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23, 13:56
Gut dreissig Jahre habe ich als Journalist über das Kasernenareal
geschrieben, über zündende Ideen, angebliche Befreiungsschläge,
Neuanfänge und stets von neuem über das abrupte Ende, das frühzeitige
Scheitern aller Anläufe. Und jetzt? Wird alles doch noch gut? Den
grossen Wurf werden wir nicht sehen, aber doch eine anständige Lösung
Wir machen einen Rundgang durchs Areal, um uns den Stand der Dinge
anzuschauen, begleitet von den Co-Projektleitern von Kanton und Stadt,
Felix Gisler und Jutta Langhoff. Der Kanton baut die Kaserne zum
Bildungszentrum um – mit einigen öffentlichen Nutzungen im
Erdgeschoss. Die Stadt übernimmt die Zeughäuser und die
Polizeikaserne im Baurecht, saniert sie und sucht nach gemischten
Nutzungen mit Kultur und Sozialem, Freizeiteinrichtungen und
Gewerbebetrieben.
Wichtiger Bestandteil des Kasernenareals sind die Wiese sowie die Bäume und
Büsche, die so manchen idyllischen Zufluchtsort bieten.
Treffendes Bild für den Zerfall ist die Löwengruppe aus Sandstein, die
einst ganz oben über dem Eingang thronte, vor zwei Jahren nun jedoch
abmontiert und in die Werkstatt eines Steinmetzen in Winterthur
gebracht worden ist. Schon Ende der 1990er Jahre waren gelegentlich
Teile der Löwen abgebröckelt und den Passanten vor die Füsse gefallen.
Trocken titelte der «Tages-Anzeiger»: «Geschosse aus Berner
Sandstein».
NZZ / lea.
Und weil der Stein poröser ist, nimmt er auch leichter Wasser auf: Als die
Löwenskulptur abtransportiert wurde, wog sie 18 Tonnen. 3 Tonnen
davon waren Wasser. Die Skulptur wird, wenn die Kaserne saniert ist,
unter einem Vordach gegen die Exerzierwiese hin aufgestellt, aufs Dach
kommt eine Kopie, wie Felix Gisler erklärt.
Der Durchgang durch die Kaserne war in den letzten Jahren eigentlich
immer offen, aber kaum jemand nutzte ihn noch. Alle Treppenaufgänge
sind, weil fast das ganze Gebäude für Polizei und Justiz genutzt wurde,
aus Sicherheitsgründen zugebaut worden. Etwas seltsam wirkt, dass auf
beiden Seiten noch die Enden der Geländer aus den Abschrankungen
ragen. Wenn der Umzug ins neue Polizei- und Justizzentrum (PJZ)
vollzogen ist, werden auch diese Einbauten wieder verschwinden.
Wie es um die Militärkaserne bestellt ist, sieht man auf den ersten Blick.
Aus Sicherheitsgründen ist der Aufgang Auch dies wird nach der Sanierung der
zu den oberen Etagen der Kaserne alten Gebäude verschwinden.
zugemauert.
Auf Schritt und Tritt trifft man auf Fenster, Türen und Aufgänge, die aus
Sicherheitsgründen zugemauert sind.
Weiter geht’s bei unserem Rundgang zur Kasernenwiese, die seit Mitte
Juli wieder frei zugänglich ist, befreit vom Stacheldrahtzaun, der sie
während zweier Jahrzehnte in der Mitte teilte. Die Rückeroberung findet
zaghaft statt, die Leute trauen der Sache noch nicht recht. Nur ein paar
Hündeler freuen sich über den zusätzlichen Auslauf für ihre
vierbeinigen Freunde.
Fast so bewegt wie die Geschichte der Gebäude ist die Geschichte dieser
Wiese, auf der immer wieder bedeutende Anlässe stattgefunden haben –
bis zum Ersten Weltkrieg auch viele öffentliche. Vor fast 130 Jahren, am
27. Oktober 1893, hob hier beispielsweise der Luftschiffer Eduard
Spelterini mit seinem Ballon zu einer seiner zahlreichen Fahrten ab.
