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ATLAS DER

ARBEIT
Daten und Fakten
über Jobs, Einkommen
und Beschäftigung
IMPRESSUM
Der ATLAS DER ARBEIT ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen
Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Hans-Böckler-Stiftung (HBS).

Inhaltliche Leitung: Daniel Haufler, Maike Rademaker (DGB), Dorothea Voss (HBS)

Redaktion: Daniel Haufler, Johannes Jakob, Maike Rademaker, Frank Zach

Projektmanagement: Dietmar Bartz


Art-Direktion und Herstellung: Ellen Stockmar

Textchefin: Elisabeth Schmidt-Landenberger


Dokumentation und Schlussredaktion: Infotext Berlin

Mit Originalbeiträgen von Wilhelm Adamy, Matthias Anbuhl, Gerhard Bäcker,


Reinhard Bispinck, Andreas Botsch, Michael Braun, Manuela Conte, Barbara Dribbusch,
Béla Galgóczi, Daniel Haufler, Ulrike Herrmann, Frank Hoffer, Markus Hofmann,
Johannes Jakob, Annette Jensen, Yvonne Lott, Frank Meissner, Mareike Richter, Ingo Schäfer,
Thomas Seifert, Jan Stern, Oliver Suchy, Anja Weusthoff, Edlira Xhafa, Frank Zach

Cover: Ellen Stockmar, Cover-Elemente: Ilya Rumyantsev/fotolia.com

Der ATLAS DER ARBEIT ist als ATLAS OF WORK auch auf Englisch erschienen.
Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht der beteiligten Organisationen wieder.

V. i. S. d. P.: Maike Rademaker, Deutscher Gewerkschaftsbund

1. Auflage, Mai 2018

Druck: Bonifatius GmbH Druck – Buch – Verlag, Paderborn


Klimaneutral gedruckt auf 100 % Recyclingpapier

Dieses Werk mit Ausnahme des Coverfotos steht unter der Creative-Commons-Lizenz
„Namensnennung –4.0 international“ (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter
https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine Zusammenfassung
(kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen.

Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn
der Urhebernachweis „Bartz/Stockmar, CC BY 4.0“ in der Nähe der Grafik steht, bei
Bearbeitungen „Bartz/Stockmar (M), CC BY 4.0“.

BESTELL- UND DOWNLOAD-ADRESSEN


Deutscher Gewerkschaftsbund, Henriette-Herz-Platz 2, 10178 Berlin
www.dgb.de/atlas-der-arbeit und www.dgb.de/atlas-of-work

Hans-Böckler-Stiftung, Hans-Böckler-Str. 39, 40476 Düsseldorf


www.boeckler.de/atlas-der-arbeit und www.boeckler.de/atlas-of-work
ATLAS DER
ARBEIT
Daten und Fakten
über Jobs, Einkommen
und Beschäftigung

2018
INHALT

02 IMPRESSUM 20 ATYPISCHE ARBEIT


ENDE DER NORMALITÄT
06 VORWORT Eigentlich sind flexible Arbeitsverhältnisse
zu begrüßen – aber nicht, wenn sie
08 16 KURZE LEKTIONEN unfreiwillig eingegangen werden,
ÜBER DIE WELT DER ARBEIT Niedriglöhne und Unsicherheit produzieren
und kein Weg zur Vollzeitstelle führt.
10 GESCHICHTE
VON DER PLAGE ZUR BERUFUNG 22 DEMOGRAFIE
Arbeit galt einst nur als Mühsal. Doch im WAS DIE ZUKUNFT BRINGT
Lauf der Zeit wurde sie positiver gesehen, Die beginnende Verknappung der Arbeits-
und die Gesellschaft wandelte sich zur kräfte muss niemandem Angst machen. Im
Arbeitsgesellschaft. Erwerbs-, Haus-, Care- Gegenteil: Reagieren Gesellschaft, Staat und
Arbeit – der Inhalt von „Arbeit“ erweitert sich. Wirtschaft angemessen, sind die Folgen positiv.

12 ARBEITSMARKT 24 ARBEITSZEIT
SCHNELLER WANDEL PER HALBTAGSJOB ZU
Zwischen Überstunden und UNBEZAHLTEN ÜBERSTUNDEN
Arbeitslosigkeit, Bereitschaftsdienst Viele Beschäftigte möchten ihre Arbeitszeiten
und Minijob – die Arbeitswelt selbst bestimmen. Auch die Arbeitgeber
wird vielfältiger, aber auch instabiler. fordern Flexibilität – im Eigeninteresse.

14 EINKOMMEN 26 JUGEND
IM KAMPF UM BRANCHEN- GUTE AUSBILDUNG IST ALLES
TARIFVERTRÄGE Die duale Berufsausbildung in Betrieb
Von steigenden Löhnen profitieren vor allem und Schule, einst der Garant für
Gutverdienende – auch tarifgebundene gute fachliche Kenntnisse und Leistungen,
Betriebe zahlen besser. Doch zugleich wächst steht unter Druck. Ihre Attraktivität
der Niedriglohnsektor. muss wieder steigen.

16 GEWERKSCHAFTEN 28 RENTE
VERHANDELN BIS ZUM STREIK RECHNUNG FÜRS LEBEN
Tarifpolitik und betriebliche Mitbestimmung – Das Rentenniveau sinkt, das Rentenalter
das sind in Deutschland die beiden steigt. Wer länger arbeitslos war oder
wichtigsten Elemente der Beziehungen nie besonders viel verdient hat, bekommt
zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. das bis zum Tod zu spüren.

18 ARBEITSLOSIGKEIT 30 FRAUEN
WEITERBILDUNG WÄRE WIRKSAM VIELE GRÜNDE FÜR DIE
Die Langzeitarbeitslosen und ihre ebenfalls UNGLEICHSTELLUNG
von Hartz IV abhängigen Familien Die Erwerbsbiografien von Frauen verlaufen
geraten wieder in den Fokus der Politik, meist deutlich ungünstiger als die der
weil sich für viele andere Arbeitslose bereits Männer. Das liegt auch – aber nicht nur –
die Perspektiven verbessern. an den Kindern und ihren Vätern.

4 ATLAS DER ARBEIT


32 FINANZKRISEN 46 FRANKREICH
KAPITALISMUS FORDERT KONSUM ZIEMLICH BESTE NACHBARN
Eine Wohlstandsgesellschaft bleibt nur Die französische Arbeitsmarktpolitik
solange stabil, wie die Einkommensverteilung orientiert sich an der deutschen. Doch sie
gerecht ist. Finanzspekulationen sind übersieht den Preis dafür – den großen
ein Hinweis dafür, dass die nächste Krise droht. deutschen Niedriglohnsektor.

34 DIGITALISIERUNG 48 ASIEN
WENN MASCHINEN STÜRMEN NEUE WEGE GESUCHT
Wie kann das „Arbeiten 4.0“ die Arbeits- Der Gipfel der Industrialisierung ist in China
bedingungen verbessern? Wie lässt sich und Indien bereits überschritten. In Asien
der digitale Strukturwandel steuern? Diese taugen die alten Entwicklungsmodelle nicht mehr.
Fragen sind derzeit noch nicht beantwortet.
50 STREIKRECHT
36 WELT DER ARBEIT DIE GEGNER DER ARBEITSKÄMPFE
DAS ZIEL: SICHERER LOHN Verweigerung des Streikrechtes und zunehmende
UND MENSCHENWÜRDIGES LEBEN Repressionen sind die beiden stärker werdenden
Nur ein Drittel der Weltbevölkerung Trends, gegen die sich Beschäftigte und
ist durch den Staat sozial abgesichert. ihre Gewerkschaften weltweit wehren.
Und global wird die Zahl der prekär
Beschäftigten immer noch steigen. 52 SKLAVEREI
MAXIMAL AUSGEBEUTET
38 EU-MIGRATION Gewaltsames Festhalten, Menschenhandel,
TÜR AUF FÜR DIE NACHBARN Arbeitslager, Verheiratung wider Willen –
Millionen von EU-Bürgerinnen und -Bürgern was unter „moderne Sklaverei“ zusammen-
nutzen die Freizügigkeit für Arbeitskräfte, gefasst wird, ist weltweit anzutreffen.
um in einem anderen Mitgliedsland zu
arbeiten. Diese Mobilisierung ist problematisch, 54 CARE-ARBEIT
wenn sie nur den Zielländern hilft. DIE GROSSE VERLAGERUNG
Ehemals unbezahlter Haushalts-, Sorge-
40 EU-ARBEITNEHMERRECHTE und Pflegeaufwand wird immer stärker
VIEL VERTRAUEN VERSPIELT in bezahlte Arbeit verwandelt. Aber
Die Europäische Union richtet erst langsam das soll den Staat möglichst wenig kosten.
ihren Blick auf die Rechte der Beschäftigten.
In der Eurokrise hat sich die Kommission 56 GRUNDEINKOMMEN
auf die Seite der harten Einsparer gestellt. VIELE BEDINGUNGEN IM LAND
DER FREIHEIT
42 EU-JUGEND Ist es wünschenswert, ist es finanzierbar?
RESIGNIERTE UND EMPÖRTE Bislang ist seriös nicht beantwortet, wie
Die jüngsten Wirtschaftskrisen in der EU Erwerbsarbeit und Einkommen
haben die Lage vieler Jugendlicher weiter gesellschaftsweit entkoppelt werden könnten.
verschlechtert. Aber sie haben begonnen,
sich zu wehren. 58 FAULHEIT
„FALLENDES MINIMUM“ AN ARBEIT
44 TEXTIL In Müßiggang zu leben war immer eine
ARMUT AM KLEIDERBÜGEL elitäre Idee. Heute geht es um Arbeitszeit-
Starker Druck auf die Industrie und verkürzung und Work-Life-Balance.
verantwortungsvoller Konsum können
dem menschenverachtenden 60 AUTORINNEN UND AUTOREN,
Konkurrenzkampf in der Textilindustrie QUELLEN VON DATEN, KARTEN
ein Ende bereiten. UND GRAFIKEN

ATLAS DER ARBEIT 5


VORWORT

LIEBE LESERINNEN entfernt sind, allen Beschäftigten


UND LESER, gute Rahmenbedingungen und gleiche
Rechte bei der Arbeit zu bieten.
So wird deutlich, wo und wie


rbeit ist für die meisten politisches Handeln notwendig ist.
Menschen mehr als nur der


Broterwerb. Arbeit definiert ie Gestaltung von Arbeits-
in der Regel den gesellschaftlichen bedingungen ist zudem seit
Status, nicht nur durch das Einkommen, Langem keine nationale
sondern durch den Beruf selbst. Angelegenheit mehr. Sie ist eine
Arbeiten zu können, bedeutet soziale Aufgabe internationaler politischer
Teilhabe und gesellschaftliche Steuerung. Die Konkurrenz unter
Integration. Überall in der Welt wird den Steuersystemen und die
über Arbeit und die damit verbundene Kapitalmärkte bestimmen längst
Wertschätzung debattiert. Investitionen wie Handelswege und
damit nationale Politik: Wenn
Arbeit ist keine Ware, deren Preis Großkonzerne gezieltes Steuerdumping
und Bedingungen willkürlich betreiben, wenn Kapitalmärkte in
festgelegt werden können oder nur Turbulenzen geraten oder gar
vom Markt bestimmt werden dürfen. abstürzen, dann treffen die Folgen die
Arbeitsbedingungen und Löhne Schwächsten: die Beschäftigten.
sind immer auch das Ergebnis Darauf hat die Politik immer noch
politischer Entscheidungen, oft keine adäquaten Antworten –
harter Konflikte und politischer weder national noch auf europäischer
Systeme. Dieser Atlas der Arbeit soll – oder internationaler Ebene.
ohne Anspruch auf Vollständigkeit –
die Bandbreite von Arbeitsbeziehungen Hinzu kommt, dass wir in der Arbeitswelt
darstellen; er vergleicht Systeme mit neuen Herausforderungen
in verschiedenen Staaten und konfrontiert sind, während lange
beschreibt, wie Arbeitsbedingungen währende Missstände längst nicht
gestaltet werden können. Der Atlas beseitigt sind: So ist es bisher nicht
zeigt, wie weit wir leider von dem Ziel einmal gelungen, die schlimmste

6 ATLAS DER ARBEIT


Form der Arbeitsausbeutung, die erreichen häufig mit ihrer Tarifpolitik
Sklaverei, zu eliminieren, so sind nicht nur Lohnerhöhungen, sondern
vielfach nicht einmal in den klassischen sie haben auch zukunftsweisende
Industrie- und Dienstleistungs- Konzepte bei der Arbeitszeit, der Weiter-
branchen grundlegende Rechte und bildung oder auch der Altersvorsorge.
Bedürfnisse der Beschäftigten gesichert, Sie treiben politische Forderungen wie
während sich mit der Digitalisierung die eines gesetzlichen Mindestlohns
das Arbeiten in fast allen Bereichen oder guter Arbeitsschutzstandards
grundlegend wandelt. Was fehlt, voran. Ihre internationalen
sind Regeln und Gesetze, die zu den Organisationen unterstützen Gewerk-
neuen Bedingungen passen. Entgrenzte schafterinnen und Gewerkschafter
Arbeitszeiten, internationales weltweit. Doch sie sind nicht in
Crowdworking, Big Data, internationale allen Ländern stark, ja, sie werden
Dienstleistungsplattformen, neue in einigen Staaten mit allen Mitteln
Berufe, die entstehen, alte Berufe, bekämpft oder gar verboten.
die verschwinden, Datenschutz,


Machtkonzentration bei Konzernen, ieser Atlas der Arbeit vermittelt
wachsende Ungleichheit – die facettenreich, wie unsere
Transformation der bisherigen Arbeitswelt heute gestaltet ist,
Arbeitswelt zur neuen Arbeitswelt ist wie sie sich ständig wandelt und welche
ein großer Auftrag, für die Politik Möglichkeiten wir – besonders Politik,
und besonders für Gewerkschaften. Gewerkschaften, Zivilgesellschaft –
haben, sie zu verändern. Er liefert damit


ewerkschaften sind weltweit eine solide Grundlage, um über die
wichtig, um die Arbeits- Arbeit der Zukunft zu diskutieren.
bedingungen der Gegenwart
und der Zukunft mitzugestalten. Dort, Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen!
wo sie stark sind, wo es die
Mitbestimmung im Betrieb und
im Aufsichtsrat gibt, geht es
Reiner Hoffmann Michael Guggemos
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Vorsitzender des Deutschen Sprecher der Geschäftsführung
nachweislich besser. Gewerkschaften Gewerkschaftsbundes der Hans-Böckler-Stiftung

ATLAS DER ARBEIT 7


16 KURZE LEKTIONEN

ÜBER DIE WELT DER ARBEIT

1 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben


BESSERE ARBEITSBEDINGUNGEN und höhere Löhne,
wenn GEWERKSCHAFTEN ihre Interessen
vertreten und für sie Tarifverträge abschließen.

2 Die Einkommen in Deutschland entwickeln sich ungleich.


Die EINKOMMEN AUS ARBEIT steigen – wenn überhaupt – nur
schwach, die AUS KAPITAL weitaus stärker.

3 FRAUEN verdienen immer noch weniger als


Männer und haben schlechtere Chancen bei der Karriere.
Sie erhalten auch GERINGERE RENTEN.

4 Die Arbeit geht uns nicht aus, obwohl die


Arbeitskräfte dank AUTOMATISIERUNG und
Digitalisierung immer produktiver werden.

5 Millionen von Menschen haben heutzutage nur Mini-


oder Teilzeitjobs, Werk- oder Zeitverträge, weil die Politik
den ARBEITSMARKT DEREGULIERT hat.

6 Der NIEDRIGLOHNSEKTOR ist in DEUTSCHLAND


seit den 1990er-Jahren stark angewachsen und
mittlerweile einer der größten in Europa.

7 Die DIGITALISIERUNG verändert die Arbeitsabläufe stark


und verlangt von den Arbeitenden, dass sie zeitlich
flexibler arbeiten. Die Grenzen zwischen JOB UND FREIZEIT
verschwimmen.

8 ATLAS DER ARBEIT


8 Obwohl in Deutschland so viele Menschen wie noch nie arbeiten, ist die Zahl der
LANGZEITARBEITSLOSEN nur geringfügig gesunken. Für sie tut die Politik wenig.

9 Das STREIKRECHT ist ein Grund- und ein MENSCHENRECHT.


Doch in zahlreichen Ländern ist dieses Recht stark bedroht.

10 Weltweit sind 40 Millionen Menschen OPFER


VON MODERNER SKLAVEREI. In den
meisten Fällen sind davon Frauen betroffen.

11 In INDIEN sind mehr als zwei Drittel der Arbeitsplätze durch


Automation bedroht, in CHINA sogar noch mehr. Künftige HIGHTECH-
Produkte werden wieder in Europa oder den USA hergestellt werden.

12 Immer öfter werden FRÜHER UNBEZAHLTE TÄTIGKEITEN


wie Kinderbetreuung, Pflege oder die Haushaltsreinigung
an private Dienstleister und Dienstleisterinnen ausgelagert.

13 Die duale AUSBILDUNG in Berufsschulen und


Betrieben garantiert bislang eine hohe Qualifikation
von Auszubildenden. Auf die Digitalisierung ist
sie noch nicht genügend vorbereitet.

14 Deutsche, skandinavische oder niederländische JUGENDLICHE


haben gute Chancen auf Arbeit. Südeuropäische Jugendliche
wissen, dass sie ARBEITSLOSIGKEIT oder Prekariat erwartet.

15 Immer mehr Menschen arbeiten NICHT IN IHREN


HEIMATLÄNDERN. Dieser Trend wird in den nächsten
Jahren noch erheblich zunehmen.

16 Der KAPITALISMUS ist KEIN PERMANENTER KLASSENKAMPF, sondern


er funktioniert am besten, wenn auch die Arbeitnehmer profitieren.

ATLAS DER ARBEIT 9


GESCHICHTE

VON DER PLAGE ZUR BERUFUNG


Arbeit galt einst nur als Mühsal. Doch im wird zum „Beruf“, ja zur „Berufung“. Sie bietet die Mög-
Lauf der Zeit wurde sie positiver gesehen, lichkeit, die innere und die äußere Natur des Menschen
und die Gesellschaft wandelte sich zur zu verändern, meinte Adam Smith. Und der Philosoph
Arbeitsgesellschaft. Erwerbs-, Haus-, Care- Immanuel Kant glaubte: „Je mehr wir beschäftigt sind, je
mehr fühlen wir, dass wir leben, und desto mehr sind wir
Arbeit – der Inhalt von „Arbeit“ erweitert sich.
uns unseres Lebens bewusst.“
Für Teile des Bürgertums mag das so gewesen sein. Für


er nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. die Mehrheit blieb Arbeit Mühsal und Plage, um die eigene
Diesen Satz des Apostels Paulus aus der Bibel Existenz zu sichern – doch mit wachsendem Bewusstsein
zitieren Kirchenleute, aber auch Ungläubige für den Wert des eigenen Tuns, wie die Arbeiterbewegung
gerne. Selbst in die Verfassung der Sowjetunion von 1936 zeigte. Arbeit wurde mit dem Aufschwung des Kapitalis-
hat er es geschafft. Ihr Artikel 12 verpflichtet jeden arbeits- mus seit dem späten 18. Jahrhundert zur Erwerbsarbeit
fähigen Bürger auf diesen Grundsatz – bei seiner Ehre. und damit zur Säule der „Arbeitsgesellschaft“, die mit
Doch damit wird das Bibelwort gehörig missverstanden. der Industrialisierung entstand. Ihr folgten die Industrie-
Schließlich bezieht es sich auf das Leben seit der Vertrei- gesellschaft des späten 19. und 20. Jahrhunderts, in der
bung aus dem Paradies. Arbeit ist Mühsal und Plage, mit die Mehrheit der Werktätigen in der Industrie arbeitete,
der die Menschen von Gott bestraft werden, und daher und dann die Dienstleistungsgesellschaft, die seit den
nichts Erstrebenswertes. 1970er-Jahren in den westlichen Staaten vorherrschte. In
Nicht nur in der Bibel, auch im antiken Griechenland den vergangenen zwei Jahrzehnten bildete sich schließ-
war der Begriff negativ konnotiert. Arbeit und Bürger- lich die postindustrielle Gesellschaft heraus, in der vor al-
recht waren Gegensätze. Körperliche Arbeit verrichteten lem die Digitalisierung die Arbeitswelt zu revolutionieren
Unfreie. Wenn der Stadtbürger auf dem Versammlungs- begonnen hat.
platz diskutierte, galt das nicht als Arbeit, sondern als Gleich geblieben ist, dass der Kapitalismus das Wirt-
eine geistige Tätigkeit. Diese Einschätzung vertrat das schaftssystem dominiert – und in ihm die Erwerbsarbeit,
Christentum noch bis nach der ersten Jahrtausendwende. vor allem die abhängige Lohnarbeit. Zwar gab es Lohn-
Seit dem Mittelalter und vor allem der Frühen Neuzeit arbeit schon seit den frühesten Gesellschaften, doch nun
wandelt sich in Europa der Arbeitsbegriff ins Positive. wurde sie zum Massenphänomen – und zum Gegenstand
Von Luthers „Ora et labora“ („Bete und arbeite“) über die marktwirtschaftlicher Tauschvorgänge, also zur Ware. Für
Werke der Aufklärer bis zu Max Webers „protestantischer Friedrich Engels war Arbeit „eine Ware wie jede andere,
Ethik“ lässt sich eine Aufwertung der Arbeit nachzeich- und ihr Preis wird daher genau nach denselben Geset-
nen, die nun als Quelle von Eigentum, Wohlstand und zen bestimmt werden wie der jeder anderen Ware“. Karl
menschlicher Selbstverwirklichung gesehen wird. Arbeit Marx entwickelte im „Kapital“ 1867 die Mehrwerttheorie
und definierte den Tauschwert eines Gutes durch die in
ihm repräsentierte Arbeitszeit. Da ein Mensch länger ar-
beiten könne, als er an Gütern für sein Überleben benöti-
ENTFREMDUNG ODER SINNHAFTIGKEIT
Meinungsumfrage über die Wahrnehmung der eigenen
ge, werde dieser Mehrwert vom Kapitalisten abgeschöpft.
Arbeit, 2016, in Prozent Marx wurde jedoch schon zu seinen Lebzeiten empirisch
widerlegt, weil die Arbeiter sich zu schlagkräftigen Ge-
Leisten Sie werkschaften zusammenschlossen, die Lohnerhöhungen
mit Ihrer Arbeit 9 durchsetzten – und damit Anteile am Mehrwert.
einen wichtigen 21
Beitrag für die Seitdem haben sich die Vorstellungen von Arbeit ver-
Gesellschaft? ändert. Zwischenzeitlich etablierte sich die Idee des Nor-
26 malarbeitsverhältnisses, das in der Regel dazu führte, dass
der Mann den Lebensunterhalt für die Familie verdient.
Tatsächlich reichte der Verdienst jenseits von Bürgertum
ATLAS DER ARBEIT / DGB

gar nicht
in geringem Maße 44
in hohem Maße
Arbeit nützt nicht nur dem Einzelnen, sie
in sehr hohem Maße
bildet auch eine Grundlage der Gesellschaft.
Vielen ist bewusst, dass sie dazu beitragen

10 ATLAS DER ARBEIT


EIN KONTINENT VOLLER MÜHSAL
Ausgewählte „Arbeitswörter“ und ihre Verwandten in Europa
fjord „Bucht“ fora „Weg“
värk „Schmerz“
jobb „Job“
porter „Träger“ arbete „Arbeit“ trud „Arbeit,
to ferry verk „Werk“ Anstrengung“
„tragen, verschiffen“ arm „arm“ rabota „Arbeit“
job „Job“ fare „reisen“
obair wright „Macher“ arbeijde „Arbeit“
„Arbeit“ orphan „Waise“ virke „werken“
robot „Roboter“ russisch-
werken
travel „Reise“ voer „Transport“ kirchenslawisch
to fare „bewegen“ arbeid pero „Feder“
walisisch job Job „kurzfristige trud „Mühe“
„Arbeit, Beschäftigung“ praca „Arbeit“
llafur „Arbeit“
Elend“ Arbeit Werk pierzchnąc „fliegen“
fahren, Fuhre, führen
verdrießen arm
Erbe wirken robota „Arbeit“
travail „Arbeit“ Labor práce „Arbeit“ robota „Arbeit“
travailler „anstrengen, „Werkraum“ prchnouti „fliehen“
sich bewegen, reisen“ labil „schwankend“ práca „Arbeit“
pierre „Stein“
labor „Labor“
port „Hafen“
gober „verschlingen“
serbisch, kroatisch, bosnisch laboare
prhati „auffliegen“
job „Job“ - d „Arbeit“ „Arbeit“
trabalho tru
„Arbeit“
labor „Arbeit“ travaglio „Arbeit“ trud „Arbeit“
lavor altkirchenslawisch
trabajo „Arbeit“ lateinisch
lavoro „Arbeit“ rabotati „dienen“
„Arbeit“ orbus „verwaist“ trud
piedra „Stein“ rabu „Knecht, Sklave“
pedra tripalium „Dreipfahl“ pietra „Stein“ ndrydh „Arbeit“
„Stein“ labor „Mühe, Arbeit“ -urgia, -ergia „verstauchen“
labare „schwanken“ „-kunst“, „-werkskunst“
trudere „fortstoßen“ poreúō „bewegen, gehen“
portare „tragen“ orphanos „Waise“
ergon „Tat“
Wortwurzeln (*rekonstruierte Formen) energeia „Energie, Aktivität“
*orbho- „arm, Waise, Sklave, muss arbeiten“ (indoeuropäisch)

ATLAS DER ARBEIT / ARCHIV


*uerg- „bewirken, machen“ (indoeuropäisch)
*trewd- „drücken“ (indoeuropäisch)
*per- „hintragen“ (indoeuropäisch), *portiti „senden“ (altslawisch)
*leb- „abhängen, schwach sein“ (indoeuropäisch), labor „Wanken unter einer Last“ (lateinisch)
tripalium „Dreipfahl, ein Folterinstrument“ (lateinisch)
*gob „Mund“ (galloromanisch), job „Stück, Klumpen“ (mittelenglisch)

Auch wenn es ihnen heute nicht mehr


und Adel nur bei einer Minderheit für dieses Modell. Vor anzumerken ist – in vielen europäischen Sprachen
der Industrialisierung genügten die Einkünfte aus einer haben die Wörter für „Arbeit“ negative Wurzeln
Quelle noch seltener für den Lebensunterhalt einer gan-
zen Familie. Frauen haben zu allen Zeiten gearbeitet, in
jüngster Zeit tun sie dies mehr denn je. Dies ist nicht nur rung diese Trennung wieder durchbrochen. Das bedeu-
auf die Emanzipation zurückzuführen, sondern auch auf tet für Arbeitende mehr Flexibilität, aber auch höheren
ökonomische Zwänge. Der Sozialhistoriker Jürgen Kocka Leistungsdruck, weil sie quasi immer im Dienst sind und
meint daher, dass das Normalarbeitsverhältnis nur zwi- Arbeit weder zeitlich noch räumlich von Nichtarbeit zu
schen 1950 und 1975, also in Zeiten des ausgebauten So- trennen ist.
zialstaates, existiert hat. Ansonsten sei es „eher die Norm Währenddessen erweitert der öffentliche Diskurs den
als die Normalität“ gewesen. Arbeitsbegriff wieder über die Erwerbsarbeit hinaus auf
Im Zuge der sich verändernden Arbeitswelt gibt es bisher unbezahlte Tätigkeiten wie das Ehrenamt oder
weitere Pendelbewegungen. So hat sich mit der Industria- Care-Arbeit. Hier eröffnen sich Möglichkeiten, die längst
lisierung und Verstädterung die Arbeit vom Wohnhaus in nicht ausgelotet sind. Sie könnten dazu führen, dass Men-
die Bergwerke, Fabriken und Büros verlagert. Die Sphären schen künftig ihr Leben nicht mehr wie der Industrielle
von Arbeit und Nichtarbeit – später: Freizeit – trennten Werner von Siemens 1892 mit dem 90. Psalm bilanzieren:
sich, wobei Nichtarbeit auch die unbezahlte Haushalts- „Und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Ar-
und Care-Arbeit umfasst. Heute wird mit der Digitalisie- beit gewesen.“

ATLAS DER ARBEIT 11


ARBEITSMARKT

SCHNELLER WANDEL
Zwischen Überstunden und Das produzierende Gewerbe trägt überdurchschnitt-
Arbeitslosigkeit, Bereitschaftsdienst lich viel zur deutschen Wirtschaftsleistung bei. Hier ar-
und Minijob – die Arbeitswelt beiten rund 29 Prozent aller Beschäftigten. Gewinner des
wird vielfältiger, aber auch instabiler. jüngsten Strukturwandels der Arbeitswelt ist der Dienst-
leistungssektor, in dem 2015 bereits etwa 70 Prozent al-
ler Erwerbstätigen arbeiteten. Gegenüber 1999 stieg die


n Deutschland arbeiten offiziell 75 Prozent der Men- Beschäftigung um mehr als fünf Millionen – besonders
schen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 65 Jahren. kräftig im Gesundheitsbereich sowie bei Pflege und Kin-
Tendenz: steigend. Zur deutschen Wirtschaftsleistung derbetreuung.
haben 2017 mehr als 44 Millionen Menschen beigetragen, Deutliche Unterschiede zeigen sich im Ost-West-Ver-
32 Millionen von ihnen in sozialversicherungspflichtigen gleich. Die Zahl der Einwohner im Osten schrumpft,
Jobs. Seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts hat sich diese während der Altersdurchschnitt steigt. Die Arbeitskräfte
Zahl um mehr als 20 Prozent erhöht. Ein Achtel der Er- sind etwas häufiger in kleineren Betrieben tätig sowie
werbstätigen hat einen Minijob oder einen Ein-Euro-Job. im Bausektor und der öffentlichen Verwaltung. Weniger
Weitere zehn Prozent sind selbstständig oder arbeiten als stark vertreten als im Westen sind die forschungs- und
Familienangehörige im Betrieb mit. entwicklungsintensiven Wirtschaftszweige, die neue Pro-
Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine große Dynamik dukte auf den Markt bringen.
am Arbeitsmarkt. Jahr für Jahr werden bis zu zehn Milli- Auffallend ist die deutliche Zunahme atypischer
onen Arbeitsverhältnisse beendet und neue begründet. Beschäftigungen, deren Anteil sich seit Anfang der
Junge Menschen nehmen unmittelbar nach Schule und 1990er-Jahre mehr als verdoppelt hat. Dies sind insbeson-
Ausbildung eine Arbeit auf; andere wechseln von einem dere Minijobs, befristete Jobs, Leiharbeit und Solo-Selbst-
zum anderen Betrieb oder die Stelle im selben Unterneh- ständigkeit. Diese Arbeitsverhältnisse sind schlechter
men, legen eine Familienpause ein oder kehren danach bezahlt und weniger stabil, und die soziale Absicherung
auf den Arbeitsmarkt zurück. bei Arbeitslosigkeit und im Alter ist meist mangelhaft. In
Arbeitslose sind nur an etwa jeder dritten bis vierten diesen prekären Arbeitsverhältnissen landen vor allem
dieser Bewegungen beteiligt. Auch bei guter Konjunktur Arbeitskräfte, die wenig oder gar nicht ausgebildet sind.
werden jährlich etwa 2,5 Millionen Beschäftigte arbeits- Befristete Beschäftigung wird in der öffentlichen Ver-
los, etwa ebenso viele Arbeitslose finden einen neuen Job. waltung und auch im privaten Sektor genutzt. Minijobs
Besonders hoch ist der Personalwechsel in der Leiharbeit. sind vor allem im privaten Dienstleistungssektor zu fin-
Viele Arbeitsverhältnisse sind von kurzer Dauer, und das den. Die Einkommen aus diesen Jobs sind steuer- und
Risiko der Arbeitslosigkeit ist hier mehr als fünfmal so abgabenfrei. Derzeit gibt es allein drei Millionen Erwerbs-
hoch wie in der Wirtschaft insgesamt. Im produzierenden
Gewerbe – im Wesentlichen Industrie, Handwerk und
Bau – werden beispielsweise weniger Menschen arbeits- Arbeitsstatistiken bedienen sich einer eigenen
los, obwohl hier zehnmal mehr Beschäftigte tätig sind als Fachsprache. Aus ihren Begriffen
in der Leiharbeit. ergibt sich die Struktur der Arbeitsgesellschaft

SYSTEMATIK
Offizielle Begriffe der Arbeitsstatistik

alle Erwerbstätigen Beschäftigungslose

Erwerbspersonen stille Reserve*

abhängig Beschäftigte
Selbstständige, im
registrierte in Maß-
ATLAS DER ARBEIT / BA

mithelfende engeren
sozialversicherungs- geringfügig Beamte, Richter, Arbeitslose nahmen
Familienangehörige Sinn*
pflichtig Beschäftigte Beschäftigte Soldaten

* Die stille Reserve besteht aus Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und im engeren Sinne
aus unregistrierten Arbeitsuchenden sowie potenziellen Rückkehrern auf den Arbeitmarkt.

