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2000 Jahre Varusschlacht

Topoi
Berlin Studies of the Ancient World

Edited by
Excellence Cluster Topoi

Volume 7

De Gruyter
2000 Jahre Varusschlacht

Geschichte – Archäologie – Legenden

Edited by
Ernst Baltrusch
Morten Hegewisch
Michael Meyer
Uwe Puschner
Christian Wendt

De Gruyter
ISBN 978-3-11-028250-4
e-ISBN 978-3-11-028251-1
ISSN 2191-5806

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data


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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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© 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston


Einbandbild: Collage, M. Hegewisch | Links: Hermannsdenkmal, Detmold, Ernst von Bandel;
Mitte: „Der gescheiterte Varus“, Haltern, Dr. Wilfried Koch; Rechts: Panzerstatue des Augustus von Prima Porta,
Vatikanische Museen, Rom.
Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde
Druck und buchbinderische Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik, Allgäu · Berlin
o Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany
www.degruyter.com
Anselm Kiefer, Varus, 1976.
Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

I. Prooemium

Reinhard Wolters
Die Schlacht im Teutoburger Wald. Varus, Arminius und das römische Germanien . 3

II. Pars imperii

Klaus-Peter Johne
Das Stromgebiet der Elbe im Spiegel der griechisch-römischen Literatur . . . . . 25

Alexander Demandt
Das Bild der Germanen in der antiken Literatur . . . . . . . . . . . . . 59

Dagmar Beate Baltrusch


Und was sagt Thusnelda? Zu Macht und Einfluß germanischer Frauen . . . . . 71

Christian Wendt
Die Oikumene unter Roms Befehl. Die Weltherrschaft als Antrieb der römischen
Germanienpolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Ernst Baltrusch
P. Quinctilius Varus und die bella Variana . . . . . . . . . . . . . . . 117

Siegmar von Schnurbein


Augustus in Germanien. Archäologie der fehlgeschlagenen Eroberung . . . . . 135

III. In situ

Michael Meyer
hostium aviditas. Beute als Motivation germanischer Kriegsführung . . . . . . . 151

Achim Rost und Susanne Wilbers-Rost


Kalkriese – Archäologische Spuren einer römischen Niederlage . . . . . . . . 163

Morten Hegewisch
Von Leese nach Kalkriese? Ein Deutungsversuch zur Geschichte zweier linearer
Erdwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

INHALTSVERZEICHNIS VII
IV. Cura posterior

Klaus Kösters
Endlose Hermannsschlachten … . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Uwe Puschner
„Hermann, der erste Deutsche“ oder: Germanenfürst mit politischem Auftrag.
Der Arminius-Mythos im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 257

Heide Barmeyer
Denkmalbau und Nationalbewegung. Das Beispiel des Hermannsdenkmals . . . 287

Henning Holsten
Arminius the Anglo-Saxon. Hermannsmythos und politischer Germanismus
in England und den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Wolfgang Beyroth
„Steh auf, wenn du Armine bist …“ Ein kunsthistorischer Essay . . . . . . . . 391

Christine de Gemeaux
Arminius, Ambiorix und Vercingetorix aus französischer Perspektive.
,Kleine Heimat‘ versus Imperium in Geschichtsschreibung und Comics . . . . . 403

V. Epilogos

Heinz-Günter Horn
Varus im 21. Jahrhundert. Zur kulturpolitischen Gestaltung des Varus-Jubiläums . . 423

Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

VIII INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort

Im Jahr 2009 fand ein Jubiläum besonderer Art statt: 2000 Jahre zuvor, im Jahr 9 n. Chr., besiegten auf-
ständische Germanen unter der Führung des Cheruskerfürsten Arminius (,Hermann‘) den römischen
Statthalter Varus in der berühmten ,Schlacht im Teutoburger Wald‘.
Wie einschneidend dieses Ereignis war, wusste bereits der römische Geschichtsschreiber Tacitus,
denn er nannte Arminius „ohne Zweifel den Befreier Germaniens“ (liberator haud dubie Germaniae).
Mit dieser römischen Niederlage wurde der Verzicht des römischen Imperiums verbunden, Germanien
östlich des Rheins und nördlich der Donau zu erobern. Wie immer dieser Zusammenhang historisch
auch zu beurteilen sein mag, so ist es doch eine Tatsache, dass die Römer nur den südlichen und west-
lichen Teil des heutigen Deutschlands ,romanisierten‘. Auf diese Weise hatte die Varusschlacht also un-
bestreitbare Nachwirkungen.
Aus diesem Anlass wurde an der Freien Universität Berlin 2009 eine Ringvorlesung unter dem Titel
,2000 Jahre Varusschlacht. Geschichte – Archäologie – Legenden‘ veranstaltet. Sie wurde unter interdis-
ziplinären Gesichtspunkten konzipiert, da auch das Ereignis selbst vom 19. Jahrhundert an von unter-
schiedlichen Fachdisziplinen in den Blick genommen wurde; der vorliegende Band soll nun sowohl den
Ertrag und die Relevanz der Veranstaltung dokumentieren als auch erstmals das Zusammenwirken der
vielf ältigen disziplinären Ansätze in einer möglichst facettenreichen Gesamtschau betonen.
Dieser Gesichtspunkt lag bereits der Planung der Ringvorlesung zugrunde: Die übergreifende Be-
handlung dreier mit der Varusschlacht verbundener Komplexe sollte Hörern und nun den Lesern die
Bedeutung des Ereignisses – sowie die Grenzen seiner Bedeutung – plastisch vor Augen führen.
Die historische Dimension: Sie ergibt sich aus dem Faktum, dass ein Herrschaftsraum, der bereits
auf dem Wege der ,Romanisierung‘ war, von der damals alles beherrschenden römischen Macht aufge-
geben wurde. Die Beiträge gehen der Frage nach, wie die Varusschlacht historisch eingeordnet werden
kann. Wie kann man ,germanische‘ Identität fassen, und was wissen wir nicht zuletzt über den weib-
lichen Anteil am gesellschaftlichen und politischen Leben? Welches war der Charakter römischer
Herrschaft, von der sich die Germanen ,befreiten‘?
Die archäologische Dimension: Die augusteischen Bestrebungen, Germanien zu erobern, haben
reichhaltige Spuren im Boden hinterlassen. Sie erlauben es, ein genaues Bild der römischen Vorstöße,
Strategien und Präsenz zu zeichnen. Die römischen Lager an der Lippe werden seit mehr als 100 Jahren
erforscht, und seit wenigen Jahren gibt es mit Waldgirmes an der Lahn den gesicherten Nachweis einer
rechtsrheinischen Stadtgründung. Dies ist ein deutliches Zeichen, dass die römische Herrschaft rechts
des Rheins nicht allein militärischer Natur war. Sensationelle Funde in Kalkriese bei Osnabrück seit 1987
zeigen ein umfangreiches Schlachtfeld aus der Zeit um 9 n. Chr. – den ,wahren‘ Ort der Varusschlacht?
Die wirkungsgeschichtliche Dimension: Mit dem Beginn der Frühen Neuzeit begann in vielen eu-
ropäischen Ländern die Suche nach ,Ur-Helden‘, die einen Nationalmythos begründen konnten. In
Deutschland identifizierte man mit ,Hermann‘ dem Cherusker jenen Helden, dessen ,Befreiungs-
kampf‘ mythentauglich und – wie sich zeigen sollte – mit dem Übergang zum 19. Jahrhundert politisch
instrumentalisierbar war. Der Mythos hat in den Jahrhunderten seit der Wiederentdeckung der Ger-
mania des Tacitus im 15. Jahrhundert vielf ältige Entwicklungen durchlaufen und – insbesondere – ein
facettenreiches Kunstschaffen ausgelöst, das von zahlreichen Barockopern bis hin zum monumentalen
Hermannsdenkmal bei Detmold reicht.

VORWORT IX
Wichtig ist den Herausgebern, deutlich zu machen, wie unterschiedlich sich die Forschung in vielen
Fragen in Hinblick auf die Varusschlacht positioniert hat und wie sehr Versuche einer Vereinnahmung
des Themas durch Politik, Ideologie und Medien bereits im Ansatz daran kranken, dass eine communis
opinio längst nicht in Sicht ist, weder im Hinblick auf die geographische Lokalisierung des Schlacht-
geschehens noch auf die historische Bewertung. Auch die verschiedenartige Wahrnehmung im inter-
nationalen Kontext findet Berücksichtigung.
Der alle Erwartungen sprengende Erfolg der Ringvorlesung ,2000 Jahre Varusschlacht. Geschichte –
Archäologie – Legenden‘ war ein Gradmesser für das öffentliche Interesse an dieser Thematik und eine
Bestätigung des Konzeptes, die disziplinenübergreifende Herangehensweise dem Publikum vorzustel-
len. Eine konstant hohe Zahl an Zuhörerinnen und Zuhörern von ca. 300 Personen besuchte die Vor-
träge im Hörsaal 1a der sogenannten Rostlaube an der Freien Universität, die Fluktuation war gering,
die Themen offensichtlich zugkräftig. Dies ermöglichte eine Fülle von Diskussionen, die sich an die
etwa einstündigen Vorträge anschlossen. Dabei zeigte sich, dass sowohl Fachkollegen und Spezialisten
als auch interessierte Laien den Weg in den Hörsaal gefunden hatten. Lebhaft und durchaus kontrovers
tauschte man sich aus, problematische Felder wie etwa die privaten Sondengänger oder das Marketing
wurden ebenso gestreift, wie sich insbesondere die Altertumswissenschaftler immer wieder der Frage
stellen mussten, wie sie es denn selbst mit dem möglichen Ort der Varusschlacht hielten.
Die nach jedem Vortrag lebendig geführten Diskussionen konzentrierten sich besonders auf Fra-
gen zur Lokalisation und Datierung von Ereignissen und Funden, etwa der Identifizierung befestigter
Lager, zu ökonomischen Motiven und logistischen wie strategischen Hintergründen und natürlich zur
Rezeption des Ereignisses und der handelnden Personen in diversen Zusammenhängen und mit Hilfe
vieler naheliegender wie auch überraschender Analogien.
Sowohl die Besucherzahlen als auch die rege Beteiligung des Auditoriums bestärkten die Heraus-
geber in der Idee, die Ringvorlesung in Form eines gedruckten Werks zu dokumentieren. Viele Anfra-
gen, wo und wann es denn die Beiträge nachzulesen gebe, erreichten uns nicht nur aus dem Kreis der
Zuhörerschaft. Drei Jahre, nachdem die erste Woge an Jubiläumspublikationen abgeebbt und verarbei-
tet ist, können wir nun gleichsam die ,Nachlese‘ des Jahres 2009 vorlegen.
Dank der großzügigen Finanzierung durch den Berliner Exzellenzcluster TOPOI waren wir nicht
nur in der Lage, die Veranstaltung durchzuführen, sondern nun auch innerhalb der Reihe ,TOPOI. Ber-
lin Studies of the Ancient World‘ des Verlags De Gruyter den Band vorzulegen. Für dieses Privileg
bedanken wir uns sehr. Sowohl die interdisziplinäre Zusammenarbeit als auch die beherrschenden
Fragestellungen nach räumlichen Kenntnissen von und geeigneten Herrschaftskonzeptionen für Ger-
manien, der archäologisch-historischen Rekonstruktion der Ereignisse sowie dem Nachleben und dem
Einfluss des umgewerteten Arminius- und somit Germanienbildes können exemplarisch für die
Grundfrage des Großprojekts TOPOI gelten: die Beziehung zwischen Raum und Wissen in der Antike
samt ihren Nachwirkungen bis in die Gegenwart.
Die Chronologie der Veranstaltung wurde für die Struktur des Bandes nicht übernommen. Statt
einer ablaufgetreuen Dokumentation haben wir uns entschieden, die Beiträge nach ihren thematischen
Schwerpunkten zu bündeln, um wiederum kenntlich zu machen, welche Perspektiven eingenommen
werden und welche Forschungsansätze die wissenschaftliche Auseinandersetzung prägen. Auch die
Gegenüberstellung einzelner Positionen soll den Leserinnen und Lesern auf diese Weise leichter fallen.
Darüber hinaus konnten weitere Autoren – selbst nicht Vortragende im Rahmen der Veranstaltung –
gewonnen werden, die durch zusätzliche relevante Aspekte den Band wesentlich bereichern.

X VORWORT
I. Prooemium

Reinhard Wolters gibt in einem einführenden Kapitel zunächst einen Überblick über das Geschehen
und die allgemeinen politischen Hintergründe wie auch über die aus den Ereignissen des Jahres
9 n. Chr. resultierenden Konsequenzen. Ebenso wird hier ein Schlaglicht auf die Wandlungen gewor-
fen, die innerhalb der antiken Überlieferung vorliegen: Denn erst infolge von Tacitus’ Dictum über
Arminius als dem „Befreier Germaniens“ war die Zuspitzung der Rezeption auf die Bedeutung der Va-
russchlacht möglich.

II. Pars imperii

Das folgende Kapitel ist dem historischen Rahmen der Varusschlacht gewidmet und behandelt die Hin-
tergründe, vor denen der germanische Raum sowie ein römisches Engagement östlich des Rheins zu
verstehen und einzuordnen sind.

Klaus-Peter Johne zeigt in seinem Beitrag „Das Stromgebiet der Elbe im Spiegel der griechisch-römi-
schen Literatur“, wie das Gebiet zwischen Rhein und Elbe in der antiken Wahrnehmung präsent war,
belegt die entscheidenden Wandlungen und betont die wichtige Orientierungsfunktion des Flusses
Elbe. Alexander Demandt zeichnet das Bild der Germanen nach, wie wir es von den antiken Autoren
überliefert finden. Dabei gelingt es ihm, die Vorstellung eines angeblichen Germanentopos zu ent-
kräften, der unisono allen Darstellungen zugrunde liegen würde. Ein – durchaus provokanter – Aus-
blick auf die Kontinuitäten in Mittelalter und Neuzeit beschließt seine Ausführungen. Dagmar Beate
Baltrusch gibt einen Einblick in die bislang weitgehend vernachlässigte Welt der germanischen Frauen.
Die Gewissheit, mit der in vereinzelten Publikationen Aussagen über die Stellung und Rolle der Frauen
gemacht wurden, wird hier kritisch hinterfragt. Zudem unterstreicht Baltrusch, welch entscheidenden
Einfluss Frauen in kultischem und politischem Kontext ausüben konnten und wie ungeklärt ihre kon-
kreten Aufgaben und ihr Status letztlich sind. In seinem Beitrag „Die Oikumene unter Roms Befehl.
Die Weltherrschaft als Antrieb der römischen Germanienpolitik?“ entwirft Christian Wendt die Entwick-
lung des römischen Weltherrschaftsgedankens als konstitutives Merkmal der Genese des Prinzipats
und wirft die Frage auf, inwiefern die Expansion nach Germanien durch eben dieses Motiv der schran-
kenlosen Herrschaft angestoßen und geleitet wurde. Ernst Baltrusch hinterfragt die Berechtigung, mit
der das vorwiegend negative Urteil antiker Autoren über P. Quinctilius Varus gef ällt wurde. Konträr
zur derzeit vorherrschenden Auffassung, die in Varus einen hervorragenden Verwaltungsfachmann er-
kennen will, dessen Bild aufgrund seiner Niederlage tendenziös verzerrt wurde, beleuchtet Baltrusch
dessen Statthalterschaft in Syria, um auch in diesem Zusammenhang ein kaum von Wissen über
einen schwierigen Herrschaftsraum geprägtes Vorgehen seitens des römischen Statthalters zu diagno-
stizieren. In einer übergreifenden Bestandsaufnahme kann Siegmar von Schnurbein zeigen, dass die
archäologischen Zeugnisse für Germanien in augusteischer Zeit eine hohe Differenzierung aufweisen:
Waldgirmes – mit dem jüngst gefundenen Kopf des Pferdes einer Reiterstatue (s. das Vorblatt zu Kapi-
tel III) – als die Anlage einer städtischen Siedlung steht etwa eindeutig militärisch orientierten Befesti-
gungen im Lippegebiet gegenüber. Dieser Befund spricht für eine tatsächlich intendierte Eroberung
und Provinzialisierung des germanischen Raums durch Rom.

VORWORT XI
III. In situ

Die Beiträge des Kapitels III beschäftigen sich neben der Schlacht und ihrer Lokalisierung mit dem tat-
sächlichen Fundniederschlag von Schlachtenereignissen, ferner mit der römischen Militärpolitik, der
Motivation germanischer Teilnehmer an der Varusschlacht sowie weiteren Örtlichkeiten und Ereignis-
sen im sogenannten Barbaricum.

Michael Meyer setzt sich mit der Motivation germanischer Kriegführung auseinander und stellt das Ele-
ment der für die Teilnehmer zu erringenden Beute in den Mittelpunkt. Verglichen wird dabei der über-
raschend große Umfang dieser Beute im Verhältnis zum Aufwand germanischer Handwerker, um
etliche tausend Kilogramm an Metallen, Edelmetallen und sonstigen Werkstoffen auf konventionellem
Wege zu gewinnen. Achim Rost und Susanne Wilbers-Rost stellen neue Grabungsergebnisse der Wall-
anlage auf dem Oberesch vor und thematisieren Waffenfunde sowie Knochenreste im Kontext des
Schlachtereignisses. Die Autoren präsentieren zudem ein Interpretationsmodell für das Fundareal von
Kalkriese, um dieses quellenkritisch würdigen zu können. Morten Hegewisch widmet sich kritisch einer
Wallanlage im niedersächsischen Leese, die seit den 1920er Jahren im Verdacht steht, hier habe die bei
Tacitus benannte ,Schlacht am Angrivarierwall‘ des Germanicus stattgefunden. Der Abschnittswall
,Ohle Hoop‘ befindet sich etwa drei Tagesmärsche von Kalkriese entfernt und weist in vielerlei Hinsicht
eine ähnliche Struktur wie die Wallanlage auf dem Oberesch auf. Diskutiert werden außer den Ausgra-
bungsbefunden neben der Wallanlage in Kalkriese weitere gut dokumentierte Befunde aus dem skan-
dinavischen Raum.

IV. Cura posterior

Das vierte Kapitel konzentriert sich auf die Rezeption der ,Schlacht im Teutoburger Wald‘ und die In-
strumentalisierung von Arminius seit dem 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Klaus Kösters zeichnet die Etablierung des Arminius-Mythos in der Übergangsepoche vom 15. zum
16. Jahrhundert nach, als Arminius zunächst in den Auseinandersetzungen zwischen der römischen
Kurie und dem Heiligen Römischen Reich argumentativ funktionalisiert, zusehends zur deutschen
Symbolfigur aufgebaut und nun auch in ,Hermann‘ umbenannt wurde. Arminius avancierte in den bei-
den folgenden Jahrhunderten im deutschen, französischen und italienischen Sprachraum zum litera-
rischen und Opernhelden und geriet mit dem aufgeklärten 18. Jahrhundert zusehends in nationale
Fahrwasser. Mit der Expansion Frankreichs und Napoleons Vorherrschaft in Europa stieg ,Hermann‘
nun endgültig zum Nationalheros auf, wie Uwe Puschner ausführt, und wurde bis ins 20. Jahrhundert
hinein zum Symbol im Kampf zunächst gegen den äußeren – französischen – Feind und seit der Reichs-
gründung verstärkt auch die imaginierten sogenannten inneren Reichsfeinde. Der Ort des politischen
Mythos war seit dem Kaiserreich das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald bei Detmold, dessen
Entstehungsgeschichte von der nachnapoleonischen Zeit bis zur Denkmalsenthüllung 1875 und den
Jubiläumsfeiern 1909 und 1925 Heide Barmeyer schildert und analysiert. Arminius/Hermann und die
Varusschlacht waren seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur fester Bestandteil nationaler deutscher
Narrative, sondern auch der englischsprachigen Welt, wo der Römerbezwinger, wie Henning Holsten
in dieser ersten grundlegenden Untersuchung der britischen und US-amerikanischen Rezeptionsge-

XII VORWORT
schichte in einer dichten Beschreibung herausarbeitet, als Symbol von spezifischen Freiheitsideen
figurierte, ebenso wie er der Selbstbehauptung der Deutschamerikaner in ihrer dominant ,englischen‘
und von anderen Einwanderungsgruppen geprägten Umwelt Ausdruck verlieh. Neben der Inszenie-
rung von Arminius/Hermann seit der Frühen Neuzeit durch Literaten, Opernlibrettisten und Kompo-
nisten verliehen seit dem Übergang zum 19. Jahrhundert dem deutschen Freiheitshelden und der Va-
russchlacht prominent bildende Künstler Gestalt, wie Wolfgang Beyroth aufzeigt. Sie leisteten damit
einen wichtigen Beitrag für die Verankerung des Mythos in der nationalen Gedächtniskultur im 19. und
frühen 20. Jahrhundert und wirkten in der Gegenwart im Verbund mit Historikern, Schriftstellern und
Publizisten an der kritischen Auseinandersetzung mit diesem deutschen Nationalmythologem und
dessen – noch nicht abgeschlossener – Entzauberung mit. Die französische Sicht auf die dortigen Iko-
nen des Widerstands gegen das Imperium Romanum verdeutlicht Christine de Gemeaux anhand der
Aufnahme in die Populärkultur der bandes dessinées/comic-Literatur und stellt die divergente Rezeption
der Freiheitshelden in einen europäischen, ja sogar einen aktuellen strategischen Zusammenhang.

V. Epilogos

Als Kapitel V beschließt das – bewusst im Rededuktus verbliebene – Vortragsmanuskript von Heinz-
Günther Horn den Band, so wie der Referent auch die Veranstaltung mit seinen Rück- und Einblicken
auf und in die Festveranstaltungen zum Varus-Jubiläum beschlossen hat. Die pointierte Darstellung
politischer Zusammenhänge und organisatorischer Schwierigkeiten beleuchtet die Hintergründe des
Feierjahres 2009 auf eine besondere, nicht ironiefreie Weise und zeigt auf diesem Weg, wie kompliziert
sich das Ringen um Deutung und Deutungshoheit nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene bzw. in der
intellektuellen Debatte gestaltet, sondern auch in der breitenwirksamen Vermittlung.

Die Herausgeber bedanken sich bei Hans Kopp und Stefan Noack, die beide mit großem Engagement
die Mühen der Bildbeschaffung und Textvereinheitlichung übernommen haben und zudem an der Re-
daktion des Bandes in erheblichem Maße mitgewirkt haben. Ohne ihre Arbeit wäre der Band nicht in
der vorliegenden Form entstanden. Ein weiterer großer Dank gilt den Personen und Institutionen, die
ihre Einwilligung zum Abdruck von Bildmaterial gegeben haben, das sich in ihrem rechtlichen Verfü-
gungsrahmen befindet; im besonderen seien hier genannt Dr. Wilfried Koch, Wilfried Mellies, die Baye-
rischen Staatsgemäldesammlungen, die Kunsthalle Hamburg sowie das Stadtarchiv Krefeld, das
LVR-Landesmuseum Bonn, das Deutsche Theatermuseum München, die Verlage Standaard Uitgeverij
und Castermann, die Staatsbibliothek Berlin, die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, die Mi-
chael Pereckas Stiftung Niedersachsen, das Germanische Nationalmuseum, City of New Ulm (Minne-
sota), Conservation Solutions Inc., sowie www.zwermann.info, die uns die Nutzung unentgeltlich über-
lassen haben.

Berlin im Mai 2012

Ernst Baltrusch, Morten Hegewisch, Michael Meyer, Uwe Puschner, Christian Wendt

VORWORT XIII
I. Prooemium
Der sog. Caelius-Stein, der Kenotaph des Centurio Marcus Caelius (geboren um 45 v. Chr., gestorben 9 n. Chr. in der Varusschlacht).
Reinhard Wolters

Die Schlacht im Teutoburger Wald


Varus, Arminius und das römische Germanien

Im Herbst des Jahres 2009 jährte sich die sogenannte ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ zum zweitau-
sendsten Mal. In ihr vernichteten germanische Kämpfer unter Führung des Cheruskers Arminius das
Heer des römischen Feldherrn Publius Quinctilius Varus. Der Verlust von drei Legionen sowie neun
Hilfstruppeneinheiten, insgesamt wohl zwischen 15000 und 20000 Mann, war eine der großen Nie-
derlagen in der Geschichte des Imperium Romanum. Für den Norden Europas wiederum zählen das
Ereignis und seine politischen Hintergründe zu den ältesten Vorgängen, die – über die Historiker des
Römischen Reiches – Eingang in die geschichtliche Überlieferung gefunden haben.1
Die imposante Rundzahl von 2000 Jahren lenkte, zumal in Deutschland, hohe publizistische Auf-
merksamkeit auf das vergangene Geschehen. Die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger wurden in
Presse, Rundfunk und Fernsehen in groß aufgemachten Geschichten über die Germanen, die römi-
schen Eroberungsversuche rechts des Rheins sowie das Scheitern Roms belehrt. Höhepunkt war im
Sommer 2009 die Ausstellung ,Imperium – Konflikt – Mythos‘, die als größte historische Sonderaus-
stellung in der Geschichte der Bundesrepublik, verteilt auf drei Städte und zwei Bundesländer, zu se-
hen war: im westf älischen Haltern als einem der hervorragenden Orte aus der Zeit der römischen
Herrschaft in Germanien; im Lippischen Landesmuseum in Detmold, zugleich dem Ort des Her-
mannsdenkmals; schließlich in Kalkriese nördlich von Osnabrück als mutmaßlichem Ort der Varus-
katastrophe. Gerade noch rechtzeitig zum Bimillennium schien es mit der Entdeckung eines römisch-
germanischen Kampfplatzes 1989 bei Kalkriese gelungen zu sein, dem historischen Ereignis einen Ort
zu geben.
Die Politiker versäumten in ihren Grußworten genauso selten wie die Medien in ihren Berichten,
für das Jahr 2009 eine bedeutungsschwere Reihe aufzumachen: ‚2000 Jahre Schlacht im Teutoburger
Wald, 60 Jahre Gründung der Bundesrepublik Deutschland, 20 Jahre Mauerfall‘. Die ‚Schlacht im Teu-
toburger Wald‘ wurde in Deutschland vorrangig als ein Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen,
und der Begriff ‚Jubiläum‘ war an der Tagesordnung.
Doch auch ohne den zweitausendsten Jahrestag konnte das Thema ‚Die Römer in Germanien‘ be-
reits in den letzten beiden Jahrzehnten ganz erhebliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Denn neben
Kalkriese gab es eine Fülle spektakulärer archäologischer Neuentdeckungen von römischen Militärplät-
zen oder gar von römischen Städtegründungen, bis tief in das rechtsrheinische Gebiet hinein. Die Neu-
funde haben unser Bild von der Zeit der römischen Herrschaft in Germanien auf eine weitgehend neue
Grundlage gestellt. Die archäologischen Funde helfen, die schriftlichen Quellen immer wieder neu zu
lesen und zu verstehen.

1 Für eine deutlich ausführlichere Entwicklung des The- ist auf die drei umfassenden Kataloge der Ausstellung
mas mit dichter Dokumentation der Quellen sowie ,Imperium – Konflikt – Mythos‘ hinzuweisen (Imperium
der strittigen und abweichenden Positionen in der For- [2009]; Konflikt [2009]; Mythos [2009]) sowie Dreyer
schung sei auf die Monographie Wolters (2009a) ver- (2009) und Aßkamp u. Esch (2010). Ein ordnender
wiesen. Die vorliegende Skizze folgt weitgehend dem Überblick zu der im Umfeld des Jahres 2009 ausgebro-
Wortlaut des Vortrags und beschränkt sich auf die wich- chenen Publikationsflut bei Kehne (2009a).
tigsten Nachweise sowie Nachträge. Als neuere Literatur

DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD 3


1. Bilder von der Varusschlacht

Will man sich heute den historischen Ereignissen um die ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ annähern, so
stehen dem eine Reihe von Schwierigkeiten entgegen. Zum einen ist dies die ausgesprochen dürftige
Quellenlage zu den damaligen Vorgängen, zum zweiten das oft schwierige Verhältnis zwischen archäo-
logischer und literarischer Überlieferung, und drittens sind es die ‚Bilder‘, die sich die verschiedenen
Jahrhunderte von diesem Ereignis gemacht haben: Seit dem Humanismus war das Thema nicht nur Ge-
genstand wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern ebenso von politischen Pamphleten, Dramen,
Romanen und Gedichten, Liedern und Opern, Gemälden und Standbildern. Die Darstellungen haben
einen dichten Fluss von Bildern hervorgerufen, die ihre eigene und oft viel eindringlichere Wirklichkeit
erzeugt haben. Das historische Geschehen wurde dadurch in vielem bis zur Unkenntlichkeit entstellt
bzw. liegt darunter begraben. In der Wissenschaft ist längst anerkannt, dass der Rezeption des Ereig-
nisses ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ weitaus mehr Bedeutung zukommt als dem Ereignis selbst.2
Bei jeder Annäherung an das Thema sind also zwei grundverschiedene zeitliche Horizonte aus-
einanderzuhalten: zum einen das historische Ereignis des Jahres 9 n. Chr., bei dem als Germanen be-
zeichnete Stämme im Gebiet rechts des Rheins drei römische Legionen vernichteten – und das es mit
den uns zur Verfügung stehenden Quellen und wissenschaftlichen Methoden historisch zu rekonstru-
ieren gilt. Zum zweiten die Rezeption dieses Ereignisses ab dem 15. Jahrhundert, bei der sich – von Ge-
lehrten ausgehend – die deutschsprachige Bevölkerung nördlich der Alpen in eine Tradition mit den
Germanen setzte und sich mit den Bewohnern Nordeuropas aus der Zeit um Christi Geburt identifi-
zierte.3 Ausgangspunkt waren die wiederentdeckten Schriften der antiken Autoren, insbesondere die
Germania des Tacitus 1455, die Annalen des selben Autors 1507 und die Römische Geschichte des Velleius
Paterculus 1520. Die Humanisten erkannten in diesen Texten ihre eigene Vergangenheit, geschrieben
in der Antike und damit von höchster Autorität. In unhistorischer Weise wurden Einst und Jetzt mitei-
nander gleichgesetzt und die in den Schriften überlieferten Verhaltensweisen der damaligen Germanen
für die eigene Gegenwart normativ: Nun waren die ‚Germanen‘ zu ‚Deutschen‘ und ‚Arminius‘ zu ‚Her-
mann‘ geworden.
Dies alles geschah, obwohl es zwischen der Bevölkerung Nordeuropas in römischer Zeit und jener
im 15. Jahrhundert keine gelebte Tradition mehr gab. Besonders apart ist, dass die Identifikation der
damaligen Deutschen mit den Germanen der Antike auf Grundlage der Texte griechisch-römischer
Autoren vorgenommen wurde, also nicht aufgrund einer Selbstbeschreibung der Träger dieser Kultur,
sondern auf Basis einer von außen vorgenommenen Fremdbeschreibung: Die Verfasser dieser Fremd-
beschreibungen hatten Land und Leute nur in wenigen Fällen selbst gesehen.
Der deutsche Name ‚Hermann‘ (wohl als Übertragung aus dux belli) für Arminius kam im Umfeld
Martin Luthers auf. Von seinen Mitstreitern wurde der Reformator zugleich mit dem Cheruskerfürsten
identifiziert. Den Gegenpart dieses neuzeitlichen Arminius bildete die römisch-katholische Kirche, mit
dem Papst in der Rolle des Augustus oder gar des Varus. Die Parallelsetzung zeigte zugleich an, welche
Seite den Sieg davontragen würde.
Die Rezeption vom späteren 16. bis weit ins 18. Jahrhundert ist charakterisiert durch eine Fülle
primär künstlerischer Bearbeitungen zum Thema ‚Arminius‘ oder ‚Hermannsschlacht‘: als Drama und

2 Vgl. die Beiträge in Fansa (1994); Wiegels u. Woesler 3 Zum Fortleben des Germanen-Mythos s. A. Demandt
(1995); Mythos (2009); dazu von See (1970) u. und K. Kösters im vorliegenden Band.
(2003); Wiegels (2007); Bendikowski (2008); Kösters
(2009).

4 REINHARD WOLTERS
Roman, in Lyrik und als Oper. Oft trat Arminius mit seiner Thusnelda nur noch als Held einer tragi-
schen Liebesbeziehung auf. Erst mit dem Nationalstaat wurde der Arminius-Stoff wieder deutlich poli-
tischer. Auf der einen Seite stand die Tat des Arminius für die Idee der Einigung aller Deutschen, ein
scheinbarer historischer Gegenpol und Vorbild zur Überwindung der deutschen Kleinstaaterei. Doch
auf der anderen Seite diente Arminius in der kulturellen und schließlich politischen Auseinanderset-
zung zwischen Romanismus und Germanismus als Sinnbild germanisch-deutscher Überlegenheit er-
neut der äußeren Abgrenzung. Äußerungen von großer Nachwirkung waren einerseits die 1808 als Re-
aktion auf das Napoleonerlebnis verfasste, offen antifranzösische Hermannsschlacht Heinrich von
Kleists, andererseits das nach dem Sieg über Frankreich und der Reichsgründung von 1871 schließlich
vollendete und mit dem Schwert nach Westen grüßende Hermannsdenkmal bei Detmold.
Schon bald nach der Reichsgründung verband sich der politische Germanismus mit den Ideen des
Rassismus. Für diesen boten nun allerdings stärker die Charakterisierungen der Nordbewohner in der
Germania des Tacitus die antike Vorlage als die historische Tat des Arminius. Die Blütezeit einer deut-
schen ‚Rasse‘ glaubte man in diesem Text zu erkennen, der die Autochthonie und Unvermischtheit der
Germanen ja sogar ausdrücklich hervorhob.4 Zwar war dies ein weit verbreiteter und längst erkannter
Topos antiker Ethnographien, doch die Ausbildung einer Theorie der Rassenhygiene ließ sich davon
nicht beeindrucken – bis hin zu ihren mörderischen Konsequenzen im Nationalsozialismus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war in Deutschland Germanenforschung jedweder Art erst einmal
gründlich diskreditiert, auch weil manche Wissenschaftler sich mit ihren Arbeiten allzu bereitwillig
in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes gestellten hatten. Erst in den 70er Jahren kam es zu
einer erneuten Hinwendung zu diesem Themenkreis auf breiterer Basis, bis zu der vor wenigen Jahr-
zehnten kaum für möglich gehaltenen Fülle archäologischer, historischer und philologischer Neuer-
scheinungen im Umfeld der Auffindung des Schlachtfeldes von Kalkriese sowie jetzt des Bimillenni-
ums.
Die Vorgänge um den historischen Arminius sind durch diese ebenso massenhafte wie verschie-
denartige Rezeption deutlich überdeckt worden. Selbst die antiken Quellen haben es schwer, gegen die
Kraft der so erzeugten Bilder zu bestehen – und je dünner die Quellenlage ist, desto mehr Raum besteht
bekanntermaßen für Überbrückungen und phantasievolle Ausmalungen.
Die folgenden Ausführungen bemühen sich um eine Rekonstruktion der Varuskatastrophe als his-
torischen Geschehens. Sie gelten nicht der Wiedergeburt des Arminius als Hermann ab dem 15. Jahr-
hundert und dessen ganz eigener Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht. Doch für jede Annähe-
rung auch an den historischen Arminius ist es unerlässlich, die oft so vertraut anmutenden, aber erst in
den Jahrhunderten der Rezeption entstandenen Vorstellungen von ihm – quasi wie ein Archäologe –
Schicht für Schicht abzutragen.

2. Römer und Germanen: der politische Hintergrund

Seit der Eroberung Galliens durch Caesar (58–51 v. Chr.) waren die Germanen Nachbarn des Römischen
Reiches. In beispielloser Weise hatte Caesar das Herrschaftsgebiet Roms von der heutigen Provence –
der schmalen Landverbindung zwischen Italien und dem römischen Spanien – bis an den Atlantik im

4 Tac. Germ. 4.

DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD 5


Abb. 1 | Karte augusteischer und tiberischer Anlagen sowie römischer Truppenvorstöße in augusteischer Zeit.

Nordwesten und den Rhein im Osten vorgeschoben. Innerhalb weniger Jahre gewann er dem Reich das
Gebiet des heutigen Frankreich, der Beneluxstaaten sowie die westlichen Teile Deutschlands hinzu.
Jenseits des Rheins siedelten die Germanen – jedenfalls nannten die Römer sie so.5 Das Problem
eines jeden heutigen Versuchs, die Bewohner rechts des Rheins historisch zu fassen, liegt darin, dass es
zwar archäologische Hinterlassenschaften von ihnen gibt, doch keine eigenen schriftlichen Zeugnisse.
Es fehlen demnach Quellen, die erzählend Zusammenhänge herstellen und dabei die germanische Per-
spektive wiedergeben. Alle uns vorliegenden Berichte über die Bewohner rechts des Rheins stammen

5 Zum Germanenbegriff: Pohl (2000); Beck, Geuenich,


Steuer u. Hakelberg (2004); Bleckmann (2009) sowie
die Beiträge in Mythos (2009).

6 REINHARD WOLTERS
von griechischen und römischen Autoren. Häufig sind die Verfasser dieser Schriften nicht einmal in
die Nähe des von ihnen beschriebenen Landes gekommen. Ausführungen zur gesellschaftlichen und
politischen Ordnung der Germanen, zu Lebensweise und Religion, Verhalten in Frieden und Krieg,
dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen, Fürsten, Kriegsführern und Volk
sind demnach als ethnographische Erzählungen zu lesen. Die darin geschilderten Sachverhalte sind
nur im Bewusstsein dieser begrenzten Möglichkeit des Sehens, Verstehens und Ausdrückens der nicht-
eigenen Kultur zu interpretieren.
Nach allem, was wir wissen, wurde der Name ‚Germane‘ von den Bewohnern jenseits des Rheins
niemals als Selbstbezeichnung benutzt. Auch das mit dem einheitlichen Namen suggerierte Bewusst-
sein einer gemeinsamen Identität gab es nicht. Die Bewohner rechts des Rheins waren und fühlten sich
als Sugambrer, Tenkterer, Chatten, Cherusker, Marser oder Chauken. Sie gliederten sich in eine Viel-
zahl von Stämmen, mit eigenen Traditionen und eigener Geschichte, von unterschiedlicher Größe, mit
eigener gesellschaftlicher und politischer Ordnung und mit je eigener Führung. Zwar existierten Kult-
gemeinschaften, und man heiratete, zumal unter den führenden Familien, auch über die Stammes-
grenzen hinweg, doch ebensogut grenzte man sich immer wieder von den anderen Stämmen ab und
war oft genug mit ihnen in Nachbarschaftsfehden verwickelt.
Zudem war die Stammeswelt vergleichsweise instabil. In der Überlieferung oft nur kurz aufschei-
nende und dann wieder verblassende Stammesnamen spiegeln Abspaltungen und Zusammen-
schlüsse, Neubildungen und das Verschwinden von Stämmen. Eine gemeinschaftlich handelnde
Gruppe blieb oft nur so lange stabil, wie eine starke Führung oder der gemeinsame Erfolg sie zusam-
menhielt. Zur Identifizierung und Abgrenzung belegten sie sich selbst mit einem spezifischen Namen –
oder wurden von außen so angesprochen – und konnten sich im Erfolgsfall als ‚Stamm‘ verfestigen.6
Der vereinheitlichende Begriff ‚Germanen‘ für diese differenzierte und heterogene Gesellschaft
wurde überhaupt erst von Caesar in die Mittelmeerwelt getragen. Kern des caesarischen Germanen-
begriffs war eine schiere geographische Abgrenzung, keine ethnologisch differenzierende Beobach-
tung: Der Rhein auf seiner vollen Länge war für Caesar die entscheidende Grenzlinie zwischen Kelten
und Germanen. Mit seinen ethnographischen Exkursen, in denen er die Verschiedenheit zwischen
dem Charakter und der Lebensweise der Kelten links und der Germanen rechts des Rheins beschrieb,
füllte Caesar den Germanenbegriff inhaltlich und übermittelte das Bild zweier grundsätzlich verschie-
dener Völker im Norden Europas.
Die auf gemeinsame Sitten und Gebräuche verweisenden archäologischen Überreste, ergänzt
durch die Namensforschung zur Rekonstruktion alter Sprachgebiete, bieten uns heute jedoch ein an-
deres Bild: Demnach gab es am Rhein eher eine horizontale Abfolge der Kulturen, keine vertikalen Un-
terschiede zwischen Ost und West.7 Im Süden dehnte sich beiderseits des Stroms die Latène-Kultur aus,
die von Spanien über Frankreich und den Süden Deutschlands bis nach Böhmen reichte. Ihre Charak-
teristika sind befestigte Siedlungen (oppida), eine bereits eingeführte Geldwirtschaft und in Ansätzen
auch schon Schriftgebrauch. Nördlich darüber lag im Mittelgebirgsraum eine Übergangszone, die zwar
auch noch oppida und Münzgebrauch aufweist, jedoch mit aufwändigen Bestattungen ein eigenstän-
diges Profil zeigt. Ganz im Norden hingegen, vor allem im niederländisch-norddeutschen Flachland,
gab es dann eine weniger von Ackerbau als von Viehwirtschaft geprägte Gesellschaft mit nur gering ent-
wickelter materieller Kultur. Vorherrschend waren Kleinsiedlungen mit Familienclans, während über-

6 Grundlegend: Wenskus (1961); vgl. jetzt auch Tausend 7 Ament (1984).


(2009).

DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD 7


geordnete gesellschaftliche Strukturen kaum zu erkennen sind. Das Aufkommen des Germanenna-
mens gerade in diesem Raum spricht dafür, wenn überhaupt, dann in diesem Gebiet und in seinen
Bewohnern jene Kulturgruppe zu suchen, von der aus – aufgrund vermeintlich ähnlicher Lebensfor-
men – der Name ‚Germanen‘ auf alle Bewohner rechts des Rheins übertragen wurde.

3. Die Zeit der römischen Angriffskriege

Rund 40 Jahre nach der Eroberung Galliens durch Caesar begannen unter Augustus die römischen
Feldzüge ins Gebiet rechts des Rheins. Die Kriegszüge sind verbunden mit dem Namen seines Stief-
sohns Drusus, der die römischen Truppen ab 12 v. Chr. Jahr für Jahr weiter ins Land führte und 9 v. Chr.
schließlich die Elbe erreichte. Auf dem Rückweg stürzte Drusus vom Pferd und erlag seinen
Verletzungen. Posthum wurde ihm der Name GERMANICVS verliehen. Der Ehrenname eines ‚Ger-
manensiegers‘ wurde von nun an in seiner Familie erblich.
Mit den Drususfeldzügen verbindet sich die Frage, welche Absichten das Imperium überhaupt
rechts des Rheins verfolgte. Die Antworten reichen von einer eher minimalistischen Perspektive, nach
der es in den Feldzügen nur um die Verteidigung Galliens gegangen sei – wohin immer wieder germa-
nische Kriegergruppen plündernd eingefallen waren und das es nun in einer Art Vorfeldverteidigung
zu beschützen gegolten hätte –, bis zu einer Maximalperspektive, nach der von Anfang an die Vorverle-
gung der Reichsgrenze bis zur Elbe geplant war, wenn nicht noch weit darüber hinaus.8
Die Forschungen der letzten Jahre haben erkennbar gemacht, dass der wissenschaftliche Streit
um Art und Umfang des beabsichtigten römischen Landgewinns den Blick vermutlich lange Zeit
falsch gelenkt hat. Denn in starkem Maße waren die Feldzüge in Germanien innenpolitisch bestimmt,
insbesondere von der Idee einer militärischen Qualifizierung des möglichen Nachfolgers des Augus-
tus.9 Im Feld sollte jener Ruhm erworben werden, der den Kriegsherrn in den Augen der Öffentlich-
keit geeignet erscheinen ließ, zukünftig das Römische Reich zu führen. Es ging weniger um die Ge-
winnung von Land als um die Gewinnung von Prestige. Akzeptiert man diese Perspektive, dann
bedeutet das allerdings auch, dass den Germanen selbst nur die Rolle einer materies gloriae zukam:
eines Gegenstands, der sich eignete, den erhofften Ruhm zu erwerben. Eine wirkliche militärische Be-
drohung konnten die Germanen demzufolge in den Augen der römischen Entscheidungsträger
schwerlich sein.
Eng verbunden mit den Drususfeldzügen ist weiterhin die Frage, was die Römer am Ende dieser
Jahre in Germanien erreicht hatten. Tiberius, der noch aus den Händen seines sterbenden Bruders das
Heer übernommen und 8 v. Chr. umfangreiche Organisationsmaßnahmen in Germanien durchgeführt
hatte, feierte am 1. Januar 7 v. Chr. in Rom einen großen Triumph über die Germanen. Zugleich wurde
die sakrale Stadtgrenze, das pomerium, erweitert – ein Akt, der die Ausdehnung an der Peripherie des
Reiches in seinem Zentrum spiegelte.
Nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen archäologischen Neuentdeckungen in den Gebieten rechts
des Rheins ist die Forschung mittlerweile deutlich optimistischer und geht zum überwiegenden Teil
davon aus, dass diesen Symbolisierungen in Rom auch eine gewisse Realität im Norden zugrunde lag:
Für die Zeit ab 8/7 v. Chr. dürfte das Imperium im germanischen Gebiet bis zur Elbe die Herrschaft be-

8 Neuere Zusammenfassungen der Forschung bei Dei- 9 Insbesondere Kehne (1998); Kehne (2002).
ninger (2000); Johne (2006).

8 REINHARD WOLTERS
ansprucht haben.10 Das bedeutet nicht, dass die römische Herrschaft bis in den letzten Winkel verwal-
tungstechnisch durchgesetzt war. Auch in Gallien vergingen nach den Eroberungen Caesars noch Jahr-
zehnte bis zu einer provinzialen Ordnung. Doch römische Herrschaft bestand in dem Sinne, dass
Ungehorsam als Widerstand bewertet wurde. In intensiver Weise stützte sich Rom auf die Zusammen-
arbeit mit germanischen Stammesführern, die ihre Autorität in den Dienst Roms stellten. Nur mit Hilfe
dieser indirekten Herrschaftsmechanismen war es für das verwaltungsarme römische Herrschaftssys-
tem überhaupt möglich, ein derart großes, heterogenes und verkehrsgeographisch äußerst problema-
tisches Gebiet zu kontrollieren. Mit Blick auf die Varuskatastrophe des Jahres 9 n. Chr. bedeutet die
Feststellung einer römischen Herrschaft ab 8/7 v. Chr. zugleich, dass für rund 20 Jahre, also für beinahe
eine nachgewachsene Generation der Germanen, die ständige römische Präsenz in ihrem Land sowie
ordnende Eingriffe der Vormacht eine normale Lebenserfahrung waren.
Abgesichert wurde die politische Herrschaft durch ein Netz militärischer Standorte. Dieses ist
durch die Entdeckungen der letzten beiden Jahrzehnte in seiner Weiträumigkeit und Dichte immer
besser erkennbar geworden.11 Neben den Einfallswegen von Xanten aus entlang der Lippe sowie von
Mainz aus durch die Wetterau bzw. über Main und Lahn sind mit römischen Militäranlagen bei Markt-
breit (südlich von Würzburg), Bielefeld, Hedemünden (zwischen Kassel und Göttingen) und wohl auch
an der Porta Westfalica neue Plätze identifiziert worden, die römische Präsenz jetzt auch weit im Süd-
und Nordosten dokumentieren. In Lahnau-Waldgirmes bei Gießen ist schließlich ein Ort engen Zu-
sammenlebens zwischen Römern und Germanen mit einer zentralen Platzanlage gefunden worden,
die übereinstimmend als römische Stadtgründung in Germanien angesprochen wird. Derartige Stadt-
gründungen sind zwar bei dem griechischen Autor Cassius Dio beschrieben,12 doch bis zum archäolo-
gischen Fund war seine diesbezügliche Glaubwürdigkeit von der Forschung immer wieder angezwei-
felt worden.

4. Varus und Arminius

Die Gegner im Teutoburger Wald, Varus und Arminius, erscheinen uns nicht nur als Exponenten einer
militärischen, sondern einer auch grundsätzlichen zivilisatorischen Auseinandersetzung. Als Anführer
ihrer Truppen stehen der Römer und der Cherusker für unterschiedliche politische und gesellschaft-
liche Organisationsformen, verschiedene Kulturen und Kulturstufen sowie weit auseinandergehende
persönliche Motive. Doch die Biographien beider verbindet mehr, als es die unter dem Eindruck der
Varuskatastrophe entstandenen Kontrastierungen vermuten lassen. Beide kannten sich nicht nur per-
sönlich, sondern sie dienten derselben Sache. Jeder wirkte auf seine Weise an der Aufrechterhaltung
der römischen Herrschaft in Germanien. Der Katastrophe voraus ging eine vertrauensvolle Zusam-
menarbeit, bei der Arminius häufig mit Varus zu Tische lag.

10 Wolters (1999); Eck (2009). Dorsten-Holsterhausen: Ebel-Zepezauer, Grünewald,


11 Ein aktueller Überblick mit der wichtigsten Literatur Ilisch, Kühlborn u. Tremmel (2009).
jetzt bei Mattern (2008); vgl. auch Moosbauer (2009); 12 Cass. Dio 56,18,2; vgl. Tac. ann. 1,59,2: coloniae novae.
für Lahnau-Waldgirmes: Becker (2008a u. 2008b); für

DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD 9


4.1 Varus

Seit Beginn seiner politischen Laufbahn bezeugen die antiken Quellen den um 47/46 v. Chr. geborenen
Publius Quinctilius Varus im engsten Umkreis des römischen Herrschers Augustus.13 Ihm war er bald
auch verwandtschaftlich verbunden: Varus war ein Schwiegersohn des Agrippa, des wichtigsten Helfers
und – bis zu seinem frühen Tod – vorgesehenen Nachfolgers des Augustus. Zugleich war Varus ein
Schwager des Tiberius, des Stiefsohns des Augustus, der dann tatsächlich in der Herrschaft folgte. Nach
dem Tod seiner Frau um 7 v. Chr. heirate Varus die Claudia Pulchra, Enkelin der Octavia, der einzigen
Schwester des Augustus. Von Bedeutung ist, dass er auch mit dieser neuen Ehe sofort wieder in den
engsten Familienkreis des Augustus eingebunden wurde.
Varus bekleidete mit Tiberius 13 v. Chr. den Konsulat. Für beide war es der erste Konsulat, den sie
als ordentliche Konsuln am 1. Januar des Jahres gemeinsam antraten. Derartige Symbole wurden von
der Öffentlichkeit nicht nur sorgf ältig beobachtet, sondern auch gezielt gesetzt. Ein Höhepunkt des ge-
meinsamen Konsulats war der Beschluss zur Errichtung der Ara Pacis, des Friedensaltars für Augustus.
So ist Varus auch in den bedeutendsten und noch heute erhaltenen Zeugnissen der augusteischen Zeit
präsent: Als einer der Teilnehmer ist er in dem langen Prozessionszug auf der Ara Pacis dargestellt –
wohl die Person hinter Tiberius, ein Rang, der ihm zustand –, und ebenso ist Varus in den Res Gestae,
dem Tatenbericht des Augustus, nach Theodor Mommsen „die Königin der Inschriften“, namentlich
erwähnt.14
Nach seinem Konsulat bekam Varus die mächtigsten und prestigeträchtigsten Provinzen des Rö-
mischen Reiches zur Verwaltung: Africa, wohl in den Jahren 7/6 v. Chr., sowie Syrien in den Jahren 6
bis 4 v. Chr. In Syrien befehligte Varus vier Legionen, mehr also, als mit ihm in Germanien untergingen.
Mit großer Entschiedenheit schlug er in Judäa einen Aufstand nieder, der sich dort nach dem Tod des
Herodes erhoben hatte. Durch den jüdischen Schriftsteller Flavius Josephos besitzen wir eine detail-
lierte Beschreibung seiner dortigen Tätigkeit.15 Varus bewährte sich in Judäa sowohl als Militär, Verwal-
tungsbeamter wie als persönlicher Vertrauter des Augustus im Kontakt zum befreundeten judäischen
Kaiserhaus. Als er zu Beginn des Jahres 7 n. Chr. Germanien zur Verwaltung bekam, war er Mitte 50,
einer der ranghöchsten Aristokraten Roms, erfahren als Verwaltungsfachmann und als Militär, dem
Herrscher und Herrscherhaus persönlich verbunden: Das Kommando am Rhein war der ehrenvolle
Abschluss einer großen Karriere.

4.2 Arminius

Die Informationen über den Germanen Arminius sind quellenbedingt weitaus schlechter.16 Aus den
Überlieferungssplittern der griechischen und lateinischen Literatur sind von der neueren Forschung
verschiedene Biographien rekonstruiert worden. Zu den gesicherten Elementen zählt, dass Arminius
ein Fürstensohn der Cherusker war. Die Cherusker wiederum waren ein germanischer Stamm, der mit
Rom besonders eng kooperierte und im Gegenzug vielfache Förderung erfuhr.
Arminius wurde 18 oder 16 v. Chr. geboren, war 9 n. Chr. also ca. 25 bis 27 Jahre alt, halb so alt wie
sein Gegner. Die Führung der Cherusker hatte zu dieser Zeit wohl noch sein Vater Segimer. Arminius

13 Syme (1986); Nuber (2008); Salzmann (2009); Eck 15 S. dazu E. Baltrusch im vorliegenden Band, mit teils ab-
(2010). weichenden Wertungen.
14 R. Gest. div. Aug. 12. 16 Immer noch grundlegend: Timpe (1970); vgl. Kehne
(2008); Wolters (2009a) 89ff.; Kehne (2009b).

10 REINHARD WOLTERS
selbst befehligte das Aufgebot der Cherusker, die als Verbündete an der Seite des römischen Heeres
kämpften. Möglicherweise stand er mit seinen Landsleuten um 7/8 n. Chr. südlich der Donau, wo er ge-
meinsam mit den römischen Berufssoldaten einen Aufstand der Pannonier gegen die römische Herr-
schaft niederschlug.
Für seine Dienste erhielt Arminius von Rom hohe und höchste Auszeichnungen: Er bekam das rö-
mische Bürgerrecht und selbst den Rang eines römischen Ritters. Arminius sprach selbstverständlich
Latein, und er war ein Waffenkamerad des römischen Historikers Velleius Paterculus. Dieser hatte
selbst an den römischen Feldzügen in Germanien teilgenommen. Dem Augustussohn und -nachfolger
Tiberius war Arminius mit Sicherheit über Jahre persönlich vertraut.

5. Verlauf und Ort der Varuskatastrophe

Der erfolgreiche Überfall auf die römischen Legionen ist überhaupt nur durch diese politischen und
militärischen Hintergründe zu erklären. Protagonisten waren die Cherusker, doch selbst diese waren
uneinig: Die Quellen berichten von Richtungskämpfen.17 Teile der cheruskischen Führung, so der
Schwiegervater des Arminius, Segestes, sollen dem Varus sogar den geplanten Abfall angezeigt haben.
Varus entschloss sich jedoch, dem bis dahin mit seinem Leben für Rom kämpfenden und mit der Spitze
der römischen Führung verkehrenden Arminius zu vertrauen. Denunziationen gehörten sicherlich
zum Alltag eines römischen Legaten.
Für den Verlauf der Varuskatastrophe liegt ein vergleichsweise detaillierter Bericht des Cassius Dio
vor. Der Bericht stammt zwar erst aus dem beginnenden 3. Jahrhundert n. Chr., doch Philologen und
Historiker stimmen darin überein, dass Cassius Dio sehr gute, zeitnahe Quellen zu Verfügung standen.
Seine Darstellung des Geschehens wird mehrheitlich als glaubwürdig angesehen.18
Demnach war die Vernichtung der Legionen keine eigentliche Schlacht, sondern ein viertägiges
Kampfgeschehen über einen weiten Raum: Die Germanen sollen Varus, der sich mit seinem Heer in
der Nähe der Weser aufhielt, einen Unruheherd angezeigt haben. Darauf zog Varus mit drei Legionen,
die von Tross, Wagen, Frauen, Sklaven und Kindern begleitet wurden, zu diesem Unruheort aus. Die
Mitführung des umfangreichen Trosses ist ein Hinweis, dass er das Heer wohl in die Quartiere an den
Rhein zurückführen wollte. Dort war die Masse der Soldaten den Winter über besser zu versorgen als in
den Quartieren rechts des Rheins. Aus logistischen Gründen wurden die Besatzungen in den rechts-
rheinischen Anlagen während des Winters deutlich reduziert. Wenn Varus sein Heer zugleich zum
Rhein zurückführen wollte, so ist davon auszugehen, dass er sich von der Weser aus grob in Richtung
Westen bewegte.
Zu dem angezeigten Unruhegebiet zogen die Legionen durch schwieriges, durch Wälder, Berge
und Sümpfe charakterisiertes Gelände, dessen Durchquerung noch während des Marsches immer wie-
der Erschließungsarbeiten notwendig machte. Offensichtlich war es mit einer derart großen Men-
schenmenge noch nicht passiert worden. Hier kam es zum plötzlichen ersten Überfall der Germanen.
Zuvor hatten sich die Stammesführer unter dem Vorwand, weitere Verstärkung zu holen, aus dem Ver-
band entfernt. Aus der Perspektive des römischen Heeres bedeutet dies, dass die in Waffen auf den

17 Vell. 2,118,3f.; Tac. ann. 1,55,3; 60,1; Flor. epit. 2,30,33; 18 Cass. Dio 56,18–23; dazu Manuwald (2007). Eine hand-
Cass. Dio 56,19,3. liche Zusammenstellung der wichtigsten Quellen jetzt
bei Walther (2008). Zur Überlieferungskritik, mit teils
abweichender Gewichtung: John (1963).

DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD 11


römischen Heereszug vorrückenden germanischen Verbände als die erhoffte Verstärkung angesehen
wurden – sie mithin bis zum ersten Speerwurf die Maske von Verbündeten trugen.
Für die Römer war es aufgrund des Geländes nicht möglich, sich den germanischen Angreifern in
Kampfformation zu stellen. Varus entschloss sich, soweit es die naturräumlichen Verhältnisse zulie-
ßen, ein Lager aufzuschlagen. Im Lager wurden der Tross reduziert, die meisten der Wagen verbrannt
und nicht dringend Notwendiges zur Zurücklassung bestimmt. Derart auf die neue Situation vorberei-
tet, zogen die Legionen am nächsten Tag geordnet weiter, und es gelang ihnen sogar – bei anhaltend
starken Verlusten –, offenes Gelände zu erreichen. Doch Varus setzte seinen Weg fort, erneut in schwie-
riges Gelände. Das römische Heer, das sich abermals nicht entfalten konnte, wurde erneut von den
nadelstichartig vorgetragenen Angriffen der Germanen überzogen. Ohne Lagerbau wurde der Marsch
über Nacht fortgesetzt. Der Erfolg brachte den Germanen kontinuierlich weiteren Zuzug, und die Ver-
hältnisse verschoben sich immer mehr zu ihren Gunsten. Am vierten Tag konnten die germanischen
Krieger die Reste der römischen Truppen einkesseln. In dieser ausweglosen Lage gaben sich der bereits
verwundete Varus sowie andere hohe Offiziere selbst den Tod.
Versuche einer Lokalisierung des Geschehens können sich vor allem auf einen Bericht des His-
torikers Tacitus stützen, der den Besuch des Unglücksortes sechs Jahre später durch Germanicus be-
schreibt, als dieser die verbliebenen Überreste der Gefallenen bestattete.19 Für einen Autor, der das
Gebiet wohl niemals selbst gesehen hat, sind die Angaben des Tacitus bemerkenswert genau: Dem-
nach zog Germanicus mit seinem Heer zu den äußersten Brukterern (ad ultimos Bructerorum) in ein
Gebiet zwischen Ems und Lippe (inter Amisiam et Lupiam), von wo ein (hügeliger/bewaldeter) Land-
schaftsstrich (saltus) nicht weit entfernt war, der nach einem ansonsten nicht bezeugten Ort Teutobur-
gium seinen Namen trug: Mit der Angabe eines Stammesnamens, von Flusskoordinaten und schließ-
lich einem ganz konkreten Ortsnamen bemüht sich Tacitus um größte geographische Exaktheit.
Kernproblem jeder von diesem Text ausgehenden geographischen Zuschreibung ist, wie das „nicht
weit (entfernt) (haud procul)“ zu bewerten ist: Bezeichnet dieses eine Distanz von beispielsweise
2 Marschstunden oder aber von 2 Tagen? Die textsicheren Humanisten identifizierten den östlich von
den Oberläufen von Ems und Lippe gelegenen Osning mit dem saltus Teutoburgiensis des Tacitus, und
ihre Benennung dieses Höhenzugs als ‚Teutoburger Wald‘ hat sich ab dem 17. Jahrhundert durchge-
setzt.
Doch auf der Grundlage dieses Textes konnte, trotz zahlreicher Vorschläge, bis heute kein Ort aus-
gemacht werden, an dem ein signifikanter archäologischer Befund die Deutung als römisch-germa-
nischer Kampfplatz bestätigt hätte. Die unstrittige Entdeckung eines solchen Platzes aus den Jahren der
römischen Okkupation ist erstmals 1989 bei Kalkriese gelungen, nördlich von Osnabrück.20 Vor Ort
sind die Zuschreibungen als ‚Örtlichkeit der Varusschlacht‘ schnell erfolgt und begründeten den Bau
eines großen Museums mit angeschlossenem Freizeitpark. Die hinsichtlich der Deutung des Fundplat-
zes anfangs noch gesetzten Fragezeichen sind längst abgelegt. Schon der die Vermarktung leitende
Name lässt keinen Zweifel: „Varusschlacht im Osnabrücker Land. Museum und Park Kalkriese“. Doch
noch ist die Diskussion über die Deutung des Fundplatzes nicht abgeschlossen, und sie kommt viel-
leicht nach dem Bimillennium in ein ruhigeres Fahrwasser: Die vorherrschende Chronologie der römi-
schen Militärplätze rechts des Rheins, ein wesentliches Argument für die angegebene Interpretation
von Kalkriese, ist durchaus nicht unproblematisch und beinhaltet, wie etwa angesichts des gänzlichen

19 Tac. ann. 1,60,3. 20 Grundlegend die Fundmünzenpublikation von Berger


(1996). Zum Fundplatz im vorliegenden Band A. Rost u.
S. Wilbers-Rost.

12 REINHARD WOLTERS
Fehlens eines Germanicushorizonts im archäologischen Befund dieser Region, erhebliche Probleme.
Ebenso sind die Widersprüche zwischen der literarischen Überlieferung zur Varuskatastrophe einer-
seits und dem Fundplatz von Kalkriese andererseits auch nach mittlerweile 20 Jahren archäologischer
Forschung eher größer als kleiner geworden.21

6. Die politischen Folgen der Varuskatastrophe

Aus römischer Perspektive war die Niederlage des Varus kein Einschnitt: Die drei verlorenen Legionen
wurden sofort ersetzt, dazu zwei weitere neu aufgestellt, so dass am Rhein nun insgesamt acht Legio-
nen, mit Hilfstruppen wohl über 80000 Mann standen. Nach Sicherung der Rheingrenze operierten
die römischen Truppen zwischen 10 und 13 n. Chr. wieder rechts des Stroms. Militärstützpunkte wur-
den neu angelegt und Straßen befestigt.22
Der unverändert bestehende Herrschaftsanspruch über Germanien kommt deutlich in den
14 n. Chr. an mehreren Stellen des Reiches veröffentlichten Res Gestae zum Ausdruck. Im außenpoliti-
schen Teil des letztmals 13 n. Chr. von Augustus redigierten Textes heißt es mit Bezug auf Germanien:
„Die Provinzen Galliens und Spaniens, ebenso Germanien habe ich befriedet, ein Gebiet, das der Ozean
von Gades bis zur Mündung der Elbe umschließt“.23 Ungeachtet einer möglicherweise bewusst kon-
struierten Doppeldeutigkeit war für den unvoreingenommenen Rezipienten dieser Passage die Befrie-
dung Germaniens nicht Anspruch, sondern Tatsache. Der nicht erwähnten Varuskatastrophe f ällt allen-
falls der Rang einer Betriebsstörung zu, die bald behoben sein würde.
Für die Jahre ab 14 n. Chr. stellen die mit dem Tod des Augustus einsetzenden Annalen des Tacitus
wieder eine detailreichere Überlieferung bereit: Im Zentrum der ersten beiden Bücher des Werks
stehen die Feldzüge des Germanicus, des Sohns des Germanien-Siegers Drusus.24 Jahr für Jahr führte
dieser seine Truppen immer tiefer nach Germanien hinein, mit dem Ziel, auf den Spuren seines Vaters
Drusus dem Römischen Reich das Gebiet bis zur Elbe zurückzuerobern.
Einen Einschnitt brachte erst die Abberufung des Germanicus vom Oberkommando am Rhein
Ende 16 n. Chr. Sie sollte sich wirkungsgeschichtlich als entscheidende Zäsur in der römischen Germa-
nienpolitik erweisen. Die Rückberufung des Germanicus nach Rom erfolgte gegen dessen Willen und
Widerstand. Vorangetrieben wurde sie vom neuen Herrscher Tiberius, zugleich dem besten Germa-
nienkenner seiner Zeit: Zu eklatant war das Missverhältnis zwischen den enormen Verlusten des rück-
sichtslos vordringenden und – gegen die Überlieferung – wohl auch nur mäßig begabten jungen Feld-
herrn und dem wenigen tatsächlich von ihm Erreichten.
Mit der Abberufung des Germanicus wurden die römischen Truppen auf die Rheinlinie zurück-
gezogen. Doch bedeutete der Rückzug keinen förmlichen Verzicht auf das ehemals beherrschte Gebiet
rechts des Rheins. Eher ging es darum, die von Germanicus so gef ährlich verlustreich und nahezu
ohne jede Nachhaltigkeit geführten Feldzüge zumindest für den Moment auszusetzen. Dies zeigt sich
auch daran, dass sich in der römischen Öffentlichkeit und zumal Teilen der senatorischen Aristokratie
der Anspruch auf Germanien noch bis zum Ende des Jahrhunderts hielt, und nahezu jeder Herrscher-
wechsel war, wie zum letzten Mal beim Übergang auf Traian im Jahre 98 n. Chr. von Tacitus formuliert,
mit der Hoffnung verbunden, dass der neue Kaiser diesen Anspruch alsbald Realität werden lassen

21 Vgl. Kehne (2000); Wolters (2000); Chantraine (2002); 22 Vgl. Tac. ann. 1,38,1; 50,1; 4,72f.; Vell. 2,121,1.
Wolters (2007); Berger (2007); Heinrichs (2007); Wigg- 23 R. Gest. div. Aug. 26.
Wolf (2007); Wolters (2010). 24 Timpe (1968); Kehne (1998).

DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD 13


würde.25 Doch selbst ein Traian, unter dem das Römische Reich zu seiner größten Ausdehnung kom-
men sollte, hatte an einer Wiedereroberung Germaniens kein Interesse mehr. Die Gef ährdungen an
den anderen Außengrenzen des Reiches, nicht zuletzt an der Donau, waren weitaus realer als die wohl
nur noch aus Tradition übersteigert dargestellten Bedrohungen am Rhein.
Eine Beurteilung der politischen Folgen der Varuskatastrophe aus germanischer Perspektive ist
eng verbunden mit der Frage, welches die Ziele bei dem Überfall auf das Varusheer waren. Die Hervor-
bringung einer einheitsstiftenden Gemeinschaftstat aller Germanen, so wie die späteren Deutschen
es oft und gerne hineininterpretierten, war sicherlich kein von den zeitgenössischen Bewohnern der
Gebiete rechts des Rheins verspürtes Defizit: Nur ein Teil von ihnen, im wesentlichen die Stämme aus
dem nördlichen Mittelgebirgsraum zwischen Ems und Weser, war überhaupt an dem Überfall beteiligt;
andere – wie Friesen und vielleicht auch Chauken – hielten Rom auch über 9 n. Chr. hinaus die Treue.
Römische Quellen sprechen von einem Widerstreben der Germanen gegen die Formen der römi-
schen Herrschaft, gegen die von Rom erhobenen Tribute und gegen die von der Vormacht bean-
spruchte Rechtsprechung. Derartige Widerstände gegen eine von außen aufgestülpte Ordnung, die vor-
mals selbständige Gemeinschaften und zumal deren politische Führer zu Untertanen machte, sind als
Motiv nicht nur plausibel, sondern überaus wahrscheinlich. Allerdings verlieren sie ihre spezifische
Aussagekraft und Trennschärfe dadurch, dass sich die Römer – aus deren Perspektive ja allein die Quel-
len vorliegen – im Prinzip jeden Aufstand gegen ihre Herrschaft auf diese Art und Weise erklärten.
Sucht man nach individuellen Merkmalen außerhalb einer derartigen ‚Topik der Revolte‘, so kam
der Person Arminius sicherlich eine wichtige Rolle zu: Der junge Truppenführer genoss als Angehöri-
ger der cheruskischen Stammesführung einerseits sowie als römischer Bürger und Ritter andererseits
die Privilegien gleich zweier verschiedener politischer und gesellschaftlicher Systeme. Die Quellen be-
schreiben ihn als klug und geschickt, aber auch ausgesprochen ehrgeizig und polarisierend. Möglicher-
weise besaß er 9 n. Chr. noch nicht einmal die Führung im Stamm der Cherusker. Doch seine persön-
lichen Ambitionen gingen offenbar deutlich darüber hinaus.
Mit dem Markomannenkönig Maroboduus stand ein Vorbild zur Verfügung.26 Innerhalb nur we-
niger Jahre hatte dieser von Böhmen aus durch den Zusammenschluss verschiedener Stämme eine bis
in das Gebiet der mittleren Elbe reichende Machtbildung geschaffen, die es ihm erlaubte, mit Rom bei-
nahe auf Augenhöhe zu verhandeln. Eine Gegnerschaft zu Rom konnte für Arminius ein Mittel sein,
diejenigen germanischen Gruppen, deren latente Unzufriedenheit er zur Tat führte, längerfristig an
seine Führung zu binden. Denn dass die Besiegung eines römischen Heeres unweigerlich massivste
römische Gegenschläge nach sich ziehen würde, war ein Grundelement der römischen Geschichte, das
dem Neubürger Gaius Iulius Arminius auch ohne Einbürgerungstest bekannt gewesen sein wird. Mit
anderen Worten: Diejenigen Germanen, die er durch Teilnahme an dem Aufstand gegen Rom krimina-
lisierte, waren von nun an mit ihm in einer Schicksalsgemeinschaft.
In dieser Führungsposition organisierte Arminius dann auch in den Jahren nach 9 n. Chr. den Wi-
derstand gegen Germanicus. Dies war die Zeit seiner potentia. Vermutlich umfasste die mit diesen Wor-
ten ausgedrückte Macht weit mehr als die Führung über die Cherusker und umschloss die Koalition al-
ler bereits an dem Überfall beteiligten Stämme.27 Insoweit hatte Arminius in diesen Jahren seine
persönlichen Ziele erreicht. Wiederholt gelang es ihm, sich mit seinen Stammeskriegern in offenen

25 Wolters (1989) u. (2009b). 27 Tac. ann. 2,88,3.


26 Dazu jetzt die verschiedenen Beiträge in Salač u. Bem-
mann (2009), insbes. Dobesch (2009); Kehne (2009c).

14 REINHARD WOLTERS
Feldschlachten gegen das riesige Berufsheer des Germanicus zu behaupten. Unstrittig war dies der Hö-
hepunkt des politisch-militärischen Lebens des Arminius!
Doch die Spannungen innerhalb der germanischen Stämme, selbst innerhalb der Cherusker, wa-
ren durch die römischen Angriffskriege nur überdeckt. Schon bald, nachdem die Römer Ende 16 n. Chr.
ihre Wiedereroberungsversuche eingestellt hatten, brachen die Konflikte wieder offen aus: Ein Konflikt
betraf das Verhältnis zwischen den beiden Führungsmächten im mittleren und südlichen germani-
schen Raum, zwischen der Reichsbildung des Maroboduus und der Militärkoalition des Arminius. In
einer großen Schlacht stellten der Markomanne und der Cherusker ihre Truppen einander gegenüber.
Arminius siegte, wobei beide Heere bezeichnenderweise in römischer Ordnung kämpften. Doch mit
dem Sieg verlor Arminius einen weiteren Gegner – und Faktor zur Stabilisierung der eigenen Macht.
Denn ohne äußeren Gegenpol vermochte er offensichtlich nicht, seine Stellung zu behaupten. Unge-
f ähr zwei Jahre nach diesem Sieg wurde Arminius durch seine eigenen Verwandten ermordet. Sie war-
fen ihm superbia (Hochmut) vor und auch, dass er sich zum König über seine Landsleute machen
wollte.28

7. ‚Geschichte‘ wird gemacht: Erste Umdeutungen des Geschehens

Das erste Jahrhundert n. Chr. ist besonders interessant, weil hier aus einer ex eventu-Perspektive bereits
Umdeutungen und Umwertungen der römischen Okkupationsgeschichte einsetzten, ebenso der Be-
wertung der Varuskatastrophe. Ließ der römische Herrscher Tiberius den Germanicus noch Anfang 17
n. Chr. in Rom einen Triumph über die „bis zur Elbe besiegten Völker“ feiern, so wurden zwei Jahre spä-
ter dieselben Aktivitäten in einem Ehrenbeschluss für den verstorbenen Germanicus nur noch mit den
Worten gewürdigt, ihm sei es gelungen, die Grenzen Galliens vor den Germanen zu beschützen.29
Nicht zuletzt derartig rasche Umdeutungen der Geschehnisse machen es so schwierig, aus den zumeist
erst später einsetzenden literarischen Quellen die Ziele der römischen Unternehmungen rechts des
Rheins zu rekonstruieren.
Doch in Einzelf ällen erlaubt es die literarische Überlieferung, gewissermaßen schichtenweise in
die Veränderungen der zeitgenössischen Vorstellungen vorzudringen. Ein Beispiel ist das sich in zwei
Jahrzehnten völlig verändernde Bild vom römischen Feldherrn P. Quinctilius Varus:
Nach der Selbsttötung des römischen Feldherrn ließ Arminius das Haupt seines Gegners abschla-
gen und übersandte es dem Maroboduus. Der Markomannenkönig schlug dieses indirekte Koalitions-
angebot jedoch aus und schickte den Kopf des Varus weiter nach Rom. Augustus wiederum übergab es
den Quinctiliern zur Bestattung in der Familiengruft. Eine symbolische Ächtung des Varus, etwa um
der Öffentlichkeit einen Haupt- oder Alleinschuldigen zu präsentieren, fand nicht statt: Von einer ge-
wissen Vertrauensseligkeit abgesehen, die in einigen der Quellen anklingt, wurden in erster Linie der
Verrat und die Hinterlist der Feinde für den Verlust der Legionen im Teutoburger Wald verantwortlich
gemacht, dazu das Schicksal. Dessen Wirken entzog das Geschehen vollends der den Menschen gege-
benen Möglichkeiten.
Auf die Stellung der Angehörigen des Varus in Rom hatte die verheerende Niederlage in Germa-
nien keinen Einfluss. Der politische Aufstieg seiner Neffen setzte sich beispielsweise fort. Publius Cor-

28 Tac. ann. 2,88,2. 29 Tac. ann. 2,41,2; Crawford (1996) 515ff. (Tabula Siarensis,
insbes. Frg. I, Z. 12–15); zur Textkonstitution auch Johne
(2006) 194ff.; vgl. Lehmann (1995).

DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD 15


nelius Dolabella wurde im Jahre 10 n. Chr. und Sextus Appuleius im Jahre 14 n. Chr. Konsul. Als Statt-
halter erhielten die Neffen mit Africa und Asia die wichtigsten und vornehmsten Provinzen zur
Verwaltung angewiesen: Ungeachtet der Ereignisse des Jahres 9 n. Chr. blieben die Quinctilii höchst
geachtete und von Augustus beständig geförderte Mitglieder der Gesellschaft. In besonderer Weise
galt dies für die Witwe des Varus. Als Freundin der einflussreichen jüngeren Agrippina, der Gemahlin
des Germanicus, war Claudia Pulchra eine der großen Damen ihrer Zeit. Der engen Verbindung der
beiden Mütter dürfte es zu verdanken gewesen sein, dass P. Quinctilius Varus, der Sohn des Feldherrn,
im Herbst 18 n. Chr. sogar mit Iulia Livilla, der jüngsten Tochter des Germanicus, verlobt wurde: Nur
neun Jahre nach der Niederlage des Varus sollte der Sohn des so furchtbar gescheiterten Legaten zum
Schwiegersohn des vorgesehenen Nachfolgers des Tiberius werden!
Die Umtriebigkeit des Segestes, der sich nach 15 n. Chr. als beständiger Freund des Imperiums und
Mahner erfolgreich zu profilieren versuchte und für sich in Anspruch nahm, die Verschwörung des Ar-
minius dem Varus noch rechtzeitig angezeigt zu haben, ging offensichtlich nicht zu Lasten des Varus.
Obwohl die Version des Germanen durchaus Verbreitung fand, verletzten direkte Vorwürfe an die
Adresse des Varus noch in den zwanziger Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. ein Tabu: Als der für verbale
Tiefschläge berüchtigte Rhetor Lucius Cestius Pius in einer Anspielung dem P. Quinctilius Varus die
Niederlage seines Vaters vorhielt, galt dies dem älteren Seneca als ein Musterbeispiel unanständigen
Verhaltens.30
Zu einer Wende in der Beurteilung des Varus kam es erst einige Jahre später: Im Jahre 26 wurde in
Rom Claudia Pulchra von dem ambitionierten Aufsteiger Domitius Afer angeklagt. Es war dies die Zeit
der berüchtigten Hochverratsprozesse unter Tiberius; in Rom herrschte ein Klima der Angst, Verfol-
gung und Missgunst. Das die üblichen Verdächtigungen zitierende Verfahren – unsittlicher Lebens-
wandel, Giftmischerei und Zauberei zu Lasten des Prinzeps – zielte über Claudia Pulchra im Kern auf
eine Beschädigung der jüngeren Agrippina: Entsprechend unmöglich war es der mittlerweile verwitwe-
ten Gattin des Germanicus, ihrer Vertrauten zu helfen. Im Jahr darauf zog Domitius Afer den Sohn des
Legaten gleichfalls in das für die Angeklagten aussichtslose Verfahren hinein. An diesem Punkt endet
die Überlieferung zu den Quinctiliern. Mit der Anklage und dem Ausscheiden der Familie aus der Füh-
rungsschicht des Reiches war allerdings auch das Andenken des Feldherrn seines Schutzes beraubt.
Schon in seiner drei Jahre später abgefassten Römischen Geschichte gab Velleius Paterculus eine ver-
zerrende Karikatur des ihm persönlich vertrauten Toten: „Quinctilius Varus (…) war von milder Ge-
mütsart, ruhigem Temperament, etwas unbeweglich an Körper und Geist, mehr an müßiges Lager-
leben als an den Felddienst gewöhnt. Dass er wahrhaftig kein Verächter des Geldes war, beweist seine
Statthalterschaft in Syrien: Als armer Mann betrat er das reiche Syrien, und als reicher Mann verließ er
das arme Syrien. Als er Oberbefehlshaber des Heeres in Germanien wurde, bildete er sich ein, die Men-
schen dort hätten außer der Stimme und den Gliedern nichts Menschenähnliches an sich. (…) Die Zeit
des Sommerfeldzugs (brachte er) damit zu, von seinem Richterstuhl aus Recht zu sprechen und Pro-
zessformalitäten abzuhandeln.“31
Das vernichtende Urteil erscheint an dieser Stelle zum ersten Mal. Vermutlich war Velleius selbst
sein Urheber. Erwachsen ist es auf der einen Seite aus dem von Velleius bewusst konstruierten Gegen-
satz des römischen Feldherrn zum Charakter des Arminius, der nach dem Schriftsteller „tüchtig im
Kampf und rasch im Denken (war und) ein beweglicherer Geist, als es die Barbaren gewöhnlich sind“.32

30 Sen. contr. 1,3,10. 32 Vell. 2,118,2.


31 Vell. 2,117,2–4 (Übers. M. Giebel).

16 REINHARD WOLTERS
Auf der anderen Seite griff Velleius auf eine vorhandene Topik negativer Charakterisierungen zurück.
Das Bonmot zur syrischen Statthalterschaft nimmt kurioserweise eine dem Varus selbst vorgetragene
Klage der Bewohner Judäas gegen Herodes auf.33 Und nur wenige Kapitel zuvor beschreibt Velleius in-
haltlich durchaus ähnlich, wenn auch rhetorisch weniger brillant, den – von ihm gleichfalls herabgewür-
digten – Marcus Lollius als einen Mann, „dem der Gelderwerb allgemein mehr am Herzen lag als eine
ordentliche Amtsführung“.34 Beide Passagen bedienten das ebenso beliebte wie in der Öffentlichkeit
weit verbreitete Bild vom römischen Magistraten, der sich in den Provinzen unrechtmäßig bereicherte.
Zu Lebzeiten des Legaten – oder gar in unmittelbarer zeitlicher Folge seiner syrischen Statthalter-
schaft – wären solche Anwürfe und Urteile undenkbar gewesen. Allein schon die Zugehörigkeit zur Fa-
milie des Herrschers hätte Varus davor geschützt. Doch auch wenn Velleius ihn in einer rhetorisch we-
niger stilisierten Stelle zurückhaltender als „durchaus ernsthaften Mann mit den besten Absichten“
würdigt,35 so sind es vor allem die Charakterisierungen jener abschätzig formulierten Passage – mit de-
nen sich Velleius in der Zeit der Verfolgung der Quinctilii zugleich selbst positionierte –, die seitdem
das Bild von Varus nachhaltig bestimmt haben und Ausgangspunkt weiterer negativer Ausmalungen
der Persönlichkeit des Varus geworden sind:
So bezeichnete Theodor Mommsen den Legaten als „Mann von fürstlichem Reichtum wie von
fürstlicher Hoffart, aber von trägem Körper und stumpfem Geist und ohne jede militärische Erfahrung
und Begabung.“ Allein der „Kopf- und Mutlosigkeit des römischen Feldherrn“ war nach Auffassung des
Historikers die Schuld am Untergang der Legionen anzulasten.36 Als ein „anmaßende(r) und stumpf-
sinnige(r) Grand-Seigneur“ erschien der „von allen guten Geistern verlassene P. Quinctilius Varus“
Ernst Hohl, und „diesen Popanz mit der Verwaltung Germaniens zu betrauen“ war nach diesem His-
toriker ein „verhängnisvolle(r) Entschluss des greisen Augustus“.37 Auch wenn in der jüngeren For-
schung die Charakterisierungen weniger süffig ausfallen, so ziehen sich die in krassem Widerspruch
zur sachgerechten Amtsführung des Varus in Syrien stehenden Vorwürfe hinsichtlich seiner angeb-
lichen militärischen Unerfahrenheit und seines fehlenden Fingerspitzengefühls bis heute durch die
meisten Darstellungen, und sie prägen unser Bild von dem römischen Feldherrn.

8. „… ohne Zweifel der Befreier Germaniens“

Am Ende des zweiten Buchs der Annalen schließt der römische Historiker Tacitus die Germanicus-
Erzählung mit dem Ausblick auf das Schicksal von dessen bedeutendstem militärischen Gegner ab. An
dieser Stelle widmet der römische Senator dem Arminius seinen berühmt gewordenen Nachruf:
„Im übrigen hatte Arminius, der nach dem Abzug der Römer und der Vertreibung Marbods nach
der Königsherrschaft trachtete, den Freiheitssinn der Volksgenossen gegen sich, und als man mit Waf-
fengewalt vorging, kämpfte er mit wechselndem Glück und fiel durch die Hinterlist seiner Verwandten:
Er war ohne Zweifel der Befreier Germaniens (liberator haud dubie Germaniae), der nicht wie andere Kö-
nige und Heerführer das römische Volk in seinen Anf ängen, sondern ein Reich in seiner ganzen Blüte
herausgefordert und in den Schlachten mit wechselndem Erfolg (gekämpft hatte), im Krieg aber unbe-
siegt (geblieben war). Er vollendete das 37. Lebensjahr, davon 12 im Besitz der Macht, und noch heute
besingt man ihn bei den barbarischen Völkern, während er in den Jahrbüchern der Griechen, die nur

33 Ios. ant. Iud. 17,307; bell. Iud. 2,86. 35 Vell. 2,120,5.


34 Vell. 2,97,1. 36 Mommsen (1905) 340.
37 Hohl (1942) 472.

DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD 17


das Eigene bewundern, unbekannt ist und auch von den Römern kaum gerühmt wird: Während wir das
Alte preisen, vernachlässigen wir das eben erst Vergangene.“38
Die Passage ragt, abgesehen von den biographischen Details, heraus, weil sie in der gesamten
antiken Literatur die einzige ist, die dem Arminius historische Bedeutung zuspricht. Auch Tacitus war
sich dieser Neubewertung bewusst: Denn erst von diesem Standpunkt aus wird seine Kritik der bis-
herigen griechischen und römischen Überlieferung verständlich, deren Autoren Arminius kaum be-
achteten, geschweige denn würdigten. Und gerade die Affirmation haud dubie (ohne Zweifel) zeigt, dass
eben doch Zweifel an dieser Einschätzung möglich waren.
Die Würdigung der Leistungen des Arminius „in den Schlachten (hatte er) mit unterschiedlichem
Ausgang (gekämpft), im Kriege aber (war er) unbesiegt (geblieben)“ verdeutlicht fernerhin, dass nicht
primär der Sieg des Arminius über Varus, sondern in der Summe die Kämpfe der Germanicuszeit für
Tacitus die Grundlage seines Urteils bildeten. Die Rezeption freilich löste das Urteil des Tacitus liberator
haud dubie Germaniae in aller Regel aus dem Kontext und verband es direkt mit der Vernichtung des Va-
rusheeres. In dieser anachronistischen Zuspitzung findet es sich etwa als Inschrift auf dem Hermanns-
denkmal. Das Ende der römischen Offensiven wurde von den Späteren symbolkräftig auf ein einzelnes
Ereignis zusammengezogen. Die Benennung der Vernichtung des Varusheeres als ‚Schlacht‘ gab dem
politischen Verzicht darüber hinaus eine – aus der Sicht der Germanen – aktive und zugleich heroische
Komponente. Erst in dieser zunehmenden Verdichtung wuchs der ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ mit
Hilfe des abgeleiteten Tacitusurteils der Rang einer historischen Wendemarke zu.

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DIE SCHLACHT IM TEUTOBURGER WALD 21


22 REINHARD WOLTERS
II. Pars imperii
Die Gemma Augustea.
Klaus-Peter Johne

Das Stromgebiet der Elbe im Spiegel der griechisch-römischen Literatur

Im Sommer des Jahres 9 v. Chr. stand der Stiefsohn des Kaisers Augustus, Nero Claudius Drusus, mit
einem Heer im Inneren Germaniens am Ufer eines breiten Stromes, den vor ihm kein römischer Feld-
herr und keine Legion, vielleicht nicht einmal ein römischer Kaufmann zu Gesicht bekommen hatte –
am Ufer der Elbe. Vom Rhein aus war er durch das Gebiet der Chatten ins Suebenland und von dort zu
den Cheruskern gezogen, durch Teile des heutigen Hessen, Westfalen und Niedersachsen. Nachdem er
die Weser überschritten hatte, rückte er, dem Zeugnis des Cassius Dio zufolge alles verwüstend, bis zur
Elbe vor. Der Prinz ließ am Ufer ein Denkmal errichten und dokumentierte damit die Entdeckung die-
ses Flusses für die griechisch-römische Welt.1 Sein Feldzug hatte eben auch den Charakter einer fremde
Territorien erkundenden Expedition.
Seit diesem Vorgang war die Elbe ein geographischer wie politischer Faktor in Mitteleuropa. Die va-
gen Kenntnisse der vergangenen Jahrhunderte, angefangen vom ‚Bernsteinfluß‘ Eridanos über die aus
dem Arkynischen Gebirge nach Norden fließenden Ströme bei Aristoteles, die mögliche Entdeckung
der Elbmündung bei Pytheas bis hin zu dem doch mit einiger Wahrscheinlichkeit zu vermutenden Wis-
sen Caesars, wurden nun durch die Gewißheit ersetzt, daß im zentralen Germanien ein dem Rhein ver-
gleichbarer großer Fluß parallel zu ihm in den nördlichen Ozean verläuft.
Die Feldzüge, die mit dem Jahr 12 v. Chr. ihren Anfang nahmen, haben das Weltbild der Römer
über den Norden in kurzer Zeit wesentlich erweitert. Scheinen die Kenntnisse zuvor nicht viel über die
am östlichen Rheinufer siedelnden Germanen, die Caesar beschrieben hatte, hinaus gereicht zu haben,
so dehnten sich seitdem von Jahr zu Jahr nicht nur der Einflußbereich Roms, sondern auch die Kennt-
nisse über Germanien in geradezu rasanter Weise aus. Es waren die Jahre, von denen Strabon später
sagte, die Römer hätten den gesamten Westen Europas bis zur Elbe erschlossen.2
Ausgehend von dem Zeitpunkt der ‚Entdeckung‘ der Elbe im Jahre 9 v. Chr. soll in den folgenden
Ausführungen drei Fragen nachgegangen werden:
1. Seit wann waren und wie wurden Griechen und Römern die Elbe und ihr Stromgebiet bekannt?
2. Wann und unter welchen Umständen kann der Plan einer Ausdehnung des Römischen Reiches
bis an diesen Fluß entstanden sein?
3. Welche Rolle spielten die Elbe und die sie umgebenden Landschaften nach dem Scheitern der
Expansionspläne in der antiken Literatur?
Bei der ersten Frage geht es um einen Aspekt des geographischen Weltbildes der Antike. Lange
Zeit waren die Vorstellungen über den mitteleuropäischen Raum bei den griechischen Schriftstellern
äußerst vage. Für die Autoren vom 7. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. war stets die Donau die Begren-
zungslinie in Richtung Norden, an der alle näheren Kenntnisse ihr Ende fanden. Allenfalls in die sche-
menhaften Vorstellungen vom ‚Bernsteinfluß‘ Eridanos könnte ein Wissen von der Elbe mit eingeflos-
sen sein. Dieser Eridanos galt bei dem Dichter Hesiod um 700 v. Chr. als der markante Fluß des
Westens, vergleichbar dem Nil im Süden, der Donau im Norden und dem Phasis in der Kolchis für den

1 Cass. Dio 55,1,2–3. 2 Strab. 1,2,1 p. 14C.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 25


Osten, alles aus der Perspektive des Mittelmeerraumes betrachtet.3 Da er mit der Bernsteingewinnung
verbunden war, identifizierte man ihn mit Flüssen, über die der im Süden so begehrte Stoff importiert
wurde, mit dem Po im nördlichen Italien und mit der Rhône im südlichen Gallien. Interessant ist eine
Äußerung Herodots aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. über die Mündung des Eridanos in das
nördliche Meer, allerdings zieht er die Existenz des Flusses überhaupt in Zweifel.4 Offensichtlich sind
in die Vorstellung von diesem in die griechische Mythologie eingebundenen Fluß Nachrichten von ver-
schiedenen Strömen eingegangen, die mit dem Bernsteinhandel in Verbindung gebracht wurden. Nach
Herodot könnte dies auch für die Elbe zutreffen, vor deren Mündung die ‚Bernsteininsel‘ Abalus liegt,
in der mit einiger Wahrscheinlichkeit Helgoland vermutet werden kann.5
Ein Jahrhundert nach Herodot kannte Aristoteles nördlich der Donau ein Arkynisches Gebirge, aus
dem Flüsse nach Norden strömen.6 Hierbei handelt es sich um die älteste Erwähnung des Mittelge-
birgssystems, das sich vom Schwarzwald über die böhmischen Randgebirge bis zu den Karpaten hin-
zieht und in den späteren Quellen unter dem Namen ‚Herkynischer Wald‘ begegnet. Bei der großen
Ausdehnung dieses Gebirges wird man unter den Flüssen alle großen Ströme Mitteleuropas vom
Rhein bis zur Weichsel verstehen müssen.
Bald nach Aristoteles wurden noch im 4. Jahrhundert v. Chr. die Küsten Westeuropas durch Py-
theas von Massalia entdeckt. Auf der Suche nach einem ‚nördlichen Seeweg‘ um Europa herum bis ins
Schwarze Meer gelangte er vermutlich bis nach Helgoland und zur Mündung der Elbe. Da von seinem
Werk Über das Weltmeer nur Fragmente in den Schriften von Strabon, Diodor und Plinius dem Älteren
erhalten geblieben sind, bleibt vieles an dieser Expedition unklar. In jedem Falle bedeutete sie einen er-
sten Schritt zur Erforschung des Nordwestens der bisher bekannten Oikumene. Mit seiner Schiffsreise
wurde erstmals der Blick auf Mitteleuropa vom Westen aus gerichtet, und nicht, wie bisher immer, vom
Südosten.7 Obwohl durch Pytheas das bisherige Weltbild beträchtlich erweitert wurde, galt die Erfor-
schung Kontinentaleuropas auch im 2. vorchristlichen Jahrhundert für die Griechen immer noch als
eine Aufgabe der Zukunft.
Polybios von Megalopolis, der bedeutendste Historiker im Zeitalter des Hellenismus, hat in sei-
nem monumentalen Geschichtswerk vor allem die Kelten seinen Lesern näher gebracht. Über große
Teile des mittleren und nördlichen Europa wußte er allerdings nicht viel mehr als Herodot 300 Jahre
früher. Das zwischen dem Tanaïs, dem als Grenzfluß zwischen Europa und Asien geltenden Don, und
dem bei Narbonne ins Mittelmeer mündenden Küstenfluß Narbo sich nach Norden erstreckende Land
sei unbekannt und harre noch künftiger Erforschung.8 Diese wäre vermutlich auch in der Folgezeit
nicht viel schneller als in den vorangegangenen Jahrhunderten weitergegangen, wenn nicht äußere
Anlässe bald nach dem Tode des Polybios um 120 v. Chr. zu einer Änderung der entdeckungsgeschicht-
lichen Situation geführt hätten. Zum einen tauchten Stämme aus dem ‚barbarischen‘ Kontinental-
europa an der Peripherie der mittelmeerischen Staatenwelt auf, die nicht mehr die seit dem 4. vorchrist-
lichen Jahrhundert auch in Italien bekannten Kelten waren, sondern aus den von Pytheas aufgesuchten
Gegenden stammten. Zum anderen begannen sich die Römer etwa seit derselben Zeit immer stärker in
Gallien zu engagieren. Die Unterwerfung des südlichen Gallien und die Gründung der späteren Pro-
vinz Gallia Narbonensis 121 v. Chr. hatten zur Folge, daß römische Kaufleute den Handel mit den inner-

3 Hes. theog. 337–345; grundlegend für die ‚Entdeckung 7 Zu Pytheas und seinen Reisen vgl. Gisinger (1963);
des Nordens‘ die Ausführungen von Timpe (1989). Timpe (1989) 323–332; Nesselrath (2003); Johne (2006)
4 Hdt. 3,115,1f. 30–35; zu seinem Werk Bianchetti (1998).
5 Vgl. Wenskus u. Ranke (1973); Wenskus (1985). 8 Polyb. 3,38,2; vgl. 3,37,8; Lafond u. Olshausen (2000).
6 Arist. meteor. 1,13 p. 350a36–350b10.

26 KLAUS-PETER JOHNE
gallischen Stämmen und vielleicht sogar mit Britannien aufnahmen. Im Laufe der Zeit mußte ihnen
das gallische Fluß- und Wegenetz bis zum Rhein bekannt werden. So lenkten die Vorstöße nördlicher
Völker nach Süden ebenso wie die römische Expansion in Gallien das Interesse griechischer und römi-
scher Autoren verstärkt in einen zuvor fast unbekannten Raum.
Mit den Zügen der Kimbern und Teutonen zwischen 113 und 101 v. Chr. kam die Mittelmeerwelt
erstmals mit Stämmen aus dem weiteren Umfeld der Elbe in Berührung. Die Schlacht von Noreia 113
v. Chr. war der Beginn jahrhundertelanger Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen,
von der verheerenden römischen Niederlage bei Arausio 105 v. Chr. nahm das Bild vom furor Teutonicus,
der „teutonischen Raserei“, seinen Ausgang.9 Schließlich bedurfte es größter Anstrengungen und einer
Heeresreform, um der Gefahr aus dem Norden zu begegnen. Die Einf älle konnten erst in der Provence
und in der norditalienischen Po-Ebene endgültig gestoppt werden. Spätestens in dieser Schlußphase
der Auseinandersetzungen dürfte die Frage aufgeworfen worden sein, woher denn diese Stämme über-
haupt gekommen sind und welcher der bisher bekannten Barbarengruppierungen sie zuzuordnen wä-
ren. Alle einschlägigen Quellen betrachten Kimbern und Teutonen als Küstenbewohner des nördlichen
Ozeans. Die in diesem Zusammenhang genannte Halbinsel ist unstrittig Jütland und Schleswig-Hol-
stein. Interessant für die mittelmeerische Vorstellungswelt ist die Beschreibung ihrer Heimat als „ein
schattiges und waldreiches Land, auf das ganz wenig Sonnenschein falle wegen der Tiefe und Dichte
der Eichenwälder, die sich vom äußersten Ozean bis zum Herkynischen Gebirge erstreckten …“10 Das
Zitat bestätigt einmal mehr die Unerforschtheit Mitteleuropas. Zwischen Nordmeer und Herkyni-
schem Wald gibt es nur undurchdringliche Wälder, aus denen sich die „Barbarenflut“ in den Süden er-
gossen habe.
So unklar wie die geographische war den antiken Schriftstellern auch die ethnische Herkunft die-
ser Stämme. Anfangs wurden sie den Kelten zugeordnet und als ‚Gallier‘ bezeichnet. Da jedoch die Un-
terschiede zwischen Kimbern und Teutonen und den anderen Kelten in den Kriegen ab 113 v. Chr. of-
fenbar wurden, kam die Vorstellung auf, diese Stämme kämen aus dem Grenzgebiet zwischen Kelten
im Nordwesten und den Skythen im Nordosten Europas. Für diese angenommene Mischung aus Kel-
ten und Skythen kam der Begriff ‚Keltoskythen‘ auf.11 Die richtige Erkenntnis in der ethnischen Zuord-
nung wird Caesar verdankt, der, von politisch-propagandistischen Motiven geleitet, die Verbindung zwi-
schen ihnen und den Germanen Ariovists hergestellt hat.12
Die wissenschaftliche Verarbeitung des historischen Geschehens um die Invasoren aus dem Nor-
den leistete Poseidonios von Apameia in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. Wie niemand vor
ihm interessierte sich dieser Universalgelehrte auch für die terra incognita Mitteleuropas. Auf seinen
heute verlorenen Werken beruht ein großer Teil der von späteren Autoren überlieferten Nachrichten zu
den Kimbern und Teutonen. Außerdem wird ihm die umfangreichste Keltenethnographie verdankt, die
im Altertum geschrieben wurde.13 Darin begegnet wohl zum ersten Mal in der Literatur der Begriff der
Germanen in Verbindung mit einem verbreiteten Topos über nördliche Barbaren.14 Da das Zitat des
Poseidonios jedoch erst in einem kaiserzeitlichen Werk überliefert ist, läßt sich über die Authentizität
des Begriffs letzte Sicherheit nicht erreichen. Unstrittig ist, daß der Gelehrte unter den Germanen, so er

19 Zu Kimbern und Teutonen vgl. Ihm (1899); Franke 11 Plut. Marius 11,6–7; Timpe (1989) 342f.; Dobesch (1995)
(1934); Timpe (2006a); Dietz (1997b); Neumann, Grü- 53–58.
newald u. Martens (2000); Wiegels (2002a); Zimmer 12 Caes. Gall. 1,33,3–4; 40,5–7.
(2005); vgl. auch Trzaska-Richter (1991) 48–79; Johne 13 Reinhardt (1953); Dobesch (1995) 59–110; Inwood
(2006) 39–56. (2001); Malitz u. Reichert (2003).
10 Plut. Marius 11,9; Timpe (1989) 342. 14 Poseid. frg. 22 = Athen. 4,39 p. 153e.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 27


Abb. 1 | Porträtherme des Poseidonios von Apameia.

sie denn unter diesem Namen gekannt hat, kein großes und selbständiges Ethnos zwischen Kelten und
Skythen verstand. Sie waren für ihn ein besonders wilder ostkeltischer Stamm oder aber ‚Keltoskythen‘.15
Die Einf älle der nordseegermanischen Stämme bis in die Provence und nach Italien hatte den
Römern die Erkenntnis gebracht, daß die Alpen nicht mehr länger der natürliche Schutzwall für ihr
Staatswesen waren und daß es außer den ihnen seit langem bekannten Kelten noch andere Stämme gab,
die ihnen gef ährlich werden konnten. Seitdem mußte sich die römische Politik auch für die Verhältnisse
nördlich der Alpen interessieren und sich auf Dauer auf einen Feind aus dem Norden einstellen.
Einen markanten Einschnitt in dieser Entwicklung bedeutete in der Mitte des 1. vorchristlichen
Jahrhunderts das Wirken von C. Julius Caesar. Mit der Eroberung Galliens von 58 bis 50 v. Chr. ver-
knüpfte er die Mittelmeerwelt und Mitteleuropa auf Dauer miteinander, mit seinen beiden Rheinüber-
gängen der Jahre 55 und 53 v. Chr. begann die ein halbes Jahrtausend währende Präsenz Roms im
Rheinland, und sein Feldzugbericht eröffnete den Römern auch die Welt der Germanen. Seitdem war
es nur noch eine Frage der Zeit, wann das rechtsrheinische Germanien im Imperium bekannter würde.
Im Rahmen der commentarii de bello Gallico bleibt der erste Rheinübergang trotz des spektakulären
Brückenbaus in der Gegend zwischen Andernach und Neuwied nur eine Episode.16 Im Rückblick be-
gann jedoch in dem Sommer 55 v. Chr. die intensive Phase der römisch-germanischen Auseinanderset-
zungen. Wenn auch die erste Expedition in rechtsrheinisches Gebiet lediglich ein Unternehmen von drei
Wochen Dauer war und das römische Heer den Rhein wieder verließ, so waren doch die Folgen dieses
Vorgangs unübersehbar. Caesar hatte mit dem ersten Brückenschlag über den Rhein in seinem Mittel-

15 Vgl. Walser (1956) 40–46; Timpe (1989) 345; Dobesch 16 Caes. Gall. 4,16–19.
(1995) 61–63; Malitz u. Reichert (2003) 302f.

28 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 2 | Porträt des Caius Julius Caesar,
sog. „Grüner Caesar“, grüner Schiefer.

lauf bisher ganz unbekannte Perspektiven eröffnet. Mit der ältesten Rheinbrücke war gleichsam ein Tor
vom Westen in das zentrale Mitteleuropa aufgestoßen worden. Als erster bezog dieser Feldherr das eu-
ropäische Barbaricum im großen Maßstab in seine Planungen mit ein. Bisher hatte man sich in Rom wie
in den hellenistischen Staaten mit der Abwehr der von Zeit zu Zeit auftretenden barbarischen Plünde-
rungswellen begnügt. Caesar begann jedoch mit der Eroberung Kontinentaleuropas jenseits der medi-
terranen Zone. Der Rhein spielt schon im Eingangskapitel des Bellum Gallicum eine wesentliche Rolle.
Nachdem die Grenzen zwischen Galliern, Aquitaniern und Belgern beschrieben worden sind, werden
letztere als die tapfersten charakterisiert. Eine Ursache für ihre Tapferkeit sei die Nachbarschaft zu den
Germanen, mit denen sie ständig Krieg führen. Die Germanen aber wohnen jenseits des Rheins.17
Hier wird dieser Strom erstmals als die östliche Grenze Galliens bezeichnet und damit auch als das
angestrebte Ziel caesarischer Eroberung. Flußgrenzen galten Caesar im gallischen Raum für selbstver-
ständlich, die Garonne trenne die Gallier von den Aquitaniern, Marne und Seine die Gallier von den
Belgern. Zugleich wird deutlich, daß die Germanen keine Kelten sind und von den übrigen ethnischen
Gruppierungen in Gallien unterschieden werden müssen. Damit widersprach Caesar gleich zu Beginn
seiner commentarii der Autorität des Poseidonios, dessen Auffassung er korrigierte.
Das Bekanntwerden der Germanen in Rom ist untrennbar mit der Person des Heerkönigs Ariovist
verbunden, dessen Auftreten im östlichen Gallien die zweite Hälfte des ersten Buches des Gallischen
Krieges gewidmet ist.18 In einer langen Passage von 25 Kapiteln stehen erstmals in der Literatur Germa-
nen unter diesem Namen im Mittelpunkt des Geschehens. Zugleich ist Ariovist in der Überlieferung

17 Caes. Gall. 1,2,3. Wiegels (2001a); Zimmer, Wolters u. 18 Caes. Gall. 1,30–54; zur Person des Ariovist vgl. Walser
Ament (2003). (1956) 8–36; Christ (1974); Callies (1973); Trzaska-Rich-
ter (1991) 90–101; Will (1996); Fischer (1999) 31–68;
Johne (2006) 60–66.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 29


der erste als Person fassbare Angehörige der bisher unbekannten Völkerschaft. Caesars Werk hat für die
Ausbreitung und Einbürgerung des Namens ‚Germanen‘ ganz Wesentliches geleistet, indem er der
Bezeichnung für einige kleinere Gruppen im belgischen Raum, den von ihm so genannten Germani
cisrhenani, eine riesige Ausdehnung im gesamten rechtsrheinischen Gebiet verschaffte.19 Im Gallischen
Krieg hat Caesar wohl auch die geographische Bezeichnung Germania geprägt. In den ersten drei Bü-
chern seiner commentarii gibt es nämlich noch keinen Begriff für das Land, in dem die Germanen le-
ben, und er behilft sich mit Ausdrücken wie „die Germanen, die jenseits des Rheins wohnen“. Erst im
vierten Buch, zu Ereignissen des Jahres 55 v. Chr., taucht das Wort für die rechtsrheinischen Gebiete auf.
Caesar benötigte die Bezeichnung offenbar als das Gegenstück zum Begriff Gallia omnis.20
Im weiteren Verlauf des Gallischen Krieges sind es dann immer wieder die Sueben, die als Gegner
der Römer auftreten. Caesar schätzt sie als den bei weitem größten und kriegerischsten Stamm aller
Germanen ein.21 Gegen ihn waren der erste und vor allem der zweite Rheinübergang 53 v. Chr. gerichtet.
Beide Male ergriffen die Sueben die Flucht und ließen Caesar ins Leere stoßen. Bei diesen Feldzug-
berichten wird erstmals der Blick aus der Umgebung des Rheins in Richtung Mitteldeutschland ge-
lenkt. Das ‚Suebenland‘ soll den Eindruck beachtlicher Größe hervorrufen und natürlich den eines un-
durchdringlichen Waldgebietes, in dem man sich gut verstecken könne.22 Konkret muß es sich um
Gebiete im heutigen Hessen handeln. Im äußersten Grenzgebiet des ‚Suebenlandes‘ gebe es einen
Wald von unermeßlicher Größe, der Bacenis genannt wird. Dieser erstrecke sich weit ins Landesinnere
und sei ein natürlicher Wall zwischen Sueben und Cheruskern.23 Mit der Erwähnung dieses Waldes
liegt erstmals eine geographische Angabe aus dem Inneren Germaniens vor, die sich wenigstens etwas
eingrenzen läßt, mit der Nennung der Cherusker taucht der berühmte Stamm des Arminius in der
Überlieferung auf. Der Bacenis-Wald kann nur eines der deutschen Mittelgebirge gewesen sein. Als
Scheidegrenze zwischen den Sueben in Hessen und den zwischen Weser und Elbe siedelnden Cherus-
kern würde der Harz am besten passen. Als eine zweite Möglichkeit der Lokalisierung wird weiter süd-
lich das Rhön-Vogelsberggebiet bis hin zum westlichen Thüringer Wald diskutiert. Schließlich wird
man bei den äußerst vagen Vorstellungen, die Caesar vom Inneren Germaniens vermittelt, nicht aus-
schließen können, daß in dem Begriff des Bacenis-Waldes die Kenntnisse mehrerer Waldgebirge
zusammengeflossen sind.24 Immerhin wird an dieser Stelle der commentarii eine Eingrenzung vorge-
nommen, die den tatsächlichen Gegebenheiten näher kommt als alle vorangegangenen Äußerungen.
Zweifellos hatte Caesar bessere Kenntnisse über das rechtsrheinische Mitteleuropa als alle vor ihm
schreibenden Autoren. Dabei ist es nicht unmöglich, daß er viel mehr wußte, als aus seinem Werk deut-
lich wird. Aber zu seinen Feldzugberichten aus Gallien und zu denen über zwei kurze und vorerst fol-
genlose Expeditionen nach Germanien würden ins Detail gehende Ausführungen über die rechtsrhei-
nischen Gebiete gar nicht passen. Dem Tenor seiner Germanendarstellung entsprachen viel besser die
Bilder von der „Einsamkeit der Wälder“ und vom Bacenis-Wald „von unermeßlicher Größe“.25 Somit
wird man nicht ausschließen können, daß der drittgrößte Strom Mitteleuropas Caesar bekannt gewe-
sen ist. Vermuten läßt sich dieselbe Kenntnis auch für einige wenige an Geographie und Ethnographie
Interessierte in dieser Zeit. Poseidonios hat im hohen Alter noch die Eroberung Galliens erlebt, er ist

19 Caes. Gall. 2,3,4; 2,4,1–3 u. 10; Walser (1956) 39f.; von 22 Caes. Gall. 4,19,2–3; zur Rolle des Waldes bei Caesar
Petrikovits (1986); Neumann (1986); Pohl (2000) Nenninger (2001) 126–133.
52–56; Reichert (2001). 23 Caes. Gall. 6,9,1–10,5.
20 Vgl. Caes. Gall. 4,4,1. 24 Vgl. Neumann u. Wenskus (1973); Goetz u. Welwei
21 Caes. Gall. 4,1,3; 1,37,3; 1,54,1; 4,1,3–3,4; zu den schwieri- (1995) I, 340f.; Nenninger (2001) 96.
gen Problemen des Suebenbegriffs vgl. Peschel (1978); 25 Vgl. Johne (2006) 68–73.

30 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 3 | Porträt des M. Vipsanius Agrippa.

gegen Ende dieses Krieges, um das Jahr 51 v. Chr., gestorben.26 Ein weiterer Zeitgenosse war Timagenes
von Alexandria, der sich mit Geschichte und Geographie des Keltenlandes befaßt hat.27 M. Terentius
Varro, der gelehrteste Römer dieses Jahrhunderts, beschrieb in seinem Werk De ora maritima auch den
Verlauf der Meeresküsten und könnte dabei die Elbemündung erwähnt haben.28 Alle Überlegungen
dieser Art bleiben jedoch im Bereich der Vermutung, ein sicherer Nachweis für eine Kenntnis der Elbe
vor der Regierungszeit des Augustus läßt sich nicht erbringen.29
Caesar hat in den Jahren des Gallischen Krieges Germanen erstmals auf ihrem eigenen Territo-
rium bekämpft, er hat das für die Römer fortan verbindliche Bild von den Germanen entwickelt und
wahrscheinlich den geographischen Begriff Germania geprägt, und er hat den Rhein sowohl zur Trenn-
linie zwischen Kelten und Germanen als auch zur Grenze des Imperium Romanum erklärt. Zu seinen
Lebzeiten und in den darauf folgenden drei Jahrzehnten ging es jedoch vorrangig um die Sicherung
Galliens, der Rhein blieb eine ‚Anspruchsgrenze‘.
17 Jahre nach dem Bau der ersten Rheinbrücke überschritt 38 v. Chr. M. Vipsanius Agrippa als
zweiter römischer Feldherr den Rhein. Er war der wichtigste Mitstreiter des späteren Kaisers Augustus
und der bedeutendste Feldherr in der ersten Hälfte von dessen Regierung.30 Im Zentrum seiner Statt-
halterschaften – in den Jahren 20 bis 19 v. Chr. weilte er nochmals in Gallien – standen der Ausbau der
Infrastruktur und die Konsolidierung der römischen Herrschaft in den von Caesar eroberten Gebieten.

26 Walser (1956) 55–57 nimmt für Poseidonios eine Kennt- 28 Vgl. Sallmann (2002) bes. 1131f. und 1139.
nis der Elbe an. 29 Vgl. Deininger (1997) 9.
27 Vgl. Meister (2002). 30 Hanslik (1961); Kienast (1996).

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 31


Vor allem aber widmete er sich dem Aufbau eines Systems von Fernstraßen. Etwa zwischen 30 und
17 v. Chr. entstand die wichtigste Verbindung an den Rhein, in moderner Terminologie von Lyon über
Metz und Trier nach Köln. Den Schutz der Grenze in deren mittlerem Abschnitt überließ man dem ver-
bündeten Stamm der Ubier, die Agrippa schließlich auf dem linken Rheinufer, im Bereich der Kölner
Bucht, ansiedelte.31
Die germanischen Stämme der Sugambrer, Usipeter und Tenkterer ließen sich jedoch von dem
Grenzanspruch der Römer nicht beeindrucken. Wie zu Caesars Zeiten fielen sie über den Rhein nach
Gallien ein, so in den Jahren 29, 25 und 17/16 v. Chr. Bei dem letzten Einfall erlitt der ihnen entgegen-
tretende Statthalter M. Lollius eine schmachvolle Niederlage und verlor das Feldzeichen, den Legions-
adler.32 Dies wog besonders schwer, weil erst wenige Jahre zuvor die in der Schlacht bei Carrhae an die
Parther verlorenen Feldzeichen wiedergewonnen worden waren und dieser Vorgang als ein großer
Erfolg gefeiert wurde.33 Nunmehr schien endgültig ein dauerhafter Schutz der Rheingrenze durch das
römische Heer erforderlich zu sein, sie konnte nicht länger allein befreundeten und abhängigen Ger-
manen anvertraut werden.
Die Niederlage des Lollius rief Kaiser Augustus nach Gallien und in das Grenzgebiet. Bis zum
Jahre 13 v. Chr. blieb er dort, um die Neuordnung von Caesars Eroberungen zu einem vorläufigen Ab-
schluß zu bringen und um die Politik gegenüber den Germanen neu zu konzipieren. Die bisher im
Inneren Galliens stationierten Legionen wurden jetzt an den Rhein verlegt. Bis zum Jahr 12 v. Chr.
entstanden die Militärlager von Noviomagus (Nijmegen/Nimwegen), Vetera I bei Xanten, Asciburgium
(Moers-Asberg), Novaesium (Neuß), Bonna (Bonn) und Mogontiacum (Mainz). Erst mit diesem ein-
drucksvollen Truppenaufgebot war der Rhein von der Mitte bis zur Mündung römischer Kontrolle un-
terstellt und zur wirklichen Grenze geworden. Bis vor kurzem galt das 16 v. Chr. gegründete Novaesium
als das älteste Lager am Rhein. Neuere Ausgrabungen und Münzfundauswertungen zeigen jedoch, daß
das Legionslager von Nijmegen bereits in die Jahre 19/18 v. Chr. datiert werden kann.34 Es dürfte auf
Agrippas Initiative zum Schutze der Rheinmündung errichtet worden sein, mithin keine Reaktion auf
die Niederlage des Lollius wie die anderen Heerlager. Mit der befestigten Rheingrenze waren zum
einen weiteren germanischen Flußüberschreitungen ein Riegel vorgeschoben worden, zum anderen
auch alle Vorbereitungen getroffen, um östlich des Stromes aktiv werden zu können. Die Politik der De-
fensive, die nur reagierte, war vorbei. Vier Jahrzehnte nach den diffusen Beschreibungen des ‚Sueben-
landes‘ durch Caesar machten sich die Römer daran, in dieses Land einzudringen.
Im März des Jahres 12 v. Chr., unmittelbar vor Beginn der vom Niederrhein ausgehenden Feldzüge
gegen Germanien, starb Agrippa. Er hinterließ das Werk commentarii geographici, in dem er die auf sei-
nen Feldzügen und Reisen sowie während seiner Tätigkeit als Statthalter in Gallien und am Rhein
gewonnenen Kenntnisse mit den bereits vorhandenen Itinerarien verarbeitet hat. Geboten wurde darin
der Kenntnisstand vor der ‚Entdeckung‘ der Elbe.35 Die verlorene Schrift kann teilweise aus der Natur-
geschichte des älteren Plinius rekonstruiert werden. Dieser Schriftsteller bezeichnet nun unter aus-
drücklicher Berufung auf Agrippa die Weichsel als die Grenze zwischen Germanien und Sarmatien.36
Die Kenntnis der Weichsel wirft natürlich die Frage nach einer Kenntnis der Elbe zur gleichen Zeit auf.

31 Vgl. Eck (2004a) 46–55; Johne (2006) 77–79; Wolters 34 Vgl. Kemmers (2005) 44ff.; Wolters (2008) 27; zur Pro-
(2008) 23–26; K. Tausend (2009) 17 und 91f. blematik der Flußgrenzen Dobesch (2005).
32 Vgl. Goetz u. Welwei (1995) II, 12–17; Eck (1999); 35 Vgl. Hanslik (1961) 1270f.; Kienast (1996); Timpe
Wolters (2008) 27–29. (1989) 356f.; Engels (1999) 369–377.
33 Vgl. Wolters (1990) 153–155; Bleicken (1999) 356–362, 36 Plin. nat. 4,81; Gutenbrunner (1967); Waldherr (2002b);
729f; dazu auch C. Wendt im vorliegenden Band. Udolph u. Nowakowski (2006).

32 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 4 | Die Rheingrenze in der Zeit zwischen Caesar und Augustus.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 33


Mindestens drei Möglichkeiten dürfte es bei der Beantwortung geben: Zum einen braucht unsere Über-
lieferung in diesem Detail nicht repräsentativ zu sein, und der Eindruck weitgehender Unkenntnis vom
inneren Germanien, den die erhaltenen Quellen vermitteln, ist so nicht richtig. Poseidonios, Timage-
nes und Varro könnten mehr gewußt haben, als überliefert ist. Bei Caesar besteht die Möglichkeit, daß
vorhandenes Wissen bewußt keinen Niederschlag in seinen Schriften gefunden hat. Eine weitere Mög-
lichkeit wäre, daß der Ausbau des gallischen Straßennetzes, die Niederlage des Lollius und der Auf-
enthalt des Augustus in Gallien sowie die Verlegung der Legionen an den Rhein mit einer intensiveren
Erkundung Germaniens einhergingen. Die bis dahin wirklich unbekannten Ströme im zentralen Mit-
teleuropa wären dann erst im Vorfeld eines sich abzeichnenden stärkeren Engagements Roms an sei-
ner Nordgrenze bekannt geworden. Die dritte mögliche Variante wäre, daß die Kenntnisse der Römer
vor dem Beginn der Feldzüge vom Niederrhein aus wirklich nicht weit ins Innere Germanien gereicht
hätten, wie aus der erhalten gebliebenen Überlieferung hervorgeht. Die Elbe wäre tatsächlich erst von
Drusus ‚entdeckt‘ worden, und zwar nicht nur im allgemeinen Bewußtsein der griechisch-römischen
Welt, sondern auch für geographisch interessierte Gelehrte. Dann wäre die weit im Osten fließende
Weichsel noch vor der Elbe bekannt geworden. Möglich gewesen sein könnte dies nur durch den Han-
delsweg der ‚Bernsteinstraße‘ von der Ostsee zur Donau. Bei Annahme dieser Variante hätte es eine
Zeit lang zwar die Kenntnis der Germanien begrenzenden Flüsse Rhein und Weichsel gegeben, wäh-
rend der Raum dazwischen jedoch noch weitgehend terra incognita war.
Das Jahr 12 v. Chr. bedeutet im Rückblick einen Markstein sowohl in der Germanienpolitik des Im-
periums als auch für die Erweiterung des geographischen Weltbildes der Griechen und Römer. In die-
sem Jahre begann das fast dreißigjährige Ringen um die Herrschaft in dem Gebiet zwischen Rhein und
Elbe, das auf diesen Feldzügen nun auch näher erforscht wurde. In den ersten vier Jahren dieses Zeit-
abschnitts war der ältere Drusus die entscheidende Persönlichkeit auf der römischen Seite.37
Als im Sommer 12 v. Chr. Sugambrer, Usipeter und Tenkterer erneut einen Einfall über den Rhein
nach Gallien unternahmen, sollte dies der letzte derartige Vorstoß werden. Denn jetzt ermöglichten die
an die Flußgrenze vorverlegten Legionen einen Akt sofortiger Vergeltung. Drusus besiegte nicht nur
die Angreifer, er unternahm auch eine Flottenexpedition an die Nordseeküste in die Gebiete der Friesen
und Chauken und entdeckte die Mündung der Ems.38 Im folgenden Jahre weitete sich der Kriegsschau-
platz beträchtlich in das Innere Germaniens aus. Drusus zog durch das Gebiet der Cherusker bis an die
Weser, kämpfte mit den Sugambrern und ließ das Kastell Oberaden an der Lippe errichten.39 Der Feld-
zug 10 v. Chr. richtete sich gegen die Chatten, erneut die Sugambrer und wohl auch gegen die Marko-
mannen.40 Der vierte und letzte Expeditionszug des Drusus erfolgte im Jahre 9 v. Chr., in dem der Prinz
auch das Konsulat bekleidete. Dieses Mal machte er nicht an der Weser Halt, sondern überquerte den
Fluß und zog weiter nach Osten bis zur Elbe, wie zu Beginn dieses Beitrags ausgeführt.41 Für seine
Marschroute gibt es leider nur die sehr allgemeinen Fixpunkte ,Cherusker‘, ,Weser‘ und ,Elbe‘. Wenn
man an der Weser den Abschnitt zwischen Hameln und Höxter/Corvey als den wahrscheinlichsten, an
dem die Römer 11 v. Chr. den Fluß erreichten, in Betracht zieht, dann ist ein weiterer Vormarsch nörd-

37 Vgl. Moeller (1986); Kienast (1997). Wolters (2008) 42–44; zur Weser Gutenbrunner u. John
38 Zum Feldzug des Jahres 12 vgl. Moeller (1986) 205–207; (1967); Wiegels (2002b); Udolph (2006); Müller (2007).
Wolters (1990) 158–161; Becker (1992) 131–137; Bleicken 40 Zum Feldzug des Jahres 10 vgl. Moeller (1986) 209;
(1999) 576–578; Kehne (2002) 305–310; Johne (2006) Wolters (1990) 165–167; Becker (1992) 147–151; Bleicken
88–91; Wolters (2008) 38–42. (1999) 580; Johne (2006) 95f.; Wolters (2008) 45.
39 Zum Feldzug des Jahres 11 vgl. Moeller (1986) 207–209; 41 Ausführliche Behandlung dieses Feldzuges und aller
Wolters (1990) 162–165; Becker (1992) 137–147; Bleicken damit in Zusammenhang stehenden Fragen bei Johne
(1999) 579; Kehne (2002) 310–312; Johne (2006) 91–95; (2006) 83–113, bes. 96–106.

34 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 5 | Porträt des Nero Claudius Drusus Maior.

lich des Harzes anzunehmen. Er würde an die Elbe im Raum des späteren Magdeburg führen, wo der
große Strom Innergermaniens in seinem Mittellauf am weitesten nach Westen reicht. Nach der erst
vor wenigen Jahren erfolgten Auffindung des Lagers Hedemünden ist allerdings der Weserübergang
eine ganze Strecke weiter südlich an der unteren Werra, die als „obere Weser“ verstanden wurde, wahr-
scheinlicher. Von dort führte der Zug entweder weserabwärts oder gleich zur Leine und von dort nörd-
lich am Harz vorbei. Hedemünden ist der am weitesten östlich gelegene Stützpunkt, der bisher auf
deutschem Boden entdeckt worden ist. Er sicherte eine Route von Mainz aus durch die Wetterau bis an
die Weser. Der älteste Teil der Anlage ist ein kleines Marschlager von 1,3 ha Umfang, das aller Wahr-
scheinlichkeit nach während der Expedition des Jahres 9 v. Chr. angelegt wurde.42
Cassius Dio berichtet, Drusus habe nach der Ankunft an der Elbe versucht, diese zu überqueren,
das jedoch nicht vermocht, sondern nur Siegeszeichen errichten lassen und danach den Rückzug an-
getreten.43 Da schon im Jahre 11 v. Chr. an der Weser Versorgungsprobleme aufgetreten sind, müssen
diese jetzt noch gravierender gewesen sein. Außerdem könnte Drusus die Elbe noch im späteren Früh-
jahr erreicht haben, als sie ihr Umland überschwemmt hatte. Das Überschwemmungsgebiet der Elbe
im Norddeutschen Tiefland besaß im Altertum vielfach eine Breite zwischen 10 und 20 km. Erst die im
hohen Mittelalter vorgenommene Eindeichung hat diese Breite auf 1, 5 bis 3 km eingeschränkt.44 Daß
es die noch Hochwasser führende Elbe gewesen ist, die Drusus zum Rückzug bewogen hat, läßt sich
zumindest nicht ausschließen. Der Heereszug bewegte sich vermutlich elbaufwärts bis zur Mündung

42 Grote (2004) und (2006). 44 Jäger, Schmid, Timpe u. Mildenberger (1989) 96; Jäger
43 Cass. Dio 55,1,3. (1992) 140–144.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 35


der Saale beim heutigen Barby, dann die Saale aufwärts bis zu deren Mittellauf, um von dort aus wieder
die Ausgangsbasis Mainz zu erreichen. Für den Rückzug bieten sich entweder eine Strecke südlich des
Harzes zur Werramündung oder eine durch das Ilmtal und nördlich des Thüringer Waldes in Richtung
Hessen an. Auf diesem Rückweg zwischen Saale und Rhein stürzte Drusus so unglücklich vom Pferd,
daß er noch im Barbarenland verstarb. Diesem Unglücksfall wird die einzige Erwähnung der Saale in
der antiken Literatur verdankt.45
Der nur wenige Monate nach dem Erreichen der Elbe und dem Halt an ihrem Ufer eingetretene
Tod des Prinzen in einem fernen und unbekannten Land regte zur Legendenbildung an. So berichtet
Cassius Dio, eine Frau von übermenschlicher Größe sei dem Feldherrn am Elbufer entgegengetreten
mit den Worten: „Wohin treibt es dich, unersättlicher Drusus? Nicht alles hier ist dir vom Schicksal zu
sehen vergönnt. Kehre um! Denn schon sehr nahe ist das Ende deiner Taten und deines Lebens.“46 Un-
strittig ist, daß hinter der Frauengestalt das Wissen um germanische Seherinnen steht, die die Römer
immer sehr beeindruckt haben.47 Strittig ist hingegen, ob sich hinter der Geschichte mehr verberge als
eine legendenhafte Ausschmückung der Tatsache, daß Drusus an der Elbe an die Grenze des ihm und
seinem Heer Möglichen gestoßen war und kurz danach auch noch tödlich verunglückte. Schon Strabon
hat die Feldzüge ins Innere Germaniens mit denen Alexanders des Großen nach Asien verglichen.48
Davon ausgehend, sind in jüngerer Zeit die Bezüge zur Alexandertradition herausgearbeitet worden.
Der unbekannte Fluß am Rande der oikoumene als die Stelle der Umkehr – bei Alexander der Hyphasis
im indischen Pandschab –, der jugendliche Held als Eroberer im fremden Land und der frühe Tod sind
auch tatsächliche Parallelen.49 Solche lassen sich auch bezüglich des ‚Entdeckers‘ Drusus finden. In ei-
nem anonymen, Ovid zugeschriebenen Trostgedicht für Livia, in dem die Taten ihres Sohnes verherr-
licht werden, wird bedauert, daß er nun nicht mehr berichten könne, was er alles erkundet habe, fremde
Flüsse und Berge, die Namen unbekannter Gegenden und „was er sonst noch an Wunderbarem in der
neuen Welt gesehen“.50 Formulierungen wie „die neue Welt“ (orbis novus), die „neuen Länder“ (terrae
novae) und „die germanische Welt“ (Germanus orbis) sprechen für sich und stellen Drusus neben an-
dere Heerführer, die ihre Feldzüge zugleich als geographische Expeditionen verstanden wissen wollten,
neben Pompeius im Kaukasus und Caesar am Rhein und in Britannien. Ihr aller Vorbild war Alexan-
ders Zug nach Indien. Ein Entdecker ist der jüngere Stiefsohn des Augustus auch für spätere Schrift-
steller, die auf seine Feldzüge und auf seinen frühen Tod zu sprechen kommen. So erinnert der Philo-
soph Seneca in der zwischen 37 und 41 verfaßten Trostschrift für Marcia an die Trauer der Livia um
ihren Sohn, der tief in Germanien eingedrungen sei und die römischen Feldzeichen selbst dort aufge-
richtet habe, wo kaum bekannt gewesen sei, daß überhaupt Römer existierten.51
Zu den Kriegszielen, die mit den Feldzügen des Drusus verbunden sind, fehlen eindeutige Aussa-
gen in den Quellen; sie sind von der Sache her auch gar nicht zu erwarten. Die vorhandenen Zeugnisse
wiederum lassen meistens verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu, entsprechend kontrovers ist
die Einschätzung der Germanienpolitik des Augustus.52 Einiges spricht dafür, daß sich die Elbe als
Kriegsziel erst im Verlauf der Feldzüge herausgebildet hat. Drusus ist im Sommer 12 v. Chr. nicht von
sich aus zu einem Eroberungszug aufgebrochen, sondern hat auf einen weiteren Einfall von Germanen

45 Strab. 7,1,3 p. 291C.; Waldherr (2001). 50 Ov. Consolatio ad Liviam 313–14 u. 20 u. 39; vgl. Herr-
46 Vgl. Anm. 43. mann (1988–1992) I, 518f.
47 Vgl. S. Tausend (2009) bes. 170 u. D. B. Baltrusch im 51 Sen. De Consolatione ad Marciam 3,1; vgl. Herrmann
vorliegenden Band. (1988–1992) I, 554.
48 Strab. 1,2,1 p. 14C. 52 Zu den verschiedenen Forschungsmeinungen vgl. Dei-
49 Timpe (1967); vgl. auch Abramenko (1994) und Johne ninger (2000); Timpe (2006b) 300–314; Johne (2006)
(2006) 97–102. 16–20 und 109–112; Wolters (2008) 48–52.

36 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 6 | Römische Feldzüge an die Elbe.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 37


Abb. 7 | Vorkaiserliches Porträt des Tiberius Julius Caesar,
sog. Adoptionstypus.

reagiert. Die Ereignisse der ersten beiden Kriegsjahre können, für sich betrachtet, durchaus als Strafex-
peditionen und Erkundungszüge der endgültig zu sichernden Rheingrenze betrachtet werden. Die Fort-
setzung des Krieges ab dem Jahre 10 v. Chr. war vor allem durch den Abfall der Chatten bedingt und wäre
ohne diesen Vorfall vielleicht gar nicht erfolgt, wofür auch die 11 v. Chr. geplante, aber dann doch nicht
erfolgte Schließung des Janus-Tempels sprechen könnte. In den Jahren 12 und 10 v. Chr. wird von rö-
mischer Seite jedenfalls in erster Linie auf germanisches Verhalten reagiert. Die Feldzüge dieser Jahre
waren begrenzte Offensiven, die sich immer mehr ausweiteten, bis sie den Radius des Jahres 9 v. Chr.
erreicht hatten. Der Zug dahin könnte sich aus der Verfolgung der sich aus dem Weserland zurückzie-
henden Cherusker ergeben haben. Die Bedeutung der Elbe als östliche Markierungslinie im Innern
Germaniens dürfte nicht zuletzt den dramatischen Umständen verdankt werden, die den ‚Entdecker der
Elbe‘ das Leben kosteten. Die reichsweiten Trauerfeiern im Herbst 9 haben den vierten seiner Germa-
nienfeldzüge auch in den Details zweifellos bekannter gemacht als die drei vorangegangenen. Die Elbe
muß durch Drusus‘ Tod im ganzen Römischen Reich als ein mächtiger Strom im fernen Barbaricum ein
Begriff geworden sein. Das von ihm einmal erreichte Ziel wieder zu gewinnen wurde eine verpflich-
tende Aufgabe erst für seinen Bruder Tiberius und dann vor allem für seinen Sohn Germanicus.

38 KLAUS-PETER JOHNE
Der Tod des Drusus hat die Germanienpolitik des Augustus nicht geändert. Sein älterer Bruder Ti-
berius eilte unverzüglich nach Germanien und übernahm – „zwischen Saale und Rhein“ – die Führung
der Expeditionsarmee. In den Jahren 8 und 7 v. Chr. festigte er die Herrschaft Roms weiter, so daß im
Rückblick gesagt werden konnte, alle Germanen zwischen Rhein und Elbe hätten sich dem Tiberius un-
terworfen.53 Sein bedeutendster Erfolg war die Unterwerfung der Sugambrer und deren Umsiedlung
auf das linke Rheinufer.54 Am 1. Januar 7 v. Chr. feierte Tiberius einen Triumph über Germanien, womit
die erste Phase der Eroberungszüge ihren Abschluß fand.
Gegen den Plan einer seit Beginn der Feldzüge angestrebten Grenze an der Elbe spricht die Tatsa-
che, daß in den Jahren 8 und 7 v. Chr. mehrere erst wenige Jahre zuvor errichtete militärische Anlagen
wieder aufgegeben wurden. Offenbar wollten sich die Römer zu diesem Zeitpunkt noch mit der Abhän-
gigkeit von Stämmen in einem weiten Vorfeld der Rheingrenze begnügen, ohne selbst militärisch dort
präsent sein zu müssen. Bezeichnend dafür ist das erst 11 v. Chr. errichtete Legionslager Oberaden bei
Bergkamen. Es war zweifellos zur Kontrolle des besonders aggressiven Stammes der Sugambrer ange-
legt worden. Nachdem dieser Stamm umgesiedelt worden war, hatte es seine Funktion verloren und
wurde aufgegeben. Ein Jahrzehnt später finden wir an der Lippe drei neue Römerlager, Holsterhausen,
Haltern und Anreppen, zu denen Oberaden ebenfalls gepaßt hätte. Die Konzeption einer ‚Lippestraße‘,
d.h. Militäranlagen in bestimmten Abständen an diesem Flußlauf, scheint also erst nach der Aufgabe
Oberadens entstanden zu sein.55
Mit dem Jahre 6 v. Chr. verschwindet dann Tiberius aus dem politischen Geschehen und damit
auch von dem Kriegsschauplatz in Germanien. Das Fehlen eines prominenten Angehörigen des Kai-
serhauses an der Rheingrenze wirkte sich sofort auf die Überlieferung aus, das Interesse der Schrift-
steller ließ schlagartig nach. Für das nachfolgende Jahrzehnt bis 4 n. Chr. sind nur zuf ällige Nachrich-
ten über die Verhältnisse in Germanien erhalten geblieben.56 Eine davon beleuchtet die Tätigkeit des
L. Domitius Ahenobarbus, der als zweiter römischer Heerführer die Elbe erreicht hat. Cassius Dio be-
richtet, er habe die Elbe überschritten, ohne daß ihm jemand entgegentrat, mit den dortigen Barbaren
Freundschaft geschlossen und an dem Strom einen Altar für Augustus errichtet. Tacitus schreibt ergän-
zend dazu, er sei tiefer als alle anderen nach Germanien eingedrungen, wofür er die Triumphalorna-
mente erhalten habe.57 Die beiden spärlichen Notizen über ein etwa in das Jahr 3 v. Chr. zu datierendes
Geschehen lassen genügend Fragen offen.58
Für die im Entstehen begriffene Römerherrschaft in Germanien bedeutete das Jahr 1 n. Chr. offen-
sichtlich einen Einschnitt. Von 1/2 bis 3/4 n. Chr. mußte ein mehrjähriger Krieg, ein immensum bellum,
gegen germanische Stämme, die bereits einmal von Drusus und Tiberius unterworfen worden waren,
geführt werden. In der Schlußphase dieses Krieges wurde Tiberius ein zweites Mal über den Rhein ge-
schickt. Er hat in den Jahren 4 bis 6 n. Chr. den Zustand wiederhergestellt, der bei seinem Triumph 7
v. Chr. schon einmal erreicht zu sein schien.59 Um den Beginn der christlichen Zeitrechnung begannen
die Römer dann mit dem Aufbau einer direkten Herrschaft mit dem Ziel der Errichtung einer Provinz

53 Cassiod. Chronica ad annum 746, Chronica minora 2,135 57 Cass. Dio 55,10a,2; Tac. ann. 4,44,2; vgl. Herrmann
(p. 299 frg. 3 ed. H. Peter). (1988–1992) III, 525.
54 Suet. Aug. 21,1; Tib. 9,2; vgl. Herrmann (1988–1992) III, 58 Ausführliche Erörterung bei Johne (2006) 120–127 mit
544f.; zu der Umsiedlung und ihren Folgen Heinrichs weiterführender Literatur.
(2001). 59 Vell. 2,104,2; vgl. Herrmann (1988–1992) I, 528; zum
55 Zum Lager Oberaden Kühlborn (1995) 103–124; zu allen immensum bellum Wolters (1990) 185–187; Becker
Lagern zuletzt Mattern (2008). (1992) 169f.; Timpe (2006b) 297f.; Johne (2006)
56 Von einem „dunklen Jahrzehnt“ spricht Wolters (2008) 127–129; Wolters (2008) 56–59.
54–56.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 39


Germanien in dem geographischen Rahmen, den die beiden Stiefsöhne des Augustus zwischen 12 und
7 v. Chr. abgesteckt hatten.60
Die Zeit des zweiten Aufenthalts des Tiberius war zweifellos der Höhepunkt des römischen Ein-
flusses zwischen Rhein und Elbe. Im Sommer 5 n. Chr. erfolgte eine kombinierte Land- und Seeopera-
tion des Prinzen an die untere Elbe. Darüber informiert uns Velleius Paterculus, der als Offizier an die-
sem Feldzug teilgenommen hat.61 Er liefert den einzigen erhalten gebliebenen Augenzeugenbericht
eines ‚Römers an der Elbe‘ und schildert die „zweifellos berühmteste Episode, die sich im Altertum an
der Elbe ereignet hat“.62 Tiberius hatte mit seinem Heer ein Lager am linken Ufer aufgeschlagen, wo
auch die Flotte ankerte. Das rechte Ufer war von germanischen Kriegern besetzt, die sich im Glanz ih-
rer Waffen zeigten, allerdings sofort die Flucht ergriffen, wenn eine Bewegung der römischen Schiffe
erkennbar wurde. Die Situation des bewaffneten Gegenüberstehens und Beobachtens wurde unterbro-
chen, als ein älterer ‚Barbar‘ von höherem Rang allein einen Einbaum bestieg und vom rechten Ufer
aus in die Flußmitte ruderte. Von dort aus bat er um die Erlaubnis, das linke, ‚römische‘ Ufer betreten
zu dürfen, um Tiberius sehen und sprechen zu dürfen. In der literarisch gestalteten Rede soll der Ger-
mane die Römer als höhere Wesen angesehen und mit den Göttern gleichgesetzt haben. Danach be-
stieg er wieder sein Boot und fuhr, sich unverwandt nach dem Feldherrn umsehend, über die Elbe an
das rechte Ufer zurück.63 Die geballte Macht von Heer und Flotte im Inneren Germaniens hat ohne
Zweifel einen tiefen Eindruck auf die Bewohner des Landes gemacht. Der Zug des Tiberius mußte als
ein für die Germanen westlich wie östlich der Elbe sichtbares Signal verstanden werden, die Macht des
Imperium Romanum bis an diesen Fluß ausdehnen zu wollen. Für eine Lokalisierung des von Velleius
geschilderten Zusammentreffens stehen neben dem Flußlauf leider nur die Namen germanischer
Stämme zur Verfügung. Tiberius unterwarf in diesem Sommerhalbjahr zuerst die Chauken an der
Nordseeküste zwischen Ems und Elbe.64 Anschließend wandte er sich gegen die Langobarden und be-
siegte sie, woraufhin diese ihre Wohnsitze räumten und auf das östliche Flußufer übersiedelten.65 Dazu
bemerkt Velleius noch, daß die Elbe an den Territorien der Semnonen und Hermunduren vorbei-
fließe.66 Die Semnonen tauchen wie die Langobarden zu diesem Zeitpunkt erstmals in der Überliefe-
rung auf. Die Nennung von Chauken, Langobarden und Semnonen weisen auf den Unterlauf der Elbe
hin, die Vorschläge für die Lokalisierung reichen von Hamburg bis Wittenberge.67 Aus geographischer
wie archäologischer Sicht spricht einiges für das sogenannte Kastell Höhbeck auf einem Sporn über
dem linken Elbsteilufer bei Vietze im Hannoverschen Wendland (Kreis Lüchow-Dannenberg). Auf die-
ser Erhebung zwischen Seege und Elbe bricht eine germanische Besiedlung in den Jahren um Christi
Geburt ab.68 Die Einmaligkeit der Expedition dieses Jahres bestand aber nicht im Erreichen der Elbe an
sich, wie Velleius suggerieren will, sondern im Zusammentreffen des Heeres mit einer römischen
Flotte an einem zuvor vereinbarten Ort. Diese Überlegung des Tiberius verdient das von seinem Offi-
zier gespendete Lob und darf als eine der bedeutendsten strategischen Leistungen der augusteischen

60 Zu dem Problem, ob Germanien vor dem Jahre 9 n. Chr. 64 Vell. 2,106,1; Neumann, Wenskus u. Schmid (1981);
bereits eine Provinz war oder nicht, vgl. u.a. Eck Dietz (1997a).
(2004b); Wolters (2008) 71–74 einerseits und Timpe 65 Vell. 2,106,2; Strab. 7,1,3 p. 291C; Dietz (1999); Ne-
(2006b) 292f.; Wiegels (2008) 58–60; Johne (2006) doma, Scardigli, Udolph, Pohl, Eger u. Bierbrauer
152; vgl. 116–118; Johne (2008a) 246–248 andererseits. (2001) 50–93, zur Sache 62 und 69–76; Johne (2008b)
61 Krapinger (2002); zu Velleius’ Werk ausführlicher bes. 43–46.
Schmitzer (2000) bes. 9–26; Christ (2001); Kehne 66 Vell. 2,106,2; vgl.Wiegels (2001b); Sitzmann u. Castri-
(2006a). tius (2005); Dietz (1998); Kehne (2006b).
62 Deininger (1997) 20. 67 Zu den Lokalisierungsvorschlägen Johne (2006) 141.
63 Vell. 2,107,1f. 68 Wachter (1986) 123–126 und 201–203.

40 KLAUS-PETER JOHNE
Feldzüge betrachtet werden.69 Mit dem Halt an der Elbe befolgte der Prinz eine Anweisung des Augu-
stus, diesen Fluß auf keinen Fall zu überschreiten.70 Das Verbot des Kaisers dürfte aus den Erkenntnis-
sen einer wahrscheinlich in das Jahr 4 n. Chr. zu datierenden Flottenexpedition resultieren, die den Kü-
stenverlauf des ‚nördlichen Ozeans‘ erkunden sollte und tatsächlich bis zum Kap Skagen an der
Nordküste Jütlands gelangt ist.71 Die durch dieses Unternehmen gewonnene Erkenntnis war, daß eine
langgestreckte Halbinsel, die ‚Kimbrische‘, wie sie im Altertum genannt wurde, eine Weiterfahrt in
Richtung Osten versperre und die Elbe nach dem Rhein, der Ems und der Weser die letzte vom offenen
Meer her befahrbare ‚Wasserstraße‘ sei, die den Zugang ins germanische Binnenland ermögliche. Die
zuvor existierende Annahme eines ‚Seeweges‘ um das nördliche Europa herum, den 300 Jahre früher
schon Pytheas gesucht hatte, erwies sich mit dieser Expedition als falsch, das Verbot einer Überschrei-
tung der Elbe dürfte die entscheidende politische Folge gewesen sein.72 So erklärt sich das Verhalten des
Tiberius, es mit seiner konzentrierten Macht von Heer und Flotte bei einer Demonstration zu belassen
und keine Anstalten zu einem Flußübergang zu machen. Diese Expedition wird im allgemeinen mit
der gemeinsamen Operation von Heer und Flotte im Jahre 5 n. Chr. verbunden. Velleius Paterculus be-
tont dabei ausdrücklich die Versorgungsaufgabe der Flotte für das Landheer und die genaue Einhaltung
des Zeitplans.73 Beides mußte sich bei einer Forschungsexpedition in unbekannte Gewässer geradezu
als Unmöglichkeit erweisen. Die in vielen Darstellungen, Kommentaren und Landkarten ohne Diskus-
sion aufgestellte Behauptung über die Identität der Flotte, die zur Nordspitze Jütlands gesegelt ist, mit
derjenigen, die die Elbe aufwärts fuhr, kann nicht stimmen. Es muß sich um zwei verschiedene Fahrten
gehandelt haben, die ‚Entdeckungsfahrt‘ wahrscheinlich des Jahres 4 ist von der ‚Nachschubfahrt‘ des
Jahres 5 zu trennen.74
Velleius Paterculus schließt seinen Bericht über diesen Sommerfeldzug mit der kurzen Mitteilung,
Tiberius habe als Sieger über alle aufgesuchten Gebiete und Stämme seine Legionen heil und unver-
sehrt ins Winterlager zurückgeführt.75 Eher beiläufig wird hier der letzte Abzug der Römer von der Elbe
beschrieben. Die Tragweite des Vorgangs kann auch Velleius bei der Niederschrift seines Geschichts-
abrisses ein Vierteljahrhundert später nicht verborgen geblieben sein. Nach dem Sommer 5 hat kein
römischer Feldherr diese Flußlinie jemals wieder erreicht. Die Politik, die Tiberius als Kaiser verfolgte,
mußte den Geschichtsschreiber belehren, daß ein Vorstoß bis dahin auch nicht mehr zu erwarten sei.
Somit war der Rückmarsch in diesem Sommer für alle Bestrebungen in Richtung Elbgrenze ein Vor-
gang von historischer Bedeutung.
Im folgenden Jahr 6 n. Chr. sollte mit der geplanten Unterwerfung oder auch nur Schwächung des
Markomannenreiches im späteren Böhmen ein vorläufiger Endpunkt römischer Eroberungen im Vor-
feld der Rhein-Donau-Grenze erreicht werden. Nördlich von Böhmen muß dann aber zweifellos die
Elbe als die ins Auge gefaßte Grenze angesehen werden. Diese konnte nur dann als einigermaßen
sicher gelten, wenn der Einfluß des Markomannenkönigs Marbod auf die elbgermanischen Stämme
gebrochen war. Mit diesem König ist die früheste Reichsbildung bei den Germanen verbunden.76 Der
Feldzug gegen ihn wurde durch den Ausbruch des Pannonisch-Dalmatischen Aufstandes verhindert,

69 Zu Tiberius Eck (2002); Kehne (2005). 74 Als Möglichkeit auch in Betracht gezogen von Wolters
70 Strab. 7,1,4 p. 291f.C. (2008) 57f. mit Anm. 16.
71 R. Gest. div. Aug. 26; vgl. Herrmann (1988–1992): 75 Vell. 2,107,3; zu dem Geschehen im Sommer 5 vgl.
IV, 584; Plin. nat. 167. Wolters (1990) 190–192; Becker (1992) 171f.; Deininger
72 Ausführlich zu Datierung und Problematik dieser (1997) 18–23; Bleicken (1999) 587 und 758.
Expedition Johne (2006) 140–144, vgl. 145–148; Johne 76 Zu Marbod und seinem Reich Losemann (1999); Kehne
(2008a) 248–250. (2001a); Johne (2006) 150–158; Kehne u. Salač (2009).
73 Vell. 2,106,2–3.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 41


dessen Niederschlagung Tiberius übernahm und der ihn bis zum Jahre 9 n. Chr. südlich der Donau
festhielt.
Die Person des P. Quinctilius Varus hat durch die Schlacht, die mit seinem Namen verbunden ist,
traurige Berühmtheit erlangt. Dennoch muß man auch sehen, daß in den Jahren seiner Statthalter-
schaft von 7 bis 9 n. Chr. die Provinzialisierung des von ihm verwalteten Territoriums den Höhepunkt
erreicht hat. Nach der Machtdemonstration des Tiberius und einem Friedensschluß mit Marbod konnte
er, wie es schien, einer ruhigen Amtszeit entgegensehen und sich um den Aufbau einer Infrastruktur
und die Einführung der Provinzordnung kümmern. Seine wichtigste Aufgabe dürfte die Aufrechterhal-
tung der Ruhe gewesen sein und die Sorge dafür, daß sich Tiberius seiner neuen Aufgabe zwischen Do-
nau und Adria widmen konnte. Solange im Illyricum gekämpft wurde, mußte alles getan werden, um
den mit Marbod abgeschlossenen Frieden zu erhalten. So vermied es Varus offensichtlich bewußt, die
Elbgermanen als Marbods Verbündete zu reizen. Bis gegen Ende seiner Amtszeit bewegte er sich nicht
über die Weser hinaus.77 Im Jahre 8 gelang den Römern der entscheidende Erfolg in Pannonien, und
die Donaugrenze gelangte wieder in ihre Hand. Vor diesem Hintergrund scheint Varus seine vorsich-
tige Haltung aufgegeben zu haben. Der berühmte Zug der drei Legionen sollte offenbar die römische
Position im Raum zwischen Weser und Elbe stärken. Er kann als eine mit großem Aufwand unternom-
mene Machtdemonstration vor allem gegen Langobarden und Semnonen betrachtet werden.78
Die Schlacht im Teutoburger Wald hatte Auswirkungen auf den Stellenwert der Elbe im politischen
Bewußtsein. Bis zum September 9 war der Strom die beanspruchte Grenze einer geplanten Provinz.
Wenn es auch keine wirkliche Machtausübung bis an seine Ufer gab, so existierte andererseits auch
westlich davon keine Kraft, die Roms Anspruch in Frage stellen konnte. Wer sich, wie die Langobarden
im Jahre 5, nicht unterordnen wollte, mußte auf das östliche Ufer fliehen. Nach dem Jahre 9 war der seit
12 v. Chr. schrittweise vorangekommene politische Einfluß schlagartig fast überall wieder auf die Aus-
gangspositionen reduziert worden. Allein die Küstenstriche an der Nordsee machten eine Ausnahme.
Da Friesen und Chauken in der bisherigen Abhängigkeit verharrten, blieb vorerst der Herrschafts-
anspruch des Reiches bis an die Mündung der Elbe bestehen. Darauf nahm Kaiser Augustus Bezug, als
er gegen Ende seines Lebens eine Bilanz zog. In seinem Tatenbericht, erhalten in der Abschrift des
Monumentum Ancyranum, kommt er auf die Eroberungen unter seiner Regierung zu sprechen. Dabei
schlägt er einen riesigen Bogen von der Straße von Gibraltar entlang der Küsten Westeuropas bis an die
Mündung der Elbe. Er habe die gallischen und spanischen Provinzen und ebenso Germanien, soweit es
der Ozean einschließt, von Gades bis zur Elbmündung befriedet.79 Die Notiz ist unter zwei Aspekten be-
deutsam. Es ist die früheste sicher datierbare Erwähnung des Flusses, aus den Jahren 13/14 n. Chr., und
es ist eines der beiden Zeugnisse, in denen der Strom in einem offiziellen Dokument erwähnt wird. Zu-
gleich ist sie eine propagandistische Meisterleistung. Augustus will unbedingt das Vordringen bis zur
Elbe als einen Erfolg seiner Heere darstellen. Nach der Niederlage des Varus erstreckte sich der römi-
sche Einflußbereich aber nur noch entlang der Nordseeküste bis an die Flußmündung, die er
in Beziehung zu den ‚Säulen des Herakles‘ an der Straße von Gibraltar setzt, wofür Gades, das heutige
Cádiz, steht. Die spanischen und gallischen Reichsteile werden als Provinzen bezeichnet, Germanien
dagegen nicht, ein weiteres Indiz dafür, daß es östlich des Rheins auch unter Varus noch nicht zur förm-
lichen Bildung einer Provinz gekommen ist. Die Nennung Germaniens ohne den Zusatz ‚Provinz‘ ist
zweifellos erst einmal korrekt und ebenso die Feststellung römischen Einflusses im Küstengebiet. Den-

77 Zu Varus u.a. Timpe (1970) 99–104; Eck (2001); 78 Vgl. Timpe (1970) 90–93 und 98–104.
Wolters (2006); Johne (2006) 159–177; Wolters (2008) 79 R. Gest. div. Aug. 26; Galsterer (2000).
75–88.

42 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 8 | Porträt des Germanicus Julius Caesar.

noch wird durch die Aneinanderreihung Spanien, Gallien, Germanien und durch den diese Gebiete ver-
bindenden Bogen vom vermeintlichen ‚Ausfluß‘ des Mittelmeers in den Ozean bis zum tatsächlichen
Ausfluß der Elbe in dasselbe Weltmeer der Eindruck erweckt, alle genannten Territorien seien römi-
sches Herrschaftsgebiet. Trotz einer dem strikten Wortlaut nach zutreffenden Darstellung wird von Au-
gustus der Anspruch auf mehr als nur das Mündungsgebiet der Elbe erhoben und der Gedanke der Aus-
dehnung des Imperiums bis an diesen Strom eingebracht.80 Offenbar hatte sich der Princeps nicht mit
dem Verlust des germanischen Binnenlandes abgefunden und plante dessen Rückeroberung. Darauf
scheinen alle Maßnahmen der letzten Jahre seiner Regierung hinauszulaufen. Tiberius wurde im Jahre
10 n. Chr. zum dritten Male an den Rhein beordert, um den Schutz der Grenze zu übernehmen. Die dort
stationierte Armee wurde nicht nur schnell um die Zahl der im Teutoburger Wald verlorengegangenen
Legionen ersetzt, sondern um zwei weitere auf insgesamt acht vergrößert. Mit Beginn des Jahres 13
übernahm Germanicus das außerordentliche Kommando in Gallien und am Rhein. Seine Berufung
bedeutete ein Programm, denn Augustus übergab ihm damit das politische Erbe seines Vaters Drusus
und, gewollt oder ungewollt, den Auftrag zur Wiedereroberung Germaniens.81

80 Vgl. Timpe (1968) 34; Welwei (1986) bes. 119–121; Dei- 81 Vgl. Wolters (1990) 239–245; Eck (1998); Kehne
ninger (1997) 26f.; Bleicken (1999) 606f.; Ridley (2003) (1998).
196–203; Wolters (2008) 135–137; C. Wendt im vorlie-
genden Band.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 43


Die Feldzüge des Germanicus in den Jahren 14, 15 und 16 n. Chr. sind das Hauptthema in den bei-
den ersten Büchern der Annalen des Tacitus. Sie sind dadurch die mit Abstand am besten bekannten
militärischen Unternehmungen dieser Jahrzehnte.82 In das Jahr 15 fallen der Besuch des Schlachtfeldes
im Teutoburger Wald und die ‚Schlacht an den Langen Brücken‘, zwei Vorgänge, die für das Verständ-
nis der Varusschlacht von grundlegender Bedeutung sind.83 Im Sommer 16 n. Chr. wurde das größte
jemals gegen die Germanen aufgebotene Heer von acht Legionen auf 1000 Schiffen vom Rhein auf die
Ems gebracht und zog von dort zur Weser. Die Schlachten von Idistaviso und am Angrivarierwall waren
die Höhepunkte der Germanicus-Feldzüge. Die römische Offensive in Richtung Elbe, die nun auch
ausdrücklich zum Kriegsziel erklärt wurde, blieb jedoch trotz aller Anstrengungen östlich der Weser
stecken.
Unmittelbar vor der Schlacht bei Idistaviso an der Weser in der Nähe der Porta Westfalica will Ger-
manicus seine erschöpften Soldaten anfeuern und erhofft sich vom bevorstehenden Kampf eine Ent-
scheidung. Der Aufruf schließt mit dem eindringlichen Appell, daß die kommende Schlacht ihren
Wunsch nach dem Ende aller Strapazen erfüllen werde, wenn sie ihm nur in dem Land, in dem sein
Vater Drusus und sein Onkel Tiberius gekämpft hätten, zum Siege verhelfen würden, sei doch die Elbe
bereits näher als der Rhein, und darüber hinaus sei kein Krieg mehr zu führen.84 Die auf die program-
matische Rede folgende Schlacht brachte den Römern zwar einen Sieg, jedoch keineswegs den, den sie
erhofft hatten und schon gar nicht die Wiedererringung der Herrschaft bis zur Elbe. Auch die kurz
danach erfolgte Schlacht am Angrivarierwall zwischen Weser und Steinhuder Meer hatte keinen ande-
ren Ausgang, beide waren ‚verlorene Siege‘. Sie waren zudem mit nicht mehr vertretbaren Verlusten
erkauft worden. Tiberius hatte offenbar bereits zum Ende des Jahres 15 den Abbruch der Kampfhand-
lungen in Germanien gewünscht und berief nunmehr, nachdem mit der Aufbietung aller verfügbaren
Kräfte auch nichts Wesentliches erreicht worden war, Germanicus ehrenvoll, aber entschieden ab.85 Am
26. Mai 17 durfte der Prinz mit großem Aufwand einen Triumph in Rom feiern, gewidmet den Siegen
„über Cherusker, Chatten und Angrivarier sowie die anderen Stämme, die bis zur Elbe hin wohnen.“86
Neben dem Tatenbericht des Augustus ist dieser Triumphtitel der zweite offizielle Text, in dem die Elbe
begegnet. Die Formulierung wie die Datierung auf den Tag genau verraten die Herkunft der Passage
aus einem staatlichen Dokument und sind ein unverdächtiger Beweis für das Expansionsstreben bis zu
dem mitteleuropäischen Strom. Tacitus hat also dem Prinzen nicht erst nachträglich Pläne in dieser
Hinsicht unterstellt. Mit dem Triumph ehrten Kaiser und Senat Germanicus als Rächer des Varus und
seiner untergegangenen Armee und – wider besseres Wissen – auch als denjenigen, der die von seinem
Vater begonnene Eroberungspolitik im zentralen Mitteleuropa zu einem erfolgreichen Ende geführt
habe. Daß das Motto des Triumphes ausschließlich als eine schmeichelhafte Ehrung des Prinzen ge-
dacht war, zeigte sich nach seinem frühen Tode im Jahre 19. Nur zweieinhalb Jahre nach dem Triumph
war bei den großartigen posthumen Ehrungen von einem Fernziel Elbe überhaupt keine Rede mehr. In
einem Senatsbeschluß vom Dezember 19 werden als die Verdienste des Germanicus aufgeführt: der
Sieg über die Germanen im Krieg und deren Zurückdrängung von den gallischen Provinzen, die Rück-
gewinnung der verlorenen Feldzeichen, die Rache für die durch Verrat erfolgte Niederlage des römi-

82 Zur taciteischen Auffassung der Germanicusfeldzüge 84 Tac. ann. 2,14,4.


und zur sonstigen Überlieferung Timpe (1968) 8–23; 85 Tac. ann. 2,26,1–4; Timpe (1968) 59–65; Timpe (1971);
zu den Feldzügen selbst Koestermann (1957); Wolters Wolters (1990) 239–243; Becker (1992) 213–218; Johne
(1990) 229–245; Becker (1992) 187–218; Johne (2006) (2006) 187f. und 192.
182–192; Wolters (2008) 127–134. 86 Tac. ann. 2,41,1ff.; Strab. 7,1,4 p. 292C.
83 Tac. ann. 1,59,1–62,2 und 1,63,6–68,5.

44 KLAUS-PETER JOHNE
schen Heeres und die Ordnung des Zustandes in Gallien.87 Der Kontrast zum Triumph konnte kaum
größer sein, nicht ein Element der Triumphformel findet sich wieder. Mit Schutz und Sicherung Gal-
liens ging die römische Politik wieder auf die Position des Jahres 12 v. Chr. zurück. Damit hatte die
30-jährige Offensivpolitik gegen Germanien ihr Ende gefunden. Zwar wurden die Ansprüche auf das
Land zwischen Rhein und Elbe nicht aufgegeben, aber die in Rom getroffenen Entscheidungen spra-
chen für sich. Germanicus erhielt keinen Nachfolger, das einheitliche Oberkommando über die acht Le-
gionen der Rheinarmee wurde abgeschafft. Die bisher vorhandenen Truppenmassierungen in den Räu-
men um Xanten und Mainz wurden aufgegeben und die Legionen über die gesamte Rheingrenze
verteilt, von der heutigen niederländischen bis an die Schweizer Grenze. Diese Truppenverlegungen
machten den Politikwechsel deutlich, größere Offensiven waren für die nächste Zeit nicht mehr geplant.
Die mit der Abberufung des Germanicus getroffene Entscheidung wurde im Bereich der Grenze am
Niederrhein nicht wieder revidiert. Ein Aufstand der Friesen im Jahre 28 beendete die römische Ober-
hoheit über den Küstenstreifen zwischen Ems- und Elbemündung, auf die Augustus in seinem Taten-
bericht mit Nachdruck verwiesen hatte.88 Für kurze Zeit wurde der verlorene Einfluß im Jahre 47 noch
einmal wiederhergestellt, als letztmalig eine Flotte rheinabwärts in die Nordsee geschickt, die Friesen er-
neut unterworfen und die Chauken bekämpft wurden. Ehe es jedoch zu größeren Auseinandersetzun-
gen kam, untersagte Kaiser Claudius eine Fortführung der Kämpfe und befahl den Rückzug der Armee
auf die Rheingrenze und die Aufgabe aller Stützpunkte östlich davon.89 Im Jahre 43 war mit der Erobe-
rung Britanniens begonnen worden, und diesem Kriegsschauplatz gebührte fortan die Priorität gegen-
über Germanien. Die Entscheidung des Claudius ließ den Niederrhein endgültig zur Grenze werden.
In den zwanziger Jahren des 1. Jahrhunderts änderte sich die Rolle der Elbe im politischen Bewußt-
sein der Römer. Ohne die Expedition der eigenen Heere und ohne die Tätigkeit prominenter Persön-
lichkeiten erlosch das Interesse am Stromgebiet der Elbe. Seitdem war dieses Gebiet nur noch für Hi-
storiker, Geographen und Ethnographen interessant, nicht mehr für die praktische Politik. Als die
östlichste von Römerheeren in Mitteleuropa erreichte Linie galt der Fluß als denkwürdig für die gesamte
Eroberungspolitik im Norden und wurde als erstrebenswerte Grenze in zunehmendem Maße verklärt.
Der geographische Ertrag der Germanien-Feldzüge findet sich zuerst im Werk des Strabon von
Amaseia, das in der Regierungszeit des Augustus und am Anfang der des Tiberius entstanden ist.90 Der
Schriftsteller war zwar ein Zeitgenosse dieser Feldzüge, doch die Informationen darüber sind nur
punktuell und unsystematisch in die Geographika eingearbeitet worden. Gleich zu Beginn seiner Dar-
stellung betont er die Entdeckerfunktion der Expedition nach Germanien. Wie Alexander der Große
Asien und den ganzen Norden Europas bis zur Donau erschlossen habe, so hätten die Römer den We-
sten bis zur Elbe, die Germanien in zwei Teile trenne, erschlossen, und außerdem die Gebiete jenseits
der Donau bis zum Dnestr.91 Strabon betrachtet alle Grenzpunkte von seiner Heimat Kleinasien aus,
denn nur aus diesem Blickwinkel kann die Donau im Norden und die Elbe im Westen lokalisiert wer-
den. Gleich bei dieser zeitlich frühesten Nennung des Stroms in einem literarischen Werk wird er als
eine Trennlinie verstanden, die den bekannten Teil des Landes von dem unbekannten scheidet; eine an-
dere Begründung für die trennende Funktion des Flusses findet sich bei Tacitus. An einer späteren
Stelle in seinem Werk trifft Strabon die Feststellung, daß die Gebiete jenseits der Elbe unbekannt

87 Vgl. Tabula Siarensis frg. I Z. 12–15 ed. Lebek (1991) 52; 89 Vgl. Tac. ann. 11,18,1–20,1; Cass. Dio 60,30,4f.; Johne
Lehmann (2007) bes. 425ff. (2006) 210ff.
88 Vgl. Tac. ann. 4,72,1–74,1; Wolters (1990) 251f.; Trzaska- 90 Vgl. Engels (1999) 36–40; Radt (2001); Pothecary (2002);
Richter (1991) 176–179; Becker (1992) 222f.; Johne Wolters (2005a); Johne (2006) 25f. und 199–202.
(2006) 209. 91 Strab. 1,2,1 p. 14C.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 45


Abb. 9 | Karte der augusteischen Feldzüge in das rechtsrheinische Germanien, 1. Jh. n. Chr.

46 KLAUS-PETER JOHNE
sind.92 In dem Zusammenhang verweist er auf das Verbot des Augustus, das oben erwähnt worden
ist.93 Im siebenten Buch der Geographika findet sich eine relativ ausführliche Beschreibung Germa-
niens als des Landes zwischen Rhein und Elbe. Beide Ströme fließen parallel zueinander und besitzen
ein annähernd gleich großes Stromgebiet.94 Unter den aufgeführten Stämmen im Elberaum begegnen
alle, die in den Werken späterer Schriftsteller auftauchen, die Chauken am Ozean, die Langobarden, die
Semnonen, Hermunduren und Markomannen. Marbods Reich in Böhmen ist Strabon bekannt, und
sein ‚Herkynischer Wald‘ bezeichnet die Randgebirge des Böhmischen Beckens, Erzgebirge, Riesen-
gebirge, Böhmisch-Mährische Höhen, Böhmerwald und Oberpf älzer Wald. Diese Konkretisierung des
Begriffs, verglichen mit den bei Caesar vorliegenden Nachrichten, stellt für das Stromgebiet der Elbe
den größten Erkenntnisfortschritt bei diesem Schriftsteller dar.
Etwa 20 Jahre nach der Schlußredaktion von Strabons Werk entstand die älteste erhalten geblie-
bene geographische Schrift in lateinischer Sprache, die Länderkunde des Pomponius Mela, verfaßt in
den Jahren 43 und 44. Sie ist vor allem eine Kompilation älterer, meist griechischer Quellen, verwertet
jedoch auch jüngere Berichte. Mela brauchte nicht wie Strabon nachträglich gewonnene Erkenntnisse
in einen älteren Text einzuarbeiten, ihm lagen bei Arbeitsbeginn bereits Berichte von den Germanien-
feldzügen vor, so die Arbeit des Geographen Philemon über den nördlichen Ozean. Die Länderkunde
brachte einige Erkenntnisfortschritte gegenüber den Geographika und muß als ein weiterer Ertrag der
Okkupationszeit angesehen werden.95 Germaniens Grenzen sind bei Pomponius Mela im Westen der
Rhein, im Süden die Alpen, im Norden der Ozean und im Osten die sarmatischen Stämme sowie die
bei Strabon nicht auftauchende Weichsel, Vistula, als der Grenzfluß zwischen Germanen und Sarma-
ten.96 Klarere Vorstellungen als Strabon hat er auch vom Flußsystem Germaniens. Von den Strömen,
die das Land verlassen und auf dem Territorium anderer Stämme weiterfließen, nennt er Donau und
Rhône, als die bekanntesten Nebenflüsse des Rheins den Main und die Lippe, als die in den Ozean
mündenden Flüsse Ems, Weser und Elbe. Die in ihrem Verlauf erstmals richtig beschriebene Lippe und
der zuvor nicht genannte Main verraten zweifellos Kenntnisse über die Einfallswege der römischen Ar-
mee, wie auch die Nennung der Ems neben der Weser und der Elbe. Gewisse Vorstellungen von den
Küsten im Bereich der Elbmündung verwerten Kenntnisse, die erst durch die Expedition nach Kap Ska-
gen gewonnen worden sind.97
Ebenfalls aus der Regierungszeit des Kaisers Claudius stammt die mit Abstand umfangreichste
Aufarbeitung der augusteischen Germanienkriege, das Werk Bella Germaniae des älteren Plinius. Ne-
ben Velleius Paterculus war er der einzige römische Schriftsteller, der Germanien besucht hat und als
Augenzeuge von dort berichten konnte. Im Jahre 47 nahm er an dem letzten Feldzug gegen die Chau-
ken teil und lernte die Nordseeküste und deren Hinterland kennen. Im Militärbezirk der Oberrhein-
armee besuchte er die Donauquellen im Schwarzwald, die heißen Quellen von Wiesbaden und bekämpfte
im Jahre 50 die Chatten in Hessen.98 Die 20 Bücher der Germanenkriege, entstanden zwischen 47/48
und 57/58, werden sicher mit den Zügen der Kimbern und Teutonen begonnen und bis zu seiner eige-
nen Zeit gereicht haben, wobei der Schwerpunkt zweifellos die augusteische Zeit darstellte und hier vor
allem die Person des Drusus. Die Verehrung für ihn lebte im Jahre 41 mit dem Regierungsantritt seines

92 Strab. 7,2,4 p. 294C. 96 Mela 3,25 und 3,33; vgl. Herrmann (1988–1992) I, 544
93 Vgl. oben Anm. 70. und 547.
94 Strab. 7,1,3 p. 290C; Timpe (1989) 360–362, 367f.; 97 Mela 3,30f.; Timpe (1989) 365–370; Blomkvist u. Castri-
Becker (1992) 8–17; Deininger (1997) 38–41. tius (2003) bes. 357–360.
95 Vgl. Brodersen (1994) 1–28; Gärtner (2001); Kehne 98 Vgl. Sallmann (2000); Wolters (2003).
(2001c); zu Philemon Timpe (1989) 366f.; Gärtner
(2000).

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 47


Sohnes Claudius nochmals auf, für Plinius ist sie durch seinen Neffen ausdrücklich bezeugt.99 Der fast
vollständige Verlust der Bella Germaniae ist für die Geschichte der römisch-germanischen Beziehungen
eine schmerzliche Lücke. Tacitus, der dieses Werk in beträchtlichem Maße ausgeschöpft hat, nannte
Plinius nicht ohne Grund „den Geschichtsschreiber der Germanenkriege“ – Germanicorum bellorum
scriptor.100 Erhalten hat sich von Plinius die aus 37 Büchern bestehende monumentale Enzyklopädie Na-
turgeschichte. In ihr finden sich auch Nachrichten, die in dem Werk über die germanischen Kriege ge-
standen haben dürften, z.B. über die Expedition zum Kimbernkap. Als erster Schriftsteller besaß er
eine richtige Vorstellung von der ‚Barriere‘ Jütland. Das Kimbernkap springt nach seiner Beschreibung
weit in das umgebende Meer vor und bildet eine große Halbinsel. Westlich davon nennt er 23 Inseln.
Daß es sich dabei um die Nordfriesischen, Ostfriesischen und Westfriesischen Inseln handelt, zeigt die
Bemerkung, die berühmteste sei Borkum.101
Dem außerordentlichen Interesse des Plinius nicht nur an den Ereignissen an der Rheingrenze,
sondern auch an denen im Inneren Germaniens verdanken wir die letzte Detailangabe aus diesem Ge-
biet in der literarischen Überlieferung. Wie Tacitus berichtet, kam es im Sommer 58 zwischen Hermun-
duren und Chatten zu einer großen Schlacht um den Besitz von Salzquellen an einem Fluß, der die
Grenzen beider Stämme bildete.102 Den Sieg errangen die Hermunduren, die Niederlage war für die
Chatten umso verhängnisvoller, weil beide für den Fall ihres Sieges alle Beute, Menschen und Pferde
den Göttern geweiht und damit totaler Vernichtung anheimgegeben hatten. Die Herkunft der Notiz aus
einem Werk des Plinius wird durch die ausführliche Beschreibung der Salzgewinnung geradezu zur
Gewißheit. In der Naturgeschichte beschäftigt dieser sich mit Salzlagerstätten und den Problemen der
Salzgewinnung. An einer Stelle wird dasselbe Verfahren erwähnt, das Tacitus den beiden Germanen-
stämmen zuschreibt.103 Bei dem Grenzfluß handelt es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um die
Werra in der Gegend des heutigen Bad Salzungen in Thüringen, wo seit dem Jahre 775 Salzsiedehütten
nachgewiesen sind.
Direkt aus der Naturgeschichte des älteren Plinius stammt eine Information zur ‚Bernsteinstraße‘.
Danach betrage die Entfernung vom pannonischen Carnuntum an der Donau bis zu dem Strand Ger-
maniens, von dem der Bernstein eingeführt wurde, 600 Meilen (= 888 km). Ein römischer Ritter hatte
in der Regierungszeit Kaiser Neros diese Reise unternommen und war mit größeren Mengen des be-
gehrten Stoffes zurückgekehrt.104 Diese Nachricht ist der einzige konkrete literarische Hinweis auf den
berühmten Handelsweg von der Donau durch das Marchtal, die Mährische Pforte und über die Oder an
die Weichsel und ihr entlang bis zur Danziger Bucht und zur Küste Samlands. Die ‚Bernsteinstraße‘ er-
klärt auch, warum die Weichsel als einziger Fluß östlich der Elbe bekannt wurde und in den Vorstellun-
gen über Mitteleuropa eine Rolle spielt.
In den siebziger Jahren des 1. Jahrhunderts wandte sich Kaiser Vespasian wieder einer aktiven Ger-
manienpolitik zu, die mit der Rückzugsentscheidung des Claudius im Jahre 47 faktisch aufgehört hatte.
In den Jahren 73 und 74 wurde die Grenze über den Oberrhein bis zum Neckar und zur Schwäbischen
Alb vorgeschoben. Sein Sohn Domitian eroberte im Chattenkrieg der Jahre 83 bis 85 das Neuwieder
Becken und die Wetterau. Dieser partielle Erfolg wurde überschwänglich gefeiert, u.a. mittels einer
Münzserie mit der Legende Germania capta, und zum Anlaß genommen, um die provisorischen Ver-

199 Plin. epist. 3,5,4 vgl. Herrmann (1988–1992) III, 534; 103 Plin. nat. 31,81–83; Haid u. Stöllner (2004) bes. 370–373;
Goetz u. Welwei (1995) II, 5 Anm. 2. Johne (2006) 213f.
100 Tac. ann. 1,69,1f. 104 Plin. nat. 37,45; Bohnsack u. Follmann (1976) 292f.;
101 Plin. nat. 4, 97. 296f.; Hünemörder u. Pingel (1997); K. Tausend (2009)
102 Tac. ann. 13,57,1f.; K. Tausend (2009) 36 und 86. 187f.; 195ff.

48 KLAUS-PETER JOHNE
hältnisse an der Rheingrenze zu beenden. Die Militärbezirke der Nieder- und der Oberrheinarmee hat-
ten bis dahin immer noch die Option offengelassen, die einmal geplante große provincia Germania zu
verwirklichen. Diese Militärbezirke wurden jetzt in die Provinzen Nieder- und Obergermanien umge-
wandelt, die Grenze damit festgeschrieben und ein Verzicht auf weitere Eroberungen dokumentiert.
Zeitgleich kam es zu einem Wechsel in der römischen Außenpolitik. Ein mit dem Jahre 85 einsetzender
Krieg gegen die Daker verlagerte die Schwerpunktsetzung an die Donau. Die bisher so wichtige Rhein-
grenze verlor seitdem an Bedeutung zugunsten der Donaugrenze. Die Entscheidungen Domitians wur-
den von Trajan in den Jahren um 100 unumkehrbar gemacht durch die Auflösung von drei Legionsla-
gern am Rhein und durch die Reduzierung der an dem Fluß stationierten Legionen auf vier.105
Polemik gegen Domitians Siegespropaganda und die als ‚Bereinigung‘ des Germanien-Problems
gedachten Provinzgründungen gehören zu den Absichten der berühmten Germania des Cornelius Ta-
citus, der bedeutendsten Schrift, die über den mitteleuropäischen Raum aus dem Altertum erhalten ge-
blieben ist.106 Aus ihr stammt das bekannteste Elbe-Zitat in der römischen Literatur. „Einst war sie ein
bekannter und vielgenannter Fluß, jetzt kennt man ihn nur noch vom Hörensagen“, lautet die resignie-
rende Feststellung des Historikers.107 Im Inneren Germaniens ist die Elbe der einzige Strom, der von
Tacitus einer namentlichen Erwähnung für würdig befunden wird, außer ihr kommen sonst nur Rhein,
Donau und Main vor. Auch ohne jede weitere Erläuterung müßte man diesen Umstand bei dem extrem
sparsamen Gebrauch von Flußnamen als eine Heraushebung verstehen. Tacitus fügt der Nennung des
Namens jedoch Angaben hinzu, die erkennen lassen, daß für ihn die Elbe nicht nur das wichtigste, son-
dern das einzige Binnengewässer bei den Germanen ist, das eine Namhaftmachung verdient. Wie bei
Rhein und Donau wird die Quelle erwähnt, allerdings sehr unbestimmt im Hermundurenland. Wie die
beiden anderen Ströme stellt auch die Elbe für Tacitus eine Grenze dar, und zwar in zweifacher Hin-
sicht: Sie trennt die westliche Germania von der östlichen Suebia, worunter er den größeren Teil Ger-
maniens zwischen Donau und Baltikum versteht.108 Damit trennt sie die Gebiete, die von den Römern
schon einmal unterworfen waren oder zumindest in ihrem Einflußbereich gelegen haben von den üb-
rigen; Strabon hatte hier die Trennlinie zwischen dem bekannten und dem unbekannten Germanien
gesehen. Vergangenheit und Gegenwart werden knapp und dennoch aussagekräftig angedeutet. ‚Einst‘
bezieht sich auf die Jahre zwischen 9 v. Chr. und 5 n. Chr., da war die Elbe berühmt und bekannt, ‚jetzt‘,
in der Gegenwart des Jahres 98, kennt man sie nur noch vom Hörensagen. Dies ist nach taciteischem
Verständnis das Ergebnis der kritisch beleuchteten Politik der letzten 80 Jahre. Aus der Formulierung
scheint die Resignation wegen der Preisgabe aller Expansionsabsichten zu sprechen, wie sie mit der
Gründung der beiden germanischen Provinzen und dem Beginn des Limesbaus bekräftigt worden ist.
Vor dem Hintergrund dieser Entscheidungen mußten die Erfolge der augusteischen Feldherrn endgül-
tig als Großtaten der Vergangenheit erscheinen. Sicher wird man aus den Worten des Historikers den
Wunsch herauslesen dürfen, die Grenze des Imperiums statt an Rhein und Donau lieber an der ver-
meintlich innergermanischen Grenze zur Suebia zu sehen. Ob sich hinter den Äußerungen auch Hoff-
nungen verbargen, daß Kaiser Trajan die im Jahre 98 endgültig erscheinenden Maßnahmen Domitians
korrigieren möge, läßt sich nicht erweisen. Festzuhalten bleibt, daß Tacitus mit dem ‚Elbe-Satz‘ in der
Germania denkbar knapp und dennoch eindrucksvoll auf die Germanienpolitik des 1. nachchristlichen
Jahrhunderts zurückblickt.

