Sie sind auf Seite 1von 20

Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.

23, 11:09

INTERVIEW

«Wir haben den Wohnungsmarkt


komplett totreguliert»
Die Schweizer Bevölkerung wächst stark und gleichzeitig nimmt die
Wohnbautätigkeit ab. Das führt dazu, dass Wohnraum knapp wird.
Marktteilnehmer und Experten diskutieren am NZZ-Roundtable
darüber, was schief läuft, und wie man Gegensteuer geben könnte.

Andrea Martel, Lorenz Honegger


(Text), Eleni Kougionis (Bilder)
27.04.2023, 05.30 Uhr

Warum wird nicht mehr gebaut? Das diskutieren der Bauunternehmer Balz Halter,
die Immobilienexperten Martin Neff und Ursina Kubli und der Investorenvertreter
Michel Schneider (v. l. n. r.) bei der NZZ.

Das ganze Land beklagt sich über die Wohnungsnot, dabei ist der
schweizweite Leerstand mit 1,3 Prozent im historischen Vergleich
nicht besonders tief. Woher kommt die Aufregung?

Ursina Kubli: Der Begriff Wohnungsnot dramatisiert die


tatsächlichen Verhältnisse am Markt. Was richtig ist: Damit der
Wohnungsmarkt funktioniert, müssen Bevölkerungswachstum und
Wohnungsbau die gleiche Dynamik haben. Und das ist derzeit nicht
der Fall. Die Nachfrage nimmt stark zu, die Wohnbautätigkeit geht
zurück. So werden die leerstehenden Wohnungen, die es noch hat,
allmählich aufgebraucht.

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 1 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Martin Neff: Die Leerwohnungsquote ist ein Durchschnittswert für


die ganze Schweiz, der vielleicht nicht sonderlich niedrig ist. Es ist
aber ein grosser Unterschied, ob man im Jura eine Wohnung sucht
oder in Zürich. Wo die Wirtschaft pulsiert, ist die Nachfrage viel
grösser als das Angebot.

Was sagen Sie jemandem, der in der Stadt Zürich wohnt und eine
grössere Wohnung braucht?

Michel Schneider: Es gibt Ausweichmöglichkeiten in der


Agglomeration. Auch wir, die wir für Pensionskassen in Immobilien
investieren, finden seit längerem praktisch keine Objekte und
Projekte mehr in der Stadt Zürich. Wir investieren in Schlieren,
Dübendorf oder Regensdorf und stellen dann fest, dass die Hälfte
der Haushalte, die in unsere Mietwohnungen einziehen, aus der
Stadt Zürich kommt. In Schlieren bekommen Sie eine 4,5-Zimmer-
Neubauwohnung für deutlich unter 3000 Franken.

Balz Halter: Und die Wohnqualität in Schlieren ist nicht schlechter


als in Zürich. Man sollte sowieso nicht die politischen Grenzen
anschauen, sondern den Wirtschaftsraum Zürich als Ganzes. Und
dort würde ich nicht von Wohnungsnot sprechen, denn ob ich jetzt
in Zürich oder Schlieren wohne, macht keinen grossen Unterschied.
Klar würden alle gerne nach Zürich. Aber es gibt sehr attraktive
Angebote ausserhalb, auch was den Zugang zum öffentlichen
Verkehr anbelangt. Dort ist es zwar auch nicht mehr billig, aber
doch deutlich günstiger als in der Stadt Zürich.

Neff: Es gibt eine gewisse Verdrängung. Und eben: Auch in Schlieren


oder Regensdorf ist es bereits nicht mehr ganz günstig. Wenn man
als Investor in Regensdorf investiert, kann man mit einer Neumiete
20 bis 25 Prozent mehr verlangen, als das aktuelle Umfeld zahlt. Die
Preise bei den Wohnungsmieten sind wie eine Infektion, die sich
ausbreitet.

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 2 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Martin Neff: «Die Preise bei den Wohnungsmieten sind wie eine Infektion, die sich von
den Zentren her ausbreitet.»

Wird sich der Markt nicht von selbst wieder einpendeln? Wenn das
Wohnen teurer wird, sinkt die Nachfrage, und das Angebot steigt.

