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Topoi
Berlin Studies of the Ancient World
Edited by
Excellence Cluster Topoi
Volume 7
De Gruyter
2000 Jahre Varusschlacht
Edited by
Ernst Baltrusch
Morten Hegewisch
Michael Meyer
Uwe Puschner
Christian Wendt
De Gruyter
ISBN 978-3-11-028250-4
e-ISBN 978-3-11-028251-1
ISSN 2191-5806
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX
I. Prooemium
Reinhard Wolters
Die Schlacht im Teutoburger Wald. Varus, Arminius und das römische Germanien . 3
Klaus-Peter Johne
Das Stromgebiet der Elbe im Spiegel der griechisch-römischen Literatur . . . . . 25
Alexander Demandt
Das Bild der Germanen in der antiken Literatur . . . . . . . . . . . . . 59
Christian Wendt
Die Oikumene unter Roms Befehl. Die Weltherrschaft als Antrieb der römischen
Germanienpolitik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Ernst Baltrusch
P. Quinctilius Varus und die bella Variana . . . . . . . . . . . . . . . 117
III. In situ
Michael Meyer
hostium aviditas. Beute als Motivation germanischer Kriegsführung . . . . . . . 151
Morten Hegewisch
Von Leese nach Kalkriese? Ein Deutungsversuch zur Geschichte zweier linearer
Erdwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
INHALTSVERZEICHNIS VII
IV. Cura posterior
Klaus Kösters
Endlose Hermannsschlachten … . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
Uwe Puschner
„Hermann, der erste Deutsche“ oder: Germanenfürst mit politischem Auftrag.
Der Arminius-Mythos im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 257
Heide Barmeyer
Denkmalbau und Nationalbewegung. Das Beispiel des Hermannsdenkmals . . . 287
Henning Holsten
Arminius the Anglo-Saxon. Hermannsmythos und politischer Germanismus
in England und den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Wolfgang Beyroth
„Steh auf, wenn du Armine bist …“ Ein kunsthistorischer Essay . . . . . . . . 391
Christine de Gemeaux
Arminius, Ambiorix und Vercingetorix aus französischer Perspektive.
,Kleine Heimat‘ versus Imperium in Geschichtsschreibung und Comics . . . . . 403
V. Epilogos
Heinz-Günter Horn
Varus im 21. Jahrhundert. Zur kulturpolitischen Gestaltung des Varus-Jubiläums . . 423
Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
VIII INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort
Im Jahr 2009 fand ein Jubiläum besonderer Art statt: 2000 Jahre zuvor, im Jahr 9 n. Chr., besiegten auf-
ständische Germanen unter der Führung des Cheruskerfürsten Arminius (,Hermann‘) den römischen
Statthalter Varus in der berühmten ,Schlacht im Teutoburger Wald‘.
Wie einschneidend dieses Ereignis war, wusste bereits der römische Geschichtsschreiber Tacitus,
denn er nannte Arminius „ohne Zweifel den Befreier Germaniens“ (liberator haud dubie Germaniae).
Mit dieser römischen Niederlage wurde der Verzicht des römischen Imperiums verbunden, Germanien
östlich des Rheins und nördlich der Donau zu erobern. Wie immer dieser Zusammenhang historisch
auch zu beurteilen sein mag, so ist es doch eine Tatsache, dass die Römer nur den südlichen und west-
lichen Teil des heutigen Deutschlands ,romanisierten‘. Auf diese Weise hatte die Varusschlacht also un-
bestreitbare Nachwirkungen.
Aus diesem Anlass wurde an der Freien Universität Berlin 2009 eine Ringvorlesung unter dem Titel
,2000 Jahre Varusschlacht. Geschichte – Archäologie – Legenden‘ veranstaltet. Sie wurde unter interdis-
ziplinären Gesichtspunkten konzipiert, da auch das Ereignis selbst vom 19. Jahrhundert an von unter-
schiedlichen Fachdisziplinen in den Blick genommen wurde; der vorliegende Band soll nun sowohl den
Ertrag und die Relevanz der Veranstaltung dokumentieren als auch erstmals das Zusammenwirken der
vielf ältigen disziplinären Ansätze in einer möglichst facettenreichen Gesamtschau betonen.
Dieser Gesichtspunkt lag bereits der Planung der Ringvorlesung zugrunde: Die übergreifende Be-
handlung dreier mit der Varusschlacht verbundener Komplexe sollte Hörern und nun den Lesern die
Bedeutung des Ereignisses – sowie die Grenzen seiner Bedeutung – plastisch vor Augen führen.
Die historische Dimension: Sie ergibt sich aus dem Faktum, dass ein Herrschaftsraum, der bereits
auf dem Wege der ,Romanisierung‘ war, von der damals alles beherrschenden römischen Macht aufge-
geben wurde. Die Beiträge gehen der Frage nach, wie die Varusschlacht historisch eingeordnet werden
kann. Wie kann man ,germanische‘ Identität fassen, und was wissen wir nicht zuletzt über den weib-
lichen Anteil am gesellschaftlichen und politischen Leben? Welches war der Charakter römischer
Herrschaft, von der sich die Germanen ,befreiten‘?
Die archäologische Dimension: Die augusteischen Bestrebungen, Germanien zu erobern, haben
reichhaltige Spuren im Boden hinterlassen. Sie erlauben es, ein genaues Bild der römischen Vorstöße,
Strategien und Präsenz zu zeichnen. Die römischen Lager an der Lippe werden seit mehr als 100 Jahren
erforscht, und seit wenigen Jahren gibt es mit Waldgirmes an der Lahn den gesicherten Nachweis einer
rechtsrheinischen Stadtgründung. Dies ist ein deutliches Zeichen, dass die römische Herrschaft rechts
des Rheins nicht allein militärischer Natur war. Sensationelle Funde in Kalkriese bei Osnabrück seit 1987
zeigen ein umfangreiches Schlachtfeld aus der Zeit um 9 n. Chr. – den ,wahren‘ Ort der Varusschlacht?
Die wirkungsgeschichtliche Dimension: Mit dem Beginn der Frühen Neuzeit begann in vielen eu-
ropäischen Ländern die Suche nach ,Ur-Helden‘, die einen Nationalmythos begründen konnten. In
Deutschland identifizierte man mit ,Hermann‘ dem Cherusker jenen Helden, dessen ,Befreiungs-
kampf‘ mythentauglich und – wie sich zeigen sollte – mit dem Übergang zum 19. Jahrhundert politisch
instrumentalisierbar war. Der Mythos hat in den Jahrhunderten seit der Wiederentdeckung der Ger-
mania des Tacitus im 15. Jahrhundert vielf ältige Entwicklungen durchlaufen und – insbesondere – ein
facettenreiches Kunstschaffen ausgelöst, das von zahlreichen Barockopern bis hin zum monumentalen
Hermannsdenkmal bei Detmold reicht.
VORWORT IX
Wichtig ist den Herausgebern, deutlich zu machen, wie unterschiedlich sich die Forschung in vielen
Fragen in Hinblick auf die Varusschlacht positioniert hat und wie sehr Versuche einer Vereinnahmung
des Themas durch Politik, Ideologie und Medien bereits im Ansatz daran kranken, dass eine communis
opinio längst nicht in Sicht ist, weder im Hinblick auf die geographische Lokalisierung des Schlacht-
geschehens noch auf die historische Bewertung. Auch die verschiedenartige Wahrnehmung im inter-
nationalen Kontext findet Berücksichtigung.
Der alle Erwartungen sprengende Erfolg der Ringvorlesung ,2000 Jahre Varusschlacht. Geschichte –
Archäologie – Legenden‘ war ein Gradmesser für das öffentliche Interesse an dieser Thematik und eine
Bestätigung des Konzeptes, die disziplinenübergreifende Herangehensweise dem Publikum vorzustel-
len. Eine konstant hohe Zahl an Zuhörerinnen und Zuhörern von ca. 300 Personen besuchte die Vor-
träge im Hörsaal 1a der sogenannten Rostlaube an der Freien Universität, die Fluktuation war gering,
die Themen offensichtlich zugkräftig. Dies ermöglichte eine Fülle von Diskussionen, die sich an die
etwa einstündigen Vorträge anschlossen. Dabei zeigte sich, dass sowohl Fachkollegen und Spezialisten
als auch interessierte Laien den Weg in den Hörsaal gefunden hatten. Lebhaft und durchaus kontrovers
tauschte man sich aus, problematische Felder wie etwa die privaten Sondengänger oder das Marketing
wurden ebenso gestreift, wie sich insbesondere die Altertumswissenschaftler immer wieder der Frage
stellen mussten, wie sie es denn selbst mit dem möglichen Ort der Varusschlacht hielten.
Die nach jedem Vortrag lebendig geführten Diskussionen konzentrierten sich besonders auf Fra-
gen zur Lokalisation und Datierung von Ereignissen und Funden, etwa der Identifizierung befestigter
Lager, zu ökonomischen Motiven und logistischen wie strategischen Hintergründen und natürlich zur
Rezeption des Ereignisses und der handelnden Personen in diversen Zusammenhängen und mit Hilfe
vieler naheliegender wie auch überraschender Analogien.
Sowohl die Besucherzahlen als auch die rege Beteiligung des Auditoriums bestärkten die Heraus-
geber in der Idee, die Ringvorlesung in Form eines gedruckten Werks zu dokumentieren. Viele Anfra-
gen, wo und wann es denn die Beiträge nachzulesen gebe, erreichten uns nicht nur aus dem Kreis der
Zuhörerschaft. Drei Jahre, nachdem die erste Woge an Jubiläumspublikationen abgeebbt und verarbei-
tet ist, können wir nun gleichsam die ,Nachlese‘ des Jahres 2009 vorlegen.
Dank der großzügigen Finanzierung durch den Berliner Exzellenzcluster TOPOI waren wir nicht
nur in der Lage, die Veranstaltung durchzuführen, sondern nun auch innerhalb der Reihe ,TOPOI. Ber-
lin Studies of the Ancient World‘ des Verlags De Gruyter den Band vorzulegen. Für dieses Privileg
bedanken wir uns sehr. Sowohl die interdisziplinäre Zusammenarbeit als auch die beherrschenden
Fragestellungen nach räumlichen Kenntnissen von und geeigneten Herrschaftskonzeptionen für Ger-
manien, der archäologisch-historischen Rekonstruktion der Ereignisse sowie dem Nachleben und dem
Einfluss des umgewerteten Arminius- und somit Germanienbildes können exemplarisch für die
Grundfrage des Großprojekts TOPOI gelten: die Beziehung zwischen Raum und Wissen in der Antike
samt ihren Nachwirkungen bis in die Gegenwart.
Die Chronologie der Veranstaltung wurde für die Struktur des Bandes nicht übernommen. Statt
einer ablaufgetreuen Dokumentation haben wir uns entschieden, die Beiträge nach ihren thematischen
Schwerpunkten zu bündeln, um wiederum kenntlich zu machen, welche Perspektiven eingenommen
werden und welche Forschungsansätze die wissenschaftliche Auseinandersetzung prägen. Auch die
Gegenüberstellung einzelner Positionen soll den Leserinnen und Lesern auf diese Weise leichter fallen.
Darüber hinaus konnten weitere Autoren – selbst nicht Vortragende im Rahmen der Veranstaltung –
gewonnen werden, die durch zusätzliche relevante Aspekte den Band wesentlich bereichern.
X VORWORT
I. Prooemium
Reinhard Wolters gibt in einem einführenden Kapitel zunächst einen Überblick über das Geschehen
und die allgemeinen politischen Hintergründe wie auch über die aus den Ereignissen des Jahres
9 n. Chr. resultierenden Konsequenzen. Ebenso wird hier ein Schlaglicht auf die Wandlungen gewor-
fen, die innerhalb der antiken Überlieferung vorliegen: Denn erst infolge von Tacitus’ Dictum über
Arminius als dem „Befreier Germaniens“ war die Zuspitzung der Rezeption auf die Bedeutung der Va-
russchlacht möglich.
Das folgende Kapitel ist dem historischen Rahmen der Varusschlacht gewidmet und behandelt die Hin-
tergründe, vor denen der germanische Raum sowie ein römisches Engagement östlich des Rheins zu
verstehen und einzuordnen sind.
Klaus-Peter Johne zeigt in seinem Beitrag „Das Stromgebiet der Elbe im Spiegel der griechisch-römi-
schen Literatur“, wie das Gebiet zwischen Rhein und Elbe in der antiken Wahrnehmung präsent war,
belegt die entscheidenden Wandlungen und betont die wichtige Orientierungsfunktion des Flusses
Elbe. Alexander Demandt zeichnet das Bild der Germanen nach, wie wir es von den antiken Autoren
überliefert finden. Dabei gelingt es ihm, die Vorstellung eines angeblichen Germanentopos zu ent-
kräften, der unisono allen Darstellungen zugrunde liegen würde. Ein – durchaus provokanter – Aus-
blick auf die Kontinuitäten in Mittelalter und Neuzeit beschließt seine Ausführungen. Dagmar Beate
Baltrusch gibt einen Einblick in die bislang weitgehend vernachlässigte Welt der germanischen Frauen.
Die Gewissheit, mit der in vereinzelten Publikationen Aussagen über die Stellung und Rolle der Frauen
gemacht wurden, wird hier kritisch hinterfragt. Zudem unterstreicht Baltrusch, welch entscheidenden
Einfluss Frauen in kultischem und politischem Kontext ausüben konnten und wie ungeklärt ihre kon-
kreten Aufgaben und ihr Status letztlich sind. In seinem Beitrag „Die Oikumene unter Roms Befehl.
Die Weltherrschaft als Antrieb der römischen Germanienpolitik?“ entwirft Christian Wendt die Entwick-
lung des römischen Weltherrschaftsgedankens als konstitutives Merkmal der Genese des Prinzipats
und wirft die Frage auf, inwiefern die Expansion nach Germanien durch eben dieses Motiv der schran-
kenlosen Herrschaft angestoßen und geleitet wurde. Ernst Baltrusch hinterfragt die Berechtigung, mit
der das vorwiegend negative Urteil antiker Autoren über P. Quinctilius Varus gef ällt wurde. Konträr
zur derzeit vorherrschenden Auffassung, die in Varus einen hervorragenden Verwaltungsfachmann er-
kennen will, dessen Bild aufgrund seiner Niederlage tendenziös verzerrt wurde, beleuchtet Baltrusch
dessen Statthalterschaft in Syria, um auch in diesem Zusammenhang ein kaum von Wissen über
einen schwierigen Herrschaftsraum geprägtes Vorgehen seitens des römischen Statthalters zu diagno-
stizieren. In einer übergreifenden Bestandsaufnahme kann Siegmar von Schnurbein zeigen, dass die
archäologischen Zeugnisse für Germanien in augusteischer Zeit eine hohe Differenzierung aufweisen:
Waldgirmes – mit dem jüngst gefundenen Kopf des Pferdes einer Reiterstatue (s. das Vorblatt zu Kapi-
tel III) – als die Anlage einer städtischen Siedlung steht etwa eindeutig militärisch orientierten Befesti-
gungen im Lippegebiet gegenüber. Dieser Befund spricht für eine tatsächlich intendierte Eroberung
und Provinzialisierung des germanischen Raums durch Rom.
VORWORT XI
III. In situ
Die Beiträge des Kapitels III beschäftigen sich neben der Schlacht und ihrer Lokalisierung mit dem tat-
sächlichen Fundniederschlag von Schlachtenereignissen, ferner mit der römischen Militärpolitik, der
Motivation germanischer Teilnehmer an der Varusschlacht sowie weiteren Örtlichkeiten und Ereignis-
sen im sogenannten Barbaricum.
Michael Meyer setzt sich mit der Motivation germanischer Kriegführung auseinander und stellt das Ele-
ment der für die Teilnehmer zu erringenden Beute in den Mittelpunkt. Verglichen wird dabei der über-
raschend große Umfang dieser Beute im Verhältnis zum Aufwand germanischer Handwerker, um
etliche tausend Kilogramm an Metallen, Edelmetallen und sonstigen Werkstoffen auf konventionellem
Wege zu gewinnen. Achim Rost und Susanne Wilbers-Rost stellen neue Grabungsergebnisse der Wall-
anlage auf dem Oberesch vor und thematisieren Waffenfunde sowie Knochenreste im Kontext des
Schlachtereignisses. Die Autoren präsentieren zudem ein Interpretationsmodell für das Fundareal von
Kalkriese, um dieses quellenkritisch würdigen zu können. Morten Hegewisch widmet sich kritisch einer
Wallanlage im niedersächsischen Leese, die seit den 1920er Jahren im Verdacht steht, hier habe die bei
Tacitus benannte ,Schlacht am Angrivarierwall‘ des Germanicus stattgefunden. Der Abschnittswall
,Ohle Hoop‘ befindet sich etwa drei Tagesmärsche von Kalkriese entfernt und weist in vielerlei Hinsicht
eine ähnliche Struktur wie die Wallanlage auf dem Oberesch auf. Diskutiert werden außer den Ausgra-
bungsbefunden neben der Wallanlage in Kalkriese weitere gut dokumentierte Befunde aus dem skan-
dinavischen Raum.
Das vierte Kapitel konzentriert sich auf die Rezeption der ,Schlacht im Teutoburger Wald‘ und die In-
strumentalisierung von Arminius seit dem 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart.
Klaus Kösters zeichnet die Etablierung des Arminius-Mythos in der Übergangsepoche vom 15. zum
16. Jahrhundert nach, als Arminius zunächst in den Auseinandersetzungen zwischen der römischen
Kurie und dem Heiligen Römischen Reich argumentativ funktionalisiert, zusehends zur deutschen
Symbolfigur aufgebaut und nun auch in ,Hermann‘ umbenannt wurde. Arminius avancierte in den bei-
den folgenden Jahrhunderten im deutschen, französischen und italienischen Sprachraum zum litera-
rischen und Opernhelden und geriet mit dem aufgeklärten 18. Jahrhundert zusehends in nationale
Fahrwasser. Mit der Expansion Frankreichs und Napoleons Vorherrschaft in Europa stieg ,Hermann‘
nun endgültig zum Nationalheros auf, wie Uwe Puschner ausführt, und wurde bis ins 20. Jahrhundert
hinein zum Symbol im Kampf zunächst gegen den äußeren – französischen – Feind und seit der Reichs-
gründung verstärkt auch die imaginierten sogenannten inneren Reichsfeinde. Der Ort des politischen
Mythos war seit dem Kaiserreich das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald bei Detmold, dessen
Entstehungsgeschichte von der nachnapoleonischen Zeit bis zur Denkmalsenthüllung 1875 und den
Jubiläumsfeiern 1909 und 1925 Heide Barmeyer schildert und analysiert. Arminius/Hermann und die
Varusschlacht waren seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur fester Bestandteil nationaler deutscher
Narrative, sondern auch der englischsprachigen Welt, wo der Römerbezwinger, wie Henning Holsten
in dieser ersten grundlegenden Untersuchung der britischen und US-amerikanischen Rezeptionsge-
XII VORWORT
schichte in einer dichten Beschreibung herausarbeitet, als Symbol von spezifischen Freiheitsideen
figurierte, ebenso wie er der Selbstbehauptung der Deutschamerikaner in ihrer dominant ,englischen‘
und von anderen Einwanderungsgruppen geprägten Umwelt Ausdruck verlieh. Neben der Inszenie-
rung von Arminius/Hermann seit der Frühen Neuzeit durch Literaten, Opernlibrettisten und Kompo-
nisten verliehen seit dem Übergang zum 19. Jahrhundert dem deutschen Freiheitshelden und der Va-
russchlacht prominent bildende Künstler Gestalt, wie Wolfgang Beyroth aufzeigt. Sie leisteten damit
einen wichtigen Beitrag für die Verankerung des Mythos in der nationalen Gedächtniskultur im 19. und
frühen 20. Jahrhundert und wirkten in der Gegenwart im Verbund mit Historikern, Schriftstellern und
Publizisten an der kritischen Auseinandersetzung mit diesem deutschen Nationalmythologem und
dessen – noch nicht abgeschlossener – Entzauberung mit. Die französische Sicht auf die dortigen Iko-
nen des Widerstands gegen das Imperium Romanum verdeutlicht Christine de Gemeaux anhand der
Aufnahme in die Populärkultur der bandes dessinées/comic-Literatur und stellt die divergente Rezeption
der Freiheitshelden in einen europäischen, ja sogar einen aktuellen strategischen Zusammenhang.
V. Epilogos
Als Kapitel V beschließt das – bewusst im Rededuktus verbliebene – Vortragsmanuskript von Heinz-
Günther Horn den Band, so wie der Referent auch die Veranstaltung mit seinen Rück- und Einblicken
auf und in die Festveranstaltungen zum Varus-Jubiläum beschlossen hat. Die pointierte Darstellung
politischer Zusammenhänge und organisatorischer Schwierigkeiten beleuchtet die Hintergründe des
Feierjahres 2009 auf eine besondere, nicht ironiefreie Weise und zeigt auf diesem Weg, wie kompliziert
sich das Ringen um Deutung und Deutungshoheit nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene bzw. in der
intellektuellen Debatte gestaltet, sondern auch in der breitenwirksamen Vermittlung.
Die Herausgeber bedanken sich bei Hans Kopp und Stefan Noack, die beide mit großem Engagement
die Mühen der Bildbeschaffung und Textvereinheitlichung übernommen haben und zudem an der Re-
daktion des Bandes in erheblichem Maße mitgewirkt haben. Ohne ihre Arbeit wäre der Band nicht in
der vorliegenden Form entstanden. Ein weiterer großer Dank gilt den Personen und Institutionen, die
ihre Einwilligung zum Abdruck von Bildmaterial gegeben haben, das sich in ihrem rechtlichen Verfü-
gungsrahmen befindet; im besonderen seien hier genannt Dr. Wilfried Koch, Wilfried Mellies, die Baye-
rischen Staatsgemäldesammlungen, die Kunsthalle Hamburg sowie das Stadtarchiv Krefeld, das
LVR-Landesmuseum Bonn, das Deutsche Theatermuseum München, die Verlage Standaard Uitgeverij
und Castermann, die Staatsbibliothek Berlin, die Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, die Mi-
chael Pereckas Stiftung Niedersachsen, das Germanische Nationalmuseum, City of New Ulm (Minne-
sota), Conservation Solutions Inc., sowie www.zwermann.info, die uns die Nutzung unentgeltlich über-
lassen haben.
Ernst Baltrusch, Morten Hegewisch, Michael Meyer, Uwe Puschner, Christian Wendt
VORWORT XIII
I. Prooemium
Der sog. Caelius-Stein, der Kenotaph des Centurio Marcus Caelius (geboren um 45 v. Chr., gestorben 9 n. Chr. in der Varusschlacht).
Reinhard Wolters
Im Herbst des Jahres 2009 jährte sich die sogenannte ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ zum zweitau-
sendsten Mal. In ihr vernichteten germanische Kämpfer unter Führung des Cheruskers Arminius das
Heer des römischen Feldherrn Publius Quinctilius Varus. Der Verlust von drei Legionen sowie neun
Hilfstruppeneinheiten, insgesamt wohl zwischen 15000 und 20000 Mann, war eine der großen Nie-
derlagen in der Geschichte des Imperium Romanum. Für den Norden Europas wiederum zählen das
Ereignis und seine politischen Hintergründe zu den ältesten Vorgängen, die – über die Historiker des
Römischen Reiches – Eingang in die geschichtliche Überlieferung gefunden haben.1
Die imposante Rundzahl von 2000 Jahren lenkte, zumal in Deutschland, hohe publizistische Auf-
merksamkeit auf das vergangene Geschehen. Die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger wurden in
Presse, Rundfunk und Fernsehen in groß aufgemachten Geschichten über die Germanen, die römi-
schen Eroberungsversuche rechts des Rheins sowie das Scheitern Roms belehrt. Höhepunkt war im
Sommer 2009 die Ausstellung ,Imperium – Konflikt – Mythos‘, die als größte historische Sonderaus-
stellung in der Geschichte der Bundesrepublik, verteilt auf drei Städte und zwei Bundesländer, zu se-
hen war: im westf älischen Haltern als einem der hervorragenden Orte aus der Zeit der römischen
Herrschaft in Germanien; im Lippischen Landesmuseum in Detmold, zugleich dem Ort des Her-
mannsdenkmals; schließlich in Kalkriese nördlich von Osnabrück als mutmaßlichem Ort der Varus-
katastrophe. Gerade noch rechtzeitig zum Bimillennium schien es mit der Entdeckung eines römisch-
germanischen Kampfplatzes 1989 bei Kalkriese gelungen zu sein, dem historischen Ereignis einen Ort
zu geben.
Die Politiker versäumten in ihren Grußworten genauso selten wie die Medien in ihren Berichten,
für das Jahr 2009 eine bedeutungsschwere Reihe aufzumachen: ‚2000 Jahre Schlacht im Teutoburger
Wald, 60 Jahre Gründung der Bundesrepublik Deutschland, 20 Jahre Mauerfall‘. Die ‚Schlacht im Teu-
toburger Wald‘ wurde in Deutschland vorrangig als ein Teil der deutschen Geschichte wahrgenommen,
und der Begriff ‚Jubiläum‘ war an der Tagesordnung.
Doch auch ohne den zweitausendsten Jahrestag konnte das Thema ‚Die Römer in Germanien‘ be-
reits in den letzten beiden Jahrzehnten ganz erhebliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Denn neben
Kalkriese gab es eine Fülle spektakulärer archäologischer Neuentdeckungen von römischen Militärplät-
zen oder gar von römischen Städtegründungen, bis tief in das rechtsrheinische Gebiet hinein. Die Neu-
funde haben unser Bild von der Zeit der römischen Herrschaft in Germanien auf eine weitgehend neue
Grundlage gestellt. Die archäologischen Funde helfen, die schriftlichen Quellen immer wieder neu zu
lesen und zu verstehen.
1 Für eine deutlich ausführlichere Entwicklung des The- ist auf die drei umfassenden Kataloge der Ausstellung
mas mit dichter Dokumentation der Quellen sowie ,Imperium – Konflikt – Mythos‘ hinzuweisen (Imperium
der strittigen und abweichenden Positionen in der For- [2009]; Konflikt [2009]; Mythos [2009]) sowie Dreyer
schung sei auf die Monographie Wolters (2009a) ver- (2009) und Aßkamp u. Esch (2010). Ein ordnender
wiesen. Die vorliegende Skizze folgt weitgehend dem Überblick zu der im Umfeld des Jahres 2009 ausgebro-
Wortlaut des Vortrags und beschränkt sich auf die wich- chenen Publikationsflut bei Kehne (2009a).
tigsten Nachweise sowie Nachträge. Als neuere Literatur
Will man sich heute den historischen Ereignissen um die ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ annähern, so
stehen dem eine Reihe von Schwierigkeiten entgegen. Zum einen ist dies die ausgesprochen dürftige
Quellenlage zu den damaligen Vorgängen, zum zweiten das oft schwierige Verhältnis zwischen archäo-
logischer und literarischer Überlieferung, und drittens sind es die ‚Bilder‘, die sich die verschiedenen
Jahrhunderte von diesem Ereignis gemacht haben: Seit dem Humanismus war das Thema nicht nur Ge-
genstand wissenschaftlicher Untersuchungen, sondern ebenso von politischen Pamphleten, Dramen,
Romanen und Gedichten, Liedern und Opern, Gemälden und Standbildern. Die Darstellungen haben
einen dichten Fluss von Bildern hervorgerufen, die ihre eigene und oft viel eindringlichere Wirklichkeit
erzeugt haben. Das historische Geschehen wurde dadurch in vielem bis zur Unkenntlichkeit entstellt
bzw. liegt darunter begraben. In der Wissenschaft ist längst anerkannt, dass der Rezeption des Ereig-
nisses ‚Schlacht im Teutoburger Wald‘ weitaus mehr Bedeutung zukommt als dem Ereignis selbst.2
Bei jeder Annäherung an das Thema sind also zwei grundverschiedene zeitliche Horizonte aus-
einanderzuhalten: zum einen das historische Ereignis des Jahres 9 n. Chr., bei dem als Germanen be-
zeichnete Stämme im Gebiet rechts des Rheins drei römische Legionen vernichteten – und das es mit
den uns zur Verfügung stehenden Quellen und wissenschaftlichen Methoden historisch zu rekonstru-
ieren gilt. Zum zweiten die Rezeption dieses Ereignisses ab dem 15. Jahrhundert, bei der sich – von Ge-
lehrten ausgehend – die deutschsprachige Bevölkerung nördlich der Alpen in eine Tradition mit den
Germanen setzte und sich mit den Bewohnern Nordeuropas aus der Zeit um Christi Geburt identifi-
zierte.3 Ausgangspunkt waren die wiederentdeckten Schriften der antiken Autoren, insbesondere die
Germania des Tacitus 1455, die Annalen des selben Autors 1507 und die Römische Geschichte des Velleius
Paterculus 1520. Die Humanisten erkannten in diesen Texten ihre eigene Vergangenheit, geschrieben
in der Antike und damit von höchster Autorität. In unhistorischer Weise wurden Einst und Jetzt mitei-
nander gleichgesetzt und die in den Schriften überlieferten Verhaltensweisen der damaligen Germanen
für die eigene Gegenwart normativ: Nun waren die ‚Germanen‘ zu ‚Deutschen‘ und ‚Arminius‘ zu ‚Her-
mann‘ geworden.
Dies alles geschah, obwohl es zwischen der Bevölkerung Nordeuropas in römischer Zeit und jener
im 15. Jahrhundert keine gelebte Tradition mehr gab. Besonders apart ist, dass die Identifikation der
damaligen Deutschen mit den Germanen der Antike auf Grundlage der Texte griechisch-römischer
Autoren vorgenommen wurde, also nicht aufgrund einer Selbstbeschreibung der Träger dieser Kultur,
sondern auf Basis einer von außen vorgenommenen Fremdbeschreibung: Die Verfasser dieser Fremd-
beschreibungen hatten Land und Leute nur in wenigen Fällen selbst gesehen.
Der deutsche Name ‚Hermann‘ (wohl als Übertragung aus dux belli) für Arminius kam im Umfeld
Martin Luthers auf. Von seinen Mitstreitern wurde der Reformator zugleich mit dem Cheruskerfürsten
identifiziert. Den Gegenpart dieses neuzeitlichen Arminius bildete die römisch-katholische Kirche, mit
dem Papst in der Rolle des Augustus oder gar des Varus. Die Parallelsetzung zeigte zugleich an, welche
Seite den Sieg davontragen würde.
Die Rezeption vom späteren 16. bis weit ins 18. Jahrhundert ist charakterisiert durch eine Fülle
primär künstlerischer Bearbeitungen zum Thema ‚Arminius‘ oder ‚Hermannsschlacht‘: als Drama und
2 Vgl. die Beiträge in Fansa (1994); Wiegels u. Woesler 3 Zum Fortleben des Germanen-Mythos s. A. Demandt
(1995); Mythos (2009); dazu von See (1970) u. und K. Kösters im vorliegenden Band.
(2003); Wiegels (2007); Bendikowski (2008); Kösters
(2009).
4 REINHARD WOLTERS
Roman, in Lyrik und als Oper. Oft trat Arminius mit seiner Thusnelda nur noch als Held einer tragi-
schen Liebesbeziehung auf. Erst mit dem Nationalstaat wurde der Arminius-Stoff wieder deutlich poli-
tischer. Auf der einen Seite stand die Tat des Arminius für die Idee der Einigung aller Deutschen, ein
scheinbarer historischer Gegenpol und Vorbild zur Überwindung der deutschen Kleinstaaterei. Doch
auf der anderen Seite diente Arminius in der kulturellen und schließlich politischen Auseinanderset-
zung zwischen Romanismus und Germanismus als Sinnbild germanisch-deutscher Überlegenheit er-
neut der äußeren Abgrenzung. Äußerungen von großer Nachwirkung waren einerseits die 1808 als Re-
aktion auf das Napoleonerlebnis verfasste, offen antifranzösische Hermannsschlacht Heinrich von
Kleists, andererseits das nach dem Sieg über Frankreich und der Reichsgründung von 1871 schließlich
vollendete und mit dem Schwert nach Westen grüßende Hermannsdenkmal bei Detmold.
Schon bald nach der Reichsgründung verband sich der politische Germanismus mit den Ideen des
Rassismus. Für diesen boten nun allerdings stärker die Charakterisierungen der Nordbewohner in der
Germania des Tacitus die antike Vorlage als die historische Tat des Arminius. Die Blütezeit einer deut-
schen ‚Rasse‘ glaubte man in diesem Text zu erkennen, der die Autochthonie und Unvermischtheit der
Germanen ja sogar ausdrücklich hervorhob.4 Zwar war dies ein weit verbreiteter und längst erkannter
Topos antiker Ethnographien, doch die Ausbildung einer Theorie der Rassenhygiene ließ sich davon
nicht beeindrucken – bis hin zu ihren mörderischen Konsequenzen im Nationalsozialismus.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war in Deutschland Germanenforschung jedweder Art erst einmal
gründlich diskreditiert, auch weil manche Wissenschaftler sich mit ihren Arbeiten allzu bereitwillig
in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes gestellten hatten. Erst in den 70er Jahren kam es zu
einer erneuten Hinwendung zu diesem Themenkreis auf breiterer Basis, bis zu der vor wenigen Jahr-
zehnten kaum für möglich gehaltenen Fülle archäologischer, historischer und philologischer Neuer-
scheinungen im Umfeld der Auffindung des Schlachtfeldes von Kalkriese sowie jetzt des Bimillenni-
ums.
Die Vorgänge um den historischen Arminius sind durch diese ebenso massenhafte wie verschie-
denartige Rezeption deutlich überdeckt worden. Selbst die antiken Quellen haben es schwer, gegen die
Kraft der so erzeugten Bilder zu bestehen – und je dünner die Quellenlage ist, desto mehr Raum besteht
bekanntermaßen für Überbrückungen und phantasievolle Ausmalungen.
Die folgenden Ausführungen bemühen sich um eine Rekonstruktion der Varuskatastrophe als his-
torischen Geschehens. Sie gelten nicht der Wiedergeburt des Arminius als Hermann ab dem 15. Jahr-
hundert und dessen ganz eigener Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht. Doch für jede Annähe-
rung auch an den historischen Arminius ist es unerlässlich, die oft so vertraut anmutenden, aber erst in
den Jahrhunderten der Rezeption entstandenen Vorstellungen von ihm – quasi wie ein Archäologe –
Schicht für Schicht abzutragen.
Seit der Eroberung Galliens durch Caesar (58–51 v. Chr.) waren die Germanen Nachbarn des Römischen
Reiches. In beispielloser Weise hatte Caesar das Herrschaftsgebiet Roms von der heutigen Provence –
der schmalen Landverbindung zwischen Italien und dem römischen Spanien – bis an den Atlantik im
4 Tac. Germ. 4.
Nordwesten und den Rhein im Osten vorgeschoben. Innerhalb weniger Jahre gewann er dem Reich das
Gebiet des heutigen Frankreich, der Beneluxstaaten sowie die westlichen Teile Deutschlands hinzu.
Jenseits des Rheins siedelten die Germanen – jedenfalls nannten die Römer sie so.5 Das Problem
eines jeden heutigen Versuchs, die Bewohner rechts des Rheins historisch zu fassen, liegt darin, dass es
zwar archäologische Hinterlassenschaften von ihnen gibt, doch keine eigenen schriftlichen Zeugnisse.
Es fehlen demnach Quellen, die erzählend Zusammenhänge herstellen und dabei die germanische Per-
spektive wiedergeben. Alle uns vorliegenden Berichte über die Bewohner rechts des Rheins stammen
6 REINHARD WOLTERS
von griechischen und römischen Autoren. Häufig sind die Verfasser dieser Schriften nicht einmal in
die Nähe des von ihnen beschriebenen Landes gekommen. Ausführungen zur gesellschaftlichen und
politischen Ordnung der Germanen, zu Lebensweise und Religion, Verhalten in Frieden und Krieg,
dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen, Fürsten, Kriegsführern und Volk
sind demnach als ethnographische Erzählungen zu lesen. Die darin geschilderten Sachverhalte sind
nur im Bewusstsein dieser begrenzten Möglichkeit des Sehens, Verstehens und Ausdrückens der nicht-
eigenen Kultur zu interpretieren.
Nach allem, was wir wissen, wurde der Name ‚Germane‘ von den Bewohnern jenseits des Rheins
niemals als Selbstbezeichnung benutzt. Auch das mit dem einheitlichen Namen suggerierte Bewusst-
sein einer gemeinsamen Identität gab es nicht. Die Bewohner rechts des Rheins waren und fühlten sich
als Sugambrer, Tenkterer, Chatten, Cherusker, Marser oder Chauken. Sie gliederten sich in eine Viel-
zahl von Stämmen, mit eigenen Traditionen und eigener Geschichte, von unterschiedlicher Größe, mit
eigener gesellschaftlicher und politischer Ordnung und mit je eigener Führung. Zwar existierten Kult-
gemeinschaften, und man heiratete, zumal unter den führenden Familien, auch über die Stammes-
grenzen hinweg, doch ebensogut grenzte man sich immer wieder von den anderen Stämmen ab und
war oft genug mit ihnen in Nachbarschaftsfehden verwickelt.
Zudem war die Stammeswelt vergleichsweise instabil. In der Überlieferung oft nur kurz aufschei-
nende und dann wieder verblassende Stammesnamen spiegeln Abspaltungen und Zusammen-
schlüsse, Neubildungen und das Verschwinden von Stämmen. Eine gemeinschaftlich handelnde
Gruppe blieb oft nur so lange stabil, wie eine starke Führung oder der gemeinsame Erfolg sie zusam-
menhielt. Zur Identifizierung und Abgrenzung belegten sie sich selbst mit einem spezifischen Namen –
oder wurden von außen so angesprochen – und konnten sich im Erfolgsfall als ‚Stamm‘ verfestigen.6
Der vereinheitlichende Begriff ‚Germanen‘ für diese differenzierte und heterogene Gesellschaft
wurde überhaupt erst von Caesar in die Mittelmeerwelt getragen. Kern des caesarischen Germanen-
begriffs war eine schiere geographische Abgrenzung, keine ethnologisch differenzierende Beobach-
tung: Der Rhein auf seiner vollen Länge war für Caesar die entscheidende Grenzlinie zwischen Kelten
und Germanen. Mit seinen ethnographischen Exkursen, in denen er die Verschiedenheit zwischen
dem Charakter und der Lebensweise der Kelten links und der Germanen rechts des Rheins beschrieb,
füllte Caesar den Germanenbegriff inhaltlich und übermittelte das Bild zweier grundsätzlich verschie-
dener Völker im Norden Europas.
Die auf gemeinsame Sitten und Gebräuche verweisenden archäologischen Überreste, ergänzt
durch die Namensforschung zur Rekonstruktion alter Sprachgebiete, bieten uns heute jedoch ein an-
deres Bild: Demnach gab es am Rhein eher eine horizontale Abfolge der Kulturen, keine vertikalen Un-
terschiede zwischen Ost und West.7 Im Süden dehnte sich beiderseits des Stroms die Latène-Kultur aus,
die von Spanien über Frankreich und den Süden Deutschlands bis nach Böhmen reichte. Ihre Charak-
teristika sind befestigte Siedlungen (oppida), eine bereits eingeführte Geldwirtschaft und in Ansätzen
auch schon Schriftgebrauch. Nördlich darüber lag im Mittelgebirgsraum eine Übergangszone, die zwar
auch noch oppida und Münzgebrauch aufweist, jedoch mit aufwändigen Bestattungen ein eigenstän-
diges Profil zeigt. Ganz im Norden hingegen, vor allem im niederländisch-norddeutschen Flachland,
gab es dann eine weniger von Ackerbau als von Viehwirtschaft geprägte Gesellschaft mit nur gering ent-
wickelter materieller Kultur. Vorherrschend waren Kleinsiedlungen mit Familienclans, während über-
Rund 40 Jahre nach der Eroberung Galliens durch Caesar begannen unter Augustus die römischen
Feldzüge ins Gebiet rechts des Rheins. Die Kriegszüge sind verbunden mit dem Namen seines Stief-
sohns Drusus, der die römischen Truppen ab 12 v. Chr. Jahr für Jahr weiter ins Land führte und 9 v. Chr.
schließlich die Elbe erreichte. Auf dem Rückweg stürzte Drusus vom Pferd und erlag seinen
Verletzungen. Posthum wurde ihm der Name GERMANICVS verliehen. Der Ehrenname eines ‚Ger-
manensiegers‘ wurde von nun an in seiner Familie erblich.
Mit den Drususfeldzügen verbindet sich die Frage, welche Absichten das Imperium überhaupt
rechts des Rheins verfolgte. Die Antworten reichen von einer eher minimalistischen Perspektive, nach
der es in den Feldzügen nur um die Verteidigung Galliens gegangen sei – wohin immer wieder germa-
nische Kriegergruppen plündernd eingefallen waren und das es nun in einer Art Vorfeldverteidigung
zu beschützen gegolten hätte –, bis zu einer Maximalperspektive, nach der von Anfang an die Vorverle-
gung der Reichsgrenze bis zur Elbe geplant war, wenn nicht noch weit darüber hinaus.8
Die Forschungen der letzten Jahre haben erkennbar gemacht, dass der wissenschaftliche Streit
um Art und Umfang des beabsichtigten römischen Landgewinns den Blick vermutlich lange Zeit
falsch gelenkt hat. Denn in starkem Maße waren die Feldzüge in Germanien innenpolitisch bestimmt,
insbesondere von der Idee einer militärischen Qualifizierung des möglichen Nachfolgers des Augus-
tus.9 Im Feld sollte jener Ruhm erworben werden, der den Kriegsherrn in den Augen der Öffentlich-
keit geeignet erscheinen ließ, zukünftig das Römische Reich zu führen. Es ging weniger um die Ge-
winnung von Land als um die Gewinnung von Prestige. Akzeptiert man diese Perspektive, dann
bedeutet das allerdings auch, dass den Germanen selbst nur die Rolle einer materies gloriae zukam:
eines Gegenstands, der sich eignete, den erhofften Ruhm zu erwerben. Eine wirkliche militärische Be-
drohung konnten die Germanen demzufolge in den Augen der römischen Entscheidungsträger
schwerlich sein.
Eng verbunden mit den Drususfeldzügen ist weiterhin die Frage, was die Römer am Ende dieser
Jahre in Germanien erreicht hatten. Tiberius, der noch aus den Händen seines sterbenden Bruders das
Heer übernommen und 8 v. Chr. umfangreiche Organisationsmaßnahmen in Germanien durchgeführt
hatte, feierte am 1. Januar 7 v. Chr. in Rom einen großen Triumph über die Germanen. Zugleich wurde
die sakrale Stadtgrenze, das pomerium, erweitert – ein Akt, der die Ausdehnung an der Peripherie des
Reiches in seinem Zentrum spiegelte.
Nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen archäologischen Neuentdeckungen in den Gebieten rechts
des Rheins ist die Forschung mittlerweile deutlich optimistischer und geht zum überwiegenden Teil
davon aus, dass diesen Symbolisierungen in Rom auch eine gewisse Realität im Norden zugrunde lag:
Für die Zeit ab 8/7 v. Chr. dürfte das Imperium im germanischen Gebiet bis zur Elbe die Herrschaft be-
8 Neuere Zusammenfassungen der Forschung bei Dei- 9 Insbesondere Kehne (1998); Kehne (2002).
ninger (2000); Johne (2006).
8 REINHARD WOLTERS
ansprucht haben.10 Das bedeutet nicht, dass die römische Herrschaft bis in den letzten Winkel verwal-
tungstechnisch durchgesetzt war. Auch in Gallien vergingen nach den Eroberungen Caesars noch Jahr-
zehnte bis zu einer provinzialen Ordnung. Doch römische Herrschaft bestand in dem Sinne, dass
Ungehorsam als Widerstand bewertet wurde. In intensiver Weise stützte sich Rom auf die Zusammen-
arbeit mit germanischen Stammesführern, die ihre Autorität in den Dienst Roms stellten. Nur mit Hilfe
dieser indirekten Herrschaftsmechanismen war es für das verwaltungsarme römische Herrschaftssys-
tem überhaupt möglich, ein derart großes, heterogenes und verkehrsgeographisch äußerst problema-
tisches Gebiet zu kontrollieren. Mit Blick auf die Varuskatastrophe des Jahres 9 n. Chr. bedeutet die
Feststellung einer römischen Herrschaft ab 8/7 v. Chr. zugleich, dass für rund 20 Jahre, also für beinahe
eine nachgewachsene Generation der Germanen, die ständige römische Präsenz in ihrem Land sowie
ordnende Eingriffe der Vormacht eine normale Lebenserfahrung waren.
Abgesichert wurde die politische Herrschaft durch ein Netz militärischer Standorte. Dieses ist
durch die Entdeckungen der letzten beiden Jahrzehnte in seiner Weiträumigkeit und Dichte immer
besser erkennbar geworden.11 Neben den Einfallswegen von Xanten aus entlang der Lippe sowie von
Mainz aus durch die Wetterau bzw. über Main und Lahn sind mit römischen Militäranlagen bei Markt-
breit (südlich von Würzburg), Bielefeld, Hedemünden (zwischen Kassel und Göttingen) und wohl auch
an der Porta Westfalica neue Plätze identifiziert worden, die römische Präsenz jetzt auch weit im Süd-
und Nordosten dokumentieren. In Lahnau-Waldgirmes bei Gießen ist schließlich ein Ort engen Zu-
sammenlebens zwischen Römern und Germanen mit einer zentralen Platzanlage gefunden worden,
die übereinstimmend als römische Stadtgründung in Germanien angesprochen wird. Derartige Stadt-
gründungen sind zwar bei dem griechischen Autor Cassius Dio beschrieben,12 doch bis zum archäolo-
gischen Fund war seine diesbezügliche Glaubwürdigkeit von der Forschung immer wieder angezwei-
felt worden.
Die Gegner im Teutoburger Wald, Varus und Arminius, erscheinen uns nicht nur als Exponenten einer
militärischen, sondern einer auch grundsätzlichen zivilisatorischen Auseinandersetzung. Als Anführer
ihrer Truppen stehen der Römer und der Cherusker für unterschiedliche politische und gesellschaft-
liche Organisationsformen, verschiedene Kulturen und Kulturstufen sowie weit auseinandergehende
persönliche Motive. Doch die Biographien beider verbindet mehr, als es die unter dem Eindruck der
Varuskatastrophe entstandenen Kontrastierungen vermuten lassen. Beide kannten sich nicht nur per-
sönlich, sondern sie dienten derselben Sache. Jeder wirkte auf seine Weise an der Aufrechterhaltung
der römischen Herrschaft in Germanien. Der Katastrophe voraus ging eine vertrauensvolle Zusam-
menarbeit, bei der Arminius häufig mit Varus zu Tische lag.
Seit Beginn seiner politischen Laufbahn bezeugen die antiken Quellen den um 47/46 v. Chr. geborenen
Publius Quinctilius Varus im engsten Umkreis des römischen Herrschers Augustus.13 Ihm war er bald
auch verwandtschaftlich verbunden: Varus war ein Schwiegersohn des Agrippa, des wichtigsten Helfers
und – bis zu seinem frühen Tod – vorgesehenen Nachfolgers des Augustus. Zugleich war Varus ein
Schwager des Tiberius, des Stiefsohns des Augustus, der dann tatsächlich in der Herrschaft folgte. Nach
dem Tod seiner Frau um 7 v. Chr. heirate Varus die Claudia Pulchra, Enkelin der Octavia, der einzigen
Schwester des Augustus. Von Bedeutung ist, dass er auch mit dieser neuen Ehe sofort wieder in den
engsten Familienkreis des Augustus eingebunden wurde.
Varus bekleidete mit Tiberius 13 v. Chr. den Konsulat. Für beide war es der erste Konsulat, den sie
als ordentliche Konsuln am 1. Januar des Jahres gemeinsam antraten. Derartige Symbole wurden von
der Öffentlichkeit nicht nur sorgf ältig beobachtet, sondern auch gezielt gesetzt. Ein Höhepunkt des ge-
meinsamen Konsulats war der Beschluss zur Errichtung der Ara Pacis, des Friedensaltars für Augustus.
So ist Varus auch in den bedeutendsten und noch heute erhaltenen Zeugnissen der augusteischen Zeit
präsent: Als einer der Teilnehmer ist er in dem langen Prozessionszug auf der Ara Pacis dargestellt –
wohl die Person hinter Tiberius, ein Rang, der ihm zustand –, und ebenso ist Varus in den Res Gestae,
dem Tatenbericht des Augustus, nach Theodor Mommsen „die Königin der Inschriften“, namentlich
erwähnt.14
Nach seinem Konsulat bekam Varus die mächtigsten und prestigeträchtigsten Provinzen des Rö-
mischen Reiches zur Verwaltung: Africa, wohl in den Jahren 7/6 v. Chr., sowie Syrien in den Jahren 6
bis 4 v. Chr. In Syrien befehligte Varus vier Legionen, mehr also, als mit ihm in Germanien untergingen.
Mit großer Entschiedenheit schlug er in Judäa einen Aufstand nieder, der sich dort nach dem Tod des
Herodes erhoben hatte. Durch den jüdischen Schriftsteller Flavius Josephos besitzen wir eine detail-
lierte Beschreibung seiner dortigen Tätigkeit.15 Varus bewährte sich in Judäa sowohl als Militär, Verwal-
tungsbeamter wie als persönlicher Vertrauter des Augustus im Kontakt zum befreundeten judäischen
Kaiserhaus. Als er zu Beginn des Jahres 7 n. Chr. Germanien zur Verwaltung bekam, war er Mitte 50,
einer der ranghöchsten Aristokraten Roms, erfahren als Verwaltungsfachmann und als Militär, dem
Herrscher und Herrscherhaus persönlich verbunden: Das Kommando am Rhein war der ehrenvolle
Abschluss einer großen Karriere.
4.2 Arminius
Die Informationen über den Germanen Arminius sind quellenbedingt weitaus schlechter.16 Aus den
Überlieferungssplittern der griechischen und lateinischen Literatur sind von der neueren Forschung
verschiedene Biographien rekonstruiert worden. Zu den gesicherten Elementen zählt, dass Arminius
ein Fürstensohn der Cherusker war. Die Cherusker wiederum waren ein germanischer Stamm, der mit
Rom besonders eng kooperierte und im Gegenzug vielfache Förderung erfuhr.
Arminius wurde 18 oder 16 v. Chr. geboren, war 9 n. Chr. also ca. 25 bis 27 Jahre alt, halb so alt wie
sein Gegner. Die Führung der Cherusker hatte zu dieser Zeit wohl noch sein Vater Segimer. Arminius
13 Syme (1986); Nuber (2008); Salzmann (2009); Eck 15 S. dazu E. Baltrusch im vorliegenden Band, mit teils ab-
(2010). weichenden Wertungen.
14 R. Gest. div. Aug. 12. 16 Immer noch grundlegend: Timpe (1970); vgl. Kehne
(2008); Wolters (2009a) 89ff.; Kehne (2009b).
10 REINHARD WOLTERS
selbst befehligte das Aufgebot der Cherusker, die als Verbündete an der Seite des römischen Heeres
kämpften. Möglicherweise stand er mit seinen Landsleuten um 7/8 n. Chr. südlich der Donau, wo er ge-
meinsam mit den römischen Berufssoldaten einen Aufstand der Pannonier gegen die römische Herr-
schaft niederschlug.
Für seine Dienste erhielt Arminius von Rom hohe und höchste Auszeichnungen: Er bekam das rö-
mische Bürgerrecht und selbst den Rang eines römischen Ritters. Arminius sprach selbstverständlich
Latein, und er war ein Waffenkamerad des römischen Historikers Velleius Paterculus. Dieser hatte
selbst an den römischen Feldzügen in Germanien teilgenommen. Dem Augustussohn und -nachfolger
Tiberius war Arminius mit Sicherheit über Jahre persönlich vertraut.
Der erfolgreiche Überfall auf die römischen Legionen ist überhaupt nur durch diese politischen und
militärischen Hintergründe zu erklären. Protagonisten waren die Cherusker, doch selbst diese waren
uneinig: Die Quellen berichten von Richtungskämpfen.17 Teile der cheruskischen Führung, so der
Schwiegervater des Arminius, Segestes, sollen dem Varus sogar den geplanten Abfall angezeigt haben.
Varus entschloss sich jedoch, dem bis dahin mit seinem Leben für Rom kämpfenden und mit der Spitze
der römischen Führung verkehrenden Arminius zu vertrauen. Denunziationen gehörten sicherlich
zum Alltag eines römischen Legaten.
Für den Verlauf der Varuskatastrophe liegt ein vergleichsweise detaillierter Bericht des Cassius Dio
vor. Der Bericht stammt zwar erst aus dem beginnenden 3. Jahrhundert n. Chr., doch Philologen und
Historiker stimmen darin überein, dass Cassius Dio sehr gute, zeitnahe Quellen zu Verfügung standen.
Seine Darstellung des Geschehens wird mehrheitlich als glaubwürdig angesehen.18
Demnach war die Vernichtung der Legionen keine eigentliche Schlacht, sondern ein viertägiges
Kampfgeschehen über einen weiten Raum: Die Germanen sollen Varus, der sich mit seinem Heer in
der Nähe der Weser aufhielt, einen Unruheherd angezeigt haben. Darauf zog Varus mit drei Legionen,
die von Tross, Wagen, Frauen, Sklaven und Kindern begleitet wurden, zu diesem Unruheort aus. Die
Mitführung des umfangreichen Trosses ist ein Hinweis, dass er das Heer wohl in die Quartiere an den
Rhein zurückführen wollte. Dort war die Masse der Soldaten den Winter über besser zu versorgen als in
den Quartieren rechts des Rheins. Aus logistischen Gründen wurden die Besatzungen in den rechts-
rheinischen Anlagen während des Winters deutlich reduziert. Wenn Varus sein Heer zugleich zum
Rhein zurückführen wollte, so ist davon auszugehen, dass er sich von der Weser aus grob in Richtung
Westen bewegte.
Zu dem angezeigten Unruhegebiet zogen die Legionen durch schwieriges, durch Wälder, Berge
und Sümpfe charakterisiertes Gelände, dessen Durchquerung noch während des Marsches immer wie-
der Erschließungsarbeiten notwendig machte. Offensichtlich war es mit einer derart großen Men-
schenmenge noch nicht passiert worden. Hier kam es zum plötzlichen ersten Überfall der Germanen.
Zuvor hatten sich die Stammesführer unter dem Vorwand, weitere Verstärkung zu holen, aus dem Ver-
band entfernt. Aus der Perspektive des römischen Heeres bedeutet dies, dass die in Waffen auf den
17 Vell. 2,118,3f.; Tac. ann. 1,55,3; 60,1; Flor. epit. 2,30,33; 18 Cass. Dio 56,18–23; dazu Manuwald (2007). Eine hand-
Cass. Dio 56,19,3. liche Zusammenstellung der wichtigsten Quellen jetzt
bei Walther (2008). Zur Überlieferungskritik, mit teils
abweichender Gewichtung: John (1963).
12 REINHARD WOLTERS
Fehlens eines Germanicushorizonts im archäologischen Befund dieser Region, erhebliche Probleme.
Ebenso sind die Widersprüche zwischen der literarischen Überlieferung zur Varuskatastrophe einer-
seits und dem Fundplatz von Kalkriese andererseits auch nach mittlerweile 20 Jahren archäologischer
Forschung eher größer als kleiner geworden.21
Aus römischer Perspektive war die Niederlage des Varus kein Einschnitt: Die drei verlorenen Legionen
wurden sofort ersetzt, dazu zwei weitere neu aufgestellt, so dass am Rhein nun insgesamt acht Legio-
nen, mit Hilfstruppen wohl über 80000 Mann standen. Nach Sicherung der Rheingrenze operierten
die römischen Truppen zwischen 10 und 13 n. Chr. wieder rechts des Stroms. Militärstützpunkte wur-
den neu angelegt und Straßen befestigt.22
Der unverändert bestehende Herrschaftsanspruch über Germanien kommt deutlich in den
14 n. Chr. an mehreren Stellen des Reiches veröffentlichten Res Gestae zum Ausdruck. Im außenpoliti-
schen Teil des letztmals 13 n. Chr. von Augustus redigierten Textes heißt es mit Bezug auf Germanien:
„Die Provinzen Galliens und Spaniens, ebenso Germanien habe ich befriedet, ein Gebiet, das der Ozean
von Gades bis zur Mündung der Elbe umschließt“.23 Ungeachtet einer möglicherweise bewusst kon-
struierten Doppeldeutigkeit war für den unvoreingenommenen Rezipienten dieser Passage die Befrie-
dung Germaniens nicht Anspruch, sondern Tatsache. Der nicht erwähnten Varuskatastrophe f ällt allen-
falls der Rang einer Betriebsstörung zu, die bald behoben sein würde.
Für die Jahre ab 14 n. Chr. stellen die mit dem Tod des Augustus einsetzenden Annalen des Tacitus
wieder eine detailreichere Überlieferung bereit: Im Zentrum der ersten beiden Bücher des Werks
stehen die Feldzüge des Germanicus, des Sohns des Germanien-Siegers Drusus.24 Jahr für Jahr führte
dieser seine Truppen immer tiefer nach Germanien hinein, mit dem Ziel, auf den Spuren seines Vaters
Drusus dem Römischen Reich das Gebiet bis zur Elbe zurückzuerobern.
Einen Einschnitt brachte erst die Abberufung des Germanicus vom Oberkommando am Rhein
Ende 16 n. Chr. Sie sollte sich wirkungsgeschichtlich als entscheidende Zäsur in der römischen Germa-
nienpolitik erweisen. Die Rückberufung des Germanicus nach Rom erfolgte gegen dessen Willen und
Widerstand. Vorangetrieben wurde sie vom neuen Herrscher Tiberius, zugleich dem besten Germa-
nienkenner seiner Zeit: Zu eklatant war das Missverhältnis zwischen den enormen Verlusten des rück-
sichtslos vordringenden und – gegen die Überlieferung – wohl auch nur mäßig begabten jungen Feld-
herrn und dem wenigen tatsächlich von ihm Erreichten.
Mit der Abberufung des Germanicus wurden die römischen Truppen auf die Rheinlinie zurück-
gezogen. Doch bedeutete der Rückzug keinen förmlichen Verzicht auf das ehemals beherrschte Gebiet
rechts des Rheins. Eher ging es darum, die von Germanicus so gef ährlich verlustreich und nahezu
ohne jede Nachhaltigkeit geführten Feldzüge zumindest für den Moment auszusetzen. Dies zeigt sich
auch daran, dass sich in der römischen Öffentlichkeit und zumal Teilen der senatorischen Aristokratie
der Anspruch auf Germanien noch bis zum Ende des Jahrhunderts hielt, und nahezu jeder Herrscher-
wechsel war, wie zum letzten Mal beim Übergang auf Traian im Jahre 98 n. Chr. von Tacitus formuliert,
mit der Hoffnung verbunden, dass der neue Kaiser diesen Anspruch alsbald Realität werden lassen
21 Vgl. Kehne (2000); Wolters (2000); Chantraine (2002); 22 Vgl. Tac. ann. 1,38,1; 50,1; 4,72f.; Vell. 2,121,1.
Wolters (2007); Berger (2007); Heinrichs (2007); Wigg- 23 R. Gest. div. Aug. 26.
Wolf (2007); Wolters (2010). 24 Timpe (1968); Kehne (1998).
14 REINHARD WOLTERS
Feldschlachten gegen das riesige Berufsheer des Germanicus zu behaupten. Unstrittig war dies der Hö-
hepunkt des politisch-militärischen Lebens des Arminius!
Doch die Spannungen innerhalb der germanischen Stämme, selbst innerhalb der Cherusker, wa-
ren durch die römischen Angriffskriege nur überdeckt. Schon bald, nachdem die Römer Ende 16 n. Chr.
ihre Wiedereroberungsversuche eingestellt hatten, brachen die Konflikte wieder offen aus: Ein Konflikt
betraf das Verhältnis zwischen den beiden Führungsmächten im mittleren und südlichen germani-
schen Raum, zwischen der Reichsbildung des Maroboduus und der Militärkoalition des Arminius. In
einer großen Schlacht stellten der Markomanne und der Cherusker ihre Truppen einander gegenüber.
Arminius siegte, wobei beide Heere bezeichnenderweise in römischer Ordnung kämpften. Doch mit
dem Sieg verlor Arminius einen weiteren Gegner – und Faktor zur Stabilisierung der eigenen Macht.
Denn ohne äußeren Gegenpol vermochte er offensichtlich nicht, seine Stellung zu behaupten. Unge-
f ähr zwei Jahre nach diesem Sieg wurde Arminius durch seine eigenen Verwandten ermordet. Sie war-
fen ihm superbia (Hochmut) vor und auch, dass er sich zum König über seine Landsleute machen
wollte.28
Das erste Jahrhundert n. Chr. ist besonders interessant, weil hier aus einer ex eventu-Perspektive bereits
Umdeutungen und Umwertungen der römischen Okkupationsgeschichte einsetzten, ebenso der Be-
wertung der Varuskatastrophe. Ließ der römische Herrscher Tiberius den Germanicus noch Anfang 17
n. Chr. in Rom einen Triumph über die „bis zur Elbe besiegten Völker“ feiern, so wurden zwei Jahre spä-
ter dieselben Aktivitäten in einem Ehrenbeschluss für den verstorbenen Germanicus nur noch mit den
Worten gewürdigt, ihm sei es gelungen, die Grenzen Galliens vor den Germanen zu beschützen.29
Nicht zuletzt derartig rasche Umdeutungen der Geschehnisse machen es so schwierig, aus den zumeist
erst später einsetzenden literarischen Quellen die Ziele der römischen Unternehmungen rechts des
Rheins zu rekonstruieren.
Doch in Einzelf ällen erlaubt es die literarische Überlieferung, gewissermaßen schichtenweise in
die Veränderungen der zeitgenössischen Vorstellungen vorzudringen. Ein Beispiel ist das sich in zwei
Jahrzehnten völlig verändernde Bild vom römischen Feldherrn P. Quinctilius Varus:
Nach der Selbsttötung des römischen Feldherrn ließ Arminius das Haupt seines Gegners abschla-
gen und übersandte es dem Maroboduus. Der Markomannenkönig schlug dieses indirekte Koalitions-
angebot jedoch aus und schickte den Kopf des Varus weiter nach Rom. Augustus wiederum übergab es
den Quinctiliern zur Bestattung in der Familiengruft. Eine symbolische Ächtung des Varus, etwa um
der Öffentlichkeit einen Haupt- oder Alleinschuldigen zu präsentieren, fand nicht statt: Von einer ge-
wissen Vertrauensseligkeit abgesehen, die in einigen der Quellen anklingt, wurden in erster Linie der
Verrat und die Hinterlist der Feinde für den Verlust der Legionen im Teutoburger Wald verantwortlich
gemacht, dazu das Schicksal. Dessen Wirken entzog das Geschehen vollends der den Menschen gege-
benen Möglichkeiten.
Auf die Stellung der Angehörigen des Varus in Rom hatte die verheerende Niederlage in Germa-
nien keinen Einfluss. Der politische Aufstieg seiner Neffen setzte sich beispielsweise fort. Publius Cor-
28 Tac. ann. 2,88,2. 29 Tac. ann. 2,41,2; Crawford (1996) 515ff. (Tabula Siarensis,
insbes. Frg. I, Z. 12–15); zur Textkonstitution auch Johne
(2006) 194ff.; vgl. Lehmann (1995).
16 REINHARD WOLTERS
Auf der anderen Seite griff Velleius auf eine vorhandene Topik negativer Charakterisierungen zurück.
Das Bonmot zur syrischen Statthalterschaft nimmt kurioserweise eine dem Varus selbst vorgetragene
Klage der Bewohner Judäas gegen Herodes auf.33 Und nur wenige Kapitel zuvor beschreibt Velleius in-
haltlich durchaus ähnlich, wenn auch rhetorisch weniger brillant, den – von ihm gleichfalls herabgewür-
digten – Marcus Lollius als einen Mann, „dem der Gelderwerb allgemein mehr am Herzen lag als eine
ordentliche Amtsführung“.34 Beide Passagen bedienten das ebenso beliebte wie in der Öffentlichkeit
weit verbreitete Bild vom römischen Magistraten, der sich in den Provinzen unrechtmäßig bereicherte.
Zu Lebzeiten des Legaten – oder gar in unmittelbarer zeitlicher Folge seiner syrischen Statthalter-
schaft – wären solche Anwürfe und Urteile undenkbar gewesen. Allein schon die Zugehörigkeit zur Fa-
milie des Herrschers hätte Varus davor geschützt. Doch auch wenn Velleius ihn in einer rhetorisch we-
niger stilisierten Stelle zurückhaltender als „durchaus ernsthaften Mann mit den besten Absichten“
würdigt,35 so sind es vor allem die Charakterisierungen jener abschätzig formulierten Passage – mit de-
nen sich Velleius in der Zeit der Verfolgung der Quinctilii zugleich selbst positionierte –, die seitdem
das Bild von Varus nachhaltig bestimmt haben und Ausgangspunkt weiterer negativer Ausmalungen
der Persönlichkeit des Varus geworden sind:
So bezeichnete Theodor Mommsen den Legaten als „Mann von fürstlichem Reichtum wie von
fürstlicher Hoffart, aber von trägem Körper und stumpfem Geist und ohne jede militärische Erfahrung
und Begabung.“ Allein der „Kopf- und Mutlosigkeit des römischen Feldherrn“ war nach Auffassung des
Historikers die Schuld am Untergang der Legionen anzulasten.36 Als ein „anmaßende(r) und stumpf-
sinnige(r) Grand-Seigneur“ erschien der „von allen guten Geistern verlassene P. Quinctilius Varus“
Ernst Hohl, und „diesen Popanz mit der Verwaltung Germaniens zu betrauen“ war nach diesem His-
toriker ein „verhängnisvolle(r) Entschluss des greisen Augustus“.37 Auch wenn in der jüngeren For-
schung die Charakterisierungen weniger süffig ausfallen, so ziehen sich die in krassem Widerspruch
zur sachgerechten Amtsführung des Varus in Syrien stehenden Vorwürfe hinsichtlich seiner angeb-
lichen militärischen Unerfahrenheit und seines fehlenden Fingerspitzengefühls bis heute durch die
meisten Darstellungen, und sie prägen unser Bild von dem römischen Feldherrn.
Am Ende des zweiten Buchs der Annalen schließt der römische Historiker Tacitus die Germanicus-
Erzählung mit dem Ausblick auf das Schicksal von dessen bedeutendstem militärischen Gegner ab. An
dieser Stelle widmet der römische Senator dem Arminius seinen berühmt gewordenen Nachruf:
„Im übrigen hatte Arminius, der nach dem Abzug der Römer und der Vertreibung Marbods nach
der Königsherrschaft trachtete, den Freiheitssinn der Volksgenossen gegen sich, und als man mit Waf-
fengewalt vorging, kämpfte er mit wechselndem Glück und fiel durch die Hinterlist seiner Verwandten:
Er war ohne Zweifel der Befreier Germaniens (liberator haud dubie Germaniae), der nicht wie andere Kö-
nige und Heerführer das römische Volk in seinen Anf ängen, sondern ein Reich in seiner ganzen Blüte
herausgefordert und in den Schlachten mit wechselndem Erfolg (gekämpft hatte), im Krieg aber unbe-
siegt (geblieben war). Er vollendete das 37. Lebensjahr, davon 12 im Besitz der Macht, und noch heute
besingt man ihn bei den barbarischen Völkern, während er in den Jahrbüchern der Griechen, die nur
Literatur
18 REINHARD WOLTERS
Crawford (1996) Hohl (1942)
Michael Hewson Crawford (Hg.), Roman Statutes I, Ernst Hohl, „Zur Lebensgeschichte des Siegers im Teu-
London. toburger Wald“, HZ 167, 457–475.
