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Was am Wohnungsmarkt geschieht, folgt nicht mehr der Logik von Angebot und Nachfrage | NZZ 15.05.

23, 12:40

KOMMENTAR

Was am Wohnungsmarkt geschieht, folgt


nicht mehr der Logik von Angebot und
Nachfrage

Trotz sinkender Zuwanderung werden so viele Mietwohnungen gebaut


wie schon lange nicht mehr. Das kann auf Dauer nicht gutgehen. Wer
sich zu wenig auskennt und am falschen Ort baut, wird leiden.
Andrea Martel
20.07.2017, 05.30 Uhr

(Illustration: Peter Gut)

Ganz wohl sein kann einem nicht, wenn man die Entwicklungen auf
dem Schweizer Immobilienmarkt betrachtet. Da nimmt die
Zuwanderung seit mehreren Jahren ab, und trotzdem werden auf Teufel
komm raus neue Wohnungen erstellt. Da stehen – speziell in Zürich –
Hunderttausende von Quadratmetern an Büroflächen leer, und dennoch
werden weiterhin Geschäftshäuser projektiert und gebaut. Und da muss
sich mit dem Detailhandel ein ganzes Mietersegment neu erfinden,
wobei unklar ist, wie viele und welche Art von Ladenflächen es in
Zukunft überhaupt noch braucht. Und trotzdem finden sich selbst für
neue Shoppingcenter weiterhin Geldgeber.

Das Interesse der Investoren an Liegenschaften aller Art ist verständlich:


Es ist viel Geld da, das angelegt werden muss – nicht zuletzt

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Was am Wohnungsmarkt geschieht, folgt nicht mehr der Logik von Angebot und Nachfrage | NZZ 15.05.23, 12:40

Pensionskassengelder –, und Immobilien schneiden punkto Rendite


einfach immer noch deutlich besser ab als die meisten anderen Anlagen.
Mit einem Investitionsverhalten, das sich teilweise mehr an der
Renditedifferenz zu Anleihen orientiert als am Nutzermarkt, laufen die
Immobilieninvestoren jedoch Gefahr, das Fundament ihres Erfolgs zu
untergraben. Denn auf lange Frist interessiert bei einer Liegenschaft
nicht, wie gut oder schlecht Obligationen verzinst sind. Was zählt, ist,
dass das Produkt Abnehmer hat. Ob Wohnungen, Büros oder Läden: Sie
alle müssen zahlende Mieter finden, sonst ist ihr Wert gleich null.

Warnung der Nationalbank

Im Gegensatz zu Büros oder Verkaufsflächen hatten Wohnungen


hierzulande lange Zeit keinerlei Absatzschwierigkeiten. Das
Überangebot aus der letzten Immobilienkrise war kurz nach der
Jahrtausendwende abgebaut. Danach hielten sich Neubautätigkeit und
Bevölkerungswachstum einige Jahre lang etwa die Waage, bevor 2007 die
Nettozuwanderung mit der Einführung der vollen Personenfreizügigkeit
mit den EU-17-Staaten in die Höhe schoss. Es folgten deutliche Engpässe
am Wohnungsmarkt, mit entsprechend stark steigenden Marktmieten
und Häuserpreisen.

Mancher Mythos des Immobilienmarkts


ist ein Märchen
Michael Schäfer 25.04.2017

Die Immobilienwirtschaft reagierte auf diese Situation relativ rasch mit


einer Wohnbauoffensive. Statt 33 000 bis 44 000 neue Wohnungen pro
Jahr wurde die Produktion auf 45 000 bis über 50 000 Wohnungen
erhöht. Das hat bereits ab 2011 zur dringend notwendigen Entspannung
geführt. Es dauerte allerdings noch fünf Jahre, bis schliesslich 2016
wiederum ein Gleichgewicht erreicht war. Laut Wüest Partner sind die
neu abgeschlossenen Mieten Ende 2016 gesamtschweizerisch erstmals
seit langem nicht mehr gestiegen, sondern leicht gesunken.