Neff: Meines Erachtens nicht, denn wir wissen, wie viele


Wohnungen in den nächsten zwei Jahren auf den Markt kommen,
und gleichzeitig gibt es keine Anzeichen, dass die Migration
abnimmt. Die Schweiz ist ein gefragter Arbeitsmarkt und ein
begehrter Standort für Unternehmen.

Kubli: Wenn es sehr schwierig ist, eine Wohnung zu finden, ziehen


vielleicht die Kinder später aus, oder man zieht als Paar schneller

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 3 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

zusammen. Zudem hat es auch noch Reserven im


Wohnungsbestand, die in keiner Leerwohnungsstatistik auftauchen.
Plötzlich hat der Onkel doch noch eine Wohnung, die er kaum nutzt
und die er seiner Nichte zur Verfügung stellen kann.

Ist der fehlende Wohnraum auch eine Folge der gestiegenen


Ansprüche der Mieter? Immerhin braucht es heute deutlich mehr
Quadratmeter pro Person als vor 20 Jahren.

Neff: Wir beobachten seit längerem einen Individualisierungseffekt.


Dahinter stehen gesellschaftliche Phänomene, wie etwa die vielen
Scheidungen. Aber es hat auch mit der Alterung der Bevölkerung zu
tun: Vor allem ältere Leute leben vielfach allein, nachdem ihr
Partner oder ihre Partnerin gestorben ist. Und oft in einem Haus
oder einer viel zu grossen Wohnung.

Halter: Schuld daran ist auch das Mietrecht: Es führt generell dazu,
dass die Leute ihre Wohnungen möglichst nicht verlassen, weil die
Bestandesmieten deutlich tiefer sind als die Angebotsmieten. Wer
nach 20 Jahren aus einer 4-Zimmer-Mietwohnung in eine 2-
Zimmer-Wohnung zieht, zahlt oftmals mehr Geld für weniger
Wohnraum.

Welche Rolle spielt die Migration?

Halter: Die Zuwanderung ist der Elefant im Raum. Darüber will


niemand reden, aber weniger Zuwanderung würde den
Wohnungsmarkt am schnellsten entlasten. Wenn es einen
Konjunktureinbruch gibt, passiert das vielleicht auch. Aber das
wünschen wir uns ja eigentlich nicht.

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 4 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Balz Halter: «Wer Ersatzneubauten macht, wird als Übeltäter angesehen, der
günstigen Wohnraum vernichtet.»

Warum wird nicht mehr gebaut? Die Nachfrage wäre vorhanden.

Halter: Es wird zunehmend schwierig, Bauland zu finden oder


Projekte, bei denen man durch Verdichtung, also beispielsweise
durch den Bau höherer Gebäude, zusätzliche Wohnungen bauen
kann. Die Areale, die man umnutzen könnte, sind zu einem grossen
Teil überbaut. Zudem werden die Bewilligungsverfahren immer
komplexer, weshalb Investoren sich nur noch sehr ungern auf
Entwicklungsprojekte einlassen. Dann haben wir auch noch den
Effekt der gestiegenen Zinsen. Zusammen mit der Bauteuerung
führt dies dazu, dass das eine oder andere Projekt nicht mehr
attraktiv ist.

Schneider: Die Zinswende kommt effektiv im falschen Moment.


Die Bereitschaft, zu einem frühen Zeitpunkt in ein Projekt
einzusteigen, sinkt. Wenn uns ein Immobilienentwickler für ein
Projekt gewinnen will, berechnen wir die Kosten und machen
Perspektiven für die Zukunft auf der Basis der abdiskontierten
Cashflows. Noch vor ein paar Jahren, als die Zinsen stets gesunken
sind, konnte man bei der Fertigstellung eines Projekts mit einem
Einwertungsgewinn rechnen. Heute stellt sich die Frage, ob wir
kurzfristig einen Einwertungsverlust in Kauf nehmen sollen, etwa
weil wir langfristig Ertragspotenzial sehen. Dies ist beispielsweise
dann der Fall, wenn wir von der Qualität und den Perspektiven eines
Standorts überzeugt sind.

