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ARBEIT
Daten und Fakten
über Jobs, Einkommen
und Beschäftigung
IMPRESSUM
Der ATLAS DER ARBEIT ist ein Gemeinschaftsprojekt des Deutschen
Gewerkschaftsbundes (DGB) und der Hans-Böckler-Stiftung (HBS).
Inhaltliche Leitung: Daniel Haufler, Maike Rademaker (DGB), Dorothea Voss (HBS)
Der ATLAS DER ARBEIT ist als ATLAS OF WORK auch auf Englisch erschienen.
Die Beiträge geben nicht notwendig die Ansicht der beteiligten Organisationen wieder.
Dieses Werk mit Ausnahme des Coverfotos steht unter der Creative-Commons-Lizenz
„Namensnennung –4.0 international“ (CC BY 4.0). Der Text der Lizenz ist unter
https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode abrufbar. Eine Zusammenfassung
(kein Ersatz) ist unter https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de nachzulesen.
Sie können die einzelnen Infografiken dieses Atlas für eigene Zwecke nutzen, wenn
der Urhebernachweis „Bartz/Stockmar, CC BY 4.0“ in der Nähe der Grafik steht, bei
Bearbeitungen „Bartz/Stockmar (M), CC BY 4.0“.
2018
INHALT
12 ARBEITSMARKT 24 ARBEITSZEIT
SCHNELLER WANDEL PER HALBTAGSJOB ZU
Zwischen Überstunden und UNBEZAHLTEN ÜBERSTUNDEN
Arbeitslosigkeit, Bereitschaftsdienst Viele Beschäftigte möchten ihre Arbeitszeiten
und Minijob – die Arbeitswelt selbst bestimmen. Auch die Arbeitgeber
wird vielfältiger, aber auch instabiler. fordern Flexibilität – im Eigeninteresse.
14 EINKOMMEN 26 JUGEND
IM KAMPF UM BRANCHEN- GUTE AUSBILDUNG IST ALLES
TARIFVERTRÄGE Die duale Berufsausbildung in Betrieb
Von steigenden Löhnen profitieren vor allem und Schule, einst der Garant für
Gutverdienende – auch tarifgebundene gute fachliche Kenntnisse und Leistungen,
Betriebe zahlen besser. Doch zugleich wächst steht unter Druck. Ihre Attraktivität
der Niedriglohnsektor. muss wieder steigen.
16 GEWERKSCHAFTEN 28 RENTE
VERHANDELN BIS ZUM STREIK RECHNUNG FÜRS LEBEN
Tarifpolitik und betriebliche Mitbestimmung – Das Rentenniveau sinkt, das Rentenalter
das sind in Deutschland die beiden steigt. Wer länger arbeitslos war oder
wichtigsten Elemente der Beziehungen nie besonders viel verdient hat, bekommt
zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. das bis zum Tod zu spüren.
18 ARBEITSLOSIGKEIT 30 FRAUEN
WEITERBILDUNG WÄRE WIRKSAM VIELE GRÜNDE FÜR DIE
Die Langzeitarbeitslosen und ihre ebenfalls UNGLEICHSTELLUNG
von Hartz IV abhängigen Familien Die Erwerbsbiografien von Frauen verlaufen
geraten wieder in den Fokus der Politik, meist deutlich ungünstiger als die der
weil sich für viele andere Arbeitslose bereits Männer. Das liegt auch – aber nicht nur –
die Perspektiven verbessern. an den Kindern und ihren Vätern.
34 DIGITALISIERUNG 48 ASIEN
WENN MASCHINEN STÜRMEN NEUE WEGE GESUCHT
Wie kann das „Arbeiten 4.0“ die Arbeits- Der Gipfel der Industrialisierung ist in China
bedingungen verbessern? Wie lässt sich und Indien bereits überschritten. In Asien
der digitale Strukturwandel steuern? Diese taugen die alten Entwicklungsmodelle nicht mehr.
Fragen sind derzeit noch nicht beantwortet.
50 STREIKRECHT
36 WELT DER ARBEIT DIE GEGNER DER ARBEITSKÄMPFE
DAS ZIEL: SICHERER LOHN Verweigerung des Streikrechtes und zunehmende
UND MENSCHENWÜRDIGES LEBEN Repressionen sind die beiden stärker werdenden
Nur ein Drittel der Weltbevölkerung Trends, gegen die sich Beschäftigte und
ist durch den Staat sozial abgesichert. ihre Gewerkschaften weltweit wehren.
Und global wird die Zahl der prekär
Beschäftigten immer noch steigen. 52 SKLAVEREI
MAXIMAL AUSGEBEUTET
38 EU-MIGRATION Gewaltsames Festhalten, Menschenhandel,
TÜR AUF FÜR DIE NACHBARN Arbeitslager, Verheiratung wider Willen –
Millionen von EU-Bürgerinnen und -Bürgern was unter „moderne Sklaverei“ zusammen-
nutzen die Freizügigkeit für Arbeitskräfte, gefasst wird, ist weltweit anzutreffen.
um in einem anderen Mitgliedsland zu
arbeiten. Diese Mobilisierung ist problematisch, 54 CARE-ARBEIT
wenn sie nur den Zielländern hilft. DIE GROSSE VERLAGERUNG
Ehemals unbezahlter Haushalts-, Sorge-
40 EU-ARBEITNEHMERRECHTE und Pflegeaufwand wird immer stärker
VIEL VERTRAUEN VERSPIELT in bezahlte Arbeit verwandelt. Aber
Die Europäische Union richtet erst langsam das soll den Staat möglichst wenig kosten.
ihren Blick auf die Rechte der Beschäftigten.
In der Eurokrise hat sich die Kommission 56 GRUNDEINKOMMEN
auf die Seite der harten Einsparer gestellt. VIELE BEDINGUNGEN IM LAND
DER FREIHEIT
42 EU-JUGEND Ist es wünschenswert, ist es finanzierbar?
RESIGNIERTE UND EMPÖRTE Bislang ist seriös nicht beantwortet, wie
Die jüngsten Wirtschaftskrisen in der EU Erwerbsarbeit und Einkommen
haben die Lage vieler Jugendlicher weiter gesellschaftsweit entkoppelt werden könnten.
verschlechtert. Aber sie haben begonnen,
sich zu wehren. 58 FAULHEIT
„FALLENDES MINIMUM“ AN ARBEIT
44 TEXTIL In Müßiggang zu leben war immer eine
ARMUT AM KLEIDERBÜGEL elitäre Idee. Heute geht es um Arbeitszeit-
Starker Druck auf die Industrie und verkürzung und Work-Life-Balance.
verantwortungsvoller Konsum können
dem menschenverachtenden 60 AUTORINNEN UND AUTOREN,
Konkurrenzkampf in der Textilindustrie QUELLEN VON DATEN, KARTEN
ein Ende bereiten. UND GRAFIKEN
A
rbeit ist für die meisten politisches Handeln notwendig ist.
Menschen mehr als nur der
D
Broterwerb. Arbeit definiert ie Gestaltung von Arbeits-
in der Regel den gesellschaftlichen bedingungen ist zudem seit
Status, nicht nur durch das Einkommen, Langem keine nationale
sondern durch den Beruf selbst. Angelegenheit mehr. Sie ist eine
Arbeiten zu können, bedeutet soziale Aufgabe internationaler politischer
Teilhabe und gesellschaftliche Steuerung. Die Konkurrenz unter
Integration. Überall in der Welt wird den Steuersystemen und die
über Arbeit und die damit verbundene Kapitalmärkte bestimmen längst
Wertschätzung debattiert. Investitionen wie Handelswege und
damit nationale Politik: Wenn
Arbeit ist keine Ware, deren Preis Großkonzerne gezieltes Steuerdumping
und Bedingungen willkürlich betreiben, wenn Kapitalmärkte in
festgelegt werden können oder nur Turbulenzen geraten oder gar
vom Markt bestimmt werden dürfen. abstürzen, dann treffen die Folgen die
Arbeitsbedingungen und Löhne Schwächsten: die Beschäftigten.
sind immer auch das Ergebnis Darauf hat die Politik immer noch
politischer Entscheidungen, oft keine adäquaten Antworten –
harter Konflikte und politischer weder national noch auf europäischer
Systeme. Dieser Atlas der Arbeit soll – oder internationaler Ebene.
ohne Anspruch auf Vollständigkeit –
die Bandbreite von Arbeitsbeziehungen Hinzu kommt, dass wir in der Arbeitswelt
darstellen; er vergleicht Systeme mit neuen Herausforderungen
in verschiedenen Staaten und konfrontiert sind, während lange
beschreibt, wie Arbeitsbedingungen währende Missstände längst nicht
gestaltet werden können. Der Atlas beseitigt sind: So ist es bisher nicht
zeigt, wie weit wir leider von dem Ziel einmal gelungen, die schlimmste
D
Machtkonzentration bei Konzernen, ieser Atlas der Arbeit vermittelt
wachsende Ungleichheit – die facettenreich, wie unsere
Transformation der bisherigen Arbeitswelt heute gestaltet ist,
Arbeitswelt zur neuen Arbeitswelt ist wie sie sich ständig wandelt und welche
ein großer Auftrag, für die Politik Möglichkeiten wir – besonders Politik,
und besonders für Gewerkschaften. Gewerkschaften, Zivilgesellschaft –
haben, sie zu verändern. Er liefert damit
G
ewerkschaften sind weltweit eine solide Grundlage, um über die
wichtig, um die Arbeits- Arbeit der Zukunft zu diskutieren.
bedingungen der Gegenwart
und der Zukunft mitzugestalten. Dort, Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen!
wo sie stark sind, wo es die
Mitbestimmung im Betrieb und
im Aufsichtsrat gibt, geht es
Reiner Hoffmann Michael Guggemos
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Vorsitzender des Deutschen Sprecher der Geschäftsführung
nachweislich besser. Gewerkschaften Gewerkschaftsbundes der Hans-Böckler-Stiftung
W
er nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. die Mehrheit blieb Arbeit Mühsal und Plage, um die eigene
Diesen Satz des Apostels Paulus aus der Bibel Existenz zu sichern – doch mit wachsendem Bewusstsein
zitieren Kirchenleute, aber auch Ungläubige für den Wert des eigenen Tuns, wie die Arbeiterbewegung
gerne. Selbst in die Verfassung der Sowjetunion von 1936 zeigte. Arbeit wurde mit dem Aufschwung des Kapitalis-
hat er es geschafft. Ihr Artikel 12 verpflichtet jeden arbeits- mus seit dem späten 18. Jahrhundert zur Erwerbsarbeit
fähigen Bürger auf diesen Grundsatz – bei seiner Ehre. und damit zur Säule der „Arbeitsgesellschaft“, die mit
Doch damit wird das Bibelwort gehörig missverstanden. der Industrialisierung entstand. Ihr folgten die Industrie-
Schließlich bezieht es sich auf das Leben seit der Vertrei- gesellschaft des späten 19. und 20. Jahrhunderts, in der
bung aus dem Paradies. Arbeit ist Mühsal und Plage, mit die Mehrheit der Werktätigen in der Industrie arbeitete,
der die Menschen von Gott bestraft werden, und daher und dann die Dienstleistungsgesellschaft, die seit den
nichts Erstrebenswertes. 1970er-Jahren in den westlichen Staaten vorherrschte. In
Nicht nur in der Bibel, auch im antiken Griechenland den vergangenen zwei Jahrzehnten bildete sich schließ-
war der Begriff negativ konnotiert. Arbeit und Bürger- lich die postindustrielle Gesellschaft heraus, in der vor al-
recht waren Gegensätze. Körperliche Arbeit verrichteten lem die Digitalisierung die Arbeitswelt zu revolutionieren
Unfreie. Wenn der Stadtbürger auf dem Versammlungs- begonnen hat.
platz diskutierte, galt das nicht als Arbeit, sondern als Gleich geblieben ist, dass der Kapitalismus das Wirt-
eine geistige Tätigkeit. Diese Einschätzung vertrat das schaftssystem dominiert – und in ihm die Erwerbsarbeit,
Christentum noch bis nach der ersten Jahrtausendwende. vor allem die abhängige Lohnarbeit. Zwar gab es Lohn-
Seit dem Mittelalter und vor allem der Frühen Neuzeit arbeit schon seit den frühesten Gesellschaften, doch nun
wandelt sich in Europa der Arbeitsbegriff ins Positive. wurde sie zum Massenphänomen – und zum Gegenstand
Von Luthers „Ora et labora“ („Bete und arbeite“) über die marktwirtschaftlicher Tauschvorgänge, also zur Ware. Für
Werke der Aufklärer bis zu Max Webers „protestantischer Friedrich Engels war Arbeit „eine Ware wie jede andere,
Ethik“ lässt sich eine Aufwertung der Arbeit nachzeich- und ihr Preis wird daher genau nach denselben Geset-
nen, die nun als Quelle von Eigentum, Wohlstand und zen bestimmt werden wie der jeder anderen Ware“. Karl
menschlicher Selbstverwirklichung gesehen wird. Arbeit Marx entwickelte im „Kapital“ 1867 die Mehrwerttheorie
und definierte den Tauschwert eines Gutes durch die in
ihm repräsentierte Arbeitszeit. Da ein Mensch länger ar-
beiten könne, als er an Gütern für sein Überleben benöti-
ENTFREMDUNG ODER SINNHAFTIGKEIT
Meinungsumfrage über die Wahrnehmung der eigenen
ge, werde dieser Mehrwert vom Kapitalisten abgeschöpft.
Arbeit, 2016, in Prozent Marx wurde jedoch schon zu seinen Lebzeiten empirisch
widerlegt, weil die Arbeiter sich zu schlagkräftigen Ge-
Leisten Sie werkschaften zusammenschlossen, die Lohnerhöhungen
mit Ihrer Arbeit 9 durchsetzten – und damit Anteile am Mehrwert.
einen wichtigen 21
Beitrag für die Seitdem haben sich die Vorstellungen von Arbeit ver-
Gesellschaft? ändert. Zwischenzeitlich etablierte sich die Idee des Nor-
26 malarbeitsverhältnisses, das in der Regel dazu führte, dass
der Mann den Lebensunterhalt für die Familie verdient.
Tatsächlich reichte der Verdienst jenseits von Bürgertum
ATLAS DER ARBEIT / DGB
gar nicht
in geringem Maße 44
in hohem Maße
Arbeit nützt nicht nur dem Einzelnen, sie
in sehr hohem Maße
bildet auch eine Grundlage der Gesellschaft.
