Sie sind auf Seite 1von 11

Beton-Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum 15.05.

23, 13:44

Der Beton hat eine heroische


Vergangenheit – aber kaum mehr
eine Zukunft. Deshalb ist es nur
noch mit Nostalgie möglich, diese
Ingenieurleistungen zu bewundern
Godard verglich den Staudamm von Grande-Dixence noch mit dem
Eiffelturm. Später ging das Image des Betons bachab.

Sabine von Fischer


11.01.2022, 05.30 Uhr

Photopress-Archiv / Keystone
Bauplatz der Staumauer des Walliser Kraftwerkes Grande-
Dixence zu Beginn der Betonierungsarbeiten im August 1953.
Die Staumauer wurde am 16. Juli 1957 eingeweiht.

Der Filmemacher Jean-Luc Godard schrieb nicht nur Kinogeschichte, er


beteiligte sich auch unmittelbar an einer heroischen Phase der
Schweizer Bauindustrie. Als Telefonist verdiente er sein erstes Geld auf
der Baustelle der Grande-Dixence-Staumauer, der damals höchsten und

https://www.nzz.ch/feuilleton/beton-ausstellung-im-schweizerischen-architekturmuseum-ld.1662992 Seite 1 von 11


Beton-Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum 15.05.23, 13:44

höchstgelegenen Gewichtsstaumauer der Welt.

Dort, hoch oben in den Schweizer Bergen, entstand 1954 sein erstes
Werk: Der Dokumentarfilm «Opération ‹Béton›» dauert 16 Minuten und
zelebriert den gewaltigen Aufwand für dieses monumentale Bauwerk,
das zwischen seiner 200 Meter starken Basis und der fast 700 Meter
langen Krone gut 6 Millionen Kubikmeter Beton verschlang. Weil
Godard dies so stimmungsvoll in Szene setzte, kaufte die Betreiberfirma
der berühmten Staumauer ihrem Telefonisten den Film ab und
finanzierte ihm so den Start einer grossen Karriere.

Mit dem Eiffelturm vergleicht Godard die Staumauer: Beide sind um die
300 Meter hoch, und beide sind Ingenieurleistungen der Superlative. So
wie Gustave Eiffels Pariser Stahlskelett riesige Kräfte in Eleganz
übersetzt, zieht sich der massive Damm schwungvoll durch die
Landschaft der Walliser Alpen. In Godards Dokumentation fängt dies die
Kamera Bild für Bild ein, Drehbuch und Schnitt choreografieren den
Kraftakt: Hunderte von Kübeln, gefüllt mit dem flüssigen Gemisch aus
Kies, Sand und Zement, tanzen an kilometerlangen Kabelsträngen in
2500 Metern ü. M. über der Baustelle.

Für und wider den Beton

Godards Film allein ist einen Besuch in der derzeitigen Ausstellung im


Schweizer Architekturmuseum in Basel wert. Doch es gibt noch mehr zu
sehen und zu erleben: Schon in diesem ersten Raum eröffnen sich auch
Abgründe und Albträume um das Thema Beton – ohne dass die späteren
Risse in den Druckstollen und Leitungen der Grande-Dixence-Anlage
auch nur erwähnt würden.

Der zweite Film im Eingangsraum, ebenfalls unter dem Gestänge und


den Schalungsbrettern der baustellenartigen Ausstellungsszenografie,
ist Fredi Murers «Grauzone» von 1979. Ein Vierteljahrhundert nach
Godards Erstlingswerk gedreht, spielt dieses Stück auf einer anderen
Klaviatur. Wie der Titel schon sagt, geht es hier um das Grau, jenes
nämlich des tristen Betons. Genaugenommen ist es die
Grosswohnsiedlung Grünau in Zürich Altstetten, die hier als Sinnbild für
eine dystopische Moderne herhalten muss.

Das Image des Betons war schon lange vor der Kritik an seiner
schlechten Ökobilanz angeschlagen. Fredi Murers Film benutzt den
Beton als Kulisse für eine Erzählung über städtische Entfremdung, in der
die allgemeine Sinnkrise durch eine ominöse gesundheitliche

https://www.nzz.ch/feuilleton/beton-ausstellung-im-schweizerischen-architekturmuseum-ld.1662992 Seite 2 von 11


Beton-Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum 15.05.23, 13:44

Bedrohung noch überhöht wird. Im unerbittlichen Urteil von Murers


Generation sind die grossen, grauen Wohnblöcke mit Anonymität,
Unmenschlichkeit und einem Zwang zur Gleichschaltung assoziiert.

