach-
dem die amtliche Nachricht über- die öffentliche Verkündigung
der allgemeinen russischen Mobilmachung eingetroffen war.
Noch am 30. Juli, 6 Uhr abends, als der französische Grenzschutz
schon in Stellung war, wurde ein Antrag des 16. Armeekorps
(Metz) auf Verfügung der gleichen Maßnahme vom Preußischen
Kriegsministerium abschlägig beschieden.
2. Die Zurücknahme der französischen Deckungstruppen
brachte keinerlei militärische Nachteile mit sich. Gegen deutsche
Patrouillen genügten die Posten der militärisch organisierten
Zollwache, die an der Grenze blieben.
3. Der Befehl, 10 Kilometer von der Grehze abzubleiben,
wurde in zahlreichen Fällen von den Truppen nicht befolgt.
4. Die Anordnung erfolgte nicht aus Friedensliebe, sondern
ausschließlich aus diplomatischen Gründen, vornehmlich um
sich die Waffenhilfe Englands zu sichern.

9. Der Ursprung der Meldung über den Bombenabwurf bei


Nürnberg.
(Schon veröffentlicht im „Berliner Tageblatt" vom 7. März 1922
Morgenblatt).
Das Journal des Oberquartiermeisters I des Großen Gene-
ralstabes vermerkt am 2. August 1914 unter Nr. 38: „3. bay-
risches Aimeekorps meldet, Flieger werfen bei Nürnberg
Bomben ab". Aus ungedruckten Akten des Reichsarchivs ist
fernet folgender Sachverhalt zu entnehmen:
Der Stabschef des 3. bayrischen Armeekorps (Nürnberg)
erhielt am 2. August von der Eisenbahndirektion Nürnberg
Die Meldung über den Bombenabwurf bei Nürnberg 188

telephonische Nachricht über Bombenabwürfe in der Umgegend


von Nürnberg und gab diese Meldung unter Vorbehalt an den
Großen Generalstab in Berlin weiter. Nachdem die Eisenbahn-
direktion die Nachricht als unzutreffend erkannt hatte, machte
der Stabschef dem Großen Generalstab auch hiervon durch
Fernsprecher Mitteilung.
Der Eisenbahndirektion Nürnberg war die Nachricht am
2. August sowohl von der Strecke Würzburg—Nürnberg als
auch von der Strecke Ansbach—Nürnberg zugegangen. Die
Linienkommandantur Nürnberg verständigte daraufhin die
Eisenbahnabteilung des Großen Generalstabs telegraphisch mit
dem Zusatz, daß „sichere Nachricht nicht zu erlangen". Ein
Widerruf oder eine Ergänzung dieser Meldung ist nach den
Akten nicht erfolgt. Da alle Stationen der Strecke Würzburg—
Nürnberg und Ansbach—Nürnberg von der Eisenbahndirektion
durch Umlauftelegramme von dem angeblichen Vorfall in
Kenntnis gesetzt wurden, dürfte die Nachricht auf diese Weise
in die Presse gelangt sein.
Die Kriegstagebücher des 3. bayerischen Armeekorps,
der 5. Infanteriedivision (Nürnberg), des 21. Infanterieregiments
(Fürth bei Nürnberg) und des 7. Infanterieregiments (Bayreuth)
enthalten zahlreiche Gerüchte und Fernsprechmeldungen über
feindliche Flieger. Die meisten dieser Nachrichten wurden als
unglaubwürdig befunden, jedoch sind an verschiedenen Stellen
Sicherheitsmaßnahmen für alle Fälle angeordnet worden, was
gleichfalls den Zeitungen bekannt geworden sein wird.
Die unzutreffende Nachricht über den Bombenabwurf bei
Nürnberg ist somit darauf zurückzuführen, daß die [Wider-
rufmeldung des Stabschefs des 3. bayerischen Korps nicht
oder wenigstens nicht rechtzeitig an das Auswärtige Amt weiter-
gegeben worden ist. Das Amt hätte auch von sich aus dem Sach-
verhalt weiter nachgehen können, da am Nachmittag des
3. August nach Absendung der Kriegserklärung an Frankreich
eine Meldung des preußischen Gesandten in München eintraf,
worin der Vorfall in Zweifel gezogen wurde — D 758. Dabei ist
jedoch zu berücksichtigen, daß im richtigen Text der Kriegs-
erklärung — D 734 — das Vorkommnis bei Nürnberg eine ganz
nebensächliche Rolle spielt, das nicht sonderlich beachtet und
daher in der Kriegserklärung erst an letzter Stelle nach den
Grenzverletzungen auf dem Landwege genannt wurde.
10. Die Haltung Italiens.
Italien hatte sich im Jahre 1902, als der Dreibund abermals
erneuert wurde, demselben gleichzeitig innerlich entfremdet,
indem es mit Frankreich einen Vertrag abschloß, wonach die
beiden Staaten sich gegenseitig zur Beobachtung strenger Neu-
tralität verpflichteten, nicht nur wenn einer von ihnen „durch
eine oder mehrere Mächte direkt oder indirekt angegriffen
184 Die Haltung Italiens

würde", sondern auch dann, wenn er „infolge einer direkten


Provokation gezwungen wäre, zur Wahrung seiner Ehre oder
seiner Sicherheit die Initiative zu einer Kriegserklärung zu er-
greifen". 1 ) Nachdem England 1904 die Entente mit Frankreich
geschlossen und sich damit von Deutschland abgewendet
hatte, sah Italien in dem Dreibund nur noch ein Mittel zur Er-
reichung ganz bestimmter Ziele, denn da seine Küsten den An-
griffen der britischen Flotte sehr stark ausgesetzt waren, würde
eis in einem ernsten Konflikt niemals Partei gegen England er-
griffen haben. Einen deutlichen Beweis der Schwenkung er-
brachte schon die Haltung des italienischen Vertreters auf der
Konferenz von Algeciras 1906. Auch die anfängliche Zu-
stimmung Italiens zur Annexion von Bosnien und der Herze-
gowina durch Oesterreich 1908 wandelte sich sofort in das
Gegenteil, als England mit auffallender Schärfe dagegen Sellung
nahm. Der Vertrag von Racconigi 1909 bedeutete sodann die
vorbehaltlose Billigung der russischen Ambitionen auf Konstan-
tinopel und die Meerengen.
Zwar führte die übelwollende Haltung Frankreichs gegen-
über der Okkupation von Tripolis (1911) und das gemeinsame
österreichisch-italienische Interesse, eine Festsetzung Serbiens an
der Adria zu verhindern und als Gegengewicht gegen slawische
Expansion einen selbständigen albanischen Staat zu errichten,
zu einer vorübergehenden Wiederannäherung an die Mittel-
mächte; aber kaum war Albanien geschaffen, so ergaben sich
gerade dort neue Streitpunkte zwischen Wien und Rom.
Auf den Verlauf der Krise des Sommere 1914 war die Hal-
tung des römischen Kabinetts nicht von ausschlaggebender Be-
deutung. In Berlin war man sich von Anfang an klar, daß Italien
im Falle eines österreichisch-serbischen Konflikts Kompensa-
tionen fordern, und daß dafür in erster Linie der Bezirk von
Trient in Betracht kommen würde, während die Wiener Regie-
rung keine Fühlung im voraus mit der italienischen nehmen
wollte, da sie deren Verschwiegenheit nicht traute und ein
Durchsickern des Planes nach Belgrad befürchtete. — D 87.
Wie in Berlin vorausgesehen, wurde in Rom sofort nach Ueber-
gabe des österreichischen Ultimatums der Anspruch auf Kom-
pensationen auf Grund des Artikels 7 des Dreibundvertrags er-
hoben und zwar „selbst bei provisorischer Besetzung serbischen
Gebiets", wogegen Graf Bcrchtold meinte, Italien habe durch
die Besetzung der Inseln im Aegäischen Meere schon eine solche
Entschädigung erhalten — D 212. Da Italien bei Verweigerung
von Kompensationen eine antiösterreichische Haltung einzu-
nehmen drohte, drängte man in Berlin auf Verständigung. In
Wien aber war man nur im Falle „einer n i c h t als nur vorüber-
gehend anzusehenden Okkupation" zu einem Meinungsaustausch
') ..Lee Accords franco-italiens 1901—02" Nr. 7.
Die Haltung Italiens 185

bereit — D 267, 269, 328. Noch am 30. Juli hatte Berchtold


die Berliner Ratschläge nicht beachtet — D 396. Erst am
1. August, nachdem die allgemeine Mobilmachung Rußlands
den Krieg unvermeidlich gemacht hatte, erklärte er dem italie-
nischen Botschafter, daß et die in Rom und Berlin dem Artikel 7
des Dreibundvertrag's gegebene Ausleguno- annehme, wonach
auch im Falle einer nur vorübergehenden Besetzung serbischen
Gebiets ein Anspruch auf Entschädigung bestehe — D 594.2)
Aber schon an demselben Tage, noch bevor zwischen
Deutschland und Rußland der Kriegszustand eingetreten war,
beschloß in Rom ein Ministerrat, sich nicht am Kriege zu be-
teiligen. Mit auffallender Raschheit, noch am 1. August selbst,
wurde Frankreich von diesem Entschluß verständigt, sodaß es
sofort bei Ausspruch der Mobilmachung alle seine Truppen aus
deta Süden an die Nordostgrenze werfen konnte, während der
deutsche Botschafter erst vierundzwanzig Stunden später be-
nachrichtigt wurde — F 124, D 675. Infolge der Stellung-
nahme Englands würde auch ein früheres Einlenken Oesterreichs
in der Kompensationsfrage schwerlich Erfolg gehabt haben.
Der italienische Botschafter in Wien war zwar der Ansicht, daß
der Angriff Rußlands durch dessen Mobilisierung „klar do-
kumentiert" sei, der in Berlin brachte es nicht über sich, die
Erklärung der Neutralität selbst zu überbringen — D 510, 756.
Die Stimmen der beiden Diplomaten zählten jedoch nicht.

11. Die belgische Frage.


Die belgische Frage ist bei Schilderung der Krise 1914 nicht
behandelt worden, weil sie mit der Verantwortlichkeit für den
Kriegsausbruch nicht zusammenhängt. Der deutsche Kriegs
plan bestand seit dem Winter 1900/01 und hat Deutschland
nicht verleitet, die außerordentlich günstige Gelegenheit von
1905/06 oder eine der späteren Gelegenheiten zu einem Präven-
tivkrieg auszunützen. Ebenso wenig hat dieser Plan die deutsche
Regierung' gehindert, im Juli 1914 ihre Bemühungen um Erhal-
tung des Friedens, schließlich auch um den Preis eines Zuriick-
weichens aus der ursprünglich eingenommenen diplomatischen
Stellung, fortzusetzen.
Vom völkerrechtlichen Standpunkt hat Reichskanzler von
Bethinann Hollweg am 4. August 1914 das einzig zutreffende
Wort .gesprochen, daß die Verletzung der Neutralität Belgiens
ein Unrecht war. Die späteren Rechtfertigungsversuche müssen
als verfehlt bezeichnet werden. Alles, was nach Kriegsausbruch
über englische' Bestrebungen, die belgische Neutralität zu beein-
flussen, bekannt geworden ist, kann nicht als Begründung für
den im Winter 1900/01 entworfenen deutschen Operationsplan
herangezogen werden. Auch wird eine Völkerrechtsverletzung
2
) Wortlaut des Artikels 7 siehe Bele« Nr. 28 S. 200.
186 Die belgische Frage

