Sie sind auf Seite 1von 9

Fachkräftemangel: wie Zuwanderung zur Chance für die Schweiz wird 15.05.

23, 11:08

KOMMENTAR

In der Schweiz ist es eng. Nicht im Land,


sondern in den Köpfen

Es braucht die Zuwanderung. Die Schweizer haben alle Mittel, daraus


eine Bereicherung zu machen – weit über das Materielle hinaus. Wenn
sie über ihren Schatten springen.

Benjamin Triebe
224 Kommentare
04.05.2023, 05.30 Uhr

Das Warten auf den Umsturz wird langsam lästig. Eigentlich sollten die
Roboter längst hier sein. Maschinen und Computer würden die
Menschen arbeitslos machen, hiess es. So erklang das Lied bei der
Automatisierung der Produktion, so erklang es beim Aufkommen des
Internets. Bewahrheitet hat es sich nie. Man hätte es wissen können:
Solche Befürchtungen kehren seit dem 19. Jahrhundert regelmässig
wieder.

Zwar wurde das Leben der Menschen immer technisierter, aber die
Arbeit ist ihnen nie ausgegangen. Im Gegenteil. Händeringend werden in
Europa Fachkräfte gesucht, und die Schweiz ist keine Ausnahme. Knapp
122 000 offene Stellen meldeten Schweizer Unternehmen per Ende 2022.
Das ist fast ein Fünftel mehr als im Vorjahr und der höchste Wert seit
Beginn der Zahlenreihe vor 20 Jahren. Wenn es etwas gibt, was die
Schweizer Wirtschaft in ihrer Gesamtheit umtreibt, ist es die Frage: Wo
sollen die Leute herkommen?

https://www.nzz.ch/meinung/fachkraeftemangel-wie-zuwanderung-zur-chance-fuer-die-schweiz-wird-ld.1735330 Seite 1 von 10


Fachkräftemangel: wie Zuwanderung zur Chance für die Schweiz wird 15.05.23, 11:08

Die Alten schimpfen, sind aber selbst schuld

Der Fachkräftemangel ist ein Problem vieler Industrienationen. Das ist


keine Überraschung, sondern aufgrund der Demografie absehbar. Die
Babyboomer verabschieden sich in den Ruhestand, aber sie haben zu
wenig Kinder in die Welt gesetzt. Der Wohlstand hat die Grösse der
Nachkommenschaft von einer individuellen wirtschaftlichen
Notwendigkeit zu einer Frage des persönlichen Lebensentwurfs
gemacht. Wenn die Älteren sich jetzt vor einer Immigration fürchten,
welche die Lücke auf dem Arbeitsmarkt füllt, so haben sie sich das auch
selbst zuzuschreiben.

Die Schweizer Wirtschaft braucht die Immigranten. Rund ein Viertel


mehr ausländische Arbeitskräfte wanderte im vergangenen Jahr ein als
noch 2021. Sie kamen, weil sie gerufen wurden. Die gute Nachricht: Den
richtigen Umgang mit der Einwanderung hat die Schweiz selbst in der
Hand. Alle Mittel sind vorhanden. Aber der Schalter muss umgelegt
werden. Er sitzt im Kopf.

Der erste Schritt ist die Anerkennung der Realität. Auf die
Automatisierung sollte man auch künftig nicht zählen. Sie wird
weitergehen, kann aber den Mangel an Arbeitskräften nicht beheben.
Selbst die jüngst vieldiskutierte künstliche Intelligenz schafft das nicht.
Zwar werden repetitive Tätigkeiten ohne schöpferischen Eigenanteil
seltener, und das ist gut so. Der Bauausrüster Hilti hat den ersten
Roboter entwickelt, der selbständig Löcher bohrt. Seine menschlichen
Kollegen auf der Baustelle wollen ihn öfter im Einsatz sehen. Wer einmal
Löcher in eine Decke bohren musste, weiss, warum.

Zu früh gefreut: Die Arbeit bleibt

Die Arbeit wird aber nicht weniger, sie wandelt sich. Die Berufsbilder
werden komplexer, die Anforderungen wachsen mit der
Technologisierung. Gewisse manuelle Tätigkeiten bleiben, auch auf dem
Bau und in vielen Branchen von den Spitälern über die Altenpflege bis
zum Gastgewerbe. Auch denken müssen die Menschen weiterhin selbst:
In der Forschung und Entwicklung wird der Bedarf an Spitzenkräften
gross bleiben und wachsen – gerade in einem Land wie der Schweiz, das
die Ressourcen der Köpfe braucht, weil es keine Ressourcen im Boden
hat.