Gertrud Vogler / Schweizerisches


Graffiti «I long for Betong», Zürich, Februar 1981. Sozialarchiv

Poesie der Grossform

Unterdessen allerdings, nicht zuletzt im Zug der baulichen Verdichtung,


finden Grossbauten wieder mehr Anklang: als Orte mit einer
gemeinschaftlichen Infrastruktur. Diese, so haben uns die
Verhaltensregeln infolge des Virus während der letzten zwei Jahre
beigebracht, sind genauso lebenswichtig wie Licht und Luft. Ihre
Vorläufer sind oft betongetränkte Träume aus den Boomjahren der
Nachkriegszeit. Sie bleiben Ideen und wurden nie gebaut, haben aber
den Lauf der Dinge beeinflusst.

Die «Landform-Gebäude» beispielsweise, wie sie der kürzlich


verstorbene Architekt Justus Dahinden und der etwas ältere Künstler
Walter Jonas sich ausdachten, sind künstlich geschaffene, bewohnbare
Landschaften, die trotz ihrer Grösse durchaus poetisch wirken. Diese
zeigt die Schau ebenfalls, neben Brücken, Kraftwerken, Kirchen,
Spitälern. Das Nebeneinander von visionären Zeichnungen, Werkplänen
und fotografischen Dokumentationen erklärt anschaulich, wie auch
nicht realisierte Ideen weitreichende Wirkungen entfalten.

https://www.nzz.ch/feuilleton/beton-ausstellung-im-schweizerischen-architekturmuseum-ld.1662992 Seite 3 von 11


Beton-Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum 15.05.23, 13:44

GTA-Archiv / ETH Zürich, Otto


Otto Glaus und Ruedi Lienhard, Sihlraumplanung, Zürich, 1964– Glaus
1968 (nicht realisiert). Schnitt durch die Sihl mit angrenzenden
Bauten, Blick Richtung Zürich Hauptbahnhof, Plankopie ohne
Datum.

Schlechte Ökobilanz

Kubikmeter um Kubikmeter wurde der Beton gemischt und verbaut und


hat die Schweizer Landschaft umgeformt. Dank immer mehr
synthetischen Zuschlagstoffen wurde er zu einem Baustoff für alle
Grössenordnungen und für jede Saison: Anders als in den 1950er Jahren
beim Bau der Staumauer von Grande-Dixence drehen sich die
Betonmischer heute auch bei Minustemperaturen. Das ganze Jahr durch
wird gegossen, zuweilen auch die Härtung mit chemischen Zusätzen
beschleunigt.

Derzeit werden der Zukunft des Betons zahllose Fachartikel, ganze


Bände gewidmet. Seine Ökobilanz soll teils durch eine weniger
energieintensive Herstellung, teils durch umweltfreundlichere
Komponenten wie beispielsweise Recyclinggranulat justiert werden. So
die Hoffnung. Dabei wäre es wohl das Beste, den Beton, den wir schon
haben, nicht mehr abzureissen, sondern einfach stehenzulassen. Auf
solche Debatten lässt sich die Ausstellung allerdings gar nicht erst ein.

Reizthema in schmucken Kabinetten

Die Basler Schau setzt vor allem auf positive Signale: Zwischen Godards
und Murers Filmen heitern die leuchtenden Farben von Walter Jonas’
riesigem Modell eines «Intrapolis»-Trichterhauses die schwarz-weisse
Welt auf, und der Soundtrack von Godards Grande-Dixence-
Dokumentation schafft ein Ambiente für nostalgische Schwelgerei.

https://www.nzz.ch/feuilleton/beton-ausstellung-im-schweizerischen-architekturmuseum-ld.1662992 Seite 4 von 11


Beton-Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum 15.05.23, 13:44

GTA-Archiv / ETH Zürich, Hans


Hans Leuzinger und Robert Maillart, Cementhalle an der Landi Leuzinger
1939. Bauarbeiter tragen Spritzbeton auf Bewehrungsgitter auf,
anonyme Fotografie, November 1938.

Die imaginierte genauso wie die zementierte Kulturgeschichte des


Schweizer Betons finden hier ihren Platz, mit viel Sinn fürs Detail. Dabei
streichen die Zwischentitel die grösstmögliche Vielfalt der Sichtweisen
heraus: Beton ist «Gestein», «flüssig», «monolithisch»,
«Verbundwerkstoff», «unterirdisch» und sogar: «immateriell».

