GETTY IMAGES
PRO NATURA / KEYSTONE
Flirten mit Falten: So geht
Liebe mit 50
Gesellschaft
Wegen EU-Streit:
Schweiz verliert
Attraktivität für
globale Firmen
Das unklare Verhältnis zur
EU hält Unternehmen davon
ab, ihren Sitz in die Schweiz
zu verlegen. Dennoch bleibt
der neue Gewerkschaftschef
Pierre-Yves Maillard beim
Nein zum Rahmenvertrag.
Daniel Hug, Andrea Kučera
Nahezu unbemerkt von der
Öffentlichkeit, verschlechtert sich
die Standortattraktivität der
Schweiz. Bis 2014 zog sie in
Europa am meisten globale
Unternehmen an, zusammen mit
Irland. Inzwischen ist sie auf
Rang drei zurückgefallen. Ihr
Marktanteil bei der Ansiedlung
von internationalen Firmen liegt
bei 19 Prozent, vor zehn Jahren
betrug er noch 27 Prozent. Dies
zeigt eine Studie von McKinsey,
die nächste Woche erscheint.
«Die Wettbewerbsfähigkeit der
Schweiz als Domizil von multi-
nationalen Unternehmen hat sich
verschlechtert», bestätigt Balz
Hösly, Präsident der Standort-
organisation Greater Zurich Area.
Als Hauptgrund nennt er die Un-
gewissheit im Verhältnis zur EU
im Bereich der Personenfrei-
zügigkeit sowie bei den Unter-
nehmenssteuern. Zugelegt haben
Nestlé will Nahrungsmittel
zu Jungbrunnen machen
Dank einem Wirkstoff aus Granat-
äpfeln sollen Menschen künftig
gesünder altern. Der vom Lausan-
ner Startup Amazentis ent-
wickelte Stoff auf Basis dieser
Früchte regt die Energieproduk-
tion der Zellen an. Nun beteiligt
sich der Nahrungsmittelkonzern
Nestlé an der jungen Firma. Das
Ziel ist es, die Substanz namens
Urolithin A als Zusatz bei Lebens-
17
mitteln zu verwenden.
«Die Partnerschaft ist eine
9 771660 085003
wichtige Komponente in unse-
rem Ziel, Urolithin A im Massen-
markt zu etablieren», sagt Ama-
zentis-Chef Chris Rensch. Bei Ver-
suchen mit Tieren wirkte der
GETTY IMAGES
Trotz grüner Welle: Wir fliegen
munter weiter um die Welt
Seite 25
Bienen gefährden Bienen
Seite 50
28. April 2019 | Nr. 17 | NZZaS.ch | Fr. 6.50 | € 6.50
stattdessen die Niederlande. Das
EU-Land konnte seinen Anteil
von 17 auf 24 Prozent steigern –
und liegt nun in Europa gemein-
sam mit Irland an der Spitze. «Die
Niederlande konnten – im Gegen-
satz zur Schweiz – substanziell
vom Brexit profitieren», erklärt
Raphael Buck, Senior Partner
bei McKinsey. 40 Unternehmen
haben jüngst ihren Hauptsitz von
England dorthin verschoben, so
etwa Sony und Panasonic.
Die Beziehung der Schweiz zur
EU dürfte sich nicht so bald stabi-
lisieren. 2020 steht die SVP-Ini-
AKG-IMAGES / ERICH LESSING
tiative an, welche die Personen-
freizügigkeit aufkündigen will.
Ungewiss ist weiter, wann und in
welcher Form ein Rahmenvertrag
mit der EU zustande kommt.
Die Gewerkschaften halten an
der Opposition fest. Im Interview
WiesoistsieeinMeisterwerk?
sagt der neue Gewerkschafts-
bund-Präsident Pierre-Yves Mail-
lard zum Rahmenvertrag: «Dieser
Text ist tot.» Zunächst solle man
die SVP-Initiative bekämpfen und
dann wieder bei null anfangen:
«Es führt kein Weg an Neuver- Vor 500 Jahren starb Leonardo da Vinci. Der Aussenseiter und Provokateur
handlungen vorbei.» Das wäre
frühestens in einem Jahr.
hinterliess ein Gesamtkunstwerk, das bis heute fasziniert. Im Gemälde
«Mona Lisa» zeigt sich sein Genie. Wie hat er es gemacht?
Seite 9, 29
Kommentar Seite 17 Seite 18–21
In Shisha-Bars wird vorwiegend
Schmuggelware geraucht
Stoff wie ein Jungbrunnen. Jetzt Mit hohen Zöllen wollte der markt aufgeblüht. «Wir gehen da- Tabak illegal eingeführt hatte.
soll in Studien mit älteren Men- Bund das Shisha-Rauchen von aus, dass der allergrösste Teil Und in der Region Nordwest-
schen überprüft werden, ob diese des in der Schweiz konsumierten schweiz kamen bei 14 Durch-
durch die Einnahme mehr Mus-
eindämmen. Das gelang nicht: Shisha-Tabaks nicht legal impor- suchungen rund 850 Kilogramm
kelkraft und Ausdauer ent- Der Schwarzmarkt wächst. tiert wurde. Ich würde sagen, es Schmuggelware zum Vorschein.
wickeln können. Hält die Sub- René Donzé sind rund 80 Prozent», sagt Urs Die hohen Abgaben auf den
stanz, was sie momentan ver-
spricht, könnte sie zu einem
Der Feind ist nicht Vorab bei den Jungen sind die
Bartenschlager von der Eidgenös-
sischen Zollverwaltung. Vorab in
legalen Tabak scheinen zudem
die prohibitive Wirkung zu ver-
wichtigen Baustein im Kampf der Christ, nicht Wasserpfeifen mit dem parfü- Shisha-Bars werde zum aller- fehlen. «Der Konsum von Shisha-
gegen Alterskrankheiten werden. der Buddhist oder mierten Tabak beliebt. Um dem grössten Teil Schmuggelware ver- Tabak nimmt weiterhin zu», sagt
Zu den Gründern von Amazen-
sonst jemand. Der ungesunden Rauchen den Riegel wendet, bestätigen Insider. Matthias Oggenfuss, Geschäfts-
tis gehören der ehemalige Präsi- vorzuschieben, hat der Bund Welche Ausmasse der Schmug- führer eines Shisha-Shops. «Die
dent der ETH Lausanne, Patrick Feind ist alles, was 2015 die Steuer auf Shisha-Tabak gel angenommen hat, zeigen zwei jungen Kunden sind nicht so
Aebischer, sowie die Chemie- und sie nicht sind. massiv erhöht: von rund 6 auf grosse Fälle, die die Zollfahndung preissensitiv und gönnen sich
Pharma-Erben Pierre Landolt und mindestens 80 Franken pro Kilo- kürzlich aufgedeckt hat: Im Nor- den Shisha-Tabak zu den seit Mai
André Hoffmann. (vob.) Reinhard Schulze, Islamexperte, gramm. Nun zeigt sich: Es werden den des Kantons Zürich hat sie 2015 höheren Preisen», sagt er.
warnt vor der Gefahr, die von ehema- nicht weniger Wasserpfeifen ge- einen 38-jährigen Ägypter über-
Seite 27 ligen IS-Kämpfern ausgeht. Seite 6 raucht. Vielmehr ist der Schwarz- führt, der 1,4 Tonnen Shisha- Seite 13
Aktuell
Kundgebung in Strassburg. (27.4.2019)
Gelbwesten protestieren
auch nach Macrons Rede
Auch nach dem Entgegen-
kommen von Staatschef
Emmanuel Macron sind in
Frankreich wieder Tau-
sende Anhänger der Gelb-
westen auf die Strasse
gegangen. In Strassburg,
wo rund 2000 Personen
demonstrierten, kam es zu
Ausschreitungen. Die
Polizei setzte Tränengas
ein, mindestens 42 Perso-
nen wurden festgenom-
Weinstein-Prozess
wieder verschoben
Das Strafverfahren gegen
den früheren Hollywood-
Produzenten Harvey
Weinstein wegen sexuel-
ler Übergriffe soll erst am
9. September beginnen.
Das teilte das Gericht in
New York mit, vor dem
der Prozess stattfindet.
Verteidigung und Anklage
hatten laut US-Medien
mehr Vorbereitungszeit
erbeten. Zunächst war der
Prozessauftakt für Mai
geplant gewesen, dann
auf Juni verschoben
worden. Mehr als 80
Maduro verdoppelt
Mindestlohn
Venezuelas Diktator Nico-
lás Maduro hat den Min-
destlohn erhöht. Ein am
Freitag veröffentlichtes
Dekret legte diesen auf
umgerechnet 7 Franken
60 monatlich fest, mehr
als doppelt so viel wie
bisher. Die Änderung gilt
rückwirkend ab 16. April.
Zudem wird ein Essens-
zuschuss von 4 Franken
50 monatlich gezahlt.
Venezuela steckt in einer
schweren Wirtschafts-
Venezuelas Diktator rennt der Inflation hinterher.
Seidenstrasse wächst
trotz Kritik weiter
Auf dem Gipfel zur neuen
Seidenstrasse in Peking
sind Vereinbarungen über
64 Milliarden US-Dollar
unterzeichnet worden.
Nach Kritik an der chinesi-
schen Initiative zum
Ausbau von Handels-
wegen kündigte Staats-
chef Xi Jinping am Sams-
tag eine leichte Neuaus-
15 Tote bei Razzia in Sri Lanka
VINCENT KESSLER / REUTERS
Nach den Anschlägen an Ostern ist die Terrorgefahr nicht gebannt
Ulrike Putz, Yokohama
Eine Woche nachdem islamisti-
sche Attentäter bei Anschlägen
253 Personen mit in den Tod ris-
sen, ist die Lage auf Sri Lanka noch
immer nicht unter Kontrolle. Am
Freitag lieferten sich Polizei und
Armee stundenlang ein Feuer-
gefecht mit Islamisten, die sich in
einem umstellten Haus ver-
schanzt hatten. In der Nacht auf
Samstag erschütterten dann drei
men. Auch in Paris zogen Explosionen das Gebäude. Die
Protestzüge durch die Sicherheitskräfte fanden darauf-
Strassen. In der Haupt- hin in den ausgebrannten Ruinen
stadt waren zudem 15 Leichen, unter ihnen diejenigen
Anhänger der grossen von 6 Kindern und 3 Frauen.
Gewerkschaft CGT prä- Eine Frau und ein Mädchen
sent. Laut Behördenanga- hätten verletzt überlebt und seien
ben demonstrierten am in ein Spital gebracht worden,
Samstag im ganzen Land sagte General Aruna Jayasekera
23 600 Gelbwesten. Am
vergangenen Wochen-
ende waren es noch
27 900 gewesen. (dpa)
REUTERS
Harvey Weinstein
Frauen werfen dem
67-Jährigen sexuelle Über-
griffe vor, unter ihnen
auch namhafte Schauspie-
lerinnen. (dpa) Sicherheitskräfte vor dem umkämpften Haus. (Kalmunai, 27. April 2019)
Zyklon «Kenneth» zieht Spur der
Zerstörung in Moçambique
krise. Der Internationale
Währungsfonds rechnet
für das laufende Jahr mit
einer Hyperinflation von Das Unwetter hat im Norden
10 Millionen Prozent. Die von Moçambique ganze
Regierung hebt daher den
Dörfer ausgelöscht. 700 000
Mindestlohn regelmässig
an. Die neueste Erhöhung Menschen sind in Gefahr.
ist bereits die zweite in Christian Putsch, Kapstadt
diesem Jahr. 2018 hatte
der Präsident den Min- Beim zweiten verheerenden Wir-
destlohn sechsmal erhöht, belsturm im Südosten Afrikas
doch das hatte die schwin- innerhalb von sechs Wochen ist
dende Kaufkraft nicht die offiziell bestätigte Zahl der
ausgeglichen. (afp/vmt.) Toten am Samstag auf fünf gestie-
gen. Am Donnerstag traf der Wir-
belsturm «Kenneth» mit Winden
REUTERS
von bis zu 220 Kilometern in der
Stunde auf das schon im März
schwer betroffene Moçambique.
Diesmal gab es mindestens zwei
Tote. Zuvor waren bereits auf den
Komoren drei Personen ums Le-
ben gekommen.
Besonders in Moçambique, wo
nach dem Wirbelsturm «Idai»
600 Tote zu beklagen waren,
hat das neue Unwetter wieder
enorme Zerstörungen verursacht.
Im strukturschwachen Norden
des Landes wurden ganze Dörfer
ausgelöscht. 30 000 Menschen
konnten in Sicherheit gebracht
werden. 700 000 seien aber wei-
ter gefährdet, teilte die Regierung
mit. Das Kinderhilfswerk Unicef
richtung an. Chinas Regie- rechnet mit 368 000 Kindern, die
rung werde weiter die nach Überschwemmungen nun
Richtung vorgeben, doch auf Nothilfe angewiesen seien.
sollten Firmen als «wich- Der Wind schwächte sich am
tigste Akteure» auftreten Samstag ab. Doch in den kom-
und die Finanzierung auf menden Tagen werden fast dop-
mehr Schultern verteilt pelt so starke Regenfälle wie beim
werden, sagte Xi zum Zyklon «Idai» befürchtet, was
Abschluss des Gipfels mit weitere Überschwemmungen mit
Repräsentanten aus über sich bringen würde. Schon jetzt
150 Ländern. (dpa) ist in den von den Wirbelstürmen
betroffenen Ländern ein Gesamt-
lokalen Medien. Es soll sich bei
ihnen um Familienangehörige
der getöteten Kämpfer handeln.
Zwei überlebende Terroristen be-
fänden sich auf der Flucht. Das
Haus in der Küstenstadt Kalmu-
nai im Osten des Landes war nach
einem Hinweis aus der Bevölke-
rung im Zuge einer Anti-Terror-
Razzia von den Sicherheitskräf-
ten gestürmt worden.
Einige Stunden zuvor waren in
einem anderen Wohnhaus, das
nur wenige Kilometer entfernt
liegt, bei mutmasslichen Islamis-
ten unter anderem mehrere
Sprengstoffwesten, Material zur
Herstellung von Bomben sowie
eine Drohne gefunden worden,
wie die Polizei mitteilte. Ausser-
dem habe man eine Flagge der
Terrororganisation Islamischer
Ein Kiosk wird auf sichereren Grund getragen. (Pemba, 27. April 2019)
schaden von 2 Milliarden Fran-
ken entstanden. Am Sonntag
wird ein Expertenteam aus der
Schweiz in der Region erwartet,
das sich vor allem um Notunter-
künfte und Trinkwasserversor-
gung kümmern soll.
Die Weltorganisation für
Meteorologie teilte mit, es sei
das erste Mal, dass Moçambique
zwei Wirbelstürme dieser Wucht
in einem Jahr erlebt. Man werde
den Einfluss des Klimawandels
und steigenden Meeresspiegels
analysieren. Der Generalsekretär
der Menschenrechtsorganisation
Amnesty International, Kumi
Naidoo, bezeichnete die Situation
als Ungerechtigkeit. Die Men-
schen in Moçambique bezahlten
unverschuldet den Preis für den
gefährlichen Klimawandel.
Derweil kam es im Rahmen der
Hilfsmassnahmen zu schwer-
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Staat sichergestellt. Die Behörden bekannte Gruppe Jamathei Mil-
gehen davon aus, dass in der lathu Ibrahim, die ebenfalls im
Wohnung das Bekennervideo Verdacht steht, an den Anschlä-
gedreht wurde, in dem acht gen beteiligt gewesen zu sein,
Männer dem Islamischen Staat wurde auch verboten. Da die Be-
und dessen Anführer Abu Bakr hörden verpflichtet waren, starke
al-Baghdadi Gefolgschaft schwo- Verdachtsgründe vorzulegen, war
ren. Die Terrormiliz hatte drei ein Verbot der beiden Gruppen
Tage nach den Anschlägen die
Verantwortung für die Bluttat
nicht schon früher möglich.
Rund 10 000 sri-lankische
übernommen. Bei den Männern
soll es sich um die Täter handeln.
Sicherheitskräfte haben seit den
Anschlägen vom Ostersonntag im
Auf dem Video waren sieben von ganzen Land Razzien durch-
ihnen vermummt, beim achten geführt. Die Behörden gehen da-
handelte es sich um den Anführer von aus, dass sich noch bis zu
der Terrorgruppe National Taw- 70 Sympathisanten des Islami-
heed Jamaat (NTJ), Mohammed schen Staates versteckt halten.
Zahran Hashim. Man werde jeden einzelnen Haus-
Präsident Maithripala erklärte halt überprüfen, um mögliche
am Samstag die NTJ auf der Schläferzellen von Terroristen
Grundlage seiner Notstands- auszuräuchern, sagte Staatspräsi-
befugnisse als illegal. Die weniger dent Maithripala Sirisena an einer
Pressekonferenz.
Insgesamt sind seit dem ver-
gangenem Sonntag etwa 100 Ver-
DINUKA LIYANAWATTE / REUTERS
dächtige verhaftet worden. Um
der Verbreitung von Gerüchten,
die die gefährliche Situation wei-
ter anfachen könnten, Einhalt zu
gebieten, kündigte die sri-lanki-
sche Regierung an, die Verbrei-
tung von Falschinformationen
werde ab sofort mit drei bis fünf
Jahren Haft bestraft.
Der Erzbischof von Colombo,
Malcolm Ranjith, teilte Journalis-
ten mit, er habe ein durchgesi-
ckertes Sicherheitsdokument ge-
sehen, in dem vor weiteren An-
griffen auf Kirchen gewarnt wor-
den sei. Die katholische Kirche in
Sri Lanka habe deshalb alle Sonn-
tagsmessen bis auf weiteres abge-
sagt. Ranjith hat bereits früher
gesagt, er fühle sich von der
Regierung verraten, weil die
Sicherheitskräfte den Warnungen
vor bevorstehenden Terror-
anschlägen auf Christen keine Be-
achtung geschenkt hätten.
Putin will
alle Ukrainer
zu Russen
machen
TSVANGIRAYI MUKWAZHI / AP / KEYSTONE
Der russische Präsident Wladimir
Putin könnte das Angebot der
russischen Staatsbürgerschaft auf
alle Ukrainer ausweiten. Das An-
gebot gelte nicht nur für Men-
schen, die in den von Rebellen ge-
haltenen Gebieten im östlichen
Donezk und Luhansk lebten,
sagte er am Samstag vor Journa-
listen in Peking. «Wir denken all-
gemein darüber nach, ukraini-
schen Bürgern in einem verein-
fachten Verfahren die Staats-
bürgerschaft zu geben.» Es ist un-
klar, wie viele Ukrainer inmitten
des Konfliktes zwischen Russland
und der Ukraine vom Angebot
Gebrauch machen können.
wiegenden Vorwürfen. Human Putin hatte sein ursprüngliches
Rights Watch berichtete, es habe Dekret zu dem vereinfachten Ver-
Fälle gegeben, in denen als fahren für russische Pässe in den
Gegenleistung für Uno-Hilfsgüter Separatistengebieten nur drei
sexuelle Dienste gefordert wor- Tage nach der Wahl des neuen
den seien. Die Menschenrechts- ukrainischen Präsidenten Wolo-
organisation zitierte zwölf Frauen dimir Selenski erlassen. Der Präsi-
aus dem Nhamatanda-Bezirk im
Zentrum Moçambiques mit ent-
dent sieht den Schritt deshalb als
Beleg dafür, dass Russland einen
sprechenden Aussagen.
«Wir handeln unverzüglich,
Krieg gegen die Ukraine führe.
Laut den Rebellenführern leben
um diesen Vorwürfen nachzu- 3,6 Millionen Menschen in den
gehen, auch mit den relevanten Separatistenregionen. Bereits
Behörden», teilte das für die rund 360000 von ihnen sollen
Hilfsgüterverteilung zuständige über russische Pässe verfügen.
Uno-Büro für die Koordination Nach der Annexion der Krim
humanitärer Angelegenheiten starben in den letzten fünf Jahren
mit. Es gelte bei derartigen Fäl- im militärischen Konflikt im Os-
len eine Politik der Nulltoleranz. ten des Landes 13 000 Menschen.
Man habe über zahlreiche Kom- Die Ukraine fordert von der inter-
munikationskanäle mitgeteilt, nationalen Gemeinschaft einen
dass Hilfsgüter ohne Gegenleis- grösseren diplomatischen Druck
tung gleich welcher Art verteilt und mehr Sanktionen gegen
werden müssten. Russland. (Bloomberg)
NZZ am Sonntag 28. April 2019
International Grossbritannien 3

JOE GIDDENS / PA / AP / KEYSTONE

Fühlt sich wohl in der Rolle des EU-Kritikers: Nigel Farage kämpft unter neuer Flagge für die selbe Sache. (Clacton, 24. April 2019)

Mit Bier, Charme und knackigen Sprüchen

Nigel Farage, «Godfather of Brexit», startet mit seiner neuen Partei durch.Von Hanspeter Künzler, London

E
igentlich müsste schon seine Erschei- Brexit- Partei. Im gleichen Jahr gewann Ukip bei den gehabt, meinte Farage später. 1968 hatte die- oder dem eigenen Ehrgeiz – zu dienen schie-
nung Zweifel aufkommen lassen. Referendum europäischen Parlamentswahlen von 73 briti- ser in seiner «Rivers of Blood»-Rede einen nen, gab sich Farage volksnah. Der Pub war
Wenn Nigel Farage tatsächlich so viel schen Sitzen deren 24. Mit dem Brexit-Refe- radikalen Einwanderungsstopp gefordert. sein Revier, der Bierhumpen sein Wappentier

«Real Ale» trinken würde, wie er bei
seinen Charme-Attacken in der Öffentlichkeit
gern vorgibt, hätte er inzwischen den Umfang
von Obelix und würde statt mit knackigen
Sprüchen mit Hinkelsteinen handeln. Alkohol
gehört zum Image des Mannes, der Grossbri-
tannien mit jovialer Stammtisch-Rhetorik
zum Brexit geführt hat, genauso wie Zigaret-
ten, Tweed-Anzüge und das Grinsen, das das
«Time Magazine» als das «Grinsen eines
Brandstifters» beschrieben hat.
Legendär ist das Lunchtime-Interview, wel-
ches er kurz vor dem Brexit-Referendum der
«Financial Times» gewährte. Es beginnt mit
zwei Runden Bier (ganze Pints natürlich!) im
«The Lamb», einem von Börsenmaklern be-
völkerten Traditionspub im Londoner
Leadenhall Market, geht weiter in der «Simp-
son’s Tavern» mit einer weiteren Bierrunde, es
folgt ein Lunch mit viel Wein, und es endet
mit einer Triple-Portion Port. «Jeder Pub ist
ein Parlament!» – so lautete eines der vielen
Bonmots, die Farage bei dieser Gelegenheit
aus dem Mund purzelten.
Referendum war Höhepunkt
Diese Woche kehrte Nigel Farage nach Clac-
ton-on-Sea zurück, dem Ort, wo er einen sei-
ner ersten politischen Siege erlebt hatte. Hun-
dert Jahre lang verbrachte die Working Class
von Ostlondon in dem Badeort in Essex das
Wochenende bei Bier, Zuckerwatte und Ach-
terbahn. Billigflüge und die spanische Sonne
haben dem Spass ein Ende bereitet. Heute
wird die Stadt von Arbeitslosigkeit und Dro-
genproblemen gebeutelt. Hier wurde vor fünf
Jahren der erste und bisher letzte Vertreter
der UK Independence Party (Ukip) ins Parla-
ment gewählt. Nigel Farage war der Chef der
51,9
rendum im Juni 2016 erreichte man den Zenit
der Ansprüche. Farage trat zurück: Er habe
% sein Ziel erreicht. Aus Protest gegen die Ver-
pflichtung des rechtsextremen Rhetorikers
der Briten haben im Tommy Robinson als Parteiberater trat er im
Sommer 2016 dem Dezember 2018 gar aus der Partei aus und
EU-Austritt zuge- wurde Mitglied der von Ex-Ukip-Mitgliedern
stimmt. Der dama- gegründeten Brexit Party, deren Chef er inzwi-
lige Ukip-Politiker schen geworden ist.
Nigel Farage hatte Die endlosen Irrungen und Verzögerungen
mit seinen markigen beim EU-Austritt haben nun sowohl den Zorn
Sprüchen und wie auch die Ambitionen von Farage wieder
Dauerpräsenz in geweckt. Mit der Brexit Party hat er nur ein
den Medien wäh- Ziel: den Brexit zu erzwingen und nötigenfalls
rend des Abstim- die Regierung in die Knie zu zwingen. Einen
mungskampfs einen Plan, wie es nach dem Brexit weitergehen soll,
wichtigen Anteil am hat er auch diesmal nicht. Sein Auftritt in
Sieg der Brexitbe- Clacton sollte schöne Erinnerungen wecken
fürworter. und eine lethargisch gewordene Wählerschaft
neu motivieren. Der «Godfather, Gov’ner of
Brexit» versprach, alles daranzusetzen, die
auf remain eingestellte Regierung zu stürzen.
«Was würde der Brexit für Clacton tun?»,
fragte er ins begeisterte Publikum hinaus:
«Wir könnten wieder stolz auf uns sein. Das ist
unbezahlbar.»
Nigel Farage wurde am 3. April 1964 in der
Grafschaft Kent geboren und wuchs in wohl-
betuchten Verhältnissen auf. Die Trinkkultur
in Lokalen wie «The Lamb» und «Simpson’s
Tavern» hatte den Vater, einen Börsenmakler,
zum Alkoholiker gemacht. Er verliess die
Familie, als Nigel fünf Jahre alt war. Der Bub
besuchte Dulwich College, eine so renom-
mierte wie teure Privatschule. Eine Lehrerin
meldete bei der Schulleitung Bedenken an:
Der Schüler neige zu faschistischen Meinun-
gen. Das habe er wohl seiner Bewunderung
für den Politiker Enoch Powell zu verdanken
Nach dem Schulabschluss mit achtzehn
Jahren verzichtete Farage auf den standes-
gemässen Uni-Besuch und folgte seinem Vater
in die City. Früh war er bei den Tories aktiv.
Aber als der damalige Premierminister John
Major 1992 den Vertrag von Maastricht, der
die Beziehungen in der EU neu definierte,
unterzeichnete, trat er aus Protest aus der Par-
tei aus und gründete mit anderen EU-Skepti-
kern Ukip. Die Partei bemühte sich zwar, ein
Programm zu präsentieren, in dem auch ande-
re Aspekte des politischen Lebens in Betracht
gezogen wurden. Aber die wichtigste Planke
des Manifestes bestand im Versprechen des
EU-Austritts. Während die Euro-Skeptiker in
den Mainstream-Parteien, Labour und Tories,
sich schwertaten, mittels wirtschaftlichen
Argumenten genug Unterstützung zu mobili-
sieren, setzte Ukip auf die Angst vor dem
Neuen, Unbekannten: «Wenn sie Rumänen als
Nachbarn bekommen, sollten sie sich Gedan-
ken machen», sagte er etwa. Oder: «Ich habe
nichts gegen Europa, im Gegenteil. Frankreich
ist ein wunderbares Land. Müsste es auch
sein, wir haben es vierzig Jahre lang subven-
tioniert.»
Während andere Politiker im grauen Anzug
daherkamen und fast immer einer grösseren
Agenda – seien es Parteien, Gewerkschaften
Der Pub war das Revier
des Ukip-Politikers, der
Bierhumpen sein
Wappentier und ein
gutgelauntes Grinsen
sein Markenzeichen.
und ein gutgelauntes Grinsen sein Marken-
zeichen. Wie es sich in der Stammbeiz ge-
hörte, machte er sich lustig über politische
Korrektheit, das Rauchverbot hielt er für
lächerlich, sein politischer Held, so erklärte er
dem «New Statesman», sei der Rebellenpoliti-
ker, Duellierer, Pamphletschreiber und Porno-
graf John Wilkes, der im 18. Jahrhundert für
Skandale sorgte. Es war ihm egal, wenn zufäl-
ligerweise ein Mikrofon in der Nähe stand und
seine oft widersprüchlichen oder absurden
Äusserungen am nächsten Tag von politi-
schen Gegnern ausgeschlachtet wurden.
Diese geradezu punkige «I don’t give a shit»-
Haltung trug ihm die Sympathien all jener ein,
die Karrierepolitikern nicht mehr trauten.
Arbeiter und Reiche
In mancher Hinsicht steht die britische Arbei-
terklasse den reicheren Briten näher als dem
Mittelstand. Der reiche Trottel, der kraft sei-
nes Vermögens über allen Vorschriften steht
und sich die doofsten Dummheiten gönnen
darf, ist ein Archetypus, der schon von der
Comedy-Truppe Monty Python gern aufs Korn
genommen wurde. Während sich der Mittel-
stand geflissentlich Mühe gibt, höflich zu re-
den, gehört das saftige Fluchen zum guten
Ton von Working Class wie Oberschicht.
Farages Erfolg hat viel mit Nostalgie zu tun.
Selbst Wähler, die nie die sorglosen alten Zei-
ten erlebt haben, von denen Farage immer
wieder schwärmt, sind beim Politisieren im
trauten Pub-Kreis überzeugt, dass sie einzig
und allein von den modernen Politikern
darum geprellt worden seien. Allerdings ist
auch diese nostalgische Welt am Schrumpfen:
Im Jahr 2018 haben jede Woche 18 Pubs die
Pforten geschlossen.

Britische Parteien in der Europawahl ANZEIGE

Farages Brexit-Partei führt Umfrage an

Eigentlich hätten sie im Vereinig- Wahlen abgeblasen werden Mit Enthusiasmus in die Wahlen Zuhause bieten, die mit dem
GETTY IMAGES

ten Königreich nie stattfinden
sollen. Doch so wie es aussieht,
finden die Europawahlen nun
auch hier statt, und zwar zwischen
dem 23. und dem 26. Mai. Die Par-
teien haben bis am Donnerstag
ihre Kandidatenlisten zusammen-
stellen müssen.
Besonders bitter sind die
Wahlen für die Tories. Die konser-
vative Partei oder zumindest Pre-
mierministerin Theresa May
hoffen laut der BBC zwar noch
immer, dass man sich im Parla-
ment am 22. Mai auf einen Deal
zum Austritt Grossbritanniens aus
der EU einigen kann und die
können. Doch die Hoffnungen
dafür sind klein. Die Gespräche
zwischen Premierministerin May
und Oppositionsführer Jeremy
Corbyn dürften wohl zumindest in
den nächsten Wochen keinen
grossen Durchbruch bringen. Viel
Energie wird die konservative
Partei deshalb wohl nicht in diese
Europawahlen stecken. Die
Labour-Partei will zumindest bis
Ende dieses Monats bekanntge-
ben, ob sie ein zweites Referen-
dum in ihr Wahlmanifest schrei-
ben wird oder nicht. Die Partei ist
in der Frage gespalten und muss
sich nun festlegen.
geht vor allem die neue Partei
Change UK. Die Gruppierung, die
zuvor The Independent Group
geheissen hat, entstand aus
abtrünnigen Tory- und Labour-
Mitgliedern. Dazu gesellten sich
auch Newcomer in der Politik wie
der schottische Journalist, Fern-
sehmoderator und Autor Gavin
Esler. Zu den Kandidaten gehört
auch Rachel Johnson, die Schwes-
ter von Boris Johnson, dem frühe-
ren britischen Aussenminister und
Aushänge-Brexiteer. Change UK
kämpft für ein zweites Referen-
dum und den Verbleib in der EU.
Sie wollen all jenen ein politisches
Brexit unzufrieden sind. Die
Europawahlen dürften für sie ein
erster Test sein, ob es in Gross-
britannien Raum gibt für eine
grössere Partei neben Labour und
Tory. Insgesamt hatte die Partei
rund 3000 Bewerbungen bekom-
men für die Listenplätze.
Rachel Johnson, Laut Umfragen dürfte die
die Schwester von Partei des früheren Ukip-Politikers Zweisprachige Maturität
Boris Johnson, Nigel Farage, die Brexit Party, am
kämpft für den meisten Sitze in Brüssel holen. Die IB World School
Verbleib in der EU. Partei gab bekannt, dass Annun-
ziata Rees-Mogg, die Schwester
des Brexit-Befürworters Jacob Tel +41 (0)41 639 61 00
Rees-Mogg, zu den Kandidaten www.stiftsschule-engelberg.ch
dieser Partei zählt. (ami.)
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Wenn einer Stadt das Wasser ausgeht
Kapstadt ist Weltmeister im Wassersparen. Deshalb suchen hier andere Metropolen um Rat
Christian Putsch, Kapstadt
Xanthea Limberg ist eine gefragte
Frau. Kapstadts 32-jährige Stadt-
rätin, zuständig für die Wasser-
versorgung, wird seit einiger Zeit
von verschiedensten Grossstäd-
ten angegangen, denen das Was-
ser auszugehen droht. Der Stadt-
präsident von Dublin meldete
sich, auch mit Verwaltungen aus
Australien und Südamerika steht
sie im regen Austausch. «Wir sind
die Weltrekordhalter im Senken
des Wasserverbrauchs», sagt Lim-
berg. «Zwischen den Jahren 2015
und 2018 haben wir ihn um 60
Prozent reduziert.» Das sei bisher
noch keiner Metropole gelungen.
Als erste Grossstadt hatte Kap-
stadt Anfang des vergangenen
Jahres ein konkretes Datum ge-
nannt, an dem seinen 3,7 Millio-
nen Bürgern das Wasser abge-
stellt werden sollte. Am 22. April
2018 sollte es nach drei Jahren
anhaltender Dürre so weit sein,
der Termin fand als «Day Zero»
Einzug in den offiziellen Sprach-
gebrauch. Limberg arbeitete an
Plänen, die 200 Ausgabepunkte
für Wasserrationen vorsahen. Ein
Katastrophenszenario.
Druck herausnehmen
Doch die Wasserhähne blieben
geöffnet. «Day Zero» ist auf un-
bestimmte Zeit verschoben, we-
gen des reduzierten Verbrauchs,
ordentlicher Regenfälle und neu-
er Infrastruktur zur Trinkwasser-
gewinnung. Die Dämme sind wie-
der zur Hälfte gefüllt. Pro Person
dürfen anstelle von 50 nun 105
Liter am Tag verbraucht werden –
gut zwei Drittel des Schweizer
Durchschnittsverbrauchs. Die
Autos dürfen wieder gewaschen
werden, sogar die Gartenbewäs-
serung ist wieder gestattet, zu-
mindest an drei Tagen pro Woche.
«Die Lage hat sich etwas ent-
spannt», sagt Limberg, «aber wir
müssen weiter vorsichtig sein.»
Die talentierte Politikerin er-
lebte die Tücken der Politik, die
Kalter Krieg im norwegischen Fischerdorf
In Norwegen fällt öfters
das Navigationssystem GPS
aus. Es wird vermutet, dass
Russland hinter den
gefährlichen Störungen steht.
Niels Anner, Kopenhagen
Wenn in Nordnorwegen die Am-
bulanz ausrückt, ist es unsicher,
ob sie die Verletzten findet. Denn
in der arktischen Region kommt
es immer wieder zu Störungen
des Satellitennavigationssystems
GPS. Rettungskräfte warnen da-
vor, dass ihre Einsätze mit Heli-
koptern und Schneescootern ge-
fährdet seien, wenn sie Verun-
glückte am falschen Orten such-
ten – zumal bei den oft extremen
Wetterverhältnissen. Durch die
Störungen würden Menschen-
leben aufs Spiel gesetzt, sagt die
regionale Polizeichefin Ellen Ha-
etta. Probleme gibt es auch für
Schiffe, deren Position statt auf
dem Meer plötzlich auf dem Land
angezeigt wird. Und für die ge-
samte Bevölkerung, wenn Han-
dys bei der Standortsuche ver-
rücktspielen.
Die Störsender liegen in Russ-
land; daran besteht für das Nato-
land Norwegen – wie auch für das
ebenfalls betroffene Finnland –
kein Zweifel. Die russische Gren-
ze ist nur wenige Kilometer ent-
fernt. Dahinter liegen die Kola-
Halbinsel und Murmansk mit den
Militäranlagen der Nordflotte.
Hier und in der ganzen arktischen
International
In einem Vorort von Kapstadt stehen Einwohner für Gratis-Trinkwasser an. (7. Februar 2018)
sie auch als eine der Lehren für
andere betroffene Länder sieht.
Für grössere Investitionen wie
neue Dämme ist die Landesregie-
rung verantwortlich, die Gemein-
den für die sichere Aufbereitung
und das Leitungssystem. «Da gab
es Spannungen», sagt Limberg.
Die Geschicke Südafrikas verant-
wortet bekanntlich der African
National Congress (ANC), Kap-
stadt wird jedoch sehr zum Miss-
fallen des ANC von der Demo-
cratic Alliance (DA) regiert. Das
verzögerte so manchen Antrag
für Katastrophenhilfe.
Doch auch die Stadt reagierte
zu spät, wie Vizestadtpräsident
Ian Neilson vor kurzem einge-
stand. Man hätte schon Mitte
2017 die harten Restriktionen aus
Umstrittene Radaranlage in Vardø, Nordnorwegen. (6. September 2018)
Region rüstet Russland Flughäfen
und U-Boot-Verbände auf. Der
Kreml hat eine aggressive Strate-
gie für die Arktis eingeschlagen,
wo wegschmelzendes Polareis
Rohstoffe, neue Schiffswege und
Territorien freigibt.
In Nordnorwegen zeigen sich
die Spannungen besonders mar-
kant. Die Regierung in Oslo hat in
Moskau gegen die elektronische
Kriegsführung protestiert und
technische Beweise für die Stör-
signale vorgelegt. Russland weist
dies kühl von sich. Aussenminis-
ter Lawrow nannte die Vorwürfe
«phantasievoll». Am stärksten
waren die GPS-Abweichungen,
dem Jahr 2018 einführen müssen,
was die wirtschaftlichen Kon-
sequenzen wohl abgeschwächt
hätte. Allein der Landwirtschaft
der Westkap-Provinz entstand
ein Schaden von umgerechnet
418 Millionen Franken. Auch der
Tourismus erlebte Einbussen.
Am Ende verhinderte das
Engagement der Bürger das
Schlimmste. Viele schleppten
Wasser von einer Gebirgsquelle
nach Hause. Das Waschwasser
wurde für Toilettenspülungen
aufgefangen. Verschwenderi-
schen Nachbarn drohte soziale
Ächtung: Die Stadt richtete eine
Website ein, auf der man den Ver-
brauch für jedes Grundstück prü-
fen konnte. Überall riefen Plakate
zum Sparen auf. Der Druck auf
ALAMY STOCK PHOTO
als die Nato im Herbst in Norwe-
gen und Schweden ihr Gross-
manöver «Trident Juncture» ab-
hielt. Doch das Problem taucht
regelmässig auf. Norwegens Ge-
heimdienst und die zivile Luft-
überwachung lösen jeweils Alarm
aus. Zwar können Flugzeuge und
Schiffe auf andere Navigations-
systeme umschalten, aber wenn
diese ebenfalls ausfallen, wird es
kritisch. Im Herbst konnte ein
Ambulanzflugzeug einen Flug-
hafen nicht mehr anfliegen.
Die Störungen sind ein deut-
liches Zeichen, dass sich Norwe-
gen im Kalten Krieg mit Russland
befindet. Zentrales Element im
den Wasserleitungen wurde
zudem reduziert, was den Ver-
brauch um fünf bis zu zehn Pro-
zent zu senken vermochte.
Gleichzeitig investierte die
Stadt in neue Formen der Wasser-
gewinnung. Es wurden neue An-
lagen für die Aufbereitung von
Meerwasser und Abwasser instal-
liert, dazu zahlreiche Bohrlöcher.
Doch die Entsalzung von Wasser
aus dem Ozean ist fünfmal so
teuer wie die Aufbereitung von
Dammwasser. Wegen einer Al-
genplage fielen zudem Filter aus.
Viele Kapstädter wissen, dass
schon zwei trockene Jahre die
nächste Krise bedeuten können,
zumal die Bevölkerung der Stadt
jährlich um drei Prozent wächst.
Wer es sich leisten kann, inves-
Konflikt ist eine 35 Meter hohe
Kugel. Sie löst im Fischerdorf
Vardø, gelegen auf einer kleinen
Insel am nordöstlichsten Zipfel
des Landes, grössere Sorgen aus
als die falschen GPS-Signale.
Zweimal bereits flogen russische
Bomber einen Scheinangriff auf
Vardø, drehten aber im letzten
Moment ab. Die norwegische
Luftwaffe musste einräumen, sie
sei «überrascht» worden und
habe zu spät reagiert.
Die Kugel auf dem Hügel hinter
dem Dorf ist ein enorm leistungs-
fähiger Radar, betrieben von
Norwegen und den USA. Offiziell
dient er der Beobachtung des
Weltraums sowie der «Über-
wachung norwegischen Inter-
essengebiets». Laut Sicherheits-
experten und freigegebenen US-
Dokumenten fliessen die Spio-
nageinformationen aber in die
Kommandozentralen der US-
Streitkräfte. Ab und zu liefern rie-
sige amerikanische Frachtschiffe
versiegelte Container in Vardø an,
die in das militärische Sperrgebiet
oberhalb des Dorfes gefahren
werden. Hier wird eine neue,
noch grössere weisse Kugel ge-
baut. Für verschiedene Forscher
wie Michael Mayer vom Institut
für Verteidigung in Oslo ist klar,
dass das hochspezialisierte, ge-
heime Radarsystem Teil des US-
Raketenabwehrschilds wird.
Die Anlage bringt Vardø Geld,
es ist der grösste lokale Arbeit-
geber, von dem auch Baufirmen
5
tiert in ein Bohrloch auf dem eige-
PER-ANDERS PETTERSSON / GETTY IMAGES
nen Grundstück – der Preis hat
sich seit dem Höhepunkt der Kri-
se halbiert. Doch seit der Krise ist
der Grundwasserpegel merklich
gesunken. «Wir haben auch für
Bohrlöcher Restriktionen erlas-
sen», sagt Limberg. «Aber das ist
schwer zu überwachen.» Dau-
erhaft hilft wohl nur ein bestän-
dig reduzierter Verbrauch.
Allerdings ist Wasser für Ge-
meinden eine der wichtigsten
Finanzierungsquellen. Kapstadt
verzeichnete im ersten Halbjahr
2018 deshalb 50 Millionen Fran-
ken weniger Einnahmen als vor-
gesehen. Kurzerhand wurden die
Wassertarife drastisch erhöht. So
mancher bezahlt jetzt trotz dem
Wassersparen mehr als zuvor.
Arme leiden unter Preisen
Das sorgt besonders in den Ar-
menvierteln für Unmut. 350 Liter
am Tag bekommen die meisten
Haushalte dort umsonst, danach
werden auch sie zur Kasse ge-
beten. Im Township Mitchell’s
Plain zeigt der Aktivist Sulyman
Stellenboom seine unbezahlten
Rechnungen. Umgerechnet fast
4000 Franken für Wasser haben
sich über die Jahre angesammelt.
«Es ist ein Skandal, dass die Preise
Nachbarn, die nach der Krise nicht wieder ge-
senkt werden», sagt der DJ. «Ich
verschwenderisch verbrauche kaum etwas, die
mit Wasser Messgeräte sind aus billigem Plas-
umgingen, drohte tik und fast alle kaputt.»
Er hat über 200 Familien der
soziale Ächtung. Nachbarschaft mobilisiert, sie
zahlen ebenfalls nicht mehr.
Immer wieder versucht die Stadt,
neue Geräte bei ihnen zu instal-
lieren, die nach 350 Litern die Lei-
tungen abklemmen. Die Techni-
ker rücken dann an – und ohne
Erfolg wieder ab. Die Anwohner
versammeln sich und machen
deutlich, den Zutritt wenn nötig
auch mit Gewalt zu verweigern.
«Wir haben ein Recht auf Wasser,
so steht es in der Verfassung»,
sagt Stellenboom, «dafür werde
ich niemals zahlen.»
und Handwerker profitieren. der Geheimniskrämerei, aber
Doch die Mitarbeiter leben abge- auch wegen angeblicher Strah-
schirmt oder unter Schweige- lung des Radars und ungewöhn-
pflicht, im Dorf weiss kaum je- lich hoher Krebsraten im Dorf.
mand, was sie genau machen. Die Und wegen Russland: Bedrü-
Meinungen sind laut einem Be- ckend sei die Situation schon, er-
richt des norwegischen Radios klärte ein 75-Jähriger: Wenn die
geteilt: Viele Einwohner fühlen Russen wollten, könnten sie eine
sich nicht direkt bedroht, doch Rakete auf das Radar abfeuern.
sorgen und ärgern sich – wegen «Dann ist die ganze Insel weg.»
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6 International Terror in Sri Lanka
«10 Prozent der
IS-Rückkehrer
bleiben
gewaltbereit»
Anschläge wie jene in Sri Lanka
sind laut dem Islamwissenschafter
Reinhard Schulze in Zukunft fast
überall denkbar. Allein auf Europa
kämen 1000 Jihadisten aus Syrien
zu, die weiter Terror verbreiten
wollten. Interview: Victor Merten
NZZ am Sonntag: Herr Schulze, die Anschläge
an Ostern in Sri Lanka geben auf den ersten
Blick Rätsel auf. Muslime standen dort bis
anhin nicht im Konflikt mit Christen. Warum
wurden trotzdem Kirchgänger zum Ziel radi-
kaler Islamisten?
Reinhard Schulze: Dass jetzt christliche
Gemeinden zum Ziel wurden, hat wahr-
scheinlich etwas mit dem Terroranschlag auf
Moscheen Mitte März in Christchurch in
Neuseeland zu tun. Man muss vermuten,
dass die Anschlagsziele kurzfristig geändert
wurden. Es stimmt, der Konflikt spielt sich
nicht mehr nach dem traditionellen Muster
zwischen Buddhisten und dem gängigen
Islam ab.
Dass zugleich internationale Hotels angegrif-
fen wurden, ist zunächst auch verwirrend.
Es macht nochmals deutlich, dass es nicht
um den alten Konflikt geht. Zudem sind
Hotels ein weiches und leichtes Ziel für Ter-
roristen. Die Sicherheitsvorkehrungen sind
minimal und der Effekt gross.
Sie sagten, die Anschläge könnten als Rache
für Christchurch erfolgt sein. So schnell ist ein
Anschlag doch nicht geplant.
Ein Anschlagsziel ist relativ schnell
geplant, die Art des Anschlags natürlich
nicht. Das heisst, neben den ursprünglichen
Angriffszielen, internationalen Hotels und
dem Flughafen, könnten kurzfristig zusätz-
lich die Kirchen dazugekommen sein.
Die Anschläge gehören zu den schwersten
seit den Attentaten am 11. September 2001 in
den USA. Eine solche Tat war laut Experten
ohne Hilfe global operierender Terroristen
nicht möglich. Hat der Islamische Staat gehol-
fen? Er hat sich zu den Anschlägen bekannt.
Es wird eine Mischform gewesen sein.
Wenn man sich das Bekennervideo
anschaut, bekommt man schon den Ein-
druck, dass der Islamische Staat den sri-lan-
kischen Terroristen seine Unterstützung
erklärt. Diese nehmen darin die Pose des IS
an. Das deutet darauf hin, dass die Verbin-
dung nicht erst in den letzten Wochen ent-
standen ist, sondern schon seit 2017 oder
2018 bestanden hat.
Aber wie konnte der IS die sri-lankischen Isla-
misten davon überzeugen, statt wie bisher nur
buddhistische Statuen zu beschädigen, nun
Anschläge auf Christen zu verüben?
Wir wissen zu wenig über das Milieu, in
dem die Rekrutierung dieser terroristischen
Gruppe stattfand. Aber eine Annäherung an
Angehörige und Gläubige nehmen Abschied von Opfern des Terroranschlags in Negombo. (24. April 2019)
globale Strategien des IS war schon vorher zu
beobachten, beispielsweise in den Predigten
von Mohammed Zahran Hashim, dem
Anführer der Gruppe. Zudem haben einzelne
Mitglieder eine Sozialisation durchlaufen,
die nicht mehr mit Sri Lanka zu tun hat, son-
dern dem globalen Muster folgt. Ein Mitglied
war in Australien und Grossbritannien.
Die Selbstmordattentäter waren offenbar gut
ausgebildet und situiert. Was hat sie angetrie-
ben?
Man weiss nur, dass die Männer über län-
gere Zeit zu Terroristen geworden sind.
Wahrscheinlich gehen die Verbindungen
zum Islamischen Staat bis zu dessen Anfän-
gen zurück. Ganz im Gegensatz etwa zum
Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt,
der als individueller Täter unterwegs war
und der innerhalb von ein, zwei Jahren zum
Terroristen wurde.
Die Unterdrückung der Rohingya in Burma
oder der Uiguren in China soll viele Muslime
wütend machen. Spielt das in Sri Lanka eine
Rolle?
Das sind nachgeschobene Begründungen:
Unsere Glaubensbrüder in China, in Burma
werden verfolgt. Von daher würde ich das
nicht als unmittelbares Ausgangsmotiv für
Reinhard Schulze
Kenner der
islamischen Welt
FRANZISKA ROTHENBÜHLER
Der emeritierte Islamwissenschafter ist
Direktor des Forums Islam und Naher Osten
an der Universität Bern. Er schrieb das Stan-
dardwerk «Geschichte der islamischen Welt.
Von 1900 bis in die Gegenwart» und forscht
unter anderem zum Islamismus.
die terroristische Tat sehen. Tatsächlich
spielt eher eine skurrile und krude Vergel-
tungsreligiosität eine Rolle, mit der indivi-
duelle Heilsgewissheit verbunden ist. Das ist
eine sektenhaft anmutende Form von Reli-
giosität.
Was meinen Sie mit Heilsgewissheit?
Das ist das, was ich «ultraislamisch»
nenne. Ein wesentliches Moment besteht
darin, dass die terroristische Tat im Namen
Gottes, als Gottesdienst ausgeführt wird, als
Tun, das gleichwertig ist mit dem Gebet oder
dem Glaubensbekenntnis. Dadurch entsteht
die Heilsgewissheit, dass jeder, der das nicht
tut, nicht zum Heil kommen wird.
Spielen die gut 30 sri-lankischen IS-Rückkeh-
rer aus Syrien eine Rolle bei der Entstehung
dieses Sektenmilieus?
Auf jeden Fall. Englische Studien schät-
zen, dass einer von zehn Rückkehrern nicht
reversibel ist und Jihadist bleibt. Er wird
sofort wieder ein Milieu suchen, um sein
Handeln und Tun in Syrien zu rechtfertigen.
Drei oder vier dieser Rückkehrer könnten bei
den sri-lankischen Islamisten eine solche
Verankerung gefunden haben. Dieses Milieu
dürfte hinreichend gross gewesen sein,
damit eine solche terroristische Tat vorberei-
tet werden kann. Die Rückkehrer wiederum
gaben den lokalen Akteuren den Anstoss,
endlich zur Tat zu schreiten.
In den Golfstaaten kommen sri-lankische
Gastarbeiter mit radikalem Islamismus in
Berührung. Bringen auch sie solche Ideen
zurück nach Hause?
Auf Sri Lanka gibt es Predigergemeinden,
die sich stark mit der wahhabitischen Tradi-
tion Saudiarabiens verbunden fühlen, vor
allem mit den staatskritischen Wahhabiten,
die nicht mehr mit dem Regime Al Saud ein-
verstanden sind. Unter den staatskritischen
Wahhabiten gelten die einen als eher gewalt-
los, während die anderen sich als Jihadisten
begreifen. Diese Wahhabiten betreiben eine
ganz starke Propaganda. Die Salafisten Sri
Lankas unterstützen heute die jihadistische
Tradition. Es gibt zwei bis drei Gemeinschaf-
ten, die als Sammelbecken für solche jihadis-
tischen Vorstellungswelten angesehen
werden können. Sie verbreiten teilweise auf
Youtube Propaganda. Von da ist der Schritt
zu einer ultraislamischen Gruppe nicht mehr
weit.
Ist die für die Anschläge verantwortliche
National Tawheed Jamaat so entstanden?
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Das ist eine solche ultraislamische
45000 Gemeinschaft. Sie wurde von dem erwähn-
ten Mohammed Zahran mitbegründet, in
deutlicher Abgrenzung von einer nicht auf
Männer und Frauen Gewalt ausgerichteten salafistischen
sind laut Experten Gemeinschaft aus Südindien. Vermutlich
zur Terrormiliz wurde sie zwischen 2016 und 2017 gebildet.
Islamischer Staat Zahran hat bestimmt, dass der Jihad der
nach Syrien gereist. eigentliche Gottesdienst sei, und daran
Viele von ihnen müsse man festhalten.
kehren nun zurück.
Der Islamische Staat in Syrien ist besiegt.
32
45 000 Männer und Frauen, die dorthin
gingen, kehren jetzt zurück. Sind Terror-
anschläge wie jetzt in Sri Lanka die lange
befürchtete Art, wie er nun weiterkämpft?
Personen sollen Ja, natürlich. Der Islamische Staat kehrt
auch aus Sri Lanka im Grunde zu seinen Wurzeln zurück. Er
zum IS nach Syrien konnte zwar nur zwischen 2015 und 2018
gezogen sein. eine Gebietsherrschaft aufbauen. Jetzt hat er
noch kleine Gebiete in Libyen, ein bisschen
200
in Jemen. Doch das spielt keine Rolle mehr.
Das Netzwerk oder das Milieu, in dem sich
die Jihadisten bewegen, besteht noch. Und
er wird – und das ist sein grosser Erfolg –
von ungefähr immer noch sowohl von der Öffentlichkeit
2000 aus dem als auch von muslimischen Aktivisten als
Afghanistankrieg führende Kraft angesehen. Die Anhänger auf
zurückgekehrten Sri Lanka unterwerfen sich dem Kalifen Abu
Kämpfern blieben Bakr al-Baghdadi, obwohl man nicht weiss,
auch in ihrer ob dieser noch lebt und wo. Er existiert nur
Heimat Algerien noch im virtuellen Raum, bleibt aber ein
gewaltbereit. Sie Bezugspunkt. Insofern haben wir tatsächlich
zettelten einen eine sehr viel stärkere Gefährdungssituation.
Bürgerkrieg an. Man geht davon aus, dass 10 Prozent der
Rückkehrer gewaltbereit bleiben. Für Europa
bedeutet dies, dass etwa 1000 Jihadisten
von ihrem terroristischen Tun nicht ablassen
werden, wenn sie in einer passenden
Umgebung sind.
Ein Terroranschlag wie jetzt in Sri Lanka hätte
folglich genauso gut in Europa verübt werden
können.
Das kann überall passieren, wo sich Rück-
kehrer und islamistische Gruppierungen
treffen. Wir kennen das schon aus Algerien,
als zwischen 1990 und 1991 die Kämpfer aus
Afghanistan zurückgekehrt sind. Von unge-
fähr 2000 blieben etwa 200 aktiv. Sie grün-
deten den Groupe islamique armé, der dann
einen Bürgerkrieg auslöste. Diese Gemenge-
lage ist hochgefährlich. Wir kennen das seit
bald 30 Jahren. Wir müssen jetzt verhindern,
dass die Rückkehrer sich mit lokalen Grup-
pen verbinden können, das ist das A und O.
Man muss auch versuchen, auf die Rückkeh-
rer einzuwirken. Darauf muss höchster Wert
gelegt werden.

IMAGO
Das Prinzip ist: Solange
ich nicht «Jihad mache»,
bin ich kein Muslim. Um
mein Dasein als Muslim
zu begründen, muss ich
kämpfen, egal wo.
Können die Rückkehrer jeden beliebigen Ort,
in dem Muslime in einem Konflikt stehen, für
einen Terroranschlag nutzen? Oder jedes Land
mit Christen?
Der Feind ist nicht der Christ, nicht der
Buddhist oder sonst jemand. Der Feind ist
alles, was sie nicht sind. Die Gefährdung ist
global, sie können auch auf Falkland
zuschlagen, wenn sie dort die entsprechende
Einbettung finden. Das Prinzip ist: Solange
ich nicht kämpfe, nicht «Jihad mache», bin
ich kein Muslim. Um mein Dasein als Muslim
zu begründen, muss ich kämpfen, egal wo.
Es muss dort keine unterdrückten Muslime
geben, keine verhassten Christen?
Nein, überhaupt nicht. Das sind unsere
Vorstellungen, um die Geschehnisse zu ver-
stehen. Aber aus der Logik der Täter heraus
besteht die einzige zwingende Handlungs-
weise darin: Ich muss Gott rächen für die
Beleidigung und Schmach, die er durch die
Menschheit erlitten hat. Natürlich besonders
durch die Christen, die Juden, die Buddhis-
ten. Doch es ist nur tagesaktuell, wer im
Augenblick besonders ist. Aber dieser «Got-
tesdienst», der muss durchgeführt werden.
In Zukunft werden wir also noch mehr solche
Anschläge sehen wie in Sri Lanka.
Es sei denn, es gelingt, eine Distanzierung
von einzelnen bekannten Gefährdern und
ihrem Milieu zu erreichen. Wenn wir das
schaffen, dann dürfte die Gefahr nicht mehr
so gross ein. Beispielsweise ist in der Schweiz
ein solches Unterstützermilieu definitiv zu
schwach. Hier wären die Voraussetzungen
für die Bildung einer terroristischen Gruppe
sehr schlecht. Hingegen in Schweden, in
England, in Frankreich, in Belgien oder in
Deutschland sieht es anders aus. Dort gibt es
Milieus, die fast schon unabhängig existieren
und in die sich dann solche Gefährder ohne
weiteres einbetten können.
7
Colombo
Totalversagen von Regierung und Behörden
Die Unfähigkeit der Regierung das Handwerk zu legen. Laut schleier zu verzichten, um die
ERANGA JAYAWARDENA / AP
Sri Lankas, die Anschläge zu Hilmy Ahamed, Vizepräsident Arbeit der Sicherheitskräfte zu
des Muslimischen Rats von Sri erleichtern.
verhindern, ist erschreckend.
Lanka, warnte seine Organisa- Die muslimische Minderheit
Die Wut in der Bevölkerung tion den sri-lankischen Geheim- Sri Lankas leidet seit Jahrzehn-
richtet sich trotzdem vor dienst bereits vor drei Jahren ten unter Diskriminierung und
allem gegen die Muslime. davor, dass Mohammed Zahran Gewalt durch extremistische
Ulrike Putz, Yokohama und seine Anhänger Extremisten Buddhisten. Zuletzt kam es im
seien. Die Einwohner von Zah- Frühjahr 2018 zu Brandanschlä-
Eine in einen Kleinkrieg ver- rans Heimatdorf Kattankudy gen auf Moscheen und Läden in
strickte Regierung, in der sich vertrieben den Prediger, weil er muslimischem Besitz. Dabei
Kontrahenten lebenswichtige und seine Anhänger ihnen radi- wurden drei Personen getötet.
Informationen vorenthalten. kal und gefährlich erschienen. Nun dürften erneut schwere
Sicherheitskräfte, die selbst kon- Zeiten auf die Muslime zukom-
kreten Hinweisen auf unmittel- Übergriff auf Pakistani men. Mehr als gegen die untätige
bar bevorstehenden Terror nicht Auch seit den Anschlägen geben Regierung richtet sich die Wut
nachgehen: Eine Woche nach sich die Muslime betont koope- über die Anschläge gegen sie. In
den Anschlägen auf Sri Lanka rativ: Die Freitagsgebete wurden Negombo, wo beim Anschlag auf
zeigt sich, dass die Institutionen Schuldfrage zu klären, hat ein Präsident Sirisena aus Solidarität mit den wegen die St.-Sebastian-Kirche etwa 110
des Inselstaats auf der ganzen Gremium des Parlaments, das und Regierungschef anhaltender Gefahr immer noch Menschen ermordet wurden,
Linie versagt haben. Politiker seine eigenen Ermittlungen Wickremesinghe geschlossenen Kirchen abgesagt. kam es zu ersten Übergriffen auf
und Polizei trügen durchaus anstellen will. sabotieren sich Der Muslimische Rat verfügte, Flüchtlinge aus Pakistan. Etwa
Mitverantwortung für die Tragö- Etwa 10 Prozent der 21 Millio- gegenseitig, statt dass die sterblichen Überreste 500 Menschen wurden von den
die, sagt Paikiasothy Saravana- nen Sri Lanker bekennen sich Leben zu retten. der Attentäter nicht auf muslimi- Behörden in Sicherheit gebracht.
muttu, Leiter des Centre for zum Islam. Die Gemeinschaft schen Friedhöfen beerdigt «Leider ist damit zu rechnen,
Policy Alternatives in Colombo. praktiziert mehrheitlich eine werden dürfen. Er forderte dass es zu weiteren Angriffen
Präsident Maithripala Sirisena moderate Form der Religion und strenggläubige Frauen zudem kommen wird», sagt der Analyst
und Premierminister Ranil Wick- versucht, radikalen Islamisten auf, vorerst auf den Gesichts- Saravanamuttu.
remesinghe seien mehr damit
beschäftigt gewesen, sich gegen-
seitig zu sabotieren, als Leben zu ANZEIGE
retten. Die Sri Lanker würden
das nicht hinnehmen. «Noch
stehen die Leute unter Schock,
aber langsam kocht Zorn hoch»,
sagt Saravanamuttu.
Wie sich herausgestellt hat,
hatte die indische Anti-Terror-
Einheit NIA den sri-lankischen
Geheimdienst bereits im Novem-
ber erstmals davor gewarnt, dass
Fundamentalisten Anschläge
planten. Die Ermittler hatten bei
einer Razzia bei Sympathisanten
des Islamischen Staats in Indien
Hinweise auf Pläne für eine Ope-
ration auf Sri Lanka gefunden.
Auch der Name des mutmass-
lichen Anführers der Terrorzelle,
Mohammed Zahran Hashim,
tauchte in dem Material auf.
Selbst CIA erreicht nichts
Verhöre und die Überwachung
von Verdächtigen förderten wei-
tere Details zutage: Namen,
Adressen und Telefonnummern
der Attentäter, die die Inder
ihren sri-lankischen Kollegen
zuspielten. Doch selbst mehrere
Multi Device
Option
10.–
offizielle Warnungen, die Delhi
ab Anfang April nach Colombo
sandte, blieben folgenlos. Auch
CHF
der US-Geheimdienst CIA soll
Colombo zwei Tage vor Ostern pro Monat
vor einem unmittelbar bevor-
stehenden Akt des Terrors
gewarnt haben – alles vergeblich.
So wie es sich jetzt darstellt,
versäumte es der Präsidenten-
palast, das Büro des Premier-
ministers mit den entscheiden-
den Informationen zu versorgen.
So konnten keine Vorsichtsmass-
nahmen getroffen werden. Der
Regierungschef und seine Mit-
arbeiter wussten, dass es eine
Bedrohung gab, waren aber zu
stolz, um nachzufragen. Präsi-
dent Sirisena, der im Oktober
Die Multi Device-Optionen sind nicht erhältlich mit inOne mobile basic und Swiss mobile light.
versucht hatte, Premierminister
Wickremesinghe aus dem Amt
zu drängen, gibt vor, von den
Bestes Mobilfunknetz der Schweiz, Testsieger im connect-Mobilfunktest 3/2019.
Ränkespielen nichts gewusst zu
iPad Pro.
haben. Er sucht die Schuld für
das Debakel bei Wickremesin-
ghe. Dieser habe die Sicherheits-
kräfte geschwächt, indem er
darauf bestanden habe, dass von
Alles Display.
der Armee im Bürgerkrieg gegen
die tamilischen Separatisten
begangene Menschenrechtsver-
letzungen aufgeklärt würden.
Sirisena hat angekündigt, den
gesamten Sicherheitsapparat zu
Alles fürs Business.
überholen. Der Verteidigungs-
minister ist bereits zurückgetre- Komplett überarbeitet, mit einem faszinierenden
ten, auch der Polizeichef soll
gehen. Eine vom Präsidenten
All-Screen Liquid Retina Display und leistungsfähiger
eingesetzte Untersuchungskom- als die meisten PC-Laptops. Das neue 11" iPad Pro ist
mission soll ermitteln, warum ein vielseitiges Tool zum Arbeiten. Mit Multi Device
das System versagte. Angesichts verbinden Sie das iPad Pro mit dem besten Mobilnetz
der Zerrissenheit der Führung ist und machen es zum idealen Arbeitsgerät für unterwegs.
jedoch fraglich, ob sie unabhän-
gige Ergebnisse präsentieren
wird. Bessere Aussichten, die
Die heutigen kurzfristig
ausgerichteten Wirtschafts-
modelle werden den künftigen
Generationen nicht gerecht.
Wir möchten allen eine Zukunft
im Wohlstand ermöglichen.
Deshalb haben wir uns einem
nachhaltigeren Anlageansatz
verschrieben. Die Anlagewelt
verändert sich.

Nachhaltigkeit neu gedacht –

unter LombardOdier.com
NZZ am Sonntag 28. April 2019
«Es führt kein Weg an neuen
Verhandlungen mit der EU vorbei»
Der neue Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard sagt, wer am Rahmenvertrag festhalte, riskiere den Bruch
mit der EU. Grosse Hoffnungen setzt er in Justizministerin Karin Keller-Sutter. Interview: Andrea Kučera
NZZ am Sonntag: Sie überneh-
men die Präsidentschaft des
Gewerkschaftsbundes in einem
kritischen Moment. Die Konsulta-
tion zum Rahmenvertrag ist abge-
schlossen. Die Fronten sind
verhärtet.
Pierre-Yves Maillard: Welche
Fronten? Ich sehe keine Fronten.
Ich sehe nur 50 Schattierungen
von Nein. Ausser der GLP sagt
keine Partei vorbehaltlos Ja zum
ausgehandelten Vertrag. Dieser
Text ist tot, auch wenn gewisse
Kreise wie der Chefunterhändler
Roberto Balzaretti, die GLP, Teile
der FDP und einzelne Medien
noch immer so tun, als hätte das
Abkommen eine Chance.
Also sind die Hoffnungen ver-
gebens, dass es mit Ihnen gelingen
wird, die verfahrene Europa-
diskussion zu deblockieren?
Wer hofft, dass ich die
Gewerkschaften überzeugen
werde, auf ein Ja einzuschwen-
ken, den muss ich enttäuschen.
Die Gewerkschaften werden
niemals einem Text zustimmen,
der den Lohnschutz schwächt
und diesen dem Europäischen
Gerichtshof unterstellt. Falls
man sich aber von mir erhofft,
dass ich meine Erfahrung ein-
bringe, damit wir aus dieser ver-
fahrenen Situation heraus-
finden, so will ich gern mithel-
fen. Den besten Dienst, den ich
dem Land erweisen kann, ist,
keine falschen Hoffnungen zu
schüren, sondern klar und deut-
lich zu sagen, dass es Neuver-
handlungen braucht.
Die EU wird kaum Hand bieten
dazu. Die Kommission fordert,
dass sich die Schweiz beim Lohn-
schutz bewegt.
Wir nehmen das zur Kenntnis.
Damit muss man aber noch lange
nicht einverstanden sein. Der
Druck auf den Arbeitsmarkt und
die flankierenden Massnahmen
kommt im Übrigen nicht nur aus
Brüssel. Es gibt auch interne
Kräfte, die den Lohnschutz
schwächen wollen. Diese nutzen
die Diskussion um den Rahmen-
vertrag, um eine Liberalisierung
des Arbeitsmarktes und des Ser-
vice public durchzudrücken.
Ihr Einsatz für den Lohnschutz in
Ehren. Aber es geht um mehr. Es
geht um den Forschungsstandort
und die Exportwirtschaft, die auf
stabile Beziehungen zur EU ange-
wiesen sind. Ist Ihnen das egal?
Auch die Gewerkschaften
wollen gute wirtschaftliche und
institutionelle Beziehungen zur
EU. Als Bewohner der Genfersee-
Region weiss ich sehr wohl, dass
unsere Wirtschaft auf die Bilate-
Pierre-Yves Maillard
Wie aus dem Arbeitersohn ein mächtiger Politiker wurde
In der Diskussion um das institu-
tionelle Abkommen mit der EU
hat der Präsident des Schweize-
rischen Gewerkschaftsbundes
(SGB) eine Schlüsselposition
inne. Denn die Frage, wie die
Schweizer Löhne künftig EU-
kompatibel geschützt werden
können, ist einer der grössten
Stolpersteine auf dem Weg
zu einem neuen Vertrag.
Der Waadtländer SP-Staatsrat
Pierre-Yves Maillard tritt am
Schweiz
ralen angewiesen ist. Gerade
deswegen bin ich sehr beunru-
higt darüber, was derzeit pas-
siert. Wer um jeden Preis ver-
sucht, am jetzigen Rahmenver-
trag festzuhalten, steuert auf
einen Bruch mit der EU zu.
Meiner Meinung nach findet
dieser Text vor dem Volk niemals
eine Mehrheit.
In einer Umfrage sagten immer-
hin 60 Prozent Ja...
Ich glaube dieser Umfrage
keine Sekunde. Nur wenige
Leute, die Ja gesagt haben,
haben den Text auch gelesen.
Kommt hinzu, dass in rund
einem Jahr die Abstimmung
über die Kündigungsinitiative
der SVP ansteht. Stimmt das Volk
gegen die Personenfreizügigkeit,
bedeutet dies das Ende des bila-
teralen Weges. Wem also an
guten Beziehungen zu Europa
gelegen ist, der muss zuallererst
die SVP-Initiative bekämpfen.
Und sicher nicht an einem Text
festhalten, der den Lohnschutz
schwächt. Das wäre Wasser auf
die Mühlen der SVP.
Dieselbe Strategie verfolgt auch
die neue Justizministerin Karin
Keller-Sutter.
Sie ist die vernünftigste
Person in dieser Debatte.
Ist sie für Sie eine Alliierte?
Das wird sich weisen. Ihre
ersten Äusserungen jedenfalls
schienen mir sehr vernünftig.
Die Strategie ist dennoch riskant:
Wir werden frühestens Anfang
2020 über die SVP-Initiative
abstimmen. Glauben Sie wirklich,
dass die EU so lange wartet?
Was soll sie sonst tun? Ich
sehe das Problem nicht.
Die EU hat immerhin angedroht,
die Schweizer Börse ab Juli nicht
mehr anzuerkennen. Spielt für Sie
die Börsenäquivalenz keine Rolle?
Falls die EU Retorsionsmass-
nahmen ergreifen will, kann sie
dies tun. Wir sind ein souveränes
Land, wir haben Möglichkeiten,
uns zu wehren.
Diese Sätze hätten auch von SVP-
Doyen Christoph Blocher stam-
men können.
Souveränität ist auch ein
linkes Anliegen. Auf keinen Fall
darf der Druck aus Brüssel ein
Grund sein, für einen Text zu
stimmen, der unseren sozialen
Interessen schadet. Wir können
in einem direktdemokratischen
Land doch nicht unseren Bür-
gern sagen, ihr müsst Ja sagen,
nur weil Brüssel es so will. Da
muss man sich nicht wundern,
6. Mai die Nachfolge des St.Galler
SP-Ständerates Paul Rechsteiner
an der Spitze des SGB an. Für den
51-Jährigen ist es eine Rückkehr
zu seinen Wurzeln: Bevor Maillard
2004 in die Waadtländer Regie-
rung gewählt wurde, war er Ge-
werkschaftssekretär.
Maillard wurde 1968 in ärmliche
Verhältnisse hineingeboren: Der
Vater war Garagist, die Mutter
Fabrikarbeiterin. Obwohl selber
Akademiker, sagt Maillard noch
«Dieser Text ist tot»: Der neue
Gewerkschaftschef Pierre-Yves
Maillard über den Entwurf zum
Rahmenabkommen mit der EU.
(Lausanne, 26. April 2019)
heute, er fühle sich der Arbeiter-
klasse zugehörig. Als Heranwach-
sender habe er mehr Affinität zu
den spanischen und italienischen
Migrantenkindern gespürt als zur
Lausanner Bourgeoisie. Maillard
studierte Philosophie, Geschichte
und Französisch und arbeitete
eine Zeitlang als Lehrer. Seine
politische Karriere startete 1990
im Gemeinderat von Lausanne.
1998 wurde er ins Waadtländer
Parlament und 1999 in den Natio-
wenn die Zustimmung zur euro-
päischen Integration erodiert.
Die Europafrage spaltet auch Ihre
Partei, die SP.
In der Tat. Und wenn die
Linke zu denken beginnt, dass
die EU entgegen ihren Interessen
handelt, dann ist das ein Pro-
blem für all jene, die eine gute
Beziehung zu Europa wollen.
nalrat gewählt. Er stieg in der
Folge zum starken Mann der
Waadtländer SP auf. Ab 2004
stand Maillard 15 Jahre lang dem
Departement für Gesundheit
und Soziales vor. Er ist ein Ver-
fechter der Einheitskasse. 2011
war Maillard Bundesratskandidat
und unterlag dem Freiburger
Alain Berset. Im Herbst kandi-
diert Maillard für den National-
rat. Er ist verheiratet und Vater
zweier Kinder. (aku.)
SÉBASTIEN AGNETTI
Was also tun?
Zunächst müssen wir die
Abstimmung zur neuen Waffen-
richtlinie am 19. Mai gewinnen
und damit unsere Mitgliedschaft
im Schengen-Raum konsolidie-
ren. Danach gilt es die Kampagne
gegen die SVP-Initiative vorzu-
bereiten. Falls sich die wirt-
schaftliche Situation verschlech-
tert und die Kaufkraft weiter
sinkt, ist ein Ja zur Kündigungs-
initiative nicht ausgeschlossen.
Wie wollen Sie vorgehen?
Es braucht neue soziale Mass-
nahmen, zum Beispiel einen
besseren Kündigungsschutz für
Arbeitnehmende über 50. Die
Leute sind sich bewusst, dass
unser Wohlstand mit der Perso-
nenfreizügigkeit und den Bilate-
ralen korreliert. Aber damit sie
diesen Wachstumskurs weiter
mittragen, braucht es Garantien,
dass auch die Arbeiterklasse
davon profitiert. Deshalb
braucht es eine soziale Agenda.
Die Arbeitgeber werden kaum
Hand bieten für neue soziale
Massnahmen.
Ich habe erste Gespräche mit
Vertretern der Arbeitgeberver-
9
Karin Keller-Sutter
ist die
vernünftigste
Person in dieser
Debatte.
bände geführt. Mein Eindruck
ist, dass sich auch in diesen Krei-
sen die Einsicht durchsetzt, dass
zunächst die SVP-Initiative
bekämpft werden muss.
Gehen wir einmal davon aus, die
Bevölkerung sage Ja zur Perso-
nenfreizügigkeit. Was dann?
Dann müssen wir wieder bei
null anfangen. Viele scheuen
sich, Klartext zu reden. Statt von
Neuverhandlungen spricht man
von Klärungen, statt von Ände-
rungen von Ergänzungen. Letz-
ten Endes führt aber kein Weg an
neuen Verhandlungen vorbei.
Angenommen, die EU steigt
darauf ein. Wo wären die Gewerk-
schaften zu Konzessionen bereit?
Ein Abbau beim Lohnschutz
ist ausgeschlossen. Ich sehe nicht,
was es den Europäern bringt,
wenn wir hier in der Schweiz
weniger verdienen. Man könnte
aber vorschlagen, dass EU-Ange-
hörige, die bei ihrem Einsatz
hierzulande in die Arbeitslosen-
kasse einzahlen müssen, im
Bedarfsfall auch Arbeitslosen-
geld beziehen dürfen. Das ist
heute nicht der Fall. Oder man
könnte die Kohäsionsbeiträge
erhöhen. Es gibt viele Möglich-
keiten, wie wir uns solidarisch
mit der EU zeigen können.
Als neuer Gewerkschaftspräsident
befassen Sie sich nicht nur mit
dem Rahmenabkommen. Wo
sonst wollen Sie Akzente setzen?
Wir haben ein Problem mit
schwindenden Mitgliederzahlen.
Wir müssen klarer herausstrei-
chen, weshalb es die Gewerk-
schaften braucht. Die Diskussion
um den Rahmenvertrag hat es
eigentlich gezeigt: Ohne die
Gewerkschaften wäre das Lohn-
niveau bedroht. Das müssen wir
deutlicher machen und die
Erosion stoppen.
Die Gewerkschaftswelt ist sehr
maskulin. In den Frauenberufen,
etwa in der Pflege, sind die
Gewerkschaften wenig präsent.
In der Tat brauchen wir eine
Strategie für den Pflegebereich.
Die Löhne dort sind tief, die
Arbeit hart: Frauen müssen
allein ältere, korpulente Men-
schen hochheben. Wir haben im
Kanton Waadt einen Gesamt-
arbeitsvertrag im Pflegebereich
durchgesetzt. Ziel ist, dies über-
all in der Schweiz einzuführen.
Eine gute Möglichkeit, weibliche
Mitglieder anzuwerben, bietet der
Frauenstreik am 14.Juni. Wie
stehen Sie dazu?
Ich stehe voll dahinter. Der
Kampf der Frauen für Gleichstel-
lung ist auch eine Errungen-
schaft für die Männer. Ich habe
es als Befreiung erlebt, dass
meine Frau einen guten Job hat
und auch ich mich in die Erzie-
hung einbringen durfte. Aber das
Ziel ist noch lange nicht erreicht:
Diskriminierungen aufgrund des
Geschlechts bleiben die grösste
Ungerechtigkeit der Welt.
10
Zürcher Politik
fordert mehr
Überwachung
am See
Die Seepromenade ist ein Magnet
für Jugendliche. Die jüngsten
Krawalle überschreiten die
Toleranzgrenze, sagen Politiker.
Die Polizei prüft nun Massnahmen
Laurina Waltersperger
Steigen in der Stadt die Tempera-
turen, erhitzen sich die Gemüter
zahlreicher Jugendlicher entlang
der Seepromenade. Das Phäno-
men ist bekannt. Doch die Dyna-
mik hat nach den jüngsten Kra-
wallen übers Osterwochenende
ihre Schmerzgrenze erreicht.
Es brauche ein härteres Vor-
gehen gegen die Krawallstifter,
fordern nun Politiker. Polizei und
Stadt erarbeiten neue Massnah-
men, um die Situation am See im
Hinblick auf den Sommer in den
Griff zu bekommen.
«Die Ausschreitungen übers
Osterwochenende haben das
Mass der tolerierbaren Aggres-
sion am Utoquai überschritten»,
sagt Stadtpolizei-Sprecher Marco
Cortesi. Die Polizei habe nach
Ostern eine Lagebeurteilung
durchgeführt und zusätzliche
Massnahmen geprüft, sagt Cor-
tesi. Diese werden zurzeit mit den
Fachstellen der Stadtverwaltung
besprochen. Die Polizei könne
das Problem nicht allein lösen.
Zur Art der Massnahmen gibt
die Polizei aktuell nichts bekannt.
Ein zentrales Problem am See ist
jedoch die Anonymität. Die meis-
ten jungen Besucher kommen aus
Leuthards Einsatz für Walliser Peperoni
Die Migros will im Wallis im
bald grössten Gewächshaus
der Schweiz einheimische
Peperoni ziehen. Schub dafür
gibt es von der CVP-Achse
Leuthard-Darbellay-Buttet.
Daniel Friedli
Mittlerweile ist sie bekanntlich
für Coop tätig. Doch was Gemüse
betrifft, hat sich Doris Leuthard
zuletzt noch kräftig für die Migros
ins Zeug gelegt. Der Detaillist
plant im Unterwallis auf einer
Fläche von 28 Fussballfeldern das
grösste Gewächshaus des Landes,
um darin Peperoni, Gurken und
Tomaten zu ziehen. Und die lang-
jährige Umweltministerin Leut-
hard hat mit ihren Parteikollegen
Christophe Darbellay und Yan-
nick Buttet im Hintergrund die
Fäden gezogen, um das Projekt
bewilligungsfähig zu machen.
Der Plan der Migros ist für hie-
sige Verhältnisse ambitiös: Auf
20 Hektaren will sie in einem
8 Meter hohen Glashaus in Hors-
sol-Kultur zur Hauptsache Pepe-
roni anbauen, die heute zu 97
Prozent importiert werden. Die
Pflanzen wachsen dabei in einem
Substrat aus Kokosfasern und ste-
hen in Rinnen, die vom Dach hän-
Schweiz
BOAS RUH
der Agglomeration nach Zürich.
Hier wollten sie etwas erleben –
und sich so aufführen, wie sie
es zu Hause nicht dürften, sagen
Fachpersonen. Anonymität ge-
paart mit Alkohol senke die
Hemmschwelle massiv.
Kameras am See gefordert
Vor diesem Hintergrund geht es
denn auch um Massnahmen, um
diese Anonymität aufzubrechen.
Die Stadtpolizei kann zu Obser-
vationszwecken gegen Krawalle
Kameras einsetzen. Kameras
seien ein probates Mittel gegen
das Anonymitätsproblem, sagt
Severin Pflüger, FDP-Gemeinde-
rat und Anwalt. Die Stadtpolizei
verfügt über fix installierte Ka-
meras beim Bernhard-Theater,
beim Bellevue und beim Bürkli-
platz, die sie bisher aber nur für
Grossanlässe nutzt. «Diese Kame-
ras könnten bei Bedarf an einem
Samstagabend auf Knopfdruck
eingeschaltet werden», sagt Pflü-
ger. Seiner Meinung nach würden
weitere Kameras entlang der
Brennpunkte am See wesentlich
zur Gewaltprävention beitragen.
Die Wirkung von Kameras sei
bei grossen Menschenmengen
fraglich, findet hingegen SP-
Gemeinderat Pascal Lamprecht.
Hängende Gärten: So sollen bald auch Walliser Peperoni wachsen.
gen. Oben werden sie bewässert
und gedüngt, von unten mit Wär-
me aus einer nahen Abfallverwer-
tungsanlage beheizt. Allein: Das
Projekt ist nicht nur für das Auge
eine Herausforderung; es wirft
auch betreffend Bodenrecht,
Zonen- und Raumplanung etliche
Fragen auf, zum Beispiel diese:
Der Standort besteht aus bestem
Ackerland, sogenannten Frucht-
folgeflächen. Davon muss jeder
Kanton ein Mindestkontingent
Auf dem Sechseläutenplatz «Kameras vermitteln Schein-
musste die Stadtpolizei in der sicherheit, da sie gerade von
Nacht auf Ostersonntag Rädelsführern leicht umgangen
Tränengas gegen angreifende werden können.» Dennoch soll
Jugendliche einsetzen. (21.4.2019) darüber diskutiert werden, wie
die Stadt im Einzelfall mit Ka-
meras an neuralgischen Punkten
umgehen will. Sicherheitsvorste-
herin Karin Rykart hat im Novem-
ber dem Einsatz von Bodycams
bei der Stadtpolizei zugestimmt.
Die entsprechende Vorlage wird
aktuell im Gemeinderat behan-
delt. Sie müsse sich alsbald auch
zu den Kameras äussern, sagen
Politiker. Das Sicherheitsdeparte-
ment liess die Frage unbeant-
wortet, ob an der Seepromenade
Kameras geplant sind.
Die Polizei müsse am See noch
präsenter werden, fordern linke
sowie bürgerliche Stadtpolitiker.
Dies, obschon sie ihre Anwesen-
heit erst kürzlich zahlenmässig
verstärkt hat. Es brauche Polizis-
ten, die als Ansprechpartner am
Seeufer zu Fuss unterwegs seien,
sagt SP-Politiker Lamprecht.
Die Krawalle haben «Und zwar mit freundlichem,
aber dennoch bestimmtem Auf-
das Mass der treten und auch nicht erst, wenn
tolerierbaren die Stimmung kippt.» Mehr
Dialog sei wichtig, sagt Jugend-
Aggression psychologe Allan Guggenbühl.
überschritten. Aber es brauche auch einen impo-
PATRICK SEEGER / PICTURE ALLIANCE / DPA
Mehr bodenloses Gemüse
Entwicklung der Anbaufläche
von Hors-sol-Kulturen in den
letzten 10 Jahren
160 ha
140
120
100
80
60
40
20
0
08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 2018
Quelle: Zentralstelle für Gemüsebau und Spezialkulturen
bewahren; just das Wallis hatte lombey-Muraz. Was an diesem
schon bisher zu wenig davon. Tisch genau besprochen wurde,
Zur Klärung dieser Fragen be- ist nicht bekannt. Klar ist indes,
rief Leuthard vergangenes Jahr dass trotz anfänglicher Bedenken
einen runden Tisch ein. Nicht der Raumplaner am Schluss ein
weniger als drei Bundesämter Resultat vorlag, mit dem die
wurden aufgeboten (Justiz, Land- Migros nun voller Zuversicht die
wirtschaft und Raumentwick- ordentlichen Bewilligungsverfah-
lung), zugegen waren ferner die ren auslösen will: Das Land wird
Migros, der Walliser Volkswirt- in eine landwirtschaftliche Spe-
schaftsdirektor Darbellay und zialzone umgezont. Von den
sein Parteikollege Buttet als Präsi- Fruchtfolgeflächen kompensiert
dent der Standortgemeinde Col- die Migros 8,4 Hektaren andern-
santeren Auftritt der Polizei. In
der Schweiz müsse glücklicher-
weise keiner Angst vor der Polizei
haben – «aber Jugendliche neh-
men sie oft nicht ernst, wenn sie
ihre Autorität nicht auch durch
die Uniform inszeniert».
Auch SVP-Gemeinderat Ste-
phan Iten will mehr Autorität
gegen die Chaoten am See. «Wir
fordern beschleunigte juristische
Verfahren – gleich wie es die Be-
hörden seit längerem bei Fuss-
ball-Hooligans mit sogenannten
Schnellgerichten tun.» Ähnlich
klingt es bei weiteren bürger-
lichen Politikern. «Es braucht
schnellere juristische Verfahren»,
sagt auch Allan Guggenbühl.
«Wenn der Bescheid bei einer
Straftat erst nach einem Jahr
kommt, verpufft die abschre-
ckende Wirkung.» Für SP-Poli-
tiker Lamprecht sind Schnell-
gerichte rechtsstaatlich fragwür-
dig. «Die Schnelligkeit darf nicht
die oberste Maxime sein. Sorgfalt
und Fairness müssen stets ge-
wahrt werden.»
Keine leichte Aufgabe für die
Polizei. Am Osterwochenende sei
die Stimmung unter rivalisieren-
den Gruppen sehr angespannt ge-
wesen, sagt Polizeisprecher Cor-
tesi. Ein wesentlicher Katalysator
orts in der Umgebung, der Rest
wird klassiert als «Fruchtfolge-
fläche vorübergehend ausserhalb
des Kontingents». Dazu muss die
Migros nachweisen, dass der
Boden bei Betriebsaufgabe rasch
wieder die alte Qualität erreicht.
Parallel dazu hat der Kanton die
vorhandenen Fruchtfolgeflächen
genauer vermessen und kartiert,
mit dem Ergebnis, dass er sein
Soll nun erreiche. Darum muss
die Migros nicht die ganze Fläche
kompensieren.
Im Urteil der Migros weist die
Operation «Pimiento» damit nun
so viele Trümpfe auf, dass sie es
gar als Leuchtturm-Projekt be-
zeichnet. «Aus Sicht der Nachhal-
tigkeit ist das eine grossartige
Sache», sagt Michel Charbonnet,
Präsident der eigens dafür ge-
gründeten Firma Ecoserre. Sein
Ziel ist es, jährlich 3600 Tonnen
Peperoni zu ernten und damit gut
10 Prozent des inländischen Kon-
sums zu decken. Und dies bringt
laut Charbonnet gleich mehrere
Vorteile: Weil das Gemüse nicht
importiert werden muss und mit
Fernwärme beheizt wird, spart
man jährlich mehrere tausend
Tonnen CO2. Dank der Hors-sol-
Technik lassen sich Wasser, Dün-
ger und Pflanzenschutzmittel ge-
NZZ am Sonntag 28. April 2019
sei der Alkohol. Es falle auf, dass
bereits 13-Jährige mit der Wodka-
flasche in der Hand anzutreffen
seien. Dies führte am Oster-
wochenende dazu, dass Jugend-
liche Container am See anzünde-
ten und die Polizei mit Steinen
und Flaschen attackierten. Die
Polizei nahm vier Personen fest.
Gemeinden müssen helfen
Auch die Jugendarbeit in Zürich
ist neu gefordert. Die Stadt habe
bisher befunden, es brauche kein
zusätzliches Angebot für Jugend-
liche aus der Agglomeration, sagt
Katharina Prelicz-Huber, grüne
Gemeinderätin und Präsidentin
der Offenen Jugendarbeit Zürich
(OJA). «Die aktuelle Situation legt
nahe, dass es doch notwendig
wird.» Die Jugendarbeit müsse
neue Methoden prüfen, um auf
die Anonymität und den Alkohol
am See zu reagieren.
Gleichzeitig sollten auch die
Gemeinden ihren Beitrag leisten,
sagt Prelicz-Huber, «und wo nötig
ihr Angebot ausbauen – damit
gerade die ganz jungen Teenager
zu Hause Alternativen haben und
nicht nach Zürich kommen.» Für
die städtischen Leistungen soll-
ten die Gemeinden zudem mehr
in den Lastenausgleich zahlen.
nau dosieren, ohne dass Rück-
stände im Boden bleiben. Und
schliesslich profitiert die Wirt-
schaft, da die Migros 45 Millionen
Franken investieren und 120
neue Stellen schaffen will. Auch
Staatsrat Darbellay spricht darum
von einem idealen Mix zwischen
Ökologie und Ökonomie. «Es ist
ein Schritt in die Landwirtschaft
des 21. Jahrhunderts», sagt er.
Und weil das Projekt bestens zur
Energie- und Klimapolitik des
Bundes passe, habe sich auch
Doris Leuthard dafür engagiert.
Anders sieht dies die Stiftung
Landschaftsschutz. Direktor Rai-
mund Rodewald taxiert das Pro-
jekt als «nicht bewilligungsfähig».
Er stört sich speziell daran, dass
das Glashaus statt in einer Ge-
werbezone mitten in bestem
Ackerland geplant ist. Wider-
stand kommt aber auch von der
anderen Seite des politischen
Spektrums. Die lokale SVP kriti-
siert, was bereits auch der Ver-
band der Gemüseproduzenten
moniert hat: Die Migros wandle
sich vom Gemüseeinkäufer zum
Gemüsebauern und konkurren-
ziere so lokale Landwirte. Bevor
also die ersten Walliser Peperoni
im Regal liegen, dürfte das Pro-
jekt noch einiges zu reden geben.
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Schweiz 11

Lauber räumt drittes Treffen mit Fifa-Chef ein

Mit einem späten Eingeständnis versucht der Bundesanwalt, seine Wiederwahl zu retten
Francesco Benini einem Berner Hotel statt. Der Mai; anschliessend entscheiden tino zugab? Warum schaute er

RUBEN SPRICH / AFP

In der «Samstagsrundschau» von
Radio SRF hat Bundesanwalt
Michael Lauber zugegeben, dass
er sich im Juni 2017 ein drittes
Mal mit Fifa-Chef Gianni Infan-
tino traf. Bisher hatte Lauber stets
nur von zwei informellen Treffen
gesprochen – und war in die Kritik
der Politik und der Medien gera-
ten, weil elektronische Daten, die
im Zuge einer anderen Ermittlung
aufgetaucht waren, auf ein drittes
solches Treffen hinwiesen.
Lauber erklärt nun, Agenda-
einträge und SMS liessen darauf
schliessen, dass es zu einem drit-
ten Treffen mit Gianni Infantino
gekommen sei. Erinnern könne er
sich daran aber nicht. «Ich lüge
nicht», sagte Lauber.
Disziplinarverfahren droht
Der Bundesanwalt betonte, dass
Infantino nicht Beschuldigter in
einem Verfahren gewesen sei. Die
Bundesanwaltschaft führt diver-
se Verfahren wegen des Verdachts
auf Korruption im internationa-
len Fussball. In einer Strafunter-
suchung wegen des Verdachts auf
die zu billige Vergabe von Fern-
sehrechten in Ecuador war aber
die Unterschrift des früheren
Rechtschefs der Uefa, Gianni
Infantino, von Belang. Dieses Ver-
fahren ist eingestellt worden.
Das dritte Treffen zwischen
Lauber und Infantino fand in
Bundesanwalt sagte am Samstag
im Radiointerview, es sei bei allen
Treffen mit Infantino um «Daten-
aufbereitung und Einordnung»
gegangen; das entspreche dem
«courant normal». Die Bespre-
chungen sollten dazu dienen, un-
nötige Verzögerungen der Verfah-
ren zu verhindern.
Lauber will im Sommer vom
Bundesparlament für eine dritte
vierjährige Amtszeit gewählt wer-
den. Die informellen Treffen, die
er als Strafverfolger abhält, könn-
ten dabei zum Stolperstein wer-
den. Viele Juristen erachten es als
Unding, dass sich der Bundes-
anwalt ausserhalb des Büros mit
den Beteiligten eines Verfahrens
trifft. Bei anderen Beteiligten
kann dadurch der Eindruck der
Befangenheit entstehen.
Erschwerend kommt bei Lau-
ber hinzu, dass er die informellen
Treffen nicht protokollierte – bis
ihn der Präsident der Aufsichts-
behörde über die Bundesanwalt-
schaft, Hanspeter Uster, dazu
anhielt. Der vormalige Zuger
Regierungsrat zeigte sich diese
Woche an einer Medienkonferenz
befremdet über die Praxis des
Bundesanwalts. Denn informelle
Treffen, über die es keine Akten-
notizen gibt, können ein ganzes
Strafverfahren zum «Abver-
recken» bringen, wie sich Uster
ausdrückte. Klagt eine involvierte
Seite beim Bundesstrafgericht er-
die Mitglieder, ob sie ihn als Bun-
desanwalt wieder nominieren.
Offene Fragen
Die grüne Nationalrätin Sibel
Arslan hatte Lauber vor Wochen
aufgefordert, er solle sich überle-
gen, ob er seine Amtszeit verlän-
gern wolle. Nun sagt sie: «Wenn
Herr Lauber zur Wiederwahl an-
tritt, werden wir ihn befragen
und dann entscheiden, ob seine
Erläuterungen geeignet sind, die
Glaubwürdigkeit der Strafbehör-
den und das Vertrauen in sie zu
erhalten.»
Mehrere Parlamentarier äus-
Mässig überzeugende Erklärungen: Bundesanwalt Michael Lauber. sern ein Unbehagen; sie nehmen
das Verhalten des Bundesanwalts
als zunehmend selbstherrlich
folgreich wegen informeller Tref- eröffnet werden soll. Der Bundes- wahr. Sie fragen, wie glaubwürdig
fen, muss möglicherweise der lei- anwalt will auch dann nicht von es sei, dass jemand ein Treffen mit
tende Ermittler ausgewechselt einer neuen Kandidatur absehen, dem Fifa-Chef, das ausserhalb des
werden. Dies kann ein Verfahren wenn gegen ihn ein solches Ver- eigenen Büros stattfand, ganz
entscheidend zurückwerfen. fahren angeordnet wird. einfach vergesse. Und warum
Uster klärt nun ab, ob gegen Die parlamentarische Gerichts- brauchte Lauber dermassen lange,
Lauber ein Disziplinarverfahren kommission trifft Lauber Mitte bis er das dritte Treffen mit Infan-
nicht einfach in seine Agenda, als
erste Medienberichte darüber er-
schienen? Warum informierte er
die Aufsichtsbehörde falsch? Wie-
so die Geheimniskrämerei? War-
um gibt ein Bundesanwalt, der
nach eigenem Bekunden offensiv
informieren will, die Wahrheit nur
scheibchenweise zu?
Nationalrat Beat Walti (fdp.) er-
klärt, die Erinnerungslücke des
Bundesanwalts fliesse in die Be-
urteilung seiner Arbeit ein. Sie sei
aber nur ein Faktor neben ande-
ren bei der Klärung der Frage, ob
die Gerichtskommission Lauber
erneut nominiere.
Lauber erklärte am Samstag,
die Bundesanwaltschaft habe
Fehler gemacht. Dabei wirkte er
aber nicht wie jemand, der diese
Fehler wirklich bedauert. Ein we-
nig mehr Demut in seinen künfti-
gen Auftritten würde ihm nicht
schaden. Den Kopf hoch zu tra-
gen, ist gefährlich, vor allem in
der egalitär gesinnten Schweiz.

Steuer-Abstimmung:
Kronzeugin der Gegner
wechselt die Seiten
Biels Finanzdirektorin Silvia
Steidle kämpfte vor zwei
Jahren als Bürgerliche mit
den Linken gegen die Reform
der Firmensteuern. Jetzt aber
wirbt sie für ein Ja.
Stefan Bühler
Sie war die Kronzeugin der Geg-
ner der Unternehmenssteuer-
reform III vor zwei Jahren: Seite
an Seite mit SP, Gewerkschaften
und linken Städtevertretern be-
kämpfte Silvia Steidle die Steuer-
reform gegen alle bürgerlichen
Parteien – Steidle, die freisinnige
Finanzdirektorin der Stadt Biel.
Dass sogar eine Liberale die
Vorlage als unausgewogen und
die Steuerausfälle für die Städte
als nicht verkraftbar einschätzte,
war für die Linken willkommene
Munition. Und sie verfehlte ihre
Wirkung nicht: Am 12. Februar
2017 gehörte Steidle zu den Ge-
winnerinnen, das Volk schickte
die Reform bachab. Das gleiche
Muster wiederholte sich letztes
Jahr in Bern, als der Regierungs-
rat die kantonalen Firmensteuern
senken wollte. Wieder stieg Steid-
le mit den Linken auf die Barri-
kaden, erneut mit Erfolg.
«Ich habe für die Finanzen
meiner Stadt gekämpft», sagt die
Bielerin. Doch jetzt, im Abstim-
mungskampf um die Neuauflage
der Firmenssteuerreform des
Bundes, die mit der Teilsanierung
der AHV verknüpft ist, wirbt sie
die finanziellen Auswirkungen
der Steuersenkungen angemes-
sen abzugelten. «Für uns Städte
ist das ein riesiger Erfolg», sagt
Steidle. In Zahlen heisst das für
Biel: Anstelle von Einnahmeaus-
fällen bis zu 15 Millionen Franken
pro Jahr, wie sie aus der Unter-
nehmenssteuerreform III in Kom-
bination mit der gescheiterten
kantonalen Vorlage resultiert hät-
ten, bleiben jetzt noch Minder-
einnahmen von rund 5 Millionen
Franken. Davon würde Biel aller
Aussicht nach gut die Hälfte vom
Kanton abgegolten.
Das zweite Element sind die
«Ansätze für eine gewisse Ein-
schränkung des Steuerwettbe-
werbs, die in der neuen Vorlage
enthalten sind», wie Steidle er-
klärt. Etwa, dass Grossaktionäre
Die Hypothek für
den schönsten Ort der Welt.
ihre Dividenden neu in allen Kan-
tonen zu mindestens 50 Prozent
versteuern müssen. Denn Steidle
hält wenig von einem uneinge-
schränkten Steuerwettbewerb
zwischen den Kantonen, nament-
lich von generellen Senkungen
Bei Abschluss von 2000 Franken Bonus profitieren.
der Gewinnsteuern, wie sie nun Bei der Migros Bank dreht sich alles nur um Sie und Ihre Hypothek. Sie stehen
zahlreiche Stände planen. Es ist
der Versuch, jene Firmen zu hal- im Mittelpunkt unserer Beratung und profitieren zusätzlich von niedrigen Zinsen.
ten, die bisher von den Steuer- Informieren Sie sich jetzt auf migrosbank.ch/hypothek.
privilegien profitierten, die auf
Druck des Auslands abgeschafft Der Bonus gilt einmalig bei Abschluss einer Festhypothek für selbst bewohntes Wohneigentum bei neuer Finanzierung
werden. Doch die Freisinnige von mindestens CHF 300 000. Das Angebot gilt für Abschlüsse bis zum 15. Juli 2019 [Kreditprüfung vorbehalten].
lehnt dieses Argument ab: «Die
vorliegende Steuerreform ermög-
licht es uns, Firmen, die Arbeits-
plätze anbieten oder sich neu an-
CHF
0
siedeln, gezielt zu entlasten, etwa

für ein Ja – genau so engagiert,
wie zuvor für das Nein, wie das
«Bieler Tagblatt» berichtete.
«Es ist eine bessere Vorlage»,
sagt Steidle auf Anfrage, «ins-
besondere zwei Elemente haben
mich dazu bewogen, diese Re-
form zu unterstützen.» Das erste
Element ist die Gemeindeklausel,
die neu eingefügt worden ist: Die
Kantone werden damit angehal-
ten, den Städten und Gemeinden
20BO0
mit Abzügen für Forschung und
Entwicklung.» Die Schweiz sei
deshalb international nach wie NUS
vor attraktiv. «Ein Firmentouris-
mus im Inland bringt hingegen
nichts.» So will sich Steidle in
Zukunft «für eine Steuerharmoni-
sierung in einem gewissen
Rahmen» einsetzen, wenn sie vor-
aussichtlich im Mai das Präsidium
der Konferenz der städtischen
Finanzdirektoren übernimmt.
12 Schweiz NZZ am Sonntag 28. April 2019

In Kürze Parteien wollen bei China-Politik mitreden

Niederlage für Lange Zeit bestimmte der Bundesrat den Kurs gegenüber China weitgehend allein.
SP-Fraktionschef
Das war wirtschaftlich erfolgreich. Doch den Parteien genügt das nicht mehr
Roger Nordmann, Nationalrat
und SP-Fraktionspräsident,
wird nicht für die SP Waadt in Stefan Bühler stan durch. Sie hält es für richtig,

VALERY SHARIFULIN / TASS / KEYSTONE

den Ständeratswahlkampf
ziehen. Am ausserordentlichen Heute Sonntag und morgen Mon-
Parteikongress in Moudon hat tag empfängt Chinas Präsident
die Waadtländer SP am Sams- Xi Jinping Bundespräsident Ueli
tag Nationalrätin Ada Marra als Maurer zum Staatsbesuch. Aus
Kandidatin nominiert. Sie Sicht des Bundesrats ist das eine
erhielt 166 Stimmen, während grosse Ehre für ein kleines Land.
auf Nordmann 159 Stimmen Und es ist der Höhepunkt von
entfielen. Die Vize-Präsidentin Maurers China-Reise. Begleitet
der SP Schweiz wird auf einer von Staatssekretärinnen und
gemeinsamen Liste mit der zahlreichen Wirtschaftsvertre-
Grünen Adèle Thorens ins tern, reist Maurer bereits seit letz-
Rennen um die beiden Waadt- tem Dienstag durchs Land, schüt-
länder Ständeratssitze steigen. telt Hände und öffnet Türen.
Die SP Waadt will den Sitz von Daneben gibt er Interviews, in
Géraldine Savary verteidigen, denen er die Chancen für Schwei-
die wegen einer Spendenaffäre zer Unternehmen in China betont
nicht mehr antritt. (sda) und die Bedeutung des chinesi-
schen Belt-and-Road-Projekts,
Cassis bekräftigt der «neuen Seidenstrasse», unter-
streicht. Hinweise auf eine
Mercosur drohende Abhängigkeit von wirt-
Zum Abschluss seiner Südame- schaftlich schwachen, verschul-
rika-Reise hat Bundesrat Igna- deten Staaten bezeichnet er
zio Cassis am Samstag in Brasi- derweil als «kleinkarierte» Kritik
lia seinen Amtskollegen an Peking. Aber auch kritische
Ernesto Araújo getroffen. Die Themen kämen zur Sprache: Bei
beiden Minister sind sich laut allen seinen Treffen seien die
Mitteilung des Aussendeparte- Menschenrechte ein Thema «am
ments einig, dass ein Frei- Rande», sagte Maurer am Telefon
handelsabkommen zwischen zum Schweizer Radio SRF.
den Mercosur-Ländern und Kurzum: Maurer führt die
den Efta-Staaten so schnell wie jahrelange Politik des Bundesrats
möglich abgeschlossen fort, die sich stark an der Wirt-
werden sollte. (sda) schaft und etwas weniger an Men-
schenrechtsfragen orientiert. Die-
Tödlicher Unfall ser Kurs führte dazu, dass der
Bund 2014 als erstes kontinental-
bei Lausanne europäisches Land mit China ein
Bei einem Verkehrsunfall in Freihandelsabkommen abschloss,
Bottens bei Lausanne ist am was der Wirtschaft seither Vor-
Freitagabend ein 61-jähriger teile verschafft.
Autofahrer ums Leben gekom-
men. Er hatte in einer Kurve die Angst vor Übernahmen
Kontrolle über sein Fahrzeug Lange Jahre verfolgte der Bun-
verloren. Sein Auto überschlug desrat diese Politik weitgehend
sich, wie die Kantonspolizei unbehelligt von parteipoliti-
Waadt mitteilte. Der Mann, der schem Geplänkel. Es gab zwar
keine Sicherheitsgurten trug, parlamentarische Vorstösse, etwa
wurde bei dem Unfall aus dem zu Tibet und zur Menschen-
Auto geschleudert. Er wurde rechtslage in der sozialistischen
ins Universitätsspital Lausanne Diktatur. Insgesamt fristete die
gebracht, wo er kurze Zeit China-Politik im Parlament aber
später verstarb. (sda) eher ein Nischendasein.
Doch in dieser Legislatur hat
Glückspilz gewinnt sich das geändert. Parteien und
Parlamentarier haben die China-
35 Millionen Franken Politik für sich entdeckt. Drei Fak-
Zum ersten Mal in diesem Jahr toren haben diese Entwicklung
ist der Swiss-Lotto-Jackpot vorangetrieben: Die Übernahme
geknackt worden: Gut 35 Mil- von Firmen mit Sitz in der
lionen Franken gewann ein
Lotto-Spieler aus der Deutsch-
Schweiz durch chinesische Unter-
nehmen, beispielsweise von Syn-
schweiz oder aus dem Tessin. genta im Jahr 2016, welche die
Eine weitere Person tippte Öffentlichkeit aufschreckten. Die
sechs Richtige und gewann zunehmende Bedeutung der
eine Million Franken. (zzs.) Belt-and-Road-Initiative, mit der
China seine Einflusssphäre nach
Allianz «JA zur AHV-Steuervorlage», Postfach, 8001 Zürich
Bundespräsident auf Reise in
China: Präsident Xi Jinping
begrüsst Ueli Maurer zum
zweiten Belt-and-Road-Forum.
(Peking, 27. April 2019)
Europa und Afrika verschieben
und vergrössern will. Und in
jüngster Zeit der Positionsbezug
der EU, die China zunehmend als
Konkurrenten sieht und Pekings
Expansionspolitik abwehrend be-
gegnet. Doch der Reihe nach.
Die Übernahme von Syngenta
und weiterer Firmen durch chine-
sische Investoren führte in den
Jahren 2016 bis 2018 zu einem
ganzen Strauss parlamentari-
scher Vorstösse von der SP über
die CVP bis zur SVP. Die meisten
davon fordern, dass für die Lan-
desversorgung besonders wich-
tige Infrastrukturen vor ausländi-
schen Übernahmen geschützt
werden können oder dass wenigs-
tens eine Art Investitionskon-
trolle eingeführt wird. Oft wird
argumentiert, dass China seiner-
seits Investitionen aus dem Aus-
land einschränke, es gehe darum,
gleich lange Spiesse zu erhalten.
Ein Vorstoss von SP-Nationalrätin
Jacqueline Badran, der etwa Stau-
seen der «Lex Koller» unterstellen
und damit vor ausländischen
Übernahmen schützen will, hat
dass der Bundesrat sich an dieser
Initiative beteiligen will, «so kön-
nen wir an den entscheidenden
Diskussionen teilnehmen und
uns einbringen». Allerdings
müsse der Bundesrat endlich eine
kohärente China-Strategie vor-
legen, in der er die Interessen und
Ziele seiner Politik klar darlege.
Auch FDP-Ständerat Damian
Müller unterstützt den Kurs des
Bundesrats. Er begleitete Wirt-
schaftsminister Johann Schnei-
der-Ammann 2018 nach Zentral-
asien an die «Seidenstrasse». Er
sieht die Welt in einer Phase des
Umbruchs, China könnte «bis
2030 zur grössten Volkswirt-
schaft aufsteigen». Als stark auf
den Handel ausgerichtete Volks-
wirtschaft sei die Schweiz von
globalen Verschiebungen stark
betroffen. Der Bund müsse weiter
auf Öffnung setzen, das Frei-
handelsabkommen mit China
weiterentwickeln und nicht
selbst protektionistische Mass-
nahmen ergreifen, fordert Müller.
SP orientiert sich an EU
Ganz anders SP und Grüne. Die
Schweiz habe sich als «Brücken-
kopf» für die Vertretung chinesi-
scher Interessen in Europa ange-
dient und bloss Vorteile für
einzelne Schweizer Firmen ge-
sucht, kritisiert Grünen-Präsiden-
tin Regula Rytz, es brauche eine
die Kommissionen beider Räte Kurskorrektur. Das verlangt auch
passiert. Zudem hat im April die die SP-Fraktion in einem Posi-
SVP-Fraktion ein Positionspapier tionspapier von Mitte März, über
verabschiedet, das unter dem das die NZZ berichtete. So solle
Titel «Kein Ausverkauf unserer sich der Bund nicht an der Belt-
Heimat» entsprechende Ziele ver- and-Road-Initiative beteiligen,
folgt. Damit scheint eine Ein- sondern sich an der Politik der
schränkung der Investitionen aus EU orientieren. Diese bezeichnet
dem Ausland bald mehrheits- China als «Systemrivalen» und
fähig; dies entgegen der Position will unfaire Wettbewerbsprakti-
des Bundesrats. ken entschlossener bekämpfen.
Parallel zu dieser Diskussion Nicht nur SP und Grüne fordern
erwachte im Parlament auch das vom Bund ein mutigeres Vorgehen
Interesse an der Belt-and-Road- gegen Menschenrechtsverletzun-
Initiative. So führte die Präsiden- gen in China. Es genüge nicht,
tin der aussenpolitischen Kom- wenn die Schweiz «nebenbei,
mission, CVP-Nationalrätin Elisa- quasi beim Tee, auf die Menschen-
beth Schneider-Schneiter, im rechtssituation zu sprechen
Oktober mit einer Delegation eine kommt», sagt auch BDP-Fraktions-
Studienreise zur «neuen Seiden- chefin Rosmarie Quadranti. Die
strasse» nach China und Kasach- Menschenrechtspolitik müsse neu
ausgerichtet werden.
Und was tut der Bundesrat? Er
Insgesamt fristete hält in neuen Berichten und Ant-
worten auf parlamentarische Vor-
die China-Politik stösse an der bisherigen Politik
im Parlament ein fest. Trotzdem hat er jüngst in
Aussicht gestellt, seine China-
Nischendasein. Das Strategie noch in diesem Jahr auf-
hat sich geändert. zudatieren. Die Arbeiten laufen.

Für den Werk-

und Forschungsplatz Breite Allianz sagt JA!
t
+ international akzeptierte • Bundesrat und Parlamen
Firmenbesteuerung • Die Kantone
band
+ Abschaffung der Steuerprivilegien • Städte- und Gemeindever
P,
+ faires Steuersystem • CVP, FDP, SP, BDP, EDU, EV
+ pro Jahr 1 Milliarde Franken mehr viele SVP-Kantonalparteien
für Kantone und Gemeinden • economiesuis se
rband
+ klare Leitplanken für den • Gewerbe- und Bauernve
interkantonalen Steuerwettbewerb • Arbeitgeber verband
• Travail.Suisse
Für die AHV • Kaufmännischer Verban
d
+ AHV-Zusatzfinanzierung von

JA zur AHV-
2 Milliarden Franken pro Jahr

Zwei Pluspunkte für unser Land.