Das zeigt das Beispiel von Winterthur Gas & Diesel (WinGD), einem der
letzten Entwickler von grossen Schiffsmotoren. Die Wurzeln des

https://www.nzz.ch/meinung/fachkraeftemangel-wie-zuwanderung-zur-chance-fuer-die-schweiz-wird-ld.1735330 Seite 2 von 10


Fachkräftemangel: wie Zuwanderung zur Chance für die Schweiz wird 15.05.23, 11:08

Unternehmens reichen 125 Jahre zurück, bis auf die Gebrüder Sulzer. Die
Schiffsbranche wanderte im vergangenen Jahrhundert nach Asien ab,
WinGD hat sich in der Schweiz gehalten. 300 Mitarbeiter sind am
Standort Winterthur beschäftigt. Sie stammen aus 30 Nationen. Wer zu
den Besten zählen will, braucht die Besten.

Mehr Hände händeringend gesucht


Offene Stellen in der Schweiz (in Tausend)

1 2

100

50

0
2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022

1 Globale Finanzkrise
2 Beginn der Corona-Pandemie

Quelle: Bundesamt für Statistik NZZ / bet.

Die Zuwanderung ist der Preis des Schweizer Erfolges. Erfolgsverzicht ist
keine Alternative. Die Wirtschaft durch Arbeitsentzug absichtlich unter
ihren Möglichkeiten zu halten, bedeutet keine stabile Konservierung des
Erreichten, sondern einen Rückschritt im internationalen Vergleich –
und damit Erosion. Ein statisches Weltverständnis kommt gegen die
dynamische Weltwirtschaft nicht an.

Die Schweiz ist hervorragend gerüstet

Wie müsste ein Land beschaffen sein, um mit Einwanderung gut


umzugehen? Auf einer Wunschliste müsste stehen: Das Land sollte
Erfahrung mit Immigration haben. Es sollte gewohnt sein, mehrere
Sprachen im Alltag zu akzeptieren. Die Bürger sollten eine starke
nationale Identität besitzen und fest lokal verankert sein. Kein
ausländischer Wind kann sie entwurzeln. Höflichkeit und
Rücksichtnahme müssten traditionell ihren Umgang prägen.

So ein Land existiert nicht? Aber sicher doch. Genau diese Qualitäten
sind es, welche die Schweiz bereits zum Erfolgsfall gemacht haben. Das
ruhige Zusammenleben bei einem Ausländeranteil von rund einem
Viertel beweist es. Diese Qualitäten sind es, auf welche die Schweiz noch
mehr bauen kann.

https://www.nzz.ch/meinung/fachkraeftemangel-wie-zuwanderung-zur-chance-fuer-die-schweiz-wird-ld.1735330 Seite 3 von 10


Fachkräftemangel: wie Zuwanderung zur Chance für die Schweiz wird 15.05.23, 11:08

Apropos: Ohne Bauen wird es nicht gehen. Werktätige Ausländer


wandern ein, pensionierte Schweizer bleiben. Zwangsläufig wird es
voller. Die Neun-Millionen-Schweiz ist nur eine Frage kurzer Zeit; die
Zehn-Millionen-Schweiz zeichnet sich am Horizont ab. Wohnraum wird
knapper und damit teurer. Doch auch hier lautet die gute Nachricht: Die
Schweizer haben die Lösung selbst in der Hand. Es liegt an ihnen. Der
Mangel ist zu beheben mit Verdichtung und erleichterten Bauauflagen.
Dafür müssen Widerstände gegen Neubauten aufgegeben werden.

Die Schweiz neu denken – ein Land als Metropole

Das Opponieren gegen mehr Stockwerke in den Städten ist ohnehin oft
scheinheilig. Am stärksten opponieren in den Ballungsräumen jene, die
sich zwar zur Zuwanderung bekennen, in ihrer eigenen Nachbarschaft
aber keine Veränderung dulden. Dabei wären zuvorderst auch sie es, die
von sinkenden Wohnkosten profitieren würden.

Es braucht ein offeneres Bewusstsein: Die Schweiz tut gut daran, sich im
Flachland in ihrer Gesamtheit als eine grosse Metropolregion zu
begreifen. Gerne selbstbewusst als die schönste, vielseitigste und
lebenswerteste Metropolregion der Welt.

Das würde den Vergleich mit anderen Metropolen zulassen – und damit
die Erkenntnis, welche Bereicherung Vielfalt sein kann. Man schaue auf
die Metropole London. Die britische Hauptstadt ist gemessen an der
Anzahl Einwohner ähnlich gross wie die Schweiz, der Ausländeranteil ist
mit mehr als einem Drittel noch höher.

