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Verdichtung: Warum das in der Schweiz noch nicht funktioniert 15.05.

23, 13:50

Das Popcorn-Problem: warum die Schweiz


verdichten muss – und weshalb das noch
nicht funktioniert
Der Wohnraum wächst. Doch der Platzbedarf der Bevölkerung wächst
stärker.

Giorgio Scherrer (Text), Cian


Jochem (Grafiken)
03.09.2022, 05.30 Uhr

Wäre die Schweiz ein Maissilo, dann hätte sie ein Popcorn-Problem. Wie
in einem Silo, das immer voller wird, wohnen in der Schweiz immer
mehr Menschen auf demselben Raum. Wie die Maiskörner im Silo
werden die Menschen immer mehr aufeinandergestapelt – in höheren
Gebäuden mit mehr Stockwerken und mehr Wohnungen. Und wie beim
Silo, das immer höher werden muss, ist das eine Herausforderung für
Raumplanung und Bauwirtschaft.

https://www.nzz.ch/zuerich/verdichtung-warum-das-in-der-schweiz-noch-nicht-funktioniert-ld.1698078 Seite 1 von 10


Verdichtung: Warum das in der Schweiz noch nicht funktioniert 15.05.23, 13:50

Die Bevölkerung der Schweiz wächst nicht nur, ihre Einwohner brauchen
auch immer mehr Platz
Wohnfläche pro Bewohner, in m²

Quelle: BfS NZZ / cia.

Doch das eigentliche Problem ist ein anderes: Die Bevölkerung der
Schweiz wächst nicht nur, ihre Einwohner brauchen auch immer mehr
Platz. Die Maiskörner ploppen zu Popcorns auf – und das Silo droht zu
platzen.

Das ist – in Kürzestform – der Grund, warum Verdichtung in der


Schweiz ein ungelöstes Problem ist.

Verdichten bedeutet verzichten

Zum Beispiel in Zürich, der grössten Stadt des Landes: Hier wurde im
vergangenen Frühling ein Bevölkerungsrekord aus den 1960ern
egalisiert. Heute leben wieder so viele Leute in Zürich wie damals, zum
Höhepunkt des Nachkriegsbooms. Und doch ist die Stadt eine andere.
Ganze Quartiere wurden aus dem Boden gestampft, riesige
Überbauungen haben alte Häuschen ersetzt, über 80 000 zusätzliche
Wohnungen sind entstanden.

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Verdichtung: Warum das in der Schweiz noch nicht funktioniert 15.05.23, 13:50

In der Stadt Zürich leben wieder gleich viele Menschen wie 1962
Mittlere Wohnbevölkerung der Stadt Zürich (in Tausend)

443,5

400

300

200

100

0
1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020

Quellen: Statistik Stadt Zürich, BVS NZZ / cia.

Gleich viele Menschen wie 1962 – aber ein Vielfaches an Wohnraum. Das
kann nur sein, wenn die einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner
markant mehr Platz in Anspruch nehmen. Wenn aus kleinen
Maiskörnchen voluminöses Popcorn wird.

Der Architekturprofessor Stefan Kurath von der Zürcher Hochschule für


Angewandte Wissenschaften sagt es so: «Wir bauen zwar mehr und
immer höher – aber wenn am Ende nicht mehr Leute auf demselben
Raum wohnen, bringt das wenig.»

Verdichtung ist in der Schweiz auch deshalb so schwierig, weil sie uns zu
etwas zwingt, was wir ungern tun, wenn das Land immer reicher und die
Lebensqualität immer höher wird: Viele von uns müssten verzichten –
auf zu grosse Wohnungen und immer mehr Quadratmeter Wohnraum.

«Das ist schwierig zu vermitteln», sagt Kurath. «Selber will man frei
sein, gerade wenn es ums Wohnen geht. Verzichten sollen die anderen.»

Und doch hat das Schweizer Stimmvolk diesem Verzicht im Prinzip mit
grosser Mehrheit zugestimmt. 2013 nahm es das geänderte
Raumplanungsgesetz an. Dessen Devise: Verdichten statt zersiedeln. Um
die Landschaft zu bewahren, sollen mehr Menschen auf gleich viel Raum
leben, besonders in den Städten.

Die Angst, etwas zu verlieren

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Die Logik ist eigentlich ganz einfach: Die Schweizer Bevölkerung wächst.
Bisher wuchs auch die Fläche, auf der gewohnt wird. Aber diese Fläche
kann nicht ewig weiterwachsen. Deshalb braucht es mehr Wohnungen
auf weniger Platz. Und weniger Platz pro Person. Kurz: Verdichtung.

Wo am meisten neuer Wohnraum entsteht


Zunahme der Siedlungsflächen, in km²

Quelle: BfS NZZ / cia.

Diese soll, so die Idee der Raumplaner, vor allem mittels grosser
Neubauten und Ersatzneubauten erfolgen – idealerweise entlang
bestehender Verkehrsachsen in den Städten und Agglomerationen, wo
die Erschliessung der Gebäude schon gegeben ist.