+ wichtiger Beitrag zur
Sicherung der AHV-Renten Steuervorlage!
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Schweiz 13

Der Schmuggel von Shisha-Tabak blüht

Die meisten Shisha-Bars verkaufen illegalen Tabak – Zollfahndung macht grosse Fänge. Von René Donzé

F
ür Ramses K.* hat das Jahr denkbar
schlecht begonnen: An einem Don-
nerstag im Januar hat ihn die Grenz-
wache in einem Thurgauer Dorf am
Rhein angehalten. Im Kofferraum hatte er
Wasserpfeifen, also Shishas, im Wert von rund
4000 Franken. Ohne Zolldeklaration. Doch
das war nur der Anfang. Einen Monat später
durchsuchte die Zollfahndung Lagerräume
seiner Firma im Norden des Kantons Zürich
und fand gegen 1,4 Tonnen illegal eingeführ-
ten Shisha-Tabak. Marktwert: 200 000 Fran-
ken. Hinterzogene Abgaben: 133 000 Franken.
Der 38-jährige Ägypter gab an, den Stoff in
Zürich Seebach bezogen zu haben, von Leuten
«mit Privatfahrzeugen mit vornehmlich aus-
ländischen Kennzeichen». Dies geht aus
einem Dokument hervor, das dieser Zeitung
vorliegt. Die Eidgenössische Zollverwaltung
bestätigt die Angaben auf Anfrage. Es war
nicht der einzige grosse Fang, den sie dieses
Jahr gemacht hat. Doch dazu später mehr.
Seit einigen Jahren boomt der Schmuggel
von Shisha-Tabak. «Ich kenne Leute, die von
Drogen- auf Shisha-Schmuggel umgestiegen
sind», sagt ein Kenner der Szene in der franzö-
sischen Schweiz. «Es ist weniger gefährlich
und bringt viel ein.» Mit einer Tonne Tabak
liessen sich gut und gerne 20 000 Franken
verdienen, sagt er. Im Ausland könne der
Tabak für rund 50 Franken pro Kilogramm be-
zogen werden, der Chauffeur erhalte 10 Fran-
ken, der Händler nochmals 10. Dann liege der
Preis mit 70 Franken pro Kilo noch immer bei
rund der Hälfte des offiziellen Preises. Auch in
Zürich wird der Stoff unter der Hand und in
gewissen Kiosken für 60 bis 70 Franken ange-
boten. Oft läuft der Schwarzhandel über fami-
liäre Strukturen mit Verbindungen in arabi-
sche Länder oder die Türkei.
80 Prozent ist Schmuggelware
Allein in der Stadt Zürich gibt es gegen 30 Shi-
sha-Bars. In einem Lokal an der Langstrasse
saugen am Mittwochnachmittag zwei junge
Geschäftsleute an den Schläuchen ihrer Was-
serpfeifen, den Laptop auf den Knien, das
Handy am Ohr. Gegenüber teilen sich zwei
Jugendliche eine Shisha. Das Wasser in den
Pfeifen blubbert, süsser Rauch liegt in der
Zollverwaltung
Mehr internationale Zusammenarbeit
Die Zollverwaltung will bei der Bekämpfung
von Schmuggel und Finanzbetrug effizien­
ter werden. Aus diesem Grund wurden die
verschiedenen Zollfahndungseinheiten
in eine neue Hauptabteilung Zollfahndung
in Bern zusammengefasst, die unter der
Leitung von Urs Bartenschlager steht. «Es
geht uns um eine bessere Zusammenarbeit
innerhalb der Schweiz, aber auch mit aus­
ländischen Behörden», sagt er. Vermehrt
werden zwischen den Ländern Informatio­
nen ausgetauscht, Rechtshilfe angeboten
und geleistet. Dabei beschränken sich die
Luft. Der Chef der Bar zeigt eine Dose. «Legale
Ware», betont er. Auf dem Deckel klebt ein
Preisschild: 140 Franken. «Die meisten Shi-
sha-Bars haben ein paar legale Dosen im Re-
gal, die sie dann mit Schmuggelware auffül-
len», sagt ein Insider. Beinahe alles, was dort
verkauft werde, sei unverzollt. Das bestätigt
Urs Bartenschlager, Chef der Hauptabteilung
Zollfahndung der Eidgenössischen Zollver-
waltung: «Wir gehen davon aus, dass der aller-
grösste Teil des in der Schweiz konsumierten
Shisha-Tabaks nicht legal importiert wurde.
Ich würde sagen, es sind rund 80 Prozent.»
An dieser Entwicklung ist der Bund nicht
unschuldig. «Der Bundesrat hat das illegale
Geschäft gefördert», sagt Abou Heba Hous-
sam. Er war einst einer der grössten Impor-
teure von Shisha-Tabak in die Schweiz. Doch
im Frühling 2015 hat der Bundesrat quasi über
Zollbehörden nicht auf Grenzkontrollen,
sondern führen auch Ermittlungen sowie
in der Folge Hausdurchsuchungen und
Beschlagnahmungen durch. Zu den Schwer­
punkten gehört die Bekämpfung von
gewerbsmässigem Schmuggel – neben
Tabak auch von Medikamenten, geschütz­
ten Tierarten oder Fleisch. So wurde erst
kürzlich ein Portugiese mit Wohnsitz in
Deutschland überführt, der rund 40 Ton­
nen Fleischspezialitäten in die Schweiz
geschmuggelt hatte. Er hatte Abgaben von
400 000 Franken hinterzogen. (rd.)
Nacht die Abgaben auf den Shisha-Tabak mas-
siv erhöht. Im Nachhinein stellte das Bundes-
verwaltungsgericht zwar fest, dass dies ver-
fassungs- und gesetzeswidrig war. Das Parla-
ment schuf die Gesetzesgrundlage dafür erst
2017. Doch die neue Steuer galt schon ab Mai
2015. Betrug sie davor 12 Prozent des Endver-
kaufspreises, waren es danach 25 Prozent plus
eine Abgabe von 38 Franken pro Kilogramm.
Unter dem Strich stiegen die Abgaben von
rund 6 auf mindestens 80 Franken pro Kilo. Die
Konsequenz: Der offizielle Handel brach ein,
Schmuggelei und Hehlerei blühten auf. «Heute
läuft alles über den Schwarzmarkt», so Abou
Heba Houssam. Er musste Angestellte entlassen,
Liegenschaften verkaufen. Noch immer kämpft
er darum, dass er seinen unter altem Recht ein-
geführten und im Zollfreilager eingelagerten
Tabak zu alten Konditionen versteuern darf.
Weniger Tabak – mehr Steuern
Entwicklung der Importe von Shisha-Tabak und der
damit verbundenen Steuereinnahmen
Import
800 t
700
600
500
400
300
200
100
0 0
2012 2013 2014 Januar– Mai–
April Dez.
2015
Quelle: Eidgenössische Zollverwaltung
Mit der Steuererhöhung wollte der Bund
zwei Ziele erreichen. Die Schweiz sollte nicht
mehr eine Preisinsel sein und damit Dreh-
scheibe für den Shisha-Tabak-Schmuggel aus
dem Nahen Osten in europäische Länder. Zu-
dem sollen die hohen Preise Jugendliche vom
Konsum des schädlichen Stoffs abhalten. Das
zweite Ziel wurde klar verfehlt. «Der Konsum
von Shisha-Tabak nimmt weiterhin zu», sagt
Matthias Oggenfuss, Geschäftsführer von Shi-
sha King. In seinem Laden in Zürich verkauft
er den Grossteil des Shisha-Tabaks an Privat-
kunden und nur wenig an Shisha-Bars. «Die
jungen Kunden sind nicht so preissensitiv und
gönnen sich den Shisha-Tabak zu den seit Mai
2015 höheren Preisen», sagt Oggenfuss. Bei
ihm kostet das Kilogramm umgerechnet rund
135 Franken. Er zeigt, was die offiziell impor-
tierten Produkte auszeichnet: Grossflächige,
schweizspezifische Warnung vor den gesund-
heitlichen Gefahren und eine Reversnummer
des importierenden Händlers.
Für die Bars steigen die Margen
Als Durchgangsland für Shisha-Tabak ist die
Schweiz seit der Steuererhöhung tatsächlich
nicht mehr attraktiv. 2014 wurden noch 860
Tonnen legal importiert, davon ging ein gros-
ser Teil schwarz weiter ins Ausland. Nun liegt
die offizielle Einfuhr nur noch bei 50 Tonnen
(Grafik). Die Steuereinnahmen hingegen
Die Nachfrage haben sich erholt, weil sie sich pro Kilo mehr
wächst weiter: als verzehnfacht haben. Die Erhöhung ist
Junge Gäste rau­ auch für viele Barbetreiber ein gutes Ge-
chen Shishas in schäft. Sie haben deswegen den Preis pro Shi-
einer Bar. sha von rund 15 auf 25 Franken angepasst,
verwenden aber den günstigen, illegalen
Tabak. Damit stieg ihre Marge. Das mag mit
ein Grund sein, dass das angekündigte Shi-
sha-Bar-Sterben nicht stattfindet. Leid-
tragend sind die Raucher, die mehr bezahlen
für Tabak, der nicht deklariert ist. «Das ist ge-
fährlich», sagt ein Shisha-Bar-Betreiber.
«Denn die Schmuggelware wird nicht auf In-
haltsstoffe kontrolliert.»
Für die Zollfahnder bedeutet es vor allem
viel Arbeit. «Die meisten Shisha-Bars führen
kein Lager mehr, vieles läuft heute über das
Tagesgeschäft», sagt Urs Bartenschlager, Chef
der Zollfahndung. Ab und zu kann einer über-
führt werden. Manchmal gelingt ein grosser
Schlag, wie jener gegen Ramses K. im Norden
des Kantons Zürich. Auch in Basel und der
Nordwestschweiz landeten die Fahnder einen
Coup. Sie führten Anfang Jahr 14 Durch-
suchungen durch und konnten den Schmuggel
von 850 Kilogramm Shisha-Tabak nachwei-
Steuern
sen. Der Schmuggler, ein «deutscher Staats-
4,0 Mio. Fr.
angehöriger mit Migrationshintergrund», habe
3,5
Abgaben in der Höhe von 82000 Franken hin-
3,0 terzogen, schreibt die Zollverwaltung auf An-
Nach der Einführung 2,5 frage. «Es ist klar, dass ein reger Handel über
der massiv höheren
Steuer im Mai 2015 2,0 die Landesgrenzen hinweg stattfand.» Eine
sind die Importe ein- 1,5 Statistik über sämtliche Fälle mit Shisha-Tabak
gebrochen. Die Steuer- führt die Zollverwaltung nicht. Den überführ-
einnahmen haben sich 1,0
wieder erholt.
ten Schmugglern drohen hohe Bussen. Sie
0,5
können bis zum Fünffachen der hinterzoge-
nen Abgaben betragen. Der beschlagnahmte
2016 2017 2018
Tabak in Zürich und Basel wurde vernichtet.
*Name geändert

Classe politique Gianni, Michi und die Abseitsregel

Show. Und wir anerkennen ehr-
FOTOS: KEYSTONE, BLOOMBERG

Martin
Landolt
Martin Landolt, Wahlkämpfer,
hat sich etwas Besonderes aus-
gedacht. Wenn meine Partei
schon in ihrer Existenz bedroht
ist, hat sich der BDP-Präsident
fürchtig: Endlich ein Slogan, der
mindestens einmal zur Hälfte
vollkommen wahr ist.
Tidjane Thiam, Millionensamm-
ler, erhält in der Politik nur wenig
Tidjane Bonus. Der Chef der Credit
Thiam Suisse hat letztes Jahr seinen
Verdienst um 30 Prozent auf 12,7
Millionen Franken erhöht. Damit
trägt er zwar so viel zur Finanzie-
rung der AHV bei wie kaum ein
anderer. Dennoch ist Thiams
Lohn nun so hoch, dass es selbst
die Kelche, «und da ist das Tor», das Schnit-
zel. «Wenn nun ein Angreifer, nennen wir ihn
Franz, ohne Ball hinter die Abwehrreihe vor-
stösst», der Fifa-Präsident stellte ein Weiss-
weinglas zwischen Schnitzel und Rotwein
und legte den Zitronenschnitz, den Ball, auf
die andere Seite der Kelche, «so dass sich
zwischen Franz und der Grundlinie», er deu-
tete auf den Tellerrand, «nur der Torhüter
befindet», ein langes Pommes frites, «dann
Showdown steht Franz abseits.»
Stefan Bühler Lauber nickte,als hätte er verstanden, wie
das viele wichtige Leute gerne machen: «Und
wer eröffnet nun das Verfahren gegen Franz,
erklärte Gianni. «Weil aber auch der Franz
langsam älter wird», fuhr der Fifa-Präsident
nun fort, «hat ihm Sepp vor dem Spiel einen
schönen Betrag überwiesen für den Kauf
eines Hörgeräts. Doch dummerweise hat
Franz vergessen, eine Batterie einzusetzen.
Das Ding funktioniert nicht. Weil Franz ihn
ohnehin nicht hören könnte, verzichtet Sepp
deshalb darauf, seinen alten Freund zurück-
zupfeifen – allerdings nur unter der Bedin-
gung, dass er ihm nach dem Spiel das Geld
fürs Hörgerät wieder zurückzahlt. Franz ist
einverstanden, Sepp pfeift nicht, und das
Abseits ist hinfällig. Franz erzielt ein Tor.»

wohl gesagt, dann muss wenigs-
tens eine originelle Kampagne
her. Und darum hat Landolt
seinen Delegierten am Samstag
nun folgenden Slogan für die
Wahlen 2019 präsentiert: «BDP.
Langweilig, aber gut.» Die Partei,
so die Begründung, unterstrei-
che damit, dass sie auf Sachpoli-
tik setze und nicht auf Polit-
den Verwaltern des Sozialwerks
zu viel ist. Der AHV-Fonds lehnte
am Freitag an der Generalver-
sammlung der Grossbank sowohl
den Vergütungsbericht wie die
Boni der Bankspitze ab. Die AHV-
Kassenwarte hätten es wohl
lieber gesehen, ihre CS-Aktien
wären um 30 Prozent gestiegen
statt der Lohn des Bankchefs.
G
ianni», sagte Bundesanwalt Michael
Lauber zum Fifa-Präsidenten im
Hotel Schweizerhof in Bern, «erklär
mir doch bitte die Abseitsregel.
Für meine Arbeit ist das eminent wichtig.»
«Schau Michi», entgegnete darauf Infan-
tino, «es ist ganz einfach.» Er stellte vier zur
Hälfte gefüllte Rotweinkelche nebeneinan-
der vor den Teller mit dem Wienerschnitzel.
«Das ist die Abwehrreihe», Gianni zeigte auf
um ihn zurückzupfeifen?»
«Unser Linienrichter Michel.» Gianni legte
eine Gabel an den Tischrand, «zusammen
mit dem Schiedsrichter, unserem sehr erfah-
renen Sepp.» Er platzierte einen krummen
Kaffeelöffel zwischen alle die Gläser. «Sepp
und Michel sprechen sich über Funk ab, ob
Franz nun abseitssteht oder nicht. Kommen
sie zum Schluss, dass Franz», das Weisswein-
glas, «näher an der Grundlinie steht als der
letzte Rotweinkelch, pfeift unser Sepp»,
Gianni holte Atem: «Alles klar, Michi?»
Mitnichten! Lauber war von den Ausfüh-
rungen des Fifa-Chefs komplett überfordert:
«Hä?», fragte er entgeistert.
Gianni resignierte: «Wenn du nicht einmal
das begreifst, wirst du unseren Fussball nie
verstehen. Besser, du vergisst einfach alles!»
Das nahm sich der Bundesanwalt zu Herzen.
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Die Demokraten sollten sich von
ihrem Trump-Trauma lösen
Wollen die US-Demokraten im
2020 gewinnen, müssen sie
aufhören, obsessiv den
Präsidenten zu kritisieren, und
wieder Politik machen. Nicht
nur für Minderheiten und
Linke, sondern für das ganze
Land, meint Gordana Mijuk
Senior von
Beruf
Maximilian Reimann, ältester
Nationalrat der Schweiz, denkt
nicht ans Aufhören und
umgeht die Altersguillotine
der SVP. Er kämpft gegen
Diskriminierung – meistens.
Von Anja Burri
Z
weieinhalb Jahre lang hatten die
Demokraten gehofft, dass Son-
derermittler Robert Mueller den
Albtraum Donald Trump beenden
würde. Sie hatten gehofft, dass
der Bericht, der die Beziehung
von Trumps Präsidentschaftskampagne zu
Russland beleuchtet, allen klar machen
würde, dass im Weissen Haus ein Hochstap-
ler, ja ein Verräter sitzt. Und dass die letzten
zwei Jahre ein schlimmer Fehler waren.
Doch die lang erwartete Erlösung blieb
aus. Der Bericht des Sonderermittlers enthält
keine Beweise, wonach Trump und sein
Wahlkampfteam mit den Russen zusammen-
spannten, um seiner Rivalin Hillary Clinton
bei den Präsidentschaftswahlen 2016 zu
schaden. Die Frage, ob Trump die Justiz
behindert hat, beantwortet Mueller zwar
nicht abschliessend. Er sieht aber auch in
diesem Punkt davon ab, juristisch gegen
Trump vorzugehen.
Unter diesen Voraussetzungen ist eine
Amtsenthebung des US-Präsidenten prak-
tisch chancenlos. Der Traum vom raschen
Ende Trumps ist ausgeträumt. Denn dafür
brauchte es eine Zweidrittelsmehrheit im
Senat. Die kleine Kammer wird jedoch von
den Republikanern dominiert, und diese
denken nicht daran, Trump zu schaden.
Ein Teil der demokratischen Partei will
dennoch weiter Krieg gegen Trump führen
und im Repräsentantenhaus ein Amtsent-
hebungsverfahren auslösen. Ein Impeach-
ment wäre aus demokratischer Sicht aller-
dings dumm. Nicht nur, weil es aussichtslos
wäre. Ein solches Verfahren würde auch
dazu führen, dass die demokratische Partei
weiter in ihrem Trauma der Trump-Wahl
gefangen bliebe. Die Partei muss sich lösen
von ihrer Obsession von Trump, wenn sie
Trump bei den nächsten Präsidentschafts-
wahlen besiegen will.
E
r hätte gute Gründe, sich zufrie-
den zurückzulehnen. In seinen
bald 77 Lebensjahren ist Maxi-
milian Reimann Jurist gewor-
den, Delegierter des Internatio-
nalen Komitees vom Roten
Kreuz, Fernsehmoderator, Finanzdirektor
eines Exportunternehmens, National- und
Ständerat, Verwaltungsrat, Ehemann und
Vater von zwei Töchtern. Doch nun
beschleicht ihn ein Gefühl, das er bisher
nicht kannte: Er fühlt sich diskriminiert –
aufgrund seines Alters.
Seine Partei, die SVP Aargau, hat für Natio-
nalräte ab 63 Jahren eine Altersguillotine
eingeführt. Wer seinen Platz nicht freiwillig
räumt, muss am Parteitag mit mindestens
zwei Dritteln der Stimmen nominiert
werden. Diesem Verfahren wollte sich Natio-
nalrat Reimann, der seit gut 32 Jahren im
Parlament sitzt, nicht stellen und zog sich
zurück. Geschlagen gibt er sich aber nicht.
Lieber orientiert er sich an ausländischen
Politgrössen: Der Präsident des Deutschen
Bundestages Wolfgang Schäuble sei gleich alt
wie er, die US-Demokratin Nancy Pelosi sei
zwei Jahre älter und Sprecherin des Reprä-
sentantenhauses, schreibt er in einer E-Mail.
Reimann tritt auch diesen Herbst als
Nationalratskandidat an. Nicht mehr für die
SVP, sondern für eine überparteiliche Senio-
renliste. Sechs Kandidatinnen und Kandida-
ten gehören bisher zum «Team 65+». «Wenn
es die Parteien mit den Altersguillotinen
allzu sehr auf die Spitze treiben, müssen sie
sich nicht wundern, wenn als Gegenreaktion
unabhängige Seniorenlisten lanciert
werden», sagt er. Denn auch Senioren müss-
ten angemessen im Nationalrat vertreten
sein. Von einem Zerwürfnis mit der SVP
könne nicht die Rede sein. Er bleibe Partei-
mitglied, betont er. Die Beziehung zur Volks-
SANDRA NIEMANN
partei scheint dennoch leicht angespannt:
Diese Woche ermahnte SVP-Doyen Christoph
Blocher den widerspenstigen Senior in seiner
Explosion der Hormone Leonardo da Vinci
Wenn der Sohn die erste und Warum der Gelehrte mit
der Vater gleichzeitig die zweite geradezu göttlichen Fähigkeiten
Pubertät erleben 16 ein Aussenseiter blieb 20
Trump war stets nur ein Symptom für den
Zustand der USA, nie die Ursache. Er hat es
verstanden, Millionen von Menschen aus
dem Herzen zu reden und ihrer Wut Luft zu
machen, weil sie sich in Washington nicht
mehr repräsentiert fühlten. Diese Trump- Wie man
Wähler wären entsetzt, würde die von ihnen Trump
verhasste politische Elite versuchen, ihren schlagen kann,
Präsidenten abzusetzen. Kommt hinzu: Der
zeigten die
Mehrheit der Bevölkerung ist der Mueller-
demokrati-
Bericht egal. Das meiste, was nun schwarz
auf weiss vorliegt, war zu grossen Teilen schen
bekannt und konnte Trump nichts anhaben. Kandidaten bei
Statt sich über den Präsidenten aufzu- den Zwischen-
regen und ihm vorzuwerfen, dass er die
Demokratie gefährde und das Land spalte, wahlen im
sollten sich die Demokraten besser über- Herbst. Sie
legen, wie sie das Land einen können. Sie ignorierten
müssen die Ursachen von Trump bekämp- ihn und spra-
fen, und sie müssen ihre Vision für die USA
formulieren. Tun sie das nicht, werden sie
chen Probleme
2020 scheitern. der Bevölke-
Trumps Vision dröhnt sogar hier in Europa rung an.
in den Ohren. Seine Strategie ist klar und
kohärent. Er setzt auf die Bekämpfung der
Immigration und auf Nationalismus. Trump
zeichnet eine Welt, in der Ausländer den
Amerikanern die Jobs wegnehmen und sich
an ihrem Wohlstand bereichern wollen. Die
demokratische Elite schaue tatenlos zu. Er
als Präsident werde die Invasion stoppen.
Mit einer Mauer, mit Gesetzen, mit Militär.
Die Demokraten haben diesem Narrativ
kaum etwas entgegenzusetzen. Sie empören
sich über Trumps Grenzschutz und die Not
der Migranten. Lösungen zur Zuwanderung
haben sie aber nicht. Das ist fatal.
Die Demokratische Partei wurde durch die
Niederlage 2016 schwer erschüttert. Seither
hat sie sich zwar wieder aufgerappelt, noch
ist aber unklar, wie sich die Partei neu aus-
richtet. Sie ist zerrissen zwischen linken und
moderaten Kräften. Und seit den Zwischen-
Online-Sendung «Teleblocher»: Natürlich
schade die Seniorenliste der Partei.
Reimann, der seit seiner Geburt im Aar-
Dass Politik für
gauer Fricktal lebt, stammt aus einer politi-
schen Familie. Sein Vater war Gemeinderat
in Frick für die Bauern-, Gewerbe- und Bür-
Senioren in gerpartei (BGB), die Vorgängerin der SVP. Er
Zeiten der selber schloss zuerst sein Jus-Studium ab,
Überalterung bevor er der CVP beitrat. Ein paar Jahre
später wechselte er zur SVP. Als Sportmode-
gefragt ist, rator des Schweizer Fernsehens war er
realisierte er bereits national bekannt, als er 1987 für die
vor knapp SVP in den Nationalrat gewählt wurde.
zehn Jahren. Dass Politik für Senioren in Zeiten der
Überalterung gefragt ist, realisierte Reimann
vor knapp zehn Jahren. Er ärgerte sich über
NZZ am Sonntag 28. April 2019
15
wahlen im Herbst wird die Partei auch von
vielen starken Frauen, von Minderheiten
und jungen pragmatischen Kräften geprägt.
Nun müssen die Demokraten eine Führungs-
figur finden, die diese Partei eint. Ob dies
gelingt, ist offen.
Unter den Kandidaten der demokrati-
schen Präsidentschaftsnomination schwin-
gen derzeit in den Umfragen zwei alte,
weisse Männer obenaus: Joe Biden und
Bernie Sanders. Sanders, 77, ist die Galions-
figur von sozialistischen Millennials, die die
Partei nach links drücken. Ob er mehrheits-
fähig ist im ganzen Land, ist zu bezweifeln.
Joe Biden, 76, wird dagegen als moderate
Kraft gehandelt und als der Mann, der Trump
schlagen könnte. Er wird von jenen unter-
stützt, die Trump verabscheuen und sich
zurücksehnen nach den guten alten Obama-
Zeiten. Doch diese Zeiten sind vorbei. Biden
steht für die Vergangenheit. Sein diese
Woche publiziertes Video zur Lancierung
seiner Kandidatur hat vor allem eine Bot-
schaft: Amerika ist besser als Trump. So
werden die Demokraten nicht gewinnen.
Wie man Trump schlagen kann, zeigten
dagegen die demokratischen Kandidaten bei
den Zwischenwahlen im Herbst. Sie ignorier-
ten Trump in ihren Kampagnen und spra-
chen Probleme der Bevölkerung an: die
Gesundheitsversorgung, die Steuerbelas-
tung. So gewannen sie wichtige Sitze im
Rostgürtel von den Republikanern zurück,
die sie vor zwei Jahren verloren hatten.
Die Demokraten müssen den Amerikanern
Lösungen bieten für Probleme, die diese
täglich belasten. Und sie müssen eine Füh-
rungsfigur finden, die eine authentische und
glaubwürdige Politik betreibt für das ganze
Land. Die nächsten Monate werden zeigen,
ob im 20-köpfigen Kandidatenfeld eine
solche Person zu finden ist und ob die Partei
mutig genug ist, auf neue Kräfte zu setzen.
die Regel, wonach in der Schweiz Autofahrer
ab 70 Jahren einen medizinischen Check-up
machen müssen, und überzeugte das Parla-
ment davon, die Altersgrenze auf 75 Jahre zu
erhöhen. Es ist sein grösster politischer
Erfolg der letzten Jahre. Für solche Ziele
werde er sich weiter einsetzen, wirbt er in
den sozialen Netzwerken und postet dazu
eine Foto, die ihn auf einem Traktor zeigt. Er
trägt den Freizeit-Look der Senioren, ein
Kurzarmhemd, den Pullover über den Schul-
tern, Turnschuhe mit Klettverschluss, und er
hält das Steuer fest in beiden Händen, als ob
er damit sagen wollte: So schnell lässt Rei-
mann nicht los. Die Sicherung der AHV ist
ihm ein wichtiges Anliegen. Und er ist Mit-
glied des Komitees für die Volksinitiative
«Schutz vor Altersdiskriminierung». Diese
will erreichen, dass gegen Benachteiligungen
aufgrund des Alters, etwa am Arbeitsplatz,
geklagt werden kann – als Vorbild dient das
Gleichstellungsgesetz.
Als dieses in den neunziger Jahren einge-
führt wurde, sass Reimann im Nationalrat. Er
spielte mit drei anderen Bürgerlichen eine
zentrale Rolle in den Beratungen, sie ver-
suchten mit zahlreichen Anträgen, das
Gesetz abzuschwächen. «Antifeministen
sperren sich gegen die Gleichstellung der
Frauen», titelte die «Sonntagszeitung».
Heute sagt Reimann, selbstverständlich
könne er die Frauen verstehen, die sich für
Gleichstellung einsetzten. Doch diese Kreise
hörten es nicht gerne, dass da auch die
Gleichstellung beim Rentenalter dazugehöre,
also AHV ab 65 für alle. Er hat dies im Parla-
ment thematisiert: Weil die Frauen mit 64
Jahren das AHV-Alter erreichen, profitieren
sie ein Jahr früher vom Seniorentarif beim
SBB-Generalabonnement. «Ein Verstoss
gegen die Gleichberechtigung von Mann und
Frau?», wollte Reimann vom Bundesrat
wissen. Er ist davon zum Glück nicht betrof-
fen: Als Nationalrat hat er Anrecht auf ein
SBB-Generalabonnement für die 1.Klasse.
16
Gastkolumne
Was
Carl Spitteler
auch noch
sagte
Der Nobelpreisträger erklärte 1914
in einer berühmten Rede, was für
ihn zur Neutralität gehört: eine
leise, bescheidene Aussenpolitik
Paul Widmer
V
or hundert Jahren erhielt Carl
Spitteler den Nobelpreis für Litera-
tur. Daran erinnerten in einem
Festakt in Liestal mehrere Persön-
lichkeiten, auch Bundesrat Alain Berset.
Spitteler feiern? Das ist nicht selbstverständ-
lich. Man kennt ihn kaum noch und liest ihn
sowieso nicht mehr. Nur eine Rede bleibt im
Gedächtnis haften. Am 14. Dezember 1914
rüttelte er vor der Neuen Helvetischen
Gesellschaft in Zürich das Publikum auf.
«Unser Schweizer Standpunkt», wie er die
Rede nannte, wirkte weit über den Anlass
hinaus – und machte den ehedem im Deut-
schen Reich Gefeierten zu einem Verfemten.
Was sagte Spitteler in seiner Ansprache? Er
forderte mehr eidgenössischen Zusammen-
halt. Denn der Bundesstaat war gespalten
wie noch nie. Statt vor der eigenen Haustür
zu kehren und sich um einen Ausgleich im
Innern zu kümmern, fieberten die meisten
Deutschschweizer mit den Deutschen, die
Welschen dagegen mit den Franzosen.
Spitteler zögerte lange, ehe er sich dem
Auftrag unterzog. Er wusste, was auf dem
Spiel stand: sein Ruf. Er musste mit einer
Ächtung in Deutschland rechnen. So war es
schon Ferdinand Hodler ergangen, als er
gegen die Bombardierung der Kathedrale
von Reims protestiert hatte. So erging es
auch ihm. Prompt traf ihn der Bannstrahl aus
49 Prozent
Pubertät hoch zwei
Patrick Imhasly
A
ngefangen hat es mit beharrlichem
Zwicken im Rücken. Diagnose:
Arthrose im zweiten Lendenwirbel
wegen altersbedingter Abnützung.
Bald darauf waren die Arme zu kurz, um
noch ein Buch lesen zu können, und ich
musste das Feriengeld der Familie in eine
Gleitsichtbrille investieren. Heute wachsen
die Haare an den Augenbrauen rasend
schnell, andernorts fallen sie aus. Die zwei
Kilogramm zu viel auf den Hüften sind nicht
mehr wegzukriegen. Ich brauche die Woche
über genügend Schlaf. Habe ich am Vorabend
zwei Bier über den Durst getrunken, fühle ich
mich wie ein ausgewrungener Bodenlappen.
Aber jetzt, da die «NZZ am Sonntag» in
einer Serie über die «zweite Pubertät»
Meinungen
ILLUSTRATION: GABI KOPP
Berlin, als er die Parteinahme der Deutsch-
schweizer heftig kritisierte. Und in der
Schweiz? Im alemannischen Teil verschrien
ihn viele als Marionette der Entente, in der
Westschweiz hingegen vernahm man seine
Rede mit Erleichterung. Aber niemand hätte
dort den Mut aufgebracht, es ihm gleichzu-
tun. Die Neue Helvetische Gesellschaft fand
keinen Redner, der – wie beabsichtigt – den
Romands ihren Spiegel vorgehalten hätte.
Spitteler sagte auch Wegweisendes zur
Neutralität. Dieses Privileg verpflichtet.
Gerade weil sich die Schweiz aus einem Krieg
heraushalten darf, muss sie allen Nationen
gegenüber aufgeschlossen und gerecht sein.
Sie darf die Belgier und die Serben nicht
durch die Linsen fremder Kriegspropaganda
beurteilen. Sie muss ihren eigenen ethischen
Anforderungen genügen.
So weit, so gut. Das wurde in den Anspra-
chen gewürdigt. Doch Spitteler sagte auch
anderes. Er nahm nicht nur den innenpoliti-
schen Zank aufs Korn, er verurteilte auch
übertriebenes aussenpolitisches Sendungs-
bewusstsein. Davon sprach niemand.
Wie sah es denn damals aus? Ganz
ähnlich wie heute. Blenden wir den histori-
schen Kontext ein. Es wimmelte von
Friedensaktivisten. Professoren und Pfarr-
herren zogen ihre Friedenspläne aus der
Schublade, Schulklassen bestürmten den
Bundesrat, die Sozialdemokraten und
der Verband für Frauenstimmrecht forder-
ten: Um Himmels Willen, tut etwas Tapferes
in Bern, verhandelt, vermittelt.
Da spielte Spitteler nicht mit. Im Gegen-
teil. Er legte seinen Landsleuten ans Herz,
bescheiden zu sein. Den Idealisten, die von
einer grossen Rolle der Schweiz auf der Welt-
bühne träumten, rief er zu: «Und da wir doch
einmal von Bescheidenheit sprechen, eine
schreibt – also darüber, wie sich Menschen in
der vermeintlichen Midlife-Krise neu erfin-
den und erst so richtig aufblühen – wird für
mich alles besser. In diesen Tagen ist mir
bewusst geworden, dass meine Probleme mit
dem Altern knapp nach 50 nichts anderes
sind als Geburtsschmerzen beim Aufbruch in
ein neues Leben. Die Karten werden wieder
gemischt – fortan ist alles möglich. Womit
sich allerdings bisher noch kein Experte
beschäftigt hat: Wie geht man damit um,
wenn in einer Familie nicht nur der Vater
seine zweite Pubertät durchmacht, sondern
zur gleichen Zeit der ältere Sohn seine erste
Pubertät erlebt? Das ist eine Gemengelage
mit Sprengkraft, wie derzeit in unserer
Familie zu erleben ist.
Der Kopf dreht sich. Weil das Gehirn im
Alter weniger durchblutet wird und die Zahl
der Hirnzellen abnimmt, lässt mein Kurzzeit-
gedächtnis nach. Wenn ich mir beim Telefo-
nieren den Namen eines Gesprächspartners
nicht zu Beginn notiere, habe ich ihn am
Ende der Unterhaltung oft vergessen. Auch
hat sich mein Denken bereits verlangsamt,
was sich dabei zeigt, dass ich in den soge-
nannten Idiotentests meiner Kinder nicht
schüchterne Bitte: Die patriotischen Phanta-
sien von einer vorbildlichen (oder schieds-
richterlichen) Mission der Schweiz bitte
möglichst leise.»
Man spürt hier die Gedankenwelt von
Spitteler hat Jacob Burckhardt, Spittelers Lehrer am
für seine Rede Basler Pädagogium. Wie dieser war er der
einen hohen Ansicht, Neutralität vertrage sich schlecht
mit aussenpolitischer Geltungssucht.
Preis bezahlt.
Die Weltpolitik überlasse man ruhig den
Der Nobelpreis Grossmächten. Die Schweiz kümmere sich
war eine späte gescheiter um ihre eigene Ordnung. Nicht
Genugtuung, mit einem mächtigen, sondern mit einem
vielleicht freiheitlichen Staatswesen müsse sie über-
zeugen. Das sei ihre Bestimmung.
auch eine Damit spricht Spitteler die beiden grund-
Auszeichnung sätzlichen Seiten der Neutralität an: das
seines Mutes. Abseitsstehen und das Zeugnisablegen. Ein
Neutraler darf in einem Konflikt nicht Partei
ergreifen, auch nicht sich aufdrängen. Er
muss abseitsstehen. Aber er muss auch jenen
Grundsätzen nachleben, die seine neutrale
Haltung erst rechtfertigen. Er darf nichts
unternehmen, was die Beendigung eines
Konflikts erschwert. Vielmehr muss er
den Friedensprozess mit den ihm eigenen
Mitteln erleichtern. Die Schweiz versucht
seit 150 Jahren, das Privileg der Neutralität
zweifach zu kompensieren: auf humanitärer
Ebene mit einem besonderen Engagement
für Kriegsopfer, auf diplomatischer Ebene
mit Schutzmachtmandaten.
Spitteler hatte für seine mutige Rede einen
hohen Preis bezahlt. Die Verleihung des
Nobelpreises für das Jahr 1919 war eine späte
Genugtuung, vielleicht auch eine Auszeich-
nung seines Mutes. Denn unterdessen hatte
die Entente über die Mittelmächte gesiegt.
Paul Widmer war Diplomat und lehrte an der
Uni St. Gallen internationale Beziehungen.
besonders gut abschneide. Diese gehen zum
Beispiel so: Auf einem Baum hat es zwanzig
Vögel, ein Jäger schiesst einen herunter, wie
viele bleiben übrig? Aber auch im Gehirn
meines 13-jährigen Sohnes geht es drunter
und drüber. In der ersten Pubertät werden Heute
im Gehirn nicht benötigte Nervenverbindun- wachsen die
gen aussortiert und neue geknüpft. Solche Haare an den
Umbauarbeiten könnten ein Grund für das
Augenbrauen
bisweilen irrationale Verhalten Jugendlicher
sein – und auch erklären, warum mein Sohn rasend schnell,
manchmal wie ein Zombie am Tisch sitzt und andernorts
keinen geraden Satz über die Lippen bringt. fallen sie aus.
Die Hormone spielen verrückt. Bei
meinem älteren Sohn schiesst der Testoste-
ronspiegel gerade steil nach oben. Wenn er
sich wegen mir ärgert und sich dann vor mir
aufpflanzt, darf ich auf gar keinen Fall an der
Spirale drehen, sondern muss mir überlegen,
wie ich die Situation einigermassen elegant
deeskalieren kann. Bei mir passiert so ziem-
lich das Gegenteil: Das langsame Absinken
meines Testosteronspiegels manifestiert sich
darin, dass ich mich selbst von kitschigen
Liebeskomödien zu Tränen rühren lasse.
Nicht einmal meine Frau kann das immer
nachvollziehen.
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Medienkritik
Die Demokratie
retten in
15 Minuten
Stephan Klapproth
S
o hat sich Mark Zuckerberg einen
Poltergeist nicht vorgestellt. Die
Frau, die dem mächtigsten Milch-
gesicht des Universums nachstellt,
kommt im rot-schwarzen Blümchenkleid
auf die TED-Talk-Bühne. Jugendliche 49,
offenes blondes Haar und der mild-
strenge Tonfall der Primarlehrerin, die
man sich immer gewünscht hat: So hält
Carole Cadwalladr ihren Vortrag «Face-
books Rolle beim Brexit und die Bedro-
hung der Demokratie». Die Silicon-Valley-
Barone in der ersten Reihe hätten sich
derweil eine andere Rednerin an der Kult-
Konferenz der Digitalgötter gewünscht.
Too late. Die Facebook-Führung hatte
zwar Einblick ins Manuskript verlangt
und fiebrig nach Faktenfehlern gesucht.
Aber dort vorne stand die derzeit hart-
näckigste Journalistin der Welt. Die Pulit-
zerpreis-Finalistin hat aufgedeckt, wie
die Zauberlehrlinge der Firma Cambridge
Analytica mit Daten von Millionen Face-
book-Usern die Trump-Wahl und die Bre-
xit-Abstimmung beeinflussten. Und die
Britin schwieg auch nicht, als milliarden-
schwere Brexit-Financiers ihr mit Millio-
nenklagen drohten und auf Twitter raun-
ten, in Russland würde sie «sich nicht so
vollmundig zu äussern trauen».
So akribisch zeichnete Carole Cadwal-
ladr im «Observer» nach, wer beim Brexit
welche Wahlgesetze brach, dass eine
Unterhaus-Kommission auf den Plan trat.
Doch die anderen Medien inklusive BBC
blieben weitgehend still. Darum machte
sie aus ihrer mehrjährigen Recherche
jetzt eine 15-minütige Brandrede für die
Demokratie. Zu Beginn sei ihr die Luft
weggeblieben, schrieb sie danach. Doch
atemberaubend bleibt, wie sie den Social-
Media-Machthabern an den Kopf wirft:
«Democracy is broken, and you broke it.»
Nach dem tosenden Applaus habe ihr ein
Zuschauer gesagt: «Die TED-Konferenz
ist der Tempel von Zuckerberg und Co.,
und du hast ihnen auf den Altar gekackt.»
Herunterladen lohnt sich, no shit.
Stephan Klapproth ist Ex-Newsanchor,
Uni-Dozent und Kongressmoderator.
Gewissheiten lösen sich auf. Im Umgang
mit meinem grossen Sohn bin etwas verun-
sichert. Liebesbezeugungen erhalte ich nicht
mehr gratis und franko, sondern nach Lust
und Laune. Kontrollieren lässt er sich immer
weniger. Aber er selbst hat es ja auch nicht
leicht. Sich klar zu werden, was er kann und
was er will, seinen Weg in die Gesellschaft
zu finden, ist eine Herkulesaufgabe, die ihn
stresst und um die ich ihn nicht beneide.
Mein älterer Sohn und ich sitzen im
gleichen Boot und bilden eine Art Schicksals-
gemeinschaft. Das schafft Nähe und Ver-
trauen, ist aber auch gefährlich, weil unsere
Reise in eine andere Richtung geht. Er muss
das Leben ausprobieren, ich meines aussor-
tieren. Ich habe mir vorgenommen, ihn auf
seinem Weg nach Kräften zu unterstützen,
ohne aber seine Befindlichkeit oder die
seines Bruders zum Sinn meines neuen
Lebens nach 50 zu machen. Umgekehrt
muss er kein Mitleid mit mir haben, sollte
ich in der nächsten Zeit wieder einmal
rührselig werden.
Patrick Imhasly ist Redaktor im Ressort
Wissen der «NZZ am Sonntag».
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Meinungen
Standortwettbewerb
Zu viel Ungewissheit wirft
die Schweiz zurück
In unzähligen Ländervergleichen hat die Schweiz tradi­
tionell besser als alle Konkurrenten abgeschnitten: In
einer turbulenten Welt gilt die Schweiz als Hort der
politischen Stabilität. Das kann man im Jahr 2019 nicht
mehr uneingeschränkt behaupten. Gleich in drei Kern­
fragen, die im Standortwettbewerb entscheidend sind,
herrscht grosse Ungewissheit: Das Verhältnis zur EU,
dem wichtigsten Handelspartner, ist seit der Debatte
um den Rahmenvertrag ungeklärt. Ferner hat die SVP
im letzten August eine Initiative zur Kündigung der
Personenfreizügigkeit mit der EU eingereicht. Damit ist
die Verfügbarkeit von Talenten, in einer neuen Studie
von McKinsey als wichtigster Faktor der Standort­
attraktivität identifiziert, ebenfalls fraglich. Und drit­
tens weiss im Moment keine ausländische Firma, die
sich in der Schweiz niederlassen möchte, wie stark ihre
Gewinne künftig besteuert werden. Dazu muss man
zuerst die Abstimmung auf Bundesebene abwarten,
darauf folgen noch weitere Steuervorlagen in den Kan­
tonen. Die Ungewissheit hat ihren Preis: Die Nieder­
lande konnten von den Brexit­Wirren profitieren und
wegzugswillige internationale Firmen gewinnen – die
Schweiz nicht. Die Stimmbürger werden am 19. Mai
Gelegenheit haben, in Sachen Steuerbelastung und
AHV Klarheit zu schaffen. Daniel Hug
Bistum Chur
Es ist noch kein Bischof vom
Himmel gefallen
Alle warten auf den Abgang von Vitus Huonder. Das ist
nicht böse gemeint. Auch jene Gläubigen, die Gefallen
finden an seinem streng konservativen Kurs, möchten
endlich wissen, wie es weitergeht in Chur. Seit zwei
Jahren versucht der Bischof zurückzutreten. Der erste
Anlauf scheiterte 2017, weil der Papst überraschend um
eine Verlängerung bat. Allerdings nahm er den Rücktritt
bereits damals an. «Nunc pro tunc» nennen sie das in
der Kirche, «nun für dann». Gemeint war Ostern 2019,
das musste allen klar sein. Aber jetzt sieht es so aus, als
seien die Geistlichen völlig perplex, dass schon wieder
Karfreitag ist. Jedenfalls steht kein neuer Oberhirte
bereit. Am Ostermontag teilte man mit, Huonder bleibe
Bischof, bis der Nachfolger feststehe. Wann die Amts­
zeit des 77-Jährigen ende, sei «noch nicht bekannt». So
kurz die Mitteilung, so gross die Verwirrung. Bald wurde
vermutet, eine zweite Verlängerung stehe an. Das ist
abwegig, Huonders Ära wird bald enden. Aber das öster­
liche Versteckspiel offenbart Unvermögen auf allen
Stufen. Ob die Fehler in Chur passieren, in Rom oder
beim päpstlichen Gesandten in Bern, der die Wahl vor­
bereitet, spielt keine Rolle. Die Verkündigung des neuen
Bischofs ist bis jetzt keine frohe Botschaft. Daniel Meier
Reisen
Fliegen ist zu günstig
Der Verzicht auf das Fliegen ist ein Kernanliegen der
Klimabewegung. Doch Reisen ist in unseren Breitengra­
den zur Selbstverständlichkeit geworden, nur wenige
sind bereit, aus moralischen Gründen zurückzustecken.
Die Reisebranche erwartet diesen Sommer so viele
Buchungen wie im Vorjahr. Flugreisen bleiben der
Renner, nicht zuletzt in die Türkei oder nach Ägypten.
Dort regieren zwar autokratische Regime, aber das Reisen
ist auch besonders günstig. Die Schlangen an den Flug­
schaltern werden nicht kürzer, solange die Flugpreise so
niedrig bleiben wie zurzeit. CO2­Kompensationszahlun­
gen erleichtern höchstens unser Gewissen. Deutschland
hat einen anderen Weg eingeschlagen und sondiert die
Einführung einer CO2­Steuer. Franziska Pfister
Chappatte
Der externe Standpunkt
Warum es so schwierig ist, einen
Hausarzt zu finden
Die Schweizer Ärzte sind schlecht verteilt: zu viele in den Städten, zu
viele Spezialisten. Das lässt die Gesundheitskosten steigen. Höchste
Zeit, mit Anreizen dagegenzuhalten, findet Jan von Overbeck
A
ls Patient soll man sich für eine
Erstkonsultation immer an einen
Hausarzt wenden. Das empfehlen
Krankenversicherer und Politiker.
Doch diesen Rat zu befolgen, ist gar nicht so
einfach. Wenn ein Hausarzt in Rente geht,
hat er oft Mühe, seine Praxis an einen Nach­
folger zu übergeben, nicht selten muss er sie
schliessen. Die Patienten stehen dann vor
der grossen Schwierigkeit, einen neuen
Hausarzt in ihrer Nähe zu finden. Bleiben sie
erfolglos, gehen sie direkt auf die Notfall­
stationen der Spitäler. Diese wiederum sind
überfüllt mit Hilfesuchenden, die eigentlich
am falschen Ort sind.
Wo genau liegt denn das Problem? Gibt es
zu wenig Ärzte? Bei der Verbindung der
Schweizer Ärzteschaft (FMH) waren im Jahr
2018 rund 37 525 Ärzte registriert; die Bevöl­
kerung zählt derzeit 8,5 Millionen Personen.
Man kann davon ausgehen, dass in der
Schweiz ein Arzt pro 250 Einwohner tätig ist.
Nötig wäre, laut Studien, ein Grundversorger
pro 1500 Einwohner. Man darf also sagen,
dass in der Schweiz kein Mangel an Ärzten
besteht, eher ein Überschuss.
Liegt es daran, dass die Verteilung zwi­
schen Hausärzten und Spezialisten ungüns­
tig ausfällt? Von den registrierten Ärzten sind
60 Prozent Spezialisten und 40 Prozent
Grundversorger. Damit das Gesundheits­
system optimal funktioniert, sollte aber die
Verteilung genau umgekehrt sein. Zu viele
Spezialisten sind ökonomisch sehr ineffi­
zient. Für ein kosteneffizientes und qualita­
tiv optimales System von der Triage bis hin
zur Grundversorgung sollten wir 60 Prozent
Grundversorger haben.
Wie steht es um die Stadt­Land­Vertei­
lung? Der relative Mangel an Hausärzten, vor
allem in peripheren Gegenden, sowie die
vielen Schliessungen von Praxen mangels
Nachfolgeregelung haben auch zur Folge,
dass die verbleibenden Ärzte auf dem Land
teilweise ein bis zwei Tage pro Woche Not­
falldienst mit 24-Stunden­Pikett leisten,
während ihre Kollegen in den Städten oft nur
ein­ bis viermal pro Jahr antreten müssen.
Dies, obwohl beide Gruppen gleich bezahlt
sind. Das lässt die Tätigkeit in ländlichen
Gegenden leider wenig attraktiv aussehen.
Was sind die Konsequenzen? Die Funktion
der Triage, also die erste Einschätzung eines
Krankheitsfalls, durch den Grundversorger
ist die Basis der öffentlichen Gesundheit. Bei
uns geht diese Aufgabe verloren. Nebst der
ungünstigen Verteilung zwischen Hausärz­
ten und Spezialisten erschwert die Stadt–
Land­Verteilung die Situation zusätzlich. Die
Überzahl an Spezialisten deckt die Bedürf­
nisse der Bevölkerung nicht ab. Wir stehen
vor einem klassischen ökonomischen Vertei­
lungsproblem. In jeder anderen Branche der
Wirtschaft würde dies durch Konkurrenz
korrigiert. Doch nicht im Gesundheitswesen.
Ein wesentlicher Teil des Kostenwachstums
ist dem Verteilungsproblem zuzuschreiben.
Es könnte jedoch durchaus effizient ange­
gangen werden, indem die finanziellen
Anreize angepasst werden. Gemäss dem
Jan von Overbeck
Jan von Overbeck, 64, ist Arzt für Innere
Medizin und Infektiologie. Er hat an der
Universität Lausanne studiert und arbeitete
als Oberarzt in Bern und Lausanne. Später
war er für Swiss Re und Medgate tätig. Von
2014 bis 2018 war er Kantonsarzt in Bern.
Heute leitet Overbeck die Beratungsfirma
Offlimits Solutions im Kanton Waadt.
17
Krankenversicherungsgesetz soll die ambu­
lante Medizin privatwirtschaftlich organi­
siert sein. Doch in einem System mit Kran­
kenversicherern und fixen Tarifen (Tarmed)
funktioniert der Wettbewerb nicht. Ganz im
Gegenteil etwa zur Zahnmedizin, deren
Kosten wir Bürger direkt und selbst tragen.
Unser Gesundheitswesen ist ein weltweit
anerkanntes, fortschrittliches System, aber
eindeutig zu teuer. Obwohl es an Grenzen
stösst, verteidigt es die Ärzteverbindung
FMH weiter vehement. Was sind die Gründe
dafür, dass auch das Bundesamt für Gesund­
heit Mühe hat, Klartext zu sprechen? Ist die
Lobby der Ärzteschaft besser vertreten als
das Interesse der öffentlichen Gesundheit?
Es ist an der Zeit, das Gesundheitssystem
fundamental zu überdenken. Die Bedürf­
nisse der Kunden, also der Bevölkerung,
müssen ernst genommen werden. Die Tätig­
keiten und Aufgaben sollen neu verteilt
werden nach dem Prinzip der Kosten­
effizienz und Qualität. Am Beispiel der
Impfstrategie wurde deutlich, dass die Impf­
deckung bei Masern zu tief ist. Diese könnte
durch eine Neuverteilung der Aufgaben und
somit der Möglichkeit, gesunde Menschen in
Apotheken zu impfen, nach oben korrigiert
werden. Obwohl es bereits Kantone gibt, die
diesem System folgen, ist der Widerstand der
Ärzteschaft unheimlich gross, und auch das
Bundesamt für Gesundheit scheint sich nicht
dafür zu engagieren.
Eine Antwort der Politik war, die Zahl der
Studienplätze in der Medizin zu erhöhen.
Doch solange die finanziellen Anreize fehlen,
wird auch der relative Mangel bestehen blei­
ben. In sämtlichen Branchen der Wirtschaft
würde das Einkommen der Grundversorger
steigen und so langsam den Mangel korrigie­
ren. Dies wäre im Prinzip sehr einfach mit
dem Tarmed machbar, auch durch den Bun­
desrat. Dazu müsste man die Anreize über
die Tarife der Leistungen steuern.
Für den Wahlherbst wird viel politischer
Mut gefragt sein, damit Erfolge in dieser
Kostenmisere erzielt werden können.
18 Hintergrund Leonardo da Vinci (1452–1519) NZZ am Sonntag 28. April 2019

Somaltmanein
Meisterwerk
Vor 500 Jahren starb Leonardo da Vinci. Seine «Mona Lisa» wurde zum
Pop-Star. Doch das Bild ist auch ein Geniestreich. Wieso? Eine Malanleitung.
Von Michael Furger (Text) und Daniel Röttele (Infografik)

W
er sie war, ist einigermassen sicher.
Wahrscheinlich hiess sie Lisa del
Giocondo und war die Gattin eines
dubiosen italienischen Seidenhänd-
lers. Dafür sprechen jedenfalls mehrere Quellen.
Alles andere bleibt ein Rätsel. Es machte «Mona
Lisa» zur Ikone, meistfotografiert und abgebildet
auf Abertausenden von Teetassen, Kochschür-
zen und Kühlschrankmagneten. Sie wurde
persifliert, kopiert, besungen und einmal sogar
gestohlen. Im Louvre in Paris hat sie heute eine
Wand für sich allein. Panzerglas schützt sie vor
Vandalen und eine Klimaanlage vor der feucht-
warmen Luft, die ihre täglich 20 000 Besucher
absondern.
Die Verwirrung beginnt beim Namen. «Mona»
ist ein Schreibfehler. «Monna» müsste es heissen,
die Kurzform von «Madonna», zu Deutsch die
Frau. «Frau Lisa» also heisst das Bild, das der
Universalgelehrte Leonardo da Vinci um 1500
gemalt hat. Was macht es so besonders?
Es sind die Augen, sagen die einen. Ihr Blick
folge einem, wohin man gehe. «Das ist nichts
Einzigartiges», sagt allerdings Thomas Müllen-
bach. Er ist Maler und emeritierter Professor
an der Zürcher Hochschule der Künste. «Diese
Maltechnik beherrschten viele Künstler.»
Es ist das geheimnisvolle, verhaltene, aber
auch leicht spöttische Lächeln, sagen andere.
«Etwas Unergründliches ist in ihrem Gesicht,
als würde sie sagen: Ich weiss etwas, was du
nicht weisst», erklärt Geschichtsprofessor und
Da-Vinci-Biograf Volker Reinhardt. Rätselhaft
ist auch die mystische Urlandschaft im Hinter-
grund, untypisch für diese Zeit. Da Vinci hat über
die Erdgeschichte und die Geheimnisse der
Natur geforscht. Was wollte er mit dieser Szene
sagen? Man weiss es nicht.
Leonardo da Vinci, gestorben am 2. Mai 1519,
hat wenig gemalt. 15 Gemälde kann man ihm
zweifelsfrei zuschreiben. Aufträge hochrangiger
Persönlichkeiten hat er abgelehnt – und dafür
die unbedeutende Lisa del Giocondo porträtiert,
ohne Schmuck, teure Kleider und andere Insi-
gnien von Reichtum und Macht. «Er musste
etwas in ihr gesehen haben, das ihn faszinierte»,
sagt Reinhardt.
Diese Faszination trieb ihn an zu einem Meis-
terwerk. In «Mona Lisa» zeigt sich, da sind sich
die Experten einig, das Genie da Vincis.
Wie malt man ein solches Bild? Probieren
wir es aus. Zugegeben, grosse Chancen bestehen
nicht, künstlerisch auch nur in die Nähe von
da Vincis Werk zu kommen. Aber wir haben den-
noch zusammen mit dem Künstler und Professor
Thomas Müllenbach eine Malanleitung erstellt.
Schritt für Schritt zum Meisterwerk. 4

1 Das Material: Pinsel, Holzbrett, Hasenleim
Als Malgrund besorgen
Sie sich ein Brett aus
Pappelholz, 79×53 Zenti-
meter und etwa 13 Milli-
meter dick 1a . Da Vinci
Die erste Schicht heisst Imprimitur 2a . Färben Sie die ganze Tafel mit
einem gräulichgrünlichen Erdton. Mit dieser farbigen Grundierung erzie-
len Sie eine besondere Lichtatmosphäre. Die zweite Schicht ist entschei-
dend. Sie heisst Untermalung 2b . Damit erstellen Sie das Gerüst des
Bildes, indem Sie grob die hellen und die schattigen Partien definieren.
1a 1b
79 cm

2a Imprimitur
und auch andere Renais- Pappelholz Grundierung 2b Untermalung (Verdaccio)
sance-Künstler malten fast
nur auf Holz. Die Leinwand weitere Schichten
setzte sich erst später
durch.
Die Tafel grundieren Sie
mit einem sogenannten 53 cm
Gesso 1b , einer warmen
Mischung aus Leim und Kreide. Hasenleim hat sich bewährt, er wird
aus Haut und Knochen von Hasen und Kaninchen hergestellt. Ist der
Gesso trocken, tragen Sie eine zweite Grundierung mit Bleiweiss auf. An-
schliessend können Sie die Mona Lisa mit Kohle fein vorzeichnen. Das hat
da Vinci zwar möglicherweise nicht getan, aber er war ja auch ein Genie.
grundierte
Farbpulver und Nussöl Holztafel

Sie benötigen weiter ein paar grobe Pinsel aus

Schweineborsten 1c in diversen Grössen sowie feinere
Pinsel aus Marderhaar 1d , rund, nicht flach. «Zu da
Vincis Zeit wurden fast immer Rundpinsel verwendet»,
sagt Maler Thomas Müllenbach.
Farben brauchen Sie nicht viele. Die Auswahl damals
war beschränkt. Forscher des Louvre haben 2006 auf
«Mona Lisa» folgende Farbpigmente identifiziert*:
Zinnober Umbra
(aus einem (Mineraliengemisch (aus farbigen Erden,
Mineral) natürlich/gebrannt) natürlich/gebrannt)
Grüne Erde Azurblau
(aus (aus einem
Mineralien) Mineral)
Die Farben kaufen Sie als Pulver und rühren
sie auf einer Anreibeplatte 1e aus Glas
oder Stein mit Nussöl 1f an. Viel Öl und
wenig Pigmente ergeben eine Lasur (eine
durchscheinende Farbe), wenig Öl und viel
Pulver eine opake, sprich: deckende Farbe.
Als Farbe verwenden Sie das soge-
2c
nannte Verdaccio, einen hellen und
kalten Farbton aus Grün, Grau und
Gelb. Führen Sie die Untermalung
mit dem Borstenpinsel aus. Von da
Vinci weiss man, dass er dafür zuwei-
1c 1d len gar die Finger benutzt hat. 2e
Ist das Verdaccio trocken, tragen
Sie Schicht um Schicht auf, zuerst die
kühlen, dann die warmen Farben. Sie
werden den Effekt bemerken. Zu den
Ockertöne Bleizinngelb grössten Herausforderungen der
(aus der Verbrennung Malerei gehört nämlich das Malen
von Blei und Zinn) von Haut. Sie besteht aus kühlen 2d
Farben (Blutadern) wie auch aus
warmen Tönen (Hautoberfläche).
Das erreichen Sie nur mit Schichten.
Bleiweiss Schwarz Die kältere Schicht scheint durch die
(aus der Oxidation (Pigment nicht wärmere. Zu sehen ist das an den
von Blei) näher bestimmbar) Händen 2c von Mona Lisa. Auch ihr
Décolleté würde weniger leuchten
ohne die kühlen Farben darunter.
1f Schichtung ist auch anderswo
1e
sichtbar. Mona Lisa trägt einen
Schleier über dem Kopf 2d . Rühren
Sie dafür eine Lasur an. Wichtig ist,
dass die Schicht völlig trocken ist, 2e

* Auf dem Bild sind zwar weitere Farben vorhanden, konnten aber nicht eindeutig identifiziert werden.
bevor Sie mit der nächsten begin-
nen. Die langen Trockenzeiten
und die Dutzenden Schichten sind
ein Grund, weshalb die Herstellung
Ihres Gemäldes Wochen, wenn nicht
2 Die Technik: «Mona Lisa» wird geschichtet Monate dauern wird. Trösten Sie
Jetzt sind Sie bereit. Aber bitte beginnen Sie nicht, auf Ihrer Palette sich: Da Vinci brauchte Jahre.
Farben zu mischen. Das sieht man zwar immer in Spielfilmen. Aber da Als letzte Schicht folgen die soge-
Vinci hat anders gemalt. Er hat Farbschichten auf dem Bild übereinander- nannten Lichthöhungen: die Model-
gelegt. Indem das Licht durch die oberen auf die unteren Schichten fällt, lierung etwa von Stofffalten 2e
entstehen so die verschiedenen Farbtöne. durch das Auftragen heller Farbe.
 19

3 Der Geniestreich: Dunst und Schimmer

Bis jetzt war alles Handwerk, meisterhaftes Handwerk allerdings. Doch
das Schwierigste steht Ihnen noch bevor. Haut und Stofffalten perfekt
malen konnten andere auch. Da Vincis Genie zeigt sich in etwas anderem:
in der Tiefe des Bildes. Die Landschaft verschwindet ins Unendliche.
Vielleicht ist Ihnen auch schon aufgefallen: Beim Betrachten einer
Landschaft von Auge verändern sich Farben der Objekte mit zunehmen-
der Entfernung. Sie werden blauer, verlieren an Wärme und Leuchtkraft,
werden heller und unschärfer. Diese Erscheinung heisst Luftperspektive.

2d
Luftperspektive
Durch die Streuung des
3 Sonnenlichts werden
Objekte mit zunehmen-
dem Abstand heller,
blauer und unschärfer

Betrachter

Für die malerische Umsetzung der Luftperspektive hat da Vinci eine

eigene Technik erfunden: das Sfumato. «Licht und Schatten sollten inein-
ander übergehen, ohne Linien oder Grenzen, nach der Art des Rauches»,
schrieb er. Zu sehen ist das etwa bei den Schatten im Gesicht. Besonders
effektiv ist das Sfumato aber im Hintergrund: Die Felsen im Meer 3
erscheinen blau schimmernd wie in
3
einen Dunst gehüllt.
Vor da Vinci waren die Bilder im
Hintergrund scharf und wirkten
damit platt. Mit dem Gebot, dass
Malerei tief sein müsse, setzte er
einen Standard für die nächsten
300 Jahre. Und wie erreichen Sie
diese weiche Farbgebung? Legen
Sie Lasurfarben in Schichten über-
einander. Das reicht aber nicht,
denn das Sfumato offenbart noch
eine zweite Begabung da Vincis.

4 Die Hand des Meisters: Farben fliessen

Viele Künstler zeichneten ihr Bild mit Kohle vor und malten den Linien
nach. Da Vinci aber entwickelte das Bild aus der Farbe heraus. Die
Farbtöne fliessen ineinander, sichtbar etwa beim Flusslauf und dem
Gebirge 4 . Solche Übergänge
4
lassen sich nicht vorzeichnen, sie
entstehen beim Malen. Sein Auge
dafür schulte da Vinci mit unzähli-
gen Naturstudien. «Da Vinci war der
erste malerische Maler», sagt
Thomas Müllenbach. «Seine Vor-
gänger haben gezeichnet.»

Spätestens hier können Sie womög-

lich nicht mehr mit der Könnerschaft
da Vincis mithalten. Grämen Sie sich
nicht. Genies wie ihn gibt es wenige.

Rom, Paris, New York: Odyssee der «Mona Lisa»

Um 1500: Schätzungsweise zwi- 1913: Peruggia will das Bild in Florenz
schen 1503 und 1506 malt da Vinci verkaufen und wird verhaftet. Vor
«Mona Lisa», möglicherweise eine der Rückkehr nach Paris wird es in
Auftragsarbeit. Doch er behält das Italien ausgestellt.
Bild bei sich in Rom.
1940–1944: Während der deut-
1517: Da Vinci schen Besetzung Frankreichs wird
zieht von das Gemälde aus dem Louvre ge-
Rom nach Paris bracht und vor den Nazis versteckt.
Amboise (F)
Amboise
auf das
Schloss des 1959: Das Bild wird durch zwei Vanda-
Königs lenakte im Museum beschädigt: einen
Franz I. Das Säureangriff und einen Steinwurf.
Gemälde reist Rom
mit. Nach 1963: Auf Wunsch von Präsidenten-
seinem Tod gattin Jacqueline Kennedy wird
bleibt es für fast 300 Jahre im Besitz «Mona Lisa» in den USA ausgestellt.
der französischen Krone. Im New Yorker Gemäldelager lässt
2c
ein defekter Sprinkler stundenlang
1804: Nach der französischen Revo- Wasser über das Bild regnen.
lution kommt «Mona Lisa» ins
Louvre-Museum nach Paris. Kaiser 1974: «Mona Lisa» verlässt Frank-
Napoleon hängt sich das Bild zwi- reich zum letzten Mal für Ausstellun-
schenzeitlich ins Schlafzimmer. gen in Japan und in der Sowjetunion.
Seither hängt das Werk im Louvre
1911: Der italienische Handwerker hinter Panzerglas.
Vincenzo Peruggia, der im Louvre
arbeitet, stiehlt
das Gemälde.
Der Skandal ist
riesig. Der
Museumsdirek-
tor wird ent-
lassen. In
Verdacht gerät unter anderem der
Maler Pablo Picasso. «Mona Lisa»
AKG-IMAGES / ERICH LESSING

wird weltberühmt.

Quellen: Thomas Müllenbach. Jean-Pierre Mohan (Hg.): Im Herzen der Mona Lisa – Dekodierung eines
Meisterwerks. Volker Reinhardt: Leonardo da Vinci – Das Auge der Welt. Donald Sassoon: Mona Lisa –The
History of the World’s Most Famous Painting. Frank Zöllner: Leonardo da Vinci – Mona Lisa.
20
Ingenieurskunst: Entwurf eines helikopterähnlichen Fluggeräts.
Dieserseltsame
Mann!
Die Mächtigen verachtete er, Reichtum und Ansehen waren ihm gleichgültig: Leonardo da Vinci lebte ein
Leben als kauziger Aussenseiter und Tabubrecher an den europäischen Höfen. Was seinen Zeitgenossen als
vergeudetes Talent erschien, fügte sich zu einem Gesamtkunstwerk, schreibt Volker Reinhardt
G
enies waren in der Renais-
sance nicht vorgesehen. Fürs-
ten, Päpste und Heilige ran-
gierten ganz oben in der Welt-
und Wertordnung. Für Maler
und Bildhauer war in dieser
erhabenen Sphäre kein Platz.
Noch weit vor ihnen waren die Humanisten,
die Wortkünstler mit ihrer virtuosen Beherr-
schung des Lateinischen, platziert.
Als Leonardo da Vinci im Mai vor 500 Jah-
ren starb, ging durch die fürstlichen Salons
allenfalls ein leises Raunen, in dem sich Stau-
nen, Bewunderung, Unbehagen und Ableh-
nung eigentümlich vermischten. Der ge-
schmeidigste aller Diplomaten und wort-
gewaltigste Ratgeber der Höfe, Baldassare
Castiglione, hatte die Einschätzung der mei-
nungsbildenden Kreise Italiens schon zu
Leonardos Lebzeiten mit eleganter Herab-
lassung auf den Punkt gebracht: Dieser selt-
same Mann stand für so bizarre Ideen und für
immer neue verrückte Einfälle!
Dabei waren sich alle Edelfedern der Zeit
darin einig, dass der Mann aus der Ortschaft
Vinci als Maler mit geradezu göttlichen Fähig-
keiten gesegnet war. Doch was er mit dieser
einzigartigen Gabe machte, schrie für sie zum
Himmel. Statt ehrenvolle Bild-Bestellungen
hochgestellter Persönlichkeiten mit der ange-
messenen Beflissenheit zeit- und themenge-
recht zu erfüllen, stiess Leonardo die Reichen
und Mächtigen seiner Zeit geradezu lustvoll
vor den Kopf. Isabella d’Este, die in schöngeis-
tigen Kreisen tonangebende Markgräfin von
Mantua, konnte noch so oft ihr Porträt in Öl
bestellen und für die Erfüllung dieses Her-
zenswunsches ihre allerhöchste Gunst in Aus-
Hintergrund Leonardo da Vinci (1452–1519)
Gemälde: «Anna selbdritt», entstanden zwischen 1510 und 1513.
sicht stellen – Leonardo zeigte sich schlicht-
weg nicht interessiert. Andere Aufträge nahm
er an, ohne sie auszuführen oder abzuliefern.
Seine zwei rein flächenmässig grössten
Werke, «Das letzte Abendmahl» in Mailand
und «Die Schlacht von Anghiari» in Florenz,
malte er zwar, das Erstere ganz, das Letztere
teilweise, doch begannen beide Wandgemälde
bereits zu Lebzeiten ihres Schöpfers zu ver-
blassen und sich zu zersetzen. Andere Bilder
wie das Porträt der Lisa Gherardini, verehe-
lichte del Giocondo, genannt «Mona Lisa», gab
er bis zu seinem Tod nicht aus der Hand oder
malte sie wie die beiden späten Versionen
Johannes des Täufers nur für sich. Vor allem
aber widmete er sich jahrzehntelang ebenso
seltsamen wie unnützen und wahrscheinlich
sogar unfrommen Studien der Natur: dem
Flug der Vögel und der Fledermäuse, dem
Wuchs von Pflanzen, den Strömungen von
Flüssen und Bächen, den Adern und Muskeln
des menschlichen Körpers und, Gipfel der
Spleenigkeit, sogar versteinerten Muscheln
und Fischen auf den Höhen des Apennin.
Die Einschätzung Leonardos war daher so
eindeutig wie einhellig: Was für eine ver-
schwendete Begabung! Drei Jahrzehnte nach
seinem Tod lautete sie sogar: Ein Ketzer, der
Auf die Benachteiligung
in seiner Kindheit
reagierte er mit einem
Minderwertigkeits-
komplex, den er
zugleich kompensierte.
die Kräfte der Natur finden wollte und dabei
Gott aus dem Auge verlor und sein Seelenheil
verspielte. So urteilte Giorgio Vasari, der
machtnahe und kirchenfromme Schnell-
Maler in der ersten Fassung seiner Leonardo-
Biografie von 1550.
Dasselbe gilt für die umgekehrte Sicht:
Leonardos Einstellung gegenüber den Mäch-
tigen war von Skepsis, Ernüchterung und Ver-
achtung bestimmt. Herrschaft – so seine des-
illusionierte Erkenntnis – beruhe auf Korrup-
tion und Gewalt. Die Vornehmen liessen sich
bestechen, das Volk werde unterdrückt. Wer
so dachte, war nicht zum Höfling geschaffen,
und so blieb Leonardos Erfolg bei den Mächti-
gen mit Ausnahme seiner zwei letzten Lebens-
jahre in Frankreich bescheiden.
Als unehelicher Sohn geboren
Im Florenz der Medici wurde der junge Maler
als unbrauchbar aussortiert, und das trotz
dem schier unbegrenzten Bedarf an Propa-
ganda, mit der diese Familie ihre schrittweise
Aushöhlung der Republik und die allmähliche
Umformung in eine dynastische Herrschaft zu
kaschieren suchte. Doch für politisch bedeut-
same Auftragskunstwerke kam Leonardo
mangels Vertrauenswürdigkeit nicht infrage.
Er gehörte eben nicht dazu. So musste er sich
1482, immerhin schon dreissig Jahre alt, nach
alternativen Wirkungsstätten umsehen und
landete in Mailand, an der nördlichen Peri-
pherie der italienischen Renaissancekultur.
Doch auch hier hatte niemand auf ihn gewar-
tet, von einer ehrenvollen Ernennung ganz zu
schweigen. Und so dauerte es fast sieben
Jahre, bis er nennenswerte Arbeiten vom dor-
tigen Hof und seinem Machthaber Ludovico
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Pflanzenstudie: Hahnenfuss, Milchstern, Wolfsmilch.
Sforza erhielt. Dabei war auch dieser Potentat
Volker auf eine positive Imagebildung durch die
Reinhardt Medien der Zeit angewiesen, hatte er doch
den legitimen Herrscher, seinen Neffen
Giovanni Galeazzo, von der Macht verdrängt.
Trotz diesem Verklärungsbedarf sprangen
für Leonardo erst einmal nur zweitrangige
Projekte heraus, wie zum Beispiel Porträts
herrscherlicher Mätressen. Bei grösseren Auf-
gaben zögerte Ludovico weiterhin, und er
wusste, warum: Für das gigantische Reiter-
denkmal seines Vaters in Bronze, das er seit
längerem plante, brachte Leonardo nicht das
Der 64-jährige Vol- nötige technische Know-how mit. Er erhielt
ker Reinhardt ist zwar den Auftrag am Ende dennoch, doch
Professor für Ge- über ein Tonmodell des Pferdes gelangte das
schichte an der Uni- Vorhaben nicht hinaus.
versität Freiburg. Er Das Wandgemälde des «Letzten Abend-
hat unter anderem mahls» Christi mit den Jüngern, das Leonardo
Bücher über Machia- 1495 im Residenz-Kloster Santa Maria delle
velli und Marquis de Grazie in Angriff nahm, wurde zwar in der er-
Sade geschrieben. staunlich kurzen Zeit von drei Jahren fertigge-
Seine Biografie stellt und aufgrund seiner kühnen Neuerun-
«Leonardo da Vinci. gen – so ist der Verräter Judas im Gegensatz
Das Auge der Welt» zur Tradition nicht von den übrigen Jüngern
ist 2018 erschienen. abgehoben – viel bewundert. Doch begann es
schon bald darauf zu verblassen, weil es nicht
in der bewährten Freskotechnik, sondern mit
Temperafarben gemalt worden war.
Als Ludovico Sforza 1500 vom französi-
schen König Ludwig XII. besiegt, gestürzt und
in ein französisches Schlossverlies verbracht
wurde, weinte Leonardo seinem tief gefalle-
nen Dienstherrn keine Träne nach – mehr
noch: Er fand nichts dabei, für die neuen fran-
zösischen Machthaber Entwürfe zu liefern,
ohne dass daraus grössere Werke entstanden.
Zwischen 1500 und 1513 pendelte Leonardo

Porträt Leonardo da Vincis, gezeichnet von seinem Schüler Francesco Melzi.
zwischen Mailand und Florenz hin und her,
trat 1503 für einige Monate als Festungsinge-
nieur in die Dienste Cesare Borgias, übernahm
für die florentinische Republik den Auftrag zu
einem kolossalen Wandgemälde, das er nach
drei Jahren intensiver Arbeit unvollendet zu-
rückliess, und ging 1513 auf Einladung Giulia-
nos de’ Medici, des jüngeren Bruders Papst
Leos X., nach Rom, wo er keine Aufträge
erhielt und als Sonderling verspottet wurde,
bis ihn der neue französische König Franz I.
1517 an seinen Hof in Amboise holte: Leonardo
stand für Mailand, das der junge Monarch
soeben erobert hatte.
Vor diesem biografischen Hintergrund stel-
len sich drei grosse Fragen: Wie wurde
Leonardo da Vinci zum Gegendenker, Nor-
men- und Tabubrecher? Wie – und nicht zu-
letzt wovon – lebte er, gewissermassen als
Halb-Aussenseiter und Dauer-Enfant-terrible,
das nicht müde wurde, seinen amüsierten
oder angewiderten Zeitgenossen aufgebla-
sene Tierdärme um die Ohren platzen zu las-
sen? Und wie gestaltete er das Bild, das sich
die anderen von ihm machen sollten?
Auf der Suche nach der Welt-Kraft
Eine erste Antwort findet sich, wie fast immer
bei Menschen der frühen Neuzeit, in Herkunft
und Familie. So wird Leonardo gewisser-
massen quer in die Gesellschaft hineingebo-
ren. Als unehelicher Sohn eines wohlhaben-
den und später auch einflussreichen Notars
wird er unter Stand und Wert ausgebildet,
nämlich als Lehrling in der Werkstatt eines
Malers und Bildhauers, also eines gehobenen
Handwerkers. Die höheren humanistischen
Er musste einer
ignoranten Umwelt
zeigen, dass er nicht
dazugehörte und
ihre Werte nicht
anerkannte.
Bildungsweihen mit vertieften Kenntnissen in
der Kultur des Altertums und der Beherr-
schung des raffiniertesten Lateins bleiben ihm
dadurch versagt.
Auf diese Benachteiligung reagierte Leo-
nardo, der sonst so Gelassene, mit einem Min-
derwertigkeitskomplex, den er zugleich vehe-
ment kompensierte, nämlich durch wütende
Attacken gegen die Arroganz der Wortgelehr-
ten, die hohle Rhetorik mit Wissen verwech-
selten. Als Gegenposition zum Sprachfeti-
schismus der Humanisten entwickelt Leo-
nardo in seinen Aufzeichnungen eine psycho-
logisch abgestützte Hierarchie der Künste, in
der die Malerei weit vor allen anderen plat-
ziert ist: Der Mensch ist durch das Auge gren-
zenlos beeinflussbar, ja lenk- und leitbar; ein
geschickter Maler kann ihn zu Liebe oder Hass
entflammen, ja sein gesamtes Gefühlsleben
bestimmen. Texte, wie sie die wortverliebten
Humanisten drechseln, bleiben hingegen
Schall und Rauch und rangieren auf dem letz-
ten Platz, noch weit hinter der Musik, die Leo-
nardo gleichfalls souverän beherrscht haben
soll. Doch Leonardos Abneigung gegen die
arroganten Prunk-Rhetoriker bleibt bei Hohn
und Spott nicht stehen. Aus der Opposition
dagegen entwickelt er eine eigene Sprache der
präzisen Beobachtung, die des Faktums wil-
len lieber fünfmal den exakten Begriff wieder-
holt, als der stilvollen Abwechslung wegen
von der angestrebten Genauigkeit abzuwei-
chen. Das verleiht seinen bis heute schmäh-
lich vernachlässigten Text-Kompositionen
einen ganz eigenen Ton und Reiz.
Die wahre Philosophie betet also nicht die
antike Texttradition nach, sondern nimmt die
Schöpfungen der Natur durch den Gesichts-
sinn zur Kenntnis, bildet diese registrierend in
Zeichnungen ab und erforscht so die geheim-
nisvolle Welt-Kraft, die alles von ihr Geschaf-
fene durchpulst. Der Maler wird dadurch zum
Erforscher der Natur und stösst in Bereiche
des Wissens und der Erkenntnis vor, die kein
Gelehrter der Antike vor ihm auch nur als sol-
che gesichtet oder betreten, geschweige denn
durchmessen hat. Frucht solcher Studien sind
die berühmten Zeichnungen, welche die Ge-
setze der Natur für sinnreiche Maschinen und
Apparaturen anwenden. Doch auch wenn der
Mensch dadurch zum «Enkel der Natur» wird,
auf Augenhöhe mit dieser Naturkraft vermag
er nicht zu agieren. So fehlt Leonardos be-
rühmter Flugschraube das Entscheidende,
nämlich der Antrieb, den der Mensch durch
Muskelkraft allein nicht zu liefern vermag.
Aus heutiger Sicht ist die lieblose Zurück-
stellung Leonardos durch seinen Vater also
ein entscheidender Vorteil, denn dadurch war
er dazu verdammt, eigene Wege zu gehen.
Etwas antike Bildung kam später in Form von
Übersetzungen hinzu, zum Beispiel das Lehr-
gedicht des römischen Epikureers und Mate-
rialisten Lucretius Carus über die Natur. Doch
21
spricht alles dafür, dass Leonardo der Lektion,
dass die Seele des Menschen aus Atomen be-
stehe und daher vergänglich sei, nicht be-
durfte, um sich vom Christentum abzulösen.
Solche Gewissheiten vermittelten ihm seine
anatomischen Studien sehr viel anschau-
licher: Die Eindrücke der Sinne werden in der
einen Kammer des Gehirns gesammelt, in der
anderen koordiniert und schliesslich in Akte
des Willens umgewandelt. Kommen durch
den Tod keine neuen Wahrnehmungen von
aussen mehr hinzu, stirbt der ganze wunder-
same Apparat ab.
Die Seele vergeht also mit dem Körper, das
christliche Versprechen der Auferstehung und
des ewigen Lebens ist wie alles, was die Mön-
che verkünden, hinfällig. Und die Krone der
Schöpfung im biblischen Verständnis ist der
Mensch für Leonardo schon deshalb nicht,
weil der Mensch als einziges Lebewesen aus
Lust am Töten tötet.
Da Vinci Homosexualität gelassen ausgelebt
erleben Wer so dachte und malte – zum Beispiel in der
«Heiligen Anna selbdritt» einen Christus-
Im Jubiläumsjahr knaben, der aus reinem Trotz gegenüber Mut-
finden verschiedene ter und Grossmutter einem unschuldigen
Ausstellungen über Lamm das Genick bricht –, musste einen eige-
den Künstler statt. nen, bis dahin nicht beschrittenen Lebensweg
gehen: Er musste einer ignoranten Umwelt
Italien zeigen, dass er nicht dazugehörte, ihre Werte
nicht anerkannte, und ihr zugleich suggerie-
Da Vincis Heimatland ren, dass er sich höheren, bisher unbekannten
feiert den Künstler Sphären des Forschens und Wissens zuge-
mit 500 Veranstal- wandt hatte. Aus dieser Haltung zum Leben
tungen, darunter entsprangen Zynismus, Spott und Subversivi-
Ausstellungen im tät, verbunden mit einer grossen Gelassen-
Museo Galileo und heit. In der Funktion als Festregisseur, Büh-
im Leonardo- nenbildner und Kostümdesigner, also, mo-
Museum in Florenz. dern ausgedrückt, als Eventmanager von den
Auch die Stadt führenden Kreisen Mailands geschätzt, ent-
Mailand hat Sonder- warf Leonardo für deren aufwendige Selbst-
schauen und Veran- darstellung farbenprächtige und bildstarke
staltungen vorberei- Szenerien voller Doppeldeutigkeiten.
tet, unter anderem im So paradierten die eitlen Höflinge in seinen
Kastell, in dem Leo- phantasievollen Inszenierungen mit kost-
nardo für die Familie baren Gewandungen voller Tiermotive, die
Sforza tätig war. die Bestialität des Menschen, speziell der
Mächtigen, widerspiegeln sollten. Und er
Frankreich fügte in diese Triumphzüge Auftritte von
Bettlern und «wilden Männern» ein, die den
Zu einem Höhepunkt Prunk der Reichen schroff mit dem Elend der
dürfte die Sonderaus- Armen kontrastierten. Am Ende seines Lebens
stellung im Louvre organisierte er als Hofkünstler, Hofingenieur
in Paris werden, und Hofarchitekt des Königs von Frankreich
der neben der «Mona Feste, bei denen Geschosse in Papier- und
Lisa» vier weitere Stoffform vom Himmel fielen – graziöser und
Bilder und zahlreiche zugleich ironischer konnte man das mörderi-
Zeichnungen da Vin- sche Ethos einer adeligen Kriegerkaste nicht
cis besitzt. Sie dauert ad absurdum führen. Einfluss gewann er so
vom 24. Oktober nicht, aber dafür behielt er etwas viel Kost-
2019 bis 24. Februar bareres: seine Selbstachtung. Und obwohl er
2020. An der Loire, den Mächtigen nicht nahestand, reichte deren
wo da Vinci seine Protektion aus, um ihn gegen Denunzianten
letzten Lebensjahre zu schützen, die ihm seine Sezierungen von
verbracht hatte, läuft Leichen und seine Homosexualität vorhiel-
das ganze Jahr ein ten. Letztere war in eingeweihten Kreisen be-
Festival (www. kannt, war aber offiziell kein Thema, so dass
vivadavinci2019.fr). Leonardo sie gelassen ausleben konnte.
Eine solche Haltung gegenüber der Macht
England und den Mächtigen hatte ihren Preis – reich
wurde Leonardo mit dieser Einstellung nicht.
Die Royal Collection Um seine Forschungen vornehmen zu kön-
besitzt rund 500 nen, brauchte Leonardo allerdings Geld, das
Zeichnungen von da es ihm erlaubte, so zu leben, wie er wollte: be-
Vinci. Ein Teil davon haglich, mit feinstem Sinn für die Ästhetik des
befindet sich derzeit Alltags, doch ohne das gewaltige Immobilien-
auf einer Tour durch imperium und das gigantisch anschwellende
England. Vom 24. Mai Barvermögen, das sein jüngerer Konkurrent
bis 13. Oktober 2019 Michelangelo für sein Wohlbefinden be-
werden sie in der
Queens Gallery im
nötigte. Dieses Geld verdiente Leonardo mit
den genannten Dienstleistungen als Fest-
Londoner Bucking- arrangeur und mit den Arbeiten seiner Werk-
ham Palace gezeigt. statt. Als die Schweizer Ende 1512 die Vororte
Mailands in Brand steckten und die Eroberung
der Stadt vorbereiteten, notierte er dieses er-
regende und auch für ihn gefährliche Gesche-
hen mit derselben leidenschaftslosen Distanz,
mit der er tote menschliche Körper sezierte.
Heute würde man die Haltung cool nennen.
Lebenseinstellung und Imagebildung fielen in
diesem Punkt zusammen. An dem, was für
seine Mitmenschen Lebenssinn ausmachte –
Familie, Status, Reichtum, Ruhm, Nachleben,
Gnade und Seelenheil – war Leonardo weder
beteiligt noch interessiert, und so blieb er den
anderen ein Rätsel. Was ihn lebenslang faszi-
nierte, war für die anderen Tändelei und Ver-
geudung. Diese unüberbrückbare Distanz hat
das Genie Leonardo immer vorgelebt, und
zwar so, dass sein Leben ein komplexes
Gesamtkunstwerk wurde – mit unerwarteten
Folgen bis heute.
Denn aus dem Rätsel sind im 20. und
21.Jahrhundert ein Breitband-Mythos und
eine Projektionsfläche für die sensationells-
ten «Entdeckungen» geworden. Ob psychi-
sche Befindlichkeiten, technologische Inno-
vationen oder angebliche Beziehungen zu
prominenten Zeitgenossen: Bei Leonardo da
Vinci lautet das Motto offenbar «Alles geht».
Als historische Gestalt ist der grosse Unzeit-
gemässe daher wiederzuentdecken.
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NZZ am Sonntag 28. April 2019
Hintergrund 23

Nachruf

In 960 Tagen um die Welt

Heidi Hetzer, Autohändlerin aus Berlin, die als Rentnerin mit einem Oldtimer eine Reise durch 46 Länder
unternahm und dabei 85 000 Kilometer zurücklegte, ist 81-jährig gestorben. Von Daniel Meier

Z
ur ersten ernsten Panne kommt es in
Kasachstan. Seit zwei Monaten ist sie
unterwegs, von Berlin nach Osten bis
zum Bosporus, durch Aserbaidschan,
Iran, Turkmenistan, Usbekistan. Doch eines
Morgens steht das Auto still. Es muss an der
Lichtmaschine liegen, die Batterien werden
während der Fahrt nicht aufgeladen. Heidi
Hetzer steht zwei Stunden auf der Strasse,
bis das erste Auto auftaucht. Nun werden sie
und ihr Oldtimer von Werkstatt zu Werkstatt
geschleppt. In der Grossstadt Schymkent
beschliesst sie, in einer Schule nach einem
Englischlehrer zu suchen. Tatsächlich nimmt
sich eine junge Frau kurzerhand frei, um sie
zu begleiten und zu übersetzen. Am Ende
landen sie bei Idris. Der Mechaniker schraubt
drei Tage und drei Nächte lang, bis das Auto
wieder läuft – mit einer Lichtmaschine aus
einem alten Audi vom Schrottplatz. Idris
strahlt, der alten Frau kommen vor Dankbar-
keit die Tränen. Und die Rechnung? «Keinen
Euro verlangte Idris, nicht eine kasachische
Tenge», schrieb sie im Buch über ihre Reise.
«Er liess partout nicht mit sich reden. Aber
reden konnten wir ja eh nicht miteinander.»
Geboren wurde Heidi Hetzer 1937 in
Berlin. Ihre Schwester Vicki war drei Jahre
älter. Sie wohnten in Charlottenburg. Dort
betrieb der Vater seit 1919 eine Werkstatt,
zunächst für Motorräder, später als Vertreter
der Marke Opel. Heidi lief ihm immer hinter-
her. Vickis Puppen interessierten sie nicht,
Motoren hingegen schon. Als der Krieg
begann und die ersten Bomben auf Berlin
fielen, sass die Familie mit der halben Nach-
barschaft im Keller. Eines Morgens lag auch
ihr Haus in Schutt und Asche. Sie zogen in
das Sommerhaus nach Gatow, ausserhalb der
Stadt. Der Vater reparierte die Traktoren der
Bauern, dafür bekamen sie Kartoffeln.
Nach dem Krieg lebte die Familie im zer-
störten Berlin. Heidi, jetzt eine Berliner Göre
mit kurzem, braunem Haar, beendete die
Schule, aber lernen wollte sie nicht mehr –
sie wollte schrauben. Im elterlichen Betrieb
begann sie eine Lehre als Automechanikerin.
Einmal verpasste ihr der Lehrmeister eine
Ohrfeige; der hatte Nerven – sie war doch die
Tochter des Chefs! In der Berufsschule blieb
sie das einzige Mädchen. Kein Mitschüler
sprach mit ihr. Erst als sie mit einem Motor-
roller, einer gebrauchten Lambretta, ankam,
änderte sich das. Alle wollten mitfahren.
Heidis Mutter Liselott missfiel, dass die
Tochter ständig dreckige Hände hatte und
mehr Zeit mit Mechanikern verbrachte als
mit Freundinnen. Die Mutter setzte sich
durch, Heidi musste die Lehre abbrechen.
Stattdessen lernte sie Steno und Buchhal-
tung. Ihre Welt war das nicht.
Mit 21 macht sich Heidi Hetzer selbständig
und gründet eine Autovermietung. Da sie im
Hinterzimmer ihres Büros wohnt, bleibt das
Geschäft quasi rund um die Uhr geöffnet. Mit
der Zeit klingeln spätabends junge Pärchen,
um sich für zwei Stunden einen Wagen zu
leihen. Was da abläuft, ist klar. Hetzer duldet
es, sie benötigt jeden Kunden. Als nach zwei
Jahren ihr Vater vorschlägt, sie nach Amerika
zu schicken, willigt sie sofort ein. 1961, in
Berlin wird gerade die Mauer gebaut, reist sie
«Der Wagen war per Schiff nach Kalifornien, wo sie ein Jahr
deutlich älter als ich lang bei einem Ford-Händler arbeitet.
selbst»: Heidi Hetzer Kaum zurück, steigt sie wieder bei Opel
und ihr Hudson in Hetzer ein, wie die Firma nun heisst. Sie
Budapest. (2014) heiratet Bob Mackay, einen Amerikaner. Bald
haben sie zwei Kinder, Marla und Dylan.
Nebenher macht sie sich als Rennfahrerin
einen Namen, sie startet an grossen Rallyes,
etwa in Monte Carlo. «Schnelle Mutti auf
gefährlichem Kurs», titelt eine Zeitung.
Als ihr Vater stirbt, wird Heidi Hetzer mit
31 zur Chefin von 120 Mitarbeitern. Der Sohn
ist noch ein Baby, sie stillt ihn im Büro. Sie
hört, wie die Leute tuscheln: «Ob die junge
Hetzer das schafft?» Sie schafft es. 44 Jahre
lang führt sie das grosse Berliner Autohaus.
Im Jahr 2012 verkauft sie die Firma, weil
keines ihrer Kinder einsteigen will. Heidi
Hetzer ist 75 Jahre alt, sie fällt in ein Loch.
Die Idee mit der Reise geht auf Clärenore
Stinnes zurück, die von 1927 bis 1929 um die
Welt fuhr. Hetzer will es ihr gleichtun und
zwar in einem Oldtimer aus jener Zeit. Sie
kauft sich einen Hudson Great Eight Coach
mit Achtzylindermotor und schönen Holz-
speichen, gebaut 1930 in den USA. Vor der
Abfahrt bekommt sie zu hören, sie sei plem-
plem. Ein bisschen verrückt sei sie schon,
findet sie selbst, aber: «Ich glaube, man muss
nur einmal losfahren, man muss es einfach
machen. Dann ist man unterwegs, und es
gibt kein Zurück mehr.»
Im Juli 2014 brechen die 77-jährige Hetzer
und ihr 84-jähriges Auto in Berlin auf. Bis zu
zehn Stunden fährt sie am Stück. Häufig
schläft sie im Wagen oder im Zelt. «Manch-
mal weiss ich kurz nicht mehr, in welchem
Land ich mich gerade befinde, welche Wäh-
rung ich in den Händen halte», erzählt sie
später. Der Hudson macht ständig Ärger, sie
verbringt viel Zeit in Werkstätten. Die Reise
wird viel länger als geplant. 46 Länder
besucht sie, fährt von Europa nach Asien, im
Schiff nach Australien, weiter nach Amerika,
Afrika. Nach 960 Tagen und 85 000 Kilo-
metern kehrt sie im März 2017 zurück. Am
Brandenburger Tor fragt jemand aus der
Menschenmenge, wie sie das geschafft habe.
«Das kann doch jeder», ruft Heidi Hetzer.
«Ick bin nur eine alte Schachtel, die sich janz
langsam die Welt angeschaut hat.»

Norbert Thom, 72 dass die Erde permanent verletzt und

geschädigt werde, ohne dass jemand etwas Das historische Bild Grossbritannien, um 1942

A
dagegen unternehme. «Die Erde braucht eine
n allen Fronten kämpfte er, doch gute Anwältin», dachte sie und handelte. Sie
der Gegner, das wusste Norbert gab nicht nur ihren Job auf, sie verkaufte ihr Hier ist nichts von
Thom selbst am besten, war über- Haus und begann, sich für internationale den Strapazen und
mächtig: die Bürokratie. Alles Gesetze einzusetzen, damit Firmen und der Übermüdung zu
werde mit Präzision protokolliert, evaluiert, Regierungen für Umweltschäden belangt sehen. Nichts lässt
quantifiziert und von oben gesteuert, sagte werden können. Higgins gründete Netz- die Arbeitsunfälle
er im letzten Herbst in der NZZ. Der «Trieb werke, sie legte der Rechtskommission der und die Krankheiten
zur Unsicherheitsvermeidung und ständigen Uno einen Vorschlag vor, wonach «Ökozid» erahnen. Keine
Beweissicherung» entspreche dem Zeitgeist. als internationales Verbrechen anerkannt Kälte, kein Regen,
Über 20 Jahre lang führte Thom das von werden soll, und sie schrieb das Buch kein Schnee und
ihm gegründete Institut für Organisation und «Eradicating Ecocide». Polly Higgins inspi- kein öder Alltag in
Personal der Universität Bern. 1946 im bayri- rierte mit ihren Ideen Umweltschützer auf Baracken abseits
schen Tiefenbach geboren, studierte er in der ganzen Welt, bald begannen auch andere der Zivilisation.
Köln Betriebswirtschaft und kam 1984 in die Organisationen, Umweltverschmutzungen Stattdessen zeigt
Schweiz, zunächst nach Freiburg, dann nach einzuklagen. man uns lachende
Bern. 2011 erhielt er den Schweizer Pass; dass Sie war in der Nähe von Loch Lomond in Frauen in Kleidung,
er nun wählen durfte, fand er «phantastisch». den schottischen Highlands aufgewachsen. die chic aussieht,
Thom mochte die Rolle des Ausbildners, den Mit ihrem Vater, einem Meteorologen, und aber kaum zur
Umgang mit den Studenten, und er war stolz, ihrer Mutter, einer Künstlerin, führte sie Forstarbeit taugt.
auf Deutsch, Französisch und Englisch zu schon als Kind Diskussionen über den Die Äxte, locker
lehren. Neben den Vorlesungen hat er rund Umweltschutz. Erst kürzlich erfuhr sie, dass auf den Schultern
900 Referate ausserhalb der Uni gehalten sie an Krebs im Endstadium erkrankt sei. getragen, deuten
und etwa gleichviele Beiträge verfasst. Da er Polly Higgins starb am 21. April. (ria.) an, dass man hier,
sich nicht darauf beschränken wollte, dar- quasi nebenbei,
über zu dozieren, wie man eine Firma richtig
führt, war er als Verwaltungsrat tätig, etwa
Ken Kercheval, 83 eine sinnstiftende
Aufgabe erfüllt.

A
bei Ypsomed. Thom, der sich klar und deut- Gemeinschaft in der
lich ausdrückte, war auch als Experte bei ls ewiger Verlierer fand er die Rolle Natur – wer möchte
Journalisten gefragt. Bei seiner Emeritierung seines Lebens. Bevor der amerika- da nicht dabei sein?
2012 sagte er über die Lohnexzesse: «Ein nische Schauspieler Ken Kercheval Im Zweiten Welt-
Manager, der in schwierigen Zeiten fünf oder als Cliff Barnes mit der Fernseh- krieg brachen die
zehn Millionen kassiert und seine Mitarbei- serie «Dallas» ein Millionenpublikum Holzimporte nach
ter zur Sparsamkeit aufruft, hat null Glaub- erreichte, hatte er sich am Broadway von Grossbritannien ein.
würdigkeit.» Norbert Thom ist am vergange- einer Statistenrolle zur nächsten gehangelt Zugleich stieg der
nen Sonntag verstorben. (dme.) und in ein paar eher belanglosen Filmen Bedarf stark; für
mitgespielt. Als reicher Ölunternehmer und Telegrafenmasten,
Polly Higgins, 50 leidensfähiger Gegenspieler des «Dallas»-
Bösewichts J.R. hatte Kercheval nun plötz-
für Munitionskisten,
für Stützelemente

S
lich Fans auf der ganzen Welt – «Dallas» in Kohlegruben,
ie gab ihre Karriere als Rechtsanwäl- wurde in 90 Ländern ausgestrahlt und in fast für Bahnschwellen.
tin auf, um die Umwelt zu retten. 70 Sprachen übersetzt. Die Männer waren
Nach einem langen und komplizier- Ken Kercheval wurde 1935 als Sohn des an der Front, also
ten Gerichtsfall sass die Schottin Polly Arztes Marine Kercheval und der Kranken- rekrutierte man
Higgins einmal müde im Gericht und schaute schwester Christine Rieber geboren und Frauen. Im Women’s
aus dem Fenster. Ihr ging durch den Kopf, wuchs in Clinton County im Gliedstaat Timber Corp, einer
Indiana auf. Er heiratete dreimal und wurde Zivildiensteinheit,
THE NEW YORK TIMES

Vater von insgesamt fünf Kindern. 1993 dienten über 6000

RUTH DAVEY

wurde bei Kercheval, der starker Raucher Freiwillige. Ab 1942

und zudem lange alkoholkrank war, Lungen- fällten und sägten
krebs diagnostiziert. Nach einer Lungen- sie in den Wäldern
operation erholte er sich und engagierte sich von England, Wales
in der Früherkennung von Krebs. Das Rau- und Schottland.
chen gab er jedoch nie auf. Stets suchten sie
Als «Dallas» 2012 fortgesetzt wurde, war tatkräftige Kolle-
Ken Kercheval beziehungsweise die Figur ginnen. Dieses Bild
Cliff Barnes auch wieder dabei. Das Come- half dabei. (dme.)
back der Serie dauerte nur zwei Jahre. Am
Ostersonntag ist Kercheval in Clinton in
«Anwältin der Erde»: Polly Higgins. Indiana gestorben. (ria.)
Leserbriefe
NZZ am Sonntag 28. April 2019

«Lobenswertes
Engagement»
«In der Wirtschaft wird sehr
kurzfristig gedacht, oft sehr
egoistisch»
NZZ am Sonntag vom 21. April
Es ist äusserst lobenswert,
dass Hansjörg Wyss einen Teil
seines Vermögens für Umwelt-
anliegen spendet. Auch seine
Aussage, dass die Wirtschaft oft
egoistisch und kurzfristig han-
delt, kann ich bejahen. Anzu-
merken gilt aber, dass Wyss sein
Vermögen vor allem aufgrund
der hohen Profitabilität seiner
Medizinalprodukte erzielte.
Diese Produkte wurden nota-
bene von den Bürgern und deren
Krankenkassen bezahlt.
Im Weiteren lebt Wyss in Wis-
consin, USA, wo die persönliche
Freiheit weitgehend erhalten ist.
Von dieser Warte aus kann man
ja den Schweizern beruhigt
zurufen, den Rahmenvertrag zu
unterzeichnen; Wyss selber ist ja
dadurch nicht betroffen.
Marcel Roost, Feuerthalen (ZH)
Auf die Frage, ob auf jedes
Produkt eine CO2-Steuer erhoben
werden sollte, antwortet Wyss
wie folgt: «Preise sind ein starkes
Mittel, um sich zu orientieren.
Deshalb bin ich absolut dafür.»
Solche Steuern als Steuerungs-
mittel sind im Parlament immer
Fährt Hybrid: Hansjörg Wyss.
wieder ein Thema, werden aber
immer wieder abgelehnt, weil sie
schädlich seien für die Wirt-
schaft, asozial und so weiter.
Dabei geht es immer darum, eine
feste Steuer in einer bestimmten
Höhe einzuführen. Je höher
diese ausfiele, umso wirksamer
wäre sie, wenn es um Energie-
sparen oder die Reduktion von
CO2 geht. Eine solche schlag-
artige Einführung kann aber an
verschiedenen Orten negative
Auswirkungen haben und ist
politisch schwer durchsetzbar.
Ebenso wirksam wäre eine CO2-
Steuer, wenn sie, auf tiefem
Niveau beginnend, jährlich
erhöht würde. Gewerbe und
Industrie könnten sich so darauf
einstellen, dass zum Beispiel in
zehn Jahren die Steuer wehtun
würde, wenn sie sich bei zukünf-
tigen Entscheidungen nicht rich-
tig verhalten sollten. Sie wüss-
ten, dass sie mit energiesparen-
den Produkten in Zukunft erfolg-
reich sein könnten, und würden
sich deshalb mit ihrer Produk-
tion und Produkteentwicklung
darauf einstellen.
Und die Konsumenten? Auch
wir würden beim Erwerb von
Produkten wie Autos, Haushalts-
geräten und so weiter oder beim
Bauen und Renovieren wissen,
dass es einmal teuer werden
könnte, wenn wir uns nicht rich-
tig entscheiden.
Hätte man ein solches System
schon vor 20 oder 30 Jahren
eingeführt, müssten wir heute
nicht Angst haben, das Ziel des
Pariser Abkommens zum CO2-
Ausstoss nicht zu erreichen.
Hans Arnold, Würenlos (AG)
Hansjörg Wyss hat in den USA
einen Wohnsitz, der, einsam
gelegen, zu einem Naturreservat
gehört. Er investierte beträcht-
liche Mittel gegen die Rasa-Ini-
tiative (Initiative gegen die Mas-
seneinwanderung) in der
Schweiz. In einem Interview, in
dem er auf das rapide Bevölke-
rungswachstum in diesem Land
angesprochen wurde, meinte er,
die Schweiz sei sowieso verbaut,
da komme es auf einen Skilift
mehr oder weniger nicht an.
Herr Wyss hat sein (auch altruis-
tisch verwendetes) Geld zum
grossen Teil in der Schweiz
erarbeitet.
Dafür einfach die Schweizer
Landschaft abzuschreiben und
so der Bevölkerung ein Danaer-
geschenk zu machen, passt nicht
zu seinen Aussagen und weist
darauf hin, wieso er nicht mehr
hier wohnt.
Heinz Ryffel, Pfaffhausen (ZH)
Eine CO2-Steuer nur, wenn
die Abgabenlast sinkt. Mehr-
wertsteuer rauf und Einkom-
menssteuer runter! Grund-
lebensmittel, medizinischer
und kosmetischer Grundbedarf
steuerfrei. Umweltschutz ist
nicht das einzige Problem!
Steve Müller
So lobenswert das Umwelt-
schutz-Engagement von Hans-
jörg Wyss ist, so erstaunlich ist
es, dass er CO2 mit Verschmut-
zung verbindet. Tatsache ist:
CO2 ist weder giftig, noch ver-
schmutzt es die Umwelt.
CO2 ist die entscheidende
Energiequelle für Pflanzen,
damit sie wachsen können. Nur
mit Kohlenstoffdioxid ist eine
Fotosynthese möglich, und nur
damit können Pflanzen ihre Nah-
rung herstellen. Das scheint man
in der Schule nicht mehr zur
lernen. Man predigt seit Jahr-
zehnten, man solle CO2 aus der
Atmosphäre eliminieren, dabei
brauchen wir es dringend. Ohne
Pflanzen keine Tiere und auch
keine Menschen.
Inge Hess,
Oberengstringen (ZH)
Alle, die die Möglichkeit
haben, sollten dem Beispiel von
Hansjörg Wyss folgen. In jedem
Falle eine grossartige Idee.
Jörg Freisler
Die meistgelesenen
Artikel der Woche
Marathonläufen tragen Vaporfly:
Der Schuh, der das Laufen revolu-
tioniert. nzz.as/top1
«In der Wirtschaft wird so kurzfris-
tig gedacht, oft sehr egoistisch»,
sagt der Milliardär Hansjörg Wyss.
nzz.as/top2
Warum die Menopause über-
lebenswichtig ist. nzz.as/top3
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Moderne Ölheizungen überzeugen mit einem Wirkungsgrad von rund 99 Prozent und eignen sich sehr
gut für Kombinationen mit erneuerbaren Energien. Damit richtet sich der Fokus nun vermehrt wieder auf
die Brennstoffe. Spannend sind dabei vor allem auch die Entwicklungen bezüglich erneuerbaren flüssigen
Brennstoffen.

Die CO2-arme Ölheizung

Da sind vor allem die Power-to-Liquid-
und die Biomass-to-Liquid-Verfahren zu
nennen. Bei Ersterem wird aus erneuer-
barem Strom Wasserstoff hergestellt, der
dann in einem weiteren Schritt mit CO2
zu flüssigen Kohlewasserstoffverbindun-
gen kombiniert wird. Beim Biomass-to-
Liquid-Verfahren steht Kohlenstoff zum
Beispiel in Form von Algen zur Verfü-
gung, der dann mit Wasserstoff kombi-
niert und in einen flüssigen Brennstoff
überführt wird.
Überzeugende Vorteile
Diese erneuerbaren flüssigen Brennstoffe
bieten ein CO2-Reduktionspotenzial ge-
genüber dem herkömmlichen, fossilen
Brennstoff von rund 80 Prozent. Sie kön-
nen einfach gelagert und praktisch an
jeden Ort transportiert werden. Zudem
kann die bestehende Infrastruktur (La-
ger, Transportwege, Ölheizanlage) wei-
ter genutzt werden. Zu einer ausgewo-
genen politischen Diskussion gehören
auch Fragen der Versorgungssicherheit:
Durch die konsequente Förderung er-
neuerbarer flüssiger Brennstoffe bliebe
die bisherige Versorgungssicherheit er-
halten – vor allem auch, weil man sich
nicht nur auf den einen Energieträger
Strom abstützen würde.
KOSTENLOSE ENERGIEBERATUNG

Durch die heutigen Ölheizungen werden die CO2-Emissionen weiter gesenkt.
Entscheidend beigetragen zum guten
Wirkungsgrad von modernen Ölhei-
zungen hat die sogenannte Brennwert-
Technik. Das Verfahren ist so clever wie
einleuchtend: Durch die Abkühlung der
Abgase wird die gewonnene Wasser-
dampfenergie zusätzlich genutzt. Damit
konnte der Wirkungsgrad von Ölhei-
zungen auf rund 99 Prozent gesteigert
werden. Das bedeutet, dass die heutigen
Ölheizungen bis zu 30 Prozent sparsa-
mer sind als frühere Modelle und die
CO2-Emissionen massgeblich gesenkt
wurden.
Die Ölheizung lässt sich perfekt kom-
binieren mit erneuerbaren Energien –
zum Beispiel mit einem Wärmepum-
penboiler, mit einem Holzofen oder ei-
ner Luftwasser-Wärmepumpe. Dadurch
wird der Heizölverbrauch deutlich re-
duziert und der CO2-Ausstoss weiter ge-
senkt.
Interessante Innovationen
Nachdem auf der Geräteseite wohl nicht
mehr so grosse Weiterentwicklungen zu
erwarten sind, richtet sich der Fokus nun
wieder auf die Brennstoffe. Zwar gibt es
schon heute mit dem Ökoheizöl schwefel-
arm einen Qualitätsbrennstoff auf dem
Markt, der die Umwelt weniger belastet.
Die Diskussion um den CO2-Ausstoss
bleibt aber bestehen.
Daher werden in jüngster Zeit ver-
mehrt Überlegungen für die Herstellung
von erneuerbaren flüssigen Brennstof-
fen angestrengt. Solche Brennstoffe sind
heute bereits erhältlich. Hergestellt wer-
den sie aus pflanzlichen und tierischen
Abfallstoffen. Da ihr Mengenpotenzial
begrenzt ist, wird inzwischen auch nach
Alternativen gesucht.
0800 84 80 84
Lassen Sie sich kostenlos
durch die regionalen
Informationsstellen beraten:
Region Zürich / Innerschweiz
Beat Gasser
Region Mittelland / Nordwestschweiz
Markus Sager
Region Ostschweiz / Graubünden
Moreno Steiger
Die Ölheizung lässt sich perfekt kombi-
nieren mit erneuerbaren Energien.

Touristen sonnen sich am Strand der griechischen Insel Samos.
Flugscham, von wegen. Auch
diesen Sommer lockt die Insel
Flugreisen nach Spanien und Griechenland bleiben populär. Touristen mögen nicht
aufs Fliegen verzichten, und nur wenige kompensieren CO2.Von Franziska Pfister
E
ine bange Frage treibt dieses Frühjahr
die Reisebranche um: Kommt er, der
«Greta-Effekt»? Verleidet die Klima-
bewegung den Touristen das Fliegen?
Anfang Jahr gab es erste Signale dafür. Alle
sprachen über den Klimawandel, und das
Sommergeschäft kam nicht recht in Gang.
Reisebüros erklärten das Zögern beschwichti-
gend zum «Buchungsstau». Staus sind unan-
genehm, aber sie lösen sich schnell wieder auf
– das war auch hier die Hoffnung.
Ganz so sicher waren sich aber selbst die
Profis nicht. Der Verzicht aufs Fliegen gehört
zu den zentralen Forderungen an den Klima-
demos. Vorreiterin Greta Thunberg lebt vor,
wie das geht. Mit dem Zug fährt die Schwedin
durch halb Europa. Ihr Vorbild inspiriert junge
Leute, ebenfalls auf den Zug umzusteigen, aus
«flygskam». Die schwedische Bahn registriert
spürbar mehr Andrang.
Inzwischen blicken Schweizer Ferienanbie-
ter dem Sommer ein bisschen entspannter
entgegen. Als sich über Ostern am Flughafen
Zürich lange Schlangen bildeten, löste das in
der Branche einen erleichterten Seufzer aus.
Der Flughafen stösst seit längerem an die
Kapazitätsgrenze, die Passagierzahlen steigen
ungebrochen, zuletzt im März.
Schleppender Start ins Jahr
«Das Jahr lief schlecht an, aber jetzt ziehen die
Buchungen an. Für die Sommerferien liegen
wir nur noch leicht unter dem Stand des
Vorjahres», sagt Prisca Huguenin-dit-Lenoir,
Kommunikationschefin von Hotelplan Suisse.
Die Migros-Tochter und die Fluggesellschaft
Swiss liegen noch unter dem Vorjahr, hoffen
aber, den Abstand aufholen zu können. Der
Konkurrenz läuft es eine Spur besser. TUI
Suisse hat das Vorjahresniveau laut Marke-
tingchefin Bianca Schmidt bereits erreicht.
Werden Schweizer Familien diesen Som-
mer vermehrt mit der Bahn verreisen? TUI
Suisse und Hotelplan winken ab. «Wir sehen
kein markantes Umdenken. Fliegen bleibt
populär, Klimadebatte hin oder her», sagt
Viktor Vekselberg
Ein Gericht in Italien verurteilt
einen langjährigen Vertrauten
zu einer Haftstrafe 33
Prisca Huguenin-dit-Lenoir. Als Faustregel
formuliert sie: Dauert eine Reise mehr als vier
Stunden, wählen Kunden das Flugzeug.
Und doch sind die Schweizer nicht frei von
«Flugscham». Sie leben sie bloss mit einem
helvetischen Kompromiss aus: indem sie CO2
kompensieren. Über die Stiftung Myclimate
wurden im ersten Quartal 2019 gut 700 Ton-
nen CO2 kompensiert, das entspricht 1% der
jährlichen Emissionen des Schweizer Flug-
verkehrs. Reisende hätten indes in den drei
Monaten des Jahres so viele Flüge kompen-
siert wie gesamthaft in 2016, sagt Geschäfts-
führer Stephen Neff. Für ihn ein Signal, «dass
ein Umdenken im Gang ist». So legt Hotelplan
Kunden unaufgefordert nahe, ihre CO2-Bilanz
auszugleichen. Laut der Sprecherin will aber
längst nicht jeder einen Obolus leisten.
Der endlose Sommer 2018 bildete einen
Wendepunkt für die Reisebranche. Mit einem
mulmigen Gefühl versandte sie im Februar die
bunten Kataloge für die Sommersaison. Die
Touristiker hatten sich daran gewöhnt, dass
NZZ am Sonntag 28. April 2019
25
Ewige Jugend
Nestlé steigt bei der Schweizer
Firma Amazentis ein. Deren
Wirkstoff hemmt das Altern 27
CHARLES MAHAUX / PRISMA / DUKAS
Ab in die Sonne
Für welche Ferienziele TUI Suisse diesen
Sommer die meisten Buchungen erhält
1. Mallorca 6. Zypern
2. Südtürkei 7. Gran Canaria
3. Kreta 8. Fuerteventura
4. Kos 9. Apulien
5. Rhodos 10. Ibiza
Quelle: TUI Suisse
Dauert eine Reise mehr
als vier Stunden, wählen
Kunden von Hotelplan
das Flugzeug – und reisen
nicht mit dem Zug oder
im Auto.
gerade Familien früh zuschlagen. Im Gegen-
zug gewährten sie gern den einen oder ande-
ren Frühbucher-Rabatt.
Erreichen die Temperaturen dagegen schon
im April 24 Grad, warten die Kunden lieber ab
mit Buchen. Die Sonne im Garten oder im
Freibad geniessen, ist verlockend und deut-
lich günstiger. Da braucht es schon eine Kalt-
front, um sie zum Wegfahren zu motivieren.
«Sobald es einmal eine Woche regnet oder kalt
ist, entscheiden sich die Leute, in die Ferien
zu fliegen», sagt Huguenin-dit-Lenoir von
Hotelplan. Das sei schon 2018 so gewesen.
Schweizer halten sich den Entscheid ver-
mehrt möglichst lange offen. Das erhöht die
Unsicherheit im Reisegeschäft. «Die Kunden
entscheiden sich spontaner für ein Ferienziel
und buchen auch kurzfristig», sagt Andreas
Meier, Sprecher der Ferienfluglinie Edelweiss.
Sommerferien am Meer stellten jahrzehnte-
lang einen Fixpunkt im Familienleben der
Schweizer dar. Die Kinder tuschelten auf dem
Schulhof aufgeregt darüber, wer die tollste
Reise antritt. Und als eiserne Regel galt: je
weiter weg, desto imposanter. Dieser Kitzel
hat sich abgenutzt, sassen viele Kids doch
bereits als Kleinkinder zum ersten Mal in
einem Langstrecken-Flugzeug, und auch
Familien mit bescheidenem Einkommen jet-
ten für eine Woche nach Miami. Eine Zugfahrt
quer durch Europa wirkt daneben geradezu
exotisch. Sie muss ja nicht gerade von Schwe-
den nach Polen führen, wie bei Greta.
Lieber im Herbst verreisen
Noch eine weitere Verschiebung ist in Gang
gekommen. Auf Kosten der Sommerferien
nehmen Reisen in den Herbstferien zu, beob-
achtet Hotelplan. Die Spätsaison sei von jeher
eine der beliebtesten Reisezeiten, sagt Bianca
Schmidt von TUI Suisse. Und Reisen in jenen
Wochen würden weiter im Voraus geplant als
die Sommerferien. «Sehr viele Gäste haben
die Herbstferien heute schon gebucht. Bei
den Sommerferien wollen sie dagegen eher
kurzfristig zuschlagen.»
Auf Ferien verzichten mögen Schweizer nur
ungern. Lieber buchen sie eine günstige Desti-
nation. Davon profitieren Länder, die zuvor
wegen Terroranschlägen gemieden worden
waren. Offenbar vergessen Touristen schnell,
und auch totalitäre Regimes schrecken sie we-
Ferien nig. Edelweiss sieht eine deutliche Zunahme
bei Zielen in der Türkei und Ägypten, auch bei
1350
Hotelplan gingen für die Türkei 40% mehr
Buchungen ein als im Vorjahr.
Fr. Wochenlang am Strand zu liegen, ist vielen
Familien aber zu eintönig. Auf der Suche nach
legen Hotelplan- Abwechslung verreisen sie weniger lang,
Kunden im Schnitt dafür regelmässiger. Die Klimajugend hört
pro Person für eine es vermutlich ungern, aber die Stadt ist zum
Woche Ferien aus. neuen Strand aufgestiegen. Zum Baden rei-
Bei Online-Buchun- chen immer mehr Reisenden ein paar Tage im
gen sind es nur Herbst, wenn es daheim schon kühl ist.
790 Fr. Ob die Leute vermehrt aufs Fliegen verzich-
ten, werde sich in den nächsten 12 Monaten
zeigen, sagt Stephen Neff von Myclimate. «Wir
müssen die Zugfahrt oder die Anreise im Car
als Teil des Reiseerlebnisses ansehen, nicht
nur als Mittel, um an den Ferienort zu kom-
men.» Frühere Umweltdebatten über Abfall-
deponien oder Abwasser hätten gezeigt, dass
es Zeit brauche. Gerade die Ü-50-Generation
verhalte sich noch zu wenig klimaaffin, sie
zum Umdenken zu bringen, werde dauern.
Ein wichtiger Teil
von 20 Minuten:
Sunrise.
Die rund 3500 Mitarbeitenden der Newsgruppe Tamedia
müssen sich immer und überall über laufende Ereignisse
informieren. Dank bestem Service und einer kunden-
spezifischen Inhouse-Mobile-Abdeckung sind sie immer
erreichbar. Mehr über unsere Lösungen für Geschäfts-
kunden auf sunrise.ch/business
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Nestlé setzt auf Kraft der Granatäpfel
Der Konzern will mit einem Nährstoff auf den Markt, der den Alterungsprozess in Muskeln aufhalten soll
Birgit Voigt
Die Angelsachsen raten dazu, ein-
mal täglich einen Apfel zu essen.
Damit halte man sich den Arzt
vom Leib. Vielleicht wird die
Redensart bald angepasst an neue
wissenschaftliche Erkenntnisse.
Nicht der Apfel, sondern der süd-
ländische Granatapfel mit seinen
vielen aromatisch-säuerlichen
Kernen hat echte Heilkräfte.
Was Anhänger von Superfood-
Theorien schon lange sagen, hat
auch die privat gehaltene Firma
Amazentis inspiriert. Das Startup
aus den Labors der Eidgenössi-
schen Technischen Hochschule
Lausanne (EPFL) setzt seit 2007
darauf, Inhaltsstoffe von Nah-
rungsmitteln auf heilsame Fakto-
ren zu untersuchen. Was damals
als eher vage Idee rund um die
Möglichkeiten von Superfoods
startete, erhält seit wenigen Jah-
ren durch die Forschung des
EPFL-Professors Johan Auwerx
ein solides wissenschaftliches
Fundament. «Könnte diese Frucht
das Geheimnis gegen das Altern
bergen?», fragt Auwerx in einem
Video auf der EPFL-Website.
Zu dem von ihm und Amazen-
tis entdeckten Stoff Urolithin A
(UA) wächst seit wenigen Jahren
die seriöse, wissenschaftliche
Literatur. Der Stoff entsteht bei
der Verdauung von Granatäpfeln
als Stoffwechselprodukt einer be-
stimmten Sorte von Bakterien. Er
zeigt einen bisher einzigartigen
Effekt auf die sogenannten Mito-
chondrien. Diese gelten als Ener-
gieproduzenten lebender Zellen.
Mit zunehmendem Alter fällt es
dem Körper schwerer, defekte
Mitochondrien zu regenerieren.
Kaputte Mitochondrien sammeln
sich in den Zellen an und setzen
Entzündungsstoffe frei. Das wirkt
sich negativ auf verschiedene
Gewebe aus, darunter auch die
Muskeln. Urolithin A beschleu-
nigt offenbar den Abbau defekter
Mitochondrien und hilft beim Er-
satz mit frischen Energiemotoren.
Globale Pläne
Vor wenigen Tagen ist nun Nestlé
über die Tochter Nestlé Health
Science (NHS) als Investor bei
Amazentis eingestiegen. In einer
Mitteilung heisst es: «NHS betei-
ligt sich an Amazentis und erhält
die globalen Rechte, Amazentis’
patentierte Technologie für Uroli-
thin A einzusetzen.» Der Wirk-
stoff könnte gemäss Mitteilung in
Ernährungszusätzen, ausgewähl-
Neue Tests sollen «saubere»
Blutdrucksenker garantieren
Fast ein Jahr nach dem
Skandal um verunreinigte
Blutdrucksenker sind
neue Prüfstandards in Kraft.
Birgit Voigt
Millionen Menschen rund um
den Globus nahmen bis letzten
Sommer Blutdrucksenker, die mit
vermutlich krebserregenden Stof-
fen verunreinigt waren. Der Skan-
dal um die Gruppe der «Sartane»-
Medikamente beschäftigte auch
in der Schweiz Patienten, Ärzte
und Aufsichtsbehörden.
Die Verunreinigung des Wirk-
stoffes mit sogenannten Nitro-
saminen kam bei dem chinesi-
schen Hersteller Zhejiang Huahai
durch eine Änderung im Herstell-
prozess zustande. Sie blieb bei
den existierenden Qualitätsprü-
fungen unentdeckt, obwohl die
Chinesen die Anpassung den Be-
hörden vorgelegt hatten.
Wirtschaft
«Könnte diese
Frucht das
Geheimnis
gegen das Altern
bergen?»
Seit 1. März 2019 ist die Anfor-
derung an die von den Herstellern
durchzuführenden Tests in der
Schweiz und seit April in der
EU permanent verschärft. Zuvor
hatten Aufsichtsbehörden wie
das Schweizer Heilmittelinstitut
Swissmedic entsprechende Prüf-
verfahren entwickeln müssen. Im
Moment sind noch (tiefe) Grenz-
werte erlaubt. «Bis 2020 ist die
Produktion völlig nitrosaminfrei-
er Produkte anzustreben», sagt
der Swissmedic-Sprecher dazu.
Dazu wird der Fall die Gerichte
beschäftigen. Auf Hersteller wie
die Generikafirmen Teva und My-
lan sowie den chinesischen Zulie-
ferer rollt in den USA eine Klage-
welle zu. Die Nachrichtenagentur
Bloomberg zitiert einen Anwalt,
der mit rund 2000 Klagen in den
nächsten zwei Jahren rechnet.
Aufgrund statistischer Wahr-
scheinlichkeiten schätzte die US-
Gesundheitsbehörde FDA, dass
ten Nahrungsmitteln und Kran-
kennahrung Anwendung finden.
Chris Rinsch, Mitgründer und
heutiger Chef der weniger als
zehn Mitarbeiter zählenden Ama-
zentis, zeigt sich hocherfreut
über den neuen Aktionär: «NHS
ist sicher die Firma, die im Be-
reich Ernährung am weitesten in
die Zukunft denkt.»
Details zum Deal wie die Höhe
der Beteiligung will er nicht preis-
geben. Dass man bei Nestlé aber
in grossen Dimensionen denkt,
bestätigt er: «Die Partnerschaft ist
eine wichtige Komponente in
unserem Ziel, Urolithin A im Mas-
senmarkt zu etablieren.» Weitere
Meilensteine für eine Vermark-
tung sind schon gesetzt. So hat
die amerikanische Gesundheits-
behörde FDA die bioaktive Sub-
stanz kürzlich als sicher beurteilt
für den Zusatz zu Lebensmitteln.
Amazentis habe sich für den
Online-Vertrieb Rechte an mög-
lichen Produkten gesichert. «Wir
von 8000 Patienten, die einen
hochdosierten, verunreinigten
Blutdrucksenker einnahmen,
einer deshalb Krebs entwickelt
haben könnte. Nitrosamine fin-
den sich aber auch in Lebensmit-
teln wie Bier und Grillfleisch. Ob
Krebskranke einen direkten Zu-
sammenhang zwischen ihrer
Krankheit und der Einnahme ei-
nes kontaminierten Blutdruck-
senkers etablieren können, ist
deshalb noch fraglich.
Der Skandal deckte auch ein
tiefgreifendes Problem der globa-
len Medikamente-Industrie auf.
Vor allem Generika-Anbieter
produzieren Wirkstoffe nicht
mehr selbst. Die Branche hängt
von wenigen Zulieferern in China
und Indien ab. Oft gibt es
weltweit nur noch einen Produ-
zenten für einen Inhaltsstoff. An
diesem Missstand werden auch
die strengeren Prüfmethoden
nichts ändern.
planen den Beginn unserer kom-
merziellen Aktivitäten in den
USA.» Über den Zeitpunkt des
Starts hüllt er sich in Schweigen.
Kein Problem wird laut Rinsch die
Herstellung des Wirkstoffes in
grösseren Mengen sein. Auch vor
potenziellen Nachahmern hat er
keine Angst: «Wir haben einen
umfassenden Patentschutz», ver-
sichert der aus Kalifornien stam-
mende Firmenchef.
Entscheidende Studien
Die Hoffnungen von Amazentis
und Nestlé stützen sich auf meh-
rere Studien. In präklinischen
Tierversuchen überlebten Faden-
würmer ihre Testkollegen um
50%, wenn sie den Wirkstoff in
einer Nährlösung erhielten.
Mäusesenioren rannten weiter
und schneller als gleichaltrige
Nager ohne den Kraftstoff. In den
ersten klinischen Tests mit Men-
schen waren die Resultate eben-
falls vielversprechend. Die ohne
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Wir sind KMU.
Die KMU sind das Rückgrat der Wirtschaft. Sie stellen zwei Drittel
der Arbeitsplätze. Die PKG Pensionskasse als bestandenes KMU kennt
die Schweizer KMU und weiss, welche Bedürfnisse sie haben.
www.pkg.ch
SHUTTERSTOCK
Kraft und Geschmeidigkeit
auch für ältere Semester: Ein
neu entdeckter Wirkstoff soll
leichter dazu verhelfen.
Nebenwirkungen verträgliche
Substanz erhöhte in einer Phase-I-
Studie bei älteren, gesunden Pro-
banden die Aktivität der Mito-
chondrien. Dies belegt, dass UA
nach dem Verzehr zumindest in
den Zellen ankommt. Ob die Zu-
gabe sich in körperlichen Verbes-
serungen im Alltag niederschlägt,
wird nun geprüft.
Derzeit laufen zwei Phase-II-
Studien, bei welchen über einen
Zeitraum von vier Monaten ge-
messen wird, ob ältere Proban-
den – eigentlich gesund, aber mit
dem altersüblichen Abbau an
Muskulatur konfrontiert – nun
tatsächlich an Kraft und Ausdau-
er gewinnen, wenn sie Urolithin A
einnehmen. Resultate sind laut
Rinsch Ende 2019 zu erwarten.
27
Mit ihrem streng wissenschaft-
lichen Ansatz setzt sich Amazen-
tis ab von der breiten Masse der
Anbieter von Nahrungsergänzun-
gen. Deren Behauptungen über
den Nutzen ihrer Produkte basie-
ren häufig mehr auf Glauben als
auf wissenschaftlichen Belegen.
Bestätigen sich die Hoffnun-
gen, ist das Potenzial des
Wirkstoffes allein in diesem
Bereich gewaltig. Es gibt derzeit
keine effektive Therapie, um
altersbedingte Fragilität zu be-
handeln – ausser regelmässiges
Krafttraining. Angesichts einer
alternden Bevölkerung in vielen
Ländern ist die Frage, wie man
den degenerativen Prozess
bremst, von hoher Bedeutung.
Dazu kommen weitere Hoff-
nungen: In Wissenschaftsmagazi-
nen mehren sich die Artikel, die
die Wirkung von UA auf die Be-
kämpfung schwerer entzünd-
licher, degenerativer Krankheiten
untersuchen.
Für den Laien stellt sich da die
Frage, ob er nun sofort den Gra-
natapfel auf den Speiseplan set-
zen soll. Um allerdings auf die er-
hoffte Wirkung zu kommen,
müsste man regelmässig riesige
Mengen der Früchte verspeisen.
Und es gibt noch einen Haken: Of-
fenbar hat nur jeder dritte
Mensch genau die Sorte Bakte-
rien im Darm angesiedelt, die bei
der Aufspaltung der Frucht dann
Urolithin A produzieren.
Elitärer Investorenkreis
Bei Amazentis ist nicht nur der
entdeckte Wirkstoff ausser-
gewöhnlich, sondern auch der
Investorenkreis. Mitgegründet
haben die Firma neben dem
ehemaligen EPFL-Präsidenten
Patrick Aebischer zwei Erben aus
den Schweizer Chemie-/Pharma-
dynastien: Pierre Landolt und
André Hoffmann. Landolt sitzt
bis heute im Verwaltungsrat,
Hoffmann trat laut Handelsregis-
ter letztes Jahr zurück. Er sei aber
weiter investiert, sagt ein nahe-
stehender Dritter.
Im Laufe der Jahre gesellten
sich auch noch Ernesto Bertarelli
und Hansjörg Wyss sowie Privat-
bankier Thierry Lombard zu
den Geldgebern. Bei der dritten
und vorerst letzten Finan-
zierungsrunde im März 2018
schossen die Investoren zusam-
men 8,4 Mio. Fr. in die Firma ein.
Jetzt sieht es sehr danach aus,
dass sich ihr Einsatz in vielerlei
Hinsicht lohnen wird.
28 NZZ am Sonntag 28. April 2019

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Quelle: Swiss Fund Data AG E-Mail: helpdesk@swissfunddata.ch

Reihenfolge Fondsinformationen: Fondsname, Rechnungswährung, Konditionen Ausgabe / Rücknahme, Kursbesonderheiten, Inventarwert, Ausgabepreis
oder Börsenschlusskurs (Werte vom Freitag, 26.04.2019, Abweichungen siehe Besonderheiten), Performance 2019 in %, Jahreshöchstwert und Datum

Banque Cantonale
de Genève
Tel. 058 211 21 11
bcge.ch/funds
BLACKROCK ASSET MANAGEMENT SCHWEIZ AG FRANKFURTER BANKGESELLSCHAFT (SCHWEIZ) AG FRANKLIN TEMPLETON SWITZERLAND LTD JPMorgan Asset Management (CH) GmbH
Tel. +41 800 08 80 20 Tel. 044 265 44 44 Tel +41 44 217 81 81 Tel. +41 44 206 86 00
BANQUE CANTONALE DE GENÈVE www.blackrock.com/ch www.frankfurter-bankgesellschaft.ch www.franklintempleton.ch Weitere Fonds unter:
Tel. +41 58 211 21 11 – bcge.ch/funds www.jpmam.ch

Obligationenfonds Obligationenfonds Strategiefonds Obligationenfonds Obligationenfonds

Synchrony Swiss Government Bonds CHF 4/3 e 110.93 1.6 111.94 27.03. BGF AsTigBd A2 USD USD 2/1 el 41.64 5.8 41.69 10.04. FBG CHF Managed CHF 1/1 e 70.09 5.5 70.13 24.04. Franklin GCC Bond W (Mdis) USD 1/1 e 10.07 4.7 10.12 24.04. JPM EM Corp Bond A acc USD USD 2/2 e 153.91 5.8 154.23 24.04.
Aktienfonds BGF FixedIncGlbOpps A2 USD USD 3/1 el 14.23 2.9 14.24 24.04. FBG Global Bal. Strategy EUR 1/1 e 49.87 7.1 49.87 25.04. Templeton Glb Bond W (Acc) USD 1/1 e 12.45 3.7 12.51 23.04. JPM Flexible Credit Fd A Acc USD USD 4/4 e 15.99 6.0 15.99 25.04.
Synchrony All Caps CH A CHF 1/1 e 208.54 20.5 208.54 25.04. Aktienfonds FBG Global Managed - Klasse 1 EUR 1/1 e 67.07 -5.4 67.09 24.04. Templeton Glb Bond W (Acc) CHF-H1 CHF 1/1 e 10.06 2.6 10.12 05.03. JPM Global Bond Opp A acc USD USD 4/4 e 125.39 5.4 125.50 24.04.
Synchrony Emerging Equity A USD 4/3 f 111.20 12.1 112.17 17.04. BGF Asian Dragon A USD USD 2/1 el 43.89 16.0 44.67 17.04. FBG Global Return Strategy 1 EUR 1/1 e 44.77 4.5 44.77 25.04. Templeton Global TR W (Acc) USD 1/1 e 12.84 3.3 12.95 23.04. JPM Income Opp A(Perf)acc CHF (h) CHF 3/1 e 96.59 1.6 96.66 16.04.
Synchrony Europe Equity A EUR 4/3 f 173.23 17.1 173.44 23.04. BGF Asian Grwth Lead Fd A2 USD 1/1 e 18.84 11.7 19.37 03.04. Templeton Global TR W (Acc) CHF-H1 CHF 1/1 e 9.94 2.2 10.05 05.03. Aktienfonds
Synchrony High Div. Swiss Stocks A CHF 1/1 e 114.61 14.6 114.61 25.04. BGF China A2 USD USD 1/1 e 19.55 18.8 20.21 09.04. Aktienfonds JPM Asia Growth A acc-USD USD 2/2 el 32.18 15.3 32.79 17.04.
Synchrony Small & Mid Caps CH A CHF 1/1 e 219.09 22.6 219.31 23.04. BGF Glbl MA Income Fd A2 USD 1/1 e 13.61 7.6 13.62 24.04. Franklin India W (Acc) USD 1/1 e 19.79 4.4 20.15 17.04. JPM EM Opportunities A acc USD USD 4/4 el 300.28 14.1 306.72 17.04.
Synchrony Swiss Equity CHF 4/3 e 172.50 20.4 172.50 25.04. BSF EM Eq Strat A2 USD 1/1 e 193.00 18.8 199.00 17.04. Franklin Lib Q GE SRI UCITS ETF USD 1/1 27.88 15.8 27.93 24.04. JPM Euroland Dyn A(Perf)acc EUR EUR 4/4 e 232.80 14.5 233.33 23.04.
Synchrony US Equity A USD 4/3 e 218.98 16.1 219.72 23.04. BSF EM Flexi Dynamic A2 USD 1/1 e 109.48 4.1 111.42 21.03. Franklin Technology W (Acc) USD 1/1 e 26.70 30.4 26.70 25.04. JPM Europe Eq Plus A(Perf)acc EUR EUR 2/2 el 17.21 16.8 17.28 23.04.
Immobilienfonds BSF Glbl Event Dr A2 USD 1/1 a 116.14 3.1 116.14 24.04. Templeton EM Smaller Co W (Acc) USD 1/1 e 14.62 11.8 14.81 17.04. JPM Europe Tec A acc-EUR EUR 2/2 el 46.14 24.3 46.14 25.04.
Synchrony Swiss Real Est FoF A CHF 1/1 a 114.03 10.8 114.03 25.04. BSF MMAS A2 USD 1/1 e 95.99 -1.3 98.15 11.02. Andere Fonds JPM US Sel Eq A acc-USD USD 2/2 el 380.49 17.9 381.43 24.04.
BSF Style Adv A2 USD 1/1 e 105.99 2.4 107.19 11.04. Franklin Global Convert Sec W (Acc) CHF 1/1 e 11.29 12.4 11.29 25.04. Strategiefonds
Strategiefonds Franklin Global Convert Sec W (Acc) USD 1/1 e 12.03 13.6 12.03 25.04. JPM Global Income A div CHF (h) CHF 3/1 el 113.71 6.8 113.95 16.04.
BGF GlobAll A USD USD 2/1 e 56.46 8.4 56.54 24.04. Franklin K2 Alternative Strat W (Acc) USD 1/1 e 11.29 5.3 11.30 24.04. JPM Global Macro Op A Acc CHF CHF 4/4 el 113.66 1.2 113.66 25.04.