Kubli: Kommt hinzu, dass es heute aufwendiger ist, den


Wohnungsbestand zu erhöhen. Um 100 zusätzliche Wohnungen zu

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 5 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

erhalten, genügte es früher, 100 Wohnungen zu bauen. Heute muss


man 144 Wohnungen bauen, um den Wohnungsbestand um 100 zu
erhöhen, weil bei jedem Ersatzneubau auch Wohnungen wegfallen.

Trauen die Immobilieninvestoren den hohen Bewertungen nicht


mehr?

Schneider: Der Superzyklus am Immobilienmarkt ist vorbei. Die


Zinswende ist Realität geworden. Ende 2022 hat es noch keine
starken Bewertungsverluste gegeben, aber per Ende 2023 dürfte es
anders aussehen.

Kubli: Wir befürchteten zu Beginn der Zinswende, dass eine


Verkaufswelle auf das Land zukommt. Aber weil die
Vermietungssituation so hervorragend ist, kam es nicht so weit.
Doch die Bewertungen werden teilweise sicher unter Druck
kommen.

Halter: In den 1990er Jahren war es viel dramatischer, da fand diese


Verkaufswelle tatsächlich statt. Wir haben uns die Füsse wund
gelaufen, um die Immobilien an den Mann zu bringen. Niemand
wollte mehr kaufen. Das ist derzeit nicht der Fall. Es ist eine gewisse
Verunsicherung da, aber ich glaube, in einem Jahr sieht das schon
wieder anders aus, denn Immobilien sind ein attraktives
Investitionsgut.

Hat der Zinsanstieg die Problemwahrnehmung verstärkt?

Halter: Dass wir in eine Knappheit laufen, hat sich nicht erst seit
Anstieg der Zinsen manifestiert. Jetzt kommt einfach noch dazu,
dass Investitionen sich nicht mehr so günstig finanzieren lassen,
und es gibt wieder Anlagealternativen zu Immobilien. Aber die
Angebotsknappheit hätten wir auch, wenn die Zinsen tief geblieben
wären.

Kubli: Bis vor einem Jahr hatte man tiefe Zinsen und einen
Anlagenotstand, trotzdem ging die Bautätigkeit zurück. Es muss
andere bremsende Faktoren geben.

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 6 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Ursina Kubli: «Es gibt einen Instinkt, die schützende Hand auf den Wohnungsmarkt zu
legen.»

Welcher Faktor bremst die Bautätigkeit am meisten?

Neff: Wir haben den Wohnungsmarkt komplett totreguliert.


Mietrecht, sinnlose Bauvorschriften, immer länger werdende
Baubewilligungsverfahren, eine Verdichtung, die überhaupt nicht
funktioniert. Und gleichzeitig keine Bereitschaft, auch nur einen
Quadratmeter Bauland neu einzuzonen. Im Gegenteil: Gerade im
Kanton Zürich, wo es Bauland am meisten brauchen würde, ist sogar
die Tendenz, dass der Kanton die Gemeinden überstimmt und
Rückzonungen verlangt.

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 7 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Halter: Das Grundproblem ist, dass das Raumplanungsgesetz


schlicht nicht umgesetzt wird. Eigentlich ist es Aufgabe der
Gemeinden, eine neue Bauordnung zu schaffen, die Verdichtung
zulässt. Stattdessen müssen wir als Entwickler Gestaltungspläne
machen und Areale entwickeln, mit allen politischen Risiken. Bis
vor einigen Jahren war es noch möglich, eine Arealentwicklung bei
der Bevölkerung durchzubringen. Heute müssen wir davon
ausgehen, dass das Projekt abgelehnt wird. Es gibt eine
Wachstumsmüdigkeit in der Bevölkerung.

Schneider: Eine wichtige Rolle spielt auch die


Einsprachefreudigkeit der Bevölkerung. Neben dem Nimby-
Phänomen, «not in my backyard», gibt es jetzt einen neuen Begriff:
Banana. Das steht für «build absolutely nothing anywhere near
anything».