Vielen ist bewusst, dass sie dazu beitragen
SCHNELLER WANDEL
Zwischen Überstunden und Das produzierende Gewerbe trägt überdurchschnitt-
Arbeitslosigkeit, Bereitschaftsdienst lich viel zur deutschen Wirtschaftsleistung bei. Hier ar-
und Minijob – die Arbeitswelt beiten rund 29 Prozent aller Beschäftigten. Gewinner des
wird vielfältiger, aber auch instabiler. jüngsten Strukturwandels der Arbeitswelt ist der Dienst-
leistungssektor, in dem 2015 bereits etwa 70 Prozent al-
ler Erwerbstätigen arbeiteten. Gegenüber 1999 stieg die
I
n Deutschland arbeiten offiziell 75 Prozent der Men- Beschäftigung um mehr als fünf Millionen – besonders
schen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 65 Jahren. kräftig im Gesundheitsbereich sowie bei Pflege und Kin-
Tendenz: steigend. Zur deutschen Wirtschaftsleistung derbetreuung.
haben 2017 mehr als 44 Millionen Menschen beigetragen, Deutliche Unterschiede zeigen sich im Ost-West-Ver-
32 Millionen von ihnen in sozialversicherungspflichtigen gleich. Die Zahl der Einwohner im Osten schrumpft,
Jobs. Seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts hat sich diese während der Altersdurchschnitt steigt. Die Arbeitskräfte
Zahl um mehr als 20 Prozent erhöht. Ein Achtel der Er- sind etwas häufiger in kleineren Betrieben tätig sowie
werbstätigen hat einen Minijob oder einen Ein-Euro-Job. im Bausektor und der öffentlichen Verwaltung. Weniger
Weitere zehn Prozent sind selbstständig oder arbeiten als stark vertreten als im Westen sind die forschungs- und
Familienangehörige im Betrieb mit. entwicklungsintensiven Wirtschaftszweige, die neue Pro-
Hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine große Dynamik dukte auf den Markt bringen.
am Arbeitsmarkt. Jahr für Jahr werden bis zu zehn Milli- Auffallend ist die deutliche Zunahme atypischer
onen Arbeitsverhältnisse beendet und neue begründet. Beschäftigungen, deren Anteil sich seit Anfang der
Junge Menschen nehmen unmittelbar nach Schule und 1990er-Jahre mehr als verdoppelt hat. Dies sind insbeson-
Ausbildung eine Arbeit auf; andere wechseln von einem dere Minijobs, befristete Jobs, Leiharbeit und Solo-Selbst-
zum anderen Betrieb oder die Stelle im selben Unterneh- ständigkeit. Diese Arbeitsverhältnisse sind schlechter
men, legen eine Familienpause ein oder kehren danach bezahlt und weniger stabil, und die soziale Absicherung
auf den Arbeitsmarkt zurück. bei Arbeitslosigkeit und im Alter ist meist mangelhaft. In
Arbeitslose sind nur an etwa jeder dritten bis vierten diesen prekären Arbeitsverhältnissen landen vor allem
dieser Bewegungen beteiligt. Auch bei guter Konjunktur Arbeitskräfte, die wenig oder gar nicht ausgebildet sind.
werden jährlich etwa 2,5 Millionen Beschäftigte arbeits- Befristete Beschäftigung wird in der öffentlichen Ver-
los, etwa ebenso viele Arbeitslose finden einen neuen Job. waltung und auch im privaten Sektor genutzt. Minijobs
Besonders hoch ist der Personalwechsel in der Leiharbeit. sind vor allem im privaten Dienstleistungssektor zu fin-
Viele Arbeitsverhältnisse sind von kurzer Dauer, und das den. Die Einkommen aus diesen Jobs sind steuer- und
Risiko der Arbeitslosigkeit ist hier mehr als fünfmal so abgabenfrei. Derzeit gibt es allein drei Millionen Erwerbs-
hoch wie in der Wirtschaft insgesamt. Im produzierenden
Gewerbe – im Wesentlichen Industrie, Handwerk und
Bau – werden beispielsweise weniger Menschen arbeits- Arbeitsstatistiken bedienen sich einer eigenen
los, obwohl hier zehnmal mehr Beschäftigte tätig sind als Fachsprache. Aus ihren Begriffen
in der Leiharbeit. ergibt sich die Struktur der Arbeitsgesellschaft
SYSTEMATIK
Offizielle Begriffe der Arbeitsstatistik
abhängig Beschäftigte
Selbstständige, im
registrierte in Maß-
ATLAS DER ARBEIT / BA
mithelfende engeren
sozialversicherungs- geringfügig Beamte, Richter, Arbeitslose nahmen
Familienangehörige Sinn*
pflichtig Beschäftigte Beschäftigte Soldaten
* Die stille Reserve besteht aus Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und im engeren Sinne
aus unregistrierten Arbeitsuchenden sowie potenziellen Rückkehrern auf den Arbeitmarkt.
82 84
Väter Mütter Väter Mütter
Die größten Unterschiede auf dem mit einem Kind mit zwei Kindern,
unter 6 Jahren jüngstes unter 6 Jahren
Arbeitsmarkt bestehen zwischen
Vätern und Müttern mit kleinen Kindern
IM KAMPF UM BRANCHEN-
TARIFVERTRÄGE
Von steigenden Löhnen profitieren vor allem 40 Prozent der Einkommensbezieherinnen und -bezieher
Gutverdienende – auch tarifgebundene nehmen nicht stark genug zu, um die steigenden Preise –
Betriebe zahlen besser. Doch zugleich wächst allen voran die Mieten – zu kompensieren.
der Niedriglohnsektor. Dass in immer weniger Betrieben Tarifverträge gelten,
trägt dazu bei, dass sich Einkommen auseinanderentwi-
ckeln. Löhne und Gehälter werden maßgeblich durch Tarif-
S
eit Jahrzehnten wächst in Deutschland die Un- verträge festgelegt, die Arbeitgeberverbände oder einzelne
gleichheit sowohl bei den Einkommen wie den Unternehmen mit Gewerkschaften abschließen – sie gelten
Vermögen. Das birgt ökonomische, soziale und faktisch für alle Beschäftigten der tarifgebundenen Betrie-
politische Probleme und rückt daher immer stärker ins be, nicht nur für Gewerkschaftsmitglieder. Deutschland ist
Zentrum der gesellschaftlichen Debatte. Zu erkennen ist von Branchentarifverträgen (auch „Flächentarifverträge“
die ungleiche Entwicklung, wenn die Einkommen von ab- genannt) geprägt. Tarifgebundene Arbeitnehmerinnen
hängig Beschäftigten mit denen der Selbstständigen ver- und Arbeitnehmer verdienten im Jahr 2014 mit 20,74 Euro
glichen werden. Präzise formuliert: wenn die Lohnquote pro Stunde rund 18 Prozent mehr als Beschäftigte in nicht
untersucht wird, der Anteil der Arbeitnehmerentgelte tarifgebundenen Betrieben (17,52 Euro). Viele Unterneh-
am Volkseinkommen. Sie ging in den vergangenen Jah- men fliehen aus der Tarifbindung, weil sie die Lohnkosten
ren zurück und umgekehrt stieg der Anteil der Gewinn- senken wollen. Nur noch jeder zweite Beschäftigte arbeitet
und Vermögenseinkommen. Anfang der 2000er-Jahre be- in einem tarifgebundenen Betrieb.
trug die Lohnquote rund 72 Prozent, derzeit liegt sie bei Grundsätzlich fallen die Verdienste der Beschäftigten
68 Prozent. je nach Branche und Betriebsgröße sehr unterschiedlich
Hinzu kommt: Der Anteil der Menschen, die wenig aus. So reichen die Bruttostundenverdienste von 9,63
Geld zur Verfügung haben, wird größer. Die Einkommens- Euro im Gastgewerbe am unteren Ende über 14,95 Euro
mitte wird dünner, während die Gruppe der Menschen im Handel, 21,05 Euro im verarbeitenden Gewerbe bis zu
mit hohem Einkommen wächst. Die Löhne der unteren 27,80 Euro in der Energieversorgung.
Teilzeitbeschäftigte erhalten im Schnitt über drei Euro
je Stunde weniger als Vollzeitbeschäftigte. In Großbe-
trieben mit mehr als 1.000 Beschäftigten liegt der durch-
POLARISIERTE LOHNSTRUKTUR
Stundenlöhne nach Einkommenszehnteln (Dezilen),
schnittliche Bruttostundenverdienst bei 21,99 Euro und
durchschnittliche Veränderung 1995–2015, in Prozent damit sehr viel höher als in Kleinbetrieben mit bis zu
neun Beschäftigten (12,39 Euro). Frauen verdienen weni-
höchstes
10. Dezil +8 ger als Männer. Der Lohnabstand beträgt seit Jahren rund
Einkommenszehntel
22 Prozent.
9. Dezil +10 Eine wichtige Ursache für die polarisierte Lohnstruk-
8. Dezil +10 tur in der Bundesrepublik ist der seit den 1990er-Jahren
wachsende Niedriglohnsektor. Er gehört mittlerweile zu
7. Dezil +8
den größten in Europa. Fast jeder und jede vierte abhän-
6. Dezil +4 gig Beschäftigte verdiente 2015 weniger als 10,22 Euro und
lag damit unter der Niedriglohnschwelle. Minijobberin-
5. Dezil +1
nen, gering Qualifizierte, junge Menschen und ausländi-
-4 4. Dezil sche Beschäftigte arbeiten besonders häufig für niedrige
Löhne. Dies hat politische Gründe wie die Hartz-Refor-
-6 3. Dezil
men, mit denen der Arbeitsmarkt dereguliert wurde und
ATLAS DER ARBEIT / BMAS
-7 2. Dezil
niedrigstes
-7 1. Dezil
Einkommenszehntel
Während die höheren Einkommen zugelegt
-10 -5 0 5 10 haben, sind die niedrigsten 40 Prozent
der Stundenlöhne sogar deutlich gesunken
50
45 Ostdeutschland
40,6
38,7
40 36,3
35
30
35,3
24,2
25 Deutschland gesamt 22,6
20 16,2
21,2 19,7
15
10 Westdeutschland
11,7
0
1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
Die Niedriglohnschwelle lag 2015 bei einem Stundenlohn von 10,22 Euro.
110
100 Arbeitnehmerentgelt
Selbst während der Weltfinanzkrise 0
stiegen die deutschen Unternehmenseinkommen 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016
M
enschen müssen nicht mehr 16 Stunden am Tag tive wie Arbeitszeit, Urlaubstage, Sicherung der Beschäf-
arbeiten. Ihr Lohn wird bei Krankheit weiterge- tigung oder Ausstattung mit Personal. Allein 2018 werden
zahlt. Und er steigt regelmäßig. All das haben Tarifverträge für fast zehn Millionen Beschäftigte verhan-
die Beschäftigten den Gewerkschaften zu verdanken, die delt. Von den Verhandlungsergebnissen profitieren nicht
seit Mitte des 19. Jahrhunderts für diese Ziele kämpfen. nur die Gewerkschaftsmitglieder, sondern alle Beschäf-
Immer noch gilt weltweit: Wo Gewerkschaften stark sind, tigten eines tarifgebundenen Betriebes. Insgesamt gibt es
haben es Beschäftigte besser. Die acht Gewerkschaften, derzeit in Deutschland über 70.000 Tarifverträge. Jährlich
die unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes werden zwischen 5.000 und 6.000 von ihnen erneuert.
(DGB) organisiert sind, bilden zusammen die größte zivil- Die meisten Tarifverhandlungen führen ohne Streiks
gesellschaftliche Organisation des Landes. zu einem Ergebnis. Doch als letztes Mittel wird dieses In-
Allerdings sinkt die Zahl der Gewerkschaftsmitglie- strument von den Gewerkschaften in Tarifkonflikten im-
der. Damit geht auch ihr Einfluss auf Arbeitsbedingungen mer wieder eingesetzt. Im internationalen Vergleich wird
und Löhne zurück. Ende 2017 verfügten die DGB-Gewerk- in Deutschland relativ wenig gestreikt. Zu den Gründen
schaften über knapp sechs Millionen Mitglieder – von gehört auch, dass politische Streiks – etwa, um eine Re-
insgesamt rund 40 Millionen Arbeitnehmerinnen und gierung unter Druck zu setzen – im Gegensatz zu anderen
Arbeitnehmern. Zur Jahrtausendwende waren es noch 7,8 europäischen Ländern hier verboten sind.
Millionen. Gründe dafür gibt es viele: In den Betrieben Die Zahl der Streiks schwankt von Jahr zu Jahr sehr
wurden Arbeitsplätze umstrukturiert, durch Maschinen stark. In der mitgliederstarken Metallindustrie beteili-
ersetzt oder verlagert, besonders in der gewerkschaftlich gen sich oft Hunderttausende an den Arbeitskämpfen.
gut organisierten Industrie. Hinzu kommen die Privati- Aber auch im Dienstleistungssektor (Handel, Sozial- und
sierung von Bahn und Post sowie der wachsende Dienst- Erziehungsdienst, Krankenhäuser) wird zunehmend
leistungssektor mit kleineren Betrieben. Dort arbeiten gestreikt. Neben den DGB-Gewerkschaften haben auch
häufig prekär Beschäftigte, die sich seltener organisieren Berufsgewerkschaften wie die Vereinigung Cockpit, die
als Arbeiter und Angestellte in der Industrie. Der Mitglie- Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und die
derschwund hat sich allerdings deutlich verlangsamt. Ärztegewerkschaft Marburger Bund gezeigt, dass sie zu
Einzelne Gewerkschaften haben ihre Mitgliederzahlen in wirksamen Streiks bereit und in der Lage sind.
Doch die Tarifwelt verändert sich, weil immer mehr
Arbeitgebende aus den branchenbezogenen Flächen-
tarifverträgen flüchten, um billiger zu produzieren. Ar-
VEREINZELUNG BEI DEN ARBEITSVERTRÄGEN
Tarifbindung der Beschäftigten 1998–2016, in Prozent
beitskämpfe um Haustarifverträge werden wichtiger. Mit
der Digitalisierung stellen sich auch den Gewerkschaften
80 76
neue schwierige Aufgaben. Denn bei Dienstleistungsplatt-
70
63 59 formen wie Deliveroo, Uber oder Helpling arbeiten häufig
60 Selbstständige, die nicht von einem Tarifvertrag geschützt
50 werden. Das beginnt sich zu ändern, weil die Arbeitsbe-
dingungen so schlecht sind. Im Januar 2018 gründeten
40 47
Fahrradkuriere bei Deliveroo einen Betriebsrat.
30 Branchen- und Firmentarife West
Das zweite zentrale Element der deutschen Arbeits-
20 Branchen- und Firmentarife Ost beziehungen ist die Mitbestimmung. Von der Belegschaft
ATLAS DER ARBEIT / WSI
10
0
1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 Die Löhne werden umso niedriger, je weniger
Tarifverträge werden zwischen einzelnen Arbeitgebern oder Arbeitgeberver-
bänden und den Gewerkschaften für die Arbeitnehmerschaft abgeschlossen. Beschäftigte mit einem durch Gewerkschaften
ausgehandelten Tarifvertrag geschützt werden
IG Bauen-Agrar-Umwelt
ver.di
749 638
IG Bergbau, Chemie, Energie 174 185 2.359 1.987
Gewerkschaft der Polizei
IG Metall
* 2005: Transnet; 2010 mit der Verkehrsgewerkschaft GDBA zur EVG verschmolzen 6.778 5.995
Sinkende Mitgliederzahlen: In den gewerk-
gewählte Betriebsräte vertreten in Betrieben mit mindes- schaftlich gut organisierten industriellen Groß-
tens fünf Beschäftigten deren Interessen. Im öffentlichen betrieben wird besonders stark rationalisiert
Dienst sind es die Personalräte. In Großbetrieben sind
Betriebsräte der Regelfall, in Kleinbetrieben hat nicht ein-
mal jeder zehnte Beschäftigte eine betriebliche Interes- Während weltweit in Ländern die Arbeitslosigkeit schlag-
senvertretung. Wer einen Betriebsrat gründen will, muss artig anstieg, entwickelten in Deutschland Gewerkschaf-
häufig mit Widerstand von Arbeitgebern rechnen. ten, betriebliche Interessenvertretungen und Arbeitgeber
Eine weitere Ebene der Mitbestimmung sind die Ar- gemeinsam Konzepte, um Arbeitsplätze zu schützen –
beitnehmervertretungen in den Aufsichtsräten, für die es insbesondere durch Nutzung von betrieblichen Arbeits-
unterschiedliche Modelle gibt. Die paritätische Montan- zeitkonten und Kurzarbeit. Mit der Digitalisierung stehen
mitbestimmung von 1951 gilt für Betriebe der Bergbau-, die Gewerkschaften bei der Tarifpolitik wie bei der Mitbe-
Eisen- und Stahlindustrie mit über 1.000 Beschäftigten. stimmung vor neuen Herausforderungen. Sie sehen es als
Die Aufsichtsräte dieser Unternehmen werden zu gleichen ihre Zukunftsaufgabe, die Arbeitsbedingungen und die
Teilen von Kapital- und Arbeitnehmerseite gestellt. Die im soziale Absicherung zu verbessern und dabei auch neue
Jahr 1976 in Kraft getretene Mitbestimmung in Kapitalge- Wege zu beschreiten.
sellschaften mit mehr als 2.000 Beschäftigten schreibt
zwar ebenfalls die paritätische Zusammensetzung des
Aufsichtsrates vor, räumt aber dem von der Kapitalseite
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS
0
Streiks im personalintensiven Dienstleistungssektor 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015 2017
können die großen Arbeitskämpfe der 2015 streikten vor allem Erzieher/innen und Beschäftigte im Paketdienst.