105 Vgl. Johne (2006) 218–220 und 235–237 mit weiterfüh- 107 Tac. Germ. 41,2; Deininger (1997) 46f.; S. Tausend
render Literatur. (2009) 169f.
106 Vgl. Herrmann (1988–1992) II, 11–72; Flaig (2001); 108 Vgl. Timpe (1992); Lund (1989); Scharf (2005) 190f.
Wolters (2005b); Johne (2006) 222–234; Timpe (2008).

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 49


In den Kapiteln 28 bis 46 der Germania gibt Tacitus jeweils eine kurze Vorstellung und Charakte-
risierung germanischer Stämme. Das betrifft auch die elbgermanischen Stämme der Semnonen, Lan-
gobarden, Hermunduren und Markomannen.109 Als ältesten und angesehensten Stamm aller Sueben
betrachtet Tacitus die Semnonen. Ihr Territorium wird als sehr groß bezeichnet, dessen Ausdehnung –
zwischen Elbe und Oder – jedoch nicht eingegrenzt. Das Kapitel ist vorrangig der Beschreibung des ur-
tümlichen Kultes der Semnonen gewidmet, der mit einem zentralen Heiligtum des Kultverbandes,
dem ,Semnonenhain‘, zusammenhing.110 Die auffallende Betonung der religiösen Aspekte bei diesem
Stamm ist zweifellos mit einem zeitgenössischen Ereignis in Verbindung zu bringen. Cassius Dio be-
richtet, der Semnonenkönig Masyos und die wahrsagende Jungfrau Ganna kamen zum Kaiser Domi-
tian, wurden von ihm ehrenvoll empfangen und kehrten dann zurück.111 Da die Nachricht nur aus Ex-
zerpten des dionischen Werkes überliefert ist, bleibt die Datierung unsicher und ist wohl zwischen 92
und 96 anzusetzen. Der Aufenthalt von König und Stammesorakel eines östlich der Elbe beheimateten
Stammes beim römischen Kaiser muß als ein singulärer Vorgang angesehen werden. Er zeigt das be-
währte Modell römischer Diplomatie, zu grenzfernen Germanen ein gutes Verhältnis zu unterhalten,
um sie gegen der Reichsgrenze näher siedelnde Stämme auszuspielen. Ganna wird als die Nachfolge-
rin der Veleda bezeichnet, die als Wahrsagerin im Bataveraufstand eine politisch aktive Rolle gespielt
hatte.112 Dem volkreichen Stamm der Semnonen wird die geringe Zahl der Langobarden gegenüberge-
stellt. Ihr Siedlungsgebiet beiderseits der unteren Elbe kann nur daraus erschlossen werden, daß ihre
nördlichen Nachbarn am Ozean siedeln. Sie alle sind im Kultverband der Muttergottheit Nerthus zu-
sammengeschlossen, der dem Kultverband der Semnonen zur Seite gestellt wird.113 Einen völlig ande-
ren Akzent setzt Tacitus bei der Beschreibung der Hermunduren. Hier interessieren ihn weder Größe
und Tapferkeit noch Religion und Kultverband. Das Kapitel ist allein auf das gute Verhältnis dieses
Stammes zu den Römern abgestellt. Daran waren auch diese sehr interessiert, waren die Hermunduren
doch die Gegner der Chatten, des wichtigsten romfeindlichen Stammes seit dem Ende der augustei-
schen Kriege. Deren Niederlage im Jahre 58 dürfte den Römern sehr willkommen gewesen sein. Eine
romfreundliche Politik betrieb auch der einzige namentlich bekannte König der Hermunduren, Vibi-
lius, dessen Machtstellung in den Jahren um 20 bis 50 datiert werden kann.114 An den Markomannen ist
vor allem deren Königtum von Interesse.115 Tacitus meinte in der Germania zu Recht, die Elbe kenne
man zu seiner Zeit nur noch vom ‚Hörensagen‘. Dennoch hat sich das Wissen über sie und ihr Umland
im zweiten und frühen dritten Jahrhundert noch einmal vermehrt.
Tacitus hatte die Quelle der Elbe mit der Angabe „im Hermundurenland“ nur sehr ungenau be-
stimmt. Den tatsächlichen Gegebenheiten näher lag die Lokalisierung des alexandrinischen Gelehrten
Klaudios Ptolemaios ein halbes Jahrhundert später. Noch einmal 50 oder 60 Jahre später findet sich
dann im Werk des Cassius Dio die einzig richtige Angabe der Elbquelle aus dem Altertum. Wir haben
also den merkwürdigen Befund vor uns, daß die Quelle des Stroms mitten durch Germanien nicht rich-
tig bekannt war, solange römische Heere bis an den Mittel- und Unterlauf vorgestoßen sind und sie als
mögliche Grenze im Blickfeld lag, während eine zuverlässigere und die wirklich zuverlässige Angabe
einer Zeit angehören, in der sich nur noch Geographen und Historiker für den Fluß interessierten.

109 Vgl. die Angaben in den Anm. 65, 66, 76; Johne (2006) 112 Vgl. Reichert u. Timpe (1998); Kehne (2001b); Johne
230–234 und K. Tausend (2009) passim. (2006) 221f.; S. Tausend (2009) 166ff. und 171–174;
110 Tac. Germ. 39,1ff. D. B. Baltrusch im vorliegenden Band.
111 Cass. Dio 67,5,3. 113 Tac. Germ. 40,1–4; Günnewig u. Castritius (2002).
114 Tac. Germ. 41,1f.; Kehne (2006b).
115 Tac. Germ. 42,1f.

50 KLAUS-PETER JOHNE
Für das Weltbild der späteren Kaiserzeit war das Wirken des Mathematikers, Astronomen und
Geographen Klaudios Ptolemaios in Alexandria von größter Bedeutung. In seiner Anleitung zum Zeich-
nen einer Weltkarte faßte er das geographische Wissen seiner Zeit zusammen. Darin bietet er mehr Ein-
zelinformationen als alle anderen vergleichbaren Werke. Von Irland und den Kanarischen Inseln im
Westen bis nach China sind etwa 8100 Namen von Flüssen, Bergen und Orten aufgeführt. Allerdings
bereitet das Werk erhebliche Schwierigkeiten bei der Auswertung. Dazu tragen kartographische Verzer-
rungen ebenso bei wie die Quellenlage. In der Fülle des ausgebreiteten Materials können viele Angaben
mangels einer Parallelüberlieferung nicht verifiziert werden.116
Als Germaniens Grenzen bezeichnet Ptolemaios den Rhein und die Weichsel, die Donau und den
nördlichen Ozean. Das dazwischen liegende Gebiet nennt er in Abgrenzung zu den römischen Provin-
zen Germania inferior und Germania superior ‚Groß-Germanien‘, Germania magna.117 Als Flüsse östlich
des Rheins führt er Ems, Weser, Elbe und Weichsel auf, bei denen er die Koordinaten der Längen- und
Breitengrade für die Mündung wie für die Quelle angibt. Die Mündung der Elbe befindet sich bei ihm
nördlich der Wesermündung. Eine Erklärung dafür könnte sein, daß das heutige Wattenmeer der Hel-
goländer Bucht noch zu einem Teil Festland war und die Elbmündung erst in der Gegend der Insel
Scharhörn und damit der Wesermündung viel näher lag.118 Schwieriger sind die Angaben zur Quelle zu
deuten. Sie wird von Ptolemaios in den Sudeten lokalisiert, die nach seinen Vorstellungen jedoch eher
mit dem Böhmerwald als mit dem Riesengebirge gleichzusetzen sind. Der Geograph dürfte die Quelle
der Moldau für die Elbquelle gehalten haben. Eine von ihm aufgeführte „zur Elbe führende Quelle“ ist
dagegen wahrscheinlich die richtige, sie ist im Askiburgion-Gebirge angesiedelt, womit er offenkundig
das Riesengebirge bezeichnet.119 Die Angaben zur Mündung und Quelle des mitteleuropäischen
Stroms sind exemplarisch für die Schwierigkeiten bei der Auswertung des ptolemaiischen Werkes. Erst-
mals erwähnt wird bei dem alexandrinischen Gelehrten die im geographischen Schrifttum sonst sehr
stiefmütterlich behandelte Oder unter dem Namen Syebos.120 Ganz in den Südosten Germaniens ge-
drängt ist bei ihm der ‚Orkynische Wald‘ und damit jener Terminus marginalisiert, der jahrhunderte-
lang als Sammelbegriff des gesamten mitteleuropäischen Gebirgssystems gegolten hatte, vom Arkyni-
schen Wald des Aristoteles bis zu Caesars Herkynischem Wald. Bei Strabon war der Begriff auf die
Randgebirge Böhmens eingeengt worden, bei Ptolemaios umfaßt er die Kleinen und Weißen Karpaten,
für die anderen Gebirgszüge gab es inzwischen Eigennamen.121
Die Römische Geschichte des Cassius Dio aus dem Beginn des 3. Jahrhunderts ist die wichtigste er-
halten gebliebene Quelle für das Zeitalter der augusteischen Expansion. Der darin enthaltene Bericht
über die Schlacht im Teutoburger Wald ist nicht nur der ausführlichste, sondern auch der zuverlässig-
ste. Er verwertete zweifellos zeitnahe Quellen aus dem frühen 1. Jahrhundert, in denen Varus noch
nicht zum alleinigen ‚Sündenbock‘ gemacht worden war wie bei allen späteren Autoren.122 Durch zu-
verlässige Angaben zeichnet sich Dio auch bei der Elbe aus. Als er sie bei der Schilderung der Feldzüge
des Drusus des Jahres 9 v. Chr. zum ersten Male erwähnt, charakterisiert er sie durch je eine Angabe zu
Quelle und Mündung, sie entspringt in den Vandalischen Bergen und ergießt sich in großer Breite in
den nördlichen Ozean.123 Nun ist die Elbmündung unter Augustus von römischen Flotten aufgesucht

116 Vgl. Timpe (1989) 381–387; Folkerts, Hübner u. Har- 119 Ptol. 2,11,1f. und 5; Deininger (1997) 49; Reichert (2003)
mon (2001); Reichert (2003); Johne (2006) 238–243. 581f.; Johne (2006) 239f.
117 Ptol. 2,11,1–4; 2,9,2; 8,6,1 = Herrmann (1988–1992) III, 120 Ptol. 2,11,2 und 7f.; Udolph u. Nowakowski (2002).
214–217; 212f.; 234f. (Übersetzung) und Kommentar 121 Ptol. 2,11,5 und 11.
559–564; 557f.; 587. 122 Manuwald (2007); Wolters (2008) 102–107; vgl. 107–119.
118 Ptol. 2,11,1. 123 Cass. Dio 55,1,3.

DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 51


worden und war allgemein bekannt. Über ihre Quelle herrschte jedoch bei Tacitus wie bei Ptolemaios
Unsicherheit. Dio steht mit seiner Angabe der Vandalischen Berge allein und trifft damit zweifellos das
Richtige, das Riesengebirge. Ptolemaios hatte es Askiburgion genannt und mit der „zur Elbe führen-
den Quelle“ verbunden. Nun kann Dio die Nachricht nicht aus den Quellen geschöpft haben, nach de-
nen er die Feldzüge des Drusus geschildert hat. Den Schriftstellern der augusteischen Zeit waren Van-
dalen überhaupt noch nicht bekannt und den Autoren des 1. Jahrhunderts nicht als ein bestimmter
Stamm, mit dem man ein Gebirge in Verbindung bringen konnte. Diese Bezeichnung kann erst in der
Zeit der Markomannenkriege (166–180) entstanden sein.124 Damit hat Dio zweifellos Wissen seiner
eigenen Lebenszeit verwertet. Die von ihm vorgenommene richtige Lokalisierung der Elbquelle war
der letzte Erkenntnisfortschritt über das Gebiet des mitteleuropäischen Stroms in der antiken Literatur.
Alle Erwähnungen der Elbe und ihres Stromgebietes nach der Zeit um 230 stellen nur noch literarische
Reflexionen eines älteren Wissensstandes dar.
Als repräsentativ für das geographische Weltbild der Spätantike kann das Breviarium des Eutropius
betrachtet werden. Es war das populärste Geschichtswerk des 4. Jahrhunderts und kam mit seiner knap-
pen und übersichtlichen Darstellung des historischen Stoffes dem Bedürfnis breiter Kreise sehr entge-
gen. Die knappe Skizzierung der Germanenkriege unter Augustus entnimmt er dessen Biographie bei
Suetonius. Die Erwähnung der Elbe ergänzt Eutropius mit dem Zusatz, dies sei ein Fluß im Barbari-
cum, weit entfernt vom Rhein.125 Suetonius konnte im frühen 2. Jahrhundert die Bekanntheit des Flus-
ses bei seinen Lesern voraussetzen. Eutropius geht in der Mitte des 4. Jahrhunderts gerade umgekehrt
davon aus, daß seine Leser mit der Nennung des Namens nichts mehr anfangen können. Germanien
verschwindet seit dem 3. Jahrhundert fast wieder in der nebelhaften Ferne, in der es sich für die Mittel-
meerwelt bis Caesar befunden hatte. Die Geographen schreiben nur noch ältere Vorlagen ab, die Histo-
riker, Rhetoren und Dichter benutzen die Elbe als Chiffre einstiger römischer Machtausdehnung. Da-
für zum Abschluß einige Beispiele im Überblick.
Solinus beschreibt um 300 Germanien nach der Naturgeschichte des älteren Plinius, die er jedoch
partiell mißversteht. Markianos von Herakleia schöpft um 400 das Werk des Ptolemaios aus und er-
wähnt als letzter griechischer Autor der Antike die Elbe.126
Erfolge des Soldatenkaisers Probus im Vorfeld der Oberrheingrenze in den Jahren 277/278 werden
in der Historia Augusta in einen Vorstoß „über Neckar und Elbe“ umgemünzt. Die Nebeneinanderstel-
lung dieser beiden Flüsse zeigt eine rapide Verschlechterung des Wissens über das Innere Germa-
niens.127 Den Tiefpunkt erreicht sie bei dem Dichter Claudius Claudianus, der die Elbe als Nebenfluß
des Rheins mißversteht.128 Derselbe Claudianus feiert das Auftreten des Heermeisters Stilicho am Nie-
derrhein 396 als eine nochmalige Ausdehnung römischer Macht bis an die Elbe. Tatsächlich war Stili-
cho der letzte Repräsentant Roms an der Rheingrenze und mußte sich um die Stellung von Hilfstrup-
pen bemühen und die Sicherheit vor Einf ällen mit Geldzahlungen erkaufen. Geradezu grotesk ist die
Behauptung römischen Einflusses bis zur Elbe selbst noch in der Phase der Agonie des Weströmischen
Reiches. Sidonius Apollinaris schmeichelte dem Kaiser Eparchius Avitus 456 damit, seine Herrschaft

124 Vgl. K. Tausend (1997); Waldherr (2002a) 1121; Castri- mann (1988–1992) III, 188f.; (Übersetzung) u. Kom-
tius u. Bierbrauer (2006) bes. 168–172; Johne (2006) mentar 544; Johne (2006) 281ff.
251f; K. Tausend (2009) 148–153. 126 Vgl. Johne (2006) 283ff.
125 Eutrop. 7,9 = Herrmann (1988–1992) III, 468f. (Über- 127 Vgl. Johne (2006) 275–279; 294ff.
setzung) u. Kommentar 666; Suet. Aug. 21,1 = Herr- 128 Vgl. Johne (2006) 291–294.

52 KLAUS-PETER JOHNE
reiche bis in das Innere Germaniens. Tatsächlich hatten zu diesem Zeitpunkt Germanen schon den grö-
ßeren Teil des Westreiches in ihrem Besitz.129
An einer Zeitenwende für die Kenntnis der Elbe stand im späten 8. Jahrhundert der langobardische
Schriftsteller Paulus Diaconus. In seiner Historia Romana wiederholte er den spätantiken Wissensstand
mit dem Zitat Eutrops, nach dem der Strom weit entfernt vom Rhein im „Barbarenlande“ fließt. In der
ebenfalls von ihm stammenden Historia Langobardorum lieferte er die ersten Nachrichten über den
Fluß in nachrömischer Zeit. In dieser Schrift erwartete er von seinen Lesern, daß der Name bekannt
sei. In dem offenbar für ehrwürdig erachteten Text des Eutropius beließ er es bei dem für das 4. Jahr-
hundert so charakteristischen Zusatz, obwohl dieses barbaricum lange die Heimat der Langobarden ge-
wesen war und inzwischen zum Frankenreich gehörte.130
Als Paulus Diaconus seine Geschichte der Langobarden schrieb, führte Karl der Große bereits
seine Kriege zur Unterwerfung der Sachsen, die zur Ausdehnung des Frankenreiches bis an Elbe und
Saale führten. Mit ihnen erfolgte der ‚Wiedereintritt‘ des Stroms in die schriftliche Überlieferung. Der
erste Feldzug im Jahre 780 ging vom Rhein die Lippe aufwärts bis an die Elbe nördlich Magdeburgs.
Karl der Große erreichte den Fluß in derselben Gegend wie fast 800 Jahre früher der Römer Drusus.

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DAS STROMGEBIET DER ELBE IM SPIEGEL DER GRIECHISCH-RÖMISCHEN LITERATUR 57


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58 KLAUS-PETER JOHNE
Alexander Demandt

Das Bild der Germanen in der antiken Literatur

Siebenhundert Jahre lang waren die Germanen die nördlichen Nachbarn der Römer. Das Verhältnis
zwischen den beiden Völkern prägten wiederholt heftige Kriege, doch gab es auch lange Friedenszeiten
dazwischen. Sowohl die Kriege als auch die Friedenszeiten zeigen eine asymmetrische Struktur.
Die Kriege der Römer waren zu Anfang aggressive ,Kolonialkriege‘ gegen militärisch weit unterlegene
,Barbaren‘, Eroberungszüge ins freie Germanien bis an die Elbe. Später wurden es Abwehrkämpfe auf
Reichsboden links des Rheins und rechts der Donau gegen einen ebenbürtigen Feind, in denen für
Rom zuletzt Sein oder Nichtsein auf dem Spiele standen. Die Kriege der Germanen waren dementspre-
chend zunächst meist Verteidigung der Heimat, später gewöhnlich Raubzüge ins Imperium, bei denen
es anfangs um Beute, zuletzt um Landnahme ging. Die Wende zwischen der frühen und der späten
Phase brachte die Schlacht im Teutoburger Wald 9 n. Chr.
In den friedlichen Zwischenkriegszeiten profitierten beide Seiten vom Handel, doch die Bilanz war
wiederum schief. Denn für die Germanen war der Kontakt zusätzlich ein Lernprozeß, bei dem sie zahl-
reiche Errungenschaften römischer Technik kennenlernten und übernahmen. Schüler der Römer wa-
ren die Germanen auf allen Gebieten, namentlich im Militärwesen, und das ermöglichte ihnen schließ-
lich in der Völkerwanderungszeit, die römischen Heere zu besiegen, das Imperium zu zerschlagen und
das Erbe Roms anzutreten.
Das Bild von den Römern in den Augen der Germanen kennen wir nur aus wenigen, allerdings
bezeichnenden Anekdoten und Aussprüchen aus germanischem Munde, die uns antike Autoren über-
liefern. Der Eindruck ist gespalten. Auf der einen Seite bestaunte man die römische Zivilisation, auf der
anderen fürchtete man die römische Herrschaft, die dem notorischen Freiheitsbegehren der Germanen
entgegenstand. Das Bild, das umgekehrt die Römer von den Germanen hatten, ist ebenfalls ambivalent,
denn einerseits bewunderte man die körperliche Verfassung der naturnah lebenden Nordvölker und
ihren Kriegsgeist, und andererseits sah man auf ihre wilde, ungezügelte, unkultivierte Lebensweise
herab, fürchtete ihre Angriffslust, den furor Teutonicus.1 In jedem Falle ist das Bild, das die Römer von
den Germanen hatten, sehr viel inhaltsreicher als das umgekehrte, denn die antiken Autoren haben aus
gutem Grund ihre Nachbarn im Norden sehr genau beobachtet, genauer als die Völker an den anderen
Grenzen. Vier Kronzeugen ragen für die römische Sicht heraus: für die frühe Phase Caesar und Tacitus,
für die späte Ammianus Marcellinus und Salvian von Massilia.
Eine methodische Vorbemerkung ist betreffs der Zuverlässigkeit unserer Quellen zu machen. Die
Germanen fallen unter den Sammelbegriff der Barbaren. In der Ilias2 werden die Leute aus Karien in
Südwestkleinasien als barbarophōn bezeichnet, weil sie ein unverständliches ‚Blabla‘ reden. Später wur-
den alle Völker, deren Sprache ein Grieche nicht verstand, als barbaroi betrachtet, sowohl die hochzivi-
lisierten, kunstsinnigen, aber vergleichsweise ,schwachen‘ Orientalen als auch die schriftlosen, kultur-
armen, aber ,kraftstrotzenden‘ Skythen, Kelten und Germanen. Diesen letzteren werden in der antiken
Ethnographie ähnliche oder gleichartige Eigenschaften zugeschrieben hinsichtlich ihrer Lebensart, ih-

1 Lucan. 1,255f. 2 Hom. Il. 2,867.

DAS BILD DER GERMANEN IN DER ANTIKEN LITERATUR 59


rer Denkweise, ihrer Charaktereigenschaften und ihrer Religion. Die Aussagen darüber wirken mithin
oft klischeehaft, so daß wir nie wissen: Handelt es sich um Topoi oder um echte Befunde? Angesichts
der ähnlichen Lebensumstände im gesamten mittleren und nördlichen Europa ist jedoch grundsätzlich
davon auszugehen, daß die Nachrichten über solche Übereinstimmungen nicht aus literarischer Kon-
vention stammen, sondern auf wirkliche Beobachtung zurückgehen und jedenfalls in der Regel als ver-
bürgt gelten dürfen.
Weiterhin ist methodisch zu beachten, daß an fremden Völkern gewöhnlich nur das Andersartige
auff ällt. Das, was mit den eigenen vertrauten Verhältnissen übereinstimmt, erscheint meist nicht er-
wähnenswert. Insofern ist das Bild vor dem Hintergrund des Betrachters zu sehen und auf das be-
schränkt, was sich von ihm abhebt. Ebenso bleibt Allgemeinmenschliches unerwähnt, etwa daß Kinder
von den Eltern erzogen werden, daß die Nahrungsaufnahme in gemeinsamen Mahlzeiten stattfindet
und daß man nachts schläft.
Die Notierung des Fremdartigen dient nicht selten unausgesprochen oder gar ausdrücklich der
Kritik an den eigenen Lebensumständen des Autors. Er hält in mahnender Absicht seinen Landsleuten
und Zeitgenossen die Nachbarn als Spiegel vor. Das verführt ihn leicht zur Überzeichnung von Kontra-
sten, zur Übertreibung von Eigenarten, die ihm nachahmenswert oder abscheulich erscheinen. Wo sol-
che Intentionen erkennbar sind, müssen historisch entsprechende Abstriche gemacht werden.
Bevor die Römer sich ein Bild von den Germanen machen konnten, mußten sie einen Begriff von
ihnen haben. Dessen Entstehung läßt sich in groben Zügen rekonstruieren. Als früheste Germani be-
legt der ältere Plinius3 einen Stamm in Spanien mit dem Beinamen, dessen Angehörige als Oretani be-
zeichnet werden. Diese Orētes Ibēres nennt bereits Polybios4 im Zusammenhang mit Hannibal, so daß
die spanischen ,Germanen‘ schon für das 3. Jahrhundert v. Chr. bezeugt sind. Die Forschung streitet
darüber, ob es sich bei diesen Leuten um Keltiberer handelt, die zuf ällig auch Germani hießen, oder ob
es nicht doch ,echte‘ Germanen waren, die im 6. Jahrhundert v. Chr. aus dem belgischen Raum mit den
Kelten nach Spanien gezogen sind. Da es aber in dieser frühen Zeit noch keine Germanen in Belgien
gegeben haben dürfte, ist diese These abwegig. Wahrscheinlicher ist, daß die spanischen Germani Kel-
ten waren, daß aber die Namensgleichheit mit den germanischen Germanen keineswegs zuf ällig ist.
Zeuge dafür ist Poseidonios, jener griechische Reisephilosoph, der um 70 v. Chr. Südgallien besucht
hat. Er schreibt von einem nicht näher lokalisierten Stamm namens Germanoi, daß diese Leute mittags
Fleisch, in Scheiben gebraten, verzehren, dazu Milch und ungemischten Wein trinken.5 Gemeint sind
damit wohl jene Kelten an der oberen Rhône, die für die Hannibalzeit als semigermanae gentes, als „halb-
germanische Völker“ bezeichnet werden.6 Keltenstämme gleichen Namens an verschiedenen Orten
gibt es mehrfach, denn oft haben sie sich bei der Wanderung geteilt, so die Volcae, Tectosages, Lingo-
nes, Boii und die Veneti.
Warum der etymologisch dunkle, sicher mit dem Kriegswesen zusammenhängende Name Ger-
mani von den keltischen auf die germanischen Germanen übergegangen ist, wissen wir nicht, wohl
aber, wie und wann das geschah. Tacitus berichtet:7 Das Wort ‚Germane‘ sei eine neuere Bereicherung
des Wortschatzes, da die ersten, die über den Rhein gekommen seien und die Gallier vertrieben hätten,
die heutigen Tungrer um das spätere Tongern in Belgien, damals ‚Germanen‘ genannt worden wären.
So habe sich deren Name, der zunächst nur einem einzelnen Stamm (natio), nicht dem ganzen rechts-
rheinischen Volk (gens) gehörte, langsam verbreitet, indem alle anderen Stämme zuerst nach dem Sie-

3 Plin. nat. 3,25. 6 Liv. 21,38.


4 Pol. 3,33,9. 7 Tac. Germ. 2.
5 Athen. 153E.

60 ALEXANDER DEMANDT
ger aus Furcht ‚Germanen‘ genannt wurden, bald aber sich auch selbst so bezeichneten. Dies letztere
wissen wir aus römischen Grabinschriften germanischer Leibwächter der iulisch-claudischen Kaiser.8
Dem Bericht des Tacitus können wir entnehmen, daß die Verbreitung des Germanen-Namens ur-
sprünglich als Fremdbezeichnung von den erschrockenen Kelten ausgegangen ist, von denen die Rö-
mer diese Bezeichnung übernommen haben. Die Tungrer oder Eburonen hatten nicht lange vor Caesar
den Rhein überschritten und die Kelten aus Eifel und Ardennen verdrängt. Sie werden von Caesar Ger-
mani Cisrhenani benannt.9 Da Caesar den Swebenfürsten Ariovist rex Germanorum, d.h. einen „Germa-
nenkönig“ nennt10 und von der Trauer der „Germanen“ um seinen Tod spricht,11 war der Germanen-
Name damals bereits auf die Sweben übergegangen. Der gleiche Titel rex Germanorum begegnet uns
unter Septimius Severus für den Markomannenkönig Aistomodius.12 Die ältere Selbstbezeichnung der
Germanen insgesamt oder wenigstens der größten Stammesgruppe unter ihnen lautete Swebi, zu
deutsch ‚Schwaben‘, in der Bedeutung ‚wir selbst‘ – also nicht sehr vielsagend, ähnlich dem späteren
Namen der Alamannen, ‚alle Männer‘.13
Caesar war der erste Autor, der ein klares Bild von den Germanen hatte. Waren doch zuvor die Kim-
bern und Teutonen in Rom als Gallier betrachtet worden, obschon Poseidonios bezeugt, daß sie eine an-
dere Sprache hatten.14 Noch Cicero hielt sie 56 v. Chr. für Kelten.15 Caesar verwandte den Germanen-Na-
men wie selbstverständlich und berichtet gleich zu Eingang seiner Kommentarien, die tapfersten
Gallier seien die Belgier, weil sie am weitesten entfernt von der römischen Dekadenz wohnten und sich
fortwährend mit den Germanen im Kampfe messen müßten. Weiter schreibt er zum Jahre 58, als es ge-
gen Ariovist ging, daß seine Legionäre sich gefürchtet hätten, den Germanen entgegenzutreten, denn
ihnen ging der Ruf von unwiderstehlichen Kriegern voraus. Caesar mußte seine ganze Beredsamkeit
aufbieten, um seinen Legionären Mut zu machen.16
Im vierten Buch charakterisiert er die Sweben,17 im sechsten bringt er einen ethnographischen Dop-
pelexkurs, in dem er Gallier und Germanen einander gegenüberstellt. Dabei hebt er die Unterschiede
hervor. Anders als die Gallier besäßen die Germanen keine Druiden, hielten auch nicht viel von Opfern
und verehrten nur die Sonne, den Mond und das Feuer. Daß Caesar hier irrt, wissen wir aus anderen
literarischen und archäologischen Quellen, die uns Götternamen und möglicherweise auch Götterbilder
überliefern. Caesar schreibt, die Männer seien überwiegend mit Jagd und Krieg befaßt und von Jugend
an so abgehärtet, daß sie in ihren kalten Flüssen badeten. Sie waren – also anders als die Römer – keine
‚Warmduscher‘. Im Gegensatz zu diesen hielten die Germanen bis zum 20. Lebensjahr auf Keuschheit,
dabei sei der Umgang der Geschlechter höchst unbefangen. Bei der Kleidung notiert Caesar das Pelz-
werk. Viehhaltung und Fleischnahrung, so heißt es, überwiegen. Ackerbau werde vernachlässigt, das
Land jährlich neu verteilt. Das erinnert an den römischen Mythos vom Goldenen Zeitalter Saturns, als es
noch kein Privateigentum am Boden, keine Eigentumsgrenzen gab.18 Gemeineigentum am Ackerland
bezeugt für die Germanen ebenfalls Tacitus,19 auch für die frühen Kelten in Spanien wird es überliefert.20
Im 19. Jahrhundert haben Proudhon und Friedrich Engels hier Belege für den Urkommunismus
der klassenlosen Gesellschaft gesehen, die sie auf technisch höherer Stufe erneuern wollten. Engels

18 ILS 1717. 15 Cic. prov. 32.


19 Caes. Gall. 2,3f.; 6,2,3. 16 Caes. Gall. 1,39f.
10 Caes. Gall. 1,31,10. 17 Caes. Gall. 4,1; 4,11ff.
11 Caes. Gall. 5,29,3. 18 Verg. georg. 1,126ff.; Ov. met. 1,136.
12 ILS 856. 19 Tac. Germ. 26.
13 Agathias 1,6,3. 20 Diod. 5,34,3.
14 Plut. Marius 15; s. dazu auch K.-P. Johne im vorliegen-
den Band.

DAS BILD DER GERMANEN IN DER ANTIKEN LITERATUR 61


und Lassalle schwärmten ja ebenso von den alten Germanen wie Gobineau, Carlyle und Felix Dahn.
Germanomanie finden wir bei Rassisten, Nationalisten und Sozialisten, wie in Deutschland, so in
Frankreich und England.
Wenn Caesar bemerkt, die Germanen begrenzten um des sozialen Friedens willen den Reichtum,
so macht er wohl aus der Not eine Tugend in gesellschaftskritischer Absicht. Die den Germanen abge-
sprochene Habsucht beruht vermutlich auf Mangel an Gelegenheit zur Bereicherung. Gelobt wird die
Gastfreundschaft der Germanen, die noch im nordischen Mittelalter hochgehalten wurde. In Island
war es Gastrecht, daß jeder Fremde drei Tage lange beherbergt und beköstigt werden mußte, ähnlich
wie in homerischen Zeiten bei den Griechen.21 Sodann kommt Caesar nochmals auf den Kriegsgeist
und den Ödlandstreifen um das Stammesgebiet zu sprechen, den zu betreten kein Feind wagen dürfe.
Raubzüge auch privater Gefolgschaftsführer außerhalb seien weder verboten noch ehrenrührig. Im Ge-
genteil. Anders, heißt es, lebten die Gallier – offenbar in der Provence –, die das süße Leben im römi-
schen Frieden vorzögen und offen einräumten, den Germanen im Kampf nicht gewachsen zu sein.
Den Abschluß des Germanen-Exkurses bildet eine Beschreibung des Hercynischen Eichenwaldes,
der sich neun Tagereisen weit parallel zur Donau quer durch Germanien ausdehnte. Das Ende seiner
Ausläufer, die sich über wenigstens sechzig Tagesmärsche erstreckten, habe noch niemand erreicht.
Dann werden die Tiere erwähnt, zuerst das Einhorn, ein Mittelding zwischen Stier und Rentier; weiter-
hin der identifizierbare Auerochse, dessen Hörner als Jagdtrophäen gelten, am Rande mit Silber einge-
faßt werden und als Trinkgef äß dienen, und schließlich der Elch, der mit einer schlechterdings genia-
len Jagdmethode gefangen wird. Der Elch, so lesen wir, besitzt keine Kniegelenke, kann daher, einmal
umgefallen, nicht wieder aufstehen. Zum Schlafen lehnt er sich darum an einen Baum. Die listigen ger-
manischen Jäger suchen diese Schlafbäume auf und sägen sie an. Wenn der Elch abends müde sich an-
lehnt, dann bricht der Baum. Der Elch f ällt um, und nun hat man ihn. Dieses köstliche Stück Jäger-
latein, in vollem Ernst erzählt, hat offenbar ein germanischer Nimrod dem Caesar vorgeflunkert, wenn
der Exkurs denn authentisch ist, was manche Philologen nicht grundlos bezweifeln. Der Inhalt aber
wird damit nicht wertlos.
Anders als Caesar ist Tacitus für sein Germanenbild keine Quelle aus erster Hand. Seine Germania,
die mit Abstand ergiebigste Schrift zum Thema, ist vermutlich aus den 20 Büchern über die Germa-
nenkriege komprimiert, die der ältere Plinius hinterlassen hat, die aber nicht überliefert sind.22 Plinius
hatte als Offizier unter Claudius in Niedergermanien gedient und wußte, wovon er schrieb. Tacitus
wollte mit seinem Werk offenbar die Propaganda Domitians zurechtrücken, der auf Tausenden von
Germania capta-Münzen verkündet hatte, Germanien unterworfen zu haben. Davon konnte natür-
lich keine Rede sein. Das eigentliche Germanien, die Germania Magna, begann jenseits der Provinz-
grenzen.
In einem ungemein gedrängten, inhaltsreichen Stil beschreibt Tacitus in seinem ersten Teil Land
und Leute generell und in seinem zweiten die wichtigsten Stämme im einzelnen. Das Bild, das er ent-
wirft, ist durchaus von Sympathie getragen. Er zeichnet eine dörflich lebende, patriarchalisch struktu-
rierte Kriegergesellschaft, die in vielen Einzelheiten an frührömische Zustände erinnert. Als Kritiker
des zeitgenössischen Luxus mit seinen sozialen Nebenerscheinungen sieht er in den Germanen unver-
dorbene Naturkinder, gesund und lebenstüchtig und durch die Verführungen der Zivilisation keines-
wegs angekränkelt. Er beschreibt ihre Religion und ihre Verfassung, die Rechtsordnung und das
Kriegswesen, die Wirtschaft und die Technik, die Siedlung und die Kleidung.

21 Hom. Od. 4,26ff. 22 Plin. epist. 3,5,4.

62 ALEXANDER DEMANDT
Tacitus lobt den Gemeingeist der Germanen, das Ehrgefühl, den Familiensinn und den hohen Re-
spekt vor den Frauen. Inesse aliquid sanctum et providum putant – ihnen wohne etwas Heiliges, Voraus-
schauendes inne, so meinte man.23 Darum höre man auf sie. Tacitus nennt zwei Priesterinnen, Veleda
und Aurinia, die sogar politisch einflußreich waren. Frauen hätten schon wankende Schlachtreihen
zum Stehen gebracht und seien als Geiseln begehrter als Männer. Denn Frauen in Feindeshand setze
man keinem Risiko aus, wenn Vertragsbruch erwogen wird.
Die Zahl der Kinder künstlich zu begrenzen, wie das bei den Römern üblich war, sei, so Tacitus, bei
den Germanen verpönt. Den Kinder- und Menschenreichtum der Germanen bezeugt zudem sein Zeit-
genosse Flavius Josephus.24 Cassius Dio vermerkt ihn für die Markomannen,25 in der Spätantike wird er
für die Franken, Alamannen und Burgunder überliefert. Jordanes26 nennt Skandinavien die vagina na-
tionum, und Isidor von Sevilla27 sah im Namen Germania einen Hinweis auf die Fruchtbarkeit des Vol-
kes, vermutlich etymologisch im Gedanken an germen, den sprießenden Keim. Die Aussage des Tacitus
steht mithin nicht allein. Trotz all dieser löblichen Eigenschaften ist der Autor aber nicht blind für die
Schwächen der Germanen: ihre Spielleidenschaft und ihre Trunksucht. Das Bier findet er scheußlich.
Er nennt es einen Gerstensaft in quandam similitudinem vini corruptus – „in eine gewisse Ähnlichkeit
mit dem Wein verschlimmbessert“.28 Noch Kaiser Julian hat in seinem ersten Epigramm das Bier ver-
lästert.
Unter den Stämmen hebt Tacitus die Chatten in Niederhessen hervor.29 Ihn beeindruckt ihre fast
schon römische Disziplin in Krieg und Frieden, ihr hochgewachsener Körperbau und ihre rasche Auf-
fassungsgabe. Er legt ihnen gar eine stoische Lebensregel bei: fortunam inter dubia, virtutem inter certa
numerare – das Glück sei eine unsichere Sache, verläßlich aber sei die virtus, die Tugend, die sich in Hal-
tung und Leistung kundtut. Die Cherusker freilich seien inzwischen, drei Generationen nach Armi-
nius, durch den langen Frieden abgeschlafft.30 Gleichwohl empfindet Tacitus die Germanen als bedroh-
lich. Seit zweihundert Jahren würden die Germanen besiegt und doch nicht bezwungen31 – das geht
gegen Domitian –, und daher begrüßt er es, wenn sie sich gegenseitig aufreiben. Angesichts eines mör-
derischen Kampfes zwischen den Brukterern und ihren Nachbarn entf ährt ihm ein Stoßgebet: Wenn
sie schon uns nicht lieben, so möge doch der Haß auf ihresgleichen erhalten bleiben, denn wenn einst
das Schicksal Rom in Bedrängnis bringt (urgentibus imperii fatis), kann uns Fortuna nichts Besseres ge-
währen als Zwietracht unter den Feinden.32
Tacitus ist der einzige Autor, der den Teutoburger Wald erwähnt, nicht bei der clades Variana, da
seine Annalen erst im Jahre 14 einsetzen, wohl aber beim Besuch des Schlachtfeldes durch Germani-
cus.33 Die römische Niederlage des Varus provozierte in der Antike abwertende Aussagen über den ger-
manischen ,Nationalcharakter‘. Velleius34 nennt die Germanen äußerst wild und verschlagen, zum Lü-
gen geboren, haben sie doch Varus hinters Licht geführt! Arminius beging ein scelus, ein Verbrechen,
und doch hat Velleius vor Arminius höchsten Respekt. Zur Ausführung seines Frevels bef ähigten ihn
seine edle Herkunft, sein tapferer Arm, sein klarer Blick, seine für einen Barbaren ganz ungewöhnliche
Intelligenz und das Feuer seines Geistes, das ihm aus den Augen sprühte. Hat Velleius dies erfunden
oder von Gefangenen erfahren?

23 Tac. Germ. 8; s. auch D. B. Baltrusch im vorliegenden 29 Tac. Germ. 30f.


Band. 30 Tac. Germ. 36.
24 Ios. bell. Iud. 2,16,4. 31 Tac. Germ. 37.
25 Cass. Dio 73,2,1. 32 Tac. Germ. 33.
26 Jordanes, Getica 25. 33 Tac. ann. 1,60.
27 Isidor von Sevilla, Etymologiarum libri viginti 14,4,4. 34 Vell. 2,117ff.
28 Tac. Germ. 23.

DAS BILD DER GERMANEN IN DER ANTIKEN LITERATUR 63


Ähnlich positiv sah ihn Tacitus.35 In dem Gespräch, das er Arminius und seinen romtreuen Bruder
über die Weser hinweg führen läßt, rühmt letzterer die Größe Roms und die Milde des Kaisers, wäh-
rend Arminius die heiligen Rechte des Vaterlandes, die altüberkommene Freiheit und die Götter Ger-
maniens beschwört und sich auf die Meinung der Mutter beruft, die seine Haltung teile. Tacitus sym-
pathisiert offenkundig mit dem Reichsfeind. Für ihn ist Arminius erstaunlicherweise kein Verräter, der
seinen Eid auf den Kaiser gebrochen hat, sondern ein Freiheitsheld: liberator haud dubie Germaniae.36 Es
ging also nicht um die Freiheit der Cherusker und ihrer Verbündeten, sondern ganz generell um die
Freiheit der Germanen insgesamt, zu deren Anwalt Arminius sich berufen fühlte. Im Freiheitssinn der
Germanen stecke überhaupt mehr Energie als in der ganzen Königsmacht der Perser: Regno Arsacis
acrior est Germanorum libertas.37 Dieses acrior könnte man in preußischer Kasinosprache auch überset-
zen mit ,schneidiger‘.
Den Kriegerstolz der Germanen illustriert eine Episode aus dem Jahre 58 n. Chr. Damals erschie-
nen zwei Friesenfürsten als Gesandte ihres Stammes bei Kaiser Nero. Bei dieser Gelegenheit zeigte
man ihnen die Sehenswürdigkeiten von Rom und führte sie zuletzt ins Pompeius-Theater. Hier nah-
men sie in ihrer barbarischen Kluft unaufgefordert auf den Ehrensitzen der Senatoren Platz, was zu-
nächst im Auditorium Murren auslöste. Als sie erklärten, kein Volk der Erde übertreffe die Germanen
an Waffentüchtigkeit und an Treue zu Rom, da verwandelte sich das Buh-Rufen in Beifallklatschen.38
Ihre Kriegstüchtigkeit nahm man den Nordleuten ab, aber an Kunstsinn mangelte es ihnen. Einem Ge-
sandten der Teutonen zeigte man die Gemälde, die auf dem Forum ausgestellt waren. Darunter befand
sich ein meisterhaftes Bild von einem alten Hirten. Als man den Teutonen fragte, wie er das Werk
schätze, erklärte er, solch einen alten Kerl nähme er nicht einmal geschenkt.39
Das Bild der Germanen gewann im Laufe der hohen Kaiserzeit keine neuen Züge. Wohl aber än-
derte sich die politisch-militärische Bedeutung der Nordvölker für das Imperium, und zwar im kon-
struktiven wie im destruktiven Sinne. Die positive Seite lag in der wachsenden Integration germani-
scher Söldner ins Heer und germanischer Siedler ins Reich, die durch die Constitutio Antoniniana von
212 rechtlich zu Bürgern wurden. Der negative Aspekt bestand in der steigenden militärischen Gefahr
der äußeren Germanen für das Imperium seit den verheerenden Einbrüchen der Alamannen und Fran-
ken, Goten und Heruler im 3. Jahrhundert. Deleto paene imperio Romano heißt es bei Eutrop 40 zu den
Katastrophen des Jahres 260 n. Chr.
Erst mit der Spätantike wendete sich das Blatt noch einmal, und auch das Germanenbild gewann
neue Züge. Sie sind freilich so gegensätzlich wie die Funktionen der reichsverderbenden Reichsretter
im 4. und 5. Jahrhundert. Unsere beste Quelle, das Werk des Ammianus Marcellinus, geht oft auf die
Germanen ein. In der Forschung galt er lange als führender Kopf der germanenfeindlichen Richtung.
Als Schlüsselstellen galten die Passagen, wo Ammian die vom Hunger getriebenen Alamannen mit wil-
den Bestien vergleicht, die auf Raub ausgehen, wenn man sie zu füttern vergaß. Derartige Vergleiche
gibt es einige bei ihm, doch verwendet er dieselbe Raubtiermetaphorik ebenso für aufständische Legio-
näre oder Kämpfe unter Christen, so daß eher das Verhalten als die Gruppe charakterisiert wird. Eben-
sowenig ist Antigermanismus im Spiel, wenn Ammian für römischen Vertragsbruch gegenüber den
Germanen41 oder brutale Maßnahmen gegen sie42 Verständnis zeigt, denn das Reich stand in der De-
fensive.

35 Tac. ann. 2,9. 39 Plin. nat. 35,25.


36 Tac. ann. 2,88. 40 Eutr. 9,9.
37 Tac. Germ. 37,3. 41 Amm. 21,4,5.
38 Tac. ann. 13,54. 42 Amm. 31,16,8.

64 ALEXANDER DEMANDT
Im Hinblick auf die Germanen im Reichsdienst urteilt Ammian durchaus abgewogen. Einzelne
germanische Heerführer werden belobigt, andere sachlich beurteilt, nur ausnahmsweise wird der eine
oder andere getadelt, aber schwerlich unverdient. Die Tapferkeit germanischer Einheiten auf Seiten
Roms wird unumwunden anerkannt. Ihre Liebe zu dem von Ammian hoch verehrten Kaiser Julian
erkennt er daran, daß sie sich von ihm gegen ihre Gewohnheit zu Schanzarbeit einteilen ließen. Sonst
waren Erdarbeiten und ähnliches mit dem germanischen Kriegerstolz unvereinbar. Das gemahnt an
die Maxime im preußischen Heer: Die Garde gräbt nicht. Mehrere germanische Offiziere hat Julian
zu Heermeistern erhoben, einen, Nevitta, sogar zum ordentlichen Konsul, der höchsten Würde im
Reich. Daher ist schwer nachzuvollziehen, mit welchem Recht er seinen Onkel Constantin dafür tadelt,
Germanen zu Konsuln befördert zu haben. Diesen Widerspruch moniert Ammian,43 zumal Nevitta
den Kandidaten Constantins an Glanz, Erfahrung und Ruhm nicht gleichgekommen sei. Nevitta wird
als inconsummatus – ungebildet, als subagrestis – bäurisch, und vor allem als crudelis – grausam be-
zeichnet.
Unter Julians Nachfolger Valentinian gab es in den römisch-germanischen Beziehungen ein
romantisches Zwischenspiel in der Liebesaff äre zwischen Ausonius, dem Rhetor und Prinzenerzieher,
und dem Schwabenmädchen, das den Kosenamen Bissula trug. Ausonius nahm im Gefolge des Kaisers
Valentinian 368 oder später an einem der Feldzüge gegen die Alamannen teil und erhielt dieses Mäd-
chen als Beute. Es bescherte dem sechzigjährigen Witwer noch einen Liebesfrühling. Ausonius wid-
mete seiner Ziehtochter, seiner alumna, wie er sie nannte, ein Büchlein mit Gedichten,44 das er seinem
Freund Axius Paulus, einem Rhetor in Bordeaux, schickte. Er habe die Zweifel des Dichters, ob er seine
Verse veröffentlichen solle, gelöst wie einst Alexander den Gordischen Knoten, nämlich unerwartet und
kurzentschlossen. Dem Leser empfiehlt Ausonius, sich erst einmal ein Glas Wein einzuschenken, um
in die richtige Stimmung zu kommen, und wenn er darüber einschlafe, dann erscheine ihm Bissula als
die Traumfrau des Dichters. Wir erfahren sodann, daß Bissula jenseits des eiskalten Rheins nahe den
Donauquellen aufgewachsen ist; von der Hand des Römers gefangen, habe sie das Herz des Römers be-
zwungen, regiere sie nun das Haus ihres Herrn. Niemand mache ihr einen Vorwurf wegen ihrer Her-
kunft oder wegen ihres Schicksals, so daß sie nun die Vorzüge des Lebens im Reich genießen kann. Mit
ihren alamannischen blonden Haaren und blauen Augen bleibe sie eine echte Germanin. Blonde oder
rötliche Haare und blaue, mitunter trotzige Augen werden den Germanen auch von Tacitus45 und Juve-
nal46 bescheinigt. Doch indem Bissula Latein lernt, ist sie als Doppelwesen am Rhein wie in Latium da-
heim. Ausonius nennt sie seine Wonne, seinen Schatz, seine Liebe, die als Barbarin die schönsten
Frauen Roms beschämt. Klinge ihr Name für andere auch etwas bäurisch, sei er dem Herrn jedoch ent-
zückend. Ausonius mahnt einen Maler, mit Farben könne er ihre Schönheit nicht wiedergeben – dazu
müsse er aus allen Blumen den Honig verwenden.
Die Bissula-Idylle war indes kein Symptom für eine germanenfreundliche Grundstimmung der
Zeit überhaupt. Symmachus47 beklagt die Unverschämtheit von 29 gefangenen Sachsen, die für die
Gladiatorenkämpfe des Jahres 393 vorgesehen waren, sich aber in der Nacht vor dem Auftritt in der
Arena im Kerker das Leben genommen hatten, anstatt dem Volk von Rom die Freude des tödlichen
Spektakels zu gönnen. Symmachus mußte daher auf afrikanische Bären zurückgreifen.
Die Ammian zu Unrecht unterstellte Germanenfeindlichkeit findet sich wenig später tatsächlich in
der Politik wie in der Literatur. Mehrere hochrangige Reichsgermanen wurden Opfer der nationalrömi-

43 Amm. 21,10,8. 45 Tac. Germ. 4.


44 Aus. Bissula 9. 46 Iuv. 13,164f.
47 Symm. epist. 2,46.

DAS BILD DER GERMANEN IN DER ANTIKEN LITERATUR 65


schen Reaktion gegenüber den Fremden. An ihrer Spitze ist Stilicho zu nennen, Schwiegersohn und
Schwiegervater von Kaisern, dreizehn Jahre Regent des Westens. Als Motiv wirkte Fremdenfeindlich-
keit gegenüber den nordischen Barbaren.48
Erstaunlich sind die antigermanischen, man möchte sagen: rassistischen Auslassungen von Kir-
chenvätern und anderen christlichen Autoren gegen die Germanen, unangesehen der Lehre von der
Chancengleichheit aller Menschen im Jüngsten Gericht. Schon Lactanz49 vermißte bei den Barbaren
Humanität, Ambrosius50 betrachtet sie als Wilde, Prudentius erachtet sie als nicht kulturf ähig, die heid-
nischen Götzen seien für sie gerade noch gut genug, zwischen Barbaren und Römern klaffe ein Abgrund
wie zwischen Vierfüßlern und Menschen.51 Für manche Autoren reicht auch die Christianisierung nicht
hin, um aus germanischen Barbaren Kulturmenschen zu machen, das zeigen einschlägige Äußerungen
von Orosius,52 Victor Vitensis53 und Fulgentius.54 Synesios nannte die Germanen schlicht „Wölfe“.55
Was den Germanen fehle, so Sidonius,56 sei nicht die Bibel, sondern Vergil. In der Tat war die Welt
der Bücher nicht die der Germanen. Als eine Gruppe von Ostgermanen im Jahre 269 Athen erobert
hatte, machten sie sich einen Spaß daraus, die Buchrollen aus den Bibliotheken auf den Markt zu häu-
fen, um sie zu verbrennen. Da mahnte ein weiser Alter ihren Anführer, das bleiben zu lassen. Denn mit
den Büchern vertrödelten die Römer ihre Zeit und vernachlässigten die Kriegsübung, und genau das
könne den Germanen nur recht sein. Der Alte hatte Erfolg, denn anderenfalls wäre die Episode von Pe-
trus Patricius57 nicht überliefert.
Zur dominant abschätzigen Beurteilung der Germanen durch die Kirchenautoren gibt es jedoch
eine erklärte Gegenposition bei dem gallischen Presbyter Salvianus von Massilia. In seiner Schrift
De gubernatione Dei von 440 erklärt er die Not des Reiches aus den Lastern der Römer und stellt ihnen
in mahnender Absicht die unverdorbenen, tugendhaften Germanen gegenüber. Deren Bild ist gewiß
ebenso ins Positive überzeichnet wie das zuvor skizzierte ins Negative, rückt aber die Bilanz zurecht.
Salvian verweist auf den Zulauf, den die ins Reich eingedrungenen Germanen erleben. Zahlreiche
Provinzalen schlössen sich ihnen an, um der rücksichtslosen Steuereintreibung zu entgehen.58 Bei den
Barbaren f änden sie römische Humanität, während sie bei den Römern barbarische Inhumanität er-
dulden müßten.59 Salvian kehrt den Vorwurf mangelnder humanitas einfach um und entschuldigt die
arianische Ketzerei der Germanen damit, daß es ja die Römer waren, die ihnen die falsche Lehre beige-
bracht haben. Und gibt es nicht auch im Reich jede Menge Häresien?60 Dem Zwist unter den Römern
stellt er die germanische Eintracht gegenüber,61 vielleicht ein wenig optimistisch.
Salvian ist nicht blind für die Fehler der Germanen. Die Sachsen sind wild, die Franken treulos, die
Gepiden unmenschlich, die Alamannen trunksüchtig und die Alanen räuberisch. Aber alle diese üblen
Eigenschaften findet er bei den Römern ebenso, ja in noch höherem Grade.62 Denn deren Luxusdasein
fördert die Laster, die dem einfachen Leben der Germanen abgehen. Insbesondere wettert er gemäß der
christlichen Sexualphobie gegen die lasziven Schaustellungen auf dem Theater, die zu Hurerei, Ehe-

48 Oros. 7,38,1. 54 Fulg. Mythologiae 1,17.


49 Lact. inst. 1,21. 55 Synes. De regno 19.
50 Ambr. epist. 19; 24,8; 30,8. 56 Sidon. epist. 1,8; 4,1.
51 Prud. Libri contra Symmachum 2,816f.: Sed tantum di- 57 FHG IV 196.
stant Romana et barbara quantum / Quadrupes abiuncta 58 Salv. gub. 5,17f. u. 28ff.
est bipedi, vel muta loquenti. 59 Salv. gub. 5,21.
52 Oros. 7,35,19. 60 Salv. gub. 5,14.
53 Victor Vitensis, Historia persecutionis Africanae Provin- 61 Salv. gub. 5,15.
ciae 3,62. 62 Salv. gub. 4,67f.

66 ALEXANDER DEMANDT
bruch und sonstigen Ausschweifungen verführten.63 Derartiges kennen die Germanen nicht, sie wer-
den im Vergleich zu den Römern als keusch und züchtig beschrieben. Im Reich rühmen sich Schür-
zenjäger ihrer Erfolge, aber bei den Goten, Sachsen und Vandalen werden sie verachtet.64 All dies klingt
ganz ähnlich wie bei Tacitus. Hier kann mithin kein christliches Askese-Ideal das Germanenbild ge-
schönt haben. Wenn Tacitus das Ende des Imperiums durch die Germanen befürchtet hat, so wird eben
dies durch Salvian festgestellt und mit deren Sittenreinheit begründet. Wir sollen uns nicht wundern,
schreibt er, wenn wir von ihnen im Felde besiegt werden, da sie uns an Ehrbarkeit überlegen sind.
Das Bild, das die antiken Autoren von den Germanen entworfen haben, ist im Mittelalter weithin
in Vergessenheit geraten. Im Jahre 1009 ist niemand auf den Gedanken gekommen, eine Tausendjahr-
feier für Arminius zu begehen. Dennoch waren die Germanen bei einzelnen Geistlichen präsent. Kron-
zeuge ist der unbekannte Autor des Annoliedes, der um 1080 den bedeutenden Kölner Erzbischof und
Tutor Heinrichs IV. in einem mittelhochdeutschen Gedicht verherrlichte, das er mit einem weltge-
schichtlichen Rückblick einleitete. Als Caesar, so lesen wir, nach Unterwerfung der Franken nach Rom
zurückkehren wollte, da wollte man von ihm nichts wissen. Da begab er sich wieder in die „deutschen
Lande“, wo er so viele treffliche Helden kennengelernt hatte. Mit ihnen vertrieb er seine Gegner aus
Rom und besiegte Pompeius. Dann belehrte und beschenkte er seine „deutschen Mannen“, die fortan
in Rom lieb und wert waren. Die Germanen werden hier selbstverständlich als ,die alten Deutschen‘ be-
handelt, wie es bis zu Theodor Mommsen und Friedrich Engels üblich war.
Die breitenwirksame Rezeption des römischen Germanenbildes begann im späten 15. Jahrhundert
mit dem Humanismus65. Die Werke des Tacitus hatten in Fulda und Corvey überwintert, 1470 erschien
die Germania in Venedig, drei Jahre danach in Nürnberg. Der große Humanist und spätere Papst Pius
II., Enea Silvio Piccolomini, verfaßte seinerseits eine Germania und erinnerte nach dem Fall von Kon-
stantinopel auf dem Frankfurter Fürstentag die Deutschen an ihren von Tacitus gerühmten Kriegsgeist,
um sie zum Türkenkrieg zu bewegen. Die deutschen Humanisten waren stolz auf das wohlwollende
Germanenbild des Tacitus. Jakob Wimpfeling († 1528) aus Sélestat, damals Schlettstadt, verfaßte eine
Germania, die gegen den französischen Anspruch auf das Rheinufer den germanisch-deutschen Cha-
rakter des Elsaß dartun sollte. Konrad Celtes versuchte sich an einer Theodoriceis, einem deutschen Na-
tionalepos über Theoderich den Großen in Anlehnung an Vergils Aeneis. Luther erklärte in seinen Tisch-
reden,66 er habe den Arminius, den er Hermann nannte, „von Herzen lieb“, und sah in ihm einen
Vorkämpfer gegen Roms Ansprüche auf Deutschland. Ulrich von Hutten schrieb ein Streitgespräch
zwischen Alexander, Hannibal, Caesar und Arminius, in dem letzterer bewies, daß er der größte aller
Feldherren sei, da er ja die Römer bezwungen habe, die ihrerseits die Griechen überwunden hatten.
Im Jahre 1690 erschien in zwei Folianten der monströse Roman des Kaiserlichen Rats Daniel
Kaspar von Lohenstein aus Breslau mit über dreitausend zweispaltigen Seiten unter dem Titel Groß-
müthiger Feldherr und tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit Arminius oder Herrmann nebst seiner
durchlauchtigen Thußnelda. Der Roman wimmelt von Exkursen und Fußnoten, kombiniert extensive
Gelehrsamkeit mit blühender Phantasie, er verschlüsselt Zeitgeschichte und schwelgt in deutschpatrio-
tischem Germanentum. Lohensteins Huldigung an die „alten Deutschen“ fand Anklang und Nach-
folge. Dreißig Oratorien und Opern waren Arminius gewidmet, Händels Arminio hatte am 12. Januar
1737 im Londoner Covent Garden Opera House Premiere.

63 Salv. gub. 6,17ff. 65 S. zum Folgenden auch den Beitrag von K. Kösters im
64 Salv. gub. 6,35; 7,24ff.; 64; 84ff.; 91; 97ff. vorliegenden Band.
66 WA TR 3,329; 5,415.

DAS BILD DER GERMANEN IN DER ANTIKEN LITERATUR 67


1772 wurde unter der alten Eiche von Weende der Göttinger Hainbund gestiftet, dessen geistiger
Vater der hochgefeierte Hamburger Dichter Klopstock war. Er hat das verklärte Germanenbild der Rö-
mer aufgegriffen und mit seinen pathetischen Bardengesängen den Germanenkult der Romantik be-
gründet. Ihm huldigte Kleist mit seiner gegen Napoleon gerichteten Hermannsschlacht. Heine nannte
1835 die Deutschen der Freiheitskriege „Enkel des biderben Arminius und der blonden Thusnelda“.
Arminius hatte sie – bei Kleist „Tussi“ genannt –, in ‚Raubehe‘ gewonnen, denn sein Schwiegervater Se-
gestes stand auf Seiten Roms. Er bekam schließlich seine Tochter und deren Söhnchen in seine Gewalt
und lieferte sie den Römern aus. Beim Triumphzug des Germanicus 17 n. Chr. wurden sie mitgeführt.67
Der Stolz auf das Wort des Tacitus vom „Befreier Germaniens“ spricht aus dem Hermannsdenk-
mal bei Detmold. Nachdem Fürst Leopold von Lippe-Detmold den Bauplatz auf der Grotenburg zur
Verfügung gestellt hatte – die Funde von Kalkriese waren noch nicht gemacht –, bildeten sich Förder-
vereine in Detmold, München und Hannover. Die Schuljugend spendete, König Georg V. von Hannover
und der Preußenkönig Wilhelm I. standen nicht abseits. Der Baumeister Ernst von Bandel selbst
brachte sein Vermögen ein. Die letzte Rate zahlte nach vollendeter Einheit der Reichstag 1871, so daß
1875, nach 37-jähriger Bauzeit, das Monument im Beisein des Kaisers eingeweiht werden konnte. Der
Baedeker von 1905 bemerkt, daß Armins sieben Meter langes Schwert ein Geschenk von Friedrich
Krupp gewesen sei, daß der Held aus Kupfer und Eisen 76565 Kilo wiege und daß die Bronze der Re-
lieftafel für Kaiser Wilhelm I., den „neuen Arminius“, von einer erbeuteten französischen Kanone
stamme68.
Die Germanomanie des 19. Jahrhunderts, wie sie etwa aus Richard Wagners Ring des Nibelungen
spricht, war gleichwohl kein rein deutsches Phänomen. Das zeigen Autoren wie Gobineau in Frank-
reich und Carlyle in England. Auch alle Parteien waren germanophil: die Demokraten mit Jakob
Grimm, die Liberalen mit Theodor Mommsen, die Nationalisten mit Felix Dahn und last not least die
germanenbegeisterten Sozialisten mit Ferdinand Lassalle und Friedrich Engels. Der Germanenkult vor
1945 führte danach zu einer Tabuisierung des Themas in der Öffentlichkeit, doch hat sich das nun mit
dem Zweitausendjahresjubiläum geändert. Selbst der Spiegel titulierte die „Geburt der Deutschen“ im
Teutoburger Wald.
Angesichts der neuerlichen Aktualität des Germanenthemas erhob sich die Frage nach der Konti-
nuität im deutschen Nationalcharakter. Insbesondere ging es darum, welche der von den antiken Auto-
ren überlieferten Eigenschaften der Germanen überdauert hätten. Die beiden dominanten Charakter-
züge der Germanen waren, wie wir sahen, ihr Freiheitswille und ihr Kampfgeist. Beide Eigenschaften
haben sich in der germanisch geprägten Welt über die Antike hinaus erhalten. Der Freiheitsgedanke
zeigt sich am deutlichsten in England, wo er in der Form des Liberalismus von der Magna Charta Liber-
tatum aus dem Jahre 1215 bis heute lebendig ist. Aber auch in Frankreich haben Montesquieu und Gui-
zot die Freiheitsidee aus dem fränkischen Erbe abgeleitet. Das Kriegertum hingegen durchsäuerte die
deutsche Seele, und zwar bis 1945 im eigentlichen Sinne; danach, aber auch schon zuvor, außerdem in
Eigenschaften, die das Zivilleben prägen, aber irgendwie aus dem Militärischen abgeleitet sind. Dazu
zählt der Aktionsdrang: Der Deutsche ‚krempelt die Ärmel hoch‘; weiterhin der Durchhaltewille: Der
Deutsche ‚gibt nicht klein bei‘; und schließlich die Gefolgschaftstreue: Der Deutsche respektiert seine
Obrigkeit.

67 Strab. 7,291f.; s. auch zur künstlerischen Verarbeitung 68 Zum Denkmal s. den Beitrag von H. Barmeyer im vor-
der Szene den Beitrag von W. Beyrodt im vorliegenden liegenden Band.
Band.

68 ALEXANDER DEMANDT
Das lateinische Wort socius stammt von sequor – folgen; socius ist der Gefolgsmann. Der soziale Ge-
danke hat zumal eine germanische Wurzel. Soziales Bewußtsein bezeichnet die Solidarität innerhalb
der Gruppe. Nicht zuf ällig waren die Sozialisten Marx und Engels Deutsche. Sie haben das soziale Prin-
zip auf die Spitze getrieben, das in dieser oder jener Form in Deutschland von allen Parteien, allen Kon-
fessionen vertreten wurde und vertreten wird. Seit sechzig Jahren kommt glücklicherweise auch der
Freiheitsgedanke wieder zu Ehren. Seitdem haben die soziale und die liberale Idee gleiches Gewicht,
doch reicht ihr Ursprung über zweitausend Jahre zurück, quod erat demonstrandum.

DAS BILD DER GERMANEN IN DER ANTIKEN LITERATUR 69


70 ALEXANDER DEMANDT
Dagmar Beate Baltrusch

Und was sagt Thusnelda?


Zu Macht und Einfluß germanischer Frauen

In den neueren Publikationen zur Varusschlacht gibt es kaum einen historischen Aspekt, der nicht
genauer untersucht worden wäre: Römer und römische Stützpunkte, Germanen und ihre Siedlungen,
Gräber, Waffen, Schlachtfelder, Arminius und Varus, das Nachleben der beiden und vergleichbares.
Was aber hören wir über die germanischen Frauen, was über Thusnelda, die Frau des Arminius?
Nichts – warum? Thusnelda sagte nichts, so überliefert es Tacitus. Als ihr römerfreundlicher Vater
Segestes nach der Varusschlacht auf seine Bitten hin von den Römern unter Germanicus aus den Hän-
den seiner Stammesgenossen befreit wurde, übergab er Thusnelda „unter Zwang“ – necessitate – seinen
römischen Befreiern.1 Trotzdem aber erhob die Tochter weder flehend ihre Stimme, noch war sie von
Tränen übermannt, legte nur ihre Hände zusammen und betrachtete ihren schwangeren Leib. Später
wurde sie nach Rom fortgeschickt und gebar dort einen Sohn.2 Obwohl beide nicht feindselig behandelt
worden sein sollen,3 wurde Thusnelda aber später, wie der Geograph Strabon berichtet, zusammen mit
dem inzwischen dreijährigen Thumelicus als Gefangene bei einem glänzenden Triumphzug des Ger-
manicus den Römern vorgeführt. Der Vater Segestes schaute diesen Triumph als Zuschauer an – er war
rechtzeitig zu den Römern übergelaufen.4 Das sind, in Kürze, die Nachrichten über die Frau des Armi-
nius. Doch obwohl Tacitus, der die Akteure dieser Zeit am genauesten beschreibt, Thusnelda nicht mit
einer Rede überliefert – es ist ja durchaus denkbar, daß er genaue Informationen hatte und wußte, daß
sie geschwiegen hatte –, macht er dennoch deutlich, daß sie eine eigene und vom Vater abweichende
Meinung gehabt haben muß. Ganz offensichtlich hatte Thusnelda bereits gegen den Willen ihres Va-
ters gehandelt, als sie sich mit Arminius zusammentat, denn sie war bereits einem anderen verspro-
chen gewesen,5 und anders als ihr Vater war sie gegen die Römer: mariti magis quam parentis animo, wie
ihr Vater, laut Tacitus, seinen Befreiern gegenüber eingesteht.6 Diese Zipfelchen an Information, daß
Thusnelda aktiv gegen den Willen ihres Vaters gehandelt hatte und auch mehr die Gesinnung ihres
Ehemannes zeigte, soll der Ausgangspunkt unserer Frage nach dem politischen Einfluß, der Macht und
Autorität germanischer Frauen im ersten Jahrhundert nach Christus sein. Was wissen wir eigentlich
von den Frauen dieser Zeit?
Von den Germanen selbst haben wir keine schriftlichen Quellen, sie bewahrten ihre geschichtliche
Überlieferung in mündlich tradierten Heldenliedern auf,7 und hätten wir nicht die Werke des Tacitus,
würden wir uns wundern, wie sich kleinere und größere Stämme überhaupt je bilden konnten – denn
eines haben die frühen Sueben wie die späteren Franken in nahezu allen römischen und griechischen
Quellen gemein: Sie bestehen im Grunde nur aus Männern. In den Berichten des 2. bis 4. Jahrhunderts
tauchen germanische Frauen als Individuen gar nicht mehr auf, als Gattung nur noch selten. In einem
Brief des Kaisers Julian von 361 lesen wir: „… ich, Kaiser, Julian, vertrieb die Chamaven (am Nieder-

1 Tac. ann. 1,58,4. 7 Tac. Germ. 2,2; von Arminius sagt Tacitus ann. 2,88,2:
2 Tac. ann. 1,57,4 und 1,58,6. canitur … adhuc barbaras apud gentes; die m.E. immer
3 Tac. ann. 2,10,1. noch beste Einführung in das Thema geschichtliche
4 Strab. 7,1,4. Überlieferung in der Heldendichtung allgemein ist Lord
5 Tac. ann. 1,55,3: alii pacta, „die Braut eines anderen“. (1960); überblicksartig zu den germanischen Helden-
6 Tac. ann. 1,57,4. sagen Wamers (1987).

UND WAS SAGT THUSNELDA? 71


rhein) und nahm viele Rinder, sowie Weibsbilder mit ihren Kindern als Beute“.8 Diese Reihung finden
wir häufig in den Quellen, Frauen als Beute, zusammen mit dem Vieh. Eine von den abertausenden der
Beutestücke kennen wir mit Namen – Bissula, blondhaarig und blauäugig, als Kriegsbeute (bellica
praeda) dem Dichter Ausonius nach dem Alamannenfeldzug von 368/9 übergeben – sie hat ihn zu
allerhand Dichterwerk angeregt.9
Auch in der historischen Literatur tauchen die germanischen Frauen – als Individuen wie als Gat-
tung – selten einmal auf,10 und in dem drei Bände umfassenden Ausstellungswerk zur Varusschlacht11
kann man zu ihnen ebenfalls nichts finden – wir lesen vielmehr: „Der eigentliche Akteur im histori-
schen Prozess und damit sein Protagonist, war der germanische Krieger.“12 Mit anderen Worten: Män-
ner machen Geschichte. Und mit Jane Austens Romanfigur Catherine Moreland aus Northangar Abbey
vom Anfang des 19. Jahrhunderts müssen wir immer noch seufzen: wars in every page; the men all so good
for nothing, and hardly any women at all.
In den letzten 30 Jahren ungef ähr hat sich dies ein wenig geändert – wenn wir jetzt die Ausstel-
lungsbände einmal beiseite lassen –, meist bleiben die Historiker aber bei der Nacherzählung der Quel-
len stehen, oder aber, falls die Barbarenfrauen dieser Zeit einmal nicht nur in der typischen Reihung
‚Vieh, Weiber, Kinder‘ auftauchen, bezweifeln sie den Wahrheitsgehalt der Nachrichten des Tacitus. Er
hätte die Barbarin an und für sich überhöht, um den Römerinnen seiner Zeit einen Spiegel vorzuhal-
ten; dann müßten wir allerdings annehmen, er hätte die Stellung der Frauen in den germanischen
Stämmen positiv gewertet – sollten die Römerinnen wirklich werden wie die Germaninnen? In jedem
Fall seien seine Nachrichten Fiktion, ethnographisches Geschwätz, mit einem Wort: Germanenlatein.13
Das Unvermögen, vielleicht sogar der Widerwille, sich vorzustellen, daß Frauen in ‚barbarischen‘ Ge-
sellschaften nicht unterdrückt waren (oder sind), etwa gar irgendeinen Einfluß, politische Macht oder
Autorität gehabt haben sollen (oder haben), geht bis in die Übersetzungen der lateinischen Texte hinein,
in denen bis in die jüngste Zeit mulier oder femina mit dem in unserem Sprachempfinden abwertenden
‚Weib‘, nicht mit ‚Frau‘ wiedergegeben wurde.14 Von Veleda, auf die ich noch ausführlich zu sprechen

18 P« « λ       in Methode – an und für sich bereits zweifelhaft – ist inso-
einem Brief an den Rat und das Volk der Athener (Iul. fern noch weniger zu begrüßen, als sie die Zeugnisse
epist. 278D–280D). Hier wirklich verächtlich das säch- zur Geschichte der Frauen völlig isoliert betrachtet und
liche   (!); anders als in der dt. Übersetzung von nicht im Zusammenhang mit den sonstigen Zeugnis-
Goetz, Patzold u. Welwei (2006/7) I, 265; dazu unten sen zur Struktur des Stammes, zur Ausübung von
Anm. 14. Macht bzw. Autorität innerhalb und außerhalb dessel-
19 Aus. Bissula 3: … Germana maneret / ut facies, oculos cae- ben; auch der Herausgeber der Germania, Much (1967),
rula, flava comas. interpretiert ähnlich einseitig, dazu unten S. 78/9 mit
10 Durch nahezu völlige Abwesenheit von Frauen glänzt Anm. 61. In anderen Zusammenhängen aber wird die
auch Herrmann (1988) hier 532. historisch zuverlässige Arbeitsweise des Tacitus beson-
11 Imperium (2009); Konflikt (2009); Mythos (2009). ders gelobt, dazu z.B. Giardina (2008) 34.
12 Burmeister (2009) 26. 14 Als Beispiele für diese durchgängig geübte Praxis mö-
13 Beispiele sind unter vielen anderen Bruder (1974), der gen hier einige Beispiele aus Übersetzungen mittelalter-
das germanische Frauenbild besonders des Tacitus, aber licher Quellen genügen: Reinhold Rau (in: Quellen zur
auch anderer antiker Autoren, verzeichnet sieht, die ge- karolingischen Reichsgeschichte [FrStGA] Bd. 2, Darmstadt
sellschaftlich bedeutende Stellung der Frau zur Zeit des 1980, 342/3, 198/9 und 136/7): Annales Xantenses s.a.
Tacitus als Fiktion betrachtet und allein aus „ethnogra- 837 (feminae) bzw. Annales Bertiniani s.a. 869 (mulieres),
phischer Tradition, politischer oder moralischer Ten- jeweils übersetzt als „Weiber“, allerdings vgl. ibid. s.a.
denz und dichterischer Intuition zu erklären“ (184) 864 (sanctimoniales ceteraeque feminae: „Nonnen und an-
sucht; Bruder, für den erst die Wikingerzeit und das dere Frauen“[!]); oder Werner Trillmichs Übersetzung
Christentum den Frauen eine wichtigere gesellschaft- von Rimberts Vita Anskari (in: Quellen des 9. und 11. Jahr-
liche Position verschafften, vergleicht jedoch lediglich hunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des
die antiken Quellenaussagen untereinander; sofern er Reiches [FrStGA], Darmstadt 1978, 115): mos est femina-
für eine Aussage keine Bestätigung durch eine andere rum: „nach Weiberart“; und oben Anm. 8.
Quelle findet, f ällt sie als Beweis fort (123–125); diese

72 DAGMAR BEATE BALTRUSCH


kommen werde, berichtet Tacitus late imperitabat, also „sie herrschte weithin“;15 zugestanden wird ihr in
den Übersetzungen von Joseph Borst und neuerdings von Sabine Tausend aber nur, daß sie „weithin
über die Geister (!) geherrscht“,16 von Goetz, Patzold und Welwei immerhin, daß sie „Einfluß ausge-
übt“ habe.17
Bevor ich nun den Beweis antrete, daß Frauen dieser Zeit nicht nur nicht unterdrückt waren, son-
dern vielmehr Einfluß, Macht und Autorität besaßen und zwar innerhalb ihrer Sippen, in ihren Stäm-
men sowie über diese hinaus, möchte ich noch zwei Vorbemerkungen machen:
1.) Die Germanen glaubten von sich selbst, einer Abstammungsgemeinschaft anzugehören, zu-
mindest läßt Tacitus sie so argumentieren.18 Moderne Sprachforscher, Archäologen und Historiker fin-
den daran viel Unglaubwürdiges und stellen fest, daß es die Germanen (und damit auch Germanien) in
diesem Sinn nicht gegeben haben kann,19 weshalb man sie korrekterweise als ‚Barbaren germanischer
Zunge‘, oder zumindest ‚Germanen‘ und das von ihnen bewohnte Land als Barbaricum bezeichnen
müßte.20 Andererseits gibt es eine große Begeisterung über die Möglichkeiten der Ahnenforschung im
Genlabor, darüber, daß man mittels Genanalyse feststellen lassen kann, welcher Herkunft man selbst
ist, ja gar welchem ‚Urvolk‘ – Germanen, Kelten oder anderen – man angehört.21 Für die hier vorlie-
gende Fragestellung ist beides nicht von Bedeutung, und ich vermute, daß die ‚Barbaren germanischer
Zunge‘ nicht im Geringsten von intellektuellen Selbstzweifeln über ihre Abstammung geplagt waren.
Die Stellung der Frauen und ihre politische Rolle hängt vom Aufbau der Gesellschaft und der Organi-
sation ihres Zusammenlebens ab sowie von den Wertvorstellungen und dem Glauben der Menschen,
davon, was sie über sich selbst dachten sowie von ihren Lebensbedingungen und -umständen. Von die-

15 Tac. hist. 4,61,2; zu Veleda siehe unten S. 85f. und passim. gesprochen wird; Notker, Gesta Karoli I.17 (MGH SS rer.
16 Borst (1984) 496. Trotz anderen Anspruchs mit gleicher Sanggallensium 738.13–14), wo Notker von einem Bistum
Übersetzung S. Tausend (2009) 163 („Wir erfahren in prima Germaniae sede spricht; rex Germaniae ist bei-
demnach, dass eine Jungfrau … weithin über die Geister nahe durchgehend Ludwig, der Sohn Ludwig des From-
herrschte“). men, z.B. in den Annales Bertiniani s.a. 864 (MGH SS
17 Goetz, Patzold und Welwei (2006) II, 221. rer. Germ. in usum scholarum Bd. 1, 465.31 und 466.18);
18 Dazu vor allem der Bericht über den Bataveraufstand, Der Begriff populus Germanicus bzw. populi Germanici in
hist. 4,14,4; 17,1–4; 28,1; 65,1 et passim, in dem Tacitus den Annales Fuldenses s.a. 873, 877 und 880 (MGH SS
den Civilis mehrmals auf die consanguinitas der Bataver rer. Germ. in usum scholarum Bd. 7, 79, 90 und 96) sowie
mit den übrigen Germanen eingehen läßt, sowie vor al- in den Annales Bertiniani s.a. 839 (MGH SS rer. Germ.
lem in Civilis’ Abgrenzung von den Galliern, hist. 4,61,1. in usum scholarum Bd. 1, 433.2); dies nur eine kleine
19 Dazu im Überblick Pohl (2004), der – wie viele andere – Auswahl einschlägiger Quellen zur unhaltbaren Be-
meint, daß der Germanenname für die Völker jenseits hauptung von Pohl.
des Rheins und oberhalb der Donau als Fremdbezeich- 20 Von Carnap-Bornheim (2008) 77 bezeichnet das von
nung in der Spätantike aus der Mode kam und erst Germanen besiedelte Gebiet, wie jetzt in vielen Publika-
durch die Humanisten wieder „ins Zentrum der Debat- tionen üblich, als „Westliches Barbaricum … Kernraum
ten“ kam (1); als mittelalterliche Quelle gilt für ihn nur germanischer Gentes“; außerdem sehr ausführlich dazu
Otto von Freising im 12. Jahrhundert (!), bei dem er ein und letztendlich unergiebig Dick (2008) insb. 1–25;
Mal fündig wird (5); bei Autoren des frühen Mittelalters ganz anders jedoch K. Tausend (2009).
war die Benennung dieses Gebietes als Germania, des 21 Es gibt unzählige Internetseiten zum Thema Gentest;
Königs über dieses Gebiet als rex Germaniae und des dazu eine Meldung von Welt online Wissen vom 25. No-
Volkes als populus Germanicus jedoch keineswegs außer vember 2007: 50 Prozent der deutschen Frauen, aber nur
Gebrauch; nur einige Beispiele hierfür: Beda Venerabi- 6 Prozent der Männer hätten „germanische Vorfahren“
lis, Historia Ecclesiastica gentis Anglorum III,13 bzw V,9: (ohne Angabe der Anzahl untersuchter Proben!); wirklich
Quarum in Germania plurimas noverat esse nationes, a qui- außerordentlich eine Meldung vom Juli 2008, daß man
bus Angli et Saxones, qui nunc Brittaniam incolunt, genus mittels DNA-Analyse die Verwandtschaft zweier Män-
et originem duxisse noscuntur; Einhard, Vita Karoli Magni ner mit den Überresten bronzezeitlicher Menschen aus
c. 15 (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum Bd. 25, der am südwestlichen Harzrand gelegenen Lichtenstein-
18.23–26) lokalisiert Germanien zwischen Rhein und höhle feststellen konnte; als Einstieg in diesen Zweig der
Weichsel, Donau und Meer; Annales regni Francorum s.a. Diskussion siehe Sykes (2001), der nach den Ergebnissen
794 (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum Bd. 6, 94) seiner Forschungen die Meinung vertritt, daß nahezu alle
wo von Bischöfen aus Gallien, Germanien und Italien Europäer von lediglich sieben Urmüttern abstammen.

UND WAS SAGT THUSNELDA? 73


sen Tatbeständen – soweit sie rekonstruierbar sind – muß diese Untersuchung ausgehen. Unser Ver-
ständnis von der Stellung der Frauen wird durch die Benennung der Menschen – ob nun mit oder ohne
Gänsefüßchen – weder erweitert noch eingeschränkt. Die in den Quellen als Germanen bezeichneten
Menschen mit dem pejorativen Begriff Barbaren und das von ihnen bewohnte Land als Barbaricum22
zu bezeichnen, wird zu unseren Kenntnissen und Einsichten zweifelsohne auch nicht das Geringste
beitragen.
2.) Im Wesentlichen betrachte ich den Zeitraum des 1. Jahrhunderts nach Christus. Ein gelegent-
licher vergleichender Blick vor diese Zeit bzw. in das Frühmittelalter hinein möge gestattet sein.
Die antiken Autoren berichteten nur wenig und Schlaglichtartiges über die Frauen. Caesar23 und
Ammianus Marcellinus24 setzten sich mit den Germanen im wesentlichen nur als Militärs auseinan-
der, beleuchteten deshalb innerstämmische Angelegenheiten so gut wie gar nicht. Tacitus hingegen er-
zählt einiges, vor allem in der Germania, den Historien und den Annalen. Für ihn war allerdings die
Herrschaft einer Frau so gänzlich verächtlich, daß er über den im äußersten Nordosten lebenden
Stamm der Suithonen, der unter der Herrschaft einer Frau gestanden haben soll, ausrief: „so tief sind
sie nicht nur unter die Freiheit sondern selbst unter die Knechtschaft hinabgesunken“.25 Tacitus’ Abnei-
gung gegen weibliche Herrschaft bezog sich selbstverständlich nicht nur auf Germaninnen, sondern
schloß alle Frauen der Welt, auch die Römerinnen, mit ein.26 Daher war für ihn jede Form weiblicher
Beteiligung am Gemeinwesen oder am politischen Leben nicht nur nicht erwähnenswert – er sah sie
gar nicht; es sei denn, die Frauen machten den Römern Schwierigkeiten durch ihre Herrschaftsaus-
übung, dann wurden sie erwähnt – wie beispielsweise die Königinnen Cartimandua und Boudicca in
Britannien, unter deren Befehl die keltischen Stämme der Briganten und Icener gegen die Römer zo-
gen,27 oder die germanische Seherin Veleda, auch sie ein Ärgernis durch ihre Herrschaftsansprüche
und -ausübung. In keinem Fall war die Traumfrau (nicht nur) römischer Geschichtsschreiber diejenige,
die selber Befehlsgewalt hatte oder nach ihr griff, sondern diejenige, wie Ammianus forderte, die mit
weiblicher Sanftmut – cum lenitate feminea – den Mann auf den richtigen politischen Weg brachte – falls
er überhaupt je davon abgewichen war.28
Um den Anteil der germanischen Frauen am politischen Leben zu bestimmen, will ich zunächst
die sozialen Beziehungen innerhalb der Stämme betrachten, durch die grundsätzlich der Zusammen-
halt ihrer konstituierenden Elemente erst möglich ist, sowie Macht und Autorität, die sich aus diesen
Beziehungen ergaben. Anders als bei den Römern waren familiae et propinquitates,29 also Familien und

22 So durchgängig abwertend bei Zosimus; als Beispiel 25 Tac. Germ. 45: in tantum non modo a libertate sed etiam a
zum Jahr 380 (4,30,3): „Die Barbaren marschierten servitute degenerant.
ohne jede Disziplin und benahmen sich auf den Märk- 26 Vgl. als Beispiel ann. 14,11,1, wo Tacitus es als dedecus
ten nach ihrem Belieben“ (Übers. Goetz, Patzold u. Wel- für den Senat und das Volk von Rom bezeichnet, wenn
wei, [2006] II, 153); der Begriff Barbaricum ist ebenfalls Neros Mutter Agrippina es hätte erreichen können,
eine Fremdbezeichnung, darüber hinaus pejorativ ge- sich von den Prätorianerkohorten den Treueid leisten zu
braucht und spätantik, so z.B. von Amm. 17,12,21 oder lassen.
27,5,6 – warum sollte man ihn dann Caesars Bezeich- 27 Tac. hist. 3,45 und ann. 14,31,1 und 35,1; in Agr. 16,1 sagt
nung Germania vorziehen und für das erste Jahrhundert er, daß sie im Oberbefehl „nicht nach Geschlecht unter-
benutzen? scheiden“; s. auch unten.
23 Caesar hatte nur wenig Einsicht in germanische Verhält- 28 Amm. 14,1,1–8, wo er der Frau des Caesar Gallus vor-
nisse im Vergleich zu den gallischen; lediglich in seinem wirft, sie hätte ihren Gatten „doch eher mit weiblicher
Bericht über den Krieg gegen Ariovist (Gall. 1,32–54) Sanftmut auf den Weg der Wahrheit und Menschlich-
bzw. in seinem Germanenexkurs (Gall. 6,21–28) gibt er keit zurückführen müssen“, anstatt ihm Gehilfin auf
einige Anhaltspunkte. dem Weg in den Abgrund zu sein.
24 Innergermanische Verhältnisse werden von Ammianus 29 Tac. Germ. 7.
Marcellinus so gut wie gar nicht berührt.

74 DAGMAR BEATE BALTRUSCH


Verwandtschaft die konstitutiven Elemente der gentes und bildeten die Grundstruktur des Stammes; sie
waren ohne Zweifel der bestimmende Faktor des täglichen Lebens. Die propinquitates zählten die Ver-
wandtschaft durch Vater und Mutter, hatten also keine clan-Struktur,30 sondern stellen eine Sippe im De-
finitionssinn dar. Die Schlachtenreihen waren nach Stämmen und innerhalb dieser nach Familien und
Sippen geordnet. Die Gesamtheit der Sippe (universa domus) trat als Empf ängerin der Kompensation
für Vergehen wie z.B. einen Totschlag hervor, ebenso mußten die Freundschaften und die Feindschaf-
ten des Vaters wie der übrigen Verwandten von jedem Sippenmitglied übernommen werden.31 Kon-
flikte zwischen den Sippen zu vermeiden, Recht und Ordnung untereinander aufrecht zu erhalten,
Übeltäter zu bestrafen, das war das Hauptanliegen des Stammes in seiner Gesamtheit. Dazu waren die
germanischen gentes aber nicht notwendigerweise auf Institutionen, wie zum Beispiel einen König, an-
gewiesen, sondern die Sippen selbst stellten die Regeln auf und setzten sie auch durch, nach innen wie
nach außen. Jede Sippe stellte also als mächtige Grundstruktur des Stammes bereits einen politischen
Faktor dar.

Wie war die Stellung der Frauen in diesen Sippen?

Die Ausdehnung der Sippen und die Kompetenzen und Aufgaben einzelner Mitglieder festzustellen ist
schwierig für das erste Jahrhundert, denn nur, was von der Norm des täglichen Lebens abwich, also Stö-
rungen des Sippefriedens, Intrigen oder Mord, waren berichtenswert. Durch jede neue Heiratsbezie-
hung wurde die Sippe erweitert. Das machte sie natürlich zu einer unübersichtlichen und umständlich
zu nutzenden Institution. Ihre Mitglieder konnten über eine weite Gegend verstreut sein, weshalb sich
Sippen – anders als clans – nicht dazu eigneten, territorial voneinander getrennte, geschlossene politi-
sche Einheiten zu bilden, mit gleichen Rechten und Pflichten gegenüber den gleichen Personen. An
den Familien und Sippen des Arminius sowie des Civilis, der den Bataveraufstand 69 n. Chr. anführte,
den zweiten großen Kriegszug gegen die Römer von seiten der Germanen im 1. Jahrhundert, kann man
einiges über die Struktur der Sippe sowie die Beteiligung von Frauen auf dieser Ebene der politischen
Organisation erfahren.
Männliche Verwandte des Arminius werden nur in ihrer Funktion als Gegner genannt: allen voran
sein Bruder Flavus, der im römischen Heer diente und sich durch Treue gegen die Römer auszeich-
nete,32 sowie sein Onkel Inguiomerus, der Bruder seines Vaters; dieser hatte zunächst mit ihm gegen
die Römer gekämpft, 17 n. Chr. aber dann zusammen mit Marbod, dem König der Sueben, die Cherus-
ker unter Arminius, also seinen eigenen Stamm und Neffen, angegriffen.33 Ebenfalls – und zwar von
Anfang an – gegen Arminius war sein Schwiegervater Segestes, welcher für das Bündnis mit Rom und
gegen den Angriff auf die Römer 9 n. Chr. plädiert hatte.34 Das Ende seines Lebens fand Arminius
schließlich dolo propinquorum, also durch die List seiner Verwandten,35 ohne daß uns genauer berichtet
würde, wer diese propinqui waren. Vielleicht waren es principes der Chatten. Einer von ihnen, Adgende-
strius, hatte dem römischen Senat angeboten, Arminius durch Gift zu töten,36 was bedeutet, daß er

30 Clans sind dadurch bestimmt, daß sie ihre Abkunft 34 Tac. ann. 1,55,3: „er war der verhaßte Schwiegersohn
durch eine einzelne Person definieren, sei sie männlich eines feindlich gesinnten Schwiegervaters (gener invisus
oder weiblich. inimici soceri), und was bei Einträchtigen ein Band der
31 Tac. Germ. 21: Suscipere tam inimicitias seu patris seu pro- Zuneigung ist, wurde zum Stachel des Zornes bei erbit-
pinqui quam amicitias necesse est. terten Gegnern“; bzw. 55,2.
32 Tac. ann. 2,9,1. 35 Tac. ann. 2,88,2.
33 Tac. ann. 1,68 bzw. 2,45,1. 36 Tac. ann. 2,88,2.

UND WAS SAGT THUSNELDA? 75


selbst oder aber über seine Verschwägerten Zugang zu Arminius Tafelrunde gehabt haben muß – wie
hätte das Gift sonst verabreicht werden können? Die chattischen principes gehörten zu Arminius’ Ver-
wandtschaft, da sowohl sein Bruder Flavus wie auch Sesithakus, der Vetter seiner Frau Thusnelda, chat-
tische Ehefrauen hatten.37 Soweit ein Blick auf den durch Abkunft oder Heiratsbeziehungen zusam-
mengesetzten Kreis der neidigen männlichen Sippengenossen. Unterstützt wurde Arminius bei
seinem Aufstand von seiner Frau Thusnelda sowie von seiner Mutter, die, von Tacitus als socia des Ar-
minius bezeichnet, versuchte, den Sohn Flavus auf die Seite der kämpfenden Cherusker zu ziehen und
ihn ermahnt haben soll, „er wolle doch nicht ein Überläufer und Verräter an seinen Verwandten und
Verschwägerten, und überhaupt an seinem Volk sein“.38 Neben Müttern werden auch Schwestern als
Unterstützer in schweren Zeiten genannt. So soll Civilis während des Bataveraufstandes neben der
Mutter auch seine Schwestern im Rücken des Heeres aufgestellt haben.39
Was bedeutete nun dieser Sippenverband, der für jedes einzelne Mitglied Schutz und Hilfe bieten,
seine Freund- und Feindschaften übernehmen und Kompensationen empfangen oder bezahlen sollte,
für seine weiblichen Mitglieder? Frauen blieben, auch wenn sie heirateten, weiterhin Teil ihrer Geburts-
sippe so wie Thusnelda oder die Schwestern des Civilis; Brüder hatten zu Söhnen ihrer Schwestern ein
besonderes Nahverhältnis, wie aus zahllosen Beispielen belegt werden kann.40 Im frühen Mittelalter
kehrten Frauen bei Scheidung oder Tod des Partners häufig in ihre Geburtssippe zurück, was man viel-
leicht auch für das erste Jahrhundert bereits annehmen darf, denn wie hätte Thusnelda von ihrem Vater
Segestes den Römern übergeben werden können, wenn sie nicht in seiner unmittelbaren Umgebung
gewesen wäre? Vielleicht also wechselten Frauen auch gar nicht den Wohnort, wenn die Geburtsfamilie
mit dem Schwiegersohn nicht einverstanden war, wie in diesem Fall zu vermuten ist. Dadurch, daß die
Frauen gewissermaßen zwischen ihrer Geburts- und ihrer Heiratssippe standen, konnten sie also in
sehr schwierige Situationen kommen, andererseits machte genau dies aber auch ihre Stärke aus. Denn
erstens stand hinter der Ehefrau immer die gesamte Geburtssippe zu Schutz und Hilfe auch gegen die
Sippe des Mannes. Zweitens konnten und mußten die Frauen manchmal eine sehr aktive Rolle spielen,
wenn durch die Heirat feindliche Sippen oder sogar verfeindete Stämme versöhnt werden sollten. Ganz
bestimmt liegt eine solche Versöhnungsabsicht den bereits erwähnten Verbindungen zweier Töchter
von Chatten-principes mit Söhnen von Cherusker-principes in der Zeit des Arminius zugrunde. Warum
die Stämme der Cherusker und Chatten sich feindlich gegenüber standen, wissen wir nicht, aber daß
sie ewig Streithändel miteinander hatten, berichtet Tacitus: aeternum discordant.41 In der angelsächsi-
schen Poesie werden Frauen gar als „Friedensweberin“ und als „Friedensband für die Völker“ bezeich-
net,42 eine Rolle, die ihnen über einige Jahrhunderte hin zugesprochen wurde.43 Diese Aufgabe – Frie-
denssicherung und Friedenswiederherstellung innerhalb und zwischen den Sippen und Stämmen –

37 Tac. ann. 11,16,1 und Strab. 7,1,4. 42 Beowulf 1942 und 2017: freothuwebbe bzw. frithusibb folca;
38 Tac. ann. 2,10,1 im Jahre 16 n. Chr.: ne propinquorum et ad- leider war der Versuch, zumindest längerfristig gese-
finium, denique gentis suae desertor et proditor … esse mallet. hen, oft erfolglos, wie der Dichter resignierend bekennt
39 Tac. hist. 4,18,1. (2028–2029): „doch selten einmal, nur kurze Frist, nach
40 Zum Beispiel wurden die beiden Schwesternsöhne des Königs Fall, ruht der Mordspeer, ist die Braut auch
des Civilis, Claudius Victor und Verax, von diesem mit schön“.
der Heerführung und Leitung von Kämpfen gegen die 43 Siehe Bemmann (2008) 66 zu archäologischen Bewei-
Römer betraut: hist. 4,33,1; 5,20,1; aus späterer Zeit die sen für die „Verheiratung von Frauen aus vornehmer
berühmte Geschichte der Sunilda, die auf Befehl des Familie in die Fremde“, die er als „Kontaktpflege zwi-
Gotenkönigs Ermanarich getötet und dann von ihren schen den Herrschaftszentren“ bezeichnet; allerdings
beiden Brüdern blutig gerächt wurde (Jordanes, Getica verschleiert der Begriff ‚Kontaktpflege‘ m.E. die Bedeu-
MGH AA 5,1,24.129). tung der Frauen und weist ihnen eher die passive Rolle
41 Tac. ann. 12,28,2. eines wertvollen Gegenstandes zu; solche tauschte man
schließlich untereinander zur ‚Kontaktpflege‘.

76 DAGMAR BEATE BALTRUSCH


aber weist auf das große Ansehen und den Einfluß der Frauen innerhalb dieser hin. Ihre Bedeutung
wurde auch dadurch gestärkt, daß, wie Tacitus bezeugt, die Germanen der Einehe huldigten; nur ganz
selten und nur aus politischen Gründen hätte ein Großer einmal zwei Frauen gehabt.44 Das einzige
konkret überlieferte Beispiel für eine Ehe mit zwei Frauen ist die des Ariovist – wie auch Caesar an-
merkt, aus politischen Gründen.45
Den Frauen wurde die Sorge für Hof, Kult und Äcker überlassen: delegata domus et penatium et agro-
rum cura feminis.46 Dies könnte man natürlich so interpretieren, daß die Männer nichts taten außer zu
trinken, Würfel zu spielen und, wenn ein Römer auftauchte, zu raufen, während die Frauen mit krum-
men Rücken das Land bestellten; ipsi hebent – „sie selbst (die Männer) faulenzen“, sagt Tacitus ja auch
wörtlich.47 Ich möchte den Akzent etwas verschieben: Die Männer mögen gefaulenzt haben oder nicht,
die Stellung und der Erfolg des ganzen Hauses hing aber in jedem Fall von der wirtschaftlichen Leitung
der Frauen ab, was ihre Bedeutung nur noch mehr unterstreicht.48 Cura domus et penatium, als Hendia-
dyoin verstanden, wird als ‚Sorge für Haus und Hof‘ übersetzt. Die cura penatium könnte aber durchaus
auch ein Hinweis auf die sakrale Stellung der Frauen sein, auf die wiederholt in den Quellen erwähnten
Losentscheidungen und Orakelbefragungen durch die matres familiae, wie sie Caesar nennt; durch
diese griffen sie in das häusliche und darüber hinaus das politische Geschehen insgesamt ein, worauf
ich noch zu sprechen kommen werde.
Die wichtige und anerkannte Stellung der Frauen in den Familien und Sippen finden wir auch in
den Verträgen dieser Zeit bestätigt. In dieser Zeit war es üblich, zur Absicherung von Verträgen Geiseln
zu stellen, von den Germanen wurden meist adlige Mädchen gefordert, sowie auch die Söhne von
Schwestern. So befanden sich beispielsweise Frau und Schwester des Civilis sowie die Tochter des Clas-
sicus als Unterpfand der Bündnistreue bei den Ubiern, die dann von diesen in einem intrigenreichen
politischen Spiel den Römern zur Auslieferung angeboten wurden.49 Die Römer hatten den Wert der
Frauen für die Germanen früh erkannt; bereits Augustus, sagt Sueton, „habe versucht, einigen die
Frauen als eine neue Art von Geiseln abzufordern, weil er die Erfahrung gemacht hatte, daß ihnen ihre
männlichen Geiseln gleichgültig waren“.50 Germanicus raubte auf seinem Feldzug 16 n. Chr. Ehefrau
und Tochter des Arpus, eines princeps der Chatten,51 und die Römer nahmen Thusnelda gern aus den
Händen ihres Vaters entgegen, zusammen mit vielen feminae nobiles.52 Daß es den Germanen als igno-
minia, als Schande also, ausgelegt wurde, wenn ihre Frauen in römischer Knechtschaft schmachteten,
und daß man deshalb die Stämme durch weibliche Geiseln sich stärker verpflichten konnte, lesen wir
bei Tacitus an vielen Stellen.53 Der Austausch weiblicher Geiseln ist eine Besonderheit des germani-
schen Vertragsrechtes und weist wie der bilaterale Aufbau der Sippen und die Eheschließungen zwi-
schen verfeindeten Gruppen auf die bedeutende und einflußreiche Stellung der Frauen in ihren Fami-
lien und Sippen hin.

44 Tac. Germ. 18. ein Hinweis auf den wirtschaftlichen Erfolg von Frauen;
45 Caes. Gall. 1,53,4. die Autoren vermuten, daß die zugehörigen Siedlungen
46 Tac. Germ. 15. an einer Handelsstraße, der sogenannten Bernstein-
47 Tac. Germ. 15. straße, lagen. Zu den Funden auch unten S. 81.
48 Dazu Kasprzycka u. Stasielowicz (2008) mit Abbildun- 49 Tac. hist. 4,49,1.
gen; die Funde des Gräberfeldes, einer gotischen Nekro- 50 Suet. Aug. 21; siehe auch Allen (2006), der aber zu dem
pole im Südwesten der Elbinger Höhe im heutigen hier untersuchten Thema nichts beiträgt.
Polen, stammen aus über 500 bis heute erforschten Grä- 51 Tac. ann. 2,7,2.
bern, die von ca. 70 nach Chr. bis in die Mitte des 4. Jahr- 52 Tac. ann. 1,57,4.
hunderts reichen; es finden sich zahlreiche Bestat- 53 Tac. ann. 2,46,1: Marbod über die Gefangenschaft von
tungen von Frauen, die, im Gegensatz zu denen der Thusnelda und Thumelicus, die eine Schande für Armi-
Männer, besonders reich ausgestattet waren – vielleicht nius seien, sowie Germ. 8 und hist. 5,17,2.

UND WAS SAGT THUSNELDA? 77


Wie war die politische Struktur der Stämme?

Die einzelnen Sippen stellten die konstitutiven Elemente eines Stammes dar; in Übereinstimmung
mit allgemein akzeptierten Regeln hielten sie die innere, soziale Ordnung aufrecht; was wissen
wir über solche Regelungen? Welches politische Instrumentarium hatten solche Gruppen außerdem,
um ihre Existenz anderen gleichartigen Verbänden gegenüber sicherzustellen und welchen Anteil
hatten Frauen daran? Selbstverständlich gibt es eine große Bandbreite von gesellschaftlicher Organi-
sation bei den germanischen gentes, das muß nicht eigens betont werden; und natürlich vereinheit-
lichte auch Tacitus das, was er wußte, um seinen Lesern bei allen Unterschiedlichkeiten der Germa-
nen sowohl einheitliche Merkmale als auch Besonderheiten zeigen zu können. Es wird uns berichtet,
daß Entscheidungen aller Art bei den Germanen more suo, also „gewohnheitsmäßig“, auf Volks-
versammlungen, concilia, getroffen wurden. Sie fanden an festgelegten Tagen statt, ob immer in hei-
ligen Hainen, wird nicht deutlich. Ausdrücklich wird dies unter anderem von der Verschwörung des
Arminius und der Versammlung des Civilis berichtet, wie auch von den religiösen Feiern und concilia
der Semnonen;54 bei anderen Stämmen scheinen die Haine ausschließlich Priestern zugänglich
gewesen zu sein, wie der der Nerthus, oder auch die Haine, in denen man Schimmel zur Vorhersage
hielt.55 Die Teilnehmer der Versammlungen, die bei dringenden Angelegenheiten über Boten zusam-
mengerufen wurden,56 standen unter der Ordnungsaufsicht von Priestern.57 Ausgeschlossen von der
Teilnahme waren lediglich Verräter, Überläufer, Feiglinge, Kriegsscheue und Unzüchtige,58 vermutlich
ebenso die servi. Von diesen abgesehen entschieden omnes über die wichtigsten Angelegenheiten des
Stammes. Wer aber waren omnes und gehörten zu ihnen auch die Frauen, denn es ist nie davon die
Rede, daß lediglich Männer zu den concilia gekommen wären. Diese Frage werde ich noch an anderer
Stelle aufgreifen.
Die Versammlung als organisierte Öffentlichkeit des Stammes war der Ort für Politisches und
Sakrales zugleich, hier wurde der Stammesbund befestigt. Junge Männer wurden hier durch die
Übergabe von Schild und Speer (scutum frameaque) offiziell in den Stamm aufgenommen; während
man vorher lediglich Glieder der Familie in ihnen sah, sagt Tacitus, sah man sie danach als Glieder
des Gemeinwesens: ante hoc domus pars videntur, mox rei publicae.59 Wurden auch Frauen Glieder des
Gemeinwesens oder blieben sie lediglich Glieder ihrer Familien und Sippen? Nun wurden den Frauen
zwar nicht in der Volksversammlung die Waffen übergeben – Tacitus’ Worte sind ohne Zweifel nur auf
die jungen Männer bezogen –, aber auch sie erhielten scutum cum framea gladioque bei der Eheschlie-
ßung von ihrem Bräutigam.60 Wenn wir bereit sind, der Symbolik der Waffen jedesmal das gleiche Ge-
wicht beizumessen, steht außer Zweifel, daß die Frauen, zwar später als die jungen Männer, aber eben-
falls wie diese zu Gliedern der res publica wurden.61 Tacitus unterstützt diese Interpretation. Er sagt

54 Tac. Germ. 39. 61 Anders aber Much (1967) 287, der lediglich diskutiert,
55 Tac. Germ. 40. ob die Waffen immer die gleichen geblieben sind, die
56 Caes. Gall. 4,19,2. von der Mutter des Bräutigams auf die Schwiegertochter
57 Tac. Germ. 11 übergegangen sind; zur Symbolik der Waffen enthält er
58 Tac. Germ. 12: proditores, transfugae, ignavi, inbelles et cor- sich jeder Äußerung; er bemerkt nur, daß Geschenke
pore infames. dieser Art für Frauen keinen Wert haben (285), bzw.
59 Tac. Germ. 13. wenig passen (286); lediglich die Tatsache, daß auch die
60 Tac. Germ. 18; zusätzlich zu den Waffen erhielt die Frau Frau dem Mann eine Waffe schenkte (atque in vicem ipsa
Rinder und ein gezäumtes Pferd als Mitgift (dos) von ih- armorum aliquid viro affert), glaubt er dahingehend inter-
rem Bräutigam. pretieren zu müssen, daß der Mann damit Herr über Le-

78 DAGMAR BEATE BALTRUSCH


nämlich, daß Frauen mit dieser Waffenübergabe zur Gef ährtin des Mannes in Krieg und Frieden ge-
worden seien (laborum periculorumque socia), was letztlich nichts anderes ausdrückt als eine gleichbe-
rechtigte Partnerschaft im Privaten wie im Öffentlichen.62
Zu den Aufgaben der Volksversammlungen gehörte es außerdem, principes zu wählen, die zur
Rechtsprechung durch Gaue und Dörfer zogen;63 ihnen wurden 100 comites aus dem Volk (ex plebe) bei-
gegeben, als Rat und zu größerem Ansehen. Die principes mußten außerdem die Beziehungen zu den
Nachbarstämmen pflegen, zogen vielleicht auch die Abgaben von Vieh und Feldertrag ein, die zum Be-
streiten des Notwendigsten dienten. Ferner wurden in der Volksversammlung über Krieg und Frieden
beraten und duces zum Zweck der Kriegsführung bestimmt.64
Selbst wenn man einschränken muß, daß nicht alle Einzelheiten der politischen Organisation in
allen germanischen gentes genau so zu finden waren und sich im Detail sicherlich viele Abweichungen
finden mögen, tritt in den einzelnen Stämmen dennoch deutlich eine Führungselite hervor. Allerdings
wird von den römischen Autoren das Bild einer schwachen Führung entworfen, der sehr eigenwillige,
undisziplinierte Genossen gegenüberstanden.65 Die Führungselite war durch Wahl und Zustimmung
sowie durch Abgaben anerkannt, war aber machtlos, wenn das Volk sie nicht unterstützte. Als Beispiel
kann hier der Cherusker Segestes dienen: Er glaubte zwar, daß das Volk (plebs) nicht ohne seine princi-
pes von sich aus die Römer angreifen werde; er als princeps wurde aber, obwohl er den Krieg gegen die
Römer unter allen Umständen hatte verhindern wollen, durch die Einmütigkeit seines Stammes in die-
sen hineingezogen.66 Umgekehrt kam der Aufstand des Civilis zum Ende, weil der Stamm sich wei-
gerte, weiter Krieg gegen die Römer zu führen.67 Tutor, der gallische Verbündete des Civilis im Bataver-
aufstand, soll, laut Tacitus, die Germanen als unsichere Partner im Krieg empfunden haben, da „sie sich
nichts befehlen, sich nicht einfach kommandieren ließen, sondern in allem nach reiner Willkür han-
delten“.68 Sogar in schwierigen Situationen hätten sich die Germanen nicht um ihre duces geküm-
mert.69 Am deutlichsten wird das allgemein verbreitete prekäre Verhältnis zwischen plebs und proceres
jedoch an der Königsherrschaft.
Die Beschreibung der Institution bleibt nebelhaft. Die Germanen nahmen ihre Könige, sofern sich
ein Stamm oder Stammesbündnis überhaupt einen König an die Spitze stellte, aus dem Adel;70 diese
hatten sakrale sowie öffentliche und rechtliche Aufgaben.71 Ihre Macht war allerdings beschränkt
wie die der duces: „selbst die Könige haben keine unbeschränkte oder freie Herrschergewalt“, sagt Taci-
tus (nec regibus infinita aut libera potestas).72 Potestas, vis et potentia war keine Eigenschaft germanischer

ben und Tod seiner Frau wurde; dann müßte aber auch interessant festzustellen, daß alle taciteischen Aussagen
die Ehefrau mit den von ihrem Mann geschenkten Waf- zu Frauen, welche nicht in das vorgefertigte Bild der
fen Herrin über sein Leben geworden sein, um so mehr Historiker passen, in das Reich der Phantasterei und
als Frauen, die im Rücken des eigenen Heeres aufge- Rhetorik verwiesen werden; vgl. auch unten Anm. 121.
stellt waren, Männer, die dem Kampf den Rücken ge- 63 Tac. Germ. 12.
kehrt hatten und ihr Heil in der Flucht suchen wollten, 64 Tac. Germ. 11.
erdolcht haben sollen. 65 Tac. ann. 1,50,1 u. 4.
62 Tac. Germ. 18: ne se mulier extra virtutum cogitationes ex- 66 Tac. ann. 1,55,2–3: consensu gentis in bellum tractus.
traque bellorum casus putet, ipsis incipientis matrimonii 67 Tac. hist. 5,25,2.
auspiciis admonetur venire se laborum periculorumque so- 68 Tac. hist. 4,56,2: non iuberi, non regi, sed cuncta ex libidine
ciam idem in pace, idem in proelio passuram ausuramque; agere.
nach Much (1967) 286 sind dies allerdings „rhetorische 69 Tac. ann. 2,14,3.
Ergüsse, die mit der germanischen Vorstellungswelt 70 Tac. Germ. 7: ex nobilitate sumunt.
nichts gemein haben und sachlich deshalb schon wert- 71 Tac. Germ. 10–12.
los sind, weil sie einem Mißverständnis entspringen“ 72 Tac. Germ. 7.
(welchem Mißverständnis, wird nicht erläutert); es ist

UND WAS SAGT THUSNELDA? 79


Könige – für Tacitus schwer zu verstehen,73 vor allem in Fällen, in denen die Germanen selbst die Rö-
mer um Einsetzung von Königen gebeten hatten, wie zum Beispiel die Cherusker um den Italicus, den
Neffen des Arminius.74 Aber auch die Könige, die sich aus eigener Machtfülle erhoben hatten wie Mar-
bod, oder Männer, die eine Königsherrschaft errichten wollten, wie man es Arminius oder Civilis nach-
sagte, hatten keine Unterstützung in ihren Stämmen. Was also war Königsherrschaft bei den Germa-
nen, worin bestand sie und was war ausgeschlossen?
Die Römer versuchten überall, nicht nur bei den germanischen Stämmen, Könige einzusetzen
oder zu unterstützen, „nach dem alten und früh schon geübten Brauch des römischen Volkes, als Werk-
zeuge zur Knechtung auch Könige zu benutzen“.75 Sie nahmen an, daß diese Könige auctoritas besa-
ßen, die sich in vis et potentia äußern würde. D.h. sie glaubten, die Könige hätten die Macht, ihre Stam-
mesgenossen tun zu lassen, was sie, die Könige (als Verlängerung des römischen Armes) wollten, denn
ihr Recht beruht ja auch auf der Macht, wie Pomponius Mela glaubt.76 Die von den Römern eingesetz-
ten Könige aber wurden allesamt gehaßt, man warf ihnen superbia vor, sie wurden vertrieben oder er-
mordet. Die Römer schoben diesen Mißerfolg ihrer Königspolitik der Freiheitsliebe der Germanen, de-
ren Disziplinlosigkeit und Wankelmut zu. Die Germanen erwarteten aber offenkundig etwas anderes
von Königen als die Römer: auctoritas gewannen diese nämlich nicht durch die Anwendung von Macht
und Gewalt gegenüber den Stammesgenossen – denn hier standen sich ja gleichberechtigte Sippen ge-
genüber –, sondern durch die Anwendung von Macht und Gewalt gegen äußere Gegner und einer nach
innen gerichteten Friedenshaltung. Der König war primus inter pares, und seine erhöhte Stellung war
seinen sakralen Aufgaben, seiner wirtschaftlichen Stellung, seiner Einnahme von Ehrenämtern, sei-
nem klugen Rat, seiner Redegabe, vielleicht auch seinem Kriegsglück zuzuschreiben. Solange Italicus
mit seinen Stammesgenossen um die Wette trank und ein gutes Leben führte, waren sie mit ihm zu-
frieden. Sobald Könige und solche, die nach Herrschaft strebten, aber versuchten, über den ihnen tra-
ditionell zustehenden Umfang ihrer Rechte und Pflichten hinauszugehen, setzten sie ihr Leben aufs
Spiel – sie provozierten Rivalitäten innerhalb der eigenen Familie und Sippe sowie letztlich im gesam-
ten Stammesverband. Von dem Markomannen Marbod, dem König der Sueben, verhaßt bei den eige-
nen Leuten, fielen ganze gentes, wie die Semnonen und Langobarden, ab.77 Arminius wurde nur nach-
gesagt, er strebe nach dem Königsthron (regnum adfectans), was seinen Verwandten, also doch wohl

73 Tac. Germ. 42: hier auf die stammesfremden Könige und Gesetze erhielt (Tac. ann. 11,19,1); bereits 55–58
der Markomannen bezogen. Macht (vis, potentia, pote- n. Chr. hatten die Friesen Ländereien der Römer am
stas) beinhaltet die Fähigkeit, etwas zu tun, bzw. auf Rhein besetzt unter der Führung von Verritus und Ma-
eine Sache oder Person zu reagieren; Macht ist dem- lorix, qui nationem eam regebant, in quantum Germani
nach die Fähigkeit, den eigenen Willen, bezogen auf regnantur (Tac. ann. 13,54,1); Wenskus (1961) 412 sieht
sich selbst, auf andere Personen oder Dinge auszufüh- hierin einen Beweis für alte Königsherrschaft, was allein
ren; politische Macht besteht also vor allem darin, an- durch den Gebrauch von regere und regnare nicht be-
dere Personen tun zu lassen, was man selbst will; ge- wiesen werden kann; regere wird auch auf die adligen
nau daran aber scheint es den germanischen Königen Bataverführer angewandt, welche Kohorten in Britan-
gemangelt zu haben; im Gegensatz zu den Begriffen nien führten (Tac. hist. 4,12,3: (cohortes) quas vetere insti-
potestas, vis und potentia impliziert auctoritas die Aner- tuto nobilissimi popularium regebant), und daß der Ge-
kennung von Macht und diese Anerkennung existiert brauch von regnare vielleicht eher aus stilistischen
nur in den Köpfen der Menschen; auctoritas existiert Gründen erfolgte und nicht die Königsherrschaft bei
also nur in einem von allen anerkannten System von den Friesen beweist, das betont deutlich die ausführli-
Werten, welche die Akzeptanz der politischen und so- che Schilderung des Tacitus über die Ordnung der Ver-
zialen Institutionen einschließt, durch welche auctori- hältnisse bei den Friesen nach ihrem Aufstand anno 28
tas ausgeübt wird. (Tac. ann. 4,72–74,1).
74 Tac. ann. 11,16,1. 76 Mela 3,23: ius in viribus habent.
75 Tac. Agr. 14,1; vgl. auch die natio Frisiorum, die 47 n. Chr. 77 Tac. ann. 2,45,1.
von den Römern agri sowie einen Ältestenrat, Behörden

80 DAGMAR BEATE BALTRUSCH


gleichberechtigten Genossen, so sehr mißfiel, daß sie ihn auf Grund ihrer Freiheitsliebe ermordeten.78
Arminius begann über die Verwandten hinaus seine peergroup zu dominieren; daher umfaßte die Op-
position gegen ihn weitere Kreise als die eigene Sippe. Seinem Neffen Italicus wurde dessen Herkunft
von dem Römerfreund Flavus (Arminius’ Bruder) vorgeworfen, speziell von Leuten, die bereits vorher
in den Parteikämpfen Ansehen hatten, also wohl von denen, die Arminius vorgeworfen hatten, gegen
die Freiheit zu sein und die weder die Römer noch eine Königsherrschaft über sich dulden wollten.79
In allen germanischen Stämmen hatten sich Familien etabliert, aus welchen sich die Führungselite
der Stämme rekrutierte, als „Adel“ von Tacitus bezeichnet. Er erwähnt zudem eine stirps regia z.B. der
Cherusker: Italicus sei der letzte aus der königlichen Sippe der Cherusker gewesen;80 Civilis, der An-
führer des Bataveraufstandes, soll ebenfalls Angehöriger einer stirps regia gewesen sein81 und das Ziel
gehabt haben, eine Königsherrschaft über Germanien und sogar Gallien aufzurichten.82 Wie Arminius
hatte Civilis jedoch mächtige Gegner sowohl innerhalb seines Stammes wie innerhalb seiner Familie.
Am Ende des uns überlieferten Zeitraums (Tacitus’ weiterer Bericht ist verloren), ob er nun das endgül-
tige oder auch nur vorläufige Ende des Aufstandes darstellte, war jedoch der Stamm der Bataver gegen
Civilis, und damit mußte er die Hoffnung auf die Errichtung einer Königsherrschaft aufgeben.
In dieser Führungselite der principes werden keine Frauen erwähnt, ebenfalls nicht unter den reges-
Anwärtern, und nicht einmal die selten erwähnten Ehefrauen von Königen werden, ganz anders als bei
den keltischen Stämmen in Britannien,83 als reginae bezeichnet. Hatten die Frauen also keinen politi-
schen Einfluß oder Anteil an der Führung des Stammes? In dem bereits erwähnten gotischen Gräber-
feld von Weklice in Polen wurde das besonders reich ausgestattete Grab einer älteren, 55 bis 60-jährigen
Frau gefunden, das aus dem 2. Jahrhundert nach Christus datiert. „Die Ausstattung dieses Grabes er-
innert an die zeitgleichen so genannten ‚Fürstengräber‘ aus Pommern“,84 was auf eine deutlich heraus-
gehobene Stellung dieser Frau in ihrem Stamm hinweist. Neben archäologischen Hinweisen auf sozial
herausgehobene Frauen unterrichtet uns aber vor allem Tacitus ausdrücklich darüber, daß Frauen poli-
tische Macht hatten; er erzählt, daß die Bataver nicht etwa eine mögliche Königsherrschaft des Civilis
ablehnten, sondern „die Herrschaft germanischer Frauen“: honestius principes Romanorum quam Ger-
manorum feminas tolerari.85 Frauen müssen also doch eine bedeutende politische Rolle gespielt haben,
obwohl sie in der Reihe der Machtträger bisher noch nicht sichtbar geworden sind – also wo halten sie
sich verborgen?

Die Sakralsphäre

Das Leben der germanischen Stämme, das private wie das öffentliche, war durchdrungen von religiö-
sen Vorstellungen – die Welt zerfiel noch nicht in eine natürliche und eine übernatürliche, zwei sich
ausschließende Sphären; rituelle Praktiken begleiteten die Menschen als einzelne wie als Gruppe Tag
für Tag und in allen Lebenslagen. Tacitus schildert, daß der pater familiae eine besondere Bedeutung

78 Tac. ann. 2,88,2. hatte u.a. seine beiden Töchter als Erben eingesetzt, um
79 Tac. ann. 11,16,2f. regnum et domum zu schützen (Tac. ann. 14,31,1).
80 Tac. ann. 11,16,1. 84 Kasprzycka u. Stasielowicz (2008) 70–72, mit Abbildun-
81 Tac. hist. 4,13,1. gen der Funde; vgl. oben Anm. 48.
82 Tac. hist. 4,17,6: nationum regno imminebat. 85 Tac. hist. 5,25,2: „ehrenvoller sei es, römischen Fürsten
83 Bei den Briganten herrschte die Königin Cartimandua zu folgen als germanischenFrauen“.
(Tac. hist. 3,45), und der König der Icener, Prasutagus,

UND WAS SAGT THUSNELDA? 81


eingenommen hat, indem er bei Losentscheidungen und Vorzeichendeutung die Gebete sprach.86 Aber
warf er auch die Lose? An anderer Stelle berichtet Tacitus nämlich, daß die Germanen „die meisten
Frauen für Weissagerinnen“ hielten (plerasque feminarum fatidicas … arbitrantur),87 und Caesar schreibt
in seinem Bellum Gallicum, daß es die matres familiae gewesen seien, „die Hausmütter, die durch Loso-
rakel und Weissagungen offenbarten, ob es nützlich sei, eine Schlacht zu beginnen oder nicht“.88 Diese
Auskunft, die Caesar von einem gefangenen Kriegsmann des Ariovist erhalten hatte, bedeutet, daß die
matres familiae als Gruppe in einer öffentlichen, sakralen Handlung bestimmten, wann im Kriegsfall
der günstigste Moment für die Aufnahme von Kriegshandlungen für ihren Stamm sein würde. Die
Aussagen von Caesar und Tacitus implizieren zweierlei: Auch für private Losorakel müssen wir die
Frauen vermuten; es wäre widersinnig, wenn die meisten von ihnen, als fatidicae anerkannt, nur öffent-
lich für ihren Stamm, nicht aber privat für ihre Familien geweissagt hätten. Zweitens könnten diese
Mitteilungen ein Nachweis dafür sein, daß Frauen bei der Volksversammlung anwesend waren; denn
schließlich ist es unwahrscheinlich, daß die Männer den Krieg auf der Volksversammlung, vielleicht so-
gar an einem dem Stamm heiligen Ort, beschlossen und erst später, am anderen Tag und an einer an-
deren Stelle die Frauen zusammenkamen, um das Orakel über günstige Tage für Angriffe zu befragen.
In taciteischer Zeit spricht – wie der pater familiae im privaten Bereich – der Stammespriester, sacerdos
civitatis, die Gebete bei den Losentscheidungen in öffentlichen Angelegenheiten.89 Tacitus sagt, sie (Plu-
ral) schneiden Ästchen, kennzeichnen sie und verstreuen sie auf ein weißes Laken. Immer im Plural:
amputant und spargunt; danach betet der Priester (Singular) zu den Göttern und hebt die Lose auf. Die
‚sie‘ sind auf alle Fälle andere als der Priester oder Vater und könnten durchaus die Frauen bezeichnen,
ohne daß dies ausdrücklich gesagt wird.90 Es stellt sich überhaupt die Frage, wie aussagekräftig die
Sprache der Quellen ist – die sacerdotes sind nur in den Übersetzungen grundsätzlich Männer. Sacerdos
im Lateinischen ist geschlechtsneutral und schließt die Priesterin mit ein. Caesar bezeichnete die Gei-
seln im Fall der Germanen immer als liberi – wählt also ebenfalls ein geschlechtsübergreifendes Wort –,
im Fall der Gallier spricht er von pueri. Er macht hier also einen Unterschied, aber der würde wahr-
scheinlich nicht weiter auffallen, wenn wir nicht von Tacitus wüßten, daß die Germanen auf Grund
ihrer besonderen Wertschätzung der Frauen weibliche Geiseln bevorzugten; d.h. der Begriff liberi muß
genau diese Praxis bezeichnen.91 Was heißt das also? Ein Ausschluß der Frauen vom Priesteramt ist
allein durch den Gebrauch des Wortes sacerdos nicht zu beweisen. Expressis verbis werden Priesterinnen
in der Zeit der Kimbern- und Teutonenzüge 113 bis 101 v. Chr. genannt, und zwar von dem griechisch
schreibenden Autor Poseidonios,92 wobei aber unklar ist, inwieweit die grauhaarigen, weißgewandeten
Priesterinnen mit Bronzegürtel um die Hüften und Schwert in der Hand, die den kriegsgefangenen Rö-
mern die Hälse aufschlitzten, um aus deren Blut die Zukunft vorauszusagen, eine belastbare Nachricht
darstellen, zumindest was die blutige Zukunftsvorhersage bedeutet. In unserem Zusammenhang ist
die Erwähnung von   « ¹  – also von die Zukunft deutenden Priesterinnen – wichtig, und
die Tatsache, daß diese in einer Weise in Erscheinung traten, die die Römer sehr beeindruckt haben
muß. Ob die Autoren dann diese Geschichten noch ausmalten, um sie ihrem Barbarenbild anzupassen,

86 Tac. Germ. 10 91 Schon die Römer bevorzugten also eine ,geschlechter-


87 Tac. hist. 4,61,2. gerechte‘, wenn auch noch nicht ,anti-sexistische‘
88 Caes. Gall. 1,50,4: ut matres familiae eorum sortibus vatici- Sprachregelung – wie sie jetzt in einer 16-seitigen Bro-
nationibusque declararent, utrum proelium committi ex usu schüre Geschlechtergerechter Sprachgebrauch beim euro-
esset necne. päischen Parlament (hg. von der Parlamentsverwaltung
89 Tac. Germ. 10 der EU März 2009) vorgeschrieben wird.
90 Zu einem anderen Schluß kommt S. Tausend (2009) 92 Poseid. FgrHist 87 F 31,3.
155, nämlich daß „weibliches Kultpersonal völlig fehlt“.

82 DAGMAR BEATE BALTRUSCH


ist nicht das Thema dieses Beitrages. Daß aber zumindest das äußere Erscheinungsbild der Priesterin-
nen durch einen ungef ähr 300 Jahre jünger zu datierenden archäologischen Fund in der gotischen Ne-
kropole von Weklice bestätigt wird, bekräftigt, daß die römischen und griechischen Autoren in Bezug
auf die Frauen nicht nur „rhetorische Ergüsse“ von sich gaben.93
Die Nachrichten über die Aufgaben der sacerdotes sind sehr unterschiedlich. Neben der Pflege der
Götter für den Stamm sowie Vorhersagen waren sie eingebunden in das öffentliche politische Leben,
sorgten bei öffentlichen Zusammenkünften für die Wahrung von Ruhe und Ordnung,94 allein sie durf-
ten Krieger, die sich etwas zu Schulden hatten kommen lassen, „hinrichten, fesseln, schlagen“, aber so,
als führten sie den Befehl des Gottes, der den Kriegern zur Seite steht, und nicht die Anordnung des
Heerführers durch.95 Es ist verständlich, daß die Heerführer keine Bestrafung durchführen konnten,
war doch der Krieg eine religiöse Unternehmung und stand unter dem Schutz der Götter; darauf weist
deutlich die Opferung der gegnerischen Heere für den unterstützenden Gott in Mooren, also die Ver-
senkung der unbrauchbar gemachten Waffen und ihrer Pferde hin.96
Heiliger Ort war für die einzelnen Stämme bzw. eine Gemeinschaft von Stämmen der oder die
vielfach bezeugten Haine.97 Viele von diesen waren weiblichen Gottheiten, uns meist völlig unbe-
kannten, geweiht, so z. B. der hochberühmte Kultbezirk (Tempel und/oder Hain) der Marser einer
Tanfana98 und der Hain der Friesen der Baduhenna.99 Am bekanntesten ist zweifellos der der Ner-
thus, der Mutter Erde, die von einer großen Gruppe von Stämmen verehrt wurde. Bei der Umfahrt
der Nerthus, welche diese von Zeit zu Zeit machte, schwiegen alle Waffen, und es herrschte kulti-
scher Friede.100 Auf Weihesteinen begegnen wir häufig weiblichen Gottheiten, jedoch ohne daß wir
irgendetwas über diese in Erfahrung bringen könnten. Nur bei den ubischen Matronen vermutet
man, daß es sich um Fruchtbarkeitsgöttinnen gehandelt hat.101 Inwieweit die weiblichen Gottheiten
zugewiesenen Haine auch auf eine kultische Präsenz von Priesterinnen deuten, ist nicht mehr auf-
zuhellen – ist der Priester der Naharnavaler, der in weiblicher Tracht einem „Hain mit uraltem Kult“
vorstand – dem der Alken –, ein Hinweis auf einen Übergang des Kultes von Priesterinnen auf Prie-
ster?102 Die Stammessage der Langobarden, deren Sieg über die Vandalen durch Vermittlung der
Stammesmutter Gambara über die Göttin Freia gesichert wurde, könnte ebenfalls ein Anhaltspunkt
für einen Wechsel von weiblicher Priesterschaft und Stammesführung auf männliche enthalten.103
Und schließlich kann man in Jordanes’ spätantik/frühmittelalterlicher Geschichte der Goten einen
weiteren aufschlußreichen Beleg für weissagende Frauen finden, die ihre Macht – in diesem Fall
allerdings unfreiwillig – eingebüßt haben. Jordanes erzählt, daß während der Wanderschaft der
Goten ihr (mythologischer) König Filimer „einige Zauberinnen in seinem Volk fand, die er selbst in
seiner Muttersprache ‚Haliurunnae‘ nannte; und weil er sie für verdächtig hielt, verstieß er sie aus

93 S. o. S. 81; ferner Anm. 62. 197 Tac. Germ. 9; zu Kultgemeinschaften K. Tausend (2009).
94 Tac. Germ. 11. 198 Tac. ann. 1,51,1: celeberrimum … templum, quod Tanfanae
95 Tac. Germ. 7. vocabant.
96 Vgl. dazu Tac. ann. 1,59,3, wo Arminius an die in der Va- 199 Tac. ann. 4,73,4.
russchlacht erbeuteten römischen Feldzeichen erinnert, 100 Tac. Germ. 40.
welche man in den Hainen als Weihegabe für die hei- 101 Einen allgemeinen Überblick über die Matronen gibt
mischen Götter aufgehängt habe, und Tac. ann. 13,57,2, Simek (2003) bes. 11–13 und 117–124 und nochmals
wo vor Kriegsbeginn zwischen Chatten und Hermun- dazu in Simek (2008).
duren beide Stämme das gegnerische Heer dem Ziu 102 Tac. Germ. 43.
oder Wotan weihten; zu Kriegsbeuteopfern allgemein 103 Origo gentis Langobardorum c. 1 (MGH SS rer. Lang. et
siehe Blankenfeldt u. Rau (2009) sowie Ilkjær u. Iversen Ital. saec. VI–IX, 1–6, hier 2–3), bzw. Paulus Diaconus,
(2009). Historia Langobardorum c. 8 (ibid. 52.13–14); vgl. dazu
auch Wolfram (1990) bes. 60–61.

UND WAS SAGT THUSNELDA? 83


der Mitte seines Volkes … und zwang sie in der Einöde herumzuirren“.104 Man geht in der Interpre-
tation dieser Erzählung sicher nicht zu weit, wenn man in den magae mulieres genau die Frauen ent-
deckt, von denen wir schon bei Caesar und Tacitus lesen – Frauen, die durch ihre Weissagungen
Macht und Einfluß in ihrem Stamm hatten; die überlieferte Geschichte bleibt völlig vage; der König
„verdächtigte“ die Frauen – warum? Wenn man annimmt, daß der historische Kern dieser Geschichte
in der Zeit der Völkerwanderung zu finden ist, könnte man mutmaßen, daß sich das Machtgefüge in-
nerhalb des Stammes zugunsten der Kämpfenden und deren Götter verschoben hatte und deshalb
die Frauen nicht mehr für wirkmächtig gehalten wurden. Ein archäologischer Beweis für weis-
sagende Frauen bei den Goten ist auf dem bereits mehrmals erwähnten Gräberfeld von Weklice ent-
deckt worden, nämlich eine etwa 60-jährige Frau mit einer ganz besonderen Ausstattung. Sie trug
nicht nur zwei Ketten und zwei Gürtel; an einem dieser beiden Gürtel, der besonders reich mit
Bronzeknöpfen verziert war, war ein Dolch mit Scheide befestigt, außerdem hielt die Frau „ein Le-
dersäckchen, in dem sich vier Kauri-Schnecken, eine in Bronze gefaßte Bärenklaue, drei ebenfalls in
Bronze gefasste Bernsteinscheiben mit magischen Rosetten sowie drei Glas- und eine Bronzeperle
befanden“. Die Autoren kommen zum Schluß, daß es sich bei dieser Frau um eine „germanische
Priesterin“ gehandelt haben muß.105
Weibliche Namen von heiligen Hainen und auf Votivsteinen, Mitteilungenen über den Dienst von
Priesterinnen in der Zeit der Kimbern- und Teutonenzüge, Hinweise christlicher Autoren auf „lächer-
liche Geschichten“ in der Überlieferung germanischer Stämme sowie archäologische Funde lassen uns
erkennen, daß Frauen in ihrer Funktion als weissagende matres familiae und fatidicae eine entschei-
dende Rolle im Kultus ihrer Stämme eingenommen haben müssen. Ein eindrucksvoller Satz des Taci-
tus jedoch weist über den Bereich des Kultes weit hinaus; die Germanen glaubten nämlich, so sagt er,
daß den Frauen „sogar etwas Heiliges und Seherisches eigne; ihre Ratschläge verwerfen sie daher nicht,
noch mißachten sie ihre Bescheide“.106 Dieser Satz des Tacitus hat in der Forschung so viel Unglauben
hervorgerufen, wie sonst nur noch die anderen Nachrichten des Tacitus über die Rolle der germani-
schen Frauen: In einer Übersetzung von Suetons Caesarenleben von 1986 findet man deshalb für die
beiden taciteischen Begriffe consilia und responsa z.B. auch die Übersetzung: „Sehergabe und Zauber-
kräfte“.107 Was aber bedeuten die Begriffe consilia und responsa, also ‚Ratschläge‘ und ‚Bescheide‘? Ein-
deutig verknüpft sind diese mit dem Seherischen und Heiligen der Frauen. Weil den Frauen eine reli-
giöse Kraft zugeschrieben wurde, wurden ihre Ratschläge und Bescheide nicht verworfen, und sie
schufen sich also so über das Religiöse hinaus Einfluß.108 Was wissen wir von solchen Frauen, kennen
wir welche mit Namen?

104 Jordanes, Getica 24,121: Filimer rex Gothorum … repperit tum bis in das frühe 9. Jahrhundert hatten die religiösen
in populo suo quasdam magas mulieres, quas patrio ser- Frauen größten politischen Einfluß und standen – vor
mone Haliurunnas is ipse cognominat, easque habens allem auch ihren Familienmitgliedern – mit Rat und Tat
suspectas de medio sui proturbat longeque ab exercitu suo zur Seite; anders als Bruder (1974), der glaubt, daß erst
fugatas in solitudinem coegit errare. das Christentum den Frauen Personenwürde und reli-
105 Kasprzycka u. Stasielowicz (2008). Dazu auch oben S. 81. giösen Einfluß gebracht hat, vermute ich, daß die christ-
106 Tac. Germ. 8: Inesse quin etiam sanctum aliquid et provi- lichen Missionare deshalb bei den (heidnischen) Frauen
dum putant nec aut consilia earum aspernatur aut responsa Unterstützung fanden, weil auch zu dieser Zeit den
neglegunt; ähnlich auch Tac. hist. 4,61,2. Frauen noch eine große religiöse Kompetenz zuge-
107 Heinemann (1986) 431 Anm. 1. schrieben wurde; in den ersten beiden christlichen Jahr-
108 Siehe Schneider (1985) 272–301 zur politischen Macht hunderten hielten die Äbtissinnen außerordentliche
von Äbtissinnen in den angelsächsischen Königreichen; politische Macht in den Händen.
von der Zeit direkt nach dem Übertritt zum Christen-

84 DAGMAR BEATE BALTRUSCH


Am bekanntesten ist Veleda, eine virgo nationis Bructerae,109 von der wir bezüglich ihrer Funktio-
nen, Aufgaben, Macht und Autorität die meisten Informationen aus der Überlieferung erschließen kön-
nen. Tacitus nennt neben ihr noch die „Albruna und mehrere andere“,110 die die Germanen verehrt hät-
ten. Von diesen sind aber nicht einmal der Herkunftsstamm oder der Ort ihres Wirkens bekannt. Die
Seherin Ganna aus dem Suebenstamm wird unter Kaiser Domitian erwähnt,111 und sogar die Römer
waren von den seherischen Qualitäten mancher germanischer Frauen beeindruckt. Eine barbara mulier
specie humana amplior, also eine „übergroße Barbarenfrau“, soll Drusus, dem Vater des Kaisers Clau-
dius, an der Elbe verboten haben, weiter die Germanen zu verfolgen,112 und Kaiser Vitellius vertraute
den Weissagungen einer mulier Chatta „wie einem Orakel“.113 Sie war eine Seherin in römischen Dien-
sten genauso wie vielleicht Waluburg, deren Name auf einem Ostrakon des 2. Jahrhunderts im ägypti-
schen Elephantine gefunden wurde.114 Sie ist dort als B      ) unter dem Dienst-
personal des Präfekten von Ägypten verzeichnet. Der Namensbestandteil Walu weist ebenso wie der
Name Ganna auf das Wort ,Zauberstab‘ hin, was in Waluburgs Fall durch die Bezeichnung als Sibylle, in
Gannas Fall als  «   buchstäblich unterstützt wird. Was bei Suetons barbara mulier wie
nur beiläufig erwähnt klingt, scheint im Zusammenhang mit den Berichten über Veleda nicht von der
Hand weisbar: Frauen konnten mittels ihrer religiösen Fähigkeit und Bedeutung und ihrer Vorhersa-
gegabe potestas und auctoritas gewinnen. Als Veleda während des Bataveraufstandes den Ausgang des
Kampfes der Germanen richtig vorausgesagt hatte, wuchs ihre Autorität weit über ihren Stamm hinaus:
tuncque Veledae auctoritas adolevit; nam prosperas Germanis res et excidium legionum praedixerat.115 All ihre
politischen Aktivitäten, die sich aus dieser auctoritas ergaben, waren deshalb auch religiös ausgestaltet
und ummantelt: Als Gesandte der Ubier zu Veleda kamen, durften sie sie weder sehen noch anspre-
chen; „sie wurden von ihrem Anblick ferngehalten, um größere Ehrfurcht vor ihr einzuflößen. Sie
selbst wohnte auf einem Turm. Einer ihrer Verwandten, der zu diesem Zwecke ausersehen war, über-
brachte die Fragen und Antworten, wie der Bote eines höheren Wesens.“116 Keine Person, sei sie Mann
oder Frau, hätte ohne Unterstützung seitens ihrer Verwandten und seitens ihres Stammes eine solche
Stellung erreichen können, und auch wenn nichts Konkretes bezüglich Veledas Bedeutung bei den
Brukterern selbst überliefert ist, kann man doch auf Grund ihrer ausgedehnten Aktivitäten außerhalb
ihres Stammes davon ausgehen, daß sie auch bei den Brukterern potestas und auctoritas besessen haben
muß. Die Begriffe von Herrschaft, die Tacitus der Veleda beilegt, sind synonym den Herrschaftsbegrif-
fen, mit denen Könige oder duces wie Arminius oder Civilis belegt werden. Daß Veledas Macht und

109 Tac. hist. 4,61,2; zu Veleda im Überblick Walser (1955) Anwesenheit in Ägypten im Rahmen einer stammes-
und vor allem Volkmann (1975), der alle Quellen zu Ve- übergreifenden Gesandtschaft im Rahmen der Marko-
leda zusammengetragen hat und auch die übrigen, in mannenkriege: „Derartige kriegerische oder friedliche
den römischen Quellen namentlich genannten Seherin- Zusammenschlüsse germanischer Stämme bedürfen
nen zusammenstellt; die Arbeit von S. Tausend (2009) geradezu zwingend der Dienste einer professionellen
geht insoweit über Volkmanns Betrachtungen hinaus, Seherin, wie Veleda und Ganna gezeigt haben“ (168); es
als sie die altnordischen Quellen sowie das Material wird nicht erklärt, warum Frauen und nicht Männer
über griechische und römische Frauen mit Sehergabe zwingend waren.
zum Vergleich heranzieht; ihr Interesse liegt zum einen 115 Tac. hist. 4,61,2.
auf der Technik der Weissagekunst, zum anderen dar- 116 Tac. hist. 4,65,4: Sed coram adire adloquique Veledam ne-
auf, die seherischen Frauen als „notwendiges Kultperso- gatum: arcebantur adspectu, quo venerationis plus inesset.
nal“ zu verstehen. ipsa edita in turre; delectus e propinquis consulta responsa-
110 Tac. Germ. 8: Albruna et compluris alias. que ut internuntius numinis portabat; vgl. dazu den Ge-
111 Cass. Dio 67,5,3:  « ! …   brauch des Begriffes numen bei Tacitus, z.B. numen
112 Suet. Claud. 1,2; Cass. Dio 55,1,3. Augusti, also hier etwa die ‚Hoheit‘ des Augustus (u.a.
113 Suet. Vit. 14, 5. ann. 3,66,1) und nicht ‚Gottheit‘; dazu siehe auch die fol-
114 Detailliert zu Waluburg Volkmann (1975) 238–239; S. gende Anmerkung.
Tausend (2009) glaubt allerdings eher an Waluburgs

UND WAS SAGT THUSNELDA? 85


Autorität kein Einzelfall war, darauf weist Tacitus deutlich hin. Veleda ist ihm als Beispiel aus der Ge-
genwart gut bekannt, aber er setzt sie mit anderen gleich: „auch früher schon haben sie eine Albruna
und mehrere andere verehrt (venerati sunt), freilich ohne Kriecherei (non adulatione) und ohne sie
gleichsam zu Göttinnen zu machen“.117 Eine alte Sitte sei dies zudem bei den Germanen: vetus apud Ger-
manos mos118 – wir horchen auf, denn diese Bemerkung steht völlig im Gegensatz zu den Berichten über
die Könige, die ja, wie wir bereits gesehen haben, größte Schwierigkeiten hatten, ihre potestas aufrecht
zu halten, um so mehr als ihnen zumeist auctoritas fehlte – von veneratio ist überhaupt nie die Rede.
Standen also Frauen wie Veleda gewissermaßen zwischen Göttern und Menschen und waren ihre Be-
scheide und damit Eingriffe in das politische Leben dadurch jeder menschlichen Kritik enthoben? Um
so mehr, als Tacitus an dieser gleichen Stelle – im Widerspruch zu seinen sonstigen Aussagen – behaup-
tet, die Germanen hätten die weissagenden Frauen für Göttinnen gehalten (plerasque feminarum fatidi-
cas et augescente superstitione arbitrantur deas). Nicht ganz, denn zumindest die Bataver wollten lieber die
Herrschaft römischer Herren als die germanischer Frauen ertragen;119 aus dem Zusammenhang geht
hervor, daß es sich im konkreten Fall um Veleda gehandelt haben muß. Es gab also auch bei den Frauen
eine deutliche Begrenzung der Herrschaft. Zwar achtete man den Rat der Frauen, verwarf nicht ihre
Ratschläge, verehrte sie; den Frauen selbst wurden alle Attribute der Herrschaft beigelegt: potestas, auc-
toritas, imperare. Doch warum die Bataver gegen die Herrschaft der Veleda waren, und wie die Brukterin
überhaupt in die Lage kam, ihre Herrschaft über die Bataver auszudehnen, darüber kann nur eine ge-
nauere Betrachtung der Beteiligung der Frauen an den außenpolitischen Entscheidungen der Stämme
näheren Aufschluß geben.

Das äußere politische Leben

Welchen Anteil hatten Frauen an den Außenbeziehungen der Stämme? Natürlich wird am häufigsten
von den zahllosen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Germanen selbst sowie zwi-
schen Germanen und Römern berichtet, und natürlich stehen hier die Männer als Kämpfer im Vorder-
grund. Allerdings wird immer auch geschildert, daß Frauen und Kinder in der Nähe der Schlachtreihe
(in proximo), also wohl in deren Rücken aufgestellt wurden, um den Kämpfenden Stärkung und Ermu-
tigung zukommen zu lassen.120 Gar manche Kriegerreihe sei durch die Frauen wieder zum Stehen ge-
bracht worden, vor allem durch die Vorstellung einer nahen Gefangenschaft ihrer Frauen, sagt Tacitus.121

117 Tac. Germ. 8: sed et olim Albrunam et compluris alias vene- fluß kraft der Religion; Veleda ist aber m.E. eben nicht
rati sunt, non adulatione nec tamquam facerent deas. ausschließlich Teil eines – wenn auch mächtigen – Kult-
118 Tac. hist. 4,61,2. personals, sondern vermittels der religiösen Fähigkeiten
119 Tac. hist. 5,25,2: et si dominorum electio sit, honestius prin- politisch eigenständig handelnd wie ein Heerführer
cipes Romanorum quam Germanorum feminas tolerari; oder König.
diese Stelle widerspricht m.E. der These von S. Tausend 120 Tac. Germ. 7: et in proximo pignora, unde feminarum ulu-
(2009), die die Seherinnen als unverzichtbares kulti- latus audiri, unde vagitus infantium, hi cuique sanctissimi
sches Bindeglied politischer Zusammenschlüsse der testes, hi maximi laudatores. … illae … hortamina pugnan-
mehrere Stämme umfassenden Kultgemeinschaften in- tibus gestant.
terpretiert; daher setzt sie Veleda mit der delphischen 121 Tac. Germ. 8: Memoriae proditur quasdam acies inclinatas
Pythia gleich; die Frauen können nach Tausend „fall- iam et labantes a feminis restitutas constantia precum et
weise (eine) äußerst machtvolle Position“ – ein von der obiectu pectorum et monstrata cominus captivitate, quam
Autorin nicht definierter Begriff – erringen, bleiben aber longe impatientius feminarum suarum nomine timent; be-
nach ihrer Interpretation ganz und gar beschränkt auf züglich der Überlieferung glaubt Much (1967) 164, daß
die Religion, d.h. sie gewinnen Einfluß innerhalb ihres „einzig der erste Tag von Aquae Sextiae [in Betracht
religiösen Aufgabengebietes und nicht Macht und Ein- kommt], und dieser Tag muß Tacitus wohl vor Augen

86 DAGMAR BEATE BALTRUSCH


Über Kämpfe von Stämmen auf der Wanderschaft berichten unter anderen Plutarch und Orosius aus
der Zeit der Kimbern- und Teutonenzüge des 2. Jahrhunderts vor Christus;122 Florus schildert, daß die
Frauen ihre Männer im Kampf unterstützten, indem sie hinter ihren Wagen stehend von hoch oben
herab mit Lanzen und Wurfspießen kämpften, und daß die Auseinandersetzung mit ihnen nicht leich-
ter war; sie drohten im Falle einer Niederlage sich und die Ihren selbst zu entleiben, um nicht in Ge-
fangenschaft zu geraten.123 Ähnliches berichtet Caesar über die Streitmacht des Ariovist 58/7 v. Chr.124
Nun behauptet Tacitus in der Germania außerdem, daß Frauen generell an Schlachten beteiligt waren.
Als die Römer gegen die Bataver zu Felde zogen, soll Civilis bei Castra Vetera seine Mutter und seine
Schwestern zusammen mit den Frauen und kleinen Kindern aller anderen im Rücken des Heeres auf-
gestellt haben, und in diesem Fall befand sich ja niemand auf der Wanderschaft.125 Warum standen
diese Frauen also da? Doch bestimmt nicht, um im Falle einer Niederlage schreiend kehrt zu machen!
Und warum kämpften bewaffnete Frauen zur Zeit der Markomannenkriege um 170 n. Chr. in Italien?
Ihre Leichen wurden nach der Niederlage von den Römern gefunden.126 Diese Frauen waren weder auf
der Wanderschaft, noch verteidigten sie ihre Heimat. Trotz der zahlreichen Berichte über kämpfende
Frauen werden diese jedoch lediglich als ein Topos allgemeinbarbarischer Sitten bezeichnet.127 Was
aber spricht gegen die Kampfteilnahme von Frauen außer dem eigenen Vorurteil? Auf keltischer Seite
erscheinen Frauen ebenfalls aktiv kämpfend: Die britischen Stämme waren ja sogar gewohnt, unter der
Führung von Frauen in den Krieg zu ziehen, da sie im Oberbefehl nicht nach Geschlecht unterschie-
den.128 Und selbst zwei Römerinnen nennt Tacitus, die mit der Waffe gekämpft haben: Verulana Gratilla
ging dem Kriegshandwerk nach (bellum secuta), ebenso Triaria, die Gattin des Vitellius, die er als „ge-
mein und grausam“ (ultra feminam ferox) bezeichnete.129 Beim Angriff der Römer auf die Insel Man bil-
deten die (einheimischen) Männer eine dichte Reihe von Kämpfenden, während zwischen den Reihen
Frauen herumliefen, „welche nach Art der Furien im Leichengewand mit herabwallenden Haaren Fak-
keln vorantrugen“, eine Schilderung, welche neben dem Kampf vielleicht auch auf eine religiöse Rolle
der Frauen in der Schlacht schließen läßt,130 vielleicht aber, wie das Kriegsgeschrei (ululatus) der Bata-
verinnen, die Gegner vor allem in eine Schreckstarre versetzen sollte. Kämpfende Frauen sind demzu-
folge kein Germanen- oder Keltenlatein, denn sie bekamen Waffen und Schild bei der Hochzeit über-
reicht. Diese Nachrichten können wir nicht einfach als Topos bezeichnen, nur weil sie nicht in unser
Bild von Frauen passen. Wenn man die Größe der gentes bedenkt, könnte man das Kämpfen von Frauen
durchaus auch als ein Erfordernis auffassen. In der bereits erwähnten Stammessage der Langobarden

schweben“; warum Tacitus nur gekannt haben soll, was Ausschmückung“ gesehen, welcher keinerlei Bezug zur
uns heute noch an Quellen überliefert ist, bleibt unklar; Wahrheit hatte, insbesondere soweit dieser die Anwesen-
Much verweist dessen Behauptung daher, da es sich bei heit von Frauen und Kindern betrifft. „Mitkämpfende
dem auf Poseidonius zurückgehenden Bericht Plutarchs germanische Frauen begegneten den Römern erstenmals
über Aquae Sextiae (s. folgende Anm.) lediglich „um ein auf den Zügen der Kimbern und Teutonen. Diese Er-
einzelnes Vorkommen“, das zudem die Entscheidung scheinung wandernder Stämme nahm die römische Ge-
nur hinausgeschoben, nicht gewendet habe, in den Be- schichtsschreibung, ohne ihren ursprünglichen Zusam-
reich des Literarischen, ohne Rücksicht „auf geschichtli- menhang zu verstehen (?), als Topos auf. Frauen in der
che Genauigkeit“. Kampfordnung galten daher als ‚allgemeinbarbarische‘
122 Plut. Marius 19,9; Oros. 5,16,17–21. Sitte. Sie waren bevorzugter Gegenstand moralischer und
123 Flor. epit. 1,38,16: lanceis contisque pugnarent. psychologischer Erörterungen“; diese Ausführung faßt
124 Caes. Gall. 1,51,2f. trefflich die übliche Auslegung des Faktums der kämp-
125 Tac. hist. 4,18,2: hortamenta victoriae vel pulsis pudorem. fenden Frauen seitens moderner Historiker zusammen.
126 Cass. Dio 71,3,2: "   #« #« $  128 Tac. ann. 14,35,1: solitum quidem Britannis feminarum
λ   $  ³   %&. ductu bellare bzw. Agr. 16,1: neque enim sexum in imperiis
127 Vgl. dazu Bruder (1974) 135, 142, 184 und insbes. Herr- discernunt.
mann (1988) 292 mit Anm. 51; hier wird der Schlach- 129 Tac. hist. 3,69 bzw. 77 u. 2,63.
tenbericht von Castra Vetera als reine „rhetorische 130 Tac. ann. 14,30,1.

UND WAS SAGT THUSNELDA? 87


wird erzählt, daß die gens der Vandalen von der gens der Winniler Tribut forderte, woraufhin die Stam-
mesmutter Gambara und ihre beiden Söhne beschlossen, lieber zu kämpfen als zu zahlen. Weil sie, die
späteren Langobarden, aber ein so sehr kleiner Stamm waren, baten sie über Gambara die Göttin Freia
um Hilfe und Unterstützung in ihrem Kampf. Auf deren Rat hin banden sich die Frauen ihre langen
Haare als Bärte vor das Gesicht und traten zusammen mit ihren Männern vor Sonnenaufgang vor den
Gott Wotan, der ihnen den Sieg zusprach; dieser Ratschlag wird nicht erklärt, aber zweifelsohne war es
diese Vermehrung, ja Verdoppelung der Kämpfer, die den Gott veranlaßte, dem Stamm nicht schon auf-
grund seiner kümmerlichen Anzahl den Sieg zu verweigern.131 Man könnte darüber hinaus vermuten,
daß zu diesem Zeitpunkt nur noch Männern in Verbindung mit einem männlichen Gott kultische
Wirkmacht zugeschrieben wurde, was wiederum die Vertreibung der Haliurunnae bei den Goten erklä-
ren könnte. Anzunehmen ist ferner, daß es sich bei einer Vielzahl von Stämmen um Kleinstverbände
mit sehr wenigen Menschen gehandelt haben muß – wie also hätten solche Gemeinschaften, wenn es
um das Überleben als Gruppe ging, auf die Hälfte ihrer Mitglieder, also die Frauen verzichten können?
Je kleiner die Zahl der kämpfenden Männer war, um so notwendiger war das Eingreifen der Frauen. Im
übrigen begegnen in frühmittelalterlichen Quellen immer wieder Frauen, die kämpften,132 weshalb
man zusammenfassend feststellen kann: 1.) Frauen waren psychisch und physisch in der Lage zu
kämpfen, und es bestand auf Grund der geringen Größe der gentes auch die Notwendigkeit zu kämpfen;
2.) Waffen waren deshalb für Frauen kein unpassendes Geschenk; 3.) Frauen standen nicht nur wäh-
rend der Wanderschaft auf den Wagen hinter den Kriegern, sondern auch bei Kämpfen in ihrer Heimat;
vielleicht nahmen sie sogar manchmal an Kriegszügen teil; 4.) Frauen kämpften mit Waffen, Geschrei
und bestimmt auch mit Zauberkünsten.
Die Beziehungen der Stämme zueinander sowie die zu den Römern waren bereits formalisiert.
Man tauschte untereinander öffentlich Geschenke aus,133 ebenso Geiseln zur Absicherung der Verträge:
Wie oben schon erwähnt, wurden weibliche Geiseln bevorzugt. Boten bzw. Gesandte waren unverletz-
lich,134 und immerhin hören wir auch zweimal von weiblichen Gesandten. Als 102 v. Chr. die Römer die
Kimbern bei Vercellae in Oberitalien geschlagen hatten, kamen kimbrische Frauen als Abgesandte zu
Marius mit der Anfrage, ob man ihnen nicht Freiheit und Priestertum gewähren könne.135 Während die-
ses erste Beispiel noch aus der Not des Kriegsgeschehens erklärt werden kann, ist das zweite ein ein-

131 Origo gentis Langobardorum, c. 2: die Göttin Freia wird mit Waffengewalt einzudringen, aus Furcht vor jener
um Hilfe gebeten, die den Rat (consilium) gibt, ut sole Buße, die im alten Gesetzbuch (also Rotharis) darauf ge-
surgente Winniles et mulieres eorum crines solutae circa fa- setzt ist. „Sie hießen aber ihre Frauen sich zusammen-
ciem in similitudinem barbae et cum viris suis venirent. Auf rotten … und schickten sie gegen Leute von geringerer
Grund dieser Aktion wurden die Winniler von Wotan als Wehrhaftigkeit. Jene also ergriffen die Leute dieses Or-
Langbärte bezeichnet; bereits Paulus Diaconus in seiner tes, brachten ihnen Wunden bei und stifteten auch son-
Historia Langobardorum, c. 8 bezeichnete diese Ge- stiges Unheil mit Gewalt, grausamer als die Männer.
schichte als ridicula fabula (MGH SS rer. Lang. et Ital. Aus diesem Grunde wird im Gesetzbuch expressis verbis
saec. VI–IX, 52.11); s. oben S. 83. aufgenommen: Wenn hinfort Frauen sich vermessen, so
132 Der langobardische König Rothari aus der ersten Hälfte irgendetwas zu tun …“.
des 7. Jahrhunderts fand es, wie die modernen Forscher, 133 Tac. Germ. 15.
völlig absurd, daß Frauen kämpfen könnten, weshalb er 134 Tac. Germ. 5; zu weiteren Boten hist. 4,15,1; 17,1; 19,1;
nur Strafen für männliche Räuberbanden verfügte (sog. 20,1; 21,2.
Edictus Rothari, c. 278): Eine Frau könne nicht mit Ge- 135 Flor. epit. 1,38,17; Oros. 5,16,13 interpretiert die Anfrage
walt in einen Hof einbrechen (absurdum videtur esse, ut so: ob Marius „sie in unverletzter Keuschheit dazu be-
mulier libera, aut ancilla, quasi vir cum armis vim facere stimmen würde, den heiligen Jungfrauen und den Göt-
possit, MGH LL Bd. 2, 67.14–16); dies hatte mißliche Fol- tern zu dienen“, also den Vestalinnen; hatten die Frauen
gen, lesen wir doch in dem Gesetzbuch seines Nachfol- Kenntnis über im Kultus tätige Staatssklaven und hofften
gers Liutprand ungef ähr einhundert Jahre später (MGH sie als solche aufgenommen zu werden? Zu den Staats-
LL Bd. 4, 170.10–171.10): Einige bösartige Kerle hatten es sklaven im Kultus allgemein siehe Eder (1980) 37–56.
zwar selber nicht gewagt, in ein fremdes Dorf oder Haus

88 DAGMAR BEATE BALTRUSCH


deutiger Beweis: Es ist die Gesandtschaft der bereits erwähnten Ganna, die 92 n. Chr. gemeinsam mit
dem König der Semnonen, Masyos, Kaiser Domitian in Rom besuchte und von diesem hoch geehrt
wurde. Ganna wird als parthenos, als Jungfrau bezeichnet, die nach Veleda in Germanien prophezeite,
d.h. Seherin war.136 Ob nun Ganna eine Semnonin war oder nicht, ist in unserem Zusammenhang un-
erheblich;137 hervorzuheben ist jedoch, daß Cassius Dio die „weissagende Jungfrau“ in einem Atemzug
völlig gleichberechtigt neben dem König nennt, was die Bedeutsamkeit und hervorgehobene Position
der Ganna eindrucksvoll offenbart.138
Verträge, pacta, wurden von den Germanen nicht nur mit den Römern, sondern auch untereinan-
der abgeschlossen. Im Fall der Treverer, die mit Civilis im Bataveraufstand verbündet waren, hören wir,
daß deren Anführer Julius Tutor in geheimer Unterredung die Stimmung speziell der Ubier, also eines
von den Römern in Köln angesiedelten Stammes, erforschen wollte, um sie auf die Seite der Aufstän-
dischen zu bringen. Mit ins Vertrauen gezogenen, geeigneten Leuten traf er sich in einem Kölner Pri-
vathaus: „in ihrer Mehrheit wollte nämlich die dortige Bürgerschaft nichts von einem solchen Beginnen
wissen.“139 Nach dem Scheitern dieser ersten Verhandlungen140 wurden den Kölnern aber sowohl der
Anschluß an Civilis Partei als auch Zugeständnisse an die rechtsrheinischen Germanen abgerungen.
Diesen gestanden die Ubier den freien Zugang zu ihrer Stadt Köln sowie freien Handelsverkehr zu.141
Zu diesen Zwecken wurden pacta geschlossen, aber nicht direkt zwischen den die Unterhandlungen
führenden Tenkterern und Ubiern, sondern die Kölner forderten als Schiedsrichter Civilis und Veleda
(arbitrum habebimus Civilem et Veledam, apud quos pacta sancientur).142 Sie schickten also Gesandte mit
Geschenken zu beiden und konnten bei diesen alle ihre Vorstellungen und Wünsche durchsetzen
(cuncta ex voluntate Agrippinensium perpetravere).143 Wir sehen daraus, erstens: Veleda hatte die Macht,
auf bereits verhandelte Verträge Einfluß zu nehmen, da sie als Schiedsrichterin angerufen wurde und
da die Kölner erreichen konnten, was sie gewollt hatten. Dies impliziert, daß Veleda Vertragsinhalte
annehmen oder auch verwerfen konnte – weitreichendste politische Machtbefugnis, in der Tat. Was be-
deutet, zweitens, pacta sancientur? Die Verträge wurden durch religiöse Weihe unverletzlich und unver-
brüchlich festgesetzt, ein ganz unglaublicher Vorgang und Beweis nicht nur für die religiöse Autorität
der Veleda; denn man kann nur dann eine Sache unverletzlich machen, wenn man auch Maßnahmen
gegen Störungen des Vertragsfriedens ergreifen kann. Die Tatsache, daß die Ubier zu Civilis Gesandte
schickten bezüglich der abzuschließenden Verträge, ist nicht verwunderlich: Er war der Kopf des Auf-
standes, er konnte militärisch, mit dem Schwert in der Hand, die Einhaltung der Abmachungen garan-
tieren. Was aber konnte Veleda, die in einem Turm saß, den Blicken der Sterblichen entrückt, tun?
Konnte sie bei Vertragsbruch eingreifen, vermitteln und vielleicht auch Strafen verhängen? Von den
Brukterern, zu deren Stamm sie gehörte, ist nicht bekannt, daß sie eine besonders herausgehobene
Rolle in Civilis’ Aufstandsbewegung gespielt hätten; Veledas Rolle findet ihre Erklärung also nicht in
der politischen Rolle ihres Stammes, sondern ist allein in ihrer Person und Funktion zu suchen. Veleda,
sagt Tacitus, late imperitabat.144 Wann immer Tacitus den Begriff imperitare verwendet, bezeichnet er

136 Cass. Dio 67,5,3: M« ²  '   (« λ 139 Tac. hist. 4,55.
*  –  « !  κ O, " 9 - K 9
- 140 Tac. hist. 4,63,1.
  – ! μ« μ .   ' , λ  -« ’ 141 Tac. hist. 4,64f.
, /' « $ & . 142 Tac. hist. 4,65,3.
137 So Volkmann (1975) 238; dagegen S. Tausend (2009) 143 Tac. hist. 4,65,4.
166f. 144 Tac. hist. 4,61,2.
138 Es ist nicht belegbar, ob Waluburg ebenfalls eine Ge-
sandtschaft begleitete, wie S. Tausend (2009) glaubt
(s. oben S. 85 mit Anm. 114).

UND WAS SAGT THUSNELDA? 89


damit wirkliche Herrschaft.145 Da seine Beispiele bei den Germanen nicht häufig sind, kann man davon
ausgehen, daß der Begriff imperitare bei Veleda bewußt gewählt wurde und deshalb auch großes
Gewicht hat. Die Seherin herrschte, und zwar late, also über den Stamm hinaus, sie vermittelte bei
Vertragsabschluß und garantierte diesen, wenn man auch nicht weiß, auf welche Weise. Das aber be-
deutet in der Summe nicht nur religiöse Autorität, sondern – auf dieser aufbauend – auch politische
Macht.
Auch die Römer mußten die Autorität und Macht Veledas anerkennen und wußten um ihren
Einfluß auf die aufständischen Germanen. Wie sonst wäre es zu erklären, daß der römische Feldherr
Cerialis, um den Bataveraufstand endgültig zu beenden, in getrennten (geheimen) Botschaften den
Batavern Frieden und dem Civilis Verzeihung anbot, Veleda und ihre Verwandten (propinqui) aber
mahnte, „dem Kriegsglück durch ein Verdienst um das römische Volk eine Wendung zu geben“.146
Die Botschaft an Veleda wird als einzige der drei Nachrichten ausführlich dargelegt: Sie wird aufge-
fordert, Civilis keinen Unterschlupf zu gewähren – denen, die den Heimatlosen aufnähmen, sei er
eine Last.147 Die von Tacitus genannte amicitia zwischen Civilis und Veleda verpflichtete also die bei-
den Protagonisten des Aufstandes zu wechselseitiger Hilfe; war demnach die amicitia ein förmlicher
Vertrag? Wurden also vor Veleda nicht nur Verträge verhandelt, sondern schloß sie auch selbst wel-
che? Die Römer warfen Veleda ferner vor, daß die Germanen so häufig den Rhein überschritten hät-
ten,148 was eindeutig beweist, daß sie Veleda Befehlsgewalt über die rechtsrheinischen Germanen zu-
schrieben. Veleda hatte also ganz unzweifelhaft, wie die (männlichen) Könige, politische Macht über
mehrere Germanenstämme. Dies offenbart sich auch darin, daß sie, wie andere führenden Köpfe des
Aufstandes auch, Anspruch auf Beute hatte: Neben unbekannten Gaben wurde ihr einmal ein römi-
scher Legionslegat namens Munius Lupercus als Geschenk zugeschickt, der jedoch leider unterwegs
ermordet wurde;149 von wem er umgebracht wurde, wird nicht überliefert; man kann aber durchaus
vermuten, daß die Mörder unter denen waren, die ihn Veleda überbringen sollten. Das aber läßt auf
Ablehnung der Veleda und auf Opposition gegen ihre Macht schließen. Nach dem Sieg des Civilis
über die römische Flotte erhielt Veleda das Befehlshaberschiff, einen Dreiruderer, gewiß ohne die
170 Mann Besatzung; das gewaltige Schiff mußte die Lippe hinaufgezogen werden.150 Die Tatsache,
daß Veleda das Befehlshaberschiff bekam und nicht nur irgendeines aus der erbeuteten Flotte, un-
terstreicht zwar ihre herausragende Autorität in diesem Konflikt, doch waren ihre Macht und Auto-
rität trotzdem nicht unumstritten, wie die Ermordung von Lupercus bereits vermuten läßt: Denn die
Bataver wollten lieber keine germanische Frau über sich ertragen, wenn die Wahl stand zwischen
römischen principes und germanischen Frauen als domini.151 Das behauptet jedenfalls Tacitus. Fürch-
teten die Bataver also die Herrschaft der Veleda genauso wie die des Civilis und die Cherusker die
Herrschaft des Arminius? Wurde die Seherin politisch zu mächtig? Wie es Veleda am Ende erging, ist
durch den Verlust der relevanten Partien von Tacitus’ Historien nicht mehr genauer aufzuklären, aber
da sie in einem Gedicht von Statius als Gefangene der Römer erwähnt wird: „Ich habe keine Zeit, von
den Schlachten im Norden, dem Aufstand am Rhein und den Bitten der gefangenen Veleda Kunde zu

145 Dazu z.B. Tac. ann. 12,54. 148 Tac. hist. 5,24,2: et satis peccavisse, quod totiens Rhenum
146 Tac. hist. 5,24,1f. transcenderint.
147 Tac. hist. 5,24,1f.: caesos Treviros, receptos Ubios, ereptam 149 Tac. hist. 4,61,1f.: sed Lupercus in itinere interfectus.
Batavis patriam; neque aliud Civilis amicitia partum quam 150 Tac. hist. 5,22,3: multa luce revecti hostes captivis navibus,
vulnera fugas luctus.exulem eum et extorrem recpientibus praetoriam triremem flumine Lupia donum Veledae traxere;
oneri. zu Trieren siehe Bockius (2007) 58–59.
151 Tac. hist. 25,2; wie oben S. 81.

90 DAGMAR BEATE BALTRUSCH


geben“,152 muß sie sich wohl gegen das römische Angebot gewandt und keine Verdienste für die Rö-
mer erbracht haben.153 Augenscheinlich aber waren ihre politische Autorität und ihre Macht so groß,
daß die Römer sie unmöglich in ihrer Heimat belassen konnten und sie ins Exil bringen mußten, wie
jeden anderen männlichen Germanenführer, der zum Ausgangspunkt neuer Aufstandsbewegungen
gegen die römische Herrschaft hätte werden können. Zur Zeit des Domitian wurde dann von dem
Statthalter Spurinna den Brukterern ein König mit Waffengewalt aufgedrückt – möglicherweise der
Ersatz für die aus der Herrschaft entfernte Veleda.154

Ich fasse zusammen:


1.) Die Bilateralität der Sippen bildete die gesellschaftliche Voraussetzung für die Stellung der
Frauen in den germanischen gentes; sie machte die Unterdrückung der weiblichen Mitglieder der Fami-
lien unmöglich und stellte sie, ganz im Gegenteil, gleichberechtigt als sociae an die Seite der Männer.
2.) Frauen waren Teil des Gemeinwesens, was sich an der Übergabe der Waffen an Frauen, an ih-
rer Beteiligung an Kampfhandlungen, an der Vorhersage geeigneter Zeitpunkte für Schlachten und an
der offiziellen Vertretung des Stammes als Gesandte und als Geiseln zeigt. Natürlich, das muß nicht
eigens betont werden, waren Frauen dadurch, daß sie Kinder bekamen (und bekommen), stets auch
stärker an das Haus gebunden als die Männer und deshalb – im gebärf ähigen Alter – immer weniger
sichtbar im Öffentlichen als diese. Diese Tatsache allein beschränkt aber weder die Macht noch die Au-
torität von Frauen.
3.) Politische Macht und Autorität konnten Frauen durch die Religion gewinnen – die Seherinnen,
vielleicht Jungfrauen, verfügten über Macht vergleichbar mit der der männlichen Mächtigen, ihre Au-
torität und die Verehrung, die ihnen entgegengebracht wurde, ging sogar weit über die der Männer hin-
aus. Es scheint, als ob im Verlauf der Völkerwanderungszeit, durch die ständigen kriegerischen Ausein-
andersetzungen, vielleicht auch durch die Einflüsse der römischen Gesellschaft, die Frauen mittels
ihrer seherischen Gaben keine gesellschaftliche Bedeutung mehr erlangen konnten. Erst in der Zeit der
christlichen Missionierung begannen die Frauen sich nun mittels einer neuen Religion ihre politische
Machtposition zurückzuerobern.
4.) Thusnelda, um schließlich zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren, hatte zwar eine poli-
tische Meinung, bekam gleichwohl keine Macht neben Arminius – und das nicht nur, weil sie zu früh
an die Römer ausgeliefert wurde. Von keiner Ehefrau germanischer Könige oder duces dieser Zeit wird –
anders als von den Briten – berichtet, daß ihr Macht und Autorität durch Erbe oder Ehe verliehen wor-
den wäre; Erwerb, Erhalt und Erweiterung von Macht und Autorität ist für die germanischen Frauen
dieser Zeit nur über die Sakralsphäre möglich gewesen.

152 Stat. silv. 1,4,89–90: non vacat Arctoas acies Rhenumque dienste verrichtet hat oder aber als Wahrsagerin tätig
rebellem / captivaeque preces Veledae et …; Walser (1955) war; vielleicht war Veleda eine im Kultus tätige römische
620–621 weist auf ein 1926 in Ardea, südlich von Rom Staatssklavin; zu den römischen Staatssklaven Eder
gefundenes und wieder verloren gegangenes Marmor- (1980).
bruchstück vom Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. hin, 153 Eher eine Asylgewährung denn eine Gefangennahme
das den Namen Veleda, „die hochgewachsene Jung- hält S. Tausend (2009) 164 im Anschluß an Walser
frau“, enthält, mit dem sicher zu lesenden Zusatz: „die (1955) für wahrscheinlich, da Veleda prorömisch agiert
die Rheinwassertrinker verehren“; unterschiedliche Er- habe; das aber kann keineswegs belegt werden.
gänzungen besagen, daß sie entweder im Tempel Putz- 154 Plin. epist. 2,7,2.

UND WAS SAGT THUSNELDA? 91


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UND WAS SAGT THUSNELDA? 93


94 DAGMAR BEATE BALTRUSCH
Christian Wendt

Die Oikumene unter Roms Befehl


Die Weltherrschaft als Antrieb der römischen Germanienpolitik?

Der Reiz des Gebiets Germanien erschloß sich dem Römer der Zeitenwende sicherlich nicht auf An-
hieb: Reichlich vage Ideen von undurchdringlichen düsteren Wäldern voller Fabelwesen und gewaltiger
Bestien, von ausgedehnten Sumpfgebieten und unwirtlichen klimatischen Verhältnissen werden nicht
dazu beigetragen haben, Begehrlichkeiten nach der Inbesitznahme eines Flecken Landes in diesen
nördlichen Gefilden zu wecken. Ebenso wenig wird das Verlangen groß gewesen sein, den gefürchte-
ten, kaum berechenbaren Völkern des Nordens im Kampf gegenüberzustehen, nachdem eine direkte
Gefahr für Rom seit den Siegen des Marius bei Aquae Sextiae und Vercellae (102/101 v. Chr.) gebannt
schien.
Dennoch unternahm Rom massive Anstrengungen, um nach anf änglichen begrenzten Vorstößen
das rechtsrheinische Gebiet zumindest bis zur Elbe in Besitz zu nehmen. Die Rheinübergänge Caesars
Mitte der 50er Jahre des 1. Jahrhunderts v. Chr. zeugten bereits von der Ambition des Feldherrn, sich
nicht zwangsläufig mit der Eroberung des von ihm selbst als ,Gallien‘ gekennzeichneten linksrheini-
schen Territoriums bescheiden zu wollen und natürliche Grenzen wie etwa den Rhein oder den Ärmel-
kanal keinesfalls als gegebene Begrenzungen des römischen Herrschaftsanspruchs zu akzeptieren. Wie
sehr derartige Aktionen auch bloßes Symbol blieben, sie wiesen den Weg für all jene, die die Leistungen
des späteren Divus Iulius zu übertreffen suchten bzw. sich auf dessen Spuren bewähren mußten.
Wie erklärt sich dieses Expansionsinteresse, und weshalb richtete es sich ausgerechnet auf Germa-
nien? Diesen Fragen sollen die folgenden Ausführungen nachgehen.

1. Rom und die bewohnte Welt

Im Jahr 9 n. Chr. dürfte es nur wenige Römer gegeben haben, die an der Weltreichsqualität des Impe-
rium Romanum ernstliche Zweifel hegten, dies ganz im Sinne Vergils, der im ersten Buch seines grün-
dungsmythischen Epos Aeneis die folgende Standortbestimmung durch Iuppiter selbst vornehmen
läßt:

His ego nec metas rerum nec temporum pono: imperium sine fine dedi (Verg. Aen. 1,278f.)

„Ich setze diesen keine Grenzen, weder nach Orten noch nach Zeiten:
Befehlsgewalt ohne Ende habe ich gegeben“

Daß Rom die stärkste Macht der Welt war, sein mußte, drängte sich angesichts der gewaltigen Erfolge
bereits der klassischen römischen Republik auf, die sich nach den Punischen Kriegen und den Kämp-
fen im griechischen Osten als Vormacht im Mittelmeerraum etabliert hatte. Doch war mit der Vorstel-
lung der Überlegenheit auch die Idee verbunden, dem römischen Volk sei der gesamte Weltkreis (orbis
terrarum) unterworfen, wie es im Praescript des augusteischen Tatenberichts – vermutlich postum – for-
muliert ist?