Für die Leute war ein solcher Start immer eine Sensation. Mehrere
hundert waren gekommen, um das Abheben Spelterinis mitzuerleben. In
konzentrischen Kreisen waren Bretterwände erstellt worden, mit denen
die Zuschauerinnen und Zuschauer auf Distanz gehalten wurden. Die
Bilder des Fotografen Robert Breitinger zeigen, wie der Ballon sich
langsam bläht, von mehreren Männern zunächst zurückgehalten wird
und schliesslich abhebt über die neue Grossstadt Zürich. Mit der
Eingemeindung am 1. Januar desselben Jahres war die Einwohnerzahl
von 28 000 auf 121 000 gewachsen.
Spelterini hatte bei seinen Fahrten immer die Kamera dabei und
dokumentierte damit auch die bauliche Entwicklung Zürichs. Bei seiner
Fahrt von 1893 stehen die meisten Bauten auf dem Kasernenareal
bereits: 1869 wurden zuerst die Stallungen an der Gessnerallee und die
Zeughäuser erstellt, 1876 folgte die Kaserne. Was im Jahr der
Eingemeindung noch fehlt, ist die Polizeikaserne, die um 1900 die
Anlage vervollständigt.
Dank der langen Zeitspanne kam auch ich noch in den Genuss eines
«Hotelaufenthaltes» in der Kaserne. «Inf OS 2 Zürich vom 19. 3. bis
7. 4. 1984» steht im Dienstbüchlein. Büro-WK hiess das zwar, aber meine
Aufgabe bestand darin, den Schulkommandanten im weissen Mercedes
herumzufahren. Viel gab es nicht zu tun, es waren äusserst lange,
langweilige Tage, die wir uns mit stundenlangem Pingpongspielen im
Estrich der Kaserne und Wolldeckenzusammenlegen in den Stallungen
an der Gessnerallee zu verkürzen suchten.
Das Obergeschoss des Zeughauses 3 ist ungenutzt, weil ein Fluchtweg fehlt.
Ich hatte es mit einem Divisionär alter Schule zu tun. Einmal liess er die
Offiziersanwärter während der Nacht die rund 40 Kilometer vom
Zürcher Zoo bis zum Schloss Grynau in der Linthebene marschieren.
Dort Anmelden in Achtungsstellung. Manche kollabierten und wurden
von der Sanität abtransportiert. Als «Zückerchen» dann die Mitteilung,
dass es das Morgenessen in Pfäffikon gebe – nach einem weiteren
Marsch von gut 15 Kilometern. Am Abend sah man die geschundenen
Jungoffiziere dann mit steifem Hut in die Offizierskantine stolzieren.
Man lernte viel über das Funktionieren dieses Systems.
Als der Auszug des Militärs beschlossene Sache war, schossen die Ideen
zur Umnutzung des riesigen Areals sofort aus dem Boden. Die einen
wollten einen riesigen Stadtpark, die andern eine neue Kultur- und
Freizeitanlage. Vier Volksinitiativen mit Ideen dieser Art wurden ebenso
versenkt wie zwei Projekte des Regierungsrats, der sich immer mehr ein
neues Polizei- und Justizgebäude vorstellte.
Mein Lieblingsprojekt stammt aus dem Jahr 1980. Es sah ein weitgehend
unterirdisch erstelltes polysportives Zentrum vor. Vollständig unter der
Kasernenwiese verborgen hätte man bauen wollen: eine Parkgarage für
3500 Personenwagen, direkt angebunden an die geplante Sihltiefstrasse,
eine Eishalle mit 15 000 Plätzen und eine Saalsporthalle, in der 6000
Zuschauerinnen und Zuschauer Platz gefunden hätten. Auch versenkt,
aber oben offen wäre das Fussballstadion gewesen – mit Sitzplätzen für
40 000 Personen.
Weil sich kein Projekt durchsetzte, wurden Kaserne und Zeughäuser für
Im nächsten Jahr wird auch das Gefängnis zurückgebaut – 24 Jahre später als
angekündigt.
Es brauchte nicht nur Geduld, bis es nun endlich losgeht, sondern auch
einen eigentlichen «Befreiungsschlag», wie es der Regierungsrat im Jahr
2000 ausdrückte. Er schlug vor, sämtliche Abteilungen von Justiz und
Polizei in einem Neubau auf dem Areal des Güterbahnhofs zu
konzentrieren. Damit werde der Weg frei für neue Lösungen auf dem
Kasernenareal.