LLB SWISS INVESTMENT AG PIMCO (SCHWEIZ) GMBH SCHRODER INVESTMENT MANAGEMENT

Tel. +41 58 523 96 70 Tel. +41 44 512 49 10 (SWITZERLAND) AG, LUX-SICAV
investment@llbswiss.ch www.europe.pimco-funds.com PvB Pernet von Ballmoos AG RESPONSABILITY INVESTMENTS AG www.schroders.ch, Tel. 0800 8 4444 8
Tel. +41 44 205 51 51 -- www.pvbswiss.com www.responsAbility.com contact@schroders.ch

Aktienfonds Obligationenfonds Aktienfonds Andere Fonds Obligationenfonds

Swiss Opportunity Fund - P CHF 1/1 e 250.07 18.6 250.94 23.04. Capital Securities Fd Inst acc CHF 2/2 e 15.17 6.3 15.19 23.04. Nerrick Swiss Equity Fd A CHF 4/4 e 116.73 17.6 116.73 25.04. rA Fair Agriculture B1 CHF 2/2 b 88.65 -6.9 95.25 03.01. Em Mkts Dbt Ab Return A Acc USD 2/2 e 27.08 0.1 27.72 05.02.
Diversified Income Inst Hdg CHF 1/1 e 13.52 5.4 13.55 24.04. PvB Swiss Equity Futures Fund A CHF 1/1 b 110.07 1.1 110.07 29.03. rA Fair Agriculture B2 EUR 2/2 b 91.16 -7.0 97.99 03.01. EURO Corporate Bond A Acc EUR 2/2 e 22.83 4.9 22.83 25.04.
Emerging Local Bond Inst Unhdg CHF 1/1 e 9.49 6.9 9.61 23.04. Immobilienfonds rA Micro and SME FF B USD 4/1 b 162.28 1.5 162.28 29.03. Gl Cred.Dur.Hgd A Acc EUR 2/2 e 111.42 3.6 111.42 25.04.
Euro Bond Inst Hdg CHF 1/1 e 34.74 2.9 34.83 27.03. Synchrony Swiss Real Est FoF A CHF 1/1 a 114.03 10.8 114.03 25.04. rA Micro and SME FF H CHF CHF 4/1 b 124.92 0.6 124.92 29.03. Global Corporate Bond A Acc USD 2/2 e 11.57 5.4 11.57 25.04.
Global Bond Inst Hdg CHF 1/1 e 32.80 2.2 32.88 27.03. Synchrony Swiss Real Est FoF I CHF 1/1 a 104.81 11.0 104.81 25.04. rA Micro and SME FF H EUR EUR 4/1 b 140.57 0.7 140.57 29.03. Strategic Bond A Acc USD 2/2 e 146.07 3.8 146.26 17.04.
Global Inv Grade Credit Inst Hdg CHF 1/1 e 17.04 4.3 17.05 24.04. Alternative Investments Aktienfonds
Income Fund Inst (Hdg) acc CHF 2/1 e 11.38 3.2 11.40 24.04. PvB Andante - Emg Mkts K (CHF) CHF 2/1 b 10997.25 8.8 10997.25 29.03. Emerging Markets A Acc USD 2/2 e 15.64 12.5 15.99 17.04.
Mortgage Opportunities Inst Hdg CHF 4/4 e 10.07 0.8 10.07 25.04. PvB Andante - Emg Mkts K (USD) USD 2/1 b 14705.90 9.8 14705.90 29.03. European Large Cap A Acc EUR 2/2 e 255.86 13.3 256.63 24.04.
Total Return Bd Inst Hdg CHF 1/1 e 10.99 2.0 11.04 27.03. PvB Andante - Global K (CHF) CHF 2/1 b 10011.70 2.6 10035.15 28.02. European Value A Acc EUR 2/2 e 64.97 12.4 65.82 18.04.
Aktienfonds PvB Andante - Global K (USD) USD 2/1 b 13050.75 3.5 13050.75 29.03. Gl Climate Change Eq A Acc USD 2/2 e 15.52 17.7 15.59 17.04.
MLP & Energy Infrastructure Inst acc USD 2/1 e 8.32 17.7 8.52 21.03. Andere Fonds Global Energy A Acc USD 2/2 e 14.90 18.3 15.25 23.04.
PIMCO RAE Fdtl PLUS EM Inst acc USD 4/4 e 12.98 8.3 13.34 17.04. PvB Asset-Backed Securities Fund A USD 2/3 b 3691.92 2.9 3695.61 28.02. Global Equity A Acc USD 2/2 e 26.80 16.1 26.89 24.04.
PIMCO RAE Fdtl PLUS Gbl Dev Inst accUSD 4/4 e 15.06 12.6 15.19 23.04. PvB Asset-Backed Securities Fund I CHF 2/3 bx 1491.29 8.8 1491.29 23.04. Middle East A Acc USD 1/1 e 12.57 12.5 12.60 24.04.
PIMCO RAE Fdtl PLUS US Inst acc USD 4/4 e 17.36 13.3 17.46 23.04. PvB Asset-Backed Securities Fund I USD 2/3 b 1693.81 3.1 1694.08 28.02. Swiss Equity Opp. A Acc CHF 2/2 e 188.54 15.8 189.24 24.04.
Strategiefonds PvB Asset-Backed Securities Fund S USD 2/3 bx 240.93 9.1 240.93 23.04. Swiss S&M Cap Equity A Acc CHF 2/2 e 45.94 16.0 46.11 24.04.
Global Multi-Asset Inst acc USD 1/1 e 17.71 9.4 17.78 23.04.

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Obligationenfonds
Wydler Global Bond Fund
Aktienfonds
Wydler Global Equity Fund
Erklärung Indizes
Konditionen bei der Ausgabe und Rücknahme von Anteilen:
Die erste Ziffer verweist auf die Konditionen bei der Ausgabe von Anteilen:
1. keine Ausgabekommission und/oder Gebühren zugunsten des Fonds (Ausgabe erfolgt zum Inventarwert)
2. Ausgabekommission zugunsten der Fondsleitung und/oder des Vertriebsträgers
(kann bei gleichem Fonds je nach Vertriebskanal unterschiedlich sein)
3. Transaktionsgebühr zugunsten des Fonds (Beitrag zur Deckung der Spesen bei der Anlage neu zufliessender Mittel)
4. Kombination von 2) und 3)
5. Besondere Bedingungen bei der Ausgabe von Anteilen
Die zweite, kursiv gedruckte Ziffer verweist auf die Konditionen bei der Rücknahme von Anteilen:
1. keine Rücknahmekommission und/oder Gebühren zugunsten des Fonds (Rücknahme erfolgt zum Inventarwert)
CHF 1/1 e 119.74 5.8 120.45 17.04. ANLAGEFONDS – 2. Rücknahmekommission zugunsten der Fondsleitung und/oder des Vertriebsträgers
(kann bei gleichem Fonds je nach Vertriebskanal unterschiedlich sein)
3. Transaktionsgebühr zugunsten des Fonds (Beitrag zur Deckung der Spesen beim Verkauf von Anlagen)
CHF 3/3 a 223.97 15.3 223.97 23.04. TRANSPARENTE UND 4. Kombination von 2) und 3)
5. Besondere Bedingungen bei der Rücknahme von Anteilen
BEWÄHRTE FINANZ-
Kompetenz PRODUKTE. MEHR UNTER:
Besonderheiten:
a) wöchentliche Bewertung

Qualität
b) monatliche Bewertung
c) quartalsweise Bewertung
WWW.SWISSFUNDDATA.CH d) keine regelmässige Ausgabe und Rücknahme von Anteilen
Vertrauen e) Vortagespreis
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g) Ausgabe von Anteilen vorübergehend eingestellt
h) Ausg. und Rückn. von Anteilen vorübergehend eingestellt
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NZZ am Sonntag 28. April 2019
Wirtschaft Wettbewerbsfähigkeit 29

Und plötzlich sind die anderen besser

Die Schweiz ist nicht mehr die Nummer eins bei der Ansiedlung von neuen multinationalen Unternehmen.
Das unklare Verhältnis zur EU und die Steuerungewissheit schrecken ab. Von Daniel Hug

U
nbemerkt von grossen Teilen der Arbeitskräften sichert». Beides ist in der

RENÉ RUIS / KEYSTONE

Öffentlichkeit, hat sich die Standort-
qualität der Schweiz in den letzten
Jahren Stück um Stück verschlech-
tert. Im Kampf der Top-Destinationen um die
Hauptsitze von multinationalen Unterneh-
men lag die Schweiz in der Periode von 2009
bis 2014 noch ganz vorne, zusammen mit
Irland: Beide Länder konnten sich je 27%
Marktanteil bei der Ansiedlung von Multis
sichern. Der amerikanische Internetkonzern
Google etwa hat seine Präsenz in Zürich lau-
fend ausgebaut und beschäftigt hier bereits
über 3000 hochqualifizierte Arbeitskräfte.
Doch zwischen 2014 und 2018 haben die
Niederlande tüchtig zugelegt: Mit der florie-
renden Metropole Amsterdam konnten die
Niederländer ihren Anteil von 17 auf 24% stei-
gern, während die Schweiz auf 19% zurück-
gefallen ist – und damit nun auch deutlich
hinter Irland (24%) liegt. Auch Luxemburg
konnte sich verbessern, rangiert aber noch
hinter der Schweiz (siehe Grafik). Diese Ergeb-
nisse finden sich in einer nächste Woche er-
scheinenden Studie* von McKinsey, welche
die Attraktivität der Standorte unter die Lupe
genommen hat. «Die Wettbewerbsfähigkeit
der Schweiz als Domizil von multinationalen
Unternehmen hat sich – relativ gesehen – ver-
schlechtert», bestätigt Balz Hösly, Präsident
der Standortorganisation Greater Zurich Area.
Niederlande profitieren vom Brexit
Was steckt hinter diesen Verschiebungen?
«Die Niederlande konnten – im Gegensatz zur
Schweiz – substanziell vom Brexit profitie-
ren», erklärt Raphael Buck, Senior Partner bei
McKinsey. Grosse Tech-Unternehmen wie
Sony und Panasonic haben kürzlich ihre
Hauptsitze von England in die Niederlande
verschoben – wegen der ungeklärten Bezie-
hung Grossbritanniens zur EU. Die niederlän-
dischen Standort-Promotoren sind zuvor ak-
tiv auf 200 multinationale Unternehmen mit
Sitz in Grossbritannien zugegangen. «40 die-
ser Unternehmen konnten sie zu einem Um-
zug in die Niederlande bewegen», sagt Stu-
dienautor und McKinsey-Partner Buck.
Die Schweiz konnte in diesem Wettbewerb
nicht mitspielen. «Für Unternehmen, die sich
nach einem Standort ausserhalb Grossbritan-
niens umsehen, war und ist die Schweiz keine
valable Alternative: Diese Unternehmen
wechseln nicht an einen Ort, der erneut mit
Unsicherheiten bezüglich des EU-Binnen-
marktes verbunden ist», sagt Balz Hösly. Bis
anhin sei die Verankerung der Schweiz im
europäischen Binnenmarkt eine «feste
Grösse» gewesen, heute sei das Verhältnis zur
EU nicht mehr zweifelsfrei. «Das wird von um-
zugswilligen Unternehmen vor einem Stand-
ortentscheid berücksichtigt», berichtet Hösly.
«Die Schweiz wird von vielen Konzernchefs
als ausserhalb des EU-Binnenmarktes stehend
wahrgenommen, die Unsicherheit über die
künftige Ausgestaltung der Beziehungen zur
EU bremst die Investitionstätigkeit», betont
Buck, der Interviews mit über 100 CEO von
internationalen Firmen ausgewertet hat.
Bei der Ansiedlung internationaler Konzerne – im Bild Google in Zürich – fällt die Schweiz zurück.
Kampf um Talente Das EU-Mitglied Niederlande kennt diese
Probleme nicht, die Nähe zu den Hauptmärk-
Die wichtigsten Standortfaktoren für Neuansiedlungen von ten Deutschland und Frankreich wird von Fir-
Unternehmen, durchschnittliche Bedeutung auf einer Skala von men im Konsumgüterbereich geschätzt.
1 bis 5, basierend auf Interviews mit über 100 CEO Grossbritannien hingegen hat viel von seiner
Attraktivität eingebüsst: Der Anteil an den An-
Verfügbarkeit von Talenten 4,5 siedlungen von internationalen Unternehmen
habe sich «seit der Brexit-Debatte von 25% auf
Politische Stabilität 4,1
13% nahezu halbiert», heisst es in der Studie.
Steuerliches Umfeld 4,0 Im Vergleich zur Schweiz punkten die Nie-
Einfachheit der Firmengründung 4,0 derlande noch in zwei weiteren Bereichen: bei
Infrastruktur 3,8 den Unternehmenssteuern und den hoch-
Mobilität von Talenten 3,8 qualifizierten Arbeitskräften, die in breitem
Mass verfügbar sind. Das ist deshalb entschei-
Lebensqualität 3,6
dend, weil die Verfügbarkeit von Talenten, die
Zugang zum europäischen Markt 3,3
politische Stabilität und das steuerliche Um-
Arbeitskosten/Lohnniveau 3,3 feld zu den drei wichtigsten Faktoren für die
Branchen-Cluster 2,7 Attraktivität eines Standorts zählen, wie die
Umfrage von McKinsey bei über 100 Firmen-
Quelle: McKinsey & Company chefs ergeben hat (siehe Grafik).
Balz Hösly weist darauf hin, dass 80% der
Unternehmen, die von seiner Organisation be-
gleitet würden und sich für einen Standort im
Raum Zürich entschieden hätten, über die
Schweiz hinaus aktiv seien. Für sie sei nicht
nur der ungehinderte Zugang zum europäi-
schen EU-Binnenmarkt zentral, «ebenso
wichtig ist für sie ein freier Personenverkehr,
der die Verfügbarkeit von hochqualifizierten
Schweiz momentan unsicher.
Unklar ist auch die künftige steuerliche Be-
lastung: Im Mai stimmt die Schweiz über die
Reform der Unternehmenssteuern ab (Text
unten), danach folgen Abstimmungen in den
Kantonen. Steuern alleine könnten einen mar-
kanten Effekt haben, sagt Raphael Buck – und
nennt als Beispiel Irland: «Die grüne Insel hat
im Bereich Life Science rund 43% aller Neu-
ansiedlungen von internationalen Firmen an-
ziehen können, die Schweiz kam trotz ihrem
bestehenden, starken Cluster und den renom-
mierten Hochschulen bloss auf 33%.» Dieser
Erfolg sei klar auf die Steuerpolitik zurückzu-
führen: «Irland kennt spezielle Regelungen
für geistiges Eigentum, hier gibt es gross-
zügige Abzugsmöglichkeiten.»
Kosten der Unsicherheit
«Früher war die Schweiz auf regulatorischer
Seite ein sehr verlässlicher Partner», sagt
Buck. Das ist inzwischen nicht mehr uneinge-
schränkt der Fall. «Das Schlimmste bei An-
siedlungsentscheiden ist die Unsicherheit»,
weiss Hösly. Eine geplante Ansiedlung im
Ausland sei stets dem Risiko ausgesetzt, dass
sie sich womöglich nicht lohne. «Alles, was
dieses Risiko zusätzlich erhöht, ist Gift für
einen positiven Standortentscheid», so Hösly.
Die anhaltende Unsicherheit kostet: «Wir
kennen Beispiele von Unternehmen, die den
Standortentscheid aufgeschoben haben, und
andere, die den Prozess abgebrochen und sich
für ein anderes Land entschieden haben», er-
klärt der Zürich-Promoter. Um wie viele Fälle
handelt es sich? «Wir stellen fest, dass es in
mehr Fällen als früher üblich zu einer Absage
oder einem Aufschub des Standortentscheids
gekommen ist», so Hösly.
Das liege auch daran, dass die Unsicherheit
im Verhältnis zur EU in letzter Zeit mehr Ge-
wicht erhalten habe. Auch der Finanzplatz
Schweiz konnte darum in letzter Zeit kaum
punkten: «Bei den Banken ist eindeutig
Luxemburg der Gewinner, das kleine EU-Land
vermochte zwei chinesische Grossbanken an-
zuziehen», sagt Buck. Die Schweiz sei hier be-
nachteiligt, da bei den Bankdienstleistungen
der gleichwertige Marktzugang zur EU fehle.
Die multinationalen Unternehmen, die in
der Schweiz von der Umstellung des Steuer-
systems besonders betroffen wären, sind
wirtschaftlich bedeutend: Sie beschäftigen
rund 26% aller Erwerbstätigen im Land, er-
wirtschaften etwa einen Drittel des Brutto-
inlandprodukts und zahlen fast die Hälfte
(47%) aller Unternehmenssteuern in der
Schweiz. Und trotz den jüngsten Markt-
anteilsverlusten hat sich der Sektor dyna-
misch entwickelt: In den letzten zehn Jahren
haben sich 217 internationale Firmen in der
Schweiz niedergelassen, die rund 17 000 neue
Stellen geschaffen haben und jährlich 500
Mio. Fr. Steuern bezahlen.
* McKinsey & Company, mit Economiesuisse, SwissHoldings
und der Schweizerisch-Amerikanischen Handelskammer:
Switzerland Wake Up. Reinforcing Switzerland’s Attractive-
ness to Multinationals. April 2019.

Unternehmenssteuer-Reform Schweiz gerät ins Hintertreffen

Marktanteile verschiedener Standorte bei der Ansiedlung von internationalen Unternehmen

Für die kleineren Firmen sinkt Belastung

Am 19. Mai wird in der Schweiz
über die Steuerreform und die
AHV-Finanzierung (STAF) abge-
stimmt. Worum geht es im Steuer-
Teil? Rund 24 000 Unternehmen
werden bis heute in der Schweiz
steuerlich privilegiert. Erträge aus
dem Ausland werden tiefer
besteuert als inländische Einnah-
men. Das widerspricht den inter-
nationalen Standards der OECD.
Die Schweiz hat versprochen,
diese Ungleichbehandlung aufzu-
geben, um nicht auf eine schwarze
Liste gesetzt zu werden oder
Sanktionen zu gewärtigen.
Eine Aufhebung der Privilegien
ohne Gegenmassnahmen würde
zu einer Abwanderung vieler
dieser internationalen Firmen
führen. Darum schlägt der Bund
vor, die Gewinnsteuern generell
für alle Firmen zu senken. Die
bisher privilegierten internationa-
len Unternehmen müssen künftig
mit einer Mehrbelastung von rund
2,3 Mrd. Fr. pro Jahr rechnen.
Dafür werden die bisher ordentlich
besteuerten, oft kleineren Unter-
nehmen etwa 4,5 Mrd. Fr. weniger
Steuern bezahlen, wie die Eid-
genössische Steuerverwaltung
schätzt. Per saldo ergibt dies einen
Steuerausfall von rund 2,2 Mrd. Fr.
Andererseits müssen Firmenbesit-
zer etwas höhere Steuern auf Divi-
denden aus substanziellen Beteili-
gungen zahlen. Insgesamt rechnet
der Bund mit Mindereinnahmen
von rund 2 Mrd. Fr. Das ist aber nur
der momentane, statische Effekt.
Über die Zeit generieren tiefere
Steuersätze meistens mehr
Steuersubstrat und ziehen neue
Firmen an. Im mittleren Szenario
rechnet die Steuerverwaltung
längerfristig gar mit Mehreinnah-
men von 1,4 Mrd. Fr.
Schweiz Niederlande
Die Umsetzung der Steuer-
reform erfolgt auf kantonaler
Ebene. Der Bund stellt den Kanto-
2009–2013 27% Rang 1 2009–2013 17% Rang 3
nen rund 1 Mrd. Fr. zur Verfügung,
um neue steuerliche Vergünsti-
gungen zu finanzieren: Erträge 2014–2018 19% Rang 3 2014–2018 24% Rang 1
auf Erfindungen (Patentbox)
sollen tiefer besteuert werden, für
Forschungsausgaben sollen Son- Beispiele: Coca-Cola Hellenic, Amcor, Oracle Labs Beispiele: Tesla, Uniqlo, Uber, Panasonic, Netflix
derabzüge möglich sein.
Im Kanton Basel-Stadt haben
die Stimmbürger im Februar mit Irland Luxemburg
78,8% Ja bereits eine Vorlage
angenommen, welche die Gewinn-
steuern für Firmen von 22% auf
13% senkt. In den meisten übrigen 2009–2013 27% Rang 1 2009–2013 11% Rang 5
Kantonen muss noch 2019 über
die Vorlagen befunden werden. Je
nach Kanton sind sie sehr unter- 2014–2018 24% Rang 1 2014–2018 14% Rang 5
schiedlich ausgestaltet. Als Gegen-
stück zur Steuerreform sollen der
AHV 2 Mrd. Fr. zufliessen, finan- Beispiele: Linkedin, Twitter, Dropbox, Airbnb Beispiele: Alipay, China Construction Bank, Goodyear
ziert durch höhere Lohnabzüge
und Mehrwertsteuer. (dah.) Quelle: McKinsey & Company
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NZZ am Sonntag 28. April 2019
Geld & Geist Tobias Straumann
Die «moderne monetäre Theorie» ist fahrlässig,
weil sie historische Erfahrungen ignoriert
B
is vor kurzem wurde sie be-
lächelt, mittlerweile aber
scheint sie auf bestem Weg zu
sein, salonfähig zu werden: die
sogenannte «moderne monetäre
Theorie» (MMT). Nicht nur pro-
gressive Abgeordnete im US-Kongress, son-
dern auch einflussreiche Anleger und
Finanzmarktkommentatoren können ihr viel
abgewinnen. So meinte kürzlich ein Wäh-
rungsexperte einer englischen Bank: «Wir
werden dereinst alle moderne monetäre
Theoretiker werden.»
Worum geht es bei der MMT? Es ist nicht
ganz einfach, diese Frage zu beantworten,
weil die zugrunde liegenden Konzepte
konfus sind. Unbestritten sind aber zwei
Behauptungen. Erstens kann ein Land,
dessen Schulden in der eigenen Währung
denominiert sind, nie bankrott gehen, weil
es das Staatsdefizit und den Schuldendienst
stets mit der Notenpresse finanzieren kann.
Das Paradebeispiel sind die USA, deren
Schulden alle auf den Dollar lauten. Auch der
Schweizer Bundesstaat hat das Privileg, nur
in Franken verschuldet zu sein.
Zweitens kann der Staat die Konjunktur
und die Inflation am besten durch die
Steuer- und Finanzpolitik lenken. Mit Defizi-
ten kann er dafür sorgen, dass die Wirtschaft
voll ausgelastet ist und Vollbeschäftigung
herrscht, während er mit der Steuerpolitik
die Inflation kontrollieren kann. Aus der
Sicht der MMT sind Steuern also weniger
wichtig, um Einnahmen zu generieren, son-
dern um die Geldmenge zu kontrollieren.
Bisher galt in der Makroökonomie, dass die
Notenbank für die Steuerung der Inflation
zuständig ist. Bei der MMT hingegen ist die
Audi A6 40 TDI quattro S-tronic, 204 PS, 4,6 l/100 km (Benzinäquivalent: 5,2/100 km), 122 g CO₂/km (137 g/km ⌀ Neuwagen), 20 g CO₂/km E-Bereitstellung, Energieeffizienz-Kategorie: A. Bruttoverkaufspreis: CHF 72 300.–/abgebildetes Modell: Vesuvgrau Metallic,
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Preisempfehlung des Importeurs. Gültig für alle durch die AMAG Import AG importierten Fahrzeuge.
Wirtschaft
Notenbank vor allem dazu da, das Staatsdefi-
zit zu decken.
Diese beiden Behauptungen haben weit-
reichende Folgen. Wenn die Notenbank
jederzeit in der Lage ist, das Staatsdefizit zu
finanzieren, muss man sich überhaupt keine
Sorgen über den Schuldenstand eines
Landes mehr machen. Solange die Schulden
in der eigenen Währung denominiert sind,
kann der Staat ja problemlos alles finanzie-
ren, was er braucht: Bildung, Infrastruktur,
Sozialstaat, Sicherheit. Aus diesem Grund ist
die MMT bei den Progressiven populär, denn
sie wollen in den USA ein Investitionspro-
gramm starten, das Hochschulstudium gratis
anbieten und eine allgemeine Krankenver-
sicherung einführen. Und sollte wegen der
Finanzierung dieser Programme die Kon-
junktur überhitzen und die Inflation steigen,
kann der Staat ja einfach die Steuern
erhöhen. Aus der Sicht der MMT besteht also
kein Grund, in Panik zu verfallen, wenn die
Notenbanken alle Wünsche der Politik mit
Gelddrucken finanzieren.
Für die Anleger ist die MMT attraktiv, weil
sie dafür wirbt, dass die Notenbanken in der
nächsten Rezession alle Staatsdefizite direkt
finanzieren, um die Arbeitslosigkeit zu
bekämpfen und die Börsenkurse zu stützen.
Die Zeiten, in denen Aktienbesitzer liberale
Eigentumsrechte verteidigen und das Ende
der Tiefzinspolitik forderten, sind längst
vorbei. Sie haben sich in der neuen Welt der
Geldschwemme gut eingerichtet und hoffen,
dass dieser Zustand möglichst lange anhal-
ten wird. Die MMT verspricht ihnen dies.
Dieses opportunistische Kalkül ist ausser-
ordentlich fahrlässig. Es stimmt zwar, dass
ein Land, das nur in seiner eigenen Währung
Sondermodell
Audi A6 Avant Attraction
verschuldet ist, theoretisch nicht bankrott
gehen kann, weil es eine Notenbank hat, die
das Defizit stets zu finanzieren in der Lage
ist. Aber die Idee, dass die dabei auftretende
Inflation jederzeit durch Steuererhöhungen
Die Idee, dass kontrolliert werden könnte, ist weltfremd.
auftretende Wie soll sich ein Parlament rechtzeitig auf
Inflation eine Steuererhöhung einigen, die genau rich-
tig dosiert ist? Die Erfahrung zeigt, dass es
jederzeit durch bei legislativen Prozessen immer zu Verzöge-
Steuer- rungen kommt und dass das ausgehandelte
erhöhungen Ergebnis ökonomisch nie optimal ausfällt,
kontrolliert weil sich nur durch einen politischen Kuh-
werden handel eine Mehrheit ergibt.
Die MMT ignoriert dieses politische Ein-
könnte, ist maleins und hat utopischen Charakter. Sie
weltfremd. geht davon aus, dass die Politik mithilfe von
Fachleuten fähig ist, das Wirtschaftsgesche-
hen optimal zu steuern. Diesen Trend zur
Selbstüberschätzung der ökonomischen
Zunft hatten wir schon einmal. Bereits in den
1960er Jahren glaubten viele Ökonomen an
die Feinsteuerung der Konjunktur. Sie nann-
ten sich Keynesianer, obwohl ihre Theorie
nur am Rande mit dem Denken von John
Maynard Keynes begründet werden konnte.
1972 erklärte sogar der republikanische
US-Präsident Richard Nixon, der früher noch
gegen den Staatsinterventionismus gewet-
tert hatte: «Wir sind nun alle Keynesianer.»
Wenige Jahre später lief die Inflation aus dem
Ruder, der Vulgär-Keynesianismus geriet in
Verruf. Es ist deshalb nicht wünschenswert,
dass «wir alle bald moderne monetäre Theo-
retiker» werden und unter einem neuen
Banner die alten Fehler wiederholen.
Tobias Straumann ist Wirtschaftshistoriker
an der Universität Zürich.
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31
Personenund
Unternehmen
Bayer. Am Freitag holte sich die Unter-
nehmensführung von den Aktionären
eine gewaltige Ohrfeige ab. Die Eigentü-
mer verweigerten an der Generalver-
sammlung die Entlastung. Hintergrund
des Ärgers ist die Übernahme des Pesti-
zidherstellers Monsanto und die Klage-
welle gegen diese Firma. Der Aufsichtsrat
von Bayer rang sich einen Tag später mit-
tels Medienmitteilung zur Unterstützung
des Konzernchefs durch. Man stehe
«geschlossen» hinter der Unternehmens-
leitung. (vob.)
Paketbranche. Der deutsche Bundes-
arbeitsminister Hubertus Heil will mit
einem neuen Gesetz gegen Ausbeutung
bei Paketlieferanten vorgehen. Zustell-
dienste sollen für ihre Subunternehmer
haften, wenn Sozialversicherungsbeiträge
bei diesen nicht einzutreiben sind, wie die
«Süddeutsche Zeitung» schreibt. (mju.)
Olaf Swantee. Der Chef des Telekommu-
nikationsunternehmens Sunrise glaubt,
dass die Aktionäre den Sinn der UPC-
Übernahme erkennen und der Kapital-
erhöhung zustimmen werden. «Aber die
dahinterliegenden Gründe zu erkennen,
erfordert noch mehr
Erklärungsarbeit»,
REUTERS
räumte er gegenüber
der «Finanz und
Wirtschaft» ein. Den
zuletzt deutlich
gesunkenen Kurs der
Sunrise-Aktien
erachte er als eine
«hervorragende
Gelegenheit zum
Einstieg». (awp.)
32
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NZZ am Sonntag 28. April 2019
Vekselberg-Vertrauter in Italien verurteilt
Ex-Avelar-Chef Igor Akhmerov soll bei Solargeschäften betrogen haben. Nun drohen Klagen in der Schweiz
Jürg Meier
Im Juli 2014 verhaftete die italie-
nische Polizei Igor Akhmerov, den
Chef der Energiefirma Avelar. Der
Fall sorgte in der Schweiz für Auf-
sehen. Akhmerov war ein Ver-
trauter des Oligarchen Viktor Vek-
selberg: Von 2004 bis 2006 war
er Finanzchef von dessen Unter-
nehmensgruppe Renova. Danach
wurde er Chef der neugegründe-
ten Avelar mit Sitz in Zürich, die
zum allergrössten Teil Vekselberg
gehört. Diese investierte in Solar-
und Gaskraftwerke.
Jetzt hat das Strafgericht in
Mailand ein Urteil gefällt. Gemäss
diesem haben Akhmerov und
weitere Angeklagte den italie-
nischen Staat und verschiedene
Unternehmen um Millionen be-
trogen. Akhmerov erhält eine
Haftstrafe von viereinhalb Jah-
ren. Vier weitere Beteiligte müs-
sen ebenfalls mehrere Jahre ins
Gefängnis.
Falsche Deklaration
Die italienischen Behörden wer-
fen Akhmerov und weiteren Per-
sonen Betrügereien bei Geschäf-
ten mit Solarparks vor. Sie hätten
in China produzierte Solarpanels
mit gefälschten Unterlagen als
europäische Ware deklariert.
Zudem hätten sie angegeben,
Solarparks seien bereits fertig er-
richtet, obwohl diese tatsächlich
noch im Bau gestanden hätten. Mit
diesen Kniffen sollen sie sich vom
italienischen Staat höhere Subven-
tionen erschlichen haben.
Betrugsfall um Energiefirma Avelar
Es geht um 200 Mio. €
Im Fall der Vekselberg-Firma
Avelar wird um Millionen gestrit-
ten. Das am 18.April in Mailand
gefällte Urteil verpflichtet meh-
rere Beteiligte zu einer ersten
Zahlung von 8Mio.€.
Eine der Klägerinnen ist die
norwegische EAM Solar. Sie
kaufte einem Avelar-Joint-Ven-
ture in Italien Solarparks ab. Im
Nachhinein stellte sich laut EAM
Wirtschaft 33
Igor Akhmerov stritt die Vor-
DIMITRY ASTAKHOV / NOVOSTI / KEYSTONE
würfe von Anfang an ab. Zwei Be-
schuldigte legten hingegen Ge-
ständnisse ab. Akhmerov sagt auf
Anfrage, er sei «schockiert» vom
Urteil. Dieses sei «ungerecht und
völlig unbegründet». Laut Akh-
merov hat die Anklage nie Be-
weise dafür vorgelegt, dass er
persönlich in den Betrug invol-
viert gewesen sei. Die Anklage
habe zudem Aussagen ignoriert,
welche zwei Beschuldigte in ih-
ren Geständnissen gemacht hät-
ten. «Diese Mitarbeiter haben
mehrmals bestätigt: Sie handel-
ten allein, und niemand wusste
von ihrem Betrug.»
Akhmerov weist auf ein kürz-
liches Urteil eines italienischen
Schiedsgerichts in der gleichen
Sache hin. Dieses habe Schaden-
ersatzforderungen gegen Avelar
abgelehnt. Er zeigt sich erzürnt:
«Es ist, als hätte ein Händler einer
Bank heimlich betrogen, und zur
Strafe schickt das Gericht die
Bankenleitung ins Gefängnis.»
Akhmerov wird gegen das
Urteil in Italien Berufung ein-
legen. «Zudem werde ich mich an
den europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte wenden.» Er will
auch künftig persönlich vor den Igor Akhmerov (rechts) bei sind. Nur eine Woche danach er- Chef Jakobsen will sich nicht dazu Laut EAM Solar
italienischen Gerichten erschei- einem Fabrikrundgang in Russ- folgte zur Überraschung von EAM äussern, ob es in der Schweiz oder
nen, um sich zu verteidigen. land mit Viktor Vekselberg die Polizeiaktion. in anderen Ländern zu weiteren
macht das Urteil
Eine der geschädigten Firmen (ganz links) und Premier Dmitri Bei dem an der Börse in Oslo Verfahren kommt. Sein Unter- den Weg frei für
ist die norwegische EAM Solar.
Das Unternehmen hatte einem
Medwedew (Mitte). (17. 2. 2015) kotierten Unternehmen löst das
Verdikt grosse Freude aus. «Das
nehmen verfüge aber über ge-
nügend finanzielle Mittel, um sol-
weitere juristische
Joint Venture von Avelar und dem Gericht hat ein klares Urteil ge- che einzuleiten. Schritte.
luxemburgischen Stromversorger fällt. Igor Akhmerov und andere Avelar ist Teil des Firmenim-
Enovos 2014 Solarkraftwerke ab- haben den italienischen Staat und periums von Viktor Vekselberg.
gekauft, die vom Betrug betroffen unser Unternehmen betrogen», In der Schweiz umfasst es Betei- EAM Solar beruft sich dagegen
sagt CEO Viktor Jakobsen. ligungen an den Industriefirmen auf einen bereits früher ergange-
Das Gericht hat erst das Urteil Sulzer, OC Oerlikon, Schmolz + nen Entscheid des Strafgerichts in
publiziert, nicht aber die Erwä- Bickenbach sowie an der Immo- Mailand. «Es hielt fest, dass Avelar
gungen, die dahinterstehen. Zu- biliengesellschaft Züblin. und Enovos grundsätzlich für
dem können es die Betroffenen einen entstandenen Schaden
Streit um Verantwortung
noch anfechten. Dennoch sagt
Jakobsen: «Für uns ist dieses Aus dem Gerichtsdokument wird
geradestehen müssen», sagt der
Geschäftsführer Viktor Jakobsen.
Urteil ein Wendepunkt.» Es ma- nicht klar, ob die Richter Veksel- Bei der Firma Avelar übernah-
heraus, dass Dokumente gefälscht zurück. EAM stelle die finanziel- che den Weg frei für weitere ge- bergs Avelar und den luxembur- men nach den Vorfällen enge
worden waren. len Schäden als viel zu hoch dar. richtliche Schritte «in verschie- gischen Versorger Enovos über- Vertraute Vekselbergs die Füh-
EAM entstand laut CEO Viktor «Die betroffenen italienischen denen anderen Ländern». haupt als entschädigungspflichtig rung. Von Avelar blieb kaum
Jakobsen ein Schaden von 260 Solarparks funktionieren ein- Anfang 2016 hatte EAM in ei- ansehen. Ein Sprecher von Vek- etwas übrig, inzwischen funktio-
Mio.€. «Wir haben schon vor wandfrei, die versprochenen nem Quartalsbericht angekün- selberg verweist für Auskünfte niert nicht einmal mehr die
Jahren gesagt, dass wir einen Subventionen fliessen an die digt, es werde auch in der Schweiz auf Enovos, da diese Mehrheits- Website. Akhmerov und Veksel-
Schadenersatz von über 200Mio.€ Eigentümer.» Zudem hätten rechtliche Schritte einleiten. Da- aktionärin des Joint Ventures sei. berg gehen geschäftlich inzwi-
fordern.» Entgangene Zinsen dürf- EAM und verschiedene Banken mals verhandelte das Unterneh- Eine Sprecherin von Enovos sagt, schen getrennte Wege. Der Oli-
ten diese Betrag erhöhen. eingehende Analysen durch- men aber noch mit Vekselberg- das Gericht habe alle Schadens- garch hat zudem seine Firmen-
Der frühere Avelar-Chef Igor geführt, bevor sie die Solarparks Vertretern, um eine gütliche Lö- ersatzansprüche gegen ihr Unter- gruppe umgebaut, dies auch als
Akhmerov weist die Vorwürfe gekauft hätten. (mju.) sung zu finden. Mitte 2016 schei- nehmen zurückgewiesen. Weiter Folge der von den USA gegen ihn
terten diese Bemühungen. EAM- kommentiert sie das Urteil nicht. verhängten Sanktionen.
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34 Wirtschaft Sponsored Content für UBS NZZ am Sonntag 28. April 2019

Faire Immobilienaufteilung
UBS Family Banking

Beim sensitiven Thema «Erben und Vererben» stehen bei UBS Family

garantiert Familienfrieden
Banking zwei zentrale Aspekte im Vordergrund.
Faire Aufteilung des Familienvermögens
– Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses der eigenen
Wünsche und Bedürfnisse unter Einbezug der nächsten Generation.
– Erstellung der Finanzplanung und Übersicht der Vermögenswerte.
– Erarbeitung und regelmässige Überprüfung der Nachfolgelösung.
Familienwerte über Generationen erhalten
– Erarbeitung der eigenen Anlagekonzeption.
– Diskussion und Auswahl einer passenden Anlagestrategie.
– Einbezug der nächsten Generation in den Anlageprozess.
ubs.com/familybanking

Immobilien-Checkliste

So stellt man die Immobiliennachfolge auf ein stabiles Fundament:

– Oft sind Immobilien der materiell grösste Bestandteil der Erbmasse.
Die Weitergabe hat damit einen gewichtigen Einfluss auf die Nach-
folgeplanung sowie die beteiligten Parteien.
– Sicherstellen, dass Wünsche und Vorstellungen der Erben in Bezug
auf vorhandene Immobilien bekannt sind und die Tragbarkeit einer
laufenden Hypothek gegeben ist.
– Beim Erbvorbezug mit einer Immobilie sollte unter Mitwirkung aller
betroffenen Familienmitglieder die Bewertung und ein allfälliger
finanzieller Ausgleich von Erbberechtigten schriftlich festgehalten
werden.
– Je öfter eine Immobilie ohne spezielle Nachfolgeregelung vererbt
wird, desto grösser wird die Erbengemeinschaft. Dies erschwert die
Koordination bei der Bewirtschaftung oder einem möglichen Verkauf.
– Beim Verkauf einer Renditeliegenschaft sollten die Auswirkungen
des Wegfalls von regelmässigen Mieteinnahmen auf das Portfolio
betrachtet werden.

Nach dem Verkauf stand die einverstanden. Er ermöglichte

Strukturierung der entstandenen ihm eine klare Übersicht über sein
Liquidität an. Egon Hauser wuss- Vermögen. Gleichzeitig konnte er

Vater Hauser und seine zwei Söhne diskutierten intensiv, wie sie eine
familieneigene Liegenschaft verkaufen sollten. Ohne eine umfassende
Beratung hätten sie es kaum geschafft, den besten Erlös zu erzielen.
Diesen Augenblick wird Markus
nicht vergessen. Er und sein jün-
gerer Bruder Martin waren auf
dem Notariat zugegen, als ihr
Vater Egon Hauser* die Verträge
für den Verkauf der Liegenschaft
unterschrieben hatte. Der Erlös
lag bei mehreren Millionen Fran-
ken. Das Objekt war eine von zwei
Renditeliegenschaften, die den
Hauptteil des Familienvermögens
ausmachten. Markus und Martin
hatten bemerkt, wie ihrem 72-
jährigen alleinstehenden Vater
die Immobilienverwaltung zu-
nehmend zur Belastung wurde.
Dies war auch schon Gesprächs-
thema am Familientisch gewesen.
Dabei kam ihnen der Zahn der
Zeit zu Hilfe. An einer der regel-
mässigen familieninternen Be-
sprechungen stellte sich heraus,
dass die Liegenschaft einer kost-
spieligen Sanierung hätte unter-
zogen werden müssen. Alle wa-
ren sich schnell einig, dass die
Familie den finanziellen und
administrativen Aufwand nicht
auf sich nehmen wollte. Vater
Egon hatte zudem angedeutet,
dass er mit dem Erlös gerne seine
Söhne unterstützen möchte. Die
Brüder waren erleichtert, denn
sie hatten eigene Pläne für die Zu-
kunft. Markus (45) wollte sich
selbstständig machen und wäre
für ein Startkapital sehr dankbar.
Martin (40) hegte schon lange
den Traum eines Eigenheims für
sich und seine Familie.
Auch Emotionen
im Spiel
Mit der Abwicklung des Verkaufs
betraute Egon Hauser UBS, bei
der er bereits seine privaten Kon-
ten führte. Die Hausbank hatte
ihm eine überzeugende Konzept-
analyse für die gesamte Nachfol-
geplanung vorgelegt, worin der
Verkauf der Immobilie einge-
bettet war. Dafür hatte seine
UBS-Kundenberaterin Spezialis-
ten aus der Finanzplanung und
dem Real Estate Advisory hinzu-
ziehen können. In dieser Abtei-
lung finden sich Architekten, In-
genieure und Betriebsökonomen.
Dadurch vereint sie ein umfang-
reiches Know-how aus Immobili-
en-, Finanz- oder Strategiewissen
an einem Ort – was gerade bei
komplexen Aufgaben wie der Be-
stimmung eines Immobilienwerts
und der Abwicklung eines Ver-
kaufs von grösserem Volumen ein
Vorteil ist. «Der Immobilienwert
zum Beispiel entwickelt sich auf
der Zeitachse nach oben oder
nach unten. Darüber hinaus ist er
individuell und emotional defi-
niert», gibt die UBS-Kundenbera-
terin zu bedenken. Das führe
nicht selten zu Konflikten inner-
halb der Familie.
Den Verkaufserlös
strukturieren
Dank der Moderation der UBS-
Kundenberaterin zwischen den
drei Männern und den Spezia-
listen konnten offene Fragen
jederzeit beantwortet und Unsi-
cherheiten bei der Verkaufsab-
wicklung aus dem Weg geräumt
werden. Zudem konnte ein guter
Verkaufserlös erzielt werden.
«Die Weitergabe von Immobilien-
werten über mehrere Generatio-
nen hat viele Facetten. Die Exper-
tise des Real Estate Advisory und
der Finanzplanung aus einer Hand
ist die beste Voraussetzung für
eine faire Aufteilung von Vermö-
gen über Generationen», erklärt
die UBS-Kundenberaterin weiter.
te um die Träume seiner Söhne,
wollte gleichzeitig aber auch sei-
ne eigene Vorsorge stärken. Er
entschied sich, je 1 Million Fran-
ken des Verkaufserlöses seinen
Söhnen in Form einer Schenkung
zu überlassen und das übrige
Kapital für die eigene Vorsorge zu
verwenden. Doch wie sollte der
Vater das vergrösserte Vermögen
sinnvoll bewirtschaften?
Seine UBS-Kundenberaterin
erarbeitete gemeinsam mit ihm
einen Vorschlag, wie er die Mittel
auf die drei Töpfe, in denen sein
Vermögen strukturiert war, ver-
teilen könnte. Mit dem ersten
Topf, der hauptsächlich aus Li-
quidität besteht, würden die lau-
fenden und unmittelbar geplan-
ten Ausgaben von Egon Hauser
abgedeckt. Das Kapital aus dem
zweiten Topf soll seinen langfris-
tigen Lebensunterhalt sichern.
Der dritte Topf schliesslich um-
fasst das überschüssige Kapital,
das der Vater nicht zur Sicherung
seines langfristigen Lebensunter-
halts benötigt und das er für die
Vermögensweitergabe an seine
beiden Söhne nutzen kann. Egon
Hauser war mit dem Vorschlag
so ruhigen Gewissens seine Söhne
unterstützen und trotzdem seinen
gewohnten Lebensstandard wei-
terhin sichern. Auch im Falle von
Krankheit wäre er gewappnet.
Markus seinerseits konnte sich
auf seine neue Selbstständigkeit
freuen, die er mit Hilfe der Schen-
kung jetzt an die Hand nahm.
Gleichzeitig war er erleichtert,
dass sein Vater eine Last weniger
hatte. Darüber hinaus hatten sie
die Weitergabe der zweiten Ren-
diteliegenschaft bereits einmal
angesprochen. Sie gehörte ur-
sprünglich den Grosseltern väter-
licherseits. Vor allem sein jüngerer
Bruder hatte eine relativ starke
emotionale Bindung zum Objekt.
Aber Markus blieb gelassen, weil
er wusste, dass sein Vater zusam-
men mit dem Team seiner
UBS-Kundenberaterin und unter
Einbezug von Martin auch hier
den bestmöglichen Weg finden
würde. (jjs)
Dieser Artikel wurde von
NZZ Content Solutions im Auftrag
von UBS erstellt.
* Kundennamen geändert.

Damit Familienwerte über

Generationen erhalten bleiben
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Führend für Family Banking

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© UBS 2019. Alle Rechte vorbehalten.

NZZ am Sonntag 28. April 2019
Der Betreiber
kannte die
Probleme
Der Bergbaukonzern Vale hat
die Risiken des gebrochenen
Staudamms im brasilianischen
Brumadinho vertuscht. Drohen
noch weitere Katastrophen?
Thomas Byczkowski
Die brasilianische Vale, der welt-
grösste Förderer von Eisenerz mit
Europa-Sitz in Saint-Prex (VD),
ist für Brasiliens grössten In-
dustrieunfall verantwortlich: Am
25. Januar riss der Staudamm des
Rückhaltebeckens einer Mine.
Millionen von Kubikmetern Ab-
raumschlamm ergossen sich über
die Täler und Siedlungen. 229
Leichen wurden bis jetzt gebor-
gen, unter ihnen Dutzende Vale-
Mitarbeiter aus einer Cafeteria
direkt unterhalb des Damms. 48
Menschen werden vermisst. Die
Brüchigkeit des Dammes soll laut
internen Untersuchungen längst
bekannt gewesen sein.
In einem internen Papier, das
die Staatsanwaltschaft Ende Ja-
nuar beschlagnahmt hat, stuften
Vale-Ingenieure neun weitere
Dämme der gleichen Bauart (Up-
stream-Tailing-Dämme) als sehr
brüchig ein. Offiziell aber beharrte
der inzwischen zurückgetretene
Vale-Konzernchef Fabio Schvarts-
man darauf, dass die Dämme
sicher seien. Die Anlage in Bru-
madinho (Minas Gerais) war drei
Monate zuvor vom deutschen
TÜV Süd geprüft und nicht bean-
standet worden (Artikel unten).
Vale betonte gegenüber der
«NZZ am Sonntag». dass in dem
internen Papier «strengere Stan-
dards als die derzeit geltenden
nationalen und internationalen
Rechtsvorschriften» zugrundege-
legt wurden. Dies sollte «vorsorg-
Bei der Prüfung der Dämme geht es um viel Geld
Das Prüfunternehmen TÜV
Süd aus Deutschland steht im
Visier der Staatsanwaltschaft:
Diese untersucht, wie
unabhängig das Gütesiegel
für den gebrochenen Damm
in Brasilien erteilt wurde.
Das deutsche Prüfunternehmen
TÜV Süd AG hat über seine
Niederlassung in São Paulo dem
Staudamm in Brumadinho trotz
kritischen Untersuchungswerten
die Stabilität bescheinigt, bevor
es am 25. Januar zur Katastrophe
kam. Nun ermitteln die brasilia-
nischen Behörden, wie das Gut-
achten zustande kam.
Die Staatsanwaltschaft vermu-
tet, dass Verantwortliche bei Vale
die Auditoren überredet hätten,
ihre ursprüngliche Einschätzung
Wirtschaft Staudamm-Unglück Brasilien 35
WASHINGTON ALVES / REUTERS
liche Massnahmen» ermöglichen. Ein Bergungsteam erholt sich von 4,6 Mrd.$ – mehr als die Hälf- 2018 bekannt, dass mehrfach Ge- Figueredo Rocha die Direktoren
Der ehemalige Staatskonzern hat nach einem Dammbruch von te davon mit Eisenerzen, wie sie fahr drohte: 57 Dämme wurden schwer: Die Probleme seien der
schon länger einen angeschlage- einem Einsatz im brasilianischen in Brumadinho gefördert werden. gemäss dem Vale-Papier evaluiert Konzernleitung und dem Ver-
nen Ruf: Kaum vier Jahre zuvor Brumadinho. (28. Januar 2019) In Brasilien, wo ganze Land- und 10 als besonders fragil kate- waltungsrat von Vale bekannt
war in Mariana, nur 100 Kilo- striche vom Bergbau gezeichnet gorisiert. Der gebrochene Damm gewesen. Die Firma hat seit dem
meter von Brumadinho entfernt, sind und Städte davon abhängen, in Brumadinho war einer davon. Dammbruch an der Börse
ein Damm gleicher Bauweise haben die zwei Katastrophen die Die Gefahrenstufe dieses 43 Jahre 15 Mrd. $ an Wert verloren. Die
gebrochen. Die Schlammlawine Angst geschürt, wann und wo das alten Baus war demnach doppelt Investmentgesellschaft Union
tötete 19 Menschen und vergif- nächste Unglück passieren könn- so hoch wie nach Vale-internen Investment trennte sich von ihren
tete den Fluss Doce auf einer Län- te. Insgesamt gibt es im Land Richtlinien zugelassen. Anteilen, die Börse São Paulo
ge von 650 Kilometern bis in den 9415 Minen und über 24 000 Laut Medienberichten enthielt führt Vale nicht mehr im Sus-
Atlantik. Vale betrieb den Damm Dämme. Weniger als ein Fünftel das Papier auch Schadensab- tainability-Index. Internationale
in Mariana mit dem britisch-aus- davon fallen unter die Aufsicht schätzungen. Ein Bruch in Bru- Pensionsfonds – sie halten ein
tralischen BHP-Konzern. des Staudamm-Schutzgesetzes. madinho etwa würde demnach Fünftel der Aktien – verlangen
Die Bauweise des Unglück- Davon hätten 570 keinen verant- mehr als hundert Menschen das Aufklärung über Sicherheits-
Damms in Brumadinho ist denk- wortlichen Betreiber und 42 seien Leben kosten und mit 1,5 Mrd. $ normen für Tailing-Dämme.
bar einfach: Er wird durch suk- gar nicht autorisiert, schreibt die Schaden zu Buche schlagen. Seit 2015 hatte Vale mehrere
zessives Aufschütten der Struktur Zeitung «Folha de São Paulo». Trotzdem taten die Verantwort- Dämme stillgelegt. Am 29. Januar
an die benötigte Höhe angepasst Die verantwortliche Bergbau- lichen nichts. Selbst die Werks- stellte das Unternehmen einen
und nach innen über den zu behörde Agência Nacional de Mi- kantine unterhalb des 85 Meter Plan zur Stilllegung von weiteren
sichernden Schlamm gebaut. Von neração (ANM) listet insgesamt hohen Staudamms blieb geöffnet. zehn Dämmen vor – kurz bevor
2010 bis 2017 gab es weltweit 769 Dämme auf, nur 425 weisen die Staatsanwaltschaft das inter-
13 Brüche von Dämmen dieser eine Risikokategorisierung auf, Belastende Aussage ne Papier beschlagnahmte, in
Bauweise, das sind zehnmal so mehr als die Hälfte davon liegen Das könnte für Vale zum Problem dem just diese Dämme als riskant
viele wie bei anderen Bauarten. in Minas Gerais. 84 sind genauso werden: Die Staatsanwaltschaft aufgelistet waren. Am Tag darauf
gebaut wie der Damm von Bru- liess 11 Angestellte vorüber- veröffentlichte die Umweltbe-
Billig, aber gefährlich madinho. Nur zwei fallen in die gehend festnehmen und Aktiven hörde überraschend schnell eine
In Chile sind Dämme dieser Bau- höchste Risikokategorie, 61 wer- in Höhe von umgerechnet 0,25 Resolution, wonach innerhalb
weise verboten, in Europa gibt es den als mittelriskant eingestuft. Mrd. Fr. einfrieren. von zwei Jahren die gefährlichen
kaum noch welche. Aber sie sind Ausgerechnet der Damm in Wussten die Direktoren und Dämme verboten werden und alle
die billigste – und riskanteste – Brumadinho wurde hier als wenig der damalige Vale-Chef Schvarts- Bergbaufirmen Pläne zum Rück-
Methode, Abraumbecken zu gefährlich markiert – die Behörde man von den internen Einstufun- bau vorlegen müssen.
bauen. Und mit dem Bergbau verlässt sich bei den Angaben gen? Bei Vale bestreitet man das. Vale hat vor wenigen Tagen die
werden in Brasilien gute Ge- häufig auf die Betreiber. Denn Nach dem brasilianischen Kor- Einstufung von drei weiteren
schäfte gemacht: Aus dem Bun- im ganzen Land gibt es nur 154 ruptionsgesetz könnte die Firma Dämmen erhöht. Mehrere tausend
desstaat Minas Gerais – der Name Vale hat vor Inspektoren, viel zu wenig für allein dafür mit bis zu 7 Mrd. $ be- Menschen wurden evakuiert,
bedeutet «allgemeine Mine» – profunde Risikoanalysen, kriti- straft werden. Deshalb ist die Probealarme schrillen regelmässig
stammen 40% des landesweiten
wenigen Tagen die sieren Experten. Aussage eines der Ingenieure von an allen zehn kritischen Dämmen,
Bergbau-Umsatzes und 4% des Risiko-Einstufung Dass die Betreiber ihre Dämme Vales geotechnischem Risiko- Alarme, die beim Dammbruch in
Bruttoinlandsprodukts. Vale er-
wirtschaftete 2017 einen Umsatz
von drei Dämmen schönreden, zeigt das interne
Papier von Vale. Demnach war in
management wichtig.
Vor dem Parlamentsausschuss
Brumadinho nicht zu hören
waren. Es scheint, als nehme Vale
von 34 Mrd.$ und einen Gewinn erhöht. der Firma bereits seit Oktober in Minas Gerais belastete Felipe nun die Risiken ernst.
zu korrigieren. Dazu soll Vale sen nicht zimperlich: Drei weite- per Anwalt, inklusive TÜV-Zerti-
THOMAS BYCZKOWSKI
auch einen Prüf-Vertrag für wei- re Firmen – Geoconsultoria, Po- fikat und Antrag auf Einstellung
tere achtzehn Dämme als Druck- tamos Engenharia e Hidrologia der Untersuchung.
mittel eingesetzt haben. sowie Tractebel Engineering – Wie der TÜV Süd jetzt in einer
Angeblich soll auch ein deut- wurden im Verlauf des Überprü- vorsichtigen Stellungnahme ein-
scher Manager regelmässig zu fungsprozesses von Vale gegen- räumt, ist der geborstene Damm
Absprachen nach Brasilien gereist einander ausgespielt. womöglich kein Einzelfall: Eine
sein. Bewahrheiten sich die An- Als der TÜV Süd dem Damm im unabhängige Kommission habe
schuldigungen, wäre der Image- Juni 2018 die Betriebssicherheit Zweifel an der Stabilität von bis-
schaden für das deutsche Prüf- erteilte, lag der berechnete Si- her acht der zertifizierten Dämme
unternehmen enorm, das 2016 cherheitsfaktor beinahe 20% un- geäussert. Weitere Angaben zu
mit 24 000 Mitarbeitern weltweit ter dem Grenzwert. Dass die Prü- den Ermittlungen machte der
umgerechnet 2,6 Mrd. Fr. Umsatz fer später noch 17 Verbesserungs- TÜV auf Anfrage nicht.
erwirtschaftet hat. vorschläge für die Anlage aufge- Es geht bei den Vorwürfen
Dass der Damm in Brumadinho stellt haben, könnte ein weiterer auch um ein grundsätzliches Pro-
Probleme machte, ist seit Novem- Beleg sein für den Schlingerkurs blem: um die Abhängigkeit des
ber 2017 mehrmals auf unabhän- bei der Begutachtung. Gutachters vom Auftraggeber, der
gigen Expertentagungen disku- Noch im Juni 2018 forderte ein die Untersuchung bezahlt. Hätte
tiert worden. Freigaben wurden Geologe der Staatsanwaltschaft Vale die Anlage in Brumadinho
infrage gestellt und Prüfmetho- von Minas Gerais weitere Infor- schliessen müssen, wären dem
den kritisiert. mationen über den Damm in Bru- Konzern Umsätze von vermutlich
Vale wusste Bescheid, war aber madinho an. Vale lieferte die bis zu 1 Mio. $ täglich entgangen.
beim Durchsetzen seiner Interes- Erzmine im Naturschutzgebiet Carste de Lagoa Santa. Dokumente fünf Monate später Thomas Byczkowski
Invest
Immobilien
Steht das Baugespann, beginnt das Bewilligungsverfahren – und das kann dauern.
Schneller über die letzte Hürde
Das Einholen einer Baubewilligung dauert lange und birgt Risiken. Digitale
Verfahren sollen den Prozess beschleunigen. Von David Strohm
A
uf internationale Ranglisten wird
hierzulande gerne verwiesen, erst
recht, wenn die Schweiz weit vorne
liegt. Nicht immer aber schmeichelt
das Ergebnis. In einem von der Weltbank er-
stellten Vergleich über die Dauer und Komple-
xität von Baubewilligungsverfahren ist die
Schweiz zwischen 2009 und 2019 von Platz 32
auf Platz 69 abgerutscht und rangiert nun
hinter Ägypten und vor Sambia.
In dem Zeitraum hat sich die durchschnitt-
liche Verfahrensdauer für Neubauten mit 4,6
Monaten kaum verändert. Etwas schneller
geht es bei den Umbauten. Dort liegt die Dau-
er bei 3,6 Monaten. «Der Bewilligungsprozess
in der Schweiz ist alles andere als optimal»,
heisst es in einer Studie der Credit Suisse.
Grossprojekte brauchen Geduld
Thomas Rieder, Immobilienanalyst bei der
Grossbank, hat sich dafür die Hürden, die
beim Erstellen eines Gebäudes zu nehmen
sind, genauer angesehen und deutliche Unter-
schiede je nach Kanton, Grösse und Nut-
zungsart der geplanten Gebäude festgestellt.
Für seine Berechnungen hat er insgesamt fast
100 000 Baubewilligungen untersucht.
So geht der Prozess bei neuen Einfamilien-
häusern mit 3,9 Monaten deutlich schneller
Anleger sollten aktive Fonds meiden
Geldspiegel
Jürg Meier
D
as vergangene Jahr hätte das Jahr
der aktiven Fonds werden sollen.
Die Manager dieser Anlagegefässe
versuchen, clevere Anlageent-
scheide zu treffen und so überdurchschnitt-
liche Renditen für ihre Investoren heraus-
zuholen. In der Finanzbranche nennt man
das «den Markt schlagen».
2018 hätte in den Augen vieler Beobachter
den Fondsmanagern ein ideales Umfeld
geboten, um zu beweisen, dass sie ihr Geld
wert sind. Denn an den Börsen ging es viel
vonstatten als jener bei Mehrfamilienhäusern,
für die eine Bewilligung im Schnitt erst nach
knapp einem halben Jahr vorliegt.
«Die Bewilligung grösserer Projekte erfor-
dert in der Regel spürbar mehr Zeit», sagt Rie-
der. Überbauungen mit mehr als 50 Wohnun-
gen erhalten das Okay erst nach 7,2 Monaten.
Sind es weniger als 10 Einheiten, ist es nach
durchschnittlich 5,6 so weit. Bei Gebäuden
mit gemischter Wohn- und Gewerbenutzung
Eigenheim geht schneller
Verfahrensdauer bei Baubewilligungen
nach Nutzungsart in Monaten
10
9 rungseffekte (bei den Behörden) mehr als
8 auf», sagt der CS-Ökonom. In der Stadt Zürich
7 wurde deshalb 2016 eigens ein «rotes Telefon»
Mischnutzungen
(Wohnen/Gewerbe)
6
Mehrfamilienhäuser
5 Industrie
4 Gewerbe
Einfamilienhäuser
3 setzung städtischer Auflagen in Baubewilli-
08 09 10 11 12 13 14 15 2016
Quelle: Credit Suisse, Baublatt
stärker auf und ab als in den Jahren zuvor.
Der Brexit, der Handelskrieg zwischen den
USA und China und andere Ereignisse
schickten die Aktienkurse mal hoch und mal
runter. «Volatilität» nennt man das in der
Finanzsprache. Sie gilt als erfolgverspre-
chende Voraussetzung für Fondsmanager.
Haben sie die Nase im Wind – so die Theorie
–, dann können sie Titel zum richtigen Zeit-
punkt kaufen oder verkaufen und dank den
starken Kursschwankungen hohe Gewinne
herausholen.
Nun hat das Jahr 2018 gezeigt: Die Theorie
ist leider nur eine Theorie. «Ein hoher Anteil
aktiver Fonds in Europa hat 2018 ihre Bench-
marks nicht erreicht», schreibt der Finanz-
dienstleister S&P Global in einer kürzlich
publizierten Analyse. Das Unternehmen
erhebt seit Jahren, welche Resultate aktive
Fondsmanager abliefern.
Als Benchmark (Vergleichsmassstab)
gelten verschiedene Aktienindizes. Ein
Fondsmanager, der in europäische Aktien
investiert, wird zum Beispiel am S&P Europe
350 gemessen, einem Aktienindex, der 350
europäische Titel umfasst. Die Erhebung
zeigt: 86% aller aktiven Fondsmanager, die
dauert es 6,6 Monate. Viel Geduld ist vor allem
im Kanton Genf nötig, wo die Bauämter das
Bewilligungsverfahren für Mehrfamilien-
häuser mittlerer Grösse erst nach über einem
Jahr abschliessen. In die Länge zieht es sich
auch in den Kantonen Freiburg (9,7 Monate)
und Schwyz (8,4 Monate). Die kürzeste Dauer
kennt Solothurn mit 5,4 Monaten.
Eine Rolle spielt auch die Art und Grösse
der bewilligenden Gemeinde. Je kleiner, desto
schneller geht es. In den Städten dagegen, wo
die Bevölkerungsdichte höher und die Bau-
landreserven knapp sind, wird eher in die Hö-
he gebaut. Dann sind langwierige Verfahren
und ein umständlicher Behördenparcours so-
wie Einsprachen wahrscheinlicher.
«Dies wiegt offensichtlich die eigentlich be-
stehenden Effizienz- und Professionalisie-
eingerichtet. Die seit 2016 existierende Help-
line soll den Dialog zwischen Bauherrschaften
und der örtlichen Baubehörde sowie allen zu-
ständigen Verwaltungseinheiten bei der Um-
gungen fördern.
Die Verfahren für das Einholen einer Bau-
bewilligung sind kantonal geregelt. Die Ge-
sich auf europäische Aktien fokussierten,
schnitten 2018 schwächer ab als dieser Ver-
gleichsindex.
Noch schlechter sieht es bei Fonds aus, die
aus Europa in Titel von Schwellenländern
investieren. Diese hatten über einen Zeit-
raum von zehn Jahren gemäss Studie «eine
besonders geringe Erfolgsquote». Dabei
gelten die Märkte von Schwellenländern als
schwierig zu durchschauen – und darum
eigentlich als ideales Tummelfeld für smarte
Fondsmanager. «Europäische aktive Fonds
haben aber keine Beweise dafür erbracht,
dass sie diese Situation langfristig ausnutzen
können», sagt Andrew Innes, stellvertreten-
der Direktor bei S&P Dow Jones Indices.
Für Anleger ist die Schlussfolgerung klar.
Sie sollten aktive Fonds meiden. Eine bessere
Alternative sind passive Fonds, die einfach
einen Aktienmarkt abbilden, zum Beispiel
den SMI. Bei diesen fällt kein teurer Fonds-
manager Entscheide. Will man doch einen
aktiven Fonds – etwa, weil man bestimmte
Firmen ausschliessen will –, muss man unbe-
dingt auf die Kosten achten. Je höher die
jährlichen Gebühren, desto geringer sind
Chancen, den Markt jemals zu schlagen.
BRANKO DE LANG / KEYSTONE
28
Mio.
Papierseiten fallen
im Kanton Bern im
Zusammenhang mit
den rund 20 000
Baugesuchen an,
die pro Jahr von
den Baubehörden
bearbeitet werden.
Die schlechteste Woche hatte...
Elon Musk, Chef von Tesla
Elon Musk kommt einfach
nicht in ruhigeres Fahrwasser.
Die Investoren hatten gehofft,
dass mit der Auslieferung des
lange erwarteten Model 3 end-
lich Gewinne anfallen und
Ruhe beim Autobauer einkeh-
ren werde. Doch am Mittwoch
wurden sie enttäuscht.
Tesla hatte zwar schon vor
einiger Zeit Fertigungsschwie-
rigkeiten angekündigt. Den-
noch waren Finanzanalysten
davon überrascht, wie schlecht
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Projekt E-Bau
Testlauf im Emmental
Rund 20 000 Baugesuche pro Jahr werden
im Kanton Bern eingereicht. Damit verbun-
den sind gegen 350 000 Postsendungen
mit rund 28 Mio. Seiten Papier. Bern ist einer
der Kantone, in denen ein Pilotbetrieb für
digitale Baugesuche läuft. Seit Sommer
2018 nehmen zehn Gemeinden rund um
Burgdorf sowie das Regierungsstatthalter-
amt Emmental daran teil. Ab Mitte diesen
Jahres soll das System «E-Bau» dann kan-
tonsweit laufen. Ab 2020 sollen Baubewilli-
gungen im Kanton Bern nur noch elektro-
nisch abgewickelt werden. Kostenersparnis:
mindestens 3,5 Mio. Fr. pro Jahr. (dst.)
suche behandelt die zuständige Gemeinde auf
der Grundlage kantonaler und kommunaler
Baugesetze und Verordnungen. Der Weg
durch die Instanzen beginnt in der Regel mit
dem Einreichen des Baugesuchs, womit die
Vorprüfung auslöst wird: Sind die Vorausset-
zungen gegeben, die Unterlagen komplett?
Oft suchen die Bauwilligen sogar schon davor
informellen Rat bei den Behörden, um das
Machbare auszuloten.
Mit dem Aufstellen des Baugespanns und
der Publikation des Gesuchs fängt das eigent-
liche Bewilligungsverfahren an; für berechtig-
te Personen mit einem schützenswerten Inte-
resse, zumeist Nachbarn, läuft ab dann die
Frist für Einsprachen. Spricht nichts dagegen,
erfolgt die Baubewilligung. Diese enthält aber
oft Auflagen für die Bauherrschaft. Gegen
diese Verfügung können Betroffene rekurrie-
ren. Wird sie rechtskräftig, muss innerhalb
einer festgelegten Frist mit dem Bau begon-
nen werden.
Wie lange sich die Prüfung hinziehen darf,
variiert. So sollen Gesuche im Kanton Zürich
bei Neubauten und grösseren Umbauten nicht
länger als vier Monate behandelt werden, für
kleinere Umbauten beträgt die Richtzeit nur
die Hälfte. Viele Kantone kennen zudem bei
Bauvorhaben «von untergeordneter Bedeu-
tung», die keine Interessen Dritter berühren,
ein abgekürztes Verfahren.
Abgekürztes Verfahren in 30 Tagen
Im Kanton Zürich zum Beispiel dauert dieses
maximal einen Monat. Die in der Praxis tat-
sächlich benötigte Zeit zur Behandlung des
Gesuchs hängt stark vom jeweiligen Projekt
ab (Nutzung, Grösse, Komplexität), aber auch
von der Zahl der zu behandelnden Einspra-
chen. Stehen einem Bauvorhaben keine pla-
nungsseitigen, bautechnischen oder umwelt-
rechtlichen Hindernisse entgegen, ist dieses
letztlich auch zu bewilligen.
Um in der Länderrangliste wieder Plätze
gutzumachen, beginnen die Behörden, die
Baubewilligungsverfahren schrittweise zu
digitalisieren. Relativ weit sind die Kantone
Luzern und Uri. Mit einem Pilotbetrieb hat
man unter anderem in den Kantonen Zürich,
Aargau und Bern begonnen. Bis sich der Pro-
zess durchgehend und überall elektronisch
abbilden und so deutlich beschleunigen lässt,
dürfte es aber noch Jahre dauern.
das Ergebnis ausfiel. Das Minus
REUTERS
betrug 702 Mio. $. Das ist mehr
als doppelt so viel, wie sie
erwartet hatten.
Elon Musk reagierte und
kündete eine Kapitalerhöhung
an. Das Geld wird Tesla brau-
chen, denn das Unternehmen
wird auch im nächsten Quartal
rote Zahlen ausweisen, wie es
bereits angekündigt hat.
Vor allem aber wird die Zeit
immer knapper. Langsam,
aber sicher bringen auch Kon-
kurrenten Elektroautos auf
den Markt. Zudem laufen in
den USA bis Ende Jahr Förder-
beiträge für Stromautos aus.
Musk muss nun unbedingt die
Massenfertigung in den Griff
bekommen – sonst läuft sein
Unternehmen Gefahr, seinen
Vorsprung zu verspielen. (mju.)
 37

Unternehmen der Woche Grafik der Woche

Ölpreis
Warum bei der Schweizerischen
Nationalbank (fast) alles anders läuft
Rohölpreise der Sorten Brent (Nordsee)
und West Texas Intermediate (WTI)
in US-$ pro Barrel à 159 l

D
80 $
75
ie Schweizerische National-

ENNIO LEANZA / KEYSTONE

bank (SNB) erzielte im
ersten Quartal einen giganti-
schen Gewinn von 30,7 Mrd.
Fr. Zum Vergleich: Nestlé,
das grösste Schweizer
Unternehmen, erwirtschaf-
tete im gesamten Jahr 2018 einen wesentlich
kleineren Gewinn – nämlich 13,8 Mrd. Fr.
Erstaunlich ist, dass die Nationalbank-Aktie
seit Anfang Jahr mit einem Plus von 40%
doppelt so stark zulegte wie der Gesamt-
index SPI. Dabei weist die SNB als Aktien-
gesellschaft einige Besonderheiten auf.
Während Banken und Unternehmen einen
Gewinn anstreben, muss die SNB als unab-
hängige Zentralbank «die Geld- und Wäh-
rungspolitik des Landes führen» und sich
dabei gemäss Verfassung vom «Gesamtinter-
esse des Landes» leiten lassen. Vorrangiges
Ziel ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten
und dabei die Konjunktur zu berücksichti-
gen. Einen Gewinn zu erzielen, kann deshalb
nicht auch ein Ziel der SNB sein, ganz nach
dem ökonomischen Leitsatz, dass man mit
einem Werkzeug – in diesem Fall die Geld-
politik – nur ein Ziel verfolgen kann.
Der Quartalsgewinn von über 30 Mrd. Fr.,
ist weitgehend auf den Entscheid der US-No-
tenbank und der Europäischen Zentralbank
zurückzuführen, aufgrund konjunktureller
Bedenken die Zinssätze vorerst nicht anzu-
heben. Die ausbleibenden Zinserhöhungen
führten sowohl zu höheren Aktien- als auch
Anleihenkursen. Vom Gewinn auf den
Fremdwährungspositionen von 29,3 Mrd. Fr.
entfielen allein 17,4 Mrd. Fr. auf das positive
Börsenumfeld. Die Bewertung des Gold-
bestands stieg um 0,9 Mrd. Fr. Aus den Nega-
tivzinsen flossen der SNB weitere 0,6 Mrd.
Fr. zu. Die Nationalbank betont, dass ihre
Ergebnisse stark schwanken und Rück-
schlüsse auf das Jahresergebnis nur bedingt
möglich seien. So verzeichnete die SNB 2018
nach gutem Start einen Verlust von 14,9 Mrd.
Fr. Alessandro Bee von der UBS erwartet
nicht, dass sich die starke Gewinnentwick-
Hoch im Kurs
Kursentwicklung der Nationalbank-Aktie
seit Anfang Jahr
6000 Fr.
5500
5000
4500
4000
Januar Februar März April
Quelle: UBS/SIX
30 Milliarden lung bis Ende Jahr fortsetzen werde. Die SNB
Gewinn in einem unterscheidet sich nicht nur durch ihren
Quartal: Die neue Auftrag von anderen Aktiengesellschaften.
Tausendernote, Auch ihre Struktur ist eigen, sie ist eine spe-
herausgeben von zialgesetzliche AG. Die Aktionärsrechte sind
der Nationalbank. gesetzlich geregelt. Speziell private Aktio-
(5. März 2019) näre haben kaum Mitspracherechte. Die
öffentlichrechtlichen Aktionäre (Kantone,
Kantonalbanken, andere öffentlichrechtliche
Körperschaften) kontrollieren mit 78,01%
der stimmberechtigten Aktien gegenüber
21,99% der Privataktionäre die SNB. Aller-
dings sind über 50% aller Aktien in Privat-
besitz. Für Private ist das Stimmrecht auf
maximal 100 Aktien beschränkt.
Aktionäre können insbesondere die
Bestimmung nicht anpassen, wonach die
SNB eine Dividende von höchstens 6% des
Aktienkapitals ausrichtet. Selbst eine Stimm-
rechtsmehrheit würde den Aktionären nichts
nutzen, da die Dividendenhöhe gesetzlich
festgelegt wurde. Die 100 000 Namenaktien
haben einen Nennwert von 250 Fr., wodurch
die jährliche Dividende pro Aktie höchstens
15 Fr. beträgt. 6% Rendite tönt nicht
schlecht, bei den aktuell tiefen Zinsen. Tat-
sache ist aber, dass eine Aktie zurzeit 5780
Fr. kostet. Die Dividende von 15 Fr. ent-
spricht also bloss einer Rendite von 0,26%.
«Natürlich ist die Dividendenrendite gering,
aber je tiefer die Zinsen sinken, umso mehr
70 Brent
65
60 WTI
55
50
45
40
O N D J F M A
2018 2019
Quelle: UBS
US-Politik in
Iran lässt den
Ölpreis steigen
Seit Jahresbeginn ist der Preis für die in
der Nordsee geförderte Ölsorte Brent von
knapp 55 US-$ auf das derzeitige Niveau
von rund 75 $ je Barrel gestiegen. Nun
könnte der nächste Sprung bevorstehen,
denn die USA machen Ernst mit ihren
Drohungen, Ölexporte aus Iran mittels
Sanktionen komplett zu unterbinden.
Der Bannstrahl gilt vom kommenden
Donnerstag an und trifft acht Länder, die
bisher von den US-Sanktionen ausgenom-
men waren: Italien, Griechenland, die
Türkei, China, Indien, Japan, Südkorea
und Taiwan. Sie gehörten bisher zu den
wertet das die Aktie auf, weil für viele An- wichtigsten Importeuren iranischen Öls.
leger die SNB als letzter Hort von geldpoliti- Die Massnahmen dürften die Akteure
scher Stabilität gilt», sagt Bee von der UBS. am Ölmarkt weiter verunsichern und
Gemäss SNB-Geschäftsbericht 2018 ist könnten die Weltkonjunktur eintrüben.
Theo Siegert aus Düsseldorf mit 5240 Aktien Iran, das als Gegenmassnahme mit der
zu 5,24% an der SNB beteiligt. Im Vorjahr Blockade des Persischen Golfs droht, hat
besass er noch 6070 Aktien. Im SNB-Ge- zuletzt fast 1 Mio. Barrel pro Tag expor-
schäftsbericht wird Siegert erstmals 2008 tiert. Zudem fehlen Fördermengen
aufgeführt. Damals gehörten dem Investor aus den im Chaos versinkenden Ländern
1025 Aktien zum Kurs von 4850 Fr., was Venezuela und Libyen. In die Bresche
insgesamt 5 Mio. Fr. entsprach. Jetzt beträgt springen könnten die Opec-Staaten. Profi-
der Wert seiner Investition dank Zukauf, teur dürfte vor allem Saudiarabien sein.
aber vor allem auch dank des Kursanstiegs Nicht alle Analysten glauben aber an
26 Mio. Fr. Siegert ist nicht der einzige aus- einen weiteren Anstieg. So dürfte der
ländische Grossaktionär. Eine skandinavi- Ölpreis nach Ansicht von Goldman Sachs
sche Familie soll gegen 3000 Aktien halten, jetzt seinen vorläufigen Höhepunkt
wie die «Finanz und Wirtschaft» vermeldete. erreicht haben und zumindest bis Ende
Die SNB schreibt zwar, dass sich «der Kurs Juni auf dem gegenwärtigen Niveau
der SNB-Aktie (...) normalerweise ähnlich verharren. Nach einer Einschätzung der
wie eine mit 6% verzinste langfristige Bun- Commerzbank könnten die schärferen
desobligation entwickelt». Doch die Zeiten Sanktionen des US-Präsidenten auch
sind angesichts der tiefen Zinsen nicht seine Heimat treffen, wenn nämlich die
normal. Aufgrund der geringen Börsenkapi- Amerikaner mit ihren durstigen Pick-ups
talisierung von 578 Mio. Fr. (Nestlé: 292 Mrd. die Preishausse an den Zapfsäulen ver-
Fr.) und der wenigen frei gehandelten Aktien spüren. Spürbar ist die Knappheit auch in
liegt der Durchschnitt der täglich gehandel- der Schweiz, wo Benzin nun wieder weit-
ten SNB-Aktien bloss bei 177. Diese geringe räumig über Fr. 1.60 der Liter kostet und
Liquidität kann zu hohen Schwankungen Heizöl klar über dem Durchschnitt der
führen. Damit ist die Aktie trotz SNB-Eigner jeweils im Frühling verlangten Preise der
eine risikoreiche Anlage. letzten Jahren notiert. (dst.)
Pierre Weill

Wall Street

Superhelden und die Super-USA

erfolgreichste Kinofilm aller Zeiten. Und mit
«Endgame» soll der Erfolg der Filmsparte von
Disney nicht abreissen. Im Jahresverlauf kom-
men die Verfilmung vom «Lion King» und
2020 «Frozen 2» und «Star Wars Episode IX»
in die Kinos. Die Disney-Aktie, die seit Anfang
Jahr rund 40% zugelegt hat, schloss am Frei-
Jens Korte, New York tag auf einem neuen Allzeithoch.
Die Wall Street und das gesamte Land
zweitägige Notenbanksitzung. Trotz des Auf-
schwungs dürfte die Fed an der Ankündigung
festhalten, vorerst keine weiteren Zinserhö-
hungen vorzunehmen.
Die Welt könnte für Investoren derzeit
kaum schöner sein. Tiefe Zinsen, robustes
Wachstum und gute Quartalszahlen der
Unternehmen treiben die Kurse. Einmal mehr
scheinen die Unternehmen dem alten Mantra
die Konkurrenz auf Abstand zu halten, müs-
sen sich die Branchenführer jedoch auch
etwas einfallen lassen. Vor diesem Hinter-
grund kündigte Amazon an, die Lieferfrist für
Prime-Kunden auf einen Tag zu halbieren.
Die Publikation Im Mai steht in den USA nun auch die
der jüngsten Reisesaison kurz vor dem Start. Mit dem
Wachstums- Memorial Day, jeweils am letzten Montag im
Mai, beginnt die Sommerreisezeit. Die Fähren
zahlen liess die

S
eit Monaten spekulieren die Fans der
Avengers-Serie, welche Superhelden
überleben und welche nach der gros-
sen Schlacht des letzten Avengers-
Films «Infinity War» wiederauferstehen. An
diesem Wochenende startet mit «Endgame»
der vorerst letzte Teil. Alleine in den ersten
fünf Tagen wird «Endgame» wohl an die
700 Mio. $ einspielen. Laut David Miller, Ana-
lyst bei Imperial Capital, wird Walt Disney
rund 2,15 Mrd. $ an den globalen Kinokassen
einspielen. Inklusive Werbeausgaben hat der
Film knapp 500 Mio. $ gekostet. Es wäre der
scheinen auf einer Erfolgswelle zu surfen. Das
zeigen auch die jüngsten Wachstumsdaten.
Im ersten Quartal lag das Bruttoinlandpro-
dukt mit 3,2% deutlich über den erwarteten
2,5%. US-Präsident Donald Trump twitterte
prompt sein übliches MAGA – Make America
Great Again. Von Inflation fehlt weiterhin jede
Spur. Im ersten Quartal ging die Teuerung
noch einmal (auf 1,3%) zurück.
Das liess die Renditen der Anleihen fallen
und die Kurse an der Wall Street steigen. Im
Wochenverlauf hatten S&P 500 und Nasdaq
Composite neue Rekordmarken erreicht. Am
kommenden Mittwoch endet die nächste
gefolgt zu sein: die Messlatte im Vorfeld der
Berichtssaison schön flach halten, um die Er-
wartungen dann letztlich doch zu übertreffen.
Überraschend ist lediglich, wie deutlich die
Prognosen der Experten derzeit in den Schat-
ten gestellt werden. In den nächsten Tagen
wird die Berichtssaison mit Zahlen von Unter-
nehmen wie Google, Apple, General Electric,
General Motors, McDonald’s, US Steel oder
Qualcomm fortgesetzt. Die Aktien von Qual-
comm waren erst kürzlich in die Höhe ge-
schossen, nachdem der Chipkonzern einen
jahrelangen Patentstreit mit Apple beilegen
konnte. Um den Erfolgskurs fortzusetzen und
erhöhen die Frequenzen, um die Gäste an die
Renditen der Strände zu bringen. Und in den Hamptons
Anleihen fallen werden Häuser an die New Yorker vermietet.
und die Kurse Um für die Wochenenden zwischen Ende Mai
der Aktien und Anfang September ein Zimmer oder Bett
zu ergattern, verlangen die Eigentümer bis zu
steigen. 3000 $. Das Haus müssen sich die Städter
dann häufig mit 20 anderen Gästen teilen.
Passend zur Reisezeit erhöht Donald Trump
den verbalen Druck auf die Opec. Diese solle
die entsprechenden Massnahmen ergreifen,
um die Benzinkosten zu senken. Der Ölpreis
fiel nach der Forderung des Präsidenten am
Freitag um über 3% (Grafik der Woche).
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 NZZ am Sonntag 28. April 2019
39

DANIEL WINKLER
Trauriger Sportchef
Thomas Bickel über
seine Enttäuschung mit
dem FC Zürich 42
MARC SCHUMACHER / FRESHFOCUS
Fitte Hobbyathleten
Wer läuft den Marathon
am schnellsten? Die
Schweizer! 43

Es ist vorbei: Die GC-Spieler Aleksandar Cvetkovic (l.) und Petar Pusic schleichen vom Platz.

OhnejedeHoffnung
GC erreicht im kapitalen Spiel gegen Xamax nur ein 1:1. Dem Klub läuft
die Zeit davon, er muss sich auf den Abstieg und die Challenge League
vorbereiten. Seite 47
40 Sport Champions League
Eine Partie für die Geschichtsbücher: Fernando Llorente (Mitte) erzielt im Viertelfinal-Rückspiel gegen Manchester City das dritte Tor für Tottenham. (Manchester, 17. April 2019)
Dennsie G
eht hinaus und geniesst: Diese
Worte hat der Trainer Johan
Cruyff vor dem Europacupfi-
nal 1992 seinen Spielern mit-
gegeben. Der Satz hing zuletzt
an der Fassade des Camp
wissen,was
Nou, dort also, wo der FC Bar-
celona am Mittwoch den FC Liverpool emp-
fängt. Tags zuvor gastiert Cruyffs erster Klub
Ajax Amsterdam bei Tottenham Hotspur.
Geht hinaus und geniesst: Die Champions-
League-Halbfinals dieser Saison könnten kein
besseres Motto haben.
Geld, Stars oder Transfers, die herkömm-
sietun
lichen Währungen der Fussball-Industrie,
taugen zur Definition der Saison jedenfalls
weniger. Paris St-Germain mit den beiden Re-
kordeinkäufen Neymar und Kylian Mbappé:
schon wieder gescheitert im Achtelfinal, ein
Verein, der alles hat und nichts erreicht.
Juventus, das Anleihen zur Finanzierung von
Cristiano Ronaldo ausgab, um endlich zu
gewinnen: früher draussen mit ihm als ohne
ihn, trotz seinen Toren. Bayern München, die
Deutschland AG: abgetreten ohne Grandeur,
mit feiger Defensive. Der Titelverteidiger Real
Ideen, Identität und immer nach vorn: Die Halbfinalisten Madrid, die jahrelang so erfolgreichen Hel-
denfussballer: düpiert durch die neuen Hel-
der Champions League stehen für ein revolutionäres den von Ajax, diese sind die beste Nachricht
aus der Champions League seit langer Zeit.
Fussballjahr. Von Florian Haupt Faktor Videobeweis
Im Halbfinal finden sich zwar vier Traditions-
klubs, aber nur ein Topfavorit, der FC Barce-
lona, und ein Mitfavorit, Liverpool. Der Aus-
senseiter Tottenham stand zuletzt 1962 im
Halbfinal des Europacups der Landesmeister,
der Ultra-Aussenseiter Ajax ist erstmals seit
22 Jahren im Halbfinal der Königsklasse. Die
Niederländer werden diesen Sommer ausein-
andergekauft, man muss sie erleben, solange
es noch geht. Doch zumindest für einen revo-
lutionären Frühling sind die üblichen Markt-
gesetze ausgehebelt und gleicht der Fussball
den US-Sportligen, wo weitsichtiges Manage-
ment, präzise Spieler-Entwicklung, prinzi-
pientreue Trainerarbeit und diese ungreifbare
Erfolgseuphorie die in Amerika geringeren
Finanzunterschiede ausgleichen können.
Oder ist die Botschaft sogar mehr als eine
Momentaufnahme? Gehörte nicht auch die
NZZ am Sonntag 28. April 2019
letzte Weltmeisterschaft den Kleinen wie
etwa Kroatien und Korea?
Die Parallele zeigt, wie ausgeglichen das
Spitzenniveau geworden ist und wie viel
möglich ist durch bessere Strategie und mehr
Überzeugung. Doch abgesehen davon, endet
die Analogie an der richtigen Stelle. Wo Welt-
meister Frankreich mit seinem resoluten
Ergebnisfussball als stilbildend für eine
Rückkehr zum defensiven Konterparadigma
betrachtet wurde, hat sich der vermeintliche
Trend in der Champions League ad absurdum
geführt. Wer immer von den vier verbliebenen
Mannschaften gewinnt, es wird eine attrak-
tive, dominanzbemühte Elf sein. Das «Frank-
reich» der Klubs hingegen, Atlético Madrid,
schied bereits im zweiten aufeinanderfol-
genden Jahr früh aus.
Es gibt kleinere Faktoren, die den Erfolg der
Underdogs erklären helfen, etwa die Einfüh-
rung des Videobeweises. Er korrigiert die
menschliche Verführbarkeit durch das Mäch-
tige, Strahlende und Etablierte, also im Fall
des Fussball-Schiedsrichters durch den Favo-
riten. Ohne ihn stünden womöglich Juventus
und sicher Manchester City im Halbfinal, es
wäre dann ein ziemlich erwartbares Wett-
bewerbstableau. Andererseits bekam Ajax im
Hinspiel gegen Madrid durch eine falsche
VAR-Entscheidung ein Tor aberkannt.
Es gibt auch die grossen Faktoren – im Falle
des niederländischen Fussball-Laboratoriums
sind es die ganz grossen. Nirgendwo ist der Er-
folg so geprägt von Identität, Ideologie und
Innovation wie bei Ajax, das in Europas Geld-
rangliste nicht einmal unter den Top 30 auf-
taucht. Wo seit 1753 Spielen am Stück (oder
seit September 1982) immer mindestens ein
selbstausgebildeter Profi auf dem Platz steht.
Wo die Erinnerung an den verstorbenen Cruyff
nicht Folklore ist, sondern Handlungsricht-
linie. Die Kinder in den Niederlanden läsen
immer noch seine Bücher mit Übungstipps, er-
klärte einmal Frenkie de Jong, die Seele des
jetzigen Ajax-Teams. Er selbst trainierte des-
halb oft mit einem halb so grossen Ball.
Cruyff persönlich war es noch, der bei sei-
ner Rückkehr 2011 als Berater den Klub mit
sich versöhnte. Er wirbelte das Organigramm
durcheinander, installierte Ex-Profis wie
Edwin van der Sar (Präsident) oder Marc Over-
 41

Schlüsselspieler

FOCUS IMAGES / IMAGO

Dele Alli, Ballverteiler Frenkie de Jong, Alleskönner
Bei Tottenham gehört Dele Alli, Angesichts der derzeitigen

EPA

23, zu den wenigen Spielern mit
der Lizenz zur Einzelaktion. Der
torgefährliche Mittelfeldmann
kann durch individuelle Klasse
neue Spielsituationen schaffen,
ist aber auch ein versierter Ball-
verteiler. Dazu steht er für Tot-
tenhams Philosophie, mit ein-
heimischen Talenten zu reüssie-
ren. Alli hatte eine harte Kind-
heit, er wuchs bei der alkohol-
kranken Mutter, dem Vater
in Nigeria und schliesslich in
einer Adoptivfamilie auf. Seine
fussballerischen Lernjahre
verbrachte er beim Drittligisten
Milton Keynes, 2015 kam er zu
den Spurs. Ohne den verletzten
Harry Kane und den gesperrten
Heung-Min Son richten sich die
Blicke umso mehr auf ihn.
IMAGO
Marktpreise ist Frenkie de Jong
fast schon ein Schnäppchen.
75 Millionen Euro lässt sich der
FC Barcelona den Transfer des
geborenen Leaders im Sommer
kosten. Beim 21-Jährigen muss
erst noch entdeckt werden, was
er nicht kann. Der Mittelfeld-
spieler agiert von Strafraum zu
Strafraum, aber auch als Mann
vor der Abwehr, in der er zusätz-
lich immer wieder mit todes-
mutigen, aber erfolgreichen
Tacklings aushilft. Kein Wunder:
Um einen Platz in Ajax’ erster Elf
zu ergattern, liess er sich anfangs
als Innenverteidiger aufstellen.
Heute ist er Seele, Lunge und
Kompass einer Mannschaft, die
ganz Europa in ihren Bann
Alli: Tottenham. gezogen hat. De Jong: Ajax.

Lionel Messi, Tormaschine Sadio Mané, Abwehrschreck

Was soll man über ihn noch Bis vor kurzem stand Sadio
IMAGO

sagen? Vielleicht, dass Lionel
Messi, 31, selten einen Titel so
sehr wollte wie die Champions
League in dieser Saison. Nach
drei Jahren ohne Europacupsieg
und ohne Auszeichnung zum
Weltfussballer versprach er den
Fans im Camp Nou im vergan-
genen Sommer, alles für «diesen
schönen und so ersehnten
Pokal» zu unternehmen. Bisher
hält er Wort. Messi ist so sehr
Messi, dass er selbst bei Liver-
pools Trainer Jürgen Klopp
mit einem gemeinsamen Selfie
auf dem Telefon vertreten ist.
Ach ja, noch ein paar Zahlen.
681 Spiele für Barça, 597 Tore.
Oder in dieser Saison: 44 Spiele,
45 Tore, davon 10 in der
Messi: Barcelona. Champions League.
IMAGO
Mané, 27, deutlich seltener in
den Schlagzeilen als Mohamed
Salah, sein Angriffskollege in
der «Fab Three» mit Roberto
Firmino. Durch seine zwei Tore
im Achtelfinal bei Bayern
München hat sich das geändert.
Fachleute sehen in Mané
sowieso den Schlüsselspieler der
Liverpooler Offensive. Der phy-
sisch agile und technisch kom-
plette Senegalese sorgt für die
Rhythmuswechsel, er kann eine
gegnerische Abwehrreihe not-
falls allein aufbrechen. In dieser
Saison ist er darüber hinaus zum
Goalgetter greift. Unter den
besten Torschützen der Premier
League rangiert er mit 20 Toren
nur einen Treffer hinter dem
Mané: Liverpool. führenden Salah. Florian Haupt

mars (Sportdirektor) und revitalisierte die
Halbfinals Jugendabteilung. Aus der Not, die Spieler
immer früher an reichere Vereine zu verlieren,
machte Ajax die Tugend, ihnen noch schnel-
ler noch mehr zuzutrauen. Heute ist der
19-jährige Matthijs de Ligt bereits Abwehrchef
und Captain.
System vor Individuum
Cruyffs berühmtester Prophet Pep Guardiola
schied mit Manchester City knapp aus. Doch
Tottenham Ajax abgesehen davon, dass auch Tottenhams
Offensivleader Christian Eriksen in Amster-
Die Londoner emp- 1995 gewann Ajax die dam ausgebildet wurde, kann es immer noch
fangen am 30. Mai die Champions League zum König-Johan-Gedächtnisfinal kommen
Niederländer in ihrem mit dem Trainer Louis zwischen Ajax und Barça, seinen Klubs, von
eben eröffneten Tot- von Gaal. Unter ande- denen aus er den Fussball veränderte. Die Ver-
tenham Hotspur Sta- ren spielten Edgar eine, die wie keine anderen für eine offensive
dium. Nie zuvor stand Davids, Clarence See- Spielweise stehen, seit der Jugend gelehrt,
Tottenham in der dorf, Marc Overmars praktiziert durch Erfolg wie Misserfolg, trans-
Königsklasse im Halb- und Patrick Kluivert portiert von Generation zu Generation.
final. im Siegerteam. Wäre Lionel Messi, der mit 13 nach Barce-
lona kam, auch anderswo so ein totaler Fuss-
baller geworden? Eine Frage für die Ewigkeit.
Bei Barça ist er eines von immer noch fünf
Eigengewächsen in der Startelf, und auch
wenn der Verein allein 260 Millionen Euro für
Philippe Coutinho und Ousmane Dembélé
ausgab: Just diese beiden Spieler haben keine
grosse Bedeutung, nicht einmal einen festen
Stammplatz.
Es ist das Jahr der Ideen in der Champions
Barcelona Liverpool League, das sieht man auch an Liverpool und
Tottenham. Wo in Amsterdam und Barcelona
Zuletzt gewann Barça 2005 gewannen die die Vereinstradition den Rahmen vorgibt, den
die Champions Engländer einen dann die Trainer Erik ten Hag – sehr mutig –
League 2015 mit dem denkwürdigen Final. und Ernesto Valverde – eher verhalten – inter-
Trainer Luis Enrique. Sie holten gegen pretieren, sind die englischen Vertreter klare
Die Katalanen schlu- Milan einen 0:3-Rück- Autorenteams. Jürgen Klopp und Mauricio
gen im Final Juventus stand auf und siegten Pochettino stellen System vor Individuum,
3:1. Sie empfangen im Penaltyschiessen. und auch wenn Klopp erkennen musste, dass
Liverpool am 1. Mai Seither warten sie auf es neben seinem geliebten Gegenpressing
im Camp Nou. den Titel. manchmal ein Vermögen für Zuzüge wie Tor-
hüter (Alisson Becker, 62 Millionen) oder Ver-
teidiger (Virgil van Dijk, 85 Millionen) braucht,
erklärt Geld nicht primär den Erfolg. Finan-
ziell sind Liverpool und Tottenham die Num-
mern 3 und 6 ihrer Liga.
Die Nordlondoner verzichteten wegen
eines Stadionbaus vorigen Sommer auf Trans-
ferausgaben und haben über die letzten zehn
Jahre einen ausgeglichenen Saldo am Spieler-
markt – ungewöhnlich in der hochpreisigen
Premier League. Angesichts momentaner Ver-
letzungsprobleme ist das Kader so dünn, dass
es Pochettino zu abenteuerlichen Improvisa-
tionen zwingt. Im Viertelfinal-Rückspiel kam
nach einer Blessur des defensiven Mittelfeld-
spielers Moussa Sissoko kurz vor der Halbzeit
der Mittelstürmer Fernando Llorente. Solche
Stressrevirements überlebt nur eine Mann-
schaft, die im Reinen mit sich ist. Weil sie
weiss, was sie tut, jenseits der Moden des
Augenblicks und der Ausschläge einer Partie.
Vom «Tottenham Way» spricht Pochettino
selbst bisweilen: etwas Eigenes, eine Identi-
tät, die er behutsam wachsen lässt.
Wie Klopp mit seinem Erlebnisfussball an
den emotionalen Mythos der Anfield Road an-
knüpft, fügt sich auch Pochettinos Stil in eine
Traditionslinie. Zum «Tottenham Way» gehört
schon seit den einzigen gewonnenen Meister-
schaften 1951 und 1961 eine offensive Ausrich-
tung, und noch während der gerade in Eng-
land finsteren 1980er Jahre sorgten die Spurs
mit Spielern wie Glenn Hoddle, Chris Waddle
oder Paul Gascoigne für einen Gegenpol von
Esprit und Spielfreude. Für grosse Erfolge
reichte das nicht. Spöttern galten sie fortan als
hartnäckige Exponenten brotloser Kunst.
Den bald als Selbstbild akzeptierten Fatalis-
mus gebrochen hat mit Pochettino ein Argen-
tinier, der sein Handwerk in Barcelona lernte,
wenn auch bei Barças Lokalrivalen Espanyol.
Stilistisch hat er es mit rugbyartigen Tempo-
kombinationen gern forscher als etwa Guar-
diola. Dafür verbindet ihn mit Ajax oder Barça
die Umsetzung eines alten Cruyffschen
Grundsatzes: Wenn du einen Spieler brauchst,
schau zuerst im eigenen Klub und danach auf
dem Transfermarkt.
So hielt es Pochettino schon bei Espanyol.
An seiner ersten Inselstation in Southampton
förderte er reihenweise spätere Nationalspie-
ler, und seine Arbeit in Tottenham, etwa mit
dem Eigengewächs Harry Kane, produzierte
fast Englands halbe WM-Elf. Zur positiven
Lernatmosphäre gehört dabei die explizite
Erlaubnis, Fehler machen zu dürfen. So wird
es auch bei Ajax gepredigt, und darin besteht
auch ein Credo des begnadeten Spieler-
Entwicklers Klopp.
Paris, Madrid, Turin, München: Die Ge-
scheiterten dieser Champions-League-Saison
werden dagegen im Sommer mit den üblichen
Mitteln reagieren. Teilweise haben sie histori-
sche Transferoffensiven angekündigt. Diese
Wie Klopp mit werden angesichts der jüngsten Preisinflation
seinem Erleb- auch nötig sein, doch um einen neuen euro-
nisfussball an päischen Zyklus (Madrid, München), mal wie-
den emotiona- der einen Zyklus (Turin) oder überhaupt ein-
len Mythos der mal einen Zyklus (Paris) zu begründen, wird
Anfield Road das allein kaum reichen. Real-Trainer Zine-
dine Zidane weiss das, er erklärte, die Renais-
anknüpft, fügt sance nicht nur mit neuen Spielern, sondern
sich auch auch mit einem neuen System aufzäumen zu
Pochettinos Stil wollen. Wie die Champions League dieser
in eine Tradi- Saison zeigt, lauten die wichtigsten Fragen
tionslinie. mehr denn je: Wer sind wir? Und was wollen
wir spielen?
Der Gegner wie Beute
Selbst am grössten Helden offenbarten sich
kürzlich wieder einmal die Grenzen des Hel-
denfussballs. Messi ohne Barça war bei sei-
nem desaströsen Comeback für Argentinien
gegen Venezuela (1:3) nur eine Trauergestalt.
So sehr das kurzpassorientierte Positionsspiel
nach der WM totgesagt wurde, so sehr sich –
etwa im hohen Pressing – die Stile annähern
und so sehr Barça mittlerweile selbst variiert:
Es ist im Camp Nou weiterhin die Grundlage.
Die Spieler können es, weil sie es immer ge-
konnt haben. Und irgendwann kommt der
Moment, in dem sie es hervorholen. Dann
bringen sie sich über minutenlange Stafetten
in Stellung, dann kreisen sie den Gegner wie
Beute ein, weisen ihm seinen Platz im eigenen
Strafraum zu. Nur die Besten können verhin-
dern, dass es ihr Platz für das gesamte Spiel
wird. Manchester Uniteds Gegeninitiative im
Viertelfinalrückspiel etwa dauerte bloss fünf
Minuten. Bis zur ersten Sequenz.
Nach der Partie wurde Barcelonas Trainer
auf den Cruyffschen Satz angesprochen. Geht
hinaus und geniesst? Ernesto Valverde grum-
melte etwas davon, dass es nur Spass mache,
solange man gewinne. Barça steht unter Titel-
druck und vielleicht daher von den vier Halb-
finalisten am ehesten für Pragmatik. Wenn
also die Schöngeister jetzt die Vernünftigen
sind, dann hat der Fussball wahrlich schon
schlechtere Saisons gesehen.
42
«Wirwollenjaauchein
emotionalesTeam»
NZZ am Sonntag: Thomas Bickel, hat sich die
Team- und Klubführung des FC Zürich nach
der 1:3-Niederlage im Cup-Halbfinal gegen
Basel einigermassen beruhigt?
Thomas Bickel: Nach einem solchen Spiel
kommen Emotionen hoch, auch ich liess
mich nach dem Match dazu verleiten, über
den Schiedsrichter zu reden. Die Trainer, der
Präsident und auch ich, wir alle waren
aufgebracht. Das hat auch mit unserer
Situation zu tun. Wut, Enttäuschung und
Trauer, das gehört einfach dazu. Das muss
auch sein. Wenn es im Rahmen bleibt, ist
das vertretbar.
Offensichtlich blieb es nicht im Rahmen. Der
Schweizerische Fussballverband greift hart
durch mit Sperren gegen den FCZ-Trainer
Ludovic Magnin, den Assistenten René van
Eck und den Präsidenten Ancillo Canepa.
Wir sind mit der Begründung des Urteils
nicht einverstanden und werden Rekurs
einlegen. Wenn alles vorbei ist, muss man
Haltung zeigen und differenzieren.
Wie differenzieren Sie?
Eigenes Unvermögen führte zum Aus-
scheiden. Und nicht der Schiedsrichter.
Im Fall eines Halbfinal-Siegs wären alle im
Jubel übereinandergelegen. Wie im Cup-Final
2018. Doch wenn die Emotionen in die andere
Richtung gehen, wird es kontraproduktiv.
Kontraproduktiv sagen Sie. Wir müssen
selbstkritisch bleiben und souverän wirken.
Ich nehme mich da nicht aus der Verantwor-
tung, obschon ich emotional relativ ausgegli-
chen bin. Auch ich habe Interviews gegeben
und über den Schiedsrichter gesprochen. Das
Gesamtbild hat man ohnehin erst später und
nachdem man Fernsehbilder gesehen hat.
Der Trainer Ludovic Magnin und sein Assis-
tent René van Eck sind an der Seitenlinie sehr
impulsiv. Fehlt da nicht ein Korrektiv?
Ich gehe hier jetzt nicht dazu über, den
Trainer-Staff zu kritisieren.
Aber der Klub hat viel Feuer an der Seiten-
linie.
Ja, wir wollen ja auch ein emotionales
Team. Ich kann nur über mein Verhalten
reden. Aber es darf nicht das Bild entstehen,
dass alles auf den Schiedsrichter gelenkt
wird. Der Auftritt der Mannschaft gegen
Basel war besser als zuletzt. Sie lebt, hat aber
auch Defizite. Sie liess ein Tor zu, das sie
verhindern könnte. Sie hatte mehr Offensiv-
aktionen als in den letzten Spielen, aber sie
muss auch Tore erzielen.
Magnin sagte nach dem Spiel: Wenn wir so
spielen wie gegen Basel, schaffen wir den Liga-
erhalt locker. Sehen Sie das auch so?
Wir müssen nicht gleicher Meinung sein.
Locker wird das sicher nicht.
Im Sommer 2018 hatte der FCZ den Cup-Sieg,
die direkte Europa-League-Qualifikation, Geld
und Sicherheit. Dachten Sie daran, ein Jahr
später in eine solche Lage geraten zu können?
Nein, niemand hätte daran gedacht. Der
Fussball ist kaum planbar.
Wähnte sich der Klub 2018 zu weit oben?
Die Gefahr besteht immer. Wenn es läuft,
neigt der Mensch dazu, sich weniger kriti-
sche Fragen zu stellen. Umgekehrt ist es
genauso.
Hat man sich zu sicher gefühlt?
Nein. Einen Garantieschein gibt es nie.
Wie entwickelt sich der Spieler? Wie die
Mannschaft? Wir hatten klare Vorstellungen
von einer Struktur im Team. Wir trafen
gemeinsame Entscheide, weil wir überzeugt
waren, dass sich einzelne Spieler entwickeln
würden. Für eine Analyse ist es sechs Spiele
vor Saisonschluss zu früh. Auch ich stehe in
der Verantwortung.
Sport NZZ am Sonntag 28. April 2019
Unter den Hitzköpfen im FC Zürich wirkt Thomas Bickel wie ein Zen-Meditierer.
Der Sportchef plädiert für Selbstkritik im trudelnden Klub und spricht über
Wut, Trauer und Enttäuschung. Interview: Flurin Clalüna und Peter B. Birrer
Doch der ist grösser geworden.
DANIEL WINKLER
Thomas Bickel Ja. Im Spiel gegen Basel war zu sehen, wie
uns Selbstverständnis und Selbstvertrauen
Der 55-Jährige ist fehlen. Das wirkt sich in den Abschluss-
2016 nach dem versuchen aus. Fussball hat viel mit Psycho-
Abstieg in die Chal- logie zu tun.
lenge League vom
Talentscout zum Sehen Sie Parallelen zwischen heute und der
Sportchef aufge- Abstiegssaison 2015/16?
stiegen, er steht mit Damals war ich als Talentscout weiter
in der Verantwor- weg. Heute haben wir schon länger die
tung und kündigt Wahrnehmung: Achtung. Das ist ein Unter-
Korrekturen an. schied zu 2016. Ich bin seit Wochen kritisch
Der FCZ ist in der eingestellt, auch intern.
Tabelle bedrohlich
weit abgerutscht, Sie sagten 2018, dass sich der Trainer jeden
im Schweizer Cup Tag neu erfinde. Tut er das immer noch?
ausgeschieden und Ja. Magnin geht noch mehr auf das Team
seit Wochen einer ein. Das hat sich auf die Leistung im Cup-
Krise ausgesetzt. Halbfinal positiv ausgewirkt. Das Vertrauen
Dies manifestierte ist nach wie vor da, die Mannschaft gab
sich zuletzt in über- das zurück.
bordenden Reaktio-
nen der Team- und Wie kann man dem Trainer helfen? Er ist
Klubführung im immer noch neu im Geschäft und kein
Cup-Halbfinal gegen Routinier.
Basel. (bir.) Für mich gilt das auch. Wir waren ver-
wöhnt: Aufstieg, Cup-Sieg, Europa League.
Jetzt steigt der Druck. Wir sprechen uns
intern deutlich aus. Der Wille eines jeden
muss erkennbar sein.
Man stellt sich die Frage, ob der FCZ seit der
Entlassung Uli Fortes im Februar 2018 weiter-
gekommen ist. Das ist zu verneinen.
Es ist gibt eine äussere und eine innere
Betrachtung. Faktum ist, dass wir nicht
weiter sind. Wir sind in der Tabelle hinten.
Die Nachwuchsförderung war ein gewichtiger
Grund für den Trainerwechsel von Forte zu
Magnin. Kevin Rüegg spielte schon unter
Forte, dazu gekommen ist einzig Toni
Domgjoni.
Wir dürfen Mirlind Kryeziu nicht verges-
sen. Er spielte oft. Auch andere Junge hatten
Europacup-Einsätze. Doch mit dieser Belas-
tung und diesen Resultaten ist der Einbau
schwieriger.
Die Lage des FCZ scheint kompliziert zu sein,
da sind wohl in der Aufarbeitung mehrere
Ebenen betroffen. An wie vielen Schrauben
muss gedreht werden?
In der Mannschaft, im Staff und in der
Klubführung ist keine Unruhe.
«Ich liess mich nicht blenden»: Thomas Bickel, FCZ-Sportchef im Fanshop. (Zürich, 26. 4. 2019)
Wenn die Kaderplanung in die Kritik gerät,
betrifft dies zuvorderst den Sportchef.
Was hat sich nicht gut entwickelt? Aber der Coach sagte, er wolle Zweiter werden. Da bin ich in der Mitverantwortung.
Ich will nicht auf Einzelheiten eingehen. Wenn er davon überzeugt ist, darf er das
Wir hatten Ab- und Zugänge. Diese Themen sagen. Die finanziellen Voraussetzungen Ist es vielleicht sogar gut, geht der Cup-Final
kommen jetzt an die Oberfläche. Wenn wir wirken sich auf die Qualität des Kaders aus. am FCZ vorbei? So können Sie schonungsloser
besser wären, würde niemand mehr von den Die Ansprüche waren hoch. analysieren.
Stürmern Raphael Dwamena und Michael Mir tut jede Niederlage weh, jede ist eine
Frey reden. Jetzt ist das natürlich anders. Zu hoch? zu viel, das führt auch zu schlaflosen Näch-
Dasselbe gilt auch für den Abgang von Victor Ich sage hoch. Ich kann im FCZ nicht das ten und kostet Energie. Ich leide. Warum?
Pálsson. Ziel ausgeben, nicht abzusteigen. Warum soll Immer diese Fragen. Man ist wütend, trau-
es nicht ehrgeizige Zielsetzungen geben? rig, enttäuscht. Fussball ist auch Arbeit. Das
Auch viele Beobachter glaubten zunächst, dass Utopisch waren wir nicht. müssen wir einfordern. Darauf haben wir im
der Klub diese Abgänge abzufedern imstande Verein Anrecht, das Umfeld, die Südkurve.
sei. Liess man sich blenden? Nach dem Wiederaufstieg 2017 sprach man im Alle. Die Spieler sind in der Bringschuld. Wir
Nein, wir hatten klare Vorstellungen, wie FCZ von einer Übergangssaison, doch danach alle sind das.
die Mannschaft funktionieren kann. Sonst wollte man die Spitze angreifen.
hätten wir gehandelt. Wir handeln nicht aus Zumindest den Abstand verringern. Wie beurteilen Sie den Zustand des Schweizer
Zweifeln, sondern aus Überzeugungen. Klubfussballs?
Wir machen Ausbildung. Unser U-21-Team
Wird der FCZ im Sommer einen anderen Weg ist blutjung, Jahrgänge 1999, 2000 bis 2002.
einschlagen? Extern holen wir Junge nur noch in Aus-
Wir werden korrigieren müssen. Wir nahmefällen. Vielleicht brauchen wir einfach
müssen jetzt auch ein Worst-Case-Szenario mehr Zeit. Dazu brauchen wir eine stabile
durchspielen. 1. Mannschaft. Wir wollen mutig, aggressiv
Mir tut jede Niederlage und mit hoher Intensität spielen.
Von unten droht Abstiegsgefahr. Gegen oben
hat der FCZ über 20 Punkte Rückstand auf
weh, jede ist eine Muss man sich um den Schweizer Fussball
Basel und über 40 auf YB. Ist diese Kluft nicht zu viel, das führt sorgen?
viel zu gross? auch zu schlaflosen Nein, im Nachwuchs wird gut gearbeitet,
Ja, aber ich sagte nie, dass wir auf Augen- auch im Nationalteam. Im Verhältnis zu
höhe mit YB und Basel sein können. Ich liess Nächten und kostet unserer Landesgrösse stehen wir immer
mich nicht blenden. Energie. Ich leide. noch gut da.
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Sport 43