nicht dadurch zu einem legalen Akt, daß ein anderer Staat die
gleiche Verletzung plant. Die Begründung des deutschen Vor-
gehens liegt ausschließlich auf militärischem Gebiet. Es war
damals die heutzutage nicht mehr allseitig1 geteilte Auffassung
der militärischen Sachverständigen nicht nur in Deutschland,
sondern auch in den anderen Staaten, daß der deutschen Heeres-
leitung in einem Zweifrontenkriege keine andere Wahl bleibe,
als mit tunlichster Beschleunigung einen entscheidenden Schlag
im Westen zu führen. Beschleunigung aber war nicht möglich
bei frontalem Ansturm gegen die stark befestigte französische
Ostfront Verdun—Beifort, sondern nur bei deren Umgehung im
Norden durch Luxemburg und Belgien. Die Frage, ob ein an-
derer Kriegsplan mit Defensive im Westen und Offensive im
Osten genügende Aussicht auf Erfolg geboten hätte, könnte
nur in einer militärischen Spezialstudie erschöpfend behandelt
werden.
Wenn abe'r das deutsche Unrecht offen zugestanden wiTd, so
ist damit keineswegs den anderen Mächten das Recht einge-
räumt, über Deutschland zu Gericht zu sitzen. Kriegsminister
Haidane hat ehthüllt, daß er im Januar 1906, nachdem Sir Ed-
ward Grey die schon von Lord Lansdowne Frankreich gegen-
über eingegangenen Verpflichtungen3) übernommen hatte, sich
sofort mit dem französischen Militärattache ins Benehmen setzte,
um einen Raum für die Versammlung des britischen Expedi-
tionskorps gegenüber der belgischen Grenze auszusuchen.*)
Wenn nun das französische Heer, wie in den Generalstabsproto-
kollen von 1911, 1912 und 1913 vorgesehen ist, nach Durch-
führung seiner Mobilmachung unverzüglich die Offensive er-
greift, so können die auf dem Nordflügel der französischen
Streitmacht gegenüber der belgischen Grenze in der Gegend
von Maubeuge versammelten britischen Korps nirgends anders
hinmarschieren als nach Belgien hinein. Der französisch-eng-
lische Kriegsplan führte daher ebenso wie der deutsche zu einer
Verletzung der Neutralität des Königreichs. Auch hat niemand
anders als der König der Belgier selbst noch im Mai 1914 dem
deutschen Militärattache mitgeteilt, daß er die französische Ge-
fahr für die größte halte und daß er die Spionage des franzö-
sischen Generalstabs auf belgischem Gebiet mit Sorge verfolge.8)
Nicht aufrichtige Entrüstung, sondern pharisäerhafte An-
maßung ist es, wenn von französischer und englischer Seite der
deutsche Kriegsplan als ein unerhörtes Verbrechen hingestellt
wird. Die Beispiele von Neutralitätsverletzungen durch ihr
eigenes Land sollten die Politiken und Historiker in London
und Paris zu größerer Vorsicht in ihrem Urteil mahnen.
3
) Lieut. Col. Repington „The first World War 1914—1918" S. 4.
«) Haidane loc. cit. S. 31 u. 168.
5
) Bericht des deutschen Militärattaches in Brüssel vom 7. Mai
1914 siehe Untersuchungsausschuß 2. Heft S. 95.
187

V. Teil.

Belege.
Nr. 1. Am 3. Dezember 1884 berichtet CourceL, Bismarck habo
ihm gesagt: „Ich wünsche dahin zu kommen, daß Sie uns Sedan ver-
geben, wie Sie Waterloo vergeben haben", und fährt dann fort: „Wenn
wir darauf hörten, würde vielleicht ein Nachfolger Bismarcks unseren
Enkeln sagen: Ich wünsche, daß Sie uns eine neue Niederlage und eine
neue Zerstückelung verzeihen, wie Sie Sedan verziehen haben. Das
beweist, wie ruchlos, verhängnisvoll und folgenschwer der Leichtsinn
derer gewesen ist, die, verblendet durch vorübergehende Parteiinter-
essen und irregeführt durch trügerische Geschichtslehren, es versucht
haben, in den Augen Frankreichs die Verträge von 1815 zu recht-
fertigen und in den Herzen der Franzosen den Groll über die schmerz-
lichen Amputationen jener Zeit zu beschwichtigen". Auch am 20. Januar
protestiert Courcel wiederum nicht nur gegen die Verträge von 1871,
sondern auch gegen die von 1815. (Poincaré in der „Revue de la
Semaine" vom 11. Februar 1921 S. 185—137.)
Nr. 2. Delcasse erreichte damals, daß die Allianz, die ursprüng-
lich nur der „Erhaltung des Friedens" dienen sollte, erweitert wurde
durch den Zusatz „und der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der
Kräfte in Europa". Gleichzeitig wurde die Militärkonvention, die
ursprünglich nur währen sollte, solange der Dreibund bestand, auf die
Dauer des diplomatischen Abkommens verlängert. Dar.u schrieb Del-
cassé, daß ja gerade dann die Militärkonvention notwendig wäre, wenn
der Dreibund aufhörte. „Was würde geschehen, wenn der Dreibund
sich auflöste, wenn z. B. Kaiser Franz Josef plötzlich
verschwände, und wenn Oesterreich von einer Auflösung bedroht wäre,
die man vielleicht anierswo begünstigen und von der man jedenfalls
Vorteil ziehen wollte? . . . . Welches Ereignis würde dringender er-
fordern, daß Frankreich und Rußland nicht nur einig sind in einem ge-
meinsamen Ziele, sondern auch bereit, es zu erreichen?" (Französisches
Gelbbuch „L'AlÜance franco-russe" Nr. 93—95.)
Nr. 3. Nur einmal, am 16. Mai 1888, glaubt Waldersee, daß Bis-
marck endlich für den Gedanken des Präventivkrieges gewonnen sei.
Er schreibt, der Kronprinz (der spätere Kaiser Wilhelm II.) habe ihm
„unter dem Siegel der Verschwiegenheit" anvertraut, daß der Kanzler
„sich nunmehr entschlossen habe, den Krieg nicht mehr zu scheuen"
(Band I. S. 399). Auch vom Kriegsminister will Waldersee die Kriegs-
neigung des Kanzlers bestätigt erhalten haben (loc. cit. S. 401). Aber
schon im folgenden Monat, Ende Juni, stellt Waldersee von neuem fest,
seine eigene Auffassung unterscheide sich von der des Kanzlers dahin,
daß dieser „uns jeden Krieg fernhalten will" (loc. cit. S. 410).

Nr. 4. Der italienische Außenminister Tittoni hatte dem öster-


reichischen Botschafter Freiherrn von Lützow gesagt: „Verraten Sie
mich nicht, aber im Grunde bin ich beinahe mit Ihrer Annexion zu-
frieden; am meisten fürchte ich einen schlecht umschriebenen und der
Klarheit entbehrenden Sachverhalt; er ist eine Quelle von Gefahr". Nur
188 Bftlog Nr. 5—8

verlangte er am 4. Oktober von seinem österreichischen Kollepen aus-


drückliche Erklärungen über die Meerengenfrage, Verzicht auf den
Sandschak und auf Artikel XXIX des Berliner Vertrags. Aehrenthal
erklärte am 6. Oktober, daß er die genannten Punkte annehme „und
daher den Akkord zwischen Italien, Rußland und Oesterreich im
Prinzip als abgeschlossen betrachte". (Friedjung II. S. 231—232.) So-
bald aber England gegen Oesterreich Stellung nahm, änderte sich die
Haltung Tittonis. Anfang Dezember erklärte er im Parlament, er habe
sich Aehrenthal gegenüber zu nichts verpflichtet. Bei Lützow ent-
schuldigte sich der Minister mit den ihm wegen der öffentlichen Mei-
nung erwachsenen Schwierigkeiten. (Friedjung II. S. 255.)

Nr. 5. Die entscheidende Wleisung an den deutschen Botschafter


Grafen Pourtalès in Petersburg ist abgedruckt bei 0. Hammann „Bilder
aus der Kaiserzeit" Ani. Y. S. 155. Der Wortlaut ergibt die Unwahr-
heit der Behauptung, daß sie eine Kriegsdrohung enthalten habe.
Deutschland erklärt, daß, wenn Rußland der Annexion nicht ohne Vor-
behalt zustimme, es sich zurückziehen und „den Dingen ihren Lauf
lassen" werde; die „Verantwortung für alle weiteren Ereignisse würde
dann schließlich Herrn Iswolsky zufallen, nachdem wir einen letzten
aufrichtigen Versuch gemacht haben, Herrn Iswolsky behilflich zu sein,
die Situation in einer für ihn annehmbaren Weise zu klären." Unter
den Dingen, denen man „ihren Lauf zu lassen" entschlossen war, ist
nun nicht etwa der allgemeine Krieg, sondern der österreichische Ein
marsch in Serbien zu verstehen, gegen den Rußland damals nichts hätte
unternehmen können.

Nr. 6. v. Bethmann Hollweg „Betrachtungen zum Weltkrieg" I.


S. 87. Zum Widerstand der russischen Intelligenz siehe Hammann „Der
mißverstandene Bismarck" S. 171 und. die Aeußerung Miljukows in
der Duma vom 15. März 1911. Zum Widerstand Greys siehe Siebert
S. 202 und 243. Grey sah in der Vertragsklausel, daß Rußland even-
tuell auch den Bau der Linie von der persischen Grenze bis zur per-
sischen Hauptstadt Teheran an Deutschland überlassen werde, gera-dezu
den Zusammenbruch der ganzen englischen Politik seit sechs Jahren
und dachte sogar an seinen Rücktritt. (Siebert S. 391—392.)

Nr. 7. Schreiben des Stabschefs des Militärbezirks Warschau,


.Sektion des Generalquartiermeisters, Mobilmachungsabteilung, vom
30. September 1912 Nr. 2450, Original im Reichsarchiv in Potsdam. Auf
Seite der Entente hat man versucht, diesen Befehl als Manöverbefehl
oder Befehl bei einer rein theoretischen Operationsübung u. dgl. hin-
zustellen. Das ist schon wegen der absendenden Stelle (Mobilmachungs-
abteilung), ferner wegen des Inhalts und des Datums wenig wahrschein-
lich. Um solche Ausflüchte endgiltig zu erledigen, wurde an General
S. Dobrorolski, 1914 Chef der Mobilm.acliungsabteilung des russischen
Generalstabes, die Frage gerichtet, wie der Befehl aufzufassen sei. Der
General, der ein treuer Anhänger des Zaren ¡reblieben ist und z. Z. in
Belgrad lebt, hat darauf geantwortet: „Der Befehl enthält operative An-
ordnungen für den Fall eines Krieges, der 1912 im Zusammenhang mit
der damaligen Kriegserklärung Serbiens und Bulgariens an die Türkei
erwartet wurde" (Brief Dobrorolskis an Verfasser).

Nr. 8. loc. cit» S. 347. In einem Telegramm an den französischen


Botschafter in Peteriburg behauptet Poincaré allerdings, er habe nur
gesagt, daß „Frankreich den Bündnisvertrag einhalten und Rußland
auch militärisch unterstützen werde, wenn der casus foederis eintrete"
(„Affaires Balkaniques" I. Nr. 263). Hiernach würde sich die Zusage auf
einen von Deutschland unterstützten Angriff Oesterreich-Ungarns gegen
Rußland beschränkt haben. Aber abgesehen davon, daß ein solcher
Beleg Nr. »—11 189

gemeinsamer Angriff der Mittelmächte auf Rußland gar nicht in Frage


stand, sondern nur ein allenfaUsiges Vorgehen Oesterreichs gegen Ser-
bien, ist zu beachten, daß das französische Gelbbuch über die Balkan-
angelegenheiten unter den Auspizien Poincares eigens zu dem Zwecke
der Verteidigung seiner Politik zusammengestellt worden ist.
Nr. 9. Siebert in den „Süddeutschen Monatsheften" Januar 1922
S. 191. Nach französischen Quellen wünschte Rußland „unauffällig"
Rumänien zu unterstützen. Es solle die Bulgaren so beschäftigen, daß
Seibien nicht vernichtet werde, ohne jedoch diesem einen zu großen Er-
folg zu gönnen, der eine Intervention Oesterreichs herbeiführen und so
einen allgemeinen Krieg entfesseln könnte. Rumänien seinerseits
wünschte von Rußland Unterstützung mit Munition, von Frankreich
mit Geld. In Paris hielt man das mit der abgegebenen Neutralitäts-
erklärung nicht für vereinbar („Affaires Balkaniques" II. Nr. 368—69).