Die Räume des Architekturmuseums in einem Flügel der Basler


Kunsthalle, die man sich bisher in jeder, wirklich jeder Schau an einem
anderen Ort wünschte, sind derzeit so in kleinere Kabinette unterteilt,
dass man sich keine besseren Räume denken kann. Fast wird das
derzeitige Reizthema Beton in dieser ingeniösen Szenografie schmucker
Schatullen von Graber & Steiger verniedlicht – bis man bemerkt, dass
die golden schimmernden Raumteiler einfache, rohe Betonschalungen

https://www.nzz.ch/feuilleton/beton-ausstellung-im-schweizerischen-architekturmuseum-ld.1662992 Seite 5 von 11


Beton-Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum 15.05.23, 13:44

sind: gelb lackierte Holzbretter, wie sie sonst von Baustelle zu Baustelle
weitergereicht werden.

Archivschätze aus allen Landesteilen

Beton ermöglichte, was einst mit Holz und Stahl mühsam bewältigt
werden konnte, sogar in viel grösseren Dimensionen: Brücken, die sich
über Täler und Meeresarme schwingen, Häuser, die dem Himmel
entgegenwachsen, Tunnels, die Gebirge durchqueren, und eben
Staumauern, die das Gewicht von 400 Millionen Kubikmetern Wasser
halten können.

Und nun soll das alles anders werden, weil Beton eine schlechte CO2-
Bilanz aufweist. Ob dereinst sogar Tunnels und Autobahnen aus einem
anderen Material gebaut werden? Das Kuratorenteam, bestehend aus
Sarah Nichols (deren Forschung die Grundlage der Ausstellung lieferte),
Yuma Shinohara und Andreas Kofler, lässt uns darüber im Ungewissen.
Die Ausstellung zeigt Fotos, Entwürfe und Werkpläne aus den Jahren der
Hochkonjunktur, auch einige ältere. Die Archive der
Architekturhochschulen in Lausanne und Zürich und das Archivio del
Moderno der Università de la Svizzera italiana legen ihre Schätze aus.

https://www.nzz.ch/feuilleton/beton-ausstellung-im-schweizerischen-architekturmuseum-ld.1662992 Seite 6 von 11


Beton-Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum 15.05.23, 13:44

Archivio del Moderno / Fondo Livio


Livio Vacchini, Studio Vacchini, Locarno, 1984/85. Vacchini
Perspektivischer Schnitt, 1985, Tusche auf Polyesterfolie.

Offensichtlich haben die Zusammenarbeit mit den Hochschulen und die


damit bereitgestellten personellen Ressourcen eine historische
Vertiefung und Genauigkeit ermöglicht, wie es sie in Ausstellungen
dieser Art selten gibt. Zu den Jahren seit den Ölpreis- und den seither nie
abklingenden Energiekrisen aber schweigt die zur Hauptsache von der
Industrie gesponserte Schau.

Kluft zwischen den Generationen

Und in einem einzigen Punkt nur liegt sie falsch: Der auf gelben
Plakaten gedruckte Einleitungstext setzt mit der Behauptung an, Beton
werde von den einen verteufelt und von den anderen verehrt, als ob dies
schlicht eine Ansichtssache sei. De facto aber geht es um einen Konflikt

https://www.nzz.ch/feuilleton/beton-ausstellung-im-schweizerischen-architekturmuseum-ld.1662992 Seite 7 von 11


Beton-Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum 15.05.23, 13:44

zwischen Generationen: Die ältere will weitermachen (fast) wie bis


anhin, die jüngere ruft nach klimagerechtem Bauen.

Zwar verkündet die Bauindustrie, die Forschung laufe. Auch ihr


Lieblingskind Beton könne Teil einer Kreislaufwirtschaft werden. Dass
aber die Schau gerade zu diesem Thema schweigt, schürt Misstrauen.
Wird hier suggeriert, dass eventuell kein grundsätzliches Umdenken
nötig sei? In diesem Fall wäre die Ausstellung ein akribischer,
meisterhaft inszenierter Abgesang auf einen Baustoff der
Vergangenheit.

«Beton», Schweizerisches Architekturmuseum, Steinenberg 7, Basel, bis 24. April.


Am 21. Januar wird im Rahmen der Basler Museumsnacht ein Betonlabor eingerichtet.
Aktuelle Fragestellungen zum Beton werden im Rahmen des Veranstaltungsprogramms
diskutiert, so am 27. Januar, 19 Uhr, auf dem Podium «The Future of Concrete» im Foyer
Public, Theater Basel.

Begleitpublikation: Concrete in Switzerland. Histories from the Recent Past. Hrsg.


Salvatore Aprea, Nicola Navone, Laurent Stalder, Sarah Nichols. EPFL Press. 285 S., Fr.
42.–. Nur in englischer Sprache erhältlich.

Architektur- und Designberichterstattung auf Linkedin und Twitter.