Von der Kasernenwiese machen wir nun einen kurzen Abstecher zur
Polizeikaserne, die in den letzten Jahren ebenfalls zum heftig
umstrittenen Politikum geworden ist. Der Regierungsrat wollte das
Polizeikommando auch nach dem Bezug des PJZ dort belassen, doch der
Kantonsrat erinnerte die Regierung an das Versprechen, dass Polizei und
Justiz das ganze Areal räumen würden.
Jetzt findet der Auszug aus der Polizeikaserne tatsächlich statt. Das
Kriminalmuseum ist schon verschwunden, nur noch die Aufschriften
auf den geleerten Vitrinen erinnern an die frühere Funktion: «Magie –
Gift – Waffendiebstahl», steht dort beispielsweise. Die Exponate sind
eingelagert, man sucht nach einem neuen Standort in der Nähe des
Kasernenareals. Dass man das Museum wieder aufbaut, steht für Felix
Gisler ausser Frage. Es handle sich schliesslich um ein Kulturgut.
Die Polizeikaserne ist ein kurioses Gebäude, vor allem wegen des
Zellentrakts, der eine Art Haus im Haus ist. Das eine Haus, der
Zellentrakt, hat vier Stockwerke, das andere drei. Die Zellen sollten eben
nicht so hoch sein wie die übrigen Räume. Nun muss man aber, um zu
den Zellen zu gelangen, immer ein paar Stufen hinauf- oder
hinuntergehen, um die richtige Höhe zu erreichen. Wie die Zeughäuser
soll auch die Polizeikaserne im Baurecht an die Stadt gehen. Wie sie am
Ende genutzt wird, ist offen. «Etwas mit Startups», hiess es im
Kantonsrat.
Auch in der Polizeikaserne gibt es Zellen. Die Einrichtung ist aufs Allernötigste
reduziert.
Der Waffensaal, ganz hinten im Bild, ist nicht mehr zugänglich. Aber schon aus
der Ferne ahnt man, wie schlecht sein Zustand ist.
2019 ist der Waffensaal zum letzten Mal für eine Veranstaltung genutzt
worden, eine Lesung aus Kurt Guggenheims «Alles in allem», seither ist
er offiziell geschlossen. Der Zustand war schon vor drei Jahren ein
überaus jämmerlicher. Der Putz war abgeschlagen, von den Säulen
lösten sich grosse Teile, viele der eisernen Löwenköpfe an den Türen
fehlten.
Bis der Umbau in den Zeughäusern beginnt, dürfte es noch einige Jahre
dauern. Das Konkurrenzverfahren startet nächstes Jahr. Gemeinderat
und Stimmvolk werden voraussichtlich 2026 entscheiden, mit den
Bauarbeiten könnte dann Ende 2027 begonnen werden. So tragisch ist
das nicht, weil die Zwischennutzungen ja vorläufig weiterlaufen. Und für
das Zeughaus 4, das die Kantonspolizei als Garage nutzte, wird eine
Zwischennutzung gesucht. Einzig das Zeughaus 3 steht momentan leer;
wegen des gesperrten Waffensaals fehlt der Fluchtweg.
2014 haben Stadt und Kanton eine Machbarkeitsstudie für die Sanierung
der Zeughäuser in Auftrag gegeben. Es gab eine Mini-, eine Midi- und
eine Maxi-Variante, von denen – wenig überraschend – die mittlere
gewählt wurde. Die Zeughäuser werden gedämmt und geheizt, allerdings
nicht in den Dachgeschossen und nicht der Waffensaal.
zz. Adi Kälin (ak.) ist 2008 zur NZZ gestossen. Als Redaktor im
Ressort Zürich und Region schrieb er über politische und
lokalhistorische Themen, einen Schwerpunkt setzte er in der
Stadtzürcher Wohnpolitik. Seinen Einstieg in den Journalismus
machte er vor 36 Jahren beim «Luzerner Tagblatt», später
folgten Stationen beim «Tagblatt der Stadt Zürich» und beim
«Tages-Anzeiger». Daneben war er mehrere Jahre Mitglied des
Schweizer Presserats. Seit Ende September 2022 ist Adi Kälin
pensioniert.
KOMMENTAR
Das Kasernenareal bleibt Zürichs grösstes Planungsdebakel
24.05.2019
11 Bilder
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KOMMENTAR
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