12 ATLAS DER ARBEIT


DIE STRUKTUR IM ÜBERBLICK 0,7 0,7 0,6
Eckdaten des deutschen Arbeitsmarktes, 2007–2017, in Millionen Personen
10,1 10,4 10,7
Erwerbstätige im Inland Land-, Forstwirtschaft,
Selbstständige Fischerei 2007 2012 2017
Arbeitnehmer Industrie, Handwerk, Bau 29,5 31,0 33,0
Dienstleistungen
4,3
4,6
4,5
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
geringfügig Entlohnte in Maßnahmen
registrierte Arbeitslose gemeldete Stellen

2007 27,1 5,0 3,8 1,6 0,4


37,5 40,0
35,8

ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS, BA


2012 29,3 5,0 2,9 1,0 0,5

2017 32,2 4,8 2,5 0,9 0,7


2007 2012 2017

Die Beschäftigung nimmt zu, aber


tätige, die zusätzlich zu ihrem Hauptjob eine solche Ne- noch viele Millionen Schlechtverdiener
bentätigkeit ausüben. und Arbeitslose bleiben
Auch die Zahl der regulär sozialversicherten Teilzeit-
kräfte hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt.
Meist sind es, wie bei den Minijobs, Frauen. Dass insge- Bürotätigkeit stark digitalisiert. Aufstiegschancen erföff-
samt mehr weibliche Arbeitskräfte beschäftigt sind, ist net dies nur qualifizierten Arbeitskräften. Betriebliche
auf die wachsende Zahl an Teilzeitjobs zurückzuführen. Prozesse flexibilisieren und beschleunigen sich. Die An-
Wenn Frauen Familien gründen, reduzieren sie oder un- forderungen an vernetztes Arbeiten steigen ebenso wie
terbrechen ihre Erwerbstätigkeit, während Männer über psychosoziale Belastungen. Mit dem digitalen Wandel
die Lebensphasen relativ konstant in Vollzeit arbeiten. entstehen neue Produktions- und Logistikketten, etwa
Eine etwas größere Teilzeitquote zeigt sich bei Männern im Onlinehandel. Die Arbeitswelt wird vielfältiger, aber
nur bei Berufseintritt sowie vor dem Ruhestand. auch instabiler. Die gesellschaftliche Bedeutung von und
Insgesamt verschwimmen bei der Arbeit zu einem die Orientierung auf Erwerbsarbeit hat dies jedoch nicht
Gutteil die Grenzen von Arbeitswelt und Freizeit. Arbeits- verringert, sondern eher erhöht.
rhythmen außerhalb der „normalen“ Wochenarbeitszeit
nehmen zu. Zwar liegt die Arbeitszeit in Deutschland un-
ter dem EU-Durchschnitt, doch ein Neuntel aller Vollzeit-
UNGLEICH MIT KINDERN
beschäftigten arbeitet mehr als 48 Stunden pro Woche. Erwerbstätigenquoten von Kinderlosen und Eltern,
Die Zahl der nicht bezahlten Überstunden ist höher als 2015/16, in Prozent
die der vergüteten. Ein Viertel der Erwerbstätigen arbeitet
wieder samstags und der Anteil derjenigen, die sonntags
arbeiten, hat sich auf 14 Prozent erhöht. Hohe Anforde- 71 66 60
83
rungen an die zeitliche Flexibilität werden auch an die
Männer Frauen Männer Frauen
Beschäftigten gestellt, die Bereitschaftsdienste haben
oder Nacht- und Schichtarbeit verrichten. ohne Kind mit Kindern
allen Alters
Reine Fertigungstätigkeiten und körperliche Arbeiten
verlieren an Bedeutung. Zugenommen hat die Verdich-
tung der Arbeit, während ihre Spielräume abnehmen. Die 37
45
Industrieproduktion ist heute hochautomatisiert und die
ATLAS DER ARBEIT / BA, WSI

82 84
Väter Mütter Väter Mütter

Die größten Unterschiede auf dem mit einem Kind mit zwei Kindern,
unter 6 Jahren jüngstes unter 6 Jahren
Arbeitsmarkt bestehen zwischen
Vätern und Müttern mit kleinen Kindern

ATLAS DER ARBEIT 13


EINKOMMEN

IM KAMPF UM BRANCHEN-
TARIFVERTRÄGE
Von steigenden Löhnen profitieren vor allem 40 Prozent der Einkommensbezieherinnen und -bezieher
Gutverdienende – auch tarifgebundene nehmen nicht stark genug zu, um die steigenden Preise –
Betriebe zahlen besser. Doch zugleich wächst allen voran die Mieten – zu kompensieren.
der Niedriglohnsektor. Dass in immer weniger Betrieben Tarifverträge gelten,
trägt dazu bei, dass sich Einkommen auseinanderentwi-
ckeln. Löhne und Gehälter werden maßgeblich durch Tarif-


eit Jahrzehnten wächst in Deutschland die Un- verträge festgelegt, die Arbeitgeberverbände oder einzelne
gleichheit sowohl bei den Einkommen wie den Unternehmen mit Gewerkschaften abschließen – sie gelten
Vermögen. Das birgt ökonomische, soziale und faktisch für alle Beschäftigten der tarifgebundenen Betrie-
politische Probleme und rückt daher immer stärker ins be, nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder. Deutschland ist
Zentrum der gesellschaftlichen Debatte. Zu erkennen ist von Branchentarifverträgen (auch „Flächentarifverträge“
die ungleiche Entwicklung, wenn die Einkommen von ab- genannt) geprägt. Tarifgebundene Arbeitnehmerinnen
hängig Beschäftigten mit denen der Selbstständigen ver- und Arbeitnehmer verdienten im Jahr 2014 mit 20,74 Euro
glichen werden. Präzise formuliert: wenn die Lohnquote pro Stunde rund 18 Prozent mehr als Beschäftigte in nicht
untersucht wird, der Anteil der Arbeitnehmerentgelte tarifgebundenen Betrieben (17,52 Euro). Viele Unterneh-
am Volkseinkommen. Sie ging in den vergangenen Jah- men fliehen aus der Tarifbindung, weil sie die Lohnkosten
ren zurück und umgekehrt stieg der Anteil der Gewinn- senken wollen. Nur noch jeder zweite Beschäftigte arbeitet
und Vermögenseinkommen. Anfang der 2000er-Jahre be- in einem tarifgebundenen Betrieb.
trug die Lohnquote rund 72 Prozent, derzeit liegt sie bei Grundsätzlich fallen die Verdienste der Beschäftigten
68 Prozent. je nach Branche und Betriebsgröße sehr unterschiedlich
Hinzu kommt: Der Anteil der Menschen, die wenig aus. So reichen die Bruttostundenverdienste von 9,63
Geld zur Verfügung haben, wird größer. Die Einkommens- Euro im Gastgewerbe am unteren Ende über 14,95 Euro
mitte wird dünner, während die Gruppe der Menschen im Handel, 21,05 Euro im verarbeitenden Gewerbe bis zu
mit hohem Einkommen wächst. Die Löhne der unteren 27,80 Euro in der Energieversorgung.
Teilzeitbeschäftigte erhalten im Schnitt über drei Euro
je Stunde weniger als Vollzeitbeschäftigte. In Großbe-
trieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten liegt der durch-
POLARISIERTE LOHNSTRUKTUR
Stundenlöhne nach Einkommenszehnteln (Dezilen),
schnittliche Bruttostundenverdienst bei 21,99 Euro und
durchschnittliche Veränderung 1995–2015, in Prozent damit sehr viel höher als in Kleinbetrieben mit bis zu
neun Beschäftigten (12,39 Euro). Frauen verdienen weni-
höchstes
10. Dezil +8 ger als Männer. Der Lohnabstand beträgt seit Jahren rund
Einkommenszehntel
22 Prozent.
9. Dezil +10 Eine wichtige Ursache für die polarisierte Lohnstruk-
8. Dezil +10 tur in der Bundesrepublik ist der seit den 1990er-Jahren
wachsende Niedriglohnsektor. Er gehört mittlerweile zu
7. Dezil +8
den größten in Europa. Fast jeder und jede vierte abhän-
6. Dezil +4 gig Beschäftigte verdiente 2015 weniger als 10,22 Euro und
lag damit unter der Niedriglohnschwelle. Minijobberin-
5. Dezil +1
nen, gering Qualifizierte, junge Menschen und ausländi-
-4 4. Dezil sche Beschäftigte arbeiten besonders häufig für niedrige
Löhne. Dies hat politische Gründe wie die Hartz-Refor-
-6 3. Dezil
men, mit denen der Arbeitsmarkt dereguliert wurde und
ATLAS DER ARBEIT / BMAS

-7 2. Dezil

niedrigstes
-7 1. Dezil
Einkommenszehntel
Während die höheren Einkommen zugelegt
-10 -5 0 5 10 haben, sind die niedrigsten 40 Prozent
der Stundenlöhne sogar deutlich gesunken

14 ATLAS DER ARBEIT


OHNE FORTSCHRITT: DER NIEDRIGLOHNSEKTOR
Stundenlöhne unter zwei Drittel des mittleren Lohnes in Ost-, West- und Gesamtdeutschland,
1995–2015, in Prozent der Beschäftigten

50

45 Ostdeutschland
40,6
38,7
40 36,3
35

30
35,3
24,2
25 Deutschland gesamt 22,6

20 16,2
21,2 19,7
15

10 Westdeutschland
11,7

ATLAS DER ARBEIT / IAQ


5

0
1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

Die Niedriglohnschwelle lag 2015 bei einem Stundenlohn von 10,22 Euro.

Die Niedriglöhne sind verfestigt. Dabei


die einen erheblichen wirtschaftlichen Druck auf Arbeits- hat der Mindestlohn bewiesen, dass die
lose ausüben. Daher erlebt auch die Leiharbeit seitdem Wirtschaft Erhöhungen verkraften kann
einen starken Aufschwung.
Ursachen für den wachsenden Niedriglohnsektor
sind zudem Verschiebungen in der Wirtschaftsstruktur. erst, wenn er in den kommenden Jahren stärker steigen
Deutschland ist zwar mit einem 23-prozentigen Anteil der würde als die Tariflöhne.
Industrie an der Wertschöpfung ein vergleichsweise star- Angemessene Verdienste oberhalb des Mindestlohns
kes Industrieland, aber der Anteil der Dienstleistungen wären wiederum nur mit gestärkten Tarifvertragssyste-
wächst und damit auch der Anteil an einfachen, schlecht men zu erreichen. Seit 2015 ist es immerhin leichter gewor-
bezahlten Jobs. Unterstützt wird der Trend durch das ge- den, einen Tarifvertrag für alle Betriebe einer Branche als
zielte Outsourcing von Dienstleistungen wie Kantinen, allgemeinverbindlich zu erklären, also auch für die nicht
Reinigung oder die Wartung von Anlagen, alles einst zu tarifgebundenen. Bei allgemeinverbindlichen Tarifver-
Industriebetrieben gehörend. trägen gelten die Bedingungen und neu ausgehandelten
Als Gegenmaßnahme zum wachsenden Niedriglohn- Lohnerhöhungen für alle Beschäftigten einer Branche.
sektor wurde nach langen Auseinandersetzungen 2015 Derzeit sind rund 440 Tarifverträge allgemeinverbindlich,
erstmals in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn das sind lediglich 1,5 Prozent der Branchentarifverträge.
von 8,50 Euro eingeführt. 2018 stieg er, orientiert an den Hier gibt es offenkundig noch Luft nach oben.
vorausgegangenen Tariferhöhungen, auf 8,84 Euro. Die
Prognosen vieler Wirtschaftsexperten, dass mit dem Min-
destlohn die Arbeitslosigkeit steige, bewahrheiteten sich
DIE KLUFT BLEIBT GROSS
nicht. Im Gegenteil: Die Arbeitsmarktlage hat sich weiter Einkommensverläufe in Deutschland, 2000–2017,
verbessert. Die Zahl der Minijobs ging zurück, sie wurden 2000 = 100
teilweise in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhält- 180
175,2
nisse umgewandelt. Der Mindestlohn hat das Arbeitsein- 170
Unternehmens- und
kommen am unteren Ende also stabilisiert. Vermögenseinkommen
160
Zahlreiche Arbeitgeber umgehen allerdings den ge- 149,3
150
setzlichen Mindestlohn; die Kontrollen, um dieses illega-
140
le Verhalten zu bekämpfen, reichen nicht aus. Der Min-
130
destlohn liegt aktuell bei etwa der Hälfte des mittleren
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS

Stundenlohns (Medianlohn). Existenzsichernd wäre er 120

110

100 Arbeitnehmerentgelt
Selbst während der Weltfinanzkrise 0
stiegen die deutschen Unternehmenseinkommen 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016

stärker als die Löhne und Gehälter

ATLAS DER ARBEIT 15


GEWERKSCHAFTEN

VERHANDELN BIS ZUM STREIK


Tarifpolitik und betriebliche Mitbestimmung – den letzten Jahren durch neue Anwerbestrategien wieder
das sind in Deutschland die beiden steigern können.
wichtigsten Elemente der Beziehungen Wichtigste Aufgabe der Gewerkschaften ist die Tarif-
zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. politik, sind also die regelmäßigen Verhandlungen mit
Arbeitgebern über Tarifverträge. Dabei geht es um quan-
titative Ziele wie Lohn und Gehalt, aber auch um qualita-


enschen müssen nicht mehr 16 Stunden am Tag tive wie Arbeitszeit, Urlaubstage, Sicherung der Beschäf-
arbeiten. Ihr Lohn wird bei Krankheit weiterge- tigung oder Ausstattung mit Personal. Allein 2018 werden
zahlt. Und er steigt regelmäßig. All das haben Tarifverträge für fast zehn Millionen Beschäftigte verhan-
die Beschäftigten den Gewerkschaften zu verdanken, die delt. Von den Verhandlungsergebnissen profitieren nicht
seit Mitte des 19. Jahrhunderts für diese Ziele kämpfen. nur die Gewerkschaftsmitglieder, sondern alle Beschäf-
Immer noch gilt weltweit: Wo Gewerkschaften stark sind, tigten eines tarifgebundenen Betriebes. Insgesamt gibt es
haben es Beschäftigte besser. Die acht Gewerkschaften, derzeit in Deutschland über 70.000 Tarifverträge. Jährlich
die unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes werden zwischen 5.000 und 6.000 von ihnen erneuert.
(DGB) organisiert sind, bilden zusammen die größte zivil- Die meisten Tarifverhandlungen führen ohne Streiks
gesellschaftliche Organisation des Landes. zu einem Ergebnis. Doch als letztes Mittel wird dieses In-
Allerdings sinkt die Zahl der Gewerkschaftsmitglie- strument von den Gewerkschaften in Tarifkonflikten im-
der. Damit geht auch ihr Einfluss auf Arbeitsbedingungen mer wieder eingesetzt. Im internationalen Vergleich wird
und Löhne zurück. Ende 2017 verfügten die DGB-Gewerk- in Deutschland relativ wenig gestreikt. Zu den Gründen
schaften über knapp sechs Millionen Mitglieder – von gehört auch, dass politische Streiks – etwa, um eine Re-
insgesamt rund 40 Millionen Arbeitnehmerinnen und gierung unter Druck zu setzen – im Gegensatz zu anderen
Arbeitnehmern. Zur Jahrtausendwende waren es noch 7,8 europäischen Ländern hier verboten sind.
Millionen. Gründe dafür gibt es viele: In den Betrieben Die Zahl der Streiks schwankt von Jahr zu Jahr sehr
wurden Arbeitsplätze umstrukturiert, durch Maschinen stark. In der mitgliederstarken Metallindustrie beteili-
ersetzt oder verlagert, besonders in der gewerkschaftlich gen sich oft Hunderttausende an den Arbeitskämpfen.
gut organisierten Industrie. Hinzu kommen die Privati- Aber auch im Dienstleistungssektor (Handel, Sozial- und
sierung von Bahn und Post sowie der wachsende Dienst- Erziehungsdienst, Krankenhäuser) wird zunehmend
leistungssektor mit kleineren Betrieben. Dort arbeiten gestreikt. Neben den DGB-Gewerkschaften haben auch
häufig prekär Beschäftigte, die sich seltener organisieren Berufsgewerkschaften wie die Vereinigung Cockpit, die
als Arbeiter und Angestellte in der Industrie. Der Mitglie- Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und die
derschwund hat sich allerdings deutlich verlangsamt. Ärztegewerkschaft Marburger Bund gezeigt, dass sie zu
Einzelne Gewerkschaften haben ihre Mitgliederzahlen in wirksamen Streiks bereit und in der Lage sind.
Doch die Tarifwelt verändert sich, weil immer mehr
Arbeitgebende aus den branchenbezogenen Flächen-
tarifverträgen flüchten, um billiger zu produzieren. Ar-
VEREINZELUNG BEI DEN ARBEITSVERTRÄGEN
Tarifbindung der Beschäftigten 1998–2016, in Prozent
beitskämpfe um Haustarifverträge werden wichtiger. Mit
der Digitalisierung stellen sich auch den Gewerkschaften
80 76
neue schwierige Aufgaben. Denn bei Dienstleistungsplatt-
70
63 59 formen wie Deliveroo, Uber oder Helpling arbeiten häufig
60 Selbstständige, die nicht von einem Tarifvertrag geschützt
50 werden. Das beginnt sich zu ändern, weil die Arbeitsbe-
dingungen so schlecht sind. Im Januar 2018 gründeten
40 47
Fahrradkuriere bei Deliveroo einen Betriebsrat.
30 Branchen- und Firmentarife West
Das zweite zentrale Element der deutschen Arbeits-
20 Branchen- und Firmentarife Ost beziehungen ist die Mitbestimmung. Von der Belegschaft
ATLAS DER ARBEIT / WSI

10

0
1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 Die Löhne werden umso niedriger, je weniger
Tarifverträge werden zwischen einzelnen Arbeitgebern oder Arbeitgeberver-
bänden und den Gewerkschaften für die Arbeitnehmerschaft abgeschlossen. Beschäftigte mit einem durch Gewerkschaften
ausgehandelten Tarifvertrag geschützt werden

16 ATLAS DER ARBEIT


ATLAS DER ARBEIT / DGB
SCHWUND, ABER NOCH KEINE SCHWÄCHE
Mitglieder in den DGB-Gewerkschaften, 2005 und 2017, in 1.000 216 200
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten
2005
252 278
2017
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 260 190
392 255 Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft*

IG Bauen-Agrar-Umwelt
ver.di
749 638
IG Bergbau, Chemie, Energie 174 185 2.359 1.987
Gewerkschaft der Polizei
IG Metall

2.376 2.263 DGB gesamt

* 2005: Transnet; 2010 mit der Verkehrsgewerkschaft GDBA zur EVG verschmolzen 6.778 5.995
Sinkende Mitgliederzahlen: In den gewerk-
gewählte Betriebsräte vertreten in Betrieben mit mindes- schaftlich gut organisierten industriellen Groß-
tens fünf Beschäftigten deren Interessen. Im öffentlichen betrieben wird besonders stark rationalisiert
Dienst sind es die Personalräte. In Großbetrieben sind
Betriebsräte der Regelfall, in Kleinbetrieben hat nicht ein-
mal jeder zehnte Beschäftigte eine betriebliche Interes- Während weltweit in Ländern die Arbeitslosigkeit schlag-
senvertretung. Wer einen Betriebsrat gründen will, muss artig anstieg, entwickelten in Deutschland Gewerkschaf-
häufig mit Widerstand von Arbeitgebern rechnen. ten, betriebliche Interessenvertretungen und Arbeitgeber
Eine weitere Ebene der Mitbestimmung sind die Ar- gemeinsam Konzepte, um Arbeitsplätze zu schützen –
beitnehmervertretungen in den Aufsichtsräten, für die es insbesondere durch Nutzung von betrieblichen Arbeits-
unterschiedliche Modelle gibt. Die paritätische Montan- zeitkonten und Kurzarbeit. Mit der Digitalisierung stehen
mitbestimmung von 1951 gilt für Betriebe der Bergbau-, die Gewerkschaften bei der Tarifpolitik wie bei der Mitbe-
Eisen- und Stahlindustrie mit über 1.000 Beschäftigten. stimmung vor neuen Herausforderungen. Sie sehen es als
Die Aufsichtsräte dieser Unternehmen werden zu gleichen ihre Zukunftsaufgabe, die Arbeitsbedingungen und die
Teilen von Kapital- und Arbeitnehmerseite gestellt. Die im soziale Absicherung zu verbessern und dabei auch neue
Jahr 1976 in Kraft getretene Mitbestimmung in Kapitalge- Wege zu beschreiten.
sellschaften mit mehr als 2.000 Beschäftigten schreibt
zwar ebenfalls die paritätische Zusammensetzung des
Aufsichtsrates vor, räumt aber dem von der Kapitalseite
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS

WARNUNG AN DIE ARBEITGEBER


gestellten Vorsitzenden ein Doppelstimmrecht ein. Das Ausfalltage wegen Streik und Aussperrung,
Drittelbeteiligungsgesetz von 2004 für Kapitalgesellschaf- je 1.000 Beschäftigte
ten, deren Beschäftigtenzahl zwischen 500 und 2.000 30 28,3
liegt, sieht in den Aufsichtsräten, wie der Name schon
25
sagt, ein Drittel Arbeitnehmervertreter vor. Die Zahl der
mitbestimmten Unternehmen sinkt allerdings. Die Arbeit- 20
geber nutzen Schlupflöcher in der deutschen Gesetzge-
15
bung oder weichen auf europäische Rechtsformen aus. 12,2
Wie wirkungsvoll das Prinzip der Mitbestimmung sein 10 8,8
7,3
kann, zeigte sich zum Beispiel in der Finanzkrise 2007/08.
5 ca. 3

0
Streiks im personalintensiven Dienstleistungssektor 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017

können die großen Arbeitskämpfe der 2015 streikten vor allem Erzieher/innen und Beschäftigte im Paketdienst.

Metallindustrie durchaus in den Schatten stellen

ATLAS DER ARBEIT 17


ARBEITSLOSIGKEIT

WEITERBILDUNG WÄRE WIRKSAM


Die Langzeitarbeitslosen und ihre ebenfalls EU-Drittel. Im Vergleich weist der deutsche Arbeitsmarkt
von Hartz IV abhängigen Familien eine Besonderheit auf: Ungewöhnlich viele Menschen ar-
geraten wieder in den Fokus der Politik, beiten Teilzeit. Im Jahr 2016 waren es 8,5 Millionen von
weil sich für viele andere Arbeitslose bereits 31,5 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
Das ist zu 2006 eine Steigerung um über 70 Prozent. Hinzu
die Perspektiven verbessern.
kommen 5 Millionen Nur-Minijobber. Bemerkenswert ist
zudem, dass viermal so viele Frauen wie Männer in Teil-


istorisch gesehen sind Arbeitskräfteangebot und zeit arbeiten. Das liegt vor allem daran, dass der Staat die
Arbeitskräftenachfrage nur selten ausgeglichen. sogenannten Minijobs steuerlich begünstigt.
Während in den 1950er- und 1960er-Jahren in Obwohl der Arbeitsmarkt wächst, sind immer noch
Deutschland ständig Arbeitskräfte gesucht wurden, stieg 2,5 Millionen Menschen offiziell arbeitslos gemeldet. Eine
danach die Arbeitslosigkeit stark an. Vor allem im Zuge weitere Million sucht Arbeit, zählt aber nicht als arbeits-
der deutschen Wiedervereinigung haben viele Menschen los, unter anderem, weil sie an Weiterbildungsmaßnah-
ihren Arbeitsplatz verloren. Erst seit 2005 geht die Arbeits- men teilnimmt, in öffentlich geförderter Beschäftigung
losigkeit wieder zurück. Mittlerweile sind 44 Millionen arbeitet oder durch private Vermittler betreut wird. Jede
Menschen in Deutschland erwerbstätig, davon 32 Millio- Arbeitslosenstatistik ist hoch politisch und deswegen im-
nen in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsver- mer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzun-
hältnis. Im Jahr 2017 erreichte die Erwerbstätigkeit den gen. Umstritten ist besonders die wahre Zahl der Arbeits-
höchsten Stand in der deutschen Geschichte. losen, weil Regierungen gern bestimmte Gruppen aus der
Derzeit arbeiten 74 Prozent der Frauen und 80 Pro- Statistik herausrechnen, damit sie besser dastehen.
zent der Männer zwischen 15 und 65 Jahren, sei es als In der DDR gab es offiziell keine Arbeitslosen – und
Angestellte oder Selbstständige, Teilzeitkräfte oder Mi- daher auch keine entsprechende Statistik. Die Bundesre-
nijobber – das sind Beschäftigte, die maximal 450 Euro publik erreichte den niedrigsten Stand der Arbeitslosig-
im Monat verdienen. Damit liegt Deutschland im oberen keit im September 1965 mit 85.000 Arbeitslosen. Das ist
heute nicht mehr zu schaffen, vor allem, weil die Beschäf-
tigung immer anspruchsvoller wird. Die Arbeitslosenquo-
te erfasst zudem Menschen, die keine Arbeit mehr finden,
ATLAS DER ARBEIT / BA

NORD-SÜD-GEFÄLLE
Arbeitlosenquoten im März 2018 nach Bundesländern,
weil sie gesundheitliche Einschränkungen haben, unge-
in Prozent nügend qualifiziert oder dem Rentenalter nahe sind.
Auffällig ist, dass allein in den vergangenen vier Jah-
Schleswig-Holstein ren über zwei Millionen sozialversicherungspflichtige
6,0 Arbeitsplätze entstanden sind, die Zahl der Arbeitslosen
Mecklenburg-Vorpommern
Hamburg aber nur um 400.000 zurückgegangen ist. Der Zuwachs
8,8
Bremen 10,1 6,6 wird in hohem Maße von Arbeitsmigrantinnen und
-migranten besetzt, aber auch aus der „stillen Reserve“.
8,5 Berlin
Niedersachsen Das sind Menschen, die zwar Arbeit suchen, dies aber
8,3
Brandenburg
5,6 Sachsen-Anhalt nicht offiziell melden.
6,8 Als wirksame Hilfe für Arbeitslose gilt die Weiter-
Nordrhein-
Westfalen bildung, die Arbeitsagenturen und Jobcenter anbieten
6,0 6,5 Sachsen
7,1 4,8 können. Doch vor allem in den Jobcentern, in denen be-
Thüringen
3,2–4,6 sonders viele Langzeitarbeitslose betreut werden, fehlen
Hessen 4,7–5,9
4,7 dafür Mittel. Auch deshalb sind rund eine Millionen Men-
6,0–7,3
7,4–8,7
schen inzwischen langzeitarbeitslos. Ihre Chancen am Ar-
Rheinland-Pfalz 3,2
6,4 8,8–10,1 beitsmarkt sind gering und sinken mit jedem Tag, an dem
Saarland Bayern sie keine Beschäftigung finden.
3,3
Baden-Württemberg

Noch immer Krisengebiete: die vom


Strukturwandel überrollten früheren
Industriestandorte in West- und Ostdeutschland

18 ATLAS DER ARBEIT


STETER RÜCKGANG – BIS ZUR NÄCHSTEN REZESSION
Arbeitslose in 1.000 und wichtige Einflussfaktoren
Ende des New- Weltfinanzkrise
5.000 Economy-Booms 4.861
Westdeutschland Zusammenbruch der
4.500 Ostdeutschland ostdeutschen Wirtschaft Hartz-IV-Effekt
Gesamtdeutschland
4.000 Rezession
Abbau der
3.500
Arbeitslosigkeit
Abbau der Rezession durch
3.000 Nachkriegs- Ölpreiskrise
2.533
arbeitslosigkeit Rezession durch
2.500 2.304
Ölpreiskrise
1.869 1.894
2.000
Vollbeschäftigung,
1.500
zwischenzeitlich
milde Rezession 1.074
1.000 639

ATLAS DER ARBEIT / BA


459
500

0
1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2017

Früher stieg der „Sockel“ der Arbeitslosigkeit


Der Arbeitsmarkt ist kein gewöhnlicher Markt wie ein von Krise zu Krise an. Der Trend scheint
Markt für Lebensmittel oder Autos. Für die Beschäftigten gebrochen, der Sockel ist allerdings noch da
ist Arbeit die wirtschaftliche Grundlage ihrer Existenz.
Daher schützen Gesetze und andere Regelungen die Be-
schäftigten und fördern die Schaffung von Arbeitsplät- stehen von Arbeitsplätzen – durch soziale Sicherung zu
zen. Den Gewerkschaften kommt die Aufgabe zu, die Ar- unterstützen. Der wichtigste Hebel ist das Arbeitslosen-
beitsbedingungen – vor allem auch die Entlohnung – mit geld, das Arbeitslose gezahlt bekommen, wenn sie ihren
zu regeln. Einfluss auf den Arbeitsmarkt haben zudem Arbeitsplatz verloren haben.
die Bildungs- und Sozialpolitik sowie ganz allgemein die Auch aus Sicht der Arbeitgeber hat die Arbeitslosenver-
Wirtschafts- und Strukturpolitik, um Krisen zu verhin- sicherung eine wichtige Funktion. Da sie verhindert, dass
dern oder zu bekämpfen. Zur Absicherung der Risiken am Beschäftigte unmittelbar in Existenznot geraten, werden
Arbeitsmarkt gibt es die Arbeitslosenversicherung, in die die Konflikte bei Entlassungsprozessen entschärft. Die
sowohl die Beschäftigten als auch die Arbeitgeber Beiträ- Arbeitgeber verlagern einen Teil ihrer Verantwortung auf
ge einzahlen. Sie hat den Zweck, die Ausgleichsprozesse das Versicherungssystem. Deswegen ist es auch richtig,
des Arbeitsmarktes – also das Verschwinden und Ent- dass sowohl die Beschäftigten als auch die Arbeitgeber
sich an den Kosten beteiligen. Durch die Förderung von
Aus- und Fortbildungen sorgt die Arbeitslosenversiche-
Auch für ein bis zwei Millionen Abgehängte rung zudem dafür, dass die Arbeitsuchenden sich weiter
könnte der Arbeitsmarkt langsam qualifizieren und als Fachkräfte zur Verfügung stehen
wieder öffnen. Aber der Zugang ist schwer können. Auch dies liegt im Interesse der Arbeitgeber.
ATLAS DER ARBEIT / IAB