H
istorisch gesehen sind Arbeitskräfteangebot und zeit arbeiten. Das liegt vor allem daran, dass der Staat die
Arbeitskräftenachfrage nur selten ausgeglichen. sogenannten Minijobs steuerlich begünstigt.
Während in den 1950er- und 1960er-Jahren in Obwohl der Arbeitsmarkt wächst, sind immer noch
Deutschland ständig Arbeitskräfte gesucht wurden, stieg 2,5 Millionen Menschen offiziell arbeitslos gemeldet. Eine
danach die Arbeitslosigkeit stark an. Vor allem im Zuge weitere Million sucht Arbeit, zählt aber nicht als arbeits-
der deutschen Wiedervereinigung haben viele Menschen los, unter anderem, weil sie an Weiterbildungsmaßnah-
ihren Arbeitsplatz verloren. Erst seit 2005 geht die Arbeits- men teilnimmt, in öffentlich geförderter Beschäftigung
losigkeit wieder zurück. Mittlerweile sind 44 Millionen arbeitet oder durch private Vermittler betreut wird. Jede
Menschen in Deutschland erwerbstätig, davon 32 Millio- Arbeitslosenstatistik ist hoch politisch und deswegen im-
nen in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsver- mer wieder Gegenstand politischer Auseinandersetzun-
hältnis. Im Jahr 2017 erreichte die Erwerbstätigkeit den gen. Umstritten ist besonders die wahre Zahl der Arbeits-
höchsten Stand in der deutschen Geschichte. losen, weil Regierungen gern bestimmte Gruppen aus der
Derzeit arbeiten 74 Prozent der Frauen und 80 Pro- Statistik herausrechnen, damit sie besser dastehen.
zent der Männer zwischen 15 und 65 Jahren, sei es als In der DDR gab es offiziell keine Arbeitslosen – und
Angestellte oder Selbstständige, Teilzeitkräfte oder Mi- daher auch keine entsprechende Statistik. Die Bundesre-
nijobber – das sind Beschäftigte, die maximal 450 Euro publik erreichte den niedrigsten Stand der Arbeitslosig-
im Monat verdienen. Damit liegt Deutschland im oberen keit im September 1965 mit 85.000 Arbeitslosen. Das ist
heute nicht mehr zu schaffen, vor allem, weil die Beschäf-
tigung immer anspruchsvoller wird. Die Arbeitslosenquo-
te erfasst zudem Menschen, die keine Arbeit mehr finden,
ATLAS DER ARBEIT / BA
NORD-SÜD-GEFÄLLE
Arbeitlosenquoten im März 2018 nach Bundesländern,
weil sie gesundheitliche Einschränkungen haben, unge-
in Prozent nügend qualifiziert oder dem Rentenalter nahe sind.
Auffällig ist, dass allein in den vergangenen vier Jah-
Schleswig-Holstein ren über zwei Millionen sozialversicherungspflichtige
6,0 Arbeitsplätze entstanden sind, die Zahl der Arbeitslosen
Mecklenburg-Vorpommern
Hamburg aber nur um 400.000 zurückgegangen ist. Der Zuwachs
8,8
Bremen 10,1 6,6 wird in hohem Maße von Arbeitsmigrantinnen und
-migranten besetzt, aber auch aus der „stillen Reserve“.
8,5 Berlin
Niedersachsen Das sind Menschen, die zwar Arbeit suchen, dies aber
8,3
Brandenburg
5,6 Sachsen-Anhalt nicht offiziell melden.
6,8 Als wirksame Hilfe für Arbeitslose gilt die Weiter-
Nordrhein-
Westfalen bildung, die Arbeitsagenturen und Jobcenter anbieten
6,0 6,5 Sachsen
7,1 4,8 können. Doch vor allem in den Jobcentern, in denen be-
Thüringen
3,2–4,6 sonders viele Langzeitarbeitslose betreut werden, fehlen
Hessen 4,7–5,9
4,7 dafür Mittel. Auch deshalb sind rund eine Millionen Men-
6,0–7,3
7,4–8,7
schen inzwischen langzeitarbeitslos. Ihre Chancen am Ar-
Rheinland-Pfalz 3,2
6,4 8,8–10,1 beitsmarkt sind gering und sinken mit jedem Tag, an dem
Saarland Bayern sie keine Beschäftigung finden.
3,3
Baden-Württemberg
0
1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2017
D
en westdeutschen Arbeitsmarkt kennzeichnen einzige Einkommensquelle. Entgegen der ursprünglichen
zwei große, aufeinander folgende Entwicklungen. Idee haben sich Minijobs für die Beschäftigten nicht als
Zunächst setzte sich das sogenannte Normalar- Einstieg zu guter Arbeit erwiesen.
beitsverhältnis durch: die unbefristete Vollzeitstelle. Sie Zugenommen hat auch die Teilzeitbeschäftigung, vor
galt in den 1980er-Jahren zeitweilig für 86 Prozent aller allem bei Frauen. Sie bietet Müttern eine Möglichkeit, Fa-
abhängig Beschäftigten. In einem langen Kampf hatten milie und Beruf besser zu vereinbaren. Doch oft fehlt die
Arbeiterbewegung und Gewerkschaften erreicht, dass Perspektive, von Teilzeit wieder in die Vollzeit zu wech-
sich einheitliche Bedingungen bei Entgelt und Arbeitszei- seln. Für viele Frauen bedeutet die Geburt des ersten Kin-
ten durchsetzten. Allerdings war dieses Normalarbeits- des den Beginn einer Erwerbsbiografie in Teilzeit, die bis
verhältnis weitgehend auf den männlichen Familien- zur Rente dominiert. Außerdem diskriminieren etliche
ernährer beschränkt. Unternehmen Teilzeitbeschäftigte, indem sie ihnen einen
Dann, ab Mitte der 1980er-Jahre, deregulierte der Ge- beruflichen Aufstieg verwehren.
setzgeber den Arbeitsmarkt und ermöglichte immer mehr Arbeitgeber nutzen Leiharbeit als Instrument, Produk-
atypische Beschäftigungsformen. Dazu gehören Mini- tionsschwankungen flexibel auszugleichen. Mittlerweile
jobs, Teilzeit- und Leiharbeit, Werk- und Zeitverträge. arbeiten in Deutschland über eine Million Leihbeschäftig-
Der Grund: Die hohe Arbeitslosigkeit und die sinkenden te. Für viele von ihnen wird das zum Dauerzustand, oder
sie wechseln immer wieder zwischen Leiharbeit, Arbeits-
losigkeit und abhängiger Beschäftigung, ohne Aussicht
auf einen regulären Job. Problematisch ist Leiharbeit
FRAUEN DOMINIEREN
Erwerbsformen nach Geschlecht, 1991 und 2016,
zudem, weil sie Belegschaften in Beschäftigte erster und
in Prozent zweiter Klasse spaltet.
Bei Werkverträgen gibt es keine offiziellen Daten.
Normalarbeitsverhältnisse Selbstständige Statistisch erfasst werden nur die Solo-Selbstständigen,
atypische Beschäftigung* die überwiegend über Dienst- oder Werkverträge Aufträ-
ge erfüllen. Deren Zahl ist von 1,4 Millionen im Jahr 1991
11 12 auf 2,3 Millionen im Jahr 2016 gestiegen. Die Hälfte der
6 Solo-Selbstständigen in Deutschland hat nur ein Einkom-
12
men im Niedriglohnbereich. Außerdem ist der Schutz vor
1991 2016
Krankheit und Verdienstausfall sowie die materielle Ab-
83 76 sicherung im Alter unzureichend. Im Zuge der Hartz-Re-
Männer formen hat die Bundesregierung 2004 mit der Förderung
der Ich-AGs die Zahl der Solo-Selbstständigen drastisch
gesteigert, um Menschen aus der Arbeitslosigkeit zu ho-
5 7 len. Für die meisten Selbstständigen hat sich daraus aber
keine langfristige Perspektive entwickelt.
23
31 Auch die Zahl zeitlich begrenzter Arbeitsverhältnisse
1991 2016
ist stark angestiegen. Mittlerweile erhalten 44 Prozent al-
62
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS
Bremen
in Prozent
unter 35 Niedersachsen Brandenburg
35 bis 37,9
38 bis 40,9
41 bis 43,9 Nordrhein- Berlin
44 bis 46,9 Westfalen
47 bis 49,9
über 50 Sachsen
Hessen
Sachsen-Anhalt
Thüringen
Rheinland-Pfalz
Saarland
Bayern
5
8,55 sozialversichert, in Teilzeit
S
eit 1972 sterben in Deutschland jedes Jahr mehr Alter arbeiten zu können. Und drittens ist mehr Zuwande-
Menschen, als Kinder geboren werden. So kamen rung unumgänglich.
im Jahr 2016 knapp 800.000 Babys zur Welt, wäh- Die Erwerbsbeteiligung ist schon jetzt in Deutschland
rend mehr als 900.000 Menschen starben. Auch wenn in relativ hoch. Derzeit arbeiten 74 Prozent der Frauen und
den vergangenen Jahren die Geburtenrate wieder lang- 82 Prozent der Männer. Auffällig ist jedoch, dass nur 12
sam gestiegen ist, schrumpft die Bevölkerung weiter. Prozent der Männer, aber 48 Prozent der Frauen teilzeit-
Das hat Konsequenzen für das Zusammenleben der beschäftigt sind, viele nur in einem Minijob. Dieses Poten-
Menschen und für den Arbeitsmarkt. Die Frage ist, ob die zial wird bislang noch nicht ausgeschöpft.
Gesellschaft diese starke Veränderung der Altersstruktur Trotz guter Beschäftigung suchen immer noch 2,5 Mil-
aushält und wie sich die Beziehung zwischen den Berufs- lionen Menschen Arbeit. Über eine Million sind ebenfalls
tätigen und den Menschen verändert, die im Alter versorgt erwerbslos, werden aber aus verschiedenen Gründen
werden müssen. Wird es in Zukunft genügend Pflegekräf- nicht als arbeitslos gezählt, zum Beispiel, weil sie an ei-
te, aber auch genügend Facharbeiter und Forscherinnen ner Weiterbildung teilnehmen. Angesichts der demogra-
geben? Und kann eine schrumpfende Volkswirtschaft fischen Veränderungen kann es sich die Bundesrepublik
international weiter einen Spitzenplatz einnehmen, wie nicht leisten, auf ihre Arbeitskraft zu verzichten.
Deutschland es zurzeit noch tut? Die Menschen, die arbeiten, müssen sich zudem stän-
Die demografische Entwicklung muss zunächst ein- dig weiterbilden. Lebenslanges Lernen ist das Stichwort.
mal keine Angst machen. Die Produktivität nimmt weiter Hierfür bedarf es zunächst einer professionellen Bera-
zu: Durch den Einsatz von Technik, Energie und Wissen tung, die derzeit durch die Arbeitsagenturen aufgebaut
können weniger Menschen mehr produzieren. Diese Ent- wird. Daneben stehen aber auch die Unternehmen in der
wicklung wird sich durch die Digitalisierung vieler Pro- Verantwortung, sich für zusätzliche Qualifikationen ihrer
duktionsbereiche noch beschleunigen. Mitarbeitenden zu engagieren.
Eine wichtige Voraussetzung für alle Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer ist eine gute berufliche Grundbil-
dung. 2008 wurde deshalb auf dem Dresdner Bildungs-
DEUTSCHE ALTERSPYRAMIDEN
Altersstruktur der Bevölkerung, Personen in 1.000
gipfel vereinbart, die Zahl der ausbildungsfähigen jungen
Erwachsenen ohne Berufsabschluss von 17 Prozent auf
Männer Kriegsfolgen Pillenknick 8,5 Prozent zu halbieren. Seitdem hat es Fortschritte ge-
Frauen Babyboom Wendeknick geben. Doch das Ziel ist bei Weitem nicht erreicht. Zusätz-
Alter lich wäre es sinnvoll, dass ältere Jugendliche und junge
100 1950 2016 2060*
Erwachsene mit Unterstützung der Arbeitsagenturen ei-
90
nen Berufsabschluss nachholen können.
80
Ebenso wichtig wie Aus- und Fortbildung ist die Ge-
70
sundheit. Schlechte Arbeitsbedingungen, monotone Tä-
60
tigkeiten und schwere körperliche Betätigungen machen
50
Menschen krank und verhindern in etlichen Branchen,
40
dass Mitarbeitende bis zum regulären Ruhestandsalter ar-
30
beiten. Erst wenn Unternehmen dieses Problem angehen,
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS
20
können ihre Fachkräfte länger tätig sein.
10
0
600 0 0 600 600 0 0 600 600 0 0 600
Sie heißen zwar noch „Pyramiden“, aber der von
Kriegsfolgen: im 2. Weltkrieg Getötete, Geburtenrückgang. Wendeknick:
Geburtenrückgang in Ostdeutschland ab 1990 * Vorausberechnung Krieg und Geburtenrückgang geprägte Altersaufbau der
Bevölkerung verlangt nach einer neuen Bezeichnung
900
939 1985
829 827
600 746 752
674 1995 2000
2005 2010
1945 Die Jahrgänge um 1945,
300 schwächer als die um 1990, Ausscheiden mit 65 Jahren
verlassen den Arbeitsmarkt. Eintritt mit 20 Jahren
0
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030
Arbeitslosigkeit minus wegfallende Erwerbstätige durch den demografischen Wandel*, in 1.000, im Ganzjahresdurchschnitt
5.000
1.000
605
226 -223
-169
0 -435
-128 -171
-1.000
-374
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 2026 2027 2028 2029 2030
* Von der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren waren 2005 bis 2016 zunehmend 69,4 bis 78,6 Prozent erwerbstätig; für 2018 bis 2030 mit 80 Prozent kalkuliert.
Sowohl die Zahl der Menschen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen als auch die der offenen Stellen wird 2018 0,8 Millionen betragen (hier unberücksichtigt).
In optimistischer Perspektive
Seit die geburtenschwachen Jahrgänge Rechnerisch könnte damit schon 2027 neuen Beschäftigten wiederum Steuern
infolge des Zweiten Weltkriegs den Ar- die Arbeitslosigkeit komplett beseitigt zahlen. Knappheit an Arbeitskräften er-
beitsmarkt verlassen haben, wirkt sich sein. In der Praxis wird das nicht gehen. laubt auch deutliche Lohnsteigerungen.
der demografische Wandel immer posi- Daher muss vor allem die Immigration So kann der Staat die Kleinrenten subst-
tiver aus. Von 2013 bis 2018 steigen jähr- einspringen. Doch die neue Nachfrage anziell erhöhen. Am wichtigsten ist die
lich netto bis zu 100.000 Arbeitskräfte nach Arbeitskräften kann in großem Aufwertung des Bildungssystems.
aus dem Erwerbsleben aus, von 2019 bis Maßstab die familiären, Jahrzehnte al- Jetzt kann eine umsichtige Arbeits-
2023 werden bis zu 200.000 Stellen frei, ten Armutsketten durchbrechen. markt-, Sozial- und Bildungspolitik eini-
von 2024 bis 2027 bis zu 300.000 und ab Millionen Arbeitslose weniger ent- ge Fehlentwicklungen der vergangenen
2028 über 300.000 – pro Jahr. lasten den Sozialstaat enorm, zumal die Jahrzehnte korrigieren.