Nr. 10. Dieses Urteil weicht erheblich ab von Friedjung III. S. 304
und Prof. Hoetzsch loc. cit. S. 311, die beide einen Mißerfolg der rus-
sischen Politik annehmen. Mir scheint, daß man mit Schebeko zwischen
Slawentum und Rußland unterscheiden muß. Die Interessen der Balkan-
staaten waren aber für die russische Politik nur das Aushängeschild,
nicht das wahre Leitmotiv. Friedjung ist zu seinem Urteil auch durch
die Auffassung verleitet, daß das große Rüstungsprogramm erst durch
den dritten Balkankrieg veranlaßt worden sei. General Dobrorolski hat
aber enthüllt, daß dieses Programm schon viel früher beschlossen war
Nr. 11. a) B e r i c h t d e s d e u t s c h e n Botschafters
v o n T s c h i r s c h k y v o m 2 3. M ä r z 1 9 1 4 ü b e r d i e U n t e i -
r e d u n g e n i n W i e n („Deutsche Politik" vom 11. Juni 1920).
Ueber die Unterredungen, die S. M. heute hier mit S. M. dem Kaiser
Franz Joseph, dem Grafen ijerchtold und dem Grafen Tisza gehabt hat,
hatte Allerhöchstdieselbe die Gnade, mir nachstehendes behufs Mel-
dung an E. E. mitzuteilen.
Mit S. M. dem Kaiser Franz Joseph und dem Grafen Berchtold
sei er über allgemeine Besprechungen über die politische Lage eigentlich
nicht hinausgekommen. Beide hätten sich sehr besorgt in betreff Ru-
mäniens und Rußlands gezeigt. Nach ihrer Ansicht sei Rumänien für
den Dreibund 6chon so gut wie verloren. Er habe sich bemüht, sie nach
beiden Richtungen hin zu beruhigen. Was Rumänien anlange, so habe er
ihnen das mitgeteilt, was der Kronprinz von Rumänien jüngBt in Berlin
erklärt hat«: Rumäniens Interessen wiesen es gebieterisch an die Seite
des Dreibundes, eine Suprematie des slawischen Rußlands mit Serbien
im Rücken sei für Rumänien unerträglich; allerdings werde infolge der
Gestaltung der Verhältnisse während und nach dem zweiten Balkan-
kriege die Verbindungsstelle zwischen Rumänien und dem Dreibunde
jetzt mehr in Berlin zu suchen sein.
S. M. bemerkten hier, daß er in dieser Beziehung sowohl bei K liser
Franz Joseph als beim Grafen Berchtold volles Verständnis gefunden
habe und beide diese Sachlage akzeptiert und die Hoffnung ausgedrückt
hätten, daß Berlin in dieser Richtung alles tun werde, was möglich wäre.
Er habe dann sehr eindrücklich darauf hingewiesen, daß, wenn er aucli
gewiß in Bukarest nach Kräften und Tunlichkeit wirken wolle, es doch
auch Sache Oesterreich-Ungarns sei, mit allen Kräften daran zu arbeiten,
daß das Verhältnis zwischen Wien und Bukarest sich wieder bessere.
Von beiden Seiten sei dem lebhaft zugestimmt worden.
In Bezug auf die russischen Rüstungen habe er ausgeführt, daß
diese gewiß nicht zu leugnen wären, und daß wir alle Ursache hätten,
sie scharf zu beobachten, daß er aber nicht glaube, daß sie in erster
Linie kriegerischen Absichten gegen Oesterreich oder Deutschland ent-
sprängen. Einmal sei Rußland durch Frankreich gezwungen, gewisse
190 Beleg Nr. 11 (Wilhelm II. in Wien 1914)

militärische Maßnahmen zu treffen, weil sonst kein Geld hergegeben


worden wäre, und dann Bei es sehr wahrscheinlich, daß man in Kußland
Uber den traurigen Zustand, in dem sich die Türkei befinde, noch besser
unterrichtet sei als in Berlin und Wien, und daß man die stärkere mili-
tärische Bereitschaft an der West- und Südwestgrenze als Deckung
bei eventuellem Vorgehen gegen die Türken zu brauchen gedenke.
Hierin habe ihm besonders Gral Berchtold beigestimmt.
Sehr interessant habe sich seine Unterhaltung mit Graf Tisza ge-
staltet, der ein ganz hervorragender Mann sei mit festem Willen und
klaren Ideen. Zunächst sei die rumänische Frage erörtert worden. Er
habe dem Grafen Tisza gesagt, daß er mit Freuden gehört habe, daß
die Verhandlungen zwischen ihm und den Rumänenführern im ganzen
nicht unbefriedigend verlaufen seien, und daß er, der Minister, mit der
Haltung der letzteren zufrieden sei. Graf Tisza habe das bestätigt und
dann folgendes ausgeführt:
Von einem Scheitern der Verhandlungen mit den Rumänen könne
keine Rede sein. Im Gegenteil. Er habe sich mit den Führern sehr gut
gesprochen und er werde auch in Zukunft aus eigener Initiative Maß-
regeln ergreifen, die geeignet die Rumänen zu befriedigen. Er sei ihnen
schon in manchen Stücken entgegengekommen und beabsichtige, den
Rumänen in bezug auf Kirche und Schule, auf welchen Gebieten sie in
der Tat ungerechtfertigt hart behandelt worden seien, noch weitere
Konzessionen zu machen. Er werde sogar den Rumänen für ihre Schulen
staatliche Gelder anweisen. Der bisherige Verlauf der Verhandlungen
icnd sein fester Wille, den Rumänen so weit als irgend möglich entgegen-
zukommen, berechtigen zu der Hoffnung, daß doch mit der Zeit die jetzt
vielleicht in manchem nicht unberechtigte Unzufriedenheit der Rumänen
schwinden werde.
S. M. haben darauf hingewiesen, daß man auch im Königreiche
Rumänien nicht eine „große Aktion" von Seiten der ungarischen Re-
gierung für die Rumänen verlange, sondern nur ein Nachgeben in kleinen
Fragen, in der Verwaltung und in der Schule für geboten und nützlich
halte.
Was die zukünftige Gestaltung der Verhältnisse am Balkan an-
belangt, so habe Graf Tisza die Vereinigung Serbiens mit Montenegro
als dasjenige Ereignis bezeichnet, welchem wohl in dieser Beziehung
die größte Bedeutung beizumessen sei. Die Vereinigung an sich halte
er für unabwendbar. Das Hauptinteresse Oesterreich-Ungarns bleibe
nach wie vor, Serbien als Vorposten Rußlands von der Adria fernzu-
halten. Man denke demnach hier daran, wenn man auch der Vereinigung
des Hauptteils von Montenegro mit Serbien nicht entgegentreten werde,
das Litorale Montenegros für diesen Fall Albanien zuzuweisen. Als Kom-
pensation für Bulgarien könnten diesem Staate die Bezirke von Istip
und Katschiana überlassen werden. Von ausschlaggebender Bedeutung
werde es sein, in allen diesen Fragen Hand in Hand mit Rumänien zu
gehen und womöglich die Vermittlung Rumäniens sowohl Serbien als
Bulgarien gegenüber eintreten zu lassen. Eine Ueberrumpelung Ru-
mäniens müsse vermieden und alles daran gesetzt werden, die Balkan-
politik der Monarchie im Einverständnis und mit der Mitwirkung Ru-
mäniens durchzuführen. Graf Tisza habe ihn gebeten, Oesterreich-Un-
garn bei dieser Politik in Bukarest möglichst beizustehen, was er dem
ungarischen Ministerpräsidenten auch bereitwillig zugesagt habe.
Graf Tisza habe dann noch im allgemeinen ausgeführt, daß es an-
gesichts des planmäßigen Zusammengehens der Ententemächte auf dem
gesamten Gebiete der Politik, besonders aber am Balkan, wo sie sehr
geschickt mit verteilten Rollen operierten, auch für die Mächte des Drei-
bundes sich empfehlen würde, jeden politischen Plan vorher genau und
eingehend zu besprechen und die Art und Weise seiner Ausführungen
festzulegen. Für ihn, den Minister, sei es keine Frage, daß die politische
Aktion der Entente-Mächte sich derzeit in erster Linie dem Balkan zu-
Beleg Nr. 11 (Wilhelm IL in Miramai 1914) 191

wende, der mit der Zeit als Sturmbock gegen Oesterreich-Ungarn für
den Fall eines großen europäischen Krieges verwendet werden solle.
Die Monarchie solle im Ernstfall durch den Vorstoß aiis Südosten völlig
beschäftigt und auf diese Weise verhindert werden, Deutschland gegen
Rußland beizustehen, um es dem doppelseitigen Angriff allein zu über-
lassen. von Tschirschky.
b) B e r i c h t d e s G e s a n d t e n a m K a i s e r l i c h e n H o f l a g e r
v o n T r e u t l e r ü b e r d e n B e s u c h i n M i r a m a r („Deutsche
Politik" vom 11. Juni 1920).
S. M. haben den Erzherzog-Thronfolger in ausgezeichneter Dis-
position gefunden. Zunächst war derselbe außerordentlich erfreut, als
er hörte, daß er bei den Manövern den König von Italien treffen würde.
Er hat in diesen Mitteilungen keinen Augenblick etwas Unangenehmes
erblickt, sondern sofort erklärt, daß es ihm sehr lieb sei, dem König
auf neutralem Boden zu begegnen und dadurch Gelegenheit zu haben,
eingehend mit ihm zu sprechen.
Bei der Fortsetzung des Gesprächs über Fragen der großen Politik
erklärte der Thronfolger: Rumänien und Griechenland müßten im Bal-
kan für den Dreibund wie eine Mauer gegen die Slawen stehen; wenn
möglich auch die Türkei. Er nahm bei dieser Gelegenheit in der
schärfsten Weise gegen Graf Berchtolds Verhalten bezüglich Bulgariens
und Rumäniens Stellung, weil er nicht über Bukarest mit Sofia ver-
handelt habe.
S. M. hat ihm gesagt, der begangene Fehler könne voraussichtlich
wieder gutgemacht werden, wenn nur in Wien aufrichtige Loyalität
Bukarest gegenüber beobachtet würde; denn König und Kronprinz
hätten wiederholt erklärt, sie blieben treu beim Dreibund. Vor allem
sei nötig, daß in Ungarn die rumänische Frage wieder so behandelt
würde, wie Tisza es offenbar schon getan habe und nach seinen eigenen
Erklärungen weiter zu tun beabsichtige. Bei dieser Gelegenheit hat S. M.
dem Thronfolger den guten Eindruck geschildert, den er von Tisza emp-
fangen hätte, und ihm nahe gelegt, diesem wirklichen Staatsmann sein
Vertrauen zu schenken. Der Thronfolger hat zugesichert, dies in ernste
Erwägung zu ziehen.
Dann berührte der Erzherzog ganz spontan die innere Politik Oester-
reichs und sagte mit einiger Erregung, die Slawen würden allzu heraus-
fordernd und frech, er betrachte das für eine große Gefahr. Da ging
S. M. auf diese heikle Frage ein und sagte dem Thronfolger ganz offen:
seiner Ueberzeugung nach müsse die österreichische Politik germanisch
orientiert werden; man solle doch die Opposition und Obstruktion der
Tschechen benutzen, um ihnen einmal wirklich den Kopf zu waschen.
Der Erzherzog hat darauf erwidert, daß das ganz seiner Ueberzeugung
entspräche; die deutschen Politiker seien freilich größtenteils unsym-
pathisch; er stehe auf dem Standpunkt, daß man diese wichtige Kern-
frage nicht den jeweiligen Abgeordneten zu Liebe oder zu Leide regeln,
sondern höheren Gesichtspunkten unterordnen müsse.
Unter diesen Umständen verlief der Besuch in Miramar außerordent-
lich gut. S. M. besuchte von der vor dem Schloß vor Anker liegenden
Flotte den Dreadnought Virivus unitis", der ihm und den anderen
Herren der Marine einen sehr guten Eindruck gemacht hat. Der Thron-
folger und die Frau Herzogin waren sichtlich bemüht, ihrem hohen Gast
den Aufenthalt so angenehm als möglich zu gestalten. Der Abschied
trug dementsprechend einen sehr herzlichen Charakter. Treutier.
c) B e r i c h t d e s G e s a n d t e n a m K a i s e r l i c h e n H o f l a g e r
v o n T r e u t i e r v o m 14. J u n i 1 9 1 4 ü b e r d i e U n t e r r e -
d u n g e n i n K o n o p i s c h t („Deutsche Politik" vom 14. Mai 1920).
S. M. der Kaiser und König haben am zweiten Tage des Aufenthalts
in Konopischt, am 13. d. M., vor und nach dem Diner je eine politische
Aussprache mit dem Erzherzog-Thronfolger gehabt.
192 Beleg Nr. 11 (Wilhelm II. in Konopiseht 1914)