HARTZ IV – DER HARTE KERN


Empfang von Arbeitslosengeld und Grundsicherung, Langzeitarbeitslose und Fluktuation, 2016,
in 1.000 Personen in 1.000 Personen
89

902 933 822 819 888


2.897 2.898 2.691 2.480 2.691
122
1.995 1.965 1.869 1.661 60

2012 2014 2016 2018 (Prognose)


sind länger als 1 Jahr arbeitslos
Arbeitslosengeld Grundsicherung (ALG II, „Hartz IV“) finden innerhalb eines Monats neue Stelle

ATLAS DER ARBEIT 19


ATYPISCHE ARBEIT

ENDE DER NORMALITÄT


Eigentlich sind flexible Arbeitsverhältnisse Mitgliederzahlen bei Gewerkschaften wie Arbeitgeberver-
zu begrüßen – aber nicht, wenn sie unfreiwillig bänden hatten zur Folge, dass die Tarifbindung in den
eingegangen werden, Niedriglöhne und Branchen schwand und es den Tarifpartnern schwerfiel,
Unsicherheit produzieren und kein Weg zur noch verbindliche Branchenstandards zu setzen.
Mittlerweile arbeiten 7,4 Millionen Menschen in Mi-
Vollzeitstelle führt.
nijobs. Das heißt: Sie dürfen nicht mehr als 450 Euro im
Monat verdienen. Für 4,7 Millionen von ihnen ist das die


en westdeutschen Arbeitsmarkt kennzeichnen einzige Einkommensquelle. Entgegen der ursprünglichen
zwei große, aufeinander folgende Entwicklungen. Idee haben sich Minijobs für die Beschäftigten nicht als
Zunächst setzte sich das sogenannte Normalar- Einstieg zu guter Arbeit erwiesen.
beitsverhältnis durch: die unbefristete Vollzeitstelle. Sie Zugenommen hat auch die Teilzeitbeschäftigung, vor
galt in den 1980er-Jahren zeitweilig für 86 Prozent aller allem bei Frauen. Sie bietet Müttern eine Möglichkeit, Fa-
abhängig Beschäftigten. In einem langen Kampf hatten milie und Beruf besser zu vereinbaren. Doch oft fehlt die
Arbeiterbewegung und Gewerkschaften erreicht, dass Perspektive, von Teilzeit wieder in die Vollzeit zu wech-
sich einheitliche Bedingungen bei Entgelt und Arbeitszei- seln. Für viele Frauen bedeutet die Geburt des ersten Kin-
ten durchsetzten. Allerdings war dieses Normalarbeits- des den Beginn einer Erwerbsbiografie in Teilzeit, die bis
verhältnis weitgehend auf den männlichen Familien- zur Rente dominiert. Außerdem diskriminieren etliche
ernährer beschränkt. Unternehmen Teilzeitbeschäftigte, indem sie ihnen einen
Dann, ab Mitte der 1980er-Jahre, deregulierte der Ge- beruflichen Aufstieg verwehren.
setzgeber den Arbeitsmarkt und ermöglichte immer mehr Arbeitgeber nutzen Leiharbeit als Instrument, Produk-
atypische Beschäftigungsformen. Dazu gehören Mini- tionsschwankungen flexibel auszugleichen. Mittlerweile
jobs, Teilzeit- und Leiharbeit, Werk- und Zeitverträge. arbeiten in Deutschland über eine Million Leihbeschäftig-
Der Grund: Die hohe Arbeitslosigkeit und die sinkenden te. Für viele von ihnen wird das zum Dauerzustand, oder
sie wechseln immer wieder zwischen Leiharbeit, Arbeits-
losigkeit und abhängiger Beschäftigung, ohne Aussicht
auf einen regulären Job. Problematisch ist Leiharbeit
FRAUEN DOMINIEREN
Erwerbsformen nach Geschlecht, 1991 und 2016,
zudem, weil sie Belegschaften in Beschäftigte erster und
in Prozent zweiter Klasse spaltet.
Bei Werkverträgen gibt es keine offiziellen Daten.
Normalarbeitsverhältnisse Selbstständige Statistisch erfasst werden nur die Solo-Selbstständigen,
atypische Beschäftigung* die überwiegend über Dienst- oder Werkverträge Aufträ-
ge erfüllen. Deren Zahl ist von 1,4 Millionen im Jahr 1991
11 12 auf 2,3 Millionen im Jahr 2016 gestiegen. Die Hälfte der
6 Solo-Selbstständigen in Deutschland hat nur ein Einkom-
12
men im Niedriglohnbereich. Außerdem ist der Schutz vor
1991 2016
Krankheit und Verdienstausfall sowie die materielle Ab-
83 76 sicherung im Alter unzureichend. Im Zuge der Hartz-Re-
Männer formen hat die Bundesregierung 2004 mit der Förderung
der Ich-AGs die Zahl der Solo-Selbstständigen drastisch
gesteigert, um Menschen aus der Arbeitslosigkeit zu ho-
5 7 len. Für die meisten Selbstständigen hat sich daraus aber
keine langfristige Perspektive entwickelt.
23
31 Auch die Zahl zeitlich begrenzter Arbeitsverhältnisse
1991 2016
ist stark angestiegen. Mittlerweile erhalten 44 Prozent al-
62
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS

72 ler Neueingestellten nur noch befristete Verträge. In der


Frauen

Die Statistik deutet es an: Viele Mütter


* im engeren Sinn: u. a. Teilzeitarbeit unter 20 Stunden/Woche,
ohne Solo-Unternehmer, nur 15- bis 64-Jährige arbeiten weniger – aus freiem
Willen, Tradition oder Notwendigkeit

20 ATLAS DER ARBEIT


GRÖSSTER ARBEITSMIX IN NORD UND WEST
Anteil atypischer Arbeitsverhältnisse* Hamburg
an der Gesamtbeschäftigung in Deutschland
nach Landkreisen, 2016 Schleswig-Holstein Mecklenburg-Vorpommern

Bremen
in Prozent
unter 35 Niedersachsen Brandenburg
35 bis 37,9
38 bis 40,9
41 bis 43,9 Nordrhein- Berlin
44 bis 46,9 Westfalen
47 bis 49,9
über 50 Sachsen
Hessen

Sachsen-Anhalt

Thüringen
Rheinland-Pfalz

Saarland
Bayern

ATLAS DER ARBEIT / HBS


Baden-Württemberg

* in weiter Fassung: alle Beschäftigungen,


die in weniger als Vollzeit arbeiten

In Ostdeutschland arbeiten mehr Frauen


Hälfte der Fälle geschieht das ohne einen sogenannten Vollzeit als im Westen, im Süden drängt die gute
Sachgrund, also etwa eine Elternzeitvertretung. Befris- Wirtschaftslage die atypischen Jobs zurück
tete Verträge mit Sachgrund werden zwar immer wieder
verlängert, aber die Beschäftigten können über Jahre oder
sogar Jahrzehnte nie sicher sein, wie lange sie noch Arbeit In Deutschland hat sich die Erwerbsarmut von 2004
haben. Über 60 Prozent der Beschäftigten unter 35 Jahren bis 2014 verdoppelt. Die Kritik daran nimmt zu, mit dem
leben mit dieser Ungewissheit. Im öffentlichen Dienst Ziel, prekäre Arbeit wieder in reguläre umzuwandeln. Die
oder im Wissenschaftsbetrieb ist dies die Regel. Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 war ein
Solche atypischen Arbeitsformen sind problema- erster Schritt, um ein weiteres Absinken der Löhne zu ver-
tisch, wenn sie prekär sind. In allen Formen prekärer hindern.
Arbeit ist nämlich ein ähnliches Muster erkennbar: nied-
rige Einkommen, geringer sozialer Schutz und weniger
Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten. Davon wer-
IN VOLLZEIT BALD ALS MINDERHEIT
den auch die Stammbelegschaften in Mitleidenschaft ge- Vollzeit- und atypisch Beschäftigte, in Millionen
zogen. Beschäftigte im Normalarbeitsverhältnis werden
durch die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes unter sozialversicherte
25
Vollbeschäftigte 22,8
Druck gesetzt, ihren Arbeitsgebern Zugeständnisse zu
machen. 20 21,7
Der wachsenden prekären Arbeit entspricht die Zu-
nahme des Niedriglohnbereichs. In Deutschland ist er 15 atypisch Beschäftigte
größer als in allen anderen Staaten Westeuropas. 1,2 Mil-
2,66 befristet
lionen Erwerbstätige verdienen so wenig, dass sie zusätz- 10
geringfügig entlohnt 7,44 1,99 solo-selbstständig
lich auf Hartz IV angewiesen sind.
2016 1,0 in Leiharbeit
ATLAS DER ARBEIT / DGB

5
8,55 sozialversichert, in Teilzeit

In den atypischen Beschäftigungen fließen 0


alle Formen von freiwilligen bis zu wirtschaftlich 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

erzwungenen Arbeitsverhältnissen zusammen

ATLAS DER ARBEIT 21


DEMOGRAFIE

WAS DIE ZUKUNFT BRINGT


Die beginnende Verknappung der Arbeitskräfte Dennoch ist erkennbar, dass der Steigerung der Pro-
muss niemandem Angst machen. Im Gegenteil: duktivität Grenzen gesetzt sind. Für die Zukunft bieten
Reagieren Gesellschaft, Staat und Wirtschaft sich drei Wege an: Erstens müssten mehr Menschen
angemessen, sind die Folgen positiv. hierzulande in den Arbeitsprozess eingebunden werden.
Zweitens sollte die Arbeit so gestaltet werden, dass die
Menschen lange gesund bleiben, um auch im höheren


eit 1972 sterben in Deutschland jedes Jahr mehr Alter arbeiten zu können. Und drittens ist mehr Zuwande-
Menschen, als Kinder geboren werden. So kamen rung unumgänglich.
im Jahr 2016 knapp 800.000 Babys zur Welt, wäh- Die Erwerbsbeteiligung ist schon jetzt in Deutschland
rend mehr als 900.000 Menschen starben. Auch wenn in relativ hoch. Derzeit arbeiten 74 Prozent der Frauen und
den vergangenen Jahren die Geburtenrate wieder lang- 82 Prozent der Männer. Auffällig ist jedoch, dass nur 12
sam gestiegen ist, schrumpft die Bevölkerung weiter. Prozent der Männer, aber 48 Prozent der Frauen teilzeit-
Das hat Konsequenzen für das Zusammenleben der beschäftigt sind, viele nur in einem Minijob. Dieses Poten-
Menschen und für den Arbeitsmarkt. Die Frage ist, ob die zial wird bislang noch nicht ausgeschöpft.
Gesellschaft diese starke Veränderung der Altersstruktur Trotz guter Beschäftigung suchen immer noch 2,5 Mil-
aushält und wie sich die Beziehung zwischen den Berufs- lionen Menschen Arbeit. Über eine Million sind ebenfalls
tätigen und den Menschen verändert, die im Alter versorgt erwerbslos, werden aber aus verschiedenen Gründen
werden müssen. Wird es in Zukunft genügend Pflegekräf- nicht als arbeitslos gezählt, zum Beispiel, weil sie an ei-
te, aber auch genügend Facharbeiter und Forscherinnen ner Weiterbildung teilnehmen. Angesichts der demogra-
geben? Und kann eine schrumpfende Volkswirtschaft fischen Veränderungen kann es sich die Bundesrepublik
international weiter einen Spitzenplatz einnehmen, wie nicht leisten, auf ihre Arbeitskraft zu verzichten.
Deutschland es zurzeit noch tut? Die Menschen, die arbeiten, müssen sich zudem stän-
Die demografische Entwicklung muss zunächst ein- dig weiterbilden. Lebenslanges Lernen ist das Stichwort.
mal keine Angst machen. Die Produktivität nimmt weiter Hierfür bedarf es zunächst einer professionellen Bera-
zu: Durch den Einsatz von Technik, Energie und Wissen tung, die derzeit durch die Arbeitsagenturen aufgebaut
können weniger Menschen mehr produzieren. Diese Ent- wird. Daneben stehen aber auch die Unternehmen in der
wicklung wird sich durch die Digitalisierung vieler Pro- Verantwortung, sich für zusätzliche Qualifikationen ihrer
duktionsbereiche noch beschleunigen. Mitarbeitenden zu engagieren.
Eine wichtige Voraussetzung für alle Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer ist eine gute berufliche Grundbil-
dung. 2008 wurde deshalb auf dem Dresdner Bildungs-
DEUTSCHE ALTERSPYRAMIDEN
Altersstruktur der Bevölkerung, Personen in 1.000
gipfel vereinbart, die Zahl der ausbildungsfähigen jungen
Erwachsenen ohne Berufsabschluss von 17 Prozent auf
Männer Kriegsfolgen Pillenknick 8,5 Prozent zu halbieren. Seitdem hat es Fortschritte ge-
Frauen Babyboom Wendeknick geben. Doch das Ziel ist bei Weitem nicht erreicht. Zusätz-
Alter lich wäre es sinnvoll, dass ältere Jugendliche und junge
100 1950 2016 2060*
Erwachsene mit Unterstützung der Arbeitsagenturen ei-
90
nen Berufsabschluss nachholen können.
80
Ebenso wichtig wie Aus- und Fortbildung ist die Ge-
70
sundheit. Schlechte Arbeitsbedingungen, monotone Tä-
60
tigkeiten und schwere körperliche Betätigungen machen
50
Menschen krank und verhindern in etlichen Branchen,
40
dass Mitarbeitende bis zum regulären Ruhestandsalter ar-
30
beiten. Erst wenn Unternehmen dieses Problem angehen,
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS

20
können ihre Fachkräfte länger tätig sein.
10

0
600 0 0 600 600 0 0 600 600 0 0 600
Sie heißen zwar noch „Pyramiden“, aber der von
Kriegsfolgen: im 2. Weltkrieg Getötete, Geburtenrückgang. Wendeknick:
Geburtenrückgang in Ostdeutschland ab 1990 * Vorausberechnung Krieg und Geburtenrückgang geprägte Altersaufbau der
Bevölkerung verlangt nach einer neuen Bezeichnung

22 ATLAS DER ARBEIT


ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS
DAS MÖGLICHE ENDE DER ARBEITSLOSIGKEIT
Der Rückgang der Geburtenrate ist auch eine gesellschaftliche Chance. Ein Szenario

Schrumpfen der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, mit Geburtsjahren, in 1.000, im Ganzjahresdurchschnitt


1965
1.500 1960
1.296
1.183 1940 1955 1.214
1990 1950
1.200 1.041
975 993

900
939 1985
829 827
600 746 752
674 1995 2000
2005 2010
1945 Die Jahrgänge um 1945,
300 schwächer als die um 1990, Ausscheiden mit 65 Jahren
verlassen den Arbeitsmarkt. Eintritt mit 20 Jahren
0
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030

Arbeitslosigkeit minus wegfallende Erwerbstätige durch den demografischen Wandel*, in 1.000, im Ganzjahresdurchschnitt
5.000

4.860 registrierte Arbeitslose


4.000 wegfallende Erwerbstätige
3.244
2.795 Wenn die geburtenstarken Jahrgänge
3.000 das Alter von 65 erreichen, werden
2.085 bei 80 Prozent Erwerbsquote rechnerisch
so viele Arbeitsplätze frei, dass in nur
2.000 9 Jahren Vollbeschäftigung möglich wäre.

1.000
605
226 -223
-169
0 -435
-128 -171
-1.000
-374
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030

* Von der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren waren 2005 bis 2016 zunehmend 69,4 bis 78,6 Prozent erwerbstätig; für 2018 bis 2030 mit 80 Prozent kalkuliert.
Sowohl die Zahl der Menschen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen als auch die der offenen Stellen wird 2018 0,8 Millionen betragen (hier unberücksichtigt).

In optimistischer Perspektive
Seit die geburtenschwachen Jahrgänge Rechnerisch könnte damit schon 2027 neuen Beschäftigten wiederum Steuern
infolge des Zweiten Weltkriegs den Ar- die Arbeitslosigkeit komplett beseitigt zahlen. Knappheit an Arbeitskräften er-
beitsmarkt verlassen haben, wirkt sich sein. In der Praxis wird das nicht gehen. laubt auch deutliche Lohnsteigerungen.
der demografische Wandel immer posi- Daher muss vor allem die Immigration So kann der Staat die Kleinrenten subst-
tiver aus. Von 2013 bis 2018 steigen jähr- einspringen. Doch die neue Nachfrage anziell erhöhen. Am wichtigsten ist die
lich netto bis zu 100.000 Arbeitskräfte nach Arbeitskräften kann in großem Aufwertung des Bildungssystems.
aus dem Erwerbsleben aus, von 2019 bis Maßstab die familiären, Jahrzehnte al- Jetzt kann eine umsichtige Arbeits-
2023 werden bis zu 200.000 Stellen frei, ten Armutsketten durchbrechen. markt-, Sozial- und Bildungspolitik eini-
von 2024 bis 2027 bis zu 300.000 und ab Millionen Arbeitslose weniger ent- ge Fehlentwicklungen der vergangenen
2028 über 300.000 – pro Jahr. lasten den Sozialstaat enorm, zumal die Jahrzehnte korrigieren.

Entscheidend wird künftig noch mehr als heute die Gesellschaftlich umstritten ist vor allem die Zuwande-
Zuwanderung sein. Schon jetzt besetzen Ausländerinnen rung aus Nicht-EU-Staaten. Da die deutsche Wirtschaft auf
und Ausländer etwa 50 Prozent der neu entstehenden lange Sicht mehr Arbeitskräfte braucht, wird eine klare
Arbeitsplätze. In erster Linie kommen die Menschen aus gesetzliche Regelung für die Einwanderung immer dringli-
der Europäischen Union. 2016 arbeiteten gut eine Million cher. Es gilt, ein Zuwanderungssystem zu schaffen, das es
Menschen aus den östlichen EU-Staaten in Deutschland. Menschen aus Drittstaaten ermöglicht, legal nach Deutsch-
Weitere 600.000 kommen aus Südeuropa. Sie haben un- land zu kommen und hier zu arbeiten. In den Herkunftsstaa-
beschränkten Zutritt zum deutschen Arbeitsmarkt. Für ten verursacht die Abwanderung talentierter Arbeitskräfte
gut qualifizierte Menschen ist Deutschland hoch attraktiv. Probleme. Deutschland würde verantwortungsbewusst
Auch Handwerker, Pflegekräfte und Menschen, die in ver- handeln, wenn es diesen Ländern bei der Ausbildung
schiedenen Dienstleistungsberufen arbeiten, haben gute helfen würde, um dort mehr Fachkräfte zu schulen. Davon
Perspektiven. würden letztlich beide Seiten profitieren.

ATLAS DER ARBEIT 23


ARBEITSZEIT

PER HALBTAGSJOB ZU
UNBEZAHLTEN ÜBERSTUNDEN
Viele Beschäftigte möchten ihre Arbeitszeiten über die Hälfte aller Beschäftigten statt der zweiten Lohn-
selbst bestimmen. Auch die Arbeitgeber erhöhungsstufe sechs zusätzliche Urlaubstage. Das The-
fordern Flexibilität – im Eigeninteresse. ma der Zukunft ist gesetzt: Die Beschäftigten wollen ihre
Arbeitszeit flexibler gestalten.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich hier bereits


ür die Beschäftigten ist es heutzutage wichtiger vieles verändert. Die durchschnittliche wöchentliche Ar-
denn je, wann und wie lange sie arbeiten. In Fami- beitszeit ist zwischen 1992 und 2015 von 38,1 auf 35,6 Stun-
lien etwa sind mehrheitlich beide Ehepartner be- den gesunken – allerdings nicht, weil weniger gearbeitet
rufstätig und müssen ihre Arbeit mit den Erfordernissen wird, sondern weil es mehr Teilzeitbeschäftigte gibt.
ihres Privatlebens in Einklang bringen. Es ist daher nur Während Vollzeitbeschäftigte 2015 knapp 42 Stunden in
konsequent, dass die Resonanz auf eine Umfrage der IG der Woche arbeiteten, waren es bei Teilzeitbeschäftigten
Metall zur Arbeitszeit 2017 überwältigend und klar aus- knapp 20 Stunden. Von 2006 bis 2015 ist ihr Anteil von
fiel: Von den 680.000 Beschäftigten, die geantwortet ha- 12 auf 22 Prozent gestiegen. Die meisten von ihnen sind
ben, stimmte eine Mehrheit dafür, befristet die Arbeitszeit Frauen.
senken zu dürfen, um sich zum Beispiel um die Familie Zugenommen haben auch atypische Arbeitszeiten
kümmern zu können. Kurz zuvor wählten beim Tarifver- wie Wochenend-, Schicht- und Nachtarbeit. Jeder fünfte
trag der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) abhängig Beschäftigte arbeitete 2015 regelmäßig jenseits
der traditionellen Arbeitszeit von 7 bis 19 Uhr, allein
sechs Millionen Beschäftigte im Schichtsystem. Das hat
zwar mitunter Vorteile, wenn es um die Vereinbarkeit von
ARBEIT – MEHR ODER WENIGER
Gewünschte Veränderung der Wochenarbeitsstunden
Familie und Beruf geht. Es kann auch finanziell attraktiv
und Anzahl der Beschäftigten mit diesem Wunsch, sein, weil atypische Arbeitszeiten über Zuschläge oft bes-
in 1.000, 2016 ser bezahlt werden. Doch die Nachteile sind offenkundig:
Wer Schicht arbeitet, lebt gegen die innere Uhr. Das kann
in Vollzeit die Gesundheit erheblich gefährden, wie die Bundesan-
in Teilzeit stalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin warnt.
+7,2 +17,4 Aussuchen können sich die Beschäftigten ihre Ar-
beitszeit meistens nicht. Mehr als ein Drittel der abhängig
Beschäftigten hat variable Arbeitszeiten, knapp ein Vier-
21
873 401 606 tel arbeitet Gleitzeit, aber nur weniger als zehn Prozent
können selbst bestimmen, wann sie zur Arbeit gehen. Es
sind eher Männer und vor allem diejenigen in höheren
Männer
-11,5 -9,3 Positionen, die diese Freiheit genießen. Hinzu kommt:
Die Beschäftigten müssen länger durchhalten, weil das
gesetzliche Renteneintrittsalter steigt. Viele schaffen das
+6,4 +12,5 nicht – nur gut jeder zweite über 60-Jährige arbeitet noch.
Obendrein hat die Arbeitsverdichtung in den vergan-
genen Jahren durch die Digitalisierung und den Abbau
307 1.042 423 109 von Arbeitsplätzen stark zugenommen. Als eine Folge ist
die Zahl der Überstunden rasant angestiegen, vor allem
die der unbezahlten. Waren es in den 1990er-Jahren rund
Frauen
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS

-11,1 -7,7 49 bezahlte und 23 unbezahlte Überstunden jährlich,

mehr Arbeit gewünscht


weniger Arbeit gewünscht Eine Million Vollzeitbeschäftigte würde gerne auf
eine Dreiviertelstelle wechseln, auch wenn
Lohn oder Gehalt entsprechend sinken würden

24 ATLAS DER ARBEIT


FEIERABEND GESUCHT
Beruflich veranlasste Tätigkeiten außerhalb regulärer Arbeitszeiten, in Prozent

sehr häufig oft selten nie

Wie häufig arbeiten Sie am Wochenende? 13 13 29 45

Wie häufig arbeiten Sie zwischen 18 und 23 Uhr? 13 14 24 49

Wie häufig arbeiten Sie zwischen 23 und 6 Uhr? 4 5 9 82

Wie oft sollten Sie außerhalb Ihrer normalen Arbeitszeit


zum Beispiel per E-Mail oder Telefon erreichbar sein?
12 10 30 48

ATLAS DER ARBEIT / DGB


Wie häufig erledigen Sie außerhalb ihrer normalen
Arbeitszeit unbezahlte Arbeit für Ihren Betrieb?
6 9 23 62

Für rund ein Viertel der Beschäftigten gilt


hat sich das Verhältnis 20 Jahre später umgekehrt: 2013 „nur tagsüber arbeiten“ nicht. Die Grenze
leisteten Beschäftigte durchschnittlich 20 bezahlte und zwischen Job und Freizeit verschwimmt
27 unbezahlte Überstunden – und das sind nur die, die
erfasst werden. Im Jahr 2016 wurden in Deutschland 1,8
Milliarden Stunden über Plan gearbeitet, davon rund die chen. Laut Gesetz beträgt die Regelarbeitszeit im Schnitt
Hälfte unbezahlt. Insbesondere Teilzeitkräfte engagieren acht Stunden am Tag und in der Woche maximal 48 Stun-
sich häufig länger und intensiver, weil sie versuchen, in den. Unter bestimmten Bedingungen und für eine befris-
der vorgegebenen Arbeitszeit mehr zu schaffen. tete Zeit kann mehr gearbeitet werden, Schichtsysteme
Vor allem Beschäftigte, die Umsatzvorgaben oder und manche Branchen sind von den Vorschriften ausge-
Zielvereinbarungen haben, schaffen es oft nicht, die Ar- nommen. Diese auch auf EU-Ebene verankerten Gesetze
beitszeiten und Arbeitszeitregelungen einzuhalten, die in basieren auf wissenschaftlichen Untersuchungen: Mehr
ihrem Vertrag vereinbart sind. Der Arbeitsprozess richtet Arbeit, so die Forscher, macht krank. Verstöße gegen das
sich bei ihnen nicht mehr nach der Arbeitszeit, sondern Arbeitszeitgesetz werden deswegen auch scharf bestraft.
nach den zuvor definierten Zielen. Ist die Arbeitszeit nicht Die Gewerkschaften lehnen eine Öffnung des Arbeitszeit-
formal geregelt, arbeiten Beschäftigte im Durchschnitt gesetzes strikt ab. Sie verweisen darauf, dass Arbeitszeit-
vier Stunden pro Woche länger als diejenigen, bei denen konten, Überstunden, Tarifverträge und Betriebsverein-
sie festgeschrieben ist. Dies gilt in erster Linie für Männer, barungen bereits genügend Flexibilität bieten.
die ihre Arbeitszeit eher ausweiten als Frauen.
Die Entgrenzung der Arbeit vor allem durch die Digita-
lisierung ist häufig mit psychischer Belastung, Stress und
VOLL- UND TEILZEIT
gesundheitlichen Problemen verbunden. Rund 80 Prozent Arbeitszeit bei Männern und Frauen, 2016
aller Beschäftigten arbeiten mittlerweile auch digital, das
heißt, an ihrem Arbeitsplatz werden Computer mit Inter- Millionen Personen in Vollzeit in Teilzeit
netanschluss, Roboter, Smartphones oder andere Geräte
2,4
genutzt, die miteinander vernetzt sind. Je höher der Grad 11,4
der Digitalisierung, desto mehr klagen Beschäftigte über 29,7 9,0 10,1
steigenden Druck, Stress und unbezahlte Mehrarbeit. 19,6
Als Reaktion auf die digitalisierte Arbeitswelt und ihre gesamt Männer Frauen
Möglichkeiten fordern Arbeitgeber immer häufiger, die
Wochenarbeitsstunden
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS

vorgegebenen gesetzlichen Arbeitszeitregeln aufzuwei-


41,7 42,3 40,4
19,8 17,7 20,4

Vollzeitstellen sind noch immer gesamt Männer Frauen


überwiegend Männersache, und in Teilzeit
arbeiten sie weniger als Frauen

ATLAS DER ARBEIT 25


JUGEND

GUTE AUSBILDUNG IST ALLES


Die duale Berufsausbildung in Betrieb und Die etwa 3,5 Millionen Betriebe werden von den dual Aus-
Schule, einst der Garant für gute fachliche gebildeten getragen. Sie bilden eine breite Mittelschicht
Kenntnisse und Leistungen, steht unter an beruflich Qualifizierten, die Probleme selbstständig
Druck. Ihre Attraktivität muss wieder steigen. erkennen und lösen können. Eine solche Belegschaft er-
laubt Unternehmen, neue Techniken schnell einzuführen
oder Produktionen zügig zu verändern. Dies wiederum ist


er in Deutschland eine berufliche Ausbildung der Kern ihrer Innovationskraft.
oder ein Studium erfolgreich abgeschlossen Gesteuert wird das duale Berufsbildungssystem ge-
hat, verdient meist deutlich mehr als Menschen meinsam von Gewerkschaften, Arbeitgebern und dem
ohne einen Abschluss. Und er oder sie wird seltener ar- Staat. Verankert ist es im nationalen Berufsbildungsge-
beitslos. Außerdem macht der Vergleich der Zahlen über setz. Die Partner entwickeln die Ausbildungsberufe mit
Jugendarbeitslosigkeit in Europa deutlich: In Deutsch- ihren Expertinnen und Experten aus der Praxis. Dies sorgt
land, Österreich und der Schweiz, den Ländern mit einer dafür, dass die Ausbildungsberufe in der Arbeitswelt an-
dualen Ausbildung, ist die Jugendarbeitslosigkeit weit erkannt sind und einen guten Ruf haben.
niedriger als in anderen Ländern. Doch die duale Berufsbildung steht seit fast zwei Jahr-
Die duale Ausbildung ist ein einzigartiges System, das zehnten unter Druck. In Deutschland werden immer we-
die praktische Lernzeit im Betrieb mit dem Besuch einer niger Fachkräfte ausgebildet. Zum einen ist die Zahl der
Berufsschule verbindet. Es gilt in vielen, auch außereuro- angebotenen Ausbildungsplätze von 2007 bis 2016 um
päischen Ländern als vorbildlich und als ein wesentlicher 80.000 gesunken, zum anderen haben sich im gleichen
Grund für die Qualität der Arbeit in Deutschland. Jugend- Zeitraum 155.000 Jugendliche weniger für eine duale Aus-
liche bekommen in den zwei- bis dreieinhalb Jahren ihrer bildung beworben.
Ausbildung das Rüstzeug, um dauerhaft auf dem Arbeits- Die Gründe sind vielfältig. Die Zahl der Geburten ist
markt zu bestehen und in unterschiedlichen Betrieben stark zurückgegangen. Zudem verlässt mittlerweile mehr
und Branchen zu arbeiten. als die Hälfte der Jugendlichen die Schule mit Abitur oder
In Deutschland werden fortlaufend rund 1,3 Millionen Fachhochschulreife. Diese jungen Menschen können
Jugendliche in rund 330 Berufen in Industrie, Handwerk, wählen, ob sie eine Ausbildung oder ein Studium begin-
freien Berufen und öffentlicher Verwaltung ausgebildet. nen – und viele entscheiden sich für das Studium. Ein
Grund ist, dass es noch vor 20 Jahren hieß: „Wer eine ab-
geschlossene Ausbildung hat, verdient auch gut.“ Doch
diese Regel wird durch den wachsenden Niedriglohnsek-
WER SUCHT, FINDET NICHT IMMER
Ausbildungsplätze in Deutschland im Überblick, in 1.000
tor ausgehöhlt. Jeder Fünfte mit abgeschlossener Aus-
bildung in Deutschland verdient weniger als zehn Euro
700 brutto pro Stunde. Im Osten Deutschlands sind es fast
604 40 Prozent. Das macht es schwer, Jugendliche für eine
600 Ausbildung zu gewinnen. Eine Ursache für die schlechte
Bezahlung ist, dass es in vielen Betrieben keinen Tarif-
572 vertrag mehr gibt.
500 Nachfrage
Hinzu kommt ein Verdrängungsproblem. Wenn Ju-
Angebot gendliche mit Abitur oder Fachhochschulreife eine Aus-
400
bildung machen wollen, werden sie von den Betrieben
bevorzugt. Für Hauptschülerinnen und Hauptschüler hat
300
das dramatische Folgen: Sie sind faktisch von der Hälfte
der Ausbildungsberufe ausgeschlossen.
200 erfolglose Nachfragende Das sind die wesentlichen Gründe, warum mehr als
unbesetzt gebliebene Stellen 1,2 Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 29 Jah-
ATLAS DER ARBEIT / BIBB