20 REINHARD WOLTERS
Wiegels u. Woesler (1995) Wolters (2007)
Rainer Wiegels u. Winfried Woesler (Hgg.), Arminius Reinhard Wolters, „Kalkriese und die Datierung okku-
und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur, pationszeitlicher Militäranlagen“, in: Gustav Adolf Leh-
Paderborn. mann u. Rainer Wiegels (Hgg.), Römische Präsenz und
Herrschaft im Germanien der augusteischen Zeit, Göttin-
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der augusteischen Zeit, Göttingen, 119–134. Arminius, Varus und das römische Germanien, 2. Aufl.,
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Wolters (1989)
Reinhard Wolters, „Tam diu Germania vincitur“. Römi- Wolters (2009b)
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zum Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr., Bochum. römische Germanienpolitik nach der Varuskatastro-
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Wolters (1999) zur Ausstellung des Landschaftsverbandes Westfalen-
Reinhard Wolters, „Germanien im Jahre 8 v. Chr.“, in: Lippe in Haltern am See, 16. Mai – 11. Oktober 2009),
Wolfgang Schlüter u. Rainer Wiegels (Hgg.), Rom, Stuttgart, 210–216.
Germanien und die Ausgrabungen von Kalkriese (Interna-
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schaftsverbandes Osnabrücker Land e.V. vom 2.–5. Septem- Reinhard Wolters, „Die Okkupation Germaniens im
ber 1996), Osnabrück, 591–635. Licht der numismatischen Quellen“, in: Rudolf Aß-
kamp u. Tobias Esch (Hgg.), Imperium – Varus und seine
Wolters (2000) Zeit. Beiträge zum internationalen Kolloquium des LWL-
Reinhard Wolters, „Anmerkungen zur Münzdatierung Römermuseums am 28. und 29. April 2008 in Münster,
spätaugusteischer Fundplätze“, in: Rainer Wiegels Münster, 105–113.
(Hg.), Die Fundmünzen von Kalkriese und die frühkaiser-
zeitliche Münzprägung. Akten des wissenschaftlichen Sym-
posions in Kalkriese (15.–16. April 1999), Möhnesee,
81–117.
Im Sommer des Jahres 9 v. Chr. stand der Stiefsohn des Kaisers Augustus, Nero Claudius Drusus, mit
einem Heer im Inneren Germaniens am Ufer eines breiten Stromes, den vor ihm kein römischer Feld-
herr und keine Legion, vielleicht nicht einmal ein römischer Kaufmann zu Gesicht bekommen hatte –
am Ufer der Elbe. Vom Rhein aus war er durch das Gebiet der Chatten ins Suebenland und von dort zu
den Cheruskern gezogen, durch Teile des heutigen Hessen, Westfalen und Niedersachsen. Nachdem er
die Weser überschritten hatte, rückte er, dem Zeugnis des Cassius Dio zufolge alles verwüstend, bis zur
Elbe vor. Der Prinz ließ am Ufer ein Denkmal errichten und dokumentierte damit die Entdeckung die-
ses Flusses für die griechisch-römische Welt.1 Sein Feldzug hatte eben auch den Charakter einer fremde
Territorien erkundenden Expedition.
Seit diesem Vorgang war die Elbe ein geographischer wie politischer Faktor in Mitteleuropa. Die va-
gen Kenntnisse der vergangenen Jahrhunderte, angefangen vom ‚Bernsteinfluß‘ Eridanos über die aus
dem Arkynischen Gebirge nach Norden fließenden Ströme bei Aristoteles, die mögliche Entdeckung
der Elbmündung bei Pytheas bis hin zu dem doch mit einiger Wahrscheinlichkeit zu vermutenden Wis-
sen Caesars, wurden nun durch die Gewißheit ersetzt, daß im zentralen Germanien ein dem Rhein ver-
gleichbarer großer Fluß parallel zu ihm in den nördlichen Ozean verläuft.
Die Feldzüge, die mit dem Jahr 12 v. Chr. ihren Anfang nahmen, haben das Weltbild der Römer
über den Norden in kurzer Zeit wesentlich erweitert. Scheinen die Kenntnisse zuvor nicht viel über die
am östlichen Rheinufer siedelnden Germanen, die Caesar beschrieben hatte, hinaus gereicht zu haben,
so dehnten sich seitdem von Jahr zu Jahr nicht nur der Einflußbereich Roms, sondern auch die Kennt-
nisse über Germanien in geradezu rasanter Weise aus. Es waren die Jahre, von denen Strabon später
sagte, die Römer hätten den gesamten Westen Europas bis zur Elbe erschlossen.2
Ausgehend von dem Zeitpunkt der ‚Entdeckung‘ der Elbe im Jahre 9 v. Chr. soll in den folgenden
Ausführungen drei Fragen nachgegangen werden:
1. Seit wann waren und wie wurden Griechen und Römern die Elbe und ihr Stromgebiet bekannt?
2. Wann und unter welchen Umständen kann der Plan einer Ausdehnung des Römischen Reiches
bis an diesen Fluß entstanden sein?
3. Welche Rolle spielten die Elbe und die sie umgebenden Landschaften nach dem Scheitern der
Expansionspläne in der antiken Literatur?
Bei der ersten Frage geht es um einen Aspekt des geographischen Weltbildes der Antike. Lange
Zeit waren die Vorstellungen über den mitteleuropäischen Raum bei den griechischen Schriftstellern
äußerst vage. Für die Autoren vom 7. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. war stets die Donau die Begren-
zungslinie in Richtung Norden, an der alle näheren Kenntnisse ihr Ende fanden. Allenfalls in die sche-
menhaften Vorstellungen vom ‚Bernsteinfluß‘ Eridanos könnte ein Wissen von der Elbe mit eingeflos-
sen sein. Dieser Eridanos galt bei dem Dichter Hesiod um 700 v. Chr. als der markante Fluß des
Westens, vergleichbar dem Nil im Süden, der Donau im Norden und dem Phasis in der Kolchis für den
3 Hes. theog. 337–345; grundlegend für die ‚Entdeckung 7 Zu Pytheas und seinen Reisen vgl. Gisinger (1963);
des Nordens‘ die Ausführungen von Timpe (1989). Timpe (1989) 323–332; Nesselrath (2003); Johne (2006)
4 Hdt. 3,115,1f. 30–35; zu seinem Werk Bianchetti (1998).
5 Vgl. Wenskus u. Ranke (1973); Wenskus (1985). 8 Polyb. 3,38,2; vgl. 3,37,8; Lafond u. Olshausen (2000).
6 Arist. meteor. 1,13 p. 350a36–350b10.
26 KLAUS-PETER JOHNE
gallischen Stämmen und vielleicht sogar mit Britannien aufnahmen. Im Laufe der Zeit mußte ihnen
das gallische Fluß- und Wegenetz bis zum Rhein bekannt werden. So lenkten die Vorstöße nördlicher
Völker nach Süden ebenso wie die römische Expansion in Gallien das Interesse griechischer und römi-
scher Autoren verstärkt in einen zuvor fast unbekannten Raum.
Mit den Zügen der Kimbern und Teutonen zwischen 113 und 101 v. Chr. kam die Mittelmeerwelt
erstmals mit Stämmen aus dem weiteren Umfeld der Elbe in Berührung. Die Schlacht von Noreia 113
v. Chr. war der Beginn jahrhundertelanger Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen,
von der verheerenden römischen Niederlage bei Arausio 105 v. Chr. nahm das Bild vom furor Teutonicus,
der „teutonischen Raserei“, seinen Ausgang.9 Schließlich bedurfte es größter Anstrengungen und einer
Heeresreform, um der Gefahr aus dem Norden zu begegnen. Die Einf älle konnten erst in der Provence
und in der norditalienischen Po-Ebene endgültig gestoppt werden. Spätestens in dieser Schlußphase
der Auseinandersetzungen dürfte die Frage aufgeworfen worden sein, woher denn diese Stämme über-
haupt gekommen sind und welcher der bisher bekannten Barbarengruppierungen sie zuzuordnen wä-
ren. Alle einschlägigen Quellen betrachten Kimbern und Teutonen als Küstenbewohner des nördlichen
Ozeans. Die in diesem Zusammenhang genannte Halbinsel ist unstrittig Jütland und Schleswig-Hol-
stein. Interessant für die mittelmeerische Vorstellungswelt ist die Beschreibung ihrer Heimat als „ein
schattiges und waldreiches Land, auf das ganz wenig Sonnenschein falle wegen der Tiefe und Dichte
der Eichenwälder, die sich vom äußersten Ozean bis zum Herkynischen Gebirge erstreckten …“10 Das
Zitat bestätigt einmal mehr die Unerforschtheit Mitteleuropas. Zwischen Nordmeer und Herkyni-
schem Wald gibt es nur undurchdringliche Wälder, aus denen sich die „Barbarenflut“ in den Süden er-
gossen habe.
So unklar wie die geographische war den antiken Schriftstellern auch die ethnische Herkunft die-
ser Stämme. Anfangs wurden sie den Kelten zugeordnet und als ‚Gallier‘ bezeichnet. Da jedoch die Un-
terschiede zwischen Kimbern und Teutonen und den anderen Kelten in den Kriegen ab 113 v. Chr. of-
fenbar wurden, kam die Vorstellung auf, diese Stämme kämen aus dem Grenzgebiet zwischen Kelten
im Nordwesten und den Skythen im Nordosten Europas. Für diese angenommene Mischung aus Kel-
ten und Skythen kam der Begriff ‚Keltoskythen‘ auf.11 Die richtige Erkenntnis in der ethnischen Zuord-
nung wird Caesar verdankt, der, von politisch-propagandistischen Motiven geleitet, die Verbindung zwi-
schen ihnen und den Germanen Ariovists hergestellt hat.12
Die wissenschaftliche Verarbeitung des historischen Geschehens um die Invasoren aus dem Nor-
den leistete Poseidonios von Apameia in der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. Wie niemand vor
ihm interessierte sich dieser Universalgelehrte auch für die terra incognita Mitteleuropas. Auf seinen
heute verlorenen Werken beruht ein großer Teil der von späteren Autoren überlieferten Nachrichten zu
den Kimbern und Teutonen. Außerdem wird ihm die umfangreichste Keltenethnographie verdankt, die
im Altertum geschrieben wurde.13 Darin begegnet wohl zum ersten Mal in der Literatur der Begriff der
Germanen in Verbindung mit einem verbreiteten Topos über nördliche Barbaren.14 Da das Zitat des
Poseidonios jedoch erst in einem kaiserzeitlichen Werk überliefert ist, läßt sich über die Authentizität
des Begriffs letzte Sicherheit nicht erreichen. Unstrittig ist, daß der Gelehrte unter den Germanen, so er
19 Zu Kimbern und Teutonen vgl. Ihm (1899); Franke 11 Plut. Marius 11,6–7; Timpe (1989) 342f.; Dobesch (1995)
(1934); Timpe (2006a); Dietz (1997b); Neumann, Grü- 53–58.
newald u. Martens (2000); Wiegels (2002a); Zimmer 12 Caes. Gall. 1,33,3–4; 40,5–7.
(2005); vgl. auch Trzaska-Richter (1991) 48–79; Johne 13 Reinhardt (1953); Dobesch (1995) 59–110; Inwood
(2006) 39–56. (2001); Malitz u. Reichert (2003).
10 Plut. Marius 11,9; Timpe (1989) 342. 14 Poseid. frg. 22 = Athen. 4,39 p. 153e.
sie denn unter diesem Namen gekannt hat, kein großes und selbständiges Ethnos zwischen Kelten und
Skythen verstand. Sie waren für ihn ein besonders wilder ostkeltischer Stamm oder aber ‚Keltoskythen‘.15
Die Einf älle der nordseegermanischen Stämme bis in die Provence und nach Italien hatte den
Römern die Erkenntnis gebracht, daß die Alpen nicht mehr länger der natürliche Schutzwall für ihr
Staatswesen waren und daß es außer den ihnen seit langem bekannten Kelten noch andere Stämme gab,
die ihnen gef ährlich werden konnten. Seitdem mußte sich die römische Politik auch für die Verhältnisse
nördlich der Alpen interessieren und sich auf Dauer auf einen Feind aus dem Norden einstellen.
Einen markanten Einschnitt in dieser Entwicklung bedeutete in der Mitte des 1. vorchristlichen
Jahrhunderts das Wirken von C. Julius Caesar. Mit der Eroberung Galliens von 58 bis 50 v. Chr. ver-
knüpfte er die Mittelmeerwelt und Mitteleuropa auf Dauer miteinander, mit seinen beiden Rheinüber-
gängen der Jahre 55 und 53 v. Chr. begann die ein halbes Jahrtausend währende Präsenz Roms im
Rheinland, und sein Feldzugbericht eröffnete den Römern auch die Welt der Germanen. Seitdem war
es nur noch eine Frage der Zeit, wann das rechtsrheinische Germanien im Imperium bekannter würde.
Im Rahmen der commentarii de bello Gallico bleibt der erste Rheinübergang trotz des spektakulären
Brückenbaus in der Gegend zwischen Andernach und Neuwied nur eine Episode.16 Im Rückblick be-
gann jedoch in dem Sommer 55 v. Chr. die intensive Phase der römisch-germanischen Auseinanderset-
zungen. Wenn auch die erste Expedition in rechtsrheinisches Gebiet lediglich ein Unternehmen von drei
Wochen Dauer war und das römische Heer den Rhein wieder verließ, so waren doch die Folgen dieses
Vorgangs unübersehbar. Caesar hatte mit dem ersten Brückenschlag über den Rhein in seinem Mittel-
15 Vgl. Walser (1956) 40–46; Timpe (1989) 345; Dobesch 16 Caes. Gall. 4,16–19.
(1995) 61–63; Malitz u. Reichert (2003) 302f.
28 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 2 | Porträt des Caius Julius Caesar,
sog. „Grüner Caesar“, grüner Schiefer.
lauf bisher ganz unbekannte Perspektiven eröffnet. Mit der ältesten Rheinbrücke war gleichsam ein Tor
vom Westen in das zentrale Mitteleuropa aufgestoßen worden. Als erster bezog dieser Feldherr das eu-
ropäische Barbaricum im großen Maßstab in seine Planungen mit ein. Bisher hatte man sich in Rom wie
in den hellenistischen Staaten mit der Abwehr der von Zeit zu Zeit auftretenden barbarischen Plünde-
rungswellen begnügt. Caesar begann jedoch mit der Eroberung Kontinentaleuropas jenseits der medi-
terranen Zone. Der Rhein spielt schon im Eingangskapitel des Bellum Gallicum eine wesentliche Rolle.
Nachdem die Grenzen zwischen Galliern, Aquitaniern und Belgern beschrieben worden sind, werden
letztere als die tapfersten charakterisiert. Eine Ursache für ihre Tapferkeit sei die Nachbarschaft zu den
Germanen, mit denen sie ständig Krieg führen. Die Germanen aber wohnen jenseits des Rheins.17
Hier wird dieser Strom erstmals als die östliche Grenze Galliens bezeichnet und damit auch als das
angestrebte Ziel caesarischer Eroberung. Flußgrenzen galten Caesar im gallischen Raum für selbstver-
ständlich, die Garonne trenne die Gallier von den Aquitaniern, Marne und Seine die Gallier von den
Belgern. Zugleich wird deutlich, daß die Germanen keine Kelten sind und von den übrigen ethnischen
Gruppierungen in Gallien unterschieden werden müssen. Damit widersprach Caesar gleich zu Beginn
seiner commentarii der Autorität des Poseidonios, dessen Auffassung er korrigierte.
Das Bekanntwerden der Germanen in Rom ist untrennbar mit der Person des Heerkönigs Ariovist
verbunden, dessen Auftreten im östlichen Gallien die zweite Hälfte des ersten Buches des Gallischen
Krieges gewidmet ist.18 In einer langen Passage von 25 Kapiteln stehen erstmals in der Literatur Germa-
nen unter diesem Namen im Mittelpunkt des Geschehens. Zugleich ist Ariovist in der Überlieferung
17 Caes. Gall. 1,2,3. Wiegels (2001a); Zimmer, Wolters u. 18 Caes. Gall. 1,30–54; zur Person des Ariovist vgl. Walser
Ament (2003). (1956) 8–36; Christ (1974); Callies (1973); Trzaska-Rich-
ter (1991) 90–101; Will (1996); Fischer (1999) 31–68;
Johne (2006) 60–66.
19 Caes. Gall. 2,3,4; 2,4,1–3 u. 10; Walser (1956) 39f.; von 22 Caes. Gall. 4,19,2–3; zur Rolle des Waldes bei Caesar
Petrikovits (1986); Neumann (1986); Pohl (2000) Nenninger (2001) 126–133.
52–56; Reichert (2001). 23 Caes. Gall. 6,9,1–10,5.
20 Vgl. Caes. Gall. 4,4,1. 24 Vgl. Neumann u. Wenskus (1973); Goetz u. Welwei
21 Caes. Gall. 4,1,3; 1,37,3; 1,54,1; 4,1,3–3,4; zu den schwieri- (1995) I, 340f.; Nenninger (2001) 96.
gen Problemen des Suebenbegriffs vgl. Peschel (1978); 25 Vgl. Johne (2006) 68–73.
30 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 3 | Porträt des M. Vipsanius Agrippa.
gegen Ende dieses Krieges, um das Jahr 51 v. Chr., gestorben.26 Ein weiterer Zeitgenosse war Timagenes
von Alexandria, der sich mit Geschichte und Geographie des Keltenlandes befaßt hat.27 M. Terentius
Varro, der gelehrteste Römer dieses Jahrhunderts, beschrieb in seinem Werk De ora maritima auch den
Verlauf der Meeresküsten und könnte dabei die Elbemündung erwähnt haben.28 Alle Überlegungen
dieser Art bleiben jedoch im Bereich der Vermutung, ein sicherer Nachweis für eine Kenntnis der Elbe
vor der Regierungszeit des Augustus läßt sich nicht erbringen.29
Caesar hat in den Jahren des Gallischen Krieges Germanen erstmals auf ihrem eigenen Territo-
rium bekämpft, er hat das für die Römer fortan verbindliche Bild von den Germanen entwickelt und
wahrscheinlich den geographischen Begriff Germania geprägt, und er hat den Rhein sowohl zur Trenn-
linie zwischen Kelten und Germanen als auch zur Grenze des Imperium Romanum erklärt. Zu seinen
Lebzeiten und in den darauf folgenden drei Jahrzehnten ging es jedoch vorrangig um die Sicherung
Galliens, der Rhein blieb eine ‚Anspruchsgrenze‘.
17 Jahre nach dem Bau der ersten Rheinbrücke überschritt 38 v. Chr. M. Vipsanius Agrippa als
zweiter römischer Feldherr den Rhein. Er war der wichtigste Mitstreiter des späteren Kaisers Augustus
und der bedeutendste Feldherr in der ersten Hälfte von dessen Regierung.30 Im Zentrum seiner Statt-
halterschaften – in den Jahren 20 bis 19 v. Chr. weilte er nochmals in Gallien – standen der Ausbau der
Infrastruktur und die Konsolidierung der römischen Herrschaft in den von Caesar eroberten Gebieten.
26 Walser (1956) 55–57 nimmt für Poseidonios eine Kennt- 28 Vgl. Sallmann (2002) bes. 1131f. und 1139.
nis der Elbe an. 29 Vgl. Deininger (1997) 9.
27 Vgl. Meister (2002). 30 Hanslik (1961); Kienast (1996).
31 Vgl. Eck (2004a) 46–55; Johne (2006) 77–79; Wolters 34 Vgl. Kemmers (2005) 44ff.; Wolters (2008) 27; zur Pro-
(2008) 23–26; K. Tausend (2009) 17 und 91f. blematik der Flußgrenzen Dobesch (2005).
32 Vgl. Goetz u. Welwei (1995) II, 12–17; Eck (1999); 35 Vgl. Hanslik (1961) 1270f.; Kienast (1996); Timpe
Wolters (2008) 27–29. (1989) 356f.; Engels (1999) 369–377.
33 Vgl. Wolters (1990) 153–155; Bleicken (1999) 356–362, 36 Plin. nat. 4,81; Gutenbrunner (1967); Waldherr (2002b);
729f; dazu auch C. Wendt im vorliegenden Band. Udolph u. Nowakowski (2006).
32 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 4 | Die Rheingrenze in der Zeit zwischen Caesar und Augustus.
37 Vgl. Moeller (1986); Kienast (1997). Wolters (2008) 42–44; zur Weser Gutenbrunner u. John
38 Zum Feldzug des Jahres 12 vgl. Moeller (1986) 205–207; (1967); Wiegels (2002b); Udolph (2006); Müller (2007).
Wolters (1990) 158–161; Becker (1992) 131–137; Bleicken 40 Zum Feldzug des Jahres 10 vgl. Moeller (1986) 209;
(1999) 576–578; Kehne (2002) 305–310; Johne (2006) Wolters (1990) 165–167; Becker (1992) 147–151; Bleicken
88–91; Wolters (2008) 38–42. (1999) 580; Johne (2006) 95f.; Wolters (2008) 45.
39 Zum Feldzug des Jahres 11 vgl. Moeller (1986) 207–209; 41 Ausführliche Behandlung dieses Feldzuges und aller
Wolters (1990) 162–165; Becker (1992) 137–147; Bleicken damit in Zusammenhang stehenden Fragen bei Johne
(1999) 579; Kehne (2002) 310–312; Johne (2006) 91–95; (2006) 83–113, bes. 96–106.
34 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 5 | Porträt des Nero Claudius Drusus Maior.
lich des Harzes anzunehmen. Er würde an die Elbe im Raum des späteren Magdeburg führen, wo der
große Strom Innergermaniens in seinem Mittellauf am weitesten nach Westen reicht. Nach der erst
vor wenigen Jahren erfolgten Auffindung des Lagers Hedemünden ist allerdings der Weserübergang
eine ganze Strecke weiter südlich an der unteren Werra, die als „obere Weser“ verstanden wurde, wahr-
scheinlicher. Von dort führte der Zug entweder weserabwärts oder gleich zur Leine und von dort nörd-
lich am Harz vorbei. Hedemünden ist der am weitesten östlich gelegene Stützpunkt, der bisher auf
deutschem Boden entdeckt worden ist. Er sicherte eine Route von Mainz aus durch die Wetterau bis an
die Weser. Der älteste Teil der Anlage ist ein kleines Marschlager von 1,3 ha Umfang, das aller Wahr-
scheinlichkeit nach während der Expedition des Jahres 9 v. Chr. angelegt wurde.42
Cassius Dio berichtet, Drusus habe nach der Ankunft an der Elbe versucht, diese zu überqueren,
das jedoch nicht vermocht, sondern nur Siegeszeichen errichten lassen und danach den Rückzug an-
getreten.43 Da schon im Jahre 11 v. Chr. an der Weser Versorgungsprobleme aufgetreten sind, müssen
diese jetzt noch gravierender gewesen sein. Außerdem könnte Drusus die Elbe noch im späteren Früh-
jahr erreicht haben, als sie ihr Umland überschwemmt hatte. Das Überschwemmungsgebiet der Elbe
im Norddeutschen Tiefland besaß im Altertum vielfach eine Breite zwischen 10 und 20 km. Erst die im
hohen Mittelalter vorgenommene Eindeichung hat diese Breite auf 1, 5 bis 3 km eingeschränkt.44 Daß
es die noch Hochwasser führende Elbe gewesen ist, die Drusus zum Rückzug bewogen hat, läßt sich
zumindest nicht ausschließen. Der Heereszug bewegte sich vermutlich elbaufwärts bis zur Mündung
42 Grote (2004) und (2006). 44 Jäger, Schmid, Timpe u. Mildenberger (1989) 96; Jäger
43 Cass. Dio 55,1,3. (1992) 140–144.
45 Strab. 7,1,3 p. 291C.; Waldherr (2001). 50 Ov. Consolatio ad Liviam 313–14 u. 20 u. 39; vgl. Herr-
46 Vgl. Anm. 43. mann (1988–1992) I, 518f.
47 Vgl. S. Tausend (2009) bes. 170 u. D. B. Baltrusch im 51 Sen. De Consolatione ad Marciam 3,1; vgl. Herrmann
vorliegenden Band. (1988–1992) I, 554.
48 Strab. 1,2,1 p. 14C. 52 Zu den verschiedenen Forschungsmeinungen vgl. Dei-
49 Timpe (1967); vgl. auch Abramenko (1994) und Johne ninger (2000); Timpe (2006b) 300–314; Johne (2006)
(2006) 97–102. 16–20 und 109–112; Wolters (2008) 48–52.
36 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 6 | Römische Feldzüge an die Elbe.
reagiert. Die Ereignisse der ersten beiden Kriegsjahre können, für sich betrachtet, durchaus als Strafex-
peditionen und Erkundungszüge der endgültig zu sichernden Rheingrenze betrachtet werden. Die Fort-
setzung des Krieges ab dem Jahre 10 v. Chr. war vor allem durch den Abfall der Chatten bedingt und wäre
ohne diesen Vorfall vielleicht gar nicht erfolgt, wofür auch die 11 v. Chr. geplante, aber dann doch nicht
erfolgte Schließung des Janus-Tempels sprechen könnte. In den Jahren 12 und 10 v. Chr. wird von rö-
mischer Seite jedenfalls in erster Linie auf germanisches Verhalten reagiert. Die Feldzüge dieser Jahre
waren begrenzte Offensiven, die sich immer mehr ausweiteten, bis sie den Radius des Jahres 9 v. Chr.
erreicht hatten. Der Zug dahin könnte sich aus der Verfolgung der sich aus dem Weserland zurückzie-
henden Cherusker ergeben haben. Die Bedeutung der Elbe als östliche Markierungslinie im Innern
Germaniens dürfte nicht zuletzt den dramatischen Umständen verdankt werden, die den ‚Entdecker der
Elbe‘ das Leben kosteten. Die reichsweiten Trauerfeiern im Herbst 9 haben den vierten seiner Germa-
nienfeldzüge auch in den Details zweifellos bekannter gemacht als die drei vorangegangenen. Die Elbe
muß durch Drusus‘ Tod im ganzen Römischen Reich als ein mächtiger Strom im fernen Barbaricum ein
Begriff geworden sein. Das von ihm einmal erreichte Ziel wieder zu gewinnen wurde eine verpflich-
tende Aufgabe erst für seinen Bruder Tiberius und dann vor allem für seinen Sohn Germanicus.
38 KLAUS-PETER JOHNE
Der Tod des Drusus hat die Germanienpolitik des Augustus nicht geändert. Sein älterer Bruder Ti-
berius eilte unverzüglich nach Germanien und übernahm – „zwischen Saale und Rhein“ – die Führung
der Expeditionsarmee. In den Jahren 8 und 7 v. Chr. festigte er die Herrschaft Roms weiter, so daß im
Rückblick gesagt werden konnte, alle Germanen zwischen Rhein und Elbe hätten sich dem Tiberius un-
terworfen.53 Sein bedeutendster Erfolg war die Unterwerfung der Sugambrer und deren Umsiedlung
auf das linke Rheinufer.54 Am 1. Januar 7 v. Chr. feierte Tiberius einen Triumph über Germanien, womit
die erste Phase der Eroberungszüge ihren Abschluß fand.
Gegen den Plan einer seit Beginn der Feldzüge angestrebten Grenze an der Elbe spricht die Tatsa-
che, daß in den Jahren 8 und 7 v. Chr. mehrere erst wenige Jahre zuvor errichtete militärische Anlagen
wieder aufgegeben wurden. Offenbar wollten sich die Römer zu diesem Zeitpunkt noch mit der Abhän-
gigkeit von Stämmen in einem weiten Vorfeld der Rheingrenze begnügen, ohne selbst militärisch dort
präsent sein zu müssen. Bezeichnend dafür ist das erst 11 v. Chr. errichtete Legionslager Oberaden bei
Bergkamen. Es war zweifellos zur Kontrolle des besonders aggressiven Stammes der Sugambrer ange-
legt worden. Nachdem dieser Stamm umgesiedelt worden war, hatte es seine Funktion verloren und
wurde aufgegeben. Ein Jahrzehnt später finden wir an der Lippe drei neue Römerlager, Holsterhausen,
Haltern und Anreppen, zu denen Oberaden ebenfalls gepaßt hätte. Die Konzeption einer ‚Lippestraße‘,
d.h. Militäranlagen in bestimmten Abständen an diesem Flußlauf, scheint also erst nach der Aufgabe
Oberadens entstanden zu sein.55
Mit dem Jahre 6 v. Chr. verschwindet dann Tiberius aus dem politischen Geschehen und damit
auch von dem Kriegsschauplatz in Germanien. Das Fehlen eines prominenten Angehörigen des Kai-
serhauses an der Rheingrenze wirkte sich sofort auf die Überlieferung aus, das Interesse der Schrift-
steller ließ schlagartig nach. Für das nachfolgende Jahrzehnt bis 4 n. Chr. sind nur zuf ällige Nachrich-
ten über die Verhältnisse in Germanien erhalten geblieben.56 Eine davon beleuchtet die Tätigkeit des
L. Domitius Ahenobarbus, der als zweiter römischer Heerführer die Elbe erreicht hat. Cassius Dio be-
richtet, er habe die Elbe überschritten, ohne daß ihm jemand entgegentrat, mit den dortigen Barbaren
Freundschaft geschlossen und an dem Strom einen Altar für Augustus errichtet. Tacitus schreibt ergän-
zend dazu, er sei tiefer als alle anderen nach Germanien eingedrungen, wofür er die Triumphalorna-
mente erhalten habe.57 Die beiden spärlichen Notizen über ein etwa in das Jahr 3 v. Chr. zu datierendes
Geschehen lassen genügend Fragen offen.58
Für die im Entstehen begriffene Römerherrschaft in Germanien bedeutete das Jahr 1 n. Chr. offen-
sichtlich einen Einschnitt. Von 1/2 bis 3/4 n. Chr. mußte ein mehrjähriger Krieg, ein immensum bellum,
gegen germanische Stämme, die bereits einmal von Drusus und Tiberius unterworfen worden waren,
geführt werden. In der Schlußphase dieses Krieges wurde Tiberius ein zweites Mal über den Rhein ge-
schickt. Er hat in den Jahren 4 bis 6 n. Chr. den Zustand wiederhergestellt, der bei seinem Triumph 7
v. Chr. schon einmal erreicht zu sein schien.59 Um den Beginn der christlichen Zeitrechnung begannen
die Römer dann mit dem Aufbau einer direkten Herrschaft mit dem Ziel der Errichtung einer Provinz
53 Cassiod. Chronica ad annum 746, Chronica minora 2,135 57 Cass. Dio 55,10a,2; Tac. ann. 4,44,2; vgl. Herrmann
(p. 299 frg. 3 ed. H. Peter). (1988–1992) III, 525.
54 Suet. Aug. 21,1; Tib. 9,2; vgl. Herrmann (1988–1992) III, 58 Ausführliche Erörterung bei Johne (2006) 120–127 mit
544f.; zu der Umsiedlung und ihren Folgen Heinrichs weiterführender Literatur.
(2001). 59 Vell. 2,104,2; vgl. Herrmann (1988–1992) I, 528; zum
55 Zum Lager Oberaden Kühlborn (1995) 103–124; zu allen immensum bellum Wolters (1990) 185–187; Becker
Lagern zuletzt Mattern (2008). (1992) 169f.; Timpe (2006b) 297f.; Johne (2006)
56 Von einem „dunklen Jahrzehnt“ spricht Wolters (2008) 127–129; Wolters (2008) 56–59.
54–56.
60 Zu dem Problem, ob Germanien vor dem Jahre 9 n. Chr. 64 Vell. 2,106,1; Neumann, Wenskus u. Schmid (1981);
bereits eine Provinz war oder nicht, vgl. u.a. Eck Dietz (1997a).
(2004b); Wolters (2008) 71–74 einerseits und Timpe 65 Vell. 2,106,2; Strab. 7,1,3 p. 291C; Dietz (1999); Ne-
(2006b) 292f.; Wiegels (2008) 58–60; Johne (2006) doma, Scardigli, Udolph, Pohl, Eger u. Bierbrauer
152; vgl. 116–118; Johne (2008a) 246–248 andererseits. (2001) 50–93, zur Sache 62 und 69–76; Johne (2008b)
61 Krapinger (2002); zu Velleius’ Werk ausführlicher bes. 43–46.
Schmitzer (2000) bes. 9–26; Christ (2001); Kehne 66 Vell. 2,106,2; vgl.Wiegels (2001b); Sitzmann u. Castri-
(2006a). tius (2005); Dietz (1998); Kehne (2006b).
62 Deininger (1997) 20. 67 Zu den Lokalisierungsvorschlägen Johne (2006) 141.
63 Vell. 2,107,1f. 68 Wachter (1986) 123–126 und 201–203.
40 KLAUS-PETER JOHNE
Feldzüge betrachtet werden.69 Mit dem Halt an der Elbe befolgte der Prinz eine Anweisung des Augu-
stus, diesen Fluß auf keinen Fall zu überschreiten.70 Das Verbot des Kaisers dürfte aus den Erkenntnis-
sen einer wahrscheinlich in das Jahr 4 n. Chr. zu datierenden Flottenexpedition resultieren, die den Kü-
stenverlauf des ‚nördlichen Ozeans‘ erkunden sollte und tatsächlich bis zum Kap Skagen an der
Nordküste Jütlands gelangt ist.71 Die durch dieses Unternehmen gewonnene Erkenntnis war, daß eine
langgestreckte Halbinsel, die ‚Kimbrische‘, wie sie im Altertum genannt wurde, eine Weiterfahrt in
Richtung Osten versperre und die Elbe nach dem Rhein, der Ems und der Weser die letzte vom offenen
Meer her befahrbare ‚Wasserstraße‘ sei, die den Zugang ins germanische Binnenland ermögliche. Die
zuvor existierende Annahme eines ‚Seeweges‘ um das nördliche Europa herum, den 300 Jahre früher
schon Pytheas gesucht hatte, erwies sich mit dieser Expedition als falsch, das Verbot einer Überschrei-
tung der Elbe dürfte die entscheidende politische Folge gewesen sein.72 So erklärt sich das Verhalten des
Tiberius, es mit seiner konzentrierten Macht von Heer und Flotte bei einer Demonstration zu belassen
und keine Anstalten zu einem Flußübergang zu machen. Diese Expedition wird im allgemeinen mit
der gemeinsamen Operation von Heer und Flotte im Jahre 5 n. Chr. verbunden. Velleius Paterculus be-
tont dabei ausdrücklich die Versorgungsaufgabe der Flotte für das Landheer und die genaue Einhaltung
des Zeitplans.73 Beides mußte sich bei einer Forschungsexpedition in unbekannte Gewässer geradezu
als Unmöglichkeit erweisen. Die in vielen Darstellungen, Kommentaren und Landkarten ohne Diskus-
sion aufgestellte Behauptung über die Identität der Flotte, die zur Nordspitze Jütlands gesegelt ist, mit
derjenigen, die die Elbe aufwärts fuhr, kann nicht stimmen. Es muß sich um zwei verschiedene Fahrten
gehandelt haben, die ‚Entdeckungsfahrt‘ wahrscheinlich des Jahres 4 ist von der ‚Nachschubfahrt‘ des
Jahres 5 zu trennen.74
Velleius Paterculus schließt seinen Bericht über diesen Sommerfeldzug mit der kurzen Mitteilung,
Tiberius habe als Sieger über alle aufgesuchten Gebiete und Stämme seine Legionen heil und unver-
sehrt ins Winterlager zurückgeführt.75 Eher beiläufig wird hier der letzte Abzug der Römer von der Elbe
beschrieben. Die Tragweite des Vorgangs kann auch Velleius bei der Niederschrift seines Geschichts-
abrisses ein Vierteljahrhundert später nicht verborgen geblieben sein. Nach dem Sommer 5 hat kein
römischer Feldherr diese Flußlinie jemals wieder erreicht. Die Politik, die Tiberius als Kaiser verfolgte,
mußte den Geschichtsschreiber belehren, daß ein Vorstoß bis dahin auch nicht mehr zu erwarten sei.
Somit war der Rückmarsch in diesem Sommer für alle Bestrebungen in Richtung Elbgrenze ein Vor-
gang von historischer Bedeutung.
Im folgenden Jahr 6 n. Chr. sollte mit der geplanten Unterwerfung oder auch nur Schwächung des
Markomannenreiches im späteren Böhmen ein vorläufiger Endpunkt römischer Eroberungen im Vor-
feld der Rhein-Donau-Grenze erreicht werden. Nördlich von Böhmen muß dann aber zweifellos die
Elbe als die ins Auge gefaßte Grenze angesehen werden. Diese konnte nur dann als einigermaßen
sicher gelten, wenn der Einfluß des Markomannenkönigs Marbod auf die elbgermanischen Stämme
gebrochen war. Mit diesem König ist die früheste Reichsbildung bei den Germanen verbunden.76 Der
Feldzug gegen ihn wurde durch den Ausbruch des Pannonisch-Dalmatischen Aufstandes verhindert,
69 Zu Tiberius Eck (2002); Kehne (2005). 74 Als Möglichkeit auch in Betracht gezogen von Wolters
70 Strab. 7,1,4 p. 291f.C. (2008) 57f. mit Anm. 16.
71 R. Gest. div. Aug. 26; vgl. Herrmann (1988–1992): 75 Vell. 2,107,3; zu dem Geschehen im Sommer 5 vgl.
IV, 584; Plin. nat. 167. Wolters (1990) 190–192; Becker (1992) 171f.; Deininger
72 Ausführlich zu Datierung und Problematik dieser (1997) 18–23; Bleicken (1999) 587 und 758.
Expedition Johne (2006) 140–144, vgl. 145–148; Johne 76 Zu Marbod und seinem Reich Losemann (1999); Kehne
(2008a) 248–250. (2001a); Johne (2006) 150–158; Kehne u. Salač (2009).
73 Vell. 2,106,2–3.
77 Zu Varus u.a. Timpe (1970) 99–104; Eck (2001); 78 Vgl. Timpe (1970) 90–93 und 98–104.
Wolters (2006); Johne (2006) 159–177; Wolters (2008) 79 R. Gest. div. Aug. 26; Galsterer (2000).
75–88.
42 KLAUS-PETER JOHNE
Abb. 8 | Porträt des Germanicus Julius Caesar.
noch wird durch die Aneinanderreihung Spanien, Gallien, Germanien und durch den diese Gebiete ver-
bindenden Bogen vom vermeintlichen ‚Ausfluß‘ des Mittelmeers in den Ozean bis zum tatsächlichen
Ausfluß der Elbe in dasselbe Weltmeer der Eindruck erweckt, alle genannten Territorien seien römi-
sches Herrschaftsgebiet. Trotz einer dem strikten Wortlaut nach zutreffenden Darstellung wird von Au-
gustus der Anspruch auf mehr als nur das Mündungsgebiet der Elbe erhoben und der Gedanke der Aus-
dehnung des Imperiums bis an diesen Strom eingebracht.80 Offenbar hatte sich der Princeps nicht mit
dem Verlust des germanischen Binnenlandes abgefunden und plante dessen Rückeroberung. Darauf
scheinen alle Maßnahmen der letzten Jahre seiner Regierung hinauszulaufen. Tiberius wurde im Jahre
10 n. Chr. zum dritten Male an den Rhein beordert, um den Schutz der Grenze zu übernehmen. Die dort
stationierte Armee wurde nicht nur schnell um die Zahl der im Teutoburger Wald verlorengegangenen
Legionen ersetzt, sondern um zwei weitere auf insgesamt acht vergrößert. Mit Beginn des Jahres 13
übernahm Germanicus das außerordentliche Kommando in Gallien und am Rhein. Seine Berufung
bedeutete ein Programm, denn Augustus übergab ihm damit das politische Erbe seines Vaters Drusus
und, gewollt oder ungewollt, den Auftrag zur Wiedereroberung Germaniens.81
80 Vgl. Timpe (1968) 34; Welwei (1986) bes. 119–121; Dei- 81 Vgl. Wolters (1990) 239–245; Eck (1998); Kehne
ninger (1997) 26f.; Bleicken (1999) 606f.; Ridley (2003) (1998).
196–203; Wolters (2008) 135–137; C. Wendt im vorlie-
genden Band.
44 KLAUS-PETER JOHNE
schen Heeres und die Ordnung des Zustandes in Gallien.87 Der Kontrast zum Triumph konnte kaum
größer sein, nicht ein Element der Triumphformel findet sich wieder. Mit Schutz und Sicherung Gal-
liens ging die römische Politik wieder auf die Position des Jahres 12 v. Chr. zurück. Damit hatte die
30-jährige Offensivpolitik gegen Germanien ihr Ende gefunden. Zwar wurden die Ansprüche auf das
Land zwischen Rhein und Elbe nicht aufgegeben, aber die in Rom getroffenen Entscheidungen spra-
chen für sich. Germanicus erhielt keinen Nachfolger, das einheitliche Oberkommando über die acht Le-
gionen der Rheinarmee wurde abgeschafft. Die bisher vorhandenen Truppenmassierungen in den Räu-
men um Xanten und Mainz wurden aufgegeben und die Legionen über die gesamte Rheingrenze
verteilt, von der heutigen niederländischen bis an die Schweizer Grenze. Diese Truppenverlegungen
machten den Politikwechsel deutlich, größere Offensiven waren für die nächste Zeit nicht mehr geplant.
Die mit der Abberufung des Germanicus getroffene Entscheidung wurde im Bereich der Grenze am
Niederrhein nicht wieder revidiert. Ein Aufstand der Friesen im Jahre 28 beendete die römische Ober-
hoheit über den Küstenstreifen zwischen Ems- und Elbemündung, auf die Augustus in seinem Taten-
bericht mit Nachdruck verwiesen hatte.88 Für kurze Zeit wurde der verlorene Einfluß im Jahre 47 noch
einmal wiederhergestellt, als letztmalig eine Flotte rheinabwärts in die Nordsee geschickt, die Friesen er-
neut unterworfen und die Chauken bekämpft wurden. Ehe es jedoch zu größeren Auseinandersetzun-
gen kam, untersagte Kaiser Claudius eine Fortführung der Kämpfe und befahl den Rückzug der Armee
auf die Rheingrenze und die Aufgabe aller Stützpunkte östlich davon.89 Im Jahre 43 war mit der Erobe-
rung Britanniens begonnen worden, und diesem Kriegsschauplatz gebührte fortan die Priorität gegen-
über Germanien. Die Entscheidung des Claudius ließ den Niederrhein endgültig zur Grenze werden.
In den zwanziger Jahren des 1. Jahrhunderts änderte sich die Rolle der Elbe im politischen Bewußt-
sein der Römer. Ohne die Expedition der eigenen Heere und ohne die Tätigkeit prominenter Persön-
lichkeiten erlosch das Interesse am Stromgebiet der Elbe. Seitdem war dieses Gebiet nur noch für Hi-
storiker, Geographen und Ethnographen interessant, nicht mehr für die praktische Politik. Als die
östlichste von Römerheeren in Mitteleuropa erreichte Linie galt der Fluß als denkwürdig für die gesamte
Eroberungspolitik im Norden und wurde als erstrebenswerte Grenze in zunehmendem Maße verklärt.
Der geographische Ertrag der Germanien-Feldzüge findet sich zuerst im Werk des Strabon von
Amaseia, das in der Regierungszeit des Augustus und am Anfang der des Tiberius entstanden ist.90 Der
Schriftsteller war zwar ein Zeitgenosse dieser Feldzüge, doch die Informationen darüber sind nur
punktuell und unsystematisch in die Geographika eingearbeitet worden. Gleich zu Beginn seiner Dar-
stellung betont er die Entdeckerfunktion der Expedition nach Germanien. Wie Alexander der Große
Asien und den ganzen Norden Europas bis zur Donau erschlossen habe, so hätten die Römer den We-
sten bis zur Elbe, die Germanien in zwei Teile trenne, erschlossen, und außerdem die Gebiete jenseits
der Donau bis zum Dnestr.91 Strabon betrachtet alle Grenzpunkte von seiner Heimat Kleinasien aus,
denn nur aus diesem Blickwinkel kann die Donau im Norden und die Elbe im Westen lokalisiert wer-
den. Gleich bei dieser zeitlich frühesten Nennung des Stroms in einem literarischen Werk wird er als
eine Trennlinie verstanden, die den bekannten Teil des Landes von dem unbekannten scheidet; eine an-
dere Begründung für die trennende Funktion des Flusses findet sich bei Tacitus. An einer späteren
Stelle in seinem Werk trifft Strabon die Feststellung, daß die Gebiete jenseits der Elbe unbekannt
87 Vgl. Tabula Siarensis frg. I Z. 12–15 ed. Lebek (1991) 52; 89 Vgl. Tac. ann. 11,18,1–20,1; Cass. Dio 60,30,4f.; Johne
Lehmann (2007) bes. 425ff. (2006) 210ff.
88 Vgl. Tac. ann. 4,72,1–74,1; Wolters (1990) 251f.; Trzaska- 90 Vgl. Engels (1999) 36–40; Radt (2001); Pothecary (2002);
Richter (1991) 176–179; Becker (1992) 222f.; Johne Wolters (2005a); Johne (2006) 25f. und 199–202.
(2006) 209. 91 Strab. 1,2,1 p. 14C.
46 KLAUS-PETER JOHNE
sind.92 In dem Zusammenhang verweist er auf das Verbot des Augustus, das oben erwähnt worden
ist.93 Im siebenten Buch der Geographika findet sich eine relativ ausführliche Beschreibung Germa-
niens als des Landes zwischen Rhein und Elbe. Beide Ströme fließen parallel zueinander und besitzen
ein annähernd gleich großes Stromgebiet.94 Unter den aufgeführten Stämmen im Elberaum begegnen
alle, die in den Werken späterer Schriftsteller auftauchen, die Chauken am Ozean, die Langobarden, die
Semnonen, Hermunduren und Markomannen. Marbods Reich in Böhmen ist Strabon bekannt, und
sein ‚Herkynischer Wald‘ bezeichnet die Randgebirge des Böhmischen Beckens, Erzgebirge, Riesen-
gebirge, Böhmisch-Mährische Höhen, Böhmerwald und Oberpf älzer Wald. Diese Konkretisierung des
Begriffs, verglichen mit den bei Caesar vorliegenden Nachrichten, stellt für das Stromgebiet der Elbe
den größten Erkenntnisfortschritt bei diesem Schriftsteller dar.
Etwa 20 Jahre nach der Schlußredaktion von Strabons Werk entstand die älteste erhalten geblie-
bene geographische Schrift in lateinischer Sprache, die Länderkunde des Pomponius Mela, verfaßt in
den Jahren 43 und 44. Sie ist vor allem eine Kompilation älterer, meist griechischer Quellen, verwertet
jedoch auch jüngere Berichte. Mela brauchte nicht wie Strabon nachträglich gewonnene Erkenntnisse
in einen älteren Text einzuarbeiten, ihm lagen bei Arbeitsbeginn bereits Berichte von den Germanien-
feldzügen vor, so die Arbeit des Geographen Philemon über den nördlichen Ozean. Die Länderkunde
brachte einige Erkenntnisfortschritte gegenüber den Geographika und muß als ein weiterer Ertrag der
Okkupationszeit angesehen werden.95 Germaniens Grenzen sind bei Pomponius Mela im Westen der
Rhein, im Süden die Alpen, im Norden der Ozean und im Osten die sarmatischen Stämme sowie die
bei Strabon nicht auftauchende Weichsel, Vistula, als der Grenzfluß zwischen Germanen und Sarma-
ten.96 Klarere Vorstellungen als Strabon hat er auch vom Flußsystem Germaniens. Von den Strömen,
die das Land verlassen und auf dem Territorium anderer Stämme weiterfließen, nennt er Donau und
Rhône, als die bekanntesten Nebenflüsse des Rheins den Main und die Lippe, als die in den Ozean
mündenden Flüsse Ems, Weser und Elbe. Die in ihrem Verlauf erstmals richtig beschriebene Lippe und
der zuvor nicht genannte Main verraten zweifellos Kenntnisse über die Einfallswege der römischen Ar-
mee, wie auch die Nennung der Ems neben der Weser und der Elbe. Gewisse Vorstellungen von den
Küsten im Bereich der Elbmündung verwerten Kenntnisse, die erst durch die Expedition nach Kap Ska-
gen gewonnen worden sind.97
Ebenfalls aus der Regierungszeit des Kaisers Claudius stammt die mit Abstand umfangreichste
Aufarbeitung der augusteischen Germanienkriege, das Werk Bella Germaniae des älteren Plinius. Ne-
ben Velleius Paterculus war er der einzige römische Schriftsteller, der Germanien besucht hat und als
Augenzeuge von dort berichten konnte. Im Jahre 47 nahm er an dem letzten Feldzug gegen die Chau-
ken teil und lernte die Nordseeküste und deren Hinterland kennen. Im Militärbezirk der Oberrhein-
armee besuchte er die Donauquellen im Schwarzwald, die heißen Quellen von Wiesbaden und bekämpfte
im Jahre 50 die Chatten in Hessen.98 Die 20 Bücher der Germanenkriege, entstanden zwischen 47/48
und 57/58, werden sicher mit den Zügen der Kimbern und Teutonen begonnen und bis zu seiner eige-
nen Zeit gereicht haben, wobei der Schwerpunkt zweifellos die augusteische Zeit darstellte und hier vor
allem die Person des Drusus. Die Verehrung für ihn lebte im Jahre 41 mit dem Regierungsantritt seines
92 Strab. 7,2,4 p. 294C. 96 Mela 3,25 und 3,33; vgl. Herrmann (1988–1992) I, 544
93 Vgl. oben Anm. 70. und 547.
94 Strab. 7,1,3 p. 290C; Timpe (1989) 360–362, 367f.; 97 Mela 3,30f.; Timpe (1989) 365–370; Blomkvist u. Castri-
Becker (1992) 8–17; Deininger (1997) 38–41. tius (2003) bes. 357–360.
95 Vgl. Brodersen (1994) 1–28; Gärtner (2001); Kehne 98 Vgl. Sallmann (2000); Wolters (2003).
(2001c); zu Philemon Timpe (1989) 366f.; Gärtner
(2000).
199 Plin. epist. 3,5,4 vgl. Herrmann (1988–1992) III, 534; 103 Plin. nat. 31,81–83; Haid u. Stöllner (2004) bes. 370–373;
Goetz u. Welwei (1995) II, 5 Anm. 2. Johne (2006) 213f.
100 Tac. ann. 1,69,1f. 104 Plin. nat. 37,45; Bohnsack u. Follmann (1976) 292f.;
101 Plin. nat. 4, 97. 296f.; Hünemörder u. Pingel (1997); K. Tausend (2009)
102 Tac. ann. 13,57,1f.; K. Tausend (2009) 36 und 86. 187f.; 195ff.
48 KLAUS-PETER JOHNE
hältnisse an der Rheingrenze zu beenden. Die Militärbezirke der Nieder- und der Oberrheinarmee hat-
ten bis dahin immer noch die Option offengelassen, die einmal geplante große provincia Germania zu
verwirklichen. Diese Militärbezirke wurden jetzt in die Provinzen Nieder- und Obergermanien umge-
wandelt, die Grenze damit festgeschrieben und ein Verzicht auf weitere Eroberungen dokumentiert.
Zeitgleich kam es zu einem Wechsel in der römischen Außenpolitik. Ein mit dem Jahre 85 einsetzender
Krieg gegen die Daker verlagerte die Schwerpunktsetzung an die Donau. Die bisher so wichtige Rhein-
grenze verlor seitdem an Bedeutung zugunsten der Donaugrenze. Die Entscheidungen Domitians wur-
den von Trajan in den Jahren um 100 unumkehrbar gemacht durch die Auflösung von drei Legionsla-
gern am Rhein und durch die Reduzierung der an dem Fluß stationierten Legionen auf vier.105
Polemik gegen Domitians Siegespropaganda und die als ‚Bereinigung‘ des Germanien-Problems
gedachten Provinzgründungen gehören zu den Absichten der berühmten Germania des Cornelius Ta-
citus, der bedeutendsten Schrift, die über den mitteleuropäischen Raum aus dem Altertum erhalten ge-
blieben ist.106 Aus ihr stammt das bekannteste Elbe-Zitat in der römischen Literatur. „Einst war sie ein
bekannter und vielgenannter Fluß, jetzt kennt man ihn nur noch vom Hörensagen“, lautet die resignie-
rende Feststellung des Historikers.107 Im Inneren Germaniens ist die Elbe der einzige Strom, der von
Tacitus einer namentlichen Erwähnung für würdig befunden wird, außer ihr kommen sonst nur Rhein,
Donau und Main vor. Auch ohne jede weitere Erläuterung müßte man diesen Umstand bei dem extrem
sparsamen Gebrauch von Flußnamen als eine Heraushebung verstehen. Tacitus fügt der Nennung des
Namens jedoch Angaben hinzu, die erkennen lassen, daß für ihn die Elbe nicht nur das wichtigste, son-
dern das einzige Binnengewässer bei den Germanen ist, das eine Namhaftmachung verdient. Wie bei
Rhein und Donau wird die Quelle erwähnt, allerdings sehr unbestimmt im Hermundurenland. Wie die
beiden anderen Ströme stellt auch die Elbe für Tacitus eine Grenze dar, und zwar in zweifacher Hin-
sicht: Sie trennt die westliche Germania von der östlichen Suebia, worunter er den größeren Teil Ger-
maniens zwischen Donau und Baltikum versteht.108 Damit trennt sie die Gebiete, die von den Römern
schon einmal unterworfen waren oder zumindest in ihrem Einflußbereich gelegen haben von den üb-
rigen; Strabon hatte hier die Trennlinie zwischen dem bekannten und dem unbekannten Germanien
gesehen. Vergangenheit und Gegenwart werden knapp und dennoch aussagekräftig angedeutet. ‚Einst‘
bezieht sich auf die Jahre zwischen 9 v. Chr. und 5 n. Chr., da war die Elbe berühmt und bekannt, ‚jetzt‘,
in der Gegenwart des Jahres 98, kennt man sie nur noch vom Hörensagen. Dies ist nach taciteischem
Verständnis das Ergebnis der kritisch beleuchteten Politik der letzten 80 Jahre. Aus der Formulierung
scheint die Resignation wegen der Preisgabe aller Expansionsabsichten zu sprechen, wie sie mit der
Gründung der beiden germanischen Provinzen und dem Beginn des Limesbaus bekräftigt worden ist.
Vor dem Hintergrund dieser Entscheidungen mußten die Erfolge der augusteischen Feldherrn endgül-
tig als Großtaten der Vergangenheit erscheinen. Sicher wird man aus den Worten des Historikers den
Wunsch herauslesen dürfen, die Grenze des Imperiums statt an Rhein und Donau lieber an der ver-
meintlich innergermanischen Grenze zur Suebia zu sehen. Ob sich hinter den Äußerungen auch Hoff-
nungen verbargen, daß Kaiser Trajan die im Jahre 98 endgültig erscheinenden Maßnahmen Domitians
korrigieren möge, läßt sich nicht erweisen. Festzuhalten bleibt, daß Tacitus mit dem ‚Elbe-Satz‘ in der
Germania denkbar knapp und dennoch eindrucksvoll auf die Germanienpolitik des 1. nachchristlichen
Jahrhunderts zurückblickt.
105 Vgl. Johne (2006) 218–220 und 235–237 mit weiterfüh- 107 Tac. Germ. 41,2; Deininger (1997) 46f.; S. Tausend
render Literatur. (2009) 169f.
106 Vgl. Herrmann (1988–1992) II, 11–72; Flaig (2001); 108 Vgl. Timpe (1992); Lund (1989); Scharf (2005) 190f.
Wolters (2005b); Johne (2006) 222–234; Timpe (2008).
109 Vgl. die Angaben in den Anm. 65, 66, 76; Johne (2006) 112 Vgl. Reichert u. Timpe (1998); Kehne (2001b); Johne
230–234 und K. Tausend (2009) passim. (2006) 221f.; S. Tausend (2009) 166ff. und 171–174;
110 Tac. Germ. 39,1ff. D. B. Baltrusch im vorliegenden Band.
111 Cass. Dio 67,5,3. 113 Tac. Germ. 40,1–4; Günnewig u. Castritius (2002).
114 Tac. Germ. 41,1f.; Kehne (2006b).
115 Tac. Germ. 42,1f.
50 KLAUS-PETER JOHNE
Für das Weltbild der späteren Kaiserzeit war das Wirken des Mathematikers, Astronomen und
Geographen Klaudios Ptolemaios in Alexandria von größter Bedeutung. In seiner Anleitung zum Zeich-
nen einer Weltkarte faßte er das geographische Wissen seiner Zeit zusammen. Darin bietet er mehr Ein-
zelinformationen als alle anderen vergleichbaren Werke. Von Irland und den Kanarischen Inseln im
Westen bis nach China sind etwa 8100 Namen von Flüssen, Bergen und Orten aufgeführt. Allerdings
bereitet das Werk erhebliche Schwierigkeiten bei der Auswertung. Dazu tragen kartographische Verzer-
rungen ebenso bei wie die Quellenlage. In der Fülle des ausgebreiteten Materials können viele Angaben
mangels einer Parallelüberlieferung nicht verifiziert werden.116
Als Germaniens Grenzen bezeichnet Ptolemaios den Rhein und die Weichsel, die Donau und den
nördlichen Ozean. Das dazwischen liegende Gebiet nennt er in Abgrenzung zu den römischen Provin-
zen Germania inferior und Germania superior ‚Groß-Germanien‘, Germania magna.117 Als Flüsse östlich
des Rheins führt er Ems, Weser, Elbe und Weichsel auf, bei denen er die Koordinaten der Längen- und
Breitengrade für die Mündung wie für die Quelle angibt. Die Mündung der Elbe befindet sich bei ihm
nördlich der Wesermündung. Eine Erklärung dafür könnte sein, daß das heutige Wattenmeer der Hel-
goländer Bucht noch zu einem Teil Festland war und die Elbmündung erst in der Gegend der Insel
Scharhörn und damit der Wesermündung viel näher lag.118 Schwieriger sind die Angaben zur Quelle zu
deuten. Sie wird von Ptolemaios in den Sudeten lokalisiert, die nach seinen Vorstellungen jedoch eher
mit dem Böhmerwald als mit dem Riesengebirge gleichzusetzen sind. Der Geograph dürfte die Quelle
der Moldau für die Elbquelle gehalten haben. Eine von ihm aufgeführte „zur Elbe führende Quelle“ ist
dagegen wahrscheinlich die richtige, sie ist im Askiburgion-Gebirge angesiedelt, womit er offenkundig
das Riesengebirge bezeichnet.119 Die Angaben zur Mündung und Quelle des mitteleuropäischen
Stroms sind exemplarisch für die Schwierigkeiten bei der Auswertung des ptolemaiischen Werkes. Erst-
mals erwähnt wird bei dem alexandrinischen Gelehrten die im geographischen Schrifttum sonst sehr
stiefmütterlich behandelte Oder unter dem Namen Syebos.120 Ganz in den Südosten Germaniens ge-
drängt ist bei ihm der ‚Orkynische Wald‘ und damit jener Terminus marginalisiert, der jahrhunderte-
lang als Sammelbegriff des gesamten mitteleuropäischen Gebirgssystems gegolten hatte, vom Arkyni-
schen Wald des Aristoteles bis zu Caesars Herkynischem Wald. Bei Strabon war der Begriff auf die
Randgebirge Böhmens eingeengt worden, bei Ptolemaios umfaßt er die Kleinen und Weißen Karpaten,
für die anderen Gebirgszüge gab es inzwischen Eigennamen.121
Die Römische Geschichte des Cassius Dio aus dem Beginn des 3. Jahrhunderts ist die wichtigste er-
halten gebliebene Quelle für das Zeitalter der augusteischen Expansion. Der darin enthaltene Bericht
über die Schlacht im Teutoburger Wald ist nicht nur der ausführlichste, sondern auch der zuverlässig-
ste. Er verwertete zweifellos zeitnahe Quellen aus dem frühen 1. Jahrhundert, in denen Varus noch
nicht zum alleinigen ‚Sündenbock‘ gemacht worden war wie bei allen späteren Autoren.122 Durch zu-
verlässige Angaben zeichnet sich Dio auch bei der Elbe aus. Als er sie bei der Schilderung der Feldzüge
des Drusus des Jahres 9 v. Chr. zum ersten Male erwähnt, charakterisiert er sie durch je eine Angabe zu
Quelle und Mündung, sie entspringt in den Vandalischen Bergen und ergießt sich in großer Breite in
den nördlichen Ozean.123 Nun ist die Elbmündung unter Augustus von römischen Flotten aufgesucht
116 Vgl. Timpe (1989) 381–387; Folkerts, Hübner u. Har- 119 Ptol. 2,11,1f. und 5; Deininger (1997) 49; Reichert (2003)
mon (2001); Reichert (2003); Johne (2006) 238–243. 581f.; Johne (2006) 239f.
117 Ptol. 2,11,1–4; 2,9,2; 8,6,1 = Herrmann (1988–1992) III, 120 Ptol. 2,11,2 und 7f.; Udolph u. Nowakowski (2002).
214–217; 212f.; 234f. (Übersetzung) und Kommentar 121 Ptol. 2,11,5 und 11.
559–564; 557f.; 587. 122 Manuwald (2007); Wolters (2008) 102–107; vgl. 107–119.
118 Ptol. 2,11,1. 123 Cass. Dio 55,1,3.
124 Vgl. K. Tausend (1997); Waldherr (2002a) 1121; Castri- mann (1988–1992) III, 188f.; (Übersetzung) u. Kom-
tius u. Bierbrauer (2006) bes. 168–172; Johne (2006) mentar 544; Johne (2006) 281ff.
251f; K. Tausend (2009) 148–153. 126 Vgl. Johne (2006) 283ff.
125 Eutrop. 7,9 = Herrmann (1988–1992) III, 468f. (Über- 127 Vgl. Johne (2006) 275–279; 294ff.
setzung) u. Kommentar 666; Suet. Aug. 21,1 = Herr- 128 Vgl. Johne (2006) 291–294.
52 KLAUS-PETER JOHNE
reiche bis in das Innere Germaniens. Tatsächlich hatten zu diesem Zeitpunkt Germanen schon den grö-
ßeren Teil des Westreiches in ihrem Besitz.129
An einer Zeitenwende für die Kenntnis der Elbe stand im späten 8. Jahrhundert der langobardische
Schriftsteller Paulus Diaconus. In seiner Historia Romana wiederholte er den spätantiken Wissensstand
mit dem Zitat Eutrops, nach dem der Strom weit entfernt vom Rhein im „Barbarenlande“ fließt. In der
ebenfalls von ihm stammenden Historia Langobardorum lieferte er die ersten Nachrichten über den
Fluß in nachrömischer Zeit. In dieser Schrift erwartete er von seinen Lesern, daß der Name bekannt
sei. In dem offenbar für ehrwürdig erachteten Text des Eutropius beließ er es bei dem für das 4. Jahr-
hundert so charakteristischen Zusatz, obwohl dieses barbaricum lange die Heimat der Langobarden ge-
wesen war und inzwischen zum Frankenreich gehörte.130
Als Paulus Diaconus seine Geschichte der Langobarden schrieb, führte Karl der Große bereits
seine Kriege zur Unterwerfung der Sachsen, die zur Ausdehnung des Frankenreiches bis an Elbe und
Saale führten. Mit ihnen erfolgte der ‚Wiedereintritt‘ des Stroms in die schriftliche Überlieferung. Der
erste Feldzug im Jahre 780 ging vom Rhein die Lippe aufwärts bis an die Elbe nördlich Magdeburgs.
Karl der Große erreichte den Fluß in derselben Gegend wie fast 800 Jahre früher der Römer Drusus.
Literatur
129 Vgl. Johne (2006) 298f. 130 Vgl. Johne (2006) 308ff.
54 KLAUS-PETER JOHNE
Herrmann (1988–1992) Kehne (2002)
Joachim Herrmann (Hg.), Griechische und lateinische Peter Kehne, „Limitierte Offensiven: Drusus, Tiberius
Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des und die Germanienpolitik im Dienste des augustei-
1. Jahrtausends u.Z., 4 Bde., Berlin. schen Prinzipats“, in: Jörg Spielvogel (Hg.), Res publica
reperta. Festschrift für Jochen Bleicken zum 75. Geburtstag,
Hünemörder, Wartke u. Pingel (1997) Stuttgart, 297–321.
Christian Hünemörder, Ralf B. Wartke u. Volker Pin-
gel, „Bernstein“, DNP 2, 575–577. Kehne (2005)
Peter Kehne, „Tiberius“, RGA 30, 559–562.
Ihm (1899)
Max Ihm, „Cimbri“, RE III,2, 2547–2553. Kehne (2006a)
Peter Kehne, „Velleius Paterculus“, RGA 32, 112–116.
Inwood (2001)
Brad Inwood, „Poseidonios [3]“, DNP 10, 211–215. Kehne (2006b)
Peter Kehne, „Vibilius“, RGA 32, 330–332.
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58 KLAUS-PETER JOHNE
Alexander Demandt
Siebenhundert Jahre lang waren die Germanen die nördlichen Nachbarn der Römer. Das Verhältnis
zwischen den beiden Völkern prägten wiederholt heftige Kriege, doch gab es auch lange Friedenszeiten
dazwischen. Sowohl die Kriege als auch die Friedenszeiten zeigen eine asymmetrische Struktur.
Die Kriege der Römer waren zu Anfang aggressive ,Kolonialkriege‘ gegen militärisch weit unterlegene
,Barbaren‘, Eroberungszüge ins freie Germanien bis an die Elbe. Später wurden es Abwehrkämpfe auf
Reichsboden links des Rheins und rechts der Donau gegen einen ebenbürtigen Feind, in denen für
Rom zuletzt Sein oder Nichtsein auf dem Spiele standen. Die Kriege der Germanen waren dementspre-
chend zunächst meist Verteidigung der Heimat, später gewöhnlich Raubzüge ins Imperium, bei denen
es anfangs um Beute, zuletzt um Landnahme ging. Die Wende zwischen der frühen und der späten
Phase brachte die Schlacht im Teutoburger Wald 9 n. Chr.
In den friedlichen Zwischenkriegszeiten profitierten beide Seiten vom Handel, doch die Bilanz war
wiederum schief. Denn für die Germanen war der Kontakt zusätzlich ein Lernprozeß, bei dem sie zahl-
reiche Errungenschaften römischer Technik kennenlernten und übernahmen. Schüler der Römer wa-
ren die Germanen auf allen Gebieten, namentlich im Militärwesen, und das ermöglichte ihnen schließ-
lich in der Völkerwanderungszeit, die römischen Heere zu besiegen, das Imperium zu zerschlagen und
das Erbe Roms anzutreten.
Das Bild von den Römern in den Augen der Germanen kennen wir nur aus wenigen, allerdings
bezeichnenden Anekdoten und Aussprüchen aus germanischem Munde, die uns antike Autoren über-
liefern. Der Eindruck ist gespalten. Auf der einen Seite bestaunte man die römische Zivilisation, auf der
anderen fürchtete man die römische Herrschaft, die dem notorischen Freiheitsbegehren der Germanen
entgegenstand. Das Bild, das umgekehrt die Römer von den Germanen hatten, ist ebenfalls ambivalent,
denn einerseits bewunderte man die körperliche Verfassung der naturnah lebenden Nordvölker und
ihren Kriegsgeist, und andererseits sah man auf ihre wilde, ungezügelte, unkultivierte Lebensweise
herab, fürchtete ihre Angriffslust, den furor Teutonicus.1 In jedem Falle ist das Bild, das die Römer von
den Germanen hatten, sehr viel inhaltsreicher als das umgekehrte, denn die antiken Autoren haben aus
gutem Grund ihre Nachbarn im Norden sehr genau beobachtet, genauer als die Völker an den anderen
Grenzen. Vier Kronzeugen ragen für die römische Sicht heraus: für die frühe Phase Caesar und Tacitus,
für die späte Ammianus Marcellinus und Salvian von Massilia.