Im Londoner Alltag spielt es kaum eine Rolle, woher jemand kommt. Es


hat ohnehin jeder einen Akzent. Jeder pflegt seine Wurzeln und
anerkennt die des Gegenübers. Identität gibt Selbstbewusstsein, aus
Selbstbewusstsein entspringt Akzeptanz des anderen. Zusammen ist
man die «community» – und stolz darauf. Im Gegensatz dazu ist die
Schweizer Höflichkeit oft professioneller Selbstschutz, der darauf zielt,
das Miteinander erträglich zu machen.

Sprachen öffnen Türen

Auch andere Punkte sind weniger brisant, als es scheint. Zum Beispiel die
Sprache: Mit Englisch hat es London leicht, die Schweiz mit vier
Landessprachen hat es schwer. Doch schon aus Eigeninteresse sollten
Ausländer die lokale Landessprache lernen, und das wissen sie auch. Ihre
Arbeitgeber sollten sie darin fördern. Integration steht und fällt mit der

https://www.nzz.ch/meinung/fachkraeftemangel-wie-zuwanderung-zur-chance-fuer-die-schweiz-wird-ld.1735330 Seite 4 von 10


Fachkräftemangel: wie Zuwanderung zur Chance für die Schweiz wird 15.05.23, 11:08

Sprache. Im Gegenzug können sich Schweizer durch das Beherrschen


von Englisch Türen im In- und Ausland öffnen.

Ähnliches gilt für das Mantra, die Berufslehre attraktiv zu halten. Diese
Wertschätzung ist richtig. Aber die Lehre ist kein Allheilmittel gegen
einen Mangel an Arbeitskräften. Es braucht die Fachkräfte, aber es
braucht auch die akademischen Spitzenkräfte für Forschung,
Entwicklung und Management. Junge Leute sollten ihre Laufbahn nach
jenen Neigungen wählen, die so stark sind, dass sie dafür zu Opfern
bereit sind – etwa durch niedrige Einstiegslöhne oder Studiengebühren.
Damit hilft die Schweiz sich selbst: Nur wer etwas gern tut, tut es gut.

Natürlich ist Zuwanderung allein keine Lösung. Flexiblere


Arbeitsbedingungen, die eine höhere Partizipation der Schweizerinnen
und Schweizer am Arbeitsmarkt erlauben, ein höheres
Pensionierungsalter (auch zur Sanierung der AHV) sowie eine bessere
Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehören ebenso dazu. So wie beim
Wohnraum braucht es dafür «nur» die Reform von Gesetzen,
Regulierungen und Verträgen. Das ist keine kleine Aufgabe, aber eine
machbare. Dagegen lässt sich an der Demografie so schnell nichts
ändern.

Schluss mit dem Gejammer

Zugegeben: Die Klage von Unternehmen über den Fachkräftemangel ist


alt. Arbeitgeber jammern gern, dass sie zu ihren bevorzugten
Konditionen nicht genug Arbeitnehmer finden. Folglich müssen sie auch
über die Konditionen nachdenken. Wo stets der Teufel an die Wand
gemalt wird, schaut irgendwann niemand mehr hin.

Derzeit jedoch ist der Bedarf an Arbeitskräften offensichtlich. Er sollte


als Chance begriffen werden: als Chance, die Schweizer Stärken zu
erkennen und sie selbstbewusst für mehr Offenheit und
Veränderungswillen zu nutzen.

224 Kommentare

J. L. vor 10 Tagen 14 Empfehlungen

Vielleicht einfach mal in der NZZ von heute diesen Artikel lesen, lieber Herr Triebe: “Blut und Drogen
am helllichten Tag: wie die veränderte Migration einen Basler Hotspot aus dem Gleichgewicht bringt.”

K. V. vor 10 Tagen 17 Empfehlungen

Wie kann man heutzutage in Zeiten der angestrebten Biodiversität noch so einen Mist schreiben.

https://www.nzz.ch/meinung/fachkraeftemangel-wie-zuwanderung-zur-chance-fuer-die-schweiz-wird-ld.1735330 Seite 5 von 10


Fachkräftemangel: wie Zuwanderung zur Chance für die Schweiz wird 15.05.23, 11:08

Wohin mit dem Lebensräumen der Tiere,der Pflanzen? Diese Gier nach immer mehr Wirtschaft, dieser
menschliche Egoismus sollten endlich ein Ende haben.