DIE OIKUMENE UNTER ROMS BEFEHL 95


Rerum gestarum divi Augusti quibus orbem terrarum imperio populi Romani subiecit (R. Gest.
div. Aug., pr.)

„Von den Taten des göttlichen Augustus, durch die er den Erdkreis dem Befehl des römischen
Volkes unterwarf“

Wohl ist davon auszugehen, daß die Vorstellung, Rom sei die Herrin der Welt, längst vor der Herrschaft
des iulischen Hauses in Stadt und Reich präsent war. Zu den frühesten Zeugnissen derartigen Gedan-
kenguts zählt das Geschichtswerk des Polybios, der als Geisel nach dem 3. Makedonischen Krieg im
Jahr 167 v. Chr. nach Rom deportiert wurde und dort mit den führenden Persönlichkeiten in Kontakt
stand. Zweck seiner nach dem Abschluß des 3. Punischen Krieges, also nach 146 v. Chr., endenden Aus-
führungen sollte es sein, zu erklären, wie Rom

„in weniger als dreiundfünfzig Jahren annähernd die gesamte bewohnte Welt unter seine
Herrschaft bringen konnte, ein Vorgang, der zuvor noch nie zu beobachten war.“ (Pol. 1,1,5)

Auch wenn Polybios seinen wiederholten Diagnosen der römischen Herrschaft meist die Relativierung
hinzufügt, Rom herrsche über ‚annähernd‘ die gesamte bewohnte Welt,1 und so die Existenz unabhän-
giger, nicht direkt unterworfener Staaten konzediert, besteht doch kein Zweifel, daß er Rom als Welt-
reich verstand, als das größte der Geschichte gar, das von der Vorsehung (Tyche) zur Herrschaft berufen
und seiner ausgezeichneten Verfassung wegen zur langen Ausübung seiner Vormachtstellung präde-
stiniert sei, ja, auch künftig keine Rivalen zu fürchten brauche.2 Polybios argumentiert dabei in Katego-
rien, die zunächst an schon in früheren Zeiten formulierte Vorstellungen der Abfolge von Weltreichen
erinnern. Sicherlich nimmt er allerdings auch Strömungen auf, die spätestens nach der endgültigen
Vernichtung Karthagos im Jahr 146 v. Chr. in Rom kursierten – auch wenn die von Valerius Maximus
überlieferte Formel des zensorischen Gebets des jüngeren Scipio Africanus, in dem er die Macht und
Ausdehnung Roms als ausreichend bezeichnet und die Götter lediglich um die Erhaltung des status quo
bittet, eher Mäßigung und Bescheidenheit vermittelt.3
Bereits im Umfeld des Jahres 168 v. Chr. scheint der sogenannte Hymnos der Melinno entstanden zu
sein, der die Größe und Übermacht der römischen Sieger über Griechenland besingt.4 Die römische
Überlegenheit wurde demnach bereits früh von einigen auswärtigen Betrachtern durchaus als Welt-
herrschaft wahrgenommen.
Jedoch taucht der Topos eines weltbeherrschenden Rom erst in späterem Kontext wieder auf und
wird Plutarch zufolge im Jahr 133 v. Chr. von einem Römer selbst (vom Volkstribun Tiberius Gracchus)
thematisiert. Über die römische Bevölkerung heißt es da:

 «   « ρ    ,  ξ     « (Plut. Tiberius
Gracchus 9)

„Obwohl sie Herren der Welt genannt werden, haben sie doch nicht eine Scholle Landes zu
eigen.“

Die Forschung geht heute davon aus, daß es sich dabei um eine anachronistische Konjektur handelt,5
angesichts des zeitlichen Abstands des Autors zum Geschehen (Plutarch schrieb über 200 Jahre nach

1 Z.B. Pol. 1,1,5: μ   κ    . 4 Stob. 3,7,12; s. auch Bengtson (1964) 153f.; Lieberg
2 Pol. 1,2,7. (1975) 72; Bowra (1957).
3 Val. Max. 4,10. 5 Z.B. Welwei (2004) 122 Anm. 13.

96 CHRISTIAN WENDT
dem berichteten Ereignis), des Fehlens von Parallelbelegen – Appian läßt Tiberius wesentlich vor-
sichtiger von Hoffnungen auf den Besitz der bewohnten Welt sprechen6 – sowie der stilistischen
Zuspitzung des Paradoxons. Dieser Kritik ist sicher im Grundsatz zu folgen, auch wenn damit nicht
auszuschließen sein kann, daß eine derartige rhetorische Figur durchaus in der Polemik einer Volks-
versammlung vorstellbar gewesen wäre. Ähnlich problematisch verhält es sich mit anderen Belegstel-
len für die frühe Auseinandersetzung mit Weltherrschaft, etwa der Überlieferung bei Livius, nach dem
Tode des Romulus sei ein gewisser Proculus Iulius vor das Volk getreten und habe eine im Traum emp-
fangene Botschaft des Romulus verkündet, in der Roms Bestimmung, caput orbis terrarum, also „Haupt
des Erdkreises“ zu sein, ausgesprochen wird.7 Cicero zitiert in seinem Spätwerk De divinatione den von
Accius in Verse gesetzten Traum des letzten Königs Roms, Tarquinius Superbus, in dem eine ähnliche
Idee formuliert wird.8 Während Livius’ Bericht sicher als Legendenbildung anzusehen ist, ist Ciceros
Passage möglicherweise zu entnehmen, daß im Jahr 136 v. Chr., als das Stück Brutus des Accius aufge-
führt wurde, die römische Vormachtstellung öffentlich als gottgewollt bezeichnet worden war. Vor dem
Hintergrund, daß im parallelen zeitlichen Umfeld auch das Geschichtswerk des Polybios entstand, ist
ein derartiger Hinweis nicht allzu verwunderlich.
Die erste zeitgenössische Erwähnung der errungenen Weltherrschaft durch einen Römer findet
sich im rhetorischen Lehrwerk des anonym gebliebenen Auctor ad Herennium, um das Jahr 85 v. Chr.
zu datieren. Dort heißt es:

Imperium orbis terrae, cui imperio omnes gentes, reges, nationes


partim vi, partim voluntate consenserunt (Rhet. Her. 4,9,13)

„die Herrschaft über den Erdkreis, mit der alle Völker, Könige und Stämme
einverstanden waren, teils freiwillig, teils nach Anwendung von Gewalt“

Hier ist bereits der vom Oceanus umflossene und begrenzte orbis terrarum der Parameter, an dem sich
der Umfang von Herrschaft ermessen läßt.
Nicht unerheblich ist, daß diese Zeilen zu einer Zeit entstanden sein dürften, als sich auch das offi-
zielle Bild des Verhältnisses Roms zu anderen, auch nicht besiegten Völkern hin zu einer deutlichen
Betonung der Suprematie Roms wandelte. Zeugnis ist hier etwa das Verhalten Sullas einem Gesandten
des parthischen Großkönigs gegenüber, der Plutarch zufolge neben einem mittig thronenden Sulla ge-
meinsam mit dem Abgesandten des Königreichs Pontos an die Seite gedrängt Platz nehmen mußte, als
er zwecks der Aufnahme diplomatischer Beziehungen in Verhandlungen mit dem römischen Statthal-
ter der Provinz Kilikien, eben Sulla, treten sollte9 – im übrigen das erste offizielle Zusammentreffen bei-
der Großmächte im Jahre 92 v. Chr. Der parthische Herrscher Mithridates II. war wenig erbaut über die-
ses deutliche Zeichen der Herabsetzung und ließ seinen Abgesandten Orobazos, der es gestattet hatte,
daß die Würde des Arsakidenhauses derart geschmälert wurde, konsequenterweise hinrichten. In Rom
allerdings sollen durchaus Stimmen vernehmbar gewesen sein, die die Deutlichkeit lobten, mit der
man den ,Barbaren‘ gegenüber aufgetreten war.10
Cicero führte die Vorstellungen eines übermächtigen Rom auf einen neuen Höhepunkt. Zu diver-
sen Gelegenheiten formulierte er explizit die in Rom fraglos populären Thesen, Rom sei berufen, die

6 App. civ. 1,11,45: Ρ !"« « # !  )  18 Cic. div. 1,45: pulcherrime auguratum est rem Romanam
  « λ κ !κ «   « % # publicam summam fore.
#!  «    " # ) !λ 4!& ' . 19 Plut. Sulla 5.
7 Liv. 1,16,7. 10 Plut. Sulla 5 berichtet allerdings von geteilten Meinungen.

DIE OIKUMENE UNTER ROMS BEFEHL 97


Welt zu beherrschen und habe dieses Ziel bereits erreicht. Erst in späten theoretischen Schriften chan-
giert die Perspektive, und es zeigt sich, daß der vormals die Glorie römischer Allherrschaft beschwö-
rende Politiker nunmehr der Ausgestaltung der römischen Macht kritischer gegenübersteht. Zunächst
soll jedoch der politische Kontext der affirmativen ciceronischen Äußerungen, also der 60er und 50er
Jahre des 1. vorchristlichen Jahrhunderts beleuchtet werden.
Ein erheblicher, ja womöglich der entscheidende Schritt in der Entwicklung des römischen Selbst-
verständnisses erfolgte mit dem Aufstieg des Gnaeus Pompeius. Zunächst noch Anführer einer priva-
ten Miliz, machte dieser als Gefolgsmann des Dictators Sulla rasch Karriere und vermochte aufgrund
früher militärischer Erfolge einen dem Dictator nahezu gleichwertigen Rang in der Hierarchie des rö-
mischen Gemeinwesens einzunehmen – dies, ohne jemals die Ämterlaufbahn anzutreten, die her-
kömmlich den Aufstieg ambitionierter Männer bedingte. Auch nach dem Rückzug Sullas aus der Poli-
tik und dessen Tod blieb Pompeius eine feste Größe in Rom und konnte weitere militärische Erfolge
verbuchen, die ihm schließlich ein in Ressourcen und Ausdehnung kaum mehr begrenztes Kom-
mando gegen die Rom bedrohenden Seeräuber und anschließend den östlichen Erzfeind Mithrida-
tes VI. von Pontos eintrugen. Die Resultate waren erneut beeindruckend, und der heimkehrende
Feldherr verbrachte viele Monate damit, seinen Triumphzug so vorzubereiten, daß er nicht allein ein
glanzvolles Spektakel werden, sondern alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen sollte. Der
schließlich im September 61 v. Chr. stattfindende Triumph erstreckte sich über zwei Tage, und dennoch
konnte nur ein Bruchteil der Beutestücke gezeigt werden.11 Schon früher hatte Pompeius stets versucht,
als eine Art Reinkarnation Alexanders des Großen zu erscheinen – so ließ er sich Pompeius Magnus
nennen, trat als Städtegründer in Erscheinung, ließ seine Feldzugsberichte mit Topoi versehen, die sie
dem Alexanderzug gleichen ließen –, nun zeigte er sich in einer Chlamys (Feldherrnmantel), die vor-
geblich die des legendären makedonischen Welteroberers gewesen war.12 Der Triumph wurde zudem
nicht allein als sogenannter triumphus triplex über drei verschiedene Erdteile begangen und war so be-
reits etwas Einmaliges;13 Cassius Dio berichtet auch von einer besonderen Trophäe, die als Höhepunkt
des Zuges zuletzt aufgeführt wurde und die Aufschrift trug:

Ρ «   « (Cass. Dio 37,21,2)

„über die bewohnte Welt“

Damit war die Weltherrschaft ein offiziell benanntes und gewissermaßen staatlich reklamiertes Fak-
tum.
Wie groß die Strahlkraft dieser Erfolge gewesen sein muß, zeigen die Anstrengungen der beiden
stärksten Konkurrenten des Pompeius, die sich noch im Jahr 60 im sogenannten 1. Triumvirat mit ihm
verbunden hatten. Gaius Iulius Caesar mühte sich ebenso um militärisch erworbenen Erobererglanz
wie Marcus Licinius Crassus, beide mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Während Caesar mit seiner blu-
tigen Unterwerfung Galliens die Basis schuf, in puncto Prestige und Geldmitteln zu Pompeius aufzu-
schließen, ging das Heer des Crassus bei dessen so ambitionierten wie mangelhaft vorbereiteten Pro-
jekten in Parthien unter, im Jahr 53 v. Chr. bei Carrhae. Der Anspruch beider aber, in militärischer
Hinsicht nicht hinter Pompeius zurückzustehen, war offensichtlich.14

11 Plin. nat. 7,98; App. Mithr. 116,568; Plut. Pompeius 45; 13 Plut. Pompeius 45.
Vell. 2,40,3; Cass. Dio 37,21. 14 Baltrusch (2011) 61 u. 85.
12 App. Mithr. 117,577; Nachweise etwa bei Weippert (1972)
65ff.

98 CHRISTIAN WENDT
Die Erhöhung Caesars nach seinen Siegen im Bürgerkrieg gegen Pompeius erreichte ein bis dato
ungekanntes Ausmaß. In unserem Kontext besonders auff ällig ist die beschlossene Ehrung, auf dem
Capitol eine Bronzestatue des Dictators zu errichten, die auf einer Weltkugel stehen sollte; zudem sollte
im Tempel des Quirinus Caesars Statue mit der Widmung deo invicto – „dem unbesiegten Gott“ – auf-
gestellt werden. Christian Meier bewertet diese Beschlüsse gewohnt prägnant: „Die Ehren dokumen-
tierten mindestens in der Darstellung Caesars als Weltherrscher, daß seine Dignitas ins Unermeßliche
gestiegen war.“15
Vor dem Hintergrund der Bürgerkriege, der Lähmung des republikanischen Staates und der sich
immer stärker herauskristallisierenden Alleinherrschaft sind denn auch die kritischen Würdigungen
zu verstehen, die Sallust und der späte Cicero der römischen Weltherrschaft widmeten. Für Sallust ist
die Weltherrschaft gleichbedeutend mit dem Wegfall einer echten äußeren Bedrohung, und er setzt
diese Epochengrenze ins Jahr 146 v. Chr. Mit dem Verschwinden Karthagos und des damit inexistent ge-
wordenen metus hostilis, der Furcht vor dem Feind, setzt Sallust zufolge die Desintegration der Nobilität
ein, die sich dem Sittenverfall, der Selbstsucht und dem Parteienhader ergibt.16 Nicht der Erwerb der
Weltherrschaft, sondern der verantwortungslose Umgang mit dem erreichten Zustand ist Stoßrichtung
der Kritik.17 Ähnlich argumentiert Cicero, wenn er in seinem Werk De officiis Mitte der 40er Jahre fest-
stellt, die Römer herrschten iniuste, also ungerecht, und seien vom ehemals gültigen Modell eines pa-
trocinium orbis terrae, also einer Schutzmacht des Erdkreises, abgekommen.18
Wieviele Adressaten allerdings diesen systemkritischen und dekadenztheoretischen Ansätzen fol-
gen wollten, wissen wir nicht – die offizielle Terminologie blieb weiterhin dem Gedanken an die Beherr-
schung des orbis terrarum verhaftet. Der hier vertretenen Interpretation zufolge ist die Koinzidenz zwi-
schen immer eindeutigerer Forderung respektive Betonung der Weltherrschaft und dem Aufstieg
derjenigen, die nach einer die republikanischen Maßstäbe sprengenden Machtposition strebten, kein
Zufall. Die positiv besetzten, noch den Furor des eigenen Aufstiegs atmenden Passagen bei Cicero be-
ziehen sich häufig auf Leistungen eben der herausragenden Einzelpersönlichkeiten, die für Rom den
orbis terrarum gewonnen hatten. Teils ist es Absicht des Autors, sich selbst diesen an die Seite zu stel-
len,19 teils, deren Leistungen zu glorifizieren – die Weltherrschaft wurde also als Errungenschaft Ein-
zelner gefeiert;20 die Legitimation der einmaligen (wenn auch nicht unangefochtenen) Stellung, die
diese Politiker innehatten, beruhte nicht zuletzt auf der Garantenfunktion, die etwa von Pompeius aus-
zugehen schien. Das folgende Zitat aus der im Jahr 66 v. Chr. gehaltenen Rede Ciceros über den Ober-
befehl des Pompeius unterstreicht diese Vorstellung anschaulich:

Effecit ut aliquando vere videremur omnibus gentibus ac nationibus terra marique imperare
(Cic. Manil. 56)

„Er [Pompeius] hat bewirkt, daß wir endlich wahrhaftig über alle Völker und Stämme zu herr-
schen scheinen, auf dem Festland wie auf dem Meer.“

Es scheint, als sei in diesem Bezug die Annäherung an Alexander den Großen ein erfolgreiches und
politisch verwirklichtes Prinzip geworden: Die Herrschaft des römischen Volkes über die ganze be-

15 Meier (1982) 512. 17 Krumbein (1985) 101.


16 Sall. Iug. 41 und hist. frg. 1,11ff. M; s. auch Heldmann 18 Cic. off. 2,27; 2,29: iniuste imperanti.
(1993) 110ff.; zu weiteren Tendenzen der Historio- 19 Cic. Catil. 3,26.
graphie, sowohl im Hinblick auf Epochengrenzen als 20 Cic. Balb. 64; Sest. 67; Mur. 22 noch allgemeiner: rei mi-
auch die Ursachen des sittlichen Verfalls s. Bringmann litaris virtus … haec orbem terrarum parere huic imperio
(1977). coegit.

DIE OIKUMENE UNTER ROMS BEFEHL 99


Abb. 1 | Vermutlich ist hier eine für Octavian errichtete Statue abgebildet, die – ähnlich wie die vergoldete Reiterstatue auf dem
Forum Romanum –21 auf einer Münzserie festgehalten wurde. Sie dürfte nach dem Sieg des Octavian gegen Sextus Pompeius bei
Naulochos im Jahr 36 v. Chr. errichtet worden sein. Augenf ällig ist die Parallele zu der oben erwähnten Statue Caesars,22 die in glei-
cher Pose die Siege über den Erdkreis thematisiert hatte und den Sieger in übermenschliche Sphären erhob.

wohnte Erde wurde von Einzelnen errungen, vollendet und auch verkörpert, die Weltherrschaftsideolo-
gie entwickelte sich parallel mit der fortschreitenden Personalisierung römischer Politik.23
So erklärt sich auch, weshalb diese Traditionslinie bis in den Prinzipat fortgesetzt wurde. Gaius
Octavius – der spätere Augustus – hatte bereits vor der Schlacht von Actium 31 v. Chr., die Octavius über
seinen Konkurrenten Antonius und dessen Verbündete, angeführt von der ägyptischen Königin Kleo-
patra VII., siegen ließ, Münzen prägen lassen, die seine Sieghaftigkeit ebenso betonten wie seinen An-
spruch auf die Weltherrschaft.
Das Bauprogramm, das der Sieger in Rom selbst ins Werk setzen ließ, zeugt noch eindeutiger von
der Intention, sich in die Nachfolge derer zu stellen, die Roms Weltherrschaft begründet hatten, sowie
deren Stilisierung zu übernehmen. Das im Jahr 2 v. Chr. geweihte forum Augustum mit dem bereits im
Umfeld der Schlacht von Philippi im Jahr 42 v. Chr. gelobten Tempel für Mars Ultor (Mars den Rächer)
war der manifeste Ausdruck, wie sich auch der Prinzipat in diesem Bezug definierte.24
Was den allgemeinen prachtvollen Eindruck des Ensembles auf Augustus hin pointierte, war die
vermutlich 2 n. Chr. aufgestellte, zentral positionierte Triumphalquadriga, die vom Princeps gelenkt
wurde. Selbst bereits Symbol des „Allsieges“25 (der noch durch weitere Maßnahmen als Herrschermo-
nopol verstetigt wurde), gewann sie ihre herausgehobene Bedeutung durch zwei Statuengalerien, die

21 App. civ. 5,130,541f. gramm zur Erringung der Weltherrschaft bzw. zur Be-
22 S. S. 99. herrschung der Oikumene in Rom nicht erkennen mag.
23 Dazu auch Wendt (2008) 108 u. 144f.; ähnlich Wirth 24 Detailliert zum Forum Augustum z.B. Ganzert u. Kok-
(1994), der hingegen stark auf die Ambivalenzen im kel (1988).
Handeln der Feldherren abhebt (etwa den Verzicht des 25 Begriff übernommen von Alföldi (1977) 407.
Pompeius auf einen Partherkrieg) und ein reales Pro-

100 CHRISTIAN WENDT


Abb. 2 | Siegesgöttin Victoria auf einem Globus stehend abgebildet, die das Selbstverständnis des Adoptivsohns Caesars, der sich
selbst als divi filius bezeichnen ließ, verbildlicht.

wohl in den flankierenden Säulenhallen – Details sind umstritten – das Forum einrahmten. Dargestellt
waren neben den – mythischen und realen – Vorfahren des Augustus die Männer, die, so berichtet Sueton,

imperium populi Romani ex minimo maximum reddidissent (Suet. Aug. 31)

„die Herrschaft des römischen Volkes aus kleinsten Anf ängen zur größten Größe brachten.“

Diese summi viri (höchste Männer) qualifizierten sich folglich für die ‚Heldengalerie der Republik‘
durch ihre besonderen Verdienste um die Expansion Roms, ergo ihren Beitrag zur Erringung der Herr-
schaft über den orbis terrarum. Der inmitten der Anlage thronende Princeps erschien so zum einen als
Teilhaber der Tradition und Nachfolger besagter summi viri, zum anderen aufgrund seiner gesonderten
Stellung auch als Gipfelpunkt der republikanischen Geschichte und als Vollender der Mission, der all
die Geehrten gedient hatten.26 In Bezug auf die Weltherrschaft übernahm das neue System folglich die
Maximen und Werte der späten Republik und war bemüht, diese gewahrte Tradition auch für die Bür-
ger zu verdeutlichen: Der Princeps war ein summus vir alter Prägung, ja, der primus inter pares nicht
allein der aktuellen römischen Elite, sondern auch aller bislang für die römische Größe verantwortlichen
Männer.27

26 Itgenshorst (2004) 456; Zanker (1997) 213ff. 27 S. Wendt (2008) 124.

DIE OIKUMENE UNTER ROMS BEFEHL 101


Abb. 3 | Grundriß des Forum Augustum.

102 CHRISTIAN WENDT


2. Der Princeps als rector orbis terrarum

Der Princeps sollte aber nicht allein Feinde unterwerfen, sondern darüber hinaus dem gewonnenen
Erdkreis vorstehen. Die neuartige Position des ersten Römers formuliert Velleius Paterculus mit der
Bitte um gute Nachfolger für Tiberius wie folgt:

Eos, quorum cervices tam fortiter sustinendo terrarum orbis imperio sufficiant,
quam huius suffecisse sensimus (Vell. 2,131,2)

„solche, deren Schultern ebenso stark sind, die Herrschaft über den Erdkreis zu tragen,
wie wir es bei ihm erlebt haben“

Eine derartige Stellung findet ihren Niederschlag etwa in einem inschriftlich erhaltenen Dekret aus
dem heutigen Pisa, das den Princeps als praeses totius orbis terrarum, als den, der dem gesamten Erd-
kreis vorsteht, bezeichnet.28 Ebenfalls findet sich die Terminologie des rector orbis terrarum, z. B. in
einer Inschrift aus Narbo, die um 12 n. Chr. datiert wird.29 Die Fortentwicklung der Rolle des Ersten,
nicht mehr allein der Erringende, sondern auch der Gestalter der Weltherrschaft und ihrer Konse-
quenzen zu sein, spiegelt sich in der zeitgenössischen augusteischen Dichtung, die zur Systemstabi-
lisierung ihren Teil beitrug. Besonders markant sind folgende Verse aus den Metamorphosen des
Ovid:

Iuppiter arces / temperat aetherias et mundi regna triformis / terra sub Augusto est.
pater est et rector uterque. (Ov. met. 15, 858ff.)

„Iuppiter lenkt die Höhen des Äthers und das Reich der dreigestaltigen Welt, die Erde ist unter
Augustus. Vater und Herrscher ist einer wie der andere.“

Hier wird das Modell des pater patriae auf die gesamte Welt ausgedehnt, in Teilen ist man auch an
Ciceros Ideal des rector civitatis bzw. rector rerum publicarum, also eines Lenkers des Gemeinwesens,30
erinnert. Mit dieser Vorstellung geht häufig die Hoffnung auf Augustus als Friedensbringer einher,
der der zerrütteten römischen Welt die Pax Augusta zum Geschenk macht und auch aus diesem
Grund zum Begründer eines neuen goldenen Zeitalters, einer aurea aetas, wird.31 In diesem Kontext
bleibt zu beachten, daß nicht zwangsläufig ein allgemeiner Friedenszustand postuliert wird,32 so daß
das häufig bemühte Paradoxon zwischen Friedenspropaganda und Eroberungspolitik ein solches
nicht ist. Der Frieden sollte allein dort gelten, wo die geordneten Verhältnisse der direkten römisch-
prinzipalen Herrschaft genossen werden konnten, insbesondere also im von den Bürgerkriegen ge-
beutelten Reichsgebiet. Daß allerdings Aufgabe des Weltenlenkers auch war, den Widerständen ge-
gen die Pax Augusta sein befriedendes Wirken entgegenzusetzen, dementsprechend fremden, bis-
lang nur mittelbar dem römischen Befehl unterstehenden Völkern nach ihrer Niederwerfung die

28 CIL XI,I 1421. 32 Verg. Aen. 1,287: imperium Oceano, famam qui terminet
29 CIL XII 4333. astris. Hier ist nicht allein die Herrschaft des Augustus
30 Cic. rep. 2,51 u. 5,6. als segensbringend bezeichnet, sondern dessen Auftrag
31 Z.B. Verg. Aen. 1,291ff. u. 6,791ff.; Hor. carm. 4,2,37ff. zur Expansion durch die im Konjunktiv ausgedrückte
u. 4,15,4ff. Prophezeiung formuliert.

DIE OIKUMENE UNTER ROMS BEFEHL 103


Abb. 4 | Die Gemma Augustea (s. auch die farbige Abbildung im Kapitelvorblatt).

Segnungen des römischen Reichspatronats angedeihen zu lassen, verstand sich für die Zeitgenossen
von selbst, ja, die Expansion konnte geradezu als Bedingung der Befriedung verstanden werden.33
Die Parallele zwischen Iuppiter und Augustus in ihrer Funktion als Herrscher und Lenker der Wel-
tengeschicke wird auch in kunsthandwerklichen Bildnissen thematisiert, die vermutlich aus Produktio-
nen des kaiserlichen Umfelds stammen. Zwei berühmte Beispiele sind in diesem Kontext die soge-
nannte Gemma Augustea sowie ein Silberbecher aus einer Villa in Boscoreale, in der Nähe von Pompeji.
Bei ersterer handelt es sich um einen außergewöhnlich kunstvoll angefertigten Kameo aus zwei-
schichtigem Onyx, der zumeist in die letzten Regierungsjahre des Augustus datiert wird. Darauf ist Au-
gustus in Iuppiter-Pose abgebildet, der, von der personifizierten Oikumene lorbeerbekränzt, seine den

33 S. Anm. 32; Flor. epist. 2,30; Plin. nat. 3,39; Kienast zuzustimmen, wenn er postuliert: „Aus dem expansiven
(1999) 334; Baltrusch (2008) 73f.; die von Münkler Kraftzentrum Rom … wurde nun das Imperium Ro-
(2006) 116 geäußerte Ansicht, die „Relevanz militäri- manum als Garant der pax Romana“ – verwirrender-
scher Macht“ sei mit dem „Überschreiten der augustei- weise existiert dabei allerdings ein erst durch die
schen Schwelle“ erheblich zurückgegangen, ist abwe- Niederlage des Varus gebrochener imperialer „Expan-
gig, stellte diese doch den Kern der realen prinzipalen sionsdrang nach Nordosten“ (44).
Gewalt dar – daher ist Münkler (113f.) ebenfalls nicht

104 CHRISTIAN WENDT


Abb. 5 | Der Silberbecher von Boscoreale.

Sieg heimtragenden Feldherren (wohl Tiberius und Germanicus, auf dem Wagen Victoria) empf ängt,
die unter seinen Auspizien den Sieg erfochten haben und ihrem Princeps nun die Siegeszeichen über-
bringen. Die Szene steht unter dem Symbol des Capricorns, des Geburtszeichens des Princeps, und
dies verdeutlicht, in wessen neu begründeter Ära sie spielt. Daß diese eine glückliche und reiche ist,
drückt Tellus/Italia, die mit einem Füllhorn angetan ist, aus, und daß diese gottgewollte Ordnung auf
militärischem Wege erreicht und bestätigt wird, soll dem Betrachter anhand der Besiegten, vor deren
Augen das Siegesmal errichtet wird, nahegebracht werden.34
Der Silberbecher aus Boscoreale, wohl um die gleiche Zeit gefertigt, weist in eine ähnliche Rich-
tung und bedient sich einer deckungsgleichen Bildersprache. Der mittig thronende Augustus erhält
von Venus, der angeblichen Stammutter seines Geschlechts, eine Victoria zu der Weltenkugel, die er in
der rechten Hand hält. Die Sieghaftigkeit des Herrschers wird ebenso verkörpert (Mars führt Unterwor-
fene zum Thron) wie der Wohlstand und die Ordnung, die unter seiner Ägide vorherrschen (Füllhorn-
Symbolik).35
Die propagierte Stellung als Weltenherrscher ist, wie bereits ausgeführt, die Konsequenz der
Genese des Prinzipats, die außenpolitische Erfolge als entscheidende Legitimation für den Rang des
Ersten als Voraussetzung hatte.36 Nur so läßt sich die gewaltige Dynamik verstehen, die das Imperium
Romanum unter Augustus im außenpolitischen Kontext entfaltete. Die Ambivalenz, daß der Erste un-
ter den Römern bereits die gesamte bewohnte Welt zu lenken und zu regieren hatte, auf der anderen
Seite allerdings dem Anspruch nachkommen mußte, den er aus der Republik und deren großen Expan-
sionsbewegungen ererbt hatte, propagator imperii zu sein, also der den römischen Herrschaftsbereich
Ausdehnende, geht aus der Verklammerung von Iuppiterrolle und militärischer Aktivität auch aus den
Bildnissen hervor. Die militärische Komponente war für den Princeps ein eminent wichtiger Faktor, um

34 Zur Gemma Augustea s. etwa Hölscher (1988) 371ff. 36 Wendt (2008) 172.
35 S. Zanker (1997) 230f.

DIE OIKUMENE UNTER ROMS BEFEHL 105


seine Stellung im Staat legitimieren zu können. Seine persönliche virtus mußte auch dort erworben
werden, wo dies seinen berühmten Vorgängern gelungen war: im Felde.
Es ist dabei interessant, wie aktiv das römische Reich nach dem Gewinn der Alleinherrschaft durch
Octavian an der Ausdehnung seiner Grenzen und an der Verherrlichung des obersten Heerführers ge-
arbeitet hatte. Nach der Provinzialisierung Ägyptens und später auch Galatiens erfolgten Vorstöße in
Nordafrika und Arabien, ebenso wurden die 35 v. Chr. begonnenen Projekte in Illyrien mit Nachdruck
fortgesetzt. Parallel mit den Feldzügen in Spanien, die trotz mäßiger Erfolge mit großem Pomp in Rom
gefeiert wurden, begann die Eroberung des Alpenraums bereits Mitte der 20er Jahre.
Neben die kriegerische Expansion trat auch die Aufnahme von Freundschaftsbeziehungen als Aus-
druck der römischen Überlegenheit. Die römische amicitia wurde in eigener Darstellung gewährt, wo
Fremde sie erbaten,37 und dies konnte durchaus geschehen, nachdem etwa seitens des Princeps militä-
rischer Druck auf ein Territorium ausgeübt worden war. Somit konnten auch losere Verbindungen als
die Provinzialisierung als Unterwerfung eines Gebiets gedeutet werden – entscheidend wurde das Bild
des gebietenden Augustus.38 Das bekannteste Beispiel ist in diesem Zusammenhang der Vertrag mit
Parthien, der im Jahr 20 v. Chr. die Rückgabe der bei Carrhae verlorenen Feldzeichen zum Inhalt hatte
und die Beziehungen zwischen Rom und den Parthern und insbesondere den Status des Streitfalls Ar-
menien friedlich regeln sollte. Augustus stellte diese Übereinkunft, die inhaltlich eine faktische Aner-
kennung der Souveränität Parthiens war, als ein Diktat dar, demzufolge sich der parthische Herrscher
seinem Druck gebeugt und demütig um die römische Freundschaft gebeten habe.39 Mit großem Auf-
wand wurde das Verhandlungsergebnis auch im offiziellen Gedächtnis als Sieg des Princeps insze-
niert,40 so daß der von vielen erwartete Feldzug gegen Parthien, den Caesar nicht mehr zu führen im-
stande gewesen war, obsolet wurde. Wesentlich war das der Öffentlichkeit präsentierte hierarchische
Gef älle zwischen Augustus und Phraates IV., wie wenig dieses auch mit der realpolitischen Situation in
Einklang zu bringen war41.
Am Beispiel der berühmten Panzerstatue des Augustus, deren marmorne Kopie in der Villa der Li-
via bei Prima Porta gefunden wurde, ist zu erkennen, wie der Prinzipat das traditionell kriegerische Ele-
ment mit der neuartigen Geste des Gebietens koppelte.
In den politischen Kontext um die Säkularspiele in Rom 17 v. Chr. anzusiedeln, weist die Statue auf
die Herrschaft Roms, von den Göttern gewünscht, von den untergebenen Völkern entweder durch frei-
willige Unterwerfung angenommen bzw. aufgrund militärischer Siege diesen oktroyiert. Der göttliche
Heros Augustus repräsentiert als Krieger die Gewalt Roms, der sich insbesondere die Parther im Jahr
20 v. Chr. zu beugen hatten – auch wenn es sich realiter um einen Friedensvertrag gehandelt hatte. Das
Gewähren der erbetenen römischen Freundschaft (amicitia) wird, wenn auch nicht als Sinnbild militä-
rischer virtus, so doch dem Sieg gleichwertig an die Seite gestellt.42
Das Imperium war unter Augustus also zu keinem Zeitpunkt ein außenpolitisch inaktives Gebilde,
vielmehr wurden Gebietsgewinne erzielt, wie sie Rom unter einem Feldherrn noch nicht erlebt hatte.
Der Princeps trieb die verschiedenen Projekte ohne längere Ruhephasen voran und betonte mit der
fortschreitenden Verherrlichung einen Aspekt seiner Legitimation.

37 Etwa R. Gest. div. Aug. 32: amicitiam nostram per libero- 41 Zu dieser Dichotomie Bringmann (1977) 47f., der –
rum suorum pignora petens. wenn auch moderat – den „Stellenwert“ der Ideologie
38 Wendt (2008) 175f. innerhalb der Legitimationskonstruktion des Augustus
39 R. Gest. div. Aug. 29; s. dazu jetzt Wiesehöfer (2010) bes. betont.
187f. 42 Zur Prima-Porta-Statue s. Zanker (1997) 192f.
40 Errichtung eines Triumphbogens: Cass. Dio 54,8,3; s.
auch das carmen saeculare des Horaz, insb. 53ff.

106 CHRISTIAN WENDT


Abb. 6 | Die Panzerstatue von Prima Porta.

DIE OIKUMENE UNTER ROMS BEFEHL 107


Abb. 7 | Brustpanzer der Statue von Prima Porta.

Daher f ällt es schwer, mit Jochen Bleicken festzustellen: „Die Idee der Weltherrschaft aber ergab sich
aus den in der Vergangenheit bereits erbrachten Leistungen, hat nicht umgekehrt Taten zur Eroberung
der Welt in Gang gesetzt.“43 Im Gegenteil ist es die Wertigkeit des Weltherrschaftsgedankens innerhalb
des prinzipalen Systems, die es dem Princeps fast zwingend auferlegte, expansiv tätig zu werden. Au-
gustus war die personale Verkörperung der römischen Sieges- und Herrschaftsvorstellung; diese Rolle
aktiv auszufüllen war ein entscheidender Pfeiler seiner Machtstellung,44 zumal seine Truppen auch
weiterhin beschäftigt werden mußten, um als Garanten ihres Patrons präsent zu bleiben.

3. Germanien im römischen Focus

Der Verlust einer Legion unter dem Statthalter Marcus Lollius im Jahr 16 v. Chr. im Kampf gegen auf
linksrheinischem Gebiet marodierende Sugambrer, Tenkterer und Usipeter darf als Auslöser für die ge-
sonderte Aufmerksamkeit des Princeps gesehen werden, die von da an dem Gebiet Germanien galt. Au-
gustus begab sich nach Gallien, um die Situation höchstselbst zu ordnen, und blieb knapp drei Jahre vor
Ort, etwa um Verwaltungsstrukturen zu schaffen. Jedoch konnte dieser Auftritt des ersten Römers

43 Bleicken (1998) 567. herrschaftsvorstellung als „eher ideologisch als pragma-


44 Gruen (1996) 197; Schmitt (1997) 16f.; Isaac (1990) 416; tisch“ charakterisiert, 318f. aber Germanien als materia
etwas widersprüchlich Kehne (2002): 300 wird eine Welt- gloriae für das Kaiserhaus erkannt.

108 CHRISTIAN WENDT


kaum allein als Versuch der Schadensbegrenzung gelten. Das Zeichen, das Augustus in sein Herr-
schaftsgebiet sandte, indem er sich selbst an den Ort des Geschehens begab, ließ mehr erwarten.
Die im Zusammenhang mit der Statue von Prima Porta bereits angesprochenen Säkularfeiern, die
nach der Wiedergewinnung der Feldzeichen von den Parthern und der propagierten Unterwerfung des
großen Gegners den Anbruch eines neuen Zeitalters offiziell sichtbar machen sollten, waren vor kur-
zem abgehalten worden, als eben die Nachricht des Verlusts einer Legion gegen germanische Stämme
eintraf. Vor dem Hintergrund der bis hierhin ausgeführten Parallele von Weltherrschaftsideologie und
der Stellung des Princeps kann es nur schwerlich überzeugen, die im Jahr 12 v. Chr. beginnenden Offen-
siven im römisch-germanischen Grenzgebiet ausschließlich als strategisch motivierte Präventivschläge
zu verstehen, die den aggressiven, unruhigen rechtsrheinischen Stämmen Einhalt gebieten sollten.
Sicher ist der Aspekt der diffusen Furcht, die in Rom angesichts der Völker aus dem Norden ge-
herrscht haben mochte, nicht allgemein von der Hand zu weisen. Die noch von Lukan evozierten
Schreckensbilder des furor Teutonicus (der teutonischen Raserei),45 die Erinnerungen an den Keltenein-
fall von 387 v. Chr., an die Kämpfe gegen die Cimbern und Teutonen – insbesondere an die verheerende
Niederlage bei Arausio im Jahr 105 v. Chr. mit dem Verlust von bis zu 80000 Mann46 – sind einschlä-
gige Belege für die Vorstellungen, die man von alters her mit den Stammesbewegungen aus dem Nor-
den verband.47 Auf der anderen Seite ist nicht auszuschließen, daß seit den Vorstößen Iulius Caesars
nach Gallien und der schließlichen Unterwerfung bzw. in Einzelf ällen gar der fast vollständigen Ver-
nichtung der dort ansässigen Stammesgemeinschaften das Movens der Furcht zumindest in Teilen re-
lativiert worden war. Die Berichte, die Caesar über Lebensgewohnheiten der Gallier und der Germanen
in Rom publik gemacht hatte, waren sicher nicht dazu angetan, sonderliches Vertrauen in eine fried-
liche oder gar fruchtbare Koexistenz zu erzeugen; dies war auch in keiner Weise ihre Absicht. Als ge-
heimnisvolle Menschen mit übernatürlichen Kräften48 jedoch mußten die Völker des Nordens nicht
mehr zwangsläufig erscheinen. Caesar argumentierte – etwa in seiner Darstellung des Konflikts mit
Ariovist49 – durchaus noch mit der Gefahr, die selbst Rom noch drohen mochte, schritte man nicht ge-
gen mißliebige Entwicklungen ein, er stellte jedoch ebenso dar, daß Römer ohne Zweifel in der Lage
seien, eben diesen Bedrohungen im Kampf angemessen zu begegnen;50 Cicero pries bereits den Zu-
stand der absoluten Sicherheit Roms.51 Die in die Tat umgesetzten großangelegten Operationen der
Jahre seit 12 v. Chr. sind kaum auf mögliche Urängste in Rom zurückzuführen. Um von einer strafen-
den Reaktion auf die Lollius-Niederlage auszugehen, sind die mobilisierten Kräfte zu massiv – in den
Jahren 16 bis 13 wurden 6 Legionen aus dem Hinterland am Rhein massiert, stationiert in Stützpunk-
ten wie Xanten und Nijmegen; Kastelle wurden angelegt, ambitionierte Infrastrukturprojekte ins Werk
gesetzt, ein Flottenbauprogramm aufgelegt.52 Der Focus des Imperiums war aber allein durch Augu-
stus’ Anwesenheit auf das Grenzgebiet gerichtet worden; sollten nun hier lediglich geordnete Verhält-
nisse geschaffen werden, um die gehaltene Rheinlinie gegen erneute Unruhen zu verteidigen, und so-
mit letzten Endes doch auf die germanische Bedrohung reagiert werden? Waren die Vorstöße des
Drusus ab 12 v. Chr. anf änglich nur, wie Karl-Wilhelm Welwei meint, Teil eines Konzepts, „ein rechts-

45 Lucan. 1,255f. 48 Die Topik ist etwa noch bei Plutarch zu erkennen, Ma-
46 Liv. per. 67. rius 23; Caesar muß eigener Schilderung zufolge gegen
47 Dazu grundlegend Bellen (1985); Kremer (1994) 62–68; eine angebliche Überlegenheit der Germanen ankämp-
anders Trzaska-Richter (1991) 66, die davon ausgeht, die fen, Gall. 1,39.
Angst vor den wandernden Völkern habe sich erst nach 49 Caes. Gall. 1,33.
Arausio konstituiert. 50 Caes. Gall. 1,40.
51 Cic. prov. 34.
52 Kienast (1999) 360f.; Wolters (2008) 39.

DIE OIKUMENE UNTER ROMS BEFEHL 109


rheinisches Glacis zu schaffen und hierdurch aggressive Stämme und Gefolgschaftsverbände unter
Kontrolle zu bekommen“?53
Unplausibel klingt dies zunächst nicht. Die Bedeutung Germaniens für Rom und den Princeps
war allerdings vielschichtiger, als es in einer bloß militärstrategischen oder situativen Perspektive zu
erörtern wäre. Caesars Vorstöße in das von ihm selbst Germania getaufte Gebiet hatten ein Tor aufge-
stoßen, das er selbst nicht mehr nachdrücklich zu durchschreiten vermochte54. Er hatte allerdings ge-
zeigt, daß der Rhein nicht die natürliche Grenze des römischen Reichs sein sollte, und dieser Anspruch
verknüpfte sich mit der Darlegung, daß rechtsrheinisch Stämme siedelten, die potentielle Gegner
Roms waren, ja, unter Umständen gar zur Bedrohung werden konnten. Damit setzte er seinen erklär-
ten Nachfolger unter einen gewissen Zugzwang, des großen Caesars Werk außenpolitisch zu voll-
enden.
Ähnlich verhielt es sich mit Britannien, das nach Caesars kaum erfolgreichen Expeditionen eben-
falls der Unterwerfung harrte. Einige Hinweise zeigen uns, daß eine Britannieninvasion durchaus eine
Option auf der prinzipalen Agenda war.55 Angesichts des zu erwartenden Aufwands dürfte es Augustus
jedoch zupaß gekommen sein, daß es ihm gelang, die Problematik auf anderen Wegen zu lösen. Das of-
fizielle Freundschaftsgesuch britannischer Stammesführer, das einer freiwilligen Unterordnung unter
die römische Vorherrschaft gleichkam,56 erlaubte es dem Princeps, in diesem Bezug seine Eignung
zum rector orbis terrarum zu unterstreichen.
Germanien hingegen war ein den Römern – wenn auch nur vage – bekanntes Gebiet, das reichlich
offensichtlich nicht unterworfen war und auch nicht in der Lage gewesen wäre, sich geschlossen in die
römische amicitia zu begeben: Zuviele einzelne Stämme waren bereits bekannt, so daß nicht wie in Bri-
tannien Abgesandte eines oder zweier Stämme als Vertreter aller Germanen hätten gelten können. Au-
gustus konnte sich demnach nur im Falle einer militärisch erzwungenen Kontrolle als rector orbis terra-
rum in Germanien behaupten, ein Aspekt, der, wie ausgeführt, essentiell für seine Legitimation war.
Folglich muß das Konzept einer flächigen Eroberung oder immerhin einer Besetzung, die ausreichend
war, der römischen Bevölkerung eben die Beherrschung des Gebiets Germanien zu suggerieren, späte-
stens seit dem Jahr 16 v. Chr., also seit der Herausforderung römischer Autorität durch einzelne germa-
nische Stämme, ein Motiv der prinzipalen Außenpolitik gewesen sein.
Die Einzelheiten römischer Militärpräsenz in Germanien sollen hier nicht näher ausgeführt werden.
Dessenungeachtet ist zu betonen, daß nicht nur die ersten drei Jahre bis 9 v. Chr. eine Abfolge von Un-
ternehmungen mit erheblichem Erfolg waren, die in der Unterwerfung verschiedener Stammesverbände
ebenso zum Ausdruck kamen wie in der Anlage von vorgeschobenen Militärbasen oder der Einrichtung
der ara Ubiorum zu Köln als zentraler Kultstätte und Leuchtturm der Romanisierung.57 Der ausgreifende
Zug bis an die Elbe – an deren Überquerung der legendären Überlieferung zufolge Drusus von einer ge-
heimnisvollen Frauengestalt gehindert wurde58 – bezeugt die Ambitionen, das Territorium zumindest au-
genscheinlich in Besitz zu nehmen. Auch die Drusus in Rom erwiesenen Ehrungen (ovatio und Trium-
phalinsignien 11 v. Chr.) weisen auf die Wertsetzung, die der Prinzipat mit diesen Siegesmeldungen
verband. Von der Lollius-Niederlage dürfte jedenfalls in Rom kaum mehr jemand gesprochen haben.

53 Welwei (2004) 128. 56 R. Gest. div. Aug. 32; Strab. 4,5,3; die genaue Datierung
54 S. dazu auch K.-P. Johne im vorliegenden Band mit an- und die Identifizierung der Fürsten sind problembehaf-
ders gewichteten Schlußfolgerungen. tet, s. allg. Hübner (1897) 866f.
55 Cass. Dio 49,38 u. 53,22,5 u. 53,25,2; Verg. ecl. 1,66 u. 57 Tac. ann. 1,57,2; s. Kienast (1999) 250.
georg. 3,25; Hor. carm. 1,21,15 u. 1,35,29 u. 3,5,2ff.; 58 Cass. Dio 55,1,3.
Prop. 2,27,5; zur Stimmung in Rom Tac. Agr. 13.

110 CHRISTIAN WENDT


Nach dem Tod des Drusus übernahm Tiberius den Oberbefehl und nahm nach kurzer Zeit die Un-
terwerfung aller germanischen Stämme zwischen Rhein und Elbe entgegen; Velleius zufolge war Ger-
manien nahezu in den Status einer tributpflichtigen Provinz geraten.59 Auch diese Erfolge, untermau-
ert z.B. durch die Umsiedlung vieler zehntausender Sugambrer auf linksrheinisches Gebiet,60 wurden
in Rom besonders gefeiert, mittels eines prachtvollen Triumphs des Tiberius sowie der Erweiterung des
pomerium – dies war ein Ritual, das allein nach erfolgreicher Reichserweiterung gestattet war.61 Nach
diesen Vorgängen hören wir wenig aus Germanien, etwa von der erfolgreichen Elbüberquerung durch
Lucius Domitius Ahenobarbus im Vorfeld des Jahres 1 n. Chr.,62 allerdings auch von einem bald ausbre-
chenden Aufstand vieler Stämme, dessen Konsequenzen erst durch den aus seinem rhodischen Exil zu-
rückgekehrten Tiberius wieder endgültig unter Kontrolle gerieten.63
Gesondert sei auf den Umstand hingewiesen, daß sich die römischen Aktivitäten seit 16 v. Chr. kei-
nesfalls auf Germanien beschränkten. Hier seien nur die Eroberungen im Alpenraum (16/15) und in Il-
lyrien (12–9) angeführt. Ob diese Feldzüge und Vorstöße Teil einer umfassenden Strategie waren, ist
heute nicht mehr zu klären, maximal zu vermuten.64 Die Konsequenz allerdings, mit der die Territorien
nördlich des Imperium Romanum gewissermaßen ‚abgearbeitet‘ wurden, ist erstaunlich. Und da den
Bewegungen zumindest parallele Planungen zugrundelagen, ist davon auszugehen, daß die Außenpo-
litik des Reichs immerhin großräumiger orientiert war als ausschließlich an der Region Germanien
und auf größere Gewinne zielte.
Die Erfolgskette zieht sich bis ins Jahr 6 n. Chr. Velleius Paterculus spricht davon, daß es nichts
mehr außer dem markomannischen Reich des Maroboduus zu erobern gab;65 auch dieser mögliche
Unruhestifter, der über eine beachtliche Machtposition und Truppenstärke verfügte, sollte direkt nie-
dergeworfen werden. Insgesamt 12 Legionen waren aufgeboten, um das Marbodreich in einer zweiflüg-
ligen Angriffsbewegung in die Zange zu nehmen.66 In diese Vorbereitungen hinein jedoch platzte die
Nachricht einer massiven Erhebung in Pannonien, die zu einem Flächenbrand zu werden drohte. Um-
gehend wurden die bereits mobilisierten Truppen von ihrem ursprünglichen Einsatzziel abgezogen
und ein rascher Friedensvertrag mit Maroboduus ausgehandelt. Das Reich stellte einen Großteil seiner
militärischen Kraft in den Dienst der Niederschlagung des pannonischen Aufstands, eines Unterneh-
mens, das Sueton als größte Anstrengung seit den Punischen Kriegen charakterisiert. 10 Legionen,
10000 Veteranen und viele Auxiliarkräfte – davon eine Abteilung möglicherweise von Arminius dem
Cherusker geführt – mußten aufgeboten werden, um der Situation binnen drei Jahren und unter hohen
Verlusten Herr zu werden.67 An eine direkte Wiederaufnahme der Pläne gegen Maroboduus war unter
diesen Voraussetzungen kaum mehr zu denken.
Welche genauen Ziele die Feldzüge von 12 v. Chr. an leiteten – die Meinungen bewegen sich zwi-
schen der Sicherung von Grenzverläufen bis hin zur Realisierung eines lange geplanten Ausgriffs weit
über die Elbe hinaus68 –, festzuhalten ist: Germanien fügt sich in die römische Außenpolitik unter Au-
gustus ein und stellt zunächst keinerlei Sonderfall dar – insbesondere die Tatsache, daß die massiven

59 Vell. 2,97,4. 65 Vell. 2,108,1.


60 Suet. Tib. 9 u. Aug. 21. 66 Wolters (2006) 39.
61 Tac. ann. 12,23; Gell. 13,14,3; Cass. Dio 55,6,6. 67 Vell. 2,113,1; Suet. Tib. 16.
62 Cass. Dio 55,10a,2. 68 Vgl. Deininger (2000) 758ff.; Johne (2006) 109–113 mit
63 Zum sog. immensum bellum s. etwa Wolters (2008) 56ff. einem ausgewogenen Forschungsüberblick und der ei-
64 Exponenten einer derartigen Annahme sind z.B. Kraft genen Tendenz, nicht von einem vorgefaßten Erobe-
(1973) 190ff.; Wells (1972) 12; dagegen markant Kehne rungsplan auszugehen; ders. im vorliegenden Band.
(2002) 299; zur Forschungsdiskussion siehe Deininger
(2000).

DIE OIKUMENE UNTER ROMS BEFEHL 111


Vorstöße unter Drusus parallel zu anderen Großprojekten geplant und ausgeführt wurden, veranschau-
licht, daß Germanien eine ähnliche Aufmerksamkeit erfuhr wie der Donauraum oder zuvor das Alpen-
vorland. Die Lollius-Niederlage mochte der Auslöser für die konsequente Umsetzung bereits früher exi-
stenter Planungen gewesen sein, de facto wäre das Imperium Romanum zu einem früheren Zeitpunkt
auch kaum in der Lage gewesen, rechtsrheinisch großräumig aktiv zu werden. Daß allerdings der
Princeps in seiner Rolle als Weltherrscher herausgefordert worden war, machte eine Berichtigung des
Zustands unumgänglich, die weit über Reparaturmaßnahmen hinausreichen mußte.
Vor diesem Hintergrund gewinnt denn auch die Varusschlacht ihre besondere Relevanz. Der Un-
tergang dreier Legionen, welcher Mannschaftsstärke auch immer, war solange keine bloße Episode, wie
die Scharte nicht ausgewetzt war – so hatte es sich mit allen größeren Niederlagen Roms verhalten. Der
Verlust an Kampfkraft bzw. der punktuelle Rückzug an die Militärbasen des Rheins waren sicherlich
nicht der entscheidende Faktor für das schließliche Mißlingen der Bemühungen, Germanien dauerhaft
unter römische Kontrolle zu bringen. Die einzelne Begebenheit schien schmerzhaft, aber reparabel.69
Die potenzierte Gef ährdung aber, die durch die Situation in Pannonien entstanden war, und die daher
zwingend zurückgestellte Offensive gegen das Marbodreich schufen ein Klima der Stagnation, das erst
die Niederlage des Varus als so schweren Rückschlag erscheinen ließ. Der Nachweis war geführt, daß
auch der weltbeherrschende Princeps nicht an mehreren Fronten zugleich stetig erfolgreich sein
konnte.
In dieser spezifischen Situation des Jahres 9 n. Chr. liegt daher begründet, weshalb der Kern der
römischen Welt getroffen worden war. Die Legitimation des Prinzipats war beschädigt worden, und die-
ser Prestigeverlust hätte einen inakzeptablen Zustand zur Folge gehabt. Dies erklärt, weshalb die fol-
genden Jahre verstärkte militärische Aktivität sahen – die Aufstockung der rheinischen Legionen auf
acht, unter der Führung der ranghöchsten Offiziere, die der Princeps entsenden konnte, seinen de-
signierten Nachfolgern Tiberius und Germanicus: Germanien hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit des
prinzipalen Rom.

4. Testamentarische Ratschläge

Daß nicht unmittelbar nach der Varuskatastrophe ein großangelegter Gegenschlag erfolgte, hat dazu
geführt, daß bis heute über eine mögliche Strategieänderung seitens des Princeps spekuliert wird, die
in der Philosophie bestanden habe, das Gehaltene weitestmöglich abzusichern und sich mit der gegen-
wärtigen Ausdehnung des Reichs zu bescheiden.70 Diese Ansicht gewinnt an Substanz, sobald als Indiz
für die prinzipale Resignation eine testamentarische Denkschrift des Augustus ins Feld geführt wird.
Tiberius ließ die betreffenden Dokumente nach seiner Machtübernahme 14 n. Chr. vor dem Senat ver-
lesen bzw. tat dies selbst, und folgender postumer Ratschlag war Tacitus zufolge darin zu finden:

consilium coercendi intra terminos imperii (Tac. ann. 1,11,4)

„der Ratschlag, sich auf die Grenzen des Reichs zu beschränken“

69 In diese Richtung etwa Heuß (1998) 309; Wolters 70 Cass. Dio 56,33,5; s. dazu Kienast (1999) 373ff.
(2008) 125f.; Moosbauer (2009) 71; anders z.B. Bring-
mann (2007) 193.

112 CHRISTIAN WENDT


Es ist, wie viele Interpreten zurecht bemerkt haben, aus diesen wenigen Worten kaum zu ermessen,
welche exakte Bedeutung sie haben sollten. Ob sie sich auf alle Grenzen bzw. Begrenzungen des Impe-
riums bezogen, ob sie den Rhein oder die Elbe im germanischen Kontext als Grenze anvisierten, ob sie
bewußt zweideutig formuliert waren – all dies ist zu spekulieren und bei allen möglichen weiteren An-
haltspunkten dennoch nie zu belegen.71
Da an mehreren Fronten des Reichs die Situation ungeklärt war und drängende Probleme der Ver-
waltung gelöst werden mußten, war die Aufgabe für den Nachfolger des Augustus nicht von vornherein
angenehm. Dazu kam, daß Tiberius all seiner militärischen Erfolge zum Trotz wenig populär war und
erst als Nachfolger designiert und adoptiert worden war, als alle weiteren Hoffnungsträger des Augu-
stus verstorben waren.
Weder mit Vertrauensvorschuß noch mit glänzender persönlicher Wirkung versehen, lag wo-
möglich für Tiberius nichts näher, als sich zunächst durch die Weisung des göttlichen Augustus vom
ärgsten Druck zu befreien, möglichst bald expansive Erfolge zu verbuchen. Auch aufgrund der noch
im Vorjahr von Augustus verwandten Terminologie in seinem Tatenbericht wirkt die Wortwahl intra
terminos imperii wenig authentisch – im Praescript der Res Gestae wird der orbis terrarum als unterwor-
fen dargestellt.72 Daher bleibt die Frage, inwieweit ein solches testamentarisches consilium des Herr-
schers überhaupt als historisch akzeptiert werden kann. 73 Die Vermutung des Tacitus, möglicherweise
sei es aus Mißgunst dem Tiberius gegenüber ergangen, 74 ist wohl eher der allgemeinen Antipathie
des Autors für den zweiten Kaiser geschuldet. Für Tiberius hingegen dürfte das Testament – ob es echt
war oder gut gef älscht – eine willkommene Gelegenheit gewesen sein, mangelnde Erfolge der Zu-
kunft quasi im Vorgriff zu rechtfertigen, indem sie als Vorsicht im Sinne des großen Augustus darge-
stellt werden konnten.
Im Verhältnis des Imperium Romanum zu Germanien veränderte sich zunächst nicht viel: Die
mit Sicherheit lange vorbereiteten Feldzüge des Germanicus begannen im Jahr 14 und hatten offen-
sichtlich nicht das Motiv, die Niederlagen und Rückzüge des Jahres 9 n. Chr. als status quo zu akzep-
tieren. Der Anspruch des weltbeherrschenden Rom, auch Germanien zur Botmäßigkeit zu zwin-
gen, bestand noch nach der Varus-Niederlage. Spätere Entwicklungen der Jahre 16 und 17 n. Chr. sind
von derart vielen Unklarheiten überlagert, daß sie hier unerforscht in der Schwebe belassen werden
sollen.

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(1998) 615f. sen Gedanken kategorisch und sieht den Gedanken der
72 S. S. 95. Raumordnung (als Gegenprinzip zur Weltherrschaft)
am Wirken.
74 Tac. ann. 1,11,4.

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DIE OIKUMENE UNTER ROMS BEFEHL 115


116 CHRISTIAN WENDT
Ernst Baltrusch

P. Quinctilius Varus und die bella Variana

Abb. 1 | Münzportrait des P. Quinctilius Varus (Achulla).

I ‚Varusschlacht‘?

Ungewöhnlich ist es schon, im Titel unseres Jubiläums-Buches zur ‚Varusschlacht‘ nicht den siegrei-
chen Germanen Arminius, sondern den unterlegenen Römer Varus zu verewigen,1 aber keineswegs
beispiellos. Schon der berühmte Caelius-Grabstein (Abb. vor Kap. I) spricht bekanntlich vom bellum
Varianum, was auch für antike Verhältnisse nicht üblich war.2 Und es gab ein zweites bellum Varia-
num, von einem jüdischen Text genauso benannt, nämlich in Judäa. Die Semantik dieser Verbin-
dung – und die moderne Diskussion darüber3 – verweist nachdrücklich auf die Rolle des römischen
Feldherrn in zwei Erhebungen gegen Rom, der jüdischen im Jahre 4 v. Chr. und der germanischen
im Jahre 9 n. Chr. Welchen Anteil also hatte Varus an dem Aufstand, an der Niederlage, der clades
Variana? Das ist die zentrale Frage, und von ihrer Beantwortung hängt viel für die Bewertung des
Ereignisses ab.
Varus hatte, so viel steht fest, eine verantwortungsvolle Stellung inne, auch wenn die für das Reich
bedrohlichen Gefahrenherde eigentlich woanders zu liegen schienen: Immerhin unterstanden ihm
drei Legionen (nämlich die legiones XVII, XVIII und XIX) zuzüglich der Hilfstruppen. Und wahrschein-
lich lautete sein Auftrag nicht bloß: ‚abwarten‘. Nun ist das antike Urteil über Varus und seine Leistun-
gen als Statthalter in Germanien vernichtend, doch stammt es durchweg aus späterer Zeit. Als erster
war es der Offizier und Historiograph Velleius Paterculus, der etwa 20 Jahre später ein wenig schmei-

1 Vgl. dazu auch Wiegels (2006). Jetzt auch Timpe (2012). 3 Vgl. dazu Schillinger-Häfele (1983) („Krieg der Germa-
2 CIL XIII 2,2,8648: [ce]cidit bello Variano. nen gegen Varus“) und Benario (1986) (bellum Vari).

P. QUINCTILIUS VARUS UND DIE BELLA VARIANA 117


chelhaftes Urteil über den römischen Feldherrn Varus f ällte.4 Wenn man die Urteile von Velleius und
anderen römischen Autoren über Varus bewerten will, so sind zuvörderst drei Punkte zu berücksich-
tigen:
1. Varus stammte als Verwandter des Augustus aus dem engsten römischen Führungszirkel; er
brachte damit ein wesentliches Qualifikationsmerkmal automatisch mit.
2. Ein Großteil seiner ‚Untertanen‘ – und solche waren die Germanen in jedem Falle, ganz gleich,
ob Varus eine Provinz Germanien erst noch einrichten sollte oder ob eine solche bereits eingerichtet
worden war5 – erhob sich gegen ihren Statthalter, und diese Erhebung traf ihn offenkundig, darin stim-
men alle Quellen überein, vollkommen unvorbereitet.
3. Varus erlitt eine katastrophale Niederlage mit dem gewaltigen Verlust der drei ihm unterstellten
Legionen.
Dies sind drei nicht wegzudiskutierende Tatsachen, und daran mussten sich a priori im Prinzipat,
also in einer monarchischen Ordnung, die Beurteilungen ausrichten: Zu Lebzeiten des Augustus
konnte es nur eine, wenn überhaupt, zurückhaltende bzw. versteckte Kritik an der Person des Varus ge-
ben. Denn die Berufung des Statthalters durch Augustus selbst entzog sich einer kritischen Bewertung,
zumal dann, wenn sie den Zwängen familienpolitischer Überlegungen unterworfen war. Dass Augus-
tus immer nur die Qualität der Bewerber zum Maßstab seiner Postenbesetzung gemacht hätte, wäre
neu; Kritik an Varus hätte daher auch Kritik an der Entscheidung des Augustus bedeutet. Diese Rück-
sichtnahme entfiel nach dem Tode des Augustus. Jetzt konnte scharfe Kritik am römischen Feldherrn,
der als Verantwortlicher zwangsläufig Fehler gemacht haben musste, geübt werden. Dass sie unter
Tiberius massiv einsetzte, braucht uns daher nicht zu verwundern. In der modernen Forschung hat
man sich früher gerne dem Verdikt der Quellen angeschlossen,6 heute dagegen ist das Urteil viel
freundlicher.7 Dafür werden verschiedene Gründe angeführt: die bisher erfolgreiche militärische und
politische Laufbahn des Varus, die bewusste Entscheidung des Augustus für ihn als Statthalter Germa-
niens, die (angeblich) tatkräftige Umsetzung seines Auftrages und insbesondere die ‚Leistungen‘, die
Varus als Statthalter in Syrien 7/6 bis 4 v. Chr. vollbracht habe. Es geht nun im folgenden um eine er-
neute Sichtung der Quellen auf die Frage hin, welche Qualifikation Varus für seine germanische Auf-
gabe mitbrachte. In der Tat ist die Quellenlage zu Varus derart günstig, dass wir uns ein gut begründetes
Urteil über seinen Charakter und sein Wirken erlauben können. Zunächst möchte ich deshalb das an-
tike Urteil über Varus im Zusammenhang mit der clades Variana in Erinnerung rufen (II) und dann
kurz die bekannten Daten seiner Laufbahn referieren (III), um schließlich auf sein Wirken in Syrien
und das andere bellum Varianum in Judäa zu sprechen kommen (IV). Abschließend sollen dann diese
Informationen zusammengefasst, bewertet und auf das bellum Varianum in Germanien angewandt
werden (V).

4 Zur literarischen Strategie des Velleius bei seinem Text widerspiegeln; s. zu dieser Frage nun auch Cicekdagi
über Varus vgl. Schmitzer (2007). (2012).
5 Im einzelnen ist das umstritten; vgl. aber positiv Eck 7 Vgl. die vorige Anm. und dazu Speidel (2009) 96 und
(2004a) u. (2004b) u. (2009). Anm. 48, der Varus als „militärisch erfolgreich“ in Sy-
6 Z.B. zitieren Nuber (2009) und Salzmann (2009) ein- rien ansieht und jeden Zweifel „an seiner Erfahrung als
schlägige Passagen von Theodor Mommsen und Victor militärischer Befehlshaber“ leugnet.
Gardthausen, die in ihren Verdikten Velleius Paterculus

118 ERNST BALTRUSCH


II Die Kritiker: Velleius Paterculus, Florus, Cassius Dio8

Velleius Paterculus,9 ein militärischer Fachmann, der Varus möglicherweise persönlich gekannt und
seine ‚erzählstrategischen Erwägungen‘ ganz auf seinen Helden Tiberius zugeschnitten hat,10 kritisiert
auff ällig scharf Herkunft (inlustri magis quam nobili ortus familia), Laufbahn (otio magis castrorum quam
bellicae adsuetus militiae), seine frühere Statthalterschaft in Syrien (Syria … quam pauper divitem ingressus
dives pauperem reliquit) und seinen Charakter (ingenio mitis, moribus quietus et corpore et animo immo-
bilior; pecuniae … non contemptor). Sein Wirken in Germanien sei entsprechend fehlgeleitet und durch
Defizite geprägt gewesen, denn er habe 1. f älschlicherweise die Barbaren als vernunftgeleitete mensch-
liche Wesen eingeschätzt, 2. dort unpassend mit dem Recht gearbeitet, wo schon die Waffen versagt
hätten, folglich 3. wertvolle Zeit mit Jurisdiktion wie unter zivilisierten Menschen vergeudet. Der Ver-
schlagenheit der Germanen (versutissimi natumque mendacio genus) habe er nichts als Trägheit entgegen-
setzen können, denn segnitia war es, die ihn veranlasst habe, alle Warnungen vor Arminius in den Wind
zu schlagen. Das Heer selbst trug keine Schuld, es sei das bestausgebildete und tapferste der gesamten
römischen Armee gewesen; vielmehr sei es zerrieben worden durch eine Koalition aus Perfidie des
Feindes, Ungerechtigkeit des Schicksals und – Schlaffheit (marcor) seines Feldherrn.
Der bei Velleius schon spürbare Widerspruch zwischen allgemeiner Trägheit und Überaktivität
des Varus bei der Romanisierung11 wird bei Florus, einem Geschichtsschreiber des 2. Jahrhunderts
und Verfasser einer viel gelesenen, kurz gefassten römischen Geschichte bis auf die Zeit des Augus-
tus, noch deutlicher.12 Für ihn scheiterte Varus an der schwierigen Aufgabe, eine bereits von Drusus
mit Waffengewalt erworbene Provinz „rechtsstaatlich“ (iure) zu organisieren.13 Gewiss habe das auch
an den Germanen gelegen, die römischer Lebensweise ablehnend gegenüberstanden und Krieg und
Gewalt dem Recht ohnehin vorzogen, aber Varus habe die Gegensätze mit seinem ausschweifenden
und grausamen Hochmut,14 gepaart mit seiner „Vertrauensseligkeit“ (fiducia pacis), die ihn planlos ins
Verderben rennen ließ, noch verschärft. Es wird dabei deutlich, wie Florus die Niederlage nicht struk-
turell an einer falschen römischen Politik festmacht, sondern charakterlich-sittlich zu begründen ver-
sucht, ohne dabei auf Konsistenz zu achten: Die Erhebung gegen die Herrschaft muß von einem über-
motivierten, grausamen Statthalter, die Niederlage aus Blindheit vor dem, was um ihn herum geschah,
erfolgt sein.
Cassius Dio,15 Verfasser einer griechischsprachigen Römischen Geschichte in 80 Büchern bis zu den
Severern, gehörte bereits einer Zeit größerer Reichsvereinheitlichung an und konnte dementsprechend
klarer die ihm bekannten Probleme bei der Einrichtung von Provinzen benennen, als es noch Velleius
in der Übergangszeit möglich war. Er musste deshalb auch nicht auf die charakterlichen Schwächen re-
kurrieren, sondern konnte sich auf die politischen und militärischen Fehlleistungen konzentrieren.
Der Bericht ist klar strukturiert und bietet eine umfassende Analyse der Vorgänge von 1. den tieferen
Ursachen der Revolte,16 2. den politischen und militärischen Versäumnissen des Varus,17 3. dem

18 Eine abgewogene Darstellung der Quellenberichte, ins- 12 Flor. epit. 2,30,21–39.


besondere des Florus, auch bei Lehmann (1990). 13 Flor. epit. 2,30,29: Difficilius est provincias optinere quam
19 Vell. 2,117–119. facere – viribus parantur, iure retinentur.
10 Schmitzer (2007). 14 Flor. epit. 2,30,30 stellt die klassische Fehler-Trias libido,
11 Ich möchte auf diesen aktuell so viel diskutierten Begriff superbia, saevitia zusammen.
nicht eingehen; hier ist er im traditionellen Sinne als 15 Cass. Dio 56,18,1–24,5.
Übertragung römischer ‚Sitten‘ auf die Untertanen ge- 16 Cass. Dio 56,18,1–3.
meint. 17 Cass. Dio 56,18,3–19,5.

P. QUINCTILIUS VARUS UND DIE BELLA VARIANA 119


Schlachtverlauf18 und schließlich 4. Reaktionen und Bedeutung der Niederlage.19 Die tiefere Ursache
lag in dem noch nicht durchdrungenen Herrschaftsgebiet, dessen Bevölkerung „behutsam“ an die neue
Ordnung hätte herangeführt werden müssen,20 solange sie ihre „väterlichen Sitten“ noch gut erinnerte.
Und in der Tat: Den allmählichen Weg in die Anpassung an das römisch bestimmte Leben „bemerkten
sie kaum“.21 Aber Varus war definitiv der falsche Mann, um diesen Prozess positiv zu begleiten oder gar
zu fördern: Er kam für alle deutlich erkennbar als römischer ‚Beamter‘, wollte die Germanen umge-
hend zu Untertanen machen,22 erlegte ihnen wie Sklaven Abgaben (chrēmata) auf und trieb diese brutal
ein. Das habe bei den Germanen den gegenteiligen Effekt gehabt, die Stammesfürsten hätten ihre alte
Machtstellung zurückhaben wollen, das Volk sei unwillig geworden. Damit hätte nun Cassius Dio die
Erhebung widerspruchsfreier als seine Vorgänger erklärt, nicht aber die Niederlage selbst, und auch
hier kommt Dio auf die trügerische Sicherheit zu sprechen, die Varus umgeben habe, nur, dass Dio da-
für nicht charakterliche Mängel, sondern die Strategie der Germanen verantwortlich macht. Sie nah-
men, so Dio, Varus auf, führten seine Befehle aus, eskortierten ihn und gaben ihm so das Gefühl, daß
Germanen auch ohne direkten militärischen Druck ‚dienen‘ könnten. Diese Strategie sei für die Ger-
manen sicherer gewesen als offener Widerstand, da „(zu) viele Römer am Rhein, (zu) viele in ihrem
eigenen Territorium“ stationiert waren. Dazu kommen nach Dio nun die offenkundigen militärischen
Versäumnisse des römischen Statthalters: Zuvörderst habe er nicht sein Heer konzentriert, sondern es
je nach den Bedürfnissen der Barbaren zersplittert. Dabei waren seine engsten Vertrauten die Haupt-
verschwörer, nämlich Arminius und Segimer. An sich konnte er dafür nichts, aber, und da tritt persön-
liche Schuld zutage, er achtete Vorwarnungen gering. So konnte auch der letzte Schritt der Aufständi-
schen gelingen, durch eine Erhebung „weiter entfernt wohnender“ Germanen23 Varus dazu zu bringen,
den Zug in das Aufstandsgebiet zu beginnen und damit ihn dem tödlichen Angriff in einer „schwer pas-
sierbaren Waldgegend“ auszuliefern. Dann berichtet Dio die Schlacht selbst und die Reaktion des Au-
gustus auf die Niederlage, die von ihrer gewaltigen Bedeutung für die römische Armee, für die Provin-
zialisierung Germaniens (und Galliens), ja sogar für Italien und den gesamten Prinzipat zeugen. Dio
zeigt sich bei dieser Analyse ganz als neutraler, fachkundiger Beobachter bzw. Interpret seiner Quellen.
Varus trägt für ihn massive Schuld an dem Debakel, und diese Schuld war die Folge nicht charakter-
licher Mängel, sondern militärischer und politischer Fehler, die einem erfahrenen Militär und pragma-
tischen Politiker nicht hätten passieren dürfen.24

18 Cass. Dio 56,20–22: die vier Tage und schließlich die Ka- 22 So ist zu verstehen: "! " .« $(%
pitulation. "".
19 Cass. Dio 56,23–24. 23 Dazu Tausend (1997).
20 Schön kommt diese Prozesshaftigkeit in den Imperfekt- 24 Vgl. dazu den sehr interessanten Beitrag von Lica (2001)
Formen  ( *  zum Ausdruck – „sie waren über eine Bemerkung von Cassius Dio, dass den losge-
dabei, sich anzupassen“ durch Stadtgründungen (Wald- kauften Gefangenen der Varusschlacht das Betreten Ita-
girmes!), Märkte, Versammlungen – oder   - liens untersagt worden war. Daran arbeitet er die harte
(&   – „sie verlernten nach und nach …“. Kritik des Tiberius an Varus heraus, die ganz grundsätz-
21 Auch hier die schöne Formulierung: #& (  "φ« licher Art (über die Verwaltung von Provinzen, S. 500)
$  . gewesen sei.

120 ERNST BALTRUSCH


III Publius Quinctilius Varus: Eine römische Karriere25

Varus entstammte einem patrizischen Adelsgeschlecht, das zuletzt vor mehr als 450 Jahren einen Kon-
sul gestellt hatte.26 Er wurde wahrscheinlich 47/6 v. Chr. als Sohn des Quaestors von 49, Sextus Quincti-
lius Varus, geboren.27 Sicher ist, dass er 22 v. Chr. Quaestor war und in dieser Eigenschaft im Gefolge
des Augustus die griechische Welt bereiste; erhaltene Ehreninschriften bezeugen seine Aktivitäten auf
dieser Reise, die insgesamt drei Jahre dauerte.28 Zwischen 19 und 13 v. Chr. hat Varus wohl ein Priester-
amt bekleidet,29 und auch andere Ämter sind aus Quellenhinweisen zu erschließen. So könnte Varus in
den Jahren 15 und 14 an den Operationen des Tiberius (mit dem gemeinsam er ja auch später das Kon-
sulat bekleiden sollte) sowie Drusus gegen Rätien und Vindelicien teilgenommen haben.30 Dass er hier
sich militärisch und politisch weiter qualifizierte, etwa als legatus legionis XIX in den Jahren 16/15 v. Chr.
und als Statthalter in Rätien 14 v. Chr.,31 ist sehr wahrscheinlich.
Sicher ist er dann im Jahre 13 v. Chr. zusammen mit dem späteren Kaiser Tiberius Konsul gewor-
den, und in dieser Eigenschaft hat er Spiele zur glücklichen Heimkehr des Augustus aus Spanien und
Gallien veranstaltet.32 Man geht zu Recht davon aus, dass die Erlangung und der Verlauf dieses Konsu-
lats zusammen mit dem Stiefsohn des Augustus eine Verbindung zum Princeps signalisiert, die Varus
auch bei seiner weiteren Karriere massiv geholfen hat. Und diese Verbindung wurde durch eine Heirat
noch enger: Im Jahre 12 v. Chr., als Augustus für seinen verstorbenen, eigentlich als Nachfolger vorge-
sehenen Schwiegersohn und Freund Agrippa die Leichenrede hielt, erscheint Varus als ‚Schwieger-
sohn‘ des Verstorbenen;33 die Ehefrau ist eine Tochter Agrippas entweder aus der Ehe mit Caecilia Attica
oder mit Claudia Marcella maior.34
Der nächste Karriereschritt nach dem Konsulat war ein Prokonsulat in der Provinz Africa, wahr-
scheinlich 8/7 v. Chr. Dieses Amt, in dem er dem Crassus Frugi nachfolgte, ist uns durch verschiedene
Münzen aus den Städten Hadrumetum und Achulla bekannt,35 und so gibt es authentische Bilder von
Varus, die zumindest zeigen, wie er sich selbst stilisierte.36 Was er in Africa gemacht hat, wissen wir
allerdings nicht.

25 Vgl. dazu in erster Linie PIR VII Nr. 30, Wolters (2006) 31 So plausibel Nuber (2009), der freilich dann spekulativ
und, wegen seiner ingeniösen Vermutungen, auch von „hervorragenden Leistungen“ und „uneinge-
Syme (1986) 313–328. schränktem Vertrauen“ des Augustus spricht. Vgl. auch
26 Zu den Vorfahren des Varus van Wickevoort Crommelin Nuber (2008).
(1999). 32 ILS 88.
27 Das Geburtsjahr ist eine Vermutung, die darauf beruht, 33 Tod des Agrippa und Leichenrede des Augustus: Cass.
dass Varus Quaestur und Konsulat in ‚seinem Jahr‘ er- Dio 54,28,2–4; ferner P. laudatio funebris pro Agrippa ab
reicht hat, also in dem jeweiligen frühesten Lebensalter Augusto 12 (April): P. Köln 1,10 (gener tuus).
(mit mindestens 25 die Quaestur). 34 Reinhold (1972); Syme (1986) 314.
28 Eine Inschrift von Tenos benennt ihn als Quaestor: ILS 35 RPC 1,776 aus Hadrumetum mit der Legende P. Quintli
8812 = IG XII,5 940 = OGIS 463; weitere Ehreninschrif- (sic!) Vari und Bild des Statthalters; RPC 1,798 aus
ten sind in Athen, Pergamon und auf der Insel Lesbos er- Achulla mit Legende P. Quinctili Vari Achulla mit Bild.
halten geblieben. Wofür die Inschriften gegeben wurden, Vgl. Syme (1986) 319, der auch vermutet, dass Varus
ist abgesehen von Ehrungsfloskeln („seiner gesamten Tu- hier das inschriftlich genannte Haus Villa magna Va-
gend wegen“) nicht mehr zu rekonstruieren; wahrschein- riana erstanden hat.
lich waren es finanzielle oder juristische Leistungen. 36 Dazu Salzmann (2009), der auf die Dokumentation der
Nach Syme (1986) 314f. hat Varus um die Quaestur he- Varus-Münzen bei Capelle (2009) verweist. Bis jetzt
rum seine erste Frau geheiratet, möglicherweise auch den sind 19 Achulla-Münzen bekannt. Nur diese haben nach
bei Ios. ant. Iud. 18,288 genannten Sohn gezeugt. Salzmann ikonographischen Wert, was das Aussehen
29 Syme (1986) 318; zu ergänzen in ILS 88. des Varus betrifft; es sei aber nicht zu sehen, wie Varus
30 So hat ansprechend Nuber (2009) aus dem Inschriften- wirklich aussah, sondern wie er gesehen werden wollte.
fund auf einem Bleianhänger in Dangstetten am Ober- „Keinen ikonographischen Quellenwert“ misst den
rhein vermutet. Münzen Zedelius (1983) 473 bei.

P. QUINCTILIUS VARUS UND DIE BELLA VARIANA 121


Gut beglaubigt und von all seinen Aktivitäten am ausführlichsten dokumentiert ist seine Stelle als
Legatus Augusti pro praetore provinciae Syriae in den Jahren 7 bis 4 v. Chr.37 Da diese Aufgabe uns
gleich noch näher beschäftigen wird, mag an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass Varus hier wie
später auch in Germanien dem C. Sentius Saturninus nachfolgte. Das Aufgabenfeld des syrischen Statt-
halters umschloss nicht nur die Verwaltung der Provinz, sondern auch die Aufsicht über die benach-
barten Klientelfürstentümer. Das größte dieser Reiche war das des Herodes, der die letzten höchst kri-
tischen Jahre seiner langen Regierung mit Varus zusammenarbeiten musste. Als er 4 v. Chr. starb,
erwuchs dem syrischen Statthalter geradezu die Rolle eines Interrex und damit eine noch größere Ver-
antwortung für das jüdische Reich, bis der neue König von Augustus bestätigt wurde. Wahrscheinlich
hat Varus im Jahre 4 v. Chr. seine dritte Ehe geschlossen und damit die Nähe zu Augustus weiter ver-
tieft:38 Er heiratete Claudia Pulchra, die Tochter einer Nichte des Kaisers, deren viel später (im Jahre
26 n. Chr.) erfolgte Anklage nach der Auffassung der modernen Forschung wohl die Varus-kritische
Diskussion eingeleitet hat. Das nächste, das wir von Varus hören, ist dann erst wieder die Statthalter-
schaft in der provincia paene stipendiaria Germanien39 in den Jahren 6 oder 7 bis 9 n. Chr., die sein Leben
im 56. Jahr beenden sollte.40
Angesichts dieser Laufbahn ist das Urteil von Adrian Thurdoch gerechtfertigt: Until the Battle of
Teutoburg Forest, he had barely put a foot wrong and had steadily climbed almost to the pinnacle of Roman
life.41 Die Karriere ist in jedem Falle kontinuierlich fortgeschritten, und sie wurde durch die erkennbare
Unterstützung des Kaisers vorangetrieben. So erklärt sich, dass Varus in Provinzen mit bedeutender
militärischer Besetzung geschickt wurde. Gewiss ist er also nicht unerfahren gewesen, weder in politi-
scher noch in militärischer Hinsicht. Aber qualifizierte ihn mehr als seine Verwandtschaft zu Augus-
tus? Dieser Frage können wir nur nachgehen anhand seines Wirkens in Syrien.

IV Varus in Syrien 7 bis 4 v. Chr.

Die Hauptquelle für das Wirken des Varus in Syrien ist der jüdische Historiker Flavius Josephus (37 bis
nach 100 n. Chr.), dessen Geschichtsauffassung für die Beurteilung des Varus nicht unerheblich ist.
Konkret sind von dem Statthalter Syriens zwei Eingriffe in das jüdische Nachbarreich überliefert:
1. beim Prozess des Herodes gegen seinen eigenen Sohn Antipater,42 und 2. anlässlich der Verwicklun-
gen und gewaltsamen Ausbrüche, die auf den Tod des Herodes im Jahre 4 v. Chr. folgten und die ein re-
gelrechtes bellum Varianum nach sich zogen.43 Zu den Aufgaben, die Varus zu Beginn seiner Statthal-
terschaft mit übernommen hatte, gehörte es auch, die Verbindung mit Jerusalem und seinem König zu
pflegen, notfalls zu helfen oder einzugreifen, auch zu kontrollieren und die Zentrale über Entwicklun-
gen zu informieren. Solange Herodes lebte, war die Aufgabe lösbar; denn der König repräsentierte
lange Zeit für Rom den ‚idealen‘ Herrscher, auf dessen Loyalität sich der Princeps immer verlassen
konnte.44 Allerdings blieb das nicht so. Denn die Verhältnisse in dem Klientelreich des Herodes und

37 Die zahlreichen Belege findet man PIR VII 1 S. 22. Auch 40 Cass. Dio 56,18,3; Vell. 2,117,2; Tac. ann. 1,58,2.
von dieser Statthalterschaft zeugen Münzen, diesmal 41 Thurdoch (2006) 50.
aus Antiochia und der römischen Kolonie Berytos; dazu 42 Ios. ant. Iud. 17,89–133 und bell. Iud. 1,617–640.
Lichtenberger (2009). Die Münzen enthalten keine Va- 43 Ios. ant. Iud. 17,206–303 und bell. Iud. 2,1–83.
rus-Abbildungen. 44 Die enge Bindung des Königs an Rom ist eine communis
38 Syme (1986) 315. opinio der Herodes-Forschung; die Biographie von Ri-
39 So Vell. 2,97,4. chardson (1996) trägt dies wie andere Arbeiten sogar im
Titel; s. dazu jetzt Baltrusch (2012) Kap. 2.

122 ERNST BALTRUSCH


seinem Kerngebiet Judäa hatten sich seit 12 v. Chr., dem Todesjahr Agrippas, allmählich verschlechtert.
Der inzwischen über 60-jährige König, konfrontiert mit massiver Opposition unter seinen jüdischen
Untertanen, aber auch innerhalb seiner eigenen Familie, verlor zunehmend die Kontrolle. Er hatte nach
wie vor die Stellung eines „Freundes und Verbündeten des Römischen Volkes“ inne, aber auch die rö-
mische Zentrale nahm missmutig zur Kenntnis, dass der früher so erfolgreiche König seiner Aufgabe,
für Ruhe und Ordnung zu sorgen, nicht mehr in vollem Umfange gerecht wurde. Nicht einmal seine
Familie, insbesondere seine Söhne, hatte Herodes im Griff, erst recht nicht die religiöse Opposition
im Judentum, die ihm nicht nur vorwarf, die jüdischen Gesetze zu verletzen, sondern darüber hinaus
die finanzielle Auspressung der jüdischen Untertanen und Bevorzugung der nichtjüdischen Teile sei-
nes Reiches. Es brodelte, wenn sich auch gewaltsame Aktionen vorerst nur vorsichtig und auch erst,
als Herodes bereits erkrankt war, zeigten.45 Aber zum umfassenden Ausbruch kam es erst nach dem
Tode des Herrschers, so dass sich Varus zu Anfang auf seine Rolle als Beobachter zurücknehmen
konnte.
Zur Tätigkeit des Varus liegen uns, wie schon erwähnt, zwei ausführliche Berichte des Flavius Jo-
sephus vor, der eine im Bellum Iudaicum wurde in den 70er Jahren des 1. Jahrhunderts n. Chr. verfasst,
der andere etwa 20 Jahre später in den Antiquitates Iudaicae. Für den Blick, den diese Werke auf Varus
freigeben, sind einige wenige Vorbemerkungen notwendig. Flavius Josephus entstammte einer jüdi-
schen Priesterfamilie, die sich ihrer Verwandtschaft mit dem hasmonäischen Geschlecht rühmte, und
war im Verlaufe des Jüdischen Krieges gegen Rom (66–70 n. Chr.) auf die römische Seite übergewech-
selt, hatte im Stab des Titus die Zerstörung des Tempels mitansehen müssen und wurde nach Beendi-
gung des Krieges freigelassen (daher der Gentilname Flavius) und von der flavischen Kaiserfamilie fi-
nanziell in die Lage versetzt, seinen schriftstellerischen Ambitionen nachzugehen. Diese richtete
Josephus ganz nach seinem großen ‚Lebensprojekt‘ aus, die Aussöhnung seiner beiden Identitäten, der
jüdischen und der römischen, zu betreiben. Für das Zerwürfnis zwischen Juden und Rom, für Antiju-
daismus, für Aufstände waren weder ‚Römer‘ noch ‚Juden‘, weder der Kaiser mit seinem Stab noch die
Priesterschaft in Judäa, sondern einzelne unf ähige, niedere römische Beamte und jüdische Terroristen
(„Räuber“ nennt sie Josephus immer wieder) verantwortlich. Deshalb waren für ihn z.B. die ritterstän-
dischen Prokuratoren und Präfekten schuld an den Verwerfungen, die zum Jüdischen Krieg führten,46
nicht aber der Kaiser und seine hochrangigen Statthalter. Diese Tendenz ist auch in den Berichten zu
Varus erkennbar – Varus selbst wird an keiner Stelle offen kritisiert, obwohl es zu blutigen Gewalt-
exzessen unter seinem Regiment kam, wohl aber sein Prokurator Sabinus. In dieser Linie liegt auch,
dass Josephus nichts von der clades Variana im fernen Germanien erwähnt, obwohl er vermutungs-
weise angesichts seiner sonst demonstrierten guten Kenntnisse über das Imperium Romanum davon
wusste.47 Für den modernen Historiker hat das zweifellos den Vorteil, dass er sich ganz unbeeinflusst
an den beschriebenen Handlungen in ihren Zusammenhängen, nicht an Wertungen des Autors orien-
tieren muss. Im folgenden geht es um die Politik des Varus bei seinen beiden Aktivitäten in Judäa, von
denen Josephus berichtet:

45 Z.B. die ‚Adler-Aff äre‘: Ios. ant. Iud. 17,146–167 und bell. 46 Vgl. Baltrusch (1998) 215f.
Iud. 1,647–655. Stein des Anstoßes war ein goldener Ad- 47 Deshalb ist die These von Eshel (2008) 113 verfehlt, dass
ler am großen Tempeltor, den die noch jugendlichen Ju- Josephus, hätte er davon gewusst, diese Niederlage an-
das und Matthias bei hellichtem Tage abschlugen. Die geführt hätte as a proof of divine retribution for Varus be-
Angelegenheit kann mit großen Schwierigkeiten beru- cause of his actions in Judaea in 4 BCE.
higt werden, sie wird aber später wiederaufflammen
und Varus einbeziehen.

P. QUINCTILIUS VARUS UND DIE BELLA VARIANA 123


a) Bei dem in Jerusalem stattfindenden Prozess gegen den Herodes-Sohn Antipater greift Varus
zum ersten Mal für uns erkennbar ein.48 Antipater wurde ein Mordkomplott gegen seinen Vater
zur Last gelegt,49 in das die engste Verwandtschaft des Herodes verstrickt war und das bis nach Rom
ausstrahlte. Die Einzelheiten können hier auf sich beruhen; gewiss aber gehörte es zu den Pflichten des
Varus, in dieser prekären, die politischen Verhältnisse in Jerusalem nahezu lähmenden Angelegenheit
darüber zu wachen, daß das römische Interesse an geordneten Verhältnissen nicht unkalkulierbaren
Familienkonflikten geopfert würde. Der Bericht des Josephus, in den Antiquitates teilweise überliefe-
rungsgeschichtlich entstellt, zielt eher auf die Figur des Antipater als auf Varus. Den Ablauf kann man
wie folgt rekonstruieren: Herodes bittet den ‚zuf ällig‘ in Jerusalem weilenden Varus, an dem Verfahren
teilzunehmen; dem Angeklagten Antipater wird ein Tag zur Vorbereitung der Verteidigung einge-
räumt. Der eingesetzte Gerichtshof in dieser Angelegenheit besteht aus einem gemeinschaftlichen Vor-
sitz von Varus und Herodes sowie Verwandten und Freunden des Königs und seiner Schwester Salome,
vielleicht auch Antipaters.50 Dazu kommen Ankläger und Zeugen. Den Prozessauftakt macht Herodes
mit einer Anklagerede gegen Antipater voller Hass und Kränkung, die er an Varus gerichtet hält.51 Dann
hat die Verteidigung das Wort: Antipaters Rede ist dramatisch gestaltet, und sie richtet sich zum einen
an seinen Vater, zum anderen an den Römer Varus. Inhaltlich hebt sie darauf ab, dass seine Verurtei-
lung durch das Gericht im Grunde antirömisch wäre, da ja Augustus selbst ihn während seines Aufent-
haltes in Rom nicht verurteilt habe und ihn gar „Philopator“ genannt habe.52 Das zielt auf Varus, der
sich nach Josephus in der Tat beeindruckt zeigt. Es ist nun die Aufgabe des von Herodes bestimmten
Hauptanklägers, Nikolaus von Damaskus, diesen geschickten Schachzug gegen Antipater selbst zu
wenden.53 Der Titel „Philopator“ komme, so Nikolaus, Antipater nicht zu, ansonsten richtet sich die
Rede aber vornehmlich an Varus, der wie mit Attributen einer Ehreninschrift immer wieder angespro-
chen wird. Das Schlussplädoyer des Antipater besteht in einer Anrufung der Götter als Zeugen seiner
Unschuld; ferner lässt Varus noch das aufgefundene, angeblich für Herodes bestimmte Gift an einem
zum Tode Verurteilten erfolgreich ausprobieren, führt geheime Unterredungen mit Herodes und
macht sich dann aus dem Staub nach Antiochia, seinem Amtssitz.54 Daraufhin wird Antipater ‚verhaf-
tet‘. Es wird also kein regelrechtes Urteil gesprochen, deshalb spekulieren die Teilnehmer des Verfah-
rens, was denn in der geheimen Unterredung zwischen Herodes und Varus vereinbart worden sei. Es
geht die Vermutung, dass Varus das Vorgehen des Herodes gebilligt habe. Schließlich wird darüber
auch der Kaiser informiert.55
Dieser Prozessbericht ist sicher insgesamt fragwürdig. Aber was die Rolle des Varus angeht, so
lässt sich folgendes sagen: 1. Varus greift kaum ein – weder scheint er die Initiative zum Prozess ergrif-
fen zu haben, noch äußert er sich, noch wird ein Urteil gef ällt. Die ‚geheime Absprache‘ mit Herodes
und die sich daran anschließende Verhaftung des Herodes-Sohnes weist darauf hin, dass Varus in allem
dem Wunsch des Herodes entsprach. Varus präsidierte einem von Herodes inszenierten Schauprozess,
der die enge Verbundenheit des Königs mit Rom verdeutlichen sollte. 2. Varus reist am nächsten Tag ab,56

48 Ios. ant. Iud. 17,89–133; bell. Iud. 1,617–640. 52 Bell. Iud. 1,629–636 gibt die Rede wörtlich wieder; ant.
49 Dazu und zu der Erzählstrategie des Josephus bei die- Iud. 17,99–105.
sem Fall vgl. Günther (2005) 166ff. 53 Bell. Iud. 1,637f. ist diesmal indirekt gehalten, ant. Iud.
50 So jedenfalls bell. Iud. 1,620f., aber nicht nach ant. Iud. 17,107–126 wörtlich.
17,93. 54 Bell. Iud. 1,639f. und ant. Iud. 17,131f.
51 Bell. Iud. 1,622–628 ist ausführlicher; dreimal spricht 55 Ant. Iud. 17,133.
Herodes Varus direkt an und fordert ihn auf, den Sohn 56 Bell. Iud. 1,640:   π  und ant. Iud. 17,132: 9 
als „verdorben“ abzurteilen; in verkürzter und indirek- 01«.
ter Form bei ant. Iud. 17,94–98.

124 ERNST BALTRUSCH


d.h. er sieht seine Aufgabe in der Unterstützung des Herodes als beendet an und überlässt alles weitere
dem jüdischen Klientelkönig. Das war gewiss Absicht, denn es sollte wohl der Eindruck unbedingten
Vertrauens erweckt werden, nämlich dass Herodes alles im Einvernehmen mit Varus unternahm, ohne
dass sich die Vormacht zu sehr als bestimmend präsentierte. Die Verhältnisse waren freilich kompli-
zierter, die Spannungen gingen durch alle Gruppen der Gesellschaft; die Nibelungentreue des Varus
war, wie sich später zeigen sollte, durchaus fehl am Platze.
b) Das zweite Eingreifen des Varus hatte noch weit gewichtigere Dimensionen,57 denn jetzt musste
ein politisches Vakuum gefüllt werden, das mit dem Tod des Herodes 4 v. Chr. urplötzlich entstanden war.
Jetzt brachen die alten Wunden, die der Prozess bestenfalls oberflächlich gepflastert hatte, wieder auf,
und neue kamen dazu. Den Zeitrahmen bilden die jüdischen Feste Pessach und das Wochenfest (‚Pfings-
ten‘) des Jahres 4, also die Monate April und Mai. An sich gab es ja ein Testament des Verstorbenen, in
dem Herodes seinen Sohn Archelaos zum Nachfolger bestimmt hatte, aber dieses Testament wurde in
der Familie selbst angefochten, so dass um die frei gewordene Stellung weitere Söhne wie Herodes Anti-
pas und Philipp rivalisierten. Viele Juden wollten überhaupt keinen Nachfolger, sondern wünschten sich
vielmehr eine römische Provinz Judäa, unter deren Dach sie autonom und nach ihren väterlichen Geset-
zen zu leben hofften. Dazu kamen die Begehrlichkeiten benachbarter Kleinreiche, denen schon lange
Herodes und sein Reich zu mächtig geworden waren. Aber bevor es überhaupt zu Debatten über die neue
Ordnung kam, machte sich erst einmal die ungeheure Wut über die herodianische Politik der letzten
Jahre Luft. Das alles waren Entwicklungen, die Rom nicht gleichgültig lassen konnten, im Gegenteil: Da
seit der Neuordnung des Pompeius in den späten 60er Jahren und spätestens seit Augustus58 die abhän-
gigen Fürstentümer als amici et socii zum Imperium Romanum gehörten, mussten die Verhältnisse dort
immer von römischen Beamten bewacht werden. Diese Beamten konnten nach Lage der Dinge nur die
Provinzstatthalter sein, und so war Varus qua Amt für die Ordnung in Judäa zuständig. Diese Zuständig-
keit muss betont werden, wenn wir uns jetzt den Ereignissen des Jahres 4 v. Chr. zuwenden.
Das Drama nahm im Grunde mit der Hinrichtung Antipaters seinen Anfang, denn gleichzeitig än-
derte Herodes sein Testament (nachdem er noch im Herbst 5 v. Chr. Herodes Antipas zum Nachfolger
vorgesehen hatte) und setzte nun Archelaos als seinen direkten Nachfolger, Herodes Antipas aber ‚nur‘
als Tetrarchen über Galiläa und Peräa und einen weiteren Sohn Philipp zum Herrn über die Gebiete
Gaulanitis, Trachonitis, Batanäa und Panias ein.59 Dann ereilte ihn 5 Tage später im März/April 4 v. Chr.
der Tod. Von da an wurde die Situation zunehmend unübersichtlich, obwohl sich Archelaos um Ord-
nung bemühte; in erster Linie musste es ihm darum gehen, die Bestätigung des Testaments aus Rom
zu erhalten. Bereits zuvor war es der Schwester des Herodes gelungen, das Militär auf Archelaos einzu-
schwören, und als Herodes zu Grabe getragen wurde und Archelaos vor dem Volk die Trauerrede hielt,
wurde dieser zwar schon mit Forderungen nach Steuer- und Zollerleichterungen sowie einer Gefan-
genenamnestie konfrontiert, doch konnte die Situation noch mit dem Verweis auf wohlwollende Prü-
fung der Forderungen in der Zeit nach dem notwendigen Rombesuch beschwichtigt werden; von einer
Anwesenheit des syrischen Statthalters Varus bei der Trauerfeier ist bei Josephus keine Rede.60 Doch
dann spitzte sich die Lage zu. Neue Forderungen wurden immer lauter erhoben; jetzt ging es um Rache
an den Günstlingen des Herodes, und die Absetzung des Hohepriesters wurde ultimativ gefordert.61

57 Ant. Iud. 17,206–303; bell. Iud. 2,1–83. 60 Ios. bell. Iud. 1,666–673; 2,1–4; ant. Iud. 17,193–205.
58 Suet. Aug. 48. 61 Ios. bell. Iud. 2,5–8; Ios. ant. Iud. 17,206–209.
59 Ios. bell. Iud. 1,664; ant. Iud. 17,188. Zum Testament und
den damit verbundenen Fragen vgl. Günther (2005)
182–187 und Baltrusch (2012).

P. QUINCTILIUS VARUS UND DIE BELLA VARIANA 125


Das klang bedrohlich, so dass Archelaos nun Vermittler schicken musste, die aber nichts ausrichteten.
Als Jerusalem am Pessach-Fest von Juden aus aller Welt angefüllt war, eskalierte die Szenerie. Die Auf-
wiegler, so Josephus, inszenierten eine aggressive Trauer um die von Herodes kurz vor seinem Tode
bestraften Frommen, so dass Archelaos in seiner Situation keine Möglichkeit des Ausgleichs mehr sah
und das Problem mit Gewalt zu lösen versuchte; 3000 Tote gab es bei dem Gemetzel. Archelaos zog
sich derweil für die Romreisevorbereitungen nach Caesarea zurück.62 Josephus lässt keinen Zweifel
daran, dass die Eskalation in Jerusalem zum Kernargument gegen das Königtum des Archelaos ge-
macht werden würde, und dies nicht etwa wegen der Gewalt, sondern wegen der voreiligen Anmaßung
der Königsmacht vor der Bestätigung durch Rom.
Dieser Umstand war auch Varus bekannt, als er sich in Caesarea auf „dringende Bitten“ des Arche-
laos noch vor dessen Abreise einfand. Varus’ Hilfe wurde gegen den kaiserlichen Epitropos, d.h.
Prokurator Sabinus benötigt. Dieser ritterständische Beamte hatte sich, so ist zu vermuten,63 um die
finanziellen Interessen des Kaisers in Syrien und im Reich des Herodes zu kümmern. Er gehörte mög-
licherweise zum Stab des Varus, nahm sich aber offenkundig eine gewisse Selbständigkeit heraus, die
sich aus seiner kaiserlichen Zuordnung herleitete.64 Für Josephus ist dieser Sabinus verantwortlich für
die nun folgenden dramatischen Entwicklungen. Zunächst wollte er gegen den erbitterten Widerstand
der Herodianer die festen Plätze und die Schätze des Herodes beschlagnahmen, bis eine kaiserliche
Entscheidung gef ällt sein würde; das war angesichts der innerherodianischen Turbulenzen eine durch-
aus sinnvolle Sicherungsmaßnahme, mit der verhindert werden konnte, dass die Gelder, Besitzungen
und militärischen Standorte in falsche Hände gerieten. Varus übte zunächst Druck auf den Prokurator
aus, nichts zu unternehmen, und er tat dies auf drängendes Bitten des Archelaos, griff also eindeutig
der kaiserlichen Entscheidung vor. Doch als Varus sofort danach wieder abzog – übrigens ohne offen-
kundig das kurz zuvor angerichtete Blutbad untersuchen zu lassen, wie es wohl seine Aufgabe gewesen
wäre –, bemühte sich Sabinus, ganz vorschriftsmäßig, wenigstens darum, eine Aufstellung der militä-
rischen und finanziellen Ressourcen des Reiches zu erhalten, wurde dabei aber vor Ort mit dem Wider-
stand der jüdischen Festungskommandanten, die sich – ebenfalls voreilig und damit rechtswidrig –
allein an neue Anweisungen des Archelaos gebunden fühlten, konfrontiert.65 Hätte sich Varus hinter
seinen Prokurator gestellt, wäre womöglich die folgende Eskalation ausgeblieben. Er unterstützte je-
doch lieber den für ihn rechtmäßigen König, ohne dass wir erkennen können, dass er sich über die
Verhältnisse ein Bild gemacht hätte; er machte es sich bequemer.
Wie verworren tatsächlich die Verhältnisse in Jerusalem waren, konnte dem kaiserlichen Gericht in
Rom nicht verborgen bleiben;66 die Debatten der Herodianer, die Briefe des Antipas sowie der Römer
Sabinus und Varus aus Nahost, die Gesandtschaften, die Reden vor dem Kaiser, wie sie Josephus uns
präsentiert, geben hinlänglich Auskunft darüber.67 Es waren mindestens vier Parteien nach Rom ge-
reist:

62 Ios. bell. Iud. 2,10–14; ant. Iud. 17,213–219. 65 So ist die Sachlage bei Ios. bell. Iud. 2,18f. und ant. Iud.
63 Zum Amt des Prokurators und seiner Flexibilität vor 17,222f. Sabinus geht ganz vorschriftsmäßig vor, wäh-
den Reformen des Kaisers Claudius vgl. Barrett (2009) rend Varus sich voreilig an Archelaos anschließt.
293. 66 Ios. bell. Iud. 2,25 gebraucht den Begriff Synhedrion, zu
64 Im ersten Buch seiner Abhandlung über den Prokon- dem der Kaiser ¹ #   23' 5 geladen hat, z.B.
sul hat Ulpian diese Selbständigkeit des kaiserlichen auch seinen Adoptivsohn und Enkel Gaius, ferner wei-
Prokurators ausdrücklich festgestellt: Sane si fiscalis tere ‚Freunde‘. Daraus geht zweifellos die Bedeutung
pecuniaria causa sit, quae ad procuratorem principis hervor, die Augustus der Angelegenheit beimaß.
respicit, melius fecerit (sc. proconsul), si abstineat: 67 Die Ereignisse und Reden in Rom werden ausführlich
Dig. 1,16,9 pr. präsentiert bei Ios. bell. Iud. 2,20–38; ant. Iud. 17,224–249.

126 ERNST BALTRUSCH


1. Archelaos mit seiner Mutter Malthake, zu deren engsten Beratern Nikolaus von Damaskus, der
alte Freund seines Vaters, gehörte. Sie wollten die Bestätigung des letzten Testamentes des Herodes, das
nach der Hinrichtung Antipaters verfasst worden war und eindeutig Archelaos zum Nachfolger be-
stimmt hatte.
2. Herodes Antipas, sein Bruder. Er war derjenige, der durch die letzte Testamentsänderung von
Herodes entmachtet worden war. Ihn unterstützten in Rom auch Salome, die Schwester des Herodes,
ferner Ptolemaios, der Bruder des Nikolaus von Damaskus, und Eirenaios, ein herausragender Anwalt
und Redner. Offenbar gingen erst während des Verfahrens in Rom viele Verwandte des Herodes zu An-
tipas über, nicht „weil sie ihm wohlgesinnt waren, sondern aus Feindschaft gegen Archelaos“.68 Viele
sahen in ihm das kleinere Übel.
3. Philipp, ebenfalls ein Sohn des Herodes. Offiziell war er, wie zunächst auch die übrigen Ver-
wandten, zur Unterstützung des Archelaos nach Rom gereist; doch vertrat er auf „Anstachelung des Va-
rus“69 auch eigene Ziele.
4. Die Gesandtschaft der Fünfzig, die ebenfalls von Varus genehmigt wurde. Ihr Ziel war es vor
allem, die verhassten Herodianer zu entmachten und Judäa direkter römischer Herrschaft zu unterstel-
len; damit, so meinten sie, lasse sich leichter die angestrebte Autonomie erreichen.70 Vor allem die
große Diaspora-Gemeinde in Rom unterstützte diese Partei.
5. Höchstwahrscheinlich gab es darüber hinaus auch eine Gesandtschaft bzw. Gesandtschaften
aus griechischen Poleis, die zum Reich des Herodes gehörten. Sie wollten die Autonomie bzw. die Zu-
ordnung zur Provinz Syrien, die sie letzten Endes auch bekamen.71
Diese verworrene Situation machte die Entscheidungsfindung in Rom schwer: Augustus war dem
Archelaos zugeneigt, weil er der von Herodes eingesetzte Nachfolger war; das sensible Prinzipatsgefüge
musste alles vermeiden, was nach Willkür aussah. Die schwerwiegenden Argumente, die die Partei des
Herodes Antipas vorgebracht hatte, nämlich dass Archelaos bereits die Königsherrschaft usurpiert und
gewaltsam ausgeübt habe, stellte der Kaiser zurück. Der Prokurator war – nach dem, was er erlebt hatte,
ganz folgerichtig – ein scharfer Kritiker des Archelaos,72 weil er sich den kaiserlichen Anordnungen in
Judäa bei der Beschlagnahme der herodianischen Festungen und Finanzen widersetzt hatte; er setzte
sich also für Herodes Antipas als geeigneten Nachfolger des Herodes ein. Und der Statthalter Syriens,
auf dessen Einsichten und Kenntnisse sich das ferne Rom in erster Linie hätte stützen müssen? Varus
legte sich nicht fest. Er schickte mehrere Briefe an Augustus, über deren Inhalt wir nichts wissen. Aber
von den insgesamt vier oder fünf Gruppen, die sich um eine Regelung in Rom bemühten, hatte er drei
sicher mit seiner Unterstützung ausgestattet,73 die griechische dürfte ebenfalls nicht ohne seine Billi-
gung gereist sein; nur Herodes Antipas, den sein Prokurator präferierte, schien von ihm abgelehnt zu
werden. Da nun ausgerechnet Sabinus für Herodes Antipas votierte, sich seinem Kaiser persönlich ver-
antwortlich fühlte und ebenfalls Briefe nach Rom über die Verhältnisse sandte, es also keinerlei Abstim-
mung der beiden römischen ‚Experten‘ gab, konnte Augustus beim besten Willen keine klaren römi-
schen Antworten aus Nahost erhalten. Die Gründe für Varus, Archelaos, Philipp, die Gesandtschaft der
Fünfzig und vielleicht die Griechen zu unterstützen, werden von Josephus nicht genau benannt, und

68 Ios. ant. Iud. 17,227. des zugeschlagen hatte: Gadara und Hippos von der De-
69 Ios. ant. Iud. 17,303; weniger scharf bell. Iud. 2,83. kapolis sowie Gaza.
70 Ios. ant. Iud. 17,300; bell. Iud. 2,82. 72 Ios. bell. Iud. 2,23; ant. Iud.17,227: „Brieflich klagte auch
71 Die Quellen bei Smallwood (1976) 108 Anm. 16. Es han- Sabinus beim Kaiser den Archelaos an“.
delte sich um Städte, die Octavian 30 v. Chr. dem Hero- 73 Vgl. auch Richardson (1996) 27.

P. QUINCTILIUS VARUS UND DIE BELLA VARIANA 127


sie mochten durchaus politisch motiviert gewesen sein; aber eine feste Präferenz für eine Lösung –
mehr war definitiv nicht möglich – ist seinem Handeln nicht zu entnehmen.
Die gut überlegte Entscheidung des Augustus fiel, angesichts einer derartig verwickelten Situation,
erst spät, doch sie fiel nicht überraschend aus:74 Das Testament des Herodes wurde mit Modifikationen
angenommen und bestätigt; Archelaos blieb, allerdings zunächst ohne Königstitel und mit weitreichen-
den Gebietsverlusten, der ranghöchste Nachfolger des Herodes.75 Bevor es aber dazu kam, hatte Varus
vor Ort mit gravierenden Problemen zu kämpfen.
Die Ereignisse in Judäa spielten sich zeitgleich mit den Beratungen in Rom über das Testament des
Herodes ab, und sie beeinflussten diese auch, da Varus den Kaiser brieflich informiert hatte.76 Erzähl-
strategisch geschickt unterbricht Josephus die Entscheidungsfindung in Rom mit einem ausführlichen
Bericht über den Krieg – darum handelte es sich jetzt in der Tat – im Reich des Herodes, ein Krieg, den
jüdische Texte ebenfalls als bellum Varianum titulieren,77 um daran anschließend die Verhandlungen in
Rom fortzusetzen. Die beiden Berichte des Josephus über diesen „Krieg des Varus“ im Bellum Iudaicum
und den Antiquitates strukturieren die Ereignisse in: Erhebung des Volkes (1), die Belagerung des Sabi-
nus in Abwesenheit des Varus (2) und den eigentlichen Krieg des Varus im gesamten Reich (3). Daran
schließt dann eine knappe Bewertung an.
1. Unmittelbar nach der Abreise des Archelaos kam es in Jerusalem zu Unruhen, über die Varus
sofort die Zentrale in Rom in Kenntnis setzte. Seine eigene Politik zielte nur darauf, die Rädelsführer
dingfest zu machen. Als das scheiterte, entschloss er sich, eine Legion in Jerusalem zur Kontrolle der
Lage zu stationieren und sich selbst nach Antiochia zu entfernen.78 Eine größere Provokation ist kaum
denkbar, da mit der römischen Legion nicht nur die Kaiserbilder in die heilige, selbst von Herodes bild-
los gelassene Stadt getragen wurden, sondern die Fremdherrschaft nun konkret und mit Händen greif-
bar wurde. Dabei reichte vor wenigen Monaten noch der (gar nicht unbedingt spezifisch römische) Ad-
ler am großen Tempeltor, daß viele Juden darin das Symbol der Fremdbestimmung gesehen und ihn
deshalb abgeschlagen hatten, und jetzt war dieser Adler gleichsam leibhaftig in Jerusalem. Josephus
geht über diese Provokation hinweg; für ihn stellt im Einklang mit seiner hinter dem Werk stehenden
Konzeption einer jüdisch-römischen Versöhnung nicht die römische Präsenz an sich, sondern ein ein-
zelner habgieriger Beamter den Anlass für die folgenden Krawalle dar, aber der weitere Bericht wider-
spricht allein durch die Faktenlage dieser gezwungen wirkenden Einschätzung.79
2. Die Ausweitung zum Krieg zunächst in Jerusalem erfolgte also aufgrund einer Entscheidung,
aber in Abwesenheit des syrischen Statthalters. Der Bericht des Josephus lässt folgende Rekonstruktion
der Ereignisse zu: Sabinus, der Prokurator des Kaisers, setzte im Vertrauen auf die Legion in Jerusalem
seine Beschlagnahmung des herodianischen Vermögens und Militärs bis zur endgültigen Entschei-

74 Sie ist von Richardson (1996) 26 missverstanden worden chischen Übersetzung heißt es (Kap. 6,8f.): In pares
und alles andere als ein Zeichen der Unentschlossenheit eorum mortis venient et occidentes rex potens, quia expugna-
und Halbherzigkeit (he took a weak course of action). Er bit eos, et ducent captivos et partem aedis ipsorum igni incen-
übersieht die Orientierung am Recht und am Testament. dit, aliquos crucifigit circa coloniam eorum. Die Verba sind,
75 Ios. bell. Iud. 2,93–97; ant. Iud. 17,317–323. da es sich um eine Prophetie handelt, ins Futur zu über-
76 Ios. ant. Iud. 17,250 und bell. Iud. 2,39 werden der Tod tragen. Der „mächtige König des Okzidents“, der Gefan-
der Malthake und der Brief des Varus an Augustus ver- gene machen wird, einen Teil des Tempels anzünden
bunden. wird, Kreuzigungen vornehmen wird – das ist ohne
77 Nämlich im Seder Olam 30, einer hebräischen Chronik Zweifel Varus.
wahrscheinlich aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., mit grie- 78 Ios. bell. Iud. 2,40; ant. Iud. 17,251.
chischem Fremdwort als „Krieg des Asveros“ 80 Jahre 79 So geht es im Verlaufe des Krieges ausdrücklich um
vor Vespasian datiert. In der Assumptio Mosis, einer text- Freiheit, um Autonomie (Ios. ant. Iud. 17,267; bell. Iud.
lich entstellten lateinischen Fassung einer von einem 2,53), nicht um Rache an einem Beamten.
hebräischen oder aramäischen Urtext angefertigten grie-

128 ERNST BALTRUSCH


dung in Rom über den König fort.80 Dies war seine Aufgabe und geschah auch ordnungsgemäß, auch
wenn Josephus hier den Eindruck von „Habgier“ und „Hybris“ des kleinen Beamten verbreitet. Es war
jedoch die Präsenz einer ganzen römischen Legion mit ihren Kaiserstandarten im von jüdischen Pil-
gern überfüllten Jerusalem, die den Krieg auslöste. Man feierte gerade Schawuot, das Wochenfest,
50 Tage nach Pessach im Mai. Juden von überallher waren in der aufgeheizten Stadt. Sie formierten sich
in drei Abteilungen und schlossen den Stein des Anstoßes, die römische Legion, ein; sie standen im Sü-
den vom Hippodrom aus, im Norden des Tempels und im Westen am Königspalast. Sabinus schickte
daraufhin „Boten über Boten“ an Varus mit der Bitte um sofortige Hilfe.81 Derweil tobte in der Stadt der
Krieg, im Tempelbezirk, in den Säulengängen gab es massive Zerstörungen. Zunächst konnte sich die
römische kriegstechnische Überlegenheit durchsetzen; der Tempelschatz gelangte in römische Hände,
Sabinus konnte 400 Talente vor seinen Soldaten in Sicherheit bringen.82 Damit war aber der Krieg nicht
beendet. Vielmehr intensivierte er sich; es ging den Juden jetzt um Freiheit und Autonomie.83 Es war
also eindeutig Rom der Gegner, nicht Sabinus. Auch die königlichen Truppen, d.h. die Soldaten, die frü-
her unter Herodes gedient hatten, gingen jetzt zu den jüdischen Aufständischen über; lediglich die ju-
denfeindlichen Sebastener, insgesamt 3000 Mann, wechselten zu den Römern. Doch auch räumlich
weitete sich der Krieg aus: Ganz Judäa, Idumäa, dann Galiläa und Peräa standen jetzt in Flammen. Jo-
sephus berichtet von messianischen Bewegungen, von immer neuen Königen und Anführern – sie hei-
ßen Judas, Simon, Athronges –, und seiner Tendenz entsprechend sieht er diese als (um es modern zu
sagen) ‚Terroristen‘, oder in der Quellensprache: „Räuber“.84 Die komplizierten Verhältnisse der jüdi-
schen Gesandtschaften in Rom fanden im ehemaligen Reich des Herodes ihr kriegerisches Spiegelbild.
Eine staatliche Ordnung gab es nicht mehr.
3. Der Krieg des Varus. Dies alles fand in Abwesenheit des Varus statt, aber nach zahlreichen Boten
und Bittbriefen des Sabinus organisierte Varus nun die römische Gegenoffensive, da er, wie Josephus
schreibt, „um die Legion fürchtete“.85 Varus setzte nun die zwei übrigen syrischen Legionen in Marsch,
dazu vier Reiterabteilungen und Hilfstruppen je nach Angebot der Klientelfürsten; ferner stellten ihm
während des Zuges weitere Städte wie Berytos Hilfen zur Verfügung, und auch der Nabatäerfürst Are-
tas sah, geleitet von seiner Feindschaft zu Herodes, anlässlich des Feldzuges die Gelegenheit, alte Rech-
nungen zu begleichen. Von Ptolemais ließ Varus einen Teil seiner Truppen unter der Führung seines
Sohnes nach Galiläa einmarschieren, Sepphoris niederbrennen und versklaven,86 während er selbst
mit dem Hauptteil über Samaria nach Jerusalem marschierte. Auf diesem Zug wüteten, wie Josephus
mitteilt, die Araber, plünderten und raubten mehrere Ortschaften aus, je nachdem, ob diese zu Herodes
bzw. seinen Freunden gehörten. Aber auch Varus selbst gab „aus Zorn“ den Befehl, Emmaus zu zerstö-
ren, obwohl die Einwohner längst die Stadt geräumt hatten; „mit Brand und Mord war alles erfüllt“, so
kommentiert Josephus den Zug des Varus.87 In Jerusalem selbst brachen die Aufständischen die Bela-
gerung ab, als Varus auftauchte, und flohen in die Umgegend; die in Jerusalem verbliebenen Juden ent-
schuldigten sich mit dem Fest, das sie angeblich selbst fast zu Belagerten gemacht hätte. So konnte Va-
rus die belagerte Legion retten, ferner stellten sich ein Neffe des Herodes, Josephus, und die Sebastener
unter seinen Schutz, während Sabinus ihm nicht unter die Augen kam.88 Die Belagerung war aufgeho-

80 Ios. bell. Iud. 2,41; ant. Iud. 17,252f. 84 Ios. ant. Iud. 17,285.
81 Ios. bell. Iud. 2,45; ant. Iud. 17,256. 85 Ios. ant. Iud. 17,286; bell. Iud. 2,66.
82 So müssen Ios. bell. Iud. 2,50; ant. Iud. 17,264 interpre- 86 Ios. ant. Iud. 17,288f. (nur hier die Mitteilung der Über-
tiert werden; Josephus suggeriert, dass Sabinus das Geld tragung des Oberbefehles an seinen Sohn); bell. Iud.
für sich nahm, aber er ließ sich hier wie sonst nichts zu- 2,68.
schulden kommen. 87 Ios. bell. Iud. 2,70f.; ant. Iud. 17,290f.
83 Vgl. Anm. 79. 88 Ios. bell. Iud. 2,72–74; ant. Iud. 17,292–294.

P. QUINCTILIUS VARUS UND DIE BELLA VARIANA 129


ben, Varus konnte nun an die Ordnung der Verhältnisse gehen. Josephus berichtet von einigen Maß-
nahmen:89 1. spürte er den ins Umland geflohenen Aufständischen nach und ließ von ihnen 2000 ans
Kreuz schlagen; 2. entließ Varus seine Hilfstruppen, da sie auf ihn nicht gehört hatten und nur ihre
eigenen Ziele verfolgten (in dem Bericht zum Bellum Iudaicum werden ausdrücklich die Araber ge-
nannt). 3. Weitere 10000 Aufständische (wahrscheinlich in Idumäa) ergaben sich; die Rädelsführer ließ
Varus zum Kaiser zur weiteren Untersuchung schicken. Augustus wiederum ließ von diesen nur die Fa-
milienangehörigen des Herodes wegen eklatanter Verletzung der Treuepflicht gegen ihren König ver-
urteilen. 4. Die bereits installierte Legion wurde als militärische Besatzung in Jerusalem weiterhin sta-
tioniert. Nach diesen Regelungen verließ Varus Jerusalem und reiste nach Antiochia ab. Er mochte es
nicht als seine Aufgabe angesehen haben, sich gründlicher mit den Verhältnissen zu befassen, und an-
gesichts der noch ausstehenden Entscheidung des Kaisers mag man Verständnis für dieses Verfahren
haben.
Insgesamt kann jetzt aber ein Bild vom politischen und militärischen Wirken des Varus während
des östlichen bellum Varianum gezeichnet werden.
1. Varus begriff sich als Statthalter Syriens, der sich um ein Verständnis der Verhältnisse im Reich
des Herodes nicht kümmern wollte. Weder ließ er das Blutbad des Archelaos untersuchen, noch inter-
essierten ihn die innerherodianischen Querelen, noch hatte er irgendwelche Kenntnisse der jüdischen
Religion bzw. der mit dieser zusammenhängenden Befindlichkeiten. Wie sonst hätte er eine militäri-
sche Besatzung römischer Soldaten in Jerusalem installieren können? Seine Kriegführung und seine
Kriegsbeendigung waren darüber hinaus ausschließlich militärisch und auf die Wahrung römischer In-
teressen hin angelegt. Um eine Verminderung der Spannungen in Jerusalem war es ihm nicht zu tun;
wahrscheinlich hätte er auch gar nicht gewusst, was die Spannungen hätte verringern können.
2. Eine gewisse ‚Kumpanei‘ mit zunächst Herodes (dem er in allem zustimmte), dann mit Arche-
laos ist deutlich zu erkennen. Gegen den rechtlich einwandfrei handelnden Sabinus setzte er die Inte-
ressen des herodianischen Fürsten durch,90 der freilich erst noch die Zustimmung des Kaisers benö-
tigte. Vielleicht hätte das strikte, anfangs wohl auch von Archelaos akzeptierte römische Interregnum,
wie es Sabinus intendierte, die Gewaltausbrüche verhindern können.
3. In manchen Handlungen offenbarte Varus auch Unentschlossenheit, die gewiss aus seiner Un-
kenntnis der Verhältnisse zu erklären ist. Dass er drei oder gar vier Gesandtschaften nach Rom unter-
stützte, mehrere Situationsberichte verfasste, sich nicht mit dem kaiserlichen Prokurator verständigen
konnte und damit die Position des Archelaos vor dem Kaiser schwächte, mochte ihm gar nicht bewusst
geworden sein; für ihn zählte das römische Interesse, wie er es interpretierte. Immer wieder versuchte
er auch, Entscheidungen nach Rom abzuschieben oder die Verhältnisse einfach sich selbst zu überlas-
sen, indem er sich nach Antiochia zurückzog. Doch förderte diese Unberechenbarkei, gepaart mit Ab-
wesenheit, nicht die Ruhe und Ordnung in der Region, wie man an den Ereignissen ablesen kann.
4. Sein Agieren im Krieg war nicht nur, aber auch von Grausamkeit geprägt, wie die Zerstörung
von Emmaus, die Kreuzigung der 2000 Rädelsführer und das zerstörerische Wirken seiner Armee in
Samaria hinreichend deutlich machten. Für die Juden blieben diese Maßnahmen in schlimmer Erin-
nerung, so dass sie das bellum Varianum in eine Reihe mit den Entweihungen des Tempels durch An-
tiochos IV., Pompeius und mit dem Jüdischen Krieg 66 bis 70 n. Chr. stellten.91

89 Ios. bell. Iud. 2,75–79; ant. Iud. 17,295–298. allerdings nicht ganz so folgenschwerer Hinsicht auch
90 Wenn Wolf (2005) das „tödliche Vertrauen“ des Varus für Archelaos gelten.
zu Arminius hervorhebt, so könnte das in gewisser, 91 Vgl. oben Anm. 77 und noch Ios. c. Ap. 1,34.

130 ERNST BALTRUSCH


5. Die militärischen Fähigkeiten des Varus kann man aus dem Bericht des Josephus schwer beur-
teilen; immerhin verweist es nicht auf Führungsstärke, dass er wider besseren Wissens die Nabatäer
ihre ‚Privatfeindschaft‘ mit Herodes austoben ließ.
Varus’ strategy was skilful and effective – so kommentiert Elizabeth M. Smallwood das Wirken des
syrischen Statthalters92 – die Untersuchung hat definitiv etwas anderes ergeben.

V Fazit

Hanan Eshel konstatiert in seiner Untersuchung zum Wirken des Varus in Syrien, dass die Juden von
der Varusschlacht 9 n. Chr. nichts gewusst hätten, sonst hätten sie sich nicht entgehen lassen, darauf
hinzuweisen. Das ist unwahrscheinlich und kann sich nur auf das Schweigen des Josephus stützen,
der freilich ein Interesse daran hatte, Varus neutral zu behandeln. Aber die Untersuchung der Hand-
lungen lässt uns jetzt ermessen, ob die drei oben behandelten antiken Kritiker der Versäumnisse des
Varus im Jahre 9 n. Chr. Recht haben oder nicht. Manches lässt sich nicht überprüfen, wie das Bon-
mot des Velleius über die Habgier in seiner syrischen Statthalterschaft; Josephus ist erkennbar be-
müht, neutral über Varus zu schreiben, so dass über den hochrangigen, kaisernahen Politiker die Ta-
ten und (Miss-)Erfolge ein Urteil sprechen mussten, nicht der jüdische Autor in römischen Diensten.
Andere Punkte der Kritik entdecken wir auch in Syrien und Judäa wieder: Varus war ein vertrauens-
seliger, wenig flexibler, bisweilen grausamer, leidlich f ähiger Militär, der seine Untertanen wenig
‚studierte‘ und auf brüske Durchsetzung römischer Interessen pochte. Die Verwandtschaft mit Au-
gustus eröffnete ihm immer neue Karriereschübe. Germanien fiel ihm zu, weil Augustus ihn wollte
und er Erfahrungen besaß; ferner schienen ihm die verwickelt bleibenden Verhältnisse in Judäa nicht
geschadet zu haben, und außerdem wurde nicht erwartet, daß seine Statthalterschaft tatsächlich die
Entscheidung über die Germanienstrategie des römischen Prinzipats bringen würde. Ein großarti-
ger, f ähiger Statthalter aber war Publius Quinctilius Varus nicht, und niemand wusste das besser als
Tiberius.93 Velleius Paterculus dürfte mit seinem kritischen Urteil im großen und ganzen Recht ha-
ben. Syrien war jedenfalls nicht die Station, auf der sich eine heutige Zuschreibung als ‚f ähiger Statt-
halter‘ bauen ließe.

92 Smallwood (1976) 112, und sie f ährt fort (113): Thanks to Etwas vorsichtiger ist der Beitrag von van Wickevoort
Varus’ military skill and efficiency it (das bellum Varia- Crommelin (1999); Eck (2010) 22 weist dem Varus in
num) had been brief, though it had affected most parts of the Judäa „ein kluges, situationsadäquates Abwägen seiner
country. The two thousand crosses testify to the serious view Entscheidungen“ zu.
which he took of it, while his leniency to those who surrende- 93 Lica (2001) 501: Tiberius’ discriminating attitude
red in Idumaea acquits him of mere vindictiveness. Für towards Varus’ former soldiers stands for an eloquent expres-
Smallwood ist wie für Josephus Sabinus der Bösewicht. sion of the incrimination of his entire activity in Germany.

P. QUINCTILIUS VARUS UND DIE BELLA VARIANA 131


Abb. 2 | Der gescheiterte Varus – 2,40 m hohe und 650 kg schwere
Bronzeplastik, aufgestellt in Haltern am See, Kardinal-Graf-von-
Galen-Park, ein Werk des Bildhauers Dr. Wilfried Koch. Die
Skulptur reflektiert als einzige ihrer Art die Figur des Varus zwi-
schen seiner Niederlage im ‚Teutoburger Wald‘ und seiner Ver-
achtung für den Verräter Arminius und kann in besonders ein-
dringlicher Weise für die Dimension seines Scheiterns stehen.

Literatur

Baltrusch (1998) Benario (1986)


Ernst Baltrusch, „Pax Augusta versus bellum Iudaicum: Herbert W. Benario, „Bellum Varianum“, Historia 35, 114f.
Rom und Judäa im frühen Prinzipat“, in: Theodora
Hantos u. Gustav Adolf Lehmann (Hgg.), Althistorisches Capelle (2009)
Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstags von Jochen Torsten Capelle (Hg.), Imperium – Varus und seine Zeit.
Bleicken. 29.–30. November 1996 in Göttingen, Stuttgart, Beiträge zum internationalen Kolloquium des LWL-Römer-
213–224. museums am 28. und 29. April 2008 in Münster, Münster.

Baltrusch (2012) Cicekdagi (2012)


Ernst Baltrusch, Herodes – König im Heiligen Land. Gülden Cicekdagi, Publius Quinctilius Varus: Leben
Eine Biographie, München. und Nachleben, Frankfurt a. M. u. a.

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134 ERNST BALTRUSCH


Siegmar von Schnurbein

Augustus in Germanien
Archäologie der fehlgeschlagenen Eroberung

Wenn seit einigen Jahren mit guten Gründen angenommen werden darf, dass in der im Aufbau befind-
lichen römischen Stadt bei Lahnau-Waldgirmes ein lebensgroßes vergoldetes Bronzestandbild des Kai-
sers Augustus zu Pferde errichtet gewesen ist, mag der etwas reißerisch wirkende Titel meines Beitrags
gestattet sein, auch wenn Augustus bei seinen Aufenthalten in Gallien den Rhein nie überquert, Ger-
manien also nie besucht hat. Da in der Antike das Bild eines Menschen aber stets auch dessen Anwe-
senheit bedeutete, ist der Titel aus antiker Sicht also nicht unangemessen.
Nicht Augustus persönlich (Abb. 1,1), so doch die beiden kaiserlichen Prinzen Drusus (12 v. Chr.–
9 v. Chr.) (Abb. 1,2) und Tiberius (8–7 v. Chr., 4–6 n. Chr. u. 10–12 n. Chr.) (Abb. 1,3), der mit der Familie
des Augustus durch Heirat verbundene Varus (7–9 n. Chr.) (Abb. 1,5) und auch Germanicus, Sohn des
Drusus (14–16 n. Chr.) (Abb. 1,4), waren als Befehlshaber des Germanien-Heeres zwischen Rhein und
Elbe im Einsatz. Ich behandle im Folgenden nur den germanischen Raum im engeren Sinne, also jenes
Gebiet, in dem die großen Eroberungszüge zwischen Rhein und Elbe stattgefunden haben, und gehe
auf die Archäologie im Alpenvorland nicht weiter ein.
Die vor allem für verschiedene Phasen des Eroberungsversuchs recht detailreiche schriftliche
Überlieferung einerseits und andererseits die ungewöhnlich raschen Veränderungen sowohl der um-
laufenden Münzen als auch der beim Heer benutzten Keramikgef äße ermöglichen chronologische Zu-
ordnungen verschiedener Fundplätze mit ganz außerordentlicher Präzision. Dies verführt nicht selten
dazu, dass alle Unterschiede im Fundgut und bei verschiedenen Befunden nur chronologisch gedeutet
werden, wovor ausdrücklich gewarnt sei! Dendrochronologische Datierungen sichern einige histori-
sche Zuordnungen solide ab und können als Orientierungsmarken herangezogen werden.
Nach der Unterwerfung Galliens durch Caesar bildete der Rhein die Grenze des Imperium Ro-
manum (Abb. 2), die jedoch von den rechtsrheinischen Germanen, insbesondere im Gebiet des Nieder-

Abb. 1 | Bildnisse des 1. Augustus (63 v.–14 n. Chr.); 2. Drusus (38 v.–9 v. Chr.); 3. Tiberius (42 v. Chr.–37 n. Chr.); 4. Germanicus
(15 v.–19 n. Chr.); 5. Varus (47/46 v.–9 n. Chr.).

AUGUSTUS IN GERMANIEN 135


Abb. 2 | Römische Fundplätze der augusteischen Zeit in Germanien (Stand 2008).

rheins immer wieder zu Raubzügen überschritten worden ist. Ab 12 v. Chr. hatte Drusus daher den Auf-
trag, den Grenzbereich zu beruhigen. In kühnem Ausgriff erreichte er bereits 11 v. Chr. die Weser.
Es wird berichtet, dass er beim Rückmarsch an den Rhein ein Lager am Zusammenfluss von Lippe und
Elison, ein zweites nicht weit vom Rhein bei den Chatten anlegen ließ. Ab 10 v. Chr. verlegte er den
Schwerpunkt der Feldzüge an den Mittelrhein, und 9 v. Chr. erreichte er bereits die Elbe; ein unglück-
licher Sturz vom Pferd führte zu so schweren Verletzungen, dass er verstarb. In den Jahren 8 bis 7 v. Chr.
soll unter Tiberius Germanien bereits eine beinahe tributpflichtige Provinz geworden sein.1
Für die folgenden Jahre sind die Quellen sehr lückenhaft. Domitius Ahenobarbus soll zu einem
nicht genauer bekannten Zeitpunkt die Elbe überschritten haben.2 Im Jahr 1 n. Chr. brach – vermutlich
im heutigen Nordwestdeutschland – ein „gewaltiger Krieg“ aus,3 den erst der erneut nach Germanien
beorderte Tiberius siegreich beenden konnte; im Winter 4/5 n. Chr. ließ er einen Teil des Heeres am
Oberlauf der Lippe überwintern,4 im darauf folgenden Sommer wurde erneut die Elbe erreicht. Offen-
bar war nun ein Zustand erreicht, der dem besten Kenner der Situation in Germanien, Tiberius, geeig-
net erschien, Augustus zu empfehlen, Varus das Kommando zu übertragen mit dem Auftrag, Germa-

1 Vell. 2,97,4; s. auch K.-P.-Johne im vorliegenden Band, 3 Vell. 2,104,2.


ebenso für das Folgende. 4 Vell. 2,105,3.
2 Tac. ann. 4,44.

136 SIEGMAR VON SCHNURBEIN


nien zur Provinz zu machen. Zur Beurteilung der Lage ist eine Passage bei Cassius Dio wesentlich: „Die
Römer besaßen zwar einige Teile dieses Landes, doch kein zusammenhängendes Gebiet, sondern wie
sie es gerade zuf ällig erobert hatten; deshalb berichtet auch die geschichtliche Überlieferung darüber
nichts. Ihre Soldaten bezogen hier ihre Winterquartiere, Städte wurden gegründet, und die Barbaren
passten sich ihrer (d.h. der römischen) Lebensweise an, besuchten Märkte und hielten friedliche Zu-
sammenkünfte ab“.5 Das ungeschickte Verhalten des Varus soll dann dazu geführt haben, dass Armi-
nius sich im Jahr 9 n. Chr. gegen ihn erhob; der Fundplatz bei Kalkriese kann mit guten Gründen dem
Desaster zugeordnet werden. Alle römischen Stützpunkte rechts des Rheins gingen verloren, bis auf
einen an der Lippe (Aliso), in dem sich die Truppe samt Zivilisten trotz germanischer Umzingelung
noch halten konnte, bis Entsatz vom Rhein kam. Dann wurde auch dieser Platz preisgegeben,6 so dass
nun im rechtsrheinischen Germanien keine römischen Truppen mehr standen.
Wieder wurde Tiberius nach Germanien beordert, der ab 10 n. Chr. Rachefeldzüge führte, bis ab
14 n. Chr. Germanicus erneut großräumige Angriffe unternahm und sich mehrere schwere Schlachten
mit Arminius lieferte. Tiberius ließ 16 n. Chr. das ganze Unternehmen beenden und rief Germanicus
ab. In diesem Jahr bestand ein Kastell an der Lippe, das zeitweise von Germanen belagert worden ist.
Nach dem Ende der Belagerung ließ Germanicus das ganze Gebiet zwischen dem Rhein und dem Kas-
tell Aliso mit neu gebahnten Wegen und Dämmen befestigen.7
Damit sind die wichtigsten in der antiken Literatur genannten Plätze und Ereignisse umrissen, von
denen einige mehr oder weniger sicher mit archäologischen Entdeckungen in Verbindung gebracht
werden können.
Ehe darüber berichtet wird, ist es notwendig, auf eine empfindliche Kenntnislücke hinzuweisen:
Bis jetzt ist es nicht gelungen, im Gebiet zwischen Rhein und Elbe eines der germanischen Herrschafts-
zentren zu finden. Wir haben keinerlei Vorstellung davon, wo und wie die bei den Cheruskern herr-
schende Sippe des Arminius lebte, wie deren Siedlung beschaffen war. Wurden in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts zahlreiche Ringwallanlagen in den Mittelgebirgen als germanische ‚Volksburgen‘ be-
zeichnet, so haben sich alle – soweit sie untersucht werden konnten – entweder als wesentlich älter oder
als deutlich jünger erwiesen. Nur einzelne ‚Bauernhöfe‘, die sich den Jahrzehnten um Christi Geburt
zuweisen lassen, sind verschiedentlich in Westfalen, Niedersachsen und Hessen ausgegraben worden.
Einzig bei Sievern, zwischen Weser und Elbe nahe der Nordseeküste gelegen, scheint ein Zentralplatz
gefunden zu sein, der auch in der fraglichen Zeit eine Rolle gespielt haben könnte;8 er wird zur Zeit
gründlich erforscht. Auch Grabfunde, die auf Grund reicher Beigaben Indizien für Herrschaftszentren
geben könnten, weisen wegen der Beigabenarmut, man möchte fast sagen: wegen der ‚archäologie-
feindlichen‘ Bestattungssitten, keinen Weg zu den politischen Zentren. Die Quellenlage ist also sowohl
in den Texten als auch archäologisch derart einseitig, dass das zu zeichnende Bild ganz und gar die rö-
mische Situation und Sicht spiegelt.
Überraschend gut ist die archäologische Quellenlage zu den Zügen des Drusus. In Bergkamen-
Oberaden (Abb. 3), ca. 80 km östlich des Rheins gelegen, ist dank vorzüglich erhaltener Eichenpfosten
der Umwehrung und Eichenbohlen der Brunnenschalungen der Beginn der Errichtung des Lagers im
Spätherbst des Jahres 11 v. Chr. gesichert (Abb. 4).9
Was aus numismatischer Sicht, nämlich wegen des Fehlens der nach der Errichtung des Roma-
und-Augustus-Altars in Lugdunum/Lyon (12 bzw. 10 v. Chr.) geprägten Münzen bereits nahe gelegen

5 Cass. Dio 56,18,1. 7 Tac. ann. 2,7,1–3.


6 Vell. 2,120,1; Zon. 10,37; Cass. Dio 22,2–4. 8 Vgl. Zimmermann (2005).
9 Kühlborn (2009).

AUGUSTUS IN GERMANIEN 137


Abb. 3 | Plan des Lagers Bergkamen-Oberaden. 1. Praetorium; 2. Principia;
3a–c. große Wohnhäuser; 4–5. Häuser; 6. Kasernen; 7. Haus an der Porta Praetoria.

Abb. 4 | Dendrochronologisch datierter Brunnen


aus Bergkamen-Oberaden.

hatte, ist somit dendrochronologisch untermauert: Es handelt sich um das Lippe-Elison-Kastell des
Drusus. Oberaden zeichnet sich u.a. durch einige großzügige, römischen Stadtvillen entsprechende
Wohngebäude aus, die, in Holz-Lehm-Fachwerk errichtet, sogar über Gartenhöfe verfügten. Die Truppe
wurde bestens mit Wein versorgt, wie die über 40 als Brunnenschalungen wieder verwendeten Wein-
f ässer zeigen, die z.T. bis über 1000 Liter enthalten haben. Neben mediterranen Gewürzen und Oliven
ist sogar Pfeffer aus Arabien oder Indien nachgewiesen! Diese Detailkenntnisse sind den vorzüglichen
Erhaltungsbedingungen in den Oberadener Brunnen zu verdanken; die Versorgung der anderen Plätze
wie Haltern und Anreppen dürfte kaum weniger gut gewesen sein. Oberaden wurde offenbar durch
Tiberius 8 oder 7 v. Chr. aufgelassen. Welche Truppen hier zusammengezogen waren und wohin diese

138 SIEGMAR VON SCHNURBEIN


Abb. 5 | Plan des römischen Stützpunktes Hedemünden.

kommandiert worden sind, ist nicht bekannt; neben Legionssoldaten sind Auxilien durch Funde nach-
gewiesen. Das dazu gehörende, etwa 2,5 ha große sog. Uferkastell in Beckinghausen existierte zur sel-
ben Zeit wie Oberaden.
Der Fundbestand des nur 3 ha großen Stützpunktes von Bad Nauheim-Rödgen gleicht jenem aus
Oberaden, während die Innenbauten völlig anderen Charakter haben. Drei große Speichergebäude von
47,2 × 29,5 m, ca. 29,5 × 33 m und 35,5 × 30,7 m bei einer nur etwa 1000 Mann starken Truppe weisen
Rödgen als Nachschubstation für das in den Jahren 10 und 9 v. Chr. von Mainz aus zur Weser und Elbe
vorstoßende Heer aus. Der Platz lässt sich nicht mit dem unter Drusus errichteten Kastell „nahe vom
Rhein bei den Chatten“ identifizieren; dieses ist noch nicht entdeckt.
Dass das Wesergebiet tatsächlich erreicht worden ist, bezeugt ein vor wenigen Jahren bei Hede-
münden, nahe des Zusammenflusses von Fulda und Werra entdeckter Fundplatz (Abb. 5).
Der Ausgräber, Klaus Grote, bezeichnet ihn als ‚Lager‘.10 Die bislang bekannt gewordenen Spuren
im Gelände weichen jedoch derart stark von dem ab, was von römischen Truppenstandorten bekannt
ist, dass ich meine Skepsis nicht unterdrücken kann. Das Münzspektrum gleicht dem von Oberaden
und Rödgen; hinzu treten erstaunliche Mengen von Metallfunden, sowohl Werkzeuge als auch Waffen
(Abb. 6), und inzwischen fanden sich auch entlang alter Wege nach Norden und Süden römische Ein-
zelfunde wie Schuhnägel und wiederum Waffen.

10 Grote (2006); (2007).

AUGUSTUS IN GERMANIEN 139


Abb. 6 | Werkzeug und Waffen
aus Hedemünden.

Sollte sich der Platz hoch über dem Werra-Ufer endgültig als ein Lagerkomplex erweisen, würde damit
in mancher Beziehung ein neues Kapitel zu Planung und Architektur römischer Lager der augustei-
schen Zeit aufgeschlagen. Noch aufregender wäre es indes, wenn es kein ausgebautes Lager gewesen
wäre!
Selbstverständlich sind zwischen Rhein und Elbe von den vorrückenden Truppen regelmäßig sog.
Marschlager angelegt worden, die, je nach Lage, teils nur für eine Nacht, teils wohl auch mehrere Tage
genutzt worden sind. In Dorsten-Holsterhausen an der Lippe, rund 40 km, also zwei Tagemärsche vom
Rhein entfernt, sind wiederholt solche Lager aufgeschlagen worden; mindestens zehn verschiedene
Systeme von Lagergräben lassen dies erkennen, Holz-Erde-Mauern fehlen.11 Sowohl unter Drusus als
auch unter den nachfolgenden Feldherren und möglicherweise auch unter Germanicus (14–16 n. Chr.)
haben die Truppen dort in Zelten kampiert, ohne dass Lager mit festen Bauten errichtet worden sind.
Auch andere verkehrstechnisch wichtige Plätze wird das Heer mehrfach aufgesucht haben, z.B. an
Ems, Weser und Lahn. Vielleicht lassen sich die offenbar komplexen Anlagen in Hedemünden einmal
in diesem Sinne differenzieren. Spuren nur kurze Zeit genutzter Marschlager sind in Haltern (sog.
Feldlager etc.),12 Anreppen,13 Lahnau-Dorlar14 und Marktbreit15 erkannt. Die Anlagen bei Kneblinghau-
sen können augusteisch sein, sind aber nicht sicher zu datieren.16 Ob sich im erst kürzlich entdeckten
Barkhausen an der Porta Westfalica ein echtes Lager ergeben wird, bleibt abzuwarten.17 Nach den Mün-
zen ist die kleine Verschanzung der Sparrenberger Egge bei Bielefeld auf jeden Fall der Drusus-Zeit zu-
zuweisen; solche kleinen Warten müsste es in den Mittelgebirgen in größerer Zahl geben. In der Nähe
von Hedemünden scheint eine entdeckt zu sein.
Aus der augusteischen Zeit gibt es im Vorfeld von Mainz verschiedene Fundplätze, deren Charak-
ter nicht genauer definiert werden kann, und zwar in Mainz-Kastel, dem Brückenkopf östlich des
Rheins, in Wiesbaden, Frankfurt-Höchst und Bad Nauheim. Sie bezeugen, welch strategisch wich-
tige Aufgabe von Mainz aus wahrgenommen worden ist. Alle diese Plätze scheinen jünger zu sein als

11 Ebel-Zepezauer (2009). 15 Pietsch, Timpe u. Wamser (1991); Steidl (2009).


12 Aßkamp (2010). 16 Rudnick (2009).
13 Kühlborn (2009). 17 Neujahrsgruß (2009).
14 Von Schnurbein u. Köhler (1994).

140 SIEGMAR VON SCHNURBEIN


Abb. 7 | Plan des Lagers Haltern.

die Zeit des Drusus und können bis in die Zeit des Varus oder auch danach (?) genutzt worden sein; ob
dauerhaft, steht dahin. Bei Arnsburg könnte ein augusteisches Marschlager liegen. Die Verschanzung
bei Oberbrechen ist zwar ihrer Art nach sicher römisch, lässt sich aber innerhalb der frühen Kaiserzeit
nicht präziser datieren.18
Der bedeutendste militärische Stützpunkt der Zeit nach Drusus’ Tod ist Haltern an der Lippe, rund
60 km östlich des Rheins gelegen (Abb. 7).19
Dessen Gründungsdatum lässt sich nicht genauer festlegen. Gerade nach den Ergebnissen in Lah-
nau-Waldgirmes20 besteht aller Grund, den Beginn bald nach Drusus’ Tod zu suchen. Meinen 1981
und 1982 geäußerten Vorschlag, etwa die Jahre 7 bis 5 v. Chr. anzunehmen, halte ich gegen alle Kritik
aufrecht. In Haltern gibt es außer den bereits erwähnten Spuren kurzzeitig belegter Lager einen be-
festigten Flusshafen an der Lippe (sog. Uferkastell), nicht mehr zu deutende fundreiche Komplexe am
Lippeufer auf der Flur Wiegel und ein ausgedehntes Gräberfeld, von dem mittlerweile über 100 Bestat-
tungen bekannt sind.
Die wichtigste Anlage ist in Haltern das sog. Hauptlager, das zunächst 16,7 ha groß war. Der Platz
reichte nicht dazu aus, um neben einer überraschend großen Zahl von Wohn- und Führungsbauten

18 Herrmann (2004). 19 Aßkamp (2010).


20 S. unten S. 144.

AUGUSTUS IN GERMANIEN 141


(u.a. ein 80 × 44 m großes Lazarett) eine komplette Legion unterzubringen, zumal es auch Indizien für
Hilfstruppen gibt. Ein Bleibarren mit einer Inschrift der 19. Legion deutet an, dass hier der Kern dieser
Legion gelegen haben könnte. Blei war am Ort erforderlich, da bereits eine Druck-Wasserleitung aus
Bleirohren gebaut wurde.
Mehr als ein Dutzend Töpferöfen bezeugen eine blühende Keramikproduktion, zu der neben Öl-
lampen auch der Versuch eines Töpfers namens P. Flos … gehörte, Terra Sigillata herzustellen.
Zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt wurde es notwendig, die Fläche des Haupt-
lagers um 1,6 ha auf 18,3 ha zu vergrößern; man hat dazu die Ostfront um etwa 50 m vorverlegt.
Untergebracht wurden im so gewonnenen Bereich jedoch keine Truppen, sondern, soweit das Gebiet
untersucht werden konnte, zwei rund 15 × 15 m große Wohngebäude für nicht näher zu charakteri-
sierende Chargen (ziviler Art?) und wahrscheinlich ein etwa 30 × 30 m großes Speichergebäude.
Bei gleichbleibender Truppenstärke wurden also im Hauptlager nun zusätzliche Funktionen wahr-
genommen, die über die rein militärischen Aufgaben hinausgingen. Zusammen mit der den täg-
lichen Grundbedarf deutlich übersteigenden Keramikproduktion habe ich Haltern 1981 als einen
Kristallisationspunkt in der neu zu errichtenden Provinz bezeichnet. Das seither untersuchte Gräber-
feld mit seinen z. T. erstaunlichen Grabbeigaben zeigt ebenfalls, wie sicher sich Rom in Germanien
fühlte.
Die jüngsten der über 3000 in Haltern gefundenen Münzen sind die mit einem Gegenstempel des
Varus versehenen Kupferprägungen aus Lugdunum/Lyon. Verschiedene Fundkomplexe lassen sich im
Sinne eines einigermaßen geregelten Abzugs der Truppe deuten, so dass es nahe liegt, ihn mit dem
Rückzug nach der Niederlage des Varus in Verbindung zu bringen. Letzte Sicherheit ist in dieser Frage
nicht zu erreichen, weshalb vor allem verschiedene schwierig zu beurteilende Befunde von Kritikern als
Argumente für eine Wiederbesetzung oder sogar eine über 9 n. Chr. hinaus fortdauernde Besetzung
des Hauptlagers herangezogen werden. Diese Spuren sind allesamt so gering und kaum eindeutig, dass
es sich allenfalls um marginale Vorgänge gehandelt haben dürfte. Wenn als Argument gegen eine Zer-
störung des Lagers, das die Germanen nach dem Rückzug der Truppe kaum unberührt gelassen haben
dürften, das Fehlen einer „durchgehenden Zerstörungsschicht“ genannt wird, so ist dies vor allem des-
halb problematisch, weil nirgendwo die römerzeitliche Oberfläche erhalten ist; eine Zerstörungsschicht
wäre also durch Erosion etc. längst verschwunden. In Gruben findet sich indes häufig massiver Brand-
schutt. Im Gräberfeld wird von einer Überschneidung eines Grabes durch ein später angelegtes weite-
res Grab berichtet, was mit einer Wiederbesetzung unter Germanicus in Verbindung gebracht wurde.
Das gesamte Gräberfeld wird zur Zeit bearbeitet, und es bleibt abzuwarten, wie der Befund dann inter-
pretiert wird. Wie in vielen Fällen bleibt es bei der Deutung archäologischer Funde und Befunde auch in
Haltern bei Wahrscheinlichkeiten, die es abzuwägen gilt.
Da es in Haltern also bislang keinerlei handfeste Spuren eines Aufenthalts der Truppen unter Ger-
manicus gibt, sollte man nicht ausschließen, dass er seine Truppe gerade nicht über den Ruinen, son-
dern an anderer Stelle ein neues Lager bauen ließ. Welche Überraschungen der Boden von Haltern bie-
tet, zeigt das erst 1997, fast einhundert Jahre nach Beginn der Grabungen in Haltern entdeckte sog.
Ostlager, das wegen der Spärlichkeit der Funde nur allgemein in die jüngere Phase der Feldzüge zu
datieren ist; das Fundgut unterscheidet sich nicht von dem des Hauptlagers. Aber wäre ein deutlicher
Unterschied zwischen der Zeit des Varus und der Germanicus-Zeit, abgesehen von den Münzen, bei
einem zeitlichen Abstand von nur fünf bis sechs Jahren zwingend zu erwarten?
Manche Indizien sprechen dafür, in Haltern den von den Römern 9 n. Chr. bis zuletzt gehaltenen
Stützpunkt an der Lippe zu sehen; ein Beweis, dass hier Aliso lag, ist aber nicht möglich.

142 SIEGMAR VON SCHNURBEIN


Abb. 8 | Plan des Lagers Anreppen.

Als Haltern in voller Blüte stand, wurde am Oberlauf der Lippe, etwa 150 km östlich des Rheins, der
etwa 23 ha große Stützpunkt von Anreppen gegründet (Abb. 8).21
Dendrochronologisch ist hier das Jahr 4 n. Chr. für den Bau eines Brunnens gesichert, so dass es
der Ort sein dürfte, an dem Tiberius 4/5 n. Chr. einen Teil seines Heeres in Germanien hat überwintern
lassen. Da unter den rund 400 Münzen keine ist, die den Gegenstempel des Varus trägt, ist der Platz of-
fensichtlich bereits nach zwei oder drei Jahren wieder geräumt worden. Zusammen mit dem ebenfalls
nur etwa drei Jahre existierenden Lager Oberaden ist dies ein weiteres Zeichen für die enorme Beweg-
lichkeit der Truppe und die häufigen Veränderungen der römischen Strategie.
Anreppen war noch weniger als Oberaden oder Haltern ein reines Truppenlager. Außer Kasernen,
deren Zahl nicht genauer abzuschätzen ist, gibt es mehrere große Magazine, ein Thermengebäude und
ein zentrales, 70 × 40 m großes Wohngebäude, das – obgleich es wie alle anderen bisher bekannten rö-
mischen Gebäude in den Militärplätzen rechts des Rheins aus Holz-Lehm-Fachwerk bestand – wegen
seines Grundrisses als ‚Luxusarchitektur‘ bezeichnet wird. Gewiss darf man annehmen, dass sich in die-
sem Haus Tiberius zeitweise aufgehalten hat. Bemerkenswert sind Spuren einer germanischen Siedlung
ganz in der Nähe von Anreppen, in der römische Funde der augusteischen Zeit gefunden wurden. Ob sie
von Kontakten zum großen römischen Stützpunkt rühren oder nach dessen Auflassung dorthin ver-
schleppt wurden, ist nicht geklärt; die Fundstelle verdient es jedenfalls, genauer untersucht zu werden.
Historisch schwierig einzuordnen ist das 37 ha große Lager von Marktbreit am Main,22 das in Luft-
linie rund 140 km und auf dem Main rund 280 Flusskilometer vom Rhein entfernt ist. Es sind zwar im
Zentrum für die Truppenführung in der üblichen Holz-Lehm-Fachwerk-Bauweise die notwendigen
Bauten errichtet worden, und auch ein kleines Thermengebäude ähnlich dem in Anreppen wurde ent-
deckt, doch ist der Bestand an Funden derart gering, dass man nur allgemein vor allem das erste nach-

21 Kühlborn (2009). 22 Pietsch, Timpe u. Wamser (1991); Steidl (2009).

AUGUSTUS IN GERMANIEN 143


Abb. 9 | Plan der Stadtgründung von Lahnau-Waldgirmes unweit von Wetzlar.

christliche Jahrzehnt als Datierung annehmen kann. Offensichtlich ist das Lager nie von der Truppe
wirklich bezogen worden, sondern der Bau wurde wohl abrupt abgebrochen. Daher wurde zunächst
vorgeschlagen, die Errichtung mit dem 6 n. Chr. von Mainz und Carnuntum aus begonnenen, aber im
selben Jahr wegen des Pannonischen Aufstandes beendeten Feldzug gegen Marbod in Verbindung zu
bringen. Wahrscheinlicher erscheint, dass hier im dicht besiedelten germanischen Gebiet ein ‚Nachfol-
ger‘ des Legionslagers in Mainz als dauerhafter Stützpunkt errichtet werden sollte, dessen Vollendung
und Bezug wegen des politisch-militärischen Rückschlags unterblieb.
Die stärksten Veränderungen in der Beurteilung der römischen Herrschaft rechts des Rheins er-
gaben sich durch die Entdeckungen in Lahnau-Waldgirmes unweit von Wetzlar (Abb. 9).23
Der Ort liegt verkehrsgeographisch in jener Gegend, in der die zwei von der Natur vorgegebenen
Wege vom Mittelrhein in Richtung Weser zusammentreffen: Dies sind der Weg von der Moselmün-
dung bei Koblenz entlang der Lahn und die Route von Mainz durch die Wetterau zur Lahn, die den Tau-
nus bei der Butzbacher Senke überquert.
In Waldgirmes wurde um 4 v. Chr., dendrochronologisch durch Hölzer aus einem Brunnen ge-
sichert, eine primär zivile Siedlung, eine Stadt gegründet. Zwar wurde sie gewiss vom römischen Heer
geplant und weitgehend gebaut, erkennbar an der äußeren Gestalt, die einem Militärlager gleicht: Zwei

23 Becker u. Rasbach (2003); Becker (2008).

144 SIEGMAR VON SCHNURBEIN


Gräben und eine Holz-Erde-Mauer umgeben eine rund 7,7 ha große Fläche, die durch eine west-östlich
verlaufende und eine vom Zentrum aus nach Süden abzweigende Straße gegliedert wird. Entlang der
Straßen waren, wiederum in Holz-Lehm-Fachwerk, vorwiegend Gebäude mit straßenseitigen Portiken
errichtet, die Zugang zu offenen Räumen boten. Dieses Bauprinzip entspricht aber mediterranen Ta-
bernen-Gebäuden und war beim römischen Militär jener Zeit nicht üblich. Ferner sind mehrere Atri-
um-Häuser nachgewiesen, wie sie ähnlich auch in Haltern als Unterkünfte für Chargen nachgewiesen
sind. Daneben ist möglicherweise eine einzige Kaserne erkannt. Größere Bereiche scheinen im Nord-
teil nicht oder nur leicht bebaut gewesen zu sein. Eine Wasserleitung aus Bleirohren zeichnet sich ab.
Im Zentrum ist ein rund 45 × 45 m großes Gebäude mit Steinfundamenten nachgewiesen. Es sind
bis jetzt die einzigen römischen Steinfundamente rechts des Rheins aus augusteischer Zeit, und zu-
gleich ist es der einzige vollständig erkennbare, dauerhaft konzipierte Gebäudegrundriss jener Zeit in
Nordgallien und Germanien. Die Steinfundamente waren etwa 0,5 m hoch und ebenso breit und tru-
gen ein auf Schwellbalken aufgesetztes Fachwerk. Der Bau besteht aus einem 24 × 32 m großen Hof,
der von drei 6 m breiten Hallen und der 45 × 12 m großen Basilika umgeben ist. An diese schließen
zwei 6 m breite apsidale Räume und ein 10 × 10 m messender quadratischer Raum an. Das Gebäude
entspricht damit bestens dem Typ des römischen Forums.
Im Hof zeigten sich nebeneinander fünf jeweils 5 × 2,5 m große rechteckige Gruben, in denen zahl-
reiche zerschlagene Sandsteine lagen, darunter auch zwei große Quader. Die mineralogisch-petrogra-
phische Analyse ergab, dass sie aus Steinbrüchen des Moselgebietes nahe Metz stammen. Außerdem
fanden sich in diesen Gruben und an vielen Stellen des Stadtgebietes, auch in den Umwehrungsgräben,
z.T. winzige, z.T. beachtlich große Fragmente einer – oder mehrerer? – lebensgroßer vergoldeter Bronze-
statuen eines Reiters zu Pferde. Daraus lässt sich rekonstruieren, dass im Forumshof die Aufstellung
von fünf Reiterstatuen auf Sandsteinsockeln vorgesehen war. Zumindest eine hat es davon auch gege-
ben, und es kann sich dabei nur um Augustus gehandelt haben.
Für die historische Interpretation des Platzes bilden die mit etwa 18 % der Keramikfunde unge-
wöhnlich zahlreichen Scherben germanischer Gef äße Hinweise auf die Anwesenheit von Germanen,
die offensichtlich in der entstehenden römischen Stadt ein- und ausgegangen sind (Abb. 10). Eine sil-
berne germanische Fibel deutet darauf, dass auch hochgestellte Germanen darunter waren.
Ganz im Sinne von Cassius Dios eingangs zitierter Bemerkung über den Grad der römischen Herr-
schaft in Germanien haben wir es in Waldgirmes mit einer entstehenden Stadt zu tun, gekennzeichnet
durch ein großes, auf Dauer konzipiertes Forum im Zentrum; die friedlichen Zusammenkünfte spie-
geln sich in den zahlreichen germanischen Funden, die in dieser Menge bislang an keinem anderen rö-
mischen Platz rechts des Rheins bekannt sind. Dazu passt, dass etwa 20 km von Waldgirmes entfernt
bei Niederweimar an der Lahn ein germanisches Gehöft entdeckt werden konnte, in dem römische Ke-
ramik auftritt, die der von Waldgirmes gleicht; die Kontakte gingen also in beide Richtungen.
Die jüngsten datierbaren römischen Funde sind auch in Waldgirmes die von Varus gegengestem-
pelten Asses. Das Verlassen der Stadt im Zuge der Räumung des rechtsrheinischen Germaniens nach
der Katastrophe von 9 n. Chr. lässt sich damit erschließen. Neue Gesichtspunkte zum weiteren Schick-
sal des Platzes ergaben sich kürzlich durch Entdeckungen im Westteil der Hauptstraße. Hier wurde der
Straßengraben auf einer Länge von ca. 60 m mit Bohlen überdeckt, auf die Kies geschüttet worden ist.
Unter dem später in den Straßengraben gerutschten Kies lag ein kleines Statuenfragment, was bedeu-
tet, dass die Überdeckung des Straßengrabens erst nach der Zerstörung der Statue(n?) erfolgt ist; bringt
man diese mit den Folgen von 9 n. Chr. in Verbindung, dann müssen bald danach neue Baumaßnah-
men getroffen worden sein. Man möchte sie nach ihrer Art römischen Bauleuten zuschreiben, die den

AUGUSTUS IN GERMANIEN 145


Abb. 10 | Germanische und römische Keramik aus Waldgirmes.

Auftrag hatten, den Platz wieder herzurichten. Dazu passen auch die wiederholt beobachteten, offenbar
planmäßigen Einfüllungen von Siedlungsschutt in die Umwehrungsgräben.
Wenn diese Interpretation, die Armin Becker, der Ausgräber, mit aller Vorsicht vorschlägt, sich als
richtig erweist, dann hätte man hier erstmals rechts des Rheins handfeste archäologische Spuren, die
mit den Maßnahmen des Germanicus 14 bis 16. n. Chr. zusammenhängen könnten. Bevor diese Mög-
lichkeiten weiter diskutiert werden, sind die vollständige Bearbeitung der Befunde und die noch zum
Abschluss des Forschungsprojektes vorgesehenen Sondagen abzuwarten.
In jedem Fall zeichnen sich rechts des Rheins im Bereich der beiden Haupt-Vorstoßrichtungen
vom Niederrhein aus ins Lippegebiet und von Mainz aus durch die Wetterau in Richtung Lahn/Weser
archäologisch wesentliche Unterschiede ab: Während im Lippegebiet das militärische Element deutlich
vorherrscht und nach den Funden nur geringe Kontakte zur einheimischen Bevölkerung ablesbar sind,
wurde im Vorfeld von Mainz, rund 100 km von Rhein entfernt, eine regelrechte Stadt gegründet. Diese
glich zwar von außen blickend einem Militärlager, war aber im Inneren ganz nach zivilem Muster an-
gelegt. Hier erscheinen zugleich zahlreiche einheimische Funde in römischem Kontext, die die fried-
lichen Verhältnisse erkennen lassen. Diese friedlichen Verhältnisse scheinen schon zu Beginn der Feld-
züge geherrscht zu haben, da das Versorgungslager Rödgen keine starke Schutztruppe benötigte;
im weiteren Vorfeld kennt man bislang auch noch keinen größeren militärischen Stützpunkt, der de-
nen des Lippegebietes vergleichbar wäre. Wenn dieses Fundbild die tatsächliche historische Situation
spiegelt, dann waren die politischen und militärischen Verhältnisse der beiden Feldzugsgebiete deut-
lich voneinander verschieden, ein Befund, der sich in dieser Differenzierung den schriftlichen Quellen
nicht entnehmen lässt.

146 SIEGMAR VON SCHNURBEIN


Literatur

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AUGUSTUS IN GERMANIEN 147


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148 SIEGMAR VON SCHNURBEIN


III. In situ
Bronzener Pferdekopf aus der römischen Stadtanlage von Lahnau-Waldgirmes.
Michael Meyer

hostium aviditas
Beute als Motivation germanischer Kriegsführung

Die Überlieferung zur Varusschlacht konfrontiert uns mit dem Phänomen, dass ein germanisches
Stammesaufgebot in der Lage gewesen ist, ein Großaufgebot römischen Militärs zu besiegen. Wie
konnte es auf germanischer Seite gelingen, eine so große und schlagkräftige Koalition zusammenzu-
bringen?
Offensichtlich spielt der Sieg gegen die römische Herrschaft die zentrale Rolle – der Gedanke der
Befreiung klingt bei Tacitus1 mit der Bezeichnung liberator Germaniae für Arminius an. Aber für den
einfachen Teilnehmer an der Schlacht, für die Anführer kleinerer Einheiten und größerer Verbände,
dürfte daneben die Aussicht auf reiche Beute eine wesentliche Motivation dargestellt haben, sich der
Streitmacht anzuschließen.
Dass der Gedanke an erbeutete Reichtümer die Germanen stark beeinflussen konnte, erfahren wir
verschiedentlich aus den Schriftquellen. Cassisus Dio berichtet etwa im Buch 56 seiner Römischen Ge-
schichte über die Aussicht auf Beute, die auch vorsichtige Germanen während der clades Variana dazu
brachte, in die Kämpfe einzugreifen.2 Bei der Belagerung des einzigen in römischer Hand gebliebenen
Lagers nach der Schlacht „wären alle zugrunde gegangen oder auch in Gefangenschaft geraten, wenn
sich die Barbaren nicht zu sehr mit dem Erraffen der Beute aufgehalten hätten“.3 Und Tacitus berichtet
in seinen Annalen, wie der im Zuge der Feldzüge des Germanicus in Bedrängnis geratene Caecina wäh-
rend der Schlacht gerettet werden konnte: „Eine Hilfe für uns war die Habgier der Feinde, die das Ge-
metzel aufgaben und über die Beute herfielen“.4
Aber auch die Archäologie kann hier inzwischen Indizien liefern. Auf dem spätaugusteischen
Schlachtfeld von Kalkriese zeigen sich deutliche Hinweise auf Beraubung, und die umliegenden Sied-
lungen liefern römisches Material, das offensichtlich vom Schlachtfeld aufgelesen wurde.5
Wie groß war aber die potentielle Beute, mit der die Germanen beim Angriff auf das Heer des Va-
rus im Jahr 9 n. Chr. rechnen konnten? Am Beispiel des Eisens soll im Folgenden ein Eindruck vermit-
telt werden sowohl von ihrem Umfang als auch von der enormen Bedeutung, welche diese Beute für die
germanischen Gruppen gehabt haben dürfte.
Von welcher Größe des römischen Truppenkontingents wir ausgehen müssen, hat Velleius Pater-
culus6 exakt überliefert: drei Legionen, drei Alen und sechs Kohorten. Diese Aussage wird durch einige
fast nebensächliche Erwähnungen der Varusniederlage von unmittelbar zeitgenössischen Autoren wie
Ovid oder Marcus Manilius unterstützt – gerade letzterer erwähnt in seinen um 10 n. Chr. entstandenen
Astronomica explizit die drei untergegangenen Legionen des Varus.7 Mit Michael Sommer sind es ge-
rade die flüchtigen Erwähnungen der Varusniederlage, die sehr kurz danach aufgeschrieben wurden,
die „jeden Zweifel daran zerstreuen, dass es sich bei der clades Variana tatsächlich um ein veritables

1 Tac. ann. 2,88,2. 4 Tac. ann. 1,65,6; Übersetzung nach Herrmann (1991) 111.
2 Cass. Dio 56,21,4. 5 Vgl. z.B. Rost (2008).
3 Cass. Dio 56,22,3; Übersetzung nach Herrmann (1991) 6 Vell. 2,117,1.
311. 7 Manil. 1,899f.

HOSTIUM AVIDITAS 151


Abb. 1 | Mit einem Schienenpanzer
ausgerüsteter römischer Legionär.

Großereignis handelte – und nicht etwa um eine im Nachhinein von der römischen Historiographie
rhetorisch aufgebauschte Belanglosigkeit.“8
Wir dürfen also mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass tatsächlich drei römische Le-
gionen in dieser Schlacht geschlagen wurden. Die Sollstärke einer Legion dieser Zeit betrug zwischen
5000 und 6000 Mann, die Kohorten und Alen umfassten jeweils 500 Soldaten.9 Es ist allerdings an-
zunehmen, dass die Legionen nicht in Sollstärke angetreten waren, da Vexillationen aus ihnen an an-
deren Orten mit unterschiedlichen Aufgaben gebunden gewesen sein dürften.10 Dies macht es schwie-
rig zu sagen, wie stark die Einheiten wirklich besetzt waren: Eine genaue Quantifizierung der realen
Truppenstärke ist nicht möglich.
Hinzu kommt andererseits, dass der Heereszug des Varus nicht nur aus marschierenden und rei-
tenden Soldaten bestand. „Sie führten auch viele Wagen und Lasttiere mit sich, wie mitten im Frieden.
Dazu folgten ihnen nicht wenige Kinder und Frauen sowie der übrige riesige Troß“, berichtet uns Cas-
sius Dio.11 Auch dafür liefert das Schlachtfeld von Kalkriese deutliche archäologische Hinweise.
Es ist also unmöglich, die Gesamtmenge an Eisen sicher zu ermitteln, die mitgeführt wurde, da ne-
ben der Bewaffnung und Ausrüstung der Soldaten (Abb. 1–2) auch im Tross viele Gegenstände aus
Eisen mitgeführt wurden – bis hin zu den eisernen Wagenteilen.

8 Sommer (2009) 58. 10 Moosbauer (2009) 73.


9 Zur Struktur und Ausrüstung der augusteischen Rhein- 11 Cass. Dio 56,20,2; Übersetzung nach Herrmann (1991)
armee siehe aus der Fülle an Literatur zusammenfas- 309.
send zuletzt Moosbauer (2009) 9–16.

152 MICHAEL MEYER


Abb. 2 | Mit einem Kettenhemd ausgerüsteter römischer Legionär.

Um aber überhaupt eine Vorstellung zu bekommen, soll hier – unter Vernachlässigung des nicht zu
kalkulierenden Trosses – von einem Kontingent von 12000 Mann ausgegangen werden. Grundlage der
Berechnung ist das Gewicht des Eisens, das Bestandteil ihrer Ausrüstung war. Hierzu hat Junkelmann12
auf der Grundlage nachgearbeiteter Ausstattungen Zahlen vorgelegt. Keine Berücksichtigung findet
hier das unterschiedliche Gewicht der Ausrüstung von Reiterei und Hilfstruppen.

Objekt Gesamtgewicht in etwa enthaltenes Eisen


Caligae 1,3 kg ca, 0,5 kg
Kettenhemd 8,3 kg ca. 8,3 kg
2 Cingula 1,2 kg ca. 0,5 kg
Schwert mit Scheide 2,2 kg ca. 1,8 kg
Dolch mit Scheide 1,1 kg ca. 1,0 kg
Helm mit Buschen 2,1 kg ca. 2,0 kg
Schild ohne Überzug 9,7 kg ca. 1,5 kg
Pilum 1,9 kg ca. 0,8 kg
ca. 16,4 kg

12 Junkelmann (1985) 197.

HOSTIUM AVIDITAS 153


Multipliziert man diese erstaunlich hohe Zahl mit 12000, so erhält man ein Eisen-Gesamtgewicht von
196800 kg Eisen, welches von den Soldaten des Varus durch das römisch besetzte Germanien getragen
wurde.
Was bedeutete diese Rohstoffmenge für die Germanen?
Der Rohstoff Eisen ist in Nordwestdeutschland in großer Menge als sog. ‚Raseneisenerz‘ vorhan-
den, besonders im westlichen Niedersachsen finden sich zahlreiche Lagerstätten. Es handelt sich dabei
um sehr eisenhaltige Konkretionen in grundwasserbeeinflussten Böden, die häufig als Bänke dicht un-
ter der Oberfläche anstehen. Um hieraus schmiedbares Eisen zu gewinnen, ist ein mehrstufiger Pro-
duktionsprozess notwendig (Abb. 3).
Hier dargestellt ist der Typ des Schachtofens mit Schlackegrube, neben dem Ofen mit Arbeitsgrube
der Standardtyp im Barbaricum der Römischen Kaiserzeit.13
Zunächst muss das Roherz in Form von Raseneisenerz in Brocken geborgen (Abb. 3,1) und zur
Verhüttungsstelle transportiert werden. Zumeist wird angenommen, dass die Erzbrocken im Feuer
‚geröstet‘ werden (Abb. 3,2), sicherer Bestandteil der chaîne opératoire ist das manuelle Zerkleinern des
Erzes (Abb. 3,3). Parallel dazu wird Holz geschlagen und in einfachen Grubenmeilern Holzkohle her-
gestellt (Abb. 3,4). Für den Rennofen (Abb. 4) wird eine Grube ausgehoben, in die während des Verhüt-
tungsprozesses die Schlacke abfließen kann (Abb. 3,5). Auf den Grubenrand wird der Ofenmantel aus
Lehm aufgebaut, im unteren Bereich verbleiben einige Öffnungen für die mit Blasebälgen erzeugte
Luftzufuhr. Der Rennofen wird mit Holzkohle und dem zerkleinerten Raseneisenerz beschickt
(Abb. 3,6.7); um zu verhindern, dass diese Mischung in die darunterliegende Grube durchrutscht, wird
diese mit Stroh oder kleinen Holzscheiten angefüllt. Der Verhüttungsprozess kann einen ganzen Tag
dauern und trennt die Verunreinigungen – die als Schlacke abfließen – vom Eisen – der Luppe. Nach
dem Brennvorgang wird der Ofenschacht zerschlagen (Abb. 3,8), die Luppe entnommen (Abb. 3,9) und
ausgeschmiedet (Abb. 3,10).
Eine eigenständige Eisenverhüttung ist in Deutschland seit der frühen Eisenzeit, der Hallstattzeit,
belegt. Vor allem Untersuchungen in Südwestdeutschland14 zeigen seit einigen Jahren umfangreiche,
zentralisierte Eisenverhüttung der späten Hallstattzeit, so dass jetzt in der älteren Phase der Eisenzeit
eine eigenständige Versorgung mit dem neuen und wichtigen Rohstoff nachgewiesen ist. Für Nord-
deutschland wurde noch Ende der 90er Jahre von einem Import des Eisens nach Norddeutschland in
der Vorrömischen Eisenzeit ausgegangen – die hier gegenüber Süddeutschland zeitlich versetzt etwa
um 550/500 v. Chr. beginnt.15 Grabungen der letzten Jahre vor allem in Glienick, Lkr. Teltow-Fläming16,
konnten inzwischen aber zeigen, dass Eisenverhüttung in großem Umfang auch hier bereits spätestens
im 4. Jahrhundert v. Chr. durchgeführt wurde.
Eine vergleichbare intensive Eisenverhüttung kennen wir aus der frühen Kaiserzeit – der Zeit der
Varusschlacht – jedoch hierzulande nicht mehr. Jetzt dominieren, so weit wir heute wissen, Siedlungen
mit einzelnen oder maximal einigen Dutzend Öfen, die eine ‚Vor-Ort-Versorgung‘ zeigen. In Nordwest-
deutschland sind Rennöfen in seltenen Fällen für die jüngere Vorrömische Eisenzeit und – häufiger –
für die Römische Kaiserzeit belegt. Wie die Kartierung zeigt (Abb. 5), streuen die Nachweise vor allem
im Gebiet westlich der mittleren Ems und im Bereich der Unterweser, aber auch der Mittelgebirgssaum
zeigt eine Reihe von Befunden.

13 Vgl. de Rijk (2007) Abb. 64. 15 Jöns (1998).


14 Vgl. Gassmann u. Wieland (2008); Gassmann, Haupt- 16 Brumlich u. Meyer (2005); Brumlich (2010).
mann u. Hübner (2005); Gassmann, Rösch u. Wieland
(2006).

154 MICHAEL MEYER


Abb. 3 | Arbeitsschritte bei der Verhüttung von Raseneisenerz im Schachtofen mit Schlackegrube.

