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Corona: "Der Neoliberalismus hat ausgedient" | ZEIT ONLINE https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-09/corona-kapitalismus-rezession-w...

Corona: "Der Neoliberalismus hat


ausgedient"

Marcus Gatzke

Seit Anfang des Jahres arbeitet Klaus Schwab, Gründer des


Weltwirtschaftsforums, im Homeoffice. Noch nie habe er so viele Menschen
getroffen wie in den vergangenen Monaten – aber eben nur virtuell, erzählt der
82-Jährige am Telefon. Seit 50 Jahren lädt er Regierungschefs, Majestäten,
Vorstandsvorsitzende, Menschenrechtler und Umweltaktivisten ins schweizerische
Davos, um sie ins Gespräch zu bringen. Im Januar 2021 wird es coronabedingt
nur ein virtuelles Treffen geben. Das eigentliche Forum wurde auf den
Frühsommer verschoben. Schwab hat die Zeit genutzt, um ein Buch über die
Folgen der Corona-Krise zu schreiben ("The Great Reset", zusammen mit Thierry
Malleret). Die deutsche Fassung erscheint Ende September.

ZEIT ONLINE: Herr Schwab, Ihr neues Buch könnte einige Leser überraschen.
Die Zeit nach der Pandemie werde eine Phase massiver Umverteilung einleiten von
den Reichen zu den Armen und von Kapital zu Arbeit, schreiben Sie. Das hört sich
eher nach Linkspartei an und weniger nach Weltwirtschaftsforum.

Klaus Schwab: Vielleicht kennen mich viele Menschen einfach zu wenig. Ich
stehe schon seit Jahren für einen verantwortungsvollen Kapitalismus ein. Derzeit
sind wir mit zwei riesigen Herausforderungen konfrontiert: die zunehmende Kluft
zwischen Arm und Reich, auf nationaler und internationaler Ebene, sowie die
Klimakrise. Diese Probleme müssen wir angehen. Und heute, mit der Corona-
Pandemie, stellt sich noch eine dritte Herausforderung. Wir brauchen ein
Wirtschaftssystem, das widerstandsfähiger, inklusiver und nachhaltiger ist.

ZEIT ONLINE: Die Corona-Krise ist für Sie der Todesstoß für den
Neoliberalismus. Was meinen Sie damit?

Schwab: Landläufig wird unter Neoliberalismus ein ungeregelter, ungehemmter


Kapitalismus verstanden. Und gerade die Länder, die diese Strategie am stärksten
vorangetrieben haben – beispielsweise die USA und Großbritannien – werden von
Corona mit am härtesten getroffen. Die Pandemie hat somit einmal mehr gezeigt:
Der Neoliberalismus in dieser Form hat ausgedient.

ZEIT ONLINE: Was ist Ihre Schlussfolgerung?

Ich plädiere nicht für eine Systemänderung. Ich plädiere für


eine Systemverbesserung.

Klaus Schwab

Schwab: Ich bin davon überzeugt, dass wir den Kapitalismus neu definieren
müssen. Wir dürfen nicht nur das Finanzkapital berücksichtigen, sondern auch das
Sozialkapital, das Naturkapital und das menschliche Kapital. Unternehmen, die
heute erfolgreich sein wollen, müssen alle diese Komponenten in ihre Strategie

1 von 6 25.09.2020, 02:00


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einbeziehen. Vor allem, weil wir es mit einer jungen Generation zu tun haben, die
sich viel stärker der negativen Folgen eines Kapitalismus und einer ungehemmten
Globalisierung bewusst ist. Es muss ein Umdenken stattfinden.

ZEIT ONLINE: Manch ein Kritiker behauptet: Der Kapitalismus selbst ist das
Problem.

Schwab: Nein, der Kapitalismus ist nicht das Problem. Ich bin davon überzeugt,
dass die unternehmerische Kraft jedes Einzelnen die Triebfeder für echten
Fortschritt ist – und nicht der Staat. Aber diese individuelle Kraft muss in ein
System von Regeln eingebettet werden, das ein Überborden in die eine oder andere
Richtung verhindert. Diese Funktion muss ein starker Staat erfüllen. Der Markt löst
allein keine Probleme. Ich plädiere nicht für eine Systemänderung. Ich plädiere für
eine Systemverbesserung.

ZEIT ONLINE: Sie fordern in Ihrem Buch den großen Neuanfang. Derzeit gibt die
Politik aber vor allem Geld aus, um das alte Wirtschaftssystem am Leben zu
erhalten. Ist das nicht die falsche Politik?

Schwab: Zunächst einmal müssen wir natürlich dafür sorgen, dass das System
nicht kollabiert, ansonsten gehen zu viele Arbeitsplätze und zu viel Wirtschaftskraft
verloren. Aber die Stabilisierung muss in die richtige Richtung gehen. In
Deutschland müssen beispielsweise grüne Investitionen angeschoben und die
Digitalisierung vorangetrieben werden.