Michel Schneider: «Neben ‹Not in my backyard› haben wir heute ‹Banana›: ‹Build
Absolutely Nothing Anywhere Near Anything›.»

Würde die Bevölkerung die Verdichtung eher akzeptieren, wenn


damit günstiger Wohnraum geschaffen wird?

Kubli: Das bezweifle ich, denn es gibt auch Genossenschaften mit


ausgereiften Projekten, die durch Einsprachen ausgebremst werden.

Schneider: In Schweizer Städten ist es gängiges Narrativ,


gemeinnützige Projekte zu propagieren, aber ob die Bevölkerung am
Ende beispielsweise einem öffentlichen Gestaltungsplan zustimmt,
ist trotzdem unklar. Günstiger werden die Wohnungen vor allem,
wenn man sie kompakter baut. Dabei darf die architektonische
Qualität nicht auf der Strecke bleiben.

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 8 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Neff: Und das passiert ja bereits, wie man am Eigentumsmarkt


sieht. 3-Zimmer-Eigentumswohnungen werden heute rund 20
Quadratmeter kleiner gebaut als vor 20 Jahren. Die Bereitschaft,
günstiger zu bauen, ist da. Aber Engpassfaktor ist der Boden.

Halter: Wir planen grundsätzlich Areale, auf denen es für jeden


etwas geben soll: teure Eigentumswohnungen, günstige
Mietwohnungen und auch Genossenschaftsanteile. In der Regel
stossen die Projekte auch nicht grundsätzlich auf Abwehr. Aber
meistens gibt es eine Gruppe, die sich gegen das Projekt starkmacht
und so in einer Gemeindeversammlung einen Entscheid kippt. Was
man halt nicht vergessen darf, ist, dass man bei der Verdichtung
bestehende Bausubstanz vernichtet. Oft sind das günstige
Wohnungen. Da haben die Leute berechtigterweise Angst, dass sie
rausmüssen und keinen adäquaten Ersatz finden. Darum ist es für
einen Privaten so schwierig, Ersatzneubauten zu machen, denn er
wird als Übeltäter angesehen, der günstigen Wohnraum vernichtet.

Müssten die Gemeinden und Städte bei Bauprojekten eine stärkere


Rolle einnehmen, damit die Akzeptanz in der Bevölkerung grösser
wird?

Halter: Ja, denn die Verdichtung ist Aufgabe der öffentlichen Hand.
Es ist höchste Zeit, dass wir die Agglomerationen neu sehen. Denn
diese sind längst Teil des urbanen Raums. Das, was wir in Zürich vor
über 100 Jahren gemacht haben mit der Eingemeindung von ersten
Stadtquartieren, müssen wir jetzt mit der Agglomeration machen.
Wir müssen gewissermassen den nächsten Kreis um Zürich ziehen
und diesen ebenfalls als Stadt sehen. Ich meine damit nicht die
Eingemeindung, sondern dass wir wieder Städtebau betreiben
sollten.

Neff: Man könnte eine Verdichtungszone definieren, wo man in die


Höhe bauen kann. Die Gemeinden müssen das Heft in die Hand
nehmen.

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 9 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Martin Neff: «Einfachere Finanzierungen würden Anreize schaffen, günstigeren


Wohnraum herzustellen.»

Kommen die Einsprachen nicht trotzdem?

Halter: Das ist eine Frage des Prozesses, den man anders führen
müsste. Ein historisches Beispiel: Im Ersten Weltkrieg hat man den
Wettbewerb «Gross-Zürich» gemacht. Man hat die
Wettbewerbsbeiträge der Bevölkerung vorgestellt, man hat
diskutiert, wie sich die Stadt entwickeln soll. Das machen wir heute
nicht mehr. Heute kommen wir Investoren wie ein Ufo und sagen,
auf dieser Insel brauche es ein Stück Stadt. Dass die Leute da
erschrecken und das nicht wirklich nachvollziehen können, verstehe
ich. Man muss den Stimmbürger mitnehmen auf dem Weg dieses
Prozesses. Die Gemeinden müssten da mehr Vorleistung betreiben.