WALTER BIERI / KEYSTONE

Marathon als Freizeitsport
Die Schnellsten und die Langsamsten (2018)

Schweiz 3:50

Niederlande 3:52

Spanien 3:52

Portugal 3:59

Norwegen 4:01

Thailand 4:51

China 4:52

Mexiko 4:53

Indien 5:05

Philippinen 5:25

Teilnehmerzunahme 2008–2018 in %

Afrika 506%

Asien 263
Im Pulk durch die Innenstadt: Heute Sonntag starten 11 000 Läuferinnen und Läufer auf diversen Distanzen zum Zürich Marathon. (22. April 2018)
Ozeanien 66

SchweizerHobbyläufer
Weltweit 49,4

Europa 43

Nordamerika 21

–14 Südamerika

sinddiebestenderWelt
Schweiz 75

Anteil Frauen

Niemand rennt so schnell Marathon, die Finisher werden immer zahlreicher und 43% 37% 36%

die Zeiten immer besser. Doch warum ist das so? Von Remo Geisser

D
USA Kanada Island

er Marathon ist eine Massen-
bewegung. Über 5000 Ren-
nen auf der 42,195 Kilometer
langen Strecke werden jähr-
lich weltweit ausgetragen,
mehr als 2 Millionen Läufe-
rinnen und Läufer kommen
zu einer bizarren Situation: Die Besten der
Welt kommen aus Ostafrika, unter den Top
100 der Weltrangliste 2019 finden sich 41
Kenyaner und 33 Äthiopier. Als bester Schwei-
zer ist der in Eritrea geborene Tadesse Abra-
ham an 37. Position. Doch unter den Top-30-
Nationen der Volksläufer sucht man vergeb-
London oder Paris einen ansehnlichen Betrag 31%
zu zahlen, ist gross; Marathonreisen boomen
in der Schweiz genauso wie der Marathonlauf
selbst. Wer sich aber einen Start im Ausland
vornimmt, ist in der Regel besonders gut vor- weltweit
Besonders bereitet. Der Statistiker Andersen wird das
schnell sind in demnächst mit einer weiteren Studie unter- 13% 12% 9%

ins Ziel. Ermittelt man Durchschnittszeiten
nach Nationen, kommt man zum erstaun-
lichen Ergebnis: Niemand rennt schneller als
die Schweizer. Diese überqueren die Ziellinie
im Schnitt nach 3:50 Stunden. Zu diesem Er-
gebnis kommt eine Studie des dänischen Sta-
tistikers Jens Jakob Andersen in Zusammen-
arbeit mit der bulgarischen Datenanalytikerin
Vania Nikolova. Die beiden beschränkten sich
bei ihrer Arbeit auf Läufe, die seit 2008 regel-
mässig stattfanden. Es kamen 19,6 Millionen
Ergebnisse aus 32 300 Rennen zusammen. Die
Durchschnittszeit aller Läufer im Jahr 2018 lag
bei 4:29:53, also um fast 40 Minuten über
jener der Schweizer.
Immer mehr, immer schneller
Wie viele Schweizer genau Marathon laufen,
ist nicht einfach abzuschätzen. Die Associa-
tion of Road Racing Statisticians zählte im
Jahr 2016 weltweit 14 910 Finisher, die als
Nationalität «SUI» angegeben hatten. Geht
man davon aus, dass die meisten nicht mehr
als zwei Marathons pro Jahr absolvieren, so
kommt man auf 7000 bis 8000 Läufer. Jens
Jakob Andersen wird die Zahl der Finisher in
einer noch nicht publizierten Arbeit nach Län-
dern aufschlüsseln. Dort wird sich auch zei-
gen, wie viele Schweizer jährlich im Ausland
starten. Was in der soeben publizierten Studie
auffällt: Der Marathon-Boom ist in der
Schweiz ungebrochen, zwischen 2008 und
2018 nahm die Zahl der Finisher um 75 Pro-
zent zu. Gleichzeitig stieg auch das Niveau:
Die durchschnittliche Zeit verbesserte sich um
fast 15 Minuten. Damit liegen die Schweizer
ebenfalls an der Spitze der Weltrangliste.
Für Bruno Lafranchi, den langjährigen
Direktor des Zürich Marathons, ist das keine
Überraschung. «Sport ist Luxus», sagt er. «Es
braucht einen gewissen Wohlstand, damit die
Leute trainieren und an Volksläufen teil-
nehmen können.» Im Marathonlauf führt das
lich nach Ostafrikanern. Denn dort rennen nur
die Leute, die darauf hoffen können, mit dem
Sport Geld zu verdienen. Die grosse Masse
muss sich ums Überleben kümmern und hat
keinen Zeit für Freizeitsport. Lafranchi sieht
die Schweizer Situation als Privileg und als
Positivum. «Für die Volksgesundheit kann es
nur gut sein, wenn die Leute ihren Wohlstand
nutzen, um Sport zu treiben.»
Das tun sie offensichtlich auf hohem
Niveau, denn eine durchschnittliche Finisher-
Zeit von weniger als vier Stunden ist sehr be-
achtlich. Lafranchi erklärt das damit, dass es
in der Schweiz eine gut vernetzte Läufer-
Community gibt. Wer zu einem Marathon
startet, ist in der Regel gut vorbereitet. Aber in
der Schweiz findet auch eine gewisse Selek-
tion statt. Es gibt keinen riesigen Marathon
wie etwa in New York mit 52 000 Finishern;
die Schweizer Nummer 1 unter den flachen
Strecken ist Zürich mit zuletzt 2260 Klassier-
ten. In einem solchen Rennen sind die gut
trainierten Sportler weitgehend unter sich;
Übergewichtige, die sich quasi in Zeitlupe
über die Strecke schleppen, sieht man hier so
gut wie nie. Über 50 Prozent blieben 2018 in
Zürich unter 4 Stunden, und mehr als 5 Stun-
den brauchten nur gerade 136 Läuferinnen
und Läufer. Zum Vergleich: In New York be-
nötigten 2300 Finisher mehr als 6:30 Stun-
den, also ziemlich genau gleich viele, wie in
Zürich insgesamt einliefen.
Ein weiterer Faktor, der sich positiv auf die
Schweizer Durchschnittszeit auswirkt, ist
wohl der Umstand, dass sehr viele Schweizer
für Marathons ins Ausland reisen. Lafranchi
schätzt, dass rund 70 Prozent der Schweizer
Starts ausserhalb der Landesgrenzen erfolgen.
In Zürich würden die meisten Leute nur ein-
oder zweimal starten. «Dann werden sie un-
treu.» Und die Alternative heisst selten Lau-
sanne oder Winterthur. Die Bereitschaft für
ein besonderes Erlebnis in Berlin, New York,
der Schweiz die mauern. Nur so viel verrät er vorab: Die Sport-
Frauen. Ihre ler sind im Ausland durchschnittlich 8 Minu-
Durchschnitts- ten schneller als in der Heimat.
zeit beträgt Spanien Schweiz Indien
Tiefe Schweizer Frauenquote
3:54:59 und Ganz besonders schnell sind in der Schweiz
liegt nicht die Frauen. Ihre Durchschnittszeit beträgt
einmal 3:54:59 und liegt nicht einmal 6 Minuten über Grösste Fortschritte von 2008 bis 2018
6 Minuten über jener der Männer (3:49:13). Das ist ein fast un-
jener der glaublicher Wert, wenn man bedenkt, dass in Schweiz –14:56
Männer. der Elite die Differenz zwischen den beiden
Russland –12:49
Geschlechtern rund doppelt so gross ist. Er-
klärbar ist das damit, dass in der Schweiz ver- Japan –11:31
gleichsweise wenig Frauen überhaupt zu
+41:07 Norwegen
einem Marathon antreten. Ihr Anteil an den
Finishern beträgt laut der Studie 12 Prozent, +42:16 China
was Rang 29 bei 30 erfassten Nationen ergibt.
Tiefer ist der Frauenanteil nur noch in Indien +47:09 Korea
mit 9 Prozent, führend sind die USA mit einer
Frauenquote von 43 Prozent. Dieser Wert
könnte allerdings etwas verzerrt sein, weil die Quelle: runrepeat.com
Startplätze an grossen Marathons in Nord-
amerika ausgelost werden. In New York be-
werben sich jedes Jahr 400 000 Leute, und
die Organisatoren vergeben die Hälfte der
55 000 Plätze an Frauen. Weltweit liegt der
Frauenanteil an Marathons bei 31,4 Prozent.
Lafranchi sagt, dass es zumindest in Europa
einen deutlichen Mentalitätsunterschied zwi-
schen Frauen und Männern gebe. In der Lauf-
bewegung und auf kürzeren Strecken sind die
Frauen sehr präsent, in Laufkursen bilden sie
oft sogar die Mehrheit. Doch einen Marathon
muten sie sich nur zu, wenn sie sich sehr gut
vorbereitet haben. «Viele Männer denken
immer noch: ‹Blasen an den Füssen, der Wolf
im Schritt und Erbrechen – das gehört dazu.›
Sie sind sogar noch stolz darauf.» Frauen hin-
gegen suchten ein positives Erlebnis und ver-
zichteten im Zweifelsfall auf den Marathon.
runrepeat.com/research-marathon-
performance-across-nations
44 Sport NZZ am Sonntag 28. April 2019

IMAGO AP

Die andern Fahrer hielten ihn für unzerstörbar: Ayrton Senna. (Hockenheim, 25. Juli 1993) Sennas Williams-Bolide nach dem Unfall. (Imola, 1. Mai 1994)

SeinTodrettetevieleLeben
Am 1. Mai jährt sich zum 25. Mal der fatale Crash von Ayrton Senna in Imola. Wie sein Unfall den
Hochgeschwindigkeitssport Formel 1 sicherer machte. Von Elmar Brümmer

E
s ist nicht die Angst, die Renn-
fahrer begleitet, es ist der Glau-
be. Der Glaube an die eigene
Unverwundbarkeit, der seit
Jahrtausenden die Gladiatoren
jedweder Couleur, nicht nur
auf den Feldern des Sports, un-
erschrocken ihr Tun ausüben lässt. Bei Ayrton
Senna da Silva, der vor 25 Jahren im Grossen
Preis von San Marino ums Leben kam, war das
nicht anders. «Wir hielten ihn für unzerstör-
bar», erinnert sich sein Freund, der Österrei-
cher Gerhard Berger.
Der 1. Mai 1994 war der schwarze Sonntag
der Formel 1, er hat die Königsklasse nachhal-
tig verändert. Am Tag zuvor war der Österrei-
cher Roland Ratzenberger im Autodromo von
Imola tödlich verunglückt. Das hatte viele
schockiert, einige nachdenklich gemacht. Der
Grand-Prix-Sport war damals durch eine Viel-
zahl elektronischer Fahrhilfen und die Fixie-
rung auf den Leichtbau in einem generell ge-
fährlichen Zustand: Alles wurde der Technik
und dem Tempo untergeordnet. Bezüglich der
Sicherheit der Fahrer gab es zunehmend Be-
denken, aber diese Frage genoss nur einen
Bruchteil der Aufmerksamkeit. War es nicht
Die schlimmsten Unfälle
immer ein Sport gewesen, der an der Grenze
von Leben und Tod operierte? War es nicht
immer gutgegangen? War es natürlich nicht,
aber der Verdrängungsmechanismus in dieser
Disziplin funktioniert perfekter als alles ande-
re. Das Fatale am Limit ist nämlich, dass man
erst weiss, wo dieses genau liegt, wenn man
es überschritten hat.
Genau das ist an jenem Nachmittag in
der Tamburello-Kurve geschehen. Weder die
Strecke noch der Williams-Rennwagen des
34 Jahre alten Brasilianers waren für einen
Aufprall jenseits der 300 km/h gesichert. Die
genaue Unfallursache ist trotz einer Anklage
der italienischen Staatsanwaltschaft gegen
den Konstrukteur Adrian Newey, heute tech-
nischer Vater der Red-Bull-Rennwagen, nie
geklärt worden. Die Lenksäule am Auto des
dreimaligen Weltmeisters aus Brasilien war
gebrochen, aber war das Ursache oder Folge
des Dramas? Das weiss noch immer niemand.
In jedem Fall war der Bolide, der dem führen-
den Jungstar Michael Schumacher nachjagte,
unkontrollierbar geworden und in spitzem
Winkel in eine Betonmauer eingeschlagen.
Formel-1-Chefarzt Sid Watkins, der so vie-
len Rennfahrern nach schweren Unfällen das
Leben gerettet hat, eilte zu der Stelle, konnte
aber nichts mehr für Senna tun: «Wir haben
ihn aus dem Wagen gehoben, und als wir ihn
auf den Asphalt legten, seufzte er. Ich bin
absolut ungläubig, doch in diesem Moment
hatte ich das Gefühl, als hätte ihn seine Seele
verlassen.»
Die tödlichen Kopfverletzungen kamen von
einem Aufhängungsteil, das sich durch den
Helm gebohrt hatte. Offiziell wurde der Tod
erst im Spital festgestellt und Kollegen und
Fahrern erst nach dem Rennen zögerlich mit-
geteilt. Die Show musste weitergehen.
Nach der ersten Schockstarre blieb vieles
nicht mehr so sorglos, wie es gewesen war.
Vermarkter Bernie Ecclestone fürchtete nach
dem Schicksalsschlag um das Image der For-
mel 1, sein Freund Max Mosley machte als Prä-
sident des Automobilweltverbandes FIA das
Bemühen um mehr Sicherheit zu seiner Prio-
rität. Das Ergebnis: Zwei Jahrzehnte lang kam
kein Pilot mehr auf einer Formel-1-Piste ums
Leben. Rigoros waren die Rennställe und die
Rennveranstalter von Jahr zu Jahr zu immer
grösseren Sicherheitsauflagen gezwungen
worden. Mosley, Watkins und Michael Schu-
macher als Vertreter der Fahrergewerkschaft
setzten auf die Vorbeugung. Zugleich wurde
auch die Unfallforschung auf ein wissen-
schaftliches Niveau gehoben, mit einem
Grundstock von 50 Millionen Franken für die
Sicherheitsstiftung.
Als wir ihn Im allerersten der bis heute 1000 Formel-1-
auf den Rennen hatten viele Fahrer nicht einmal einen
Asphalt legten, Helm getragen, sollten Strohballen die Zu-
seufzte er. Ich schauer am Streckenrand sichern. Die ent-
bin absolut scheidende Massnahme Anfang des neuen
ungläubig, Jahrtausends war die Entwicklung eines Kopf-
und Nackenschutzsystems namens HANS,
doch in diesem das massgeblich vom Mercedes-Konzern ge-
Moment hatte fördert wurde. Heute ist dieses mit dem Helm
ich das Gefühl, verbundene Schutzgeschirr Pflicht bis hinun-
als hätte ihn ter in die Nachwuchsklassen. Der tragische
seine Seele Tod Sennas hat das Bewusstsein nachhaltig
verlassen. verändert. Ihm haben viele Fahrer ihr Leben
zu verdanken, weil ein solcher Sinneswandel
sonst so schnell und konsequent nicht mög-
lich gewesen wäre.
Im Wettstreit der Regelhüter mit den Inge-
nieuren werden jährlich Adaptionen an das
wachsende Tempo und die steigenden physi-
kalischen Belastungen gemacht. Der jüngste,
grösste Schritt war die Einführung eines
Sicherheitsbügels über die bisher offenen
Cockpits hinweg, der Halo (Englisch für Heili-
genschein) genannt wird. Entscheidende Mei-
lensteine auf dem Weg hin zu mehr Sicherheit
waren schon 1995 die Einführung von seit-
lichen Crash-Tests für die aus schwer zerstör-
barem Karbon geformte Sicherheitszelle, die

Vor fünf Jahren starb letztmals ein Fahrer den Kern der Rennwagen bildet. Jedes Fahr-
zeug bekam einen Unfallschreiber, die Cock-
pitumrandungen und die Überrollbügel wur-
den immer weiter verstärkt. Nach dem Tod
Jules Bianchi, Suzuka 2014. Mit 126 – nur ohne Knautschzone. Bian- land, der Schweizer fährt mit zweier Streckenposten zur Jahrtausendwende
IMAGO

km/h rast der Franzose Jules
Bianchi in einen Bergekran, der
an einer unübersichtlichen Stelle
in Suzuka den havarierten Sau-
ber-Rennwagen von Adrian Sutil
an den Haken nimmt, während
das Rennen noch läuft. Diffuse
Sichtverhältnisse, Aquaplaning
und überhöhte Geschwindigkeit
trotz Warnphase werden dem
26-Jährigen zum Verhängnis. Er
kommt von der Piste ab und rast
in das Hindernis. Der Marussia-
Bolide gräbt sich unter den Kran,
der Helm des Fahrers knallt ge-
gen das 6,8 t schwere Fahrzeug.
254 g Verzögerung werden am
Kopf von Bianchi gemessen, das
ist, als würde ein Auto aus 48
Meter Höhe auf den Boden fallen
chi erliegt im Juli 2015 seinen
schweren Kopfverletzungen. Er
ist der letzte Tote der Formel 1.
Robert Kubica, Montreal 2007
«Ich konnte den Himmel sehen»,
erinnert sich Robert Kubica an
den Crash, der glimpflich verlief.
Sein Sauber-BMW war mit
Tempo 280 in einer Mauer gelan-
det, überschlug sich mehrfach
seitwärts und krachte seitlich in
die Leitplanken. Die Sicherheits-
zelle wurde vorne aufgerissen,
aber sie rettete dem Polen das
Nur eine Knöchelprellung: Robert Kubica 2007. Leben. Ausser einer Knöchel-
prellung hatte er nichts.
Jo Siffert, Brands Hatch 1971
Es ist das Saisonfinale in Eng-
seinem BRM Trainingsbestzeit,
es ist ein neuer Streckenrekord.
Im Rennen davor ist sein Freund
Pedro Rodriguez ums Leben ge-
kommen, es sind die gefährlichs-
ten Jahre der Formel 1. Während
seiner Aufholjagd im Rennen
kommt er aus ungeklärter Ursa-
che in einer Kurve von der Piste
ab, beim Schleudern in die
Böschung wird der Benzintank
aufgerissen, das Auto steigt auf,
und landet mit den Rädern nach
oben. Sofort bereitet sich ein
Flammenmeer aus. Der 35-Jäh-
rige ist im Cockpit eingeklemmt,
die Feuerwehr kommt spät und
mit defektem Löschgerät, Siffert
erstickt am Ort seines ersten
Formel-1-Sieges im Rauch. (elb.)
wurden die Räder einzeln mit Karbonseilen
gesichert, damit sie bei Unfällen nicht zu töd-
lichen Flugobjekten werden konnten. In den
Boxengassen wurden strengere Geschwindig-
keitsbegrenzungen geschaffen, das spektaku-
läre Nachtanken wurde verboten.
All das geschah im Wissen, dass es die ab-
solute Sicherheit nie geben wird. Die natür-
liche Grenze bleibt die Belastbarkeit des Men-
schen. Das weiter verbesserte Material wird
immer stärkeren Fliehkräften widerstehen
können, der Körper aber wird diese dann nicht
mehr aushalten, selbst wenn der Rennwagen
beim Aufprall heil bleiben sollte. Es wäre
deshalb fatal, wenn die Formel-1-Fahrer, wie
sie heute Sonntag im Grossen Preis von Aser-
baidschan starten, allein auf die Unzerstörbar-
keit vertrauen würden. Der Irrglaube kann
tödlich sein. Daran erinnert das tragische Ver-
mächtnis des Ayrton Senna.
ImFokus
Stéphanie Frappart pfeift heute Sonntag als erste Frau ein Spiel in der höchsten französischen Liga. Sie will
den Mädchen zeigen, dass es für sie einen Platz gibt im Fussball. Von Christine Steffen
Ganzallein
A
m liebsten wäre sie kein
Thema. Denn wenn
niemand von ihr spricht,
weiss Stéphanie Frappart,
dass sie einen guten Job
gemacht hat. Aber in diesen
Tagen sieht man sie überall:
In den französischen Zeitungen natürlich,
aber auch in den englischen und deutschen.
Frappart pfeift heute Sonntag die Partie
Amiens - Strassburg; eigentlich kein Knaller,
aber trotzdem werden alle hinsehen, weil
noch nie eine Frau ein Spiel in der höchsten
französischen Liga geleitet hat. Frappart
wird ganz allein sein unter Männern und tun,
was sie sich als junge Schiedsrichterin in der
Banlieue von Paris angewöhnt hat: in die
Blase schlüpfen, in der sie nichts wahrnimmt
von den Rängen. Dort in der Blase existieren
nur sie, die 22 Spieler, die Assistenten und
dazu neuerdings der Videoschiedsrichter.
Von Schmähungen der Zuschauer bekommt
sie so nichts mit, doch ihre Eltern im Publi-
kum leiden darunter.
Frappart entdeckte die Schiedsrichterei,
weil sie als Fussballerin die Regeln besser
verstehen wollte. Sie war so gut als Referee,
dass sie sich gegen das Spielen entschied.
Rasch stieg sie auf, schon als 19-Jährige
leitete sie nicht nur Frauenpartien, sondern
wurde in der siebenten Liga der Männer
eingesetzt. Seit 2014 pfeift die 35-Jährige
Matches in der zweithöchsten Männerliga,
daneben arbeitet sie Teilzeit im französi-
schen Arbeitersportverband.
Vor einem Jahr hat eine Journalistin der
«L’Equipe» die Schiedsrichterin ein Wochen-
ende lang mit der Kamera begleitet, Frappart
wurde die Partie Nîmes - Valenciennes in der
zweiten Liga zugeteilt. Die Dokumentation
fängt eine bemerkenswerte Verwandlung
ein. Am Morgen des Spiels macht eine
zurückhaltende, fast scheue Frau in der
fremden Stadt Sightseeing. Nach dem Mit-
tagessen trifft sie sich mit ihren Assistenten
zur Vorbesprechung, jetzt ist sie die Chefin.
Es ist ein ungewöhnliches Bild in diesem
Milieu: Eine Frau, die vor dem Computer-
bildschirm drei Männern erklärt, worauf sie
zu achten haben und wie sie die Partie gelei-
tet haben will. Frappart hat eine sachliche,
ruhige Art, sie erliegt nie der Versuchung,
sich vor der Kamera zu produzieren. Immer
wieder geben Schiedsrichter dem Hang zur
Selbstdarstellung nach – ihr ist diese fremd.
Man kann sich gut vorstellen, wie Star-
attitüden von ihr ankämen: Sie würde zerris-
sen. Schiedsrichterinnen stehen immer, jede
Sekunde, unter verschärfter Beobachtung.
Eitelkeit würde nicht verziehen, Fehler
provozieren heftige Reaktionen, vor allem
von den Trainern und in den Medien.
Nicole Pétignat, 2008 zurückgetreten,
ist bis heute die einzige Schiedsrichterin
in der höchsten Schweizer Liga. Ihr wurde
im «Blick» erklärt, dass «Frauen nicht in der
Die Sportwoche Von Benjamin Steffen
Ideen gegen Langeweile – und wofür ein Präsident da ist
Es kam wie gerufen, dieses Interview im
ANDY MÜLLER / FRESHFOCUS
österreichischen Fussballmagazin «Balles-
terer». Es ist ein Gespräch mit Hannes Kart-
nig, dem ehemaligen Präsidenten von Sturm
Graz, und Kartnig redet über die Kunst des
Verkaufens: «Da hat mir mein Trainer Peter
Znenahlik sehr geholfen. Er hat gemerkt,
dass den Zuschauern die Schlägereien irr-
sinnig taugen. Also habe ich die Anweisung
gegeben, dass sich die Spieler öfter raufen
sollen. Wir hatten eine Mörderstimmung.»
Die Passage liest sich wie eine Gebrauchs-
anweisung für mehr Leben im Zürcher Fuss-
ball. Dem Zürcher Eishockey geht es nicht
besser, aber eigentlich interessiert nur noch,
wohin Arno Del Curto diesmal fährt. 2018
war er nach der Trennung vom HC Davos bei
Regen ins Unterland gefahren, nach der
Trennung von den ZSC Lions fährt er sicher
nicht nach Bern. Auf die Frage der «Berner
Zeitung», ob er 2020 vielleicht den früheren
Servette-Trainer Chris McSorley verpflichte,
45
Lage sind, das Spiel so zu lesen und zu ver-
FRANCK FIFE / AFP
stehen, wie das Männer tun.» Autor: der
Stéphanie
Frauen-Experte Kubilay Türkyilmaz. Frappart
Als Bibiana Steinhaus am 10. September
2017 als erste Frau ein Spiel in der ersten Die 35-Jährige
deutschen Bundesliga pfiff, bot der Gast- wuchs in der Nähe
geber Hertha Tickets zum halben Preis für von Paris auf, schon
Zuschauerinnen an. Danach berichtete die ihr Vater war
Presse wohlwollend von einem gelungenen Schiedsrichter. Sie
Debüt. Steinhaus sagte später, sie habe die pfeift auf höchstem
Schlagzeilen über ihr zweites Bundesliga- Niveau bei den
spiel viel mehr gemocht, «denn da gab es Frauen und neu
überhaupt keine Schlagzeile». Für Frauen ist auch bei den Män-
es andauernde Arbeit, unsichtbar zu sein; nern. Der Einsatz
das weiss gerade Steinhaus. Wochenlang heute Sonntag
wurde sie darauf angesprochen, wie ihr der kommt auch zu-
damalige Bayern-Trainer Pep Guardiola den stande, weil sich die
Arm um die Schultern legte, als sie als vierte Fifa für die Schieds-
Offizielle im Einsatz war. Sie wischte den richterinnen der
Arm ab, was sehr cool aussah. Irgendwann Frauen-WM diesen
wollte sie nicht mehr darüber sprechen, Sommer die best-
weil sie der Geste nicht mehr Bedeutung ein- mögliche Vorberei-
räumen mochte, als diese gehabt habe. tung wünscht.
Auch wenn die Schiedsrichterinnen nur Frappart hat bereits
tun, worin sie gut sind, müssen sie viel mehr an der WM 2015, am
darstellen als normale Berufsfrauen. Sie olympischen Tur-
sollen dauernd Auskunft geben, wie es ist, da nier 2016 und an der
draussen in der rauen Männerwelt. Sie EM 2017 Spiele
werden zu feministischen Vorkämpferinnen geleitet.
in kurzen Hosen stilisiert, auch wenn ihr
Antrieb die ureigene Freude an der Arbeit ist.
Steinhaus weiss um die Verantwortung.
Sie sagt: «Auf dem Platz stehe ich für alle
Schiedsrichterinnen auf der ganzen Welt.»
Und Frappart sagt, sie wolle den Mädchen
und jungen Frauen zeigen, dass es im Fuss-
ball einen Platz für sie gebe.
Auffällig ist bei den Spitzenschiedsrichte-
rinnen, wie selten sie über die Hürden auf
ihrem Weg reden, wie sie sorgfältig alle
Anschuldigungen vermeiden, auch wenn sie
abschätzig behandelt wurden. Sie sind sich
viel zu sehr bewusst, dass sie Angriffsfläche
bieten, sobald sie Emotionen zeigen. Will
man wissen, wie es Frappart ergangen ist,
muss man andere fragen. Jean-Claude Le
Page war einer der ersten Ausbildner der
Französin, er sagte der «L’Equipe»: «Es war
schwierig, die Machos um uns herum von
ihr zu überzeugen.» Sabine Bonnin, eine
Schiedsrichterkollegin, sagt, es kämen nicht
nur von den Trainern frauenfeindliche Reak-
tionen, sondern auch von anderen Referees.
«Doch Stéphanie ist eine Kämpfernatur.»
Was man ihr wünschen kann für das erste
Spiel? Dass sie unsichtbar sein darf.
Auch wenn die
Schiedsrichterinnen
nur tun, worin sie gut
sind, müssen sie viel
mehr darstellen als
normale Berufsfrauen. Hat sich in der zweiten Liga einen Namen gemacht: Stéphanie Frappart. (19. April 2019)
Fussball-Experten sagte Marc Lüthi, der CEO des SC Bern: «Sag Apropos Präsident: Als hätten sie mit ge-
unter sich: Sie strei- niemals nie.» Und ob er der ewigen Ver- sundem Menschenverstand das «Ballesterer»-
ten im Cup-Halbfinal lockung Del Curto erliege? «Nein.» Interview gelesen, rauften und stritten sich
lebhaft, mittendrin Noch nirgends hingefahren ist offensicht- im Cup-Halbfinal zwischen dem FC Zürich
der FCZ-Präsident lich der ehemalige GC-Coach Tomislav und dem FC Basel verschiedenste Sorten von
Ancillo Canepa. Stipic. Letzthin traf er den «Blick» und sagte, Fussball-Experten – Spieler, Trainer, Helfer,
(Zürich, 25. April jedes einzelne Wort, das er zur Entlassung Ancillo Canepa (vom FCZ, dafür ist er Präsi-
2019) verlöre, würde nach Erklärungen oder Recht- dent). Der FCB-Spieler Zdravko Kuzmanovic
fertigungen klingen. Danach verlor er mehr sagte dazu: «Sonst wäre Fussball langweilig.»
einzelne Worte als GC-Spiele 2018/19. «Wir Ach ja, bei Kartnigs Worten geht es um
waren auf einem sehr guten Weg», sagte seine Tätigkeit im Eishockey (EC Graz), aber
Stipic, der in fünf Spielen nie gewonnen hätte ich es früher verraten, wäre dieser Text
hatte – «wenn man mit gesundem Massstab wie Fussball ohne Rauferei. Wie auch der
und Menschenverstand misst, wird man das Zürcher Fussball weniger langweilig würde?
auch erkennen. Weil erbrachte Leistungen Mit Kuzmanovic oder aber mit Stipic, der auf
kann man nicht unter der Decke verstecken.» einem sehr guten Weg ist, Unterhaltung zu
Auf die Frage, wie sein Chef Stephan Rietiker bieten, ohne an der Seitenlinie zu stehen.
die Entlassung begründet habe, sagte Stipic, Vielleicht sucht der FCZ bald einen Trainer.
grundsätzlich müsse ein Präsident nichts Del Curto? Sag niemals nie. Stipic? Nein.
begründen, «dafür ist er Präsident», wobei So, müde, ich muss. Aber vor dem Schlafen
gerade bei Rietiker der Massstab gesund sein muss ich noch all die erbrachten Leistungen
müsste, schliesslich ist er Arzt. dieser Woche von der Decke räumen.
46
Gelbe Karte
Die Organisatoren des Halb-
marathons in Triest haben sich
entschieden, 2019 keine afri-
kanischen Läufer teilnehmen
zu lassen. Sie wollen damit
ein Zeichen gegen die
schlechte Situation der
Athleten setzen. OK-
Präsident Fabio Carini
sagt: «Sehr gute Sport-
ler werden sehr
schlecht bezahlt. Das
ist Ausbeutung.»
Eishockey
3
Schweiz
30. Hofmann. 35. Bertaggia.
45. Hischier.
4 n. V.
Frankreich
11. Fleury. 49. Fleury. 53. Chakiachvili.
61. (60:51) Bertrand.
Das Schweizer Nationalteam hat
das zweite Testspiel gegen Frank-
reich verloren. War das 6:0 am
Freitag in Siders ein Schaulaufen
gewesen, wurden die Schweizer
von den aggressiver spielenden
Franzosen diesmal gefordert. Der
letztjährige WM-Silbermedaillen-
gewinner bestand den Test vor
5820 Zuschauern nicht, obwohl
er in der 45. Minute 3:1 in Füh-
rung ging. Die Gäste retteten sich
dank zwei Powerplay-Toren in die
Verlängerung, in der Charles
Bertrand nach 51 Sekunden das
4:3 markierte.
Im Mitteldrittel hatten die
Schweizer dank Toren von
Gregory Hofmann (30.) und
Alessio Bertaggia (35.) ein 0:1 in
ein 2:1 gedreht. Hofmann hatte
schon am Vortag den ersten Tref-
fer für die Gastgeber erzielt. Ber-
taggia war bereits zum vierten
Mal in der unmittelbaren WM-
Vorbereitung erfolgreich. Als
Hischier mit seinem vierten Tref-
fer im zweiten Länderspiel auf 3:1
erhöhte, schien die Sache klar zu
sein. Doch zwei Strafen kosteten
die Schweizer den Sieg.
Im ersten Abschnitt waren die
Einheimischen gut gestartet, in
der Folge verloren sie aber den
Faden. Damien Fleury brachte die
Gäste in der 11. Minute in Füh-
rung. Diese ging zwar in Ordnung
– Sacha Treille war in der 6. Minu-
te an der Latte gescheitert –, aller-
dings hätte das Tor nie und nim-
mer fallen dürfen. Goalie Robert
Mayer liess sich in seinem Heim-
stadion von der verlängerten Tor-
linie bezwingen. (sda)
Fussball La Liga
Zehnter Meisterpokal Messis mit Barcelona
1 Barcelona
62. Messi.
0 Levante
Der König lebt – es lebe der König.
Durch ein 1:0 gegen UD Levante
sicherte sich der FC Barcelona am
Samstag die zweite Meisterschaft
in Folge, die vierte in den letzten
fünf Jahren, die achte in den letz-
ten elf, die 26. in der Vereins-
geschichte und die zehnte von
Lionel Messi. Der fünffache Welt-
fussballer erzielte nach seiner
Einwechslung den entscheiden-
den Treffer –passend zu einer Sai-
son, der er mit 34 Toren einmal
mehr den Stempel aufdrückte.
Drei Spieltage vor Schluss kann
Atlético Madrid wegen des ver-
lorenen direkten Vergleichs seine
neun Punkte Rückstand nicht
mehr aufholen.
Vier Tage vor dem Europacup-
Halbfinal gegen Liverpool blieben
den 91 917 Zuschauern ihre «Cam-
peones»-Gesänge lange im Hals
Sport NZZ am Sonntag 28. April 2019
Zahl Gewinner
64
Er mag damit recht haben, aber Dominic Thiem, Nadal-Schreck gesetzte Österreicher gelang
KEYSTONE
für einen Läufer aus Kenya ist Der 25-jährige Tennisspieler seit 2016 jedes Jahr ein
ein Start in Europa oft die ein- feiert einen historischen Erfolg. Triumph gegen Nadal. Alle
zige Möglichkeit, überhaupt Er ist der erste Spieler über- Siege konnte Thiem auf Sand
%
Geld zu verdienen. Ihn einfach haupt, der Rafael Nadal im Halb- feiern, er ist damit der einzige
auszusperren, ist ähnlich final oder im Final des mit mehr Spieler neben Novak Djokovic
absurd, wie wenn eine Firma als 2,7 Millionen Euro dotierten (7 Siege), der Nadal auf diesem
sagt, sie engagiere keine ATP-Turniers in Barcelona Belag zumindest viermal
Frauen mehr, um auf feh- So hoch ist der Anteil, den Fuss- besiegen konnte. Thiem setzte besiegt hat. Thiems Final-
lende Gleichstellung baller Paul Pogba auf dem Platz sich im Halbfinal gegen den gegner am Sonntagnachmit-
hinzuweisen. Wie wäre mit Spazieren verbringt. Der topgesetzten Spanier nach star- tag ist der Russe Daniil Med-
es mit besseren Ver- Franzose wird von ManU der ker Leistung verdient 6:4, 6:4 wedew, der den Japaner Kei
trägen? (reg.) Spielverweigerung bezichtigt. durch. Dem als Nummer 3 Nishikori schlug. (sda)
Fussball Bundesliga
Favre schreibt den Titel ab
2 Dortmund
BERND THISSEN / DPA / KEYSTONE
4. Götze. 85. Witsel.
Bundesliga
4
31. Runde: Dortmund - Schalke 04 2:4.
Schalke RB Leipzig - SC Freiburg 2:1. Eintracht
18. Caligiuri (P.). 28. Sané. 62. Caligiuri. Frankfurt - Hertha Berlin 0:0. Düsseldorf
86. Embolo.
- Werder Bremen 4:1. Hannover - Mainz
1:0. Stuttgart - Mönchengladbach 1:0.
Illusionen wollte sich Lucien Freitag: Augsburg - Bayer Leverkusen
1:4.
Favre nicht machen. Nicht nach Sonntag: Hoffenheim - Wolfsburg
diesem Spiel, nach diesem Derby, (15.30). Nürnberg - Bayern (18.00)
nach der 2:4-Niederlage seiner
1. Bayern 30 70 10. Düsseldorf 31 40
Dortmunder gegen Schalke 04: 2. Dortmund 31 69 11. Berlin 31 37
«Der Titel ist verspielt, das ist klar 3. Leipzig 31 64 12. Mainz 05 31 36
4. Frankfurt 31 54 13. Freiburg 31 32
für mich. Das ist sehr schwer zu 5. Gladbach 31 51 14. Augsburg 31 31
verdauen in dieser Situation.» 6. Leverkusen 31 51 15. Schalke 04 31 30
7. Hoffenh. 30 50 16. Stuttgart 31 24
Seinen ersten Meistertitel in 8. Wolfsburg 30 46 17. Nürnberg 30 18
einer grossen, einer bedeutenden 9. Bremen 31 46 18. Hannover 31 18
Liga: Favre hat ihn also abge-
schrieben, obschon er noch keine
Gratulation nach München sen-
den wollte. Stattdessen redete an Suat Serdar die rote Karte, nur
sich der Schweizer in Rage – nicht wenig später Marius Wolf, der
über die bescheidene Leistung ebenfalls auf riskante Weise
seines Teams, sondern über eine gegen Serdar grätschte.
Entscheidung, die seiner Ansicht «Wir sind nicht daran gewöhnt,
nach dem Match die Wendung rote Karten zu bekommen», so
gab: Mario Götze hatte den BVB Favre. Dabei erschienen die bei-
früh in Führung gebracht, doch den Platzverweise wie ein Sym-
dann bekam Julian Weigl den Ball ptom: Die Mannschaft war men-
im Strafraum an den Unterarm. tal partout nicht in der Lage, die
Keine Absicht, trotzdem erfolgte Situation zu bewältigen. Huub
der Elfmeterpfiff des Referees, Stevens, Schalkes «Jahrhundert-
denn die Regel verlangt es. «Diese «Die Spieler müssen sich in Zukunft die Arme abschneiden»: Lucien Favre regt sich auf. trainer», der sich noch einmal für
Regel ist so lächerlich», ereiferte die Mission Klassenerhalt ein-
sich Favre. «Die Spieler müssen spannen liess, verbot sich trium-
sich in Zukunft die Arme ab- Der BVB war in seiner Wut auf eine sinnfreie ern vorbeischieben. Noch vor phale Gesten, obschon es doch
schneiden. Aber das ist ein Pro- Regel aber ein ganz anderer Är- dem Anpfiff des Derbys schien für einen Schalker kaum etwas
blem, dann du hast kein Gleich-
mental partout ger: derjenige über die vertane bei nur einem Punkt Rückstand Grösseres gibt, als dem Rivalen
gewicht. Das hat nichts zu tun mit nicht in der Lage, Chance, die Meisterschaft zu ge- vieles möglich, doch nach dem aus Dortmund den Weg zum Titel
Fussball. Der Fussball macht sich
sehr, sehr lächerlich. Das ist eine
die Situation zu winnen. Es schien möglich, kurz
vor der Winterpause, als die Dort-
Ausgleich und der kurz darauf
durch Salif Sané erzielten Schal-
zu verbauen.
Stevens weiss, wie es ist, wenn
Schande.» bewältigen. munder den Bayern um neun ker Führung entglitt dem BVB das einem der Titel entgleitet: 2001
Es geschieht selten, dass Punkte enteilt waren, und selbst Spiel. scheiterte er mit Schalke in letzter
Lucien Favre derart ausser sich vor vier Spieltagen noch konnte In der zweiten Hälfte sah Cap- Minute an den Bayern.
ist. Womöglich kanalisierte sich sich der BVB wieder an den Bay- tain Marco Reus nach einem Foul Stefan Osterhaus, Dortmund
Formel 1 GP Aserbaidschan
Mercedes dominiert das
Qualifying
stecken. Barça musste eine zitt-
rige Schlussphase überstehen, in
der die abstiegsbedrohten Gäste
in der diese bisweilen betrieben
wurde. Doch alle Routine kann
nicht darüber hinwegtäuschen,
das, als er sagte: «Die Liga ist das
Wichtigste und Schwerste.» Zine-
dine Zidane kündigte ausserdem 1. Bottas (FIN) 1:40,495 Doch als es ein erstes Mal ernst
sogar den Pfosten trafen. Indem
Messi anfangs geschont wurde,
stand der letzte Akt der Titelver-
was dieser Titel bedeutet: die
beste Mannschaft der stärksten
Liga der Welt zu sein.
an: «Nächstes Jahr wird sie unser
wichtigstes Ziel sein.» Der König
lebt – aber die erste Kampfansage
2. Hamilton (GBR) +0,059
3. Vettel (GER) +0,302
galt, war die Dominanz dahin.
Sebastian Vettel wird neben Max
Verstappen im Red Bull in der
teidigung insgesamt stellvertre- Ausgerechnet der Trainer des liegt schon vor seinem Thron. zweiten Reihe Aufstellung neh-
tend für die geschäftsmässige Art, Erzrivalen Real Madrid betonte Florian Haupt, Barcelona 8. Räikkönen (FIN) +2,573. men. Für Charles Leclerc, der in
18. Giovinazzi (ITA) +1,929. allen freien Trainings die Bestzeit
realisiert hatte, endete die Quali-
Valtteri Bottas im Mercedes fikation vorzeitig. Er landete im
MANU FERNANDEZ / AP / KEYSTONE
La Liga sicherte sich für den Grand Prix zweiten Teil nach einem Fahr-
von Aserbaidschan die Pole-Posi- fehler an der engsten Stelle des
35. Runde: Athletic Bilbao - Alaves 1:1. tion. Der Finne war in der ent- Stadtkurses in den Leitplanken.
Atlético Madrid - Valladolid 1:0. Leganes
- Celta Vigo 0:0. Barcelona - Levante 1:0. scheidenden Runde im Qualify- Er wird das Rennen von Platz 9 in
Sonntag: Valencia - Eibar (12.00). ing um einen Hauch schneller als Angriff nehmen müssen.
Girona - FC Sevilla (14.00). San Sebas- Teamkollege Lewis Hamilton. Im Finale mit den besten zehn
tian - Getafe (16.15). Villarreal - Huesca Dass sich die Frontreihe Baku waren auch die beiden Fahrer von
(18.30). Rayo Vallecano - Real Madrid
(20.45).
ganz in Silber präsentierte, hatte Alfa Romeo dabei. Antonio Giovi-
Montag: Sevilla - E. Barcelona (21.00). nicht erwartet werden können, nazzi, der sich zum ersten Mal
zumal das Duo von Mercedes in überhaupt für den dritten Teil
1. FC Barcelona 35 83 11. Leganes 35 42
2. Atlético 35 74 12. S.Sebastian 34 41 den freien Trainings mit den qualifiziert hatte, wurde Achter
3. Real Madrid 34 65 13. Eibar 34 40 Allerschnellsten nicht hatte mit- vor Kimi Räikkönen. Giovinazzi
4. Getafe 34 55 14. Villarreal 34 39
5. FC Sevilla 34 55 15. Levante 35 37
halten können. Am Freitag hatte bleibt in der Startaufstellung
6. Valencia 34 52 16. Celta Vigo 35 37 Hamilton sieben Zehntel, Bottas trotzdem nur Position 18. Er muss
7. A.Bilbao 35 50 17. Valladolid 35 35 sogar 1,1 Sekunden hinter der nach dem Einbau einer dritten
8. Alaves 35 47 18. Girona 34 34
9. Sevilla 34 43 19. Huesca 34 29
Bestzeit zurückgelegen. Kontroll-Elektronik die Rück-
10. E.Barcelona 34 43 20. Vallecano 34 28 Diese Allerschnellsten waren versetzung um zehn Plätze in
Seine Einwechslung bringt den Sieg: Lionel Messi feiert das 1:0. die Fahrer von Ferrari gewesen. Kauf nehmen. (sda)
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Sport 47

Gewinnerin Zitiert Entdeckt

Daniela Ryf, Eisenfrau
Zweites Rennen 2019, zweiter
Sieg. Doch so einfach, wie sich
«Wie tief kann die Stan, Ice Man
Nein, Stan Wawrinka
hat sich nicht für
bei minus 110
Grad ausharren:
Das soll anschei-
das liest, war es nicht. Am Iron-
man in Texas kam die vierfache
Weltmeisterin zwar als Erste
Männer-Fussballwelt eine Mottoparty
kostümiert. Der
Tennisprofi
nend bei müden
Muskeln wahre
Wunder wirken.
aus dem Wasser, auf dem Rad
blieb sie in Tuchfühlung. Aber
der Marathon wurde zur Härte-
noch fallen?» freut sich viel-
mehr nach einer
harten Trainingswoche
Atemmaske, Hand-
schuhe und Pfläs-
terchen schützen
prüfung. Nach 30 km lag Ryf auf etwas Erholung. Zu die empfindlichsten
über 2 Minuten zurück, dann
Jacqueline Fehr, Zürcher Regierungsrätin, ärgert diesem Zweck begibt er Partien vor dem
kämpfte sie sich wieder heran sich auf Facebook über die Rudelbildung im Spiel sich in Monaco in eine Erfrieren. Na dann, viel
und siegte in 8:37:48. (reg.) FCZ - Basel. Schwer, eine Antwort zu finden. Kältesauna. Drei Minuten Spass! (reg.)

Fussball Super League

«Jetzt ist es vorbei»: GC vor dem Abstieg

1 Xamax

MARC SCHUMACHER / FRESHFOCUS

75. Nuzzolo.
Super League

1
31. Runde: Xamax - Grasshoppers 1:1.
GC Luzern - Thun 3:1.
8. Ngoy. Sonntag: St. Gallen - Basel.
Young Boys - Lugano. Zürich - Sitten.
Der GC-Trainer Uli Forte ist ein (alle 16.00).
Mann, der an die Macht des
Schicksals glaubt. Immer wenn er 1. Young Boys 30 78
einen Fussballplatz betritt, hüpft 2. Basel 30 56
er über die Seitenlinie, damit er 3. Thun 31 40
mit dem richtigen Fuss auf dem 4. Luzern 31 40
Rasen ankommt. Aber jetzt, in 5. Lugano 30 37
diesem ernüchternden Moment
6. Sitten 30 37
auf der Maladière in Neuenburg,
ist Forte nicht mehr nach diesem 7. St. Gallen 30 36
abergläubischen Ritual zumute. 8. Zürich 30 34
Als das Spiel vorbei ist, tritt er auf 9. Xamax 31 33
den Rasen, ohne an die Linien auf 10. Grasshoppers 31 24
dem Boden zu denken, und zuckt
mit den Schultern. Später wird er
über das 1:1 sagen: «Es ist zu we-
nig für uns. Uns hätte ein Sieg ge-
holfen. Wir sind enttäuscht.» Es etwas Erlösendes für diesen so
war wieder kein schlechtes Spiel lange leidenden Verein.
der Grasshoppers, so wie bereits Die Grasshoppers hätten keine
gegen Thun vor eine Woche. Bis schlechten Aussichten auf den
eine Viertelstunde vor dem Ende Wiederaufstieg. Sie werden das
lagen sie in Führung, ehe sie von Budget auch in der Challenge
einem Konter erwischt wurden. League nur leicht reduzieren, um
Forte spürte nach dem Schluss- Untröstlich: Die GC-Spieler Djibril Diani (l.) und Marco Djuricin. 1, 2 Millionen Franken vielleicht.
pfiff, dass nun nicht nur diese Der Sparbetrag resultiert daraus,
Partie zu Ende ist, sondern ver- dass die Mannschaft wesentlich
mutlich auch seine Rettungsmis- Neuenburg ist es nicht. Um den Marco Djuricin. Als Forte zur Forte weigert sich die Videobilder, die Djuricin zei- kleiner und dadurch günstiger
sion mit den Grasshoppers. Doch Abstieg zu verhindern, neun Pressekonferenz nach dem Spiel gen, wie er diese Sätze von sich werden soll. 12 Verträge von GC-
Fortes Kopf hört nicht auf, ihm Punkte Rückstand aufzuholen erscheint, hat er bereits vernom-
aufzugeben und gibt. Später bittet der GC-Trainer Spielern laufen nach der Saison
etwas anderes zu sagen, «wir sind und den Barrage-Platz noch zu er- men, was Djuricin den Journalis- wird dies auch von darum, dass man ihm diese Auf- aus. Das gibt dem Klub Spielraum
erst abgestiegen, wenn es rechne-
risch feststeht», sagt er. Zwar hat
reichen, bleiben noch fünf Spiele.
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit,
ten erzählt hat. Und Forte hat es
nicht gern gehört. Er sagt: «Wenn
allen seinen nahmen zuschicken soll.
Forte weigert sich aufzugeben
für Kaderveränderungen. Und
sollte sich der frühere Präsident
GC auch gegen Xamax wieder und die Zeit wird immer weniger. Djuricin das wirklich meint, kann Spielern verlangen. und wird dies auch von allen sei- Stephan Anliker als Geldgeber
nicht verloren, zum sechsten Mal Und der Glaube an eine Wunder- er seinen Spind räumen und in nen Spielern verlangen. Aber er bald zurückziehen, stünde der
in Folge nicht. Aber was nach rettung ebenso. «Jetzt ist es vor- die Ferien gehen. Das ist nicht die wird in den nächsten Wochen die GC-Mitbesitzer Peter Stüber be-
einer erfolgreichen Serie klingt, bei. Es ist ein trauriger Moment. Mentalität und der Sportgeist, Planung für die Challenge League reit, den Klub eine Zeit lang allein
ist in dieser Krisensituation nicht Wie oft sollen wir noch herum- den ich haben will.» Später beugt weiter vorantreiben. Und viel- zu tragen.
gut genug, vor allem dieses 1:1 in lügen», sagt der GC-Stürmer sich Forte ganz konzentriert über leicht hat diese Perspektive auch Flurin Clalüna, Neuenburg

Sport im TV
Luzern revanchiert sich für die Cup-Niederlage
Pferdesport
3 Luzern ner Oberländer ein Tor zu erzie-
URS FLÜELER / KEYSTONE

8.30 Eurosport: Springreiten, CSI New 3. Gelmi (Eigentor). 34. Schürpf. len. Es reichte schon, dass Vertei-
York. 50. Spielmann. diger Christian Schwegler einen
seiner weiten Einwürfe in Rich-
Automobil
13.30 SRF 2: Formel-1-WM, GP Aserbai-
dschan.
1 Thun
88. Eleke.
tung der Fünferlinie warf. Ein
Thuner war dort im Gedränge irri-
tiert und lenkte den Ball mit dem
Nach fünf sieglosen Meister- Kopf ins eigene Tore. Der Pech-
Rad schaftsspielen hat der FC Luzern vogel hiess Roy Gelmi.
den zweiten Erfolg am Stück Mit einem platzierten Schlen-
14.10 SRF info: Lüttich - Bastogne -
Lüttich. errungen. Eine Woche nach dem zer aus 17 Metern erzielte Pascal
2:1 beim FC St. Gallen bezwangen Schürpf nach 34 Minuten das 2:0,
Fussball die Innerschweizer den FC Thun das die Luzerner für eine gute
daheim 3:1. Leistung in der ersten Halbzeit
15.40 SRF 2: St. Gallen - Basel. In dieser Woche hat der Fuss- ungenügend honorierte. Die Thu-
18.00 SRF 2: Super League – Goool.
ball in Luzern eine seltsame Ge- ner fanden kurz nach der Pause
schichte geschrieben. Im Cup- mit einem Tor ins Spiel zurück,
Allgemein Halbfinal am Dienstag mühten das wohl ebenso irregulär war wie
17.10 ZDF: Sportreportage. sich die Luzerner gegen die Thu- Gelmis Tor im Cup-Halbfinal. Mit
18.00 ARD: Sportschau. ner 90 Minuten lang vergebens. grösster Wahrscheinlichkeit hatte
18.30 SRF 2: Sportpanorama. Studio- Sie kamen zu Chancen, die für das der Ball die Grundlinie über-
gast: Simon Moser, Spieler SC Bern.
Weiterkommen hätten ausrei- schritten, als Grégory Karlen zum
chen müssen – bis der Thuner eingewechselten Torschützen
ALEXANDRA WEY / KEYSTONE

Defensivspieler Roy Gelmi kurz Marvin Spielmann passte.

vor Schluss das einzige Tor der
Partie schoss. Als die beiden
Mannschaften am Samstag im
gleichen Stadion in der Meister-
schaft gegeneinander spielten,
benötigten die Luzerner keine
Studiogast: Simon Moser. drei Minuten und keine eigent-
liche Chance, um gegen die Ber-
Nun zeigte auch das Team von
Trainer Marc Schneider ein paar
schwungvolle Angriffe, der Sieg
des FCL, den Blessing Eleke mit
dem 3:1 nach 88 Minuten gegen
die etwas geöffnete Thuner Ab-
wehr sicherstellte, blieb indessen
Dreimal bezwungen: Thun-Goalie Guillaume Faivre (Mitte). verdient. (sda).
Freizeitsport
NZZ am Sonntag 28. April 2019

Tipps für den Feinschliff

beim Tennis Sportberatung
Natina
Wer sein Tennisspiel Schregenberger
GETTY IMAGES

verbessern möchte,
findet zahlreiche
Möglichkeiten. Wenn die
Eine Orientierungshilfe.
Von Deborah Stoffel
Pollen uns
Irgendwann holt sie alle Sporttreibenden den Spass
ein: die Stagnation. Oft ist der Stillstand eine
Folge von Nachlässigkeiten. Gerade in tech- verderben

nischen Disziplinen wie im Tennis schlei-
chen sich über die Jahre falsche Gewohnhei-
ten ein – vom Halten des Schlägers über den
Schwung bis zu den Laufwegen. Dabei lässt
sich mit gezielten Interventionen am Spiel
viel verbessern.
Grundlagen
Zuerst ist die Frage zu klären, was denn
besser werden soll: die Ergebnisse oder der
Stil? Wer vor allem öfter gewinnen will,
beginnt am besten mit der Match-Analyse.
Weniger effizient, aber gut für die Motivation
ist es, mit dem Schlag zu beginnen, den man
schon lange verbessern oder neu in sein
Repertoire aufnehmen will. Welcher Hobby-
spieler wünscht sich denn nicht eine stabile
einhändige Rückhand?
Klassische Lektionen
Einen Tennislehrer zu engagieren, ist überall
in der Schweiz etwa gleich teuer. Im Ausland
gibt es zudem zahlreiche Tennis-Camps oder
Schulen. Rafael Nadal zum Beispiel unterhält
eine eigene Tennisschule auf Mallorca, auch
einige ehemalige Profis haben solche Institu-
tionen gegründet. Dort können Hobbysport-
ler einen Vertiefungskurs besuchen, mit Kost
und Logis. Vor allem in den USA gibt es viele
luxuriöse Tennis-Retreats. Diese Angebote
sind aus der Ferne aber nicht auf ihre Quali-
tät überprüfbar.
Youtube-Kanäle
Tennislehrer aus der ganzen Welt betreiben
auf der Plattform eigene Kanäle mit Lehr-
videos und Analysen. Aber die Qualität vari-
iert. Und viele Gratisangebote sind darauf
ausgelegt, über eigene Websites ganze
Videolehrgänge zu verkaufen. Es ist eine
Welt mit viel Kleingedrucktem, auf die man
besser verzichtet. Das Angebot an Inhalten
auf Youtube ist gross genug.
Der Tipp schlechthin ist «Tennis Evolu-
tion», der Youtube-Kanal von Jeff Salzen-
stein mit über 500 Videos und über 60 000
Abonnenten. Der ehemalige US-Profi, der
einst unter den Top 100 der ATP geführt
wurde, kommt direkt auf den Punkt. So
lüftet er zum Beispiel das Geheimnis von
Andre Agassis Returnstärke: ein Ausfall-
schritt Richtung T-Linie während der Auf-
schlagbewegung des Gegners.
Der reichweitenstärkste Tenniskanal mit
über 1500 Videos und über 150 000 Abon-
Welcher Pete Sampras war zweifellos einer der besten
Nicht nachlässig werden: Im
Tennis schleichen sich schnell
falsche Gewohnheiten ein.
nenten ist «Essential Tennis». Gründer Ian aber zur Kreditkarte greifen. Ebenfalls geeig-
Westermann hat in den USA eine eigentliche net ist «Tennis Plus» für 10 Franken.
Tennislehrerkarriere gemacht. Nebst Lehr- Eine Alternative zur Smartwatch ist der
videos, etwa wie man in fünf Tagen zu einer rund 100 Franken teure Sensor von «The
«Killer-Vorhand» kommt, sind vor allem die Zepp», der mit einer Halterung am Racket
Videostudien von Topspielern sehenswert. befestigt wird. Dazu gibt es eine Gratis-App,
Empfehlenswert ist auch Tom Avery, der mit der sich der Schwung auswerten und
Oldie unter den Youtube-Tennislehrern. Sein dreidimensional darstellen lässt. In die App
Kanal «CTW Academy» hat mit knapp 45 000 integriert sind Lehrvideos, in denen der
Abonnenten eine solide Fanbasis und Avery Profispieler Milos Raonic auftritt.
über 40 Jahre Erfahrung als Coach. In einzel- Eher etwas für ambitionierte Spieler ist
nen seiner rund 400 Beiträge ist er etwas «Coach’s Eye» für 5 Franken. Mit der Ana-
langfädig. Die Step-by-Step-Erklärvideos lyse-App lassen sich hochauflösende Zeit-
sind aber gut gemacht, und das Setting, ein lupenvideos drehen, einander gegenüber-
palmengesäumter Tenniscourt, ist toll. stellen und zum Beispiel die Winkel zwi-
schen Ober- und Unterarm in entscheiden-
den Situationen ausmessen.
Apps und Gadgets
Um sein Tennis zu verbessern, ist es nicht
Verschiedene Apps bieten in Kombination verkehrt, öfter einmal den Gegner zu wech-
mit einer Smartwatch die Möglichkeit, das seln. Ein gutes Instrument dafür ist «Got-
eigene Spiel statistisch auszuwerten und den Courts». Die Gratis-App ist eine Mischung aus
Schwung zu analysieren. Bewährte Anwen- Buchungsplattform und Partnerbörse. Man
dungen sind «Swing Tennis Tracker» und kann freie Tennisplätze buchen und bezah-
«Smashpoint Tennis Tracker». Beide Apps len, Ergebnisse sammeln und neue Tennis-
funktionieren mit der Apple-Watch. Der partner finden. Auch eine Chat-Funktion hat
Download ist kostenlos; um auf alle Funktio- die App, so dass man sich vor dem Blind Date
nen zugreifen zu können, muss man dann auf dem Court etwas kennenlernen kann.
am Netz bringen. Ein offenes Besaitungsbild
ZUMA / IMAGO
M
it dem Frühling
kommt ein
jährlich wie-
derkehrender
Plagegeist: der
Heuschnupfen.
Die Frühlingsfreude wird jedes
Jahr für schätzungsweise 20
Prozent der Bevölkerung von
jung bis alt durch das Auftreten
von Heuschnupfen getrübt.
Gerade Sport im Freien wird für
die Betroffenen zur Qual: Nies-
attacken, die Nase läuft, der
Gaumen juckt, die Augen sind
rot und geschwollen – und wer
Pech hat, bekommt auch noch
Atemnot. Was kann man tun?
Als erste und wichtigste Mass-
nahme: Meiden Sie Orte und
Tageszeiten, an denen sie beson-
ders intensiv den Pollen ausge-
setzt sind. Da die Pollenkonzen-
tration frühmorgens am tiefsten
ist, eignen sich Trainingseinhei-
ten in den frühen Morgenstun-
den direkt nach Sonnenaufgang
am besten. Für Pollenflug-
prognosen gibt es gute Apps, die
einem beim Planen helfen. Wer
stark leidet, weicht für ein paar
Wochen auf Indoor-Trainings in
Räumen mit Klimaanlage und
Pollenfilter aus. Am Abend sollte
man regelmässig die Pollen aus
den Haaren waschen und tags-
über darauf achten, sich nicht
mit den Händen, die zuvor pol-
lenbesetzte Flächen angefasst
haben, ins Gesicht zu fassen. Das
Velo kann man, falls möglich,
ebenso irgendwo drinnen abstel-
len, sonst sind Griffe und Sitz
voller Pollenstaub.
Da all diese Dinge einen nie
ganz vor der Exposition mit
Pollen bewahren, kommt Mass-
nahme zwei zum Zug: das
Behandeln von Symptomen.
Hier gibt es ein grosses, oft auch
rezeptfrei erhältliches Angebot
an Tropfen, Sprays und Tabletten
in Apotheken. Auch alternativ-
medizinische Massnahmen
können helfen. Wer sehr ausge-
prägte Symptome hat oder an
Atemnot leidet, sollte sich bei
einer Fachperson abklären und
beraten lassen.
Als dritte Massnahme gibt es

Tennisspieler der Geschichte. Von dem Ame-
Schläger ist für rikaner wird erzählt, er habe sich vehement
gegen eine neue Lackierung seines Schlägers
mich geeignet? gewehrt, weil er fürchtete, die neue Farbe
werde die Eigenschaften des Rackets verän-
dern. Abseits der Tour der Professionals geht
es im Bezug auf Rackets nicht ganz so emp-
findlich zu und her. Und doch ist auch jeder
Hobbyspieler froh, wenn er einmal den rich-
tigen Schläger gefunden hat. Denn das ist
nicht leicht.
Es sind vor allem vier Kriterien, die über
die Spieleigenschaften eines Rackets ent-
scheiden: der Schlägerkopf, das Gewicht, der
Balance-Punkt und die Dichte der Saiten.
Grundsätzlich gilt: je grösser der Schläger-
kopf, desto grösser der Sweet Spot, der
Bereich, von dem der Ball kontrolliert
abspringt. Kleinere Rackets sind dagegen
leichter zu kontrollieren. Ein schwerer Schlä-
ger überträgt mehr Kraft auf den Ball, setzt
damit aber einen langen Schwung voraus.
Bei der Balance unterscheidet man zwischen
kopflastigen Schlägern, die mehr Kraft auf
den Ball übertragen, und grifflastigen, die
leichter in der Hand liegen und so Vorteile
Das Racket muss passen: Roger Federer.
ist ideal, um mit viel Drall zu spielen, ein
enges Besaitungsbild bietet dagegen mehr
Kontrolle.
Wer einen Schläger kaufen will, sollte sich
zuerst überlegen, auf welchem Niveau er
spielt und welchen Spielstil er pflegt. Anfän-
gern ist ein leichtes Racket mit grossem Kopf
zu empfehlen. Oft haben diese Rackets den
Balancepunkt weit vorne, um mehr Druck
hinter die Schläge zu bringen. Wer Doppel
spielt oder oft das Netz sucht, ist mit einem
grifflastigen Schläger gut bedient. Fort-
geschrittene Tennisspieler können zu einem
schwereren Racket greifen, Anfänger
erhöhen dadurch nur die Verletzungsgefahr.
Auf jeden Fall lohnt es sich, wenn der Schlä-
gertyp feststeht, einige passende Modelle zu
testen, am besten mit verschiedenen
Saitendichten.
Roger Federer übrigens spielte in jungen
Jahren mit einem Schlägerkopf mit 85 Qua-
drat-Inches, heute läuft er mit einem 97er-
Racket auf. Diese und andere Einsichten gibt
er in einem Interview zu seiner Schlägerwahl
– auf Youtube unter «Roger Federer und sein
Schläger». Deborah Stoffel
den Versuch, den Körper via
Desensibilisierung an das belas-
tende Allergen zu gewöhnen.
Dafür gibt es Therapien zum
Schlucken oder Spritzenkuren.
Diese müssen meist über drei
Jahre präsaisonal durchgeführt
werden. Die diesbezügliche
Abklärung betreffend Eignung
und Planung der Therapie gehört
in die Hand eines Spezialisten
für allergische Erkrankungen.
Der Irrglaube, man könne
durch eine jährliche Cortison-
spritze zu Beginn der Pollenflug-
saison das Problem längerfristig
ganz schnell und elegant
beheben, ist leider immer noch
weit verbreitet. Dies ist aufgrund
des Nebenwirkungsprofils bei
gewöhnlichem Heuschnupfen
keine Lösung für eine Langzeit-
therapie.
Natina Schregenberger arbeitet
als Sportärztin in der Stadt Zürich
und ist Mutter von zwei Töchtern.
 NZZ am Sonntag 28. April 2019
49

UMBERTO LOMBARDO
Jäger im Regenwald Künstlich befruchtet
Berner Forscher haben Louise Brown ist der
10 000 Jahre alte erste im Reagenzglas
Kulturen entdeckt 53 gezeugte Mensch 51

Monteure installieren
eine 5G-Mobilfunk-
antenne in Chêne-
Bougeries (GE).
(5. April 2019)

Die Kantone Genf

und Jura stoppen
den Ausbau des
Mobilfunks der
5. Generation, weil
sie gesundheitliche
Schäden befürchten.

MARTIAL TREZZINI / KEYSTONE

Wie gross ist das
Risiko wirklich? Von
Andreas Hirstein

DieFaktenzum
neuenMobilfunk
D
er Mobilfunk der 5. Gene-
ration (5G) ist nun auch in
der Schweiz Realität. Sun-
rise versorgt derzeit 150
Orte mit der neuen Funk-
technik, die Swisscom will
bis Ende des Jahres 90
Prozent der Bevölkerung erreichen.
Doch mit jeder neuen Antenne kehrt
auch die Angst zurück – die Furcht vor den
elektromagnetischen Strahlen. Von harm-
losen Konzentrations- und Schlafstörungen
bis zu tödlichen Krebserkrankungen rei-
chen die Folgen, die Kritiker dem Mobil-
funk zur Last legen.
Und wie so oft, wenn der Widerstand
wächst, greift die Politik auch dieses Mal
zu einer bewährten Massnahme: dem
Moratorium, diesem universellen Sack-
messer schweizerischer Umweltpolitik. Die
Kantone Genf und Jura haben den Bau
neuer Antennen bereits gestoppt. Disku-
tiert wird auch in Schaffhausen und in der
Waadt.
Der Bund greift zu einer anderen Taktik,
der Gründung einer Arbeitsgruppe. Sie soll
im Sommer 2019 einen Bericht über die
Risiken beim Aufbau von 5G-Netzen verfas-
sen. Viel Neues wird er nicht enthalten, so
viel ist schon jetzt sicher. Denn bei der
Beurteilung der gesundheitlichen Gefahren
durch den Mobilfunk hat sich nach fast drei
Jahrzehnten praktischer Erfahrung und
vielen Studien ein vorläufiger Konsens her-
ausgebildet, den keine Expertengruppe so
schnell umstossen kann.
Seit Einführung des digitalen Mobilfunks
Ende der 1980er-Jahre beruhen sämtliche
Standards auf elektromagnetischen Wellen
mit einer Frequenz zwischen rund 700 und
2700 Megahertz (MHz). Die Strahlen gehören
damit zu den sogenannten Mikrowellen (die
Mikrowellenherde im Haushalt nutzen eine
Frequenz von 2450 Megahertz).
Der Mobilfunk der 5. Generation wird
zunächst ausschliesslich diese Frequenzen
nutzen, wodurch sich an der Gefahrenlage
nichts ändert. Neu ist lediglich die effizien-
tere Ausnutzung der genutzten Träger-
frequenzen. Das bedeutet, dass mehr Daten
übermittelt werden können, ohne mehr Fre-
quenzen zu belegen oder ohne die Intensität
der Strahlung zu steigern. Damit wird sich
eine Entwicklung fortsetzen, die in der
Den Anlagengrenzwert
würden die
Netzbetreiber gerne
gelockert sehen, weil er
den Ausbau der
5G-Netze erschwert.
Schweiz schon in den vergangenen Jahren zu
beobachten war. Obwohl sich das mobil über-
tragene Datenvolumen in atemberaubendem
Tempo vervielfacht hat, ist die Strahlenbelas-
tung der Bevölkerung dank neuen Mobil-
funkgenerationen mit ihren effizienteren
Codierverfahren nicht gestiegen (vgl. Grafik
Seite 50). Zu dieser Entwicklung beigetragen
hat auch die verbesserte Netzqualität in der
Schweiz: Bei gutem Empfang reduzieren
Handys ihre Sendeleistung und damit die
Belastung der Nutzer.
Der grösste Anteil an der Strahlenexposi-
tion geht heute zumeist auf die mobilen End-
geräte zurück und nicht auf die Basis-
antennen. Am höchsten liegen die Werte in
öffentlichen Verkehrsmitteln, weil dort die
Geräte der Mitreisenden aktiv sind und sich
während der Fahrt permanent in neuen
Funkzellen einbuchen müssen. Zudem ist
der Empfang schlechter als im Freien.
In einem zweiten Ausbauschritt werden
5G-Netze zusätzlich auch weitaus höhere
Frequenzen mit bis zu 50 Gigahertz (50000
MHz) nutzen, die eine noch schnellere
Datenkommunikation ermöglichen.
Physikalisch aber gehören auch diese
höherfrequenten Strahlen zu den Mikrowel-
len. Ihnen allen ist gemein, dass ihre Energie
zu niedrig ist, um chemische Verbindungen
in Molekülen zu trennen. In den Körper-
zellen können sie daher auch keine krebs-
verursachenden Mutationen der Erbgut-
moleküle bewirken. Dazu sind erst UV-
Strahlen und radioaktive Gammastrahlen
in der Lage, deren Energien um mehrere
Grössenordnungen höher liegen.
Eine biologische und potenziell schäd-
liche Wirkung auf den Körper haben Mikro-
wellen nach gegenwärtigem Kenntnisstand
demnach nur in einem Fall: wenn ihre
Intensität so hoch ist, dass sie das Körper-
gewebe zu stark erwärmen. Alle Grenz-
werte für den Mobilfunk orientieren sich
daher an diesem thermischen Effekt der
Strahlung. Dabei wird angenommen, dass
eine Erhöhung der Körpertemperatur um
ein Grad Celsius gesundheitlich gerade
noch unbedenklich ist.
Um eine grössere Erwärmung zu vermei-
den, darf der Körper eines Menschen eine
Strahlungsleistung von höchstens 4 Watt
pro Kilogramm (W/kg) seines Körper-
gewichts aufnehmen. Diesen Maximalwert
versieht man zusätzlich mit einem Sicher-
heitsfaktor von 50, woraus der in vielen
Ländern gültige Grenzwert von maximal
0,08 W/kg Körpergewicht resultiert.
Dieser Wert begrenzt die Strahlung auf
ein sicheres Niveau. Er ist aber schwierig zu
messen. Aus praktischen Gründen drückt
man ihn deshalb in einer einfach mess-
Fortsetzung Seite 50
50
BienenschadenBienen
Wildbienen sind für die Bestäubung einiger Pflanzen unentbehrlich. Eine zu starke Konkurrenz durch
Honigbienen kann unvorhersehbare Schäden verursachen. Von Martina Huber
H
onigbienen sind wichtig für
die Bestäubung vieler Kul-
turpflanzen. Wenn sie aber
in zu grosser Zahl auftre-
ten, können sie zu einer
Konkurrenz für Wildbienen
werden und deren Vielfalt
beeinträchtigen. Die Folge: Gewisse Pflan-
zen, die auf Wildbienen angewiesen sind,
werden weniger gut bestäubt. Zu diesem
Schluss kommt eine kürzlich in der Fachzeit-
schrift «Scientific Reports» publizierte
Studie, die spanische Forscher in einem
Nationalpark auf der kanarischen Insel Tene-
riffa durchgeführt haben.
Im Nationalpark sind Honigbienen
erlaubt. Jeden Frühling installieren Imker
Anfang Mai bis zu 2700 Bienenvölker in 18
verschiedenen Bienenhäusern. Die spani-
schen Forscher untersuchten während drei
Jahren, welche Bestäuber die Blüten ausge-
wählter Pflanzen besuchten und wie erfolg-
reich diese bestäubt wurden, das heisst, wie
viele Früchte und Samen sie ausbildeten.
Die Daten erhoben sie jeweils zu einem Zeit-
punkt vor und nach dem Installieren der
Bienenstöcke und in unterschiedlichen
Abständen dazu. Die Forscher stellten unter
anderem fest, dass die Vielfalt der wilden
Bestäuber mit zunehmender Nähe zu den
Bienenstöcken abnahm und dass gleichzeitig
mehrere Pflanzenarten mit zunehmender
Nähe zu Bienenstöcken weniger gut
bestäubt wurden.
Imker gegen Naturschützer
«Die Studie zeigt einmal mehr, dass Honig-
bienen für Wildbienen eine Konkurrenz dar-
stellen können», sagt Alexandra-Maria Klein,
Professorin für Naturschutz und Land-
schaftsökologie an der Universität Freiburg
im Breisgau. In der wissenschaftlichen Com-
munity sei die Studie viel und mehrheitlich
positiv diskutiert worden.
Klein selbst führte vor einigen Jahren eine
ähnliche Studie in einem deutschen Natur-
schutzgebiet durch, in dem ein Streit zwi-
schen Imkern und Naturschützern entbrannt
war: Die Naturschützer wollten in der Lüne-
burger Heide im Norden Deutschlands keine
Honigbienen, weil sie negative Auswirkun-
gen für die Wildbienen befürchteten.
Klein und ihr Team wiesen dann nach,
dass die Honigbienen die untersuchten Wild-
bienenarten tatsächlich von den Blüten
gewisser Pflanzen verdrängten. Gleichzeitig
wiesen die untersuchten Wildbienen in
Anwesenheit der Honigbienen aber auch
höhere Reproduktionsraten auf. «Das hat uns
überrascht, und es hat gezeigt, dass man die
Situation jeweils ganz genau anschauen
muss», sagt Klein.
In der Lüneburger Heide profitierten die
untersuchten Wildbienen von den traditio-
Die Fakten ...
Fortsetzung von Seite 49
baren Form aus: der elektrischen Feldstärke,
die in Volt pro Meter (V/m) angegeben wird.
In der Schweiz gilt neben diesem Immis-
sionsgrenzwert zusätzlich ein Anlagengrenz-
wert, der nochmals um einen Faktor 10 tiefer
liegt und der an Orten mit «empfindlicher
Nutzung» (Schulen, Wohnungen, Kindergär-
ten, Spitäler und andere Orte) angewendet
wird. Den Anlagengrenzwert sähen die Netz-
betreiber gern gelockert, weil er den Ausbau
der 5G-Netze erschwert. Die Krebsliga
Schweiz hat sich zu dieser Forderung positiv
geäussert: Falls die Lockerung nicht nur der
Kostensenkung diene, könne sie zum Erhalt
der hohen Netzqualität in der Schweiz bei-
tragen, wodurch sich die Sendeleistung der
Mobilgeräte reduzieren würde.
Dass die gültigen Grenzwerte einen aus-
reichenden Schutz gewährleisten, zeigen
inzwischen viele epidemiologische Studien.
Immerhin ist der Mobilfunk heute sogar in
Entwicklungsländern allgegenwärtig. Seit 20
Jahren benutzt mehr als die Hälfte der Euro-
päer ein Handy, und seit 2016 gibt es welt-
weit mehr Mobilanschlüsse als Menschen.
Bei einer Nutzungsdauer von weniger als
zehn Jahren konnte laut dem deutschen
Bundesamt für Strahlenschutz bisher kein
Wissen NZZ am Sonntag 28. April 2019
ANDRE SKONIECZNY / IMAGEBROKER / KEYSTONE
Schnelle Flügel
230
So häufig schlagen
Bienen ihre Flügel
pro Sekunde –
schneller als der Flü-
gelschlag der klei-
neren Fruchtfliege.
3.
Jt. v. Chr.
Schon für damals
lassen sich bei den
alten Ägyptern Ver-
suche nachweisen,
Bienen zu domesti-
zieren.
39
mm
So gross können die
Weibchen der
grössten Bienenart
der Welt werden.
Nach ihrem
Entdecker heisst Die Kegelbiene gehört zu den Kuckucksbienen: Diese bauen kein eigenes Nest, sondern nutzen den Bau anderer Arten.
sie auch Wallace-
Riesenbiene.
Honigbienen sammeln «Wenn die Dichte der Honigbiene sehr hoch zeigte sich: Wildbienen brauchen zur Fort-
ist, kann sich die Rote Mauerbiene nicht pflanzung enorme Mengen an Pollen.» Und
sehr grosse Mengen an mehr reproduzieren. Die Konkurrenz zwi- auch Honigbienen sammeln sehr grosse
Pollen und Nektar – schen Wild- und Honigbienen ist also real Mengen an Pollen und Nektar – laut Müller
durchschnittlich 10 bis und kann für Wildbienen gefährlich
werden.» Klein betont jedoch auch: «Solange
durchschnittlich 10 bis 30 Kilogramm Pollen
pro Jahr und Volk.
30 Kilogramm Pollen die Honigbienendichte nicht zu hoch ist,
pro Jahr und Volk. kommen Wild- und Honigbienen gut Blüten fehlen beiden Bienen
miteinander klar.» Peter Neumann, Professor am Institut für
«Honigbienen sind nicht verantwortlich Bienengesundheit der Universität Bern und
nellen Bienenständen, welche die Imker für für den dramatischen Rückgang der Wild- Präsident des internationalen Vereins Coloss
die Honigbienen aufstellten – denn das bienen», sagt Andreas Müller. «Aber bei zur Prävention der Völkerverluste bei Honig-
Schilf, das diese enthalten, bot auch den geringem Blütenangebot kann eine hohe bienen, räumt ein, dass bei hohen Honig-
Wildbienen zusätzliche Nistplätze. Honigbienendichte zu einer massiven Nah- bienendichten eine Konkurrenz möglich ist.
«Manchmal können Wildbienen auch auf rungskonkurrenz zwischen Honig- und Aber er ärgert sich darüber, dass Studien wie
andere Blüten ausweichen, wenn sie von Wildbienen führen.» Müller ist selbständiger diejenige aus Spanien Honig- und Wild-
Honigbienen verdrängt werden», sagt Klein. Feldbiologe und Mitbegründer des Umwelt- bienen gegeneinander ausspielen. «Das
«Wenn in Anwesenheit der Honigbienen die büros «Natur Umwelt Wissen». An der ETH grösste Problem unserer Wildbienen sind
Reproduktion von Pflanzen oder Wildbienen Zürich, wo er während 15 Jahren als Dozent, nicht die Honigbienen, sondern fehlende
zurückgehen, ist das aber ein Problem.» Forscher und Kurator der entomologischen Nistplätze, fehlende Blüten und Pestizide»,
Dass zu hohe Populationsdichten an Sammlung tätig war, untersuchte er in einem sagt er. Wildbienenschützer und Imker soll-
Honigbienen diesen Effekt haben können, Projekt Brutzellen von 15 einheimischen ten sich nicht bekämpfen. Vielmehr sollten
hat sie in einem Experiment nachgewiesen, Wildbienenarten und zählte, wie viele Pol- sie sich gemeinsam dafür einsetzen, dass es
in dem sie Rote Mauerbienen allein und lenkörner jeweils zur Verpflegung einer ein- künftig wieder mehr Wiesen und Blüten in
gemeinsam mit unterschiedlich vielen zigen Larve gesammelt worden waren. «Erst unserer Landschaft gibt. Und zwar für
Honigbienen in Käfigen hielt. Resultat: trauten wir unseren Augen nicht. Aber es Wild- und Honigbienen.
erhöhtes Risiko für Hirntumoren, Akustikus- Aufgrund dieser Untersuchungen bewer- müssen, seit wann und wie häufig sie ein
neurinome (gutartige Tumoren des Hör- tet die Weltgesundheitsbehörde WHO hoch- Mobiltelefon nutzen.
nervs) und Augentumoren festgestellt frequente Mobilfunkstrahlen als «möglicher- Aus diesem Studiendesign ergibt sich das
werden. Für längere Zeiträume sprechen weise krebserregend». Die Einstufung Risiko, dass erkrankte Probanden ihre Nut-
einige epidemiologische Studien aus Schwe- bedeutet, dass sich die krebserregende Wir- zung tendenziell höher einschätzen als nicht
den für ein etwas häufigeres Auftreten von kung derzeit nicht ausschliessen lässt, es erkrankte Kontrollpersonen. Martin Röösli
speziellen Hirntumoren (Gliome) und Akus- aber auch keine Beweise für die Gefährlich- vermutet, dass dieser Effekt die Studien-
tikusneurinomen, wie Martin Röösli vom keit gibt. Die Befunde stammen aus soge- resultate aus Schweden beeinflusst haben
Schweizerischen Tropen- und Public-Health- nannten Fall-Kontroll-Studien, in denen die könnte. In der Tat zeige eine neue Auswer-
Institut in Basel erklärt. Studienteilnehmer nachträglich schätzen tung aller bis Ende 2017 publizierten Studien
keinen Zusammenhang zwischen den Tumo-
ren und der Mobilfunknutzung. Ein erhöhtes
Keine Zunahme Höchste Belastung im Zug Krebsrisiko hätte sich inzwischen auch in
erhöhten Fallzahlen in der klinischen Praxis
Hochfrequente Strahlung im Jahr 2007/2008 und 2015 Gemessene Feldstärke an verschiedenen Orten zeigen müssen. Die Daten aber zeigen keinen
«Anstieg von Gehirntumorfällen seit Einfüh-
Studie 2007/2008 Elektrisches Feld (V/m)
Studie 2015 0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 rung des Mobiltelefons», schreiben Röösli
Elektrisches Feld (V/m)
0 0,02 0,04 0,06 0,08 0,10 0,12 und seine Kollegen in einer neuen Studie.
Draussen 0,30 Auch nach drei Jahrzehnten Mobilfunk
Mobiltelefon Arbeitsplatz 0,22 haben sich die Befürchtungen bisher also
nicht bestätigt. Das bedeutet nicht, dass län-
Schule 0,15 gerfristige Folgen ausgeschlossen wären.
Basisstation
Mobilfunk Zu Hause 0,11 Wahrscheinlich sind sie aber nicht. Und
daran werden die zukünftig höheren Fre-
Zug 0,55 quenzen der 5G-Netze nichts ändern. Auch
Rundfunk
Bus 0,39 von diesen Strahlen sind nur thermische
Wirkungen bekannt. Nach anderen, nicht-
Schnurloses Tram 0,33
Telefon (Dect) thermischen Effekten sucht die Wissenschaft
Auto 0,29 seit langem vergeblich. Eine überzeugende
Hypothese für solche Wechselwirkungen
WLAN Anderes 0,32
zwischen den Strahlen und biologischem
Gewebe, geschweige denn eine experimen-
Quelle: Martin Röösli Quelle: «Hausarzt Praxis», Bd. 14, Nr. 2 telle Bestätigung, aber fehlt bis jetzt.
NZZ am Sonntag 28. April 2019
«Ja, ich war ein
Versuchskanichen»
NZZ am Sonntag: Sie wurden vor fast 41
Jahren als erstes Reagenzglas-Kind der Welt
geboren. Wie geht es Ihnen heute?
Louise Brown: Ich bin so normal, wie man
das nur sein kann. Ich bin genau gleich wie
meine Freunde, mit dem einzigen Unter-
schied, dass ich ausserhalb des Körpers
meiner Mutter befruchtet wurde. Ich bin
nichts Spezielles. Und will es auch nicht sein.
Einzelne Studien haben gezeigt, dass bei einer
künstlichen Befruchtung oder In-vitro-Fertili-
sation (IVF) ein Risiko für Gefässkrankheiten
bestehen könnte. Hatten Sie nie Angst?
Absolut nie, ich hatte auch nie Probleme.
Die Ärzte haben bei meiner Geburt über hun-
dert Gesundheitstests gemacht, sogar meine
Fingerabdrücke haben sie genommen, aber
sie haben nichts gefunden.
Wurden Sie seither überwacht?
Ausser den normalen Untersuchungen
beim Hausarzt wurde gar nichts mehr
gemacht. Ich hatte nie Probleme, ich habe
zwei Jungen natürlich empfangen. Cameron,
der heute zwölf Jahre alt ist, und Aiden, der
fünf Jahre alt ist.
Ihre Geburt war damals ein Tabubruch. Heute
gibt es schon fast 10 Millionen Menschen, die
nach künstlicher Befruchtung geboren sind.
Ich glaube, es ist heute noch ein Tabu. Die
Leute sprechen immer noch nicht gern dar-
über. Heute kann sich jeder über das Internet
informieren. Trotzdem muss noch immer
Überzeugungsarbeit geleistet werden.
Sollten die Eltern ihren Kindern erzählen,
wenn sie per IVF geboren wurden?
Meine Mum und mein Dad erzählten es
mir, als ich vier Jahre alt war. Für die Kinder
ist es besser, es so zu erfahren, als wenn sie
es später selber herausfinden. Es ist doch
keine Schande. Wie und wann sie es erzäh-
len, sollte den Eltern überlassen werden.
Sie waren die Erste, und alle Welt wusste
davon. Hatten Sie deswegen Nachteile?
Ich denke nicht. Die Kinder in der Schule
fragten mich zwar manchmal, ob meine
Eltern überhaupt meine Eltern seien. Klar
sind sie es! Ich sehe meinem Vater so ähnlich,
dass es gar keinen Zweifel daran gibt.
Wurden Sie nie gehänselt?
Eigentlich nicht. Am meisten Aufsehen
machten die Lehrer, als ich in die Oberstufe
kam. Im Biologieunterricht sagten mir meine
Freundinnen eines Tages mit einem breiten
Grinsen: «He Louise, in diesem Lehrbuch bist
ja du abgebildet!» Das war lustig.
Hat die IVF-Geburt Ihre Beziehung zu Ihrer
Mutter verändert?
Meine Mutter und ich hatten immer ein
sehr enges Verhältnis. Klar rebellierte ich in
den Teenagerjahren, und wir stritten auch
manchmal. Aber das war vor allem, weil wir
dasselbe Sternzeichen haben. Später hat sie
täglich zu meinen Kindern geschaut. Auch
Als Superbabe geboren wurde
ALAMY STOCK PHOTO
«Evening News» am 27. Juli 1978.
Wissen
Die 40-jährige Britin Louise Brown ist das erste Reagenzglas-Kind der Welt und
kämpft immer noch gegen das Tabu «Unfruchtbarkeit». Sie sagt, im Labor
gezeugte Kinder sollten wissen, wie sie entstanden sind. Interview: Matthias Meili
Einmal hat mir
ein Fanatiker
aus Kalifornien
ein zerbroche-
nes, blutiges
Reagenzglas
zugesandt – als
Zeichen seiner
Abscheu.
Am 25. Juli 1978 kam Louise
Brown als erstes Retorten-Baby
auf die Welt. Die Meldung schlug
ein wie eine Bombe, die Eltern
hatten die Story der englischen
Boulevardpresse verkauft.
Lesley und John Brown konnten
keine Kinder kriegen, weil bei
Lesley die Eileiter verstopft
waren. Sie begaben sich beim
Frauenarzt Patrick Steptoe und
beim Fruchtbarkeitsforscher
Robert Edwards in Behandlung,
die damals fast zehn Jahre lang
die künstliche Befruchtung
getestet hatten. (mam.)
«Ich bin so normal, wie man das nur sein kann»: Louise Brown. (Saint-Prex VD, 28. März 2019)
zu meinem Dad hatte ich eine gute Bezie-
hung, leider starb er, als ich im achten Monat
mit Cameron schwanger war. Meine Mutter
starb 2012. Ich denke jeden Tag an sie.
Sagten Sie auch Ihren Söhnen, dass Sie das
erste Reagenzglas-Kind der Welt waren?
Klar. Ich erklärte Cameron vor einigen
Jahren, dass ein Forscher und ein Arzt seiner
Grossmutter zu seiner Mutter verhalfen.
Auch Aiden werde ich es noch sagen. Came-
ron ist ja wie ich aufgewachsen. Er war auch
immer in der Öffentlichkeit präsent, weil sich
alle dafür interessierten, als das erste Rea-
genzglas-Kind, also ich, ein Kind auf natür-
liche Art und Weise erhalten hat.
Hätten Sie eine Fruchtbarkeitsbehandlung in
Anspruch genommen, wenn es nicht natürlich
geklappt hätte?
Ganz klar ja, ich hätte das gemacht. Natür-
lich ist es nicht so, dass das einem Spass
macht, aber wenn man es braucht, macht
man es einfach.
Ende der siebziger Jahre, als Sie geboren
wurden, war das Verfahren noch unausgereift.
Sie waren eine Art Versuchskaninchen.
ANNA PIZZOLANTE
Ja, ich war ein Versuchskaninchen. Die
Ärzte hatten es vorher bei mehreren hundert
Frauen ausprobiert, und es funktionierte
nicht. Meine Mutter war zum richtigen Zeit-
punkt am richtigen Ort, sie glaubte daran,
aber sie wusste nicht, ob es klappen würde.
Manchmal frage ich mich, was passiert wäre,
wenn es bei mir nicht geklappt hätte. Viel-
leicht wäre meine Schwester Natalie das
erste Reagenzglas-Baby geworden, vielleicht
hätte es auch nie geklappt, und die ganze
Industrie mit der künstlichen Befruchtung
gäbe es gar nicht. Bei mir hatte es funktio-
niert, weil es offensichtlich sein musste. Und
ich bin ganz glücklich damit.
Dank Ihnen hat der Fruchtbarkeitsforscher
Robert Edwards 2010 den Nobelpreis für
Medizin erhalten.
Das war ein riesiger Erfolg und hat der
Sache einen neuen Schub gegeben. Leider
war es für Robert Edwards etwas zu spät,
es ging ihm schon ziemlich schlecht, und er
konnte den Preis nicht mehr selber abholen.
Aber wir freuten uns natürlich. Robert
Edwards und der Frauenarzt Patrick Steptoe,
der schon 1988 starb, waren uns immer
sehr nah. Wir haben sie Grosspapa genannt.
51
Mit wir meinen Sie auch Ihre vier Jahre jün-
gere Schwester Natalie?
Ja, sie wurde auch mit Hilfe der künst-
lichen Befruchtung gezeugt.
War sie nie neidisch auf Sie, weil Sie die erste
waren?
Wir sind aufgewachsen wie andere
Geschwister. Und heute hat Natalie selber
einen Platz in der Geschichte der künstlichen
Befruchtung. Sie war nämlich die erste durch
Reagenzglas-Befruchtung gezeugte Frau, die
selber ein Baby geboren hat, ihre Tochter
Casey ist acht Jahre vor meinem Sohn Came-
ron zur Welt gekommen. Heute hat sie fünf
Kinder, alle hat sie natürlich empfangen.
Vor allem Sie haben also die ganze Breitseite
der öffentlichen Empörung abgekriegt.
Ja, das stimmt. Einmal hat mir ein Fanati-
ker aus Kalifornien ein zerbrochenes, bluti-
ges Reagenzglas zugesandt – als Zeichen
seiner Abscheu.
Wie halten Sie es nach solchen Reaktionen
aus, weiter in der Öffentlichkeit zu stehen?
Ich reisse mich nicht darum, in der Zei-
tung zu erscheinen. Aber ich kämpfe dafür,
dass möglichst viele unfruchtbare Paare
Zugang zu dieser Behandlung haben – und
ich mache das gerne. Aber manchmal bin ich
es leid, immer dieselben Fragen zu hören.
Einmal hat mich ein Journalist gefragt, ob ich
mich noch daran erinnere, wie es im Rea-
genzglas war. Und das in vollem Ernst.
Es gibt viele Menschen, die eine solche Frucht-
barkeitsbehandlung als ein Pfuschen in Gottes
Handwerk empfinden.
Das ist deren Meinung, da kann ich nichts
dran ändern. Für mich ist es nicht so. Als ich
geboren wurde, sagte der Papst sinngemäss,
dass er kein geborenes Kind verdammen
könne, auch dieses könne ein Platz im
Himmel haben. Sagt das nicht alles aus? Er
meinte, wenn ein Kind geboren würde, habe
doch niemand etwas Falsches gemacht.
Die deutsche Schriftstellerin Sibylle Lewit-
scharoff hat in einer Rede erklärt, IVF-Kinder
seien Halbwesen. Schmerzt Sie das?
Ehrlich gesagt, habe ich das nicht einmal
mitbekommen. Aber ich lasse solche
Aussagen auch gar nicht an mich heran.
Im letzten Herbst sind in China zwei Kinder
geboren, die als Embryo genetisch verändert
wurden. Ist das nicht ein weiterer Schritt in
Richtung Designer-Baby?
Ich weiss nicht genau, was die Forscher in
China getan haben. Aber schon als ich
geboren wurde, sagten die Leute, dass der
Machbarkeitswahn zu weit getrieben wurde.
Ich glaube einfach, dass wir darauf vertrauen
müssen, dass sich die Ärzte und Wissen-
schafter ethisch verhalten, und dass es die
Aufgabe der Fachleute und Behörden ist, bei
einem neuen Durchbruch zu prüfen, ob er
hilfreich ist oder nicht.
Wo sind denn für Sie die Grenzen?
Ich denke, dass nichts gegen die Anwen-
dung dieser Methoden spricht, wenn es um
die Gesundheit geht. Wenn Paare zum Bei-
spiel eine erbliche Belastung haben, bei der
nur Mädchen gesund sein können, sollte
man ihnen die Geschlechterauswahl im Rea-
genzglas ermöglichen.
Haben Sie den Ort Ihrer Zeugung wieder
einmal besucht?
Nein. Das kleine Spital ist heute eine Art
Sterbehospiz. Vor einigen Jahren sah ich aber
diesen Inkubator, ein riesiges Glasgefäss,
in das die Petrischale mit meinem Embryo
gesteckt wurde. Er ist nun in einem Museum.
Was fühlten Sie da?
Ich musste das Ding für eine Foto in den
Händen halten. Alles, was mir durch den
Kopf ging, war: «Lass einfach diesen Inkuba-
tor nicht fallen» – er war ziemlich schwer.
 Verein zur Abschaffung der Tierversuche
Präsident: Dr. med. Dr. phil. II Christopher Anderegg
Gegründet 1979 unter dem Namen CIVIS-Schweiz
1971 unterzeichnete US-Präsident Richard Nixon das Nationale
Krebsgesetz und erklärte somit den «Krieg gegen den Krebs».
Mensch und Tier unterscheiden sich grundsätzlich in
der Art und Weise, wie sie auf Krankheiten, Arzneimittel
und Behandlungsmethoden reagieren. Diese Tatsache
wird aber von der Forschung seit Jahrzehnten ignoriert
oder heruntergespielt. Durch das Festhalten an irrefüh-
renden, nicht aussagekräftigen Tierversuchen bleiben
die meisten Krankheiten unheilbar und nehmen zum
Teil sogar deutlich zu.
Verlorener «Krieg gegen den Krebs»
Ein wichtiges Beispiel ist Krebs. Mit der Unterzeichnung
des Nationalen Krebsgesetzes 1971 erklärte US-Präsident
Richard Nixon den «Krieg gegen den Krebs» und legte
das Hauptgewicht auf die tierexperimentelle Forschung.
Doch entgegen den Vorhersagen vieler Experten, der
Krebs werde bis 1976 ausgerottet sein, erwies sich dieses
landesweite Forschungsprojekt als Multimilliardendollar-
Fehlschlag: Die altersadjustierte Krebssterblichkeitsrate
stieg bis zu den frühen 1990er Jahren steil an, wonach
dieser Wert langsam zu fallen begann – nicht aufgrund
neuartiger, im Tierversuch entwickelter und geprüfter
Krebstherapien oder Medikamente, sondern grösstenteils
wegen reduzierten Rauchens.
Öffentlichkeit in die Irre geführt
Um die weitere Unterstützung für die Krebsforschung zu
sichern, die heute allein in den USA fünf Milliarden Dollar
jährlich übersteigt, führten Forscher und Regierungs-
beamte die Öffentlichkeit in die Irre. So fand der oberste
amerikanische Rechnungshof heraus, dass die Statisti-
ken des Nationalen Krebsinstitutes (NCI) «das Ausmass
des ‹wahren› Fortschritts künstlich aufblähten». Das NCI
hat einfache Fünfjahresüberlebensstatistiken manipu-
liert, indem es ein fünfjähriges Überleben als «Heilung»
Ostbühlstr. 32, 8038 Zürich ch.anderegg@sunrise.ch
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Irrweg Tierversuch
Krebs
Mit der Unterzeichnung des Nationalen Krebsgesetzes
1971 erklärte US-Präsident Richard Nixon den «Krieg
gegen den Krebs» und legte das Hauptgewicht auf die
tierexperimentelle Forschung. Doch trotz intensiver
Tierversuche erwies sich dieses landesweite Forschungs-
projekt als Multimilliardendollar-Fehlschlag: Heute, 48
Jahre später, ist Krebs weiterhin die zweithäufigste
Todesursache in den Industrieländern.
bezeichnete, auch wenn der Patient nach Ablauf der
Fünfjahresperiode an Krebs starb.
Schlechte «Mausmodelle»
Dass der Fortschritt gegen Krebs nicht parallel zu den
Anstrengungen und dem investierten Geld verläuft,
liegt vor allem in dem Festhalten an Tierexperimenten.
Zum grössten Teil werden Mäuse verwendet, obwohl
die eigene Laborzeitschrift der Tierversuchsindustrie,
Lab Animal, zugibt: «Mäuse sind eigentlich schlechte
Modelle für die Mehrheit der menschlichen Krebsarten.»
Hinzu kommt, dass Krebserkrankungen bei Mäusen – im
Gegensatz zu Menschen – unter natürlichen Bedingungen
äusserst selten auftreten, weshalb die Forscher mittels
Genmanipulationen «Krebsmäuse» erzeugen, oder sie
verpflanzen komplette Tumoren auf die Nager, oder sie
spritzen Millionen von Krebszellen in die Blutbahn oder
unter die Haut – alle künstliche Verfahren, die mit dem
jahrelangen, heimtückischen Wachstum menschlicher
Tumoren nicht vergleichbar sind.
Wenige neue Krebsmedikamente
Auch bei der Suche nach neuen Krebsmedikamenten
haben Tierversuche kläglich versagt. Laut dem Bericht
«Clinical Development Success Rates 2006-2015»
(herausgegeben 2016 von der amerikanischen Pharma
Intelligence und Biotechnology Innovation Organiza­
tion) scheitern nicht weniger als 95 Prozent aller neu-
en Krebsmedikamente, die in Tierversuchen als sicher
und therapeutisch wirksam befunden wurden, in klini-
schen Versuchen an Menschen wegen unerwarteter
Nebenwirkungen und/oder Unwirksamkeit, und werden
deshalb von der amerikanischen Arzneimittelbehörde
Food and Drug Administration nicht bewilligt.
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Wissen 53

Zum Essen gab

UMBERTO LOMBARDO
es Berge von
Apfelschnecken
In den Regenwäldern Amazoniens existierten
einst hochentwickelte Gesellschaften. Jetzt
haben Berner Forscher deren Ursprünge
entdeckt: Jäger und Sammler, die vor 10 000
Jahren dort lebten. Von Patrick Imhasly

Fenster in die Vergangenheit: Inselwälder in den Llanos de Moxos in Bolivien.

Z
u feuchtes Klima, zu nährstoff-
arme Böden, kaum Steine als
Baumaterial und keine Nutz-
tiere: Lange hielt sich unter
Archäologen und Geografen die
Vorstellung, in den Regen-
wäldern des westlichen Ama-
zoniens hätten einst bestenfalls ein paar
Barbaren gelebt. Hochkultur habe sich in
Südamerika lediglich in den Bergen ent-
wickelt, zum Beispiel in den Anden, wo die
Inkas zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert
imposante Städte errichteten.
Funde von Erdbauten wie mächtige
Hügel, Inselwälder, künstlich erhöhte Felder
sowie Kanäle und Gräben in den Llanos de
Moxos, einer Tiefebene im Norden Boliviens,
haben dieses Bild in den vergangenen fünf-
zehn Jahren jedoch auf den Kopf gestellt. In
dieser Gegend, die wegen der dichten Ton-
böden zu grossen Teilen monatelang unter
Wasser steht, haben sich ab der Zeit vor 2500
Jahren vielfältige Gesellschaften entwickelt.
Die Menschen jagten, fischten, gestalteten
ihre Umgebung im grossen Stil, legten
Dämme und Teiche an und betrieben inten-
siv Landwirtschaft. Inzwischen gilt der
Südwestens Amazoniens als eine jener
Gegenden in Südamerika, wo ökonomisch
wichtige Pflanzen wie Süsskartoffel, Maniok,
Erdnüsse oder Chilipfeffer ursprünglich
domestiziert worden waren.
Über die Vorläufer dieser hochentwickel-
ten Gesellschaften war bisher praktisch
nichts bekannt. Doch jetzt hat ein internatio-
nales Forscherteam um den Geografen Heinz
Veit von der Universität Bern und den
Archäologen José Capriles von der Pennsyl-
vania State University diese Lücke geschlos-
sen. In einer Studie im Fachblatt «Science
Advances» zeigen die Wissenschafter auf,
dass in den Llanos de Moxos bereits vor gut
10000 Jahren Menschen nicht nur als Jäger
und Sammler unterwegs waren, sondern
mindestens zeitweise an festen Orten lebten,
Rituale hatten und ihre Umgebung nachhaltig
veränderten. «Die Inselwälder in den Llanos
de Moxos gehören vermutlich zu den ersten
Erdbauten mit ökonomischer und symboli-
scher Bedeutung, die im westlichen Amazo-
nien errichtet wurden», so die Forscher.
Hirsche, Vögel und fünf Skelette
Inselwälder sind bis 1,2 Hektaren grosse
Plattformen, die mit Bäumen bewachsen
sind und sich mitten in den Llanos de Moxos
befinden. Sie dienten den Bewohnern der
Savanne wahrscheinlich als temporäre Auf-
enthaltsorte. Manche von ihnen sind natür-
lich entstanden, etwa als Reste ehemaliger
Flussablagerungen. Wohl die meisten sind
aber menschlichen Ursprungs – aufgeschich-
tet aus Schneckengehäusen, welche die
Menschen nach dem Verzehr der Tiere
zurückgelassen hatten.
Inselwälder sind um etwa einen Meter
erhöht und ragen deshalb während der
Regenzeit aus dem gestauten Wasser rund-
herum heraus. «Weil sich auf ihnen im Lauf
der Jahrtausende nur sehr wenig Sedimente
ablagert haben, haben sie sich kaum verän-
dert – sie sind deshalb gleichermassen Fens-
ter in die Vergangenheit», erklärt Heinz Veit.
BRASILIEN
Drei dieser Zeugen der Zeit haben Veit, Capri-
Llanos les und ihr Team mit Grabungen untersucht.
de Moxos
Sie sind dabei auf die Überreste eines breit
gefächerten Nahrungsangebots gestossen:
PERU
Schalen von Apfelschnecken, Knochen von
BOLIVIEN
Hirschen, Vögeln, Gürteltieren, Aalen, Lun-
genfischen und Welsen. Vor allem aber ent-
deckten sie die Skelette von insgesamt fünf
CHILE PARAGUAY Menschen. «Sie waren bis zu 1,90 Meter
gross und vom Gebiss kerngesund», sagt
500 km Heinz Veit. Auch die Knochen der Skelette
ARGENTINIEN
wiesen – soweit erkennbar – keine Spuren
Die Llanos de Moxos von Arthrose oder Ernährungsmängeln auf.
bilden eine häufig «Es war nicht möglich, das Alter der Ske-
überschwemmte lette direkt zu bestimmen», sagt José Capriles.
Tiefebene im Dazu braucht es organische Substanz, deren
Norden Boliviens. Alter mithilfe der Radiokarbonmethode
ermittelt werden kann. Weil die Knochen
aber in einer kalkreichen Umgebung lager-
ten, waren sie regelrecht mit Kalk und Mine-
ralien verbacken, und das kohlenstoffhaltige
Kollagen in ihrem Innern war weitgehend
zerstört. Stattdessen konnten die Forscher
aber das Alter von Schichten bestimmten,
die Holzkohle enthielten und sich über den
«Das ist die wichtigste
Erkenntnis: Die Völker
Amazoniens haben eine
viel längere Tradition,
als man dachte.»
José Capriles, Archäologe
Skeletten ablagert hatten. Diese waren 6000
bis 7000 Jahre alt – also müssen die Über-
reste der Menschen darunter älter sein.
«Zudem haben wir in einer früheren Unter-
suchung menschlichen Kot entdeckt, der
mehr als 10 000 Jahre alt war», sagt der
Berner Geograf Heinz Veit. Grabbeilagen
fanden die Forscher nicht, aber allein die
Existenz formaler Gräber sei ein klares Zei-
chen dafür, dass die Inselwälder auch eine
rituelle und symbolische Bedeutung für die
Menschen hatten.
Je nach Saison sesshaft
Wie aber lebten diese Menschen in den
Llanos de Moxos, die damals trockener und
deshalb waldreicher waren als heute? «Es
waren Jäger und Sammler, die offensichtlich
Zugang zu reichlich Wild, Fischen und
Schnecken hatten und auch etwas Landwirt-
schaft betrieben, indem sie vorhandene
Pflanzen bevorzugt nutzten», erklärt Veit.
«Zudem waren sie zu bestimmten Zeiten des
Jahres relativ sesshaft».
Eine vergleichbare Lebensweise sei bis in
die 1940er Jahre vom indigenen Volk der
Sirionó im Osten der Llanos de Moxos doku-
mentiert gewesen, so der Archäologe José
Capriles. Während der Trockenzeit zogen die
Sirionó Gruppen von Affen sowie Beuteltie-
ren nach, in der Regenzeit unternahmen sie
von Camps aus jeweils kurze Jagdtrips. «Das
ist wahrscheinlich die wichtigste Erkenntnis
unserer Studie: Die Völker Amazoniens
haben eine viel längere Tradition, als man
bisher dachte», sagt Capriles.