80
100

49 Jugendliche auf Suche nach einer Berufsausbildung


0
2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 sind nicht so flexibel wie Ältere und können
bei schmalem Entgelt auch nicht einfach pendeln

26 ATLAS DER ARBEIT


WO DIE JUGENDLICHEN FEHLEN – ODER GUTE LEHRSTELLEN
Jugendarbeitslosigkeit in den Bundesländern, Angebot von und Nachfrage nach Ausbildungsplätzen
März 2018, in Prozent in den Arbeitsamtsbezirken, 2016

auf 100 Nachfragende entfielen an Angeboten


Schleswig-Holstein unter 90
Hamburg
90 bis unter 100
5,5 100 bis unter 110
Mecklenburg-Vorpommern
Hamburg über 110
10,5
Bremen 5,4
8,5 Berlin
Niedersachsen 9,2 Berlin
9,6
Brandenburg
5,1 Sachsen-Anhalt
7,3
Nordrhein-
Westfalen Köln
6,6 6,9 Sachsen
5,7 4,7 Thüringen
Hessen unter 4
4,2 4 bis unter 6
6 bis unter 8
Rheinland-Pfalz 2,7 8 bis unter 10
5,1
über 10
Saarland Bayern
2,5 Frankfurt

ATLAS DER ARBEIT / BIBB


am Main
Baden-Württemberg

München

Werden viele Ausbildungsplätze angeboten und


ren keinen Berufsabschluss haben. Viele beenden zwar bleibt die Jugendarbeitslosigkeit trotzdem hoch,
die Schule, finden aber entweder keinen Ausbildungs- sind die Angebote vermutlich sehr unattraktiv
platz, brechen die Lehre ab oder stecken in einer Maßnah-
me im Übergang von Schule zu Beruf. Pro Jahrgang gehen
dadurch mehr als 120.000 Jugendliche verloren. Junge Beides sehen vor allem Gewerkschaften kritisch. Denn
Menschen mit höchstens einem Hauptschulabschluss abgespeckte Lehrpläne könnten den komplexer werden-
oder auch Einwanderer und Einwanderinnen schaffen es den Anforderungen kaum gerecht werden und die Jobs
immer seltener, gleich nach der Schule eine Ausbildung würden später entsprechend schlechter bezahlt. Nur eine
zu beginnen. umfassende Ausbildung gewährleistet, dass dem Arbeits-
Für sie wird es mit der Digitalisierung, die längst markt ausreichend qualifizierte Fachkräfte zur Verfügung
alle Branchen erreicht hat, auf dem Arbeitsmarkt noch stehen.
schwieriger. Aber auch die berufliche Bildung steht durch
die Digitalisierung vor enormen Herausforderungen. Die
rund 3.500 Berufsschulen in Deutschland sind oft nicht
DER ANFANG WIRD BESSER
ausreichend vorbereitet. Es fehlen Lehrkräfte, Räume und Schulische Vorbildung zu Ausbildungsbeginn, in Prozent
eine moderne technische Ausrüstung, die die Jugendli-
ohne Hauptschulabschluss
chen auf die neue Arbeitswelt vorbereitet. mit Hauptschulabschluss
Der Wandel in den Bildungsanforderungen und in mit Mittlerem Schulabschluss
der Betriebsstruktur, die Veränderungen durch die Digi- mit Studienberechtigung
talisierung und die Demografie können das Aufgebot an 2010
3,1 32,9 42,9 21,0
guten Fachkräften ernsthaft bedrohen. Die jedoch sind
eine unverzichtbare Voraussetzung für die Qualitätsmar- 2012
ke „Made in Germany“. Zunehmend werden daher neue 2,8 30,8 42,3 24,0
Ansätze diskutiert, etwa Teil- oder Kurzausbildungen.
2014
ATLAS DER ARBEIT / BIBB

2,9 28,1 42,8 26,2

Insgesamt steigt das Niveau bei 2016


3,1 25,3 42,8 28,7
Ausbildungsbeginn. Um etwa ein Prozent jährlich
sinkt der Anteil der Hauptschulabschlüsse

ATLAS DER ARBEIT 27


RENTE

RECHNUNG FÜRS LEBEN


Das Rentenniveau sinkt, das Rentenalter higkeit verändert. Der Beitragssatz zur gesetzlichen Ren-
steigt. Wer länger arbeitslos war oder tenversicherung wurde gesenkt und bis 2030 begrenzt.
nie besonders viel verdient hat, bekommt Gleichzeitig hat der Bundestag den Wert der Renten im
das bis zum Tod zu spüren. Vergleich zum Lohn gekürzt, das Rentenalter angeho-
ben und weitere Leistungen reduziert. Im Zuge dessen ist
das gesetzliche Rentenniveau bereits um etwa zehn Pro-


aum jemand will sein ganzes Leben arbeiten. Die zent gesunken und dürfte in den kommenden Jahren bei
meisten Menschen können es schon aus gesund- 48 Prozent verharren. Die Menschen sollen nun den sozi-
heitlichen Gründen nicht. Daher ist es ein Segen, alen Schutz wieder verstärkt selbst ausgleichen. Die pri-
dass sich vor über 125 Jahren die Idee der allgemeinen vate Altersvorsorge wird vom Staat gefördert.
Altersvorsorge durchsetzte. Diese Aufgabe übernimmt Dank dieser Rentenpolitik haben etliche Rentner die-
seit 1891 die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) – sie selben Probleme wie ihre Vorfahren im 19. Jahrhundert.
hieß anfangs noch Rentenversicherung der Arbeiter. Ein- Das Geld reicht bei Erwerbsunfähigkeit oder -minderung
geführt wurde sie vor allem, weil die Arbeiterinnen und und im Alter nicht mehr für ein auskömmliches Leben,
Arbeiter Sicherheit im Alter oder bei Invalidität einfor- geschweige denn dafür, den bisherigen Lebensstandard
derten; „Invaliden“, wörtlich „Kraftlose“, hießen die Er- zu halten. Rentnerinnen und Rentner können sich immer
werbsunfähigen. Bis dahin waren die Beschäftigten nach weniger leisten. Eine wachsende Zahl von ihnen ist auf er-
dem Arbeitsleben auf die Kinder und private Vorsorge an- gänzende Fürsorge wie die Grundsicherung angewiesen,
gewiesen; ebenso, wenn sie nach Unfällen oder Erkran- also auf das Sozialamt. Dieser Trend wird sich fortsetzen,
kungen nicht mehr arbeiten konnten. Da beides oft nicht wenn sich an der Rentenpolitik nichts ändert.
ausreichte, lebten viele in Armut und Elend. Hinzu kommen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt.
Das Prinzip der gesetzlichen Rente ist einfach: Die Menschen sind und waren in den vergangenen Jahrzehn-
Beschäftigten bilden eine Solidargemeinschaft, um sich ten häufiger arbeitslos als früher. Viele Stellen werden
gegenseitig abzusichern. Wer arbeitet, zahlt Beiträge. Wer heute schlechter bezahlt oder nur in Teilzeit angeboten.
nicht mehr arbeiten kann, bekommt eine Rente. Die Höhe Viele Menschen sind gar nicht mehr sozialversichert, weil
ist abhängig von der Dauer und der Höhe der gezahlten sie nur einen sogenannten Minijob haben oder selbststän-
Beiträge. Ab einem bestimmten Alter, der sogenannten dig sind. Wer aber wenig verdient oder gar keine Beiträge
Regelaltersgrenze von derzeit 65 Jahren und acht Mona-
ten, soll niemand mehr arbeiten müssen. Die Beschäftig-
ten bekommen eine Rente, die ihren Lohn ersetzt. Wer unterdurchschnittlich verdient hat, kann bei einem
Der Deutsche Bundestag hat seit den 1990er-Jahren Rentenniveau unter 50 Prozent deutliche Einschnitte
viel an der Absicherung im Alter und bei Erwerbsunfä- bei der Lebensführung nur mit einem Minijob vermeiden

KNAPP DIE HÄLFTE


Entwicklung des Standardrentenniveaus in Prozent des Arbeitsentgeltes

59,5
60
54,8

50
48,0

40

30

20
ATLAS DER ARBEIT / DRV

10

0
1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016

28 ATLAS DER ARBEIT


VIELFALT DER ERWERBSBIOGRAFIEN – HERAUSFORDERUNG FÜR DIE RENTENPOLITIK
Drei schematische Lebensläufe, Einkommen in Prozent eines Durchschnittsgehaltes

160
Schule, Ausbildung, Zivil-/ in Teilzeit Sabbatical
Wehrdienst, Studium geringfügig beschäftigt Altersteilzeit
voll beschäftigt arbeitslos Verrentung 140
Kindererziehungszeit
120 120

100 100 100

Verkäuferin
80 mit zwei 80 80
Kindern
60 60 60

Projekt-
40 40 40 managerin,
kinderlos
Elektroinstallateur,

ATLAS DER ARBEIT / ARCHIV


20 20 20
Familienversorger

0 0 0
10 20 30 40 50 60 70 10 20 30 40 50 60 70 10 20 30 40 50 60 70

Erwerbs- und Rentenbiografien sind nicht immer gleichzusetzen. Beispielsweise erhöht Kindererziehung die Rente, auch ohne Lohnarbeit.

Die besten Mittel gegen Altersarmut


zahlt, bekommt am Ende auch wenig oder gar keine Ren- sind Lohnerhöhungen für Geringverdienende
te. Und wer wenig verdient oder arbeitslos ist, hat oft auch und eine Anhebung des Rentenniveaus
kein Geld, um privat vorzusorgen. Auch deswegen haben
immer mehr Menschen nur geringe Renten.
Außerdem erhalten Beschäftigte, die aus gesundheit- Arbeitsplatz zu geben. Auch gilt es, die Lebensarbeitszeit
lichen Gründen ihren Beruf nicht mehr ausüben können, nicht weiter zu erhöhen.
heute grundsätzlich keine Rente mehr – für Jahrgänge Entscheidend ist letztlich, ob die Bundesregierung
bis 1961 gilt eine Übergangsregelung. Stattdessen sollen die gesetzliche Rentenversicherung wieder stärkt. Dazu
die Betroffenen irgendeine Arbeit annehmen, egal wie müsste sie das Rentenniveau stabilisieren und anheben.
schlecht bezahlt sie sein mag. Wer keine Arbeit findet, ist Zeiten, in denen Menschen wenig verdient haben, in de-
auf seine Partnerin oder seinen Partner angewiesen oder nen sie arbeitslos oder in Bildungsmaßnahmen waren,
muss zum Jobcenter, um Arbeitslosengeld II (umgangs- dürften nicht zu einem schlechteren Auskommen führen.
sprachlich Hartz IV) zu beziehen – oft über Jahre, bis er Alle Beschäftigten sollten im Alter und bei Erwerbsmin-
oder sie alt genug für die Altersrente ist. Ein ähnliches derung ein Leben in Würde führen und am gesellschaftli-
Schicksal droht jenen, die wenige Jahre vor der Rente chen Leben teilhaben können.
ihren Arbeitsplatz verlieren. Denn trotz aller Sonntagsre-
den der Arbeitgeber haben ältere Arbeitslose nur geringe
Chancen, eine neue Arbeit zu finden, von der sie auch le-
ERHÖHUNG NÖTIG
ben können. Meinungsumfrage über die gesetzliche Altersrente,
Für eine gute Alterssicherung wäre eine neue Ord- 2016, in Prozent
nung am Arbeitsmarkt notwendig, die für gute Arbeits-
bedingungen und Tarifverträge mit hohen Löhnen sorgt. Wird Ihre 3
Dazu müssten grundlose Befristungen abgeschafft und gesetzliche
Rente 15
unfreiwillige Teilzeit abgebaut werden. So könnten die später einmal
Menschen gesund bis zur Rente arbeiten und auch da- ausreichen?
nach frei von Armut leben. Wichtig wäre es zudem, Men- 43
schen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder äl-
teren Erwerbslosen Perspektiven für einen gut bezahlten
ATLAS DER ARBEIT / DGB

nein 39
gerade so
gut
Zusatzrente, Erbe, eigenes Vermögen oder das
sehr gut
von Gatte oder Gattin – wer all dies nicht hat, ist auf
die gesetzliche Rentenversicherung angewiesen

ATLAS DER ARBEIT 29


FRAUEN

VIELE GRÜNDE FÜR DIE


UNGLEICHSTELLUNG
Die Erwerbsbiografien von Frauen verlaufen wie Hausarbeit, Kindererziehung, Pflege von Angehöri-
meist deutlich ungünstiger als die der gen und Ehrenamt auf (Gender Care Gap).
Männer. Das liegt auch – aber nicht nur – an Über den gesamten Erwerbsverlauf müssen sich Frau-
den Kindern und ihren Vätern. en besonderen Herausforderungen stellen – von der Be-
rufswahl über die Familiengründung bis zur Rente. So
werden sie schlechter bezahlt als Männer (Gender Pay


eit der Industrialisierung galt die Erwerbstätigkeit Gap). Ihr Bruttostundenlohn liegt im Schnitt um etwa
von Frauen als unverzichtbar, um das Familienein- 22 Prozent unter dem der männlichen Kollegen. Dafür gibt
kommen aufzubessern. Das Ideal war allerdings es mehrere Ursachen: Frauen entscheiden sich häufig für
die Versorgerehe: Die Frau verrichtet die Hausarbeit, der Berufe im Dienstleistungssektor, in denen vergleichs-
Mann ist erwerbstätig. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr- weise geringe Gehälter gezahlt werden. Oft reduzieren
hunderts versuchten fast alle gesellschaftlichen Gruppen oder unterbrechen sie ihre Berufstätigkeit aus familiären
nach diesem Modell zu leben, obwohl nicht alle Männer Gründen. Zudem arbeiten Frauen häufiger als Männer in
genug verdienten. Mit der Jahrhundertwende veränderte kleineren Betrieben, die seltener der Tarifbindung unter-
sich das Frauenbild. Frauen sollten in den Genuss einer liegen und wo oft Mitbestimmungsrechte über den Be-
guten Schulbildung kommen und anschließend einen triebsrat nicht genutzt werden.
Beruf erlernen. Insbesondere die feministischen Vorden- Männer arbeiten eher in der Industrie, wo höhere Ge-
kerinnen der Arbeiterbewegung betrachteten die Berufs- hälter gezahlt werden. Nach wie vor ist diese Arbeit der
tätigkeit von Frauen als einen maßgeblichen Schritt zur Gesellschaft mehr wert als die soziale Arbeit mit Men-
Emanzipation. schen. Nur zögerlich beginnen junge Frauen, sich für
Heute scheinen Männer und Frauen im Berufsleben Berufe in den Bereichen Mathematik, Informatik, Natur-
weitgehend gleichgestellt. Ihre Erwerbstätigenquoten wissenschaften und Technik zu interessieren, die sich bei
liegen derzeit mit 82 Prozent (Männer) und 74 Prozent fortschreitender Digitalisierung besonders an den Anfor-
(Frauen) nah beieinander. Doch im Gegensatz zu Män- derungen der Zukunft orientieren. Bis heute schränken
nern sind Frauen oft nicht in Vollzeit beschäftigt (Gender
Time Gap). 2016 arbeitete fast jede zweite Frau, aber nur
10 Prozent der Männer in Teilzeit. Der wesentliche Grund: Eine Ganztagsbetreuung ist für Allein-
Im Vergleich zu Männern wenden Frauen 2017 täglich erziehende entscheidend. Auch die
mehr als doppelt so viel Zeit für unbezahlte Tätigkeiten Arbeitsteilung unter Eltern muss sich ändern

KINDERBETREUUNG AUSSERHALB UND INNERHALB DER FAMILIE


Anteil der Kinder in Ganztagesbetreuung, 2016,
in Prozent Zahl der Wochenstunden, die Beschäftigte
für die Betreuung ihrer Kinder
unter 3 Jahre 3 bis unter 6 Jahre im Durchschnitt aufwenden, 2016
49
in Vollzeit
13,1 in Teilzeit 39
Westdeutschland
37,7
29
26
ATLAS DER ARBEIT / WSI, DGB

39,9
Ostdeutschland Männer Frauen
73,5
Gesamtdeutschland
Teilzeit: unter 35 Stunden pro Woche

30 ATLAS DER ARBEIT


ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS
WARUM FRAUEN WENIGER VERDIENEN
Bruttostundenverdienst und Komponenten der Schlechterbezahlung

in Euro in Prozent Gender Pay Gap:


1,33 € 22,3 Prozent
4,43 €

6,7
1,16 € 5,8
4,7
19,87 €
2,1 0,7
0,94 € 2,3
0,42 €
15,44 € 0,13 €
0,46 € Frauen
77,7 verdienen
nur 77,7 Prozent des
Männerstundenlohns

Männer Frauen

offizielle Gründe im Klartext


Beruf und Branche weil in ihrem Beruf und in ihrer Branche schlechter verdient wird
unerklärter Rest (bereinigter Gender Pay Gap) weil sie eine Frau ist
Führungs- und Qualifikationsanspruch weil sie nicht so weit aufsteigt wie Männer
Beschäftigungsumfang weil ihr Stundenlohn niedriger ist, wenn sie nicht Vollzeit arbeitet
Bildungs- und Berufserfahrung weil sie schlechter ausgebildet ist
sonstige Faktoren sonstige Faktoren

Das Statistische Bundesamt berechnet die Gender Pay Gap alle vier Jahre. Differenzen durch Rundung

Erst wenn die traditionellen Rollenerwartungen


Frauen ihre berufliche Tätigkeit häufig ein oder geben sie sich ändern, wird sich die Gender Pay Gap
ganz auf, wenn sie eine Familie gründen. Deshalb können schließen – eine gesellschaftliche Aufgabe
sie ihre eigene Existenz deutlich seltener finanziell absi-
chern als Männer. Damit sinken ihre Chancen auf beruf-
liche Weiterentwicklung und Aufstieg. Doch ein Wandel kehren. Nur selten lassen sich die Arbeitszeiten dem
zeichnet sich ab: Heute nimmt jeder dritte Vater mit Un- Bedarf der Beschäftigten anpassen. Der Wiedereinstieg
terstützung des Elterngelds Elternzeit in Anspruch. Män- würde erleichtert, wenn Frauen über ihre Arbeitszeit mit-
ner unterstützen ihre Partnerin dadurch beim Wiederein- bestimmen könnten und zudem in Phasen der Teilzeittä-
stieg in die Erwerbstätigkeit. Außerdem wünscht sich fast tigkeit oder nach Pausen im Beruf Anspruch auf Weiter-
jeder zweite Mann ähnlich lange Arbeitszeiten wie seine bildung und Qualifizierung hätten.
Partnerin sowie eine partnerschaftliche Verteilung der Aufgrund „lückenhafter“ Erwerbsbiografien und ei-
Aufgaben in der Familie. ner unzureichenden eigenen Existenzsicherung in der
Noch immer leben Kinder meist mit Mutter und Vater Erwerbsphase verfügen Frauen in der Regel über ein we-
zusammen, doch 2016 gab es auch etwa 1,6 Millionen Al- sentlich geringeres Renteneinkommen. Es lag 2017 um 53
leinerziehende. Lediglich 182.000 von ihnen waren Väter. Prozent unter dem der Männer (Gender Pension Gap). Um
Vielfach können Alleinerziehende erst dann wieder ar- Frauen im Alter besser abzusichern, müsste die gesetzli-
beiten gehen, wenn sie eine Ganztagsbetreuung für ihre che Rentenversicherung gestärkt werden. Denn nur hier
Kinder finden. Für sie ist eine gute Betreuungsinfrastruk- werden die Zeiten für Kindererziehung und Pflege ausge-
tur noch wichtiger als für andere Erwerbstätige. Entschei- glichen.
dend ist auch, dass sie bis ins Schulalter sichergestellt ist Ohne gute gesellschaftliche Rahmenbedingungen,
und die Pflege von Angehörigen durch professionelle Hil- die partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Sor-
fe unterstützt wird. gearbeit sowie größere Chancen auf Weiterbildung und
Je länger die Familienphase dauert, umso schwerer Aufstieg haben Frauen nicht die selben Chancen wie
fällt es Frauen, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Oft Männer auf ein Einkommen, das ihre Existenz sichern
können sie nicht an ihren früheren Arbeitsplatz zurück- kann.

ATLAS DER ARBEIT 31


FINANZKRISEN

KAPITALISMUS FORDERT KONSUM


Eine Wohlstandsgesellschaft bleibt nur so Lebensstandard der Massen wieder. Dieses Phänomen ist
lange stabil, wie die Einkommensverteilung als „early growth paradox“ in die Geschichtswissenschaft
gerecht ist. Finanzspekulationen sind ein eingegangen.
Hinweis dafür, dass die nächste Krise droht. Die neue Technik machte viele Männer arbeitslos,
denn das Wissen dieser Handwerker wurde entwertet.
Ihre Arbeit wurde jetzt von Maschinen erledigt, die oft


er moderne Kapitalismus ist etwa um 1760 in von Frauen oder Kindern bedient werden konnten, die
England entstanden, als Webstühle und Spinne- mit Hungerlöhnen abgespeist wurden. Die Verarmung der
reien mechanisiert wurden. Die Weltgeschichte unteren Schichten lässt sich sogar anschaulich messen –
trat damit in eine neue Epoche ein. Bis dahin hatte die an ihrer Körperlänge. Zwischen 1830 und 1860 nahm die
Wirtschaft weltweit über Jahrtausende stagniert – nun durchschnittliche Größe der englischen Soldaten um zwei
wuchs sie erstmals konstant. Bis heute gehört es zu den Zentimeter ab, weil sie zu wenig zu essen hatten.
großen Fragen in der Forschung, warum die Industria- Der Durchbruch zur modernen Wohlstandsgesell-
lisierung ausgerechnet in England begann. Inzwischen schaft ist erst seit etwa 1880 zu beobachten, als die Re-
gibt es etwa zwanzig verschiedene Theorien. Die überzeu- allöhne deutlich zu steigen begannen. Dies war vor allem
gendste Analyse setzt bei den Produktionskosten an: Die den Gewerkschaften zu verdanken, die nach und nach ab
Löhne in England waren im 18. Jahrhundert die höchsten 1870 in Europa zugelassen wurden. Die neue Massenkauf-
der Welt, sodass die britischen Waren international nicht kraft hat den Kapitalismus nochmals verändert, die Kon-
mehr konkurrenzfähig waren. Da Arbeitskräfte teuer wa- sumgesellschaft entstand.
ren, lohnte es sich erstmals, in Maschinen zu investieren Ohne den Massenkonsum wäre der Kapitalismus sehr
– also Kapital zu bilden. Dank der Technik konnte jeder früh wieder zusammengebrochen. Erst die enorme Nach-
und jede einzelne Beschäftigte mehr Waren herstellen. frage der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen hat neue
Damit war das Wachstum in der Welt. Vom neuen Auf-
schwung profitierte in England anfangs nur eine kleine
Minderheit, während es den meisten Britinnen und Briten Die Lehre von 1929: Wenn die Massenkaufkraft
sogar schlechter ging. Hatten hohe Löhne die Industriali- niedrig bleibt und zugleich die Reichen
sierung ausgelöst, sank paradoxerweise wenig später der immer reicher werden, droht ein Börsencrash

KRISEN ALS FOLGE DER UNGLEICHHEIT


Einkommen des obersten Prozentes der US-Einkommenbeziehenden in Prozent des Volkseinkommens
und stärkste Kursverluste an einem Tag, Börse in New York, in Prozent

25 -13 %-12 %-10 %


-7 % -7 %
20
-8 % höchste Tagesverluste des Aktienindex Dow Jones

15
-7 % -8 %
-24 % -7 %
10
-8 % -8 %
-8 % -23 %
-7 % -7 %
5 -7 % Einkommen des obersten Prozentes -8 %
ATLAS DER ARBEIT / SAEZ, WIKIPEDIA

0
1913 1918 1923 1928 1933 1938 1943 1948 1953 1958 1963 1968 1973 1978 1983 1988 1993 1998 2003 2008 2013

1929–1941: 1933–1938: 1945–1980: 1981–1988: 1987: 1997: 2001: 2008:


Great Depression, New Deal, „Goldenes Reaganomics, Junk-Bond-Crash Asienkrise, New-Economy- Weltfinanzkrise,
1929 Auslöser Wirtschafts- Zeitalter“ be- beginnende De- nach Spekulations- Wachstumskrise Crash, Ende Auslöser: Über-
der Weltwirt- und Sozial- günstigt die regulierung des welle mit mit faul werden- der Internet- bewertung von
schaftskrise reformen Mittelschicht FInanzsektors „Schrottanleihen“ den Krediten „Dotcom-Blase“ US-Hypotheken

32 ATLAS DER ARBEIT


VERZICHT ZUGUNSTEN DER BÖRSE
Entwicklung von Arbeitsproduktivität und Löhnen in 36 entwickelten Ländern, 1999 = 100

120 Entwicklung der Produktivität

117,0

115

Die Unternehmensgewinne aufgrund der


„Lohnzurückhaltung“ speisen weltweit die
aufgeblähten Börsenkurse und bedeuten eine
Umverteilung zugunsten der Besitzerinnen
110 und Besitzer von Aktien und Fondsanteilen.

Entwicklung der Löhne

105 106,3

ATLAS DER ARBEIT / ILO


100
1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

Viele Sachverständige meinen, dass eine


Produkte und neue Wachstumsschübe ermöglicht, die Lohn- entsprechend der Produktivitätssteigerung
durch den Lebensstil der Wohlhabenden allein niemals zu mehr Nachfrage und Beschäftigung führt
ausgelöst worden wären. Dank der lebhaften Nachfrage
der Beschäftigten lohnte es sich, Autos, Radios, Fernse-
her, Waschmaschinen oder Handys zu entwickeln. tieren, weil die Nachfrage der Massen fehlte. Gleichzeitig
Der Kapitalismus ist also kein permanenter Klassen- schienen die enormen Profite zu signalisieren, dass die
kampf, der zwingend Ausbeutung voraussetzt. Stattdes- Aktienkurse bestimmt noch steigen würden. Daher inves-
sen funktioniert er am besten, wenn auch die Arbeitneh- tierten die US-Unternehmen zunehmend in spekulatives
mer und Arbeitnehmerinnen profitieren. Umgekehrt gerät Börsenkapital, das oft keinen realen Gegenwert mehr hat-
der Kapitalismus sofort in Krisen, wenn die Einkommen te. Durch den Crash verloren die Aktien 89 Prozent ihres
der Beschäftigten nicht mit dem technischen Fortschritt Wertes. Die Folgen für die Realwirtschaft waren noch weit
mithalten – weil dann die Käuferinnen und Käufer fehlen, schlimmer: Weltweit schrumpfte die Wirtschaftsleistung
die die zusätzlichen Waren erwerben könnten. um etwa ein Drittel, der Welthandel sank um zwei Drit-
Diese innere Logik des Kapitalismus zeigte sich bei der tel, in den USA wurden ein Viertel und in Deutschland ein
Weltwirtschaftskrise ab 1929, die durch einen Börsenkrach Drittel aller Werktätigen arbeitslos.
an der Wall Street ausgelöst wurde. Dieser Crash ereignete Um eine neue Finanzkrise zu vermeiden, wurden die
sich, weil die Reallöhne der US-amerikanischen Beschäf- Finanzmärkte damals scharf reguliert. Die Spekulation
tigten von 1919 bis 1929 kaum gestiegen waren, während mit Aktien, Anleihen, Devisen und Derivaten war ent-
die Produktivität in der US-Industrie pro Arbeitskraft um weder ganz verboten oder wurde sehr erschwert. Doch
43 Prozent zunahm. Jede einzelne Arbeitskraft produzierte seit etwa 1980 deutet sich die Wende an: Ausgehend von
also fast 1,5-mal so viele Waren wie ein Jahrzehnt zuvor. den USA wurden die Finanzmärkte erneut dereguliert.
Doch diese Flut an neuen Gütern konnte bei Weitem nicht Gleichzeitig konnten die Gehälter nicht mehr mit der
abgesetzt werden, weil die Beschäftigen keine angemesse- technischen Entwicklung mithalten. In den USA sind die
nen Lohnerhöhungen erhielten. Vom Wachstum profitier- mittleren Reallöhne seit 1975 nicht mehr gestiegen, in Ja-
te nur eine Minderheit: 1927 verfügte das reichste Zehntel pan stagnieren sie seit 1990, und in Deutschland sanken
der Amerikanerinnen und Amerikaner über 46 Prozent die Reallöhne zwischen 1992 und 2012 um 1,6 Prozent
des gesamten US-Volkseinkommens. Allein das oberste und haben sich bisher nur wenig erholt. Die Folgen sind
eine Prozent, also das reichste Hundertstel, vereinte be- die gleichen wie vor dem Börsencrash 1929: Es wird zu
reits 24 Prozent der Wirtschaftsleistung. wenig in die Realwirtschaft investiert, während die Spe-
Unternehmer und Kapitaleigner wollten ihre riesigen kulation boomt. Die nächste Finanzkrise ist nur eine Fra-
Gewinne aber nicht mehr in die reale Wirtschaft inves- ge der Zeit.