ZEIT ONLINE: Die Bundesregierung beteiligt sich dagegen lieber an der


Lufthansa, ohne große Auflagen. Ein falscher Schritt?

Schwab: Das dient der Stabilisierung des Systems in einer tiefen Krise.
Gleichzeitig sollte der Staat aber Alternativen zum Flugverkehr ausbauen und
unterstützen und etwa den Wettbewerb im Bahnnetz fördern.

"Wachstum ist die falsche Kennzahl"

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Indien ist ebenfalls hart von dem Coronavirus getroffen. Im Bild


beobachten Anwohner, wie Mitarbeiter des Gesundheitsamtes Corona-
Warnhinweise aufhängen. © [M] Xavier Galiana/AFP/Getty Images

ZEIT ONLINE: Sie vergleichen die Corona-Krise mit einem Krieg. Ist das nicht
etwas übertrieben?

Schwab: Es gibt natürlich grundlegende Unterschiede zwischen einer Pandemie


und einem Krieg. Durch die Pandemie werden in jedem Fall weniger Menschen
sterben als beispielsweise im Zweiten Weltkrieg. Aber die transformativen Kräfte
können ähnlich sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Währungssystem
Bretton Woods, die Vereinten Nationen und die EU gegründet.

ZEIT ONLINE: Welche Institutionen brauchen wir nach dieser Pandemie?

Schwab: Wir brauchen Institutionen, die die Welt als System verstehen und die
Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaft integrieren. Keines der Probleme,
die wir auf globaler Ebene haben, kann isoliert betrachtet werden und jedes dieser
Probleme braucht die Zusammenarbeit aller.

ZEIT ONLINE: Wie lange wird die durch die Pandemie verursachte
Wirtschaftskrise aus Ihrer Sicht noch anhalten?

Schwab: Es gibt zwei Szenarien. Das positive: Wir haben im Frühjahr 2021 einen
Impfstoff in genügender Menge, noch bessere und schnellere Tests und vielleicht
auch bessere Behandlungsmöglichkeiten von Corona-Patienten. Dann wird sich
auch die Wirtschaft relativ rasch wieder erholen. Das negative Szenario: Wir haben
all das nicht. Dann wird uns die Pandemie bis mindestens 2022 beschäftigen.

ZEIT ONLINE: Viele Menschen sehnen sich nach einer Rückkehr zur 'alten
Normalität'. Sie sagen: Wir werden niemals dorthin zurückkehren. Warum?

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Wir müssen die Dekarbonisierung der Wirtschaft so schnell


wie irgend möglich vorantreiben.

Klaus Schwab

Schwab: Diese Pandemie hat uns auf die großen Risiken aufmerksam gemacht, die
jeden Einzelnen von uns treffen können. In Davos haben wir auf dem
Weltwirtschaftsforum 2017 eine globale Krise simuliert – daran haben auch
Regierungen teilgenommen. Es war aber trotzdem am Ende alles sehr abstrakt.
Durch die Pandemie ist es wesentlich konkreter geworden. Und die Folgen lassen
sich auf andere globale Probleme übertragen: Wenn wir jetzt nichts unternehmen,
wird die Klimaerwärmung unser tägliches Leben ähnlich stark umwälzen wie jetzt
die Pandemie.

ZEIT ONLINE: Nur über den Klimawandel redet derzeit kaum noch jemand.

Schwab: Das öffentliche Interesse gilt natürlich gerade mehr der Corona-Krise als
dem Klimawandel. Aber wenn sie mit verantwortlichen Politikern und auch
Unternehmen reden, werden sie erkennen, dass das Bewusstsein dafür gewachsen
ist. Den meisten ist klar: Wir müssen die Dekarbonisierung der Wirtschaft so
schnell wie irgend möglich vorantreiben. Schauen Sie sich die Waldbrände in
Kalifornien an. Da tragen die Menschen nicht nur wegen der Pandemie eine Maske,
sondern weil die Luft voller Rauchpartikeln ist.

ZEIT ONLINE: Müssen wir angesichts der Probleme, die Sie beschreiben, nicht
viel mehr machen als nur eine Kurskorrektur? Müssen wir nicht einen Grundpfeiler
des Kapitalismus infrage stellen: Wachstum?

Schwab: Wachstum ist die falsche Kennzahl, wenn es nur darum geht, die
Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts zu messen. Wir arbeiten gerade an einem
System, in dem jedes Unternehmen verpflichtet wird, über seine Umweltleistung
und seine soziale Leistung genauso zu berichten wie jetzt schon über seine
finanzielle Bilanz. Das Gleiche sollte man auch vom Staat verlangen.