Neues aus der Wissenschaft

Klimawandel bedroht satz zu Landtieren nicht in der Trend auf der Südhalbkugel Glücklicher Partner chological Science»). Gatten und
SEÁN KELLY

Meerestiere stärker
Doppelt so viele Meerestiere wie
Landtiere sind wegen des Klima-
wandels aus ihrem Lebensraum
verschwunden. Das haben For-
scher ermittelt, indem sie Daten
von fast 400 kaltblütigen Tier-
arten wie Fischen, Spinnen oder
Eidechsen miteinander vergli-
chen («Nature»). Sie untersuch-
ten, wie die Tiere auf Hitze
reagieren und wie sich ihre
Umwelt verändert. Gemäss der
Studie sind Meerestiere von stei-
genden Temperaturen stärker
bedroht, weil sie sich im Gegen-
schattigem Gebiet oder unter der
Erde verbergen und damit der
Hitze entziehen können. Die
Anfälligkeit der marinen Arten
dürfte sich negativ auf jene Men-
schen auswirken, die für ihre
Ernährung oder für ihren
Lebensunterhalt besonders auf
Fische und Meeresfrüchte ange-
wiesen sind. (mna.)
Vögel mit weissen
Augen entdeckt
Zoologen des Trinity College
Dublin haben auf der indonesi-
schen Insel Sulawesi zwei neue,
wunderschöne Vogelarten ent-
deckt: das Wakatobi-Weissauge
(im Bild) sowie das Wangi-Wangi-
Weissauge («Journal of the Lin-
nean Society»). Sulawesi befin-
det sich in der Mitte des Insel-
staates Indonesien und ist
bekannt für seinen grossen
Reichtum an eigenartigen Tieren
und Pflanzen. Auf Sulawesi
kommen auch besonders viele
endemische Arten vor – also
solche, die an keinem anderen
Ort der Welt zu finden sind. Das
hat insbesondere damit zu tun,
dass die Insel seit langem von
des Planeten. Wichtig sei der verlängert das Leben Gattinen mit einem glücklichen
Effekt, weil Wind und Wellen Partner starben während acht
den Austausch von CO2 zwi- Ist mindestens ein Partner in Jahren ab Studienbeginn selte-
schen dem Wasser und der einer Ehe glücklich, hält diese ner als jene mit einem unzufrie-
Atmosphäre beeinflussen und länger an – so viel war bekannt. denen Partner. Das Glück des
damit auf die Klimaveränderung Jetzt zeigt sich, dass man sogar anderen war für die Überlebens-
zurückwirken. (hir.) länger lebt, wenn man einen wahrscheinlichkeit sogar wichti-
zufriedenen Partner hat («Psy- ger als das eigene Glück. (pim.)
Schadenfreude ist
anderen Landmassen getrennt
ansteckend
ist. Sogar während der letzten Wird jemand am Arbeitsplatz Schluss-Strich von Nicolas Mahler
Eiszeiten, als die Ozeane weit schikaniert, dann löst das bei
weniger ausgedehnt waren als seinen Kollegen nicht zwingend
heute, war Sulawesi wegen der Mitgefühl aus. Besonders in
tiefen Gräben rund um die Insel einem kompetitiven Umfeld
stark isoliert. (pim.) können sich diese ein gerüttelt
Mass an Schadenfreude oft nicht
Extreme Ozeanstürme verkneifen, wie jetzt eine Studie
der Universität Zürich zeigt
nehmen zu («The Academy of Management
In den vergangenen 30 Jahren Review»). Demnach richtet sich
hat sich auf der Erde die Häufig- die Schadenfreude der anderen
keit von extremen Winden über besonders häufig gegen jene
den Ozeanen und von besonders Mitarbeiter, die wegen ihrer
hohen Wellen leicht, aber statis- Leistung besonders herausragen
tisch signifikant erhöht. Das und deshalb als Konkurrenten
zeigt die Auswertung von Satelli- angesehen werden. Die Autoren
tenbildern und Messungen von der Studie empfehlen, am
Bojen aus den letzten 33 Jahren, Arbeitsplatz ein Auge auf solche
wie Wissenschafter jetzt in der Dynamiken zu haben, zumal sich
Fachzeitschrift «Science» berich- gezeigt hat, dass Schadenfreude
ten. Am deutlichsten zeigte sich ansteckend ist. (pim.)
Computer&Technik
RichtigimBild
Mit spezialisierten Webdiensten kann man Fotos online bearbeiten, ohne ein Programm zu installieren.
Schnell, gratis und einfach. Von Henning Steier
K
räftigere Farben, ein stärke-
rer Kontrast oder weniger
Pickel auf der Haut – Mög-
lichkeiten, eigene Fotos zu
verbessern, gibt es viele. Und
es gibt auch fast genauso
viele Software-Tools dafür.
Das Problem: Viele der digitalen Werkzeug-
kästen, etwa das relativ teure Adobe Photo-
shop, sind für viele Gelegenheitsnutzer zu
prall gefüllt. In der Fülle der Funktionen
gehen die wichtigsten Bearbeitungsmöglich-
keiten unter. Denn oftmals möchte man ganz
gezielt nur wenige Verbesserungen vorneh-
men – und dafür nicht einmal eine Software
installieren. Die Lösung: Bildbearbeitung mit
kostenlosen Applikation, die in einem Web-
Browser funktionieren («Web-Apps»).
Ganz oben im Testfeld angesiedelt ist Pho-
topea. Dessen Entwickler Ivan Kuckir hat
sich am Marktführer der Bildbearbeitung
Photoshop orientiert. Die Werkzeuge, etwa
Kopierstempel und Radiergummi, ähneln
daher stark denen des grossen Vorbilds.
Überaus praktisch ist, dass Photopea im
Gegensatz zu vielen vergleichbaren Web-
diensten PDS-Dateien unterstützt. Die
Abkürzung steht für Photoshop Document,
also das eigene Format der Adobe-Software.
In diesem werden alle Daten verlustfrei und
mit Informationen wie Kanälen, Ebenen
und Arbeitsschritten gespeichert. Daher
kann man eine PSD-Datei beispielsweise
jemandem senden, damit er sie weiter-
bearbeiten kann.
Mit einigen Funktionen weniger ausge-
stattet als unser Testsieger, aber gerade
wegen der Einfachheit empfehlenswert ist
Pixlr X. Auch dieses Tool bietet nicht nur
gängige Verbesserungsmöglichkeiten für
Bilder, sondern auch von Profiprogrammen
bekannte Funktionen wie Auswahlen und
Ebenen. Einen Punktabzug gibt es dafür,
dass Pixlr einen installierten Adobe Flash
Player benötigt. Diese Software ist zwar
ebenfalls gratis, wird aber seit längerem
nicht mehr weiterentwickelt, weil sie fehler-
anfällig ist und immer wieder mit schweren
Sicherheitslücken Schlagzeilen macht. Nicht
ohne Grund haben Apples Mobilgeräte
Flash-Inhalte noch nie unterstützt.
Mit wenigen Klicks
Auch die Web-App Fotor überzeugt mit aller-
lei praktischen Funktionen und bietet
zusätzlich die Möglichkeit, Collagen anzu-
legen. Was stört: Die kostenlose Version zeigt
relativ aufdringliche Werbung. Werbefrei
dagegen und noch simpler, aber immer noch
für viele gängige Aufgaben geeignet ist
Polarr. Schneiden, Text einfügen, Filter,
Retuschieren, Farbkorrektur – und einiges
mehr ist möglich. Die Benutzeroberfläche
Laptop mit zwei Displays
Statt mit einer Tastatur wartet
der Lenovo Yoga C930
mit einem zweiten Display auf.
Lenovos Yoga C930 hat keine Standardtasta-
tur, sondern ein berührungsempfindliches
Display, wie man es von E-Readern kennt.
Die Idee ist gut, sie kann in der Praxis aber
nicht überzeugen.
Um zum Beispiel einen Blick auf den Bild-
schirm zu werfen, benötigt man beide
Hände. Denn der Rechner lässt sich nur
schwer aufklappen. Das liegt daran, dass
Lenovo ihm eine weitere Besonderheit spen-
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Bildbearbeitung im bietet ohne viel Klicken all das, was Foto-
Browser: Hier mit amateure am häufigsten brauchen.
Photopea. Manchen Nutzern dürften aber auch diese
Dienste mit ihrem Funktionsumfang noch zu
überladen sein. Wer nur eine einzige spezifi-
sche Aufgabe zu erledigen hat, für den gibt es
ebenfalls angepasste Angebote im Web. Zwei
Beispiele: Per Drag-and-Drop kann man
PNG- oder JPG-Dateien etwa bei Tiny PNG
hochladen und verkleinern. Das ist etwa
vonnöten, wenn man die Bilder auf Websites
oder in Apps verwenden und die Ladezeiten
verkürzen will. Tiny PNG reduziert die Farb-
palette so, dass das menschliche Auge es
nicht bemerken sollte.
Wer Fotos von Menschen gemacht hat und
die Personen freistellen möchte, dem sei die
Web-App removebg ans Herz gelegt. Bilder
lassen sich von Smartphone oder PC hoch-
laden. Oder man fügt eine URL ein, unter der
die Foto im Netz zu finden ist. Dann entfernt
das Tool automatisch den Hintergrund. Kos-
tenlos kann man allerdings nur Bilder der
Grösse 612×408 Pixel herunterladen. Wer ein
HD-Bild braucht, muss sich registrieren.
Unbegrenzt kostenlos ist hingegen Google
Fotos. Der Cloudspeicher des Suchmaschi-
nisten bietet unlimitierten Speicherplatz für
diert hat: Klopft man am unteren Rand mittig
aufs Gehäuse, öffnet sich das Notebook etwa
zwei Zentimeter, so dass man es leicht ganz
aufklappen kann. So weit jedenfalls die
Theorie. Im einmonatigen Test setzte die
Technologie etwa jedes fünfte Mal aus.
Dieses Beispiel ist symptomatisch, denn
auch das erwähnte E-Ink-Display konnte als
Lesegerät für E-Books nicht überzeugen. Das
lag daran, dass derzeit nur das PDF-Format
unterstützt wird, nicht aber das populärste
E-Book-Format ePub. Das soll sich in Zukunft
per Software-Update ändern. Als virtuelle Überzeugt in der
Tastatur ist das Display dagegen besser als Praxis noch nicht:
erwartet. Es gibt minimal nach, und man Der Yoga C930.
kann ein leichtes Vibrieren hinzuschalten,
um haptisches Feedback zu imitieren.
Gut gefallen hat uns der mitgelieferte Stift,
der auf beiden Bildschirmen funktioniert.
Das-E-Ink-Display hat keine Hintergrund-
beleuchtung. Tippen bei schlechtem Licht ist
also schwierig, wenn man das Zehnfinger-
system nicht beherrscht.
Ein klarer Vorteil des E-Ink-Bildschirms:
Weil er sehr flach ist, kommt das gesamte
Notebook sehr schlank daher. Ohnehin ist es
sehr gut verarbeitet und verdient sich insge-
samt eine Design-Bestnote.
Fotos bis 16 MByte und Videos in maximaler
Full-HD-Auflösung. Wenn es um rudimen-
täre Bildbearbeitungsmöglichkeiten im
Browser geht, sollte Googles Angebot nicht
unerwähnt bleiben, denn es bietet Filter und
eine Beschneidungsfunktion.
Der eigentliche Clou aber ist die automati-
sche Bildverbesserung, die etwa Kontrast
und Belichtung ändert. Weil Google dank der
grossen Nutzerzahl viele Daten zur Ver-
fügung hat, gelingen die automatischen
Verbesserungen oft sehr gut.
Privates in der Cloud
Was alle vorgestellten Dienste, so simpel sie
auch sein mögen, gemeinsam haben: Eine
Serienbearbeitung von Fotos ist nicht mög-
lich. Hat man grosse Dateien und viele Bilder
zu bearbeiten, kann das mit einer zu langsa-
men Internetleitung schnell frustrierend
werden. Nicht zu vergessen: Stürzt der Brow-
ser ab, wurden im schlimmsten Fall die Ver-
änderungen am Bild nicht gesichert.
Eine weitere Gemeinsamkeit aller Photo-
shop-Alternativen im Web: Man lädt seine
Bilder in einen Cloudspeicher im Internet
hoch. Damit gibt man sie theoretisch in
unbefugte Hände. Man sollte es sich also gut
Diese kann man angesichts eines
Preises von rund 1200 Franken
erwarten.
Eine 3,5-Millimeter-Kopf-
hörerbuchse ist leider nicht an
Bord. Auch der stromsparende,
aber leistungsschwache Prozes-
sor kann mit mageren 4 GByte
Arbeitsspeicher nicht überzeu-
gen. Nun könnte man hoffen,
dass als Ausgleich wenigstens
die Akkulaufzeit lang ist. Doch
weit gefehlt: Nach sechs Stunden durch-
schnittlicher Nutzung musste der PC wieder
an die Buchse.
Lob verdient das klassische 10,8-Zoll-Dis-
play, das mit 2580×1600 Bildpunkten auf-
löst. Starke Farben und knackige Kontraste
hat es zu bieten. Wie von der Yoga-Serie
bekannt, lässt es sich um 360 Grad umklap-
pen, so dass man ein relativ flaches Tablet
mit zwei Bildschirmen erhält. Mit
800 Gramm Gewicht ist es relativ leicht.
Fazit: Die Ideen sind grundsätzlich gut.
Noch mangelt es aber bei der praktischen
Umsetzung. Wer vom Konzept des Geräts
überzeugt ist, sollte daher auf die nächste
Version warten. Henning Steier
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Der eigentliche
Clou ist die
automatische
Bildverbesserung,
die etwa Kontrast und
Belichtung ändert.
überlegen, ob man etwa private oder gar
intime Fotos mit den genannten Web-Tools
bearbeiten möchte.
Als lokal zu installierende Alternative
bietet sich die Gratis-Desktop-Software Gimp
an. Die Bildbearbeitung für Windows, Mac-
OS und Linux wird von unabhängigen Ent-
wicklern mit Erweiterungen versorgt.
Das Programm unterstützt alle gängigen
Bildformate, GIF-Dateien lassen sich als Ani-
mation speichern. Für verlustfreie Bearbei-
tung steht das TIFF-Bildformat zur Ver-
fügung, allerdings unterstützt TIFF keine
Ebenen. Und das eingangs erwähnte Photo-
shop-Format PSD kann man mit Gimp auch
nicht nutzen. Das wiederum dürfte manchen
Nutzer dann doch wieder in die Arme des
Testsiegers Photopea treiben.
News
US-Geheimdienst will
Überwachung reduzieren
Der amerikanische Auslandsgeheimdienst
NSA will laut Medienberichten die Telefon-
überwachung von amerikanischen Bürgern
einschränken und ein entsprechendes Pro-
gramm einstellen. Bekannt geworden ist es
durch den Whistleblower Edward Snowden
im Juni 2013. Amerikanische Telefongesell-
schaften wurden dadurch verpflichtet, Ver-
bindungsdaten zu sammeln und der NSA
weiterzugeben. Seit 2015 geschieht dies nur
noch auf Anfrage der NSA nach bestimmten
Telefonnummern und nicht mehr generell
für alle Auslandsgespräche. (hir.)
Lastwagen von Tesla kommt
dieses Jahr nicht
Der Elektrolastwagen von Tesla wird, anders
als von Firmenchef Elon Musk angekündigt,
noch nicht dieses Jahr in Produktion gehen.
Das erklärte der Tesla-Manager Jérôme Guil-
len diese Woche an einer Pressekonferenz.
Tesla verspricht eine Reichweite von bis zu
800 Kilometern und eine Beschleunigung
von 0 auf 100 km/h in 5 Sekunden. Mit der
Produktion dauert es ein bisschen länger –
mindestens bis 2020. (hir.)
Mensch& Medizin
Abwarten ist manchmal
besser als operieren
Die meisten Eierstockzysten sind harmlos und verschwinden von selber. Es genügt,
sie regelmässig zu beobachten, sagt eine neue Studie. Von Gerlinde Felix
E
ntdeckt die Gynäkologin beim
Abtasten oder im Ultraschall
zufällig eine Zyste am Eierstock,
sind viele Frauen erst einmal
verunsichert. Dieser flüssigkeits­
gefüllte Hohlraum gilt als
Tumor, der aber in 98 Prozent der Fälle gut­
artig ist. Aber 98 Prozent sind keine 100 Pro­
zent – ein Restrisiko besteht.
Eierstockzysten, Ärzte sprechen auch von
Ovarialzysten, treten bei geschlechtsreifen
Frauen oft auf und können ganz unter­
schiedlicher Art sein. Zumeist sind sie nur
einige Zentimeter gross und verursachen
deshalb keine Beschwerden.
Es gibt aber auch gutartige Ovarialzysten,
die eine Grösse von über 15 Zentimetern
erreichen. So grosse Zysten können Schmer­
zen verursachen und mit eher seltenen Risi­
ken einhergehen. Der Eierstock kann sich um
seine Befestigung drehen, im Fachjargon
Ovarialtorsion genannt. Ausserdem kann
die Zystenwand reissen – das Risiko einer
Blutung und einer Bauchfellentzündung ist
dann erhöht.
Eine Ovarialtorsion kann zu einer Minder­
durchblutung und einem Verlust des Eier­
stocks führen. «Deshalb ist eine umgehende
Bauchspiegelung nötig, um Letzteres zu
verhindern», sagt Daniel Fink, Direktor der
Klinik für Gynäkologie am Universitätsspital
Zürich. «Bei einer Zystenruptur ohne Blu­
tung kann eine Bauchspiegelung häufig
umgangen werden.»
In den Wechseljahren
Eierstockzysten treten oft kurz nach der
Pubertät oder in den Wechseljahren auf und
bilden sich nach ein paar Wochen spontan
zurück. Zum Grossteil entstehen sie infolge
der normalen, durch körpereigene Hormone
bedingten Veränderungen am Eierstock. Ein
Beispiel hierfür ist die zyklusbedingte Zyste
des Eibläschens, die sogenannte Follikel­
zyste. Auch eine Hormontherapie kann
flüssigkeitsgefüllte Hohlräume verursachen.
«Erkrankungen wie das polyzystische
Ovarsyndrom und die Endometriose sowie
bestimmte hormonelle Verhütungsmetho­
den wie zum Beispiel die Gestagenspirale
können ebenfalls mit einem Risiko für Ova­
rialzysten einhergehen», sagt Fink.
Da sich etwa 2 Prozent der Eierstockzysten
zu bösartigen Tumoren entwickeln, stellt
sich beim Entdecken der Zyste die Frage,
ob es nötig ist, sie chirurgisch zu entfernen.
«Es gibt verschiedene Kriterien, nach denen
bei einer Ultraschalluntersuchung zum Bei­
spiel die Zystenform und ihr Inhalt beurteilt
Bessere Ernährung rettet Leben
Bei Spitalpatienten ist eine
gute Ernährung ebenso
wirksam wie eine
medikamentöse Therapie.
Von Annegret Czernotta
Jeder zweite bis dritte Patient in Schweizer
Spitälern hat ein Risiko für Mangelernäh­
rung. Diese ist eng verbunden mit Komplika­
tionen und hoher Sterblichkeit. Daten einer
kürzlich im Fachjournal «Lancet» publizier­
ten Studie zeigen, dass eine systematische
Erfassung von Patienten auf Mangelernäh­
rung und eine Ernährungstherapie einen
positiven Effekt auf den Verlauf der Erkran­
kung haben können. «Pro 25 behandelte
Patienten konnte eine schwere Komplikation
wie eine Infektion und pro 37 behandelte
Patienten ein Todesfall vermieden werden»,
sagt Philipp Schütz, Chefarzt Allgemeine
Innere und Notfallmedizin am Kantonsspital
Aarau sowie Studienleiter.
Für die Studie wurden 5015 Patienten
aus verschiedenen Schweizer Spitälern ge­
Mehrere kugel- werden», sagt Fink. In ausgewählten Fällen
förmige Eierstock- kann die zusätzliche Bestimmung sogenann­
zysten in einer ter Tumormarker wie des CA-125 im Blut
mikroskopischen hilfreich sein.
Abbildung.
Regelmässig Ultraschall
Eine grosse internationale Studie («Interna­
tional Ovarian Tumor Analysis») untersucht
derzeit in 14 Ländern und bei 8519 Patien­
tinnen mit Ovarialzysten, ob Zysten entfernt
werden sollten oder ob es besser ist, abzu­
warten und regelmässig zu beobachten.
Dazu wurden die Teilnehmerinnen im ersten
Jahr alle drei Monate, danach jährlich unter­
sucht. Die ersten Zwischenergebnisse
wurden kürzlich im Fachmagazin «Lancet
Oncology» veröffentlicht. «Sie bestätigen,
dass nicht jede unauffällige Ovarialzyste
gleich operiert werden muss», sagt Fink.
screent. Ziel war es, den Nutzen der Ernäh­
rungstherapie bei akut kranken medizini­
schen Patienten zu beweisen. Es ist die welt­
weit erste grossangelegte Untersuchung zu
diesem Thema. Mangelernährung ist defi­
niert als eine einseitige oder nicht ausrei­ Es sind nur
chende Ernährung mit Gewichtsverlust und 200 bis 250
negativer Auswirkung auf den Gesundheits­ Kalorien mehr
zustand des Patienten. pro Tag, die der
1050 Patienten erhielten ein individuell Patient isst.
festgelegtes Ernährungsziel mit festgelegter Aber diese
Kalorienzahl und festgelegter Menge an
Eiweissen sowie ein Multivitaminsupple­
Menge macht
ment. «Insgesamt wurde konsequent den Unter-
ernährt, aber nicht aggressiv zum Essen schied.
angehalten», sagt Schütz. 1038 Patienten
dienten als Kontrollgruppe. Sie assen nach
Appetit, ohne Anreicherung der Nahrung
mit Proteinen und ohne Ernährungs­
supplemente.
Bisher war unklar, ob eine systematische
Erfassung von Patienten bezüglich Mangel­
ernährung und eine Ernährungstherapie
einen positiven Effekt auf den Verlauf der
Erkrankung haben können. Die Resultate
zeigen, dass die Wirksamkeit eindeutig und
mit der eines Medikaments vergleichbar ist.
55
Beule am
Oberarm
Diagnose
P. M. MOTTA / S. MAKABE / SCIENCE PHOTO LIBRARY / KEYSTONE
Andrea Six
S
o etwas hat der alte Mann noch
nie erlebt. Der 83-Jährige hat
viel gesehen in seinem Leben,
aber diese kartoffelgrosse
Beule an seinem Oberarm, die
explosionsartig erscheint,
kann er sich gar nicht erklären. Es geht
ihm ohnehin nicht gut – er leidet an
einer Lungenentzündung, die im Spital
behandelt wird. Besorgt ruft er nach
seinem Arzt.
Der Mediziner war bis heute sehr
zufrieden mit seinem Patienten. Die über
den Tropf verabreichten Antibiotika
haben gut angeschlagen, und der Mann
sollte sich eigentlich besser fühlen. Statt­
dessen klagt er über die Beule, die mit
einem plötzlichen Schmerz verbunden
aufgetaucht ist.
Vorsichtig tastet der Mediziner die
Schwellung innen in der Mitte des Ober­
arms ab. Es scheint sich nicht um eine
Blase mit Flüssigkeit zu handeln, so viel
ist klar. Ultraschallbilder sollen mehr
Aufschluss geben.
Und tatsächlich lässt sich auf dem
Monitor ganz deutlich erkennen, was die
Haut am Arm aufwölbt: Der Bizeps des
83-Jährigen ist von seiner oberen Befesti­
gung abgerissen und Richtung Ellenbogen
geschnalzt. Da die Sehne unter Spannung
steht, hört man bei der sogenannten
Bizepssehnenruptur manchmal ein peit­
schenknallartiges Geräusch. Dem Patien­
ten ist dies jedoch nicht aufgefallen.
«Die Zwischenergebnisse belegen, dass das Bei älteren Menschen kann die Sehne
in der alltäglichen gynäkologischen Praxis des Muskels reissen, wenn Vorschädi­
bereits etablierte Vorgehen richtig ist. Das ist gungen vorliegen oder begünstigende
ziemlich beruhigend.» Faktoren wie zum Beispiel Diabetes oder
Dennoch bleibt ein gewisses Restrisiko, die Einnahme bestimmter Medikamente
weshalb regelmässige Ultraschall­ zusammenkommen. Für den 83-Jährigen
untersuchungen erfolgen sollten. «Ist eine treffen einige dieser Faktoren zu, und
Eierstockzyste verdächtig oder ist nicht der Muskel ist an seinem unteren Ende zu
eindeutig beurteilbar, ob sie gut­ oder bös­ einer Kugel zusammengeschnurrt, was
artig ist, dann sollte sie entfernt werden», dem Erscheinungsbild den Namen «Pop­
sagt Fink. Ist die Zyste gutartig, verursacht eye­Zeichen» eingebracht hat.
aber Beschwerden, ist ebenfalls ein Eingriff Ob eine Operation nötig ist, müssen
nötig. «Auch wenn dessen Risiken nur klein weitere Tests zeigen. Häufig über­
sind, sollte die Operationsindikation jedoch nehmen andere Muskeln die Arbeit der
stets gut überlegt werden. Wiederholte gerissenen Sehne.
Eingriffe am Eierstock können nämlich
unerwünschte Folgen wie eine gestörte Quelle: «Emergency Medicine Journal»,
Hormonproduktion haben oder die Frucht­ 2019, Bd. 36, S. 148.
barkeit beeinträchtigen», sagt Fink.
News
Frauen unterschätzen eigenes
Schnarchen
Aspirin kann beispielsweise einen von 42 Schnarchen bringt man mit dem männlichen
Patienten nach einem Herzinfarkt vor dem Geschlecht in Verbindung – zu Unrecht, wie
Tod bewahren. Mit einer vermiedenen Kom­ Forscher zeigen. Sie untersuchten 1913 Per­
plikation pro 25 Menschen und einem vermie­
denen Todesfall pro 37 Patienten ist die Wirk­
sonen, die wegen einer Schlafstörung an ein
Schlaflabor überwiesen wurden («Journal
samkeit der Ernährung überaus hoch. «Dabei of Clinical Sleep Medicine»). 93 Prozent der
sind es nur 200 bis 250 Kalorien mehr pro Männer gaben an zu schnarchen, was mit der
Tag, die der Patient isst», sagt Schütz. «Aber objektiven Messung übereinstimmte. Von
diese Menge macht den Unterschied aus.» den Frauen glaubten 72 Prozent, dass sie
Die Studie zeigt auch, dass der physiologi­ schnarchen. In Wahrheit waren es jedoch
sche Grundreflex, bei Krankheit nichts zu 88 Prozent. Frauen unterschätzten zudem
essen – etwa wenn ein Gesunder an Grippe die Lautstärke des nächtlichen Lärms.
erkrankt – gut ist. Aber bei chronisch Kran­ Mit durchschnittlich 50 Dezibeln waren sie
ken sei dies anders, sagt Schütz. Dort gerät fast so laut wie die Männer (52 dB). (tlu.)
jemand in einen Teufelskreis von Muskel­
und Gewichtsverlust und damit einher­
gehenden Komplikationen. «Deshalb
müssen wird diesen Teufelskreis bereits
im Spital unterbrechen.»
Dies gelingt allerdings nur, indem man
hospitalisierte Patienten auf eine Mangel­
ernährung hin untersucht und sie behandelt.
«Richtig essen ist wie eine Behandlung», sagt
Schütz. Heute wird im Spital aber meist nur
die Grundkrankheit behandelt, die Mangel­
ernährung nicht. Das könnte sich nun durch
die Studie vielleicht ändern.
Für Napoleon,
der teilen hasst.

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MICHAEL POEHN
TONI SUTER / T+T FOTOGRAFIE
Stolzer Theatertempel, selten bespielt: Der Schiffbau in Zürich.
Schiffbruch
Im Herbst tritt die neue Leitung des Schauspielhauses Zürich an. Höchste Zeit, den Schiffbau
wieder auf Touren zu bringen – und sein Potenzial auszuschöpfen. Von Christian Gerig
A
n 39 Tagen war die Halle
des Schiffbaus in der
Spielzeit 2017/2018 durch
Veranstaltungen des
Schauspielhauses belegt.
An 326 Tagen war die
Halle durch das Schau-
spielhaus also nicht bespielt – abgesehen
von Proben und Auf- und Abbauen von
Kulissen. Am Pfauen sind es 241 Tage.
«Der Pfauen ist die Cash-Cow, der Schiff-
bau der Verlustbringer», sagt Norbert
Müller, Stabchef Stadtrat der Stadt Zürich.
Die tiefere Rentabilität des Kulturtempels
in Zürich-West sei vor allem Resultat von
weniger Plätzen und technisch bedingt
höheren Produktionskosten, so Müller.
Knapp eine Million Franken fliessen aus
dem Verkauf der 28 000 Schiffbau-Tickets
in die Kasse des Schauspielhauses. Das
reicht nicht einmal für die Bezahlung des
bereits subventionierten Mietzinses.
Seit der Eröffnung im Jahr 2000 haben
sich die Zuschauerzahlen im Schiffbau hal-
biert. Mit der Erweiterung des ausdrücklich
als «Werk- und Probezentrum» geplanten
Standortes zum zusätzlichen Spielort
war ein Überangebot an Theaterplätzen
geschaffen worden. Unter der Direktion
von Christoph Marthaler (2000 bis 2004)
gingen diese Überkapazitäten zulasten
seiner Pfauen-Bühne. Den Einbruch der
Mut zum Widerspruch
Dirigent Franz Welser-
Möst vermisst in der
Kultur das Risiko 62
Zuschauerzahlen des «Pupperltheaters», wie
Marthaler den Pfauen nannte, als Folge der
Fokussierung der Vorstellungen auf den
Schiffbau nahm man in Kauf. Nach dem
Abgang Marthalers entsann sich der Subven-
tionsgeber, die Stadt, wieder des finanziellen
Potenzials der Pfauen-Gänger.
Unter den Marthaler-Nachfolgern Andreas
Spillmann, Matthias Hartmann und Barbara
Frey trat der Pfauen wieder in den Vorder-
grund. Mit Erfolg: Über 80 Prozent der Thea-
terkarten wurden in der vergangenen Spiel-
zeit am Pfauen verkauft. Vorher waren es
zwischen 56 und 65 Prozent.
Zu wenig Theaterinteressierte
Schon vor 20 Jahren hatte man die Über-
kapazitäten als Folge des zusätzlichen Spiel-
ortes prophezeit. Deshalb wurde noch vor
Eröffnung des Schiffbaus vereinbart, die
Nutzung der Halle durch das Schauspielhaus
auf wenige, vor Beginn der Spielzeit kommu-
nizierte Wochen zu beschränken.
Gleichzeitig sollte damit externen Dritten
die Möglichkeit geboten werden, Halle und
Foyer für Tanz, «Off-Broadway»-Theater,
Fotoausstellungen, Musikveranstaltungen
zu nutzen und so einen Beitrag zur Amortisa-
tion der Kosten zu leisten. Im Vorfeld des
Erwerbs von 65 Prozent des Schiffbaus durch
die Stadt im Jahr 2010 versuchte die FDP in
einem politischen Vorstoss, einer Weisung,
Existenzielle Malerei
Schweizer Kunst der
1980er Jahre begeistert
junge Menschen 61
Nach dem Abgang
Marthalers entsann sich
der Subventionsgeber,
die Stadt, wieder des
finanziellen Potenzials
der Pfauen-Gänger.
die «zu vage» Formulierung «... die Fremd-
vermietung der Hallen [dürfe] die Identität
der Schiffbauhalle als Teil des Schauspiel-
hauses nicht verwässern» zu verschärfen:
Mindestens «Musicals und Tanztheater»
müssten «explizit erwähnt werden», denn
sie würden «die Identität der Schiffbauhalle
nicht verwässern». Davon wollten Stadt und
Verwaltungsrat des Schauspielhauses nichts
wissen. Ein zentraler Grundsatz der Kultur-
förderung sei die Freiheit der unterstützten
Institutionen, liess sich Kulturchef Peter
Haerle jüngst zitieren. Es sei gut und richtig,
dass die Politik und die Verwaltung den Kul-
turinstitutionen keine Vorschriften machen.
Statt der wirtschaftlich angezeigten Öff-
nung für andere kulturelle Veranstalter
wählte Haerle den entgegengesetzten Weg:
Mit dem Verkauf der Schiffbau-Immobilie an
die Stadt wurde 2013 auch gleich die Bewirt-
schaftungshoheit der Schiffbauhalle durch
die künstlerische Direktion des Schauspiel-
NZZ am Sonntag 28. April 2019
57
hauses als Morgengabe draufgepackt. Die
Intendanz der Schauspielhaus Zürich AG
entscheidet allein, wer den künstlerischen
Kriterien genügt und passend ist für die
Nutzung der Halle. Es seien oft Anfragen
hereingekommen, sagt Ernst Jäggli, frühe-
rer kaufmännischer Direktor des Schau-
spielhauses. Oft sei es «nicht unbedingt nur
der Slot» gewesen, der nicht gepasst habe,
sondern das «künstlerische Niveau» des
Antragstellers.
Arroganz des Schauspielhauses
«Die Haltung des Schauspielhauses», sagt
Marcel Müller, Verwaltungsdirektor von
1991–2002, «ist schon immer von grosser
Arroganz gekennzeichnet gewesen gegen-
über den anderen Nutzern, eine Herr-im-
Haus-Attitüde als Resultat einer grund-
sätzlichen Haltung der damaligen und auch
späterer Intendanzen.» Die ehemalige
Chefdramaturgin von Christoph Marthaler,
Stephanie Carp, sagte damals gar: «Geld
interessiert nicht.»
Eine hohe Eigenwirtschaftlichkeit,
analog zum Opernhaus, war nie die Vor-
gabe, für genügend flüssige Mittel war die
Stadt Zürich zuständig. Marcel Müller sagt:
«Das Schauspielhaus kann sich diese
anmassende und dünkelhafte Haltung nur
Fortsetzung Seite 59
58 NZZ am Sonntag 28. April 2019

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Avengers: Endgame 2D: 2.30/7.30 D The Sisters Brothers 4.10 E/d/f
3D: 2.45/7.45 E/d/f 5.45 D Wolkenbruch 4.20 D/Jidd/d/e
Ein letzter Job – King of Thieves 5 E/d/f On the Basis of Sex 6.30 E/d/f
Niemandsland – The Aft f ermath 5 E/d/f Zwingli 9 Dial/e
On the Basis of Sex 5 E/d/f Wie gut ist deine Beziehung? 9.10 D
Der Fall Collini 8 D The Old Man & the Gun 9.20 E/d/f
Green Book 8 D Kosmos 1–6 kosmos.ch
Maxx 1–8 kitag.com RBG – Ein Leben für die Gerechtigkeit 11/1.30/6/9 E/d/f
Asterix und das Geheimnis des Zaubertranks 11.15/3.45 D
Monsieur Claude 2 2/8 D Die Reise des Bashô 11.15 D
Willkommen im Wunder Park – 3D 2 D Chair Times 11.30 Ov/d
Asterix und das Geheimnis des Zaubertranks 2.15 D Il mangiatore di pietre 11.30/4.20 I/d
Avengers: Endgame 2D: 2.15/5.30/7.45 D Sohn meines Vaters 12.45 D
3D: 2.30/2.45/5.45/7.30/8 D Van Gogh – At Eternity’s Gate 1.15/3.45/6.15/8.45 E/d/f
3D/4DX: 2.30/7.30 D Doubles vies – Zwischen den Zeilen 1.30/6 F/d
Dumbo – 3D 2.45 D Gloria Bell 1.45/6.20/8.45 E/d/f
Aft
f er Passion 5/8 D Die sagenhaft f en Vier 1.55 D
Der Fall Collini 5 D Bohemian Rhapsody 3 E/d/f
Moderne kitag.com Wildlife 3.55/8.50 E/d/f
Berlin Bouncer 4.10 D
Avengers: Endgame 2.30/7.30 E/d/f The Sisters Brothers 6.15 E/d/f
stattkino stattkino.ch Tel Aviv on Fire 6.45 Arab/Hebr/d/f
On the Basis of Sex 8.20 E/d/f
Burning Hope 11 Arab/d Green Book 8.30 E/d/f
Amal 4 Arab/d/f
Passion – Zwischen Revolte und Resignation 6.30 D Metropol 1+2 kitag.com
Les chatouilles 8.15 F/d Avengers: Endgame – 3D 2/2.30/7.15/8 E/d/f
Verkehrshaus Filmtheater filmtheater.ch Riffraff 1–4 riffraff.ch
Ägypten 11 D/f/i/e Luzern der Film_Kopf oder Zahl 11 Dial/D/d

2. Mai –2. Juni

Wild Africa – 3D 12/4 D/f/i/e Kalank 11.20 Hindi/d
Oceans – 3D 1/5 D/f/i/e Ceux qui travaillent 11.40 F/d
America’s Music 2 D/f/i/e Tscharniblues II 12.10/4.20 Dial/d/f
Wild America 3 D/f/i/e Nuestro tiempo 1.50/8 Sp/d/f
Architektur der Unendlichkeit 2.20 Ov/d/f
st. Gallen Mid90s 2.40/4.40/6.40/9 E/d
Gateways to New York 3/5/7 Ov/d/f
Cinedome 1–8 kitag.com Green Book 5.20 E/d/f
Avengers: Endgame 3D: 2/5.45/7.30/8
2D: 2.30/6.15/7.45
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Us 8.40 E/d/f
Dumbo 2 D Ash is Purest White 9 Ov/d/f
Ostwind 4 – Aris Ankunft f 2.15 D
Willkommen im Wunder Park – 3D 2.15 D Stüssihof 1+2 stuessihof.ch
f er Passion
Aft 2.45/5.45/8.45 D Die sagenhaftf en Vier 1.30 D
Monsieur Claude 2 2.45/5.15/8.30 D Minuscule 2 – Abenteuer in der Karibik 1.45 D
Asterix und das Geheimnis des Zaubertranks 3 D Shazam! 3.45/8.30 E/d/f
Green Book 5 D Die Wiese 4 D
Der Fall Collini 5.30 D Alita: Battle Angel 6 E/d/f
Shazam! – 3D 8.15 D Die Reise des Bashô 6.30 D
Iron Sky: The Coming Race 8.30 E/d
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Behind Me – Bruno Ganz 10.30 D Xenix xenix.ch
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Ihr Kinoprogramm im Internet: www.movies.ch
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Kultur 59

FeigerAntisemitismus
Unser Autor erhielt einen anonymen Brief, in dem kritisiert wurde, dass alle für die Sicherheit der Juden in
der Schweiz bezahlen müssen. Eine Antwort muss sein, da viele Leute so denken. Von Charles Lewinsky

L
ieber Herr... Nein, wir wollen nicht

ENNIO LEANZA / KEYSTONE

Ich stocke schon bei der
Anrede. Denn lieb sind wir
zwei uns ganz bestimmt nicht,
und das übliche «Sehr geehr-
ter» würde mir in Ihrem Fall als
Lüge vorkommen. Warum
sollte ich Sie ehren, wo doch alle Juden – «Sie
und Ihresgleichen» nennen Sie das – in Ihren
Augen unehrenhaft sind? Nicht einmal bei
dem Namen, mit dem Sie unterschrieben
haben, bin ich mir sicher. Auch unterschrie-
bene Briefe können anonym sein.
Sie haben sich grosse Mühe gegeben, als
Absender Ihres Pamphlets unerkannt zu
bleiben. Haben sich eine Buchhandlung aus-
gesucht, in der eine Lesung von mir ange-
kündigt war, und sind einen Tag vorher hin-
gegangen, um einen Brief abzugeben. Sie
könnten bei der Lesung leider nicht dabei
sein, haben Sie gesagt, und ich kann gut ver-
stehen, dass Sie das nicht konnten. Die per-
sönliche Feigheit, die sich oft mit grossspre-
cherischem Antisemitismus verbindet, ist
bestimmt nur schwer zu überwinden.
Warum antworte ich Ihnen trotzdem? Weil
Sie nicht der Einzige mit den Vorurteilen
sind, auf denen Ihr Brief basiert. Alle Juden,
meinen Sie – ich und meinesgleichen, um es
mit Ihren Worten zu sagen –, sind nur an
Geld interessiert und verwenden auch die
hinterhältigsten Tricks, um es sich zu
beschaffen. Das Beispiel, das Sie sich dafür
ausgesucht haben, ist typisch, und vielleicht
kann die Darstellung der Tatsachen beim
einen oder anderen etwas bewirken. Aller-
dings nicht bei Ihnen, befürchte ich. Ihr
Antisemitismus scheint mir in der Wolle
gefärbt, und manche Brauntöne sind nun
einmal nicht auszuwaschen.
Was Sie zum Schreiben gedrängt hat, war
eine Aussage, die ich in einem Zeitungsinter-
view gemacht habe. Ich hatte es als unange-
nehm geschildert, dass ich beim Besuch des
jüdischen Gemeindehauses jedes Mal eine
doppelte Sicherheitsschranke passieren
muss – eine leider notwendige Schutzmass-
nahme, da Gewaltdrohungen gegen jüdische
Einrichtungen nicht nur häufig, sondern
leider auch real sind.
Für Sie ist dieses Sicherheitskonzept nur
ein Trick, um durch geschicktes Einnehmen
der Opferrolle öffentliche Gelder abzukassie-
ren. «Ja, wer hat denn diese Schleusen ver-
langt?», schreiben Sie mir. «Wer muss jetzt
das Ganze auch noch bezahlen? Es sind die
Schweizerbürger...»
Nein, sie sind es eben nicht. Seit vielen
Jahren mussten die Sicherheitsmassnahmen
Die Zürcher Synagoge anlässlich des 80. Jahrestags der sogenannten Reichskristallnacht. (8. November 2018)
der grössten jüdischen Gemeinde Zürichs
allein von deren Mitgliedern getragen
werden. Hunderttausende von Franken, die
für die eigentlichen Aufgaben einer
Gemeinde wie den Kindergarten oder die
Bibliothek dann fehlten. Wenn ich und
meinesgleichen wirklich so geldgierig wären,
wie Sie sich uns vorstellen, wären wir schon
lang aus dieser kostspieligen Gemeinde
ausgetreten.
Immerhin, seit einiger Zeit scheint sich
auch bei den Behörden die Erkenntnis
durchzusetzen, dass der Schutz seiner
Bürger ja eigentlich Aufgabe des Staates sei.
Nachdem die Fachstelle für Rassismus des
Bundes noch 2016 in einem Bericht an den
Bundesrat die Meinung vertreten hatte, die
Schweizer Juden sollten zu ihrem eigenen
Schutz doch einfach eine Stiftung gründen.
Weil Juden in ihrer bekannten Geldgier das
ja leicht finanzieren können.
Falls Ihre Vorurteile so eine Überlegung
überhaupt zulassen: Würden Sie denselben
Sammelband zum neuen Judenhass
Eine Bedrohung kehrt zurück
«Neuer Antisemitismus?» ist der
Titel der erweiterten Neuauf-
lage des vor 15 Jahren erschie-
nenen Buches. Es wurde publi-
ziert, weil heute wahr geworden
ist, was 2004 noch umstritten
war: Es gibt einen neuen Anti-
semitismus. Aber was ist das
überhaupt? Das fragen die Her-
ausgeber Doron Rabinovici und
Natan Sznaider. Und: «Wer sind
diese Juden, denen vieles so
übel genommen wird?» 18 Auto-
rinnen und Autoren nehmen
sich dieser Fragen an und skiz-
zieren in ihren Aufsätzen ein
umfassendes Bild davon, wie
eine neue Saga
begründen. Nein, wir
wollen dem Staat nicht
durch eine Opfermär
Geld abpressen.
Brief geschrieben haben, wenn sich eine
katholische oder eine protestantische
Einrichtung in gleicher Weise vor Gewalt-
drohungen schützen müsste?
Wir verlangten eine Sonderbehandlung,
und «gibt der Staat nicht nach, kommt wie
immer bei jeder passenden und unpassen-
den Gelegenheit die Antisemitismuskeule».
Jüdische Bürger seien nicht mehr gefährdet
als andere, schreiben Sie. Lesen Sie keine
Zeitungen? Hören Sie keine Nachrichten? Die
Bedrohung der jüdische Gemeinden ist
leider real. Sie ist sogar in den letzten Jahren
noch wesentlich gestiegen. Weil es immer
mehr Leute gibt, die eine Opferrolle für
Juden durchaus angebracht finden.
Absolute Sicherheit, schreiben Sie, könne
es für niemanden geben, und wenn Sie am
Gemeindehaus vorbeigingen, fühlten Sie
sich trotz Bombendrohungen nicht unsiche-
rer als anderswo. Wirklich, Herr Anonymus?
Würden Sie auch sorgenlos durchs Quartier
flanieren, wenn Ihnen die Post gerade einen
Brief gebracht hätte – einen anonymen,
natürlich –, in dem gedroht wird, Ihnen die
Kehle durchzuschneiden? Wenn man Ihnen
versprochen hätte, Sie in Ihrem Bett tot-
zuschlagen – würden Sie trotzdem Ihre
Wohnungstür offenlassen? Würden Sie
nicht zumindest den Schlüssel im Schloss
drehen? Sie, der Sie nicht einmal den Mut
haben, unter einen Schmähbrief Ihre
der Judenhass sich seit der Adresse zu setzen?
Shoah gewandelt hat und in den Nein, wir wollen nicht, wie Sie schreiben,
USA und Europa zur neuen eine neue Saga begründen. Nein, wir wollen
Bedrohung geworden ist. Judith dem Staat nicht durch eine Opfermär Geld
Butler beispielsweise schreibt abpressen. Wir wollen uns nur vor Menschen
über Antisemitismus und schützen, deren Vorurteile Sie wohl teilen,
Rassismus, Matthias Küntzel auch wenn sich Ihre eigenen judenfeind-
darüber, wie der Nationalsozia- lichen Aktivitäten aufs Briefeschreiben
lismus den Judenhass in der beschränken.
arabischen Welt gefördert hat, Der letzte Satz Ihres Briefes lautet: «Es
Monika Schwarz-Friesel über wird nicht lange dauern, und wir dürfen
Antisemitismus online. (dbc.) auch noch ‹wiedergutmachen›.» Ich will
nicht einmal versuchen, diesen Gedanken
Neuer Antisemitismus? Fortsetzung durch Argumente zu entkräften. Gegen
einer globalen Debatte. Von Ch. Heil- antisemitische Dummheit ist nun einmal
bronn, D. Rabinovici, N. Sznaider kein Kraut gewachsen.
(Hrsg.). Suhrkamp 2019. Charles Lewinsky

Schiffbruch wurde immer spärlicher bespielt, der Mehr- Stadtteils von Zürich zu werden: Die Stadt
TONI SUTER / T+T FOTOGRAFIE

Fortsetzung von Seite 57
deswegen leisten, weil es – abgesehen vom
Burgtheater in Wien – das mit öffentlichen
Geldern bestausgestattete Theater des deut-
schen Sprachraums ist.» Alle vier ehemaligen
kaufmännischen Direktoren des Schauspiel-
hauses sind sich in einem Punkt einig, sie
wiederholen im Gespräch den Satz: «Das
Schauspielhaus schwimmt im Geld.»
Aus dem operativen Business kommt
dieser Geldsegen nicht: Gerade mal 20 Pro-
zent des Betriebsertrages sind selbst erwirt-
schaftet. Der Blick in die Geschäftsberichte
der Schauspielhaus AG erklärt die Gelassen-
heit, mit der kaufmännische und künstleri-
sche Direktionen den rückläufigen Besucher-
zahlen der Bühnen in Zürich-West seit Jahren
zuschauen. Sämtliche Abschlüsse bei
anfangs voller und mittlerweile weniger
voller Schiffbauhalle weisen fast immer
den gleichen «Erfolg» aus: eine knappe
schwarze Null.
Die ausgeglichenen Zahlen basieren auf
einem Budget aus dem Jahr 2002. Durch
minuziöse Berechnung des zusätzlichen
Bedarfes an technischem Personal präsen-
tierte der damalige kaufmännische Direktor
Marcel Müller den Verantwortlichen einen
Mehrbedarf an 28,4 Stellen. Schauspielhaus
und Stadt nickten, und das Volk stimmte
einer personalbedingten Erhöhung der jähr-
lichen Subventionen von fast drei Millionen
Franken zu. Nur: Laut Müller wurden die
Stellen nicht geschaffen, denn der Schiffbau
bedarf beruhte auf den Annahmen eines
Theaterbetriebs, der zwar vereinbart, aber
weder von Marthaler noch von seinen Nach-
folgern je praktiziert wurde. Das Schauspiel-
haus will sich dazu jetzt nicht äussern.
So blieben die buchhalterisch ausgewiese-
nen Aufwände für das technische Personal
konstant bei rund 11 Millionen jährlich.
Die zusätzlichen Millionen? Wer retourniert
schon freiwillig zugewiesene Mittel? Das
Schauspielhaus konnte seit 2003 bis heute
kumuliert fast 20 Millionen Franken anhäu-
fen, den Rückstellungen zuweisen oder auf
diesem Weg die stetig sinkenden Zuschauer-
einnahmen kompensieren.
Subventionierte Gratiseintritte
Ein Teil dieser Summe war zumindest zeit-
weise dazu verwendet worden, Gratisein-
trittskarten zu finanzieren und so den konti-
nuierlichen Zuschauerschwund zu kaschie-
ren, kulturpolitische Relevanz zu simulieren
und die Subventionen zu rechtfertigen. Noch
heute – sagt das Direktionsmitglied eines
renommierten Kulturinstituts, das nicht
genannt werden will – werde man regelmäs-
sig mit Gratistickets für beste Plätze und
Die vier ehemaligen
kaufmännischen
Direktoren sind sich
einig: «Das
Schauspielhaus
schwimmt im Geld.»
Premieren-Einladungen des Schauspielhau-
ses geradezu bombardiert.
Zürich hätte allen Grund, stolz zu sein auf
den Schiffbau. Er ist als herausragende
Zweitspielstätte des Schauspielhauses inte-
graler Bestandteil des kulturellen Lebens
der Stadt. Als Teil des Service public erhält
das Schauspielhaus zu Recht jedes Jahr
40 Millionen Schweizer Franken in Form von
Subventionen von Stadt und Kanton, inklu-
sive der jährlich gesprochenen zwei Millio-
nen Franken aus dem Lotteriefonds.
Zeit und Gelegenheit für ein Überdenken
des Konzeptes wären günstig: In diesem
Sommer übernehmen zwei neue Intendan-
ten das Ruder im Schauspielhaus. Gleich-
zeitig wächst für den Schiffbau das Poten-
zial, Zentrum eines spannenden neuen
hat die Rahmenbedingungen geschaffen,
damit auf den benachbarten Arealen innova-
tive Projekte realisiert werden können.
Gute Idee, chaotisch umgesetzt
Im Umfeld von Stadt und Schauspielhaus
herrscht heute nach Aussage von Ruedi
Noser, FDP-Ständerat des Kantons Zürich
und Verwaltungsratsmitglied des Schau-
spielhauses, eine Atmosphäre des Vertrau-
ens, der Stabilität und des Willens, dem
Schiffbau wieder zu dem Renommee zu
verhelfen, das ihm gebührt. «Die Geschichte
des Schiffbaus kann man in zwei einfachen
Sätzen zusammenfassen: Man hatte eine
gute Idee, man hat sie sehr chaotisch umge-
setzt, es gab grosse politische Verwerfungen,
und man hat die Idee gerettet und stabilisiert
in den letzten Jahren. Aber indem man sie
Das Foyer im stabilisiert hat, hat man sie auch ein bisschen
Schiffbau lädt blutleer gemacht», resümiert Noser.
vor und nach dem Das notwendige «Blut-Doping» beinhaltet
Theaterbesuch laut Noser eine Änderung des Nutzungs-
zum Verweilen ein. konzeptes: «Man hat mit dem Schiffbau die
einmalige Chance, von morgens 6 Uhr bis
nachts um 1 Uhr für Betrieb zu sorgen. Der
Vorwurf stimmt: Das wird heute zu wenig
gemacht.» Dazu brauche es Veränderungen
organisatorischer Natur. So, wie die Organi-
sation heute sei, hänge das Programm
tatsächlich von den Vorlieben der Intendanz
des Schauspielhauses ab. «Ich glaube, dahin-
ter kann man zu Recht ein Fragezeichen
machen.» Ein vielfältig genutzter Schiffbau
mit mehr Fremdvermietungen brächte dem
Schauspielhaus mehr Geld – und mehr
Akzeptanz für die hohen Subventionen.
60 NZZ am Sonntag 28. April 2019

Veranstaltungen

OPER T H E AT E R KO N Z E R T Das «NZZ Folio»

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Mi 1. Mai, 19.00, Pfauen. Justiz nach
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Lernen
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Dez. 2018 / Jan. 2019
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Über die Masslosigkeit des Massentourismus.
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Von Heimweh, Ohrfeigen und unschuldigen
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Nur solange Vorrat reicht
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Faszinieren heute aufs Neue: Rohe Malerei und drastische Szenen von Martin Dislers «Die Umgebung der Liebe» (Ausschnitt).
GierigaufsLeben
Das Bündner Kunstmuseum in Chur zeigt eine monumentale Bildarbeit von Martin Disler und begeistert
damit junge Besucher. Diese existenzielle Malerei trifft heute einen Nerv, schreibt Gerhard Mack
A
uf dem Boden sitzen Schüle-
rinnen und Schüler. Eine
Gruppe diskutiert mit ihrem
Lehrer. Andere sind über ihre
Zeichenblöcke gebeugt. Wei-
tere liegen auf dem Boden und
schauen einfach auf die Wände gegenüber.
«So ist das hier fast immer», sagt Stefan
Kunz. Der Co-Direktor des Bündner Kunst-
museums in Chur scheint selbst überrascht
zu sein und erzählt von jungen Theater-
machern: Einer von ihnen kam zufällig vom
Stadttheater herüber, am nächsten Morgen
war die halbe Truppe da und wollte fast nicht
mehr gehen. Was sie so beeindruckt hat, ist
die Ausstellung, die Kunz mit viel Diplomatie
und Energie nach Chur geholt hat.
Rings um den grossen Ausstellungssaal im
Untergeschoss zieht sich ein Wandbild voller
harter Farben und heftiger Szenen. Martin
Disler hat «Die Umgebung der Liebe» 1981 für
den Württembergischen Kunstverein in
Stuttgart gemalt. Der lud damals Künstler
ein, den Saal mit einem Soloauftritt zu
bespielen. Disler war gerade ein Star. In
Deutschland boomte eine hochexpressive
Malerei. Die Medien sprachen von den
«Neuen Wilden», der Schweizer wurde dazu-
gezählt, auch wenn ihn das eher irritierte. Er
liess sich mit seiner Frau, der Künstlerin
Irene Grundel, vier Nächte lang einschlies-
sen. Eine Nacht für jede Wand. Auf riesigen
Bahnen malte er Figuren, Gegenstände und
Fragmente. Sie fügen sich zu Erzählungen,
brechen ab und beginnen neu. Penisse
recken sich in die Luft, Panzer schieben sich
vorwärts, eine Frau reisst einem Mann den
Kopf ab. Die Welt ist ein grosser Hexenkessel,
aus dem der Künstler ein Magma aus Liebe
und Tod fliessen lässt. 140,80 Meter lang und
4,40 Meter hoch. Es ging Disler um Aus-
druck, ums rohe Leben, um Dasein und
Selbstentäusserung, nicht um Schutz, Dauer
und Vermarktbarkeit.
Martin Disler starb 1996 an den Folgen
eines Hirnschlags. Das Werk befand sich im
Nachlass und ist jetzt seit den 1980er Jahren
erstmals wieder zu sehen. Und es trifft einen
Nerv. Die monumentale Bildbahn, eine Art
Reaktion auch auf Gustav Klimts Beethoven-
fries für die Secession in Wien, packt die
Betrachter viszeral, es sind Schläge in die
Magengrube, Sonnenblitze auf der Netzhaut.
So betroffen ist man nur, wenn der Körper
Kultur
mitdenkt. Das artikulierte schon bei der Ent-
stehung ein Zeitgefühl.
Ein Jahr vor Martin Dislers Stuttgarter
Monumentalwerk hat Michael Rutschky
seinen bahnbrechenden Essay zur gesell-
schaftlichen Befindlichkeit Deutschlands
veröffentlicht, der auch für die Schweiz
einige Gültigkeit beanspruchen durfte,
zumal der Autor Herausgeber der Zeitschrift
«Der Alltag» war, die in Zürich erschien: In
«Erfahrungshunger» breitet Rutschky an
zahllosen Alltagsbeobachtungen aus, wie die
Begriffe und die begriffliche Verfasstheit der
sechziger Jahre mit ihren linken wie rechts-
bürgerlichen Denkkonzepten scheiterten,
wenn sie erfassen wollten, was in den 1970er
Jahren geschah und sich bis zum Fall der
Berliner Mauer beschleunigt fortsetzte. Der
einstige Traum, Theorie und Leben kongru-
ent zu machen, war geplatzt. Jürgen Haber-
mas sprach fünf Jahre später von der «neuen
Unübersichtlichkeit».
Exzesse und Subjektivität
In zahllosen Biografien der sogenannten
Erfahrungsliteratur zeigten sich ein Über-
schuss und eine Sperrigkeit der eigenen Bio-
grafie gegenüber den gängigen Konzepten
von Marxismus bis Freud, von Hermeneutik
bis Ethnologie, aber auch schlicht die Bedürf-
tigkeit und die Wünsche der Körper, die
Sehnsucht nach ihrer Befreiung, nach einem
Raum, in dem ihre Widersprüche möglich
waren. Man denke etwa an Bernward Vesper,
den Sohn des Nazi-Autors, oder an Fritz Zorn
von der Zürcher Goldküste. Nicht umsonst
war Georges Bataille ein Autor der Stunde.
Aber auch in der bildenden Kunst machte
sich diese Not unterdrückter Erfahrung
bemerkbar: Das Zürcher Künstlerduo Peter
Fischli und David Weiss näherte sich dem
vielschichtigen Alltag ironisch in den über
350 Tonskulpturen «Plötzlich diese Über-
sicht». Nach der visuellen und kognitiven
Wer in der elterlichen
Lebensplanung nie
fallen durfte, weiss
nicht, wie es ist, sich den
Schorf von den lädierten
Knien zu kratzen.
Askese von Minimalismus und Konzeptkunst
verschaffte sich der «Hunger nach Bildern»,
so ein Schlagwort der Zeit, Raum, der – bald
in postmoderner Gefälligkeit – alles Wider-
strebende zuliess: die persönlichen Exzesse
einer jede feministische Fessel zerreissenden
Elvira Bach in Berlin ebenso wie die politi-
schen Fanal-Bilder von Jörg Immendorffs
«Café Deutschland» und die Mythenmalerei
der Italiener. Oder eben die hochemotiona-
len, ganz der eigenen Subjektivität verpflich-
teten Bilder eines Martin Disler. Befreiung
der Körper, Lust auf Erfahrung, Öffnung der
Sinne waren diesen sehr heterogenen Posi-
tionen gemeinsam und verbanden sich mit
einer Gier nach Leben, bis der Ausbruch der
Aids-Epidemie eine jähe Zäsur setzte.
Natürlich sind seither ein paar Jahrzehnte
ins Land gegangen. Wir leben in einer ande-
ren Gegenwart. Wir sind vorsichtiger gewor-
den. Risiko ist ein Begriff für Versicherun-
gen; heute diskutieren Jugendliche über
Rentenpläne. Ohne Konzept, ohne statisti-
sche Plausibilität geht nichts mehr. Und
George Orwells Schreckensvision einer tota-
litären Rundumüberwachung ist längst einer
sich freudig kontrollierenden Internetgesell-
schaft gewichen. Die Globalisierung, die zu
Beginn der 1980er Jahre so noch nicht vor-
stellbar war, ist dank dieser Informations-
technologien längst Grundlage unseres Han-
delns geworden. Aber gerade weil unsere
Welt in solchem Masse entkörperlicht wurde,
weil ein beträchtlicher Teil von Zeitgenossen
Cybersex als Alternative zum Geruch und zur
Mühsal der Körper erlebt, ist der Hunger
nach Erfahrung, die Sehnsucht nach Direkt-
heit wieder so deutlich spürbar.
Man kann darin eine neue Volte der exis-
tenzialistischen Grundfigur Camus’scher
Prägung sehen, welche die westliche Kultur
seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit-
prägt: Von der Ambivalenz zwischen Faszina-
tion und Ablehnung der Figur des Intellektu-
ellen bis zur Vergeblichkeit des Sisyphos, dem
jede Ankunft, also auch jede allgemeine Fas-
sung seines Leids, verwehrt bleibt, zieht sich
ein roter Faden des Verlusts und der Abwehr
von Theorie sowie der Übersteigerung der
Erfahrung, die sich in die Körper einschreibt.
Disler und andere wie etwa Miriam Cahn
(*1949), die seit der letzten Documenta über-
all gefeiert wird (derzeit mit Ausstellungen in
Bern und Bregenz), formulieren ein Ausge-
61
RALPH FEINER
setztsein, eine Selbstentblössung, eine Über-
Martin Disler forderung über die Grenzen hinaus. In diesen
Positionen gibt es keine heruntergelassenen
Visiere, es wird offen gekämpft und gelitten.
KEYSTONE
Die Liebe gelingt und scheitert. Der Tod
schickt seine streunenden Hunde oder Jagd-
bomber. Diese Künstler sind schonungslos.
Und gerade diese Unmittelbarkeit, der
Wille zur Authentizität, die Bereitschaft, sich
zu verzehren, zu suchen, zu probieren, zu
scheitern und neu zu beginnen, wie Disler in
einer Nacht ein Bild von 35 Metern Länge zu
malen und zu akzeptieren, wie es wird, sich
und dem Moment zu vertrauen, ist das, was
junge Menschen heute so nicht haben. Aus
vielen, vielleicht wohl überlegten Gründen.
Seinen internationa- Wer auf einem hohen Seil geht, hat Angst vor
len Durchbruch er- dem Absturz. Wer in der elterlichen Lebens-
zielte er 1980 in der planung nie fallen durfte, weiss nicht, wie es
Kunsthalle Basel. ist, wieder aufzustehen und sich den Schorf
Danach zählte von den lädierten Knien zu kratzen.
Martin Disler (1949–
1996) mit seinen Die Angst der Identitären
expressiven Skulp- Vielleicht war die Angst vor Auslöschung
turen, Gemälden noch nie so nahe wie heute, wo globale
und Zeichnungen zu Häme und Milliardenvermögen nur ein paar
den wichtigsten Klicks voneinander entfernt sind, wie Influ-
Künstlern seiner encer uns zeigen. Je virtueller die Welt wird,
Generation. In den desto weniger Grund haben wir unter den
Jahren vor seinem Füssen. Und desto schwieriger wird es für
Tod fokussierte er die Bedürfnisse unserer analogen Körper. So
sich aufs Schreiben. wird die Wucht dieser Bilder zum Raum, in
Sein grosses dem fassbar wird, was fehlt. Da funktionie-
Gemälde «Die Um- ren sie wie Märchen bei Kindern. Diese
gebung der Liebe» finden dort ihre Wünsche und Ängste in
ist bis 26. Mai in Figuren und Handlungen veräusserlicht. Der
Chur zu sehen. Erfolg von Künstlerinnen und Künstlern wie
Miriam Cahn und Martin Disler wird zum
Indiz für unsere Zeit. Dass wir zu verlieren
drohen, was Leben ausmacht: die Intensität,
mit der wir uns spüren, die Unmittelbarkeit,
mit der wir in die Welt treten.
In diesem momentanen Verlust dürfte
nicht zuletzt ein Grund für die zunehmende
gesellschaftliche Verengung in identitären
Bewegungen zu finden sein. Für Michael
Rutschky ging es 1981 weniger um den
damals erstarkenden Feminismus als um den
tiefer liegenden Hunger nach Erfahrung. Wer
sich nicht spürt, wer sich nicht getragen
fühlt, schnürt das Gewand immer enger.
Cahn und Disler stossen dagegen die Welt
weit auf, so weit, wie sie sein muss, damit sie
darin Platz finden.
62 Kultur
«Unterforderung istd
Der Dirigent Franz Welser-Möst, einst Chefdirigent am Opernhaus Zürich, steht dem Klassikbetrieb kritisch
gegenüber. Er sagt, dass sich die Kulturinstitutionen nicht selbst genügen dürften, sondern mit mehr Risiko
planen müssten. Zurzeit dirigiert er an der Mailänder Scala. Interview: Christian Berzins
NZZ am Sonntag: Franz Welser-Möst, Sie sind
einer der wenigen Künstler, die öffentlich
Kritik am Betrieb üben – das war auch von
1995 bis 2008 so, als Sie am Opernhaus Zürich
arbeiteten. Normalerweise sagt niemand
etwas, alle haben Angst oder erhalten
genügend «Schweigegeld».
Franz Welser-Möst: Ich weiss... man
muss angepasst sein. Letztes Jahr habe ich
zu Thomas Angyan, dem Intendanten des
Musikvereins Wien, gesagt: «Ich bin jetzt 58,
ich habe mir das Recht erarbeitet, auch
einmal unbequem und schwierig zu sein.» Es
geht darum, einen Standpunkt zu vertreten.
Ich kann ihn schon ändern, aber eine Hal-
tung, mehr Rückgrat, würde ich mir von den
anderen Mitspielern wünschen. Wir können
durchaus gegensätzlicher Meinung sein.
Bei den Salzburger Festspielen kritisierten Sie
2017 die euphorisch bejubelte Aufführung von
Mozarts Oper «Titus» mit Dirigent Teodor
Currentzis scharf.
Festspielintendant Markus Hinterhäuser
hat in einem TV-Interview gesagt, Kunst sei
politisch, und Festspiele müssen auch poli-
tisch sein. Wir leben ja nicht in einer Dikta-
tur, wo ich sagen müsste: «Oh, ich bin enga-
giert von den Salzburger Festspielen, also
habe ich meinen Mund zu halten.» Ich werde
auch in Zukunft nicht meinen Mund halten.
Ich habe nicht einmal die Produktion kriti-
siert, ich habe nur gesagt, dass ich es eine
Anmassung finde, zu sagen: «Wenn Mozart
heute leben würde, würde er es so machen».
Ich habe in diesem Interview auch gesagt:
«Wenn etwas in Salzburg scheitert, dann auf
höchstem Niveau.» Ich sage ja auch nicht,
dass alles erfolgreich ist, was ich mache, bin
sogar der Erste, der sagt: «Das war nicht so
toll.» Aber der Hang, diese Oberflächlichkeit,
alles schönzureden, ist weit verbreitet. Das
haben wir ja im Weissen Haus: Alles ist ein
Riesenerfolg. Nein, ist es nicht! Man muss
sich doch auch mit der Realität auseinander-
setzen können.
Das müssen auch wir Journalisten. Aber es
braucht Mut, Dinge klar zu sagen. Wer lobt,
wird gelobt.
Kritik kann man ja auch so verstehen, dass
man etwas kritisiert, weil es einem wichtig
ist, und nicht, weil man sich selbst darstellen
will. Weil ich so lange in Amerika arbeite,
weiss ich, wie gefährdet unsere Kultur ist.
Ich brenne aber dafür, sie ist mein Leben. Ich
will diese Stücke immer wieder neu ent-
decken und diese Kultur weitertragen. Ob
Bach oder Messiaen, ob Tintoretto oder
Jelinek: Als Künstler muss ich bereit sein,
dafür zu kämpfen.
Diesen Kampf vermisse ich bei den anderen
oft, und darum habe ich auch Angst um das
subventionierte Kultursystem, da es für viele
wie selbstverständlich ist: Man hat sich so
schön arrangiert, weiss, dass das Geld fliesst.
Doch wie lange noch?
Deswegen muss man sich dauernd diese
Frage stellen: Bin ich als Institution relevant
für diese Gesellschaft? Ich kann auch ein
Dorn im Fleisch sein, bin aber gerade
dadurch wichtig. Ich frage in Cleveland von
Anfang an: Sind wir von Belang für diese
Stadt? Was macht uns relevant? Was müssen
wir nachbessern?
Und?
Wir mussten uns in der ganzen Stadt aus-
breiten! Unsere Existenzberechtigung ist
nicht gottgegeben – jene der Wiener Staats-
oper auch nicht. Sie muss beweisen, dass sie
relevant für die Stadt, das Land und mög-
licherweise für die ganze Welt ist. Jede Insti-
tution muss eine Philosophie haben, das
muss der Eigentümer verlangen! Und so viele
im Betrieb wurschteln weiter und sagen:
«Das war ja eh immer so, deswegen wird es
so weitergehen...» Nein, das ist nicht der
Fall. Strawinsky erfand sich viermal neu. Wir
müssen das auch immer wieder tun. Und das
ist nicht zeitgeistig oder irgendwas.
NZZ am Sonntag 28. April 2019
Wer sich im Klassikbetrieb hocharbeitet,
kommt in Institutionen, wo eben vieles so wie
immer ist. Dort aber verdient er zehnmal so
viel wie die unten. Da braucht es dann Kraft
und Persönlichkeit, um am eigenen Ast zu
sägen und zu sagen: «Das geht doch nicht so!» Der Hang alles
Ja, aber ich möchte dort sein, wo ich etwas schönzureden, ist
bewegen kann. Das kann ich in Cleveland – in
der Wiener Staatsoper war es nicht möglich.
weit verbreitet.
Ich habe ja mit Kulturministern darüber Das haben wir ja
gesprochen: Es geht ums Gestalten, nicht im Weissen Haus:
ums Verwalten. Ich muss mich dazu beken-
nen, dass es Risikobereitschaft braucht. Ich
Alles ist ein
kann dieses Wiener Argument, dass wir Riesenerfolg.
sowieso zu 99 Prozent ausgelastet sind,
nicht mehr hören: Das ist langfristig ein
Selbstmörderargument.
Warum?
Reden Sie mit irgendeinem erfolgreichen
Manager! Ich frage dann immer: Wie viel
Risiko plant ihr ein, wie viel Forschung,
wie viel Innovation? «Bis zu 30 Prozent!»,
sagen die. Und wir reden in Wien über eine
Auslastung von 99 Prozent. Wo sind diese
30 Prozent Risikopotenzial? Wie soll der
Betrieb in hundert Jahren aussehen? Das
Sich-selbst-Genügen reicht nicht – egal,
ob an der Metropolitan Opera in New York,
bei den Salzburger Festspielen oder an
der Wiener Staatsoper.
Sie erleben Triumphe mit Ihrem Orchester aus
Cleveland, dirigieren in Mailand und in Salz-
burg und gehen als Dirigent der Wiener Phil-
harmoniker auf Tournee. Ideale Jahre im
Leben eines Dirigenten von 58 Jahren?
Ja, zumal ich in Cleveland in die 18.Saison
gehe. Auf Tournee in Luxemburg kam
Gustavo Gimeno, der junge Chefdirigent der
Philharmonie Luxemburg, zu mir und fragte:
«Wie ist es möglich, dass Sie nach so vielen
Jahren mit dem Orchester noch eine so
glückliche Beziehung haben?»
Das wüsste ich auch gerne.
Es gibt ein paar Geheimnisse. Man darf
eine solche Chefposition nicht so gestalten,
dass es nur um einen selber geht, man muss
eine Philosophie haben, wohin die Institu-
tion gehen soll. Es ist auch wichtig, zu
merken, dass man nur Teil einer Geschichte
ist. Man muss aber dennoch versuchen,
diese Tradition zu hinterfragen, weiterzutra-
gen – und zu erneuern.
Das haben Sie erreicht?
Würde das Orchester nicht anders als vor
15 Jahren klingen, wäre da ein Stillstand. Ich
bin aber in Cleveland auch nach wie vor so
glücklich, weil ich so viele programmatische
Möglichkeiten habe. Ich bin in der privile-
gierten Situation, dass ich aussuchen kann,
was ich machen will. Das wissen die Veran-
stalter. Es gibt so viele tolle Stücke! Aber da
gibt es Moden – und die ganze Welt spielt das
Franz Welser-Möst
Gleiche. Mit Cleveland gingen wir einst mit
vier Stücken von Olivier Messiaen auf Tour-
nee. «Ihr werdet schon sehen, es ist gute
Ein Österreicher
Musik!», sagte ich zu den uns ängstlich in Amerika
erwartenden Veranstaltern.
Beim Zürcher Publikum hätten Sie es damit Franz Welser-Möst wurde 1960
schwer. in Linz geboren, studierte
Klar, man kann auch die 100 000. «Tra- zuerst Geige, dann Dirigieren.
viata» spielen – das ist schliesslich ein gross- Seit 2002 ist er Chefdirigent
artiges Werk. Aber man kann daneben noch des Cleveland Orchestra. Von
so viele andere grossartige Dinge machen! 2010 bis 2014 war er General-
Erinnern Sie sich an Robert Schumanns musikdirektor der Wiener
«Genoveva» am Opernhaus, im Jahr 2008? Staatsoper, vorher Musikdirek-
Nikolaus Harnoncourt dirigierte. Ich kannte tor des Opernhauses Zürich
das Werk nicht, sass da drinnen und dachte: (1995 bis 2002), danach dessen
«Wahnsinn, diese Musik!» Und so dirigierte Generalmusikdirektor (2005
ich in Salzburg mit grosser Freude Aribert bis 2008). Von 1990 bis 1996
Reimanns «Lear». leitete er das London Sym-
phony. Zu Beginn der Lauf-
Bis 2022 sind Sie beim Cleveland Orchestra, bahn, 1982 bis 1985, war er
seit 20 Jahren. Dannzumal werden Sie 62 Leiter des Österreichischen
Jahre alt sein. Wie geschieht Karriereplanung Jugendorchesters, danach
in Ihrem Beruf ? Chefdirigent beim Musikkolle-
Man muss sich eher über die Lebens- gium Winterthur. (bez.)
planung anstatt über die Karriere Gedanken «Man muss das Publikum an der Hand nehmen»: Dirigent Franz Wel

dasSchlimmste»
FRANZ NEUMAYR / DDP
Unsere Zeit ist wohl
oberflächlicher, aber ich
glaube, dass der Kern
des Menschseins sich
trotz allem nicht
verändert hat.
machen. Nach meinem Abgang aus Wien,
diesem Befreiungsschlag, waren plötzlich
mehr als 40 Prozent in meinem Kalender
weg – und ich hatte all diese freie Zeit. Im
Frühsommer 2015 sagte ich zu meiner Frau:
«Irgendwie entwickle ich mich mehr und
mehr zu einem Festivalkünstler, man muss
im Repertoirebetrieb zu viele Kompromisse
eingehen.» Klar: Das muss man als Dirigent
einmal gemacht haben. Ich war nicht 13 Jahre
in Zürich, sondern 43 Premieren lang!
Sie mussten auch viel lernen.
Wahnsinnig viel, ich bin dankbar für diese
Zeit. Dirigieren hat nämlich irrsinnig viel mit
Erfahrung zu tun, das ist nicht rasch mal mit
den Händen flackern. Jetzt aber bin ich in
der Phase, wo ich sage, ganz egal, welches
Opernhaus oder welches Orchester: «Wenn
ihr mir nichts Spannendes anbietet, dann
sitze ich lieber zu Hause und lese ein Buch.»
Wenn ich etwas Neues annehme, muss ich
sehen, dass ich dort etwas auf­ oder zusam­
menbauen kann. Als Gast komme ich nicht
vorbei, um ein normales Abo­Konzert
zu dirigieren.
Ein Toporchester hatten beziehungsweise
haben Sie schon, Opernchefdirigent waren Sie
auch. Wäre es denn nun ein Festival?
Ja, das reizt mich. Ich sehe es in Cleve­
land: Wenn die Dinge richtig und mit Über­
zeugung gemacht werden, dann ist alles –
nicht nur vieles – möglich.
Warum zweifeln Sie dann so oft?
Ich stehe unserem Betrieb sehr kritisch
gegenüber: Diese Gefälligkeitsschiene
zu fahren, ist selbstmörderisch. Ich habe es
vor allem auch mit jungen Leuten immer
wieder erlebt: Die Unterforderung ist das
Schlimmste. Man muss sie manchmal an der
Hand nehmen, das schon, und ihnen vor
dem Konzert zwei, drei Dinge erklären: Was
drückt das Werk aus, wie macht es der Kom­
ponist. Damit öffnet man die emotionalen
Türen. Das können alle, das ist nicht schwer!
In Zürich zeigte es uns Dirigent Roger Norring-
ton mit dem Zürcher Kammerorchesters
perfekt: Kurz, präzis – und mit einem Schuss
Ironie.
Es geht darum, dass wir eine Einsicht
haben in diese Stücke. Als wir mit Olivier
Messiaens «Chronometrie» im Musikverein
in Wien auftraten, gab ich mir einen Ruck
und sagte mir: «Auch hier sagst du etwas!».
Und ich begann mit dem Satz «wo er das
Stück als lichtdurchfluteten Protest gegen
die 12-Ton­Musik bezeichnet hat» und schon
kam aus der 5.Reihe ein «Bravo!». Echt Wien.
Ich sagte dann, es gebe auch tolle 12-Ton­
Musik, und schon kam aus der 9.Reihe:
«Bravo!» Damit war das die Sache schon
gelaufen! Ich sagte nur: «Hören Sie auf diese
Farbtupfer, alles andere ist Ihrer Phantasie
überlassen.»
Man müsse das Publikum fordern, sagen Sie.
Aber ich sehe auch ein Publikum, 40- bis
60-Jährige, die sind viel breiter interessiert
oder nehmen jedenfalls viel mehr Einflüsse
auf. Diese Vielfalt macht sie aber auch
oberflächlicher.
Unsere Zeit ist wohl oberflächlicher, aber
ich glaube, da bin ich hoffnungsloser Opti­
lser-Möst, 58. (Salzburg, 16. Juli 2018) mist, dass der Kern des Menschseins sich
63
Zwei, die
Ordnung
schaffen
Zugabe
Manfred Papst
S
trotz allem nicht verändert hat. Es mag die tundenlang könnte
Hülle drumherum anders sein, aber meine ich zuschauen, wenn
besten Erfahrungen in Cleveland mache ich Gebäude abgerissen
mit jungen Leuten, die nicht mit der Musik werden. Je grösser,
aufgewachsen sind. Die sind aber dafür auch desto besser. Wie gern
nicht verbildet. Erst denkt man, dass die sässe ich da im Bag­
90 Minuten lange 8. Sinfonie von Anton ger, nähme Anlauf, und dann:
Bruckner für sie furchtbar sein müsse. Aber
sie sind begeistert, da eine Energie von der
Radazong! Das Mauerwerk stürzt
krachend ein, und dichte Staub­
Bühne kommt, etwas, das sie noch nie gehört wolken erfüllen die Luft, wäh­
haben. Orchester, die heute grosse Schwie­ rend ich das Fahrzeug zurück­
rigkeiten haben, machten vieles oberfläch­
licher. Und das ist falsch. Das Publikum muss
setze, um gleich von neuem
loszudonnern. Ich lasse nicht
man ernst nehmen. locker, bis kein Stein mehr auf
dem anderen steht und der Be­
Stichwort «Nie gehört»: Ich sitze in Luzern im ton aussieht wie die Bruchscho­
KKL, neben mir ein 40-jähriger Sponsorgast, kolade von Läderach.
der Beethovens Fünfte noch nie gehört. Macht Man sehnt sich ja immer nach
Ihnen das nicht Angst? dem, was man nicht ist oder hat.
Ich versuche, das positiv zu nehmen, Im realen Leben war ich nie der
sonst wäre der Betrieb in Amerika schon tot. Mann fürs Grobe. In jungen
Man muss das Publikum ernst nehmen, Jahren arbeitete ich als Korrektor
die Leute gehen doch auch in Museen und für verschiedene Buchverlage. In
schauen sich einmal Tintoretto, dann Roy diesem Beruf ist Pedanterie eine
Lichtenstein, was auch immer, an! Die Ver­ Tugend. Da muss man ein Erb­
mittlung ist wichtig: Als ich bei den Oster­ senzähler sein, ein Linsenspalter
festspielen in Salzburg Mahlers Neunte diri­ und Wortklauber. An der Lehr­
gierte, traf ich danach bei einem Mittagessen lingsfachschule der Credit
ein paar Zuhörer. Sie sagten: «Der erste Satz Suisse, wo ich als Student unter­
– na ja. Beim zweiten ging es schon besser, richtete, nannten mich die ent­
und dann der letzte – toll!» Da dachte ich, zückenden Schülerinnen nur
dass es ein Fehler war, dass ich vor dem den «Kommagärtner».
Konzert nichts gesagt hatte. Man denkt ja: Wer im Umgang mit der Spra­
Osterfestspielpublikum, die kennen das. che penibel ist, der wird es leicht
Aber selbst diese berühmten Stücke müssen auch in anderen Lebensberei­
vom Publikum immer wieder neu entdeckt chen. Aus dem Mückensezierer
werden. wird ein Pfennigfuchser, aus
dem Fliegenbeinzähler ein Rap­
Zurzeit dirigieren Sie in Mailand «Ariadne auf penspalter. Das Persönlichkeits­
Naxos». Ist Alexander Pereiras Scala Ihr neues bild rundet sich ganzheitlich ab:
Opernzentrum? Sie leiten diese Saison gleich In deutschen Landen entsteht
zwei Produktionen dort! der Korinthenkacker, in der
Ja, neben Salzburg. Zu dieser Produktion: Schweiz der Tüpflischisser. Im
Als Zubin Mehta letztes Jahr schwer Wörterbuch, das ich gerade zur
erkrankte, hat mich Alexander Pereira Hand habe, wird übrigens das
gebeten, «Ariadne» für diesen zu überneh­ Wort «Korinthenkacker» als derb
men. Das habe ich gerne getan, da Zubin bezeichnet, «Tüpflischisser»
einer meiner nettesten Kollegen ist. dagegen bloss als umgangs­
sprachlich. Heisst das nun, dass
Pereira, Ihr Chef in 13 Zürcher Opernjahren, die Schweizer Umgangssprache
setzte sich in Mailand mit der Verbindung zu per se schon derb ist?
einem saudiarabischen Sponsor ins Abseits: Ich suche zusätzlichen Rat im
Dieser Prinz hätte der Scala 15 Millionen Euro Internet. Es erweist sich einmal
gegeben, wollte aber in den Verwaltungsrat. mehr als Ozean, in dem es die
Der Verwaltungsrat pfiff Pereira zurück. Viel- buntesten Meerestiere gibt, aber
leicht ist nun sogar die von Pereira erwünschte auch jede Menge Plastikmüll.
Vertragsverlängerung dahin. Was hätten Sie Eine Seite führt zum Beispiel
Ihrem alten Weggefährten geraten? falsche Schreibweisen des
Da liegt der Teufel im Detail. Institutio­ Wortes «Rappenspalter» auf:
nen, die im Aufsichtsrat auch politisch «Rappensspalter, Rappenzpalter,
besetzt sind, sind heikel. Dass die Politik Rappeenspalteer, Raappenspaal­
involviert ist, kann in gewissen Fällen aber ter, Rappenspalterr, Rappen­
auch sehr positiv sein. Pereiras Vertragsver­ spaltter, Rapenspalter, Rappp­
längerung wird sich vielleicht aber mehr pensppalter, Rappenspallter,
nach seinen Erfolgen und seiner offensicht­ Rappennspalter, Rappemspalter,
lichen Popularität im Haus richten. Rappenspalte.»
Ich frage Sie: Wem soll das
Scala-Chefdirigent und Lucerne-Festival- helfen? Ich dachte immer, falsch
Orchestra-Chef Riccardo Chailly steht eben- schreiben könne man von selber,
falls in der Kritik: Zu wenig da, zu klein das richtig schreiben müsse man
Repertoire. Kann ein Dirigent in dieser Situa- lernen. Aber offenbar brauchen
tion das Ruder noch herumreissen und sein wir inzwischen schon ortho­
Publikum von sich überzeugen? graphische Karten, auf welchen
So viel ich weiss, hat er sich zuerst einmal die Fallgruben eingezeichnet
voll auf das italienische Repertoire konzen­ sind, denen wir tunlichst aus­
triert, aber ich weiss inzwischen, dass er in weichen sollen.
Zukunft auch anderen Bereichen des Reper­ Noch immer stehe ich am
toires widmet. Riccardo Chailly war immer Rand der Baugrube und schaue
ein anspruchsvoller Kollege, der auch an sich fasziniert auf die Trümmer.
die höchsten Ansprüche stellt. Ich hatte das Fragte mich jetzt jemand nach
grosse Glück, in Zürich 43 Premieren zu diri­ meiner Lieblingsfrucht, so
gieren, was für mich ein unglaubliches Konto würde ich die Abrissbirne
für meine spätere Tätigkeit in Wien war. nennen. Doch als ich den Bag­
Man muss natürlich auch bemerken, dass es gerfahrer genauer ins Visier
durch die Entwicklung der letzten Jahr­ nehme, fällt mir auf, dass er
zehnte kaum mehr Dirigenten gibt, die den nicht etwa in blinder Wut agiert,
Erfahrungsschatz aufweisen, den es für diese sondern ruhig, gemessen, mit
grossen Häuser eigentlich brauchte. abgezirkelten Bewegungen. Er
bearbeitet seinen Bauplatz mit
Franz Welser-Möst dirigiert an der Mailänder Scala bis
22. 6. «Ariadne auf Naxos» von Richard Strauss (Alexan-
der gleichen Akribie wie ich die
der Pereira als Haushofmeister). Ebenfalls an der Scala Texte im Blatt. Im Grunde sind
dirigiert er im November Strauss‘ «Die Ägyptische Helena». wir Brüder im Geiste.
 NZZ TRIFFT UNIVERSITÄT ZÜRICH

Open-Access-Publikationen: Muss Wissen frei sein?

Viele wissenschaftliche Zeitschriften sind nur zu sehr hohen Abonnementspreisen erhältlich. Datum
Die Gewinnmargen der grossen Verlage sorgen immer wieder für Kritik. Universitäten und Dienstag, 7. Mai 2019
Forschungsfonds bemühen sich deshalb um einen grundlegenden Wandel: Ihre Forscher 18.30 bis 20.00 Uhr
sollen schon in wenigen Jahren nur noch in Zeitschriften und Büchern mit freiem Zugang (Open mit anschliessendem Apéro
Access) publizieren. Ist es nur konsequent, dass dank öffentlichen Geldern generiertes Wissen auch
frei zugänglich ist? Ist ein Zwang zu Open Access unverantwortlich, weil er Forscher in ihrer Frei- Ort
heit beschränkt? Und führt das Open-Access-Modell zu einem Qualitätsverlust der Publikationen? Universität Zürich, Raum KO2-F-180
Rämistrasse 71, 8006 Zürich
Diskussionsteilnehmer
Diskussionsteilnehmer Moderation
Anmeldung
nzz.ch/live
044 258 13 83

Rafael Ball Anne Buechi Christian Cajochen Michael Hengartner Martin Amrein
Direktor der ETH- Geschäftsleiterin des Schlafforscher an der Rektor der Universität Redaktor im Ressort
Bibliothek Zürich Versus-Verlags in Zürich Universität Basel und Zürich und Präsident der Wissen der «NZZ am
Gründer eines Open- Hochschulrektoren- Sonntag»
Access-Journals konferenz Swiss-
universities

Eine Veranstaltung von

NZZ PROMENADE

Zu den wilden
Orchideen von Bern
Mitten in Bern, am Aargauerstalden, gedeiht eine Trockenwiese Datum
von nationaler Bedeutung. Das zwei Hektaren grosse Bijou Samstag, 25. Mai 2019
besticht durch seine enorme Artenvielfalt an Pfl
f anzen und 14.00 bis 16.00 Uhr
Insekten. Machen Sie zusammen mit Patrick Imhasly, Redaktor mit anschliessendem Apéro
Wissen der «NZZ am Sonntag», einen Entdeckungsspaziergang
durch den einmaligen Trockenstandort. Begleitet werden Sie vom Ort
Botaniker Beat Fischer, der Ihnen einzelne Arten genauer erläu- Aargauerstalden, Bern
tern wird. Anschliessend laden wir Sie gerne zu einem Apéro ein,
bei dem Sie den Tag perfekt ausklingen lassen können. Preis
Abonnentenpreis Fr. 60.–
Moderation Normalpreis Fr. 75.–

Anmeldung
nzz.ch/promenade
044 258 13 83

Patrick Imhasly
Redaktor Wissen der «NZZ am Sonntag»

Eine Veranstaltung von

NZZ am Sonntag 28. April 2019
Kultur 65

Brutaler

MARTIN RÜTSCHI / KEYSTONE

Absturz
einer Rebellin
Von den Jugendunruhen 1980 an
den Platzspitz: Demian Lienhard
lässt in seinem hinreissenden
Debütroman eine Drogensüchtige
erzählen. Von Martina Läubli

Am Letten «fing alles wieder von vorne an, nur schlimmer»: Demian Lienhard beschreibt die offene Drogenszene. (Zürich, August 1994)

E
ine solche Stimme hat man in Regeln ihrer alleinerziehenden Mutter Brücke zu springen. «Ich habe schon einige sein Geld mutmasslich mit Dealen verdient.

der Schweizer Literatur noch
nicht gehört: frech und verzwei-
felt, schräg und kühn. Man
würde ihr überallhin folgen, weil
sie einen so direkt, über-
raschend und roh in die vertracktesten Situa-
tionen hineinwirft. Auf dem Grat zwischen
Abenteuer und Absturz folgt man ihr bis zum
Äussersten und landet schliesslich in der
offenen Zürcher Drogenszene. Aber langsam.
Es spricht: Alba Doppler, Schülerin aus
Neuenhof, einem Vorort von Baden mit viel
Beton und ebenso vielen Magersüchtigen
wie Selbstmördern, wie es im Buch heisst.
Alba ist die Erzählerin und Heldin des
Debütromans «Ich bin die, vor der mich
meine Mutter gewarnt hat», mit dem sich der
31-jährige Archäologe Demian Lienhard sou-
verän in die Literatur der Gegenwart hinein-
schreibt. Alba ist eine Rebellin mit Herz. Die
schlägt sie leichthin in den Wind. Das heisst
aber nicht, dass sie unbeschwert ist. Die
junge Frau weiss, was Einsamkeit bedeutet.
Zu Beginn des Romans liegt sie im Spital, der
einzige Freund an ihrer Seite ist Hugo, das
Infusionsgestell. Alba ist eine Überlebende,
eine Versehrte. Hinter ihr liegt ein Selbst-
mordversuch. Sie hat sich die Adern aufge-
schnitten, weil sie sich, im Gegensatz zu drei
Mitschülern, nicht getraut hat, von der
Der 31-jährige
Schweizer Autor Demian
Lienhard schreibt sich
souverän in die
Literatur der
Gegenwart hinein.
Menschen verloren in meinem Leben, und
wenn man meiner Mutter Glauben schenkt
oder meinen Lehrern, dann ist mein Leben
noch nicht allzu lang. Ich glaube, das mit der
Länge kommt auf den Standpunkt an, ich
jedenfalls find’s ziemlich lang.»
Alba balanciert über dem Abgrund, zwi-
schen jugendlicher Naivität und der Abge-
klärtheit jener, die dem Tod schon zu oft in
die Augen geschaut haben. Aber über ein
Softeis kann sie sich freuen wie ein Kind.
Denn da ist diese Neugier, der Hunger nach
Leben. Für seine unerschrockene, verletz-
liche Heldin findet der Autor genau den rich-
tigen Ton: eigenwillig, mündlich, ungeho-
belt, warmherzig. Hinter Albas skurrilem
Humor lauert schwarze Verzweiflung. Da
bietet auch die Liebe keine Rettung, beson-
ders nicht zu Jack, der eigentlich René heisst,
mit seinem Käfer in Albas Leben braust und
LAURA J. GERLACH
Wir schreiben das Jahr 1980. In Zürich
schmeisst die Jugend Pflastersteine, Jack
und Alba mittendrin, um sie herum Unruhe,
Partys und Drogen. Irgendwann (und nicht
grundlos) setzt sich Alba den ersten Schuss.
Das Heroin erscheint ihr «wie eine lange
Umarmung, einfach ohne Anfassen».
Die Drogenszene auf dem Platzspitz und
auf dem Letten beschreibt sie, die so gern
Absurditäten erflunkert, illusionslos
anschaulich. Auf das Erzählen kann Alba Der Autor und
ebenso wenig verzichten wie auf das Heroin. Archäologe Demian
Schliesslich ist beides eine Art Sucht: Auch Lienhard, 31,
stammt aus Baden.
ein Autor, sagt Alba, «kann nicht mehr los-
lassen», ist «angefixt» – so geht es auch der
Leserin dieses herzzerreissenden Buches.
Demian Lienhard: Ich bin die, vor der mich
meine Mutter gewarnt hat. Frankfurter Ver-
lagsanstalt 2019. 378 S., Fr. 34.–, E-Book 21.–.

Möchtegern-Manifest eines Nestbeschmutzers

Bret Easton Ellis ist seit ewig der böse Bube der US-Literatur. Jetzt blickt er zurück. Von Sacha Verna

E
ine Warnung voraus: Wer mit dem Reich der Metafiktion versuchte wie in um 22 Jahre jüngeren Liebhaber, dessen
JOHNNY LOUIS / GETTY IMAGES

amerikanischen Film der letzten
vierzig Jahre nicht vertraut ist, wird
sich mit «Weiss» schwertun. Es hilft
auch, die Karrieren der A-, B- und C-Promi-
nenz dieser Zeit verfolgt zu haben und sich
vorzustellen, das Universum bestehe aus Los
Angeles und New York. Bret Easton Ellis ist
der Barde mittendrin.
Ellis geistert seit über drei Jahrzehnten als
böser Bube durch die amerikanische Litera-
tur. 1991 erschien sein Roman «American
Psycho», dessen exzessive Gewalt- und Sex-
szenen das Publikum zugleich abstiessen
und faszinierten und der spätestens durch
die Verfilmung im Jahr 2000 zum skandalö-
sen Klassiker avancierte. Der Protagonist
Patrick Bateman, Wall-Street-Banker und
Serienmörder, ist heute eine beliebte Hallo-
ween-Figur. Sein Debüt, dem er den Ruf als
tabubrechendes Wunderkind verdankt,
hatte Ellis bereits 1985 als 21-jähriger Col-
lege-Student veröffentlicht. «Unter Null»
handelte von einer Gruppe gelangweilter
Jugendlicher in L.A. mit Geld für Drogen und
Partys. «Weiss» ist nach sechs Romanen und
einer Sammlung mit Kurzgeschichten Ellis’
erstes Sachbuch, einer jener Lebens-
abschnittsberichte, die man neuerdings
auch auf Deutsch «Memoir» nennt.
Die Rolle des Schwulen im US-Kino
Anders als eine Autobiografie ist das Memoir
eine Lizenz zum Auslassen. So erschöpfen
sich die ersten paar Kapitel über Ellis’ Kind-
heit und Teenagerjahre in Sherman Oaks,
einem familienfreundlichen Stadtteil von
Los Angeles, in Analysen der Horrorfilme,
die ihn aufs erbarmungslose Erwachsensein
vorbereitet haben, sowie in einem Exkurs
über Schauspieler im Allgemeinen und
Richard Gere in «American Gigolo» im
Bret Easton Ellis, Besonderen. Weiter erörtert Ellis im Zusam-
*1964, hat nach menhang mit seiner eigenen Homosexualität
sechs Romanen ein die Rolle des Schwulen im US-Kino «als
Sachbuch magischer Elf – der uns bei jedem Coming-
geschrieben. out wie ein heiliger, bezaubernder ET
erscheint und dessen einziger Lebenszweck
darin besteht, uns an die nötige Toleranz und
an unsere Vorurteile zu erinnern, als Symbol
zu dienen und uns zu einem wohligen
Selbstgefühl zu verhelfen».
Was seine eigenen Werke betrifft, äussert
sich der Autor vor allem zu «Unter Null» und
«American Psycho». Es wird deutlich, wie
sehr das frühe Rampenlicht und der lange
Schatten Patrick Batemans ihn definiert
haben. Die beiden Romane haben ihn zum
ewigen Chronisten der Yuppie-Ära gemacht,
dessen literarische Neuanläufe seither nie-
manden mehr richtig überzeugten – egal, ob
er sich dabei episch-konspirativ gab wie in
«Glamorama» (1998) über einen bizarren
Terror-Plot in Modekreisen oder ob er sich im
«Lunar Park» (2005), einer Gespenster-
geschichte mit einem Helden namens Bret
Easton Ellis.
In den vergangenen Jahren hat Ellis
seinem Nonkonformismus vornehmlich über
Tweets Ausdruck verliehen. Allerdings
beschränkt er sich inzwischen auch auf Twit-
ter hauptsächlich auf Hinweise auf seinen
wöchentlichen Podcast, in dem er sich mit
Regisseuren, Schauspielern und Produzen-
ten unterhält. Der Grund für diese Zurück-
haltung liegt bei denselben Regisseuren,
Schauspielern und Produzenten, mit denen
Ellis auch essen geht und an Film- und Fern-
sehprojekten arbeitet, die zu nichts führen.
In «Weiss» beklagt Ellis die Empörungs-
kultur der Hollywood-Liberalen und der
Ostküsten-Intelligenzija, von der er sich zur
Selbstzensur genötigt fühlt: «Wer sich dem
bedrohlichen Gruppendenken der ‹progres-
siven Ideologie› widersetzt, die universelle
Inklusion propagiert (ausser für all jene, die
Fragen stellen), der steckt irgendwie in der
Scheisse.» Ellis’ grösstes Verbrechen: Er
tanzte den Apocalypso nicht mit, den seines-
gleichen nach Donald Trumps Wahl zum
Präsidenten aufführte. Seinen Rat, «dass sich
alle mal Erwachsenenkleider anziehen, an
der Bar einen steifen Drink nehmen und sich
richtig unterhalten», wurde und wird von
vielen nicht goutiert. Auch nicht von seinem
Als Polemik bleibt
«Weiss» bedauerlich
zahnlos. Einzelne Teile
wirken zusammen-
gekleistert – und
sind es auch.
«Generation Weichei» mit ihrem Milch-
gesicht-Sozialismus eine weitere von Ellis’
Zielscheiben bildet.
Maulkorb-Diktatur der Linken
Der Autor wettert gegen das, was er als Maul-
korb-Diktatur der Linken empfindet und
betont, dass Trump nur ein einziges Mal alle
Mexikaner als Vergewaltiger bezeichnet
habe. Er meint auch, und darüber werden
sich #MeToo-Aktivistinnen echauffieren:
«Mann bleibt Mann, Jungs sind eben Jungs,
Typen bleiben immer gleich, das wird sich
nie ändern.» Als Polemik bleibt «Weiss» frei-
lich bedauerlich zahnlos. Einzelne Teile
wirken zusammengekleistert – und sind es
auch, aus Texten, die Ellis für Medien wie
«The Daily Beast» und «Vanity Fair» verfasst
hat. Einmal hebt er zur grossen Zeitdiagnose
an, verliert sich dann aber in einer Charakter-
studie des TV-Stars Charlie Sheen, den er
zum amerikanischen Archetypen stilisiert.
Von solchem Verhältnisblödsinn abge-
sehen, begeht Ellis den rhetorischen Fehler,
sein kohärentestes Argument zu oft zu wie-
derholen. Danach wird im gegenwärtigen
Klima kollektiver Empfindlichkeit nicht
mehr auf die Kunst geschaut, sondern auf
den Künstler. Das Urteil über die politischen
An- und Absichten eines Künstlers und/oder
über seine moralische Integrität ersetzt jenes
über den ästhetischen Gehalt seines Werkes.
Das stimmt und ist in der Tat bedenklich.
Doch braucht man sich keiner bestimmten
Ideologie verschrieben zu haben, um von
diesem Möchtegern-Manifest eines ergrau-
ten Nestbeschmutzers enttäuscht zu sein.
Bret Easton Ellis: Weiss. Aus dem Amerikani-
schen von Ingo Herzke. Kiepenheuer & Witsch.
320 S., um Fr. 30.–.
 KULTURELLES NZZ-REISEN EXKLUSIV
• Ein Reise-Unikat, entstanden in Zusammenarbeit mit Kunst- und Emirat-

ABU DHABI
Kennerin Verena Formanek sowie dem Reisejournalisten Kurt Schaad
• Louvre Abu Dhabi: exklusive Führung durch das von Jean Nouvel designte
Louvre-Gebäude

Der Louvre Abu Dhabi • Emiratische Symbole: Etihad Towers, Falkenschule, traditionelle
Dhau-Schifffahrt

als Beginn einer neuen • Arabische Wüste: Oasenstadt Al Ain und Jebel Hafeet Mountain

Kunst-Ära
Der Masterplan 2030 lautet: Abu Dhabi durch Bildung und
Wissensaneignung eine blühende Zukunft auf allen Ebenen
sichern. Kunst und ihrem Verständnis wird dabei eine wichtige
Vorreiterrolle eingeräumt. Die Kuratorin Verena Formanek,
Kunstbeauftragte der Abu Dhabi Tourism & Culture Authority,
präsentiert Ihnen zusammen mit exklusiven Gesprächspart-
nern den Louvre als Teil des neuen prestigehaften Kulturbezirkes.
In den Wüstengebieten des Hinterlandes erleben Sie als Kontrast
die Anfänge und traditionellen Wurzeln des Emirats.
Termin: 01.11. – 08.11.2019
Ein Reise-Unikat
mit Preis: Fr. 5200.– (Einzelzimmerzuschlag Fr. 570.–)
Teilnehmer/innen: Min. 18, max. 25 Personen
Verena Formanek
Tag 1: Zürich–Abu Dhabi
Direktflug mit Etihad Airways in die Hauptstadt der Vereinigten Arabi-
schen Emirate (VAE). Ankunft am Abend, *****-Shangri-La Hotel,
Welcome-Drink und leichter Snack.
IHRE BEGLEITUNG
VERENA FORMANEK
Absolvierte ein Studium für angewandte Kunst. Nach
Anstellungen in Wien, Basel und Zürich war sie im
Emirat Senior Managerin in der kuratorischen Gug-
genheim Abu Dhabi-Arbeitsgruppe und mitverant-
wortlich für den Aufbau von Sammlung und Sonder-
ausstellungen des Kultur- und Tourismusdepartements. Sie hält
fachliche Vorträge und begleitet die Gruppe an 6 Tagen.
LEISTUNGEN
• Internationale Flüge mit Etihad Airways in der Economy-Klasse (inkl. Taxen)
• Alle Transporte, Eintritte, Gebühren, Trinkgelder
• Hotelunterkünfte, Frühstück, eine weitere Mahlzeit pro Tag
• Fachvorträge und Begleitung durch Verena Formanek, lokale Deutsch
sprechende sowie cotravel-Reiseleitung
• Ausführliche Reisedokumentation

Tag 2: Tradition und Futurismus

Stadtrundgang: Schlendermeile Corniche mit Blick auf den Persischen
Golf, altes Dhau-Hafenareal mit Fischmarkt. Grossartige Sheikh-Zayed-
Moschee und katholische St. Joseph’s Cathedral, Gespräch mit dem
Thurgauer Bischof über Religionsfreiheit.

Tag 3: Kulturbezirk Saadiyat Island

Ausführliche Vorstellung des Louvre-Projekts, Identität Abu Dhabis und
weitere geplante Projekte wie Guggenheim- und Nationalmuseum durch
Verena Formanek. Spezialführung durch das Louvre-Prachtgebäude.
Abendessen im grandiosen Emirates Palace Hotel.

Tag 4: Oasenstadt Al Ain

Ausflug ins Hinterland des Emirates nach Al Ain an der Grenze zum
Oman. Ursprünglicher Charakter mit Souk, traditionellem Bewässerungs-
kanalsystem und ausgedehnter Palmenplantage. Besuch der Ökostadt
Masdar City, Mittagessen auf der Spitze des Jebel Hafeet Mountains.
Übernachtung im ****-Hotel Rotana.

Tag 5: Al Ain & Falkenschule

Besuch einer Falkenschule, Symbol der VAE schlechthin, Bedeutung für
das Selbstverständnis der Emirati, zu Haltung und Trainerausbildung.
Stadtrundgang Oasenstadt mit ihrem landesweit einzigen Kamelmarkt.

Tag 6: Rückkehr nach Abu Dhabi

In Abu Dhabi Besichtigung des Qasr-al-Hosn-Forts von 1761. Erkunden
des Souks. Am Abend Gespräche auf der Schweizer Botschaft über die
Länderverhältnisse.

Tage 7/8: Individuelle Entspannung und Abschied

Freizeit oder optionaler Ausflug zum Kulturzentrum Manarat Al Saa-
diyat und der Galerie der University of New York. Abschiedsdinner:
Lichtertour auf traditionellem Dhau-Schiff. Abschiedsdrink mit Rund-
umblick von den Etihad Towers. Transfer zum Flughafen, direkter
Nachtflug nach Zürich. Ankunft frühmorgens.

Anmeldung und Informationen:

reisen.nzz.ch reisen@nzz.ch 061 308 33 55

Organisierender Reiseveranstalter ist cotravel, DER Touristik Suisse

Tipps 67

ROLAND SCHMID, ZÜRICH

Kino

Ausstellung
Kurz und knapp
At Eternity’s Gate ★★★✩✩
Solange Vincent van Gogh (Wil-
lem Dafoe) malt und schweigt,
ist dieser Film ein grosser
ästhetischer Genuss. Die Dia-
loge hingegen, in denen der
Künstler gezwungen wird, zu
erklären, was er tut und wieso,
stören das Vergnügen. Inspira-
tion lässt sich nicht erklären.

Shazam! ★★★★✩
Ein 14-Jähriger wird unverhofft
zum Superhelden, sein Pflege- Daumier: Europäisches Gleichgewicht.
bruder mit enzyklopädischem
Comicwissen bringt ihm bei,
wie er seine Kräfte nützt. «Sha- Zwei kritische Geister
zam!» ist ein sehr lustiger Meta-
film über Superheldenknaller,
sichtlich günstig produziert, Daumier – Pettibon. Kunstmuseum Winter-
dafür mit stringenter Handlung thur / Reinhart am Stadtgarten, bis 4.8.,
und charismatischen Figuren. Katalog: Hirmer.

After ★✩✩✩✩ Eine solche Phantasie bewundert man heute

Laurent (Vincent Lindon, mit roter Weste) kämpft gegen die Schliessung seiner Fabrik.
Aufstand der
Arbeiter
En guerre. ★★★✩✩
Frankreich 2018, 113 Min. Regie:
Stéphane Brizé. Mit: Vincent
Lindon, Mélanie Rover.
Welchen Kapitalismus wollen
wir? Einen, der ausschliesslich
auf Wachstum und freie Markt-
wirtschaft setzt? Oder einen, in
dem auch moralische und
soziale Verantwortung eine Rolle
spielen? Um diese Fragen dreht
sich das Drama «En guerre» von
Stéphane Brizé. Im Zentrum
dieses dokumentarisch anmu-
tenden Spielfilms steht Laurent
(Vincent Lindon). Er führt die
streikende Belegschaft einer
Autoteilefabrik in der französi-
schen Provinz an, deren Existenz
bedroht ist, seit der deutsche
Castorf-Rätsel
Bühne
Mutterkonzern den Betrieb
schliessen will. Und das, obwohl
die Arbeiterinnen und Arbeiter
seit zwei Jahren gratis Überstun-
den leisten und mit diesem
Effort den Aktionären eine deut-
lich höhere Dividende beschert
haben. Das Versprechen, die
Schliessung dadurch abzuwen-
den, entpuppt sich als Lüge.
Brizé lässt hier zwei Parteien
aufeinandertreffen, die zwar
abhängig sind voneinander, aber
in einem so asymmetrischen
Machtverhältnis stehen, dass
Einigung unmöglich ist. So hört
man immer wieder dieselben
Argumente, zunehmend ver-
zweifelt und immer lauter
vorgebracht, einmal vor Büro-
gebäuden, einmal am Verhand-
lungstisch, immer öfter in der
Gruppe der Streikenden selbst,
die auseinanderzufallen droht,
seit das Management den Ein-
sichtigen eine Abfindung ver-
sprochen hat. Man ist als Zu-
schauerin mittendrin im Gesche-
hen, fühlt die Ohnmacht der
Angestellten, die für die Manager
mit ihren schönen Frisuren nichts
anderes sind als Komponenten in
einer Gleichung, die angeblich
nicht mehr aufgeht. Man kann
die Wut verstehen, aber weil die
Figuren wenig anderes tun, als
ihre Parolen zu rufen, lernt man
sie nicht kennen, und das Ge-
zeigte wirkt etwas gar plakativ.
Brizé will die Schattenseiten
des Neoliberalismus zeigen: Je
mehr die Freiheit der einen auf
Kosten der anderen geht, desto
wahrscheinlicher werden soziale
Unruhen, Proteste und Gewalt.
Sein Film, der 2018 in Cannes
Premiere feierte, wirkt wie ein
Vorbote der «Gilets jaunes»-Be-
wegung, die sich letzten Oktober
formiert hat. Denise Bucher
roman «Justiz» gelingt es ihm so
Diese Teenager-Romanze ist
ein bedenklicher Anachronis-
mus: Das unschuldige Mäd-
chen aus der Provinz verliebt
sich an der Uni in den mysteriö-
sen Schönling, der sie zu der
Frau macht, die sie ohne ihn
niemals geworden wäre. Die
plumpe Inszenierung macht so
wütend wie die überholten
Geschlechterklischees. (dbc.)
J. Langford, H. Fiennes Tiffin.
kino Roland, etwas Gefängnis,
neidisch: Ein Drucker legt Louis-Philippe
in die Zeitungspresse und dreht zu. Der soge-
nannte Bürgerkönig, der zwischen der Juli-
revolution 1830 und der Februarrevolution
1848 in Frankreich herrschte, lag mit der
Presse immer wieder im Clinch. Schon 1831,
als der Verleger des Satiremagazins «La Cari-
cature», Charles Philipon, ihn als Birne dar-
stellte, wurde dieser wegen Majestätsbeleidi-
gung verklagt. Die Birne kennzeichnete nicht
nur das unförmige Aussehen des Regenten,
das Wort «poire» meinte auch Trottel oder
Dummkopf. Die Birne avancierte schnell zum
Symbol der Julimonarchie und ihrer Mixtur
aus Bereicherung, Bestechung und Unfähig-
keit von Parlament und Regierung. Honoré
Daumier hat sie auf der Lithografie von 1833
und anderen Karikaturen benutzt.
Der Zeichner, Maler und Bildhauer beglei-
tete über vierzig Jahre hinweg Politik und
Alltag. Über 4000 Blätter schuf er bis zu
seinem Tod 1879, daneben Gemälde und
Skulpturen. Insgesamt ergeben sie ein Pan-
orama Frankreichs. Etwa 2000 Lithografien
hat das Kunstmuseum Winterthur. Die Rein-
hart-Stiftungen verfügen über einen vorzüg-
lichen Bestand an Gemälden. Nun zeigt man
erstmals in einer gemeinsamen Anstrengung
einen Überblick über Daumiers Schaffen und
öffnet es auf heute.
Die Blätter des Franzosen werden nämlich
an den Stirnseiten des Ausstellungssaals von

MATTHIAS HORN

statt Krimi
Theater ★★✩✩✩
Friedrich Dürrenmatt: Justiz.
Schauspielhaus Zürich, Pfauen,
bis 27. Mai (Dauer: 5 Stunden
25 Minuten).
Binde einem Italiener die Hände
zusammen, und du bringst ihn
zum Schweigen. Verbiete Frank
Castorf, einem grossen Stoff
neue Texte zuzufügen (in seinem
Fall meist eine Bibliothek), und
er wird noch viel heftiger um
sich schlagen, um sich schreien
und mit Tausenden Umwegen
dem Ziel entgegenschreiten: der
Verwirrung des Publikums. Im
Falle von Dürrenmatts Kriminal-
Viel Bling-Bling, laute Worte
und doch kein Weg (Alexander
Scheer und Jan Bülow).
gut, dass bei der Premiere viele
Zuschauer spätestens nach zwei-
einhalb Stunden genug hatten
und Reissaus nahmen.
Was war vorher geschehen?
Schauspieler Robert Hunger-
Bühler vergass dauernd seinen
Text, schoss aber ziemlich cool
immer wieder einen in einem
Restaurant ab, langbeinige
Frauen schlichen über die
Bühne, alsbald knutschten Män-
ner, rundum sniffte man Kokain
und schrie sich die Lunge aus
dem Leib. Bald war da der rote
Roman-Faden völlig verloren,
nicht einmal mehr ein rosa
Schnürchen war zu erkennen.
Immerhin gab es ein spektakulä-
res Bühnenbild zu bestaunen:
etwas Kronenhalle, etwas Sex-
etwas Bellevue-Rondelle – somit
also durchaus viel Dürrenmatt.
Zürich schwappte lustvoll in den
Theatersaal (schade allerdings
um diese Bühnenpracht, dass
man meist bloss via Video in sie
Einblick gewinnt). Und als Ueli
Jäggi und Robert Hunger-Bühler
auch noch schweizerdeutsch
sprachen, da wurde es einem gar
etwas warm ums Herz. Nicht
lange. Das Eis drang rasch vor,
die Sprache wurde zur Neben-
sache oder verhedderte sich in
einer Kakofonie.
Der geheimnisvolle Kriminal-
roman wurde zum verstörenden
Frank-Castorf-Rätsel. Ob dieses
nach 5½ Stunden gelöst wurde,
wissen wir leider nicht.
Christian Berzins
Konvoluten Raymond Pettibons eingefasst,
gerade so, als sollte der kalifornische Zeich-
ner einem alten, kostbaren Geschmeide eine
zeitgemässe Fassung geben. Pettibon wurde
durch seine Entwürfe für Plattencover von
Punk-Bands bekannt und avancierte schnell
zu einer führenden Stimme seiner Genera-
tion: Wie der amerikanische Traum mit den
Sehnsüchten der Menschen spielt und zu
seiner Fratze verkommt, hat er in mit allen
Bild- und Literaturwelten spielenden Text-
Bild-Kombinationen vorgeführt. In dieser
Ausstellung wird nicht nur seine Nähe zu
Daumier sichtbar – den er verehrt –, als Besu-
cher ist man auch über die Ähnlichkeit der
Problemlagen erstaunt. Louis-Philippe und
Donald Trump sind zwei Fassungen dessel-
ben Typs, der Lügen, Raffgier und Noncha-
lance verbindet. Und man wundert sich, dass
die beiden Künstler zum ersten Mal zusam-
men zu sehen sind. Gerhard Mack

Kurz und knapp

Literatur
Tabea Steiner: Balg. Edition
Bücherlese 2019. 236 S., um
Fr. 31.–, E-Book 21.–. ★★★★✩
Timon liebt Tiere. Und er liebt
es, Wolken anzuschauen, Was-
sertropfen oder Staubmäuse.
Timon hat Mühe, sich zu konzen-
trieren, und manchmal wird
er aggressiv, ohne zu wissen
warum. Man könnte Timon ein
schwieriges Kind nennen, doch
Tabea Steiner braucht solche
Schubladen nicht. In ihrem
Debütroman durchmisst sie eine
ganze Kindheit, in kurzen, inten-
siven, hart geschnittenen Sze-
nen. Die 37-jährige Schweizer
Autorin und Literaturvermittle-
rin beweist einen genauen Blick
für Kinder und kindliche Wahr-
nehmung, für menschliche
Beziehungen überhaupt. «Balg»
erzählt nicht nur aus der Pers-
pektive Timons, sondern auch von
dessen Eltern Antonia und Chris,
deren Beziehung scheitert, und
von Valentin, Pöstler und früherer
Lehrer. Wegen einer alten Schuld
spricht Antonia nicht mehr
mit Valentin, bei dem sie einst zur
Schule ging. Timon aber, der
immer wieder in Valentins Garten
auftaucht, weiss davon nichts;
und so entwickelt sich zwischen
dem vernachlässigten Jungen
und dem alten Mann so etwas wie
eine Freundschaft – denn sonst
kümmert sich niemand um Timon.
Tabea Steiner erzählt nahe an
ihren Figuren, in einer knappen,
schlichten, präzisen Sprache.
Ihr atemloser Roman «Balg» wirft
die Frage auf, was passiert, wenn
Menschen nicht miteinander
reden. Und wie es dazu kommen
kann, dass ein Kind seinen Eltern
entgleitet. (läu.)
Klassik-CD
Ave Sol: Rigas Muzika Cauri Gad-
simtiem. Andris Veismanis, 2015.
★★★★★ Konzert: Sonntag
5. Mai, 17 Uhr, Peterskirche Basel.
Die Balten sind in der Schweiz am
Kommen – nicht erst seit der Este
Paavo Järvi mit dem Tonhalle-
Orchester zum Höhenflug ange-
setzt hat. Auch am Boden wird viel
musiziert. Am Solsberg-Festival
von Sol Gabetta singt am 15.6. der
lettischen Staatschor, nächsten
Sonntag treten der Spitzenchor
Ave Sol und das Kesselberg-
ensemble mit einem tollen Pro-
gramm gemeinsam in Basel auf.
Auf CD ist die Kraft dieses 50-jäh-
rigen Chores unter der Leitung
von Andris Veismanis eindrücklich
zu erleben. Erfreulich und typisch,
dass man sich nicht auf die schöne
Vergangenheit besinnt, sondern
die Moderne singend feiert. (bez.)
Der lettische Dirigent Andris
Veismanis gastiert mit dem
Chor Ave Sol in Basel.
Pop/Rock
Fat White Family: Serfs Up.
Domino 2019. ★★★★✩
Die provozierfreudige Band Fat
White Family aus den Häuserbe-
setzerkreisen von Brixton wurde
der Kategorie jener Künstler zuge-
ordnet, von denen man nicht viel
erwartete ausser einem kurzen
Schillern und einem traurigen
Absturz. Ihr Lebenswandel war
ungesund und unhygienisch, die
Videos konnte man in der Öffent-
lichkeit nicht anschauen. Aktionen
wie das Banner, das man am Tag,
als Margaret Thatcher verstarb –
«The bitch is dead» – an den Pub
hing, wo man gerade wohnte,
gemahnten an die weniger subti-
len Tage der Sex Pistols. Umso
grösser ist jetzt die Überraschung,
da mit dem schlau betitelten
«Serfs Up» schon das dritte Album
erscheint. Das hydraartige Ensem-
ble hat sich diversen Entzugs-
kuren unterzogen, dazu mit
anderen Projekten wie Moon-
landingz und Insecure Men fri-
sche Luft geschnappt, dazu hat
man sich in Sheffield ein Studio
eingerichtet. Wäre «Serfs Up»
ein Film, hätte ihn Rainer Werner
Fassbinder gedreht. Das Pan-
orama der Einfälle reicht vom
romantischen Streichquartett
(«Oh Sebastian») über gregoria-
nischen Chor («Tastes Good with
the Money») bis hin zum schmut-
zigen Glam-Rock und zu disso-
nanten Achtziger-Jahre-Balladen
(«Vagina Dentata»). Das Flair für
puerile Witze ist nicht verloren
gegangen: «Bobby’s boyfriend is
a prostitute» singt man zum Des-
sert. Der Sound ist stromlinien-
förmiger geworden, die Angst
vor Karambolagen haben die
Fat Whites nicht verloren. (hpk.)
Wetter
NZZ am Sonntag 28. April 2019

Wetterprognose Aussichten für kommende Woche

Alpennordseite Aussichten bis Sonntag:

Schaffhausen Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag Sonntag Am Montag wechselhaft mit
möglichen Schauern, weiterhin
4° 9°
Basel kühl. Richtung Westen
6° 10° St. Gallen freundlicher und weitgehend
trocken.
Zürich 3° 6°
Am Dienstag im Westen recht
4° 9° 11° 10° 18° 16° 17° 18° 17° sonnig, im Osten stark bewölkt
4° 4° 4° 6° 7° 7° 7° und zeitweise etwas Regen,
La Chaux-de-Fonds
Luzern Glarus weiterhin unterdurchschnitt-
0° 4°
liches Temperaturniveau für
Bern 5° 9° 5° 10°
Alpensüdseite die Jahreszeit.
3° 8° Chur Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag Sonntag Am Mittwoch freundlicher
Freiburg
5° 10° Sonne-Wolken-Mix, Richtung
3° 8°
Interlaken Westen meist sonnig. Weitge-
3° 9° hend trocken und deutlich
Gotthard
Lausanne St. Moritz milder.
Montreux –6° –3° Am Donnerstag und Freitag
5° 10° –4° 2°
5° 10° 18° 20° 21° 17° 21° 23° 26° Mischung aus Sonne und Wol-
11° 7° 8° 10° 8° 9° 11° ken mit vor allem über den Ber-
Genf Sitten gen und jeweils in der zweiten
5° 11° Locarno
5° 11° Tageshälfte ein paar Schauern.
Martigny 10° 18°
Am Samstag und Sonntag
5° 10°
Lugano Sonne und Mond Bergwetter teilweise bis recht sonnig und
8° 18°
wieder etwas milder.
Sonne Deutschschweiz Im Süden voraussichtlich die
Aufgang: 6.14 Wind km/h/
/h °C ganze Woche über zeitweise bis
Allgemeine Lage: Auch heute Alpennordseite, Wallis, Nord- Alpensüdseite und Engadin: Untergang: 20.32 3000 m NW 25– 50 –11° recht sonnig, zudem sehr mild
Sonntag fliessen in einer west- und Mittelbünden: Der Tag Während die Wolken im Enga- 22 min mehr Sonne 2000 m NW 20– 45 –4° bis warm.
lichen bis nordwestlichen Hö- bringt oftmals trübes und zeit- din zeitweise dicht sind, zeigt als vor einer Woche 1000 m SW 20– 35 7°
henströmung weiterhin sehr weise nasses Wetter. Dabei fällt sich teilweise auch die Sonne. Trend für übernächste Woche:
kühle und feuchte Luftmassen in den Morgenstunden Schnee Im Tessin ist es dank aufkom-
aufkom Mond Alpensüdseite Noch unsichere Entwicklung
zum Alpenraum, die sich am ab 700 bis 800 Metern, tags- mendem Nordföhn recht son- Aufgang: 3.55 Wind km/h/
/h °C der Wetterlage, aus heutiger
Alpennordhang stauen. Die über steigt die Schneefallgrenze nig mit hohen Wolken. Zudem Untergang: 13.40 3000 m N 25 – 55 –9° Sicht entsprechen die Tempera-
neue Woche bringt vor allem im leicht an. Die Temperaturen wird es mit Höchstwerten um Abnehmend 2000 m N 20 – 45 –1° turen aber insgesamt dem lang–
Westen eine Wetterbesserung. erreichen nur 6 bis 11 Grad. 18 Grad tagsüber ziemlich mild. Füllgrad: 37,5% 1000 m NO 15 – 50 11° jährigen Mittel.

Allgemeine Lage heute Sonntag um 13 Uhr Ausflugswetter

Tiefdruck- Sonntag Montag Sonntag Montag Sonntag Montag

9° zentrum
Tromsö Adelboden 3° SR 2° SR Evolène 0° S 1° S Pilatus –3°C S –3° S
T Arosa 0° S 0° S Goms 2° S 2° S Saignelégier 5° S 8° fR
Braunwald 3° SR 3° SR Gstaad 5° SR 6° fR Säntis –8° S –6° S
Hochdruck-
zentrum
Chasseral –2° S 0° S Hörnli 4° SR 6° fR Scuol 5° S 4° SR
H Davos 2° S 2° S Jungfraujoch –15° S –12° S Üetliberg 7° wR 8° fR
12°
Reykjavik H Elm 6° wR 7° fR Moléson –4° S –1° S Weissenstein 2° S 4° SR
Isobaren
Engelberg 5° SR 6° SR Napf –1° S 6° S Zermatt 3° S 3° SR
10° Luftdruck b - bedeckt f - freundlich G - Gewitter n - neblig R - Regen Rs - Regenschauer s - sonnig S - Schneefall Ss - Schneeschauer w - bewölkt
19° Helsinki 6° in hPa
Oslo 13°
T
Stockholm St. Petersburg
Kaltfront
Wetter gestern / Extremwerte
14°
Edinburg 14°
10°
Werte gestern Tagesmin. Tagesmax. Regen
Kopenhagen
Moskau 6 Uhr 12 Uhr Regen Jahr Grad Jahr Grad Jahr mm
Warmfront
12°
Dublin 14°
T 12° 14° 15°
Zürich 6,8° 9,9° 0,1 mm 1938 –1,5° 2012 28,4° 1879 33,0
London Amsterdam Berlin Warschau Basel 7,7° 11,2° 2,5 mm 1938 –3,2° 2012 28,0° 1871 117,8
12° Bern 7,8° 11,1° 2,7 mm 1938 –3,0° 2012 28,2° 1977 51,3
Brüssel 21°
Genf 8,4° 12,4° 2,9 mm 1980 –1,0° 1947 26,6° 1992 24,3
13°
12° 13°
Prag 16°
T Kiew Okklusion
Lugano 8,8° 14,5° 0,0 mm 1938 2,1° 2012 25,3° 2013 56,4
Brest Paris 18°
10° Wien
8° München Budapest 16°
Bern
H 20°
Odessa
15°
Bordeaux
Belgrad 22°
Bukarest Wetterlexikon: Saharastaub-Ereignisse
17°
Nizza H 17°
Dubrovnik
18° Anfang Woche war es wieder so Alpen verfrachtet worden. Weil treten nur wenige Saharastaub-
23° 15° Rom 20°
Madrid Barcelona Istanbul weit: Starke Winde und Turbu- sie wie organische oder indust- Ereignisse auf, und im Winter
21° lenzen haben Sandpartikel aus rielle Staubteilchen wirken, sehr kurze – jedes Jahr zwischen
25° Palma 23°
Lissabon 18° Athen der Sahara im Norden Afrikas in tragen die Sandpartikel beson- 10 und 34. Sandkörner aus der
22°
Palermo Antalya die Atmosphäre transportiert. ders im Frühjahr und im Herbst Sahara werden hierzulande seit
21°
18° Tunis
Gibraltar 21° Die kleinsten von ihnen sind mit erheblich zu Aerosolbelastung 2001 mit speziellen Lasergeräten
Algier 28°
Nikosia Luftströmen bis in die Schweizer der Atmosphäre bei. Im Sommer aufgezeichnet.

27°
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Haben Sie Ihre Karriere von Anfang
an genau vor sich gesehen?
Kaum. Das eine ergab das Nächste.
Digitalisierung
Glücklicherweise erwischte ich dabei
immer den richtigen Zug. Rückblickend KMU haben bei der digitalen
ergab sich eine gewisse Kontinuität. Sicherheit Nachholbedarf
Und so bin ich heute da, wo ich bin.
Laut Experten sind vermehrt kleine
Wie lauten Ihre Führungsgrundsätze? Firmen Ziele von Datendiebstahl und
In einem Dienstleistungsbetrieb wie Cyberattacken. Bei Massnahmen zur
der Blindekuh arbeiten die unter- Minimierung der Cyberrisiken besteht
schiedlichsten Menschen zusammen. Handlungsbedarf. Das zeigt schon der
Dies erfordert ein hohes Mass an Diszi- lasche Umgang mit Passwörtern. 4
plin innerhalb klar vorgegebener Leit-
planken. Am wichtigsten ist für mich
eine gut funktionierende Vertrauens-
basis, welche die vorhandenen Schwä-
chen minimiert bzw. Stärken optimiert.
Die einzelne Persönlichkeit soll sich
entfalten und einbringen können. So
entsteht ein Team mit enormer Schub-
kraft, die das Unternehmen schneller Impressum
und weiter vorwärtsbringt.
Chefredaktion: Eric Gujer. Redaktion: Walter
Ist kompetente Unternehmensführung
Hagenbüchle (walter.hagenbuechle@nzz.ch)
erlernbar?
Verlag: Neue Zürcher Zeitung AG, Postfach,
Jein. Führungsgrundsätze, verschie-
8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11.
dene Führungsmodelle sind sicher
erlernbar. Vielmehr braucht es bei der Anzeigenverkauf
Teamführung aber auch Sozialkompe- Telefon 044 258 16 98, Fax 044 258 13 70
tenz und Authentizität. Man soll sich inserate@nzz.ch
selber bleiben. Das bewirkt erst die not-
wendige Glaubwürdigkeit – und die Stellenmarkt
kann wiederum vieles bewirken. Ralph Bucherer hält es gerne wie Charlie Chaplin und findet, ein Tag ohne Lachen sei ein verlorener Tag. JANINE DÄHLER www.jobs.nzz.ch

Darf ein Chef auch Schwächen zeigen?

Da sind wir wieder bei der Glaub-

«Die global vernetzte Welt birgt

würdigkeit. Die kann sich erst einstel- trauensbasis wächst, die einzelnen
len, wenn der Chef auch zu seinen Kompetenzen schärfen sich und kön-
Schwächen steht, diese im Unterneh- nen auf die adäquaten Einsatzgebiete

nicht nur Chancen»

men offenlegt. «Ja, ich habe meine
Schwächen. Mache dies und das weni-
ger gern» – dies kommuniziere ich
offen innerhalb des Teams und erwarte
dasselbe auch von jedem einzelnen
Teammitglied. Die angesprochene Ver-
konzentriert werden.
Wie spüren Sie die Wirtschaftslage?
Ehrlicherweise muss ich sagen, dass
33 Fragen an Ralph Bucherer, Betriebsleiter Blindekuh Basel Fortsetzung auf Seite 3

Gfeller Consulting & Partner AG

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Unsere Mandantin ist mit einem Einzugsgebiet von rund 200 000 Einwohnern eine
der wichtigsten akutmedizinischen Einrichtungen der Ostschweiz. Sie erbringt medi-
zinisch hochstehende, ambulante und stationäre Gesundheitsleistungen und be-
schäftigt ca. 1400 Mitarbeitende. Im Auftrag der Geschäftsleitung suchen wir für
mehrere regionale Standorte bzw. Operationssäle eine führungsstarke, kommunika-
tive und sozialkompetente Persönlichkeit als
Leiter/in OP-Management
Gesundheitswesen
Die Flughafen Zürich AG betreibt die national und international etablierte Verkehrs- und Begegnungsdrehscheibe der Schweiz − den Flughafen
Zürich. Wir bieten interessante und vielseitige berufliche Herausforderungen in diesem einzigartig spannenden Arbeitsumfeld.
Leiterin Corporate Communication (m/w)
Corporate Communication bildet den Dreh- und Angelpunkt rund um die externe und interne Kommunikation
des Flughafens Zürich. Sie ist als Stabsabteilung direkt dem CEO unterstellt und hat massgeblichen Einfluss
auf die Pflege einer starken internen Unternehmenskultur und die Wahrnehmung des Flughafens in der Öffentlich-
keit sowie bei zahlreichen Stakeholdern. Ein wichtiger Teil der Aufgabe ist auch die Weiterentwicklung des
Flughafens als Ausflugsziel sowie die Bewirtschaftung eines breiten Besucherangebotes.