ATLAS DER ARBEIT 33


DIGITALISIERUNG

WENN MASCHINEN STÜRMEN


Wie kann das „Arbeiten 4.0“ die Arbeits- jedem Fall bilden sich neue Machtstrukturen heraus. Ins-
bedingungen verbessern? Wie lässt sich der besondere IT-Konzerne aus den USA wie Alphabet/Goog-
digitale Strukturwandel steuern? Diese le, Amazon, Facebook oder Apple und aus China dringen
Fragen sind derzeit noch nicht beantwortet. weltweit mit ihren Produkten und Plattformen immer stär-
ker in die Lebens- und Arbeitswelten vor. Indes entwickelt
sich in Deutschland, einem hochindustrialisierten Land,


ange hatte sich niemand an eine Prognose gewagt: die „Industrie 4.0“ zum Indikator der Digitalisierung.
Was bedeutet die Digitalisierung für den Arbeits- Die Vision dabei ist das „Internet of Things“, das „In-
markt? Wie viele Arbeitsplätze fallen weg, wie viele ternet der Dinge“. Alles soll mit allem digital vernetzt
entstehen neu – und wie sehen sie dann aus? Das Thesen- und letztlich smart werden: smarte Roboter in Fabriken,
papier „The Future of Employment”, das der Ökonom Carl Sensoren, die Informationen über Produkte und Pro-
Benedikt Frey und der Informatiker Michael A. Osborne zesse an Maschinen und Menschen senden und damit
2013 vorstellten, wurde hier zu einem Weckruf. Rund 47 Arbeitsprozesse steuern, der 3-D-Druck im Handwerk.
Prozent aller Jobs in den USA würden durch die Digitali- Dienstleistungsplattformen wie Reinigungs- oder Lie-
sierung wegfallen, schätzten die Forscher. Prognosen für ferdienste verändern die Arbeitsbeziehungen. Vernetzte
den Zugewinn an Arbeitsplätzen machten sie nicht. Angebote werden sich auf die Gestalt unserer Städte und
Diese Schätzung war von Anfang an umstritten. So die Gestaltung unseres Zuhauses auswirken. Die digitale
rechnet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- Vermessung der Welt löst die Grenzen zwischen Märkten,
schung in Nürnberg derzeit damit, dass in der deutschen Regionen, Unternehmen, Maschinen und Menschen zu-
Industrie durch den Strukturwandel 490.000 Arbeitsplät- nehmend auf.
ze wegfallen könnten – aber bei den Dienstleistungen Die dabei erfassten Daten werden als das neue Öl für
430.000 neue entstehen. Richtig ist, dass die Digitalisie- die Wirtschaft der Zukunft gehandelt. „Big Data“ bedeu-
rung die Arbeitsmärkte und Arbeitsbedingungen bereits tet große Datenmengen, die umfassende Analysen etwa
grundlegend verändert hat und weiter verändern wird. In über das erwartbare Verhalten von Menschen erlauben
und damit neue Geschäftsmodelle ermöglichen. Zudem
entwickelt sich die künstliche Intelligenz mit rasanter Ge-
schwindigkeit und in neuer Qualität. Damit entsteht eine
WORTE UND DATEN
Verbreitung des digitalen Arbeitens* nach Branchen,
Art neues Betriebssystem für die Arbeit der Zukunft.
Auswahl, in Prozent Manches ist zumindest in Deutschland nicht neu.
In der industriellen Produktion gibt es schon seit vie-
in sehr hohem Maß in geringem Maß
in hohem Maß gar nicht len Jahren einen hohen Grad an Automatisierung. Aber
nun verändern sich ganze Wertschöpfungsprozesse von
11 5 9 Produzenten, Zulieferern, Dienstleistern sowie den Kun-
13 20 39 35
45 26 dinnen und Kunden. Allein die alltägliche Nutzung des
31 36 30 Smartphones, das es erst seit gut zehn Jahren gibt, zeigt,
Fahrzeugbau Maschinenbau Chemiebranche wie rasant die Veränderung ist – und noch wird.
Für die Beschäftigten ist die Digitalisierung durch ent-
12 18 22 18 grenzte Arbeitszeiten, Multitasking und die zunehmende
29 28
25 Schnelligkeit bei Aufgaben bereits spürbar – und für viele
25 34 22
34 32 eine zusätzliche Belastung. Die repräsentative Umfrage
Gesundheitswesen Handel Erziehung, Unterricht des Instituts DGB-Index Gute Arbeit bei rund 10.000 Be-
schäftigten im Jahr 2016 ergab: Digitales Arbeiten führt
17 11 18 für fast die Hälfte zu einer höheren Arbeitsbelastung und
31 32 30 mehr Stress. Angebote oder Zeit für notwendige Qualifi-
21 27 22
30 29 30 zierungen gibt es selten. Dadurch haben viele das Gefühl,
ATLAS DER ARBEIT / INIFES

Baugewerbe Sozialwesen alle Beschäftigten

* digitales Arbeiten: elektronische Kommunikation, unterstützende Wo Sprach- und Handarbeit dominieren,


elektronische Geräte, softwaregestützte Arbeitsabläufe,
Online-Projektarbeit, computergesteuerte Maschinen/Roboter ist die Arbeit am wenigsten digitalisiert:
in Sozialberufen und auf dem Bau

34 ATLAS DER ARBEIT


WIE DIE DIGITALISIERUNG BEI DEN ARBEITSBEDINGUNGEN WAHRGENOMMEN WIRD
Umfrage* für den DGB-Index Gute Arbeit 2016, mit Antworten der 60 Prozent Befragten, die ihre Arbeit
in sehr hohem oder hohem Maß von Digitalisierung betroffen sehen

Durch die Digitalisierung ... größer geworden gleich geblieben geringer geworden

... ist meine Arbeitsmenge eher 54 39 7

... ist die Zahl der gleichzeitig zu


bewältigenden Arbeitsvorgänge eher
56 39 5

... sind meine Entscheidungs-


spielräume eher
27 60 13

... ist die Vereinbarkeit von Arbeit


und Familie für mich eher
21 68 11

... ist die Überwachung und Kontrolle


meiner Arbeitsleistung eher
46 50 4

... ist der Anteil der Arbeit, den ich von


zu Hause oder unterwegs erledige, eher
28 60 12

Können Sie auf den Einsatz der digitalen Technik an Ihrem Arbeitsplatz Einfluss nehmen?

in sehr hohem Maß in geringem Maß 7 19 39 35


in hohem Maß gar nicht

Wie oft fühlen Sie sich bei Ihrer Arbeit der digitalen Technik ausgeliefert?

ATLAS DER ARBEIT / DGB


sehr häufig selten 22 23 36 19
oft nie

* repräsentative Umfrage unter bundesweit 9.737 Beschäftigten mit einer Arbeitszeit von mindestens 10 Stunden/Woche; ohne Freiberufler und Selbstständige

Mehr Flexibilität – mit allen Vor- und


der Technologie ausgeliefert zu sein. Die kommerzielle Nachteilen – ist die wichtigste
Datennutzung führt auch zu neuen ethischen Fragen. wahrgenommene Folge der Digitalisierung
Die optimale Lagerlogistik, die optimal eingesetzte Pfle-
gekraft kann auch zu optimal überwachten Beschäftigten
führen, wenn digitale Kontrollsysteme in die Arbeitswelt ler Menschen gegenüber der in großen Teilen unsichtba-
vordringen und die Beschäftigten digital gesteuert und ren Technologie-Revolution und gegen die Furcht vor Ar-
überwacht werden sollen. beitslosigkeit und sozialem Abstieg. Es braucht auch faire
Die Digitalisierung ist ein gesellschaftlicher Prozess. Regeln und konkrete Angebote, wie die Arbeitswelt, aber
Politik, Sozialpartner und Wissenschaft haben eine be- auch der Sozialstaat künftig aussehen soll. Die Digitali-
sondere Verantwortung, die Transformationsprozesse zu sierung könnte genutzt werden, um Arbeitsbedingungen
gestalten. Dazu sind konkrete Forschung und Programme systematisch zu verbessern.
nötig, die für die praktische Umsetzung der Forschungser- In Deutschland findet die Diskussion um die Digita-
gebnisse sorgen. Dass das geht, zeigt ein Blick in die Ver- lisierung der Arbeitswelt unter dem Label „Arbeiten 4.0“
gangenheit. In den Sechzigerjahren, als die Automatisie- statt. Dabei zeigt sich bei einem vom Bundesministerium
rung in der Industrie – Fließbänder zum Beispiel – mehr für Arbeit und Soziales veranstalteten Serie von Treffen
und mehr Raum einnahm, entwickelten Wissenschaft, ein grundsätzliches Einverständnis, das deutsche Sozi-
Politik und Wirtschaft über das Programm „Humanisie- alstaatsmodell weiterzuentwickeln. Einig sind sich die
rung der Arbeitswelt“ Schutzmaßnahmen für belastende politischen Akteure häufig darüber, dass digitale Bildung
Tätigkeiten. Bis heute ist im Arbeitsschutzgesetz die men- und lebenslange Qualifizierung, Flexibilität und Beteili-
schengerechte Gestaltung der Arbeit als Ziel formuliert. gung eine zentrale Rolle spielen. Allerdings besteht bis-
Doch jetzt geht es um mehr als nur die Erforschung des lang keine Einigkeit, wenn es um die konkrete Umsetzung
passenden Schutzes am Arbeitsplatz. Aufklärung über die geht. So hat der von der Politik angestoßene „Arbeiten
Digitalisierung allein hilft nicht gegen die Ohnmacht vie- 4.0”-Prozess wenig Ergebnisse gebracht.

ATLAS DER ARBEIT 35


WELT DER ARBEIT

DAS ZIEL: SICHERER LOHN UND


MENSCHENWÜRDIGES LEBEN
Nur ein Drittel der Weltbevölkerung Dazu gehört nicht nur ein Arbeitsamt, von dem Ar-
ist durch den Staat sozial abgesichert. beitslose Hilfe erwarten können – Geld, Beratung oder
Und global wird die Zahl der prekär Jobportale –, sondern ebenso, dass es Krankenversiche-
Beschäftigten immer noch steigen. rungen, Sozialhilfe- und Rentensysteme gibt. Denn wer
diesen existenziellen Rückhalt nicht hat, wird selbst zu
unwürdigsten Bedingungen versuchen, den eigenen Le-


m Jahr 2017 lebten auf der Erde rund 7,55 Milliarden bensunterhalt zu bestreiten, und gilt damit nicht mehr
Menschen. Davon, so die Statistik der Internationa- als arbeitslos. Das erklärt, warum die offizielle Arbeits-
len Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen, losenquote in Industrieländern höher liegt als in Ent-
waren 201 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Die wicklungsländern. So betrug die Arbeitslosenquote von
Arbeitslosenquote der ILO liegt damit weltweit bei rund Frankreich im Jahr 2017 nach ILO-Definition 9,2 Prozent
5,8 Prozent. Nur hat sie wenig mit der Realität zu tun. und in Ruanda, einem der ärmsten Länder der Welt, nur
Denn in der Statistik wird nur mitgezählt, wer als arbeits- 2,4 Prozent.
los gemeldet ist. Das wiederum setzt Ämter voraus, bei
denen sich Menschen arbeitslos melden können. Und:
Wer die Weltarbeitslosigkeit ermessen will, muss die ge- Migrationsdruck entsteht nicht nur durch
waltigen Unterschiede bei den sozialen Sicherungssyste- Not, sondern auch durch Ungleichheit. Erst recht,
men der 193 UN-Mitgliedstaaten betrachten. wenn – wie so oft – beides zusammenkommt

ATLAS DER ARBEIT / UNDP, WEO


UNGLEICHHEIT NACH AUSSEN UND INNEN
Die Faktoren Einkommen, Gesundheit und Bildung im internationalen Ländervergleich,
ergänzt um den ungleichen Zugang dazu innerhalb der Länder, 2015/2017

Venezuela

Südsudan

Zugang Äquatorialguinea
im globalen
Vergleich
fair
mittel
unfair 2017 mit schweren
sehr unfair Wirtschaftskrisen
extrem unfair
keine Daten
Der Inequality-adjusted Human Development Index (IHDI) wird vom UN-Entwicklungsprogamm UNDP erstellt.
Länder mit schweren Wirtschaftskrisen: um mehr als fünf Prozent pro Jahr sinkendes Bruttoinlandsprodukt.

36 ATLAS DER ARBEIT


Gerade einmal ein Drittel der Weltbevölkerung hat
DIE GROSSEN MIGRATIONSZIELE
einen umfassenden Zugang zu sozialen Sicherungssys- Internationale Wanderungsbewegungen 2005–2010,
temen. So steht in Bangladesch Menschen, die ihren in Millionen
Arbeitsplatz verlieren, nur eine Abfindung zu. In Kenia nach
von
gibt es nicht einmal das. Ruanda hat immerhin eine
1,8
Krankenversicherung für alle Einwohnerinnen und Ein- Mexiko
wohner. USA
0,4
Die Zahl prekär und informell Beschäftigter beläuft
0,5
sich weltweit auf 1,4 Milliarden Menschen. Hierzu zählen Philippinen
0,5
Arbeiter und Arbeiterinnen, die im Tagelohn auf eigene
Rechnung arbeiten, Bauern und Bäuerinnen, die Lebens- China
0,2 Hongkong
mittel anbauen und verkaufen, aber auch Angehörige,
die im familieneigenen Betrieb oder der Landwirtschaft 0,3 Katar

helfen. Für diese Tätigkeiten gibt es meistens keine Re- 0,3 Großbritannien
geln zu den Arbeitsbedingungen oder der Bezahlung, Indien

geschweige denn eine soziale Absicherung. Bei Krank- 1,1 Vereinigte


heit oder Unfällen laufen die Menschen Gefahr, sozial Arabische
ausgegrenzt zu werden oder zu verarmen. In manchen 0,5 Emirate
Ländern des globalen Südens liegt der Anteil der infor- 0,4
mell Beschäftigten bei fast 80 Prozent, in Industrielän- Bangladesch
dern lediglich bei etwa 10 Prozent. Schätzungen zufolge 0,6 Indien

wird die Zahl der Prekären und Informellen um jährlich


0,5 Saudi-Arabien
elf Millionen steigen. Pakistan
0,3
Die ILO und auch die UN insgesamt wollen sich gegen
diesen Trend stemmen und fordern daher soziale Siche- Indonesien 0,5 Malaysia
rungssysteme einschließlich eines Basisschutzniveaus,
Malaysia 0,4 Singapur
um ein sicheres Einkommen und eine menschenwürdi-
ge Arbeit zu gewährleisten. Eines der nachhaltigen Ent- Simbabwe 0,4 Südafrika
wicklungsziele der Vereinten Nationen ist, die Armut
Myanmar 0,3 Thailand
abzuschaffen. Allerdings ist die Umsetzung dieser Zie-
Marokko 0,3 Spanien
le freiwillig, und jeder Staat entscheidet selbst, welche

ATLAS DER ARBEIT / VID


Maßnahmen er ergreifen will, um sie zu erreichen. Die UN Kasachstan 0,3 Russland
möchte anhand fester Indikatoren regelmäßig überprü- Elfenbeinküste 0,2 Burkina Faso
fen, ob die Länder sich in diese Richtung bewegen und
Ohne Flüchtlinge und Vertriebene. Für 2005–2010 publiziert 2013;
was genau sie beitragen. Angaben über den nächsten Fünfjahreszeitraum liegen noch nicht vor.

Denn derzeit leben schätzungsweise 770 Millionen


Menschen in Armut, obwohl sie arbeiten. Sie verdienen
weniger als 3,10 US-Dollar pro Tag. Am schlimmsten ist Millionen Menschen wandern dauerhaft
die Situation nach wie vor in Subsahara-Afrika, wo über aus, etwa in die USA, oder für längere Zeit,
60 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in diese Katego- etwa in die Ölstaaten am Persischen Golf
rie fallen. In Südasien ist derzeit noch knapp die Hälfte
aller Erwerbstätigen von Armut betroffen.
Gleichzeitig nimmt die Ungleichheit bei den Ein- zungen, 10 Prozent der Arbeitsplätze wegfallen, weitere
kommen zu. Die Lohnquote, also der Anteil der Er- 25 Prozent sollen sich stark verändern. Wie viele neue
werbseinkommen am Volkseinkommen, hat sich in den Stellen entstehen, ist hingegen offen. Weltweit werden
vergangenen Jahren kontinuierlich verringert; die Un- sich die Arbeitsmärkte immer deutlicher in höher und ge-
ternehmens- und Vermögenseinkommen sind hingegen ringer qualifizierte Tätigkeiten spalten.
gestiegen. Die erwirtschafteten Produktivitätsgewinne Zunehmen wird die Migration von Arbeitskräften.
flossen vermehrt an die Kapitaleigner, während die Lohn- Heute leben etwa 244 Millionen Menschen außerhalb ih-
erhöhungen unzureichend blieben. Am deutlichsten sind res Herkunftslandes. Rund 150 Millionen davon sind Ar-
diese Veränderungen in Industrieländern zu erkennen, beitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Seit der Weltfinanz-
doch auch Länder mit mittlerem und unterem Einkom- krise von 2007/08 ist die Bereitschaft, in Regionen der
mensniveau sind betroffen. Welt auszuwandern, die ein besseres Leben versprechen,
Noch ist nicht abzusehen, wie Digitalisierung und Au- noch einmal gestiegen. Schlechte Zukunftsperspektiven,
tomatisierung sich auf den weltweiten Arbeitsmarkt aus- Armut und die Bedrohung durch Kriege und Umweltkata-
wirken werden. In Industrieländern könnten, so Schät- strophen tragen zu dieser Entwicklung bei.

ATLAS DER ARBEIT 37


EU-MIGRATION

TÜR AUF FÜR DIE NACHBARN


Millionen von EU-Bürgerinnen und -Bürgern gliedstaat, nur 3,7 Prozent der gesamten Bevölkerung im
nutzen die Freizügigkeit für Arbeitskräfte, um erwerbsfähigen Alter. Davon waren 8,5 Millionen erwerbs-
in einem anderen Mitgliedsland zu arbeiten. tätig oder suchten eine Arbeit. Dies ist ein sehr beschei-
Diese Mobilisierung ist problematisch, wenn denes Migrationsniveau, nur ein Bruchteil der Arbeitsmo-
bilität zwischen Bundesstaaten innerhalb der USA. Die
sie nur den Zielländern hilft.
Freizügigkeit in der EU wird also wenig genutzt.
Allerdings stammen von den 8,5 Millionen mobilen Ar-


in Grundrecht der EU-Bürgerinnen und -Bürger be- beitnehmern und Arbeitnehmerinnen mehr als die Hälfte,
steht darin, sich frei in der Union zu bewegen und nämlich 4,4 Millionen, aus den 13 Mitgliedstaaten, die der
dort zu leben, wo sie wollen. Nirgends dürfen An- EU ab 2004 im Zuge ihrer Osterweiterung beigetreten sind.
gehörige anderer EU-Länder in Bezug auf Arbeitsrechte Dies ist ein viel höherer Prozentsatz als ihr Anteil von 21
und Sozialleistungen diskriminiert werden. Gleichzeitig Prozent an der gesamten EU-Beschäftigung. Nur zwei Pro-
liegt die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in der nationa- zent der Menschen aus den älteren 15 Mitgliedstaaten le-
len Zuständigkeit der Staaten. Es gibt so gut wie keine ben in einem anderen EU-Land; für die neueren Mitglieder
europäische Arbeitsmarktpolitik – in einem Kontinent liegt die Zahl fast bei zehn Prozent. Die grenzüberschrei-
mit enormen Einkommens- und Lohnunterschieden. Das tende Arbeitsmobilität in den älteren EU-Ländern hat zwi-
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Luxemburg liegt um schen 2006 und 2016 nur von 3,2 auf 3,9 Millionen zuge-
mehr als das Zehnfache über dem von Bulgarien. nommen, aber in den neuen von 1,8 auf 4,4 Millionen.
In Politik und Wissenschaft dominiert die Ansicht, Eine Reihe von Faktoren führt zu dieser Mobilisie-
dass die Mobilität der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- rung der Arbeitskräfte: unterschiedliche Einkommensni-
nehmer dazu beiträgt, dass der europäische Arbeitsmarkt veaus zwischen den Ländern, Chancen auf dem Arbeits-
besser funktioniert. Theoretisch steigt die Wirtschafts- markt und auch historische Muster. Fachleute sprechen
leistung der Gesamt-EU, wenn Beschäftigte aus ärmeren oft von „Pull“- und „Push“-Faktoren, also „Ziehen“ und
Ländern besser bezahlte Jobs in reicheren Mitgliedstaa- „Drücken“: In Europa lockt es die Menschen in andere
ten übernehmen. So verbessert sich die allgemeine „Ar- Länder, wenn sie dort arbeiten können, oder sie müssen
beitsallokation“, da höhere Löhne automatisch zu einer wegziehen, wenn sie zu Hause keinen anständigen Ar-
höheren Produktivität in der EU führen. beitsplatz finden.
Es ist eine andere Frage, wie frei diese Bewegung in
Wirklichkeit ist und wie sie sich auf die Arbeitsmärkte in
den Herkunfts- und Aufnahmeländern auswirkt. Im Jahr Ein zu starker „Braindrain“, die
2016 lebten 11,7 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger Abwanderung gut Ausgebildeter, hemmt die
zwischen 15 und 64 Jahren in einem anderen EU-Mit- Entwicklung in ihren Herkunftsländern

ES KOMMEN DIE BESTEN


EU-Binnenwanderung der 20- bis 64-Jährigen, Zielländer, Anzahl in 1.000, Bildungsstruktur
in Prozent, 2015
niedrig mittel hoch keine Angaben
100
2.138
2.019 Deutschland 90
andere 80
70

Frankreich 647 60
Großbritannien 50
ATLAS DER ARBEIT / EUROSTAT

854 40

Schweiz 2.025 30
909 20
979 10
Italien
Spanien 0
2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

38 ATLAS DER ARBEIT


ATLAS DER ARBEIT / BPB
FI
UNGLEICHMÄSSIGE SCHRUMPFUNG
Zu-/Abnahme der Bevölkerung in europäischen Ländern NO
zwischen 2010 und 2060, UN-Prognose, in Prozent
SE
EE
RU
über 30 -10 bis 0 LV
20 bis 30 -20 bis -11 DK
11 bis 20 -30 bis -21 IE
LT
0 bis 10 über -30
GB
BY
NL
PL
BE DE
-33,5 BG
LU
CZ
IE 40,4 UA
SK
-4,9 Europa
FR AT
CH MD
LI HU
SI
RO
HR BA
MC SR
PT AD SM
ME BG
ES
MK
VT
IT AL

GR
TR
AD: Andorra, AL: Albanien, AT: Österreich, BA: Bosnien u. Herz., BE: Belgien, BG: Bulgarien, BY: Weißrussland,
CH: Schweiz, CY: Zypern, CZ: Tschechien, DE: Deutschland, DK: Dänemark, EE: Estland, ES: Spanien, FI: Finnland,
FR: Frankreich, GR: Griechenland, HR: Kroatien, HU: Ungarn, IE: Irland, IT: Italien, LI: Liechtenstein,
LT: Litauen, LU: Luxemburg, LV: Lettland, MC: Monaco, MD: Moldawien, ME: Montenegro, MK: Mazedonien,
MT
MT: Malta, NL: Niederlande, NO: Norwegen, PL: Polen, PT: Portugal, RO: Rumänien, RU: Russland, SE: Schweden,
SI: Slowenien, SK: Slowakei, SM: San Marino, SR: Serbien, TR: Türkei, UA: Ukraine, UK: Großbritannien, VT: Vatikanstadt CY

Ihre Arbeitskräfte werden die großen


Der Strom der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer EU-Industrieländer auf Dauer nicht aus
zwischen den EU-Mitgliedstaaten ist nicht gleichmäßig. den Nachbarstaaten holen können
Die Ziele richten sich nach der Wirtschaftskraft und damit
nach den Chancen auf einen Arbeitsplatz. In Deutschland
arbeiten 2,3 Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern. von Ost nach West weiter zugenommen hat. Viele dieser
In Großbritannien sind es 2,2 Millionen, in Italien 790.000, Länder leiden heute unter Arbeitskräftemangel, insbe-
in Spanien 773.000 und in Frankreich 673.000. Damit be- sondere von Fachkräften. Dies stellt ein ernsthaftes Pro-
herbergen diese fünf Länder fast 75 Prozent der mobilen blem dar.
Arbeitskräfte aus einem anderen Mitgliedstaat; in Bezug In den zehn Jahren vor 2008 schloss das Lohnniveau in
auf ihre Bevölkerung stehen Luxemburg mit 43 Prozent den östlichen Mitgliedstaaten der EU rasch zu dem im Wes-
und Zypern mit 15 Prozent an der Spitze. Von der „neuen“ ten auf. Aber seit der Finanzkrise jenes Jahres stagniert es
in die „alte“ EU strömten die Arbeitsuchenden ebenfalls oder sinkt sogar. Trotz sich verbessernder Berufschancen
zu wenigen Zielen. Allein 1,3 Millionen gingen nach Groß- zu Hause locken die höheren Löhne anderswo. Öffentliche
britannien, wo sie zu einem wichtigen Faktor für den Bre- Dienste kollabieren bereits wegen Personalmangels. So
xit wurden. 1,2 Millionen kamen nach Deutschland. hat Rumänien zwischen 2009 und 2015 die Hälfte seiner
Die Mobilität hat den Zielländern am meisten gehol- Ärzteschaft verloren, und zehn Prozent seiner Bevölke-
fen. Für die Entsendeländer ist die Bilanz zwiespältig. Als rung sind ohne medizinische Versorgung.
sie beitraten, war die Arbeitslosigkeit unter den neueren Anlass zur Sorge ist auch, dass die Migrantinnen und
Mitgliedstaaten viel höher als in den älteren. Kurzfristig Migranten an ihren neuen Standorten eher gering qualifi-
wirkte die Auswanderung von Arbeitnehmern und Ar- zierte Arbeit leisten. Rund 37 Prozent der Arbeitnehmer und
beitnehmerinnen wie ein Sicherheitsventil: Migration Arbeitnehmerinnen, die die Erweiterungsländer verlassen
bedeutete eine Alternative. Zudem stützten die Geldüber- haben, geben an, dass sie für ihre derzeitigen Arbeitsplätze
weisungen an ihre Familien und die Entlastung des Ar- überqualifiziert sind. Diese Verschwendung von Human-
beitsmarktes die nationalen Haushalte. ressourcen zeigt, dass die Mobilität von Arbeitskräften
Doch dort ist die Arbeitslosigkeit in den vergangenen innerhalb der EU weder die ursprünglichen Erwartungen
Jahren deutlich zurückgegangen, während die Migration erfüllt hat, noch ihr volles Potenzial nutzt.

ATLAS DER ARBEIT 39


EU-ARBEITNEHMERRECHTE

VIEL VERTRAUEN VERSPIELT


Die Europäische Union richtet erst langsam ten im Vordergrund, sondern wirtschaftliche Ziele. Erst
ihren Blick auf die Rechte der Beschäftigten. allmählich wuchs das Bewusstsein, dass auch die Arbeit-
In der Eurokrise hat sich die Kommission nehmerinnen und Arbeitnehmer eine zentrale Rolle spie-
auf die Seite der harten Einsparer gestellt. len, um die Mitgliedstaaten zu integrieren. Das Protokoll
zur Sozialpolitik, das dem Vertrag von Maastricht 1992
angehängt wurde, war hier ein wichtiger Meilenstein. Es


enn US-Amerikaner in Europa arbeiten, kom- erreichte 2007 mit dem Vertrag von Lissabon sogar Verfas-
men sie oft aus dem Staunen nicht mehr her- sungsrang, gemeinsam mit der „Charta der Grundrechte
aus: Hier gibt es vier Wochen bezahlten Urlaub, der EU“. Dort sind Grundrechte festgeschrieben, zum Bei-
Lohnfortzahlung bei Krankheit, monatelang Elternzeit. spiel: „Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat
Nichts davon ist in den USA üblich, geschweige denn lan- das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbe-
desweit gesetzlich geregelt. Tatsächlich ist die EU längst dingungen.“ Auch Bestimmungen zu Entlassungen und
mehr als ein Binnenmarkt mit Reiseerleichterungen. Über sozialer Sicherheit sind dort festgelegt.
ihre Richtlinien und Vorgaben bei Arbeitnehmerrechten
gestaltet sie das Leben aller Europäerinnen und Europäer,
im positiven wie negativen Sinne. Tarifverträge sorgen für höhere Löhne.
Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft Je weniger Unternehmen sie abschließen,
1958 standen zunächst nicht die Rechte der Beschäftig- desto niedriger bleiben die Einkommen

RÜCKSCHLAG FÜR DIE TARIFABDECKUNG


Tarifsituationen in europäischen Ländern, 2016, in Prozent 89
+4

Anteil der Beschäftigten, Finnland


mit Tarifvertrag 2016 90
67
19
Unterschied zum Jahr 2000 Schweden
in Prozentpunkten 26 Norwegen
plus 4 bis 0 Estland
-1 bis -10 34
-11 bis -20 Großbritannien 84 14
über -20
Irland Dänemark
79 7 Lettland

96
Niederlande Litauen
15
Belgien 56
-12
Polen 46
55 Deutschland
Tschechien
-27
Luxemburg 99
98
-35 -14 24
Frankreich
23
Österreich
Slowakei
65 Ungarn
72
73
Slowenien
80
ATLAS DER ARBEIT / OECD, ETUI

Portugal
Spanien 40
Italien
Griechenland
-42

40 ATLAS DER ARBEIT


Mit dem Verfassungsrang dieser Rechte ist die EU
AUF BELEGSCHAFTSKOSTEN
verpflichtet, aktiv zu werden, wenn solche vereinbarten Portugal: Rückgang der Branchen-, Gruppen- und
Ziele nicht erreicht werden. Dazu gehört, die Beschäfti- Firmentarifverträge sowie übernommene Verträge
gung zu fördern, für angemessenen sozialen Schutz zu
sorgen oder gegen Ausgrenzung zu kämpfen. So schreibt erfasste Beschäftigte
die EU-Arbeitszeitrichtlinie von 2003 vor, dass nicht mehr 1.895 in 1.000
als 48 Stunden in der Woche gearbeitet werden darf. Zahl der
Die Elternzeitrichtlinie besagt, dass Eltern individuell 1.397 Tarifverträge
übernommen
bei Geburt oder Adoption eines Kindes mindestens vier
Monate Urlaub bekommen. Tatsächlich sind es in vielen
Mitgliedsstaaten mehr – die Sozialpolitik gehört grund- 1.407
sätzlich in deren Kompetenz. Neben diesem „harten“
EU-Recht gibt es eine Reihe „weicher“ Maßnahmen. Dazu
137
gehört die Proklamation der sogenannten Europäischen 1.237
Säule sozialer Rechte in November 2017. Sie beinhaltet 295
102
20 Grundsätze, die zu faireren und effizienteren Arbeits-
116
märkten führen sollen – allerdings bis jetzt nicht recht- 251 328
lich verbindlich sind. 230
Alle Maßnahmen der EU im beschäftigungs- und sozi-
17 242
alpolitischen Bereich werden oft unter dem Begriff des so-
zialen acquis communautaire zusammengefasst, in etwa 170
„gemeinschaftlicher Besitzstand“. Ausdrücklich ausge-
nommen von den EU-Verträgen sind die Lohnpolitik, das 12 9
Koalitions- und das Streikrecht. Darüber hinaus dürfen
die EU-Maßnahmen die jeweiligen nationalen Grund- 94
85

ATLAS DER ARBEIT / ETUI


prinzipien der sozialen Sicherheit und deren finanzielles
Gleichgewicht nicht beeinträchtigen.
Insgesamt ist der soziale acquis communautaire ein 2008 2009 2010 2011 2012 2013
durchaus umfassendes Paket zum Schutz der Beschäf-
tigten. Aber die Urteile des Europäischen Gerichtshofs
und die Erfahrungen während der Wirtschafts- und Fi-
nanzkrise legen Zweifel nahe, ob überhaupt und wie die Auf Druck der EU wurden in der Eurokrise auf der
sozialen Grundrechte im politischen Alltag tatsächlich Iberischen Halbinsel die Tarifverträge aufgehoben,
angewendet werden. So waren während der Finanzkrise eingeschränkt oder es wurde ihr Unterlaufen erleichtert
die wirtschafts- und fiskalpolitischen Vorgaben des Sta-
bilitäts- und Wachstumspakts wichtiger als die beschäf-
tigungs- und sozialpolitischen Maßnahmen, mit denen Mit der Austeritätspolitik wurde das Arbeitsrecht fle-
Menschen vor den Folgen der Krise hätten geschützt xibilisiert und dereguliert, meist zulasten der Beschäftig-
werden können. In zahlreichen Mitgliedstaaten wurden ten. Oft waren das nicht die einzigen Einschränkungen –
Arbeitnehmerrechte verletzt, indem Tarifverträge syste- parallel kürzten die Regierungen Renten, Löhne oder Hil-
matisch unterlaufen wurden, insbesondere in den Krisen- fen für Arbeitslose. Am härtesten traf das Spardiktat den
ländern Südeuropas und in Irland. öffentlichen Dienst. Damit nahm, als Mitglied der Troika,
In Portugal setzte die Regierung Branchentarifver- auch die Kommission einen massiven Vertrauensverlust
träge außer Kraft, um die Wirtschaft mit Vorgaben der in Kauf.
sogenannten Troika (bestehend aus Internationalem Wenn soziale Grundrechte und demokratische Tradi-
Währungsfonds, Europäischer Kommission und Euro- tionen nicht respektiert werden, ist die Legitimität dieser
päischer Zentralbank) kompatibel zu machen. In vielen Politik kompromittiert. Bei den Europawahlen von 2014
südeuropäischen Ländern erlaubten neue Gesetze, die legten rechte und EU-feindliche Parteien deutlich zu und
Branchentarifverträge mit Haustarifverträgen zu unter- erhielten insgesamt rund 19 Prozent der Stimmen. Der
laufen. Der Protest der Gewerkschaften und anderer zi- Front National wurde in Frankreich mit 25 Prozent klar
vilgesellschaftlicher Organisationen konnte daran nicht stärkste Kraft. In Großbritannien erhielt die UKIP gut 27
viel ändern. Im Nachbarland Spanien fiel zwischen 2008 Prozent der Stimmen. Auch die Gruppe der EU-Skeptiker
und 2012 nahezu ein Drittel der Beschäftigten aus dem nahm stark zu. Inwieweit die rund 510 Millionen Europä-
Schutz ihrer Tarifverträge. Von ehemals zwölf Millionen erinnen und Europäer dem Versprechen einer besseren
konnten nur noch achteinhalb Millionen Beschäftigte auf sozialen Integration noch folgen, wird sich erneut 2019
diese Rechte zählen. zeigen – dann ist die nächste Europawahl.