Eine methodische Vorbemerkung ist betreffs der Zuverlässigkeit unserer Quellen zu machen. Die
Germanen fallen unter den Sammelbegriff der Barbaren. In der Ilias2 werden die Leute aus Karien in
Südwestkleinasien als barbarophōn bezeichnet, weil sie ein unverständliches ‚Blabla‘ reden. Später wur-
den alle Völker, deren Sprache ein Grieche nicht verstand, als barbaroi betrachtet, sowohl die hochzivi-
lisierten, kunstsinnigen, aber vergleichsweise ,schwachen‘ Orientalen als auch die schriftlosen, kultur-
armen, aber ,kraftstrotzenden‘ Skythen, Kelten und Germanen. Diesen letzteren werden in der antiken
Ethnographie ähnliche oder gleichartige Eigenschaften zugeschrieben hinsichtlich ihrer Lebensart, ih-
60 ALEXANDER DEMANDT
ger aus Furcht ‚Germanen‘ genannt wurden, bald aber sich auch selbst so bezeichneten. Dies letztere
wissen wir aus römischen Grabinschriften germanischer Leibwächter der iulisch-claudischen Kaiser.8
Dem Bericht des Tacitus können wir entnehmen, daß die Verbreitung des Germanen-Namens ur-
sprünglich als Fremdbezeichnung von den erschrockenen Kelten ausgegangen ist, von denen die Rö-
mer diese Bezeichnung übernommen haben. Die Tungrer oder Eburonen hatten nicht lange vor Caesar
den Rhein überschritten und die Kelten aus Eifel und Ardennen verdrängt. Sie werden von Caesar Ger-
mani Cisrhenani benannt.9 Da Caesar den Swebenfürsten Ariovist rex Germanorum, d.h. einen „Germa-
nenkönig“ nennt10 und von der Trauer der „Germanen“ um seinen Tod spricht,11 war der Germanen-
Name damals bereits auf die Sweben übergegangen. Der gleiche Titel rex Germanorum begegnet uns
unter Septimius Severus für den Markomannenkönig Aistomodius.12 Die ältere Selbstbezeichnung der
Germanen insgesamt oder wenigstens der größten Stammesgruppe unter ihnen lautete Swebi, zu
deutsch ‚Schwaben‘, in der Bedeutung ‚wir selbst‘ – also nicht sehr vielsagend, ähnlich dem späteren
Namen der Alamannen, ‚alle Männer‘.13
Caesar war der erste Autor, der ein klares Bild von den Germanen hatte. Waren doch zuvor die Kim-
bern und Teutonen in Rom als Gallier betrachtet worden, obschon Poseidonios bezeugt, daß sie eine an-
dere Sprache hatten.14 Noch Cicero hielt sie 56 v. Chr. für Kelten.15 Caesar verwandte den Germanen-Na-
men wie selbstverständlich und berichtet gleich zu Eingang seiner Kommentarien, die tapfersten
Gallier seien die Belgier, weil sie am weitesten entfernt von der römischen Dekadenz wohnten und sich
fortwährend mit den Germanen im Kampfe messen müßten. Weiter schreibt er zum Jahre 58, als es ge-
gen Ariovist ging, daß seine Legionäre sich gefürchtet hätten, den Germanen entgegenzutreten, denn
ihnen ging der Ruf von unwiderstehlichen Kriegern voraus. Caesar mußte seine ganze Beredsamkeit
aufbieten, um seinen Legionären Mut zu machen.16
Im vierten Buch charakterisiert er die Sweben,17 im sechsten bringt er einen ethnographischen Dop-
pelexkurs, in dem er Gallier und Germanen einander gegenüberstellt. Dabei hebt er die Unterschiede
hervor. Anders als die Gallier besäßen die Germanen keine Druiden, hielten auch nicht viel von Opfern
und verehrten nur die Sonne, den Mond und das Feuer. Daß Caesar hier irrt, wissen wir aus anderen
literarischen und archäologischen Quellen, die uns Götternamen und möglicherweise auch Götterbilder
überliefern. Caesar schreibt, die Männer seien überwiegend mit Jagd und Krieg befaßt und von Jugend
an so abgehärtet, daß sie in ihren kalten Flüssen badeten. Sie waren – also anders als die Römer – keine
‚Warmduscher‘. Im Gegensatz zu diesen hielten die Germanen bis zum 20. Lebensjahr auf Keuschheit,
dabei sei der Umgang der Geschlechter höchst unbefangen. Bei der Kleidung notiert Caesar das Pelz-
werk. Viehhaltung und Fleischnahrung, so heißt es, überwiegen. Ackerbau werde vernachlässigt, das
Land jährlich neu verteilt. Das erinnert an den römischen Mythos vom Goldenen Zeitalter Saturns, als es
noch kein Privateigentum am Boden, keine Eigentumsgrenzen gab.18 Gemeineigentum am Ackerland
bezeugt für die Germanen ebenfalls Tacitus,19 auch für die frühen Kelten in Spanien wird es überliefert.20
Im 19. Jahrhundert haben Proudhon und Friedrich Engels hier Belege für den Urkommunismus
der klassenlosen Gesellschaft gesehen, die sie auf technisch höherer Stufe erneuern wollten. Engels
62 ALEXANDER DEMANDT
Tacitus lobt den Gemeingeist der Germanen, das Ehrgefühl, den Familiensinn und den hohen Re-
spekt vor den Frauen. Inesse aliquid sanctum et providum putant – ihnen wohne etwas Heiliges, Voraus-
schauendes inne, so meinte man.23 Darum höre man auf sie. Tacitus nennt zwei Priesterinnen, Veleda
und Aurinia, die sogar politisch einflußreich waren. Frauen hätten schon wankende Schlachtreihen
zum Stehen gebracht und seien als Geiseln begehrter als Männer. Denn Frauen in Feindeshand setze
man keinem Risiko aus, wenn Vertragsbruch erwogen wird.
Die Zahl der Kinder künstlich zu begrenzen, wie das bei den Römern üblich war, sei, so Tacitus, bei
den Germanen verpönt. Den Kinder- und Menschenreichtum der Germanen bezeugt zudem sein Zeit-
genosse Flavius Josephus.24 Cassius Dio vermerkt ihn für die Markomannen,25 in der Spätantike wird er
für die Franken, Alamannen und Burgunder überliefert. Jordanes26 nennt Skandinavien die vagina na-
tionum, und Isidor von Sevilla27 sah im Namen Germania einen Hinweis auf die Fruchtbarkeit des Vol-
kes, vermutlich etymologisch im Gedanken an germen, den sprießenden Keim. Die Aussage des Tacitus
steht mithin nicht allein. Trotz all dieser löblichen Eigenschaften ist der Autor aber nicht blind für die
Schwächen der Germanen: ihre Spielleidenschaft und ihre Trunksucht. Das Bier findet er scheußlich.
Er nennt es einen Gerstensaft in quandam similitudinem vini corruptus – „in eine gewisse Ähnlichkeit
mit dem Wein verschlimmbessert“.28 Noch Kaiser Julian hat in seinem ersten Epigramm das Bier ver-
lästert.
Unter den Stämmen hebt Tacitus die Chatten in Niederhessen hervor.29 Ihn beeindruckt ihre fast
schon römische Disziplin in Krieg und Frieden, ihr hochgewachsener Körperbau und ihre rasche Auf-
fassungsgabe. Er legt ihnen gar eine stoische Lebensregel bei: fortunam inter dubia, virtutem inter certa
numerare – das Glück sei eine unsichere Sache, verläßlich aber sei die virtus, die Tugend, die sich in Hal-
tung und Leistung kundtut. Die Cherusker freilich seien inzwischen, drei Generationen nach Armi-
nius, durch den langen Frieden abgeschlafft.30 Gleichwohl empfindet Tacitus die Germanen als bedroh-
lich. Seit zweihundert Jahren würden die Germanen besiegt und doch nicht bezwungen31 – das geht
gegen Domitian –, und daher begrüßt er es, wenn sie sich gegenseitig aufreiben. Angesichts eines mör-
derischen Kampfes zwischen den Brukterern und ihren Nachbarn entf ährt ihm ein Stoßgebet: Wenn
sie schon uns nicht lieben, so möge doch der Haß auf ihresgleichen erhalten bleiben, denn wenn einst
das Schicksal Rom in Bedrängnis bringt (urgentibus imperii fatis), kann uns Fortuna nichts Besseres ge-
währen als Zwietracht unter den Feinden.32
Tacitus ist der einzige Autor, der den Teutoburger Wald erwähnt, nicht bei der clades Variana, da
seine Annalen erst im Jahre 14 einsetzen, wohl aber beim Besuch des Schlachtfeldes durch Germani-
cus.33 Die römische Niederlage des Varus provozierte in der Antike abwertende Aussagen über den ger-
manischen ,Nationalcharakter‘. Velleius34 nennt die Germanen äußerst wild und verschlagen, zum Lü-
gen geboren, haben sie doch Varus hinters Licht geführt! Arminius beging ein scelus, ein Verbrechen,
und doch hat Velleius vor Arminius höchsten Respekt. Zur Ausführung seines Frevels bef ähigten ihn
seine edle Herkunft, sein tapferer Arm, sein klarer Blick, seine für einen Barbaren ganz ungewöhnliche
Intelligenz und das Feuer seines Geistes, das ihm aus den Augen sprühte. Hat Velleius dies erfunden
oder von Gefangenen erfahren?
64 ALEXANDER DEMANDT
Im Hinblick auf die Germanen im Reichsdienst urteilt Ammian durchaus abgewogen. Einzelne
germanische Heerführer werden belobigt, andere sachlich beurteilt, nur ausnahmsweise wird der eine
oder andere getadelt, aber schwerlich unverdient. Die Tapferkeit germanischer Einheiten auf Seiten
Roms wird unumwunden anerkannt. Ihre Liebe zu dem von Ammian hoch verehrten Kaiser Julian
erkennt er daran, daß sie sich von ihm gegen ihre Gewohnheit zu Schanzarbeit einteilen ließen. Sonst
waren Erdarbeiten und ähnliches mit dem germanischen Kriegerstolz unvereinbar. Das gemahnt an
die Maxime im preußischen Heer: Die Garde gräbt nicht. Mehrere germanische Offiziere hat Julian
zu Heermeistern erhoben, einen, Nevitta, sogar zum ordentlichen Konsul, der höchsten Würde im
Reich. Daher ist schwer nachzuvollziehen, mit welchem Recht er seinen Onkel Constantin dafür tadelt,
Germanen zu Konsuln befördert zu haben. Diesen Widerspruch moniert Ammian,43 zumal Nevitta
den Kandidaten Constantins an Glanz, Erfahrung und Ruhm nicht gleichgekommen sei. Nevitta wird
als inconsummatus – ungebildet, als subagrestis – bäurisch, und vor allem als crudelis – grausam be-
zeichnet.
Unter Julians Nachfolger Valentinian gab es in den römisch-germanischen Beziehungen ein
romantisches Zwischenspiel in der Liebesaff äre zwischen Ausonius, dem Rhetor und Prinzenerzieher,
und dem Schwabenmädchen, das den Kosenamen Bissula trug. Ausonius nahm im Gefolge des Kaisers
Valentinian 368 oder später an einem der Feldzüge gegen die Alamannen teil und erhielt dieses Mäd-
chen als Beute. Es bescherte dem sechzigjährigen Witwer noch einen Liebesfrühling. Ausonius wid-
mete seiner Ziehtochter, seiner alumna, wie er sie nannte, ein Büchlein mit Gedichten,44 das er seinem
Freund Axius Paulus, einem Rhetor in Bordeaux, schickte. Er habe die Zweifel des Dichters, ob er seine
Verse veröffentlichen solle, gelöst wie einst Alexander den Gordischen Knoten, nämlich unerwartet und
kurzentschlossen. Dem Leser empfiehlt Ausonius, sich erst einmal ein Glas Wein einzuschenken, um
in die richtige Stimmung zu kommen, und wenn er darüber einschlafe, dann erscheine ihm Bissula als
die Traumfrau des Dichters. Wir erfahren sodann, daß Bissula jenseits des eiskalten Rheins nahe den
Donauquellen aufgewachsen ist; von der Hand des Römers gefangen, habe sie das Herz des Römers be-
zwungen, regiere sie nun das Haus ihres Herrn. Niemand mache ihr einen Vorwurf wegen ihrer Her-
kunft oder wegen ihres Schicksals, so daß sie nun die Vorzüge des Lebens im Reich genießen kann. Mit
ihren alamannischen blonden Haaren und blauen Augen bleibe sie eine echte Germanin. Blonde oder
rötliche Haare und blaue, mitunter trotzige Augen werden den Germanen auch von Tacitus45 und Juve-
nal46 bescheinigt. Doch indem Bissula Latein lernt, ist sie als Doppelwesen am Rhein wie in Latium da-
heim. Ausonius nennt sie seine Wonne, seinen Schatz, seine Liebe, die als Barbarin die schönsten
Frauen Roms beschämt. Klinge ihr Name für andere auch etwas bäurisch, sei er dem Herrn jedoch ent-
zückend. Ausonius mahnt einen Maler, mit Farben könne er ihre Schönheit nicht wiedergeben – dazu
müsse er aus allen Blumen den Honig verwenden.
Die Bissula-Idylle war indes kein Symptom für eine germanenfreundliche Grundstimmung der
Zeit überhaupt. Symmachus47 beklagt die Unverschämtheit von 29 gefangenen Sachsen, die für die
Gladiatorenkämpfe des Jahres 393 vorgesehen waren, sich aber in der Nacht vor dem Auftritt in der
Arena im Kerker das Leben genommen hatten, anstatt dem Volk von Rom die Freude des tödlichen
Spektakels zu gönnen. Symmachus mußte daher auf afrikanische Bären zurückgreifen.
Die Ammian zu Unrecht unterstellte Germanenfeindlichkeit findet sich wenig später tatsächlich in
der Politik wie in der Literatur. Mehrere hochrangige Reichsgermanen wurden Opfer der nationalrömi-
66 ALEXANDER DEMANDT
bruch und sonstigen Ausschweifungen verführten.63 Derartiges kennen die Germanen nicht, sie wer-
den im Vergleich zu den Römern als keusch und züchtig beschrieben. Im Reich rühmen sich Schür-
zenjäger ihrer Erfolge, aber bei den Goten, Sachsen und Vandalen werden sie verachtet.64 All dies klingt
ganz ähnlich wie bei Tacitus. Hier kann mithin kein christliches Askese-Ideal das Germanenbild ge-
schönt haben. Wenn Tacitus das Ende des Imperiums durch die Germanen befürchtet hat, so wird eben
dies durch Salvian festgestellt und mit deren Sittenreinheit begründet. Wir sollen uns nicht wundern,
schreibt er, wenn wir von ihnen im Felde besiegt werden, da sie uns an Ehrbarkeit überlegen sind.
Das Bild, das die antiken Autoren von den Germanen entworfen haben, ist im Mittelalter weithin
in Vergessenheit geraten. Im Jahre 1009 ist niemand auf den Gedanken gekommen, eine Tausendjahr-
feier für Arminius zu begehen. Dennoch waren die Germanen bei einzelnen Geistlichen präsent. Kron-
zeuge ist der unbekannte Autor des Annoliedes, der um 1080 den bedeutenden Kölner Erzbischof und
Tutor Heinrichs IV. in einem mittelhochdeutschen Gedicht verherrlichte, das er mit einem weltge-
schichtlichen Rückblick einleitete. Als Caesar, so lesen wir, nach Unterwerfung der Franken nach Rom
zurückkehren wollte, da wollte man von ihm nichts wissen. Da begab er sich wieder in die „deutschen
Lande“, wo er so viele treffliche Helden kennengelernt hatte. Mit ihnen vertrieb er seine Gegner aus
Rom und besiegte Pompeius. Dann belehrte und beschenkte er seine „deutschen Mannen“, die fortan
in Rom lieb und wert waren. Die Germanen werden hier selbstverständlich als ,die alten Deutschen‘ be-
handelt, wie es bis zu Theodor Mommsen und Friedrich Engels üblich war.
Die breitenwirksame Rezeption des römischen Germanenbildes begann im späten 15. Jahrhundert
mit dem Humanismus65. Die Werke des Tacitus hatten in Fulda und Corvey überwintert, 1470 erschien
die Germania in Venedig, drei Jahre danach in Nürnberg. Der große Humanist und spätere Papst Pius
II., Enea Silvio Piccolomini, verfaßte seinerseits eine Germania und erinnerte nach dem Fall von Kon-
stantinopel auf dem Frankfurter Fürstentag die Deutschen an ihren von Tacitus gerühmten Kriegsgeist,
um sie zum Türkenkrieg zu bewegen. Die deutschen Humanisten waren stolz auf das wohlwollende
Germanenbild des Tacitus. Jakob Wimpfeling († 1528) aus Sélestat, damals Schlettstadt, verfaßte eine
Germania, die gegen den französischen Anspruch auf das Rheinufer den germanisch-deutschen Cha-
rakter des Elsaß dartun sollte. Konrad Celtes versuchte sich an einer Theodoriceis, einem deutschen Na-
tionalepos über Theoderich den Großen in Anlehnung an Vergils Aeneis. Luther erklärte in seinen Tisch-
reden,66 er habe den Arminius, den er Hermann nannte, „von Herzen lieb“, und sah in ihm einen
Vorkämpfer gegen Roms Ansprüche auf Deutschland. Ulrich von Hutten schrieb ein Streitgespräch
zwischen Alexander, Hannibal, Caesar und Arminius, in dem letzterer bewies, daß er der größte aller
Feldherren sei, da er ja die Römer bezwungen habe, die ihrerseits die Griechen überwunden hatten.
Im Jahre 1690 erschien in zwei Folianten der monströse Roman des Kaiserlichen Rats Daniel
Kaspar von Lohenstein aus Breslau mit über dreitausend zweispaltigen Seiten unter dem Titel Groß-
müthiger Feldherr und tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit Arminius oder Herrmann nebst seiner
durchlauchtigen Thußnelda. Der Roman wimmelt von Exkursen und Fußnoten, kombiniert extensive
Gelehrsamkeit mit blühender Phantasie, er verschlüsselt Zeitgeschichte und schwelgt in deutschpatrio-
tischem Germanentum. Lohensteins Huldigung an die „alten Deutschen“ fand Anklang und Nach-
folge. Dreißig Oratorien und Opern waren Arminius gewidmet, Händels Arminio hatte am 12. Januar
1737 im Londoner Covent Garden Opera House Premiere.
63 Salv. gub. 6,17ff. 65 S. zum Folgenden auch den Beitrag von K. Kösters im
64 Salv. gub. 6,35; 7,24ff.; 64; 84ff.; 91; 97ff. vorliegenden Band.
66 WA TR 3,329; 5,415.
67 Strab. 7,291f.; s. auch zur künstlerischen Verarbeitung 68 Zum Denkmal s. den Beitrag von H. Barmeyer im vor-
der Szene den Beitrag von W. Beyrodt im vorliegenden liegenden Band.
Band.
68 ALEXANDER DEMANDT
Das lateinische Wort socius stammt von sequor – folgen; socius ist der Gefolgsmann. Der soziale Ge-
danke hat zumal eine germanische Wurzel. Soziales Bewußtsein bezeichnet die Solidarität innerhalb
der Gruppe. Nicht zuf ällig waren die Sozialisten Marx und Engels Deutsche. Sie haben das soziale Prin-
zip auf die Spitze getrieben, das in dieser oder jener Form in Deutschland von allen Parteien, allen Kon-
fessionen vertreten wurde und vertreten wird. Seit sechzig Jahren kommt glücklicherweise auch der
Freiheitsgedanke wieder zu Ehren. Seitdem haben die soziale und die liberale Idee gleiches Gewicht,
doch reicht ihr Ursprung über zweitausend Jahre zurück, quod erat demonstrandum.
In den neueren Publikationen zur Varusschlacht gibt es kaum einen historischen Aspekt, der nicht
genauer untersucht worden wäre: Römer und römische Stützpunkte, Germanen und ihre Siedlungen,
Gräber, Waffen, Schlachtfelder, Arminius und Varus, das Nachleben der beiden und vergleichbares.
Was aber hören wir über die germanischen Frauen, was über Thusnelda, die Frau des Arminius?
Nichts – warum? Thusnelda sagte nichts, so überliefert es Tacitus. Als ihr römerfreundlicher Vater
Segestes nach der Varusschlacht auf seine Bitten hin von den Römern unter Germanicus aus den Hän-
den seiner Stammesgenossen befreit wurde, übergab er Thusnelda „unter Zwang“ – necessitate – seinen
römischen Befreiern.1 Trotzdem aber erhob die Tochter weder flehend ihre Stimme, noch war sie von
Tränen übermannt, legte nur ihre Hände zusammen und betrachtete ihren schwangeren Leib. Später
wurde sie nach Rom fortgeschickt und gebar dort einen Sohn.2 Obwohl beide nicht feindselig behandelt
worden sein sollen,3 wurde Thusnelda aber später, wie der Geograph Strabon berichtet, zusammen mit
dem inzwischen dreijährigen Thumelicus als Gefangene bei einem glänzenden Triumphzug des Ger-
manicus den Römern vorgeführt. Der Vater Segestes schaute diesen Triumph als Zuschauer an – er war
rechtzeitig zu den Römern übergelaufen.4 Das sind, in Kürze, die Nachrichten über die Frau des Armi-
nius. Doch obwohl Tacitus, der die Akteure dieser Zeit am genauesten beschreibt, Thusnelda nicht mit
einer Rede überliefert – es ist ja durchaus denkbar, daß er genaue Informationen hatte und wußte, daß
sie geschwiegen hatte –, macht er dennoch deutlich, daß sie eine eigene und vom Vater abweichende
Meinung gehabt haben muß. Ganz offensichtlich hatte Thusnelda bereits gegen den Willen ihres Va-
ters gehandelt, als sie sich mit Arminius zusammentat, denn sie war bereits einem anderen verspro-
chen gewesen,5 und anders als ihr Vater war sie gegen die Römer: mariti magis quam parentis animo, wie
ihr Vater, laut Tacitus, seinen Befreiern gegenüber eingesteht.6 Diese Zipfelchen an Information, daß
Thusnelda aktiv gegen den Willen ihres Vaters gehandelt hatte und auch mehr die Gesinnung ihres
Ehemannes zeigte, soll der Ausgangspunkt unserer Frage nach dem politischen Einfluß, der Macht und
Autorität germanischer Frauen im ersten Jahrhundert nach Christus sein. Was wissen wir eigentlich
von den Frauen dieser Zeit?
Von den Germanen selbst haben wir keine schriftlichen Quellen, sie bewahrten ihre geschichtliche
Überlieferung in mündlich tradierten Heldenliedern auf,7 und hätten wir nicht die Werke des Tacitus,
würden wir uns wundern, wie sich kleinere und größere Stämme überhaupt je bilden konnten – denn
eines haben die frühen Sueben wie die späteren Franken in nahezu allen römischen und griechischen
Quellen gemein: Sie bestehen im Grunde nur aus Männern. In den Berichten des 2. bis 4. Jahrhunderts
tauchen germanische Frauen als Individuen gar nicht mehr auf, als Gattung nur noch selten. In einem
Brief des Kaisers Julian von 361 lesen wir: „… ich, Kaiser, Julian, vertrieb die Chamaven (am Nieder-
1 Tac. ann. 1,58,4. 7 Tac. Germ. 2,2; von Arminius sagt Tacitus ann. 2,88,2:
2 Tac. ann. 1,57,4 und 1,58,6. canitur … adhuc barbaras apud gentes; die m.E. immer
3 Tac. ann. 2,10,1. noch beste Einführung in das Thema geschichtliche
4 Strab. 7,1,4. Überlieferung in der Heldendichtung allgemein ist Lord
5 Tac. ann. 1,55,3: alii pacta, „die Braut eines anderen“. (1960); überblicksartig zu den germanischen Helden-
6 Tac. ann. 1,57,4. sagen Wamers (1987).
18 P« « λ in Methode – an und für sich bereits zweifelhaft – ist inso-
einem Brief an den Rat und das Volk der Athener (Iul. fern noch weniger zu begrüßen, als sie die Zeugnisse
epist. 278D–280D). Hier wirklich verächtlich das säch- zur Geschichte der Frauen völlig isoliert betrachtet und
liche (!); anders als in der dt. Übersetzung von nicht im Zusammenhang mit den sonstigen Zeugnis-
Goetz, Patzold u. Welwei (2006/7) I, 265; dazu unten sen zur Struktur des Stammes, zur Ausübung von
Anm. 14. Macht bzw. Autorität innerhalb und außerhalb dessel-
19 Aus. Bissula 3: … Germana maneret / ut facies, oculos cae- ben; auch der Herausgeber der Germania, Much (1967),
rula, flava comas. interpretiert ähnlich einseitig, dazu unten S. 78/9 mit
10 Durch nahezu völlige Abwesenheit von Frauen glänzt Anm. 61. In anderen Zusammenhängen aber wird die
auch Herrmann (1988) hier 532. historisch zuverlässige Arbeitsweise des Tacitus beson-
11 Imperium (2009); Konflikt (2009); Mythos (2009). ders gelobt, dazu z.B. Giardina (2008) 34.
12 Burmeister (2009) 26. 14 Als Beispiele für diese durchgängig geübte Praxis mö-
13 Beispiele sind unter vielen anderen Bruder (1974), der gen hier einige Beispiele aus Übersetzungen mittelalter-
das germanische Frauenbild besonders des Tacitus, aber licher Quellen genügen: Reinhold Rau (in: Quellen zur
auch anderer antiker Autoren, verzeichnet sieht, die ge- karolingischen Reichsgeschichte [FrStGA] Bd. 2, Darmstadt
sellschaftlich bedeutende Stellung der Frau zur Zeit des 1980, 342/3, 198/9 und 136/7): Annales Xantenses s.a.
Tacitus als Fiktion betrachtet und allein aus „ethnogra- 837 (feminae) bzw. Annales Bertiniani s.a. 869 (mulieres),
phischer Tradition, politischer oder moralischer Ten- jeweils übersetzt als „Weiber“, allerdings vgl. ibid. s.a.
denz und dichterischer Intuition zu erklären“ (184) 864 (sanctimoniales ceteraeque feminae: „Nonnen und an-
sucht; Bruder, für den erst die Wikingerzeit und das dere Frauen“[!]); oder Werner Trillmichs Übersetzung
Christentum den Frauen eine wichtigere gesellschaft- von Rimberts Vita Anskari (in: Quellen des 9. und 11. Jahr-
liche Position verschafften, vergleicht jedoch lediglich hunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des
die antiken Quellenaussagen untereinander; sofern er Reiches [FrStGA], Darmstadt 1978, 115): mos est femina-
für eine Aussage keine Bestätigung durch eine andere rum: „nach Weiberart“; und oben Anm. 8.
Quelle findet, f ällt sie als Beweis fort (123–125); diese
15 Tac. hist. 4,61,2; zu Veleda siehe unten S. 85f. und passim. gesprochen wird; Notker, Gesta Karoli I.17 (MGH SS rer.
16 Borst (1984) 496. Trotz anderen Anspruchs mit gleicher Sanggallensium 738.13–14), wo Notker von einem Bistum
Übersetzung S. Tausend (2009) 163 („Wir erfahren in prima Germaniae sede spricht; rex Germaniae ist bei-
demnach, dass eine Jungfrau … weithin über die Geister nahe durchgehend Ludwig, der Sohn Ludwig des From-
herrschte“). men, z.B. in den Annales Bertiniani s.a. 864 (MGH SS
17 Goetz, Patzold und Welwei (2006) II, 221. rer. Germ. in usum scholarum Bd. 1, 465.31 und 466.18);
18 Dazu vor allem der Bericht über den Bataveraufstand, Der Begriff populus Germanicus bzw. populi Germanici in
hist. 4,14,4; 17,1–4; 28,1; 65,1 et passim, in dem Tacitus den Annales Fuldenses s.a. 873, 877 und 880 (MGH SS
den Civilis mehrmals auf die consanguinitas der Bataver rer. Germ. in usum scholarum Bd. 7, 79, 90 und 96) sowie
mit den übrigen Germanen eingehen läßt, sowie vor al- in den Annales Bertiniani s.a. 839 (MGH SS rer. Germ.
lem in Civilis’ Abgrenzung von den Galliern, hist. 4,61,1. in usum scholarum Bd. 1, 433.2); dies nur eine kleine
19 Dazu im Überblick Pohl (2004), der – wie viele andere – Auswahl einschlägiger Quellen zur unhaltbaren Be-
meint, daß der Germanenname für die Völker jenseits hauptung von Pohl.
des Rheins und oberhalb der Donau als Fremdbezeich- 20 Von Carnap-Bornheim (2008) 77 bezeichnet das von
nung in der Spätantike aus der Mode kam und erst Germanen besiedelte Gebiet, wie jetzt in vielen Publika-
durch die Humanisten wieder „ins Zentrum der Debat- tionen üblich, als „Westliches Barbaricum … Kernraum
ten“ kam (1); als mittelalterliche Quelle gilt für ihn nur germanischer Gentes“; außerdem sehr ausführlich dazu
Otto von Freising im 12. Jahrhundert (!), bei dem er ein und letztendlich unergiebig Dick (2008) insb. 1–25;
Mal fündig wird (5); bei Autoren des frühen Mittelalters ganz anders jedoch K. Tausend (2009).
war die Benennung dieses Gebietes als Germania, des 21 Es gibt unzählige Internetseiten zum Thema Gentest;
Königs über dieses Gebiet als rex Germaniae und des dazu eine Meldung von Welt online Wissen vom 25. No-
Volkes als populus Germanicus jedoch keineswegs außer vember 2007: 50 Prozent der deutschen Frauen, aber nur
Gebrauch; nur einige Beispiele hierfür: Beda Venerabi- 6 Prozent der Männer hätten „germanische Vorfahren“
lis, Historia Ecclesiastica gentis Anglorum III,13 bzw V,9: (ohne Angabe der Anzahl untersuchter Proben!); wirklich
Quarum in Germania plurimas noverat esse nationes, a qui- außerordentlich eine Meldung vom Juli 2008, daß man
bus Angli et Saxones, qui nunc Brittaniam incolunt, genus mittels DNA-Analyse die Verwandtschaft zweier Män-
et originem duxisse noscuntur; Einhard, Vita Karoli Magni ner mit den Überresten bronzezeitlicher Menschen aus
c. 15 (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum Bd. 25, der am südwestlichen Harzrand gelegenen Lichtenstein-
18.23–26) lokalisiert Germanien zwischen Rhein und höhle feststellen konnte; als Einstieg in diesen Zweig der
Weichsel, Donau und Meer; Annales regni Francorum s.a. Diskussion siehe Sykes (2001), der nach den Ergebnissen
794 (MGH SS rer. Germ. in usum scholarum Bd. 6, 94) seiner Forschungen die Meinung vertritt, daß nahezu alle
wo von Bischöfen aus Gallien, Germanien und Italien Europäer von lediglich sieben Urmüttern abstammen.
22 So durchgängig abwertend bei Zosimus; als Beispiel 25 Tac. Germ. 45: in tantum non modo a libertate sed etiam a
zum Jahr 380 (4,30,3): „Die Barbaren marschierten servitute degenerant.
ohne jede Disziplin und benahmen sich auf den Märk- 26 Vgl. als Beispiel ann. 14,11,1, wo Tacitus es als dedecus
ten nach ihrem Belieben“ (Übers. Goetz, Patzold u. Wel- für den Senat und das Volk von Rom bezeichnet, wenn
wei, [2006] II, 153); der Begriff Barbaricum ist ebenfalls Neros Mutter Agrippina es hätte erreichen können,
eine Fremdbezeichnung, darüber hinaus pejorativ ge- sich von den Prätorianerkohorten den Treueid leisten zu
braucht und spätantik, so z.B. von Amm. 17,12,21 oder lassen.
27,5,6 – warum sollte man ihn dann Caesars Bezeich- 27 Tac. hist. 3,45 und ann. 14,31,1 und 35,1; in Agr. 16,1 sagt
nung Germania vorziehen und für das erste Jahrhundert er, daß sie im Oberbefehl „nicht nach Geschlecht unter-
benutzen? scheiden“; s. auch unten.
23 Caesar hatte nur wenig Einsicht in germanische Verhält- 28 Amm. 14,1,1–8, wo er der Frau des Caesar Gallus vor-
nisse im Vergleich zu den gallischen; lediglich in seinem wirft, sie hätte ihren Gatten „doch eher mit weiblicher
Bericht über den Krieg gegen Ariovist (Gall. 1,32–54) Sanftmut auf den Weg der Wahrheit und Menschlich-
bzw. in seinem Germanenexkurs (Gall. 6,21–28) gibt er keit zurückführen müssen“, anstatt ihm Gehilfin auf
einige Anhaltspunkte. dem Weg in den Abgrund zu sein.
24 Innergermanische Verhältnisse werden von Ammianus 29 Tac. Germ. 7.
Marcellinus so gut wie gar nicht berührt.
Die Ausdehnung der Sippen und die Kompetenzen und Aufgaben einzelner Mitglieder festzustellen ist
schwierig für das erste Jahrhundert, denn nur, was von der Norm des täglichen Lebens abwich, also Stö-
rungen des Sippefriedens, Intrigen oder Mord, waren berichtenswert. Durch jede neue Heiratsbezie-
hung wurde die Sippe erweitert. Das machte sie natürlich zu einer unübersichtlichen und umständlich
zu nutzenden Institution. Ihre Mitglieder konnten über eine weite Gegend verstreut sein, weshalb sich
Sippen – anders als clans – nicht dazu eigneten, territorial voneinander getrennte, geschlossene politi-
sche Einheiten zu bilden, mit gleichen Rechten und Pflichten gegenüber den gleichen Personen. An
den Familien und Sippen des Arminius sowie des Civilis, der den Bataveraufstand 69 n. Chr. anführte,
den zweiten großen Kriegszug gegen die Römer von seiten der Germanen im 1. Jahrhundert, kann man
einiges über die Struktur der Sippe sowie die Beteiligung von Frauen auf dieser Ebene der politischen
Organisation erfahren.
Männliche Verwandte des Arminius werden nur in ihrer Funktion als Gegner genannt: allen voran
sein Bruder Flavus, der im römischen Heer diente und sich durch Treue gegen die Römer auszeich-
nete,32 sowie sein Onkel Inguiomerus, der Bruder seines Vaters; dieser hatte zunächst mit ihm gegen
die Römer gekämpft, 17 n. Chr. aber dann zusammen mit Marbod, dem König der Sueben, die Cherus-
ker unter Arminius, also seinen eigenen Stamm und Neffen, angegriffen.33 Ebenfalls – und zwar von
Anfang an – gegen Arminius war sein Schwiegervater Segestes, welcher für das Bündnis mit Rom und
gegen den Angriff auf die Römer 9 n. Chr. plädiert hatte.34 Das Ende seines Lebens fand Arminius
schließlich dolo propinquorum, also durch die List seiner Verwandten,35 ohne daß uns genauer berichtet
würde, wer diese propinqui waren. Vielleicht waren es principes der Chatten. Einer von ihnen, Adgende-
strius, hatte dem römischen Senat angeboten, Arminius durch Gift zu töten,36 was bedeutet, daß er
30 Clans sind dadurch bestimmt, daß sie ihre Abkunft 34 Tac. ann. 1,55,3: „er war der verhaßte Schwiegersohn
durch eine einzelne Person definieren, sei sie männlich eines feindlich gesinnten Schwiegervaters (gener invisus
oder weiblich. inimici soceri), und was bei Einträchtigen ein Band der
31 Tac. Germ. 21: Suscipere tam inimicitias seu patris seu pro- Zuneigung ist, wurde zum Stachel des Zornes bei erbit-
pinqui quam amicitias necesse est. terten Gegnern“; bzw. 55,2.
32 Tac. ann. 2,9,1. 35 Tac. ann. 2,88,2.
33 Tac. ann. 1,68 bzw. 2,45,1. 36 Tac. ann. 2,88,2.
37 Tac. ann. 11,16,1 und Strab. 7,1,4. 42 Beowulf 1942 und 2017: freothuwebbe bzw. frithusibb folca;
38 Tac. ann. 2,10,1 im Jahre 16 n. Chr.: ne propinquorum et ad- leider war der Versuch, zumindest längerfristig gese-
finium, denique gentis suae desertor et proditor … esse mallet. hen, oft erfolglos, wie der Dichter resignierend bekennt
39 Tac. hist. 4,18,1. (2028–2029): „doch selten einmal, nur kurze Frist, nach
40 Zum Beispiel wurden die beiden Schwesternsöhne des Königs Fall, ruht der Mordspeer, ist die Braut auch
des Civilis, Claudius Victor und Verax, von diesem mit schön“.
der Heerführung und Leitung von Kämpfen gegen die 43 Siehe Bemmann (2008) 66 zu archäologischen Bewei-
Römer betraut: hist. 4,33,1; 5,20,1; aus späterer Zeit die sen für die „Verheiratung von Frauen aus vornehmer
berühmte Geschichte der Sunilda, die auf Befehl des Familie in die Fremde“, die er als „Kontaktpflege zwi-
Gotenkönigs Ermanarich getötet und dann von ihren schen den Herrschaftszentren“ bezeichnet; allerdings
beiden Brüdern blutig gerächt wurde (Jordanes, Getica verschleiert der Begriff ‚Kontaktpflege‘ m.E. die Bedeu-
MGH AA 5,1,24.129). tung der Frauen und weist ihnen eher die passive Rolle
41 Tac. ann. 12,28,2. eines wertvollen Gegenstandes zu; solche tauschte man
schließlich untereinander zur ‚Kontaktpflege‘.
44 Tac. Germ. 18. ein Hinweis auf den wirtschaftlichen Erfolg von Frauen;
45 Caes. Gall. 1,53,4. die Autoren vermuten, daß die zugehörigen Siedlungen
46 Tac. Germ. 15. an einer Handelsstraße, der sogenannten Bernstein-
47 Tac. Germ. 15. straße, lagen. Zu den Funden auch unten S. 81.
48 Dazu Kasprzycka u. Stasielowicz (2008) mit Abbildun- 49 Tac. hist. 4,49,1.
gen; die Funde des Gräberfeldes, einer gotischen Nekro- 50 Suet. Aug. 21; siehe auch Allen (2006), der aber zu dem
pole im Südwesten der Elbinger Höhe im heutigen hier untersuchten Thema nichts beiträgt.
Polen, stammen aus über 500 bis heute erforschten Grä- 51 Tac. ann. 2,7,2.
bern, die von ca. 70 nach Chr. bis in die Mitte des 4. Jahr- 52 Tac. ann. 1,57,4.
hunderts reichen; es finden sich zahlreiche Bestat- 53 Tac. ann. 2,46,1: Marbod über die Gefangenschaft von
tungen von Frauen, die, im Gegensatz zu denen der Thusnelda und Thumelicus, die eine Schande für Armi-
Männer, besonders reich ausgestattet waren – vielleicht nius seien, sowie Germ. 8 und hist. 5,17,2.
Die einzelnen Sippen stellten die konstitutiven Elemente eines Stammes dar; in Übereinstimmung
mit allgemein akzeptierten Regeln hielten sie die innere, soziale Ordnung aufrecht; was wissen
wir über solche Regelungen? Welches politische Instrumentarium hatten solche Gruppen außerdem,
um ihre Existenz anderen gleichartigen Verbänden gegenüber sicherzustellen und welchen Anteil
hatten Frauen daran? Selbstverständlich gibt es eine große Bandbreite von gesellschaftlicher Organi-
sation bei den germanischen gentes, das muß nicht eigens betont werden; und natürlich vereinheit-
lichte auch Tacitus das, was er wußte, um seinen Lesern bei allen Unterschiedlichkeiten der Germa-
nen sowohl einheitliche Merkmale als auch Besonderheiten zeigen zu können. Es wird uns berichtet,
daß Entscheidungen aller Art bei den Germanen more suo, also „gewohnheitsmäßig“, auf Volks-
versammlungen, concilia, getroffen wurden. Sie fanden an festgelegten Tagen statt, ob immer in hei-
ligen Hainen, wird nicht deutlich. Ausdrücklich wird dies unter anderem von der Verschwörung des
Arminius und der Versammlung des Civilis berichtet, wie auch von den religiösen Feiern und concilia
der Semnonen;54 bei anderen Stämmen scheinen die Haine ausschließlich Priestern zugänglich
gewesen zu sein, wie der der Nerthus, oder auch die Haine, in denen man Schimmel zur Vorhersage
hielt.55 Die Teilnehmer der Versammlungen, die bei dringenden Angelegenheiten über Boten zusam-
mengerufen wurden,56 standen unter der Ordnungsaufsicht von Priestern.57 Ausgeschlossen von der
Teilnahme waren lediglich Verräter, Überläufer, Feiglinge, Kriegsscheue und Unzüchtige,58 vermutlich
ebenso die servi. Von diesen abgesehen entschieden omnes über die wichtigsten Angelegenheiten des
Stammes. Wer aber waren omnes und gehörten zu ihnen auch die Frauen, denn es ist nie davon die
Rede, daß lediglich Männer zu den concilia gekommen wären. Diese Frage werde ich noch an anderer
Stelle aufgreifen.
Die Versammlung als organisierte Öffentlichkeit des Stammes war der Ort für Politisches und
Sakrales zugleich, hier wurde der Stammesbund befestigt. Junge Männer wurden hier durch die
Übergabe von Schild und Speer (scutum frameaque) offiziell in den Stamm aufgenommen; während
man vorher lediglich Glieder der Familie in ihnen sah, sagt Tacitus, sah man sie danach als Glieder
des Gemeinwesens: ante hoc domus pars videntur, mox rei publicae.59 Wurden auch Frauen Glieder des
Gemeinwesens oder blieben sie lediglich Glieder ihrer Familien und Sippen? Nun wurden den Frauen
zwar nicht in der Volksversammlung die Waffen übergeben – Tacitus’ Worte sind ohne Zweifel nur auf
die jungen Männer bezogen –, aber auch sie erhielten scutum cum framea gladioque bei der Eheschlie-
ßung von ihrem Bräutigam.60 Wenn wir bereit sind, der Symbolik der Waffen jedesmal das gleiche Ge-
wicht beizumessen, steht außer Zweifel, daß die Frauen, zwar später als die jungen Männer, aber eben-
falls wie diese zu Gliedern der res publica wurden.61 Tacitus unterstützt diese Interpretation. Er sagt
54 Tac. Germ. 39. 61 Anders aber Much (1967) 287, der lediglich diskutiert,
55 Tac. Germ. 40. ob die Waffen immer die gleichen geblieben sind, die
56 Caes. Gall. 4,19,2. von der Mutter des Bräutigams auf die Schwiegertochter
57 Tac. Germ. 11 übergegangen sind; zur Symbolik der Waffen enthält er
58 Tac. Germ. 12: proditores, transfugae, ignavi, inbelles et cor- sich jeder Äußerung; er bemerkt nur, daß Geschenke
pore infames. dieser Art für Frauen keinen Wert haben (285), bzw.
59 Tac. Germ. 13. wenig passen (286); lediglich die Tatsache, daß auch die
60 Tac. Germ. 18; zusätzlich zu den Waffen erhielt die Frau Frau dem Mann eine Waffe schenkte (atque in vicem ipsa
Rinder und ein gezäumtes Pferd als Mitgift (dos) von ih- armorum aliquid viro affert), glaubt er dahingehend inter-
rem Bräutigam. pretieren zu müssen, daß der Mann damit Herr über Le-
ben und Tod seiner Frau wurde; dann müßte aber auch interessant festzustellen, daß alle taciteischen Aussagen
die Ehefrau mit den von ihrem Mann geschenkten Waf- zu Frauen, welche nicht in das vorgefertigte Bild der
fen Herrin über sein Leben geworden sein, um so mehr Historiker passen, in das Reich der Phantasterei und
als Frauen, die im Rücken des eigenen Heeres aufge- Rhetorik verwiesen werden; vgl. auch unten Anm. 121.
stellt waren, Männer, die dem Kampf den Rücken ge- 63 Tac. Germ. 12.
kehrt hatten und ihr Heil in der Flucht suchen wollten, 64 Tac. Germ. 11.
erdolcht haben sollen. 65 Tac. ann. 1,50,1 u. 4.
62 Tac. Germ. 18: ne se mulier extra virtutum cogitationes ex- 66 Tac. ann. 1,55,2–3: consensu gentis in bellum tractus.
traque bellorum casus putet, ipsis incipientis matrimonii 67 Tac. hist. 5,25,2.
auspiciis admonetur venire se laborum periculorumque so- 68 Tac. hist. 4,56,2: non iuberi, non regi, sed cuncta ex libidine
ciam idem in pace, idem in proelio passuram ausuramque; agere.
nach Much (1967) 286 sind dies allerdings „rhetorische 69 Tac. ann. 2,14,3.
Ergüsse, die mit der germanischen Vorstellungswelt 70 Tac. Germ. 7: ex nobilitate sumunt.
nichts gemein haben und sachlich deshalb schon wert- 71 Tac. Germ. 10–12.
los sind, weil sie einem Mißverständnis entspringen“ 72 Tac. Germ. 7.
(welchem Mißverständnis, wird nicht erläutert); es ist
73 Tac. Germ. 42: hier auf die stammesfremden Könige und Gesetze erhielt (Tac. ann. 11,19,1); bereits 55–58
der Markomannen bezogen. Macht (vis, potentia, pote- n. Chr. hatten die Friesen Ländereien der Römer am
stas) beinhaltet die Fähigkeit, etwas zu tun, bzw. auf Rhein besetzt unter der Führung von Verritus und Ma-
eine Sache oder Person zu reagieren; Macht ist dem- lorix, qui nationem eam regebant, in quantum Germani
nach die Fähigkeit, den eigenen Willen, bezogen auf regnantur (Tac. ann. 13,54,1); Wenskus (1961) 412 sieht
sich selbst, auf andere Personen oder Dinge auszufüh- hierin einen Beweis für alte Königsherrschaft, was allein
ren; politische Macht besteht also vor allem darin, an- durch den Gebrauch von regere und regnare nicht be-
dere Personen tun zu lassen, was man selbst will; ge- wiesen werden kann; regere wird auch auf die adligen
nau daran aber scheint es den germanischen Königen Bataverführer angewandt, welche Kohorten in Britan-
gemangelt zu haben; im Gegensatz zu den Begriffen nien führten (Tac. hist. 4,12,3: (cohortes) quas vetere insti-
potestas, vis und potentia impliziert auctoritas die Aner- tuto nobilissimi popularium regebant), und daß der Ge-
kennung von Macht und diese Anerkennung existiert brauch von regnare vielleicht eher aus stilistischen
nur in den Köpfen der Menschen; auctoritas existiert Gründen erfolgte und nicht die Königsherrschaft bei
also nur in einem von allen anerkannten System von den Friesen beweist, das betont deutlich die ausführli-
Werten, welche die Akzeptanz der politischen und so- che Schilderung des Tacitus über die Ordnung der Ver-
zialen Institutionen einschließt, durch welche auctori- hältnisse bei den Friesen nach ihrem Aufstand anno 28
tas ausgeübt wird. (Tac. ann. 4,72–74,1).
74 Tac. ann. 11,16,1. 76 Mela 3,23: ius in viribus habent.
75 Tac. Agr. 14,1; vgl. auch die natio Frisiorum, die 47 n. Chr. 77 Tac. ann. 2,45,1.
von den Römern agri sowie einen Ältestenrat, Behörden
Die Sakralsphäre
Das Leben der germanischen Stämme, das private wie das öffentliche, war durchdrungen von religiö-
sen Vorstellungen – die Welt zerfiel noch nicht in eine natürliche und eine übernatürliche, zwei sich
ausschließende Sphären; rituelle Praktiken begleiteten die Menschen als einzelne wie als Gruppe Tag
für Tag und in allen Lebenslagen. Tacitus schildert, daß der pater familiae eine besondere Bedeutung
78 Tac. ann. 2,88,2. hatte u.a. seine beiden Töchter als Erben eingesetzt, um
79 Tac. ann. 11,16,2f. regnum et domum zu schützen (Tac. ann. 14,31,1).
80 Tac. ann. 11,16,1. 84 Kasprzycka u. Stasielowicz (2008) 70–72, mit Abbildun-
81 Tac. hist. 4,13,1. gen der Funde; vgl. oben Anm. 48.
82 Tac. hist. 4,17,6: nationum regno imminebat. 85 Tac. hist. 5,25,2: „ehrenvoller sei es, römischen Fürsten
83 Bei den Briganten herrschte die Königin Cartimandua zu folgen als germanischenFrauen“.
(Tac. hist. 3,45), und der König der Icener, Prasutagus,
93 S. o. S. 81; ferner Anm. 62. 197 Tac. Germ. 9; zu Kultgemeinschaften K. Tausend (2009).
94 Tac. Germ. 11. 198 Tac. ann. 1,51,1: celeberrimum … templum, quod Tanfanae
95 Tac. Germ. 7. vocabant.
96 Vgl. dazu Tac. ann. 1,59,3, wo Arminius an die in der Va- 199 Tac. ann. 4,73,4.
russchlacht erbeuteten römischen Feldzeichen erinnert, 100 Tac. Germ. 40.
welche man in den Hainen als Weihegabe für die hei- 101 Einen allgemeinen Überblick über die Matronen gibt
mischen Götter aufgehängt habe, und Tac. ann. 13,57,2, Simek (2003) bes. 11–13 und 117–124 und nochmals
wo vor Kriegsbeginn zwischen Chatten und Hermun- dazu in Simek (2008).
duren beide Stämme das gegnerische Heer dem Ziu 102 Tac. Germ. 43.
oder Wotan weihten; zu Kriegsbeuteopfern allgemein 103 Origo gentis Langobardorum c. 1 (MGH SS rer. Lang. et
siehe Blankenfeldt u. Rau (2009) sowie Ilkjær u. Iversen Ital. saec. VI–IX, 1–6, hier 2–3), bzw. Paulus Diaconus,
(2009). Historia Langobardorum c. 8 (ibid. 52.13–14); vgl. dazu
auch Wolfram (1990) bes. 60–61.
104 Jordanes, Getica 24,121: Filimer rex Gothorum … repperit tum bis in das frühe 9. Jahrhundert hatten die religiösen
in populo suo quasdam magas mulieres, quas patrio ser- Frauen größten politischen Einfluß und standen – vor
mone Haliurunnas is ipse cognominat, easque habens allem auch ihren Familienmitgliedern – mit Rat und Tat
suspectas de medio sui proturbat longeque ab exercitu suo zur Seite; anders als Bruder (1974), der glaubt, daß erst
fugatas in solitudinem coegit errare. das Christentum den Frauen Personenwürde und reli-
105 Kasprzycka u. Stasielowicz (2008). Dazu auch oben S. 81. giösen Einfluß gebracht hat, vermute ich, daß die christ-
106 Tac. Germ. 8: Inesse quin etiam sanctum aliquid et provi- lichen Missionare deshalb bei den (heidnischen) Frauen
dum putant nec aut consilia earum aspernatur aut responsa Unterstützung fanden, weil auch zu dieser Zeit den
neglegunt; ähnlich auch Tac. hist. 4,61,2. Frauen noch eine große religiöse Kompetenz zuge-
107 Heinemann (1986) 431 Anm. 1. schrieben wurde; in den ersten beiden christlichen Jahr-
108 Siehe Schneider (1985) 272–301 zur politischen Macht hunderten hielten die Äbtissinnen außerordentliche
von Äbtissinnen in den angelsächsischen Königreichen; politische Macht in den Händen.
von der Zeit direkt nach dem Übertritt zum Christen-
109 Tac. hist. 4,61,2; zu Veleda im Überblick Walser (1955) Anwesenheit in Ägypten im Rahmen einer stammes-
und vor allem Volkmann (1975), der alle Quellen zu Ve- übergreifenden Gesandtschaft im Rahmen der Marko-
leda zusammengetragen hat und auch die übrigen, in mannenkriege: „Derartige kriegerische oder friedliche
den römischen Quellen namentlich genannten Seherin- Zusammenschlüsse germanischer Stämme bedürfen
nen zusammenstellt; die Arbeit von S. Tausend (2009) geradezu zwingend der Dienste einer professionellen
geht insoweit über Volkmanns Betrachtungen hinaus, Seherin, wie Veleda und Ganna gezeigt haben“ (168); es
als sie die altnordischen Quellen sowie das Material wird nicht erklärt, warum Frauen und nicht Männer
über griechische und römische Frauen mit Sehergabe zwingend waren.
zum Vergleich heranzieht; ihr Interesse liegt zum einen 115 Tac. hist. 4,61,2.
auf der Technik der Weissagekunst, zum anderen dar- 116 Tac. hist. 4,65,4: Sed coram adire adloquique Veledam ne-
auf, die seherischen Frauen als „notwendiges Kultperso- gatum: arcebantur adspectu, quo venerationis plus inesset.
nal“ zu verstehen. ipsa edita in turre; delectus e propinquis consulta responsa-
110 Tac. Germ. 8: Albruna et compluris alias. que ut internuntius numinis portabat; vgl. dazu den Ge-
111 Cass. Dio 67,5,3: « ! … brauch des Begriffes numen bei Tacitus, z.B. numen
112 Suet. Claud. 1,2; Cass. Dio 55,1,3. Augusti, also hier etwa die ‚Hoheit‘ des Augustus (u.a.
113 Suet. Vit. 14, 5. ann. 3,66,1) und nicht ‚Gottheit‘; dazu siehe auch die fol-
114 Detailliert zu Waluburg Volkmann (1975) 238–239; S. gende Anmerkung.
Tausend (2009) glaubt allerdings eher an Waluburgs
Welchen Anteil hatten Frauen an den Außenbeziehungen der Stämme? Natürlich wird am häufigsten
von den zahllosen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Germanen selbst sowie zwi-
schen Germanen und Römern berichtet, und natürlich stehen hier die Männer als Kämpfer im Vorder-
grund. Allerdings wird immer auch geschildert, daß Frauen und Kinder in der Nähe der Schlachtreihe
(in proximo), also wohl in deren Rücken aufgestellt wurden, um den Kämpfenden Stärkung und Ermu-
tigung zukommen zu lassen.120 Gar manche Kriegerreihe sei durch die Frauen wieder zum Stehen ge-
bracht worden, vor allem durch die Vorstellung einer nahen Gefangenschaft ihrer Frauen, sagt Tacitus.121
117 Tac. Germ. 8: sed et olim Albrunam et compluris alias vene- fluß kraft der Religion; Veleda ist aber m.E. eben nicht
rati sunt, non adulatione nec tamquam facerent deas. ausschließlich Teil eines – wenn auch mächtigen – Kult-
118 Tac. hist. 4,61,2. personals, sondern vermittels der religiösen Fähigkeiten
119 Tac. hist. 5,25,2: et si dominorum electio sit, honestius prin- politisch eigenständig handelnd wie ein Heerführer
cipes Romanorum quam Germanorum feminas tolerari; oder König.
diese Stelle widerspricht m.E. der These von S. Tausend 120 Tac. Germ. 7: et in proximo pignora, unde feminarum ulu-
(2009), die die Seherinnen als unverzichtbares kulti- latus audiri, unde vagitus infantium, hi cuique sanctissimi
sches Bindeglied politischer Zusammenschlüsse der testes, hi maximi laudatores. … illae … hortamina pugnan-
mehrere Stämme umfassenden Kultgemeinschaften in- tibus gestant.
terpretiert; daher setzt sie Veleda mit der delphischen 121 Tac. Germ. 8: Memoriae proditur quasdam acies inclinatas
Pythia gleich; die Frauen können nach Tausend „fall- iam et labantes a feminis restitutas constantia precum et
weise (eine) äußerst machtvolle Position“ – ein von der obiectu pectorum et monstrata cominus captivitate, quam
Autorin nicht definierter Begriff – erringen, bleiben aber longe impatientius feminarum suarum nomine timent; be-
nach ihrer Interpretation ganz und gar beschränkt auf züglich der Überlieferung glaubt Much (1967) 164, daß
die Religion, d.h. sie gewinnen Einfluß innerhalb ihres „einzig der erste Tag von Aquae Sextiae [in Betracht
religiösen Aufgabengebietes und nicht Macht und Ein- kommt], und dieser Tag muß Tacitus wohl vor Augen
schweben“; warum Tacitus nur gekannt haben soll, was Ausschmückung“ gesehen, welcher keinerlei Bezug zur
uns heute noch an Quellen überliefert ist, bleibt unklar; Wahrheit hatte, insbesondere soweit dieser die Anwesen-
Much verweist dessen Behauptung daher, da es sich bei heit von Frauen und Kindern betrifft. „Mitkämpfende
dem auf Poseidonius zurückgehenden Bericht Plutarchs germanische Frauen begegneten den Römern erstenmals
über Aquae Sextiae (s. folgende Anm.) lediglich „um ein auf den Zügen der Kimbern und Teutonen. Diese Er-
einzelnes Vorkommen“, das zudem die Entscheidung scheinung wandernder Stämme nahm die römische Ge-
nur hinausgeschoben, nicht gewendet habe, in den Be- schichtsschreibung, ohne ihren ursprünglichen Zusam-
reich des Literarischen, ohne Rücksicht „auf geschichtli- menhang zu verstehen (?), als Topos auf. Frauen in der
che Genauigkeit“. Kampfordnung galten daher als ‚allgemeinbarbarische‘
122 Plut. Marius 19,9; Oros. 5,16,17–21. Sitte. Sie waren bevorzugter Gegenstand moralischer und
123 Flor. epit. 1,38,16: lanceis contisque pugnarent. psychologischer Erörterungen“; diese Ausführung faßt
124 Caes. Gall. 1,51,2f. trefflich die übliche Auslegung des Faktums der kämp-
125 Tac. hist. 4,18,2: hortamenta victoriae vel pulsis pudorem. fenden Frauen seitens moderner Historiker zusammen.
126 Cass. Dio 71,3,2: " #« #« $ 128 Tac. ann. 14,35,1: solitum quidem Britannis feminarum
λ $ ³ %&. ductu bellare bzw. Agr. 16,1: neque enim sexum in imperiis
127 Vgl. dazu Bruder (1974) 135, 142, 184 und insbes. Herr- discernunt.
mann (1988) 292 mit Anm. 51; hier wird der Schlach- 129 Tac. hist. 3,69 bzw. 77 u. 2,63.
tenbericht von Castra Vetera als reine „rhetorische 130 Tac. ann. 14,30,1.
131 Origo gentis Langobardorum, c. 2: die Göttin Freia wird mit Waffengewalt einzudringen, aus Furcht vor jener
um Hilfe gebeten, die den Rat (consilium) gibt, ut sole Buße, die im alten Gesetzbuch (also Rotharis) darauf ge-
surgente Winniles et mulieres eorum crines solutae circa fa- setzt ist. „Sie hießen aber ihre Frauen sich zusammen-
ciem in similitudinem barbae et cum viris suis venirent. Auf rotten … und schickten sie gegen Leute von geringerer
Grund dieser Aktion wurden die Winniler von Wotan als Wehrhaftigkeit. Jene also ergriffen die Leute dieses Or-
Langbärte bezeichnet; bereits Paulus Diaconus in seiner tes, brachten ihnen Wunden bei und stifteten auch son-
Historia Langobardorum, c. 8 bezeichnete diese Ge- stiges Unheil mit Gewalt, grausamer als die Männer.
schichte als ridicula fabula (MGH SS rer. Lang. et Ital. Aus diesem Grunde wird im Gesetzbuch expressis verbis
saec. VI–IX, 52.11); s. oben S. 83. aufgenommen: Wenn hinfort Frauen sich vermessen, so
132 Der langobardische König Rothari aus der ersten Hälfte irgendetwas zu tun …“.
des 7. Jahrhunderts fand es, wie die modernen Forscher, 133 Tac. Germ. 15.
völlig absurd, daß Frauen kämpfen könnten, weshalb er 134 Tac. Germ. 5; zu weiteren Boten hist. 4,15,1; 17,1; 19,1;
nur Strafen für männliche Räuberbanden verfügte (sog. 20,1; 21,2.
Edictus Rothari, c. 278): Eine Frau könne nicht mit Ge- 135 Flor. epit. 1,38,17; Oros. 5,16,13 interpretiert die Anfrage
walt in einen Hof einbrechen (absurdum videtur esse, ut so: ob Marius „sie in unverletzter Keuschheit dazu be-
mulier libera, aut ancilla, quasi vir cum armis vim facere stimmen würde, den heiligen Jungfrauen und den Göt-
possit, MGH LL Bd. 2, 67.14–16); dies hatte mißliche Fol- tern zu dienen“, also den Vestalinnen; hatten die Frauen
gen, lesen wir doch in dem Gesetzbuch seines Nachfol- Kenntnis über im Kultus tätige Staatssklaven und hofften
gers Liutprand ungef ähr einhundert Jahre später (MGH sie als solche aufgenommen zu werden? Zu den Staats-
LL Bd. 4, 170.10–171.10): Einige bösartige Kerle hatten es sklaven im Kultus allgemein siehe Eder (1980) 37–56.
zwar selber nicht gewagt, in ein fremdes Dorf oder Haus
136 Cass. Dio 67,5,3: M« ² ' (« λ 139 Tac. hist. 4,55.
* – « ! κ O, " 9 - K 9
- 140 Tac. hist. 4,63,1.
– ! μ« μ . ' , λ -« ’ 141 Tac. hist. 4,64f.
, /' « $ & . 142 Tac. hist. 4,65,3.
137 So Volkmann (1975) 238; dagegen S. Tausend (2009) 143 Tac. hist. 4,65,4.
166f. 144 Tac. hist. 4,61,2.
138 Es ist nicht belegbar, ob Waluburg ebenfalls eine Ge-
sandtschaft begleitete, wie S. Tausend (2009) glaubt
(s. oben S. 85 mit Anm. 114).
145 Dazu z.B. Tac. ann. 12,54. 148 Tac. hist. 5,24,2: et satis peccavisse, quod totiens Rhenum
146 Tac. hist. 5,24,1f. transcenderint.
147 Tac. hist. 5,24,1f.: caesos Treviros, receptos Ubios, ereptam 149 Tac. hist. 4,61,1f.: sed Lupercus in itinere interfectus.
Batavis patriam; neque aliud Civilis amicitia partum quam 150 Tac. hist. 5,22,3: multa luce revecti hostes captivis navibus,
vulnera fugas luctus.exulem eum et extorrem recpientibus praetoriam triremem flumine Lupia donum Veledae traxere;
oneri. zu Trieren siehe Bockius (2007) 58–59.
151 Tac. hist. 25,2; wie oben S. 81.
152 Stat. silv. 1,4,89–90: non vacat Arctoas acies Rhenumque dienste verrichtet hat oder aber als Wahrsagerin tätig
rebellem / captivaeque preces Veledae et …; Walser (1955) war; vielleicht war Veleda eine im Kultus tätige römische
620–621 weist auf ein 1926 in Ardea, südlich von Rom Staatssklavin; zu den römischen Staatssklaven Eder
gefundenes und wieder verloren gegangenes Marmor- (1980).
bruchstück vom Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. hin, 153 Eher eine Asylgewährung denn eine Gefangennahme
das den Namen Veleda, „die hochgewachsene Jung- hält S. Tausend (2009) 164 im Anschluß an Walser
frau“, enthält, mit dem sicher zu lesenden Zusatz: „die (1955) für wahrscheinlich, da Veleda prorömisch agiert
die Rheinwassertrinker verehren“; unterschiedliche Er- habe; das aber kann keineswegs belegt werden.
gänzungen besagen, daß sie entweder im Tempel Putz- 154 Plin. epist. 2,7,2.
Der Reiz des Gebiets Germanien erschloß sich dem Römer der Zeitenwende sicherlich nicht auf An-
hieb: Reichlich vage Ideen von undurchdringlichen düsteren Wäldern voller Fabelwesen und gewaltiger
Bestien, von ausgedehnten Sumpfgebieten und unwirtlichen klimatischen Verhältnissen werden nicht
dazu beigetragen haben, Begehrlichkeiten nach der Inbesitznahme eines Flecken Landes in diesen
nördlichen Gefilden zu wecken. Ebenso wenig wird das Verlangen groß gewesen sein, den gefürchte-
ten, kaum berechenbaren Völkern des Nordens im Kampf gegenüberzustehen, nachdem eine direkte
Gefahr für Rom seit den Siegen des Marius bei Aquae Sextiae und Vercellae (102/101 v. Chr.) gebannt
schien.
Dennoch unternahm Rom massive Anstrengungen, um nach anf änglichen begrenzten Vorstößen
das rechtsrheinische Gebiet zumindest bis zur Elbe in Besitz zu nehmen. Die Rheinübergänge Caesars
Mitte der 50er Jahre des 1. Jahrhunderts v. Chr. zeugten bereits von der Ambition des Feldherrn, sich
nicht zwangsläufig mit der Eroberung des von ihm selbst als ,Gallien‘ gekennzeichneten linksrheini-
schen Territoriums bescheiden zu wollen und natürliche Grenzen wie etwa den Rhein oder den Ärmel-
kanal keinesfalls als gegebene Begrenzungen des römischen Herrschaftsanspruchs zu akzeptieren. Wie
sehr derartige Aktionen auch bloßes Symbol blieben, sie wiesen den Weg für all jene, die die Leistungen
des späteren Divus Iulius zu übertreffen suchten bzw. sich auf dessen Spuren bewähren mußten.
Wie erklärt sich dieses Expansionsinteresse, und weshalb richtete es sich ausgerechnet auf Germa-
nien? Diesen Fragen sollen die folgenden Ausführungen nachgehen.
Im Jahr 9 n. Chr. dürfte es nur wenige Römer gegeben haben, die an der Weltreichsqualität des Impe-
rium Romanum ernstliche Zweifel hegten, dies ganz im Sinne Vergils, der im ersten Buch seines grün-
dungsmythischen Epos Aeneis die folgende Standortbestimmung durch Iuppiter selbst vornehmen
läßt:
His ego nec metas rerum nec temporum pono: imperium sine fine dedi (Verg. Aen. 1,278f.)
„Ich setze diesen keine Grenzen, weder nach Orten noch nach Zeiten:
Befehlsgewalt ohne Ende habe ich gegeben“
Daß Rom die stärkste Macht der Welt war, sein mußte, drängte sich angesichts der gewaltigen Erfolge
bereits der klassischen römischen Republik auf, die sich nach den Punischen Kriegen und den Kämp-
fen im griechischen Osten als Vormacht im Mittelmeerraum etabliert hatte. Doch war mit der Vorstel-
lung der Überlegenheit auch die Idee verbunden, dem römischen Volk sei der gesamte Weltkreis (orbis
terrarum) unterworfen, wie es im Praescript des augusteischen Tatenberichts – vermutlich postum – for-
muliert ist?