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 10 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Kubli: Mit Blick auf die Einsprachen müssen wir uns schon
überlegen, welche Interessen wir schützen wollen und welche
Einwände zugelassen sein sollen, denn beim Wohnen will
grundsätzlich niemand Veränderung, und darum wehren sich so
viele. Das Lärmschutzargument beispielsweise ist absurd. Aber das
ist mittlerweile auch erkannt.

Wir haben viel über die Verantwortung von Gemeinden und


Kantonen gesprochen. Gibt es auch auf Bundesebene Möglichkeiten,
um die Bautätigkeit anzukurbeln?

Halter: Auch auf eidgenössischer Ebene gibt es Bremsfaktoren. Vor


allem der Natur- und Heimatschutz verhindert, dass gebaut wird,
entweder direkt über Verbandsbeschwerden oder über das Isos, das
Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von
nationaler Bedeutung. Dieses Inventar, das sage und schreibe 1200
Ortsbilder umfasst, macht es vielerorts schwierig, grössere Projekte
zu realisieren. So wie man wegen der Energiekrise das
Verbandsbeschwerderecht bei gewissen Energieinvestitionen
einschränken möchte, müsste man es wegen der Wohnungsnot
auch im Wohnungsbau machen. Bei der Verdichtung befinden wir
uns immer in einem Interessenkonflikt. Durch die verschiedenen
Interessengruppen baut man am Ende gar nicht, denn der Kreis der
Einspracheberechtigten ist riesig.

Balz Halter: «Die Verdichtung ist Aufgabe der öffentlichen Hand.»

In den 1990er Jahren gab es eine aktive Wohnbauförderung. Müsste


man das wiederholen?

Neff: Ein Riesending wie in den Neunzigern, als 7 Milliarden

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 11 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Franken an Eventualverpflichtungen gesprochen wurden, brauchen


wir heute nicht. Aber vielleicht eine Anschubfinanzierung für
gewisse Arten von Wohnungen. Probleme haben vor allem die 20
Prozent einkommensschwächsten Haushalte, denn sie haben einen
massiven Anstieg der Wohnkosten in Bezug auf das verfügbare
Haushaltseinkommen hinnehmen müssen. Da haben wir Bedarf,
und da könnte der Bund etwas machen über Wohnbauförderung.
Aber auch die Banken könnten helfen: Braucht es tatsächlich 5
Prozent kalkulatorischen Zins, wenn eine Genossenschaft ein
Mehrfamilienhaus bauen will? Einfachere Finanzierungen würden
Anreize schaffen, günstigeren Wohnraum herzustellen. Heute ist die
Formel: möglichst viel Wertschöpfung pro Quadratmeter, und das
bedeutet höhere Mieten pro Quadratmeter.

Halter: Ein Wohnbauförderungsprogramm würde zwar nicht die


Wohnungsknappheit per se lösen, aber die Verteuerung. Dort kann
das Genossenschaftsmodell eine Linderung sein, aber das generelle
Problem ist damit nicht gelöst. Es fehlt nicht am Geld, sondern an
den Orten, wo gebaut werden kann.

Kubli: Es braucht vor allem einen Abbau der Regulierung. Denn:


Warum bleibt jemand in einer zu grossen Wohnung? Weil es sich
eben finanziell nicht lohnt, zu verkleinern. Je mehr Regulierung,
desto grösser der Unterschied zwischen Bestandes- und
Marktmieten. Und warum wird so wenig gebaut? Für mehr Markt
zu sorgen, ist eigentlich das Einzige, was man machen kann.

Michel Schneider: «Die Bereitschaft, zu einem frühen Zeitpunkt in ein Projekt


einzusteigen, sinkt.»

Warum kommt man mit dem Argument von mehr Markt nicht durch

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 12 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

in der Politik?

Kubli: Mir scheint, es ist ein Instinkt, die schützende Hand auf den
Wohnungsmarkt zu legen. Aber gut gemeint ist halt nicht immer
gut gemacht, denn so werden viele Neubauten verhindert. Wenn
man Anreize zum Bauen setzt, werden wir weniger
Preisunterschiede zwischen Markt und Bestand sehen.