Die heutige Leiterin Corporate Communication geht Ende März 2020 in Pension. Im Sinne der langfristigen
Ihre Hauptaufgaben
Nachfolgeplanung suchen wir bereits heute die geeignete Nachfolgerin oder den geeigneten Nachfolger.
Als Leiter/in OP-Management sind Sie verantwortlich für das Funktionieren des Sie können auf ein hoch motiviertes Team zählen, das seine Arbeit mit viel Herzblut ausführt.
gesamten OP-Bereichs. Sie verwalten die OP-Kapazitäten bedarfsgerecht und effizi-
ent. Das neu aufzubauende Controlling- und Reportingsystem schafft Transparenz
Ihre Aufgaben Ihr Profil
in Kosten, Prozessen, Mitarbeiter- und Patientensteuerung. Sie erarbeiten griffige
Prozessstandards in Kooperation mit den Führungsverantwortlichen und entwi- › Leitung des Teams Corporate Communications › Fundierte Aus- und Weiterbildung
ckeln das interdisziplinäre OP-Management aktiv weiter. (mit 11 Mitarbeitenden und rund 50 Tour Guides) › Langjährige Erfahrung in der Kommunikations-
› Gesamtverantwortung für eine professionelle und Medienbranche und vorzugsweise als
Ihr Profil und zeitgemässe externe und interne Unterneh- Kommunikationsverantwortliche eines mittel
menskommunikation der Flughafen Zürich AG grossen Unternehmens
Sie sind eine selbständige und agile Persönlichkeit mit Führungserfahrung. Sie ver-
fügen über eine Ausbildung als technischer OP-Assistent HF / Fachexperte Anäs- › Monitoring und Beeinflussung der Wahr- › Mehrjährige Führungserfahrung mit guten
thesie NDS oder Arzt mit Fachausweis. Weiter haben Sie Leistungsausweise in Pro- nehmung des Flughafens in der Öffentlichkeit konzeptionellen und organisatorischen
jekt- und Prozessmanagement sowie Reporting und Controlling. Wünschenswert › Beratung des CEO, der Geschäftsleitung und des Fähigkeiten
ist eine Weiterbildung im OP-Management. Kaders in kommunikativen Fragen › Ausgeglichene und reife Persönlichkeit mit hoher
› Pflege des internen Wissensaustausches im natürlicher Autorität, die auch unter Druck und in
Sinne einer guten Unternehmenskultur Krisensituationen Ruhe bewahrt
Ihre Zukunft
Sie erwartet eine verantwortungsvolle Herausforderung, vielfältige Gestaltungs- › Gesamtverantwortung für das Ausflugsziel › Teamplayer, Hands On, neugierig und stete
möglichkeiten sowie der Aufgabe und Verantwortung entsprechende Kompeten- Flughafen inkl. der Zuschauerterrasse, den Rund- Verbesserungen anstrebend, identitätsstiftend
zen bei einem attraktiven Arbeitgeber. In einem dynamischen Umfeld gestalten fahrten, einem breiten Besucherangebot und dem › Saubere und klare Sprache in Wort und Schrift,
und entwickeln Sie die Organisation des OP-Managements massgeblich mit. künftigen Park vertraut mit zeitgemässen Kommunikationsformen
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Ihr nächster Schritt Veranstaltungen Einsätze zu leisten, wenn es die Situation erfordert
Senden Sie Ihre Bewerbung mit Lebenslauf, Foto, Zeugnissen und Diplomen › Vernetzung der Flughafenpartner in Bezug auf › Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch
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2 NZZ am Sonntag 28. April 2019

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Unsere Mandantin mit Standort im Schweizer Mittelland reprä- G  G  
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sentiert eine organisch und durch gezielte Akquisitionen resp.  G 
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Joint Ventures wachsende, sehr erfolgreiche Unternehmensgruppe
der Konsumgüterbranche (FMCG). Sie ist Teil eines namhaften
Schweizer Konzerns und beschäftigt rund 1300 Mitarbeitende. Die
Wertschöpfungskette ist beeindruckend tief und so finden sich

alle Funktionsbereiche von Marketing/Sales über Entwicklung,
Produktion bis hin zur professionellen Supply Chain wieder. Im  
Zuge der Internationalisierung und der zukünftigen Markttrends 8  DE

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werden Strategien und Strukturen laufend angepasst. Wir sind be- 6 G E ?
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auftragt, den Kontakt mit einer Persönlichkeit als G"  E A
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und Mitglied des Group-Managements zu suchen. Unser Fokus 
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richtet sich dabei auf eine unternehmerische und überzeugende  
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Schwerpunkten Kultur- und Changemanagement sowie Personal- EF
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entwicklung etabliert und sicherstellt. Sie unterstützen das Topma- ?
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zukunftsgerichteten Projekte. Sie selber leiten zwei frisch lancierte     8" G EG  "   ;  EF 

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und sehr ambitionierte Projekte zu den Themen Beurteilung / Ent-    
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weitere strategische Aufgaben, die wir mit einzelnen Facetten skiz-   G$ 8
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zieren: Globale HR-Strategie, Leadership Development, Rekrutie- 5# 
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rungen auf Top-Level, Initiierung der kulturellen Veränderungspro-
zesse, Implementierung weltweiter HR-Standards, Recruting & 5  0  8 6
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Employer Branding, Integration akquirierter Unternehmungen etc. 8  
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Ihre Rolle verstehen Sie als dienstleistungsorientierter, empathi- <
  
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scher und mit starkem Gestaltungsflair ausgestatteter



   
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SPARRINGSPARTNER FÜR DEN CEO @ $ !*' ** ),, ,, ))
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Sie verweisen fachlich auf das Fundament eines BWL-Studiums 8 DG" 1 
;
und/oder auf einen höheren Diplomabschluss in Richtung Perso-
nalmanagement. In Ihrem CV finden wir mehrere Jahre Erfahrung in <
F  882 >E # 4G ?EG C


leitender HR-Position einer grösseren Unternehmung im Konzern-
umfeld mit internationaler Ausrichtung. Im engeren Kreis sehen wir
HR-Profis mit Herkunft aus der produzierenden Umgebung, vor-
zugsweise FMCG, mit Fokus auf der anspruchsvollen Projektarbeit.
Ebenso stark gewichten wir Ihre Sozialkompetenz, welche uns
durch Integrität, Gestaltungsstärke, Offenheit für Neues und gleich-
zeitig Pragmatismus überzeugen soll. Eine sehr reizvolle Position
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strasse 11, 8021 Zürich.
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und Pflege altersgerechter, adäquater Freizeitaktivitäten; Aufbau
und Pflege adäquater Kontakte zu Gleichaltrigen; Unterstützung
beim selbständigen Wohnen, bei selbständiger Haushaltsführung
sowie in allen Bereichen der altersgemässen Verselbständigung;
allgemeine Aktivierung und Motivierung. Wichtig ist die rasche,
kleinschrittige Vermittlung von Erfolgserlebnissen.
Fundierte Erfahrungen im pädagogischen Umgang mit
Jugendlichen und/oder in der Jugendhilfe sind Voraussetzung.
Zuschriften bitte unter NZZ AG, c/o Chiffre NZZ, Chiffre-Nr.
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 NZZ am Sonntag 28. April 2019 3

«. . . nicht nur Chancen»

Fortsetzung von Seite 1
ich während meiner mittlerweile sechs
Jahre bei der Blindekuh die Wirt-
schaftslage nie eins zu eins gespürt
habe. Dass in der Gastronomie wirt-
schaftliche Veränderungen zuerst und
zuletzt bemerkt würden, wurde mir
schon bei meiner Ausbildung mitge-
geben. Mittlerweile bin ich nicht mehr
ganz dieser Meinung. Vieles lässt sich
mit einer guten Dienstleistung überbrü-
cken, mit sehr viel Menschlichkeit lässt
sich weiterhin Umsatz generieren. Und
dabei spielt wiederum auch die Glaub-
würdigkeit eine wichtige Rolle.
Hat die globale Arbeitsteilung positive
Effekte gebracht?
Die global vernetzte Welt birgt nicht
nur Chancen – oft werden die Starken
noch stärker und die Schwachen blei-
ben schwach, wenn sie nicht noch
schneller und härter arbeiten.
Was geht Ihnen auf die Nerven?
Mangelnde Disziplin, fehlende
Lebenseinstellung, nicht mit beiden
Beinen im Leben zu stehen, ein nicht
funktionierendes oder nicht vom
Elternhaus mitgegebenes Rüstzeug hin-
sichtlich der Arbeitsmoral, also hin-
sichtlich dessen, was es heisst, täglich
aufzustehen, sein Bestes zu geben –
dass dies erst noch erlernt werden muss,
das kann mich schon verärgern.
Worüber können Sie herzlich lachen?
Oh, über ganz vieles. Über diese
Frage zum Beispiel. Ich bin grundsätz-
lich ein fröhlicher Mensch. Humor ist
auch situationsabhängig. Während der
Arbeit gibt es glücklicherweise immer
wieder diese Momente.
Was sagen Ihre Mitarbeiter über Sie?
Meine Mitarbeiter sagen sicher – das
hoffe ich zumindest –, dass sie diese Art
von Chef noch nie gehabt haben. Ich
weiss um die Fähigkeiten jedes Einzel-
nen und setze diese konzentriert ein.
Das Team weiss genau, dass ich mich
nicht über Einzelne hinwegsetze, son-
dern mich für jeden einsetze. Das geht
weit über das rein Geschäftliche hinaus:
Da helfe ich auch mal bei der Steuer-
erklärung oder wie gerade jetzt einem
auswärtigen Mitarbeiter bei der Woh-
nungssuche in Basel. Wie ich das Team
führe, ist sicher einmalig.
Wie reagieren Sie auf Kritik?
Mit Kritik, die sich ans Unterneh-
men richtet, setze ich mich gern ausein-
ander. Damit habe ich keine Probleme.
Ich bin offen für konstruktive Gesprä-
che und leite sie ans Team weiter.
Hat Sie Ihr Bauchgefühl auch schon
getäuscht?
Ja, manchmal, aber eher selten. Mein
Bauchgefühl sagt mir relativ schnell, ob
etwas stimmt oder nicht.
Stellen Sie auch ehemalige Arbeits-
kollegen und Freunde ein?
Nein, das ist ein Grundsatz: Ich
arbeite weder mit Kollegen oder Freun-
den noch mit Familienmitgliedern
zusammen.
Sind Frauenquoten notwendig?
Ich schaue, dass ich grundsätzlich ein
gemischtes Team habe. Der Mensch an
sich mit seinen Kompetenzen steht
dabei im Vordergrund. Insofern hat sich
mir diese Frage noch nie gestellt.
Googeln Sie Kandidaten?
Nein. Die Kandidaten sollen selber
zu Wort kommen. Und die Gespräche
lasse ich dann auf mich wirken.
Welchen Stellenwert haben für Sie
soziale Netzwerke?
Innerhalb der Arbeitswelt haben sie
ihre Bedeutung. Im Verkauf, in der
Unternehmensförderung und Öffent-
lichkeitsarbeit etwa gehören sie dazu
und eröffnen Möglichkeiten, deren
Effekte und Wirkungen regelmässig
auszuloten sind und die (keinesfalls
aufdringlich) genutzt werden können.
Was halten Sie von Managern, die mit
wenig Schlaf und Wochenendarbeit
auftrumpfen?
Nichts. Ich schlafe sehr gerne. Und
das Wochenende gehört meiner Familie.
Beides sind wichtige Ausgleiche. Ich bin
überzeugt davon, dass sich ein guter
Rückhalt positiv auf das Unternehmen
überträgt und sich letztlich auf die
Unternehmensstärke auswirkt. Also
Sorge tragen zum familiären Umfeld.
Würden Sie Ihre Karriere zugunsten
eines humanitären Einsatzes aufgeben?
Das hätte ich in jungen Jahren
bestimmt gemacht. Heute bin ich fami-
liär eingebunden. Aber später: Warum
nicht? Geld ist nicht alles. Etwas Gutes
tun und mit einem guten Gewissen aus
dem Leben scheiden hat seinen Wert.
Wann und wo können Sie wirklich
abschalten?
Zu Hause. Mit den Kindern. Etwa,
wenn meine Tochter mich anlacht.
Sind Vorbilder noch aktuell oder hin-
derlich bei der Selbstverwirklichung?
Für mich eher eine seltsame Frage,
da ich nicht das Bedürfnis habe, mich
selbst verwirklichen zu müssen und dies
auch nicht mein Ziel ist. Ich möchte das
Bestmögliche aus jedem Tag heraus-
holen – als Kopf einer Unternehmung
mit dem Team im Vordergrund.
Was raten Sie dem Berufsnachwuchs?
Beharrlich zu sein, geduldig, Biss zu
haben, auch wenn es mal nicht so läuft,
wie man möchte. Zudem: Disziplin und
ein anständiges, natürliches Auftreten
– dann passt das schon.
Wie wurden Sie durch Ihre ehemaligen
Lehrpersonen eingeschätzt?
Ich denke, ich wurde oft falsch ein-
geschätzt. Man sagte mir damals Sätze
wie: „Lern keinesfalls Koch, das kommt
nicht gut“.Also habe ich Koch gelernt.
Hat Ihnen die Schule das wirklich
Relevante vermittelt?
Die weiterführenden Schulen
bestimmt. Kochlehre. Hotelfachschule.
Das zu Lernende hatte nun mit dem zu
tun, was mir persönlich gefiel. Ich blühte
auf, sog alles auf wie ein Schwamm –
und setze dies auch heute noch ein.
Könnten Sie sich ein Leben im Kloster
vorstellen?
ZUR PERSON
Ralph Bucherer, 41, ist seit sechs Jahren Betriebs-
leiter der Blindekuh Basel. Für das beliebte Dunkel-
restaurant mit weiterem Standort in Zürich wurde
die gleichnamige Stiftung weltweit ausgezeichnet.
Die gemeinnützige Stiftung Blindekuh fördert den
Dialog und das gegenseitige Verständnis zwischen
Sehenden und Nichtsehenden. Dazu entwickelt und
unterstützt sie Projekte, die Arbeitsplätze für blinde
und sehbehinderte Menschen schaffen. Die Stiftung
ist für diese Bevölkerungsgruppe eine der bedeu-
tendsten Arbeitgeberinnen in der Schweiz. Das Dun-
kelrestaurant Blindekuh Basel beschäftigt 32 Mit-
arbeiter, davon sind 6 blind beziehungsweise
sehbehindert. Ralph Bucherer, früher als Geschäfts-
führer der Restaurants «Feldschlösschen» und
«Schlossberg» sowie des Sushi-Lokals «Yoko» tätig,
lernte Koch und absolvierte die Hotelfachschule in
Thun. Er ist Vater zweier Kinder.
Das habe ich mir schon mit zwanzig
überlegt. Das wäre eine völlig andere
Situation als mein jetziger Alltag. Doch.
Ich kann mir das durchaus vorstellen.
Ein Ort des Rückzuges und der Ruhe,
um mich innerlich zu verorten. Aber
nur eine Zeitlang.
Kommen Sie manchmal zu spät?
Das kommt etwa einmal im Jahr vor.
Glauben Sie an das Schicksal?
Daran glaube ich überhaupt nicht,
weil es für mich nicht greifbar ist und
daher auch nicht relevant.
Sind Sie zuversichtlich für die
Schweiz?
Ja, immer. Da hole ich etwas aus:
Schon als Kind bereiste ich mit mei-
nen Eltern auch Weltregionen, in
denen schwierige Verhältnisse herr-
schen. Deshalb schätze ich umso mehr
die gut funktionierenden und organi-
sierten Abläufe hierzulande, was auch
eine gewisse Lockerheit im Alltag
ermöglicht. Daher fühle ich mich
beruflich sehr wohl in der Schweiz.
Natürlich stehen auch uns gesell-
schaftliche Herausforderungen bevor.
Aber für jede Herausforderung gibt es
eine Lösung.
Welche Probleme sollte die Politik
unverzüglich anpacken?
Wenn ich etwas herauspicken soll,
dann die Migration, die weltweiten
Fluchtbewegungen und alle damit ver-
bundenen Herausforderungen und
Dringlichkeiten.
Eine Ihrer Lebensweisheiten?
Da halte ich es gerne wie Charlie
Chaplin: Ein Tag ohne Lachen ist ein
verlorener Tag.
Interview: Walter Hagenbüchle

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nd sind zuständig für das Sekretariat
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Herausgeberin: Neue Zürcher Zeitung AG logie­ und Wissenschaftsstiftungen. Dank der Unter­ Stiftungen.
stützung von Privatpersonen sowie von Stiftungen
Redaktion: Walter Hagenbüchle, «Neue Zürcher Zeitung»
und Unternehmen wird auch jene Forsch hung und Neben einem Abschluss in Betriebswirtschaft auf
Verbreitete Auflage: «Neue Zürcher Zeitung» 111 023 Ex. (Wemf 2018), davon 25 718 E-Paper Lehre möglich, die es sonst nicht gäbe: G emeinsam Stufe FH/Uni mit Schwerpunkt Finanzen und
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Erscheint: Wöchentlich als Beilage in der «Neuen Zürcher Zeitung» (samstags) um wegweisende Lösungen für globale Herausforde­ Sie haben ein Flair für IT, sind exzellent in der An­
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 NZZ am Sonntag 28. April 2019 4

Digitalisierung

KMU haben bei digitaler Sicherheit Nachholbedarf

Die Digitalisierung verspricht nicht nur
effizientere Betriebsabläufe und Chan-
cen für neue Geschäftsmodelle, sie er-
höht auch den Aufwand für den Schutz
vor Hackern und Datenmissbrauch.
Grössere Unternehmen beschäftigen
hierzu IT-Profis,für kleinere Firmen,vom
Malergeschäft bis zur Arztpraxis, ist das
Thema IT-Sicherheit eine Herausforde-
rung. Das zeigt sich schon beim relativ
einfach zu bewältigenden Thema Pass-
wörter-Management, bei dem viel ge-
pfuscht wird. Anfang April veröffent-
lichte der Gesamtverband der Deutschen
Versicherungswirtschaft (GDV) eine
Studie über den Umgang mit E-Mails bei
Arztpraxen,Apothekern und Kliniken. 9
von 10 Praxen nutzten einfach zu er-
ratende Passwörter oder gar keine, meh-
rere Mitarbeiter nutzten dasselbe Pass-
wort. Bei 3 von 5 Kliniken waren gar E-
Mail- und Passwort-Kombinationen im
Darknet zu finden.
Untersuchungen in verschiedenen Bran-
chen könnten auch in der Schweiz ernüch-
ternde Resultate liefern. So warnte die
Melde- und Analysestelle Informations-
sicherung (Melani) des Bundes im letzten
Herbst in ihrem jüngsten Bericht über die
sicherheitstechnische Lage vor dem la-
schen Umgang mit Passwörtern. Doch
selbst gut gewählte Passwörter garantieren
keine Sicherheit: Anfang Jahr machten
Unbekannte in einer «Collections #1–5»
genannten Sammlung 2,2 Milliarden ge-
stohlene Zugangsdatensätze samt zumTeil
unverschlüsselten Passwörtern öffentlich
zugänglich. Auch Firmen und Private in
der Schweiz waren in grosser Zahl betrof-
fen,darunter auch Mitarbeiter derArmee,
des Bundes und der Kantone.
Meldungen über Identitätsdiebstahl
und Pannen häufen sich. So hat Face-
book Ende März Berichte bestätigt, dass
seit 2012 Zugangsdaten für mehrere
hundert Millionen Facebook-Profile un-
verschlüsselt auf einer internen Daten-
bank abgelegt waren. Potenziell hatten
20 000 Mitarbeiter Zugang, laut einem
Whistleblower soll die Datenbank intern
9 Millionen Mal abgefragt worden sein.
Facebook ist zwar ein Netzwerk für Pri-
DANIEL STOLLE
vate, doch viele Anwender verwenden
Passwörter mehrfach, und dies für pri-
vate wie geschäftliche Konten. In den
#Collections 1–5 sind auch Zugangs-
daten für geschäftlich genutzte Internet-
plattformen gelistet wie etwa Adobe
oder Dropbox. Das hat unser Test auf
der Website des Hasso-Plattner-Instituts
(HPI) der Universität Potsdam gezeigt.
Dieses hat die Daten der Leak-Collec-
tion analysiert und informiert Anfra-
gende nach einem Check, ob ein Konto
vom Leak betroffen ist und auch das
Passwort zugänglich war. Wer betroffen
ist, muss dringend handeln, um das
Risiko eines Datendiebstahls oder einer
Erpressung zu senken.
Leichtsinn bei Passwörtern
Die Melde- und Analysestelle Melani hat
als Hilfestellung Verhaltensregeln für die
Minimierung der Risiken aufgestellt. So
sollten Passwörter mindestens 12 Zei-
chen mit Buchstaben, Zahlen und Son-
derzeichen enthalten, nur für ein Konto
verwendet und regelmässig geändert
werden.Wo die Zwei-Weg-Authentifizie-
rung angeboten wird, sollte man diese
nutzen. Hier wird der Schutz durch ein
zusätzliches, per SMS, Handy-App oder
Mail-Versand zugestelltes Sicherheits-
element deutlich erhöht.
Einen guten Schutz bieten spezielle Pass-
wort-Manager, die Zugangsdaten ver-
walten und mit einem starken Master-
Passwort schützen. IT-Sicherheit deckt
viel mehr Bereiche als Zugangsdaten ab,
wie etwa Datensicherungsstrategien,
Netzwerkabsicherung oder Virenschutz.
Hochgerechnete Szenarien über mög-
liche Cyberrisiken lassen das Schadens-
potenzial erahnen.
So publizierte Anfang Jahr die Con-
sulting-Firma Accenture eine Studie, wo-
nach Cyberkriminalität in den nächsten
fünf Jahren weltweit Kosten von über 5
Billionen Dollar verursachen könnte.
Accenture sieht gar den Erfolg der digi-
talen Wirtschaft in Gefahr, sollten Unter-
nehmen die Risiken nicht minimieren
können.Hier sind vermehrt auch die klei-
neren Firmen gefragt. Das Departement
Informatik der Hochschule Luzern hat
vor etwas mehr als einem Jahr die Studie
«Informationssicherheit in Schweizer
KMU» veröffentlicht.
Privates und Firma vermischt
Zwei Drittel der befragten 230 KMU
diverser Branchen schätzen den poten-
ziellen Schaden bei missbräuchlicher
Veröffentlichung von Firmendaten als
gross bis sehr gross ein, doch mangelt es
ihnen gemäss der Studie an Wissen im
Umgang mit Informationssicherheit.
So sollen 2 von 3 Firmen Mitarbeitern
erlauben, Firmen-Mails auf privaten Ge-
räten zu beantworten, und ein Drittel ge-
währt Mitarbeitern den Zugang zu allen
IT-Anwendungen. Die Autoren der Stu-
die empfehlen den KMU, mehr Ressour-
cen für die Informationssicherheit be-
reitzustellen und die Mitarbeiter in Schu-
lungen besser zu informieren.
Selber bietet die Hochschule Luzern
mit Fachkursen zum Thema Informa-
tions- und Cybersicherheit für kleine
Unternehmen konkrete Unterstützung
an. Auch das Bundesamt für wirtschaft-
liche Landesversorgung (BWL) gibt eine
Hilfestellung im Umgang mit Risiken der
Informations- und Kommunikationstech-
nologien (IKT).
Die Broschüre «IKT-Minimalstan-
dard» richtet sich an Firmen mit kritischer
Infrastruktur, das Bundesamt empfiehlt
sie allen interessierten Unternehmen. Das
BWL hat mit mehreren Organisationen,
etwa dem Fachverband ICT Switzerland,
den «Cybersecurity-Schnelltest für KMU»
entwickelt. Dieser soll in 12 Themenberei-
chen aufzeigen, ob die im Unternehmen
getroffenen Massnahmen zum Schutz vor
Cyberrisiken tatsächlich ausreichend sind.
Claude Settele

Dürfen wir Sie

mal wieder zum
Staunen einladen?
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Swissmedic ist die Schweizerische Überwachungsbehörde für Arzneimittel und Medizinprodukte. Sie gewährleistet,
dass nur qualitativ einwandfreie, sichere und wirksame Heilmittel in der Schweiz in Verkehr gebracht werden.

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 Nr. 4 | 28. April 2019

Lyrik Coverstory Faschismus

Warum wir Der Schweizer Autor Michael Extremismus
Gedichte Fehr ist ein Klangmagier. in der Schweiz
brauchen Aus Sprache macht er Musik von 1918–1945
4–19 6 23
Bild: Sägetruppe aus dem Thurgau, FREUNDLICHERWEISE ZUR VERFÜGUNG GESTELLT VON MOSTEREI MÖHL AG

Hipster, 1964
Geschichte schreibt Gegenwart
Inhalt

Nun ist sie wieder da, die Leichtigkeit. Die Luft ist mild, die Tage
sind schon lang, die Bäume tragen frisches Grün. Das Aufatmen
ist kollektiv zu spüren. Und was könnte die Leichtigkeit des
Frühlings besser einfangen als ein Gedicht? «Der Frühling lässt
sein blaues Band / Wieder flattern durch die Lüfte», schrieb
Eduard Mörike 1829 über diese Jahreszeit. Zugegeben, Mörikes
Frühlingsgedicht ist ein Schlager unter den Gedichten, nicht
Martina Läubli,
Redaktionsleiterin
gerade innovativ. Aber mit dem blauen Band, das unbeschwert
«Bücher am Sonntag». in der Luft flattert, hat der Dichter ein stimmiges Bild für diese
Leichtigkeit gefunden und sich damit in die Erinnerung einge-

Die Kunst,
prägt. Gelungen ist ihm dies mit wenigen, in Versen verdichte-
ten Worten. Lyrik ist in Sprache gegossene Leichtigkeit. Die
Kunst, mit wenig viel zu sagen. «Lyrik lässt den Ballast und
mit wenig Beton der Sprache weg, hier glühen Bilder und Momente», sagt
der Schweizer Autor Michael Fehr im Interview (Seite 6).

viel zu sagen Gedichte wecken nicht nur Bilder, sondern sie sind auch mit der
Musik verwandt. Durch Rhythmus, Klang und Reim klingen sie
in unserem Kopf weiter, bleiben dort haften – manchmal ein
Leben lang. Meine Grossmutter konnte mit über 90 Jahren noch
die Balladen rezitieren, die sie einst in der Sekundarschule
gelernt hatte und die sie sich als Jugendliche auf langen
Heimwegen aufgesagt hatte. Um diesen Schatz habe ich sie stets
beneidet. Mir spuken nur einzelne Verszeilen im Kopf herum.
Aber manchmal reicht auch eine Zeile, um innezuhalten und
den Blick scharf zu stellen. Nicht nur im Frühling – Zeit für
Poesie ist immer. Deshalb widmen wir die vorliegende Ausgabe
von «Bücher am Sonntag» der Lyrik. Ich wünsche Ihnen eine
inspirierende Lektüre! Martina Läubli

Belletristik 23 Yves Schumacher:

GORDON WELTERS

Nr. 4 | 28. April 2019

Nazis! Fascistes! Fascisti!

Lyrik Coverstory Faschismus
Warum wir Der Schweizer Autor Michael Extremismus
Gedichte Fehr ist ein Klangmagier. Aus der in der Schweiz
brauchen Sprache macht er Musik von 1918–1945

4 Lyrik: Fünf ausgewählte Gedichte 24 Sarah Brockmeier & Philipp Rotmann:

4–19 6 23

6 Michael Fehr im Interview Krieg vor der Haustür

8 Federico Italiano & Jan Wagner:
Grand Tour. Junge Lyrik Europas
Michelle Steinbeck:
Explosionen auf dem Papier
10 US-Dichter ohne festen Wohnsitz
12 Übersetzen: Gedichte ausforschen
13 Monika Rinck: Alle Türen /
Michael Fehr Champagner für die Pferde
(Seite 6).
Illustration von
Essay
André Carrilho.
14 «du hältst berliner lyrik für stylish und
schwierig? gut.» Der Verlag
Kookbooks ist das Herz der Lyrik-
Avantgarde Berlins. Von Florian Bissig
Kinder- und Jugendbuch
17 Lyrik für Kinder: Uwe Michael
Gutzschhahn, Elisabeth Steinkellner,
Michael Hammerschmid
Reime für Kleinkinder:
Martin Baltscheit & Anne-Kathrin
Behl, Jörg Isermeyer & Daniel Napp
Kurzkritik Lyrik
18 Carolin Callies: schatullen & bredouillen
Philippe Jaccottet: Gedanken unter...
Theodor Waigel: Erinnerungen
25 Saša Stanišić: Herkunft
26 Michio Kaku: Abschied von der Erde
Francesco Magris: Die Grenze
27 Karl-Heinz Göttert: Als die Natur noch
sprach
28 Ute Kröger: Else Lasker-Schüler in
Zürich 1917–1939
30 Thomas Girst: Alle Zeit der Welt
Mit Lyrikbänden verdient man kein Geld.
Das somalische Buch: Inside
Verlegerin Daniela Seel macht sie trotzdem (S. 14). Al-Shabaab
Aleš Šteger: Über dem Himmel... Kolumne
Michael Braun & Hans Thill (Hrsg.): Aus
Mangel an Beweisen 29 Lukas Linder: Mein Leben als Mensch
Lina Atfah: Das Buch von der
fehlenden Ankunft Kurzkritiken Sachbuch
Ramy Al-Asheq: Gedächtnishunde
Lea Gottheil: Gläserne Fuge 29 Wolfgang Schivelbusch: Rückzug
Francesco Micieli: Kindergedichte Madame du Châtelet: Rede vom Glück
Herta Müller: Im Heimweh ist ein Jean Ziegler: Was ist so schlimm am
blauer Saal Kapitalismus?
Albert Ostermaier: Über die Lippen Felwine Sarr: Afrotopia
Sachbuch Agenda
20 Anne Applebaum: Roter Hunger 31 Pedro Gadanho: Fiction and
22 Amos Oz mit Shira Hadad: Was ist ein Fabrication
Apfel? Bestseller März 2019

Chefredaktion Luzi Bernet (lzb.) Redaktion Martina Läubli (läu., Leitung), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Lukas Linder, Victor Mauer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Katja Schönherr, Sacha Verna, Jürg Zbinden
Produktion Daniela Salm, Björn Vondras (Art Director), Kirsten Behrendt (Bildredaktion), Mark Walter (Layout)
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044 2581111, Fax 044 2617070, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch

28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3

Belletristik

Seit 40 Jahren veröffentlicht das «Jahrbuch der Lyrik» (Schöffling & Co.) die besten deutschsprachigen Gedichte

Lyrik–unsereAuswahl
Kalligraphie: Cornelia Sommer

Silke Loser

Lioba Happel

4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019

des Jahres. Aus der diesjährigen Ausgabe haben wir fünf Texte ausgelesen

für2019

Jürg Halter

Maria-Daria Cojocaru

Thilo Krause

28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5

Belletristik
Der Schweizer Dichter Michael Fehr ist ein Ausnahmetalent. Seine Texte sind auch Songs.
In der Dichtung zähle letztlich der Klang, sagt er. Interview: Gregor Szyndler
«Immerdiese
Schubladen!»
Michael Fehr und ich setzen uns und be-
stellen Weisswein. Als der vor uns steht,
frage ich:
Bücher am Sonntag: Was nimmst du mit auf
die einsame Insel: Prosa oder Lyrik?
Michael Fehr: Ovids «Metamorphosen».
Weil dort keiner, der noch ganz bei Sinnen
ist, überhaupt zwischen Lyrik und Prosa
unterscheidet. In meiner Arbeit spielen
solche Unterscheidungen sowieso keine
Rolle.
Aber wenn du eine Definition von Lyrik
wagen müsstest?
Lyrik lässt den Ballast und Beton der
Sprache weg, hier glühen Bilder und
Momente, sie leuchten.
Lyrik als niedergeschriebener Augenblick
also?
Niedergeschrieben! [Michael Fehr
braust auf.] Was für ein brutales Wort. Da
hört man ja geradezu, wie es die Sprache
zu Boden drückt, wie sie mit roher Gewalt
zwischen zwei Buchdeckeln festgehalten
wird. Dabei geht so ziemlich alles ver-
loren, was mir an ihr wertvoll ist: ihre
Klanglichkeit und Raumgebundenheit
ebenso wie ihre Unfixierbarkeit. Für mich
ist jeder Text vor allem Klang, das heisst,
er besteht aus Variation, Wiederholung,
Pausen, Dynamik und Tempi.
Und was heisst das konkret, für deine
Arbeit?
Oft gehe ich von einer privilegierten
Phrase aus. Etwa bei «Ausserholligen
Baumwollfeld» auf der CD «Im Schwarm».
Die Worte «Ausserholligen Baumwollfeld»
kann ich auf so viele Arten phrasieren,
dass das allein reicht für ein ganzes Stück.»
Michael Fehr zeigt es mir vor, klopft auf
dem Oberschenkel den Takt und intoniert
die zwei Worte, verschiebt Akzente und
streut Raunen dazwischen. Schon sehr
früh an diesem Abend sehe ich doppelt:
6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019
«Es gab immer schon
Leute, die um Mitternacht
an einer Kreuzung
standen und mit dem
Teufel feilschten.»
einen Dichter und einen Blueser. «Einige
Arbeit ist getan, aber noch ein langer Weg
zu gehen», singt der Blueser dichtend.
Einiges ist getan, Grenzen wurden igno-
riert, ein Aufbruch ins Unbekannte wurde
gewagt – mit Mut zum Risiko und extra viel
Fallhöhe. Es ist der Blues von einem, der
extrem hohe Massstäbe an die eigene
Arbeit anlegt – die Dichtung von einem,
der, den Blues singend, erkennt, dass
weder Arbeit noch Blues je ein Ende
nimmt. Dass jedes Ankommen ein Aufbre-
chen ist. Fehr geht weit in diesem Blues,
verstörend weit, weit genug, dass man es
bei flüchtigem Hinhören stellenweise als
etwas forciert empfinden könnte. «Ich bin
auf einer Suche, und dazu gehört es, dass
ich übersteuere, überfrachte, überborde,
übersteigere, dass ich etwas nicht richtig
hinbekomme», sagt er ungefragt.
Warum bedeutet dir «Ausserholligen Baum-
wollfeld» so viel?
Weil es ein Befreiungsschlag war für
mich. Der erste Text, den ich konsequent
auf seine Musikalität hin geschrieben
habe. Ich verkroch mich unter der Bett-
decke und krähte, krächzte, gurgelte,
brüllte mir alles vom Leib, was mich be-
lastete. Dann machte ich mit Jonas Gruntz
und Jannik Till ab, um es zum allerersten
Mal aufzunehmen. Ich war total nervös,
plötzlich mit so tollen Musikern im Probe-
keller zu sein.
Dann siehst du dich mittlerweile eher als
Musiker denn als Autor?
Immer diese Schubladen! «Machen Sie
Mundart-Dichtung, Herr Fehr?» – «Ist das
Spoken-Word, Herr Fehr?» Wehe, wenn du
bei drei noch nicht in der Schublade bist!
Aber durch meine Lebenssituation ist
meine Arbeitsweise nun einmal irgendwo
zwischen Hören, Reden und Singen ange-
siedelt. Generell fehlt mir heute manch-
mal die Bereitschaft, nicht in Schubladen
zu denken. Neulich am Lyrik-Kongress in
Frankfurt haben sie mich sogar als Stand-
up hingestellt, als Impro-Künstler.
Wie kommen die denn da drauf ?
Wahrscheinlich, weil ich auswendig
vortrage und mich nicht über einen Hau-
fen Manuskripte beuge. Aber wie sollte ich
mit fünf Prozent Sehstärke auch vom
Papier ablesen!
Wer je erlebte, wie Fehr an einer Lesung
seinen Text «Welch Einfall» vorträgt,
weiss, wie haarsträubend unzutreffend
Schubladen wie «Stand up», «Impro»,
«Prosa», «Gedicht», «Lyrik» und «Lyrics»
sein können: Bei seinen Lesungen ist
alleine der Text von Bedeutung, nackt, in
seiner genau vermessenen Räumlichkeit
und seiner prekären Klanglichkeit. Fehr
schreitet ihn aus dem Gedächtnis mit prä-
zisen Schritten auf der Bühne ab, sein
Körper ist sein Metronom: «Eines Nachts
aber dann geht im Traum der Tochter die
Mutter um.» Fehrs Vortrag hat eine hart
erarbeitete Leichtigkeit und Präzision, die
Ovid vielleicht mit «So vollkommen ver-
birgt sich im Kunstwerk die Kunst!» um-
schrieben hätte. Jede Silbe sitzt, da sind
weder Stottern noch Zögern, und die Län-
ge einer sehr gedehnten Silbe korrespon-
diert mit einem besonders geschwunge-
nen Schritt. «Die Genauigkeit meines
Vortrags ist Folge der Text-Genese», sagt
Fehr. Er diktiert Texte erst dann in den PC,
wenn er sie im Kopf lange und gründlich
durchgegangen ist. In seinen ersten Jah-
ren am Literaturinstitut Biel schrieb er in
einem sehr gut verinnerlichten Zehn-Fin-
ger-System. Das Ergebnis war jedoch nur
 Michael Fehr, 36, ist sehr schlecht lesbar, ausserdem verlor er
Dichter und Blueser. sich in der Flächigkeit des Texts.
Seine Auftritte sind
Etwa im dritten Bieler Jahr begann Fehr
ein Ereignis, seine
Texte changieren mit zwei Fisherprice-Plastik-Kassettenre-
zwischen Song und cordern zu arbeiten. «Sie hatten extra-
Erzählung. 2018 grosse Knöpfe, die gut bedienbar waren
erhielt Michael Fehr für mich.» Gerät 1 konnte nur abspielen;
den Schweizer auf diesem lauschte er dem Text, bis er an
Literaturpreis. Zuletzt eine Stelle kam, wo etwas Neues hinsollte.
erschienen der
Dann sagte er den Text auswendig auf Ge-
Erzählband «Glanz und
Schatten» (2017) und rät 2 – bis hin zu der Stelle, wo Neues dazu
die CD «Im Schwarm». geschrieben werden sollte. Sobald ihm das
Resultat gefiel, landete die neu bespielte
Kassette in Gerät 1 und er überspielte die
alte Version. Ein Verfahren, das nur um
den Preis zu haben war, dass nur die letzte
und zweitletzte Textfassung erhalten blie-
ben: «Alle anderen Schichten und Entwür-
fe gingen verloren», sagt er etwas melan-
cholisch. Durch dieses System lernte er
bereits den im Entstehen begriffenen Text
in- und auswendig. Die Folge: Wenn
Michael Fehr heute auf die Bühne oder ins
Studio geht, sind die Texte so skrupulös
durchgearbeitet, dass keine Silbe mehr
angepasst wird.

Neben dieser grossen Disziplin: Was ist der

Kern deiner literarischen Arbeit?
Es ist ein Gespräch mit denen, die
schon vor mir schrieben. Ein bisschen ist
es wie im Blues. Aber es ist keine kramp-
fige Annäherung, sondern eine selbst-
verständliche Referenz.

Kannst du diese Verbindung von Literatur

und Blues ausführen?
Es gab doch immer schon Leute, die um
Mitternacht an einer Kreuzung standen
und mit dem Teufel feilschten. Ich finde,
diese bewusste Arbeit an Vorbildern
kommt oft zu kurz. Stattdessen findest du
überall Befindlichkeiten. Auch ich könnte
Kapital schlagen aus meiner Lage und
schreiben, wie das Leben als Fastblinder
ist in einer supereffizienten Gesellschaft.
Aber das will ich nicht!

Was willst du dann?

Mehr Offenheit für Kunst, die von an-
deren Lebenskontexten herkommt als
denen, die als normal gelten. Das ist mir
enorm wichtig, und zwar nicht nur für
meine eigene Arbeit. Dass das Potenzial,
das in einer solchen Kunst liegt, als auf
Augenhöhe mit allen Kunstformen ge-
sehen und nicht quasi als Gnadenakt
angenommen wird. Und mehr Empathie
wäre schön: dass man mich fragt, ob ich
den Weg ans Hotelbuffet alleine finde.
Oder dass es Leute gibt, die mir helfen,
mich in einer Grossstadt wie London zu-
rechtzufinden. Davon abgesehen hätte ich
gerne einen Whiskey. Kennst du eine Bar?

Noch halb im Gespräch verlassen wir das

Restaurant. Ich steuere den Bahnhof an,
da sagt Michael Fehr: «Wart mal!» und hält
mich zurück, die Arme rechtwinklig ge-
spreizt wie ein gutgelaunter Geometer.
«Also in meiner Erinnerung ist der Bahnhof
dort drüben», sagt er und nickt in eine ganz
andere Richtung. Wir lachen, als wir die
ANNETTE BOUTELLIER

richtige Richtung einschlagen und in der

Nacht verschwinden. Schon sehr spät an
diesem Abend sehe ich nicht mehr doppelt,
sondern nur noch einen Michael Fehr. l
28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik

Anthologie Ein Standardwerk der Gegenwartslyrik stellt junge

Dichterinnen und Dichter aus allen Ländern des Kontinents vor

Unterwegszur
DichtungEuropas
Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik
Europas. Herausgegeben von Federico
Italiano und Jan Wagner. Hanser 2019.
584 S., um Fr. 50.–
Von Florian Bissig
Die Grand Tour bezeichnete einst die
grosse Bildungsreise, auf welche die Söh­
ne gehobener Kreisen geschickt wurden,
um von den europäischen Nachbarvöl­
kern Kultur und Umgangsformen abzu­
schauen. Diese Praxis ist es wohl, eher als
die Radrennen, welche die Macher des
Gedichtbands «Grand Tour» im Kopf hat­
ten – auch wenn ihre Arbeit mit einer
sportlichen Ausdauerleistung verglichen
werden kann.
In Zeiten, in denen einem die Welt per
Klick in den Schoss zu fallen scheint, und
in denen sich viele Menschen in nationale
Tradition einigeln, sind zwei Herausgeber
auf eine Erkundungsreise durch die jungen
europäischen Lyrikszenen gegangen. Das
Resultat ist eine sorgfältig ausgewählte
Sammlung von Gegenwartslyrik aus 49
Ländern in Original und Übersetzung, die
in Umfang und Anspruch dem Vergleich
mit Hans Magnus Enzensbergers «Museum
der modernen Poesie» standhält.
Der 47­jährige Jan Wagner, einer der
meistverkauften und höchstprämierten
Dichter, hat sich nie auf sich selbst oder
auf die Klassiker zurückgezogen, sondern
bleibt stets neugierig auf das Schaffen sei­
ner Altersgenossen und der nachfolgen­
den Generationen. Gemeinsam mit dem
italienischen Dichter und Philologen Fe­
derico Italiano weitete er seine Kenntnisse
in den letzten Jahren aus, bis die beiden
auch eine Vorstellung davon hatten, was
poetisch in Montenegro, Galicien, Malta
oder im Baskenland los ist. An der Buch­ Poesie entsteht in
vorstellung von «Grand Tour» letzten allen Ecken Europas:
Monat in Frankfurt schienen die beiden Büchermarkt auf
erleichtert, dass der Kraftakt zu Ende ist. einer Strasse in der
albanischen
Vier Jahre Recherche und Lektüre brauch­ Hauptstadt Tirana.
ten sie, und ausserdem viel Hilfe, wie sich
einer schier endlosen Danksagungsliste
entnehmen lässt. Doch mit Begeisterung
erzählen die Herausgeber, dass die jungen
Lyriker ohnehin schon immer in länder­
und sprachenübergreifendem Dialog
seien, und wie gross die Freude sei, wenn
zwei Poesie­Angefressene realisierten,
dass sie beide dieselbe wenig bekannte
fremdsprachige Dichterin schätzen.
Zwischen fremd und eigen
In die Hände spielte Wagner und Italiano
die Tatsache, dass nicht wenige Lyriker
auch Lyrikübersetzer sind. Sie proben die
Übertragung fremdsprachiger Gedichte in
die eigene Sprache und stossen so auch in
neue Möglichkeiten des eigenen Dichtens
vor. Viele der Übersetzungen von «Grand
Tour» besorgten Personen, die sich auch
als Dichter ihren Platz im Band sichern
konnten, etwa Nico Bleutge, Steffen Popp,
Hendrick Jackson und Uljana Wolf. Führt
nun dieses kollektive Zeugnis der jungen
europäischen Lyrik, diese grosse Tour in
die Fremde oder vielmehr nach Hause?
Findet sich in den Gedichten aus den ver­
schiedensten Ecken Europas das Univer­
selle, das nur darauf wartet, durch die
sprachliche Vermittlung als das Bekannte
herausgestellt zu werden?
Zu letzterem Schluss könnte man bei
der Lektüre vom Gedicht «Lied an den
Lärm» der walisischen Dichterin Deryn
Reese­Jones kommen. In einer Art Musen­
anruf wird der Lärm des modernen Lebens
mit seinen Flugzeugen, Rasenmähern und
Handys – der den Griechen und Dänen

Es ist nur ein Gerüst aus wenigen Worten – Poesie ist ein Zauber. tionsmaschine an. Es ist der Zündschlüs­
Ich habe keine Ahnung von Lyrik. sel für das Auto, in dem du in deiner
und dennoch kann ein Gedicht alles Ich bin komplette Lyrikhochstaplerin. bildhaften Gedankenwelt herumfahren
einfangen, schreibt Michelle Steinbeck Für mich ist Lyrik die freiste Form des kannst. Die einzelnen Wörter sind dabei

Explosionen
Schreibens.
Ich schreibe Gedichte auf der Schreib­
maschine: Jeder Buchstabe knallt unter
Pfeile, Wegweiser, in alle erdenklichen
Richtungen.
Ein Gedicht ist im besten Fall ein Reso­

aufdemPapier
meinen Fingern, bevor er sich unwider­
rufbar ins Papier drückt.
Nur das Nötigste kommt in ein Gedicht.
Keine Rücksicht auf korrekte Grammatik,
Syntax, Satzzeichen; keine Erwartungen
von gefüllten Seiten. Jedes Gedicht stellt
seine eigenen Regeln auf.
Das gefällt mir.
Ein gutes Gedicht öffnet mit wenigen Wor­
ten einen Raum und wirft die Imagina­
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019
nanzraum. Ein Gerüst von wenigen Wor­
ten, die durch ihre Anordnung einen
Klang erzeugen, der rundherum aus­
schwingt und Synapsen ankickt, zu ver­
steckt gespeicherten Erinnerungen an
Stimmungen und Bildwelten.
Ein Gedicht skizziert den Schauplatz einer
Geschichte, von der du nur einen Bruch­
teil aufblitzen siehst. Von dort aus spinnen
sich in deinem Hirn die Fäden selber
weiter – die Hintergründe, die Zukünfte,
all das passiert bei dir. Ein Gedicht ist
 wohl ebenso bekannt ist, wie den Walisern
ALEXANDER FAR NSWORTH / DPA / PICTURE ALLIANCE
– aufgefordert, seine Flügel «gegen das
Schweigen des Todes» zu schlagen. «Für
Liebe, oder was auch immer für Liebe
steht, / Oder Leben.»
Ebenso dürften sich im Gedicht «so
kotzt eine dame» der isländischen Dich-
terin Ingunn Snædal auch Damen weit
fernab des Inselstaates erkennen. Wie frau
unmerklich verschwindet, unhörbar und
spurenfrei erbricht, um vor dem Ex und
seiner neuen Flamme aufzutauchen, als
wäre nichts gewesen: Das ist in einer trä-
fen und trockenen Beschreibung nach-
zuvollziehen.
Der Drang, sein Land mit Namen anzu-
sprechen und seinen Lebensraum kennt-
lich zu machen, scheint im Osten des
Kontinents grösser zu sein. Im Gedicht «In
einem Land so klein wie dieses» des alba-
nischen Dichters Parid Teferiçi heisst es
etwa «Der albanische Leviathan ist eine
Sardine». Wie mit der Enge umgehen? Wo
nur schon die Hände aufstützen – «auf den
Hals des Nachbarn oder auf die Lenden /
der Frau des Anderen»? Geht uns das in
allen Kleinstaaten so – oder ist ein Schelm,
wer da eine regionaltypische Ruppigkeit
und Schlitzohrigkeit auszumachen meint?
Direkt auf das Herz des lyriklesenden Kos-
mopoliten hat es das Gedicht «Mann mit
Frau» des russischsprachigen Letten Ser-
gej Timofejev abgesehen. Ein Paar kommt
da vor, ein Dampfer, Champagner, Küsse,
Vögel im Sinkflug, und am Ende bereite-
ten sie sich «ihren Kastanienbaum und
legten sich schlafen, müde vor Liebe, /
Mann mit Frau, ein Rigaer und eine
Moskowitin». Doch dafür, dass hier die
sentimentalen Tränen nicht kullern, hat
der Sprecher schon zu Beginn gesorgt:
«Romantik! Romantik!»
Der innereuropäischen Kommunika-
tion wendet sich auch ein Gedicht der
Estin Kristiina Ehin zu. «Wie dir meine
Sprache erklären», fragt eine Sprecherin.
Sie sitzt mit «schönem indoeuropäischem
Mann / auf einem grossen bemoosten fin-
no-ugrischen Stein». Schweigen erweist
sich als das Beste, doch die beiden «öffnen
bisweilen zaghaft den Mund / für ein halb-
nacktes, nachtklares Wort / in niemandes
Muttersprache». Ob damit Englisch oder
Küssen gemeint ist? Hoffentlich Letzteres.
Wer sich in diesem Band allerdings zu
sehr auf die Suche nach regionalen Aspek-
ten kapriziert, der wird sich von David
Wheatleys Gedicht «Die antarktische
der Kern, der dort erblüht, wo es weh tut.
PICTURE ALLIANCE
Es ist der Splitter, der übrig bleibt, wenn
du mit dem Hammer auf die Käseglocke
haust.
Ein Gedicht ist ein Destillat. Durch seine
Eingekochtheit wird jedes Wort darin es-
senziell. Dabei wächst dessen Bedeutung
in all seinen Eigenschaften: wie es aus-
schaut, wie es klingt, was es alles bedeu-
ten kann. So rückt es Unscheinbares ins
Licht, stellt vermeintliche Banalitäten
in den Scheinwerfer, wo sie tanzende
Schatten werfen.
Gedichte können flüchtige, scheue Mo-
mente fangen – erhabene Wuchten wie
zuckende Irritationen. Unbestimmte
Stimmungen, die rätselhaft gross erschei-
nen, kann Poesie singend und triezend
umkreisen. Wahrheiten, die zu schwer Für Michelle Steinbeck, 28, sind Gedichte auch ein Spiel mit der Wahrheit.
Schule der Dichtung» erwischt fühlen.
Dass ihr gar nie ein Autor angehört hat, ist
noch «die kleinste Sorge / der antarkti-
schen Schule». Anstrengender sind Fragen
wie diese: «Lässt sich ihr typischer kühler
Ton / im heutigen Klima aufrechterhal-
ten?» Die schlimmsten Klischees werden
hier wohlweislich umschifft: «Pinguine
finden selten Erwähnung, / man fürchtet,
das wäre zu naheliegend». Trotzdem legt
man Wert «auf die lokale Note // voraus-
gesetzt, / sie wird nicht angeschlagen.»
Vielsprachig
Nicht nur diese Gratwanderung ist Wagner
und Italiano bestens gelungen. Die Her-
ausgeber haben ihre Hausaufgaben auch
mit Blick auf Diversität gemacht. Viele
Minderheitensprachen sind vertreten,
etwa Katalanisch, Galicisch und Baskisch
in Spanien oder Ladinisch in Italien. Auch
die Schweiz ist viersprachig, mit der Kehr-
seite, dass für die einzelnen Sprachen
wenig Raum ist. Mit Raphael Urweider,
Jürg Halter und Nora Gomringer sind die
Deutschschweizer Plätze von bestens eta-
blierten DichterInnen belegt. Auch beide
Geschlechter sind gut vertreten. Zur
jungen Lyrik Europas gehören viele und
starke Dichterinnen – auch wenn hoffent-
lich die wenigsten Leserinnen den Schluss
der türkischen Dichterin Müesser Yeniay
teilen werden, die ein erschütterndes Ge-
dicht über sexuelle Gewalt mit den Zeilen
beendet: «Männlichkeit / ist eine schwere
Krankheit».
Der Vielfalt ist «Grand Tour» stilistisch
verpflichtet, zugleich jedoch auch einer
durchgängigen Lesbarkeit. Es gibt keine
konkreten Sprachspielereien; es über-
wiegt eine konventionelle Vorstellung von
Schriftlyrik. Viele Texte knüpfen an die
klassische Formensprache der Poesie an.
Die einstigen Grand Tours der Oberklasse
brachten oft Kulturgüter nach Hause, statt
sie am Herkunftsort zu würdigen. Dies tut
auch der Band ein Stück weit, der die
deutsche Übersetzung ins Zentrum stellt
und mit Angaben zu den Dichterinnen
geizt. Doch die Herausgeber wollen nicht
nur über dem Zaun fressen, sondern die
Dichter aller Länder in einer grossen Lese-
Tour zusammenbringen, die durch ganz
Europa führt. Nach Brüssel, nach Berlin,
Wien und Leukerbad, aber auch nach
Kopenhagen, Danzig, Lemberg und an
weitere Orte – auf eine Grand Tour der
Dichter, nicht der Konsumenten. ●
sind, zu konfus, zu kompliziert, schlicht
unmöglich, sie in eine korrekte Form zu
bringen: Mit ihnen kann eine Dichterin
spielen, ohne sie festzunageln.
Selbst Gefühle, so heftig, dass sie unbän-
digbar scheinen, sterben in Phrasen. Aber
mit voller Kraft in kleine Worte gepackt,
furchtlos losgeschossen aufs Papier – dort
explodierts.
Solche Gedichte schreiben. Das wärs. ●
Die Schweizer Autorin Michelle Steinbeck
(28) schreibt Lyrik, Prosa und dramati-
sche Texte. 2016–2019 war sie Schweizer
Kuratorin von Babelsprech, dem Netzwerk
für junge europäische Poesie. 2018 er-
schien ihr Gedichtband «Eingesperrte Vö-
gel singen mehr» bei Voland & Quist. Die-
ser Text erschien erstmals in der «WoZ».
28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Wer als Literat in den USA überleben will, ist auf Stipendien und «Residencies»
angewiesen und hat oft keinen festen Wohnsitz. Christa Romanosky ist letztes Jahr
14-mal umgezogen. Von Andreas Mink, Stonington
Ihreständigen
Begleitersindein
paarKakteen
Christa Romanosky hat keinen festen
Wohnsitz. Sie reist durch Amerika, und
das mit leichtem Gepäck. Beim Gespräch
in Stonington, Connecticut, erzählt die
Lyrikerin: «Meine ständigen Begleiter sind
ein paar kleine Kakteen. Nur die halten die
ständigen Ortswechsel aus.» Im vergan-
genen Herbst war Romanosky sechs
Wochen lang «Fellow» am «James Merrill
House» in dem idyllischen Küstenort.
Bis zu seinem Tod im Jahr 1995 war im
schmalen Haus einer der bedeutendsten
Dichter Amerikas zu Hause. James Mer-
rills eklektischer Geist lebt auf drei Etagen
in einer umfangreichen, mit Raritäten
gespickten Bibliothek und in Memorabi-
lien aus aller Herren Ländern fort. Ihm zu
Ehren haben Freunde am Ort das Haus aus
dem Jahr 1901 in ein Refugium für Autoren
und Poetinnen verwandelt, die hier ein
bescheidenes Taschengeld von 100 Dollar
die Woche beziehen.
Das von einer Stiftung getragene Anwe-
sen ist eine gesuchte Adresse gerade für
jüngere Stimmen wie Christa Romanosky,
die mit ihrem dunkelblauen Kleinwagen
allein im letzten Jahr 14-mal umgezogen
ist, immer begleitet von ihren Kakteen,
einer bescheidenen Garderobe, Büchern
und Notizblöcken. Eine Krankenversiche-
rung hatte sie nur kurzzeitig während
eines Stipendiums am Provincetown Fine
Arts Work Center: «Dort in Massachusetts
ist das sehr erschwinglich.»
Das Merrill House macht die Unter-
schiede zwischen Bestsellerautoren oder
Berühmtheiten aus elitären Familien wie
den Merrills und der Masse der (nicht nur
jungen) Literaten in den USA deutlich.
Zwischen materieller Not und dem Drang
zum Schreiben gefangen, erhalten sie
durch Fellowships, Stipendien und Resi-
denzen Wochen oder Monate der Ruhe
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019
und der Konzentration. Die Zahl derartiger
Angebote ist schwer zu ermitteln. Aber
Übersichten auf «Funds for Writers» und
der «Alliance of Artists Communities» ge-
ben rund 500 dieser Adressen in den USA
an. Etliche davon sind Künstlerkolonien.
Dazu kommen Stipendien von Universi-
täten und rare, gut dotierte Preise wie das
Fulbright-Programm. Generell jedoch
bieten Stipendien wie das Merrill House
Unterkunft, mitunter Kost und seltener
auch geringe Geldmittel. Es sind weitge-
hend bürgerliche Initiativen, die in den
USA das Kulturschaffen ermöglichen.
Jagdmesser im Gepäck
Die Geschichte dieser Einrichtungen be-
ginnt mit der 1926 von einem Industriellen
im Kurort Saratoga-Springs, New York,
gegründeten Künstlerkolonie Yaddo, wie
Willard Spiegelman erklärt. Der emeri-
tierte Literaturwissenschafter war Her-
ausgeber der renommierten «Southwest
Review» und sitzt heute im Vorstand des
Merrill House: «In den letzten Jahrzehnten
wurden immer mehr dieser Einrichtungen
gegründet. Das geht Hand in Hand mit der
Veränderung in der Literatur: Heute kom-
men die meisten Autorinnen und Autoren
von Universitäten.» Dort erleben Creative-
Writing-Kurse einen Boom: «Die bedürfen
keiner kostspieligen Technologie und sind
deshalb sehr einträglich für akademische
Institutionen.» Danach setzt für Absolven-
ten ein unablässiger Ausleseprozess ein,
der «Hartnäckigkeit, Talent, nicht zuletzt
aber Glück erfordert». Publikationen in
Literaturzeitschriften oder bei kleinen
Verlagen bauen das Renommee auf. Aber
leben lässt sich davon nicht.
Wer sich also zum Schreiben berufen
fühlt, braucht irgendeinen Job. Und dieser
lässt nur selten Zeit für kreative Arbeit:
«Meine beste Stelle war in einer Notruf-
Zentrale in Virginia», erinnert sich Christa
Romanosky: «Dort sass ich endlos in
einem Kabuff ohne Fenster. Nur selten
kam ein Anruf. So konnte ich damals auch
schreiben.» Ihre Entscheidung für die Poe-
sie beschreibt sie als «rein emotional».
Christa Romanosky ist in den Appala-
chen im südwestlichen Pennsylvania auf-
gewachsen. Gedichte von Sylvia Plath
waren ein Weg, den engen Lebens-
umständen in der armen, lange vom Koh-
lenbergbau und heute vom Fracking nach
Erdgas bestimmten Region zu entkom-
men. Ihre ersten Teenager-Gedichte sind
der Autorin heute peinlich. Aber ein
Psychologiestudium an der Carnegie Ihr ganzer Besitz
Mellon University in Pittsburgh bestätigte passt in einen
ihr literarisches Talent. Anschliessend Kleinwagen: Christa
Romanosky während
wurde sie ins renommierte Creative- ihres Stipendiums im
Writing-Programm der University of James Merill House in
Virginia aufgenommen. Connecticut.
Seit dem Abschluss dort im Jahr 2011
schlägt sich Romanosky mit allerlei Jobs
durch. Sie hat raue Zeiten auf einer Ranch
in South Dakota erlebt und gelernt, sich
selbst zu behaupten: «Ich suche das Ame-
rika abseits der Metropolen. Dort finde ich
meine Geschichten. Es gibt mehr als
genug Literatur über reiche, weisse Män-
ner in Manhattan.» In einem ihrer neusten
Gedichte mit dem Titel «Unfinished» er-
fasst Romanosky das Leben im Proviso-
rium in eindringlich-genauen Worten:
When the linoleum scuffed, tore,
we learned to bypass the holes,
understood
the patterns from what was absent. (...)
But we were kids
and so we learned, in time, to look at a
room, a situation
and only see the pathways through it.

Ohne festen Wohnsitz zu sein, heisst
auch, sich zu verteidigen. Werden Männer
an Campingplätzen zu aufdringlich, er-
wähnt sie das grosse Jagdmesser in ihrem
Gepäck. Nach einigen Anläufen konnte
Romanosky erste Gedichte und Kurz-
geschichten in Publikationen wie «Glim-
mer Train» oder der «Michigan Quarterly
Review» veröffentlichen. Dass sie in Pro-
vincetown und dann am Merrill House ein
Stipendium errang, war ein echter Durch-
bruch für sie, ein grosser Schritt zu brei-
terer Anerkennung als Autorin.
Diese Bedeutung ihrer Institution ist in
Stonington natürlich bekannt. Lynn
Callahan hat das Merrill House mitgegrün-
det: «Natürlich helfen wir Schreibern.
Unsere Fellows sollen sich hier aber auch
wohlfühlen, und sie bekommen Feed-
back.» Gleichzeitig bringen Stipendiaten
frischen Wind in die vorwiegend ältere,
gutbetuchte und gebildete Gemeinde:
«Wir lernen von den Fellows», sagt Calla-
han. «Und sie sehen hier auch ein gesell-
schaftliches Leben, das für viele neu ist.
Cocktail-Partys gehören dazu.» «Inzwi-
schen hatten wir gut neunzig Literaten
hier, und jährlich treffen mindestens so
viele Bewerbungen ein.» Dazu brauche es
Texte und Empfehlungsschreiben, sagt
Callahan. Die Jury umfasst stets externe
Profis aus dem Verlagswesen und der Lite-
raturwissenschaft: «So wollen wir Vielfalt
bei der Auswahl garantieren.»
Unsichere Existenz
Ein leichtes Leben ist ein Stipendium für
Literaten gleichwohl nicht. Das sagt Adam
Giannelli, ein Fulbright-Preisträger, der
vor einigen Jahren ebenfalls in Stonington
war. Als Poet und Übersetzer spanisch-
sprachiger Literatur inzwischen nicht nur
bei Insidern anerkannt, legt Giannelli in
Utah ein Doktorandenstudium ab. Zuvor
war auch er jahrelang auf Wanderschaft
von Fellowships zu Residencies: «Man ist
oft allein und lässt Freunde zurück. Aber
dafür konnte ich schreiben.» Die Grün-
dung einer Familie und eine halbwegs
geordnete Existenz ist unter solchen Um-
ständen natürlich schwierig. Dazu raubt
das Reisen die Heimatverbundenheit, die
in den USA gerade für Literatur und Musik
lange grundlegend war.
TED HENDRICKSON
Allerdings ist das literarische Leben in
den USA nicht zuletzt dank den zahlrei-
chen Residencies so reichhaltig, dass auch
etablierte Akteure wie Willard Spiegelman
hier Gelegenheit für einen Rückzug aus
ihrem Alltag finden können: «Der Witwer
der Dichterin Amy Clampitt (1920–1994)
hat ihr zu Ehren eine Residency in den
Berkshires-Bergen in Massachusetts ge-
stiftet. Ich war der erste Fellow und
konnte dort ein Jahr lang eine Edition von
Clampitts Briefen erstellen.»
Christa Romanoskys Beharrlichkeit ist
derweil mit einer ganzjährigen Residenz
an der «Tulsa Artist Fellowship» belohnt
worden, die auch eine bezahlte Lehrtätig-
keit an einer Grundschule umfasst.
Gewisse Zweifel am System Stipendium
wird der Literaturwissenschafter Spiegel-
man dennoch nicht los: «Wollen sie dem
Schreiben treu bleiben, werden die meis-
ten Literaten längerfristig nur als Lehr-
beauftragte an Universitäten existieren
können.» Dort dürfen sie für 4000 Dollar
pro Semesterkurs zukünftige Stipendia-
tinnen und Stipendiaten in Creative
Writing unterrichten. l
28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
 Belletristik
ANTHONY ANEX / KEYSTONE
Welche Entscheidungen man treffen muss, wenn man Emily Dickinson übersetzt. Von Gunhild Kübler
Gedichtemussmanausforschen,bevor
mansieübersetzenkann
Gedichte stehen im Ruf, nicht übersetzbar
zu sein. Ihr Klangzauber durch Reim,
Rhythmus und Metrik ist nicht ohne in-
haltliche Verluste in eine andere Sprache
zu retten. Zudem spielen sie oft auf meh-
reren Bedeutungsebenen. Das Voltaire
zugeschriebene Wort von den «belles in-
fidèles» bringt es auf den Punkt: Überset-
zungen seien wie Frauen – je schöner,
desto treuloser. Von so fatalistischen und
noch dazu misogynen Grundsätzen sollte
man sich beim Übersetzen nicht lähmen
lassen. Gedichte muss man ausforschen,
bevor man sie übersetzen kann. Und dann
geht es darum, in jedem einzelnen Fall
einen überzeugenden Weg zu finden zwi-
schen der wortwörtlichen und der zu
schönen Übertragung.
Einen solchen Prozess möchte ich hier
vorführen an einem der rund 1800 Ge-
dichte der zu Lebzeiten so gut wie un-
publizierten, aber heute weltweit gelese-
nen und geliebten amerikanischen Dich-
terin Emily Dickinson (1830–1886). Der
Dreizeiler sieht auf den ersten Blick so
unscheinbar aus, dass Dickinsons frühe
Herausgeber nach ihrem Tod ihn für un-
fertig hielten. Sie hängten ihn einfach an
ein anderes Gedicht an, das auf derselben
Seite von Dickinsons selbstgenähtem ers-
ten Gedichtheft stand. Doch der lyrische
Winzling der jungen Dichterin ist fertig.
Und er hat es in sich:
In the name of the Bee
And of the Butterfly -
And of the Breeze - Amen!
Im Namen der Biene
Und des Schmetterlings
Und der Brise – Amen!
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019
«Im Namen der Biene» Ein nettes Frühlingsgedichtlein, denkt
schreibt Emily man zunächst. Doch spätestens beim letz-
Dickinson – dieses
ten Wort wird klar, dass es einen doppel-
Frühlingsgedicht hat
es in sich. ten Boden hat. Es parodiert jene uralte
Formel, die jeden Gottesdienst eröffnet:
«Im Namen des Vaters und des Sohnes
und des Heiligen Geistes. Amen». Die For-
mel wurzelt im christlichen Dogma der
Trinität. Die Dreifaltigkeit von Bee, Butter-
fly und Breeze aber hat die Dichterin er-
funden. Und bekräftigt sie blasphemisch
mit einem selbstbewussten Amen!
Der B-Stabreim ist das akustische
Bindemittel dieser Dreifaltigkeit. Er sollte
im Deutschen bewahrt werden. Könnten
nicht Butterblume oder Buchfink an die
Stelle von Butterfly treten? Wohl kaum.
Denn nun zeigt sich, dass der kleine Text
noch eine dritte Ebene hat: Dickinsons
drei Akteure haben symbolischen Wert.
Die Biene steht für die Befruchtungskraft
des Vaters, der Schmetterling für die Meta-
morphose des auferstandenen Sohns und
die Brise für das in der Apostelgeschichte
beschriebene pfingstliche Wehen und
Brausen des Heiligen Geistes. Auch der
Buchfink genügt deshalb nicht – er fliegt
zwar, aber ihm fehlt die quasi-österliche
Metamorphose. Diesen Verlust an symbo-
lischer Aura macht der ästhetische Mehr-
wert des Stabreims nicht wett.
Der Dreizeiler ist jedoch nicht nur viel
komplexer als gedacht. Mit Blick aufs Ge-
samtwerk von Dickinson erweist er sich
zudem als Portal-Gedicht: Natürliche
Akteure ersetzen die religiösen. Auf die
Natur wird Dickinson sich auch berufen,
wenn sie in den kommenden Jahren als
Dichterin das Wort ergreift, ihre «Briefe an
die Welt» schreibt, ihre Zaubersprüche
murmelt und in Gärten und Gedichten
ihren säkularen Sabbath feiert: «Den
Sonntag feiert man mit Kirchgang / Ich
feier ihn daheim/ Ein Stärling ist mein
Sängerknab/ Ein Garten ist mein Dom (...)
Und statt in den Himmel zu kommen – zu-
letzt – / Geh ich da ständig hin.»
Losgesagt hat sie sich damit von jenem
Vatergott, den das puritanische Milieu,
dem sie entstammte, mit erstickender
Strenge propagierte. Später wird sie – ähn-
lich wie der wenig ältere Gottfried Keller
– auch auf das christliche Jenseits, den
Himmel, verzichten. Sie hat ihn hier auf
Erden gefunden und feiert seine kleinen
Agenten. Daher die vielen Vögel, Frösche
und Insekten, die in ihrer Lyrik auftreten:
It is a lonesome Glee
Yet sanctifies the Mind
With fair association
Afar opon the Wind
A Bird to overhear
Delight without a Cause
Arrestless as invisible -
A Matter of the Skies.
Einsam ist diese Freude
Doch heiligt sie den Sinn
Mit heller Eingebung
Von weither mit dem Wind
’nen Vogel zu belauschen
Vergnügen ohne Grund
Nicht aufzuhalten unsichtbar
Ein Himmelsgegenstand. l
Gunhild Kübler beschäftigt sich seit 20
Jahren mit Emily Dickinson. Ihre Überset-
zung von Emily Dickinsons Lyrik ist 2015
bei Hanser erschienen.
Lyrik Eindeutigkeit ist eine Sackgasse. Das beweist die gefeierte Autorin Monika Rinck in zwei
neuen Bänden

SiefürchtetdieDämonennicht
Monika Rinck: Alle Türen.
Kookbooks 2019. 102 S., um Fr. 29.–.
Monika Rinck: Champagner für die Pferde.
S. Fischer 2019. 528 S., um Fr. 36.–.
Von Björn Hayer
So richtig passt sie in keine Kategorie. Sie
geriert sich weder als Sentimentalistin
noch als verkopfte Sprachkritikerin. Die
gefeierte Lyrikerin Monika Rinck steht für
sich und gilt neben Jan Wagner vielleicht
als die zweite grosse, allseits bewunderte
Stimme der deutschsprachigen Lyrik-
szene. Den poetischen Raum, den sie seit
Anbeginn ihres Schreibens besetzt, ist
jener der Schwelle: zwischen Seele und
Körper, Vergangenheit und Zukunft, Rea-
lität und Imagination. Kaum ein anderer
als der just erschienene Band «Alle Türen»
beschreibt schon im Titel treffender die
Selbstverortung der 1962 im deutschen
Zweibrücken geborenen Autorin. Bald ge-
schlossen, bald angelehnt trennen Türen
die Welt in draussen und drinnen. Die
Poetin rät uns allerdings grundsätzlich:
«Lass sie offen, du sperrtest dich sonst mit
Dämonen ein. / Diese sollten kommen und
gehen. Binde sie nicht. // Dann die Angst,
gar nichts mehr festhalten zu können.»
Einerseits, so suggeriert der letzte Vers,
gibt es die begründete Sehnsucht, Halt zu
finden, andererseits könnte genau dieses
Unterfangen zum Stillstand führen und in
diesem Fall finstere Wesen zu dauerhaften
Mitbewohnern werden lassen. In einem
Essay, der neben weiteren ihrer poetolo-
gischen Texte neu im Kompendium
«Champagner für die Pferde» erschienen
ist, schreibt Rinck über die Dichtung: Sie
«bleibt in gewisser Weise am selben Ort,
geht hinein und hinaus, türmt, stapelt,
verdichtet, geht tiefer in den Gedanken.
Die Versbewegung suggeriert ein Bleiben
– was in keinem Fall als ein Lob der Immo-
bilität missverstanden werden soll. Es geht
ja weiter. Das Fortschreiten ist tropisch».
die poststrukturalistische Aufweichung
aller Eindeutigkeiten denkt, liegt richtig.
Ein weiterer Bezugspunkt für Rincks
Arbeiten lässt sich noch viel früher finden.
Wie sie vermied auch Friedrich Hölderlin
sprachliche Festschreibungen. Die
Romantiker waren ihm zu naiv, die Klas-
siker wie Schiller zu statisch. Umso mehr
feierte er Dichtung als dialektisches Ver-
fahren, als permanente Vermittlung zwi-
schen Himmel und Erde, Götter und Men-
schen. Man könnte auch sagen, dass ihm
Poesie als utopisches Mittel diente, um die
von ihm als defizitär erfahrene Wirklich-
keit von undemokratischer Kleinstaaterei
zu überwinden. Dem Ist- stellte er immer
den Soll-Zustand entgegen. Die Peter-
Huchel-Preisträgerin verfährt ähnlich. Sie
verschiebt und verfremdet und weist oft
indirekt auf das Bessere.
Intelligenz und Wunder
Nah ist Rinck Hölderlin trotz dessen Stili-
sierung des Wir-Gefühls ebenfalls in der
gesellschaftskritischen Haltung. Ihre
hochintelligenten Werke sparen nicht an
Anklagerhetorik. So spricht sie in «Alle
Türen» allzu gern vom «Operettenstaat»
– Kitsch und Mythos sind darin am Werk.
Und natürlich die Dämonen, die mit der
«Vermehrung von Lücken» ein «furchtein-
flössendes Charisma entfalten». Schnell
Monika Rinck, 50, ist fühlt sich der Leser bei solchen Versen an
eine der grossen die Demagogen der Gegenwart erinnert.
Stimmen der Den simplen Weltbildern von Extremis-
deutschen Lyrik. ten setzt Rinck das Prinzip der Mehr-
deutigkeit entgegen. Poesie, so prokla-
miert sie in einer Rede, «vermehrt die
denkbaren Versionen der Wirklichkeit und
nimmt der Idee der Eindeutigkeit ihre Evi-
denz.» Materielles geht in ihrer Lyrik häu-
fig in Sphären und Nebel über. Wo alle
Türen offen stehen, vermischen sich die
Lüfte und nehmen auf wunderliche Weise
in Sprache Gestalt an. Das ist Poesie als
utopische Praxis, in der sich Ungleiches
vereint. Aus dem Runden und dem Ecki-
gen geht schon einmal wie in dem Text
«Abstraktion» die bekannte «Quadratur
des Kreises» hervor, und auch die Mark
wandelt sich derweil in «die Marp Bran-
denburg». Selbst Gummi kann man in
diesen Topografien der Phantasie trinken
oder «Meta-Stiefeletten» tragen.
Was Monika Rinck durchaus von eini-
gen anderen ihrer Generation (gerade aus
dem selbstzirkulären Kookbooks-Umfeld)
abhebt, ist trotz aller akademischen und
ironischen Grundierung ihrer Texte eine
fulminante, ja enthusiastische, alle Regis-
ter sprengende Sprache. Slang und locke-
rer Alltagsstil treffen auf Pathos und
Emphase. Den Kompositionen wohnt
immer auch Impulsivität inne – wenn
Rinck etwa über Traurigkeit und die Sehn-
sucht nach Ruhe sinniert. Und so lässt sich
selbst in Poemen, die sich jeder Fixierung
entziehen, ein Momentum des Wahren
und Echten auffinden. Ihre Gedichte lau-
fen daher nie Gefahr, blutleer zu werden.
Ganz im Gegenteil: In ihnen wirkt der
Wind des Lebens, durch alle Türen. ●

Verwandt mit Hölderlin

Dass sich hinter dieser ästhetischen Pro-
grammatik des paradoxen Ineinander von
Bewegung und Innehalten auch eine poli-
tische Anschauung verbirgt, wird in ande-
ren Stellungnahmen der Autorin offen-
kundig. «Wo sind ‹wir›? Immer deutlicher
wird heutzutage die Anrufung (einer
marktförmigen Identität) durch alle For-
men der Bewusstseinsindustrie. Daneben
treten wiedererwachte Nationalidentitä-
ten.» Solcherlei kulturell manifestierten
Konstruktionen gilt die Kritik der Viel-
schreiberin. Sie betreffen sowohl das von
ihr immerzu infrage gestellte Ich als auch
den Fremden oder anderen. «Du wirst nie
alles definitorisch regeln können. / Ist so.
Der Gebrauch! Weisst du – der Gebrauch!»,
GENE GLOVER / AGENTUR FOCUS

ruft sie uns daher in einem neueren Text

zu. Ihr Plädoyer für offene Türen steht
allerdings nicht nur platt für offene Gren-
zen in Zeiten der Migration, sondern ver-
handelt zudem die Herstellung und De-
konstruktion von Bedeutungen. Wer da an
28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Essay
Die poetische Avantgarde der Gegenwart kommt aus Berlin, und der Verlag Kookbooks ist das Herz dieser
lebendigen Lyrik-Szene. Die Verlegerin Daniela Seel ist eine Überlebenskünstlerin. Von Florian Bissig
«duhältstberliner
lyrikfürstylishund
schwierig?gut.»
Sie waren jung, und es ging ihnen nicht ums Geld
– als 2003 ein Kreis von Dichterinnen und Dich-
tern um Daniela Seel in Berlin einen Lyrikverlag
gründete. Wer Lyrik verlegt, macht kein Geschäft.
Lyrikverleger sind, wie die Lyriker, Selbstausbeu-
ter. Und Lyrikerverleger sind in den meisten Fäl-
len selber Lyriker. So war es auch damals in Berlin.
Ein Netzwerk von jungen Poeten mochte ihre
Performances, Lesungen und Diskussionen nicht
der Vergänglichkeit überlassen und auch nicht auf
die kleine Chance warten, dereinst bei einem
etablierten Verlag publizieren zu dürfen. Also half
man sich selbst, mit Kookbooks.
Der junge Verlag steckte sich hohe Ziele und
programmierte gleich fünf Buchreihen. Und
wurde zunächst belächelt. Doch nachdem die
ersten Gedichtbände – etwa von Steffen Popp,
Daniel Falb, Uljana Wolf und Monika Rinck –
publiziert waren, wich die Skepsis einer Anerken-
nung durch Kritik und Medien, die bis heute an-
hält. Das jüngste Beispiel für diese Wertschätzung
liefert der Germanist Christian Metz. In seinem
Buch «Poetisch denken», in dem er die ersten
beiden Jahrzehnte des 21.Jahrhunderts als Blüte-
zeit der deutschsprachigen Lyrik feiert, hält er
fest, dass der Verlag «über das Ästhetische hinaus
zur wichtigen Referenz und zur Vorzeigeinstitu-
tion der neuen Lyrik geworden» ist und bietet
auch einen Erklärungsansatz.
«Ich mache alles»
Daniela Seel habe nicht bloss hochkarätige Lyriker
versammelt, sondern eine neue Kultur der Selbst-
ermächtigung und Selbstorganisation geprägt. Die
Dichter gäben nicht einfach ein Manuskript ab,
sondern alle beteiligten Personen seien «Autoren,
Leser, Lektoren, Veranstalter, Kritiker, Kommen-
tatoren, Talentscouts, Übersetzer, Kollegen und
Konkurrenten in Personalunion». Den «Willen
zum Dilettantismus», den Metz als symptomatisch
für die Entschlossenheit der Szene lobt, lässt Seel
allerdings ungern auf sich sitzen. Sie ist ausgebil-
dete Verlagskauffrau und hatte schon vor Kook-
books als Lektorin und Korrektorin gearbeitet.
Wir treffen Daniela Seel am Rande des Kongres-
ses Fokus Lyrik in Frankfurt, wo sich im März alle
Akteure der Lyrikszene von Autoren über Kritiker,
Übersetzer, Verleger und Dozenten bis zu Buch-
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019
händlern und Kulturförderern zusammengesetzt
haben. Mit Not konnte sie einen Interviewtermin
in ihren Terminkalender quetschen. Denn als Ver-
legerin, Lektorin, Veranstalterin, Dichterin und
Dozentin gehört sie auf und neben der Bühne fast
überall dazu. Sie erklärt, dass der Kollektivge-
danke vor allem beim Veranstaltungslabel Kook
im Vordergrund stehe. Den Buchverlag Kook-
books führt sie dagegen eigenhändig. «Ich mache
alles», erklärt sie bündig. Nur die Grafik, die den
Büchern eine eigenständige materielle Gestalt
gibt, besorgt der Illustrator Andreas Töpfer.
Während also die Vorstellungen über den Be-
trieb, die aus der Halbdistanz der Kritik herum-
gereicht werden, ein wenig verzerrt und verklärt
sind, ist Metz’ Analyse der literarischen Produk-
tionen umso akkurater. Von den vier Gegenwarts-
lyrikern, die Metz in seinem Buch als exempla-
risch vorstellt, sind zwei Kookbooks-Autoren,
nämlich (neben Jan Wagner und Ann Cotten)
Monika Rinck und Steffen Popp.
Der 40-jährige Popp hatte 2004 sein Lyrikdebüt
als einen der ersten Kookbooks-Bände publiziert.
Seither wird er regelmässig mit Auszeichnungen
bedacht und ist kürzlich in die Deutsche Akade-
mie für Sprache und Dichtung aufgenommen
worden. Sein jüngster Kookbooks-Band «118»
umreisst eine Art Periodensystem. In einem
Gegenentwurf zu den 118 chemischen Elementen
arbeitet sich der Dichter an den Elementen
unserer Lebenswelt ab.
Statt des Eisens findet sich das «Fe» im Eintrag
zum «Fenster». Klirren, mikrofein, Knistern, sub-
arktisch / stehen am Eisblumenfenster, wie Riesen
/ gekörnt in die Silber Iltis Sternstäubchen / Schwe-
be des Zimmers. Die chemischen Elemente ent-
stammen dem naturwissenschaftlichen Ansatz,
zu erklären, was die Welt im Innersten zusam-
menhält. Was die geistige und symbolische Welt
des Menschen zusammenhält, ist hingegen die
Sprache. Popp versteht sich als poetischen For-
scher. Seine Spracharbeit am Gegenstand ist ein
Beispiel für das, was mit dem Kookbooks-Motto
«Labor für Poesie als Lebensform» gemeint ist.
Nichts Schöngeistiges, sondern ein sprachlich-
kreativer Zugriff auf die Fragen und Themen der
Zeit, der an die künstlerischen Ideale der Avant-
gardisten der Moderne anknüpft. Alles kann
«Poesie als Lebensform»
meint: Nichts Schöngeistiges,
sondern ein sprachlich-
kreativer Zugriff auf die
Fragen und Themen der Zeit.
Gegenstand dieser Lyrik werden. Doch nicht etwa
so, wie Daniel Falb, ebenfalls ein Kookbooks-
Autor der ersten Stunde, in Frankfurt auf einem
Podium sagte, dass sich die Dichter mit einer lyri-
schen Sprache über die Welt hermachten. «Gibt
es eine lyrische Sprache? Es darf sie nicht geben,
denn sie wäre limitierend», sagte er. Dichtung
solle alle möglichen Diskurse einbinden. Falb
selber bringt Themen rund um Technik, Politik
und Umwelt in seine Texte ein, eine Öko-Lyrik
ohne den Ballast der Romantik.
Lustig und kryptisch
Als archetypischer Kookbooks-Autor ist auch Ulf
Stolterfoht schon bezeichnet worden, obwohl er
erst kürzlich zum Verlag gewechselt hat. Stolter-
foht arbeit seit über 20 Jahren an seinen «Fach-
sprachengedichten». Alle paar Jahre füllt er einen
Band, meist mit Langversen, gespickt mit Binnen-
reimen und Assonanzen. Auch er verleibt seiner
Lyrik alle möglichen Lebensbereiche ein. Er hat
sich schon an der Jagd über allerlei Technik bis
hin zur Psychiatrie abgearbeitet. In seinem jüngst
erschienenen fünften Band gibt es eine Abteilung
mit dem Titel «aggregate». als wir die lichtung be-
traten, war alles schon gelaufen: ein dampfender
/ subaru und ein aufs dach gedrehter golf. zwei tage
später brach ich / neuerlich durchs holz und: rest-
lichtverdichter, so hebt der Zyklus an.
Das ist lustig, aber ist es nicht auch kryptisch?
Wer so fragt, wird sich in der Schlussstrophe des
Zyklus ertappt fühlen, wo es heisst: du hältst die
ber- // liner lyrik für stylish und schwierig? gut. in
teilen langwierig? gut. / doch bedenke: wir machen
die sache. du machst sie nicht. Stolterfoht spricht
mit diesen ironisch-selbstreflexiven Zeilen gleich
zwei kritische Fragen an, denen sich die zeit-
genössische Lyrik im Allgemeinen und der
▲
 GORDON WELTERS

Lyrik als Überlebenskunst: Seit 16 Jahren verlegt Daniela Seel in ihrem Verlag Kookbooks Gedichtbände. (Berlin, 17. April 2019)
28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Essay
Kookbooks-Verlag im Besonderen immer wie-
▲
der stellen muss: einerseits die Berlin-Zentriert-
heit der deutschsprachigen Lyrikszene und ande-
rerseits die «Schwierigkeiten», mit denen Leser
und Kritiker mitunter hadern.
Daniela Seel kann ein Liedchen von den
Schwierigkeiten singen, die man sich mit soge-
nannt schwieriger Lyrik einhandelt. Auf einem
Podium in Frankfurt zeigt sie sich frustriert über
die Medien, die allzu viele Publikationen gleich
als «sperrig» und «unverständlich» einordnen
würden. Im persönlichen Gespräch verweist sie
gleichwohl darauf, dass es auch im Kookbooks-
Programm «zugänglichere» Bücher gebe.
Ein Buch, dass sich zugänglich gibt und auf den
ersten Blick fast kunstlos daherkommt, ist Mar-
tina Hefters Band «Es könnte auch schön wer-
den». Der Haupttext des Bandes ist ein «Script für
ein Lehrstück», das sich die Dichterin, Performe-
rin und Tänzerin im strengsten Wortsinn auf den
Leib geschrieben hat. Die Figur des Solo-Stücks
spielt ihren Besuch bei der Schwiegermutter im
Pflegeheim durch. Jetzt benimm dich mal / Ich
komm extra für dich her schenk dir meine Zeit / du
kannst auch mal dankbar sein / Pause / Was sag
ich da eigentlich /was hab ich da gerade gesagt.
Das Ich taucht in den Regieanweisungen auf,
und Martina Hefter inszeniert sich bis ins Detail
selbst: «Ich heisse Martina Hefter und jeden Mor-
gen steh ich um 5.45 Uhr auf», erklärt die Spre-
cherin, und gegen Ende des Stücks ruft sie die
Zuschauer dazu auf, sie anzurufen und gibt ihre
Telefonnummer durch. Hefter veranstaltet einen
hyperrealistischen Dialog über ein aktuelles ge-
sellschaftliches Thema als Kunstwerk und über-
lässt es dem Publikum, ob es dieses als ironisch
gebrochen auffassen will. Bei allen Unterschieden
lässt sich auch bei Hefter das Prinzip feststellen,
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16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019
In ökonomischer Hinsicht
geht es Kookbooks nicht
besser als der Konkurrenz.
Kürzlich bekam Daniela Seel
zu allem Übel noch Probleme
mit dem Steueramt.
mit poetischen Mitteln Lebensbereiche und ihre
Sprachfelder aufzugreifen, die man nicht in der
Lyrik erwarten würde. Diese Dichtung zieht sich
nicht zurück, sondern redet überall mit und zeigt
auf, dass es auch mit Poesie ginge. Doch «Poesie
als Lebensform» bleibt trotz alldem eine Option
für wenige, sie bleibt ökonomisch in der Nische.
Doch Kookbooks hält sich aus seiner Nische her-
aus hervorragend im Gespräch – im Gegensatz zu
den meisten anderen Lyrikverlagen. Kookbooks-
Bände können mit einer Besprechung in einer
Qualitätszeitung oder im Radio rechnen, und ihre
Autoren sind auf dem Radar der Preisjurys. Mit
einem Preisgeld oder einem Aufenthaltsstipen-
dium lässt es sich eine Weile leben und arbeiten.
Kookbooks-Autoren sind keine klandestinen
Figuren, sondern finden auch den Draht zu den
Grossverlagen. So etwa Steffen Popp, der bei
Suhrkamp die Anthologie «Spitzen» mit seiner
subjektiven Besten-Auswahl der Gegenwartslyrik
herausgeben durfte und dessen Übersetzungen
der amerikanischen Dichterin Elizabeth Bishop
von Hanser veröffentlicht wurden. Am selben
Ort konnte der junge Kookbooks-Lyriker und
Mediävist Tristan Marquardt einen grossen Band
zur Minnelyrik herausgeben. Und nicht zuletzt
waren es mit Marquardt und Rinck gleich
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0359
93-1
0749-0
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zwei Kookbooks-Autoren, die das Programm
des Frankfurter Lyrik-Kongresses besorgten.
Kookbooks hat sich an einem raffinierten Plätz-
chen installiert: Er ist ein Kleinverlag mit bester
Vernetzung zu den Grossen, zu Institutionen,
Geldgebern und Medien. Das Label kann gross
mitspielen und dennoch vom Geist der Unab-
hängigkeit profitieren.
Doch die überproportionale Aufmerksamkeit
für Kookbooks gefällt nicht allen. Sie mache an-
dere Kleinverlage unsichtbar, sagt etwa Adrian
Kasnitz, der seinen Kölner Lyrikverlag Parasiten-
presse noch vor Kookbooks gegründet hat.
Kasnitz wünscht sich mehr «Bibliodiversität»:
Beachtung für die ganze Breite des deutschspra-
chigen Lyrikschaffens und für die Autoren und
Szenen aller Regionen. Der Berlin-Hype, von dem
Kookbooks profitiere, sei ohnehin längst vorbei.
Dem Erfolg zum Trotz: In ökonomischer Hin-
sicht geht es Kookbooks nicht besser als der Kon-
kurrenz. Kürzlich bekam Daniela Seel zu allem
Übel noch Probleme mit dem Steueramt. Auf-
grund des Slogans «das amortisiert sich nicht» –
einem Buchtitel Tristan Marquardts entnommen
– sollen die Steuerbehörden den Verdacht ge-
schöpft haben, Kookbooks verfolge keine Ge-
winnerzielungsabsicht. In der Folge haben sie
Seels Steuerabzüge unter die Lupe genommen.
Mit dem Resultat, dass einige tausend Euro Nach-
steuern zu bezahlen sind.
Daniela Seel, heute 44-jährig und Mutter eines
Kleinkinds, muss nun nach fast 100 Büchern und
unzähligen verlegerischen Erfolgen abermals pri-
vate Mittel in ihren Verlag stecken. Irgendwie
überleben kann sie selber dank Aufträgen als Lek-
torin, Dozentin und Performerin. Kookbooks
amortisiert sich in der Tat nicht. Freilich ist dieser
Satz einzig in seiner ökonomischen Lesart wahr. l
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978 3 280 03
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0758-22, ab
b 4 Jah
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62-9
Belletristik
Lyrik für Kinder Wenn man mit Wörtern spielt, entdeckt man die Magie im Alltag
GedichteweckendieLiebezumMeer
Uwe-Michael Gutzschhahn (Hg.): Sieben
Ziegen fliegen durch die Nacht.
Illustriert von Sabine Kranz. dtv junior
2018. 176 S., um Fr. 25.–.
Uwe-Michael Gutzschhahn: Die Musse der
Mäuse. Mit Zeichnungen von Manfred
Schlüter. Elif 2018. 80 S., mit CD, Fr. 24.–.
Elisabeth Steinkellner: Vom Flaniern und
Weltspazieren. Mit Zeichnungen von
Michael Roher. Tyrolia 2019. 112 S., Fr. 23.–.
Michael Hammerschmid & Rotraut Susanne
Berner: Schlaraffenbauch. Büchergilde
Gutenberg 2018 (Tolle Hefte, Nr. 49).
32 S., um Fr. 25.–.
Von Hans ten Doornkaat
Das Paket sieht aus/ wie viele Pakete./ Es
liegt vor der Haustür/ und schnarcht./ Viel-
leicht ist es müde/ von seiner langen Reise.
– Die Zeilen, die als reimloses Gedicht auf-
treten, erfinden nichts: keine grossen Ges-
ten, kein Pathos. Der Autor, in diesem Fall
Erich Joss, schaut hin, fühlt mit dem un-
scheinbar Gewöhnlichen, gibt ihm Würde.
Die Freiheit reimfreier Zeilen ist im Kin-
dergedicht längst nicht mehr neu. Doch
neben Versen, die von Rhythmus und
Endreim leben, wirken sie noch immer
modern. Uwe-Michael Gutzschhahn, der
seit Jahren aus Büchern für Erwachsene
kinderzimmer- und schulfähige Lyrik ver-
sammelt, hat 2014 in Zusammenarbeit mit
der Zeitschrift «Das Gedicht» den Blog
«Gedichte für Kinder» gegründet. Jetzt
liegen alle Einträge als Buch vor; ergänzt
um Trouvaillen, die nie im Blog auftauch-
ten. Ein Paket «schnarcht» – die Komik,
die hier anklingt, passt nur bedingt zum
empathischen Innehalten. Aber die Per-
sonifizierung weckt Sympathie und macht
den Zugang konkreter. Eine ähnliche Auf-
Gedichte für Kleinkinder Zwei Pappbilderbücher zeigen, was mit Sprache alles möglich ist
Durch Reime reiten
Martin Baltscheit & Anne-Kathrin Behl:
Laufrad, mein Laufrad.
Beltz 2019. 22 S., etwa Fr. 14.– (ab 2 J.).
Jörg Isermeyer & Daniel Napp: Ene, mene,
Eierkuchen.
Atlantis 2019. 18 S., etwa Fr. 15.– (ab 2 J.).
Von Andrea Lüthi
Ob Schlaflieder, Finger- und Abzählverse
– die meisten Menschen wachsen mit Rei-
men auf. Im Jahr 2009 ehrte die Unesco-
Kommission die bekannte Schweizer
Spielpädagogin Susanne Stöcklin-Meier
für ihren Verdienst, Verse und Spiele über
Generationen weiterzugeben; ein Beweis,
dass Kinderreime keine belanglose Spie-
lerei, sondern wichtiges Kulturgut sind.
Verse zeigen Kindern, was mit Sprache
möglich ist, verleiten zu eigenen Wort-
spielen und -verdrehungen. Versen kann
«wir bleiben genaue / schnecken» – Illustration von Rotraut Susanne Berner.
gabe haben die Illustrationen von Sabine
Kranz, denn Prägnanz und Bildwitz er-
leichtern den Einstieg.
Wenn Gutzschhahn selbst dichtet, spie-
len auch seine Erfahrungen mit Texten
von Kollegen hinein. Oskar Pastior jon-
glierte Buchstaben und reimte bewusst
falsch. Sein Prinzip vom «farsch geleimten
Hund» liess den Herausgeber Gutz-
schhahn bei Lesungen für Kinder erleben,
wie sie bei falschen Reimwörtern lachten.
Also dichtete er in die «Musse der Mäu-
se»: Ich bin ein sehr verträumter Hund /
bitte küss mich auf den Mond. Das Zwin-
gende des Reims etabliert eine Erwartung,
die der Dichter unterläuft. Oder wenn
Gutzschhahn im Gedicht «Zauberhut»
etwas Zauberspruchartiges anhaften, sie
können einen zum Lachen bringen und
zum Bewegen anregen.
Auch aktuelle Pappbücher für Klein-
kinder enthalten oft Verse – in der Regel
hochdeutsche, damit sie sich für den ge-
samten deutschen Sprachraum nutzen
lassen. In Martin Baltscheits und Anne-
Kathrin Behls «Laufrad, mein Laufrad»
entdeckt ein Mädchen per Laufrad die
Welt und erlebt Freiheit und Eigenstän-
digkeit. Vorbei geht’s an der Weide, durchs
Quartier bis in die Träume, und Illustra-
tionen wie Reime vermitteln unbeschwer-
tes Frischdrauflosfahren: Laufrad, mein
Laufrad! / Du Pferdchen aus Holz, / wir
reiten durch Reime / und platzen vor Stolz.
Die Verse nehmen den Rhythmus der
Geschichte auf, verleihen ihr Tempo und
ziehen sie weiter – analog zum rollenden
Laufrad. Eine ähnliche Funktion erfüllen
die Verse in Jörg Isermeyers und Daniel
einen Widerspruch aufbaut und noch eins
draufgibt, dann führt der Unsinn zu einem
poetischen Bild: Morgens, wenn die Nacht
anfängt, / habe ich den Mond verschenkt.
Buchstabenverwechseln, Schüttel-
reime, Wort- und Sprachspiele sind un-
verändert Kernpraxis der Kinderlyrik. So
nutzt die österreichische Autorin Elisa-
beth Steinkellner in ihrem Band «Vom
Flaniern und Weltspazieren» alle bewähr-
ten Formen. Wenn sie reimt Ein grosser,
grüner Autobus/ fuhr über eine Haselnuss,
dann mutiert der Sechszeiler zum Abzähl-
vers und endet mit Und du bist raus. Ei-
nige Seiten weiter aber heisst ein freies
Gedicht «Ganz einfach» und macht eine
simple Erfahrung bedeutsam: Fenster ge-
öffnet/ Blau entdeckt/ Fisch gerochen/ Salz
geschmeckt/ – schon war die Liebe/ zum
Meer geweckt.
Ob Kinder solche Texte lesen? Oder
Jugendliche? – Nun, auch nicht alle Er-
wachsenen lesen Kürzestprosa und Ge-
dichte. Aber das kann kein Grund sein, die
Freude an Sprache nicht kinderleicht zu
vermitteln. Im Gegenteil! Und so gibt es
auch für Kinder kleine, aber feinst aufge-
machte Editionen, etwa in der exquisiten
Reihe «Die Tollen Hefte», betreut von Ro-
traut Susanne Berner. Die Plakativität
ihrer Buntstiftzeichnungen auf kleinstem
Raum entspricht dem Parlando der Texte.
Michael Hammerschmid lädt Alltägliches
magisch auf. Er nutzt den Zeilenfall des
Gedichtes, um die Wahrnehmung zu ver-
langsamen. Das Innehalten ermöglicht
Staunen: alles kracht/ aufgewacht/ die bil-
der kommen/ schnell herein/ die menschen
können/ schrecklich sein/ alles kracht/ auf-
gewacht/ wir lassen/ uns nicht schrecken/
wir bleiben genaue/ schnecken/ schauen
hin/ hören genau/ denken nach/ bleiben
schlau/ schlau/ schlau/ schlau. ●
Napps «Ene, mene, Eierkuchen», das auf
einen bekannten Abzählvers anspielt. Ein
Eichhörnchen backt herrlich chaotisch
einen Eierkuchen, beobachtet von einer
Meise, die nur auf der Bildebene rege am
Geschehen teilnimmt. Während ein Ei auf
dem Tisch zerfliesst und der Teig in alle
Richtungen spritzt, sucht das Eichhörn-
chen nach den bereitgestellten Zutaten
und Geräten. Ene, mene, bin ich blöd? / Ich
weiss nicht, wo die Schüssel steht! Und es
fordert die Schüssel auf: Schüssel, Schüs-
sel, sei so lieb / sag doch einmal «piep».
Was das Eichhörnchen nicht findet,
finden Kinder im Bild – gekennzeichnet
mit «piep». Der Takt wird schneller, pas-
send zum immer grösseren Durcheinan-
der in der Küche. Durch Wiederholungen
prägen sich einzelne Verse ein und finden
so vielleicht Eingang in den Kinderalltag,
etwa beim Helfen und Klecksen in der
Küche. ●
28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Worte,dieleuchten
Carolin Callies:
schatullen &
bredouillen.
Schöffling & Co. 2019.
96 Seiten,
um Fr. 30.–.
Romantik liegt ihr nicht. Bei zu vielen Ge-
fühlen wittert sie schon das Falsche. Was
also Liebe und Sexualität anbetrifft, lässt
sich in Carolin Callies’ Gedicht «manege
frei fürs nackedei» vor allem Ernüchte-
rung konstatieren. «Der vorhang fällt»
nach dem Beischlaf «& schon kann man
die vaseline nicht mehr sehen / & die ge-
molkne suppe». Callies‘ Blick ist der einer
schonungslosen Abrechnung. Mythen,
Traumvorstellungen und ganze Tradi-
tionslinien nimmt sie auseinander. Nach-
dem «die idyllen in weiden verpackt, / ins
säcklein mit teig & mit mehl» sind, bleibt
von der im Titel angespielten, friedlichen
«hirtendichtung» kaum noch etwas übrig.
Je mehr man derweil zerstückelt und zer-
gliedert, desto mehr Kleinstteile entste-
hen. Insbesondere Brösel und Streusel
bilden daher wichtige Leitmotive dieser
unverblümten Lyrik, deren Versprechen
lautet: radikale Ehrlichkeit in jedem Vers!
Björn Hayer
Michael Braun & Hans
Thill (Hrsg.): Aus Mangel
an Beweisen. Deutsche
Lyrik 2008–2018.
Wunderhorn 2018.
320 S., um Fr. 37.–.
Schon zum vierten Mal besorgen der Lyri-
ker Hans Thill und der Lyrikkritiker
Michael Braun eine Anthologie, in der sie
das deutschsprachige Lyrikschaffen des
vergangenen Jahrzehnts zwischen Buch-
deckeln versammeln. Der Band ist weder
ein Fan-Buch, in dem eine bestimmte Poe-
tik protegiert, noch eine Ehrengalerie, in
der bekannten Dichtern zu viel Platz ein-
geräumt würde. Die Anthologisten prä-
sentieren neben Etablierten auch Nach-
wuchsautoren. Und neben Spielerischem,
Gewagtem und Prosaischem tauchen
Sonette und andere klassische Formen
auf. Unterteilt ist das Buch nicht nach
Namen, Schulen oder Generationen, son-
dern es gruppiert die Gedichte der knapp
200 Lyriker nach Themen wie «Tussis in
Pastell» oder «Lebenskarte». Essays zur
Poesie und Poetik von Kennern wie Franz
Josef Czernin und Uljana Wolf runden die-
sen umfassenden Spiegel des Dichtens ab.
Florian Bissig
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019
Philippe Jaccottet:
Gedanken unter den
Wolken.
Übersetzt von
Elisabeth Edl und
Wolfgang Matz.
Wallstein 2018.
126 S., um Fr. 29.–.
Der grosse Dichter Philippe Jaccottet, der
früh aus dem Waadtland nach Frankreich
zog, ist bereits 93 Jahre alt. Doch sein Werk
leuchtet wie am ersten Tag. Das beweist
die Neuübersetzung des Bandes «Pensées
sous les nuages» von Elisabeth Edl und
Wolfgang Metz. Jaccottets Gedichtzyklus
von 1983 ist hiermit erstmals vollständig
auf Deutsch zu lesen. Es sind lyrische
Meditationen von einzigartiger Sanftheit.
Tastend und weise und nicht ohne Melan-
cholie betrachtet der Dichter die Natur –
Erde, Himmel, Berge, Falter – und die
Menschen. Über allem liegt das Wissen
um die eigene Vergänglichkeit, doch umso
mehr richtet er seinen Blick auf das Licht:
«Noch eine Weile sind wir im Kokon des
Lichts. / Wenn er zerfällt (langsam oder
mit einem Schlag), / wachsen uns dann
wenigstens Flügel / des Nachtpfauen-
auges, / uns hinauszuwagen in Dunkel
und Frost?»
Martina Läubli
Lina Atfah: Das Buch
von der fehlenden
Ankunft.
Arabisch/Deutsch.
Pendragon 2019.
152 S., um Fr. 34.–.
«Wunde um Wunde flickten wir unsere
Geschichten zusammen / und gingen wei-
ter.» Ein Stehenbleiben oder Zurück-
schauen war unmöglich, als Lina Atfah
2014 Syrien verliess. Die Erfahrungen von
Terror und Krieg wabern seither bruch-
stückhaft in ihrem Gedächtnis. Statt den
Weg «zur Fata Morgana oder zum Grab-
stein» einzuschlagen, sich also selbst zu
betrügen oder zu verlieren, hat sich die
Schriftstellerin für die poetische Trauma-
aufarbeitung entschieden. Entstanden
sind Zeugnisse existenzieller Dringlich-
keit, die den Leser unmittelbar in Bann
ziehen. Während immer wieder vom Er-
sticken, Ertrinken und Verschwinden der
Vergangenheit die Rede ist, machen ande-
re Texte die schöpfende Gabe der Liebe
zum Thema. Neben deren Übersetzungen
enthält der Band die arabischen Varianten.
Die Magie der fernen Heimatkultur der
Autorin bleibt auf diese Weise bewahrt.
Björn Hayer
Aleš Šteger: Über dem
Himmel unter der Erde.
Übersetzt von
Matthias Göritz. Lyrik
Kabinett bei Hanser
2019. 96 S.,
um Fr. 28.–.
Aleš Šteger, geboren 1973, ist eine der prä-
gnantesten und prägendsten Stimmen
slowenischer Gegenwartsliteratur. Nach
zwei Romanen und einer Vielzahl an Ge-
dichten ist nun mit «Über dem Himmel
unter der Erde» ein weiterer Lyrikband
erschienen. Die vorangestellten Zeilen des
taoistischen Dichters Zhuangzi geben die
Haltung vor: «Himmel und Erde wurden
zur selben Zeit geboren und alles Leben
und ich sind eins». Die drei Teile des Buchs
spiegeln die Beschäftigung Štegers mit
fernöstlicher Philosophie: Leichtigkeit und
Schwere leben friedlich nebeneinander.
Die formale Strenge der Gedichte (manche
in der Tradition japanischer Haikus) wird
immer wieder gebrochen durch über-
raschende Sprachbilder und -spiele. Das
Dasein ist ein Zustand – und doch ist die
Existenz im Fluss: «Zeit ist ein Zugvogel. /
Aber die Menschheit besitzt / Das Genom
eines Steins.»
Tobias Sedlmaier
12 000 Tulpen in
Ramy Al-Asheq: 300 Sorten bilden in
Gedächtnishunde. Morges eine blühende
Übersetzt von Lilian Vielfalt.
Pithan. Sujet Verlag
2019. 80 S.,
um Fr. 18.–.
Der Krieg in Syrien hat die arabische Poe-
sie in die ganze Welt verschlagen. Ramy
Al-Asheq (*1989) ist einer der Unzähligen,
der 2011 nach dem niedergeschlagenen
Protest gegen Bashar al-Asad fliehen
musste. Nun lebt und dichtet er in
Deutschland und formt aus den Verhee-
rungen des Krieges und den Versehrungen
der Liebe betörend-sperrige Sprachbilder.
Im titelgebenden Gedicht «Gedächtnis-
hunde» stellt sich der Lyriker eine «Öff-
nung / am hinteren Ende des Kopfes» vor,
die verschluckt, «was wir hinter uns wer-
fen / Wie ein Staubsauger / Um alles zu-
rückzuholen in der Gestalt von Hunden /
die uns beissen und bellen (...) / Und in
jeden Winkel des Schädels pinkeln». Die
Überlebenden können zwar noch spre-
chen, aber sie haben keinen Frieden. Das
macht das Gedicht «Überleben» spürbar,
das Herzstück dieses beeindruckenden
Buches über die Unordnung der Seele.
Martina Läubli
Empfehlungen Gedichte sind die freiste Form des Schreibens. Diese zehn Lyrikbände
lohnen die Lektüre
Lea Gottheil:
Gläserne Fuge.
Wolfbach 2018.
104 S., um Fr.28.–.
Die Schweizer Schriftstellerin Lea Gott-
heil, Jahrgang 1975, experimentiert mit
der Sprache, zerlegt sie, fügt sie neu zu-
sammen – und sie ist eine Wort-und-Bild-
Erfinderin mit viel Gespür für das Sonder-
bare wie Merkwürdige. Ihr «König der
Nacht» .. . «speist Nelkenschaum und
Regenbrot». Im Gedicht «Wachwandeln»
heisst es: «meinen Schlaf werfe ich / in
den Spülschlund / er saugt die Träume
weg». Dabei wendet die Autorin konse-
quent Kleinschreibung an, was ihren Ge-
dichten eine speziell zurückhaltende
Typografie-Ästhetik verleiht. Im Band
«Gläserne Fuge» spielt Lea Gottheil mit
den Möglichkeiten der Poesie, im Gedicht
«Rückkehr» bloss auf zwei Zeilen, aber
was für zwei Zeilen: «Aus ihren Füllhorn-
träumen kugeln Äpfel in den Tag / sie wird
ihrer Fantasie wieder eine Wohnung mie-
ten müssen». Was doch Lyrik vermag,
Phantasie vorausgesetzt!
Jürg Zbinden
VALENTIN FLAURAUD / KEYSTONE
Francesco Micieli:
Kindergedichte.
Verlag Die Brotsuppe
2019. 104 S.,
um Fr. 25.–.
Als Kind ist man manchmal ein Panther:
«Heute ist der Panther gefährlich / Nie-
mand darf ins Zimmer / Gar kein Mensch
/ Die Mama / Auch nicht / Ausser sie ver-
kleidet sich / Und tut so, als sei sie / Die
Panthermutter». Kinder haben die Fähig-
keit, die Welt zu verwandeln. Davon spre-
chen Francesco Micielis «Kindergedichte».
In seinen aufs Wesentlichste verknappten,
ja kargen Texten skizziert der Berner
Autor kindliche Wahrnehmungen und
Erlebnisse: Der Löwe, der sich unter dem
Bett versteckt. Streifen auf einem Pull-
over, die wie Schlangen aussehen. Oder
die eigentümliche Freude, grosse Zahlen
zu sagen. Micielis poetische Miniaturen
versetzen die Leserin zurück in der Zeit,
in ein Damals, als nichts auf der Welt
selbstverständlich war. «Kindergedichte
sind nicht in einem strengen Sinn Ge-
dichte», schreibt Micieli. Es sind gleich-
wohl verdichtete Existenz-Momente.
Martina Läubli
Herta Müller:
Im Heimweh ist ein
blauer Saal.
Hanser 2019. 128 S.,
um Fr. 34.–.
Angefangen hat es mit der Suche nach
Postkarten. Auf Reisen fand Herta Müller
keine schönen Karten, die sie Freunden
schreiben konnte. Also begann sie, Colla-
gen zu kleben – und schliesslich wurden
Gedichte daraus. «Überall haben Wörter
gewartet, ich habe sie nur ausschneiden
müssen», schreibt die Schriftstellerin im
Vorwort von «Im Heimweh ist ein blauer
Saal». Der neue Band versammelt geklebte
Gedichte, die charakteristisch sind für die
poetische Vorgehensweise der Nobel-
preisträgerin: Müller lässt sich vom Cha-
rakter einzelner Wörter leiten, von ihrer
Bildlichkeit und Materialität, von Buch-
staben, Farben und Schriften. Eine wich-
tige Rolle in dieser Bricolage spielen auch
Zufall, Klang und Sprachwitz: «Die Pfütze
ist eine Sache aus nassem Licht. Das be-
greift die Strasse nicht», lautet einer der
Texte. An Herta Müllers poetischen Col-
lagen haftet der Geruch der Wirklichkeit.
Martina Läubli
Albert Ostermaier: Über
die Lippen.
Suhrkamp 2019.
110 S., um Fr. 34.–,
E-Book 24.–.
Manche Kritiker sehen in seinen Versen
nichts als Kitsch. Wer jedoch so beständig
Liebeslyrik verfasst wie Albert Ostermaier,
der setzt sich schnell diesem banalen Vor-
wurf aus. Nehmen wir seine Gedichte
ernst: als Zeugnisse des Verliebtseins in die
Sehnsucht. Die Wörter fliessen, verfangen
sich in Sprachspielen, um sodann wieder
zu entgleiten: «In der muschel / das meer
wie wir wogen und / nichts mehr wägen
nur wagen». Ich und Du stürzen sich ins
Ungefähre, wo alles oder nichts lauern
kann. Immerzu treibt sie das Herz: «Du
sagst mein herz / sei schwer es sei / der
stein mit dem ich / dich erschlagen hätte /
dabei schwillt es nur an wenn es dich /
sieht und zieht sich / zusammen wenn du
/ gehst du wolltest es / fassen aber meine
/ liebe bleibt unfassbar». Wie lassen sich
Gefühle beschreiben? Ostermaier offen-
bart uns die Logik der Hingabe: geheimnis-
voll und unglaublich sanft.
Björn Hayer
28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Geschichte Anne Applebaum arbeitet den Hungerkrieg auf, den Stalin
1932/33 gegen die ukrainische Bevölkerung führte
Alsinder
Ukraine
Millionen
verhungerten
Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins
Krieg gegen die Ukraine.
Übersetzt von Martin Richter. Siedler
2019. 542 S., um Fr. 50.–, E-Book 42.–.
Von Reinhard Meier
Der in der Ukraine aufgewachsene Schrift-
steller Wassili Grossman schreibt über
die Hungerkatastrophe der Jahre 1932/33
in seiner Heimat: «Ich habe Folgendes
begriffen. Anfangs treibt der Hunger den
Menschen aus dem Haus. In der ersten
Zeit brennt der Hunger wie Feuer, reisst
an den Eingeweiden und an der Seele,
darum rennt der Mensch aus dem Haus.
Die Menschen graben Würmer aus und
sammeln Kräuter... Dann kommt der Tag,
wo sich der Hungernde wieder in seiner
Kate verkriecht. Der Hunger hat gesiegt,
und der Mensch versucht sich nicht mehr
zu retten, er legt sich ins Bett und bleibt
liegen... Und manche werden vom Wahn-
sinn befallen. Die beruhigen sich bis zum
Schluss nicht mehr... Solche zerschnitten
die Leichen und kochten sie, töteten ihre
Kinder und frassen sie auf.»
Aus Grossmans erschütternder Schilde-
rung zitiert Anne Applebaum in ihrem
neuen Buch «Roter Hunger». Sie be-
schreibt darin die ukrainische Hunger-
katastrophe der frühen dreissiger Jahre,
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019
die während der Sowjetherrschaft tabui-
siert war. Die amerikanische Historikerin
und Journalistin ist eine ausgewiesene
Kennerin Osteuropas. Für ihre Darstellung
«Der Gulag» wurde sie mit dem Pulitzer-
Preis ausgezeichnet. Sie ist mit dem frü-
heren polnischen Aussenminister Radek
Sikorski verheiratet und lebt in Warschau.
Mit «Roter Hunger» bearbeitet Apple-
baum kein publizistisches Neuland. Schon
im vergangenen Jahrhundert waren aus-
serhalb der Sowjetunion grössere Darstel-
lungen der Hungerkatastrophe während
der von Stalin durchgepeitschten Kol-
lektivierung der ukrainischen Landwirt-
schaft erschienen. Dazu zählen die Erin-
nerungen Lew Kopelews über seine Erfah-
rungen als gläubiger Jungkommunist
während der brutalen Getreidebeschlag-
nahmungen, der Bericht «Ernte des
Todes» des britischen Historikers Robert
Conquest und der bewegende Band
«Bloodlands» des Historikers Timothy
Snyder über die blutige Geschichte Ost-
europas im 20. Jahrhundert.
Den Bauern alles genommen
Was Applebaums Buch über den «Roten
Hunger» auszeichnet ist zum einen die
Auswertung neuer Quellen aus Archiven
und mündlicher Auskünfte in der Ukraine
und zum Zweiten eine breite historische
Einbettung der Hungerkatastrophe in die
Eine Frau in Kiew trägt
ihr Kind an
Hungertoten vorbei.
(Frühe 1930er Jahre)
Geschichte und das Identitätsverständnis
der heutigen Ukraine. Der umfangreiche
Text ist flüssig lesbar und in übersichtliche
Kapitel strukturiert, die man auch selektiv
lesen kann. Man erkennt die Hand der
erfahrenen Journalistin. Gleichzeitig bie-
tet das Werk dem interessierten Historiker
einen umfangreichen Apparat an Quellen-
nachweisen und Sekundärliteratur.
Für das Massensterben der Jahre
1932/33 hat sich inzwischen der Begriff
«Holodomor» durchgesetzt. Dieser ist
vom ukrainischen Wort «Holod» (Hunger)
und «Mor» (Tod) abgeleitet, es lehnt sich
lautmässig an den Ausdruck Holocaust für
die Judenvernichtung unter Hitler an.
Diese sprachliche Nähe ist nicht unbe-
gründet, denn nach den jüngeren For-
schungen sind in den frühen 1930er Jah-
ren in der Ukraine rund 3,9 Millionen
Menschen verhungert, das sind 13 Prozent