Entscheidend wird künftig noch mehr als heute die Gesellschaftlich umstritten ist vor allem die Zuwande-
Zuwanderung sein. Schon jetzt besetzen Ausländerinnen rung aus Nicht-EU-Staaten. Da die deutsche Wirtschaft auf
und Ausländer etwa 50 Prozent der neu entstehenden lange Sicht mehr Arbeitskräfte braucht, wird eine klare
Arbeitsplätze. In erster Linie kommen die Menschen aus gesetzliche Regelung für die Einwanderung immer dringli-
der Europäischen Union. 2016 arbeiteten gut eine Million cher. Es gilt, ein Zuwanderungssystem zu schaffen, das es
Menschen aus den östlichen EU-Staaten in Deutschland. Menschen aus Drittstaaten ermöglicht, legal nach Deutsch-
Weitere 600.000 kommen aus Südeuropa. Sie haben un- land zu kommen und hier zu arbeiten. In den Herkunftsstaa-
beschränkten Zutritt zum deutschen Arbeitsmarkt. Für ten verursacht die Abwanderung talentierter Arbeitskräfte
gut qualifizierte Menschen ist Deutschland hoch attraktiv. Probleme. Deutschland würde verantwortungsbewusst
Auch Handwerker, Pflegekräfte und Menschen, die in ver- handeln, wenn es diesen Ländern bei der Ausbildung
schiedenen Dienstleistungsberufen arbeiten, haben gute helfen würde, um dort mehr Fachkräfte zu schulen. Davon
Perspektiven. würden letztlich beide Seiten profitieren.
PER HALBTAGSJOB ZU
UNBEZAHLTEN ÜBERSTUNDEN
Viele Beschäftigte möchten ihre Arbeitszeiten über die Hälfte aller Beschäftigten statt der zweiten Lohn-
selbst bestimmen. Auch die Arbeitgeber erhöhungsstufe sechs zusätzliche Urlaubstage. Das The-
fordern Flexibilität – im Eigeninteresse. ma der Zukunft ist gesetzt: Die Beschäftigten wollen ihre
Arbeitszeit flexibler gestalten.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich hier bereits
F
ür die Beschäftigten ist es heutzutage wichtiger vieles verändert. Die durchschnittliche wöchentliche Ar-
denn je, wann und wie lange sie arbeiten. In Fami- beitszeit ist zwischen 1992 und 2015 von 38,1 auf 35,6 Stun-
lien etwa sind mehrheitlich beide Ehepartner be- den gesunken – allerdings nicht, weil weniger gearbeitet
rufstätig und müssen ihre Arbeit mit den Erfordernissen wird, sondern weil es mehr Teilzeitbeschäftigte gibt.
ihres Privatlebens in Einklang bringen. Es ist daher nur Während Vollzeitbeschäftigte 2015 knapp 42 Stunden in
konsequent, dass die Resonanz auf eine Umfrage der IG der Woche arbeiteten, waren es bei Teilzeitbeschäftigten
Metall zur Arbeitszeit 2017 überwältigend und klar aus- knapp 20 Stunden. Von 2006 bis 2015 ist ihr Anteil von
fiel: Von den 680.000 Beschäftigten, die geantwortet ha- 12 auf 22 Prozent gestiegen. Die meisten von ihnen sind
ben, stimmte eine Mehrheit dafür, befristet die Arbeitszeit Frauen.
senken zu dürfen, um sich zum Beispiel um die Familie Zugenommen haben auch atypische Arbeitszeiten
kümmern zu können. Kurz zuvor wählten beim Tarifver- wie Wochenend-, Schicht- und Nachtarbeit. Jeder fünfte
trag der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) abhängig Beschäftigte arbeitete 2015 regelmäßig jenseits
der traditionellen Arbeitszeit von 7 bis 19 Uhr, allein
sechs Millionen Beschäftigte im Schichtsystem. Das hat
zwar mitunter Vorteile, wenn es um die Vereinbarkeit von
ARBEIT – MEHR ODER WENIGER
Gewünschte Veränderung der Wochenarbeitsstunden
Familie und Beruf geht. Es kann auch finanziell attraktiv
und Anzahl der Beschäftigten mit diesem Wunsch, sein, weil atypische Arbeitszeiten über Zuschläge oft bes-
in 1.000, 2016 ser bezahlt werden. Doch die Nachteile sind offenkundig:
Wer Schicht arbeitet, lebt gegen die innere Uhr. Das kann
in Vollzeit die Gesundheit erheblich gefährden, wie die Bundesan-
in Teilzeit stalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin warnt.
+7,2 +17,4 Aussuchen können sich die Beschäftigten ihre Ar-
beitszeit meistens nicht. Mehr als ein Drittel der abhängig
Beschäftigten hat variable Arbeitszeiten, knapp ein Vier-
21
873 401 606 tel arbeitet Gleitzeit, aber nur weniger als zehn Prozent
können selbst bestimmen, wann sie zur Arbeit gehen. Es
sind eher Männer und vor allem diejenigen in höheren
Männer
-11,5 -9,3 Positionen, die diese Freiheit genießen. Hinzu kommt:
Die Beschäftigten müssen länger durchhalten, weil das
gesetzliche Renteneintrittsalter steigt. Viele schaffen das
+6,4 +12,5 nicht – nur gut jeder zweite über 60-Jährige arbeitet noch.
Obendrein hat die Arbeitsverdichtung in den vergan-
genen Jahren durch die Digitalisierung und den Abbau
307 1.042 423 109 von Arbeitsplätzen stark zugenommen. Als eine Folge ist
die Zahl der Überstunden rasant angestiegen, vor allem
die der unbezahlten. Waren es in den 1990er-Jahren rund
Frauen
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS
W
er in Deutschland eine berufliche Ausbildung der Kern ihrer Innovationskraft.
oder ein Studium erfolgreich abgeschlossen Gesteuert wird das duale Berufsbildungssystem ge-
hat, verdient meist deutlich mehr als Menschen meinsam von Gewerkschaften, Arbeitgebern und dem
ohne einen Abschluss. Und er oder sie wird seltener ar- Staat. Verankert ist es im nationalen Berufsbildungsge-
beitslos. Außerdem macht der Vergleich der Zahlen über setz. Die Partner entwickeln die Ausbildungsberufe mit
Jugendarbeitslosigkeit in Europa deutlich: In Deutsch- ihren Expertinnen und Experten aus der Praxis. Dies sorgt
land, Österreich und der Schweiz, den Ländern mit einer dafür, dass die Ausbildungsberufe in der Arbeitswelt an-
dualen Ausbildung, ist die Jugendarbeitslosigkeit weit erkannt sind und einen guten Ruf haben.
niedriger als in anderen Ländern. Doch die duale Berufsbildung steht seit fast zwei Jahr-
Die duale Ausbildung ist ein einzigartiges System, das zehnten unter Druck. In Deutschland werden immer we-
die praktische Lernzeit im Betrieb mit dem Besuch einer niger Fachkräfte ausgebildet. Zum einen ist die Zahl der
Berufsschule verbindet. Es gilt in vielen, auch außereuro- angebotenen Ausbildungsplätze von 2007 bis 2016 um
päischen Ländern als vorbildlich und als ein wesentlicher 80.000 gesunken, zum anderen haben sich im gleichen
Grund für die Qualität der Arbeit in Deutschland. Jugend- Zeitraum 155.000 Jugendliche weniger für eine duale Aus-
liche bekommen in den zwei- bis dreieinhalb Jahren ihrer bildung beworben.
Ausbildung das Rüstzeug, um dauerhaft auf dem Arbeits- Die Gründe sind vielfältig. Die Zahl der Geburten ist
markt zu bestehen und in unterschiedlichen Betrieben stark zurückgegangen. Zudem verlässt mittlerweile mehr
und Branchen zu arbeiten. als die Hälfte der Jugendlichen die Schule mit Abitur oder
In Deutschland werden fortlaufend rund 1,3 Millionen Fachhochschulreife. Diese jungen Menschen können
Jugendliche in rund 330 Berufen in Industrie, Handwerk, wählen, ob sie eine Ausbildung oder ein Studium begin-
freien Berufen und öffentlicher Verwaltung ausgebildet. nen – und viele entscheiden sich für das Studium. Ein
Grund ist, dass es noch vor 20 Jahren hieß: „Wer eine ab-
geschlossene Ausbildung hat, verdient auch gut.“ Doch
diese Regel wird durch den wachsenden Niedriglohnsek-
WER SUCHT, FINDET NICHT IMMER
Ausbildungsplätze in Deutschland im Überblick, in 1.000
tor ausgehöhlt. Jeder Fünfte mit abgeschlossener Aus-
bildung in Deutschland verdient weniger als zehn Euro
700 brutto pro Stunde. Im Osten Deutschlands sind es fast
604 40 Prozent. Das macht es schwer, Jugendliche für eine
600 Ausbildung zu gewinnen. Eine Ursache für die schlechte
Bezahlung ist, dass es in vielen Betrieben keinen Tarif-
572 vertrag mehr gibt.
500 Nachfrage
Hinzu kommt ein Verdrängungsproblem. Wenn Ju-
Angebot gendliche mit Abitur oder Fachhochschulreife eine Aus-
400
bildung machen wollen, werden sie von den Betrieben
bevorzugt. Für Hauptschülerinnen und Hauptschüler hat
300
das dramatische Folgen: Sie sind faktisch von der Hälfte
der Ausbildungsberufe ausgeschlossen.
200 erfolglose Nachfragende Das sind die wesentlichen Gründe, warum mehr als
unbesetzt gebliebene Stellen 1,2 Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 29 Jah-
ATLAS DER ARBEIT / BIBB
80
100
München
K
aum jemand will sein ganzes Leben arbeiten. Die zent gesunken und dürfte in den kommenden Jahren bei
meisten Menschen können es schon aus gesund- 48 Prozent verharren. Die Menschen sollen nun den sozi-
heitlichen Gründen nicht. Daher ist es ein Segen, alen Schutz wieder verstärkt selbst ausgleichen. Die pri-
dass sich vor über 125 Jahren die Idee der allgemeinen vate Altersvorsorge wird vom Staat gefördert.
Altersvorsorge durchsetzte. Diese Aufgabe übernimmt Dank dieser Rentenpolitik haben etliche Rentner die-
seit 1891 die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) – sie selben Probleme wie ihre Vorfahren im 19. Jahrhundert.
hieß anfangs noch Rentenversicherung der Arbeiter. Ein- Das Geld reicht bei Erwerbsunfähigkeit oder -minderung
geführt wurde sie vor allem, weil die Arbeiterinnen und und im Alter nicht mehr für ein auskömmliches Leben,
Arbeiter Sicherheit im Alter oder bei Invalidität einfor- geschweige denn dafür, den bisherigen Lebensstandard
derten; „Invaliden“, wörtlich „Kraftlose“, hießen die Er- zu halten. Rentnerinnen und Rentner können sich immer
werbsunfähigen. Bis dahin waren die Beschäftigten nach weniger leisten. Eine wachsende Zahl von ihnen ist auf er-
dem Arbeitsleben auf die Kinder und private Vorsorge an- gänzende Fürsorge wie die Grundsicherung angewiesen,
gewiesen; ebenso, wenn sie nach Unfällen oder Erkran- also auf das Sozialamt. Dieser Trend wird sich fortsetzen,
kungen nicht mehr arbeiten konnten. Da beides oft nicht wenn sich an der Rentenpolitik nichts ändert.
ausreichte, lebten viele in Armut und Elend. Hinzu kommen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt.
Das Prinzip der gesetzlichen Rente ist einfach: Die Menschen sind und waren in den vergangenen Jahrzehn-
Beschäftigten bilden eine Solidargemeinschaft, um sich ten häufiger arbeitslos als früher. Viele Stellen werden
gegenseitig abzusichern. Wer arbeitet, zahlt Beiträge. Wer heute schlechter bezahlt oder nur in Teilzeit angeboten.
nicht mehr arbeiten kann, bekommt eine Rente. Die Höhe Viele Menschen sind gar nicht mehr sozialversichert, weil
ist abhängig von der Dauer und der Höhe der gezahlten sie nur einen sogenannten Minijob haben oder selbststän-
Beiträge. Ab einem bestimmten Alter, der sogenannten dig sind. Wer aber wenig verdient oder gar keine Beiträge
Regelaltersgrenze von derzeit 65 Jahren und acht Mona-
ten, soll niemand mehr arbeiten müssen. Die Beschäftig-
ten bekommen eine Rente, die ihren Lohn ersetzt. Wer unterdurchschnittlich verdient hat, kann bei einem
Der Deutsche Bundestag hat seit den 1990er-Jahren Rentenniveau unter 50 Prozent deutliche Einschnitte
viel an der Absicherung im Alter und bei Erwerbsunfä- bei der Lebensführung nur mit einem Minijob vermeiden
59,5
60
54,8
50
48,0
40
30
20
ATLAS DER ARBEIT / DRV
10
0
1970 1972 1974 1976 1978 1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016
160
Schule, Ausbildung, Zivil-/ in Teilzeit Sabbatical
Wehrdienst, Studium geringfügig beschäftigt Altersteilzeit
voll beschäftigt arbeitslos Verrentung 140
Kindererziehungszeit
120 120
Verkäuferin
80 mit zwei 80 80
Kindern
60 60 60
Projekt-
40 40 40 managerin,
kinderlos
Elektroinstallateur,
0 0 0
10 20 30 40 50 60 70 10 20 30 40 50 60 70 10 20 30 40 50 60 70
Erwerbs- und Rentenbiografien sind nicht immer gleichzusetzen. Beispielsweise erhöht Kindererziehung die Rente, auch ohne Lohnarbeit.
nein 39
gerade so
gut
Zusatzrente, Erbe, eigenes Vermögen oder das
sehr gut
von Gatte oder Gattin – wer all dies nicht hat, ist auf
die gesetzliche Rentenversicherung angewiesen
S
eit der Industrialisierung galt die Erwerbstätigkeit Gap). Ihr Bruttostundenlohn liegt im Schnitt um etwa
von Frauen als unverzichtbar, um das Familienein- 22 Prozent unter dem der männlichen Kollegen. Dafür gibt
kommen aufzubessern. Das Ideal war allerdings es mehrere Ursachen: Frauen entscheiden sich häufig für
die Versorgerehe: Die Frau verrichtet die Hausarbeit, der Berufe im Dienstleistungssektor, in denen vergleichs-
Mann ist erwerbstätig. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahr- weise geringe Gehälter gezahlt werden. Oft reduzieren
hunderts versuchten fast alle gesellschaftlichen Gruppen oder unterbrechen sie ihre Berufstätigkeit aus familiären
nach diesem Modell zu leben, obwohl nicht alle Männer Gründen. Zudem arbeiten Frauen häufiger als Männer in
genug verdienten. Mit der Jahrhundertwende veränderte kleineren Betrieben, die seltener der Tarifbindung unter-
sich das Frauenbild. Frauen sollten in den Genuss einer liegen und wo oft Mitbestimmungsrechte über den Be-
guten Schulbildung kommen und anschließend einen triebsrat nicht genutzt werden.