HOSTIUM AVIDITAS 155


Abb. 4 | Nachbau eines prähistorischen Rennofens, hier jedoch nicht mit Schlackegrube, sondern mit Arbeitsloch. Rechts und links
wird mit Blasebälgen in regelmäßigem Rhythmus Luft in den Brennraum geblasen. Im Vordergrund Hammer und Ambossstein
zum ersten Verdichten der Luppe.

Wir können also mit einer flächendeckenden Kenntnis der Verhüttungstechnologie rechnen; das Fund-
bild spiegelt neben gehäuften Raseneisenerzvorkommen auch den heterogenen archäologischen For-
schungsstand.
Um die Bedeutung der Eisenmenge des Varusheeres einschätzen zu können, soll im Folgenden
versucht werden, den Aufwand zu berechnen, den die Germanen für ihre Produktion hätten betreiben
müssen. Die Basis aller Ertragsberechnungen ist dabei das Gewicht der Schlacke, die von einer Renn-
ofenreise übrig ist. Verlässlich ist dies nur bei Ofentypen möglich, in denen sich das Abfallprodukt als
Schlackeklotz sammelt. Dies ist bei den Schachtöfen mit Schlackegrube der Fall.
Leider liegen aus Nordwestdeutschland kaum Angaben über das Gewicht von Schlackeklötzen vor.
Die Gewichtsangaben schwanken zwischen 20 und 83 kg.17 Jöns gibt für seine Untersuchung des spät-
kaiserzeitlichen Verhüttungsstandortes Joldelund (Nordfriesland) einen Durchschnittswert von 58,5 kg
Schlackegewicht bei den 158 archäologisch untersuchten aussagekräftigen Schlackegruben an;18 be-
schränkt man die Gewichtsangaben auf die mindestens 0,50 m tief erhaltenen Gruben, so erhöht sich
das Durchschnittsgewicht auf 68,5 kg. Auf ähnliche Werte weisen die Angaben zu den frühkaiserzeit-
lichen Rennöfen aus Quedlinburg hin.19
Nikulka hat die Ergebnisse bisheriger Eisenverhüttungsversuche evaluiert und kommt zu einem
Zahlenverhältnis von Schlacke : Luppe : Eisen von 100 : 18 : 12.20 100 kg Schlacke stehen nach dieser Be-
rechnung für eine dabei gewonnene Luppe von 18 kg, die sich auf 12 kg schmiedbares Eisen reduziert.

17 De Rijk (2007) 167; Nikulka (2000) 73. 1813 kg (159) von diesem Fundplatz an. Das höchste
18 Jöns (1997) 127. Gewicht aller Schlackeklötze beträgt in einem Fall
19 Steinmann (2006) führt 32 „Rennöfen und verwandte 71,5 kg, weitere Angaben liegen nicht vor.
Anlagen“ (15) und ein Gesamtgewicht an Schlacken von 20 Nikulka (1995).

156 MICHAEL MEYER


Abb. 5 | Kartierung von Verhüttungsnachweisen der Vorrömischen Eisen- und Römischen
Kaiserzeit in Nordwestdeutschland (Nachweis siehe Fundortnachweis im Textanhang).

Zu abweichenden Ansätzen kommen Jöns21 und Ganzelewski.22 Aus einer Menge von 35 t Schlacke, die
in Joldelund geborgen wurden, errechnen sie eine Gesamtmenge von 7,4 t Luppeneisen, die sich beim
Schmieden eines Barrens auf 2,6 t reduziert. Weitere 20 % Verlust werden dann bis zum Schmieden
eines Gegenstandes berechnet, so dass nur ca. 2 t Eisen übrig bleiben. Das ergibt ein Verhältnis von
Schlacke : Luppe : Eisen von 100 : 21 : 7,4/5,7.23

21 Jöns (1997) 175. allerdings nicht den von Jöns und Ganzelewski vorgetra-
22 Ganzelewski (2000) 64ff. genen Überlegungen, da er die Reduktion des unge-
23 Vgl. hierzu kritisch Bielenin (2000) 254. Sein Hinweis schmiedeten Eisens durch das Schmieden von Barren
auf die Annahme von 20 kg ungeschmiedetem Eisen und Gegenständen noch nicht berücksichtigt.
auf 100 kg Schlacke durch Voss (1991) widerspricht

HOSTIUM AVIDITAS 157


Bei der Berechnung der Anzahl der Rennöfen liegen so unterschiedliche Angaben vor, dass zwei
getrennte Szenarien durchgespielt werden. In beiden Fällen wird das in Joldelund ermittelte Gewicht
der Schlackeklötze als Bemessungsgrundlage verwendet.
Die fast 200000 kg Eisen, die wir dem Truppenkontingent des Varus zurechnen, würden also fol-
gendem germanischem Produktionsaufwand entsprechen:

Legen wir die Angaben Nikulkas zugrunde, so ergeben sich:

200000 kg Eisen
300000 kg Luppe
1666666 kg Schlacke
24331 Rennöfen (68,5 kg)

Nach Jöns und Ganzelewski errechnen sich folgende Zahlen:

200000 kg Eisen
736800 kg Luppe
3508000 kg Schlacke
51212 Rennöfen (68,5 kg)

Welche der Berechnungen man auch immer zugrunde legt: Es ergibt sich eine erstaunlich hohe Anzahl
von Rennöfen mit dem jeweils zugehörigen Arbeitsprozess vom Brechen des Raseneisenerzes über die
Errichtung des Rennofens bis zum vielstündigen Verhüttungsprozess selber.
Auch der Holzbedarf für den Verhüttungsprozess lässt sich quantifizieren. Spazier24 geht von
einem Verhältnis von Holzkohle zu Erz von 1,5 : 1 aus, auf 1 kg zu verhüttendes Erz kommen also
bei der Beschickung des Ofens 1,5 kg Holzkohle. Andere Schätzungen kommen zu wesentlich grö-
ßeren Holzkohlemengen, allerdings weist Spazier darauf hin, dass der Einsatz größerer Holzkohle-
mengen das Resultat nicht verbessert.25 Aus 2 kg ungeröstetem Erz bleibt als Abfallprodukt 1 kg
Schlacke übrig,26 wobei sich durch Rösten das Gewicht des eingesetzten Erzes erheblich reduzieren
kann.
Auch zur Berechnung der Holzmenge, die für die Herstellung der Holzkohle benötigt wird, liefert
Spazier Berechnungen.27 1 m3 (= Festmeter) Holz – nach den Holzartenbestimmungen aus Wolkenberg
Hartlaub- und Weichholz im Verhältnis von 70 : 30 – wiegen 700 kg und ergeben 84 kg Holzkohle;
für die Herstellung von 1 kg Holzkohle benötigt man also 8,3 kg Holz. Etwa 200 fm Holz wachsen nach
Nicke28 auf einem ha Waldfläche.
Nach Spazier und den Werten Nikulkas (links) bzw. Jöns und Ganzelewskis (rechts) errechnet sich
demnach folgender Holzverbrauch:

24 Spazier (2005/2006) 150. 27 Spazier (2005/2006) 150f.


25 Spazier (2005/2006) 150. 28 Nicke (2005/2006).
26 Spazier (2005/2006) 150 mit Hinweis auf abweichende
Kalkulationen.

158 MICHAEL MEYER


Werte nach Nikulka Werte nach Jöns/Ganzelewski
200000 kg Eisen 200000
3508000 kg Schlacke 1666666
7016000 kg ungeröstetes Erz 3333332
10524000 kg Holzkohle 5000000
87349200 kg Holz 41500000
124785 fm Holz 59286
624 ha Wald 296
6,24 qkm Wald 2,96

Die Bäume von ca. 3 bzw. 6 km2 Wald hätten also gef ällt, in Grubenmeilern zu Holzkohle geköhlert und
zu den Verhüttungsplätzen transportiert werden müssen.
Diese beachtlichen Zahlen, die einen enormen Arbeitsaufwand spiegeln, lassen unschwer erken-
nen, wie attraktiv die Beute, die sich durch einen siegreichen Angriff auf das Heer des Varus erzielen
ließ, für die germanischen Kämpfer gewesen sein muss.
In den letzten Jahren wurde bei der Diskussion germanischer Sozialstrukturen verstärkt die Rolle
klientelärer Verbindungen in den Vordergrund gerückt29 und die Bedeutung der von ihnen ausgehen-
den Gewalt betont.30 Das in der Vergangenheit oft überbetonte Modell der Gefolgschaft31 wird dadurch
aus neuer Perspektive beleuchtet. Es ist der Sieg bei kriegerischen Auseinandersetzungen, der das Pres-
tige für die Stabilisierung der sozialen Position des Gefolgschaftsführers mit sich bringt, und es sind die
dabei erbeuteten Reichtümer, die es erlauben, die Gefolgschaft auszuhalten und gegebenenfalls zu er-
weitern. Mit Blick auf rezente warlords konnte Burmeister32 zeigen, dass ein solches Modell auch heute
noch funktioniert. Wie weit solche warlords dann aber tatsächlich die gesamte germanische Gesell-
schaftsstruktur und ihre wirtschaftliche Organisation bestimmten, wie nachhaltig ihr Einfluss gewesen
ist, das bedarf allerdings noch der Diskussion.33
Der Befund der Varusschlacht mit seiner großen Koalition auf germanischer Seite bleibt über
lange Zeit ein Sonderfall. Die dabei zu erzielende Beute war nicht nur für den einzelnen Krieger eine
große Motivation: Sie konnte vielmehr auch für die Anführer dazu dienen, ihre soziale Stellung zu fes-
tigen oder sogar auszubauen. Wie viel zu erbeuten war, wird in aller Klarheit erst dann deutlich, wenn
man es – wie im Fall des Eisens – damit kontrastiert, wie hoch der Produktionsaufwand für die Germa-
nen gewesen wäre.

29 Vgl. Veit (2009) 331. 33 Vgl. hier etwa Sommer (2009) 136f., der die historische
30 Vgl. Steuer (2003). Sondersituation in der post-oppida-Periode mit der
31 Vgl. Landolt, Timpe u. Steuer (1998) 537–546. „ökonomischen wie moralischen Notlage einer krisen-
32 Burmeister (2009). geschüttelten Gesellschaft“ betont.

HOSTIUM AVIDITAS 159


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Fundortnachweis zu Abb. 5

Verhüttungsstandorte der Übergangszeit und der Römischen Kaiserzeit in Nordwestdeutschland (Abb. 5). Die Num-
merierung bezieht sich auf Nikulka (2000) 96–102: 41. (Bohlenweg im Wittemoor) EZ – Dendro 129 BC; 45. (Holt-
land; 19 Öfen) – RKZ (Datierung wenige Keramikfragmente); 56. (Gristede; 15 Öfen) – um Chr. Geb.; 1. Jh. n. Chr.;
2./3. Jh. n. Chr.; 1. Jh. – 500 n. Chr.; 6./7. Jh. n. Chr; RKZ; 65. (Dötlingen; 17 Öfen) – RKZ; 67. (Dötlingen, ‚Im Stühe‘;
min. 50 Öfen) – 1. Jh. v./1. Jh. n. Chr.(Dat: wenige Scherbenprofile); 70. (Streekermoor; 55 Öfen) – um Chr. Geb; 25+/-35
n. Chr.; 1. Jh. n. Chr.; 85. (Darme) – RKZ/VWZ; 89. (Gleesen) EZ–VEZ (1 Ofensau und Scherben, vermutlich der vor-
römischen Eisenzeit); 111. (Delmenhorst-Blutkamp; 31 Öfen) – 1. Jh. n. Chr. (nach Zoller 1977 kaiserzeitlich) NEU:
14C-Datum 2135 +/– 50 BP für drei Öfen (F. Both, Die Römische Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit im Weser-Ems-

Gebiet. Archäologische Denkmäler zwischen Weser und Ems (Oldenburg 2000) 80–95; hier: 93; 113. (Grasdorf;
43 Öfen) – RKZ; VWZ; 114. (Laar; 14 Öfen) – RKZ; 116. (Wengsel) – RKZ; 123. (Stolzenau) – ältere RKZ; 131. (Ochtrup)
EZ – latènezeitlich (als Lesefunde Schlacken, Reste eines möglichen Rennofens und wohl latènezeitliche Schmiede-
werkzeuge); 140. (Lahde; 35 Öfen) – um Chr. Geb.–jüngere RKZ; 156. (Oetinghausen) – 4./5. Jh. n. Chr.; 159. (Oeting-
hausen, ‚Auf dem Hagen‘) – mittlere RKZ; späte RKZ; 170. (Heek-Nienborg) – jüngere VEZ–jüngere RKZ; 176.
(Wichum) – späte RKZ; 206. (Herzebrock-Clarholz) – EZ/RKZ; 230. (Haltern) – RKZ; 266. (Thüle) – ältere RKZ;
1. Jh. n. Chr.; 273. (Daseburg) – frühe RKZ; ältere RKZ; 283. (Oespel) – 3./4. Jh. n. Chr.; 284. (Langendreer) – 1. u.
2. Jh. n. Chr.; 1./3. Jh. n. Chr.; Helstorf, Stadt Neustadt am Rübenberge: ca. sieben Rennöfen, nach erster Funddurch-
sicht ältere RKZ (Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte, Beiheft 9, 2002, 86ff.). Folgende von Nikulka (2000)
angeführten Öfen wurden hier nicht berücksichtigt: 54. Borbeck: Datierung unsicher, ‚Luppen‘ vermutlich Fehlanspra-
che; 212. Jöllenbeck: Datierung 12. Jh. n. Chr.; 253. Atteln; min. 19 Öfen: Datierung 6./7. bzw. 13./14. Jh. n. Chr.

HOSTIUM AVIDITAS 161


Achim Rost und Susanne Wilbers-Rost

Kalkriese – Archäologische Spuren einer römischen Niederlage1

Einleitung

Jahrhundertelang haben die schriftlichen Überlieferungen zur Varusschlacht, wie sie durch antike
Autoren tradiert auf uns gekommen sind, die Vorstellungen von diesem Ereignis der mitteleuropäi-
schen Frühgeschichte bestimmt. Sie haben nicht nur eine Vielfalt von Vermutungen ausgelöst, wo
sich diese Schlacht zugetragen haben könnte, sondern prägen bis heute auch die Erwartungen, die an
einen möglichen archäologischen Nachweis gerichtet werden. Die Berichte über diese Niederlage aus
römischer Hand scheinen dabei gelegentlich als eine Art ‚Bestellkatalog‘ aufgefasst zu werden, dem
die Archäologie nachzukommen hat. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die öffentliche Wahrneh-
mung der archäologischen Forschungen in Kalkriese weitgehend von einer historischen Blickrichtung
geprägt ist.
Das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis zwischen historischen Sichtweisen einerseits
und archäologischen Beobachtungen andererseits führt, verknüpft mit lokalpatriotischem Nach-
druck, zwar schnell zu einem medienwirksamen Streit; dieser sollte jedoch nicht an die Stelle kon-
struktiver wissenschaftlicher Diskussion treten. Erstaunlich ist nicht nur die lange Tradition, die die
Auseinandersetzung um den Fundplatz Barenau/Kalkriese und seine Interpretation besitzt, sondern
auch die Art und Weise, wie diese bisweilen geführt wurde und wird. So resümiert Mommsen2 in sei-
ner Einleitung zum Aufsatz über die Örtlichkeit der Varusschlacht: „… und zu wünschen wäre wohl,
wenn auch kaum zu hoffen, dass die deutschen Localforscher, statt mit den beliebten patriotisch-
topographischen Zänkereien die kleinen und grossen Klatschblätter zu füllen und durch Kirch-
thurmscontroversen die unbefangenen Zuschauer zu erheitern, eine solche Gesammtarbeit (gemeint
ist „die umfassende Verzeichnung und Ordnung der ausserhalb der römischen Grenzen auf deut-
schem Gebiet gemachten Funde römischer Münzen“) in Angriff nähmen und jeder für seinen Theil
sie förderten.“

1 Der Althistoriker Theodor Mommsen vermerkt in sei- darin den Nachlass einer geschlagenen und theilweise
ner Abhandlung „Die Örtlichkeit der Varusschlacht“ oder völlig zu Grunde gerichteten Armee erkannt. Selt-
(1906) 239: „In der That haben alle diejenigen, die samer Weise haben aber die Gelehrten, welche der Lo-
mit offenen Augen aus der Nähe von diesen Funden calmeinung die Richtung gegeben haben, seit Jahrhun-
(d.h. den „Münzmassen“ aus der Gegend von Barenau; derten die richtige Wahrnehmung auf eine Armee (d. h.
die Fundortangabe „Barenau“ bei Mommsen ist weitge- die des Germanicus) bezogen, die eben nicht zu Grunde
hend identisch mit der heutigen Bezeichnung ‚Kalk- ging und von deren Nachlass also überall nicht gespro-
riese‘ für die ausgedehnte Fundregion) Kenntniss ge- chen werden darf.“
nommen haben, wie Justus Möser, Stüve, Hartmann, 2 Mommsen (1906) 202.

KALKRIESE – ARCHÄOLOGISCHE SPUREN EINER RÖMISCHEN NIEDERLAGE 163


Abb. 1 | Das Untersuchungsgebiet ,Kalkriese‘ zwischen Wiehengebirge und Großem Moor.

Archäologische Funde und Befunde in Kalkriese. Die Wallanlage auf dem Oberesch

Der Überblick Mommsens3 über die damals bekannten römischen Münzen aus der Gegend von Bare-
nau und ihre Fundorte bildete auch die Ausgangsbasis für die Geländeprospektionen, mit der das heu-
tige Forschungsprojekt ‚Kalkriese‘ vor gut 20 Jahren seinen Anfang nahm.4
1987 entdeckte der Amateurarchäologe Major Tony Clunn in Kalkriese einen Schatzfund römi-
scher Münzen; einige Monate später kamen dann erste römische Militaria zutage, die zusammen mit
weiteren Beobachtungen allmählich zu der Erkenntnis führten, dass am Nordhang des Wiehengebirges
ein ausgedehntes Schlachtfeld aus augusteischer Zeit erschlossen werden kann. Bis heute andauernde
interdisziplinäre Untersuchungen in der Kalkrieser-Niewedder Senke, zwischen Wiehengebirge und
Großem Moor, ergeben inzwischen ein detailliertes Bild von diesem Kampfgeschehen; dennoch sind
weiterhin viele Fragen zum Ablauf des Ereignisses zu klären. Immer deutlicher wurde jedoch ein Zu-
sammenhang der Funde und Befunde mit der Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr.
Wir kennen heute ein ausgedehntes Fundareal mit zahlreichen Fundstellen, das annähernd von
der Hase im Westen bis zur Hunte im Osten reicht und eine Fläche von etwa 30 km2 einnimmt (Abb. 1).

3 Mommsen (1906) 212–228. 4 Zur Forschungsgeschichte vgl. Schlüter (1993) 14ff. Zu


den Münzfunden einschließlich der Altfunde vgl. Ber-
ger (1996).

164 ACHIM ROST UND SUSANNE WILBERS-ROST


Abb. 2 | Die Fundstelle ,Oberesch‘ in Kalkriese mit Grabungsschnitten und den wichtigsten Befunden der Schlacht
(Stand: 2009).

Im Zentrum liegt der Oberesch, wo sich heute der Park des Museums Kalkriese befindet. Hier begann
1989 die erste Grabung, und bis heute steht dieser Platz im Mittelpunkt der Untersuchungen.5 Offen-
bar haben wir es mit einem zentralen Platz im Areal der Schlacht zu tun, bei der es sich nicht um einen
Stellungskampf, sondern um ein sich über mehr als 10 km in Ost-West-Richtung erstreckendes Defi-
leegefecht handelt. Wichtigster Befund ist eine Wallanlage, die als befestigter germanischer Hinterhalt
zu interpretieren ist (Abb. 2).
Inzwischen hat sich bei weiteren Grabungen an anderen Fundstellen herausgestellt, dass es – an-
ders als anfangs erwartet – offenbar keine vergleichbaren Anlagen im Arbeitsgebiet gibt.
Der Wall auf dem Oberesch war etwa 400 m lang und mehrfach geschwungen; nach strategischen
Überlegungen geplant, verlief er wahrscheinlich in einer Entfernung von etwa 50 bis 70 m begleitend
zu einem Weg am Unterhang des Kalkrieser Berges. Wenn auch nicht als Wegesperre konzipiert, war er
als Hinterhalt gegen vorbeiziehende römische Truppen dennoch äußerst wirkungsvoll. Beim Wall ist
die Anwendung verschiedener Techniken und eine relativ uneinheitliche Bauweise zu beobachten; dies
ist vermutlich u.a. darauf zurückzuführen, dass in nächster Nähe verfügbares und damit kleinräumig
unterschiedliches Baumaterial genutzt wurde. Außerdem bestanden die ‚Bautrupps‘ wahrscheinlich
teils aus Angehörigen der römisch trainierten Hilfstruppen, teils aus germanischen Stammeskriegern,
die über unterschiedliche Kenntnisse und Techniken verfügten.
Zumindest im mittleren Abschnitt besaß die aus Sand und Grassoden in unterschiedlicher Zusam-
mensetzung errichtete Anlage offenbar eine Brustwehr (Abb. 3). An der Innenseite fanden sich Gruben

5 Eine detaillierte Beschreibung und Interpretation der


archäologischen Befunde findet sich bei Wilbers-Rost
(2007).

KALKRIESE – ARCHÄOLOGISCHE SPUREN EINER RÖMISCHEN NIEDERLAGE 165


Abb. 3 | Oberesch, Schnitt 7: Bei den Grabungsarbeiten zeichneten sich Drainagegruben (links) und Pfosten einer Brustwehr (Bild-
mitte) im anstehenden Sand deutlich ab.

bzw. Grabenabschnitte, die auf einen Drainagegraben zurückzuführen sind; dieser orientierte sich an
der Geländesituation und wurde nur dort ausgehoben, wo Wasser hinter dem Wall wegen des dort an-
stehenden Festgesteins mit Lehmüberdeckung nicht versickern konnte. Ein vorgelagerter Graben ist
bis auf kurze Abschnitte an den Wallenden nicht entdeckt worden.
Nachgewiesen sind auch mehrere Durchlässe, von denen mindestens einer durch eine Torkon-
struktion gesichert war. Sie ermöglichten sowohl Ausf älle wie Rückzug seitens der Germanen, die vom
Wall aus römische Truppen angreifen wollten. Der Verlauf der Wallanlage mit mehreren bastionsarti-
gen Vorsprüngen, seine Konzeption als Abschnittswall und nicht als geschlossene Anlage sowie die
zahlreichen Durchlässe deuten darauf hin, dass die Befestigung nicht so sehr defensive Funktion be-
sessen hat als vielmehr auf Vorteile beim Angriff ausgerichtet war. Eine Interpretation als von Römern
angelegtes Wall-/Grabensystem zum Schutz gegen feindliche Angriffe scheidet damit als Erklärung
aus.6 Die Germanen hingegen hatten mit diesem Wall im Süden, zwei Bachläufen im Osten und Wes-
ten und der Feuchtsenke im Norden die Möglichkeit, römische Truppenteile, die diesen befestigten
Hinterhalt erreichten, nach Bedarf durchzulassen oder einzukesseln und zu attackieren – eine Situa-
tion, die den Römern kaum eine Chance zum Aufbau einer erfolgreichen Kampfformation oder zur
Flucht bot.

6 Ausführlicher zur Interpretation der Wallanlage vgl.


Wilbers-Rost (2007) 74–84.

166 ACHIM ROST UND SUSANNE WILBERS-ROST


Abb. 4 | Eiserne römische Waffen vom Oberesch:
Lanzenspitze (links), Lanzenschuh (rechts) und Geschützbolzen.

Abb. 5 | Ausrüstungsteile von Pferden


und Maultieren aus dem römischen
Tross.

Funde

Das Fundmaterial in Kalkriese erscheint auf den ersten Blick spärlich, wenn man bedenkt, dass zumin-
dest die beteiligten Römer7 große Mengen an Metallausrüstung mit sich geführt haben. Auff ällig ist
jedoch die Vielfalt der nachgewiesenen Fragmente: Neben der Ausrüstung der kämpfenden Truppen
(Abb. 4) kamen Ausrüstungsteile von Reit-, Zug- und Tragtieren (Abb. 5), persönliche Ausstattung wie
Fibeln und Fingerringe, aber auch Bronze- und Silbergef äßfragmente sowie Glasgef äßscherben zutage.
Man kann davon ausgehen, dass die Truppen von einem umfangreichen Tross begleitet wurden.8
Darauf deuten auch die auf dem Oberesch entdeckten Knochen und Skelette von Maultieren hin.

7 Die Anzahl der Gefallenen lässt sich bisher anhand der zur Berechnung der Eisenmengen s. M. Meyer im vor-
Funde nicht ermitteln. Die für die Varusschlacht auf- liegenden Band.
grund der schriftlichen Überlieferung geschätzte Zahl 8 Kataloge des Fundmaterials aus den Schnitten 1–39 (vgl.
von etwa 20000 Beteiligten auf Seiten der Römer dürfte Abb. 2) liegen vor: Harnecker (2008) u. (2011).
allerdings zu hoch gegriffen sein. Gechter (2007) 92;

KALKRIESE – ARCHÄOLOGISCHE SPUREN EINER RÖMISCHEN NIEDERLAGE 167


Abb. 6 | Oberesch, Schnitt 24: Grube mit Knochenresten von Menschen und Equiden.

Knochen

Trotz ungünstiger Überlieferungsbedingungen im Sandboden waren auf dem Oberesch Knochen


erhalten.9 Die meisten Relikte, sowohl von Menschen als auch von Maultieren und einzelnen Pferden,
lagen in Gruben. In den derzeit acht Knochengruben (Abb. 6) fanden sich neben Tierknochen Über-
reste von Gefallenen, wahrscheinlich von Römern; allerdings waren sie nicht unmittelbar nach der
Schlacht, sondern erst einige Jahre später bestattet worden.10
Die Untersuchungen an diesem überwiegend sehr schlecht erhaltenen Knochenmaterial haben ge-
zeigt, dass die Toten vor der Deponierung einige Jahre auf der Oberfläche liegen geblieben waren;
Weichteile und Sehnen waren vergangen und die Skelettverbände völlig aufgelöst, so dass lediglich
letzte Überreste der Skelette in die Gruben gelangten. Diese ‚Bestattungen‘ können mit dem Bericht des
Tacitus über den Besuch der Truppen des Germanicus auf dem Varus-Schlachtfeld im Jahr 15 n. Chr. in
Verbindung gebracht werden.11 In den Gruben überwiegen menschliche Überreste gegenüber den Kno-
chen von Equiden. Offenbar sind Menschenknochen vordringlich gesammelt worden; einige von ihnen
lassen zudem eine gewisse Fürsorge bei der Niederlegung erkennen. In allen Fällen sind Reste mehre-
rer Toter in die Gruben verbracht worden. Wir haben es demnach mit einer Art von Massengräbern zu
tun, wenn auch nicht im eigentlichen Sinne, da nie vollständige Skelette vorliegen. Diese ‚Bestattungen‘
sind ein weiterer Hinweis auf den Ort der Varusschlacht, in deren Zusammenhang überliefert ist, dass
Gefallene erst mehrere Jahre später bestattet wurden.

19 Uerpmann u. Uerpmann (2007); Großkopf (2007). 11 Tac. ann. 1,60–62.


10 Ausführlicher zur Interpretation dieser Gruben Rost u.
Wilbers-Rost (in Vorbereitung).

168 ACHIM ROST UND SUSANNE WILBERS-ROST


Abb. 7 | Zahlreiche Blechfragmente aus
Bronze und Silber, die meistens verbogen
oder mehrfach gefaltet sind, deuten auf
Plünderungen durch die Germanen hin.

Zur Rekonstruktion des Wallverfalles

Außer den in den Gruben niedergelegten Knochen fanden sich auf dem Oberesch größere Knochenen-
sembles in unmittelbarer Nähe zum Wall. Diese Befunde erlauben ebenso wie Verteilung und Zustand
der Metallfunde in dieser Zone die Untersuchung des Wallverfalls, der, verglichen mit unseren inzwi-
schen recht guten Kenntnissen zu Verlauf und Funktion der Anlage, bisher wenig erschlossen ist. Wie
beispielsweise ein komplett erhaltenes Maultier und andere größere Fundkomplexe zeigen, müssen
einige Abschnitte bereits bei den Kampfhandlungen stark beschädigt worden sein, da diese Ensembles
nur durch eine sofortige Überdeckung mit Wallmaterial vor Plünderern und Wildtieren geschützt wa-
ren. Im einzelnen ist noch zu klären, wo wir am Wall Zerstörungsspuren durch die eigentlichen Kampf-
handlungen, im Zuge der anschließenden Plünderungen oder durch Erosionsprozesse fassen können.
Anhand von stratigraphischen Fundkartierungen im Wallbereich wird versucht, dies zu analysieren.
Dabei ist insbesondere der Zustand der Fundstücke zu berücksichtigen, d.h. ob sie z.B. Spuren von
Plünderung, Verschrottung oder Materialsortierung zeigen.
Bei näherer Betrachtung des Fundmaterials wird die extreme Fragmentierung deutlich. Wir haben
es nur mit wenigen größeren oder gar vollständigen Objekten zu tun; zu Hunderten kamen Nägel zu-
tage, aber auch zahllose Blechreste unterschiedlicher Größe, die vermutlich von organischen Trägern
gelöst, dann gebogen, gefaltet oder geknüllt und so für einen leichteren Abtransport vorbereitet worden
waren (Abb. 7).

KALKRIESE – ARCHÄOLOGISCHE SPUREN EINER RÖMISCHEN NIEDERLAGE 169


Mit dem Beutemachen und Fleddern der Leichen, das in Kalkriese nachzuweisen ist,12 war offen-
bar eine Phase systematischen Verschrottens verbunden, und wir haben Hinweise darauf, dass dieser
Prozess verstärkt in der näheren Umgebung des Walles ablief, wo zahlreiche Stücke mit Verschrot-
tungsspuren entdeckt wurden. Gerade solche Beobachtungen machen deutlich, dass die Forschungen
selbst auf dem besonders intensiv untersuchten Oberesch noch nicht abgeschlossen sind und dass die
sich jetzt abzeichnenden Fragen nur mit Hilfe weiterer zielgerichteter Ausgrabungen und Analysen be-
antwortet werden können.

Mommsens Schlussfolgerungen

Obwohl sich, wie dieser kurze Überblick zeigt, der heutige Stand der archäologischen Forschungen in
Kalkriese eigentlich nicht mehr mit dem Mommsens vergleichen lässt, bietet seine Arbeit „Die Örtlich-
keit der Varusschlacht“ auch heute noch interessante Anknüpfungspunkte.
Bemerkenswerterweise nahm Mommsen bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert eine letztlich
archäologische Bewertung der Fundstelle Barenau vor; er bezog das damals vorhandene Fundmaterial,
die bei Barenau entdeckten Münzen, keineswegs nur unter chronologischen, sondern auch unter quan-
titativen Gesichtspunkten in seine Überlegungen ein. Mit Verweis auf Arbeiten von Vorgängern kam er
zu dem Schluss, dass die große Menge der bei Barenau gefundenen republikanischen bis augustei-
schen Münzen auf die weitgehende Vernichtung eines römischen Heeres zurückzuführen sei, und fol-
gerte daraus weiter, dass die Funde nicht mit den Kampfhandlungen des Germanicus, sondern mit der
Vernichtung des Varusheeres im Jahre 9 n. Chr. in Verbindung zu bringen sind.13 Vor allem zwei Phä-
nomene trugen allerdings dazu bei, dass diese These Mommsens nur begrenzte Beachtung erfuhr: Es
waren ausschließlich Münzen zutage gekommen, und zudem blieben nach dem Erscheinen seiner Ver-
öffentlichung Neufunde weitgehend aus.
In der Rückschau ist heute jedoch nachvollziehbar, warum Mommsen bzw. dem von ihm beauf-
tragten Numismatiker Menadier bei ihrer Aufnahme fast ausschließlich Silber- und einige Goldmün-
zen zur Verfügung standen: Sie konnten lediglich auf das von Landwirten bei der Bewirtschaftung der
Felder entdeckte Fundmaterial zurückgreifen, was zwangsläufig zu einer Beschränkung auf von Laien
als wertvoll erfasste und meistens bei der Familie von Bar abgegebene Objekte führte. Kupfermünzen
und erst recht Fragmente römischer Militärausrüstung, die, wie das heutige Fundspektrum zeigt, oh-
nehin meistens sehr unscheinbar sind, waren bei den Feldarbeiten nicht erkannt worden und standen
somit für eine wissenschaftliche Beurteilung nicht zur Verfügung. Derartig selektive Wahrnehmung als
Ursache für eine einseitige archäologische Quellenlage erschließt sich oft erst im Nachhinein, und
auch die Seltenheit von Fundmeldungen in den auf Mommsens Publikation folgenden Jahrzehnten ist
inzwischen gut mit der Umstellung der Düngung erklärbar; die Eschwirtschaft wurde ersetzt durch die
Verwendung von Kunstdünger, bei der die Landwirte weniger direkten Kontakt zu den im Boden erhal-
tenen Artefakten haben.
Vor diesem Hintergrund erscheint Mommsens Auffassung, aus der Menge der Funde, den beim
damaligen Forschungsstand etwa 200 vorhandenen oder erwähnten römischen Münzen, direkte Rück-
schlüsse auf die Kampfhandlungen ziehen zu können, um so beachtenswerter. Sie fordert eine einge-
hende Prüfung geradezu heraus und macht zugleich deutlich, wie eng die heutige Analyse des Fund-

12 S. unten S. 173f. 13 Vgl. Anm. 1.

170 ACHIM ROST UND SUSANNE WILBERS-ROST


materials aus Kalkriese forschungsgeschichtlich verknüpft ist mit den frühen Versuchen, diese
Fundstelle zu bewerten. Mitunter hat Mommsen in seiner Argumentation archäologische Aspekte stär-
ker berücksichtigt, als gemeinhin wahrgenommen.

Faktoren einer archäologisch-quellenkritischen Analyse von Schlachtfeldern

Die Annahme, dass von der Fundmenge direkt auf die Art des militärischen Ereignisses geschlossen
werden kann, wovon offensichtlich auch Mommsen ausgegangen ist, erscheint zwar zunächst verlo-
ckend, birgt jedoch bei näherer Betrachtung das Risiko erheblicher Fehleinschätzung. Die Forschungen
in Kalkriese, die erstmals die archäologische Untersuchung der Hinterlassenschaften einer antiken
Feldschlacht ermöglichen, haben in dieser Hinsicht zu einem Lernprozess geführt und wichtige metho-
dische Einsichten erbracht.14 Mehr noch als bei Stellungsgefechten oder Belagerungen mit ihren oft
umfangreichen Schanzungen, wie z.B. dem Einschluss des gallischen Oppidums Alesia durch Caesar
52 v. Chr.15, vermitteln bei Feldschlachten in erster Linie die Funde und ihre Verteilung Anhaltspunkte
für eine Rekonstruktion der militärischen Ereignisse.16
Die Fülle der Funde und Befunde auf dem Oberesch führte zunächst zu der Erwartung, dass
ähnliche Anlagen auch in der Umgebung zu finden sein müssten, und nährte zugleich die Vorstellung,
dass Menge und Art der Funde Auskunft über die Intensität der Kämpfe an verschiedenen Stellen des
weitläufigen Kampfareals geben können. Die weiteren Untersuchungen ergaben allerdings, dass die rö-
mischen Militaria zwar am Fuß des Kalkrieser Berges im Engpass zwischen Großem Moor und Berg
über ein Gebiet von fast 30 km2 streuen, der Großteil der Funde aber auf der Flur Oberesch zutage
kam.17 Da außerdem jenseits dieser Fundstelle keine weiteren Wallstrukturen nachgewiesen werden
konnten,18 lag die Folgerung nahe, dass die Kämpfe sich weitgehend auf den Oberesch konzentriert ha-
ben mussten.
Unberücksichtigt blieben bei diesem Interpretationsversuch allerdings jene überwiegend erst nach
den eigentlichen Kampfhandlungen einsetzenden Prozesse, welche die archäologische Überlieferung
eines Schlachtfeldes erheblich beeinflussen: insbesondere die unterschiedlichen Abläufe des Bergens
und Plünderns.19 Derartige Verhaltensweisen sind von vielen Schlachtfeldern der Antike bis in die Neu-
zeit überliefert; auch für den uns interessierenden Zeitraum der Jahrzehnte um Christi Geburt finden
sich dafür in den antiken Schriftquellen konkrete Hinweise. So ist das Beutemachen als Motivation für
die Germanen, sich an den Kämpfen zu beteiligen, aus Cassius Dio zu erschließen,20 während sich
aus den Annalen des Tacitus am Beispiel von Schilderungen der Kampfhandlungen Caecinas mit den
Germanen ergibt, wie sehr das römische Heer darauf trainiert war, Verwundete zu bergen und den

14 Ausführlicher zu quellenkritischen Überlegungen Rost 18 Weitere vermeintliche Wallabschnitte auf den Fluren
(2008; 2009). Sommerfrüchte und Hagenbreite, die unmittelbar an
15 von Schnurbein (2008). den Oberesch angrenzen, stellten sich im Rahmen der
16 Befunde wie die Wallanlage auf dem Oberesch sind bei Auswertung als Fehlinterpretation heraus. Harnecker u.
offenen Feldschlachten eher die Ausnahme und verbes- Tolksdorf-Lienemann (2004) 30; 38; 64; 68; 111f.
sern im übrigen allenfalls kleinräumig die Überliefe- 19 Nicht näher eingegangen wird hier auf die Auswirkungen
rungschancen. späterer landwirtschaftlicher Aktivitäten, die alle Fund-
17 Die durch Grabungen erschlossenen Flächen außerhalb stellenkategorien betreffen und keineswegs schlachtfeld-
des Oberesches haben zusammen zwar ungef ähr den spezifisch sind.
gleichen Umfang wie die Grabungsschnitte auf der 20 Cass. Dio 56,21,4; s. dazu M. Meyer im vorliegenden
Hauptfundstelle, d.h. etwa 10000 m2, es wurden jedoch Band.
nur etwa 10 % der Funde entdeckt.

KALKRIESE – ARCHÄOLOGISCHE SPUREN EINER RÖMISCHEN NIEDERLAGE 171


Tross zu sichern.21 Diese auf die Kämpfe folgenden Prozesse des ‚Aufräumens‘ im weitesten Sinne
sind daher grundsätzlich in Erklärungsversuche für Fundverteilungen auf Schlachtfeldern einzube-
ziehen.22

Interpretationsmodell für das Fundareal von Kalkriese

Vergegenwärtigt man sich darüber hinaus, dass die Funde römischer Militaria, die im Verlauf des Eng-
passes zwischen Moor im Norden und Kalkrieser Berg im Süden über eine Strecke von mehr als 10 km
streuen (vgl. Abb. 1), als Spuren eines langgezogenen Defileegefechts zu interpretieren sind, ergibt sich
ein durchaus schlüssiges Gesamtbild. Bei einer Entwicklung der Kampfhandlungen von Ost nach West,
d.h. ersten Angriffen der Germanen im Osten, wären dort nicht allzu viele Funde zu erwarten, da ein rö-
misches Heer, auch das des Varus, zunächst wohl in der Lage war, die Angriffe erfolgreich zu erwidern.
Im Verlauf wiederholter Attacken dürfte es erste Verwundete auf römischer Seite gegeben haben. Diese
werden aber medizinisch versorgt23 und im noch weitgehend intakten römischen Heeresverband mit-
genommen worden sein. Daher wäre selbst an Stellen intensiver Angriffe seitens der Germanen, die im
übrigen einfach aus Waldkanten heraus – ohne aufwendige Schanzungen – erfolgreich attackieren
konnten, nicht automatisch ein entsprechender Niederschlag im heutigen archäologischen Fundmate-
rial zu erwarten. Die zwar vorhandene, aber sehr viel geringere Anzahl von Funden römischer Militaria
östlich vom Oberesch wird auf diese Weise verständlich.
Die Bergung, Versorgung und Mitnahme von Verletzten, möglicherweise auch von Gefallenen,
dürfte allerdings eine zusätzliche Belastung für das auf dem Marsch befindliche römische Heer darge-
stellt haben. An Plätzen wie dem Oberesch, wo mit der Anlage eines Walles zusätzliche Vorkehrungen
für erfolgreiche Angriffe auf die Vorbeiziehenden getroffen worden waren, dürfte es den Germanen
dann aber um so leichter möglich gewesen sein, erhebliche Teile dieser in endloser Folge in vergleichs-
weise kleinen Einheiten eintreffenden römischen Truppen aufzureiben. In Zonen, in denen die Armee
erheblich in Mitleidenschaft gezogen wurde und die gesamte Logistik kollabierte, brachen auch Versor-
gung und Transport der Verwundeten zusammen. Damit waren aber weitab von römisch kontrollierten
Gebieten ohne Aussicht auf schnellen Entsatz die Voraussetzungen geschaffen, dass Verwundete und
Tote der Willkür der siegreichen Germanen ausgeliefert waren. Wie auch von anderen Schlachtfeldern
unterschiedlicher Zeitstellung bekannt, kann es unter bestimmten politischen, sozialen, kulturellen

21 Tac. ann. 1,64,4. „Auffindung von Geräth und besonders von Waffen in
22 Hinweise auf die Auswirkungen des Aufräumens eines der Weise, dass die Identificierung mit einiger Sicher-
Schlachtfeldes finden sich im übrigen schon bei Momm- heit stattfinden kann, ist nicht … unmöglich, aber auch
sen (1906) 234: „Allerdings muss eingeräumt werden, nicht eben wahrscheinlich“ urteilt Mommsen (1885)
dass militärische Katastrophen dieser Art regelmässig 201; zur Diskussion um eventuelle Einflüsse von kulti-
einen solchen Nachlass nicht ergeben haben noch erge- schen Handlungen seitens der Germanen, die ebenfalls
ben können. Das Aufräumen des Schlachtfeldes und bei Tacitus (ann. 1,61,2–3) für die Varusschlacht beschrie-
insbesondere die Besitznahme des in den Kassen oder ben sind, auf die Fundüberlieferung des Schlachtfeldes
bei den Einzelnen vorhandenen baaren Geldes wird in vgl. Rost (2009b) 73–76.
alter wie in neuer Zeit in der Regel mit solcher Energie 23 Knochenheber und Skalpellgriff vom Oberesch (Har-
betrieben, dass späteren Geschlechtern hier nicht viel zu necker [2008] 21 Taf. 22) sowie ein Behälter zum Auf-
finden bleibt. Aber die Katastrophe des Varus hat wohl bewahren von medizinischem Gerät von der Fundstelle
eine Ausnahme machen können.“ Es folgen Überlegun- Kalkriese-Dröge (Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann
gen zu den Ursachen für die Häufigkeit von Münzfun- [2004] Taf. 3) belegen die Anwesenheit von Sanitätern
den und zum Fehlen von „Bronzegeräth“ der römischen und Ärzten. Zu weiteren Indizien für medizinische Ver-
Armee in der Umgebung von Barenau. Die Chance der sorgung im Fundareal von Kalkriese vgl. Rost (2009c).

172 ACHIM ROST UND SUSANNE WILBERS-ROST


Abb. 8 | Römischer Legionär mit Ausrüstung (Schienenpanzer) aus
der Zeit um Christi Geburt. Rot eingetragen sind die Fragmente, die in
Kalkriese entdeckt wurden.

oder auch kultischen Rahmenbedingungen zu brutalen Plünderungen kommen.24 Die große Zahl oft
kleiner Fragmente der Legionärsausrüstung (Abb. 8), die auf dem Oberesch entdeckt wurde, wird so
plausibel, zumal am Ort einer endgültigen militärischen Vernichtung auch diejenigen zurückbleiben
und ausgeplündert werden, die bei vorhergehenden Kämpfen verletzt, aber zunächst noch geborgen
und medizinisch versorgt, bis an den Platz der endgültigen Niederlage gelangten. Plünderungen bewir-
ken – insbesondere, wenn sie mit Leichenfledderei verbunden sind – geradezu eine Produktion von
Bruchstücken der am Körper fixierten Ausrüstung, da bei den gewaltsamen Vorgängen Kleinteile wie
Schnallen oder Scharniere häufiger abreißen können, ins Gras fallen und dann beim weiteren Einsam-
meln leichter zu übersehen sind.25

24 So z.B. bei der Schlacht zwischen Indianern und den wurden. Fand keine Leichenfledderei statt, sondern
Truppen des General Custer am Little Big Horn 1876 wurde auch den Unterlegenen die Möglichkeit gegeben,
(ausführlicher Rost [2009a]). ihre Verwundeten und Toten zu bergen, und wurde die
25 Die schwere Nachweisbarkeit insbesondere antiker übrige Bewaffnung und Ausrüstung im Sinne des Auf-
Schlachtfelder hat ihre Ursache u.a. darin, dass Funde räumens vom Schlachtfeld eingesammelt, blieb weniger
nicht so sehr bei den Kämpfen selbst verloren gegangen zurück als bei brutalem Fleddern.
sind, sondern erst bei den Plünderungen ‚produziert‘

KALKRIESE – ARCHÄOLOGISCHE SPUREN EINER RÖMISCHEN NIEDERLAGE 173


Die Seltenheit germanischer Waffen selbst in einem derartigen Brennpunkt der Kampfhandlun-
gen, in denen sicherlich auch germanische Krieger getötet wurden, ist wiederum nicht verwunderlich,
da die Germanen als Sieger im eigenen Territorium in der Lage gewesen sein dürften, ihre Verwunde-
ten und Gefallenen mitsamt deren Ausrüstung zu bergen und die Toten abseits des Schlachtfeldes, ih-
ren Sitten entsprechend, zu bestatten.26
Die westlich und nordwestlich an den Oberesch anschließenden Fundstreuungen zeigen wieder
andere Besonderheiten. Die Zahl der Funde nimmt insgesamt deutlich ab, doch fallen einige Stücke
durch ihren hohen Materialwert auf. Ansammlungen von Silbermünzen, insbesondere aber die weit-
gehend vollständigen Silberbeschläge einer Schwertscheide in dieser Zone wurden als Indizien für eine
verstärkte Einbindung von Offizieren in die dortigen Kampfhandlungen erwogen.27 Bezieht man in die
Interpretationsmodelle jedoch auch hier die Einwirkung von Plünderungsprozessen auf das heutige
Überlieferungsbild mit ein und fasst man die Fundstücke nicht automatisch als direkte Widerspiege-
lung des eigentlichen Kampfgeschehens auf, ergeben sich andere Erklärungen.
Bei einem langgezogenen Defileegefecht ist von Zonen der Flucht und nachsetzenden Gefechten
auszugehen, die auf Areale zentraler Kampfhandlungen folgten. Bis hierher durchgekommene römi-
sche Soldaten könnten bei der Flucht hinderliche Ausrüstungsteile weggeworfen oder vor einer sich ab-
zeichnenden Gefangennahme wertvolle Gegenstände versteckt haben, bevor diese dem Gegner in die
Hände fallen konnten. So vereinzelt, könnten beispielsweise in einem Lederbeutel verwahrte Barschaf-
ten oder auch eine silberne Schwertscheide in diesen Abschnitten des Schlachtfeldes den nachfolgen-
den Plünderungen eher einmal entgangen sein. In Hauptkampfzonen mit vielen Verwundeten und To-
ten, wie z.B. auf dem Oberesch, wären Geldbörsen ebenso wie wertvolle Schwertscheiden nach den
Kämpfen aber meistens noch mit ihren Besitzern verbunden und daher beim systematischen Plündern
kaum zu übersehen gewesen.

Fazit

Als Teil eines komplexen Defileegefechtes aufgefasst, wird die Fundkonzentration auf dem Oberesch
besser verständlich, und es wird nachvollziehbar, dass für einen erfolgreichen Überfall bereits die Er-
richtung von Schanzungen in wenigen ausgewählten Abschnitten genügte. Vor allem auf dem Ober-
esch, an der engsten Stelle des Hinterhalts, war eine stärkere Sicherung vorteilhaft, um das römische
Heer endgültig aufzureiben, nachdem es zuvor schon durch wiederholte Flankenangriffe aus Waldkan-
ten heraus erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Solche Attacken dürften nicht nur die
Marschordnung beeinträchtigt, sondern auch den wegen seiner Größe ohnehin schwerf älligen Tross
durch den Transport von Verwundeten zusätzlich stark behindert haben.

26 Die germanischen Bestattungssitten sind in der Region Seite auch römische Bewaffnung tragende Auxiliarein-
Kalkriese aufgrund der hier üblichen Leichenverbren- heiten gekämpft haben; zudem war bei den an den
nung und der eher unscheinbaren Grabformen für Kämpfen beteiligten germanischen Stammeskriegern
einen archäologischen Nachweis äußerst ungünstig, so die militärische Ausrüstung insgesamt weniger metall-
dass wir nicht erwarten können, auf entsprechende Grä- reich, d.h. archäologisch ohnehin weniger gut nach-
ber zu stoßen. Als weiterer Grund für die Spärlichkeit weisbar. Darüber hinaus dürfte die Zahl der Verluste bei
germanischer Funde – bisher wurde lediglich ein Reiter- den Germanen geringer gewesen sein als bei den Rö-
sporn als eindeutig germanisch identifiziert – ist anzu- mern.
führen, dass bei der Varusschlacht auf germanischer 27 Schlüter (1999) 49.

174 ACHIM ROST UND SUSANNE WILBERS-ROST


Auf welche Weise sich die großräumige, sehr unterschiedlich ausgeprägte Verteilung römischer
Militaria im Fundareal Kalkriese in eine Gesamtinterpretation einbinden lässt, macht die Skizzierung
des Zusammenwirkens unterschiedlicher Handlungsabläufe während und vor allem nach der Schlacht
deutlich. Ein grundsätzlicher Widerspruch zwischen diesem auf archäologischen Quellen und ihrer kri-
tischen Würdigung basierenden Modell einerseits und den historischen Überlieferungen zur Varus-
schlacht andererseits ergibt sich daraus keineswegs.28
Die detaillierte Auswertung der Militaria und ihrer Verteilung nicht nur auf der Hauptfundstelle
Oberesch, sondern im ausgedehnten Kampfareal insgesamt bleibt abzuwarten, bevor weitergehende
Schlussfolgerungen gezogen werden können. Ein Aspekt lässt sich jedoch schon beim derzeitigen Stand
der Arbeiten hervorheben: Die bisher nachgewiesene Fundverteilung mit ihren Indizien für Leichen-
fledderei im Bereich der heutigen Flur Oberesch spricht in Verbindung mit der weiträumigen Verteilung
römischer Artefakte im Engpass zwischen Berg und Moor für Defileegefechte, die für die römischen
Truppen mit einer weitgehenden Vernichtung endeten. Auch die Knochengruben zeigen, wie umfassend
dieser Zusammenbruch des römischen Heeres gewesen sein muss; die Römer hatten offensichtlich wäh-
rend mehrerer Jahre keine Möglichkeit, der Verpflichtung nachzukommen, die Toten zu bergen oder zu-
mindest unter die Erde zu bringen. Auf der Grundlage des inzwischen sehr viel umfassenderen archäolo-
gischen Fundmaterials, verbunden mit einer differenzierten quellenkritischen Würdigung, ist es heute
möglich, Mommsens über 120 Jahre zurückliegendes Fazit wieder aufzugreifen, dass in den Funden von
Kalkriese/Barenau der „Nachlass einer geschlagenen und … zu Grunde gerichteten Armee erkannt“ wer-
den kann und damit eine Lokalisierung der Varusschlacht in Kalkriese zunehmend wahrscheinlich wird.

Literatur

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Frank Berger, Kalkriese 1. Die römischen Fundmünzen, Joachim Harnecker, Kalkriese 4. Katalog der römischen
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Begleituntersuchungen, Mainz, 157–178.

28 Wolters (2008) 165 bezieht sich im Zusammenhang mit ergebnissen und historischer Überlieferung bedauer-
seiner Feststellung, „dass die literarischen Angaben zum licherweise nur auf den Forschungsstand bis 2004
Verlauf der Varuskatastrophe einen anderen archäologi- (u.a. Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann [2004]); die im
schen Befund erwarten lassen, als man ihn bislang in vorliegenden Beitrag zusammengefassten quellenkriti-
Kalkriese angetroffen hat“ und der daraus abgeleiteten schen Arbeiten (u.a. Rost [2007] u. [2008]) fanden bei
Diskrepanz zwischen archäologischen Untersuchungs- ihm jedoch keine Berücksichtigung.

KALKRIESE – ARCHÄOLOGISCHE SPUREN EINER RÖMISCHEN NIEDERLAGE 175


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lin, 202–246 [zuerst in: Sitzungsberichte der Preußischen gang Schlüter (Hg.), Kalkriese – Römer im Osnabrücker
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Rost u. Wilbers-Rost (in Vorbereitung)


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176 ACHIM ROST UND SUSANNE WILBERS-ROST


Morten Hegewisch

Von Leese nach Kalkriese?


Ein Deutungsversuch zur Geschichte zweier linearer Erdwerke

Einführung und zeitliche Einordnung

In diesem Beitrag sollen der sog. ‚Angrivarierwall‘, der Wall bei Kalkriese sowie weitere germanische
Anlagen im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Da im vorliegenden Band im Wesentlichen dem
‚Krieg des Varus‘ 9. n. Chr., der historischen Gestalt des Arminius und der Forschungsrezeption Raum
gewährt wird, werden sich die Betrachtungen zur Thematik auch in dieser Periode als grober zeitlicher
Klammer bewegen.
In relativchronologischer Hinsicht befinden wir uns mit der in den historischen Schriftquellen do-
kumentierten Person des Arminius in einem Zeitraum, der die frühe Römische Kaiserzeit mit den Stu-
fen Eggers A und B1 umfasst, also in etwa von der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhun-
derts bis zur ersten Jahrhunderthälfte nach Christi Geburt reicht.1
Einleitend ist jedoch festzustellen, dass es nicht das Ziel des folgenden Beitrags ist, einen archäo-
logischen Befund an das in den römischen Schriftquellen überlieferte Ethnos zu binden. Die Proble-
matik der ‚ethnischen Ansprache‘ archäologischer Funde und Befunde ist in den letzten Jahren umfas-
send thematisiert worden und bedarf durch den Verfasser keiner weiteren Ergänzung.2 Da aber für den
hier im Mittelpunkt stehenden Befund eine Ansprache in dieser Richtung seit der in den 20er Jahren
erfolgten Erstpublikation bereits besteht, lässt sich dies auch nicht umgehen.
Aus ethnographischer Sicht gehören die germanischen Protagonisten zu den Stämmen der Che-
rusker und der Angrivarier. Auf Seiten der Cherusker sind zahlreiche Akteure bekannt, die im wesent-
lichen zum untereinander konkurrierenden Stammesadel und Familienkreis des Arminius zählen. Für
die Angrivarier werden keine handelnden Personen erwähnt, doch tauchen diese zu unterschiedlichen
Gegebenheiten immer wieder auf und werden prominent als Gegner der römischen Seite beschrieben,
die im Verlauf unterschiedlicher Aktionen erfolgreich niedergerungen werden konnten.
In der Regel werden die Cherusker zu beiden Seiten der mittleren Weser und der Leine verortet.
Bereits Caesar vermerkte im ersten vorchristlichen Jahrhundert, dass jene von den im Maingebiet
siedelnden Sueben durch einen breiten Grenzgürtel – die Bacenis Silva – getrennt lebten.3 Plinius
wies die Cherusker den ‚Herminonen‘ zu, die im Flussgebiet der Weser siedelten,4 und auch Vibius
Sequester, ein römischer Geograph, der wohl Ende des 4. Jahrhunderts wirkte und noch auf eine
Reihe heute verloren gegangener Quellen zurückgreifen konnte, verortete diese an beiden Ufern der
Weser.

1 Hinsichtlich der Lebensdaten des Arminius kann an- möchte, dem sei das erst jüngst erschienene Werk von
genommen werden, dass dieser um das Jahr 18 v. Chr. E. Cosack zum Scheiterhaufengräberfeld Sorsum, Stadt
geboren wurde, seine Verwandten ermordeten ihn Hildesheim, empfohlen, in dem sich Peter Kehne mit
19 n. Chr. im Alter von 37 Jahren (Tac. ann. 2,88). der Thematik – gegenläufig zu Brather – befasst: Kehne
2 Zur Vertiefung hinsichtlich einer Kritik an ethnischen (2011).
Deutungen siehe Brather (2004). Wer sich unabhängig 3 Caes. Gall. 6,10.
mit der Ethnogenese der Cherusker auseinandersetzen 4 Plin. nat. 4,100.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 177


Abb. 1 | Der Norden nach der Beschreibung von Ptolemaios. Seite der Ausgabe aus dem Jahr 1466 von Nicolaus Germanus.

Nach Süden wurden die Siedlungsräume der Cherusker durch jene der Chatten im Flussgebiet von
Fulda und Lahn begrenzt.5 Im Norden der cheruskischen Stammesgebiete und ebenso an der Weser
folgten die Angrivarier, die wiederum im Norden die Stammesgebiete der Chauken berührten und von
diesen schließlich in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben
wurden.6
Mitte des 2. Jahrhunderts erstellte der Geograph Klaudios Ptolemaios das Werk Geographische An-
leitung (zum Zeichnen von Erd- und Länderkarten), nach dessen Koordinaten und Angaben unterschied-
liche Weltkarten angefertigt wurden, denen geographische Informationen wie Städtenamen, aber auch
die Verortung einzelner Stämme zu entnehmen sind. Die Angrivarier finden sich dabei als Eintrag
im Raum rechts des Visurgis – der Weser – wieder (Abb. 1), und hier etwa in Höhe der antiken Stadt
Tulifurdum.
Aus archäologischer Sicht lassen sich die Stämme der Angrivarier und Cherusker den sog. ‚Rhein-
Weser-Germanen‘ zuweisen. Bei diesen handelt es sich um germanische Gruppen, die mit Hilfe einer
Reihe von Merkmalen beschrieben werden. Dazu rechnen spezifische Bestattungssitten und auch
archäologisches Fundgut – vor allem eine sehr klar definierte Keramik. Den Begriff ‚Rhein-Weser-
Germanen‘ führte Rafael von Uslar 1938 in die Forschung ein. Er untersuchte den archäologischen

5 Berlekamp (1976) 400. 6 Berlekamp (1976) 400.

178 MORTEN HEGEWISCH


Fundniederschlag zwischen Mittel- und Westdeutschland.7 Diese Arbeit zählt zu den Standardwerken
über archäologische Kulturen in Mitteleuropa und hat ihre Bedeutung in terminologischer wie typolo-
gischer Hinsicht auch sieben Jahrzehnte nach der Erstpublikation nicht verloren.
Rafael von Uslar war hinsichtlich der ethnischen Zuweisung der Rhein-Weser-Germanen ver-
gleichsweise vorsichtig, dennoch konnte auch er sich dem Zug der Zeit und dem Stand damaliger For-
schung nicht völlig entziehen und sprach einige seiner Formengruppen als „cheruskisch“ oder „nicht-
cheruskisch“ an.8 Abgesehen davon, dass seine Vorsicht offensichtlich dem Naturell jenes Forschers
entsprach, ist dies für eine Zeit umso bemerkenswerter, in der archäologische Funde allzu rasch
einem ethnischen Hintergrund zugewiesen wurden, was allerdings nicht nur für den deutschen Kul-
turraum gilt. Aus archäologischer Sicht sind also die Cherusker und die Angrivarier Rhein-Weser-Ger-
manen.

Die Angrivarier und der sog. Angrivarierwall

Tacitus berichtet an zwei Stellen von den Angrivariern. Sie treten als Stamm in den Quellen während
der Feldzüge des Germanicus hervor, die den germanischen Aufständischen galten. Da abgesehen von
den Cheruskern keine weiteren Stammesgruppierungen benannt werden, die am Kampf gegen Varus
teilnahmen, werden die im Verlaufe der Feldzüge des Germanicus unterworfenen Stämme im Rück-
blick von der althistorischen Forschung als Teilnehmer an der clades Variana angesehen: „Daraus ergibt
sich, dass im Jahre 9 n. Chr. vor allem die Cherusker, die Marser und die Brukterer sowie vielleicht die
Angrivarier als Träger des Widerstandes gegen die römischen Legionen auftraten.“9 Hinsichtlich der
Angrivarier wird außerdem z.T. spekuliert, dass es sich bei Ihnen um jenen Stamm gehandelt haben
könnte, der den inszenierten Aufstand gegen Varus begann und ihn so zu seinem bekanntermaßen ver-
hängnisvollen Umweg verleitete.10
Tacitus vermerkt: „Als der Caesar das Lager abstecken ließ, wurde der Abfall der Angrivarier im Rü-
cken der Römer gemeldet. Sofort wurde Stertinius mit Reiterei und Leichtbewaffneten abgeschickt und
rächte mit Feuer und Blutbad die Treulosigkeit.“11 Im weiteren Verlauf berichtet Tacitus über eine große
Schlacht zwischen Germanicus und den Cheruskern, die im Jahre 16 n. Chr. stattgefunden hat. Als Ort
der Schlacht benennt er den Campus Idistaviso, entsprechend wird die Schlacht als die ‚Schlacht auf den
Idistavisischen Feldern‘ oder als ‚Schlacht von Idistaviso‘ bezeichnet. Beschrieben wird die Örtlichkeit
folgendermaßen: „Diese liegt in der Mitte zwischen dem Visurgis und den Hügeln und zieht sich in un-
gleichen Krümmungen hin, je nachdem die Ufer des Flusses zurücktreten oder Bergvorsprünge sich
vorschieben. Im Rücken der Germanen zog sich an einer Anhöhe ein Wald hinauf mit hohen Baum-
kronen, während zwischen den Stämmen nackter Boden war“.12
Nach dem für die Römer erfolgreichen Kampfgeschehen verlagert sich dieses an einen anderen
Platz, den Tacitus folgendermaßen beschreibt: „Zuletzt suchten sie sich einen Kampfplatz aus, der vom
Fluss und Wald umschlossen war, und in dem sich eine schmale sumpfige Fläche befand. Auch um das

7 von Uslar (1938). 10 Tausend (2009) 25.


8 Etwa die keramische Formengruppe Uslar I. von Uslar 11 Übersetzung nach Wolters (2008) 240.
(1938) 180 Anm. 43a. 12 Tac. ann. 2,16.
9 Tausend (2009) 25. Dort auch weitere Literaturhinweise
zu den Stammeskoalitionen. Siehe ferner Johne (2006)
193.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 179


Waldgebiet zog sich ein tiefer Sumpf, nur eine Seite hatten die Angrivarier durch einen breiten Damm
erhöht, der die Grenzlinie zu den Cheruskern bilden sollte“.13
Aus dieser etwas mageren Textstelle lassen sich dennoch viererlei Informationen herauslesen:
1. Zwischen dem Stamm der Angrivarier und den Cheruskern gab es einen breiten Wall oder Damm,
der in der älteren Forschung als ‚Angrivarierwall‘ bezeichnet wurde. 2. Errichtet hatten diesen Wall die
Angrivarier. 3. Der Wall stellte eine Grenzlinie gegen die Cherusker dar. 4. Die Anlage schloss sich an
ein Sumpf- und ein Waldgebiet an, wobei der Sumpf wohl als natürliche Grenze und damit Verlänge-
rung des Walls anzusehen ist.
Dem Sieg der Römer in Idistaviso sowie anschließend am Angrivarierwall folgte die Errichtung
eines Tropaions durch Aufschichtung der erbeuteten Waffen und eine Siegesinschrift: „Der Caesar
lobte vor versammelter Mannschaft die Sieger und ließ eine Waffenpyramide errichten mit der stolzen
Aufschrift: ‚Nach Niederkämpfung der Völkerschaften zwischen Rhein und Elbe hat das Heer des Tibe-
rius Caesar dieses Erinnerungsmal dem Mars und Jupiter und Augustus geweiht.‘ … Dann übertrug er
die Kriegsführung gegen die Angrivarier dem Stertinius für den Fall, dass sie sich nicht beschleunigt
unterwerfen würden. Da sie demütig baten und sich mit allen Bedingungen einverstanden erklärten,
wurde ihnen auch alles verziehen“.14
Am 26. Mai 17 durfte Germanicus dann in Rom den Sieg über die Cherusker, Chatten und auch die
Angrivarier sowie andere ungenannte Stämme feiern, die bis zur Elbe wohnten: „Unter dem Konsulat
des C. Caelius und L. Pomponius triumphierte Germanicus Caesar am 26. Mai über die Cherusker,
Chatten und Angrivarier und die anderen Völkerschaften, die bis zur Elbe wohnen. Mitgeführt wurden
erbeutete Waffen, Gefangene, Bilder von Bergen, Flüssen und Schlachten“.15

Die Suche nach dem Wall

Von zahlreichen Heimatforschern wie auch von Archäologenseite wurde dieser angrivarisch-cheruski-
sche Grenzwall gesucht und in mehreren Regionen ‚gefunden‘. Die höchste Wahrscheinlichkeit gilt
dabei bis heute der Region zwischen Weser und Steinhuder Meer. Mit Carl Schuchhardt sprach sich ein
durchaus prominenter Befürworter für einen Befund in und bei der Ortschaft Leese aus, die auf halbem
Wege zwischen der Weser und dem Steinhuder Meer liegt (Abb. 2). Schuchhardt wurde 1924 von Georg
Heimbs, einem Fabrikanten, auf eine Wallanlage in der Ortschaft Leese, heute Nienburg (Weser), auf-
merksam gemacht.
Heimbs veröffentlichte 1925 einen entsprechenden Artikel in der Praehistorischen Zeitschrift16 und
hatte mit seiner Argumentation wohl bei Schuchhardt nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Heimbs be-
schrieb einen Wall von ehemals etwa 1800 m Länge (Abb. 3–4), der östlich der Ortschaft Leese in einem
Sumpfgebiet seinen Anfang nimmt, durch Leese zieht und sich westlich dann in einem sanften Bogen
in Richtung einer Weserschleife erstreckt.
Nördlich und südlich von Leese sind in dieser Zeit noch ausgedehnte Marsch- und Geestflächen
vorhanden, wenige hundert Meter weiter östlich mäandriert die Weser. Zu Heimbs’ Zeiten befanden

13 Tac. ann. 2,19. Zur möglichen Verortung weiterer Ereig- 14 Tac. ann. 2,22; vgl. Johne (1998) 408.
nisse im Rahmen der Feldzüge des Germanicus siehe 15 Tac. ann. 2,41,2. Siehe zur Begründung der Feierlichkei-
Wolters (2008). Da Wolters aber auf das in diesem Arti- ten Johne (1998) 401ff. und im vorliegenden Band.
kel behandelte Schlachtenereignis am Angrivarierwall 16 Heimbs (1925).
nicht explizit eingeht, werden seine Deutungen hier
nicht weiter behandelt.

180 MORTEN HEGEWISCH


Abb. 2 | Kartierung eisen-/kaiserzeitlicher Fundplätze mit Wallanlagen.

sich dort „ständig mit Wasser gefüllte Teiche, kleine Tümpel, ein Wasserlauf, der sich durch verschie-
dene Kolke und Niederungen ungef ähr 2 km nördlich hinzieht.“17
Die Vermutung, hier den Angrivarierwall zu erkennen, ergibt sich aus der bei Tacitus beschriebe-
nen Topographie, einerseits im Westen die von Germanicus überschrittene Weser, die sich „in unglei-
chen Krümmungen hin[zieht], je nachdem die Ufer des Flusses zurücktreten“,18 dann eine Fläche, die
von „Fluss und Wald umschlossen war und in dem sich eine schmale sumpfige Fläche befand“, ferner
ein vom Sumpf umgebenes Waldgebiet und zuletzt ein breiter Damm.
Tatsächlich erinnert die Leeser Topographie an die Beschreibung: die stark mäandrierende Weser
im Westen, eine schmale Stelle zwischen einem nördlichen und einem südlichen Geestgebiet und zu-
letzt ein breiter Wall.
Im Juni 1926 ließ C. Schuchhardt Ausgrabungen am Wall durchführen, deren Ergebnisse er als Be-
weis für die benannte Verortung ansah. Die Grabungsleitung übernahm G. Bersu. Der Grabungsbericht
erschien dann 1926 in der Praehistorischen Zeitschrift und wurde gemeinsam mit G. Bersu, G. Heimbs
und H. Lange unter dem Titel: „Der Angrivarisch-Cheruskische Grenzwall und die beiden Schlachten
des Jahres 16 nach Chr. zwischen Arminius und Germanicus“ veröffentlicht. C. Schuchhardt begann
seine Einleitung mit dem bemerkenswert überzeugten Satz: „Die Vermutung des Herrn Georg Heimbs
vom Jahre 1924, dass ‚dat ohle Hoop‘ in Leese ein Rest der alten Grenzwehr der Angrivarier gegen die
Cherusker sei, hat sich bestätigt und damit als eine regelrechte Entdeckung erwiesen.“19

17 Heimbs (1925) 61. 18 Tac. ann. 2,16.


19 Schuchhardt, Bersu, Heimbs u. Lange (1926) 100.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 181


Abb. 3 | Fotografie des Wallverlaufs in Leese auf dem Hof von Luise Hüpohl.

182 MORTEN HEGEWISCH


Abb. 4 | Verlauf der Wallanlage nach Schuchhardt (1926) Abb. 1.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 183


Es fanden vom 21. bis 25. Juni Grabungen statt, die für den ‚Ohle Hoop‘ in drei Wallschnitten eine
Reihe von Befunden und wenigen Funden zu Tage förderten. Die Länge der Schnitte variierte von 2 bis
3 m bis zu 16 m bei einer Breite von ebenso 2 bis 3 m (Abb. 5–6).
Den Grabungsbericht verfasste G. Bersu in einem nüchternen Stil, in dem er den Befund und
den Aufbau der Anlage schilderte. Bersu grub den ,Ohle Hoop‘ an drei Stellen an, zweimal östlich von
Leese (davon einmal auf dem Hof der Luise Hüpohl) sowie im Westen Leeses auf dem Hof des Bauern
Plönges.
Er konnte an drei unterschiedlichen Stellen (Abb. 6) im vom Ackerbau breit verzogenen Wall drei
Schichten feststellen: Zuoberst dokumentierte Bersu eine moderne Humusschicht ‚A‘, darunter folgte
ein „humoser brauner Boden ohne klare Struktur B“ und zuunterst fand er eine Humusschicht ‚C‘, die
durch eine Ortsteinschicht gegen B abgetrennt war.20 ‚C‘ stellt dabei die alte Oberfläche dar, ‚A‘ und ‚B‘
sind jüngere Bildungen.
Bersu überprüfte diesen Aufbau an unterschiedlichen Stellen und konnte auch die Möglichkeit
verneinen, dass es sich bei dem Befund um eine alte Düne handelte. Am südlichen Wallabfall entdeckte
er kreisrunde Pfostenlöcher, die einen Durchmesser von 70 cm aufwiesen, bei einem Abstand von je-
weils 1,30 m zueinander. Bei dieser Seite handelte es sich dementsprechend um die Frontseite, auf der
gegenüberliegenden Seite – der Innenseite – konnte er keine Pfostenreihen feststellen. Auch einen Gra-
ben entdeckte Bersu nicht. Nach Bersus Deutung wurde kein reiner Mutterboden aus vorgelagerten
Gräben zur Aufschüttung der Wallanlage verwendet, sondern Rasen- oder Heideboden abgehoben –
‚abgeplaggt‘ – und hinter der Pfostenreihe aufgetürmt. Die Höhe des Walls vermochte Bersu nicht si-
cher zu deuten, er ging aber aufgrund des breit auseinandergeflossenen Walls von einer 10 m breiten
und 2,5 m hohen Konstruktion aus.21
Eine weitere Grabung nahm Bersu am in der Nähe gelegenen sog. ‚Marschberg‘ vor. In einem
Ackerverzeichnis aus dem Jahre 1685, welches Heimbs 1925 in der Praehistorischen Zeitschrift erwähnte,
wurde der Marschberg noch als ‚Marßberg‘ bezeichnet, was natürlich Assoziationen weckte hinsicht-
lich einer möglichen Benennung der Stelle nach dem römischen Kriegsgott Mars und evtl. einer Ver-
bindung zum Tropaion des Germanicus. Die eigentliche Marsch soll in diesem Verzeichnis als ‚Marsch‘
bezeichnet worden sein, so dass es nach Heimbs Ansicht nicht möglich war, ‚Marß‘ und ‚Marsch‘ zu
verwechseln, der Marsberg nichts mit der Marsch zu tun habe, sondern mit Mars.22 Entsprechend hoch
war die Erwartungshaltung der Ausgräber.
Die Grabungen Bersus erbrachten für die oberste Schicht eine den Funden nach frühmittelalter-
liche Datierung, wobei er das Scherbenmaterial als karolingerzeitlich ansprach23 bzw. dieses in das „10.
oder 11. Jahrhundert“ datierte.24 Unterhalb dieses Befundes wurden jedoch Kleinfunde geborgen, die
Hans Lange, der die Fundstücke der Grabung in der Praehistorischen Zeitschrift vorlegte, als Überreste
einer germanischen Siedlung der Zeitenwende deutete.25 Wall und Graben des Marschberges erwiesen
sich nach Bersu jedenfalls aufgrund stratigraphischer Hinweise als frühmittelalterlich, ein Zusammen-
hang zur oben beschriebenen Wallkonstruktion wurde damit ausgeschlossen.

20 Bersu (1926) 102. 24 Bersu (1926) 106.


21 Bersu (1926) 125. 25 Dazu rechnete H. Lange grobe Keramik, ferner gebrann-
22 Heimbs (1925) 64. ten Hüttenlehm.
23 Bersu (1926) 105f.

184 MORTEN HEGEWISCH


Abb. 5 | Plan der
Grabungsschnitte
in Leese.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 185


Abb. 6 | Wallschnitte und Befunde der Grabung in Leese.

In der mit Kulturboden vermischten obersten Humusschicht ‚A‘ fand Bersu neuzeitliche Scherben.
‚Prähistorische Scherben‘ wurden vor dem Wall gefunden – verblieben aber unpubliziert –, die Haupt-
masse an Funden stammt jedoch aus dem Marschbergbefund.
Will man nun ein Bild der tatsächlichen Lage gewinnen, so muss man auch weitere Grabungen mit
einbeziehen, die in dieser Zeit in und um Leese herum durchgeführt wurden.

Die Funde

Die in Leese geborgenen Funde befinden sich heute in der Sammlung des niedersächsischen Landes-
museums in Hannover. Dazu gehören neben jenen aus den Grabungen Bersus (1926) auch zahlreiche
Lesefunde, die von Heimbs eingeliefert wurden. Weitere Scherbenkomplexe lassen sich vorangehen-
den und nachfolgenden Grabungen zuweisen. Solche Ausgrabungen führte etwa K. H. Jacob-Friesen

186 MORTEN HEGEWISCH


(1924, 1931) oder Hans Gummel am Zappenberg (andere Benennung: Zapfenberg) durch. Dieser be-
findet sich etwa 1000 m nordwestlich von Leese und birgt eine Siedlungsstelle, die Hans Gummel ab
1927 ergrub. Es handelt sich dabei um einen Hügel, der durch eine am Ort vorbeiführende Bahntrasse
geschnitten wird. Die hier geborgenen Funde nehmen einen erheblichen Umfang ein und setzen sich
zum überwiegenden Anteil aus Keramikscherben zusammen. Zum weiteren Fundgut zählt ein frag-
mentiertes, wohl kegelförmiges Webgewicht, ein halbierter Spinnwirtel, undefinierte verrostete Eisen-
klumpen sowie einige Fließschlacken, außerdem große Fragmente von Wandverputz mit Abdrücken
von Flechtwerk. Weitere Metallfunde wie Fibeln, Nadeln, Gürteltracht etc. fanden sich nicht, so dass für
jegliche Datierungsfragen ausschließlich Keramikreste herangezogen werden können.
Zu dieser gehören zahlreiche Randstücke unterschiedlichster Gestaltung, etwa gewellte Ränder
mit Fingernageleindrücken (Abb. 7,11), weitere mit kolbenförmiger Verdickung (Abb. 7,5.7), andere
sind inwandig unterschnitten (Abb. 7,7.21) oder auch einfach bis mehrfach facettiert (Abb. 7,2).
Einige Scherben sind kammstrichverziert, andere weisen Fingerkniff auf, weitere zeigen rundliche
Eintiefungen, wie sie identisch vom Marschberg stammen.
Es finden sich variantenreiche Gef äßformen (Abb. 7), zahlreiche Vorratsgef äße, einige stark zer-
scherbte große Formen, viele kleine kugelbauchige Gef äße, solche mit einbiegenden Mündungen oder
weitmundige Schalen mit und ohne abgesetztem Boden, die ebenso in relevanter Anzahl vorliegen,
steilhalsige Gef äße mit auf der Innenseite kolbenförmig verdickten Rändern, eiförmige Töpfe mit weit
ausladenden Rändern und andere Formen mehr.
Die Gef äßwandungen sind häufig flächig oder zonenweise geschlickert bzw. geraut, die Magerun-
gen gelegentlich fein, regelhaft jedoch eher grob bis sehr grob. Die Gef äße können als schlichte Zweck-
formen angesprochen werden, wobei man den Eindruck gewinnt, dass die Töpfer wenig Mühe für die
Herstellung der Gef äße aufgewendet haben. Entsprechend sind die Oberflächen und Ränder wellig, die
Oberflächen oft sandig und rau, es finden sich jedoch auch viele Scherben mit geglätteten, also verdich-
teten Oberflächen, Polituren treten keine auf. Die Gef äßfarben changieren fleckenweise von rötlichen
Brauntönen bis zu Dunkelbraun und Schwarz. Damit dürfte die Masse der Gef äße im Meilerbrand bei
unkontrollierten, stellenweise oxidierenden wie auch reduzierenden Bedingungen gebrannt worden
sein.
Zu den jüngsten Funden zählen einige charakteristische Scherben, die sich z.T. deutlich dem
Rhein-Weser-germanischen Spektrum der Römischen Kaiserzeit zuweisen lassen. Eines der Gef äße
wäre nach Rafael von Uslar der Form Uslar II zuzuweisen. Mit Dörte Walter lässt sich diese Keramik als
‚Schulterabsatzgef äß‘ ansprechen (Abb. 7,23).26 Die zweite sicher kaiserzeitliche Form ist typologisch
nicht so scharf zu fassen (Abb. 7,24). Nach von Uslar hätten wir hier eine Übergangsform vor uns, was
Uslar I/II entspräche. Nach Dörte Walter wären dies ,Schulterknickgef äße‘, aber auch in diese Grup-
pierung lässt sich unsere Form aufgrund z.T. abweichender Profilierungsmerkmale nicht sicher
einordnen, wenngleich bestimmte Merkmale übereinstimmen, wie etwa der scharfe Schulterknick. Zu-
letzt hat sich Michael Meyer intensiv mit diesen Gef äßgattungen auseinandergesetzt.27 Dabei datiert
er klassische Schulterabsatzgef äße zwischen 70 n. Chr. bis etwa 250 n. Chr. Aufgrund des sonstigen
Typenspektrums ist für unsere Form auch seiner Ansicht nach eher mit einem Zeitansatz um bzw. eher
nach 100 n. Chr. zu rechnen, also im entwickelten B2. Das zweite Gef äß (Abb. 7,24) ist vergleichsweise
unsicher zu fassen, wobei seine Verzierungen jedoch einen guten Hinweis liefern. Dabei handelt es
sich um mehr oder minder geordnete Reihen von verzierenden Eintiefungen, was nach Meyer ein Fin-

26 Walter (2000) 21f. 27 Meyer (2008) 110ff.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 187


Abb. 7 | Keramikfunde der Ausgrabungen auf dem Zappenberg.

188 MORTEN HEGEWISCH


gerzeig auf eine jüngere Zeitstellung ist, die chronologisch vorausgehenden Verzierungen treten ten-
denziell eher ungeordnet auf. Entsprechend mag die Form vergleichbar datieren wie das erstbenannte
Schulterabsatzgef äß.28
Damit dürfte also eine Belegung des Zappenbergs erkennbar sein, die wenigstens vom 1. Jh. v. Chr.
bis in das 2. Jh. n. Chr. reicht. Die weiter unten folgend besprochene Terra Sigillata aus dem Leeser Um-
feld datiert zum Teil vergleichbar.
Bei der am Marschberg geborgenen Keramik (Auswahl: Abb. 8) handelt es sich vor allem um Wan-
dungs- und Randscherben. Auch ein sternförmiger Spinnwirtel (Abb. 8,8) konnte geborgen werden.
Bei den Gef äßformen liegen weitmundige Schalen, S-förmig profilierte Schüsseln, bauchige Vorrats-
gef äße, eiförmige Töpfe mit ausladenden Rändern und Schalen vor. Unterschiedliche Randformen fin-
den sich. Dazu gehören etwa gewellte Ränder mit eingedrückten Fingernägeln, kolbenförmig verdickte
Ränder, außerdem einfach und mehrfach facettierte Ränder. Die Wandfragmente weisen ein schmales
Verzierungsspektrum auf, z.T. handelt es sich auch nur um funktional bedingte Oberflächengestaltun-
gen (Auswahl Abb. 8 unten). Es zeigen sich Wandungen mit Kammstrich sowie solche mit Fingerkniff
bzw. rundlichen Eintiefungen. Der Anteil facettierter Keramik (etwa Abb. 8,4–6) scheint höher zu sein,
als es am Zappenberg der Fall ist, was auf eine jüngere, kaiserzeitliche Zeitstellung hindeuten mag.
Weitere Formen scheinen ebenso in die Kaiserzeit zu datieren (etwa Abb. 8,22), zu der es aus der Sied-
lung Mardorf, Lkr. Marburg-Biedenkopf, eine Parallele gibt.29 In der Grube Befund 616 fand sich neben
Keramik auch eine Fibel Almgren 22, so dass der Befund in die spätaugusteisch-frühtiberische Zeit da-
tiert werden kann.30 Die geborgene Keramik stimmt damit überein.
Die auf dem Zappenberg geborgenen Funde gleichen weitestgehend in Form, Machart und Zier
den am Marschberg geborgenen Keramiken. Dies lässt darauf schließen, dass der Marsch- und Zap-
penberg wohl in die gleiche Zeitstufe gehören oder sich zumindest chronologisch überschnitten. Die
unterschiedlichen Fundmengen lassen jedoch keine Schlüsse auf differierende Größen der Sied-
lungsstellen zu; die Grabung Bersus fand nur anteilig auf dem Marschberg statt, war kurzfristig und
kleinräumig, die Grabungen Gummels jedoch widmeten sich ausschließlich dem Zappenberg, was
sich in den Fundmengen erkennbar niederschlug. Anzunehmen ist, dass es sich in und um Leese
herum um eine oder mehrere Siedlungsstellen handelt, denen vermutlich mehrere Höfe entlang der
Weser zugewiesen werden können. Wie weit Siedlungsstellen aufgegeben oder verlagert wurden, lässt
sich anhand der erhaltenen Funde nicht mehr sicher sagen. Die Fundstellen Marsch- und Zappenberg
liegen voneinander etwa 1,5 bis 2 km entfernt, dabei jeweils in etwa vergleichbarer Entfernung zur
Wallanlage. Dies lässt sich jedoch nicht chronologisch verwerten, schon gar nicht bezogen auf den
Wall.
Die beschriebenen Merkmale, sowohl hinsichtlich der Gef äßprofile als auch der Verzierungen, da-
tieren die Fundstellen mehr oder minder deutlich in einen Zeitraum ab der Vorrömischen Eisenzeit
(evtl. der frühen) bis in die jüngere Römische Kaiserzeit. Der Schwerpunkt der geborgenen Funde da-
tiert vorchristlich, die facettierten Randscherben dürften in und um die Zeitenwende datieren, sicher ist
auch das nicht, wenngleich Studien wie jene Daniel Berengers dem auch nicht widersprechen.
Die anderen benannten Verzierungen sind chronologisch jedoch wenig exakt zu fassen. Finger-
kniff etwa findet sich mindestens von der Vorrömischen Eisenzeit bis in die Völkerwanderungszeit.
Meist handelt es sich dabei um bestimmte Gef äßformen wie etwa Kümpfe oder andere Gef äße mit ein-

28 Meyer (2008) 114ff., insbes. Abb. 80. 30 Meyer (2008) 115.


29 Meyer (2008) Taf. 65,616.1.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 189


Abb. 8 | Keramikfunde der Ausgrabungen auf dem Marschberg (oben) und Keramikoberflächen sowie Verzierungen der
Fundstellen Zappenberg und Marschberg.

190 MORTEN HEGEWISCH


Abb. 9 | Zweischiffiges Haus aus
Kalkriese, Fundstellen 105 und 126.

biegendem Rand, so dass man von einem funktionalen, aber keinem chronologischen Wert bestimmter
‚Verzierungen‘ ausgehen kann.31
Insgesamt wird deutlich, dass sich unter dem Marschberg eine germanische Siedlung befindet, die
in die Vorrömische Eisenzeit bis in augusteische Zeit zu datieren ist.
Die vom Fundplatz Leese geborgene Keramik lässt sich teilweise mit jener aus Kalkriese paralleli-
sieren, wie sie etwa aus einem Hausbefund vorliegt, der sicher in den uns interessierenden Zeitraum
datiert.32 Das anzuführende Haus gehört zu einer Siedlung der Zeitstellung in Kalkriese und wurde
neben zahlreichen weiteren Funden und Befunden 2004 von Joachim Harnecker und Eva Tolksdorf-
Lienemann vorgelegt.33 Dabei handelt es sich um die Fundstellen 105 und 126, das ehemalige Garten-
land des Hofs ‚Dröge‘ und eine unmittelbar benachbarte Weide.34
Die Siedlung wurde nur in einigen Schnitten ergraben, liegt also nicht vollständig vor. Zur Sied-
lung rechnen mindestens drei Häuser, von denen eines mit einer Längswand und ein weiteres nur an-

31 Möglicherweise wird sich die Besiedlung der Region Marschbergs mit stark ausbiegendem Rand würde er
zukünftig besser verstehen lassen, befindet sich doch mit Nortmann (1983) als ab der mittleren Vorrömischen
eine Promotion zu einem entsprechend datierenden, Eisenzeit datierend ansehen. Weitere Funde wie kurz
bei Leese ergrabenen Gräberfeld durch S. Kriesch, Göt- ausbiegende oder facettierte Ränder datierte er eher
tingen, in Bearbeitung, dem ich an dieser Stelle für frdl. kaiser- denn eisenzeitlich. Wie weit es chronologische
Hinweise herzlich danken möchte. Kriesch sieht, ohne Überschneidungen vom Gräberfeld zu den unterschied-
seiner Arbeit allzu weit vorzugreifen, große Ähnlich- lichen Siedlungsstellen gibt, wird sich erst nach Vorlage
keiten zwischen Keramikfunden des Zappenbergs und seiner Untersuchung entscheiden lassen.
solchen des von ihm bearbeiteten Gräberfelds. Dazu 32 Stadt Bramsche, Gem. Kalkriese. Harnecker u. Tolks-
rechnet er bestimmte T-förmige Randformen, Schalen dorf-Lienemann (2004) 16.
mit nach innen gebogenen und/oder innen verdickten 33 Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 51ff.
Rändern wie auch durchlochte Schalen, die als typisch 34 Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 51.
für die Nienburger Gruppe gelten. Andere Gef äße des

VON LEESE NACH KALKRIESE? 191


geschnitten wurde. Nahezu vollständig liegt jedoch ein zweischiffiges Haus vor, das eine Länge von ma-
ximal 15 m aufgewiesen haben dürfte (Abb. 9).35 Es wird dem Typ ‚Soest-Ardey‘ oder ‚Haps‘ zuzuweisen
sein; Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann plädieren für den Typ ‚Haps‘.36 Hauslandschaften des Typs
Soest-Ardey zeichnen sich durch zweischiffige Konstruktionen aus, wie eine solche hier vorliegt.
Interessant an diesem Haus ist, dass dort zahlreiche Funde römischer Herkunft geborgen werden
konnten, die direkt mit dem ehemaligen Schlachtgeschehen zu verbinden sind. Zu den unterschied-
lichen Funden römischer Provenienz (Abb. 10) gehören Münzen (Lugdunum-Asse37), Militaria wie ein
Helmbuschträger, eine Pilumspitze oder eine Panzerschließe; aus einem Grubenbefund stammt ferner
eine typisch römische Soldatenfibel, eine Aucissa-Fibel.38
Der Fund ist ein deutlicher Beleg, dass an diesem Ort Material verarbeitet wurde, das beim
Schlachtenereignis angefallen, später abgesammelt und u.a. am benannten Fundplatz verarbeitet
wurde. Über die tatsächliche Siedlungsstruktur vor Ort ist wenig zu sagen, da der Fundplatz nur zum
Teil ergraben ist. Zur Keramik der Fundstellen 105/126 zählen zum Leeser Fundspektrum vergleich-
bare Gef äßformen – Schüsseln, Schalen, Töpfe, ferner facettierte Randscherben, gewellte Ränder mit
Fingernagelkerben, also jene Ware, die in den hier benannten Zeithorizont zu datieren scheint.
Im Zusammenhang mit Kalkriese und dem tatsächlichen Fundniederschlag eines Schlachtener-
eignisses erscheint es sinnvoll, die römischen Fundstücke aus Leese und dem weiteren Umfeld anzu-
sprechen.
Bei den Grabungen am Marschberg und am Wall selbst wurden keine römischen Fundstücke ge-
funden, geringe Spuren fanden sich jedoch im weiter unten beschriebenen Grabenwerk. Die in und bei
Leese (möglicherweise) entdeckten römischen Artefakte – allesamt Einzelfunde – werden im Corpus der
römischen Funde im Barbaricum, Band Hansestadt Bremen und Bundesland Niedersachsen behandelt.39
Dazu rechnen Münzen, Glasperlen und Sigillaten. Unter den Münzen aus dem Stadtgebiet finden sich
als ‚Hortfund‘ acht Denare. Dazu rechnen ein Vitellius (69), ein Vespasian (69/79), ein Domitian
(81/96), ein Nerva (96/98), ein Trajan (98/117) sowie drei Hadrian (117/138).40 Bei zwei Münzen han-
delt es sich um die Einzelfunde eines Trajan (98/117) sowie um ein unbestimmtes AE (3.–5. Jh.).41 In
Leese fanden sich fünf jüngerkaiserzeitliche „verschmolzene Glasperlen“, evtl. Reste eines Glasbe-
chers,42 und vom Zapfenberg stammen Lesefunde, die ein „Herr Hamster aus dem Bereich einer kztl.
Siedlung auf dem Zapfenberg“ 1931 geborgen haben will, darunter eine Glasperle des kaiserzeitlich da-
tierenden Typus TM 362h.43
Der Terra Sigillata lassen sich fünf Rand- und Wandfragmente von verschiedenen Gef äßen zurech-
nen: „Darunter befinden sich ein Randfragment einer Barbotine-verz. Schale Drag. 36 (2. Jh.), ein Wand-
fragment einer reliefverz. Bilderschüssel Drag. 37 (2. H. 2.–1. H. 3. Jh.) u. ein Wandfragment einer relief-
verz. Bilderschüssel Drag. 29 (1. Jh.). Die beiden übrigen Fragmente sind nicht näher bestimmbar.“44
Aus einer Kiesgrube südwestlich von Leese stammt eine vollständig erhaltene Bilderschüssel Drag.
37, die als Urne verwendet worden sein soll.45 „Das Inventarbuch des LM Hannover zählt die aufgeführ-

35 Da die westliche Abschlusswand im Befundplan nicht 39 Erdrich (2002).


zu erkennen ist, ist auch dieses Haus nur unvollständig 40 Erdrich (2002) 94; XX-07–6/2.1.
ergraben. 41 Erdrich (2002) 94; XX-07–6/3.1.
36 Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 16. 42 Erdrich (2002) 94; XX-07–6/1.3.
37 Als Lugdunum-Asse bezeichnen die Verfasser Asse der 43 Erdrich (2002) 95; XX-07–6/5.1.
1. Altarserie (RIC 229–230). Harnecker u. Tolksdorf-Lie- 44 Erdrich (2002) 94.
nemann (2004) 29. 45 Erdrich (2002) 94; XX-07–6/1.1.
38 Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 53, Abb. 29;
Taf. 7,802.

192 MORTEN HEGEWISCH


Abb. 10 | Metallfunde aus den Fundstellen 105 und 126.

ten Beigaben auf. Bei dem ‚verzierten Knochenfragment‘ handelt es sich um das Wandfragment des
Firnisbechers. Die übrigen Beigaben waren bei der Materialaufnahme nicht auffindbar.“46 Die als Ware
des COMITIALIS bestimmte Schale datiert nach 160 bis 190. Beim angesprochenen Wandfragment
einer Firnisware handelt es sich um einen weißtonigen „Firnisbecher mit mattgrauem Überzug u. ein-
gedrehter Kerbe, verm. Niederbieber 30/32.“47
Die Bearbeiter des Corpus der römischen Funde im Barbaricum kommen ob dieser Fundzusammen-
stellung zu folgender Einschätzung: „Die Sigillaten wie auch die mit ihnen aufbewahrten Flint- u. Kno-
chenfragmente sollen nach dem Kat. des LM Hannover aus Leese stammen, was jedoch angesichts der

46 Erdrich (2002) 94; XX-07–6/1.1. 47 Erdrich (2002) 94; XX-07–6/1.2.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 193


typolog. u. chronolog. Zusammenstellung der Sigillaten sehr unwahrscheinl. ist. Die Erhaltung eines
Knochenfragmentes in einer kalkarmen, sandigen Landschaft wie auch das Fehlen entsprechender
Verwitterungsspuren auf den Sigillaten verstärken den Verdacht der Unterschiebung.“48 Dazu ist aller-
dings zu vermerken, dass vom eisenzeitlichen Gräberfeld bei Leese Knochenreste in erheblichen Quan-
titäten in gutem Erhaltungszustand vorhanden sind und auch die einheimische Keramik der unter-
schiedlichen Grabungen keine über das Übliche hinausgehenden Verwitterungsspuren zeigt. Zuletzt
liegt ein an K. H. Jacob-Friesen gerichteter Brief des Lehrers Heinrich Sölter vor, der ob immer wie-
der entdeckter Neufunde zu Erstgenanntem in einem häufigen Briefkontakt stand und durchaus als
vertrauenswürdig gilt. In diesem Brief werden die Fundumstände der Schale Drag. 37 näher beleuch-
tet, und auch aus dem weiteren Briefkontext geht hervor, dass ihm eher keine Fundunterschiebung
zuzutrauen ist.49 Dies ist allerdings nur eine punktuelle Ansprache, wie es sich um die anderen von
M. Erdrich benannten Funde verhält – insbesondere bezüglich des Münzspektrums –, bleibt hier unbe-
antwortet. Auch ohne diese Mutmaßungen zur vermutlichen Unterschiebung erwiesen sich die bespro-
chenen römischen Funde insgesamt als jünger, so dass sie für das hier thematisierte eigentliche Ereig-
nis zudem nicht zur Verfügung stehen.
Der Wall selbst ist nur vage durch Funde datiert. Eine mittelalterliche/karolingische Datierung des
linearen Erdwerks schließt sich jedoch mit der Befundbeschreibung nach Bersu aus. In dieser Hinsicht
ist auch kein Widerspruch zu kritischen Anmerkungen Kurt Tackenbergs zu sehen, die jener 1978 ver-
öffentlichte, und die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben sollen, wie auch ähnliche Anmerkungen
Gerhard Mildenbergers zur Fundstelle.50 Tackenberg berief sich in dem zweiseitigen Unterkapitel einer
Artikelsammlung auf ein Gespräch, das er mit Walter Nowothnig einige Monate vor dessen Tod geführt
hatte. Dabei berichtete ihm Nowothnig, er habe vor Ort eine kleine Nachuntersuchung vorgenommen:
„Das Erdwerk sei auf einer germanischen Siedlung aus der Zeit um Chr. Geb. errichtet. Karolingische
Scherben fanden sich in allen Auftragsschichten. Die Erbauung könnte karolingisch sein. Eventuell
käme ein noch späterer Zeitansatz in Frage. Die Worte habe ich gleich nach der Unterredung aufno-
tiert.“51 Es ergab sich nun jedoch, dass im damals zuständigen Institut für Denkmalpflege in Hannover
keinerlei Dokumentation zu dieser Grabung vorlag, und ferner auch trotz tätiger Mithilfe der Witwe
Nowothnigs sich kein Hinweis in dessen Privatunterlagen fand. Tackenberg nahm daher an, dass No-
wothnig vermutlich aufgrund seiner Krankheit bedauerlicherweise nicht mehr dazu gekommen sei,
einen Grabungsbericht zu verfassen.52
Ungünstig ist es nun, sich auf eine Grabung zu beziehen, für die weder ein Datum vorliegt noch
eine Dokumentation. Doch selbst wenn man annimmt, dass diese Grabung stattgefunden hat, sie aber
aus diversen Gründen nicht aktenkundig wurde, so widerspricht Nowothnigs Befund nicht den von

48 Erdrich (2002) 94; Unterschiebung/Terra Sigillata eine Schale gebracht, die beim Sandgraben in der Sand-
XX-07–6/4.1. kuhle gefunden wurde, die Leute hatten sie schon mit
49 Brief vom 28. 10. 1931 von H. Sölter an K. H. Jacob Frie- auf den Wagen geworfen, doch einer hat sie wieder her-
sen. Niedersächsisches Landesdenkmalamt. Den Brief untergeholt und gemeint, er könne sie als Hühnernapf
hat mir S. Kriesch kenntlich gemacht, wofür ihm auch gebrauchen. Ich hörte am nächsten Tage davon und
an dieser Stelle zu danken ist. H. Sölter schrieb dort u.a.: habe sie mir gesichert. Es ist eine flache Schale mit Fuß,
„Nun hätte ich eine Bitte. Sie waren früher immer so genau rund gearbeitet, mit reicher Verzierung. Sie sieht
freundlich und schrieben einen kurzen Grabungsbe- rot aus, wie rote Fliesen und ist ganz hart, ist mit Erde
richt, der dann hier zu den Schulakten gelegt wurde. Ich und Knochenresten gefüllt; ich halte sie für römisch. Sie
möchte Sie nun bitten, mir einen Bericht von der letzten ist so schön, daß ich sie nie hergeben möchte.“
Grabung zu senden, den ich ev. auch dem Stolzenauer 50 Tackenberg (1978) 62; Mildenberger (1978) 146f.
Wochenblatt zum Abdruck geben könnte. Man interes- 51 Tackenberg (1978) 63.
siert auf diese Weise die Leute, die dann bei Erdarbeiten 52 Tackenberg (1978) 63.
mehr die Augen offen halten. So wurde mir diese Tage

194 MORTEN HEGEWISCH


Schuchhardt, Bersu, Heimbs und Lange vorgelegten Ausgrabungen, sondern bestätigt diese, was für
die Grabungen der 20er Jahre durchaus als Gütebeweis anzusehen ist. Denn Bersu als Schuchhardts
Grabungsleiter belegt, dass das Erdwerk des Marschbergs auf einer germanischen Siedlung der Zeiten-
wende errichtet wurde, wobei er die im Erdwerk gefundene Keramik wie später Nowothnig (laut Ta-
ckenberg) karolingerzeitlich bzw. in das „10. oder 11. Jahrhundert“53 datiert. Auch Nowothnig spricht
von einem „Erdwerk […] auf einer germanischen Siedlung aus der Zeit um Chr. Geb.“54 Nowothnig
dürfte also, sofern diese Grabung überhaupt stattfand, ebenso den Marschberg untersucht haben, nicht
aber das lineare Erdwerk, in dem in drei Wallschnitten Bersus keine entsprechenden frühmittelalter-
lichen Funde zu Tage kamen.55 Mit einem genauen Blick in die publizierten Unterlagen hätte Kurt Ta-
ckenberg also das Missverständnis zur Örtlichkeit der Untersuchungen Nowothnigs erkennen können.
Dies erfolgte jedoch leider nicht.56
Zu erwähnen sei abschließend noch, dass sich in den in Hannover verwahrten Fundkomplexen
keine Keramik frühmittelalterlicher Zeitstellung fand. Entweder sind, was eher unwahrscheinlich sein
dürfte, diese Funde verschollen. Oder aber es handelt sich um eine Fehldatierung einiger eisenzeitlicher
Scherben, die an frühmittelalterliche Ware erinnert. Dafür kämen etwa eher kugelbauchige Vorratsge-
f äße bzw. Töpfchen in Frage, die im Material der Vorrömischen Eisenzeit absolut nicht auffallen, jedoch
als Einzelstücke durchaus an Kugeltöpfe des Mittelalters erinnern können. Wie in diesem Zusammen-
hang fehlender Grabungsunterlagen das ebensolche Fehlen der vermeintlich karolingisch datierten Ke-
ramik im Hannoveraner Fundarchiv zu deuten ist, lässt sich schwer sagen, es fügt sich jedoch in das Bild.
Mildenberger beschäftigte sich in seiner Studie über germanische Burgen auch mit Langwällen. 57 Er
sprach im entsprechenden Kapitel die komplizierte Befund- und schwierige Datierungslage an und deu-
tete den Wall aufgrund der breiten Pfostenabstände als Holz-Erde-Konstruktion, deren Zwischenräume
durch eine Holzwand ausgefüllt gewesen sei. Dabei vermerkte er: „Die historische Überlieferung ließe
eine Lokalisierung des Angrivarierwalls im Raume von Leese durchaus zu; auch die Bauweise würde in
die Zeit um oder kurz vor Christi Geburt passen, in der der Wall ja errichtet worden sein müßte.“ 58 Aller-
dings wollte er auch eine mittelalterliche Datierung nicht ausschließen, dies natürlich eingedenk der mit-
telalterlichen Funde des Marschberges.59 Die Fundarmut am eigentlichen Wall sah er nicht als Hindernis
an, da „ein solcher Erdwall außerhalb der Siedlungen liegt und Funde bei ihm nicht zu erwarten sind.“60
Als Kontrapunkt sah er jedoch die Nähe der germanischen Siedlung zum Wall (500 m südlich des Wal-
les), denn aus seiner Sicht wäre eine Siedlung im Vorfeld des Walles nicht zu erwarten. An diesem Punkt
jedoch schweigen die Befunde – denn dokumentiert sind seitens der Ausgräber nur die Funde, aber keine
Befunde. Letztlich ist auch hier zu sagen, dass zu wenig über den Charakter dieser Anlagen bekannt ist.61
Dänische Befunde zu Wallanlagen lassen jedoch auch einen Handel über solche Grenzanlagen hinweg
möglich erscheinen. Auch hier dürfte eine neuerliche Grabung zu eindeutigen Ergebnissen führen.

53 Bersu (1926) 106. 60 Mildenberger (1978) 146.


54 Tackenberg (1978) 63. 61 Aus Sicht der vom Kalten Krieg geprägten späten 1970er
55 Funde aus dem Wall sind auch nicht unbedingt zu er- Jahre mochte eine solche Grenzanlage nur als star-
warten. res Bollwerk zu deuten sein, insbesondere für einen
56 Auf Tackenbergs Hinweis baut übrigens inzwischen ‚Republikflüchtling‘ wie Gerhard Mildenberger, der in
eine breit gef ächerte Diskussion im Internet, die von den 1960er Jahren aus der DDR nach Westdeutschland
eher unbedarften Heimatforschern geführt wird und aussiedeln musste, und daher bewusst oder unbewusst
nicht mit Hinweisen auf eine scheinbar blinde Archäo- möglicherweise eher die ehemalige innerdeutsche
logen- und Althistorikerwelt geizt. Grenze und die Mauer im Sinn hatte. Umgekehrt mag
57 Mildenberger (1978) 146ff. dies natürlich auch für den Verfasser in einem Europa
58 Mildenberger (1978) 146. der kaum merklichen Grenzen gelten. Mante (2007)
59 Mildenberger (1978) 146. 142.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 195


Abb. 11 | Wallanlagen auf der Halbinsel Jütland, im Süden die Fundstellen Kalkriese
(Mitte), Leese (rechts) und Heek-Wichum (links) (schematisch).

Weitere lineare Sperranlagen

Die Beschreibung des Angrivarierwalls als Monument zur Trennung des von den Angrivariern besie-
delten Gebietes von jenem der Cherusker dürfte unabhängig von der Einordnung des Leeser Befunds
auf Fakten basieren, die sich auch archäologisch andernorts sicher nachweisen lassen: Überraschend
zahlreiche und variantenreiche Sperranlagen finden sich etwa auf der Halbinsel Jütland mit Wallanla-
gen, die mindestens von der Vorrömischen Eisenzeit an bis in das hohe Mittelalter errichtet und erhal-
ten wurden (Abb. 11). Für Jütland sind 28 Wallanlagen dokumentiert,62 die den natürlichen geographi-
schen Bedingungen folgend einzelne Siedlungsräume wirksam von anderen trennen.
An bekanntesten dürfte dabei das sog. ‚Danewerk‘ sein. Dabei handelt es sich um ein System linea-
rer Erdwerke auf der Landenge zwischen Treene und Schlei, das mit einer Gesamtlänge von mehr als
35 km das längste nordeuropäische Bauwerk schlechthin darstellt und somit von der Arbeitsleistung zu

62 Tiefenbach, Steuer u. Kehne (1999) 7.

196 MORTEN HEGEWISCH


Abb. 12 | Lage und ungef ähre Ausrichtung der Wallanlagen Olgerdiget, Æ Vold und
Trældiget.

seiner Errichtung her wohl nur mit dem römischen Limes zu vergleichen ist. Als Sperrwerk zur
Blockierung der Passage entlang der Halbinsel Jütland wurde das Danewerk im späten 7. Jahrhundert
errichtet, es folgten mehrere Ausbauphasen, die letztlich sogar bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs
reichten.63 Vermutungen, dass das Bauwerk aus einem völkerwanderungszeitlichen Kern entstand, lie-
ßen sich über 14C- und dendrochronologische Untersuchungen nicht erhärten.64 Weitere kleine Wall-
anlagen sind aus England bekannt. Sie datieren vornehmlich völkerwanderungszeitlich und jünger,
sind also nicht exakt chronologisch zu fassen; zu den größeren Anlagen zählen Wälle wie ‚Offas Dyke‘,
der Ende des 8. Jahrhunderts errichtet wurde und England von Wales schied.65
In einem zusammenfassenden Beitrag stellte zuletzt Anne Nørgard Jørgensen Befestigungsanla-
gen und Verkehrskontrollen auf dem Land- und Wasserweg in der Vorrömischen Eisenzeit und der Rö-
mischen Kaiserzeit zusammen. Sie zeigte ein überraschend umfangreiches Spektrum an Kontrollmög-
lichkeiten, das von der Blockade kompletter Fjorde durch Seesperren bis zu den Langwällen reichte.66
Für den uns interessierenden Zeitraum sind im Wesentlichen drei dänische Wallanlagen anzufüh-
ren, nämlich der ‚Olgerdiget‘, der ‚Æ Vold‘ und evtl. der ‚Trældiget‘ (Abb. 12).
Der Olgerdiget (Abb. 12–13) weist eine Länge von 7,5 km auf, verbunden mit 12 km Moorstrecken
sind es jedoch insgesamt beeindruckende 20 km. Es lassen sich zwischen drei und fünf Palisadenrei-

63 Dobat (2009) 137. 65 Neumann (1982) 135.


64 Dobat (2009) 141. 66 Jørgensen (2003).

VON LEESE NACH KALKRIESE? 197


Abb. 13 | Ausschnitt eines Grabungsplans des Olgerdiget und Rekonstruktion der Befestigung.

198 MORTEN HEGEWISCH


Abb. 14 | Schematisierter Schnitt durch den Æ Vold.

hen nachweisen, ferner ein vorgelagerter Graben und eine Wallanlage.67 Dendrochronologische Unter-
suchungen stützen eine Datierung in die Römische Kaiserzeit, wobei diese noch zusätzlich durch
14C-Daten fundamentiert werden.

Für den Olgerdiget liegen 14C- und Dendrodaten vor. Insgesamt wurden zehn Pfostenproben gezo-
gen, mit denen 14C- und dendrochronologische Untersuchungen der Palisadenhölzer durchgeführt
wurden. Die ermittelten Daten schwankten zwischen 60 v. und 200 n. Chr. Für die Palisade wurden fol-
gende Werte ermittelt: Palisade 2 – 123 n. Chr.; Palisade 3 – 140 n. Chr.; Palisade 1 – 201 n. Chr.68
Ein weiteres Stück Holz, geborgen aus einer Schicht unterhalb des Grabens, datierte diesen in
einen Zeitraum zwischen 300 und 500 n. Chr.
Eine weitere solche Konstruktion ist der Æ Vold, Øster Løgum sogn, Sønderjyllands amt (Abb. 14).69
Dieser ist auf einer Strecke von 400 m unter Schutz gestellt, lässt sich aber nach Archivunterlagen noch
über eine Länge von mindestens 2 km nachweisen. Die Anlage ist archäologisch mit 30 Grabungs-
schnitten sehr gut untersucht.70 Zur Befestigung gehörte eine vorgelagerte Palisadenreihe, ein 4,5 m
breiter und 1,5 m tiefer Graben sowie im Anschluss daran und in einer Entfernung von 3 bis 6 m ein
heute noch etwa 1 m hoch erhaltener Wall.71
„Der Wall verbindet eine Reihe größerer Moorflächen und sperrt die enge Passage an der Wasser-
scheide, die in der Frühzeit eine bedeutende Rolle im Nord-Süd-Verkehr gespielt haben dürfte.“72 Der
Æ Vold datiert in die jüngere Römische Kaiserzeit, wie dies dendrochronologische Untersuchungen
ergaben (Fälldatum des Holzes 278 n. Chr.),73 hinsichtlich seiner Struktur lassen sich Übereinstim-
mungen zum Olgerdiget erkennen. S. W. Andersen datiert den Wall in das 3. Jahrhundert.74
Die dritte und letzte hier zu benennende Anlage ist der übereinstimmend konstruierte Trældiget,
Anst sogn, Ribe amt,75 für den allerdings außer der Konstruktionsübereinstimmung keinerlei naturwis-
senschaftliche Datenreihen vorliegen. Er wird nur über den Vergleich zum Æ Vold und dem Olgerdiget
kaiserzeitlich datiert. Der nahezu völlig eingeebnete, N-S verlaufende Trældiget weist eine Länge von
10 bis 15 km auf, eine Grabenbreite von 2 bis 3 m und eine Grabentiefe von etwa 2 m. Der von einer Pa-

67 Neumann (2003) 131ff. 72 Andersen (1993) 23.


68 Neumann (2003) 136. 73 Jørgensen (2003) 205.
69 Neumann (2003) 136. 74 Andersen (1993) 23.
70 Jørgensen (2003) 205. 75 Neumann (2003) 50.
71 Andersen (1993) 23.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 199


lisade begleitete Wall soll einstmals 3 m hoch gewesen sein.76 Die jüngsten Ausgrabungen fanden dort
1994 statt. Eine Errichtung während der Vorrömischen Eisenzeit kann für die Anlage nicht ausge-
schlossen werden, sie soll bis in die jüngere Römische Kaiserzeit laufen.77
Mehrere Deutungsvarianten werden für die benannten Wallanlagen erwogen. Zweifellos handelte
es sich bei den Wällen um gut sichtbare Geländemarken, die vielerlei Funktionen erfüllt haben mögen.
Zum einen werden sie, wie für den Angrivarierwall von Tacitus beschrieben, unterschiedliche Stämme
oder Gruppen voneinander getrennt haben. Gleiches wird etwa für den Olgerdiget angenommen, der
die Angeln von den nördlich davon siedelnden Stämmen der Jüten trennte.78 Hinsichtlich des in das
dritte Jahrhundert datierenden Æ Vold nahm S. W. Andersen 1993 einen Zusammenhang zu solchen
kriegerischen Ereignissen an, wie sie sich „in den Waffenopfermoorfunden aus dem Thorsberger Moor
in Angeln, Nydam auf Sundeved und Ejsbøl bei Haderslev widerspiegeln.“79 Jørgensen sah 2003 im Æ
Vold „den Bestandteil einer Sperre quer über den schmalen Verkehrskorridor der jütländischen Halb-
insel …, den der Nord-Süd-Verkehr zu passieren hatte.“80
Neben der Funktion als Territorialgrenzen könnten diese Wälle also aufgrund ihrer zentralen Lage
zur Kontrolle ein- und ausgehenden Verkehrs gedient haben, möglicherweise ist auch an einen solche
Grenzen überschreitenden Handel zu denken, der damit ebenso kontrolliert worden wäre. Aus dem
deutschen Raum sind ebenso eine Reihe von befestigten Konstruktionen bekannt, zu denen Wallanla-
gen wie auch befestigte Siedlungen/‚Burgen‘ rechnen.81
Eine sicher in die uns interessierende Zeit datierende Wallanlage ist der Wall von Kalkriese in der
Flur ‚Oberesch‘. Susanne Wilbers-Rost beschrieb 2003 den Befund des Kalkrieser Walls eingehend. Zu-
erst einmal ist festzustellen, dass es sich beim Kalkrieser Wall um einen Abschnittswall handelt, also
keine vollständig geschlossene Anlage vorliegt. Parallel zum Wallverlauf auf der Wallrückseite konnten
mehrere lang gestreckte Gruben entdeckt werden, die eine Breite von 1 bis 1,5 m aufwiesen und wohl als
Drainagegruben dienten, um Wallunterspülungen bei starken Regenf ällen zu verhindern.82 Quer zu
den Drainagegruben fanden sich weitere Grubeneintiefungen, die nach Ansicht der Verfasserin das
hinter dem Wall gesammelte Wasser weiter nach außen ableiten sollten, was die Anlage vor vorzeitiger
Erosion schützte.83 Ob diese Gruben offen lagen oder mit Reisig verfüllt waren, „um die Germanen, die
den Wall von der Innenseite her ersteigen mussten, nicht zu behindern“, ist unbekannt.84
„Das Vorfeld des Walles dürfte hingegen durch das Abstechen der Grassoden teilweise aufgewühlt
gewesen sein.“85 Im Wall wurden ferner Durchbrüche entdeckt, die möglicherweise „als Durchlass für
Ausbrüche oder für den Rückzug vom Schlachtfeld“ dienten.86
Parallel zum Wallverlauf verliefen – nachgewiesen auf einer bisher 20 m langen Strecke – Pfosten-
gruben in etwa 1,2 m Abstand zueinander, mit einem Durchmesser von 0,25 m, in denen evtl. die an-
gekohlten Pfosten einer Brustwehr steckten. Einige dieser Pfosten ergaben die Rekonstruktion einer
eindeutigen Toranlage.87 Die Breite des Wallfußes gibt Wilbers-Rost mit 4 bis 5 m an, die erhaltene
Höhe des Walles liegt noch zwischen 0,10 bis 0,40 m. Hinsichtlich der ehemaligen Höhe ist Wilbers-
Rost zurückhaltend und mutmaßt etwa 1,5 m bei einer relativ steilen Außenfront. Die Innenseite des
Walles verlief flacher, um ein Besteigen des Walles zu erleichtern.88

76 Jørgensen (2003) 205. 82 Wilbers-Rost (2003) 125.


77 Knudsen u. Rindel (1994). 83 Wilbers-Rost (2003) 126.
78 Neumann (2003) 140. 84 Wilbers-Rost (2003) 126.
79 Andersen (1993) 24. 85 Wilbers-Rost (2003) 126.
80 Jørgensen (2003) 205. 86 Wilbers-Rost (2003) 126.
81 Mildenberger (1978). 87 Wilbers-Rost (2003) 128.
88 Wilbers-Rost (2003) 128.

200 MORTEN HEGEWISCH


An einigen Stellen wurden weniger Rasensoden, dafür höhere Anteile Sand verwendet.89
Feuchte, vermutlich schwer zu überwindende Senken wurden offenbar ausgespart, wie breite Un-
terbrechungen an den östlichen Enden beider Wallabschnitte erkennen lassen.90 Damit und auch in der
Nutzung natürlicher Sandrippen bezogen die Errichter der Anlage topographische Geländegegebenhei-
ten mit ein.91
S. Wilbers-Rost vermerkt: „Durch die Grabungen der letzten Jahre hat sich ein erstes Gesamtbild
von Verlauf und Ausdehnung der Wallanlage gewinnen lassen […]. Sie erstreckte sich mit einer Länge
von etwa 400 m über den heutigen ‚Oberesch‘ und endete an beiden Seiten an noch heute Wasser füh-
renden, z.T. tief eingeschnittenen Bachläufen. Unerwartet war die Form der Enden, denn sie verliefen
sehr geradlinig, beinahe parallel zum Bach, nach Nordosten bzw. Nordwesten. Zwar konnte die direkte
Anbindung an den Bach noch nicht nachgewiesen werden, doch ist anzunehmen, dass diese beiden
Riegel das Gelände des heutigen ‚Oberesch‘ als wichtige Kampfzone eingrenzen sollten, um den Rö-
mern den Durchbruch hinter den Wall zu verwehren.“92
Deutlich wird also, dass man es bei der Kalkrieser Wallanlage mit einer sorgsam geplanten, linea-
ren Konstruktion zu tun hat, die sowohl topographische Gegebenheiten einbezog wie auch taktischen
Erwägungen Folge leistete, den Schlachtraum einengte, den Germanen maximalen Schutz und den rö-
mischen Angreifern minimale Verteidigungs- oder Angriffsmöglichkeiten bot.

Aufwand zur Errichtung einer Wallanlage und Bevölkerungszahlen

Der Aufwand zur Errichtung der Wallanlage in Leese ist auf den ersten Blick schwer abzuschätzen, da
eine Reihe von wichtigen Kenngrößen unbekannt sind. Dazu fehlen für Leese Angaben wie Bodenei-
genschaften, Fläche und Länge des Walls, ferner sekundäre Erkenntnisse zu Methoden der Wallerrich-
tung (Nutzung von Holzschaufeln, Hacken etc.).93 Für Kalkriese könnten diese Werte vermutlich er-
rechnet werden.
Der Aufwand zur Errichtung eines solchen Walls dürfte allerdings nicht allzu groß gewesen sein.
Als Analogie sei auf die befestigte dänische Siedlung Priorsløkke verwiesen, die um 200 n. Chr. eine
220 m lange Palisade erhielt, an die sich ein 121 m langer Wall sowie ein 3 m breiter und 1,5 m tiefer
Wallgraben anschloß.94 Auf experimentalarchäologischem Weg ergab sich, dass „die Palisade von
Priorsløkke von 40 Männern im Vier-Schicht-Betrieb innerhalb einer Woche errichtet werden
[konnte.]“95 Für die hier angeführten recht kurzen deutschen Wallanlagen dürfte dies sich nicht viel an-
ders dargestellt haben, wobei auch die Bevölkerungszahlen der beteiligten germanischen Gruppen –
also die verfügbaren Arbeitskräfte – dem nicht entgegenstehen.
Eine Schätzung der Bevölkerungszahl der Cherusker und der Angrivarier wie auch weiterer
Stämme unternahm jüngst Günter Stangl in einer Schrift von Klaus Tausend zu den Beziehungen zwi-
schen den germanischen Stämmen vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr.96 Er
stellte verschiedene Berechnungsverfahren vor und kam hinsichtlich der Cherusker auf eine geschätzte

89 Wilbers-Rost (2003) 129. 93 Für freundl. Hinweise in dieser Richtung sei hiermit
90 Wilbers-Rost (2003) 129. Dr. T. Kerig, London, herzlich gedankt.
91 Wilbers-Rost (2003) 130 94 Jørgensen (2003) 208.
92 Rost (2003) 131; sehr gut vergleichbar ist die Situation in 95 Jørgensen (2003) 208.
Heek-Wichum, Lkr. Borken, wo eine Holz-Erde-Mauer 96 Stangl (2009) 232ff.
eine Straße sperrte und dabei Moor- und Gewässerflä-
chen einbezog: Finke (1960) 149ff.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 201


Bevölkerung von 20000 bis 80000 Menschen, die ein Territorium besiedelten, das nach den unter-
schiedlichen Berechnungsgrundlagen zwischen 10300 und 22000 km2 groß war. Als militärisches
Aufgebot errechnete er zwischen minimal 4000 und maximal 16000 Kriegern.
Hinsichtlich der Angrivarier kam Stangl auf eine geschätzte Bevölkerung von 22000 bis 25000
Menschen, einem Territorium von 7400 bis 8000 km2 und einem Gesamtaufgebot von 7500 Kriegern.
Trotz der erheblichen Schwankungsbreite und der Frage, wie realistisch solche Schätzungen sind, ver-
mittelt dies dennoch eine Richtung, mit welchen Menschenmengen und eben auch Aufgebotsgrößen
zu rechnen ist. Für Kalkriese zeigt sich jedenfalls – sofern man die Daten zur Errichtung der befestigten
Siedlung Priorsløkke hier übertragen darf –, dass eine solche Befestigung auch von wenigen Menschen
in einem kurzen Zeitraum zu errichten ist.
Befestigte Siedlungen sind dabei keine Spezialität des skandinavischen Raums. Aus Deutschland
sind eine Reihe befestigter Siedlungen bekannt, die z.T. in der Eisenzeit errichtet wurden. Späterhin kam
es zur Um- oder Neunutzung solcher Anlagen, so dass oftmals der chronologische Kern der Strukturen
nicht zu erkennen ist. Zu den bekanntesten Anlagen zählt etwa die Heidenschanze bei Sievern, Lkr. Cux-
haven, eine etwa 2 ha große umwallte Befestigung. Sie datiert „eventuell vom 2. Jahrhundert v. Chr., si-
cherlich jedoch vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis in das 2. Jahrhundert n. Chr., eine dendrochronologische
Datierung aus der jüngsten Walluntersuchung datiert dementsprechend in das Jahr 79 n. Chr.“97
Als eine befestigte Konstruktion der hier behandelten Zeitstellung und Region ist die Düsselburg
nahe Rehburg in Niedersachsen anzuführen, die sich etwa auf halber Strecke zwischen Leese und dem
Steinhuder Meer befindet. Bei ihr handelt es sich um eine frühmittelalterliche Ringwallanlage des 8. bis
10. Jahrhunderts. Gerhard Mildenberger stellte jedoch 1978 die Ähnlichkeit der Anlage zu ovalen Ring-
wällen der Vorrömischen Eisenzeit heraus und verwies auf das hier gefundene Scherbenmaterial der
jüngeren Vorrömischen Eisenzeit, das auch eine Datierung für einen Kern in diese Zeit zuläßt.98 Hin-
sichtlich der Überformung in jüngerer Zeit erinnert dies durchaus an den Marschbergbefund.
Dass es im Rhein-Weser-Germanischen Raum eine große Zahl von mehr oder minder großen be-
festigten Anlagen gab, beschrieb Mildenberger.99 Er bemerkte, dass in jenen Regionen insgesamt die
höchste Anzahl vorrömischer Burgen nachgewiesen werden konnte, die zu einem gewissen Anteil auch
in Römischer Zeit noch genutzt wurden. Hinweise auf befestigte Siedlungen oder Burganlagen lassen
sich indirekt auch bei Tacitus nachlesen, der die Belagerung des Stammsitzes von Segestes beschreibt:
Segestes hatte seine Tochter gewaltsam ‚heimgeholt‘ und wurde nun von gegnerischen Landsleuten be-
lagert. Allzu eng oder gewalttätig kann die Belagerung nicht gewesen sein, denn es gelang Gesandten
und einem Sohn des Segestes – Segimundus, der einst Priester der ara Ubiorum im Oppidum Ubiorum,
dem heutigen Köln war – diese zu durchbrechen, zu Germanicus vorzudringen und ihn um Hilfe zu
bitten. Es folgte die freundliche Aufnahme des Segimundus durch die Römer, die Befreiung der Be-
lagerten, die Unterwerfung des Segestes, die Gefangennahme und Deportierung der schwangeren
Thusnelda sowie die Zusicherung eines Wohnsitzes in der römischen Provinz für Segestes und seine
Angehörigen.100 All dies befeuerte die kommenden Ereignisse zusätzlich.
Unabhängig von der Hintergrundgeschichte zeigt sich zusammenfassend, dass der oder ein Teil
des Stammesadels mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in befestigten Anlagen lebte, man es also
nicht mit offenen Siedlungen zu tun hat, und sich in diesen auch Gefolgsleute und weitere Familien-
angehörige befanden, mithin also die Oberschicht der Cherusker. Ob dies für die gesamte cheruskische

97 Scheschkewitz (2009) 189. 199 Mildenberger (1978) 67ff.


98 Mildenberger (1978). 100 Tac. ann. 1,58.

202 MORTEN HEGEWISCH


Elite gilt, lässt sich nicht sagen, partiell – wie im Fall des Segestes – scheint dies jedoch der Fall zu sein.
Die sichere Verknüpfung kaiserzeitlicher Befestigungen mit der bei Tacitus beschriebenen Geschichte
ist bisher jedoch weder versucht worden noch lässt sich erkennen, wie dies erfolgen könnte.

Weitere Ausgrabungen im Umfeld

Georg Heimbs, der ‚Entdecker‘ des Walls, kann im besten Sinne als Lokalpatriot beschrieben werden.
Daher war auch nach den Grabungen Schuchhardts und Bersus und der Veröffentlichung der Ergeb-
nisse in der Praehistorischen Zeitschrift 1926 sein Forscherdrang noch lange nicht befriedigt. Auch wei-
terhin führte Heimbs mit Bersu vom Frankfurter Archäologischen Institut des Deutschen Reiches
einen regen Briefkontakt und lud diesen vielfach wieder nach Leese ein. In der Regel ließ sich dies je-
doch nicht bewerkstelligen. Briefkontakte gab es auch zu Schuchhardt, ferner mit K. H. Jacob-Friesen,
dem ersten Direktor des Provinzial-Museums und Landesarchäologen zu Hannover.
Heimbs drängte dem Schriftverkehr zufolge alle Schriftpartner zu weiteren Grabungen. Dabei
stellte sich für alle Beteiligten das Problem, Heimbs‘ großen Enthusiasmus in akzeptable Bahnen zu
lenken, die nicht zugleich in ausufernde Deutungen und Verknüpfungen mit den taciteischen Schil-
derungen endeten. Dies zeigt sich im Schriftverkehr Bersus mit Heimbs: „Ich finde immer wieder, dass
die Verquickung von Bodenforschung und Schriftstellerdeutung bisher mehr hemmend als förder-
lich gewesen ist. Beides sind getrennte Aufgabengebiete, und erst wenn beide aufgearbeitet sind, darf
man eigentlich an den Versuch herantreten, die Ergebnisse zur Deckung zu bringen. Aber so weit sind
wir noch lange nicht“.101 Dies hinderte Heimbs aber nicht daran, selbsttätig kleinere Ausgrabungen
vorzunehmen, deren Dokumentationen in der Regel erhalten geblieben sind, wenn solche angefertigt
wurden.
Heimbs versuchte immer wieder aufs Neue, die Schriften des Tacitus mit den Grabungsbefunden
zu verbinden und bezog dabei auch Funde anderer Stellen mit ein. Dabei wurde er jedoch ein ums
andere Mal enttäuscht. So führte er beispielsweise einen von Adolf Schulten 1917 in den Bonner Jahr-
büchern veröffentlichten Bleibarren an, der die Inschrift L·FLA sowie L·F·VE trägt und den Schulten
einem Bergwerkspächter mit dem Namen ‚L. Flavius Ve(tu?)‘ zuweist.102 Heimbs dachte hier natürlich
an Flavus, den Bruder des Arminius. Bersu jedoch musste Heimbs wie so häufig enttäuschen und da-
tierte den Barren „mit größter Wahrscheinlichkeit auf die Zeit nach 70 n. Chr.“103 Von Heimbs freudig
angeführte römische Terra Sigillata datierte Bersu in die Zeit „zwischen 170 und 200 n. Chr.“ und wies
sie einer seiner Ansicht nach noch unentdeckten, vermutlich nordostgallischen Fabrik zu.104 Dennoch
ließ Heimbs sich trotz dieser stets zu jungen Funde nicht entmutigen und suchte stetig weiter. Im Un-
terschied zu anderen historisch interessierten Sammlern suchte er jedoch stets den Kontakt zu Wissen-
schaftlern und Behörden und lieferte seine Funde ab.

101 Bersu an Heimbs vom 19. 4. 1929, Blatt-Nr. 1529/29D. dem Hauptteil der Barren benennen denselben Produ-
102 Schulten (1917) 88ff. Es handelte sich hier um das Frag- duzenten wie die acht anderen Barren. Fast alle Bleibar-
ment eines augusteischen römischen Bleibarrens, der ren sind mit IMP CAES markiert und gingen folglich in
als Lesefund in Bad Sassendorf-Heppen, Lkr. Soest, den Besitz des Kaisers über.“ Bode (2008) 110.
Westfalen, geborgen werden konnte. Verbunden wird 103 Bersu an Heimbs vom 7. 5. 1929, Blatt-Nr. 1973/29D.
dieses Stück mit dem Fund weiterer 99 Barren aus 104 Bersu an Heimbs vom 25. 11. 1931, Blatt-Nr. 6471/31 B/G.
einem Schiffswrack bei Stes. Maries-de-la-Mer an der Dabei kann es sich nur um eine als Urne verwendete
Mündung der Rhône: „Acht von ihnen sind mit FLAVI Bilderschüssel Drag. 37 handeln, die weiter oben behan-
VERUCLAE PLVMB GERM beschriftet …, die 91 übri- delt wurde. Siehe dazu Erdrich (2002) 94; XX-07–6/1.1.
gen Barren mit L·FL·VER und L·FL·VE. Die Kürzel auf

VON LEESE NACH KALKRIESE? 203


Das Frankfurter Archäologische Institut des Deutschen Reiches unterstützte die Grabungen in
und bei Leese daher auch weiterhin finanziell, wobei es sich um eher kleinere Summen handelte. Auf
der Kommissionssitzung vom 2. Mai 1931 etwa wurde – trotz laut Bersu klammer Finanzlage seiner In-
stitution – die Finanzierung einer einwöchigen Grabung nördlich von Leese mit zwei Arbeitern und
Vermessungsarbeiten durch Hannoveraner Vermessungsbeamte übernommen.105 Interessanterweise
durfte Jacob-Friesen von der Ausgrabungsfinanzierung jedoch nicht wissen, da Bersu mehrere Finan-
zierungsbitten Jacob-Friesens für andere Ausgrabungen abgelehnt hatte.106 Jacob-Friesen wiederum
war von den in und um Leese herum geborgenen Funden und Befunden eher enttäuscht und sah nur
wenig Sinn darin, Gräben, Wälle und mit magerem Fundgut ausgestattete Siedlungsplätze zu ergraben.
Zu den Ausgrabungen Jacob-Friesens gehörten etwa die 1927 auf dem nahe gelegenen „Klütberg“
durchgeführten Ausgrabungen (Abb. 15). Hier entdeckte er zwei „ursprünglich vielleicht ovale Graben-
systeme, die konzentrisch ineinander lagen.“ Weiter vermerkte er: „unser Staunen war groß, als wir
durch sie Querschnitte legten und sie als typische ‚Spitzgräben‘ (im Gegensatz zu den sonst üblichen
Sohlgräben) erkannten. Der Querschnitt eines solchen Spitzgrabens ist der eines spitzen Winkels und
hatte an der Oberfläche eine Breite von etwa 1,50 Meter und eine Wandtiefe von 1,20 Meter. Die Gesamt-
tiefe betrug ungef ähr 95 cm.“ Geborgen werden konnte zwar keine typisch römische Keramik, jedoch
fand man „den zerdrückten Rest eines tonnenförmigen Gef äßes … das mit seiner Facettierung an der
Innenseite des Randes auf augusteische Zeit hinweist. Diese Zeitbestimmung deckt sich nun mit der
allgemein üblichen Annahme, dass die Spitzgräben in die römische Kaiserzeit zu verweisen sind.“ Von
einem dieser Querschnitte ist eine Profilzeichnung erhalten geblieben, in der sowohl Wall, Graben als
auch das Gef äß eingezeichnet sind (Abb. 15A).
Dieser Befund führte Ende 1930 und 1931 zu erneuten Ausgrabungen durch Heimbs, die – wie vo-
rangehend beschrieben – von Frankfurt aus finanziell unterstützt wurden, da das Faktum der Spitzgrä-
ben auch hier als eindeutig römisches Signal gewertet wurde. Heimbs schloss seine Grabungen am
18. Mai 1931 an jene Jacob-Friesens an und grub alle 50 m in insgesamt 49 Schnitten quasi dem Wall-
Grabensystem hinterher (Abb. 15).107
Kurt Tackenberg übernahm die Vermessung. In einem Schnitt (37) fand er „urgeschichtliche
Scherben“, in einem anderen Schnitt, der allerdings das Wall-Grabensytem verließ, Reste eines „Rauh-
topfes vom Harpstedter Typ“ (Garten des H. Höltje). Der Graben lief dabei in einigen Schnitten in eine
spitze Sohle zu (Schnitte 19, 20, 45–47, 15). Am vielleicht eindruckvollsten ist dabei ein Schnitt der Gra-
bung Jacob-Friesen von 1927 (Abb. 16B,1), der gut erkennen läßt, weshalb man an römische Spitzgrä-
ben erinnert war.
Die Funktion dieses im Osten 340 m langen Wall-Grabensystems verbleibt mangels ausreichender
Funde unklar, wenngleich auch Bersu den Spitzgrabenbefund mit einem solchen des Lagers von Kneb-
linghausen verglich, der in seiner „Füllung genau so aus[sieht], wie der Spitzgraben in Leese.“108
Im Unterschied zu den römischen Gräben sind die von Heimbs ergrabenen jedoch nicht sehr tief,
so dass es sich bei ihnen kaum um Gebilde mit fortifikatorischer Funktion handeln dürfte. Die Spitz-
gräben der Grabung Heimbs sind maximal 1 m tief erhalten (Abb. 16B,4), ebenso mindestens ein Gra-
ben der Ausgrabung von Jacob-Friesen (Abb. 16B,1). Einige der Gräben sind außerdem nicht spitz, son-
dern eher muldenförmig. Laut der Ortsakten des LDA lässt sich der Verlauf des insgesamt nach Heimbs

105 Bersu an Heimbs vom 15. 6. 1931, Blatt-Nr. 2555/31 B/G. 108 Bersu an Heimbs vom 22. 4. 1932, Blatt-Nr. 22219/32
106 Bersu an Heimbs vom 15. 6. 1931, Blatt-Nr. 3062/31 B/G. B/G.
107 Grabungsbericht Heimbs, undatiert, drei Blätter, ohne
Nr.

204 MORTEN HEGEWISCH


Abb. 15 | Die Grabungen G. Heimbs und K. H. Jacob-Friesens im Norden von Leese 1930 und 1931.

VON LEESE NACH KALKRIESE? 205


Abb. 16 | A. Schematisierter Schnitt durch den Klütberg, Grabung Jacob-Friesen 1927. B. Schnitte der Grabung Jacob-Friesen 1927
und Heimbs. 1. Grabung Jacob-Friesen, Schnitt vom 14. 7. 1927; 2–8 Grabung Heimbs. 2. Schnitt 2; 3. Schnitt 13; 4. Schnitt 20;
5. Schnitt 22; 6. Schnitt 21, Profile Nord- und Südseite des Weges; 6. Schnitt 7; 8. Schnitt 10.

206 MORTEN HEGEWISCH


800 m langen Grabens heute nur noch im NW exakt angeben. Zu den Gräben wird dort ferner festge-
stellt: „Da Jacob-Friesen nicht ausschloss, dass der Graben neuzeitlich sein könnte, ließ er sich 1929
vom Katasteramt Stolzenau einen Plan mit den Wegen und Parzellengrenzen … schicken. Auf diesem
Plan ist ein Weg mit Wall und beidseitigen Plänen verzeichnet, der genau in der Linienführung des von
Heimbs festgestellten Grabenzuges verläuft“ (Abb. 15,3; 16B,6).109 Damit handelt es sich in diesem Teil-
bereich entlang eines alten Forstweges wohl eher um Entwässerungsgräben oder solchen unbekannter
Funktion. Für sie scheint also in weiten Bereichen eine neuzeitliche Zeitstellung sicher, römisch sind
sie jedoch nicht.
Vorangehend wurden diese Grabungen auch deshalb eingehend beschrieben, weil es zeigt, wie
kompliziert die Befundlage in und um Leese herum ist, und wie der Wunsch, hier etwa ein römisches
Lager zu entdecken, Untersuchungen in eine falsche Richtung lenken kann. Vermengt wurde in der
Deutung dieser Spitzgräben durch Heimbs – aber auch durch Jacob-Friesen – die Existenz einer Reihe
von wohl eisenzeitlichen Brandgrubengräbern im Umfeld und direkt am Klütberg.

Zusammenfassung

Zusammenfassend zeigt sich, dass der Ohle Hoop durchaus Merkmale aufweist, die mit eisenzeit-
lichen Anlagen verglichen werden können – Bersu schätzte die Anlage auf 2,5 m Höhe, vergleichbares
wird für den Trældiget beschrieben. Wie in Kalkriese auch, wurde der Langwall aus Plaggenesch errich-
tet – ‚aufgeplaggt‘.110 Palisadenreihen werden ebenso für alle benannten Anlagen beschrieben, und
auch eine Verbindung zu sumpfigen Abschnitten scheint bei Wallanlagen wie dieser die Regel darzu-
stellen. In die entsprechende Zeitstufe um die Zeitenwende datierende Funde finden sich im Umfeld
der Konstruktion. Entsprechend mag es sich beim Ohle Hoop im Kern um einen eisenzeitlichen Lang-
wall gehandelt haben, sicher ist dies jedoch nicht. Auch hinsichtlich der germanischerseits gewählten
Stelle für den Kampf gegen Germanicus mag man mit der Leeser Topographie durchaus Parallelen zu
Kalkriese erkennen – Engstellen, Sümpfe, dünne Flussläufe, ein Wall.
Andererseits ist jedoch hinsichtlich Kalkriese zu fragen, woher das Wissen um die Konstruk-
tion einer solchen Anlage stammte, die ja innerhalb eines recht kurzen Zeitraums errichtet worden sein
muss.
Würde es sich beim etwa 60 km – also etwa drei Tagesmärsche – entfernten Abschnittswall ‚Ohle
Hoop‘ tatsächlich um eine eisenzeitliche Wallanlage handeln – egal ob ,Angrivarierwall‘ oder nicht –, so
mag hier durchaus das Vorbild für Kalkriese zu suchen sein. Einzelne Details stimmen überraschend
überein, wie das Aufplaggen des Walls auf eine alte Oberfläche, die bis auf 10 cm übereinstimmenden
Abstände der Pfosten, das Fehlen eines Grabens hier wie dort (und auch im Unterschied zu den skan-
dinavischen Langwällen), das Einbeziehen topographischer Gegebenheiten, sumpfige, schwer über-
windliche Streckenabschnitte bzw. entsprechende Bachläufe sowie eine sich so herausbildende Schmal-
stelle. Kalkriese wäre damit quasi die Wiederholung des Leeser Befundes, und die ‚Bauherren‘ dann
möglicherweise auch jene, die sich mit der Instandhaltung der Leeser Anlage auskannten.

109 Bearbeiterin H. Nelson, Identifikationsnr. 256/ chene, durchwurzelte Soden … die Plaggenesche der
3650.00172-F. Kalkrieser-Niewedder Senke sind braune Plaggenesche
110 Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 9 definieren unterschiedlicher Mächtigkeit aus schwach lehmigen
dies folgendermaßen: „… Plaggen sind flach abgesto- oder schwach schluffigen Sanden.“

VON LEESE NACH KALKRIESE? 207


Eine mittelalterliche Zeitstellung des Walles erscheint dem Verfasser nicht zuzutreffen, fehlen
doch die entsprechenden Funde. Anders sieht dies möglicherweise für den Marschberg aus. Auch der
Hinweis auf ähnliche Wallanlagen aus den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges trifft nach Ansicht des
Verfassers nicht, da sich über die Zeiten gerade einfach konstruierte Erdwälle gleichen. Die Parallelen
zu Kalkriese oder den skandinavischen, insbesondere dänischen Anlagen, erscheinen hier treffender.
Vor dem Hintergrund der zahlreichen Nennungen der Angrivarier als Verbündete der Cherusker,
als möglicherweise erste Aufständische, gegen die Varus zog, als erneut Aufständische unter Germani-
cus und als einer jener raren Stämme, die explizit beim Triumph des Germanicus in Rom benannt wur-
den, entfaltet die These der Verbindung beider linearer Anlagen (unabhängig von der tatsächlichen
Deutung der Leeser Anlage) eine gewisse Wahrscheinlichkeit.
Letztlich muss diese Vermutung, also die ‚Bauherrenschaft‘ oder zumindest die Vermittlung des
Wissens um eine solche Konstruktion jedoch von archäologischer Seite her spekulativ bleiben, da im
Leeser Wallbereich bzw. in dessen Nähe zwar Scherben der Vorrömischen Eisenzeit wie auch mit einem
kräftigen Signal solche augusteischer Zeitstellung neben germanischen Siedlungsreste gefunden wur-
den, jedoch für die von Schuchhardt veranlassten Grabungen vor dem Hintergrund heutiger Anforde-
rungen naturwissenschaftliche Daten fehlen. Benötigt würden zur letztendlichen Klärung der Situation
weitere Wallschnitte, ferner parallel zum Wall verlaufende Schnittführungen, naturwissenschaftliche
Untersuchungen hinsichtlich der Gewinnung von 14C-Daten und – sofern Hölzer geborgen würden, die
dies ermöglichten – dendrochronologische Analysen. Auch eine Ausgrabung der germanischen Sied-
lung auf bzw. unter dem Marschberg, sofern sich hier überhaupt noch Grabungen durchführen lassen,
dürfte von Interesse sein.

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VON LEESE NACH KALKRIESE? 209


210 MORTEN HEGEWISCH
IV. Cura posterior
Frühes Marketing: Arminius-Kaffeemühle.
Klaus Kösters

Endlose Hermannsschlachten …

Über die Varusschlacht 9 n. Chr. und den Sieg der Germanen unter ihrem Heerführer Arminius würde
heute niemand mehr reden, wenn nicht die Erinnerung an das historische Ereignis – symbolisch und
emotional aufgeladen – Teil des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen geworden wäre. Es ist also eine
klassische Mythenbildung, die hier stattgefunden hat: Das historische Ereignis und sein Protagonist
wurden aus der historischen Zeit herausgelöst und in Form einer heroischen Erzählung und in freiem
Umgang mit den historischen Fakten auf die jeweils tagespolitisch aktuellen Bedürfnisse der Mythen-
erzähler zurechtgeschnitten. Diese Bedürfnisse sind aber wandelbar, so dass sich im Laufe der Zeit auch
die Interpretationen des Mythos wandelten, wie die ununterbrochene Kette von fiktiven Hermanns-
schlachten zeigt, die sich in der Literatur, der bildenden Kunst und Musik niedergeschlagen haben – die-
ser Beitrag nimmt das 16. bis 18. Jahrhundert in den Blick. Im Kern geht es dabei um zwei Themen: ein-

Abb. 1 | Schlussbild der Kleistschen Hermannsschlacht in der Bochumer Peymann-Aufführung von 1982: Der Schatten Hermanns
wächst und wächst …

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 213


Abb. 2 | Tacitus’ Germania. Kommentierte Ausgabe
des Humanisten Andreas Althamer, 1580.

mal um das Selbstbild, das sich die Deutschen gemacht haben, nachdem die Germania des Tacitus und
wenig später die Geschichte der Germanenkriege mit Arminius wiederentdeckt wurden. Zum anderen –
sozusagen als Gegenspiegel – geht es um die kurze europäische Karriere des Arminius und der freien
Germanen, die im 17. Jahrhundert begann und dann abrupt mit den napoleonischen Kriegen endete.

Die Germanen des Tacitus

Der römische Historiker Tacitus (um 58–nach 116 n. Chr.) schildert die Germanen als eigenständig le-
bendes, unvermischtes Volk: „Die Germanen selbst sind meiner Meinung nach wohl Ureinwohner und
haben sich keineswegs mit anderen Völkern vermischt, die gewaltsam eindrangen oder gastliche Auf-
nahme fanden.“1

Alle fremdsprachlichen Zitate erscheinen hier in deut- 1 Tac. Germ. 2.


scher Übersetzung und stammen, wenn nicht anders
vermerkt, vom Verfasser, Tacitus-Stellen aus der Über-
setzung von Curt Woyte, Stuttgart 1959.

214 KLAUS KÖSTERS


Tacitus wollte wohl in den Germanen ein unverf älschtes Urvolk sehen, das er den Alt-Römern in
der Absicht annäherte, in ihnen ein positives Spiegelbild verlorener altrömischer Tugenden zu zeich-
nen. Unabhängig von der wissenschaftlichen Frage, ob diese römische Benennung ‚Germanen‘ über-
haupt historisch gerechtfertigt ist, ging Tacitus von einer einigermaßen homogenen Volksgruppe
aus, die er mit gemeinsamen Merkmalen belegte: „Deshalb ist auch die äußere Erscheinung, trotz
der so großen Menschenzahl, bei allen die gleiche: trotzige blaue Augen, rotblondes Haar und hoher
Wuchs.“2
Die Germanen des Tacitus sind von Natur aus stattlich und von kräftigem Körperbau, ausgespro-
chen freiheitsliebend, tapfer und wehrtüchtig, ein einfaches Kriegervolk, deren wildes und aggressives
Verhalten Tacitus nicht ausschließlich als barbarisch herabstuft. Wildheit und Aggressivität kann man
auch im Zusammenhang mit den römischen Tugenden von Tapferkeit und militärischer Stärke sehen.
Denn Tacitus betont immer wieder die virtus der Germanen, die er mehr positiv als männliche Tugend
und kriegerische Tüchtigkeit interpretiert. Und eine weitere altrömische Tugend spricht Tacitus den
Germanen zu: ihre simplicitas, ihr einfaches und ungekünsteltes Wesen, das man zweifach verstehen
kann, als Primitivität oder sittliche Reinheit und Tugend. Dieser Einfachheit sind dann weitere Tugen-
den zugeordnet, wie z.B. Offenherzigkeit, Biederkeit, Respekt vor den althergebrachten Sitten und Tra-
ditionen, vor Sippe und Familie, persönliche Treuebindung zum Gefolgsmann, Achtung der Frauen,
Ablehnung von Geld und Gold.
Tacitus spart nicht mit Kritik, wenn er die germanische simplicitas auch als Einfalt und Rohheit
schildert. Als Vertreter eines gebildeten und zivilisierten Volkes sieht er nicht über die germanische
Primitivität in Handel und Bewaffnung, in Kleidung und Ernährung hinweg. Aber entscheidender sind
für ihn die positiven Eigenschaften der Germanen. Er sieht in den germanischen Stämmen vieles, was
früher einmal die Züge des Römertums waren, bevor das römische Kaisertum mit seinen unberechen-
baren, tyrannischen Herrschern diesen alten republikanischen Tugenden den Garaus machte. So über-
rascht es nicht, wenn er die germanische Welt positiver schildert, als sie es wohl in Wirklichkeit war.

Die Wiederentdeckung der Germania des Tacitus

Im Mittelalter war die Germania des Tacitus so gut wie vergessen. Eine neue Situation trat ein, als sich
im Italien des 14. und dann vor allem des 15. Jahrhunderts humanistisch gebildete Gelehrte und Litera-
ten aufmachten, in Klosterbibliotheken nach Abschriften antiker Texte zu suchen. Um 1455 gelangte
der heute verlorene Codex Hersfeldensis nach Rom, also die karolingische Abschrift der kleineren Werke
des Tacitus mit der Germania.
Wer wann und wie dafür verantwortlich war, dass aus dem Kloster Hersfeld oder Fulda Abschriften
der taciteischen Schriften nach Italien gelangten, ist umstritten und wohl nicht mehr zu klären. Die
Handschriften wurden kopiert und seit den 1470er Jahren immer wieder neu gedruckt. Einer der ers-
ten, der die Germania in die Hand bekam, war Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der spätere Papst
Pius II. Und er wusste daraus auf eine besondere Weise Gewinn zu schlagen. Gerade hatten die deut-
schen Bischöfe und Fürsten in den Gravamina Germaniae Nationis Klage über die unmäßigen Geldfor-
derungen und das Pfründenwesen Roms geführt. In seiner Erwiderung von 1558 benutzte Enea Silvio
seine frischen Kenntnisse aus der Germania, um gegenüber dem von Tacitus dargestellten einfachen

2 Tac. Germ. 4.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 215


Abb. 3 | Enea Silvio Piccolomini, Papst Pius II.
Kupferstich von Johann Benjamin Brühl (1691–1763).

und primitiven Leben der Germanen auf den aktuellen Wohlstand und die Kultiviertheit der Deutschen
hinzuweisen: Die natio Germanorum sei dank der römischen Kirche aus dem Stande der Barbarei, wie
Caesar und Tacitus sie überlieferten, zu nunmehr höchstem Wohlstand und christlicher Lebensfüh-
rung gelangt. Über die Germanen schrieb er: „In dieser Zeit unterschieden sich Deine Vorfahren kaum
von den wilden Tieren, alles war grauenhaft, alles abscheuerregend, wild, barbarisch, oder um die
Dinge bei ihrem Namen zu nennen, bestialisch und menschenunwürdig.“3
Enea Silvios Argumentation war nicht ungeschickt. Außerdem hatte er 23 Jahre in Deutschland
verbracht und konnte für sich in Anspruch nehmen, Land und Leute gut zu kennen.4 Die Germania
diente ihm als Beweismittel für die ursprüngliche Primitivität der Deutschen, sozusagen als Hinter-
grundfolie, um – nicht ohne finanziell-politische Interessen – das neue kultivierte und wohlhabende
Deutschland umso besser loben zu können.
Enea Silvios Schriften wurden in Deutschland erst gegen Ende des Jahrhunderts bekannt, aber sie
boten den deutschen Humanisten eine willkommene Argumentationshilfe, denn er zeichnete Deutsch-

3 Enea Silvio Piccolomini, De ritu, situ, moribus et condi- 4 Er kam 1432 zum Baseler Konzil nach Deutschland
tione Theutoniae descriptio, Leipzig 1496, Buch 2, Kap. 4. und beendete 1455 seine Tätigkeit in der Kanzlei Kaiser
S. auch Ridé (1977) 174, Münkler, Grünberger u. Mayer Friedrichs III.
(1998) 167; Krebs (2005) 145.

216 KLAUS KÖSTERS


land als sprachliche, kulturelle, ethnische und geographische Einheit und gab so den deutschen
Humanisten einen Denkanstoß, den sie später mit der Idee einer deutschen ‚Nation‘ weiterentwickeln
konnten.5 Bei Enea lasen sie auch, sie seien ein besonderes Volk, das kraft eigener Leistung und Kriegs-
tüchtigkeit die Reichsgewalt übertragen bekommen hatte, er diagnostizierte also den Übergang des rö-
mischen Kaisertums auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Diese Feststellung war umso
tröstlicher, als der französische König seinen Anspruch auf die Kaiserkrone anmeldete.6
Enea Silvio Piccolomini führte die deutschen Humanisten zur Germania des Tacitus. Er hatte ge-
zeigt, wie man mit historischen Quellen tagespolitisch argumentieren kann. Und auch hierin folgten
ihm die deutschen Humanisten, indem sie die Aussagen des Tacitus wörtlich auf ihre Gegenwart über-
trugen: Die alten Germanen erklärten sie zu den Vorfahren der Deutschen. Durch Tacitus beglaubigt,
bekamen die Deutschen eine Ursprungsgeschichte, die durchaus gleichwertig mit dem italienischen
Trojanermythos war.7 Jetzt war der Weg offen, die von Tacitus beschriebenen Tugenden als allzeit gül-
tige Eigenschaften aller Deutschen zu bestimmen.
Tacitus’ Germania war aber nur bedingt geeignet, den Ursprung der Deutschen herauszustel-
len; zu vage waren die Angaben über die Herkunft der Germanen. Tacitus erwähnt zwar, dass die Ger-
manen in ihren Liedern „Tuisto, einen erdgeborenen Gott“ verehrten.8 Aber diese Genealogie hing
gewissermaßen in der Luft, ließ sich an keine der bereits bekannten anschließen. Zugleich betonte Ta-
citus mehrfach die autochthone Herkunft der Germanen. Für die humanistischen Gelehrten stellte
sich damit die Aufgabe, eine lückenlose Genealogie der Deutschen aufzustellen, die an die bekann-
ten biblischen und antiken Geschlechterfolgen anknüpfte. Auf der anderen Seite bot die Ureinwoh-
ner-Theorie die Chance, den Deutschen ein seit altersher bestimmtes Territorium zuzuweisen. Die
kaiserliche Publizistik unter dem Habsburger Maximilian I. (1459–1519) stellte gerade dieses Ar-
gument in der Abwehr französischer Ansprüche und innerer Auseinandersetzungen besonders
heraus.9
1498 erschien ein Buch des Dominikanermönchs Annius von Viterbo (1432–1502), das für die hu-
manistischen Gelehrten Deutschlands wohl wie ein lang ersehntes Geschenk auf dem Weg der natio-
nalen Selbstfindung gewesen sein muss. Annius untersuchte in seinem Werk die Herkunft aller be-
kannten Völker. Als Autoritäten führte er neben den bekannten biblischen und antiken Quellen einen
chaldäischen Priester und Geschichtsschreiber ‚Berosus‘ ein, der als Bindeglied zwischen den bibli-
schen Berichten und den antiken Autoren fungierte. So konnte Annius eine lückenlose Geschlechter-
folge vom Stammvater Noah bis zu den verschiedensten Völkern Europas, Asiens und Afrikas kon-
struieren.10
Annius argumentierte folgendermaßen: Noah und sein Geschlecht überlebten als einzige die Sint-
flut. Seine drei Söhne Sem, Ham und Japhet wurden die Stammväter der Völker Asiens, Afrikas und
Europas. Japhet wurde zum Urahn der Spanier, Italer und Kelten. Für die germanischen und sarmati-

5 Müller (2001) 257. Streng genommen kann der Begriff wurde. Ähnliche auf Troja bezogene Ursprungsmythen
‚deutsche Nation‘ erst auf die Verhältnisse nach der gab es auch in Deutschland, Frankreich und England.
Französischen Revolution angewendet werden. Wenn 18 Tac. Germ. 2.
hier dennoch von ‚Nation‘ und ‚Nationalbewusstsein‘ 19 Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 236 u. 243.
gesprochen wird, dann im Sinne von Vorläufern oder 10 Annius de Viterbo (Giovanni Annius, auch genannt:
Frühformen. Pseudo-Berosus), Antiquitatum variarum volumina.
6 Dazu ausführlich: Münkler, Grünberger u. Mayer Auctores vetustissimi, Rom 1498. S. auch Münkler, Grün-
(1998) 175–209. berger u. Mayer (1998) 243f.; Ridé (1977) 1065–1075;
7 In Vergils Aeneis konnte man lesen, dass Rom durch den Hutter (2000) 36–54. Eine Ausgabe zusammen mit der
aus dem brennenden Troja geflohenen Aeneas gegründet Germania des Tacitus erfolgte 1511.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 217


schen Völker11 erfand Annius aber eine andere Geschlechterfolge: Den bei Tacitus erwähnten Gott
Tuisco (Tuisto) führte er direkt auf Noah zurück, den er in sein Geschlecht aufnahm. Da der römische
Schriftsteller diesen als Stammvater der Germanen ansah, konnte Annius die konstruierte Abkunft der
Deutschen von Noah nicht nur durch den römischen Schriftsteller beglaubigen, sondern dessen Aus-
sagen durch ‚alte‘ Quellen bestätigen lassen.
Wenn Tuisco als Stammvater der Germanen direkt auf Noah zurückgeführt werden konnte, so
ließ sich daraus in den Augen der deutschen Humanisten auch eine besondere Würde und Auszeich-
nung der Deutschen folgern, da sie älter als die anderen Völker seien. Franciscus Irenicus (1494/
95–1553), protestantischer Theologe und Verfasser historischer Werke, leitete aus dem hohen Alter
der Deutschen deren Höherwertigkeit gegenüber allen anderen Völkern ab: „Uns aber wird von
anderen Nationen bezeugt, dass das Herkommen der Germanen lauter und rein gewesen, also auch
nicht aus einer Vermischung mit anderen Stämmen entstanden sei. Die Germanen sind unvermischt
geblieben, wie Tacitus, Sabellicus und andere bezeugen. Aber allein Berosus hat dargelegt, dass wir
bedeutender sind als alle übrigen Stämme Europas, wenn man Herkunft und Alter als Maßstab neh-
men will.“12
Deutsche Krieger, so Irenicus weiter, sind aufgrund ihrer außergewöhnlichen Tapferkeit und
Kriegskunst auf allen Kriegsschauplätzen der antiken Welt anzutreffen gewesen, wo sie Entscheidendes
geleistet haben. Einmal in die Welt gesetzt, sollte dieser Gedanke von der Besonderheit der Deutschen
Karriere machen. Da half es auch nicht, wenn der elsässische Gelehrte Beatus Rhenanus (1485–1547)
das Werk des Annius in die Welt der Märchenerzähler verwies.13
Die Germania des Tacitus und die Schrift des Annius von Viterbo regten die humanistischen Auto-
ren in Deutschland an, eine Vielzahl von Kommentaren über die Herkunft der Deutschen und ihre be-
sonderen Eigenschaften zu verfassen. Einer der ersten war der Erzhumanist Konrad Celtis (1459–1508),
der in seiner Germania Generalis gerade der simplicitas der Germanen Vorbildcharakter zusprach:
„Ein unbesiegbares Volk, wohlbekannt in der ganzen Welt, lebt von jeher dort, wo sich die Erde, in ihrer
Kugelgestalt gekrümmt, herabneigt zum Nordpol. Geduldig erträgt es Sommerhitze, Kälte und harte
Arbeit; Müßiggang eines trägen Lebens zu erdulden leidet es nicht. Es ist ein Volk von Ureinwohnern,
das seinen Ursprung nicht von einem anderen Geschlecht herleitet.“14
Auch Heinrich Bebel (1472–1518), Professor für Poesie und Rhetorik an der Universität Tübingen,
stützte sich in seiner kleinen Schrift Beweis, dass die Germanen autochthon sind auf Tacitus als Gewährs-
mann: „Die Germanen sind autochthon, d.h. eingeboren, was unter anderen Cornelius Tacitus bekräf-
tigt.“15 Ihre kulturelle Entwicklung, so Bebels Argumentation, haben die Deutschen sich selbst zu ver-
danken. Kein römischer Eroberer hat ihre freiheitliche Entwicklung unterdrückt, und keine römische
Kirche war notwendig, um die Deutschen zu einem zivilisierten Volk zu machen, wie dies Enea Silvio
behauptete. Sie sind, so Bebel, seit alters her sich immer treu geblieben, keinem verderblichen Einfluss
fremder Stämme und Völker ausgesetzt gewesen: „Wir aber sind beinahe die einzigen unter allen Na-

11 Sarmatien: nach Annius die Polen, Goten/Schweden, Grünberger u. Mayer (1998) 248. S. auch Mertens (2004)
Russen und Dacier (Münkler, Grünberger u. Mayer 92.
[1998] 246). 14 Conrad Celtis, De situ et moribus Germaniae additiones
12 Franciscus Irenicus, Germaniae Exegesos volumina duode- (erschienen um 1500 in Wien), Übersetzung nach Mül-
cim, Basel 1567, Buch 3, Kap. 1–2 (105–106). Überset- ler (2001) 91.
zung nach: Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 252f. 15 Heinrich Bebel, Germani sunt indigenae (nach 1500), in:
13 (Beatus Rhenanus), Beati Rhenani Selestadiensis Rervm Opera Bebeliana sequentia …, Pforzheim 1509 (http://
GermaniCarvm Libri Tres Adiecta Est In Calce Epistola Ad www.uni-mannheim.de/mateo/camena/bebel2/jpg/
D. Philippu Puchaimeru …, Basel 1531; Zitat bei Münkler, s147.html [Stand: Nov. 2009]).

218 KLAUS KÖSTERS


Abb. 4 | Epitome Rerum Germanicarum
von Johannes Wimpheling, Titelblatt, 1562.

tionen des Erdkreises, die ohne Vermischung mit Einwanderern regieren und seit altersher ohne ein
von Außen auferlegtes Joch herrschen.“16
Uralte Abstammung und Tugend, Tapferkeit und Unabhängigkeit – das sind also für Bebel die
herausragenden Eigenschaften der germanischen Vorfahren und jetzigen Deutschen, Eigenschaften,
die mit ihrer Ureinwohnerschaft in einem geschlossenen Territorium auf das Engste verbunden sind.
So gibt es für Bebel keinen Zweifel, dass nur auf sie das römische Kaisertum übertragen werden konnte.
Der elsässische Gelehrte Jakob Wimpheling (1450–1528) erzählte in seiner Epitome17 die Geschichte
Deutschlands, wobei er mit den Kimbern und Teutonen beginnt und immer wieder die germanische/
deutsche Tapferkeit und Kriegstüchtigkeit herausstellt. „Es gereicht uns zur Ehre, von den alten Germa-
nen abzustammen“, schreibt er im Vorwort und wird nicht müde, die Heldentaten der alten Krieger zu
preisen: „Ich sage, wie ich es denke, die Deutschen haben alle Völker besiegt.“18 In dem Kapitel über die
„Tapferkeit der Deutschen“ nennt er die Deutschen „mutig, großzügig und erfindungsreich“.19 Zu ihren
Tugenden gehören neben der militärischen Überlegenheit auch und in Anlehnung an Tacitus Keusch-
heit, Gastfreundlichkeit, Treue und Gottesfurcht sowie Redlichkeit, Freiheitsliebe und Beständigkeit.

16 Bebel, Germani (http://www.uni-mannheim.de/mateo/ 18 Wimpheling, Epitome, Kap. 54. S. auch Ridé (1977) 311
camena/bebel2/jpg/s147.html). und 1148.
17 Jakob Wimpheling, Epitome rerum Germanicarum usque 19 Wimpheling, Epitome, Kap. 54 – ein Zitat von Filippo Be-
ad nostra tempora, 1505. Übersetzung nach der 1562 in roaldo, das Wimpheling übernimmt. Ridé (1977) 314; s.
Marburg bei Colbius erschienenen Ausgabe. auch Krapf (1979) 104f.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 219


Die Hochpreisung der Germanen-Deutschen durch die bisher vorgestellten patriotisch ent-
flammten Autoren konstruiert das Bild eines allen anderen Völkern politisch, militärisch, moralisch
und kulturell überlegenen Volkes. Dieses zeichnet sich nicht nur durch Tugenden aus, die von Taci-
tus ausgehend immer ausführlicher und breiter dargestellt werden, sondern auch durch ein gegen-
über den anderen Völkern höheres Alter sowie eine ethnische Reinheit und Siedlungskontinuität in
einem fest umrissenen Territorium. Damit hatte das Germanen- und Deutschlandbild dieser Autoren
feste Konturen gewonnen und konnte die Einbildungskraft aller zukünftigen Patrioten nachhaltig in-
spirieren.
Aus einem Dilemma kamen die deutschen Humanisten allerdings nicht heraus: Alle Nachrichten
über die Germanen stammten aus römischer Feder, da jene kaum die Schrift geschweige denn Schrift-
steller oder Chronisten besaßen. Also doch Barbaren, wie dies die Italiener und Franzosen behaupte-
ten? Die Lösung fand der Humanist Franciscus Irenicus: „Es sei nicht die Art der Germanen, mit gro-
ßen Worten zu tönen, denn mehr als Worte sprechen die Taten.“20 Damit war der endgültige Ausweg
gefunden: Die germanischen Analphabeten sind durch ihren Charakter und ihre Taten geadelt, was Ire-
nicus um 1515 sofort in einen Katalog der berühmten Männer (Catalogus virorum illustrium) verarbeitete.

Arminius wird entdeckt

Aber all diesen Lobpreisungen fehlte noch der Held, auf den sich all die guten Eigenschaften projizieren
ließen. Der wurde gefunden, als man 1508/09 die Annalen des Tacitus und 1515 die Römische Geschichte
des Velleius Paterculus (um 20 v. Chr.–30 n. Chr.) entdeckte. Beide Texte führten Arminius als siegrei-
chen Heerführer der Germanen in die Geschichte ein. Tacitus nannte ihn den „Befreier Germaniens“
und großen patriotischen Führer – ein Urteil ausgerechnet von einem römischen Schriftsteller, das
keinen deutschen Humanisten ruhig lassen konnte. Sie bemühten sich, den Germanen zum ersten
Helden der Deutschen und strahlenden Führer eines deutsch-germanischen Freiheitskampfes zu ma-
chen, der sich in der Gegenwart fortsetzt. Denn der Freiheitskampf der Germanen gegen Rom konnte
auch als Beginn einer Auseinandersetzung interpretiert werden, die man im 16. Jahrhundert gegen die
Selbstsucht der römischen Kirche führte. Und für die deutschen Humanisten war es nur zu leicht, die
ausbeuterischen Steuern, welche die römische Kirche in Deutschland erhob, mit den Raubzügen und
Plünderungen der römischen Armee in Germanien in Verbindung zu bringen.21 Wie die Germania zu-
vor konnten jetzt auch die anderen antiken Schriften in den Dienst der ‚nationalen‘ Selbsterhebung ge-
stellt werden. Die Varusschlacht wurde zu einem großen Ereignis der deutschen Geschichte, und man
konnte die Denkmalserhebung des Arminius gezielt angehen.
Den spektakulärsten Versuch dieser Denkmalserhebung unternahm der humanistische Dichter
und Papstkritiker Ulrich von Hutten (1488–1523). 1520 verfasste er im Stil der Totengespräche des altgrie-
chischen Dichters Lukian (um 120–180) seinen Arminius Dialogus, mit dem er den Arminius-Kult in
Deutschland begründete.22

20 Irenicus, Germaniae Exegesos II, 34 (75–76), zitiert nach: Melanchthon, schließlich zwei weitere im 17. Jahrhun-
Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 226. dert. Die erste deutsche Übersetzung kam 1814 heraus.
21 Ridé (1977) 520. Huttens Argumentation und sein Urteil nehmen vieles
22 Die erste gedruckte Ausgabe des lateinischen Textes vorweg, was später immer wieder über den germani-
erschien 1529, dann 1538 und 1557 in Wittenberg, mög- schen Heerführer geschrieben, aufgeführt, vertont und
licherweise auf Anregung oder Mitwirkung von Philipp gemalt wurde.

220 KLAUS KÖSTERS


Abb. 5 | Die erste Darstellung des Arminius auf der Holzschnittbordüre des Titelblatts der Historia Romana von Velleius
Paterculus, 1520.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 221


Abb. 6 | Zeichnung des Arminius im Stile der damaligen
Herkules-Darstellungen von einem unbekannten Künstler
des 16. Jahrhunderts auf einer Seite des Arminius-Dialoges von
Hutten, 1557.

Huttens kleine Geschichte spielt in einem himmlischen Gerichtssaal. Der Vorsitzende, der kretische
König Minos, hat sein Urteil verkündet, wer die besten Feldherren aller Zeiten gewesen seien. Die erste
Wahl fiel auf Alexander den Großen, dann folgten der Römer Scipio und als dritter Hannibal von Kar-
thago. Doch es gibt einen Einspruch durch den Germanen Arminius. Er beschwert sich, dass man ihn
bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt habe. Als noch Tacitus hinzukommt und Arminius kräftig
lobt, fordert Minos ihn auf, seine Argumente vorzutragen, die er in einem langen, hier stark gekürzten
Monolog darlegt: „Durch meinen Sieg habe ich das im Innersten niedergetretene und zerrissene
Deutschland in kurzer Zeit wiederhergestellt. Als du vor Rom standst, Hannibal, hast du nicht bewirkt,
dass die Römer mit Angst und Verwirrung reagierten. Ich habe dem römischen Staat ein solches Maß
an Verzweiflung zugefügt, dass selbst Kaiser Augustus mit dem Kopf gegen die Tür stieß und an den
Toren Posten und auswärts Schutztruppen aufstellen ließ.“23
Minos muss die militärisch-politischen Verdienste des Arminius anerkennen und verleiht ihm den
ersten Rang unter den Vaterlandsbefreiern, womit die Geschichte schließt. Hutten macht Arminius
zum Vorkämpfer der deutschen Freiheit, ein Vorbild im Kampf gegen den aktuellen Feind der Deut-
schen: das Rom der Päpste. Und er gab den Takt vor, der die zukünftige Arminius-Rezeption begleiten
wird: Der deutsche Freiheitsheld wird zur Allzweckwaffe, die man immer dann mobilisieren kann,
wenn Deutschland in der Krise steckt, eine Art Nothelfer in deutscher Bedrängnis. Die Einigung der ger-

23 (Ulrich von Hutten), Germania Cornelii Taciti, Vocabula Recens edita a Philippo Melanthone, Wittenberg 1557.
regionum enerrata, et ad recentes adpellationes accomodata. Übersetzung nach Roloff (2003) 211–238.
Harminius Ulrici Hutteni. Dialogus, cui Titulus est Iulius,

222 KLAUS KÖSTERS


manischen Stämme im Kampf gegen Rom und vor allem der spektakuläre Sieg über die Römer ließen
sich problemlos auf die aktuelle Situation und die gegenwärtigen Feinde der Deutschen übertragen. Das
war im 16. Jahrhundert in den Augen vieler deutscher Patrioten und Reformatoren die römische Kirche,
aber auch schon zunehmend Frankreich, das mit den Habsburger Kaisern im Dauerkonflikt stand.
Um politische Wirksamkeit zu erreichen, musste Arminius allerdings noch populärer werden. Das
besorgten weitere Schriften, die ihn zum ersten deutschen Freiheits- und Siegeshelden beförderten. Die
Bayrische Geschichte des Johannes Turmair, genannt Aventin (1524/34), ist wohl das erste deutschspra-
chige Buch, welches die Taten des Arminius rühmt, den der Autor Erman nennt. Die Namensgebung
Hermann geht wohl auf ihn zurück. Martin Luther aber macht Arminius erst als Hermann bekannt. So
sagt er in den Tischreden: „Wenn ich ein Dichter wäre, so wollte ich [Arminius] verherrlichen: Ich habe
ihn von Herzen lieb. Er hat Herzog Hermann geheißen und ist Herr über den Harz gewesen … Wenn
ich jetzt einen Arminius hätte und er einen Doktor Martinus, so wollten wir den Türken suchen.“24
Dennoch, die protestantischen Theologen taten sich schwer, den Aufstand des Germanenführers
wirklich zu bejahen. Georg Spalatin (1484–1545), ein vertrauter Freund Luthers, veröffentlichte 1535
eine kleine Schrift über den Deudschen Fürsten Arminio. Seine Leistungen werden anerkannt, er ist
ein „Fuerst und Helt, der gantz Deudsche Nation errettet und befreiet het.“25 Aber Arminius führte die
Germanen zum Aufruhr. Für Spalatin haben die Germanen „glauben, frid und trew gebrochen“ und
Arminius sei ein „listiger mensch, der bey den Römern inn kriegen erzogen und auffkommen [etwa:
Gebräuche], bey inen auch erlich gehalten war worden.“26 Folgerichtig beurteilt Spalatin, „die guten
Deudschen, als verschlagene leute“,27 weshalb er in den folgenden Kapiteln den Rachefeldzug des Ger-
manicus schildert – weniger als römische Revanche, sondern eher als Gottes Strafe, wie Spalatin dies
ausdrückt: „Doch hat Gott die Deudschen der selben landart, widerümb folgend hart gestrafft, denn wie
Strabo im siebenden buch schreibt, so haben sie alle iren werd und straff darnach, unter dem jungen
Germanico, dafur geliden.“28
In der lutherischen Perspektive Spalatins lässt die Gerechtigkeit Gottes eben keine Untat – und
dazu zählt eben auch der Aufruhr gegen die Obrigkeit – unbestraft.29 Aber dennoch: der Faszination des
germanischen Heerführers, des Siegers über Rom, konnte sich kein protestantischer Theologe entzie-
hen. Für Andreas Althamer (1500–1539) war Arminius der Befreier in der Person Martin Luthers wie-
dergeboren, der jetzt gegen die neuen Feinde der Deutschen kämpft, gegen das päpstliche Rom.30

Arminius wird Stammvater der Deutschen

Das kleine Buch Ursprung und Herkommen der zwölff ersten König und Fürsten deutscher Nation von 1543
zeigt erstmals eine mythische Erz-Königsreihe, die mit dem bei Tacitus erwähnten Tuisco beginnt und
mit Ariovist, Arminius sowie Karl dem Großen endet. Die Anlehnung an die Zwölf Cäsaren Suetons

24 Martin Luther, Ausgewählte Werke, Ergänzungsreihe, 27 Spalatin, Arminio, fol. B III b.


Bd. 3: Tischreden, hg. v. Hans H. Borcherdt, 3. Aufl., 28 Spalatin, Arminio, fol. B III b.
München 1963, 198f. 29 Ridé (1977) 895.
25 (Georg Spalatin), Von dem thewern Deudschen Fürsten 30 (Andreas Althamer), Commentaria Germaniae In P. Cor-
Arminio. Ein kurtzer auszug aus glaubwirdigen latinischen nelij Taciti Equitis Rom. libellum de situ, moribus, & populis
Historien durch Georgium Spalatinum zusamengetragen Germanorvm ad magnanimos Principes D. Georgivm &
und verdeutscht, Wittenberg 1535, fol. A III a/A II b. S. D. Albrechtvm iuniorem Marchiones Brandenburgeñ & c.
auch: Ridé (1977) 888ff.; Münkler, Grünberger u. Mayer Andreae Althameri diligentia … elucubrata, Nürnberg
(1998) 293ff. 1536, S. 123. S. auch: Münkler, Grünberger u. Mayer
26 Spalatin, Arminio, fol. A III b und IV a. (1998) 286.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 223


Abb. 7 | Burkhard Waldis: Arminius ein Fürst zu Sachssen. Gedicht und Holzschnitt von 1543.

(verfasst um 120 n. Chr.) ist offenkundig und diente den humanistischen Bemühungen, der italieni-
schen Ahnenreihe eine eigene, deutsche entgegenzustellen. Arminius wird in dem Buch als Verteidiger
Germaniens gegen die römische Expansion vorgestellt. Der Holzschnitt zeigt ihn in Rüstung mit dem
blutenden Haupt des Varus in der Hand – in Anlehnung an das biblische David und Goliath-Motiv. Der
Dichter und spätere lutherische Pastor Burkhard Waldis (1490/95–1566/67) verfasste die deutschspra-
chigen Reimgedichte zu den einzelnen Königsabbildungen. Das Gedicht über Arminius zählt dessen
Heldentaten auf und endet:

„Da wardt geschwecht der Römer macht


Der gleichen vormals nie gedacht
Damit Arminius erlangt
Das im das gantze Deutschland danckt
Und wardt sein lob bey alt und jungen
Hernach vil hundert Jar gesungen.“31

31 Burkhard Waldis, Ursprung vnd Herkummen der zwoelff Blatt „Arminius ein Fürst zu Sachssen“; s. auch Hutter
ersten alten Koenig vnd Fuersten Deutscher Nation wie vnd (2000).
zu welchen zeyten jr yeder Regiert hat, Nürnberg 1543,

224 KLAUS KÖSTERS


Das Buch richtete sich an einen großen deutschsprachigen Leserkreis auch außerhalb der humanisti-
schen Zirkel und erfuhr bis zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges mehrere Auflagen, wobei nur die
Holzschneider und damit die Darstellungen der Königsreihe wechselten. Arminius und die anderen
mythischen und historischen Erz-Könige werden in eine genealogische Abfolge gebracht, die vom
Pseudo-Berosus des Annius von Viterbo inspiriert ist und eine deutsche Heldengeschichte propagiert.
Dessen konstruierte germanische Stammlinie hat sich hier durchgesetzt und soll den Ständen Deutsch-
lands das Gefühl vermitteln, das erste und älteste Volk Europas zu sein. Und der Abschluss der Reihe
mit Karl dem Großen macht allen Lesern noch einmal deutlich, dass nur den Deutschen die Kaiser-
würde übertragen worden war, niemandem sonst – ein Appell an den Zusammenhalt und die Einheit
der Deutschen angesichts der das Reich bedrohenden Mächte. Da war natürlich Arminius als Sieger
über Rom unverzichtbar.
Mit Huttens Arminius traten die Germanen und ihr Heerführer in die Literatur ein. Waldis setzte
dies fort, indem er jetzt eine deutschsprachige Plattform schaffte, die dem entstehenden Arminius-Kult
eine große Leserschaft öffnete.32 Zum Erfolg des Buches trug auch bei, dass Waldis Büchlein seit 1566
an die populäre Bayrische Geschichte Aventins angehängt wurde, die in vielen Auflagen verbreitet war.