Was jedoch seither am Wohnungsmarkt geschieht, folgt nicht mehr der


Logik von Angebot und Nachfrage. Obschon der Markt vielerorts bereits
entspannt ist und die Zuwanderung ständig abnimmt, wird auf
Hochtouren weitergebaut und auch weiter geplant. Rechnet man die
neusten Zahlen des Staatssekretariats für Migration auf das Jahr hoch,
dürfte die Nettozuwanderung 2017 vielleicht noch 53 000 Personen
betragen – im Gegensatz zu 80 000 Personen im Jahr 2014. Für diese 53

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Was am Wohnungsmarkt geschieht, folgt nicht mehr der Logik von Angebot und Nachfrage | NZZ 15.05.23, 12:40

000 Personen braucht es bei einer durchschnittlichen Haushaltsgrösse


von 2,25 Personen knapp 24 000 zusätzliche Wohnungen. Auf den Markt
kommen werden dieses Jahr jedoch schätzungsweise 47 500 neu gebaute
Wohnungen, also rund doppelt so viele.

Selbstverständlich werden Wohnungen nicht nur für die


Zusatznachfrage durch Zuwanderer erstellt. Zudem kann man bei
Projekten, bei denen zwischen erster Planung und Fertigstellung rasch
einmal fünf Jahre verstreichen, das Steuer nicht von heute auf morgen
herumreissen. Aber dass der Markt den neuen Wohnraum immer
weniger gut absorbiert, zeigt sich nicht erst seit heute. Mitte 2016
wurden bereits 56 500 leere Wohnungen gezählt, 6000 mehr als im
Vorjahr. Die Leerstandsquote von 1,3 Prozent ist zwar noch nicht
dramatisch. Der Wert liegt aber gleichwohl bereits über dem
langjährigen Mittel. Im laufenden Jahr – die Zahlen werden erst im
September veröffentlicht – könnte die Zunahme sogar noch höher
ausfallen. Statt 56 500 Wohnungen stehen dann vielleicht 66 000
Wohnungen leer, anteilsmässig fast so viele wie Ende der 1990er Jahre.
Damals waren die hohen Leerstände eine Folge der bundesrätlichen
Investitionszuschüsse, welche die darbende Bauwirtschaft stützen
sollten. Was als konjunkturstimulierende Massnahme gedacht war,
entpuppte sich als Bumerang, der die Immobilienkrise der neunziger
Jahre verlängerte.

Käufer gehen höhere Risiken ein


Michael Schäfer 18.07.2017

Betroffen vom Überangebot sind praktisch nur Mietwohnungen. Deren


Produktion wurde in den letzten zehn Jahren verdoppelt, von 13 000
Wohnungen pro Jahr auf über 26 000. So stehen bei den Mietwohnungen
mittlerweile 2 Prozent leer, bei Einfamilienhäusern und
Eigentumswohnungen, deren Produktion im gleichen Zeitraum um
einen Drittel zurückgefahren wurde, nur gerade 0,5 bzw. 0,7 Prozent.
Dies zeigt, dass eben nicht in erster Linie die Nachfrage nach Wohnraum
die Bautätigkeit treibt, sondern der Anlagedruck. Geld langfristig
investieren und daraus regelmässige Cashflows generieren kann man
nur mit Mietwohnungen. Wohneigentum zu erstellen, ist zwar oft sehr
lukrativ, aber mit dem Verkauf der Wohnungen ist das Projekt
abgeschlossen, und der Investor muss sich wiederum nach einer neuen
Anlagemöglichkeit umsehen.

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Was am Wohnungsmarkt geschieht, folgt nicht mehr der Logik von Angebot und Nachfrage | NZZ 15.05.23, 12:40

Ein grösseres Angebot, höhere Leerstände, längere Vermarktungszeiten


und sinkende Mieten: Eigentlich müssten diese negativen
Entwicklungen auch auf die Liegenschaftenpreise schlagen. Das tun sie
vorläufig aber noch nicht, weil Investoren nach wie vor bereit sind, fast
jeden Preis für ein Mehrfamilienhaus zu zahlen. Allein seit der Freigabe
des Frankenkurses Anfang 2015 und der Einführung von Negativzinsen
haben sich die Preise für Mehrfamilienhäuser laut Wüest Partner um 15
Prozent erhöht. Zum Vergleich: Einfamilienhäuser wurden im gleichen
Zeitraum durchschnittlich gerade einmal um 2,4 Prozent teurer,
Eigentumswohnungen sogar um 3 Prozent günstiger.