Beruf erlernen. Insbesondere die feministischen Vorden- Männer arbeiten eher in der Industrie, wo höhere Ge-
kerinnen der Arbeiterbewegung betrachteten die Berufs- hälter gezahlt werden. Nach wie vor ist diese Arbeit der
tätigkeit von Frauen als einen maßgeblichen Schritt zur Gesellschaft mehr wert als die soziale Arbeit mit Men-
Emanzipation. schen. Nur zögerlich beginnen junge Frauen, sich für
Heute scheinen Männer und Frauen im Berufsleben Berufe in den Bereichen Mathematik, Informatik, Natur-
weitgehend gleichgestellt. Ihre Erwerbstätigenquoten wissenschaften und Technik zu interessieren, die sich bei
liegen derzeit mit 82 Prozent (Männer) und 74 Prozent fortschreitender Digitalisierung besonders an den Anfor-
(Frauen) nah beieinander. Doch im Gegensatz zu Män- derungen der Zukunft orientieren. Bis heute schränken
nern sind Frauen oft nicht in Vollzeit beschäftigt (Gender
Time Gap). 2016 arbeitete fast jede zweite Frau, aber nur
10 Prozent der Männer in Teilzeit. Der wesentliche Grund: Eine Ganztagsbetreuung ist für Allein-
Im Vergleich zu Männern wenden Frauen 2017 täglich erziehende entscheidend. Auch die
mehr als doppelt so viel Zeit für unbezahlte Tätigkeiten Arbeitsteilung unter Eltern muss sich ändern
39,9
Ostdeutschland Männer Frauen
73,5
Gesamtdeutschland
Teilzeit: unter 35 Stunden pro Woche
6,7
1,16 € 5,8
4,7
19,87 €
2,1 0,7
0,94 € 2,3
0,42 €
15,44 € 0,13 €
0,46 € Frauen
77,7 verdienen
nur 77,7 Prozent des
Männerstundenlohns
Männer Frauen
Das Statistische Bundesamt berechnet die Gender Pay Gap alle vier Jahre. Differenzen durch Rundung
D
er moderne Kapitalismus ist etwa um 1760 in von Frauen oder Kindern bedient werden konnten, die
England entstanden, als Webstühle und Spinne- mit Hungerlöhnen abgespeist wurden. Die Verarmung der
reien mechanisiert wurden. Die Weltgeschichte unteren Schichten lässt sich sogar anschaulich messen –
trat damit in eine neue Epoche ein. Bis dahin hatte die an ihrer Körperlänge. Zwischen 1830 und 1860 nahm die
Wirtschaft weltweit über Jahrtausende stagniert – nun durchschnittliche Größe der englischen Soldaten um zwei
wuchs sie erstmals konstant. Bis heute gehört es zu den Zentimeter ab, weil sie zu wenig zu essen hatten.
großen Fragen in der Forschung, warum die Industria- Der Durchbruch zur modernen Wohlstandsgesell-
lisierung ausgerechnet in England begann. Inzwischen schaft ist erst seit etwa 1880 zu beobachten, als die Re-
gibt es etwa zwanzig verschiedene Theorien. Die überzeu- allöhne deutlich zu steigen begannen. Dies war vor allem
gendste Analyse setzt bei den Produktionskosten an: Die den Gewerkschaften zu verdanken, die nach und nach ab
Löhne in England waren im 18. Jahrhundert die höchsten 1870 in Europa zugelassen wurden. Die neue Massenkauf-
der Welt, sodass die britischen Waren international nicht kraft hat den Kapitalismus nochmals verändert, die Kon-
mehr konkurrenzfähig waren. Da Arbeitskräfte teuer wa- sumgesellschaft entstand.
ren, lohnte es sich erstmals, in Maschinen zu investieren Ohne den Massenkonsum wäre der Kapitalismus sehr
– also Kapital zu bilden. Dank der Technik konnte jeder früh wieder zusammengebrochen. Erst die enorme Nach-
und jede einzelne Beschäftigte mehr Waren herstellen. frage der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen hat neue
Damit war das Wachstum in der Welt. Vom neuen Auf-
schwung profitierte in England anfangs nur eine kleine
Minderheit, während es den meisten Britinnen und Briten Die Lehre von 1929: Wenn die Massenkaufkraft
sogar schlechter ging. Hatten hohe Löhne die Industriali- niedrig bleibt und zugleich die Reichen
sierung ausgelöst, sank paradoxerweise wenig später der immer reicher werden, droht ein Börsencrash
15
-7 % -8 %
-24 % -7 %
10
-8 % -8 %
-8 % -23 %
-7 % -7 %
5 -7 % Einkommen des obersten Prozentes -8 %
ATLAS DER ARBEIT / SAEZ, WIKIPEDIA
0
1913 1918 1923 1928 1933 1938 1943 1948 1953 1958 1963 1968 1973 1978 1983 1988 1993 1998 2003 2008 2013
117,0
115
105 106,3
L
ange hatte sich niemand an eine Prognose gewagt: die „Industrie 4.0“ zum Indikator der Digitalisierung.
Was bedeutet die Digitalisierung für den Arbeits- Die Vision dabei ist das „Internet of Things“, das „In-
markt? Wie viele Arbeitsplätze fallen weg, wie viele ternet der Dinge“. Alles soll mit allem digital vernetzt
entstehen neu – und wie sehen sie dann aus? Das Thesen- und letztlich smart werden: smarte Roboter in Fabriken,
papier „The Future of Employment”, das der Ökonom Carl Sensoren, die Informationen über Produkte und Pro-
Benedikt Frey und der Informatiker Michael A. Osborne zesse an Maschinen und Menschen senden und damit
2013 vorstellten, wurde hier zu einem Weckruf. Rund 47 Arbeitsprozesse steuern, der 3-D-Druck im Handwerk.
Prozent aller Jobs in den USA würden durch die Digitali- Dienstleistungsplattformen wie Reinigungs- oder Lie-
sierung wegfallen, schätzten die Forscher. Prognosen für ferdienste verändern die Arbeitsbeziehungen. Vernetzte
den Zugewinn an Arbeitsplätzen machten sie nicht. Angebote werden sich auf die Gestalt unserer Städte und
Diese Schätzung war von Anfang an umstritten. So die Gestaltung unseres Zuhauses auswirken. Die digitale
rechnet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor- Vermessung der Welt löst die Grenzen zwischen Märkten,
schung in Nürnberg derzeit damit, dass in der deutschen Regionen, Unternehmen, Maschinen und Menschen zu-
Industrie durch den Strukturwandel 490.000 Arbeitsplät- nehmend auf.
ze wegfallen könnten – aber bei den Dienstleistungen Die dabei erfassten Daten werden als das neue Öl für
430.000 neue entstehen. Richtig ist, dass die Digitalisie- die Wirtschaft der Zukunft gehandelt. „Big Data“ bedeu-
rung die Arbeitsmärkte und Arbeitsbedingungen bereits tet große Datenmengen, die umfassende Analysen etwa
grundlegend verändert hat und weiter verändern wird. In über das erwartbare Verhalten von Menschen erlauben
und damit neue Geschäftsmodelle ermöglichen. Zudem
entwickelt sich die künstliche Intelligenz mit rasanter Ge-
schwindigkeit und in neuer Qualität. Damit entsteht eine
WORTE UND DATEN
Verbreitung des digitalen Arbeitens* nach Branchen,
Art neues Betriebssystem für die Arbeit der Zukunft.
Auswahl, in Prozent Manches ist zumindest in Deutschland nicht neu.
In der industriellen Produktion gibt es schon seit vie-
in sehr hohem Maß in geringem Maß
in hohem Maß gar nicht len Jahren einen hohen Grad an Automatisierung. Aber
nun verändern sich ganze Wertschöpfungsprozesse von
11 5 9 Produzenten, Zulieferern, Dienstleistern sowie den Kun-
13 20 39 35
45 26 dinnen und Kunden. Allein die alltägliche Nutzung des
31 36 30 Smartphones, das es erst seit gut zehn Jahren gibt, zeigt,
Fahrzeugbau Maschinenbau Chemiebranche wie rasant die Veränderung ist – und noch wird.
Für die Beschäftigten ist die Digitalisierung durch ent-
12 18 22 18 grenzte Arbeitszeiten, Multitasking und die zunehmende
29 28
25 Schnelligkeit bei Aufgaben bereits spürbar – und für viele
25 34 22
34 32 eine zusätzliche Belastung. Die repräsentative Umfrage
Gesundheitswesen Handel Erziehung, Unterricht des Instituts DGB-Index Gute Arbeit bei rund 10.000 Be-
schäftigten im Jahr 2016 ergab: Digitales Arbeiten führt
17 11 18 für fast die Hälfte zu einer höheren Arbeitsbelastung und
31 32 30 mehr Stress. Angebote oder Zeit für notwendige Qualifi-
21 27 22
30 29 30 zierungen gibt es selten. Dadurch haben viele das Gefühl,
ATLAS DER ARBEIT / INIFES
Durch die Digitalisierung ... größer geworden gleich geblieben geringer geworden
Können Sie auf den Einsatz der digitalen Technik an Ihrem Arbeitsplatz Einfluss nehmen?
Wie oft fühlen Sie sich bei Ihrer Arbeit der digitalen Technik ausgeliefert?
* repräsentative Umfrage unter bundesweit 9.737 Beschäftigten mit einer Arbeitszeit von mindestens 10 Stunden/Woche; ohne Freiberufler und Selbstständige
I
m Jahr 2017 lebten auf der Erde rund 7,55 Milliarden bensunterhalt zu bestreiten, und gilt damit nicht mehr
Menschen. Davon, so die Statistik der Internationa- als arbeitslos. Das erklärt, warum die offizielle Arbeits-
len Arbeitsorganisation (ILO) der Vereinten Nationen, losenquote in Industrieländern höher liegt als in Ent-
waren 201 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Die wicklungsländern. So betrug die Arbeitslosenquote von
Arbeitslosenquote der ILO liegt damit weltweit bei rund Frankreich im Jahr 2017 nach ILO-Definition 9,2 Prozent
5,8 Prozent. Nur hat sie wenig mit der Realität zu tun. und in Ruanda, einem der ärmsten Länder der Welt, nur
Denn in der Statistik wird nur mitgezählt, wer als arbeits- 2,4 Prozent.
los gemeldet ist. Das wiederum setzt Ämter voraus, bei
denen sich Menschen arbeitslos melden können. Und:
Wer die Weltarbeitslosigkeit ermessen will, muss die ge- Migrationsdruck entsteht nicht nur durch
waltigen Unterschiede bei den sozialen Sicherungssyste- Not, sondern auch durch Ungleichheit. Erst recht,
men der 193 UN-Mitgliedstaaten betrachten. wenn – wie so oft – beides zusammenkommt
Venezuela
Südsudan
Zugang Äquatorialguinea
im globalen
Vergleich
fair
mittel
unfair 2017 mit schweren
sehr unfair Wirtschaftskrisen
extrem unfair
keine Daten
Der Inequality-adjusted Human Development Index (IHDI) wird vom UN-Entwicklungsprogamm UNDP erstellt.
Länder mit schweren Wirtschaftskrisen: um mehr als fünf Prozent pro Jahr sinkendes Bruttoinlandsprodukt.
helfen. Für diese Tätigkeiten gibt es meistens keine Re- 0,3 Großbritannien
geln zu den Arbeitsbedingungen oder der Bezahlung, Indien
E
in Grundrecht der EU-Bürgerinnen und -Bürger be- beitnehmern und Arbeitnehmerinnen mehr als die Hälfte,
steht darin, sich frei in der Union zu bewegen und nämlich 4,4 Millionen, aus den 13 Mitgliedstaaten, die der
dort zu leben, wo sie wollen. Nirgends dürfen An- EU ab 2004 im Zuge ihrer Osterweiterung beigetreten sind.
gehörige anderer EU-Länder in Bezug auf Arbeitsrechte Dies ist ein viel höherer Prozentsatz als ihr Anteil von 21
und Sozialleistungen diskriminiert werden. Gleichzeitig Prozent an der gesamten EU-Beschäftigung. Nur zwei Pro-
liegt die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in der nationa- zent der Menschen aus den älteren 15 Mitgliedstaaten le-
len Zuständigkeit der Staaten. Es gibt so gut wie keine ben in einem anderen EU-Land; für die neueren Mitglieder
europäische Arbeitsmarktpolitik – in einem Kontinent liegt die Zahl fast bei zehn Prozent. Die grenzüberschrei-
mit enormen Einkommens- und Lohnunterschieden. Das tende Arbeitsmobilität in den älteren EU-Ländern hat zwi-
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Luxemburg liegt um schen 2006 und 2016 nur von 3,2 auf 3,9 Millionen zuge-
mehr als das Zehnfache über dem von Bulgarien. nommen, aber in den neuen von 1,8 auf 4,4 Millionen.
In Politik und Wissenschaft dominiert die Ansicht, Eine Reihe von Faktoren führt zu dieser Mobilisie-
dass die Mobilität der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- rung der Arbeitskräfte: unterschiedliche Einkommensni-
nehmer dazu beiträgt, dass der europäische Arbeitsmarkt veaus zwischen den Ländern, Chancen auf dem Arbeits-
besser funktioniert. Theoretisch steigt die Wirtschafts- markt und auch historische Muster. Fachleute sprechen
leistung der Gesamt-EU, wenn Beschäftigte aus ärmeren oft von „Pull“- und „Push“-Faktoren, also „Ziehen“ und
Ländern besser bezahlte Jobs in reicheren Mitgliedstaa- „Drücken“: In Europa lockt es die Menschen in andere
ten übernehmen. So verbessert sich die allgemeine „Ar- Länder, wenn sie dort arbeiten können, oder sie müssen
beitsallokation“, da höhere Löhne automatisch zu einer wegziehen, wenn sie zu Hause keinen anständigen Ar-
höheren Produktivität in der EU führen. beitsplatz finden.
Es ist eine andere Frage, wie frei diese Bewegung in
Wirklichkeit ist und wie sie sich auf die Arbeitsmärkte in
den Herkunfts- und Aufnahmeländern auswirkt. Im Jahr Ein zu starker „Braindrain“, die
2016 lebten 11,7 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürger Abwanderung gut Ausgebildeter, hemmt die
zwischen 15 und 64 Jahren in einem anderen EU-Mit- Entwicklung in ihren Herkunftsländern
Frankreich 647 60
Großbritannien 50
ATLAS DER ARBEIT / EUROSTAT
854 40
Schweiz 2.025 30
909 20
979 10
Italien
Spanien 0
2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
GR
TR
AD: Andorra, AL: Albanien, AT: Österreich, BA: Bosnien u. Herz., BE: Belgien, BG: Bulgarien, BY: Weißrussland,
CH: Schweiz, CY: Zypern, CZ: Tschechien, DE: Deutschland, DK: Dänemark, EE: Estland, ES: Spanien, FI: Finnland,
FR: Frankreich, GR: Griechenland, HR: Kroatien, HU: Ungarn, IE: Irland, IT: Italien, LI: Liechtenstein,
LT: Litauen, LU: Luxemburg, LV: Lettland, MC: Monaco, MD: Moldawien, ME: Montenegro, MK: Mazedonien,
MT
MT: Malta, NL: Niederlande, NO: Norwegen, PL: Polen, PT: Portugal, RO: Rumänien, RU: Russland, SE: Schweden,
SI: Slowenien, SK: Slowakei, SM: San Marino, SR: Serbien, TR: Türkei, UA: Ukraine, UK: Großbritannien, VT: Vatikanstadt CY
W
enn US-Amerikaner in Europa arbeiten, kom- erreichte 2007 mit dem Vertrag von Lissabon sogar Verfas-
men sie oft aus dem Staunen nicht mehr her- sungsrang, gemeinsam mit der „Charta der Grundrechte
aus: Hier gibt es vier Wochen bezahlten Urlaub, der EU“. Dort sind Grundrechte festgeschrieben, zum Bei-
Lohnfortzahlung bei Krankheit, monatelang Elternzeit. spiel: „Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat
Nichts davon ist in den USA üblich, geschweige denn lan- das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbe-
desweit gesetzlich geregelt. Tatsächlich ist die EU längst dingungen.“ Auch Bestimmungen zu Entlassungen und
mehr als ein Binnenmarkt mit Reiseerleichterungen. Über sozialer Sicherheit sind dort festgelegt.
ihre Richtlinien und Vorgaben bei Arbeitnehmerrechten
gestaltet sie das Leben aller Europäerinnen und Europäer,
im positiven wie negativen Sinne. Tarifverträge sorgen für höhere Löhne.
Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft Je weniger Unternehmen sie abschließen,
1958 standen zunächst nicht die Rechte der Beschäftig- desto niedriger bleiben die Einkommen
96
Niederlande Litauen
15
Belgien 56
-12
Polen 46
55 Deutschland
Tschechien
-27
Luxemburg 99
98
-35 -14 24
Frankreich
23
Österreich
Slowakei
65 Ungarn
72
73
Slowenien
80
ATLAS DER ARBEIT / OECD, ETUI
Portugal
Spanien 40
Italien
Griechenland
-42
S
o könnten Lebenswege aussehen: Jugendliche 22 Prozent der Jugendlichen arbeitslos, in den südeuropä-
besuchen zunächst die Schule, bis sie 16 oder 19 ischen Ländern Italien und Spanien mehr als 30 und in
sind, dann machen sie weiter mit einer Ausbil- Griechenland sogar 44 Prozent.
dung oder einem Studium. Anschließend arbeiten sie in Das heißt nun nicht, dass in den südeuropäischen
ihrem Beruf und stehen auf eigenen Beinen. Endlich sind Staaten fast jeder Zweite unter den bis zu 25-Jährigen
sie unabhängig, beziehen jeden Monat ein Gehalt, kön- ohne Job dastünde. Denn die Kennzahl „Jugendarbeits-
nen über eine eigene Wohnung nachdenken und auch losigkeit“ misst nicht den Anteil an der gesamten Alters-
über die Gründung einer Familie. gruppe, sondern nur an der Gruppe derer, die arbeiten
So aber sieht ein Lebensweg in Europa oft genug nicht können und wollen. Sie schließt also Schülerinnen und
mehr aus. Nicht, dass junge Menschen Teile davon aus ei- Schüler oder Studierende aus.
gener und freier Entscheidung verwerfen – die Frage, ob Als aussagekräftiger für das Schicksal und die Pers-
sie das so wollen, stellt sich ihnen einfach nicht. Denn auf pektiven der jüngeren Generationen gilt denn auch die
den Schul-, den Universitäts- oder den Berufsabschluss Zahl der NEETs. Das Kürzel bedeutet „Not in Employment,
folgt für allzu viele heute – nichts. Kein Arbeitsvertrag, Education or Training“, also weder in Beschäftigung noch
befristet oder nicht, noch nicht einmal ein prekärer Job in Ausbildung oder Schulung. Unter ihnen sind Carmen
oder irgendeine Aushilfstätigkeit, und damit auch kein aus Andalusien oder Roberto aus Sardinien, die beide
Einkommen. Zu einem Millionenheer sind diejenigen jun- schon lange resigniert und die Arbeitssuche aufgegeben
gen Menschen in der EU geworden, die Arbeit suchen und haben. Die EU-Statistikbehörde Eurostat misst die Zahl
nicht finden. Und es kann alle treffen, natürlich vorneweg der NEETs in der Altersgruppe der 20- bis 34-Jährigen. Ein
die, die keinen Abschluss haben. Aber auch diejenigen, Fünftel dieser jungen Menschen in der EU sitzt tatenlos zu
die mit einer Ausbildung oder einem Universitätsdiplom Hause, in Italien und Griechenland schießt der Wert auf
auf den Arbeitsmarkt drängen. erschütternde 30 Prozent hoch. Mehr noch: Er bleibt in
Im Jahr 2017 standen 3,8 Millionen Jugendliche un- den verschiedenen Untergruppen stabil – das Risiko völ-
ter 25 Jahren in der EU ohne Arbeit da. Im Jahr 2013, auf liger Untätigkeit trifft die 20- und die über 30-Jährigen in
dem Höhepunkt der Eurokrise, waren es sogar 5,5 Milli- gleichem Maß oder wächst mit den Jahren sogar noch. So
onen. Die Statistiken zeigen allerdings, dass die Jugend- sieht Perspektivlosigkeit aus: Statt einer Zukunft haben
diese Menschen nur eine triste Gegenwart. Im besseren
Falle empfangen sie Sozialleistungen. In Südeuropa kön-
nen sie nur dank Eltern oder Großeltern überleben
NICHTS HABEN, NICHTS TUN
Anteil junger Erwachsener, die weder arbeiten noch
Jugendarbeitslosigkeit heißt „ewige Jugend“ im
in Ausbildung sind (NEETs), EU-28, in Prozent schlechtesten Sinne. Fast 90 Prozent der jungen Männer
22 zwischen 16 und 29 und fast 80 Prozent der jungen Frau-
en in diesem Alter leben in Italien immer noch bei ihren
20 Eltern. Meist, weil sie gar nichts oder – in prekären Jobs –
viel zu wenig verdienen, um ihr eigenes Leben zu gestal-
18 ten. Ihre Gegenwart ist oft genug von Armut geprägt, um
ihre Zukunft ist es nicht besser bestellt. 30-Jährige, für die
16 nie ein Arbeitgeber in die Rentenkasse eingezahlt hat,
ATLAS DER ARBEIT / EUROSTAT
2009
2013 19,9
2017 23,6 21,5 20,1
25,0 17,8 Finnland 18,7
20,7
19,1 12,1 27,4 12,1
Schweden
Großbritannien Estland
23,2
33,3 17,0
13,0
11,8 11,0 Lettland
27,0 13,2
24,8 14,5 10,2 8,9 Dänemark
Irland Niederlande 27,3
21,9
23,7 20,6 14,8
29,6 13,3
21,9 19,3 7,8 Polen
Litauen
Belgien 11,1 6,8
Deutschland 18,9 33,7
16,9 16,6 7,9 27,6 18,9
16,5 15,3 Slowakei
9,7 Tschechien
Luxemburg 26,6
10,7 9,8 23,7
26,4 10,7
Österreich 20,0 18,3
Ungarn
24,9 Rumänien
ARMUT AM KLEIDERBÜGEL
Starker Druck auf die Industrie und um die Welt. Von England und West- sowie Mitteleuropa
verantwortungsvoller Konsum können dem wanderte sie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Südeuro-
menschenverachtenden Konkurrenzkampf pa und später nach Japan, Korea, Hongkong und Taiwan.
in der Texttilindustrie ein Ende bereiten. Heute wird in China fast die Hälfte der weltweiten Textil-
exporte produziert.
Inzwischen verlagern die Unternehmen ihre Fabriken
D
er mechanische Webstuhl machte Manchester zur immer mehr in noch ärmere Länder wie Indien, Vietnam,
ersten Welthauptstadt der Textilindustrie. In we- Kambodscha oder Bangladesch. Zunehmend gerät auch
nigen Jahren entwertete dieser enorme Fortschritt Afrika ins Visier der Textilindustrie, da es der letzte Kon-
in der Produktivität die Arbeitskraft manueller Weber. tinent ist, in dem die Bevölkerung rapide wächst und
Maschinenstürmer in England, Aufstände der Weber in daher viele junge Frauen Arbeit suchen. Mit 21 US-Dollar
Schlesien und Kalkutta, wo Hunderttausende Hunger lit- pro Monat beträgt der Mindestlohn in Äthiopien heute
ten, begleiteten den Aufstieg der industriellen Textilindu- weniger als die Hälfte des Mindestlohns einer Näherin in
strie. Traditionelle Facharbeiter wurden durch angelernte Bangladesch.
Industriearbeiterinnen ersetzt, die schon nach kurzer Zeit Es sind die Lohnunterschiede zwischen den wohlha-
im Akkord hohe Stückzahlen fertigten. benden Industrieländern und den produzierenden Län-
Während die Textilherstellung heute einen hohen dern des Südens, die die Textilbranche zu der Industrie
Grad von Mechanisierung erreicht hat, ist das Nähen von gemacht haben, die am meisten globalisiert ist. Näherin-
Kleidung noch immer sehr arbeitsintensiv. Die Maschi- nen in Bangladesch bekommen lediglich 50 Euro im Mo-
nen, an denen Frauen heute in Asien im Akkord unsere nat. Wenn eine Textilarbeiterin dort das Gleiche wie ihre
Kleidung nähen, unterscheiden sich nicht wesentlich deutsche Kollegin verdienen würde, wäre der Lohnanteil
von den Singer-Produkten, an denen Näherinnen einst in am Preis eines T-Shirts nicht 18 Cent, sondern 5,40 Euro.
Chemnitz oder Hamburg arbeiteten. Ohne wirksame Regelungen des Arbeitsmarktes, Sozial-
Weil die Industrie so arbeitsintensiv ist, sucht sie leistungen oder Tarifverträge werden die Löhne nach An-
Standorte für ihre Unternehmen, an denen viele junge gebot und Nachfrage bestimmt. Da es ein Überangebot an
Frauen in Armut leben. Diese ziehen oft eine Sechstage-
woche mit 10 bis 14 Stunden am Tag in der Textilfabrik ei-
nem Leben im dörflichen Elend vor – oder dem täglichen Viele Textilbeschäftigte erhalten nicht
Überlebenskampf in den Slums der Megastädte. Seit dem einmal Mindestlohn, weil die Arbeitgeber einfach
Beginn der Industrialisierung zieht die Textilindustrie ein Familieneinkommen unterstellen
49,1
17,3
Kirgistan 22,4
Tadschikistan
10,9 Nordkorea
11,7
22,7 24,5
17,1 Jordanien
Tunesien
Honduras Bangladesch
Haiti
11,3
11,8 12,2 11,0
14,4 Vietnam
El Salvador Kenia Pakistan
Togo
16,5 15,7 38,6
15,1 Kambodscha
Benin Sri Lanka
Nicaragua
Tansania Madagaskar
W
er aus Deutschland kommt und im Nachbar- 5,7 Prozent, in Frankreich bei 9,5. Dort ist sie seit Lan-
land Frankreich zu arbeiten beginnt, ist häufig gem nicht unter 7 Prozent gesunken. Die französische
erst einmal beeindruckt. Laut Gesetz beträgt Regierung steht daher unter massivem Druck. Die 2005
die durchschnittliche Wochenarbeitszeit 35 Stunden. Ta- abgeschlossenen Hartz-Reformen in Deutschland gelten
rifverträge gelten für 90 Prozent der Beschäftigten – in Konservativen und Liberalen als das Paradebeispiel für
Deutschland genießt gerade einmal die Hälfte diesen Vor- Reformen auf dem Arbeitsmarkt.
teil. Und die Arbeitgeber zahlen mehr Anteile in die Sozi- Der französische Präsident Emmanuel Macron hat
alversicherungen ein als die Beschäftigten. Zwar ist das deswegen im Eiltempo eine vergleichbare Reform des
Durchschnittseinkommen mit rund 35.000 Euro niedriger französischen Arbeitsmarktes angekündigt. Neu justiert
als in Deutschland mit seinen 40.000 Euro. Und Paris ist werden sollen die Tariflandschaft und die betriebliche
in vielerlei Hinsicht ein sehr teures Pflaster. Aber das Ar- Interessenvertretung. Kündigungen sollen für Arbeitge-
beits-, Steuer- und Sozialsystem in Frankreich bietet ver- ber billiger und einfacher werden, indem unter anderem
gleichsweise große Vorteile. Obergrenzen für Abfindungen eingeführt werden.
Vor allem Familien, und hier besonders die Frauen, Das Ziel der Arbeitsmarktreform ist deutlich: Mehr
profitieren von besonderen Strukturen. In Frankreich Flexibilität bereite den Weg zu einer wettbewerbsorien-
leben zwar etwa 16 Millionen weniger Menschen als in tierten Tarifpolitik, heißt es. So sollen die Arbeitgeber,
Deutschland, dennoch werden dort jedes Jahr 160.000 für die bislang der Flächentarif galt, nun auf Betriebs-
mehr Kinder geboren. Nahezu alle gehen in Ganztagskrip- ebene über zentrale Fragen wie Arbeitszeiten verhandeln
pen oder Vorschulen. Fehlt die Infrastruktur oder sind dürfen. Die 35-Stunden-Woche würde damit endgültig nur
alle Plätze vergeben, stellen die Gemeinden in der Regel noch im Gesetz stehen. Bei früheren Reformen liefen die
Kinderfrauen ein, die zu Hause auf die Kleinen aufpassen. Gewerkschaften oft Sturm; Generalstreiks sind, im Ge-
Daher ist es kein Wunder, dass Frankreich – trotz eines gensatz zu Deutschland, bei arbeitsmarkt- und sozialpo-
Rückgangs – in der Geburtenstatistik der EU mit durch- litischen Themen nicht verboten. Bisher bleiben jedoch
schnittlich 1,88 Kindern pro Frau ganz oben mit dabei Massenproteste weitgehend aus.
ist. Deutschland rangiert mit 1,5 Kindern pro Frau auf Worüber Macron nicht spricht: Der Preis der Refor-
Platz 16. Die gute Infrastruktur lockt Französinnen auch men in Deutschland war und ist hoch. Die reichste Indus-
häufiger zurück in den Job als Deutsche. Nur rund zehn trienation Europas hat auch einen der größten Niedrig-
Prozent geben ihre Berufstätigkeit auf, während 18 Pro- lohnsektoren, und die sozialen Sicherungssysteme sind
zent der deutschen Mütter „heim an den Herd“ kehren. am Anschlag. Die Ungleichheiten auf dem deutschen
Der Grund: Frankreich bietet Frauen größere Anreize Arbeitsmarkt sind gestiegen. Auf der einen Seite Nor-
zu arbeiten. Zum einen fällt der geschlechtsspezifische malarbeitsverhältnisse, die in der Regel tarifgebunden,
Lohnunterschied (Gender Pay Gap) mit 15 Prozent deut- sozialversicherungspflichtig und unbefristet sind – und
lich geringer aus als die 22 Prozent in Deutschland; auch auf der anderen Seite atypische Beschäftigungsformen,
nimmt er schneller ab als in anderen europäischen Län- also Leih- und Teilzeitarbeit, geringfügige oder befristete
dern. Ferner behandelt das Steuerrecht Familien völlig Beschäftigung. Das hat gravierende wirtschaftliche und
anders. In Deutschland werden Verheiratete, bei denen soziale Folgen für die Menschen. Wenn Macron sich in
ein Ehepartner nicht arbeitet, mit dem sogenannten Ehe- seiner Arbeitsmarktpolitik eng an Deutschland orien-
gattensplitting versorgt: Die Ehe wird als Wirtschaftsge- tiert, steht vielen Beschäftigten in Frankreich noch eini-
meinschaft verstanden, sodass Einkünfte des arbeitenden ges bevor.