ATLAS DER ARBEIT 41


EU-JUGEND

RESIGNIERTE UND EMPÖRTE


Die jüngsten Wirtschaftskrisen in der arbeitslosigkeit die verschiedenen Länder Europas sehr
EU haben die Lage vieler Jugendlicher unterschiedlich trifft. Da sind zum einen jene Staaten, in
weiter verschlechtert. Aber sie denen die meisten der jungen Frauen und Männer rela-
haben begonnen, sich zu wehren. tiv problemlos ins Berufsleben einsteigen können, wie in
Deutschland, Dänemark, Österreich oder in den Nieder-
landen. Doch schon in Frankreich sind laut OECD derzeit


o könnten Lebenswege aussehen: Jugendliche 22 Prozent der Jugendlichen arbeitslos, in den südeuropä-
besuchen zunächst die Schule, bis sie 16 oder 19 ischen Ländern Italien und Spanien mehr als 30 und in
sind, dann machen sie weiter mit einer Ausbil- Griechenland sogar 44 Prozent.
dung oder einem Studium. Anschließend arbeiten sie in Das heißt nun nicht, dass in den südeuropäischen
ihrem Beruf und stehen auf eigenen Beinen. Endlich sind Staaten fast jeder Zweite unter den bis zu 25-Jährigen
sie unabhängig, beziehen jeden Monat ein Gehalt, kön- ohne Job dastünde. Denn die Kennzahl „Jugendarbeits-
nen über eine eigene Wohnung nachdenken und auch losigkeit“ misst nicht den Anteil an der gesamten Alters-
über die Gründung einer Familie. gruppe, sondern nur an der Gruppe derer, die arbeiten
So aber sieht ein Lebensweg in Europa oft genug nicht können und wollen. Sie schließt also Schülerinnen und
mehr aus. Nicht, dass junge Menschen Teile davon aus ei- Schüler oder Studierende aus.
gener und freier Entscheidung verwerfen – die Frage, ob Als aussagekräftiger für das Schicksal und die Pers-
sie das so wollen, stellt sich ihnen einfach nicht. Denn auf pektiven der jüngeren Generationen gilt denn auch die
den Schul-, den Universitäts- oder den Berufsabschluss Zahl der NEETs. Das Kürzel bedeutet „Not in Employment,
folgt für allzu viele heute – nichts. Kein Arbeitsvertrag, Education or Training“, also weder in Beschäftigung noch
befristet oder nicht, noch nicht einmal ein prekärer Job in Ausbildung oder Schulung. Unter ihnen sind Carmen
oder irgendeine Aushilfstätigkeit, und damit auch kein aus Andalusien oder Roberto aus Sardinien, die beide
Einkommen. Zu einem Millionenheer sind diejenigen jun- schon lange resigniert und die Arbeitssuche aufgegeben
gen Menschen in der EU geworden, die Arbeit suchen und haben. Die EU-Statistikbehörde Eurostat misst die Zahl
nicht finden. Und es kann alle treffen, natürlich vorneweg der NEETs in der Altersgruppe der 20- bis 34-Jährigen. Ein
die, die keinen Abschluss haben. Aber auch diejenigen, Fünftel dieser jungen Menschen in der EU sitzt tatenlos zu
die mit einer Ausbildung oder einem Universitätsdiplom Hause, in Italien und Griechenland schießt der Wert auf
auf den Arbeitsmarkt drängen. erschütternde 30 Prozent hoch. Mehr noch: Er bleibt in
Im Jahr 2017 standen 3,8 Millionen Jugendliche un- den verschiedenen Untergruppen stabil – das Risiko völ-
ter 25 Jahren in der EU ohne Arbeit da. Im Jahr 2013, auf liger Untätigkeit trifft die 20- und die über 30-Jährigen in
dem Höhepunkt der Eurokrise, waren es sogar 5,5 Milli- gleichem Maß oder wächst mit den Jahren sogar noch. So
onen. Die Statistiken zeigen allerdings, dass die Jugend- sieht Perspektivlosigkeit aus: Statt einer Zukunft haben
diese Menschen nur eine triste Gegenwart. Im besseren
Falle empfangen sie Sozialleistungen. In Südeuropa kön-
nen sie nur dank Eltern oder Großeltern überleben
NICHTS HABEN, NICHTS TUN
Anteil junger Erwachsener, die weder arbeiten noch
Jugendarbeitslosigkeit heißt „ewige Jugend“ im
in Ausbildung sind (NEETs), EU-28, in Prozent schlechtesten Sinne. Fast 90 Prozent der jungen Männer
22 zwischen 16 und 29 und fast 80 Prozent der jungen Frau-
en in diesem Alter leben in Italien immer noch bei ihren
20 Eltern. Meist, weil sie gar nichts oder – in prekären Jobs –
viel zu wenig verdienen, um ihr eigenes Leben zu gestal-
18 ten. Ihre Gegenwart ist oft genug von Armut geprägt, um
ihre Zukunft ist es nicht besser bestellt. 30-Jährige, für die
16 nie ein Arbeitgeber in die Rentenkasse eingezahlt hat,
ATLAS DER ARBEIT / EUROSTAT

30–34 Jahre sind in Südeuropa keine Seltenheit.


25–29 Jahre
14 20–24 Jahre

0 Seit zehn Jahren keine Besserung: Ein


2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 Sechstel aller unter 35-Jährigen
in der EU hat den Arbeitsmarkt verlassen

42 ATLAS DER ARBEIT


ATLAS DER ARBEIT / EUROSTAT
VERLORENE GENERATIONEN
Offizielle Jugendarbeitslosigkeit in der Europäischen Union,
Personen unter 25 Jahren, saisonbereinigt, in Prozent

2009
2013 19,9
2017 23,6 21,5 20,1
25,0 17,8 Finnland 18,7
20,7
19,1 12,1 27,4 12,1
Schweden
Großbritannien Estland
23,2
33,3 17,0
13,0
11,8 11,0 Lettland
27,0 13,2
24,8 14,5 10,2 8,9 Dänemark
Irland Niederlande 27,3
21,9
23,7 20,6 14,8
29,6 13,3
21,9 19,3 7,8 Polen
Litauen
Belgien 11,1 6,8
Deutschland 18,9 33,7
16,9 16,6 7,9 27,6 18,9
16,5 15,3 Slowakei
9,7 Tschechien
Luxemburg 26,6
10,7 9,8 23,7
26,4 10,7
Österreich 20,0 18,3
Ungarn
24,9 Rumänien

38,1 23,6 22,3


25,3 23,8 Frankreich 21,6
28,4
Portugal 13,6 11,2
55,5 15,1 12,9
37,7 38,6 Slowenien
Bulgarien
49,9
Spanien
40,0 25,4 27,0
58,3
25,3 37,8* Kroatien
13,0 25,7 43,7 38,9
14,5 10,4 Italien
Griechenland 13,8 24,7
* Italien: 2016 Malta Zypern

Viele arbeitslose junge Erwachsene in


Deshalb ist das Wort von der „verlorenen Generation“ Südeuropa kämen ohne Unterstützung von
wenigstens in Teilen Europas nicht übertrieben. Deut- Eltern oder Großeltern nicht zurecht
sche, skandinavische oder niederländische Jugendliche
haben Pläne. Südeuropäische Jugendliche hingegen wis-
sen, dass sie Arbeitslosigkeit oder Prekariat erwartet. Vie- zent doppelt so viele Stimmen wie in der gesamten Be-
le reden mit 16 oder 20 von ihrem großen Zukunftsplan, völkerung.
der da lautet: emigrieren. Griechenland, Portugal, Spa- In Italien entstand 2009 der Movimento 5 Stelle (M5S),
nien und Italien haben im vergangenen Jahrzehnt eine die „Fünf-Sterne-Bewegung“, gegründet von dem Komi-
enorme Abwanderung junger Leute erlebt. Aber auch vie- ker Beppe Grillo, getragen aber vor allem von jungen Ak-
le derer, die nicht weggehen, wollen sich nicht abfinden. tivistinnen und Aktivisten. Anders als Podemos verortet
So entstanden in dieser Zeit Protestbewegungen und Par- sich der M5S weder rechts noch links, doch gerade bei
teien, die gerade unter jungen Wählerinnen und Wählern der Jungwählerschaft punktete er mit der Forderung nach
überproportionalen Zuspruch erfuhren. einem Bürgereinkommen, das allen zustehen soll, die Ar-
In Spanien gingen in den Jahren 2011/12 die „Indig- beit suchen. Bei den Wahlen 2013 konnten die Fünf Ster-
nados“, die „Empörten“, auf die Straße. Sie protestierten ne aus dem Stand 25 Prozent gewinnen – bei den Jungen
gegen die Folgen der tiefen Krise und gegen die Sparpo- sogar 35 Prozent. 2018 wurden sie mit 32 Prozent stärkste
litik der Regierung. Aus dieser Bewegung entstand die Partei in Italien. Solche Ergebnisse stehen für eine Gene-
radikal linke Partei Podemos. Bei den Parlamentswahlen ration, die sich abgehängt fühlt und wenig Lust hat, ein-
2016 erlangte sie unter den Jungwählern mit gut 40 Pro- fach nur auf bessere Zeiten zu warten.

ATLAS DER ARBEIT 43


TEXTIL

ARMUT AM KLEIDERBÜGEL
Starker Druck auf die Industrie und um die Welt. Von England und West- sowie Mitteleuropa
verantwortungsvoller Konsum können dem wanderte sie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Südeuro-
menschenverachtenden Konkurrenzkampf pa und später nach Japan, Korea, Hongkong und Taiwan.
in der Texttilindustrie ein Ende bereiten. Heute wird in China fast die Hälfte der weltweiten Textil-
exporte produziert.
Inzwischen verlagern die Unternehmen ihre Fabriken


er mechanische Webstuhl machte Manchester zur immer mehr in noch ärmere Länder wie Indien, Vietnam,
ersten Welthauptstadt der Textilindustrie. In we- Kambodscha oder Bangladesch. Zunehmend gerät auch
nigen Jahren entwertete dieser enorme Fortschritt Afrika ins Visier der Textilindustrie, da es der letzte Kon-
in der Produktivität die Arbeitskraft manueller Weber. tinent ist, in dem die Bevölkerung rapide wächst und
Maschinenstürmer in England, Aufstände der Weber in daher viele junge Frauen Arbeit suchen. Mit 21 US-Dollar
Schlesien und Kalkutta, wo Hunderttausende Hunger lit- pro Monat beträgt der Mindestlohn in Äthiopien heute
ten, begleiteten den Aufstieg der industriellen Textilindu- weniger als die Hälfte des Mindestlohns einer Näherin in
strie. Traditionelle Facharbeiter wurden durch angelernte Bangladesch.
Industriearbeiterinnen ersetzt, die schon nach kurzer Zeit Es sind die Lohnunterschiede zwischen den wohlha-
im Akkord hohe Stückzahlen fertigten. benden Industrieländern und den produzierenden Län-
Während die Textilherstellung heute einen hohen dern des Südens, die die Textilbranche zu der Industrie
Grad von Mechanisierung erreicht hat, ist das Nähen von gemacht haben, die am meisten globalisiert ist. Näherin-
Kleidung noch immer sehr arbeitsintensiv. Die Maschi- nen in Bangladesch bekommen lediglich 50 Euro im Mo-
nen, an denen Frauen heute in Asien im Akkord unsere nat. Wenn eine Textilarbeiterin dort das Gleiche wie ihre
Kleidung nähen, unterscheiden sich nicht wesentlich deutsche Kollegin verdienen würde, wäre der Lohnanteil
von den Singer-Produkten, an denen Näherinnen einst in am Preis eines T-Shirts nicht 18 Cent, sondern 5,40 Euro.
Chemnitz oder Hamburg arbeiteten. Ohne wirksame Regelungen des Arbeitsmarktes, Sozial-
Weil die Industrie so arbeitsintensiv ist, sucht sie leistungen oder Tarifverträge werden die Löhne nach An-
Standorte für ihre Unternehmen, an denen viele junge gebot und Nachfrage bestimmt. Da es ein Überangebot an
Frauen in Armut leben. Diese ziehen oft eine Sechstage-
woche mit 10 bis 14 Stunden am Tag in der Textilfabrik ei-
nem Leben im dörflichen Elend vor – oder dem täglichen Viele Textilbeschäftigte erhalten nicht
Überlebenskampf in den Slums der Megastädte. Seit dem einmal Mindestlohn, weil die Arbeitgeber einfach
Beginn der Industrialisierung zieht die Textilindustrie ein Familieneinkommen unterstellen

KEIN BODEN AM UNTEREN ENDE


Gesetzliche monatliche Mindestlöhne in der Textilindustrie von zehn asiatischen Ländern, 2016,
und Anteil der Beschäftigten, die ihn nicht erhalten, nach Geschlecht, 2012–2014 Mindestlohn vorenthalten,
in Prozent Frauen
Bangladesch 68 keine Angaben Männer

Indonesien 104 266 41,1


36,5
107 156 7,9
Mindestlohn in US-Dollar Vietnam 2,2
landesweit
Pakistan 116 125 86,9
in einzelnen 26,5
Regionen Indien 137 179 74,0
erhöht 45,3
Kambodscha 140 26,4
22,0
ATLAS DER ARBEIT / SHENG LU, ILO

China 155 321 keine Angaben

Philippinen 180 321 57,7


43,3
Malaysia 280 keine Angaben

Thailand 281 42,5


23,2

44 ATLAS DER ARBEIT


DIE ABHÄNGIGEN
Top 20 der Länder mit dem größten Anteil an Baumwoll-, Textil- und Bekleidungsexporten
an ihrer Gesamtausfuhr, 2016, in Prozent

49,1
17,3
Kirgistan 22,4
Tadschikistan
10,9 Nordkorea
11,7
22,7 24,5
17,1 Jordanien
Tunesien
Honduras Bangladesch
Haiti
11,3
11,8 12,2 11,0
14,4 Vietnam
El Salvador Kenia Pakistan
Togo
16,5 15,7 38,6
15,1 Kambodscha
Benin Sri Lanka
Nicaragua

ATLAS DER ARBEIT / WITS


10,8 21,6

Tansania Madagaskar

Die internationalen Textilhersteller


Arbeitskräften gibt, werden die Menschen mit Armutslöh- haben die Wahl, wo sie fertigen lassen – es
nen abgespeist. In Bangladesch ist der inflationsbereinig- gibt immer ein neues „billigstes“ Land
te Mindestlohn heute niedriger als 1985.
Der Konkurrenzkampf im Textileinzelhandel macht
die Verbraucherinnen und Verbraucher zu Nutznießenden te begrenzen. Löhne, die die Existenz sichern, sind ein
dieser Situation. Ein T-Shirt ist hierzulande kaum teurer als Menschenrecht, das multinationale Konzerne gemäß den
ein Cappuccino. Das soll allerdings nicht darüber hinweg- UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte ei-
täuschen, dass auch in den wohlhabenden Ländern viele gentlich gewährleisten müssen.
Bezieher und Bezieherinnen von Niedriglöhnen so knapp Durch gemeinsames Handeln sind am ehesten Fort-
kalkulieren müssen, dass sie sich den Luxus ethisch ver- schritte zu erzielen. Dies hat der „Bangladesh Accord“
antwortlichen Einkaufens nicht leisten können. Wo inner- gezeigt. Eine rechtlich verbindliche Vereinbarung zwi-
halb einer Gesellschaft die Kluft zwischen Arm und Reich schen globalen Gewerkschaftsföderationen und über 200
wächst, ist es schwer, von den Armen Solidarität mit den Textilunternehmen in Bangladesch hat den Brandschutz
noch Ärmeren in der Welt zu erwarten. in mehr als 1.500 Fabriken im Land verbessert. „Action,
Große Modemarken konnten bei niedrigen Margen Collaboration, Transformation“ (ACT), eine gemeinsame
durch wachsende Umsätze trotzdem erhebliche Gewin- Initiative der globalen Gewerkschaftsföderation der Tex-
ne machen. Amancio Ortega, der Eigentümer von Zara tilarbeiterinnen und -arbeiter (IndustriALL) und von 16
(Inditex) und damit der nach Umsatz weltgrößte Textil- internationalen Textilunternehmen, will existenzsichern-
einzelhändler, ist im Jahr 2018 mit einem Vermögen von de Löhne durch Flächentarifverträge durchsetzen. Auch
70 Milliarden US-Dollar der derzeit sechstreichste Mann für das von der Bundesregierung initiierte Textilbündnis
der Welt. Das vorherrschende Marktmodell drängt dabei stehen sie ganz oben auf der Liste.
alle Unternehmen dazu, immer schneller immer mehr Damit die Unternehmen, die die Menschenrechte ein-
Produkte zu immer niedrigeren Preisen auf den Markt zu halten wollen, konkurrenzfähig bleiben können, braucht
werfen. es öffentlichen Protest gegen menschenunwürdige Ar-
Um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Textilar- beitsbedingungen. Auch staatliche Regulierung kann
beiterinnen und -arbeiter weltweit zu verbessern, müsste helfen. Wichtig ist zudem, dass die Verbraucherinnen
ein größerer Teil der Wertschöpfung in den produzieren- und Verbraucher sozial verantwortungsbewusst kaufen.
den Ländern verbleiben. Staatliche Mindestlöhne oder Sie können dazu beitragen, dem menschenverachtenden
flächendeckende Tarifverträge könnten die Marktkräf- Konkurrenzkampf ein Ende zu setzen.

ATLAS DER ARBEIT 45


FRANKREICH

ZIEMLICH BESTE NACHBARN


Die französische Arbeitsmarktpolitik halt lebenden Familienmitglieder. Die ersten zwei Kinder
orientiert sich an der deutschen. Doch zählen zur Hälfte (Quotient 3), von dem dritten Kind an
sie übersieht den Preis dafür – den wird das Familieneinkommen durch vier Teile geteilt, von
großen deutschen Niedriglohnsektor. dem vierten an durch fünf und so weiter.
Dennoch sehen die Franzosen Deutschland als Vor-
bild. Schließlich liegt die Arbeitslosenquote hier bei


er aus Deutschland kommt und im Nachbar- 5,7 Prozent, in Frankreich bei 9,5. Dort ist sie seit Lan-
land Frankreich zu arbeiten beginnt, ist häufig gem nicht unter 7 Prozent gesunken. Die französische
erst einmal beeindruckt. Laut Gesetz beträgt Regierung steht daher unter massivem Druck. Die 2005
die durchschnittliche Wochenarbeitszeit 35 Stunden. Ta- abgeschlossenen Hartz-Reformen in Deutschland gelten
rifverträge gelten für 90 Prozent der Beschäftigten – in Konservativen und Liberalen als das Paradebeispiel für
Deutschland genießt gerade einmal die Hälfte diesen Vor- Reformen auf dem Arbeitsmarkt.
teil. Und die Arbeitgeber zahlen mehr Anteile in die Sozi- Der französische Präsident Emmanuel Macron hat
alversicherungen ein als die Beschäftigten. Zwar ist das deswegen im Eiltempo eine vergleichbare Reform des
Durchschnittseinkommen mit rund 35.000 Euro niedriger französischen Arbeitsmarktes angekündigt. Neu justiert
als in Deutschland mit seinen 40.000 Euro. Und Paris ist werden sollen die Tariflandschaft und die betriebliche
in vielerlei Hinsicht ein sehr teures Pflaster. Aber das Ar- Interessenvertretung. Kündigungen sollen für Arbeitge-
beits-, Steuer- und Sozialsystem in Frankreich bietet ver- ber billiger und einfacher werden, indem unter anderem
gleichsweise große Vorteile. Obergrenzen für Abfindungen eingeführt werden.
Vor allem Familien, und hier besonders die Frauen, Das Ziel der Arbeitsmarktreform ist deutlich: Mehr
profitieren von besonderen Strukturen. In Frankreich Flexibilität bereite den Weg zu einer wettbewerbsorien-
leben zwar etwa 16 Millionen weniger Menschen als in tierten Tarifpolitik, heißt es. So sollen die Arbeitgeber,
Deutschland, dennoch werden dort jedes Jahr 160.000 für die bislang der Flächentarif galt, nun auf Betriebs-
mehr Kinder geboren. Nahezu alle gehen in Ganztagskrip- ebene über zentrale Fragen wie Arbeitszeiten verhandeln
pen oder Vorschulen. Fehlt die Infrastruktur oder sind dürfen. Die 35-Stunden-Woche würde damit endgültig nur
alle Plätze vergeben, stellen die Gemeinden in der Regel noch im Gesetz stehen. Bei früheren Reformen liefen die
Kinderfrauen ein, die zu Hause auf die Kleinen aufpassen. Gewerkschaften oft Sturm; Generalstreiks sind, im Ge-
Daher ist es kein Wunder, dass Frankreich – trotz eines gensatz zu Deutschland, bei arbeitsmarkt- und sozialpo-
Rückgangs – in der Geburtenstatistik der EU mit durch- litischen Themen nicht verboten. Bisher bleiben jedoch
schnittlich 1,88 Kindern pro Frau ganz oben mit dabei Massenproteste weitgehend aus.
ist. Deutschland rangiert mit 1,5 Kindern pro Frau auf Worüber Macron nicht spricht: Der Preis der Refor-
Platz 16. Die gute Infrastruktur lockt Französinnen auch men in Deutschland war und ist hoch. Die reichste Indus-
häufiger zurück in den Job als Deutsche. Nur rund zehn trienation Europas hat auch einen der größten Niedrig-
Prozent geben ihre Berufstätigkeit auf, während 18 Pro- lohnsektoren, und die sozialen Sicherungssysteme sind
zent der deutschen Mütter „heim an den Herd“ kehren. am Anschlag. Die Ungleichheiten auf dem deutschen
Der Grund: Frankreich bietet Frauen größere Anreize Arbeitsmarkt sind gestiegen. Auf der einen Seite Nor-
zu arbeiten. Zum einen fällt der geschlechtsspezifische malarbeitsverhältnisse, die in der Regel tarifgebunden,
Lohnunterschied (Gender Pay Gap) mit 15 Prozent deut- sozialversicherungspflichtig und unbefristet sind – und
lich geringer aus als die 22 Prozent in Deutschland; auch auf der anderen Seite atypische Beschäftigungsformen,
nimmt er schneller ab als in anderen europäischen Län- also Leih- und Teilzeitarbeit, geringfügige oder befristete
dern. Ferner behandelt das Steuerrecht Familien völlig Beschäftigung. Das hat gravierende wirtschaftliche und
anders. In Deutschland werden Verheiratete, bei denen soziale Folgen für die Menschen. Wenn Macron sich in
ein Ehepartner nicht arbeitet, mit dem sogenannten Ehe- seiner Arbeitsmarktpolitik eng an Deutschland orien-
gattensplitting versorgt: Die Ehe wird als Wirtschaftsge- tiert, steht vielen Beschäftigten in Frankreich noch eini-
meinschaft verstanden, sodass Einkünfte des arbeitenden ges bevor.
Ehepartners halbiert und entsprechend niedriger be-
steuert werden. Frankreich dagegen praktiziert mit dem
Familiensplitting, dem „quotient familial“, eine haus- Frankreich sieht in Deutschland das Vorbild
haltsgerechte Besteuerung. Sie bestimmt die Höhe der für weniger Arbeitslose. Umgekehrt bietet
Einkommensteuer anhand der Zahl der in einem Haus- Frankreich bessere Bildung und ein längeres Leben

46 ATLAS DER ARBEIT


FRANKREICH UND DEUTSCHLAND IM VERGLEICH
Sozial-, arbeits- und bildungspolitische Kennzahlen
Frankreich Deutschland

67,0
2017
82,5 75,5
2060
80,8
1,88 1,5
Bevölkerung und Prognose, in Millionen
Kinder je Frau, 2017

49,8
70,0 78,6 68,6
79,2 78,3 85,5 83,1
20- bis 64-Jährige 55- bis 64-Jährige

Erwerbstätige, 2016, in Prozent


Männer Frauen

Lebenserwartung, 2015, Jahre

Gender Pay Gap,


15,5 22,3 2014, auf 100 Euro

9,7 4,1 24,6 7,1


20- bis 64-Jährige 15- bis 24-Jährige
12,6 9,3
Erwerbslosenquote, 2016, in Prozent

Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre


in Erwerbslosenhaushalten, 2016, in Prozent

13,6 16,5
10,4

armutsgefährdete Bevölkerung,
2016, in Prozent
13,0

Schulkinder je Lehrkraft, Sekundarbereich II, 2015

33,0
48,8

Männer

8,8 10,3
38,1 33,4
frühe Schulabgänge unter den
18- bis 24-Jährigen*, 2016, in Prozent
Frauen
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS

30- bis 34-Jährige mit


Hochschulabschluss, 2016, in Prozent
Anteil der Bildungsausgaben an der 5,5 4,6
Wirtschaftsleistung, 2014, in Prozent
* höchstens mittlerer Abschluss

ATLAS DER ARBEIT 47


ASIEN

NEUE WEGE GESUCHT


Der Gipfel der Industrialisierung ist in 2014 jedoch hat China die USA in puncto Bruttoin-
China und Indien bereits überschritten. landsprodukt wieder überholt – wenn auch nicht pro
In Asien taugen die alten Entwicklungs- Kopf, sondern insgesamt und an der Kaufkraftparität
modelle nicht mehr. gemessen, also daran, was man in der Lokalwährung
kaufen kann. Wenn den aktuellen Prognosen zu glauben
ist, wird Chinas Wirtschaft im Jahr 2049 zweimal so groß


er rasante wirtschaftliche Aufstieg Asiens in den sein wie jene der USA und größer als die aller westlichen
vergangenen Jahrzehnten ist historisch ohne Bei- Ökonomien zusammen. Indiens Volkswirtschaft wird bis
spiel. Doch er hat nur das Kräfteverhältnis wieder- dahin größer sein als jene der USA.
hergestellt, das über Jahrhunderte normal war. Zwischen Wie haben die ostasiatischen Staaten diesen Aufstieg
dem Jahr 1000 und dem Beginn des 19. Jahrhunderts war in Rekordzeit geschafft? Japan, Südkorea, Singapur und
China für rund ein Viertel der globalen wirtschaftlichen Taiwan verstanden es meisterlich, ihre Arbeitskräfte für
Aktivität verantwortlich. Um 1750 produzierten China und Jobs in der neu entstehenden und staatlich geförderten
Indien zusammen sogar drei Viertel der Waren weltweit. Industrie zu mobilisieren. Die Produktivität stieg. Durch
Bis zum Jahr 1914 sank dann der Anteil ganz Asiens an der die mit der Industriegesellschaft einhergehende Urba-
Weltproduktion auf noch 7,5 Prozent. Europa und die USA
hatten sich seit der industriellen Revolution erdrückende
Wettbewerbsvorteile durch technischen Fortschritt, die Die Einführung von Industrierobotern – zum Nähen,
Ausbeutung der Kolonien und die Plünderung ganzer in der Elektronik oder im Fahrzeugbau –
Kontinente verschafft. bedroht billige, technisch veraltete Arbeitsplätze

DIE ROBOTER KOMMEN


Automatisierung und mögliche Auswirkungen auf die Beschäftigung Südkorea

Industrieroboter pro 10.000 Beschäftigte in der Industrie, 2015


neue Industrieroboter, Anzahl, Prognose für 2019
531
automatisierbare Industriearbeitsplätze, in Prozent, 2015
46.000

55,4

160.000 Japan

9.000 China
305
49 43.000
160 Taiwan

Italien 42,6
190
Indien 40,6
46.000 6.000 13.000
Kambodscha 4
176 2 47,3
Philippinen

398
Nordamerika Bangladesch

25.000
ATLAS DER ARBEIT / BLOOMBERG

51,9 Singapur

301 Thailand 48,8 Indonesien


Deutschland 52
Malaysia
33 6
Datensätze nicht einheitlich. Roboter-Dichte Nordamerika: nur USA

48 ATLAS DER ARBEIT


RÜCKKEHR IN DIE WELTWIRTSCHAFT
Anteile von Ländern und Ländergruppen an der globalen Wirtschaftsleistung und Prognosen, in Prozent

40

35

30 Westeuropa

25
China
20 USA

ATLAS DER ARBEIT / MADDISON, IMF


15

10

5 Indien

0
1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020 2040

In der Wirtschaftsleistung pro Kopf liegen China


nisierung verbesserten sich die Bildungschancen der und Indien weit zurück. Aber ihr absolutes
nachfolgenden Generation. Die Fertigungsmethoden ko- Gewicht bestimmt ihre Rolle in der Weltwirtschaft
pierten die Länder Asiens zumeist von den entwickelten
Industriestaaten.
Doch das Zeitfenster für diese exportorientierte, in- auf der Suche nach Jobs in die Städte Indiens ziehen wer-
dustriegestützte Entwicklung schließt sich gerade. Denn den und dort keine Beschäftigung finden?
auf Industrialisierung folgt – so lehrt es die Wirtschaftsge- In China ist die Lage anders. Die Bevölkerung wächst
schichte – Deindustrialisierung und ein Strukturwandel kaum noch und wird ab 2027 sogar schrumpfen. Dann
in der Wirtschaft. In Deutschland war der Höchststand gerät auch das chinesische Entwicklungsmodell in Tur-
im Jahr 1965 erreicht: 49,2 Prozent aller Beschäftigten bulenzen. Wenn das Angebot an Arbeitskräften sinkt,
arbeiteten in der Industrie, 2017 waren es nur noch 24,1 steigen die Löhne. Die Arbeitskosten haben sich seit 2002
Prozent. In China betrug dieser Wert auf dem Höhepunkt versechsfacht. Mit der Halbierung der Wachstumsraten
der Industrialisierung im Jahr 2012 30,3 Prozent, 2016 wa- von 14 auf – immer noch beachtliche – 7 Prozent zwischen
ren es nur noch 28,8 Prozent. Indien hat den Zenit schon 2007 und 2016 nahm auch der Pool der Wanderarbeiterin-
bei 13 Prozent überschritten. Der Ökonom Dani Rodrik nen und Wanderarbeiter ab. In den vergangenen Jahren
spricht in Fällen wie Indien von „vorzeitiger Deindustri- ist er um etwa 40 Millionen Menschen kleiner geworden;
alisierung“. selbst die billigsten Arbeitskräfte werden rarer.
Das Beispiel Indien zeigt, wie schwierig es ist, auf Und das ist noch nicht alles. Künftige Hightech-Pro-
den Dienstleistungssektor als Fundament des wirtschaft- duktionen, die gern mit dem Begriff Industrie 4.0 belegt
lichen Aufholprozesses zu setzen. Indien hat es zwar ge- werden, dürften zum sogenannten Backshoring führen
schafft, eine Nische im IT-Service- und Callcenter-Bereich – der Rückkehr von Produktionsbetrieben nach Europa
zu besetzen. Allerdings erfordern solche Jobs oft Fertig- oder in die USA. Denn Produkte dieser neuen Generati-
keiten und Kenntnisse, über die nur ein kleiner Teil der on werden in hochentwickelte „Ökosysteme“ eingebet-
Arbeitskräfte verfügt. Indien ist es nicht gelungen, an die tet sein, wie sie in den „alten“ Industrieländern gerade
wirtschaftlichen Erfolge von Japan, Südkorea, Singapur entstehen. Gleichzeitig sind nach einer Weltbank-Studie
und China anzuschließen, weder in der Industrie noch rund 69 Prozent der Arbeitsplätze in Indien durch Auto-
bei den Dienstleistungen. Ein großer Teil der Arbeitskräf- matisierung bedroht, in China gar 77 Prozent.
te auf dem Subkontinent bleibt in der Landwirtschaft oder Die einfachen Industriearbeitsplätze sind besonders
arbeitet als Tagelöhner. gefährdet. Bei den Asean-5-Ländern (Indonesien, Malay-
Die nächste digitale Automatisierungswelle wird den sia, Philippinen, Singapur, Thailand) sind es laut einer
Trend des beschäftigungsfreien Wachstums verstärken – Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)
auch in Asien. In Indien entern jeden Monat eine Million 56 Prozent. Auch Europa oder die USA stehen mit den
junge Leute den Arbeitsmarkt. Vor allem niedrig qualifi- Digitalisierungstrends und der Industrie-4.0-Landschaft
zierte Arbeitskräfte werden es schwer haben, in Zukunft vor wahrhaft großen Herausforderungen. In Asien jedoch
Jobs zu finden. Was passiert dann mit den rund 300 bis ist das Entwicklungsmodell der vergangenen goldenen
400 Millionen Menschen, die nach UN-Angaben bis 2050 Jahrzehnte gefährdet.