Römische Dekadenz gegen germanische Tugend

In der Germania des Tacitus lasen die deutschen Humanisten von den Tugenden ihrer Vorfahren, die
sie eilfertig aufgriffen, um eine Art deutschen ‚Nationalcharakter‘ zu konstruieren. Dabei geriet die Be-
schreibung der germanischen Vorfahren oft zur Idylle, welche die negativen Eigenschaften, die Tacitus
nicht verschweigt, aber zum Positiven wendet. So interpretiert Konrad Celtis die von Tacitus kritisierten
germanischen Kriegs- und Raubzüge als Zeichen männlich-tugendhafter Gesinnung: „Daher erklärt
sich auch ihre Bereitschaft, wagemutig Risiken einzugehen, nicht träge und nicht furchtsam zu sein, zu
sterben und das rosenfarbene Blut im Kampf für Vaterland und die lieben Freunde auszugießen, zu je-
der Bluttat bereit, wenn sie irgendein Unrecht verletzt hat. Ein jeder wahrt die Treue mit frommem und
standhaftem Sinn, liebt die Religion und verehrt die Himmlischen und alles Gute und Anständige. Die
Gesinnung, beharrlich im Wahren und Gerechten, ist im Einklang mit den Lippen und flieht Lügen
und Erfindungen einer gef ärbten Zunge.“33
Die Germanen des Celtis sind ein unvermischtes, fruchtbares, kräftiges, männliches und tugend-
haftes Volk, das sich durch eine natürliche und einfache Lebensweise auszeichnet, so ähnlich, wie man
im 18. Jahrhundert die ‚edlen Wilden‘ Amerikas sah.34 Den Barbarenvorwurf der italienischen Huma-
nisten pariert Celtis geschickt, indem er zwar die rauhe Muttersprache und den Hang zu Raubzügen
nicht übergeht, dies aber im Grunde als hochzuschätzende männlich-kriegerische Gesinnung und mi-
litärische Tugend darstellt. Damit greift er auf die Argumentation von Enea Silvio Piccolomini zurück,
der gerade diese beiden Eigenschaften als aus der Barbarenzeit übrig gebliebene Merkmale der jetzigen
Deutschen ansah.35 Wenn für Celtis aber die positiven Eigenschaften des Volkes überwogen, dann er-
folgte dies in dem Bemühen, eine kulturelle und moralische Kontinuität zwischen Germanen und
Deutschen aufzuzeigen.36

32 Waldis „war der erste, der das nationale Altertum in 34 Ridé (1977) 233.
deutschen Versen besang“ (Ridé [1977] 945 u. 1113ff.). 35 Müller (2001) 409ff.
33 Konrad Celtis, Germania Generalis, Kap. „De situ Germa- 36 Ridé (1977) 247.
niae et moribus“. Übersetzung nach Müller (2001) 95ff.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 225


Die nachfolgenden Humanisten griffen diese Gedanken auf. In der Gegenüberstellung von Ger-
manen und Römern verteidigten sie nicht ohne aktuelle Verweise die germanische Einfachheit gegen-
über dem römischen Luxus sowie die germanische Freiheit gegenüber dem römischen Machtstreben. In
den Berichten der römischen Autoren fanden sie auch in der Person des Varus ein negatives Gegenbild,
das sie problemlos auf alle Römer und dann auf die aktuellen Reichsfeinde übertragen konnten. Velleius
Paterculus, Florus und Cassius Dio hatten in ihren Schriften Varus als unf ähigen und geldgierigen rö-
mischen Statthalter beschrieben37 – und ihr Urteil ging in die deutsche Humanistenliteratur ein. Aven-
tin schreibt in seiner Bayrischen Geschichte: „Zu derselben zeit … setzt Keyser Augustus unden an den
Rheyn an die Elb den Teutschen (so wol uberwunden aber noch nicht gedempfft waren) einen Haupt-
mann genannt Quintilius Varus der nam miet un gab [etwa: nahm ungerechtfertigte Geschenke und Ab-
gaben], war stoltz, geitzig, eigennützig, geil un unverschampt mit den Weibsbildern, deß mochten die
Teutsche, so sunst zu Krieg lust hetten, und derselben sich sunst freuweten, nicht leiden noch dulden.“38
Ähnlich argumentierte auch Spalatin,39 so dass Varus zur Verkörperung aller schlechten Eigen-
schaften der Römer wurde. Damit ist dessen Charakter-Bild fixiert und der Grund des Krieges mora-
lisch legitimiert. Man brauchte also nur noch den Römer durch die aktuellen Feinde des Reiches zu er-
setzen, und die moralische Disqualifizierung der jeweils neuen Gegner war perfekt.
Ulrich von Hutten wandte sich gegen die Misswirtschaft der Papstkirche. In seiner Schrift De statu
Romano bekämpfte er mit scharfen Worten römischen Luxus und Korruption.40 Wie seinerzeit Arminius
sollen die Deutschen sich nun erheben, um das römische Joch abzuschütteln. Und mit Blick auf Armi-
nius, der vom Himmel herunter auf die Deutschen schaut, schreibt er: „Derhalben derselbig unser Erloe-
ser [Arminius], was meint er was hält er jetzt in jener Welt, wenn er sicht [sieht], weil er die vesten [starken]
Römer und Herrn der Welt hie nit hat lassen herrschen und regieren, uns sicht den verzagten Pfaffen und
weibischen Bischoffen dienstbar und unterthänig sein? Sollt er sich nit seiner Nachkommen schämen?“41
Und für den Elsässer Jakob Wimpheling waren die Reichsfeinde die Franzosen, die seine Heimat
bedrohten. In seinen Schriften weist er die französischen Ansprüche auf das Imperium scharf zurück
und bekämpft alle Versuche, Kaiser Karl zu einem französischen König zu machen: „Guten Muts also
können wir den Stamm Karls für uns in Anspruch nehmen und wir lassen nicht zu, dass die hoff ärti-
gen Franzosen für sich in Beschlag nehmen, was unser ist … Richtet sich doch der französische Hoch-
mut und Dünkel gegen alles menschliche Gesetz und missbraucht die göttliche Rechtsordnung.“42
Wimpheling schafft ein neues Feindbild, gegen das die vereinten Germanen-Deutschen kämpfen
sollen und das die zukünftige Arminius-Rezeption bestimmen wird. Und das jetzt entstandene Gegen-
satzpaar ‚germanische Einfachheit‘ versus ‚römisch-welsche Dekadenz‘ wird das Selbstbild der Deut-
schen in den folgenden Jahrhunderten immer wieder neu prägen.

37 Kösters (2009) 24f. 41 (Ulrich von Hutten), „Die verteutschet Klag Ulrichs
38 Johannis Aventinus, Des Hochgelerten weitberümbten von Hutten an Herzogen Friedrich von Sachsen“, in:
beyerischen Geschichtschreibers Chronica. Darinn nit allein Des teutschen Ritters Ulrich von Hutten sämmtliche Werke,
deß gar alten Hauß Beyern, Keiser, Könige, Hertzogen, Gesammelt, und mit den erforderlichen Einleitungen, An-
Fürsten, Graffen, Freyherrn Geschlechte, Herkommen, merkungen und Zusätzen herausgegeben von Ernst Joseph
Stamm u. Geschichte, sondern auch d. uralten teutschen Ur- Herman Münch. Fünfter Theil, Leipzig 1825, 15. Auch:
sprung, Herkommen, Sitten, Gebreuch, Religion …, Frank- Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 270f. (online:
furt a. M. 1566, S. 126 r. http://books.google.com/books?id=6KRJAAAA-
39 Spalatin, Arminio, fol. A IV a. MAAJ&hl=de).
40 (Ulrich von Hutten), Ulrichi De Hutten Ad Crotum Rubia- 42 Wimpheling, Epitome, Kap. 22. Übersetzung nach
num De Statu Romano Epigrammata Ex Urbe Missa (1514) Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 190.
(online: http://www.uni-mannheim.de/mateo/camena/
hutten1/huttenopera.html).

226 KLAUS KÖSTERS


Abb. 8 | Germanisches Paar in der Adam und Eva-Nachfolge.
Kupferstich aus Philipp Clüvers Germania Antiqua libri tres, 1616.

Philipp Clüvers (1580–1632) nackte und tugendsame Germanen gehören zu diesem über viele Genera-
tionen gültigen Germanenbild. Sein Buch verrät ein Interesse an der Lebensweise der Germanen, aber
es ist ein genrehafter Blick: Die einfache und tugendhafte Lebensweise der Germanen wird durch
Nacktheit und dürftige Fellbekleidung gekennzeichnet.

Barocke Heldenverehrung

Im 16. Jahrhundert wurden, wie in den vorhergehenden Kapiteln dargestellt, Arminius, die Varus-
schlacht und die tugendhaften Germanen entdeckt und in die Literatur eingeführt. Zur Zeit des Drei-
ßigjährigen Krieges erschienen nur wenige Schriften zum Thema.43 Ende des 17. Jahrhunderts begann
eine zweite Welle der Arminiusliteratur. Den Auftakt machte der in den siebziger und achtziger Jahren
des 17. Jahrhunderts verfasste Arminiusroman des Breslauer Juristen und Bühnenautors Caspar Daniel
von Lohenstein (1635–1683). Dieses Buch ist alles in einem: ein etwa 3000 Seiten langer Liebes- und
Abenteuerroman, ein komplettes Lexikon des gesamten Wissens am Ende des 17. Jahrhunderts, ein
Erziehungsbuch für angehende Fürsten und ein Schlüsselroman, der vordergründig die Kämpfe zwi-

43 Beispiele bei Kösters (2009) 74–84.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 227


schen Römern und Germanen schildert, aber gleichzeitig die antike und jüngste europäische Ge-
schichte bis zur Zeit Lohensteins rekapituliert.

„Ihr Römer steckt die Waffen ein;


Tiber laß deinen Zorn verschwinden;
Wer Deutschland meint zu überwinden /
Weiß nicht: daß Donau und der Rhein
Der Röm’schen Siege Gränz-Maal seyn.“44

Der vorangestellte Gedichtausschnitt aus dem Roman ist voller Zeitbezüge: Die Warnung an die
Adresse der Römer, nicht den Rhein zu überschreiten, meint eigentlich den französischen König Lud-
wig XIV. Dieser hatte, wie auch der habsburgische Kaiser Leopold I., eine der spanischen Erbtöchter
Philipps IV. geheiratet, sein Bruder, der Herzog von Orléans, die pf älzische Herzogin Elisabeth Char-
lotte. Ein neuer Streit der Großmächte um Erbansprüche zur Vergrößerung ihrer Reiche war zu erwar-
ten. Ludwig XIV. begann in den Jahren nach dem Pyrenäenfrieden 1659 mit einer zielstrebigen Erobe-
rungspolitik in Richtung Rheingrenze.
Der habsburgisch-französische Konflikt trat in eine neue Phase ein. In dieser Situation schwank-
ten die deutschen Fürsten vor allem am Rhein zwischen der Unterstützung Habsburgs oder Frank-
reichs. Lohenstein, der die Habsburger Karte spielte, rief die deutschen Fürsten zur Einheit unter der
Führung des habsburgischen Kaisers auf und appellierte an ihr deutsches (nationales) Empfinden. Wie-
der einmal dienten die Siege des Arminius und der Kampf gegen die Römer als effizientes Vorbild deut-
scher Gegenwehr und Einheitsbemühungen. Aber die politische Wirklichkeit, die Lohenstein erlebte,
war eine andere: Wechselnde Koalitionen mit und gegen Frankreich waren vom machtpolitischen Ge-
winn diktiert und nicht von einer utopischen Reichssolidarität. Lohensteins Friedens- und Solidaritäts-
appell an die deutschen Fürsten verhallte ungehört.
Der Titelkupfer des Graphikers und Malers Joachim von Sandrart (1606–1688) führt mitten hinein
in die im Buch geschilderten Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen. Inmitten einer
bunten Mischung von Kriegern unterschiedlicher Herkunft schlägt im Vordergrund Arminius einen An-
greifer mit dem blanken Schwert zurück, während die auf dem Thron sitzende Thusnelda ein Joch –
Sinnbild der römischen Unterdrückung – überreicht bekommt. Ein Ehren-Getichte von Christian Gry-
phius (1616–1664) zu Beginn des ersten Bandes fasst die patriotische Botschaft des Romans zusammen:

„Auf Deutschland! kanst du noch der fremden Schmach vertragen?


Fällt dir Qvintilius und Drusus noch zu schwer?
Ist das verhaßte Joch noch nicht entzwey geschlagen?
Auf Deutschland! rüste doch ein auserleßnes Heer.
Darf denn ein stoltzer Feind dir Haar und Kleider rauben?
Gibt man den Freyheits-Ring so undedachtsam hin?
Auf Deutschland! wafne dich; sonst muß ich sicher glauben /
Daß ich in Sybariß und nicht in Deutschland bin.“45

44 (Daniel Caspar von Lohenstein), Daniel Caspers von Lo- 45 Lohenstein, Großmüthiger Feldherr I, „Ehrengetichte.
henstein Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann, Vorstellung des Kupffer-Tituls“, o. S. Sybaris: Der
Als ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit / Nebst sprichwörtliche Reichtum und das Wohlleben der Be-
seiner Durchlauchtigen Thusnelde In einer sinnreichen wohner Sybaris am Golf von Tarent führte zu ihrem Un-
Staats- Liebes und Heldengeschichte Dem Vaterlande zu tergang.
Liebe Dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlichen
Nachfolge In zwey Theilen vorgestellet Und mit annehm-
lichen Kupfern gezieret, Leipzig 1689–1690, Bd. 1, 1361b.

228 KLAUS KÖSTERS


Abb. 9 | Titelkupfer von Lohensteins Arminius, Kupferstich von Joachim von Sandrart.

Im sechsten Buch zählt Lohenstein in komprimierter Form die Leistungen der Deutschen auf. Die dem
zweiten Band nachgestellten Anmerckungen des Verlegers bringen es auf den Punkt: Obwohl Arminius
und sein Personenkreis im Zentrum des Geschehens stehen, sei dessen Geschichte eigentlich nur
ein Vorwand, um die Leistungen der Deutschen zu preisen. Am Ende steht ein Geschichtsbild, das be-
sagt, „daß die Römer / insonderheit aber Caesar / Pompeius / Antonius / Augustus nicht weniger die
Griechen / vornemlich Alexander der Grosse / ingleichen der sieghafte Hannibal mit seinen Mohren /
die Amazonen / Samniter / Lusitanier und fast die gesamte Welt nichts wichtiges ohne der Teutschen
Rath und Hülffe ausgeführet hätten / und also die Dienste der tapfferen Teutschen gleichsam allenthal-
ben das Postament gewesen wären, auf welchem die berühmtesten Europäer / Asiaten und Africaner
ihre Siege gegründet hätten und daraus aus mittelmäßigen Zwärgen zu ungeheuren Riesen erwachsen
wären.“46

46 Lohenstein, Großmüthiger Feldherr II, „Anmerckun-


gen“, 5.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 229


Lohenstein schreibt die antike Geschichte zugunsten deutscher Heldentaten um, was wohl auch
den Verfasser der Anmerckungen mit leisen Zweifeln befallen hat, denn er beeilt sich festzustellen, dass
man dies bei einem Geschichtsschreiber so wohl nicht durchgehen lassen würde, aber dies sei schließ-
lich ein Roman „als welcher / eben so wohl als Mahler und Poeten / Macht hat / aus schwartz weiß /
und aus weiß schwartz zu machen.“47
Und das hat Lohenstein gründlich getan. Aber nicht ohne Logik: Denn sein ‚Lob der Deutschen‘ er-
gibt sich konsequent aus dem schon bei Tacitus angelegten Tugendkatalog der Germanen. Natürliche
Tugendhaftigkeit, Einfalt des Herzens und Freiheitsliebe werden ebenso hervorgehoben wie Tapferkeit
und Heldenmut. Insgesamt malt Lohenstein ein goldenes Zeitalter alter deutscher Größe und morali-
scher Festigkeit, das sich – eben schwarz-weiß – von der Dekadenz der überzivilisierten, lasterhaften
und eroberungssüchtigen Römer abhebt.48
Die deutsche Freiheitsliebe ist die höchste Tugend, die in der Bedürfnislosigkeit eines glücklichen
Naturzustandes von selbst gedeiht: „Wir Deutschen wußten nichts von güldener Freyheit, und konnten
die Laster nicht nenen, die wir itzt den Römern nachthun; als wir auf Rasen Tisch hielten, und in Stroh-
hütten wohneten, da wir die Eingeweide unserer Gebürge nicht durchwühleten, noch die geitzigen
Frembden in den Adern Gold zu suchen veranlaßten, und da wir nur bey Entzündung unserer Wölder
Erzt gefunden hatten.“49
Sittenreinheit und Kulturlosigkeit gehen hier eine Verbindung ein, die auf das Ideal eines bil-
dungsfernen, glückseligen Daseins der germanischen Naturvölker hinausläuft. Diese These war selbst
zu Lohensteins Zeiten kaum haltbar, und er selbst hat ja gerade nicht auf die Unkenntnis und Bildungs-
losigkeit seiner Zeitgenossen gesetzt, sonst hätte er nicht einen solchen voluminösen Bildungsroman
geschrieben. Aber dieses Bild eines glücklichen, von Zwietracht, Zivilisation und Wissenschaft unbe-
rührten Naturvolkes war einfach zu berauschend, um nicht im Sinne einer gegenwärtigen Kulturkritik
für ein kraftvoll-farbiges Tableau urgeschichtlicher Glückseligkeit benutzt zu werden. Lohenstein war
da in guter Gesellschaft, wie die Analyse der Germanenrezeption immer wieder zeigt.
Lohensteins Quellen, aus denen er schöpft, sind nicht ausschließlich auf die deutsche Arminius-
literatur bezogen. Tacitus bot ihm den Grundriss für die eigentliche Romanhandlung, doch der eigent-
liche literarische Impuls dieses überlangen Romans kam aus Frankreich.

Französische Adelstugenden und der Freiheitskampf der Germanen

1642 wurde die Tragikomödie Arminius ou les frères ennemis von Georges de Scudéry (1601–1667) in Pa-
ris uraufgeführt. Aber was hatte den französischen Edelmann veranlasst, den bislang den deutschen
Humanisten vorbehaltenen Arminius-Stoff auf die Pariser Bühne zu bringen? Im Gegensatz zu den
griechisch-römischen Heroen war Arminius in Frankreich eine weitgehend unbekannte Gestalt.50 Scu-
dérys Theaterstück hat die persönlichen Konflikte und Gefühle seiner Protagonisten zum Thema: Her-
cinie (Thusnelda) liebt Arminius, ist aber gleichzeitig zum Gehorsam gegenüber dem Vater Segeste ver-

47 Lohenstein, Großmüthiger Feldherr II, 6. nius erscheint als geschlagener und in der Schlacht
48 Wucherpfennig (1973) 206–290 nimmt dazu ausführ- gefallener Führer der Germanen ([Pierre Boitel], Les Tra-
lich Stellung. giques Accidents des Hommes illvstres, et autres personnes
49 Lohenstein, Großmüthiger Feldherr I, 14. signalées de l’Vniuers, depuis le premier siecle iusques à
50 In einem 1616 erschienenen Buch über tragische histo- present. Recherchez dans les plus rares Bibliotecques de la
rische Persönlichkeiten werden zwar die Feldzüge des France, par P. Boitel Parisien, Paris 1616, S. 333).
Germanicus gegen die Germanen erwähnt, aber Armi-

230 KLAUS KÖSTERS


Abb. 10 | Georges de Scudéry. Kupferstich von 1667.

pflichtet, der sie dem römerfreundlichen Bruder des Arminius, Flavus, zur Frau geben will. Dieser hat
sich in Hercinie unsterblich verliebt und seine Verlobte und sein Volk verlassen. Der Konflikt löst sich
am Ende auf, und Flavus erkennt seine Schuld. Viel wichtiger ist aber die hinter dieser Liebesrivalität
aufscheinende Moral des Stückes.
Eine Textstelle in dem Moment, als Arminius in das Lager des Germanicus kommt, ist beachtens-
wert. Segeste hatte dem Römer seine Tochter als Gefangene übergeben, da sie zu Arminius geflohen
war. Dieser bittet Germanicus um ihre Freilassung und appelliert an seine adlige Ehre: „Wir sind so-
wohl Ehrenmänner, gleichwohl Feinde, / Wir werden niemals das tun, was keinesfalls erlaubt ist; / Mit
den Waffen in der Hand, wissen wir uns zu verteidigen, / Aber wir ergreifen sie nur, wenn wir sie neh-
men müssen: / Wir kämpfen für die Ehre, und für das Vaterland, / Wir kämpfen ohne Hinterhalt, und
ohne Abscheu.“51
Aber eine Freilassung Hercinies darf Germanicus aus Staatsinteressen nicht veranlassen. Armi-
nius hält ihm vor, dass Segeste nur aus Hass handelt, welcher nur der Lehrmeister der Tyrannen sei.
Angesichts dieser Argumente bleibt Germanicus nichts anderes übrig als auf Tiberius zu verweisen,
der eine so großzügige Handlung wie die Freilassung Hercinies seinem Feldherrn nicht verzeihen
würde: „Und um Euch alles zu sagen, ein strenger Imperator, / der will, dass man ihn ebenso fürchtet
wie verehrt, / dessen Geist argwöhnisch ist, misstrauisch und grausam, / beobachtet mich mit aller

51 (Georges de Scudéry), Arminius ou Les frères ennemis,


Tragi-comédie par M. de Scudéry, Paris 1644, S. 16

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 231


Strenge, mit beständiger Sorge, / der weiß, dass mein Rang mich dem Thron annähert, / der glaubt,
dass sein Tod billig ist, und dass ich ihn ersehne.“52
Germanicus erkennt die außergewöhnlichen Tugenden des Arminius an, aber eine Freilassung
Hercinies würde nicht nur den römischen Interessen zuwiderlaufen. Germanicus müsste seinen Ver-
bündeten Segeste verraten und würde den Argwohn des Tiberius provozieren, auch wenn beide nur von
Hass und Misstrauen geleitet werden.
Es ist der adlige Ehrenkodex der Zeit, der hinter diesen Worten aufscheint. Denn die Helden Scu-
dérys sind Ausnahmemenschen, große und starke Persönlichkeiten, welche die alten adligen Tugenden
von mutiger Entschlossenheit, Großherzigkeit, Opferbereitschaft und der Suche nach der idealen Liebe
verkörpern – Tugenden, die im Frankreich des 17. Jahrhunderts um so mehr gepriesen wurden, je mehr
der alte Adel durch das alle Macht an sich reißende französische Königtum in die Defensive geriet. Wir
werden auf diesen Aspekt noch ausführlicher zurückkommen.
1658 vollendete der Edelmann Gautier de Coste, Chevalier de la Calprenède (um 1610/14–1663)
sein sich über zwölf Bücher erstreckendes Romanwerk Cléopâtre. La Calprenède war, so betonte dies
Voltaire (1694–1778), der Erfinder der langen Romane, die damals gerade in Mode waren.53 Die ganze
Handlung hier zu erzählen ist angesichts der Vielzahl der Personen und Einzelhandlungen unmöglich,
wir konzentrieren uns auf die letzten beiden Bücher, in denen Arminius auftritt.
Die Titelgestalt ist die Tochter von Kleopatra, die Handlung spielt in Alexandria zur Zeit des Au-
gustus, wo mehrere fürstliche Paare der unterworfenen oder bündnistreuen Staaten unter Roms Ober-
herrschaft zusammenkommen. Das elfte Buch beginnt in der Arena von Alexandria, wo vor dem Kaiser
Augustus, Kleopatra und dem Hofstaat ein blonder Gladiator auftritt, der alle seine Feinde besiegt.
Doch als ihm ein weiterer Kämpfer gegenübergestellt wird, umarmen sich beide und verweigern den
Kampf. Der blonde Kämpfer – es ist niemand anderer als Arminius – war wie sein germanischer
Kampfgef ährte in römische Gefangenschaft geraten. Er wendet sich stolz an den Kaiser und macht ihm
den Vorwurf, Edelleute als Gladiatoren zu missbrauchen und damit ihre Ehre zu verletzen. „Caesar,
sagte er ihm voller edlem Stolz, dein Ruhm ist groß, deinen Gladiatoren und wilden Tieren Prinzen
auszusetzen, die durch keine Handlung dieses Los verdienen und dir gegenüber weder an Rang noch
Geburt noch Tugend geringer sind. Beende, beende deine Grausamkeit und lass diejenigen hinrichten,
die nach all der Schande, die du ihnen auferlegt hast, nicht mehr am Leben bleiben wollen.“54
Die Worte sind die eines Edelmannes des 17. Jahrhunderts und entsprechen einem adligen Verhal-
tenskodex, nach dem ein couragiertes Ehrgefühl und kriegerischer Ruhm als höchste aristokratische
Tugenden gelten. Der Appell an seine Ehre setzt Augustus unter Zugzwang. Die beiden gefangenge-
nommenen germanischen Prinzen sind als Sklaven verkauft und so entehrt worden. Er setzt sie in
ihren Stand wieder ein. Und dann folgt eine lange Romanhandlung, in der die Geschichte des Armi-
nius in Rückblenden erzählt wird. Arminius wird als junger Kriegsheld in die Geschichte eingeführt,
und auch hier entsprechen seine Eigenschaften dem damaligen aristokratischen Idealbild: „Es war vor
allem der Krieg, der alle seine Gedanken beherrschte, und mit der Sorgfalt, ihn alle die Dinge lernen zu
lassen, die einen Prinzen ausmachen, widmete er sich mit größerer Zuneigung den körperlichen
Übungen als der Kenntnis der Wissenschaften, obwohl man sagen muss, dass er die notwendigsten

52 Scudéry, Arminius, S. 75. 54 Gaustier de Coste, chevalier de La Calprenède, Cléopâtre.


53 (Voltaire), Œuvres de Voltaire avec Préfaces, Avertissements, Onzième Partie et Douzième Partie, Dediée à Monseigneur
Notes, etc. par M. Beuichot, Tome XIX, Siècle de Louis XIV – Le Prince, Paris 1658, Bd. 11, S. 261 (Unveränderter
Tome 1er, Paris 1830, 73. Lohensteins Arminius-Roman Nachdruck: Slatkine Reprints, Genf, 1979).
hat den von La Calprenède zum Vorbild.

232 KLAUS KÖSTERS


[dennoch] beherrschte, vor allem die der Sprachen, die er ganz gut erlernte; aber letzten Endes gab er
sich weniger leidenschaftlich der Lektüre hin als zu reiten und mit Waffen umzugehen, und alle, die ihn
sahen, urteilten, dass alle seine Bestrebungen martialisch waren.“55
In Alexandria trifft Arminius auf Ismenie (Thusnelda), und nach einigen Verwicklungen der kom-
plizierten Romanhandlung können sie am Ende mit den anderen Paaren heiraten – nicht ohne dass
noch einmal das Thema der verletzten Ehre angesprochen wird: „Caesar, trotz seiner Parteinahme [ für
die römische Sache], behandelte sie, wie es ihnen aufgrund ihrer Geburt und Bedeutung zukam, und
unterwies ihnen so viel Ehre, wie er glaubte ihnen erweisen zu müssen, um dadurch zum Teil die
Schändlichkeit zu reparieren, die sie erlitten hatten, und auch die schimpfliche Lustbarkeit, zu der sie
am Vortag herhalten mussten. Er entschuldigte sich bei ihnen, dass er um ihren Rang nicht wusste, und
die beiden Prinzen antworteten ihm auf diese Worte nur mit der Röte in ihrem Gesicht, woraus der Kai-
ser schloss, dass sie nur mühsam die Erinnerung daran verlieren würden.“56
La Calprenède hatte mit seinen ritterlichen Helden Erfolg und lockte seine Leser in eine turbulente
Welt voller Abenteuer, die im europäischen Ritterroman des Mittelalters wurzelt. Beide Autoren, Scu-
déry und La Calprenède, gerieten in Vergessenheit und sind heute auch in einschlägigen französischen
Literaturgeschichten kaum noch zu finden. Ihre geradlinigen Heldengestalten kennen keine Entwick-
lung oder persönliche Konflikte. Sie sind nur Helden, im Sinne der neustoischen Philosophie der Zeit
von sich selbst und davon überzeugt, alle Widrigkeiten des Lebens und alle menschlichen Schwächen
aus eigener Kraft überwinden zu können, wie dies auch den Helden des französischen Dramatikers
Corneille zu eigen ist.57
Interessant erscheint in unserem Zusammenhang aber die Frage, warum Scudéry und La Calpre-
nède sich ausgerechnet die Geschichte der Germanenkämpfe und des Arminius ausgesucht hatten. Di-
rekte Hinweise dazu scheint es bei beiden Autoren nicht zu geben. Aber bezeichnend sind bei beiden
die Textstellen, in denen es um die Zurückweisung der Despotie und die Aufrechterhaltung eines alt-
hergebrachten aristokratischen Standesideals geht. Segeste und Tiberius verkörpern bei Scudéry die
misstrauischen, über Leichen gehenden Tyrannen, die gegen die Verhaltensregeln ihres eigenen adli-
gen Standes verstoßen. Und auch der Arminius von La Calprenède wird nicht müde, gegenüber dem
Kaiser Augustus zu betonen, wie schändlich er entgegen seinem Rang behandelt wurde. Hinter diesem
Adelsstolz zeigt sich ein aristokratischer Ehrenkodex, der schon damals angesichts des sich formieren-
den absolutistischen Staats bedroht war. Für den alten Adel galt, sich gegenüber sich selbst und dem
eigenen Stand als würdig zu erweisen, die eigene Größe zu manifestieren und alle halbherzigen Taten
und alles Vulgäre zu verachten. Im Kontakt mit der Antike und ihrem Menschenbild modernisierten
sich die alten Adelstugenden dergestalt, dass nun die Größe der menschlichen Tatkraft im Typus des
Adligen verherrlicht wird. Der französische Literaturhistoriker Paul Bénichou, dessen Buch dieser Ge-
dankengang entnommen ist, hatte zwar vorwiegend das Theater von Pierre Corneille im Blick, aber
diese Aussagen lassen sich ebenso gut auch auf unsere Autoren übertragen, die ja beide dem Stand der
Edelleute zugehörig waren.58 So schreibt Bénichou weiter: „Man bemerkt leicht, dass eine Moral wie die
von Corneille [und hier muss man hinzufügen, wie die auch unserer Autoren], welche auf dem Stolz
und der ruhmreichen Größe beruht, nicht anders konnte, als den Protest der Aristokratie gegen die Un-
terwerfungsbestrebungen der Könige zu unterstützen.“59

55 La Calprenède, Cléopâtre XI, 277f. 57 Galle (1991) 10ff.


56 La Calprenède, Cléopâtre XI, 433. 58 Bénichou (1948) 20f.
59 Bénichou (1948) 70.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 233


Georges de Scudéry sympathisierte mit der Fronde60 und war der Schützling ihres Anführers,
Louis II. de Bourbon, Prince de Condé (1621–1686). Deswegen war er gezwungen, Paris 1654 zu ver-
lassen. Und auch La Calprenède verteidigte in seinen Büchern die alten heroischen Adelstugenden –
verbunden mit einem Schuss Feminismus und unter dem Einfluss der preziösen Milieus.61 Und viel-
leicht liegt hier der tiefere Grund, weshalb der Arminius, der zeitgleich in Deutschland als Befreier von
der römischen Despotie gefeiert wurde, in den Blick unserer Autoren geriet. Tacitus hatte ihn als Be-
freier eingeführt,62 und dies konnte auch den adligen französischen Schriftstellern nicht entgangen
sein. Dass sein Kampf gegen die Römer hier mit der aristokratischen Opposition gegen den sich for-
mierenden absoluten Staat in Verbindung gebracht wird, überrascht, hatte aber noch weitere Konse-
quenzen. Um diese Hintergründe besser auszuleuchten, ist es sinnvoll, die ‚französische Karriere‘ des
Arminius weiter zu verfolgen.
Jean Galbert de Campistron (1656–1723), ein Schüler Racines, schrieb die folgenreichste Arminius-
Tragödie der europäischen Bühnenliteratur: Arminius. Im Mittelpunkt stehen die Liebesbeziehungen der
handelnden Personen: Ismenie (Thusnelda) liebt Arminius, soll aber nach dem Willen ihres Vaters Se-
geste Varus heiraten, um das Bündnis mit den Römern zu festigen. Varus gesteht ihr seine Liebe, Armi-
nius auch, und Ismenie weiß nicht, was sie tun soll, ihrem Vater gehorchen oder ihren Gefühlen folgen.
Arminius erscheint dagegen als leidenschaftlicher Liebhaber und ist fest entschlossen, alle Widersacher
aus dem Weg zu räumen. Eine Entführung verbietet die bienséance, die auch auf der Bühne geltenden ge-
sellschaftlichen Anstandsregeln. Also trotzt er aller Gefahr und kommt auf die Burg von Segeste, der ihn
verhaften lässt. Die Szene zwischen beiden gibt Gelegenheit, die politischen Beweggründe beider Kon-
trahenten darzulegen. Segeste spricht sich gegen den Krieg aus, der Zerstörung, Tod und Leid mit sich
bringt. Arminius hält dagegen, dass ein Frieden mit dem tyrannischen Rom nicht möglich ist: „Und un-
ter dem Namen Freunde oder Verbündete, / unterdrückt Rom die Könige und tritt sie mit Füßen.“63
Rom nimmt Kinder als Geiseln, es herrschen Misstrauen und Überwachung; Rom kennt keine
Gnade, sondern nur Rache: „Ah! Der Frieden unter den Gesetzen Roms ist Verderben bringendes
Glück, / es macht mir Angst, und das Volk hasst es. / Die Germanen fliehen vor der Eitelkeit materiellen
Reichtums, / sie sind, mein Herr, mit ihrer Freiheit viel reicher gesegnet.“64
Das sind die bekannten Warnungen vor der Tyrannis und Unterdrückung, wobei hier in Anleh-
nung an Tacitus auch das einfache Leben der Germanen gegenüber der materiellen Gier Roms ins Feld
gebracht wird, ein Argument, das bisher den deutschen Autoren vorbehalten war.

60 Adelsaufstand gegen die absolutistischen Bestrebungen Jahrhundertmitte verschwand dieser militärische Aspekt
des französischen Königtums 1648–1653. weiblich-heroischer Tugenden zunehmend. Das gilt auch
61 Die preziösen Salons waren in den ersten Jahrzehnten für die letzten Bücher der sich über 12 Jahre hinstrecken-
des 17. Jahrhunderts literarisch-kulturelle, elitäre Zen- den Publikation von Cléopâtre (dazu Bannister [2005]).
tren, in denen sich unter maßgeblicher Beteiligung ad- 62 Tac. ann. 2,88,2–3: „Er war ohne Zweifel der Befreier
liger Damen eine neue Form der Etikette und des gebil- Germaniens, der nicht wie andere Könige und Heerfüh-
deten Umgangs miteinander entwickelte, die der Frau rer das römische Volk in seinen Anf ängen, sondern ein
einen neuen Stellenwert in der Gesellschaft verschaffte. Reich in seiner ganzen Blüte herausgefordert und in
Die Schwester von Georges de Scudéry, Madeleine, hat in den Schlachten mit wechselndem Erfolg (gekämpft
ihren Romanen (Grand Cyrus) diese Zirkel beschrieben. hatte), im Krieg aber unbesiegt (geblieben war)“ (Über-
La Calprenède wie auch Georges de Scudéry standen die- setzung Hans-Werner Goetz und Karl-Wilhelm Wel-
sen preziösen Milieus nahe und haben die Idee der wei).
femme forte, der starken, heroisch-militärischer Taten f ä- 63 Jean Galbert de Campistron, Arminius. Tragédie, in:
higen Frau, übernommen. Diese Konzeption beruhte Oeuvres de M. de Campistron, de l’Académie Françoise,
auf den alten Adelstugenden und stand im Widerspruch Nouvelle Edition, Tome I, Amsterdam 1722, Akt II, Szene
zu der sich nach der Jahrhundertmitte ausbildenden 4 (S. 96).
Hofgesellschaft unter einem absoluten König. Nach der 64 Campistron, Arminius, II,4 (97).

234 KLAUS KÖSTERS


Als Varus von der Verhaftung des Arminius erf ährt, reagiert er gemäß dem altadligen, ritterlichen
Verhaltenskodex. Die Staatsräson gebietet, ihn als Feind zu betrachten, aber als Rivale in der Liebe kann
und darf er ihn nicht mit politischen Machtmitteln besiegen: „Als Haupt der Römer muss ich dich ver-
urteilen, / aber als dein Rivale möchte ich dich schonen. / Um meinen Ruhm zu sichern und nicht mit
Begierde zu vermengen, / welche mich anklagen könnte, dir nach dem Leben zu trachten.“65 Arminius
warnt ihn vor seiner Großzügigkeit und zeigt sich dabei ebenso großmütig: „Beschleunige meinen Tod,
wenn du glücklich sein willst.“66
Durch Segestes’ Parteinahme für die Römer und Wahl des Varus als zukünftigen Schwiegersohn
nimmt die Liebe zwischen Arminius und Ismenie einen tragischen Verlauf. Diese Tragik wird gespie-
gelt durch die unglückliche Liebe zwischen Sigismond, dem Bruder Ismenies, und Polixène, der
Schwester des Arminius. Segeste will aus politischem Kalkül die Liebenden trennen, aber Sigismond
ergreift Partei für Arminius und verteidigt sich gegenüber seinem Vater mit dem Hinweis auf die Tu-
genden des Arminius und die Liebe zu seinem Vaterland.
Das Thema Vaterlandsliebe, das hier anklingt, ist aber nur sehr verhalten angesprochen. Im Vor-
dergrund stehen die persönlichen Beziehungen und das ehrenvolle eigene Verhalten, ganz in Sinne der
alten aristokratischen Standesmoral. Am Ende, nachdem Varus gefallen ist, kommt das happy end der
Tragödie. Großzügig vergibt Arminius Segeste alle seine Missetaten und resümiert noch einmal die po-
litisch-aristokratische Moral des Stückes: „Aber wenn wir auch, mein Herr, für das Vaterland umkom-
men müssten, / wenn wir das Leben verlieren sollten, werden wir wenigsten frei sterben: / Ein glanz-
volles Unglück ist immer ruhmvoll, / Stärken wir unseren Ruhm, und lassen wir die Götter handeln.“67
Arminius hat sein Vaterland gerettet und gleichzeitig seine Braut befreit. Sein Ruhm für die Nach-
welt ist nicht nur ein kriegerischer, sondern beruht ganz nach der Doktrin des honnête homme, des ad-
ligen Leitbilds der Zeit, auf seiner moralischen Überlegenheit. Die Tragödie preist das, was der franzö-
sische Dichter Jean Desmarets de Saint-Sorlin (1595–1676) „die Verherrlichung der adlig/edlen
Eigenschaften des Menschen“ nannte.68 Die alten Helden der Ritterromane hatten zur Zeit Lud-
wigs XIV. eigentlich schon abgedankt, als aristokratisches Leitbild lebten sie aber weiter – und das Pu-
blikum applaudierte ihnen.
Campistron gehörte zum engsten Kreis des französischen Generals Louis II. Joseph de Bourbon,
Duc de Vendôme (1654–1712), der es vorzog, fern von der Hofgesellschaft in Versailles seinen eigenen
Lebensstil zu pflegen. Der Historiker Ernest Moret schreibt über ihn: „Vendôme hatte die Unzufrieden-
heit mit den politischen Verhältnissen69 von seinem Onkel, dem Herzog von Beaufort. Er hätte nicht,
wie jener, mit der Waffe in der Hand den König angegriffen …, die Zeiten hatten sich geändert; aber er
verschoss gerne einige spitze Pfeile gegen die Minister oder gegen die Regierung in Versailles. Dieser
Hang, alles zu sagen, alles zu machen, die Liebe zur Freiheit, der Hass auf die höfische Etikette entfern-
ten ihn vom Hof. Die majestätischen Gebärden des großen Königs, die Feierlichkeit seines Auftretens,
die Korrektheit der Sprache, der Ernst des Tons, störten Vendôme.“70
Campistron galt als treuer und ergebener Begleiter des Herzogs, dem er überall hin folgte.71 Hatte
er in seinem Arminius ein Spiegelbild des Herzogs gegeben, so wie er ihn sah? Der Gedanke ist nicht
ganz von der Hand zu weisen. Auff ällig ist, dass das Thema der aristokratischen Moral und der Freiheit

65 Campistron, Arminius, II,7 (102). 69 Im Original: l’humeur frondeuse.


66 Campistron, Arminius, II,7 (102). 70 Moret (1859) 242.
67 Campistron, Arminius, V,5 (137). 71 Moret (1859) 244.
68 Jean Desmarets de Saint-Sorlin, Les Délices de l’Esprit.
Dialogues, Paris 1658 (zitiert nach Bénichou [1948] 106).

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 235


gegenüber jeglicher Unterdrückung vierzig Jahre nach dem Scheitern der Fronde wieder bühnenwirk-
sam wird. Es ist aber auch die Zeit, in der sich das Königtum Ludwigs XIV. dem Ende zuneigte und die
Unzufriedenheit im Lande mit dem verschwenderischen, selbstherrlichen Regiment des alternden Mo-
narchen wuchs.72 Campistron, obwohl ein Schüler und Nachfolger Racines, hatte nicht den Geist von
Port-Royal,73 der sein großes Vorbild Racine prägte, in seine Theaterstücke eingebunden: dieses Miss-
trauen in die menschliche Vernunft, diese Fragwürdigkeit des Heroismus und die Unmöglichkeit,
seine Leidenschaften zu beherrschen. Die Welt Campistrons ist – wie bei den anderen beiden hier be-
handelten Autoren – die des Adels, der heroischen Taten und auch der Leidenschaften, eine Theater-
welt, die zwar vom Publikum immer noch geliebt wurde, aber nicht mehr ganz dem Zeitgeist ent-
sprach.
Campistron hatte für kurze Zeit Erfolg und sein Stück, zusammen mit denen von Scudéry und La
Calprenède, machten den Arminius-Stoff außerhalb von Deutschland bekannt. Nicht die patriotische
Übertreibung der deutschen Heldentaten steht bei den französischen Autoren im Vordergrund, auch
nicht der Stolz auf eine ruhmreiche vaterländische Vergangenheit, die sich gegen neue Feinde richten
konnte, sondern sie hatten zu Recht erkannt, welch ein dramatisches Potential die Arminius-Ge-
schichte in sich birgt, welche Tragik der handelnden Personen – verbunden mit der Verherrlichung alt-
adlig-heroischer Tugenden und Despotismus-Kritik. Und nachdem Campistron in seine Tragödie zwei
Liebespaare mit gleichartiger Dramatik eingeführt hatte, wurde der Arminius-Stoff reif für die europäi-
sche Opernbühne.

Arminius als Opernheld

Arminius als ‚Befreier Germaniens‘ – das Urteil des Tacitus, das so viele patriotisch und national ge-
stimmte deutsche Autoren zu literarischen Bearbeitungen inspirierte, machte auch in der barocken
Opernwelt Karriere. Im 18. Jahrhundert entstanden mindestens 37 Opern, die das Thema Arminius,
Thusnelda oder Germanicus aufgriffen.74 Vorbildlich waren hier die französischen Schriftsteller, vor
allem Campistron, die den Stoff aus dem deutsch-patriotischen Umfeld herausgeholt und die dramati-
schen Qualitäten der Geschichte erkannt hatten, vor allem die tragische Liebesgeschichte zwischen
Hermann und Thusnelda. Aber dass sie den Arminiusstoff nicht ganz so unpolitisch auffassten, hatte
ihre Parteinahme für die althergebrachten Freiheitsrechte gezeigt. In der italienischen Oper, welche im
Barock die Opernhäuser ganz Europas dominierte, wurde der Stoff nun vollends aller politischen Hin-
tergründe entkleidet und auf die affektiven Konflikte der Hauptpersonen reduziert. Aber was war der
Grund, von den zahllosen Tondichtungen mit Stoffen aus der griechischen Mythologie abzurücken,
diese hinten anzustellen und jetzt die musikalischen Zelte im germanischen Wald aufzuschlagen? Den
italienischen Librettisten war sicherlich jeglicher deutscher Patriotismus fern, das sollte später den
deutschen Opern-bearbeitungen vorbehalten bleiben. Die Antwort geht wieder auf die französischen
Bearbeiter des Stoffes zurück, welche die Hauptpersonen in den tragischen Konflikt zwischen ihrem
Wunsch nach persönlicher Liebeserfüllung und der Pflicht zu standesgemäßem oder staatspolitischem

72 Dazu: Croix u. Quénart (1997) 427f. Erlösung, auch nicht durch gerechte Werke. Der franzö-
73 Das Kloster Port-Royal bei Versailles war im 17. Jahrhun- sische Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) war zutiefst
dert die Hochburg des Jansenismus, einer religiösen von Geist des Jansenismus geprägt.
Reformbewegung, die ein pessimistisches Menschen- 74 Angaben nach: Barbon u. Plachta (2003) 266.
bild vertrat: Der einzelne habe keinen Einfluss auf seine

236 KLAUS KÖSTERS


Abb. 11 | Gabriel de Saint Aubin (1724–1780), Bühnenszene, 2. Drittel des 18. Jahrhunderts.

Handeln stellten. Genau hier setzen auch die Opernhandlungen an: Thusnelda ist hin- und hergerissen
zwischen dem Gehorsam gegenüber ihrem Vater Segestes und ihrer Liebe zu Arminius, dieser zwi-
schen seiner Liebe zu Thusnelda und dem von ihm erwarteten politischen Handeln. Dazu kommen pa-
rallel laufende Nebenhandlungen, die den Grundkonflikt widerspiegeln, bis dann zum Schluss alles in
ein glückliches Ende überführt wird.
Der italienische Opernlibrettist Antonio Salvi (1664–1724), im Hauptberuf Arzt am Hof in Florenz,
war im 18. Jahrhundert ein erfolgreicher Bühnenautor. Sein Libretto für eine Arminio-Oper wurde von
Scarlatti, Hasse, Händel, Rinaldi u.a. vertont. Grundlage des Textes ist das Drama von Campistron. Des-
sen doppelte Liebesgeschichte zwischen Ismenie und Arminius sowie Sigismond und Polixène kam
den Bedürfnissen der opera seria mit ihren festgelegten Rollen entgegen.75 In seinem Libretto finden
sich kaum noch Hinweise auf den politischen Konflikt zwischen Germanen und Römern, alles ist auf
die persönliche Ebene der Affekte verlagert. Arminius ist vorbildhaft nicht wegen seiner militärischen
Leistungen, sondern aufgrund seines tugendhaften Verhaltens. In Salvis Libretto reicht Arminio am

75 Forchert (1975) 48. Forchert verfolgt in einer ausführ- von Barbon u. Plachta (2003), wo das andere, ebenfalls
lichen Analyse die Entwicklung des Salvi-Librettos in erfolgreiche Opernlibretto von Giovanni Claudio Pas-
den verschiedenen Opernbearbeitungen, worauf wir quini untersucht wird, das u.a. auch von dem Kompo-
hier verweisen. Verwiesen wird auch auf den Aufsatz nisten Johann Adolf Hasse benutzt wurde.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 237


Ende großmütig Segeste die Hand und erweist sich als der wahre Fürst, dessen großherzige Milde auch
dem verblendeten Segeste hilft, seine Verfehlungen einzusehen und zu bereuen. So löst sich der Kon-
flikt zum Schluss in Wohlgefallen auf. Damit siegt die clemenza, das fürstliche Tugendideal, welches im-
mer wieder auf der Barockbühne als devotes Herrscherlob der regierenden Fürsten besungen wurde.76
Die strengen Regeln der opera seria und die Aufführungspraxis im Rahmen fürstlichen Mäzenatentums
bedingten denn auch die holzschnittartige Formung der Charaktere, wie dies gerade der Vergleich mit
dem Vorbild des Arminius von Campistron deutlich macht.
Arminius und die Varusschlacht – das Thema war einfach zu ‚deutsch‘, um es der italienischen
Oper allein überlassen zu können. Schon 1697 verfasste Christoph Adam Negelein (1656–1701) eine
Oper, deren Musik wohl verlorengegangen ist. Das Stück hält sich eng an die Vorlage von Campistron,
ausgiebig angereichert mit patriotischem Pathos. So erfolgt zum Schluss der Siegesgesang der Germa-
nen-Deutschen nach der Schlacht, diesmal mit einem eindeutig formulierten Anspruch auf das deut-
sche Kaisertum, welches die Deutschen aufgrund ihrer Verdienste von den Römern übernommen ha-
ben. Und auch hier dient der Verweis auf die Kaiserwürde als versteckter Appell an die deutschen
Fürsten, sich gegenüber den Bedrohungen durch Frankreich und die Türken einig zu zeigen.

„Der wütende Römer erlag mit Schanden!


ihr trotziger Feldherr ist nimmer vorhanden!
Kommt! Last ihm / dem Himmel, mit Opfern uns danken!
auch unserem Siegs Glück erweitern die Schranken!
Ach! wollte der Himmel / wonach wir nun streben /
uns redlichen Teutschen der Römer Reich geben!
auch solches erhalten / durch unsere Hände /
bis alles vergehet – bis an der Welt
Ende.“77

Ähnlich klingt es auch in dem um 1749 verfassten Singspiel Thusnelde von Johann Adolph Scheibe
(1708–1776). Scheibe war ein Schüler Johann Christoph Gottscheds (1700–1766). Dieser hatte schon in
seiner Critischen Dichtkunst von 1730 die gängigen Opernaufführungen mit ihren unwirklichen Hand-
lungen scharf kritisiert.78 Scheibe konzentriert die Handlung auf den Gegensatz zwischen Arminius
und Segest, der die Negativrolle bekommt. Ansonsten übernimmt er die beiden Liebespaare von Cam-
pistron, deren Heirat die starre Haltung des Segest verhindert. Am Ende, nach dem Sieg über die Rö-
mer, bereut Segest den Verrat an seinen Landsleuten, und die Paare heiraten. Und nun kann die Ober-
priesterin verkünden, dass die Tugendhaftigkeit der Germanen den Sieg in der Schlacht davongetragen
hat und die Germanen-Deutschen dazu bef ähigt, zukünftig die Weltherrschaft anzutreten:

„Rom selbst wird noch von euren Söhnen


Die Helden später Zeit bekrönen.
Man sieht alsdann die römischen Lorbeerreiser
Auf Scheiteln deutscher Kaiser.

76 1734 schrieb der berühmteste Librettist der opera seria, 77 (Christoph Adam Negelein), Arminius. Der Teutschen
Pietro Metastasio, das Buch zu der sehr erfolgreichen Erz-Held. In einer Opera aufgeführet, und Der Königlich
Oper La clemenza di Tito, die 1734 vor Karl VI. in Wien Kayserlichen Majestät Leopold dem Grossen allerunterthä-
und 1791 zur Krönung Leopolds II. aufgeführt wurde. nigst gewiedmet und zugeeignet von Christof Adam Nege-
Die clemenza als vornehmste Herrschertugend fand lein, Kayserlicher gekrönten Poeten, und des lobl. Gekrönten
noch in Mozarts gleichnamiger Oper ein spätes Echo. Blumen-Ordens benannten Celadon, Nürnberg 1697, S. 72.
(Barbon u. Plachta [2003] 278f.). 78 Barbon u. Plachta (2003) 281ff.

238 KLAUS KÖSTERS


Cheruskens Stamm wird noch Europens größten Theil,
Ja, fast die halbe Welt regieren.
Es wird, zu vieler Völker Heil,
Den weitgestreckten Zepter führen.“79

Da ist sie also wieder, die Verknüpfung von moralischer Überlegenheit und Weltherrschaftsanspruch,
der schon die deutschen Humanisten umtrieb. Auch Scheibe versucht durch ein Übermaß an patrioti-
scher Gesinnung den kulturellen Defiziten des barocken Deutschlands entgegenzuwirken und eine
deutsche Nationaloper zu begründen. Als moralische Institution soll sie die Deutschen in ihrem durch
Kleinstaaten zersplitterten Vaterland zur Einigkeit aufrufen, weshalb ganz zum Schluss der Oper die
Götterbotin sich an das Publikum wendet und das deutsche Volk ermahnt:

„… Sey einig, tugendhaft;


So bleibst du frey und groß, gefürchtet, voller Kraft.“80

Johann Elias Schlegels Herrmann und Jean Grégoire Bauvins Les Chérusques

Die Reduzierung des in Deutschland patriotisch verstandenen Hermann-Stoffes auf eine reine Opern-
Liebesgeschichte stieß auch bei anderen Autoren auf zunehmende Kritik. Der Dichter Johann Elias
Schlegel (1719–1749) hatte 1743 seine Tragödie Herrmann veröffentlicht. Es war der Versuch, ein deut-
sches Nationaldrama zu verfassen. So heißt es in der Nachricht von der Eröffnung des Neuen Theaters in
Leipzig von 1766: „Die Wahl des Stückes aber gab ihm [Schlegel] Gelegenheit, den Nationalcharakter
der alten Deutschen zu entwerfen, und besonders diejenigen Züge zu zeichnen, die der Nation Ehre
machen: Uneigennützigkeit, Edelmuth, Tapferkeit, Liebe fürs Vaterland und unverletzte Treue gegen
den Fürsten. Dieß war vormals, und dieß wird immer der Charakter der Deutschen überhaupt, und un-
serer Nation insbesondere seyn.“81
Schlegels Stück beginnt denn auch mit dem Lobgesang auf die Vorzüge der Deutschen, wobei er
sich kräftig bei dem taciteischen Tugendkatalog der Germania bedient, den die Humanisten des 16. Jahr-
hunderts immer differenzierter ausgebreitet hatten:82

„Hier prangt Thuiskons Bild, hier Mannus Ehrenmaal.


In diesen ist zuerst der deutsche Muth entglommen;
Durch sie sind Großmuth, Treu und Rum auf uns gekommen.
Der Trieb, der Falschheit flieht, nicht weiche Sitten liebt,
Nichts von Gesetzen weis, und doch die Tugend übt;
Der Ehrgeiz, frey zu seyn, und nie verkauft zu leben,
Ist uns von ihnen her, in unsre Brust gegeben.“83

79 (Johann Adolph Scheibe), Thusnelde – ein Singspiel in vier 82 Kösters (2009) 33–73.
Aufzügen. Mit einem Vorbericht von der Möglichkeit und 83 (Johann Elias Schlegel), Joh. Elias Schlegels Werke. Erster
Beschaffenheit guter Singspiele begleitet von Johann Adolph Theil: Herrmann, herausgegeben von Johann Heinrich
Scheiben, Königlich Dänischer Kapellmeister, Leipzig 1749, Schlegeln, Kopenhagen u. Leipzig 1761, Akt I, Szene 1
S. 164. (S. 314). Die Erstveröffentlichung des Herrmann war
80 Scheibe, Thusnelde, S. 166. 1743 in der Dramensammlung Die deutsche Schaubühne
81 Nachricht von der Eröffnung des Neuen Theaters in Leipzig, des Schriftstellers und Literaturtheoretikers Johann
1766, Vorwort, S. V. Schlegels Herrmann war das erste Christoph Gottsched (1700–1766).
Stück, das auf dieser neuen Bühne gespielt wurde.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 239


Als neu gewählter Fürst soll Herrmann sein Volk vor der Unterdrückung durch die Römer bewahren
und Varus in die Schranken weisen, der römisches Recht in Germanien durchsetzen will. Und die Rö-
mer sind – und auch hier bedient Schlegel wieder die üblichen Klischees – das krasse Gegenbild der tu-
gendsamen Germanen: Rom ist zutiefst verderbt, eine Gefahr für die Lebensweise der Germanen, wie
Sigmar seinem Sohn Herrmann verkündet. Dessen Bruder Flavius steht zwischen den beiden Welten.
Damit ist der politisch-dramatische Grundkonflikt vorgegeben. Flavius, der Römerfreund, erkennt die
kulturelle Überlegenheit Roms an. Er preist die Vorzüge des urbanen Lebens, während Sigmar, sein Va-
ter, nur römische Machtgier und Laster erkennt: Flavius: „So soll der Deutsche stets in schlechten Hüt-
ten wohnen?“ Darauf Sigmar: „Hier frey seyn, gilt mir mehr, als in Pallästen tronen.“84
Neben dieser politischen Argumentationsebene gibt es in dem Stück noch eine zweite, eine pri-
vate. Schlegel kannte die französischen Dramen und übernahm aus dem Werk von Georges de Scudéry
die Liebesrivalität zwischen Arminius und Flavius, allerdings ist sie stark eingeschränkt. Bei Schlegel
kämpft Herrmann ausschließlich für die Wiedergewinnung der von den Römern unterdrückten ger-
manischen Freiheit und nicht für die Liebe zu seiner Braut. Der eigentliche Gegenspieler des Herr-
mann ist nicht Varus, nicht der Römerfreund Segest, Thusneldas Vater, sondern Flavius. Auch er ist lei-
denschaftlich in Thusnelda verliebt und lässt sich von seiner Liebe zu ihr völlig beherrschen. Seine
Haltung widerspricht der germanischen Auffassung von Pflichterfüllung und Einsatz für Volk und Va-
terland. Diese verkörpert Herrmann, der heldenmütig auf seine Liebe verzichtet, um seine historische
Mission nicht zu gef ährden.
Am Ende erscheint Flavius dennoch geläutert, da er seine römischen Neigungen zugunsten der
Solidarität mit seinem Volk aufgibt. Herrmann zeigt sich großmütig und verzeiht ihm seine Schwäche.
Und auch der Verräter Segest darf auf Vergebung hoffen. Und als dann noch die in der Schlacht ver-
schollene Thusnelda wieder auftaucht, kennt das allgemeine Siegesglück keine Grenzen mehr.
Herrmanns heroischer Verzicht auf die Liebe zugunsten der ihm auferlegten Pflicht hätte auch
hundert Jahre früher im französischen heroischen Drama oder Roman Bestand gehabt. Corneille hatte
in seinen Tragödien immer wieder die Beherrschung der Leidenschaften zugunsten der Staatsräson
zum zentralen Thema gemacht. In seinen Tragödien strebt der Held kraftvoll über sich hinaus, aber im-
mer nach Zielen, die würdig sind, mit dem moralisch Guten verbunden. Nur so kann er Ruhm (gloire)
und Tugendhaftigkeit (vertu) erlangen.85 Der Herrmann von Schlegel ist nicht so weit von ihnen ent-
fernt.86 Er ist von Anfang an ein gefestigter und tugendhafter Held, der unbeirrt und standhaft den ein-
mal eingeschlagenen Weg weiterverfolgt. Wie die Helden Corneilles besitzt er kriegerischen Helden-
mut und moralische Standfestigkeit – ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Flavius, der an seiner
unehrenhaften Liebe verzweifelt und in völliger Apathie versinkt.87 Auch Thusnelda ist nicht so weit von
den starken heroischen Frauen Corneilles entfernt, welche die Pflicht und die Vaterlandsliebe an die
erste Stelle setzen.
Aber trotz der engen Anlehnung Schlegels an die französische Literatur,88 es ist ein deutsches Hel-
dendrama. In der Deutschen Schaubühne, in der Schlegels Stück 1743 erstmals veröffentlicht wurde, ver-
gleicht der Herausgeber Johann Christoph Gottsched es mit der französischen Arminius-Bearbeitung

84 Schlegel, Herrmann, I,2 (320). 87 „Mein Trieb herrscht über mich, und heißt mich, was
85 Dazu ausführlich: Bénichou (1948) 31ff. ich meide. / Ich selber thue nichts, ich folge nur und
86 G. von Essen vergleicht die neustoizistische Haltung des leide“ sagt er in II,4 zu Marcus (Schlegel, Herrmann,
Arminius, wo römisch-stoische und höfisch-französi- 226). S. auch von Essen (1998) 73.
sche Haltungen zusammenkommen, mit Corneilles 88 Hierzu gehört auch das Versmaß des Alexandriners.
Rodrigo aus dem Cid (von Essen [1998] 80).

240 KLAUS KÖSTERS


von Campistron: „Allein wer dies Stück mit unseren deutschen gegeneinander halten will, der wird
ohne mein Erinnern wahrnehmen, daß beyde, außer der nothwendigen Geschichte, die den Stoff zu
beyden an die Hand gegeben, nicht das geringste gemein haben. Ueberhaupt wird man auch sehen,
daß ein Franzos die wahre Größe eines deutschen Helden, bey weitem nicht so natürlich vorzustellen
gewußt, als ein deutscher Dichter, der selbst ein deutsches Blut in den Adern, und die Neigung zur
deutschen Freyheit im Herzen, mit der Gabe des poetischen Witzes verbunden hat.“89
Anschließend bringt Gottsched – wohl über Schlegels eigene Interpretation weit hinausgehend –
die Eroberungspolitik der Römer mit den Feldzügen Ludwigs XIV. in Verbindung und verleiht dem
Stück eine ausgesprochen antifranzösische Bedeutung: „Wer indessen auf die Ähnlichkeit der Stadt
Rom zu Augusts Zeiten mit dem heutigen Paris; und die Herrschsucht der Römer, mit der französi-
schen, in Gedanken zusammenhält: der wird bey Durchlesung dieses Herrmanns, oder bey der Auffüh-
rung desselben, ein doppeltes Vergnügen empfinden.“90
Schlegels Herrmann wurde 1772 als erstes deutsches Stück in Paris auf der Bühne der Comédie
Française aufgeführt, adaptiert von Jean Grégoire Bauvin (1714–1778), Rechtsanwalt und Mitarbeiter li-
terarischer Zeitungen.91 Es war sehr ungewöhnlich, dass ein deutsches Theaterstück für die französi-
sche Bühne adaptiert wurde – ungewöhnlich, weil die deutsche Literatur zu dieser Zeit in Frankreich
noch völlig unbekannt war. Aber Bauvin hatte das Stück nicht einfach nur ins Französische übertragen,
sondern der eigenen Theatertradition angepasst. In seinem Vorwort schreibt er, dass er dieses Stück
schon vorher unter anderen Titeln publiziert hatte: zunächst als La Défaite de Varus, 1767, dann zwei
Jahre später unter dem Titel Arminius, schließlich mit dem Titel Les Chérusques. Und er versichert dem
Leser, dass dies der Titel sei, „der allein [zum Stück] passt, denn die Freiheit dieses Volkes ist das allge-
meine Thema dieser Tragödie und nicht Arminius, der darin nur eine der Hauptpersonen ist.“92
Bauvin führt neu die Person der Adelinde ein, die hier den Segest ersetzt, aber ansonsten all seine
schlechten Eigenschaften und seine Römerfreundlichkeit geerbt hat. Ihr Plan ist es, rücksichtslos und
mit allen Mitteln ihren Sohn Sigismond zum König zu machen und ihre Tochter Thusnelde mit dem
schwankenden, die Römer bewundernden Flavius, dem Bruder des Arminius, zu verheiraten.
Politisch brisant war damals das Freiheitsthema, das sich wie ein roter Faden durch das ganze
Stück zieht. In Frankreich, wo verschiedene Schriftsteller die Entwicklung der Monarchie zu immer
mehr Absolutismus besorgt verfolgten, musste die Darstellung der früheren Freiheit der germanischen
Stämme einer Erinnerung an die verlorene eigene Freiheit gleichkommen.93 So wird im Stück neben
der römischen Dekadenz, die wir schon aus anderen Bearbeitungen kennen, das Thema der Unterdrü-
ckung und Tyrannis immer wieder thematisiert. Verteidige die Werte deiner Vorfahren, fordert Ségis-
mar Flavius auf, und diese Werte sind auf der Freiheit gegründet.94 Die Freiheit ist den Germanen von

89 Schlegel, Herrmann, 226. 92 (Jean Grégoire Bauvin), Arminius ou les Chérusques, Tra-
90 Schlegel, Herrmann, 226. gédie tirée du théâtre allemand, par M. Bauvin, de la Société
91 Er war Mitarbeiter des aufklärerischen Autors und Littéraire d’Arras, Représentée pour la première fois, par
Historikers Jean-François Marmontel (1723–1799) und les Comédiens François Ordinaires du Roi, le 26 septembre
veröffentlichte in dessen literarischen Zeitungen L’Ob- 1772, Paris 1773, S. II.
servateur littéraire und Mercure de France. Die Anecdotes 93 Wir folgen hier der Argumentation von Krebs (2003) 306.
Dramatiques von 1775 (S. 34f.) machen weitere Angaben 94 (Jean Grégoire Bauvin), Arminius ou les Chérusques. Tra-
über den sonst eher unbekannten Autor: Er war Leh- gédie tirée du théâtre allemand, par M. Bauvin, de la Société
rer an der königlichen Militärschule in Arras und Mit- Littéraire d’Arras, Paris 1772, S. 25; in der Ausgabe von
glied der dortigen Literarischen Gesellschaft. Seine Tra- 1773 (s. Anm. 92) S. 28. Die Ausgabe von 1772 ist vor der
gödie Les Chérusques war das einzige Theaterstück, das Umarbeitung für die Bühne entstanden und in man-
er schrieb. chen Dialogen politisch direkter und ausführlicher als
die Bühnenfassung von 1773.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 241


ihren Göttern übertragen worden, wird Ségismar wenig später zu Arminius sagen und ihn zum Kampf
gegen die Unterdrückung durch die Römer begeistern.95 Und diese Freiheitsliebe ist der höchste Wert,
gegen den jeder andere zurückstehen muss.96
Die Gegenspielerin der freiheitsliebenden Germanen ist Adelinde. Sie will über ihren Sohn nach
der absoluten Macht greifen, wofür sie die Römer braucht. Der Aufstieg ihres Sohnes, so kalkuliert sie,
bedeutet das Ende der alten germanischen Freiheit. Ihr Einsatz ist sehr hoch, doch am Ende hat sie ihn
verspielt. Die Heiratspläne ihrer Tochter mit Flavius zerschlagen sich, dieser kehrt reumütig zu den Sei-
nen zurück und bittet um Verzeihung. Auch Sigismond weist das Ränkespiel seiner Mutter zurück und
kämpft heldenhaft gegen die Römer, wobei er tödlich verwundet wird. So bleibt ihr nur noch der Frei-
tod.
Am Ende ist also die germanische Freiheit gesichert, und Arminius kann den Göttern für den Sieg
danken:

„Ihr Götter! Euer Volk ist frei und nicht länger erniedrigt.
Die Hoffnung, die es geschöpft hat, habt ihr erfüllt.
Haltet für immer von Germanien fern
Alle die Übel, welche die Tyrannei hinter sich herzieht.“97

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Textstelle, die sich in Schlegels Text nicht findet und die
Bauvin eingefügt hat. Ségismar verweist im Gespräch mit Flavius auf die alten republikanischen Werte
Roms, die allerdings nicht so genannt werden:

„Rom hat lange Zeit die Sitten geliebt, die du verurteilst.


Seine prachtvollen Paläste waren nichts anderes als Hütten.
Wir sind jetzt was es einst war;
Wir besitzen [ jetzt] diese Tugenden, fürchten wir seine Schätze.“98

Der Hinweis auf die alten römischen Tugenden ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Einerseits
hatte Tacitus ja selbst in seiner Germania die germanische Lebensweise indirekt mit der römisch-repu-
blikanischen Zeit verglichen und an ihr Züge des von ihm so hochgeschätzten alten Römertums wie-
derentdeckt. Andererseits war der indirekte Verweis auf republikanische Tugenden nicht frei von aktu-
ellen Bezügen, die der Erläuterung bedürfen.
Das absolutistische Frankreich war kein vollendeter zentralistischer Staat. Der kontinuierliche Aus-
bau der Königsmacht unter Ludwig XIV. (1643–1715) und Ludwig XV. (1715–1774) stieß auf den teilweise
erbitterten Widerstand der regionalen parlements,99 die aufgrund ihrer Zusammensetzung feudale und
aristokratische Interessen verfolgten. Je mehr das absolutistische Königtum mit seinen Ministern ver-
suchte, die Privilegien und Sonderrechte der zwischen König und Volk stehenden mittleren (interme-
diären) Körperschaften einzugrenzen, umso heftiger wurde die Gegenwehr.
Um 1770, als Bauvin sein Stück veröffentlichte, war die Auseinandersetzung zwischen der könig-
lichen Zentralverwaltung und den aristokratisch orientierten Regionalverwaltungen in einer besonders

95 Bauvin, Arminius, II,2 in beiden Ausgaben. weshalb es dem König unmöglich war, unbequeme
96 So Arminius zu Flavius am Ende von II,3. Amtsinhaber abzusetzen. Erblichkeit der Ämter war
97 Bauvin, Arminius (1772), 40; (1773), 43. üblich, so dass sich eine neue Adelschicht bildete, die
98 Bauvin, Arminius (1772), 23; (1773), 26. durch Heirat mit dem alten Schwertadel verschmolz.
99 Die parlements setzten sich vor allem aus der Noblesse de Die Politik der Parlamente war aus diesen Gründen auf
Robe, dem Amtsadel zusammen und hatten weitge- die Erhaltung der Adelsprivilegien gerichtet. Ihre Ge-
hende juristische und administrative Kompetenzen. genspieler waren die königlichen Intendanten, die in
Ämter waren im Frankreich des Ancien Régime käuflich, den Provinzen die Zentralmacht vertraten.

242 KLAUS KÖSTERS


Abb. 12 | Titelbild von Bauvins Les Chérusques, 1773.

kritischen Phase. Die Finanzkrise des Staates verlangte eine Besteuerung des Landbesitzes, wogegen
sich der in den parlements vertretene Adel vehement zur Wehr setzte. 1771 setzte sich der Staat durch
und entmachtete weitgehend die parlements, allerdings nur kurze Zeit, da sie von Ludwig XVI. rehabi-
litiert wurden. Auch die Heimatprovinz von Bauvin, das Artois, stand in der Auseinandersetzung mit
der Krone, um die althergebrachten Privilegien zu bewahren.
Zur gleichen Zeit setzte sich die Kritik der Philosophen am bestehenden politischen System immer
mehr durch. Eine Fülle von weniger bekannten Schriftstellern popularisierte die neuen Ideen von Vol-
taire, Diderot und Rousseau. Die Forderung nach Freiheit war in aller Munde: individuelle Freiheit, öko-
nomische Freiheit und vor allem Freiheit des Glaubens, verbunden mit der Toleranz.100 Bauvin hatte
selbst in den Zeitschriften von Jean François Marmontel (1723–1799) veröffentlicht. Dieser war ein en-
ger Wegbegleiter Voltaires und selbst Mitarbeiter an der Encyclopédie.
Die Akzentuierung der Chérusques auf die altgermanische Freiheit ist sicherlich in diesem politi-
schen Kontext zu suchen. Das Titelbild der Ausgabe von 1773 spielt darauf an: Ségismar hat seinen
Sohn Arminius vor die Götterbilder der beiden sagenhaften altgermanischen Könige Thuiston und
Mannus geführt. Das Bild bezieht sich auf die 2. Szene des II. Aktes:

„Alle beide haben uns die Freiheit gebracht


Den Schauder vor Weichlichkeit und Falschheit …
Sei frei, gerecht, wahrhaftig, großherzig wie sie.“101

100 Soboul (1962) 70–75. 101 Bauvin, Arminius (1772), 26; (1773), 26.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 243


In seinem Vorwort verwehrt sich Bauvin allerdings dagegen, seine Personen und sein Stück seien von
republikanischer Gesinnung, wie es in einer Rezension des Mercure de France vom Oktober 1772 zu le-
sen war.102 Ségismar und Arminius stellten sich nicht über Könige, versichert er, aber gleichzeitig gibt
er dennoch sein Staatsideal preis, und das ist eben nicht absolutistisch: „Die Menschen sind nicht we-
niger frei unter einem Monarchen als unter Magistratspersonen, die Freiheit hängt von der Achtung der
Gesetze ab, und nicht von der Regierungsform.“103
Bauvin vertritt, so kann man vermuten, eine auch von Aufklärern und Magistraten vertretene Mei-
nung, dass die Macht des Königs durch übergeordnete moralische und traditionelle Gesetze beschränkt
sei und weist damit jegliche absolutistische Interpretation zurück, die den Staat als Eigentum des Mo-
narchen sieht – so wie das Ludwig XIV. pointiert ausgedrückt hatte: Der Staat bin ich! Dennoch argu-
mentiert unser Autor mit großer politischer Vorsicht, wenn er jeglichen ‚republikanischen‘ Tenor sei-
nes Stückes zurückweist.

Montesquieu und die germanische Freiheit

Das Thema der Freiheit der Germanen war politisch nicht neutral und seit der berühmten Veröffent-
lichung Vom Geist der Gesetze des Baron de Montesquieu (1689–1755) von 1748 Teil des europäischen
politischen Diskurses geworden.104 Montesquieu betrachtet in seinem berühmten Werk die Entste-
hungsbedingungen der verschiedenen Staatsverfassungen und Gesetze und bezieht sich dabei auf die
antike Klimatheorie: Die Völker des Nordens besäßen mehr Tatkraft, mehr Tugend und Freiheitsliebe,
während die des Südens der Trägheit des Körpers und Geistes sowie ‚römischer‘ Knechtschaft anheim-
gefallen seien. Er gesteht auf der Grundlage klimatologischer, verfassungsorientierter und kultureller
Faktoren jeder Gesellschaftsform eine individuelle Eigenberechtigung zu. Diese Theorie bot erstmalig
die Chance, von einer aus den Wurzeln der eigenen Lebens-, Kultur- und Sprachgemeinschaft gewach-
senen Dichtung eine nationale Blüte zu erwarten.105 Montesquieu hatte damit den Deutschen den Weg
geöffnet, die eigene staatliche Existenzform anzuerkennen, ohne ständig auf Nachbarländer wie Frank-
reich zu schauen und sich mit ihnen zu vergleichen.
Im sechsten Kapitel des elften Buchs kommt er auf die englische Verfassung zu sprechen, die für
ihn vorbildlich ist. Dort findet sich der berühmte Satz, dass die englische Verfassung auf germanischen
Ursprüngen beruht: „Wenn man das bewundernswerte Werk des Tacitus über die Sitten der Germanen
liest, dann wird man sehen, dass die Engländer die Idee ihres politischen Regiments von ihnen über-
nommen haben. Dieses schöne Lehrgebäude wurde in den Wäldern gefunden.“106
Um seine Feststellung zu untermauern, führt Montesquieu eine Textstelle aus der Germania des
Tacitus an: „Über kleinere Dinge gehen die Fürsten zu Rat, über größere alle, so jedoch, dass auch das,
worüber die Entscheidung beim Volke liegt, bei den Fürsten vorausbehandelt wird.“107

102 L’Année Littéraire 1772, 264. 106 Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, De l’esprit
103 Bauvin, Arminius (1773), „Préface“, III. S. auch Krebs des loix, ou du rapport que les loix doivent avoir avec la con-
(2003) 306. stitution de chaque gouvernement, les mœurs, le climat, la re-
104 Hier in unserem Zusammenhang ist vor allem das ligion, le commerce, & à quoi l’auteur a ajouté des recherches
11. Buch interessant, in dem es um die englische Verfas- nouvelles, sur les loix romaines touchant les successions, sur
sung geht. les loix françoises, & sur les loix féodales, Nouvelle édition,
105 Stauf (2003) 315f. corrigée par l’auteur, Genf 1750, Buch 6, Kap. 6, S. 323.
107 Textstelle nach Tac. Germ. 11. Lateinisches Zitat bei Mon-
tesquieu, De l’esprit des loix, 323.

244 KLAUS KÖSTERS


Abb. 13 | „Herman̄ löset nach dem Sieg über die Römer, der bis
dahin gefesselten Germania die Ketten …“ Titelkupfer von Johann
Christoph Sysang (1703–1757) des Heldengedichtes Hermann
oder das befreyte Deutschland von Christoph Otto von Schönaich
(1727–1807) in der Ausgabe von 1751.

Die Feststellung, dass die damals freiheitlichste Verfassung Europas germanischen Ursprungs ist, re-
habilitierte die von Italienern und Franzosen immer noch als Barbaren eingestuften Deutschen und
sollte dem aufkeimenden deutschen Patriotismus einen gewaltigen Schub verleihen.
In Montesquieus Satire Persische Briefe von 1721 heißt es über die Monarchie, dass sie einen
Gewaltzustand repräsentiert, der immer in den Despotismus entartet.108 Dabei hatte er das Frankreich
Ludwigs XIV. im Auge, der durch die gewaltsame Zentralisierung die regulierenden mittleren Auto-
ritäten des Königreichs abschaffte. Damit gab es keine Institution mehr, die sich seiner Willkürherr-
schaft entgegenstellen konnte: „Schafft in einer Monarchie die Vorrechte der Feudalherren, der Geist-
lichkeit, des Adels und der Städte ab, so habt ihr gar bald einen Volksstaat oder sogar einen despotischen
Staat.“109
Zwischen dem Machtanspruch des Staates und dem des aufsteigenden Bürgertums sieht er den
dritten Weg nur im Rückgriff auf die Tradition, auf die Ursprünge der französischen Monarchie, auf
die fränkische Reichsverfassung und Karl den Großen. Montesquieu sieht in seiner eigenen Zeit eine
Allianz zwischen Monarchie und Bürgertum gegeben, die sich gegen den Adel richtet. Er ist davon
überzeugt, dass die gesetzgeberische Gewalt der mittleren Ebene, die in den Parlamenten verkörpert ist,
die Freiheit sichert. Damit stellt sich Montesquieu hinter den Adel und die feudale Staatsverfassung, die

108 Montesquieu, Lettres Persanes, hg. v. Paul Vernière, Paris 109 Montesquieu, De l’esprit des loix II, 4.
1963 (102. Brief).

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 245


durch den absolutistischen Ausbau des französischen Staates bedroht war. So wendet er sich gegen die
Entmachtung der Parlamente, deren Mitglied und Präsident er selbst gewesen war.
Die alte germanische Freiheit als ein Gleichgewichtszustand der Kräfte, der aufs Beste in der eng-
lischen Verfassung zum Tragen kommt – das ist, kurz gesagt, die Essenz der unser Thema betreffenden
Gedanken Montesquieus. Und damit wird auch verständlich, dass Bauvins Tragödie nicht ganz so un-
politisch war, wie es der Autor offiziell verkündete. Wir hatten schon bei der Betrachtung der früheren
Arminius-Stücke von Scudéry, La Calprenède und Campistron gesehen, wie sehr die Verherrlichung
der alten heroischen Adelstugenden mit einer auf die aktuelle politische Situation zielenden Despotis-
muskritik verbunden war – in einer historischen Situation, in der sich das absolute Königtum an-
schickte, den Adel zu entmachten. Auch bei Montesquieu geht es um die Stärkung des Adels gegenüber
dem absoluten Königtum – wie letztlich auch bei Bauvin, der die Freiheitsthematik in seinen Chérusques
in den Vordergrund stellt. Die Themen Varusschlacht und germanischer Freiheitskampf bildeten bis
zur Französischen Revolution die historisch weit entfernte (und damit eine politisch ungef ährlichere)
Hintergrundfolie, über die man sich politisch äußern konnte, ohne direkt die Monarchie anzugreifen.
Und dass Montesquieus Werk in Europa kursierte und zahlreiche Anhänger fand, beförderte die ger-
manische Libertät auf eine internationale Rezeptionsebene.

Jean Jacques Rousseau und der Naturzustand des Menschen

1750 beantwortete Jean Jacques Rousseau (1712–1778) die Preisfrage der Akademie von Dijon „Ob der
Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe“ mit seinem be-
rühmt gewordenen ‚Nein‘. Entgegen allen Erwartungen eines fortschrittsoptimistischen Jahrhunderts
kommt er zu dem Schluss, dass die Wissenschaften und Künste viel mehr Schaden als Nutzen gehabt
hätten.110 Rousseau schildert den Verfall der antiken Reiche bis nach China, um dann den Naturzustand
der einfachen Völker zu preisen: „Vergleichen wir nun mit diesen Bildern das Bild, das die Sitten der
wenigen Völker bieten, die von dieser Ansteckung mit eitlen Kenntnissen verschont geblieben, durch
ihre Tugend ihr Glück gegründet haben und für die anderen Völker ein Vorbild waren. So waren die frü-
hen Perser … So waren die Skythen … So waren die Germanen, deren Einfachheit, Unschuld und Tu-
gend zu schildern einem Schriftsteller wohltat, der es leid war, die Verbrechen und Gemeinheiten eines
gebildeten, reichen und genussfreudigen Volkes aufzuzeichnen. So war selbst Rom in den Zeiten sei-
ner Armut und Unwissenheit.“111
Diese Schilderung der germanischen Völker bezieht sich auf Tacitus und beschreibt den Zustand
der Menschen in einer Art vormodernen Gesellschaftsordnung, in welcher der autarke Naturmensch
schon aus seiner Isolation herausgetreten ist und Gemeinschaften zur besseren Bewältigung der Le-
bensaufgaben gebildet hat, nach Rousseau das Zeitalter der Hirtenvölker.
Wir wollen es bei diesem idyllischen Bild der alten Germanen und anderen alten Völker belassen
und auf die Wirkung eingehen, die Rousseau mit diesem Vergleich erzielte. Das ganze 18. Jahrhundert
hatte die edlen Wilden in zahlreichen Werken gerühmt.112 Rousseau hatte den Naturmenschen zwar

110 Jean Jacques Rousseau, Du Contrat Social et autres œuv- 112 Z.B. Nicolas Gueudeville, Dialogues et Entretiens entre
res politiques, hg. v. Jean Erhard, Paris 1975, 11. un Sauvage et le Baron de La Houtan (1704), Delisle de la
111 Rousseau, Contrat Social, 8. Drevetière, L’Arlequin Sauvage (1721). Hierzu zählen
auch die Reiseberichte von Louis Antoine de Bougain-
ville in der Südsee von 1771 und andere.

246 KLAUS KÖSTERS


Abb. 14 | Titelblatt der Erstausgabe
von Justus Mösers Arminius, 1749.

nicht idealisiert, dazu war seine Argumentation zu differenziert, aber rehabilitiert und aller Primitivität
entkleidet. Dieser gedankliche Ansatz wurde von anderen allzu gern aufgegriffen und entsprach einer
allgemeinen Stimmung, die Deslisle de la Drevetière (1682–1756) in seinem Arlequin Sauvage auf den
Punkt brachte, als er schrieb: „Tausendfach glücklich die Wilden! die einfach den Gesetzen der Natur
folgen … Möge es dem Himmel gefallen, dass ich unter ihnen geboren wäre, [dann] wäre ich nicht all
den Übeln ausgesetzt, die mich verfolgen.“113

Justus Möser und die Ehrenrettung der Germanen

Aber trotz Rousseaus ‚edlen Wilden‘, die Geringschätzung der Deutschen und besonders der deutschen
Kultur hatte in Frankreich eine lange Tradition. Für einen Deutschen gehalten zu werden war für einen
Franzosen eine schwer zu überbietende Beleidigung.114 Und zahlreiche Schriftsteller hatten sich ab-

113 Delisle, L’Arlequin Sauvage, III, 2, zitiert nach: Gruse- 114 Leiner (1989) 45.
mann (1939) 17.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 247


schätzig über die Deutschen und den deutschen Nationalcharakter ausgelassen und damit in der deut-
schen literarischen Intelligenz einen traumatischen Minderwertigkeitskomplex ausgelöst.115 Die deut-
schen Intellektuellen bemühten sich unermüdlich, die den Germanen seit Tacitus attestierte
Kulturlosigkeit zu überwinden – durch ein Übermaß an Patriotismus. Denn was die deutschen Patrio-
ten besonders schmerzlich vermissten, war ein früheres goldenes Zeitalter deutscher Kultur, wie es die
Griechen und Römer aufzuweisen hatten, eine Hochkultur, die zum Ausgangspunkt der nationalen
Identität werden konnte.
Voltaire (1694–1778) hatte den Finger in die nationale Wunde gelegt, als er den Barbarenvorwurf
des Tacitus aufgriff und geschickt mit seiner persönlichen Geringschätzung in Verbindung brachte: Die
Deutschen und besonders die Westfalen sind eben seit alters her Barbaren geblieben. In seinem be-
rühmten Roman Candide ist dann dieses ironische Westfalen-Deutschland-Bild Weltliteratur geworden.
In seinem Essay über die allgemeine Geschichte und die Sitten und den Geist der Nationen von 1754/56
schreibt er: „Die Familien aller dieser Barbaren hatten in Germanien als einzigen Schlupfwinkel Hüt-
ten, wo auf der einen Seite der Vater, die Mutter, die Schwestern, die Brüder und die Kinder nackt auf
Stroh schliefen, und auf der anderen Seite befanden sich die Haustiere … Tacitus gesteht selbst, inmit-
ten seiner Lobpreisungen, dass jeder wusste, dass die Germanen lieber vom Raub lebten als den Erd-
boden zu bestellen; und nachdem sie ihre Nachbarn ausgeraubt hatten, kehrten sie heim, um zu essen
und zu schlafen.“116
Der Osnabrücker Jurist und Schriftsteller Justus Möser (1720–1794) hatte sich gegen Voltaire ge-
wandt und 1749 ein Arminius-Drama geschrieben, in dem er das negative Germanenbild des Tacitus re-
vidieren wollte, um die deutschen Vorfahren vom Vorwurf der Barbarei zu entlasten. In der Vorrede
zum Arminius-Drama schreibt er: „Eine gegründete Vermuthung hat mir auch ferner erlaubet, die Rau-
higkeit und Einfalt, welche Tacitus, wenn er die Deutschen den Römern entgegen stellet, ihnen beyge-
leget hat, nicht überall anzunehmen. Ich habe vielmehr Gelegenheit genommen, mich davon in Dar-
stellung ihrer Gesinnungen, so viel als möglich zu entfernen, indem ich nicht der Meinung bin, daß
unsere Vorfahren solche Klötze gewesen, als man sich gemeiniglich, bey dem ersten Anblick des Taci-
tus einzubilden pfleget.“117
Das Bild eines von der Kultur unberührten Naturvolkes hielt er für eine Legende. In Wirklichkeit,
so Möser, besaßen die Germanen alle Vorteile einer entwickelten Lebenskultur, ohne dass dies ihrer na-
türlichen Sittlichkeit Abbruch getan hätte. Und ein Germanien, das schon damals kultiviert war, musste
auch die deutsche Kultur des 18. Jahrhunderts in einem ganz anderen Lichte erscheinen lassen.
Für sein Arminius-Stück wählte er nicht die Schlacht, sondern den Tod Hermanns. Dadurch gerät
die auf dem Schlachtfeld gesicherte Freiheit von fremder Unterdrückung in den Hintergrund, und ein
anderer, hochaktueller Konflikt tut sich auf: Es geht um das Problem der inneren Regierungsform der
germanischen Stämme, um ihre eigene politische Verfassung, die wiederum die politische Konstitu-
tion des Reiches zwischen kaiserlich-zentralen und fürstlich-partikularen Interessen widerspiegelt.
Zwei Parteien stehen sich in der Tragödie gegenüber: Die Verfechter der vererbten germanischen Frei-
heit (Sigest und Sigismund), die sich der Einführung eines aufgeklärten Königtums widersetzen, und
Hermanns Bemühen, die Einheit der deutschen Stämme herbeizuführen. Sigest handelt im Namen
der von den Vätern ererbten Freiheit:

115 Stauf (1991) 41. 117 (Justus Möser), Arminius. Ein Trauerspiel von J[ustus] Mö-
116 (Voltaire), Essai sur l’Histoire générale et sur les mœurs et ser, Hannover u. Göttingen 1749, „Vorrede“, S. 5.
l’esprit des nations depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII.
Par Voltaire, Tome Second, Paris 1804, „Préface“, o. S.

248 KLAUS KÖSTERS


„Die angestorbne Pflicht, das Vaterland zu schützen,
Der Freyheit Gott zu seyn;
Der Unschuld Recht zu stützen,
Ist der geheiligte, mit Blut gelegte Grund,
Worauf das Wohl des Staates und unsrer Väter stund.“118

Alleinherrschaft mündet in die Tyrannis – so könnte man auf eine Kurzformel den Vorwurf der Fürsten
gegen Arminius bringen. Mit dem Mord an Arminius siegt in Mösers Augen das alte Prinzip der teut-
schen Libertät, also der eingeschränkten Reichsgewalt, über einen modernen Reichseinheitsgedanken.
Möser sympathisiert mit Arminius, doch auch seine Gegner kommen mit starken Argumenten zu
Wort. Mit dem Scheitern des Arminius hat sich der deutsche Partikularismus als die stärkere Kraft
erwiesen – so wie es die kaiserliche Zentralgewalt nicht vermochte, sich gegen die partikularistischen
Interessen souveräner Einzelstaaten durchzusetzen. Mösers späteres Eintreten für die kleinstaatliche
Lösung deutet sich hier schon in der Person von Sigismund an.119
Mösers Theaterstück entfernt sich von dem traditionellen Barock-Helden. Ihm geht es um die
deutsche Verfassungsproblematik. Darin folgt er Montesquieu und seiner Feststellung, dass jede Na-
tion auf die Verfassung Anspruch hat, die ihrer geographischen, historischen, ethischen Eigenart ent-
spricht. So sind seine Protagonisten kühle, mit Verfassungsfragen befasste politische Strategen.120 Ihm
geht es auch um die jüngste Vergangenheit, als die Schlesischen Erbfolgekriege – Bürgerkriege für die
Anhänger einer einheitlichen deutschen Nation – die unvereinbaren Interessen der deutschen Einzel-
staaten wieder vor Augen führten.
Die Überwindung des Barbarenvorwurfs war Mösers Ausgangspunkt. In seinen historischen
Schriften verfolgte er diese kulturelle Aufwertung der alten Germanen-Deutschen weiter, umso mehr,
als sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die öffentliche Meinung der gebildeten Kreise immer
mehr der Griechenbegeisterung zuwandte. Die Hochkultur des klassischen Griechenlands war über je-
den Zweifel erhaben. Die Germanen mussten erst noch kulturell emanzipiert werden. So konnte Möser
nur hoffen, dass der deutsche Zuschauer seinem Arminius „vor einem Griechen oder Römer gewogen
sein werde“, wie er in seiner Vorrede zum Stück schrieb.121

Klopstocks ‚Hermann‘ und die neue Germanenbegeisterung

Für die weitere Arminius-Rezeption wurde der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) wich-
tig, da er zwischen 1769 und 1787 drei Dichtungen über Arminius schrieb, die er in Anlehnung an die
Gesänge der keltisch-germanischen Barden ‚Bardieten‘ nannte.122
In der Hermanns Schlacht ist der Schauplatz ein Felsen hoch über dem Kampfgeschehen im Tal, auf
dem sich vor einem Altar Wodans Druiden und Barden versammelt haben und den Schlachtverlauf mit
ihren Gesängen lenken. Zu ihnen gelangen im Verlauf des Stückes verschiedene Personen, welche die
Handlung weiterführen. Die Gesänge der Barden schallen zu den Kämpfenden im Tal herunter und feu-
ern ihren Kampfgeist an. Sie sind wesentlicher Teil der Kriegführung und maßgeblich am Sieg beteiligt:

118 Möser, Arminius, IV,6 (59). bearb. v. Paul Göttsching, Flensburg, Oldenburg u.
119 Ebenso in seiner „Vorrede“ zur Osnabrückischen Ge- Hamburg 1964, 34).
schichte, in der er die Territorialhoheit kleinerer Staaten 120 Stauf (1991) 67f. und (2003) 313.
dem Despotismus der zentralstaatlichen Lösung gegen- 121 Möser, Arminius, „Vorrede“, 3.
überstellt (in: Justus Möser, Sämtliche Werke, 3. Abt.: 122 Hermanns Schlacht (1769); Hermann und die Fürsten
Osnabrückische Geschichte und historische Einzelschriften, (1784); Hermanns Tod (1787).

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 249


Abb. 15 | Titelgraphik von Julius Schnoor von Carolsfeld
(1794–1872) zur Ausgabe der Hermanns Schlacht Klopstocks
von 1829.

„Wodan! unbeleidigt von uns,


Fielen sie bei deinen Altären uns an!
Wodan! unbeleidigt von uns,
Erhoben sie ihr Beil gegen dein freies Volk!“123

Die Germanen der Hermanns Schlacht, so heißt es zwischen den Zeilen, kämpfen einen gerechten
Krieg, der nach der antiken bellum iustum-Theorie zur Abwehr von Aggression und Rache für erlittenes
Unrecht gerechtfertigt und erlaubt war.124 Die Götter sind auf Seiten der Germanen, auf Seiten des ge-
rechten Krieges. Segests Plädoyer für einen Frieden mit den römischen Eroberern weist der Druide
Brenno scharf zurück:

„Die Götter sind mit uns. Die Römer arbeiten vergebens, vorzudringen …
Dein ganzes Volk will Freyheit! und du willst Sclaverey!“125

Erst am Ende des Stückes, in der elften Szene, tritt Hermann auf. Thusnelda empf ängt ihn als Sieger,
der ihnen die Freiheit bewahrte. Großmütig verhindert Hermann den Tod aller gefangenen Römer und
erweist sich als ‚gerechter Krieger‘ – Klopstock geht hier sehr frei mit den antiken Berichten um, nach
denen die Gefangenen geopfert wurden, aber so trifft Hermann wenigstens kein Makel.

123 Friedrich Gottlieb Klopstock, Hermanns Schlacht, ein men (von Essen [1998] 102ff.). Klopstock selbst charak-
Bardiet für die Schaubühne, Hamburg u. Bremen 1769, terisierte den römischen Angriff auf Germanien als
Szene 2 (S. 20). „Krieg der Herrschsucht und nicht der Gerechtigkeit“
124 Zu dem Thema des gerechten Krieges in der Hermanns (Hermanns Schlacht, 1 [10]).
Schlacht hat G. von Essen ausführlich Stellung genom- 125 Klopstock, Hermanns Schlacht, 4 (46).

250 KLAUS KÖSTERS


Klopstock zeigt den Befreiungskampf der Germanen als Kampf gegen eine eroberungssüchtige,
rücksichtslose Weltmacht. Zwei Wertsysteme prallen hier unversöhnlich aufeinander: hier die naturver-
bundene, einfache, moralische und solidarische Stammesgesellschaft der Germanen, die schon Rous-
seau gepriesen hatte – dort die ehr- und herrschsüchtigen, menschenverachtenden und tyrannischen
Römer. In den feudalen Staaten Deutschlands mit ihrer höfischen, auf den absoluten Souverän hin ori-
entierten Kultur konnte ein solch altgermanischer Freiheitskampf kaum anders als politisch, als antiab-
solutistisch und antihöfisch gedeutet werden.
Klopstocks Germanen sind das unschuldige Jäger- und Hirtenvolk, das seit Tacitus immer wieder
beschworen wurde und in den ‚edlen Wilden‘ der neu entdeckten Welt ein zeitgenössisches Pendant
fand. Die alten und neuen Naturvölker hielten im 18. Jahrhundert Einzug in die Literatur126 und warfen
ein zivilisationskritisches Spiegelbild auf die überfeinerte, amoralische höfische Gesellschaft. Klop-
stocks naturverbundene Germanen gehören in diese Traditionslinie und knüpfen an die bekannten ger-
manisch-deutschen Klischees an. Als Leitbilder bei der deutsch-bürgerlichen Identitätssuche in (leiser)
Opposition zu den absolutistischen Herrschaften waren sie, weil historisch weit entfernt, gut zu gebrau-
chen.
Klopstocks Betonung der altgermanischen Freiheit entsprach einem Geschichtsbild, das die spä-
tere Entwicklung als Weg zu Unfreiheit und Tyrannei deutete, ähnlich wie dies auch in den aufkläreri-
schen Schriften von Rousseau und den Enzyklopädisten gesehen wurde. Ausgangspunkt war im Sinne
der Naturrechtslehre der frei geborene Mensch, in dessen Namen gesellschaftliche Veränderungen ge-
fordert wurden. So war es nur folgerichtig, dass 1789, als die Französische Revolution die europäische
Staatenwelt erschütterte, Klopstock mitgerissen wurde: „Hätt ich hundert Stimmen; ich feyerte Galliens
Freyheit“.127 Der Dichter hatte hohe Erwartungen an die Revolution und feierte sie als eine des Geistes,
die einen neuen Menschen, einen neuen Zeitgeist schafft, der von Frieden und Freiheit geprägt ist.
Als aber der Verteidigungskrieg der Revolutionstruppen sich in einen Angriffskrieg wandelte, änderte
Klopstock seine Meinung und ging auf Distanz.

Kulturnation und patriotische Mythen

Es ist schon erstaunlich, welch große Resonanz Klopstocks Dichtungen in diesem Deutschland der
Spätaufklärung fanden. Die deutsche Kulturnation – die noch lange nicht zu einer politischen Einheit
gefunden hatte – definierte sich über eine gemeinsame Sprache und Kultur. Um sich als eine – wenn
auch nur gedachte oder erwünschte – Einheit zu konstituieren, bedurfte es der patriotischen Mythen,
um sich die eigene Nationalität auch im Licht der Geschichte bewusst zu machen. Klopstock hatte dies
richtig erkannt, und sein Versuch, die nordische Geschichte und Mythologie dem deutschen Publikum
nahezubringen, wandte sich gegen den kulturellen mainstream, also der von Johann Joachim Winckel-
mann (1717–1768) initiierten Begeisterung für die klassische Antike, besonders Griechenlands.
Johann Gottfried Herder (1744–1803) hatte sich ebenfalls der nordischen Geschichte zugewandt.
Der germanische Abwehrkampf gegen Rom war für ihn gleichbedeutend mit einer Verteidigung der
‚germanischen Freiheit‘, wodurch die Eigenart der Nationen erhalten werden konnte. Die Anlehnung
an Montesquieu ist unübersehbar, und auch für Herder liefert die Geschichte den Schlüssel zum Ver-

126 U. a.: Bougainville, Voyage autour du monde (1771); Mon- 127 Friedrich Gottlieb Klopstock, „Ode: Sie und nicht wir.
tesquieu, Lettres Persanes (1721), Voltaire, L’Ingénu (1767) An la Rochefoucauld“ (1790), in: Klopstocks Werke. Erster
etc. und Zweyter Band: Oden, Leipzig 1798, Bd. 2, 142.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 251


ständnis der Gegenwart. Das alte Reich der Deutschen ist für ihn von einem „wilden Freiheitsgeist und
dienendem Heldenmuth“, von einem „Geist der Treue und Enthaltsamkeit“ geprägt, womit er wie-
derum auf den schon bekannten Tugendkatalog des Tacitus zurückgriff.128 Gegen den Despotismus der
absoluten Fürsten, gegen die papierne Gelehrsamkeit seiner Zeit fordert er eine Erneuerung von Kunst
und Wissenschaft im Geist der nationalen Frühgeschichte, da die Tugenden der alten Germanen „die
Grundvesten der Cultur, Freiheit und Sicherheit Europas“ sind.129 Volksdichtung ist hier das Stichwort,
welche das geschichtliche Erbe der altgermanischen Kultur antreten soll, aber diese Dichtung soll nicht
kopieren, sondern auf dem Boden ihrer eigenen gesellschaftlichen Realität stehen: „Eben der Barde, der
seine Welt so groß und eigen besang, sollte uns lehren, die unsrige ebenso gern und wahr zu besingen –
nicht zu rauben! nicht einem fremden Jahrhundert zu fröhnen.“130
Herder hatte mit seiner Forderung nach Wertschätzung und Erneuerung der deutschen Volksdich-
tung den Nerv der Zeit getroffen, so wie dies Klopstock mit seinen Bardengesängen ebenfalls tat. Aber
die Anhänger der nordischen Dichtung, Geschichte und Mythologie waren eine kulturelle Minderheit.
Arminius hatte einen schweren Stand gegen die Vielzahl der klassisch-griechischen und römischen
Heroen, welche Literatur, Theater, Oper und Kunst fest im Griff hielten.

Hermann als Held der Französischen Revolution

Die Wertschätzung der germanischen Freiheit und ihres Freiheitskampfes inspirierte auch die Anhän-
ger der Französischen Revolution. Der dänische Dichter Jens Baggesen (1764–1826) deutete 1801 den
Hermannmythos sogar kosmopolitisch als Ursprung einer übernationalen Menschheitsversöhnung,
von der die Freiheit Europas ihren Ausgang nahm und sich nach 1789 fortsetzte: „Ich sah in Hermanns
Andenken die Geburt der Freyheit Europa’s … Jetzt brach sie mit doppeltem Glanze aus Frankreichs
Europa in Bestürzung setzenden Reichstage hervor. / Ich war nun nicht länger Nationalsclav – Ich war
Deutscher, ich war Franke, ich war Britte, ich war Belgier, ich war Schweizer, ich war Skandinavier!
Mein Herz schlug gleich laut für den Bruder hier, und für den Bruder dort.“131
Und der Universitätsprofessor Carl Friedrich Cramer (1752–1807), der als deutscher Jakobiner flie-
hen musste, hatte sich in Paris als Verleger niedergelassen und wollte die Klopstockschen Hermann-
Bardieten ins Französische übersetzen, um sie dem Pariser Publikum nahe zu bringen.
1800 erschien die französische Hermanns Schlacht im Druck, der Cramer ein umfangreiches Vor-
wort beigegeben hatte, um in das Werk einzuführen. In seinem Vorwort zieht Cramer eine bemerkens-
werte Parallele zwischen Arminius und Napoleon, indem er Hermann als „Bonaparte Germaniens“
bezeichnet: „Dieses Werk, welches übrigens schon aufgrund seines Themas würdig erscheint, die Auf-
merksamkeit der kriegerischen Söhne der Gallier und Franken zu erringen, denn es feiert einen frühe-
ren Buonaparte Germaniens, behandelt die Schlacht des Arminius oder Hermann, ein Drama des vor-
nehmsten epischen Poeten Deutschlands, von Klopstock.“132

128 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Ge- 131 Jens Baggesen, Humoristische Reisen durch Dänemark,
schichte der Menschheit, 4. Theil (1785), in: Herders sämmt- Deutschland und die Schweiz, Band 4, Mainz u. Hamburg
liche Werke, 33 Bde., hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1801, S. 191f. (zitiert nach von Essen [1998] 15).
1877–1913, Bd. 14, 270f. S. auch Zimmermann (1987) 132 (Friedrich Gottlieb Klopstock u. Carl Friedrich Cramer),
138–148; Niedermeier (2002) 29f. La Bataille d’Hermann. Bardit de Klopstock, Éditeur
129 Herder, Ideen, 277. Charles Frédéric Cramer, Paris 1800, „Discours Prélimi-
130 Zitat in: Herders sämmtliche Werke V, 333. naire“, XII.

252 KLAUS KÖSTERS


Abb. 16 | Titelblatt von Cramers französischer
Klopstockübersetzung von 1801.

Und dann folgt eine an die antiken Schriftsteller angelehnte Geschichte der Varusschlacht, in der Ar-
minius als strahlender junger Held vorgestellt wird.133 Bemerkenswert ist Cramers Versuch, die Barden-
gesänge in Klopstocks Hermanns Schlacht den Kriegsliedern der französischen Revolutionstruppen an-
zunähern.134 Sein Vorwort gipfelt in dem Aufruf an die deutschen Revolutionäre, ihren Landsleuten den
Weg zu weisen, um nach dem Vorbild der Franzosen den Despotismus zu überwinden und sich so ihrer
Abstammung von Luther und Arminius würdig zu erweisen.135
Die Cramersche Übersetzung, die in enger Abstimmung und Mitwirkung Klopstocks geschah,
sollte einschließlich Vorwort und Anmerkungen in drei Bänden erscheinen. Der schlechte Absatz
der ersten Ausgabe brachte das ganze Unternehmen ins Stocken. So gab Cramer die nicht verkauften
Exemplare, mit einem neuen Titelblatt versehen, 1801 erneut heraus. Jetzt wird die Gleichsetzung Ar-
minius-Napoleon auch an prominenter Stelle im Titel vermerkt: Das Bild eines Helden oder das als Drama
erzählte Leben des Bonaparte der Germanen. Cramer begründet diesen neuen Titel: „Ich habe es gewagt,

133 Klopstock u. Cramer, Bataille, LIV. 134 Klopstock u. Cramer, Bataille, CLI–CLII.
135 Klopstock u. Cramer, Bataille, CLII.

ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 253


ein ideales poetisches Porträt auf den lebenden Arminius des 19. Jahrhunderts zu beziehen.“136 Klop-
stock habe, so Cramer, die Taten des neuen Arminius mit seinen Bardieten vorgezeichnet. Und
dann folgt eine Lobeshymne auf Napoleon, dessen revolutionäre Tugenden Cramer nicht müde wird zu
preisen.
Cramers Gleichsetzung des Arminius mit Napoleon fand kaum den Beifall Klopstocks, der sich
schon in seiner Ode An die rheinischen Republikaner kritisch mit dem Korsen auseinandersetzte und
ihm vorwarf, die Freiheit der Völker in den Staub zu treten.137 Jedenfalls brachte Cramer eine dritte Aus-
gabe heraus, in der er die Anspielung auf Napoleon im Titel wieder zurücknehmen musste.138 Cramers
verlegerisches Bemühen blieb dennoch erfolglos: Hermann und die Fürsten konnte er gerade noch über-
setzen, aber an eine Herausgabe des ganzen Werkes oder sogar an eine Aufführung auf einer Pariser
Opernbühne war mangels Geldes nicht mehr zu denken. So bleibt nur der einzigartige Versuch Cra-
mers, Hermann als Vorgänger Napoleons in die französische Revolutionsrhetorik einzuführen.
Cramers Übersetzung war vielleicht der letzte Versuch, den germanischen Befreiungskampf unter
Arminius in die allgemeine europäische Diskussion um die Menschenrechte und die Freiheit der Völ-
ker einzubringen.139 Aber nach der Niederlage Österreichs und dem Zusammenbruch Preußens än-
derte sich das politische Klima. Napoleon herrschte in großen Teilen Deutschlands, und der Wunsch
der deutschen Patrioten nach Wiederherstellung der politischen Selbständigkeit wuchs, jetzt aber ver-
bunden mit Vorstellungen von nationaler Einheit in einem auch politisch geeinten Vaterland. Hermann
der Cherusker und der Befreiungskampf der Germanen wurden vom aufsteigenden deutschen Natio-
nalismus okkupiert und die Hermannsschlacht von Heinrich von Kleist (1777–1811), Ernst Moritz Arndt
(1769–1860) und anderen als leuchtendes Vorbild für die geplante Volkserhebung gegen die napoleo-
nische Unterdrückung gepriesen. Hermann und die viel beschworene Freiheit der Germanen – sie wer-
den mit dem Aufkommen des Nationalismus zu einer nur noch deutschen Angelegenheit:

„‚Hermann! Freyheit!‘ schallt es laut,


‚Vom fremden Joche Freyheit, deutsches Recht!‘“140

136 (Friedrich Gottlieb Klopstock u. Carl Friedrich Cramer), Paris 1803; Dank an Mark Emmanuel Amtstätter, Ham-
Le Tableau d’un Héros ou Vie Dramatisée du Bonaparte burg, für Hintergrundinformationen zu den Cramer-
des Germains, traduit de l’Allemand de Fréderic-Théophile schen Klopstockausgaben.
Klopstock, Citoyen Français, 2. Aufl., Paris 1801, „Préface 139 Das 1804 erschienene Drama Arminio von Ippolito Pin-
de la seconde édition“, III. demonte (1753–1828) wird hier nur am Rande erwähnt,
137 „Wie schwach sind eines Kriegers Bewunderer, / Der sie, weil es in zeitlichem Abstand eine Problematik auf-
die schönste Schöpfung der späten Welt, / Die Freiheit in greift, die in der älteren französischen und deutschen
den Staub tritt, andre / Bildung des Staates, als ihr wählt, Literatur schon ausgiebig behandelt wurde: den Konflikt
gebietend!“ (Ode „An die rheinischen Republikaner“, zwischen der Freiheit der Germanen und dem nach der
Ausschnitt, in: Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte absoluten Macht strebenden Arminio. Der dramatische
Werke, hg. v. Karl August Schleiden, München 1962, 165). Konflikt wird hier allerdings weniger politisch als auf
138 (Friedrich Gottlieb Klopstock u. Carl Friedrich Cramer), einer menschlichen Ebene ausgetragen (Balduino [1990]
Le Tableau d’un Héros ou Vie Dramatisée d’Herman, tra- 1245f.).
duit de l’Allemand de Frédéric-Théophile Klopstock, Citoyen 140 (Friedrich Rambach), Hermann von F. E. R., Erster Theil:
Français, et Associé étranger de l’Institut National, 3. Aufl., Die Teutoburger Schlacht, Riga 1813, S. 24.

254 KLAUS KÖSTERS


Literatur

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ENDLOSE HERMANNSSCHLACHTEN … 255


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Hans-Gert Roloff, „Der Arminius des Ulrich von Hut- Geschichte – Mythos – Literatur, 3. Aufl., Paderborn,
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Arminius und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos –
Literatur, 3. Aufl., Paderborn, München, Wien u. Wucherpfennig (1973)
Zürich, 211–238. Wolf Wucherpfennig, Klugheit und Weltordnung. Das
Problem politischen Handelns in Lohensteins „Arminius“,
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Albert Soboul, Histoire de la Révolution française, Bd. 1:
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Stauf (1991) stock als historischer Dichter und Denker, Heidelberg.
Renate Stauf, Justus Mösers Konzept einer deutschen Na-
tionalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe, Tübingen.

256 KLAUS KÖSTERS


Uwe Puschner

„Hermann, der erste Deutsche“ oder: Germanenfürst mit politischem Auftrag


Der Arminius-Mythos im 19. und 20. Jahrhundert

Seit zweihundert Jahren läßt Arminius die Deutschen nicht los. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
behauptet er seinen Platz im historischen Gedächtnis der Deutschen. In der deutschsprachigen Abtei-
lung des internationalen Famous People Index finden wir ihn aktuell unter seinem volkstümlichen Na-
men ‚Hermann der Cherusker‘ – mit Kurzbiographie und sachlicher Würdigung –, alphabetisch einge-
ordnet zwischen Werner Heisenberg und Alfred Herrhausen.1
Die Beschäftigung mit dem römisch sozialisierten Cheruskerfürsten und die Ursprünge seiner
Mythisierung reichen über das 19. Jahrhundert bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts zurück. Zu seiner
folgenreichen politischen Entfaltung gelangte der variantenreiche und damit unterschiedlichen zeit-
genössischen Anforderungen sich anverwandelnde Arminius-Mythos jedoch erst drei Jahrhunderte
später, und zwar in der napoleonischen Ära zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Jetzt stieg Arminius zum
Nationalheros empor. Als „Römerbesieger“ und „erste[r] bekannte[r] große[r] Teutsche[r]“ erhielt er
1842 einen zweifachen Ehrenplatz in der Walhalla: Mit diesem Parthenon auf dem Hochufer der Donau
unweit Regensburgs wollte der bayerische König Ludwig I. „rühmlich ausgezeichneten Teutschen“
ein Denkmal errichten, aus dem – so sein Wunsch – „teutscher der Teutsche … trete, besser, als er ge-
kommen“.2
Im Innern des Ruhmestempels führt Arminius die Phalanx von Walhalla’s Genossen an.3 Zusätzlich
wurde im nördlichen Giebelfeld der kampfbereite Arminius im Zentrum der Varusschlacht dargestellt,
die mit einer allegorischen Darstellung auf Deutschlands Befreiung im Jahr 1814 und den ersten alliierten
Sieg über das napoleonische Frankreich im Südgiebel korrespondiert.4
Die Indienstnahme von Arminius und der Varusschlacht als Chiffren für den bedingungslosen
Freiheitskampf gegen feindliche Invasoren und gegen Fremdherrschaft entsprang – wie Ludwigs I.
Walhalla-Idee – dem unmittelbaren Eindruck der politischen Umbrüche und der folgenreichen Nieder-
lage Preußens in der Schlacht von Jena und Auerstedt in den Jahren 1806/07. Wenige Wochen nach der
vernichtenden Schlacht schrieb Heinrich von Kleist, von den Ereignissen seelisch und körperlich ge-
schwächt, Ende Oktober 1806 in einem Brief an seine Schwester: „Wir [Deutsche] sind die unterjochten
Völker der Römer.“5 Zwei Jahre später schuf er mit dem Drama Die Hermannsschlacht ein literarisches
Manifest, das diesem Selbstverständnis verpflichtet war; es wurde allerdings erst posthum 1821 veröf-
fentlicht und erst weitere vierzig Jahre später, bezeichnenderweise am Jahrestag der Leipziger Völker-
schlacht am 18. Oktober 1860 – im Breslauer Stadttheater – uraufgeführt.
Wenn der Text von Kleists Hermannsschlacht auch unverändert blieb, die Inszenierungen waren es
nicht: In der von zunehmendem Nationalismus geprägten Stimmung von der zweiten Jahrhunderthälfte

1 www.german-way.com/famindex.html (letzter Zugriff: 4 Traeger (1987) 84f.


22. 2. 2011). 5 Kleist an Ulrike von Kleist, 24. 10. 1806, in: Heinrich von
2 Walhalla’s Genossen, geschildert durch Ludwig den Ersten von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, Bd. 4:
Bayern, den Gründer Walhalla’s, München, 2. Aufl. 1847, Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811, hg. v.
Zit. VII. Klaus Müller-Salget u. Stefan Ormanns, München 1997,
3 Walhalla’s Genossen, 1f. 363f., Zit. 364.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 257
Abb. 1 | Die ,Hermannsschlacht‘ von Ludwig Schwanthaler im nördlichen Giebelfeld der Walhalla; die Marmorausführung entstand
zwischen 1837 und 1841.

Abb. 2 | Arminius-Figur aus Schwanthalers


Hermannsschlacht-Gruppe.

258 UWE PUSCHNER


Abb. 3 | Die Photographie zeigt Hermann mit den Fürsten in einer Szene aus der Inszenierung von Kleists Hermannsschlacht auf
dem Harzer Bergtheater im Jahr 1909.

an bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde Die Hermannsschlacht als antifranzösisches Propagandaspekta-
kel und nationales, die Opferbereitschaft beschwörendes Weihestück inszeniert – 1863 in Leipzig anläß-
lich des 50. Jahrestages der Völkerschlacht, 1880 in Königsberg zum zehnten Jahrestag der Schlacht von
Sedan, 1913 in Leipzig zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals oder im Herbst 1914 im Berliner
Schiller-Theater, wo, wie der damalige Hermann-Darsteller erinnert, „die Wogen der Begeisterung
hoch[gingen]. Wie oft wurde damals nach der Vorstellung von der Bühne herab irgendein großer Waf-
fengang verkündet! Dann kam es wohl vor, daß alle im Theater stehend das Deutschlandlied sangen.“6
Kleist hatte Die Hermannsschlacht, wie er einem Freund gegenüber 1809 bekannte, „einzig und
allein auf diesen Augenblick berechnet“:7 Sie sollte ein an die politischen, militärischen und gesell-
schaftlichen Eliten adressierter Appell sein, den Volkskrieg auszurufen und gegen die Fremdherrschaft
zu mobilisieren, wie es in Spanien bereits seit 1808 der Fall war.8 Der aktuellen politischen und militä-
rischen Kräfteverteilung entsprechend setzte Kleist seine Hoffnungen im bevorstehenden Kampf ge-
gen die französische Vorherrschaft nicht auf den ‚Preußen‘ Hermann, sondern auf das von dem Sue-
benfürsten Maroboduus personifizierte Österreich, wobei der historische Suebenfürst im Jahr 9 n. Chr.
gerade nicht auf der Seite von Arminius stand.

6 Zit. n. Bendikowski (2008) 186; Hinweise auf die Auf- 7 Kleist an Heinrich Joseph von Collin, 20. u. 23. 4. 1809,
führungen bei von See (2003) 75. in: Briefe IV, 431f., Zit. 432.
8 Dörner (1996) 103f.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 259
Abb. 4 | Karl Russ, Hermann zersprengt die Ketten von Germania, Leipzig 1813. Die Darstellung ist eine unmittelbare Reaktion auf die
Leipziger Völkerschlacht vom Oktober 1813 und die Niederlage der napoleonischen Armee.

In und mit den Freiheitskriegen 1813/14 avancierte Arminius endgültig zur nationalen Identifikations-
figur für den bevorstehenden Befreiungskampf. In einem Aufruf an die Deutschen hieß es 1813: „Europa
ruft in diesem Augenblick: Ist kein Hermann da? – kein neuer Hermann, der die neuen Adler vor sich
in die Flucht jagt? Auf, Deutsche! Euer Hermann muß sich finden.“9 Und Ernst Moritz Arndt, gemein-
sam mit dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte und dem ‚Turnvater‘ Friedrich Ludwig Jahn Wortfüh-
rer des zeitgenössischen deutschen Nationalismus, mahnte in seiner prophetischen Friedensrede eines
Deutschen: „Deutsche, vergesset Hermann nicht; flehet die Vorsehung an um einen solchen Mann und
Befreier, weist eure Mitwelt und Nachwelt darauf hin, und er wird kommen, und ihr werdet ein Volk
sein und ein freies, starkes Volk.“10 Nicht ein Mann, auch nicht die Freiwilligen, sondern eine europäi-
sche Koalition erfocht in der Leipziger Völkerschlacht den Sieg über Frankreich. In einer plakativen Ra-

9 Zit. n. Wiegels (2008) 37. 10 Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, Teil 2, in: Arndts Werke,
Bd. 7, hg. v. August Leffson u. Wilhelm Steffens, Berlin
u.a. o.J., 94.

260 UWE PUSCHNER


dierung von 1813 wurde dennoch Hermann gezeigt, der die gefesselte und dem Himmel dankende Ger-
mania von ihren Ketten befreit und die Feldzeichen der Besiegten zertritt.11
Ganz in diesem Sinne wurde 1814 der erste Jahrestag der Schlacht von den selbsternannten ,En-
keln Hermanns‘ als nationales Fest, als ,Zweite Herrmannsschlacht‘ gefeiert.12
Unter dem Eindruck der französischen Vorherrschaft waren Arminius und die Varusschlacht ins
Zentrum der in erster Linie literarischen und besonders lyrischen politischen Propaganda und eines auf-
keimenden nationalen Selbstverständnisses gerückt. Die Schlüsselelemente des Arminius-Mythos wur-
den in diesen knapp acht Jahren zwischen den Schlachten von Jena und Auerstedt und Leipzig und Wa-
terloo formuliert: Arminius firmierte danach erstens als Symbolfigur und Vorbild für jeden Patrioten in
seiner Bereitschaft zum Kampf gegen äußere Bedrohung und Fremdherrschaft. In dieser Absicht wurde
zweitens an die Varusschlacht erinnert, die als Hermannsschlacht von den Freiheitskriegen an bis ins
20. Jahrhundert hinein zum deutschen Topos des Kampfes gegen Frankreich und gegen andere ver-
meintliche innere und äußere Feinde Deutschlands und der Deutschen begriffen wurde. Diese Deutung
der Varusschlacht verweist auf ein drittes Element: auf das in der Gleichung ‚Germanisch = Deutsch‘ ver-
dichtete Kontinuitätsparadigma, das das deutsche Geschichtsbild bis in die Gegenwart prägt. Danach gel-
ten die Germanen als die unmittelbaren Vorfahren der Deutschen der Neuzeit. Arminius wird – wie bei
Ludwig I. von Bayern bis hin zu Hjalmar (eigentl. Hermann) Kutzlebs Geschichtsroman von 1934 – zum
„ersten Deutschen“ und die Varusschlacht zum „sakralisierten Gründungsakt“ einer germanisch-deut-
schen Nation,13 deren Kennzeichen eine gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur sind und die seit
dem Übergang zum 20. Jahrhundert zusehends rassenideologisch begründet wird.
Ernst Moritz Arndt hatte dieses im 19. Jahrhundert vorherrschende Denken einer durch die Spra-
che begründeten germanisch-deutschen Kultur- und Geschichtsgemeinschaft 1813 pointiert zusam-
mengefaßt: „An der Schlacht im Teutoburger Wald hing das Schicksal der Welt, darum ist Hermann
Weltname geworden; er ist nicht bloß etwas Poetisches für uns, etwas bloß durch das graue Altertum
und den Wahn der wachsenden Zeitenlänge Geheiligtes, nein er ist etwas Ewiges und Wirkliches, weil
wir noch durch ihn sind, weil ohne ihn vielleicht seit sechzehnhundert Jahren hier kein Deutsch mehr
gesprochen sein würde.“14
Nach den Freiheitskriegen fand der Arminius-Mythos durch Gemälde, Grafiken und insbesondere
durch eine umfangreiche literarische Produktion weite Verbreitung. Am bekanntesten ist – neben
Heinrich von Kleists Drama und Heinrich Heines spöttischen Versen (Caput XI) in Deutschland. Ein
Wintermärchen (1844) – Christian Dietrich Grabbes Mitte der 1830er Jahre entstandenes, 1838 post-
hum veröffentlichtes, aber erst 1938 uraufgeführtes Drama Hermannschlacht, in dem es, was es für den
Nationalsozialismus attraktiv machte, „um das Verhältnis von Führer und Volk … als gewachsene, ver-
pflichtende Lebens- und Schicksalsgemeinschaft“ geht.15

11 S. Kösters (2009) 198. ziösen Fixierung wird einmal mehr die unreflektierte
12 Zit. n. Wolters (2008) 186f. und unhaltbare Gleichsetzung zwischen ‚germanisch‘
13 Wiegels (2008) 37; Hjalmar Kutzleb, Der erste Deutsche. und ‚deutsch‘ fortgeschrieben und damit zugleich ein
Roman Hermann des Cheruskers, Braunschweig u.a. territorial ausgerichtetes, neuzeitliches Nationaldenken
1934. S. in diesem Zusammenhang mit Bezug auf die zum Kriterium genommen. Die Abweisung dieser
Gegenwart Wiegels (2007) 15: „Die Frage nach der Va- Gleichsetzung bedeutet aber zugleich, dass die Varus-
russchlacht als Wendepunkt der Geschichte ist … aktuel- schlacht nicht nur kein ‚Urknall‘ der ‚deutschen‘ Ge-
ler denn je, seit das Deutsche Historische Museum in schichte ist, sondern auch kein Wendepunkt innerhalb
Berlin in seiner Dauerausstellung den Beginn der Deut- einer solchen sein kann.“
schen Geschichte – den ‚Urknall‘, entsprechend einer 14 Arndt, Geist der Zeit 2, 93f.
Formulierung des verantwortlichen Leiters – historisch 15 Von See (2003) 75.
in der Varusschlacht verortet. Mit dieser gleichsam offi-

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 261
Abb. 5 | Hermann-Darstellung von Katharina Sattler aus dem
dritten Band der von ihr illustrierten vier Gedichtbände Ludwigs I.
von Bayern, nach 1839.

Ein Massenpublikum erreichte der Mythos jedoch vor allem durch das Hermannsdenkmal. Mit dessen
Standort auf der bei Detmold gelegenen Grotenburg, einer, wie sich später herausstellen sollte, Ring-
wallanlage aus der Latènezeit, erhielt auch der Mythos einen festen Ort. Für seine Wahl war die expo-
nierte Lage als höchste Erhebung in der waldreichen Region um Detmold ausschlaggebend, obwohl der
Ort nicht erst seit den Funden bei Kalkriese umstritten ist.16 An annähernd 700 Orten wurde die Varus-
schlacht seit dem 19. Jahrhundert von Wissenschaftlern, lokalpatriotischen Laienforschern und völ-
kischen Ideologen lokalisiert.17 Bereits im Jahr der Grundsteinlegung des Denkmals 1838 machte sich
Karl Leberecht Immermann in seinem satirischen Zeitroman Münchhausen (erschienen 1838/39) über
die zeitgenössische Germanomanie und die Suche nach dem Schauplatz der Varusschlacht lustig: Die

16 Zu den Auseinandersetzungen um den Ort der Varus- Arminius und die Symbolik. Mit einem historischen An-
schlacht seit dem 19. Jahrhundert s. Schlüter (1995), hang über die Varusschlacht, Heidelberg 1961, bes.
Kösters (2009) 255–258, Derks (2009) bes. 53–55 sowie 122–161. Zur Verbindung von Siegfried und Arminius
Moosbauer u. Wilbers-Rost (2009). im 19. Jahrhundert u. besonders nach dem Ersten Welt-
17 Derks (2009) 54. Als Beispiel für die bis weit ins krieg s. die Hinweise bei von See (2006) bes. 122–127,
20. Jahrhundert reichende, ideologisch geleitete Bestim- Kösters (2009) 289–291 u. 293 sowie Hardt (2009) bes.
mung des Schlachtenortes s. Otto Höfler, Siegfried, 229–231.

262 UWE PUSCHNER


Abb. 6 | Entwurf für ein Hermannsdenkmal von Friedrich Karl Schinkel und Christian Rauch, 1839.

ganze Gegend sei „besetzt und verstopft gewesen von Cheruskern, Katten und Sikambrern“, läßt er
einen ‚Sammler‘ ausrufen, und ein ‚Mann vom Lande‘ habe eine Stelle auf einem Feld nahe Arnsberg
gezeigt, „wo Knochen in ungeheurer Zahl zwischen Sand und Kies aufgeschichtet seien“. Der enthu-
siastische ‚Sammler‘ wird aber bald enttäuscht, denn sein Germanen-Knochen entpuppt sich als Kuh-
Gebein, worauf ein Bauer lapidar feststellt: „Herr Schmitz, Sie sind auf einen Schindanger gestoßen
und nicht auf das Teutoburger Schlachtfeld.“18
Mehr noch als der seit nunmehr annähernd zweihundert Jahren imaginierte Ort der Varusschlacht
steht das Hermannsdenkmal, dem Thomas Nipperdey den Charakter eines nationalen Bergheiligtums
im mythisierten „Wald als der eigentlichen deutschen Seelenlandschaft“ zuweist (was sinnf ällig nicht
zuletzt die Hermannsfeier des 1923 gegründeten Vereins ‚Deutscher Wald – Bund zur Wehr und Weihe
des Waldes‘ 1925 bestätigt),19 für ein wichtiges Element des Arminius-Mythos, das insbesondere die
Jahrzehnte vor der Reichsgründung beherrschte: die deutsche Einheit als die Einheit aller Deutschen.
Nach dem Ende der napoleonischen Ära wurde Arminius nicht mehr nur gegen äußere Bedrohung
eingesetzt – obwohl der Mythos diese Funktion keineswegs verlor (wie mit Rheinwasser und Rheinwein

18 Karl Immermann, Werke in fünf Bänden, hg. v. Benno 19 Nipperdey (1976) 161; s. auch Nipperdey (1975). Zum
von Wiese, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1972, 148f. unter der Schirmherrschaft Paul von Hindenburgs
stehenden ‚Deutschen Wald e.V. – Bund zur Wehr und
Weihe des Waldes‘ u. zur Hermannsfeier s. Zechner
(2009) 180f.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 263
Abb. 7 | Entwurf zum Hermannsdenkmal
nach einer Zeichnung von Carl Schlickum,
1840.

gefüllte, 1841 und unmittelbar nach der Rheinkrise in den Grundstein eingelassene Flaschen veran-
schaulichen) –, sondern wurde von dem aufkommenden bürgerlichen Liberalismus und Nationalis-
mus zum Symbol ihrer Forderungen nach politischer Geschlossenheit und staatlicher Einigung der
Deutschen. An diese Forderung erinnert bis heute eine am Grundstein des Bandelschen Hermanns-
denkmals angebrachte Tafel, auf der die Deutschen zur Einheit gemahnt werden: „Hermann dem Be-
freier Deutschlands gründen dies Denkmal Deutschlands Fürsten und Volksstämme in Eintracht ver-
bunden. Er bleibe und daure, der Sinn der Eintracht, welcher dies Denkmal schuf, und getilgt sei der
Fluch der Zwietracht, den der Zorn des Überwundenen an der Wiege unseres Volkes aussprach.“20
Als das Hermannsdenkmal bei Detmold, Ernst Bandels Lebenswerk, nach vier Jahrzehnten Pla-
nungs- und (immer wieder unterbrochener) Bauarbeit und in der Schlußphase mit finanzieller Unter-

20 Zit. n. Nipperdey (1976) 160.

264 UWE PUSCHNER


Abb. 8 | Ernst Bandel neben einem Modell
des Hermannsdenkmals, 1909.

stützung des Reichstages und des Hauses Hohenzollern fertig gestellt und 1875 eingeweiht wurde, war
der deutsche Nationalstaat bereits vier Jahre Realität und die Mahnung schien hinf ällig zu sein.21 Das
Denkmal erfuhr nun gewissermaßen eine geistige Umwidmung: In Bezugnahme auf die gegen Frank-
reich erfolgte Reichseinigung ‚von oben‘ wurde das Hermannsdenkmal zum reichsdeutschen Sieges-
mal und zu einem „dezidiert antifranzösischen Monument“:22 Hermann mit dem nach dem Kampf tri-
umphierend erhobenen Schwert blickt nach Westen.
Beide Elemente – die Reichseinigung durch die Hohenzollern und die Bezugnahme auf den
deutsch-französischen Krieg von 1870/71 – dokumentiert ein in einer Sockelnische des Denkmals an-
gebrachtes Bronzerelief Wilhelms I., „das nach einem Modell Bandels aus dem Material einer bei dem
[lothringischen] Gravelotte eroberten Kanone gegossen wurde“ und auf dem in einem Eichenkranz die
Namen der im deutsch-französischen Krieg gewonnenen Schlachten genannt werden.23 Unter dem Re-
lief ist eine Kupferplatte mit dem Text angebracht:

„Der lange getrennte Stämme vereint mit starker Hand,


Der welsche Macht und Tücke überwand,
Der längst verlorne Söhne heimführt zum deutschen Reich
Armin, dem Retter ist er gleich.“24

Dieser Vers führt nicht nur die seit den Freiheitskriegen geläufigen Arminius-Mythologeme zusam-
men, sondern er stellt auch den Versuch einer ‚Mythenkoppelung‘ dar, indem Arminius mit Wilhelm I.
(wie nach 1918 mit Hindenburg und dann 1933 mit Hitler) verbunden wird:25 Wilhelm I. als wiederkeh-

21 Zur Einweihungsfeier s. Tacke (1995) 216–229 u. Mel- 23 Dörner (1995) 179.


lies (2009b). 24 Zit. n. Dörner (1995) 179.
22 Wolters (2008) 188. 25 Münkler (2009) 175; zur Koppelung von Arminius mit
Hindenburg und Hitler s. Kösters (2009) 292.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 265
Abb. 9 | Karikatur Kaiser Wilhelms I. als Arminius in
der englischen Satirezeitschrift Punch vom 11. 3. 1871.

render Arminius war der Sieg über den äußeren Feind und die Einigung des Reiches gelungen. „Sieh,
er lebt, Arminius Wilhelmus lebet“,26 heißt es in einem zur Einweihungsfeier des Hermannsdenkmals
entstandenen Gedicht. Bereits vier Jahre zuvor hatte sich das englische Satireblatt Punch in der Ausgabe
vom 11. März 1871 dieses Bildes bedient und Wilhelm I. im Germanenkostüm mit Flügelhelm über ei-
nen am Boden liegenden Gegner hinwegreitend dargestellt.27
Dieser ‚Mythenkoppelung‘ bediente sich auch die deutsche Karikatur: Aus Anlaß der Detmolder
Denkmalseinweihung erschien in der Satirezeitschrift Kladderadatsch vom 15. August 1875 eine Zeich-
nung, die die preußisch-protestantischen, anti-römischen und anti-romanischen Affekte zusammen-
führte und sich damit gegen das antike Reich der Römer ebenso wie gegen die zeitgenössischen ‚roma-
nischen‘ Franzosen, gegen den – in der Epoche des preußischen Kulturkampfes – römischen Papst und
zeitgenössischen politischen Katholizismus richtete und das verwendete Mythenpotential zusammen-
führte: Vor dem Hintergrund des Petersdoms in Rom werden Arminius und Luther im vereinten
Kampf gegen Rom gezeigt – Arminius in Siegerpose und Luther mit der revolutionären Parole: „Ich
werde siegen!“28

26 Zit. n. Losemann (2008) 108. 28 Kösters (2009) 245; die beschriebene Karikatur ist im
27 S. hierzu Wolters (2008) 189. Beitrag von H. Barmeyer im vorliegenden Band abge-
druckt; s. dort Abb. 7, S. 300.

266 UWE PUSCHNER


Der Arminius-Mythos tritt jetzt unter Rückgriff auf ein geläufiges Motiv der Reformation in einer
neuen Variante auf, mit der nicht nur der äußere Feind der Deutschen ins Visier genommen wird, son-
dern auch der vermeintliche Feind im Innern: die sogenannten Reichsfeinde. In diesem Sinne instru-
mentalisieren der erwähnte Kladderadatsch-Cartoon oder eine Darstellung von Bismarck als ‚neuem
Arminius‘ den Hermann-Mythos von protestantischer Seite für den Kulturkampf.29
In Reden bei der preußisch-protestantisch grundierten Einweihungsfeier des Denkmals wie vor
allem in der ‚Begleitpublizistik‘ hieß es beispielsweise:30 „Die römischen Hierarchien verkennen unser
Volk“, so ein Bericht über die Feier des Berliner Tageblatts in Kulturkampf-Rhetorik, „wenn sie sich ein-
bilden, es jetzt, nachdem es in so glorreichen Kämpfen seine Einheit errungen, nochmals untereinan-
der verfeinden zu können … Aber wir wollen auch Herren sein auf unserer angestammten Erde und we-
der materielle noch geistige Knechtschaft über uns ergehen lassen. Hermann der Cherusker war es, der
einstmals jene abgewehrt, unser Kaiser ist es, der uns gegen diese vertheidigt. Armin und Wilhelm –
und ob fast zwei Jahrtausende zwischen ihnen liegen, unser Volk sieht sie wie Brüder beisammen ste-
hen und streiten für ein und dasselbe Heiligthum, das deutsche Vaterland.“31
Auf dieser nationalen Klaviatur spielten auch die sich wiederholt am Hermannsdenkmal versam-
melnden Antisemiten.32 Wie die ‚Kulturkämpfer‘, so bediente sich der zeitgleich aufflammende Antise-
mitismus des Topos von der inneren Bedrohung: Der Hermann auf dem Denkmal wird in einer anti-
semitischen Karikatur durch eine mit antisemitischen Stereotypen ausgestattete Figur ersetzt, der
‚deutsche Wald‘ (um das Denkmal) als konstitutives Element deutschnationalen Selbstverständnisses
ist abgeholzt.33
Das Jahr 1875 stellt einen neuerlichen Wendepunkt für den Arminius-Mythos dar, der fortan mit
der Reichsgründung und einem daraus erwachsenden und in den folgenden Jahrzehnten stetig zu-
nehmenden nationalen Selbstbewußtsein verbunden ist. Turnvereine und Burschenschaften und
selbst einige Freimaurerlogen brachten ihr nationales Bekenntnis zum Ausdruck, indem sie sich
nach Arminius benannten. Armin und Hermann wurden zu beliebten Vornamen, wie das Bei-
spiel des als Ford Hermann Madox Hueffer geborenen britischen Schriftstellers mit deutschen Wur-
zeln veranschaulicht, der sich allerdings während des Ersten Weltkrieges seiner deutschen Namens-
bestandteile entledigte, die englischen verdoppelte und als Ford Madox Ford zu Bekanntheit ge-
langte.34
Die Wogen der Arminius-Begeisterung schlugen bis nach Nordamerika über. Der 1840 in New
York gegründete, logenartige, karitativ orientierte ‚Orden der Hermannssöhne‘, eine Vereinigung ame-
rikanischer Bürger deutscher Abstammung, die bis in die Gegenwart (nun als Versicherungsgesell-
schaft) existiert, initiierte die Errichtung eines Hermannsdenkmals. Es wurde am 25. September 1897
in New Ulm/Minnesota eingeweiht und besteht in einer verkleinerten Kopie des Detmolder Denkmals.
Mit diesem Hermannsdenkmal brachten die deutschen Auswanderer und Bürger der nordamerikani-
schen Provinzstadt New Ulm „ihr Bekenntnis … zur deutschen Abstammungsgemeinschaft“ zum Aus-
druck – doch nicht nur das:35 Herman the German in New Ulm ziert im Gegensatz zu seinem großen

29 Kösters (2009) 289; s. in diesem Zusammenhang auch Bielefeld, Westermann-Sammlung, Lippe-Detmold II,
Knauer (2007). Bd. 28.
30 Losemann (2008) 108. 33 Jeiteles Teutonicus. Harfenklänge aus dem vermauschelten
31 Zit. n. Doyé (2001) 598. Deutschland von Marr dem Zweiten, Bern 1879. S. auch
32 Beispielweise versammelten sich Antisemiten 1893 am die antisemitisch konnotierte Karikatur auf den Eulen-
Hermannsdenkmal; Festprogramm und Lieder zur allge- burg-Skandal im Kladderadatsch 60 (1907), Nr. 44.
meinen Zusammenkunft der Antisemiten Deutschlands am 34 Kemp (2010) 35–41.
Hermanns-Denkmal, Pfingstmontag, den 22. Mai 1893, StA 35 Wolters (2008) 189.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 267
Abb. 10a | Karikatur auf den ‚Kulturkämpfer‘ Bismarck
aus dem Kladderadatsch vom 30. 6. 1872.

Abb. 10b | Illustration von Eduard Daelen aus Bismarck. Eine Vision, 1882.

268 UWE PUSCHNER


Abb. 12 | Antisemitische Karikatur auf den Eulenburg-Skandal
aus der Kladderadatsch-Ausgabe Nr. 44 von 1907

Abb. 11 | Antisemitisches Pamphlet aus dem Jahr 1879.

Bruder in Detmold ein kräftiger ‚Demokratenbart‘, wie ihn damals viele Deutschamerikaner sowohl als
Rückbezug auf demokratische Traditionen der deutschen Revolution von 1848/49 als auch zur Ab-
grenzung von den überwiegend glattrasierten Amerikanern englischer Abstammung trugen.36 Das
New Ulmer Hermannsdenkmal ließ die skandinavischen Siedler in Minnesota nicht ruhen. Nicht ganz
zuf ällig, aber rechtzeitig wurde in Kensington unweit von Minneapolis ein Runenstein ‚gefunden‘, der
eine Expedition skandinavischer Wikinger ins heutige Minnesota im Jahr 1362 und damit eine vorko-
lumbische Entdeckung Amerikas zu beweisen schien.37 Der bald als Fälschung entlarvte Runenstein in
Minneapolis gelangte ins Museum, Herman schwingt wie 1897 bis in die Gegenwart his Teutonic battle
sword over New Ulm.38
Das Hermannsdenkmal wurde nach seiner Einweihung zum „Wallfahrtsort aller Patrioten“;39 der
Hermann-Mythos war fortan fest mit dem Denkmal und seinem Standort verbunden. Auch nach 1875
verloren – gegenteiligen Behauptungen zum Trotz – „Arminius als nationale Integrationsfigur und die
Varusschlacht als eine die Gegenwart verpflichtende Tat“ nichts von ihrer Bedeutung.40 Die „‚Fieber-

36 Von See (2003) 89. zeption s. den Beitrag von H. Holsten im vorliegenden
37 S. hierzu von See (2003) 89. Band.
38 www.roadsideamerica.com/story/11260 (letzter Zugriff: 39 Bemman (2002) 234.
16. 2. 2009). Zur anglo-amerikanischen Hermann-Re- 40 Wiegels (2008) 45.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 269
Abb. 13 | Hermannsdenkmal in New Ulm (Minnesota).

kurve‘ der Arminius-Begeisterung“ stieg in den folgenden Jahrzehnten an und „erreichte ihren höch-
sten Ausschlag“ im Jahr 1909.41 In Detmold wurde die 1900-Jahr-Feier der Schlacht mit einem großen
Volksfest in der Manier der nationalen Feierkultur des 19. Jahrhunderts begangen, bei dem jedoch im
Gegensatz zu der Denkmalseinweihung von 1875 – die unter Federführung Preußens durch Wilhelm I.
als „Übergabe des Hermannsdenkmals an das deutsche Volk“ konzipiert gewesen war42 – das deutsche
Volk unter sich und die Monarchen fernblieben.

41 Losemann (1995) 420. 42 Von See (2003) 85.

270 UWE PUSCHNER


Abb. 14 | Detail des Hermannsdenkmals in New Ulm (Minnesota).

Mehrere zehntausend Besucher – unter ihnen wie schon 1875 eine Abordnung des nordamerikani-
schen ‚Ordens der Hermannssöhne‘ – nahmen an den Veranstaltungen in der Festwoche Mitte August
1909 teil, die – außer dem zentralen Festakt mit dem für Lokalpatrioten und Germanenverehrer ent-
täuschenden Festredner, dem besonnenen freikonservativen Berliner Historiker Hans Delbrück –
zahlreiche Attraktionen zu bieten hatte. Hauptattraktionen waren das unter freiem Himmel in der
erwähnten Ringwall-Anlage aufgeführte Festspiel Hermann der Cherusker und der Germanenzug. Die-
ser Germanenzug bildete den eigentlichen Höhepunkt des Festes und thematisierte die „siegreiche
Heimkehr der Deutschen“ nach der Hermannsschlacht. Sie wurde den Zuschauern mit Hilfe von an-

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 271
Abb. 15 | Hermannsdenkmal in Hermann (Missouri).

nähernd tausend Komparsen in der Rolle von „wackeren Helden und minniglichen Frauen des ger-
manischen Altertums in realistischer Anschauung vor Augen“ geführt, wie der Düsseldorfer Generalan-
zeiger berichtete.43
Mit der Detmolder Festwoche wollten die Verantwortlichen unter Rückgriff auf das Mythen-Reper-
toire aus der Zeit der Freiheitskriege Arminius’ Bedeutung für die deutsche Geschichte würdigen und die
nationale Begeisterung fördern: Denn Arminius sei „die erste Rettung unserer deutschen Art, unserer
Sprache und unseres Volkstums“ zu verdanken. Die Feier sollte insofern „mehr sein … als schnell ver-
rauschter Festesjubel, … die Persönlichkeit des ersten Helden unserer Geschichte [sollte] in den Geistern
lebendig [werden], [auf ] daß wir einen Hauch seines Wesens und Wollens spüren und im Anschauen sei-
ner Größe selber wachsen in opferfreudiger Liebe zur Heimat und zum deutschen Volk und Wesen.“44
Die ‚Völkischen‘, die Anhänger eines rassistischen und antisemitischen hybriden Nationalismus,
dessen Basis seit den 1890er Jahren sprunghaft anwuchs, teilten diese Überzeugungen. Den Detmol-
der Festtagen begegneten sie dennoch mit Skepsis. Schenkt man der völkischen Presse Glauben, hiel-
ten sich die nationalistischen Organisationen den Feiern überwiegend fern.
Auch wenn es, wie ein völkischer Berichterstatter resümiert, im „Ganze[n] … ein schönes, echt
deutsches Volks-Fest“ war, störte er sich an der Inszenierung und Vermarktung der ‚Gedächtnis‘-Feier:

43 Zit. n. Tacke (1995) 235f., hier auch 228–244 zur 44 Heinrich Schwanold, Arminius, Die Varusschlacht und
1900-Jahr-Feier, sowie Kösters (2009) 248–254 u. Mel- das Hermannsdenkmal. Festschrift zur Neunzehnhundert-
lies (2009a) bes. 263–265. jahrfeier der Schlacht im Teutoburger Wald, Detmold
1909, 7 u. 3.

272 UWE PUSCHNER


Abb. 16 | Programmatische Titelillustration zu Adolf Bartels Aufsatz Rassenzucht, 1908.

„Viele Verschmückungs-Gegenstände waren der Gesittung unserer Ahnen vom Jahre 9 n. Kr. angepaßt.
Schädel von Pferden und Rindern, Hörner und Nachbildungen von alten Waffen hingen zwischen
Eichen- und Tannen-Gewinden. Die Trink- und Obstbuden waren mit Strohdächern versehen, um so
alt-germanische Bauten vorzutäuschen … Sogar Germanen-Butterbrote und Hermanns-Würstchen
wurden angeboten, wahrscheinlich um ihren Verzehrern außergewöhnliche, siegfriedhafte Kräfte zu
verleihen.“ Doch mehr als diese „Geschmacklosigkeiten“ erfuhr die Veranstaltung „einen bedenk-
lichen, geradezu schmerzhaften Unterton“ durch die „polnischen Landarbeiterinnen, die aus der na-
hen Umgebung gekommen waren, um ebenfalls am deutschen Siegesfeste teilzunehmen. Kündigen
sich damit gerade auf der Höhe unseres Lebens unsere künftigen Verdränger und Erben an?“45
Es sind die Alldeutschen und vor allem die Völkischen, die Arminius und die Germanomanie um
eine folgenreiche „ideologische Facette“ bereichern, die vor allem nach dem Ersten Weltkrieg „verhee-
rende Wirkungen entfalten sollte“.46 Von der fanatischen Überzeugung durchdrungen, Angehörige
einer auserwählten und allen anderen überlegenen Rasse zu sein, galten ihnen Arminius und die Ger-
manen als Vorfahren im biologischen Sinne.
Die Völkischen sahen sich, wie der Hinweis auf die polnischen Landarbeiterinnen zeigt, in einem
Rassenkampf auf Leben und Tod, sie führten in ihrem Verständnis eine neue Hermannsschlacht gegen
äußere und innere Feinde, gegen Romanen, Slawen, Juden, Katholiken, Liberale, Sozialisten etc., und
sie führten ihre ‚Hermannsschlacht‘ zur Erringung der Weltherrschaft.

45 Franz Winterstein, „Deutschlands Befreier und die Teu- mal“, u. Paul Langhans, „Hermann der Cherusker, ein
toburger Schlacht“, in: Heimdall. Zeitschrift für reines Mahner zu reinem Deutschtum. Hermannsrede des
Deutschtum und All-Deutschtum 14 (1909), 123–126, Bundeswartes am Hermanndenkmal bei Detmold am
Zit. 125; s. auch die Beiträge „19. Jahrhunderts-Feier der 25. Mai 1909“, beide in: Deutschbund-Blätter 14 (1909),
Armins-Schlacht im Teutoburger Walde“ u. „Armin, der 10f. u. 49–52.
Befreier Deutschlands“, beide in: Heimdall 14 (1909), 17 46 Ulbricht (2004) 142; s. auch Losemann (2008) 111–115.
u. 73f., sowie Hermann Ehrhard, „Am Hermannsdenk-

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 273
Abb. 17 | Agitationspostkarte des 1894 gegründeten Bundes der
Deutschen in Böhmen, die Arminius an der Elbe Wache haltend
zeigt, vor 1914.

Der völkische Barde Felix Dahn setzte diese Überzeugungen 1909 in seinem Siegesgesang nach der
Varusschlacht, „vertont für gemischte Chöre und für Schulchöre“, in die holprigen Verse:

„Heil dem Helden Armin!


Auf den Schild hebet ihn,
Zeigt ihn den unsterblichen Ahnen:
Solche Führer wie der
Gieb uns, Wodan, mehr, –
Und die Welt, sie gehört den Germanen!“47

Die Varusschlacht hatte einen festen Platz im völkischen Festkalender, der Gedenktag wurde – entgegen
der auf den bayerischen Geschichtsschreiber Aventinus zurückgehenden Datierung der Varusschlacht
auf den 2. August und der im 19. Jahrhundert geläufigen auf den 9. September48 – am 10. September mit
der Mahnung begangen, sich „in entsprechender Weise dieser volklichen Geschehnisse“ zu erinnern.49

47 Felix Dahn, Armin der Cherusker. Erinnerungen an die Va- 1881, 127. Zur Datierung der Varusschlacht s. Buchinger
rus-Schlacht 9 n. Chr., München 1909, 45f. (2010) 25f.
48 Johannes Turmair’s genannt Aventinus Annales Ducum 49 „Deutschvolkliche Gedenktage [im September]“, in: Iro’s
Boiariae, Buch 1, Kap. 1, in: Johannes Turmair’s Sämmt- Deutschvölkischer Zeitweiser auf das Jahr 1911, Wien 1911,
liche Werke, Bd. 2,1, hg. v. Siegmund Riezler, München unpag.

274 UWE PUSCHNER


Abb. 18 | Titelblatt zu Felix Dahns aus Anlaß der 1900-Jahr-Feier
veröffentlichten Geschichte der Varusschlacht, 1909.

Ein Teil der Völkischen, namentlich diejenigen aus dem neuheidnischen Flügel, kam dieser Aufforde-
rung nach und richtete ihre Zeitrechnung nach dem Jahr der Schlacht im Teutoburger Wald aus – wie
etwa die in Deutschland und Österreich heute noch bestehende Deutschgläubige Gemeinschaft.50
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß die Grotenburg und das Hermannsdenkmal vom
wilhelminischen Kaiserreich bis zur Weimarer Republik Treffpunkt, Versammlungs- und Weiheort für
viele radikalnationalistische Vereinigungen war, die dort ihre ideologischen Überzeugungen demon-
strierten.51 Einer von diesen war der ‚Deutschbund‘, eine Schlüsselorganisation der völkischen Bewe-
gung, der von 1895 bis in die 1930er Jahre wiederholt seine Bundestage und sogenannten Hermanns-
feste in Detmold und am Hermannsdenkmal veranstaltete.52 1903 wurde am Denkmal mit dem
‚Deutschreligiösen Bund‘ die erste völkischreligiöse Gemeinschaft gegründet.53

50 Puschner (2001) 42. 47–53, bes. 53. Die Bedeutung von Hermann für den
51 Wie bereits die Antisemiten vor der Jahrhundertwende Deutschbund bezeugen die jährlichen ‚Hermannsfeste‘
nutzten auch die Alldeutschen seit Beginn des 20. Jahr- ebenso wie die ‚Weihrede‘ Hermann Kraegers anläßlich
hunderts den Ort für ideologische Demonstrationen, des fünfzigjährigen Jubiläums der Enthüllung des Her-
etwa Pfingsten 1901 anläßlich einer Burenkundgebung; mannsdenkmals 1925; Heinrich Kraeger, „Arminius
A. G., „Burenkundgebung bei dem Hermannsdenk- [Teil 1]“, in: Deutscher Volkswart 7 (1925), 293–298, u.
mal“, in: Alldeutsche Blätter 11 (1901), 282f. Teil 2, in: Deutschbund-Blätter 30 (1925), 28f.
52 S. hierzu beispielhaft die Rede von Friedrich Lange, 53 Puschner (2001) 222f. S. in diesem Zusammenhang
„Deutschbundarbeit ist Befreiungswerk. Am Her- auch die Deutschbund-Broschüre Brauchtum des
manns-Denkmal im Teutoburger Wald. 9. Juni 1895“, Deutschbundes (Melsungen o.J., 9f.) in der SD-Akte über
in: Deutsche Worte. Blüten und Früchte deutschnationaler den Deutschbund, in: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde/
Weltanschauung, hg. v. Hermann Ehrhard, Berlin 1907, West R 58/6060.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 275
Abb. 19 | Agitationspostkarte bei Ausbruch
des Ersten Weltkrieges.

In den Jahren zwischen 1920 und 1932 fanden 45 größere Kundgebungen verschiedener nationaler,
deutschnationaler und völkischer Vereinigungen auf der Grotenburg statt, davon allein neun im Jahr
1925, dem 50. Jahrestag der Denkmalseinweihung.54 Der sternförmige ‚Hermannslauf der Deutschen
Turnerschaft‘ zum Denkmal, an dem sich 120000 Teilnehmer aus „allen Gauen“ beteiligten und der
mit einer Großkundgebung am 16. August 1925 in Anwesenheit von mehreren tausend Teilnehmern –
darunter neben den Turnern vor allem Mitglieder der ‚Vaterländischen Verbände‘ (insbesondere
des ‚Stahlhelm‘ und des ‚Jungdeutschen Ordens‘) – zu Ende ging, war die „letzte große Manifestation
des Arminius-Kultes“,55 mit der der Veranstalter daran erinnern wollte, „daß wir Söhne eines Vaterlan-

54 Mellies (2004b) u. (2009a) 263–268; Kösters (2009) Nr. 25, 185–187. 1959 knüpften regionale lippische Turn-
294–305. und Sportvereine am 17. Juni an diese Tradition an; Wol-
55 Ulbricht (2004) 144; s. auch „Hermannslauf der Deut- frum (1999) 167.
schen Turnerschaft“, in: Deutsche Turn-Zeitung 1925,

276 UWE PUSCHNER


Abb. 20 | Aufmarsch des Jungdeutschen
Ordens am Hermannsdenkmal 1925.

des sind und daß wir nur dann Gegenwart und Zukunft meistern können, wenn wir einig sind und
treu.“56
Die hoch erscheinende Zahl von Veranstaltungen am Hermannsdenkmal darf nicht darüber hin-
wegtäuschen, daß der „große gefühlsmäßige ‚Schwung‘ der Arminiusbegeisterung nach dem Zusam-
menbruch des Deutschen Reiches 1918 ‚gebrochen‘ (Harald von Petrikovits)“ war.57 Jetzt rückte wieder
der seit der Zeit der Freiheitskriege geläufige Mythos des Befreiers und Retters in den Vordergrund –
und zwar vor dem Hintergrund der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, dem Versailler Vertrag
und nicht zuletzt der französischen Besetzung des Saarlandes und Ruhrgebiets.58

56 Zit. n. Doyé (2001) 600. gegenüberstellen könnte, ohne einen Schatten von Ko-
57 Losemann (1995) 422. S. hierzu den Tagebucheintrag mik zu empfinden, würde heute nur noch ein Krieger-
vom 10. 11. 1924 von Harry Graf Kessler, in: Harry vereins Vorsitzender für möglich halten.“
Graf Kessler. Das Tagebuch, hg. v. Angela Reinthal, Gün- 58 Beispielhaft hierfür steht der erste, 1924 in Detmold ur-
ter Rieder u. Jörg Schuster, Bd. 8: 1923–1926, Stuttgart aufgeführte Hermannsschlacht-Film: Kolbe (2007); als
2009, 530: „Vormittags von Detmold hinauf. Ergreifend DVD: Die Hermannsschlacht. Ein Stummfilm in fünf Ak-
schöne, tiefe deutsche Waldeinsamkeit. Der grosse, ten aus dem Jahr 1924 (= Westfalen in historischen Fil-
grünpatinierte Hermann macht sich in ihr nicht zu men). Eine Produktion des LWL-Medienzentrums West-
übel. Er hat einen gewissen Stil: den Stil der Wagner falen, 2009. Der Stoff wurde noch zweimal verfilmt,
Zeit. Er ist eine parallele Ausgeburt zum ‚Ring‘; könnte zunächst 1967 der ‚Sandalenfilm‘ Hermann der Cherus-
Siegmund darstellen, einen etwas behäbigen Heldente- ker. Die Schlacht im Teutoburger Wald, eine deutsch-italie-
nor, der gerade das hohe C hinlegt. Der gänzliche Man- nische Co-Produktion, die auch unter den Titeln Armi-
gel an Humor der Heldenpose gegenüber, an dem nius the Terrible und Massacre in the Black Forest lief, u.
die 40er bis 90er Jahre litten, … wirkt heute allerdings 1993/96 die Persiflage Die Hermannsschlacht. Deutsch-
drollig spiessig. Dass man einen etwas dicken, älteren land im Jahre 9 (DVD 2005); Weitere Verfilmungen be-
Herren in Wichs mit geschwungenem Schwert einer so finden sich derzeit in Produktion.
erhabenen Waldlandschaft wie dem Teutoburger Wald

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 277
Abb. 21 | Ludwig Fahrenkrog:
Germania, es kommt dein Tag!

Der Malerdichter und Gründer der völkischreligiösen ‚Germanischen Glaubens-Gemeinschaft‘ Ludwig


Fahrenkrog hat dieser antifranzösischen und revanchistischen, vom radikalnationalistischen Lager
forcierten Vorstellung in einem Gemälde aus den frühen 1920er Jahren Gestalt gegeben, das die Sa-
kralisierung des Arminius-Mythos unübersehbar macht: Eine knieende Germania streckt ihre zu-
sammengeketteten Hände dem von einer Gloriole hell umstrahlten Arminius in Gestalt des Denkmal-
Hermanns entgegen.
Aus demselben Mythenfundus wie Fahrenkrog schöpften die Apologeten der Machtübernahme
Hitlers 1933, die zum „Triumph des Armindeutschtums über das Rassenchaos und über die [in Anspie-
lung auf den romtreuen Bruder von Arminius] Flavusdeutschen, denen ihre Menschheitsziele höher
stehen als unser Volkstum“, stilisiert wurde.59 Arminius, oder richtiger: der Hermann des Denkmals
war vor 1933 zwar Bestandteil der nationalsozialistischen Wahlpropaganda und Agitation, der Armi-
nius-Hitler-Transfer blieb jedoch eine Episode des Epochenjahres.60
Ein wichtiger Grund dafür war, daß Hitler der völkischen Germanenschwärmerei ablehnend ge-
genüberstand und seine völkisch sozialisierten Paladine Himmler und Rosenberg mit Kaiser Hein-

59 Heinrich Wolf, Angewandte Geschichte, Bd. 5: Ange- 60 Vgl. Siegfried Bergengruen, Männer machen die Ge-
wandte Rassenkunde (Weltgeschichte auf biologischer schichte. Retter aus deutscher Not von Hermann dem Cherus-
Grundlage), 3. Aufl., Berlin-Schöneberg 1943 (1. Aufl. ker bis Adolf Hitler (= Deutsches Volksbuch, Bd. 2), Berlin
1927), 412. 1933, bes. 4f. u. 127. S. auch Mellies (2004b) 362–364 u.
(2009a) 269; Kösters (2009) 303–305.

278 UWE PUSCHNER


Abb. 22 | Doppelpostkarte aus dem Volkswarte Verlag von Erich Ludendorff aus den frühen 1930er Jahren.

Abb. 23 | Werbekarte der SA,


nach 1933.

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 279
Abb. 24 | Den Wandel im Umgang mit dem Arminius-Mythos im 20. Jahrhundert dokumentieren drei Spielfilme: Der in den Kri-
senjahren 1922/23 entstandene Stummfilm Die Hermannsschlacht unterliegt noch vollkommen den Befreiungs- und Einigkeits-
paradigmen in einer Bedrohungssituation, die den Arminius-Mythos seit dem frühen 19. Jahrhundert charakterisieren. Davon ist
65 Jahre später nichts mehr geblieben, als Hermann der Cherusker zum Titelhelden eines gleichnamigen deutsch-italienischen
Sandalenfilms aus dem Jahr 1967 avanciert, der bezeichnenderweise im Ausland unter dem Titel Arminius the Terrible oder
Massacre in the Black Forest in den Kinos lief. Die noch einmal drei Jahrzehnte später gedrehte Persiflage Die Hermannsschlacht.
Deutschland im Jahre 9 (1993/96) ist hingegen in erster Linie eine Auseinandersetzung mit dem Arminius-Mythos des 19. Jahr-
hunderts.

rich I. und mit Widekind andere Mythologeme bevorzugten. Zudem galten in den 1930er Jahren „au-
ßenpolitische Rücksichten“ gegenüber dem faschistischen Italien, das sich von der unübersehbaren
Römer-Germanen-Konstellation des Arminius-Mythos hätte beleidigt fühlen können – so mußte eine
Besichtigung des Hermannsdenkmals anläßlich von Mussolinis Staatsbesuch in Deutschland 1936 auf
Anweisung der Reichskanzlei aus dem offiziellen Besuchsprogramm gestrichen werden.61 Die Rand-
ständigkeit von Arminius in der nationalsozialistischen Geschichtsideologie dokumentiert das betref-
fende Lemma im ideologiekonformen Brockhaus von 1936, das knapp und faktenbezogen gehalten ist
und auf Wertungen verzichtet. Es weist jedoch darauf hin, daß die Namensübertragung Arminius in
Hermann falsch sei.62
Nach 1945 war der Arminius-Mythos in der deutschen Gesellschaft diskreditiert. Weder seine Be-
freiungsvariante noch seine antifranzösische bzw. antiromanische Ausrichtung, ganz zu schweigen von
der rassistischen völkischen Version waren entfernt mit der politischen Situation Deutschlands und
dem Willen der Deutschen vereinbar, in den Kreis der Völkergemeinschaft zurückzukehren. Bestre-
bungen einer neuen „Sinnstiftung setzten [in der Bundesrepublik] am Beginn der fünfziger Jahre am
Ort des Hermannsdenkmals und in der Literatur mit der Forderung nach der Wiedervereinigung
ein“.63 Sie blieben ebenso Episode wie ein Versuch seitens der DDR, mit einer Neuinszenierung von
Kleists Hermannsschlacht im Jahr 1957, ausgerechnet auf dem Harzer Bergtheater, das 1903 als Freilicht-
bühne mit völkischem Auftrag gegründet worden war und wo das Drama regelmäßig aufgeführt wurde,
gegen den Westen zu agitieren. „Der Konzeption der Aufführung lag“, wie der Regisseur Anfang der
1960er Jahre erklärte, „ausschließlich der Gedanke der Einigung aller nationalen Kräfte zur Befreiung
Germaniens von den römischen Eroberern zugrunde. Gewisse Parallelen zum gegenwärtigen West-
deutschland unter der Herrschaft der Nato-Imperialisten verliehen der Inszenierung eine bestimmte

61 Losemann (1995) 424f.; von See (2003) 93f. u. Doyé 63 Losemann (1995) 428; Mellies (2009a) 270–272; Wolf-
(2001) 600. rum (1999) 124–131.
62 „Arminius“, in: Der Neue Brockhaus. Allbuch in vier Bän-
den und einem Atlas, Bd. 1, Leipzig 1936, 138; s. auch Mel-
lies (2004a) u. (2009a) 269f.

280 UWE PUSCHNER


Abb. 25 | Hermann und Zwermann, Aufn. 2009.

Aktualität“ – und sie brachten ihr den Beifall des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht ein, der die
Premiere besuchte.64
Der politische Mythos Hermann-Arminius scheint heute der Vergangenheit anzugehören, sieht
man vom rechtsextremen und neovölkischen Umfeld ab. Dort wird er in seinem nationalistischen
Gewand des 19. Jahrhunderts und mit seinen Varianten bis in die Gegenwart zur Agitation eingesetzt.
Unter der Überschrift „2000 Jahre Freiheitskampf“ verbreitete die NPD 2009 die Legende von „der
Geburtsstunde der deutschen Nation“ auf dem Schlachtfeld im Teutoburger Wald, um anschließend
wie die Völkischen an der Wende zum 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund eines nebulös bleibenden
Bedrohungs- und fatalistischen Untergangsszenariums zu appellieren, geeint für die Befreiung zu
kämpfen: „Heute findet wieder eine Landnahme unseres Bodens statt. Wir Deutschen werden uns auch
gegen diese Eroberungspolitik wehren müssen wie EIN Mann. Ansonsten können wir 2000 Jahre nach
Hermann das Kapitel ‚Deutsches Volk‘ im Buch der Geschichte wieder schließen.“65 Diese vor dem
Hintergrund des heutigen, von Archäologie und Geschichtswissenschaften gesicherten Erkenntnis-
standes absurd ahistorische Behauptung einer Kontinuität zwischen Germanenstämmen des Jahres 9
und den Deutschen und ihrer behaupteten Bedrohung im Jahr 2009 ist nur ein weiterer Fall von poli-
tisch-agitatorischem Mißbrauch des immer wieder instrumentalisierten Hermann-Mythos – er ist aber
eine Mindermeinung.
Für die überwiegende Mehrheit der Deutschen stellt Arminius heute keine Identifikationsfigur
dar. Das Hermannsdenkmal ist schon seit vielen Jahrzehnten keine nationale Wallfahrtsstätte mehr,
sondern bloße Touristenattraktion (von vielf ältigem Unterhaltungswert).

64 Curt Trepte (Hg.), Harzer Bergtheater. Tradition und Ge- 65 „2000 Jahre Freiheitskampf“, in: Flugblatt Jetzt reicht’s!
genwart. Zum 60-jährigen Bestehen des Harzer Bergthea- npd.de, undat. [2009], 2. Zur rechtsradikalen Verein-
ters zu Thale, Berlin 1963, Zit. 48; Rolf Thieme, Deutsche nahmung von Arminius s. z.B. die Webseiten www.npd-
Festspiele 1957. Harzer Bergtheater zu Thale. Kleist Die niedersachsen.de (Suchbegriff: Hermannsschlacht),
Hermannsschlacht, o. O. u. J. (1957); das Programmheft www.hermannsschlacht.net, www.kehrusker.net,
enthält eine Fülle von Beiträgen zur Vereinnahmung http://de.metapedia.org/wiki/Armin_der_Cherusker,
des Stückes in die DDR-Kulturpolitik. S. auch Beni- www.volksdeutsche-stimme.de/bewegung/armin_
dowski (2008) 204–208. 021109de.htm u. http://www.youtube.com/user/
npdosnabrueck (letzter Zugriff: 4. 3. 2011).

„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 281
Abb. 26 | Werbeprospekt für ein lippisches Brotprodukt.

Proteste blieben daher aus, als – wie vor hundert Jahren – in Detmold und an den anderen Orten
der Jubiläumsveranstaltungen 2009 wie schon zuvor die „Mythologie … auf die Speisekarte“ wanderte
und das als „lippisches Kraftpaket“ angepriesene Vollkornbrot ‚Hermannicus‘, ‚Varus-Leberwurst‘ oder
‚Thusneldamarmelade‘ im Angebot standen.66
Woher rührt dann aber die außerordentliche Aufmerksamkeit, die Arminius und der Varus-
schlacht in den Medien und in der Öffentlichkeit seit dem Herbst 2008 zuteil wurde? Der Arminius-
Mythos zählt wohl zu jenen Geschichtsbildern, die im 19. Jahrhundert für die Gründung der Nationen
im Sinne von Benedict Andersons invented traditions konstruiert wurden und die in der deutschen Mei-
stererzählung, im deutschen Geschichtsverständnis immer noch einen Platz haben.67

66 Dörner (1995) 368. 67 Anderson (1993); s. in diesem Zusammenhang auch En-


gelhardt (2008).

282 UWE PUSCHNER


„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 283
Literatur

Anderson (1993) Kemp (2010)


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284 UWE PUSCHNER


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„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 285
286 UWE PUSCHNER
Heide Barmeyer

Denkmalbau und Nationalbewegung


Das Beispiel des Hermannsdenkmals

In Jahr 2009 wurde medienwirksam unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin mit einer gro-
ßen Gemeinschaftsausstellung an die zweitausendste Wiederkehr des Datums der sogenannten ‚Varus-
schlacht‘ erinnert. Um jedem Interpretationskonflikt oder einer wie auch immer gef ärbten Konkurrenz
um den Ort der Varusschlacht von vornherein aus dem Weg zu gehen, wurden unter der Überschrift
‚Imperium – Konflikt – Mythos‘ in Haltern, Kalkriese und Detmold unterschiedliche Aspekte der facet-
tenreichen Thematik behandelt, die mit dem Datum 9 n. Chr. verbunden sind. Eine Fülle von Publika-
tionen und Presseartikeln erschien, und auch die Ringvorlesung, aus der diese Publikation hervorging,
gehört in diesen Zusammenhang. Die zugrundeliegende Thematik ist so vielschichtig, dass nicht ein
wissenschaftlicher Zugriff, sondern nur das Zusammengehen bzw. der Austausch mehrerer histori-
scher Disziplinen ihre Wirkungsgeschichte erfassen können.
Aus der Sicht der Neuzeithistorikerin soll im Folgenden untersucht werden, wie im 19. Jahrhundert
der Wunsch entstand, dem zum Nationalhelden avancierten Arminius oder Hermann im Teutoburger
Wald ein Denkmal zu errichten, den Nationalmythos also aus der Erzählung, die sich seit dem 18. Jahr-
hundert literarisch vielf ältig niedergeschlagen hatte und populär geworden war, ins Gegenständliche
zu transponieren und sozusagen monumental zu verewigen. Die Untersuchung soll zeigen, wie sich
diese Vorstellung im Laufe einer wechselnden nationalen Politik und Geschichte entwickelte und wan-
delte. Es geht also um einen mentalitätsgeschichtlichen Ausschnitt aus der Wirkungsgeschichte des
nationalen Mythos Hermann/Arminius.
Herfried Münkler hat in seinem großartigen Buch über Die Deutschen und ihre Mythen Grundsätz-
liches über das prinzipielle Phänomen politischer Mythen gesagt.1 Auf seine Überlegungen soll zurück-
gegriffen werden, wenn die Frage nach der Einordnung des Phänomens in die Problematik des poli-
tischen Mythos aufgegriffen wird. Zuvor aber soll das Thema konkret und quellennah dargestellt
werden, um diese Ausführungen nicht gleich zu Beginn mit zu vielen theoretischen Überlegungen zu
überlasten.

Interpretationsansatz und Gliederung

Das Hermannsdenkmal ist eine besonders prägnante Ausprägung des Denkmalstyps, durch den im po-
litisch-sozialen Raum2 der bürgerlichen Öffentlichkeit deutsches Nationalbewusstsein seinen symbo-
lisch-personifizierten Ausdruck fand. Seinem Wandel zwischen dem Aufkommen der Denkmal-
idee um 1800, ihrer Entwicklung, Umsetzung und Vollendung bis 1875 und ihrer weiteren politischen
bzw. parteipolitischen Indienstnahme bis ins 21. Jahrhundert hinein soll im Folgenden nachgegangen
werden.

1 Münkler (2009). 2 Tacke (1995).

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 287


Abb. 1 | Das Hermannsdenkmal bei Detmold.

Für das 19. Jahrhundert f ällt dabei auf, dass – nicht zuf ällig – der Wandel des Nationalbewusstseins
seine genaue Entsprechung in den Bauphasen des Hermannsdenkmals findet. Dieses Phänomen lässt
sich erklären, wenn man die Denkmalgeschichte in den politisch-sozialen Raum einordnet, was wie-
derum belegt, dass der gewählte methodische Zugang zur Mentalitätsgeschichte sinnvoll ist. Für das
20. Jahrhundert wird die weitere Entwicklung des Nationalmythos am Beispiel von Jubiläumsfeiern am
Denkmal unter verschiedenen Staatsformen – Wilhelminisches Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-
Zeit und Nachkriegszeit – untersucht.
Dem Wandel des modernen Nationalbewusstseins in Deutschland zwischen dem Ende des Heili-
gen Römischen Reiches deutscher Nation und der kleindeutschen Reichsgründung sowie seiner weite-
ren Entwicklung im 20. Jahrhundert wird nicht im Einzelnen nachgegangen, sondern dieser wird als
bekannt vorausgesetzt. Grob vereinfachend, wird der ideologische Hintergrund mit dem Hinweis auf

288 HEIDE BARMEYER


die einschlägigen Darstellungen von Thomas Nipperdey,3 Hagen Schulze4 und Heinrich August Wink-
ler5 als eine Entwicklung bezeichnet, die anfangs breit angelegt war, international-völkerverständigend
und revolutionär geprägt war und eher politisch ‚links‘ eingeordnet werden kann, dann jedoch sich zu-
nehmend verengte zu einem sich immer exklusiver gebärdenden ‚rechten‘ und aggressiven Nationalis-
mus. In Wellen war dieser in Deutschland mal stärker, mal schwächer pro oder contra Frankreich bzw.
den äußeren Feind und die Ideen der Französischen Revolution akzentuiert. Nach der Reichsgründung
erfuhr er eine Wendung nach innen gegen alle die, die angeblich der inneren Einheit entgegenstanden;
das konnten Katholiken sein, denen man unterstellte, national nicht zuverlässig zu sein, sondern einer
‚ultramontanen‘ Bindung an Rom und den Papst stärker verpflichtet zu sein, der Internationale verbun-
dene Sozialisten und Kommunisten oder schließlich aus der Sicht einer rassisch definierten Nation
‚Artfremde‘.
Wenn das schillernde Phänomen des Nationalismus so typologisierend-plakativ charakterisiert
wird, kann damit nur grob tendenziell die große Entwicklungslinie erfasst werden. Die Betrachtung des
konkreten Einzelfalles wird dann zeigen, dass die Wirklichkeit vielschichtiger war.
Aus den genannten Prämissen ergibt sich für den Untersuchungsgang ein exemplarisches Vorge-
hen nach sozialen Generationen und Staatsformen im Umgang mit dem Hermannsdenkmal. Die Glie-
derung folgt in sechs Schritten der chronologischen Abfolge der Generationen:6
1. die Gründergeneration der um 1800 Geborenen: Als Beispiel dient die Feier anlässlich der
Schließung des Grundsteingewölbes 1841, 2. die Generation der Reichsgründung: Hier geht es um
die Einweihungsfeier des Hermannsdenkmals 1875. Diese beiden ersten Punkte werden besonders
ausführlich behandelt, soll an ihnen doch die eingangs formulierte These von der Parallelität zwi-
schen den Bauphasen des Hermannsdenkmals und den Phasen der Nationalbewegung dargelegt
werden.
Die weiteren kürzeren Punkte folgen dem Gedanken des Denkmals im sozialen Raum unter be-
sonderer Berücksichtigung verschiedener Staatsformen: 3. also die Generation des imperialen Wilhel-
minismus, erfasst am Beispiel der 1900-Jahrfeier der Varusschlacht 1909, 4. die Nachkriegsgeneration
in der Republik – 1925 das 50-jährige Jubiläum des Hermannsdenkmals, 5. die parteipolitische In-
dienstnahme des Germanen-Mythos durch völkische und nationalsozialistische Gruppen bis 1933, und
schließlich wird 6. zur Abrundung ein kurzer Blick auf die Schwierigkeiten geworfen, die die Nach-
kriegsgeneration nach 1945 mit Nationalsymbolen hatte: 1950 75 Jahre Hermannsdenkmal, 1975
100 Jahre Hermannsdenkmal, 2000 125 Jahre Hermannsdenkmal, 2009 ‚2000 Jahre Varusschlacht.
Konflikt – Imperium – Mythos‘.

3 Nipperdey (1972). 6 Der Begriff der Generation wird in Anlehnung an Karl


4 Schulze (1985). Mannheim (1928) als soziale Generation verstanden, die
5 Winkler (2000). durch gemeinsamen Erfahrungsraum und Erwartungs-
horizont geprägt ist; ergänzend dazu Koselleck (1979).

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 289


1. Die Gründergeneration der um 1800 Geborenen: von der Idee über Entwürfe
und den Baubeginn bis zur Schließung des Grundsteingewölbes 1841

Als der 19-jährige Kunststudent Ernst von Bandel (1800–1876)7 1819 seine ersten Ideen für ein deut-
sches Nationaldenkmal entwickelt, steht er unter dem Eindruck des Napoleonischen Zeitalters und der
Freiheitskriege. Er hat Verbindungen zu aktiven Burschenschaftern, zu den Turnern um Friedrich Lud-
wig Jahn und zu Teilnehmern des Wartburgfestes.8
‚Hermann‘ oder ‚Arminius‘ war nach Jahrhunderten des Vergessens von den Humanisten zu Be-
ginn des 16. Jahrhunderts wieder entdeckt und zum mythischen Stammvater der Deutschen, zum na-
tionalen Symbol erklärt worden.9 Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde er als literarischer Stoff mehr-
fach bearbeitet10 – Klopstock,11 Kleist12 und Grabbe13 seien stellvertretend für das populär werdende
Thema genannt; auch bildende Künstler14 stellten Szenen seines Lebens dar, auf der Opernbühne15
machte er Karriere, und nicht nur Bandel trug sich mit Denkmalplänen, sondern auch Rauch und
Schinkel16 versuchten sich daran.17 Der Gegenstand war um 1800 populär, und Denkmalpläne lagen so-
zusagen in der Luft. Bandel, als Künstler von eher durchschnittlichem Rang, ist gerade darin das typi-
sche Sprachrohr seiner sozialen Generation und ihrer nationalen Vorstellungen.