Ehepartners halbiert und entsprechend niedriger be-
steuert werden. Frankreich dagegen praktiziert mit dem
Familiensplitting, dem „quotient familial“, eine haus- Frankreich sieht in Deutschland das Vorbild
haltsgerechte Besteuerung. Sie bestimmt die Höhe der für weniger Arbeitslose. Umgekehrt bietet
Einkommensteuer anhand der Zahl der in einem Haus- Frankreich bessere Bildung und ein längeres Leben
67,0
2017
82,5 75,5
2060
80,8
1,88 1,5
Bevölkerung und Prognose, in Millionen
Kinder je Frau, 2017
49,8
70,0 78,6 68,6
79,2 78,3 85,5 83,1
20- bis 64-Jährige 55- bis 64-Jährige
13,6 16,5
10,4
armutsgefährdete Bevölkerung,
2016, in Prozent
13,0
33,0
48,8
Männer
8,8 10,3
38,1 33,4
frühe Schulabgänge unter den
18- bis 24-Jährigen*, 2016, in Prozent
Frauen
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS
D
er rasante wirtschaftliche Aufstieg Asiens in den sein wie jene der USA und größer als die aller westlichen
vergangenen Jahrzehnten ist historisch ohne Bei- Ökonomien zusammen. Indiens Volkswirtschaft wird bis
spiel. Doch er hat nur das Kräfteverhältnis wieder- dahin größer sein als jene der USA.
hergestellt, das über Jahrhunderte normal war. Zwischen Wie haben die ostasiatischen Staaten diesen Aufstieg
dem Jahr 1000 und dem Beginn des 19. Jahrhunderts war in Rekordzeit geschafft? Japan, Südkorea, Singapur und
China für rund ein Viertel der globalen wirtschaftlichen Taiwan verstanden es meisterlich, ihre Arbeitskräfte für
Aktivität verantwortlich. Um 1750 produzierten China und Jobs in der neu entstehenden und staatlich geförderten
Indien zusammen sogar drei Viertel der Waren weltweit. Industrie zu mobilisieren. Die Produktivität stieg. Durch
Bis zum Jahr 1914 sank dann der Anteil ganz Asiens an der die mit der Industriegesellschaft einhergehende Urba-
Weltproduktion auf noch 7,5 Prozent. Europa und die USA
hatten sich seit der industriellen Revolution erdrückende
Wettbewerbsvorteile durch technischen Fortschritt, die Die Einführung von Industrierobotern – zum Nähen,
Ausbeutung der Kolonien und die Plünderung ganzer in der Elektronik oder im Fahrzeugbau –
Kontinente verschafft. bedroht billige, technisch veraltete Arbeitsplätze
55,4
160.000 Japan
9.000 China
305
49 43.000
160 Taiwan
Italien 42,6
190
Indien 40,6
46.000 6.000 13.000
Kambodscha 4
176 2 47,3
Philippinen
398
Nordamerika Bangladesch
25.000
ATLAS DER ARBEIT / BLOOMBERG
51,9 Singapur
40
35
30 Westeuropa
25
China
20 USA
10
5 Indien
0
1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940 1960 1980 2000 2020 2040
M
enschen haben schon gestreikt, lange bevor von Staaten veröffentlicht wurde, denen schwerste Ver-
das Recht dazu offiziell festgeschrieben wurde. letzungen internationaler Arbeits- und Sozialstandards
Vor über 3.000 Jahren legten in Ägypten die Ar- vorgeworfen wurden. Dies bedeutet eine Schwächung des
beiter in den Totenstädten der Pharaonen mehrfach die am besten verankerten internationalen Mechanismus,
Arbeit nieder, weil ihre Bezahlung in Form von Getreide mit Publizität die Weltöffentlichkeit darauf aufmerksam
ausblieb. Mit Erfolg. Jahrhunderte später entstanden in zu machen, wenn das Streikrecht verletzt wird.
deutschen Reichsstädten die Gesellenvereinigungen. Sie In immer mehr Ländern häufen sich außerdem die
fungierten als eine Art Arbeitsvermittlung für wandern- Fälle, in denen Streiks mithilfe neuer Gesetze ausgehe-
de Gesellen und konnten Handwerksbetriebe, die ihre belt, mit Sanktionen belegt oder verboten werden, wie
Arbeiter schlecht behandelten, „verrufen“, das heißt mit ein Bericht der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr
Boykott belegen. Davon waren immer wieder ganze Hand- 2016 feststellt. Von 119 der dort genannten Länder haben
werkszünfte einer Stadt betroffen. 117 rechtliche Schritte unternommen, die gegen interna-
Schon bei diesen frühen Arbeitskämpfen vor dem tionale Standards des Streikrechtes verstoßen. Von den
Industriezeitalter kämpften die Werktätigen für bessere 35 OECD-Mitgliedern haben 23 das Recht eingeschränkt.
Arbeitsbedingungen, für mehr Rechte und eine besse- Allein in den vergangenen fünf Jahren haben neun (Aus-
re Bezahlung. Im 19. Jahrhundert wurden Streiks zum tralien, Belgien, Kanada, Griechenland, Ungarn, Italien,
wichtigsten Mittel der Arbeiterbewegung, um die Interes- Norwegen, Spanien und die Türkei) Maßnahmen ergrif-
sen der Werktätigen gegenüber Unternehmen und Staat fen, die Arbeitsniederlegungen einschränken.
durchzusetzen. 1873 erreichten die Buchdrucker auf diese Zwei Haupttrends zeichnen sich ab. Erstens wird ei-
Weise in Deutschland einen ersten Tarifvertrag. nigen Arbeitnehmergruppen das Streikrecht verweigert.
Seit der Industrialisierung wurden Streiks mehr und
mehr zu einem Massenphänomen. Das Recht auf Streik
existiert in Deutschland erst seit 1918, in einzelnen Ge- Während die Arbeitgeberseite ein international
werbeordnungen allerdings schon früher. International geschütztes Streikrecht bestreitet, nehmen
ist es im Übereinkommen Nummer 87 der Internationalen auf nationaler Ebene die Verstöße dagegen zu
83 %
der Länder
haben das
Streikrecht
verletzt
82 %
60 % der Länder haben
das Recht auf
Tarifverhandlungen
der Länder
verletzt
haben das Recht,
Gewerkschaften
zu gründen
oder ihnen
beizutreten, unregelmäßige Verstöße systematische Verstöße
ver- oder
wiederholte Verstöße keine Rechtsgarantien
behindert
regelmäßige Verstöße Rechtssystem zusammengebrochen keine Angaben
* Katalog von 97 Kriterien internationaler Konventionen und Gerichtsbarkeit. ITUC: International Trade Union Confederation, Internationaler Gewerkschaftsbund
MAXIMAL AUSGEBEUTET
Gewaltsames Festhalten, Menschenhandel, aber die moderne Sklaverei unterscheidet sich strukturell
Arbeitslager, Verheiratung wider Willen – was nicht wesentlich von den alten Formen. Die Betroffenen
unter „moderne Sklaverei“ zusammengefasst werden gewaltsam festgehalten, ihres freien Willens be-
wird, ist weltweit anzutreffen. raubt und wirtschaftlich ausgebeutet. Einige Forschende
weisen darauf hin, dass potenzielle Sklaven heute – an-
ders als früher – nicht knapp, daher also billig sind und
S
eit die UN-Vollversammlung die Allgemeine Er- die Gewinnspannen höher liegen als Mitte des 19. Jahr-
klärung der Menschenrechte 1948 verabschiedet hunderts.
hat, ist das Verbot von Sklaverei eine weltweit Am meisten verbreitet sind Formen von Sklaverei und
anerkannte Norm. Trotzdem sind Zwangsarbeit und Zwangsarbeit bei der Rohstoffgewinnung in Bergbau und
Menschenhandel bis heute sehr verbreitet. Nach Anga- Landwirtschaft sowie im Dienstleistungssektor. Knapp
ben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) waren zwei Drittel der Betroffenen leben in der Region Asien-Pa-
2016, konservativ geschätzt, weltweit rund 40 Millionen zifik. Die Gefahr, versklavt zu werden, ist jedoch in Afrika
Menschen Opfer moderner Sklaverei, Tendenz steigend. am höchsten.
71 Prozent der Betroffenen sind Frauen, 25 Prozent Kinder. Armut fördert ausbeuterische Arbeitsverhältnisse.
„Moderne“ Sklaverei gibt es in allen Erdteilen. Was die Deshalb ist moderne Sklaverei in Indien, wo fast ein Drittel
Gesetzgeber darunter fassen, ist unterschiedlich. Hinzu der Bevölkerung in großer Armut lebt, weitverbreitet. Je-
kommt eine hohe Dunkelziffer. Entsprechend existieren des Jahr verschwinden dort Hunderttausende Kinder; die
keine zuverlässigen Zahlen. Die ILO-Angaben stützen sich Regierung hat ein Suchportal eingerichtet. Immer wieder
zu einem Großteil auf Interviews und Hochrechnungen vertrauen Landfamilien ihre Töchter und Söhne Menschen
der privaten Stiftung Walk Free Foundation des australi- an, die ihnen eine leichte Arbeit und eine gute Ausbildung
schen Milliardärs Andrew Forrest, die seit 2013 jährlich ei- in der Stadt versprechen. Die Mädchen schuften dann oft
nen Global Slavery Index herausgibt. Die Methodik dieser sieben Tage die Woche als Hausangestellte und werden
Studien ist dabei umstritten. nicht selten sexuell ausgebeutet. Auch auf Teeplantagen,
Sklavinnen und Sklaven galten früher offiziell als Ei- in Hinterhoffabriken oder als Bettlerinnen und Bettler
gentum. Heute gibt es zwar keine Besitzurkunden mehr, werden diese Kinder eingesetzt. Und obwohl Schuld-
knechtschaft in Indien seit 1976 verboten ist, ist sie nach
wie vor verbreitet. So leihen sich erkrankte Arme Geld,
um Medikamente zu kaufen, und verpfänden dafür ihre
DIE WIRKSAMSTEN DRUCKMITTEL
Wie Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen im privatwirt-
gesamte Arbeitskraft. Weil die Zinsen hoch und die Löh-
schaftlichen Sektor gefügig gemacht werden, in Prozent ne niedrig sind, müssen die Kinder oft mithelfen und die
Schulden ihrer Eltern weiter abarbeiten, wenn diese nicht
0,9 mehr können, und sogar, wenn die Eltern gestorben sind.
unter Alkohol/Drogen gehalten
4,1 4,3 sexueller Gewalt unterworfen In Brasilien wurden zwischen 1995 und 2015 über
5,0 Pass oder andere
5,7 50.000 Menschen aus sklavenähnlichen Verhältnissen
Papiere weggenommen
6,6 befreit, in die sie aufgrund von Schuldknechtschaft ge-
6,7 Strafen durch Schlaf- oder
Essensentzug raten waren. Doch im Herbst 2017 verabschiedete die Re-
6,7
rechtliche Schritte angedroht gierung ein Gesetz, das die Definition der Sklavenarbeit
9,1 Geldstrafen aufweicht und so die Kontrolle durch staatliche Inspek-
11,8 zu weit weg von zu Hause,
ohne Schutzort tionen einschränkt. Schwarze Listen der Unternehmen,
16,4 bei der Arbeit oder in der die von Sklavenarbeit profitieren, werden nun nicht mehr
ATLAS DER ARBEIT / ILO, WALK FREE FOUNDATION
340 Welt
3.250
13.000 9.209 2.442 6.766
2.411 29 Europa und Zentralasien
1.650 4.787
350
170
männlich
weiblich arabische Länder
Kinder
Erwachsene
* Heirat ohne Zustimmung
Italien Bulgarien
D
ie vierköpfige Familie L. in Berlin ist ein Beispiel dieser Wert auf knapp vier Stunden gesunken. Bei Män-
für die Veränderungen in der modernen Dienst- nern nahm die unbezahlte Arbeit nur von 165 auf 150 Mi-
leistungsgesellschaft. Der Vater ist angestellter nuten täglich ab.
Architekt, die Mutter arbeitet drei Tage die Woche in einer Mit einer besseren Verteilung der unbezahlten Arbeit
PR-Agentur. Eines der beiden Kinder geht in die Kita, ei- innerhalb eines Paares hat der Rückgang also nichts zu
nes in den Hort. Die Eltern zahlen Kitagebühren und zu- tun. Vielmehr führt ihn der Ökonom Norbert Schwarz vom
dem eine Babysitterin, die zweimal in der Woche die Kin- Statistischen Bundesamt auf drei Gründe zurück: Frauen
der von Hort und Kita abholt. Einmal in der Woche kommt gehen häufiger einer Erwerbstätigkeit nach, die Zahl der
eine Putzfrau für vier Stunden in den Haushalt. Kinder sinkt und die Arbeiten im Haushalt werden zuneh-
Die 90-jährige Mutter von Frau L. lebt in Stuttgart, ist mend automatisiert.
sehr gebrechlich und vergesslich. Zwar wohnt noch ein Die Auslagerung von unbezahlter Care-Arbeit aus der
Sohn in der Nähe, aber er ist berufstätig und fährt nur ein- Familie in bezahlte Arbeit etwa in Kitas hat nicht zuletzt
mal in der Woche zu ihr. Seit Kurzem wohnt bei der alten wirtschaftliche Gründe. Durch den demografischen Wan-
Dame eine Betreuerin aus Polen, die über eine Agentur del können es sich die westlichen Gesellschaften nicht
engagiert wurde. Die Betreuerin hat selbst einen Sohn im mehr leisten, in der Arbeitswelt auf Frauen, insbesondere
Teenageralter im Heimatland, der dort mit seinem Vater auf gut ausgebildete, zu verzichten. Was in den 1950er-
und den Großeltern zusammenlebt. Nach drei Monaten und 1960er-Jahren noch üblich war, gilt heute als gigan-
wird sie wieder für eine Weile nach Polen zu ihrer Familie tische Verschwendung menschlicher Arbeitskraft. Gleich-
gehen. zeitig soll es den Frauen möglich sein, trotz Erwerbsarbeit
Die Kleinfamilie in Berlin, die Verwandten anderswo mehrere Kinder zu bekommen.
und die privaten Dienstleisterinnen der Familie sind ein Die Politik legt dabei Wert darauf, die Kosten für die
Beispiel für die moderne, auch grenzüberschreitende bezahlte Care-Arbeit, die aus Steuern oder Beiträgen fi-
Verteilung der „Care-Arbeit“, also der Hausarbeit, Kin- nanziert werden müssen, möglichst niedrig zu halten.
der- und Altenbetreuung. Die unbezahlte Care-Arbeit in Meist sind es wieder Frauen, die als Erzieherinnen oder
Deutschland geht zurück – sie wird gewissermaßen in be- Pflegerinnen arbeiten. Sie sind gewerkschaftlich wenig
zahlte Jobs umgewandelt. bis nicht organisiert. Ohnehin wird gegen Streikende im
Care-Bereich gerne der moralische Vorwurf erhoben, da-
mit die Schwachen zu schädigen. Das wichtigste Druck-
mittel, das die bezahlten Dienstkräfte haben, ist der
HILFE AUS FAMILIEN- UND BEKANNTENKREIS
Bezahlte und unbezahlte Hilfeleistungen bei voll
Bedarf an ihrer Arbeitskraft. Aber sogar die Politik wird
erwerbstätigen Müttern in Paarbeziehungen mit Kindern, aktiv. Der Mangel an Pflegenden erfordert Verbesserun-
2012/13, in Prozent gen bei den Löhnen. Tarifliche Entgelte sollen also in der
Pflege künftig möglichst flächendeckend gelten. Das ist
bezahlt ein Ziel der Politik von CDU/CSU und SPD.