der Gesamtbevölkerung in der damaligen
Sowjetrepublik. Zusammen mit den Hun-
gertoten in anderen sowjetischen Re-
gionen (Gebieten an der Wolga, im Nord-
kaukasus und in Kasachstan) steigen die
Opferzahlen auf mindestens 5 Millionen
Menschen.
Applebaum bezieht in ihre Untersu-
chung der ukrainischen Tragödie auch
die schon in den 1920er Jahren auf-
tretende Hungerkrise ein, die sich kurz
nach der definitiven Kontrolle der So-
wjetmacht über das weite Grenzland
(Ukraine) am Dnjepr ausbreitete. Ein ent-
scheidender Grund für diese erste so-
wjetische Hungersnot waren nach dieser
Analyse die rücksichtslosen Getreidebe-
schlagnahmungen bei den Bauern zum
Zwecke eines forcierten Exports, der dem
Sowjetregime dringend benötigte Devisen
einbrachte.
VLADIMIR SINDEYEV / ITAR-TASS
chosen einzubringen. Zehntausende von
widerspenstigen Bauern wurden verhaf-
tet und in kaum vorbereitete Lager im
Norden verschickt.
Stalin liess sich von seiner todbringen-
den Politik auch durch verzweifelte Briefe
aus der Landbevölkerung und sogar sei-
tens der ukrainischen Kommunistischen
Partei nicht abbringen. Fanatisierte Be-
schlagnahmungs-Brigaden suchten bei
den terrorisierten Bauern nicht nur nach
verstecktem Getreide, sie konfiszierten
wegen nichterfüllter Quoten auch das
Saatgut, andere Lebensmittel und Gold-
schmuck. Um die vor dem Hungertod be-
drohte Landbevölkerung von der Flucht
in andere sowjetische Regionen abzuhal-
ten, wurden die Grenzen abgeriegelt.
Die von den Bolschewiken zunächst
geförderte Verbreitung ukrainischer Spra-
che und Kultur wurde von Moskau schlag-
artig gestoppt, Publikationen in ukraini-
scher Sprache aus dem Verkehr gezogen.
Der zeitweise mächtige Parteifunktionär
Mykola Skrypnik, der ein umfassendes
ukrainisches Wörterbuch herausgegeben
hatte, erschoss sich aus Verzweiflung. Das
bewahrte seine anklagenden Parteigenos-
sen in Kiew allerdings nicht davor, später
im Zuge der stalinschen Säuberungen
ebenfalls erschossen zu werden.
Ukrainische Identität
Anne Applebaum vermeidet es indessen,
die durch Stalins vernichtende Politik ver-
ursachte Hungersnot als ein singuläres
Trauma der ukrainischen Geschichte im
20. Jahrhundert zu beschreiben. Sie ver-
weist auch auf die unfassbare Zahl der
Opfer, die der Überfall der Hitler-Armeen
auf die Sowjetunion gerade in der Ukraine
forderte. Mehr als drei Millionen sowjeti-
sche Kriegsgefangene sind damals vor-
nehmlich auf ukrainischem Boden umge-
kommen, die meisten durch Krankheit
oder nacktes Verhungern.
Ein Kernmotiv für Stalins gnadenlose
Brutalität bei der ukrainischen Zwangs-
kollektivierung, meint die Autorin, sei
seine Angst gewesen, die Ukraine zu «ver-
lieren». So hatte er es auch in einem Brief
an seinen Statthalter Kaganowitsch ge-
schrieben. Ähnliche Beweggründe sieht
die Autorin in der jetzigen feindseligen
Politik des Putin-Regimes gegenüber dem
früheren russischen Untertanenland. Wie
Anders als während der Hungersnot schon unter der späten Zarenherrschaft
von 1932/32 ersuchte Moskau 1921 zur Lin- halten viele Russen die Ukraine noch
derung der Not das Ausland um Hilfe. Die heute für einen seit jeher untrennbaren
wichtigste Hilfsquelle war damals die vom Teil der russischen Grossmacht – obwohl
späteren Präsidenten Herbert Hoover weite Teile des Grenzlandes einst zum
organisierte American Relief Administra- Königreich Polen-Litauen und später
tion (ARA). Hoover war empört, als er fest- zum österreich-ungarischen Imperium
stellen musste, dass die Bolschewisten gehört hatten.
auch während dieser Hilfsoperation wei- Ob Putins Rechnung, die Entwicklung
terhin Getreide ins Ausland verkauften. der Ukraine zu einer funktionierenden,
Er betrieb darauf den Rückzug seiner sich nach Westen hin orientierenden
Hilfsorganisation. Demokratie zu untergraben, aufgehen
Beim Holodomor von 1932/33 spielten wird, ist zweifelhaft. Stalins Hungerkrieg
die brutalen staatlichen Getreidebeschlag- hat sich im Nachhinein als ein bedeuten-
nahmungen und Exportinteressen zwar des Element des neu erwachten ukraini-
ebenfalls eine zentrale Rolle. Doch hinzu schen Nationalbewusstseins herauskris-
kam die von Stalin mit eiserner Härte tallisiert. Die völkerrechtswidrige Anne-
vorangetriebene Kollektivierung der xion der Krim und der von Moskau seit
Landwirtschaft, die produktive Einzel- fünf Jahren geschürte Krieg im Donbass
bauern (sogenannte Kulaken) dazu zwang, haben diesen Willen zur Selbstbestim-
ihre Betriebe in staatlich gelenkte Kol- mung bisher spürbar vertieft. ●
28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Autobiografie Der Schriftsteller sprach mit seiner Lektorin Shira Hadad über sein Leben und Schreiben
Das Vermächtnis von Amos Oz
Amos Oz mit Shira Hadad: Was ist ein Apfel?
Übersetzt von Anne Birkenhauer.
Suhrkamp 2019, 175 S., um Fr. 34.–,
E-Book 21.–.
Von Claudia Kühner
Shira Hadad war die israelische Lektorin
von Amos Oz, sie ist um viele Jahre jünger
als er. 2014 lektorierte sie «Judas», seinen
Roman über den Verrat. Beide beschlos-
sen, ihren Kontakt in Form eines Ge-
sprächs weiterzuführen, als «Ausdruck
einer Freundschaft und Nähe», wie Shira
Hadad schreibt. Das Buch, das daraus ent-
standen ist, liest sich heute wie das schrift-
stellerische Vermächtnis des im Dezember
2018 verstorbenen Amos Oz – und es ist
ein rundum gelungener Versuch.
Im Dialog von Oz und Hadad geht es
nicht um Politik, sondern um Literatur
und das Schreiben. Woher nahm Amos Oz
seine Ideen, was war seine «Methode»,
und – von grosser Bedeutung – was er-
schien ihm als Mensch und als Erzähler
wichtig? Teilnehmend und kenntnisreich
sind die Fragen, aufrichtig und ohne Atti-
tüde sind die Antworten. Hadad ist eine
ebenbürtige Gesprächspartnerin, Oz nicht
in der Rolle des Alleswissers und -erklä-
rers. Der Autor berichtet stattdessen aus
ANZEIGE
Lukas Hartmann
Foto: © Bernard van Dierendonck
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019
seinem persönlichen Leben, von schwie-
rigen Jugendjahren in Jerusalem und spä-
teren Erfahrungen im Kibbuz, vom Leben
als Ehemann und Familienvater. Dem Ge-
spräch kann zwar auch folgen, wer nicht
jedes Werk von Oz gelesen hat, aber sein
grosser Lebensbericht «Eine Geschichte
von Liebe und Finsternis» oder «Judas»
sollten es schon sein. Im Zentrum steht
der Prozess des Schreibens, das schwie-
rige Gebären von Ideen und das noch
schwerere Verfassen und Wieder-Verwer-
fen. Oz korrigierte einen Text nicht ein-
fach, sondern fing viele Male von vorne
an. An «Judas», kein umfangreiches Buch,
sass er fünf Jahre.
Amos Oz war ein endloser und gedul-
diger Beobachter seiner Zeit und der Men-
schen um ihn. So fand er zu seinen Stof-
fen. Was diesem Gesprächsband den Titel
gibt, umschrieb er so: «Nehmen wir einen
Apfel. Was macht einen Apfel aus? Wasser,
Erde, Sonne, ein Apfelbaum und etwas
Dünger. Der Apfel ähnelt keinem dieser
Dinge. Sie alle machen ihn aus, aber er ist
ihnen nicht ähnlich. So ist das mit den
Geschichten. Sie bestehen wohl aus der
Summe der Begegnungen, der Erfahrun-
gen und aus sehr viel Zuhören.»
Oz sprach Hadad gegenüber auch offen
über die vielen Zweifel und Anfechtun-
gen, die er zeit seines Lebens erfahren hat.
Der neue Roman von
Vom Weltstar zum Flüchtling –
das unglaubliche Schicksal des
Joseph Schmidt.
Die wahre Geschichte hinter
einer der schönsten Stimmen
des 20. Jahrhunderts.
Lesungstermine:
28. April, Bern
9. Mai, Rapperswil
13. Mai, Zürich
23. Mai, Kriens
Weitere Termine finden Sie auf: diolink.ch/hartmannliest
Zurückweisungen oder Missachtung, die
ihm zuweilen von Lesern oder Kritikern
entgegenschlugen, haben ihm zugesetzt.
Oz war nicht schon immer der weltbe-
rühmte Autor und das Sprachrohr einer
ganzen israelischen Generation. Andere,
zuweilen erfolgreichere Schriftsteller hat
er zwar nicht beneidet, wohl aber jeden,
dem etwas besser gelungen war als ihm.
Ein anderer Beweggrund für das Schrei-
ben war Oz’ Wunsch, dass etwas Vergan-
genes nicht einfach ausgelöscht sei. Er
erklärt das am Roman «Judas»: «Ich wollte,
dass das Jerusalem dieser in Begeisterung
entbrannten, hochgebildeten Leute nicht
vergessen wird», die in den fünfziger Jah-
ren zwischen Bibel, Ben Gurion, Nietzsche
und Wladimir Jabotinsky lebten, dem Be-
gründer der revisionistischen Bewegung.
Es ist das Milieu seiner Herkunft, von dem
heute so gut wie nichts übrig geblieben
ist – ausser eben in Büchern.
Der Band eröffnet auch Einblicke in die
israelische Realität, etwa des Kibbuz. Der
scharfe Beobachter erkannte früh, welche
zwischenmenschlichen Abgründe sich in
dieser vermeintlich egalitären Gesellschaft
auftun konnten. Hart rechnet Amos Oz mit
den glorifizierten, aber für die kindliche
Psyche oft schädlichen Kinderhäusern
dieser Kollektivsiedlungen ab. Hier blickt
kein altersmilder Mann zurück. ●
Lukas
Hartmann
Der Sänger
29. Juni, Zürich Roman · Diogenes
6. Juni, Luzern
20. Juni, Horgen
288 Seiten, auch als eBook
Diogenes
Geschichte Faschistisches Denken war von
1918 bis 1945 im ganzen Land vorhanden.
Yves Schuhmacher versucht eine Übersicht
Faschistische
Schweiz
Yves Schumacher: Nazis! Fascistes! Fascisti!
Orell Füssli 2019. 286 S., um Fr. 34.–,
E-Book 28.–.
Von Christophe Büchi
Unter dem Titel «Nazis! Fascistes!
Fascisti!» legt der Zürcher Kommunika-
tionsberater Yves Schumacher, Inhaber
einer PR-Agentur und vormaliger
Geschäftsleiter des «Vereins Zürcher
Museen», ein Buch über «Faschismus in
der Schweiz 1918–1945» vor. Es hat den
Vorzug, dass es im Gegensatz zu anderen
Studien eine wirklich gesamtschweizeri-
sche Darstellung anstrebt, ja den Vor-
gängen in der welschen Schweiz und im
Tessin sogar einen Vorzugsplatz einräumt.
Die nationalsozialistischen und faschis-
tischen Bewegungen in der Schweiz im
besagten Zeitraum auf nur etwas mehr als
200 Seiten adäquat darzustellen, ist ein
ambitiöses Unterfangen, zumal der Autor
im Eingangskapitel darauf hinweist, dass
eine präzise Definition von Faschismus
sehr schwierig ist. Die Schweizer Rechts-
Szene bestand aus einer Vielzahl
von schwer greifbaren und sich wandeln-
den Bewegungen. Die Abgrenzung von
faschistischen, korporatistischen oder
auch nur autoritären Bewegungen
stellt ein heikles Unterfangen dar. Wie
Schumacher zu Recht schreibt: Nicht alles,
was am rechten Rand politisierte, war
faschistisch.
Mussolini in Lausanne
In diesem Dschungel, in dem man sich
leicht verlieren kann, versucht der Autor,
ausgestattet mit einem breiten Wissen
und einer soliden historischen Dokumen-
tation, das einzig Mögliche: Er schlägt mit
dem Buschmesser einige Schneisen und
verzichtet darauf, das ganze Dickicht zu
durchleuchten. Konkret: Schumacher
geht einigen Galionsfiguren der Schweizer
Fascho-Szene nach, etwa dem Waadt-
länder Arthur Fonjallaz und dem Genfer
Géo Oltramare, die je ein eigenes Kapitel
bekommen. Auch der Verleihung der
Ehrendoktorwürde der Universität
Lausanne an den italienischen Diktator
Benito Mussolini im Jahr 1937 ist ein Ka-
pitel gewidmet. Dies erlaubt dem Autor,
der «Schleimspur» zwischen der West-
schweiz und Rom nachzugehen und den
damals in Lausanne lehrenden Universi-
tätsprofessor Pasquale Boninsegni unter
die Lupe zu nehmen.
Nach diesen Westschweizer Kapiteln
werden die Südschweizer Irredentisten auf
16 Seiten und die Deutschschweizer Fron-
tisten auf 33 Seiten allerdings sehr speditiv
Protestauflauf der
Schweizer Frontisten
auf dem Berner
Bundesplatz.
(23. Mai 1937)
behandelt. Auch die den Kriegsjahren ge-
widmeten Schlusskapitel «Hitlers Fünfte
Kolonie» und «Schweizer in der Waffen-
SS» sind kurz und bündig und auf einige
Einzelpersonen ausgerichtet (Benno
Schaeppi, Franz Riedweg, Eugen Wipf).
Auf einen Versuch, am Ende des Buchs
die unzähligen Fäden dieses Patchworks
nochmals zu bündeln, verzichtet der
Autor. Auch wird die zentrale Frage, wie
repräsentativ die ins Scheinwerferlicht
gerückten Personen waren oder ob sie
doch Randfiguren blieben, nicht explizit
behandelt. Und auch auf die wichtige Fra-
ge, wie weit die vom Bundesrat vor allem
ab 1938 geförderte «Geistige Landesvertei-
digung» gewisse ideologische Elemente
des Faschismus und Korporatismus über-
nommen habe, bleibt offen. Stattdessen
endet Schumachers Darstellung ziemlich
abrupt und mündet in einen weder sprach-
lich noch inhaltlich sehr glücklichen Satz,
der über das Kriegsende hinausleuchtet
und ein neues weites Feld auftut: «Nach
dem Zweiten Weltkrieg nahm die ‹Geistige
Landesverteidigung› eine Kursänderung
vor und manövrierte sich ab den 1950er
Jahren mit einem militanten Antikommu-
nismus in einen von Gesinnungsschnüf-
felei und geistiger Bevormundung ge-
zeichneten Isolationismus».
Das vorliegende Buch hat Stärken: Es
ist solide dokumentiert und liest sich gut.
Vorbehalte haben wir gegenüber gewissen
(ab)wertend-moralisierenden Formulie-
rungen, etwa wenn der Autor vom «natio-
nalistischen Geschwafel» Mussolinis, von
AFZ: NL WERNER RINGS / 424
dessen «verblendeter Lesart» oder von
den «Metastasen» des Faschismus spricht.
Man braucht schliesslich den Lesern nicht
ständig in Erinnerung zu rufen, dass
Nationalsozialismus und Faschismus
schlecht sind. Aber dies sind Stilfragen
und ein Stück weit Geschmackssache.
Breit statt tiefenscharf
Der Nutzen dieses Buchs besteht nicht
zuletzt darin, dass es der deutschsprachi-
gen Leserschaft einen Teil der nur auf
Französisch und Italienisch vorliegenden
Literatur vermittelt. Und dennoch kann
diese Neuerscheinung bei allem Wohlwol-
len kaum als sehr gelungen bezeichnet
werden. Man hat den Eindruck, der Ver-
fasser habe sich zu viel vorgenommen und
sei von der Masse des zu behandelnden
Stoffs erschlagen worden. Es wäre wohl
besser gewesen, er hätte den Fokus enger
gefasst. Das Buch hätte an Breite verloren,
aber an Tiefenschärfe gewonnen.
Abschliessend zu erwähnen ist die
sorgfältige Gestaltung dieses Buchs: Ein
gepflegter Satzspiegel und nicht allzu
zahlreiche, dafür aussagekräftige Fotos
stehen für solide Buchtradition. Zu loben
ist auch die Lektorierung; gelegentliche
falsche Schreibungen von Orts- und
Eigennamen wie Avenches und Regamey
sind Schönheitsfehlerchen, die das posi-
tive Gesamtbild nicht beeinträchtigen. Zu
erwähnen bleibt schliesslich auch ein gut
gestalteter Anhang mitsamt Zeittafel und
Personenregister. Ein Sachregister wäre
natürlich noch schöner gewesen. ●
28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Politik Humanitäre Hilfe allein sei zu wenig, um den Krisen in der Welt zu begegnen, finden Sarah
Brockmeier und Philipp Rotmann
Terroristenbesiegtmannichtmit Yoga
Sarah Brockmeier & Philipp Rotmann: Krieg
vor der Haustür. Dietz 2019, 240 S.,
um Fr. 28.–, E-Book 23.–.
Von Silke Mertins
Hätte man Nadia Murad retten können?
Wäre der Jesidin mit einer klügeren euro-
päischen Aussen- und Sicherheitspolitik
erspart geblieben, von der Terrormiliz
Islamischer Staat verschleppt, hundert-
fach vergewaltigt und gefangen gehalten
zu werden? Und wenn ja, was hätte anders
laufen müssen? Mit dieser und anderen
Fragen im Umgang mit grossen Krisen
befassen sich Sarah Brockmeier und
Philipp Rotmann in ihrem Buch «Krieg vor
der Haustür».
Besonders das grosse Deutschland, das
der «Economist» einmal als «widerwilligen
Hegemon» bezeichnete – ein Riese, der am
liebsten wie die kleine, neutrale Schweiz
wäre – beschränkt sich gern darauf, Gewalt
von Konfliktparteien «auf das Schärfste»
zu verurteilen, andere von der Seitenlinie
aus zu kritisieren und erhebliche Summen
für humanitäre Hilfe auszugeben. Die
öffentliche Debatte drehe sich fast immer
um die Frage nach dem militärischen Ein-
greifen statt darum, was man in einer Kri-
se erreichen wolle, bedauern die Autoren.
Schlimmer noch: Oft werde im Konfliktfall
auf Autopilot gestellt, statt nach echten
Lösungen zu suchen.
Ohne Ziel keine Strategie
Das Autorenduo arbeitet für den Think-
tank Global Public Policy Institute in Ber-
lin und hat sich intensiv mit Krisen be-
fasst. Die Zahl der Gewaltkonflikte hat
Politik Der ehemalige deutsche Finanzminister erzählt von seinem Leben mit der und für die Politik
Mr. Euro erinnert sich
Theodor Waigel: Ehrlichkeit ist eine
Währung. Erinnerungen. Econ 2019. 352 S.,
um Fr. 30.–. E-Book 25.–.
Von Victor Mauer
Er gilt als Namensgeber des Euro, der
europäischen Einheitswährung, die in der
letzten Dekade jene Gefahren herauf-
beschworen hat, die in den Jahren der
weltpolitischen Zeitenwende von 1989/91
ein für alle Mal dem Orkus der Geschichte
anheimgegeben werden sollten: Zwie-
tracht und Zerwürfnis. Rund 20 Jahre
nach seinem Ausscheiden aus der aktiven
Politik blickt Theo Waigel, gestützt auf
zeitgenössische handschriftliche und ste-
nografische Aufzeichnungen, auf ein prall
gefülltes Leben zurück – analytisch und
abwägend, persönlich und politisch; mal
melancholisch, bisweilen rechtfertigend,
nicht selten selbstkritisch.
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019
ARI JALAL / REUTERS
Jesidische Kinder in Duhok, Irak, mit Fotos von Nadia Murad. (5. 10. 2018)
sich weltweit zwischen 2010 und 2017
verdreifacht. Dennoch wird aussenpoli-
tisch ziellos herumlaviert, und gebets-
mühlenartig werden «politische Lösun-
gen» gefordert. Doch hätte Nadia Murad
mit einer «politischen Lösung» aus der
Sklaverei des IS befreit werden können?
Sehr unwahrscheinlich, oder wie der
deutsche grüne Politiker Cem Özdemir es
ausdrückt: Man könne eine Terrormiliz
nicht «mit einer Yogamatte unterm Arm»
besiegen.
«Krieg vor der Haustür» kritisiert vor
allem, dass weder Deutschland noch
Europa klare Ziele haben, wenn sie kon-
kret in Gewaltkonflikte eingreifen. Ohne
solche Ziele aber könne man keine Strate-
gie entwickeln und nicht über die nötigen
Mittel entscheiden. Brockmeier und Rot-
Entstanden ist das Selbstporträt eines
Mannes, der Politik mit Leidenschaft
betrieb und sie wie so viele in der Gene-
ration der Kriegskinder als Berufung
verstand. Als CSU-Vorsitzender und
Finanzminister bekleidete Waigel für ein
Jahrzehnt höchste Ämter in der Partei-
und Bundespolitik. Die Weltpolitik wurde
zur Bühne. Verwurzelt aber blieb er, dem
die Rolle des Brückenbauers und der
Dialog über Grundfragen und Grundwerte
in Politik und Gesellschaft wichtiger
waren als das Austeilen, in seiner baye-
risch-schwäbischen Heimat. Mentoren,
Freunden und Weggefährten flicht er,
teilweise posthum, den einen oder ande-
ren Kranz. Ebenso offen spricht er über
Verletzungen und Intrigen, die Spuren
hinterlassen haben.
Im Mittelpunkt stehen zwei Ereignisse,
die zu den Meilensteinen der deutschen
Zeitgeschichte gehören: die Währungs-,
Wirtschafts- und Sozialunion im Kontext
mann untersuchen nicht nur Desaster der
Vergangenheit und der Gegenwart, etwa
den Völkermord in Ruanda oder den Krieg
in Syrien. Sie beschreiben auch weniger
bekannte Krisen, wo es tatsächlich gelun-
gen ist, ein Land vor einem Bürgerkrieg
zu bewahren, wie etwa in Gambia, einem
kleinen Land in Westafrika, dessen abge-
wählter Präsident sein Amt nicht an sei-
nen Nachfolger übergeben wollte. Robuste
Friedenstruppen aus den Nachbarländern
und ein entschlossener Uno-Diplomat aus
Ghana machten das kleine Wunder mög-
lich. Dieses Beispiel zeigt nach Ansicht
der Autoren auch: Militärische Stärke
kann die Kompromisswilligkeit durchaus
befördern.
Menschen spielen eine Rolle
Interessanterweise schildert «Krieg vor
der Haustür» den Zustand der Aussenpoli-
tik anhand bekannter und weniger be-
kannter Menschen, die in den jeweiligen
Krisen eine Rolle spielen: die Jesidin
Nadia Murad, die später den Friedens-
nobelpreis gewann, der Uno-Diplomat
Mohamed Ibn Chambas, der Gambia ret-
tete, der brasilianische Aussenminister
Antonio Patriota, der versuchte, bei Uno-
Interventionen neue Regeln einzuführen.
Die Autoren beklagen, dass in Europa
oft der Anspruch fehlt, in der Welt tatsäch-
lich etwas zu bewirken. Doch vielen ist
spätestens seit der Flüchtlingskrise klar
geworden, dass der Krieg vor der Haustür
unsere Haustüren tatsächlich erreichen
kann. Den Schwerpunkt allein auf huma-
nitäre Hilfe zu legen, ist keine Option
mehr. Brockmeier und Rotmann haben
das erkannt. Ihr Buch liefert dazu eine
gute lesbare und sehr kluge Analyse. ●
der deutschen Einheit und die europäi-
sche Wirtschafts- und Währungsunion.
Dass das Ausmass der Anpassungspro-
bleme im Osten Deutschlands und der
Kosten der Wiedervereinigung unter-
schätzt und die Währungs- und Wirt-
schaftseinheit nach ökonomischen Krite-
rien zu früh herbeigeführt wurden, ist
unbestritten. Angesichts erheblicher poli-
tischer Sachzwänge, das macht Waigel zu
Recht deutlich, hätte ein Abwarten jedoch
verheerende Konsequenzen gehabt.
Weit kontroverser dürfte hingegen
auch künftig der Entstehungsprozess des
Euro diskutiert werden. Als europäisches
Friedensprojekt überhöht, war die
Einheitswährung vor allem politisch
gewollt. Politische Sachzwänge gab es
keine, ökonomische Bedenken allemal.
Anders als der ungestüm vorpreschende
Helmut Kohl darf Theo Waigel aber für
sich in Anspruch nehmen, Schlimmeres
verhindert zu haben. ●
Autobiografie Der deutsch-bosnische Autor Saša Stanišić
experimentiert in seinem Erinnerungsbuch mit dem
Begriff der Herkunft
MitGrossmutter
Drachenjagen
Saša Stanišić: Herkunft.
Luchterhand 2019. 350 S., um Fr. 33.–,
E-Book 20–.
Von Julia Kohli
Wie sattelt man ein Pferd? Saša Stanišić
weiss es nicht, er schaut auf Youtube nach,
dann galoppiert er mit dem Geist seiner
Grossmutter davon und jagt Drachen. Dies
ist nur eines von vielen Enden seines neu-
esten Werks «Herkunft». Ja, dieser Autor
darf das: Autobiographische Kurzessays
mit elegischen Fantasygame-Eskapaden
vermischen. Wäre Stanišićs Sprache ver-
wandt mit einer Naturgewalt, dann mit
dem Wasser der Drina. Dieser balkanische
Fluss tritt bereits in seinem Debütroman
«Wie der Soldat das Grammophon repa-
riert» als melancholische Protagonistin
auf, auch in diesem Buch fehlt sie nicht.
Genau wie die Drina wirbelt er mit seinen
Sätzen Schlamm auf, hält nichts von Gren-
zen, überflutet, überwindet Hindernisse.
Doch was gilt es in «Herkunft» hinter
sich zu lassen, welche Schranken zu
Lesungstickets gewinnen
Am Mittwoch, 22. Mai um 19.30 Uhr stellt
Saša Stanišić im Literaturhaus Zürich sei-
nen autobiografischen Erzählband «Her-
kunft» vor. «Bücher am Sonntag» verlost
3×2 Tickets für diese Veranstaltung.
Interessierte senden bis zum 16. Mai eine
E-Mail an:
verlosungen@nzz.ch, Betreff «Lesung».
Teilnahmeberechtigt sind Personen mit
Wohnsitz in der Schweiz. Die Gewinnerinnen
und Gewinner werden ausgelost, Rechtsweg
ausgeschlossen, keine Korrespondenz.
ANZEIGE
www.buchplanet.ch
http://blog.buchplanet.ch
http://facebook.com/buchplanet.ch
http://www.twitter.com/buchplanet
Ein sozialer Betrieb der Stiftung Tosam
www.tosam.ch
KATJA SÄMANN
durchbrechen? Es sei auch «ein Buch über
Sprache und Scham, Ankommen und Zu-
rechtkommen», erklärt der Schriftsteller,
der 1992 mit seiner Mutter aus Bosnien
nach Deutschland flüchtete. Sein Vater
folgte später – mit einer Narbe am Bein,
über die bis heute nicht gesprochen wird.
Die neue Heimat bedeutet zunächst
Sicherheit, später Freundschaft und Aben-
teuer mit der bunt zusammengewürfelten
Tankstellen-Gang am Stadtrand von Hei-
delberg. Mit «Das ist deutscher Wald, ihr
Pisser» angeschnauzt werden, gehört aber
auch zur neuen Heimat, genauso die
Angst, der Vater könnte beim Basketball-
turnier auf Serbokroatisch dazwischen-
rufen. In seinem vierten Werk stellt sich
der 41-jährige Stanišić, inzwischen selber
Vater eines Sohnes, dieser vielen Migran-
ten bekannten Scham. An deren Stelle tritt
nun das schlechte Gewissen, die eigene Saša Stanišić, 41, bekämpfen gilt. Stanišić zeigt, wie aus der
Herkunft nicht genügend gewürdigt zu hält nicht viel von diffusen Sehnsucht nach Herkunft
«Zugehörigkeitskitsch».
haben. So wird die voranschreitende Mythen gesponnen werden. Der Autor
Demenz der Grossmutter zum drohenden ist aber hellsichtig genug, diese auch
Identitätsverlust. gleich wieder zu zerschlagen, denn «Zu-
Der sich anbahnenden Leere will Sta- gehörigkeitskitsch» ist nicht seine Sache.
nišić mit Worten beikommen. Er hält prä- Sein mäandrierendes und zweifelndes
gende Erlebnisse aus seinem Leben fest, Schreiben könnte als Gegengift zur heute
dazu gehören Gespräche mit der Gross- grassierenden identitären Isolationssucht,
mutter und deren Wunsch, zum verstor- zur Suche nach einfachen Antworten,
benen Ehemann zurückzukehren: «Meine gelesen werden.
Erinnerungen sind Variablen der Sehn- Saša Stanišićs Berufung ist das Experi-
sucht. Grossmutters Erinnerungen Varia- mentieren mit Worten und Bildern. Und
blen der Krankheit», schreibt er. «Bin das er tut dies mit Liebe, Humor und Scharf-
ich?», fragt er sich immer wieder, während sinn. Die vernachlässigte Zahnbürste der
er sich durch seine Kindheit in Višegrad Grossmutter wird so zum Symbol des
tastet, wo ethnische Ausgrenzung und ultimativen Kontrollverlusts. Wie die
Nationalismus nach Titos Tod 1980 immer Drina, die sich nicht am Ufer festhalten
bedrohlicher werden. kann, muss auch der Autor seine Gross-
Die Schlange («Poskok»), die er auf dem mutter während des Schreibens loslassen.
Friedhof seiner Urahnen in Oskoruša «Literatur ist ein schwacher Kitt», stellt er
gesehen haben will, zischelt immer wie- fest. Diese präzise formulierte Traurigkeit
der durch seine Erzählungen, mutiert lässt sein Werk leuchten und macht es
schliesslich zum Drachen, den es zu besonders lesenswert. ●
Belletristik
Sachbücher
Antiquariat
Sammlungen
Zeitschriften
28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Physik Die Erde wird eines Tages unbewohnbar werden.
Deshalb träumt Michio Kaku von Weltraumliften und
Mars-Olympiaden
Aufbruchins
Weltall
Michio Kaku: Abschied von der Erde.
Übersetzt von Monika Niehaus & Bernd
Schuh. Rowohlt 2019. 480 S., um Fr. 36.–,
E-Book 23.–.
Von Anja Hirsch
Michio Kaku sagt es mit erschreckender
Selbstverständlichkeit: Unser blauer Pla-
net wird eines Tages unbewohnbar wer-
den. Schon jetzt sollten wir deshalb drin-
gend über den «Abschied von der Erde»
nachdenken. Ebenso verständlich wie
informativ malt der Professor für Theore-
tische Physik an der City University of
New York in seinem Buch alle Facetten
eines potenziellen Umzugs der Mensch-
heit ins All aus. Mit der jüngst erstmals
gelungenen Fotografie eines Schwarzen
Lochs scheint das Unvorstellbare ja gera-
de wieder etwas näher gerückt.
Dass viele Forscher, die Kaku erwähnt,
von Science-Fiction inspiriert wurden, ist
bemerkenswert. H. G. Wells’ «Krieg der
Welten» etwa liess Robert Goddard, einen
der ersten Raketen-Pioniere, erst träumen
und dann experimentieren. Bei Kaku
selbst zündete die Prosa von Isaac Asimov.
Einfache, profunde Fragen treiben den
Physiker um: Wo wird die menschliche
Zivilisation in 50 000 Jahren stehen? Was
ist unser Schicksal?
Michio Kaku hat sich mit seinen erfolg-
reichen Büchern bereits als Visionär er-
Gesellschaft Demokratien brauchen Peripherien. Das zeigt der Essay des Triester Ökonomen Francesco Magris
Am Rand liegt die Freiheit
Francesco Magris: Die Grenze.
Übersetzt von Annette Kopetzki. Zsolnay
2019. 123 S., um Fr. 28.–, E-Book 20.–.
Von Miriam Hefti
Vielleicht sind in Triest geborene Men-
schen prädestiniert dazu, über Ränder
und Grenzen nachzudenken. Am äussers-
ten Punkt im Nordosten Italiens gelegen,
grenzt Triest an Slowenien und ans adria-
tische Meer und hat als wichtigste Hafen-
stadt im damaligen Österreich-Ungarn
eine wandelvolle Geschichte von Grenz-
verschiebungen hinter sich. Wo aber ein
Rand ist, da ist auch ein Zentrum, das erst
durch seine Peripherien definiert wird.
Dem spannungsvollen Verhältnis zwi-
schen Grenze und Zentrum geht der – wie
sein Vater, der Autor Claudio Magris, in
Triest geborene – Wirtschaftswissenschaf-
ter Francesco Magris in seinem Buch «Die
Grenze» nach. Magris löst den Begriff der
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ALAMY
wiesen. In «Die Zukunft der Physik» (2012)
orakelte er von der Möglichkeit, Gegen-
stände «bald» mit Gedankenkraft zu be-
wegen. Jetzt untersucht er in «Abschied
von der Erde» die Möglichkeit einer Kolo-
nisation anderer Planeten, angefangen bei
den ersten, bereits gemachten Schritten
ins All. Seine These: Erst müssen Roh-
stoffquellen genutzt, dann kann der Rest
dadurch finanziert werden. Es geht
schliesslich um nichts weniger als ein
neues «Zuhause». Stichwort: «Terrafor-
ming»; andere Planeten für Menschen
bewohnbar zu machen. Was es da nicht
alles zu bedenken gibt!
Nehmen wir das Beispiel Mars und den
dringend notwendigen Sport (sonst droht Frühestens ab 2050 werden Menschen auf dem Mars leben können, so die Prognose de
wegen der geringen Schwerkraft sofort
Muskelschwund): Eine marsianische
Olympiade hätte sicherlich ganz neue
Sportarten. Eiskunstläufer schraubten
sich dort dreimal höher in die Luft. Bälle
flögen wegen des niedrigen Luftdrucks
ungewohnte Flugbahnen. Rucksack-Wan-
dern mit federleichtem Gepäck wäre
attraktiv – falls die Erfrierungsgefahr
gebannt wäre: Temperaturen fallen nach
Sonnenuntergang auf minus 127 °C.
Ausserdem dürften die sogenannten
«Staubteufel» bei der touristischen Ver-
marktung des Roten Planeten zum Pro-
blem werden: Monsterstürme, die fast
täglich im Zickzack über die Staubwüsten
jagen. Ihre trichterförmigen Wirbel sind
höher als der Mount Everest. Für frühes-
Grenze aus einer rein geografischen Ver-
ortung und beleuchtet die verschiedens-
ten Randzonen menschlichen Zusammen-
lebens. Er schlägt einen Bogen von der
Grenznutzentheorie bis zur Literatur, die
voll von randständigen Figuren und Cha-
rakteren ist, die «die Schule der Welt
schwänzen», und beleuchtet die Ausdeh-
nung der Grenzen menschlicher Freihei-
ten, die zu «neuen Rändern» führen.
Den Ethnologen Marc Augé zitierend,
schreibt Magris, Triest sei «ein physischer
und ein geistiger Ort, ungeklärt und vor-
läufig». Geografische und persönliche
Grenzen verschwimmen. Menschen, die
in einer Grenzstadt wohnen, sind einer-
seits, so Magris, von einem Minderwertig-
keitsgefühl geprägt, da sie marginalisiert,
nicht wahrgenommen, nicht gehört wür-
den. Andererseits führt das Leben am
Rande zu einem Bewusstsein der «eigenen
unverwechselbaren Identität». Das Leben
an der Grenze erlaube, «bald in harmoni-
scher, bald in konfliktreicher Form, eine
tens 2050 prognostiziert Michio Kaku
Kolonisten auf dem Mars. Da kann man
also erst einmal beruhigt durchatmen und
lesen. Im Mittelteil «Reise zu den Ster-
nen», träumt Michio Kaku von Weltraum-
liften und Antimaterie-Raketen und er-
örtert die Möglichkeit, Wurmlöcher zu
nutzen wie das Raumschiff Enterprise in
«Star Trek» das Licht: Die Enterprise reist
auf der Leinwand bekanntlich nicht zu
den Sternen, sondern die Sterne kommen
eher umgekehrt zur Enterprise. Mög-
licherweise durch Raumkrümmung? Etwa
so, wie man, um einen Teppich zu über-
queren, die gegenüberliegende Ecke mit
einem Seil heranholen kann, statt dorthin
zu laufen. Erkenntnisse aus der relativis-
doppelte Identität» zu führen. In unserer
digitalisierten Zeit ist das Bedürfnis, im
Mittelpunkt zu stehen, allgegenwärtig.
Soziale Netzwerke rücken jede Kleinigkeit
ins Zentrum, um sie in Echokammern auf-
zublasen. Wer nicht teilnimmt, dem droht
das Abseits. Gerade aber in einer klugen
Distanzierung und in der Entscheidung,
sich dem Leben in den sozialen Netzwer-
ken nicht anzuschliessen, kann, so Magris,
«ein Quell individueller Freiheit» liegen.
Allerdings trägt nicht nur die Digitali-
sierung dazu bei, Rand und Zentrum zu
vertauschen. Auch die Globalisierung ver-
wischt Zentrum und Rand. Die Demokra-
tie als Gesellschaftsform hat die Aufgabe,
Peripherien verschiedenster Art zu schüt-
zen. Am Rand des Mainstreams stehende
Gruppen zu integrieren, ist für ihre Beweg-
lichkeit nötig. Demokratien brauchen
Minderheiten, Ränder. Totalitäre Systeme
hingegen tolerieren nur ihr Macht-
zentrum. Diskurse hingegen, die von den
Rändern ausgehen, schalten sie aus.
 Kulturgeschichte Eine reichhaltige Studie zeigt, wie Denker seit der

BLINDTEXT###
Antike bis Pflanzen und Tiere beschrieben haben

es theoretischen Physikers Michio Kaku.
tischen Physik geben dem Autor Nahrung
für seine bildreich beschriebenen Zauber-
welten. Denn er ist nicht nur begeisterter
Leser, sondern auch einer der Väter der
abenteuerlich-vagen Stringtheorie.
Erwartbar, aber auch ein bisschen ent-
täuschend ist, dass bei diesen Visionen
einer Welt in einem Jahrhundert letztlich
ähnliche Probleme diskutiert werden
müssten wie heute: Mögliche Kollisionen;
Verkehrsregeln; Interessenskonflikte aller
Art. Kaku macht dazu konkrete Vor-
schläge, die er aufs Herrlichste zirkulieren
lässt. Dadurch wird sein Buch selbst zur
spannenden Prosa aus dem Genre der Sci-
ence-Fiction. «Abschied von der Erde» ist
gewissermassen ein Traum aus Papier. ●
ImBuchder
Naturlesen
Karl-Heinz Göttert: Als die Natur noch
sprach.
Reclam 2019. 390 Seiten, um Fr. 42.–.
Von Kirsten Voigt
Dass die Natur heute nicht zu uns spreche,
lässt sich wahrlich nicht behaupten. So-
wohl ihre Lock- als auch ihre grollenden
Warnrufe hören wir lauter denn je. Inso-
fern mag der Titel von Karl-Heinz Götterts
Studie «Als die Natur noch sprach» irritie-
ren. Gemeint ist hier ein fiktionalisieren-
des Sprechen, ein sinnvolles Erzählen über
einen grossen Zusammenhang. Göttert,
Emeritus der Germanistik an der Uni-
versität zu Köln, hat sich publizistisch
mit Sprache und Macht, einer Kultur-
geschichte der Orgel, Luther und dem Phä-
nomen des Schwätzers befasst. Zweierlei
führte den Autor nun zu seinem neuesten,
weit verzweigten Gedankengang durch die
Naturgeschichtsschreibung von der Antike
bis zum Ende des Mittelalters: erstens
der derzeitige Hype, den Göttert in Bezug
auf Naturthemen feststellt, und zweitens
sein seit Kindertagen gehegtes Interesse
für Botanik. Karl-Heinz Göttert widerlegt
seine Hype-These gewissermassen pro-
jektimmanent, denn sein reicher Text
zeigt, dass Natur dauerhaft ein hoch-
geschätztes Thema war.
Die 500 Tiere des Aristoteles
Detailbesessen referiert er die Versuche
von Platon über Aristoteles bis Plinius,
von Galen bis Paracelsus, der Natur, die
man noch nicht wissenschaftlich zu über-
blicken vermochte, eine Historie anzu-
dichten. Also phantasierte man die Natur
oder modellierte sie theorieabhängig.
AKG / KEYSTONE
fassungslos gegenüber, dass «Mutter
Natur» uns mit allem Lebensnotwendigen
versorgt, der Mensch ihr dafür aber nicht
dankt, sondern sie zerstört.
Göttert zitiert ohne Fussnoten. Das
macht seinen Text zu einem bunten Lese-
buch für philosophisch, theologisch und
historisch interessierte Naturliebhaber,
die hier, allerdings ohne Personen- oder
Sachregister, die bizarrsten Blüten ernten
können: Was die Signaturenlehre aben-
teuerlich assoziierte – etwa die Bohne als
Heilpflanze für die bohnenförmigen Nie-
ren –, zeigt, wie phantasiebefruchtend die
Natur von jeher wirkte. Was über sie er-
zählt wurde, entstammte bis zur Renais-
sance seltener dem Erfahrungswissen als
der Sehnsucht, einen sinnvoll strukturier-
ten Kosmos zu erkennen. Das alles liest
man mit Gewinn.
Ärgerliche Fehler
Wenn Göttert allerdings nicht bei seinem
Leisten bleibt, dann wird kein Schuh aus
einem Exkurs wie jenem auf den Seiten
311 und 312 über die Abbildungen in mit-
telalterlichen Kräuterbüchern: Da ist auf
wenigen Zeilen von «Georgio» statt Gior-
gio Vasari, von der «Scovegni»- statt der
Scrovegni-Kapelle, von «Donatelli» statt
Donatello und schliesslich auch noch vom
«Narrenschiff des Sebastian Franck», der
in Wahrheit Sebastian Brant hiess, die
Rede. Das jagt der Leserin einen Schauer Der Naturforscher
über den Rücken. Entschädigt wird man Aristoteles erhält
Elefanten und
für solche Unbill durch klare Quintessen-
Leoparden als
zen: Wer in der Geschichte des Naturver- Geschenk von
stehens zu sehr nach Sinn suchte, ver- Alexander dem
fehlte das wirklich Erhellende – die Ein- Grossen. (Kolorierte
sicht in Mechanismen. ● Illustration von 1876)

Zwei Grundthesen bestimmten diese Er-

Die Grenze ist eine janusköpfige Denk-
figur: Ränder dehnen sich zwar aus, viele
Menschen sind für soziale Fragen hellhörig
geworden, manchmal sind sie fast schon
seismografisch unterwegs. Es formieren
sich immer mehr Personengruppen, die zu
Recht für ihre Menschenwürde einstehen.
Nur stellt Magris fest, dass die ideale Vor-
stellung unterschiedlichster miteinander
lebender, peripherer Gruppen mit der Rea-
lität kollidiert. Stärkung der Ränder heisst
nicht notwendig Stärkung des gesell-
schaftlichen Gleichgewichts.
Francesco Magris schliesst seine lesens-
werten Ausführungen mit einer nach-
denklichen Note, indem er deutlich
macht, dass wir mit der Umsetzung best-
möglicher Grenzziehungen noch nicht
allzu weit sind. Das schmale Buch ist auch
deshalb angenehm zu lesen, da Magris
weder die Vergangenheit idealisiert noch
die Zukunft dramatisiert. «Die Grenze» ist
eine hellsichtige Befragung eines Begriffs,
der in alle Lebensbereiche greift. ●
zählungen: zunächst die Annahme, der
höhere Zweck der Natur sei der Mensch,
und später die von Augustinus geprägte
Vorstellung vom Buch der Natur, dessen
Lektüre das wunderbare Walten Gottes
offenbare.
Mal wurde Natur also als anthropozen-
trisch nützlich dargestellt, mal als religiös
bedeutsam – Naturkunde als Theophanie.
Real stellte diese Natur die Menschen hart
auf die Probe, und beide Auslegungen
übersehen, wie sie sich faktisch verwan-
delt hat. Diese tatsächliche Entwicklungs-
geschichte erzählt Göttert in fakten-
reichen Exkursen etwa über Klimaverän-
derungen oder die Holzwirtschaft vom 12.
bis zum 15. Jahrhundert.
Aristoteles widmete die Hälfte seiner
Schriften Naturthemen, suchte ordnend
nach einer Logik des Ganzen und be-
schrieb 500 Tiere. Ihnen konnte der 400
Jahre später wirkende Plinius nur noch
150 weitere hinzufügen. Plinius, ein frü-
her «Umweltschützer», stand der Tatsache
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Sachbuch

Biografie Im Zürich der dreissiger Jahre kämpfte Else Lasker-Schüler um Bleiberecht und Überleben.
Ute Krögers Recherchen und das «Gedichtbuch für Hugo May» geben Einblick in die Exiljahre der Dichterin

DieVerscheuchte
Ute Kröger: Viele sind sehr sehr gut zu mir.
Else Lasker-Schüler in Zürich 1917–1939.
Limmat 2019. 272 S., um Fr. 38.–.
Else Lasker-Schüler: Gedichtbuch für Hugo
May. Hrsg. von Andreas Kilcher und Karl
Jürgen Skrodzki. Wallstein 2019. 2 Bände,
um Fr. 55.–.

Von Klara Obermüller

Sie gilt bis heute als «Symbolfigur der Emi-

gration»: die deutsch-jüdische Dichterin
Else Lasker-Schüler, die im April 1933 in
Zürich Zuflucht suchte, hier ein prekäres
Exilantendasein fristete und im Frühling
1939 auf Betreiben der Fremdenpolizei
weiterziehen musste nach Jerusalem.
Dort starb sie am 22. Januar 1945, ohne je
wirklich heimisch geworden zu sein. «I am
verry allone in my ungemütlich heart»,
schrieb sie am 3. Dezember 1939 an ihren
Freund Emil Raas in Bern. Else Lasker-
Schüler sprach kaum Englisch, Hebräisch
schon gar nicht, und das Palästina der
Mandatszeit hatte wenig gemein mit
jenem Hebräerland, von dem sie zeit ihres
Lebens geträumt und gedichtet hatte.
Dieser in Stichworten bekannten Ge-
schichte ist die Autorin Ute Kröger nach-
gegangen, hat sie durch umfangreiche
eigene Recherchen ergänzt und bis zu
einem gewissen Grad auch korrigiert. «Ich
wollte», schreibt sie im Vorwort ihres
Buches über Else Lasker-Schülers Zürcher
Jahre, «den Blick für einmal auf die private
und institutionelle, politisch motivierte
Flüchtlingshilfe richten, die es quer zur in
der Tat unmenschlichen offiziellen
Flüchtlingspolitik gab. Dafür ist Else
Lasker-Schüler nicht nur ein Beispiel,
sondern geradezu Symbolfigur der Hilfs-
bereitschaft.» Diesen Perspektivenwech-
sel hält Ute Kröger durch, ohne ob der
Solidarität und des Engagements Einzel-
ner die Engherzigkeit und Sturheit der
Behörden aus dem Blick zu verlieren. Else
Lasker-Schülers Aufenthalt im Zürich der
dreissiger Jahre war ein einziger verzwei-
felter Kampf um Bleiberecht und Über-
leben.
Flucht vor den Nazis
Als die 1869 in Elberfeld, einem Stadtteil
des heutigen Wuppertal, geborene Dich-
terin im Frühling 1933 vor der national-
sozialistischen Verfolgung in die Schweiz
flüchtete, war sie als Lyrikerin keine Un-
bekannte und mit Zürich und seiner Kul-
turszene von früheren Aufenthalten her
bestens vertraut. 1917 war sie wegen ihres
Sohnes Paul, der im Sanatorium Kilchberg
in Behandlung war, ein erstes Mal in die
Stadt an der Limmat gekommen und hatte
sich danach noch unzählige Male hier und
auch im Tessin aufgehalten. Nachdem
Paul Lasker 1927 bei ihr in Berlin gestorben
war, bestand für Reisen in die Schweiz
zunächst zwar kein Anlass mehr. Die Be-
ziehungen zu kulturell massgebenden
Persönlichkeiten wie Max Rychner, Edu-
ard Korrodi, Han Coray, Walther Meier,
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Gepäckschein von Carl Seelig und anderen aber hielt Lasker-
1937: In der Zürcher Schüler aufrecht und wusste sie dann
Fraumünsterpost
auch zu nutzen, nachdem sie Deutschland
lagen versiegelte
Koffer von Else mittellos und ohne Aussicht auf weitere
Lasker-Schüler. Publikationsmöglichkeiten hatte verlas-
sen müssen.
«Die Verscheuchte» nannte sie sich in
einem Gedicht, das Klaus Mann 1934 in
seiner Monatsschrift «Die Sammlung»
erstmals publizierte. Eine Verscheuchte,
eine Unbehauste, Ort- und Heimatlose
war die zweimal geschiedene und ihrer
Lebtage auf Unterstützung angewiesene
Dichterin zweifellos. Aber sie fand auch
immer wieder Menschen, die sie bewun-
derten, die an sie glaubten und sie unter-
stützten.
Zwei von ihnen waren Kurt Ittmann
und Hugo May, die Direktoren des an der
Zürcher Bahnhofstrasse gelegenen Waren-
hauses Julius Brann (später Oscar Weber,
heute Manor), die ihr nicht nur mit Rat
und Tat, sondern auch mit regelmässigen
monatlichen Zuwendungen zur Seite stan-
den. Hugo May hat die Poetin dieses En-
gagement gedankt, indem sie ihm 36 ihrer
schönsten Gedichte, darunter auch «Die
Verscheuchte», handschriftlich und leder-
gebunden zum Geschenk machte. 2013
tauchte diese Rarität in einem Konvolut
bisher unbekannter Briefe, Postkarten,
Handschriften und Zeichnungen auf und
wurde auf einer Auktion versteigert.
Das «Gedichtbuch für Hugo May» ging
in den Besitz der Zentralbibliothek Zürich
über und ist nun, zusammen mit einer An-
zahl Briefe, im Auftrag der Deutschen
Akademie für Sprache und Dichtung von
den Literaturwissenschaftlern Andreas
Kilcher und Karl Jürgen Skrodzki sowohl
als Faksimile wie auch als kommentierter
Textband herausgegeben worden.
Unangepasste Dichterin
Dass diese nach allen Regeln editorischer
Kunst erstellte Prachtausgabe zeitgleich
mit Ute Krügers sehr anschaulicher, gut
lesbarer und nicht unkritischer Schilde-
rung von Else Lasker-Schülers Zürcher
Jahren auf den Markt kommt, mag Zufall
sein. Ein Gewinn für Leserinnen und Leser
ist das Zusammentreffen allemal. Denn
die beiden Publikationen ergänzen sich
auf ideale Weise. Während wir Else Las-
ker-Schüler bei Ute Krüger als eine Frau
kennenlernen, die sich wie ein Irrwisch
durch die Welt der Angepassten und Arri-
vierten bewegte und es gleichzeitig ver-
stand, diese zu gegebener Zeit für ihre
eigenen Interessen einzuspannen, begeg-
nen wir in der Edition des Wallstein-Ver-
lags jener Dichterin wieder, deren Werke
seit jeher zum Schönsten gehören, was
deutschsprachige Lyrik zu bieten hat.
Erst angesichts dieser kleinen Meister-
werke ahnt man, warum so viele Men-
schen dem Zauber der kleinen alten Frau
mit dem durchdringenden Blick erlagen
und ihr immer wieder halfen, obwohl sie
ihnen das Leben mit ihrer Unberechenbar-
keit nicht selten ziemlich schwergemacht
haben dürfte. ●
Kolumne
Lukas Linder Mein Leben als Mensch
Sisyphos geht
schwimmen
E
inmal in der Woche, mindes-
tens aber einmal im Jahr
gehe ich ins Hallenbad. Mit
der Entschlossenheit von
Herkules, bevor er den Eber
jagen geht, öffne ich den
Kleiderschrank und suche meine Bade-
hose. Merkwürdige Beobachtung: Je
älter ich werde, desto kürzer werden
meine Badehosen. Es ist ein Rätsel, das
zu lüften ich nicht imstande bin, eines
jener metaphysischen Geheimnisse, die
des Lebens Süsse ausmachen.
Als ich beim Hallenbad eintreffe, ist
es schon dunkel, die Stimmung wie bei
den Vorbereitungen zu einem Leichen-
mahl. Es ist so, als hätte jemand den
Leuten gesagt: Nehmt die ganze
Schwere des Lebens und tragt sie ins
Hallenbad. In der Garderobe sehe ich als
Erstes einen bleichen nackten Männer-
hintern. Der Hintern scheint zu weinen.
Der omnipräsente Chlorgeruch wird
zum Aroma der Vergänglichkeit.
Apropos: Aus der Toilette riecht es
nach «in der Schulklasse geht die Ma-
gen-DarmGrippe um». Es kommt immer
wieder vor, dass Hallenbäder wegen Le-
gionellenbefall geschlossen werden,
denke ich melancholisch, während ich
ins Wasser steige und dann wie totes
Treibholz vorangleite, wobei Chlor-
wasser literweise in mich hineinfliesst.
Es ist so still, als wären alle Badegäste
mit ihrem Testament beschäftigt: «Und
meine geliebte Badehose vermache ich
meinem Sohn Paul.»
Auf den immergleichen Runden im
Hallenbad wird jeder Mensch zum Sisy-
phos. Mit jeder Länge wird alles meta-
phorischer, parabolischer: Das Leben ist
ein Schwumm im Hallenbad, beharrlich,
idiotisch, gut für den Rücken. Ab und zu
bekommt man einen fremden Fuss ans
Kinn oder einen Ellbogen ans Ohr. Aber
das ist egal. Das muss sogar so sein.
Einmal werde ich übermütig und
drehe mich auf den Rücken. Sofort
kollidiere ich mit einer Damen-
riege. Mir fällt auf, dass der Bade-
meister sorgenvoll in meine Rich-
tung schaut, so als frage er sich,
ob ich gerade einen Herzinfarkt
erleide. Ich grinse, so vital ich nur
kann, doch er scheint nicht über-
zeugt. Im Hallenbad ist jeder
potenziell verstorben. Am
Ende stehe ich unter einem
dieser Oblomow-Föhne, die
träg und altersmilde vor sich
hin blasen, und denke: Gut,
dass bald die Freibadsaison
eröffnet.
Lukas Linder, 35, lebt in
Basel und Lodz und ist
Autor zahlreicher Thea-
CHRISTIAN FLIERL
terstücke. Sein Debüt-
roman «Der Letzte mei-
ner Art» erschien 2018
bei Kein & Aber.
Kurzkritiken Sachbuch
Wolfgang Schivelbusch: Rückzug.
Hanser Berlin 2019. 112 Seiten,
um Fr. 29.–, E-Book 20.–.
Zwar geht es beim grossen Mentalitäts-
historiker Wolfgang Schivelbusch letztlich
um Psychologie. Doch ein gewisses Inter-
esse für Militärgeschichte muss man mit-
bringen für diesen brillanten Essay zum
Tabu des Rückzuges. Der militärische
Rückzug war und ist an sich ein ganz nor-
maler taktischer Kriegsvorgang. Mit der
Volksarmee, wie sie zum ersten Mal zur
Verteidigung der Französischen Revolution
aufgeboten wurde, verschmolz jedoch
militärischer Erfolg mit nationaler Ehre und
dem Vorwärts des Fortschrittsglaubens:
Jeder Rückzug galt fortan als Gesichtsver-
lust der ganzen Nation und wurde, oft bis
ins Verhängnis, vermieden. Schivelbusch
illustriert diese psychologische Hemmung
anhand legendärer Rückzüge, wie etwa
jenem Napoleons aus Russland (1812) oder
der Amerikaner aus Vietnam (1975). Er tut
dies quellengestützt, mit grossartigen Zita-
ten und einzigartig kompakt.
Kathrin Meier-Rust
Jean Ziegler: Was ist so schlimm am
Kapitalismus? C. Bertelsmann 2019.
126 S., um Fr. 24.–, E-Book 19.–.
Wer wollte sie nicht verstehen, die flam-
mende Empörung, die den 84-jährigen
Jean Ziegler noch immer ergreift ange-
sichts der grossen Ungerechtigkeiten
unserer Welt? Leidenschaftlich erzählt der
Soziologe in diesem kleinen Büchlein sei-
ner Enkelin Zohra, wie es so weit kam:
Kolonialismus, Sklaverei, Industriekapi-
talismus bis hin zu heutigen Multis,
Finanzkapitalismus und Konsumgesell-
schaft. Erklärt ihr, was Karl Marx dazu
meinte und warum er seiner Meinung
nach recht hat. Die aufgeweckte Gymna-
siastin fragt pflichtbewusst nach, wider-
spricht sogar – natürlich vergeblich. Zieg-
lers Hass auf den «Raubkapitalismus», sein
ungebrochener Glaube an die Macht der
Utopie und die baldige grosse Revolte der
Zivilgesellschaft mag man als blauäugig
belächeln. Doch sein Enkelbuch ist ein
authentisches Zeugnis eines von keinerlei
Ernüchterung getrübten linken Denkens.
Kathrin Meier-Rust
Madame du Châtelet: Rede vom Glück.
Übersetzt von Iris Roebling. Friedenauer
Presse 2019. 104 Seiten, um Fr. 22.–.
Hätte sie doch ihren eigenen Rat befolgt!
Emilie du Châtelet, die Isaac Newtons
Werk ins Französische übersetzte, Mathe-
matikerin und Femme de lettres, der zwei
Stunden Schlaf vollständig genügten,
dazu die langjährige Geliebte Voltaires –
Emilie also rät zur grossen Liebe, aber
bitte mit etwas Vernunft. Doch gleich-
zeitig lobt ihr «Discours sur le bonheur»
eben auch die unbesonnene Leidenschaft,
das Spiel und sogar die Illusion als vor-
treffliche Glücksbringer. Bloss nicht hinter
die Kulissen schauen, rät sie, das bringe
nur Verdruss. Nun denn – mit über vierzig
verliebt sich Madame du Châtelet in einen
hübschen Gardeoffizier, wird schwanger
und stirbt 1749 mit 43 Jahren an der Ge-
burt einer Tochter. Ergänzt mit Billetts an
den Geliebten und einem klugen kurzen
Vorwort der Übersetzerin bringt uns die
kleine «Rede vom Glück» ein Stück
18. Jahrhundert pur.
Kathrin Meier-Rust
Felwine Sarr: Afrotopia. Übersetzt von Max
Henninger. Matthes & Seitz 2019. 176 S.,
um Fr. 27.–, E-Book 19.–.
Die Zukunft liegt in Afrika. Wenn diese
Zukunft aber mehr beinhalten soll als
demografisches Gewicht – zum Beispiel
Humanität und Reichtum –, dann muss
sich Afrika neu denken. Dies fordert der
senegalesische Ökonom und Schriftsteller
Felwine Sarr, der sich auch im Auftrag von
Präsident Macron um die Rückgabe fran-
zösischer Raubkunst nach Afrika küm-
mert. Sarr steht für eine neue Generation
von Denkern, die selbstbewusst für die
Souveränität ihres Kontinents plädieren.
Das bedeutet: sich nicht länger nach den
(kolonialistischen) Vorstellungen anderer
beurteilen, die Ökonomie neu konzipieren
und in den Dienst einer gesellschaftlichen
Gesamtvision stellen, sich auf afrikani-
sche Sozialethik besinnen. Sarrs Gedan-
ken weisen zwar einen gewissen Abstrak-
tionsgrad auf, sind aber wesentlich. Sie
weisen weg vom Defizitdenken hin zu
einer Vision afrikanischer Lebenskraft.
Martina Läubli
28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 29
Sachbuch
Philosophie Ein Kulturmanager lobt die Tugenden der Langsamkeit
Wer wenig Zeit hat,
soll über sie nachdenken
Thomas Girst: Alle Zeit der Welt.
Hanser 2019. 204 S., Fr. 28.–, E-Book 19.–.
Von Gerhard Mack
Wer über Zeit sprechen will, sollte wissen,
wie kostbar sie ist. Das ist bei Thomas Girst
zweifellos der Fall. Der hochdekorierte
Kulturchef des Autoriesen BMW ist
ständig unterwegs und hat ein paar
Bücher über Marcel Duchamp geschrie-
ben, den schnellsten Künstler des 20.Jahr-
hunderts: Der verwandelte ein Kaufhaus-
produkt in ein Kunstwerk, indem er es ins
Museum stellte.
Wenn sich jemand so der Schnelligkeit
verpflichtet weiss, muss es einen beson-
deren Reiz ausüben, diejenigen zu suchen,
die sich vom Fluss der Zeit getragen füh-
len. Die longue durée der Historiker, die
Das somalische Buch Afrikas tödlichste Terrororganisation
Es gibt wenige Orte, an denen der
Beruf des Journalisten so gefährlich ist
wie in Somalia. Seit 1992 wurden im
ostafrikanischen Land 66 Bericht-
erstatter getötet, oft durch Kämpfer
der radikal-islamischen Organisation
al-Shabab. Umso höher ist der Mut der
beiden Autoren Harun Maruf und Dan
Joseph einzuschätzen, die in Inside Al-
Shabaab (Indiana University Press
2019, 324 Seiten) basierend auf Inter-
views mit ehemaligen Al-Shabab-
Kämpfern, Diplomaten, Politikern und
Analysten die Genese der Terrorgruppe
akribisch beschreiben.
Als der Islamische Staat, begleitet von
weltweitem Entsetzen, in Syrien und
im Irak sein Kalifat errichtete, hatte al-
Shabab ein ähnliches Gesellschafts-
konzept bereits im mittleren und süd-
lichen Somalia etabliert. Maruf und
Joseph zeigen auf, wie die Terroristen
im Vakuum des Bürgerkrieges eine
über Schutzgeld und Holzkohlehandel
finanzierte Administration aufbauten,
die über Scharia-Gerichte einen radi-
kal-puritanischen Islam durchsetzte.
Keine andere Terrororganisation wird
in Subsahara-Afrika mit vergleichba-
rem Aufwand bekämpft. Keine andere
ist dort mit jährlich rund 1500 Opfern
so tödlich. Die Journalisten des Radio-
senders «Voice of America» zeigen auf,
wie sich al-Shabab trotz erheblicher
interner Spaltungen gegen 20 000 Sol-
daten der Afrikanischen Union und US-
Drohnen behauptet. Auf ihrem Höhe-
punkt im Jahr 2009 wäre beinahe der
Sturz der somalischen Regierung ge-
lungen, auch dank der logistischen und
finanziellen Unterstützung des strate-
gischen Partners al-Kaida, der Somalia
früh als optimales Rekrutierungster-
rain identifiziert hatte.
30 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 28. April 2019
lebenslange Verpflichtung auf ein Thema,
das ruhige Finden statt das hektische Su-
chen sind nur einige Merkmale dieses
langen Atems. Girst lässt sich von ihm
anwehen wie ein verschwitzter Wanderer
vom fallenden Gipfelwind und entdeckt
den Reichtum, den die Zeit entfaltet.
Weil Zeit zu haben ansteckend ist, teilt
er mit den Lesern seine Funde. Auf jeweils
sechs Seiten bringt Thomas Girst uns Men-
schen, Ideen und Ereignisse nahe, die Zeit
erfordern und geschenkt haben. Der Han-
ser-Verlag packt sie in ein für Jackettaschen
taugliches Format. Eine Lektüre für unter-
wegs, wenn die Sätze für Minuten sich zu
Gedanken für Stunden dehnen können.
Dass Robert Walser und Marcel Proust
auftauchen, ist geschenkt. Dass der Brief-
träger Ferdinand Cheval mit seinem Palast
aus Muscheln, Kieseln und Fundsteinen
den Anfang machen darf, zeigt die Offen-
FEISAL OMAR / REUTERS
Ein somalischer Der Einflussbereich der Regierung ist
Soldat hält die immerhin wieder auf Mogadiscio und
Stellung, nachdem andere Grossstädte wie Kismayo und
Al-Shabab-Kämpfer
ein Regierungs-
Baidoa gewachsen. Doch mit fast täg-
gebäude in lichen Anschlägen verhindern die Ter-
Mogadiscio roristen den Wiederaufbau funktionie-
angegriffen haben. render staatlicher Strukturen. Solange
(23. März 2019) Somalia ein gescheitertes Land bleibt,
argumentiert das Buch, so lange ist auch
der Nährboden für Terrorismus gegeben
– besonders in ländlichen Gegenden.
Viele der brutalen Elemente dieser Herr-
schaft sind bekannt, die öffentlichen
Hinrichtungen, Verbote von Tanz, Fuss-
ball und anderen Aktivitäten, die als
westlich interpretiert werden. Spannend
erweist sich die Diversität der Führungs-
figuren. So wird das Leben des früheren
Eisverkäufers und Studenten einer US-
Universität, Ibrahim al-Afghani, geschil-
heit des Autors für Wunderlinge und Wun-
derbares. Dass er ins norddeutsche Hal-
berstadt fährt, um nach einem langen
Fussmarsch in der Kirche das Vibrieren
von John Cages Orgelstück «Organ2/ASLP»
für eine Zeitdauer von 639 Jahren zu
hören, verrät hartnäckige Neugierde.
Dabei geht der Autor immer wieder
weit in die Geschichte zurück. Baldassare
Castigliones Hofmann forderte zu Beginn
des 16.Jahrhunderts die Tugend der sprez-
zatura. Thomas Girst übersetzt sie als die
Gelassenheit, den anderen nicht mit den
Anstrengungen hinter den eigenen Auf-
tritten zu belasten. Kein Koch sollte seine
Gäste damit behelligen, wie lange er für
sie in der Küche gestanden hat. Da wird
der Umgang mit Zeit zur Rücknahme der
eigenen Person. Das ist keine schlechte
Forderung an die Instagram-Akteure
unserer Tage. ●
dert und mit dem des in Afghanistan
ausgebildeten Kommandeurs Aden
Hashi Farah Ayrow kontrastiert.
«Inside Al-Shabaab» liefert einen faszi-
nierenden Einblick in die Strategien
der wandlungsfähigen Organisation,
darunter die Anschläge in Kenya in den
vergangenen Jahren. Neben der Rache
für die Soldaten, die das Nachbarland
nach Somalia geschickt hatte, seien
damit zwei Ziele verbunden gewesen:
«neue Rekruten zu gewinnen und die
Beziehungen zwischen Christen und
Muslimen im Land zu zersetzen». 2014
hielten die Terroristen in der Nähe der
Grenze einen Bus an. Die Fahrgäste
wurden aufgefordert, Verse aus dem
Koran zu rezitieren. Wer dies nicht
konnte, wurde erschossen. Es gab 28
Tote. Muslime blieben verschont.
Wertvoll sind auch die Details, die
Maruf und Joseph zu den erfolglosen
Versuchen des IS liefern, al-Kaida als
Kooperationspartner al-Shababs abzu-
lösen, wie die Verteilung von 50-Dollar-
Scheinen an Dorfbewohner oder die
gezielte Ermordung von Clan-Anfüh-
rern, um einen Keil in die Al-Shabab-
Strukturen zu treiben. Es bleibt die
Erkenntnis, dass al-Shabab genug
externe Einflüsse hat, um sich weiter zu
behaupten. Ein Sieg über die Terroris-
ten stehe in weiter Ferne, bilanzieren
die Autoren. Eines stehe aber jetzt
schon fest: «Man wird sich nicht an al-
Shabab als Jihadisten erinnern, die für
den Islam kämpften. Mehr Somalis wer-
den sich an ihre harsche, restriktive Ver-
sion der Scharia erinnern, die in unzäh-
ligen verlorenen und ruinierten Leben
resultierte und die in den Augen vieler
den islamischen Glauben verzerrte.» ●
Von Christian Putsch, Kapstadt
 Agenda
Architekturfotografie Wie Bilder Räume verändern
HANNAH STARKEY
Wenn Fotografen Gebäude abbilden, sollen sie sie uns
so zeigen, wie sie aussehen. Diese naive Erwartung an
den dokumentarischen Charakter des Mediums trifft
spätestens seit Alexander Rodtschenko nicht mehr zu:
Der revolutionäre russische Künstler erfasst Bauten
in dramatischen Diagonalen. Wer fotografiert, insze-
niert. Das gilt auch für die Architektur. Diese Freiheit
wurde durch die digitalen Möglichkeiten noch gestei-
gert. Wie sehr, zeigt dieser Band über den «digital
turn» der Architekturfotografie. Die Bilder der Foto-
Bestseller April 2019
Belletristik
1 Joël Dicker: Das Verschwinden der Stephanie
Mailer. Piper. 672 Seiten, um Fr. 35.–.
2 Charles Lewinsky: Der Stotterer.
Diogenes. 416 S., um Fr. 33.–.
3 Eveline Hasler: Tochter des Geldes.
Nagel & Kimche. 200 Seiten, um Fr. 32.–.
4 Simon Beckett: Die ewigen Toten.
Wunderlich. 480 Seiten, um Fr. 33.–.
5 5
Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten.
Luchterhand. 192 Seiten, um Fr. 30.–.
6 Christine Brand: Blind.
Blanvalet. 448 Seiten, um Fr. 24.–.
7 Camilla Läckberg: Golden Cage.
List. 384 Seiten, um Fr. 24.–.
8 Julian Barnes: Die einzige Geschichte.
Kiepenheuer & Witsch. 304 S., um Fr. 32.–.
9 Gian Maria Calonder: Engadiner Abgründe.
Kampa. 224 Seiten, um Fr. 21.–.
10 Ruth Schweikert: Tage wie Hunde.
S. Fischer. 208 Seiten, um Fr. 32.–.
Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 16. 4. 2019. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Agenda Mai 2019
Zürich
Dienstag, 7. Mai, 19.30 Uhr
Gottfried Keller: Vergnügliches zum
200.Geburtstag. Mit Ursula Amrein und
Michael Andermatt. Fr. 20.–.
Literaturhaus, Limmatquai 62
Montag, 13. Mai, 19.30 Uhr
Han Kang: Deine
kalten Hände.
Moderation: Hoo Nam
Seelmann, Lesung:
Dagny Gioulami.
Fr. 20.–. Literaturhaus
Montag, 20. Mai, 20 Uhr
Joël Dicker: Das Verschwinden der
Stephanie Mailer. Moderation: Röbi
Koller, Lesung: Wanda Wylowa. Fr. 25.–.
Kaufleuten, Pelikanplatz
Dienstag, 21. Mai, 20 Uhr
Feridun Zaimoglu:
Die Geschichte der
Frau.
Moderation: Eva Wan-
nenmacher. Fr. 25.–.
Kaufleuten, Pelikanplatz
grafen ähneln denen der Maler. Die Britin Hannah Star- Mittwoch, 22. Mai, 19.30 Uhr
key (*1971), zeigt, was da möglich ist. Auf dem Bild «The Saša Stanišić: Herkunft.
Dentist» wartet eine Frau in einem an für sich langwei- Moderation: Sebastian Meixner. Fr. 20.–.
ligen Zimmer. Die Leere, die Farben und die Führung Literaturhaus, Limmatquai 62
von Licht und Schatten geben der banalen Situation
jedoch etwas Unheimliches. Wir sind nicht gerne beim Basel
Zahnarzt. Architektur besteht nicht einfach aus Räu-
men, sie erzählt Geschichten. Gerhard Mack Mittwoch 8. Mai, 19 Uhr
Pedro Gadanho (Hrsg.): Fiction and Fabrication. Hir- Antje Rávik Strubel liest anlässlich des
mer 2019. 176 S., 86 Abb., um Fr. 50.–. Preises der Literaturhäuser 2019. Mode-
ration: Andrea Zimmermann. Fr. 18.–.
Literaturhaus, Barfüssergasse 3
Bern
Sonntag, 5. Mai, 11 Uhr
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Moderation: Tabea Steiner. Zentrum Paul
1 Gabriel Palacios: Wer tut dir gut?
Allegria. 224 Seiten, um Fr. 20.–.
Klee. Monument im Fruchtland 3
Solothurn
2 René Stauffer: Roger Federer.
Piper. 352 Seiten, um Fr. 35.–. Freitag 31. Mai bis Sonntag, 2. Juni
Solothurner Literaturtage
3 Anja Zeidler: Sei glücklich, nicht perfekt.
Riva. 192 Seiten, um Fr. 26.–. Bücher am Sonntag Nr.5
erscheint am 26. 5. 2019
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Menschheit. Pantheon. 528 Seiten, um Fr. 23.–. Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
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28. April 2019 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31
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28. April 2019
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 KanonderPopulärkultur
Im Zeitalter des
Bartes
Ich wäre beim Trend zum
Bart eigentlich auch gern
dabei gewesen. Dass es
nicht klappte, liegt in ers-
ter Linie an der Biologie.
Timing und Soziokultur
spielten aber auch eine
Rolle. Meine allgemein,
sagen wir mal, dezent
virile Körperbehaarung
setzte Bartambitionen von
Natur aus Grenzen. Das
bedeutet aber natürlich
nicht, dass ich die Grenzen
nicht ausgelotet hätte.
Aber wie gesagt: Es war vor
allem der Zeitpunkt meiner
kurzen Bartphase, der
schlecht gewählt war.
Meine ernsthaftesten
Versuche, mir einen Bart
wachsen zu lassen, fielen
in die Jahre nach 9/11, in
der die islamische Ikono-
grafie, in der der Bart,
beziehungsweise der Bart
des Propheten, bekannt-
lich eine nicht ganz neben-
sächliche Rolle spielte, in
der westlichen Welt einen
abrupten Dreh ins Bedroh-
liche erhielt. Mit einem
Bart signalisierte man zu
jener Zeit noch nicht, dass
man sein Geld in der Krea-
tivindustrie verdient oder
als Barista. In der kollekti-
Die Liste: Neuorientierungen
1 2 3 4 5
Prinzenpaar
bald in Afrika?
Prinz Harry und seine Gat-
tin Meghan Markle planen
laut «Sunday Times» den
Umzug nach Afrika – nach
der Geburt ihres Kindes.
123RF / AP / NZZ PHOTOGRAPHEN
28. April 2019 | NZZ am Sonntag
Kulturell stellt der Bart kein Problem mehr dar, biologisch aber allenfalls schon.
ven Vorstellung verwies
ein Bart sehr viel eher auf
eine Anstellung im terro-
ristischen Sektor.
Dass mein Bart, bezie-
hungsweise das, was in
meinem Gesicht versuchte,
zu einem Bart zusammen-
zuwachsen, besonders
skeptisch beäugt wurde,
kann ich niemandem vor-
Mörgeli will in
den Nationalrat
Aufgerüttelt vom Formtief
der SVP bei den Zürcher
Kantonsratswahlen, sieht
sich der frühere SVP-Natio-
nalrat Christoph Mörgeli
veranlasst, sich trotz seiner
Nicht-Wiederwahl 2015
von neuem um einen Platz
auf der Nationalratsliste zu
bewerben. Die SVP will
Ende Mai über ihre Kandi-
daten entscheiden.
werfen. Ich war damals ja
beruflich tatsächlich öfter
in Ländern wie Pakistan
und Afghanistan unter-
wegs, weshalb es für mein
Umfeld wohl nicht ganz
leicht war, zu beurteilen,
ob man es hier mit jeman-
dem zu tun hatte, der sich
in diesen Weltgegenden,
wo, auch was Körperpflege
Kim wendet sich
nach Russland
Nachdem die Annäherung
an US-Präsident Trump
durch Uneinigkeit in Fra-
gen der atomaren Abrüs-
tung gebremst worden ist,
hat sich der nordkoreani-
sche Machthaber Kim Jong
Un zur Neuausrichtung
seiner Liebesreserven auf
Putin hin entschieden.
Laut Kreml wird er bald in
Russland erwartet.
betrifft, vermutlich mittel-
alterliche Zustände
herrschten, einfach das
Rasieren abgewöhnt hatte
oder ob man hier nicht
allenfalls die äusseren
Anzeichen einer inneren
Wandlung hin zu einer
Religion beobachten
konnte, deren Image-GAU
sich damals gerade erst so
Gaston Hänni
wird sesshaft
Der renommierte
Schweizer
Clown (unver-
gessen sind
seine Tour-
neeauftritte
mit Knie, Nock
und Royal) hat
seinen Zirkuswagen ver-
kauft und setzt sich nach 51
Jahren als Humorreisender
in Arbon (TG) zur Ruhe.
richtig zu entfalten begann.
Auf jeden Fall wurde ich
vom ehemaligen Chef-
redaktor dieser Zeitung
eines Tages dazu aufgefor-
dert, dem Kapitel Bart doch
bitte ein Ende zu setzen,
insbesondere im Hinblick
auf den Fototermin für das
Impressum. Er sagte das,
so gut kenne ich ihn, kaum
aus stilistischen Sorgen. Es
war aber auch diesbezüg-
lich ein weiser Rat.
In letzter Zeit habe ich
mich jedoch beim Gedan-
ken ertappt, es vielleicht
doch wieder einmal mit
einem Bart zu versuchen.
Das Gute ist, dass die Mil-
lionen von Hipsterbärten
die Assoziation Terroris-
tenbart längst verdrängt
haben und der Barttrend
nun schon so lange dauert,
dass dem Barttragen nichts
«Hippes» mehr anhaftet,
ein Attribut, dem auszu-
weichen ich ab einem
gewissen Alter dringend
empfehle. Aber fast noch
besser: Ein schütterer Bart
mag mit 35 lächerlich aus-
sehen, um die 50, ich habe
es bei einem ähnlich veran-
lagten Freund gesehen,
kann so eine Jünglings-
behaarung aber eine
durchaus verjüngende
Wirkung haben.
Christoph Zürcher
Bauern müssen
an die Uni
Stallpräsenz reicht nicht:
Künftig sollen Schwei-
zer Bauern, um Direkt-
zahlungen zu erhal-
ten, nach Plänen des
Bundesrates Betriebs-
wirtschaft studieren.
Ob Effizienzsteigerungs-
seminare die Beschnei-
dung der Quality-Time mit
Feldfrucht und Tier wett-
machen? Martin Helg
3
 «Ichwillein
Mädchen»
«Ichhatteeine
16-Jährige»
«Zualt»
Auf den Philippinen werden Hunderttausende von Kindern sexuell ausgebeutet,
von Touristen, von den eigenen Eltern, von den Nachbarn. Ein Belgier wollte dem
nicht mehr länger tatenlos zusehen. Von Carsten Stormer, Carlo Gabuco (Fotos)
E
s ist ein heisser Morgen
in den Tropen, als Peter
Dupont seinen Abstieg
in die Welt der Kinder-
schänder beginnt.
Dupont, 51, sitzt vor
einem Teller mit Eiern
und Speck und scrollt sich durch sein
Telefon. Er sucht sehr spezielle Nach-
richten – Informationen über Verhaf-
tungen von Pädophilen. Von draussen
dringt der Verkehrslärm von Angeles
City bis zur Frühstücksveranda des
Viersternehotels. Einst war die Stadt,
achtzig Kilometer nordwestlich von
Manila, für ihre grosse US-Luftwaffen-
basis bekannt – heute gilt sie als
Hauptstadt der Sextouristen auf den
Philippinen. Plötzlich ein Ping. Auf
Duponts Handy leuchtet eine SMS
auf. Der Köder wurde geschnappt –
die Mädchen sind auf dem Weg
ins Hotel.
Die Philippinen gelten seit langem
als eines der Hauptländer für Kinder-
prostitution. Eine Mischung aus
Armut, skrupellosen Menschenhänd-
lern und hilflosen Behörden hat hier
eine millionenschwere Industrie ent-
stehen lassen. Seitdem das Internet
auch die entlegensten Inseln erreicht
hat, hat sich das Geschäft ausgeweitet
– in die virtuelle Welt des Cyberspace:
Eine neue Form der Prostitution ist
4 NZZ am Sonntag | 28. April 2019
entstanden, in der jeder mitmachen
kann, der einen Internetanschluss
und eine Webkamera besitzt. Bei acht
von zehn philippinischen Kindern, so
schätzt das Kinderhilfswerk der Ver-
einten Nationen, besteht inzwischen
die Gefahr des sexuellen Missbrauchs
im Netz. Das Internet, gleich einem
Teufelskreis, befeuert zuletzt auch
wieder die Offline-Welt: In Facebook-
Gruppen wie «Filipino Boys For Gay
Travellers» suchen Männer aus
Europa und Arabien minderjährige
Knaben für Sex. Bezahlt wird online
mit Bitcoins oder per Geldtransfer mit
Western Union.
Ein paar Stunden nach Eintreffen
der Textnachricht betreten zwei
schmale Mädchen das Hotel von Peter
Dupont. Jenny Rose und Jamaica Cor-
tes, 13 und 11 Jahre alt. Beide tragen
Blümchenkleider und haben die lan-
«Seitdem ich weiss,
wozu Menschen
fähig sind, fällt es
mir schwer, in ihnen
noch etwas Gutes
zu sehen.»
gen schwarzen Haare zu Zöpfen
gebunden. Ein Informant hatte dieses
Treffen tagelang vorbereitet. Bis
zuletzt war nicht sicher, ob sich die
Mädchen darauf einlassen würden, in
das Hotel eines ihnen unbekannten
Europäers zu kommen.
Joel, ihr Cousin und rechtlicher
Vormund, begleitet sie. Schüchtern
begrüssen die beiden Mädchen
Dupont, der an einem Tisch am Hotel-
pool sitzt, führen seine Hand zu ihrer
Stirn – die philippinische Geste des
Respekts gegenüber Älteren. Dupont
bestellt Mangoshakes und gebratenen
Reis, Cola und Glace. Die Gäste an den
Nachbartischen, allesamt weisse
Männer mit jungen Filipinas im Arm,
schauen skeptisch. Manche schütteln
verständnislos den Kopf. Andere
tuscheln. Ein mittelalter weisser
Mann, der zwei Kinder mit Süssigkei-
ten für sich gewinnen will. So sieht
es aus.
Dupont kennt diese Blicke, sie stö-
ren ihn nicht mehr. Seit fünf Jahren
jagt der belgische Journalist Kinder-
schändern hinterher – indem er sich
als einen von ihnen ausgibt. Er spricht
die Sprache der Kinderschänder,
kennt ihre Codes, ihre Vorlieben, die
Chat-Räume im Darknet. Kaum
jemand kennt sich in dieser Schatten-
welt besser aus als der Belgier.
Jenny Rose, heute dreizehn, war neun, als sie gezwungen wurde, sich für Fotos nackt auszuziehen und den Penis eines Mannes zu berühren.

Jamaica, heute elf, war sieben, als sie das erste Mal zu Oralsex aufgefordert wurde.

28. April 2019 | NZZ am Sonntag 5

 Dupont bittet die Schwestern zu
sich aufs Zimmer. Der Concierge
dreht sich diskret weg, als Dupont mit
den Kindern in den Lift steigt. Dupont
schliesst die Tür zum Hotelzimmer
auf, bittet die Mädchen herein, und
als sie erkennen, dass sie sich nicht
ausziehen, sondern tatsächlich nur
reden sollen, wirken sie überrascht.
Bisher wollten weisse Männer sie
immer nackt sehen. Jenny Rose, die
Ältere, übernimmt das Reden.
Jamaica sitzt daneben, nickt
gelegentlich.
Aufgewachsen sind die beiden in
einem Slumviertel von Angeles City.
Der Vater, ein Drogendealer, hatte
sich vor Jahren aus dem Staub
gemacht. Die Mutter starb an Crystal
Meth. Eine Nachbarin nahm die Mäd-
chen auf. Sie war die Geliebte eines
Amerikaners mit pädophilen Neigun-
gen und, wie sich bald darauf heraus-
stellte, ständig auf der Suche nach
schutzlosen Kindern.
An Weihnachten 2014 nahm sie
Jenny Rose und Jamaica zum ersten
Mal mit zu ihrem Geliebten. Kaum
war die Tür hinter ihnen zugefallen,
befahl der Mann den Schwestern, sich
auszuziehen, um sie zu fotografieren.
Dann führte er sie in sein Bade-
zimmer, duschte die nackten Mäd-
chen ab. Anschliessend durften sie im
Pool baden. In den kommenden
Wochen lud er sie immer wieder in
Restaurants ein, kaufte ihnen Kleider
und Schuhe, gab ihnen Taschengeld.
Sein Name: John R., ein 68 Jahre alter
New Yorker, der seit Jahren unbehel-
ligt in Angeles City lebt.
Jamaica setzt sich an Duponts
Laptop, ruft das Facebook-Profil des
Amerikaners auf. Fotos zeigen einen
älteren Mann mit einer Echsen-
tätowierung auf dem linken Oberarm,
das blonde Haar zu einer Igelfrisur
geföhnt. Jamaica kichert verlegen,
während sie durch die Bilder scrollt.
Immer wieder sieht man R. mit
Kindern: mit einem Mädchen beim
Tanzen, mit einem anderen in einem
Restaurant, ein Strassenbub am
Küchentisch seiner Wohnung. Dupont
hat genug gesehen, er gönnt den
Mädchen eine Pause.
Wie eine biblische Strafe
Die Wandlung des Journalisten Peter
Dupont zum Kinderschänderjäger
begann im Jahr 2013. Der Wirbelsturm
«Yolanda» war gerade wie eine bibli-
sche Strafe über die Philippinen
gekommen, hatte mehr als sechstau-
send Menschen getötet. Tausende
Waisen und obdachlose Kinder lande-
ten in Bordellen. Dupont war für bel-
gische und niederländische Zeitungen
vor Ort. «Die Geschichten der Kinder
gingen mir nicht mehr aus dem Kopf»,
sagt er. «Ich hatte die Aussagen von
Zeugen, Aussagen von missbrauchten
Kindern, hatte die Namen von belgi-
schen Tätern. Ich informierte die bel-
gische Polizei. Aber nichts geschah!»
Kurz bevor er ein Jahr später erneut
in die Philippinen fahren wollte, erlitt
er einen Schlaganfall. «Das hat mein
6 NZZ am Sonntag | 28. April 2019
Leben verändert und mir eine Rich-
tung gegeben», sagt er. «Ich dachte,
ich sterbe. Ich musste Sprechen und
Gehen neu erlernen.» Drei Monate
verbrachte er im Krankenhaus und
kam schliesslich für sich zum Schluss,
dass sein Überleben einen Grund
haben muss – er beschloss, Kinder-
schänder zu jagen. Dupont wollte
nicht länger zusehen bei dem, was er
das «grösste Verbrechen unserer Zeit»
nennt: der zehntausendfache Miss-
brauch philippinischer Kinder. «Das
bin ich den Kindern schuldig.» Seit-
dem tauscht er für mehrere Monate
im Jahr sein Haus an der belgisch-
deutschen Grenze gegen ein fenster-
loses Zimmer in einem herunter-
gekommenen Stadtteil Manilas.
Im Hotel von Angeles City ist die
Pause für die Mädchen vorbei. Peter
Dupont sitzt auf der Kante des Hotel-
bettes, nippt an einer Wasserflasche,
hört zu, stellt Fragen, lässt Jenny Rose
und Jamaica reden. Ihre Antworten
filmt er mit seinem Smartphone.
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Das Gespräch wird heikel. Jamaica
schaut betreten zu Boden und trom-
melt mit ihren Fingern auf die Stuhl-
lehne. «Jamaica musste sich von ihm
lecken lassen», sagt Jenny Rose leise.
Ihre Pflegemutter drückte Jamaica
dabei aufs Bett und hielt sie an den
Armen fest. Anschliessend verlangte
er von ihr, seinen Penis zu berühren.
Sie nennt es «sein böses Teil».
Duschen, Geschlechtsteile berüh-
ren, Oralsex. Der Amerikaner fotogra-
fierte. Anschliessend durften die Kin-
der schwimmen gehen. Eineinhalb
«Niemand ruft
die Polizei, keiner
informiert die
Behörden. Man
schaut weg und hält
die Hand auf.»
Jahre lang ging das so, jeden Tag nach
der Schule, ausser sonntags. Dann
beendete R. die Beziehung zur
Nachbarin, und damit brach auch die
Verbindung zu Jamaica und Jenny
Rose ab. Bis zum November 2017.
Da überbrachte die Ex-Geliebte den
Kindern in R.s Auftrag ein Angebot:
100 000 Pesos in bar. 1500 Euro.
Die Gegenleistung dafür – ihre Jung-
fräulichkeit. Jenny Rose sagt, dass
sie noch immer in Versuchung gerate,
das Geld anzunehmen. 100 000 Pesos
können ein Leben in den Philippinen
verändern.
Grosse Verlockung
Sie seien nicht die einzigen Kinder
gewesen, die bei R. ein und aus gin-
gen, erzählen die Schwestern. Auch
die Nichte der Nachbarin sei in dessen
Wohnung missbraucht worden,
ebenso wie Jenny Roses beste Freun-
din Angel, die 9-jährige Rachelle und
die 13-jährige Jelo.
Dupont schaut zu Joel, dem Vor-
mund der Mädchen, der seine Hände
knetet. Der es kaum erträgt, was seine
Cousinen erzählen. Ein schmächtiger
junger Mann Ende zwanzig, mit einer
roten Baseballkappe, der mit seiner
Motor-Rikscha die Familie über Was-
ser hält und sich jetzt schuldig fühlt.
Er war derjenige, der die Schwestern
zu R. kutschierte und wieder abholte.
Er habe geahnt, was da oben in der
Wohnung geschieht, dagegen getan
hat er nichts: «John R. war mein Boss.
Ich wollte meinen Job nicht verlie-
ren», sagt er entschuldigend. Was
genau seine Cousinen ertragen muss-
ten, hört er heute zum ersten Mal.
Es sind meist Familienangehörige
oder enge Bekannte, die Kinder für
sexuelle Handlungen anbieten, die
Verlockung des schnellen Geldes ist
zu gross. «Der moralische Verfall der
Gesellschaft ist schockierend», sagt
Dupont, als die Mädchen das Zimmer
schliesslich verlassen haben. «Nie-
mand findet es anstössig, dass alte
Säcke Sex mit Kindern haben möch-
ten. Niemand ruft die Polizei, keiner
informiert die Behörden. Man schaut
weg und hält die Hand auf. Kinder
sind Einnahmequellen.»
In den Jahren seiner Untergrund-
arbeit hat Dupont viel gesehen. «Zu
viel, vielleicht», sagt er. Das Video,
in dem eine 13-jährige vergewaltigt
wurde. Oder die Mutter, die eine
Sex-Show mit ihrer 5-jährigen Tochter
und ihrem 2-jährigen Sohn organi-
sierte. Und einmal, während einer
Recherche, sass eine 10-Jährige auf
Duponts Schoss und fragte ihn, ober
er mit ihrer 4-jährigen Schwester Sex
haben wolle.
Das Kinderhilfswerk Terre des
Hommes schätzt, dass weltweit 1,2
Millionen Kinder sexuell ausgebeutet
werden. Im Jahr 2016 erhielt Interpol
8 Millionen Meldungen zu mutmass-
lichem Kindesmissbrauch weltweit
und fand mehr als 55 000 Websites,
die kinderpornografisches Material
enthielten; 20 Prozent mehr als im
Jahr zuvor. Eine amerikanische Hilfs-
Joel, der Cousin von Jamaica und Jenny Rose. Er fuhr die Mädchen zu den Sexdates mit dem pädophilen Amerikaner.

Peter Dupont im Gespräch mit einem transsexuellen Zuhälter in einem Klub in Angeles City.

28. April 2019 | NZZ am Sonntag 7

Jenny Rose und Jamaica: Bei einem Täter durften sie zur Belohnung den Pool seines Apartmenthauses benutzen.

8 NZZ am Sonntag | 28. April 2019

28. April 2019 | NZZ am Sonntag 9

Auch in
der
Schweiz
Laut Schätzungen leben
in der Schweiz rund
10 000 Menschen mit
pädophiler Neigung,
nicht ausschliesslich,
aber überwiegend Män-
ner. Schweizweit wurden
im letzten Jahr rund
1300 Fälle von sexuellen
Übergriffen aktenkundig,
wobei die Dunkelziffer
beträchtlich sein dürfte.
In einer repräsentativen
Umfrage gaben 15 Pro-
zent aller 15- bis 17-Jähri-
gen an, von Erwachsenen
zumindest schon einmal
an intimen Stellen
berührt worden zu sein.
10
organisation hat die Schätzung ver-
öffentlicht, dass ein Prozent aller
Männer sexuelle Vorlieben für vor-
pubertäre Kinder haben, drei Prozent
stehen auf Pubertäre. «Also insgesamt
135 Millionen Männer», sagt Dupont.
Dupont hat selbst zwei Kinder, 22
und 18 Jahre alt. «Meine Familie lässt
mich ziehen, aber wir reden kaum
über meine Arbeit», sagt er. Sie sorgen
sich, dass er verhaftet werden könnte.
Oder schlimmer: dass ihn jemand ver-
letzt oder tötet. Im Laufe der Jahre hat
er sich so viele Feinde gemacht. «Ich
habe oft Angst. Das grenzt schon fast
an Paranoia», sagt er. So sehr, dass er
nachts nicht allein das Haus verlasse.
Nur Klicks entfernt
Im Netz nimmt Dupont wechselnde
Identitäten an. Einmal schlüpft er in
die Rolle des Sugardaddy, ein anderes
Mal gibt er sich als Pädosexuellen aus.
Im Jahr 2015 arbeitete er als Lock-
vogel für die überforderte und
schlecht ausgerüstete philippinische
Polizei. Er gab sich als Kunde der Pepi-
tos aus, eines Familienclans auf der
Insel Mindanao, der Dutzende Kinder
sexuell ausbeutete und an Onlinekun-
den weltweit vermittelte. Überbevöl-
kerung, unvorstellbare Armut und
relativ schnelles Internet sorgen
dafür, dass schummerige Zimmer auf
abgelegenen philippinischen Inseln
von europäischen Wohnzimmern
heute nur ein paar Klicks und Bitcoins
entfernt sind.
Während die Bande sechs Mädchen
für den vermeintlichen Auftraggeber
Dupont vor einer Webcam versam-
melte, schlug die Polizei zu. «Ich sass
an einem Computer im Polizeihaupt-
quartier in Manila und verfolgte die
Festnahme am Monitor in Echtzeit.»
Am Ende konnten zwölf Kinder
befreit werden. Die Pepitos bekamen
lebenslänglich, die Kinder wurden in
Heimen untergebracht.
Immer wieder muss sich Dupont
auch mit dem Vorwurf auseinander-
setzen, die sexuellen Vorlieben der
Pädophilen zu teilen. «Die Leute ver-
stehen nicht, warum ich das mache.
Sie wissen nicht, dass ich nachts nicht
schlafen kann, weil ich die Bilder
nicht aus dem Kopf bekomme», sagt
er. «Seitdem ich weiss, wozu Men-
schen fähig sind, fällt es mir schwer,
in ihnen etwas Gutes zu sehen.»
Dupont leidet an akustischen Halluzi-
nationen, hört Stimmen und Geräu-
sche, wo keine sind. «Wenn man dem
Bösen ins Auge blickt, lässt man ein
Stück seiner Seele zurück», sagt er
und muss selbst über sein Pathos
lachen. Zu Hause in Belgien redet er
regelmässig mit einem auf Traumata
spezialisierten Psychologen.
Es ist Abend geworden in Angeles
City. Dupont ist auf der Fields Avenue
unterwegs, der nächtlichen Lebens-
ader der Stadt. Hier reihen sich über
mehrere hundert Meter Bar an Bar,
Nachtklub an Nachtklub; sie werben
mit Massagen, exotischen Tänzerin-
nen und erotischer Bespassung rund
um die Uhr. In fast allen Bars sitzen
junge philippinische Mädchen – und
ältere Männer; viele Europäer, Ameri-
kaner, Koreaner und Japaner. Vor den
verspiegelten Eingängen der Go-go-
Klubs stehen junge Frauen in kurzen
Röcken und laden Herren aus aller
Welt ein, bei ihnen vorbeizuschauen.
Auf einem Schild im Fenster des
«Champagne Club» steht, dass man
dringend junge Tänzerinnen suche,
ab sofort. Nur eines gibt es in Angeles
City offiziell nicht: Prostitution.
Denn das verstösst in dem katholi-
schen Land nicht nur gegen die
Zehn Gebote, sondern auch gegen das
irdische Gesetz.
Peter Dupont will dem Hinweis
einer Informantin nachgehen, einer
Prostituierten. Er lässt die Amüsier-
meile hinter sich und läuft eine
dunkle Strasse mit schummrigen Bars
hinunter, bis er einen kleinen Platz
erreicht. Dort sitzen sechs ältere
weisse Männer auf den Bänken. Einer
turtelt mit einer zahnlosen Alten, ein
anderer flüstert einer Frau etwas ins
Ohr, die einen kleinen Buben an der
Hand führt. Wer mit Kindern Sex
möchte, wer ganz schräge Phantasien
hat, der komme an diesen Ort – so hat
es ihm die Informantin gesagt.
Dupont setzt sich auf einen freien
Platz. Nach ein paar Minuten setzt
sich ein Ladyboy zu ihm, schlägt die
Beine übereinander, legt die Hand auf
Duponts Oberschenkel. Dann schürzt
er die Lippen und haucht laszive,
ob er irgendwie oder mit irgendwas
behilflich sein könne.
«Ich will ein Mädchen», sagt
Dupont, während er alles mit einer
versteckten Kamera aufnimmt.
«Kein Problem», sagt der Trans-
sexuelle und klingt dabei leicht
enttäuscht. Aber ein Mädchen könne
er besorgen.
Dupont will wissen, wie alt das
Mädchen sei.
«Zwanzig.»
«Zu alt.»
Verständnisvolles Nicken.
«Ich hätte auch eine 16-Jährige»,
sagt der Zuhälter.
«Immer noch zu alt. Ich will eine
Jüngere.» Augenzwinkern. Schwei-
gen.
Der Transmann steht auf, zückt ein
Telefon, wählt eine Nummer, stöckelt
ein paar Minuten auf hohen Absätzen
im Kreis, setzt sich wieder zu Dupont.
«15 Jahre. 3000 Pesos. Aber erst
morgen. Okay?»
Dupont nickt, notiert sich die Num-
mer des Zuhälters und erhält die
Anweisungen: Hinter einem Hotel in
der Nähe befinde sich der Strassen-
«Die Leute verstehen
nicht, warum ich
das mache. Sie
wissen nicht, dass
ich nachts nicht
schlafen kann.»
strich. Dort solle er sich morgen Nacht
ein Zimmer in einem Motel buchen
und anrufen. Jemand werde das
Mädchen dann vorbeibringen. «Okay?
Bye-bye, Darling.»
«Natürlich werde ich nicht anru-
fen», sagt Dupont später, als der
Transsexuelle verschwunden ist, «es
gibt Grenzen, die ich nicht über-
schreite.» Es sei ihm lediglich darum
gegangen, herauszufinden, wie
schnell man eine Minderjährige
bekommen könne. Und Namen,
Telefonnummern, Gesichter kennen-
zulernen. So hangelt er sich durch.
«Vielleicht kann ich den Ladyboy
als Informanten gewinnen. Für die
meisten hier spielt es keine Rolle,
ob sie Menschen oder Informationen
verhökern.»
Kurz vor Mitternacht setzt sich
Peter Dupont auf die Veranda einer
Bar der Fields Avenue und bestellt
sich ein Bier. Er wirkt müde. Sein blas-
ser Teint wirkt noch bleicher und lässt
den Sonnenbrand auf seiner Stirn rot
hervortreten. Am Nebentisch feilscht
gerade ein dicker Australier mit einem
Ladyboy um den Preis für die Nacht.
Sie verlangt umgerechnet 15 Euro –
der Australier will aber nur die Hälfte
zahlen. Als der Australier seine Hand
in den Schritt des Ladyboy schiebt,
schlendert ein älterer hagerer blonder
Mann an ihm vorbei, die Haare zu
einer Igelfrisur geföhnt. Es ist John R.,
jener Amerikaner, der die Schwestern
Jenny Rose und Jamaica missbraucht
haben soll.
Dupont legt ein paar Peso-Scheine
auf den Tresen und eilt dem Mann
hinterher. Mit seinem Smartphone
filmt er, während er R. bis zu dessen
Wohnung folgt. Als ob er seinen
Verfolger gespürt hätte, dreht sich R.
plötzlich um, sieht Dupont, reisst
die Augen auf und ruft erschrocken:
«What the fuck!» Dann verschwindet
er eilig im Foyer seines Apartment-
hauses.
International gesucht
Am nächsten Morgen übergibt Peter
Dupont die Zeugenaussagen der
Schwestern und die Fotos des Ver-
dächtigen an die philippinische Orga-
nisation PREDA, die unter Leitung des
irischen Paters Shay Cullen seit 43
Jahren missbrauchte Kinder aus Bor-
dellen rettet. Der Pater informiert die
amerikanische Botschaft und das
philippinische Kriminalamt. Zwei
Wochen später holen philippinische
Sozialarbeiter Jenny Rose und Jamai-
ca zu Hause ab und bringen sie in die
Obhut von PREDA. Nachdem Dupont
die amerikanische Botschaft verstän-
digt hat, schicken amerikanische
Behörden Ermittler auf die Philippi-
nen. Sie haben die Aussagen der Mäd-
chen bestätigt. R. taucht unter und
wird heute international gesucht.
«Mehr kann ich nicht tun», sagt Peter
Dupont und bucht einen Flug auf
die Insel Mindanao. Dort will er eine
Frau finden, die ihm ihre neunjährige
Tochter für Onlinesex im Internet
angeboten hat.
NZZ am Sonntag | 28. April 2019
Ausländer in einem Nachtklub. Die sexuellen Dienstleistungen sind vielfältig, auch wenn Prostitution auf den Philippinen offiziell verboten ist.

Peter Dupont unterwegs in Angeles City. Meist bringen ihn Informanten weiter, aber gelegentlich läuft ihm ein Täter auch über den Weg.

28. April 2019 | NZZ am Sonntag 11

 «Wenn die Schweizer Interessen haben, könnte ich diese vertreten»: Plenarsitzung im EU-Parlament in Strassburg.

«Sogar die Rechtsradikalen

mit dem Heben der Arme n
Tolle Entlöhnung, aber so viele Abstimmungen, dass man oft nicht
weiss, worum es geht. Der EU-Parlamentarier und Satiriker
Martin Sonneborn über den Alltag in Brüssel – und ein interessantes
Angebot an die Schweiz. Interview: Martin Helg

12 NZZ am Sonntag | 28. April 2019

 NZZ am Sonntag: Herr Sonneborn,

PATRICK SEEGER / EPA

soll die Schweiz der EU beitreten?
Martin Sonneborn: Wir Europäer
sind neidisch auf die Schweizer. Des-
wegen versuchen wir sie in unseren
Sumpf mit reinzuziehen. Ich rede
nicht so gerne gut über kleine Länder
an der Peripherie, aber verglichen
mit anderen Beitrittskandidaten sind
uns die Schweizer lieb und teuer. –
Hier, da wären wir. Das wäre unser
Gesprächsraum gewesen.

Er ist abgeschlossen?
Ich bin hier wahrscheinlich der
ranghöchste Vertreter des Parlaments
heute, aber der Raum ist geschlossen.
Nehmen wir uns da draussen eine
Sofagruppe und trinken Kaffee!

Wonach bemisst sich der Rang eines

EU-Abgeordneten?
Ach, es ist nur Freitag heute, und
freitags gibt es hier sehr wenige Abge-
ordnete. Ich bin am Donnerstag aus
Berlin gekommen und hatte Schwie-
rigkeiten, einen Wagen zu bekom-
men, weil alle in Richtung Flughafen
unterwegs waren.

Dabei wird Präsenz vergütet, wie Sie in

Ihrem Buch «Herr Sonneborn geht nach
Brüssel» schreiben.
Ja, im Moment mit 320 Euro am
Tag. Der Satz wird laufend angepasst.
Ich muss mich unbedingt nachher
noch elektronisch eintragen. Die
wichtigste Handlung des Tages.

Sie müssen für Ihren Lohn als Parla-

mentarier stempeln?
Nein, ich beziehe zusätzlich Tag-
gelder, rund 6400 Euro netto pro
Monat. Und dann habe ich einen Etat
von 25 000 Euro für Angestellte. Ich
unterhalte hier ein Büro. Wir bezahlen
Praktikanten 1000 oder 1500 Euro, je
nachdem, ob sie was zu tun haben
oder nicht. Ich habe einen depressi-
ven Redenschreiber eingestellt, ein
paar Freunde. Und dann habe ich
noch einen Etat von 40 000 oder
45 000 Euro für Veranstaltungen, für
Gimmicks, Sonnenbrillen mit meinem
Gesicht drauf oder T-Shirts, auf denen
steht «Jeder Mensch ist ein Politiker».
Und ich bekomme Spritgeld.

sagen, sie kämen

Noch teurer als Ihr Lohn soll der
monatliche Transfer des Parlaments
von Brüssel nach Strassburg sein.
Das hat mich auch überrascht. Ich
bin nach Brüssel gegangen, und dann

nicht nach»
haben wir gegoogelt und Strassburg
gefunden. Nach meinen Informatio-
nen kosten die Umzüge 180 Millionen
Franken pro Jahr, der CO2-Ausstoss
entspricht jenem von 15 000 Flügen
von London nach New York und
zurück. Die meisten Parlamentarier
wissen, dass das Irrsinn ist. Wissen
Sie, was Sie als Schweizer können? Sie
können sagen, dass Sie einen vierten
EU-Sitz haben wollen, wenn Sie
beitreten. Es gibt jetzt Luxemburg,
Strassburg und Brüssel. Wenn Sie nun
einen Parlamentssitz am Genfersee
fordern: Das wird die EU niemals

28. April 2019 | NZZ am Sonntag 13


machen. Und Sie können gesichts-
wahrend aus diesem Vertrag raus.
Was spricht gegen eine Schweizer EU-
Mitgliedschaft?
Mit meiner Beraterin diskutiere ich
immer heftig, ob Kleinheit oder Gross-
heit von Vorteil ist. Ein 500 Millionen
umfassender Verbund kann den Ame-
rikanern oder Chinesen mehr ent-
gegensetzen. Andererseits gibt es
Kleinstaaten, die flexibler reagieren
können und gut durchkommen. Sie
sind mit Ihrem Schurkenmodell
natürlich gut aufgestellt.
Schurkenmodell?!
Die Schweizer haben ein einfache-
res Wirtschaftskonzept als die EU, ein-
fach darum, weil Sie von Schurken-
staaten und Diktatoren Geld anneh-
men und ausserdem keine grosse
Armee bereithalten müssen.
Eine haltlose Pauschalbehauptung.
Was ich nicht verstehe: dass die
Schweizer nicht zur Empörung bereit
sind. Wir von «Titanic» haben mal auf
Einladung von Res Strehle das «Maga-
zin» des «Tages-Anzeigers» gestaltet.
Wir sind mit vier Leuten hingefahren
und haben das komplette Heft durch-
parodiert. Zuerst planten wir einen
Hitler-Titel, machten dann aber ein
Titelbild mit Sepp Blatter, dazu die
Schlagzeile: «Das gab’s noch nie, Sepp
Blatter nackt: Auf 16 Seiten zum Aus-
klappen.» Es ist extra noch ein «Tages-
themen»-Team an die Kioske in Zürich
gefahren, weil wir dachten, es würde
hinterher brennen in der Schweiz,
wenn der Schweizer sein «Tagi-Magi»
bekommt, und es ist nur Quatsch drin.
Was ist passiert?
Der Tamedia-Pförtner rief an und
sagte, bei ihm würden sechs Leute vor
der Tür stehen und sagen, bei ihnen
fehle was im Heft, die 16 Seiten seien
nicht drin. Oder da sei etwas anderes
gemeint gewesen. Sonst hat es absolut
keine Reaktion gegeben. Das hat mich
tief beeindruckt.
Was raten Sie uns Schweizern?
Ich würde mir die Eigenständigkeit
bewahren. Aber ich bin wohl der fal-
sche Ansprechpartner. Ich kann Ihnen
erklären, was das Schlechte ist an
Europa. Und ich kann Ihnen ein Ange-
bot machen. Ihr Aufnahmegerät läuft?
Ich hoffe es.
Wenn die Schweizer Interessen
haben, könnte ich diese treuhände-
risch im Parlament vertreten und
mich massiv dafür einsetzten. Wenn
es gut bezahlt ist.
Sie sitzen als einziger Vertreter Ihrer
Satire-Partei «Die Partei» seit fünf Jah-
ren in Brüssel. Warum?
Mein Résumé nach fünf Jahren EU-
14
Parlament ist banal: Das Konstrukt
funktioniert, ist aber mit den falschen
Leuten besetzt, nämlich zu konserva-
tiv. Ich sehe hier drei Aufgaben für
mich. Erstens Öffentlichkeit herzu-
stellen für die unseriösen Dinge in der
EU. Zweitens dicke, alte, weisse Män-
ner zu ärgern. Und drittens ab und zu
mal grosse Reden zu schwingen vor
halbleerem Plenum und Inhalte
durchblicken lassen. Ich habe nicht
die Absicht oder den Anspruch, hier
etwas zu verändern.
Sehen Sie sich als Aussenseiter?
Ich gehöre zum Abschaum des Par-
laments, den Fraktionslosen. Warum
wir als Aussätzige gelten, wurde mir
beim ersten Treffen der Fraktions-
losen schnell klar: Wer hier nicht
rechtsradikal war, ist bestenfalls ein
verrückter griechischer Kommunist.
Warum sind Sie keiner Fraktion bei-
getreten?
Ich hätte beitreten können bei den
Linken und den Grünen. Auch die
Liberalen hatten ein Interesse an uns.
Eine Fraktion muss nicht nur 25 Abge-
ordnete umfassen, sondern auch sie-
ben Mitgliedsstaaten repräsentieren
– nur so hat sie Anspruch auf zusätz-
liche knapp 20 Millionen Euro und
erweiterte Redezeit im Parlament. Die
europakritischen Fraktionen Front
national oder die EFDD von Nigel
Farage operieren hier am Minimum.
Da in beiden kein deutscher Parla-
mentarier vertreten war, stieg mein
Marktwert als Fraktionsretter auf
rund eine Million an.
Dennoch haben Sie allen Avancen
widerstanden?
Die Million ist noch nicht geboten
worden. Ausserdem fürchtete ich,
mich andernfalls für jeden Unsinn,
den wir im Parlament machen, recht-
fertigen zum müssen.
Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?
Die Abstimmungen sind in Strass-
burg konzentriert. Dort sieht mein Tag
so aus, dass ich ins Parlament gehe,
Kaffee trinke, herumsitze. Dann kom-
men Abgeordnete aus den Fraktionen
und erzählen mir, ob es irgendwo
knapp wird in den Abstimmungen
über heikle Themen. Wenn nicht,
gehe ich da hin und beantworte meine
Mails, während ich abwechselnd mit
Ja und Nein stimme.
Die Resultate sind Ihnen egal?
Es finden 240 Abstimmungen in 40
Minuten statt. Da weiss niemand,
worum es geht. Sogar die Rechtsradi-
kalen sagten, sie kämen mit dem
Heben der Arme nicht mehr nach,
obwohl sie gut trainierte Armhebe-
muskeln haben. Deshalb wechsle ich
ab. Bei schönem Wetter fange ich mit
Ja an, bei schlechtem mit Nein.
EPA
Martin
Sonneborn
Geboren 1965 in Göttin-
gen, studierte er Germa-
nistik und Politikwissen-
schaften, arbeitete für das
Satiremagazin «Eulenspie-
gel» und danach für «Tita-
nic», dessen Chefredaktor
er 2000 bis 2006 war.
Grosse Aufmerksamkeit
erregten sein Bestechungs-
fax an einen Fifa-Abgeord-
neten und Politikerpar-
odien an Wahlkampfveran-
staltungen. 2004 grün-
dete er die Protest- und
Satirepartei «Die Partei»,
für die er 2014 ins EU-Par-
lament einzog – und sich
jetzt der Neuwahl stellt.
Sonneborn ist mit einer
Armenierin verheiratet
und hat zwei Töchter.
Er lebt in Brüssel. (mah.)
Machen die andern das auch so?
Nein, die anderen haben Abstim-
mungslisten, dicke Packungen, die ein
wissenschaftlicher Apparat zusam-
menstellt. Da haben die den Finger
drin und stimmen ab. Wenn es bei
wichtigen Entscheidungen auf jede
Stimme ankommt, kann auch ich aus-
nahmsweise mit einem Nein begin-
nen, auch wenn das Wetter gut ist.
Haben Sie schon einmal den Ausschlag
gegeben?
Es gab diese E-Privacy-Abstim-
mung, die in den meisten Zeitungen
nicht thematisiert wird, da die Verlage
selber daran interessiert sind, Daten
auszuwerten. Ich sass gar nicht in
dem Ausschuss, konnte mich aber mit
einem schmierigen Geschäftsord-
nungstrick hineinmogeln und stell-
vertretend für einen deutschen
Rechtsradikalen eine Stimme abgeben
– die entscheidende: Die E-Privacy ist
durchs Parlament gegangen und wird
jetzt nur noch im EU-Rat blockiert.
Die Welt kennt Sie, seit Sie als «Tita-
nic»-Chef bei der Vergabe der WM
2006 einen Fifa-Delegierten mit einem
Bestechungsfax in Gewissensnöte
brachten. Haben Sie damals die WM-
Vergabe für Deutschland entschieden?
Rudi Völler hat sich später bedankt
bei den Jungs von «Titanic». Das Fax
versprach dem 78-jährigen Delegier-
ten Dempsey «German Sausages» und
andere Geschenke für den Fall, dass er
entgegen seinen politischen Verspre-
chungen für Deutschland stimmt. Ich
glaube, dass massiv Druck auf ihn
ausgeübt wurde und wir mit unserem
Fax noch den geringsten Einfluss hat-
ten. Er aber nahm das Fax als Beleg für
Bestechungsversuche und sagte:
«This finale fax broke my neck.»
Viel Beachtung bekam «Die Partei»
auch dafür, dass sie Geld verkaufte.
Was war da los?
In Deutschland ist die Parteien-
finanzierung extrem unseriös. Es wer-
den 140, 160 Millionen pro Jahr an die
Parteien ausgeschüttet, und diese
können ihren Anteil daraus erhöhen,
indem sie eigene Einnahmen vorwei-
sen – wobei egal ist, welche Ausgaben
diesen Einnahmen gegenüberstehen.
Die AfD war clever, sie kaufte Gold
und verkaufte es etwas teurer weiter.
Wir haben das mit Geld parodiert. Im
ersten Jahr verkauften wir 100 Euro
für 105 Euro. Im zweiten Jahr verkauf-
ten wir 100 Euro für 80 Euro, da haben
wir draufgezahlt. Aber wir merkten,
dass viele Leute Geld mögen und auch
bereit sind, unter Preis einzukaufen.
Hat sich die Aktion gelohnt?
Ja. Zum Schluss habe ich damit
gedroht, im nächsten Jahr 200-Euro-
Scheine zum Kilopreis zu verkaufen.
Daraufhin änderte der Bundestag die
NZZ am Sonntag | 28. April 2019
Parteienfinanzierung. Wir haben
Anlass zu einigen Gesetzesänderun­
gen auch im Wahlrecht gegeben. Ich
glaube, dafür schätzen uns die intelli­
genteren Wähler.
Wie gross ist eigentlich der politische
Einfluss des EU-Parlaments?
Gegen den EU-Rat mit den Staats­
präsidenten kann es praktisch nichts
beschliessen. Zudem ist sein Initiativ­
recht insofern beschnitten, als es den
Parlamentariern gar nicht möglich ist,
einen eigenen Gesetzesentwurf zu
verfassen. Sie können nur Fragen for­
mulieren und die Kommission, die
Exekutive, zwingen, sich mit der
Frage auseinanderzusetzen und dar­
aus einen Gesetzesentwurf abzuleiten
oder nicht. Aber es gibt auch den Fall,
wo Parlamentarier einen Kommissar
gebeten haben, einen Gesetzes­
entwurf zu machen, und er hat über­
haupt nicht reagiert. Das System ist
im Endeffekt auf einen Kompromiss
angelegt. Nur schade, dass es im
Moment so konservativ besetzt ist.
Woran zeigt sich das?
Kürzlich haben wir über einen
Bericht zum europäischen Seerecht
abgestimmt. Ich lese einen Satz dar­
aus vor: «Das europäische Parlament
anerkennt den Einsatz der verschie­
denen regierungsunabhängigen Orga­
nisationen an, die im Mittelmeer tätig
sind und versuchen, Menschenleben
zu retten und in Not geratenen Men­
schen humanitäre Hilfe zu leisten.»
Der Bericht hatte keine Wirkung, er
war lediglich eine moralische Rücken­
deckung für die Leute, die im Mittel­
meer Leben retten. Und er ging mit
312 zu 310 Stimmen durch. Wenn ich
mit Nein gestimmt hätte, wäre er
abgelehnt worden! Das hat mir
schlechte Laune gemacht. Deswegen
halte ich gerne Reden, in denen ich
erkläre, dass wir eine Mauer um
Europa gebaut haben, und dass wir
die Meinung vertreten, dass die EU
jährlich nicht mehr Menschen auf­
nehmen darf als das Mittelmeer.
Sie haben auch vorgeschlagen, analog
zu der legendären Bestimmung über
den Krümmungswinkel von Gemüse-
gurken die Krümmung von Gewehr-
läufen bei Exportwaffen zu regeln.
Ja, ich versuchte 40 Parlamentarier
für die Idee zu finden und die Kom­
mission zu bitten, sich damit ausein­
anderzusetzen, fand aber niemanden.
Wie würden Sie Ihre politische Methode
bezeichnen? Als Ironie?
Ich fürchte, auf so etwas läuft es
hinaus. Wir nennen es aber moderne
Turbopolitik. Wir vertreten zwar Posi­
tionen, arbeiten aber mit satirischen
Mitteln. Junge Leute sehen erst ein­
mal den Witz und das lustige Plakat
und beschäftigen sich dann auch zu
28. April 2019 | NZZ am Sonntag
einem Teil mit den Inhalten. So kann
man Öffentlichkeit erreichen.
Wie halten Sie es mit Lobbying?
Da läuft bei mir leider wenig. Nach
einem Versuch der Firma Huawei hat
mich so schnell keine weitere Firma
mehr angesprochen. Wenn es also
Schweizer gibt, die gerne in der EU
etwas unterbringen wollen, stehe ich
gerne zur Verfügung, täglich ab 11 Uhr.
Seit den Terroranschlägen vom
22. März 2016, die um 9 Uhr waren,
gehe ich aus Sicherheitsgründen nicht
vor 11 Uhr ins Parlament.
Sind Sie deswegen als der zweitfaulste
Parlamentarier ausgezeichnet worden?
Es gibt tatsächlich dieses Ranking,
da kriegt man Punkte, wenn man
Berichte verantwortet, Reden hält
und Anfragen an die Kommission
schickt. Ich ärgerte mich sehr, weil
ich dachte, der Faulste, das ist eine
Spitzenposition, die ich bekleiden
sollte! Ich bin Generalist. Klar könnte
ich mich auf ein Thema stürzen und
meine Mitarbeiter drei Jahre daran
arbeiten lassen. Die haben aber keinen
Bock dazu. Wenn man konservativ
wäre, könnte man sich hier hocharbei­
ten und Verantwortung übernehmen.
Die Konservativen stimmen immer
geschlossen ab, und alles, was irgend­
wie progressiv oder sozial gedacht ist,
hat da wenig Chancen.
Das klingt sehr fatalistisch.
Ich habe einmal mit den Grünen
gestimmt, als sie Stimmen brauchten.
Es ist frustrierend, wenn sie eine
engagierte Politik betreiben und dann
sehen, dass in ihrem Block zwei Leute
fehlen, weil sie nicht gekommen sind,
der Sozialdemokrat aus Italien ver­
schlafen hat oder schon zum Flugzeug
musste, und dann gehen dreissig
Abstimmungen, für die sie drei Jahre
gearbeitet haben, nacheinander
verloren. Da bin ich lieber ab und zu
assoziierter Mitstreiter und betreibe
die Politik, die mir am Herzen liegt
und Spass macht.
Ihr letztes Erfolgserlebnis?
Ich habe im Internet ein Abstim­
«Ich bin für eine
Verkleinerung der
EU, ich möchte
Ungarn, Polen und
Österreich
ausschliessen.»
mungsergebnis veröffentlicht. Es ging
um Artikel 13, der Plattformen ver­
pflichtet, Zensurmechanismen einzu­
richten, sogenannte Uploadfilter, die
die Freiheit im Internet massiv beein­
flussen – in Deutschland seit Wochen
das grösste Thema. Wir haben einfach
mal bei allen deutschen Abgeordne­
ten visualisiert, wie sie abgestimmt
haben. Das hat für rote Köpfe gesorgt
und war eines der meistgeteilten
Bilder im Land. Die Abgeordneten
beklagen sich, dass ihre Arbeit keine
Öffentlichkeit hat, und wenn man
dann die Öffentlichkeit verschafft, ist
ihnen das auch nicht recht.
Darf man das überhaupt?
Die Abstimmungsergebnisse im
Parlament sind alle im Internet
nachvollziehbar – allerdings auf kom­
plett unübersichtlichen Listen. Man
erkennt gar nicht, worum es über­
haupt geht. Mit so einer Visualisierung
verstehen die Leute es gleich. Leider
haben die EU-Mitgliedstaaten dem
Artikel 13 jetzt trotzdem zugestimmt.
Die EU steht für sogenannt «westliche»
Werte wie Menschenrechte und Demo-
kratie. Soll sie sich aus diesem Grund
ausdehnen?
Sie steht nicht in erster Linie für
diese Werte, sondern für eine Wirt­
schaftsform, die die Lebensverhält­
nisse der Leute in den Ländern, die
beitreten, nicht wesentlich verbessern
wird. Wir wissen, dass Ungarn und
Rumänien absolut korrupte Länder
sind und dass es einen Wissenstrans­
fer gibt zu den EU-Beitrittskandida­
ten, die als Nächstes aufgenommen
werden sollen. Es ist ein Wahnsinn,
wenn jetzt noch weitere Billiglohn­
länder in die EU kommen und sich
Korruptionstendenzen ausbreiten.
Und wenn ich sehe, was die Araber
auf dem Balkan investieren, um
den Islam da zu unterstützen, bin ich
schon gegen eine Vergrösserung
in dieser Richtung. Ich bin für eine
Verkleinerung der EU, ich möchte
Ungarn, Polen und Österreich
ausschliessen. Und Irland, wo
Apple einen Spitzensteuersatz von
0,05 Promille hat. Die Schweiz wür­
den wir in diesem Zusammenhang
dann doch gerne nehmen, zumal
als Nettozahlerin.
Also doch? Sie würden uns den Beitritt
empfehlen?
Wie Sie sehen, bin ich ambivalent.
Die Schweiz steht uns näher als die
ganzen Bergvölker auf dem Balkan.
Mit Ihren altertümlichen Vorstellun­
gen von Demokratie sind Sie in der EU
allerdings falsch, denn wir sind hier
eher für autoritäre Strukturen und
wirtschaftsorientiert. Basisdemokra­
tie und Volksabstimmungen, diesen
Quatsch können Sie sich abschmin­
ken, wenn Sie hier mitspielen wollen.
15
Teil 2 Älter werden ist nichts für Feiglinge, hat aber auch Vorteile. Zum Beispiel in
der Liebe. Männer werden umschwärmt, Frauen gelassener – und haben besseren
Sex. Wie geht Dating mit 50? Sechs Menschen erzählen. Von Regula Freuler

Flirten? Wie ging

16 NZZ am Sonntag | 28. April 2019

 eite
Die zw
ber t ät SERIE

Pu

das nochmal?