Die erste Unterredung' ging- von dein kurz vorher eingetroffenen


Athener Telegramm aus, nach dem die Streitigkeiten zwischen der Türkei
und Griechenland einen ernsten Charakter anzunehmen drohen. Im
Verlaufe dieser Gespräche wurde ich von S. M. gerufen; aUerhöchst-
dieselbe gab mir in Gegenwart des Erzherzogs ein Resumé über die bis-
her geführte Unterhaltung, welches ungefähr folgendermaßen lautete:
„Ich habe dem Erzherzog den Inhalt des Athener Telegrammes
mitgeteilt. Wir sind übereingekommen, daß angesichts der erfolgten
Zuspitzung der Situation der König von Rumänien sondiert werden
muß, wie er die Lage beurteilt und ob, bzw. mit welchen Mitteln er ver
suchen wird, eine Tangierung der Abmachungen des Bukarester Friedens
zu vermeiden und eventuell zu verhindern. Der Erzherzog gab lebhaft
seine Zustimmung zu diesen Aeußerungen S. M. und warf die Frage
auf, ob der König wohl geneigt sein werde, einzugreifen. Ich erwiderte,
es sei wohl wahrscheinlich, daß der König Carol in dem von uns ge-
wünschten Sinne tätig sein werde, da sein erhebliches Interesse an der
Aufrechterhaltung des Bukarester Friedens sich mit dem unserigen
decke. Demgemäß wurde verabredet, daß S. M. dem Auswärtigen Amte
eine entsprechende Instruktion zugehen lassen werde, während der Erz-
herzog den Grafen Berchtold zu ersuchen versprach, eine gleiche De-
marche des österreichischen Gesandten in Bukarest anzuordnen.
Zum Schluß konstatierten die beiden hohen Herren ihre überein-
stimmende persönliche Ahneigung gegen den König von Bulgarien und
S. M. erzählte, daß dieser einer ihm zugegangenen neueren Nachricht
zufolge diese Abneigung kenne, sich aber ernstlich bemühen wolle, seine
beiden Gegner zu gewinnen."
Ueber das zweite Gespräch, das nach dem Diner unter vier Augen
stattfand, erzählte mir S. M. am anderen Morgen das folgende:
Der Erzherzog habe, von den aktuellen Fragen ausgehend, zuerst
sich sehr mißbilligend über Italien ausgesprochen. Der Umstand, daß
Italien einen Mann wie Aliotti nach Durazzo (Albanien) gesandt habe
und dort halte, beweise seine mala fides. Auch die Ereignisse in Triest
und ihr Echo in Italien zeigten, daß Italien es dem Bundesgenossen
sehr schwer mache, in Frieden zu leben; auf die Dauer sei ein solches
Verhältnis unmöglich. Dazu scheine es dem König von Italien an dem
guten Willen zu fehlen, diese Zustände zu ändern. Er (der Kaiser) habe
versucht, den Erzherzog zu beschwichtigen. Er habe besonders darauf
iiingewiesen, daß in den Grenzländern wohl auf beiden Seiten durch
die Unterorgane Fehler gemacht würden, die dann in weiteren Kreisen
üble Folgen zeitigten. Was den König betreffe, so habe auch er jahre-
lang sich oft überwinden müssen und erst bei der letzten Zusammen-
kunft in Venedig habe sich ein wärmeres Verhältnis angebahnt. Augen-
scheinlich liabe der König viel gelernt, und die neuen durch den Tripolis-
Krieg geschaffenen Verhältnisse hätten den Italienern, besonders auch
gerade dem Monarchen, gezeigt, daß Frankreich der wahre Gegner sei,
und dadurch eine allgemein richtigere Bewertung des Dreibundes her-
vorgerufen. S. M. hat sich im Hinblick auf das Zusammentreffen des
Thronfolgers mit dem König bei unseren Manövern augenscheinlich sehr
viel Mühe gegeben, das Mißtrauen des Thronfolgers zu zerstreuen.
Das Gespräch ging dann auf Ungarn über, und hier soll der Thron-
folger noch schroffer und mit ungemein deutlichen Ausdrücken seiner
Abneigung Ausdruck gegeben haben. Er hat die ungarischen Zustände
als völlig anachronistisch und mittelalterlich hingestellt:
Ungarn sei der Tummelplatz des Kampfes einzelner Familien und
die oligarchi6che Regierungsform bedeute geradezu eine Vergewaltigung
aller nicht ungarischen Elemente, die weit mehr als 50 Prozent der Ge-
samtbevölkerung ausmachten. Die Zahl der Magyaren sei immer falsch
angegeben worden, in Wirklichkeit seien es vielleicht 2K Millionen.
Wie der Mann an der Spitze heiße, sei meist Nebensache; jeder Ungar
strebe mehr oder weniger offen danach, für Ungarn auf Kosten Oester-
Beleg Nr. i l (Wilhelm II. in Konopischt 1914) 18®

reiehs und zuungunsten der Gesamtmonarchie Vorteile zu erlangen. Er,


der Erzherzog, wisse wohl, daß der Kaiser einen sehr guten Eindruck
von Tissa gewonnen habe. Das sei aber vielleicht nicht ganz zu Recht
geschehen, denn Tiszas Taten entsprächen nicht Tiszas Worten. In
Wahrheit sei Tisza schon Diktator in Ungarn und strebe danach, auch
in Wien als solcher aufzutreten. „Schon jetzt zittere Wien, wenn Tisza
sich auf die Reise mache, und alles läge auf dem Bauch, wenn er in
Wien aussteige." Dabei sei es besonders bedenklich, daß Tisza sich,
offen dazu bekannt habe, er sähe die Selbständigkeit der ungarischen
Armee als ein zu erstrebendes Ideal an.
S. M. hat den Thronfolger unterbrochen, um ihm zu sagen, daß er
selbstverständlich Tisza mißbillige, wenn er höre, daß er unbotmäßig
sei und danach strebe, zuungunsten Oesterreichs das Schwergewicht
der Monarchie zu verlegen. Er halte ihn aber für einen so kräftigen,
seltenen Mann, daß er nur empfehlen könne, ihn nicht über Bord zu
werfen, sondern ihn unter eiserner Paust zu halten und dann seine
schätzenswerten Gaben auszunutzen.
Ich habe den Eindruck, daß 3. M. bei dieser Gelegenheit mit Er-
folg beabsichtigte, dem Erzherzog entgegenzukommen, ohne ihn durch
zu rasches Aufgeben seiner bekannten guten Ansichten über Tisza miß-
trauisch zu machen. Andererseits hat der Thronfolger von seinem
Standpunkt aus offenbar sehr geschickt betont, daß gerade Tisza daran
Schuld sei, wenn die Dreibundinteressen schlecht gewahrt würden, in-
dem er es sei, der entgegengesetzt zu seinen Schönbrunner Ver-
sprechungen die ungarischen Rumänen drangsaliere. Der Erzherzog
hat schließlich sogar S. M. gebeten, ob er nicht Tschirschky anweisen
lassen könne, Tisza bei jeder Gelegenheit ins Gedächtnis zu rufen, er
solle die notwendige Gewinnung der Rumänen durch angemessene Be-
handlung der in Ungarn lebenden Stammesbrüder nicht aus den Augen
verlieren. S. M. hat das mit den Worten versprochen, er wolle
Tschirschky auftragen, Tisza immer wieder zuzurufen: „Herr, gedenke
der Rumänen." Damit war der Erzherzog sehr einverstanden.
Zur Beleuchtung dieses Teiles der Unterhaltung darf ich vielleicht
auch anführen, daß kurz vorher Oberst Bardolff mich auf Tisza ange-
redet und sehr vorsichtig der „in Konopischt bestehenden Befürchtung"
Ausdruck gegeben hatte, wir hätten durch die jahrzehntelange Ver-
tretung der Doppelmonarchie in Berlin durch ungarische Botschafter
die Verhältnisse durch Ungarische Bri'len zu sehen gelernt. Ich wies
ihn darauf hin, daß wir ja auch durch unsere eigenen Vertretungen in-
formiert würden, man brauche lies nicht zu besorgen; ich wisse schon,
daß lie Befürchtung daher käme, daß mein allergnädigster Herr sich
offen und vorteilhaft über Tisza ausgesprochen habe. Dies liege aber
viel einfacher, als man anzunehmen scheine. Tisza sei ein so tat-
kräftiger, energischer Mann, daß es ganz natürlich sei, wenn er einen
starken Eindruck auf den Kaiser gemacht habe; im übrigen werde sieh
S. M. sicher dem nicht entziehen, wenn der Erzherzog ihm die Gründe
für eine gegenteilige Beurteilung mitteilen würde.
Im Zusammenhang mit diesen Auslassungen des Erzherzogs und
seines Vertrauensmannes war es von besondereem Interesse, daß Seine
Kaiserliche Hoheit sich S. M. gegenüber dazu bekannte, er habe den
Nachfolger Szôgyénys empfohlen und hoffe, Prinz Hohenlohe werde die
besten Dienste leisten.
Czernins Auftreten in Bukarest, besonders das bekannte Interview,
tadelte Seine Kaiserliche Hoheit offen auf das schärfste, obgleich ja
Czernin sein Protégé ist.
Ueber Böhmen und die Mißerfolge des Fürsten Thun sprach der
Erzherzog ebenfalls mit großer Offenheit und betonte erfreulicherweise
die Notwendigkeit des Schutzes der Deutschen, die das „Ferment" bilden
müßten. „Ein Ausgleich" könne nicht mehr von den Parteien erhofft,
er müsse vielmehr von Wien aus oktroviert werden.
IS
194 Beleg Nr. lgr-17

Rußland ist nach des Erzherzogs Meinung' nicht zu fürchten; die


inneren Schwierigkeiten seien zu groß, um diesem Lande eine agressive
äußere Politik zu gestatten. Treutier.
Nr. 12. General S. Dobrorolski (1914 Chef der Mobilmachungs-
abteilung des russischen Generalstabes) „Die Mobilmachung der russi-
schen Armee 1914", deutsche Uebersetzung S. 14 (Verlag für Politik
und Geschichte, Berlin 1922). Dobrorolski schreibt, daß die „Unver-
meidlichkeit" einer wesentlichen Verstärkung der Streitkräfte schon
seit längerer Zeit vorgesehen war, und daß nur verschiedene Umstände,
darunter ständiger Wechsel der Generalstabschefs, das Projekt bis 1913
verschoben haben.
Nr. 13. Am 15. Februar erschienen in „Heer und Politik" die ersten
unzutreffenden Angaben über die deutsche Vorlage. Am 17. Februar
kündigte der „Temps" drei militärische Gesetzentwürfe an mit dem
Beifügen, daß da« Kriegsministerium für die dreijährige Dienstzeit sei.
Iswolsky berichtete am 27. Februar darüber (sogen. „Russisches Blau-
buch", S. 336—37). Am 10. März wurde der Gesetzentwurf über die drei-
jährige Dienstzeit an die französische Kammer verteilt, die deutsche
Wehrvorlage wurde 18 Tage später, am 28. März, veröffentlicht.