6,8 unbezahlt Sich privat von unbezahlter Care-Arbeit freizukau-
4,5
20,1 fen ist teuer und funktioniert vielerorts nur aufgrund
Wohnungsreinigung des internationalen Lohngefälles. Die ost- und mitteleu-
ropäischen „Live-in“-Betreuerinnen und -Betreuer für
9,7
ATLAS DER ARBEIT / DESTATIS
Mahlzeitenzubereitung* Kinderbetreuung
Höhere Lebenserwartung, mehr Frauenarbeit –
* bezahlt: keine Angaben; gastronomische Dienstleistungen
waren bei der Erhebung per Definition ausgeschlossen möglich, dass ältere Familienangehörige
den Berufstätigen mit Kindern künftig stärker helfen
4,79
Gesamtanteil, in Prozent
regelmäßig gelegentlich
11,5 Mecklenburg-
2,78 Vorpommern
rechtlicher Status,
Anzahl in Tausend, Schleswig- Sachsen- 2,8
Holstein 10,13
2016 Anhalt
47 303 12,11
Niedersachsen
Brandenburg
sozialversichert angemeldete
im Haushalt Minijobs Nordrhein-
beschäftigt 4,65 4,85
Westfalen
2.967
Hessen 7,85
10,22 Bayern
10,83
Rheinland-
Pfalz Baden-
nicht angemeldet 9,78 Württemberg
Von der Umfrage für das Sozioökonomische Panel (SOEP) erfasst sind Hilfen u. a. für Reinigung,
Haushaltsführung, Kinderbetreuung, Alten- und Krankenpflege sowie Gartenarbeit.
Berlin Bremen Hamburg
sehr häufig
oft
selten
Ungleiche Verteilung der Hausarbeit macht
nie
die Müdigkeit aus berufsbedingtem
Stress und ungeliebter Arbeit noch schlimmer
VIELE BEDINGUNGEN
IM LAND DER FREIHEIT
Ist es wünschenswert, ist es finanzierbar? Existenzminimum abdecken soll. Bedürftigkeit heißt,
Bislang ist seriös nicht beantwortet, dass das Erwerbseinkommen oder die Lohnersatzleistung
wie Erwerbsarbeit und Einkommen nicht einmal die Höhe des Existenzminimums erreicht
gesellschaftsweit entkoppelt werden könnten. und aufgestockt werden muss. Angerechnet werden sämt-
liche Einkommen des Haushalts, und vorausgesetzt wird,
dass die Menschen bereit sind zu arbeiten. Fehlt diese
D
ie Teilhabe am Erwerbsleben ist grundlegend, Bereitschaft, werden Sanktionen verhängt oder sogar die
um die materielle Existenz zu sichern. Zwar wird Leistungen gestrichen.
diese Kopplung von Erwerbstätigkeit und Lebens- Dieses mit der Erwerbsarbeit verknüpfte Sozialstaats-
unterhalt, von Lohnarbeit und Einkommen durch den modell steht seit Jahren in der Kritik. Gegenentwürfe ma-
Sozialstaat gelockert, doch nicht aufgehoben. So erhal- chen die Runde. Besonders radikal ist die Forderung nach
ten Menschen unter bestimmten Bedingungen auch dann einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE). Es ist
ein Einkommen, wenn sie nicht arbeiten – weil sie krank, eine steuerfinanzierte Geldleistung, die allen Bürgern zu-
alt oder arbeitslos sind. Die Sozialversicherungen leisten steht und keinerlei Bedingungen oder Gegenleistungen
ihnen aber nur dann einen Lohnersatz, beispielsweise voraussetzt. Das BGE wird allen gezahlt, unabhängig von
Renten, Arbeitslosen- oder Krankengeld, wenn sie zuvor der Höhe des Einkommens und der Bereitschaft zu arbei-
einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach- ten. Erwerbsarbeit und Einkommen sind grundsätzlich
gegangen sind und Beiträge eingezahlt haben. entkoppelt.
Im Fall von Bedürftigkeit besteht ein Anspruch auf Dieses Konzept fasziniert und begeistert viele Men-
eine Grundsicherungsleistung, die das sozialkulturelle schen. Das Recht auf ein auskömmliches und repressions-
freies Einkommen ermögliche Freiheit und Individualität
jenseits der Zwänge einer fremdbestimmten Lohnarbeit.
Das Grundeinkommen könnte auch dem Verlust von Ar-
ATLAS DER ARBEIT / STATISTA
GEFÜHLTE SICHERHEIT
Umfrage zur Höhe eines bedingungslosen
beitsplätzen und Massenarbeitslosigkeit den Schrecken
Grundeinkommens, Ende 2017 nehmen. Da das Grundeinkommen eine Alternative zur
Erwerbsarbeit ist, würde – so die Argumentation – die
zu hoch Nachfrage nach raren Arbeitsplätzen sinken. Zugleich
eröffneten sich Möglichkeiten, statt Erwerbsarbeit ehren-
amtliche, künstlerische oder familiäre Tätigkeiten auszu-
953,08 € 1.602,26 €
üben. Da alle Bürgerinnen und Bürger diese Pauschalleis-
tung empfangen würden, gäbe es keine Armut mehr.
Die Frage ist allerdings, ob diese Ziele wirklich mit
niedrig, aber dem BGE erreicht werden können. Eine entscheidende
gerade noch Frage ist dabei, wie hoch das Grundeinkommen sein soll.
ausreichend
zum Leben 1.137,24 € Durchschnitt
So nennen Verfechter eines „emanzipatorischen“ BGE
eine Orientierungsgröße von 1.000 Euro. Doch dies ergä-
be bei gut 82,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwoh-
nern Ausgaben von fast einer Billion Euro pro Jahr. Zum
Vergleich: Das gesamte Volkseinkommen erreicht einen
749,92 € 1.243,69 € Wert von etwa 2,3 Billionen Euro, und die Summe aller
Sozialausgaben beziffert sich auf 920 Milliarden Euro. An-
gesichts dieser Größenordnungen liegt es nahe, dass neo-
hoch, aber gerade
zu niedrig, um davon noch akzeptabel
leben zu können
Knapp 1.140 Euro, etwa 20 Prozent über dem
Beträge sind Durchschnittswerte der vier abgefragten Einschätzungen. Umfrage
von Oktober/November 2017, 1.024 Befragte zwischen 18 und 69 Jahren Existenzminimun, sollte es als bedingungsloses
Grundeinkommen geben, meinen die Deutschen
E
s ist die vielleicht bekannteste Anekdote aus der liches sei, die Faulheit dagegen göttlich. Als der junge
Antike. Als Alexander der Große in Korinth weilt, Vladimir Nabokov in der Schule einen Aufsatz zum The-
um von dort einen Feldzug gegen die Perser anzu- ma Faulheit schreiben musste, gab er ein leeres Blatt ab.
führen, machen ihm die Honoratioren der Stadt, Staats- Sollten sich doch andere abmühen, um etwas Kluges
männer und auch Philosophen die Aufwartung. Einer übers Faulenzen zu schreiben. Ja, wirkliches Glück ohne
allerdings entzieht sich dem Rummel: Diogenes von Sino- Müßiggang sei unmöglich, glaubte Anton Tschechow.
pe. Da geht Alexander zu dem berühmten Philosophen, Und Friedrich Schlegel schließlich forderte, man solle
der sich auf einem Platz ausruht. Als er ihn grüßt und das Studium des Müßiggangs nicht so sträflich vernach-
fragt, womit er ihm dienen könnte, antwortet Diogenes lässigen, sondern es zur Kunst und Wissenschaft, ja Re-
nur kurz: „Geh mir doch ein wenig aus der Sonne!“ ligion bilden!
Diese Anekdote zeugt von Philosophie in Aktion. Dio- Doch so schön und überzeugend Dichter und Philo-
genes wirbt plakativ für seine Idee der Bedürfnislosigkeit. sophen die Bedeutung des Müßiggangs oder der Faulheit
Denn nur sie ließe den Menschen frei sein, frei von Kon- skizzierten, es war eine elitäre Idee. Ihre Umsetzung blieb
ventionen oder gesellschaftlichen Zwängen. Nicht erst denen vorbehalten, die es sich leisten konnten, weil an-
heutzutage irritiert diese Vorstellung. Antike Philosophen dere die Arbeit machten, sei es in den frühen Sklavenge-
wie Platon hielten wenig davon. Friedrich Nietzsche warf sellschaften oder später als „Lohnsklaven“ (Rosa Luxem-
Diogenes sogar vor, mit der Forderung nach Bedürfnislo- burg) in den frühkapitalistischen Gesellschaften. Schon
sigkeit das „wichtigste Heilmittel gegen alle sozialen Um-
sturzgedanken“ zu liefern.
Doch damit tut er Diogenes Unrecht. Dessen Philoso- Nach den Selbsteinschätzungen liegt die
phie war seinerzeit durchaus subversiv und kann bis heu- Alltagsbelastung von Frauen im Lebensverlauf
te als Plädoyer für Müßiggang gelesen werden. Diogenes fast durchgehend über der von Männern
stimme stimme
eher zu eher zu
stimme stimme
eher eher
nicht zu nicht zu
stimme stimme
überhaupt überhaupt
nicht zu 20–28 0–2 0–17 50–64 nicht zu 20–28 0–2 0–17 50–64
Alter der Alter des Alter des Alter der Person Alter der Alter des Alter des Alter der Person
Person, ersten jüngsten Kindes ohne minderjährige Person, ersten jüngsten Kindes ohne minderjährige
kinderloser Kindes in Haushalten Kinder im Haushalt kinderloser Kindes in Haushalten Kinder im Haushalt
Haushalt mit 2 Kindern Haushalt mit 2 Kindern
12,7 0,2
3,7
Kanada Großbritannien Russland
7,8 4,6 21,8
11,5 Frankreich
Deutschland
Japan
USA 4,6
Spanien
3,9 20,8
Italien
33,8 Südkorea
29,5 Türkei
7,2
Mexiko
Brasilien
18,7 13,2
Australien
Südafrika
10–11 GESCHICHTE: VON DER PLAGE 20–21 ATYPISCHE ARBEIT: ENDE DER
ZUR BERUFUNG von Daniel Haufler NORMALITÄT von Frank Meissner
S. 10: DGB-Index Gute Arbeit. Der Report 2017. S. 20: Destatis, Statistisches Jahrbuch 2017, S. 358,
Schwerpunkt: Vereinbarkeit von Arbeit und https://bit.ly/2e9NNE6. S. 21 o.: Böckler Impuls
Privatleben, S. 21, https://bit.ly/2zJXYxw. S. 11: 9/2017, Atypische Beschäftigung. Neuer Höchststand.
Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen https://bit.ly/2qOSwEc. S. 21 u.: DGB, klartext 32/2017,
Sprache, Berlin 2011. Rey, Dictionnaire historique https://bit.ly/2qOv1KU.
de la langue francaise, Paris 2012. Oxford English
Dictionary, London 1993. Vasmer, Russisches 22–23 DEMOGRAFIE: WAS DIE ZUKUNFT
Etymologisches Wörterbuch, Sankt Petersburg 1996. BRINGT von Johannes Jakob S. 22: Destatis,
Indo-European Lexicon, https://bit.ly/2HTFsFb. 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung
Wiktionary, https://en.wiktionary.org/. für Deutschland, https://bit.ly/2K1VBJ7. S. 23:
siehe S. 22, eigene Berechnungen. Destatis, Registrierte
12–13 ARBEITSMARKT: SCHNELLER Arbeitslose, https://bit.ly/1nVhA0d. Nettoerwerbsquote:
WANDEL von Wilhelm Adamy S. 12: Glossar Eurostat, Employment rate by sex, age group 20-64,
der Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Serie [t2020_10], https://bit.ly/2HOdmem.
Arbeit, https://bit.ly/2F4qtVA. S. 13 o.: Destatis,
Eckzahlen zum Arbeitsmarkt 2007, 2012 und 2017, 24–25 ARBEITSZEIT: PER HALBTAGSJOB
https://bit.ly/2HOdiv7. Institut Arbeit und Qualifikation ZU UNBEZAHLTEN ÜBERSTUNDEN
der Universität Duisburg-Essen, Aktive Arbeitsmarkt- von Yvonne Lott S. 24: Destatis, Pressemitteilung
politik, https://bit.ly/2Hfu1q8. O-Ton Arbeitsmarkt, Nr. 21 vom 18.01.2018, https://bit.ly/2JYypLX.
Arbeitsmarktpolitische Förderung, S. 25 o.: DGB-Index Gute Arbeit. Der Report 2017.
https://bit.ly/2J9oamQ. S. 13 u.: Destatis, Qualität Schwerpunkt: Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben,
der Arbeit. Geld verdienen und was sonst noch so S. 21, https://bit.ly/2zJXYxw. S. 25 u.: siehe S. 24.
zählt. 2017, S. 33, https://bit.ly/2eKxZOw.
26–27 JUGEND: GUTE AUSBILDUNG IST ALLES
14–15 EINKOMMEN: IM KAMPF UM von Manuela Conte und Matthias Anbuhl
BRANCHENTARIFVERTRÄGE S. 26: BIBB, Die Entwicklung des Ausbildungsmarktes
von Reinhard Bispinck S. 14: DGB-Verteilungsbericht im Jahr 2017, S. 6. S. 27 o.: BIBB, Datenreport zum
2017, S. 43, https://bit.ly/2JdwfqF. S. 15 o.: IAQ-Report Berufsbildungsbericht 2017, S. 20, https://bit.ly/2F4z8r7.
6/2017, Niedriglohnbeschäftigung 2015, S. 3, Jugendarbeitslosenquoten, https://bit.ly/2HfyAVk.
https://bit.ly/2qLpyVQ. S. 15 u.: WSI-Verteilungsbericht S. 27 u.: BMBF, Berufsbildungsbericht 2018, S. 51,
2017, https://bit.ly/2Hg6DNc. https://bit.ly/2HOJKxi.
Deutscher Gewerkschaftsbund
Henriette-Herz-Platz 2, 10178 Berlin, www.dgb.de
HANS-BÖCKLER-STIFTUNG
Die Mitbestimmung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
in Betrieb und Unternehmen stärken, gute Arbeitsbedingungen
und mehr Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft erreichen:
Das sind die Ziele, die die Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen
Gewerkschaftsbundes verfolgt. Demgemäß berät die Stiftung
Mitglieder der Arbeitnehmerseite in Aufsichtsräten, fördert be-
gabte junge Studierende mit Stipendien und forscht zu
Wirtschafts- und sozialen Themen. Die Arbeit der Zukunft bildet
einen Schwerpunkt der wissenschaftlichen Aktivitäten. Dazu
hat die Stiftung eine breit aufgestellte Kommission initiiert:
33 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Unternehmen,
Gewerkschaften, Ministerien und Verbänden haben das
Thema intensiv ausgeleuchtet und dabei die gesellschaftliche
ebenso wie die technische Entwicklung in den Blick genommen.
Ihr Abschlussbericht „Arbeit transformieren!“ ist unter
www.arbeit-der-zukunft.de verfügbar. Er zeigt, dass auch in
Zeiten der Digitalisierung keine Dominanz von Maschinen und
Algorithmen die Entwicklung bestimmen muss. Eine menschen-
gerechte, mitbestimmte Arbeitswelt 4.0 ist möglich. Wie lässt
sich digitale Scheinselbstständigkeit verhindern? Welche Regeln
sollen auf Plattformen gelten? Wie macht man die soziale
Sicherung zukunftsfest? Dazu hat die Kommission mehr als
50 Denkanstöße geliefert, die zurzeit weiterentwickelt werden.
Hans-Böckler-Stiftung
Hans-Böckler-Str. 39, 40476 Düsseldorf, www.boeckler.de
531
252 278
46.000
000
305 4.861
392 255
49 43.000
2.359 1.987
190
2.376 2.263 2.533
6.778 5.9
2.304
13.000
4 1.894 749 638
1.074
398 639
459 Singapur