17 Zur Biographie Ernst von Bandels siehe Meier (2000). 15 Auch Opern entstanden auf der Grundlage des Armi-
18 Zu den engsten Freunden Bandels zählte Hans Ferdi- nius/Hermann-Stoffes, vgl. Kösters (2009) 99–105.
nand Maßmann (1797–1874), Germanist, Dichter und 1691/92 komponierte Heinrich Franz Ignaz Biber die
Sportpädagoge, Lieblingsschüler Jahns. Heinrich Heine Oper Arminio – Qui la dure la vince, und kein Geringerer
nannte ihn in seinem Wintermärchen, Caput XI spöt- als Georg Friedrich Händel schrieb 1736 in England die
tisch „Marcus Tullius Maßmanus“. Oper Arminio. Zur Einweihung des Denkmals 1875
19 ,National‘ hier im Sinne des frühneuzeitlich-vorrevolu- komponierte Max Bruch ein Arminius-Oratorium, das
tionären Verständnisses. dann allerdings erst später uraufgeführt wurde und
10 Im Folgenden stütze ich mich auf die materialreiche in diesem Jahr wieder mehrfach aufgeführt und für CD
Darstellung von Kösters (2009), in der die Entstehung eingespielt wurde. Die Musikwissenschaftlerin Barbara
des Mythos über Jahrhunderte zuverlässig und umfas- Eichner, die sich in ihrer Doktorarbeit mit der Frage
send aufgearbeitet ist. „Was ist deutsch?“ und musikalischen ‚Lösungen‘ dafür
11 Friedrich Gottlieb Klopstocks Hermann-Trilogie er- zwischen 1848 und um 1900 beschäftigte (Eichner
schien 1769, 1784 und 1787, also noch vor dem Aus- [2005]), hielt im Rahmen der diesjährigen Veranstaltun-
bruch der Französischen Revolution; vgl. Kösters (2009) gen zur ,Mythos‘-Ausstellung in Detmold einen Vortrag
154–160. zu dem Thema: „Der erste (singende) Deutsche – Her-
12 Heinrich von Kleist schrieb seine Hermannsschlacht mann der Cherusker in der Musik“.
1808 in einer scharf napoleonfeindlichen, antifranzösi- 16 Zahlreiche Denkmalentwürfe entstanden: Im Land-
schen Stimmung; vgl. Kösters (2009) 184–194. schaftsgarten des Grafen Brühl im Seifersdorfer Tal bei
13 Christian Dietrich Grabbes Hermannsschlacht wurde erst Dresden wurde 1792 eine ‚Hermannseiche‘ errichtet.
1838, zwei Jahre nach Grabbes Tod, vollendet; aufge- Der Detmolder Archivar Johann Ludwig Knoch entwarf
führt wurde das Stück erstmals 1934 (!) und fand vor al- um 1790 eine ‚Hermanns- oder Irminsäule‘! Karl Fried-
lem in völkischen und nationalsozialistischen Kreisen rich Schinkel beschäftigte sich 1814/1815 mit dem Plan
Anerkennung, die das Stück im Sinne völkischen Sen- eines Denkmals, Arminius zu Pferde, einen römischen
dungsbewusstseins interpretierten. Das Lippische Lan- Legionär mit der Lanze niederstoßend, womit eine
destheater Detmold hat 2009 in seiner Schauspielreihe Analogie zum Drachenkampf des Heiligen Georg her-
eine Auseinandersetzung mit Grabbe herausgebracht gestellt wurde; vgl. Unverfehrt (1975) 138. Weitere Ent-
unter dem Titel: Die Hermanns Schlacht. Eine deutsche würfe 1838 von Schinkel und Rauch, Arminius mit ge-
Betrachtung mit Texten von Christian Dietrich Grabbe u.a. senktem Schwert; auch der lippische Landbaumeister
Zu Grabbes Hermannsschlacht siehe Kösters (2009) Wilhelm Tappe trug sich mit Denkmalplänen, siehe
213–220. Kösters (2009) 234.
14 Kösters (2009) 163–170 („Die Hermanns Schlacht in 17 Zur Entstehung des Gedankens, dem Cherusker Armi-
der bildenden Kunst“) nennt als Beispiele Johann Hein- nius ein Denkmal zu setzen, vgl. Sandow (1975) und
rich Tischbein und Angelika Kauffmann und für die Unverfehrt (1975).
spätere Zeit der Befreiungs- und Freiheitskriege Caspar
David Friedrich (201–206); s. dazu auch den Beitrag von
W. Beyrodt im vorliegenden Band.

290 HEIDE BARMEYER


Der seit Tacitus im Teutoburger Wald lokalisierte Schlachtort18 führt Bandel 1836 auf der Suche
nach einem geeigneten Ort nach Detmold, wo ein Freund aus Münchner Akademietagen19 ihm wich-
tige gesellschaftliche Kontakte vermittelt. Diese sind für die Realisierung des Projekts von größter Be-
deutung, können doch viele finanzielle und organisatorische Fragen nicht vom Künstler gelöst werden,
sondern bedürfen einer breiten Unterstützung.
Bandels wichtigster Partner in Detmold wird sein Generationsgenosse Moritz Leopold Petri
(1802–1873).20 Er stammte aus angesehener lippischer Beamtenfamilie, gehörte als Student der Jenaer
Burschenschaft an, trat nach Abschluss des Studiums 1824 aber in den fürstlich-lippischen Staats-
dienst ein. Wie kaum ein anderer ist er Repräsentant des liberalen Bildungsbürgertums und der
vormärzlichen Vereinsbewegung in Lippe. In den 1830er/40er Jahren, der Hochzeit von Vereinsgrün-
dungen, gibt es in Lippe kaum einen Verein, dem Petri nicht an maßgeblicher Stelle angehört. Und
auch das andere moderne Medium, die Presse, weiß Petri für seine Ideen zu nutzen. Er gründet das
Lippische Magazin für vaterländische Cultur und Gemeinwohl, das lange auch die Funktion eines histori-
schen Vereins wahrnimmt. Damit stehen ihm die beiden Institutionen, Verein21 und Presse, zur Ver-
fügung, die in den nächsten Jahren eingesetzt werden, um die Hermannsdenkmal-Begeisterung in
das Denkmalunternehmen einfließen zu lassen. Hier entsteht das soziale und kommunikative Netz,
welches das Projekt aus dem regionalen Raum auf die gesamtdeutsche Ebene als ein nationales Un-
ternehmen zu heben vermag. Jugendbewegt nationaler Enthusiasmus und Bereitschaft zu Engage-
ment aus Optimismus in Bezug auf Gestaltungs- und Reformmöglichkeiten der neuen Zeit verbinden
sich bei Petri mit guten dienstlichen und gesellschaftlichen Kontakten zum Landesherrn – eine güns-
tige Konstellation.
Im Jahre 1838 wird es mit dem Denkmalbau ernst: Ende 1837 war im Einklang mit Bandels Wün-
schen von Petri eine Kabinettsvorlage ausgearbeitet worden, um von Fürst Leopold II. die Genehmi-
gung für die Errichtung des Denkmals auf dem Gelände an der Grotenburg zu erhalten. Nachdem diese
erfolgt war und fürstliches Wohlwollen auch hinsichtlich einer finanziellen Unterstützung ausgespro-
chen war, wurde 1838 unter Federführung leitender Vertreter des Kabinetts und der Regierung22 in Det-
mold ein Verein für das Hermannsdenkmal gegründet.23 Dieser trat im März 1838 mit einem Spen-
denaufruf für den Denkmalbau an die Öffentlichkeit.24 Darin heißt es u.a.: „Zur Aufstellung des
Denkmals wurde die Grotenburg erwählt, als derjenige Theil des Teutoburger Waldes, welcher durch
die Schönheit der Landschaft und durch den Reichthum von geschichtlichen Erinnerungen vor allem

18 Bis heute ist die Frage des Ortes der sog. ‚Varusschlacht‘ 19 Wilhelm Tegeler (1793–1864). Eine Briefauswahl aus
ein wissenschaftlich ungeklärtes und heiß umstrittenes, der Korrespondenz zwischen Bandel und Tegeler zum
teilweise regional- oder lokalpatriotisch aufgeladenes Thema des Hermannsdenkmals wurde 1975 von der
Problem. Im vorliegenden Band wird aus der Sicht der Lippischen Landesbibliothek herausgegeben.
Archäologen und Numismatiker dazu Stellung bezogen. 20 Zu Petri und seinen kulturpolitischen Aktivitäten in
Die Ausstellung 2009 ‚Imperium – Konflikt – Mythos‘ Lippe siehe Barmeyer (1985) und Süvern (1974).
folgt bewusst einer diesen Streit ausklammernden Stra- 21 Zur Bedeutung der Organisationsform Verein s. Nipper-
tegie. Die Lokalisierungssuche brachte seit dem 16. Jahr- dey (1972). In seinem Festvortrag von 1975 sprach
hundert mehr als 700 (!) Orte ins Gespräch für die Nipperdey in Bezug auf die vereinsgetragene Denkmal-
sogenannte Schlacht. Dabei muss berücksichtigt wer- bewegung vom „revolutionäre(n) Strukturprinzip der
den, dass der heute ‚Teutoburger Wald‘ genannte Hö- modernen staatsbürgerlichen Öffentlichkeit“, Nipper-
henzug bis ins 16. Jahrhundert den Namen ‚Osning‘ dey (1975) 22.
trug und erst danach seine heutige Bezeichnung erhielt. 22 Es handelt sich um die Herren Ballhorn-Rosen, Eschen-
Vgl. Kösters (2009) 207ff. Eng verbunden mit der My- burg, v. Funck, Petri und Rohdewald.
thos-Thematik ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts der 23 Vgl. Schmidt (1975) 152.
Detmolder Archivar Christian Gottlieb Clostermeier, der 24 Lippisches Magazin 4, 1838, Nr. 1, Sp. 1–6.
1822 die Schrift veröffentlichte: Wo Hermann den Varus
schlug. Clostermeier wurde der Schwiegervater Grabbes!

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 291


Abb. 2 | Spendenaufruf im Lippischen Magazin für Vaterländische Cultur und Gemeinwohl, 1838.

hervor leuchtet, und der auf seinem, das Schlachtfeld und die umgebenden Länder weithin beherr-
schenden Bergrücken ein von der Natur selbst gebildetes Fußgestell zu einem Gebäude dieser Art dar-
bietet.“
Am 18. Oktober 1838, dem Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig, wird der Grundstein gelegt
und mit dem Bau begonnen. Für die Burschenschafter-Generation stellt dieses Datum die Verbindung
des Hermann-Mythos zum Befreiungs- oder besser aus ihrer Sicht zum Freiheitskampf gegen Napo-
leon her; aus den Römern von 9 n. Chr. werden Franzosen.
Höhepunkt der ersten Bauphase ist 1841. Am 8. September 1841 wird anlässlich der Schließung
des Grundsteingewölbes eine Feier veranstaltet, auf der Petri die Festrede hält.25 Diese ist ein rhetorisch

25 Im Folgenden zitiert nach Lippisches Magazin 7, 1841,


Sp. 407–418.

292 HEIDE BARMEYER


Abb. 3 | Spendenliste der Professoren an der Universität Leipzig.

glanzvolles Beispiel für vormärzlich kulturnationalen Patriotismus. Die Schlacht im Teutoburger Wald
bedeutet für Petri die Verteidigung deutscher Sprache, Sitte und Freiheit. Hermann ist für Petri „der Be-
freier unseres Volkes“, durch den „des Deutschen Volkes Name, Sprache, Sitte und Freiheit gerettet und
für Jahrtausende der Weltgeschichte erhalten wurde“.
Die „Weltsendung“26 Hermanns des Cheruskers – um sich einer Wendung Nipperdeys zu bedie-
nen – gilt für alle Völker, deren Recht auf freie Entfaltung ihrer Eigentümlichkeit respektiert, unter-
stützt und verteidigt werden muss. Für Petri geht es in seinem Verständnis von Freiheit darum, dass in
der Schlacht im Teutoburger Wald eine Freiheit erkämpft wurde, „welche den Unterschied getilgt hat
zwischen Herren und Sklaven …, welche dem fremden Rechte die nämliche Achtung zollt, die sie für
das eigene fordert … um den Kern Germanischer Bildung und Gesittung haben sich im freien Verbande
gelagert die übrigen Völker der Erde. Auch sie wurden frei durch den Teutoburger Sieg, … der zum ers-
ten Male lehrte, dass auch das Volk dem Volke gegenüber Rechte hat, die nicht ungestraft verletzt wer-
den. Völker und Völker sehen wir seitdem, im freien, friedlichen Verkehre mit einander, ein Jedes sein
eigenthümliches Wesen entfalten, und alle sich wechselseitig dem Ziele entgegengetragen, das dem
Menschen gesteckt ist.“
Hier schwingt noch der vor-politische Begriff der deutschen Kulturnation mit. Politisch soll das
Denkmal gleichzeitig erinnern und mahnen; erinnern an eine im Jahre 9 n. Chr. einsetzende Tradition
und mahnen, innere Zwietracht zu überwinden, um so zu deutscher Einheit zu gelangen. Petri hält den
Deutschen vor, sie müssten sich durch das Mahnmal fragen lassen: „Ob noch in ihnen wohnt die alte,
reine Sitte, noch in ihnen wohnt das alte Gefühl, die alte Begeisterung für Freiheit. Nicht für jene Frei-

26 Nipperdey (1975) 18.

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 293


Abb. 4 | Auszug aus der Festrede, gehalten bei der Schließung des Grundsteingewölbes
des Hermannsdenkmals am 8. September 1841.

heit, die ihre Wurzeln treibt, und die wuchert in dem Moder der Selbstsucht; sondern für die Freiheit, die
da sitzt auf dem Throne der Ordnung und des Rechts. Ob noch in ihnen lebt die alte Treue … Ob noch in
ihnen lebt und wirkt die alte Liebe, der kein Opfer zu groß ist, die das Eigenste und Beste dahin giebt für
Volk und Vaterland. Ob sie neben der Achtung fremder Sitte, fremden Rechtes, fremder Freiheit unge-
kränkt zu bewahren und zu schützen wissen die eigene Sitte, das eigene Recht, die eigene Freiheit.“
Die Festrede endet mit einem Anklang an Ernst Moritz Arndt mit den Worten: „Das Deutsche
Vaterland … so weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt, soll leben hoch.“ Im

294 HEIDE BARMEYER


Abb. 5 | Gedicht von O. Frhr. V. E., geschrieben anlässlich der Schließung des Grundsteingewölbes
des Hermannsdenkmals am 8. September 1841.

Anschluss an die Rede wird von den Teilnehmern der Feier das Lied Was ist des Deutschen Vaterland
gesungen. Viele Wendungen bei Petri bestätigen Nipperdeys Interpretation von der „Weltsendung
Armins“ und der „Internationale der Nationen“, von der man vor 1848 geträumt habe,27 von der ersehn-
ten ‚Einheit in Freiheit‘ für alle Nationen.
Dennoch lässt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht überhören, dass auch bei Arndt und der
ersten napoleonischen Phase der deutschen Nationalbewegung schon ein stark antifranzösischer Akzent
mitklang. Vor allem die vielen Einlagen in den Grundstein bekräftigen die antifranzösische Einstellung
vieler Zeitgenossen: Eine Bronze-Tafel vom Hannoverschen Verein für das Hermannsdenkmal trägt die
Inschrift: „Deutschlands Befreier aus Römerketten, und seinem Heer, ihren Ahnen, weihen in ange-
stammter Liebe der Deutschen Freiheit, welche sie durch zehnjährigen Kampf gegen Welsches Joch sieg-

27 Nipperdey (1975) 19.

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 295


reich behauptet, dieses Bild, mit anderen Deutschen Stämmen, ihren Brüdern, die Völker der Weser,
Aller, Ems und Elbe, jetzt im Königreich Hannover vereinigt, im Jahre der Teutoburger Schlacht 1830.“
Eine von Bandel selbst eingelegte Rolle lobt die Deutsche Legion für ihren „zwölfjährigen Kampf gegen
Napoleon Bonaparte, den Weltbedrücker“.
Die damaligen Klischees emphatisch miteinander verbindend und Römer und Franzosen in eins
setzend, lautet die Inschrift auf der Steintafel des Bremer Hermannsdenkmal-Vereins: „Zur Errichtung
einer Denk- und Ehrensäule Armins des Cheruskers, der, an der Spitze einmüthiger Germanenstämme,
die durch List und Gewalt in das Herz des Vaterlandes gedrungene, von den Völkern dreier Welttheile
geduldig ertragene Römermacht zwischen den Waldthalen dieser Gebirge in drei blutigen Tagen ver-
nichtet, und damit den Nachkommen das erste ewig geltende Beispiel unerbittlicher Strafe für jede von
außen her versuchte Unterjochung gab: vereinigten sich, nachdem auch sie eine weithin bevestigte
Fremdherrschaft, das dem Vestlande Europas auferlegte Joch Napoleons, Kaisers der Franzosen, in
ruhmreichen Feldzügen der Jahre 1813, 1814 und 1815 mit Gott im Bunde brechen halfen, zum Gefühl
brüderlicher Eintracht und unselbstsüchtiger Gesammtwehr neuverbunden, in Jahren langes, segens-
reiches Friedens kriegerischer Erinnerungen froh, und eingedenk, dass durch den Sieg im Teutoburger
Forst sie selbst eine ursprüngliche urfreie in frei eigenthümlicher Bildung gegründete Nation geblie-
ben, alle Deutschen.“
Mehrere Denkmünzen erinnern an Blücher, Leipzig und Waterloo und an Ernst Moritz Arndt.
Und – die Rheinkrise von 1840 liegt in frischer Erinnerung – Flaschen mit Rheinwasser und Rheinwein
tragen eine bezeichnende Eingravierung: „An Arminius. Über den Rhein hast du einst Roms Legionen
getrieben, / Und Germanien dankt dir, dass es heute noch ist. / Schwinge auch ferner dein Schwert,
wenn Frankreichs plündernde Horden / gierig lechzend des Rheins heimische Gauen bedrohn.“
Das klingt nicht völkerverständigend kosmopolitisch, war aber offenbar populär. Populär sicher
auch deshalb, weil die deutsch-französische Rheinkrise antifranzösischen Emotionen erneut Auftrieb
gegeben hatte, die in zahlreichen Rheinliedern ihren Ausdruck gefunden hatte.
Auch eine Festschrift28 erscheint 1841, die den genannten Elementen des kulturnationalen Patrio-
tismus der Festrede Petris das Motiv des Barbarossa-Mythos hinzufügt. Hier äußert sich in nostalgi-
scher Verklärung des Mittelalters die Hoffnung auf einen glanzvollen Wiederaufstieg Deutschlands zu
Macht und Einheit. Diese ‚Mythenkoppelung‘,29 die den anti-imperialen, aufrührerischen Arminius-
Mythos mit dem vieldeutigen Barbarossa-Mythos verbindet, taucht später während der Reichsgrün-
dungszeit erneut auf, als Wilhelm I. sowohl mit Arminius/Hermann als auch mit Barbarossa vergli-
chen wird.
So bleibt festzuhalten: Schon die Mythos-Inszenierung im Vormärz ist alles andere als eindeutig,
sondern janusköpfig und schillernd.

Exkurs: Überlegungen zu methodisch-quellenkritischen Problemen bei Aussagen


des Historikers über den Zeitgeist

Hier deutet sich ein methodisches Problem für den Historiker an, das an dieser Stelle wenigstens
angeschnitten werden soll, wenn es auch nicht abschließend beantworten werden kann. Es ist die Frage
nach repräsentativen Quellen für den sogenannten ‚Zeitgeist‘. Es ist fraglich, ob die Festrede eines Ver-

28 Hg. von F. J. Schwanke; vgl. Kösters (2009) 238f. 29 Zur ‚Mythenkoppelung‘ s. Münkler (2009) 37ff. und 175.

296 HEIDE BARMEYER


treters der Bildungsschicht, die vielleicht nur wenige Festteilnehmer akustisch und intellektuell ver-
standen, dafür als Beleg heranzuziehen ist, oder ob es nicht die schwerer zu fassenden Volksfest-Ele-
mente sind, die die Masse der Zeitgenossen begeisterten. Angewandt auf einen schillernden und sich
wandelnden Begriff wie den der ,Nation‘, ist dies Problem besonders heikel.
Was man unter ,Nation‘ versteht und wie man dem Ausdruck verleiht, ist sicher damals wie heute
nach Inhalt und Form schichten- und bildungsspezifisch unterschiedlich. Was darüber hinaus in der
Menge ankommt und die allgemeine öffentliche politische Stimmung beeinflusst, ist nur von Fall zu
Fall zu entscheiden.
Soweit diese methodischen Bemerkungen in Parenthese und zur Vorsicht gegenüber verallgemei-
nernden Bemerkungen, die die Stimmung jeweils einer Generation charakterisieren sollen.

2. Die Generation der Reichsgründung: Vollendung und Einweihung des Denkmals


im Zeichen der kleindeutschen Reichsgründung 1875

Nach den Erfahrungen der in nationaler Hinsicht gescheiterten 1848er Revolution erschien die Vor-
märz-Einstellung der friedlich geeinten und vereinten Nationen politisch naiv und blauäugig. In den
1850er Jahren griff Desillusionierung um sich, man zog sich ins Private und auf beruflich-wirtschaft-
lichen Erfolg zurück, und in Diskreditierung vormärzlicher Politikorientierung wurde der Begriff der
‚Realpolitik‘30 geprägt.
Wie auf politischer Ebene im Deutschen Bund ging es in den 1850er Jahren auch beim Denkmal-
bau nicht weiter. Querelen und Streitigkeiten zwischen Künstler und Verein hatten 1846 zur Bauunter-
brechung geführt. Bandel verließ Detmold und zog Ende der 1850er nach Hannover. Zu Beginn der
1860er Jahre aber ändern sich die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen zugunsten eines Wie-
derauflebens des Nationalgedankens. Die europäische Konstellation nach dem Krimkrieg, die italieni-
sche Entwicklung und das innerdeutsche Verhältnis, insbesondere zwischen Österreich und Preußen,
verschieben sich. So erhält auch der Denkmalbau neue Schubkraft. 1859 feiert man Schillers 100. Ge-
burtstag und meint damit den Freiheitsdichter des Wilhelm Tell – ein Akt indirekter politischer Kritik am
Fortbestehen repressiver Zensurpolitik in den Staaten des Deutschen Bundes.
Bandel hat inzwischen in Hannover seine Denkmalpläne im Stillen weiter verfolgt. 1862 nimmt er
die Arbeiten energisch wieder auf31 und gründet dort einen Hermannsdenkmal-Verein. Nach zwei sieg-
reichen Kriegen 1864 und 1866 besucht der preußische König Wilhelm I. Bandel 1869 in seiner Werk-
statt in Hannover32 – ein Zeichen für die bewusst propagandistisch inszenierte ‚deutsche Sendung‘
Preußens nach dem ‚deutschen Bruderkrieg‘? Schon bald nach der Reichsgründung debattiert und ge-
nehmigt der Deutsche Reichstag 1871 eine Petition des Hannoverschen Vereins für das Hermanns-
denkmal zwecks Bewilligung einer 10000-Taler-Spende zur Vollendung des Denkmals,33 und der Kai-
ser legt 1874 noch 9000 Taler dazu. So kann das Denkmal vollendet werden.

30 Ludwig August von Rochau (1810–1873) veröffentlichte einer Werkstatt zum Schmieden. Seit 1870 lebt Bandel
1853 sein bekanntestes Werk über die Grundsätze der zeitweilig in der dann nach ihm genannten Hütte am
Realpolitik. Denkmal.
31 1862–1866 Fertigstellung des Kopfes mit dem Helm, 32 14. Juni 1869.
des rechten Armes mit dem Schwert, des linken Armes 33 Reichstagsdebatte vom 5. Mai 1871 (Sten. Ber. über die
und der beiden Füße bis zur Wade. 1863 Einrichtung Verhh. des Dt. RT, S. 561ff.).

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 297


Abb. 6 | Festversammlung
zur Einweihung des Hermanns-
denkmals am 16. 08. 1875.

Am 16. August 1875 erfolgt die feierliche Einweihung des Hermannsdenkmals in Gegenwart von Kai-
ser, Kronprinz, anderen deutschen Prinzen und vielen Fürsten und hochgestellten Militärs.34
Vergleicht man diese Feier mit der von 1841, so ist zum einen die gegenüber dem Vormärz völlig
veränderte Situation zu berücksichtigen. Der lang gehegte Traum einer nationalstaatlichen Einigung
hat sich erfüllt, wenn auch mit erheblichen Abstrichen gegenüber den kulturnationalen Vorstellungen
der Vormärz-Generation. Denn das neue kleindeutsche Reich umfasst nicht alle Gebiete und Men-
schen, ‚so weit die deutsche Zunge klingt‘, und das süddeutsch-katholische Kulturmilieu ist mit dem
Ausscheiden Österreichs geschwächt. Und vor allem die drei ‚Bruderkriege‘ Bismarcks – so der Sprach-
gebrauch der Zeit – passen nicht zur Hoffnung der Liberalen, Einheit in Freiheit zu erreichen. Auf der
Woge der nationalen Begeisterung aber trösten sie sich mit der Aussicht, nach der Einheit auch die Frei-
heit im größeren Ganzen durchsetzen zu können.
Für die Selbstdarstellung der geeinten und nicht mehr sich traumatisch als ‚verspätet‘35 emp-
findenden Nation ist als unmittelbarer Erfahrungshintergrund im Jahr 1875 wichtig, dass für die Au-
ßenbeziehungen mit der Krieg-in-Sicht-Krise die Konfrontation mit dem zum ‚Erbfeind‘ avancierten
Frankreich im Bewusstsein präsent bleibt. Innenpolitisch ist von Bedeutung, dass seit Beginn des Kul-
turkampfes Katholiken es zunehmend als schwierig empfinden, sich im protestantisch-kleindeutschen
Reich als gleichberechtigte Staatsbürger zu fühlen und nicht als ‚innere Reichsfeinde‘ abgestempelt zu
werden. Theodor Schieder hat daher die Frage aufgeworfen, ob nach der erfolgten äußeren Reichsgrün-
dung die innere noch nachzuholen gewesen sei.36

34 Für das Folgende ist insbesondere auf den Aufsatz von 36 Aus der Rückschau des Historikers lag es nahe, die
Veddeler (1975) zu verweisen, ferner Nockemann (1975). Ursachen der katastrophalen politischen Entwicklung
Vgl. auch Carl Schierenbergs Erinnerungen Aus vergan- Deutschlands im 20. Jahrhundert im Scheitern der in-
genen Tagen, erschienen 1927, und der einschlägige Ta- neren Reichsgründung, in der inneren Zerrissenheit
gebuchbericht des damals 17-jährigen. zwischen Klassen, Konfessionen, Weltanschauungen
35 Der Begriff der ‚Verspätung‘ geht auf Helmuth Pless- und Parteien zu sehen. Diese These aber wirft zahlrei-
ners im Groninger Exil entstandene Schrift Das Schick- che Fragen auf, u.a. die, was unter ‚innerer Reichsgrün-
sal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen dung‘ zu verstehen sei. Steht dahinter die nicht unpro-
Epoche (1935) zurück. Diese erlangte später unter dem blematische politische Leit- und Wunschvorstellung
Titel Die verspätete Nation. Über die politische Verführbar- einer inneren Homogenität der Nation?
keit bürgerlichen Geistes (1959) Berühmtheit.

298 HEIDE BARMEYER


Die Festveranstaltungen zur Einweihung des Denkmals 1875 erstreckten sich über mehrere Tage.
Die Ankunft und Begrüßung der hochgestellten Gäste sorgten für Aufregung und freudige Erregung.
Viele Besucher aus dem In- und Ausland mussten untergebracht werden: Abordnungen von Vereinen,
Sängern, Turnern, Korporationen, der Deutschen aus dem Ausland, zahlreiche Pressevertreter renom-
mierter Tageszeitungen und gern gelesener Familienzeitschriften wie der Gartenlaube oder Über Land
und Meer, aber auch der ausländischen Zeitungen wie der Times und des New York Herald. Glückwunsch-
adressen von Deutschen aus Rom, den Siebenbürger Sachsen und den Deutschen aus China trafen
ein.37
Den Auftakt der Feierlichkeiten bildete am 14. August die Einweihung eines Kriegerdenkmals für
die Gefallenen des Deutsch-Französischen Krieges.38 Nach einer militärischen Parade auf dem Schloss-
platz in Detmold erfolgte die Enthüllung des Denkmals bei der Grotenburg im Teutoburger Wald mit
Hoch auf Kaiser und Landesfürsten.39 Am 15. August traf der Kaiser ein und wurde mit einem Fackel-
zug begrüßt. Der 16. August war der eigentliche Höhepunkt mit reichhaltigem Programm.40 Eine
Menschenmenge von 20000 bis 30000 erwartete am Denkmal den Festzug aus Detmold und den
Kaiser.
Dort sprach zuerst der lippische Generalsuperintendent Adolf Koppen.41 Er stellte seine Ansprache
unter das alttestamentliche Bibelwort: „Mit uns aber ist der Herr, unser Gott, und der Herr helfe uns
und führe unseren Streit.“42 Er schloss mit den Worten: „Gott sei es geklagt, dass es noch Deutsche gibt,
denen die Herrlichkeit des Deutschen Reiches ein Dorn im Auge ist und die mit aller Macht dem deut-
schen Geiste entgegenarbeiten.“ Diese Worte, im Kulturkampf gesprochen,43 wurden vermutlich gegen
als national unzuverlässig geltende, da Rom-hörige Katholiken verstanden und fügten sich in einen
preußisch-protestantisch verengten Begriff von Nation; aber auch Sozialdemokraten konnten gemeint
sein, die häufig verdächtigt wurden, sogenanntem ‚deutschem Geist‘ entgegenzuarbeiten und die In-
ternationale vor die Nation zu stellen.
Dieser kulturkämpferische Akzent lässt sich auch in der Presse nachweisen. So erschien im Klad-
deradatsch eine Karikatur mit der Unterschrift „Gegen Rom!“44 Gezeigt wurde auf ihr links der Bandel-
sche Hermann, auf seinem Schild als Sieger über die Römer die Aufschrift „Vici!“ („Ich habe gesiegt!“),
rechts Luther, eine Bibel in der Hand haltend mit der Aufschrift: „Vincam!“ („Ich werde siegen!“), an-

37 Dazu Veddeler (1975) und Nockemann (1975). Ehrenpforten, in Richtung Denkmal zog und gegen
38 Dazu Veddeler (1975) 171 und Nockemann (1975) 46. Das 11 Uhr auf der Grotenburg ankam. Dort hatte sich inzwi-
preußische Infanterieregiment Graf Bülow von Denne- schen eine Menge von 20000 bis 30000 Menschen ver-
witz (6. Westf älisches) Nr. 55 galt als lippisches Regi- sammelt, die auf den Kaiser wartete, der den Festplatz
ment. Sein Stab und das 3. Bataillon waren in Detmold gegen 12 Uhr im Wagen erreichte.
stationiert. Am 14. August 1870 (!) hatte dieses Regiment 41 General-Superintendent Koppen hielt die Weiherede
vor Metz einen kriegsentscheidenden Sieg errungen. unter Zugrundelegung eines Textes aus dem 2. Buch der
39 Das Denkmal wurde in Gegenwart der Hofgesellschaft, Chronik (32,8). Er knüpfte an die Worte des Kaisers:
von Detmolder Schulklassen und Kriegervereinen nach „Welch eine Wendung durch Gottes Fügung!“, die in
Ansprachen des Kommandeurs des 7. Armeekorps und dem Telegramm nach der Sedanschlacht enthalten wa-
des Detmolder Bürgermeisters und einem Hoch auf ren, an und wies darauf hin, wie Gott stets den deut-
Kaiser und lippischen Landesfürsten enthüllt. Weiß ge- schen Heeren in den letzten ruhmvollen Jahren seinen
kleidete Ehrendamen bekränzten das Denkmal, und Schutz habe angedeihen lassen, weil die glorreichen
eine Batterie mehrerer Schüsse wurde abgegeben. Heerführer, wie das Heer selbst, von gleicher Gottes-
40 Nach Veddeler (1975) 171f. umfasste das Programm des furcht beseelt gewesen seien. So nach Nr. 33 der Provin-
Festtages: Vortrag patriotischer Lieder auf dem Markt- zial-Correspondenz 13. Jg. vom 18. August 1875.
platz, Wecken durch Militärmusik, Abnahme der Parade 42 2 Chr 32,8.
des 6. Westf älischen Infanterieregiments Nr. 55 auf 43 Tacke (1995) 217 spricht davon, mit Kaiser und General-
dem Schlossplatz durch Kaiser Wilhelm, um 9 Uhr Auf- superintendent habe der Kulturkampf Einzug in das
stellung des Festzuges, der, angekündigt durch Kano- Fest gehalten.
nensalut, durch die geschmückten Straßen, vorbei an 44 Kösters (2009) 245.

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 299


Abb. 7 | Hermann und Luther im Kladderadatsch.

gesichts drohender Gewitterwolken über der Kuppel des Petersdoms seinen Sieg über den Katholizis-
mus ankündigend.
Die eigentliche Festrede des Geheimen Regierungsrates Otto Preuß (1816–1892)45 zeugte vom
Stolz der geeinten Nation. Er führte in seiner – offenbar zu langen – Rede46 u.a. aus: „Wir stehen wieder
da, geehrt und gefürchtet im Rate der Völker, ihnen nicht bloß ein Volk der Dichter und Denker, son-
dern auch wehrbereit und waffengewaltig, ein Volk der selbstbewussten Tatkraft … unser neu erstande-
nes Reich, … jetzt unter Kaiser Wilhelms ruhmreichem Scepter … seinen schützenden Arm ausbreitend
über jeden Deutschen auf dem Erdenrund, frei im Innern und kraftvoll nach Außen, fest verbunden …
durch das starke Band der im gemeinsamen opfervollen Kampfe erprobten Einigkeit der deutschen
Stämme und ihrer Fürsten … Ja, die Träume unserer Jugend … haben sich verwirklicht … wir sind wie-
der ein Volk und wollen es bleiben mit Gottes Hilfe von nun an immerdar.“47
Preuß bewegt sich hier ganz auf der Bismarckschen auf außenpolitische Wirkung ausgerichteten
Deutungslinie einer Saturiertheit des jungen Reiches, das nicht länger als europäischer Unruheherd
empfunden werden sollte. Allerdings erfolgt dieser Auftritt nun in der selbstbewussten Pose der Stärke
dessen, den man nicht ungestraft angreift.
Nach der Rede wurde die schwarz-weiß-rote – nicht die schwarz-rot-goldene! – Fahne unter Salut ge-
hisst, ein dreifaches Hoch auf Deutschland, Kaiser und Reich ausgebracht und dann als zweifellos emo-
tionaler Höhepunkt die Ehrung Ernst von Bandels durch den Kaiser auf dessen Tribüne vorgenommen.
Große Rührung des Erbauers, der als einer der letzten der Gründergeneration ein Jahr vor seinem
Tod noch die Vollendung seines Lebenswerkes erleben konnte. Moritz Leopold Petri war schon 1873 ge-

45 Leiter der fürstlichen Bibliothek und Erforscher der lip- der Weser-Zeitung aus Bremen in ihrer Abendsausgabe
pischen Geschichte. vom 19. August 1875.
46 Durch Schlussrufe und Lärmen der ermüdeten Menge 47 Veddeler (1975) 172 nach der Königsberger Hartungschen
unterbrochen, so Veddeler (1975) 172 nach dem Bericht Zeitung vom 19. August 1875, Abendausgabe.

300 HEIDE BARMEYER


Abb. 8 | Der Kaiser und der Künstler, Wilhelm I. und Ernst von Bandel.

storben, und ob die selbstbewusste Siegesfeier in seinem Sinn gewesen wäre, muss offen bleiben. Ban-
del selbst hatte dem Detmolder Bürgermeister geschrieben,48 er wünsche für das Fest der Übergabe an
das deutsche Volk „nicht“ einen „Tag irgend eines Sieges über Fremde“, sondern „in guter Jahreszeit“.49
Andererseits aber hatte das Denkmal durch verschiedene Inschriften während der letzten Bauphase
auch durch ihn einen stark antifranzösischen und aggressiven Akzent erhalten. Auf dem Schwert
stand: „Deutsche Einigkeit meine Stärke. Meine Stärke Deutschlands Macht“. Auf dem Schild: „Treu-
fest“. In den Nischen: „Tacitus, Annales II,88: Arminius liberator haud dubie Germaniae … bello non
victus“; und auf dem Relief Kaiser Wilhelms I. stand: „Der lang getrennte Stämme vereinigt mit starker
Hand, der welsche Macht und Tücke siegreich überwand, der längst verlorene Söhne heimgeführt zum

48 Veddeler (1975) 170. Brief Bandels vom 28. November fand schon vor Vollendung des Hermannsdenkmals
1874 an den Detmolder Bürgermeister Dr. Heldman: statt: Erstmals wurde am 2. September 1871 hier ein
„Ich schlage vor: in guter Jahreszeit – nicht an einem Sedanfest gefeiert. „Die Sedanfeierlichkeiten blieben
Tage irgendeines Sieges über Fremde, werde eine ganze bis weit in die Zeit der Weimarer Republik ein fester
oder halbe Woche festgesetzt, in der das vollendete Denk- Bestandteil der am Denkmal stattfindenden nationa-
mal dem Deutschen Volke übergeben werde, es möge len Festkultur“, so Mellies (2009b) 225, damit Dörner
es dann selbst übernehmen und die Übernahme durch (1995) 243 folgend. Auch die Einweihungsfeier 1875
selbst gewählte Handlungen bekunden …“. hatte ursprünglich am Sedantag stattfinden sollen, dem
49 Eine Verknüpfung mit dem Deutsch-Französischen aber Bandel mit Erfolg widersprochen hatte.
Krieg und der Schlacht bei Sedan (2. September 1870)

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 301


Deutschen Reich, Armin, dem Retter, ist er gleich“. Wilhelm I. wurde nun immer häufiger mit Her-
mann/Arminius gleichgesetzt, und an die Stelle der Römer waren die Franzosen getreten.
Auch die Volksstimmung, so weit sie sich in der Presse und in anonymen Veröffentlichungen nie-
derschlug, war stark antifranzösisch gef ärbt. So hieß es in einem Gedicht in der Weser-Zeitung vom
18. August 1875: „Am Teutoberge steht das hohe Standbild des Helden Hermann … Wie der Cherusker-
Fürst die Väter führte, so ziehet Kaiser Wilhelm uns voran; … Ob röm’sche Pfaffen sich in Herrschsucht
wiegten … Wir gehen sicher nach Canossa nicht … Nicht woll’n wir Römer, sondern Deutsche sein!“50
Auf der Gegenseite sparte auch die französische Presse nicht mit anti-deutschen Klischees in chau-
vinistischen Artikeln.51 Die Gegnerschaft der Erbfeinde erhitzte die Gemüter auf beiden Seiten des
Rheins.
Um auf das vorstehend angeschnittene Problem des Zeitgeistes zurückzukommen: Gut getrof-
fen hat die allgemeine Stimmung wohl ein Bandel gewidmetes Gedicht eines Literaten aus Detmold.52
Darin heißt es:

„… Ein einig Deutschland groß und gleich


Ein Segen bringend mächtig Reich
Wo Fürst und Volk ein Band umschlingt.

Wie einst vor achtzehnhundert Jahr …
So sei uns Deutschland Einigkeit
Ein Schutz und Schein für alle Zeit.

Drum hoch dem echten deutschen Reis!
Dir Kaiser ‚Wilhelm‘ Lob und Preis,
Der du ein zweiter ‚Armin‘ gleich
Erschafft ein neues Deutsches Reich,
Und hoch, dir Meister, der in Pracht,
im Wald erbaut die ‚Deutsche Wacht‘!

Gleich wie auf hohem Felsgestein,
‚Steht fest und treu die Wacht am Rhein‘,
So kling vom Teutoburger Wald
In Deutschland dass es wiederhallt:
‚Seit Deutsche unserem ‚Hermann‘ gleich:
Gott, schütze Kaiser und das Reich!‘“

50 Veddeler (1975) 170. – Bismarcks berühmt-berüchtigte würdigen und milden Sitten der Latiner, mit einem
‚Canossa-Rede‘ wurde im Mai 1872 im Reichstag gehal- Worte die römische Höflichkeit an der Grenze eines
ten. Viele Karikaturisten nahmen das Bild auf. Landes blühte, in welchem Alles trübe und rau ist, der
51 Veddeler (1975) 169 führt als einen Beleg die Pariser Charakter, die Sprache, das Klima, die Wälder …“. Auch
Correspondance Universelle an. Dort hieß es: „Der Armi- hier also eine Argumentation mit nationalen Klischees!
nius ist ungeheuerlich. Bandel hat seinem Arminius di- 52 Es trägt den Titel „Seiner Hochwohlgeboren Herrn
cke Lippen, wilde nach Westen gerichtete Augen, einen Ernst von Bandel Ritter pp dem Schöpfer des ‚Hermann‘
grausamen Zug und das Ansehen einer Rothaut mit Denkmals in Liebe und inniger Verehrung gewidmet
einem Kinnbart gegeben … die Preußen können diesen von Hermann Weber, Literat. Detmold 20. August
Barbaren aus anderen Gründen als einen der Ihrigen in 1875“, abgedruckt im Ausstellungskatalog Ernst von Ban-
Anspruch nehmen … Varus war der größte General und del der Schöpfer des Hermannsdenkmals in seiner Zeit der
hervorragendste Politiker seiner Zeit. Ihm war es zu Lippischen Landesbibliothek von 1975, H. 2, 53f.
danken, dass die Künste, Wissenschaften, die liebens-

302 HEIDE BARMEYER


Als Résumé zur Einweihungsfeier 1875 lässt sich festhalten: Das Denkmal war nicht mehr wie 1841 Er-
innerung an die Befreiung Germaniens von römischer bzw. französischer Herrschaft und Mahnung zu
innerer Einheit, sondern Symbol des Sieges über Frankreich, den ‚Erbfeind‘, Symbol deutscher Einheit
und Stärke.53 Stolz sprach man den Willen aus, diese Einheit „wehrhaft und waffengewaltig“ gegen äu-
ßere – „welsche Tücke“ – und innere Feinde – Katholiken und Sozialdemokraten – zu verteidigen. Pro-
testantisch-kulturkämpferisch wurde Arminius zum Symbol gegen Frankreich, das neue Rom.

3. Die Generation des imperialen Wilhelminismus – das Beispiel der 1900-Jahrfeier


der Varusschlacht 1909

Die Generation, die 1909 eine Festwoche ‚1900 Jahre Varusschlacht‘ inszenierte, war im Unterschied
zur Reichsgründungsgeneration ganz selbstverständlich in einem Nationalstaat aufgewachsen, der
wirtschaftlich prosperierte, mit den Weltmächten gleichzog und auf der Weltbühne einen ‚Platz an der
Sonne‘54 beanspruchte. Wilhelm II. als Repräsentant dieser Generation verstand sich im Unterschied
zu Wilhelm I., seinem Großvater, voll und ganz als deutscher Kaiser und nicht wie dieser in erster Linie
als preußischer König. Zwar blieb sein großsprecherisches Bramabarsieren auch in Deutschland nicht
ohne Kritik – so vor allem nach der Daily-Telegraph-Aff äre von 1908 –, und Joachim Radkaus Charak-
terisierung dieser Jahre als „Zeitalter der Nervosität“55 trifft sicher neuralgische Punkte. Aber das Gros
der Deutschen glaubte in einer heilen Welt zu leben und sah optimistisch in die Zukunft. Vom Beginn
des 21. Jahrhunderts her gesehen erscheinen uns zwar die Zeichen überdeutlich. Die meisten Zeitge-
nossen aber hätten damals vermutlich voller Stolz vermerkt, Deutschland habe erfolgreich seinen eige-
nen Weg in die technologisch-wirtschaftliche Moderne gefunden.
Die Festwoche vom 14. bis 22. August braucht hier nicht mit allen Programmpunkten dargestellt
zu werden.56 Aus der Vielzahl der Aktivitäten seien hier jedoch drei herausgegriffen, an denen die Band-
breite des Dargebotenen deutlich wird.
Am Haupttag, Sonntag dem 15. August, fand ein ‚Großer Germanenzug‘ statt, der „in seinem ers-
ten Teile den Siegeszug der Deutschen nach der Schlacht im Teutoburger Wald darstellen, im zweiten
ein anschauliches Bild des Lebens der alten Germanen und ihrer Kultur geben“ sollte.57 900 Personen
gingen im Zug mit, und 200 Pferde und Zugtiere wurden aufgeboten. Die Germanentümelei war naiv-
unkritisch und wirkt vor dem Hintergrund unserer Kenntnis späterer völkischer Fehlentwicklungen
problematisch. Für die Zuschauer damals aber war das Spektakel sicher unterhaltsam – und heutiger
touristischer Kitsch ist nicht geschmackvoller. Um mit modernsten technischen Mitteln möglichst viele
Menschen teilnehmen zu lassen, wurde der Germanenzug gefilmt. Es handelt sich um die zweitältes-

53 Kösters (2009) 240. ten mit Großbritannien führte, und wurde zum geflü-
54 Die Wortprägung vom ‚Platz an der Sonne‘ geht zurück gelten Wort.
auf eine Äußerung des deutschen Staatssekretärs im 55 Radkau (1998) und Ullrich (1997).
Auswärtigen Amt und späteren Reichskanzlers Bern- 56 Veddeler (1975) 173–176 und Nockemann (1975) 52–56.
hard von Bülow in einer Reichtagsdebatte am 6. Dezem- 57 Zitiert nach Nockemann (1975) 54. Veddeler (1975) 174f.
ber 1897. Im Zusammenhang mit der deutschen Kolo- führt nach der Festschrift von 1909 die Liste der
nialpolitik formulierte er: „Mit einem Worte: wir wollen uns komisch anmutenden Formationen der „Germani-
niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen schen Spitzenreiter“ des Umzuges an. Kösters (2009)
auch unseren Platz an der Sonne.“ Später prägte sich die 248–254 bringt Fotos vom Festzug. Er weist darauf hin,
Wendung als eingängige Formel für deutsches Welt- dass auch Bayreuther Inszenierungen des Wagnerschen
machtstreben in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein, Ring 1876 ähnliche Germanenvorstellungen auf die
als die Bismarcksche Bündnispolitik aufgegeben wurde Opernbühne gebracht hatten.
und wilhelminische Außenpolitik zum Flottenwettrüs-

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 303


Abb. 9 | Plakat zur 1900-Jahr-Feier in Detmold.

ten Filmaufnahmen aus Lippe.58 Wir beobachten an diesem Beispiel die zeittypische und für das Deut-
sche Reich und Wilhelm II. persönlich bezeichnende Verbindung hochmoderner technischer Mittel
mit rückwärtsgewandten Vorstellungen.
Die eigentliche Festrede hielt der angesehene Historiker Hans Delbrück.59 Auf hohem Niveau und
fern von imperialer Großsprecherei erteilte er einseitiger Germanenverherrlichung eine eindeutige Ab-
sage. Stattdessen kam er zu dem Schluss, „die deutsche Kultur [sei] erst durch die Synthese von germa-
nischem Geist, römischer Kultur und christlichem Denken“60 entstanden.
Für 4000 Schüler gab es am 18. August eine Veranstaltung auf der Grotenburg. Die dort gehaltene
Rede eines Lehrers aus Lage, offenbar eines Verehrers Bismarcks, sah in diesem die Verkörperung des
Hermannsgeistes, und er nannte Bismarck den größten Deutschen nach Hermann.61 Vielleicht sprach
aus der Bismarckbegeisterung, die nach dem Tod des ersten Reichskanzlers verstärkt aufgekommen
war, auch ein Stück Kritik am Kaiser und Distanzierung gegenüber Wilhelm II.

58 Die ersten Filmaufnahmen waren 1907 anlässlich der Festhalten des größten Triumphs – nach all den Auf-
‚Einholung‘ des Fürsten Leopold IV. nach der Beilegung regungen und Investitionen gleichsam ein internes, auf
des lippischen Thronfolgestreites gemacht worden Zelluloid gebanntes ‚Es ist erreicht‘“.
und waren nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt. 59 Textauszug bei Veddeler (1975) 176.
Müller (1996) 8 schreibt: „Sie dienten dem neuen Fürs- 60 Veddeler (1975) 176.
tenhaus als Mittel der Selbstvergewisserung und zum 61 Nach Nockemann (1975) 56.

304 HEIDE BARMEYER


Abb. 10 | Germanenumzug zur 1900-Jahr-Feier in Detmold.

Die Feiern insgesamt, ohne Kaiser62 und hohe Fürstlichkeiten wie noch 1875, waren trotz der großen
Rede Delbrücks Teile eines überwiegend entpolitisierten, unterhaltenden Volksfestes von regionaler Be-
deutung.

4. Die Nachkriegsgeneration in der Weimarer Republik:


Das Jubiläum 50 Jahre Hermannsdenkmal 1925

Als man 1925 das 50-jährige Jubiläum des Denkmals feierte, war die Welt für die Deutschen grundle-
gend verändert gegenüber der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Kein imperiales Hochgefühl, kein kraft-
strotzender Optimismus, keine wirtschaftliche Aufstiegsdynamik. Vor dem Hintergrund des Traumas
des verlorenen Krieges und des ‚Diktats von Versailles‘, der wirtschaftlichen, sozialen und politischen
Krisen der Inflationszeit, des Ruhrkampfes, der harten Politik Poincarés und des Separatismus war
die Festwoche politisch ausgesprochen schwarz-weiß-rot gef ärbt. Der wenige Monate vorher gewählte

62 Mellies (2009a) 264: Im Vorfeld der Festvorbereitungen gen des lippischen Thronfolgestreits (1895–1905) der
hatte das lippische Fürstenhaus dafür gesorgt, dass we- Kaiser nicht eingeladen wurde.

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 305


Reichspräsident von Hindenburg63 sowie zahlreiche führende Politiker wie Reichskanzler Luther,64 Au-
ßenminister Stresemann65 und der lippische Landespräsident Drake66 schickten Grußworte, die der
Hoffnung auf Konsolidierung und Wiederaufstieg Deutschlands Ausdruck verliehen. An den Veran-
staltungen aber nahmen sie nicht teil.
Die Festveranstaltungen zogen sich über fast drei Wochen hin.67 Teile des Festprogramms waren
seit Jahren etabliert und ritualisiert. Es gab Kundgebungen von Vereinen und Verbänden, Konzerte,68
Theateraufführungen,69 einen Festumzug von Sängern, Turnern und vaterländischen Verbänden,
Wanderungen, einen Fackelzug, ein Feuerwerk und sportliche Wettkämpfe. Auf einen einheitlichen
Nenner lassen sich diese Veranstaltungen nicht bringen; vielmehr spiegelt sich in ihnen das Neben-
einander politischer Teilkulturen70 und die innere Zerrissenheit der Deutschen. Neu war, dass neben
einem evangelischen auch ein katholischer Feldgottesdienst71 stattfand. Aufsehen und überregionale
Aufmerksamkeit erregte ein großer Hermannslauf der Deutschen Turnerschaft.72 Die eigentliche Fest-
rede hielt der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Gottfried Reinhold Treviranus. Die Predigt des
lippischen Landessuperintendenten August Wessel (1901–1930) war in ihrer politischen Ausrichtung
gegen den französischen ‚Erbfeind‘ gerichtet und traf damit vermutlich die Stimmung seiner Zuhörer.
Am Fuße der Grotenburg beschwor er den „vaterländischen Gedanken“. Sein Wunsch war, der „Tag in-
nerer Einkehr“ solle „zugleich innerer Erhebung“ dienen. Und er nannte den Festtag einen „Tag, an
dem Einigkeit und Recht und Freiheit als des Glückes Unterpfand einem von welschem Übermut be-
drückten, aber nicht zerknickten Volke von neuem geschenkt wird … Wir ballen auch heute wieder die
Faust gegen den Erbfeind, der seit 1000 Jahren der Störenfried Europas ist und uns das Schlimmste an-
fügen möchte.“
Dagegen argumentierte der deutschnationale Politiker Gottfried Reinhold Treviranus (1891–1971)
in seiner Festansprache weniger kämpferisch als der Geistliche, war auf innere Versöhnung ausgerich-
tet und verteidigte die Parteiendemokratie. Er wandte sich „gegen Parteienhader …, gegen Bruderzwist
und Vetternneid, gegen das Erbübel der Zwietracht“ und betonte: „Gegensätze der Parteien können das
Staatsleben beschwingen, wenn vaterländisches Wollen sie beseelt.“ Und er beschwor die Zuhörer:
„Bannt aber den Unfrieden, wenn es um Land und Volk gegen das Übelwollen ringsum, gegen den

63 Reichspräsident von Hindenburg schrieb: „Das Denkmal 66 Der lippische Landespräsident Heinrich Drake rief auf
des Cheruskers auf der Grotenburg ist ein Nationalgut „zur Förderung der Wohlfahrt und der inneren Ge-
des deutschen Volkes geworden. Möge es eine Mahnung schlossenheit unseres schwer geprüften deutschen Vol-
sein für jeden Deutschen, seine ganze Kraft einzusetzen kes … und … dass uns nicht schale Äußerlichkeiten, son-
zum Wiederaufbau unseres schwer geprüften Vaterlan- dern innere Verbundenheit mit allem Wahren, Guten
des; und möge es uns auch daran erinnern, dass wir dies und Schönen ziemen.“
Ziel nur durch Einigkeit erreichen können!“ Dieses und 67 Zu den Ereignissen vom 1. bis 19. August 1925 vgl. Ved-
die drei folgenden Zitate nach der Jubiläumsschrift (1975). deler (1975) 176–180, Nockemann (1975) 56–60 und
64 Reichskanzler Hans Luther sprach vom „Wahrzeichen Mellies (2004) 335–373.
deutscher Einheit und deutscher Freiheit“. 68 Dem patriotisch-heroischen Politikverständnis schein-
65 Reichsaußenminister Gustav Stresemann schrieb: „Ver- bar entsprechend erklangen der Schlusschor aus Wag-
standespolitik ohne vaterländisches Gefühl wird dau- ners Meistersingern und aus Beethovens 9. Symphonie.
ernd nie das deutsche Volk befriedigen.“ – Für die Ent- 69 Kleists Hermannsschlacht wurde aufgeführt. Grabbes
wicklung des Mythos im 20. Jahrhundert wäre eine Schauspiel harrte noch seiner Uraufführung während
Beschäftigung mit der politischen Rolle Hindenburgs des Dritten Reiches.
von besonderem Interesse. Ausgestattet mit der Autori- 70 Müller (1996) 172.
tät des Siegers von Tannenberg hatte er 1919 vor dem 71 Die Kulturkampfzeit der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts
Untersuchungsausschuss des Deutschen Reichstages lag weit zurück, und das Zentrum war längst zur repu-
zur Kriegsschuldfrage mit Überzeugung die sogenannte blik-tragenden Partei geworden, die in Wahlen auf ein
‚Dolchstoßlegende‘ vertreten. In ihr erfolgt eine – nach relativ konstantes Wählermilieu zurückgreifen konnte
Münkler – ‚Mythenkoppelung‘ zwischen Hermann/Ar- und in fast allen Kabinetten Weimars vertreten war.
minius und Siegfried, die in den 20er Jahren eine breite 72 Nockemann (1975) 107.
Wirksamkeit entfaltete.

306 HEIDE BARMEYER


Abb. 11 | Werbepostkarte des Jungdeutschen Ordens, 1921.

Geist der Nation geht“. Schließlich richtete er den Blick auf die Zukunft, in der Deutschland „Selbstbe-
stimmungsrecht und Gleichberechtigung als Recht fordern“ werde. Treviranus schloss seine Rede mit
an Luthers Sprache erinnerndem Pathos: „Das Reich muss uns doch bleiben. Im Leben und Sterben: Es
lebe unser heiliges, unteilbares deutsches Vaterland. Du musst bleiben, Land, wir vergehn!“73
Eindrucksvoller als diese Festrede war zweifellos für die meisten Teilnehmer des Festes der große
Turnerlauf.74 Die Turner verstanden sich im Sinne ihres Turnvaters Jahn als ‚Geburtshelfer des Her-
mannsdenkmals‘, hatte dieser doch in Hermann seinen Lieblingshelden gesehen, ihn einen ‚Volkshei-
land‘ genannt, und sein enger Mitarbeiter Hans Ferdinand Maßmann75 hatte mit Liedern, Büchern und
Geldsammlungen unermüdlich Bandels Pläne unterstützt.76 Nun veranstalteten die Turner symbol-
trächtig den größten Staffellauf in der Geschichte der Deutschen Turnerschaft. Er war dem Stern-Eilbo-
tenlauf nachempfunden, der 1913 zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig stattgefun-
den hatte. Nun kamen in 16 Hauptläufen und 52 Nebenläufen von Grenzorten des Reiches – „von der
Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt!“ – Grüße der Auslandsdeutschen, der Grenzgaue,

73 Bei solchen politischen Überzeugungen nimmt es nicht 74 Müller (1996) 148–184.


Wunder, dass Treviranus die DNVP verließ, als unter 75 Hans Ferdinand Maßmann, Armins’s-Lieder. Nebst einem
Hugenberg ab 1928 ein scharf reaktionärer Kurs einge- Anhang anderer Gedichte, München 1839; Arminius-Bü-
schlagen wurde. Sein eigener Versuch einer Parteigrün- cher etc., vgl. Kösters (2009) 212 und Tacke (1995) 97 u.
dung für einen moderaten Konservatismus – der Volks- Anm 313, 92.
konservativen Vereinigung – scheiterte 1930. 76 Müller (1996) 152.

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 307


Abb. 12 | Karte zum Hermannslauf der deutschen Turnerschaft zum 50. Jahrestag der Einweihung des Hermannsdenkmals.

der Turnfeststädte und des Reichspräsidenten. Am Hermannsdenkmal wurden von den Schlussläufern
an die 80 Urkunden überreicht. Diese kamen u.a. von Turnvereinen aus Nord- und Süddeutschland,
Afrika, Dänemark, Holland und Spanien.77 Die Urkunden der 16 Staffelläufer übernahm der Lippische
Turngau an den Landesgrenzen Lippes.
Außer den Turnern waren am Denkmal rechte Organisationen zahlreich vertretenen: der Jung-
deutsche Orden mit seinem Redner Artur Mahraun, der ,Stahlhelm. Bund deutscher Frontsoldaten‘;
überwiegend schwarz-weiß-rote Fahnen gaben der Festwoche ihren ins Auge springenden konservativ-
antirepublikanischen politischen Akzent. Die Stimmung war überwiegend monarchistisch und vergan-
genheitsorientiert. Der Nährboden für eine Mythologisierung des in die Rolle des Ersatzmonarchen hi-
neinwachsenden Reichspräsidenten zu Hermann oder Siegfried war bereitet.

77 Nockemann (1975) 107.

308 HEIDE BARMEYER


Abb. 13 | Wahlhelfer der NSDAP in SA-Uniform
vor dem Hermannsdenkmal, 1933.

5. Parteipolitische Indienstnahme des Germanen-Mythos durch völkische


und nationalsozialistische Gruppen bis 193378

Seit dem Ersten Weltkrieg war nicht mehr zu übersehen, dass das Denkmal zunehmend nicht nur
politisch, sondern auch parteipolitisch instrumentalisiert wurde. Das Denkmal war in doppelter Stoß-
richtung eingesetzt worden: nach innen im Sinne des Burgfriedens – Wilhelm II. 1914: „Ich kenne
keine Parteien, ich kenne nur Deutsche!“ –, nach außen gegen die Feinde Frankreich und Italien. Nach
dem Krieg wurde der Germanen-Mythos gegen den Versailler Vertrag mobilisiert: ‚Germania in Ketten‘
war ein beliebtes Motiv. Das Denkmal wurde zunehmend Treffpunkt völkischer Gruppen. Die Groten-
burg avancierte zur nationalen Wallfahrtsstätte und wurde neben den Externsteinen zum Ort von Win-
tersonnenwendfeiern, beliebt bei Völkischen und Germanenbegeisterten um Wilhelm Teudt.79

78 Mellies (2004). vereinnahmt bzw. mit diesen zusammenarbeitend, zer-


79 Der ausgebildete Theologe und selbst ernannte Germa- fiel auch dies Bündnis rasch. Seine Thesen wurden von
nenforscher Wilhelm Teudt (1860–1942) lebte seit 1921 der seriösen Wissenschaft nie anerkannt. Derzeit ist er-
in Detmold und versammelte in den 20er Jahren im Lip- neut der politische Streit darüber entflammt, ob ihm die
pischen völkische, neuheidnische und esoterische Ehrenbürgerschaft der Stadt Detmold entzogen werden
Kreise um sich. Zeitweise von den Nationalsozialisten solle.

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 309


Abb. 14 | Wahlplakat der NSDAP zur lippischen Landtagswahl.

Auch wurde sie zum beliebten Ausflugsziel für die ‚alte Garde‘ der NSDAP. Im Unterschied zur Deu-
tung durch konservative Kreise, die vorwiegend rückwärtsgewandt die germanische Vorzeit beschwo-
ren hatten, richtete sich die Erwartung der Nationalsozialisten auf einen zukünftigen neuen Führer, der
wie Arminius zu Einheit und Stärke führen solle. Anlässlich des Reichstagswahlkampfes im Sommer
1932 veranstaltete die NSDAP eine Großkundgebung am Hermannsdenkmal, und der kurze lippische
Landtagswahlkampf zur berühmt-berüchtigten Wahl vom 15. Januar 1933 wurde als ‚Zweite Schlacht im
Teutoburger Wald‘ bezeichnet und unter der Parole geführt: ‚Macht frei das Hermannsland!‘

6. Schwierigkeiten der Nachkriegsgeneration mit Nationalsymbolen nach 1945.


1950: 75 Jahre Hermannsdenkmal, 1975: 100 Jahre Hermannsdenkmal, 2000: 125 Jahre
Hermannsdenkmal und 2009: 2000 Jahre Varusschlacht80

Nach dem Zweiten Weltkrieg war alles Nationale verpönt, und eine Fortsetzung der Hermannsdenk-
mal-Feiern im überkommenen Stil war undenkbar; offiziell fürchtete man jede Politisierung. Die Dis-
tanzierung der Deutschen von allem Nationalen führte dazu, dass das Hermannsdenkmal heute fast
ausschließlich nur noch als regionales Identifikationsmerkmal dient, das touristisch vermarktet wird
für Lippe als ‚Land des Hermann‘.
1950 entschloss man sich anlässlich von 75 Jahren Hermannsdenkmal, das Programm bewusst
unpolitisch zu halten: Modenschauen, Kochwettbewerbe, Sportveranstaltungen, eine Gedächtnisaus-

80 Schlichting (2008) 83–103.

310 HEIDE BARMEYER


stellung für Ernst von Bandel und andere politisch unverf ängliche touristische Attraktionen ohne
Bezug zu Hermann oder Arminius oder zur Varusschlacht wurden angeboten.81 Nur eine einzige Groß-
kundgebung der Ostvertriebenen sprengte diesen Rahmen. Ein Gedenkstein mit der Aufschrift: „Deut-
sche Frauen und Männer bekennen sich anlässlich des 75-jährigen Bestehens des Hermannsdenkmals
einmütig zur Einigung der Völker durch den Frieden“ ließ für patriotische Revisions- und Territorial-
forderungen keinen Raum.
1975 beging man einhundert Jahre Hermannsdenkmal. Die unmittelbare Nachkriegszeit war vor-
bei, die Bundesrepublik befand sich in einer günstigen Situation. Am traditionellen Datum, dem 16. Au-
gust, gab es eine offizielle Feier mit dem Bundesinnenminister Werner Maihofer und einer Festrede
von Thomas Nipperdey zum Thema: „Hermannsdenkmal und nationale Tradition“. Eine Ausstellung
im Lippischen Landesmuseum ‚Germanen und Römer‘ und eine in der Lippischen Landesbibliothek
zu Ernst von Bandel sowie eine Vortragsreihe zeigen den gewählten kritisch-wissenschaftlichen Zu-
gang zum Thema ‚Denkmal‘.
Dieser Linie folgte auch das verantwortliche Kuratorium, der Lippische Landesverband, im Jahr
2000, als man das 125-jährige Jubiläum des Denkmals mit einem wissenschaftlichen Symposium beging.
In Jahr 2009 nun wurde in einer großen Verbundausstellung zum Thema ‚Imperium – Konflikt –
Mythos‘ in Haltern, Kalkriese und Detmold des Ereignisses 9 n. Chr. gedacht. War die Tendenz im
20. Jahrhundert eher gewesen, vom gesamt-deutschen Rahmen sich immer mehr auf die Region Lippe
zurückzuziehen, so war dies 2009 anders. Das Hermannsdenkmal und damit der Germanen-Mythos
standen nicht allein, sondern wurden mit Kalkriese und Haltern eingebunden in die römische Ge-
schichte und die wissenschaftlichen Kontroversen um den Ort der Schlacht. Durch die Schirmherrschaft
der Bundeskanzlerin erhielt die Ausstellung wieder überregionalen, gesamtstaatlichen Charakter. Ins-
gesamt bemühte man sich darum, ohne Indoktrination auf dem derzeitigen Stand wissenschaftlicher
Erkenntnis zu informieren. Durch die drei miteinander kooperierenden Ausstellungsstandorte wurde
außerwissenschaftlich begründetes regionales Konkurrenzdenken zurückgedrängt. In den Eröffnungs-
ansprachen klang in Abgrenzung von überholtem und gef ährlichem Nationalismus Mut zu einem un-
verkrampften Patriotismus an. Ob unser Umgang mit nationalen Mythen wieder unbefangener wird,
wie die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den anstehenden Fragen erfolgen wird, ob
politischer Einfluss oder touristische Interessen sich doch noch durchsetzen – das können wir abschlie-
ßend heute noch nicht sagen. Aber unsere rechtsstaatlich gesicherte Meinungsfreiheit und Meinungs-
vielfalt begründet die Hoffnung, dass Arminius in Zukunft nicht, wie in der Vergangenheit mehrfach
geschehen, zu neo-nationalistischen Zwecken missbraucht wird, auch wenn man andererseits durch-
aus ein Fragezeichen hinter die häufig positiv gewertete mythenpolitische Abstinenz und Symbolarmut
deutscher Politik setzen kann.

Überlegungen zur Problematik nationaler Mythen in Deutschland

An diese letzte Feststellung seien abschließend einige grundsätzliche Überlegungen zu Bedeutung und
Funktion politischer Mythen angeschlossen. Zur allgemeinen Problematik hat Herfried Münkler in sei-
nem schon erwähnten Buch erhellende analytische Deutungen angestellt, die nun hier abschließend in
Bezug auf das Hermannsdenkmal herangezogen werden sollen.

81 Nockemann (1975) 62f.

DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 311


Das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald ist ein besonders gutes Beispiel für einen politi-
schen Mythos. Mythos wird verstanden als kollektive Erinnerung, die für die Identitätsbildung einer
politischen Gemeinschaft von Bedeutung ist. Losgelöst von historischer Faktizität wird er unter Gegen-
wartsbezug von jeder sozialen Generation neu erzählt und dadurch verändert und kann so seine hand-
lungsleitende und orientierende Funktion gemäß den aktuellen Herausforderungen erfüllen. Auf diese
Weise wandelt er sich fortlaufend entsprechend dem Erfahrungsraum und Erwartungshorizont der
jeweiligen sozialen Generation. Neben der narrativen Form, der Erzählung, kann er auch in ikonischer
Verdichtung und durch rituelle Inszenierung Wirkung entfalten.
Am Beispiel des Hermannsdenkmals haben wir die ikonische Verdichtung – also den eher stati-
schen Aspekt – des Mythos vor uns, der dann jedoch seine generationenspezifische Auslegung und
Funktionalisierung durch die Inszenierung politischer Feste erf ährt.
Diesem Grundgedanken folgte die Darstellung der Geschichte des Hermannsdenkmals von seiner
Konzeptionierung bis zu seiner Vermarktung zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Im Vordergrund stand dabei das 19. Jahrhundert, weil Deutschland, das ,verspätet‘ zu moderner
Nationalstaatsbildung gelangte, kompensatorisch eine ‚Denkmalswut‘ entwickelte – wie kritische Zeit-
genossen formulierten. Münkler spricht davon, das Bildungsbürgertum habe bis 1871 seine nationalen
Erwartungen und Anstrengungen als Ersatz für politische Partizipation auf das Feld des Symbolischen
werfen müssen. Es bediente sich dabei verstärkt seit dem Vormärz der neuen Artikulationsformen Ver-
ein, Presse und Denkmalbau, die bis dahin obrigkeitlich okkupiert gewesen waren; also schon dies ein
Akt politischer Emanzipation, wenn auch in realistischer Rücksicht auf Erfolgsmöglichkeiten in sei-
nem revolutionärem Potential dadurch entschärft, dass man mit den überkommenen Obrigkeiten zu-
sammen ging.
Mit der Bismarckschen kleindeutschen Reichsgründung wandelte sich die dem nationalen Mythos
zugrundeliegende Funktion: Die anfangs noch fortwirkenden kulturnationalen und völkerverbinden-
den Elemente traten immer mehr zurück, und die Staatsnation verstand sich zunehmend nationalis-
tisch-aggressiv in Konfrontation mit der gegnerischen Nation Frankreich, das zum ‚Erbfeind‘ avancierte.
Spätere Generationen, denen die staatliche nationale Einheit zur Selbstverständlichkeit geworden war,
wandten den Mythos von Einheit und Stärke nach innen und beschworen ihn gegenüber sogenannten
inneren ‚Reichsfeinden‘, wenn es galt, diese als politisch unzuverlässig oder später als ‚artfremd‘ zu dif-
famieren.
Diese Fehlentwicklung und Perversion während des 20. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass die
Bundesrepublik auf politische Mythen verzichtete oder höchstens Konsummythen zuließ. Ob diese
Abstinenz für große Gemeinschaften, ihren Zusammenhalt, ihre politische Orientierung und Hand-
lungsf ähigkeit auf Dauer tragf ähig ist, darüber zu spekulieren ist nicht Aufgabe der Historikerin. Auch
hierzu sei auf die philosophisch-politologischen Anregungen Münklers zustimmend verwiesen.

312 HEIDE BARMEYER


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DENKMALBAU UND NATIONALBEWEGUNG 313


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314 HEIDE BARMEYER


Henning Holsten

Arminius the Anglo-Saxon


Hermannsmythos und politischer Germanismus in England und den USA

Als im August 1875 Ernst von Bandel in einem pompösen Festakt dem deutschen Volk das Hermanns-
denkmal auf der Grotenburg übergab, kam nicht nur ein ungewöhnliches Bauprojekt zu einem späten
Abschluss. Jahrzehntelang hatte der Bildhauer an dem Monument gearbeitet, um dessen Finanzierung
gekämpft und seinen Symbolgehalt von deutscher Einigkeit und Freiheit den wechselnden national-
politischen Konjunkturen angepasst.1 38 Jahre nach der Grundsteinlegung feierte nun die im Teutobur-
ger Wald versammelte vieltausendköpfige Festgemeinschaft nicht nur die Vollendung eines künstleri-
schen Lebenswerkes, sondern auch die Verwirklichung des dahinter stehenden patriotischen Traumes:
die Gründung eines deutschen Nationalstaats. Mit Bezug auf die vermeintlichen Einigungsbestrebun-
gen des im Denkmal verewigten Germanenfürsten Arminius wurde die Reichsgründung von 1871 zum
finalen Triumph in einem Jahrhunderte währenden Kampf um nationale Einheit und Selbständigkeit
erhoben, die Vernichtung der römischen Legionen mit dem Sieg über den französischen ‚Erbfeind‘
bei Sedan verglichen und der ‚ewige Kampf gegen Rom‘ bis in den gegenwärtigen konfessionspoliti-
schen Konflikt im Kulturkampf hineinprojiziert.2 Mit seinem hoch erhobenen Schwert symbolisierte
der monumentale Hermann die innere Einheit und den äußeren Machtanspruch des deutschen Kaiser-
reiches.
Auch im Ausland nahm die Presse durch eine intensive Berichterstattung und Kommentierung
Anteil an dieser symbolpolitischen Demonstration deutscher Einigkeit und Stärke.3 Schon im Vorfeld
hatte die britische und amerikanische Tagespresse ihren Lesern das Bandelsche Lebenswerk als eighth
wonder of the world angekündigt.4 Bei der Enthüllung des Denkmals saßen Korrespondenten von min-
destens drei englischsprachigen Zeitungen – dem Manchester Guardian, der Londoner Daily News und
dem New York Herald – auf der Pressetribüne und telegrafierten umfangreiche Festberichte an ihre
Redaktionen.5 Allgemein zeigte man sich in der angelsächsischen Presse stark beeindruckt von der
Monumentalität des Kunstwerks und der patriotischen Begeisterung der deutschen Bevölkerung. Der
im Denkmal verewigte national hero Arminius wurde zumeist in Anlehnung an Tacitus als Liberator of
Germany oder Deliverer of Germany from the Roman yoke vorgestellt.6
Britische Kommentatoren warnten allerdings auch davor, den liberator Germaniae zum Vorkämpfer
eines ewigen Rassenkampfes zwischen Romanen und Germanen zu stilisieren: There is at least a danger,

1 Zur Baugeschichte siehe Tacke (1995) und Ritzmann glichen – siehe Times vom 18. 8. 1875, Northern Echo
(2006). (Darlington) vom 17. 8. 1875 und Galveston Daily News
2 Zu den Einweihungsfeiern siehe Dörner (1996) und (Houston) vom 25. 8. 1875.
Mellies (2009). Zum Gipfel der literarischen Arminius- 5 Siehe Guardian vom 20. 8. 1875, Daily News vom 17 u.
begeisterung in dieser Zeit siehe Hansen (1974). 18. 8. 1875 und New York Herald vom 16. 8. 1875. Schmidt
3 Eine Untersuchung zum Einweihungsfest als trans- (1975) 27 nennt auch einen Korrespondenten der Times,
nationales Medienereignis steht noch aus. Erste Hin- doch findet sich in der Zeitung kein eigener Korrespon-
weise zu internationalen Pressestimmen liefert Schmidt dentenbeitrag aus Detmold, nur ein Bericht der Nach-
(1975) 18, 27f. und 47f. richtenagentur Reuters am 17. 8. 1875.
4 Times vom 27. 5. 1875, zitiert in New York Times vom 6 Boston Journal vom 11. 8. 1875 und Karl Blind, „Armin,
7. 6. 1875, Boston Journal vom 11. 6. 1875 und Chicago Tri- the Liberator of Germany“, in: Fraser’s Magazine 12
bune vom 13. 6. 1875. In den Festberichten wurde das (1875), 243; vgl. auch The Academy 172 (1875), 204f. und
Denkmal auch häufig mit dem Koloss von Rhodos ver- Chicago Tribune vom 19. 8. 1875.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 315


mahnte die Londoner Times, that Hermann should be accepted as the symbol of war instead of as the forerun-
ner of liberty.7 Hintergrund dieser Ermahnung war die noch frische Erinnerung an die gerade erst über-
standene ‚Krieg-in-Sicht‘-Krise vom Frühjahr 1875, in der ein möglicher deutscher Präventivschlag ge-
gen das wiedererstarkte Frankreich nur durch eine entschiedene diplomatische Intervention Russlands
und Englands verhindert worden war.8 Die auftrumpfende Siegerpose des Denkmalshelden sowie der
militant-antifranzösische Tenor einiger Festreden und deutscher Pressestimmen weckten die Befürch-
tung, der gerade abgewendete Konflikt könnte wieder eskalieren. Entschieden wandten sich einige eng-
lische Kommentare gegen diesen neuen German Chauvinism und die Instrumentalisierung des Her-
mannsmythos für machtpolitische Zwecke.9
Unbefangener kommentierte hingegen die amerikanische Presse das Hermannsfest im Teutobur-
ger Wald. Insbesondere deutschsprachige Kommentatoren priesen Arminius als den ersten „Vorkämp-
fer“ und „Märtyrer deutscher Nationaleinheit“, der durch seine „Unabhängigkeitserklärung der That“
das Beispiel für die Reichsgründung gegeben habe.10 Aber auch die englischsprachige Presse feierte
den germanischen Helden als Washington of ancient Germany oder gar als greatest patriot that ever lived
and conquered for liberty.11 Mit Blick auf die bevorstehende Hundertjahrfeier der Declaration of Indepen-
dence sahen amerikanische Zeitungen das Hermannsdenkmal als Vorbild für das seit Jahren stockende
Projekt eines Washington Memorials.12 Ein englischer Spötter schlug gar vor, das für europäische Ver-
hältnisse völlig überdimensionierte Denkmal über den Atlantik zu schicken, Hermann zum amerika-
nischen Revolutionsgeneral umzukleiden und in Bunker Hill aufzustellen.13 Ganz ernsthaft wurde die
Parallelisierung von germanischem und amerikanischem Unabhängigkeitskampf hingegen in einem
Leitartikel der New York Times gezogen, der den Monopolanspruch des reichsdeutschen Hermannskul-
tes offen in Frage stellte und den darling hero of German folk-lore kurzerhand zum Urvater der ameri-
kanischen Verfassung erklärte: Hermann sei nicht nur ein hero whom all Teutonic folks may fitly honor,
sondern zuallererst ein angelsächsischer Held und letztendlich der Begründer der genesis of American
freedom.14
Arminius als teutonischer Gründervater der Vereinigten Staaten und die Varusschlacht als Urknall
der amerikanischen Geschichte? Was auf den ersten Blick bizarr anmutet, steht tatsächlich in einer län-
geren, von der deutschen Forschung allerdings bisher wenig beachteten angelsächsischen Tradition.
Während die Bedeutung Hermanns als zentrale Symbolfigur der deutschen Germanenideologie bereits
oft und detailliert herausgearbeitet wurde, existiert bis heute keine vergleichbare Untersuchung für den
englischen Sprachraum.15
An dieser Stelle soll deshalb der Kult um Herman the German in einen breiteren, transnationalen
Zusammenhang gestellt werden. Anknüpfend an die häufig zitierten, aber bis heute kaum weiterver-

17 Times vom 17. 8. 1875. Das Times-Editorial wurde von schen Aneignungen des Hermannsmythos, die 1897 in
zahlreichen Zeitungen nachgedruckt, so z.B. von der der Errichtung eines Paralleldenkmals in New Ulm,
Manchester Times vom 21. 8. 1875, Lloyd’s Weekly News- Minnesota, kulminierten, siehe bisher nur die ältere
paper vom 22. 8. 1875 und dem walisischen Baner ac Am- Studie von Sandow (1956).
serau Cymru vom 1. 9. 1875. Ähnlich kritisch kommen- 11 Reynolds’s Weekly Newspaper vom 22. 8. 1875 und Balti-
tierte die Pall Mall Gazette vom 17. 8. 1875. more Sun vom 18. 8. 1875.
18 Siehe hierzu neuerdings und umfassend Janorschke 12 Daily Critic (Washington) vom 19. 8. 1875 und Baltimore
(2010). Correspondent vom 21. 8. 1875.
19 „German Chauvinism“, Economist vom 21. 8. 1875, und 13 Manchester Guardian vom 28. 5. 1875.
Saturday Review 40 (21. 8. 1875), 223f. 14 New York Times vom 18. 8. 1875.
10 Siehe Illinois Staats-Zeitung (Chicago) vom 16. 8. 1875 15 Siehe zum deutschen Hermannskult Kuehnemund
und Heinrich Armin Rattermann, „Eine Unabhängig- (1966), Unverfehrt (1981), Wiegels (2007), Münkler
keitserklärung Deutschlands“, in: Der Deutsche Pionier 7 (2009), Kösters (2009) und den Ausstellungsband My-
(1875/1876), 236. Zu den spezifisch deutschamerikani- thos (2009).

316 HENNING HOLSTEN


folgten Überlegungen Heinz Gollwitzers zum internationalen Phänomen des politischen Germanismus
wird untersucht, wie englische und amerikanische Autoren im 18. und 19. Jahrhundert den antiken
Cheruskerfürsten zum Zwecke der nationalen Identitäts- und politischen Legitimitätsstiftung instru-
mentalisierten.16 Anhand eines breiten Spektrums von literarischen, wissenschaftlichen und publizis-
tischen Quellen soll gezeigt werden, dass die Rückführung politischer Institutionen und nationaler
Charaktereigenschaften auf ein idealisiertes Germanentum keineswegs Ausdruck eines deutschen
Sonderweges war, sondern Teil eines transatlantischen Diskurses über die primordialen Wurzeln der
modernen Zivilisation.

Frühe Dramatisierungen der Arminiuserzählung in England

Am Anfang der Rückbesinnung auf die germanische Abstammung stand in England wie in Deutsch-
land ein römischer Historiker. Die Wiederentdeckung der Germania und der Annalen des Tacitus zu Be-
ginn der Frühen Neuzeit hatte für das europäische Geschichtsbewusstsein langfristig kaum zu über-
schätzende Auswirkungen, die bereits Alexander von Humboldt mit der Entdeckung Amerikas durch
Kolumbus verglichen hat.17 Insbesondere Tacitus’ Sittengemälde der germanischen Stämme eröffnete
den Blick in eine neue Welt einer Antike, die weder römisch noch christlich war und dadurch neue
Möglichkeiten der Konstruktion historischer Traditionen bot. Seine Beschreibungen der kriegerischen
Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen lieferten zudem vielf ältige Anknüpfungs-
punkte für eine geschichtspolitische Aufladung gegenwärtiger Konflikte. So verwiesen zunächst italie-
nische Gelehrte und Kirchenvertreter auf Tacitus, um das Kulturgef älle zwischen dem barbarischen
Norden und dem zivilisierten Italien zu belegen. Deutsche Humanisten und Reformatoren hingegen
beriefen sich in ihrem Kampf gegen die korrupte katholische Kirche auf die einfachen, aber sittenrei-
nen und freiheitsliebenden Germanen und stellten den römischen Caesaren ihren siegreichen Kriegs-
fürsten Arminius gegenüber, den sie in Hermann umtauften.18 Im 17. Jahrhunderts legitimierten
französische Adlige ihre Privilegien gegenüber Volk und König mit ihrer Abstammung von den germa-
nischen Eroberern der vorchristlichen Zeit, während in England die immemorial tradition der angelsäch-
sischen Freiheitsrechte gegen die Vorrechte des Adels und den Herrschaftsanspruch der katholischen
Dynastie der Stuarts ins Feld geführt wurde.19 Diese politische Tradition – und nicht die deutschen Zu-
stände – hatte auch Montesquieu vor Augen, als er 1748 in seiner berühmten Schrift vom Esprit des lois
die freiheitlichen Prinzipien der englischen Verfassung auf die von Tacitus beschriebenen Stammesge-
meinschaften ,in Germaniens Wäldern‘ zurückführte.20
Ebenso wenig wie die politischen Aneignungen der Germanenideologie blieben die literarischen
Verarbeitungen des Hermannsmythos auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Es waren vielmehr
die Franzosen Georges de Scudéry und Jean Galbert de Campistron, die dem „teutschen Ertz-Helden“21
erstmals auf die Bühne verhalfen. Sie lieferten damit die Vorlagen für dutzende Arminius-Opern,
die im Barockzeitalter vorwiegend von damals europaweit tonangebenden italienischen Librettisten

16 Siehe Gollwitzer (1971). 20 Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Görlitz
17 Siehe Pralle (1952) 9. Vgl. Thom (1995). 1804, Bd. 1, 306. Als 1782 die erste deutsche Über-
18 Siehe Fuhrmann (1982), Kloft (1990), Kösters (2009) setzung erschien, waren in London bereits sieben eng-
und Münkler (2009). lische Ausgaben veröffentlicht worden. Vgl. Kösters
19 Vgl. die älteren Standardwerke von Hölzle (1925), Kliger (2009) 135 zur deutschen Rezeption.
(1952) und Hill (1965). 21 Christoph Adam Negelein, Arminius. Der Teutschen Ertz-
Held, Nürnberg 1697.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 317


stammten.22 Keineswegs zuf ällig handelt es sich deshalb bei dem wohl bedeutendsten Werk dieses The-
mas, Georg Friedrich Händels 1737 im Londoner Covent Garden uraufgeführtem Arminio, um eine
europäische Koproduktion: Die Vorlage für das Libretto des deutschstämmigen Komponisten lieferte
der Florentiner Antonio Salvi, der sich seinerseits an Campistrons stilprägender tragédie amoureuse von
1685 orientiert hatte.23
Den Konventionen der barocken opera seria entsprechend steht im Zentrum der Handlung nicht
der kriegerische Konflikt zwischen Römern und Germanen, sondern der ritterliche Wettstreit zwischen
Arminius und Varus um die Liebe Thusneldas. Am Ende triumphiert der germanische Held über
seinen römischen Nebenbuhler und versöhnt sich durch eine generöse Geste des Vergebens auch mit
seinem intriganten Schwiegervater Segestes. Dabei verkörpern die Protagonisten weniger nationale Ge-
gensätze oder politische Prinzipien, sondern stehen für fürstliche Tugendideale gemäß dem zeitgenös-
sischen aristokratischen Ehrenkodex. Doch auch Händels Arminio ist keineswegs frei von nationalpoli-
tischen Konnotationen. So lässt sich schon die Wahl des Stoffes als Parteinahme werten, denn obwohl
der Höhepunkt der Whig-Agitation zur Verteidigung der aus Germanien stammenden Gothic liberties
bereits überschritten war, galt auch im England des frühen 18. Jahrhunderts bereits eine Beschäftigung
mit germanischen Stoffen als parteipolitisches Bekenntnis.24
Noch direkter und politisch brisanter war der Bezug auf das regierende Königshaus Hannover.
Bereits George I., der erste Hannoveraner auf dem britischen Thron, war zu seiner Krönung 1714 mit
der Aufführung einer Arminius-Oper im Haymarket Theatre begrüßt worden.25 George II., der seit
1727 regierende Nachfolger, hatte seine Herrschaft, anders als sein Vater, nicht nur vor den verbliebe-
nen Anhängern der Stuart-Dynastie zu legitimieren, sondern auch gegenüber einer radikalen Whig-
Opposition, die die gemäßigte Regierung des königstreuen Premierministers Robert Walpole der Kor-
ruption und der Beschneidung traditioneller englischer Freiheitsrechte beschuldigte. Politischer
Schutzherr und Förderer dieser Patriot Opposition war der Prince of Wales und designierte Thronfolger
Frederick, der sich mit seinem Vater überworfen hatte und schließlich in offene Konfrontation mit
dem Königshof geriet.26 Ausgetragen wurde der Streit der Hofparteien nicht nur in Literatur und
Presse, sondern auch auf den Londoner Opernbühnen: Während Händels Royal Academy vom König
protegiert wurde, versammelte sich die Opposition in der 1733 von der Kronprinzenpartei gegründeten
Opera of the Nobility. Händels Aufgreifen des Arminiusstoffes, inszeniert als germanischer Familien-
konflikt, der am Ende mit der glücklichen Versöhnung von Arminius und Segestes aufgelöst wird,
kann deshalb als ein Vermittlungsversuch interpretiert werden, mit dem der Komponist nicht zuletzt
auch den durch die politische Rivalität angeheizten ruinösen Wettbewerb der Opernhäuser zu ent-
schärfen suchte.27

22 Siehe Forchert (1975), Barbon u. Plachta (1995) und Kös- (2009) 140–142. Eine weitere, stellenweise identische
ter (2009) 88–99. Fassung erschien unter dem Titel Arminio. Dramma per
23 Georg Friedrich Händel, Arminius. An Opera; as it is Per- musica 1760 in London.
form’d at the Theatre Royal in Covent Garden, London 26 Siehe für einen Überblick Goldgar (1976) und Gerrard
1737. Siehe auch zum Folgenden Kösters (2009) 102–105, (1994).
und Ketterer (2009) 142–149. 27 Vgl. Ketterer (2009) 147f. Laut einer Notiz im Londoner
24 Siehe Kliger (1952), Hill (1965), Gerrard (1994) und Gey- Daily Gazetteer vom 13. 1. 1737 besuchte der Kronprinz
ken (2002) 223. Händels Oper am 12. 1. 1737. Wie weit die Identifikation
25 Arminius. An Opera, London 1714. Laut Busby (1819) I, Fredericks mit seinen vermeintlichen germanischen
423 besuchten im Oktober 1714 kurz hintereinander der Vorfahren ging, verdeutlicht sein Plan, in Kew Gardens
wenige Tage zuvor gekrönte König und der Kronprinz eine Arminius-Statue aufzustellen – siehe Rorschach
mit ihrem Gefolge die Vorführung. Zum Inhalt und (1989/1990) 30f.
der bis heute ungeklärten Verfasserfrage siehe Ketterer

318 HENNING HOLSTEN


Wieviel politischen Sprengstoff das Thema barg, zeigte sich, als drei Jahre später William Pater-
sons Tragödie Arminius der Zensur zum Opfer fiel.28 Paterson war ein Freund und Mitarbeiter James
Thomsons, eines der berühmtesten Patriot Poets aus dem Lager des Kronprinzen.29 Frederick selbst war
seit Ende 1737 offiziell vom königlichen Hof verbannt worden, und im selben Jahr hatte sich die Regie-
rung mit dem Licensing Act ein wirksames Instrument geschaffen, um den oppositionellen Umtrieben
auf den Londoner Bühnen Einhalt zu gebieten. Als eines der ersten Stücke wurde 1739 Thomsons dem
Prince of Wales gewidmetes Drama Edward and Eleonora verboten.30 Vermutlich um seinem Arminius
ein ähnliches Schicksal zu ersparen, pries Paterson wenige Monate später in seiner Widmung Prinz
William, dem vom König bevorzugten Konkurrenten Fredericks um die Thronfolge, den Cherusker-
fürsten als Vorfahr und Vorbild an:

That young Hero, besides his illustrious Descent, was the truest Friend, the noblest Ornament
of his Country: and every good Man rejoices in the Hope that your Highness will, one day, prove
equally useful and ornamental to Great Britain. If Tradition immemoriable errs not, your Au-
gust Family is allied to him by Blood.31

Doch auch diese Demutsgeste gegenüber dem Königshaus konnte das Verbot nicht verhindern. Immer-
hin verhalf die durch den Zensurskandal verursachte öffentliche Erregung der subskribierten Druck-
fassung des Dramas zu einer stattlichen Auflage.32
Dass Patersons Arminius im Gegensatz zu Händels Arminio solchen Anstoß erregte, lag jedoch
nicht nur an den unterschiedlichen persönlichen Beziehungen der beiden Autoren zu den verfeindeten
Hofparteien. Auch inhaltlich ist Patersons Stück deutlich stärker auf Polarisierung und Konfrontation
ausgerichtet. Zwar orientiert sich auch seine dramaturgische Grundstruktur an der Vorlage Campi-
strons, doch anders als bei Händel führt die großmütige Vergebungsgeste des siegreichen Arminius ge-
genüber dem gescheiterten Römerfreund Segestes am Ende nicht zur allseitigen Versöhnung, sondern
zur moralischen Demütigung des bloßgestellten Verräters. Auch stehen sich Römer und Germanen
nicht als gleichwertige Gegner gegenüber. Scharf wird die überzivilisierte, verweichlichte Dekadenz
Roms mit der einfachen, aber unverdorbenen und mannhaften Tugend des germanischen Helden kon-
trastiert:

Arminius: What is her wisdom? Poor Deceit and Cunning.


Her Elegance of Life? luxurious poison.
And what her Virtues all but splendid Crimes?
Give me, ye Gods! the plain unconquer’d German,
Rich in hard Toil, and opulent in Freedom;
Unpolish’d into Vice, and void of Guile,
Of rough, but kind and hospitable Heart.33

28 Arminius. A Tragedy. As it was to have been acted at the 30 Siehe McKillop (1958), Conolly (1976) 57ff. und Kinser-
Theatre-Royal in Drury-Lane, London 1740. Die For- vik (2002) 104f.
schungsliteratur zu Paterson und seinem einzigen lite- 31 Paterson, Arminius, S. iiif.
rarischen Werk beschäftigt sich vorwiegend mit den 32 McKillop (1958) 452 spricht von 400 fine und 2000 com-
Gründen des Verbots. Siehe auch zum Folgenden Grant mon Exemplaren. Zur öffentlichen Debatte siehe London
(1951) 191, McKillop (1958) 452, Loftis (1963) 150, Scou- Evening Post vom 8. 1. 1740, Daily Post vom 11. 1. 1740,
ten (1965) liii, Conolly (1976) 59–62, Gerrard (1994) The Champion 1 (1740), 185, Gentleman’s Magazine 10
115f. und Kinservik (2002) 105. (1740), 32, Scots Magazine 2 (1740), 40.
29 Siehe Grant (1951) 191 u. 261. 33 Paterson, Arminius, S. 19.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 319


In pathetischen Versen proklamiert Patersons Arminius die zentralen politischen Ideale der Patriot
Poets: unkorrumpierbare Tugend und männlichen Kampfgeist, überschwänglichen Patriotismus und
Freiheitsliebe, die sich in dem unbezwingbaren Willen to crush the Tyrant vereinen.34 Seinen histori-
schen Ort findet der das Stück durchwehende Geist der Freiheit nicht mehr in dem von allen republi-
kanischen Tugenden verlassenen degenerate Rome der Kaiserzeit, sondern auf den guiltless uncorrupted
Plains des rugged North.35 Damit war nicht nur ein nationaler Überlegenheitsanspruch gegenüber dem
Süden verbunden, sondern auch eine innenpolitische Frontstellung – denn unter einem König, der sich
stolz ‚Augustus‘ nannte und damit seiner Epoche den Namen gab, barg ein betont anticäsarisches Ge-
schichtsbild ein beträchtliches oppositionelles Potential.36 Patersons im Prolog verkündete Moral seines
Stücks How nobler, kinder far / Than a false treacherous Peace is open War lässt sich zudem als tagespoli-
tische Kritik an der Walpole-Regierung interpretieren, die den von der Opposition vehement geforder-
ten, im Oktober 1739 begonnenen Krieg gegen Spanien nur widerwillig und halbherzig und mit ent-
sprechend bescheidenem Erfolg führte.37

Arminius in der englischen Herrschaftspanegyrik des 18. Jahrhunderts

Wie eng Freiheitspathos und Kriegsbegeisterung, dynastische Tradition und Nationalstolz im Armini-
us-Stoff verbunden und aktualisiert werden konnten, zeigte sich zwei Dekaden später im Siebenjähri-
gen Krieg. Die antifranzösische Allianz mit Preußen hatte bereits 1758 einen amerikanischen Kolonis-
ten in Maryland dazu verführt, den protestant champion Friedrich II. als Royal Comet zu verherrlichen,
dessen Schweif bis weit in die gemeinsame germanische Frühzeit reiche:

In Woden’s bold figure, three thousand years past,


O’er ancient Germania it’s lustre is cast:
Next, wearing Arminius thy form, it return’d;
And, fatal to Rome’s blasted legions, it burn’d.
Now, attended with all the thunders of war,
Our Prussia’s great Frederick is that Blazing Star!38

Zwei Jahre später war es Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg, der Sieger der Schlacht von Minden,
der in der englischen Presse in eine Traditionslinie mit dem Sieger der Varusschlacht gestellt wurde.39
Nachdem der von Paterson 1740 noch mit so hohen Erwartungen beladene Prinz William vor dem fran-

34 Paterson, Arminius, S. 36. manns finden sich in der deutschen Literatur erst zwan-
35 Paterson, Arminius, S. v. Ähnlich bereits James Ralph, zig Jahre später – siehe Paul von Hofmann-Wellenhof,
The Loss of Liberty; or Fall of Rome, London 1733, und Zur Geschichte des Arminius-Cultes in der deutschen Litera-
Thomsons berühmtes Versepos Liberty, London 1735 tur, 3 Bde., Graz 1887/1888, Bd. 3, 30f. Sehr viel verbrei-
/1736. Siehe zur Vorstellung einer translatio libertatis von teter war jedoch auch in der umfangreichen englischen
den Römern zu den germanischen Völkern des Nordens Friedrich-Panegyrik der Vergleich mit Julius Caesar
ausführlich Müllenbrock (1974) 240ff. und Alexander dem Großen – siehe Schlenke (1963)
36 Siehe zur dangerous equation of King and Caesar, Augustus 347–370.
and George Augustus bei Thomson, Paterson u.a. Oppo- 39 „A Parallel between Prince Ferdinand of Brunswick and
sitionsliteraten der augusteischen Zeit Gerrard (1994) Arminius“, in: British Magazine 1 (1760), 113–115. Nach-
113–116. Vgl. Weinbrot (1978). gedruckt wurde diese anonyme Eloge u.a. am 1. 3. 1760
37 Paterson, Arminius, S. v. Vgl. Conolly (1976) 61 und im Universal Chronicle and Westminster Journal und,
Goldgar (1976) 179–185. Jahrzehnte später, in Elisa Rogers, The Lives of the twelve
38 James Sterling, „The Royal Comet“, in: American Maga- Caesars, Bd. 2, London 1811, 21–26.
zine & Monthly Chronicle 1 (1758), 550. Vergleichbare
Parallelisierungen der Heldentaten Friedrichs und Her-

320 HENNING HOLSTEN


zösischen Invasionsheer schmählich kapituliert hatte, brachte 1759 der Sieg der norddeutsch-britischen
Allianz bei Minden, unweit des Teutoburger Waldes, eine entscheidende Wende im schon verloren ge-
glaubten Krieg.40 Der mit dem englischen Königshaus verschwägerte Herzog Ferdinand stand zwar im
Dienste Preußens, doch wurde er auch in London umstandslos zum Nationalhelden erklärt und als
Reinkarnation des Cheruskers Arminius gefeiert, des undaunted assertor of German Freedom against the
tyrannous encroachments of Roman power.41 Überall sah man Parallelen zwischen dem Germanenfürsten
und dem braunschweigischen General:

They were of the same country, the same family, the same age, the same accomplishments, the
same talents, the same virtues, engaged in the same cause, at the head of the same people,
against nearly the same confederacy of their own countrymen; acted on the very same ground,
and were favoured by heaven with the same glorious success.42

Noch direkter wurde die Herkunft der englischen Nation und ihres Königshauses aus den germani-
schen Wäldern schließlich 1763 von Philip Doyne postuliert. In einem Huldigungsgedicht anlässlich
der Geburt des späteren Königs George IV. kürte er Prince Arminius, den firm champion of Germanick
liberty und Saxon hero [who] crush’d tyrannick power and set his country free,43 zum Stammvater der Angel-
sachsen und der Hannoveraner Dynastie:

From him the godlike race decends,


And o’er Germania’s states extends;
… Remov’d from Weser’s streams,
To the more glorious banks of the Thames,
Behold the virtues of the Brunswick soul,
Run like those floods, augmenting as they roll;
Fair race arise, with grateful smiles,
Bless this queen of ocean’s isles,
Ascend the throne of liberty,
And rule, the only subjects that are free.44

Derartige Abstammungsmythen waren in der englischen Panegyrik des 18. Jahrhundert nicht unüb-
lich. Schon Wilhelm von Oranien war 1702 als Vertreter einer Godlike Race, in deren Adern germani-
sches Blut floss, gefeiert worden, und George I. wurde 1718 als Erneuerer der Royal Race einer old Saxon
Line willkommen geheißen.45 Da auch das englische Volk von Saxon Ancestors abstammte, konnte die
Thronfolge eines deutschen Königs so als Wiedervereinigung zweier stammverwandter Völker under
the Protection and Influence of the same common Parent legitimiert werden.46 Der Bezug auf Arminius lag
auch deshalb nahe, weil man annahm, dass auf hannoveranischem Boden bereits die Cherusker gesie-

40 Siehe McLynn (2004) 254ff. 44 Doyne, Triumph, 20.


41 British Magazine 1 (1760), 114. Betont wurden auch his 45 John Hughes, The House of Nassau, London 1702, 1 und
incorruptible patriotism, and his enthusiastic love of liberty. The Illustrious Modern, London 1718, 1. Mit betont pro-
42 British Magazine 1 (1760), 115. Vgl. für eine spätere deutscher und antifranzösischer Stoßrichtung auch
Übernahme des Vergleichs in der Geschichtsschrei- Samuel Wesley, Marlborough; or, The Fate of Europe, Lon-
bung Philip Henry Stanhope, History of England from don 1705, und A Poem on the Anniversary of the Birth-Day
the Peace of Utrecht to the Peace of Paris, Bd. 4, London of His Majesty King George, London 1717.
1844, 342. 46 Bischof Edmund Gibson in seiner „Dedication“ zur
43 Philip Doyne, The Triumph of Parnassus. A Poem. On the zweiten Auflage von William Cambdens Britannica,
Birth of His Royal Highness the Prince of Wales, Dublin London 1722, i. Siehe für weitere Beispiele Gerrard
1763, 12 u. 19. (1994) 117–121.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 321


delt und womöglich auch ihre Schlachten gegen die Römer ausgefochten hatten.47 Problematisch für
eine derartige Geschichtskonstruktion waren jedoch nicht nur die genealogischen Fakten48 oder die be-
kannte Vorliebe des Königshauses für den Beinamen Augustus,49 sondern auch gewisse Grundele-
mente der historischen Arminiuserzählung, die mit dem Anspruch einer harmonischen Vereinigung
von dynastischer, nationaler und freiheitlicher Tradition kollidierten.

Kritische Variationen des Arminiusthemas

Wie bei Tacitus nachzulesen war, endete die Geschichte des Arminius nicht mit dem Triumph im Teu-
toburger Wald. In den Feldzügen des Germanicus hatte sich der cheruskische Heerführer als militä-
risch keineswegs unbesiegbar erwiesen. Seine Rolle in den folgenden innergermanischen Stammes-
kriegen und seine Ermordung durch die eigene Verwandtschaft belegen zudem, dass er sich nicht
einmal der Gefolgschaft seiner engsten Verbündeten, geschweige denn der aller germanischen Völker
sicher sein konnte. Insbesondere sein schmähliches Ende disqualifizierte Arminius nicht nur als dy-
nastischen Ahnherrn, sondern ließ sich auch grundsätzlich gegen die monarchische Herrschaft als sol-
che ausdeuten.
Etabliert wurde diese republikanische Lesart bereits Ende des 17. Jahrhunderts durch Algernon
Sidney, der 1683 auf Befehl Charles II. enthauptet wurde. Seine posthum veröffentlichten Discourses
Concerning Government gelten als Klassiker der modernen Monarchiekritik und fanden insbesondere
unter den späteren amerikanischen Revolutionären begeisterte Leser.50 Arminius wird von Sidney
einerseits als Retter der angelsächsischen Freiheiten anerkannt; andererseits bewies sich die Freiheits-
liebe der germanischen Vorväter aber gerade darin, dass sie ihren Helden erschlugen, als dieser selbst
nach der Alleinherrschaft strebte:

The Germans had then no King: The brave Arminius had bin lately kill’d for aiming at a Crown.
When he had blemish’d all his Vertues by that attempt, they forgot his former Services …
His Valor was a crime deserving death, when he sought to make a prey of his Country, which
he had so bravely defended, and to enslave those who with him had fought for the public
liberty.51

Diese historische Rechtfertigung des Tyrannenmordes wurde 70 Jahre nach ihrer ersten Publikation
vom schottischen Radical Whig Gilbert Stuart wiederbelebt.52 Wie Sidney lobt auch Stuart die Tugenden
des Freiheitskämpfers Arminius im Kampf gegen die römischen Unterdrücker. Mit seiner Missachtung

47 Siehe Guy Miège, The Present State of His Majesty’s Domi- zungen erschienen unter dem Titel Betrachtungen über
nions in Germany, London 1722, 15 und Henry Rimius, die Regierungsformen 1793 in Leipzig und 1795 in Erfurt.
Memoirs of the House of Brunswick from the most early Siehe zum Inhalt und zur Wirkungsgeschichte Houston
Accounts of that Illustrious Family to the End of the Reign of (1991) und Nelson (1993).
King George the First, London 1750, 27ff. 51 Zitiert nach der zweiten Auflage, London 1704, 276.
48 Das Haus Hannover stand in der Nachfolge der Welfen, Ähnlich auch 347: but when he himself endeavour’d to
die in männlicher Linie ihre Ursprünge im römischen usurp a power over the Liberty of his Country which he had
Adelsgeschlecht d’Este haben. so bravely defended, he was kill’d by those he would have op-
49 Auch der von Doyne als Arminius’ Nachkomme gefei- prest.
erte Thronfolger hieß mit vollem Namen George Augus- 52 Gilbert Stuart, An Historical Dissertation concerning the
tus Frederick; vgl. Weinbrot (1978). Antiquity of the English Constitution, Edinburgh 1768.
50 Algernon Sidney, Discourses Concerning Government, Eine deutsche Übersetzung erschien 1779 in Lübeck.
London 1698. Bis 1805 erschienen in Großbritannien Vgl. Kidd (1993) 239–246.
und Amerika acht weitere Auflagen. Deutsche Überset-

322 HENNING HOLSTEN


des free and limited mode of government53 seines Volkes habe der Deliverer of Germany jedoch sein eigenes
Todesurteil gesprochen:

Yet his nation, too much in love with freedom to be dazzled by his virtues, or his services,
declared him an enemy, and a traitor … So strong an aversion did the Germans entertain to
tyranny!54

Ähnliche Vorstellungen einer demokratischen altgermanischen Verfassung, die nicht nur gegen römi-
sche Invasoren, sondern auch gegen Usurpatoren aus den eigenen Reihen verteidigt werden musste,
waren in den 1770er Jahren weit verbreitet und spielten eine nicht unbedeutende Rolle für die Legiti-
mation des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes.55 Ein 1771 anonym publizierter Historical Essay
on the English Constitution behauptete: Our Saxon forefathers founded their government upon the common
rights of mankind. They made the elective power of the people the first principle of our constitution.56 Ähnliche
Rückprojektionen republikanischer Ideale finden sich auch wenige Jahre später in den Political Disqui-
sitions des radikalen Reformpolitikers James Burgh.57 Die Ermordung von Arminius durch seine eige-
nen Stammesbrüder wird dort als legitime Notwehr gerechtfertigt: Those brave savages would have no
master, not even an illustrious or a gentle one.58 Für diese Vertreter der radikalen Whig-Tradition und ihre
amerikanischen Rezipienten begründete der Arminiusmythos nicht länger die dynastische Herr-
schaftstradition des englischen Königs, sondern das Widerstandsrecht des free-born Englishman gegen
ebendiesen König.
Neben dem Widerstreit von Volk und Herrscher gab es noch ein zweites in den Mythos einge-
schriebenes Element, das einer positiven Identifikation mit dem germanischen Heerführer im Wege
stand. In grellen Farben hatten manche antike Autoren die Hinterlist des römischen Ritters Arminius
und die grausamen Exzesse der siegreichen Germanen gegenüber den besiegten Gegnern im Teuto-
burger Wald beschrieben. Insbesondere Tacitus’ detailreiche Schilderung des Schlachtfeldes, wie
es Germanicus sechs Jahre später bei seiner ersten Expedition ins Cheruskerland vorfand,59 fesselte
die Imagination englischer Autoren um die Wende zum 19. Jahrhundert. Mit dazu beigetragen hatte ein
Ereignis aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges, das in den Augen mancher Zeitgenossen ebenso deut-
liche Parallelen zur Varusschlacht und ihren Folgen aufwies wie der Sieg des Herzogs Ferdinand bei
Minden.
Die Schlacht von Monongahela am 9. Juli 1755 zählt zu den schwersten militärischen Niederlagen
der britischen Kolonialgeschichte.60 Trotz zahlenmäßiger und ausrüstungstechnischer Überlegenheit
des von General Edward Braddock geführten Expeditionskorps gelang es französischen Truppen und
ihren indianischen Verbündeten, die Engländer durch einen Überraschungsangriff im unwegsamen
Gelände vernichtend zu schlagen. Zu den mehr als 700 Opfern auf englischer Seite zählte neben dem

53 Zitiert nach der zweiten Auflage, London 1770, 43. Stu- tution zusammen mit der ersten Druckausgabe der De-
art lässt keinen Zweifel daran, dass in dieser germani- claration of Independence.
schen Regierungsform auch die Wurzeln der englischen 57 James Burgh, Political Disquisitions: or, An Enquiry into
Verfassung liegen (76 u. 246). Public Errors, Defects, and Abuses, 3 Bde., London 1774/
54 Stuart, Historical Dissertation, 45f. 1775. Eine amerikanische Ausgabe erschien bereits 1775
55 Siehe auch zum Folgenden Colbourn (1965), Bailyn in Philadelphia. Zu Burgh und der Wirkungsgeschichte
(1967), Kramnick (1992) und Kidd (1999) 261–279. seines Hauptwerks siehe Hay (1979) und Kramnick
56 [Obadiah Hulme,] An Historical Essay on the English Con- (1992).
stitution: or, An Impartial Inquiry into the Elective Power 58 Burgh, Political Disquisitions III, 313.
of the People, from the first Establishment of the Saxons in 59 Siehe Pagán (1999).
this Kingdom, London 1771, 6. Eine amerikanische Aus- 60 McLynn (2004) 35. Siehe zur Schlacht selbst, ihren Hin-
gabe erschien 1776 in Philadelphia unter dem Titel The tergründen und Folgen Kopperman (1977), Anderson
Genuine Principles of the Ancient Saxon, or English Consti- (2000) und Borneman (2006).

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 323


Oberkommandierenden auch der Großteil seiner Offiziere. Die schockierte britische Öffentlichkeit
sprach von einem feigen Hinterhalt und einem blutrünstigen Massaker. Bestärkt wurde das Bild eines
‚barbarischen‘ Sieges 1758 durch die Entdeckung, dass die Franzosen ihre gefallenen Gegner unbeer-
digt in der Wildnis liegen gelassen hatten.61 Die Beschreibungen von Braddock’s Field, dem mit Kno-
chen und Leichenteilen übersäten Schlachtfeld, evozierten bei Beteiligten und Kommentatoren Erin-
nerungen an die von Tacitus geschilderten Überreste der varianischen Legionen im Teutoburger Wald.
In voller Länge druckten amerikanische und englische Blätter die entsprechenden Passagen aus den
Annalen und etablierten damit einen historischen Vergleich, der noch bis weit ins 19. Jahrhundert ge-
zogen wurde.62
Ähnliche Übernahmen der römischen Perspektive auf die Varusschlacht und eine damit ver-
bundene moralische Verurteilung germanischer Barbarei finden sich auch in der fiktionalen Literatur
der Jahrhundertwende. Bemerkenswerterweise stammen sämtliche dieser Texte aus der Feder von
Frauen. Den Anfang machte 1793 die englische Erfolgsschriftstellerin Ellis Cornelia Knight mit ihrem
Briefroman Marcus Flaminius.63 Hauptfigur und Erzähler ist ein römischer Adliger, der als Offizier in
der Armee des Quinctilius Varus dient und bei der Schlacht im Teutoburger Wald in cheruskische
Gefangenschaft gerät. Eindrücklich schildert er die Hinrichtung der römischen Tribunen und Centu-
rionen auf den germanischen Opferaltären nach der Schlacht (a sight more horrible than imagination
can form).64 Nach seiner Flucht stößt Flaminius zu den Truppen des Germanicus und kehrt mit die-
sen an den Ort des Grauens zurück. Noch einmal führt er, der einzige Überlebende, seinen Kame-
raden die abscheulichen Schandtaten des barbarous enemy vor Augen.65 Obwohl sich Knight, die eng
Tacitus’ Darstellung folgt, auch um eine Würdigung der schlichten Tugenden der germanischen
savages und barbarians bemüht, bleibt doch das Gesamturteil über den ‚Verräter‘ Arminius letztlich
negativ:

His vigilance, activity, and presence of mind, are worthy admiration; and he is perhaps one of
the bravest adversaries that ever met our legions in the field … yet, not all his bravery, nor all his
patriotism can justify his deceit to which he owes his first advantage … to undermine the great-
ness of a nation with whom you are at peace, to wear the mask of friendship till a favourable
opportunity is offered to annoy them, such a conduct, from whatever motive it may proceed,
degrades the hero and deliverer of his country.66

61 Siehe z.B. Edinburgh Magazine 3 (1759), 38f. 63 Ellis Cornelia Knight, Marcus Flaminius; or, A View of the
62 Siehe William Smith, Discourses on several Public Occasi- Military, Political, and Social Life of the Romans in a Series
ons during the War in America, London 1759, 121f., New of Letters from a Patrician to a Friend, 2 Bde., London
American Magazine (1759), 324f., und London Chronicle 1792. Deutsche Übersetzungen erschienen 1794 und
vom 17. 3. 1759. Siehe für spätere Parallelisierungen der 1803 in Dresden und Leipzig. Auch die englische Neu-
englischen mit der römischen Niederlage John Burk, auflage von 1808 wurde umgehend ins Deutsche über-
The History of Virginia. From its first Settlement to the pre- tragen. Zur Autorin siehe Luttrell (1965).
sent Day, Bd. 1, Petersburg 1804, 237f., William B. Reed, 64 Knight, Marcus Flaminius I, 3–5.
„Romance of Revolution“, in: Raleigh Register vom 65 Knight, Marcus Flaminius I, 180–186.
14. 1. 1840, Philip Henry Stanhope, History of England 66 Knight, Marcus Flaminius I, 162f. Ähnlich auch bereits
from the Peace of Utrecht to the Peace of Paris, Bd. 2, New die Wertung im Vorwort, S. x. Bemerkenswerterweise
York 1849, 366, Charles McKnight, Captain Jack, the entschuldigt sich Knight hier quasi für ihre ‚römische‘
Scout; or, The Indian Wars about Old Fort Duquesne. An Sichtweise auf den Helden der Varusschlacht und betont
Historical Novel, Philadelphia, New York u. Toronto 1873, ausdrücklich, dass die Deutschen a brave and patriotic
498–501 und Norris Stanley Barratt, Colonial Wars in people und, at present, incapable of a similar act of treachery
America, Pennsylvania 1913, 37f. seien.

324 HENNING HOLSTEN


Eine ähnliche Übernahme der römischen Perspektive findet sich in Elizabeth Hamiltons biographi-
schem Roman Memoirs of the Life of Agrippina von 1804.67 Hamilton identifiziert sich und ihre Leser
zwar mit den ‚barbarischen‘ Gegnern des Germanicus – sie nennt sie our german ancestors und würdigt
Arminius als patriotic defender of German liberty, dem alle savage virtues of a hero zugeschrieben werden.68
Dennoch werden die Römer, der überlieferten Ereignisgeschichte folgend, vor allem als Opfer und Rä-
cher germanischer Grausamkeiten beschrieben, die besonders eindringlich bei der Besichtigung des
Schlachtfelds im Teutoburger Wald veranschaulicht werden.69 Vor dem modernen Wertehorizont eines
aufgeklärten Christentums erscheinen ihr schließlich beide Parteien als Vertreter einer längst über-
wundenen heidnischen Moral.70
Diesen Widerspruch zwischen christlichen und heidnischen Werten thematisiert auch ein 1808
publiziertes Gedicht der irischen Autorin Mary Leadbeater, das die Besichtigung des Teutoburger
Schlachtfeldes durch den noble Roman chief Germanicus beschreibt.71 Angelehnt an Tacitus schildert
Leadbeater die scenes of horror, die der Anblick der überall verstreuten bones of slaughter’d Romans und
der savage altars, auf denen die stern barbarians ihre Menschenopfer vollstreckten, den entsetzten Rö-
mern bot.72 Wie schon bei Knight und Hamilton berichtet ein Überlebender der Schlacht von den grau-
sigen Ereignissen:

There the tribunal of Arminius stood:


The proud Arminius, red with Roman blood,
Harangued his hosts; and there his eyes he fed
With Roman pris’ners to vile gibbets led,
Our standarts fall’n, our glory laid so low; –
Insulting triumph of a barb’rous foe!73

Arminius erscheint hier als blutrünstiger Barbar, der sich nach seinem durch Hinterlist und Verrat er-
rungenen Sieg an den Demütigungen und Qualen seiner besiegten Feinde ergötzt. Leadbeaters eigent-
liches Anliegen ist jedoch keineswegs die Abwertung des Germanischen durch eine Perpetuierung
römischer Gräuelpropaganda, sondern eine allgemeine Verurteilung von Krieg und Machtstreben, wie
durch die emphatische Bekräftigung christlich-pazifistischer Werte am Schluss ihres Gedichts noch-
mals unterstrichen wird:

Such are thy trophies, with such stains defil’d,


Insatiate War, Ambition’s cruel child!
Behold man thirsting for his brother’s blood,
Like the fell monsters of the savage wood! –
And shall such hatred in those souls reside,
For whom our gracious meek Redeemer died?
… O for that time when War’s loud voice shall cease,
When hopeless slav’ry shall obtain release,
And a tumultuous world be hushed in universal peace!74

67 Elizabeth Hamilton, Memoirs of the Life of Agrippina, the 71 Mary Leadbeater, „The Interment of Varus and his Legi-
Wife of Germanicus, 3 Bde., London 1804. Zur Biogra- ons by Germanicus. From Tacitus“, in: dies., Poems, Dub-
phie Hamiltons siehe Kelly u. Applegate (1996) 110–123. lin 1808, 149–153. Zur Autorin siehe Hughes (2010).
68 Hamilton, Agrippina I, 14 u. 22. 72 Leadbeater, „Interment“, 150f.
69 Hamilton, Agrippina II, 23–26. 73 Leadbeater, „Interment“, 152.
70 Hamilton, Agrippina I, 21f. 74 Leadbeater, „Interment“, 152f.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 325


Verweisen die republikanischen Schriften von Sidney, Stuart und Burgh auf die politischen Schwierig-
keiten einer Vereinnahmung des Cheruskerfürsten, so zeigen die Wertungen der Arminiusdarstellun-
gen von Knight, Hamilton und Leadbeater die moralischen Probleme einer Identifikation mit einer my-
thischen Figur, deren größte historische Leistung weder mit den Geboten christlicher Friedfertigkeit
und Nächstenliebe, noch mit dem militärischen Ehrenkodex des 18. Jahrhunderts in Einklang zu brin-
gen war. Die Dramaturgen der ersten Hälfte des Jahrhunderts, die Arminius als edlen Repräsentanten
höchster Fürstentugenden vorstellten, hatten diese Widersprüche noch umgangen, indem sie unlieb-
same Details einfach wegließen und Konflikte durch ein aufgesetztes happy end auflösten. An der
Schwelle zum 19. Jahrhundert wurden hingegen andere Ansprüche an die Authentizität und Moralität
von dramatischen Bearbeitungen historischer Stoffe gestellt.

Arminiusdramen um 1800

Was die englischen Arminius-Dramen der Jahrhundertwende zuallererst von ihren Vorgängern unter-
scheidet, ist – ähnlich wie in Deutschland – die Übertragung der römisch-germanischen Frontstellung
auf den zeitgenössischen Konflikt mit Frankreich. Die Erfahrung einer existentiellen äußeren Bedro-
hung ließ die Widersprüche und Ambivalenzen des Arminiusbildes zurücktreten hinter den patrioti-
schen Appell zum vereinten Kampf gegen den gemeinsamen Feind, der zuerst in Gestalt der Revolu-
tion, dann in der Person Napoleons auftrat.
Arthur Murphy, dessen Name heute nur noch einigen Literaturwissenschaftlern ein Begriff ist,
zählte zu den erfolgreichsten englischen Bühnenautoren seiner Zeit.75 Was ihn darüber hinaus für eine
dramatische Bearbeitung des Arminiusstoffes qualifizierte, war seine hoch gelobte Tacitus-Überset-
zung aus dem Jahre 1793, die er seinem Freund und Mentor Edmund Burke widmete.76 Burkes politi-
sche Philosophie bildet denn auch den ideologischen Hintergrund für die 1798 veröffentlichte Tragödie
Arminius: or The Champion of Liberty, der Murphy selbst wenig literarischen Wert, aber umso größere
politische Bedeutung zumaß.77 In einem außergewöhnlich langen und kämpferischen Vorwort erklärt
der Autor seine Intentionen: Die Widerlegung der abstrakten, geschichts- und gottlosen Prinzipien der
Französischen Revolution und die Bekämpfung ihrer Sympathisanten in England. Die in zahlreichen
Constitutional Clubs und Corresponding Societies organisierten englischen Jakobiner denunziert Murphy
als gewissenlose Umstürzler, Atheisten und Vaterlandsverräter.78 Ihren verderbten Lehren of the Rights
of Man, of Reform of Parlament, and Universal Suffrage stellt er die in der Verfassung verankerten, ge-
schichtlich bewährten Prinzipien einer mixed limited Monarchy entgegen, deren Ursprung schon Mon-
tesquieu in den germanischen Wäldern verortet habe.79 Die dramatische Veranschaulichung dieser
Prinzipien soll, wie Murphy hofft, all true Englishmen zum gemeinsamen Kampf against their enemies,
wether foreign or domestic, mobilisieren.80

75 Siehe auch zum Folgenden die Biografie von Spector Woods (1968) 500–503. Zum ambivalenten Germanen-
(1979). bild Burkes siehe Buchloh (1951).
76 Arthur Murphy, The Works of Cornelius Tacitus. With an 77 Arthur Murphy, Arminius: or The Champion of Liberty.
Essay on His Life and Genius, 4 Bde., London 1793. Siehe A Tragedy, with an Historical Preface, London 1798; Re-
auch die umfangreichen Rezensionen im Critical Review print in: Richard B. Schwartz (Hg.), The Plays of Arthur
8 (1793), 121–140 und im English Review 23 (1794), 1–16. Murphy, Bd. 4, New York u. London 1979.
Murphys Übersetzung galt über Jahrzehnte als Stan- 78 Murphy, Arminius, S. vi–viii u. xx–xxvi. Zum Kontext
dardwerk und wurde bis 1907 in England und Amerika siehe Cox (1998) 86.
ein gutes Dutzend Mal aufgelegt. Siehe auch das Dank- 79 Murphy, Arminius, S. vii u. xxvi.
schreiben Edmund Burkes vom 8. 12. 1793 in Marshall u. 80 Murphy, Arminius, S. xxix.

326 HENNING HOLSTEN


Im Drama selbst wird die ständige Bedrohung der angestammten Freiheit durch Invasoren von
Außen und Verräter im Inneren durch das tragische Ende des Helden veranschaulicht: Arminius stirbt
auf dem Teutoburger Schlachtfeld durch einen vergifteten Pfeil, den ein Heckenschütze aus den Rei-
hen der gallischen Hilfstruppen abgeschossen hat. In seinem Schlussmonolog mahnt der sterbende
Cheruskerfürst seine Anhänger noch einmal, die einfachen, freien Sitten der Germanen gegen die
römischen Eroberungsgelüste zu verteidigen. In einer großen Vision sieht er voraus, dass dies in fer-
ner Zukunft auf dem europäischen Kontinent nicht mehr möglich sein wird und rät zur Übersiedlung
nach England, wo Germanen und Briten gemeinsam ein neues Reich geordneter Freiheit begründen
werden:

Let my friends join in union with the natives.


Britons and Saxons there may form one people;
And from the woods of Germany import
A form of government, a plan of laws
Wise, just and equitable; laws of force
To guard the gen’ral weal, and on the base
Of public liberty, of social order,
And equal justice, raise the noblest fabric
Of civil union, like their own proud cliffs
’Midst wild commotions still to stand unshaken,
And be in time the envy of the world.81

Der sterbende Arminius wird so zum Propheten der künftigen englischen Nationalgeschichte. Nicht
nur die Entwicklung der englischen Verfassung, auch den Import einer deutschen Herrscherdynastie
1700 Jahre nach dem Sieg im Teutoburger Wald sagt er voraus, und verpflichtet seine Nachfahren zur
ewigen Treue gegenüber dem Königshaus Hannover.82 Vor allem aber warnt er sie vor den Nachkom-
men der heimtückischen gallischen Heckenschützen, deren Verrat ihn das Leben kosten wird:

Another word; it is my warning voice.


Let Britons guard their coast against the Gauls,
And never, – never let that treach’rous race,
Nor their descendants to the latest time,
Obtain a footing on their sea-girt isle.
Let Britons seize the trident of the main,
And plunge th’ invaders in the roaring surge;
A band of slaves, who would reduce mankind
To their own level, and enslave the world:
A hord of savages, freebooters, murderers,
Who trample on all laws; who own no gods;
Whom in a mass their country disembogues,
By depredations to lay waste their neighbours,
And spread rebellion, anarchy, ruin.83

Murphys unverhohlene Indienstnahme der germanisch-angelsächsischen Tradition für tagespolitische


Parteizwecke erregte in der polarisierten Öffentlichkeit seiner Zeit großes Aufsehen und kontroverse
Diskussionen. Ausführlich und meist zustimmend dokumentierten die Rezensionen die polemisch-

81 Murphy, Arminius, S. 87. 83 Murphy, Arminius, S. 88.


82 Murphy, Arminius, S. 88f.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 327


sten Passagen aus dem Vorwort und dem Testament des Arminius.84 Besonders begeistert zeigte sich
Robert Bisset im neu gegründeten Anti-Jacobin Review, der in Murphy zurecht einen verwandten gegen-
revolutionären Geist entdeckte: At a time when the votaries of atheism, anarchy, and confusion are endea-
vouring to overwhelm every establishment under the destructive pressure of Jacobinism, the Nestor of letters is not
an unobserving spectator of the contest between justice and violence.85 Kritiker aus dem Lager der Radical
Press hingegen verteidigten die republikanischen friends of freedom gegen Murphys Polemik und beklag-
ten die Diskreditierung ihrer patriotischen Motive als eine ignorant violation of truth.86 Der publizisti-
sche Streit über die politische Botschaft des Dramas schlug dabei auch auf die Einschätzung seines
künstlerischen Werts zurück. Der Rezensent des Critical Review urteilte vernichtend: This is another un-
fortunate attempt to celebrate the German hero, whose fate it has been to meet with the best historian and the
worst poets. … The dullness of the poet appears in the drama; and, in a political preface, the virulance of the par-
tisan is equally discernible.87 Grundsätzlich einig war man sich darin, dass die literarische Qualität des
Stücks mit den politischen Ambitionen seines Autors nicht Schritt halten konnte.88
Eine ähnliche Diskrepanz zwischen patriotischem Wollen und literarischem Können attestierte die
Kritik 1814 auch der Tragödie Arminius, or The Deliverance of Germany von Charles Knight.89 Das Erst-
lingswerk des jungen Autors, der sich später einen Namen als Verleger und Wissenspopularisierer ma-
chen sollte, entstand 1813 als unmittelbare Reaktion auf den Sieg der Koalitionstruppen bei Leipzig und
ist geprägt vom patriotischen Überschwang infolge der Erwartung eines nahen Endes der napoleoni-
schen Herrschaft in Europa. Ähnlich wie in der deutschen Literatur der Zeit symbolisierte in England
der germanische Kampf gegen Rom nun den nationalen Unabhängigkeitskampf gegen den ‚modernen
Caesar‘ Napoleon.90 Knights Arminius, der mit dem Schlachtruf For Freedom and Germania! ins Gefecht
zieht, ist ein antiimperialer Freiheitskämpfer.91 Die politisch-moralische Bedeutung seines Sieges liegt
in der Mahnung an alle tyrannischen Eroberer, dass ihre Universalmonarchieträume letztlich immer
am Selbstbehauptungswillen der freien Völker scheitern werden:
Monarchs and thrones may fall, when these are built
On lawless power, but never shall a race
Of free-born men be fetter’d to the earth
For conquerers to bestride. Tyrants may strut
Their hour of vanity, but never, never
Shall this wide earth hold but one gorgeous throne,
Rear’d on the ruins of insulted nations.92

84 Siehe z.B. British Critic and Quarterly Theological Review stand mir leider nicht zur Verfügung; die Zitate stam-
12 (1798), 415ff. und Scientific Magazine & Freemasons’ men aus der von Benjamin Dudley Emerson herausge-
Repository 11 (1798), 415f. Allgemein wohlwollend ge- geben Textsammlung The Academical Speaker. A Selection
genüber dem politischen Anliegen des Autors urteilten of Extracts in Prose and Verse, from Ancient and Modern
auch der Monthly Mirror 6 (1798), 163f. und der Oracle Authors, Boston 1831, und den unten angeführten Rezen-
and Public Advertiser vom 24. 5. 1798. sionen. Zur Person Knights siehe Gray (2006).
85 Anti-Jacobin Review and Magazine 1 (1798), 191. Laut Mont- 90 Siehe Erbe (1995) und Hausberger (2010) zu den Anlei-
luzin (1988) 58 war Bisset one of the most fanatical Jacobin- hen Napoleons bei der römischen Herrschertradition
haters in der englischen Publizistik der Revolutionsära. und für die deutsche Arminiusbegeisterung zur Zeit der
86 Analytical Review 28 (1798), 81. Befreiungskriege Dörner (1996) 63–141.
87 Critical Review 24 (1798), 353 u. 356. 91 Zitiert nach der Rezension im Monthly Review 75 (1814),
88 Siehe etwa die ausgewogene Kritik des Monthly Review 214. Die Moral des Stückes fasst der Rezensent folgen-
27 (1798), 394–399, die Murphys patriotische Motive dermaßen zusammen: The proudest and most successful
würdigt, seine Dramatisierung des Arminiusstoffes conquerer will ultimately be foiled by a people bravely unani-
aber als deutlichen Rückschritt gegenüber den Her- mus in the cause of freedom and national independence (213).
mannsdramen Klopstocks bezeichnet. 92 Aus dem Schlussmonolog des Arminius, zitiert nach
89 Charles Knight, Arminius, or The Deliverance of Germany. der Rezension im British Critic, N.S. 1 (1814), 102f.
A Tragedy, Windsor 1814. Der Originaltext des Dramas

328 HENNING HOLSTEN


Da im modernen Volkskrieg nicht mehr Dynastien, sondern Nationen gegeneinander kämpfen, tritt die
Frage nach der Tugendhaftigkeit des Fürsten zurück hinter seine Funktion als Repräsentant des Frei-
heitswillens seines Volkes. Um ihn als solchen zu legitimieren, lässt Knight Arminius vor den germa-
nischen Kriegerrat treten und für sein Vorhaben werben.93 Nicht seine Geburt, sondern erst die Wahl
durch diese quasi-demokratische Versammlung macht ihn zum Anführer. Die in allen Arminiusdra-
men beschworene Entscheidung ‚Freiheit oder Sklaverei‘ wird so zu einem Kampf um Volkssouveräni-
tät oder Fremdherrschaft.94
Die Aufladung der Varusschlacht mit tagespolitischer und universalhistorischer Bedeutung geht
allerdings auf Kosten der tragischen Tiefe der Hauptperson. Die zeitgenössische Kritik lobte Knight
denn auch für sein Bemühen to express popular sentiment, and excite indignation against invaders, blieb
aber skeptisch, was die Bühnentauglichkeit des Werkes betraf.95 Too long and too patriotic, lautete das
knappe Urteil des British Critic.96 Manche gingen sogar so weit, dem Arminiusstoff generell die drama-
tische Qualität abzusprechen. Mit Rückblick auf die ebenfalls nie aufgeführten Dramen von Paterson
und Murphy konstatierte ein Rezensent: The simple fact of a hardy people casting off the yoke of an universal
conquerer, by one great exertion of natural strength, is, perhaps, defective in those intricate details which the mo-
dern drama appears to require; letztlich tauge das Thema deshalb nur as a vehicle for the delivery of impas-
sioned sentiments of public feeling.97
Dieser Befund erscheint insofern symptomatisch, als der unmittelbare propagandistische Effekt
der englischen Arminiusdramen in jedem der untersuchten Fälle ihren langfristigen künstlerischen
Erfolg bei weitem überstieg. Im Gegensatz zu den im gleichen Zeitraum entstandenen deutschen
Hermannsdramen von Schlegel, Klopstock und Kleist fanden die Bearbeitungen von Paterson,
Murphy und Knight keine Aufnahme in den nationalen Literaturkanon, wurden weder gespielt noch
wieder aufgelegt oder übersetzt, und gerieten schon bald in Vergessenheit. Und während in Deutsch-
land Arminius’ Karriere als Roman- und Theaterheld Anfang des 19. Jahrhundert erst ihren eigent-
lichen Durchbruch erlebte – allein zwischen 1808 und 1839 entstanden 17 Bühnenbearbeitungen98 –
wurde der Stoff im englischen Sprachraum in dieser Zeit nur noch in einer Handvoll Gedichte be-
handelt.

Arminius in der Dichtung des frühen 19. Jahrhunderts

Unter den Poeten, die sich im 19. Jahrhundert des Arminiusthemas annahmen, befinden sich mit
William Wordsworth, Walter Scott und Percy Bysshe Shelley drei klangvolle Namen, die ihren festen
Platz in jeder englischen Literaturgeschichte haben. Allerdings widmen sich die Dichter der englischen
Romantik dem Sieger der Varusschlacht eher en passant, ohne den Charakter des Helden oder sein Han-
deln im Detail lyrisch auszudeuten. Die Geschichte, die sich mit dem Namen Arminius verbindet, und

93 Siehe die in Emersons Academical Speaker (1831), 69–73 temporary outburst of popular enthusiasm would ensure suc-
zitierten Passagen. cess to a poem, and especially to a drama, which, in the very
94 Vgl. zur politischen Semantik der Fremdherrschaft Kol- nature of its subject, must be little more than a vehicle for
ler (2005). rhetorical display. – Passages of a Working Life during half a
95 Monthly Review 75 (1814), 213. Century, Bd. 1, London 1864, 153.
96 British Critic, N.S. 1 (1814), 103. 98 Siehe Frenzel (2005) 75f. Nipperdey (1975) 13 schätzt,
97 European Magazine and London Review 66 (1814), 236f. dass zwischen 1750 und 1850 etwa 200 „Dichtungen
Ganz ähnlich urteilt Knight im Rückblick selbst: It is one und Opern zum Hermannsthema“ entstanden.
of he usual mistakes of young writers to believe that some

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 329


die Bedeutung seiner Taten werden vielmehr als bekannt vorausgesetzt und im Kontext eines aktuellen
Freiheitskampfes als vorbildlich und Hoffnung spendend angerufen.
Wordsworth verfasste sein Sonett A Prophecy im Februar 1807, zwischen der vernichtenden preu-
ßischen Niederlage bei Jena und Auerstedt und dem Frieden von Tilsit, der die Vorherrschaft Napoleons
auf dem europäischen Kontinent festschreiben sollte.99 Unverhohlenes Anliegen des germanophilen
Dichters ist der Aufruf an das deutsche Volk zum Aufstand gegen seine französischen Unterdrücker
und zur Bestrafung der Verräter in den eigenen Reihen. Der Name des Siegers vom Teutoburger Wald
wird hierbei zum Schlachtruf und zur Freiheitsparole:

High deeds, O Germans, are to come from you!


Thus in your Books the record shall be found,
‚A Watchword was pronounced, a potent sound,
Arminius! – all the people quaked like dew,
Stirred by the breeze – they rose, a Nation, true
True to itself – the mighty Germany,
She of the Danube and the Northern sea,
She rose, – and off at once the yoke she threw.‘100

Ein Jahr später erschien Arminius in Scotts Gedichtzyklus Marmion in ähnlicher Funktion. Der dritte
Gesang erinnert an den Tod Herzog Ferdinands von Braunschweig und den seines Nachfolgers, der
1806 in der Schlacht von Jena starb. Den trostlosen Zuständen im besiegten und besetzten Deutschland
stellt Scott die Hoffnung auf das Erwachen eines new Arminius entgegen, der in der hour of Germany’s
revenge sein Schwert an Brunswick’s tomb wetzen und blutige Rache nehmen werde.101 Arminius er-
scheint hier ähnlich wie in den zeitgenössischen Schlachtgesängen Ernst Moritz Arndts und Theodor
Körners als deutscher Kriegsgott, dessen herbeigesehnte Inkarnation den Sieg über die französischen
Besatzungstruppen herbeiführen soll.102 Die Verknüpfung von braunschweigischen und germanischen
Geschichtsmythen zeigt dabei die Langlebigkeit der aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges stammen-
den Parallelisierung von Herzog Ferdinand und Arminius. Die historische Figur, die während der anti-
napoleonischen Kriege der von Scott prophezeiten doppelten Wiedergeburt der Sieger von Minden und
dem Teutoburger Wald vielleicht am nächsten kam, war der preußische Husarenmajor und Partisanen-
führer Ferdinand von Schill, in dem bereits Zeitgenossen in Deutschland wie in England einen „mo-
dernen Arminius“ sahen.103
Shelley hingegen beschwört zwölf Jahre später den Sieger der Varusschlacht nicht als nationalen
Unabhängigkeitskämpfer, sondern als revolutionären Geist, der das von der Reaktion um den Lohn
seines Freiheitskampfes gebrachte deutsche Volk von seinen fürstlichen Tyrannen befreien soll. Sein

199 William Wordsworth, „A Prophecy. February, 1807“, in: 101 Walter Scott, Marmion, a Tale of Flodden Field, Edinburgh
Poems in two Volumes, Bd. 1, London 1807, 107. Aufge- 1808, 121. Allein bis 1815 erschienen acht weitere Aufla-
nommen in zahlreichen weiteren Gedichtsammlungen, gen. Eine deutsche Übersetzung wurde 1857 in Darm-
z.B. Poems by William Wordsworth, Bd. 2, London 1815, stadt herausgegeben.
230, The Miscellaneous Poems of William Wordsworth, Bd. 3, 102 Vgl. Dörner (1996) 63ff., Kösters (2009) 195ff. und Tat-
London 1820, 236, The Poetical Works of William Words- ter (2009).
worth, Bd. 2, Boston 1824, 339, oder The Sonnets of William 103 Heinrich Laube, Reisenovellen, Bd. 7, 2. Aufl., Mannheim
Wordsworth, London 1838, 149. Eine erste deutsche Über- 1847 (1. Aufl. 1837), 107 und „Major Schill“, in: London
setzung erschien im Deutschen Museum 11 (1861), 940. Magazine 3 (1821), 509–514 und in Spirit of the English
100 Wordsworth, „Prophecy“. Die folgenden Zeilen wenden Magazines 9 (1821), 289–294. Vgl. zum Schill-Mythos
sich gegen die knew-born Kings von Napoleons Gnaden, auch Rink u. Velzke (2009).
insb. den mit Frankreich paktierenden bayrischen Kö-
nig – First open Traitor to [Germanias] sacred name!

330 HENNING HOLSTEN


Arminius ähnelt eher dem „Freiheitsgott im Eichengrab“ der radikalen Studenten Karl Follen und Karl
Ludwig Sand, für die der Sieg über Napoleon nur eine Etappe auf dem Weg zur Befreiung Deutschlands
und Europas war.104 In der 1820 aus Anlass der Revolutionen in Spanien, Neapel und Sizilien entstan-
denen Ode to Liberty heißt es in der vierzehnten Strophe:

Tomb of Arminius render up thy dead,


Till like a standard from a watch tower’s staff,
His soul may stream over the tyrant’s head;
Thy victory shall be his epitaph,
Wild Bacchanal of truth’s mysterious wine,
King-deluded Germany,
His dead spirit lives in thee.105

Bei Shelley steht der Cheruskerfürst in einer Reihe mit Alfred dem Großen, Luther und Milton für
einen geistig-politischen Befreiungskampf, der sowohl nationale Konfliktlinien als auch historische
Epochengrenzen transzendiert. Die Revolution, der Arminius als Vorbild dient, ist keine nationale, son-
dern eine universale. Die Freiheit, für die er kämpft, ist die Freiheit der Menschheit.106 Shelleys Frei-
heitsode weist damit bereits voraus auf die revolutionären Erhebungen von 1848/49, in denen überall
in Europa die gebrochenen Verfassungsversprechen der Befreiungskriege erneut eingefordert wurden.
Die englischen Arminiusdichtungen der 1820er und 1830er Jahre haben dagegen weniger appel-
lativen Charakter. Ihr Thema ist nicht der Triumph der Varusschlacht, sondern die Zerrissenheit der
Sieger nach der Vernichtung des äußeren Feindes: der innergermanische Bürgerkrieg. Personifiziert
wird diese Schattenseite des Arminiusmythos durch Flavus, den Bruder des Helden, der auf Seiten der
Römer gegen seine eigenen Verwandten kämpft. Das dramatische Potential dieses Bruderkampfes
hatte schon Tacitus erkannt und in seinen Annalen als Dialog inszeniert. Das berühmte Streitgespräch
der verfeindeten Brüder über die Weser hinweg inspirierte Anfang des 19. Jahrhunderts mehrere Dich-
tungen, in denen der Konflikt zwischen Loyalität und Verrat verhandelt wird. Während der römische
Historiker jedoch beide Seiten gleichberechtigt ihre Motive darlegen und begründen lässt, ergreifen
seine modernen Epigonen einseitig Partei: Ihr Anliegen ist die Glorifizierung des germanischen Patrio-
ten und die Diskreditierung seines romanisierten Bruders.107 Spiegelbildlich zum Nachruhm des Ar-
minius steigert sich die Schande des Flavus, über dem der Fluch des Vaterlandsverrats liegt.
Ein Vorläufer dieser patriotischen Lehrstücke erschien bereits 1801 in Matthew Gregory Lewis’
Sagen- und Liedersammlung Tales of Wonder.108 Lewis hatte sich als Verfasser romantischer Schauer-
geschichten einen Namen gemacht – seine gothic novel The Monk aus dem Jahre 1796 wurde zum euro-

104 Karl Follen, Das große Lied (1815), zitiert nach Mehring of Percy Bysshe Shelley, hg. von Mrs. Shelley, London 1847,
(2007) 71. Vgl. das revolutionäre Pamphlet „Conduct 261–263.
of the German Governments“ eines anonymen deut- 106 Vgl. Rabbe (1888) 343f. und Guinn (1969) 76f.
schen Radikalen im Londoner Morning Chronicle vom 107 Vgl. als Kontrast die ausgewogene, eng an Tacitus ange-
1. 1. 1820, in dem auch Bezug auf den Freiheitshelden lehnte Darstellung bei Hamilton, Agrippina II, 45–48.
Arminius genommen wird: We have imitated Hermann 108 Matthew Gregory Lewis, „Sir Hengist“, in: ders., Tales of
(Arminius) our ancestor – we have served the enemy for Wonder, Bd. 1, London 1801, 17–20. Lewis’ romantische
three years, and yet preserved our love with fidelity in our Fabelsammlung wurde schnell populär – bereits im glei-
hearts. Auch in Amerika wurde der Hermannskult der chen Jahr erschienen weitere Auflagen in London, Dub-
radikalen deutschen Studenten registriert – so im Louis- lin, New York und Wien. Zusammen mit dem Folge-
ville Public Advertiser vom 13. 3. 1820. band Tales of Terror wurden die Tales of Wonder das ganze
105 Percy Bysshe Shelley, „Ode to Liberty“, in: Prometheus 19. Jahrhundert hindurch immer wieder neu aufgelegt.
unbound. A lyrical Drama in four Acts with other Poems, Vgl. Guthke (1979).
London 1820, 218–222; nachgedruckt u.a. in: The Works

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 331


päischen Bestseller und gilt heute als Klassiker des Genres. Die Ballade Sir Hengist, eine Übertragung
aus dem Deutschen, erzählt von der unheimlichen Begegnung des gleichnamigen Ritters und seines
Sohnes mit dem Geist des Flavus.109 Von Odin verflucht, wandelt das Gespenst des Verräters noch im-
mer durch das Weserland und wäscht in jeder Nacht zur Mitternachtsstunde mit seinen Tränen das Blut
von seiner Hand und Lanze. Nachdem die grausige Gestalt durch Odins Raben verjagt ist, nimmt der
schwer erschütterte Ritter Hengist seinem Sohn das Versprechen ab, niemals Anlass für ein ähnlich
schmachvolles Los zu geben:

Now take your sword in hand,


And swear with me, each drop of gore,
That swells your veins, well pleased to pour
To guard your native land!110

Das 1827 entstandene Gedicht Arminius des englischen Politikers und Dichters Winthrop Mackworth
Praed schildert hingegen die direkte Konfrontation des Helden mit seinem abtrünnigen Bruder.111 An-
ders als bei Tacitus kommt Flavus hier überhaupt nicht zu Wort. Das Gedicht besteht einzig aus der
Wutrede des Arminius, der sich von seinem Bruder lossagt (No brother thou of mine), ihn im Namen
Germaniens, der germanischen Götter und der gemeinsamen Mutter verflucht und ankündigt, ihn in
der bevorstehenden Schlacht persönlich zu töten. Zum furiosen Ende dieses leidenschaftlichen Hass-
gesangs prophezeit er dem Römersklaven ewige Schande noch über den Tod hinaus:

The canker of Rome’s guilt shall be


Upon his dying name;
And as he lived in slavery,
So shall he fall in shame.112

Die Gegenüberstellung der Ehre des Patrioten und der Schande des Vaterlandsverräters ist auch das
Leitmotiv eines Arminius-Gedichts, das die britisch-kanadische Schriftstellerin Susanna Strickland
Moodie erstmals 1835 publizierte.113 Moodie, deren ‚Hinterwäldler-Memoiren‘ Roughing It in the Bush
heute als Meilenstein der kanadischen Nationalliteratur gelten, schrieb seit Anfang der 1820er Jahre
Kindergeschichten und Gedichte für verschiedene englische und amerikanische Journale. Viele ihrer
Texte aus dieser Zeit behandeln Geschichten des klassischen Altertums, die sich in romantisierender
Form und belehrender Absicht vorwiegend an ein jugendliches Publikum richten. Arminius wird von
Moodie als Inbegriff aller heroischen und patriotischen Tugenden vorgestellt. Sein Glaubensbekennt-
nis, das er Flavus über die Weser hinweg zuruft, lautet: Rather in freedom’s cause to die, Than live in splen-

109 Das Original findet sich in der von Christian Cay Lorenz Amerika bis in die 1880er Jahre ein knappes Dutzend
Hirschfeld herausgegebenen Anthologie Romanzen der mal neu aufgelegt. Arminius galt seit seiner Wiederent-
Deutschen, Bd. 2, Leipzig 1778, 175–177. Dort heißt der deckung durch Edward Creasy (s.u.) als eines seiner ge-
Ritter nicht Hengist, sondern Horst. Lewis’ Rückgriff lungensten Werke und wurde auch im Schulunterricht
auf den Namen des angelsächsischen Heerführers, der verwendet – siehe Blackwood’s Sixth Standard Reader,
im 5. Jahrhundert die Eroberung Britanniens anführte, London u. Edinburgh 1885, 193–196. Zum Autor siehe
lässt sich als Anglisierung des ursprünglich deutsch-pa- Kraupa (1910) und Hudson (1939).
triotischen Themas deuten. 112 Praed, „Arminius“, 245.
110 Lewis, „Hengist“, 20. Im Original lässt der Vater seinen 113 Susanna Strickland, „Arminius“, in: North American
Sohn auf das „deutsche Vaterland“ schwören (s.o.). Magazine 5 (1835), 403–406; nachgedruckt im Literary
111 Winthrop Mackworth Praed, „Arminius“ [1827], in: Garland 2 (1844), 61f. und in Belford’s Monthly Magazine
ders., The Poetical Works, New York 1854, 243–245. 1 (1877), 37–41. Zur Biografie der Autorin siehe Peter-
Praeds gesammelte Gedichte wurden in England und man (1999).

332 HENNING HOLSTEN


did infamy! 114 Der Dialog der feindlichen Brüder, der sich eng an Tacitus anlehnt, endet ähnlich wie bei
Praed mit der Vorwegnahme des Urteils der Nachwelt durch den Helden:

My name, my countries proudest boast,


For ages yet to be –
The war-cry of the charging host,
The watch-word of the free:
While thou shalt be the curse and scorn
Of German heroes yet unborn!115

Die Folgen dieses Fluches für den Verräter hatte Moodie bereits fünf Jahre zuvor in ihrer Erzählung The
Son of Arminius literarisch verarbeitet.116 Hauptfigur der Geschichte ist Thumelicus, der in römischer
Gefangenschaft geborene Sohn von Arminius und Thusnelda. Nach dem Tod seiner Mutter wird er von
seinem Onkel Flavus adoptiert und römisch erzogen. Thumelicus, der als junger Mann ein ausschwei-
fendes Luxusleben führt, hält Flavus für seinen leiblichen Vater, bis dieser als gebrochener Mann von
einem Feldzug aus Germanien zurückkehrt. Die Wucht der Schuldvorwürfe, die ihm sein Bruder bei
ihrer letzten Begegnung entgegenschleuderte, hat ihn moralisch zerschmettert.117 Auf seinem Sterbe-
bett enthüllt Flavus seinem Adoptivsohn, wer sein wahrer Vater ist, und warnt ihn vor einem ähnlich
schmählichen Ende wie dem eigenen:

Oh! My son! Never raise your arm against your country; it is plunging a dagger into the bowels
of your mother, and imbruing your hands in the blood of her who bore you. If you would not
have your last hours resemble mine, endure with firmless slavery, tortures, and an ignominious
death, rather than draw your sword in so unhallowed a cause!118

Thumelicus besinnt sich daraufhin auf seine germanischen Wurzeln, kehrt dem dekadenten römi-
schen Leben den Rücken und tritt in das Heer von Arminius ein, ohne jedoch seine Identität preiszu-
geben. Seite an Seite mit dem champion of liberty kämpft er gegen die Römer und erwirbt sich durch Ge-
horsam und Tapferkeit die Achtung der germanischen Krieger.119 Der junge Held stirbt schließlich, von
einem Pfeil getroffen, in den Armen seines Vaters. Arminius erkennt seinen Sohn an einem Amulett,
das er einst Thusnelda schenkte. Stolz tritt er daraufhin vor seine germanischen Krieger: Behold and
envy the prize I have gained by this day’s victory – a son who died gloriously for his country!120
Die Opferung des eigenen Lebens auf dem Altar des Vaterlandes als höchstes Ziel, der nationale
Verrat des Vaters/Bruders als tiefste Schmach – dies sind die politisch-moralischen Werte, die mit den
patriotischen Arminiusdichtungen Praeds und Moodies insbesondere der Jugend in England und Ame-
rika vermittelt wurden. Das abschreckende Schicksal des Verräters Flavus dient dabei derselben natio-
nalpädagogischen Absicht wie die Verherrlichung des Freiheitshelden Arminius: Dem Leben in
Schande folgt ein schmachvoller Tod und die Verachtung der Nachwelt, dem selbstlosen Tod auf dem
Schlachtfeld hingegen die ruhmreiche Verewigung im nationalen Gedächtnis. Wie der deutsche diente

114 Zitiert nach Literary Garland 2 (1844), 60. 117 The repoaches of the patriot had broken the heart of the be-
115 Literary Garland 2 (1844), 61. trayer of his country. Zitiert nach der amerikanischen
116 Susanna Moodie, „The Son of Arminius. A Tale of An- Ausgabe im Juvenile Forget Me Not (1839), 168.
cient Rome“, in: Ackermann’s Juvenile Forget Me Not, Lon- 118 Moodie, „Son of Arminius“ (1839), 169f.
don 1830, 241–261; amerikanische Nachdrucke erschie- 119 Moodie, „Son of Arminius“ (1839), 173.
nen in: The Juvenile Forget Me Not, Philadelphia 1839, 120 Moodie, „Son of Arminius“ (1839), 177.
157–178, im Victoria Magazine 1 (1847), 77–82 und in The
Hyacinth, or: Affection’s Gift, Philadelphia 1850, 139–161.
Siehe zum Folgenden auch Thurston (1996) 35f.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 333


der englische Arminiuskult somit der Verankerung der Nation als höchstem Wert, der Gleichsetzung
der Freiheit mit der Unabhängigkeit des Vaterlands und der nationalen Mobilisierung gegen den Feind
von außen und die Verräter im Inneren.121
Shelleys Anrufung des revolutionären Geistes, der in Arminius’ Gruft und der Erinnerung seiner
Nachkommen schlummere, verweist allerdings darauf, dass die Frage, wo die Grenzlinie zwischen Pa-
trioten und Renegaten verlief, nach dem Sieg über den Cäsaren Bonaparte durchaus unterschiedlich be-
antwortet werden konnte. Murphys antijakobinische Instrumentalisierung von 1798 konnte sich zwan-
zig Jahre später bereits zum republikanischen Revolutionsaufruf verkehren. Zur Verdeutlichung des
obrigkeitskritischen Potentials, das auch im 19. Jahrhundert noch durch die Dramatisierung des Armi-
niusstoffes freigesetzt werden konnte, sollen im Folgenden zwei ausländische Theaterstücke unter-
sucht werden, die auch in der englischen Öffentlichkeit ihrer Zeit zum Teil beträchtliches Aufsehen er-
regten, in der Forschungsliteratur jedoch bisher kaum beachtet wurden.

Rezeption ausländischer Arminiusdramen

Angesichts der parallel ansteigenden Konjunktur der englischen und deutschen Arminius-Literatur im
18. Jahrhunderts gibt es erstaunlich wenige Hinweise auf wechselseitige Wahrnehmungs- und Aus-
tauschprozesse zwischen beiden Nationalkulturen. Während man in Deutschland die englischen Adap-
tionen des Arminiusmythos anscheinend überhaupt nicht wahrgenommen hat,122 finden sich in der
englischen Publizistik nur wenige Bezüge auf die deutschen Hermannsdramen. Anders als in Frank-
reich wurde in Großbritannien keine der heute kanonisierten Bearbeitungen eines Schlegel, Möser
oder Klopstock einer Übersetzung für wert befunden.123 Einzige Ausnahme bildet das epische Helden-
gedicht des Freiherrn von Schönaich, das 1764 unter dem Titel Arminius: or, Germania freed in London
publiziert wurde.124 Allerdings geriet die Übersetzung so unglücklich, dass die Kritiken einhellig nega-
tiv ausfielen.125
Der Blick über den Tellerrand der eigenen Nationalliteratur weitete sich erst im 19. Jahrhundert.
Doch waren es nicht die bahnbrechenden Hermannsdramen Kleists und Hebbels, die das englische Pu-
blikum faszinierten, sondern zwei heute weitgehend unbekannte Bühnenwerke aus Italien und Öster-
reich, die in ihrer Zeit in ganz Europa große Aufmerksamkeit erregten und hitzige Diskussionen aus-

121 Vgl. Dörner (1996). Mirror Monthly Magazine 4 (1848), 444 und Odes of Klop-
122 Einzige mir bekannte Ausnahme ist der Roman von stock, from 1747 to 1780. Translated from the German by
Knight (s. Anm. 63), der mehrfach ins Deutsche über- William Nind, London 1848, 91f. u. 258–265.
setzt und von der deutschen Kritik wohlwollend aufge- 124 Christoph Otto von Schönaich, Hermann, oder, Das be-
nommen wurde; siehe Allgemeine Literatur-Zeitung (Juli freyte Deutschland. Ein Heldengedicht, Leipzig 1751; Armi-
1795), 78–80. Bemerkenswerterweise war dem Rezen- nius: or, Germania freed, 2 Bde., London 1764. Eine fran-
senten aber entgangen, dass es sich bei dem anonym zösische Übersetzung erschien 1769 in Paris, eine
publizierten Werk um eine Übertragung aus dem Engli- portugiesische 1791 in Lissabon. Vgl. Kösters (2009)
schen handelte. 140–146.
123 Dies erstaunt insbesondere im Falle Klopstocks, der in 125 Siehe die Besprechungen im Critical Review 18 (1764),
England wohl bekannt war und intensiv rezipiert 353–360 und Monthly Review 32 (1765), 15–19. Sehr ge-
wurde – siehe Stockley (1929) 44–74. Erst Jahrzehnte schadet hat Schönaich auch das mitübersetzte Vorwort
nach seinem Tod erschien eine kleine Auswahl seiner seines literarischen Mentors Johann Christoph Gott-
Hermannbardiette in englischer Übersetzung – siehe sched, dessen anmaßender Vergleich des Werks mit der
„Three Odes“, in: Fraser’s Magazine 1 (1830), 273f., Wil- Ilias Homers und Miltons Paradise Lost von den eng-
liam Taylor, Historic Survey of German Poetry, Bd. 1, Lon- lischen Rezensenten ausgesprochen übel aufgenom-
don 1830, 294–300, John Oxenford, „German Poems, men wurde.
relating to the Defeats of the Romans in Germany“, in:

334 HENNING HOLSTEN


lösten. Beiden gemeinsam ist, dass sie nicht den Helden der Varusschlacht in den Mittelpunkt des
dramatischen Geschehens stellen, sondern die tragische Figur seines Sohnes Thumelicus. Verhandelt
wird in den Stücken von Ippolito Pindemonte und Friedrich Halm weniger die Siegestat des Arminius
als vielmehr der Streit um sein Erbe.
Pindemontes Tragödie Arminio stammt noch aus der Zeit der französischen Besatzung Italiens
und enthält unverkennbare Bezüge auf die zeitgenössischen politischen und militärischen Konflikte.
Geschrieben 1797, ein Jahr nach den blutig niedergeschlagenen antijakobinischen Osterunruhen in sei-
ner Heimatstadt Verona, veröffentlicht 1804 im Jahr der Kaiserkrönung Napoleons, wurde das Drama
schnell populär und begründete in den folgenden Jahrzehnten Pindemontes Ruhm als einer der ange-
sehensten National- und Freiheitsdichter seiner Generation.126 Als solcher wurde er in den 1820er und
1830er Jahren auch in Großbritannien gewürdigt, wobei mit Vorliebe Passagen aus dem Arminio zitiert
wurden.127 Besonders ausführlich widmete sich die Dichterin und Dramatikerin Mary Margaret Busk
1825 in ihrer Artikelserie Horae Italicae dem italienischen Germanendrama,128 und noch um die Jahr-
hundertmitte dokumentierte Longfellows amerikanische Anthologie The Poets and Poetry of Europe län-
gere Abschnitte aus dem letzten Bardengesang des Schlussaktes.129
Der Chor der Barden war nicht die einzige Innovation in Pindemontes Bearbeitung des Arminius-
stoffes. Auch inhaltlich setzte der Italiener neue Akzente, die, wie Busk warnte, diejenigen englischen
Leser erstaunen und schockieren mussten, die den Germanenfürsten nur als disinterested and successful
champion of German freedom kannten.130 Pindemontes Arminius hingegen ist ein vom römischen Cäsa-
renwahn infizierter would-be usurper, dem sein Ruhm als Vaterlandsretter so zu Kopf gestiegen ist, dass
er die Alleinherrschaft über alle germanischen Stämme anstrebt. In der Schlüsselszene des Dramas er-
läutert er seinem Sohn Baldur, wie die unter seiner Führung geeinten Germanen das römische Reich
erobern könnten. Auch der Selbstmord Baldurs, der seinen Vater vergeblich an die ‚republikanischen‘
Tugenden seines Volkes erinnert, kann Arminius von diesem Plan nicht abbringen. Erst als er in der fi-
nalen Entscheidungsschlacht gegen seine ehemaligen Kampfgenossen tödlich verwundet wird, erkennt
er den Wahnwitz seines Unterfangens, bittet seinen Kontrahenten, den edelmütigen Thelgastes, um
Vergebung und übergibt ihm das Schwert, mit dem er einst die germanische Freiheit gegen die römi-
schen Invasoren verteidigt hat. Mary Busk erkannte in diesem Arminius wohl zurecht das Abbild Na-
poleons, der sich vom republikanischen General zum Kaiser Europas emporkämpfte, bis er schließlich
an der Maßlosigkeit seiner größenwahnsinnigen Ambitionen scheiterte.131
Fünfzig Jahre später verkehrte sich dann der dramatische Vater-Sohn-Konflikt. In Friedrich Halms
1854 in Wien uraufgeführtem Fechter von Ravenna erscheint der in Gefangenschaft aufgewachsene Thu-

126 Ippolito Pindemonte, Arminio. Tragedia, Verona 1804. (1836), 233–248. Vgl. zur zeitgenössischen Rezeption
Bis in die 1830er Jahre erschienen in ganz Italien mehr und politischen Deutung italienischer Dramatiker in
als ein dutzend weitere Auflagen. In Wien veröffent- England Saglia (2005).
lichte Martin Span 1819 eine deutsche Bearbeitung un- 128 Mary Margaret Busk, „Horae Italicae Vol. I. Arminio by
ter dem Titel Hermann der Cherusker. Eine französische Ippolito Pindemonte“, in: Blackwood’s Edinburgh Maga-
Übersetzung erschien 1822 in Paris. Siehe zum Inhalt zine 8 (1825), 545–556.
und zur literaturgeschichtlichen Einordnung Barthouil 129 Henry Wadsworth Longfellow, The Poets and Poetry of
(1977) sowie Klein (1869) 20–37. Europe. With Introductions and Biographical Notices, New
127 Siehe „Italian Tragedy“, in: Quarterly Review 24 (1820), York u. London 1855, 610–612 (1. Aufl. Philadelphia
87; Felicia Heman, „Patriotic Effusions of the Italian 1845). Vgl. auch Florence Trail, A History of Italian Lite-
Poets“, in: Edinburgh Magazine 83 (1821), 513; „On Con- rature, Bd. 1, New York 1903, 117f.
temporary Italian Writers“, in: Knight’s Quarterly Maga- 130 Busk, „Horae Italicae“, 546.
zine 3 (1824), 406–432; „Critical Sketches“, in: Foreign 131 Busk, „Horae Italicae“, 546. Deutlich sind auch die Pa-
Quarterly Review 5 (1829), 325–328; und „Maffei’s His- rallelen zur republikanischen Tyrannenkritik Algernon
tory of Italian Literature“, in: Foreign Quarterly Review 17 Sidneys et al. (s.o.).

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 335


melicus als dekadenter Römersklave, der sich lieber seinen neuen Herren zum Vergnügen als Gladiator
in der Arena verdingt, als für die Ideale seines längst verstorbenen Heldenvaters zu streiten. Vergeblich
erinnert ihn seine Mutter an seine blutsmäßige Abstammung und die patriotische Pflicht, die Bestre-
bungen des Arminius um die Einheit Germaniens im Kampf gegen Rom weiterzuführen. Hin- und
hergerissen zwischen Vaterlands- und Mutterliebe, opfert Thusnelda schließlich ihren Sohn, um zu
verhindern, dass sich Thumelicus an einem Schauspiel beteiligt, das der diabolische Caligula zum
Zweck der Demütigung Germaniens inszenieren will. Nachdem sie ihren Sohn eigenhändig mit dem
Schwert seines Vaters getötet hat, nimmt sich Thusnelda vor den Augen des Cäsaren selbst das Leben,
und auch ihr Schwager Flavius stürzt sich in sein Schwert. Caligula rast vor Wut: Alle gefangenen Bar-
baren sind tot – doch die Ehre Germaniens ist gerettet.132
Halms pathosschwangere Glorifizierung der germanischen Nemesis, die lieber ihren eigenen
Sohn erdolcht als zuzulassen, dass er dem Namen seines Vaters Schande bereitet, wurde über die Gren-
zen des deutschen Sprachraums hinaus zu einem internationalen Bühnenereignis.133 Angeheizt wurde
das Publikumsinteresse zunächst durch Spekulationen über den anfangs anonymen Autor, der sich
nach seiner Enttarnung zudem einem heiklen Plagiatsprozess stellen musste.134 Politisch brisanter wa-
ren jedoch die unverhohlen großdeutschen Appelle im Stück, die nur wenige Jahre nach der geschei-
terten Revolution von 1848/49 als direkte Kritik an den Obrigkeiten der deutschen Einzelstaaten gedeu-
tet wurden. Was während der Reaktionsära in Deutschland nur hinter vorgehaltener Hand geäußert
werden konnte, sprach die englische Presse offen aus: Mit dem zögerlichen, unpatriotischen Römer-
freund Thumelicus sei der preußische König Friedrich Wilhelm IV. gemeint, der sich als willenloses
Werkzeug des russischen Zaren missbrauchen lasse, statt seiner Berufung zur Einigung Deutschlands
zu folgen.135
Doch Halms Drama bot aus englischer Sicht mehr als nur a severe lesson to the nation, and especially
to the King of Prussia.136 Für den Literaturwissenschaftler und Übersetzer Louis Raymond de Vericour
steht das Stück als Ausdruck des Germanic genius für den freiheitlichen spirit of opposition and reform
der jungen deutschen Literatur und damit in einer Traditionslinie, die er bis auf Schillers Wilhelm Tell
zurückführt.137 Das Schicksal des Thumelicus spiegelt aber nicht nur die Trostlosigkeit der politischen
132 Friedrich Halm, Der Fechter von Ravenna. Trauerspiel in 25. 2. 1868. Übersetzungen ins Italienische erschienen
fünf Akten, Wien 1857. Dahinter verbarg sich der Frei- 1858 in Turin und 1878 in Mailand; ins Dänische 1862
herr von Münch-Bellinghausen, der unter dem Pseudo- in Kopenhagen; ins Portugiesische 1870 und 1871 in Lis-
nym Halm 1843 bereits das ebenfalls enorm erfolgreiche sabon; ins Spanische in Madrid 1884 bereits in dritter
Barbarendrama Der Sohn der Wildniß verfasst hatte, das Auflage. Eine erste französische Fassung druckte die
unter dem Titel Ingomar, the Barbarian auch in England Revue Germanique 1 (1858), 97ff. u. 255ff.; eine weitere
und Amerika aufgeführt und in verschiedenen Ausga- erschien 1890 in Paris. Im August 1870 (!) wurde das
ben publiziert wurde. Stück im Pariser Théâtre de l’Ambigu-Comique aufge-
133 Eine erste englische Übersetzung von Louis Raymond führt. Auch in Stockholm kam das Stück zur Auffüh-
de Vericour wurde 1859 in London veröffentlicht und in rung, während es in Moskau verboten wurde – siehe
den folgenden Jahren mehrfach neu aufgelegt; eine Manchester Guardian vom 15. 08. 1856.
zweite bereits 1861, ebenfalls in London (nachgedruckt 134 Siehe die Berichte im Londoner Athenaeum vom 27. 1.
in William Henry Charlton, Poems and Plays, Original und 22. 12. 1855, 29. 3., 5. und 26. 4. 1856 sowie Theodore
and Translated, London 1868), und eine dritte von Sir Martins umfangreiche Rezension der ersten deutschen
Thomas Martin 1885 und 1894 in Edinburgh. Eine wei- Druckfassung in Frazer’s Magazine 55 (1857), 829–845.
tere, ursprünglich für das Londoner Theatre Royal ge- Zu den Hintergründen des Plagiatsstreites siehe Peter-
schriebene Fassung des Journalisten William Jaffray sen (1910) 9–21, und Klein (1995).
wurde 1865 mit großem Erfolg in Melbourne aufge- 135 The Literary Gazette vom 17. 2. 1855, 110.
führt – siehe The Era (London) vom 17. 9. 1865. In den 136 The Literary Gazette, vom 17. 2. 1855, 110.
Vereinigten Staaten wurde das Stück durch die gefeier- 137 Vericour, „Translator’s Preface“, in: Friedrich Halm, The
ten Tourneen des Wiener Theaterstars Fanny Janau- Gladiator of Ravenna. A Tragedy, London 1859, S. iv. Vgl.
schek Ende der 1860er Jahre bekannt – siehe z.B. New auch die Rezension in der Londoner Daily News vom
York Times vom 8. 11. 1867 und Chicago Tribune vom 2. 7. 1859.

336 HENNING HOLSTEN


Zustände in Deutschland wider, sondern weit darüber hinaus die entmenschlichende Wirkung jeder
Form der Sklaverei: skilful corruption, and the system of terror that has made slaves of men among all races,
have degraded him so far as to make him bless his servitude, adore his oppressors, pride himself in his disgrace,
play cheerfully with his chains.138 Die Botschaft des Stücks ist deshalb eine universale: that personal, poli-
tical, and mental freedom are the elementary rights of our being.139 So wird Halms Drama zum abolitionis-
tischen Lehrstück für die Widerlegung des despicable argument of inferiority of race, auf das sich insbe-
sondere die Verteidiger der zu dieser Zeit äußerst heftig umstrittenen Negersklaverei in Amerika
stützen. Das Beispiel des in römischer Gefangenschaft degenerierten germanischen Fürstensohnes
dient Vericour damit letzten Endes zur Bestätigung des antirassistischen Credos: God has made of one
blood all the nations of the earth.140
Angesichts der um die Jahrhundertmitte gerade auch in England und Amerika weit verbreiteten
rassistischen Germanentümelei erscheint es allerdings höchst fragwürdig, ob diese eigenwillige aboli-
tionistische Deutung die erstaunliche Popularität des Gladiator of Ravenna im britischen Königreich
und den Vereinigten Staaten erklären kann.141 Dieser Erfolg beruht vermutlich eher auf zwei anderen
Faktoren. Erstens löst Halm das von den Kritikern der englischen Arminiusdramen beklagte Problem
der fehlenden tragischen Tiefe eines erfolgreichen Vaterlandsretters und tugendstrotzenden Superpa-
trioten, indem er, wie bereits Pindemonte fünfzig Jahre zuvor, die Handlung in die Zeit nach dem glor-
reichen Sieg über Varus und seine Legionen verlegt. Thema ist in beiden Dramen nicht der militärische
Erfolg, sondern das politische Scheitern des Arminius, versinnbildlicht im Schicksal seines Sohnes
Thumelicus, der sich entweder selbst den Herrschergelüsten seines Vaters opfert oder von seiner Mut-
ter als Verräter gerichtet wird.142 Durch diese (frei erfundenen) dramaturgischen Wendungen wird aus
der Arminiusgeschichte ein tragischer Familienkonflikt zwischen Eltern und Sohn, Freiheitsliebe und
Machtstreben, Gehorsam und Verrat, Reue und Sühne.
Das tragische Ende der cheruskischen Helden und Heldinnen dürfte zweitens auch eher der bri-
tisch-amerikanischen Wahrnehmung der machtpolitischen Konstellationen im Europa der 1820er
bzw. 1850er Jahre entsprochen haben. Den großen nationalen Erhebungen der Befreiungskriege und
der Revolution von 1848/49 folgte auf dem Kontinent der Triumph der Reaktion. Historische Schau-
spiele, die die Geschichte eines durch Verrat und innere Zwietracht verspielten Sieges erzählten,
mussten aus liberaler und republikanischer Perspektive diesen Verhältnissen angemessener erschei-
nen als dramatische Inszenierungen einer erfolgreichen Mobilisierung gegen einen äußeren Feind.
Die englischen Arminiusdramen waren 1740, 1798 und 1813 in Zeiten aktueller kriegerischer Ausei-
nandersetzungen mit den romanischen Mächten Spanien und Frankreich entstanden. Nach der Ver-
nichtung Napoleons existierte keine ernsthafte Bedrohung des expandierenden britischen Weltrei-
ches mehr. Infolgedessen hatten auch patriotische Stücke, die an den erfolgreichen germanischen

138 Vericour, „Preface“, S. viii. germanische Weltherrschaft vorhersagt: Rome, the proud
139 Vericour, „Preface“, S. vii. sanguinary Rome, falls in ruin! Million of German voices
140 Vericour, „Preface“, S. x. Das Zitat stammt von dem be- call out ‚Victory!‘ and I see the earth, the ocean (!), subdued
deutenden Theologen Nathanael Emmons, einem der by Germanic swords, and subjected to the ascendancy of Ger-
Gründerväter der amerikanischen Antisklavereibewe- manic genius (Halm, Gladiator, S. 142).
gung. Eine Seite zuvor zitiert Vericour bereits den aboli- 142 Auch bei Pindemonte ist Thumelicus der eigentliche
tionistischen Klassiker Uncle Tom’s Cabin von Harriet moralische Gegenspieler seines Vaters. Wie englische
Beecher Stowe. und deutsche Kritiker übereinstimmend bemerken, ist
141 Durchaus in Einklang zu bringen mit der Ideologie des die dramatische Handlung mit seinem Selbstmord
,angelsächsischen Teutonismus‘ (s.u.) ist hingegen die eigentlich bereits am Ende – siehe Knight’s Quarterly
oft zitierte Prophezeiung aus dem Schlussmonolog Magazine 3 (1824), 419 und Klein (1869) 30.
Thusneldas, in der sie den Fall Roms und die zukünftige

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 337


Widerstand gegen die Einverleibung in das römische Imperium erinnerten, ihre politische Funktion
verloren.
Dass Arminius trotzdem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum englischen und amerikani-
schen Nationalhelden erhoben wurde, war daher nicht das Werk von Dichtern und Literaten, sondern von
Historikern und politischen Publizisten, denen wir uns in den folgenden Abschnitten widmen wollen.