„Von den Taten des göttlichen Augustus, durch die er den Erdkreis dem Befehl des römischen
Volkes unterwarf“
Wohl ist davon auszugehen, daß die Vorstellung, Rom sei die Herrin der Welt, längst vor der Herrschaft
des iulischen Hauses in Stadt und Reich präsent war. Zu den frühesten Zeugnissen derartigen Gedan-
kenguts zählt das Geschichtswerk des Polybios, der als Geisel nach dem 3. Makedonischen Krieg im
Jahr 167 v. Chr. nach Rom deportiert wurde und dort mit den führenden Persönlichkeiten in Kontakt
stand. Zweck seiner nach dem Abschluß des 3. Punischen Krieges, also nach 146 v. Chr., endenden Aus-
führungen sollte es sein, zu erklären, wie Rom
„in weniger als dreiundfünfzig Jahren annähernd die gesamte bewohnte Welt unter seine
Herrschaft bringen konnte, ein Vorgang, der zuvor noch nie zu beobachten war.“ (Pol. 1,1,5)
Auch wenn Polybios seinen wiederholten Diagnosen der römischen Herrschaft meist die Relativierung
hinzufügt, Rom herrsche über ‚annähernd‘ die gesamte bewohnte Welt,1 und so die Existenz unabhän-
giger, nicht direkt unterworfener Staaten konzediert, besteht doch kein Zweifel, daß er Rom als Welt-
reich verstand, als das größte der Geschichte gar, das von der Vorsehung (Tyche) zur Herrschaft berufen
und seiner ausgezeichneten Verfassung wegen zur langen Ausübung seiner Vormachtstellung präde-
stiniert sei, ja, auch künftig keine Rivalen zu fürchten brauche.2 Polybios argumentiert dabei in Katego-
rien, die zunächst an schon in früheren Zeiten formulierte Vorstellungen der Abfolge von Weltreichen
erinnern. Sicherlich nimmt er allerdings auch Strömungen auf, die spätestens nach der endgültigen
Vernichtung Karthagos im Jahr 146 v. Chr. in Rom kursierten – auch wenn die von Valerius Maximus
überlieferte Formel des zensorischen Gebets des jüngeren Scipio Africanus, in dem er die Macht und
Ausdehnung Roms als ausreichend bezeichnet und die Götter lediglich um die Erhaltung des status quo
bittet, eher Mäßigung und Bescheidenheit vermittelt.3
Bereits im Umfeld des Jahres 168 v. Chr. scheint der sogenannte Hymnos der Melinno entstanden zu
sein, der die Größe und Übermacht der römischen Sieger über Griechenland besingt.4 Die römische
Überlegenheit wurde demnach bereits früh von einigen auswärtigen Betrachtern durchaus als Welt-
herrschaft wahrgenommen.
Jedoch taucht der Topos eines weltbeherrschenden Rom erst in späterem Kontext wieder auf und
wird Plutarch zufolge im Jahr 133 v. Chr. von einem Römer selbst (vom Volkstribun Tiberius Gracchus)
thematisiert. Über die römische Bevölkerung heißt es da:
« « ρ , ξ « (Plut. Tiberius
Gracchus 9)
„Obwohl sie Herren der Welt genannt werden, haben sie doch nicht eine Scholle Landes zu
eigen.“
Die Forschung geht heute davon aus, daß es sich dabei um eine anachronistische Konjektur handelt,5
angesichts des zeitlichen Abstands des Autors zum Geschehen (Plutarch schrieb über 200 Jahre nach
1 Z.B. Pol. 1,1,5: μ κ . 4 Stob. 3,7,12; s. auch Bengtson (1964) 153f.; Lieberg
2 Pol. 1,2,7. (1975) 72; Bowra (1957).
3 Val. Max. 4,10. 5 Z.B. Welwei (2004) 122 Anm. 13.
96 CHRISTIAN WENDT
dem berichteten Ereignis), des Fehlens von Parallelbelegen – Appian läßt Tiberius wesentlich vor-
sichtiger von Hoffnungen auf den Besitz der bewohnten Welt sprechen6 – sowie der stilistischen
Zuspitzung des Paradoxons. Dieser Kritik ist sicher im Grundsatz zu folgen, auch wenn damit nicht
auszuschließen sein kann, daß eine derartige rhetorische Figur durchaus in der Polemik einer Volks-
versammlung vorstellbar gewesen wäre. Ähnlich problematisch verhält es sich mit anderen Belegstel-
len für die frühe Auseinandersetzung mit Weltherrschaft, etwa der Überlieferung bei Livius, nach dem
Tode des Romulus sei ein gewisser Proculus Iulius vor das Volk getreten und habe eine im Traum emp-
fangene Botschaft des Romulus verkündet, in der Roms Bestimmung, caput orbis terrarum, also „Haupt
des Erdkreises“ zu sein, ausgesprochen wird.7 Cicero zitiert in seinem Spätwerk De divinatione den von
Accius in Verse gesetzten Traum des letzten Königs Roms, Tarquinius Superbus, in dem eine ähnliche
Idee formuliert wird.8 Während Livius’ Bericht sicher als Legendenbildung anzusehen ist, ist Ciceros
Passage möglicherweise zu entnehmen, daß im Jahr 136 v. Chr., als das Stück Brutus des Accius aufge-
führt wurde, die römische Vormachtstellung öffentlich als gottgewollt bezeichnet worden war. Vor dem
Hintergrund, daß im parallelen zeitlichen Umfeld auch das Geschichtswerk des Polybios entstand, ist
ein derartiger Hinweis nicht allzu verwunderlich.
Die erste zeitgenössische Erwähnung der errungenen Weltherrschaft durch einen Römer findet
sich im rhetorischen Lehrwerk des anonym gebliebenen Auctor ad Herennium, um das Jahr 85 v. Chr.
zu datieren. Dort heißt es:
„die Herrschaft über den Erdkreis, mit der alle Völker, Könige und Stämme
einverstanden waren, teils freiwillig, teils nach Anwendung von Gewalt“
Hier ist bereits der vom Oceanus umflossene und begrenzte orbis terrarum der Parameter, an dem sich
der Umfang von Herrschaft ermessen läßt.
Nicht unerheblich ist, daß diese Zeilen zu einer Zeit entstanden sein dürften, als sich auch das offi-
zielle Bild des Verhältnisses Roms zu anderen, auch nicht besiegten Völkern hin zu einer deutlichen
Betonung der Suprematie Roms wandelte. Zeugnis ist hier etwa das Verhalten Sullas einem Gesandten
des parthischen Großkönigs gegenüber, der Plutarch zufolge neben einem mittig thronenden Sulla ge-
meinsam mit dem Abgesandten des Königreichs Pontos an die Seite gedrängt Platz nehmen mußte, als
er zwecks der Aufnahme diplomatischer Beziehungen in Verhandlungen mit dem römischen Statthal-
ter der Provinz Kilikien, eben Sulla, treten sollte9 – im übrigen das erste offizielle Zusammentreffen bei-
der Großmächte im Jahre 92 v. Chr. Der parthische Herrscher Mithridates II. war wenig erbaut über die-
ses deutliche Zeichen der Herabsetzung und ließ seinen Abgesandten Orobazos, der es gestattet hatte,
daß die Würde des Arsakidenhauses derart geschmälert wurde, konsequenterweise hinrichten. In Rom
allerdings sollen durchaus Stimmen vernehmbar gewesen sein, die die Deutlichkeit lobten, mit der
man den ,Barbaren‘ gegenüber aufgetreten war.10
Cicero führte die Vorstellungen eines übermächtigen Rom auf einen neuen Höhepunkt. Zu diver-
sen Gelegenheiten formulierte er explizit die in Rom fraglos populären Thesen, Rom sei berufen, die
6 App. civ. 1,11,45: Ρ !"« « # ! ) 18 Cic. div. 1,45: pulcherrime auguratum est rem Romanam
« λ κ !κ « « % # publicam summam fore.
#! « " # ) !λ 4!& ' . 19 Plut. Sulla 5.
7 Liv. 1,16,7. 10 Plut. Sulla 5 berichtet allerdings von geteilten Meinungen.
Damit war die Weltherrschaft ein offiziell benanntes und gewissermaßen staatlich reklamiertes Fak-
tum.
Wie groß die Strahlkraft dieser Erfolge gewesen sein muß, zeigen die Anstrengungen der beiden
stärksten Konkurrenten des Pompeius, die sich noch im Jahr 60 im sogenannten 1. Triumvirat mit ihm
verbunden hatten. Gaius Iulius Caesar mühte sich ebenso um militärisch erworbenen Erobererglanz
wie Marcus Licinius Crassus, beide mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Während Caesar mit seiner blu-
tigen Unterwerfung Galliens die Basis schuf, in puncto Prestige und Geldmitteln zu Pompeius aufzu-
schließen, ging das Heer des Crassus bei dessen so ambitionierten wie mangelhaft vorbereiteten Pro-
jekten in Parthien unter, im Jahr 53 v. Chr. bei Carrhae. Der Anspruch beider aber, in militärischer
Hinsicht nicht hinter Pompeius zurückzustehen, war offensichtlich.14
11 Plin. nat. 7,98; App. Mithr. 116,568; Plut. Pompeius 45; 13 Plut. Pompeius 45.
Vell. 2,40,3; Cass. Dio 37,21. 14 Baltrusch (2011) 61 u. 85.
12 App. Mithr. 117,577; Nachweise etwa bei Weippert (1972)
65ff.
98 CHRISTIAN WENDT
Die Erhöhung Caesars nach seinen Siegen im Bürgerkrieg gegen Pompeius erreichte ein bis dato
ungekanntes Ausmaß. In unserem Kontext besonders auff ällig ist die beschlossene Ehrung, auf dem
Capitol eine Bronzestatue des Dictators zu errichten, die auf einer Weltkugel stehen sollte; zudem sollte
im Tempel des Quirinus Caesars Statue mit der Widmung deo invicto – „dem unbesiegten Gott“ – auf-
gestellt werden. Christian Meier bewertet diese Beschlüsse gewohnt prägnant: „Die Ehren dokumen-
tierten mindestens in der Darstellung Caesars als Weltherrscher, daß seine Dignitas ins Unermeßliche
gestiegen war.“15
Vor dem Hintergrund der Bürgerkriege, der Lähmung des republikanischen Staates und der sich
immer stärker herauskristallisierenden Alleinherrschaft sind denn auch die kritischen Würdigungen
zu verstehen, die Sallust und der späte Cicero der römischen Weltherrschaft widmeten. Für Sallust ist
die Weltherrschaft gleichbedeutend mit dem Wegfall einer echten äußeren Bedrohung, und er setzt
diese Epochengrenze ins Jahr 146 v. Chr. Mit dem Verschwinden Karthagos und des damit inexistent ge-
wordenen metus hostilis, der Furcht vor dem Feind, setzt Sallust zufolge die Desintegration der Nobilität
ein, die sich dem Sittenverfall, der Selbstsucht und dem Parteienhader ergibt.16 Nicht der Erwerb der
Weltherrschaft, sondern der verantwortungslose Umgang mit dem erreichten Zustand ist Stoßrichtung
der Kritik.17 Ähnlich argumentiert Cicero, wenn er in seinem Werk De officiis Mitte der 40er Jahre fest-
stellt, die Römer herrschten iniuste, also ungerecht, und seien vom ehemals gültigen Modell eines pa-
trocinium orbis terrae, also einer Schutzmacht des Erdkreises, abgekommen.18
Wieviele Adressaten allerdings diesen systemkritischen und dekadenztheoretischen Ansätzen fol-
gen wollten, wissen wir nicht – die offizielle Terminologie blieb weiterhin dem Gedanken an die Beherr-
schung des orbis terrarum verhaftet. Der hier vertretenen Interpretation zufolge ist die Koinzidenz zwi-
schen immer eindeutigerer Forderung respektive Betonung der Weltherrschaft und dem Aufstieg
derjenigen, die nach einer die republikanischen Maßstäbe sprengenden Machtposition strebten, kein
Zufall. Die positiv besetzten, noch den Furor des eigenen Aufstiegs atmenden Passagen bei Cicero be-
ziehen sich häufig auf Leistungen eben der herausragenden Einzelpersönlichkeiten, die für Rom den
orbis terrarum gewonnen hatten. Teils ist es Absicht des Autors, sich selbst diesen an die Seite zu stel-
len,19 teils, deren Leistungen zu glorifizieren – die Weltherrschaft wurde also als Errungenschaft Ein-
zelner gefeiert;20 die Legitimation der einmaligen (wenn auch nicht unangefochtenen) Stellung, die
diese Politiker innehatten, beruhte nicht zuletzt auf der Garantenfunktion, die etwa von Pompeius aus-
zugehen schien. Das folgende Zitat aus der im Jahr 66 v. Chr. gehaltenen Rede Ciceros über den Ober-
befehl des Pompeius unterstreicht diese Vorstellung anschaulich:
Effecit ut aliquando vere videremur omnibus gentibus ac nationibus terra marique imperare
(Cic. Manil. 56)
„Er [Pompeius] hat bewirkt, daß wir endlich wahrhaftig über alle Völker und Stämme zu herr-
schen scheinen, auf dem Festland wie auf dem Meer.“
Es scheint, als sei in diesem Bezug die Annäherung an Alexander den Großen ein erfolgreiches und
politisch verwirklichtes Prinzip geworden: Die Herrschaft des römischen Volkes über die ganze be-
wohnte Erde wurde von Einzelnen errungen, vollendet und auch verkörpert, die Weltherrschaftsideolo-
gie entwickelte sich parallel mit der fortschreitenden Personalisierung römischer Politik.23
So erklärt sich auch, weshalb diese Traditionslinie bis in den Prinzipat fortgesetzt wurde. Gaius
Octavius – der spätere Augustus – hatte bereits vor der Schlacht von Actium 31 v. Chr., die Octavius über
seinen Konkurrenten Antonius und dessen Verbündete, angeführt von der ägyptischen Königin Kleo-
patra VII., siegen ließ, Münzen prägen lassen, die seine Sieghaftigkeit ebenso betonten wie seinen An-
spruch auf die Weltherrschaft.
Das Bauprogramm, das der Sieger in Rom selbst ins Werk setzen ließ, zeugt noch eindeutiger von
der Intention, sich in die Nachfolge derer zu stellen, die Roms Weltherrschaft begründet hatten, sowie
deren Stilisierung zu übernehmen. Das im Jahr 2 v. Chr. geweihte forum Augustum mit dem bereits im
Umfeld der Schlacht von Philippi im Jahr 42 v. Chr. gelobten Tempel für Mars Ultor (Mars den Rächer)
war der manifeste Ausdruck, wie sich auch der Prinzipat in diesem Bezug definierte.24
Was den allgemeinen prachtvollen Eindruck des Ensembles auf Augustus hin pointierte, war die
vermutlich 2 n. Chr. aufgestellte, zentral positionierte Triumphalquadriga, die vom Princeps gelenkt
wurde. Selbst bereits Symbol des „Allsieges“25 (der noch durch weitere Maßnahmen als Herrschermo-
nopol verstetigt wurde), gewann sie ihre herausgehobene Bedeutung durch zwei Statuengalerien, die
21 App. civ. 5,130,541f. gramm zur Erringung der Weltherrschaft bzw. zur Be-
22 S. S. 99. herrschung der Oikumene in Rom nicht erkennen mag.
23 Dazu auch Wendt (2008) 108 u. 144f.; ähnlich Wirth 24 Detailliert zum Forum Augustum z.B. Ganzert u. Kok-
(1994), der hingegen stark auf die Ambivalenzen im kel (1988).
Handeln der Feldherren abhebt (etwa den Verzicht des 25 Begriff übernommen von Alföldi (1977) 407.
Pompeius auf einen Partherkrieg) und ein reales Pro-
wohl in den flankierenden Säulenhallen – Details sind umstritten – das Forum einrahmten. Dargestellt
waren neben den – mythischen und realen – Vorfahren des Augustus die Männer, die, so berichtet Sueton,
„die Herrschaft des römischen Volkes aus kleinsten Anf ängen zur größten Größe brachten.“
Diese summi viri (höchste Männer) qualifizierten sich folglich für die ‚Heldengalerie der Republik‘
durch ihre besonderen Verdienste um die Expansion Roms, ergo ihren Beitrag zur Erringung der Herr-
schaft über den orbis terrarum. Der inmitten der Anlage thronende Princeps erschien so zum einen als
Teilhaber der Tradition und Nachfolger besagter summi viri, zum anderen aufgrund seiner gesonderten
Stellung auch als Gipfelpunkt der republikanischen Geschichte und als Vollender der Mission, der all
die Geehrten gedient hatten.26 In Bezug auf die Weltherrschaft übernahm das neue System folglich die
Maximen und Werte der späten Republik und war bemüht, diese gewahrte Tradition auch für die Bür-
ger zu verdeutlichen: Der Princeps war ein summus vir alter Prägung, ja, der primus inter pares nicht
allein der aktuellen römischen Elite, sondern auch aller bislang für die römische Größe verantwortlichen
Männer.27
Der Princeps sollte aber nicht allein Feinde unterwerfen, sondern darüber hinaus dem gewonnenen
Erdkreis vorstehen. Die neuartige Position des ersten Römers formuliert Velleius Paterculus mit der
Bitte um gute Nachfolger für Tiberius wie folgt:
Eos, quorum cervices tam fortiter sustinendo terrarum orbis imperio sufficiant,
quam huius suffecisse sensimus (Vell. 2,131,2)
„solche, deren Schultern ebenso stark sind, die Herrschaft über den Erdkreis zu tragen,
wie wir es bei ihm erlebt haben“
Eine derartige Stellung findet ihren Niederschlag etwa in einem inschriftlich erhaltenen Dekret aus
dem heutigen Pisa, das den Princeps als praeses totius orbis terrarum, als den, der dem gesamten Erd-
kreis vorsteht, bezeichnet.28 Ebenfalls findet sich die Terminologie des rector orbis terrarum, z. B. in
einer Inschrift aus Narbo, die um 12 n. Chr. datiert wird.29 Die Fortentwicklung der Rolle des Ersten,
nicht mehr allein der Erringende, sondern auch der Gestalter der Weltherrschaft und ihrer Konse-
quenzen zu sein, spiegelt sich in der zeitgenössischen augusteischen Dichtung, die zur Systemstabi-
lisierung ihren Teil beitrug. Besonders markant sind folgende Verse aus den Metamorphosen des
Ovid:
Iuppiter arces / temperat aetherias et mundi regna triformis / terra sub Augusto est.
pater est et rector uterque. (Ov. met. 15, 858ff.)
„Iuppiter lenkt die Höhen des Äthers und das Reich der dreigestaltigen Welt, die Erde ist unter
Augustus. Vater und Herrscher ist einer wie der andere.“
Hier wird das Modell des pater patriae auf die gesamte Welt ausgedehnt, in Teilen ist man auch an
Ciceros Ideal des rector civitatis bzw. rector rerum publicarum, also eines Lenkers des Gemeinwesens,30
erinnert. Mit dieser Vorstellung geht häufig die Hoffnung auf Augustus als Friedensbringer einher,
der der zerrütteten römischen Welt die Pax Augusta zum Geschenk macht und auch aus diesem
Grund zum Begründer eines neuen goldenen Zeitalters, einer aurea aetas, wird.31 In diesem Kontext
bleibt zu beachten, daß nicht zwangsläufig ein allgemeiner Friedenszustand postuliert wird,32 so daß
das häufig bemühte Paradoxon zwischen Friedenspropaganda und Eroberungspolitik ein solches
nicht ist. Der Frieden sollte allein dort gelten, wo die geordneten Verhältnisse der direkten römisch-
prinzipalen Herrschaft genossen werden konnten, insbesondere also im von den Bürgerkriegen ge-
beutelten Reichsgebiet. Daß allerdings Aufgabe des Weltenlenkers auch war, den Widerständen ge-
gen die Pax Augusta sein befriedendes Wirken entgegenzusetzen, dementsprechend fremden, bis-
lang nur mittelbar dem römischen Befehl unterstehenden Völkern nach ihrer Niederwerfung die
28 CIL XI,I 1421. 32 Verg. Aen. 1,287: imperium Oceano, famam qui terminet
29 CIL XII 4333. astris. Hier ist nicht allein die Herrschaft des Augustus
30 Cic. rep. 2,51 u. 5,6. als segensbringend bezeichnet, sondern dessen Auftrag
31 Z.B. Verg. Aen. 1,291ff. u. 6,791ff.; Hor. carm. 4,2,37ff. zur Expansion durch die im Konjunktiv ausgedrückte
u. 4,15,4ff. Prophezeiung formuliert.
Segnungen des römischen Reichspatronats angedeihen zu lassen, verstand sich für die Zeitgenossen
von selbst, ja, die Expansion konnte geradezu als Bedingung der Befriedung verstanden werden.33
Die Parallele zwischen Iuppiter und Augustus in ihrer Funktion als Herrscher und Lenker der Wel-
tengeschicke wird auch in kunsthandwerklichen Bildnissen thematisiert, die vermutlich aus Produktio-
nen des kaiserlichen Umfelds stammen. Zwei berühmte Beispiele sind in diesem Kontext die soge-
nannte Gemma Augustea sowie ein Silberbecher aus einer Villa in Boscoreale, in der Nähe von Pompeji.
Bei ersterer handelt es sich um einen außergewöhnlich kunstvoll angefertigten Kameo aus zwei-
schichtigem Onyx, der zumeist in die letzten Regierungsjahre des Augustus datiert wird. Darauf ist Au-
gustus in Iuppiter-Pose abgebildet, der, von der personifizierten Oikumene lorbeerbekränzt, seine den
33 S. Anm. 32; Flor. epist. 2,30; Plin. nat. 3,39; Kienast zuzustimmen, wenn er postuliert: „Aus dem expansiven
(1999) 334; Baltrusch (2008) 73f.; die von Münkler Kraftzentrum Rom … wurde nun das Imperium Ro-
(2006) 116 geäußerte Ansicht, die „Relevanz militäri- manum als Garant der pax Romana“ – verwirrender-
scher Macht“ sei mit dem „Überschreiten der augustei- weise existiert dabei allerdings ein erst durch die
schen Schwelle“ erheblich zurückgegangen, ist abwe- Niederlage des Varus gebrochener imperialer „Expan-
gig, stellte diese doch den Kern der realen prinzipalen sionsdrang nach Nordosten“ (44).
Gewalt dar – daher ist Münkler (113f.) ebenfalls nicht
Sieg heimtragenden Feldherren (wohl Tiberius und Germanicus, auf dem Wagen Victoria) empf ängt,
die unter seinen Auspizien den Sieg erfochten haben und ihrem Princeps nun die Siegeszeichen über-
bringen. Die Szene steht unter dem Symbol des Capricorns, des Geburtszeichens des Princeps, und
dies verdeutlicht, in wessen neu begründeter Ära sie spielt. Daß diese eine glückliche und reiche ist,
drückt Tellus/Italia, die mit einem Füllhorn angetan ist, aus, und daß diese gottgewollte Ordnung auf
militärischem Wege erreicht und bestätigt wird, soll dem Betrachter anhand der Besiegten, vor deren
Augen das Siegesmal errichtet wird, nahegebracht werden.34
Der Silberbecher aus Boscoreale, wohl um die gleiche Zeit gefertigt, weist in eine ähnliche Rich-
tung und bedient sich einer deckungsgleichen Bildersprache. Der mittig thronende Augustus erhält
von Venus, der angeblichen Stammutter seines Geschlechts, eine Victoria zu der Weltenkugel, die er in
der rechten Hand hält. Die Sieghaftigkeit des Herrschers wird ebenso verkörpert (Mars führt Unterwor-
fene zum Thron) wie der Wohlstand und die Ordnung, die unter seiner Ägide vorherrschen (Füllhorn-
Symbolik).35
Die propagierte Stellung als Weltenherrscher ist, wie bereits ausgeführt, die Konsequenz der
Genese des Prinzipats, die außenpolitische Erfolge als entscheidende Legitimation für den Rang des
Ersten als Voraussetzung hatte.36 Nur so läßt sich die gewaltige Dynamik verstehen, die das Imperium
Romanum unter Augustus im außenpolitischen Kontext entfaltete. Die Ambivalenz, daß der Erste un-
ter den Römern bereits die gesamte bewohnte Welt zu lenken und zu regieren hatte, auf der anderen
Seite allerdings dem Anspruch nachkommen mußte, den er aus der Republik und deren großen Expan-
sionsbewegungen ererbt hatte, propagator imperii zu sein, also der den römischen Herrschaftsbereich
Ausdehnende, geht aus der Verklammerung von Iuppiterrolle und militärischer Aktivität auch aus den
Bildnissen hervor. Die militärische Komponente war für den Princeps ein eminent wichtiger Faktor, um
34 Zur Gemma Augustea s. etwa Hölscher (1988) 371ff. 36 Wendt (2008) 172.
35 S. Zanker (1997) 230f.
37 Etwa R. Gest. div. Aug. 32: amicitiam nostram per libero- 41 Zu dieser Dichotomie Bringmann (1977) 47f., der –
rum suorum pignora petens. wenn auch moderat – den „Stellenwert“ der Ideologie
38 Wendt (2008) 175f. innerhalb der Legitimationskonstruktion des Augustus
39 R. Gest. div. Aug. 29; s. dazu jetzt Wiesehöfer (2010) bes. betont.
187f. 42 Zur Prima-Porta-Statue s. Zanker (1997) 192f.
40 Errichtung eines Triumphbogens: Cass. Dio 54,8,3; s.
auch das carmen saeculare des Horaz, insb. 53ff.
Daher f ällt es schwer, mit Jochen Bleicken festzustellen: „Die Idee der Weltherrschaft aber ergab sich
aus den in der Vergangenheit bereits erbrachten Leistungen, hat nicht umgekehrt Taten zur Eroberung
der Welt in Gang gesetzt.“43 Im Gegenteil ist es die Wertigkeit des Weltherrschaftsgedankens innerhalb
des prinzipalen Systems, die es dem Princeps fast zwingend auferlegte, expansiv tätig zu werden. Au-
gustus war die personale Verkörperung der römischen Sieges- und Herrschaftsvorstellung; diese Rolle
aktiv auszufüllen war ein entscheidender Pfeiler seiner Machtstellung,44 zumal seine Truppen auch
weiterhin beschäftigt werden mußten, um als Garanten ihres Patrons präsent zu bleiben.
Der Verlust einer Legion unter dem Statthalter Marcus Lollius im Jahr 16 v. Chr. im Kampf gegen auf
linksrheinischem Gebiet marodierende Sugambrer, Tenkterer und Usipeter darf als Auslöser für die ge-
sonderte Aufmerksamkeit des Princeps gesehen werden, die von da an dem Gebiet Germanien galt. Au-
gustus begab sich nach Gallien, um die Situation höchstselbst zu ordnen, und blieb knapp drei Jahre vor
Ort, etwa um Verwaltungsstrukturen zu schaffen. Jedoch konnte dieser Auftritt des ersten Römers
45 Lucan. 1,255f. 48 Die Topik ist etwa noch bei Plutarch zu erkennen, Ma-
46 Liv. per. 67. rius 23; Caesar muß eigener Schilderung zufolge gegen
47 Dazu grundlegend Bellen (1985); Kremer (1994) 62–68; eine angebliche Überlegenheit der Germanen ankämp-
anders Trzaska-Richter (1991) 66, die davon ausgeht, die fen, Gall. 1,39.
Angst vor den wandernden Völkern habe sich erst nach 49 Caes. Gall. 1,33.
Arausio konstituiert. 50 Caes. Gall. 1,40.
51 Cic. prov. 34.
52 Kienast (1999) 360f.; Wolters (2008) 39.
53 Welwei (2004) 128. 56 R. Gest. div. Aug. 32; Strab. 4,5,3; die genaue Datierung
54 S. dazu auch K.-P. Johne im vorliegenden Band mit an- und die Identifizierung der Fürsten sind problembehaf-
ders gewichteten Schlußfolgerungen. tet, s. allg. Hübner (1897) 866f.
55 Cass. Dio 49,38 u. 53,22,5 u. 53,25,2; Verg. ecl. 1,66 u. 57 Tac. ann. 1,57,2; s. Kienast (1999) 250.
georg. 3,25; Hor. carm. 1,21,15 u. 1,35,29 u. 3,5,2ff.; 58 Cass. Dio 55,1,3.
Prop. 2,27,5; zur Stimmung in Rom Tac. Agr. 13.
4. Testamentarische Ratschläge
Daß nicht unmittelbar nach der Varuskatastrophe ein großangelegter Gegenschlag erfolgte, hat dazu
geführt, daß bis heute über eine mögliche Strategieänderung seitens des Princeps spekuliert wird, die
in der Philosophie bestanden habe, das Gehaltene weitestmöglich abzusichern und sich mit der gegen-
wärtigen Ausdehnung des Reichs zu bescheiden.70 Diese Ansicht gewinnt an Substanz, sobald als Indiz
für die prinzipale Resignation eine testamentarische Denkschrift des Augustus ins Feld geführt wird.
Tiberius ließ die betreffenden Dokumente nach seiner Machtübernahme 14 n. Chr. vor dem Senat ver-
lesen bzw. tat dies selbst, und folgender postumer Ratschlag war Tacitus zufolge darin zu finden:
69 In diese Richtung etwa Heuß (1998) 309; Wolters 70 Cass. Dio 56,33,5; s. dazu Kienast (1999) 373ff.
(2008) 125f.; Moosbauer (2009) 71; anders z.B. Bring-
mann (2007) 193.
Literatur
71 Etwa Timpe (1968) 34; Christ (1977) 198ff.; Bleicken 73 Dazu Ober (1982); Hänger (2001) 230–233 verwirft die-
(1998) 615f. sen Gedanken kategorisch und sieht den Gedanken der
72 S. S. 95. Raumordnung (als Gegenprinzip zur Weltherrschaft)
am Wirken.
74 Tac. ann. 1,11,4.
I ‚Varusschlacht‘?
Ungewöhnlich ist es schon, im Titel unseres Jubiläums-Buches zur ‚Varusschlacht‘ nicht den siegrei-
chen Germanen Arminius, sondern den unterlegenen Römer Varus zu verewigen,1 aber keineswegs
beispiellos. Schon der berühmte Caelius-Grabstein (Abb. vor Kap. I) spricht bekanntlich vom bellum
Varianum, was auch für antike Verhältnisse nicht üblich war.2 Und es gab ein zweites bellum Varia-
num, von einem jüdischen Text genauso benannt, nämlich in Judäa. Die Semantik dieser Verbin-
dung – und die moderne Diskussion darüber3 – verweist nachdrücklich auf die Rolle des römischen
Feldherrn in zwei Erhebungen gegen Rom, der jüdischen im Jahre 4 v. Chr. und der germanischen
im Jahre 9 n. Chr. Welchen Anteil also hatte Varus an dem Aufstand, an der Niederlage, der clades
Variana? Das ist die zentrale Frage, und von ihrer Beantwortung hängt viel für die Bewertung des
Ereignisses ab.
Varus hatte, so viel steht fest, eine verantwortungsvolle Stellung inne, auch wenn die für das Reich
bedrohlichen Gefahrenherde eigentlich woanders zu liegen schienen: Immerhin unterstanden ihm
drei Legionen (nämlich die legiones XVII, XVIII und XIX) zuzüglich der Hilfstruppen. Und wahrschein-
lich lautete sein Auftrag nicht bloß: ‚abwarten‘. Nun ist das antike Urteil über Varus und seine Leistun-
gen als Statthalter in Germanien vernichtend, doch stammt es durchweg aus späterer Zeit. Als erster
war es der Offizier und Historiograph Velleius Paterculus, der etwa 20 Jahre später ein wenig schmei-
1 Vgl. dazu auch Wiegels (2006). Jetzt auch Timpe (2012). 3 Vgl. dazu Schillinger-Häfele (1983) („Krieg der Germa-
2 CIL XIII 2,2,8648: [ce]cidit bello Variano. nen gegen Varus“) und Benario (1986) (bellum Vari).
4 Zur literarischen Strategie des Velleius bei seinem Text widerspiegeln; s. zu dieser Frage nun auch Cicekdagi
über Varus vgl. Schmitzer (2007). (2012).
5 Im einzelnen ist das umstritten; vgl. aber positiv Eck 7 Vgl. die vorige Anm. und dazu Speidel (2009) 96 und
(2004a) u. (2004b) u. (2009). Anm. 48, der Varus als „militärisch erfolgreich“ in Sy-
6 Z.B. zitieren Nuber (2009) und Salzmann (2009) ein- rien ansieht und jeden Zweifel „an seiner Erfahrung als
schlägige Passagen von Theodor Mommsen und Victor militärischer Befehlshaber“ leugnet.
Gardthausen, die in ihren Verdikten Velleius Paterculus
Velleius Paterculus,9 ein militärischer Fachmann, der Varus möglicherweise persönlich gekannt und
seine ‚erzählstrategischen Erwägungen‘ ganz auf seinen Helden Tiberius zugeschnitten hat,10 kritisiert
auff ällig scharf Herkunft (inlustri magis quam nobili ortus familia), Laufbahn (otio magis castrorum quam
bellicae adsuetus militiae), seine frühere Statthalterschaft in Syrien (Syria … quam pauper divitem ingressus
dives pauperem reliquit) und seinen Charakter (ingenio mitis, moribus quietus et corpore et animo immo-
bilior; pecuniae … non contemptor). Sein Wirken in Germanien sei entsprechend fehlgeleitet und durch
Defizite geprägt gewesen, denn er habe 1. f älschlicherweise die Barbaren als vernunftgeleitete mensch-
liche Wesen eingeschätzt, 2. dort unpassend mit dem Recht gearbeitet, wo schon die Waffen versagt
hätten, folglich 3. wertvolle Zeit mit Jurisdiktion wie unter zivilisierten Menschen vergeudet. Der Ver-
schlagenheit der Germanen (versutissimi natumque mendacio genus) habe er nichts als Trägheit entgegen-
setzen können, denn segnitia war es, die ihn veranlasst habe, alle Warnungen vor Arminius in den Wind
zu schlagen. Das Heer selbst trug keine Schuld, es sei das bestausgebildete und tapferste der gesamten
römischen Armee gewesen; vielmehr sei es zerrieben worden durch eine Koalition aus Perfidie des
Feindes, Ungerechtigkeit des Schicksals und – Schlaffheit (marcor) seines Feldherrn.
Der bei Velleius schon spürbare Widerspruch zwischen allgemeiner Trägheit und Überaktivität
des Varus bei der Romanisierung11 wird bei Florus, einem Geschichtsschreiber des 2. Jahrhunderts
und Verfasser einer viel gelesenen, kurz gefassten römischen Geschichte bis auf die Zeit des Augus-
tus, noch deutlicher.12 Für ihn scheiterte Varus an der schwierigen Aufgabe, eine bereits von Drusus
mit Waffengewalt erworbene Provinz „rechtsstaatlich“ (iure) zu organisieren.13 Gewiss habe das auch
an den Germanen gelegen, die römischer Lebensweise ablehnend gegenüberstanden und Krieg und
Gewalt dem Recht ohnehin vorzogen, aber Varus habe die Gegensätze mit seinem ausschweifenden
und grausamen Hochmut,14 gepaart mit seiner „Vertrauensseligkeit“ (fiducia pacis), die ihn planlos ins
Verderben rennen ließ, noch verschärft. Es wird dabei deutlich, wie Florus die Niederlage nicht struk-
turell an einer falschen römischen Politik festmacht, sondern charakterlich-sittlich zu begründen ver-
sucht, ohne dabei auf Konsistenz zu achten: Die Erhebung gegen die Herrschaft muß von einem über-
motivierten, grausamen Statthalter, die Niederlage aus Blindheit vor dem, was um ihn herum geschah,
erfolgt sein.
Cassius Dio,15 Verfasser einer griechischsprachigen Römischen Geschichte in 80 Büchern bis zu den
Severern, gehörte bereits einer Zeit größerer Reichsvereinheitlichung an und konnte dementsprechend
klarer die ihm bekannten Probleme bei der Einrichtung von Provinzen benennen, als es noch Velleius
in der Übergangszeit möglich war. Er musste deshalb auch nicht auf die charakterlichen Schwächen re-
kurrieren, sondern konnte sich auf die politischen und militärischen Fehlleistungen konzentrieren.
Der Bericht ist klar strukturiert und bietet eine umfassende Analyse der Vorgänge von 1. den tieferen
Ursachen der Revolte,16 2. den politischen und militärischen Versäumnissen des Varus,17 3. dem
18 Cass. Dio 56,20–22: die vier Tage und schließlich die Ka- 22 So ist zu verstehen: "! " .« $(%
pitulation. "".
19 Cass. Dio 56,23–24. 23 Dazu Tausend (1997).
20 Schön kommt diese Prozesshaftigkeit in den Imperfekt- 24 Vgl. dazu den sehr interessanten Beitrag von Lica (2001)
Formen ( * zum Ausdruck – „sie waren über eine Bemerkung von Cassius Dio, dass den losge-
dabei, sich anzupassen“ durch Stadtgründungen (Wald- kauften Gefangenen der Varusschlacht das Betreten Ita-
girmes!), Märkte, Versammlungen – oder - liens untersagt worden war. Daran arbeitet er die harte
(& – „sie verlernten nach und nach …“. Kritik des Tiberius an Varus heraus, die ganz grundsätz-
21 Auch hier die schöne Formulierung: #& ( "φ« licher Art (über die Verwaltung von Provinzen, S. 500)
$ . gewesen sei.
Varus entstammte einem patrizischen Adelsgeschlecht, das zuletzt vor mehr als 450 Jahren einen Kon-
sul gestellt hatte.26 Er wurde wahrscheinlich 47/6 v. Chr. als Sohn des Quaestors von 49, Sextus Quincti-
lius Varus, geboren.27 Sicher ist, dass er 22 v. Chr. Quaestor war und in dieser Eigenschaft im Gefolge
des Augustus die griechische Welt bereiste; erhaltene Ehreninschriften bezeugen seine Aktivitäten auf
dieser Reise, die insgesamt drei Jahre dauerte.28 Zwischen 19 und 13 v. Chr. hat Varus wohl ein Priester-
amt bekleidet,29 und auch andere Ämter sind aus Quellenhinweisen zu erschließen. So könnte Varus in
den Jahren 15 und 14 an den Operationen des Tiberius (mit dem gemeinsam er ja auch später das Kon-
sulat bekleiden sollte) sowie Drusus gegen Rätien und Vindelicien teilgenommen haben.30 Dass er hier
sich militärisch und politisch weiter qualifizierte, etwa als legatus legionis XIX in den Jahren 16/15 v. Chr.
und als Statthalter in Rätien 14 v. Chr.,31 ist sehr wahrscheinlich.
Sicher ist er dann im Jahre 13 v. Chr. zusammen mit dem späteren Kaiser Tiberius Konsul gewor-
den, und in dieser Eigenschaft hat er Spiele zur glücklichen Heimkehr des Augustus aus Spanien und
Gallien veranstaltet.32 Man geht zu Recht davon aus, dass die Erlangung und der Verlauf dieses Konsu-
lats zusammen mit dem Stiefsohn des Augustus eine Verbindung zum Princeps signalisiert, die Varus
auch bei seiner weiteren Karriere massiv geholfen hat. Und diese Verbindung wurde durch eine Heirat
noch enger: Im Jahre 12 v. Chr., als Augustus für seinen verstorbenen, eigentlich als Nachfolger vorge-
sehenen Schwiegersohn und Freund Agrippa die Leichenrede hielt, erscheint Varus als ‚Schwieger-
sohn‘ des Verstorbenen;33 die Ehefrau ist eine Tochter Agrippas entweder aus der Ehe mit Caecilia Attica
oder mit Claudia Marcella maior.34
Der nächste Karriereschritt nach dem Konsulat war ein Prokonsulat in der Provinz Africa, wahr-
scheinlich 8/7 v. Chr. Dieses Amt, in dem er dem Crassus Frugi nachfolgte, ist uns durch verschiedene
Münzen aus den Städten Hadrumetum und Achulla bekannt,35 und so gibt es authentische Bilder von
Varus, die zumindest zeigen, wie er sich selbst stilisierte.36 Was er in Africa gemacht hat, wissen wir
allerdings nicht.
25 Vgl. dazu in erster Linie PIR VII Nr. 30, Wolters (2006) 31 So plausibel Nuber (2009), der freilich dann spekulativ
und, wegen seiner ingeniösen Vermutungen, auch von „hervorragenden Leistungen“ und „uneinge-
Syme (1986) 313–328. schränktem Vertrauen“ des Augustus spricht. Vgl. auch
26 Zu den Vorfahren des Varus van Wickevoort Crommelin Nuber (2008).
(1999). 32 ILS 88.
27 Das Geburtsjahr ist eine Vermutung, die darauf beruht, 33 Tod des Agrippa und Leichenrede des Augustus: Cass.
dass Varus Quaestur und Konsulat in ‚seinem Jahr‘ er- Dio 54,28,2–4; ferner P. laudatio funebris pro Agrippa ab
reicht hat, also in dem jeweiligen frühesten Lebensalter Augusto 12 (April): P. Köln 1,10 (gener tuus).
(mit mindestens 25 die Quaestur). 34 Reinhold (1972); Syme (1986) 314.
28 Eine Inschrift von Tenos benennt ihn als Quaestor: ILS 35 RPC 1,776 aus Hadrumetum mit der Legende P. Quintli
8812 = IG XII,5 940 = OGIS 463; weitere Ehreninschrif- (sic!) Vari und Bild des Statthalters; RPC 1,798 aus
ten sind in Athen, Pergamon und auf der Insel Lesbos er- Achulla mit Legende P. Quinctili Vari Achulla mit Bild.
halten geblieben. Wofür die Inschriften gegeben wurden, Vgl. Syme (1986) 319, der auch vermutet, dass Varus
ist abgesehen von Ehrungsfloskeln („seiner gesamten Tu- hier das inschriftlich genannte Haus Villa magna Va-
gend wegen“) nicht mehr zu rekonstruieren; wahrschein- riana erstanden hat.
lich waren es finanzielle oder juristische Leistungen. 36 Dazu Salzmann (2009), der auf die Dokumentation der
Nach Syme (1986) 314f. hat Varus um die Quaestur he- Varus-Münzen bei Capelle (2009) verweist. Bis jetzt
rum seine erste Frau geheiratet, möglicherweise auch den sind 19 Achulla-Münzen bekannt. Nur diese haben nach
bei Ios. ant. Iud. 18,288 genannten Sohn gezeugt. Salzmann ikonographischen Wert, was das Aussehen
29 Syme (1986) 318; zu ergänzen in ILS 88. des Varus betrifft; es sei aber nicht zu sehen, wie Varus
30 So hat ansprechend Nuber (2009) aus dem Inschriften- wirklich aussah, sondern wie er gesehen werden wollte.
fund auf einem Bleianhänger in Dangstetten am Ober- „Keinen ikonographischen Quellenwert“ misst den
rhein vermutet. Münzen Zedelius (1983) 473 bei.
Die Hauptquelle für das Wirken des Varus in Syrien ist der jüdische Historiker Flavius Josephus (37 bis
nach 100 n. Chr.), dessen Geschichtsauffassung für die Beurteilung des Varus nicht unerheblich ist.
Konkret sind von dem Statthalter Syriens zwei Eingriffe in das jüdische Nachbarreich überliefert:
1. beim Prozess des Herodes gegen seinen eigenen Sohn Antipater,42 und 2. anlässlich der Verwicklun-
gen und gewaltsamen Ausbrüche, die auf den Tod des Herodes im Jahre 4 v. Chr. folgten und die ein re-
gelrechtes bellum Varianum nach sich zogen.43 Zu den Aufgaben, die Varus zu Beginn seiner Statthal-
terschaft mit übernommen hatte, gehörte es auch, die Verbindung mit Jerusalem und seinem König zu
pflegen, notfalls zu helfen oder einzugreifen, auch zu kontrollieren und die Zentrale über Entwicklun-
gen zu informieren. Solange Herodes lebte, war die Aufgabe lösbar; denn der König repräsentierte
lange Zeit für Rom den ‚idealen‘ Herrscher, auf dessen Loyalität sich der Princeps immer verlassen
konnte.44 Allerdings blieb das nicht so. Denn die Verhältnisse in dem Klientelreich des Herodes und
37 Die zahlreichen Belege findet man PIR VII 1 S. 22. Auch 40 Cass. Dio 56,18,3; Vell. 2,117,2; Tac. ann. 1,58,2.
von dieser Statthalterschaft zeugen Münzen, diesmal 41 Thurdoch (2006) 50.
aus Antiochia und der römischen Kolonie Berytos; dazu 42 Ios. ant. Iud. 17,89–133 und bell. Iud. 1,617–640.
Lichtenberger (2009). Die Münzen enthalten keine Va- 43 Ios. ant. Iud. 17,206–303 und bell. Iud. 2,1–83.
rus-Abbildungen. 44 Die enge Bindung des Königs an Rom ist eine communis
38 Syme (1986) 315. opinio der Herodes-Forschung; die Biographie von Ri-
39 So Vell. 2,97,4. chardson (1996) trägt dies wie andere Arbeiten sogar im
Titel; s. dazu jetzt Baltrusch (2012) Kap. 2.
45 Z.B. die ‚Adler-Aff äre‘: Ios. ant. Iud. 17,146–167 und bell. 46 Vgl. Baltrusch (1998) 215f.
Iud. 1,647–655. Stein des Anstoßes war ein goldener Ad- 47 Deshalb ist die These von Eshel (2008) 113 verfehlt, dass
ler am großen Tempeltor, den die noch jugendlichen Ju- Josephus, hätte er davon gewusst, diese Niederlage an-
das und Matthias bei hellichtem Tage abschlugen. Die geführt hätte as a proof of divine retribution for Varus be-
Angelegenheit kann mit großen Schwierigkeiten beru- cause of his actions in Judaea in 4 BCE.
higt werden, sie wird aber später wiederaufflammen
und Varus einbeziehen.
48 Ios. ant. Iud. 17,89–133; bell. Iud. 1,617–640. 52 Bell. Iud. 1,629–636 gibt die Rede wörtlich wieder; ant.
49 Dazu und zu der Erzählstrategie des Josephus bei die- Iud. 17,99–105.
sem Fall vgl. Günther (2005) 166ff. 53 Bell. Iud. 1,637f. ist diesmal indirekt gehalten, ant. Iud.
50 So jedenfalls bell. Iud. 1,620f., aber nicht nach ant. Iud. 17,107–126 wörtlich.
17,93. 54 Bell. Iud. 1,639f. und ant. Iud. 17,131f.
51 Bell. Iud. 1,622–628 ist ausführlicher; dreimal spricht 55 Ant. Iud. 17,133.
Herodes Varus direkt an und fordert ihn auf, den Sohn 56 Bell. Iud. 1,640: π und ant. Iud. 17,132: 9
als „verdorben“ abzurteilen; in verkürzter und indirek- 01«.
ter Form bei ant. Iud. 17,94–98.
57 Ant. Iud. 17,206–303; bell. Iud. 2,1–83. 60 Ios. bell. Iud. 1,666–673; 2,1–4; ant. Iud. 17,193–205.
58 Suet. Aug. 48. 61 Ios. bell. Iud. 2,5–8; Ios. ant. Iud. 17,206–209.
59 Ios. bell. Iud. 1,664; ant. Iud. 17,188. Zum Testament und
den damit verbundenen Fragen vgl. Günther (2005)
182–187 und Baltrusch (2012).
62 Ios. bell. Iud. 2,10–14; ant. Iud. 17,213–219. 65 So ist die Sachlage bei Ios. bell. Iud. 2,18f. und ant. Iud.
63 Zum Amt des Prokurators und seiner Flexibilität vor 17,222f. Sabinus geht ganz vorschriftsmäßig vor, wäh-
den Reformen des Kaisers Claudius vgl. Barrett (2009) rend Varus sich voreilig an Archelaos anschließt.
293. 66 Ios. bell. Iud. 2,25 gebraucht den Begriff Synhedrion, zu
64 Im ersten Buch seiner Abhandlung über den Prokon- dem der Kaiser ¹ # 23' 5 geladen hat, z.B.
sul hat Ulpian diese Selbständigkeit des kaiserlichen auch seinen Adoptivsohn und Enkel Gaius, ferner wei-
Prokurators ausdrücklich festgestellt: Sane si fiscalis tere ‚Freunde‘. Daraus geht zweifellos die Bedeutung
pecuniaria causa sit, quae ad procuratorem principis hervor, die Augustus der Angelegenheit beimaß.
respicit, melius fecerit (sc. proconsul), si abstineat: 67 Die Ereignisse und Reden in Rom werden ausführlich
Dig. 1,16,9 pr. präsentiert bei Ios. bell. Iud. 2,20–38; ant. Iud. 17,224–249.
68 Ios. ant. Iud. 17,227. des zugeschlagen hatte: Gadara und Hippos von der De-
69 Ios. ant. Iud. 17,303; weniger scharf bell. Iud. 2,83. kapolis sowie Gaza.
70 Ios. ant. Iud. 17,300; bell. Iud. 2,82. 72 Ios. bell. Iud. 2,23; ant. Iud.17,227: „Brieflich klagte auch
71 Die Quellen bei Smallwood (1976) 108 Anm. 16. Es han- Sabinus beim Kaiser den Archelaos an“.
delte sich um Städte, die Octavian 30 v. Chr. dem Hero- 73 Vgl. auch Richardson (1996) 27.
74 Sie ist von Richardson (1996) 26 missverstanden worden chischen Übersetzung heißt es (Kap. 6,8f.): In pares
und alles andere als ein Zeichen der Unentschlossenheit eorum mortis venient et occidentes rex potens, quia expugna-
und Halbherzigkeit (he took a weak course of action). Er bit eos, et ducent captivos et partem aedis ipsorum igni incen-
übersieht die Orientierung am Recht und am Testament. dit, aliquos crucifigit circa coloniam eorum. Die Verba sind,
75 Ios. bell. Iud. 2,93–97; ant. Iud. 17,317–323. da es sich um eine Prophetie handelt, ins Futur zu über-
76 Ios. ant. Iud. 17,250 und bell. Iud. 2,39 werden der Tod tragen. Der „mächtige König des Okzidents“, der Gefan-
der Malthake und der Brief des Varus an Augustus ver- gene machen wird, einen Teil des Tempels anzünden
bunden. wird, Kreuzigungen vornehmen wird – das ist ohne
77 Nämlich im Seder Olam 30, einer hebräischen Chronik Zweifel Varus.
wahrscheinlich aus dem 2. Jahrhundert n. Chr., mit grie- 78 Ios. bell. Iud. 2,40; ant. Iud. 17,251.
chischem Fremdwort als „Krieg des Asveros“ 80 Jahre 79 So geht es im Verlaufe des Krieges ausdrücklich um
vor Vespasian datiert. In der Assumptio Mosis, einer text- Freiheit, um Autonomie (Ios. ant. Iud. 17,267; bell. Iud.
lich entstellten lateinischen Fassung einer von einem 2,53), nicht um Rache an einem Beamten.
hebräischen oder aramäischen Urtext angefertigten grie-
80 Ios. bell. Iud. 2,41; ant. Iud. 17,252f. 84 Ios. ant. Iud. 17,285.
81 Ios. bell. Iud. 2,45; ant. Iud. 17,256. 85 Ios. ant. Iud. 17,286; bell. Iud. 2,66.
82 So müssen Ios. bell. Iud. 2,50; ant. Iud. 17,264 interpre- 86 Ios. ant. Iud. 17,288f. (nur hier die Mitteilung der Über-
tiert werden; Josephus suggeriert, dass Sabinus das Geld tragung des Oberbefehles an seinen Sohn); bell. Iud.
für sich nahm, aber er ließ sich hier wie sonst nichts zu- 2,68.
schulden kommen. 87 Ios. bell. Iud. 2,70f.; ant. Iud. 17,290f.
83 Vgl. Anm. 79. 88 Ios. bell. Iud. 2,72–74; ant. Iud. 17,292–294.
89 Ios. bell. Iud. 2,75–79; ant. Iud. 17,295–298. allerdings nicht ganz so folgenschwerer Hinsicht auch
90 Wenn Wolf (2005) das „tödliche Vertrauen“ des Varus für Archelaos gelten.
zu Arminius hervorhebt, so könnte das in gewisser, 91 Vgl. oben Anm. 77 und noch Ios. c. Ap. 1,34.
V Fazit
Hanan Eshel konstatiert in seiner Untersuchung zum Wirken des Varus in Syrien, dass die Juden von
der Varusschlacht 9 n. Chr. nichts gewusst hätten, sonst hätten sie sich nicht entgehen lassen, darauf
hinzuweisen. Das ist unwahrscheinlich und kann sich nur auf das Schweigen des Josephus stützen,
der freilich ein Interesse daran hatte, Varus neutral zu behandeln. Aber die Untersuchung der Hand-
lungen lässt uns jetzt ermessen, ob die drei oben behandelten antiken Kritiker der Versäumnisse des
Varus im Jahre 9 n. Chr. Recht haben oder nicht. Manches lässt sich nicht überprüfen, wie das Bon-
mot des Velleius über die Habgier in seiner syrischen Statthalterschaft; Josephus ist erkennbar be-
müht, neutral über Varus zu schreiben, so dass über den hochrangigen, kaisernahen Politiker die Ta-
ten und (Miss-)Erfolge ein Urteil sprechen mussten, nicht der jüdische Autor in römischen Diensten.
Andere Punkte der Kritik entdecken wir auch in Syrien und Judäa wieder: Varus war ein vertrauens-
seliger, wenig flexibler, bisweilen grausamer, leidlich f ähiger Militär, der seine Untertanen wenig
‚studierte‘ und auf brüske Durchsetzung römischer Interessen pochte. Die Verwandtschaft mit Au-
gustus eröffnete ihm immer neue Karriereschübe. Germanien fiel ihm zu, weil Augustus ihn wollte
und er Erfahrungen besaß; ferner schienen ihm die verwickelt bleibenden Verhältnisse in Judäa nicht
geschadet zu haben, und außerdem wurde nicht erwartet, daß seine Statthalterschaft tatsächlich die
Entscheidung über die Germanienstrategie des römischen Prinzipats bringen würde. Ein großarti-
ger, f ähiger Statthalter aber war Publius Quinctilius Varus nicht, und niemand wusste das besser als
Tiberius.93 Velleius Paterculus dürfte mit seinem kritischen Urteil im großen und ganzen Recht ha-
ben. Syrien war jedenfalls nicht die Station, auf der sich eine heutige Zuschreibung als ‚f ähiger Statt-
halter‘ bauen ließe.
92 Smallwood (1976) 112, und sie f ährt fort (113): Thanks to Etwas vorsichtiger ist der Beitrag von van Wickevoort
Varus’ military skill and efficiency it (das bellum Varia- Crommelin (1999); Eck (2010) 22 weist dem Varus in
num) had been brief, though it had affected most parts of the Judäa „ein kluges, situationsadäquates Abwägen seiner
country. The two thousand crosses testify to the serious view Entscheidungen“ zu.
which he took of it, while his leniency to those who surrende- 93 Lica (2001) 501: Tiberius’ discriminating attitude
red in Idumaea acquits him of mere vindictiveness. Für towards Varus’ former soldiers stands for an eloquent expres-
Smallwood ist wie für Josephus Sabinus der Bösewicht. sion of the incrimination of his entire activity in Germany.
Literatur
Eck (2004a)
Barrett (2009) Werner Eck, „Augustus und die Großprovinz Germa-
Anthony A. Barrett, „Herod, Augustus, and the Special nien“, KJ 37, 11–22.
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in: David M. Jacobson u. Nikos Kokkinos (Hgg.), Herod Eck (2004b)
and Augustus. Papers Presented at the IJS Conference Werner Eck, Köln in römischer Zeit. Geschichte einer
21st-23rd June 2005, Leiden u. Boston, 281–302. Stadt im Rahmen des Imperium Romanum, Köln.
Wolters (2006)
Reinhold Wolters, „Varus“, RGA 32, 81–86.
Augustus in Germanien
Archäologie der fehlgeschlagenen Eroberung
Wenn seit einigen Jahren mit guten Gründen angenommen werden darf, dass in der im Aufbau befind-
lichen römischen Stadt bei Lahnau-Waldgirmes ein lebensgroßes vergoldetes Bronzestandbild des Kai-
sers Augustus zu Pferde errichtet gewesen ist, mag der etwas reißerisch wirkende Titel meines Beitrags
gestattet sein, auch wenn Augustus bei seinen Aufenthalten in Gallien den Rhein nie überquert, Ger-
manien also nie besucht hat. Da in der Antike das Bild eines Menschen aber stets auch dessen Anwe-
senheit bedeutete, ist der Titel aus antiker Sicht also nicht unangemessen.
Nicht Augustus persönlich (Abb. 1,1), so doch die beiden kaiserlichen Prinzen Drusus (12 v. Chr.–
9 v. Chr.) (Abb. 1,2) und Tiberius (8–7 v. Chr., 4–6 n. Chr. u. 10–12 n. Chr.) (Abb. 1,3), der mit der Familie
des Augustus durch Heirat verbundene Varus (7–9 n. Chr.) (Abb. 1,5) und auch Germanicus, Sohn des
Drusus (14–16 n. Chr.) (Abb. 1,4), waren als Befehlshaber des Germanien-Heeres zwischen Rhein und
Elbe im Einsatz. Ich behandle im Folgenden nur den germanischen Raum im engeren Sinne, also jenes
Gebiet, in dem die großen Eroberungszüge zwischen Rhein und Elbe stattgefunden haben, und gehe
auf die Archäologie im Alpenvorland nicht weiter ein.
Die vor allem für verschiedene Phasen des Eroberungsversuchs recht detailreiche schriftliche
Überlieferung einerseits und andererseits die ungewöhnlich raschen Veränderungen sowohl der um-
laufenden Münzen als auch der beim Heer benutzten Keramikgef äße ermöglichen chronologische Zu-
ordnungen verschiedener Fundplätze mit ganz außerordentlicher Präzision. Dies verführt nicht selten
dazu, dass alle Unterschiede im Fundgut und bei verschiedenen Befunden nur chronologisch gedeutet
werden, wovor ausdrücklich gewarnt sei! Dendrochronologische Datierungen sichern einige histori-
sche Zuordnungen solide ab und können als Orientierungsmarken herangezogen werden.
Nach der Unterwerfung Galliens durch Caesar bildete der Rhein die Grenze des Imperium Ro-
manum (Abb. 2), die jedoch von den rechtsrheinischen Germanen, insbesondere im Gebiet des Nieder-
Abb. 1 | Bildnisse des 1. Augustus (63 v.–14 n. Chr.); 2. Drusus (38 v.–9 v. Chr.); 3. Tiberius (42 v. Chr.–37 n. Chr.); 4. Germanicus
(15 v.–19 n. Chr.); 5. Varus (47/46 v.–9 n. Chr.).
rheins immer wieder zu Raubzügen überschritten worden ist. Ab 12 v. Chr. hatte Drusus daher den Auf-
trag, den Grenzbereich zu beruhigen. In kühnem Ausgriff erreichte er bereits 11 v. Chr. die Weser.
Es wird berichtet, dass er beim Rückmarsch an den Rhein ein Lager am Zusammenfluss von Lippe und
Elison, ein zweites nicht weit vom Rhein bei den Chatten anlegen ließ. Ab 10 v. Chr. verlegte er den
Schwerpunkt der Feldzüge an den Mittelrhein, und 9 v. Chr. erreichte er bereits die Elbe; ein unglück-
licher Sturz vom Pferd führte zu so schweren Verletzungen, dass er verstarb. In den Jahren 8 bis 7 v. Chr.
soll unter Tiberius Germanien bereits eine beinahe tributpflichtige Provinz geworden sein.1
Für die folgenden Jahre sind die Quellen sehr lückenhaft. Domitius Ahenobarbus soll zu einem
nicht genauer bekannten Zeitpunkt die Elbe überschritten haben.2 Im Jahr 1 n. Chr. brach – vermutlich
im heutigen Nordwestdeutschland – ein „gewaltiger Krieg“ aus,3 den erst der erneut nach Germanien
beorderte Tiberius siegreich beenden konnte; im Winter 4/5 n. Chr. ließ er einen Teil des Heeres am
Oberlauf der Lippe überwintern,4 im darauf folgenden Sommer wurde erneut die Elbe erreicht. Offen-
bar war nun ein Zustand erreicht, der dem besten Kenner der Situation in Germanien, Tiberius, geeig-
net erschien, Augustus zu empfehlen, Varus das Kommando zu übertragen mit dem Auftrag, Germa-
hatte, ist somit dendrochronologisch untermauert: Es handelt sich um das Lippe-Elison-Kastell des
Drusus. Oberaden zeichnet sich u.a. durch einige großzügige, römischen Stadtvillen entsprechende
Wohngebäude aus, die, in Holz-Lehm-Fachwerk errichtet, sogar über Gartenhöfe verfügten. Die Truppe
wurde bestens mit Wein versorgt, wie die über 40 als Brunnenschalungen wieder verwendeten Wein-
f ässer zeigen, die z.T. bis über 1000 Liter enthalten haben. Neben mediterranen Gewürzen und Oliven
ist sogar Pfeffer aus Arabien oder Indien nachgewiesen! Diese Detailkenntnisse sind den vorzüglichen
Erhaltungsbedingungen in den Oberadener Brunnen zu verdanken; die Versorgung der anderen Plätze
wie Haltern und Anreppen dürfte kaum weniger gut gewesen sein. Oberaden wurde offenbar durch
Tiberius 8 oder 7 v. Chr. aufgelassen. Welche Truppen hier zusammengezogen waren und wohin diese
kommandiert worden sind, ist nicht bekannt; neben Legionssoldaten sind Auxilien durch Funde nach-
gewiesen. Das dazu gehörende, etwa 2,5 ha große sog. Uferkastell in Beckinghausen existierte zur sel-
ben Zeit wie Oberaden.
Der Fundbestand des nur 3 ha großen Stützpunktes von Bad Nauheim-Rödgen gleicht jenem aus
Oberaden, während die Innenbauten völlig anderen Charakter haben. Drei große Speichergebäude von
47,2 × 29,5 m, ca. 29,5 × 33 m und 35,5 × 30,7 m bei einer nur etwa 1000 Mann starken Truppe weisen
Rödgen als Nachschubstation für das in den Jahren 10 und 9 v. Chr. von Mainz aus zur Weser und Elbe
vorstoßende Heer aus. Der Platz lässt sich nicht mit dem unter Drusus errichteten Kastell „nahe vom
Rhein bei den Chatten“ identifizieren; dieses ist noch nicht entdeckt.
Dass das Wesergebiet tatsächlich erreicht worden ist, bezeugt ein vor wenigen Jahren bei Hede-
münden, nahe des Zusammenflusses von Fulda und Werra entdeckter Fundplatz (Abb. 5).
Der Ausgräber, Klaus Grote, bezeichnet ihn als ‚Lager‘.10 Die bislang bekannt gewordenen Spuren
im Gelände weichen jedoch derart stark von dem ab, was von römischen Truppenstandorten bekannt
ist, dass ich meine Skepsis nicht unterdrücken kann. Das Münzspektrum gleicht dem von Oberaden
und Rödgen; hinzu treten erstaunliche Mengen von Metallfunden, sowohl Werkzeuge als auch Waffen
(Abb. 6), und inzwischen fanden sich auch entlang alter Wege nach Norden und Süden römische Ein-
zelfunde wie Schuhnägel und wiederum Waffen.
Sollte sich der Platz hoch über dem Werra-Ufer endgültig als ein Lagerkomplex erweisen, würde damit
in mancher Beziehung ein neues Kapitel zu Planung und Architektur römischer Lager der augustei-
schen Zeit aufgeschlagen. Noch aufregender wäre es indes, wenn es kein ausgebautes Lager gewesen
wäre!
Selbstverständlich sind zwischen Rhein und Elbe von den vorrückenden Truppen regelmäßig sog.
Marschlager angelegt worden, die, je nach Lage, teils nur für eine Nacht, teils wohl auch mehrere Tage
genutzt worden sind. In Dorsten-Holsterhausen an der Lippe, rund 40 km, also zwei Tagemärsche vom
Rhein entfernt, sind wiederholt solche Lager aufgeschlagen worden; mindestens zehn verschiedene
Systeme von Lagergräben lassen dies erkennen, Holz-Erde-Mauern fehlen.11 Sowohl unter Drusus als
auch unter den nachfolgenden Feldherren und möglicherweise auch unter Germanicus (14–16 n. Chr.)
haben die Truppen dort in Zelten kampiert, ohne dass Lager mit festen Bauten errichtet worden sind.
Auch andere verkehrstechnisch wichtige Plätze wird das Heer mehrfach aufgesucht haben, z.B. an
Ems, Weser und Lahn. Vielleicht lassen sich die offenbar komplexen Anlagen in Hedemünden einmal
in diesem Sinne differenzieren. Spuren nur kurze Zeit genutzter Marschlager sind in Haltern (sog.
Feldlager etc.),12 Anreppen,13 Lahnau-Dorlar14 und Marktbreit15 erkannt. Die Anlagen bei Kneblinghau-
sen können augusteisch sein, sind aber nicht sicher zu datieren.16 Ob sich im erst kürzlich entdeckten
Barkhausen an der Porta Westfalica ein echtes Lager ergeben wird, bleibt abzuwarten.17 Nach den Mün-
zen ist die kleine Verschanzung der Sparrenberger Egge bei Bielefeld auf jeden Fall der Drusus-Zeit zu-
zuweisen; solche kleinen Warten müsste es in den Mittelgebirgen in größerer Zahl geben. In der Nähe
von Hedemünden scheint eine entdeckt zu sein.
Aus der augusteischen Zeit gibt es im Vorfeld von Mainz verschiedene Fundplätze, deren Charak-
ter nicht genauer definiert werden kann, und zwar in Mainz-Kastel, dem Brückenkopf östlich des
Rheins, in Wiesbaden, Frankfurt-Höchst und Bad Nauheim. Sie bezeugen, welch strategisch wich-
tige Aufgabe von Mainz aus wahrgenommen worden ist. Alle diese Plätze scheinen jünger zu sein als
die Zeit des Drusus und können bis in die Zeit des Varus oder auch danach (?) genutzt worden sein; ob
dauerhaft, steht dahin. Bei Arnsburg könnte ein augusteisches Marschlager liegen. Die Verschanzung
bei Oberbrechen ist zwar ihrer Art nach sicher römisch, lässt sich aber innerhalb der frühen Kaiserzeit
nicht präziser datieren.18
Der bedeutendste militärische Stützpunkt der Zeit nach Drusus’ Tod ist Haltern an der Lippe, rund
60 km östlich des Rheins gelegen (Abb. 7).19
Dessen Gründungsdatum lässt sich nicht genauer festlegen. Gerade nach den Ergebnissen in Lah-
nau-Waldgirmes20 besteht aller Grund, den Beginn bald nach Drusus’ Tod zu suchen. Meinen 1981
und 1982 geäußerten Vorschlag, etwa die Jahre 7 bis 5 v. Chr. anzunehmen, halte ich gegen alle Kritik
aufrecht. In Haltern gibt es außer den bereits erwähnten Spuren kurzzeitig belegter Lager einen be-
festigten Flusshafen an der Lippe (sog. Uferkastell), nicht mehr zu deutende fundreiche Komplexe am
Lippeufer auf der Flur Wiegel und ein ausgedehntes Gräberfeld, von dem mittlerweile über 100 Bestat-
tungen bekannt sind.
Die wichtigste Anlage ist in Haltern das sog. Hauptlager, das zunächst 16,7 ha groß war. Der Platz
reichte nicht dazu aus, um neben einer überraschend großen Zahl von Wohn- und Führungsbauten
Als Haltern in voller Blüte stand, wurde am Oberlauf der Lippe, etwa 150 km östlich des Rheins, der
etwa 23 ha große Stützpunkt von Anreppen gegründet (Abb. 8).21
Dendrochronologisch ist hier das Jahr 4 n. Chr. für den Bau eines Brunnens gesichert, so dass es
der Ort sein dürfte, an dem Tiberius 4/5 n. Chr. einen Teil seines Heeres in Germanien hat überwintern
lassen. Da unter den rund 400 Münzen keine ist, die den Gegenstempel des Varus trägt, ist der Platz of-
fensichtlich bereits nach zwei oder drei Jahren wieder geräumt worden. Zusammen mit dem ebenfalls
nur etwa drei Jahre existierenden Lager Oberaden ist dies ein weiteres Zeichen für die enorme Beweg-
lichkeit der Truppe und die häufigen Veränderungen der römischen Strategie.