ATLAS DER ARBEIT 49


STREIKRECHT

DIE GEGNER DER ARBEITSKÄMPFE


Verweigerung des Streikrechtes und Arbeitsorganisation (ILO) von 1948 garantiert. 187 Staaten
zunehmende Repressionen sind haben dem bis heute zugestimmt.
die beiden stärker werdenden Trends, Auf der Internationalen Arbeitskonferenz, der Jahres-
gegen die sich Beschäftigte und hauptversammlung der ILO, bestritt jedoch die Arbeitge-
berseite im Jahr 2012, dass es überhaupt ein international
ihre Gewerkschaften weltweit wehren.
anerkanntes geschütztes Streikrecht gäbe. Die sich da-
raus ergebende Kontroverse verhinderte, dass eine Liste


enschen haben schon gestreikt, lange bevor von Staaten veröffentlicht wurde, denen schwerste Ver-
das Recht dazu offiziell festgeschrieben wurde. letzungen internationaler Arbeits- und Sozialstandards
Vor über 3.000 Jahren legten in Ägypten die Ar- vorgeworfen wurden. Dies bedeutet eine Schwächung des
beiter in den Totenstädten der Pharaonen mehrfach die am besten verankerten internationalen Mechanismus,
Arbeit nieder, weil ihre Bezahlung in Form von Getreide mit Publizität die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam
ausblieb. Mit Erfolg. Jahrhunderte später entstanden in zu machen, wenn das Streikrecht verletzt wird.
deutschen Reichsstädten die Gesellenvereinigungen. Sie In immer mehr Ländern häufen sich außerdem die
fungierten als eine Art Arbeitsvermittlung für wandern- Fälle, in denen Streiks mithilfe neuer Gesetze ausgehe-
de Gesellen und konnten Handwerksbetriebe, die ihre belt, mit Sanktionen belegt oder verboten werden, wie
Arbeiter schlecht behandelten, „verrufen“, das heißt mit ein Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr
Boykott belegen. Davon waren immer wieder ganze Hand- 2016 feststellt. Von 119 der dort genannten Länder haben
werkszünfte einer Stadt betroffen. 117 rechtliche Schritte unternommen, die gegen interna-
Schon bei diesen frühen Arbeitskämpfen vor dem tionale Standards des Streikrechtes verstoßen. Von den
Industriezeitalter kämpften die Werktätigen für bessere 35 OECD-Mitgliedern haben 23 das Recht eingeschränkt.
Arbeitsbedingungen, für mehr Rechte und eine besse- Allein in den vergangenen fünf Jahren haben neun (Aus-
re Bezahlung. Im 19. Jahrhundert wurden Streiks zum tralien, Belgien, Kanada, Griechenland, Ungarn, Italien,
wichtigsten Mittel der Arbeiterbewegung, um die Interes- Norwegen, Spanien und die Türkei) Maßnahmen ergrif-
sen der Werktätigen gegenüber Unternehmen und Staat fen, die Arbeitsniederlegungen einschränken.
durchzusetzen. 1873 erreichten die Buchdrucker auf diese Zwei Haupttrends zeichnen sich ab. Erstens wird ei-
Weise in Deutschland einen ersten Tarifvertrag. nigen Arbeitnehmergruppen das Streikrecht verweigert.
Seit der Industrialisierung wurden Streiks mehr und
mehr zu einem Massenphänomen. Das Recht auf Streik
existiert in Deutschland erst seit 1918, in einzelnen Ge- Während die Arbeitgeberseite ein international
werbeordnungen allerdings schon früher. International geschütztes Streikrecht bestreitet, nehmen
ist es im Übereinkommen Nummer 87 der Internationalen auf nationaler Ebene die Verstöße dagegen zu

ANGRIFFE AUF DAS STREIKRECHT


Zahl der Länder, aus denen Verletzungen berichtet wurden, 2016 aktuell in den letzten fünf Jahren

52 8 Ausschluss von Beschäftigtengruppen vom Streik

41 5 Zwangsschlichtung bei Streiks

40 11 überzogene Anforderungen für die Ausübung des Streikrechts

36 13 übermäßig hohe Strafen während rechtmäßiger Streiks

29 3 Verbot oder Einschränkung von politischen oder Solidaritätsstreiks

25 5 behördliche Einmischung während eines Streiks


ATLAS DER ARBEIT / FES

18 9 Behörden setzen Streik aus oder erklären ihn für ungesetzlich

17 7 willkürliche Definition der vor Streiks geschützten öffentlichen Grundversorgung

50 ATLAS DER ARBEIT


ATLAS DER ARBEIT / ITUC
DIE SCHLECHTESTEN LÄNDER FÜR ARBEITNEHMERINNEN UND ARBEITNEHMER
Der ITUC Global Rights Index 2017: Verstöße gegen kollektive Arbeitsrechte*, 139 untersuchte Länder, 2016/17

83 %
der Länder
haben das
Streikrecht
verletzt

82 %
60 % der Länder haben
das Recht auf
Tarifverhandlungen
der Länder
verletzt
haben das Recht,
Gewerkschaften
zu gründen
oder ihnen
beizutreten, unregelmäßige Verstöße systematische Verstöße
ver- oder
wiederholte Verstöße keine Rechtsgarantien
behindert
regelmäßige Verstöße Rechtssystem zusammengebrochen keine Angaben

* Katalog von 97 Kriterien internationaler Konventionen und Gerichtsbarkeit. ITUC: International Trade Union Confederation, Internationaler Gewerkschaftsbund

In mehr als zwei Dritteln aller Länder verstoßen


60 Länder haben dies mit vagen Kriterien wie „wesent- Regierungen gegen Gewerkschaftsrechte oder
liche Dienste“, „öffentliche Beschäftigte“ und „strate- bleiben untätig, wenn gegen sie verstoßen wird
gische oder lebenswichtige Einrichtungen“ begründet.
Zweitens unterliegen Arbeitnehmer, die immer noch
streiken dürfen, zunehmender Repression. Die Behör- gleichheit sowie andere wirtschaftliche und soziale Pro-
den können einen Streik aussetzen oder festlegen, dass bleme geschwächt. Aber weltweit zeigen Arbeiterinnen
er illegal ist. Sie können auch zwangsweise Schiedsge- und Arbeiter weiterhin bemerkenswerten Mut. Im Jahr
richtsverfahren einleiten, was internationale Standards 2016 gingen 40.000 Beschäftigte des US-Telekommunika-
verletzt. Solche Einmischungen sind sehr weit verbreitet: tionskonzerns Verizon erfolgreich für sechseinhalb Wo-
Sie wurden in 80 Ländern registriert, berichtet die Fried- chen in den Ausstand und setzten Lohnerhöhungen und
rich-Ebert-Stiftung. In vielen Fällen machen es bürokra- bessere Sozialleistungen durch. Im Jahr 2017 streikten
tische Verfahren und Anforderungen praktisch unmög- Kohlekumpel in Kasachstan für bessere Löhne und Ar-
lich, legal zu streiken. beitsbedingungen. Im Jahr 2018 widersetzten sich 130.000
Andere Methoden sind, fremde Kräfte oder Wanderar- Metallarbeiter in der Türkei einem Streikverbot der Regie-
beiter und -arbeiterinnen einzustellen, um Streikende zu rung und zwangen die Arbeitgeber zu Lohnerhöhungen.
ersetzen. Auch werden sie willkürlich entlassen, in Haft Jeder Streik ist auch ein Kampf um das Streikrecht –
genommen, zu hohen Geldstrafen verurteilt, oder sie er- und der ist noch lange nicht vorbei. Angriffe auf das
fahren Repressionen vonseiten der Polizei und werden Streikrecht sind Angriffe auf die Demokratie, auf Gleich-
bei Gerichten nicht zugelassen. Alles in allem ist es über- heit und Gerechtigkeit. Um ihnen entgegenzuwirken,
raschend, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre
solchen Ländern immer noch in den Streik treten, um ihre Bündnisse untereinander, in der Gesellschaft und mit
Forderungen durchzusetzen. der Wissenschaft stärken. Das ist umso wichtiger, da die
Die wachsenden Angriffe auf das Streikrecht tragen Zahl der Arbeitskämpfe seit der neoliberalen Wende der
dazu bei, die Stärke der Gewerkschaften zu untergraben. 1980er-Jahre global zunimmt. Seitdem wird das Verhält-
Damit wird auch ihr Kampf gegen die zunehmenden Un- nis von Arbeit, Kapital und Staat neu verhandelt.

ATLAS DER ARBEIT 51


SKLAVEREI

MAXIMAL AUSGEBEUTET
Gewaltsames Festhalten, Menschenhandel, aber die moderne Sklaverei unterscheidet sich strukturell
Arbeitslager, Verheiratung wider Willen – was nicht wesentlich von den alten Formen. Die Betroffenen
unter „moderne Sklaverei“ zusammengefasst werden gewaltsam festgehalten, ihres freien Willens be-
wird, ist weltweit anzutreffen. raubt und wirtschaftlich ausgebeutet. Einige Forschende
weisen darauf hin, dass potenzielle Sklaven heute – an-
ders als früher – nicht knapp, daher also billig sind und


eit die UN-Vollversammlung die Allgemeine Er- die Gewinnspannen höher liegen als Mitte des 19. Jahr-
klärung der Menschenrechte 1948 verabschiedet hunderts.
hat, ist das Verbot von Sklaverei eine weltweit Am meisten verbreitet sind Formen von Sklaverei und
anerkannte Norm. Trotzdem sind Zwangsarbeit und Zwangsarbeit bei der Rohstoffgewinnung in Bergbau und
Menschenhandel bis heute sehr verbreitet. Nach Anga- Landwirtschaft sowie im Dienstleistungssektor. Knapp
ben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) waren zwei Drittel der Betroffenen leben in der Region Asien-Pa-
2016, konservativ geschätzt, weltweit rund 40 Millionen zifik. Die Gefahr, versklavt zu werden, ist jedoch in Afrika
Menschen Opfer moderner Sklaverei, Tendenz steigend. am höchsten.
71 Prozent der Betroffenen sind Frauen, 25 Prozent Kinder. Armut fördert ausbeuterische Arbeitsverhältnisse.
„Moderne“ Sklaverei gibt es in allen Erdteilen. Was die Deshalb ist moderne Sklaverei in Indien, wo fast ein Drittel
Gesetzgeber darunter fassen, ist unterschiedlich. Hinzu der Bevölkerung in großer Armut lebt, weitverbreitet. Je-
kommt eine hohe Dunkelziffer. Entsprechend existieren des Jahr verschwinden dort Hunderttausende Kinder; die
keine zuverlässigen Zahlen. Die ILO-Angaben stützen sich Regierung hat ein Suchportal eingerichtet. Immer wieder
zu einem Großteil auf Interviews und Hochrechnungen vertrauen Landfamilien ihre Töchter und Söhne Menschen
der privaten Stiftung Walk Free Foundation des australi- an, die ihnen eine leichte Arbeit und eine gute Ausbildung
schen Milliardärs Andrew Forrest, die seit 2013 jährlich ei- in der Stadt versprechen. Die Mädchen schuften dann oft
nen Global Slavery Index herausgibt. Die Methodik dieser sieben Tage die Woche als Hausangestellte und werden
Studien ist dabei umstritten. nicht selten sexuell ausgebeutet. Auch auf Teeplantagen,
Sklavinnen und Sklaven galten früher offiziell als Ei- in Hinterhoffabriken oder als Bettlerinnen und Bettler
gentum. Heute gibt es zwar keine Besitzurkunden mehr, werden diese Kinder eingesetzt. Und obwohl Schuld-
knechtschaft in Indien seit 1976 verboten ist, ist sie nach
wie vor verbreitet. So leihen sich erkrankte Arme Geld,
um Medikamente zu kaufen, und verpfänden dafür ihre
DIE WIRKSAMSTEN DRUCKMITTEL
Wie Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen im privatwirt-
gesamte Arbeitskraft. Weil die Zinsen hoch und die Löh-
schaftlichen Sektor gefügig gemacht werden, in Prozent ne niedrig sind, müssen die Kinder oft mithelfen und die
Schulden ihrer Eltern weiter abarbeiten, wenn diese nicht
0,9 mehr können, und sogar, wenn die Eltern gestorben sind.
unter Alkohol/Drogen gehalten
4,1 4,3 sexueller Gewalt unterworfen In Brasilien wurden zwischen 1995 und 2015 über
5,0 Pass oder andere
5,7 50.000 Menschen aus sklavenähnlichen Verhältnissen
Papiere weggenommen
6,6 befreit, in die sie aufgrund von Schuldknechtschaft ge-
6,7 Strafen durch Schlaf- oder
Essensentzug raten waren. Doch im Herbst 2017 verabschiedete die Re-
6,7
rechtliche Schritte angedroht gierung ein Gesetz, das die Definition der Sklavenarbeit
9,1 Geldstrafen aufweicht und so die Kontrolle durch staatliche Inspek-
11,8 zu weit weg von zu Hause,
ohne Schutzort tionen einschränkt. Schwarze Listen der Unternehmen,
16,4 bei der Arbeit oder in der die von Sklavenarbeit profitieren, werden nun nicht mehr
ATLAS DER ARBEIT / ILO, WALK FREE FOUNDATION

Wohnung eingesperrt veröffentlicht.


zum Abzahlen von
17,0 Eine andere Form von Zwangsarbeit findet in den etwa
Schulden gezwungen sein
die Familie bedroht 1.000 chinesischen Arbeitslagern statt, in denen etwa vier
23,6 körperlicher Gewalt Millionen Menschen festgehalten werden. Längst nicht
unterworfen
mit Gewalt bedroht
14,5 Lohn vorenthalten
Sonstiges Aus privater Zwangsarbeit zu flüchten ist
in Millionen Fällen kein gangbarer Weg.
Die Täter verhindern es mit vielen Mitteln

52 ATLAS DER ARBEIT


WELTWEITE KNECHTSCHAFTEN
Verteilung von Zwangsarbeit und Zwangsheirat* nach Regionen, Geschlecht und Alter, in 1.000

Moderne Sklaverei 15.442 15.975


gesamte Zwangsarbeit 4.060 4.816
Zwangsheirat
private Zwangsarbeit Zwangsprostitution staatliche Zwangsarbeit

340 Welt
3.250
13.000 9.209 2.442 6.766
2.411 29 Europa und Zentralasien
1.650 4.787
350
170
männlich
weiblich arabische Länder

ATLAS DER ARBEIT / ILO/WALK FREE FOUNDATION


670 1.280 8.440
16.550
Amerika
5.679 2.980
4.420
9.762 12.995 282 1.024
5.820 Asien und Pazifik
3.778 3.791 Afrika

Kinder
Erwachsene
* Heirat ohne Zustimmung

Billige Arbeitskraft, sexuelle Ausbeutung,


alle sind Kriminelle, viele sind aus politischen Gründen Teil einer Strafe – die Motive für die vielen Formen
eingesperrt. Unter härtesten Bedingungen produzieren moderner Sklaverei können sich vermischen
sie Billigwaren für den internationalen Markt, ackern in
der Landwirtschaft oder brechen Erze in Bergwerken. Ar-
beitsunfälle mit Todesfolge oder schweren Verletzungen Weltweit gibt es schließlich nach ILO-Angaben min-
kommen häufig vor. destens 4,8 Millionen Zwangsprostituierte. Fast drei Vier-
Zahlreiche moderne Sklaven leben außerhalb ihrer tel von ihnen leben in der Region Asien-Pazifik. Auch
Heimatländer. In vielen Fällen versprechen Menschen- Deutschland ist ein Glied in der Kette des Menschenhan-
händler gute Jobs und organisieren den Transport ins dels, der auf sexuelle Ausbeutung abzielt. Vor allem aus
Einsatzland. Dafür verlangen sie horrende Summen. Bulgarien, Rumänien und Nigeria stammen Frauen, die in
Unterkunft und Verpflegung sind oft so teuer, dass die Bordellen und Wohnungen als Sexarbeiterinnen arbeiten
Zwangsmechanismen ähnlich wirken wie die der Schuld- müssen. Sklaverei in einem modernen, erweiterten Sinne
knechtschaft. Hinzu kommt, dass den Migrantinnen und – so die Zwangsprostitution mit Freiheitsberaubung und
Migranten vielfach die Papiere abgenommen werden und sexueller Ausbeutung – existiert auch hierzulande.
sie ohne Sprachkenntnisse und persönliche Netzwerke
schutzlos ihren Ausbeutern ausgeliefert sind. Besonders
krass ist die Lage auf Fischereibooten. Kürzlich wurden
ATLAS DER ARBEIT / VERISK MAPLECROFT

DIE NEUE GEFAHR


in Indonesien 600 Männer befreit, die zum Teil jahrelang Länder, in denen für Immigrantinnen und Immigranten
keinen festen Boden unter den Füßen gehabt hatten. das Risiko von Zwangsarbeit zunimmt, 2017 Finnland
Ein Sonderfall von Zwangsarbeit stellen Nordkorea-
Schweden Estland
nerinnen und Nordkoreaner da, die von ihrer Regierung Großbritannien
zum Arbeiten in die ganze Welt geschickt werden, um Irland Dänemark

Devisen zu erwirtschaften. Bewacht von Landsleuten, die zunehmendes Risiko


auch den Lohn einkassieren, bauen sie Fußballstadien in 5 EU-Länder mit Polen
Belgien Deutschland
dem niedrigsten
Katar, nähen Kleidung in chinesischen Fabriken oder fäl- Luxemburg Tschechien
Schutzniveau Slowakei
len Bäume in Russland. Im EU-Land Polen werden sie auf Ungarn
Werften eingesetzt. Slowenien Rumänien
Portugal Kroatien

Italien Bulgarien

In mehreren EU-Ländern häufen sich die Fälle, Griechenland


in denen Eingewanderte zum Opfer von
Malta Zypern
Arbeitsknechtschaft und Menschenschmuggel werden

ATLAS DER ARBEIT 53


CARE-ARBEIT

DIE GROSSE VERLAGERUNG


Ehemals unbezahlter Haushalts-, Sorge- Laut der jüngsten Zeitverwendungsstudie des Statisti-
und Pflegeaufwand wird immer stärker in schen Bundesamtes leisteten Frauen 2012/13 in Deutsch-
bezahlte Arbeit verwandelt. Aber das soll land gut 20 Prozent weniger unbezahlte Arbeit als 1991/92.
den Staat möglichst wenig kosten. Während es damals noch knapp fünf Stunden täglich wa-
ren, die Frauen vor allem mit Kinderbetreuung, Altenver-
sorgung, Kochen, Putzen und Einkaufen verbrachten, ist


ie vierköpfige Familie L. in Berlin ist ein Beispiel dieser Wert auf knapp vier Stunden gesunken. Bei Män-
für die Veränderungen in der modernen Dienst- nern nahm die unbezahlte Arbeit nur von 165 auf 150 Mi-
leistungsgesellschaft. Der Vater ist angestellter nuten täglich ab.
Architekt, die Mutter arbeitet drei Tage die Woche in einer Mit einer besseren Verteilung der unbezahlten Arbeit
PR-Agentur. Eines der beiden Kinder geht in die Kita, ei- innerhalb eines Paares hat der Rückgang also nichts zu
nes in den Hort. Die Eltern zahlen Kitagebühren und zu- tun. Vielmehr führt ihn der Ökonom Norbert Schwarz vom
dem eine Babysitterin, die zweimal in der Woche die Kin- Statistischen Bundesamt auf drei Gründe zurück: Frauen
der von Hort und Kita abholt. Einmal in der Woche kommt gehen häufiger einer Erwerbstätigkeit nach, die Zahl der
eine Putzfrau für vier Stunden in den Haushalt. Kinder sinkt und die Arbeiten im Haushalt werden zuneh-
Die 90-jährige Mutter von Frau L. lebt in Stuttgart, ist mend automatisiert.
sehr gebrechlich und vergesslich. Zwar wohnt noch ein Die Auslagerung von unbezahlter Care-Arbeit aus der
Sohn in der Nähe, aber er ist berufstätig und fährt nur ein- Familie in bezahlte Arbeit etwa in Kitas hat nicht zuletzt
mal in der Woche zu ihr. Seit Kurzem wohnt bei der alten wirtschaftliche Gründe. Durch den demografischen Wan-
Dame eine Betreuerin aus Polen, die über eine Agentur del können es sich die westlichen Gesellschaften nicht
engagiert wurde. Die Betreuerin hat selbst einen Sohn im mehr leisten, in der Arbeitswelt auf Frauen, insbesondere
Teenageralter im Heimatland, der dort mit seinem Vater auf gut ausgebildete, zu verzichten. Was in den 1950er-
und den Großeltern zusammenlebt. Nach drei Monaten und 1960er-Jahren noch üblich war, gilt heute als gigan-
wird sie wieder für eine Weile nach Polen zu ihrer Familie tische Verschwendung menschlicher Arbeitskraft. Gleich-
gehen. zeitig soll es den Frauen möglich sein, trotz Erwerbsarbeit
Die Kleinfamilie in Berlin, die Verwandten anderswo mehrere Kinder zu bekommen.
und die privaten Dienstleisterinnen der Familie sind ein Die Politik legt dabei Wert darauf, die Kosten für die
Beispiel für die moderne, auch grenzüberschreitende bezahlte Care-Arbeit, die aus Steuern oder Beiträgen fi-
Verteilung der „Care-Arbeit“, also der Hausarbeit, Kin- nanziert werden müssen, möglichst niedrig zu halten.
der- und Altenbetreuung. Die unbezahlte Care-Arbeit in Meist sind es wieder Frauen, die als Erzieherinnen oder
Deutschland geht zurück – sie wird gewissermaßen in be- Pflegerinnen arbeiten. Sie sind gewerkschaftlich wenig
zahlte Jobs umgewandelt. bis nicht organisiert. Ohnehin wird gegen Streikende im
Care-Bereich gerne der moralische Vorwurf erhoben, da-
mit die Schwachen zu schädigen. Das wichtigste Druck-
mittel, das die bezahlten Dienstkräfte haben, ist der
HILFE AUS FAMILIEN- UND BEKANNTENKREIS
Bezahlte und unbezahlte Hilfeleistungen bei voll
Bedarf an ihrer Arbeitskraft. Aber sogar die Politik wird
erwerbstätigen Müttern in Paarbeziehungen mit Kindern, aktiv. Der Mangel an Pflegenden erfordert Verbesserun-
2012/13, in Prozent gen bei den Löhnen. Tarifliche Entgelte sollen also in der
Pflege künftig möglichst flächendeckend gelten. Das ist
bezahlt ein Ziel der Politik von CDU/CSU und SPD.
6,8 unbezahlt Sich privat von unbezahlter Care-Arbeit freizukau-
4,5
20,1 fen ist teuer und funktioniert vielerorts nur aufgrund
Wohnungsreinigung des internationalen Lohngefälles. Die ost- und mitteleu-
ropäischen „Live-in“-Betreuerinnen und -Betreuer für
9,7
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS

Pflegebedürftige zum Beispiel sind gewissermaßen die


6,4

Mahlzeitenzubereitung* Kinderbetreuung
Höhere Lebenserwartung, mehr Frauenarbeit –
* bezahlt: keine Angaben; gastronomische Dienstleistungen
waren bei der Erhebung per Definition ausgeschlossen möglich, dass ältere Familienangehörige
den Berufstätigen mit Kindern künftig stärker helfen

54 ATLAS DER ARBEIT


ATLAS DER ARBEIT / IW, SOEP
ARBEITSPLATZ IM PRIVATHAUSHALT
Beschäftigung von Haushaltshilfen,
Verteilung nach Bundesländern, 2016

4,79
Gesamtanteil, in Prozent
regelmäßig gelegentlich
11,5 Mecklenburg-
2,78 Vorpommern
rechtlicher Status,
Anzahl in Tausend, Schleswig- Sachsen- 2,8
Holstein 10,13
2016 Anhalt

47 303 12,11
Niedersachsen
Brandenburg

sozialversichert angemeldete
im Haushalt Minijobs Nordrhein-
beschäftigt 4,65 4,85
Westfalen

14,57 Thüringen Sachsen

2.967
Hessen 7,85

10,22 Bayern
10,83
Rheinland-
Pfalz Baden-
nicht angemeldet 9,78 Württemberg

Saarland 7,63 10,22 13,86

Von der Umfrage für das Sozioökonomische Panel (SOEP) erfasst sind Hilfen u. a. für Reinigung,
Haushaltsführung, Kinderbetreuung, Alten- und Krankenpflege sowie Gartenarbeit.
Berlin Bremen Hamburg

Haushaltshilfen erledigen oft den Care-Bedarf von


globalisierte Version des alten Modells, nach dem die Älteren, Familien und Einpersonenhaushalten –
Haushaltshilfen mit im Arbeitgeberhaushalt wohnten. umso mehr, je höher das Haushaltseinkommen ist
Am Ende geht es immer um die öffentliche oder priva-
te Finanzierung der umgewandelten, ehemals unbezahl-
ten Care-Arbeit – und deren Grenzen. Bei der Pflege ist Der Bedarf an bezahlter Betreuungsarbeit, ob in Kitas
das offensichtlich. Im Unterschied zur Kinderbetreuung oder in der Pflege, wird künftig eher zunehmen. Wohlha-
wird die unbezahlte Pflege durch Angehörige politisch bende Jüngere gegen bedürftige Ältere? Es wird zu einer
beworben – die Pflegeversicherung soll die Angehörigen wichtigen Verteilungsfrage, wer sich bei knappem Ange-
möglichst nur unterstützen. Das ist kein Wunder, denn bot an Arbeitkräften die bezahlte Care-Arbeit weiterhin
eine vollstationäre Pflege ist teuer. Oft muss das Sozial- leisten kann.
amt bei der Finanzierung einspringen.
Freiwilligendienste können die unbezahlte Care-Ar-
beit durch Angehörige nicht ersetzen. Denn Freiwilligen-
FEIERABEND AM ENDE DER KRÄFTE
arbeit kann nur begrenzt verpflichtend und verlässlich Meinungsumfrage über arbeitsbedingte Abspannung als
sein. Gemäß der Zeitverwendungsstudie ist die Quote für Vereinbarkeitserschwernis, 2017, in Prozent
ehrenamtliches Engagement und Freiwilligendienste in
den zehn Jahren zwischen 2001/02 und 2012/13 sogar um Wie oft sind Sie nach der
fünf Prozentpunkte zurückgegangen. Diese Zahl steht et- Arbeit zu erschöpft, um
sich noch um private oder
15 15
was im Widerspruch zum „Freiwilligensurvey 2014“ des familiäre Angelegenhei-
Deutschen Zentrums für Altersfragen (DZA). Dieser ver- ten zu kümmern?
zeichnete eine steigende Engagementquote von zuletzt
43,6 Prozent. Der Survey schloss aber auch etwa Singen 26
im Kirchenchor als Freiwilligenarbeit mit ein.
44
ATLAS DER ARBEIT / DGB

sehr häufig
oft
selten
Ungleiche Verteilung der Hausarbeit macht
nie
die Müdigkeit aus berufsbedingtem
Stress und ungeliebter Arbeit noch schlimmer

ATLAS DER ARBEIT 55


GRUNDEINKOMMEN

VIELE BEDINGUNGEN
IM LAND DER FREIHEIT
Ist es wünschenswert, ist es finanzierbar? Existenzminimum abdecken soll. Bedürftigkeit heißt,
Bislang ist seriös nicht beantwortet, dass das Erwerbseinkommen oder die Lohnersatzleistung
wie Erwerbsarbeit und Einkommen nicht einmal die Höhe des Existenzminimums erreicht
gesellschaftsweit entkoppelt werden könnten. und aufgestockt werden muss. Angerechnet werden sämt-
liche Einkommen des Haushalts, und vorausgesetzt wird,
dass die Menschen bereit sind zu arbeiten. Fehlt diese


ie Teilhabe am Erwerbsleben ist grundlegend, Bereitschaft, werden Sanktionen verhängt oder sogar die
um die materielle Existenz zu sichern. Zwar wird Leistungen gestrichen.
diese Kopplung von Erwerbstätigkeit und Lebens- Dieses mit der Erwerbsarbeit verknüpfte Sozialstaats-
unterhalt, von Lohnarbeit und Einkommen durch den modell steht seit Jahren in der Kritik. Gegenentwürfe ma-
Sozialstaat gelockert, doch nicht aufgehoben. So erhal- chen die Runde. Besonders radikal ist die Forderung nach
ten Menschen unter bestimmten Bedingungen auch dann einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Es ist
ein Einkommen, wenn sie nicht arbeiten – weil sie krank, eine steuerfinanzierte Geldleistung, die allen Bürgern zu-
alt oder arbeitslos sind. Die Sozialversicherungen leisten steht und keinerlei Bedingungen oder Gegenleistungen
ihnen aber nur dann einen Lohnersatz, beispielsweise voraussetzt. Das BGE wird allen gezahlt, unabhängig von
Renten, Arbeitslosen- oder Krankengeld, wenn sie zuvor der Höhe des Einkommens und der Bereitschaft zu arbei-
einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach- ten. Erwerbsarbeit und Einkommen sind grundsätzlich
gegangen sind und Beiträge eingezahlt haben. entkoppelt.
Im Fall von Bedürftigkeit besteht ein Anspruch auf Dieses Konzept fasziniert und begeistert viele Men-
eine Grundsicherungsleistung, die das sozialkulturelle schen. Das Recht auf ein auskömmliches und repressions-
freies Einkommen ermögliche Freiheit und Individualität
jenseits der Zwänge einer fremdbestimmten Lohnarbeit.
Das Grundeinkommen könnte auch dem Verlust von Ar-
ATLAS DER ARBEIT / STATISTA