Arminius in der Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts

Englische Historiker, die sich mit Arminius und der germanischen Frühgeschichte beschäftigten,
schöpften hauptsächlich aus zwei Quellen: den Werken des Tacitus und der deutschen Geschichts-
schreibung. Wesentlich erleichtert wurde der Zugang zur germanischen Geschichte Anfang des
18. Jahrhunderts zunächst durch die ersten populären Übertragungen der Annalen und der Germania
ins Englische.143 Dass sich mit dem wissenschaftlichen meist auch ein politisches Interesse verband,
zeigt insbesondere die Übersetzung des berühmten Whig-Publizisten Thomas Gordon, der sich in den
1720er Jahren als Mitautor der Cato’s Letters einen Namen als radikaler Kritiker politischer Korruption
und gesellschaftlicher Dekadenz gemacht hatte.144 So wie Tacitus den politischen Niedergang des Kai-
serreiches auf den Verlust klassisch-republikanischer Tugenden zurückführt, die er zumindest teil-
weise bei den ‚barbarischen‘ Germanen wiederfindet, so verweist Gordon auf das taciteische Rom als
warnendes Beispiel für die zersetzenden Wirkungen von verschwenderischem Luxus und persön-
lichem Machtstreben im zeitgenössischen Großbritannien.145 Für oppositionelle Kräfte verschiedenster
politischer Couleur wurden die Annalen so zum Arsenal antiabsolutistischer Herrschaftskritik und die
Germania zur Projektionsfläche für die Ideale natürlicher Sittlichkeit und Freiheit. Gordons Bearbei-
tung blieb über Jahrzehnte die englische Standardübersetzung, bis Arthur Murphy 1793 seine bereits
erwähnte Werkausgabe veröffentlichte. In Murphys Widmung an Edmund Burke wird Tacitus bereits
explizit als Kronzeuge für die englische Tradition einer gemäßigten Regierungsform auf germanischer
Grundlage vorgestellt:

In the Manners of the Germans we have the origin of that Constitution which you have so ably
defended.146

143 Der antiquarischen Übersetzung von Richard Grenewey, schien, fand ebenso wie Gordons Tacitusübersetzung
The Annales of Cornelius Tacitus. The Description of Ger- besonders in den amerikanischen Kolonien weite Ver-
manie, London 1598 (fünf weitere Auflagen bis 1640) breitung und zählt zu den Inspirationsquellen der Un-
folgte zunächst die Gemeinschaftsarbeit The Annals and abhängigkeitsbewegung. Eine deutsche Übersetzung
History of Cornelius Tacitus; his Account of the Ancient Ger- erschien 1756 in Göttingen. Vgl. Barry (2007).
mans, and the Life of Agricola. Made English by several 145 Siehe v.a. Gordons der Übersetzung vorangestellte Poli-
Hands, 3 Bde., London 1698 (Neuauflage 1716). Wirk- tical Discourses, die 1742 in Amsterdam erstmals auf
liche Popularität erlangte aber erst Thomas Gordons The Französisch und 1764 in Nürnberg unter dem bezeich-
Works of Tacitus. To which are prefixed, Political Discourses nenden Titel Die Ehre der Freyheit der Römer und Britten,
upon that Author, 2 Bde., London 1728–1731. Bis 1778 nach Herrn Thomas Gordon’s staatsklugen Betrachtungen
erschienen mindestens sechs weitere Ausgaben von über den Tacitus auf Deutsch erschienen.
Gordons Übersetzung. Vgl. auch zum Folgenden Bena- 146 Murphy, Tacitus I, viii. Ähnlich präsentistisch urteilte
rio (1976), Zwicker u. Bywaters (1989) und Weinbrot bereits John Aikin im Vorwort seiner Germania-Überset-
(1993). zung A Treatise on the Situation, Manners, and Inhabi-
144 Thomas Gordon u. John Trenchard, Cato’s Letters. Essays tants of Germany, Warrington 1777, vii: the government,
on Liberty, Civil and Religious, and other Important Sub- policy, and manners of the most civilized parts of the globe …
jects, 4 Bde., London 1723/1724. Diese Sammlung poli- originate from the woods and deserts of Germany.
tischer Essays, die 1748 bereits in fünfter Auflage er-

338 HENNING HOLSTEN


Ein zweites wichtiges Referenzwerk stand seit 1737 in englischer Übersetzung zur Verfügung. Johann
Jakob Mascovs History of the Ancient Germans, im deutschen Original bereits elf Jahre zuvor publiziert,
lieferte dem britischen Publikum erstmals das vollständige Narrativ der Lebensgeschichte des Armi-
nius, soweit es uns von den griechischen und römischen Geschichtsschreibern (neben Tacitus sind das
Strabon, Florus, Sueton, Velleius Paterculus und Cassius Dio) überliefert ist.147 Arminius wird von Mas-
cov mit patriotischem Stolz als valiant Prince gepriesen, dem die Befreiung seines Vaterlandes wichtiger
war als die Ehren eines römischen Ritters.148 Seine Ermordung durch die eigene Verwandtschaft wird
nicht auf sein Machtstreben, sondern auf den Neid und Undank seiner Mitwelt zurückgeführt.149 Im
Übrigen verzichtet Mascov weitgehend auf eigene Wertungen und verweist, wie die meisten Historiker
vor und nach ihm, auf die durch Tacitus etablierte allgemeine Würdigung des Cheruskers als liberator
Germaniae, der das römische Imperium auf dem Gipfelpunkt seiner Machtentfaltung besiegte.150
Gegenwartsbezug erhält Mascovs Darstellung durch die unhinterfragte Gleichsetzung von ‚Teut-
schen‘ und ‚Germanen‘, die in der Übersetzung von Thomas Lediard als Germans bzw. Northern people
auftreten. Auf die Bedeutung der germanischen Frühgeschichte für die moderne Entwicklung Eng-
lands und Europas verweist bereits der Untertitel der englischen Ausgabe, der eine Geschichte aller An-
cient Northern Nations who overthrew the Roman Empire, and established that of the Germans and most of the
Kingdoms of Europe verspricht, wo in der Originalfassung nur von einer „Geschichte der Teutschen“ die
Rede ist. Noch deutlicher wird die Anglisierung der germanischen Tradition in Lediards Widmung an
Robert Walpole, in der er die Ancient Germans als our Great Ancestors bezeichnet, nach deren Vorbild
our own Laws, and Ancient Laudable Customs, nay even our Excellent Constitution itself geformt seien.151
Dieser doppelte Brückenschlag zwischen deutscher und englischer Früh- und Zeitgeschichte war um
die Mitte des 18. Jahrhunderts keineswegs ungewöhnlich, sondern entsprach der etablierten Whig In-
terpretation of History, die den Geschichtsprozess als einen teleologisch auf das britische Modell der kon-
stitutionellen Monarchie zusteuernden Fortschritt der Freiheit verstand.152 Damit war bereits der
Grundstein für ein Geschichtsbild gelegt, durch das die Varusschlacht als Ausgangspunkt der politi-

147 Johann Jakob Mascov, Geschichte der Teutschen, Bd. 1, seines römischen Widerparts Germanicus, dem damit
Leipzig 1726, 76–103. Eine zweite Auflage erschien eine moralische Gleichwertigkeit zugesprochen wird.
1750; eine italienische Übersetzung des ersten Bandes 150 Mascov, History I, 123.
1732 in Venedig. Die englische Ausgabe wurde unmittel- 151 Mascov, History I (1738), „Dedication“ o.S. Neben der
bar nach Vollendung des zweiten Bandes 1737/1738 in Widmung an den Premierminister enthält der zweite
London und Westminster unter dem Titel The History Band eine Subskribentenliste, auf der neben zahlreichen
of the Ancient Germans veröffentlicht und noch im selben Notabeln auch Prinz William genannt wird, dem Pater-
Jahr erschien eine zweite Auflage. Die Vorreiterrolle die- son drei Jahre später sein Arminiusdrama widmete. Zu
ses heute weitgehend vergessenen Standardwerks war Lediard, der viele Jahre als Diplomat in Deutschland ver-
noch im 19. Jahrhundert unbestritten. Barthold Georg brachte und selbst eine Reihe historischer Werke ver-
Niebuhr, Vorträge über römische Geschichte, Bd. 1: Von der fasst hat, siehe den biografischen Abriss in Lee (1909)
Entstehung Rom’s bis zum Ausbruch des ersten punischen XI, 780.
Krieges, hg. v. M. Isler, Berlin 1846, 33 würdigt Mascov 152 Butterfield (1931). Siehe als prägnantes Beispiel neben
als „den ersten, der eine deutsche Geschichte geschrie- der klassischen Studie von Paul Rapin de Thoyras, The
ben hat“. Von Hofmann-Wellenhof, Geschichte III, 1 History of England, as well Ecclesiastical as Civil. Done into
nennt Mascovs Werk „die erste würdige, zugleich wis- English from the French, with large and useful Notes by
senschaftliche und im Grunde volksthümliche Darstel- N. Tindal, 15 Bde., London 1728–1731 (franz. Original Le
lung der ältesten deutschen Geschichte in deutscher Haye 1724–1736, fünfte Auflage der englischen Ausgabe
Sprache“. Der englische Historiographie-Historiker 1759, dt. Übersetzung Halle 1755–1760), auch Samuel
Thompson urteilt noch 1942: Because of his use of sources Squire, An Enquiry into the Foundation of the English
and his impartiality, Mascou’s history, though over two cen- Constitution; or, an Historical Essay upon the Anglo-Saxon
turies old, is still readable today (Thompson [1942] II, 110). Government both in Germany and England, London 1745.
148 Mascov, History I, 93f. Vgl. hierzu auch Trevor-Roper (1987), Okie (1991) und
149 Mascov, History I, 122f. Interessanterweise vergleicht Geyken (2003).
Mascov das tragische Schicksal seines Helden mit dem

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 339


schen Entwicklung Großbritanniens und der Vereinigten Staaten zum weltgeschichtlichen Schlüssel-
ereignis erhoben wurde.
Mascovs Werk wurde von der englischen Kritik positiv aufgenommen und fand Verbreitung bis in
die amerikanischen Kolonien.153 Berühmte Historiker wie Gibbon, Turner und Carlyle stützten sich
in den kommenden Jahrzehnten auf seine Darstellung.154 Dennoch sollte es noch gut hundert Jahre
dauern, bis der Arminiuskult zum integralen Bestandteil der englischen Nationalgeschichtsschreibung
erhoben wurde. Stattdessen wurde die Geschichte des Siegers der Varusschlacht und seines tragischen
Schicksals in der Historiographie des 18. Jahrhunderts ausschließlich als Episode der Geschichte des
römischen Reiches erzählt.155 Diese Darstellungen sind, bedingt durch die Tendenz der römischen
Quellen, zumeist eher ambivalent in ihrer Bewertung seines Charakters und der Folgen seiner Tat. In
besonders kritischem Licht erscheint Arminius beispielsweise in den Memoirs of the Court of Augustus
des schottischen Aufklärers Thomas Blackwell von 1748:

Arminius had every Qualification requisite to conduct a conspiracy. Personally brave, indefati-
gable active, full of Life and Spirits, which sparkled his Eyes and Countenance; he was fertile in
Resources, dexterous, cunning, and knew how to seign or dissemble as he pleased. Such a Man
was by far an Over-match for Varus.156

Arminius’ Tugenden werden hier in erster Linie auf seine Bef ähigung zur hinterlistigen Verschwörung
gegen den arglosen Varus reduziert, während das einzige Verschulden des römischen Statthalters in
dem naiven Versuch bestand, die rude and savage manners of an uncivilized People durch Law and Justice
zu mildern. Die Schlacht im Teutoburger Wald wird als erfolgreicher Hinterhalt geschildert und die
detailliert beschriebenen Grausamkeiten nach dem Sieg dem insolent Barbarian Arminius persönlich
zur Last gelegt.157 Unmittelbare Folge der verheerenden Niederlage der varianischen Legionen war der
Terror in Rom, der Augustus zu seiner viel zitierten Klage: Restore my Legions, Varus! veranlasste. Mittel-
bar hingegen wurde der Rhein zur natural Barrier between the Roman Empire and the savage Nations on
the other Side of that River.158 Der römisch-germanische Konflikt erscheint typischerweise als Kampf zwi-
schen Zivilisation und Barbarei, und der klassische Philologe Blackwell lässt keinen Zweifel daran, auf
welcher Seite seine Sympathien liegen.
Das unbestreitbare Zivilisationsgef älle zwischen Römern und Germanen wurde von der Aufklä-
rungshistoriographie der zweiten Jahrhunderthälfte häufig angeführt, um das vorherrschende Ge-

153 Siehe die Rezensionen in Present State of the Republick of 330–332 (dt. Leipzig 1765–1767 und Troppau, Brünn u.
Letters 8 (1731), 13–17, und History of the Works of the Lear- Wien 1785–1805), Oliver Goldsmith, The Roman History.
ned 2 (1737), 52–66. Führende amerikanische Intellektu- From the Foundation of the City of Rome, to the Destruction
elle wie Benjamin Franklin und John Quincy Adams be- of the Western Empire, Bd. 2, London 1769, 112 u. 127f.
saßen Exemplare des Werks – siehe Wolf u. Hayes (30. Auflage 1853, dt. Leipzig 1774 u. ö.) und Adam
(2006) 27 und Morris (1974) 333. Ferguson, The History of the Progress and Termination of
154 Siehe Pocock (2007) 42 und Shine (1951) 103. the Roman Republic, Bd. 3, London u. Edinburgh 1783,
155 Siehe z.B. An Universal History, from the earliest Account 475–480 u. 520f. (dt. Leipzig 1784–1786).
of Time to the Present. Compiled from original Authors, 156 Thomas Blackwell, Memoirs of the Court of Augustus,
Bd. 13, London 1745, 460, 463, 532–558 (dt. Übersetzung Bd. 3, London 1763, 520. Die beiden ersten Bände er-
Halle 1744–1814), The Roman History under the first Tri- schienen bereits 1753–1755 in Edinburgh, weitere Auf-
umvirate, and the Reign of Augustus, Bd. 1, London 1748, lagen 1760–1763, 1764 und 1794/1795 in London; eine
365–367, Jean Baptiste Louis Crevier, The History of the französische Übersetzung erschien 1759, 1768 und 1781
Roman Emperors from Augustus to Constantine. Translated in Paris, eine italienische 1785 in Venedig. Vgl. Turner
from the French by John Mills, Bd. 1, London 1755, 308–323 (1993) 236ff.
(franz. Original Paris 1750–1754, dt. Dresden 1756– 157 Blackwell, Memoirs III, 522 u. 524.
1765), William Guthrie, A General History of the World, 158 Blackwell, Memoirs III, 530 u. 533.
from the Creation to the Present Time, Bd. 4, London 1764,

340 HENNING HOLSTEN


schichtsbild einer ungebrochenen Tradition germanischer Freiheitsrechte in Frage zu stellen. Bereits
1739 erinnerte der den Tories nahe stehende Historiker und Geograph Thomas Salmon seine Whig-Kol-
legen daran,

that they are at present under a much happier constitution than ever the ancient Germans experi-
enc’d. The art of government, as well as other arts, is capable of improvement; and why we should
be always appealing to the first rude draughts, and inculcating to the mob that we ought to imitate
only the first essays of this nature, that were made when there were no laws to ascertain the
Prince’s prerogative, or the people’s rights, in which our great happiness consists, shews a more
than ordinary perverseness, or a very great degree of ignorance in the history of the ancients.159

Weniger parteipolemisch, aber umso nachhaltiger demontierte zwei Jahrzehnte später der schottische
Historikerphilosoph David Hume in seiner enorm wirkungsmächtigen History of England die zentralen
Grundannahmen der Whig-Geschichtsschreibung.160 Seine Charakterisierung der angelsächsischen
Vorväter entwirft ein pointiertes Gegenbild zu den taciteischen Idealisierungen germanischer Sittlichkeit:

With regard to the manners of the Anglo Saxons we can say little, but that they were in general a
rude, uncultivated people, ignorant of letters, unskilled in the mechanical arts, untamed to sub-
mission under law and government, addicted to intemperance, riot, and disorder.161

Die hier zum Ausdruck kommende Distanzierung von den barbarischen Ursprüngen der eigenen Kul-
tur ist typisch für das Fortschrittsdenken der Aufklärung, das die Geschichte als einen aufwärts streben-
den Zivilisationsprozess from rudeness to refinement begriff.162 Für philosophische Geschichtsschreiber
wie Adam Ferguson und William Robertson, die die Entwicklung der Menschheit mittels einer univer-
sal vergleichenden Kulturstufentheorie bewerteten, lag deshalb ein Vergleich der von Tacitus beschrie-
benen germanischen Zustände mit denen der amerikanischen Indianervölker sehr viel näher als ein
Analogieschluss zwischen altsächsischen Stammesversammlungen und dem modernen britischen
Parlament.163 Die kriegerischen Horden aus den deutschen Urwäldern erscheinen in diesem Ge-
schichtsbild nicht als Verteidiger natürlicher Sittlichkeit und Freiheit, sondern als Bedrohung der auf
Besitz und Bildung, Recht und Ordnung gegründeten klassischen Zivilisation.164

159 Thomas Salmon, Modern History: or, the Present State of liam Robertson, The History of the Reign of Emperor
all Nations, Bd. 2, 2. Aufl., London 1739, 35. Salmons ins- Charles V., with a View of the Progress of Society in Europe
gesamt 31-bändiges Kompendium erschien erstmals from the Subversion of the Roman Empire, to the Beginning
1725–1738 und 1744–1746 bereits in dritter Auflage. Die of the Sixteenth Century, Bd. 1, London 1769, 12.
vier Bände zur History of England (1732–1734) sind expli- 163 Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society,
zit als Replik auf Rapin angelegt. Übersetzungen er- Edinburgh 1767, 128f. (vier weitere Auflagen bis 1782;
schienen 1739ff. in französischer, 1740ff. in italieni- dt. Übersetzung Leipzig 1768) und Robertson, History I,
scher und 1732–1752 in deutscher Sprache. Vgl. Okie 9, 205–212 (14. Auflage 1817, Neuauflagen das ganze
(1991) 99–108. 19. Jahrhundert hindurch, auch als Teil von Werkauf-
160 David Hume, The History of England from the Invasion of lagen, allein in Amerika mehr als ein Dutzend; vier
Julius Caesar to the Accession of Henry III., Bd. 1, London deutsche Übersetzungen zwischen 1770 und 1819;
1762, insb. 141–163; bis 1797 erschienen 17 Auflagen; Übersetzungen ins Französische, Italienische, Spani-
vier deutsche Übersetzungen erschienen zwischen 1767 sche, Russische und Niederländische). Siehe Kontler
und 1814 in Breslau, Leipzig, Lüneburg und Wien. Zur (1997), Bickham (2005) und Pocock (2005) 269–293.
Wirkungsgeschichte in den USA siehe Wilson (1989). 164 Weinbrot (1997) 952 beschreibt diese beiden Pole des
161 Hume, History I, 163. Germanenbildes pointiert: Good Goths are apparently
162 Siehe exemplarisch Gilbert Stuart, A View of Society in good Whigs – Bad Goths are the brutal killing machines of
Europe, in its Progress from Rudeness to Refinement, or In- civilization, liberty, and people. Vgl. zu den politischen
quiries concerning the History of Law, Government and Funktionalisierungen im 18. Jahrhundert Geyken (2002)
Manners, Edinburgh 1778 (dt. Leipzig 1779). Von einer 218–244.
Entwicklung from barbarism to refinement sprach Wil-

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 341


Nichtsdestotrotz finden sich auch bei den britischen Aufklärungshistorikern Referenzen an die
germanische Freiheitstradition. So sah auch ein rationalistischer Moralphilosoph wie Hume seine
Gegenwart in einer positiven Kontinuität mit den germanischen Barbaren, die mit der Zertrümme-
rung des (west)römischen Imperiums die Grundlage für die moderne europäische Staatenbildung
schufen:

The free constitutions then established, however impaired by the encroachments of succeeding
princes, still preserve an air of independance and legal administration which distinguish the
European nations; and if that part of the globe maintain sentiments of liberty, honour, equity,
and valour superior to the rest of mankind, it owes these advantages chiefly to the seeds im-
planted by those generous barbarians.165

Eine ähnlich ambivalente Bewertung des Konfliktes zwischen germanischer Barbarei und römischer
Zivilisation findet sich auch in Edward Gibbons Meisterwerk The History of the Decline and Fall of the
Roman Empire.166 Zwar ist seine Beschreibung der wild barbarians of Germany weit entfernt vom Bild des
von der Zivilisation unverdorbenen, edlen Wilden im Sinne Rousseaus; doch zollt auch Gibbon der
Freiheitsliebe und den kriegerischen Tugenden der people of military heroes, die in einem signal act of
despair Varus und seine Legionen besiegten, seinen Respekt.167 Und obwohl er im klassischen Rom der
antoninischen Ära den noch nach 1500 Jahren nicht wieder erreichten ersten Gipfelpunkt mensch-
licher Zivilisation sieht, erkennt auch der romanophile apostle of rationality,168 im Einklang mit Mon-
tesquieu und den whiggistischen Tacitusexegeten, in den germanischen Sitten und Gebräuchen die Ur-
sprünge der modernen englischen Rechtsordnung:

The most civilized nations of modern Europe issued from the woods of Germany, and in the
rude institutions of those barbarians, we may still distinguish the original principles of our
present laws and manners.169

Selbst die kritische Aufklärungshistoriographie war, bei aller Betonung der politisch-sittlichen Distanz
zu den barbarischen Vorvätern, offenbar nicht bereit, die Vorstellung einer bis in die Gegenwart rei-
chenden germanischen Freiheitstradition aufzugeben. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis erst-
mals auch das Arminiusnarrativ in eine bedeutende englische Nationalgeschichtsdarstellung einge-
bunden wurde.
Sharon Turners in der Übergangszeit zwischen Antiquarismus und Historismus, aufgeklärtem
Patriotismus und romantischem Nationalismus geschriebene History of the Anglo-Saxons gilt gemein-
hin als erster Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der angelsächsischen Frühgeschichte, der

165 Hume, History I, 141. 169 Gibbon, History I, 217. An anderer Stelle betont Gibbon
166 Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of die langfristig heilsamen Folgen der Zerschlagung des
the Roman Empire, 6 Bde., London 1776–1788. Gibbons römischen Imperiums durch die fierce giants of the north:
Buch gilt bis heute als Meilenstein und meistgelesenes They restored a manly spirit of freedom; and after the revolu-
Werk der englischen Geschichtsschreibung. Siehe zu tion of ten centuries, freedom became the happy parent of
Werk und Wirkung Porter (1988) und Lee (2007). taste and science (59). Diese Referenzen an das tradi-
167 Gibbon, History I, 218 u. 236. Eine weitere beiläufige tionelle Whig-Geschichtsbild werden in Francois Furets
Erwähnung des Arminius findet sich auf S. 259. Eine Abhandlung „Civilization and Barbarism in Gibbon’s
ausführliche Darstellung und Würdigung der Varus- History“ (1977) einfach unterschlagen, da sie offenbar
schlacht fehlt, da Gibbons Narrativ erst um 180 n. Chr. nicht in sein Bild vom konsequenten Zivilisationsapolo-
einsetzt. geten Gibbon passen – siehe insb. 164f. Vgl. dagegen Wo-
168 Lee (2007) 118. mersley (1988) 80–88 und Pocock (2007).

342 HENNING HOLSTEN


einer ganzen Generation englischer Historiker den Weg wies.170 In der Einleitung zum ersten Band von
1799, der großenteils our continental ancestors vor der Invasion Britanniens gewidmet ist, betont er die
besondere Bedeutung der Germanen to us, the posterity of the Anglo-Saxons.171 In Umkehrung der von
den Aufklärungshistorikern etablierten Dichotomie von Zivilisation und Barbarei sind es bei Turner die
Römer, die als brutale, gesetzlose Eroberer geschildert werden:
the conquest of the world was the delirious project of Rome, and the myriads of victims which it
yearly sacrificed raised not one feeling of sympathy among the citizens of the Tibur; a surname
from a new country subdued, outbalanced all the tears of humanity, and the clamours of viol-
ated right.172
Gemäß Turner verfolgte Arminius im Gegensatz zu den römischen Feldherrn keine mad schemes of
offensive conquest or vengeful devastation, sondern gab sich zufrieden mit dem title of the deliverer of his
country. Es war demnach Germanicus, der aus persönlicher Rach- und Ruhmsucht danach strebte, to
annihilate the rude liberty of Germany. Und obwohl die germanischen Stämme unter der Führung ihres
cheruskischen Helden tapfer Widerstand leisteten, war es letztlich nur der Neid des Imperators Tibe-
rius, der seinen populären Neffen vorzeitig aus Germanien abberief, der die bedrohte Unabhängigkeit
Europas bewahrte.173 Die weitreichenden Folgen dieser Entscheidung beschreibt Turner mit Hilfe einer
contrafaktischen Geschichtsbetrachtung, die selbst zum Ausgangspunkt einer grundlegenden Neuori-
entierung der englischen Geschichtswissenschaft werden sollte:
the Saxons might have glided off the page of history for ever; but this people was not destined to
be entombed by the ambitions of lawless conquerors. The Saxons have survived the fall of the
capitol, and have equalled the glory of its masters in pursuits of nobler merit.174

170 Sharon Turner, The History of the Anglo-Saxons, 4 Bde., 172 Turner, History I, 43. Es ist wohl kein Zufall, dass diese
London 1799–1805. Turners umfassende Darstellung Zeilen im Jahr des Ägypten-Feldzuges und des Staats-
wurde schon bald zum Standardwerk und bis zur siebten streichs Napoleon Bonapartes publiziert wurden.
Auflage 1852 regelmäßig neu bearbeitet. Eine erste ame- 173 Turner, History I, 41–44. Als Beleg für seine Arminius-
rikanische Ausgabe erschien 1841 in Philadelphia. In darstellung verweist Turner u.a. auf Mascov (s.o.). In der
deutscher Übersetzung erschien 1828 in Hamburg ledig- zweiten Auflage erklärt Turner, Germanicus habe seine
lich ein Auszug unter dem Titel Geschichte Alfreds des Strafexpeditionen for the express purpose of human
Grossen. Zur positiven Rezeption der ersten beiden Aufla- slaughter unternommen (History I [2. Aufl. 1807], 47). In
gen vgl. die umfangreichen Rezensionen im European Widerspruch zum betont defensiven Charakter der anti-
Magazine and London Review 43 (1803), 441–447, British römischen Allianz unter Arminius heißt es in der dritten
Critic and Quarterly Theological Review 26 (1805), 179–189, Auflage: His talents and ambition might have subdued the
Eclectic Review 3,2 (1807), 653–663 u. 775–786 und Annu- northwestern coast of Germany into one dominion; but he
al Review 6 (1808), 219–226. Siehe zu Werk und Person being killed, and his Cherusci weakened, no similar hero, and
Peardon (1933) 218–233 und Berkhout (1982) 150–166. no great kingdom, which such a character usually fonds, arose
171 Turner, History I, iv. Die Ausnahmestellung, die Turners in those parts (History I [3. Aufl. 1820], 151). Arminius’ viel
romantischer Anglo-Saxonism anfangs in der englischen kritisierte ,despotische Ambitionen‘ werden hier bereits
Historiografie seiner Zeit einnahm, verdeutlicht noch fol- positiv als nationales Einheitsstreben gewertet (s.u.).
gendes Zitat aus Benjamin Disraelis Debütroman Vivian 174 Turner, History I, 44. Überraschenderweise fehlt diese
Grey, Bd. 2, London 1826, 163: Sharon Turner, in his soli- Passage, die die Grundlage des Arminiuskults der späte-
tude, alone seems to have his eye on Prince Posterity; but, as ren Teutonisten à la Arnold, Creasy und Freeman um
might be expected, the public consequently has not its eye on Jahrzehnte vorwegnimmt, in den folgenden Ausgaben.
Sharon Turner. Twenty years hence they may discover that they Stattdessen ersetzt Turner die eher beiläufig eingefloch-
had a prophet among them, and knew him not. Im Vorwort tene geschichtsphilosophische Spekulation durch eine
zur dritten Auflage kann Turner allerdings bereits befrie- längere historische Argumentation, die erklärt, wie
digt feststellen: When the first volume appeared, the subject of durch den fortwährenden militärischen Konflikt mit
Anglo-Saxon antiquities had been nearly forgotten in Britain; Rom aus den anti-imperialistischen Germanen die Spar-
although a large part of what we most love and venerate in our tans of modern Europe und schließlich die Zerstörer des
customs, laws, and institutions, originated among our Anglo- römischen Imperiums und Begründer der mittelalter-
Saxon ancestors … His desire has been fulfilled – a taste for the lichen Feudalordnung wurden (History I [2. Aufl. 1807],
history and the remains of our Great Ancestors has revived, 143–150).
and is visibly increasing (History I [3. Aufl. 1820], vf.).

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 343


Die Varusschlacht erhält hiermit ihre entscheidende geschichtsteleologische Aufladung. Turners Vor-
stellung einer von der Vorsehung bestimmten weltgeschichtlichen Mission der Angelsachsen, die diese
nur deshalb erfüllen konnten, weil im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung Arminius’ Hel-
dentaten ihre germanischen Vorfahren vor der drohenden ‚Romanisierung‘ gerettet hatten,175 stand im
kommenden Jahrhundert noch eine große Karriere bevor. Damit aus diesem eher unsystematischen
und geschichtstheoretisch kaum reflektierten romantischen Ahnenstolz eines der leitenden Paradig-
men der englisch-amerikanischen Historiographie werden konnte, bedurfte es allerdings noch einiger
grundlegender konzeptioneller Innovationen.176 Die wesentlichen Anregungen für die ‚Verwissen-
schaftlichung‘ von Germanenideologie und Arminiuskult im 19. Jahrhundert kamen dabei nicht zuf äl-
lig aus dem Land, das sein nationales Selbstverständnis ebenfalls vom mythischen Sieg im Teutoburger
Wald herleitete.

Die geschichtswissenschaftliche Konstruktion eines teutonischen Gründervaters

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein so radikaler Wandel im Verhältnis von deutscher
und englischer Geschichtswissenschaft, dass man beinahe von einer vollständigen Umkehrung des bis-
herigen Rezeptionsgef älles sprechen kann.177 Waren es im 18. Jahrhundert die Werke der britischen
Historiker, die in Deutschland übersetzt wurden und die Maßstäbe wissenschaftlicher Darstellung we-
sentlich mitbestimmten, so definierten nun Vertreter des deutschen Historismus wie Leopold von Ranke
und Barthold Georg Niebuhr zunehmend auch die grundlegenden methodischen und konzeptionellen
Standards der englischen Geschichtsschreibung.178 Damit verbunden war die Übernahme themati-
scher Setzungen, die auch die gemeinsame germanische Abstammung von Deutschen und Angelsach-
sen in neue national- und weltgeschichtliche Perspektiven rückten.179 Mit Hilfe des organischen Ent-
wicklungsbegriffs der Historischen Rechtsschule bestätigten deutsche und englische Gelehrte den
‚germanischen Charakter‘ grundlegender englischer Rechtsinstitutionen wie des Common Law, der Ge-
schworenengerichte und Parlamentsrechte.180 Die von den Brüdern Grimm begründete Germanistik

175 Turner, History I, 144: the successes of Arminius kept [Ger- citly racist interpretation of English history enthalten wa-
manien] from being too Romanised. Auch mit dieser ren, betont hingegen MacDougall (1982) 92.
Übertragung des aus den Sprachwissenschaften stam- 177 Siehe Oz-Salzberger (1997) 7ff.
menden Romanisierungsbegriffs auf das politisch-his- 178 Siehe auch zum Folgenden Dockhorn (1950), Messer-
torische Phänomen des römisch-germanischen ‚Natio- schmidt (1955), McClelland (1971), Maurer (1987),
nalitätenkonflikts‘ war Turner seiner Zeit weit voraus. Stuchtey u. Wende (2000) und Berger, Lambert u. Schu-
176 Vgl. das Urteil eines autoritativen Referenzwerks des mann (2003).
frühen 20. Jahrhunderts: Sharon Turner himself cannot 179 Zur geschichtsphilosophischen Aufladung des moder-
rank as a great historian; and it might, perhaps, be questio- nen Germanismus im deutschen Idealismus – nament-
ned, wether his proper place is among the historians at all. lich durch Herders ‚Volksgeist‘-Idee, Fichtes ‚Ur-Volk‘-
His early volumes are marred by a cumbrous method, a te- Hypothese und Hegels ‚Weltgeist‘-Philosophie – siehe
dious style and an antiquated philology; yet, a survey of their Kipper (2002) 53–62, der hier bereits die Ursprünge des
contents suffices to show the breadth of their author’s design ‚völkischen Denkens‘ verortet.
and the indefatigable industry expended upon its execution. 180 Vgl. die frühen Darstellungen des gebürtigen Englän-
His place in literature he owes, not to service or circumstance, ders George Phillips, Versuch einer Darstellung der Ge-
but to his courage and energy in research, which enabled schichte des Angelsächsischen Rechts, Göttingen 1825 und
him, first among English writers, to make his countrymen Francis Palgrave, A History of the Anglo-Saxons, London
aware of the elements of future national greatness revealed in 1831 (weitere Auflagen 1838 und 1867) mit den Klassi-
the life of their immigrant forefathers. – Adolphus William kern von Johann Martin Lappenberg, Geschichte von Eng-
Ward (Hg.), The Cambridge History of English Literature, land, 10 Bde., Hamburg 1834–1897 (engl. Übersetzung
Bd. 14, Cambridge 1916, 52–53. Dass in der Pionierstu- der ersten Bände unter dem Titel A History of England
die von Turner bereits sämtliche Elemente einer expli- under the Anglo-Saxon Kings London 1845, vier weitere

344 HENNING HOLSTEN


ermöglichte es zudem, das Englische der ‚teutonischen‘ Sprachfamilie zuzuordnen, der häufig eine
prinzipielle Überlegenheit gegenüber anderen, insbesondere den keltischen und romanischen Sprach-
gruppen zugeschrieben wurde.181 Verknüpft wurden diese Konzepte durch einen romantischen Na-
tionalismus, der Sprache wie Rechtsinstitutionen als Emanationen eines organisch gewachsenen
Volksgeistes betrachtete und die Nation als eine aus eigenen Ursprüngen entwickelte Kultur- und Ab-
stammungsgemeinschaft imaginierte.182 Die von Ranke geprägte metahistorische Kategorie des ,Ger-
manischen‘ als Widerpart des ,Romanischen‘ ermöglichte es dabei, die eigene Nation innerhalb eines
epochenübergreifenden abendländischen Geschichtsprozesses zu verorten, der seine Wurzeln in der
römisch-germanischen Auseinandersetzung zu Zeiten von Varus und Arminius hatte.183
Ein Indikator dafür, dass die altgermanische Vergangenheit und ihre Deutung durch die deutsche
Geschichtswissenschaft beim englischsprachigen Publikum ein verstärktes Interesse fand und mehr
als bisher zur Kenntnis genommen wurde, ist die steigende Zahl von englischen Übersetzungen deut-
scher Geschichtswerke insbesondere in den 1840er Jahren. Darstellungen der römischen, deutschen
oder Weltgeschichte, die auch den germanischen Helden Hermann und die Varusschlacht aus deut-
scher Sicht beleuchteten, erreichten mitunter stattliche Auflagenzahlen.184 Wichtiger für die englische
Geschichtswissenschaft war jedoch der persönliche Austausch mit den boomenden deutschen Univer-
sitäten. Tausende von britischen und amerikanischen Studenten pilgerten im 19. Jahrhundert nach
Deutschland und erlernten ihr akademisches Handwerk in den Seminaren deutscher Professoren.185
Zu den ersten gehörten führende englische Teutonisten wie der einflussreiche Sprach- und Rechtshis-
toriker John Mitchell Kemble, der in Göttingen bei Jacob Grimm studierte und eine deutsche Professo-
rentochter heiratete, und der Niebuhr-Schüler Thomas Arnold, der mit seiner Antrittsvorlesung als Re-
gius Professor of Modern History in Oxford das Gründungsmanifest der teutonistischen Oxford School
liefern sollte.186 Wie stark die Erfahrung des Deutschlandaufenthalts auf die Belebung des germani-

Auflagen bis 1894), und John Mitchell Kemble, The Sa- 184 Siehe bspw. Barthold Georg Niebuhr, The History of
xons in England. A History of the English Commonwealth Rome, 3 Bde., Cambridge 1828–1842 (dt. Original Berlin
till the End of the Norman Conquest, 2 Bde., London 1849 1811–1845, weitere Auflagen 1844 in London und in Phi-
(revised edition 1876, dt. Leipzig 1853/1854), die Turners ladelphia) und dessen Lectures on the History of Rome,
History of the Anglo-Saxons als Standardwerk ablösten. 3 Bde., London 1849/1850 (dt. Original Berlin 1844, fünf
Vgl. Busch (2004) insb. 95–103 und Reimann (1993) zur weitere engl. Ausgaben bis 1875); Heinrich Luden, Ge-
amerikanischen Rezeption. schichte des teutschen Volkes, 12 Bde., Gotha 1825–1837
181 Siehe bspw. John Mitchell Kemble, History of the English (Übersetzung der Arminius-Passage des ersten Bandes
Language, Cambridge 1834, Joseph Bosworth, The Origin in der Rezension des Monthly Review 11 [1829], 579–581);
of the English, Germanic, and Scandinavian Languages and Charles von Rotteck, General History of the World, 4 Bde.,
Nations, London 1848 (zuerst als Einführung zu Bos- London 1842 (dt. Original Stuttgart 1831–1833, sechs
worths Dictionary of the Anglo-Saxon Language, London weitere Auflagen bis 1869, erste amerikan. Ausgabe Phi-
1838) und Robert Gordon Latham, The English Language, ladelphia 1840/1841, drei weitere Ausgaben bis 1875);
London 1841 (5. Auflage 1862) sowie dessen sehr erfolg- Friedrich Kohlrausch, A History of Germany from the Ear-
reiches Lehrbuch A Hand-Book of the English Language, liest Period to the Present Time, London 1844 (dt. Original
London 1851 (9. Auflage 1875, amerikanische Ausgaben Elberfeld 1816/1817, 14 weitere Auflagen bis 1866);
New York 1852, 1864 und 1870). Vgl. Frantzen (1990). Wolfgang Menzel, The History of Germany, 3 Bde., Lon-
182 Siehe Nipperdey (1990), Colley (1992) und Cubitt don 1848/1849 (dt. Original Zürich 1825–1827, fünf wei-
(1998). tere engl. Auflagen bis 1889, amerikan. Ausgaben New
183 Siehe Leopold von Ranke, Geschichte der lateinischen und York 1899 und 1902); Georg Weber, Outlines of Universal
germanischen Völker von 1494 bis 1535, Leipzig u. Berlin History, London 1851 (dt. Original Leipzig 1847, ameri-
1824 (engl. Übersetzung unter dem Titel History of the kan. Ausgabe Boston 1853, 14 weitere Auflagen bis 1861).
Latin and the Teutonic Nations, London 1887, Neuaufla- 185 Siehe Weber (2008).
gen 1909 und 1915) sowie Rankes Englische Geschichte 186 Siehe zum persönlichen Verhältnis Kembles zu Grimm
vornehmlich im siebzehnten Jahrhundert, 7 Bde., Berlin Wiley (1971), sowie zum ideellen Einfluss Grimms auf
1859–1868 (engl. Oxford 1875). Vgl. zum Zusammen- Kemble und Rankes und Niebuhrs auf Arnold die detai-
spiel von juristischem, philologischem und histori- lierten Nachweise bei Dockhorn (1950) 125–140.
schem Germanismus Gollwitzer (1971) 287–301.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 345


schen Abstammungsbewusstseins angelsächsischer Gelehrter wirken konnte, verdeutlicht Arnolds
Tagebucheintrag vom 9. Juni 1828 anlässlich seiner ersten Überquerung des Rheins:

Far before us lay the land of our Saxon and Teutonic Forefathers – the land uncorrupted by
Roman or any other mixture; the birth-place of the most moral races of men that the world has
yet seen – of the soundest laws – the least violent passions, and the fairest domestic and civil vir-
tues. I thought of that memorable defeat of Varus and his three legions, which forever confined
the Romans to the western side of the Rhine, and preserved the Teutonic nation, – the regen-
erating element in modern Europe, – safe and free.187

Das Gefühl, in Deutschland das Land der Vorväter zu betreten und in den deutschen Wäldern des
19. Jahrhunderts noch den Nachklang des Schlachtenlärms von Römern und Germanen vernehmen zu
können, teilte Arnold mit vielen angelsächsischen Reisenden nach ihm.188 Bereits die ersten englischen
Reiseführer erinnerten Deutschlandtouristen daran, dass sie sich im land of Herman befanden und
empfahlen seit 1840 die Besichtigung der Baustelle des Hermannsdenkmals auf der Grotenburg.189 Die
durch diese Verörtlichung des Mythos beförderte Germanisierung (im Sinne von Verdeutschung) des
angelsächsischen Arminiusbildes zeigte sich auch in der zunehmenden Verwendung des deutschen
Namens Hermann anstatt des lateinischen Arminius in den englischsprachigen Darstellungen der Va-
russchlacht.190
Bestärkt wurde die romantische Germanentümelei junger Gelehrter wie Kemble und Arnold
nicht nur durch ihre deutschen Professoren, sondern auch durch die zeitgenössischen Rassentheo-
rien, die zu dieser Zeit in England und den Vereinigten Staaten zum wissenschaftlichen Durchbruch
gelangten. Gestützt auf anthropologische und philologische Studien, die von der (vermeintlichen)
Kontinuität sprachlicher oder institutioneller Eigenarten eines Volkes auf seinen gleichbleibenden,
historisch unveränderbaren ‚Rassencharakter‘ schlossen, wurde die reine teutonische Abstammung
zum Kern der nationalen Identität und zur eigentlichen Antriebskraft der angelsächsischen Welt-
machtstellung erklärt.191 Arnold selbst postulierte in seiner berühmten Oxforder Antrittsvorlesung
1841:

187 The Life and Correspondence of Thomas Arnold, hg. v, Ar- auch die Beschreibung der ersten Deutschlandreise von
thur P. Stanley, Bd. 2, London 1844, 362. Arnolds Schüler E. A. Freeman im Herbst 1865 in Ste-
188 Siehe z.B. die Artikel „Selections of Notes on Germany. phens (1895) I, insb. 301.
By a Tourist“, Preston Chronicle vom 16. 10. 1841, „Tour 189 A Hand-Book for Travellers on the Continent, London
on the Rhine“, London Journal 2 (1845), 185, Charles Ro- 1836, 317 und 1840, 361 (19. Auflage 1875). Vgl. zu den
ach Smith, „Notes from a Journal of a Fortnight’s Tour englischen Reiseführern des 19. Jahrhunderts Maczak
on the Rhine“, Gentleman’s Magazine 35 (1851), 46 und (2004).
„A Glimpse at Westphalian Cities“, Saturday Review 20 190 Auch hier spielte Arnold eine Vorreiterrolle. In seinen
(1865), 329, die sehr populären Reisebeschreibungen unten näher vorgestellten Vorlesungen zur römischen
des amerikanischen Rucksacktouristen Bayard Taylor, Geschichte spricht er vom young German chief, whose
Views A-Foot: or, Europe Seen with Knapsack and Staff, name the Roman writers have corrupted into Arminius, but
New York 1846 (24. Auflage 1859), 58f. und By-ways of to whom we may more properly give his true appelation Her-
Europe, New York 1869, 451–470 (Vorabdruck unter man – Thomas Arnold, History of the later Roman Com-
dem Titel „In the Teutoburger Forest“ im Atlantic monwealth, 2. Bde., London 1845, hier Bd. 2, 320.
Monthly 23 [1869], 40–49), sowie den historischen Ex- 191 Siehe hierzu die Studien von Horsman (1976 u. 1981),
kurs zur Varusschlacht in Katharine Burton, Our Sum- Stocking (1987), Hannaford (1996) und Hall (1997).
mer in the Harz Forest, Edinburgh 1865, 172–179. Vgl.

346 HENNING HOLSTEN


Our English race is the German race … We, this great English nation, whose race and language
are now overrunning the earth from one end of it to the other, – we were born when the white
horse of the Saxons had established its dominion from the Tweed to the Tamar. So far we can
trace our blood, our language, the name and actual divisions of our country, the beginnings of
some of our institutions. So far our national identity extends, so far our history is modern, for it
treats of a life which was then, and is not yet extinguished.192

Wenn die Angelsachsen in England, Amerika und Australien tatsächlich, wie Arnold postulierte, Ger-
man more or less completely, in race, in language, or in institutions, or in all waren und aus dieser Abstam-
mung ihre Bef ähigung zur Welteroberung abzuleiten war,193 dann musste auch die bereits in der Tage-
buchnotiz von 1828 mit so großer Bedeutung aufgeladene Varusschlacht einen welthistorischen
Stellenwert erhalten. Möglicherweise hatte Arnold bereits damals die 1818 vom Whighistoriker Henry
Hallam formulierte These vor Augen, es gebe in der Geschichte einige wenige battles, of which a contrary
event would have essentially varied the drama of the world in all its subsequent scenes.194 In seinen posthum
veröffentlichten Vorlesungen zur Geschichte des römischen Kaiserreichs nahm er schließlich Turners
Gedankenspiel von 1799 wieder auf und erklärte: Hätten Augustus’ Legionen Germanien besetzt und
zivilisiert, dann wären die Teutonic tribes niemals in der Lage gewesen

to spread that regenerating influence over the best portion of Europe, to which the excellence of
our modern institutions may in great measure be referred. If this be so, the victory of Arminius
deserves to be reckoned among those signal deliverances which have affected for centuries the
happiness of mankind.195

Die Vorstellung, dass der Verlauf der Weltgeschichte von einigen wenigen militärischen Entschei-
dungsschlachten bestimmt wird, korrespondierte mit der zeitgleich von Thomas Carlyle formulierten
Great Man Theory – der Idee, dass große heroischen Führergestalten ganzen Epochen ihren Stempel
aufdrücken und den Gang der Geschichte verändern.196 Zusammengeführt wurden beide Konzepte
1851 in Edward Shepherd Creasys Megabestseller The Fifteen Decisive Battles of the World, der das angel-

192 Thomas Arnold, Introductory Lectures on Modern His- Metropolitana, Bd. 10, London 1845 und in William T.
tory, London 1842, zitiert nach der zweiten Auflage von Dawsons für den Schulgebrauch bestimmten Heads of
1843, 26 u. 23f. Arnolds teutonistisches Manifest wurde an Analysis of Roman History, London 1850 (3. Auflage
bis 1885 in sieben Auflagen gedruckt; eine erste amerik- 1861).
anische Ausgabe erschien 1849 in Philadelphia und 196 Thomas Carlyle, On Heroes and Hero Worship, and the
New York, eine zweite 1857 in New York. Heroic in History, London 1841. Bis zum Ende des
193 Arnold, Lectures (1843), 26. 19. Jahrhunderts erschienen in England und den USA
194 Henry Hallam, View of the State of Europe during the etwa zwei Dutzend weitere Ausgaben; eine erste deut-
Middle Ages, 2 Bde., London 1818 (zwölf weitere Aufla- sche Übersetzung erschien zeitgleich mit der ersten
gen allein bis 1868, dt. Übersetzung Leipzig 1820/1821), amerikanischen Ausgabe 1853 in Berlin und wurde bis
zitiert nach der 1821 in Philadelphia publizierten ers- zum Ersten Welkrieg ebenfalls ein gutes Dutzend Mal
ten amerikanischen Auflage, Bd. 1, 9. Hallams Fußno- nachgedruckt. Vgl. auch Carlyles History of Friedrich II.
tennotiz wurde 1851 von Creasy zum Leitgedanken sei- of Prussia, called Frederick the Great, 4 Bde., London
ner wegweisenden Schlachtengeschichte erhoben (s.u.). 1858–1864 (amerikan. Ausgabe New York 1858–1864,
195 Arnold, History II, 317. Die Beschreibung der Varus- dt. Übersetzung Berlin 1858–1869 u. ö.). Zu Carlyles
schlacht selbst und ihrer Folgen 317–325. Weitere Ausga- Germanophilie und Anglo-Saxonism siehe Horsman
ben erschienen 1849, 1857 und 1882 in London und (1981) 63–65, Ashton (2004) und Walker (2004). Zu
1846 in New York. Weitere Verbreitung erfuhr die Armi- der von ihm begründeten Great Man Theory siehe
nius-Passage durch den Nachdruck in der Encyclopaedia Hook (1950) und die Einführung in Segal (2000) 2–37.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 347


sächsische Geschichtsbild von Arminius und der Varusschlacht in der zweiten Jahrhunderthälfte maß-
geblich beeinflussen sollte.197
Creasy war seit 1840 Professor of Modern and Ancient History an der University of London und
veröffentlichte in den 1850ern unter anderem auch eine sehr erfolgreiche Verfassungsgeschichte Eng-
lands. 1860 wurde er zum Ritter geschlagen und ging als Chief Justice nach Ceylon.198 Seine Begeiste-
rung für den Helden der Varusschlacht geht vermutlich auf seine Studienzeit in Eton zurück, wo er
Praeds Arminius-Gedicht las, das sich ihm so tief einprägte, dass er es mehr als zwanzig Jahre später
immer noch fehlerfrei aus dem Gedächtnis zitieren konnte.199 Als weitere Inspirationsquellen nennt
Creasy außerdem den Franzosen Guizot, den Deutschen Ranke und seinen englischen Freund Robert
Gordon Latham, der im selben Jahr eine Germania-Edition veröffentlichte.200 Hauptausgangspunkt für
seine Interpretation der Varusschlacht sind jedoch Arnolds Vorlesungen, deren Grundannahmen er
vorbehaltlos übernimmt und in pointierter Form auf ein paar einprägsame Formeln bringt.
Wie Arnold sieht Creasy in Arminius den great liberator of our German race. Sein Sieg über die rö-
mischen Legionen secured once and forever the independence of the Teutonic race und war bereits ein Vor-
bote der Zeit, when the Germans became the assailants, and carved with their conquering swords the provinces
of imperial Rome into the kingdoms of modern Europe. Die Varusschlacht wird damit zum part of our own
national history,201 und eine mögliche germanische Niederlage hätte auch für die englische Geschichte
schwerwiegende Folgen gehabt:

Had Arminius been supine or unsuccessful, our Germanic ancestors would have been ensla-
ved or exterminated in their original seats along the Eyder and the Elbe, this island would never
have borne the name of England, and‚ we, this great English nation, whose race and language
are now overrunning the earth, from one end of it to the other,‘ would have been utterly cut off
from existence.202

Als Retter der nationalen Existenz Englands ist Arminius für Creasy deshalb truly one of our national he-
roes, denn it was our own primeval fatherland that the brave German rescued. Die Schlacht im Teutoburger
Wald ist folgerichtig the victory to which we owe our freedom.203 Bewegt sich Creasy mit dieser Deutung

197 Edward Sheperd Creasy, The Fifteen Decisive Battles of the einen eher gemäßigt teutonistischen Standpunkt. Zur
World. From Marathon to Waterloo, Bd. 1, London 1851, Biographie Creasys gibt es wenig Informationen; siehe
211–253. Eine erste Fassung des Arminius-Kapitels er- aber Walford (1862) 195f. und Cousin (1910) 101.
schien bereits drei Jahre zuvor in Bentley’s Miscellany 23 199 Creasy, Memoirs of Eminent Etonians, London 1850,
(1848), 384–391 und wurde umgehend nachgedruckt im 498f. Creasy zitiert das Gedicht auch in Battles I, 242ff.,
New Yorker Eclectic Magazine of Foreign Literature, Sci- zusammen mit einem Bardengesang aus Klopstocks
ence, and Art 14 (1848), 227–232. Die Buchfassung er- Drama Hermann und die Fürsten von 1784 (251ff.). Das
lebte allein bis 1886 32 Auflagen, erschien bereits 1851 Einflechten literarischer Quellen in die Geschichtser-
auch in New York und ist bis heute lieferbar. Das Buch zählung gehört zu den Stilmitteln, die Creasys Darstel-
gilt noch immer als populärer Klassiker der Militärge- lungen auch für ein nicht-akademisches Publikum les-
schichtsschreibung und hat einen eigenen Eintrag auf bar und verständlich machten. Im Kapitel über die
den englischen Wikipedia-Seiten, der acht weitere über- Varusschlacht dienen Lieder und Gedichte darüber hi-
arbeitete oder epigonale Fassungen des Titels auflistet. naus als Beleg für das Weiterleben von Arminius’ Hel-
In diese Reihe gehören auch Christian Friedrich Mau- dentaten in den Gesängen seiner Nachkommen, von
rers Entscheidungsschlachten der Weltgeschichte (Leipzig dem bereits Tacitus berichtet hatte.
1882), die ausdrücklich als Ersatz für die 1865 in Stutt- 200 Creasy, Battles I, 212, 214 u. 237. Vgl. Robert Gordon Lat-
gart erschiene deutsche Bearbeitung des britischen ham, The Germania of Tacitus. With Ethnological Disserta-
Bestsellers auf den Markt gebracht wurden. tions and Notes, London 1851, insb. seinen Kommentar
198 Creasy, The Rise and Progress of the English Constitution, zur Varusschlacht cxviff., wo er seinerseits auf Creasy
London 1853 (17. Auflage 1907, mehrere amerikanische verweist.
Ausgaben ab 1866). Ebenso wie in seiner weniger er- 201 Creasy, Battles I, 242, 236 u. 212.
folgreichen History of England from the earliest to the pre- 202 Creasy, Battles I, 212.
sent Time, 2 Bde., London 1869/1870 vertrat Creasy hier 203 Creasy, Battles I, 213 u. 251.

348 HENNING HOLSTEN


noch konsequent auf der Linie der von Arnold aufgezeigten Interpretationspfade, so geht er in einem
angehängten Kapitel, das sich speziell der Beziehung Arminius’ zur englischen Nation widmet, noch
einen entscheidenden Schritt weiter – denn der cheruskische leader war für ihn nicht nur auch ein eng-
lischer Nationalheld, sondern vor allem ein englischer Nationalheld. Creasys originelle These lautet, that
an Englishman is entitled to claim a closer degree of relationship with Arminius than can be claimed by any
German of modern Germany, und deshalb seien die Engländer noch vor den Deutschen the nearest heirs of
the glory of Arminius.204
Arminius the Anglo-Saxon statt Herman the German? Diese hier erstmals explizit aufgeworfene
Frage, wem der germanische Held eigentlich gehört, welche Nation sich auf die reinste teutonische Ab-
stammung berufen und das Erbe der von Arminius geretteten Freiheitstradition für sich reklamieren
konnte, weist bereits voraus auf die oben geschilderten deutsch-englisch-amerikanischen Deutungs-
kämpfe anlässlich der Hermannsfeiern 1875. Bereits 1851 konnte Creasy mit Blick auf das stilliegende
Bauprojekt im Teutoburger Wald darauf verweisen, dass es um die Wertschätzung germanischer Ein-
heit und Freiheit in Deutschland schlecht bestellt sei:

The idea of honoring a hero, who belongs to all Germany, is not one which the present rulers of
that divided country have any whish to encourage; and the statue may long continue to lie there,
and present too true a type on the condition of Germany herself.205

Damit gab Creasy durchaus den vorherrschenden Tenor der öffentlichen Meinung in England wieder.
Die britische Presse hatte das deutsche Denkmalsprojekt von Anfang an aufmerksam und durchaus mit
Sympathie verfolgt; ebenso wurde allerdings auch das zwischenzeitliche Ende der Bauarbeiten regis-
triert.206 Nicht nur Creasy sah in der Ruine auf der Grotenburg ein Symbol für das traurige Schicksal
der deutschen National- und Freiheitsbewegung nach der gescheiterten Revolution von 1848/49. Doch
mochten ihm wohl nur die wenigsten seiner Landsleute folgen, wenn er sie dazu aufforderte, das
deutschnationale Denkmalsprojekt zu ihrem eigenen zu machen und selbst die Initiative zu seiner Voll-
endung zu ergreifen:

Surely this is an occasion in which English men might well prove, by acts as well as words, that
we also rank Arminius among our heros.207

So reizvoll die Spekulation über den veränderten Symbolgehalt eines durch englische Finanzierung
und Propaganda vollendeten pangermanischen Hermannsdenkmals wäre, so wenig darf die Kuriosität
dieses Appells über seine praktische Folgenlosigkeit hinweg täuschen. Ansonsten war die Reaktion der
Öffentlichkeit jedoch überwältigend positiv.208 Grundsätzliche Kritik kam fast ausschließlich von kirch-
licher Seite, wenn von einem christlich-pazifistischen Standpunkt aus Bedenken gegenüber Creasys

204 Creasy, Battles I, 236f. Das ethnologische und philologi- 206 Siehe bspw. „Monument in Westphalia“, in: Gentleman’s
sche Beweismaterial, mit dem Creasy auf den folgenden Magazine 16 (1841), 71 und die Notizen im Boston Inves-
Seiten die direkte Abstammung der Angelsachsen von tigator vom 20. 10. 1841 und im Manchester Guardian
den Cheruskern nachzuweisen versucht, stammt vor- vom 4. 1. 1851.
wiegend aus den bereits erwähnten, z.T. erst wenige 207 Creasy, Battles I, 212.
Jahre alten Standardwerken von Latham, Palgrave und 208 Siehe die Rezensionen in Sartain’s Union Magazine of
Lappenberg. Ungeachtet der Frage, wie abenteuerlich Literature and Art 10 (1851), 98f., New Englander and Yale
diese Geschichtskonstruktion aus heutiger Sicht er- Review 10 (1852), 56–63, Dublin University Magazine 39
scheint, bleibt doch festzuhalten, dass Creasy sich 1851 (1852), 747–756, Methodist Review 34 (1852), 152f., Sout-
durchaus auf der Höhe des damaligen Forschungsstan- hern Quarterly Review 21 (1852), 243, Church of England
des bewegte, was zumindest einen Teil seines beträcht- Quarterly Review 34 (1853), 112–127 und Calcutta Review
lichen wissenschaftlichen Renommees erklärt. 23 (1854), 96–105.
205 Creasy, Battles I, 212.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 349


Glorifizierung des Krieges als Motor der Weltgeschichte geäußert wurden: It is at least a bloody book, ur-
teilte prägnant der Universalist Quarterly and General Review.209 Doch selbst christliche Blätter übernah-
men die Vorstellung, Hermann the Cheruskan sei der lineal ancestor of the Anglo-Saxon race, und sahen in
der Varusschlacht bereits the dawn of a new principle of political life aufscheinen.210 In den kommenden
Jahrzehnten wurde Creasys Schlachtengeschichte zum Longseller, der auf beiden Seiten des Atlantiks
öfter gedruckt, mehr gelesen und häufiger zitiert wurde als jede andere englischsprachige Arminius-
darstellung vor oder nach ihm.

Die Etablierung des teutonistischen Paradigmas in England

Mit der rassentheoretischen Aufladung um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Mythos der ge-
meinsamen germanischen Abstammung von Deutschen, Engländern und Amerikanern einen neuen
Stellenwert im angelsächsischen Geschichtsdenken erhalten. Zwar teilten nur wenige Zeitgenossen die
These des Extremisten Robert Knox, that race is everything in human history,211 doch herrschte in der ge-
bildeten Welt beiderseits des Atlantik ein breiter Konsens über den engen Zusammenhang von Rassen-
und Nationalcharakter.212 Die von Arnold und Kemble entwickelte Synthese von deutscher und whig-
gistischer Geschichtsideologie, von romantischer Germanentümelei und rassischem Anglo-Saxonism
wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte zum Paradigma der sogenannten Teutonic School in der engli-
schen Geschichtswissenschaft. Bekannte Teutonisten wie Charles Kingsley und John Richard Green,
Edward August Freeman und William Stubbs prägten durch ihre wissenschaftlichen Werke, öffent-
lichen Vorträge und politische Publizistik das Geschichtsbild einer ganzen Generation. Bereits 1866
stellte ein Kritiker resigniert fest:

There are probably few educated Englishmen living who have not in their infancy been taught
that the English nation is a nation of almost pure Teutonic blood, that its political constitution,
its social customs, its internal prosperity, the success of its arms, and the number of its colonies
have all followed necessarily upon the arrival, in three vessels, of certain German warriors un-
der the command of Hengist and Horsa.213

Verbunden mit dem teutonischen Abstammungsbewusstsein war ein Überlegenheitsgefühl gegenüber


anderen, namentlich den keltischen und romanischen Rassen, denen häufig die Entwicklungs- und Zu-
kunftsf ähigkeit abgesprochen wurde.214 Den germanischen Völkern wurde hingegen von Historikern
wie dem deutsch-britischen Gelehrten Walter C. Perry eine pre-eminent capacity for development, progress,

209 Universalist Quarterly and General Review 9 (1852), 96. 212 Of the great influence of race in the production of national
210 Christian Remembrancer 23 (1852), 213. Einzig das Organ character, no reasonable inquirer can now doubt urteilte
der Philosophical Radicals um John Stuart Mill bezwei- z.B. der programmatische Artikel „The Anglo-Saxons
felte, dass die Varusschlacht zu den weltgeschichtlichen and the Americans: European Races in the United
Wendepunkten gerechnet werden dürfe, da das degene- States“ im American Whig Review 1 (1851), 188.
rierte Rom den energies of the German race langfristig so- 213 Luke Owen Pike, The English and their Origins, London
wieso unterlegen wäre – Westminster Review 56 (1851), 1866, 15.
72. 214 Zu den besonders krassen Fällen Knox und Freeman
211 Robert Knox, The Races of Men, London 1850, 10. Knox siehe Horsman (1976) 406f. und Parker (1981) 832f. u.
trieb die rassistische Erklärung sämtlicher kultureller, 839f. Zu den Gegenentwürfen eines politischen Latinis-
nationaler und ethnischer Unterschiede soweit, dass er mus bzw. Romanismus im bonapartistischen Frank-
selbst einem Großteil der zeitgenössischen Deutschen reich siehe Panick (1978).
ihre germanische Abstammung absprach (230–235).

350 HENNING HOLSTEN


and dominion zugeschrieben, die sie zum people of the present and the future mache.215 Beflügelt wurden
derartige Superioritätsfantasien durch die anhaltende Expansion des britischen Überseeimperiums
und die atemberaubende Entwicklung der Vereinigten Staaten auf dem amerikanischen Kontinent. Bri-
tisch-imperiales Fortschrittsdenken und amerikanische Manifest Destiny-Ideologie prophezeiten und le-
gitimierten die künftige weltpolitische Führungsrolle der angelsächsischen Nationen.216 Bereits in den
1860er Jahren imaginierte der liberale Rassenimperialist Charles W. Dilke ein kommendes Imperium
des greater Saxondom which entails all that is best and wisest in the world,217 und Kingsley erklärte: The wel-
fare of the Teutonic race is the welfare of the world.218 Die große Zukunft, die der teutonischen Rasse vor-
hergesagt wurde, ließ dabei auch ihre Vergangenheit in einem neuen Glanz erstrahlen. Und mit dem
verstärkten Interesse an den Ursprüngen der angelsächsischen race of conquerors in den germanischen
Wäldern fand auch der Held der Varusschlacht immer mehr Bewunderer.219
Dabei galt es anfangs durchaus starke Widerstände zu überwinden, denn die Tradition der engli-
schen Aufklärungshistorie wirkte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Kingsleys Behauptung, die ger-
manischen Vorväter seien keine blutrünstigen Wilden wie die amerikanischen Indianer gewesen, son-
dern the least cruel people in Europe, stand im deutlichen Gegensatz zu den überlieferten Grausamkeiten
nach der Schlacht im Teutoburger Wald.220 Nur wenige Autoren waren wie Perry bereit, die germani-
schen Exzesse als legitime Notwehr gegen die tyranny of the Roman law offen zu rechtfertigen.221 Häu-
figer versuchte man, das römisch-germanische Zivilisationsgef älle mithilfe organischer Lebensmeta-
phern umzudrehen. So betont etwa John George Sheppard in seiner Abhandlung The Fall of Rome, and
the Rise of the new Nationalities die superior purity of barbaric life and manners und empört sich über Gib-
bon, der es gewagt habe, to sneer away the virtues of our Teutonic ancestors.222 Dem hält er eine manichäi-
sche Rassendichotomie entgegen, die keinen Platz lässt für moralische Abwägungen und ethische Be-
denken:

in the one race, we may detect the elements of a vigorous natural life – development, progress,
and dominion; in the other, the seeds of national death – corruption, feebleness, decay.223

215 Walter Copland Perry, The Franks, from their first Appea- und forderte Solidarität mit our Teutonic brethren in their
rance in History to the Death of King Pepin, London 1857, struggle for unity (544), so reklamierte er im Vorwort der
1 u. 36. Den Engländern schreibt der zwischenzeitlich achten Auflage von 1885 die moral dictatorship of the
an der Göttinger Universität lehrende Perry dabei das world, by ruling mankind through Saxon institutions and
Glück zu, to be more purely German in our institutions the English tongue allein für die Angelsachsen (viii).
than any other nation (445). 218 Charles Kingsley, The Roman and the Teuton. A Series of
216 Siehe als ein prägnantes Beispiel das Times-Editorial Lectures Delivered before the University of Cambridge, Cam-
vom 8. 7. 1856 zum 80. Jahrestag der amerikanischen bridge u. London 1864, 305. Bis 1912 erschienen zwölf
Unabhängigkeit: We Englishmen see in American energy, weitere Auflagen, 1891 erstmals auch in New York.
industry and indomitable spirit the tokens of the Anglo-Sa- 219 Edward A. Freeman, A History of Architecture, London
xon blood, and we feel proud of our race. The sight enspires 1849, 176.
cheerful and animated prophecy, and we see in this master 220 Kingsley, Roman, 8f.
race a powerful and dominant agent in the future history of 221 Perry (1857) 446f.
the world; nachgedruckt unter dem Titel „The Bonds of 222 John George Sheppard, The Fall of Rome, and the Rise of
Friendship between England and America“ in der New the new Nationalities. A Series of Lectures on the Connection
York Times vom 4. 8. 1856. Siehe auch zum Folgenden of Ancient and Modern History, London u. New York 1861,
Horseman (1981), Rich (1986), Hannaford (1996) und 134 u. 172. Eine zweite Auflage erschien 1862. Sheppard
Bell (2007). beruft sich explizit auf Arnold und Perry.
217 Charles Wentworth Dilke, Greater Britain. A Record of 223 Sheppard, Fall, 172. Bezeichnenderweise wählt Shep-
Travel in English-speaking Countries during 1866 and 1867, pard als Motto seiner Abhandlung das auf dem Titelblatt
Bd. 2, London 1868, 155f. Eine erste amerikanische Aus- abgedruckte Schiller-Zitat: „Die Weltgeschichte ist das
gabe erschien 1869 in New York. Betonte Dilke anfangs Weltgericht“.
noch die Verbundenheit mit our German ancestry (338)

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 351


Die Schlacht im Teutoburger Wald feiert Sheppard als darkest desaster in the Roman history und a forebo-
ding of what was to come.224 Auf die germanischen Grausamkeiten geht er dabei ebensowenig ein wie auf
den Despotismusvorwurf, die zweite große Schwachstelle in der Konstruktion einer auf Arminius zu-
rückgehenden Freiheitstradition. Noch Mitte 1850er Jahre hatte Charles Merival, der wohl bedeutendste
englische Romhistoriker des Jahrhunderts, darauf hingewiesen:

Arminius, the bulwark of German independence, degenerated in the hour of his triumph from
the virtues of a patriot chief, and himself affected the tyranny over his countrymen which he
had baffled in Germanicus, and rebuked in Maroboduus. His people retorted upon him the les-
sons of freedom with which he had inspired them, and after a struggle of some length and
many vicissitudes, he was slain by domestic treachery.225

Den wiederentdeckten angelsächsischen Freiheitshelden von diesem Verratsvorwurf reinzuwaschen


war eines der Anliegen eines Autors, der schon allein deshalb eine nähere Betrachtung verdient, weil
er – von der Forschung bisher vollständig übersehen – die erste und bei weitem umfangreichste mono-
graphische Abhandlung der englischen Geschichtsschreibung über den Sieger der Varusschlacht ver-
fasst hat. Thomas Smiths Arminius wurde 1861 posthum von seinem Sohn Francis Smith herausgege-
ben und behandelt auf knapp 500 Seiten nicht nur die Biographie des Titelhelden, sondern die gesamte
germanische Geschichte von Julius Caesar bis zu Karl dem Großen.226 Der eigentlichen Arminius-Ge-
schichte widmet der antiquarische Privatgelehrte knapp 100 Seiten, auf denen er auch ausführlich auf
die von Tacitus überlieferte Ermordung des Cheruskerfürsten durch seine eigene Verwandtschaft zu
sprechen kommt.227
Anders als Merival, Pindemonte oder die Radical Whigs des 18. Jahrhunderts hält es Smith für aus-
geschlossen, dass der liberator Germaniae, dessen Genius allein die Menschheit die Bewahrung der free
principles of government verdanke, seinen Idealen untreu geworden sein und nach der Alleinherrschaft
gestrebt haben könnte.228 Arminius habe vielmehr das den Germanen heilige right of self-government nie
in Frage gestellt und einzig ein Thiudanship angestrebt, ein zeitlich befristetes Wahlkriegsführertum
also, das Smith auch schlicht als presidency bezeichnet. Gerade seine beispiellose Beliebtheit beim Volk
sei es schließlich gewesen, die ihm einen Teil der cheruskischen Adelings zum Feind gemacht habe, da
diese traditionelle Führungsschicht neidisch auf den Ruhm des Varusbezwingers wurde und um ihre
Privilegien fürchtete. So wird am Ende der Beweisführung Arminius vom Volksverräter zum Märtyrer
der Volksrechte:

224 Sheppard, Fall, 169f. Days of Julius Caesar to the Time of Charlemagne, London
225 Charles Merivale, History of the Romans under the Empire, 1861. Über den Autor ist nicht viel mehr bekannt, als
7 Bde., London 1850–1862 (Zitat V, 182f.); vgl. auch dass er Mitglied der antiquarischen Camden Society
seine Darstellung der Varusschlacht in IV, 342–353. Me- war, seit 1838 einige unbedeutende Studien zur alteng-
rivales opus magnum erschien erstmals 1863 auch in lischen Geschichte publizierte und für seinen Arminius
New York und erlebte beiderseits des Atlantiks bis zur offenbar langwierige Quellenstudien in Heidelberg un-
Jahrhundertwende mehr als ein Dutzend Neuauflagen. ternommen hat.
Erfolgreich war auch sein einbändiges Lehrbuch A Ge- 227 Smith, Arminius, 179–189. Die Menschenopfer und Fol-
neral History of Rome from the Foundation of the City to the terungen nach der Varusschlacht schildert und beklagt
Fall of Augustulus, das 1875 bereits gleichzeitig in London Smith auf S. 110, ist aber bemüht, sie nicht als typisch
und in New York publiziert und ebenfalls mehrfach germanisch erscheinen zu lassen: the only excuse is the
nachgedruckt wurde. rudeness of the age and the sanguinary character of all
226 Thomas Smith, Arminius: A History of the German People heathen superstitions.
and of their Legal and Constitutional Customs, from the 228 Smith, Arminius, 10.

352 HENNING HOLSTEN


he was supported to the end of his course by the popular favour. It was a contest of Armin and
the people against the Adelings and their dependants.229

Diese ebenso umständliche wie spekulative Ehrenrettung des germanischen Freiheitshelden, die in der
Wortwahl wie in der gespreizten Detailversessenheit auch stilistisch ihre deutschen Vorbilder erkennen
lässt, verdeutlicht nicht zuletzt das Ausmaß ehrfürchtiger Bewunderung und bedingungsloser Identi-
fikation, mit der sich der englische Privatgelehrte seinem Untersuchungsgegenstand nähert. Ihren Hö-
hepunkt erreicht die romantische Arminius-Verklärung schließlich in Smiths Versuch, dem gewaltsa-
men Ende seines Helden einen tröstlich-versöhnlichen Anstrich zu geben:

He appears to us like a shooting star in the distant firmament, suddenly starting into life, and
suddenly extinguished, but the whole of his short course glitters with light and glory … Perhaps
his early death is scarcely to be lamented. He died in the bloom of life, in the fullness of his
strength, in the meridian of his fame, ere stain, disgrace, or weakness had flecked his glory,
with the consciousness of his benefits attending him. His work was done; his country delivered;
its freedom from foreign thraldom was for ever established. Why should he live longer?230

Die öffentliche Reaktion auf Smiths monumentale Heroengeschichte war gespalten. Während die einen
von einer beispielhaften Adaption deutscher Gelehrtentugenden sprachen,231 spotteten andere über ein
kurioses Exempel wissenschaftlicher Deutschtümelei: He is so utterly Teutonized he not only thinks like a
German, but writes English like a German, verwunderte sich der Rezensent des Saturday Review, der Smith
zudem die Übernahme deutscher national prejudices vorwarf und der historischen Figur des Arminius
jegliche Bedeutung für die moderne Geschichte absprach.232 Selbst wohlwollende Kritiker bemängelten
zudem die nachlässige Edition: Ohne Fußnoten und Index könne die lobenswerte Fleißarbeit dem
selbst erhobenen Anspruch eines autoritativen Standardwerkes nicht gerecht werden.233
Ein Universitätshistoriker, der Smiths Arminiusbegeisterung teilte und, wenn möglich, gar über-
traf, dabei aber eine ungleich größere öffentliche Wirksamkeit erzielte, war Edward Augustus Freeman,
der bis heute als das eigentliche Oberhaupt der teutonistischen Schule in Großbritannien gilt.234 Dieser
Ruf gründet sich nicht nur auf seine wissenschaftlichen Werke oder seine führende Rolle bei der
Etablierung der Geschichte als akademische Disziplin nach deutschem Vorbild in Oxford. Mehr noch
trug er durch seine äußerst rege und kämpferische historisch-politische Publizistik, öffentliche Vor-
träge und seine Tätigkeit als Verfasser und Herausgeber von viel benutzten Schul- und Lehrbüchern
dazu bei, die Glaubenssätze des teutonistischen Dogmas zu popularisieren und in die politischen De-
batten einzubringen.

229 Smith, Arminius, 182f. Ein kritischer Rezensent merkte praise. Beide Passagen bestehen großenteils aus z.T.
zurecht an, Smiths Versuch, aus Arminius einen barba- wörtlichen Übersetzungen aus Ludens Geschichte der
rian Hampden or Washington zu machen, habe den gro- Teutschen, Bd. 1 (1825), 327.
ßen defect of lacking the barest shred of historical evidence … 231 Daily News vom 2. 4. 1861.
to construct the theory that Arminius died a martyr to popu- 232 Saturday Review 11 (1861), 563. Ein anderer Rezensent
lar rights is an achievement which few of the modern school of lobte hingegen die Glorifizierung des greatest and noblest
historians have surpassed. – Saturday Review 11 (1861), 593. hero that Germany ever produced – London Review and
230 Smith, Arminius, 184f. Vgl. die ähnlich elegische Vor- Weekly Journal of Politics, Literature, Art, and Society vom
stellung des Helden auf S. 101: The name of Arminius has 20. 4. 1861, 447. Ähnlich auch die Daily News (s.o.).
pierced the darkness of almost twenty centuries, and still 233 Siehe British Quarterly Review 33 (1861), 548, Literary Ga-
shines a star in the night of time. Of all the Cheruscan Ade- zette vom 9. 3. 1861, 230 und Athenaeum vom 27. 4. 1861,
lings, he only is unstained by crime or weakness. He stands 560.
alone, like no one else in history; for no one in Grecian or Ro- 234 Zur Biographie und Ideenwelt des most enthusiastic of
man times has extorted as he has done, from unwilling and Teutomaniacs (Mandler [2006] 92) siehe Parker (1981)
supercilious foes, the meed of such disinterested and glorious und Burrow (1981) 155–228.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 353


Als Student hatte Freeman Anfang der 1840er Jahre die Vorlesungen Arnolds gehört, den er Zeit
seines Lebens als great teacher of historical truth und greater teacher of moral right verehrte.235 Insbeson-
dere Arnolds Lehre von der ungebrochenen, bis in die germanischen Wälder zurück reichenden Kon-
tinuität der englischen Geschichte hinterließ einen bleibenden Eindruck und wurde zum zentralen
Glaubenssatz seines teutonistischen Geschichtsverständnisses.236 Bereits 1860 vertrat er die These, das
von den angelsächsischen Invasoren eroberte England sei a more purely Teutonic country than even Ger-
many itself gewesen und habe diesen germanischen Kern seiner nationalen Identität bis in die Gegen-
wart hinein bewahrt.237 No broad gap separates the present from the past, fügte er 1871 hinzu – und gerade
in dieser Einheit von Gegenwart und Vergangenheit sah Freeman den distinctive character der engli-
schen Nationalgeschichte begründet.238 Der historiographischen Überbrückung des nach der vorherr-
schenden Lehrmeinung durch die normannische Eroberung de facto aufgerissenen gap einer rein an-
gelsächsisch geprägten englischen Geschichte widmete Freeman ab 1867 seine sechsbändige History of
the Norman Conquest, die bis heute als sein wissenschaftliches Hauptwerk gilt.239
Den narrativen Brückenschlag zur germanischen Geschichte vollzog Freeman erstmals 1869 in
seinem sehr erfolgreichen Schulbuch Old English History for Children.240 Da die Engländer in seinen Au-
gen der teutonischen Rasse angehören, beginnt für Freeman ihre eigene nationale Geschichte nicht im
keltischen oder römischen Britannien, sondern im Teutoburger Wald. Eindringlich ermahnt er die
Schüler to care for Arminius:

… for though he did not live in our land, he was our own kinsman, our bone and our flesh. If he
had not hindered the Romans from conquering Germany, we should not be talking English;
perhaps we should not be a nation at all.241

Im Gegensatz zu Kingsley und Smith gibt sich Freeman keine Mühe, den barbarischen Charakter der
germanischen Vorväter zu beschönigen. Im Gegenteil, denn gerade der gnadenlosen Ausrottung der
Römer und Kelten durch die angelsächsischen Invasoren verdankten die Engländer ihre rein teutoni-
sche Nationalidentität:

235 Freeman, The Office of the Historical Professor. An Inaugu- sieht Freeman ihre nachhaltige Unterminierung des
ral Lecture read in the Museum at Oxford, October 15, 1884, englischen Nationalbewusstseins, die sich am deutlichs-
London 1884, 8. Auch William Stubbs, Freemans Nach- ten in der Verklärung des keltischen Sagenkönigs Ar-
folger auf dem Oxforder Lehrstuhl für moderne Ge- thur zum national hero zeige; dagegen sieht Freeman
schichte, nannte Arnold den prime mover of this genera- seine Hauptaufgabe darin to make [Englishmen] feel as
tion – Seventeen Lectures on the Study of Medieval and they ought towards the heroes of their own blood, towards
Modern History and kindred Subjects delivered at Oxford Arminius and Theodoric, towards Hengest and Cerdic and
1867–1884, Oxford 1886, 6. Aethelstan – Freeman, History V, 597. Vgl. Burrow (1981)
236 Siehe Dockhorn (1950) 142f. 213.
237 Freeman, „Revolutions in English History“, in: Edin- 240 Freeman, Old English History for Children, London 1869.
burgh Review 112 (1860), 159; nachgedruckt unter dem Das Lehrbuch, das Freeman ursprünglich für seine eige-
Titel „The Continuity of English History“ in Freemans nen Kinder geschrieben hatte, erreichte 1876 bereits die
Historical Essays, London 1871, 40–52. Ähnlich sprach fünfte Auflage, der bis 1901 noch weitere folgten; meh-
auch Freemans Freund und Kollege John Richard Green rere Ausgaben erschienen zudem zwischen 1895 und
von den Engländern als the one purely German nation that 1911 gleichzeitig in New York.
arose on the wreck of Rome – A Short History of the English 241 Freeman, Old English History, 22. Vgl. Freeman, „Saal-
People, London 1875, 11. burg and Saarbrücken“, in: Macmillan’s Magazine 27
238 Freeman, „Continuity“, 40. (1872), 33: The history of the English, no less than the history
239 Freeman, The History of the Norman Conquest of England, of the German, people begins with the Teutoburg forest. The
6 Bde., Oxford 1867–1879 (3. Auflage 1877, amerikan. future destiny of our race became possible when Arminius
Ausgabe New York 1873–1876). Als schlimmste Folge smote down the legions of Varus.
(only and wholly evil) der normannischen Eroberung

354 HENNING HOLSTEN


Thus you see that our forefathers really became the people of the land in all that part of Britain
which they conquered. For they had killed or driven out all the former people, save those whom
they kept as mere slaves. Thus they kept their own language, their own manners, and their own
religion.242

Wie wichtig dem Historiker und Nationalpädagogen Freeman die Verankerung des Arminiuskultes im
englischen Geschichtsbewusstsein war, belegt die häufige Wiederholung seiner Ermahnung to honour
the name of the German hero Arminius in zahlreichen Lehrbüchern,243 Vorträgen244 und Überblickswer-
ken245 der 1870er und 1880er Jahre. Wie gegenwärtig ihm persönlich die Varusschlacht gelegentlich
war, verdeutlicht sein Bericht von Ausgrabungsarbeiten im hessischen Römerkastell Saalburg aus dem
Jahr 1872. Euphorisiert durch den Sieg der Deutschen (our brethren of the mainland) über Frankreich (the
Latin-speaking enemy) im Jahr zuvor (the days of vengeance) vermischen sich ihm Gegenwart und Vergan-
genheit so sehr, dass Freeman in den deutschen Ausgrabungshelfern die Inkarnationen von Arminius’
wilden Kriegern erkennt:

I at least never felt more truly that history is one thing, that the struggle of the Dutch and Welsh
from the first Caesar onwards is one thing, than when I saw the spot where Arminius had over-
thrown the fortress of Drusus trodden by men who had themselves played their part in that
mighty act of the great drama which has just been wrought beneath our eyes. … It was some-
thing to hear the deeds of Arminius told in his own tongue on a spot which had beheld them by
men who had their own share in the same work as his after eighteen hundred and sixty years.
I could not help saying to myself: ‚This is Geist‘.246

Diesen durch Arminius symbolisierten pangermanischen Geist, der die Schlachten von Sedan mit dem
Teutoburger Wald ebenso verband wie die deutsche mit der englischen Nationalgeschichte, beschwor
Freeman auch zehn Jahre später auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten. Wie ein Mantra
wiederholt er in seinen Reden an die English brethren in der neuen Welt immer wieder den Namen des
old Cheruskan hero, um an die geschichtliche Einheit der teutonischen Nationen in Deutschland, Groß-
britannien und den Vereinigten Staaten zu erinnern, die er als Old, Middle and New England bzw. als die
Three Homes der teutonischen Rasse bezeichnet:

242 Freeman, Old English History, 28. Auf den naheliegen- 243 Freeman, General Sketch of European History (Historical
den kindlichen Einwand that our forefathers were cruel Course for Schools 1), London 1872, 83 (etwa zwei dut-
and wicked men entgegnet Freeman, dass es unfair sei to zend Auflagen vor dem Ersten Weltkrieg, erste ameri-
judge our fathers by the same rules as if they had been either kan. Ausgabe New York 1876, fünfte kanadische Auflage
Christians or civilized men … But anyhow it turned out Toronto 1877). Siehe auch James Sime, History of Ger-
much better in the end that our forefathers did thus kill or many, hg. v. E. A. Freeman (Historical Course for
drive out nearly all the people whom they found in the land. Schools 5), London 1874, 13f.
The English were thus able to grow up as a nation in Eng- 244 Freeman, The Chief Periods of European History. Six Lectu-
land, and their laws and manners grew with them, and were res Read in the University of Oxford in Trinity Term, 1885,
not copied from those of other nations. Eine an ein erwach- London u. New York 1886, 64: We have our part in the
senes Publikum gerichtete Version dieser Rechtferti- great deliverance by the wood of Teutoburg; Arminius, ‚libe-
gung der Methoden des war of extermination im Rassen- rator Germaniae‘, is but the first of a roll which goes on to
kampf bietet die zweite Folge seiner Vorlesungsreihe Hampden and to Washington. Siehe auch The Methods of
„The Origin of the English Nation“, gedruckt in: Macmil- Historical Study. Eight Lectures Read in the University of
lan’s Magazine 21 (1870), 509–522. Bereits im ersten Oxford, London 1886, 33 und Four Oxford Lectures 1887,
Band der History of the Norman Conquest of England von London 1888, 90.
1867 schrieb Freeman: Our forefathers appeared at the Isle 245 Freeman, The Historical Geography of Europe, London
of Britain purely as destroyers; nowhere else in Western Eu- 1881, 69 (3. Auflage 1881).
rope were the existing men and existing institutions so utterly 246 Freeman, „Saalburg“, 35f; nachgedruckt im amerikani-
swept away (20). schen Living Age 115 (1872), 674–683. Vgl. zu Freemans
Franzosenhass und seiner prodeutschen Position von
1871 auch Kleinknecht (1984) und Simmons (1996).

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 355


In the blow by the Teutoburg Wood was the germ of the Declaration of Independence, the germ
of the surrender of Yorktown. But for that blow, we should have been civilized before our time,
we should have had our national being civilized out of us; or rather we should have been civili-
zed to death before we had reached the stage of having a national being at all. Arminius saved
us from this early promotion to a Buddhist paradise; through his act we were left to grow up for
some ages in a youthful and healthy barbarism in our oldest home, till the time came when we
were to make our voyage to our second home, there to work out for ourselves a civilization of
our own, the common possession of our second home and our third.247

Mit Freemans pangermanischer Agitation in den 1870er und 1880er Jahren erreichte der Arminiuskult
in der englischen Geschichtswissenschaft seinen unbestreitbaren Höhepunkt. Kein anderer britischer
Historiker des 19. Jahrhunderts vertrat die Idee einer Identität von Angelsachsen und Germanen, von
antiken und gegenwärtigen Konflikten mit einer derartigen Leidenschaft, ja geradezu Besessenheit wie
der renommierte Oxford-Professor. Freemans berühmtes Diktum History is past politics, politics is present
history248 spiegelt ein Geschichtsverständnis, das die Entwicklung der teutonischen Völker als eine un-
aufhörliche Folge von Aktualisierungen einer Grundkonstellation betrachtete, die ihren Ursprung
in der Teutoburger Schlacht hatte, sich durch alle folgenden Epochen fortsetzte und noch in der Gegen-
wart die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, Freund und Feind determinierte. Die halbmythi-
sche Heldenfigur Arminius stand dabei nicht nur für die siegreiche Behauptung des eigenen nationalen
Wesens, als es noch ursprünglich rein und unverdorben war, sondern auch für einen metapolitischen,
nationalstaatliche Grenzen transzendierenden Zusammenhalt aller teutonischer Stämme und Völker,
den es in der Gegenwart wieder zu erinnern und neu zu beleben galt. Während Freemans teutonische
Verbrüderungsrhetorik jedoch in Deutschland kaum Beachtung fand, fiel sie bei den Angelsachsen in
Amerika auf fruchtbaren Boden.

Der Siegeszug des angelsächsischen Teutonismus in den Vereinigten Staaten

Da die amerikanische Geschichtswissenschaft um die Jahrhundertmitte von der englischen noch weit-
aus stärker beeinflusst war als diese von der deutschen, hatten die Angloamerikaner auch das Aufblü-
hen des Teutonismus im alten Mutterland aufmerksam rezipiert und teilweise adaptiert.249 Bereits 1843
hatte der einflussreiche Neuenglandintellektuelle George W. Marsh eine ungebrochene Kontinuität
vom germanischen Altertum bis zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg imaginiert: It was the
Spirit of the Goth, that guided the May Flower across the trackless ocean; the Blood of the Goth, that flowed at
Bunker’s Hill.250 Vier Jahre später behauptete der Journalist James Duncan Nourse: our American liberty
had its origin in the German forests und erwähnte bei seiner Beschreibung der rude independence [of ] our
ferocious ancestors auch Arminius.251 Dabei wurde die Rolle des Cheruskerfürsten anfangs noch durch-

247 Freeman, Lectures to American Audiences. I. The English sche Pointe von Marshs Gothism: Während die puritani-
People in its Three Homes. II. The Practical Bearings of Ge- schen Aussiedler und amerikanischen Revolutionäre als
neral European History, Philadelphia u. London 1882, Bewahrer der germanischen Freiheitstradition figurie-
116f.; vgl. auch 33, 34, 37, 201 u. 398. ren, übernimmt Großbritannien die Rolle des despoti-
248 Siehe Parker (1981) 826. schen und korrupten Rom. Siehe Kliger (1946) und Lo-
249 Siehe auch zum Folgenden Gossett (1963), Higham wenthal (2000).
(1963), Solomon (1972), Horsman (1981), Schulin 251 James Duncan Nourse, Remarks on the Past and its Lega-
(1991), Geary (2004), Hall (1997) und Clark (2005). cies to American Society, Louisville 1847, 73. Siehe Hors-
250 George Perkins Marsh, The Goths in New England, man (1981) 168–171.
Middlebury 1843, 14. Bemerkenswert ist die anti-briti-

356 HENNING HOLSTEN


aus ambivalent betrachtet. In Peter Fredets weit verbreiteter Modern History von 1842 und in der 1853
publizierten History of Liberty von Samuel Eliot wurde Arminius noch wie bei Merrival als Held und
Verräter des germanischen Freiheitskampfes geschildert.252 Außerdem tat man sich in der noch stark
von puritanischen Wertvorstellungen geprägten neuenglischen Geschichtsschreibung auch schwer
mit einer vorbehaltlosen Glorifizierung eines primitiven Freiheitsideals, das Eliot treffend als liberty of
bloody hands charakterisierte.253 Erst 1856 popularisierte schließlich der Literaturhistoriker Henry Reed
das Bild vom angelsächsischen Gründervater und Nationalhelden Arminius, wie es Arnold und Creasy
entworfen hatten, auch in Amerika.254
In der Zeit des sich abzeichnenden Bürgerkrieges wurde der Rassendiskurs in den Vereinigten
Staaten jedoch derart von der Sklavereifrage dominiert, dass für Differenzierungen innerhalb der ‚wei-
ßen Rasse‘ wenig Raum blieb. Einen neuen Aufschwung für die teutonistische Geschichtsideologie be-
wirkte 1870/71 der deutsche Sieg über Frankreich, der auch in Teilen der amerikanischen Presse als ein
Triumph vitaler, freiheitsliebender Germanen über degenerierte, cäsaristische Keltoromanen gedeutet
wurde.255 Zwar kühlte die Begeisterung für die teutonischen Stammesbrüder rasch wieder ab; nachdem
der French Caesar Napoleon III. entmachtet war und Bismarcks harte Friedensbedingungen bekannt
wurden, entdeckten manche Kommentatoren sogar bereits die „Kosackennatur“ Preußens.256 Doch
auch nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs überwog bei amerikanischen Anglo-Saxonists die
Ansicht, der deutsche Sieg sei ein historischer Schritt auf dem Weg zur teutonischen Weltherrschaft.257
Getragen von diesem panteutonischen Triumphgefühl erinnerte Kingsley auf einer Vortragsreise durch
die USA im Jahr 1874, acht Jahre vor Freeman, seine Zuhörer an die historischen Ursprünge ihrer
Freiheit:

teach your children – that the history and the freedom of America began neither with the War of
Independence, nor with the sailing of the Pilgrim Fathers, nor with the settlement of Virginia;
but 1500 years and more before, in the days when our common Teutonic ancestors, as free then
as this day, knew how
In den Deutschen Forsten
Wie der Aar zu horsten,
when Herman smote the Romans in the Teutoburger-Wald, and the great Caesar
wailed in vain to his slain general, ‚Varus, give me back my legions!‘258

252 Peter Fredet, Modern History; from the Coming of Christ 256 Siehe das Editorial „The Attitude of Prussia“ im New
and Change of the Roman Republic into an Empire to the York Herald vom 16. 9. 1870: And this Cossack nature ma-
Year of the Lord 1842, Baltimore 1842, 19–29 (22. Auflage kes itself felt in the name of the great, enlightened, intelligent
1867) und Samuel Eliot, The History of Liberty. Part II: German people, from whom, since the age of Arminius, the
The early Christians, 2 Bde., Boston 1853, 139–141. world has heard so much of its aspirations for freedom and
253 Eliot, History, 144. brotherhood. Zum Caesaren-Image Napoleons III. siehe
254 Henry Reed, Lectures on English History and Tragic Poetry, auch Gollwitzer (1952).
as illustrated by Shakespeare, Philadelphia 1855, 87–89 257 So das New York Times-Editorial „The Leading Races
(vier weitere Auflagen bis 1876, englische Ausgabe 1856 of the World“ vom 7. 4. 1871: During the next decade of cen-
in London). Reed war bereits 1849 Herausgeber der turies it is evidently the English-speaking and Teutonic races
amerikanischen Ausgabe von Arnolds Introductory which are to lead modern civilization and to govern the
Lectures on Modern History. world. Ausdrücklich wird in dem Kommentar Bezug ge-
255 Siehe z. B. die New York Times-Editorials „The New nommen auf Darwins Konzept des survival of the fittest.
Leader of Europe“ vom 16. 8. 1870, „Is France on its 258 Charles Kingsley, Lectures Delivered in America in 1874,
Deathbed?“ vom 31. 2. 1871 und „The Lesson of Paris“ London 1875, 23. Vgl. auch die Fassung im Daily Evening
vom 30. 5. 1871. Zur amerikanischen Perzeption der Bulletin (San Francisco) vom 30. 5. 1874. Das deutsche
deutschen Reichseinigung und des frühen Kaiserreichs Zitat stammt aus dem populären „Jägerlied“ von Hein-
siehe Moltmann (1991), Krüger (1992), Junker (1995), rich Joseph Kiefer (1826).
Mollin (1997) und Nagler (1997).

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 357


Die von Kingsley und Freeman propagierte Verknüpfung von deutscher, englischer und amerikani-
scher Nationalgeschichte im weiteren Rahmen einer nationsübergreifenden history of the teutonic race
sollte auch in Amerika bald Schule machen. Insbesondere die teutonistische Variante der englischen
Verfassungsgeschichte wurde in den 1870er und 1880er Jahren zum Leitfaden einer ganzen Genera-
tion amerikanischer Historiker, die sich um die Herleitung politischer Institutionen wie der freien
Gemeindeverwaltung und der parlamentarischen Demokratie aus ihren vermeintlich germanischen
Ursprüngen bemühte.259 Die klassische Formulierung dieser heute als Teutonic Germs Theory bekann-
ten Geschichtsideologie stammt von ihrem führenden Vertreter, dem Freeman-Schüler Herbert Baxter
Adams:

The tree of English liberty certainly roots in German soil … the numerous valleys and forest vil-
lages, which are to this day skirted with evergreen forests, dimly suggesting to his fancy the am-
buscades into which the Roman legions fell when they penetrated the Teutoburger Wald. In
such forests liberty was nurtured. Here dwelt the people Rome never could conquer. In this
wild retreats the ancient Teutons met in council upon tribal war and peace. Upon the forest hill-
tops they worshipped Wodan, the All-Father; in the forest valleys they talked over, in village
moot, the lovely affairs of husbandry and the management of their common fields. Here were
planted the seeds of Parliamentary or Self-Government, of Commons and Congresses. Here lay
the germs of religious reformations and popular revolutions, the ideas which have formed Ger-
many and Holland, England and New England, the United States in the broadest sense of that
old Germanic institution.260

Das von den englischen Teutonisten geprägte Schlagwort ‚Arminius‘ bzw. ‚Teutoburger Wald‘ wurde in
den folgenden Jahren von einer Reihe einflussreicher amerikanischer Historiker aufgegriffen, um den
germanischen Charakter der Herkunft und Bestimmung ihrer Nation zu betonen. Einer von ihnen war
der Althistoriker William Francis Allen, der nicht nur amerikanische Ausgaben von Tacitus’ Annalen
und der Germania edierte, sondern auch an den zeitgenössischen Diskussionen um den Ort der Varus-
schlacht teilnahm und in seinen Schriften die von Arminius gerettete mission of the Germanic race … to
preserve and develop the habits and capacity of self-government betonte.261 Auch der Historiker und Darwi-
nist John Fiske, der Anfang der 1880er Jahre in seinen sehr populären Reden in Großbritannien und
den Vereinigten Staaten die Idee einer angelsächsischen Weltmission predigte, berief sich dabei auf die
ungebrochene Kontinuität der amerikanischen Geschichte seit dem germanischen Sieg über die Legio-

259 Zu den wichtigsten Referenzwerken dieser Schule zäh- Saxon Law, Boston u. London 1876. Vgl. Reimann (1997)
len neben den frühen Werken von Kemble (1849) und und Brundage u. Cosgrove (2007).
Creasy (1853) v.a. Edward A. Freeman, The Growth of the 260 Herbert Baxter Adams, The Germanic Origin of New Eng-
English Constitution from the Earliest Times, London 1872 land Towns, Baltimore 1882, 13. Zu Adams siehe Cun-
(3. Auflage 1876, ab 1887 fünf weitere Ausgaben London ningham (1981).
u. New York bis 1898); William Stubbs, The Constitutio- 261 William Francis Allen, „The Place of the Northwest in
nal History of England in its Origin and Development, General History“, in: ders., Essays and Monographs, Bos-
3 Bde., Oxford 1874 (6. Auflage 1897); Henry Sumner ton 1890, 99. Siehe auch Allens Aufsätze „The Primitive
Maine, Lectures on the early History of Institutions, London Democracy of the Germans“, ebd. 215–230 und „The
1875 (6. Auflage 1896, 1. amerikan. Ausgabe New York Locality of the Saltus Teutoburgiensis“, in: Transactions
1875); und Thomas P. Taswell-Langmead, English Consti- of the American Philological Association 19 (1888), xxxv–
tutional History. From the Teutonic Conquest to the Present xxxvi sowie seine Editionen Tacitus: The Life of Agricola
Time, London 1875 (11. Auflage 1960, die 2. Auflage von and the Germania, Boston 1881 (drei weitere Auflagen
1880 erschien bereits gleichzeitig in Boston). Ein frühes bis 1913) und Tacitus: The Annals, Boston u. London
Beispiel ihrer Adaption in den Vereinigten Staaten sind 1890 (zwei weitere Auflagen bis 1899).
die von Henry Adams herausgegebenen Essays in Anglo-

358 HENNING HOLSTEN


nen des Varus.262 Und selbst der spätere US-Präsident Theodore Roosevelt begann 1889 seine epische
Nationalgeschichte The Winning of the West mit einem Exkurs über die welthistorische Bedeutung des
hero of the Teutoburger fight.263
Während diese Amerikanisierungen des Arminiusmythos vor allem die kulturelle und rassische
Einheit der englischsprachigen Nationen hervorhoben und damit das politische Rapprochement zwi-
schen der ehemaligen Kolonie und ihrem einstigen Mutterland anbahnen halfen,264 erlebten auch die
deutschen brethren of the mainland seit der Reichsgründung eine erhebliche Aufwertung im amerikani-
schen Geschichtsbewusstsein. In den 1870er Jahren erschienen mehrere populäre Darstellungen der
deutschen Geschichte, in denen sich bereits eine signifikante Akzentverschiebung beobachten lässt:
der liberator Germaniae Arminius wird nicht mehr nur als Freiheitsheld, sondern auch als erster Vor-
kämpfer deutscher Nationaleinheit gewürdigt. Arminius war, so Charlton T. Lewis 1874, the first man
who ever conceived the hope of German unity.265 Auch Bayard Taylor, der spätere US-Botschafter in Berlin,
vermutete in seiner School History of Germany, Hermann habe nach dem Sieg über Varus eine dauer-
hafte Vereinigung der germanischen Stämme angestrebt: It was now possible to organize into a nation the
tribes which had united to overthrow the Romans, and such seems to have been his intentions.266 Doch sei der
Versuch, die bereits erreichte broad, patriotic union in eine national organization nach römischem Vor-
bild zu überführen, an der notorischen Zerstrittenheit der germanischen Fürsten gescheitert.267 Der
von seinen Verwandten erschlagene Arminius erscheint damit nicht länger als Verräter der Freiheit, die
er selbst zuvor gerettet hatte, sondern wird als Opfer des deutschen Partikularismus zum ersten Märty-
rer deutscher Nationaleinheit.
Diese Rückprojektion des modernen Nationalstaatsideals in die germanische Antike spiegelt zum
einen die Tendenz der deutschen Vorlagen wider, nach denen Lewis und Taylor ihre Darstellungen ge-
schrieben haben;268 zum anderen spielte der Einheitsgedanke auch im amerikanischen Geschichtsden-
ken eine bedeutende Rolle, nachdem die Vereinigten Staaten im Bürgerkrieg zwischen Nord- und Süd-
staaten beinahe zerbrochen wären. Ähnlich wie der ursprünglich nationalpolitisch-oppositionelle
deutsche Hermannskult nach 1871 in eine Apologie des bereits Erreichten mündete, so sahen auch an-
gelsächsische Buchautoren im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Arminius den Vorkämpfer eines
in der Gegenwart erreichten Ideals. Die deutsche Geschichte von Arminius bis zu Kaiser Wilhelm, wie

262 John Fiske, American Political Ideas. Viewed from the 265 Charlton T. Lewis, A History of Germany, from the earliest
Standpoint of Universal History, New York 1885, 7: In the Times, New York 1874, 15. Bis 1900 erschienen fünf wei-
deepest and widest sense, our American history does not be- tere Auflagen.
gin with the Declaration of Independence, or even with the 266 Bayard Taylor, A School History of Germany. From the Ear-
settlement of Jamestown and Plymouth; but it descends in liest Period to the Establishment of the German Empire in
unbroken continuity from the days when stout Arminius in 1871, New York 1874, 26. Zwischen 1882 und 1916 er-
the forests of northern Germany successfully defied the might schienen sieben weitere Auflagen, eine deutsche Über-
of imperial Rome. Bis 1913 erschienen fünf weitere Aufla- setzung 1875 in Stuttgart. Zur Biographie Taylors siehe
gen, u.a. auch in London. Wermuth (1973).
263 Theodore Roosevelt, The Winning of the West. Part I.: The 267 Taylor, School History, 33f.
Spread of English-Speaking Peoples, New York 1889, 268 Vorlage für Lewis und Taylor war das Standardlehrbuch
18–23. Roosevelts insgesamt vierbändige Saga der Er- von David Müller, Geschichte des deutschen Volkes, Berlin
oberung des Wilden Westens erlebte zur Zeit seiner Prä- 1864, das noch 1919 in der 21. Auflage erschien und
sidentschaft drei Neuauflagen, die auch in England er- 1884 unter dem Titel A Popular History of Germany auch
schienen. Eine deutsche Auswahl erschien unter dem in New York publiziert wurde. Vgl. auch Wilhelm Zim-
Titel Im Reiche der Hinterwäldler 1907 in Berlin. mermanns A Popular History of Germany. From the ear-
264 Siehe zur Bedeutung des Anglo-Saxonism für die ame- liest Period to the present Day, 4 Bde., New York 1877/1878
rikanisch-britische Annäherungspolitik um die Jahr- (dt. Original Karlsruhe 1847–1853).
hundertwende Gollwitzer (1971) 322–327, Anderson
(1981), Martellone (1994) und Kramer (2003).

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 359


sie beispielsweise das britisch-amerikanische Autorentandem Baring-Gould und Gilman 1886 erzählte,
wurde so zum Schulbeispiel des great lesson of unity im Sinne deutscher Nationaleinheit und teutoni-
scher Rassenverwandtschaft:269

it is the history of our blood-relations. On their experience we have built, and to the light of their
example we look for guidance; in their triumphs we rejoice; to the grandeur of the genius of
their poets and prose writers, of their scientists and theologians, we look with pride and admir-
ation, congratulating ourselves that we, too, are Teutons. We stood with their Hermann, as he
said to the Roman Varus, ‚No farther!‘ just as we stood with the barons before King John on the
Field of Runnymede.270

Populäre Geschichtsdarstellungen, Lehr- und Schulbücher wie das von Baring-Gould und Gilman tru-
gen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhundert das von Arnold und Creasy, Kingsley und Freeman
entworfene Geschichtsbild über die akademischen Fachzirkel und germanophilen Bildungseliten hi-
naus und vermittelten den Mythos vom panteutonischen Nationalhelden Arminius/Hermann einem
großen Publikum von Schülern, Studenten und geschichtsinteressierten Laien.271 In England verwies
man auf die Magna Charta, in Amerika auf den Unabhängigkeitskrieg, um die geschichtliche Bedeu-
tung der Varusschlacht zu veranschaulichen. Manche Amerikaner stellten den Germanenfürsten sogar
mit ihrem nationalen Gründervater auf eine Stufe: Arminius is our first Washington, erklärte 1899 der
Literaturwissenschaftler Edward A. Allen,272 und im selben Jahr befand Augusta Hale Gifford in ihrem
populärwissenschaftlichen Deutschlandbuch: With no one can he so well be compared as with our Washing-
ton, denn Arminius was the first who conceived the idea of a United Germany and a consolidated Father-
land.273 Auch für Gifford sind dabei die vergangenen Heldentaten der embryo tribes which Arminius
fought for and died to save mit den großartigen Zukunftsaussichten der teutonischen Nationen in der Ge-
genwart verbunden:

269 Sabine Baring-Gould u. Arthur Gilman, Germany (The Events of All Nations and All Ages, 10 Bde., Philadelphia
Story of the Nations Series) London 1886, 420 (8. Auf- 1894, 76–82, Edgar Sanderson, John Porter Lamberton
lage 1906, 1. amerikan. Ausgabe u.d.T. The Story of Ger- u. Charles Morris, Six thousand Years of History, Bd. 1:
many, New York 1886, span. Übersetzung Madrid 1892). Ancient and Mediaeval History, Philadelphia, Chicago u.
In dem ihm gewidmetem Kapitel (15–23) wird Arminius St. Louis 1900, 264–266, Philipp Van Ness Myers,
the first vision of a united Germany zugeschrieben (20). Rome, its Rise and Fall. A Text-Book for High Schools and
Vgl. auch bereits Arthur Gilman, Magna Charta Stories. Colleges, Boston 1900, 322–324, Edward S. Ellis u.
World-famous Struggles for Freedom in former Times. Re- Charles F. Horne, The Story of the Greatest Nations, from
counted for Youthful Readers, Boston 1882, 139–155 (wei- the Dawn of History to the Twentieth Century, Bd. 2, New
tere Auflagen London 1885 und Boston 1897). York 1901, 508–513, Emily Hawtrey, A Short History of
270 Baring-Gould u. Gilman, Germany, iv. Siehe zur Rezep- Germany, Detroit 1903, 11–13, John Clark Ridpath, Rid-
tion dieser stilprägenden Darstellung die Rezensionen path’s History of the World, Bd. 3, Cincinnati 1907, 272f.
in Athenaeum vom 6. 10. 1886, 465, Practical Teacher 6 und Franklin James Holzwarth, German Students’ Ma-
(1886), 378, Time 15 (1886), 506 und die Würdigung der nual of the Literature, Land, and People of Germany, New
7. Auflage in Athenaeum vom 25. 8. 1906, 212. York, Cincinnati u. Chicago 1908, 21–24.
271 Siehe bspw. J. H. Beale (Hg.), Gay’s Standard History of 272 Edward A. Allen, „The Oratory of Anglo-Saxon Coun-
The World’s Great Nations, Bd. 2, New York 1884, 12–15; tries“, in: James D. Brewer (Hg.), The World’s Best
Hermann Lieb, History of the German People from the Ear- Orations. From the Earliest Period to the Present Time, St.
liest Times to the Accession of Emperor William II., Chi- Louis 1899, xiii.
cago, New York u. San Francisco 1889, 31–60, Charles 273 Augusta Hale Gifford, Germany, her People and their
Morris, Historical Tales. The Romance of Reality, Bd. 5: Story. A Popular History of the Beginnings, Rise, Develop-
German, Philadelphia 1893, 7–18, Ainsworth Rand Spof- ment and Progress of the German Empire from Arminius to
ford, Frank Weitenkampf u. John Porter Lamberton William II. told for Americans, Boston 1899, 16f.
(Hgg.), The Library of Historic Characters and Famous

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In these primitive nations the spark lay dormant which kindled the sacred flame now illumi-
nating the republican institutions of our own beloved land, and from the embers have sprung
all the contingents of our modern civilization, which furnishes such a glorious example to the
peoples of the world.274

Zum Symbol des gemeinsamen germanischen Erbes wurde auch in Amerika das deutsche Hermanns-
denkmal. Kaum eine Arminiuserzählung nach 1875 verzichtete auf die Erwähnung des ihm gewidme-
ten Monuments auf der Grotenburg, auf das auch seine angelsächsischen Nachfahren Grund hätten,
stolz zu sein.275 Englischsprachige Reiseführer empfahlen einen Besuch des Denkmals und des ver-
meintlichen Schlachtfeldes.276 Und während in der englischen Presse längst der Spottname Hermann
the German kursierte,277 wanderten amerikanische Reiseschriftsteller wie der presbyterianische Predi-
ger John Henry Barrows noch um die Jahrhundertwende voller Andacht durch die cradle of the liberties of
the English-speaking nations im Teutoburger Wald.278 Auch der Altphilologe Myron R. Sanford aus Ver-
mont sah bei seinem Denkmalsbesuch 1895 in Bandels Hermann mehr als nur a worthy ideal of all that
is strong and great in German unity and might:

Indeed the New Englander and American can never forget how direct and regular is the descent
of the liberties he enjoys from the old Teutonic liberties for which Arminius and the Cherus-
cans so sturdily stood there in the forest nineteen centuries ago.279

Angesichts dieser Popularität des germanischen Ahnenkultes unter gebildeten Amerikanern verwun-
dert es nicht, dass um die Jahrhundertwende auch von politischer Seite versucht wurde, aus dem ge-
meinsamen teutonischen Abstammungsbewusstsein Kapital zu schlagen. Am 30. November 1899 ent-
warf der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain in seiner berühmten Leicester-Rede die Vision
eines deutsch-englisch-amerikanischen Bündnisses: a new triple alliance between the Teutonic race and
the two great branches of the Anglo-Saxon race would be a potent influence in the future of the world.280 Bei der
Eröffnung des von Kaiser Wilhelm II. gestifteten Germanic Museum in Harvard im November 1903
schwelgten deutsche und amerikanische Festredner in pangermanischer Verbrüderungsrhetorik.281
Und als der einflussreiche amerikanische Staatsrechtler John W. Burgess 1906 seine Antrittsvorlesung
als erster Roosevelt-Austauschprofessor in Berlin hielt, nutzte er die Gelegenheit, um erneut die Idee
eines „großen germanischen Dreibunds“ zu propagieren, dessen Ziel nichts geringeres sei als „Friede,

274 Gifford, Germany, 584. Deutschland schreibt Gifford da- 278 John Henry Barrows, A World-Pilgrimage, Chicago 1897,
neben die Rolle des arbiter of the destiny of Europe zu, 32f. Vgl. auch John L. Stoddard, Stoddard’s Lectures,
dem es vorherbestimmt sei, a dominant factor in Christia- Suppl. Bd. 5, Boston u. Chicago 1909, 208f. (mit Foto)
nizing the world zu werden. Zur Rezeption siehe die und die literarische Schilderung eines Denkmalsbe-
wohlwollenden Rezensionen im American Monthly Re- suchs in der Erzählung „An Old Man’s Darling“, in: All
view of Reviews 19 (1899), 753, Public Opinion 26 (1899), the Year round 7 (Januar 1892), 108–114.
603 und National Magazine 11 (1900), 567. 279 Myron R. Sanford, „Germany’s Tribute to Arminius“, in:
275 Siehe z.B. Baring-Gould u. Gilman, Germany, 20f., Gif- New England Magazine 18 (April 1895), 168f. (mit Fotos).
ford, Germany, 16f. (mit Foto) und Ellis u. Horne, 280 „Mr. Chamberlain at Leicester“, in der Times vom
Greatest Nations, 513. 1. 12. 1899. Vgl. Kennedy (1982) 239.
276 Siehe Murrays Handbook for North Germany, London, 281 „Kaiser’s Gifts“ im Boston Globe vom 11. 11. 1903. Vgl.
Paris u. Leipzig 1877, 193 u. 198, Baedekers Northern auch die pangermanische Vision des Initiators und ers-
Germany, as far as the Bavarian and Austrian Frontiers, ten Museumsleiters Kuno Francke, „Deutsche Kultur in
Leipzig, London u. New York 1890, 93 und Bradshaw’s den Vereinigten Staaten und das Germanische Museum
Illustrated Hand-Book to Germany and Austria, London der Harvard-Universität“, in: Deutsche Rundschau 28
u.a. 1895, 78. (1902), 127–145. Siehe zur Gründung des Museums und
277 Siehe die Times-Artikel „The National Monument of den politischen Hintergründen Goldman (1989) und
Germany“ vom 29. 9. 1883 und „The Emperor William“ Prinz von Preußen (1997) 179–188.
vom 10. 3. 1888.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 361


Fortschritt und Prosperität in der ganzen Welt“.282 So utopisch diese pangermanischen Bündnisvisio-
nen angesichts der machtpolitischen Konflikte zwischen den imperialen Großmächten heute anmuten,
so veranschaulichen sie doch die Langlebigkeit und politische Virulenz eines tief im angelsächsischen
Geschichtsbewusstsein verankerten Identitätskonstrukts.283
Die Symbolfigur Arminius spielte hingegen in den außenpolitischen Instrumentalisierungen
des Germanischen vor dem Ersten Weltkrieg kaum mehr eine Rolle. Anders als 1813 und 1870 fehlte
zu Beginn des 20. Jahrhunderts das bonapartistische Feindbild, das einer Aktualisierung des antiken
römisch-germanischen Konflikts zumindest einen Anschein von Plausibilität hätte verleihen können.
Spätestens mit der britisch-französischen Entente Cordiale von 1904 ließen sich die Fronten der euro-
päischen Politik nicht mehr mit der metapolitischen Kategorie eines bereits in den germanischen
Urwäldern ausgefochtenen Rassenkampfes zwischen romanischen und germanischen Völkern be-
schreiben. Während im deutschen Kaiserreich der Hermannsmythos immer mehr zum Mobilisie-
rungsinstrument völkischer Verbindungen und alldeutscher Propagandisten wurde,284 gewannen erst
in England und später auch in Amerika diejenigen kritischen Stimmen die Oberhand, die bereits Jahr-
zehnte vor dem Weltkrieg im teutonistischen Arminiuskult nichts anderes als eine absurde Geschichts-
spekulation und eine gef ährliche Aufstachelung zum Rassenhass gesehen hatten.

Kritik und Krise des teutonistischen Paradigmas

Die mit der Vollendung des Bandelschen Denkmals 1875 einhergehende Verörtlichung und inhaltliche
Festschreibung des Hermannsmythos als Symbol deutscher Nationaleinheit sollte sich für die angel-
sächsische Arminiusverehrung als zweischneidiges Schwert erweisen. Auf der einen Seite wurde es von
germanophilen Engländern und Amerikanern als sinnf älliger Ausdruck teutonischer Weltmacht
und Rasseneinheit gewürdigt. Auf der anderen Seite bot die in Metall gegossene Verknüpfung der pan-
germanischen Heldenfigur mit dem deutschen Kaiserreich Anknüpfungspunkte für Kritiker, die
den Grundannahmen der Teutonisten skeptisch gegenüberstanden oder zumindest das Verhältnis der
‚germanischen Brudernationen‘ Deutschland, Großbritannien und U.S.A. weniger optimistisch bewer-
teten.285
Bereits kurz nach der Reichsgründung erschienen in der englischen Publizistik erste Warnungen
vor einem preußisch dominierten Pan-Teutonism als einer Rechtfertigungsideologie für die Fortsetzung
der bismarckschen Eroberungspolitik by blood and iron.286 Insbesondere die ‚abtrünnigen‘ germani-
schen Kinder der Mighty Mother of all Teutons in Holland, Belgien und der Schweiz galten als potentielle

282 John W. Burgess, „Deutschland, England und die Verei- 284 Siehe Tacke (1995) 228–243, Bennhold (1996), Puschner
nigten Staaten“, in: Internationale Wochenschrift für Wis- (2001), Kipper (2002), See (2003) und Losemann
senschaft, Kunst und Technik 1 (1907), Sp. 154. Vgl. auch (2008).
Burgess’ „Germany, Great Britain, and the United 285 Vgl. Kleinknecht (1984) und Simmons (1996).
States“, in: Political Science Quarterly 19 (März 1904), 286 John Wilson, „Bismarck, Prussia, and Pan-Teutonism“,
1–19 und Germany and the United States. An Address De- in: Quarterly Review 130 (Januar 1871), 71–92; nachge-
livered before the Germanistic Society of America January druckt in: ders., Studies of Modern Mind and Character at
24, 1908, New York 1909. Zum Teutonismus von Bur- several European Epochs, London 1881, 423–444. Konkret
gess siehe Gossett (1963) 111–115 und Saveth (1965) bezieht sich Wilson v.a. auf Wolfgang Menzels alldeut-
42–51; zum deutsch-amerikanischen Professorenaus- sche Kampfschrift Unsre Grenzen, Stuttgart u. Leipzig
tausch Brocke (1981). 1868.
283 Zum politischen Germanismus und seinen Funktionen
im deutsch-britisch-amerikanischen Verhältnis siehe
allgemein Gollwitzer (1971) 323–341.

362 HENNING HOLSTEN


Opfer.287 Aber auch Engländer glaubten sich gegen Vereinnahmungen deutscher Professoren zur Wehr
setzen zu müssen, die ihnen einreden wollten, sie seien no more than an offshoot from the Germans, and
therefore bound to respect them … because they stand to us in a quasi-parental relation.288 Selbstbewusst re-
klamierten dagegen britische Teutonisten die ‚reinere‘ germanische Abstammung und damit die poli-
tische Führungsrolle für sich:

we claim, that our speech, in right of its Saxon descent, is the elder sister, so are we, on the
ground of our Saxon ancestry, the elder brethren, or rather cousins.289

In starkem Kontrast zur panteutonischen Verbrüderungsrhetorik eines Edward Freeman belegen be-
reits diese frühen kritischen Stimmen, dass die vielbeschworene Stammverwandschaft mit den German
cousins auch Konfliktstoff bot. Machtpolitische Interessengegensätze konnten in die Semantik eines in-
nergermanischen Familienstreits transformiert werden. In dem Maße, in dem sich die Spannungen
zwischen Kaiserreich und Empire zuspitzten, kamen ab der Jahrhundertwende sozialdarwinistische In-
terpretationen des teutonischen Rassencharakters auf, die einen kommenden Kampf der beiden füh-
renden germanischen Nationen um die Weltherrschaft prognostizierten.290 History teaches us how con-
stantly Teutonic tribes and nations have destroyed one another, konstatierte 1900 der britische Anthropologe
Nottidge Charles MacNamara noch bedauernd, da er in der unity and integrity of the great Teutonic race
die beste Gewähr für Fortschritt und Freiheit der Menschheit sah.291 Zwölf Jahre später sahen der ame-
rikanische Militarist Homer Lea und der Alldeutsche Friedrich von Bernhardi einen deutsch-englischen
Krieg bereits als unvermeidbar an,292 während englische Aristokraten noch auf die grundlegende Ger-
manisation of Britain und a record of 1,400 years of Anglo-German kinship and friendship als Friedensgaran-
ten verwiesen.293 Treffender als diese hilflosen Appelle an die teutonische Rassensolidarität beschrieb
der Historiker John Adam Cramb das Verhältnis von Engländern und Deutschen unmittelbar vor
Kriegsausbruch 1914 als das schicksalhafte Ringen zweier germanischer Heldennationen:

one can imagine the ancient, mighty deity of all the Teutonic kindred, throned above the clouds,
looking serenely down upon that conflict, upon his favorite children, the English and the Ger-
mans, locked in a deathstruggle, smiling upon the heroism of that struggle, the heroism of the
children of Odin the War-God!294

287 Wilson, „Bismarck“ (1881), 441. Vgl. dagegen die posi- gabe erschien noch im selben Jahr in London, die erste
tive Würdigung des deutschen Pangermanismus als Wi- amerikanische 1914 in New York. Nach Kriegsausbruch
derpart des russischen Panslawismus bei James Ken- wurden Dutzende von Nachdrucken auf den Markt
nedy Patterson, „Panslavism and Panteutonism – geworfen. Homer Leas The Day of the Saxon erschien
Europe’s next War“, in: Louisville Ledger vom 2. 9. 1871; in 1912 in New York und London, fand jedoch nur
dokumentiert in: Pollitt (1925) 224–227. wenig Beachtung. Die deutsche Übersetzung besorgte
288 [Anonym], „Pan-Teutonism“, in: Once a Week 11 (1873), 1913 der Alldeutsche Graf Reventlow. Siehe Bridgham
359–364. (2006).
289 [Anonym], „Pan-Teutonism“, 363. Explizit beruft sich 293 Sir Harry Hamilton Johnston, Views and Reviews from the
der anonyme Autor in seiner sprachgeschichtlichen Ar- Outlook of an Anthropologist, London 1912, 100–106 und
gumentation auf Latham und Creasy (s.o.). Lady Florence Phillips, A friendly Germany. Why not?,
290 Siehe zum Topos des German Cousin und seiner Um- London 1913, 49. Arminius, der Inbegriff des teutoni-
deutung zwischen Reichsgründung und Weltkrieg Man- schen Kriegerideals, spielt in diesen Versuchen, den
der (1974), Firchow (1986) und Dose (1986). Zur Ge- deutsch-britischen Konflikt zu harmonisieren, naturge-
schichte des Sozialdarwinismus siehe Koch (1973). mäß keine Rolle.
291 Nottidge Charles MacNamara, Origin and Character of 294 John Adam Cramb, Germany and England, London 1914.
the British People, London 1900, 223. Noch im selben Jahr erschienen mindestens neun Nach-
292 Friedrich von Bernhardi, Deutschland und der nächste drucke und die erste amerikanische Ausgabe.
Krieg, Stuttgart u. Berlin 1912. Die erste englische Aus-

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 363


Mit dieser Glorifizierung des rassischen Bruderkampfes endete der angelsächsische Pangermanismus
als politische Legitimationsideologie in einer Sackgasse. Die Berufung auf eine gemeinsame Tradition
der teutonischen Völkerfamilie verlor ihre verbindende Funktion spätestens in dem Moment, wo sich
die Gemeinsamkeit ihrer führenden Repräsentanten nur noch in unerbittlicher Feindschaft äußerte.
Die Überhöhung germanischer Kriegertugenden offenbarte nun ihr ganzes destruktives Potential, weil
sie nicht mehr an eine universale Freiheits- oder Zivilisationsmission gekoppelt war, sondern zum rei-
nen Selbstzweck nationaler Machtpolitik wurde. Zur Mobilisierung im Krieg gegen Deutschland be-
mühte die englische Propaganda deshalb nicht das Bild der feindlichen germanischen Brüder, sondern
das der barbarischen Hunnen – der Germhuns, wie sie Horatio Bottomley in seinen berüchtigten John
Bull-Kolumnen nannte.295 Über diesen symbolpolitischen Umweg ließ sich der Gegensatz von Zivilisa-
tion und Barbarei wieder aktualisieren, den die Teutonisten mit ihren Lobeshymnen auf den healthy
barbarism der gemeinsamen germanischen Vorväter verwischt hatten.296
Die Interpretation der Varusschlacht als ersten Sieges junger, vitaler germanischer Barbaren über
ein abgelebtes, überzivilisiertes Römertum war bereits im 19. Jahrhundert nicht ohne Widerspruch ge-
blieben. Schon 1863 stellte ein englischer Bericht über das noch im Bau befindliche Detmolder Her-
mannsdenkmal in Frage, dass der Triumph des Arminius tatsächlich ein Gewinn für die historische
Entwicklung der Germanen gewesen sei:

The Teutonic tribes were in those days simply barbarians, who could only gain by an active
intercourse with a people building them highways, bridges, decent towns, and fortified places,
introducing laws and clothing, and teaching them the alphabet. To exchange all these advan-
tages for a savage independence was the height of folly … Eight centuries of stagnation was the
price paid for the gratification of giving a sound thrashing to a people whose presence conferred
lasting benefits.297

Auch in den Kommentaren der englischen Presse zur Denkmalseinweihung 1875 finden sich verein-
zelte Hinweise, dass der zivilisierende Einfluss Roms den Germanen durchaus nicht geschadet habe.298
Die Kleist-Biographen Francis Lloyd und William Newton gingen sogar so weit zu behaupten, die ver-
meintliche Sternstunde deutscher Geschichte sei in Wahrheit der Ausgangspunkt einer fatalen Fehlent-
wicklung gewesen:

It is amazing that it has never occured to the numerous narrators of the feats of Hermann in the
Teutoburg forest, that all the disasters of German history might with much show of reason be
traced to that unlucky victory … the Romans by their repulse were prevented from carrying out a
civilizing mission of inestimable value.299

Wie schon die Aufklärungshistoriker des 18. Jahrhunderts bezweifelten diese Kritiker den zivilisatori-
schen Wert des blutigen Triumphes heidnischer savages und barbarians über die führende Kulturmacht
der Antike. Andere wiederum stellten die anthropologischen Grundlagen der teutonistischen Lehre in
Frage, indem sie die von Freeman und anderen behauptete unverf älschte rassische Kontinuität von den

295 Siehe Symons (1955) 165 u. 181. 297 „Hermann’s Statue and the Fiftieth Anniversary of the
296 Die Formulierung wurde insb. von Freeman verwendet – Battle of Leipzig“, in: The Reader 2 (1863), 476.
siehe seine History of the Norman Conquest, Bd. 1, Oxford 298 Siehe z.B. das bereits erwähnte Times-Editorial vom
1867, 20, „The Origin of the English Nation“, in: 17. 8. 1875 (s.o. Anm. 7).
Macmillan’s Magazine 22 (1870), 46 und Lectures to Ame- 299 Francis Lloyd u. William Newton, Prussia’s Representative
rican Audiences, Philadelphia u. London 1882, 116. Vgl. Man, London 1875, 68. Vgl. die Replik von Karl Blind im
auch Max Müller, „Savages“, in: Nineteenth Century 17 Examiner vom 8. 5. 1875, 524f.
(1885), 126.

364 HENNING HOLSTEN


Germanen des Tacitus zu den Engländern der Gegenwart bestritten. Bereits 1870 bezeichnete der be-
rühmte Darwinianer Thomas Huxley in einem Aufsehen erregenden Vortrag die Gleichsetzung von
English nationality und Anglo-Saxon als simply absurd:300 Erstens seien die Briten etwa gleichenteils kel-
tischer wie teutonischer Abstammung, und zweitens gebe es außer der Sprachverschiedenheit über-
haupt keine ethnologischen Unterschiede zwischen Kelten und Germanen.301 Als sieben Jahre später
der Historiker und Ethnologe Henry Hoyle Howorth die bereits von Creasy behauptete direkte Abstam-
mung der English Saxons von den alten Cheruskern widerlegte, geriet ein weiterer wissenschaftlicher
Grundpfeiler der behaupteten Traditionslinie von Arminius zu Washington ins Wanken.302 Im selben
Jahr musste Freeman zugestehen, dass führende Philologen wie sein Freund Max Müller mittlerweile
jeden Zusammenhang zwischen Sprache und Rasse bestritten und damit der teutonistischen Kontinui-
tätslehre eines ihrer wichtigsten methodischen Werkzeuge abhanden gekommen war.303
Die brüchiger werdende wissenschaftliche Legitimation des teutonistischen Geschichtsbildes tat
seiner Popularität bis zum Ende des Jahrhunderts zwar wenig Abbruch, bot aber durchaus bereits An-
satzpunkte für eine Fundamentalkritik auch von akademischer Seite. So prangerte der in New York ge-
borene, in Heidelberg promovierte und in Cambridge lehrende Archäologe Charles Waldstein 1898 den
Ethnological Chauvinism der in Deutschland erfundenen und von den Freemans in England verbreiteten
Rassentheorien an.304 Die Verknüpfung spekulativer ethnological theories mit aggressiven practical poli-
tics kritisierte er als modern version of the old story of national lust of power.305 Als Beispiel für den durch den
Rassenwahn inspirierten politischen Irrsinn nennt er den durch die monster statues on the hills of the
Rhine and the Teutoburger forest forcierten deutschen Kulturkampf, den er mit dem Ausruf kommentiert:
Arminius was, after all, a Pagan!306
Ebenfalls gegen Freeman und die deutschen chief architects of the race theory richtete sich 1895 die
Kampfschrift Fallacies of Race Theories as applied to National Characteristics des amerikanischen Juristen
William Dalton Babington.307 Zur Begründung seiner zentralen These there is no truth in the ancestral
theory of national character widmet er sich eingehend den zeitgenössischen Idealisierungen der antiken
Germanen und ihres berühmtesten Feldherrn.308 Arminius’ Aufstand gegen die römischen Besatzer
ist für Babington kein Zeichen einer angeblich dem teutonischen Nationalcharakter innewohnenden
ineradicable love of freedom, sondern lediglich Ausdruck eines unzivilisierten habit of revolt, den er auf
den universal distaste savages exhibit for the restraints of orderly life zurückführt.309 Arminius’ Erfolg war
demnach kein Sieg der Freiheit, sondern condemned Germany to unprogressiveness und consigned his

300 Thomas H. Huxley, „The Forefathers and Forerunners 304 Charles Waldstein, „The English-Speaking Brother-
of the English People“, in der Pall Mall Gazette vom hood“, in: North American Review 167 (1898), 223–238;
10. 1. 1870 und 14. 3. 1870; nachgedruckt im Anthropolo- nachgedruckt in: ders., The Expansion of Western Ideals
gical Review 8 (1870), 197–204. Dort findet sich auf den and the World’s Peace, New York u. London 1899,
folgenden Seiten (205–216) auch ein Teil der kontrover- 113–193, Zitate 138 u. 141.
sen Debatten um Huxleys Thesen. 305 Waldstein, „Brotherhood“ (1899), 142.
301 Als Lehre für die English political ethnology hält Huxley 306 Waldstein, „Brotherhood“ (1899), 146.
fest that the arguments about the difference between Anglo- 307 William D. Babington, Fallacies of Race Theories as
Saxons and Celts are mere sham and delusion – „Fore- applied to National Characteristics, London u. New York
fathers“, 203. 1895, 6 u. 183. Siehe die Rezension in den Annals of the
302 Henry H. Howorth, „The Ethnology of Germany. Part I. American Academy of Political and Social Science 8 (1896),
The Saxons of Nether Saxony“, in: Journal of the Anthro- 167–169.
pological Institute of Great Britain and Ireland 6 (1877), 308 Babington, Fallacies, 11. Neben Freeman richtet sich Ba-
364–378. bingtons Polemik v.a. gegen Theodor Mommsen, dem
303 Freeman, „Race and Language“, in: Contemporary Review er eine Abwertung der keltischen gegenüber der germa-
29 (1877), 711–741, insb. 722f. Vgl. Max Müller, Biogra- nischen Rasse vorwirft (s. 191–230).
phies of Words and the Home of the Aryas, London 1888, 309 Babington, Fallacies, 224–226.
88–91. Vgl. Parker (1981) 834ff.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 365


countrymen to ages of barbarism, from which the unsparing sword of Charlemagne, a man of their own nation,
only partially raised them eight centuries subsequently.310 Das zu Ehren des Massakers im Teutoburger Wald
errichtete Denkmal bezeichnet Babington deshalb indigniert als unwelcome instance of national vanity
und perversion of history.311
Diese antirassistische Kritik teutonistischer Ursprungsmythen nahm bereits einige allgemeine
Tendenzen der angelsächsischen Geschichtsschreibung nach der Jahrhundertwende vorweg – nament-
lich die Ablösung rassischer durch soziologische Erklärungsmuster, die erneute Hinwendung zu den
keltischen Ursprüngen und die positive Neubewertung der augusteischen Kaiserzeit im Lichte der eige-
nen imperialen Erfahrung.312 Letztere spiegelt auch die bereits in einigen der zitierten Kritiken erkenn-
bare Renaissance der Dichotomie von Zivilisation und Barbarei in der Interpretation des germanisch-
römischen Konflikts. So hatte Babington schon 1895 die prinzipielle Position vertreten, that the conquest
of barbarous people by a civilized power may sometime be a duty, that it is in general beneficial to the barbarians
themselves, and in that respect it is justifiable.313 Statt mit den rohen Tugenden der edlen Wilden in den ger-
manischen Wäldern identifizierten sich um die Jahrhundertwende immer mehr Briten mit der expan-
siven imperialen Ordnungsmacht Rom.314 Prägnant formuliert ein Times-Editorial vom September
1898 den Vorbildcharakter der römischen für die britische Zivilisierungsmission:

To the Roman Empire alone belongs the credit of having in some measure anticipated the prin-
ciples on which the British Empire rests – that conquest is but a step to civilization and peace
and union among the nations. The Romans were ruthless conquerors … But they were civilizers
and administrators as well as conquerors. The ‚Pax Romana‘ gave comparative rest to Europe in
the first century, as the ‚Pax Britannica‘ gives to India in the nineteenth.315

Eine solche imperiale Genealogie stand im offenkundigen Widerspruch zu den germanischen Ur-
sprungsmythen der teutonistischen Schule und ihrer Imaginierung eines angelsächsischen Nationalhel-
den Arminius. Antirömische Rebellen erschienen in dieser Logik als Feinde der imperialen Friedensord-
nung.316 In der Übertragung der römisch-germanischen Frontstellung auf moderne Kolonialkonflikte
offenbarte sich deshalb ein bisher nur am Rande erwähntes Aktualisierungspotential der historischen
Erinnerung der Varusschlacht, in der nicht die Engländer, sondern ihre barbarischen Feinde mit den
siegreichen Germanen identifiziert wurden.
Zum ersten Mal erschien diese Variante des öffentlichen Gebrauchs des Arminiusmythos vermut-
lich in der zunächst publizistischen, dann geschichtswissenschaftlichen und literarischen Verarbeitung
der Braddock-Katastrophe während des Siebenjährigen Krieges. Ein Teilnehmer der Schlacht auf india-
nisch-französischer Seite war der Ottawa-Häuptling Pontiac, der wenige Jahre später eine große Allianz
indianischer Stämme vereinte und während der Belagerung von Detroit den Briten eine weitere Nie-
derlage zufügte. Schon zu Lebzeiten eine Legende, wurde er 1838 von der britischen Schriftstellerin
Anna Jameson als wilder hero par excellence mit dem germanischen Helden Arminius verglichen.317 Eine
ähnliche Anerkennung erfuhr wenig später auch der berühmte Shawnee-Führer Tecumseh, den der iri-

310 Babington, Fallacies, 203 u. 227. 316 Siehe als Beispiel die Darstellung von Arminius’
311 Babington, Fallacies, 202f. treachery und der Reaktion des Augustus (worthy of the
312 Siehe zum Celtic Revival Brown (1996) und zur historio- ‚Father of his country‘) in Arthur Hadrian Allcroft u. John
graphischen Neubewertung Augustus’ Turner (1993) Hampden Haydon, A History of the Reigns of Augustus
257ff. und Vance (1997). and Tiberius, London 1900, 42f. u. 73–77.
313 Babington, Fallacies, 179. 317 Anna Jameson, Winter Studies and Summer Rambles in
314 Siehe hierzu neuerdings die umfassende Studie von Canada, Bd. 2, London 1838, 294. Bereits 1839 erschie-
Parchami (2009) insb. 61–91. nen eine amerikanische Ausgabe in New York und eine
315 Times-Editorial vom 13. 9. 1898. deutsche Übersetzung in Braunschweig.

366 HENNING HOLSTEN


sche Amerikareisende John Robert Godley 1844 als a second Arminius bezeichnete.318 Inspiriert wurden
diese Würdigungen mutmaßlich durch die erste englische Übersetzung von François Guizots Histoire
générale de la civilisation, in der der berühmte französische Historiker einen umfassenden Vergleich der
Lebens- und Kampfesweise von altgermanischen und indianischen Stämmen angestellt hatte.319
Dass der Vergleich von modernen mit antiken ‚Barbaren‘ nicht nur dem nostalgischen Rückblick
auf längst besiegte Gegner, sondern auch der Warnung vor ganz aktuellen Gefahren dienen konnte,
zeigt hingegen ein englischer Zeitschriftenartikel vom Juli 1845.320 Als Reaktion auf den Ausbruch
eines britischen Kolonialkrieges gegen neuseeländische Maori-Rebellen erinnert der anonyme Autor an
die fatalen Folgen der römischen Besatzungspolitik unter Varus, um gegen das rücksichtslose Vorge-
hen der vorgeblich Zivilisierten gegen die Unzivilisierten zu protestieren. Der Triumph des germani-
schen Freiheitskämpfers Arminius wird dabei zum Menetekel für die britische Politik:

the philantrophic statesmen, who think it so easy, as well as so proper, to massacre poor savages
for defending their native land, might do well to refresh their memories by reading how it fared
with the Romans when dealing with the ancient barbarians of Germany.321

Diese Warnung vor einer Wiederholung der Varus-Katastrophe in den britischen Kolonien war mehr als
ein moralischer Appell, denn er rief zugleich Erinnerungen an das militärische Desaster des Afghanis-
tan-Feldzugs drei Jahre zuvor wach. Im Winter 1841/42 war ein von General William Elphinstone ge-
führtes britisch-indisches Expeditionsheer beim Rückzug aus Kabul von den Afghanen unter Akbar
Khan in einen Hinterhalt gelockt und vollständig vernichtet worden.322 Die verheerende Niederlage
wurde in der schockierten englischen Öffentlichkeit umgehend mit dem Untergang der römischen Le-
gionen im Teutoburger Wald assoziiert.323 Der Schriftsteller John Sterling schrieb konsterniert an sei-
nen Vater:

here we are dismally injured by mere barbarians, in a War on our part shamefully unjust as well
as foolish: a combination of disgrace and calamity that would have shocked Augustus even
more than the defeat of Varus.324

318 John Robert Godley, Letters from America, Bd. 1, London 322 Von den ca. 16500 Teilnehmern des Feldzuges entkam
1844, 151. Zitiert im Monthly Review 2 (1844), 103, im lediglich ein einziger dem Massaker – siehe zum Ereig-
Bristol Mercury vom 30. 3. 1844 und im Glasgow Herald nis und den Folgen Macrory (2002).
vom 1. 4. 1844. 323 Siehe „The Disasters in Affghanistan. Curious Parallel“
319 François Pierre Guillaume Guizot, General History of in der Times vom 20. 4. 1842 und „British Overthrow at
Civilization in Europe, 3 Bde., London 1837. Das franzö- Afghanistan“ im Museum of Foreign Literature, Science
sische Original erschien 1828 in Paris, die erste ameri- and Art 45 (1842), 626f. Vgl. auch „Désastres de la puis-
kanische Ausgabe 1838 in New York und eine deutsche sance Anglaise dans l’Inde“, in: Revue générale, biographi-
Übersetzung 1844 in Stuttgart. Bis Ende des 19. Jahr- que, historique et litteraire 10 (1842), 270f.
hunderts erschienen in England und Amerika mindes- 324 Brief vom 12. 3. 1842, zitiert nach Thomas Carlyle, The
tens zwei Dutzend Neuauflagen. Life of John Sterling, London 1851, 288. In späteren
320 [Anonym], „Armin, or the Civilized Romans and the Darstellungen wurde insb. die Reaktion des indischen
Barbarians of Germany“, in: Mirror of Literature, Amuse- Gouverneurs Lord Auckland, der beim Empfang der
ment, and Instruction 2 (1845), 7–9. Zu dem heute als Nachricht von Elphinstones Untergang einen Schlag-
Flagstaff War (1845/1846) bekannten Konflikt zwischen anfall erlitt, mit den Klagen des römischen Imperators
Briten und Maori siehe Belich (1990). über den Verlust der varianischen Legionen verglichen –
321 [Anonym], „Armin“, 7. Die folgende Erzählung der rö- siehe Samuel Phillips, „The War in Afghanistan“, Times
mischen Katastrophe im Teutoburger Wald stützt sich vom 25. 9. 1852; nachgedruckt in ders., Essays from ‚The
auf die bereits erwähnte Darstellung Heinrich Ludens – Times‘, London 1871, Zitat 264.
siehe Anm. 184.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 367


Die Erinnerung an das Massaker von Kabul als disaster unparalleled since the loss of Varus’ legions blieb im
britischen Empire das ganze 19. Jahrhundert hindurch lebendig.325 Der Vergleich mit der römischen
Niederlage war so fest etabliert, dass er umgekehrt sogar Eingang in geschichtswissenschaftliche Dar-
stellungen der Varusschlacht fand. It was like our own desaster in Affghanistan, befand der Historiker
Edward Beesly 1867 in seiner Tiberius-Biographie, und charakterisierte Arminius in Anlehnung an
einen berüchtigten indischen Rebellenführer als the Nana Sahib of his day.326 Nicht zuf ällig entstammte
deshalb 1885 die originellste und detaillierteste Schilderung der Teutoburger Schlacht seit Creasy und
Smith der Feder eines englischen Kolonialoffiziers, der sich zuvor als Teilnehmer und Chronist der bri-
tischen Kriege in Afghanistan und Indien einen Namen gemacht hatte.327 Bezeichnend für die römisch-
imperiale Perspektive ist bereits der Titel von Colonel Mallesons Schlachtensammlung: Ambushes and
Surprises.328
Eine erneute Aktualisierung erfuhr das imperiale Trauma einer varianischen Niederlage gegen zi-
vilisierungsresistente Barbaren 1879, als südafrikanische Zulus unter König Cetewayo bei Isandlwana
ein britisches Invasionsbatallion vernichteten. Wieder erinnerten englische Kommentatoren an das
grausame Schicksal der Legionen des Varus at the hand of Hermann in the morasses of ancient Germany
und befürchteten den Einfall von thousands of revengeful barbarians in die Kapkolonie.329 Kontrovers dis-
kutierte die Presse die Parallelen zwischen germanischem und afrikanischem Unabhängigkeitskampf.
Während die Londoner Daily News im Zulu chieftain keinen zweiten Arminius, sondern nur einen blun-
dering savage sah, bezeichnete das irische Freeman’s Journal König Cetewayo als

dusky Arminius, who, if his complexion were only of a lighter tint, would be pronounced by his-
tory to be a hero and a patriot who waged a galant struggle pro aris et focis to defend his country
from unprovoked aggression.330

325 „Whence have come our Dangers?“, Blackwoods Edin- Time of Hannibal to the Period of the Indian Mutinity, Lon-
burgh Magazine 77 (1855), 124. Der Vergleich mit der don 1885, 66–96. Vgl. Colonel Mallesons Augenzeugen-
Varusschlacht findet sich u.a. auch in „The Outbreak in bericht The Mutiny of the Bengal Army, London 1857 so-
Cabul and its Causes“, Calcutta Review 14 (1850), 296ff., wie seine History of Afghanistan, London 1878 und The
„Our Indian Policy“, Bentley’s Miscellany 30 (1851), 635, Decisive Battles of India, London 1883. Zu seiner militäri-
John Lalor, Money and Morals, London 1852, 247, Archi- schen und publizistischen Karriere siehe Mittal (1996)
bald Alison, History of Europe from the Fall of Napoleon to II, 237–258.
the Accession of Louis Napoleon, Bd. 8, Edinburgh u. Lon- 328 Vgl. die Schilderung des deadly ambush und Hermann’s
don 1859, 79f., Louis Blanc, Letters on England. Second Se- treachery in Lewis Sergeants The Franks, from their Origin
ries, Bd. 2, London 1867, 210, Rudyard Kipling, „The Lost as a Confederacy to the Establishment of the Kingdom of
Legion“, Strand Magazine 3 (1892), 476–483, Charles France and the German Empire, New York u. London
Lowe, „The Queen’s Army“, English Illustrated Magazine 1898, 29 und bei John Benjamin Firth, Augustus Cæsar
166 (1897), 390 und James Bryce, „The Roman Empire and the Organisation of the Empire of Rome, New York u.
and the British Empire in India“, in: ders., Studies in His- London 1903, der die tragic story des Varus mit der tale of
tory and Jurisprudence, Bd. 1, Oxford 1901, 12. the Indian mutiny vergleicht: he trusted Arminius as impli-
326 Edward Spencer Beesly, „The Emperor Tiberius“, in: citly as the British colonels trusted their Serpoys (308f.).
Fortnightly Review 2 (1867), 647, nachgedruckt in Cati- 329 Newcastle Courant vom 21. 2. 1879. Siehe für einen nähe-
line, Clodius, and Tiberius, London 1878, 110. Arminius ren Vergleich der Varusschlacht mit Isandlwana und
wird hier als young chieftain von half-tamed savages vorge- Custers last stand am Little Big Horn auch „Modern Bar-
stellt. Zu Nana Sahib und seiner Rolle in der Indian barians“, St. Louis Globe-Democrat vom 20. 7. 1879.
Mutiny of 1857, die heute offiziell als ‚India’s First War of 330 Daily News vom 6. 3. 1879 und Freeman’s Journal
Independence‘ gewürdigt wird, siehe Shastitko (1980) (Dublin) vom 10. 6. 1879. Vgl. auch die Verbindung des
und Anderson (2007). Mahdi-Aufstandes gegen die britische Kolonialherr-
327 George Bruce Malleson, Ambushes and Surprises. Being a schaft mit der antirömischen Erhebung der Germanen
Description of some of the most famous Instances of the unter Arminius in „The Soudan Disaster“, Times vom
Leading into Ambush and the Surprise of Armies, from the 10. 12. 1883.

368 HENNING HOLSTEN


Der Konflikt zwischen imperialer und anti-imperialer Lesart der Lehren des germanischen Unabhän-
gigkeitskampfes spitzte sich noch einmal zu, als zwanzig Jahre später die Buren den Aufstand gegen die
britische Kolonialherrschaft in Südafrika wagten. Der langwierige, von beiden Seiten mit brutaler Härte
geführte Konflikt polarisierte die europäische und amerikanische Öffentlichkeit vor allem deshalb, weil
die rebellischen ‚Barbaren‘ in diesem Fall nicht nur weiße Siedler, sondern in der rassischen Termino-
logie des 19. Jahrhunderts sogar ‚teutonische Stammesbrüder‘ der Angelsachsen waren. Noch 1896
stritten englische und deutsche Gelehrte öffentlich darüber, welche Nation eine nähere Verwandtschaft
(und damit einen politischen Vertretungsanspruch) gegenüber den afrikanischen kinsmen nachweisen
könne.331 Als sich der Konflikt zuspitzte, wurden die Buren hingegen von der regierungstreuen eng-
lischen Presse als splendid white savages, später sogar als semi-white savages herabgewürdigt,332 während
auf der anderen Seite proburische amerikanische Kommentaroren die Aufständischen als Inkarnation
der heroischen germanischen Vorfahren glorifizierten:

These are the very blood of Hermann, and they have kept it pure through eight generations of
propagation in a remote and alien land. They have a history of daring and suffering worthy of
the descendants of the conquerors of the Roman legions.333

Der Burenkrieg stürzte den angelsächsischen Teutonismus als Rechtfertigungsideologie zivilisatori-


scher Sendung und imperialer Ordnung in eine tiefe Krise.334 Die Berufung auf eine historische Frei-
heitstradition, die ihren Ursprung aus dem mythisch überhöhten Unabhängigkeitskampf eines anti-
ken Stammesführers gegen den Expansionsdrang eines zivilisatorisch weit überlegenen Imperiums
ableitete, verlor in diesem Konflikt nicht nur ihre identitätstiftende und mobilisierende Funktion, son-
dern wurde darüber hinaus zu einem propagandistischen Instrument des politischen Gegners. Im
Mai 1901 berichtete die Londoner Times von einer alldeutschen Massendemonstration für den buri-
schen Freiheitskampf zu Füßen des Detmolder Hermannsdenkmals;335 fünf Monate später dokumen-
tierte sie auf ihren Leserbriefseiten einen gelehrten Disput über die Frage, ob die Burengeneräle Botha
und De Wet eher mit dem Numider Tacfarinas oder dem Cherusker Arminius zu vergleichen seien
und ob Tacitus, der great historian and antagonist of imperial tyranny, bereits ein philo-Teutonic ‚pro-Boer‘
gewesen sei.336 Auch der englisch-kanadische Historiker Goldwin Smith begründete 1902 seine dezi-
diert antiimperialistische Kritik an dem brutalen Vorgehen der Briten in Südafrika und der Amerika-
ner auf den Philippinen mit einer originellen Variante der teutonistischen Interpretation der Varus-
schlacht:

331 Siehe die Artikel-Serie „Boers and Germans“ in der 334 Zu den innen- und außenpolitischen Ursachen und Fol-
Times vom 4., 7., 8., 9., 11., 13. u. 15. 1. 1896. Zur politi- gen des Krieges siehe Noer (1978), Anderson (1981),
schen Bedeutung dieser philologisch-ethnologischen Kennedy (1982) u. Kramer (2003).
Debatte siehe das Editorial „The diplomatic Potentiali- 335 „The War“, Times vom 21. 5. 1901. Siehe zur deutschen
ties of Philology“ vom 13. 1. 1898. Burenagitation zuletzt Bender (2009).
332 Bristol Mercury and Daily Post vom 30. 8. 1894 und Liver- 336 „A Historical Parallel“, Times vom 15., 18., 19., 23. und
pool Mercury vom 6. 3. 1900. Siehe zur Verortung der Bu- 24. 10. 1901. Ergebnis des Streits war, dass wohl am
ren zwischen Zivilisation und Barbarei auch „The Boer ehesten der Bataverfürst Civilis als antikes Vorbild der
Question“ des Anthropologen Harry H. Johnston im Burenführer in Frage komme. Vgl. die umfassende Aus-
Fortnightly Review 56 (1894), 161–169. Zum Topos der arbeitung dieser historische Parallele bei R. B. Townsend,
burischen white savages vgl. Gates (1986) 213. „Rome and her Dutch Rebels“, Westminster Review 155
333 „A Race of Warriors“, Morning Oregonian (Portland) vom (1901), 386–401.
19. 1. 1896; ähnlich auch das Editorial „Bravery of the Bo-
ers“ in der Washington Post vom 29. 10. 1899.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 369


Suppose civilization had triumphed on that field and slain in its embryo the nation of Luther,
Leibnitz, Lessing, Goethe, von Humboldt, and Bismarck. Who shall say that the uncivilized or
half-civilized races now being crushed by predatory powers in different parts of the world, may
not have in them the germs of something which, spontaneously developed, would be as noble
and worth as much to humanity as any of the powers themselves?337

Diese antiimperialistische Wendung der Teutonic germs theory, die seit Jahrzehnten vorwiegend der Le-
gitimation angelsächsischer Superiorität und Expansion gedient hatte, verdeutlicht zum einen das op-
positionelle Potential, das die politische Berufung auf den germanischen Unabhängigkeitskampf noch
zu Beginn des 20. Jahrhunderts entfalten konnte. Smiths Hinweis auf den Keim der deutschen Kultur-
nation in den germanischen Wäldern und die Traditionslinie von Arminius zu Bismarck verweist je-
doch zugleich auf die verhängnisvolle Bruchstelle des teutonistischen Identitätskonstruktes. Seit der
Jahrhundertwende sank die angelsächsische Arminiusbegeisterung parallel zum Anstieg der deutsch-
britischen Spannungen. Und als ab August 1914 englische und ab April 1917 auch amerikanische Ge-
lehrte und Publizisten dazu aufriefen, die westliche Zivilisation vor dem Ansturm der barbarischen
Germhuns zu retten, gerieten auch der mythische Ursprungsort und der legendäre Gründervater des
deutschen Militarismus in das Kreuzfeuer der alliierten Kriegspropaganda.

Das Ende des angelsächsischen Arminiuskults in zwei Weltkriegen

Obwohl das Dogma der historischen Einheit von teutonischer Rasse und moderner Zivilisation seit
dem Burenkrieg deutliche Auflösungserscheinungen zeigte, blieb das Bewusstsein einer bis Arminius
zurückreichenden Abstammungsgemeinschaft von Deutschen, Engländern und Amerikanern bis zum
Ausbruch des Weltkrieges tief verwurzelt im angelsächsischen Geschichtsdenken.338 We are allied by the
ties of kinship, proklamierte 1913 Arthur William Holland in seiner von der British-German Friendship
Society herausgegebenen Short History of Germany und verglich den great German hero Arminius mit der
britischen Heldenkönigin Boudicca.339 Andere britische Darstellungen der deutschen Geschichte wür-
digten die Varusschlacht weiterhin als einen war of liberty und one of the great turning points in the history
of Europe.340 Im selben Jahr erinnerte der Publizist Price Collier Engländer und Amerikaner daran, dass
die angelsächsische love of independent self-government ihren Ursprung in den germanischen Wäldern
habe und die Grundlagen der modernen Welt von teutonischen Barbaren errichtet worden seien:

they saved what was best worth saving from the decline and fall of Rome, and made out of it
with their vigourous laws a new world, the modern western world.341

337 Goldwin Smith, Commonwealth or Empire. A Bystander’s from German History from Ancient Times to the Year 1648,
View of the Question, New York u. London 1902, 55. Vgl. London 1915 (amerikan. Ausgabe New York 1915), 24–26.
auch seine proburische Schrift In the Court of History, 340 Henrietta Elizabeth Marshall, A History of Germany, Lon-
Toronto 1902. Zur Biographie von Smith, der sich selbst don 1913, 17 u. 21. Das Buch schließt mit einer Betonung
als anti-Imperialistic to the core beschrieb, siehe Phillips des durch und durch friedfertigen Charakters des Deut-
(2002). schen Reiches unter Wilhelm II. (448f.).
338 Vgl. auch zum Folgenden Dose (1986) und Siak (1998). 341 Price Collier, Germany and the Germans from an Ameri-
339 Arthur W. Holland, Germany to the Present Day. A Short can Point of View, New York u. London 1913, 10f. Sowohl
History, London 1913. Zitiert nach der noch im selben die englische wie die amerikanische Ausgabe wurde bis
Jahr publizierten zweiten Auflage, S. 6f. Vgl. auch die 1914 wiederholt nachgedruckt; im selben Jahr erschien
Arminiusdarstellungen in Hollands Germany, London eine deutsche Übersetzung in Berlin.
1914, 9–12 und in Florence Astons Schulbuch Stories

370 HENNING HOLSTEN


Die feste Verankerung teutonistischer Ideologeme im amerikanischen Geschichtsbewusstsein vor dem
Ersten Weltkrieg zeigt ein Blick in zeitgenössische Schul- und Jugendbücher. Während pazifistische
Autoren bereits die Verherrlichung des tremendous holocaust der Teutoburger Schlacht im deutschen
Schulunterricht kritisierten,342 priesen amerikanische Lehrbücher noch unverhohlen die rauhen Sitten
und kriegerischen Tugenden der fierce barbarians, die Varus’ Legionen niedermetzelten.343 Zwar seien
die germanischen Vorväter weniger zivilisiert als Römer und Griechen gewesen, doch they had the fresh
vigour, the red blood, and the brains which later made them the leaders of Europe.344 Als jüngste Erben dieser
europäischen Freiheitstradition hätten deshalb gerade Amerikaner Grund zum Stolz auf ihre Abstam-
mung von der most wonderful race in the history of the world.345 So formulierte die Jugendbuchautorin Ma-
rion Florence Lansing 1911 als Lehre aus ihrer sehr eingängig geschriebenen Biographie der three Teuton
boys Hermann, Flavus und Marbod:

we who are of Hermann’s own race and blood must rejoice that the victory was on the side of
freedom for our ancestors. By his victory the Roman empire was halted at the river Rhine, and
on the east of that great river our forefathers were free to develop their systems of law, which
preserved and gave to the modern world the chief glory of the Teutons, – the love of indepen-
dence, which is the foundation of all our law and government.346

Der in diesen Texten dokumentierte ungebrochene teutonische Ahnenstolz macht deutlich, wie hoch
die Fallhöhe war, aus der das Image der German cousins in England und Amerika nach dem Kriegsaus-
bruch im August 1914 ins Bodenlose stürzte. Innerhalb weniger Monate prägte die alliierte Kriegspro-
paganda das bis heute nachwirkende Bild des blutrünstigen deutschen Hunnen, des kriegslüsternen
preußischen Barbaren, der über Nacht den dünnen Firnis der Zivilisation abstreift, um mit Säbel und
Pickelhaube nach der Weltherrschaft zu greifen.347 German Kultur und Western civilization wurden von
beiden Seiten zu unversöhnlichen Gegensätzen stilisiert. Während sich deutsche Professoren und In-
tellektuelle in einem Überlebenskampf nationaler Eigenart sahen, den nicht nur alldeutsche Fanatiker
bis zu Hermann dem Cherusker zurückführten, mobilisierten britische Akademiker zur Verteidigung
der modernen Zivilisation gegen einen barbarischen Feind, der schon das römische Imperium in
Schutt und Asche gelegt hatte.348

342 O. H. Neland, The Crimson Fist, Boston 1913, 47. Ähn- 105f. Ähnlich auch Harmon Bay Niver, Old World Steps
lich kritisch zur militaristischen Indoktrination der to American History, Boston u.a. 1915, 140f.
deutschen Jugend äußerte sich später John Burnet in 345 Nida, Dawn, 19. Deutlich geringer bewerten den zivilisa-
Higher Education and the War, London 1917, 8. Dagegen torischen Einfluss der Teutonen hingegen Samuel B. u.
schwärmte der amerikanische Pädagoge Louis Richard Margaret S. Harding in ihrem weniger erfolgreichen
Klemm vor dem Krieg von einem deutschen Lehrer, der Konkurrenzprodukt The Story of Europe from the Times of
seinen Schülern von Hermanns Vernichtung der römi- the Ancient Greeks to the Colonization of America, Chicago
schen Legionen erzählt: How the boys’ eyes shone with u. New York 1912, 114.
patriotic emotion! – Public Education in Germany and in 346 Marion F. Lansing, Patriots and Tyrants, Boston u.a. 1911,
the United States, Boston 1911, 138. 18. In einem kurzen Anhang zitiert die Autorin als Auto-
343 William Lewis Nida, The Dawn of American History in Eu- ritäten Stubbs und Arnold und formuliert als pädagogi-
rope, New York 1912, 1–4. Nidas Darstellung, die mit dem sches Ziel ihrer germanischen Heldengeschichten: We
Kapitel „Our German Forefathers“ beginnt und mit ei- get from them a sense of the continuity of history and of the es-
nem Ausblick auf die Herrschaft der „Teutonic Anglo-Sa- sential unity of the race, – that we are indeed all of one blood
xons“ in Amerika endet, war immens erfolgreich und er- (175). Vgl Lansings ebenfalls in der Verlagsreihe Medieval
lebte bis 1917 acht Nachdrucke. Die gründlich von allen Builders of the Modern World erschienene Sammlung Bar-
teutonistischen Elementen bereinigte Neufassung von barian and Noble, Boston u.a. 1911, insb. 1–9.
1919 wurde bis 1928 ebenfalls mehrfach nachgedruckt. 347 Siehe auch zum Folgenden Firchow (1986), Buitenhuis
344 James Albert Woodburn u. Thomas Francis Moran, (1987), Panayi (1991) und Pulzer (1996).
Introduction to American History, New York u. Chicago 348 Siehe hierzu Wallace (1988), Stibbe (2001), Hoeres
1916, 103f.; zu Hermann, the great Germanic chieftain (2004).

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 371


Schützenhilfe bei der totalen Umwertung des teutonistischen Paradigmas bekamen die eng-
lischen Feindbildproduzenten von Seiten des französischen Alliierten. Schon seit Generationen daran
gewöhnt, das schwierige Verhältnis zu ihren deutschen Nachbarn mit Hilfe des Konstrukts eines ro-
manisch-germanischen Rassengegensatzes zu beschreiben, hatten französische Intellektuelle weniger
Probleme als ihre angelsächsischen Kollegen, die historischen Wurzeln des deutschen Zivilisations-
rückfalls zu finden.349 Große Beachtung auf beiden Seiten des Atlantiks fand im Oktober 1914 ein of-
fener Brief des berühmten Philosophen Emile Boutroux, der die ideengeschichtlichen Wurzeln eines
in Abgrenzung zur griechisch-römischen Zivilisation definierten metaphysischen Germanism in der
Philosophie Fichtes verortet.350 Seine moralische Rechtfertigung ziehe dieses nach Weltherrschaft stre-
bende Auserwähltheitsbewusstsein aus einer ewigen Aktualisierung der Hermannsschlacht: The sign of
her election is the annihilation of the three legions of Quinctilius Varus, and her eternal task is to revenge herself
for the insolence of the Roman General.351 Eine ähnlich fatale Fixierung des deutschen Geistes auf die Va-
ruschlacht betonten auch andere Franzosen, die sich in der englischsprachigen Öffentlichkeit zu Wort
meldeten.352 Chauvinistische Scharfmacher wie der Astronom und Science-Fiction-Autor Camille
Flammarion hingegen zitierten einfach römische Schilderungen der germanischen Barbaren, um auf
einen seit dem Gemetzel im Teutoburger Wald unveränderlichen deutschen Nationalcharakter rückzu-
schließen:

Two thousand years ago those arrogant invaders were the same as today … Its mental attitude
has not changed since that time, only its barbarity has become scientific.353

Scheinbare Evidenz bekam die Vorstellung vom ‚ewigen deutschen Barbaren‘ durch das harte Vorgehen
der deutschen Truppen gegen die Zivilbevölkerung im widerrechtlich besetzten Belgien, das von der
aliierten Propaganda weidlich ausgeschlachtet wurde.354 Mit der Versenkung der Lusitania durch ein
deutsches U-Boot im Mai 1915 erfasste die Hunnenhysterie erstmals auch die amerikanische Öffent-
lichkeit, die sich bis dahin mehrheitlich neutral verhalten hatte. Als bekannt wurde, dass die Torpedie-
rung des amerikanischen Passagierschiffes in Berliner Varietés in militaristischen Spottgesängen ge-
feiert wurde, fühlte sich selbst die New York Times an die barbarischen Gebräuche von Hermanns
wilden Kriegern erinnert:

349 Zum Wechselspiel von deutschen und französischen fleur, „International Law and the present War“ in der Ca-
Nationalstereotypen siehe Panick (1978), Jeismann nadian Law Times 35 (1915), 43. Vgl. auch die Herleitung
(1992) und Hüser (2000). deutscher Gewaltverherrlichung und Rechtsverachtung
350 Emile Boutroux, „L’Allemagne et la guerre“, in: Revue aus der Hermannsvergötterung bei Jacques Dampierre,
des deux mondes 23 (1914), 385–401. Englische Überset- German Imperialism and International Law, London
zungen erschienen unter dem Titel „Germany’s Civili- 1916, 26f. (franz. Original Paris 1915, amerikan. Aus-
sed Barbarism“, in: New York Times Current History of the gabe New York 1917) und Émile Hovelacque, The Deeper
European War 1 (1914), 160–169 bzw. „War and Sophi- Causes of the War, London 1916, 49–51 (franz. Original
stry“ in Boutrouxs Essaysammlung Philosophy & War, Paris 1915).
London u. New York 1916, 90–108. Vgl. auch zum Fol- 353 Camille Flammarion, „Germany always Ferocious and
genden Hanna (1996). Cruel in War“, Idaho Statesman vom 1. 6. 1915. Ähnlich
351 Boutroux, „Allemagne“, 163. Eine weitere Fassung die- lautet auch das Verdikt über Arminius und seine Nach-
ses Gedankens findet sich in Philosophy & War, 61. Vgl. fahren in Jules Toutain, Héros et Bandit. Vercingétorix et
auch die Wiedergabe von Boutrouxs Ideologiekritik der Arminius, Paris 1916. Zur symbolpolitischen Konkur-
German conception of the Teutonic idea im Lexington renz der beiden antiken Nationalhelden in Deutschland
Herald vom 16. 8. 1916. und Frankreich siehe Tacke (1995), Ungern-Sternberg
352 Siehe z.B. Louis Dimier, „Germanity and the Germans“ (2008) sowie C. de Gemeaux im vorliegenden Band.
in der New York Times vom 15. 4. 1915 und Eugene La- 354 Siehe hierzu Schramm (2007) 377ff.

372 HENNING HOLSTEN


With such a strain the primeval hairy ancestors of Arminius and William II. may have made the
Hercynian forest howl, punctuating the savage chant with drinks of mead from the skulls of
their enemies.355

Nachdem der uneingeschränkte deutsche U-Bootkrieg die Vereinigten Staaten im April 1917 zum
Kriegseintritt veranlasst hatte, sahen sich auch amerikanische Akademiker veranlasst, ihre Barden-
künste zu beweisen. So rief der ehemalige Leiter des German Department der University of Kansas,
William Herbert Carruth, seine Landsleute im Dezember 1917 in einem patriotischen Lied zur fröh-
lichen Wildschweinjagd im Teutoburger Wald auf:
… The boar the hardest is to tame of beasts that roam the field;
He can’t be trusted, even tamed, until his tusks are filed;
The lust of fight lays hold on him, how fat soe’er he’s stalled;
When he thinks of Saxon Hermann in the Teutoburger Wald.
… Let the lion roar, the panther yell, the Western eagle scream;
And all unite for lasting peace the racked earth to redeem;
When soon or late we have the Prussian terror overhauled;
We’ll pull his tusk and tame him in the Teutoburger Wald.356

Die Dämonisierung des Kriegsgegners als wilde Bestie aus den Wäldern, in denen man noch wenige
Jahre zuvor den Ursprung der eigenen Nationalität verortete, verdeutlicht das Ausmaß der Entwertung
der germanischen Freiheitstradition in den Propagandaschlachten des Weltkriegs. Der Teutoburger
Wald wurde von der Wiege der westlichen Zivilisation zur Brutstätte ihrer gef ährlichsten Feinde. Die
hinterlistige Überrumpelung und erbarmungslose Massakrierung der römischen Legionen wurde zum
Inbegriff der rücksichtslosen deutschen Kriegsführung.357 Aus dem panteutonischen Freiheitshelden
Arminius wurde der original Hindenburg, das Urbild des preußischen Militarismus.358 In einem Zei-
tungsartikel vom September 1918 wurde der gemeinsame Stammvater von Deutschen, Engländern und
Amerikanern schließlich zu Arminius the Hun, dessen Sieg über Varus die frühe Zivilisierung der deut-
schen Barbaren verhindert und damit den Keim zur Genese des modernen Weltkriegs gesetzt hatte:
if they could have conquered and colonized and governed Germany, that country might today
be in the civilized rank of France and England, and would have risen from iron barbarism cen-
turies earlier than it did. But this treacherous ambuscade and massacre satisfied Arminius’
bloodlust, and he made no efforts to establish a free and enlightened people, but kept on with
his wild forest and berserker career. Later the Hun was betrayed and murdered by his own
relatives. A true Hun trick and Hunnish ending of a lawless career.359

355 „Another Song of Hate“, New York Times vom 4. 8. 1915. Helden von Tannenberg mit den old Germans in the Teu-
356 „The Boar Hunt in Teutoburger Wald“, Kansas City Star toburg forest verglichen: His deeds, like theirs, will live until
vom 19. 12. 1917 (Nachdruck aus dem San Francisco Bul- the end of time, for they have impressed themselves upon the
letin). national consciousness as superhuman, and the lore of the
357 Siehe z.B. John Selden Wilmore, The Great Crime and its people has already woven a shimmer of legend above its hero –
Moral, London u. New York 1917, 265–267 und Samuel zitiert nach: „Sven Hedin on Hindenburg“, San Fran-
Turner, From War to Work, London 1918, der in der cisco Chronicle vom 30. 4. 1916.
Varusschlacht nicht nur den Ursprung von Germany’s 359 „Arminius, the Hun“, The State (Columbia) vom
method of warfare, sondern auch the beginnings of modern 8. 9. 1918. In Anlehnung an Walter Scotts Ruf nach
German Real-Politik verortet (96f.). einem new Arminius aus dem Jahr 1808 schließt der Ar-
358 Roland F. Andrews, „Battles which made the World. No. tikel: The ‚new Arminius‘, by the million, has come, and he
4 – Arminius’s Slaughter of the Romans“, Atlanta Con- has whetted his sword on the tombs of thousands of murdered
stitution vom 5. 8. 1917. In umgekehrter Wertung hatte Belgian and French women and children.
bereits 1916 der prodeutsche Schwede Sven Hedin den

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 373


Im Gegensatz zu Boutroux und anderen, die den Zivilisationsrückfall des deutschen Geistes aus einer
ideengeschichtlichen Fehlentwicklung des 19. Jahrhunderts zu erklären suchten, diagnostizierte die
Hunnenpropaganda keine Fehl-, sondern eine Nichtentwicklung der Deutschen seit ihren finsteren
germanischen Vorzeiten. It was not modern education which taught the Germans of Arminius their ferocity,
behauptete der englische Autor Samuel Turner: The German needed no education to teach him treachery
and brutality. They came to him naturally.360 Als Konsequenz aus den offenkundig barbarischen Zügen
des deutschen Nationalcharakters folgerte selbst ein liberaler Freidenker wie der britische Parlamenta-
rier John Mackinnon Robertson,

that Germans in the State-aggregate are at the moral level of Arminius; and that if European
civilisation is to be saved or secured it will only be by rendering Germany impotent for further
evil.361

Auch in der angelsächsischen Historikerzunft beschleunigte der Weltkrieg die Ablösung von den eins-
tigen deutschen Vorbildern. Zwar war man im Allgemeinen weit davon entfernt, die rhetorischen
Exzesse der Hunnenhysterie zu unterstützen, doch war man deutlich bemüht, die lange gepriesenen
teutonischen Wurzeln der modernen Zivilisation herunterzuspielen. Die noch bis zum Kriegsausbruch
übliche Bedeutungsaufladung der Varusschlacht als one of the world’s decisive conflicts wurde nun offen in
Frage gestellt.362
In einer vielbeachteten Studie unternahmen 1915 die amerikanischen Althistoriker William Old-
father und Howard Canter den Versuch, to destroy a certain glamour which has been attributed to an early
period of German history.363 Mit Hilfe akribischer Quellenkritik und Kategorien der modernen Militär-
strategie argumentieren sie, dass die Schlacht im Teutoburger Wald alles andere als eine weltgeschicht-
liche Entscheidungsschlacht, sondern nur ein unbedeutendes Scharmützel an einer unsicheren Front-
linie zwischen dem römischem Imperium und den umliegenden barbarischen Stämmen gewesen
sei.364 Weder hätte Augustus die Absicht gehabt, Germanien zu erobern, noch wäre es den unter Armi-
nius geeinten Stämmen möglich gewesen, eine solche Eroberung zu verhindern, hätten die Römer sie
ernsthaft angestrebt. Ohne dem Cheruskerfürsten seinen Heroismus zu bestreiten, weisen Oldfather
und Canter nüchtern darauf hin, dass Arminius seinen Sieg über Varus allein seiner Überlistung des
arglosen und unerfahrenen römischen Generals verdanke und in den darauf folgenden Jahren dreimal
von Germanicus besiegt worden sei. Auch wenn die Autoren den Verdacht einer antideutschen Motiva-
tion weit von sich weisen,365 so zeigen die kontroversen Rezensionen von deutscher und englischer
Seite doch, wie sehr diese fulminante Mythenzertrümmerung als ein längst überf älliger Befreiungs-

360 Samuel Turner, From War to Work, London 1918, 96f. 226–236. Anlass für diese Radikalkritik waren die Über-
361 John M. Robertson, The Germans. I. The Teutonic Gospel höhungen der Hermannsschlacht anlässlich der 1900-
of Race. II. The old Germany and the new, London 1916, Jahrfeiern 1909, die in Deutschland stark von alldeut-
278. Zu Arminius’ treacherous ambuscade for which Ger- schen und völkischen Gruppen dominiert wurden.
man fatuity has raised him a modern monument siehe 102. 364 Dabei konnten sie sich auf kritische Studien europäi-
Zu Robertsons germanophiler Bildungsgeschichte siehe scher Koryphäen stützen, die bereits Jahre zuvor grund-
Dekkers (1998). sätzliche Zweifel an der Creasy-These geäußert hatten –
362 Hutton Webster, Ancient History, Boston, New York u. siehe Eduard Meyer, „Kaiser Augustus“, in: Historische
Chicago 1913, 443. Siehe auch Library of Universal His- Zeitschrift 91 (1903), 385–431 und Guglielmo Ferrero,
tory and Popular Science, hg. v. George Edwin Rines, The Greatness and Decline of Rome, Bd. 5, London 1909,
Bd. 4, New York u. Chicago 1910, 1389. 325f. (italien. Original Mailand 1902–1907).
363 William Abbott Oldfather u. Howard Vernon Canter, The 365 Oldfather u. Canter, Defeat, vi. Insb. Oldfather, der erst
Defeat of Varus and the German Frontier Policy of Augustus, 1908 in München promoviert worden war, galt als aus-
Chicago 1915, vi. Vgl. auch William Abbott Oldfather, gesprochen germanophil. Siehe zur Biographie Solberg
„The Varus Episode“, in: Classical Journal 11 (1916), (2004).

374 HENNING HOLSTEN


schlag gegenüber den Hegemonialansprüchen von deutscher Wissenschaft und teutonistischer Schule
empfunden wurde.366
Nach Ende des Krieges waren die Dogmen der germanischen Kontinuitätslehre in den englisch-
sprachigen Ländern weitgehend wissenschaftlich überholt und politisch diskreditiert.367 Während die
Identifikationsfigur Arminius the Anglo-Saxon aus der historischen Erinnerung gelöscht wurde, erlebte
das Feindbild Hermann the German jedoch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges noch einmal eine Wie-
derauferstehung, als angelsächsische Historiker, Politiker und Publizisten begannen, sich mit den his-
torischen Wurzeln des Nationalsozialismus zu beschäftigen.
Der mit der Machtübernahme Hitlers einhergehende Boom der deutschen Arminius-Literatur
wurde von englischen und amerikanischen Rezensenten zunächst eher zurückhaltend bewertet.368 Die
Übertragung des faschistischen Führerkultes auf den ‚ersten Deutschen‘, die im Überschwang der sieg-
reichen ‚nationalen Revolution‘ obskure völkische Schriftsteller wie Hjalmar Kutzleb und angesehe-
nene Universitätshistoriker wie Ernst Kornemann gleichermaßen vollzogen, wurde abgeklärt bis sar-
kastisch kommentiert.369 Most of what has been written upon this topic by generations of misguided
enthusiasts is just rubbish, urteilte 1935 der noch junge Ronald Syme über Kornemanns Arminius-Studie,
ein Jahr nachdem er selbst in der Cambridge Ancient History ein betont nüchternes Bild des germani-
schen Helden gezeichnet hatte.370 Auf einen Streit um das Erbe der germanischen Tradition wollten
sich die angelsächsischen Historiker offenbar nicht noch einmal einlassen.
Dies änderte sich schlagartig, als der deutsche Überfall auf Polen im September 1939 Europa er-
neut in ein Schlachtfeld verwandelte. Auf der Suche nach den Ursprüngen der deutschen Aggression
gelangten insbesondere britische Konservative schon bald auf den durch die Propaganda des Great
War vertrauten Pfaden in den Morast des Teutoburger Waldes. So konstatierte der Militärhistoriker
John Fuller in seiner Schlachtensammlung Decisive Battles, einem aktualisierten Remake des Creasy-
Klassikers, dass es ohne den germanischen Sieg über Varus zwar vermutlich keine englische Nation,
aber auch kein Franco-German problem geben würde: There would have been no Charlemagne, no
Louis XIV., no Napoleon, no Sedan, no World War.371 Als Ausgangspunkt dieser dunklen Genealogie be-
kam die Varusschlacht erneut den Nimbus eines weltgeschichtlichen Entscheidungskampfes, dessen
Folgen bis in die Gegenwart zu spüren waren. Anders als bei Arnold und Creasy galten jedoch nicht
mehr Freiheit und Zivilisation, sondern Krieg und Gewaltherrschaft als Wesensmerkmale des germa-
nischen Erbes. Aus der Fortschritts- wurde eine Verhängnisgeschichte.

366 Vgl. die positive bis euphorische Resonanz im English 370 Ronald Syme, Rezension Kornemann (s.o.), in: Journal
Historical Review 30 (1915), 745f., Classical Weekly 10 of Roman Studies 25 (1935), 105 und The Cambridge An-
(1916), 47f., The Nation 102 (1916), 411f., Classical Philo- cient History, Bd. 10, Cambridge 1934, 374f. Mit seinem
logy 12 (1917), 105–107 und Political Science Quarterly 33 opus magnum The Roman Revolution, Oxford 1939,
(1918), 159 mit der totalen Ablehnung in den deutschen schuf Syme wenige Jahre später einen Klassiker der
Fachzeitschriften Neue Jahrbücher für das klassische Alter- Romgeschichtsschreibung, der den Aufstieg Octavians
tum 35 (1915), 673–678 und Historische Zeitschrift 115 zum Caesar Augustus mit deutlichen Anspielungen auf
(1916), 601–605. die Machtergreifung der faschistischen Bewegungen in
367 Vgl. Berger u. Lambert (2003), 79ff. Italien und Deutschland beschreibt.
368 Zur nationalsozialistischen Instrumentalisierung von 371 John Frederick Charles Fuller, Decisive Battles. Their In-
Germanenideologie und Hermannsmythos siehe Lund fluence upon History and Civilisation, Bd. 1, London 1939,
(1995) und Kösters (2009) 306–323. 103. Eine amerikanische Ausgabe erschien 1940 in New
369 Siehe Ernst Kornemann, Staaten, Völker, Männer. Aus der York. In der Neuauflage von 1954 endet die zitierte Auf-
Geschichte des Altertums, Leipzig 1934, 117–150, rezen- zählung nicht mit Sedan und dem Weltkrieg, sondern
siert in Classical Philology 29 (1934), 354f., und Hjalmar mit Wilhelm II. und Hitler (I, 253).
Kutzleb, Der erste Deutsche. Roman Hermann des Cherus-
kers, Braunschweig u.a. 1934, rezensiert in Books Abroad
9 (1935), 322.

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 375


Breiter entfaltet wurde die schwarze Legende einer durch den Sieg des Barbaren Arminius einge-
leiteten weltgeschichtlichen Fehlentwicklung kurz darauf in der Kampfschrift Germany Rampant des
britischen Diplomaten Ernest Hambloch. In historical perspective, heißt es dort bereits in der Einlei-
tung, German development appears as a perfectly logical sequence, from the dark days of Arminius to the sinis-
ter epoch of Hitler.372 Mit der römischen Niederlage im Teutoburger Wald sei die Chance vertan worden,
dem restless atavistic expansion-instinct der Germanen zivilisatorische Zügel anzulegen. Die Varus-
schlacht ist deshalb für Hambloch die dunkelste Stunde der deutschen Geschichte: The greatest disaster
that happened to Germany in the course of her history was the victory of the Gauleiter Arminius over the Ro-
man Consul Varus in the Westphalian forests.373 Der blutrünstige und hinterlistige Barbar Arminius wurde
in dieser Perspektive zum prototype of Nazism.374
Die These vom germanischen Protonazi Arminius erhielt schon bald prominente Unterstützer.
So meldete sich 1940 der britisch-amerikanische Fliegerheld Harold Evans Hartney mit einem militan-
ten Neuaufguss der Great War-Rhetorik aus dem Ruhestand zu Wort. Seit Arminius the Great die savage
Teutonic tribes zum Kampf gegen Rom einte, seien die Deutschen nicht nur als stupidest race on the face
of the earth in their dealings with other people, and with themselves bekannt, sondern auch als ständige
Bedrohung des Weltfriedens: The Germans have always been, are now and always will be the great disturbers
of the world.375 Historisch wurde diese These noch im selben Jahr in der Kampfschrift Germany the
Aggressor throughout the Ages des erzkonservativen Mediävisten Fossey Hearnshaw entwickelt. Mit Ver-
weis auf römische Quellen zeigt der ehemalige Präsident der britischen Historical Association, dass die
Deutschen schon zu Arminius’ Zeiten foul fighters und infidels with whom no binding agreements could be
made gewesen seien: Bottomless treachery as well as merciless ferocity marked all the race.376 In diesem ver-
schlagenen und brutalen germanischen Rassencharakter sieht Hearnshaw letztendlich die Wurzel der
modernen Gewaltpolitik Preußen-Deutschlands von Friedrich dem Großen bis Adolf Hitler:

Hitlerism is merely the revised, enlarged and more blatant version of the imperialism of
William II, the nationalism of Bismark, and the bandrity of Frederick the Great. It is, indeed,
only Prussianism in excelsis. And Prussianism … is only the essence of that unscrupulous
aggressiveness which has characterized the Teutonic denizens of Central Europe from time
immorial.377

Ihren Höhepunkt erreichte die geschichtspolitische Kriegspropaganda der Anti-Teutonisten Anfang


1941 mit der Veröffentlichung von Robert Vansittarts berüchtigtem Black Record, in dem der Chief Di-
plomatic Adviser der britischen Regierung ein vernichtendes Urteil über die gesamte deutsche Natio-
nalgeschichte f ällte.378 Nachdem Ausbruch und Verlauf des Krieges die unermüdlichen Warnungen des
strikten Appeasement-Gegners bestätigt hatten, erklärte der Führer der Hardliner im Foreign Office den

372 Ernest Hambloch, Germany Rampant. A Study in Econo- 377 Hearnshaw, Aggressor, 282.
mic Militarism, London 1939, 7. 378 Robert Gilbert Vansittart, Black Record. German Past and
373 Hambloch, Germany Rampant, 117. Present, London 1941. Grundlage des Textes ist eine
374 Hambloch, Germany Rampant, 70. Vgl. die ablehnende Serie von Rundfunkansprachen Vansittarts, die die BBC
Rezension im Journal of Political Economy 49 (1941), 951. im Spätherbst 1940 ausstrahlte und von der Sunday
375 Harold Evans Hartney, Up and at ’em, London 1940, 31 Times nachgedruckt wurde. Als Broschüre zusammen-
u. 299. gefasst, wurde sie 1941 in Millionenauflage verbreitet.
376 Fossey John Cobb Hearnshaw, Germany the Aggressor Siehe auch zum Folgenden Später (2003) und Wolbold
throughout the Ages, London 1940, 26 (zur Varusschlacht (2005) 105–164.
16f.). Zur Person und Weltanschaung Hearnshaws, der
schon im Ersten Weltkrieg als antideutscher Propagan-
dist tätig war, siehe Soffer (2009) 51–85.