Nr. 14. Buat „L'Armée allemande pendant la Guerre de 1914 bis


1918". Buat war im Kriege Chef der 2. Abteilung des französischen
Generalstabes und begleitete 1922 Briand als Sachverständiger zur Kon-
ferenz in Washington. Zahlenangaben Buats mit kritischen Bemerkungen
siehe Parlamentär. Unters.-Aussch. 1. Unteraussch., Heft 2, S. 152 f.
Nr. 15. Nach den Akten des früheren Preußischen Kriegsministe-
riums und nach den im „Journal Officiel" veröffentlichten Berichten an
die französische Kammer während des Krieges war der Bestand bei
Kriegsausbruch:
Infanteriepatronen Feldartillerieschuß
Deutschland 970 Millionen 5,2 Millionen
Frankreich 1310 „ 5,68
Abschriften der Origuialberichte beim Parlamentarischen Unter-
suchungsausschuß.
Nr. 16. Beachtung verdienen ferner noch folgende TatScachen:
a) Am 14. Januar 1914 wurden die Mehlvorräte von Paris
für den Fall der Verkehrssperre bei eintretender Mobilmachung erhöht.
Der Militärgouverneur General Michel erklärte hierbei: „Die Zeit drängt.
Dieses Jahr ist ein ganz besonderes Jahr. Wir wissen nicht, was es
bringen wird. Wir wissen nicht, ob wir nicht die Mobilmachung im
März oder April haben werden" („Deutsche Nation", Mai 1921, S. 361).
b) Anfang Mai eröffnete Frankreich Verhandlungen wegen der
Versorgung der Schweiz mit Lebensmitteln im Kriegsfalle, wobei ange-
kündigt wurde, daß gegen Deutschland alsdann die Hungerblockade
verhängt würde (Schoen S. 173).
c) Deutschland führte noch im Juli 1914 für 67 Millionen Goldmark
Getreide aus (von Schulze-Gaevernitz „England und Deutschland"
S. 107).
Nr. 17. Conrad III. S. 669—70. Siehe dazu auch „Weltbühne"
vom 31. August 1922 „Die europäischen Generalstäbe vor dem Welt-
krieg" und 12. Oktober 1922 „Diplomatie und Generalstab". — Nach
der Unterredung vom 12. Mai haben sich die beiden Generalstabschefs
vor Kriegsausbruch nicht mehr gesprochen, obwohl Moltke von Ende
Juni bis Juli noch zu einer zweiten Kur in Karlsbad war. General von
Conrad hat gegenteilige Behauptungen in einem an die „Zentralstelle
Beleg Nr. 18 (Bericht Wiesner) 196

für Erforschung der Kriegsursachen" (Berlin) gerichteten Briefe als un-


wahr bezeichnet.
Nr. 18. B e r i c h t d e s S e k t i o n s r a t s v o n Wiesner
a n d a s k. u. k. M i n i s t e r i u m d e s A e u ß e r n . (Oesterreichisches
Rotbuch 1919, I. Nr. 17.)
Telegramm ohne Nummer. Serajewo, den 13. Juli 1914.
„Daß hiesige großserbische Propaganda von Serbien aus — ab-
gesehen von Presse — auch durch Vereine und sonstige Organisationen
betrieben wird, und daß dies unter Förderung sowie mit Wissen und
Billigung serbischer Regierung geschieht, ist hier Ueberzeugung aller
maßgebenden Kreise.
Das mir als Basis dieser Ueberzeugungen von Zivil- und Militär-
behörden vorgelegte Material qualifiziert sieh wie folgt: Material aus
Zeit vor Attentat bietet keine Anhaltspunkte für Förderung der Pro-
paganda durch serbische Regierung. Dafür, daß diese Bewegung von
Serbien aus, unter Duldung seitens serbischer Regierung, von Ver-
einen genährt wird, ist Material wenn auch dürftig, doch hinreichend.
Untersuchung über Attentat
Mitwissenschaft serbischer Regierung an der Leitung des Atten-
tates oder dessen Vorbereitung und Beistellung der Waffen durch
nichts erwiesen oder auch nur zu vermuten. Es bestehen vielmehr An-
haltspunkte, dies als a u s g e s c h l o s s e n anzusehen.
Durch Aussagen Beschuldigter kaum anfechtbar festgestellt, daß
Attentat in Belgrad beschlossen und unter Mitwirkung serbischen
Staatsbeamten Ciganovic' und Major Tankosic' vorbereitet, von welchen
beiden Bomben, Brownings, Munition und Zyankali beigestellt. Mit-
wirkung Pribicevic nicht festgestellt und beruhen die ersten Meldungen
hierüber auf bedauerlichen Mißverständnissen erhebender Polizeiorgane.
Ursprung Bomben aus serbischem Armeemagazin Kragujevac ob-
jektiv einwandfrei erwiesen, doch keine Anhaltspunkte dafür, daß erst
jetzt ad hoc Magazinen entnommen, da Bomben aus Vorräten Komi-
tadschis vom Kriege stammen können.
Auf Grund Aussagen Beschuldigter kaum zweifelhaft, daß Princip,
Cabrinovic, Grabez mit Bomben und Waffen auf Veranlassung Ciga-
novic von serbischen Organen geheimnisvoll über Grenze nach Bosnien
geschmuggelt. Diese organisierten Transporte von Grenzhauptmännern
Schabatz und Lozniea geleitet und von Finanzwachorganen durchge-
führt. Wenn auch nicht festgestellt, ob diese Zweck der Reise kannten,
mußten selbe doch geheimnisvolle Mission annehmen.
Sonstige Erhebungen nach Attentat geben Einblick in Organi-
sierung der Propaganda der „Narodna odbrana". Enthalten wertvolles
verwertbares Material, das jedoch noch nicht nachgeprüft; schleunigste
Erhebungen im Zuge.
Falls bei meiner Abreise bestandene Absichten noch bestehen,
könnten Forderungen erweitert werden:
A. Unterdrückung Mitwirkung serbischer Regierungsorgane an
Schmuggel von Personen und Gegenständen über Grenze.
B. Entlassung serbischer Grenzhauptmänner Schabatz und Lozniea
sowie beteiligter Finanzwachorgane.
C. Strafverfahren gegen Ciganovic und Tankosic.
Abreise heute abends, ankomme Wien Dienstag abends und begebe
mich sofort ins Ministerium.
Mündliche Ergänzung des Berichtes nötig."
Von diesem Bericht ist von gegnerischer Seite 1919 in Versailles
nur der vierte Absatz „Mitwissenschaft — anzusehen" verbreitet
worden.
13»
196 Beleg Nr. 19 and 20
Nr. 19. B r i e f d e s K r i e g s m i n i s t e r s von Falken-
h a y n a n G e n e r a l o b e r s t v o n M o l t k e . (Original des Briefes
im Reichsarchiv.)
Eigenhändig und streng geheim. Berlin W. 66, den 5. 7. 1914.
Sehr verehrte Exzellenz,
Heute nachmittag beorderten mich Seine Majestät der Kaiser und
König nach dem Neuen Palais, um mir mitzuteilen, daß Oesterreich-
Ungarn entschlossen scheine, die auf der Balkanhalbinsel gegen Oester-
reich angezettelten Umtriebe nicht länger zu dulden und zu diesem
Ende erforderlichenfalls zunächst in Serbien einzurücken; sollte Rußland
dies nicht dulden wollen, so sei Oesterreich nicht gewillt nachzugeben.
Seine Majestät glaubten diese Absicht au3 den Worten des öster-
reichischen Botschafters entnehmen zu sollen, als dieser heute mittag ein
Memorandum der Regierung zu Wien u n d ein Handschreiben des Kaisers
Franz Joseph überreicht hatte.
Dies Gespräch habe ich nicht mitangehört, kann mir also kein
Urteil darüber erlauben. Dagegen haben Seine Majestät das Hand-
schreiben wie das Memorandum vorgelesen, und aus ihnen habe ich,
soweit es bei der Schnelligkeit des Vorganges möglich war, zu einer
Ansicht darüber zu kommen, die Ueberzeugang von einem festen Ent-
Schluß der Wiener Regierung nicht gewonnen. Beide schildern die all-
gemeine Lage der Doppelmonarchie infolge der panslawistischen Treibe-
reien sehr düster. Beide halten es auch für nötig, daß schleunigst etwas
dagegen geschieht. Von einem kriegerischen Austrag sprechen aber
beide nicht, vielmehr deuten sie ,energische" politische Schritte z. B.
den Abschluß eines Vertrages mit Bulgarien an, f ü r die sie sich die
Unterstützung des deutschen Reiches sichern wollen.
Diese Unterstützung soll mit einem Hinweis darauf zugesagt wer-
den, d a ß es in allererster Linie Sache Oesterreich-Ungarns sein würde,
die in seinem Interesse erforderlichen Schritte zu tun.
Der Herr Reichskanzler, der auch in Potsdam war, scheint eben-
sowenig wie ich d a r a n zu glauben, daß es der österreichischen Regie-
rung mit ihrer immerhin gegen früher entschiedeneren Sprache Ernst
ist. Wenigstens hat er nicht nur keine Bedenken gegen den Antritt
der Nordlandsreise erhoben, sondern ihn sogar empfohlen. Sicherlich
wenden in keinem Fall die nächsten Wochen eine Entscheidung bringen.
Ehe der Vertrag mit Bulgarien geschlossen sein wird, vergeht lange
Zeit. Euerer Exzellenz Badeaufenthalt wird also kaum eine Abkürzung
zu erfahren brauchen. Immerhin hielt ich es, obwold ich keinen Auf-
t r a g dazu habe, f ü r angezeigt, Sie über die Zuspitzung der Lage zu
unterrichten, damit Ueberraschungen, die schließlich immer einmal ein-
treten könnten, nicht ganz unvorbereitet kommen.
Indem ich meinen aufrichtigen Wünschen für den Erfolg der Kur
Ausdruck zu geben mir gestatte, bin ich in alter verehrungsvoller An-
hänglichkeit und vorzüglicher Hochachtung wie stets
Euer Exzellenz
völlig ergebener
gez. v. Falkenhayn.

Kr. 5?0. Englische Pressestimmen zum österreichischen Ultimatum


nach Frobeiiius „Schwertschrift" Heft 3 S. 27.
Diu „Westminster Gazette", das Organ des Premierministers
Aoiiuith, schriet). „Man h a t viel von Rußlands Haltung in dieser Frage
gesprochen, aber wenn die in der Note enthaltenen Anschuldigungen
substantiiert werden können, so glauben wir nicht, daß die russische
Regierung sehr erheblichen Einspruch dagegen erheben dürfte, daß Ser-
bien genötigt wird, Oesterreich-Ungarn Genugtuung zu geben."
DL-V Lloyd George nahe stehende „Daily Chronicle" äußerte sich
wie folgt: „Die österreichische Note ist ernst, aber kaum ernster als
die begründete Selbstverteidigung der Doppeimonarchie es erfordert . . .
Beleg Nr. 20 and 21 197