GEFÜHLTE SICHERHEIT
Umfrage zur Höhe eines bedingungslosen
beitsplätzen und Massenarbeitslosigkeit den Schrecken
Grundeinkommens, Ende 2017 nehmen. Da das Grundeinkommen eine Alternative zur
Erwerbsarbeit ist, würde – so die Argumentation – die
zu hoch Nachfrage nach raren Arbeitsplätzen sinken. Zugleich
eröffneten sich Möglichkeiten, statt Erwerbsarbeit ehren-
amtliche, künstlerische oder familiäre Tätigkeiten auszu-

953,08 € 1.602,26 €
üben. Da alle Bürgerinnen und Bürger diese Pauschalleis-
tung empfangen würden, gäbe es keine Armut mehr.
Die Frage ist allerdings, ob diese Ziele wirklich mit
niedrig, aber dem BGE erreicht werden können. Eine entscheidende
gerade noch Frage ist dabei, wie hoch das Grundeinkommen sein soll.
ausreichend
zum Leben 1.137,24 € Durchschnitt
So nennen Verfechter eines „emanzipatorischen“ BGE
eine Orientierungsgröße von 1.000 Euro. Doch dies ergä-
be bei gut 82,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwoh-
nern Ausgaben von fast einer Billion Euro pro Jahr. Zum
Vergleich: Das gesamte Volkseinkommen erreicht einen
749,92 € 1.243,69 € Wert von etwa 2,3 Billionen Euro, und die Summe aller
Sozialausgaben beziffert sich auf 920 Milliarden Euro. An-
gesichts dieser Größenordnungen liegt es nahe, dass neo-
hoch, aber gerade
zu niedrig, um davon noch akzeptabel
leben zu können
Knapp 1.140 Euro, etwa 20 Prozent über dem
Beträge sind Durchschnittswerte der vier abgefragten Einschätzungen. Umfrage
von Oktober/November 2017, 1.024 Befragte zwischen 18 und 69 Jahren Existenzminimun, sollte es als bedingungsloses
Grundeinkommen geben, meinen die Deutschen

56 ATLAS DER ARBEIT


FAST EIN VIERTEL WAR DAFÜR
Schweiz: Umfrage und Volksabstimmung zum bedingungslosen Grundeinkommen, in Prozent

Meinungsumfrage, Dezember 2015 Volksabstimmung, Juni 2016

Wenn Sie ein bedingungsloses


Grundeinkommen bekämen, würden 76,9 23,1
Gesamtergebnis
Sie dann aufhören zu arbeiten?
Nein-Stimmen Ja-Stimmen
2 8 Die Volksabstimmung galt
der Einführung eines neuen
Artikels 110a in die Bundes-
verfassung; Wortlaut:
21 Basel 1. Der Bund sorgt für die Ein-
führung eines bedingungs-
losen Grundeinkommens.
69 Zürich 2. Das Grundeinkommen soll
der ganzen Bevölkerung
ein menschenwürdiges
Dasein und die Teilnahme
am öffentlichen Leben
ja, bestimmt Luzern ermöglichen.
3. Das Gesetz regelt insbe-
eher ja Bern
sondere die Finanzierung
nein, eher nicht und die Höhe des Grund-
nein, bestimmt einkommens.
nicht

ATLAS DER ARBEIT / DEMOSCOPE, WIKIPEDIA, NZZ


Lausanne

Bellinzona Ergebnis nach Kantonen


Genf Ja-Stimmen
über 10 bis 20
über 20 bis 30
über 30

Im urbanen und industriell geprägten Norden


liberale Verfechter eines BGE den Betrag wesentlich nied- und Westen der Schweiz erhielt das bedingungslose
riger ansetzen – etwa bei 500 Euro, deutlich unterhalb der Grundeinkommen die meisten Ja-Stimmen
gegenwärtigen Grundsicherung. Dann allerdings könnte
weder von einer umfassenden Armutsvermeidung noch
von einer Alternative zur Erwerbsarbeit die Rede sein. Die überhaupt nicht brauchen. Über hohe Steuerabzüge wird
Betroffenen müssten Geld hinzuverdienen. der Betrag im nächsten Schritt aber wieder „einkassiert“.
Da sich das zur Verteilung stehende Volkseinkommen Je attraktiver das Grundeinkommen als Alternative zur Er-
nicht plötzlich um eine Billion Euro erhöht, müsste es werbstätigkeit wäre, desto stärker würden die Belastun-
zwingend durch Leistungskürzungen auf der einen und gen bei denjenigen ausfallen, die als Erwerbstätige und
drastische Steuererhöhungen auf der anderen Seite ge- Bezieherinnen oder Bezieher von Erwerbseinkommen
genfinanziert werden. 90 Milliarden Euro würden gespart, Steuern abführen müssen.
wenn die bisherigen Grundsicherungssysteme wegfielen. Es ist schwer abzuschätzen, wie viele Menschen nur
Aber das würde keineswegs ausreichen. Weitreichende vom BGE leben würden und sich vom Arbeitsmarkt tem-
Einschnitte in das soziale Netz träfen die Empfängerin- porär oder dauerhaft zurückzögen. Doch alle, die per Um-
nen und Empfänger sozialstaatlicher Leistungen, etwa verteilung staatliche Transfers erhalten und sich davon
von Kranken- und Rentenversicherung. Auch Kürzungen Güter und Dienstleistungen kaufen, leben von der Arbeit
bei den sozialen Beratungs-, Hilfs- und Dienstleistungen der anderen. Auf der individuellen Ebene ist dieser Ab-
wären fatal. Denn auch sie helfen, Armut und soziale Aus- kopplungs- und Umverteilungsprozess möglich und not-
grenzung zu vermeiden. wendig; er ist die Voraussetzung eines jeden Sozialleis-
Eine höhere Einkommensteuer würde bedeuten, dass tungssystems. Da aber Erwerbsarbeit notwendig ist und
die neben dem BGE erzielten Erwerbseinkommen durch bleibt, um eine hohe Wertschöpfung zu erreichen sowie
hohe Steuersätze belastet würden. Es käme zu einem Pa- den Sozialstaat zu finanzieren, sind alle Konzepte einer
radox: Zwar erhalten auch jene das Grundeinkommen, prinzipiellen Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Ein-
die aufgrund ihres Erwerbseinkommens diese Zahlung kommen letztlich unrealistisch.

ATLAS DER ARBEIT 57


FAULHEIT

„FALLENDES MINIMUM“ AN ARBEIT


In Müßiggang zu leben war immer eine ist gewissermaßen der Vordenker für alle Forderungen
elitäre Idee. Heute geht es um Arbeitszeit- nach dem Recht auf Faulheit oder aller Konzepte zur Ent-
verkürzung und Work-Life-Balance. schleunigung des Lebens und Arbeitens. Er hat über die
Jahrhunderte zahllose Denker und Schriftsteller inspiriert.
Anatole France glaubte, dass Arbeit etwas Unnatür-


s ist die vielleicht bekannteste Anekdote aus der liches sei, die Faulheit dagegen göttlich. Als der junge
Antike. Als Alexander der Große in Korinth weilt, Vladimir Nabokov in der Schule einen Aufsatz zum The-
um von dort einen Feldzug gegen die Perser anzu- ma Faulheit schreiben musste, gab er ein leeres Blatt ab.
führen, machen ihm die Honoratioren der Stadt, Staats- Sollten sich doch andere abmühen, um etwas Kluges
männer und auch Philosophen die Aufwartung. Einer übers Faulenzen zu schreiben. Ja, wirkliches Glück ohne
allerdings entzieht sich dem Rummel: Diogenes von Sino- Müßiggang sei unmöglich, glaubte Anton Tschechow.
pe. Da geht Alexander zu dem berühmten Philosophen, Und Friedrich Schlegel schließlich forderte, man solle
der sich auf einem Platz ausruht. Als er ihn grüßt und das Studium des Müßiggangs nicht so sträflich vernach-
fragt, womit er ihm dienen könnte, antwortet Diogenes lässigen, sondern es zur Kunst und Wissenschaft, ja Re-
nur kurz: „Geh mir doch ein wenig aus der Sonne!“ ligion bilden!
Diese Anekdote zeugt von Philosophie in Aktion. Dio- Doch so schön und überzeugend Dichter und Philo-
genes wirbt plakativ für seine Idee der Bedürfnislosigkeit. sophen die Bedeutung des Müßiggangs oder der Faulheit
Denn nur sie ließe den Menschen frei sein, frei von Kon- skizzierten, es war eine elitäre Idee. Ihre Umsetzung blieb
ventionen oder gesellschaftlichen Zwängen. Nicht erst denen vorbehalten, die es sich leisten konnten, weil an-
heutzutage irritiert diese Vorstellung. Antike Philosophen dere die Arbeit machten, sei es in den frühen Sklavenge-
wie Platon hielten wenig davon. Friedrich Nietzsche warf sellschaften oder später als „Lohnsklaven“ (Rosa Luxem-
Diogenes sogar vor, mit der Forderung nach Bedürfnislo- burg) in den frühkapitalistischen Gesellschaften. Schon
sigkeit das „wichtigste Heilmittel gegen alle sozialen Um-
sturzgedanken“ zu liefern.
Doch damit tut er Diogenes Unrecht. Dessen Philoso- Nach den Selbsteinschätzungen liegt die
phie war seinerzeit durchaus subversiv und kann bis heu- Alltagsbelastung von Frauen im Lebensverlauf
te als Plädoyer für Müßiggang gelesen werden. Diogenes fast durchgehend über der von Männern

ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS


MEHR RUHE ERST AB 50
Zeitdruck, Planungsdruck und Ausschlafen im Lebenslauf unregelmäßig ausschlafen
häufig unter Zeitdruck
angewiesen, den Tag zu planen
stimme stimme
voll und voll und
ganz zu ganz zu

stimme stimme
eher zu eher zu

teils/teils Frauen teils/teils Männer

stimme stimme
eher eher
nicht zu nicht zu

stimme stimme
überhaupt überhaupt
nicht zu 20–28 0–2 0–17 50–64 nicht zu 20–28 0–2 0–17 50–64
Alter der Alter des Alter des Alter der Person Alter der Alter des Alter des Alter der Person
Person, ersten jüngsten Kindes ohne minderjährige Person, ersten jüngsten Kindes ohne minderjährige
kinderloser Kindes in Haushalten Kinder im Haushalt kinderloser Kindes in Haushalten Kinder im Haushalt
Haushalt mit 2 Kindern Haushalt mit 2 Kindern

58 ATLAS DER ARBEIT


DIE ÜBERBESCHÄFTIGTEN
Anteil von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit mehr als 50 Stunden Arbeitszeit pro Woche, 2016, in Prozent

12,7 0,2
3,7
Kanada Großbritannien Russland
7,8 4,6 21,8
11,5 Frankreich
Deutschland
Japan
USA 4,6
Spanien
3,9 20,8
Italien
33,8 Südkorea

29,5 Türkei

7,2
Mexiko
Brasilien
18,7 13,2
Australien
Südafrika

ATLAS DER ARBEIT / OECD


0 bis unter 5
5 bis unter 10
10 bis unter 15
über 15

In vielen Ländern leisten große Teile


der Frühsozialist Henri de Saint-Simon kritisierte Anfang der Belegschaften Überstunden – freiwillig
des 19. Jahrhundert die „Klasse der Müßiggänger“ aus oder auf Druck, bezahlt oder nicht
Adligen, bürgerlichen Rentiers und Geistlichen. Er stellte
ihnen die „industrielle Klasse“ gegenüber.
Karl Marx ging in „Grundrisse der Kritik der politi- geißelt, sondern obendrein feststellt: „Zwischen Kapital
schen Ökonomie“ (1858) weiter. Für die Gesellschaft gehe und Arbeiterbewegung gab es fast immer die grundsätz-
es darum, die Arbeitszeit „auf ein fallendes Minimum zu liche Übereinstimmung, dass die Leute schaffen müs-
reduzieren, und so die Zeit aller frei für ihre Entwicklung sen.“ Er will stattdessen das Recht auf Arbeit durch ein
zu machen“. Denn der wirkliche Reichtum sei die entwi- Recht auf Selbstbestimmung – ein „Recht auf Faulheit“,
ckelte Produktivkraft aller Individuen. Bei Marx taucht wie er seine Schrift nennt – ersetzen. Als maximale Ar-
sogar der Gedanke der „Selbstverwirklichung“ des In- beitszeit schweben ihm drei Stunden am Tag vor. Mit der
dividuums auf. Doch sie wird für ihn mit einer Tätigkeit Dividende der Mechanisierung würde sich das finanzie-
erreicht, die einen „produktiven und schöpferischen Cha- ren lassen.
rakter“ annimmt. Kurzum: Freie Zeit ist nicht bloß Zeit der Lafargues ökonomische Utopie entfaltet seinerzeit
Nichtarbeit, sondern Zeit für „höhere Tätigkeit“, wissen- keine große Wirkung. Doch über Arbeitszeit, Muße und
schaftliche oder künstlerische, um das Individuum voll Selbstbestimmung wird seitdem zumindest in den west-
zu entwickeln. lichen Gesellschaften immer wieder diskutiert. In der Tat
Diese Vorstellung war kein Wunder. Faulheit oder Mü- haben Gewerkschaften durchgesetzt, dass die Arbeitszeit
ßiggang waren außerhalb der Eliten noch immer verpönt, kontinuierlich reduziert wurde und die Vereinbarkeit mit
wie Sprichwörter dokumentieren, die wir bis heute gut dem Privatleben, die Work-Life-Balance, heute entschie-
kennen: „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ oder „Wer den besser ist als je zuvor. Das verleiht den Arbeitenden
arbeitet, tut Gutes. Wer faulenzt, stiehlt dem lieben Gott eine größere Autonomie. Allerdings dient sie oft dazu,
die Zeit“. Hier scheint unverkennbar die protestantische möglichst fit zu bleiben, um den sich verdichtenden Ar-
Ethik durch, die schließlich den Kapitalismus befeuert – beitsprozessen gewachsen zu sein. Müßiggang bleibt
und letztlich auch von Marx nicht infrage gestellt wird. letztlich eine ferne Utopie, oder um es in den Worten des
Bemerkenswerterweise ist es dann sein Schwieger- Dichters Alfred Polgar zu sagen: „Arbeit ist das, was man
sohn Paul Lafargue, der nicht nur die kapitalistische tut, um es – Zielpunkt im Unbewussten – einmal nicht
Moral als „jämmerliche Kopie der christlichen Moral“ mehr tun zu müssen.“

ATLAS DER ARBEIT 59


AUTORINNEN UND AUTOREN, QUELLEN
VON DATEN, KARTEN UND GRAFIKEN

10–11 GESCHICHTE: VON DER PLAGE 20–21 ATYPISCHE ARBEIT: ENDE DER
ZUR BERUFUNG von Daniel Haufler NORMALITÄT von Frank Meissner
S. 10: DGB-Index Gute Arbeit. Der Report 2017. S. 20: Destatis, Statistisches Jahrbuch 2017, S. 358,
Schwerpunkt: Vereinbarkeit von Arbeit und https://bit.ly/2e9NNE6. S. 21 o.: Böckler Impuls
Privatleben, S. 21, https://bit.ly/2zJXYxw. S. 11: 9/2017, Atypische Beschäftigung. Neuer Höchststand.
Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen https://bit.ly/2qOSwEc. S. 21 u.: DGB, klartext 32/2017,
Sprache, Berlin 2011. Rey, Dictionnaire historique https://bit.ly/2qOv1KU.
de la langue francaise, Paris 2012. Oxford English
Dictionary, London 1993. Vasmer, Russisches 22–23 DEMOGRAFIE: WAS DIE ZUKUNFT
Etymologisches Wörterbuch, Sankt Petersburg 1996. BRINGT von Johannes Jakob S. 22: Destatis,
Indo-European Lexicon, https://bit.ly/2HTFsFb. 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung
Wiktionary, https://en.wiktionary.org/. für Deutschland, https://bit.ly/2K1VBJ7. S. 23:
siehe S. 22, eigene Berechnungen. Destatis, Registrierte
12–13 ARBEITSMARKT: SCHNELLER Arbeitslose, https://bit.ly/1nVhA0d. Nettoerwerbsquote:
WANDEL von Wilhelm Adamy S. 12: Glossar Eurostat, Employment rate by sex, age group 20-64,
der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Serie [t2020_10], https://bit.ly/2HOdmem.
Arbeit, https://bit.ly/2F4qtVA. S. 13 o.: Destatis,
Eckzahlen zum Arbeitsmarkt 2007, 2012 und 2017, 24–25 ARBEITSZEIT: PER HALBTAGSJOB
https://bit.ly/2HOdiv7. Institut Arbeit und Qualifikation ZU UNBEZAHLTEN ÜBERSTUNDEN
der Universität Duisburg-Essen, Aktive Arbeitsmarkt- von Yvonne Lott S. 24: Destatis, Pressemitteilung
politik, https://bit.ly/2Hfu1q8. O-Ton Arbeitsmarkt, Nr. 21 vom 18.01.2018, https://bit.ly/2JYypLX.
Arbeitsmarktpolitische Förderung, S. 25 o.: DGB-Index Gute Arbeit. Der Report 2017.
https://bit.ly/2J9oamQ. S. 13 u.: Destatis, Qualität Schwerpunkt: Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben,
der Arbeit. Geld verdienen und was sonst noch so S. 21, https://bit.ly/2zJXYxw. S. 25 u.: siehe S. 24.
zählt. 2017, S. 33, https://bit.ly/2eKxZOw.
26–27 JUGEND: GUTE AUSBILDUNG IST ALLES
14–15 EINKOMMEN: IM KAMPF UM von Manuela Conte und Matthias Anbuhl
BRANCHENTARIFVERTRÄGE S. 26: BIBB, Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes
von Reinhard Bispinck S. 14: DGB-Verteilungsbericht im Jahr 2017, S. 6. S. 27 o.: BIBB, Datenreport zum
2017, S. 43, https://bit.ly/2JdwfqF. S. 15 o.: IAQ-Report Berufsbildungsbericht 2017, S. 20, https://bit.ly/2F4z8r7.
6/2017, Niedriglohnbeschäftigung 2015, S. 3, Jugendarbeitslosenquoten, https://bit.ly/2HfyAVk.
https://bit.ly/2qLpyVQ. S. 15 u.: WSI-Verteilungsbericht S. 27 u.: BMBF, Berufsbildungsbericht 2018, S. 51,
2017, https://bit.ly/2Hg6DNc. https://bit.ly/2HOJKxi.

16–17 GEWERKSCHAFTEN: VERHANDELN 28–29 RENTE: RECHNUNG FÜRS LEBEN


BIS ZUM STREIK von Reinhard Bispinck von Ingo Schäfer und Markus Hofmann
S. 16: WSI-Tarifarchiv, Tarifbindung, S. 28: DRV, Rentenversicherung in Zeitreihen, Oktober
https://bit.ly/2qNigRB. S. 17 o.: DGB, Mitgliederzahlen 2017, S. 259, https://bit.ly/2pfbBhj. S. 29 o.: Eigene
2017, https://bit.ly/2qORV4R. S. 17 u.: Destatis, Darstellung nach einer Vorlage der Prognos AG/GDV.
Qualität der Arbeit. Geld verdienen und was sonst S. 29 u.: DGB-Index Gute Arbeit. Der Report 2017.
noch zählt. 2017, S. 54, https://bit.ly/2eKxZOw. Schwerpunkt: Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben,
Schätzung 2017: WSI-Pressedienst, 22.03.2018, S. 23, https://bit.ly/2zJXYxw.
https://bit.ly/2GRL6XK.
30–31 FRAUEN: VIELE GRÜNDE FÜR DIE
18–19 ARBEITSLOSIGKEIT: WEITERBILDUNG UNGLEICHSTELLUNG von Anja Weusthoff
WÄRE WIRKSAM von Johannes Jakob und Mareike Richter S. 30: WSI, Kinderbetreuung,
S. 18: BA, Karten zu Eckwerten der Arbeitslosigkeit 2016, https://bit.ly/2F5wr8O. DGB-Index Gute Arbeit.
und der Grundsicherung, https://bit.ly/2zrxEbD. Der Report 2017. Schwerpunkt: Vereinbarkeit von
S. 19 o.: BA, Jährliche Zeitreihen zum Arbeitsmarkt Arbeit und Privatleben, S. 12, https://bit.ly/2zJXYxw.
in Deutschland, https://bit.ly/2qLzYoq. S. 19 u.: S. 31: Destatis, Verdienste auf einen Blick, 2017, S. 19,
IAB-Kurzbericht 21/2017, https://bit.ly/2F2A8fB. https://bit.ly/2phH028.

60 ATLAS DER ARBEIT


32–33 FINANZKRISEN: KAPITALISMUS 46–47 FRANKREICH: ZIEMLICH BESTE
FORDERT KONSUM von Ulrike Herrmann NACHBARN von Jan Stern und Andreas Botsch
S. 32: inequality.org, Income inequality, S. 47: Destatis, Deutschland im EU-Vergleich 2018,
https://bit.ly/2tOnBb1. Emmanuel Saez, Striking it https://bit.ly/2qPK8ov.
Richer: The Evolution of Top Incomes in the United
States, UC Berkeley, https://bit.ly/2zVC8oT. Wikipedia, 48–49 ASIEN: NEUE WEGE GESUCHT
List of largest daily changes in the Dow Jones Industrial von Thomas Seifert S. 48: Bloomberg Gadfly, The
Average, https://bit.ly/1IZKMhE. S. 33: ILO, Robot Rampage, 9. Januar 2017, https://bloom.bg/2i8zLri.
Global Wage Report 2014/15, https://bit.ly/15S0srq. S. 49: Angus Maddison, The World Economy: Historical
Statistics, https://bit.ly/2vxAk6N.
34–35 DIGITALISIERUNG: WENN MASCHINEN
STÜRMEN von Oliver Suchy S. 34: DGB-Index 50–51 STREIKRECHT: DIE GEGNER DER
Gute Arbeit, Verbreitung, Folgen und Gestaltungs- ARBEITSKÄMPFE von Edlira Xhafa und
aspekte der Digitalisierung in der Arbeitswelt, Daniel Haufler S. 50: Edlira Xhafa, The Right
S. 11, https://bit.ly/2JeIaVd. S. 35: DGB-Index Gute to Strike Struck down? FES Study, 2016, S. 3,
Arbeit, Arbeitshetze und Arbeitsintensivierung bei https://bit.ly/2qQ2zYP, https://bit.ly/2HjuOWY.
digitaler Arbeit, https://bit.ly/2F4xG8a. S. 51: The 2017 ITUC Global RIghts Index: The
World’s Worst Countries for Workers,
36–37 WELT DER ARBEIT: DAS ZIEL: https://bit.ly/2HP2r43, https://bit.ly/2qMD1wA.
SICHERER LOHN UND MENSCHENWÜRDIGES
LEBEN von Frank Zach S. 36: Inequality-adjusted 52–53 SKLAVEREI: MAXIMAL AUSGEBEUTET
Human Development Index (IHDI), 2015, von Annette Jensen S. 52, S. 53 o.: ILO, Walk
http://bit.ly/2zfDOYx. World Economic Outlook (WEO) Free Foundation, Global Estimates of Modern Slavery,
database, http://bit.ly/2hF0zSV. S 37: Vienna Institute S. 18, S. 36, https://bit.ly/2mvgHrR. S. 53 u.: Forbes,
of Demography (VID), Global Migration Data Sheet Modern Slavery Risks To Supply Chains Rise
2005–2010, publ. 2013, http://bit.ly/1jXmIBh. Across Europe As Migrants Exploited, 9. August 2017,
https://bit.ly/2Jd0Moe.
38–39 EU-MIGRATION: TÜR AUF FÜR DIE
NACHBARN von Béla Galgóczi S. 38: 2016 54–55 CARE-ARBEIT: DIE GROSSE
Annual Report on intra-EU Labour Mobility, S. 57, VERLAGERUNG von Barbara Dribbusch
S. 65, https://bit.ly/2kQfQ3o. S. 39: Bundeszentrale S. 54: Destatis, Wie die Zeit vergeht. Analysen zur
für politische Bildung, Bevölkerungsstand und Zeitverwendung in Deutschland, 2016, S. 81,
-entwicklung, http://bit.ly/1cyKv8P. https://bit.ly/2FU2Wsn. S. 55 o.: IW, Kurzstudie
Arbeitsplatz Privathaushalt, 2017, https://bit.ly/2vyJLTN.
40–41 EU-ARBEITNEHMERRECHTE: VIEL S. 55 u.: DGB-Index Gute Arbeit. Der Report 2017.
VERTRAUEN VERSPIELT von Jan Stern und Schwerpunkt: Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben,
Andreas Botsch S. 40: Benchmarking Working S. 5, https://bit.ly/2zJXYxw.
Europe 2018, S. 60, https://bit.ly/2pMGvyR. S. 41:
Wage bargaining under the new European Economic 56–57 GRUNDEINKOMMEN: VIELE
Governance, S. 110, https://bit.ly/2qNBTZz. BEDINGUNGEN IM LAND DER FREIHEIT
von Gerhard Bäcker S. 56: Statista, So hoch sollte
42–43 EU-JUGEND: RESIGNIERTE UND ein bedingungsloses Grundeinkommen sein. Umfrage
EMPÖRTE von Michael Braun S. 42: Eurostat, von Splendid Research, Hamburg, 05.12.2017,
Share of young people neither in employment nor https://bit.ly/2HhXu2x. S. 57: Marktforschungsinstitut
in education and training, https://bit.ly/2F3Ly2F. Demoscope, zitiert nach Der Spiegel, 27.01.2016,
S. 43: Eurostat, Unemployment by sex and age, https://bit.ly/1UpC7MX. Wikipedia, Initiative Grund-
Serie [une_rt_a], https://bit.ly/1w8TC95. einkommen, https://bit.ly/2HiiBBI. NZZ, 05.06.2016,
Die Grundeinkommen-Initiative auf einen Blick.
44–45 TEXTIL: ARMUT AM KLEIDERBÜGEL https://bit.ly/2vz4re8.
von Frank Hoffer S. 44: Sheng Lu, Minimum Wage
in the Apparel Industry Continues to Rise in Most 58–59 FAULHEIT: „FALLENDES MINIMUM“
Asian Countries in 2016, https://bit.ly/2Hl7JmZ. ILO, AN ARBEIT von Daniel Haufler S. 58: Destatis,
Asia-Oacific Garment and Footwear Sectir Research Wie die Zeit vergeht. Analysen zur Zeitverwendung
Note, Issue 5, August 2016, S. 2, https://bit.ly/2fE7vOV. in Deutschland, 2016, S. 57, https://bit.ly/2FU2Wsn.
S. 45: WITS, World Textiles ans Clothing Exports by S. 59: OECD, Better Life Index, Edition 2017,
Country and Region, 2016, https://bit.ly/2HG1KfN. https://bit.ly/1NYpDH3.

ATLAS DER ARBEIT 61


DEUTSCHER GEWERKSCHAFTSBUND
Überall da, wo es starke freie Gewerkschaften gibt, haben es
Beschäftigte besser – weltweit. Gewerkschaftsmitglieder
haben meist bessere Arbeitsbedingungen, höhere Löhne und
mehr Urlaub. In Deutschland setzt sich der DGB, der Bund
der Gewerkschaften, für die Interessen der Beschäftigten ein
und für eine solidarische Gesellschaft. Er ist die politische
Stimme der acht Mitgliedsgewerkschaften mit rund sechs
Millionen organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
mit einer festen Basis in neun Bezirken und zahlreichen
Regionen, Kreis- und Stadtverbänden. Damit ist der DGB einer
der größten Gewerkschaftsbünde der Welt. Er ist zudem – wie
seine Mitgliedsgewerkschaften – pluralistisch und unabhängig,
aber nicht politisch neutral, sondern bezieht klar Position
im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch
und besonders bei Herausforderungen wie der Digitalisierung,
der Globalisierung und der demografischen Entwicklung.
Der DGB ist auf europäischer und internationaler Ebene aktiv:
im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), im Internationalen
Gewerkschaftsbund (IGB) und im gewerkschaftlichen Beratungs-
komitee (TUAC) der OECD. In diesen Gremien setzen sich
Gewerkschaften und Gewerkschaftsbünde zum Beispiel für
bessere Handelsabkommen, gegen Sklaverei und für bessere Ar-
beitsbedingungen entlang der Lieferketten großer Konzerne ein.

Deutscher Gewerkschaftsbund
Henriette-Herz-Platz 2, 10178 Berlin, www.dgb.de

HANS-BÖCKLER-STIFTUNG
Die Mitbestimmung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
in Betrieb und Unternehmen stärken, gute Arbeitsbedingungen
und mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft erreichen:
Das sind die Ziele, die die Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen
Gewerkschaftsbundes verfolgt. Demgemäß berät die Stiftung
Mitglieder der Arbeitnehmerseite in Aufsichtsräten, fördert be-
gabte junge Studierende mit Stipendien und forscht zu
Wirtschafts- und sozialen Themen. Die Arbeit der Zukunft bildet
einen Schwerpunkt der wissenschaftlichen Aktivitäten. Dazu
hat die Stiftung eine breit aufgestellte Kommission initiiert:
33 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Unternehmen,
Gewerkschaften, Ministerien und Verbänden haben das
Thema intensiv ausgeleuchtet und dabei die gesellschaftliche
ebenso wie die technische Entwicklung in den Blick genommen.
Ihr Abschlussbericht „Arbeit transformieren!“ ist unter
www.arbeit-der-zukunft.de verfügbar. Er zeigt, dass auch in
Zeiten der Digitalisierung keine Dominanz von Maschinen und
Algorithmen die Entwicklung bestimmen muss. Eine menschen-
gerechte, mitbestimmte Arbeitswelt 4.0 ist möglich. Wie lässt
sich digitale Scheinselbstständigkeit verhindern? Welche Regeln
sollen auf Plattformen gelten? Wie macht man die soziale
Sicherung zukunftsfest? Dazu hat die Kommission mehr als
50 Denkanstöße geliefert, die zurzeit weiterentwickelt werden.

Hans-Böckler-Stiftung
Hans-Böckler-Str. 39, 40476 Düsseldorf, www.boeckler.de

62 ATLAS DER ARBEIT


RUHRFESTSPIELE LIED – BEWEGUNG
FORUM ARBEIT – 18
RECKLINGHAUSEN A m 3. un d 4. Ju ni
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1. Mai bis 17. Juni 2018 In fo s un te r w w w .a
Elsenbach Design

Kartenstelle (02361) 9218-0 www.ruhrfestspiele.de


Gesellschafter Förderer Hauptsponsor
216 200
Südkorea

531
252 278

260 190 174 185

46.000

000
305 4.861
392 255
49 43.000

2.359 1.987
190
2.376 2.263 2.533

6.778 5.9
2.304
13.000
4 1.894 749 638

1.074
398 639
459 Singapur

Indonesien Entgegen der ursprünglichen Idee haben sich Minijobs für


60 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000
die Beschäftigten nicht als2005 2010
Einstieg 2015 2017
zu guter Arbeit erwiesen.
6 aus: ENDE DER NORMALITÄT, Seite 20

Vielfach können Alleinerziehende erst dann wieder arbeiten


gehen, wenn sie eine Ganztagsbetreuung für ihre Kinder finden.
aus: VIELE GRÜNDE FÜR DIE UNGLEICHSTELLUNG, Seite 31

Das Wort von der „verlorenen Generation“ ist


wenigstens in Teilen Europas nicht übertrieben.
aus: RESIGNIERTE UND EMPÖRTE, Seite 42

Das Zeitfenster für die exportorientierte, industriegestützte


Entwicklung in Asien schließt sich gerade.
aus: NEUE WEGE GESUCHT, Seite 49

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