Passend zum Artikel

Vom Baustoff für die Ewigkeit zum Buh-Material des Ökozeitalters:


Aber der Beton dankt noch nicht ab
04.06.2021

Der Beton blüht, die Postmoderne welkt. Und dieser deutsche


Pritzkerpreisträger wird 100 Jahre alt
23.01.2020

Tanzhaus Zürich: Leichtfüssig tanzen Tonnen von rezykliertem Beton


29.05.2019

Mehr von Sabine von Fischer (svf)

https://www.nzz.ch/feuilleton/beton-ausstellung-im-schweizerischen-architekturmuseum-ld.1662992 Seite 8 von 11


Beton-Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum 15.05.23, 13:44

Plastik ist kaum zu zerstören: nicht mit der «Peter Zumthor ist der am besten qualifizierte
Abrissbirne und auch nicht auf dem Architekt der Welt», sagt der Museumsdirektor
Meeresgrund Michael Govan
30.03.2022 26.03.2022

Das Licht ist Peter Zumthors Die Wohnsiedlung Vogelsang Francis Kéré war das erste
wichtigster Baustoff, ganz in Winterthur schafft Kind des Dorfes, das lesen
besonders wenn er ein Verdichtung – ohne die lernte. Nun ist er
Museum entwirft Einöde. Es gelingt ihr gar, das Pritzkerpreisträger 2022
26.03.2022 Verhältnis von Stadt und 15.03.2022

Landschaft durcheinander zu
bringen
22.03.2022

Neueste Artikel Alle neueste Artikel

https://www.nzz.ch/feuilleton/beton-ausstellung-im-schweizerischen-architekturmuseum-ld.1662992 Seite 9 von 11


Beton-Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum 15.05.23, 13:44

Hat Südafrika Waffen


an Russland geliefert?
vor 10 Minuten

KURZMELDUNGEN

Sport: Stefan Küng


steigt aus dem Giro
d'Italia aus
Emotionen am Arbeitsplatz: Das sind die Aktualisiert vor 40 Minuten

grössten Missverständnisse
vor 3 Minuten

Für Sie empfohlen Weitere Artikel

Der FC Barcelona ist nach DIE NEUSTEN ENTWICKLUNGEN

vier Jahren voller Wie die CIA und andere Nahostkonflikt:


Milliardenschulden, Geheimdienste Amerikas Palästinenser während
Affären und Misserfolgen Tech-Sektor umgarnen Razzia in Nablus erschossen
wieder spanischer Meister vor 1 Stunde Aktualisiert vor 1 Stunde

NZZ STANDPUNKTE
vor 45 Minuten
49:45

«Als Musterschüler werden Sie belächelt»,


sagt Jositsch über die Rolle der Schweiz im
Ukraine-Krieg: «Es gilt das Recht des…
Stärkeren»
«Wir provozieren nicht, wir reden nur» –
die Psychologin Felizitas Ambauen und die
Journalistin Sabine Meyer therapieren die
Schweiz
15.05.2023

https://www.nzz.ch/feuilleton/beton-ausstellung-im-schweizerischen-architekturmuseum-ld.1662992 Seite 10 von 11


Beton-Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum 15.05.23, 13:44

Der FC St. Gallen hat elf KOMMENTAR SERIE

Spiele lang nicht mehr Für die Türken zählt Ich weiss, was ich täte, wenn
gewonnen, trotzdem Identität mehr als Leistung: ich in Russland Kunstlehrer
strömen seine Fans ins Erdogans Wähler halten wäre und mir ein
Stadion. Wie ist das auch in der zwölfjähriges Mädchen seine
möglich? Wirtschaftskrise zu ihm Antikriegszeichnung zeigte
vor 4 Stunden 15.05.2023
14.05.2023

Ein Kunsthistoriker will die «Hängt sie auf, die schwarze Die EU will Riesen-Lkw
Brücke im Hintergrund Sau» grenzüberschreitend
Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG. Alle Rechte vorbehalten. Eine Weiterverarbeitung, Wiederveröffentlichung oder dauerhafte Speicherung zu
identifiziert
gewerblichen haben.
oder anderen Dasohne vorherige ausdrückliche
Zwecken
15.05.2023 zulassen
Erlaubnis von Neue Zürcher Zeitung ist nicht gestattet. – mit
bitter-süsse Negroni-Lächeln gravierenden Folgen für die
der Mona Lisa aber wahrt sein Schweiz
Geheimnis 15.05.2023

15.05.2023

https://www.nzz.ch/feuilleton/beton-ausstellung-im-schweizerischen-architekturmuseum-ld.1662992 Seite 11 von 11

Das könnte Ihnen auch gefallen