Oesterreich kann etwas derartiges (wie die serbische Agitation) von


einem Nachbarstaate nicht dulden, ohne seine Würde und Existenz zu
gefährden . . . . Serbien hat eine schlechte Sache, und Rußland, noch
viel weniger die anderen Mächte der Tripleentente kann seinen Stand-
punkt vertreten. Rußland täte am besten, Serbien zum Nachgeben zu
raten., während es über Oesterreichs Verpflichtungen wachte, das Laad
nicht" zu annektieren."
„Daily News" urteilte: „Oesterreichs Forderungen enthalten nichts,
was wirklich unerträglich wäre. Seine Entrüstung sei natürlich und
nicht ungerecht, und Serbien täte am besten, sich prompt zu unter-
werfen."
Die konservative Wochenschrift „Observer" meinte: „Wir hoffen,
daß die öffentliche Meinung Englands sich schwer entschließen wird, die
harte Entschlossenheit der österreichischen Politik zu verdammen. Wir
hoffen, daß niemand einen Finger und eine Stimme erheben wird, um
Serbien in seiner Halsstarrigkeit zu bestärken oder es vor dem ge-
bührenden Maße unmittelbarer Züchtigung zu bewahren. Das Ulti-
matum mag selbst auf die Gefahr einer russischen Intervention und
eines europäischen Krieges erzwungen werden. . . . Wir müssen Ruß-
land helfen, Garantien gegen die Vernichtung der Unabhängigkeit Ser-
biens zu erhalten, ohne den schuldigen Staat vor einer ausreichenden
Bestrafung zu bewahren."
Besonderes Mißgeschick hatte die Wochenschrift „John Bull", die
am 5. August nach der Kriegserklärung Englands an Deutschland ein
Gedicht brachte mit der Ueberschrift: „Zur Hölle mit Serbien". Der
Herausgeber Bottomley wurde dann einer der wildesten Kriegshetzer.
Nr. 21. Die Kriegsminister Preußens und Bayerns, die stellver-
tretenden Chefs des General- und Admiralstabes haben auf das be-
stimmteste erklärt, daß in der Zeit vom 5.—23. Juli keine militärischen
Rüstungen stattgefunden haben („Untersuchungsausschuß" H. 1 S. 63,
64, 65, 71). Wenn Oberquartiermeister Graf Waldersee am 17. Juli
schreibt „Wir sind im Generalstab fertig" — D 74, so heißt das nichts
anderes, als daß die pflichtmäßig vom Heere jederzeit zu fordernde
Bereitschaft vorhanden ist. Die regelmäßigen alljährlichen Mol il-
machungsvorarbeiten waren wie stets so auch 1914 am 31. März ab-
geschlossen, seitdem nichts veranlaßt worden.
Die falschen Anschuldigungen des französischen Gelbbuches über
frühzeitige militärische Vorbereitungen in Deutschland sind schon sämt-
lich von der deutschen Viererkommission in Versailles aktenmäßig wider-
legt worden. („Deutschland schuldig?" S. 69—71.) Zu der unrichtigen
Meldung des französischen Botschafters vom 21. Juli — F 15, es sei
ilrm „versichert" worden, daß die vorläufigen Benachrichtigungen zur
Mobilmachung an die in Betracht kommenden Klassen verteilt worden
seien, ist inzwischen bekannt geworden, daß es sich um ein „Gerücht"
handelte, das der französische Marine attache von seinem englischen
Kollegen erfahren, und das noch keiner von beiden nachgeprüft hatte.
(Telegramm Bronewski vom 22. Juli 1914 — „Rotes Archiv" T. S. 164.) Es
ist unfaßlich, wie der französische Botschafter, falls sein Telegramm
richtig wiedergegeben ist, eine so unsichere Nachricht in so bestimmte
Form kleiden konnte. Der Widersinn einer Einberufung von Reser-
visten am 21. Juli erhellt auch aus der Tatsache, daß Tags darauf, wie
im Text mitgeteilt, Reservisten entlassen worden sind.
Die in D 37 enthaltene Nachricht, daß Oesterreich seine Garni-
sonen an der serbischen und russischen Grenze unauffällig verstärke,
wird von keiner Seite bestätigt. Sie beruht vermutlich darauf, daß
die Trappen in Bosnien und der Herzegowina für die Ende Juni statt-
findenden Manöver auf einen etwas erhöhten Stand gebracht worden
•waren {Militärbericht Wien vom 28. Juli Nr. 45).
198 Beleg Nr. 22 und 23

Nr. 22. Der Abdruck des Protokolls der Sitzung: des Preußischen
Staatsministeruims vom 30. Juli in D 456 enthält, wie im Sommer 1922
durch Vergleich mit dem im Preußischen Staatsministerium des Innern
befindlichen Original festgestellt wurde, einen, sinnstörenden Druck-
fehler, der hiermit im. Einverständnis mit den beiden anderen Heraus-
gebern der Dokumente, Herrn Karl Kautsky und Professor Walter
Schücking, berichtigt wird. Bethmann hat nicht als eigene Ansicht ge-
äußert, daß „die russischen Mobilisierungsmaßnahmen mit dem west-
europäischen nicht zu vergleichen." seien. Auf S. 177 ZI. 1 v. o. ist
nämlich das Wort „sei" zu streichen und dafür die im Nachstehenden
gesperrt gedruckten Worte einzusehalten, sodaß der ganze Satz lautet:
„Die Mobilisierung Rußlands h a b e d i e s e S c h r i t t e kontra
k a r r i e r t , B u ß l a n d h a b e zwar erklärt, seine Mobilisierunga-
maßnahinen seien mit den westeuropäischen nicht zu vergleichen".
Der Ministerrat tagte wahrscheinlich um die Mittagszeit, nicht
erst am Abend des 30. Juli, da die in der Sitzung genehmigte „Siche-
rung" für die Marine noch an demselben Tage angeordnet wurde
(„Deutschland schuldig?" S. 75). Andererseits darf die Sitzung des-
wegen, weil der Kanzler nur je ein Telegramm des Kaisers und des
Zaren ausführlich mitteilte, nicht auf den 29. verlegt werden; denn auf
S. 177 Schluß von Abs. 2 ist ausdrücklich gesagt, daß wahrscheinlich
„heute" die Entscheidung in. Wien über die deutschen und englischen
Vorschläge fallen werde, was nicht vor dem 30. erwartet werden
konnte.

Nr. 23. T e l e g r a m m S v e r b e j e w s ü b e r s e i n e U n t e r -
r e d u n g m i t J a g o w a m N a c h m i t t a g d e s 3 0. J u l i ü b e r
die erste Sasonows''sehe Formel. (..Rotes Archiv" I.
S. 183).
„Da ich bis zum gegebenen Zeitpunkt das Telegramm unter
Nr. 2 mit Ihrem Vorschlag nicht erhalten habe, habe ich mich ent-
schlossen, mich an den Minister des Aeußeren zu wenden, um von dem
Eindruck, den Ihr Vorschlag auf Grund der Mitteilungen von Pourtalfes
auf ihn gemacht hat, zu erfahren. Der deutsche Botschafter resümiert
Ihren Vorschlag folgendermaßen: „Oesterreich anerkennt, daß sein Kon-
flikt mit Serbien die allgemeinen europäischen Interessen berührt, und
drückt seine Bereitwilligkeit aus, diejenigen Punkte, welche die
Suveränitätsrechte Serbiens schädigen, aius seinem Ultimatum auszu-
schließen. In diesem Falle verpflichtet sich Rußland, die militärischen
Vorbereitungen einzustellen." Der Minister des Aeußeren hält den
Vorschlag für Oesterreich für unannehmbar, da er für Oesterreich er-
niedrigend wäre und nicht zu günstigen Resultaten führen würde; er
fügte hinzu, daß im Zusammenhang mit dem Empfang der Nachricht
über unsere Mobilisation gegen Oesterreich sich die Lage verschlimmert
hat, und die Verhandlungen sich immer schwieriger und schwieriger
gestalten. Ungeachtet dessen setzte der Minister des Aeußeren hinzu,
daß Szäpäry beauftragt sei, die Verhandlungen mit Ew. Exzellenz
weiter zu führen, und daß überdies ein neuer Vorschlag Grey's vor-
liege, der höchst wahrscheinlich schon in Petersburg bekannt sei. Es
muß bemerkt werden, daß naefc der Beschießung von Belgrad die nach
serbischen Mitteilungen äußerst gewesen sein soll, Oesterreich,
meines Erachtens, mehr Nachgiebigkeit zeigen könnte."
Im Orangebuch (Nr. 63) war das Telegramm wiedergegeben wie
folgt:
„Ich erhielt Ihr Telegramm vom 16./29. Juli und übermittelte den
Text Ihres Vorschlags dem Staatssekretär des Aeußeren, bei dem ich
soeben war. Er sagte mir, daß er ein gleiches Telegramm vom deut-
schen Botschafter aus S t Petersburg erhalten habe und teilte mir dann
mit, daß er unseren Vorschlag für unannehmbar für Oesterreich halte."
Beleg Nr. 24 und 35 199

Nr. 24. Auf den österreichischen Entschluß hat übrigens die


Mahnung Moltkes schwerlich einen Einfluß ausgeübt. Tschirchky ver-
merkt schon beim Ausrichten der letzten Aufträge (etwa um Mittag des
30. — D 385 und 396), daß der österreichische Entschluß zur Mobil-
machung gefaßt ist, und daß Conrad am Abend beim Kaiser den An-
trag dazu stellen wird (Untersuchungssauschuß Heft 1 S. 98 und 99).
Die Meldung über das Gespräch Moltkes mit dem österreichischen
Militärattache ist zudem in Wien zu einer Stunde eingetroffen (nach
10 Uhr abends — Oe III. 34), zu der Kaiser Franz Josef bekanntlich
Vorträge nicht mehr entgegenzunehemen gewohnt war.
Wegen der Maßnahmen in Deutschland siehe Untersuchungsaus-
schuß, Heft 2, S. 9, 13, 72 f. und „Deutschland schuldig?" Anl. H und HI
S. 73 ff.
Nr. 25. B e s t i m m u n g e n d e s 1 9 1 4 g ü l t i g e n deut-
schen Mobilmachungsplanes über „Zustand drohen-
der K r i e g s g e f a h r " .
Nach dem Mobilmachungisplan für das deutsche Heer S. 45 § 20, B
waren bei drohender Kriegsgefahr folgende Maßnahmen zu treffen:
a) Schutz der wichtigsten Eisenbahn-Kunstbauten in allen Korps-
bezirken,
b) Bekanntgabe des „Merkblattes an die Presse", das in kurzer
Uebersicht die militärischen Maßnahmen und Tätigkeiten enthielt,-
deren Veröffentlichung zu vermeiden war,
c) die Erklärung des Kriegszustandes und das Verbot der Ver-
öffentlichungen über Truppenbewegungen und Verteidigunge-
mittel,
I) Zurückberufung der auf Urlaub befindlichen Personen des aktiven
Dienststandes bei allen Armeekorps,
e) Zurückberufung der aus den Standorten abwesenden Truppen bei
allen Armeekorps,
f) Regelung des Verkehrs nach der Vorschrift in Anlage J des
Mobilmachungsplanes (Betrifft Einstellung des Privat-Güterver-
kehrs in den Grenzgebieten. Ueberwachung des Postverkehrs nach
dem Auslande),
g) Ausführungen der vorgesehenen Grenzschutzmaßnahmen,
h) Ueberftthrung der für den Schutz der Nordsee-Inseln bestimmten
aktiven Truppen, des Artillerie-Gerätes, der Munition und des
Verpflegungsbedarfs nach den Inseln.
In d e n G r e n z b e z i r k e n a u ß e r d e m :
a) Deckung der Eisenbahn, Sicherung großer Brücken und wich-
tiger Eisenbahnknotenpunkte, der Luftschiffhallen und Luftschiff-
werften' und der für das Luftfahrwesen und den Funkenverkehr
wichtigen Anlagen gegen Zerstörungsversuche — auch aus feind-
lichen Luftfahrzeugen;
b) Rückführung der transportfähigen Kranken, deren Wieder-
herstellung nicht in wenigen Wochen zu erwarten ist, aus den
Grenzgarnisonen in weiter rückwärts gelegene Garnisonen.
Erfolgte vor ausgesprochener Mobilmachung ein feindlicher Ein-
fall oder war zu erkennen, daß ein solcher unmittelbar bevorstand, so
hatte der Kommandierende General alle Maßnahmen zu treffen, die
nötig waren, um die Gestellung aller dienstpflichtigen Mannschaften und
für tauglich befundenen Militärpflichtigen, sowie aller brauchbaren
Pferde aus den bedrohten Bezirken nach rückwärtigen Orten herbei-
zuführen und zu sichern. Auch hatte er dafür zu sorgen, daß die Hilfs-
mittel des eigenen Landes nach Möglichkeit dem Feinde entzogen wurden,
so vor allem die in Magazinen niedergelegten Verpflegungsbestände,
die staatlichen Kassen, die Betriebsstoffe für Kraftfahrzeuge. Nötigen-
falls waren Vorkehrungen für ihre Vernichtung zu treffen. Die Räu-
200 Beleg Nr. 26 und 27