ILLUSTRATION: ANDREAS GEFE

28. April 2019 | NZZ am Sonntag 17

 I
m Märchen leben Eheleute
glücklich und zufrieden bis ans
Ende ihrer Tage. In der Wirk-
lichkeit kommt sehr oft das
Ende der Ehe zuerst – hierzu-
lande durchschnittlich 15 Jahre
nach dem Ja-Wort. Addiert man
diese Zahl zum üblichen Heiratsalter,
landet man bei der zweitgrössten
Gruppe von Singles: Menschen im
engeren Radius ihres 50. Geburtstags.
Diese Phase, die wir als Lebensmitte
verstehen, stürzt nicht wenige Betrof-
fene in Nachdenklichkeit: War es das
jetzt, oder kommt da noch etwas? Und
bei Menschen ohne Beziehung: War
es das jetzt, oder kommt da noch wer?
Und woher?
Die Liebe mag eine Konstante in der
Geschichte der Menschheit sein, kei-
neswegs aber konstant ist die Art und
Weise, wie aus einem Gefühl schliess-
lich eine Beziehung wird. Wer heute
um die 50 ist, kennt Anbandeln als
analoge Angelegenheit: Auf einer
Party vermeintlich zufällig stets zur
selben Zeit zum Kühlschrank gehen
wie diese hübsche Unbekannte. Beim
neuen Bürokollegen öfter als nötig
einen Stift ausleihen. Am Konzert mit
Blicken das Einverständnis für ein
erstes Gespräch einholen.
Seit Mitte der nuller Jahre hat sich
Dating ins Internet verlagert. Laut
einer Umfrage von Parship, der gröss-
ten Partnerbörse in der Schweiz, sind
inzwischen fast 30 Prozent jener
Beziehungen online entstanden, die
seit maximal 15 Jahre andauern.
Wie also geht Partnersuche in der
Lebensmitte? Sechs Frauen und Män-
ner zwischen 46 und 55 Jahren erzäh-
len. Zum Beispiel von ihrem Unbeha-
gen mit der Technologie.
Markus, 53: Es war ein Tsunami. Pro
Tag hatte ich zwischen 20 und 50
Nachrichten oder Likes. Das legte sich
nach einem Monat zum Glück wieder.
Schwierig fand ich die Gleichzeitigkeit,
wenn man mit 5 oder 6 Frauen parallel
im Austausch ist. Ich war gefühlsmässig
überfordert.
Graham, 50: Am Anfang bekommst
du einen Endorphin-Kick, wenn
jemand dein Profil anschaut, und einen
noch grösseren Kick, wenn dich jemand
liked. Ich bin selbst ja kein Ölgemälde,
aber wenn ich die Bilder anschaue, die
manche Leute von sich hochladen...
Und dann verwenden sie Wörter wie
«sapiosexual». Ich musste nachschla-
gen, um herauszufinden, was das ist.
Giulia, 53: Man nimmt Kontakt auf,
und dann sind die weg, so schnell
kannst du gar nicht gucken. Ich frage
mich, ob die online einfach ihren Jagd-
trieb ausleben und dann ist gut. Es feh-
len so viele wichtige Dinge: Ausstrah-
lung, Mimik, Bewegung, das Lachen.
Sandra, 55: Einerseits war ich auf
Bestätigung aus, die man online wohl
schneller bekommen kann als im realen
Alltag, andererseits fühlte ich keines-
wegs das Bedürfnis, so schnell wieder
einen Mann an meiner Seite zu haben.
Dominik, 46: Mir missfällt dieses
Swipen, rechts hallo, links tschüss. Es
18
gibt mir Macht über einen Menschen,
die mir nicht zusteht. Als wäre ich Nero
im alten Rom und entschiede mit dem
Daumen über Leben oder Tod. Irgend-
etwas fehlt mir einfach. Es muss etwas
«passieren» zwischen mir und einer
Frau. Das spüre ich online nicht. Es
macht einfach nicht «klick».
Sophie, 48: Ich fand die Vorschläge
der Dating-App voll Horror. Es hat ein-
fach keinen Reiz und keinen Charme.
Das erste Date fände ich unattraktiv.
Auch mich als Frau fände ich unattrak-
tiv auf einem solchen Portal.
Das 250-jährige Ideal der romanti-
schen Liebe will mit Algorithmen
nicht so recht zusammenpassen.
Dabei wäre mehr Sinn für die Realität
angebracht, findet Barbara Becken-
bauer, Psychologin mit eigener Praxis
in Zürich und Expertin bei Parship.
«Natürlich ist ein ‹Wow!›-Gefühl etwas
Wunderbares, wenn man weiche Knie
bekommt und sich noch überhaupt
keine Gedanken macht, ob es mit die-
ser Person auch im Alltag funktionie-
ren könnte. In Romanen und Filmen
mag das klappen, im richtigen Leben
braucht es mehr für ein Happy End.»
In allen Bereichen vertrauen wir auf
Daten und Vernunft, so Beckenbauer,
«nur in der Liebe lassen wir uns vom
reinen Bauchgefühl steuern».
Und dann sind da noch die Beden-
ken wegen des Image. «Online-Dating
mag in diesem Alter noch scham-
besetzt sein, weil es früher als ‹Rest-
posten›-Ansammlung verspottet
wurde», sagt der Zürcher Einzel- und
Paartherapeut Raimondo Lettieri.
«Tatsache ist, dass das Angebot von
Menschen in mittleren Jahren rege
benutzt wird, vor allem die seriösen
Portale.» Der Grund dafür liegt nahe:
Die Anzahl klassischer Gelegenheiten,
jemanden kennenzulernen, nehmen
ab. Hochzeiten und Partys sind selten,
der Freundeskreis ist konstant, am
Arbeitsplatz kennt man auch schon
jeden, und im Ausgang fühlt man sich
altersmässig deplatziert.
Mehr Mühe macht den Midlife-Da-
tern allerdings die Anonymität, in
deren Schutz oft einmal geschummelt
wird. Das geht von optimierten Profi-
len bis zu Romance-Scammern, die
mit falschen Identitäten ihre Opfer
umgarnen und Geld erlisten.
Graham: Ich wurde um alles Mögliche
gebeten, von iTunes-Karten bis zu
5000 Dollar für die Operation einer
Tante. Und dann gibt es noch Frauen,
die einen auf ihre kostenpflichtige
Porno-Website locken wollen.
Dominik, 46: «Ich
will keine Beziehung
auf der Basis der
Vernunft, da schaffe
ich mir vorher ein
Haustier an.»
Dominik: Gefühlte 50 Prozent der
Frauen stammen aus der Ukraine und
suchen «den grosszügigen Gentleman».
Ich liess mich einmal darauf ein, um zu
sehen, wie weit sie gehen würde – falls
es denn eine Sie war. Als ich ein Face-
time-Gespräch wünschte, brach «sie»
den Kontakt ab.
Giulia: Einer, den ich online kennen-
lernte, entpuppte sich beim ersten Tref-
fen als 13 Jahre älter. Ausserdem hatte
er einige Gebrechen, so dass wir gar
nicht jene Hobbys hätten teilen kön-
nen, die mir wichtig sind. Ein anderer
Mann hat sich als 52 ausgegeben, war
aber schon 62. Das machen offenbar
viele, und sie nehmen alte Fotos.
Die grösste psychische Herausforde-
rung des Online-Datings, sagt Rai-
mondo Lettieri, sei die hohe Zahl der
Enttäuschungen. Obwohl es sich im
Grunde um eine mathematisch logi-
sche Folge handelt: Wer nur eine
Person begehrt, kann höchstens eine
Absage bekommen, wer 100 Men-
schen kontaktiert, sollte wirklich gut
mit Misserfolgen umgehen können.
Anders als bei der Liebe auf den
ersten Blick findet das Kennenlernen
im Internet von innen nach aussen
statt: Zuerst bekommt man Informa-
tionen, erst später den atmosphäri-
schen Abgleich. Wer nach Liebe sucht,
neigt zu Projektionen. «Oft bauen sich
beim Schreiben Phantasien auf, die
mit der Wirklichkeit kaum überein-
stimmen», sagt Therapeut Lettieri.
Freiheit des Single-Lebens
Das stellt auch Barbara Beckenbauer
fest. «Es gibt diese Erwartungs-
haltung, dass es klappen muss», sagt
Beckenbauer. «Doch nur weil die Aus-
wahl zahlenmässig gross ist, ist es
nicht selbstverständlich, jemanden zu
finden.» Schon gar nicht in kurzer
Zeit. Online-Dating braucht Geduld.
«Man darf aber nicht vergessen: In der
‹freien Wildbahn› würde es noch län-
ger dauern. Und am längsten dauert
es, wenn man gar nichts tut.»
Mit steigendem Alter wird es
schwieriger – vor allem für Frauen. So
ergab kürzlich eine Studie der Univer-
sität Michigan, bei der fast 200 000
Anfragen von Gratis-App-Nutzerin-
nen und -Nutzern analysiert wurden,
dass Frauen am meisten Zuschriften
im Alter von 18 bekommen und Män-
ner im Alter von 50. Über den realen
Erfolg sagt dieses Ergebnis jedoch
wenig aus, es widerspiegelt lediglich
die Präferenz. Die Studie zeigte näm-
lich auch, dass 25 Prozent beider
Geschlechter jemanden anschreiben,
der oder die deutlich begehrter ist als
sie selbst. Bei den Männern tut das die
überwiegende Mehrheit.
Ein realistischeres Bild ergibt die
Analyse von Plattformen, bei denen es
nicht um schnellen Sex, sondern um
ernsthafte Beziehungen geht. Bei Par-
ship sinkt die Zahl von Anfragen bei
Frauen erst mit 50. Aber auch hier
nehmen die Anfragen bei Männern
zwischen 50 und 59 noch zu. Grund-
sätzlich suchen die meisten Men-
NZZ am Sonntag | 28. April 2019
schen jemanden ungefähr im selben
Alter, Frauen sind nach oben offener,
Männer nach unten. Das scheint am
erfolgversprechendsten zu sein: Der
Altersunterschied bei der Eheschlies-
sung ist in der Schweiz seit 1950 stabil
gering, die Männer sind im Schnitt gut
zwei Jahre älter als die Frauen.
Barbara Beckenbauer ist überzeugt:
Wer Mühe hat, jemanden zu finden,
müsse Vorgehen und Haltung über-
denken. «Gerade im urbanen Umfeld
und dank sozialen Netzwerken kom-
men Einsamkeitsgefühle heute viel
seltener auf.» Wer Kinder hat, sei
emotional sowieso ein Stück weit ver-
sorgt – auch Männer. «Ich erlebe häu-
fig, dass Männer mit einem modernen
Vater-Verständnis das Gefühl haben,
nicht allem gerecht werden zu kön-
nen: Kind, Job, neue Partnerin», sagt
Raimondo Lettieri. «Dann geben sie
die neue Beziehung wieder auf.»
Unter diesen Umständen sinkt der
Druck, jemanden aktiv zu suchen,
während die Ansprüche an einen
neuen Partner steigen. «Frauen ver-
halten sich viel passiver als Männer»,
sagt Barbara Beckenbauer, «sie warten
darauf, erobert zu werden.» Das seien
sie sich aus jungen Jahren gewohnt.
Bei Schweizer Frauen sei das beson-
ders ausgeprägt, dazu komme ein
überhöhter Perfektionismus, etwa
was die eigene Erscheinung angeht.
«In England oder in den USA sind die
Frauen viel selbstbewusster, unab-
hängig von ihrer Kleidergrösse.»
Beckenbauer räumt aber ein: In der
Schweiz finden viele Männer allzu
forsche Frauen abschreckend.
Giulia: Ich glaube, vorgaukeln zu müs-
sen, dass ich schwer zu bekommen sei.
Man muss Männer weiterhin Jäger sein
lassen, darf sie nicht bedrängen, ihnen
nicht hinterherrennen, selbst wenn
man sich sehr für sie interessiert.
Sandra: Ich habe viel mit Freundin-
nen unternommen, bin gereist, machte
Ferien mit den Kindern. Nie musste ich
abklären, ob es passt, ich hatte die volle
Freiheit in allen Entscheidungen.
Sophie: Klar habe ich manchmal
etwas Panik und denke: Werde ich noch
einen Mann finden, der richtig gut zu
mir passt? Das Single-Leben ist nicht
immer lustig, vor allem an Wochen-
enden, Feiertagen und in den Schul-
ferien. Aber mir geht es wirklich gut, ich
habe zwei tolle Söhne, viele Freunde, ein
sicheres Einkommen. Ich brauche nicht
«ums Verrecke» einen Mann, um mit
ihm alt zu werden, aber Gefahr laufe,
dass er mich an Ende doch nur nervt.
Dominik: Ich würde keine Beziehung
allein auf der Basis der Vernunft ein-
gehen, da würde ich mir vorher ein
Haustier anschaffen. Irgendwie para-
dox: Je älter, gestandener und geform-
ter man ist, desto mehr muss man sich
um eine neue Beziehung bemühen.
Dabei sollte doch jeder sich treu bleiben
und weder Ansprüche herunterschrau-
ben, noch Kompromisse eingehen.
Graham: Wenn ich hier in der
Schweiz keine Frau finden sollte, werde
ich eine andere App benutzen. Nicht
28. April 2019 | NZZ am Sonntag
Sophie, 48: «Früher
fand ich es peinlich,
mich beim Sex total
hinzugeben. Heute
kenne ich keine
Tabus mehr.»
für Prostituierte, aber zum Beispiel für
Thai-Girls. Man kann von hier aus mit
ihnen chatten und dann nach Thailand
fliegen und sie treffen. Das kann für
eine Nacht, einige Tage oder Wochen
sein. Es gibt auch welche, die einen
Ehemann suchen.
Trotz allem sind die sechs Männer
und Frauen, die von ihren Erfahrun-
gen berichteten, nicht etwa unglück-
lich – im Gegenteil. Sie erlebten diese
Zeit als bereichernd, aufregend, lehr-
reich, sagen sie.
Vor allem Frauen stellen eine deut-
liche Verbesserung ihrer Situation
fest. Das habe weniger individuelle als
gesellschaftliche Gründe, sagt Rai-
mondo Lettieri. «Es gab wohl kaum je
eine so grosse Veränderung der Vor-
stellung davon, was eine Ehefrau und
Mutter soll und darf, wie zwischen
den heute rund 50-jährigen Frauen
und der Generation ihrer Mütter.» Die
Bedürfnisse des Ichs sind näher ins
Zentrum gerückt. «Früher galt: Als
Mutter musst du zuerst für die Kinder
sorgen, dann für den Ehemann, für
die Eltern und Schwiegereltern und
zuallerletzt für dich», sagt Lettieri.
Es gab keine gleichwertigen Alternati-
ven im Erwerbsleben.
Liebe dich selbst
Heute stehen die Berufschancen für
Frauen so gut wie noch nie. Doch
sobald sie Mutter werden, stellt Let-
tieri fest, wird bei erschreckend vielen
von ihnen die altvertraute Leidens-
bereitschaft aktiviert. «Sie opfern ihre
Bedürfnisse und Visionen für eine
oberflächliche Familienharmonie. Das
reicht von der ökonomischen Maxi-
mierung – Stichwort: teure Kinder-
krippe – bis zu längst widerlegten Vor-
stellungen von Kindswohl.»
Die Folgen sind «dieses Desperate-
Housewife-Ding, bei dem man zwar
lächelt, aber innerlich kurz vor dem
Irrsinn steht», sowie sexuelle und
emotionale Distanzierung zwischen
dem Paar. Nach aussen mag das Fami-
lienidyll stimmen, doch die Bezie-
hung beginne «vom Fundament her
zu schimmeln», sagt Lettieri. Damit
will er nicht zur Scheidung raten.
«Aber die Frauen sollten früh den Mut
aufbringen, eine autonome Haltung
zu entwickeln – 15 Jahre später wer-
den sie es sowieso machen.»
Ein weiterer Grund für die Gelas-
senheit von Sophie, Dominik, Giulia,
Graham, Sandra und Marcel ist die
natürliche Persönlichkeitsentwick-
lung. «Je älter man ist, desto genauer
weiss man, was einem guttut und was
man will», sagt Barbara Beckenbauer.
«Dadurch wird zwar die Auswahl klei-
Nächste Woche
ner, aber grundsätzlich ist das positiv.
Man ist beruflich und finanziell unab-
hängiger als mit kleinen Kindern oder
Was mit
unserer
am Anfang einer Karriere.»
Psyche im
Sandra: Als ich mich vor ein paar
Monaten in meinen neuen Partner ver- mittleren
liebte, fühlte ich mich wieder wie ein Alter
Teenager – und tue es immer noch. Es
ist so aufregend und spannend, vor
geschieht
allem nach einer langen Beziehung, in
der man treu war. Da kommt jemand Werden Männer wei-
Neuer, und man denkt: «Oh Gott, jetzt cher und Frauen
hat man bald zusammen das erste Mal selbstbewusster in
Sex!» Verliebt zu sein, fühlt sich mit 55 der zweiten Lebens-
nicht weniger intensiv an als mit 20, 30 hälfte? Und wenn sich
oder 40. Dennoch ist es anders. Wir die Geschlechter
haben beide einen Rucksack. Es ist ein angleichen und besser
Verliebtsein mit dem Wissen, dass es verstehen, warum
ein Geschenk ist, wenn es einen nach kommt es in dieser
50 nochmals trifft. Vielleicht ist das die Phase besonders häu-
erwachsene Liebe. fig zu Trennungen?
Dominik: Man will etwas Neues aus- Alles über Gefühle und
probieren. Ich habe zwar kein Fitness- Bedürfnisse nach 45
Abo gelöst, aber ein Schlagzeug im Interview mit Pas-
gekauft. Es ist also nicht einfach eine qualina Perrig-Chiello,
traurige und verzweifelte Zeit, auch emeritierte Psycholo-
wenn manche Aussenstehende das so gieprofessorin der
sehen mögen, sondern für mich ist es Universität Bern.
eine schöne, genussvolle Zeit.
Markus: Mehrere Frauen haben mir
erzählt, dass sie sehr initiativ seien im
Ausgang und sexuell auf ihre Rechnung
kommen möchten. Frauen sind ebenso
«hungrig» wie wir Männer, nur dass sie
für schnellen Sex nicht bezahlen müs-
sen. Ich finde das cool. Ich brauche
keine Frau, die mir die Wäsche macht
und kocht. Mir ist wichtig, dass mich
jemand ab und zu infrage stellt und
ausruft: «He, was machst du denn?!»
Es heisst immer: «Die Guten sind schon
vergeben.» Das kann ich nicht bestäti-
gen. Es gibt so viele tolle Frauen da
draussen. Und selbst wenn es noch
nicht geklappt hat, ergaben sich
schöne Bekanntschaften.
Giulia: Ich bin ein bisschen der Typ
Frau, von der man sagt: «Die klam-
mert.» Aber ich habe schon sehr ge-
lernt, mehr Freiraum zu geben. Es
heisst: «Du musst dich selber lieben, um
einen anderen lieben zu können.» Ich
wusste ganz lange nicht, was das heisst,
sich selber zu lieben. Das habe ich erst
im letzten Jahr gelernt. Es hat enorm
viel verändert für mich. Wenn ich
damals schon die ganzen Erkenntnisse
von heute gehabt hätte, wäre es viel-
leicht nicht zu einer Trennung von
meinem Ex-Mann gekommen.
Sophie: Wenn ich jetzt im Ausgang
bin, dann bin ich nicht das Mami, die
Tochter und auch nicht die Frau von
jemandem, sondern einfach ich selbst.
Früher war ich prüder und fand es
peinlich, mich total meiner Lust und
dem Sex hinzugeben. Heute kenne ich
keine Tabus mehr. Im Grunde ist es
ein super Alter zum Daten! Vor allem
für Frauen.
Die Menschen, die hier nur mit Vornamen
genannt werden, heissen in Wirklichkeit
anders. Echt sind hingegen ihre Geschichten.
Lesen Sie sie vollständig auf NZZaS.ch
19
StefanBondelisDenkakrobatik
Aus falsch wird richtig Kreuzzahlrätsel
Auf zwei Arten kann die • Ein Streichholz ist In die leeren Felder eines Bei den Zahlen darf keine 0 Wie lauten in den beiden
folgende Rechnung umlegen und eines neu vorgegebenen Rasters ist zuvorderst stehen, und in folgenden Rastern die
stimmig gemacht werden: dazuzulegen. eine Ziffer von 0 bis 9 ein- sämtlichen Feldern muss Quadratzahlen?
• Zwei Streichhölzer sind zusetzen, in jedes Feld eine. eine Ziffer sein (keine
umzulegen. Waagrecht und senkrecht schwarzen Trennfelder). Quadratzahlen
ergeben sich dadurch waagrecht:
Zahlen. Die Ziffern sind nun Beispiel Lösung
so zu verteilen, dass sämt- senkrecht:
liche waagrechten und 8 1
senkrechten Zahlen Qua-
1 6 9
dratzahlen sind.
Sinnvoll ergänzen E R A L
Die Quadratzahlen
Quadratzahlen
waagrecht:
Ein Wort soll so in die Lücke bis 900 lauten: 81, 169
Quadratzahlen
senkrecht:
gesetzt werden, dass A T E N 81, 16, 9
waagrecht:
waagrecht jeweils 1 36 121 256 441 676
U N A U 4 49 144 289 484 729 senkrecht:
sinnvolle Begriffe zu
lesen sind. M O R S 9 64 169 324 529 784
16 81 196 361 576 841
A U T O
25 100 225 400 625 900

Roboter-Wettbewerb Lösung vom 21. 4. 2019

Wer ist der schnellste Robo-
ter? Mit Wettrennen sollen
die drei schnellsten gekürt
werden.
Die Rennen finden unter
folgenden Voraussetzungen
statt:
• 25 Roboter kämpfen um
einen der drei Podest-
plätze.
• Auf der Roboter-Renn-
bahn gibt es 5 Bahnen,
d.h. höchstens 5 Roboter
können an einem Rennen
teilnehmen.
• Es steht keine Stoppuhr
oder sonst ein Mess-
instrument zur Ver-
fügung. Allein die Reihen-
folge gibt Auskunft über
die Schnelligkeit eines
Roboters.
Logische Kniffelei: Wörter-Mastermind
Mithilfe von vorgegebenen
Wörtern kann ein neues
Wort hergeleitet werden:
Ein schwarzer Punkt zeigt
an, dass ein Buchstabe
richtig ist und sich auch
bereits an der gleichen
Stelle wie im Lösungswort
befindet.
I R E E U R O
E I S L O C H
T E E G N O M
Z A H L
• Keine zwei Roboter sind teilnimmt, sind fünf
gleich schnell. Rennen erforderlich, und Rote Das verborgene Alphabet
• Ein Roboter ist immer die einzelnen Ranglisten und
gleich schnell: Nimmt er könnten beispielsweise wie blaue Wegen VERLAG muss es eine
zweimal an einem Rennen folgt lauten: Eier direkte Verbindung zwischen V
und E sowie E und R geben. Nur
teil, ist er bei beiden ein Kreis für E erfüllt dies. VER-
Rennen genau gleich LAG verlangt eine direkte Ver-
schnell. 1. 2. 3. 4. 5.
bindung zwischen A–G und BA-
• Jeder Roboter kann ROCK eine zwischen B–A. Dies
beliebig oft zu einem 1. Rennen A B C D E ist nur möglich, wenn A in zwei-
Rennen aufgeboten ter Zeile an vierter Stelle ist.
2. Rennen F G H I J
werden. Analoge Überlegungen mit
• Es sollen möglichst 3. Rennen K L M N O
= 11 = 14 WOLF (W–O) und BAROCK (R–O)
wenige Rennen lassen nur einen Kreis für O zu.
Zahlenspiel
durchgeführt wer- 4. Rennen P Q R S T 5 2 6
22 19 Bei VERLAG sind die drei Buch-
den, um die drei 5. Rennen U V W X Y 7 8 3 staben R–L–A direkt nacheinan-
schnellsten Roboter 28 16 der. Dies lässt zwei Möglichkei-
zu bestimmen. 9 4 1 ten für L zu. Weil aber wegen
Wie viele weitere Rennen WOLF auch O und L direkt ver-
Nehmen wir an, die 25 sind mindestens erforder- bunden sein müssen, gibt es nur
Roboter sind mit den lich, um die drei schnells- noch ein Kreis für L.
Buchstaben A bis Y ten Roboter zu küren? Sinnvoll verteilen
bezeichnet. Wenn jeder Wegen BUNGALOW lassen sich
Roboter an einem Rennen H S H nun die beiden Buchstaben U
und N eindeutig zuweisen.
N O T A R
B R U S T QUARTAL mit der Verbindung
A S T E R
R–T–A lässt für T nur einen ein-
deutigen Platz zu. Analog kann
Ein weisser Punkt bedeutet, Die drei Lösungswörter, in wegen JOKER (O–K–E) der Buch-
dass wohl ein Buchstabe der richtigen Reihenfolge T E L
stabe K eindeutig zugeordnet
stimmt, aber noch nicht an gelesen, helfen einem werden; anschliessend wegen
der gleichen Position wie im Manager, seine Ziele zu WOLF der Buchstabe F.
gesuchten Wort ist. erreichen (ohne Hauch). Optimaler Weg
SPITZIG verlangt eine direkte
Der Weg auf der Aussenseite des Verbindung zwischen I und G
Fünfecks A – B – C – D – E – A sowie MIXER eine zwischen I
scheint mit einer Länge von und X. Dies lässt für I eindeutig
2+3+5+6+4=20 auf den ersten nur einen Kreis zu.
Blick der kürzeste zu sein.
R U I N E Es gibt jedoch noch einen kürze- Analoge Überlegungen mit den
ren Weg: A – D – E – C – B – A mit aufgeführten Wörtern führen
S T R O H einer Länge von 19. auf folgende Lösung:
Eine zweite Lösung ist der Weg
G R U N D in umgekehrter Reihenfolge S Z G N Q
A – B – C – E – D – A.
C H L O R P I T A U

O H N E D O L C H Zahlen verteilen
X M R L B
24–8×3+18:2 = 33
24+18×3-8:2 = 59 D E K O F

V H C J W

20 NZZ am Sonntag | 28. April 2019

JostStegrathsQuerdenker
Waagrecht (J und Y = I):
7 Nicht im Liegen: Mancher
pocht . . . und Ordnung.
11 Antwort auf die Frage,
was der Baum im Herbst
tut? Legitim!
13 Zwei Schiller-Themen
aus Ballade und Lied –
in einem Wort: schafft
Luftraum in anderem
Element.
17 Produkt einer Ziegen-
henne? Unliebsame
Geräuschkulisse!
18 Wer schon starke Böen
sät, wird sicher solche
ernten.
19 Distanziert kommunizie-
ren: Man hüte sich vor
ihrem Flug.
20 Sicher auch zwei Gründe,
warum Schmetterlinge
keine Hüte tragen.
22 Tragen anderen 25 waag-
recht im Namen, die mit
den echstra grossen
Augen.
25 Was . . . loben, das ist
getadelt (Sprichwort).
26 Im Ostalpenland:
westalpines Land.
27 E-Shopping bei
schwachem Netz:
der . . . muss erst noch . . .
28 Gerade so wie die Fabrik,
der Nagel, der Brand? 1 2 3 4 5 6
29 Male nicht das Objekt,
sondern seine . . .
(St. Mallarmé). 7 8 9 10 11 12
30 Langfristig wohl ein
Auslauf- bzw. -fahr-
13 14 15 16
modell.
Senkrecht: 17 18
1 Solange du sie nicht
um Hilfe bittest, sind
alle Menschen . . . 19 20 21
(chinesisches
Sprichwort). 22 23 24 25
2 Niemand bringt heut-
zutage mehr zu Papier
als er. 26 27 28
3 Ein Handeln im Sinne
halben Tauschhandels. 29 30
4 Schon das Verbot allein
ist ein starkes Reizmittel
der . . . (J. H. Pestalozzi).
5 Faseriger Auftakt zum
Sunshine-State.
6 Wer . . . sucht, findet nicht
immer das angenehme 12 Nicht nur landwirtschaft- nung im Rahmen der 24 Hohen Besuch von dort
(M. de Cervantes). liches Schwerstarbeiten. Instrumentalisierung. vermerkten Salomos
8 Torhüter sind oft auch 14 Erhofft, indem sich 21 Geht bei stichhaltiger Chronisten.
solche, Pokémonjäger das 12 senkrecht auch Unterstützung schon mal
sowieso. 15 senkrecht soll. zu Bruch.
9 Mit D jedoch bildet sie 15 Dass sich alle Mühen . . . 23 Des letzten Zeichens
einen anderen Teil des müssen, erhebt sich lateinischer Name: Die
Raumes. Selbstausbeuter zur des 30 waagrechts und
10 So wünschen wir uns alle Maxime. des 2 senkrechts ist das
– in jeder Beziehung. 16 Gegenstand der Vorspan- Nachfüllen.

Lösung vom 21. 4. 2019 Chiffre

Waagrecht: 7 TULPEN 10 EIER-
FARBE 13 DESSERT 15 Schoko-
ostereier: SUESSE 17 MARCO
Polo 18 SKATER aus Starke
19 TALK, engl. Gespräch
20 SCHUTE, ein Leichter 22 «geh
weg!», GEHWEG 24 Oster-HASE
25 Wilhelm TELL 26 Jean ALESI
27 UEBERTREIBEN 28 OSTER-
FEST 29 NEIDER («gelb/grün vor
Neid»)
Senkrecht: 1 JUDASKUSS 2 PESO
3 VERKETTEN 4 FRUEHLING
5 Bastel-Ei, BASTELEI 6 OBELIS-
KEN aus Liebkosen 8 LERCHE
9 NESTER aus Resten 11 ITA,
Italien, in vita, ital. Leben
12 FER, franz. Eisen, in Eifer
14 das, die SCHABEN 15 STELE
16 SAGEN 21 USER, (Hardware-)
Nutzer 22 Gitarrist Janick GERS
bei Iron Maiden, Fluss Gers
23 (Bienen-)WABE
Die Symbole einer fremden Schrift
stehen für die Buchstaben unseres
gewohnten Alphabets, gleiche Zei-
chen jeweils für gleiche Buchstaben.
Entschlüsseln Sie die Geheimschrift,
und entdecken Sie auf diese Weise
ein Zitat von Ovid.
Lösung vom 21. 4. 2019:
Will dir den Frühling zeigen,
der hundert Wunder hat.
Der Frühling ist waldeigen
und kommt nicht in die Stadt.

Lösung vom Sudokus

21. 4. 2019 In jedes leere 4 7 9 8 5 6 2 3 1 5 6 9 1 4 2 3 8 7
Feld ist eine Zahl
2 7 4 8 6 3 1 5 9 von 1 bis 9 so in 6 1 5 7 3 2 9 4 8 1 7 3 2 8 9 5 6 4
6 5 3 4 9 1 2 8 7 das Gitter ein-
9 1 8 2 7 5 4 6 3 zutragen, dass 8 3 2 4 9 1 5 7 6 8 3 2 7 9 1 4 5 6
7 3 9 6 1 4 5 2 8 jede Zahl genau
4 8 1 7 5 2
5 2 6 9 3 8
3 9 6
7 4 1
einmal in jeder
Zeile, in jeder
5 2 1 3 6 7 8 9 4 9 5 4 6 2 8 7 1 3
Spalte und in
3 4 5
8 9 2
1 8 6
3 4 7
9 7 2
6 1 5 jedem fett um- 7 6 8 9 1 4 3 2 5 3 4 1 8 6 7 9 2 5
randeten Teil-
1 6 7 5 2 9 8 3 4
gebiet vor- 9 4 3 5 2 8 1 6 7 6 2 7 5 3 4 1 9 8
2 4 7 6 9 5 3 8 1 kommt. Beim
1 6 5 4 8 3 7 9 2 ersten Sudoku
sind die Teil-
2 5 7 1 4 9 6 8 3 2 1 6 3 7 5 8 4 9
9 3 8 2 7 1 5 6 4
3 7 9 1 6 2 8 4 5
gebiete quadrati-
sche 3×3-Blöcke; 3 9 4 6 8 5 7 1 2 4 8 5 9 1 3 6 7 2
8 5 1 3 4 7 9 2 6
beim zweiten
4 2 6 8 5 9 1 7 3
sind diese un- 1 8 6 2 7 3 4 5 9 7 9 8 4 5 6 2 3 1
7 9 4 5 1 6 2 3 8
regelmässig.
6 1 3 7 2 8 4 5 9 Einfaches Sudoku Kniffliges Sudoku
5 8 2 9 3 4 6 1 7

28. April 2019 | NZZ am Sonntag 21

Justmarried
Nicole Märki und
Nils Schlegel
Nicole Märki, 33, und Nils
Schlegel, 28, haben am
6. April 2019 im Zürcher
Stadthaus geheiratet.
Die Braut wuchs in Rüfe-
nach (AG) auf. An der Uni
Zürich studierte Nicole
Psychologie; zurzeit ist sie
als Job-Coach für die Stel-
lennetz-Stiftung für
Arbeitsintegration in
Zürich tätig. Der Bräutigam
wurde in Goldach am
Bodensee gross. Nils stu-
dierte an der ETH Maschi-
nenbau und arbeitet als
Entwicklungsingenieur
beim Pumpenhersteller
Levitronix.
Im Sommer 2012 besucht
Nicole mit Corina und wei-
teren Freunden das Zürich
Openair. Zu später Stunde
stösst Raphi, ein Freund
von Corina, zur Gruppe.
Raphi hat seinen Kumpel
Nils im Schlepptau. Nils
und Nicole gefallen sich.
Und da Nicole zu diesem
Zeitpunkt bereits gut ange-
heitert ist, geht sie recht
offensiv vor, was sonst
nicht ihre Art ist. Nach drei
Monaten, seit Dezember
2012, sind die beiden offi-
ziell ein Paar, ein Jahr später
ziehen sie zusammen.
Letzten Sommer die
Japan-Reise. Nils möchte
mit Blick auf den berühm-
ten Vulkan Fuji um Nicoles
Hand anhalten. Leider ver-
sinkt die Region in diesen
Tagen aber in dichtem
Nebel. Dann ein vermeint-
lich guter Wetterbericht.
Nils bereitet seine Freun-
din darauf vor, am nächs-
ten Tag so früh wie mög-
lich (noch vor dem Früh-
stück) zu einem Bänkli mit
Panoramasicht zu spazie-
ren. So weit, so gut, doch
beim Morgenmuffel Nicole
braucht dies einiges an
Überredungskünsten.
Immerhin: Um halb sieben
pilgert sie schlaftrunken,
aber brav mit zum Aus-
sichtspunkt – wo die bei-
den statt des Vulkans aber
eine Nebelwand erwartet.
Als Nils die Schmuckscha-
tulle mit den Worten «Ich
22
habe hier noch etwas Klei-
nes» zückt, denkt Nicole,
es handle sich um einen
Schokoriegel. Erst als Nils
auf die Knie sinkt, ruft die
total überraschte Nicole:
«Ui nei!» Beim zweiten
Anlauf klappt es dann doch
noch, die Braut sagt Ja.
Zwei Monate später die
nächste schöne Nachricht:
Nachwuchs ist unterwegs!
Und da unser Paar von
Anfang an eine richtige
Familie sein möchte,
beschliesst man, noch vor
der Geburt zu heiraten.
Nach der Trauung fährt
die kleine Hochzeitsgesell-
schaft per Tram zu einer
Führung durch das Tram-
Museum, danach geht es
(wieder per Tram) zum
Abendessen in die «Turbi-
nenhalle». Und gestern
Samstag fand in Winter-
thur noch das gemütliche
Hochzeitsfest statt: Es
wurde grilliert, eine
Freundin der Braut buk die
Hochzeitstorte, ein Freund
des Bräutigams gab den DJ.
Morgen sind die Frischver-
mählten dann unterwegs
in ihre Flitterwochen in
Südtirol – und Ende Juli
soll ihr Baby zur Welt
kommen!
Nadia Rambaldi
und Jan-Erik
Ingenhoff
Nadia Rambaldi, 36, und
Jan-Erik Ingenhoff, 28,
haben am 29. März 2019
auf dem Zürcher Zivil-
standsamt geheiratet.
Die Braut wurde in
Gümligen bei Bern gross.
Nadia studierte an der Uni
Freiburg Medien und Kom-
munikation und ist als wis-
senschaftliche Mitarbeite-
rin in der Beratungsstelle
für Unfallverhütung (BFU)
in Bern tätig.
Nadia Rambaldi und Jan-Erik Ingenhoff.
Der Bräutigam mit
MIANDLA PHOTOGRAPHY
deutsch-schweizerisch-
norwegischen Wurzeln
wurde in Horgen am
Zürichsee gross. An der Uni
Zürich studierte Jan-Erik
Chemie, das Paar lebt in
Wabern bei Bern.
Am 29. Oktober 2017 um
zwei Uhr morgens begeg-
nen sich Jan-Erik und
Nadia an einer Electro-
Party in der «Amboss
Rampe» in Zürich. Nadia
kommt von der Bar und
hält zwei Flaschen Bier in
der Hand, als Jan-Erik sie
fragt, ob sie etwas trinken
möchte. Lachend deutet
Nadia auf die zwei Bier-
flaschen und läuft weiter
zur Tanzfläche. Jan-Erik
hinterher. Irgendwann
kommen die beiden dann
doch noch ins Gespräch
und tauschen Nummern.
Drei Wochen später das
erste Date im Zürcher
Restaurant Morgarten.
Schnell wird klar, «dass wir
«Ich habe hier noch etwas Freude aneinander hat-
Kleines»: Nicole Märki und ten», wie die Braut sagt,
Nils Schlegel. und schon bald sind die
beiden ein Paar.
Letzten Oktober wird
Nadia schwanger, am
Abend des 4. Dezember
hält Jan-Erik um ihre Hand
an. In Bern schlendern die
beiden durch den weih-
nachtlichen Sternenmarkt.
Etwas abseits der Menge
fragt Jan-Erik seine Freun-
din, ob sie seine Frau wer-
Sie heiraten bald? den wolle. Nadia will. Die
Dann melden Sie beiden beschliessen also
sich bei uns! eine Familie zu gründen.
zuza.speckert@nzz.ch Nach der Ziviltrauung
Tel. 076 446 01 99 wird das Brautpaar mit
einem Apéro auf dem Lin-
denhof überrascht, danach
gibt es eine Stadtrundfahrt
in E-Tuk-Tuks. Die neun-
zigminütige Tour startet
bei der «Amboss Rampe»,
wo alles begann, und führt
durch die wichtigsten
Stationen ihrer Liebe.
Anschliessend isst die
kleine Hochzeitsgesell-
schaft in der «Kantorei» im
Niederdorf zu Abend. Ende
Juni soll das Baby zur Welt
kommen, und exakt ein
Jahr später folgt dann noch
die kirchliche Trauung
samt Taufe in Bern.
Zuza Speckert
NZZ am Sonntag | 28. April 2019
Events
Der CEO von Stöckli Swiss Sports, Marc Gläser, beim
Nostalgie-Rennen.
Andreas Herren,
CEO Yoveo AG.
Rudolf Obrecht, CEO der
Pfister Arco Holding.
Stefan Linder, CEO Blausee Naturpark (vorne), und
André Lüthi, CEO Globetrotter.
28. April 2019 | NZZ am Sonntag
Von Zuza
Speckert
###BILDCREDIT
Roland Mägerle, Leiter Der Gastgeber und Kurdirektor von Arosa, Pascal Jenny, beim sogenannten
von SRF Sport. Gögel-Rennen.
CEO-Olympiade in Arosa
Den ersten Verletzten gab es bald
An einem sonnigen Samstag hiess es für einige unserer
vielbeschäftigten Wirtschaftsbosse: Einen Gang runter-
schalten, in die Berge fahren und Spass haben! In Arosa
fand die CEO-Olympiade statt; hier konnten die Männer
zur Abwechslung körperlich gegeneinander antreten. Das
war ungewohnt und hatte Folgen. Der erste Wettkämpfer
zog sich schon bald nach dem Start (beim Biathlon in
Schneeschuhen und anschliessendem Bogenschiessen)
eine Muskelzerrung zu. Dies tat dem Anlass allerdings
keinen Abbruch, die Schweizer Wirtschaftsgrössen waren
während des Gögel-Rennens, des Schnee-Boccias im
Arosa-Bärenland und des Nostalgie-Skirennens auf Holz- Bernhard Lachenmeier, CEO des Terminal-Supporters
skis allerbester Dinge. CCV Schweiz AG.
Roger Schnegg, Direktor Urs Lehmann, CEO Similasan (Homöopathie) und
von Swiss Olympic. Präsident des Schweizerischen Skiverbandes.
«Wie schön. Raus aus dem
Sitzungszimmer und ab
in die wunderbare Natur
von Arosa!»
André Lüthi
23
 SonntagnachmittaginderSchweiz

Klöntal (GL), 21. April 2019. (Samuel Trümpy)

Nächsten Sonntag
im Magazin «Stil»
Niños y tacos
16
Kleine Füsse, grosse Stadt
Wer sagt denn, Mexiko-Stadt sei nichts für
Unterwegs mit Kind in Mexiko-Stadt

einen Familien-Trip? Unsere Autorin ist mit

Kleinkind in die Mega-Metropole gereist

Bordeaux-Weine 2018
Master of Wine Philipp Schwander hat im
8
Master of Wine:
Philippe Schwander hat
den Bordeaux-Jahrgang
Bordelais exklusiv die Bordeaux-Weine
des letzten Jahres verköstigt. Die Liste
2018 getestet

NZZ am Sonntag
5. Mai 2019

Das Magazin «Stil» als wöchentliche Beilage in der «NZZ am Sonntag» gibt es am Kiosk oder bequem im Abonnement. Jetzt bestellen: abo.nzz.ch, leserservice@nzz.ch oder Telefon 044 258 10 00.

Impressum: Chefredaktion: Luzi Bernet (lzb.), Ressortleitung: Christoph Zürcher (cz.), Art Direction: Björn Vondras, Verlag: NZZ am Sonntag, Gesellschaft, Postfach, 8021 Zürich
 Anzeige
NZZ am Sonntag
28. April 2019 www.oris.ch
 Für uns muss Innovation
stets der Funktion folgen.
Ein Beispiel: Wir erhöhten die
Lünette um 2 mm, so konnten
wir den Griff verbessern.
Nur ein kleines bisschen.

Aber wenn einem Uhren

etwas bedeuten, macht ein
kleines bisschen eben sehr
viel aus.

Aquis Date Relief

 Spezial: Wohnen

5
Neues und altbewährtes
Design von der
Mailänder Möbelmesse

14
Bewegtes Chandigarh:
Wie sich die lokale
Bevölkerung die Planstadt
von Le Corbusier
zu eigen gemacht hat

Durchblick ab Seite 8
Design im öffentlichen Raum erfreut nicht nur das
Auge – sondern erleichtert auch das Leben
NZZ am Sonntag
28. April 2019
 NEU
1. NZZ-Golfreise 2019

SCHOTTLAND NZZ-REISEN EXKLUSIV

Schottlands beste Seiten
Die Reise führt Sie zu zwei der bekanntesten Golfdestinationen der
Welt, dem Gleneagles Golf Resort mit seinen drei 18-Loch-Meister-
schaftsplätzen sowie nach St. Andrews, der Wiege des Golfs.
Sie übernachten in zwei luxuriösen *****-Hotels und spielen
fünf 18-Loch-Runden, darunter den PGA Centenary Course sowie den
Kingsbarns Championship Links. Ergänzt wird die Reise mit interes-
santen Details zum schottischen Wetter durch Ihren Reiseleiter und
Meteo-Experten Peter Wick.
Termin: 01.09.–08.09.2019
Preis: Fr. 5590.– (Einzelzimmerzuschlag Fr. 2000.–)
Teilnehmer/innen: Min. 12, max. 16 Personen
Tag 1: Zürich–Edinburgh
Direktflug mit Edelweiss von Zürich nach Edinburgh, nach Ankunft
Transfer zum Gleneagles Golf Resort.
Tag 2: Gleneagles Golf Resort
18-Loch-Golfrunde auf dem PGA Centenary Course, welcher direkt
beim Gleneagles Golf Resort liegt und 2014 Austragungsort des Ryder
Cup war.
Tag 3: Gleneagles Golf Resort
18-Loch-Golfrunde auf dem Gleneagles Kings Course, danach Tour
durch die Tullibardine Whisky Distillery mit Degustation.
Tag 4: Gleneagles Golf Resort – St. Andrews
Transfer vom Gleneagles Golf Resort nach St. Andrews, Sightseeing-
Tour in St. Andrews mit Schloss und Kathedrale sowie Besuch des
Golfmuseums.
Tag 5: St. Andrews
18-Loch-Golfrunde auf dem St. Andrews Dukes Course.
Home of Golf Tour – Schottland von seiner besten Seite
• Reisebegleitung von Peter Wick, CEO Meteonews AG und begeisterter
Hobbygolfer
• 3 Übernachtungen im Gleneagles Golf Resort und 4 Übernachtungen im Old
Course Hotel St. Andrews
• 5 Golfrunden auf Spitzengolfplätzen
• Whisky-Distillery-Besuch
• Golfmuseumsbesuch in St. Andrews mit einem schottischen Golfprofi
IHRE BEGLEITUNG
PETER WICK
Peter Wick ist Gründer und CEO der Meteonews
AG, mit welcher er sich auf den Schweizer Wetter-
medienmarkt fokussiert und die er erfolgreich zum
Marktleader führte. Das Wetter in Schottland ist
berühmt wechselhaft, zuweilen auch sehr windig,
hat aber einen schlechteren Ruf, als es tatsächlich
ist. Neben dem Wettergeschäftsmann ist Peter
Wick unter anderem Mitinitiator des Golfplatzes Augwil beim Flughafen
Kloten und geniesst bei Gelegenheit das Golfspielen vor seiner Haustüre.
LEISTUNGEN
• Flug mit Edelweiss in der Economy-Klasse ab/bis Zürich (inkl. 23 kg Gepäck
und Golfbag)
• Schweizer Reisebegleitung durch Peter Wick
• Lokale Betreuung durch einen schottischen Golfprofi
• Transfers, Eintritte
• 5 Green Fees
• 7 Übernachtungen in luxuriösen Unterkünften inkl. Frühstück

Tag 6: St. Andrews

18-Loch-Golfrunde auf dem St. Andrews Castle Course.

Tag 7: St. Andrews

18-Loch-Golfrunde auf dem Kingsbarns Golf Links (8× British-Open-
Austragungsort).

Tag 8: Edinburgh – Zürich

Transfer zum Flughafen und Direktflug mit Edelweiss von Edinburgh
nach Zürich.

Anmeldung und Informationen:

reisen.nzz.ch reisen@nzz.ch 044 800 77 64

Organisierender Reiseveranstalter: Knecht Reisen AG

 WORT ZUM SONNTAG NZZ am Sonntag DREIFACH
28. April 2019
«Routine Den Entwürfen von Schweizer
Designern am diesjährigen Salone
ist der Tod von del Mobile in Mailand war nicht
nur die Herkunft gemein, sondern
guter Gestaltung; auch der Einsatz von Holz. (das.)

der Tod des

unerklärlichen
Etwas, das
eben da ist oder
nicht.»
Wolfgang Beinert, 58,
deutscher Grafiker Stilradar Ungewöhnlich, aber stimmig ist die
Verwendung von Holz bei Leuchten.
Leuchte «Parabole», von Dimitri Bähler für
Karimoku NS; karimoku-newstandard.jp

INHALTSVERZEICHNIS Design im öffentlichen Raum ist weit

Schweizer Design
mehr als ein bisschen Dekoration: Kirchen
Frédéric Dedelley begrüsst setzen seit Jahrhunderten darauf, und
es, wenn seine Entwürfe auf eine Art
und Weise genutzt werden, die auch das Beispiel der indischen Planstadt
er nicht beabsichtigt hat. Hart ins
Gericht geht er wiederum Chandigarh zeigt, welchen Einfluss
mit der Zürcher Event-Kultur.
Seite 8
die Gestaltung unserer Umgebung auf Mit der richtigen Technologie bleibt Holz
selbst bei geringer Materialstärke robust.

den Alltag haben kann. David Streiff Corti Sessel «Time», von Alfredo Häberli
für Alias; alias.design
«Open Embassy»
Seine Gäste lockt Benedikt Wechsler
schon mal mit einem Picknick auf die
Botschaftsresidenz in Kopenhagen.
Seite 13

Stadt der Moderne

1960 stellte Le Corbusier die
indische Planstadt Chandigarh
fertig. Die gestalterischen Qualitäten Eichenholz lässt sich hervorragend
der Bauten überzeugen bis mit Stahl und Linoleum kombinieren.
heute Bewohner wie Besucher. Beistelltisch «Relate», von Big-Game
Seite 14 für Muuto; muuto.com

Kolumnen FARBCODE
Chez Christina – Seite 20
Tafelrunde – Seite 20 Jeden Frühling dasselbe: Das
Weinkeller – Seite 21 Zurschaustellen von winterbleichen
Beinen in Shorts braucht stets etwas
Wanderung – Seite 22
Überwindung. Eine dankbare
Hat das Stil? – Seite 23 Hosenfarbe, die gut zu nobler Blässe
passt, wäre etwa warmes Flieder. (ijo.)
Shorts «Lillit», 189 Fr., von Raffaello
FOTOS COVER & STILRADAR: GUNNAR KNECHTEL, LORENZ CUGINI, PD

Designer Frédéric Dedelley Rossi; raffaello-rossi.de

IMPRESSUM
Chefredaktion: Luzi Bernet (lzb.)
Seite 8
Leitung Magazine: Nicole Althaus (na.)
Redaktionsleitung Lifestyle:
Kerstin Netsch (ker.)
Leitung «Stil»: Oliver Schmuki (ols.)
Art Direction: Claudio Gmür (clg.) (Leitung),
Jürg Sturzenegger (jst.)
Produktion: Daniela Salm
Konzept und Creative Direction:
Raphael Güller
Verlag: NZZ am Sonntag, Stil-Magazin,
Postfach, 8021 Zürich
E-Mail: vorname.nachname@nzz.ch

NZZ am Sonntag | 28. April 2019 5

 Der Serviettenring kam in Europa während der

SCHNICKSCHNACK
Biedermeierzeit in Gebrauch. Damals wie heute
hält er die Serviette in Form. Der Ring «Pera» (12 Fr.)
von Tauta Home ist verziert mit einer Birne, die
in Kolumbien aus den Blättern der Panamapalme
von Hand geflochten wird. (neg.) tauta-home.com

KOLLEKTION STILIKONE

Auftritt in
Ultra-Lila

S
Brillanz
tarke Farben sind derzeit in, Ring «Edwin», vergoldet,
nicht nur an Festanlässen, 259 Fr., von Molokai;
sondern auch im Alltag. molokai.me
Ein Garant für vielseitige Mode in
besonderen Tönen sind seit 2002
die Entwürfe von Dorothée Vogel.
Ihre jüngste Kollektion namens
«That’s It» bietet erneut eine
Palette an Kleidern, die zum
Tragen, Geniessen und Wohlfühlen
gedacht sind. Und wie immer Kühnheit
verzücken diese bereits von Sonnenbrille «Papillon»,
weitem mit tollen Farben oder Acetat, 340 Fr.,
plakativen Prints. Die Stoffe wie von Celine; celine.com
den Baumwoll-Jacquard mit
«DV»-Logo lässt Vogel eigens für
sich in Italien herstellen. Unser
Favorit ist der leichte Mantel
namens «Tacky» aus Doubleface-
Woll-Crêpe (Bild unten, 1500 Fr.) in
leuchtendem Ultra-Lila, der mit
Gürtel (120 Fr.) zur Hose (890 Fr.)
getragen wird oder als lässiges
Qualität
Kleid. (kid.) Schuh «Tilda», Kalbsleder,
350 Fr., von Risch;
risch-shoes.com

Joan Didion

J
oan Didion ist eine bewun-
derte Schriftstellerin und
Journalistin, eine Intellektu-
elle. Letzteres ist ein Prädikat, das
einen ähnlich bedrohlichen Ruf
geniesst wie dasjenige der Femi-
nistin. Frauen, die Männer auf
einer anderen Ebene als der
die «Vogue» noch «Harper’s
Bazaar» noch «L’Officiel».
Die heute 84-jährige Amerikane-
rin hatte in ihrem Leben fast alles,
und sie verlor in dessen Verlauf
auch viel: den Ehemann John
Dunne und ihre Adoptivtochter
Quintana, die nur 39 Jahre alt
und isst gesalzene Mandeln und
Suppen; sie raucht immer noch und
verschwendet kein Geld an die
Schönheitschirurgie. Warren Beatty
habe einst ein Auge auf die fragile
Autorin geworfen. Der gelernte
Schreiner Harrison Ford half zudem
beim Bau ihres Heims in Malibu
FOTOS: PIETER M. VAN HATTEM / GETTY IMAGES, PD

Showroom Dorothée Vogel, bis
30. Juni, Dufourstrasse 61, Zürich;
dorotheevogel.com
visuellen in den Schatten stellen,
machen sich seit je schwer ver-
dächtig. Und Intellektuelle,
Männer wie Frauen, foutieren sich
oftmals um Äusserlichkeiten, sie
haben Wesentlicheres im Kopf als
einen stilvollen Auftritt – das
Nobelpreis-Komitee studiert weder
wurde. Didions Neffe Griffin Dunne
drehte in der Folge den Netflix-
Dokumentarfilm «Joan Didion: The
Center Will Not Hold». Zur Premiere
2017 trug die Protagonistin eine
schwarze Oversized-Sonnenbrille
zum silberweissen Bob. Morgens
trinkt Didion eine eisgekühlte Coke
und zimmerte die Bücherregale
zurecht. «Er war der charisma-
tischste Schreiner, der mir je zu
Gesicht kam, und ich hätte nicht
überraschter sein können, als ich
erfuhr, dass aus ihm ein grosser
Filmstar geworden war», äusserte
sich Didion später. Jürg Zbinden

6 NZZ am Sonntag | 28. April 2019

 HOTELTIPP KLASSIKER HEIMSPIEL
Bei der Gestaltung seiner hand-
gefertigten Heimtextilien arbeitet
das Schweizer Label Zig Zag Zurich
mit Künstlern zusammen. Das
Ziel ist, Kunst für den Konsumenten
in Form von Textilien erlebbar zu
machen. Des Designs der in Europa

Sessel «Capitol Complex», von Pierre

Jeanneret, bei Cassina; cassina.com

Als Le Corbusier in den fünfziger

Jahren der indischen Planstadt
Chandigarh (siehe Seite 14) eine
Krone, Weil am Rhein (D) Gestalt gab, entwarfen er und sein
Cousin Pierre Jeanneret nicht nur
viele Gebäude, sondern auch das

D
ass der indische Architekt
Balkrishna Doshi (siehe
Sonja Hechler versteht es vorzüglich, das
auch Seite 19) kürzlich im
«Gasthaus zur Krone» unterkam,
bezüglich Design äusserst geschulten Auge
dürfte mehreren Umständen
geschuldet gewesen sein. Da wäre
zum einen die geografische Nähe
zum Vitra-Campus in Weil am
Rhein (knapp 5 km Luftlinie), wo
derzeit eine Ausstellung zum Werk
von Doshi läuft. Des Weiteren wird
er das Inventar, für das illustre
Namen wie Jean Prouvé, Charles
Eames, Minotti und Co. bürgen, zu
Gastgeberin
Persönlich
elterliche 17-Zimmer-Hotel mit einem
und wahnsinnig viel Charme zu führen.
★★★★★
Einrichtung
Hochkarätig
Im historischen Wirtshaus, aber auch im
Neubau von Osman Askari aus Beton,
Stahl und Glas sorgen unzählige Design-
Klassiker für Eleganz und Zeitlosigkeit.
Mobiliar dazu. Dieses wird heute
zu hohen Preisen auf Design-
messen gehandelt, aber auch von
lokalen Handwerkern unter die
Leute gebracht. Der Möbelher-
steller Cassina macht es mit seiner
«Hommage à Pierre Jeanneret» nun
aber auch für den (oberen) Mittel-
stand in Europa zugänglich. (das.)
ANZEIGE
«The Yellow Orange», Baumwolle, 149 Fr.,
von Catherine Lavoie, bei Zig Zag Zurich;
de.zigzagzurich.com
produzierten Decken etwa hat sich
die Kanadierin Catherine Lavoie
angenommen. lhre Arbeiten erinnern
wegen der einfachen Formen und der
Uni-Farben an Siebdruckkunst. (neg.)

schätzen gewusst haben – ebenso ★★★★★

wie die Gastfreundschaft der
Hoteldirektorin, die neben Design,
Kunst und Kultur auch eine feine
Küche und einen regional belieb-
ten, traditionellen Sonntagsbraten
serviert. (ols.)
Hauptstrasse 58, Weil am Rhein (D),
DZ ab etwa 155 Fr.; kroneweil.de
Kulinarik
Gutbürgerlich
Küchenchef Sebastian Urban kocht gerne
nach Themen und setzt auch auf das
Angebot des Markgräflerlands. Sonntags
gibt es den Braten von Roland Hechler.
★★★★★

DUFTNOTE

EdT «Replica: Whispers in the Library»,
136 Fr. (100 ml), von Maison Margiela,
exklusiv bei Marionnaud; marionnaud.ch
E
-Books mögen praktisch
sein, die Atmosphäre einer
Bibliothek können sie nicht
ersetzen. Das Team hinter den
«Replica»-Düften des franzö-
sischen Labels Maison Margiela,
dessen Mode- und Parfum-
kreationen immer an der Grenze
zur Kunst kratzen, erschuf ein
überraschend süsses Denkmal für
die nostalgischen Bücherzimmer: New!
La Garçonne
La Garçonne
Für dieses Unisex-Parfum wurde
der typische Geruch nach Wachs
Shop
und Papier in Pfeffer und Vanille
übersetzt. (rud.) On y va Zürich - Dings Zürich - Dings Chur - On y va Biel - onyva.ch

NZZ am Sonntag | 28. April 2019 7

8 NZZ am Sonntag | 28. April 2019
 DESIGN
Keine Angst vor
der Leere
Ob kleine Objekte oder öffentliche Einrichtungen, der
Schweizer Designer Frédéric Dedelley gestaltet leidenschaftlich gern.
Er weiss jedoch auch, wann man lieber etwas weglässt
statt hinzufügt – was ihm nicht nur bei Arbeiten in der Kirche hilft
Text: David Streiff Corti
S
eine Besonnenheit hat durchaus etwas
Pastorales, und auch sein Auftreten
würde einem klerikalen Würdenträger
gut zu Gesichte stehen. Zurückhaltend und
eloquent zugleich lauscht er mit wachem Blick
und wohlwollendem Interesse den Fragen
seines Gegenübers, um ebenso ruhig wie
überlegt zu antworten. Doch Frédéric Dedelley
zieht es nicht in die Kirche, weil er den Leuten
eine frohe Botschaft verkünden möchte oder
sein eigenes Seelenheil aus dem Gleichgewicht
geraten wäre. Auf die Kanzel steigt der Designer
höchstens, um zu kontrollieren, ob der Altar,
FOTOS: MARCEL KOCH
den er gestaltet hat, richtig im Raum steht.
Die Atmosphäre der Gotteshäuser allerdings
hatte es ihm bereits als Kind angetan, als er
NZZ am Sonntag | 28. April 2019
jeweils auf dem Rücksitz im Auto seines Vaters, Oben: Der Designer
eines Architekten, durch Südfrankreich fuhr Frédéric Dedelley
und nicht umhinkam, die eine oder andere in seinem Zürcher
Studio.
romanische Kirche zu besuchen, bevor sich die
Linke Seite: Bei der
Familie an den Strand legen durfte. Auch seine Kirche St. Pirminius
religiöse Erziehung, die er im katholischen in Pfungen (ZH) war
Elternhaus und später am von Jesuiten gegrün- Dedelley für das
deten Kollegium St. Michael in Freiburg als sehr Farbkonzept und die
weltoffen empfand, habe ihn sicherlich positiv Gestaltung der
geprägt, sagt der 55-jährige Designer: «Auch
liturgischen Möbel
wie etwa des Altars
wenn ich heute eher an spirituellen Inhalten
zuständig.
interessiert bin als an religiösen Ritualen.»
So schöpft Dedelley bei der Gestaltung von
Altären, Taufbecken, Kirchenbänken oder
Leuchtern, mit der ihn bereits mehrere Zürcher
Kirchen betraut haben, jeweils nicht nur aus
9
 Auferstehung eines
Gotteshauses:
Bei der vom
Architekturbüro
Fässler + Partner
sanierten Kirche
St. Judas Thaddäus
in Eglisau (ZH) hat
sich Dedelley um das
liturgische Design
gekümmert.

FOTOS: FRÉDÉRIC DEDELLEY

10 NZZ am Sonntag | 28. April 2019

seinem Wissen über religiöse Bauwerke oder
Erfahrungen im Umgang mit öffentlichen
Räumen, sondern er knüpft an ganz persönliche
Erinnerungen an. Das kommt seiner Arbeits­
weise, die ebenso analytisch wie assoziativ ist,
sehr entgegen.
NZZ am Sonntag: Soeben wurde die Kirche
St. Judas Thaddäus in Eglisau eingeweiht, bei der
Sie sich ums «liturgische Design» gekümmert
haben. Was macht die gestalterische Arbeit an
einem Gotteshaus besonders interessant?
Frédéric Dedelley: Die Kombination aus
Architektur und Raum, Funktion und Symbolik,
aber auch aus alter und neuer Substanz. Bisher
hatte ich im Zusammenhang mit Kirchen immer
mit Renovationen zu tun. Ich ging jeweils von
einem historischen Bestand aus und habe
versucht, anhand der von mir entworfenen
liturgischen Möbel und Gegenstände einen
Dialog zwischen der Vergangenheit und der
Gegenwart zu finden. Das Mobiliar muss nicht
nur auf einer praktischen Ebene funktionieren,
sondern ist auch symbolisch beladen. Es dient
gewissen Ritualen und hat eine wichtige
emotionale Funktion.
Wenn es um Design und Emotionen geht, landet
man schnell bei der Verführung. Darf man das
in der Kirche?
Auf jeden Fall. Verführung tönt vielleicht
etwas frivol, aber wir versuchen, einen feier­
lichen Rahmen zu bilden für die Rituale der
Liturgie, was durchaus mit Verführung zu tun
hat. Man übersetzt quasi die Inhalte der Liturgie
mit künstlerischen Mitteln. Auf einmal werden
Materialien, Formen, aber auch die Licht­
führung zu Metaphern. Das war schon immer so
in der Kirchenarchitektur. Man denke nur an die
Kirchenfenster, die einst den Menschen, die
nicht lesen konnten, als Ersatz für Bücher
dienten. Jeder Gegenstand in einer Kirche
erzählt eine Geschichte, und am Design kann
man die Haltung einer Konfession ablesen.
Was sind heute die Bedürfnisse der Kirchen, die
man mit Design befriedigen kann?
Je nach Pfarrei und Raum bestehen sehr
unterschiedliche Bedürfnisse. Wenn ein solches
Projekt initiiert wird, hat es meistens mit einer
technischen Sanierung der Kirche zu tun. Aber
die Kirchgemeinde nutzt diese Gelegenheit oft
auch, um die Einrichtung an die heutigen
Bedürfnisse der Kirchgänger anzupassen. Diese
sind nicht immer dieselben. Teilweise möchte
man mehr Flexibilität in Bezug auf die Nutzung
des Chorraums. Ein Thema sind auch Altäre, die
man verschieben kann. Dies stellt aber einen
Konflikt mit den Dogmen der katholischen
Kirche dar, die sagt, dass der Altar ein Fixpunkt
ist, der verankert sein soll. Es gibt bei Kirchen
Spannungsfelder, die bei anderen Räumen so
nicht vorhanden sind.
Ist die Zusammenarbeit mit Ihren kirchlichen
Auftraggebern demnach umso anspruchsvoller?
NZZ am Sonntag | 28. April 2019
Nein, wie bei anderen Projekten geht es
darum, sich auf einen spezifischen Kontext
einzulassen und einen Weg zu finden, der
eigenständig ist, aber auch auf einen Konsens
stösst. Da man bei Projekten für die Kirche nicht
nur die Baukommission und die Kirchenpflege
überzeugen muss, sondern alles der Kirch­
gemeinde zur Abstimmung vorgelegt wird, sind
die Entscheidungsprozesse sehr breit abgestützt
und demokratisch, bottom-up statt top-down.
Kirchen unterliegen oft gestalterisch sehr
durchdachten Konzepten und waren historisch
gesehen gewissermassen die ersten Orte, die auf
Design im öffentlichen Raum gesetzt haben. Ist
dies auch heute noch zu spüren?
Auf jeden Fall. Die Kirchen haben im Laufe
der Jahrhunderte viel für die Kunst, das
Kunsthandwerk und das Design gemacht.
Oftmals bieten sie einen riesigen Schatz an
qualitativ hochstehenden Bauten und Gegen­
ständen. Noch heute spürt man einen ausge­
prägten Sinn für Qualität und das Bewusstsein,
dass diese auch Zeit braucht. Die Verantwort­
lichen der Kirchgemeinden haben die Gelassen­
heit, die Projekte langsam anzugehen und reifen
zu lassen. Zudem streben sie immer langfristige
Lösungen an, die hochwertig sind.
Insofern passt die Haltung seiner kirchlichen
Auftraggeber gut zu Frédéric Dedelley. Um
kurzlebige stilistische Trends und rein formale
Zeiterscheinungen hat sich der Freiburger, der
nach Studien an der Ecal und am Art Center
FRÉDÉRIC DEDELLEY
Der Freiburger Frédéric Dedelley
(*1964) hat nach seiner Ausbildung
zum Industriedesigner an der Ecole
cantonale d’Art de Lausanne (Ecal)
und am Art Center College of Design
1995 ein eigenes Designstudio
in Zürich eröffnet. Seither entwirft er
Möbel und Objekte für namhafte
Hersteller, setzt sich mit Szenografie
auseinander und gestaltet
Boutiquen und Kirchen, stellt aber
auch freie künstlerische Arbeiten
her. Dafür wurde er bereits mehrfach
ausgezeichnet. Daneben hatte
er von 2001 bis 2008 eine Professur
für Möbeldesign an der
Fachhochschule Nordwestschweiz
in Basel inne und unterrichtete
von 2009 bis 2016 Objektdesign an
der Hochschule Luzern.
fredericdedelley.ch
College of Design vor 25 Jahren nach Zürich zog
und hier sein eigenes Atelier gründete, noch nie
geschert – so, dass man selbst bei seinen älteren
Arbeiten nicht den Eindruck erhält, sie hätten
sich allmählich überlebt.
Eine unverwechselbare Ästhetik sucht man
bei ihm vergeblich, den «Dedelley» gibt es nicht,
zumindest ist er von blossem Auge nicht zu
erkennen. Dies liegt daran, dass es ihn nicht
interessiert, bei seinen Projekten – die von
Stühlen und Leuchten über Ausstellungsgestal­
tung bis zur Innenarchitektur reichen – auf eine
spezifische Formensprache zurückzugreifen.
Vielmehr steckt der «Dedelley» in der
Herangehensweise, die bei ihm sowohl von der
Beobachtung als auch von Erinnerungen
geprägt ist. Ein «intuitives Schöpfen aus im Kopf
gespeicherten Momenten und Bildern» nennt er
es und unterstützt diese Arbeitsweise mithilfe
seiner Fotografien, die ihm oft als Grundlage für
Projekte dienen, selbst wenn darauf nur eine
Winterlandschaft, ein Pflasterstein oder ein
verwachsener Ast zu erkennen ist. Diese
Mischung aus einem untrüglichen Gespür für
atmosphärische Qualitäten und einer analyti­
schen Klarheit hilft Dedelley auch bei seinen
Arbeiten für den öffentlichen Raum.
Sie haben neben Kirchen schon eine Flughafen-
Lounge und Mobiliar für öffentliche Pärke
gestaltet. Worauf ist bei solchen Projekten
besonders zu achten?
Bei öffentlichen Projekten sind oft so viele
verschiedene, auch gegensätzliche Interessen
vorhanden, dass man zuerst allen involvierten
Parteien gut zuhören muss, gleichzeitig aber
auch kritisch hinterfragen sollte, was man
gehört hat. Darauf basierend formuliert man die
Aufgabenstellung für sich nochmals neu und
versucht, eine gestalterische Lösung zu ent­
wickeln, die möglichst konsensfähig ist – aber
auch die Wirkung erzielt, die man anstrebt.
Wann merken Sie, dass ein öffentlicher Raum
seine Aufgaben erfüllt?
Ich freue mich, wenn etwas kohärent ist und
die Leute den Raum oder die Gegenstände darin
schätzen. Das spürt man sofort. Es ist eine
Befriedigung, zu sehen, dass die Leute richtig
damit umgehen.
Auf dem Pausenplatz meiner Tochter stehen die
«Evolution»-Stühle, die Sie für Burri Public
Elements entworfen haben. Allerdings werden
diese von den Kindern nicht als Sitzmöbel
verwendet, sondern als Karussell «missbraucht».
Stört Sie so etwas?
Überhaupt nicht. Ich finde es toll, wenn sich
die Leute diese Gegenstände aneignen und sie
auch anders nutzen, als ich beim Entwurf
gedacht hätte. Dies zeigt doch, dass ein
Gegenstand mehr kann als das, wofür man ihn
ursprünglich entwickelt hat. Wenn die Leute
beginnen, ihn unterschiedlich zu interpretieren,
bedeutet das, dass seine Funktionalität und
seine Lesart nicht so eingeschränkt sind.
11

Geht dabei nicht deren didaktische Funktion
verloren?
Natürlich gibt es eine Idee, wie etwas genutzt
werden sollte, und viele Konventionen, die mit
gewissen Orten, Einrichtungen oder Objekten
verbunden sind. Doch wird ein Gegenstand
unterschiedlich verstanden, macht ihn dies
doch viel reicher.
Wie empfinden Sie die Gestaltung des
öffentlichen Raums in Zürich?
Es gibt einen hohen Anspruch in der Stadt
Zürich, was öffentliche Räume betrifft. Ein
gelungenes Beispiel ist der Sechseläutenplatz,
aber es gibt auch weniger gelungene Beispiele.
Der Trend geht dahin, dass man die öffentlichen
Räume, vor allem Aussenräume, mit Einrich-
tungen besetzt oder bespielt, um es etwas
netter auszudrücken. Ich finde, dass man
dahingehend in den letzten Jahren tendenziell
eher zu viel als zu wenig gemacht hat. Das hat
auch mit der in Zürich herrschenden Event-
kultur zu tun. Man hat das Gefühl, jeder Platz
und jedes Seeufer müsse ein Erlebnis bieten.
Wie erklären Sie sich das?
Die Leute haben eine unheimliche Angst vor
der Leere. Das ist nichts Neues. Aber man spürt
besonders bei der Gestaltung öffentlicher
Räume, dass viele Leute nicht mit der Leere
12
umgehen können. Dabei hat sie unglaubliche
Qualitäten.
Können Sie uns ein Beispiel von gut gestalteter
Leere nennen?
Auf dem Vorplatz beim Landesmuseum
existiert eine gute Balance zwischen Leere und
Einrichtung. Er ist auch deshalb ein beliebter
Treffpunkt, weil alles darauf Sinn ergibt, vor
allem diese langen, geschwungenen Bänke, die
nicht einfach nur dekorativ sind, sondern über
ihre praktische Funktion hinaus dem Platz eine
sehr eigenständige Qualität verleihen. Im
Gegensatz dazu gibt es aber auch immer wieder
Plätze, bei denen man das Gefühl hat, die
Gestaltung bestehe aus einer reinen Füllmasse.
Ich ärgere mich beispielsweise sehr über den
Münsterplatz. Endlich hat man ihn von den
vielen Parkplätzen befreit und einen
wunderbaren, gefassten Raum erhalten. Ich
halte es deshalb wirklich nicht für notwendig,
ihn mit irgendwelchen temporären Kunstinstal-
lationen zu füllen. Das bringt überhaupt keine
zusätzliche Qualität.
Ansonsten ist Frédéric Dedelley der Kunst
gegenüber allerdings sehr positiv eingestellt.
Den Ausschlag, dass er selbst nicht Künstler
geworden sei, habe einst die Annahme gegeben,
die Kunst sei ein eher brotloses Gewerbe,
Links: Lounge von Frédéric
Dedelley für den Flughafen Genf.
Oben: Hocker «Evolution» von
Burri Public Elements.
Unten: Seine «Objets à fonction
indéterminée» sind im Rahmen
einer freien Arbeit entstanden.
während er als Designer bestimmt mehr Geld
verdienen würde. Was wahrscheinlich ein
grosser Irrtum gewesen sei, wie er heute
schmunzelnd betont. Doch ein leises Bedauern,
nach dem Vorkurs nicht auf die Kunst gesetzt zu
haben, ist bei ihm nach wie vor zu spüren.
Die Vorstellung, allein im Atelier zu stehen
und nur aus sich selbst zu schöpfen, reizt ihn
nämlich ungemein. Was mit ein Grund dafür sein
dürfte, weshalb er immer wieder freie künstleri-
sche Arbeiten realisiert. Dabei kann er Freiräume
ausloten, die ihm im klassischen Auftrags-
verhältnis eines Designers selten gewährt
werden und zu Resultaten führen, die sich nicht
immer an gängigen Objekttypologien
orientieren, mit einer speziellen Materialität
überraschen oder die Funktion eines Entwurfs
in ein ganz neues Licht rücken.
Es ist diese spielerische Lust, sich mit Ideen
FOTOS: LIONEL HENRIOD, FRÉDÉRIC DEDELLEY, HEINRICH HELFENSTEIN
auseinanderzusetzen, die Frédéric Dedelley
zum Design geführt hat. Hierbei kann er, der
als Kind leidenschaftlich gern mit Lego und
Cuisenaire-Stäbchen gespielt habe, sich ganz
seiner Phantasie hingeben. Der Moment, wenn
er an den Tisch sitze und beginne, Ideen zu
generieren, sei ein sehr euphorischer und
führe nicht selten zu einem Rauschzustand.
Die Angst vor dem leeren Skizzenblock kennt
Dedelley nicht – Leerräume sind für ihn
immer auch Freiräume.
NZZ am Sonntag | 28. April 2019

Design-Botschaft
Der Diplomat Benedikt Wechsler nutzt Design als
Kommunikationsmittel – und um Menschen auf dem Boden der
Schweizer Botschaft in Kopenhagen zusammenzubringen
D
as Protokoll und der steife Umgangston
scheinen hier so fern wie das Mittelmeer.
Jedenfalls ist es nicht ungewöhnlich,
dass sich auf der Wiese vor der Schweizer
Botschaft in Kopenhagen Menschen mit und
ohne Diplomatenpass zum Picknick treffen und
ihre Füsse in den kalten Öresund tauchen.
Möglich gemacht wird dies durch das Projekt
«Open Embassy», das in seinem Ansatz schon
fast sinnbildlich für Design im öffentlichen
Raum steht. Denn als Lockmittel für einen
Besuch seiner Residenz dienen dem Botschafter
Benedikt Wechsler die vielfältigen Spielarten
der Gestaltung – womit er auch die Affinität der
Dänen für gutes Design bedient.
Gestalterische Imagekampagne
Initiiert hat Wechsler die «Open Embassy» vor
gut vier Jahren mit der Idee, auf dem Boden
der Botschaft am Meer «einen kulturellen und
wirtschaftlichen Pier» zu schaffen, der als
Plattform für einen regen Austausch über
gestalterische, aber auch andere Themen
genutzt werden sollte. Dazu hat er Alfredo
Häberli ins Boot geholt und mit der Einrichtung
der Residenz betraut. Dessen gelungener Mix
aus Klassikern und zeitgenössischen Entwürfen
von Schweizer Gestaltern oder Möbelherstellern
zieht nach wie vor grosse Bewunderung auf
sich und hat schon so manche dänischen
Besucher dazu veranlasst, ihr Bild der Schweiz
zu revidieren. Die Zeitschrift «Monocle» lobte
Wechslers Initiative unlängst als ein leuchten-
des Beispiel für Nation Branding.
Doch mit einem schmucken Heim allein war
es noch nicht getan. Auf dem Fundament der
Einrichtung hat die Botschaft in den letzten
Jahren ein Programm entwickelt, bei dem die
Vielseitigkeit und die Qualität des Schweizer
FOTOS: ANDREAS MIKKEL, PD
Designschaffens anhand von Projekten mit
lokalen und Schweizer Unternehmen, Architek-
ten, Künstlern und Museen präsentiert und
öffentlich zugänglich gemacht wurden. Wechsler
NZZ am Sonntag | 28. April 2019
EVENT
Text: David Streiff Corti
Design-Picknick im Garten der Residenz.
Die Architekten Simon Frommenwiler (links) und
Bjarke Ingels (Mitte) mit Botschafter Benedikt Wechsler.
Das Gebäude der Schweizer Botschaft in Kopenhagen.
beschränkte sich dabei nicht auf klassische
Ausstellungen, sondern veranstaltete auch
einmal einen «Design Run» in Laufschuhen
der Schweizer Marke On.
Über den Tellerrand des Designs
Viel Gewicht legt Wechsler auf die Zusammen-
arbeit mit Schweizer Hochschulen, die regel-
mässig Workshops in Kopenhagen durchführen
und dank diplomatischer Hilfe dort schon im
renommierten Designmuseum Danmark
ausstellen durften. «Oft werden die politischen
Beziehungen, die Wirtschaft und die Kultur
gefördert, während die Förderung einer
wissenschaftlichen Zusammenarbeit eher am
Rande geschieht», sagt Wechsler.
Er selbst tut dies, indem er den Designbegriff
grosszügig auslegt und auch Themen wie Urban
Gardening, Gesundheit und Technologie damit
in Verbindung bringt. So sollte beispielsweise
bei einem Projekt der Zürcher Hochschule der
Künste anhand eines ABB-Roboters demons-
triert werden, wie die Produktion in Hochlohn-
ländern wie der Schweiz oder Dänemark
sichergestellt werden könnte. «Die vielfältigen
Verzweigungen des Designs sind interessant»,
sagt Wechsler, den es im Sommer als General-
konsul nach San Francisco zieht, wo er ein
besonderes Augenmerk auf die Tech-Diplomatie
legen wird. Sein designaffiner und pragmati-
scher Ansatz wird bestimmt auch im Silicon
Valley auf Anklang stossen.
Vorher erhält Wechsler jedoch noch einmal
die Gelegenheit, den Dänen zu beweisen, dass
die Schweiz mehr als Uhren und Schoggi zu
bieten hat. Im Rahmen der Veranstaltung
«3 Days of Design» präsentieren in der Residenz
unter anderem die Architekten Bjarke Ingels
und Simon Frommenwiler ihr «Puzzle House»,
das man «aus der Botschaft hinaus in die Welt
tragen kann», wie Wechsler sagt.
● «3 Days of Design», 23.–25. Mai, Schweizer
Botschaft, Kopenhagen; openembassy.dk
13
 REISEN

Klotzen
statt
kleckern

In den fünfziger Jahren entwarf Le Corbusier Indiens Stadt

der Zukunft. Chandigarh wird von seinen
Bewohnern geliebt und gelobt – den Namen des Schweizer
Architekten aber kennen nur wenige

Text: Patricia Engelhorn Fotos: Gunnar Knechtel

14 NZZ am Sonntag | 28. April 2019

Oben:
Ein Teil des Regierungszentrums
von Chandigarh. Der Capitol
Komplex von Le Corbusier wurde
2016 in die Liste des Unesco-
Weltkulturerbes aufgenommen.
NZZ am Sonntag | 28. April 2019
E
in sonniger Sonntag am See. Verliebte Paare, Familien mit
Kindern, junge und alte Menschen flanieren am begrünten Ufer
entlang. Die Stimmung ist friedlich und angenehm ruhig. Nur
auf dem Steg, an dem Tretboote in Schwanenform vermietet werden,
ist die Hölle los: Schuhe ausziehen, Schwimmweste anlegen, einstei-
gen. Die Plastikschwäne sind vor allem abends begehrt, man möchte
die sichelförmige Promenade, die geometrischen Konturen des Lake
Sports Complex und die Bergkette dahinter in der Dämmerung sehen.
Wer jetzt an ein Postkartenidyll in den Schweizer Alpen denkt, liegt
falsch. Der Sukhna-See befindet sich in Chandigarh, 250 Kilometer
nördlich von Delhi, und die Shivalik Hills gehören zu den Ausläufern
des Himalajas. Trotzdem ist die Gedankenverbindung zur Schweiz
nicht ganz falsch, denn Seeufer, Lake Sports Complex und eigentlich
ganz Chandigarh entstanden nach den Plänen von Charles-Edouard
Jeanneret-Gris, besser bekannt als Le Corbusier.
Der geschichtliche Hintergrund in Kurzform: Im August 1947
besiegelte das Ende der britischen Kolonialherrschaft die Teilung des
indischen Subkontinents in zwei Staaten, Indien und Pakistan. Die
Grenze verlief mitten durch den Bundesstaat Punjab, dessen ehema-
lige Hauptstadt Lahore nun in Pakistan lag. Der indische Teil Punjabs
brauchte einen neuen Verwaltungssitz, und Indiens damaliger
Premierminister Jawaharlal Nehru beschloss, die Gunst der Stunde zu
nutzen: Die neue Stadt sollte ein Symbol für Modernität werden,
unbeeinflusst von Traditionen und kolonialer Unterwerfung.
Le Corbusier zählte zu den berühmtesten Architekten seiner Zeit.
«Corbu war ein Genie, er war allen anderen in jeder Hinsicht voraus»,
sagt S.D.Sharma, Architekt der ersten Stunde im Chandigarh-Team.
«Chandigarh ist das grossartigste Experiment in der Geschichte der
Architektur.» Das mag stimmen. Le Corbusier entwarf den Masterplan
für eine 500 000-Einwohner-Stadt. Er gestaltete monumentale
Verwaltungsgebäude sowie einen Stadtgrundriss, der aus 46 Sektoren,
sieben Strassentypen, grosszügigen Grünanlagen, grauen Beton-
blöcken und 14 verschiedenen Wohnhausmodellen bestand.
Nirgends eine Kuh oder ein bettelndes Kind
Wer heute nach Chandigarh kommt, verliert leicht die Orientierung.
Welche Strasse? Welcher Sektor? Welcher Block? Alles sieht gleich aus
und nicht sehr indisch: Der Verkehr flutscht problemlos über mehr-
spurige Boulevards. Es gibt Velowege, Trottoirs und immergrüne
Mangobäume. Das Gras der Verkehrsinseln ist frisch gemäht, in der
Mitte blühen Blumen. Nirgendwo ist eine Kuh, ein bettelndes Kind
oder eine Müllhalde zu sehen.
Die Stadt wird nicht zufällig «City Beautiful» genannt. «Chandigarh
ist die beste Stadt in Indien», schwärmt ein Familienvater, der am
frühen Abend durch Sektor 17 schlendert. Die Nachfrage zu den
Gebäuden überrascht ihn: «Die Häuser? Die sind o.k.», sagt er und folgt
seinen Kindern, die einen beleuchteten Glacestand auf dem Neelam
Plaza ansteuern. Der Platz und die vierstöckigen Gebäude ringsum
sind überdimensional und aus grauem Beton, doch zwischen ihnen
wuselt das Leben. Ein Barbier hat seinen Arbeitsplatz unter einem
Baum aufgebaut, jeder Kunde wird eingeschäumt, rasiert, mit Rosenöl
massiert und von einer süsslichen Duftwolke umhüllt entlassen. Ein
paar Bäume weiter flackert der bläuliche Schein eines Gaskochers. Ein
Knabe rührt in einem Blechtopf, um ihn herum warten Kunden auf
einen Pappbecher Chai, einen nach Kardamom duftenden Tee.
15
 Rechts:
Freizeitsport Tretbootfahren.
Unten:
Das Gerichtsgebäude
im Capitol Komplex.
Rechts unten:
Modernismus trifft Tradition.

16
 Sektor 17 ist Chandigarhs Zentrum, und am Wochenende ist die
halbe Stadt hier unterwegs. Das hat sich nicht zufällig ergeben,
Le Corbusier wollte es so. «Le Corbusier hat unseren Lifestyle verän-
dert», erklärt Chef-Architekt Kapil Setia, der uns in einem administra-
tiven Betonbunker in Sektor 9 empfängt. «Wir wohnen gerne dicht
beieinander in organisch gewachsenen Strukturen mit öffentlichen
Bereichen, die wir teilen.» In Chandigarh sei jeder Quadratmeter
verplant und bestimmten Aktivitäten zugeordnet, erzählt Setia weiter.
Diese Förmlichkeit habe die Bewohner anfangs gestört. Inzwischen
hätten sie sich daran gewöhnt. «Unsere Kinder spielen jetzt eben nicht
vor der Haustür, sondern auf dem Spielplatz, und der nächste Markt ist
oft nur mit dem Auto zu erreichen», so Setia.
Vieles von dem, was ordentlich verplant war, wurde stillschweigend
korrigiert. Die Garküche am Strassenrand ist im Masterplan ebenso
wenig vorgesehen wie die vor Busbahnhof, Märkten oder Kinos
geparkten Velo-Rikschas. In Hinterhöfen wurden zusätzliche Zimmer
eingebaut, in hohen Räumen wurde eine Zwischen-Etage eingezogen.
«Was soll ich machen?», fragt Kapil Setia. «Chandigarhs Bevölkerung
ist auf 1,2 Millionen Menschen angewachsen. Ich möchte nicht, dass
sie auf der Strasse schlafen.»

Ein Zuviel an Beton?

Als architektonisches Glanzlicht der Stadt gilt der Capitol Komplex in
Sektor 1. Die Monumentalbauten des aus Oberstem Gerichtshof (High
Court), Zentralverwaltung (Secretariat) und Parlament (Assembly)
bestehenden Regierungsviertels zählen zum Unesco-Weltkulturerbe.
Nirgendwo ist Le Corbusiers Hang zum Grössenwahn deutlicher zu
sehen; allein das «Secretariat» ist 254 Meter lang und 42 Meter hoch,
bis zu 15 000 Menschen arbeiten dort. Aus der Ferne wirkt der Bau wie
ein sich durch Baumkronen pflügender Ozeandampfer.
Im militärisch abgesicherten Regierungsviertel verkauft ein Touris-
ten-Informationszentrum Tickets für geführte Spaziergänge. Die Guides
sind oft Studenten des Chandigarh College of Architecture. Aastha und
Navya, beide im letzten Jahr ihres Studiums, gehören zum Team.
«Mir ist aufgefallen, wie wenig die Bewohner von Chandigarh über
Le Corbusier wissen», sagt Navya, die aus Delhi kommt. Aashta, die aus
Chandigarh stammt, hat dafür eine Erklärung: «Bis vor kurzem wurde in
den Schulen kein Wort über ihn verloren. Erst seit 2015, als dessen
50. Todestag für Aufmerksamkeit sorgte, gibt es überhaupt Unterrichts-
stunden über Le Corbusiers Architektur.» Aashtas Eltern sind Architek-
ten, ihr war immer klar, was sie einmal tun würde: bauen. Wo? Egal.
Aber nicht in Chandigarh und nicht im Le-Corbusier-Stil. «Zu viel Beton.»
Dasselbe sagt auch Surinder Sawhney, ebenfalls ein Absolvent des
Chandigarh College of Architecture. Sawhney ist in Chandigarh
aufgewachsen, sein Vater war Polizeichef von Punjab – ein Posten, der
der Familie das Anrecht auf eine der modernistischen Villen gab, die in
Le Corbusiers Masterplan für hohe Beamte vorgesehen waren und
dann von seinem Cousin Pierre Jeanneret entworfen wurden, der
14 Jahre lang in Chandigarh lebte. Zusammen mit seinem Team schuf
er sämtliche Alltagsgebäude inklusive des Mobiliars dafür.
Die Sawhneys residierten im Haus, das Pierre Jeanneret selbst
bewohnt hatte. Der zweistöckige weisse Bungalow mit Salons im
Erdgeschoss und drei Schlafzimmern in der ersten Etage ist jetzt ein
Museum. «Keine Stadt ist perfekt, aber diese funktioniert», sagt
Surinder Sawhney und spult die Vorteile ab: Chandigarh hat die

NZZ am Sonntag | 28. April 2019 17

 Tipps für Chandigarh

sauberste Luft und die meisten Grünflächen aller indischen Gross-

städte, das höchste Durchschnittseinkommen des Landes, die nied-
rigste Kindersterblichkeit, so gut wie keine Arbeitslosigkeit, hervor-
ragende Krankenhäuser und Hochschulen. In Chandigarh fallen weder
Strom noch Wasser aus, die Stadt gilt als die reichste des Landes und
nach dem «Cross National Happiness Index» auch als die glücklichste.
Aber ja, zu viel Beton. «Beton ist für unser Klima nicht geeignet, er
platzt, wenn er zu heiss wird», erklärt Surinder Sawhney. Wie
Kapil Setia bemängelt auch er die Gebäude: zu gross, zu kommunika-
tionsfeindlich. «Es gibt alte Leute, die vereinsamen in ihren Behausun-
gen. In den vornehmen nördlichen Sektoren lebt manchmal ein
Mensch auf 400 Quadratmetern, das ist Platzverschwendung und
Blödsinn.» Andere Bewohner nutzen die Riesenwohnungen als eine
Art Ateliergemeinschaft. So der Journalist Vipin Pubby, den wir in
einem coffee house antreffen: «Bei uns arbeitet in einem Zimmer ein
Schneider, in zwei anderen hat eine Augenärztin ihre Praxis, und ich
nutze ein weiteres als Büro», erzählt Pubby.
Man kann Chandigarhs Strukturen nicht einfrieren, lautet seine
Theorie. Eine Stadt lebt und verändert sich. Gute Architektur verträgt
das, und Stillstand wäre nicht im Sinne von Le Corbusier.

AUF EINEN BLICK

Anreise
Swiss fliegt täglich von Zürich nach Delhi,
Tickets ab etwa 850 Fr. Von dort gibt es Inlandflüge nach Chandigarh,
beispielsweise mit Jet Airways, Tickets ab etwa 90 Franken.
swiss.com, jetairways.com
Restaurants
Informationen
1 Indian Coffee House
chandigarhtourism.gov.in Ein stimmungsvolles, über fünfzig Jahre altes
Café. Der Kaffee hier ist hervorragend, und
aus der Küche kommen sowohl Omeletts und
Burger als auch indische Spezialitäten.
Sektor 10 SCO 12, Sector 17E, Tel. +91 172 270 28 04
5
Sektor 4 2 Swagath
Sektor 1
Schickes Restaurant mit guter Fischküche.
6 Probieren sollte man Fish Patrani, einen
Sektor 16 Sektor 9 mit Koriander, Minze und Chili im Bananenblatt
3 gedünsteten Barsch.
4 Sektor 5
SCO 7, Madhya Marg, Sector 26; swagath.in
9 Sukhna
Lake
3 Sport Lake Komplex
10 Sektor 8 Eigentlich members only, aber als Ausländer
1
kommt man problemlos hinein. Die Tische stehen Oben:
Ma

Sektor 17 ath Sektor 6 direkt am Seeufer – und zum Curry-Hühnchen

rP Das «Open Hand
dh

a
ov
ya

Sa
r passt ein kühles Kingfisher-Bier. Monument»
Ma

8 Sector 1, beim Sukhna Lake, Tel. +91 172 274 06 24 von Le Corbusier.
rg

Sektor Sektor 7
18
Ganz oben:
Mitten in Chandigarhs
Shopping-Viertel.
7 Sektor 26
Hotel
Sektor 19
2 4 Taj Chandigarh
5500
50
00
00 m
Mit Abstand das beste Fünfsternehotel der
Stadt. Grosszügige, moderne und helle Zimmer
mit schönen Bädern, einer Dachterrasse mit
Pool, einem freundlichen und effizienten Service,
gute Restaurants. Zentral gelegen.
Block 9, Sector 17A, DZ ab 125 Fr.; tajhotels.com

18 NZZ am Sonntag | 28. April 2019

 Shopping
8 Anokhi
Schöner Laden für farbenprächtige Textilien und
Accessoires. Es gibt bunte Patchwork-Bettdecken,
schicke Tunikas und Schals.
SCF 5, Inner Market, Sector 7C; anokhi.com

Oben:
Eine Bananenverkäuferin
in Sector 17.
Rechts:
Das Haus von Le Corbusiers
Cousin Pierre Jeanneret,
gebaut in den fünfziger Jahren.
Kultur 9 Fabindia
Neben den typisch indischen Salwar Kameez
5 Nek Chand’s Rock Garden (Hosen-Tunika-Kombi) und Dupattas (Schals) gibt
Der Künstler Nek Chand hat aus ausrangierten es hier auch Natur-Kosmetik und hübsche
Baumaterialien eine labyrinthische Phantasiewelt Haus-Accessoires.
geformt. Sein Skulpturengarten gilt als SCO 50-51, Sector 17A; fabindia.com
beliebteste Touristenattraktion der Stadt.
Sector 1; nekchand.com 10 Capital Book Depot
Fundgrube für Bücher und Bildbände über die
6 Architecture Museum Stadt. Es gibt auch Reiseführer, Comics, Kochbücher
Fotos, Pläne, Landkarten und Briefe, aber auch und wunderschöne Agendas.
Modelle und Möbel, die die Entstehungsgeschichte SCO 2, Sector 17E, Tel. +91 172 270 22 60
der Stadt dokumentieren, sind hier zu sichten.
Jan Marg, Museum Complex, Sector 10C;
chdmuseum.gov.in
7 Le Corbusier Centre
Wo einst das Architektenteam um Le Corbusier
seine Büros hatte, ist ein hübsches Museum mit vielen
Fotos, Schriftstücken und Zeichnungen entstanden.
Madhya Marg, Sector 19B;
chandigarhtourism.gov.in/lcc

Vermittler zwischen den Kulturen

Balkrishna Doshi wirkte an den Plänen von Chandigarh mit. Das
Vitra Design Museum zeigt das Lebenswerk des indischen Architekten
Balkrishna Doshi, indischer Architekt,
Stadtplaner und Künstler, wurde 2018
mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet.
Dass das Vitra Design Museum nur ein
Jahr später bereits eine Retrospektive
über Doshis Gesamtwerk zeigt, ist der
Spürnase von Rolf Fehlbaum, Chairman
Emeritus von Vitra, zu verdanken, der
mit Doshi 2017 ins Gespräch kam. Zur
Eröffnung der Ausstellung «Balkrishna
Doshi. Architektur für den Menschen»
(bis 8. September 2019) Anfang Monat
reiste der 92-Jährige aus Indien an.
Doshi, geboren 1927 in Pune, stu-
dierte zunächst Kunst, später Architek-
tur und folgte, unzufrieden über das
Studium in Bombay, einem Freund nach
London. Dort, am 8. Congrès internatio-
nal d’architecture moderne (CIAM), kam
er mit einem Mitarbeiter von Le Corbu-
sier ins Gespräch, der ihm erzählte, dass
jener am Entwurf der Planstadt Chandi-
garh arbeite. Doshi soll unverblümt
gefragt haben: «Kann ich mitmachen?»
FOTOS: PATRICIA ENGELHORN, IWAN BAAN
Architekt Balkrishna Doshi.
Stark geprägt haben Doshis Arbeit die
beiden Vertreter der modernen Architek-
tur, Le Corbusier und Louis Kahn, die
beide in Indien gebaut haben, um dort die
«schöne neue Welt» nach der Unabhängig-
keit baulich zu manifestieren. Umgekehrt
tung; sie kehren so als formale Elemente
bei Kahn, Le Corbusier und Doshi wieder.
Im Vitra Design Museum ist ein
solcher Raum mit Tonnengewölbe – es
handelt sich um einen Teil von Doshis
eigenem Büro «Sangath» in Ahmedabad
(fertiggestellt 1980) – nachgebaut.
Solche begehbaren Installationen tragen
viel zur Atmosphäre der Ausstellung bei
und helfen Laien, die Werke zu lesen.
Architekten erfreuen sich an den vielen
Originalplänen, Modellen, Bildern und
der wunderschönen Publikation. Filme
sorgen für einen akustischen Geräusch-
pegel und schaffen weitere Zugänge.
Kinder wiederum spielen mit dem
Modell der Wohnsiedlung «Aranaya» in
Indore (1989), einem Modulhaus-Sys-
tem, das Slumbewohnern ein veritables
Heim ermöglicht, das selbst aus- und
weitergebaut werden kann und einen
Weg aus der Armut ermöglicht.
Doshis Architektur ist hochaktuell. Er
baute zeitlebens mit Bewusstsein für

Er konnte und sammelte von 1951 bis
1957 bei Le Corbusier in Paris und dann
als Vermittler zwischen den Kulturen vor
Ort in Chandigarh und Ahmedabad
praktische Erfahrung als Architekt.
prägte Doshi aber auch Le Corbusier:
Die Tonnengewölbe des Justiz- und
Gouverneurspalast in Chandigarh etwa sind
typische Elemente der lokalen Bautradi-
tion und dienen der natürlichen Belüf-
Ressourcen und dafür, dass der Mensch
seine Bauwerke bewohnt, belebt und
verändert – selbst wenn der Architekt
längst gegangen sein wird. Jenny Keller
design-museum.de

NZZ am Sonntag | 28. April 2019 19


CHEZ CHRISTINA
Tarte mit Barba di Frate
und Meeresfrüchten
Kochen mit
Christina Hubbeling
Zubereitung
Die Kuchenform mit Butter einfetten und mit
Mehl bestäuben. Den Blätterteig in die Form
legen, den Rand leicht andrücken und mit einer
Gabel Löcher in den Boden stechen. Den Teig
mit Hilfe von zurechtgeschnittenem Backpapier
und Hülsenfrüchten 10 Minuten blind backen.
Aus dem Ofen nehmen, Backpapier und
Hülsenfrüchte entfernen, die Kuchenform auf
ein Kuchengitter stellen.
Schalotten, Knoblauch, Fenchel, Lauch,
Rüebli und Barba di Frate in der Butter bei
mittlerer Hitze andünsten. Mit Noilly Prat,
Weisswein und Pernod ablöschen. Die Hitze
erhöhen, den Alkohol 30 Sekunden sprudelnd
einkochen, Hitze wieder mässigen. Tomaten,
Seeteufel, Lachs und Tintenfische beifügen. Mit
Kräutern, Salz und Pfeffer würzen.
Alles in ein grosses Küchensieb geben, die
Flüssigkeit auffangen. Flüssigkeit (Fond) um
etwa die Hälfte reduzieren, bis eine sirupartige
Konsistenz entsteht. Alle Zutaten für den Guss
miteinander verrühren, den Fond dazugeben.
Die Fisch-Gemüse-Füllung auf den Blätterteig-
boden verteilen. Den Guss darübergiessen. Die
Tarte rund 25 Minuten im auf 180 Grad vorge-
heizten Ofen backen.
20
Zutaten für 1 rundes Kuchenblech
(28 cm Durchmesser)
Zubereitung in 45 Minuten
Backzeit zirka 25 Minuten
1 runder Blätterteig (32 cm)
2 Schalotten, fein gehackt
1 Knoblauchzehe, klein gehackt
1 Fenchelknolle, gerüstet und gewürfelt
1 Lauchstange, geputzt und in feine Ringe
geschnitten
2 Rüebli, geschält und kleingewürfelt
150 g Barba di Frate, geputzt und gewaschen
50 g Butter
20 cl Noilly Prat
125 ml Weisswein
10 cl Pernod
170 g Cherrytomaten, geviertelt
150 g Seeteufelfilet, in Würfel geschnitten
200 g Lachsfilet, in Würfel geschnitten
250 g Baby-Tintenfische, geputzt und in
Streifen geschnitten
Frischer Dill und Kerbel, gewaschen und
gehackt
Salz, 1 Prise weisser Pfeffer
Für den Guss:
1 Becher (180 g) saurer Halbrahm
1,5 dl Vollrahm
1 Ei
2 EL Mehl
Salz, schwarzer Pfeffer, 2 Prisen Safranpulver
TAFELRUNDE
Katzen
in Säcken
Geniessen mit
Oliver Schmuki
P
atrick Schindler hat sich einiges vorge-
nommen: Mit dem Event «Menu 1–6», der
hauptsächlich an zwei Tagen, am 10. und
11. Mai, über die Bühne gehen wird, «soll das
kulinarische Zürich definitiv den ihm zustehen-
den Platz in der Welt der Gastronomie ein-
nehmen», wie es der Organisator formuliert.
Hier das ganze Programm zu erklären, würde
zu weit führen. Kurz gesagt, bereiten an diesen
Tagen in sechs Zürcher Restaurants jeweils ein
lokaler und ein internationaler Koch bzw. eine
Köchin, die Brasilianerin Helena Rizzo vom
«Maní» in Saõ Paolo, miteinander ein Menu zu.
Die Paarungen wurden ausgelost, und bei der
Zuteilung auf die Restaurants wurde darauf
geachtet, dass der Heimvorteil für die Zürcher
gering ausfällt: Kein Koch wird in seinem
eigenen Lokal kochen, Beni Landolt nicht im
«Kin», Carlos Navarro nicht im «Rechberg 1837».
Der Spass kostet 330 Franken pro Person per
Vorkasse, Getränke sind inbegriffen. Ausgeschenkt
werden europäische Weine, minimalinvasiv
zubereitet, wie das bei naturbelassenen Erzeug-
nissen heute so schön heisst. Schindler betont,
dass das Geld primär Reisespesen und Essen
decke, eine Gage erhalten die Kochenden keine.
Ich begrüsse den Versuch der Veranstalter,
Küchenkulturen zu vermählen und jungen
Talenten aus aller Welt eine Bühne zu bieten.
So lernt man die Gesichter hinter den Gerichten
kennen und erhält einen Einblick in fremde
kulinarische Welten. Auch dass Ambiente und
Service eher casual ausfallen (sprich: man darf
sich selbst das Glas füllen), finde ich richtig –
wie einfach es wiederum sein wird, den Gästen
zu erklären, dass nicht Budgetgründe der Grund
dafür sind, steht auf einem anderen Blatt.
Nenad Mlinarevic, der bei «Menu 1–6» auch
mitkocht, hat übrigens seine eigene neue
Prepay-Koch-Event-Reihe: «Auswärts». Das
6-Gang-Menu mit Apéro, Weinbegleitung, Kaffee
und Digestif an einer geheimen Location ist auf
zwölf Personen limitiert und kostet 450 Fran-
ken. Der Event von vergangener Woche musste
aber abgesagt werden. Der Termin sei schlecht
gewählt gewesen, heisst es von offizieller Seite.
menu1-6.com, auswaertsgehen.ch
NZZ am Sonntag | 28. April 2019
 WEINKELLER Das Tandem bietet in seinem Shop aus- und feinen Gerbstoffen. Dies beweist das im
schliesslich einheimische Tropfen an: Geheim- Holzfass gereifte Beispiel der Domaine Grillette,

Schweiz im tipps, Entdeckungen, aber auch Trouvaillen von

geläufigen Namen. Der Kunde hat die Möglich-
einem Aushängeschild der Drei-Seen-Region.
Es ist noch jugendlich und profitiert von einer

Abonnement
keit, ein Abonnement zu einem bestimmten
Thema zu bestellen. Zur Wahl stehen Chasselas,
Rot, Mixed oder Bio-Weine. Es gibt ein Zweier-
oder Dreier-Paket. Die selektionierten Crus
werden in einem «Bulletin viticole» vorgestellt.
Man kann Weine jedoch auch einzeln erwerben.
Da Gallay und Bettems aus Winzerfamilien
stammen, stossen sie mit ihrem Konzept auf
offene Ohren bei anderen Weingütern aus den
sechs Anbaugebieten der Schweiz.
Ich habe das Bio-Paket vom März (Preis: 68
Degustieren mit Fr.) getestet, das zwei Rotweine aus dem Wallis
weiteren Lagerung.
Dôle de Miège 2016, Weingut Güntert,
Miège VS: Der Klassiker aus dem Wallis besteht
in der Regel aus mehrheitlich Pinot noir und
Gamay. Der Wein ist trinkbereit, wird charakte-
risiert durch ein helles Rubinrot, eine frucht-
betonte Nase, einen leichten Körper mit guter
Säure, dezenten Tanninen sowie einem mittel-
langen Finale. Das unkomplizierte Gewächs mit
moderatem Alkoholgehalt passt perfekt zu
Walliser Trockenfleisch. René Güntert ist ein
Pionier in Sachen Bio. Bereits der Jahrgang 1989

Peter Keller und aus Neuenburg sowie einen Weissen aus

dem Kanton Luzern enthält:
wurde vom Knospenlabel «Bio Suisse» zertifi-
ziert. Der kleine Betrieb umfasst 3,5 Hektaren.
Souvignier Gris 2018, Weingut Sitenrain,

S
chweizer Weine liegen im Trend, zumal
die Qualität in den letzten Jahren massiv
gestiegen ist. Im Schatten der Prominenz
arbeiten viele weniger bekannte Winzer ebenso
sorgfältig. Ihnen fehlen aber Zeit und Mittel
für ein effizientes Marketing. Zudem verfügen
etliche Betriebe über keinen Online-Shop. In
diese Lücke springen will das Start-up-Unter-
nehmen Mes Vignerons, das kürzlich von den
Westschweizern Marielle Gallay und Valentin
Bettems gegründet wurde. Die Betriebswirtin
hatte vorher in der Uhren- und Schmuckindus-
trie gearbeitet. Er ist Winzer.
Meggen LU: Die weisse Piwi-Sorte ist resistent
gegen Mehltau und Botrytis. Der Wein präsen-
tiert sich mit einem hellen Gelb, aromatischen
Bouquet von blumigen Noten und gelben
Früchten, ist im Gaumen trocken, fruchtbetont,
frisch, relativ kräftig und endet mit einer
mittleren Länge. Gut gelungen. Sitenrain
fokussiert sich auf Pilz-resistente Rebsorten.
Galotta 2016, Domaine Grillette, Cressier NE:
Die Schweizer Neuzüchtung aus Gamay und
Ancellotta tritt wie Souvignier Gris noch eher Souvignier Gris 2018, Galotta 2016,
wenig in Erscheinung. Aus dieser Sorte ergeben Bio-Weingut Sitenrain, über Domaine Grillette, über
sich farbintensive Weine mit kraftvollem Körper mesvignerons.ch mesvignerons.ch

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FRAGE DER WOCHE

mäht Ihren Rasen lautlos, bis
Begriffsklärung 47% Gefälle und bei jedem
Wetter.

Sind ein Amarone und ein Amarone

della Valpolicella gleichwertig?
Wie lange ist der Wein lagerfähig?
Benno F., per E-Mail
Der Amarone – oder der Amarone della Valpoli-
cella, wie er mit vollständigem Namen heisst – ist
der berühmteste trockene italienische Wein aus
rosinierten Trauben. Das Problem ist nicht die
Bezeichnung, sondern die Tatsache, dass zu viel
dürftige und unausgewogene Beispiele auf dem
Markt erhältlich sind. Innert weniger Jahre stieg
der Amarone-Anteil an der gesamten Produktion
im Anbaugebiet Valpolicella von lediglich 8 auf
25 Prozent. Da wird schon einmal mittelmässiges
Traubengut verwendet. Die besondere Herstellung
verleiht den (qualitativ guten) Weinen eine
lange Haltbarkeit von zehn und mehr Jahren. Die
Kraft mit den präsenten Gerbstoffen und der CASH BACK
hohe Alkoholgehalt sind im Wesentlichen für das
CHF 300.-
Alterungspotenzial verantwortlich. (kep.) Wenn
Sie vom 01.03. bis 30.06. einen
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NZZ am Sonntag | 28. April 2019 21


OUTDOOR
Wanderbatzen
Sich von unnötigem Ballast zu
befreien, dieser Devise folgt man
optimalerweise auch beim
Wandern. Da diverse Hütten
aber keine Kartenzahlung
ermöglichen, lohnt es sich, stets
ein paar Noten und Münz
dabei zu haben. (ijo.)
Faltbörse mit Geldscheinfach, Leder,
154 Fr., von Manufactum;
manufactum.ch
AM WEGRAND
Wohnturm
Insektenhotels sind ja inzwischen in vielen
Gärten angekommen – aber dies ist ein
veritabler Insekten-Tower, und zusätzlich
gibt es noch ein paar Vogel-Studios. Er ist um
die drei Meter hoch und steht kurz vor
Waltersholz am Wegrand. Mehr Infos auf
lebensturm.ch
Die Karte zur Wanderung
finden Sie auf bellevue.nzz.ch
22
WANDERUNG
Aargauer
Gletscher-Tour
Unterwegs mit
Heinz Staffelbach
W
altersholz, ein Weiler mit einigen
Bauernhäusern auf fast 700 Metern,
liegt in der zweiten Hälfte dieser
Wanderung im Aargauischen und bietet eine
Aussicht, wie man sie von einem Mittelland-
hügel definitiv nicht erwarten würde. Unzählige
Alpengipfel reihen sich auf zwischen Säntis und
den Berner Hochalpen – eine Weite, von der
grössere Namen wie etwa Luzern schlicht nur
träumen können.
Zeitsprung! Stände man hier vor 40 000 Jah-
ren (damals etwa wanderten die ersten Men-
schen nach Europa ein), so böte sich einem ein
komplett anderes Bild: blanker Fels, auf diesem
einige Pionier-Sträucher und eine gigantische
Eismasse, die sich von den Alpen bis beinahe
vor die eigenen Füsse erstreckt. Gegen Osten,
im Wynetal, liegt das Ende einer Zunge des
Reussgletschers bei Gontenschwil. Auf der
westlichen Seite reicht eine weitere Eiszunge im
Ruedertal bis etwa Schiltwald, während sie im
Bei Waltersholz, hinten die Alpen mit Titlis und Pilatus.
heutigen Suhretal, noch weiter im Westen,
etwas weiter vorstösst, bis kurz vor Schöftland.
Heute ist davon nichts mehr zu sehen, und
Wind, Wetter und Zeit haben eine fein geglie-
derte Hügellandschaft hinterlassen, als hätte
ein göttlicher Schneider ein feines Seidentuch
in möglichst viele, kreuz und quer liegende
Falten geschoben – wunderbar für eine vielfäl-
tige Wanderung, auf der sich stets neue
Geländekammern abwechseln mit immer neuen
Ausblicken über Täler und Tälchen und über
Hügel und Berglein.
Die Geologie hat sonst noch für einige
spezielle Orte auf dieser etwa dreistündigen
Wanderung gesorgt. Kurz nach dem Start in
Schöftland liegt am Wegrand die Felsenklause.
Die aus dem Sandstein gehauene Nische wirkt
wie die zeremonielle Halle einer antiken Kultur.
Der Grund ist säkularer, hier wurde Sandstein
abgebaut, und ähnliche «Zimmer» oder Gruben
findet man an mehreren Orten in der Region.
Beim Weiler Hohliebe, etwa in der Mitte der
Tour, liegt ein gewaltiger Findling gleich neben
dem Weg. In Schwarzenberg bei Gontenschwil
schliesslich wurde 1640 eine Mineralwasser-
quelle entdeckt. Das Wasser wurde nach alten
Chroniken bis nach Basel, ins Elsass und ins
Waadtland verkauft. Die Abfüllung des
Gontenschwiler Mineralwassers wurde
1990 eingestellt.
Koordinaten
Start: Schöftland.
Route: Auf dem «Aargauer Aussichtsweg»
via Bööler Passhöchi und Waltersholz
nach Gontenschwil, etwa 11 km, 380 m Aufstieg,
320 m Abstieg, etwa 3 Std.
Verpflegung: Schöftland und Gontenschwil.
Karte: 1:25 000, Blatt 1109; 1:50 000, Blatt 224.
Infos: aargautourismus.ch
FOTOS: HEINZ STAFFELBACH, PD
NZZ am Sonntag | 28. April 2019
 Hat das
Stil?
Sie fragen
Henriette Kuhrt antwortet
FRAGE 1
Trinkgeld geben
Ich höre jetzt vermehrt, dass Menschen
eine Schale mit Münzen neben der Haustür
deponiert haben, um dem Paketboten
ein Trinkgeld zu geben. Ich habe dies bis jetzt
nicht getan – ist das stillos?
Laurenz P., Genf
L
ieber Laurenz, wenn Sie jetzt fragen, ob
man unterprivilegierten und vor allem
unterbezahlten Dienstleistern gegenüber
grosszügig sein soll, so kann meine Antwort
natürlich nur mit «Ja» ausfallen, und wir
können alle guten Gewissens zurück in unser
Bett kriechen und weiterschlafen. Doch auch
wenn die Sache eindeutig scheint, so ist sie
nicht unbedingt richtig. Denn erst bei Amazon
oder sonst wo Krempel zum günstigsten Preis
zu bestellen, von den schlechten Arbeits-
bedingungen im Lager und bei den Lieferungen
zu profitieren und sich dann mit seinem
1-Franken-Schälchen ein gutes Gewissen zu
erkaufen, erscheint mir ein fauler Kompromiss.
Ich möchte bestimmt niemanden davon
abhalten, Trinkgeld zu geben. Und ich sehe
auch ein, dass ein wenig Selbstbetrug dazu
gehört, wenn man den Alltag in unserer
Gesellschaft bewältigen möchte. Trotzdem
erscheint es mir effizienter, erst einmal die
eigenen Konsum- und Bestellgewohnheiten zu
überdenken, bevor man anfängt, gesellschafts-
politische Ungerechtigkeiten, von denen man
profitiert, mit kleinen Gaben zu übertünchen.
ILLUSTRATION: GISELA GOPPEL
NZZ am Sonntag | 28. April 2019
FRAGE 2
Silber putzen
Meine Gattin hat Jezler-Silberbesteck geerbt.
Üblicherweise übernehme ich den Abwasch,
doch als ich kürzlich keine Zeit hatte, hat sie
alles in den Geschirrspüler gepackt. Doch
gehört Silber in die Abwaschmaschine? Und
muss man diesem Besteck nicht mit einer
gewissen Sorgfalt und Würde begegnen und
es deshalb von Hand reinigen?
Stefan W., per E-Mail
I
ch verstehe Ihre meditative Freude, lieber
Stefan, mit der Sie das Besteck von Hand
abwaschen. Schliesslich ist Silberbesteck ein
besonderer Gegenstand, der nicht nur einen
hohen finanziellen, sondern auch einen
emotionalen Wert hat. Insofern bin ich da ganz
bei Ihnen. Allerdings gibt die Firma Jezler Ihrer
Frau recht: Sie sagt, dass ihre Produkte sehr
wohl in den Geschirrspüler dürfen. Auch die
Messer – sofern sie nach 1965 angefertigt
wurden. Allerdings gilt es die Vorgaben des
Maschinenherstellers zu beachten; manche
haben einen eigenen Spülgang für Silber und
Gläser. Benutzen Sie ausserdem keine zu starke
Geschirrspülmittel-Dosis, und denken Sie an
Klarspüler und Salz. Das Besteck gehört in den
Geschirrkorb und muss getrennt vom Stahl-
besteck gewaschen werden. Die Maschine sollte
zudem kurz nach dem Waschen geöffnet
werden, damit die aggressiven Dämpfe ent-
weichen können und das Silber nicht der
Tropenluft des Spülers ausgesetzt ist. Von Hand
nachreiben müssen Sie so oder so, denn nicht
der Geschirrspüler, sondern Schwefelgase von
Autos, Heizungen und Speisen tragen zur
Verfärbung bei. Und benutzen Sie das Besteck
so häufig wie möglich: Regelmässiger Gebrauch
ist die beste Pflege.
«Ist es stillos,
Paketboten
kein Trinkgeld
zu geben?»
FRAGE 3
Chinos tragen
Voller Staunen habe ich, 45, bemerkt,
dass Chinohosen für Frauen wieder
im Trend sind. Da kommen Erinnerungen
an die Schulzeit wieder hoch. Hat das
Stil, oder sehe ich damit sofort aus wie eine
fade Bürogestalt?
Katrin W., Luzern
J
a, Chinohosen feiern ein Comeback,
schliesslich leben wir in einer Phase, in der
bewusst unmodisches, unsexy oder
langweiliges Auftreten als besonders angesagt
gilt – gewissermassen der späte Triumph von
Jennifer Aniston. Und es gibt auch ausgefallene
Modelle mit weiten Beinen und Bügelfalten,
Utility-Taschen, eine Dreiviertellänge von
Prada – das sieht dann auch nicht nach Büro-
und Streber-Look aus, sondern nach Workwear
und komplizierter Mode mit Volumen. Doch
eigentlich können Sie sich den Budenzauber
auch sparen und gleich das Standardmodell
der US-Marke Dickies aus dem Regal ziehen: Der
sandfarbene Streber-Look ist ja Teil des
Charmes, mit dem Sie Ihrem Umfeld kommuni-
zieren, dass Sie als denkender Mensch keine
Zeit für modischen Schnickschnack haben und
Ihrem Stil seit dem Schulaustausch nach
Connecticut 1991 treu geblieben sind.
Ihre Fragen senden Sie bitte an:
hatdasstil@nzz.ch
23
 Regent presents
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