"Corona wird die Gesellschaft noch weiter


polarisieren"

4 von 6 25.09.2020, 02:00


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In New York stehen Bürger für die Essensausgabe an einer Tafel an.
© [M] Spencer Platt/Getty Images

ZEIT ONLINE: In Ihrem Buch analysieren Sie die Steuerquoten in den


Nachkriegsjahrzehnten. Damals wurden hohe Einkommen und
Unternehmensgewinne viel stärker besteuert. Müssen wir sogar dahin zurück?

Schwab: Natürlich ist das Steuersystem ein Instrument im Kampf gegen die
Ungleichheit. Ich denke da aber nicht an die Einkommenssteuer. Wir brauchen eine
generelle Umgestaltung des Steuersystems nicht nur um die Unterschiede
auszugleichen, sondern auch für die Einbeziehung von Umweltschäden. Wir in
Genf zahlen beispielsweise keine Kapitalgewinnsteuer – damit wird also
unternehmerisches Handeln richtigerweise bevorzugt. Wir zahlen aber eine
Vermögensteuer bereits auf geringe Beträge im Vergleich zu anderen
Industrieländern. Es wird zwar immer mal wieder darüber geschimpft, aber man
gewöhnt sich daran. Und letzten Endes muss man sagen: Es ist sozial gerechtfertigt.

ZEIT ONLINE: Sie plädieren für eine weltweite Vermögensteuer, wie sie
beispielsweise der französische Ökonom Thomas Piketty fordert?

Schwab: Ich spreche mich für ein Steuersystem aus, das die unternehmerische
Kraft fördert, aber auch die Kluft zwischen Arm und Reich mindert.

Corona hat uns bewusst gemacht, was auf dem Spiel steht.
Aber ich bin überzeugt davon, dass wir alle notwendigen
Mittel zur Verfügung haben, um die Probleme zu lösen.

Klaus Schwab

ZEIT ONLINE: Aber Umverteilung bedeutet: Ich muss jemandem etwas


wegnehmen, um anderen etwas geben zu können. Muss man den Reichen dieser
Welt mehr wegnehmen?

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Schwab: Ja. Ich bin mit dieser Auffassung auch nicht allein. Reiche und
einflussreiche Menschen wie Bill Gates und Warren Buffet denken ähnlich. Aber
wir dürfen in diesem Diskurs nicht in alte Ideologien zurückfallen: Wir sind auf
eine innovative und handlungsfähige Wirtschaft angewiesen. Und die steckt mitten
in der vierten industriellen Revolution. Da kann man nicht unbegrenzt Steuern
erhöhen.

ZEIT ONLINE: In den USA war die Ungleichheit schon vor der Krise besonders
hoch. Was macht die Pandemie mit der Gesellschaft dort?

Schwab: Corona wird die Gesellschaft noch weiter polarisieren. Die Menschen
suchen in einer solchen Krise nach Identität, nach Halt. Und da ist Populismus eine
Erfolg versprechende und simple Antwort. Aber es gibt auch viele kluge Stimmen,
die mehr Gerechtigkeit wollen. Nehmen Sie Marc Benioff, den Chef von Salesforce.
Er fordert eine spezielle Steuer, um damit Arbeitslose und Obdachlose in San
Francisco zu unterstützen.

ZEIT ONLINE: Viele Menschen, gerade in Europa, hoffen auf den Wahlsieg von
Joe Biden. Sie auch?

Schwab: Das muss der amerikanische Wähler entscheiden. Was ich hoffe ist, dass
der nächste amerikanische Präsident nicht durch unerwartete Ereignisse wie
Corona oder Umweltkrisen mit gewaltigen Auswirkungen zusätzlich gefordert wird.

ZEIT ONLINE: Woher nehmen Sie den Optimismus, dass es zu einem radikalen
Wandel kommt? Derzeit nehmen die geopolitischen Konflikte zu und der Wille zu
multilateraler Kooperation eher ab.

Schwab: Das ist leider richtig. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben –
auch wenn ich mich da manchmal schon wie ein Missionar fühle. Corona hat uns
bewusst gemacht, was auf dem Spiel steht. Aber ich bin überzeugt davon, dass wir
alle notwendigen Mittel zur Verfügung haben, um die Probleme zu lösen, die vor
uns liegen.

ZEIT ONLINE: Was passiert, wenn wir nichts unternehmen?

Schwab: Die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte werden weiter


zunehmen, die Ungerechtigkeiten und die Umweltzerstörung werden wachsen.
Wenn wir dagegen nichts unternehmen, werden die Veränderungen irgendwann
auf anderem Wege kommen, durch gewalttätige Konflikte oder Revolutionen etwa.
Das lehrt uns die Geschichte.

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