mung bedrohter Bahnstrecken ver&nlaßte er durch Vermittlung der


Militär-Eisenbahin-Behörde und unterstützte sie auf Anfordern tat-
kräftig.
Nr. 26. Die Weisung an den Botschafter in Paris enthielt folgen-
den Zusatz: „Geheim. Wenn, wie nicht anzunehmen, französische
Regierung erklärt, neutral zu bleiben, wollen Ew. Exz. französischer
Regierung erklären, daß wir als Pfand für Neutralität Ueberlassung
Festungen Toul und Verdun fordern müssen, die wir besetzen und nach
Beendigung des Krieges mit Rußland zurückgeben würden. Antwort
auf letztere Frage müßte bis morgen nachmittag 4 Uhr hier sein".
Diese Forderung ging von der durch die Ereignisse als richtig er-
wiesenen Voraussetzung aus, daß Frankreich in einem deutsch-russischen
Kriege nicht neutral bleiben und selbst im Falle einer anfänglich neu-
tralen Haltung diese nicht d a u e r n d beibehalten, sondern zu mili-
tärisch günstigem Zeitpunkt zum Angriff gegen die entblößte deutsche
Westfront schreiten würde. Wenn die Möglichkeit einer d a u e r n d e n
Neutralität Frankreichs bestanden hätte, würde es natürlich angezeigt
gewesen sein, nicht Garantien zu fordern, sondern Kompensationen an-
zubieten. Daß Deutschland sich auch mit jeder anderen verlässigen
Bürgschaft für eine neutrale französische Haltung zufrieden gegeben
hätte, beweist das rasche Eingehen auf das Angebot Englands am Abend
des 1. August, das von Frankreich abgelehnt und dann von englischer
Seite als ein Mißverständnis bezeichnet wurde (S. 155). In Berlin konnte
man nach den am 29. Juli von Grey gemachten drohenden Eröffnungen
nicht von vorneherein mit einem solchen Angebot Englands rechnen. Im
übrigen hat dieser geheime Zusatz keinerlei Einfluß auf die Entwicklung
der Dinge ausgeübt, da sich kein Anlaß bot, ihn in Paris mitzuteilen. Er
ist erst im vierten Kriegs jähre durch das schwarze Kabinett entziffert
und dann als gewaltiges Agitationsmittel gegen Deutschland verwertet
worden.

Nr. 27. Die 56 Grenzverletzungen der Franzosen auf dem Land-


wege sind in der „Deutschen. Allgemeinen Zeitung" vom 25. Juni 1919
Nr. 297 nach Stärke der Abteilungen, Ort und Zeit genau angegeben.
Dieser Zusammenstellung liegen Meldungen zugrunde, deren Originale
sich im Reichsarchiv zu Potsdam befinden, und von denen hier einige
Beispiele folgen:
Altmtinsterol, 2. August, 10,30 vorm. —• etwa 40 Schützen •— Zu-
sammenstellung des Generalstabes Nr. 138, 139, 160 — Meldung des
Infanterieregimentes 58, I. Bataillon, Kriegstagebuch Blatt 6 vom
2. 8. 14 •— 21. Armeekorps, Kriegstagebuch Anlage 14.
Schluchtpaß und Umgegend — 1. August 8 0 und 11,30 abends — Ab-
teilungen verschiedener Stärke — Zusammenstellung des General-
stabes Nr. 44, 45, 47, 58, 59, 63, 227 — Meldungen der 4. Eskadron
des Dragonerregimentes 14, Kriegstagebuch I, der 39. Infanterie-
division und des Stellvertretenden Generalkommandos 15. Armee-
korps, Abteil. Ia Nr. 2660.
An Verlusten werden angegeben auf deutscher Seite zwei Dragoner
der 5. Eskadron des Dragonerregiments 22 gefallen, auf französischer
Seite ein Offizier gefangen, zwei Mann tot.
Nr. 28. A r t i k e l 7 d e s D r e i b u n d v e r t r a g s .
Da OesteTreich-Ungarn und Italien nur die möglichste Aufrecht-
erhaltung des territorialen status quo im Orient im Auge haben, ver-
pflichten sie sich, Ihren Einfluß zu benützen, um jede territoriale
Aenderung zu verhindern, die der einen oder anderen der den gegen-
wärtigen Vertrag unterzeichnenden Mächte Schaden bringen würde.
Sie werden sich zu diesem Behufe alle Nachrichten mitteilen, die ge-
eignet sind, sich gegenseitig über Ihre eigenen Absichten wie über die
Beleg Nr. 28 201

anderer Mächte aufzuklären. In dem Falle jedoch, daß infolge der Er-
eignisse die Aufrechterhaltung des status quo in den Gregerden des
Balkans oder der ottomanischen Küsten und Inseln im Adriatischen
und im Aegäischen Meer unmöglich würde, und daß, sei es infolge des
Vorgehens einer dritten Macht, sei es auf andere Weise, Oesterreich-
Ungarn oder Italien sich in die Notwendigkeit versetzt sehen sollte,
durch eine zeitweilige oder dauernde Besitznahme Ihrerseits diesen
status zu ändern, so soll diese Besitznahme erst nach einem vorher-
gehenden Uebereinkommen zwischen den beiden Mächten stattfinden;
dieses Uebereinkommen soll auf dem Grundsaz einer gegenseitigen
Kompensation für jeden territorialen oder sonstigen Vorteil beruhen,
den jede Macht über den gegenwärtigen status quo hinaus erhalten
würde, und soll den Interesen und wohlbegründeten Ansprüchen beider
Parteien Genüge leisten.
202

VI. Teil.

Anlagen.

Anlage 1.
Verzeichnis der im III. und IV. Teil genannten Personen.

Berlin.
W i l h e l m II., Deutscher Kaiser, König' von Preußen.
B e t h m a n n H o l l w e g , Dr. Th. von, Reichskanzler, Preußischer
Ministerpräsident und Minister des Auswärtigen.
J a g o w , Gottlieb von, Staatssekretär des Auswärtigen.
Z i m m e r m a n n , Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt.
S t u m m , Wilhelm von, Dirigent der politischen Abteilung des Aus-
wärtigen Amts.
M o 11 k e , von, Chef des Generalstabs der Armee.
B e r i r a b , von, Oberquartiermeister im Großen Generalstab und
Chef der Landesaufnahme.
W a l d e r s e e , Graf von, Oberquartiermeister I im Großen General-
stab.
F a l k e n h a y n , von, Preußischer Kriegsminister.
T i r p i t z , von, Staatssekretär des Reichsmarineamts.
C a p e l l e , von, Unterstaatssekretär im Reichsmarineamt, Stellvertreter
des beurlaubten Staatssekretärs.
P o h l , von, Chef des Admiralstabs.
B e h n c k e , Paul, Abteilungschef im Admiralstab, Stellvertreter des be-
urlaubten Chefs des Admiralstabs.
S z ö g y e n y - M a r i c h , L. Graf von, österreichisch-ungarischer Bot-
schafter.
G o s c h e n , Sir E., englischer Botschafter.
C a m b o n , Jules, französischer Botschafter.
S w e r b e j e w , S. N., russischer Botschafter.
T a t i s c h t s c h e w . von, russischer Militärbevollmächtigter.
B o 11 a t i , R., italienischer Botschafter.
J o w a n o w i t s c h , Dr. M., serbischer Geschäftsträger.
B e y e n s , Baron, belgischer Gesandter.
L e r c h e n f e l d , Graf Hugo von, bayerischer Gesandter.
S c h o e n , Hans von, bayerischer Legationsrat.

Wien.
F r a n z J o s e p h L, Kaiser von Oesterreich, König von Böhmen etc.,
Apostolischer König von Ungarn.
B e r c h t o l d , Leopold Graf von, Minister des k. u. k. Hauses und des
Aeußern, Vorsitzender des k. u. k. Ministerrats.
M a c e h i o , Freiherr K. von, 1. Sektionschef im k. u. k. Min. des
Aeußern-
203

F o r g ä c h , Dr. J. Graf von, Sektionschef im k. u. k. Min. des


Aeußern.
H o y o s , Alexander Gràf von, Legationsrat und Kabinettschef des
k. IL k. Ministers.
W i e s n e r , von, Sektionsrat im k. u. k. Ministerium des Aeußern.
T i s z &, Graf von, ungarischer Ministerpräsident.
C o n r a d von Hötzendorf, Freiherr, Generalstabschef des k. u. k. Heeres.

T c h i r s c h k y , Heinrich von, und B ö g e n d o r f , deutscher Bot-


schafter.
K a g e n e c k , Graf von, Militärattache an der deutschen Botschaft.
D u m a i n e , A. Chilhaud, französischer Botschafter.
B u n s e n , Sir M. de, englischer Botschafter.
S c h e b e k o , von, ruesischer Botschafter.
A v a n a , Herzog von, italienischer Botschafter.

London.
G e o r g V., König von Großbritannien und Irland.
A s q u i t h , H. H., Ministerpräsident.
G r e y , Sir E., Staatssekretär des Aeußeren.
L i c h n o w s k y , Karl Max Fürst, deutscher Botschafter.
M e n s d o r f f -Pouilly-, Dietrichstem, A. Graf von, österreichisch-
ungarischer Botschafter.
C a m b o n , Paid, französischer Botschafter.
B e n c k e n d o r f f , A. GTaf von, russischer Botschafter.
E 1 1 e r , N. v., russischer Botschaftsrat.

Paris.
P o i n c a r é , Raymond, Präsident der Republik.
V i v i a n i , René, Ministerpräsident und Minister des Aeußern.
F e r r y , Unterstaatssekretär im Ministerium des Aeußern.
M a r g e r i e , J. de, Kabinettschef des Ministers des Aeußern,
Direktor der politischen Abteilung.
B e r t h e l o t , stellvertretender politischer Direktor des Ministeriums
des Aeußern.
B i e n v e n u - M a r t i n , Justizminister und (vom 16.r—89. Juli) stell-
vertretender Ministerpräsident und Minister des Aeußern.
M e 8 8 i n i y , Kriegsminister.
J o f f r e , Chef des Generalstabs und Generalissimus im Kriegsfalle.

S c h o e n , W. Freiherr vpn, deutscher Botschafter.


S z é c s e n , N. Graf von Temerin-, österreichisch-ungarischer Bot-
schafter.
B e r t i e , Sir Fr. L., englischer Botschafter.
I s w o l s k y , A. P., russischer Botschafter.
S e w a s t o p u l o , E., russischer Botschaftsrat.

P e t e r s b u r g.
N i k o l a u s II., Kaiser von Rußland.
S a s o n o w , S. D., Minister des Aeußern.
S u c h o m l i n o w , W. A., Kriegsminister.

J a n u s c h k j e w i t s c h , Chef des Generalstabs.


D o b r o r o l s k i , S., Chef der Mobilmachungsabteüung des General-
stabs.
204

P o u r t a l e s , Friedrich Graf von, deutscher Botsehafter.


C h e 1 i u s , von, deutscher Militärbevollmächtigter am russischen
Hofe.
E g g e l i n g , von, Militärattache bei der deutschen Botschaft.
S z ä p ä r y , Graf von, österreichisch-ungarischer Botschafter.
B u c h a n a n , Sir G., englischer Botschafter.
P a l e o l o g u e , Maurice, französischer Botschafter.
L a g u i c h e , Marquis de, Militärattache bei der französischen Bot-
schaft.
205

Anlage 2.