Schneider: Wir bewirtschaften 18 000 Wohnungen in der Schweiz,


von St. Gallen bis Genf. Drei Viertel unserer Mieter sagen, sie seien
sehr zufrieden beziehungsweise zufrieden mit ihrer Situation. Beim
Preis finden etwa 60 Prozent, er sei okay, aber das ist für mich
nachvollziehbar. Wenn ich ein neues Velo kaufe, finde ich auch, es
könnte günstiger sein. Die Wohnraumpolitik ist geprägt von
ideologischen Polen.

Neff: Wir waren auch einfach nicht auf ein so starkes Wachstum
vorbereitet. Seit den Bilateralen wächst die Schweiz deutlich stärker
als früher. In den 1990er Jahren hatten wir 0,2 bis 0,3 Prozent
Bevölkerungswachstum. Das konnten wir bewältigen. Aber jetzt
sind wir in einer Grössenordnung, die schmerzt. Wir merken, dass
dort, wo es einst grün war, jetzt Häuser stehen und dass wir
zusammenrücken müssen. Da wird jeder zum Ideologen.

Ursina Kubli

Ursina Kubli ist seit 2017 bei der Zürcher Kantonalbank und
leitet den Bereich Analytics Immobilien. Zusammen mit ihrem
Team ist sie verantwortlich für das interne hedonische
Bewertungsmodell. Zudem erstellt sie räumliche Analysen im
Bereich Immobilienmarkt und verfasst dazu regelmässige
Publikationen. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften an der
Universität Zürich und ist Chartered Alternative Investment
Analyst (CAIA).

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 13 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Michel Schneider

Michel Schneider arbeitet seit 2005 bei der Pensimo


Management AG, die im Auftrag von Pensionskassen
Immobilien-Anlagestiftungen und einen Immobilienfonds
betreut. Er leitet den Bereich «Mandate Schweiz &
International» und ist Geschäftsführer der Anlagestiftung
Turidomus. Schneider hat an der Universität Bern Wirtschaft
und Soziologie studiert und ist MSc Real Estate (Curem).

Balz Halter

Balz Halter ist Verwaltungsratspräsident und Hauptaktionär


des Bau- und Immobilienunternehmens Halter AG, das seit
seiner Gründung 1918 viele städtebauliche Entwicklungen
initiiert und umgesetzt hat. Der ETH-Bauingenieur und Jurist
engagiert sich mit seinen Unternehmen seit Jahren für neue
Technologien zur CO2-Reduktion und Innovationen zur
Förderung der Zykluswirtschaft in der Bau- und
Immobilienindustrie.

Martin Neff

Martin Neff ist seit April 2013 Chefökonom der Raiffeisen-


Gruppe und betreut unter anderem die Analysen zum
Immobilienmarkt. Vor seinem Wechsel zu Raiffeisen war er gut
zwanzig Jahre bei der Credit Suisse tätig. Neff studierte
Volkswirtschaft an der Universität Konstanz. Er ist auch
Dozent am Institut für Finanzdienstleistungen (IFZ) in Zug und
lehrt an der Donau-Universität in Krems Immobilienökonomie.

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 14 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Passend zum Artikel

KOMMENTAR
Der grüne Zürcher Stadtrat Daniel Leupi will unbedingt Ständerat
werden – und greift dafür zu einem fragwürdigen Mittel
22.04.2023

KOMMENTAR
Was hilft gegen Wohnungsnot? Bauen lassen!
21.04.2023

Bewilligt, aber nie gebaut: Warum in der Schweiz so wenige neue


Wohnungen auf den Markt kommen
18.04.2023

KOMMENTAR
Die Schweiz steuert auf eine Wohnungsnot zu. Verdichtetes Bauen
allein wird das Problem nicht lösen
11.01.2023

«Ohne etwas guten Willen kommen wir nicht weiter»: Bundesrat


Parmelin nimmt den Mieterverband zum Thema Wohnungsnot in
die Pflicht
07.03.2023

Mehr von Andrea Martel (am) Weitere Artikel

Traummargen bei Cartier INTERVIEW

und Co. bescheren «Die Nachfrage nach


Richemont ein Rekordjahr hochwertigen Uhren ist
12.05.2023 ungebrochen. Manchmal
verstehen wir es selbst
nicht ganz»
22.04.2023