Anreppen war noch weniger als Oberaden oder Haltern ein reines Truppenlager. Außer Kasernen,
deren Zahl nicht genauer abzuschätzen ist, gibt es mehrere große Magazine, ein Thermengebäude und
ein zentrales, 70 × 40 m großes Wohngebäude, das – obgleich es wie alle anderen bisher bekannten rö-
mischen Gebäude in den Militärplätzen rechts des Rheins aus Holz-Lehm-Fachwerk bestand – wegen
seines Grundrisses als ‚Luxusarchitektur‘ bezeichnet wird. Gewiss darf man annehmen, dass sich in die-
sem Haus Tiberius zeitweise aufgehalten hat. Bemerkenswert sind Spuren einer germanischen Siedlung
ganz in der Nähe von Anreppen, in der römische Funde der augusteischen Zeit gefunden wurden. Ob sie
von Kontakten zum großen römischen Stützpunkt rühren oder nach dessen Auflassung dorthin ver-
schleppt wurden, ist nicht geklärt; die Fundstelle verdient es jedenfalls, genauer untersucht zu werden.
Historisch schwierig einzuordnen ist das 37 ha große Lager von Marktbreit am Main,22 das in Luft-
linie rund 140 km und auf dem Main rund 280 Flusskilometer vom Rhein entfernt ist. Es sind zwar im
Zentrum für die Truppenführung in der üblichen Holz-Lehm-Fachwerk-Bauweise die notwendigen
Bauten errichtet worden, und auch ein kleines Thermengebäude ähnlich dem in Anreppen wurde ent-
deckt, doch ist der Bestand an Funden derart gering, dass man nur allgemein vor allem das erste nach-
christliche Jahrzehnt als Datierung annehmen kann. Offensichtlich ist das Lager nie von der Truppe
wirklich bezogen worden, sondern der Bau wurde wohl abrupt abgebrochen. Daher wurde zunächst
vorgeschlagen, die Errichtung mit dem 6 n. Chr. von Mainz und Carnuntum aus begonnenen, aber im
selben Jahr wegen des Pannonischen Aufstandes beendeten Feldzug gegen Marbod in Verbindung zu
bringen. Wahrscheinlicher erscheint, dass hier im dicht besiedelten germanischen Gebiet ein ‚Nachfol-
ger‘ des Legionslagers in Mainz als dauerhafter Stützpunkt errichtet werden sollte, dessen Vollendung
und Bezug wegen des politisch-militärischen Rückschlags unterblieb.
Die stärksten Veränderungen in der Beurteilung der römischen Herrschaft rechts des Rheins er-
gaben sich durch die Entdeckungen in Lahnau-Waldgirmes unweit von Wetzlar (Abb. 9).23
Der Ort liegt verkehrsgeographisch in jener Gegend, in der die zwei von der Natur vorgegebenen
Wege vom Mittelrhein in Richtung Weser zusammentreffen: Dies sind der Weg von der Moselmün-
dung bei Koblenz entlang der Lahn und die Route von Mainz durch die Wetterau zur Lahn, die den Tau-
nus bei der Butzbacher Senke überquert.
In Waldgirmes wurde um 4 v. Chr., dendrochronologisch durch Hölzer aus einem Brunnen ge-
sichert, eine primär zivile Siedlung, eine Stadt gegründet. Zwar wurde sie gewiss vom römischen Heer
geplant und weitgehend gebaut, erkennbar an der äußeren Gestalt, die einem Militärlager gleicht: Zwei
Auftrag hatten, den Platz wieder herzurichten. Dazu passen auch die wiederholt beobachteten, offenbar
planmäßigen Einfüllungen von Siedlungsschutt in die Umwehrungsgräben.
Wenn diese Interpretation, die Armin Becker, der Ausgräber, mit aller Vorsicht vorschlägt, sich als
richtig erweist, dann hätte man hier erstmals rechts des Rheins handfeste archäologische Spuren, die
mit den Maßnahmen des Germanicus 14 bis 16. n. Chr. zusammenhängen könnten. Bevor diese Mög-
lichkeiten weiter diskutiert werden, sind die vollständige Bearbeitung der Befunde und die noch zum
Abschluss des Forschungsprojektes vorgesehenen Sondagen abzuwarten.
In jedem Fall zeichnen sich rechts des Rheins im Bereich der beiden Haupt-Vorstoßrichtungen
vom Niederrhein aus ins Lippegebiet und von Mainz aus durch die Wetterau in Richtung Lahn/Weser
archäologisch wesentliche Unterschiede ab: Während im Lippegebiet das militärische Element deutlich
vorherrscht und nach den Funden nur geringe Kontakte zur einheimischen Bevölkerung ablesbar sind,
wurde im Vorfeld von Mainz, rund 100 km von Rhein entfernt, eine regelrechte Stadt gegründet. Diese
glich zwar von außen blickend einem Militärlager, war aber im Inneren ganz nach zivilem Muster an-
gelegt. Hier erscheinen zugleich zahlreiche einheimische Funde in römischem Kontext, die die fried-
lichen Verhältnisse erkennen lassen. Diese friedlichen Verhältnisse scheinen schon zu Beginn der Feld-
züge geherrscht zu haben, da das Versorgungslager Rödgen keine starke Schutztruppe benötigte;
im weiteren Vorfeld kennt man bislang auch noch keinen größeren militärischen Stützpunkt, der de-
nen des Lippegebietes vergleichbar wäre. Wenn dieses Fundbild die tatsächliche historische Situation
spiegelt, dann waren die politischen und militärischen Verhältnisse der beiden Feldzugsgebiete deut-
lich voneinander verschieden, ein Befund, der sich in dieser Differenzierung den schriftlichen Quellen
nicht entnehmen lässt.
Rudnick (2009)
Bernhard Rudnick, Kneblinghausen, Gemeinde Rüthen,
Kreis Soest, Römerlager in Westfalen 1, Münster.
hostium aviditas
Beute als Motivation germanischer Kriegsführung
Die Überlieferung zur Varusschlacht konfrontiert uns mit dem Phänomen, dass ein germanisches
Stammesaufgebot in der Lage gewesen ist, ein Großaufgebot römischen Militärs zu besiegen. Wie
konnte es auf germanischer Seite gelingen, eine so große und schlagkräftige Koalition zusammenzu-
bringen?
Offensichtlich spielt der Sieg gegen die römische Herrschaft die zentrale Rolle – der Gedanke der
Befreiung klingt bei Tacitus1 mit der Bezeichnung liberator Germaniae für Arminius an. Aber für den
einfachen Teilnehmer an der Schlacht, für die Anführer kleinerer Einheiten und größerer Verbände,
dürfte daneben die Aussicht auf reiche Beute eine wesentliche Motivation dargestellt haben, sich der
Streitmacht anzuschließen.
Dass der Gedanke an erbeutete Reichtümer die Germanen stark beeinflussen konnte, erfahren wir
verschiedentlich aus den Schriftquellen. Cassisus Dio berichtet etwa im Buch 56 seiner Römischen Ge-
schichte über die Aussicht auf Beute, die auch vorsichtige Germanen während der clades Variana dazu
brachte, in die Kämpfe einzugreifen.2 Bei der Belagerung des einzigen in römischer Hand gebliebenen
Lagers nach der Schlacht „wären alle zugrunde gegangen oder auch in Gefangenschaft geraten, wenn
sich die Barbaren nicht zu sehr mit dem Erraffen der Beute aufgehalten hätten“.3 Und Tacitus berichtet
in seinen Annalen, wie der im Zuge der Feldzüge des Germanicus in Bedrängnis geratene Caecina wäh-
rend der Schlacht gerettet werden konnte: „Eine Hilfe für uns war die Habgier der Feinde, die das Ge-
metzel aufgaben und über die Beute herfielen“.4
Aber auch die Archäologie kann hier inzwischen Indizien liefern. Auf dem spätaugusteischen
Schlachtfeld von Kalkriese zeigen sich deutliche Hinweise auf Beraubung, und die umliegenden Sied-
lungen liefern römisches Material, das offensichtlich vom Schlachtfeld aufgelesen wurde.5
Wie groß war aber die potentielle Beute, mit der die Germanen beim Angriff auf das Heer des Va-
rus im Jahr 9 n. Chr. rechnen konnten? Am Beispiel des Eisens soll im Folgenden ein Eindruck vermit-
telt werden sowohl von ihrem Umfang als auch von der enormen Bedeutung, welche diese Beute für die
germanischen Gruppen gehabt haben dürfte.
Von welcher Größe des römischen Truppenkontingents wir ausgehen müssen, hat Velleius Pater-
culus6 exakt überliefert: drei Legionen, drei Alen und sechs Kohorten. Diese Aussage wird durch einige
fast nebensächliche Erwähnungen der Varusniederlage von unmittelbar zeitgenössischen Autoren wie
Ovid oder Marcus Manilius unterstützt – gerade letzterer erwähnt in seinen um 10 n. Chr. entstandenen
Astronomica explizit die drei untergegangenen Legionen des Varus.7 Mit Michael Sommer sind es ge-
rade die flüchtigen Erwähnungen der Varusniederlage, die sehr kurz danach aufgeschrieben wurden,
die „jeden Zweifel daran zerstreuen, dass es sich bei der clades Variana tatsächlich um ein veritables
1 Tac. ann. 2,88,2. 4 Tac. ann. 1,65,6; Übersetzung nach Herrmann (1991) 111.
2 Cass. Dio 56,21,4. 5 Vgl. z.B. Rost (2008).
3 Cass. Dio 56,22,3; Übersetzung nach Herrmann (1991) 6 Vell. 2,117,1.
311. 7 Manil. 1,899f.
Großereignis handelte – und nicht etwa um eine im Nachhinein von der römischen Historiographie
rhetorisch aufgebauschte Belanglosigkeit.“8
Wir dürfen also mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass tatsächlich drei römische Le-
gionen in dieser Schlacht geschlagen wurden. Die Sollstärke einer Legion dieser Zeit betrug zwischen
5000 und 6000 Mann, die Kohorten und Alen umfassten jeweils 500 Soldaten.9 Es ist allerdings an-
zunehmen, dass die Legionen nicht in Sollstärke angetreten waren, da Vexillationen aus ihnen an an-
deren Orten mit unterschiedlichen Aufgaben gebunden gewesen sein dürften.10 Dies macht es schwie-
rig zu sagen, wie stark die Einheiten wirklich besetzt waren: Eine genaue Quantifizierung der realen
Truppenstärke ist nicht möglich.
Hinzu kommt andererseits, dass der Heereszug des Varus nicht nur aus marschierenden und rei-
tenden Soldaten bestand. „Sie führten auch viele Wagen und Lasttiere mit sich, wie mitten im Frieden.
Dazu folgten ihnen nicht wenige Kinder und Frauen sowie der übrige riesige Troß“, berichtet uns Cas-
sius Dio.11 Auch dafür liefert das Schlachtfeld von Kalkriese deutliche archäologische Hinweise.
Es ist also unmöglich, die Gesamtmenge an Eisen sicher zu ermitteln, die mitgeführt wurde, da ne-
ben der Bewaffnung und Ausrüstung der Soldaten (Abb. 1–2) auch im Tross viele Gegenstände aus
Eisen mitgeführt wurden – bis hin zu den eisernen Wagenteilen.
Um aber überhaupt eine Vorstellung zu bekommen, soll hier – unter Vernachlässigung des nicht zu
kalkulierenden Trosses – von einem Kontingent von 12000 Mann ausgegangen werden. Grundlage der
Berechnung ist das Gewicht des Eisens, das Bestandteil ihrer Ausrüstung war. Hierzu hat Junkelmann12
auf der Grundlage nachgearbeiteter Ausstattungen Zahlen vorgelegt. Keine Berücksichtigung findet
hier das unterschiedliche Gewicht der Ausrüstung von Reiterei und Hilfstruppen.
Wir können also mit einer flächendeckenden Kenntnis der Verhüttungstechnologie rechnen; das Fund-
bild spiegelt neben gehäuften Raseneisenerzvorkommen auch den heterogenen archäologischen For-
schungsstand.
Um die Bedeutung der Eisenmenge des Varusheeres einschätzen zu können, soll im Folgenden
versucht werden, den Aufwand zu berechnen, den die Germanen für ihre Produktion hätten betreiben
müssen. Die Basis aller Ertragsberechnungen ist dabei das Gewicht der Schlacke, die von einer Renn-
ofenreise übrig ist. Verlässlich ist dies nur bei Ofentypen möglich, in denen sich das Abfallprodukt als
Schlackeklotz sammelt. Dies ist bei den Schachtöfen mit Schlackegrube der Fall.
Leider liegen aus Nordwestdeutschland kaum Angaben über das Gewicht von Schlackeklötzen vor.
Die Gewichtsangaben schwanken zwischen 20 und 83 kg.17 Jöns gibt für seine Untersuchung des spät-
kaiserzeitlichen Verhüttungsstandortes Joldelund (Nordfriesland) einen Durchschnittswert von 58,5 kg
Schlackegewicht bei den 158 archäologisch untersuchten aussagekräftigen Schlackegruben an;18 be-
schränkt man die Gewichtsangaben auf die mindestens 0,50 m tief erhaltenen Gruben, so erhöht sich
das Durchschnittsgewicht auf 68,5 kg. Auf ähnliche Werte weisen die Angaben zu den frühkaiserzeit-
lichen Rennöfen aus Quedlinburg hin.19
Nikulka hat die Ergebnisse bisheriger Eisenverhüttungsversuche evaluiert und kommt zu einem
Zahlenverhältnis von Schlacke : Luppe : Eisen von 100 : 18 : 12.20 100 kg Schlacke stehen nach dieser Be-
rechnung für eine dabei gewonnene Luppe von 18 kg, die sich auf 12 kg schmiedbares Eisen reduziert.
17 De Rijk (2007) 167; Nikulka (2000) 73. 1813 kg (159) von diesem Fundplatz an. Das höchste
18 Jöns (1997) 127. Gewicht aller Schlackeklötze beträgt in einem Fall
19 Steinmann (2006) führt 32 „Rennöfen und verwandte 71,5 kg, weitere Angaben liegen nicht vor.
Anlagen“ (15) und ein Gesamtgewicht an Schlacken von 20 Nikulka (1995).
Zu abweichenden Ansätzen kommen Jöns21 und Ganzelewski.22 Aus einer Menge von 35 t Schlacke, die
in Joldelund geborgen wurden, errechnen sie eine Gesamtmenge von 7,4 t Luppeneisen, die sich beim
Schmieden eines Barrens auf 2,6 t reduziert. Weitere 20 % Verlust werden dann bis zum Schmieden
eines Gegenstandes berechnet, so dass nur ca. 2 t Eisen übrig bleiben. Das ergibt ein Verhältnis von
Schlacke : Luppe : Eisen von 100 : 21 : 7,4/5,7.23
21 Jöns (1997) 175. allerdings nicht den von Jöns und Ganzelewski vorgetra-
22 Ganzelewski (2000) 64ff. genen Überlegungen, da er die Reduktion des unge-
23 Vgl. hierzu kritisch Bielenin (2000) 254. Sein Hinweis schmiedeten Eisens durch das Schmieden von Barren
auf die Annahme von 20 kg ungeschmiedetem Eisen und Gegenständen noch nicht berücksichtigt.
auf 100 kg Schlacke durch Voss (1991) widerspricht
200000 kg Eisen
300000 kg Luppe
1666666 kg Schlacke
24331 Rennöfen (68,5 kg)
200000 kg Eisen
736800 kg Luppe
3508000 kg Schlacke
51212 Rennöfen (68,5 kg)
Welche der Berechnungen man auch immer zugrunde legt: Es ergibt sich eine erstaunlich hohe Anzahl
von Rennöfen mit dem jeweils zugehörigen Arbeitsprozess vom Brechen des Raseneisenerzes über die
Errichtung des Rennofens bis zum vielstündigen Verhüttungsprozess selber.
Auch der Holzbedarf für den Verhüttungsprozess lässt sich quantifizieren. Spazier24 geht von
einem Verhältnis von Holzkohle zu Erz von 1,5 : 1 aus, auf 1 kg zu verhüttendes Erz kommen also
bei der Beschickung des Ofens 1,5 kg Holzkohle. Andere Schätzungen kommen zu wesentlich grö-
ßeren Holzkohlemengen, allerdings weist Spazier darauf hin, dass der Einsatz größerer Holzkohle-
mengen das Resultat nicht verbessert.25 Aus 2 kg ungeröstetem Erz bleibt als Abfallprodukt 1 kg
Schlacke übrig,26 wobei sich durch Rösten das Gewicht des eingesetzten Erzes erheblich reduzieren
kann.
Auch zur Berechnung der Holzmenge, die für die Herstellung der Holzkohle benötigt wird, liefert
Spazier Berechnungen.27 1 m3 (= Festmeter) Holz – nach den Holzartenbestimmungen aus Wolkenberg
Hartlaub- und Weichholz im Verhältnis von 70 : 30 – wiegen 700 kg und ergeben 84 kg Holzkohle;
für die Herstellung von 1 kg Holzkohle benötigt man also 8,3 kg Holz. Etwa 200 fm Holz wachsen nach
Nicke28 auf einem ha Waldfläche.
Nach Spazier und den Werten Nikulkas (links) bzw. Jöns und Ganzelewskis (rechts) errechnet sich
demnach folgender Holzverbrauch:
Die Bäume von ca. 3 bzw. 6 km2 Wald hätten also gef ällt, in Grubenmeilern zu Holzkohle geköhlert und
zu den Verhüttungsplätzen transportiert werden müssen.
Diese beachtlichen Zahlen, die einen enormen Arbeitsaufwand spiegeln, lassen unschwer erken-
nen, wie attraktiv die Beute, die sich durch einen siegreichen Angriff auf das Heer des Varus erzielen
ließ, für die germanischen Kämpfer gewesen sein muss.
In den letzten Jahren wurde bei der Diskussion germanischer Sozialstrukturen verstärkt die Rolle
klientelärer Verbindungen in den Vordergrund gerückt29 und die Bedeutung der von ihnen ausgehen-
den Gewalt betont.30 Das in der Vergangenheit oft überbetonte Modell der Gefolgschaft31 wird dadurch
aus neuer Perspektive beleuchtet. Es ist der Sieg bei kriegerischen Auseinandersetzungen, der das Pres-
tige für die Stabilisierung der sozialen Position des Gefolgschaftsführers mit sich bringt, und es sind die
dabei erbeuteten Reichtümer, die es erlauben, die Gefolgschaft auszuhalten und gegebenenfalls zu er-
weitern. Mit Blick auf rezente warlords konnte Burmeister32 zeigen, dass ein solches Modell auch heute
noch funktioniert. Wie weit solche warlords dann aber tatsächlich die gesamte germanische Gesell-
schaftsstruktur und ihre wirtschaftliche Organisation bestimmten, wie nachhaltig ihr Einfluss gewesen
ist, das bedarf allerdings noch der Diskussion.33
Der Befund der Varusschlacht mit seiner großen Koalition auf germanischer Seite bleibt über
lange Zeit ein Sonderfall. Die dabei zu erzielende Beute war nicht nur für den einzelnen Krieger eine
große Motivation: Sie konnte vielmehr auch für die Anführer dazu dienen, ihre soziale Stellung zu fes-
tigen oder sogar auszubauen. Wie viel zu erbeuten war, wird in aller Klarheit erst dann deutlich, wenn
man es – wie im Fall des Eisens – damit kontrastiert, wie hoch der Produktionsaufwand für die Germa-
nen gewesen wäre.
29 Vgl. Veit (2009) 331. 33 Vgl. hier etwa Sommer (2009) 136f., der die historische
30 Vgl. Steuer (2003). Sondersituation in der post-oppida-Periode mit der
31 Vgl. Landolt, Timpe u. Steuer (1998) 537–546. „ökonomischen wie moralischen Notlage einer krisen-
32 Burmeister (2009). geschüttelten Gesellschaft“ betont.
Fundortnachweis zu Abb. 5
Verhüttungsstandorte der Übergangszeit und der Römischen Kaiserzeit in Nordwestdeutschland (Abb. 5). Die Num-
merierung bezieht sich auf Nikulka (2000) 96–102: 41. (Bohlenweg im Wittemoor) EZ – Dendro 129 BC; 45. (Holt-
land; 19 Öfen) – RKZ (Datierung wenige Keramikfragmente); 56. (Gristede; 15 Öfen) – um Chr. Geb.; 1. Jh. n. Chr.;
2./3. Jh. n. Chr.; 1. Jh. – 500 n. Chr.; 6./7. Jh. n. Chr; RKZ; 65. (Dötlingen; 17 Öfen) – RKZ; 67. (Dötlingen, ‚Im Stühe‘;
min. 50 Öfen) – 1. Jh. v./1. Jh. n. Chr.(Dat: wenige Scherbenprofile); 70. (Streekermoor; 55 Öfen) – um Chr. Geb; 25+/-35
n. Chr.; 1. Jh. n. Chr.; 85. (Darme) – RKZ/VWZ; 89. (Gleesen) EZ–VEZ (1 Ofensau und Scherben, vermutlich der vor-
römischen Eisenzeit); 111. (Delmenhorst-Blutkamp; 31 Öfen) – 1. Jh. n. Chr. (nach Zoller 1977 kaiserzeitlich) NEU:
14C-Datum 2135 +/– 50 BP für drei Öfen (F. Both, Die Römische Kaiserzeit und Völkerwanderungszeit im Weser-Ems-
Gebiet. Archäologische Denkmäler zwischen Weser und Ems (Oldenburg 2000) 80–95; hier: 93; 113. (Grasdorf;
43 Öfen) – RKZ; VWZ; 114. (Laar; 14 Öfen) – RKZ; 116. (Wengsel) – RKZ; 123. (Stolzenau) – ältere RKZ; 131. (Ochtrup)
EZ – latènezeitlich (als Lesefunde Schlacken, Reste eines möglichen Rennofens und wohl latènezeitliche Schmiede-
werkzeuge); 140. (Lahde; 35 Öfen) – um Chr. Geb.–jüngere RKZ; 156. (Oetinghausen) – 4./5. Jh. n. Chr.; 159. (Oeting-
hausen, ‚Auf dem Hagen‘) – mittlere RKZ; späte RKZ; 170. (Heek-Nienborg) – jüngere VEZ–jüngere RKZ; 176.
(Wichum) – späte RKZ; 206. (Herzebrock-Clarholz) – EZ/RKZ; 230. (Haltern) – RKZ; 266. (Thüle) – ältere RKZ;
1. Jh. n. Chr.; 273. (Daseburg) – frühe RKZ; ältere RKZ; 283. (Oespel) – 3./4. Jh. n. Chr.; 284. (Langendreer) – 1. u.
2. Jh. n. Chr.; 1./3. Jh. n. Chr.; Helstorf, Stadt Neustadt am Rübenberge: ca. sieben Rennöfen, nach erster Funddurch-
sicht ältere RKZ (Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte, Beiheft 9, 2002, 86ff.). Folgende von Nikulka (2000)
angeführten Öfen wurden hier nicht berücksichtigt: 54. Borbeck: Datierung unsicher, ‚Luppen‘ vermutlich Fehlanspra-
che; 212. Jöllenbeck: Datierung 12. Jh. n. Chr.; 253. Atteln; min. 19 Öfen: Datierung 6./7. bzw. 13./14. Jh. n. Chr.
Einleitung
Jahrhundertelang haben die schriftlichen Überlieferungen zur Varusschlacht, wie sie durch antike
Autoren tradiert auf uns gekommen sind, die Vorstellungen von diesem Ereignis der mitteleuropäi-
schen Frühgeschichte bestimmt. Sie haben nicht nur eine Vielfalt von Vermutungen ausgelöst, wo
sich diese Schlacht zugetragen haben könnte, sondern prägen bis heute auch die Erwartungen, die an
einen möglichen archäologischen Nachweis gerichtet werden. Die Berichte über diese Niederlage aus
römischer Hand scheinen dabei gelegentlich als eine Art ‚Bestellkatalog‘ aufgefasst zu werden, dem
die Archäologie nachzukommen hat. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass die öffentliche Wahrneh-
mung der archäologischen Forschungen in Kalkriese weitgehend von einer historischen Blickrichtung
geprägt ist.
Das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis zwischen historischen Sichtweisen einerseits
und archäologischen Beobachtungen andererseits führt, verknüpft mit lokalpatriotischem Nach-
druck, zwar schnell zu einem medienwirksamen Streit; dieser sollte jedoch nicht an die Stelle kon-
struktiver wissenschaftlicher Diskussion treten. Erstaunlich ist nicht nur die lange Tradition, die die
Auseinandersetzung um den Fundplatz Barenau/Kalkriese und seine Interpretation besitzt, sondern
auch die Art und Weise, wie diese bisweilen geführt wurde und wird. So resümiert Mommsen2 in sei-
ner Einleitung zum Aufsatz über die Örtlichkeit der Varusschlacht: „… und zu wünschen wäre wohl,
wenn auch kaum zu hoffen, dass die deutschen Localforscher, statt mit den beliebten patriotisch-
topographischen Zänkereien die kleinen und grossen Klatschblätter zu füllen und durch Kirch-
thurmscontroversen die unbefangenen Zuschauer zu erheitern, eine solche Gesammtarbeit (gemeint
ist „die umfassende Verzeichnung und Ordnung der ausserhalb der römischen Grenzen auf deut-
schem Gebiet gemachten Funde römischer Münzen“) in Angriff nähmen und jeder für seinen Theil
sie förderten.“
1 Der Althistoriker Theodor Mommsen vermerkt in sei- darin den Nachlass einer geschlagenen und theilweise
ner Abhandlung „Die Örtlichkeit der Varusschlacht“ oder völlig zu Grunde gerichteten Armee erkannt. Selt-
(1906) 239: „In der That haben alle diejenigen, die samer Weise haben aber die Gelehrten, welche der Lo-
mit offenen Augen aus der Nähe von diesen Funden calmeinung die Richtung gegeben haben, seit Jahrhun-
(d.h. den „Münzmassen“ aus der Gegend von Barenau; derten die richtige Wahrnehmung auf eine Armee (d. h.
die Fundortangabe „Barenau“ bei Mommsen ist weitge- die des Germanicus) bezogen, die eben nicht zu Grunde
hend identisch mit der heutigen Bezeichnung ‚Kalk- ging und von deren Nachlass also überall nicht gespro-
riese‘ für die ausgedehnte Fundregion) Kenntniss ge- chen werden darf.“
nommen haben, wie Justus Möser, Stüve, Hartmann, 2 Mommsen (1906) 202.
Archäologische Funde und Befunde in Kalkriese. Die Wallanlage auf dem Oberesch
Der Überblick Mommsens3 über die damals bekannten römischen Münzen aus der Gegend von Bare-
nau und ihre Fundorte bildete auch die Ausgangsbasis für die Geländeprospektionen, mit der das heu-
tige Forschungsprojekt ‚Kalkriese‘ vor gut 20 Jahren seinen Anfang nahm.4
1987 entdeckte der Amateurarchäologe Major Tony Clunn in Kalkriese einen Schatzfund römi-
scher Münzen; einige Monate später kamen dann erste römische Militaria zutage, die zusammen mit
weiteren Beobachtungen allmählich zu der Erkenntnis führten, dass am Nordhang des Wiehengebirges
ein ausgedehntes Schlachtfeld aus augusteischer Zeit erschlossen werden kann. Bis heute andauernde
interdisziplinäre Untersuchungen in der Kalkrieser-Niewedder Senke, zwischen Wiehengebirge und
Großem Moor, ergeben inzwischen ein detailliertes Bild von diesem Kampfgeschehen; dennoch sind
weiterhin viele Fragen zum Ablauf des Ereignisses zu klären. Immer deutlicher wurde jedoch ein Zu-
sammenhang der Funde und Befunde mit der Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr.
Wir kennen heute ein ausgedehntes Fundareal mit zahlreichen Fundstellen, das annähernd von
der Hase im Westen bis zur Hunte im Osten reicht und eine Fläche von etwa 30 km2 einnimmt (Abb. 1).
Im Zentrum liegt der Oberesch, wo sich heute der Park des Museums Kalkriese befindet. Hier begann
1989 die erste Grabung, und bis heute steht dieser Platz im Mittelpunkt der Untersuchungen.5 Offen-
bar haben wir es mit einem zentralen Platz im Areal der Schlacht zu tun, bei der es sich nicht um einen
Stellungskampf, sondern um ein sich über mehr als 10 km in Ost-West-Richtung erstreckendes Defi-
leegefecht handelt. Wichtigster Befund ist eine Wallanlage, die als befestigter germanischer Hinterhalt
zu interpretieren ist (Abb. 2).
Inzwischen hat sich bei weiteren Grabungen an anderen Fundstellen herausgestellt, dass es – an-
ders als anfangs erwartet – offenbar keine vergleichbaren Anlagen im Arbeitsgebiet gibt.
Der Wall auf dem Oberesch war etwa 400 m lang und mehrfach geschwungen; nach strategischen
Überlegungen geplant, verlief er wahrscheinlich in einer Entfernung von etwa 50 bis 70 m begleitend
zu einem Weg am Unterhang des Kalkrieser Berges. Wenn auch nicht als Wegesperre konzipiert, war er
als Hinterhalt gegen vorbeiziehende römische Truppen dennoch äußerst wirkungsvoll. Beim Wall ist
die Anwendung verschiedener Techniken und eine relativ uneinheitliche Bauweise zu beobachten; dies
ist vermutlich u.a. darauf zurückzuführen, dass in nächster Nähe verfügbares und damit kleinräumig
unterschiedliches Baumaterial genutzt wurde. Außerdem bestanden die ‚Bautrupps‘ wahrscheinlich
teils aus Angehörigen der römisch trainierten Hilfstruppen, teils aus germanischen Stammeskriegern,
die über unterschiedliche Kenntnisse und Techniken verfügten.
Zumindest im mittleren Abschnitt besaß die aus Sand und Grassoden in unterschiedlicher Zusam-
mensetzung errichtete Anlage offenbar eine Brustwehr (Abb. 3). An der Innenseite fanden sich Gruben
bzw. Grabenabschnitte, die auf einen Drainagegraben zurückzuführen sind; dieser orientierte sich an
der Geländesituation und wurde nur dort ausgehoben, wo Wasser hinter dem Wall wegen des dort an-
stehenden Festgesteins mit Lehmüberdeckung nicht versickern konnte. Ein vorgelagerter Graben ist
bis auf kurze Abschnitte an den Wallenden nicht entdeckt worden.
Nachgewiesen sind auch mehrere Durchlässe, von denen mindestens einer durch eine Torkon-
struktion gesichert war. Sie ermöglichten sowohl Ausf älle wie Rückzug seitens der Germanen, die vom
Wall aus römische Truppen angreifen wollten. Der Verlauf der Wallanlage mit mehreren bastionsarti-
gen Vorsprüngen, seine Konzeption als Abschnittswall und nicht als geschlossene Anlage sowie die
zahlreichen Durchlässe deuten darauf hin, dass die Befestigung nicht so sehr defensive Funktion be-
sessen hat als vielmehr auf Vorteile beim Angriff ausgerichtet war. Eine Interpretation als von Römern
angelegtes Wall-/Grabensystem zum Schutz gegen feindliche Angriffe scheidet damit als Erklärung
aus.6 Die Germanen hingegen hatten mit diesem Wall im Süden, zwei Bachläufen im Osten und Wes-
ten und der Feuchtsenke im Norden die Möglichkeit, römische Truppenteile, die diesen befestigten
Hinterhalt erreichten, nach Bedarf durchzulassen oder einzukesseln und zu attackieren – eine Situa-
tion, die den Römern kaum eine Chance zum Aufbau einer erfolgreichen Kampfformation oder zur
Flucht bot.
Funde
Das Fundmaterial in Kalkriese erscheint auf den ersten Blick spärlich, wenn man bedenkt, dass zumin-
dest die beteiligten Römer7 große Mengen an Metallausrüstung mit sich geführt haben. Auff ällig ist
jedoch die Vielfalt der nachgewiesenen Fragmente: Neben der Ausrüstung der kämpfenden Truppen
(Abb. 4) kamen Ausrüstungsteile von Reit-, Zug- und Tragtieren (Abb. 5), persönliche Ausstattung wie
Fibeln und Fingerringe, aber auch Bronze- und Silbergef äßfragmente sowie Glasgef äßscherben zutage.
Man kann davon ausgehen, dass die Truppen von einem umfangreichen Tross begleitet wurden.8
Darauf deuten auch die auf dem Oberesch entdeckten Knochen und Skelette von Maultieren hin.
7 Die Anzahl der Gefallenen lässt sich bisher anhand der zur Berechnung der Eisenmengen s. M. Meyer im vor-
Funde nicht ermitteln. Die für die Varusschlacht auf- liegenden Band.
grund der schriftlichen Überlieferung geschätzte Zahl 8 Kataloge des Fundmaterials aus den Schnitten 1–39 (vgl.
von etwa 20000 Beteiligten auf Seiten der Römer dürfte Abb. 2) liegen vor: Harnecker (2008) u. (2011).
allerdings zu hoch gegriffen sein. Gechter (2007) 92;
Knochen
Außer den in den Gruben niedergelegten Knochen fanden sich auf dem Oberesch größere Knochenen-
sembles in unmittelbarer Nähe zum Wall. Diese Befunde erlauben ebenso wie Verteilung und Zustand
der Metallfunde in dieser Zone die Untersuchung des Wallverfalls, der, verglichen mit unseren inzwi-
schen recht guten Kenntnissen zu Verlauf und Funktion der Anlage, bisher wenig erschlossen ist. Wie
beispielsweise ein komplett erhaltenes Maultier und andere größere Fundkomplexe zeigen, müssen
einige Abschnitte bereits bei den Kampfhandlungen stark beschädigt worden sein, da diese Ensembles
nur durch eine sofortige Überdeckung mit Wallmaterial vor Plünderern und Wildtieren geschützt wa-
ren. Im einzelnen ist noch zu klären, wo wir am Wall Zerstörungsspuren durch die eigentlichen Kampf-
handlungen, im Zuge der anschließenden Plünderungen oder durch Erosionsprozesse fassen können.
Anhand von stratigraphischen Fundkartierungen im Wallbereich wird versucht, dies zu analysieren.
Dabei ist insbesondere der Zustand der Fundstücke zu berücksichtigen, d.h. ob sie z.B. Spuren von
Plünderung, Verschrottung oder Materialsortierung zeigen.
Bei näherer Betrachtung des Fundmaterials wird die extreme Fragmentierung deutlich. Wir haben
es nur mit wenigen größeren oder gar vollständigen Objekten zu tun; zu Hunderten kamen Nägel zu-
tage, aber auch zahllose Blechreste unterschiedlicher Größe, die vermutlich von organischen Trägern
gelöst, dann gebogen, gefaltet oder geknüllt und so für einen leichteren Abtransport vorbereitet worden
waren (Abb. 7).
Mommsens Schlussfolgerungen
Obwohl sich, wie dieser kurze Überblick zeigt, der heutige Stand der archäologischen Forschungen in
Kalkriese eigentlich nicht mehr mit dem Mommsens vergleichen lässt, bietet seine Arbeit „Die Örtlich-
keit der Varusschlacht“ auch heute noch interessante Anknüpfungspunkte.
Bemerkenswerterweise nahm Mommsen bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert eine letztlich
archäologische Bewertung der Fundstelle Barenau vor; er bezog das damals vorhandene Fundmaterial,
die bei Barenau entdeckten Münzen, keineswegs nur unter chronologischen, sondern auch unter quan-
titativen Gesichtspunkten in seine Überlegungen ein. Mit Verweis auf Arbeiten von Vorgängern kam er
zu dem Schluss, dass die große Menge der bei Barenau gefundenen republikanischen bis augustei-
schen Münzen auf die weitgehende Vernichtung eines römischen Heeres zurückzuführen sei, und fol-
gerte daraus weiter, dass die Funde nicht mit den Kampfhandlungen des Germanicus, sondern mit der
Vernichtung des Varusheeres im Jahre 9 n. Chr. in Verbindung zu bringen sind.13 Vor allem zwei Phä-
nomene trugen allerdings dazu bei, dass diese These Mommsens nur begrenzte Beachtung erfuhr: Es
waren ausschließlich Münzen zutage gekommen, und zudem blieben nach dem Erscheinen seiner Ver-
öffentlichung Neufunde weitgehend aus.
In der Rückschau ist heute jedoch nachvollziehbar, warum Mommsen bzw. dem von ihm beauf-
tragten Numismatiker Menadier bei ihrer Aufnahme fast ausschließlich Silber- und einige Goldmün-
zen zur Verfügung standen: Sie konnten lediglich auf das von Landwirten bei der Bewirtschaftung der
Felder entdeckte Fundmaterial zurückgreifen, was zwangsläufig zu einer Beschränkung auf von Laien
als wertvoll erfasste und meistens bei der Familie von Bar abgegebene Objekte führte. Kupfermünzen
und erst recht Fragmente römischer Militärausrüstung, die, wie das heutige Fundspektrum zeigt, oh-
nehin meistens sehr unscheinbar sind, waren bei den Feldarbeiten nicht erkannt worden und standen
somit für eine wissenschaftliche Beurteilung nicht zur Verfügung. Derartig selektive Wahrnehmung als
Ursache für eine einseitige archäologische Quellenlage erschließt sich oft erst im Nachhinein, und
auch die Seltenheit von Fundmeldungen in den auf Mommsens Publikation folgenden Jahrzehnten ist
inzwischen gut mit der Umstellung der Düngung erklärbar; die Eschwirtschaft wurde ersetzt durch die
Verwendung von Kunstdünger, bei der die Landwirte weniger direkten Kontakt zu den im Boden erhal-
tenen Artefakten haben.
Vor diesem Hintergrund erscheint Mommsens Auffassung, aus der Menge der Funde, den beim
damaligen Forschungsstand etwa 200 vorhandenen oder erwähnten römischen Münzen, direkte Rück-
schlüsse auf die Kampfhandlungen ziehen zu können, um so beachtenswerter. Sie fordert eine einge-
hende Prüfung geradezu heraus und macht zugleich deutlich, wie eng die heutige Analyse des Fund-
Die Annahme, dass von der Fundmenge direkt auf die Art des militärischen Ereignisses geschlossen
werden kann, wovon offensichtlich auch Mommsen ausgegangen ist, erscheint zwar zunächst verlo-
ckend, birgt jedoch bei näherer Betrachtung das Risiko erheblicher Fehleinschätzung. Die Forschungen
in Kalkriese, die erstmals die archäologische Untersuchung der Hinterlassenschaften einer antiken
Feldschlacht ermöglichen, haben in dieser Hinsicht zu einem Lernprozess geführt und wichtige metho-
dische Einsichten erbracht.14 Mehr noch als bei Stellungsgefechten oder Belagerungen mit ihren oft
umfangreichen Schanzungen, wie z.B. dem Einschluss des gallischen Oppidums Alesia durch Caesar
52 v. Chr.15, vermitteln bei Feldschlachten in erster Linie die Funde und ihre Verteilung Anhaltspunkte
für eine Rekonstruktion der militärischen Ereignisse.16
Die Fülle der Funde und Befunde auf dem Oberesch führte zunächst zu der Erwartung, dass
ähnliche Anlagen auch in der Umgebung zu finden sein müssten, und nährte zugleich die Vorstellung,
dass Menge und Art der Funde Auskunft über die Intensität der Kämpfe an verschiedenen Stellen des
weitläufigen Kampfareals geben können. Die weiteren Untersuchungen ergaben allerdings, dass die rö-
mischen Militaria zwar am Fuß des Kalkrieser Berges im Engpass zwischen Großem Moor und Berg
über ein Gebiet von fast 30 km2 streuen, der Großteil der Funde aber auf der Flur Oberesch zutage
kam.17 Da außerdem jenseits dieser Fundstelle keine weiteren Wallstrukturen nachgewiesen werden
konnten,18 lag die Folgerung nahe, dass die Kämpfe sich weitgehend auf den Oberesch konzentriert ha-
ben mussten.
Unberücksichtigt blieben bei diesem Interpretationsversuch allerdings jene überwiegend erst nach
den eigentlichen Kampfhandlungen einsetzenden Prozesse, welche die archäologische Überlieferung
eines Schlachtfeldes erheblich beeinflussen: insbesondere die unterschiedlichen Abläufe des Bergens
und Plünderns.19 Derartige Verhaltensweisen sind von vielen Schlachtfeldern der Antike bis in die Neu-
zeit überliefert; auch für den uns interessierenden Zeitraum der Jahrzehnte um Christi Geburt finden
sich dafür in den antiken Schriftquellen konkrete Hinweise. So ist das Beutemachen als Motivation für
die Germanen, sich an den Kämpfen zu beteiligen, aus Cassius Dio zu erschließen,20 während sich
aus den Annalen des Tacitus am Beispiel von Schilderungen der Kampfhandlungen Caecinas mit den
Germanen ergibt, wie sehr das römische Heer darauf trainiert war, Verwundete zu bergen und den
14 Ausführlicher zu quellenkritischen Überlegungen Rost 18 Weitere vermeintliche Wallabschnitte auf den Fluren
(2008; 2009). Sommerfrüchte und Hagenbreite, die unmittelbar an
15 von Schnurbein (2008). den Oberesch angrenzen, stellten sich im Rahmen der
16 Befunde wie die Wallanlage auf dem Oberesch sind bei Auswertung als Fehlinterpretation heraus. Harnecker u.
offenen Feldschlachten eher die Ausnahme und verbes- Tolksdorf-Lienemann (2004) 30; 38; 64; 68; 111f.
sern im übrigen allenfalls kleinräumig die Überliefe- 19 Nicht näher eingegangen wird hier auf die Auswirkungen
rungschancen. späterer landwirtschaftlicher Aktivitäten, die alle Fund-
17 Die durch Grabungen erschlossenen Flächen außerhalb stellenkategorien betreffen und keineswegs schlachtfeld-
des Oberesches haben zusammen zwar ungef ähr den spezifisch sind.
gleichen Umfang wie die Grabungsschnitte auf der 20 Cass. Dio 56,21,4; s. dazu M. Meyer im vorliegenden
Hauptfundstelle, d.h. etwa 10000 m2, es wurden jedoch Band.
nur etwa 10 % der Funde entdeckt.
Vergegenwärtigt man sich darüber hinaus, dass die Funde römischer Militaria, die im Verlauf des Eng-
passes zwischen Moor im Norden und Kalkrieser Berg im Süden über eine Strecke von mehr als 10 km
streuen (vgl. Abb. 1), als Spuren eines langgezogenen Defileegefechts zu interpretieren sind, ergibt sich
ein durchaus schlüssiges Gesamtbild. Bei einer Entwicklung der Kampfhandlungen von Ost nach West,
d.h. ersten Angriffen der Germanen im Osten, wären dort nicht allzu viele Funde zu erwarten, da ein rö-
misches Heer, auch das des Varus, zunächst wohl in der Lage war, die Angriffe erfolgreich zu erwidern.
Im Verlauf wiederholter Attacken dürfte es erste Verwundete auf römischer Seite gegeben haben. Diese
werden aber medizinisch versorgt23 und im noch weitgehend intakten römischen Heeresverband mit-
genommen worden sein. Daher wäre selbst an Stellen intensiver Angriffe seitens der Germanen, die im
übrigen einfach aus Waldkanten heraus – ohne aufwendige Schanzungen – erfolgreich attackieren
konnten, nicht automatisch ein entsprechender Niederschlag im heutigen archäologischen Fundmate-
rial zu erwarten. Die zwar vorhandene, aber sehr viel geringere Anzahl von Funden römischer Militaria
östlich vom Oberesch wird auf diese Weise verständlich.
Die Bergung, Versorgung und Mitnahme von Verletzten, möglicherweise auch von Gefallenen,
dürfte allerdings eine zusätzliche Belastung für das auf dem Marsch befindliche römische Heer darge-
stellt haben. An Plätzen wie dem Oberesch, wo mit der Anlage eines Walles zusätzliche Vorkehrungen
für erfolgreiche Angriffe auf die Vorbeiziehenden getroffen worden waren, dürfte es den Germanen
dann aber um so leichter möglich gewesen sein, erhebliche Teile dieser in endloser Folge in vergleichs-
weise kleinen Einheiten eintreffenden römischen Truppen aufzureiben. In Zonen, in denen die Armee
erheblich in Mitleidenschaft gezogen wurde und die gesamte Logistik kollabierte, brachen auch Versor-
gung und Transport der Verwundeten zusammen. Damit waren aber weitab von römisch kontrollierten
Gebieten ohne Aussicht auf schnellen Entsatz die Voraussetzungen geschaffen, dass Verwundete und
Tote der Willkür der siegreichen Germanen ausgeliefert waren. Wie auch von anderen Schlachtfeldern
unterschiedlicher Zeitstellung bekannt, kann es unter bestimmten politischen, sozialen, kulturellen
21 Tac. ann. 1,64,4. „Auffindung von Geräth und besonders von Waffen in
22 Hinweise auf die Auswirkungen des Aufräumens eines der Weise, dass die Identificierung mit einiger Sicher-
Schlachtfeldes finden sich im übrigen schon bei Momm- heit stattfinden kann, ist nicht … unmöglich, aber auch
sen (1906) 234: „Allerdings muss eingeräumt werden, nicht eben wahrscheinlich“ urteilt Mommsen (1885)
dass militärische Katastrophen dieser Art regelmässig 201; zur Diskussion um eventuelle Einflüsse von kulti-
einen solchen Nachlass nicht ergeben haben noch erge- schen Handlungen seitens der Germanen, die ebenfalls
ben können. Das Aufräumen des Schlachtfeldes und bei Tacitus (ann. 1,61,2–3) für die Varusschlacht beschrie-
insbesondere die Besitznahme des in den Kassen oder ben sind, auf die Fundüberlieferung des Schlachtfeldes
bei den Einzelnen vorhandenen baaren Geldes wird in vgl. Rost (2009b) 73–76.
alter wie in neuer Zeit in der Regel mit solcher Energie 23 Knochenheber und Skalpellgriff vom Oberesch (Har-
betrieben, dass späteren Geschlechtern hier nicht viel zu necker [2008] 21 Taf. 22) sowie ein Behälter zum Auf-
finden bleibt. Aber die Katastrophe des Varus hat wohl bewahren von medizinischem Gerät von der Fundstelle
eine Ausnahme machen können.“ Es folgen Überlegun- Kalkriese-Dröge (Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann
gen zu den Ursachen für die Häufigkeit von Münzfun- [2004] Taf. 3) belegen die Anwesenheit von Sanitätern
den und zum Fehlen von „Bronzegeräth“ der römischen und Ärzten. Zu weiteren Indizien für medizinische Ver-
Armee in der Umgebung von Barenau. Die Chance der sorgung im Fundareal von Kalkriese vgl. Rost (2009c).
oder auch kultischen Rahmenbedingungen zu brutalen Plünderungen kommen.24 Die große Zahl oft
kleiner Fragmente der Legionärsausrüstung (Abb. 8), die auf dem Oberesch entdeckt wurde, wird so
plausibel, zumal am Ort einer endgültigen militärischen Vernichtung auch diejenigen zurückbleiben
und ausgeplündert werden, die bei vorhergehenden Kämpfen verletzt, aber zunächst noch geborgen
und medizinisch versorgt, bis an den Platz der endgültigen Niederlage gelangten. Plünderungen bewir-
ken – insbesondere, wenn sie mit Leichenfledderei verbunden sind – geradezu eine Produktion von
Bruchstücken der am Körper fixierten Ausrüstung, da bei den gewaltsamen Vorgängen Kleinteile wie
Schnallen oder Scharniere häufiger abreißen können, ins Gras fallen und dann beim weiteren Einsam-
meln leichter zu übersehen sind.25
24 So z.B. bei der Schlacht zwischen Indianern und den wurden. Fand keine Leichenfledderei statt, sondern
Truppen des General Custer am Little Big Horn 1876 wurde auch den Unterlegenen die Möglichkeit gegeben,
(ausführlicher Rost [2009a]). ihre Verwundeten und Toten zu bergen, und wurde die
25 Die schwere Nachweisbarkeit insbesondere antiker übrige Bewaffnung und Ausrüstung im Sinne des Auf-
Schlachtfelder hat ihre Ursache u.a. darin, dass Funde räumens vom Schlachtfeld eingesammelt, blieb weniger
nicht so sehr bei den Kämpfen selbst verloren gegangen zurück als bei brutalem Fleddern.
sind, sondern erst bei den Plünderungen ‚produziert‘
Fazit
Als Teil eines komplexen Defileegefechtes aufgefasst, wird die Fundkonzentration auf dem Oberesch
besser verständlich, und es wird nachvollziehbar, dass für einen erfolgreichen Überfall bereits die Er-
richtung von Schanzungen in wenigen ausgewählten Abschnitten genügte. Vor allem auf dem Ober-
esch, an der engsten Stelle des Hinterhalts, war eine stärkere Sicherung vorteilhaft, um das römische
Heer endgültig aufzureiben, nachdem es zuvor schon durch wiederholte Flankenangriffe aus Waldkan-
ten heraus erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Solche Attacken dürften nicht nur die
Marschordnung beeinträchtigt, sondern auch den wegen seiner Größe ohnehin schwerf älligen Tross
durch den Transport von Verwundeten zusätzlich stark behindert haben.
26 Die germanischen Bestattungssitten sind in der Region Seite auch römische Bewaffnung tragende Auxiliarein-
Kalkriese aufgrund der hier üblichen Leichenverbren- heiten gekämpft haben; zudem war bei den an den
nung und der eher unscheinbaren Grabformen für Kämpfen beteiligten germanischen Stammeskriegern
einen archäologischen Nachweis äußerst ungünstig, so die militärische Ausrüstung insgesamt weniger metall-
dass wir nicht erwarten können, auf entsprechende Grä- reich, d.h. archäologisch ohnehin weniger gut nach-
ber zu stoßen. Als weiterer Grund für die Spärlichkeit weisbar. Darüber hinaus dürfte die Zahl der Verluste bei
germanischer Funde – bisher wurde lediglich ein Reiter- den Germanen geringer gewesen sein als bei den Rö-
sporn als eindeutig germanisch identifiziert – ist anzu- mern.
führen, dass bei der Varusschlacht auf germanischer 27 Schlüter (1999) 49.
Literatur
28 Wolters (2008) 165 bezieht sich im Zusammenhang mit ergebnissen und historischer Überlieferung bedauer-
seiner Feststellung, „dass die literarischen Angaben zum licherweise nur auf den Forschungsstand bis 2004
Verlauf der Varuskatastrophe einen anderen archäologi- (u.a. Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann [2004]); die im
schen Befund erwarten lassen, als man ihn bislang in vorliegenden Beitrag zusammengefassten quellenkriti-
Kalkriese angetroffen hat“ und der daraus abgeleiteten schen Arbeiten (u.a. Rost [2007] u. [2008]) fanden bei
Diskrepanz zwischen archäologischen Untersuchungs- ihm jedoch keine Berücksichtigung.
In diesem Beitrag sollen der sog. ‚Angrivarierwall‘, der Wall bei Kalkriese sowie weitere germanische
Anlagen im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Da im vorliegenden Band im Wesentlichen dem
‚Krieg des Varus‘ 9. n. Chr., der historischen Gestalt des Arminius und der Forschungsrezeption Raum
gewährt wird, werden sich die Betrachtungen zur Thematik auch in dieser Periode als grober zeitlicher
Klammer bewegen.
In relativchronologischer Hinsicht befinden wir uns mit der in den historischen Schriftquellen do-
kumentierten Person des Arminius in einem Zeitraum, der die frühe Römische Kaiserzeit mit den Stu-
fen Eggers A und B1 umfasst, also in etwa von der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhun-
derts bis zur ersten Jahrhunderthälfte nach Christi Geburt reicht.1
Einleitend ist jedoch festzustellen, dass es nicht das Ziel des folgenden Beitrags ist, einen archäo-
logischen Befund an das in den römischen Schriftquellen überlieferte Ethnos zu binden. Die Proble-
matik der ‚ethnischen Ansprache‘ archäologischer Funde und Befunde ist in den letzten Jahren umfas-
send thematisiert worden und bedarf durch den Verfasser keiner weiteren Ergänzung.2 Da aber für den
hier im Mittelpunkt stehenden Befund eine Ansprache in dieser Richtung seit der in den 20er Jahren
erfolgten Erstpublikation bereits besteht, lässt sich dies auch nicht umgehen.
Aus ethnographischer Sicht gehören die germanischen Protagonisten zu den Stämmen der Che-
rusker und der Angrivarier. Auf Seiten der Cherusker sind zahlreiche Akteure bekannt, die im wesent-
lichen zum untereinander konkurrierenden Stammesadel und Familienkreis des Arminius zählen. Für
die Angrivarier werden keine handelnden Personen erwähnt, doch tauchen diese zu unterschiedlichen
Gegebenheiten immer wieder auf und werden prominent als Gegner der römischen Seite beschrieben,
die im Verlauf unterschiedlicher Aktionen erfolgreich niedergerungen werden konnten.
In der Regel werden die Cherusker zu beiden Seiten der mittleren Weser und der Leine verortet.
Bereits Caesar vermerkte im ersten vorchristlichen Jahrhundert, dass jene von den im Maingebiet
siedelnden Sueben durch einen breiten Grenzgürtel – die Bacenis Silva – getrennt lebten.3 Plinius
wies die Cherusker den ‚Herminonen‘ zu, die im Flussgebiet der Weser siedelten,4 und auch Vibius
Sequester, ein römischer Geograph, der wohl Ende des 4. Jahrhunderts wirkte und noch auf eine
Reihe heute verloren gegangener Quellen zurückgreifen konnte, verortete diese an beiden Ufern der
Weser.
1 Hinsichtlich der Lebensdaten des Arminius kann an- möchte, dem sei das erst jüngst erschienene Werk von
genommen werden, dass dieser um das Jahr 18 v. Chr. E. Cosack zum Scheiterhaufengräberfeld Sorsum, Stadt
geboren wurde, seine Verwandten ermordeten ihn Hildesheim, empfohlen, in dem sich Peter Kehne mit
19 n. Chr. im Alter von 37 Jahren (Tac. ann. 2,88). der Thematik – gegenläufig zu Brather – befasst: Kehne
2 Zur Vertiefung hinsichtlich einer Kritik an ethnischen (2011).
Deutungen siehe Brather (2004). Wer sich unabhängig 3 Caes. Gall. 6,10.
mit der Ethnogenese der Cherusker auseinandersetzen 4 Plin. nat. 4,100.
Nach Süden wurden die Siedlungsräume der Cherusker durch jene der Chatten im Flussgebiet von
Fulda und Lahn begrenzt.5 Im Norden der cheruskischen Stammesgebiete und ebenso an der Weser
folgten die Angrivarier, die wiederum im Norden die Stammesgebiete der Chauken berührten und von
diesen schließlich in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben
wurden.6
Mitte des 2. Jahrhunderts erstellte der Geograph Klaudios Ptolemaios das Werk Geographische An-
leitung (zum Zeichnen von Erd- und Länderkarten), nach dessen Koordinaten und Angaben unterschied-
liche Weltkarten angefertigt wurden, denen geographische Informationen wie Städtenamen, aber auch
die Verortung einzelner Stämme zu entnehmen sind. Die Angrivarier finden sich dabei als Eintrag
im Raum rechts des Visurgis – der Weser – wieder (Abb. 1), und hier etwa in Höhe der antiken Stadt
Tulifurdum.
Aus archäologischer Sicht lassen sich die Stämme der Angrivarier und Cherusker den sog. ‚Rhein-
Weser-Germanen‘ zuweisen. Bei diesen handelt es sich um germanische Gruppen, die mit Hilfe einer
Reihe von Merkmalen beschrieben werden. Dazu rechnen spezifische Bestattungssitten und auch
archäologisches Fundgut – vor allem eine sehr klar definierte Keramik. Den Begriff ‚Rhein-Weser-
Germanen‘ führte Rafael von Uslar 1938 in die Forschung ein. Er untersuchte den archäologischen
Tacitus berichtet an zwei Stellen von den Angrivariern. Sie treten als Stamm in den Quellen während
der Feldzüge des Germanicus hervor, die den germanischen Aufständischen galten. Da abgesehen von
den Cheruskern keine weiteren Stammesgruppierungen benannt werden, die am Kampf gegen Varus
teilnahmen, werden die im Verlaufe der Feldzüge des Germanicus unterworfenen Stämme im Rück-
blick von der althistorischen Forschung als Teilnehmer an der clades Variana angesehen: „Daraus ergibt
sich, dass im Jahre 9 n. Chr. vor allem die Cherusker, die Marser und die Brukterer sowie vielleicht die
Angrivarier als Träger des Widerstandes gegen die römischen Legionen auftraten.“9 Hinsichtlich der
Angrivarier wird außerdem z.T. spekuliert, dass es sich bei Ihnen um jenen Stamm gehandelt haben
könnte, der den inszenierten Aufstand gegen Varus begann und ihn so zu seinem bekanntermaßen ver-
hängnisvollen Umweg verleitete.10
Tacitus vermerkt: „Als der Caesar das Lager abstecken ließ, wurde der Abfall der Angrivarier im Rü-
cken der Römer gemeldet. Sofort wurde Stertinius mit Reiterei und Leichtbewaffneten abgeschickt und
rächte mit Feuer und Blutbad die Treulosigkeit.“11 Im weiteren Verlauf berichtet Tacitus über eine große
Schlacht zwischen Germanicus und den Cheruskern, die im Jahre 16 n. Chr. stattgefunden hat. Als Ort
der Schlacht benennt er den Campus Idistaviso, entsprechend wird die Schlacht als die ‚Schlacht auf den
Idistavisischen Feldern‘ oder als ‚Schlacht von Idistaviso‘ bezeichnet. Beschrieben wird die Örtlichkeit
folgendermaßen: „Diese liegt in der Mitte zwischen dem Visurgis und den Hügeln und zieht sich in un-
gleichen Krümmungen hin, je nachdem die Ufer des Flusses zurücktreten oder Bergvorsprünge sich
vorschieben. Im Rücken der Germanen zog sich an einer Anhöhe ein Wald hinauf mit hohen Baum-
kronen, während zwischen den Stämmen nackter Boden war“.12
Nach dem für die Römer erfolgreichen Kampfgeschehen verlagert sich dieses an einen anderen
Platz, den Tacitus folgendermaßen beschreibt: „Zuletzt suchten sie sich einen Kampfplatz aus, der vom
Fluss und Wald umschlossen war, und in dem sich eine schmale sumpfige Fläche befand. Auch um das
Von zahlreichen Heimatforschern wie auch von Archäologenseite wurde dieser angrivarisch-cheruski-
sche Grenzwall gesucht und in mehreren Regionen ‚gefunden‘. Die höchste Wahrscheinlichkeit gilt
dabei bis heute der Region zwischen Weser und Steinhuder Meer. Mit Carl Schuchhardt sprach sich ein
durchaus prominenter Befürworter für einen Befund in und bei der Ortschaft Leese aus, die auf halbem
Wege zwischen der Weser und dem Steinhuder Meer liegt (Abb. 2). Schuchhardt wurde 1924 von Georg
Heimbs, einem Fabrikanten, auf eine Wallanlage in der Ortschaft Leese, heute Nienburg (Weser), auf-
merksam gemacht.
Heimbs veröffentlichte 1925 einen entsprechenden Artikel in der Praehistorischen Zeitschrift16 und
hatte mit seiner Argumentation wohl bei Schuchhardt nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Heimbs be-
schrieb einen Wall von ehemals etwa 1800 m Länge (Abb. 3–4), der östlich der Ortschaft Leese in einem
Sumpfgebiet seinen Anfang nimmt, durch Leese zieht und sich westlich dann in einem sanften Bogen
in Richtung einer Weserschleife erstreckt.
Nördlich und südlich von Leese sind in dieser Zeit noch ausgedehnte Marsch- und Geestflächen
vorhanden, wenige hundert Meter weiter östlich mäandriert die Weser. Zu Heimbs’ Zeiten befanden
13 Tac. ann. 2,19. Zur möglichen Verortung weiterer Ereig- 14 Tac. ann. 2,22; vgl. Johne (1998) 408.
nisse im Rahmen der Feldzüge des Germanicus siehe 15 Tac. ann. 2,41,2. Siehe zur Begründung der Feierlichkei-
Wolters (2008). Da Wolters aber auf das in diesem Arti- ten Johne (1998) 401ff. und im vorliegenden Band.
kel behandelte Schlachtenereignis am Angrivarierwall 16 Heimbs (1925).
nicht explizit eingeht, werden seine Deutungen hier
nicht weiter behandelt.
sich dort „ständig mit Wasser gefüllte Teiche, kleine Tümpel, ein Wasserlauf, der sich durch verschie-
dene Kolke und Niederungen ungef ähr 2 km nördlich hinzieht.“17
Die Vermutung, hier den Angrivarierwall zu erkennen, ergibt sich aus der bei Tacitus beschriebe-
nen Topographie, einerseits im Westen die von Germanicus überschrittene Weser, die sich „in unglei-
chen Krümmungen hin[zieht], je nachdem die Ufer des Flusses zurücktreten“,18 dann eine Fläche, die
von „Fluss und Wald umschlossen war und in dem sich eine schmale sumpfige Fläche befand“, ferner
ein vom Sumpf umgebenes Waldgebiet und zuletzt ein breiter Damm.
Tatsächlich erinnert die Leeser Topographie an die Beschreibung: die stark mäandrierende Weser
im Westen, eine schmale Stelle zwischen einem nördlichen und einem südlichen Geestgebiet und zu-
letzt ein breiter Wall.
Im Juni 1926 ließ C. Schuchhardt Ausgrabungen am Wall durchführen, deren Ergebnisse er als Be-
weis für die benannte Verortung ansah. Die Grabungsleitung übernahm G. Bersu. Der Grabungsbericht
erschien dann 1926 in der Praehistorischen Zeitschrift und wurde gemeinsam mit G. Bersu, G. Heimbs
und H. Lange unter dem Titel: „Der Angrivarisch-Cheruskische Grenzwall und die beiden Schlachten
des Jahres 16 nach Chr. zwischen Arminius und Germanicus“ veröffentlicht. C. Schuchhardt begann
seine Einleitung mit dem bemerkenswert überzeugten Satz: „Die Vermutung des Herrn Georg Heimbs
vom Jahre 1924, dass ‚dat ohle Hoop‘ in Leese ein Rest der alten Grenzwehr der Angrivarier gegen die
Cherusker sei, hat sich bestätigt und damit als eine regelrechte Entdeckung erwiesen.“19
In der mit Kulturboden vermischten obersten Humusschicht ‚A‘ fand Bersu neuzeitliche Scherben.
‚Prähistorische Scherben‘ wurden vor dem Wall gefunden – verblieben aber unpubliziert –, die Haupt-
masse an Funden stammt jedoch aus dem Marschbergbefund.
Will man nun ein Bild der tatsächlichen Lage gewinnen, so muss man auch weitere Grabungen mit
einbeziehen, die in dieser Zeit in und um Leese herum durchgeführt wurden.
Die Funde
Die in Leese geborgenen Funde befinden sich heute in der Sammlung des niedersächsischen Landes-
museums in Hannover. Dazu gehören neben jenen aus den Grabungen Bersus (1926) auch zahlreiche
Lesefunde, die von Heimbs eingeliefert wurden. Weitere Scherbenkomplexe lassen sich vorangehen-
den und nachfolgenden Grabungen zuweisen. Solche Ausgrabungen führte etwa K. H. Jacob-Friesen
biegendem Rand, so dass man von einem funktionalen, aber keinem chronologischen Wert bestimmter
‚Verzierungen‘ ausgehen kann.31
Insgesamt wird deutlich, dass sich unter dem Marschberg eine germanische Siedlung befindet, die
in die Vorrömische Eisenzeit bis in augusteische Zeit zu datieren ist.
Die vom Fundplatz Leese geborgene Keramik lässt sich teilweise mit jener aus Kalkriese paralleli-
sieren, wie sie etwa aus einem Hausbefund vorliegt, der sicher in den uns interessierenden Zeitraum
datiert.32 Das anzuführende Haus gehört zu einer Siedlung der Zeitstellung in Kalkriese und wurde
neben zahlreichen weiteren Funden und Befunden 2004 von Joachim Harnecker und Eva Tolksdorf-
Lienemann vorgelegt.33 Dabei handelt es sich um die Fundstellen 105 und 126, das ehemalige Garten-
land des Hofs ‚Dröge‘ und eine unmittelbar benachbarte Weide.34
Die Siedlung wurde nur in einigen Schnitten ergraben, liegt also nicht vollständig vor. Zur Sied-
lung rechnen mindestens drei Häuser, von denen eines mit einer Längswand und ein weiteres nur an-
31 Möglicherweise wird sich die Besiedlung der Region Marschbergs mit stark ausbiegendem Rand würde er
zukünftig besser verstehen lassen, befindet sich doch mit Nortmann (1983) als ab der mittleren Vorrömischen
eine Promotion zu einem entsprechend datierenden, Eisenzeit datierend ansehen. Weitere Funde wie kurz
bei Leese ergrabenen Gräberfeld durch S. Kriesch, Göt- ausbiegende oder facettierte Ränder datierte er eher
tingen, in Bearbeitung, dem ich an dieser Stelle für frdl. kaiser- denn eisenzeitlich. Wie weit es chronologische
Hinweise herzlich danken möchte. Kriesch sieht, ohne Überschneidungen vom Gräberfeld zu den unterschied-
seiner Arbeit allzu weit vorzugreifen, große Ähnlich- lichen Siedlungsstellen gibt, wird sich erst nach Vorlage
keiten zwischen Keramikfunden des Zappenbergs und seiner Untersuchung entscheiden lassen.
solchen des von ihm bearbeiteten Gräberfelds. Dazu 32 Stadt Bramsche, Gem. Kalkriese. Harnecker u. Tolks-
rechnet er bestimmte T-förmige Randformen, Schalen dorf-Lienemann (2004) 16.
mit nach innen gebogenen und/oder innen verdickten 33 Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 51ff.
Rändern wie auch durchlochte Schalen, die als typisch 34 Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 51.
für die Nienburger Gruppe gelten. Andere Gef äße des
ten Beigaben auf. Bei dem ‚verzierten Knochenfragment‘ handelt es sich um das Wandfragment des
Firnisbechers. Die übrigen Beigaben waren bei der Materialaufnahme nicht auffindbar.“46 Die als Ware
des COMITIALIS bestimmte Schale datiert nach 160 bis 190. Beim angesprochenen Wandfragment
einer Firnisware handelt es sich um einen weißtonigen „Firnisbecher mit mattgrauem Überzug u. ein-
gedrehter Kerbe, verm. Niederbieber 30/32.“47
Die Bearbeiter des Corpus der römischen Funde im Barbaricum kommen ob dieser Fundzusammen-
stellung zu folgender Einschätzung: „Die Sigillaten wie auch die mit ihnen aufbewahrten Flint- u. Kno-
chenfragmente sollen nach dem Kat. des LM Hannover aus Leese stammen, was jedoch angesichts der
48 Erdrich (2002) 94; Unterschiebung/Terra Sigillata eine Schale gebracht, die beim Sandgraben in der Sand-
XX-07–6/4.1. kuhle gefunden wurde, die Leute hatten sie schon mit
49 Brief vom 28. 10. 1931 von H. Sölter an K. H. Jacob Frie- auf den Wagen geworfen, doch einer hat sie wieder her-
sen. Niedersächsisches Landesdenkmalamt. Den Brief untergeholt und gemeint, er könne sie als Hühnernapf
hat mir S. Kriesch kenntlich gemacht, wofür ihm auch gebrauchen. Ich hörte am nächsten Tage davon und
an dieser Stelle zu danken ist. H. Sölter schrieb dort u.a.: habe sie mir gesichert. Es ist eine flache Schale mit Fuß,
„Nun hätte ich eine Bitte. Sie waren früher immer so genau rund gearbeitet, mit reicher Verzierung. Sie sieht
freundlich und schrieben einen kurzen Grabungsbe- rot aus, wie rote Fliesen und ist ganz hart, ist mit Erde
richt, der dann hier zu den Schulakten gelegt wurde. Ich und Knochenresten gefüllt; ich halte sie für römisch. Sie
möchte Sie nun bitten, mir einen Bericht von der letzten ist so schön, daß ich sie nie hergeben möchte.“
Grabung zu senden, den ich ev. auch dem Stolzenauer 50 Tackenberg (1978) 62; Mildenberger (1978) 146f.