Verzeichnis der öfter angeführten Quellen


nebst abgekürzten Bezeichnungen.
Abgekflrzte Bezeichnung Genauer Titel des Budies
Ministère des Affaires Etrangères „Documents
„Affaires Balkaniques" Diplomatiques" — „Les Affaires Balkaniques
1913—1914", 3 Bände.
Belgische Aktenstücke 1905—1914. Berichte
Belgische Aktenstücke der belgischen "Vertreter in Berlin, London und
Paris an den Minister des Aeußern in Brüssel.
Herausgegeben vom Auswärtigen Amt. Neu-
druck 1917.
Bericht an den franzö- „Rapport de la Commission d'Enquête sur
sischen Senat les Faits de la Guerre." Nr. 704. Sénat Année
1919.
Bethmann Hollweg Th. v. Bethmann Hollweg „Betrachtungen
zum Weltkriege", 2 Bände.
Boghitsche witsch Dr. M. Boghitschewitsch (ehemaliger serbischer
Geschäftsträger in Berlin) „Kriegsursachen".
Conrad FeLdmarschall (Freiherr) Conrad (von Hötzen-
dorf) „Aus meiner Dienstzeit". 3 Bände.
Corbett. Sir J. Corbett "History of the Great War,
based on Officiai Documents" (Britisches Ad-
miralstabswerk).
D „Die deutschen Dokumente zum Kriegsaus-
bruch" (Weißbuch vom Dezember 1919). Ge-
meinsam mit Karl Kautsky herausgegeben von
Graf Max Montgelas u. Prof. Walter Schücking.
Demartial G. Demartial "Comment on mobilisa les Con-
sciences".
Deutschland schuldig? Deutsches Weißbuch voon Juni 1919 „Deutsch-
land schuldig?"
Dobrorolski General Sergei Dobrorolski (1914 Oberst und
Chef der Mobilmachungsabteilung des russischen
Generalstabs) „Die Mobilmachung der russi-
schen Armee 1914", Deutsche Ausgabe.
E Englisches Blaubuch über die Krise 1914.
„Zur Europäischen Politik 1897—1914". Her-
Zur Europäischen Politik ausgegeben unter Leitung von Bernhard
Sehwertfeger. 5 Bände.
Französisches Gelbbuch über die Krise 1914.
F Heinrich Friedjung „Das Zeitalter des Im-
Friedjung perialismus 1884—1914", H. u. HI. Band.
Gedanken und Erinne- Otto Fürst von Bismarck „Gedanken und Er-
rungen innerungen", 3 Bände.
Gooas Dr. Roderich Gooss „Das Wiener Kabinelt
und die Entstehung des Weltkrieges".
206

„Große Politik" „Die Große Politik der Europäischen Kabi-


nette 1871—1914", Sammlung der Akten des
Deutschen Auswärtigen Amts.
Haidane Viscount Haidane "Before the War".
Hansard "Hansard's Parliamentary Debates''. Offizi-
eller Bericht der Reden im englischen Par-
lament.
„Livre Noir" „Un Livre Noir. Diplomatie d'Avant-Guerre
d'après les Documents des Archives Russes"
I. und H. Band.
Messimy Erinnerungen des französischen Kriegsministers
vom Juli 1914 in der „Revue de France" vom
1. August 1921.
Moltke Generaloberst Helmiith von Moltke „Erinnerun-
gen—Briefe—Dokumente".
Oe Oesterreichisches Rotbuch 1919 „Diplomatische
Aktenstücke zur Vorgeschichte des Krieges
1914". 3 Bde.
Oman C. Oman (Professor an der Universität Ox-
ford) "The Outbreak of the War of 1914-1918".
Paléologue Erinnerungen Paléologues in der „Revue des
deux Mondes" vom 15. Januar 1921.
Poincaré Seeths Vorträge Poincarés in der „Revue de
la Semaine" vom 11., 18. und 25. Februar u.id
4., 11. und 18. März 1921.
Pokrowski Professor M. Pokrowski (Vorstand des Archivs
der Sowjetregierung) „Drei Konferenzen".
Priljiam Dr. A. Fr. Pribram „Die politischen Geheim-
verträge Oesterreich - Ungarns 1879—1914".
I. Bd.
R Russisches Onangebuch über die Krise 1914.
Schriftliche Mitteilungen des Reichsarchivs in
Reichsarchiv Potsdam.
Freiherr G. vom Romberg „Die Fälschungen
Romberg des russischen Orangebuches. Der wahre Tele-
grammwechsel Paris-Petersburg bei Kriegs-
ausbruch".
„Rotes Archiv" Russische Aktensammlung „Krassni Archiv"
I. Band.
„Russisches Blau buch" „Materialien zur Geschichte der französisdh-
russischen Beziehungen 1910—1914". Samm-
lung geheimer diplomatischer Aktenstücke.
Russische Ausgabe. Moskau 1922.
Schoen Freiherr von Schoen (vormaliger deutscher
Staatssekretär und Botschafter) „Erlebtes".
Siebert B. von Siebert (bis zum Kriegsausbruch Sekre-
tär der russischen Botschaft in London) „Diplo-
matische Aktenstücke zur Geschichte der
Ententepolitik der Vorkriegsjahre".
Tirpitz Alfred von Tirpitz „Erinnerungen" Neue Auf-
lage 1920.
Untersuchungsausschuß Veröffentlichungen des 1. Unterausschusses
des Parlamentarischen Untersuchungsaus-
schusses Heft 1 und 2. Die Seitenzahlen bei
Heft 2 sind in den verschiedenen Ausgaben ab-
weichend numeriert.
207

Nachtrage.

1. E r l a ß des r u s s i s c h e n A u ß e n m i n i s t e r s I s w o l s k y
ü b e r d i e Z u s a m m e n k u n f t in R e v a l im J u n i 1908.
Bei der Zusammenkunft in Reval hat der britische Unterstaats-
sekretär Sir Charles Harlinge Rußland als den „Schiedsrichter der
Lage" in den Jahren 1915—16 bezeichnet und den Wunsch der eng-
lischen Regierung zum Ausdruck gebracht, daß Rußland aus diesem
Grunde „zu Wasser und zu Lande möglichst stark" werde. Wegen der
Wichtigkeit dieser Besprechungen wird in Ergänzung des auf Seite 17
(II. Abschnitt 3. Kapitel) Gesagten der Erlaß Iswolskys über die Zu-
sammenkunft angefügt (Siebert S. 777—79):
„Der allgemeine Eindruck, den diese Zusammenkunft hinterlassen
hat, ist in politischer Hinsicht ein äußerst günstiger; König Eduard hat
seine Genugtuung offen zum Ausdruck gebracht und erblickt in der Zu-
sammenkunft eine Bestätigung und Befestigung des zwischen Rußland
und England erzielten Uebereinkommens täowie ein Pfand für die weitere
Solidarität der beiden Regierungen. Mit besonderer Genugtuung betonte
Seine Majestät die glückliche Wendung in unserer inneren Politik und
die Zustimmung, die die Tätigkeit des Staatssekretärs Stolypin in ernsten
Kreisen Englands findet
Die verschiedenen Erklärungen Hardinges zusammenfassend, muß
ich vor allem betonen, daß seinerseits kein Versuch gemacht worden
ist, den Boden konkreter Abmachungen, sowohl der schon bestehenden,
als der in Aussicht genommenen zu verlassen und uns in allgemeine poli
tische Kombinationen zu ziehen. Sir Charles bestätigte, daß das Lon-
doner Kabinett unsere Ansicht durchaus teile, daß die Entrevue in Reval
den anderen Staaten keinerlei Beunruhigung einzuflößen brauche; was
speziell Deutschland anbelangt, so wünscht die englische Regierung auf-
richtig, die allerbesten Beziehungen zu ihm zu unterhalten, und glaubt
nicht, daß in allernächster Zukunft diese Beziehungen sich aus irgend-
einem Grunde verschärfen werden. „Trotzdem", sagte mir Sir Charles
Hardinge, „kann man sich nicht der Einsicht verschließen, daß, wenn
Deutschland in demselben beschleunigten Tempo seine Rüstungen zur
See fortsetzen wird, in sieben oder acht Jahren in Europa eine äußerst
beunruhigende und gespannte Lage entstehen kann; dann wird zweifels-
ohne Rußland der Schiedsrichter der Lage sein; und aus diesem Grunde
wünschen wir im Interesse des Friedens und der Erhaltung des Gleich-
gewichts, daß Rußland zu Lande und zu Wasser möglichst stark ist."
Diesen Gedanken hat Sir Charles mehrere Male wiederholt, wobei er
augenscheinlich zu verstehen geben wollte, daß er nicht seine persön-
liche Meinung, sondern die bestimmte politische Ueberzeugung des Lon-
doner Kabinetts zum Ausdruck bringt.
Zu den einzelnen Rußland und England interessierenden Fragen
übergehend, sprach Sir Charles in warmen Ausdrücken von dem glück-
lichen Resultat der im vorigen Jahre unterzeichneten Uebereinkommen,
dank denen keine einzige in letzter Zeit zwischen Rußland und Eng-
land entstandene Frage einen gefährlichen oder akuten Charakter an-
genommen habe. Seinen Worten zufolge hat nur dank der Konvention
und der absoluten Loyalität, mit der Rußland seinen Verpflichtungen
nachgekommen ist, der Zwischenfall an der afghanischen Grenze nicht
208

zum Einrücken der indischen Truppen in Afghanistan geführt; das Lon-


doner Kabinett schätzt unsere Haltung um so mehr, als von rein for-
maler Seite betrachtet die Konvention über Afghanistan, welche bis jetzt
vom Emir nicht anerkannt wurde, noch nicht in Kraft getreten ist; die
Handlungsweise Rußlands hat der englischen Zentralregierung die Mög-
lichkeit gegeben, den Eifer der angloindischen Behörden zu dämpfen;
jetzt ist das Londoner Kabinett ganz sicher, daß die Ereignisse an der
afghanischen Grenze nicht zum Einrücken in Afghanistan führen werden.
In einigen "Wlochen hofft er das formale Einverständnis des Emirs zu er-
halten und uns mitteilen zu können.
Was Persien anbelangt, so hat mir Sir Charles noch einmal wieder-
holt, d a ß seine Regierung fest entschlossen sei, in völligem Einver-
nehmen mit uns zu handeln. Unser Grenzzwischenfall flößt dem Lon-
doner Kabinett keinerlei Beunruhigung ein, und es erkennt vollkommen
die Zweckmäßigkeit unserer Handlungen an.
Besonders sorgsam ist die Frage der mazedonischen Reformen ge-
prüft worden. Der lebhafte Gedankenaustausch hat zu einem Ergebnis
geführt, das einer endgültigen Lösung sehr nahe scheint. Auf diese
Weise sind die ursprünglichen Vorschläge Englands auf ein Maß be-
schränkt worden, welches, wie man hoffen darf, von den übrigen Mäch-
ten angenommen und der Pforte gemeinsam zur Kenntnis gebracht wer-
den wird. Nachdem ein Einvernehmen mit England erzielt ist, wird das
Petersburger Kabinett ein genaues Schema der Reformen ausarbeiten,
welches dann gemeinsam von allen Staaten beraten und zum Ausgangs-
punkte eines gemeinsamen Schrittes der Botschafter in Konstantinopel
gemacht werden soll."

2. Ein russisch-japanischer Geheimvertrag


vom J u l i 1912.
Während die russische Diplomatie in Europa den gegen die Türkei
und auch gegen Oesterreich gerichteten Balkanbund zusammenschmiedete
(Seite 36), war sie auch darauf bedacht, ihre im fernen Osten stehenden
Truppen für den großen Krieg verfügbar zu machen und die Neutralität
Japans sich zu sichern. Wie auf Seite 140 des deutschen Weißbuchs
„Deutschland schuldig?" angeführt, wurde am 8. Juli 1912 ein russisch-
japanischer Geheimvertrag geschlossen, der bestimmte, daß Rußland im
Falle der Verwicklung in einen europäischen Krieg seine Truppen bis
auf zwei Armeekorps aus Sibirien und der Mandschurei zurückziehen
würde, und daß Japan für diesen Fall den Schutz der russischen Inter-
essen in China übernehme. Japan verpflichtete sich ferner, während der
Teilnahme Rußlands an einem europäischen Kriege kein russisches Ge-
biet zu okkupieren, insbesondere nicht Wladiwostok. Dafür erklärte
Rußland, keine Einwendungen dagegen erheben zu wollen, daß Japan im
Kriegsfalle die deutsche Kolonie Kiautschou besetze.
Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Zustimmung des
Londoner Kabinetts zu diesem Vertrag eingeholt worden war.

R o d a r d r u c k v o n C. G. R ö d e r G. m. b. H„ L e l p i l g

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