Alle Kommentare anzeigen

Passend zum Artikel

Rezepte gegen den Fachkräftemangel: Der Arbeitgeberverband


will, dass die Schweizer mehr arbeiten
24.04.2023

KOMMENTAR
Die Welt spricht Englisch – aber die Schweiz braucht keine
Einheitssprache
12.04.2023

Die Schweiz und ihre Einwanderer: «In vier Jahren musste ich nie
Deutsch sprechen»
22.02.2023

Mehr von Benjamin Triebe (bet) Weitere Artikel

Mehr als ein Tesla in einer Klimakiller Zement: Der


Röhre? Elon Musk muss Fall Holcim zeigt, wie
noch beweisen, dass er die schwierig ein guter Plan
Lösung aller gegen die Erderwärmung
Verkehrsprobleme kennt ist
06.05.2023 04.05.2023

https://www.nzz.ch/meinung/fachkraeftemangel-wie-zuwanderung-zur-chance-fuer-die-schweiz-wird-ld.1735330 Seite 6 von 10


Fachkräftemangel: wie Zuwanderung zur Chance für die Schweiz wird 15.05.23, 11:08

ENGLISH
Logitech glaubt Russlands
an die hybride Russia's largest grösster
Zukunft des dairy farmer is a Milchbauer ist
Büros – aber German. The ein Deutscher.
Neueste Artikel Ukraine war has
Alle neueste Artikel
muss zunächst Der Ukraine-
die Gegenwart plunged him into Krieg stürzt ihn
DIE NEUSTEN

überstehen a bizarre ENTWICKLUNGEN


in eine groteske
02.05.2023 situation Nahostkonflikt:
Lage
02.05.2023 Palästinenser
27.04.2023
während
Razzia in
Wie die CIA und
Nablus
andere
erschossen
Geheimdienste
Aktualisiert
Amerikas Tech- vor 34 Minuten

Sektor
umgarnen KOMMENTAR
vor 8 Minuten Bangkoks Elite
spielt mit
gezinkten
Karten
vor 49 Minuten

Sparen die
Schweizer KURZMELDUNGEN
Der Patient ist nicht
Strom? Und Wirtschaft: Druck
das Schweizer
wie auf
Schiedsrichterwesen,
angespannt Produzentenpreise
sondern der sich im
ist die Lage nimmt im April
Kreis drehende FC
am weiter ab
Sion – auch Trainer
Strommarkt? vor 1 Stunde
Bettoni muss gehen
– Die
Aktualisiert vor 1 Stunde
Energiekrise
in Grafiken
Aktualisiert
vor 1 Stunde

https://www.nzz.ch/meinung/fachkraeftemangel-wie-zuwanderung-zur-chance-fuer-die-schweiz-wird-ld.1735330 Seite 7 von 10


Fachkräftemangel: wie Zuwanderung zur Chance für die Schweiz wird 15.05.23, 11:08

Für Sie empfohlen Weitere Artikel

NZZ STANDPUNKTE 49:45

«Als Musterschüler
werden Sie belächelt»,
sagt Jositsch über die…
Rolle der Schweiz im
Der FC St. Gallen hat elf
Spiele lang nicht mehr
gewonnen, trotzdem
strömen seine Fans ins
Stadion. Wie ist das
möglich?
14.05.2023

KOMMENTAR Ein
SERIE
Für die Türken Kunsthistoriker
Ich weiss, was ich will die Brücke
zählt Identität
täte, wenn ich in im
mehr als
Russland Hintergrund
Leistung:
Kunstlehrer wäre identifiziert
Erdogans
und mir ein haben. Das
Wähler halten
zwölfjähriges bitter-süsse
auch in der
Mädchen seine Negroni-
Wirtschaftskrise
Antikriegszeichnung Lächeln der
zu ihm
zeigte Mona Lisa aber
vor 3 Stunden

wahrt sein
15.05.2023

Geheimnis
15.05.2023

https://www.nzz.ch/meinung/fachkraeftemangel-wie-zuwanderung-zur-chance-fuer-die-schweiz-wird-ld.1735330 Seite 8 von 10


Fachkräftemangel: wie Zuwanderung zur Chance für die Schweiz wird 15.05.23, 11:08

«Hängt sie
auf, die Sein Rauswurf
schwarze Die EU will Riesen- hat bei Fox
Sau» Lkw News einen
15.05.2023
grenzüberschreitend Quoteneinbruch
zulassen – mit verursacht. Jetzt
gravierenden Folgen plant Tucker
für die Schweiz Carlson eine
15.05.2023
neue Show – auf
Twitter
15.05.2023

https://www.nzz.ch/meinung/fachkraeftemangel-wie-zuwanderung-zur-chance-fuer-die-schweiz-wird-ld.1735330 Seite 9 von 10

Das könnte Ihnen auch gefallen