Wochenblatt zum Abdruck geben könnte. Man interes- 51 Tackenberg (1978) 63.
siert auf diese Weise die Leute, die dann bei Erdarbeiten 52 Tackenberg (1978) 63.
mehr die Augen offen halten. So wurde mir diese Tage
Die Beschreibung des Angrivarierwalls als Monument zur Trennung des von den Angrivariern besie-
delten Gebietes von jenem der Cherusker dürfte unabhängig von der Einordnung des Leeser Befunds
auf Fakten basieren, die sich auch archäologisch andernorts sicher nachweisen lassen: Überraschend
zahlreiche und variantenreiche Sperranlagen finden sich etwa auf der Halbinsel Jütland mit Wallanla-
gen, die mindestens von der Vorrömischen Eisenzeit an bis in das hohe Mittelalter errichtet und erhal-
ten wurden (Abb. 11). Für Jütland sind 28 Wallanlagen dokumentiert,62 die den natürlichen geographi-
schen Bedingungen folgend einzelne Siedlungsräume wirksam von anderen trennen.
An bekanntesten dürfte dabei das sog. ‚Danewerk‘ sein. Dabei handelt es sich um ein System linea-
rer Erdwerke auf der Landenge zwischen Treene und Schlei, das mit einer Gesamtlänge von mehr als
35 km das längste nordeuropäische Bauwerk schlechthin darstellt und somit von der Arbeitsleistung zu
seiner Errichtung her wohl nur mit dem römischen Limes zu vergleichen ist. Als Sperrwerk zur
Blockierung der Passage entlang der Halbinsel Jütland wurde das Danewerk im späten 7. Jahrhundert
errichtet, es folgten mehrere Ausbauphasen, die letztlich sogar bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs
reichten.63 Vermutungen, dass das Bauwerk aus einem völkerwanderungszeitlichen Kern entstand, lie-
ßen sich über 14C- und dendrochronologische Untersuchungen nicht erhärten.64 Weitere kleine Wall-
anlagen sind aus England bekannt. Sie datieren vornehmlich völkerwanderungszeitlich und jünger,
sind also nicht exakt chronologisch zu fassen; zu den größeren Anlagen zählen Wälle wie ‚Offas Dyke‘,
der Ende des 8. Jahrhunderts errichtet wurde und England von Wales schied.65
In einem zusammenfassenden Beitrag stellte zuletzt Anne Nørgard Jørgensen Befestigungsanla-
gen und Verkehrskontrollen auf dem Land- und Wasserweg in der Vorrömischen Eisenzeit und der Rö-
mischen Kaiserzeit zusammen. Sie zeigte ein überraschend umfangreiches Spektrum an Kontrollmög-
lichkeiten, das von der Blockade kompletter Fjorde durch Seesperren bis zu den Langwällen reichte.66
Für den uns interessierenden Zeitraum sind im Wesentlichen drei dänische Wallanlagen anzufüh-
ren, nämlich der ‚Olgerdiget‘, der ‚Æ Vold‘ und evtl. der ‚Trældiget‘ (Abb. 12).
Der Olgerdiget (Abb. 12–13) weist eine Länge von 7,5 km auf, verbunden mit 12 km Moorstrecken
sind es jedoch insgesamt beeindruckende 20 km. Es lassen sich zwischen drei und fünf Palisadenrei-
hen nachweisen, ferner ein vorgelagerter Graben und eine Wallanlage.67 Dendrochronologische Unter-
suchungen stützen eine Datierung in die Römische Kaiserzeit, wobei diese noch zusätzlich durch
14C-Daten fundamentiert werden.
Für den Olgerdiget liegen 14C- und Dendrodaten vor. Insgesamt wurden zehn Pfostenproben gezo-
gen, mit denen 14C- und dendrochronologische Untersuchungen der Palisadenhölzer durchgeführt
wurden. Die ermittelten Daten schwankten zwischen 60 v. und 200 n. Chr. Für die Palisade wurden fol-
gende Werte ermittelt: Palisade 2 – 123 n. Chr.; Palisade 3 – 140 n. Chr.; Palisade 1 – 201 n. Chr.68
Ein weiteres Stück Holz, geborgen aus einer Schicht unterhalb des Grabens, datierte diesen in
einen Zeitraum zwischen 300 und 500 n. Chr.
Eine weitere solche Konstruktion ist der Æ Vold, Øster Løgum sogn, Sønderjyllands amt (Abb. 14).69
Dieser ist auf einer Strecke von 400 m unter Schutz gestellt, lässt sich aber nach Archivunterlagen noch
über eine Länge von mindestens 2 km nachweisen. Die Anlage ist archäologisch mit 30 Grabungs-
schnitten sehr gut untersucht.70 Zur Befestigung gehörte eine vorgelagerte Palisadenreihe, ein 4,5 m
breiter und 1,5 m tiefer Graben sowie im Anschluss daran und in einer Entfernung von 3 bis 6 m ein
heute noch etwa 1 m hoch erhaltener Wall.71
„Der Wall verbindet eine Reihe größerer Moorflächen und sperrt die enge Passage an der Wasser-
scheide, die in der Frühzeit eine bedeutende Rolle im Nord-Süd-Verkehr gespielt haben dürfte.“72 Der
Æ Vold datiert in die jüngere Römische Kaiserzeit, wie dies dendrochronologische Untersuchungen
ergaben (Fälldatum des Holzes 278 n. Chr.),73 hinsichtlich seiner Struktur lassen sich Übereinstim-
mungen zum Olgerdiget erkennen. S. W. Andersen datiert den Wall in das 3. Jahrhundert.74
Die dritte und letzte hier zu benennende Anlage ist der übereinstimmend konstruierte Trældiget,
Anst sogn, Ribe amt,75 für den allerdings außer der Konstruktionsübereinstimmung keinerlei naturwis-
senschaftliche Datenreihen vorliegen. Er wird nur über den Vergleich zum Æ Vold und dem Olgerdiget
kaiserzeitlich datiert. Der nahezu völlig eingeebnete, N-S verlaufende Trældiget weist eine Länge von
10 bis 15 km auf, eine Grabenbreite von 2 bis 3 m und eine Grabentiefe von etwa 2 m. Der von einer Pa-
Der Aufwand zur Errichtung der Wallanlage in Leese ist auf den ersten Blick schwer abzuschätzen, da
eine Reihe von wichtigen Kenngrößen unbekannt sind. Dazu fehlen für Leese Angaben wie Bodenei-
genschaften, Fläche und Länge des Walls, ferner sekundäre Erkenntnisse zu Methoden der Wallerrich-
tung (Nutzung von Holzschaufeln, Hacken etc.).93 Für Kalkriese könnten diese Werte vermutlich er-
rechnet werden.
Der Aufwand zur Errichtung eines solchen Walls dürfte allerdings nicht allzu groß gewesen sein.
Als Analogie sei auf die befestigte dänische Siedlung Priorsløkke verwiesen, die um 200 n. Chr. eine
220 m lange Palisade erhielt, an die sich ein 121 m langer Wall sowie ein 3 m breiter und 1,5 m tiefer
Wallgraben anschloß.94 Auf experimentalarchäologischem Weg ergab sich, dass „die Palisade von
Priorsløkke von 40 Männern im Vier-Schicht-Betrieb innerhalb einer Woche errichtet werden
[konnte.]“95 Für die hier angeführten recht kurzen deutschen Wallanlagen dürfte dies sich nicht viel an-
ders dargestellt haben, wobei auch die Bevölkerungszahlen der beteiligten germanischen Gruppen –
also die verfügbaren Arbeitskräfte – dem nicht entgegenstehen.
Eine Schätzung der Bevölkerungszahl der Cherusker und der Angrivarier wie auch weiterer
Stämme unternahm jüngst Günter Stangl in einer Schrift von Klaus Tausend zu den Beziehungen zwi-
schen den germanischen Stämmen vom 1. Jahrhundert v. Chr. bis zum 2. Jahrhundert n. Chr.96 Er
stellte verschiedene Berechnungsverfahren vor und kam hinsichtlich der Cherusker auf eine geschätzte
89 Wilbers-Rost (2003) 129. 93 Für freundl. Hinweise in dieser Richtung sei hiermit
90 Wilbers-Rost (2003) 129. Dr. T. Kerig, London, herzlich gedankt.
91 Wilbers-Rost (2003) 130 94 Jørgensen (2003) 208.
92 Rost (2003) 131; sehr gut vergleichbar ist die Situation in 95 Jørgensen (2003) 208.
Heek-Wichum, Lkr. Borken, wo eine Holz-Erde-Mauer 96 Stangl (2009) 232ff.
eine Straße sperrte und dabei Moor- und Gewässerflä-
chen einbezog: Finke (1960) 149ff.
Georg Heimbs, der ‚Entdecker‘ des Walls, kann im besten Sinne als Lokalpatriot beschrieben werden.
Daher war auch nach den Grabungen Schuchhardts und Bersus und der Veröffentlichung der Ergeb-
nisse in der Praehistorischen Zeitschrift 1926 sein Forscherdrang noch lange nicht befriedigt. Auch wei-
terhin führte Heimbs mit Bersu vom Frankfurter Archäologischen Institut des Deutschen Reiches
einen regen Briefkontakt und lud diesen vielfach wieder nach Leese ein. In der Regel ließ sich dies je-
doch nicht bewerkstelligen. Briefkontakte gab es auch zu Schuchhardt, ferner mit K. H. Jacob-Friesen,
dem ersten Direktor des Provinzial-Museums und Landesarchäologen zu Hannover.
Heimbs drängte dem Schriftverkehr zufolge alle Schriftpartner zu weiteren Grabungen. Dabei
stellte sich für alle Beteiligten das Problem, Heimbs‘ großen Enthusiasmus in akzeptable Bahnen zu
lenken, die nicht zugleich in ausufernde Deutungen und Verknüpfungen mit den taciteischen Schil-
derungen endeten. Dies zeigt sich im Schriftverkehr Bersus mit Heimbs: „Ich finde immer wieder, dass
die Verquickung von Bodenforschung und Schriftstellerdeutung bisher mehr hemmend als förder-
lich gewesen ist. Beides sind getrennte Aufgabengebiete, und erst wenn beide aufgearbeitet sind, darf
man eigentlich an den Versuch herantreten, die Ergebnisse zur Deckung zu bringen. Aber so weit sind
wir noch lange nicht“.101 Dies hinderte Heimbs aber nicht daran, selbsttätig kleinere Ausgrabungen
vorzunehmen, deren Dokumentationen in der Regel erhalten geblieben sind, wenn solche angefertigt
wurden.
Heimbs versuchte immer wieder aufs Neue, die Schriften des Tacitus mit den Grabungsbefunden
zu verbinden und bezog dabei auch Funde anderer Stellen mit ein. Dabei wurde er jedoch ein ums
andere Mal enttäuscht. So führte er beispielsweise einen von Adolf Schulten 1917 in den Bonner Jahr-
büchern veröffentlichten Bleibarren an, der die Inschrift L·FLA sowie L·F·VE trägt und den Schulten
einem Bergwerkspächter mit dem Namen ‚L. Flavius Ve(tu?)‘ zuweist.102 Heimbs dachte hier natürlich
an Flavus, den Bruder des Arminius. Bersu jedoch musste Heimbs wie so häufig enttäuschen und da-
tierte den Barren „mit größter Wahrscheinlichkeit auf die Zeit nach 70 n. Chr.“103 Von Heimbs freudig
angeführte römische Terra Sigillata datierte Bersu in die Zeit „zwischen 170 und 200 n. Chr.“ und wies
sie einer seiner Ansicht nach noch unentdeckten, vermutlich nordostgallischen Fabrik zu.104 Dennoch
ließ Heimbs sich trotz dieser stets zu jungen Funde nicht entmutigen und suchte stetig weiter. Im Un-
terschied zu anderen historisch interessierten Sammlern suchte er jedoch stets den Kontakt zu Wissen-
schaftlern und Behörden und lieferte seine Funde ab.
101 Bersu an Heimbs vom 19. 4. 1929, Blatt-Nr. 1529/29D. dem Hauptteil der Barren benennen denselben Produ-
102 Schulten (1917) 88ff. Es handelte sich hier um das Frag- duzenten wie die acht anderen Barren. Fast alle Bleibar-
ment eines augusteischen römischen Bleibarrens, der ren sind mit IMP CAES markiert und gingen folglich in
als Lesefund in Bad Sassendorf-Heppen, Lkr. Soest, den Besitz des Kaisers über.“ Bode (2008) 110.
Westfalen, geborgen werden konnte. Verbunden wird 103 Bersu an Heimbs vom 7. 5. 1929, Blatt-Nr. 1973/29D.
dieses Stück mit dem Fund weiterer 99 Barren aus 104 Bersu an Heimbs vom 25. 11. 1931, Blatt-Nr. 6471/31 B/G.
einem Schiffswrack bei Stes. Maries-de-la-Mer an der Dabei kann es sich nur um eine als Urne verwendete
Mündung der Rhône: „Acht von ihnen sind mit FLAVI Bilderschüssel Drag. 37 handeln, die weiter oben behan-
VERUCLAE PLVMB GERM beschriftet …, die 91 übri- delt wurde. Siehe dazu Erdrich (2002) 94; XX-07–6/1.1.
gen Barren mit L·FL·VER und L·FL·VE. Die Kürzel auf
105 Bersu an Heimbs vom 15. 6. 1931, Blatt-Nr. 2555/31 B/G. 108 Bersu an Heimbs vom 22. 4. 1932, Blatt-Nr. 22219/32
106 Bersu an Heimbs vom 15. 6. 1931, Blatt-Nr. 3062/31 B/G. B/G.
107 Grabungsbericht Heimbs, undatiert, drei Blätter, ohne
Nr.
Zusammenfassung
Zusammenfassend zeigt sich, dass der Ohle Hoop durchaus Merkmale aufweist, die mit eisenzeit-
lichen Anlagen verglichen werden können – Bersu schätzte die Anlage auf 2,5 m Höhe, vergleichbares
wird für den Trældiget beschrieben. Wie in Kalkriese auch, wurde der Langwall aus Plaggenesch errich-
tet – ‚aufgeplaggt‘.110 Palisadenreihen werden ebenso für alle benannten Anlagen beschrieben, und
auch eine Verbindung zu sumpfigen Abschnitten scheint bei Wallanlagen wie dieser die Regel darzu-
stellen. In die entsprechende Zeitstufe um die Zeitenwende datierende Funde finden sich im Umfeld
der Konstruktion. Entsprechend mag es sich beim Ohle Hoop im Kern um einen eisenzeitlichen Lang-
wall gehandelt haben, sicher ist dies jedoch nicht. Auch hinsichtlich der germanischerseits gewählten
Stelle für den Kampf gegen Germanicus mag man mit der Leeser Topographie durchaus Parallelen zu
Kalkriese erkennen – Engstellen, Sümpfe, dünne Flussläufe, ein Wall.
Andererseits ist jedoch hinsichtlich Kalkriese zu fragen, woher das Wissen um die Konstruk-
tion einer solchen Anlage stammte, die ja innerhalb eines recht kurzen Zeitraums errichtet worden sein
muss.
Würde es sich beim etwa 60 km – also etwa drei Tagesmärsche – entfernten Abschnittswall ‚Ohle
Hoop‘ tatsächlich um eine eisenzeitliche Wallanlage handeln – egal ob ,Angrivarierwall‘ oder nicht –, so
mag hier durchaus das Vorbild für Kalkriese zu suchen sein. Einzelne Details stimmen überraschend
überein, wie das Aufplaggen des Walls auf eine alte Oberfläche, die bis auf 10 cm übereinstimmenden
Abstände der Pfosten, das Fehlen eines Grabens hier wie dort (und auch im Unterschied zu den skan-
dinavischen Langwällen), das Einbeziehen topographischer Gegebenheiten, sumpfige, schwer über-
windliche Streckenabschnitte bzw. entsprechende Bachläufe sowie eine sich so herausbildende Schmal-
stelle. Kalkriese wäre damit quasi die Wiederholung des Leeser Befundes, und die ‚Bauherren‘ dann
möglicherweise auch jene, die sich mit der Instandhaltung der Leeser Anlage auskannten.
109 Bearbeiterin H. Nelson, Identifikationsnr. 256/ chene, durchwurzelte Soden … die Plaggenesche der
3650.00172-F. Kalkrieser-Niewedder Senke sind braune Plaggenesche
110 Harnecker u. Tolksdorf-Lienemann (2004) 9 definieren unterschiedlicher Mächtigkeit aus schwach lehmigen
dies folgendermaßen: „… Plaggen sind flach abgesto- oder schwach schluffigen Sanden.“
Literatur
Endlose Hermannsschlachten …
Über die Varusschlacht 9 n. Chr. und den Sieg der Germanen unter ihrem Heerführer Arminius würde
heute niemand mehr reden, wenn nicht die Erinnerung an das historische Ereignis – symbolisch und
emotional aufgeladen – Teil des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen geworden wäre. Es ist also eine
klassische Mythenbildung, die hier stattgefunden hat: Das historische Ereignis und sein Protagonist
wurden aus der historischen Zeit herausgelöst und in Form einer heroischen Erzählung und in freiem
Umgang mit den historischen Fakten auf die jeweils tagespolitisch aktuellen Bedürfnisse der Mythen-
erzähler zurechtgeschnitten. Diese Bedürfnisse sind aber wandelbar, so dass sich im Laufe der Zeit auch
die Interpretationen des Mythos wandelten, wie die ununterbrochene Kette von fiktiven Hermanns-
schlachten zeigt, die sich in der Literatur, der bildenden Kunst und Musik niedergeschlagen haben – die-
ser Beitrag nimmt das 16. bis 18. Jahrhundert in den Blick. Im Kern geht es dabei um zwei Themen: ein-
Abb. 1 | Schlussbild der Kleistschen Hermannsschlacht in der Bochumer Peymann-Aufführung von 1982: Der Schatten Hermanns
wächst und wächst …
mal um das Selbstbild, das sich die Deutschen gemacht haben, nachdem die Germania des Tacitus und
wenig später die Geschichte der Germanenkriege mit Arminius wiederentdeckt wurden. Zum anderen –
sozusagen als Gegenspiegel – geht es um die kurze europäische Karriere des Arminius und der freien
Germanen, die im 17. Jahrhundert begann und dann abrupt mit den napoleonischen Kriegen endete.
Der römische Historiker Tacitus (um 58–nach 116 n. Chr.) schildert die Germanen als eigenständig le-
bendes, unvermischtes Volk: „Die Germanen selbst sind meiner Meinung nach wohl Ureinwohner und
haben sich keineswegs mit anderen Völkern vermischt, die gewaltsam eindrangen oder gastliche Auf-
nahme fanden.“1
Im Mittelalter war die Germania des Tacitus so gut wie vergessen. Eine neue Situation trat ein, als sich
im Italien des 14. und dann vor allem des 15. Jahrhunderts humanistisch gebildete Gelehrte und Litera-
ten aufmachten, in Klosterbibliotheken nach Abschriften antiker Texte zu suchen. Um 1455 gelangte
der heute verlorene Codex Hersfeldensis nach Rom, also die karolingische Abschrift der kleineren Werke
des Tacitus mit der Germania.
Wer wann und wie dafür verantwortlich war, dass aus dem Kloster Hersfeld oder Fulda Abschriften
der taciteischen Schriften nach Italien gelangten, ist umstritten und wohl nicht mehr zu klären. Die
Handschriften wurden kopiert und seit den 1470er Jahren immer wieder neu gedruckt. Einer der ers-
ten, der die Germania in die Hand bekam, war Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der spätere Papst
Pius II. Und er wusste daraus auf eine besondere Weise Gewinn zu schlagen. Gerade hatten die deut-
schen Bischöfe und Fürsten in den Gravamina Germaniae Nationis Klage über die unmäßigen Geldfor-
derungen und das Pfründenwesen Roms geführt. In seiner Erwiderung von 1558 benutzte Enea Silvio
seine frischen Kenntnisse aus der Germania, um gegenüber dem von Tacitus dargestellten einfachen
2 Tac. Germ. 4.
und primitiven Leben der Germanen auf den aktuellen Wohlstand und die Kultiviertheit der Deutschen
hinzuweisen: Die natio Germanorum sei dank der römischen Kirche aus dem Stande der Barbarei, wie
Caesar und Tacitus sie überlieferten, zu nunmehr höchstem Wohlstand und christlicher Lebensfüh-
rung gelangt. Über die Germanen schrieb er: „In dieser Zeit unterschieden sich Deine Vorfahren kaum
von den wilden Tieren, alles war grauenhaft, alles abscheuerregend, wild, barbarisch, oder um die
Dinge bei ihrem Namen zu nennen, bestialisch und menschenunwürdig.“3
Enea Silvios Argumentation war nicht ungeschickt. Außerdem hatte er 23 Jahre in Deutschland
verbracht und konnte für sich in Anspruch nehmen, Land und Leute gut zu kennen.4 Die Germania
diente ihm als Beweismittel für die ursprüngliche Primitivität der Deutschen, sozusagen als Hinter-
grundfolie, um – nicht ohne finanziell-politische Interessen – das neue kultivierte und wohlhabende
Deutschland umso besser loben zu können.
Enea Silvios Schriften wurden in Deutschland erst gegen Ende des Jahrhunderts bekannt, aber sie
boten den deutschen Humanisten eine willkommene Argumentationshilfe, denn er zeichnete Deutsch-
3 Enea Silvio Piccolomini, De ritu, situ, moribus et condi- 4 Er kam 1432 zum Baseler Konzil nach Deutschland
tione Theutoniae descriptio, Leipzig 1496, Buch 2, Kap. 4. und beendete 1455 seine Tätigkeit in der Kanzlei Kaiser
S. auch Ridé (1977) 174, Münkler, Grünberger u. Mayer Friedrichs III.
(1998) 167; Krebs (2005) 145.
5 Müller (2001) 257. Streng genommen kann der Begriff wurde. Ähnliche auf Troja bezogene Ursprungsmythen
‚deutsche Nation‘ erst auf die Verhältnisse nach der gab es auch in Deutschland, Frankreich und England.
Französischen Revolution angewendet werden. Wenn 18 Tac. Germ. 2.
hier dennoch von ‚Nation‘ und ‚Nationalbewusstsein‘ 19 Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 236 u. 243.
gesprochen wird, dann im Sinne von Vorläufern oder 10 Annius de Viterbo (Giovanni Annius, auch genannt:
Frühformen. Pseudo-Berosus), Antiquitatum variarum volumina.
6 Dazu ausführlich: Münkler, Grünberger u. Mayer Auctores vetustissimi, Rom 1498. S. auch Münkler, Grün-
(1998) 175–209. berger u. Mayer (1998) 243f.; Ridé (1977) 1065–1075;
7 In Vergils Aeneis konnte man lesen, dass Rom durch den Hutter (2000) 36–54. Eine Ausgabe zusammen mit der
aus dem brennenden Troja geflohenen Aeneas gegründet Germania des Tacitus erfolgte 1511.
11 Sarmatien: nach Annius die Polen, Goten/Schweden, Grünberger u. Mayer (1998) 248. S. auch Mertens (2004)
Russen und Dacier (Münkler, Grünberger u. Mayer 92.
[1998] 246). 14 Conrad Celtis, De situ et moribus Germaniae additiones
12 Franciscus Irenicus, Germaniae Exegesos volumina duode- (erschienen um 1500 in Wien), Übersetzung nach Mül-
cim, Basel 1567, Buch 3, Kap. 1–2 (105–106). Überset- ler (2001) 91.
zung nach: Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 252f. 15 Heinrich Bebel, Germani sunt indigenae (nach 1500), in:
13 (Beatus Rhenanus), Beati Rhenani Selestadiensis Rervm Opera Bebeliana sequentia …, Pforzheim 1509 (http://
GermaniCarvm Libri Tres Adiecta Est In Calce Epistola Ad www.uni-mannheim.de/mateo/camena/bebel2/jpg/
D. Philippu Puchaimeru …, Basel 1531; Zitat bei Münkler, s147.html [Stand: Nov. 2009]).
tionen des Erdkreises, die ohne Vermischung mit Einwanderern regieren und seit altersher ohne ein
von Außen auferlegtes Joch herrschen.“16
Uralte Abstammung und Tugend, Tapferkeit und Unabhängigkeit – das sind also für Bebel die
herausragenden Eigenschaften der germanischen Vorfahren und jetzigen Deutschen, Eigenschaften,
die mit ihrer Ureinwohnerschaft in einem geschlossenen Territorium auf das Engste verbunden sind.
So gibt es für Bebel keinen Zweifel, dass nur auf sie das römische Kaisertum übertragen werden konnte.
Der elsässische Gelehrte Jakob Wimpheling (1450–1528) erzählte in seiner Epitome17 die Geschichte
Deutschlands, wobei er mit den Kimbern und Teutonen beginnt und immer wieder die germanische/
deutsche Tapferkeit und Kriegstüchtigkeit herausstellt. „Es gereicht uns zur Ehre, von den alten Germa-
nen abzustammen“, schreibt er im Vorwort und wird nicht müde, die Heldentaten der alten Krieger zu
preisen: „Ich sage, wie ich es denke, die Deutschen haben alle Völker besiegt.“18 In dem Kapitel über die
„Tapferkeit der Deutschen“ nennt er die Deutschen „mutig, großzügig und erfindungsreich“.19 Zu ihren
Tugenden gehören neben der militärischen Überlegenheit auch und in Anlehnung an Tacitus Keusch-
heit, Gastfreundlichkeit, Treue und Gottesfurcht sowie Redlichkeit, Freiheitsliebe und Beständigkeit.
16 Bebel, Germani (http://www.uni-mannheim.de/mateo/ 18 Wimpheling, Epitome, Kap. 54. S. auch Ridé (1977) 311
camena/bebel2/jpg/s147.html). und 1148.
17 Jakob Wimpheling, Epitome rerum Germanicarum usque 19 Wimpheling, Epitome, Kap. 54 – ein Zitat von Filippo Be-
ad nostra tempora, 1505. Übersetzung nach der 1562 in roaldo, das Wimpheling übernimmt. Ridé (1977) 314; s.
Marburg bei Colbius erschienenen Ausgabe. auch Krapf (1979) 104f.
Aber all diesen Lobpreisungen fehlte noch der Held, auf den sich all die guten Eigenschaften projizieren
ließen. Der wurde gefunden, als man 1508/09 die Annalen des Tacitus und 1515 die Römische Geschichte
des Velleius Paterculus (um 20 v. Chr.–30 n. Chr.) entdeckte. Beide Texte führten Arminius als siegrei-
chen Heerführer der Germanen in die Geschichte ein. Tacitus nannte ihn den „Befreier Germaniens“
und großen patriotischen Führer – ein Urteil ausgerechnet von einem römischen Schriftsteller, das
keinen deutschen Humanisten ruhig lassen konnte. Sie bemühten sich, den Germanen zum ersten
Helden der Deutschen und strahlenden Führer eines deutsch-germanischen Freiheitskampfes zu ma-
chen, der sich in der Gegenwart fortsetzt. Denn der Freiheitskampf der Germanen gegen Rom konnte
auch als Beginn einer Auseinandersetzung interpretiert werden, die man im 16. Jahrhundert gegen die
Selbstsucht der römischen Kirche führte. Und für die deutschen Humanisten war es nur zu leicht, die
ausbeuterischen Steuern, welche die römische Kirche in Deutschland erhob, mit den Raubzügen und
Plünderungen der römischen Armee in Germanien in Verbindung zu bringen.21 Wie die Germania zu-
vor konnten jetzt auch die anderen antiken Schriften in den Dienst der ‚nationalen‘ Selbsterhebung ge-
stellt werden. Die Varusschlacht wurde zu einem großen Ereignis der deutschen Geschichte, und man
konnte die Denkmalserhebung des Arminius gezielt angehen.
Den spektakulärsten Versuch dieser Denkmalserhebung unternahm der humanistische Dichter
und Papstkritiker Ulrich von Hutten (1488–1523). 1520 verfasste er im Stil der Totengespräche des altgrie-
chischen Dichters Lukian (um 120–180) seinen Arminius Dialogus, mit dem er den Arminius-Kult in
Deutschland begründete.22
20 Irenicus, Germaniae Exegesos II, 34 (75–76), zitiert nach: Melanchthon, schließlich zwei weitere im 17. Jahrhun-
Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 226. dert. Die erste deutsche Übersetzung kam 1814 heraus.
21 Ridé (1977) 520. Huttens Argumentation und sein Urteil nehmen vieles
22 Die erste gedruckte Ausgabe des lateinischen Textes vorweg, was später immer wieder über den germani-
erschien 1529, dann 1538 und 1557 in Wittenberg, mög- schen Heerführer geschrieben, aufgeführt, vertont und
licherweise auf Anregung oder Mitwirkung von Philipp gemalt wurde.
Huttens kleine Geschichte spielt in einem himmlischen Gerichtssaal. Der Vorsitzende, der kretische
König Minos, hat sein Urteil verkündet, wer die besten Feldherren aller Zeiten gewesen seien. Die erste
Wahl fiel auf Alexander den Großen, dann folgten der Römer Scipio und als dritter Hannibal von Kar-
thago. Doch es gibt einen Einspruch durch den Germanen Arminius. Er beschwert sich, dass man ihn
bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt habe. Als noch Tacitus hinzukommt und Arminius kräftig
lobt, fordert Minos ihn auf, seine Argumente vorzutragen, die er in einem langen, hier stark gekürzten
Monolog darlegt: „Durch meinen Sieg habe ich das im Innersten niedergetretene und zerrissene
Deutschland in kurzer Zeit wiederhergestellt. Als du vor Rom standst, Hannibal, hast du nicht bewirkt,
dass die Römer mit Angst und Verwirrung reagierten. Ich habe dem römischen Staat ein solches Maß
an Verzweiflung zugefügt, dass selbst Kaiser Augustus mit dem Kopf gegen die Tür stieß und an den
Toren Posten und auswärts Schutztruppen aufstellen ließ.“23
Minos muss die militärisch-politischen Verdienste des Arminius anerkennen und verleiht ihm den
ersten Rang unter den Vaterlandsbefreiern, womit die Geschichte schließt. Hutten macht Arminius
zum Vorkämpfer der deutschen Freiheit, ein Vorbild im Kampf gegen den aktuellen Feind der Deut-
schen: das Rom der Päpste. Und er gab den Takt vor, der die zukünftige Arminius-Rezeption begleiten
wird: Der deutsche Freiheitsheld wird zur Allzweckwaffe, die man immer dann mobilisieren kann,
wenn Deutschland in der Krise steckt, eine Art Nothelfer in deutscher Bedrängnis. Die Einigung der ger-
23 (Ulrich von Hutten), Germania Cornelii Taciti, Vocabula Recens edita a Philippo Melanthone, Wittenberg 1557.
regionum enerrata, et ad recentes adpellationes accomodata. Übersetzung nach Roloff (2003) 211–238.
Harminius Ulrici Hutteni. Dialogus, cui Titulus est Iulius,
Das kleine Buch Ursprung und Herkommen der zwölff ersten König und Fürsten deutscher Nation von 1543
zeigt erstmals eine mythische Erz-Königsreihe, die mit dem bei Tacitus erwähnten Tuisco beginnt und
mit Ariovist, Arminius sowie Karl dem Großen endet. Die Anlehnung an die Zwölf Cäsaren Suetons
(verfasst um 120 n. Chr.) ist offenkundig und diente den humanistischen Bemühungen, der italieni-
schen Ahnenreihe eine eigene, deutsche entgegenzustellen. Arminius wird in dem Buch als Verteidiger
Germaniens gegen die römische Expansion vorgestellt. Der Holzschnitt zeigt ihn in Rüstung mit dem
blutenden Haupt des Varus in der Hand – in Anlehnung an das biblische David und Goliath-Motiv. Der
Dichter und spätere lutherische Pastor Burkhard Waldis (1490/95–1566/67) verfasste die deutschspra-
chigen Reimgedichte zu den einzelnen Königsabbildungen. Das Gedicht über Arminius zählt dessen
Heldentaten auf und endet:
31 Burkhard Waldis, Ursprung vnd Herkummen der zwoelff Blatt „Arminius ein Fürst zu Sachssen“; s. auch Hutter
ersten alten Koenig vnd Fuersten Deutscher Nation wie vnd (2000).
zu welchen zeyten jr yeder Regiert hat, Nürnberg 1543,
In der Germania des Tacitus lasen die deutschen Humanisten von den Tugenden ihrer Vorfahren, die
sie eilfertig aufgriffen, um eine Art deutschen ‚Nationalcharakter‘ zu konstruieren. Dabei geriet die Be-
schreibung der germanischen Vorfahren oft zur Idylle, welche die negativen Eigenschaften, die Tacitus
nicht verschweigt, aber zum Positiven wendet. So interpretiert Konrad Celtis die von Tacitus kritisierten
germanischen Kriegs- und Raubzüge als Zeichen männlich-tugendhafter Gesinnung: „Daher erklärt
sich auch ihre Bereitschaft, wagemutig Risiken einzugehen, nicht träge und nicht furchtsam zu sein, zu
sterben und das rosenfarbene Blut im Kampf für Vaterland und die lieben Freunde auszugießen, zu je-
der Bluttat bereit, wenn sie irgendein Unrecht verletzt hat. Ein jeder wahrt die Treue mit frommem und
standhaftem Sinn, liebt die Religion und verehrt die Himmlischen und alles Gute und Anständige. Die
Gesinnung, beharrlich im Wahren und Gerechten, ist im Einklang mit den Lippen und flieht Lügen
und Erfindungen einer gef ärbten Zunge.“33
Die Germanen des Celtis sind ein unvermischtes, fruchtbares, kräftiges, männliches und tugend-
haftes Volk, das sich durch eine natürliche und einfache Lebensweise auszeichnet, so ähnlich, wie man
im 18. Jahrhundert die ‚edlen Wilden‘ Amerikas sah.34 Den Barbarenvorwurf der italienischen Huma-
nisten pariert Celtis geschickt, indem er zwar die rauhe Muttersprache und den Hang zu Raubzügen
nicht übergeht, dies aber im Grunde als hochzuschätzende männlich-kriegerische Gesinnung und mi-
litärische Tugend darstellt. Damit greift er auf die Argumentation von Enea Silvio Piccolomini zurück,
der gerade diese beiden Eigenschaften als aus der Barbarenzeit übrig gebliebene Merkmale der jetzigen
Deutschen ansah.35 Wenn für Celtis aber die positiven Eigenschaften des Volkes überwogen, dann er-
folgte dies in dem Bemühen, eine kulturelle und moralische Kontinuität zwischen Germanen und
Deutschen aufzuzeigen.36
32 Waldis „war der erste, der das nationale Altertum in 34 Ridé (1977) 233.
deutschen Versen besang“ (Ridé [1977] 945 u. 1113ff.). 35 Müller (2001) 409ff.
33 Konrad Celtis, Germania Generalis, Kap. „De situ Germa- 36 Ridé (1977) 247.
niae et moribus“. Übersetzung nach Müller (2001) 95ff.
37 Kösters (2009) 24f. 41 (Ulrich von Hutten), „Die verteutschet Klag Ulrichs
38 Johannis Aventinus, Des Hochgelerten weitberümbten von Hutten an Herzogen Friedrich von Sachsen“, in:
beyerischen Geschichtschreibers Chronica. Darinn nit allein Des teutschen Ritters Ulrich von Hutten sämmtliche Werke,
deß gar alten Hauß Beyern, Keiser, Könige, Hertzogen, Gesammelt, und mit den erforderlichen Einleitungen, An-
Fürsten, Graffen, Freyherrn Geschlechte, Herkommen, merkungen und Zusätzen herausgegeben von Ernst Joseph
Stamm u. Geschichte, sondern auch d. uralten teutschen Ur- Herman Münch. Fünfter Theil, Leipzig 1825, 15. Auch:
sprung, Herkommen, Sitten, Gebreuch, Religion …, Frank- Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 270f. (online:
furt a. M. 1566, S. 126 r. http://books.google.com/books?id=6KRJAAAA-
39 Spalatin, Arminio, fol. A IV a. MAAJ&hl=de).
40 (Ulrich von Hutten), Ulrichi De Hutten Ad Crotum Rubia- 42 Wimpheling, Epitome, Kap. 22. Übersetzung nach
num De Statu Romano Epigrammata Ex Urbe Missa (1514) Münkler, Grünberger u. Mayer (1998) 190.
(online: http://www.uni-mannheim.de/mateo/camena/
hutten1/huttenopera.html).
Philipp Clüvers (1580–1632) nackte und tugendsame Germanen gehören zu diesem über viele Genera-
tionen gültigen Germanenbild. Sein Buch verrät ein Interesse an der Lebensweise der Germanen, aber
es ist ein genrehafter Blick: Die einfache und tugendhafte Lebensweise der Germanen wird durch
Nacktheit und dürftige Fellbekleidung gekennzeichnet.
Barocke Heldenverehrung
Im 16. Jahrhundert wurden, wie in den vorhergehenden Kapiteln dargestellt, Arminius, die Varus-
schlacht und die tugendhaften Germanen entdeckt und in die Literatur eingeführt. Zur Zeit des Drei-
ßigjährigen Krieges erschienen nur wenige Schriften zum Thema.43 Ende des 17. Jahrhunderts begann
eine zweite Welle der Arminiusliteratur. Den Auftakt machte der in den siebziger und achtziger Jahren
des 17. Jahrhunderts verfasste Arminiusroman des Breslauer Juristen und Bühnenautors Caspar Daniel
von Lohenstein (1635–1683). Dieses Buch ist alles in einem: ein etwa 3000 Seiten langer Liebes- und
Abenteuerroman, ein komplettes Lexikon des gesamten Wissens am Ende des 17. Jahrhunderts, ein
Erziehungsbuch für angehende Fürsten und ein Schlüsselroman, der vordergründig die Kämpfe zwi-
Der vorangestellte Gedichtausschnitt aus dem Roman ist voller Zeitbezüge: Die Warnung an die
Adresse der Römer, nicht den Rhein zu überschreiten, meint eigentlich den französischen König Lud-
wig XIV. Dieser hatte, wie auch der habsburgische Kaiser Leopold I., eine der spanischen Erbtöchter
Philipps IV. geheiratet, sein Bruder, der Herzog von Orléans, die pf älzische Herzogin Elisabeth Char-
lotte. Ein neuer Streit der Großmächte um Erbansprüche zur Vergrößerung ihrer Reiche war zu erwar-
ten. Ludwig XIV. begann in den Jahren nach dem Pyrenäenfrieden 1659 mit einer zielstrebigen Erobe-
rungspolitik in Richtung Rheingrenze.
Der habsburgisch-französische Konflikt trat in eine neue Phase ein. In dieser Situation schwank-
ten die deutschen Fürsten vor allem am Rhein zwischen der Unterstützung Habsburgs oder Frank-
reichs. Lohenstein, der die Habsburger Karte spielte, rief die deutschen Fürsten zur Einheit unter der
Führung des habsburgischen Kaisers auf und appellierte an ihr deutsches (nationales) Empfinden. Wie-
der einmal dienten die Siege des Arminius und der Kampf gegen die Römer als effizientes Vorbild deut-
scher Gegenwehr und Einheitsbemühungen. Aber die politische Wirklichkeit, die Lohenstein erlebte,
war eine andere: Wechselnde Koalitionen mit und gegen Frankreich waren vom machtpolitischen Ge-
winn diktiert und nicht von einer utopischen Reichssolidarität. Lohensteins Friedens- und Solidaritäts-
appell an die deutschen Fürsten verhallte ungehört.
Der Titelkupfer des Graphikers und Malers Joachim von Sandrart (1606–1688) führt mitten hinein
in die im Buch geschilderten Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen. Inmitten einer
bunten Mischung von Kriegern unterschiedlicher Herkunft schlägt im Vordergrund Arminius einen An-
greifer mit dem blanken Schwert zurück, während die auf dem Thron sitzende Thusnelda ein Joch –
Sinnbild der römischen Unterdrückung – überreicht bekommt. Ein Ehren-Getichte von Christian Gry-
phius (1616–1664) zu Beginn des ersten Bandes fasst die patriotische Botschaft des Romans zusammen:
44 (Daniel Caspar von Lohenstein), Daniel Caspers von Lo- 45 Lohenstein, Großmüthiger Feldherr I, „Ehrengetichte.
henstein Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann, Vorstellung des Kupffer-Tituls“, o. S. Sybaris: Der
Als ein tapfferer Beschirmer der deutschen Freyheit / Nebst sprichwörtliche Reichtum und das Wohlleben der Be-
seiner Durchlauchtigen Thusnelde In einer sinnreichen wohner Sybaris am Golf von Tarent führte zu ihrem Un-
Staats- Liebes und Heldengeschichte Dem Vaterlande zu tergang.
Liebe Dem deutschen Adel aber zu Ehren und rühmlichen
Nachfolge In zwey Theilen vorgestellet Und mit annehm-
lichen Kupfern gezieret, Leipzig 1689–1690, Bd. 1, 1361b.
Im sechsten Buch zählt Lohenstein in komprimierter Form die Leistungen der Deutschen auf. Die dem
zweiten Band nachgestellten Anmerckungen des Verlegers bringen es auf den Punkt: Obwohl Arminius
und sein Personenkreis im Zentrum des Geschehens stehen, sei dessen Geschichte eigentlich nur
ein Vorwand, um die Leistungen der Deutschen zu preisen. Am Ende steht ein Geschichtsbild, das be-
sagt, „daß die Römer / insonderheit aber Caesar / Pompeius / Antonius / Augustus nicht weniger die
Griechen / vornemlich Alexander der Grosse / ingleichen der sieghafte Hannibal mit seinen Mohren /
die Amazonen / Samniter / Lusitanier und fast die gesamte Welt nichts wichtiges ohne der Teutschen
Rath und Hülffe ausgeführet hätten / und also die Dienste der tapfferen Teutschen gleichsam allenthal-
ben das Postament gewesen wären, auf welchem die berühmtesten Europäer / Asiaten und Africaner
ihre Siege gegründet hätten und daraus aus mittelmäßigen Zwärgen zu ungeheuren Riesen erwachsen
wären.“46
1642 wurde die Tragikomödie Arminius ou les frères ennemis von Georges de Scudéry (1601–1667) in Pa-
ris uraufgeführt. Aber was hatte den französischen Edelmann veranlasst, den bislang den deutschen
Humanisten vorbehaltenen Arminius-Stoff auf die Pariser Bühne zu bringen? Im Gegensatz zu den
griechisch-römischen Heroen war Arminius in Frankreich eine weitgehend unbekannte Gestalt.50 Scu-
dérys Theaterstück hat die persönlichen Konflikte und Gefühle seiner Protagonisten zum Thema: Her-
cinie (Thusnelda) liebt Arminius, ist aber gleichzeitig zum Gehorsam gegenüber dem Vater Segeste ver-
47 Lohenstein, Großmüthiger Feldherr II, 6. nius erscheint als geschlagener und in der Schlacht
48 Wucherpfennig (1973) 206–290 nimmt dazu ausführ- gefallener Führer der Germanen ([Pierre Boitel], Les Tra-
lich Stellung. giques Accidents des Hommes illvstres, et autres personnes
49 Lohenstein, Großmüthiger Feldherr I, 14. signalées de l’Vniuers, depuis le premier siecle iusques à
50 In einem 1616 erschienenen Buch über tragische histo- present. Recherchez dans les plus rares Bibliotecques de la
rische Persönlichkeiten werden zwar die Feldzüge des France, par P. Boitel Parisien, Paris 1616, S. 333).
Germanicus gegen die Germanen erwähnt, aber Armi-
pflichtet, der sie dem römerfreundlichen Bruder des Arminius, Flavus, zur Frau geben will. Dieser hat
sich in Hercinie unsterblich verliebt und seine Verlobte und sein Volk verlassen. Der Konflikt löst sich
am Ende auf, und Flavus erkennt seine Schuld. Viel wichtiger ist aber die hinter dieser Liebesrivalität
aufscheinende Moral des Stückes.
Eine Textstelle in dem Moment, als Arminius in das Lager des Germanicus kommt, ist beachtens-
wert. Segeste hatte dem Römer seine Tochter als Gefangene übergeben, da sie zu Arminius geflohen
war. Dieser bittet Germanicus um ihre Freilassung und appelliert an seine adlige Ehre: „Wir sind so-
wohl Ehrenmänner, gleichwohl Feinde, / Wir werden niemals das tun, was keinesfalls erlaubt ist; / Mit
den Waffen in der Hand, wissen wir uns zu verteidigen, / Aber wir ergreifen sie nur, wenn wir sie neh-
men müssen: / Wir kämpfen für die Ehre, und für das Vaterland, / Wir kämpfen ohne Hinterhalt, und
ohne Abscheu.“51
Aber eine Freilassung Hercinies darf Germanicus aus Staatsinteressen nicht veranlassen. Armi-
nius hält ihm vor, dass Segeste nur aus Hass handelt, welcher nur der Lehrmeister der Tyrannen sei.
Angesichts dieser Argumente bleibt Germanicus nichts anderes übrig als auf Tiberius zu verweisen,
der eine so großzügige Handlung wie die Freilassung Hercinies seinem Feldherrn nicht verzeihen
würde: „Und um Euch alles zu sagen, ein strenger Imperator, / der will, dass man ihn ebenso fürchtet
wie verehrt, / dessen Geist argwöhnisch ist, misstrauisch und grausam, / beobachtet mich mit aller
60 Adelsaufstand gegen die absolutistischen Bestrebungen Jahrhundertmitte verschwand dieser militärische Aspekt
des französischen Königtums 1648–1653. weiblich-heroischer Tugenden zunehmend. Das gilt auch
61 Die preziösen Salons waren in den ersten Jahrzehnten für die letzten Bücher der sich über 12 Jahre hinstrecken-
des 17. Jahrhunderts literarisch-kulturelle, elitäre Zen- den Publikation von Cléopâtre (dazu Bannister [2005]).
tren, in denen sich unter maßgeblicher Beteiligung ad- 62 Tac. ann. 2,88,2–3: „Er war ohne Zweifel der Befreier
liger Damen eine neue Form der Etikette und des gebil- Germaniens, der nicht wie andere Könige und Heerfüh-
deten Umgangs miteinander entwickelte, die der Frau rer das römische Volk in seinen Anf ängen, sondern ein
einen neuen Stellenwert in der Gesellschaft verschaffte. Reich in seiner ganzen Blüte herausgefordert und in
Die Schwester von Georges de Scudéry, Madeleine, hat in den Schlachten mit wechselndem Erfolg (gekämpft
ihren Romanen (Grand Cyrus) diese Zirkel beschrieben. hatte), im Krieg aber unbesiegt (geblieben war)“ (Über-
La Calprenède wie auch Georges de Scudéry standen die- setzung Hans-Werner Goetz und Karl-Wilhelm Wel-
sen preziösen Milieus nahe und haben die Idee der wei).
femme forte, der starken, heroisch-militärischer Taten f ä- 63 Jean Galbert de Campistron, Arminius. Tragédie, in:
higen Frau, übernommen. Diese Konzeption beruhte Oeuvres de M. de Campistron, de l’Académie Françoise,
auf den alten Adelstugenden und stand im Widerspruch Nouvelle Edition, Tome I, Amsterdam 1722, Akt II, Szene
zu der sich nach der Jahrhundertmitte ausbildenden 4 (S. 96).
Hofgesellschaft unter einem absoluten König. Nach der 64 Campistron, Arminius, II,4 (97).
Arminius als ‚Befreier Germaniens‘ – das Urteil des Tacitus, das so viele patriotisch und national ge-
stimmte deutsche Autoren zu literarischen Bearbeitungen inspirierte, machte auch in der barocken
Opernwelt Karriere. Im 18. Jahrhundert entstanden mindestens 37 Opern, die das Thema Arminius,
Thusnelda oder Germanicus aufgriffen.74 Vorbildlich waren hier die französischen Schriftsteller, vor
allem Campistron, die den Stoff aus dem deutsch-patriotischen Umfeld herausgeholt und die dramati-
schen Qualitäten der Geschichte erkannt hatten, vor allem die tragische Liebesgeschichte zwischen
Hermann und Thusnelda. Aber dass sie den Arminiusstoff nicht ganz so unpolitisch auffassten, hatte
ihre Parteinahme für die althergebrachten Freiheitsrechte gezeigt. In der italienischen Oper, welche im
Barock die Opernhäuser ganz Europas dominierte, wurde der Stoff nun vollends aller politischen Hin-
tergründe entkleidet und auf die affektiven Konflikte der Hauptpersonen reduziert. Aber was war der
Grund, von den zahllosen Tondichtungen mit Stoffen aus der griechischen Mythologie abzurücken,
diese hinten anzustellen und jetzt die musikalischen Zelte im germanischen Wald aufzuschlagen? Den
italienischen Librettisten war sicherlich jeglicher deutscher Patriotismus fern, das sollte später den
deutschen Opern-bearbeitungen vorbehalten bleiben. Die Antwort geht wieder auf die französischen
Bearbeiter des Stoffes zurück, welche die Hauptpersonen in den tragischen Konflikt zwischen ihrem
Wunsch nach persönlicher Liebeserfüllung und der Pflicht zu standesgemäßem oder staatspolitischem
72 Dazu: Croix u. Quénart (1997) 427f. Erlösung, auch nicht durch gerechte Werke. Der franzö-
73 Das Kloster Port-Royal bei Versailles war im 17. Jahrhun- sische Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) war zutiefst
dert die Hochburg des Jansenismus, einer religiösen von Geist des Jansenismus geprägt.
Reformbewegung, die ein pessimistisches Menschen- 74 Angaben nach: Barbon u. Plachta (2003) 266.
bild vertrat: Der einzelne habe keinen Einfluss auf seine
Handeln stellten. Genau hier setzen auch die Opernhandlungen an: Thusnelda ist hin- und hergerissen
zwischen dem Gehorsam gegenüber ihrem Vater Segestes und ihrer Liebe zu Arminius, dieser zwi-
schen seiner Liebe zu Thusnelda und dem von ihm erwarteten politischen Handeln. Dazu kommen pa-
rallel laufende Nebenhandlungen, die den Grundkonflikt widerspiegeln, bis dann zum Schluss alles in
ein glückliches Ende überführt wird.
Der italienische Opernlibrettist Antonio Salvi (1664–1724), im Hauptberuf Arzt am Hof in Florenz,
war im 18. Jahrhundert ein erfolgreicher Bühnenautor. Sein Libretto für eine Arminio-Oper wurde von
Scarlatti, Hasse, Händel, Rinaldi u.a. vertont. Grundlage des Textes ist das Drama von Campistron. Des-
sen doppelte Liebesgeschichte zwischen Ismenie und Arminius sowie Sigismond und Polixène kam
den Bedürfnissen der opera seria mit ihren festgelegten Rollen entgegen.75 In seinem Libretto finden
sich kaum noch Hinweise auf den politischen Konflikt zwischen Germanen und Römern, alles ist auf
die persönliche Ebene der Affekte verlagert. Arminius ist vorbildhaft nicht wegen seiner militärischen
Leistungen, sondern aufgrund seines tugendhaften Verhaltens. In Salvis Libretto reicht Arminio am
75 Forchert (1975) 48. Forchert verfolgt in einer ausführ- von Barbon u. Plachta (2003), wo das andere, ebenfalls
lichen Analyse die Entwicklung des Salvi-Librettos in erfolgreiche Opernlibretto von Giovanni Claudio Pas-
den verschiedenen Opernbearbeitungen, worauf wir quini untersucht wird, das u.a. auch von dem Kompo-
hier verweisen. Verwiesen wird auch auf den Aufsatz nisten Johann Adolf Hasse benutzt wurde.
Ähnlich klingt es auch in dem um 1749 verfassten Singspiel Thusnelde von Johann Adolph Scheibe
(1708–1776). Scheibe war ein Schüler Johann Christoph Gottscheds (1700–1766). Dieser hatte schon in
seiner Critischen Dichtkunst von 1730 die gängigen Opernaufführungen mit ihren unwirklichen Hand-
lungen scharf kritisiert.78 Scheibe konzentriert die Handlung auf den Gegensatz zwischen Arminius
und Segest, der die Negativrolle bekommt. Ansonsten übernimmt er die beiden Liebespaare von Cam-
pistron, deren Heirat die starre Haltung des Segest verhindert. Am Ende, nach dem Sieg über die Rö-
mer, bereut Segest den Verrat an seinen Landsleuten, und die Paare heiraten. Und nun kann die Ober-
priesterin verkünden, dass die Tugendhaftigkeit der Germanen den Sieg in der Schlacht davongetragen
hat und die Germanen-Deutschen dazu bef ähigt, zukünftig die Weltherrschaft anzutreten:
76 1734 schrieb der berühmteste Librettist der opera seria, 77 (Christoph Adam Negelein), Arminius. Der Teutschen
Pietro Metastasio, das Buch zu der sehr erfolgreichen Erz-Held. In einer Opera aufgeführet, und Der Königlich
Oper La clemenza di Tito, die 1734 vor Karl VI. in Wien Kayserlichen Majestät Leopold dem Grossen allerunterthä-
und 1791 zur Krönung Leopolds II. aufgeführt wurde. nigst gewiedmet und zugeeignet von Christof Adam Nege-
Die clemenza als vornehmste Herrschertugend fand lein, Kayserlicher gekrönten Poeten, und des lobl. Gekrönten
noch in Mozarts gleichnamiger Oper ein spätes Echo. Blumen-Ordens benannten Celadon, Nürnberg 1697, S. 72.
(Barbon u. Plachta [2003] 278f.). 78 Barbon u. Plachta (2003) 281ff.
Da ist sie also wieder, die Verknüpfung von moralischer Überlegenheit und Weltherrschaftsanspruch,
der schon die deutschen Humanisten umtrieb. Auch Scheibe versucht durch ein Übermaß an patrioti-
scher Gesinnung den kulturellen Defiziten des barocken Deutschlands entgegenzuwirken und eine
deutsche Nationaloper zu begründen. Als moralische Institution soll sie die Deutschen in ihrem durch
Kleinstaaten zersplitterten Vaterland zur Einigkeit aufrufen, weshalb ganz zum Schluss der Oper die
Götterbotin sich an das Publikum wendet und das deutsche Volk ermahnt:
Johann Elias Schlegels Herrmann und Jean Grégoire Bauvins Les Chérusques
Die Reduzierung des in Deutschland patriotisch verstandenen Hermann-Stoffes auf eine reine Opern-
Liebesgeschichte stieß auch bei anderen Autoren auf zunehmende Kritik. Der Dichter Johann Elias
Schlegel (1719–1749) hatte 1743 seine Tragödie Herrmann veröffentlicht. Es war der Versuch, ein deut-
sches Nationaldrama zu verfassen. So heißt es in der Nachricht von der Eröffnung des Neuen Theaters in
Leipzig von 1766: „Die Wahl des Stückes aber gab ihm [Schlegel] Gelegenheit, den Nationalcharakter
der alten Deutschen zu entwerfen, und besonders diejenigen Züge zu zeichnen, die der Nation Ehre
machen: Uneigennützigkeit, Edelmuth, Tapferkeit, Liebe fürs Vaterland und unverletzte Treue gegen
den Fürsten. Dieß war vormals, und dieß wird immer der Charakter der Deutschen überhaupt, und un-
serer Nation insbesondere seyn.“81
Schlegels Stück beginnt denn auch mit dem Lobgesang auf die Vorzüge der Deutschen, wobei er
sich kräftig bei dem taciteischen Tugendkatalog der Germania bedient, den die Humanisten des 16. Jahr-
hunderts immer differenzierter ausgebreitet hatten:82
79 (Johann Adolph Scheibe), Thusnelde – ein Singspiel in vier 82 Kösters (2009) 33–73.
Aufzügen. Mit einem Vorbericht von der Möglichkeit und 83 (Johann Elias Schlegel), Joh. Elias Schlegels Werke. Erster
Beschaffenheit guter Singspiele begleitet von Johann Adolph Theil: Herrmann, herausgegeben von Johann Heinrich
Scheiben, Königlich Dänischer Kapellmeister, Leipzig 1749, Schlegeln, Kopenhagen u. Leipzig 1761, Akt I, Szene 1
S. 164. (S. 314). Die Erstveröffentlichung des Herrmann war
80 Scheibe, Thusnelde, S. 166. 1743 in der Dramensammlung Die deutsche Schaubühne
81 Nachricht von der Eröffnung des Neuen Theaters in Leipzig, des Schriftstellers und Literaturtheoretikers Johann
1766, Vorwort, S. V. Schlegels Herrmann war das erste Christoph Gottsched (1700–1766).
Stück, das auf dieser neuen Bühne gespielt wurde.
84 Schlegel, Herrmann, I,2 (320). 87 „Mein Trieb herrscht über mich, und heißt mich, was
85 Dazu ausführlich: Bénichou (1948) 31ff. ich meide. / Ich selber thue nichts, ich folge nur und
86 G. von Essen vergleicht die neustoizistische Haltung des leide“ sagt er in II,4 zu Marcus (Schlegel, Herrmann,
Arminius, wo römisch-stoische und höfisch-französi- 226). S. auch von Essen (1998) 73.
sche Haltungen zusammenkommen, mit Corneilles 88 Hierzu gehört auch das Versmaß des Alexandriners.
Rodrigo aus dem Cid (von Essen [1998] 80).
89 Schlegel, Herrmann, 226. 92 (Jean Grégoire Bauvin), Arminius ou les Chérusques, Tra-
90 Schlegel, Herrmann, 226. gédie tirée du théâtre allemand, par M. Bauvin, de la Société
91 Er war Mitarbeiter des aufklärerischen Autors und Littéraire d’Arras, Représentée pour la première fois, par
Historikers Jean-François Marmontel (1723–1799) und les Comédiens François Ordinaires du Roi, le 26 septembre
veröffentlichte in dessen literarischen Zeitungen L’Ob- 1772, Paris 1773, S. II.
servateur littéraire und Mercure de France. Die Anecdotes 93 Wir folgen hier der Argumentation von Krebs (2003) 306.
Dramatiques von 1775 (S. 34f.) machen weitere Angaben 94 (Jean Grégoire Bauvin), Arminius ou les Chérusques. Tra-
über den sonst eher unbekannten Autor: Er war Leh- gédie tirée du théâtre allemand, par M. Bauvin, de la Société
rer an der königlichen Militärschule in Arras und Mit- Littéraire d’Arras, Paris 1772, S. 25; in der Ausgabe von
glied der dortigen Literarischen Gesellschaft. Seine Tra- 1773 (s. Anm. 92) S. 28. Die Ausgabe von 1772 ist vor der
gödie Les Chérusques war das einzige Theaterstück, das Umarbeitung für die Bühne entstanden und in man-
er schrieb. chen Dialogen politisch direkter und ausführlicher als
die Bühnenfassung von 1773.
„Ihr Götter! Euer Volk ist frei und nicht länger erniedrigt.
Die Hoffnung, die es geschöpft hat, habt ihr erfüllt.
Haltet für immer von Germanien fern
Alle die Übel, welche die Tyrannei hinter sich herzieht.“97
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Textstelle, die sich in Schlegels Text nicht findet und die
Bauvin eingefügt hat. Ségismar verweist im Gespräch mit Flavius auf die alten republikanischen Werte
Roms, die allerdings nicht so genannt werden:
Der Hinweis auf die alten römischen Tugenden ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Einerseits
hatte Tacitus ja selbst in seiner Germania die germanische Lebensweise indirekt mit der römisch-repu-
blikanischen Zeit verglichen und an ihr Züge des von ihm so hochgeschätzten alten Römertums wie-
derentdeckt. Andererseits war der indirekte Verweis auf republikanische Tugenden nicht frei von aktu-
ellen Bezügen, die der Erläuterung bedürfen.
Das absolutistische Frankreich war kein vollendeter zentralistischer Staat. Der kontinuierliche Aus-
bau der Königsmacht unter Ludwig XIV. (1643–1715) und Ludwig XV. (1715–1774) stieß auf den teilweise
erbitterten Widerstand der regionalen parlements,99 die aufgrund ihrer Zusammensetzung feudale und
aristokratische Interessen verfolgten. Je mehr das absolutistische Königtum mit seinen Ministern ver-
suchte, die Privilegien und Sonderrechte der zwischen König und Volk stehenden mittleren (interme-
diären) Körperschaften einzugrenzen, umso heftiger wurde die Gegenwehr.
Um 1770, als Bauvin sein Stück veröffentlichte, war die Auseinandersetzung zwischen der könig-
lichen Zentralverwaltung und den aristokratisch orientierten Regionalverwaltungen in einer besonders
95 Bauvin, Arminius, II,2 in beiden Ausgaben. weshalb es dem König unmöglich war, unbequeme
96 So Arminius zu Flavius am Ende von II,3. Amtsinhaber abzusetzen. Erblichkeit der Ämter war
97 Bauvin, Arminius (1772), 40; (1773), 43. üblich, so dass sich eine neue Adelschicht bildete, die
98 Bauvin, Arminius (1772), 23; (1773), 26. durch Heirat mit dem alten Schwertadel verschmolz.
99 Die parlements setzten sich vor allem aus der Noblesse de Die Politik der Parlamente war aus diesen Gründen auf
Robe, dem Amtsadel zusammen und hatten weitge- die Erhaltung der Adelsprivilegien gerichtet. Ihre Ge-
hende juristische und administrative Kompetenzen. genspieler waren die königlichen Intendanten, die in
Ämter waren im Frankreich des Ancien Régime käuflich, den Provinzen die Zentralmacht vertraten.
kritischen Phase. Die Finanzkrise des Staates verlangte eine Besteuerung des Landbesitzes, wogegen
sich der in den parlements vertretene Adel vehement zur Wehr setzte. 1771 setzte sich der Staat durch
und entmachtete weitgehend die parlements, allerdings nur kurze Zeit, da sie von Ludwig XVI. rehabi-
litiert wurden. Auch die Heimatprovinz von Bauvin, das Artois, stand in der Auseinandersetzung mit
der Krone, um die althergebrachten Privilegien zu bewahren.
Zur gleichen Zeit setzte sich die Kritik der Philosophen am bestehenden politischen System immer
mehr durch. Eine Fülle von weniger bekannten Schriftstellern popularisierte die neuen Ideen von Vol-
taire, Diderot und Rousseau. Die Forderung nach Freiheit war in aller Munde: individuelle Freiheit, öko-
nomische Freiheit und vor allem Freiheit des Glaubens, verbunden mit der Toleranz.100 Bauvin hatte
selbst in den Zeitschriften von Jean François Marmontel (1723–1799) veröffentlicht. Dieser war ein en-
ger Wegbegleiter Voltaires und selbst Mitarbeiter an der Encyclopédie.
Die Akzentuierung der Chérusques auf die altgermanische Freiheit ist sicherlich in diesem politi-
schen Kontext zu suchen. Das Titelbild der Ausgabe von 1773 spielt darauf an: Ségismar hat seinen
Sohn Arminius vor die Götterbilder der beiden sagenhaften altgermanischen Könige Thuiston und
Mannus geführt. Das Bild bezieht sich auf die 2. Szene des II. Aktes:
100 Soboul (1962) 70–75. 101 Bauvin, Arminius (1772), 26; (1773), 26.
Das Thema der Freiheit der Germanen war politisch nicht neutral und seit der berühmten Veröffent-
lichung Vom Geist der Gesetze des Baron de Montesquieu (1689–1755) von 1748 Teil des europäischen
politischen Diskurses geworden.104 Montesquieu betrachtet in seinem berühmten Werk die Entste-
hungsbedingungen der verschiedenen Staatsverfassungen und Gesetze und bezieht sich dabei auf die
antike Klimatheorie: Die Völker des Nordens besäßen mehr Tatkraft, mehr Tugend und Freiheitsliebe,
während die des Südens der Trägheit des Körpers und Geistes sowie ‚römischer‘ Knechtschaft anheim-
gefallen seien. Er gesteht auf der Grundlage klimatologischer, verfassungsorientierter und kultureller
Faktoren jeder Gesellschaftsform eine individuelle Eigenberechtigung zu. Diese Theorie bot erstmalig
die Chance, von einer aus den Wurzeln der eigenen Lebens-, Kultur- und Sprachgemeinschaft gewach-
senen Dichtung eine nationale Blüte zu erwarten.105 Montesquieu hatte damit den Deutschen den Weg
geöffnet, die eigene staatliche Existenzform anzuerkennen, ohne ständig auf Nachbarländer wie Frank-
reich zu schauen und sich mit ihnen zu vergleichen.
Im sechsten Kapitel des elften Buchs kommt er auf die englische Verfassung zu sprechen, die für
ihn vorbildlich ist. Dort findet sich der berühmte Satz, dass die englische Verfassung auf germanischen
Ursprüngen beruht: „Wenn man das bewundernswerte Werk des Tacitus über die Sitten der Germanen
liest, dann wird man sehen, dass die Engländer die Idee ihres politischen Regiments von ihnen über-
nommen haben. Dieses schöne Lehrgebäude wurde in den Wäldern gefunden.“106
Um seine Feststellung zu untermauern, führt Montesquieu eine Textstelle aus der Germania des
Tacitus an: „Über kleinere Dinge gehen die Fürsten zu Rat, über größere alle, so jedoch, dass auch das,
worüber die Entscheidung beim Volke liegt, bei den Fürsten vorausbehandelt wird.“107
102 L’Année Littéraire 1772, 264. 106 Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, De l’esprit
103 Bauvin, Arminius (1773), „Préface“, III. S. auch Krebs des loix, ou du rapport que les loix doivent avoir avec la con-
(2003) 306. stitution de chaque gouvernement, les mœurs, le climat, la re-
104 Hier in unserem Zusammenhang ist vor allem das ligion, le commerce, & à quoi l’auteur a ajouté des recherches
11. Buch interessant, in dem es um die englische Verfas- nouvelles, sur les loix romaines touchant les successions, sur
sung geht. les loix françoises, & sur les loix féodales, Nouvelle édition,
105 Stauf (2003) 315f. corrigée par l’auteur, Genf 1750, Buch 6, Kap. 6, S. 323.
107 Textstelle nach Tac. Germ. 11. Lateinisches Zitat bei Mon-
tesquieu, De l’esprit des loix, 323.
Die Feststellung, dass die damals freiheitlichste Verfassung Europas germanischen Ursprungs ist, re-
habilitierte die von Italienern und Franzosen immer noch als Barbaren eingestuften Deutschen und
sollte dem aufkeimenden deutschen Patriotismus einen gewaltigen Schub verleihen.