376 HENNING HOLSTEN


Briten, warum sie nicht nur gegen Hitler, sondern gegen das deutsche Volk zu kämpfen hatten.379 Seit
den Tagen des Tacitus waren die Deutschen für Vansittart eine race of hooligans und Hitler deshalb
nichts anderes als the natural and continous product of a breed which from the dawn of history has been pre-
datory and bellicose.380 Tatsächlich sei nicht nur der aggressive Charakter, sondern sogar der Name der
größten deutschen Schurken derselbe geblieben:

It is worth noting that the first German national hero to make himself a name for treachery was
Hermann in the year nine. The centuries have rolled by and gave us Hermann Göring.381

Das Geschichtsbild des Black Record war nur wenige Monate nach der siegreich überstandenen Battle
of Britain in der englischen Öffentlichkeit ebenso populär wie umstritten. Gegen den Vansittartismus,
wie der neue Anti-Teutonismus schon bald getauft wurde, meldeten sich vorwiegend liberale und linke
Intellektuelle zu Wort, die Vansittart und seinen Anhängern grobe Vereinfachungen und antideutschen
Rassismus vorwarfen, weil sie die modernen Deutschen umstandslos mit den germanischen Barbaren
der Antike identifizierten.382 Selten waren hingegen Stimmen, die gegen das Zerrbild des ‚Nazis im
Teutoburger Wald‘ protestierten und auf das freiheitliche Erbe der common ancestors von Angelsachsen
und Deutschen hinwiesen.383 Während die Nationalsozialisten in England weiterhin eine ‚germanische
Insel‘ sahen und noch während des Krieges einen Verständigungsfrieden mit den stammverwandten
Angelsachsen anstrebten, diente der Verweis auf eine fortlebende germanische Tradition in Großbri-
tannien der Markierung des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Zivilisation und Barbarei, für
die man zwei Jahrzehnte zuvor noch das Etikett des asiatischen Hunnen gebraucht hatte.384

Resümee

Mit Vansittarts Behauptung einer Identität von Hermann dem Cherusker und Hermann Göring voll-
endete sich ein radikaler Umwertungsprozeß, der aus dem einstigen Vorbild des patriotischen Frei-
heitsretters schließlich das ultimative Feindbild des kriegslüsternen Urvaters der Nazibarbarei machte.
Projektionen waren beide Bilder, moderne Imaginationen eines idealisierten Eigenen bzw. eines dämo-
nisierten Anderen in einen vermeintlich reinen, von der Zivilisation noch unberührten Naturzustand.
Zwischen diesen beiden Polen eröffneten sich im Verlauf der zwei Jahrhunderte, über die diese Unter-
suchung die Konstanten und Transformationen des angelsächsischen Arminiusbildes verfolgt hat, eine
Fülle von literarischen Aneignungsmöglichkeiten und politischen Funktionalisierungen der germani-
schen Tradition und ihrer zentralen Symbolfigur.

379 Biographisch lässt sich Vansittarts antideutsche Grund- 383 Einzig der wenig bekannte Aubrey Edward Douglas-
haltung über die 30er Jahre und den Ersten Weltkrieg hi- Smith merkte an, Vansittart u. Co. begäben sich on dan-
naus bis in den Burenkrieg zurückverfolgen. Siehe gerous ground when they trace the vices of the German people
hierzu Rose (1978) 11. to the first Century A.D. or even B.C. For in doing so they are
380 Vansittart, Black Record, 16 u. 20. Vgl. auch Vansittarts really passing judgement on the common ancestors of Eng-
Rechtfertigung der Verwendung von Tacituszitaten zur lish, French, and German alike – Guilty Germans?, London
Charakterisierung der Deutschen im Dritten Reich in 1942, 26. Zu Arminius als Retter einer primordialen
Bones of Contention, London und New York 1945, 137ff. Freiheitsidee siehe 23f.
381 Vansittart, Black Record, 20. 384 Zur England-Perzeption des Dritten Reiches siehe
382 Siehe Später (2003) 136ff. Zur Debatte der deutschen Strobl (2000). Zum Verhältnis der asymmetrischen Ge-
Exilantenkreise über den Vansittartismus siehe Radkau genbegriffe Zivilisation und Barbarei siehe Koselleck
(1970). (1995).

ARMINIUS THE ANGLO-SAXON 377


Zwar hat der Nationalheld Arminius im englischen und amerikanischen Geschichtsbewusstsein
nie eine derartige Schlüsselrolle gespielt wie der deutsche Hermannsmythos im Nationalbewusstsein
der Deutschen. Doch zeigen die englischen Arminius-Dichtungen des 18. und 19. Jahrhunderts, die
wissenschaftlichen Werke der teutonistischen Historikerschule und ihrer Adepten beiderseits des
Atlantiks ebenso wie die Dämonisierungen der Weltkriegspropaganda des 20. Jahrhunderts, wie stark
auch in den angelsächsischen Ländern die von Tacitus überlieferte Gestalt des liberator Germaniae die
Imagination von Schriftstellern und Intellektuellen, von Wissenschaftlern und Journalisten, von Politi-
kern und Militärs zu fesseln und zu inspirieren vermochte.
Abgesehen vielleicht von den frühen Opern- und Dramenfassungen verweisen dabei die vielf ältigen
Adaptionen der Arminiusgeschichte auf den grundlegend kriegerischen Charakter ihrer Hauptperson.
Das Grundmotiv ist in der Regel die militärische Entscheidungssituation, die entweder mit der trium-
phalen Selbstbehauptung in der Varusschlacht, gelegentlich aber auch mit dem tragischen Scheitern im
innergermanischen Konflikt endet. Die Bedeutung des Sieges (oder des Scheiterns) des Helden für die
Gegenwart ist in der Regel verknüpft mit einem allgemeinen Geschichtskonstrukt, das die Schlacht im
Teutoburger Wald in einen mehr oder minder direkten Zusammenhang mit der germanischen Zerstö-
rung des römischen Reiches und der angelsächsischen Eroberung Britanniens setzt. Erst durch diese
kausale Verknüpfung erhält die Vernichtung der varianischen Legionen eine weltgeschichtliche Bedeu-
tung und wird Arminius zum Gründervater einer bis in die Gegenwart reichenden Tradition.
Eingeschrieben in diese Grundstruktur des historischen Mythos sind die Figuren des Todfeindes
und des Verräters. Kein Arminius ohne Varus oder Germanicus, ohne Segestes oder Flavus. Aus diesem
Spannungsverhältnis von wechselseitiger Vernichtungsdrohung und unsicheren Loyalitäten entfaltet
die Geschichte ihre Dramaturgie und auch ihre Moralität. Dabei ist durchaus nicht festgeschrieben,
dass der militärische auch der moralische Sieger ist. Die Täuschung des römischen Generals macht
Arminius einmal zum edlen Retter des (zukünftigen) Vaterlandes, ein andermal zum barbarischen Ver-
hinderer des zivilisatorischen Fortschritts. Genauso kann seine Ermordung durch die eigene Verwandt-
schaft als Bestrafung für den Verrat an den demokratischen Idealen der Stammesgemeinschaft oder als
Martyrium für die künftige nationale Einheit interpretiert werden.
In welcher Weise und mit welcher Wertung das mythische Narrativ entfaltet wird, hängt von den
zeitgebundenen politischen Absichten und moralischen Maßstäben der jeweiligen Interpreten ab. Spie-
geln die frühen Arminiuserzählungen zumeist den Konflikt zwischen guter und schlechter Regierung,
zwischen freiheitlicher Selbstbestimmung und despotischer Gewaltherrschaft wider, so tritt seit dem
Siebenjährigen Krieg der äußere Konflikt zwischen nationaler Unabhängigkeit und Fremdherrschaft in
den Vordergrund. Wichtig ist hier vor allem die Feindschaft gegenüber Frankreich, gegen das der anti-
imperiale Affekt mobilisiert wird. Postuliert der im 19. Jahrhundert zum Durchbruch kommende poli-
tische Teutonismus die Einheit von zivilisatorischem Fortschritt und nationaler Selbstbestimmung, so
deutet sich mit der Übertragung auf Kolonialkonflikte außerhalb Europas bereits ein Widerspruch zwi-
schen Zivilisierungsmission und Antiimperialismus an, der dann im Burenkrieg um die Jahrhundert-
wende offen zu Tage tritt.
Der Burenkrieg ist möglicherweise auch die entscheidende Wendemarke in der Zuspitzung eines
anderen Konfliktfeldes: dem Verhältnis der angelsächsischen Nationen zu Deutschland. Anfangs ge-
eint im Kampf gegen den gemeinsamen Feind Frankreich, dann zunehmend verbunden durch den
massiven Kulturtransfer deutscher Wissenschaft im 19. Jahrhundert, entsteht mit Bismarcks Reichs-
gründung erstmals eine potentielle machtpolitische Konfliktsituation zwischen den ‚teutonischen Bru-
dernationen‘. Mit der Eskalation dieses Machtkonflikts verliert die Berufung auf eine gemeinsame ger-

378 HENNING HOLSTEN


manische Tradition ihre grundlegende identitäts- und friedensstiftende Funktion. Arminius wird
schließlich zum Feindbild, zum Symbol des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen westlicher Zivili-
sation und deutscher Barbarei.
Spiegeln die angelsächsischen Varianten des politischen Germanismus damit nur die außenpoli-
tische Konfliktlage der genannten Großmächte oder präfigurieren sie die Wahrnehmung dieser Kon-
flikte auf eine Weise, die wiederum das politische Handeln beeinflusst? Wie stark folgen die englisch-
sprachigen Arminiuserzählungen deutschen Vorbildern? Dienen sie womöglich selbst der Bestätigung
etablierter oder sogar der Anregung neuer Hermannsbilder in Deutschland? In welchem Verhältnis ste-
hen dabei Literatur und Geschichtsschreibung – folgen die Poeten und Dramatiker den Interpretatio-
nen der Historiker oder inspiriert die Dichtung die Historie? Und welche Rolle spielen fremdsprach-
liche Übersetzungen im Kulturtransfer zwischen den Nationalliteraturen? Diese und ähnliche Fragen
nach den Wechselwirkungen zwischen den Mythenproduzenten und -rezipienten unterschiedlicher
Länder und Kulturen stellen sich in dem Moment, in dem man die eingetretenen Pfade der nationalen
Mythenforschung verlässt und sich nicht damit begnügt, in Hermann the German nur ein Problem der
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390 HENNING HOLSTEN
Wolfgang Beyrodt

„Steh auf, wenn du Armine bist …“


Ein kunsthistorischer Essay

Ungewöhnlich war er schon, Wilhelm Hansens Beitrag zum Katalog der Ausstellung des Westf älischen
Landesmuseums in Münster über ‚Das Malerische und Romantische Westfalen‘ von 1974/1975. Zu Be-
ginn des Jubiläumsjahres der 100-jährigen Wiederkehr der Fertigstellung von Ernst von Bandels Her-
mannsdenkmal hatte der damalige Leiter des Lippischen Landesmuseums in Detmold zwei „Fieberkur-
ven der Arminiusbegeisterung“ für den Zeitraum von 1700 bis 1950 erstellt, aus denen das jährliche
Aufkommen von relevanten Veröffentlichungen hervorgeht, und diese dann in einem lesenswerten
Essay kommentiert.
Die erste Graphik war der Literatur über Arminius, die Varusschlacht und das Hermannsdenkmal,
die zweite dem Thema der Behandlung des Cheruskers in Dichtung und Musik gewidmet. Wenig über-
raschend ist wohl das starke Ausschlagen beider Fieberkurven nach oben in Jubiläumsjahren. Eine Fort-
führung dieser Kurven von 1950 bis in die Gegenwart dürfte zu keinem anderen Resultat kommen.
Die Jubiläen des Denkmals (1975 und 2000, verbunden mit dem 200. Geburtstag von Bandel) und
vor allem der Varusschlacht (2009) führten gleichfalls zu einem beträchtlichen Anstieg von Veröffent-
lichungen der verschiedensten Art, zu denen vor allem die Resultate der Grabungen in Kalkriese
seit 1987 beigetragen haben. Auch als literarische Figur ist Arminius noch lebendig. Was in Hansens
Zusammenstellungen jedoch fehlt, sieht man von Publikationen zum Detmolder Denkmal ab, sind Be-
handlungen des Stoffs in den bildenden Künsten.
Die Ikonographie des Arminius wartet kunsthistorisch noch auf ihre Bearbeitung. Einen Schritt
in diese Richtung unternahm der innerhalb des Ausstellungszyklus ‚2000 Jahre Varusschlacht‘
erschienene Band Mythos mit seinen beiden Kapiteln „Arminius, ein deutscher Theaterheld“ und „Ein-
heitstraum und Gründungsmythos“. Hier sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit Gemälde und Zeich-
nungen mit diesbezüglichen Themen gesammelt. Auf einige von ihnen, die hier nicht erneut abgebil-
det werden sollen, sowie auf weitere Behandlungen dieses Motivkreises sei zurückgegriffen und dabei
versucht, den Wandel im Bilde des Arminius von Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722–1789) bis hin
zu Anselm Kiefers (*1945) zwischen 1976 und 1980 entstandenem Bildzyklus zu verfolgen.
Überlieferungen vom genauen Aussehen des Cheruskerfürsten fehlen. Das antike Rom des Augustus
und Varus dagegen war dem deutschen Klassizismus nicht fremd. Archäologisches Wissen etwa über Klei-
dung und Waffen hatte sich die damalige Historienmalerei erfolgreich zu eigen gemacht und damit Mo-
tive der antiken Mythologie und Geschichte im Sinn der Zeit authentisch darstellen können. Es ging ihr da-
bei aber nicht um die historisch getreue Wiedergabe eines Ereignisses wie der Varusschlacht. Interessant
und inspirierend war deren literarische Behandlung geworden; „Arminius, ein deutscher Theaterheld“
heißt es treffend im Detmolder Ausstellungskatalog Mythos von 2009. Nicht gezeigt werden konnten dort
die zwei künstlerisch bedeutendsten Behandlungen dieses Bildkreises, die großformatigen Gemälde Jo-
hann Heinrich Tischbeins d. Ä. Die Trophäen Hermanns nach seinem Sieg über Varus (285 × 435 cm) von 1772
und Angelika Kauffmanns (1741–1807) Hermann von Thusnelda gekrönt (154 × 216 cm) von 1785. Beide Bild-
findungen waren aber in kleineren Fassungen vertreten. Gründliche Studien über beide Hauptvertreter
des Klassizismus machten eine schlüssige Interpretation dieses Themenkreises möglich.

„STEH AUF, WENN DU ARMINE BIST …“ 391


Abb. 1 | Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722–1789), Die Trophäen Hermanns nach seinem Sieg über Varus, 1758.

Petra Tiegel-Hertfelder widmete in ihrer umfassenden Arbeit über den älteren J. H. Tischbein von 1996
dessen Behandlung des Hermann-Stoffes eine kluge Analyse. Ausgehend von dem sicheren Befund,
dass Tischbein das Motiv des siegreichen Cheruskerfürsten 1758 erstmalig (im Format 65 × 83 cm) ge-
staltet habe, fragt sie nach Unterschieden zu der späteren Fassung von 1772. Die Komposition beider Bil-
der ist nahezu identisch. Der siegreiche Feldherr steht – etwas isoliert von ihr – inmitten einer vielfigu-
rigen Gruppe vor einer (symbolträchtigen) Eiche. Die Bildidee ist offensichtlich der Schlussszene des
1743 veröffentlichten Dramas Hermann von Johann Elias Schlegel (1719–1749) entlehnt. Dieses Trauer-
spiel wird in Verbindung zu weiteren Texten der Zeit gesehen, die Arminius und die ihm zugeschriebe-
nen Tugenden wie Mut, Unbestechlichkeit und Milde zum Vorbild eines aufgeklärten und volksnahen
Regenten erhoben hatten. Auf die Aktualität solcher Vorstellungen zur Entstehungszeit des Gemäldes
während des Siebenjährigen Krieges wird zu Recht verwiesen und in der heute in Bad Pyrmont befind-
lichen und 2009 in Detmold gezeigten Erstfassung ein Ausdruck persönlicher Friedenssehnsucht des
Malers gesehen. Sicher ist dies spekulativ, aber sympathisch. Die monumentale Wiederholung von 1772
dagegen, die sich heute im Schloss Arolsen befindet, kann nur ein Auftrag des damaligen Fürsten Fried-
rich von Waldeck und Pyrmont (1743–1812) gewesen sein. Seine Züge sind in der Hauptfigur des Bildes,
in der des Arminius, identifizierbar und lassen es damit zum portrait d’histoire werden. Eine solche Deu-
tung wird durch dessen manifeste Affinität zu den Idealen der Aufklärung unterstützt. Zu ihnen zählen
etwa auch Kontakte zu Friedrich Gottlob Klopstock (1724–1803), dem in seinen Dichtungen wohl ein-
flussreichsten Propagandisten des Hermann-Stoffes neben Johann Elias Schlegel.

392 WOLFGANG BEYRODT


Abb. 2 | Angelika Kauffmann (1741–1807), Hermann von Thusnelda gekrönt, 1785. Das Bild ist von der Schlussszene von Klopstocks
Hermanns Schlacht inspiriert.

Auch Angelika Kauffmanns Behandlung des Hermann-Stoffes greift eine Szene aus einem Theater-
stück auf. An sie war in Rom im Dezember 1784 der ungewöhnliche Auftrag von Kaiser Joseph II.
(1748–1790) ergangen, für ihn zwei Bilder eigener Wahl auszuführen. Die Malerin entschied sich ein-
mal für ein Thema der antiken Mythologie, Pallas Evanders Sohn von Turnus getötet.1 Sodann wählte sie,
angeregt von Klopstocks Dichtung Hermanns Schlacht von 1769, die dem Kaiser gewidmet war, die dort
beschriebene Schlussszene der Krönung Hermanns durch seine Gattin Thusnelda. Mit diesem Stoff
hatte sich auch Tischbein wenig zuvor beschäftigt und sie in einem Gemälde, das sich heute im Hes-
sischen Landesmuseum Darmstadt befindet und auch in Detmold zu sehen war, behandelt. Beide
Gemälde unterscheiden sich aber beträchtlich: Die bei Tischbein wiedergegebene Szene erscheint als
ruhige Konversation eines sitzenden Paares, Angelika Kauffmanns Gemälde dagegen ist eine überaus
bewegte Darstellung voller Affekte der beteiligten Personen.
Vielleicht war die Malerin durch Klopstock, mit dem sie in den 1770er Jahren korrespondierte, über
Tischbeins Behandlungen des Hermann-Stoffes informiert. Künstlerisch beeinflusst hat sie dieser aber
sicher nicht. Erhalten ist Kauffmanns Bildpaar, das 1786 in Wien offensichtlich sehr positiv aufgenom-
men worden ist, nur in zwei Entwurfsskizzen im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck
(Format je 448 × 629 cm). Die endgültige Fassung des Bildpaares erlitt ein trauriges Schicksal. Auf Be-
fehl Hitlers war es 1944 von Wien nach Berlin überführt worden, wo es 1945 im Inferno des Kriegsen-

1 Der Stoff bei Verg. Aen. 11,60–80.

„STEH AUF, WENN DU ARMINE BIST …“ 393


des verbrannt sein soll. Angelika Kauffmanns Darstellung des triumphierenden Cheruskers war
ebenso wie Tischbeins Arolser Bild als Hommage für aufgeklärtes Regententum konzipiert. Vernichtet
wurde es durch die ideologische Inanspruchnahme, für den Endsieg und Triumph eines totalitären
Staates zu werben.
Eine Umwertung erfuhr der Hermann-Stoff im frühen 19. Jahrhundert. Hierzu trug Heinrich von
Kleists (1777–1811) Drama Die Hermannsschlacht, 1808 vollendet, aber erst 1821 veröffentlicht, bei. Es
ließ den Titelhelden zur Symbolfigur des Widerstandes gegen die Truppen Napoleons werden. Der sich
in den Freiheitskriegen ausbildende Nationalgedanke hatte eine Personifikation gefunden. Wohl pro-
minentestes Beispiel, dieser Vorstellung künstlerisch Ausdruck zu verleihen, war seit 1838 Ernst von
Bandels Unternehmung der Errichtung des Hermannsdenkmals. Aber auch die Historienmalerei des
Vormärz widmete sich der Gestalt des Arminius.
„Einheitstraum und Gründungsmythos“ ist das zweite Kapitel des Detmolder Katalogs betitelt, das
sich mit der bildlichen Darstellung des Hermann-Stoffes befasst. Aufgeführt ist hier eine Arbeit von Pe-
ter Janssen d. Ä. (1844–1908), die für das Krefelder Rathaus zwischen 1870 und 1873, also nach der
Reichsgründung, ausgeführt worden ist. Das gezeigte Gemälde, Thusnelda im Triumphzug des Germani-
cus, war Teil eines insgesamt neun Szenen aus dem Leben des Arminius umfassenden Zyklus, der den
Sitzungssaal schmückte. Die rechtzeitige Auslagerung der Bilder aus dem dann 1943 zerstörten Rat-
haus verhinderte deren Vernichtung.
Über den Auftrag und die Ausführung der in Wachsfarben auf Leinwand gemalten Gemälde infor-
miert Dietrich Bieber in seiner Studie über Peter Janssen als Historienmaler von 1979. Hier wird deutlich,
dass Janssens Bildprogramm auch in der Tradition der einflussreichen Düsseldorfer Historienmalerei
zu sehen ist, für die ein Diktum Jakob Burckhardts (1818–1897) aus dem Jahr 1842 gilt: „[F]ürs erste ge-
nügt es nicht, eine Geschichte gehabt zu haben. Man muss eine Geschichte, ein öffentliches Leben mit
leben können, um eine Geschichtsmalerei zu schaffen.“2 Der Hermann-Stoff nun war auch in Düssel-
dorf lebendig. Erinnert sei hier an ein weiteres Drama, an Christian Dietrich Grabbes (1801–1836) Her-
mannsschlacht von 1838, die im Umkreis des dort lebenden Karl Immermann (1796–1840) entstanden
ist. Janssen nennt sodann Beispiele für die dort erfolgten Bearbeitungen des Hermann-Stoffes, die auf
den jährlichen Berliner Akademieausstellungen gezeigt wurden.
Als Vorbild für Janssen hervorgehoben wird Josef Fays (1813–1875) Mitarbeit am Freskenfries für
das Elberfelder Rathaus, der zwischen 1841 und 1844 entstand und Motive der engeren und weiteren lo-
kalen Geschichte des Bergischen Landes zum Thema hatte, aber schon 1867 zerstört worden ist. Fays
Beitrag, von dem keine Abbildungen überliefert sind, war dem Thema „Geschichts- und Lebensbilder
des germanischen Volkes bis zur Schlacht im Teutoburger Wald“ gewidmet und zeigte u.a. den Sieg über
Varus, der sich selbst den Tod gibt. Vor dem Hintergrund der Rheinkrise mit Frankreich von 1840, die ein
beträchtliches öffentliches Echo hatte, kam einer solchen Szene ein hohes propagandistisches Potential
zu, Geschichte wurde tatsächlich ‚mit erlebt‘. Und dies scheint auch Janssen für seinen Krefelder Zy-
klus im Rückblick auf die Reichsgründung von 1871 beansprucht zu haben, für den der Sinnspruch auf
dem Schwert von Bandels Hermannsdenkmal sinngemäß ebenfalls gelten kann: „Deutsche Einheit
meine Stärke, meine Stärke Deutschlands Macht.

2 Jakob Burckhardt, „Bericht über die Kunstausstellung


zu Berlin im Herbste 1842“, Kunstblatt 24/4 (1843), 13–15,
hier 15.

394 WOLFGANG BEYRODT


Abb. 3 | Peter Janssen d. Ä. (1844–1908), Thusnelda im Triumphzug des Germanicus, entstanden zwischen 1870 u. 1873.

„STEH AUF, WENN DU ARMINE BIST …“ 395


Abb. 4 | Carl Theodor von Piloty (1826–1886), Thusnelda im Triumphzug des Germanicus, 1873.

396 WOLFGANG BEYRODT


399 „STEH AUF, WENN DU ARMINE BIST …“ 397
Interessant ist der Vergleich von Janssens Krefelder Bild mit Carl Theodor von Pilotys (1826–1886)
gleichnamigem Monumentalwerk in der Münchener Neuen Pinakothek (Öl auf Leinwand, Format 490
× 710 cm), das zumindest für die Zeitgenossen zweifellos zu den Hauptwerken der deutschen Histo-
rienmalerei des 19. Jahrhunderts zählte. Nach längeren Vorarbeiten war 1869 der offizielle Auftrag des
bayerischen Königs an Piloty ergangen, dieses Gemälde auszuführen, um es als deutschen Beitrag auf
der Wiener Weltausstellung von 1873 zeigen zu können. Dass Janssen die Komposition des älteren Kol-
legen während seines Aufenthalts in München 1869 kennengelernt hat, darf sicher angenommen wer-
den. Kompositorische Übernahmen sind zu eindeutig. Dennoch wurde zu Recht auf die unterschiedli-
chen Konzepte hingewiesen, die mit beiden Gemälden verfolgt wurden. Carl von Piloty ist, wie Claudia
Steinhardt-Hirsch 2003 überzeugend gezeigt hat, stark geprägt von der Aufführungspraxis des zeitge-
nössischen Theaters. Wie damalige Bühnen sei auch der Maler intensiv um historische Authentizität in
Kostüm und Ausstattung bemüht. Seine Ambitionen seien aber weitergehend. Ihn hätten Persönlich-
keiten, die sich vor der Folie ihrer Zeit als ,tragische Helden‘ präsentierten, fasziniert. Pilotys Thusnelda
sei nicht als Opfer zu verstehen, sondern vielmehr als historische Person mit moralisch klar umrisse-
nen Konturen, die an der Korruptheit ihrer Zeit gescheitert sei. Als politischer Appell sei Pilotys ‚Histo-
rie‘ daher nicht vorrangig zu verstehen.
Arminius als Bildgegenstand kann aber auch ein Thema sein, das sich einer Deutung mit Hilfe von
literarischen Quellen und historischen Bezügen entzieht und letztlich rätselhaft bleibt. Dies trifft für
zwei Gemälde von Caspar David Friedrich (1774–1840) zu. Die Fassung in der Hamburger Kunsthalle
trägt den seltsamen Titel Grabmale alter Helden, Gräber gefallener Freiheitskrieger, Grab des Arminius (For-
mat 49,3 × 69,8 cm), der einer Besprechung des Bildes von 1812 entlehnt ist. Sie soll im Zentrum der
folgenden Überlegungen stehen. Thematisch eng verwandt mit diesem Bild ist ein weiteres in der Bre-
mer Kunsthalle mit dem Titel Grabmale alter Helden, Grab des Arminius, Felsental in fast identischem
Format. Das Bremer Bild ist seit 1945 schwer beschädigt, beide Bilder sind auf das Jahr 1812, also in die
Zeit unmittelbar vor den Freiheitskriegen, datiert.
Auf den ersten Blick handelt es sich bei der Hamburger Version um eine reine Landschaftsdarstel-
lung. Der Betrachter nimmt eine Felsschlucht wahr, die sich in ihrer Mitte zu einer Höhle öffnet. Der
Vordergrund weist eine spärliche Vegetation auf. Die Landschaft zeigt keinen Himmel. Auf den zweiten
Blick entdeckt man jedoch Zeugnisse menschlichen Wirkens. Man erkennt umgestürzte Grabsteine
oder einen frisch aufgestellten Obelisken. Und endlich identifiziert man auch zwei menschliche Gestal-
ten in Rückensicht vor der Höhle in der Bildmitte. Das Gemälde ist mit verschiedenen Inschriften ver-
sehen, die nicht ganz leicht zu lesen sind. Sie lauten: auf dem eingestürzten Grabdenkmal im Vorder-
grund in goldenen Buchstaben „Arminius“, auf dem Sarkophag links: „Friede Deiner Gruft – Retter in
Noth“, auf dem Obelisken über den gekreuzten Schwertern: „G.A.F.“ (oder G.A.T.), am Sockel: „Edler
Jüngling Vaterlandserretter“, auf dem Sarkophag rechts: „Des edel Gefallenen fuer Freiheit und Recht.
F.A.K.“ (oder T.A.K.). Bislang ist es noch nicht gelungen, die hier verwandten Initialen aufzulösen.
Wahrscheinlich nehmen sie mit den sie jeweils begleitenden Sentenzen Bezug auf Gefallene im Kampf
gegen Napoleon. Die ausdrückliche Erwähnung des Arminius, verbunden mit der Grußformel „Friede
Deiner Gruft – Retter in Noth“, irritiert, denn sie beinhaltet keinen unmittelbaren Zeitbezug, wie sie die
ehemals auf der Bremer Fassung befindliche Inschrift enthielt, die lautete: „Deine Treue und Unüber-
windlichkeit als Krieger sey uns immer ein Vorbild.“
Die Interpreten des Bildes haben überwiegend dessen patriotischen Charakter betont. Dies
schließt aber keineswegs den Rückgriff auf christliche Symbolik aus. Das offene Grab etwa im Zentrum
des Bildes mit den zwei Gestalten davor, in denen französische Soldaten erkannt wurden, lässt assozia-

„STEH AUF, WENN DU ARMINE BIST …“ 399


Abb. 5 | Caspar David Friedrich (1774–1840), Grabmale alter Helden, Gräber gefallener Freiheitskrieger, Grab des Arminius, 1812.

tiv in der Tat an Christi Auferstehung denken und gibt den Begriffen „Friede“ und „Retter“ eine zusätz-
liche Sinnschicht. Auch die ikonographische Deutung des gezeigten Landschaftsausschnitts und der da
wachsenden Vegetation mag eine derartige Interpretation unterstützen. Die Einbindung des Hermann-
Stoffes in eine solche Sehweise bleibt jedoch rätselhaft.
Der Blick auf Caspar David Friedrich hat die Chronologie gesprengt, in der die Behandlung des Mo-
tivs des Arminius in der deutschen Malerei bisher geschildert wurde. Hierfür kann ein sehr gravieren-
der Grund ins Feld geführt werden. Mit dem Gemälde Varus (Format 200 × 270 cm, Stedelijk Van Ab-
bemuseum, Eindhoven)3 griff Anselm Kiefer 1976 das Thema jener legendären Schlacht im Jahr
9 n. Chr. wieder auf und machte es zum Gegenstand einer zwischen 1976 und 1980 entstandenen
Werkgruppe. Zweifellos ist Kiefer ein profunder Kenner der deutschen Geschichte, Literatur und Kunst.
Dennoch ist es nicht wahrscheinlich, dass ihm Mitte der 1970er Jahre die malerische Ahnenreihe sei-
ner damaligen Arbeiten zum Thema der Varus-Schlacht bekannt war. Sicher wird er 1975 vom 100-jäh-
rigen Jubiläum der Fertigstellung des Hermannsdenkmals bei Detmold gehört haben. Doch war dies
nach eigener Erinnerung wohl eher ein Ereignis von regionaler Bedeutung. Ungleich anregender
könnte für Kiefer dagegen ein Besuch der im Herbst 1974 von der Hamburger Kunsthalle in ihrem Aus-
stellungszyklus ‚Kunst um 1800‘ veranstalteten Ausstellung über Caspar David Friedrich gewesen sein.
Hier waren erstmalig dessen Werke aus Museen der damaligen DDR und der Sowjetunion gemeinsam

3 Ansicht des Gemäldes siehe Titelvorblatt des Bandes.

400 WOLFGANG BEYRODT


mit solchen aus Sammlungen der Bundesrepublik zu sehen. Man sprach zu Recht von einem gesamt-
deutschen Kunstereignis ersten Rangs. Und es scheint so, als ob sich Kiefer damals wirklich mit den
Bildfindungen Friedrichs befasst habe, dessen Name bereits in den Heroischen Sinnbildern von 1969 so-
wie danach in Deutschlands Geisteshelden von 1973 berücksichtigt ist
Sabine Schütz etwa machte 1999 in ihrer Studie Anselm Kiefer – Geschichte als Material auf den Vor-
bildcharakter von Friedrichs Chasseur im Walde (Format 65,7 × 46,7 cm, Bielefelder Privatbesitz) für das
Varus-Bild von 1976 aufmerksam. Dies ist insofern interessant, als der Chasseur in der Ausstellung in
unmittelbarer Nähe zu den etwa gleichzeitig entstandenen beiden oben besprochenen Bildern hing.
Dies mag ein kleines Indiz dafür sein, dass Kiefer Friedrichs eher unauff ällige Nennung des Arminius
registriert und Interesse an einer eigenen Gestaltung dieses Themenkomplexes entwickelt haben
könnte. Zu fragen ist weiterhin, ob ihm Friedrichs Vorgehen der Erinnerung und des Dankes an zwei
anonyme Gefallene, verbunden mit dem Gruß an Arminius, inspiriert hat, das Opfer der Schlacht, den
römischen Militär Quinctilius Varus, und nicht dessen Besieger, den Cheruskerfürsten Arminius, zum
Ausgangspunkt seiner Komposition zu machen. Kiefer vollzieht hier einen radikalen Bruch mit der bis-
herigen Bildtradition, die in seinem Varus zumindest mit der Nennung der Dramatiker Klopstock, von
Kleist und Grabbe als Symbolfiguren deutscher Geschichte präsent ist. Kiefer versucht, das historische
Ereignis in einer neuen Sichtweise vorzustellen, die nicht mehr nur den triumphierenden Sieger in den
Vordergrund stellt.

Literatur

Angelika Kauffmann (1998) Mythos (2009)


Angelika Kaufmann (Katalog zur Austellung des Kunst- 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos (Katalog zur Aus-
museum in Düsseldorf, 15. November 1998 – 24. Ja- stellung des Landschaftsverbandes Lippe in Detmold,
nuar 1999, des Hauses der Kunst in München, 5. Fe- 16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart.
bruar – 18. April 1999 u. des Bündner Kunstmuseums
in Chur, 8. Mai – 11. Juli 1999), Ostfildern-Ruit. Schütz (1999)
Sabine Schütz, Anselm Kiefer, Geschichte als Material.
Bieber (1979) Arbeiten 1969–1983, Köln.
Dietrich Bieber, Peter Janssen als Historienmaler. Zur
Düsseldorfer Malerei des späten 19. Jahrhunderts, Bonn. Steinhardt-Hirsch (2003)
Claudia Steinhardt-Hirsch, „Thusnelda im Triumph-
Börsch-Supan u. Jähnig (1973) zug des Germanicus“, in: Großer Auftritt. Piloty und
Helmut Börsch-Supan u. Karl-Wilhelm Jähnig, Caspar die Historienmalerei (Publikation zur Ausstellung der
David Friedrich – Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Neuen Pinakothek in München, 4. April – 27. Juli
Zeichnungen, München. 2003), Köln, S. 319–349.

Hansen (1974) Tiegel-Hertfelder (1996)


Wilhelm Hansen, „Fieberkurven der Arminiusbegeis- Petra Tiegel-Hertfelder, „Historie war sein Fach“.
terung. Das Hermannsdenkmal und seine Folgen“, in: Mythologie und Geschichte im Werk J. H. Tischbeins d. Ä.
Bernard Korzus (Hg.), Das malerische und romantische (1722–1789), Worms.
Westfalen. Aspekte eines Buches, Münster, 211–218.

„STEH AUF, WENN DU ARMINE BIST …“ 401


402 WOLFGANG BEYRODT
Christine de Gemeaux

Arminius, Ambiorix und Vercingetorix aus französischer Perspektive


‚Kleine Heimat‘ versus Imperium in Geschichtsschreibung und Comics

Nicht die historischen Persönlichkeiten von Arminius, Ambiorix und Vercingetorix sollen im folgenden
im Mittelpunkt stehen, sondern aus französischer Perspektive deren kulturelle und politische Bedeutung
in der Geschichtsschreibung und in einschlägigen comics vergleichend betrachtet werden. Die Unter-
suchung der représentations1 als mentale Modelle, als vererbte Vorstellungswelt der Nationen soll hier
über das Geschichtsverständnis, das kulturgeschichtliche Bewusstsein und den jeweiligen politischen
Hintergrund Aufschluss geben. Der Fokus wird auf die zeitgebundene Stilisierung der drei mythisier-
ten Feldherren gerichtet, wobei Vercingetorix im Vordergrund stehen wird.
Drei besonders bedeutsame Merkmale sind hervorzuheben. 1.) Das Augenmerk auf die Schlachten
gegen den römischen Gegner: Sie sind Erinnerungsorte, lieux de mémoire im Sinne von Pierre Nora,
d.h. „Augenblicke der Geschichte, die der Bewegung der Geschichte entrissen wurden, ihr aber zurück-
gegeben werden“.2 In der Gallia Belgica fand die erste Schlacht bei Atuataca, heute Tongern, 15 km nörd-
lich von Lüttich, am 21. Oktober 54 statt. Der eburonische König Ambiorix hatte sich gegen die römi-
sche Fremdherrschaft aufgelehnt. Atuataca ist der deutschen und französischen Öffentlichkeit weniger
bekannt. Die weiteren Schauplätze sind Gergovia in der Auvergne, wo die römischen Legionen im April
52 vor Chr. besiegt wurden, und Alesia in Burgund, wo den Galliern im September 52 v. Chr. die ent-
scheidende Niederlage bereitet wurde, sowie die nicht mit letzter Gewissheit verortbare Varusschlacht
(heute wird Kalkriese favorisiert). Alle vier Schlachten gelten seit dem 19. Jahrhundert als militärische
Gründungsakte des nationalen Widerstands und der Nation. So nimmt es nicht Wunder, wenn die eu-
ropäische Forschung diese drei letztgenannten Orte in einen Zusammenhang bringt3. Auf französi-
scher Seite räumt das Werk Noras Alesia4 einen besonderen Platz ein. Die Schlacht wird zwischen
den beiden wichtigsten Erinnerungsorten Lascaux5 und Vézelay6 auf ihre représentations hin analysiert:
Alesia mit der darauf folgenden Integration Galliens ins Römische Reich sei ein Wendepunkt der
Nationalgeschichte: ein magischer Ort, an dem sich die Lust der Franzosen nach Geschichte verankere.7
In der Hauptstadt der Auvergne, nicht weit vom Schlachtfeld Gergovia, sei diese ‚Lust‘ ebenfalls anzu-
treffen.8 In dem Asterix-Band Asterix und der Arvernerschild wird dies veranschaulicht, indem Alesia und
Gergovia dargestellt werden; in Asterix bei den Belgiern rühmt sich der gallische Chef ständig, bei der
Schlacht von Gergovia gekämpft zu haben. Was den deutschen Erinnerungsort angeht, gilt die Varus-

1 Unter représentations werden im Anschluss an Emile 3 Reddé u. von Schnurbein (2008).


Durkheim und in der Verwendung von George Duby, 4 Buchsenschutz u. Schnapp (1992).
Philippe Ariès oder Pierre Bourdieu Darstellungen ver- 5 Höhle im französischen Département Dordogne, die
standen, die dabei helfen, die Wirklichkeit zu interpre- einige der ältesten bekannten Wandmalereien der
tieren und zu konstruieren, die bei der Orientierung Menschheitsgeschichte enthält. In Paris sind eine Me-
z.B. im Benehmen helfen, die das Identitätsgefühl her- trostation Alésia, die rue d’Alésia, rue de Gergovie und
auskristallisieren und sinnstiftend wirken. S. zu den rue Vercingétorix im vierzehnten Arrondissement anzu-
verschiedenen Horizonten des Begriffs und zum Kon- treffen.
zept die Ausführungen von Marie-Odile Martin Sanchez 6 Berühmte mittelalterliche Abtei in der Region Burgund.
in: http://www.serpsy.org/formation_debat/mariodile_5. 7 Un espace où s’investit le désir d’histoire des Français (Buch-
html (letzter Zugriff 25. 1. 2012). senschutz u. Schnapp [1992] 273).
2 Nora (1992). Für Deutschland s. François u. Schulze 8 Dort befindet sich ein Boulevard Gergovia mit Sitz der
(2001). Fakultät für Geisteswissenschaften.

ARMINIUS, AMBIORIX UND VERCINGETORIX AUS FRANZÖSISCHER PERSPEKTIVE 403


Abb. 1 | Reiterstandbild des
Vercingetorix von Frédéric-
Auguste Bartholdi auf der Place de
Jaude in Clermont-Ferrand.

schlacht seit dem 19. Jahrhundert als Gründungsakt der deutschen Nation.9 Auf deutscher Seite sind im
Vorfeld des Jubiläums und im Jahr 2009 selbst zahlreiche Untersuchungen über die Varusschlacht,
ihre Rezeption und ihre Bedeutung als nationaler Gründungsakt erschienen. Rainer Wiegels zufolge
sind Alesia in Frankreich und der Teutoburger Wald in Deutschland „beide durch die damit verknüpf-
ten Ereignisse in den Protagonisten Vercingetorix und Arminius/Hermann personalisiert und seit der
Denkmalkultur im 19. Jahrhundert … monumentalisiert.“10
2.) Neben den Schlachten und ihren Schauplätzen sorgen Denkmäler für die Bündelung und Zu-
spitzung von représentations. Die Helden sollten im 19. Jahrhundert als symbolisch-personifizierter Aus-
druck des Nationalbewusstseins monumentalisiert werden.11 Deutschland (Arminius) und Frankreich
(Vercingetorix) haben in dieser Hinsicht offen rivalisiert: Zuerst wurde das Standbild des Arminius er-
richtet, dann wurde der Plan zu einem monumentalen Vercingetorix-Denkmal auf dem Hochplateau
von Gergovia nach dem Vorbild des Detmolder Hermannsdenkmals entworfen. Schließlich entstand
ein Reiterstandbild im Zentrum von Clermont-Ferrand auf der Place de Jaude.
In Alesia wurde ein weiteres, von Napoleon III. gestiftetes Denkmal errichtet: Es stellt einen sin-
nenden, besiegten Vercingetorix mit nach unten gerichtetem Schwert dar.
Doch tut in Frankreich die Niederlage seinem Ruhm keinen Abbruch. Dasselbe gilt für den besieg-
ten Ambiorix. In der belgischen Stadt Tongern befindet sich das stolze Standbild des lokalen Helden,
ein Standbild, mit dem die comic-Figur Asterix größte Ähnlichkeit aufweist.
3.) Seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich eine „Geschichte in Bildern“,12 die bis zu den heuti-
gen comics reicht und wesentlich dazu beitrug, nationale Identitäten zu prägen. Zeugnis davon liefert
eine rege Tradition, die in Frankreich um 1820 mit Illustrationen in Reise- oder Geschichtsbüchern be-
ginnt – beispielsweise mit dem Vercingetorix-Bildnis in den Voyages pittoresques de l’ancienne France, den

9 Le Bohec (2008) 35: Depuis longtemps, les Allemands se 10 Wiegels (2008) 28.
sont passionnés pour la ‚bataille‘ du Teutoburg, qui constitue 11 Tacke (1995).
pour eux un acte fondateur de leur nation. Vgl. auch K. Kö- 12 Goudineau (2008) 54 (histoire en images).
sters im vorliegenden Band.

404 CHRISTINE DE GEMEAUX


Abb. 2 | Standbild des Vercingetorix von Aimé Millet in Alesia.

ARMINIUS, AMBIORIX UND VERCINGETORIX AUS FRANZÖSISCHER PERSPEKTIVE 405


Abb. 3 | Standbild des Ambiorix
von Jules Bertin in Tongern.

Radierungen in der Histoire de France von Henri Martin und in dessen Histoire populaire sowie in sei-
nem Vercingétorix-Buch13 wie ferner in dem erstmals 1877 und bis in die Gegenwart immer wieder auf-
gelegten populären Schulbuch Le Tour de France par deux enfants:14 Vor dem Hintergrund des Kampfes
um die Provinzen Elsass und Lothringen war die Zeit zwischen 1870 und 1914 aus patriotischen Grün-
den an Bildern der gallischen bzw. germanischen/deutschen Vergangenheit besonders reich. Im
20. Jahrhundert lösten sich dann die Bilder immer mehr vom Text ab und begannen autonome Ge-
schichten zu bilden. Das neue Genre der Bandes dessinées wurde in der Jugendkultur Frankreichs zum
Erfolg.15 Es hob die gallische Vergangenheit in den Asterix-Bänden hervor, wobei ein Band sogar Tour de
France betitelt ist.

13 Henri Martin (mit Paul Lacroix), Histoire de France, tions France Loisirs, Paris 2006). Pierre Nora hat es in
19 Bde., Paris 1837–1854; ders., Histoire de France popu- seine Lieux de mémoire aufgenommen. S. hierzu Stenzel
laire depuis les Temps les plus reculés, Paris 1867–1865; (2012) und die Düsseldorfer Studienarbeit von Röders
ders., Vercingétorix, Paris 1865. (2005).
14 Das didaktische Schulbuch von G. Bruno (Pseudonym 15 Die offizielle Eröffnung 2009 in der Stadt Angoulêmes
von Augustine Fouillée als Verweis auf Giordano Bruno) eines ‚Musée de la bande dessinée‘, das mit dem jähr-
wurde 1877 in Paris aufgelegt. Es erreichte die beein- lichen ‚Festival‘ eine Einheit bildet, bestätigte die kultur-
druckende Auflage von beinahe neun Millionen Exem- geschichtliche Bedeutung der Gattung in Frankreich.
plaren und wurde zuletzt 2006 neu veröffentlicht (Édi-

406 CHRISTINE DE GEMEAUX


Stellen die Arminius-, Ambiorix- und Vercingetorixbilder antithetische oder konvergierende repré-
sentations dar? Kann man am Beispiel von Arminius, Ambiorix und Vercingetorix die Begriffe Integra-
tion und Widerstand im historischen Zusammenhang als Konflikt von Heimat und Imperium interpre-
tieren? Inwiefern kann von einer Aktualität der Nationalhelden gesprochen werden, und welche
Funktion erfüllen dabei die comics; entwickeln sie Neues, was besagen sie über die politische Gegen-
wart? Aus französischer Perspektive sei hier insbesondere an zwei bedeutende Historiker des 19. Jahr-
hunderts, an Louis-Philippe de Ségur16 und Numa Denis Fustel de Coulanges17 und an die aktuellen
wissenschaftlichen Arbeiten von Christian Goudineau18 und Yann Le Bohec, aber auch an die berühm-
ten Comicreihen Alix, Asterix und Bob et Bobette mit der Geschichte von Lambiorix roi des Éburons ange-
knüpft. Die Studien von Nicolas Rouvière19 und Benoît Peeters20 bilden die theoretische Grundlage der
comic-Analyse.

1. Antithetische oder konvergierende représentations?

Im 19. Jahrhundert entstand in Deutschland wie in Frankreich eine Geschichtsschreibung, die nicht
mehr der Geschichte von Dynastien verpflichtet war, sondern der Nationalgeschichte. Deutsche und
Franzosen begeisterten sich für die fernste Vergangenheit. Davon zeugen unzählige Zeitschriften,
mehr noch Romane und Theaterstücke, welche historischen Themen gewidmet sind. Es geht darum,
die Nation in einer weit zurückliegenden Vergangenheit zu verorten. So wird in beiden Ländern ein
Kontinuitätsparadigma konstruiert und – westlich des Rheins – die französische Nation als direkte Er-
bin der gallischen Völker dargestellt: „Frankreich ist das Kind, der Erbe Galliens. Gallisches Blut fließt
in den Adern der Franzosen … Dieses Blut erfüllt die Aufgabe, die Geschichte und Frankreich in einer
gewissen Anzahl von Helden zu verkörpern. Die Könige, die in dynastischer Ordnung aufeinander folg-
ten, werden von einer der am Aufbau und an der Einheit der Nation beteiligten Figuren ersetzt.“21
Bereits Ariovist, der 58 v. Chr. als Germanenkönig über den Rhein nach Gallien vordrang, wird im
Frankreich des 19. Jahrhunderts samt seinen Greueltaten als Paradigma für die germanische Gefahr
evoziert. Auch spätere „Kontakte“ mit östlichen Nachbarn konnten in einer ähnlichen Lesart dargestellt
werden. 22 In Asterix und die Goten, wo eine Auseinandersetzung zwischen Galliern und Germanen the-
matisiert wird, bereiten die preußisch-wilhelminische Pickelhauben tragenden Goten eine Invasion
Galliens vor. Sie werden als invasionsfreudig und militaristisch dargestellt. Demgegenüber wird in
Deutschland – insbesondere nach den napoleonischen Kriegen – Hermann/Arminius stets als Abwehr
gegen die ‚nach Osten lechzenden Franzosen‘ stilisiert. Vercingetorix und Arminius dienen zur ge-
genseitigen Abgrenzung. Die damalige Verehrung der Gallier in Frankreich bzw. der Germanen in

16 Graf Louis-Philippe de Ségur – pair de France und Mit- 21 Goudineau (2008) 54: La France est l’enfant, l’héritière de
glied der französischen Akademie – hat in seiner Hi- la Gaule. Le sang gaulois coule dans les veines des Fran-
stoire de France (1824) der gallischen Vergangenheit ein- çais …, c’est à lui que revient d’incarner l’histoire et la France
leuchtende Seiten gewidmet. en un certain nombre de héros. On remplace ces rois qui se
17 Fustel de Coulanges, Autor so einflussreicher Werke wie succédaient selon l’ordre dynastique par une des figures qui
La Cité antique (1864) und Histoire des institutions politi- ont œuvré à la constitution et à l’unité de la nation.
ques de l’ancienne France (1875–1891), war seinerzeit der 22 Ségur, Histoire, Introduction XIV: La Gaule pendant long-
berühmteste Historiker an der Sorbonne. temps plus tranquille, plus riche, plus florissante que l’Italie,
18 Goudineau (2001). la Gaule inondée par un torrent dévastateur de Goths, de
19 Rouvière (2006). Bourguignons, de Huns, d’Allemands, d’Alains et de Francs.
20 Peeters (2003).

ARMINIUS, AMBIORIX UND VERCINGETORIX AUS FRANZÖSISCHER PERSPEKTIVE 407


Deutschland ist als langwährendes spiegelbildliches Symptom zu verstehen: Gallomanie und Teutoma-
nie beruhen auf dem gleichen Empfinden.
Vor dem Hintergrund des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 fungieren die mythischen Hel-
den als nationale Schutzfiguren. In Hinblick auf die Konstruktion der Nation sollten sie antithetisch
dargestellt werden: In Deutschland beispielsweise galt Arminius als ‚Urdeutscher‘, Vercingetorix als
‚Welscher‘. „Das Reich, in welches wir eintreten“, schrieb 1871 mit Wilhelm Giesebrecht ein angesehe-
ner deutscher Historiker, „ist eine Schöpfung: in ihm ist nichts römisch: alles deutsch“.23 Herfried
Münkler zufolge musste sich das Deutsche Reich eine eigene ruhmreiche, auf Kontinuität mit dem
Heiligen Römischen Reich und den Germanen beruhende Vergangenheit konstruieren: Einerseits
sollte der deutschen Öffentlichkeit der Sieger Arminius in vollem Glanz gezeigt werden, andererseits
sollte der besiegte Vercingetorix die Schwäche und die dunkle Nostalgie der Franzosen darstellen. Das
deutsche Nationalgefühl war auf den siegreichen Arminius fokussiert, dessen Überlegenheit in
Deutschland unumstritten bleiben sollte: „Wenn man an das Schicksal Galliens und Spaniens, an die
durchgängige Widerstandsunf ähigkeit junger Völker gegen höhere Kulturstufen denkt, so ist kein
Zweifel: Indem Arminius das römische Heer vernichtete, hat er unsere Nationalität gerettet.“24 Mit der
historischen Entwicklung des deutschen Blickes auf Vercingetorix und des französischen auf Arminius
hat sich jüngst Jürgen von Ungern-Sternberg befasst. Er kommt zu dem Schluss, dass das Interesse an
Vercingetorix in Deutschland stets vorhanden gewesen sei, während sich französische Äußerungen
über Arminius seltener finden.25
Die französische Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert verfügte gleichwohl über positive Ar-
minius-Schilderungen: 1821 wird der Cherusker als ein junger Krieger beschrieben, der sich durch
seine erlauchte Abstammung, seine Stärke, seinen hohen Wuchs und seinen dreisten Mut auszeich-
net.26 Fustel de Coulanges, seit 1870 auch als Widersacher Theodor Mommsens in der Polemik über die
Rückeingliederung des Elsass in das Deutsche Reich bekannt,27 schrieb im zweiten Band seiner verbrei-
teten Geschichte der Institutionen des alten Frankreich (1875–1891) über „den ruhmvollen Arminius“: Der
Cherusker, Sohn des Segimer, stammte aus königlicher Familie. Er übernahm die Führung eines römi-
schen Bataillons in Dalmatien oder Armenien, erlernte die lateinische Sprache, studierte das römische
Recht und die römische Kultur, bis er nach Germanien zurückkehrte und als römischer Verbündeter
von Varus eine Verschwörung organisierte und die entscheidende Schlacht lieferte. Er wird in Deutsch-
land als strahlender Held dargestellt.
In Louis-Philippe de Ségurs Histoire de France28 und in Amédée Thierrys Histoire des Gaulois29 er-
scheint Vercingetorix am linken Rheinufer ebenfalls als strahlender junger Krieger, der ähnlich wie sein
germanisches Gegenbild ausgesehen haben soll. Er wird in die Ahnenreihe der französischen Helden
eingereiht, in die Gesellschaft von Jeanne d’Arc, Louis XI. und den Revolutionssoldaten von Valmy
(1792). Im Deutschland des 19. Jahrhunderts verbindet man seinerseits Arminius mit Luther, aber auch
mit Friedrich dem Großen und mit Wilhelm I. Die antiken Topoi der Rhetorik, die Gemeinplätze der

23 Wilhelm Giesebrecht, Leopold von Rankes Schüler und 27 S. L’Alsace doit-elle être allemande ou française? Lettre à
Autor der berühmten Geschichte der deutschen Kaiserzeit M. Mommsen, Fustel de Coulanges [von nun an, wie in
(1888). Frankreich üblich, kurz ‚Fustel‘ genannt], Paris, 27. Ok-
24 Ulrike Egelhaaf, zit. in: Münkler (2009) 166. tober 1870.
25 Von Ungern-Sternberg (2008). 28 Ségur, Histoire 190: L’Auvergne voyait alors briller parmi
26 Un jeune guerrier distingué par sa force, par sa haute sta- ses guerriers un jeune Gaulois, illustre par sa naissance, par
ture, par son illustre naissance et par son courage audacieux, son crédit, par sa bravoure et par son génie.
Louis-Philippe de Ségur, Histoire universelle ancienne et 29 Amédée Thierry, Histoire des Gaulois, 3 Bde., Paris
moderne, Bd. 5: Histoire romaine, Paris 1821, 479. 1828–1845.

408 CHRISTINE DE GEMEAUX


Heldenschilderung werden für alle drei Nationalhelden verwendet, insbesondere wird Vercingetorix’
Rede- und Überzeugungskraft hervorgehoben.30 Die Schilderung des Galliers folgt dabei der Darstellung
in Caesars De bello Gallico: Der mächtige Stamm der Arverner soll ruhmvoll gewesen sein. Vercingetorix’
Vater Celtill habe versucht, die Gallier zu einigen und den Königstitel für sich zu beanspruchen. Der Se-
nat seiner Geburtsstadt Gergovia habe ihm dafür die Todesstrafe auferlegt. Ungeachtet dessen visierte
sein Sohn Vercingetorix auch das Königtum an. Er sei deshalb aus Gergovia verwiesen worden, aber
schließlich wie Arminius in die Heimat zurückgekehrt. Dann sei es ihm gelungen, die einheimischen
Sippen um sich zu sammeln und Caesar sechs Monate lang zu trotzen. Das Motiv der Rückkehr spielt in
beiden Fällen eine zentrale Rolle; es verleiht der Geschichte den nötigen mythischen, beinahe schon hei-
lig-biblischen Zug. Vercingetorix’ Geschichte wird im Kinderbuch Le Tour de France par deux enfants,
dem Spiegelbild der Dritten Republik, laizistisch, aber in moralpädagogischer Absicht mythisch-patrio-
tisch vorgestellt: „Vor bald 2000 Jahren beschloss ein römischer General, der gern die ganze Welt
unterworfen hätte, Gallien zu erobern … Ein junger in der Auvergne geborener Gallier fasste den Ent-
schluss, die Römer vom heimatlichen Boden zu vertreiben … [Sie] nannten ihn Vercingetorix, was Chef
bedeutet.“31 Wie Arminius die germanischen Stämme gegen die römischen Legionen organisierte,
sollen es Vercingetorix und Ambiorix fertiggebracht haben, sich als chefs de guerre 32 bzw. Feldherren
durchzusetzen. Wie auch Le Bohec resümiert, beruhte die Macht des Römischen Reiches auf der Armee.
Nicht anders war es in Gallien und Germanien. Mit den chefs de guerre war in allen drei Fällen eine Dy-
namik der nationalen Entwicklung entstanden. Fustel kommt zu dem Schluss, dass Gallien gerade dank
des Kampfes gegen das römische Ausland zu einer großen Monarchie geworden sei, auch wenn es
schließlich unterliegen musste.33 Eine ‚Blut- und Eisenpolitik‘ gegen das Römische Reich stelle also
in der französischen, belgischen und deutschen Nation das auslösende Moment für die nationale Zu-
kunft dar.
Die Helden wurden jedoch unterschiedlich instrumentalisiert: Bei der großen Einweihung des
Reiterstandbildes in Clermont-Ferrand wurde Vercingetorix als reine Verkörperung der republikani-
schen Werte zelebriert. Mit ihm feierte die Dritte Republik das Ende des napoleonischen Empire sowie
die erwartete Revanche gegen das Deutsche Reich: Der republikanische Geist würde Elsass und Loth-
ringen zurückerobern. In Deutschland dagegen wurde Arminius/Hermann zur nationalen Stifterfigur,
zum Urbild des Deutschen, der alles Fremde, Welsche und – im antisemitischen Denken – auch Jüdi-
sche verhöhnen sollte.
Die Übereinstimmungen in den représentations sind dennoch signifikanter als die Unterschiede. Le
Bohec weist darauf hin, dass Arminius seit dem 19. Jahrhundert dieselbe Rolle im Selbstverständnis der
Deutschen gespielt hat wie in Frankreich Vercingetorix, dass er in den Schulbüchern vorkommt und
dass zwei deutsche Städte gewetteifert haben, um dem Helden ein Denkmal zu errichten.34 Vercinge-

30 Il parla si éloquemment de son projet à ses compagnons que 32 Le Bohec (2008) 23.
tous jurèrent de mourir plutôt que de subir le joug romain 33 Fustel de Coulanges, Histoire des institutions politiques de
(„Er sprach so beredt von seinem Plan mit seinen Leu- l’ancienne France [Paris 1875–1891], hg. v. Camille Jullian,
ten, dass alle schworen, sie würden eher sterben als 6 Bde., Brüssel 1964, hier Bd. 1: La Gaule romaine, 58–59.
sich dem römischen Joch zu beugen“), Bruno, Tour de 34 Le Bohec (2008) 30: Arminius a joué dans l’imaginaire des
France, 40. Allemands, depuis le XIXe siècle, le rôle qui a été dévolu en
31 Bruno, Tour de France, 39: Il y a bientôt deux mille ans, un France à Vercingétorix, à cette différence près que le Germain
grand général romain qui aurait voulu avoir le monde entier a réussi là où le Gaulois a échoué. Il fut et il reste présent
sous sa domination, résolut de conquérir la Gaule … Un dans tous les manuels scolaires d’outre-Rhin. Son impor-
jeune Gaulois né dans l’Auvergne résolut alors de chasser les tance fut telle que deux villes, Münster et Osnabrück se dis-
Romains hors du sol de la patrie … [Ils] lui donnèrent le titre putèrent le privilège de lui ériger une statue pour commémo-
de Vercingétorix, qui veut dire chef. rer sa victoire.

ARMINIUS, AMBIORIX UND VERCINGETORIX AUS FRANZÖSISCHER PERSPEKTIVE 409


torix, Ambiorix und Arminius sind keine antithetischen, sondern konvergierende, tragisch stilisierte Fi-
guren, die die Heimat bis zuletzt gegen das Imperium verteidigten und eine Selbstglorifizierung der
Nation ermöglichten. Sie weisen ähnlich strukturierte Formen der représentations auf, die auf die Topoi
des Heldentums in der lateinischen Rhetorik und auf die mentalen Modelle der Widerstands- und
Vaterfiguren gegründet sind.
In den Karikaturen und in den comics erscheinen die représentations in einem leicht unterschied-
lichen, manchmal gar in einem neuen, vielsagenden Licht. Denn comics können Zeugnis von den tra-
dierten Geschichten ablegen: le plus petit (ici la bande dessinée) peut porter témoignage du plus grand (ici la
grande histoire).35 Die Varianz der représentations in den französischen und belgischen comics soll hier –
wenn auch nur kurz – betrachtet werden.
In Belgien halten illustrierte Kinderbücher die Erinnerung an Ambiorix wach. Der Belgier Jacques
Martin veröffentlichte seit 1948 eine comics-Reihe, welche die Geschichte eines jungen mutigen Gallo-
Romanen namens Alix erzählt. Ein Alix-Band ist den Germanen, ein anderer Vercingetorix gewidmet,36
und die Reihe Bob et Bobette räumt Ambiorix aus der Provinz Gallia Belgica einen zentralen Platz ein,37
wobei in der Einleitung festgestellt wird, Caesar sei 54 v. Chr. „von den Belgiern, den furchtlosen Kelten
mit deutschem Blut, in Schach gehalten worden“.38
In Frankreich stellt Asterix den Höhepunkt einer hintergründigen représentation der gallischen Ver-
gangenheit dar. Die Forschung ist sich darin einig, dass Asterix eine besonders gelungene literarische
Form der comics darstellt, in der zumal der Text eine entscheidende Rolle spielt. Der Autor René Gos-
cinny jongliert mit Wortspielen39 und wirft mit den Bewohnern des kleinen gallischen Dorfes die aktu-
elle Frage auf: Integration der Heimat in das fortschrittliche Reich oder Widerstand gegen das Weltim-
perium?

2. Widerstand gegen Rom oder Integration in das Römische Reich?

Camille Jullian, der große Vercingetorix-Kenner,40 betonte bereits zur vorletzten Jahrhundertwende,
dass Vercingetorix der erste französische Widerstandskämpfer gewesen sei. Er sieht in dem Ausdruck
‚gallische Heimat‘ das Schicksal von Vercingetorix und sein Lebenswerk treffend zusammengefasst:
Der Arverner sei aus Liebe zur Heimat gestorben. Durch Caesar selbst werde nahegelegt, dass Vercin-
getorix keinen anderen Grund für sein Handeln gehabt habe als den Patriotismus.41 Dasselbe wird von
anderen Autoren für Ambiorix und Arminius behauptet. Diese Interpretation überwiegt auch in den
comics. Ambiorix, Vercingetorix und Arminius finden sich in vergleichbarer Situation wieder: Die Heimat
wird gedemütigt, organisierter Widerstand tut not. Entsetzt über die Überheblichkeit und Grausamkeit
der Römer, bereiten die drei ‚Barbaren‘ den Partisanenkampf vor. Die List wird zu ihrer ersten Waffe.

35 Pascal Ory, in: Rouvière (2006) XIII. 40 S. Camille Jullians Artikel „Vercingétorix“, in: La Revue
36 Jacques Martin, Vercingétorix, Tournai 1985. de Paris, 1. April 1901. Dieses Werk wurde zu einem gro-
37 Willy Vandersteen, Lambiorix roi des Éburons [zuerst nie- ßen Editionserfolg. Als Fustels Schüler gab er dessen
derländisch 1950, französisch 1954], in: ders., Bob et Bo- Histoire des institutions heraus.
bette, Anvers 1987, 1–58. 41 En définitive, c’est bien par ce mot de patrie gauloise qu’il
38 Vandersteen, Lambiorix, 4: L’histoire commence en l’an 54 faut résumer la rapide existence de Vercingétorix, son carac-
avant Jésus-Christ, à l’époque où Jules César, le général ro- tère et même son œuvre. S’il a combattu, et s’il est mort, c’est
main le mieux connu des écoliers était tenu en échec par les uniquement par amour pour cette patrie. Jules César ne
Belges! Vous savez bien, ces Celtes avec du sang germain qui nous laisse jamais supposer dans les actes de Vercingétorix
n’avaient peur de rien. un autre mobile que le patriotisme, Jullian, „Vercingéto-
39 Peeters (2003) 115 u. 150. rix“, 636.

410 CHRISTINE DE GEMEAUX


Abb. 4 | Umschlag des Alix-Bandes Vercingétorix.

ARMINIUS, AMBIORIX UND VERCINGETORIX AUS FRANZÖSISCHER PERSPEKTIVE 411


Ambiorix gelingt es, die Römer von einem kurz bevorstehenden Angriff der Germanen zu über-
zeugen. Die Legionen ziehen sich deshalb nach dem Südwesten der Provinz zurück. Am 21. Oktober 54
tauchen aber plötzlich Ambiorix’ Truppen auf. Wie bei der Varusschlacht greifen sie in der Moorland-
schaft eines engen Tals die römischen Legionen an, die sie – wie später die Germanen Varus’ Soldaten –
vernichten. Caesar schildert den Eburonen als hervorragenden, aber skrupellosen Taktiker. Amédée
Thierry konstatiert: Das Vorbild des Ambiorix und der Eburonen 54 v. Chr. habe die Gallier gelehrt, dass
auch unterworfene Völker in der List eine letzte unfehlbare Abhilfe finden können. Das Motiv des legi-
timen Verrats der Heimat zuliebe ist den drei Helden gemeinsam. Ambiorix, Arminius und Vercinge-
torix sind der Allianz mit Rom untreu geworden.42 Der als römischer Soldat ausgebildete Germane
flößt dem Feind Varus Vertrauen ein, um ihn schließlich in den gut vorbereiteten Hinterhalt des saltus
Teutoburgiensis zu locken.
Nach dem Sieg in Gergovia im April 52 muss Vercingetorix fünf Monate später in Alesia kapitulie-
ren. Der Legende nach beendet er den Kampf am 27. September 52 und opfert seine Freiheit und sein
Leben für die gallischen Völker. Camille Jullian liefert in seinem Vercingétorix eine eindrucksvolle Re-
konstruktion der Ereignisse, in der der Held einen großen moralischen Sieg feiert. Auch in Asterix wer-
den diese Umstände geschildert.43 Die heutige Forschung bestreitet die Idee eines noch bewaffneten
Vercingetorix, der vor Caesar erschienen ist.44 Caesar erscheint immer als gnadenloser Feldherr, der
den besiegten Gallier in Ketten legt, ihn, wie damals üblich, für seinen Triumphzug zunächst am Leben
und dann hinrichten lässt: Vercingetorix wird im römischen Kerker erwürgt. Die besiegten eburoni-
schen Horden des Ambiorix sollen vom rachsüchtigen Imperator ebenfalls grausam behandelt worden
sein. Drei Jahre lang dauerte der römische Rachefeldzug, wobei das eburonische Stammesgebiet völlig
verheert wurde. Der Eburonen-Führer wurde von den Legionen verfolgt, er verschwand in den Wäldern
und soll jenseits des Rheins bei den Germanen Unterschlupf gefunden haben.45 Der unbesiegte Armi-
nius bildet die Ausnahme, er kehrt in die Heimat zurück, wird aber von den eigenen Verwandten ver-
raten und ermordet.
Der Widerstand wird in allen Erzählungen hervorgehoben, während der imperiale Gedanke in der
französischen Politik des zweiten Empire – wie auch im deutschen Kaiserreich – überwiegt. In Erinne-
rung und Anlehnung an die erste napoleonische Zeit plädiert Kaiser Napoleon III. pro domo für die poli-
tischen und kulturellen Vorteile der pax Romana. Aus diesem Grund erklärt sich sein Interesse für Cae-
sar46 und für Alesia, wo Vercingetorix beinahe als Sieger aus der Schlacht hervorgegangen wäre. Er habe
bis zuletzt tapfer gekämpft, ohne die einheimische Ehre zu verletzen, und durch seine Kapitulation die
Integration Galliens ins Römische Reich ermöglicht. Der späteren französischen Zivilisation sei da-
durch der Weg geebnet worden. Die damaligen französischen Berufshistoriker betonen die positiven
Aspekte des imperialen Sieges. Mit Roms Hilfe habe Gallien bzw. Frankreich die politische und die re-
ligiöse Freiheit und damit die Stabilität gewonnen. Von den Quellen ausgehend,47 stellt Fustel lange vor
der École des Annales seine Perspektive unter das Zeichen der longue durée und meint, dass nicht die eth-

42 Was Vercingetorix betrifft, s. Fustel, Histoire I, 58 44 S. Goudineau (2001) 325.


43 Leider war es nicht möglich, die Rechte zum Abdruck 45 S. auch die künstlerische Verarbeitung in Romanform
der berühmten Szene aus Asterix der Gallier zu erhalten durch Régis Bournier: Le roman d’un Gaulois d’Arduen,
(der Verlag geht mit seinen Preziosen äußerst zurück- wurde letztlich im Jahr 2000 veröffentlicht.
haltend um, und eine Veröffentlichung hätte jeglichen 46 Napoleon III. veröffentlichte 1862 eine zweibändige Hi-
Kostenrahmen gesprengt), in der Vercingetorix seine stoire de Jules César.
Waffen nicht etwa dem Sieger zu Füßen legt, sondern 47 Strabo, Tacitus und besonders stark Caesars De bello Gal-
sie diesem mit Wucht und schmerzhafter Konsequenz lico.
auf die Füße schleudert.

412 CHRISTINE DE GEMEAUX


nographischen Theorien, sondern die Anziehungskraft der römischen Institutionen, die Überlegenheit
der römischen Kultur und Disziplin die positive Romanisierung Galliens erklären.48 Fustel bilanziert,
daß die Franzosen zwar keine Römer seien, sich aber vor Jahrhunderten im Geist zu Römern gemacht
hätten und durch die französische Geschichte hindurch im Geist freiwillig Römer geblieben seien.49
Gallien habe sich nach Alesia für Rom, wie später das Elsass für Paris und Frankreich, entschieden, weil
es hier seinen langfristigen Vorteil gesehen habe.50
Auf deutscher Seite wird die germanomane Literatur von seriösen wissenschaftlichen Erkenntnis-
sen kaum beeinflusst, obwohl ein bedeutender Historiker wie Theodor Mommsen in der Römischen Ge-
schichte die zivilisatorische Überlegenheit der römischen Nation anerkennt.51 Arminius und die Varus-
schlacht seien ohne große Bedeutung geblieben, auch wenn mit ihnen der erste gemeinschaftliche
Ansturm auf das Römische Reich verbunden sei. Die römische Politik hätte Mommsen zufolge früher
oder später eingesehen, dass „die Unterwerfung und Behauptung der Gebiete zwischen dem Rhein und
der Elbe die Kräfte des Reiches zu übersteigen schien“.52 Die Geschichte Deutschlands beginne erst mit
Karl dem Großen, wie die Geschichte Frankreichs erst mit den Merowingern anfange.
Mommsen und Fustel werten die Nationalhelden als Epiphänomene, als Begleiterscheinungen der
historischen Entwicklung, die in Europa über das Imperium zur Zivilisation geführt hätten; man finde
nach Fustel in Gallien keine Indizien dafür, dass die Völker dem Imperium je feindselig gesonnen ge-
wesen seien.53 Fustel betont demgegenüber die Unf ähigkeit der Gallier, die Einheit von selbst herbei-
zuführen: „Die Gallier … bildeten keine Nation: Sie hatten weder eine politische noch eine ethnische
Einheit. Sie besaßen weder Institutionen, noch politische Sitten, die wesentlich dazu beigetragen hät-
ten, aus ihnen einen Organismus zu bilden. Sie bestanden aus rund 60 Völkern, die kein Bund, keine
Obrigkeit und auch nicht der deutliche Gedanke eines gemeinsamen Vaterlandes einte. Die einzige
Form von Patriotismus, die sie im Stande waren zu erkennen, war die Liebe zum kleinen Staat, von dem
jeder unter ihnen ein Teil war.“54 In diesem Urteil ist bedeutsamerweise von der Liebe zum „kleinen
Staat“ bzw. zur ,kleinen Heimat‘ die Rede, ein Aspekt, der vor allem in den comics betont wird.

48 La supériorité de la civilisation romaine et de sa discipline, traire étonné du peu d’efforts qu’il leur a fallu faire pour éta-
Fustel, Histoire I, 47. blir le gouvernement le plus absolu et en même temps le plus
49 Nous ne sommes pas de race latine, mais nous sommes solide que l’Europe eut jamais eu („Man hat den römischen
d’esprit latin … Nous nous sommes faits latins il y a dix-huit Kaisern eine sehr weise Politik und eine sehr geschickte
siècles; nous sommes restés latins pendant toute notre histoire Verwaltung zugeschrieben. Geht man aber auf die Sa-
(leçon 6, 118–119). che näher ein, so staunt man im Gegenteil darüber, wie
50 Ils ont aimé l’empire parce qu’ils ont trouvé intérêt et profit à wenig sie sich bemühen mussten, um die absoluteste
l’aimer, Fustel, Histoire I, 173; parallel zum Streit um das und festeste Regierung zu etablieren, die Europa jemals
Elsass argumentiert der Historiker mit einem anderen gehabt hatte“).
Nationalitätskriterium als dem der Sprache, wie dies 54 Fustel, Histoire I, 50–51: Les Gaulois n’étaient pas … une
seine deutschen Widerparte, etwa Mommsen, taten. nation: ils n’avaient pas plus l’unité politique que l’unité de
51 Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 5: Die Pro- race. Ils ne possédaient pas un système d’institutions et de
vinzen von Caesar bis Diocletian, 5. Aufl., Berlin 1904, mœurs publiques qui fût de nature à former d’eux un seul
44–45. corps. Ils étaient environ soixante peuples que n’unissait ni
52 Mommsen, Römische Geschichte V, 51. un lien fédéral, ni une autorité supérieure, ni même l’idée
53 Fustel, Histoire I, 169. S. auch 172: On a attribué aux em- nettement conçue d’une commune patrie. La seule espèce de
pereurs romains une politique très savante et une admini- patriotisme qu’ils pussent connaître était l’amour du petit
stration fort habile. A voir de près les choses, on est au con- État dont chacun d’entre eux faisait partie.

ARMINIUS, AMBIORIX UND VERCINGETORIX AUS FRANZÖSISCHER PERSPEKTIVE 413


3. Der Mythos und die ‚kleine Heimat‘ der comics

In den comics, seien es Asterix, Alix oder Lambiorix, König der Eburonen, geht es nie darum, eine Nation
zu bilden, sondern ein nicht-römisches Land – die gallische, gallisch-belgische oder germanische Hei-
mat – für sich zu bewahren. Der Ausdruck ‚kleine Heimat‘55 ist hier von besonderer Relevanz. Er nimmt
Bezug auf den Geburtsort, auf die Region, auf die Orte, an denen man lebt, Familie und Freunde hat:
„Auf der einen Seite ein lokales, primitives Milieu, das von seinen Erinnerungen und Sitten lebt. Auf
der anderen Seite ein modernes Reich, ein globales System, das das Territorium einteilt, den Raum ord-
net, ihn verwaltet; eine Kultur, die die Zeit archiviert und Geschichte erzeugt.“56 Die kleine Heimat ist
das lokal verwurzelte Milieu, das um Selbständigkeit und Ehre gegen die Zentralmacht, hier das Impe-
rium, kämpft.
Der Cartoonist Jacques Martin verfolgt mit der Fiktion der Rückkehr von Vercingetorix nach
Gallien denselben Gedanken. Er variiert Vercingetorix’ Geschichte: In Rom will Pompeius Caesars
Triumph mit dem gefangenen Vercingetorix verhindern. Er lässt den Gallier aus dem Gef ängnis fliehen
und beauftragt Alix, den gallischen Helden in die Heimat zurückzubegleiten. Sie landen in Massilia
(Marseille) und begeben sich nach vielen Abenteuern in das Land der Arverner. Bald beginnt aber deren
Verfolgung durch Caesars Truppen. In Gergovia angekommen, reitet nun Vercingetorix mit seinem
Sohn Edorix und seiner Frau Ollovia durch die dichten gallischen Wälder seinem geheimen Ziel entge-
gen: Alesia. In den Ruinen des oppidum gräbt er seinen Helm und sein Schwert aus. Als Anführer der
besiegten Heimat soll er jetzt die gallische Niederlage rückgängig machen. Die Römer umzingeln die
Gallier. Caesar beschließt, Vercingetorix’ Sohn – wie einst Astyanax in Troja – vor den Eltern, Alix und
den versammelten Galliern umbringen zu lassen. Wenig später entkleidet Vercingetorix seinen Ober-
körper, er bewaffnet sich und stürzt sich auf das römische Lager und auf Caesars Zelt. Er schwingt das
Schwert gegen den Imperator, wird aber im letzten Augenblick von hinten erstochen und stirbt. Bei
dem späteren Triumphzug in Rom ist Caesar gezwungen, einen anonymen Gefangenen als Vercinge-
torix auszugeben. Das letzte Bild des comics zeigt Vercingetorix’ Freunde, als sie aus Rom abziehen und
sich über die zukünftigen Generationen unterhalten. Ihre letzten Worte lauten: „die Treuen, die uns be-
grüßen, werden sich Deiner, Vercingetorix, erinnern“. Die vorbildhafte Geschichte der zurückeroberten
Ehre verweist auf die Möglichkeit eines zukünftigen Sieges über das feindliche Reich. Bekräftigt wird
die Vorstellung, dass die Verteidigung der kleinen Welt der Gallier – und der Germanen – das höchste
Ziel bleibt.
In Lambiorix – König der Eburonen erzählt Willy Vandersteen von dem Kampf des Ambiorix ge-
gen Caesar, wobei er den König ausdrücklich als ‚belgische‘ Vaterfigur und die ‚alten Belgier‘ als rauf-
und streitlustige, ja leidenschaftliche Würfelspieler und Bierbrüder präsentiert. Während Ambiorix’
Feldzug gegen die Römer hören die Belgier keine Minute auf zu zanken und um die Macht zu kämp-
fen. Analog beginnt auch der Band Asterix bei den Belgiern mit einer allgemeinen Prügelei. Es geht
wiederum um die gallische Ehre, denn Caesar habe befunden, dass von allen gallischen Stämmen die
Belgier am tapfersten seien (was aus De bello Gallico entlehnt ist). Bei Vandersteen ist der Gegenwarts-

55 Der Ausdruck ‚Die kleine Heimat‘ wurde letztlich für 56 Rouvière (2006) 5: D’un côté, un milieu local, primitif, qui
eine Tagung des französischen Germanistenverbands vit de sa mémoire et de ses coutumes. De l’autre un empire
zum Thema gewählt, s. Heimat. La petite patrie dans les moderne, un système global qui quadrille un territoire,
pays de langue allemande, Grenoble, Publications du l’aménage et l’administre, une culture qui archive le temps et
CEERAC, coll. Chroniques allemandes, Nr. 3, 2009. fabrique de l’histoire.

414 CHRISTINE DE GEMEAUX


Abb. 5 | Der Bob et Bobette-Band Lambiorix roi des Éburons.

bezug besonders eklatant:57 Durch einen Zauber werden im Jahre 1973 die Kinder Bob und Bobette
sowie ihre Tante Sidonie in die gallisch-belgische Vergangenheit versetzt. Die Kontinuität der belgi-
schen Identität wird betont: Bob gilt als Ambiorix’ Nachwuchs in der 69. Generation! Bob, Bobette und
Sidonie helfen, geordnete Zustände in der Gallia Belgica zu sichern, bis der besiegte König in die Hei-
mat der Eburonen zurückkehrt. Das Schlusswort lautet: „Unter den kleinen Belgiern herrscht Einver-
ständnis.“58
Die ‚kleine Heimat‘ der comics hat letztlich mehr mit der Verteidigung einer Utopie – im Sinne von
Bernhard Schlink59 – als mit einer Glorifizierung der Nation oder einem gesteigert nationalistischen
Denken zu tun. Denn entgegen einer Parole von Philippe Pétain, wonach die Liebe zur kleinen Heimat
der Liebe zur großen Heimat keinen Abbruch täte, sondern sie noch verstärke,60 zeugen in den comics
alle nicht-römischen Feldherren von einem gegen das Imperium gerichteten Widerstandsgeist und von
einem Patriotismus, der nicht aggressiv ist.
In den comic-Reihen stellt dagegen Rom den Inbegriff des gigantischen, multikulturellen Reichs
dar. Rom wird oft als Chiffre für die Vereinigten Staaten, aber auch für Deutschland zwischen 1871 und
1945 verwendet: das Europa bedrohende Deutsche Reich. In Asterix und die Goten wird das wilhelmini-
sche Reich klischeehaft parodiert. Die Belgier bedienen sich ebenfalls der Parodie. In Lambiorix lässt
Autor Vandersteen zum Beispiel vor Lambiorix’ Angriff die römischen Soldaten singen: „Wir trocknen

57 Die Hinweise auf die Gegenwart sind zahlreich: So ist 60 Philippe Pétain, Qu’est-ce que la Révolution Nationale?,
zum Beispiel von der Grippe oder von der Arbeitslosig- secrétariat général à la jeunesse, direction de la propa-
keit die Rede, Vandersteen, Lambiorix, 57. gande, 1942, Archives du Mémorial de Caen, FQ72, zit.
58 Entre petits Belges, on se comprend vite, Vandersteen, Lam- in: Christophe Pecout, Les Chantiers de la jeunesse et la
biorix, 57. revitalisation physique et morale de la jeunesse française
59 Schlink (2000). (1940–1944), Paris 2007, 109.

ARMINIUS, AMBIORIX UND VERCINGETORIX AUS FRANZÖSISCHER PERSPEKTIVE 415


bald unsere Wäsche an der Vercingetorix-Linie“ – eine Anspielung auf das in den 1940er Jahren popu-
läre Lied über die Siegfried-Linie.61
In den 1960er Jahren inszeniert Asterix den Geist des französischen Widerstands. Das politische
System, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris entsteht, wird von Charles de Gaulle auf das Bild des
ewig Widerstand leistenden Frankreich, auf das Erbe der Résistance gegründet. Gegenüber Minister
Alain Peyrefitte soll de Gaulle geäußert haben: „Vor zwanzig Jahrhunderten lebten die Gallier und Ver-
cingetorix, der erste Widerstandskämpfer unserer französischen Rasse.“62 In seiner Rede in Bayeux am
16. Juni 1946 – unmittelbar nach seiner Landung in Courseulles-sur-mer in der Normandie – berief er
sich ausdrücklich auf Georges Clemenceau, den ‚alten Gallier‘, der den heimatlichen Boden und die
eigene Rasse verteidigen wollte: Vercingetorix, Clemenceau und de Gaulle stehen also in der mythi-
schen Reihe der großen Widerstandskämpfer. Der Erfolg der Asterix-Reihe – deren erster Band 1959,
ein Jahr nach der Gründung der V. Republik erschien – kommt also nicht von ungef ähr: Er bildet die da-
malige Stimmung und politische Konstellation ab. Der Vercingetorix-Spezialist Goudineau berichtet,
dass ihm Goscinny bei ihrer einzigen Begegnung anvertraut habe: „Der ‚Zaubertrank‘, das sei de
Gaulle, der Schicksalsmensch, das Wundermittel – also Asterix.“63
In den comics wird in der Tat stets auf die Geschichte angespielt, es wird aber auch aus besonderen
Gründen davon Abstand genommen: Weder Arminius noch Vercingetorix werden direkt dargestellt,
bei Vandersteen wird der Name Ambiorix in Lambiorix abgewandelt. Die lustigen Anspielungen auf
die jeweiligen Helden sind aber zahlreich, insbesondere bei René Goscinny und Albert Uderzo. Sie
relativieren die geschichtlichen Ereignisse. Es ist auff ällig, dass sich die Bewohner des gallischen Dor-
fes nicht die Befreiung Galliens zum Ziel setzen. Sie erdulden die Romanisierung des Landes, solange
ihre Ehre und ihre kleine Heimat intakt bleiben. Ihr Gebiet inmitten des Römischen Reiches wird von
einer selbst errichteten Palisade von der Außenwelt abgetrennt. Dasselbe gilt für das Dorf der Eburo-
nen in Belgien. Wenn das Imperium keine festen Grenzen kennt, bestehen in den comics die gallischen
Kelten auf einer selbst aufgebauten Grenze. Dadurch und durch eine kollektive Utopie der Ehre scheint
die römische Eroberung erträglich zu sein. Die römische Besatzung Galliens wird fast zurückgenom-
men. In Asterix als Legionär werden alle europäischen Identitäten problemlos in die (Fremden-)Legion
aufgenommen. Und wenn Asterix und Obelix an den Olympischen Spielen teilnehmen wollen, be-
zeichnen sich die lachenden Gallier selbst als ‚Römer‘. Die Autoren der Asterix-Bände, beide Immi-
grantensöhne, spielen mit den kulturellen Unterschieden, wobei immer die Gleichberechtigung aller
Völker behauptet wird. Für die Bewohner des gallischen Dorfes gibt es keine Barbaren. Der Begriff des
Barbaren, desjenigen, der außerhalb der Reichsgrenzen lebt, wird absichtlich durcheinandergebracht:
Für die Römer sind die Gallier Barbaren, für diese wiederum sind es die Germanen, für die Griechen
die Römer usw. Der Barbar ist der ‚Andere‘. Anders als bei Jacques Martin in Die Barbaren geht aus
allen Asterix-Geschichten hervor, dass es kein objektives Kriterium für eine derartige Festlegung gibt.
Im Gegenteil wird behauptet, dass jede unterworfene Nation ihre Kultur behaupten müsse und ein
Recht zum Widerstand habe. Diese Offenheit charakterisiert die europäischen Gesellschaften der
Nachkriegszeit.
Ich möchte hier die These aufstellen, dass sich Asterix’ Erfolg dadurch erklären lässt, dass der Held
im Einklang mit Vorstellungen in den 1960er Jahren den Aufbau eines Europa der Nationen fördert.

61 Gemeint ist Deutschlands Westwall. Im Französischen: 63 … la seule fois où j’ai rencontré Goscinny, il me confia que la
Nous irons pendre notre linge sur la ligne Vercingétorix, s. „potion magique“, c’était de Gaulle, l’homme providentiel, le
Vandersteen, Lambiorix, 5. remède miracle. Donc, Astérix, Goudineau (2001) 190.
62 Maurice Agulhon, zit. in: Goudineau (2001) 190.

416 CHRISTINE DE GEMEAUX


Europa stellt in gaullistischer Perspektive den Versuch dar, die Bedeutung eines multikulturellen Staa-
tenbundes auf dem alten Kontinent gegen das American Empire zu behaupten. Vieles weist in der Tat bei
Asterix auf das amerikanische ‚Imperium‘ hin, so die amerikanischen Wappen auf den Segeln des rö-
mischen Kriegsschiffs, das vor der bretonischen Küste erscheint (in Le Tour de France); Asterix wird als
‚antiamerikanischer‘ Superstar dargestellt und repräsentiert – Rouvière zufolge – eine Entamerikanisie-
rung der comics. Möglicherweise kann Asterix’ Erfolg als Symptom französischer und europäischer Nie-
dergangsängste verstanden werden.

4. Fazit

Der gallische und der germanische Mythos haben vieles gemeinsam und die représentations der Helden
sind sich sehr ähnlich. Arminius, Vercingetorix und Ambiorix gelten in der jeweiligen Nationalkultur
als positive Identifikationsfiguren mit ähnlichen Merkmalen. Die Geschichte ihrer Rezeption ist jedoch
unterschiedlich und sprunghaft: Arminius ist heutzutage in Frankreich eine völlig unbekannte Figur,
Vercingetorix wird kaum noch gefeiert und kommt in den meisten Schulbüchern nicht mehr vor.64
Goudineau konstatiert, dass das Interesse der jüngeren französischen Historiographie ganz dem Mit-
telmeerraum als Geburtsort der französischen und europäischen Kultur gilt. Dies würde erklären, wa-
rum Vercingetorix in Vergessenheit gerät und warum die meisten Franzosen den Namen Arminius
schlicht ignorieren.
Die Mythen erlebten im Laufe der Zeit einen Wandel, entsprechend den historisch-politischen
Rahmenbedingungen. Der starke Nationalgeist im 19. Jahrhundert, das erwachende europäische Be-
wusstsein im 20. Jahrhundert und die europäischen Niedergangsängste im 21. Jahrhundert bilden den
Hintergrund für diese Entwicklung. Es hat heute den Anschein, dass Vercingetorix und Ambiorix eher
Republikaner seien, Gegner des imperialen Gedankens, Arminius dagegen eine deutsche Version des
Imperiums verkörpere, wobei das Reich als Modell deutscher kollektiver Identitätsstiftung erscheint. Es
f ällt auf: Die mythischen Figuren werden insbesondere dann auf die Bühne gerufen, wenn Zweifel er-
wachen, wenn die Nation sich Fragen stellt oder in Frage gestellt wird. Sie dienen immer zur Selbst- und
Fremdbestimmung; dies wurde vor dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges besonders deut-
lich. Nach 1871 hat Herfried Münkler zufolge der Kampf gegen Rom bezeichnenderweise an Bedeutung
verloren; Bismarck hat aber den Kulturkampf gegen den Ultramontanismus gerichtet, und wenn Armi-
nius überwiegend mit Vorsicht bemüht wurde, geschah dies aus dem Grunde, dass man „das Potential
rebellischer Ordnungsstörung“, das er symbolisiert, entschärfen wollte.65 Die welschen bzw. die süd-
lichen und westlichen Nachbarn bildeten in Deutschland noch lange die Gefahr par excellence und um-
gekehrt.
In Frankreich haben die heutigen comics-Autoren in der Überlieferung der mémoire die Histori-
ker zumindest in der Öffentlichkeit abgelöst. Die comic-Geschichten behandeln dieselben identitären
Themen wie die Geschichtsschreibung, aber mit erheblichem ironischem Abstand. Es wird – entgegen
der üblichen Meinung – weniger auf die Entstehung der Nation als auf die Verteidigung der (kleinen)
Heimat hingewiesen. Das Thema Nation, das im 19. Jahrhundert hochstilisert wurde, scheint heute
überholt, in der Geschichtsschreibung sowie in den comics, wo ein selbstbezogener Humor und eine

64 Goudineau (2001) 194: Vercingétorix n’est plus un héros 65 Münkler (2009) 175.
qui compte … Les manuels scolaires d’aujourd’hui citent à
peine Vercingétorix.

ARMINIUS, AMBIORIX UND VERCINGETORIX AUS FRANZÖSISCHER PERSPEKTIVE 417


Abb. 6 | „Die langsame Entwaldung der Auvergne …“ Aktuelle französische Postkarte.

amüsante Suche nach der verlorenen Zeit hervortreten. So behaupten die Belgier mit Alix und
Lambiorix die belgische Besonderheit seit der Antike; so rühmt sich die Auvergne augenzwinkernd,
viele französische Herrscher hervorgebracht zu haben: Vercingetorix, das Haus der Bourbonen, die
Präsidenten George Pompidou, Valéry Giscard d’Estaing und Jacques Chirac aus dem benachbarten
Limousin.
Die nationalen Klischees werden aber relativiert: un récit héroïcomique66 wie Asterix bringt humor-
voll die stets aktuelle Botschaft der Toleranz zum Ausdruck.67 Rainer Wiegels weist darauf hin, dass die
Ereignisse rund um das Jahr 9 v. Chr. bestenfalls „im populären Gedächtnis vom Bedeutenden zum
Merkwürdigen oder bloß Erbaulich-Amüsanten“ gerinnen würden.68
Wenn auch Vercingetorix offiziell wenig gefeiert wird, wenn auch das öffentliche Interesse nach-
gelassen hat,69 so bleiben die Gallier in den comics doch präsent: Es werden immer noch neue Asterix-
Filme mit bekannten Darstellern in komischen Rollen gedreht, während in Deutschland im Jahre
2009 auf ARTE ein Film über die Varusschlacht gesendet wurde, der eine historische Rekonstruktion
war. Daher stellen sich zum Schluss meiner Überlegungen folgende Fragen: Wird Vercingetorix in
Frankreich heute selten offiziell gefeiert, weil er in den comics genügend Echo findet, wiewohl dort
eher bagatellisiert wird? In Deutschland scheint es keine Arminius-comics zu geben. Die Arminius-Ju-
biläumsfeier 2009 wurde zu keinem nationalen Fest, sondern eines, bei dem man sich in erster Linie
belehren lassen und amüsieren wollte. Warum gab es so viele deutsche Veröffentlichungen über die
Varusschlacht? Über wirtschaftliche verlegerische Gründe hinaus kann folgendes naheliegen: Die Be-
schäftigung mit Arminius und der Schlacht bietet möglicherweise Deutschland in einer Zeit, in der
man über die atlantische Allianz, die neuen Weltimperien und Europas Zukunft neu reflektieren
muss, die Gelegenheit, sich der konstruierten Identität zu vergewissern und die Tradition noch einmal

66 Maguet u. Touillier-Feyerabend (1998). men veröffentlicht. Das Pariser Musée du Moyen Age
67 Nichtdestoweniger dient Asterix zu ethnographischen veranstaltete 2009 bis 2010 seinerseits eine Ausstellung
Recherchen über die französische Kultur. 1998 wurde ‚Astérix au Musée de Cluny‘ pour célébrer la dimension
eine Tagung der Société d’Ethnologie Française mit patrimoniale d’Astérix, s. Astérix (2009) 5.
einer Ausstellung des Musée National des Arts et Tradi- 68 Wiegels (2008) 41.
tions Populaires in Paris kombiniert. Der Aufsatz von 69 Eine große Ausstellung über Gallien fand 1980 in Cler-
Maguet und Touilliez-Feyerabend wurde in diesem Rah- mont-Ferrand im Musée Bargoin statt, s. Gaulois (1980).

418 CHRISTINE DE GEMEAUX


zu hinterfragen. Diese Bemerkung gilt auch für das kulturell gespaltene Belgien und für das sich an
das moderne Globalmodell notgedrungen anpassende Frankreich. In Zusammenhang mit der Globa-
lisierung könnte es sein, dass die mythischen Helden wieder bemüht werden, um das europäische
Bewusstsein, nicht mehr im Sinne der Nationen, sondern wie zu römischer Zeit im Sinne der klei-
nen Heimaten bzw. der Regionen, vor dem Hintergrund eines kosmopolitisch integrierten Europas zu
stärken.

Literatur

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Maguet u. Touillier-Feyerabend (1998) la France par deux enfants‘ et le discours identitaire
Frédéric Maguet u. Henriette Touillier-Feyerabend, sous la Troisième République“, in: Ulrich Pfeil (Hg.),
„Astérix: un objet d’étude légitime?“, Ethnologie fran- Mythe et tabous des relations franco-allemande au XXe
çaise 28, 293–295. siècle / Mythen und Tabus der deutsch-französischen Bezie-
hungen im 20. Jahrhundert, Bern u.a., 7–20.
Münkler (2005)
Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft, Tacke (1995)
Berlin. Charlotte Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale
Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhun-
Münkler (2009) dert, Göttingen.
Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin.

ARMINIUS, AMBIORIX UND VERCINGETORIX AUS FRANZÖSISCHER PERSPEKTIVE 419


von Ungern-Sternberg (2008) Wiegels (2008)
Jürgen von Ungern-Sternberg, „Der deutsche Blick im Rainer Wiegels, „‚Varusschlacht‘ und ‚Hermann‘-
19. Jahrhundert auf Vercingetorix – der französische Mythos. Historie und Historisierung eines römisch-
auf Arminius und Varus“, in: Michel Reddé u. Siegmar germanischen Kampfes im Gedächtnis der Zeiten“,
von Schnurbein (Hgg.), Alésia et la bataille du Teutoburg. in: Michel Reddé u. Siegmar von Schnurbein (Hgg.),
Un parallèle critique des sources, Ostfildern, 73–103. Alésia et la bataille du Teutoburg. Un parallèle critique des
sources, Ostfildern, 27–51.

420 CHRISTINE DE GEMEAUX


V. Epilogos
Kaleidoskopische Eindrücke des Varus-Jubiläums.
Heinz-Günther Horn

Varus im 21. Jahrhundert


Zur kulturpolitischen Gestaltung des Varus-Jubiläums1

Im Jahr 2009 feiern Kalkriese, Haltern und Detmold, der Landesverband Osnabrück, der Landschafts-
verband Westfalen-Lippe, der Landesverband Lippe, der Kreis Lippe, die Bundesländer Nordrhein-West-
falen und Niedersachsen, ganz Deutschland und – wenn man einigen Reden Glauben schenkt – Europa
dazu die Niederlage des Varus oder auch den Sieg des Arminius im Teutoburger Wald vor 2000 Jahren.
Kaum ein historisches Ereignis findet derzeit mehr Aufmerksamkeit in der Wissenschaft, in den
Medien, bei berufenen und unberufenen Autoren, bei den einschlägigen Verlagen, bei den Veranstal-
tern von Kongressen, Tagungen und Bildungstouren als dieses. Und auch die Freie Universität Berlin
lässt es sich nicht nehmen, ihm eigens eine Ringvorlesung zu widmen.
So haben Sie in den letzten Monaten eine Vielzahl wissenschaftlicher Vorträge in der Sache höchst
kompetenter Kolleginnen und Kollegen zu den unterschiedlichsten Aspekten dieses Themas gehört.
Ich soll nun heute diesen Vortragsreigen beschließen.
Man hat mich gebeten, über „Varus im 21. Jahrhundert – zur kulturpolitischen Gestaltung des Va-
rus-Jubiläums“ zu sprechen. Wenn ich dieser Bitte nun nachkomme, dann können Sie kaum Wissen-
schaftliches erwarten, eher einen Bericht über die Mechanismen in Politik, Verwaltung, Wissenschaft,
Wirtschaft und Gesellschaft, die greifen, wenn man sich anschickt, ein Jubiläum und Ausstellungen wie
die für das Varus-Jahr 2009 zu planen, Rückhalt, Partner und Geldgeber zu finden, die Projekte zu or-
ganisieren und zu realisieren.
Ein solcher Bericht muss aber zwangsläufig subjektiv und lückenhaft ausfallen, erst recht, wenn
der Berichterstatter gewissermaßen zu den ‚Tätern‘ gehört und nur sektoral bzw. auf einer durchaus
komfortablen Ebene agiert, was nolens volens zu gelegentlichen Blickverstellungen, Informationsdefizi-
ten und auch Fehldeutungen führen kann.
Insofern mag während und am Ende dessen, was ich Ihnen heute vorzutragen gedenke, eine
durchaus nordrhein-westf älische Sicht der Dinge stehen, die sich im Wesentlichen aus den Erfahrun-
gen meiner langjährigen Tätigkeit als ehemaliger Leiter der archäologischen Denkmalpflege Nord-
rhein-Westfalen in den jeweils dafür zuständigen Ministerien und in zwei der drei Wissenschaftlichen
Beiräte, die die verschiedenen Ausstellungsprojekte zum Varus-Jahr begleitet haben, speist.2
Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen, bevor wir etwas konkreter in das Thema einsteigen, einige – um
es Neudeutsch auszudrücken – basics vermittele, die Außenstehenden möglicherweise nicht so präsent
sind, aber für das Verständnis dessen, was sich in diesem Jahr um das seinerzeitige Schlachtenereignis
bzw. das Protagonistenpaar Varus und Arminius/Hermann bereits getan hat oder auch noch tut – wie

1 Bei dem Beitrag handelt es sich um das lediglich durch 2 Es liegt in der Natur der Sache, dass für zahlreiche Fest-
aktualisierende Anmerkungen erweiterte Vortragsma- stellungen und Behauptungen in diesem Beitrag keine
nuskript vom 13. 7. 2009. Für Hilfe und Unterstüt- exakten Belege angeführt werden können. Vieles findet
zung habe ich vor allem zu danken: R. Aßkamp (Hal- sich lediglich in Form von Aktennotizen, Vermerken,
tern), S. Boedecker (Bonn), J. Kunow (Bonn), M. Meyer Vorlagen, Anweisungen, Erlassen, Schreiben und der-
(Berlin), T. Otten (Düsseldorf), G. Söger (Kalkriese), gleichen in den Akten der jeweiligen Akteure, die gege-
E. Treude (Detmold), R. Wolters (Tübingen), M. Zelle benenfalls einzusehen wären.
(Detmold).

VARUS IM 21. JAHRHUNDERT 423


ich meine – durchaus von Belang sind. Zugleich werfen sie aber auch ein mehr oder weniger bezeich-
nendes Licht auf etliche der Akteure im Varus-Jahr und in der Zeit davor:
Da ist zunächst einmal das Land Nordrhein-Westfalen, ein inzwischen zwar 60 Jahre altes, aber
eben doch nur ein ‚Bindestrich-Land‘ auf der ständigen Suche nach seiner Geschichte und Identität,
das – wenn überhaupt – über ganz wenige Daten von landesgeschichtlicher Bedeutung verfügt. Umso
empf änglicher ist es für Gedenktage, Feierlichkeiten und Ausstellungen, die den Blick zurück auf ‚lan-
desschmückende‘ historische Ereignisse in der Vergangenheit werfen. Und dann scheut es gewöhnlich
auch kein finanzielles Engagement, so etwa anlässlich des Gedenkens an
– den Westf älischen Frieden von Münster und Paderborn von 1648 (1998)3
– die Begegnung Karls des Großen und Papst Leos des Dritten 799 in Paderborn (1999)4
– die Gründung des Bistums Münster durch Bischof Liudger 805 (2005)5 oder auch
– die Auffindung der ersten Überreste des Neandertalers im Tal der Düssel bei Mettmann 1856
(2006).
Das letztere, ein menschheits- und forschungsgeschichtlich zweifellos bedeutsames Ereignis
wurde 2006 – also 150 Jahre danach – gleichsam unter dem Motto ‚Der erste Neandertaler war ein
Nordrhein-Westfale‘ über fast zwölf Monate hinweg nicht nur mit einer fulminanten Ausstellung
‚Roots‘ im Rheinischen Landesmuseum Bonn und einschlägigen Veranstaltungen im Neanderthalmu-
seum Mettmann, sondern auch mit der Maßgabe ‚Nordrhein-Westfalen – ein Wissenschaftsstandort‘
gefeiert.6 Und die Medien spielten mit.
Vor diesem Hintergrund können Sie sich vorstellen, wie zupass dem Land Nordrhein-Westfalen
die 2000-Jahr-Feier der Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. kam …
Des Weiteren sind da der Kreis Lippe und der Landesverband Lippe. Beide stehen in der Tradition
des über mehr als 800 Jahre selbstständigen Fürstentums bzw. zuletzt Freistaates Lippe, der unter Wah-
rung zahlreicher Privilegien 1947 dem ein Jahr zuvor gegründeten Nordrhein-Westfalen beitrat. Damit
entschied es sich gegen Niedersachsen, das ihm diese Sonderrechte nicht einzuräumen gewillt war.
Und so prangt heute nicht nur die Lippische Rose im Landeswappen Nordrhein-Westfalens, sondern
Lippe verfügt auch über einen eigenen Landesverband, der das einstige fürstliche Vermögen mit et-
lichen nach wie vor einträglichen Heil- und Staatsbädern, Staatsfluren und -wäldern, insbesondere aber
dem Hermannsdenkmal in Detmold verwaltet.
In der tagtäglichen ‚Anschauung‘ dieses weithin sichtbaren Monumentes Ernst von Bandels, 1875
in Anwesenheit des deutschen Kaisers und preußischen Königs Wilhelm I. feierlich eingeweiht, und in
der gut 500-jährigen, seit Melanchthon zur Gewissheit mutierten Überzeugung, dass das taciteische
haud procul Teutoburgiensi saltu und damit das dortige Schlachtengeschehen vor 2000 Jahren nir-
gendwo anders als in Lippe zu verorten sei, ist der Landesverband Lippe, aber eigentlich auch jeder ge-
schichts- und heimatbewusste Lipper selbst für alles, was mit Varus und Arminius/Hermann zusam-
menhängt, höchst sensibilisiert kampf- und opferbereit. Das Lippische Landesmuseum in Detmold lebt
in weiten Bereichen von diesem Geist.

3 Vgl. die Europarats-Ausstellungen ‚1648 – Krieg und 5 Vgl. Ausstellung ‚805: Liudger wird Bischof. Spuren
Frieden in Europa‘ in Münster und Osnabrück 1998 mit eines Heiligen zwischen York, Rom und Münster‘ 2005
ihren drei Begleitbänden Krieg und Frieden (1998). im Stadtmuseum Münster mit einem entsprechenden
4 Vgl. Ausstellung ‚Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Katalog Liudger (2005).
Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn‘ 1999 in 6 Vgl. Roots (2006). Dazu auch: Horn (2006).
Paderborn (Kaiserpfalz/Diözesanmuseum) und den
dreibändigen Katalog Karolingerzeit (1999).

424 HEINZ-GÜNTHER HORN


Dann ist da noch der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, eine kommunale Selbstverwaltungs-
körperschaft in der Nachfolge der alten preußischen Provinz Westfalen, der unter anderem die Land-
schaftliche Kulturpflege im Auftrage des Landes Nordrhein-Westfalen obliegt. Er unterhält in Wahrneh-
mung dieser breit gef ächerten Aufgabe u.a. das Westf älische Museum für Archäologie in Herne und
das Römermuseum in Haltern, aber auch das Münsteraner Amt für die Bodendenkmalpflege in West-
falen-Lippe, zu dessen herausragenden Schwerpunkten die archäologische Erforschung des ehemali-
gen Germanien vom Beginn der römischen Okkupation im letzten Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts v. Chr.
bis zum Ende des Römerreiches um die Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. gehört. Seine Ausgrabungen
in Römerlagern wie Haltern, Oberaden oder Anreppen an der Lippe oder auch in germanischen Sied-
lungen wie Soest-Ardey, Bielefeld-Sieker oder Bad Salzuflen-Gastrup stehen für viele.
Bei näherer Betrachtung der Amtsaktivitäten und deren Ergebnisse wird deutlich, wie wenig ar-
chäologisch Verlässliches wir gerade über die Jahre kurz vor 9 n. Chr. und danach – sagen wir einmal –
bis 16 n. Chr., dem von Kaiser Tiberius gesetzten Ende der römischen Germanienfeldzüge und der end-
gültigen Festlegung der nördlichen Grenze des Imperium Romanum entlang des Rheins wirklich wis-
sen.
Dies sind bzw. waren gleichsam die nordrhein-westf älischen ‚Kraftfelder‘, die auf das Vorhaben,
das Varus-Jahr 2009 mit einer Reihe anlassbezogener Ausstellungen und auch anderer Veranstaltun-
gen zu begehen, eingewirkt haben bzw. einwirken.
In Niedersachsen gab es dem vergleichbar eigentlich nur eines, aber das hatte es im wahrsten
Sinne des Wortes ‚in sich‘: Kalkriese bei Bramsche. Trotz durchaus bedenkenswerter wissenschaftlicher
Einwände ist es dort der Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese
seit Ende der 1980er Jahre gelungen, durch ein – wie ich meine – fast ausschließlich touristisch ausge-
richtetes Marketing bundes-, ja europaweit im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit den Platz, an dem
Varus mit seinen Legionen von den Germanen unter der Führung des Arminius im Jahre 9 n. Chr. ver-
nichtend geschlagen wurde, zweifelsfrei für sich zu reklamieren. Dabei lehren die Befunde von Kalk-
riese zunächst einmal nur eines: So und nicht anders sieht heute archäologisch ein antiker Schlacht-
platz aus.7 Das aber ist unter Vermarktungsgesichtspunkten natürlich zu wenig.
Deshalb war davon auszugehen, dass man in Kalkriese die Chance, die in der zweitausendsten
Wiederkehr des Schlachtenjahres liegt, begreifen und auch ergreifen würde.
Gleichwohl kamen die ersten Initiativen, 2009 in Erinnerung an die Schlacht im Teutoburger
Wald im Jahre 9 n. Chr. als ‚Varus-Jahr‘ feierlich zu gestalten, nicht von dort, sondern – wie sollte es
auch anders sein? – aus Lippe. Im Schatten des Hermannsdenkmals hatte sich eine Gruppe – ich will
sie einmal ‚engagierte Heimatforscher/-innen‘ nennen – daran gemacht, in ständiger Reibung mit
Kalkriese nicht nur auf eigene Faust den rund 700 Lokalisierungen der Varussschlacht durch eine recht
freizügige Interpretation verschiedener nach Einsatz eines Metalldetektors aufgelesener Metallfunde
(u.a. der Deckel einer Taschenuhr aus dem 19. Jahrhundert, der mal ein römischer Schwertschei-
denbeschlag, mal eine fragmentierte Phalera sein sollte) eine weitere hinzuzufügen,8 sondern auch der
amtlichen Bodendenkmalpflege öffentlich Untätigkeit, Unvermögen und Gleichgültigkeit im Zusam-
menhang mit der Vorbereitung auf das ‚Jubeljahr‘ vorzuwerfen und massiv die Politik zum Handeln
aufzufordern.

7 Zum Für und Wider mag hier genügen: Kehne (2008). 8 So beispielsweise Bökemeier (2003). Zu den kaum
Zuvor auch schon Schwarzenberg (2007). Zur Schlacht- mehr überschaubaren Versuchen, den Ort der Varus-
platzarchäologie auch: Rost (2009). schlacht zu verorten: Berke (2009).

VARUS IM 21. JAHRHUNDERT 425


Es waren dann auch Politiker aus Lippe, die 2001 im Kulturausschuss des Landtages von Nord-
rhein-Westfalen den Antrag einbrachten, im Hinblick auf das Varus-Jahr – so hieß 2009 damals schon –
Mittel für eine gezielte Suche nach dem ‚wahren‘ Ort der Varusschlacht im nordrhein-westf älischen
Raum, genauer gesagt: im Lippischen bereitzustellen. Seinerzeit bedurfte es schon vieler Worte und der
geballten Überzeugungskraft des zuständigen Ministeriums, um zu verhindern, dass dieser unsinnige
Antrag eine Mehrheit fand.
Als die lippische pressure-group auch noch den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen mit
entsprechenden Eingaben zu traktieren begann und das Ganze aus dem Ruder zu laufen drohte, weil
sich nun auch noch die Stadt Detmold als lippisches Zentrum mit den üblichen kommunalen Vorstel-
lungen eines großen Stadtfestes mit allem kirmesähnlichen Drum und Dran anlässlich des ‚runden‘
Gedenkens an die Schlacht im Teutoburger Wald zu Wort meldete, war es höchste Zeit für das seiner-
zeitige Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport (das heutige Ministerium für Bauen
und Verkehr) von Nordrhein-Westfalen, sich gleichsam an die Spitze der Bewegung zu setzen und als
Moderator zu agieren.
Daraufhin wurde zunächst einmal – das war Mitte 2002 – der Landschaftsverband Westfalen-Lippe
mit seinen Kultureinrichtungen, insbesondere dem Römermuseum in Haltern und dem Amt für Bo-
dendenkmalpflege angehalten, das Jahr 2009 als ‚Varus-Jahr‘ durch politische Beschlüsse und eine ent-
sprechende Öffentlichkeitsarbeit für sich zu reklamieren und damit das Thema offiziell zu ‚besetzen‘.
Das hat vor allem das Management von Kalkriese überrascht.
Wenig später – 2003 – kam es dann auf Einladung des Ministeriums in Düsseldorf zu ersten vor-
bereitenden Gesprächen mit dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, dem Landesverband Lippe und
dem Kreis Lippe, die eigentlich ziemlich einvernehmlich zu folgenden Feststellungen bzw. Vereinba-
rungen führten:
1.) Die Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. zählt zu den wenigen auch für Nordrhein-Westfalen rele-
vanten Daten der Welt(!)geschichte; an sie durch entsprechende Veranstaltungen 2000 Jahre danach
angemessen zu erinnern ist von hohem Landesinteresse und eine wichtige Aufgabe der Landesarchäo-
logie.
2.) Das Ereignis sollte deshalb im Jahre 2009 in Nordrhein-Westfalen in Haltern und Detmold im
Mittelpunkt zweier großer Ausstellungen stehen. Man ging davon aus, das niedersächsische Kalkriese
als dritten Ausstellungsort und damit zu einer länderübergreifenden Kooperation gewinnen zu können.
3.) In diesem Falle sollten – jeweils auf den Ort bezogen – in Haltern das Thema ‚Römisches Im-
perium und die Geschichte der Germanien-Feldzüge‘ (davon blieb später nur noch ‚Imperium‘ übrig),
in Kalkriese das Schlachtengeschehen im Jahre 9 n. Chr. (das Thema wurde dann allmählich und ver-
mutlich nicht gerade zu seinem Vorteil auf weitere ‚Konflikte‘ zwischen Römern und Germanen in spä-
terer Zeit ausgeweitet) und in Detmold schließlich das Thema ‚Mythos Varusschlacht‘, also die Rezep-
tionsgeschichte des Varus/Arminius/Hermann-Stoffes durch die Jahrhunderte dargestellt werden.
4.) Die vom Land Nordrhein-Westfalen gewünschte Länder und Institutionen übergreifende
Kooperation sollte zwischen dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, dem Landesverband Lippe und
der Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese vertraglich geregelt
werden. Dabei ging es vor allem um die Abstimmung der einzelnen Vorhaben und deren Vermittlung
bzw. um ein gemeinsames Marketing.
5.) In Vorbereitung des Varus-Jahres 2009 sollten ab sofort Mittel für die wissenschaftliche Auf-
arbeitung sogenannter Altgrabungen und Fundkomplexe bereitgestellt werden, die für die Themen der
einzelnen (nordrhein-westf älischen) Ausstellungsvorhaben, insbesondere für die Abfassung fundierter

426 HEINZ-GÜNTHER HORN


Katalogbeiträge von Bedeutung wären. Das Land Nordrhein-Westfalen, der Landschaftsverband West-
falen-Lippe und der Landesverband Lippe erklärten sich bereit, hierfür über einen Zeitraum von fünf
Jahren Forschungsmittel in Höhe von 150000 r pro Jahr, hochgerechnet demnach insgesamt
750000 r, zur Verfügung zu stellen. Das war – auch für nordrhein-westf älische Verhältnisse – ein or-
dentlicher ‚Schluck aus der Pulle‘.
Vor allem das hartnäckige Insistieren des Landes Nordrhein-Westfalen auf einer Kooperation mit
der Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese sorgte in der Folgezeit –
na, wo schon? – in Lippe für Irritation und Verärgerung.9 Erneut erreichten bittere Klagen die nord-
rhein-westf älische Landesregierung dergestalt, dass
– ‚Mythos Varusschlacht‘ für Detmold ein „eher mageres, blutloses und in der Mottenkiste vergilbtes
Thema“ sei (man wollte Archäologisches, und sei es auch nur das nun wirklich nicht umwerfende
Keramikmaterial aus den germanischen Siedlungen des Umlandes),
– durch die Verortung der Varusschlacht in Kalkriese und die Sanktionierung dieser „höchst wacke-
ligen, vornehmlich aus der Professionalität zum touristischen Event heraus begründeten Theorie“
durch den geplanten Ausstellungsreigen der Region Lippe, deren Tourismus erst mit der Armini-
us-Tradition wirklich entstanden ist und infolge des Denkmals (sc. Hermannsdenkmals) immer
noch darauf beruht, großer Schaden zugefügt werde,
– die „unangemessene, sogar mit einem Anflug kollaborativer Zusammenarbeit behaftete Koopera-
tion mit Kalkriese auf Jahrzehnte wissenschaftlichen und/oder wirtschaftlichen Schaden für die
Region Ostwestfalen-Lippe anrichte“,
– die Fürsorge des Landes Nordrhein-Westfalen für Kalkriese unter diesem Aspekt unverständlich
sei („Mögen doch die Niedersachsen eigene Anstrengungen unternehmen – das kann dem Ereig-
nis 2009 nur gut tun“),
– der Beschluss, im Vorfeld des Varus-Jahres 2009 auf der Suche nach dem Schlachtfeld keine ge-
zielten, von Landesseite geförderten Ausgrabungen in Lippe durchzuführen, außerordentlich be-
dauert werde.
Dies sind wenige und dazu kurze Auszüge aus Schreiben, die in den Jahren 2003/2004 die nord-
rhein-westf älische Landesregierung in Düsseldorf erreichten.10 Vor Ort entwickelte sich das Heimat-
land Lippe, die Zeitschrift des Lippischen Heimatbundes und des Landesverbandes Lippe, zu einer
Plattform und zu einem Kampfblatt aller Enttäuschten, die unter dem Motto ‚Fehlstart in Lippe‘ (2003)
selbst vor diffamierenden Äußerungen gegen die amtliche Bodendenkmalpflege und deren Repräsen-
tanten nicht halt machten,11 so dass gelegentlich das Ministerium einschreiten musste.
Gleichwohl kam es 2006 zu einer Kooperationsvereinbarung zwischen den Veranstaltern der
drei Varus-Ausstellungen bzw. deren Trägern, d.h. dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, der Varus-
schlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese, dem Landesverband Lippe und
dem Kreis Lippe.12 Zuvor waren die hierfür erforderlichen politischen Beschlüsse eingeholt worden.

9 Hier taten sich vor allem der 2004 gegründete Verein These“ / dem Anspruch der Kalkrieser auf die Varus-
Arminiusforschung e.V. (Bielefeld) und zahlreiche sei- schlacht fehlt.
ner Mitglieder hervor. Zuvor auch schon der Naturwis- 10 Die besagten Schreiben befinden sich in den entspre-
senschaftliche und Historische Verein für das Land chenden Akten des Ministeriums für Bauen und Ver-
Lippe e.V., Ortsverein Lage: vgl. W. Lippek, Rundmail kehr des Landes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.
„To whom it may concern!“ vom 22. 11. 2003. Dazu ein 11 Vgl. Schäferjohann-Bursian (2003). Dazu u.a. die Erwi-
Nachtrag vom 6. 12. 2003 mit dem Betreff: Vermeidung derungen von Bérenger (2003) oder Springhorn, Treude
von Fehlentscheidungen politischer Gremien aufgrund u. Zelle (2003).
von Fehlurteilen durch Fachämter, denen die wissen- 12 Die Kooperationsvereinbarung wurde am 9. 2. 2006 ab-
schaftliche Qualifikation im Detail zur „Kalkrieser geschlossen.

VARUS IM 21. JAHRHUNDERT 427


In dieser Kooperationsvereinbarung einigte man sich zunächst einmal auf die generellen Themen
und die headlines der drei Ausstellungen:
– ‚Das Imperium‘ im Westf älischen Römermuseum in Haltern am See,
– ‚Der Konflikt‘ im Varusschlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese,
– ‚Der Mythos‘ im Lippischen Landesmuseum des Landesverbandes Lippe in Detmold.
Dazu sollte im Rahmen eines archäologischen Experimentes ein römisches Kriegsschiff nachge-
baut werden – sofern sich hierfür Sponsorengelder auftreiben ließen –, das im Vorfeld der Ausstellun-
gen die ehemaligen römischen Wasserwege befahren sollte. Dass es später (April 2009) dann auch auf
der Spree in Berlin gerudert wurde, tut dem Ursprungsgedanken keinen Abbruch, zeigt aber den Grad
seiner Vermarktung.13
Ansonsten verständigte man sich in der Kooperationsvereinbarung auf eine größtmögliche Ab-
stimmung und Zusammenarbeit bei allen gemeinsamen Vorhaben, wie beispielsweise:
– Eröffnungs- und Abschlussveranstaltungen,
– wissenschaftlichen Kongressen und Verbandstagungen,
– dem zentralen Veranstaltungsmanagement,
– dem Marketing,
– der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit,
– Leihanfragen und
– der Einwerbung von Drittmitteln.
Für die Realisierung der drei Ausstellungsvorhaben standen – soweit sich das momentan sagen
lässt – insgesamt ca. 12,0 Millionen r zur Verfügung (Haltern ca. 4,5 Millionen r, Kalkriese ca. 3,3 Mil-
lionen r und Detmold ca. 4,2 Millionen r ). Die Finanzierung basierte im Wesentlichen auf:
– Eigenmitteln,
– Einnahmenerwartungen aus Eintrittsgeldern, Katalogverkäufen und Shopumsätzen sowie
– Drittmitteln (Landesförderungen, Stiftungsmitteln, Sponsering etc., ca. 1/3 der Kosten).14
Und was haben nun die einzelnen Ausstellungsorte nach Abzug der Allgemeinkosten, die anteilig
umgelegt wurden (insgesamt ca. 2,3 Millionen r ), mit diesem Geld, also rund 10,0 Millionen r, gemacht?
Alle haben damit, das nimmt nicht weiter wunder und muss auch so sein, zunächst einmal ein
Ausstellungsbüro eingerichtet und die üblichen Ausstellungsmodalitäten (wissenschaftliche Beiräte,
Reisen, Transporte, Kurierdienste, Versicherungen etc.), vor allem aber die Ausstellungspräsentation,
für die in allen Fällen professionelle Gestalterbüros in Anspruch genommen wurden, finanziert. Für
die Einwerbung von Drittmitteln wurde eine eigene Hochglanz-Broschüre gedruckt.15
Im Ergebnis zeigen sich jedoch ansonsten unterschiedliche Akzentuierungen und Schwerpunkte:
So steht in Haltern, wo man eine multifunktionale Stadthalle mit überall präsenter Technik erst
einmal in einen Ausstellungsraum umgestalten musste, eindeutig die kunstvolle Inszenierung und

13 Vorbild war das Wrack 1 des römischen Schiffsfundes von 15 Vgl. die Broschüre Unschlagbar – Strategien für die Varus-
Oberstimm. Der in Kooperation mit dem Historischen schlacht. Informationen für Förderer und Sponsoren.
Seminar der Universität und etlichen anderen Institutio- Imperium Konflikt Mythos; 2000 Jahre Varusschlacht. In:
nen gefertigte und auf VICTORIA getaufte Nachbau (Kos- LWL-Römermuseum, Varusschlacht im Osnabrücker Land
ten ca. 340000 r) lief am 30. 5. 2008, also ca. ein Jahr vor gGmbH – Museum und Park Kalkriese. Lippisches Landes-
Eröffnung der Ausstellung, unter starker Präsenz der Me- museum Detmold (Haltern am See 2007) mit dem plaka-
dien in Hamburg vom Stapel. Dazu auch: Schäfer (2009). tiven Hinweis auf die Schirmherrschaften der Frau Bun-
14 In den Abschlussberichten (s. Anm. 20) werden Kosten deskanzlerin A. Merkel, der beiden Ministerpräsidenten
von insgesamt 12693000 r (1850000 r durch Erlöse, von Nordrhein-Westfalen, Dr. J. Rüttgers und Chr. Wulff,
5000000 r Drittmittel und 5843000 r Eigenmittel) sowie des Präsidenten des Europäischen Parlamentes
ausgewiesen. Prof. Dr. H.-G. Pöttering.

428 HEINZ-GÜNTHER HORN


Präsentation der Exponate im Vordergrund. Raumzuschnitte lenken den Besucher, die jeweilige Gestal-
tung und Atmosphäre der Räume berührt ihn, erzeugt Emotionalität und bisweilen auch Schauder.
Alles ist – die hohe Kunst, die Qualität und Einzigartigkeit der Ausstellungsstücke gebietet das – er-
kennbar edel (und auch teuer).
In Kalkriese hat man im Varus-Jahr 2009 die Gunst der Stunde und den öffentlichen bzw. auch pri-
vaten Geldsegen dazu genutzt, nicht nur ein neues Empfangsgebäude mit integriertem Wechselausstel-
lungsraum zu errichten, sondern auch die Dauerausstellung im alten Museum zu erneuern.16 Der un-
befangene Besucher kann sich dort im Augenblick wohl kaum des Eindrucks erwehren, dass dadurch
die Mittel für eine aufwendigere und wohl auch fesselndere Gestaltung der eigentlichen Sonderausstel-
lung ‚Konflikt‘ – ohnehin auf erstaunlich kleiner Fläche präsentiert – am Ende nicht mehr reichten.17
Auch in Detmold wurde das Museum wegen der ‚Mythos‘-Ausstellung erweitert; allerdings stan-
den dort zum Umbau der translozierten ehemaligen Zehntscheune des Klosters Falkenhagen Son-
dermittel in Höhe von 1,0 Millionen r zusätzlich zur Verfügung, so dass diese Baumaßnahme nicht
notwendigerweise den Ausstellungsetat schmälern musste. Dafür stellten die ungewöhnlichen Raum-
verhältnisse im Lippischen Landesmuseum die Ausstellungsmacher und das Gestaltungsbüro vor hohe
und teilweise auch kostenintensive Anforderungen, zumal hier in einem ungleich höheren Maße als
anderswo des archäologischen und zugleich archivalischen Charakters des Themas wegen dreidimen-
sionale Exponate mit sogenannter ‚Flachware‘ zusammengebracht werden mussten.
Auff ällig war das frühe gemeinsame Marketing, das die Varusschlacht und die Ausstellungen zu
diesem Thema, lange bevor sie eröffnet waren, gespannt und in froher Erwartung ‚in aller Munde‘ sein
ließ und sich auch in einer in der Summe nicht mehr überschaubaren Flut von Pressemitteilungen und
-artikeln niederschlug.18
Die Ausstellungen sind Mitte Mai 2009 eröffnet worden.19 Natürlich reizt es, schon so etwas wie eine
erste Bilanz zu ziehen, obgleich es bis zum endgültigen Finale noch mehr als das Doppelte an Ausstel-
lungstagen hin ist. Haben sich die doch beträchtlichen Investitionen an Intellekt, manpower und öffent-
lichem wie privatem Geld gelohnt, sind die Ausstellungen erfolgreich, könnte man also bereits jetzt fragen.
Aber was ist der Gradmesser des Erfolges oder Misserfolges? Die Medienresonanz? Die Besucher-
zahlen? Die Politikerpräsenz? Die gesellschaftliche Diskussion, die sie entfachen? Die Steigerung des
Kulturtourismus? Der wissenschaftliche Ertrag? Und was von alledem ist wirklich nachhaltig bzw. von
Dauer? Also von Bedeutung über den Tag, über das Jahr 2009 hinaus?20

16 Die mit Blick auf das Jubiläumsjahr getätigten Investitio- umfassenden Abschlussbericht vor (vgl. ebenfalls die
nen hatten ein Volumen von mehr als 5,3 Mio r . Vgl. Wirt- Evaluierung durch die Lippe Tourismus & Marketing
schaftsfaktor 2000 Jahre Varusschlacht (s. Anm. 20). AG „2000 Jahre Varusschlacht im ländlichen Raum am
17 In diesem Zusammenhang überrascht, dass von den Beispiel der Destination ‚Land des Hermann/Teutobur-
drei Ausstellungspräsentationen ausgerechnet die in ger Wald‘. Evaluation des Varusjahres 2009“, 2010).
Kalkriese mit dem durchaus angesehenen ‚Red Dot Dies tat auch das LWL-Römermuseum Haltern am
Communication Design Award‘ ausgezeichnet wurde. 30. 6. 2010 für IMPERIUM in der Sitzung des Kultur-
18 Das Gesamtmarketingbudget lag bei 1,5 Mio r . Vgl. Wirt- ausschusses der Landschaftsversammlung Westfalen-
schaftsfaktor 2000 Jahre Varusschlacht (s. Anm. 20). Zur Lippe am 30. 6. 2010. Zum Ausstellungsteil KONFLIKT
Presseresonanz s. Anm. 27–30. in Kalkriese vgl. insbesondere die Analyse der IHK Os-
19 Da dieser Vortrag bereits am 13. Juli 2009 gehalten nabrück-Emsland und des Tourismusverbandes Osna-
wurde, keine zwei Monate nach der Eröffnung der Aus- brücker Land e.V. und Varusschlacht im Osnabrücker
stellungen, können die nachfolgenden Überlegungen Land – Museum und Park Kalkriese GmbH „Wirt-
nichts anderes als eine Zwischenbilanz sein. schaftsfaktor ‚2000 Jahre Varusschlacht‘. Studie zu re-
20 Das Lippische Landesmuseum Detmold legte am gionalökonomischen Effekten der Ausstellung in Mu-
3. 2. 2010 der Verbandsversammlung des Landesver- seum und Park Kalkriese“ (Kalkriese 2010).
band Lippe für den Ausstellungsteil MYTHOS einen

VARUS IM 21. JAHRHUNDERT 429


Die Politiker hatten bereits ihre Bühne und ihren Auftritt. Während der drei Eröffnungsfeierlich-
keiten beschworen bzw. lobten sie vor zahlreichen Fernsehkameras und Mikrofonen sowie einer Viel-
zahl von Vertretern der schreibenden Zunft Heimat, Freiheitsdrang und Widerstand, sahen Schicksals-
stunden und Etappen auf dem Weg hin zur Einigung Deutschlands und Europas. Dabei identifizierten
sie sich als Bundeskanzlerin, Ministerpräsidenten, Landesdirektor oder Verbandsvorsteher derart mit
dem Ereignis und seinem Begängnis, dass sie zumindest an zwei Ausstellungsorten – Kalkriese und
Detmold – gänzlich vergaßen, auch den eigentlichen ‚Machern‘ zu danken.
Der Präsident des Straßburger Europaparlaments – auch er wie die Bundeskanzlerin und die bei-
den Ministerpräsidenten Niedersachsens und Nordrhein-Westfalens Schirmherr des Ausstellungspro-
jektes – ließ es sich nicht nehmen, immer wieder auf die Europawahl und die Notwendigkeit, am 7.6.
seine Stimme abzugeben, hinzuweisen. Zudem versprach er dafür zu sorgen, dass Arminius in dem –
analog zu den ‚Museen der deutschen Geschichte‘ in Bonn und Berlin – in Brüssel geplanten ‚Haus der
europäischen Geschichte‘ einen herausragenden Platz einnehmen werde. Dass dann die Engländer, die
Franzosen, die Niederländer, aber auch die Belgier, die Spanier oder die Italiener – um nur wenige zu
nennen – mit ganz anderen ‚Freiheitshelden‘ kommen dürften, war ihm wohl in der Weihe der Stunde
nicht so bewusst.21
Ich bin mir ziemlich sicher, dass den Politikern/-innen der Ausstellungszyklus, sein Inhalt und
sein Anliegen nicht in allzu langer Erinnerung bleiben werden. Schon am Tage nach den Eröffnungen
waren sie ja bereits anderswo gefordert.
Für die Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung, aber auch für zahlreiche andere gesell-
schaftliche Gruppen zeigt sich der Erfolg von Ausstellungen an hohen Besucherzahlen. Oft ist das auch
für die breite Öffentlichkeit das einzige Beurteilungskriterium. Würden wir uns dem anschließen,
dann dürften wir schon jetzt von einem Erfolg der Präsentationen in Kalkriese, Detmold und Haltern
ausgehen:
Ende Juni 2009 – also ca. sechs Wochen nach Eröffnung der Ausstellungen – zählte Haltern den
50000. Besucher, Kalkriese behauptete, bis dahin bereits 75000 Besucher gehabt zu haben, verein-
nahmte dabei aber u.a. die mehr als 15000 Besucher, die am 12./13. Juni 2009 zum Spektakel der ‚Rö-
mertage‘ auf das Gelände gekommen waren, von denen – so konnte man beobachten – allerdings die
wenigsten sich für die Sonder- und auch Dauerausstellung interessierten. Dagegen machen sich die
knapp 30000 Besucher, die bis Ende des letzten Monats den Weg in die Detmolder Ausstellung gefun-
den haben, etwas bescheidener aus, sind aber angesichts der recht ungünstigen Verkehrsanbindung
Detmolds an die nordrhein-westf älischen und niedersächsischen Ballungszentren doch nicht so
schlecht, zumal die Lipper selbst bislang nur knapp 40 % der Ausstellungsbesucher ausmachen, die
Ausstellung also für sich selbst offenbar noch nicht entdeckt zu haben scheinen.
Auf der Basis dieser Zahlen kann man wohl davon ausgehen, dass am Ende über 500000 Men-
schen die drei Ausstellungen besucht haben werden, dabei dürfte dann jeder der drei Ausstellungsorte
die Erwartungen bei weitem übertroffen haben.22 Vermutlich machen sich hier die gemeinsame Mar-
keting-Strategie und sogenannten ‚Kombi-Karten‘ bemerkbar.

21 Zu diesem Aspekt z.B. Löttel (2009). Besucher. Die Ausstellungsteile hatten unterschiedliche
22 Nach den vorliegenden Abschlussberichten (s. Anm. 20) Laufzeiten. Sie eröffneten alle am 15. 5. 2009. Haltern
wurden insgesamt ca. 480000 Besucher gezählt. Davon schloss am 11. 10. 2009, Detmold am 25. 10. 2009 und
entfielen nach eigener Zählung auf Haltern ca. 156000, Kalkriese erst am 10. 1. 2010.
auf Kalkriese ca. 220000 und auf Detmold ca. 99500

430 HEINZ-GÜNTHER HORN


Vielleicht aber liegt das große Publikumsinteresse auch darin begründet, dass die Varus-Ausstel-
lungen im Grunde in der Tradition vieler früherer Ausstellungen in Deutschland – etwa über die Stau-
fer, die Preußen, die Alamannen, die Bajuwaren oder auch die Wittelsbacher – stehen, die darauf
abzielten, nach der eigenen Vergangenheit, dem Spezifischen von Heimat zu fragen bzw. Identität zu
stiften, und die allesamt ebenfalls recht erfolgreich waren.23
Zusammen mit den unerwartet hohen Erlösen aus den Katalog- und Shopverkäufen sichern die ge-
nannten Besucherzahlen bei einem kalkulierten Eintritt von durchschnittlich 6 r pro Person für die
Veranstalter die finanzielle Grundlage des Ausstellungsprojektes in seiner Gesamtheit endgültig ab.24
Ein Restrisiko oder eine Deckungslücke wird es demnach wohl nicht geben.
An diesen Besucherzahlen lässt sich aber auch ein Kulturtourismus ablesen, den es ohne die in
Rede stehenden Ausstellungsprojekte selbst in Kalkriese mit seiner aggressiven ‚Schlachtplatz-Ver-
marktung‘ so nicht gegeben hätte. Verlässliche Angaben sind derzeit nicht zu erhalten. Gleichwohl
spürt man bei Besuchen in Haltern und Detmold, wie stark vor allem das Dienstleistungsgewerbe, die
Gastronomie und die Hotels von den dortigen Ausstellungen und dem umfangreichen Bei- bzw. Rah-
menprogramm profitieren.25 Auch das ist auf der Habenseite zu verbuchen. Dabei ist diese Erkenntnis
allerdings nun wirklich nicht neu. Dass Kulturereignisse – erst recht sogenannte ‚Events‘ – wichtige
Wirtschaftsfaktoren darstellen, hat sich auch andernorts – und dazu mit entsprechenden Zahlen be-
legt – erwiesen.
Die hohen Besucherzahlen können sicherlich auch dahingehend interpretiert werden, dass die
Ausstellungsmacher ihren Bildungsauftrag erfüllen bzw. erfüllt haben – dies umso mehr, als sie nicht
nur historische Fakten zu vermitteln, sondern auch Mythenbildungen zu hinterfragen und aufzulösen
versuchen. In dem bunten, zumeist durchaus anspruchsvollen Bei- und Rahmenprogramm hatte und
hat die Bevölkerung weitere kulturelle Erlebnisse, die ihr andernfalls versagt geblieben wären. Denn
wer würde sich normalerweise mit Heinrich von Kleists oder Christian Dietrich Grabbes Die Hermanns-
schlacht befassen oder sich etwa Max Bruchs Arminius-Oratorium bzw. Mitsch Kohns Varus-Sympho-
nie anhören?26
Besonders überrascht hat zweifellos das Medien-Echo. Ich hatte eingangs schon eher beiläufig da-
rauf verwiesen. Weit im Vorfeld der Ausstellungen in Haltern, Kalkriese und Detmold befassten sich
selbst Magazine und Tageszeitungen, hinter denen kluge oder auch politisch interessierte Köpfe ste-
cken sollen, mit der Schlacht im Teutoburger Wald vor 2000 Jahren, fragten sich, ob dies die Geburts-

23 Die Stuttgarter Ausstellung ‚Die Zeit der Staufer‘ 1977 Die Berliner Preußen-Ausstellung 1981, gleichsam eine
hatte bei vergleichsweise kurzer Laufzeit ca. 675000 Be- ‚Fingerübung‘ für das spätere Museum der Deutschen
sucher. Der vierbändige Katalog wurde annähernd Geschichte/Deutsche Historische Museum, zählte ca.
150000 mal verkauft – ein bislang in Deutschland nie 550000 Besucher. Zur Alamannen-Ausstellung 1997 in
wieder erreichter Besucher- und Verkaufsrekord. Dies Stuttgart (über 150000 Besucher): vgl. das umfangrei-
war damals dem Spiegel eine eigene Geschichte wert che Begleitbuch Alamannen (1997).
(vgl. Der Spiegel Nr. 23, 1977). Es wundert nicht, dass 24 An den Ausstellungsorten in Haltern, Kalkriese und
jetzt 2010/2011 – also gut 30 Jahre danach – das Thema Detmold wurden zusammen 3322 Einzelkataloge und
wieder aufgegriffen wird: vgl. Ausstellungsprojekt ‚Die 4833 Schuber verkauft.
Staufer und Italien – Drei Innovationsregionen im mit- 25 Die inzwischen vorliegenden Abschlussberichte bzw.
telalterlichen Europa‘. Die Ausstellung ‚Die Bajuwaren‘ Analysen geben hierüber detaillierter Auskunft: s.
in Rosenheim besuchten 1988 ca. 180000 Besucher. Anm. 20.
Die Wittelsbacher-Ausstellungstrilogie 1980 in Lands- 26 Siehe dazu etwa die Veranstaltungskalender der Lippe
hut und München, der Der Spiegel (Nr. 27/1980) eine Tourismus & Marketing (Hermannbüro) AG Das inter-
ausführliche Rezension des Schriftstellers Carl Amery nationale Kulturprogramm Hermann 2009 oder auch der
unter dem Titel „Rote Fäden im weißblauen Labyrinth“ VARUSSCHLACHT im Osnabrücker Land GmbH.
widmete, wurde von ca. 480000 Menschen besucht.

VARUS IM 21. JAHRHUNDERT 431


stunde der Deutschen oder gar der Deutschen Nation war und vieles andere mehr.27 Prisma, ein nord-
rhein-westf älisches Wochenmagazin mit einer Auflage von 360000, berichtet – stets unter Hinweis
auf die Ausstellungen – als Fortsetzungsserie über die Varusschlacht.28 Jeder Fernsehsender, der etwas
auf sich hielt, griff die seinerzeitigen Geschehnisse und das ‚Germanenthema‘ bisweilen in Mehrteilern
zur ‚Prime-Time‘ auf.29 Keines der Wissenschaftsmagazine ließ es aus.30 Alle schienen im Rausch der
Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen, zwischen Varus und Arminius und deren
Neudeutung und Neubewertung. Auch der Büchermarkt wuchs mit mehr als 40 Neuerscheinungen
aus diesem Anlass beträchtlich; kaum ein Verlag, der nicht mit einer oder gar gleich mehreren Neuer-
scheinungen unterschiedlichster Kompetenz und Seriosität aufwartete.31 Bisweilen wurde das Thema
Gegenstand eines mehr oder weniger gelungenen (meist historischen) Romans.32 Die Deutsche Post
brachte am 4. Juni 2009 eine Sondermarke ‚2000 Jahre Varusschlacht‘ heraus. Sie ziert bereits Millio-
nen von Briefen.
Man ist geneigt, auch die in diesem Ausmaß unerwartete Resonanz des Varus-Jahres einen Erfolg
zu nennen. Um dies auch mit einiger Berechtigung tun zu können, wird sich zeigen müssen, was da-
von mehr als nur ein von der Aktualität des Tagesgeschehens bestimmter ‚Aufmacher‘ war und über
eine längere Zeit die Menschen interessiert und bewegt. Dabei will ich nicht verhehlen, dass auch so
schon die öffentliche Aufmerksamkeit, das allgemeine Interesse an Geschichte, deren Erforschung und
der Beschäftigung mit ihr, der Geschichtswissenschaft und ihren unterschiedlichen Repräsentanten

27 Vgl. z.B. Die Zeit vom 30. 10. 2008: „Der Urmythos 31 Etwa: Beck-Verlag: G. Moosbauer, Die Varusschlacht.
der Deutschen“; Der Spiegel Ausgabe 51 (15. 12. 2008): Archäologie und Geschichte (München 2009), R. Wolters,
„Die Geburt der Deutschen. Vor 2000 Jahren: Als die Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und
Germanen das Römische Reich bezwangen“; Focus vom die römischen Germanen (München 2008); Bertelsmann-
2. 3. 2009: „Der Ursprung der Deutschen. 2000 Jahre Verlag: T. Bendikowski, Der Tag, an dem Deutschland ent-
Varusschlacht oder wie wir wurden, was wir sind“; Stern stand. Die Geschichte der Varusschlacht (München 2008).
(Nr. 44 vom 22. 10. 2009): „2000 Jahre Varusschlacht. Campen-Verlag: D. Husemann, Der Sturz des römischen
Archäologen entwerfen ein neues Bild unserer kriegeri- Adlers. 2000 Jahre Varusschlacht (Frankfurt a. M. 2008);
schen Vorfahren“. – Dazu auch: Lotta. Antifaschistische Deutscher Taschenbuch-Verlag (DTV): H. D. Stöver,
Zeitung aus NRW (Sommer 2009): „Mythos Varus- Der Sieg über Varus. Die Germanen gegen die Weltmacht
schlacht. Die Erfindung der deutschen Nation“. Rom (München 2009); Fischer-Verlag: R.-P. Märtin, Die
28 Es wurden insgesamt 10 Folgen. – Laut Abschlussbe- Varusschlacht. Rom und die Germanen (Frankfurt a. M.
richten (s. Anm. 20) gab es ca. 30000 Meldungen in den 2008); Imhoff-Verlag: B. Götte, Die Varusschlacht. Die
Printmedien und ca. 5000 Artikel in Online-Medien. List des Arminius (Petersberg 2008); Klett-Cotta-Verlag:
29 Vgl. etwa die vierteilige ZDF-Dokumentationsreihe Die B. Dreyer, Arminius und der Untergang des Varus. Warum
Germanen in Terra X (2009) oder auch die zweiteilige die Germanen keine Römer wurden (Stuttgart 2009); Krö-
Serie in ARD und ZDF Kampf um Germanien. Dazu ner-Verlag: M. Sommer, Die Arminiusschlacht. Spurensu-
zählt auch die Reihe Sturm über Europa, in der sich eine che im Teutoburger Wald; Propyläen-Verlag: C. Pantl, Die
Sendung ausführlich mit der Varusschlacht befasste. Varusschlacht. Der Germanische Freiheitskrieg (Stuttgart
Über die Lokalisierung, den Verlauf und die Bedeutung 2009); Reclam-Verlag; L. Walther (Hg.), Varus, Varus!
der Varusschlacht, aber auch über die ihrer Protagonis- Antike Texte zur Schlacht im Teutoburger Wald (Stuttgart
ten Varus und Arminius für Deutschland und Europa 2008); Thorbecke-Verlag: H.-D. Otto, Die Schicksals-
wurde auch in ernsthaften Talkshows immer wieder dis- schlacht im Teutoburger Wald (Ostfildern 2009); Philipp
kutiert. Den Abschlussberichten (s. Anm. 20) ist zu ent- von Zabern-Verlag: Varusschlacht im Osnabrücker Land.
nehmen, dass es insgesamt über 350 Fernseh- und Ra- Museum und Park Kalkriese (Mainz 2009).
diobeiträge gab. 32 So z.B. R. Gordian, Die Germanin (Mainz 2009); P.
30 Etwa Archäologie in Deutschland mit dem von R. Wiegels Harms, Arminius. Die Rückkehr (Berlin 2009); M. Hopp,
herausgegebenen Sonderheft Plus 2007 „Varus- Lübbings Varusschlacht (Kassel 2005); B. Löppenberg, Si-
schlacht – Wendepunkt der Geschichte?“; Damals 5, gurd der Brukterer im Kampf gegen die Römer (Gelnhausen
2009 „Varus contra Arminius. Roms Kampf gegen die 2009); H. Multhaupt, Varus. Von Herodes in die Schlacht
‚Barbaren‘“; Geo Epoche Nr. 34, 12/08 „Die Germanen“; im Teutoburger Wald (Leipzig 2009); M. Römling, Sig-
National Geographic Nov. 2007 „Arminius schlägt Varus. num – Die verratenen Adler (Münster 2009); U. Schmidt,
Kampf um Germanien“; P.M. History Special (Juni Die List des Arminius Bd. 2: Der überlebende Legionär
2009) „Im Reich der Kelten und Germanen – Gaius Flaminius berichtet (Frankfurt a. M. 2008).
2000 Jahre Schlacht im Teutoburger Wald“.

432 HEINZ-GÜNTHER HORN


gut tut. Bekanntermaßen gehört Klappern zum Handwerk, schafft Klappern Aufmerksamkeit und
Wertschätzung.
Das alles hat m.E. aber mit „Varus im 21. Jahrhundert und der kulturpolitischen Gestaltung des
Varus-Jubiläums“ nur wenig zu tun. Nicht, dass ich mit dem bislang Vorgetragenen das Thema des heu-
tigen Abends verfehlt hätte. Nein, das war schon gleichsam ‚aus dem Leben gegriffen‘. Ich bin aber zu-
tiefst davon überzeugt, dass
a) Varus – sieht man einmal von den Erinnerungen an ihn ab, die das Jahr 2009 offenbar deutsch-
landweit hat wecken können – im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts keine Bedeutung mehr haben
wird. Er, Arminius/Hermann und die Ereignisse des Jahres 9 n. Chr. bleiben wohl nur dort wirklich prä-
sent, wo sie auch bislang schon das Selbstverständnis eines Ortes oder einer Region gestärkt haben und
vermarktet wurden: in Kalkriese und im Osnabrücker Land, in Detmold und Lippe;
und b) es – allen Beteuerungen zum Trotz – an keinem der drei Ausstellungsorte eine wirklich kul-
turpolitische, auf Verstetigung und Nachhaltigkeit angelegte Gestaltung des Varus-Jubiläums gegeben
hat bzw. gibt. Dazu war alles zu ereignisfixiert, haben einfach gemeinsame Visionen, längerfristige Ab-
sprachen und Strategien gefehlt.
In Kalkriese stand im Jubiläumsjahr fast ausschließlich das Bestreben insbesondere der Varus-
schlacht im Osnabrücker Land gGmbH – Museum und Park Kalkriese im Mittelpunkt, ein eingeführtes
Markenzeichen – eben den aus ihrer Sicht zweifelsfreien Schlachtort des Jahres 9 n. Chr. – unbeschadet
weiter zu vermarkten, wobei die kritische Auseinandersetzung mit der Quellenlage und der damit ver-
bundene wissenschaftliche Abgleich, der möglicherweise zumindest zu einem Fragezeichen hinter der
Verortung hätte führen können, außen vor blieben. Zweifel waren und sind in Kalkriese nicht erlaubt.
Im Jubiläumsjahr ging und geht es dort hauptsächlich um eine Verstetigung des ‚Produktes‘ Varus-
schlacht durch bauliche Maßnahmen und Events, die in dieser Form aber auch zukünftig das Pro-
gramm und die Öffentlichkeitsarbeit der Einrichtung bestimmen werden.
In Detmold sorgten sich durchaus einflussreiche Teile der Öffentlichkeit, Verwaltung und Politik
in der nach wie vor festen Zuversicht, dass die Varusschlacht nirgendwo anders als in Ostwestfalen-
Lippe stattgefunden hat, vorrangig um die lippische Identität und das lippische Ansehen. Die Ausstel-
lungsmacher hatten es da schwer, in der Ausstellung andere, dem Land Lippe in den Augen so mancher
unter Umständen abträgliche Facetten anzusprechen. So gab es anfangs Überlegungen, auf das Thema
‚Hermann, die Germanen und das Dritte Reich in Lippe‘, insbesondere seine Bedeutung im Wahl-
kampf von 1933, gänzlich zu verzichten.33 Wenn dies ‚kulturpolitische Gestaltung‘ heißt, dann war sie es
dort, allerdings mit äußerst lokalem Bezug und ohne souveräne Weitsicht.
Die Ausstellung in Haltern hatte – so betrachtet – die geringsten Konfliktpotenziale. Römische
Reichskunst zu sehen, und das in Perfektion, dazu noch in Haltern, konnte in allen politischen und
weltanschaulichen Lagern nur Zustimmung finden. Sieht man einmal davon ab, dass sich dadurch das
Halterner Römermuseum endgültig in die Reihe ambitionierter und beachtenswerter Ausstellungsorte
in Deutschland hineinkatapultierte oder seine Chancen auf die Förderung eines Archäologischen Parks
auf dem Gelände des ehemaligen sogenannten Hauptlagers von Haltern durch das Land Nordrhein-
Westfalen vergrößerte, kann man auch dies nicht einer wissentlich kulturpolitischen Gestaltung des
Varus-Jubiläums zurechnen.

33 Man befürchtete auch, das Thema werde erneut von der Monatshefte 59. Jg. 2/2009: „Mit Arminius begann es:
Rechten Szene adaptiert, was allerdings ohnehin nicht 2000 Jahre deutscher Freiheitskampf“. – Dazu u.a.:
zu verhindern war. Vgl. z.B. Nation&Europa. Deutsche Losemann (2009); Lohmann u. Raabe (2009).

VARUS IM 21. JAHRHUNDERT 433


Was also bleibt von dem dreiteiligen, länder- und institutionenübergreifenden Ausstellungsprojekt
anlässlich der Varusschlacht vor 2000 Jahren, was mehr ist als die eindrucksvollen Kataloge im festen
Schuber, die das derzeitige archäologische und historische Wissen – dazu noch in geballter Form – ver-
fügbar halten, oder
– ein zwar weit verbreitetes, auf lange Sicht jedoch eher punktuelles und strohfeuerartiges Medien-
interesse,
– eine öffentliche, allerdings auch nicht länger anhaltende Diskussion um ein wichtiges, aber keines-
wegs epochales Ereignis der deutschen und europäischen Geschichte,
– der Glaube möglicherweise vieler geschichtsinteressierter Bürger und Bürgerinnen, jetzt endlich
zu wissen, ‚wie die Römer und Germanen gehen‘,
– die gelegentliche interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Missbrauch des Themas, wie
etwa das eintägige Kolloquium des Kölner NS-Dokumentationszentrums mit dem Titel ‚Die Erfin-
dung der Deutschen – Rezeption der Varusschlacht und die Mystifizierung der Germanen‘,34 oder
– schließlich die Zufriedenheit der örtlichen Politik, Touristiker, Gastronomen und Hoteliers?35
Ich wage keine Prognose; die Zeit wird erweisen müssen, ob sich durch die zahlreichen Veranstal-
tungen zum Varus-Jahr etwas in den Köpfen der Menschen bewegt bzw. verändert hat. Ich bin da aller-
dings eher skeptisch, denn ich gehöre zu jener Spezies von Historikern – ein Archäologe ist selbstre-
dend auch ein solcher –, die davon überzeugt sind, dass man aus der Geschichte heraus zwar manches
erklären, aber nichts lernen kann.
So sehe ich – vom Kulturtourismus im weitesten Sinne einmal abgesehen – bis heute eigentlich
erst einen wirklichen Gewinner: die Wissenschaft. Im Vorfeld des Varus-Jahres hat sie sich zumindest
in Nordrhein-Westfalen mit den römischen Okkupationskriegen in augusteischer Zeit, den germani-
schen Stammes- und Siedlungsverhältnissen um die Zeitenwende und danach sowie den archäologi-
schen und historischen Zeugnissen dazu in dem Gebiet zwischen Rhein und Weser so zielorientiert, in-
tensiv und finanziell abgesichert wie nie zuvor beschäftigen können und es auch getan.36 Die in diesen
Forschungsprogrammen erzielten, oft spektakulären Ergebnisse sind nicht nur in die Ausstellungen in
Haltern und Detmold, aber auch in Kalkriese eingeflossen, sondern auch als z.T. bereits umfassend
publizierte Grundlagen einer weitergehenden, vertiefenden Forschung von bleibendem Wert.37
Zudem gelang es der Geschichtsforschung in ihrer Gesamtheit wieder einmal mehr mit einem
Thema, das offensichtlich aus den unterschiedlichsten Gründen die Menschen bewegt hat, auf breiter
Front zu interessieren und zu mobilisieren sowie erneut ihre ‚Nützlichkeit‘ unter Beweis zu stellen.
Gedenktage und Jubiläen historischer Daten kommen und gehen. Man kann ihnen nicht entge-
hen, noch weniger verhindern, dass sie gefeiert werden. Aber es muss sie auch geben. Häufig bieten sie

34 Inzwischen liegt die Dokumentation dieser Tagung vor: stellung IMPERIUM erhielt wesentliche Impulse durch
Killguss (2009). das Internationale Kolloquium ‚Varus und seine Zeit‘
35 Vgl. hierzu die Abschlussberichte und Analysen: s. am 28./29. 4. 2008 in Münster. Eine erste wissenschaft-
Anm. 20. liche Reflexion der Ausstellungen IMPERIUM KON-
36 Ein erstes wissenschaftliches Kolloquium in Vorberei- FLIKT MYTHOS anlässlich des Varus-Jahres leistete der
tung der im Varus-Jahr geplanten Ausstellungen fand Osnabrücker Kongress ‚Rom – Imperium zwischen Wi-
unter dem Titel ‚Die nördlichen Mittelgebirge im Span- derstand und Interpretation‘ (14.–18. 9. 2009), der sich
nungsfeld römischer und germanischer Politik um u.a. auch mit Fragen der Friedens- und Konfliktfor-
Christi Geburt‘ am 17./18. 6. 2004 in Detmold statt. schung in der Archäologie befasste.
Diesem Zweck diente auch das Internationale Kollo- 37 Vor diesem Hintergrund ist insbesondere der dreiteilige
quium ‚Rom auf dem Weg nach Germanien: Geostrate- Ausstellungskatalog Imperium (2009), Konflikt (2009),
gie, Vormarschstrassen und Logistik‘ vom 4.–6. 11. 2004 Mythos (2009) mit seiner Vielzahl an wissenschaftlich
in Delbrück-Anreppen. Vgl. dazu die titelgleiche Doku- fundierten Beiträgen zu den unterschiedlichsten Aspek-
mentation in: Kühlborn u.a. (2008). Die Halterner Aus- ten des Themas zu sehen.

434 HEINZ-GÜNTHER HORN


allein die einmalige Gelegenheit, in seit langem schmerzlich verspürten Desideraten endlich weiterzu-
kommen und Abhilfe zu schaffen: dort ein Neubau, hier eine Modernisierung, Verbesserungen der In-
frastruktur, personelle Verstärkung oder auch die wissenschaftliche Aufarbeitung und Veröffentlichung
alter Grabungsdokumentationen und deren Material- und Datenbergen. Gedenktage und Jubiläen sind
wie ‚Treibsätze‘, als ‚Zielpunkte‘ setzen sie in Staat und Gesellschaft gewöhnlich einen ungeahnten, oft
mit einem ‚Wir-Gefühl‘ und Euphorie gepaarten Gestaltungs- und Förderwillen frei. Sie dann wie das
Varusschlacht-Jubiläum 2009 im Interesse der allgemeinen Geschichtsvermittlung gegebenenfalls
auch für Wissenschaft und Forschung zu nutzen ist legitim und macht alleine schon Sinn.
In Nordrhein-Westfalen jedenfalls wird man im Gedenken an:
– die Ermordung des Kölner Erzbischofs und Reichskanzlers Engelbert bei Gevelsberg durch Graf
Friedrich von Isenberg 1225,38
– die Auffindung des sogenannten ‚Oberkasselers‘, eines der bedeutendsten Belege des frühen homo
sapiens in Mitteleuropa 1914 in Bonn-Oberkassel39 oder auch
– die Festlegung des Rheins als endgültige Grenze des Römischen Reiches zum sogenannten ‚Freien
Germanien‘ durch Kaiser Tiberius 16 n. Chr.40
in den Jahren 2010, 2014 und 2016 wieder einmal mehr des ‚runden‘ Jubiläums wegen mit gro-
ßen, medien- und publikumswirksamen – so ist zu hoffen – Ausstellungen und Veranstaltungen ande-
rer Art geschichtliche Ereignisse feiern, wo erneut zahlreiche Archäologen und Historiker gefragt sein
werden. Es ist zu hoffen, dass sie alle zu einer planvolleren und nachhaltigeren kultur-, aber auch wis-
senschaftspolitischeren Akzentuierung bzw. Gestaltung genutzt werden, als dies beim ‚Varus-Jubi-
läum‘ 2009 der Fall war.

Literatur

Alamannen (1997) Bökemeier (2002)


Die Alamannen (Katalog zur Ausstellung des Archäolo- Rolf Bökemeier, „Neue Funde im Teutoburger Wald“,
gischen Landesmuseum Baden-Württemberg 1997 in Heimatland Lippe 95/7, 102ff.
Stuttgart u. 1998 in Zürich), Stuttgart.
Bökemeier (2003)
Bérenger (2003) Rolf Bökemeier, „Römerspuren zwischen Währentrup
Daniel Bérenger, „Heimatland Lippe – Streit um die und Berlebeck“, Heimatland Lippe 96/3, 45ff.
Varusschlacht“, Archäologie in Ostwestfalen 8, 40–42.
Horn (2006)
Berke (2009) Heinz-Günther Horn (Hg.), Neandertaler + Co. Eiszeit-
Stephan Berke, „‚haud procul‘. Die Suche nach der jägern auf der Spur – Streifzüge durch die Urgeschichte
Örtlichkeit der Varusschlacht“, in: 2000 Jahre Varus- Nordrhein-Westfalens, Mainz.
schlacht. Mythos (Katalog zur Ausstellung des Land-
schaftsverbandes Lippe in Detmold, 16. Mai – Imperium (2009)
25. Oktober 2009), Stuttgart, 128–133. 2000 Jahre Varusschlacht. Imperium (Katalog zur Aus-
stellung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in
Haltern am See, 16. Mai – 11. Oktober 2009), Stuttgart.

38 Die Ausstellung anlässlich dieses historischen Ereignis- 39 Die Vorbereitungen hierzu laufen bereits im LVR-Lan-
ses wird derzeit mit großem Erfolg im Rahmen der Eu- desMuseum Bonn, das den Oberkasseler Fundkomplex
ropäischen Kulturhauptstadt 2010 Essen (Ruhrgebiet) beherbergt, für eine umfassende Würdigung seiner Auf-
im LWL-Museum für Archäologie/Westf älisches Lan- findung vor dann 100 Jahren auf vollen Touren.
desmuseum Herne gezeigt. Vgl. den umfangreichen Ka- 40 In Nordrhein-Westfalen böten sich vor allem die Mu-
talog Ritter (2010). seumsstandorte Bonn, Köln, Xanten oder Haltern an, die-
ses Ereignis in 2016 gebührend ins Gedächtnis zu rufen.

VARUS IM 21. JAHRHUNDERT 435


Karolingerzeit (1999) Löttel (2009)
Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Holger Löttel, „‚Märtyrer der Freiheit‘. Antikenmythen
Papst Leo III. in Paderborn (Katalog zur Ausstellung des in den europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhun-
Diözesanmuseums in Paderborn, 23. Juli – 1. November derts“, in: 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos (Katalog zur
1999), 3 Bde., Mainz. Ausstellung des Landschaftsverbandes Lippe in Det-
mold, 16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart, 155–163.
Kehne (2008)
Peter Kehne, „Neues, Bekanntes und Überflüssiges zur Mythos (2009)
Varusschlacht und zum Kampfplatz Kalkriese“, Die 2000 Jahre Varusschlacht. Mythos (Katalog zur Ausstel-
Kunde N.F. 59, 229–280. lung des Landschaftsverbandes Lippe in Detmold,
16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart.
Killguss (2009)
Hans-Peter Killguss (Hg.), Die Erfindung der Deutschen. Ritter (2010)
Rezeption der Varusschlacht und Mystifizierung der Ger- Ritter, Burgen und Intrigen. AufRuhr 1225 – Das Mittel-
manen. Dokumentation zur Fachtagung am 3. Juli 2009, alter an Rhein und Ruhr (Katalog zur Ausstellung des
Köln. Westf älischen Landesmuseums in Herne, 27. Februar –
28. November 2010, Mainz.
Konflikt (2009)
2000 Jahre Varusschlacht. Konflikt (Katalog zur Ausstel- Roots (2006)
lung der Varusschlacht im Osnabrücker Land GmbH Roots. Wurzeln der Menschheit (Katalog zur Ausstellung
in Museum und Park Kalkriese, 16. Mai – 25. Oktober des Rheinischen Landesmuseums in Bonn, 8. Juli –
2009), Stuttgart. 19. November 2006), Mainz.

Krieg und Frieden (1998) Rost (2009)


1648 – Krieg und Frieden in Europa (Katalog zur Ausstel- Achim Rost, „Das Schlachtfeld von Kalkriese. Eine
lung des Westf älisches Landesmuseums für Kunst und Quelle für die Konfliktforschung“, in: 2000 Jahre Varus-
Kulturgeschichte in Münster u. des Kulturhistorischen schlacht. Konflikt (Katalog zur Ausstellung der Varus-
Museums und Kunsthalle Dominikanerkirche in Osna- schlacht im Osnabrücker Land GmbH in Museum und
brück, 25. Oktober 1998 – 17. Januar 1999), 3 Bde., Park Kalkriese, 16. Mai – 25. Oktober 2009), Stuttgart,
Münster. 68–77.

Kühlborn u.a. (2008) Schäfer (2009)


Johann-Sebastian Kühlborn u.a. (Hgg.), Rom auf dem Christoph Schäfer, „Alte und neue Wege. Die Erschlie-
Weg nach Germanien: Geostrategie, Vormarschstrassen ßung Germaniens für die römische Logistik“, in:
und Logistik, Mainz. 2000 Jahre Varusschlacht. Imperium (Katalog zur Aus-
stellung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe in
Liudger (2005) Haltern am See, 16. Mai – 11. Oktober 2009), Stuttgart,
805: Liudger wird Bischof. Spuren eines Heiligen zwischen 203–209.
York, Rom und Münster (Begleitbuch zur Ausstellung
des Stadtmuseums in Münster, 12. März – 11. Septem- Schäferjohann-Bursian (2003)
ber 2005), Mainz. Iris Schäferjohann-Bursian, „Fehlstart in Lippe? – Das
Varusschlacht-Jubiläum 2009 wirft seine Schatten
Lohmann u. Raabe (2009) voraus“, Heimatland Lippe 96/3, 42–44.
Johannes Lohmann u. Jan Raabe, „Hermann statt Hit-
ler. Die Rezeption der Varusschlacht in der extremen Schwarzenberg (2007)
Rechten“, Lotta 35, 13–15. Marcel Schwarzenberg, „Wo starben Varus‘ Legionen
wirklich?“, Chronico. Magazin für Geschichte [online:
Losemann (2009) http://chronico.de/magazin/geschichtsszene/wo-star-
Volker Losemann, „Die ‚Kulturhöhe‘ der Germanen. ben-varus-legionen-wirklich/ vom 10. 1. 2007].
Spuren der NS-Germanenideologie“, in: 2000 Jahre
Varusschlacht. Mythos (Katalog zur Ausstellung des Springhorn, Treude u. Zelle (2003)
Landschaftsverbandes Lippe in Detmold, 16. Mai – Rainer Springhorn, Elke Treude u. Michael Zelle,
25. Oktober 2009), Stuttgart, 234–242. „Das Varusschlacht-Jubiläum 2009 wirf seine Schatten
voraus. Wird die Schlacht erneut geschlagen?“, Heimat-
land Lippe 96/5, 114–117.

436 HEINZ-GÜNTHER HORN


Bildnachweise (nach Beiträgern)

Wolters – Abb. 1: Andreas Thiel, Die Römer in Deutsch- seum Bonn (Hg): Krieg und Frieden. Kelten – Römer –
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schen Landesmuseum Bonn, ein Museum des Land-
Johne – Abb. 1: Nationalmuseum Neapel, Winckel- schaftsverbandes Rheinland: 21. 06. 2007–06. 01. 2008,
mann-Institut, Seminar für Klassische Archäologie der Darmstadt 2007, Abb. 155; 8. Johann-Sebastian Kühl-
Humboldt-Universität zu Berlin, Photosammlung; born, Schlagkraft. Die Feldzüge unter Augustus und
2: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbe- Tiberius in Nordwestdeutschland. In: L. Wamser (Hg.):
sitz, Antikensammlung Inv. SK 342. Foto: M. Hege- Die Römer zwischen Alpen und Nordmeer. Zivilisatori-
wisch; 3: Porträt des M. Vipsanius Agrippa, Staatliche sches Erbe einer europäischen Militärmacht. Katalog-
Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Antiken- Handbuch zur Landesausstellung des Freistaates Bay-
sammlung Inv. SK 1858; 4: Johne (2006), Seite 81. ern (12. 5.–5. 11. 2000). Schriftenreihe der Archäologi-
Karte von V. Vaelske nach Entwürfen des Verfassers er- schen Staatssammlung, Mainz 2000, Abb. 24; 9. Ga-
stellt; 5: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kul- briele Rasbach, Waldgirmes. In: Landschaftsverband
turbesitz, Antikensammlung, Inv. SK 392; 6: Johne Rheinland/Rheinisches Landesmuseum Bonn (Hg):
(2006), Seite 216. Karte von V. Vaelske nach Entwürfen Krieg und Frieden. Kelten – Römer – Germanen.
des Verfassers erstellt; 7: Ny Carlsberg Glyptothek Ko- Begleitbuch zur Ausstellung im Rheinischen Landes-
penhagen, Inv. 1445; 8: Staatliche Museen zu Berlin, museum Bonn, ein Museum des Landschaftsverban-
Preußischer Kulturbesitz, Antikensammlung Inv. SK des Rheinland: 21. 06. 2007–06. 01. 2008, Darmstadt
1801; 9: Johne (2006), Seite 151. Karte von V. Vaelske 2007, Abb. 195; 10. © Römisch-Germanische Kom-
nach Entwürfen des Verfassers erstellt. mission, Frankfurt am Main.

Wendt – Abb. 1,2;3: EasyDB; 4:Wikimedia Commons, Meyer – Abb. 1: Nach Moosbauer (2009) Abb. 1;
www.commons.wikimedia.org, Zugriff: 23. 1. 2012; 5: 2: Nach Moosbauer (2009) Abb. 2; 3: de Rijk (2007)
A. L. Kuttner, Dynasty and Empire in the Age of Augus- Abb. 64; 4: Foto: M. Brumlich; Versuch im Rahmen der
tus. The Case of the Boscoreale Cups, Berkeley u. a. ‚Langen Nacht der Wissenschaften‘ im Juni 2010 am
1994; 6;7: Wikimedia Commons, www.commons.wiki- Institut für Prähistorische Archäologie der Freien Uni-
media.org, Zugriff: 23. 1. 2012. versität Berlin; 5: Nachweis siehe Fundortnachweis im
Textanhang. M. Meyer.
Baltrusch – Abb. 1: siehe Beitrag von Schnurbein,
Abb. 1; 2: Foto: Robert Stetefeld, Freie Universität Ber- Rost – Abb. 1–3; 6–7: Museum und Park Kalkriese; 4–5:
lin. Christian Grovermann, Osnabrück, für Museum und
Park Kalkriese; 8: Nach Horn (1987), Taf. 1b.
von Schnurbein – Abb. 1. Collage: Morten Hegewisch;
2. © Römisch-Germanische Kommission, Frankfurt Hegewisch – Abb. 1: www.polona.pl.dlibra/doccon-
am Main; 3. Johann-Sebastian Kühlborn, Die Lippe- tent2?id=61, Seite 6 (Zugriff: 2. 2. 2012). Bearbeitung:
trasse. Zum Stand der archäologischen Forschungen M. Hegewisch; 2: M. Hegewisch; 3: Heimbs (1925)
während der Jahre 1996 bis 2006 in den augustei- Abb. 1–2; 4: Schuchhardt (1926) Abb. 1; Grundlage
schen Lippelagern. In: Johann-Sebastian Kühlborn Satellitenbild: Google Maps; 5: 1–3 Originaldokumenta-
(Hg.), Rom auf dem Weg nach Germanien: Geostrate- tion, Archiv der Römisch-Germanischen Kommission,
gie, Vormarschtrassen und Logistik, Bodenaltertümer Frankfurt am Main; 3. Schuchhardt et al. (1926), Abb. 2;
Westfalens 42, Mainz 2008, Abb. 10; 4. Johann-Sebas- 6: Schuchhardt et al. (1926), Abb. 3–5; 7: Zeichnungen
tian Kühlborn (Hg.), Germaniam pacavi – Germanien M. Hegewisch; 8: Zeichnungen und Fotos M. Hege-
habe ich befriedet. Archäologische Stätten augustei- wisch; 9: Nach Harnecker/Tolksdorf-Lienemann
scher Okkupation. Westf älisches Museum für Archäo- (2004) Abb. 26–27; 10: Nach Harnecker/Tolksdorf-Lie-
logie – Amt für Bodendenkmalpflege, Münster 1995, nemann (2004) Auswahl der Taf. 3–7; 11: M. Hegewisch
Abb. 12; 5. Klaus Grote, Der römische Militärstütz- nach Neumann (1982), Abb. 24; 12: M. Hegewisch; 13:
punkt an der Werra bei Hedemünden. In: Landschafts- Neumann (1982), Taf. 6,B; Jørgensen (2003), Abb. 13;
verband Rheinland/Rheinisches Landesmuseum Bonn 14: Andersen 1993, Abb. S. 24 unten; 15: 1–3. Original-
(Hg): Krieg und Frieden. Kelten – Römer – Germanen. dokumentation, Archiv der Römisch-Germanischen
Begleitbuch zur Ausstellung im Rheinischen Landes- Kommission, Frankfurt am Main; 4. Grundlage Satelli-
museum Bonn, ein Museum des Landschaftsverban- tenbild: Google Maps; 16: Oben: Landesmuseum Han-
des Rheinland: 21. 06. 2007–06. 01. 2008, Darmstadt nover, Archiv. Umzeichnungen: M. Hegewisch nach
2007, Abb. 163; 6. ebd. Abb. 165; 7. Johann-Sebastian Originalzeichnungen im Landesmuseum Hannover,
Kühlborn, Das augusteische Hauptlager von Haltern. In: Archiv.
Landschaftsverband Rheinland/Rheinisches Landesmu-

BILDNACHWEISE 437
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Berlin; 3: Wikimedia Commons, www.commons.wiki- vaterländische Cultur und Gemeinwohl, Jg. 4 (1838),
media.org, Zugriff: 14. 12. 2011; 4–5: Staatsbibliothek Nr. 1; 3: Hellfaier, Karl-Alexander, Die Bandel-Samm-
Berlin; 6;8–9;12–15: Lippische Landesbibliothek; 7: lung der Lippischen Landesbibliothek Detmold in der
Staatsbibliothek Berlin; 10: Wikimedia Commons, Dokumentation, Detmold 1975, S. 45; 4: Petri, M. L.,
www.commons.wikimedia.org, Zugriff: 16. 12. 2011; 11: Festrede bei der Schließung des Grundsteingewölbes
Sammlung Strauss, New York; 16: Staats- und Univer- zum Hermanns-Denkmale im Teutoburger Walde, am
sitätsbibliothek Hamburg, Sign.: A/7697. 8. September 1841, Lemgo 1842; 5: Magazin für vater-
ländische Cultur und Gemeinwohl, Jg. 7 (1841), Nr. 23;
Puschner – Abb. 1: Traeger, Jörg, Der Weg nach Wal- 6: Die Gartenlaube, Jg. 22 (1875), Nr. 38; 7: Kladdera-
halla, Regensburg 1987, S. 85; 2: Otten, Frank, Ludwig datsch, Jg. 28 (1875), Nr. 37 u. 38; 8: Die Gartenlaube,
Michael Schwanthaler, München 1970, Abb. 30; 3: Das Jg. 22 (1875), Nr. 38; 9;11: Sammlung Wilfried Mellies,
Harzer Bergtheater bei Thale in 44 Abbildungen, Leip- Foto: J. Ihle, Lippisches Landesmuseum; 10; 13–14: Lip-
zig 1912, S. 34; 4: Germanisches Nationalmuseum pische Landesbibliothek; 12: Von Wahlert, R., 50 Jahre
Nürnberg, Sign.: HB 50213, Kaps.: 131; 5: Bayerische Hermanns-Denkmal, Amtliche Festschrift, Detmold
Staatsbibliothek München; 6: Das malerische und ro- 1925, S. 30–31.
mantische Westfalen, Aspekte eines Buches, Westf äli-
sches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Beyrodt – Abb. 1: Museum Schloss Pyrmont, Dauer-
Münster, 1. 12. 74–19. 1. 75, Münster 1974, Tafel 56; 7: leihgabe d. Stiftung Niedersachsen; 2: Tiroler Landes-
ebd. Tafel 57; 8: Schwanold, Heinrich, Arminius, die museum Ferdinandeum, Kunstgeschichtliche Samm-
Varusschlacht und das Hermannsdenkmal, Festschrift lungen, Sign.: Gem. 299; 3: Stadtarchiv Krefeld, Foto:
zur Neunzehnhundertjahrfeier der Schlacht im Teuto- Fotostudio Hesterbrink 4: München, Neue Pinakothek.
burger Walde, 2. Auflage, Detmold 1909, S. 48–49; 9: Artothek Bildnr. 884. Fotograf: Blauel/Gnamm – Arto-
Punch, Ausgabe vom 11. März 1871; 10a: Kladdera- thek; 5: Hamburger Kunsthalle, Sign.: HK-1048, Foto:
datsch, Jg. 25 (1872), Nr. 29 u. 30; 10b: Bismarck. Eine BPK, Elke Walford.
Vision, Oberhausen / Leipzig 1882, S. 55; 11: Marr der
Zweite, Jeiteles Teutonicus, Harfenklänge aus dem ver- De Gemeaux – Abb. 4: © Castermann, Belgien; 5:
mauschelten Deutschland, Bern 1879; 12: Kladde- Abb. 5: © Standaard Uitgeverij, Belgien; 6: Zeichnung
radatsch Jg. 60 (1907), Nr. 44; 13: City of New Ulm nach Postkartenmotiv, Überarbeitung: Stefan Noack.
(Minesota), www.new-ulm.mn.us Zugriff: 14. 12. 2011;
14: Conservation Solutions Inc., www.conservation- Vorblatt: Waltraud Forelli, Atelier Anselm Kiefer, Pa-
solutions.com, Zugriff: 14. 12. 2011; 15: www.waymar- ris,waltraud.forelli@ribotte.fr;
king.com, Zugriff: 14. 12. 2011; 16: Bartels, Adolf, Rasse,
Sechzehn Aufsätze zur nationalen Weltanschauung, Trenner 1: LVR-Landesmuseum Bonn. Foto: H. Lilien-
Hamburg 1909, S. 183; 17: Peter Haslinger (Hg.), thal; Trenner 2: Wikimedia Commons, www.com-
Schutzvereine in Ostmitteleuropa, Marburg 2009, mons.wikimedia.org, Zugriff: 23. 1. 2012; Trenner 3: Rö-
S. 154, Abb. 5a; 18: Dahn, Felix, Armin der Cherusker, misch-Germanische Kommission, Frankfurt am Main;
Erinnerungen an die Varus-Schlacht im Jahre 9. nach Trenner 4: Sammlung Uwe Puschner. Foto: Stefan
Chr., Mit 17 Bildern nach Originalen von A. Hoffmann, Noack; Trenner 5: Collage M. Hegewisch. Titelbild: Ent-
München 1909; 19: Sammlung Wilfried Mellies, Foto: wurf M. Hegewisch. Foto Varus: Robert Stetefeld, Freie
J. Ihle, Lippisches Landesmuseum; 20: Bundesarchiv, Universität Berlin.
Bildarchiv, Bild 118–130; 21: Sammlung Uwe Puschner;
22: Sammlung Wilfried Mellies, Foto: J. Ihle, Lippi- Urheberrechtsinhaber, die wir nicht ermitteln konnten,
sches Landesmuseum; 23: Sammlung Wilfried Mellies, bitten wir um Kontaktaufnahme.
Foto: J. Ihle, Lippisches Landesmuseum; 24: Screens-
hots u. Collage: Stefan Noack; 25: www.zwermann.info,
Zugriff: 14. 12. 2011; 26: Sammlung Uwe Puschner.

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