Dass die Entwicklungen am Markt für Mehrfamilienhäuser


möglicherweise nicht mehr ganz gesund sind, findet auch die
Schweizerische Nationalbank (SNB). Der im Juni veröffentlichte Bericht
zur Finanzstabilität erwähnt den lange Zeit als Sorgenkind bezeichneten
Eigenheimmarkt nur noch am Rande. Dafür ortet die SNB nun ein
erhöhtes Risiko für substanzielle Preiskorrekturen am Markt für
Rendite-Wohnliegenschaften und betont, die Entwicklungen an diesem
Markt besonders aufmerksam zu beobachten.

Wohnungen am «falschen» Ort

Für Schreckensszenarien besteht allerdings derzeit noch kein Anlass,


auch wenn die Zinsen langsam am Drehen sind, was in der Regel auf die
Liegenschaftenpreise drückt. Grössere Verwerfungen am
Immobilienmarkt sind eigentlich nur bei einem Zinsschock zu erwarten
– oder bei einer scharfen Rezession. Aber so verschuldet, wie viele
Staaten sind, können sie sich starke Zinserhöhungen gar nicht leisten,
und für ein unilaterales Vorgehen hat die Schweiz keinen Spielraum.
Eine Situation, wie sie die Schweiz Ende der 1980er Jahre erlebt hat, als
die Zinsen innert kurzer Zeit um mehrere Prozentpunkte gestiegen sind,
ist kaum vorstellbar.

Sorgen bereitet heute jedoch die Tatsache, dass massenhaft Wohnungen


am «falschen» Ort entstehen – nicht dort, wo sie gebraucht werden,
sondern dort, wo Bauland zur Verfügung steht. Gewisse Regionen haben
wenig Potenzial, zusätzlichen Wohnraum mittelfristig zu absorbieren.
Entweder sind sie mit dem öffentlichen Verkehr nicht gut erschlossen
(zumindest bis zu den selbstfahrenden Autos bleibt das essenziell), oder
sie sind nicht dort, wo es Arbeitsplätze hat. Stark gestiegen ist das
Wohnungsangebot nämlich nicht in und um die grossen Städte, auch
wenn dort ebenfalls viel gebaut wird. Viele verfügbare Wohnungen gibt
es vor allem in Regionen wie dem Mittel- und Unterwallis, in Freiburg,
Solothurn, im Aargau oder auch im Kanton Schaffhausen.

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Was am Wohnungsmarkt geschieht, folgt nicht mehr der Logik von Angebot und Nachfrage | NZZ 15.05.23, 12:40

Dass derzeit einiges gebaut wird, das an der Nachfrage vorbeizielt, hat
damit zu tun, dass sich wieder vermehrt unbedarfte Akteure im Markt
tummeln. Sie haben das Gefühl, mit Mehrfamilienhäusern könne man
nicht viel falsch machen. Sind es private Investoren, die Projekte in den
Sand setzen, ist dies nicht besonders schlimm. Sie verlieren ihr eigenes
Geld, zumal die Banken mit Finanzierungen in der Regel weiterhin
vorsichtig sind. Sind es aber Pensionskassen, die mit den
Vorsorgegeldern ihrer Versicherten Bauherren spielen, ohne über die
notwendige Erfahrung und auch die kritische Grösse zu verfügen, ist das
ein Problem. Leider ist dies wieder öfter der Fall. Und das ist wohl die
grösste Gefahr, die auf dem Schweizer Wohnungsmarkt lauert.

ERKLÄRT
Der Referenzzins ist gesunken — wie müssen Mieter nun
vorgehen? Und wie verhalten sich Vermieter korrekt?
02.03.2020

Wohnungen stehen oft monatelang leer


07.02.2017

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