In Montesquieus Satire Persische Briefe von 1721 heißt es über die Monarchie, dass sie einen
Gewaltzustand repräsentiert, der immer in den Despotismus entartet.108 Dabei hatte er das Frankreich
Ludwigs XIV. im Auge, der durch die gewaltsame Zentralisierung die regulierenden mittleren Auto-
ritäten des Königreichs abschaffte. Damit gab es keine Institution mehr, die sich seiner Willkürherr-
schaft entgegenstellen konnte: „Schafft in einer Monarchie die Vorrechte der Feudalherren, der Geist-
lichkeit, des Adels und der Städte ab, so habt ihr gar bald einen Volksstaat oder sogar einen despotischen
Staat.“109
Zwischen dem Machtanspruch des Staates und dem des aufsteigenden Bürgertums sieht er den
dritten Weg nur im Rückgriff auf die Tradition, auf die Ursprünge der französischen Monarchie, auf
die fränkische Reichsverfassung und Karl den Großen. Montesquieu sieht in seiner eigenen Zeit eine
Allianz zwischen Monarchie und Bürgertum gegeben, die sich gegen den Adel richtet. Er ist davon
überzeugt, dass die gesetzgeberische Gewalt der mittleren Ebene, die in den Parlamenten verkörpert ist,
die Freiheit sichert. Damit stellt sich Montesquieu hinter den Adel und die feudale Staatsverfassung, die
108 Montesquieu, Lettres Persanes, hg. v. Paul Vernière, Paris 109 Montesquieu, De l’esprit des loix II, 4.
1963 (102. Brief).
1750 beantwortete Jean Jacques Rousseau (1712–1778) die Preisfrage der Akademie von Dijon „Ob der
Fortschritt der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe“ mit seinem be-
rühmt gewordenen ‚Nein‘. Entgegen allen Erwartungen eines fortschrittsoptimistischen Jahrhunderts
kommt er zu dem Schluss, dass die Wissenschaften und Künste viel mehr Schaden als Nutzen gehabt
hätten.110 Rousseau schildert den Verfall der antiken Reiche bis nach China, um dann den Naturzustand
der einfachen Völker zu preisen: „Vergleichen wir nun mit diesen Bildern das Bild, das die Sitten der
wenigen Völker bieten, die von dieser Ansteckung mit eitlen Kenntnissen verschont geblieben, durch
ihre Tugend ihr Glück gegründet haben und für die anderen Völker ein Vorbild waren. So waren die frü-
hen Perser … So waren die Skythen … So waren die Germanen, deren Einfachheit, Unschuld und Tu-
gend zu schildern einem Schriftsteller wohltat, der es leid war, die Verbrechen und Gemeinheiten eines
gebildeten, reichen und genussfreudigen Volkes aufzuzeichnen. So war selbst Rom in den Zeiten sei-
ner Armut und Unwissenheit.“111
Diese Schilderung der germanischen Völker bezieht sich auf Tacitus und beschreibt den Zustand
der Menschen in einer Art vormodernen Gesellschaftsordnung, in welcher der autarke Naturmensch
schon aus seiner Isolation herausgetreten ist und Gemeinschaften zur besseren Bewältigung der Le-
bensaufgaben gebildet hat, nach Rousseau das Zeitalter der Hirtenvölker.
Wir wollen es bei diesem idyllischen Bild der alten Germanen und anderen alten Völker belassen
und auf die Wirkung eingehen, die Rousseau mit diesem Vergleich erzielte. Das ganze 18. Jahrhundert
hatte die edlen Wilden in zahlreichen Werken gerühmt.112 Rousseau hatte den Naturmenschen zwar
110 Jean Jacques Rousseau, Du Contrat Social et autres œuv- 112 Z.B. Nicolas Gueudeville, Dialogues et Entretiens entre
res politiques, hg. v. Jean Erhard, Paris 1975, 11. un Sauvage et le Baron de La Houtan (1704), Delisle de la
111 Rousseau, Contrat Social, 8. Drevetière, L’Arlequin Sauvage (1721). Hierzu zählen
auch die Reiseberichte von Louis Antoine de Bougain-
ville in der Südsee von 1771 und andere.
nicht idealisiert, dazu war seine Argumentation zu differenziert, aber rehabilitiert und aller Primitivität
entkleidet. Dieser gedankliche Ansatz wurde von anderen allzu gern aufgegriffen und entsprach einer
allgemeinen Stimmung, die Deslisle de la Drevetière (1682–1756) in seinem Arlequin Sauvage auf den
Punkt brachte, als er schrieb: „Tausendfach glücklich die Wilden! die einfach den Gesetzen der Natur
folgen … Möge es dem Himmel gefallen, dass ich unter ihnen geboren wäre, [dann] wäre ich nicht all
den Übeln ausgesetzt, die mich verfolgen.“113
Aber trotz Rousseaus ‚edlen Wilden‘, die Geringschätzung der Deutschen und besonders der deutschen
Kultur hatte in Frankreich eine lange Tradition. Für einen Deutschen gehalten zu werden war für einen
Franzosen eine schwer zu überbietende Beleidigung.114 Und zahlreiche Schriftsteller hatten sich ab-
113 Delisle, L’Arlequin Sauvage, III, 2, zitiert nach: Gruse- 114 Leiner (1989) 45.
mann (1939) 17.
115 Stauf (1991) 41. 117 (Justus Möser), Arminius. Ein Trauerspiel von J[ustus] Mö-
116 (Voltaire), Essai sur l’Histoire générale et sur les mœurs et ser, Hannover u. Göttingen 1749, „Vorrede“, S. 5.
l’esprit des nations depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII.
Par Voltaire, Tome Second, Paris 1804, „Préface“, o. S.
Alleinherrschaft mündet in die Tyrannis – so könnte man auf eine Kurzformel den Vorwurf der Fürsten
gegen Arminius bringen. Mit dem Mord an Arminius siegt in Mösers Augen das alte Prinzip der teut-
schen Libertät, also der eingeschränkten Reichsgewalt, über einen modernen Reichseinheitsgedanken.
Möser sympathisiert mit Arminius, doch auch seine Gegner kommen mit starken Argumenten zu
Wort. Mit dem Scheitern des Arminius hat sich der deutsche Partikularismus als die stärkere Kraft
erwiesen – so wie es die kaiserliche Zentralgewalt nicht vermochte, sich gegen die partikularistischen
Interessen souveräner Einzelstaaten durchzusetzen. Mösers späteres Eintreten für die kleinstaatliche
Lösung deutet sich hier schon in der Person von Sigismund an.119
Mösers Theaterstück entfernt sich von dem traditionellen Barock-Helden. Ihm geht es um die
deutsche Verfassungsproblematik. Darin folgt er Montesquieu und seiner Feststellung, dass jede Na-
tion auf die Verfassung Anspruch hat, die ihrer geographischen, historischen, ethischen Eigenart ent-
spricht. So sind seine Protagonisten kühle, mit Verfassungsfragen befasste politische Strategen.120 Ihm
geht es auch um die jüngste Vergangenheit, als die Schlesischen Erbfolgekriege – Bürgerkriege für die
Anhänger einer einheitlichen deutschen Nation – die unvereinbaren Interessen der deutschen Einzel-
staaten wieder vor Augen führten.
Die Überwindung des Barbarenvorwurfs war Mösers Ausgangspunkt. In seinen historischen
Schriften verfolgte er diese kulturelle Aufwertung der alten Germanen-Deutschen weiter, umso mehr,
als sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die öffentliche Meinung der gebildeten Kreise immer
mehr der Griechenbegeisterung zuwandte. Die Hochkultur des klassischen Griechenlands war über je-
den Zweifel erhaben. Die Germanen mussten erst noch kulturell emanzipiert werden. So konnte Möser
nur hoffen, dass der deutsche Zuschauer seinem Arminius „vor einem Griechen oder Römer gewogen
sein werde“, wie er in seiner Vorrede zum Stück schrieb.121
Für die weitere Arminius-Rezeption wurde der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) wich-
tig, da er zwischen 1769 und 1787 drei Dichtungen über Arminius schrieb, die er in Anlehnung an die
Gesänge der keltisch-germanischen Barden ‚Bardieten‘ nannte.122
In der Hermanns Schlacht ist der Schauplatz ein Felsen hoch über dem Kampfgeschehen im Tal, auf
dem sich vor einem Altar Wodans Druiden und Barden versammelt haben und den Schlachtverlauf mit
ihren Gesängen lenken. Zu ihnen gelangen im Verlauf des Stückes verschiedene Personen, welche die
Handlung weiterführen. Die Gesänge der Barden schallen zu den Kämpfenden im Tal herunter und feu-
ern ihren Kampfgeist an. Sie sind wesentlicher Teil der Kriegführung und maßgeblich am Sieg beteiligt:
118 Möser, Arminius, IV,6 (59). bearb. v. Paul Göttsching, Flensburg, Oldenburg u.
119 Ebenso in seiner „Vorrede“ zur Osnabrückischen Ge- Hamburg 1964, 34).
schichte, in der er die Territorialhoheit kleinerer Staaten 120 Stauf (1991) 67f. und (2003) 313.
dem Despotismus der zentralstaatlichen Lösung gegen- 121 Möser, Arminius, „Vorrede“, 3.
überstellt (in: Justus Möser, Sämtliche Werke, 3. Abt.: 122 Hermanns Schlacht (1769); Hermann und die Fürsten
Osnabrückische Geschichte und historische Einzelschriften, (1784); Hermanns Tod (1787).
Die Germanen der Hermanns Schlacht, so heißt es zwischen den Zeilen, kämpfen einen gerechten
Krieg, der nach der antiken bellum iustum-Theorie zur Abwehr von Aggression und Rache für erlittenes
Unrecht gerechtfertigt und erlaubt war.124 Die Götter sind auf Seiten der Germanen, auf Seiten des ge-
rechten Krieges. Segests Plädoyer für einen Frieden mit den römischen Eroberern weist der Druide
Brenno scharf zurück:
„Die Götter sind mit uns. Die Römer arbeiten vergebens, vorzudringen …
Dein ganzes Volk will Freyheit! und du willst Sclaverey!“125
Erst am Ende des Stückes, in der elften Szene, tritt Hermann auf. Thusnelda empf ängt ihn als Sieger,
der ihnen die Freiheit bewahrte. Großmütig verhindert Hermann den Tod aller gefangenen Römer und
erweist sich als ‚gerechter Krieger‘ – Klopstock geht hier sehr frei mit den antiken Berichten um, nach
denen die Gefangenen geopfert wurden, aber so trifft Hermann wenigstens kein Makel.
123 Friedrich Gottlieb Klopstock, Hermanns Schlacht, ein men (von Essen [1998] 102ff.). Klopstock selbst charak-
Bardiet für die Schaubühne, Hamburg u. Bremen 1769, terisierte den römischen Angriff auf Germanien als
Szene 2 (S. 20). „Krieg der Herrschsucht und nicht der Gerechtigkeit“
124 Zu dem Thema des gerechten Krieges in der Hermanns (Hermanns Schlacht, 1 [10]).
Schlacht hat G. von Essen ausführlich Stellung genom- 125 Klopstock, Hermanns Schlacht, 4 (46).
Es ist schon erstaunlich, welch große Resonanz Klopstocks Dichtungen in diesem Deutschland der
Spätaufklärung fanden. Die deutsche Kulturnation – die noch lange nicht zu einer politischen Einheit
gefunden hatte – definierte sich über eine gemeinsame Sprache und Kultur. Um sich als eine – wenn
auch nur gedachte oder erwünschte – Einheit zu konstituieren, bedurfte es der patriotischen Mythen,
um sich die eigene Nationalität auch im Licht der Geschichte bewusst zu machen. Klopstock hatte dies
richtig erkannt, und sein Versuch, die nordische Geschichte und Mythologie dem deutschen Publikum
nahezubringen, wandte sich gegen den kulturellen mainstream, also der von Johann Joachim Winckel-
mann (1717–1768) initiierten Begeisterung für die klassische Antike, besonders Griechenlands.
Johann Gottfried Herder (1744–1803) hatte sich ebenfalls der nordischen Geschichte zugewandt.
Der germanische Abwehrkampf gegen Rom war für ihn gleichbedeutend mit einer Verteidigung der
‚germanischen Freiheit‘, wodurch die Eigenart der Nationen erhalten werden konnte. Die Anlehnung
an Montesquieu ist unübersehbar, und auch für Herder liefert die Geschichte den Schlüssel zum Ver-
126 U. a.: Bougainville, Voyage autour du monde (1771); Mon- 127 Friedrich Gottlieb Klopstock, „Ode: Sie und nicht wir.
tesquieu, Lettres Persanes (1721), Voltaire, L’Ingénu (1767) An la Rochefoucauld“ (1790), in: Klopstocks Werke. Erster
etc. und Zweyter Band: Oden, Leipzig 1798, Bd. 2, 142.
Die Wertschätzung der germanischen Freiheit und ihres Freiheitskampfes inspirierte auch die Anhän-
ger der Französischen Revolution. Der dänische Dichter Jens Baggesen (1764–1826) deutete 1801 den
Hermannmythos sogar kosmopolitisch als Ursprung einer übernationalen Menschheitsversöhnung,
von der die Freiheit Europas ihren Ausgang nahm und sich nach 1789 fortsetzte: „Ich sah in Hermanns
Andenken die Geburt der Freyheit Europa’s … Jetzt brach sie mit doppeltem Glanze aus Frankreichs
Europa in Bestürzung setzenden Reichstage hervor. / Ich war nun nicht länger Nationalsclav – Ich war
Deutscher, ich war Franke, ich war Britte, ich war Belgier, ich war Schweizer, ich war Skandinavier!
Mein Herz schlug gleich laut für den Bruder hier, und für den Bruder dort.“131
Und der Universitätsprofessor Carl Friedrich Cramer (1752–1807), der als deutscher Jakobiner flie-
hen musste, hatte sich in Paris als Verleger niedergelassen und wollte die Klopstockschen Hermann-
Bardieten ins Französische übersetzen, um sie dem Pariser Publikum nahe zu bringen.
1800 erschien die französische Hermanns Schlacht im Druck, der Cramer ein umfangreiches Vor-
wort beigegeben hatte, um in das Werk einzuführen. In seinem Vorwort zieht Cramer eine bemerkens-
werte Parallele zwischen Arminius und Napoleon, indem er Hermann als „Bonaparte Germaniens“
bezeichnet: „Dieses Werk, welches übrigens schon aufgrund seines Themas würdig erscheint, die Auf-
merksamkeit der kriegerischen Söhne der Gallier und Franken zu erringen, denn es feiert einen frühe-
ren Buonaparte Germaniens, behandelt die Schlacht des Arminius oder Hermann, ein Drama des vor-
nehmsten epischen Poeten Deutschlands, von Klopstock.“132
128 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Ge- 131 Jens Baggesen, Humoristische Reisen durch Dänemark,
schichte der Menschheit, 4. Theil (1785), in: Herders sämmt- Deutschland und die Schweiz, Band 4, Mainz u. Hamburg
liche Werke, 33 Bde., hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1801, S. 191f. (zitiert nach von Essen [1998] 15).
1877–1913, Bd. 14, 270f. S. auch Zimmermann (1987) 132 (Friedrich Gottlieb Klopstock u. Carl Friedrich Cramer),
138–148; Niedermeier (2002) 29f. La Bataille d’Hermann. Bardit de Klopstock, Éditeur
129 Herder, Ideen, 277. Charles Frédéric Cramer, Paris 1800, „Discours Prélimi-
130 Zitat in: Herders sämmtliche Werke V, 333. naire“, XII.
Und dann folgt eine an die antiken Schriftsteller angelehnte Geschichte der Varusschlacht, in der Ar-
minius als strahlender junger Held vorgestellt wird.133 Bemerkenswert ist Cramers Versuch, die Barden-
gesänge in Klopstocks Hermanns Schlacht den Kriegsliedern der französischen Revolutionstruppen an-
zunähern.134 Sein Vorwort gipfelt in dem Aufruf an die deutschen Revolutionäre, ihren Landsleuten den
Weg zu weisen, um nach dem Vorbild der Franzosen den Despotismus zu überwinden und sich so ihrer
Abstammung von Luther und Arminius würdig zu erweisen.135
Die Cramersche Übersetzung, die in enger Abstimmung und Mitwirkung Klopstocks geschah,
sollte einschließlich Vorwort und Anmerkungen in drei Bänden erscheinen. Der schlechte Absatz
der ersten Ausgabe brachte das ganze Unternehmen ins Stocken. So gab Cramer die nicht verkauften
Exemplare, mit einem neuen Titelblatt versehen, 1801 erneut heraus. Jetzt wird die Gleichsetzung Ar-
minius-Napoleon auch an prominenter Stelle im Titel vermerkt: Das Bild eines Helden oder das als Drama
erzählte Leben des Bonaparte der Germanen. Cramer begründet diesen neuen Titel: „Ich habe es gewagt,
133 Klopstock u. Cramer, Bataille, LIV. 134 Klopstock u. Cramer, Bataille, CLI–CLII.
135 Klopstock u. Cramer, Bataille, CLII.
136 (Friedrich Gottlieb Klopstock u. Carl Friedrich Cramer), Paris 1803; Dank an Mark Emmanuel Amtstätter, Ham-
Le Tableau d’un Héros ou Vie Dramatisée du Bonaparte burg, für Hintergrundinformationen zu den Cramer-
des Germains, traduit de l’Allemand de Fréderic-Théophile schen Klopstockausgaben.
Klopstock, Citoyen Français, 2. Aufl., Paris 1801, „Préface 139 Das 1804 erschienene Drama Arminio von Ippolito Pin-
de la seconde édition“, III. demonte (1753–1828) wird hier nur am Rande erwähnt,
137 „Wie schwach sind eines Kriegers Bewunderer, / Der sie, weil es in zeitlichem Abstand eine Problematik auf-
die schönste Schöpfung der späten Welt, / Die Freiheit in greift, die in der älteren französischen und deutschen
den Staub tritt, andre / Bildung des Staates, als ihr wählt, Literatur schon ausgiebig behandelt wurde: den Konflikt
gebietend!“ (Ode „An die rheinischen Republikaner“, zwischen der Freiheit der Germanen und dem nach der
Ausschnitt, in: Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte absoluten Macht strebenden Arminio. Der dramatische
Werke, hg. v. Karl August Schleiden, München 1962, 165). Konflikt wird hier allerdings weniger politisch als auf
138 (Friedrich Gottlieb Klopstock u. Carl Friedrich Cramer), einer menschlichen Ebene ausgetragen (Balduino [1990]
Le Tableau d’un Héros ou Vie Dramatisée d’Herman, tra- 1245f.).
duit de l’Allemand de Frédéric-Théophile Klopstock, Citoyen 140 (Friedrich Rambach), Hermann von F. E. R., Erster Theil:
Français, et Associé étranger de l’Institut National, 3. Aufl., Die Teutoburger Schlacht, Riga 1813, S. 24.
Seit zweihundert Jahren läßt Arminius die Deutschen nicht los. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
behauptet er seinen Platz im historischen Gedächtnis der Deutschen. In der deutschsprachigen Abtei-
lung des internationalen Famous People Index finden wir ihn aktuell unter seinem volkstümlichen Na-
men ‚Hermann der Cherusker‘ – mit Kurzbiographie und sachlicher Würdigung –, alphabetisch einge-
ordnet zwischen Werner Heisenberg und Alfred Herrhausen.1
Die Beschäftigung mit dem römisch sozialisierten Cheruskerfürsten und die Ursprünge seiner
Mythisierung reichen über das 19. Jahrhundert bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts zurück. Zu seiner
folgenreichen politischen Entfaltung gelangte der variantenreiche und damit unterschiedlichen zeit-
genössischen Anforderungen sich anverwandelnde Arminius-Mythos jedoch erst drei Jahrhunderte
später, und zwar in der napoleonischen Ära zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Jetzt stieg Arminius zum
Nationalheros empor. Als „Römerbesieger“ und „erste[r] bekannte[r] große[r] Teutsche[r]“ erhielt er
1842 einen zweifachen Ehrenplatz in der Walhalla: Mit diesem Parthenon auf dem Hochufer der Donau
unweit Regensburgs wollte der bayerische König Ludwig I. „rühmlich ausgezeichneten Teutschen“
ein Denkmal errichten, aus dem – so sein Wunsch – „teutscher der Teutsche … trete, besser, als er ge-
kommen“.2
Im Innern des Ruhmestempels führt Arminius die Phalanx von Walhalla’s Genossen an.3 Zusätzlich
wurde im nördlichen Giebelfeld der kampfbereite Arminius im Zentrum der Varusschlacht dargestellt,
die mit einer allegorischen Darstellung auf Deutschlands Befreiung im Jahr 1814 und den ersten alliierten
Sieg über das napoleonische Frankreich im Südgiebel korrespondiert.4
Die Indienstnahme von Arminius und der Varusschlacht als Chiffren für den bedingungslosen
Freiheitskampf gegen feindliche Invasoren und gegen Fremdherrschaft entsprang – wie Ludwigs I.
Walhalla-Idee – dem unmittelbaren Eindruck der politischen Umbrüche und der folgenreichen Nieder-
lage Preußens in der Schlacht von Jena und Auerstedt in den Jahren 1806/07. Wenige Wochen nach der
vernichtenden Schlacht schrieb Heinrich von Kleist, von den Ereignissen seelisch und körperlich ge-
schwächt, Ende Oktober 1806 in einem Brief an seine Schwester: „Wir [Deutsche] sind die unterjochten
Völker der Römer.“5 Zwei Jahre später schuf er mit dem Drama Die Hermannsschlacht ein literarisches
Manifest, das diesem Selbstverständnis verpflichtet war; es wurde allerdings erst posthum 1821 veröf-
fentlicht und erst weitere vierzig Jahre später, bezeichnenderweise am Jahrestag der Leipziger Völker-
schlacht am 18. Oktober 1860 – im Breslauer Stadttheater – uraufgeführt.
Wenn der Text von Kleists Hermannsschlacht auch unverändert blieb, die Inszenierungen waren es
nicht: In der von zunehmendem Nationalismus geprägten Stimmung von der zweiten Jahrhunderthälfte
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 257
Abb. 1 | Die ,Hermannsschlacht‘ von Ludwig Schwanthaler im nördlichen Giebelfeld der Walhalla; die Marmorausführung entstand
zwischen 1837 und 1841.
an bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde Die Hermannsschlacht als antifranzösisches Propagandaspekta-
kel und nationales, die Opferbereitschaft beschwörendes Weihestück inszeniert – 1863 in Leipzig anläß-
lich des 50. Jahrestages der Völkerschlacht, 1880 in Königsberg zum zehnten Jahrestag der Schlacht von
Sedan, 1913 in Leipzig zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals oder im Herbst 1914 im Berliner
Schiller-Theater, wo, wie der damalige Hermann-Darsteller erinnert, „die Wogen der Begeisterung
hoch[gingen]. Wie oft wurde damals nach der Vorstellung von der Bühne herab irgendein großer Waf-
fengang verkündet! Dann kam es wohl vor, daß alle im Theater stehend das Deutschlandlied sangen.“6
Kleist hatte Die Hermannsschlacht, wie er einem Freund gegenüber 1809 bekannte, „einzig und
allein auf diesen Augenblick berechnet“:7 Sie sollte ein an die politischen, militärischen und gesell-
schaftlichen Eliten adressierter Appell sein, den Volkskrieg auszurufen und gegen die Fremdherrschaft
zu mobilisieren, wie es in Spanien bereits seit 1808 der Fall war.8 Der aktuellen politischen und militä-
rischen Kräfteverteilung entsprechend setzte Kleist seine Hoffnungen im bevorstehenden Kampf ge-
gen die französische Vorherrschaft nicht auf den ‚Preußen‘ Hermann, sondern auf das von dem Sue-
benfürsten Maroboduus personifizierte Österreich, wobei der historische Suebenfürst im Jahr 9 n. Chr.
gerade nicht auf der Seite von Arminius stand.
6 Zit. n. Bendikowski (2008) 186; Hinweise auf die Auf- 7 Kleist an Heinrich Joseph von Collin, 20. u. 23. 4. 1809,
führungen bei von See (2003) 75. in: Briefe IV, 431f., Zit. 432.
8 Dörner (1996) 103f.
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 259
Abb. 4 | Karl Russ, Hermann zersprengt die Ketten von Germania, Leipzig 1813. Die Darstellung ist eine unmittelbare Reaktion auf die
Leipziger Völkerschlacht vom Oktober 1813 und die Niederlage der napoleonischen Armee.
In und mit den Freiheitskriegen 1813/14 avancierte Arminius endgültig zur nationalen Identifikations-
figur für den bevorstehenden Befreiungskampf. In einem Aufruf an die Deutschen hieß es 1813: „Europa
ruft in diesem Augenblick: Ist kein Hermann da? – kein neuer Hermann, der die neuen Adler vor sich
in die Flucht jagt? Auf, Deutsche! Euer Hermann muß sich finden.“9 Und Ernst Moritz Arndt, gemein-
sam mit dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte und dem ‚Turnvater‘ Friedrich Ludwig Jahn Wortfüh-
rer des zeitgenössischen deutschen Nationalismus, mahnte in seiner prophetischen Friedensrede eines
Deutschen: „Deutsche, vergesset Hermann nicht; flehet die Vorsehung an um einen solchen Mann und
Befreier, weist eure Mitwelt und Nachwelt darauf hin, und er wird kommen, und ihr werdet ein Volk
sein und ein freies, starkes Volk.“10 Nicht ein Mann, auch nicht die Freiwilligen, sondern eine europäi-
sche Koalition erfocht in der Leipziger Völkerschlacht den Sieg über Frankreich. In einer plakativen Ra-
9 Zit. n. Wiegels (2008) 37. 10 Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, Teil 2, in: Arndts Werke,
Bd. 7, hg. v. August Leffson u. Wilhelm Steffens, Berlin
u.a. o.J., 94.
11 S. Kösters (2009) 198. ziösen Fixierung wird einmal mehr die unreflektierte
12 Zit. n. Wolters (2008) 186f. und unhaltbare Gleichsetzung zwischen ‚germanisch‘
13 Wiegels (2008) 37; Hjalmar Kutzleb, Der erste Deutsche. und ‚deutsch‘ fortgeschrieben und damit zugleich ein
Roman Hermann des Cheruskers, Braunschweig u.a. territorial ausgerichtetes, neuzeitliches Nationaldenken
1934. S. in diesem Zusammenhang mit Bezug auf die zum Kriterium genommen. Die Abweisung dieser
Gegenwart Wiegels (2007) 15: „Die Frage nach der Va- Gleichsetzung bedeutet aber zugleich, dass die Varus-
russchlacht als Wendepunkt der Geschichte ist … aktuel- schlacht nicht nur kein ‚Urknall‘ der ‚deutschen‘ Ge-
ler denn je, seit das Deutsche Historische Museum in schichte ist, sondern auch kein Wendepunkt innerhalb
Berlin in seiner Dauerausstellung den Beginn der Deut- einer solchen sein kann.“
schen Geschichte – den ‚Urknall‘, entsprechend einer 14 Arndt, Geist der Zeit 2, 93f.
Formulierung des verantwortlichen Leiters – historisch 15 Von See (2003) 75.
in der Varusschlacht verortet. Mit dieser gleichsam offi-
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 261
Abb. 5 | Hermann-Darstellung von Katharina Sattler aus dem
dritten Band der von ihr illustrierten vier Gedichtbände Ludwigs I.
von Bayern, nach 1839.
Ein Massenpublikum erreichte der Mythos jedoch vor allem durch das Hermannsdenkmal. Mit dessen
Standort auf der bei Detmold gelegenen Grotenburg, einer, wie sich später herausstellen sollte, Ring-
wallanlage aus der Latènezeit, erhielt auch der Mythos einen festen Ort. Für seine Wahl war die expo-
nierte Lage als höchste Erhebung in der waldreichen Region um Detmold ausschlaggebend, obwohl der
Ort nicht erst seit den Funden bei Kalkriese umstritten ist.16 An annähernd 700 Orten wurde die Varus-
schlacht seit dem 19. Jahrhundert von Wissenschaftlern, lokalpatriotischen Laienforschern und völ-
kischen Ideologen lokalisiert.17 Bereits im Jahr der Grundsteinlegung des Denkmals 1838 machte sich
Karl Leberecht Immermann in seinem satirischen Zeitroman Münchhausen (erschienen 1838/39) über
die zeitgenössische Germanomanie und die Suche nach dem Schauplatz der Varusschlacht lustig: Die
16 Zu den Auseinandersetzungen um den Ort der Varus- Arminius und die Symbolik. Mit einem historischen An-
schlacht seit dem 19. Jahrhundert s. Schlüter (1995), hang über die Varusschlacht, Heidelberg 1961, bes.
Kösters (2009) 255–258, Derks (2009) bes. 53–55 sowie 122–161. Zur Verbindung von Siegfried und Arminius
Moosbauer u. Wilbers-Rost (2009). im 19. Jahrhundert u. besonders nach dem Ersten Welt-
17 Derks (2009) 54. Als Beispiel für die bis weit ins krieg s. die Hinweise bei von See (2006) bes. 122–127,
20. Jahrhundert reichende, ideologisch geleitete Bestim- Kösters (2009) 289–291 u. 293 sowie Hardt (2009) bes.
mung des Schlachtenortes s. Otto Höfler, Siegfried, 229–231.
ganze Gegend sei „besetzt und verstopft gewesen von Cheruskern, Katten und Sikambrern“, läßt er
einen ‚Sammler‘ ausrufen, und ein ‚Mann vom Lande‘ habe eine Stelle auf einem Feld nahe Arnsberg
gezeigt, „wo Knochen in ungeheurer Zahl zwischen Sand und Kies aufgeschichtet seien“. Der enthu-
siastische ‚Sammler‘ wird aber bald enttäuscht, denn sein Germanen-Knochen entpuppt sich als Kuh-
Gebein, worauf ein Bauer lapidar feststellt: „Herr Schmitz, Sie sind auf einen Schindanger gestoßen
und nicht auf das Teutoburger Schlachtfeld.“18
Mehr noch als der seit nunmehr annähernd zweihundert Jahren imaginierte Ort der Varusschlacht
steht das Hermannsdenkmal, dem Thomas Nipperdey den Charakter eines nationalen Bergheiligtums
im mythisierten „Wald als der eigentlichen deutschen Seelenlandschaft“ zuweist (was sinnf ällig nicht
zuletzt die Hermannsfeier des 1923 gegründeten Vereins ‚Deutscher Wald – Bund zur Wehr und Weihe
des Waldes‘ 1925 bestätigt),19 für ein wichtiges Element des Arminius-Mythos, das insbesondere die
Jahrzehnte vor der Reichsgründung beherrschte: die deutsche Einheit als die Einheit aller Deutschen.
Nach dem Ende der napoleonischen Ära wurde Arminius nicht mehr nur gegen äußere Bedrohung
eingesetzt – obwohl der Mythos diese Funktion keineswegs verlor (wie mit Rheinwasser und Rheinwein
18 Karl Immermann, Werke in fünf Bänden, hg. v. Benno 19 Nipperdey (1976) 161; s. auch Nipperdey (1975). Zum
von Wiese, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1972, 148f. unter der Schirmherrschaft Paul von Hindenburgs
stehenden ‚Deutschen Wald e.V. – Bund zur Wehr und
Weihe des Waldes‘ u. zur Hermannsfeier s. Zechner
(2009) 180f.
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 263
Abb. 7 | Entwurf zum Hermannsdenkmal
nach einer Zeichnung von Carl Schlickum,
1840.
gefüllte, 1841 und unmittelbar nach der Rheinkrise in den Grundstein eingelassene Flaschen veran-
schaulichen) –, sondern wurde von dem aufkommenden bürgerlichen Liberalismus und Nationalis-
mus zum Symbol ihrer Forderungen nach politischer Geschlossenheit und staatlicher Einigung der
Deutschen. An diese Forderung erinnert bis heute eine am Grundstein des Bandelschen Hermanns-
denkmals angebrachte Tafel, auf der die Deutschen zur Einheit gemahnt werden: „Hermann dem Be-
freier Deutschlands gründen dies Denkmal Deutschlands Fürsten und Volksstämme in Eintracht ver-
bunden. Er bleibe und daure, der Sinn der Eintracht, welcher dies Denkmal schuf, und getilgt sei der
Fluch der Zwietracht, den der Zorn des Überwundenen an der Wiege unseres Volkes aussprach.“20
Als das Hermannsdenkmal bei Detmold, Ernst Bandels Lebenswerk, nach vier Jahrzehnten Pla-
nungs- und (immer wieder unterbrochener) Bauarbeit und in der Schlußphase mit finanzieller Unter-
stützung des Reichstages und des Hauses Hohenzollern fertig gestellt und 1875 eingeweiht wurde, war
der deutsche Nationalstaat bereits vier Jahre Realität und die Mahnung schien hinf ällig zu sein.21 Das
Denkmal erfuhr nun gewissermaßen eine geistige Umwidmung: In Bezugnahme auf die gegen Frank-
reich erfolgte Reichseinigung ‚von oben‘ wurde das Hermannsdenkmal zum reichsdeutschen Sieges-
mal und zu einem „dezidiert antifranzösischen Monument“:22 Hermann mit dem nach dem Kampf tri-
umphierend erhobenen Schwert blickt nach Westen.
Beide Elemente – die Reichseinigung durch die Hohenzollern und die Bezugnahme auf den
deutsch-französischen Krieg von 1870/71 – dokumentiert ein in einer Sockelnische des Denkmals an-
gebrachtes Bronzerelief Wilhelms I., „das nach einem Modell Bandels aus dem Material einer bei dem
[lothringischen] Gravelotte eroberten Kanone gegossen wurde“ und auf dem in einem Eichenkranz die
Namen der im deutsch-französischen Krieg gewonnenen Schlachten genannt werden.23 Unter dem Re-
lief ist eine Kupferplatte mit dem Text angebracht:
Dieser Vers führt nicht nur die seit den Freiheitskriegen geläufigen Arminius-Mythologeme zusam-
men, sondern er stellt auch den Versuch einer ‚Mythenkoppelung‘ dar, indem Arminius mit Wilhelm I.
(wie nach 1918 mit Hindenburg und dann 1933 mit Hitler) verbunden wird:25 Wilhelm I. als wiederkeh-
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 265
Abb. 9 | Karikatur Kaiser Wilhelms I. als Arminius in
der englischen Satirezeitschrift Punch vom 11. 3. 1871.
render Arminius war der Sieg über den äußeren Feind und die Einigung des Reiches gelungen. „Sieh,
er lebt, Arminius Wilhelmus lebet“,26 heißt es in einem zur Einweihungsfeier des Hermannsdenkmals
entstandenen Gedicht. Bereits vier Jahre zuvor hatte sich das englische Satireblatt Punch in der Ausgabe
vom 11. März 1871 dieses Bildes bedient und Wilhelm I. im Germanenkostüm mit Flügelhelm über ei-
nen am Boden liegenden Gegner hinwegreitend dargestellt.27
Dieser ‚Mythenkoppelung‘ bediente sich auch die deutsche Karikatur: Aus Anlaß der Detmolder
Denkmalseinweihung erschien in der Satirezeitschrift Kladderadatsch vom 15. August 1875 eine Zeich-
nung, die die preußisch-protestantischen, anti-römischen und anti-romanischen Affekte zusammen-
führte und sich damit gegen das antike Reich der Römer ebenso wie gegen die zeitgenössischen ‚roma-
nischen‘ Franzosen, gegen den – in der Epoche des preußischen Kulturkampfes – römischen Papst und
zeitgenössischen politischen Katholizismus richtete und das verwendete Mythenpotential zusammen-
führte: Vor dem Hintergrund des Petersdoms in Rom werden Arminius und Luther im vereinten
Kampf gegen Rom gezeigt – Arminius in Siegerpose und Luther mit der revolutionären Parole: „Ich
werde siegen!“28
26 Zit. n. Losemann (2008) 108. 28 Kösters (2009) 245; die beschriebene Karikatur ist im
27 S. hierzu Wolters (2008) 189. Beitrag von H. Barmeyer im vorliegenden Band abge-
druckt; s. dort Abb. 7, S. 300.
29 Kösters (2009) 289; s. in diesem Zusammenhang auch Bielefeld, Westermann-Sammlung, Lippe-Detmold II,
Knauer (2007). Bd. 28.
30 Losemann (2008) 108. 33 Jeiteles Teutonicus. Harfenklänge aus dem vermauschelten
31 Zit. n. Doyé (2001) 598. Deutschland von Marr dem Zweiten, Bern 1879. S. auch
32 Beispielweise versammelten sich Antisemiten 1893 am die antisemitisch konnotierte Karikatur auf den Eulen-
Hermannsdenkmal; Festprogramm und Lieder zur allge- burg-Skandal im Kladderadatsch 60 (1907), Nr. 44.
meinen Zusammenkunft der Antisemiten Deutschlands am 34 Kemp (2010) 35–41.
Hermanns-Denkmal, Pfingstmontag, den 22. Mai 1893, StA 35 Wolters (2008) 189.
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 267
Abb. 10a | Karikatur auf den ‚Kulturkämpfer‘ Bismarck
aus dem Kladderadatsch vom 30. 6. 1872.
Abb. 10b | Illustration von Eduard Daelen aus Bismarck. Eine Vision, 1882.
Bruder in Detmold ein kräftiger ‚Demokratenbart‘, wie ihn damals viele Deutschamerikaner sowohl als
Rückbezug auf demokratische Traditionen der deutschen Revolution von 1848/49 als auch zur Ab-
grenzung von den überwiegend glattrasierten Amerikanern englischer Abstammung trugen.36 Das
New Ulmer Hermannsdenkmal ließ die skandinavischen Siedler in Minnesota nicht ruhen. Nicht ganz
zuf ällig, aber rechtzeitig wurde in Kensington unweit von Minneapolis ein Runenstein ‚gefunden‘, der
eine Expedition skandinavischer Wikinger ins heutige Minnesota im Jahr 1362 und damit eine vorko-
lumbische Entdeckung Amerikas zu beweisen schien.37 Der bald als Fälschung entlarvte Runenstein in
Minneapolis gelangte ins Museum, Herman schwingt wie 1897 bis in die Gegenwart his Teutonic battle
sword over New Ulm.38
Das Hermannsdenkmal wurde nach seiner Einweihung zum „Wallfahrtsort aller Patrioten“;39 der
Hermann-Mythos war fortan fest mit dem Denkmal und seinem Standort verbunden. Auch nach 1875
verloren – gegenteiligen Behauptungen zum Trotz – „Arminius als nationale Integrationsfigur und die
Varusschlacht als eine die Gegenwart verpflichtende Tat“ nichts von ihrer Bedeutung.40 Die „‚Fieber-
36 Von See (2003) 89. zeption s. den Beitrag von H. Holsten im vorliegenden
37 S. hierzu von See (2003) 89. Band.
38 www.roadsideamerica.com/story/11260 (letzter Zugriff: 39 Bemman (2002) 234.
16. 2. 2009). Zur anglo-amerikanischen Hermann-Re- 40 Wiegels (2008) 45.
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 269
Abb. 13 | Hermannsdenkmal in New Ulm (Minnesota).
kurve‘ der Arminius-Begeisterung“ stieg in den folgenden Jahrzehnten an und „erreichte ihren höch-
sten Ausschlag“ im Jahr 1909.41 In Detmold wurde die 1900-Jahr-Feier der Schlacht mit einem großen
Volksfest in der Manier der nationalen Feierkultur des 19. Jahrhunderts begangen, bei dem jedoch im
Gegensatz zu der Denkmalseinweihung von 1875 – die unter Federführung Preußens durch Wilhelm I.
als „Übergabe des Hermannsdenkmals an das deutsche Volk“ konzipiert gewesen war42 – das deutsche
Volk unter sich und die Monarchen fernblieben.
Mehrere zehntausend Besucher – unter ihnen wie schon 1875 eine Abordnung des nordamerikani-
schen ‚Ordens der Hermannssöhne‘ – nahmen an den Veranstaltungen in der Festwoche Mitte August
1909 teil, die – außer dem zentralen Festakt mit dem für Lokalpatrioten und Germanenverehrer ent-
täuschenden Festredner, dem besonnenen freikonservativen Berliner Historiker Hans Delbrück –
zahlreiche Attraktionen zu bieten hatte. Hauptattraktionen waren das unter freiem Himmel in der
erwähnten Ringwall-Anlage aufgeführte Festspiel Hermann der Cherusker und der Germanenzug. Die-
ser Germanenzug bildete den eigentlichen Höhepunkt des Festes und thematisierte die „siegreiche
Heimkehr der Deutschen“ nach der Hermannsschlacht. Sie wurde den Zuschauern mit Hilfe von an-
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 271
Abb. 15 | Hermannsdenkmal in Hermann (Missouri).
nähernd tausend Komparsen in der Rolle von „wackeren Helden und minniglichen Frauen des ger-
manischen Altertums in realistischer Anschauung vor Augen“ geführt, wie der Düsseldorfer Generalan-
zeiger berichtete.43
Mit der Detmolder Festwoche wollten die Verantwortlichen unter Rückgriff auf das Mythen-Reper-
toire aus der Zeit der Freiheitskriege Arminius’ Bedeutung für die deutsche Geschichte würdigen und die
nationale Begeisterung fördern: Denn Arminius sei „die erste Rettung unserer deutschen Art, unserer
Sprache und unseres Volkstums“ zu verdanken. Die Feier sollte insofern „mehr sein … als schnell ver-
rauschter Festesjubel, … die Persönlichkeit des ersten Helden unserer Geschichte [sollte] in den Geistern
lebendig [werden], [auf ] daß wir einen Hauch seines Wesens und Wollens spüren und im Anschauen sei-
ner Größe selber wachsen in opferfreudiger Liebe zur Heimat und zum deutschen Volk und Wesen.“44
Die ‚Völkischen‘, die Anhänger eines rassistischen und antisemitischen hybriden Nationalismus,
dessen Basis seit den 1890er Jahren sprunghaft anwuchs, teilten diese Überzeugungen. Den Detmol-
der Festtagen begegneten sie dennoch mit Skepsis. Schenkt man der völkischen Presse Glauben, hiel-
ten sich die nationalistischen Organisationen den Feiern überwiegend fern.
Auch wenn es, wie ein völkischer Berichterstatter resümiert, im „Ganze[n] … ein schönes, echt
deutsches Volks-Fest“ war, störte er sich an der Inszenierung und Vermarktung der ‚Gedächtnis‘-Feier:
43 Zit. n. Tacke (1995) 235f., hier auch 228–244 zur 44 Heinrich Schwanold, Arminius, Die Varusschlacht und
1900-Jahr-Feier, sowie Kösters (2009) 248–254 u. Mel- das Hermannsdenkmal. Festschrift zur Neunzehnhundert-
lies (2009a) bes. 263–265. jahrfeier der Schlacht im Teutoburger Wald, Detmold
1909, 7 u. 3.
„Viele Verschmückungs-Gegenstände waren der Gesittung unserer Ahnen vom Jahre 9 n. Kr. angepaßt.
Schädel von Pferden und Rindern, Hörner und Nachbildungen von alten Waffen hingen zwischen
Eichen- und Tannen-Gewinden. Die Trink- und Obstbuden waren mit Strohdächern versehen, um so
alt-germanische Bauten vorzutäuschen … Sogar Germanen-Butterbrote und Hermanns-Würstchen
wurden angeboten, wahrscheinlich um ihren Verzehrern außergewöhnliche, siegfriedhafte Kräfte zu
verleihen.“ Doch mehr als diese „Geschmacklosigkeiten“ erfuhr die Veranstaltung „einen bedenk-
lichen, geradezu schmerzhaften Unterton“ durch die „polnischen Landarbeiterinnen, die aus der na-
hen Umgebung gekommen waren, um ebenfalls am deutschen Siegesfeste teilzunehmen. Kündigen
sich damit gerade auf der Höhe unseres Lebens unsere künftigen Verdränger und Erben an?“45
Es sind die Alldeutschen und vor allem die Völkischen, die Arminius und die Germanomanie um
eine folgenreiche „ideologische Facette“ bereichern, die vor allem nach dem Ersten Weltkrieg „verhee-
rende Wirkungen entfalten sollte“.46 Von der fanatischen Überzeugung durchdrungen, Angehörige
einer auserwählten und allen anderen überlegenen Rasse zu sein, galten ihnen Arminius und die Ger-
manen als Vorfahren im biologischen Sinne.
Die Völkischen sahen sich, wie der Hinweis auf die polnischen Landarbeiterinnen zeigt, in einem
Rassenkampf auf Leben und Tod, sie führten in ihrem Verständnis eine neue Hermannsschlacht gegen
äußere und innere Feinde, gegen Romanen, Slawen, Juden, Katholiken, Liberale, Sozialisten etc., und
sie führten ihre ‚Hermannsschlacht‘ zur Erringung der Weltherrschaft.
45 Franz Winterstein, „Deutschlands Befreier und die Teu- mal“, u. Paul Langhans, „Hermann der Cherusker, ein
toburger Schlacht“, in: Heimdall. Zeitschrift für reines Mahner zu reinem Deutschtum. Hermannsrede des
Deutschtum und All-Deutschtum 14 (1909), 123–126, Bundeswartes am Hermanndenkmal bei Detmold am
Zit. 125; s. auch die Beiträge „19. Jahrhunderts-Feier der 25. Mai 1909“, beide in: Deutschbund-Blätter 14 (1909),
Armins-Schlacht im Teutoburger Walde“ u. „Armin, der 10f. u. 49–52.
Befreier Deutschlands“, beide in: Heimdall 14 (1909), 17 46 Ulbricht (2004) 142; s. auch Losemann (2008) 111–115.
u. 73f., sowie Hermann Ehrhard, „Am Hermannsdenk-
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 273
Abb. 17 | Agitationspostkarte des 1894 gegründeten Bundes der
Deutschen in Böhmen, die Arminius an der Elbe Wache haltend
zeigt, vor 1914.
Der völkische Barde Felix Dahn setzte diese Überzeugungen 1909 in seinem Siegesgesang nach der
Varusschlacht, „vertont für gemischte Chöre und für Schulchöre“, in die holprigen Verse:
Die Varusschlacht hatte einen festen Platz im völkischen Festkalender, der Gedenktag wurde – entgegen
der auf den bayerischen Geschichtsschreiber Aventinus zurückgehenden Datierung der Varusschlacht
auf den 2. August und der im 19. Jahrhundert geläufigen auf den 9. September48 – am 10. September mit
der Mahnung begangen, sich „in entsprechender Weise dieser volklichen Geschehnisse“ zu erinnern.49
47 Felix Dahn, Armin der Cherusker. Erinnerungen an die Va- 1881, 127. Zur Datierung der Varusschlacht s. Buchinger
rus-Schlacht 9 n. Chr., München 1909, 45f. (2010) 25f.
48 Johannes Turmair’s genannt Aventinus Annales Ducum 49 „Deutschvolkliche Gedenktage [im September]“, in: Iro’s
Boiariae, Buch 1, Kap. 1, in: Johannes Turmair’s Sämmt- Deutschvölkischer Zeitweiser auf das Jahr 1911, Wien 1911,
liche Werke, Bd. 2,1, hg. v. Siegmund Riezler, München unpag.
Ein Teil der Völkischen, namentlich diejenigen aus dem neuheidnischen Flügel, kam dieser Aufforde-
rung nach und richtete ihre Zeitrechnung nach dem Jahr der Schlacht im Teutoburger Wald aus – wie
etwa die in Deutschland und Österreich heute noch bestehende Deutschgläubige Gemeinschaft.50
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß die Grotenburg und das Hermannsdenkmal vom
wilhelminischen Kaiserreich bis zur Weimarer Republik Treffpunkt, Versammlungs- und Weiheort für
viele radikalnationalistische Vereinigungen war, die dort ihre ideologischen Überzeugungen demon-
strierten.51 Einer von diesen war der ‚Deutschbund‘, eine Schlüsselorganisation der völkischen Bewe-
gung, der von 1895 bis in die 1930er Jahre wiederholt seine Bundestage und sogenannten Hermanns-
feste in Detmold und am Hermannsdenkmal veranstaltete.52 1903 wurde am Denkmal mit dem
‚Deutschreligiösen Bund‘ die erste völkischreligiöse Gemeinschaft gegründet.53
50 Puschner (2001) 42. 47–53, bes. 53. Die Bedeutung von Hermann für den
51 Wie bereits die Antisemiten vor der Jahrhundertwende Deutschbund bezeugen die jährlichen ‚Hermannsfeste‘
nutzten auch die Alldeutschen seit Beginn des 20. Jahr- ebenso wie die ‚Weihrede‘ Hermann Kraegers anläßlich
hunderts den Ort für ideologische Demonstrationen, des fünfzigjährigen Jubiläums der Enthüllung des Her-
etwa Pfingsten 1901 anläßlich einer Burenkundgebung; mannsdenkmals 1925; Heinrich Kraeger, „Arminius
A. G., „Burenkundgebung bei dem Hermannsdenk- [Teil 1]“, in: Deutscher Volkswart 7 (1925), 293–298, u.
mal“, in: Alldeutsche Blätter 11 (1901), 282f. Teil 2, in: Deutschbund-Blätter 30 (1925), 28f.
52 S. hierzu beispielhaft die Rede von Friedrich Lange, 53 Puschner (2001) 222f. S. in diesem Zusammenhang
„Deutschbundarbeit ist Befreiungswerk. Am Her- auch die Deutschbund-Broschüre Brauchtum des
manns-Denkmal im Teutoburger Wald. 9. Juni 1895“, Deutschbundes (Melsungen o.J., 9f.) in der SD-Akte über
in: Deutsche Worte. Blüten und Früchte deutschnationaler den Deutschbund, in: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde/
Weltanschauung, hg. v. Hermann Ehrhard, Berlin 1907, West R 58/6060.
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 275
Abb. 19 | Agitationspostkarte bei Ausbruch
des Ersten Weltkrieges.
In den Jahren zwischen 1920 und 1932 fanden 45 größere Kundgebungen verschiedener nationaler,
deutschnationaler und völkischer Vereinigungen auf der Grotenburg statt, davon allein neun im Jahr
1925, dem 50. Jahrestag der Denkmalseinweihung.54 Der sternförmige ‚Hermannslauf der Deutschen
Turnerschaft‘ zum Denkmal, an dem sich 120000 Teilnehmer aus „allen Gauen“ beteiligten und der
mit einer Großkundgebung am 16. August 1925 in Anwesenheit von mehreren tausend Teilnehmern –
darunter neben den Turnern vor allem Mitglieder der ‚Vaterländischen Verbände‘ (insbesondere
des ‚Stahlhelm‘ und des ‚Jungdeutschen Ordens‘) – zu Ende ging, war die „letzte große Manifestation
des Arminius-Kultes“,55 mit der der Veranstalter daran erinnern wollte, „daß wir Söhne eines Vaterlan-
54 Mellies (2004b) u. (2009a) 263–268; Kösters (2009) Nr. 25, 185–187. 1959 knüpften regionale lippische Turn-
294–305. und Sportvereine am 17. Juni an diese Tradition an; Wol-
55 Ulbricht (2004) 144; s. auch „Hermannslauf der Deut- frum (1999) 167.
schen Turnerschaft“, in: Deutsche Turn-Zeitung 1925,
des sind und daß wir nur dann Gegenwart und Zukunft meistern können, wenn wir einig sind und
treu.“56
Die hoch erscheinende Zahl von Veranstaltungen am Hermannsdenkmal darf nicht darüber hin-
wegtäuschen, daß der „große gefühlsmäßige ‚Schwung‘ der Arminiusbegeisterung nach dem Zusam-
menbruch des Deutschen Reiches 1918 ‚gebrochen‘ (Harald von Petrikovits)“ war.57 Jetzt rückte wieder
der seit der Zeit der Freiheitskriege geläufige Mythos des Befreiers und Retters in den Vordergrund –
und zwar vor dem Hintergrund der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, dem Versailler Vertrag
und nicht zuletzt der französischen Besetzung des Saarlandes und Ruhrgebiets.58
56 Zit. n. Doyé (2001) 600. gegenüberstellen könnte, ohne einen Schatten von Ko-
57 Losemann (1995) 422. S. hierzu den Tagebucheintrag mik zu empfinden, würde heute nur noch ein Krieger-
vom 10. 11. 1924 von Harry Graf Kessler, in: Harry vereins Vorsitzender für möglich halten.“
Graf Kessler. Das Tagebuch, hg. v. Angela Reinthal, Gün- 58 Beispielhaft hierfür steht der erste, 1924 in Detmold ur-
ter Rieder u. Jörg Schuster, Bd. 8: 1923–1926, Stuttgart aufgeführte Hermannsschlacht-Film: Kolbe (2007); als
2009, 530: „Vormittags von Detmold hinauf. Ergreifend DVD: Die Hermannsschlacht. Ein Stummfilm in fünf Ak-
schöne, tiefe deutsche Waldeinsamkeit. Der grosse, ten aus dem Jahr 1924 (= Westfalen in historischen Fil-
grünpatinierte Hermann macht sich in ihr nicht zu men). Eine Produktion des LWL-Medienzentrums West-
übel. Er hat einen gewissen Stil: den Stil der Wagner falen, 2009. Der Stoff wurde noch zweimal verfilmt,
Zeit. Er ist eine parallele Ausgeburt zum ‚Ring‘; könnte zunächst 1967 der ‚Sandalenfilm‘ Hermann der Cherus-
Siegmund darstellen, einen etwas behäbigen Heldente- ker. Die Schlacht im Teutoburger Wald, eine deutsch-italie-
nor, der gerade das hohe C hinlegt. Der gänzliche Man- nische Co-Produktion, die auch unter den Titeln Armi-
gel an Humor der Heldenpose gegenüber, an dem nius the Terrible und Massacre in the Black Forest lief, u.
die 40er bis 90er Jahre litten, … wirkt heute allerdings 1993/96 die Persiflage Die Hermannsschlacht. Deutsch-
drollig spiessig. Dass man einen etwas dicken, älteren land im Jahre 9 (DVD 2005); Weitere Verfilmungen be-
Herren in Wichs mit geschwungenem Schwert einer so finden sich derzeit in Produktion.
erhabenen Waldlandschaft wie dem Teutoburger Wald
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 277
Abb. 21 | Ludwig Fahrenkrog:
Germania, es kommt dein Tag!
59 Heinrich Wolf, Angewandte Geschichte, Bd. 5: Ange- 60 Vgl. Siegfried Bergengruen, Männer machen die Ge-
wandte Rassenkunde (Weltgeschichte auf biologischer schichte. Retter aus deutscher Not von Hermann dem Cherus-
Grundlage), 3. Aufl., Berlin-Schöneberg 1943 (1. Aufl. ker bis Adolf Hitler (= Deutsches Volksbuch, Bd. 2), Berlin
1927), 412. 1933, bes. 4f. u. 127. S. auch Mellies (2004b) 362–364 u.
(2009a) 269; Kösters (2009) 303–305.
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 279
Abb. 24 | Den Wandel im Umgang mit dem Arminius-Mythos im 20. Jahrhundert dokumentieren drei Spielfilme: Der in den Kri-
senjahren 1922/23 entstandene Stummfilm Die Hermannsschlacht unterliegt noch vollkommen den Befreiungs- und Einigkeits-
paradigmen in einer Bedrohungssituation, die den Arminius-Mythos seit dem frühen 19. Jahrhundert charakterisieren. Davon ist
65 Jahre später nichts mehr geblieben, als Hermann der Cherusker zum Titelhelden eines gleichnamigen deutsch-italienischen
Sandalenfilms aus dem Jahr 1967 avanciert, der bezeichnenderweise im Ausland unter dem Titel Arminius the Terrible oder
Massacre in the Black Forest in den Kinos lief. Die noch einmal drei Jahrzehnte später gedrehte Persiflage Die Hermannsschlacht.
Deutschland im Jahre 9 (1993/96) ist hingegen in erster Linie eine Auseinandersetzung mit dem Arminius-Mythos des 19. Jahr-
hunderts.
rich I. und mit Widekind andere Mythologeme bevorzugten. Zudem galten in den 1930er Jahren „au-
ßenpolitische Rücksichten“ gegenüber dem faschistischen Italien, das sich von der unübersehbaren
Römer-Germanen-Konstellation des Arminius-Mythos hätte beleidigt fühlen können – so mußte eine
Besichtigung des Hermannsdenkmals anläßlich von Mussolinis Staatsbesuch in Deutschland 1936 auf
Anweisung der Reichskanzlei aus dem offiziellen Besuchsprogramm gestrichen werden.61 Die Rand-
ständigkeit von Arminius in der nationalsozialistischen Geschichtsideologie dokumentiert das betref-
fende Lemma im ideologiekonformen Brockhaus von 1936, das knapp und faktenbezogen gehalten ist
und auf Wertungen verzichtet. Es weist jedoch darauf hin, daß die Namensübertragung Arminius in
Hermann falsch sei.62
Nach 1945 war der Arminius-Mythos in der deutschen Gesellschaft diskreditiert. Weder seine Be-
freiungsvariante noch seine antifranzösische bzw. antiromanische Ausrichtung, ganz zu schweigen von
der rassistischen völkischen Version waren entfernt mit der politischen Situation Deutschlands und
dem Willen der Deutschen vereinbar, in den Kreis der Völkergemeinschaft zurückzukehren. Bestre-
bungen einer neuen „Sinnstiftung setzten [in der Bundesrepublik] am Beginn der fünfziger Jahre am
Ort des Hermannsdenkmals und in der Literatur mit der Forderung nach der Wiedervereinigung
ein“.63 Sie blieben ebenso Episode wie ein Versuch seitens der DDR, mit einer Neuinszenierung von
Kleists Hermannsschlacht im Jahr 1957, ausgerechnet auf dem Harzer Bergtheater, das 1903 als Freilicht-
bühne mit völkischem Auftrag gegründet worden war und wo das Drama regelmäßig aufgeführt wurde,
gegen den Westen zu agitieren. „Der Konzeption der Aufführung lag“, wie der Regisseur Anfang der
1960er Jahre erklärte, „ausschließlich der Gedanke der Einigung aller nationalen Kräfte zur Befreiung
Germaniens von den römischen Eroberern zugrunde. Gewisse Parallelen zum gegenwärtigen West-
deutschland unter der Herrschaft der Nato-Imperialisten verliehen der Inszenierung eine bestimmte
61 Losemann (1995) 424f.; von See (2003) 93f. u. Doyé 63 Losemann (1995) 428; Mellies (2009a) 270–272; Wolf-
(2001) 600. rum (1999) 124–131.
62 „Arminius“, in: Der Neue Brockhaus. Allbuch in vier Bän-
den und einem Atlas, Bd. 1, Leipzig 1936, 138; s. auch Mel-
lies (2004a) u. (2009a) 269f.
Aktualität“ – und sie brachten ihr den Beifall des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht ein, der die
Premiere besuchte.64
Der politische Mythos Hermann-Arminius scheint heute der Vergangenheit anzugehören, sieht
man vom rechtsextremen und neovölkischen Umfeld ab. Dort wird er in seinem nationalistischen
Gewand des 19. Jahrhunderts und mit seinen Varianten bis in die Gegenwart zur Agitation eingesetzt.
Unter der Überschrift „2000 Jahre Freiheitskampf“ verbreitete die NPD 2009 die Legende von „der
Geburtsstunde der deutschen Nation“ auf dem Schlachtfeld im Teutoburger Wald, um anschließend
wie die Völkischen an der Wende zum 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund eines nebulös bleibenden
Bedrohungs- und fatalistischen Untergangsszenariums zu appellieren, geeint für die Befreiung zu
kämpfen: „Heute findet wieder eine Landnahme unseres Bodens statt. Wir Deutschen werden uns auch
gegen diese Eroberungspolitik wehren müssen wie EIN Mann. Ansonsten können wir 2000 Jahre nach
Hermann das Kapitel ‚Deutsches Volk‘ im Buch der Geschichte wieder schließen.“65 Diese vor dem
Hintergrund des heutigen, von Archäologie und Geschichtswissenschaften gesicherten Erkenntnis-
standes absurd ahistorische Behauptung einer Kontinuität zwischen Germanenstämmen des Jahres 9
und den Deutschen und ihrer behaupteten Bedrohung im Jahr 2009 ist nur ein weiterer Fall von poli-
tisch-agitatorischem Mißbrauch des immer wieder instrumentalisierten Hermann-Mythos – er ist aber
eine Mindermeinung.
Für die überwiegende Mehrheit der Deutschen stellt Arminius heute keine Identifikationsfigur
dar. Das Hermannsdenkmal ist schon seit vielen Jahrzehnten keine nationale Wallfahrtsstätte mehr,
sondern bloße Touristenattraktion (von vielf ältigem Unterhaltungswert).
64 Curt Trepte (Hg.), Harzer Bergtheater. Tradition und Ge- 65 „2000 Jahre Freiheitskampf“, in: Flugblatt Jetzt reicht’s!
genwart. Zum 60-jährigen Bestehen des Harzer Bergthea- npd.de, undat. [2009], 2. Zur rechtsradikalen Verein-
ters zu Thale, Berlin 1963, Zit. 48; Rolf Thieme, Deutsche nahmung von Arminius s. z.B. die Webseiten www.npd-
Festspiele 1957. Harzer Bergtheater zu Thale. Kleist Die niedersachsen.de (Suchbegriff: Hermannsschlacht),
Hermannsschlacht, o. O. u. J. (1957); das Programmheft www.hermannsschlacht.net, www.kehrusker.net,
enthält eine Fülle von Beiträgen zur Vereinnahmung http://de.metapedia.org/wiki/Armin_der_Cherusker,
des Stückes in die DDR-Kulturpolitik. S. auch Beni- www.volksdeutsche-stimme.de/bewegung/armin_
dowski (2008) 204–208. 021109de.htm u. http://www.youtube.com/user/
npdosnabrueck (letzter Zugriff: 4. 3. 2011).
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 281
Abb. 26 | Werbeprospekt für ein lippisches Brotprodukt.
Proteste blieben daher aus, als – wie vor hundert Jahren – in Detmold und an den anderen Orten
der Jubiläumsveranstaltungen 2009 wie schon zuvor die „Mythologie … auf die Speisekarte“ wanderte
und das als „lippisches Kraftpaket“ angepriesene Vollkornbrot ‚Hermannicus‘, ‚Varus-Leberwurst‘ oder
‚Thusneldamarmelade‘ im Angebot standen.66
Woher rührt dann aber die außerordentliche Aufmerksamkeit, die Arminius und der Varus-
schlacht in den Medien und in der Öffentlichkeit seit dem Herbst 2008 zuteil wurde? Der Arminius-
Mythos zählt wohl zu jenen Geschichtsbildern, die im 19. Jahrhundert für die Gründung der Nationen
im Sinne von Benedict Andersons invented traditions konstruiert wurden und die in der deutschen Mei-
stererzählung, im deutschen Geschichtsverständnis immer noch einen Platz haben.67
„HERMANN, DER ERSTE DEUTSCHE“ ODER: GERMANENFÜRST MIT POLITISCHEM AUFTRAG 285
286 UWE PUSCHNER
Heide Barmeyer
In Jahr 2009 wurde medienwirksam unter der Schirmherrschaft der Bundeskanzlerin mit einer gro-
ßen Gemeinschaftsausstellung an die zweitausendste Wiederkehr des Datums der sogenannten ‚Varus-
schlacht‘ erinnert. Um jedem Interpretationskonflikt oder einer wie auch immer gef ärbten Konkurrenz
um den Ort der Varusschlacht von vornherein aus dem Weg zu gehen, wurden unter der Überschrift
‚Imperium – Konflikt – Mythos‘ in Haltern, Kalkriese und Detmold unterschiedliche Aspekte der facet-
tenreichen Thematik behandelt, die mit dem Datum 9 n. Chr. verbunden sind. Eine Fülle von Publika-
tionen und Presseartikeln erschien, und auch die Ringvorlesung, aus der diese Publikation hervorging,
gehört in diesen Zusammenhang. Die zugrundeliegende Thematik ist so vielschichtig, dass nicht ein
wissenschaftlicher Zugriff, sondern nur das Zusammengehen bzw. der Austausch mehrerer histori-
scher Disziplinen ihre Wirkungsgeschichte erfassen können.
Aus der Sicht der Neuzeithistorikerin soll im Folgenden untersucht werden, wie im 19. Jahrhundert
der Wunsch entstand, dem zum Nationalhelden avancierten Arminius oder Hermann im Teutoburger
Wald ein Denkmal zu errichten, den Nationalmythos also aus der Erzählung, die sich seit dem 18. Jahr-
hundert literarisch vielf ältig niedergeschlagen hatte und populär geworden war, ins Gegenständliche
zu transponieren und sozusagen monumental zu verewigen. Die Untersuchung soll zeigen, wie sich
diese Vorstellung im Laufe einer wechselnden nationalen Politik und Geschichte entwickelte und wan-
delte. Es geht also um einen mentalitätsgeschichtlichen Ausschnitt aus der Wirkungsgeschichte des
nationalen Mythos Hermann/Arminius.
Herfried Münkler hat in seinem großartigen Buch über Die Deutschen und ihre Mythen Grundsätz-
liches über das prinzipielle Phänomen politischer Mythen gesagt.1 Auf seine Überlegungen soll zurück-
gegriffen werden, wenn die Frage nach der Einordnung des Phänomens in die Problematik des poli-
tischen Mythos aufgegriffen wird. Zuvor aber soll das Thema konkret und quellennah dargestellt
werden, um diese Ausführungen nicht gleich zu Beginn mit zu vielen theoretischen Überlegungen zu
überlasten.
Das Hermannsdenkmal ist eine besonders prägnante Ausprägung des Denkmalstyps, durch den im po-
litisch-sozialen Raum2 der bürgerlichen Öffentlichkeit deutsches Nationalbewusstsein seinen symbo-
lisch-personifizierten Ausdruck fand. Seinem Wandel zwischen dem Aufkommen der Denkmal-
idee um 1800, ihrer Entwicklung, Umsetzung und Vollendung bis 1875 und ihrer weiteren politischen
bzw. parteipolitischen Indienstnahme bis ins 21. Jahrhundert hinein soll im Folgenden nachgegangen
werden.
Für das 19. Jahrhundert f ällt dabei auf, dass – nicht zuf ällig – der Wandel des Nationalbewusstseins
seine genaue Entsprechung in den Bauphasen des Hermannsdenkmals findet. Dieses Phänomen lässt
sich erklären, wenn man die Denkmalgeschichte in den politisch-sozialen Raum einordnet, was wie-
derum belegt, dass der gewählte methodische Zugang zur Mentalitätsgeschichte sinnvoll ist. Für das
20. Jahrhundert wird die weitere Entwicklung des Nationalmythos am Beispiel von Jubiläumsfeiern am
Denkmal unter verschiedenen Staatsformen – Wilhelminisches Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-
Zeit und Nachkriegszeit – untersucht.
Dem Wandel des modernen Nationalbewusstseins in Deutschland zwischen dem Ende des Heili-
gen Römischen Reiches deutscher Nation und der kleindeutschen Reichsgründung sowie seiner weite-
ren Entwicklung im 20. Jahrhundert wird nicht im Einzelnen nachgegangen, sondern dieser wird als
bekannt vorausgesetzt. Grob vereinfachend, wird der ideologische Hintergrund mit dem Hinweis auf
Als der 19-jährige Kunststudent Ernst von Bandel (1800–1876)7 1819 seine ersten Ideen für ein deut-
sches Nationaldenkmal entwickelt, steht er unter dem Eindruck des Napoleonischen Zeitalters und der
Freiheitskriege. Er hat Verbindungen zu aktiven Burschenschaftern, zu den Turnern um Friedrich Lud-
wig Jahn und zu Teilnehmern des Wartburgfestes.8
‚Hermann‘ oder ‚Arminius‘ war nach Jahrhunderten des Vergessens von den Humanisten zu Be-
ginn des 16. Jahrhunderts wieder entdeckt und zum mythischen Stammvater der Deutschen, zum na-
tionalen Symbol erklärt worden.9 Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde er als literarischer Stoff mehr-
fach bearbeitet10 – Klopstock,11 Kleist12 und Grabbe13 seien stellvertretend für das populär werdende
Thema genannt; auch bildende Künstler14 stellten Szenen seines Lebens dar, auf der Opernbühne15
machte er Karriere, und nicht nur Bandel trug sich mit Denkmalplänen, sondern auch Rauch und
Schinkel16 versuchten sich daran.17 Der Gegenstand war um 1800 populär, und Denkmalpläne lagen so-
zusagen in der Luft. Bandel, als Künstler von eher durchschnittlichem Rang, ist gerade darin das typi-
sche Sprachrohr seiner sozialen Generation und ihrer nationalen Vorstellungen.