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 15 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Rolex-Chef
Rolex und der
Jean-
dritte Weg:
Frédéric
Der Chef der Schweizer Warum Tudor
Immobiliengesellschaft Dufour:
ihre
«Uhren
Peach Property tritt Manufaktur
sind für
überraschend ab: ein mit anderen
Abgang zur Unzeit? alle da»
Uhrenmarken
15.04.2023
21.04.2023
teilt und was
das mit der
Swatch Group
zu tun hat
18.04.2023

Mehr zum Thema Energiekrise Alle Artikel zum Thema


Andere Autoren
Lorenz Honegger (lho)

Sparen die Schweizer Strom? Und wie angespannt ist die


Lage am Strommarkt? – Die Energiekrise in Grafiken
Aktualisiert vor 1 Stunde
INTERAKTIV

Die EU importiert so viel Flüssiggas


aus den USA wie noch nie – und alles
Weitere zur Energiekrise in
Deutschland in 15 Grafiken
Aktualisiert vor 3 Stunden

«Fakten sind heilig» – das war einmal.


Mittlerweile finden sich noch zur
krudesten Weltdeutung die passenden
Tatsachen. Was tun?
13.05.2023

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 16 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Industriestrompreis: Wie das deutsche


Wirtschaftsministerium energieintensive Industrien
subventionieren will
05.05.2023

KURZMELDUNGEN

Deutschland: «Sex on demand»-Vorwurf gegen


Ex-«Bild»-Chef Reichelt unzulässig +++ Doch kein
Rechtsstreit um Kampfpanzer Leopard
02.05.2023

Luxusresort in Schwierigkeiten – wie Ueli Maurer den


Investoren aus Katar aus der Patsche helfen wollte
26.04.2023

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 17 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Für Sie empfohlen Weitere Artikel

NZZ STANDPUNKTE 49:45

«Als Musterschüler
werden Sie belächelt»,
sagt Jositsch über die…
Rolle der Schweiz im
Der FC St. Gallen hat elf
Spiele lang nicht mehr
gewonnen, trotzdem
strömen seine Fans ins
Stadion. Wie ist das
möglich?
14.05.2023

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 18 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

KOMMENTAR Ein
SERIE
Für die Türken Kunsthistoriker
Ich weiss, was ich will die Brücke
zählt Identität
täte, wenn ich in im
mehr als
Russland Hintergrund
Leistung:
Kunstlehrer wäre identifiziert
Erdogans
und mir ein haben. Das
Wähler halten
zwölfjähriges bitter-süsse
auch in der
Mädchen seine Negroni-
Wirtschaftskrise
Antikriegszeichnung Lächeln der
zu ihm
zeigte Mona Lisa aber
vor 3 Stunden
15.05.2023
wahrt sein
Geheimnis
15.05.2023

«Hängt sie
auf, die Sein Rauswurf
schwarze Die EU will Riesen- hat bei Fox
Sau» Lkw News einen
15.05.2023 grenzüberschreitend Quoteneinbruch
zulassen – mit verursacht. Jetzt
gravierenden Folgen plant Tucker
für die Schweiz Carlson eine
15.05.2023 neue Show – auf
Twitter
15.05.2023

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 19 von 20


Experten zur Wohnungsnot: «Wir haben den Markt totreguliert» 15.05.23, 11:09

Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG. Alle Rechte vorbehalten. Eine Weiterverarbeitung,
Wiederveröffentlichung oder dauerhafte Speicherung zu gewerblichen oder anderen Zwecken ohne
vorherige ausdrückliche Erlaubnis von Neue Zürcher Zeitung ist nicht gestattet.

https://www.nzz.ch/finanzen/nzz-immobilien-roundtable-wir-haben-den-wohnungsmarkt-totreguliert-ld.1731873 Seite 20 von 20

Das könnte Ihnen auch gefallen