Der Architekturkritiker Benedikt Loderer hat dafür einen schönen


Begriff: «Engros-Verdichtung» – also Verdichtung mittels
Grossprojekten, die auf einen Schlag viele neue Wohnungen schaffen.
«Bei dieser Art von Verdichtung profitieren in erster Linie die
Grundeigentümer des stärker überbauten Landes», sagt Loderer. «Die
Nachbarn dagegen verlieren etwas: Sonnenstunden, die schöne Aussicht
oder gar Geld, weil ihr Grundstück weniger wert ist.»

Die Angst, etwas zu verlieren, und der Widerstand dagegen sind für
Loderer das grösste Hindernis auf dem Weg zur verdichteten Schweiz. Er
findet: Statt riesige Neubauten neben Häuschen zu stellen, könnte man
kleine Gebäude vergrössern und aufstocken. «Dann würde man den
Einfamilienhausbesitzern auch etwas geben: die Möglichkeit zu Ausbau
und Wertsteigerung ihres Eigentums. Verdichtung wäre kein Engros-
Geschäft mehr, sondern ein Detailhandel.»

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Es wird verdichtet – aber nicht genug

Der Trend geht zurzeit allerdings in Richtung Verdichtung durch grosse


Neubauten. Neu gebaute Gebäude haben immer mehr Stockwerke und
mehr Wohnungen. Die neu gebauten Wohnungen werden im Schnitt
immer kleiner – in den fünf grössten Städten seit 2005 um einen Drittel.
Pro Fläche, auf der gebaut wird, entsteht also immer mehr Fläche, auf
der gewohnt werden kann.

Mehrfamilienhäuser haben rund ein Drittel mehr Wohnungen als noch vor
20 Jahren
Durchschnittliche Anzahl Wohnungen in Mehrfamilienhäusern, in den 5 grössten Schweizer Städten

2003–2007 2008–2012 2013–2017 2018–2022

Quelle: BfS / Raiffeisen-


Immobilienbericht

NZZ / cia.

Besonders in Städten wird mehr gebaut und gewohnt. Im Vergleich zu


den frühen 1980ern hat die Siedlungsfläche um über einen Drittel
zugenommen. Wohnungen statt Industrieareale: Das ist die zentrale
städtebauliche Entwicklung der letzten 50 Jahre.

Und doch reicht das nicht, damit Verdichtung funktionieren kann.


Entscheidend ist nämlich, wie viel Wohnraum jeder und jede Einzelne
von uns braucht. Womit wir wieder beim Popcorn-Problem wären.

1980 brauchten die Schweizerinnen und Schweizer im Durchschnitt 34

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Quadratmeter Wohnfläche pro Kopf. 2020 waren es 12,3 Quadratmeter


mehr. Das entspricht etwa einem kleinen Zimmer mehr pro Person.
Trotz kleineren Wohnungen und grösseren Gebäuden brauchen Herr
und Frau Schweizer also immer mehr Platz für sich.

Selbst wenn man nur die Neubauten betrachtet, die eigentlich Treiber
der Verdichtung sein sollten, zeigt sich: Die Wohnfläche pro Person sinkt
kaum, während die Wohnungen deutlich kleiner werden.

Seit 2005 werden die Wohnungen in Neubauten kleiner, doch die Fläche pro
Bewohner verändert sich kaum
Flächen nach Bauperiode, in m²

Fläche pro Wohnung Fläche pro Bewohner

0 50 100

vor 1919

1919–1945

1946–1960

1961–1970

1971–1980

1981–1990

1991–2000

2001–2005

2006–2010

2011–2015

2016–2020

Quelle: BfS / Raiffeisen-Immobilienbericht NZZ / cia.

Einfamilienhäuser werden immer grösser

Die Gründe dafür sind vielfältig: Es wohnen immer weniger Leute in


derselben Wohnung. Mehr Menschen wohnen allein. Gleichzeitig hält
sich die platzmässig ineffizienteste Wohnform hartnäckig: Über die
Hälfte der bewohnten Gebäude in der Schweiz sind Einfamilienhäuser.
Darin finden jedoch weniger als ein Viertel der Haushalte Platz. Und: Die
neu gebauten Einfamilienhäuser werden tendenziell immer grösser.

Das Resultat von all dem: Es wird immer mehr gebaut – und doch reicht
der zusätzliche Wohnraum nicht, um mit den wachsenden Bedürfnissen
einer wachsenden Bevölkerung Schritt zu halten. Oder um es in den
Worten eines kürzlich erschienen Immobilienberichts der
Raiffeisenbank auszudrücken: «Die Schweizer Wohngebäude nutzen
den Boden zwar immer effizienter, die Schweizerinnen und Schweizer
nutzen den Wohnraum aber immer ineffizienter.»

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Gleichzeitig nehmen die Konflikte um die Verdichtung zu. Nachbarn


haben bis zu dreimal die Möglichkeit, Rekurs gegen dasselbe
Neubauprojekt einzureichen. Unter anderem wegen solcher Einsprachen
ist die Dauer zwischen Baugesuch und Baubewilligung in den letzten
zehn Jahren stark gestiegen – besonders bei grossen Gebäuden,
besonders in den Städten.

Da also, wo Verdichtung am sinnvollsten wäre.

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