17 Zur Biographie Ernst von Bandels siehe Meier (2000). 15 Auch Opern entstanden auf der Grundlage des Armi-
18 Zu den engsten Freunden Bandels zählte Hans Ferdi- nius/Hermann-Stoffes, vgl. Kösters (2009) 99–105.
nand Maßmann (1797–1874), Germanist, Dichter und 1691/92 komponierte Heinrich Franz Ignaz Biber die
Sportpädagoge, Lieblingsschüler Jahns. Heinrich Heine Oper Arminio – Qui la dure la vince, und kein Geringerer
nannte ihn in seinem Wintermärchen, Caput XI spöt- als Georg Friedrich Händel schrieb 1736 in England die
tisch „Marcus Tullius Maßmanus“. Oper Arminio. Zur Einweihung des Denkmals 1875
19 ,National‘ hier im Sinne des frühneuzeitlich-vorrevolu- komponierte Max Bruch ein Arminius-Oratorium, das
tionären Verständnisses. dann allerdings erst später uraufgeführt wurde und
10 Im Folgenden stütze ich mich auf die materialreiche in diesem Jahr wieder mehrfach aufgeführt und für CD
Darstellung von Kösters (2009), in der die Entstehung eingespielt wurde. Die Musikwissenschaftlerin Barbara
des Mythos über Jahrhunderte zuverlässig und umfas- Eichner, die sich in ihrer Doktorarbeit mit der Frage
send aufgearbeitet ist. „Was ist deutsch?“ und musikalischen ‚Lösungen‘ dafür
11 Friedrich Gottlieb Klopstocks Hermann-Trilogie er- zwischen 1848 und um 1900 beschäftigte (Eichner
schien 1769, 1784 und 1787, also noch vor dem Aus- [2005]), hielt im Rahmen der diesjährigen Veranstaltun-
bruch der Französischen Revolution; vgl. Kösters (2009) gen zur ,Mythos‘-Ausstellung in Detmold einen Vortrag
154–160. zu dem Thema: „Der erste (singende) Deutsche – Her-
12 Heinrich von Kleist schrieb seine Hermannsschlacht mann der Cherusker in der Musik“.
1808 in einer scharf napoleonfeindlichen, antifranzösi- 16 Zahlreiche Denkmalentwürfe entstanden: Im Land-
schen Stimmung; vgl. Kösters (2009) 184–194. schaftsgarten des Grafen Brühl im Seifersdorfer Tal bei
13 Christian Dietrich Grabbes Hermannsschlacht wurde erst Dresden wurde 1792 eine ‚Hermannseiche‘ errichtet.
1838, zwei Jahre nach Grabbes Tod, vollendet; aufge- Der Detmolder Archivar Johann Ludwig Knoch entwarf
führt wurde das Stück erstmals 1934 (!) und fand vor al- um 1790 eine ‚Hermanns- oder Irminsäule‘! Karl Fried-
lem in völkischen und nationalsozialistischen Kreisen rich Schinkel beschäftigte sich 1814/1815 mit dem Plan
Anerkennung, die das Stück im Sinne völkischen Sen- eines Denkmals, Arminius zu Pferde, einen römischen
dungsbewusstseins interpretierten. Das Lippische Lan- Legionär mit der Lanze niederstoßend, womit eine
destheater Detmold hat 2009 in seiner Schauspielreihe Analogie zum Drachenkampf des Heiligen Georg her-
eine Auseinandersetzung mit Grabbe herausgebracht gestellt wurde; vgl. Unverfehrt (1975) 138. Weitere Ent-
unter dem Titel: Die Hermanns Schlacht. Eine deutsche würfe 1838 von Schinkel und Rauch, Arminius mit ge-
Betrachtung mit Texten von Christian Dietrich Grabbe u.a. senktem Schwert; auch der lippische Landbaumeister
Zu Grabbes Hermannsschlacht siehe Kösters (2009) Wilhelm Tappe trug sich mit Denkmalplänen, siehe
213–220. Kösters (2009) 234.
14 Kösters (2009) 163–170 („Die Hermanns Schlacht in 17 Zur Entstehung des Gedankens, dem Cherusker Armi-
der bildenden Kunst“) nennt als Beispiele Johann Hein- nius ein Denkmal zu setzen, vgl. Sandow (1975) und
rich Tischbein und Angelika Kauffmann und für die Unverfehrt (1975).
spätere Zeit der Befreiungs- und Freiheitskriege Caspar
David Friedrich (201–206); s. dazu auch den Beitrag von
W. Beyrodt im vorliegenden Band.
18 Bis heute ist die Frage des Ortes der sog. ‚Varusschlacht‘ 19 Wilhelm Tegeler (1793–1864). Eine Briefauswahl aus
ein wissenschaftlich ungeklärtes und heiß umstrittenes, der Korrespondenz zwischen Bandel und Tegeler zum
teilweise regional- oder lokalpatriotisch aufgeladenes Thema des Hermannsdenkmals wurde 1975 von der
Problem. Im vorliegenden Band wird aus der Sicht der Lippischen Landesbibliothek herausgegeben.
Archäologen und Numismatiker dazu Stellung bezogen. 20 Zu Petri und seinen kulturpolitischen Aktivitäten in
Die Ausstellung 2009 ‚Imperium – Konflikt – Mythos‘ Lippe siehe Barmeyer (1985) und Süvern (1974).
folgt bewusst einer diesen Streit ausklammernden Stra- 21 Zur Bedeutung der Organisationsform Verein s. Nipper-
tegie. Die Lokalisierungssuche brachte seit dem 16. Jahr- dey (1972). In seinem Festvortrag von 1975 sprach
hundert mehr als 700 (!) Orte ins Gespräch für die Nipperdey in Bezug auf die vereinsgetragene Denkmal-
sogenannte Schlacht. Dabei muss berücksichtigt wer- bewegung vom „revolutionäre(n) Strukturprinzip der
den, dass der heute ‚Teutoburger Wald‘ genannte Hö- modernen staatsbürgerlichen Öffentlichkeit“, Nipper-
henzug bis ins 16. Jahrhundert den Namen ‚Osning‘ dey (1975) 22.
trug und erst danach seine heutige Bezeichnung erhielt. 22 Es handelt sich um die Herren Ballhorn-Rosen, Eschen-
Vgl. Kösters (2009) 207ff. Eng verbunden mit der My- burg, v. Funck, Petri und Rohdewald.
thos-Thematik ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts der 23 Vgl. Schmidt (1975) 152.
Detmolder Archivar Christian Gottlieb Clostermeier, der 24 Lippisches Magazin 4, 1838, Nr. 1, Sp. 1–6.
1822 die Schrift veröffentlichte: Wo Hermann den Varus
schlug. Clostermeier wurde der Schwiegervater Grabbes!
hervor leuchtet, und der auf seinem, das Schlachtfeld und die umgebenden Länder weithin beherr-
schenden Bergrücken ein von der Natur selbst gebildetes Fußgestell zu einem Gebäude dieser Art dar-
bietet.“
Am 18. Oktober 1838, dem Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig, wird der Grundstein gelegt
und mit dem Bau begonnen. Für die Burschenschafter-Generation stellt dieses Datum die Verbindung
des Hermann-Mythos zum Befreiungs- oder besser aus ihrer Sicht zum Freiheitskampf gegen Napo-
leon her; aus den Römern von 9 n. Chr. werden Franzosen.
Höhepunkt der ersten Bauphase ist 1841. Am 8. September 1841 wird anlässlich der Schließung
des Grundsteingewölbes eine Feier veranstaltet, auf der Petri die Festrede hält.25 Diese ist ein rhetorisch
glanzvolles Beispiel für vormärzlich kulturnationalen Patriotismus. Die Schlacht im Teutoburger Wald
bedeutet für Petri die Verteidigung deutscher Sprache, Sitte und Freiheit. Hermann ist für Petri „der Be-
freier unseres Volkes“, durch den „des Deutschen Volkes Name, Sprache, Sitte und Freiheit gerettet und
für Jahrtausende der Weltgeschichte erhalten wurde“.
Die „Weltsendung“26 Hermanns des Cheruskers – um sich einer Wendung Nipperdeys zu bedie-
nen – gilt für alle Völker, deren Recht auf freie Entfaltung ihrer Eigentümlichkeit respektiert, unter-
stützt und verteidigt werden muss. Für Petri geht es in seinem Verständnis von Freiheit darum, dass in
der Schlacht im Teutoburger Wald eine Freiheit erkämpft wurde, „welche den Unterschied getilgt hat
zwischen Herren und Sklaven …, welche dem fremden Rechte die nämliche Achtung zollt, die sie für
das eigene fordert … um den Kern Germanischer Bildung und Gesittung haben sich im freien Verbande
gelagert die übrigen Völker der Erde. Auch sie wurden frei durch den Teutoburger Sieg, … der zum ers-
ten Male lehrte, dass auch das Volk dem Volke gegenüber Rechte hat, die nicht ungestraft verletzt wer-
den. Völker und Völker sehen wir seitdem, im freien, friedlichen Verkehre mit einander, ein Jedes sein
eigenthümliches Wesen entfalten, und alle sich wechselseitig dem Ziele entgegengetragen, das dem
Menschen gesteckt ist.“
Hier schwingt noch der vor-politische Begriff der deutschen Kulturnation mit. Politisch soll das
Denkmal gleichzeitig erinnern und mahnen; erinnern an eine im Jahre 9 n. Chr. einsetzende Tradition
und mahnen, innere Zwietracht zu überwinden, um so zu deutscher Einheit zu gelangen. Petri hält den
Deutschen vor, sie müssten sich durch das Mahnmal fragen lassen: „Ob noch in ihnen wohnt die alte,
reine Sitte, noch in ihnen wohnt das alte Gefühl, die alte Begeisterung für Freiheit. Nicht für jene Frei-
heit, die ihre Wurzeln treibt, und die wuchert in dem Moder der Selbstsucht; sondern für die Freiheit, die
da sitzt auf dem Throne der Ordnung und des Rechts. Ob noch in ihnen lebt die alte Treue … Ob noch in
ihnen lebt und wirkt die alte Liebe, der kein Opfer zu groß ist, die das Eigenste und Beste dahin giebt für
Volk und Vaterland. Ob sie neben der Achtung fremder Sitte, fremden Rechtes, fremder Freiheit unge-
kränkt zu bewahren und zu schützen wissen die eigene Sitte, das eigene Recht, die eigene Freiheit.“
Die Festrede endet mit einem Anklang an Ernst Moritz Arndt mit den Worten: „Das Deutsche
Vaterland … so weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt, soll leben hoch.“ Im
Anschluss an die Rede wird von den Teilnehmern der Feier das Lied Was ist des Deutschen Vaterland
gesungen. Viele Wendungen bei Petri bestätigen Nipperdeys Interpretation von der „Weltsendung
Armins“ und der „Internationale der Nationen“, von der man vor 1848 geträumt habe,27 von der ersehn-
ten ‚Einheit in Freiheit‘ für alle Nationen.
Dennoch lässt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht überhören, dass auch bei Arndt und der
ersten napoleonischen Phase der deutschen Nationalbewegung schon ein stark antifranzösischer Akzent
mitklang. Vor allem die vielen Einlagen in den Grundstein bekräftigen die antifranzösische Einstellung
vieler Zeitgenossen: Eine Bronze-Tafel vom Hannoverschen Verein für das Hermannsdenkmal trägt die
Inschrift: „Deutschlands Befreier aus Römerketten, und seinem Heer, ihren Ahnen, weihen in ange-
stammter Liebe der Deutschen Freiheit, welche sie durch zehnjährigen Kampf gegen Welsches Joch sieg-
Hier deutet sich ein methodisches Problem für den Historiker an, das an dieser Stelle wenigstens
angeschnitten werden soll, wenn es auch nicht abschließend beantworten werden kann. Es ist die Frage
nach repräsentativen Quellen für den sogenannten ‚Zeitgeist‘. Es ist fraglich, ob die Festrede eines Ver-
28 Hg. von F. J. Schwanke; vgl. Kösters (2009) 238f. 29 Zur ‚Mythenkoppelung‘ s. Münkler (2009) 37ff. und 175.
Nach den Erfahrungen der in nationaler Hinsicht gescheiterten 1848er Revolution erschien die Vor-
märz-Einstellung der friedlich geeinten und vereinten Nationen politisch naiv und blauäugig. In den
1850er Jahren griff Desillusionierung um sich, man zog sich ins Private und auf beruflich-wirtschaft-
lichen Erfolg zurück, und in Diskreditierung vormärzlicher Politikorientierung wurde der Begriff der
‚Realpolitik‘30 geprägt.
Wie auf politischer Ebene im Deutschen Bund ging es in den 1850er Jahren auch beim Denkmal-
bau nicht weiter. Querelen und Streitigkeiten zwischen Künstler und Verein hatten 1846 zur Bauunter-
brechung geführt. Bandel verließ Detmold und zog Ende der 1850er nach Hannover. Zu Beginn der
1860er Jahre aber ändern sich die allgemeinen politischen Rahmenbedingungen zugunsten eines Wie-
derauflebens des Nationalgedankens. Die europäische Konstellation nach dem Krimkrieg, die italieni-
sche Entwicklung und das innerdeutsche Verhältnis, insbesondere zwischen Österreich und Preußen,
verschieben sich. So erhält auch der Denkmalbau neue Schubkraft. 1859 feiert man Schillers 100. Ge-
burtstag und meint damit den Freiheitsdichter des Wilhelm Tell – ein Akt indirekter politischer Kritik am
Fortbestehen repressiver Zensurpolitik in den Staaten des Deutschen Bundes.
Bandel hat inzwischen in Hannover seine Denkmalpläne im Stillen weiter verfolgt. 1862 nimmt er
die Arbeiten energisch wieder auf31 und gründet dort einen Hermannsdenkmal-Verein. Nach zwei sieg-
reichen Kriegen 1864 und 1866 besucht der preußische König Wilhelm I. Bandel 1869 in seiner Werk-
statt in Hannover32 – ein Zeichen für die bewusst propagandistisch inszenierte ‚deutsche Sendung‘
Preußens nach dem ‚deutschen Bruderkrieg‘? Schon bald nach der Reichsgründung debattiert und ge-
nehmigt der Deutsche Reichstag 1871 eine Petition des Hannoverschen Vereins für das Hermanns-
denkmal zwecks Bewilligung einer 10000-Taler-Spende zur Vollendung des Denkmals,33 und der Kai-
ser legt 1874 noch 9000 Taler dazu. So kann das Denkmal vollendet werden.
30 Ludwig August von Rochau (1810–1873) veröffentlichte einer Werkstatt zum Schmieden. Seit 1870 lebt Bandel
1853 sein bekanntestes Werk über die Grundsätze der zeitweilig in der dann nach ihm genannten Hütte am
Realpolitik. Denkmal.
31 1862–1866 Fertigstellung des Kopfes mit dem Helm, 32 14. Juni 1869.
des rechten Armes mit dem Schwert, des linken Armes 33 Reichstagsdebatte vom 5. Mai 1871 (Sten. Ber. über die
und der beiden Füße bis zur Wade. 1863 Einrichtung Verhh. des Dt. RT, S. 561ff.).
Am 16. August 1875 erfolgt die feierliche Einweihung des Hermannsdenkmals in Gegenwart von Kai-
ser, Kronprinz, anderen deutschen Prinzen und vielen Fürsten und hochgestellten Militärs.34
Vergleicht man diese Feier mit der von 1841, so ist zum einen die gegenüber dem Vormärz völlig
veränderte Situation zu berücksichtigen. Der lang gehegte Traum einer nationalstaatlichen Einigung
hat sich erfüllt, wenn auch mit erheblichen Abstrichen gegenüber den kulturnationalen Vorstellungen
der Vormärz-Generation. Denn das neue kleindeutsche Reich umfasst nicht alle Gebiete und Men-
schen, ‚so weit die deutsche Zunge klingt‘, und das süddeutsch-katholische Kulturmilieu ist mit dem
Ausscheiden Österreichs geschwächt. Und vor allem die drei ‚Bruderkriege‘ Bismarcks – so der Sprach-
gebrauch der Zeit – passen nicht zur Hoffnung der Liberalen, Einheit in Freiheit zu erreichen. Auf der
Woge der nationalen Begeisterung aber trösten sie sich mit der Aussicht, nach der Einheit auch die Frei-
heit im größeren Ganzen durchsetzen zu können.
Für die Selbstdarstellung der geeinten und nicht mehr sich traumatisch als ‚verspätet‘35 emp-
findenden Nation ist als unmittelbarer Erfahrungshintergrund im Jahr 1875 wichtig, dass für die Au-
ßenbeziehungen mit der Krieg-in-Sicht-Krise die Konfrontation mit dem zum ‚Erbfeind‘ avancierten
Frankreich im Bewusstsein präsent bleibt. Innenpolitisch ist von Bedeutung, dass seit Beginn des Kul-
turkampfes Katholiken es zunehmend als schwierig empfinden, sich im protestantisch-kleindeutschen
Reich als gleichberechtigte Staatsbürger zu fühlen und nicht als ‚innere Reichsfeinde‘ abgestempelt zu
werden. Theodor Schieder hat daher die Frage aufgeworfen, ob nach der erfolgten äußeren Reichsgrün-
dung die innere noch nachzuholen gewesen sei.36
34 Für das Folgende ist insbesondere auf den Aufsatz von 36 Aus der Rückschau des Historikers lag es nahe, die
Veddeler (1975) zu verweisen, ferner Nockemann (1975). Ursachen der katastrophalen politischen Entwicklung
Vgl. auch Carl Schierenbergs Erinnerungen Aus vergan- Deutschlands im 20. Jahrhundert im Scheitern der in-
genen Tagen, erschienen 1927, und der einschlägige Ta- neren Reichsgründung, in der inneren Zerrissenheit
gebuchbericht des damals 17-jährigen. zwischen Klassen, Konfessionen, Weltanschauungen
35 Der Begriff der ‚Verspätung‘ geht auf Helmuth Pless- und Parteien zu sehen. Diese These aber wirft zahlrei-
ners im Groninger Exil entstandene Schrift Das Schick- che Fragen auf, u.a. die, was unter ‚innerer Reichsgrün-
sal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen dung‘ zu verstehen sei. Steht dahinter die nicht unpro-
Epoche (1935) zurück. Diese erlangte später unter dem blematische politische Leit- und Wunschvorstellung
Titel Die verspätete Nation. Über die politische Verführbar- einer inneren Homogenität der Nation?
keit bürgerlichen Geistes (1959) Berühmtheit.
37 Dazu Veddeler (1975) und Nockemann (1975). Ehrenpforten, in Richtung Denkmal zog und gegen
38 Dazu Veddeler (1975) 171 und Nockemann (1975) 46. Das 11 Uhr auf der Grotenburg ankam. Dort hatte sich inzwi-
preußische Infanterieregiment Graf Bülow von Denne- schen eine Menge von 20000 bis 30000 Menschen ver-
witz (6. Westf älisches) Nr. 55 galt als lippisches Regi- sammelt, die auf den Kaiser wartete, der den Festplatz
ment. Sein Stab und das 3. Bataillon waren in Detmold gegen 12 Uhr im Wagen erreichte.
stationiert. Am 14. August 1870 (!) hatte dieses Regiment 41 General-Superintendent Koppen hielt die Weiherede
vor Metz einen kriegsentscheidenden Sieg errungen. unter Zugrundelegung eines Textes aus dem 2. Buch der
39 Das Denkmal wurde in Gegenwart der Hofgesellschaft, Chronik (32,8). Er knüpfte an die Worte des Kaisers:
von Detmolder Schulklassen und Kriegervereinen nach „Welch eine Wendung durch Gottes Fügung!“, die in
Ansprachen des Kommandeurs des 7. Armeekorps und dem Telegramm nach der Sedanschlacht enthalten wa-
des Detmolder Bürgermeisters und einem Hoch auf ren, an und wies darauf hin, wie Gott stets den deut-
Kaiser und lippischen Landesfürsten enthüllt. Weiß ge- schen Heeren in den letzten ruhmvollen Jahren seinen
kleidete Ehrendamen bekränzten das Denkmal, und Schutz habe angedeihen lassen, weil die glorreichen
eine Batterie mehrerer Schüsse wurde abgegeben. Heerführer, wie das Heer selbst, von gleicher Gottes-
40 Nach Veddeler (1975) 171f. umfasste das Programm des furcht beseelt gewesen seien. So nach Nr. 33 der Provin-
Festtages: Vortrag patriotischer Lieder auf dem Markt- zial-Correspondenz 13. Jg. vom 18. August 1875.
platz, Wecken durch Militärmusik, Abnahme der Parade 42 2 Chr 32,8.
des 6. Westf älischen Infanterieregiments Nr. 55 auf 43 Tacke (1995) 217 spricht davon, mit Kaiser und General-
dem Schlossplatz durch Kaiser Wilhelm, um 9 Uhr Auf- superintendent habe der Kulturkampf Einzug in das
stellung des Festzuges, der, angekündigt durch Kano- Fest gehalten.
nensalut, durch die geschmückten Straßen, vorbei an 44 Kösters (2009) 245.
gesichts drohender Gewitterwolken über der Kuppel des Petersdoms seinen Sieg über den Katholizis-
mus ankündigend.
Die eigentliche Festrede des Geheimen Regierungsrates Otto Preuß (1816–1892)45 zeugte vom
Stolz der geeinten Nation. Er führte in seiner – offenbar zu langen – Rede46 u.a. aus: „Wir stehen wieder
da, geehrt und gefürchtet im Rate der Völker, ihnen nicht bloß ein Volk der Dichter und Denker, son-
dern auch wehrbereit und waffengewaltig, ein Volk der selbstbewussten Tatkraft … unser neu erstande-
nes Reich, … jetzt unter Kaiser Wilhelms ruhmreichem Scepter … seinen schützenden Arm ausbreitend
über jeden Deutschen auf dem Erdenrund, frei im Innern und kraftvoll nach Außen, fest verbunden …
durch das starke Band der im gemeinsamen opfervollen Kampfe erprobten Einigkeit der deutschen
Stämme und ihrer Fürsten … Ja, die Träume unserer Jugend … haben sich verwirklicht … wir sind wie-
der ein Volk und wollen es bleiben mit Gottes Hilfe von nun an immerdar.“47
Preuß bewegt sich hier ganz auf der Bismarckschen auf außenpolitische Wirkung ausgerichteten
Deutungslinie einer Saturiertheit des jungen Reiches, das nicht länger als europäischer Unruheherd
empfunden werden sollte. Allerdings erfolgt dieser Auftritt nun in der selbstbewussten Pose der Stärke
dessen, den man nicht ungestraft angreift.
Nach der Rede wurde die schwarz-weiß-rote – nicht die schwarz-rot-goldene! – Fahne unter Salut ge-
hisst, ein dreifaches Hoch auf Deutschland, Kaiser und Reich ausgebracht und dann als zweifellos emo-
tionaler Höhepunkt die Ehrung Ernst von Bandels durch den Kaiser auf dessen Tribüne vorgenommen.
Große Rührung des Erbauers, der als einer der letzten der Gründergeneration ein Jahr vor seinem
Tod noch die Vollendung seines Lebenswerkes erleben konnte. Moritz Leopold Petri war schon 1873 ge-
45 Leiter der fürstlichen Bibliothek und Erforscher der lip- der Weser-Zeitung aus Bremen in ihrer Abendsausgabe
pischen Geschichte. vom 19. August 1875.
46 Durch Schlussrufe und Lärmen der ermüdeten Menge 47 Veddeler (1975) 172 nach der Königsberger Hartungschen
unterbrochen, so Veddeler (1975) 172 nach dem Bericht Zeitung vom 19. August 1875, Abendausgabe.
storben, und ob die selbstbewusste Siegesfeier in seinem Sinn gewesen wäre, muss offen bleiben. Ban-
del selbst hatte dem Detmolder Bürgermeister geschrieben,48 er wünsche für das Fest der Übergabe an
das deutsche Volk „nicht“ einen „Tag irgend eines Sieges über Fremde“, sondern „in guter Jahreszeit“.49
Andererseits aber hatte das Denkmal durch verschiedene Inschriften während der letzten Bauphase
auch durch ihn einen stark antifranzösischen und aggressiven Akzent erhalten. Auf dem Schwert
stand: „Deutsche Einigkeit meine Stärke. Meine Stärke Deutschlands Macht“. Auf dem Schild: „Treu-
fest“. In den Nischen: „Tacitus, Annales II,88: Arminius liberator haud dubie Germaniae … bello non
victus“; und auf dem Relief Kaiser Wilhelms I. stand: „Der lang getrennte Stämme vereinigt mit starker
Hand, der welsche Macht und Tücke siegreich überwand, der längst verlorene Söhne heimgeführt zum
48 Veddeler (1975) 170. Brief Bandels vom 28. November fand schon vor Vollendung des Hermannsdenkmals
1874 an den Detmolder Bürgermeister Dr. Heldman: statt: Erstmals wurde am 2. September 1871 hier ein
„Ich schlage vor: in guter Jahreszeit – nicht an einem Sedanfest gefeiert. „Die Sedanfeierlichkeiten blieben
Tage irgendeines Sieges über Fremde, werde eine ganze bis weit in die Zeit der Weimarer Republik ein fester
oder halbe Woche festgesetzt, in der das vollendete Denk- Bestandteil der am Denkmal stattfindenden nationa-
mal dem Deutschen Volke übergeben werde, es möge len Festkultur“, so Mellies (2009b) 225, damit Dörner
es dann selbst übernehmen und die Übernahme durch (1995) 243 folgend. Auch die Einweihungsfeier 1875
selbst gewählte Handlungen bekunden …“. hatte ursprünglich am Sedantag stattfinden sollen, dem
49 Eine Verknüpfung mit dem Deutsch-Französischen aber Bandel mit Erfolg widersprochen hatte.
Krieg und der Schlacht bei Sedan (2. September 1870)
50 Veddeler (1975) 170. – Bismarcks berühmt-berüchtigte würdigen und milden Sitten der Latiner, mit einem
‚Canossa-Rede‘ wurde im Mai 1872 im Reichstag gehal- Worte die römische Höflichkeit an der Grenze eines
ten. Viele Karikaturisten nahmen das Bild auf. Landes blühte, in welchem Alles trübe und rau ist, der
51 Veddeler (1975) 169 führt als einen Beleg die Pariser Charakter, die Sprache, das Klima, die Wälder …“. Auch
Correspondance Universelle an. Dort hieß es: „Der Armi- hier also eine Argumentation mit nationalen Klischees!
nius ist ungeheuerlich. Bandel hat seinem Arminius di- 52 Es trägt den Titel „Seiner Hochwohlgeboren Herrn
cke Lippen, wilde nach Westen gerichtete Augen, einen Ernst von Bandel Ritter pp dem Schöpfer des ‚Hermann‘
grausamen Zug und das Ansehen einer Rothaut mit Denkmals in Liebe und inniger Verehrung gewidmet
einem Kinnbart gegeben … die Preußen können diesen von Hermann Weber, Literat. Detmold 20. August
Barbaren aus anderen Gründen als einen der Ihrigen in 1875“, abgedruckt im Ausstellungskatalog Ernst von Ban-
Anspruch nehmen … Varus war der größte General und del der Schöpfer des Hermannsdenkmals in seiner Zeit der
hervorragendste Politiker seiner Zeit. Ihm war es zu Lippischen Landesbibliothek von 1975, H. 2, 53f.
danken, dass die Künste, Wissenschaften, die liebens-
Die Generation, die 1909 eine Festwoche ‚1900 Jahre Varusschlacht‘ inszenierte, war im Unterschied
zur Reichsgründungsgeneration ganz selbstverständlich in einem Nationalstaat aufgewachsen, der
wirtschaftlich prosperierte, mit den Weltmächten gleichzog und auf der Weltbühne einen ‚Platz an der
Sonne‘54 beanspruchte. Wilhelm II. als Repräsentant dieser Generation verstand sich im Unterschied
zu Wilhelm I., seinem Großvater, voll und ganz als deutscher Kaiser und nicht wie dieser in erster Linie
als preußischer König. Zwar blieb sein großsprecherisches Bramabarsieren auch in Deutschland nicht
ohne Kritik – so vor allem nach der Daily-Telegraph-Aff äre von 1908 –, und Joachim Radkaus Charak-
terisierung dieser Jahre als „Zeitalter der Nervosität“55 trifft sicher neuralgische Punkte. Aber das Gros
der Deutschen glaubte in einer heilen Welt zu leben und sah optimistisch in die Zukunft. Vom Beginn
des 21. Jahrhunderts her gesehen erscheinen uns zwar die Zeichen überdeutlich. Die meisten Zeitge-
nossen aber hätten damals vermutlich voller Stolz vermerkt, Deutschland habe erfolgreich seinen eige-
nen Weg in die technologisch-wirtschaftliche Moderne gefunden.
Die Festwoche vom 14. bis 22. August braucht hier nicht mit allen Programmpunkten dargestellt
zu werden.56 Aus der Vielzahl der Aktivitäten seien hier jedoch drei herausgegriffen, an denen die Band-
breite des Dargebotenen deutlich wird.
Am Haupttag, Sonntag dem 15. August, fand ein ‚Großer Germanenzug‘ statt, der „in seinem ers-
ten Teile den Siegeszug der Deutschen nach der Schlacht im Teutoburger Wald darstellen, im zweiten
ein anschauliches Bild des Lebens der alten Germanen und ihrer Kultur geben“ sollte.57 900 Personen
gingen im Zug mit, und 200 Pferde und Zugtiere wurden aufgeboten. Die Germanentümelei war naiv-
unkritisch und wirkt vor dem Hintergrund unserer Kenntnis späterer völkischer Fehlentwicklungen
problematisch. Für die Zuschauer damals aber war das Spektakel sicher unterhaltsam – und heutiger
touristischer Kitsch ist nicht geschmackvoller. Um mit modernsten technischen Mitteln möglichst viele
Menschen teilnehmen zu lassen, wurde der Germanenzug gefilmt. Es handelt sich um die zweitältes-
53 Kösters (2009) 240. ten mit Großbritannien führte, und wurde zum geflü-
54 Die Wortprägung vom ‚Platz an der Sonne‘ geht zurück gelten Wort.
auf eine Äußerung des deutschen Staatssekretärs im 55 Radkau (1998) und Ullrich (1997).
Auswärtigen Amt und späteren Reichskanzlers Bern- 56 Veddeler (1975) 173–176 und Nockemann (1975) 52–56.
hard von Bülow in einer Reichtagsdebatte am 6. Dezem- 57 Zitiert nach Nockemann (1975) 54. Veddeler (1975) 174f.
ber 1897. Im Zusammenhang mit der deutschen Kolo- führt nach der Festschrift von 1909 die Liste der
nialpolitik formulierte er: „Mit einem Worte: wir wollen uns komisch anmutenden Formationen der „Germani-
niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen schen Spitzenreiter“ des Umzuges an. Kösters (2009)
auch unseren Platz an der Sonne.“ Später prägte sich die 248–254 bringt Fotos vom Festzug. Er weist darauf hin,
Wendung als eingängige Formel für deutsches Welt- dass auch Bayreuther Inszenierungen des Wagnerschen
machtstreben in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ein, Ring 1876 ähnliche Germanenvorstellungen auf die
als die Bismarcksche Bündnispolitik aufgegeben wurde Opernbühne gebracht hatten.
und wilhelminische Außenpolitik zum Flottenwettrüs-
ten Filmaufnahmen aus Lippe.58 Wir beobachten an diesem Beispiel die zeittypische und für das Deut-
sche Reich und Wilhelm II. persönlich bezeichnende Verbindung hochmoderner technischer Mittel
mit rückwärtsgewandten Vorstellungen.
Die eigentliche Festrede hielt der angesehene Historiker Hans Delbrück.59 Auf hohem Niveau und
fern von imperialer Großsprecherei erteilte er einseitiger Germanenverherrlichung eine eindeutige Ab-
sage. Stattdessen kam er zu dem Schluss, „die deutsche Kultur [sei] erst durch die Synthese von germa-
nischem Geist, römischer Kultur und christlichem Denken“60 entstanden.
Für 4000 Schüler gab es am 18. August eine Veranstaltung auf der Grotenburg. Die dort gehaltene
Rede eines Lehrers aus Lage, offenbar eines Verehrers Bismarcks, sah in diesem die Verkörperung des
Hermannsgeistes, und er nannte Bismarck den größten Deutschen nach Hermann.61 Vielleicht sprach
aus der Bismarckbegeisterung, die nach dem Tod des ersten Reichskanzlers verstärkt aufgekommen
war, auch ein Stück Kritik am Kaiser und Distanzierung gegenüber Wilhelm II.
58 Die ersten Filmaufnahmen waren 1907 anlässlich der Festhalten des größten Triumphs – nach all den Auf-
‚Einholung‘ des Fürsten Leopold IV. nach der Beilegung regungen und Investitionen gleichsam ein internes, auf
des lippischen Thronfolgestreites gemacht worden Zelluloid gebanntes ‚Es ist erreicht‘“.
und waren nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmt. 59 Textauszug bei Veddeler (1975) 176.
Müller (1996) 8 schreibt: „Sie dienten dem neuen Fürs- 60 Veddeler (1975) 176.
tenhaus als Mittel der Selbstvergewisserung und zum 61 Nach Nockemann (1975) 56.
Die Feiern insgesamt, ohne Kaiser62 und hohe Fürstlichkeiten wie noch 1875, waren trotz der großen
Rede Delbrücks Teile eines überwiegend entpolitisierten, unterhaltenden Volksfestes von regionaler Be-
deutung.
Als man 1925 das 50-jährige Jubiläum des Denkmals feierte, war die Welt für die Deutschen grundle-
gend verändert gegenüber der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Kein imperiales Hochgefühl, kein kraft-
strotzender Optimismus, keine wirtschaftliche Aufstiegsdynamik. Vor dem Hintergrund des Traumas
des verlorenen Krieges und des ‚Diktats von Versailles‘, der wirtschaftlichen, sozialen und politischen
Krisen der Inflationszeit, des Ruhrkampfes, der harten Politik Poincarés und des Separatismus war
die Festwoche politisch ausgesprochen schwarz-weiß-rot gef ärbt. Der wenige Monate vorher gewählte
62 Mellies (2009a) 264: Im Vorfeld der Festvorbereitungen gen des lippischen Thronfolgestreits (1895–1905) der
hatte das lippische Fürstenhaus dafür gesorgt, dass we- Kaiser nicht eingeladen wurde.
63 Reichspräsident von Hindenburg schrieb: „Das Denkmal 66 Der lippische Landespräsident Heinrich Drake rief auf
des Cheruskers auf der Grotenburg ist ein Nationalgut „zur Förderung der Wohlfahrt und der inneren Ge-
des deutschen Volkes geworden. Möge es eine Mahnung schlossenheit unseres schwer geprüften deutschen Vol-
sein für jeden Deutschen, seine ganze Kraft einzusetzen kes … und … dass uns nicht schale Äußerlichkeiten, son-
zum Wiederaufbau unseres schwer geprüften Vaterlan- dern innere Verbundenheit mit allem Wahren, Guten
des; und möge es uns auch daran erinnern, dass wir dies und Schönen ziemen.“
Ziel nur durch Einigkeit erreichen können!“ Dieses und 67 Zu den Ereignissen vom 1. bis 19. August 1925 vgl. Ved-
die drei folgenden Zitate nach der Jubiläumsschrift (1975). deler (1975) 176–180, Nockemann (1975) 56–60 und
64 Reichskanzler Hans Luther sprach vom „Wahrzeichen Mellies (2004) 335–373.
deutscher Einheit und deutscher Freiheit“. 68 Dem patriotisch-heroischen Politikverständnis schein-
65 Reichsaußenminister Gustav Stresemann schrieb: „Ver- bar entsprechend erklangen der Schlusschor aus Wag-
standespolitik ohne vaterländisches Gefühl wird dau- ners Meistersingern und aus Beethovens 9. Symphonie.
ernd nie das deutsche Volk befriedigen.“ – Für die Ent- 69 Kleists Hermannsschlacht wurde aufgeführt. Grabbes
wicklung des Mythos im 20. Jahrhundert wäre eine Schauspiel harrte noch seiner Uraufführung während
Beschäftigung mit der politischen Rolle Hindenburgs des Dritten Reiches.
von besonderem Interesse. Ausgestattet mit der Autori- 70 Müller (1996) 172.
tät des Siegers von Tannenberg hatte er 1919 vor dem 71 Die Kulturkampfzeit der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts
Untersuchungsausschuss des Deutschen Reichstages lag weit zurück, und das Zentrum war längst zur repu-
zur Kriegsschuldfrage mit Überzeugung die sogenannte blik-tragenden Partei geworden, die in Wahlen auf ein
‚Dolchstoßlegende‘ vertreten. In ihr erfolgt eine – nach relativ konstantes Wählermilieu zurückgreifen konnte
Münkler – ‚Mythenkoppelung‘ zwischen Hermann/Ar- und in fast allen Kabinetten Weimars vertreten war.
minius und Siegfried, die in den 20er Jahren eine breite 72 Nockemann (1975) 107.
Wirksamkeit entfaltete.
Geist der Nation geht“. Schließlich richtete er den Blick auf die Zukunft, in der Deutschland „Selbstbe-
stimmungsrecht und Gleichberechtigung als Recht fordern“ werde. Treviranus schloss seine Rede mit
an Luthers Sprache erinnerndem Pathos: „Das Reich muss uns doch bleiben. Im Leben und Sterben: Es
lebe unser heiliges, unteilbares deutsches Vaterland. Du musst bleiben, Land, wir vergehn!“73
Eindrucksvoller als diese Festrede war zweifellos für die meisten Teilnehmer des Festes der große
Turnerlauf.74 Die Turner verstanden sich im Sinne ihres Turnvaters Jahn als ‚Geburtshelfer des Her-
mannsdenkmals‘, hatte dieser doch in Hermann seinen Lieblingshelden gesehen, ihn einen ‚Volkshei-
land‘ genannt, und sein enger Mitarbeiter Hans Ferdinand Maßmann75 hatte mit Liedern, Büchern und
Geldsammlungen unermüdlich Bandels Pläne unterstützt.76 Nun veranstalteten die Turner symbol-
trächtig den größten Staffellauf in der Geschichte der Deutschen Turnerschaft. Er war dem Stern-Eilbo-
tenlauf nachempfunden, der 1913 zur Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig stattgefun-
den hatte. Nun kamen in 16 Hauptläufen und 52 Nebenläufen von Grenzorten des Reiches – „von der
Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt!“ – Grüße der Auslandsdeutschen, der Grenzgaue,
der Turnfeststädte und des Reichspräsidenten. Am Hermannsdenkmal wurden von den Schlussläufern
an die 80 Urkunden überreicht. Diese kamen u.a. von Turnvereinen aus Nord- und Süddeutschland,
Afrika, Dänemark, Holland und Spanien.77 Die Urkunden der 16 Staffelläufer übernahm der Lippische
Turngau an den Landesgrenzen Lippes.
Außer den Turnern waren am Denkmal rechte Organisationen zahlreich vertretenen: der Jung-
deutsche Orden mit seinem Redner Artur Mahraun, der ,Stahlhelm. Bund deutscher Frontsoldaten‘;
überwiegend schwarz-weiß-rote Fahnen gaben der Festwoche ihren ins Auge springenden konservativ-
antirepublikanischen politischen Akzent. Die Stimmung war überwiegend monarchistisch und vergan-
genheitsorientiert. Der Nährboden für eine Mythologisierung des in die Rolle des Ersatzmonarchen hi-
neinwachsenden Reichspräsidenten zu Hermann oder Siegfried war bereitet.
Seit dem Ersten Weltkrieg war nicht mehr zu übersehen, dass das Denkmal zunehmend nicht nur
politisch, sondern auch parteipolitisch instrumentalisiert wurde. Das Denkmal war in doppelter Stoß-
richtung eingesetzt worden: nach innen im Sinne des Burgfriedens – Wilhelm II. 1914: „Ich kenne
keine Parteien, ich kenne nur Deutsche!“ –, nach außen gegen die Feinde Frankreich und Italien. Nach
dem Krieg wurde der Germanen-Mythos gegen den Versailler Vertrag mobilisiert: ‚Germania in Ketten‘
war ein beliebtes Motiv. Das Denkmal wurde zunehmend Treffpunkt völkischer Gruppen. Die Groten-
burg avancierte zur nationalen Wallfahrtsstätte und wurde neben den Externsteinen zum Ort von Win-
tersonnenwendfeiern, beliebt bei Völkischen und Germanenbegeisterten um Wilhelm Teudt.79
Auch wurde sie zum beliebten Ausflugsziel für die ‚alte Garde‘ der NSDAP. Im Unterschied zur Deu-
tung durch konservative Kreise, die vorwiegend rückwärtsgewandt die germanische Vorzeit beschwo-
ren hatten, richtete sich die Erwartung der Nationalsozialisten auf einen zukünftigen neuen Führer, der
wie Arminius zu Einheit und Stärke führen solle. Anlässlich des Reichstagswahlkampfes im Sommer
1932 veranstaltete die NSDAP eine Großkundgebung am Hermannsdenkmal, und der kurze lippische
Landtagswahlkampf zur berühmt-berüchtigten Wahl vom 15. Januar 1933 wurde als ‚Zweite Schlacht im
Teutoburger Wald‘ bezeichnet und unter der Parole geführt: ‚Macht frei das Hermannsland!‘
Nach dem Zweiten Weltkrieg war alles Nationale verpönt, und eine Fortsetzung der Hermannsdenk-
mal-Feiern im überkommenen Stil war undenkbar; offiziell fürchtete man jede Politisierung. Die Dis-
tanzierung der Deutschen von allem Nationalen führte dazu, dass das Hermannsdenkmal heute fast
ausschließlich nur noch als regionales Identifikationsmerkmal dient, das touristisch vermarktet wird
für Lippe als ‚Land des Hermann‘.
1950 entschloss man sich anlässlich von 75 Jahren Hermannsdenkmal, das Programm bewusst
unpolitisch zu halten: Modenschauen, Kochwettbewerbe, Sportveranstaltungen, eine Gedächtnisaus-
An diese letzte Feststellung seien abschließend einige grundsätzliche Überlegungen zu Bedeutung und
Funktion politischer Mythen angeschlossen. Zur allgemeinen Problematik hat Herfried Münkler in sei-
nem schon erwähnten Buch erhellende analytische Deutungen angestellt, die nun hier abschließend in
Bezug auf das Hermannsdenkmal herangezogen werden sollen.
Als im August 1875 Ernst von Bandel in einem pompösen Festakt dem deutschen Volk das Hermanns-
denkmal auf der Grotenburg übergab, kam nicht nur ein ungewöhnliches Bauprojekt zu einem späten
Abschluss. Jahrzehntelang hatte der Bildhauer an dem Monument gearbeitet, um dessen Finanzierung
gekämpft und seinen Symbolgehalt von deutscher Einigkeit und Freiheit den wechselnden national-
politischen Konjunkturen angepasst.1 38 Jahre nach der Grundsteinlegung feierte nun die im Teutobur-
ger Wald versammelte vieltausendköpfige Festgemeinschaft nicht nur die Vollendung eines künstleri-
schen Lebenswerkes, sondern auch die Verwirklichung des dahinter stehenden patriotischen Traumes:
die Gründung eines deutschen Nationalstaats. Mit Bezug auf die vermeintlichen Einigungsbestrebun-
gen des im Denkmal verewigten Germanenfürsten Arminius wurde die Reichsgründung von 1871 zum
finalen Triumph in einem Jahrhunderte währenden Kampf um nationale Einheit und Selbständigkeit
erhoben, die Vernichtung der römischen Legionen mit dem Sieg über den französischen ‚Erbfeind‘
bei Sedan verglichen und der ‚ewige Kampf gegen Rom‘ bis in den gegenwärtigen konfessionspoliti-
schen Konflikt im Kulturkampf hineinprojiziert.2 Mit seinem hoch erhobenen Schwert symbolisierte
der monumentale Hermann die innere Einheit und den äußeren Machtanspruch des deutschen Kaiser-
reiches.
Auch im Ausland nahm die Presse durch eine intensive Berichterstattung und Kommentierung
Anteil an dieser symbolpolitischen Demonstration deutscher Einigkeit und Stärke.3 Schon im Vorfeld
hatte die britische und amerikanische Tagespresse ihren Lesern das Bandelsche Lebenswerk als eighth
wonder of the world angekündigt.4 Bei der Enthüllung des Denkmals saßen Korrespondenten von min-
destens drei englischsprachigen Zeitungen – dem Manchester Guardian, der Londoner Daily News und
dem New York Herald – auf der Pressetribüne und telegrafierten umfangreiche Festberichte an ihre
Redaktionen.5 Allgemein zeigte man sich in der angelsächsischen Presse stark beeindruckt von der
Monumentalität des Kunstwerks und der patriotischen Begeisterung der deutschen Bevölkerung. Der
im Denkmal verewigte national hero Arminius wurde zumeist in Anlehnung an Tacitus als Liberator of
Germany oder Deliverer of Germany from the Roman yoke vorgestellt.6
Britische Kommentatoren warnten allerdings auch davor, den liberator Germaniae zum Vorkämpfer
eines ewigen Rassenkampfes zwischen Romanen und Germanen zu stilisieren: There is at least a danger,
1 Zur Baugeschichte siehe Tacke (1995) und Ritzmann glichen – siehe Times vom 18. 8. 1875, Northern Echo
(2006). (Darlington) vom 17. 8. 1875 und Galveston Daily News
2 Zu den Einweihungsfeiern siehe Dörner (1996) und (Houston) vom 25. 8. 1875.
Mellies (2009). Zum Gipfel der literarischen Arminius- 5 Siehe Guardian vom 20. 8. 1875, Daily News vom 17 u.
begeisterung in dieser Zeit siehe Hansen (1974). 18. 8. 1875 und New York Herald vom 16. 8. 1875. Schmidt
3 Eine Untersuchung zum Einweihungsfest als trans- (1975) 27 nennt auch einen Korrespondenten der Times,
nationales Medienereignis steht noch aus. Erste Hin- doch findet sich in der Zeitung kein eigener Korrespon-
weise zu internationalen Pressestimmen liefert Schmidt dentenbeitrag aus Detmold, nur ein Bericht der Nach-
(1975) 18, 27f. und 47f. richtenagentur Reuters am 17. 8. 1875.
4 Times vom 27. 5. 1875, zitiert in New York Times vom 6 Boston Journal vom 11. 8. 1875 und Karl Blind, „Armin,
7. 6. 1875, Boston Journal vom 11. 6. 1875 und Chicago Tri- the Liberator of Germany“, in: Fraser’s Magazine 12
bune vom 13. 6. 1875. In den Festberichten wurde das (1875), 243; vgl. auch The Academy 172 (1875), 204f. und
Denkmal auch häufig mit dem Koloss von Rhodos ver- Chicago Tribune vom 19. 8. 1875.
17 Times vom 17. 8. 1875. Das Times-Editorial wurde von schen Aneignungen des Hermannsmythos, die 1897 in
zahlreichen Zeitungen nachgedruckt, so z.B. von der der Errichtung eines Paralleldenkmals in New Ulm,
Manchester Times vom 21. 8. 1875, Lloyd’s Weekly News- Minnesota, kulminierten, siehe bisher nur die ältere
paper vom 22. 8. 1875 und dem walisischen Baner ac Am- Studie von Sandow (1956).
serau Cymru vom 1. 9. 1875. Ähnlich kritisch kommen- 11 Reynolds’s Weekly Newspaper vom 22. 8. 1875 und Balti-
tierte die Pall Mall Gazette vom 17. 8. 1875. more Sun vom 18. 8. 1875.
18 Siehe hierzu neuerdings und umfassend Janorschke 12 Daily Critic (Washington) vom 19. 8. 1875 und Baltimore
(2010). Correspondent vom 21. 8. 1875.
19 „German Chauvinism“, Economist vom 21. 8. 1875, und 13 Manchester Guardian vom 28. 5. 1875.
Saturday Review 40 (21. 8. 1875), 223f. 14 New York Times vom 18. 8. 1875.
10 Siehe Illinois Staats-Zeitung (Chicago) vom 16. 8. 1875 15 Siehe zum deutschen Hermannskult Kuehnemund
und Heinrich Armin Rattermann, „Eine Unabhängig- (1966), Unverfehrt (1981), Wiegels (2007), Münkler
keitserklärung Deutschlands“, in: Der Deutsche Pionier 7 (2009), Kösters (2009) und den Ausstellungsband My-
(1875/1876), 236. Zu den spezifisch deutschamerikani- thos (2009).
Am Anfang der Rückbesinnung auf die germanische Abstammung stand in England wie in Deutsch-
land ein römischer Historiker. Die Wiederentdeckung der Germania und der Annalen des Tacitus zu Be-
ginn der Frühen Neuzeit hatte für das europäische Geschichtsbewusstsein langfristig kaum zu über-
schätzende Auswirkungen, die bereits Alexander von Humboldt mit der Entdeckung Amerikas durch
Kolumbus verglichen hat.17 Insbesondere Tacitus’ Sittengemälde der germanischen Stämme eröffnete
den Blick in eine neue Welt einer Antike, die weder römisch noch christlich war und dadurch neue
Möglichkeiten der Konstruktion historischer Traditionen bot. Seine Beschreibungen der kriegerischen
Auseinandersetzungen zwischen Römern und Germanen lieferten zudem vielf ältige Anknüpfungs-
punkte für eine geschichtspolitische Aufladung gegenwärtiger Konflikte. So verwiesen zunächst italie-
nische Gelehrte und Kirchenvertreter auf Tacitus, um das Kulturgef älle zwischen dem barbarischen
Norden und dem zivilisierten Italien zu belegen. Deutsche Humanisten und Reformatoren hingegen
beriefen sich in ihrem Kampf gegen die korrupte katholische Kirche auf die einfachen, aber sittenrei-
nen und freiheitsliebenden Germanen und stellten den römischen Caesaren ihren siegreichen Kriegs-
fürsten Arminius gegenüber, den sie in Hermann umtauften.18 Im 17. Jahrhunderts legitimierten
französische Adlige ihre Privilegien gegenüber Volk und König mit ihrer Abstammung von den germa-
nischen Eroberern der vorchristlichen Zeit, während in England die immemorial tradition der angelsäch-
sischen Freiheitsrechte gegen die Vorrechte des Adels und den Herrschaftsanspruch der katholischen
Dynastie der Stuarts ins Feld geführt wurde.19 Diese politische Tradition – und nicht die deutschen Zu-
stände – hatte auch Montesquieu vor Augen, als er 1748 in seiner berühmten Schrift vom Esprit des lois
die freiheitlichen Prinzipien der englischen Verfassung auf die von Tacitus beschriebenen Stammesge-
meinschaften ,in Germaniens Wäldern‘ zurückführte.20
Ebenso wenig wie die politischen Aneignungen der Germanenideologie blieben die literarischen
Verarbeitungen des Hermannsmythos auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Es waren vielmehr
die Franzosen Georges de Scudéry und Jean Galbert de Campistron, die dem „teutschen Ertz-Helden“21
erstmals auf die Bühne verhalfen. Sie lieferten damit die Vorlagen für dutzende Arminius-Opern,
die im Barockzeitalter vorwiegend von damals europaweit tonangebenden italienischen Librettisten
16 Siehe Gollwitzer (1971). 20 Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Görlitz
17 Siehe Pralle (1952) 9. Vgl. Thom (1995). 1804, Bd. 1, 306. Als 1782 die erste deutsche Über-
18 Siehe Fuhrmann (1982), Kloft (1990), Kösters (2009) setzung erschien, waren in London bereits sieben eng-
und Münkler (2009). lische Ausgaben veröffentlicht worden. Vgl. Kösters
19 Vgl. die älteren Standardwerke von Hölzle (1925), Kliger (2009) 135 zur deutschen Rezeption.
(1952) und Hill (1965). 21 Christoph Adam Negelein, Arminius. Der Teutschen Ertz-
Held, Nürnberg 1697.
22 Siehe Forchert (1975), Barbon u. Plachta (1995) und Kös- (2009) 140–142. Eine weitere, stellenweise identische
ter (2009) 88–99. Fassung erschien unter dem Titel Arminio. Dramma per
23 Georg Friedrich Händel, Arminius. An Opera; as it is Per- musica 1760 in London.
form’d at the Theatre Royal in Covent Garden, London 26 Siehe für einen Überblick Goldgar (1976) und Gerrard
1737. Siehe auch zum Folgenden Kösters (2009) 102–105, (1994).
und Ketterer (2009) 142–149. 27 Vgl. Ketterer (2009) 147f. Laut einer Notiz im Londoner
24 Siehe Kliger (1952), Hill (1965), Gerrard (1994) und Gey- Daily Gazetteer vom 13. 1. 1737 besuchte der Kronprinz
ken (2002) 223. Händels Oper am 12. 1. 1737. Wie weit die Identifikation
25 Arminius. An Opera, London 1714. Laut Busby (1819) I, Fredericks mit seinen vermeintlichen germanischen
423 besuchten im Oktober 1714 kurz hintereinander der Vorfahren ging, verdeutlicht sein Plan, in Kew Gardens
wenige Tage zuvor gekrönte König und der Kronprinz eine Arminius-Statue aufzustellen – siehe Rorschach
mit ihrem Gefolge die Vorführung. Zum Inhalt und (1989/1990) 30f.
der bis heute ungeklärten Verfasserfrage siehe Ketterer
That young Hero, besides his illustrious Descent, was the truest Friend, the noblest Ornament
of his Country: and every good Man rejoices in the Hope that your Highness will, one day, prove
equally useful and ornamental to Great Britain. If Tradition immemoriable errs not, your Au-
gust Family is allied to him by Blood.31
Doch auch diese Demutsgeste gegenüber dem Königshaus konnte das Verbot nicht verhindern. Immer-
hin verhalf die durch den Zensurskandal verursachte öffentliche Erregung der subskribierten Druck-
fassung des Dramas zu einer stattlichen Auflage.32
Dass Patersons Arminius im Gegensatz zu Händels Arminio solchen Anstoß erregte, lag jedoch
nicht nur an den unterschiedlichen persönlichen Beziehungen der beiden Autoren zu den verfeindeten
Hofparteien. Auch inhaltlich ist Patersons Stück deutlich stärker auf Polarisierung und Konfrontation
ausgerichtet. Zwar orientiert sich auch seine dramaturgische Grundstruktur an der Vorlage Campi-
strons, doch anders als bei Händel führt die großmütige Vergebungsgeste des siegreichen Arminius ge-
genüber dem gescheiterten Römerfreund Segestes am Ende nicht zur allseitigen Versöhnung, sondern
zur moralischen Demütigung des bloßgestellten Verräters. Auch stehen sich Römer und Germanen
nicht als gleichwertige Gegner gegenüber. Scharf wird die überzivilisierte, verweichlichte Dekadenz
Roms mit der einfachen, aber unverdorbenen und mannhaften Tugend des germanischen Helden kon-
trastiert:
28 Arminius. A Tragedy. As it was to have been acted at the 30 Siehe McKillop (1958), Conolly (1976) 57ff. und Kinser-
Theatre-Royal in Drury-Lane, London 1740. Die For- vik (2002) 104f.
schungsliteratur zu Paterson und seinem einzigen lite- 31 Paterson, Arminius, S. iiif.
rarischen Werk beschäftigt sich vorwiegend mit den 32 McKillop (1958) 452 spricht von 400 fine und 2000 com-
Gründen des Verbots. Siehe auch zum Folgenden Grant mon Exemplaren. Zur öffentlichen Debatte siehe London
(1951) 191, McKillop (1958) 452, Loftis (1963) 150, Scou- Evening Post vom 8. 1. 1740, Daily Post vom 11. 1. 1740,
ten (1965) liii, Conolly (1976) 59–62, Gerrard (1994) The Champion 1 (1740), 185, Gentleman’s Magazine 10
115f. und Kinservik (2002) 105. (1740), 32, Scots Magazine 2 (1740), 40.
29 Siehe Grant (1951) 191 u. 261. 33 Paterson, Arminius, S. 19.
Wie eng Freiheitspathos und Kriegsbegeisterung, dynastische Tradition und Nationalstolz im Armini-
us-Stoff verbunden und aktualisiert werden konnten, zeigte sich zwei Dekaden später im Siebenjähri-
gen Krieg. Die antifranzösische Allianz mit Preußen hatte bereits 1758 einen amerikanischen Kolonis-
ten in Maryland dazu verführt, den protestant champion Friedrich II. als Royal Comet zu verherrlichen,
dessen Schweif bis weit in die gemeinsame germanische Frühzeit reiche:
Zwei Jahre später war es Ferdinand von Braunschweig-Lüneburg, der Sieger der Schlacht von Minden,
der in der englischen Presse in eine Traditionslinie mit dem Sieger der Varusschlacht gestellt wurde.39
Nachdem der von Paterson 1740 noch mit so hohen Erwartungen beladene Prinz William vor dem fran-
34 Paterson, Arminius, S. 36. manns finden sich in der deutschen Literatur erst zwan-
35 Paterson, Arminius, S. v. Ähnlich bereits James Ralph, zig Jahre später – siehe Paul von Hofmann-Wellenhof,
The Loss of Liberty; or Fall of Rome, London 1733, und Zur Geschichte des Arminius-Cultes in der deutschen Litera-
Thomsons berühmtes Versepos Liberty, London 1735 tur, 3 Bde., Graz 1887/1888, Bd. 3, 30f. Sehr viel verbrei-
/1736. Siehe zur Vorstellung einer translatio libertatis von teter war jedoch auch in der umfangreichen englischen
den Römern zu den germanischen Völkern des Nordens Friedrich-Panegyrik der Vergleich mit Julius Caesar
ausführlich Müllenbrock (1974) 240ff. und Alexander dem Großen – siehe Schlenke (1963)
36 Siehe zur dangerous equation of King and Caesar, Augustus 347–370.
and George Augustus bei Thomson, Paterson u.a. Oppo- 39 „A Parallel between Prince Ferdinand of Brunswick and
sitionsliteraten der augusteischen Zeit Gerrard (1994) Arminius“, in: British Magazine 1 (1760), 113–115. Nach-
113–116. Vgl. Weinbrot (1978). gedruckt wurde diese anonyme Eloge u.a. am 1. 3. 1760
37 Paterson, Arminius, S. v. Vgl. Conolly (1976) 61 und im Universal Chronicle and Westminster Journal und,
Goldgar (1976) 179–185. Jahrzehnte später, in Elisa Rogers, The Lives of the twelve
38 James Sterling, „The Royal Comet“, in: American Maga- Caesars, Bd. 2, London 1811, 21–26.
zine & Monthly Chronicle 1 (1758), 550. Vergleichbare
Parallelisierungen der Heldentaten Friedrichs und Her-
They were of the same country, the same family, the same age, the same accomplishments, the
same talents, the same virtues, engaged in the same cause, at the head of the same people,
against nearly the same confederacy of their own countrymen; acted on the very same ground,
and were favoured by heaven with the same glorious success.42
Noch direkter wurde die Herkunft der englischen Nation und ihres Königshauses aus den germani-
schen Wäldern schließlich 1763 von Philip Doyne postuliert. In einem Huldigungsgedicht anlässlich
der Geburt des späteren Königs George IV. kürte er Prince Arminius, den firm champion of Germanick
liberty und Saxon hero [who] crush’d tyrannick power and set his country free,43 zum Stammvater der Angel-
sachsen und der Hannoveraner Dynastie:
Derartige Abstammungsmythen waren in der englischen Panegyrik des 18. Jahrhundert nicht unüb-
lich. Schon Wilhelm von Oranien war 1702 als Vertreter einer Godlike Race, in deren Adern germani-
sches Blut floss, gefeiert worden, und George I. wurde 1718 als Erneuerer der Royal Race einer old Saxon
Line willkommen geheißen.45 Da auch das englische Volk von Saxon Ancestors abstammte, konnte die
Thronfolge eines deutschen Königs so als Wiedervereinigung zweier stammverwandter Völker under
the Protection and Influence of the same common Parent legitimiert werden.46 Der Bezug auf Arminius lag
auch deshalb nahe, weil man annahm, dass auf hannoveranischem Boden bereits die Cherusker gesie-
Wie bei Tacitus nachzulesen war, endete die Geschichte des Arminius nicht mit dem Triumph im Teu-
toburger Wald. In den Feldzügen des Germanicus hatte sich der cheruskische Heerführer als militä-
risch keineswegs unbesiegbar erwiesen. Seine Rolle in den folgenden innergermanischen Stammes-
kriegen und seine Ermordung durch die eigene Verwandtschaft belegen zudem, dass er sich nicht
einmal der Gefolgschaft seiner engsten Verbündeten, geschweige denn der aller germanischen Völker
sicher sein konnte. Insbesondere sein schmähliches Ende disqualifizierte Arminius nicht nur als dy-
nastischen Ahnherrn, sondern ließ sich auch grundsätzlich gegen die monarchische Herrschaft als sol-
che ausdeuten.
Etabliert wurde diese republikanische Lesart bereits Ende des 17. Jahrhunderts durch Algernon
Sidney, der 1683 auf Befehl Charles II. enthauptet wurde. Seine posthum veröffentlichten Discourses
Concerning Government gelten als Klassiker der modernen Monarchiekritik und fanden insbesondere
unter den späteren amerikanischen Revolutionären begeisterte Leser.50 Arminius wird von Sidney
einerseits als Retter der angelsächsischen Freiheiten anerkannt; andererseits bewies sich die Freiheits-
liebe der germanischen Vorväter aber gerade darin, dass sie ihren Helden erschlugen, als dieser selbst
nach der Alleinherrschaft strebte:
The Germans had then no King: The brave Arminius had bin lately kill’d for aiming at a Crown.
When he had blemish’d all his Vertues by that attempt, they forgot his former Services …
His Valor was a crime deserving death, when he sought to make a prey of his Country, which
he had so bravely defended, and to enslave those who with him had fought for the public
liberty.51
Diese historische Rechtfertigung des Tyrannenmordes wurde 70 Jahre nach ihrer ersten Publikation
vom schottischen Radical Whig Gilbert Stuart wiederbelebt.52 Wie Sidney lobt auch Stuart die Tugenden
des Freiheitskämpfers Arminius im Kampf gegen die römischen Unterdrücker. Mit seiner Missachtung
47 Siehe Guy Miège, The Present State of His Majesty’s Domi- zungen erschienen unter dem Titel Betrachtungen über
nions in Germany, London 1722, 15 und Henry Rimius, die Regierungsformen 1793 in Leipzig und 1795 in Erfurt.
Memoirs of the House of Brunswick from the most early Siehe zum Inhalt und zur Wirkungsgeschichte Houston
Accounts of that Illustrious Family to the End of the Reign of (1991) und Nelson (1993).
King George the First, London 1750, 27ff. 51 Zitiert nach der zweiten Auflage, London 1704, 276.
48 Das Haus Hannover stand in der Nachfolge der Welfen, Ähnlich auch 347: but when he himself endeavour’d to
die in männlicher Linie ihre Ursprünge im römischen usurp a power over the Liberty of his Country which he had
Adelsgeschlecht d’Este haben. so bravely defended, he was kill’d by those he would have op-
49 Auch der von Doyne als Arminius’ Nachkomme gefei- prest.
erte Thronfolger hieß mit vollem Namen George Augus- 52 Gilbert Stuart, An Historical Dissertation concerning the
tus Frederick; vgl. Weinbrot (1978). Antiquity of the English Constitution, Edinburgh 1768.
50 Algernon Sidney, Discourses Concerning Government, Eine deutsche Übersetzung erschien 1779 in Lübeck.
London 1698. Bis 1805 erschienen in Großbritannien Vgl. Kidd (1993) 239–246.
und Amerika acht weitere Auflagen. Deutsche Überset-
Yet his nation, too much in love with freedom to be dazzled by his virtues, or his services,
declared him an enemy, and a traitor … So strong an aversion did the Germans entertain to
tyranny!54
Ähnliche Vorstellungen einer demokratischen altgermanischen Verfassung, die nicht nur gegen römi-
sche Invasoren, sondern auch gegen Usurpatoren aus den eigenen Reihen verteidigt werden musste,
waren in den 1770er Jahren weit verbreitet und spielten eine nicht unbedeutende Rolle für die Legiti-
mation des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes.55 Ein 1771 anonym publizierter Historical Essay
on the English Constitution behauptete: Our Saxon forefathers founded their government upon the common
rights of mankind. They made the elective power of the people the first principle of our constitution.56 Ähnliche
Rückprojektionen republikanischer Ideale finden sich auch wenige Jahre später in den Political Disqui-
sitions des radikalen Reformpolitikers James Burgh.57 Die Ermordung von Arminius durch seine eige-
nen Stammesbrüder wird dort als legitime Notwehr gerechtfertigt: Those brave savages would have no
master, not even an illustrious or a gentle one.58 Für diese Vertreter der radikalen Whig-Tradition und ihre
amerikanischen Rezipienten begründete der Arminiusmythos nicht länger die dynastische Herr-
schaftstradition des englischen Königs, sondern das Widerstandsrecht des free-born Englishman gegen
ebendiesen König.
Neben dem Widerstreit von Volk und Herrscher gab es noch ein zweites in den Mythos einge-
schriebenes Element, das einer positiven Identifikation mit dem germanischen Heerführer im Wege
stand. In grellen Farben hatten manche antike Autoren die Hinterlist des römischen Ritters Arminius
und die grausamen Exzesse der siegreichen Germanen gegenüber den besiegten Gegnern im Teuto-
burger Wald beschrieben. Insbesondere Tacitus’ detailreiche Schilderung des Schlachtfeldes, wie
es Germanicus sechs Jahre später bei seiner ersten Expedition ins Cheruskerland vorfand,59 fesselte
die Imagination englischer Autoren um die Wende zum 19. Jahrhundert. Mit dazu beigetragen hatte ein
Ereignis aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges, das in den Augen mancher Zeitgenossen ebenso deut-
liche Parallelen zur Varusschlacht und ihren Folgen aufwies wie der Sieg des Herzogs Ferdinand bei
Minden.
Die Schlacht von Monongahela am 9. Juli 1755 zählt zu den schwersten militärischen Niederlagen
der britischen Kolonialgeschichte.60 Trotz zahlenmäßiger und ausrüstungstechnischer Überlegenheit
des von General Edward Braddock geführten Expeditionskorps gelang es französischen Truppen und
ihren indianischen Verbündeten, die Engländer durch einen Überraschungsangriff im unwegsamen
Gelände vernichtend zu schlagen. Zu den mehr als 700 Opfern auf englischer Seite zählte neben dem
53 Zitiert nach der zweiten Auflage, London 1770, 43. Stu- tution zusammen mit der ersten Druckausgabe der De-
art lässt keinen Zweifel daran, dass in dieser germani- claration of Independence.
schen Regierungsform auch die Wurzeln der englischen 57 James Burgh, Political Disquisitions: or, An Enquiry into
Verfassung liegen (76 u. 246). Public Errors, Defects, and Abuses, 3 Bde., London 1774/
54 Stuart, Historical Dissertation, 45f. 1775. Eine amerikanische Ausgabe erschien bereits 1775
55 Siehe auch zum Folgenden Colbourn (1965), Bailyn in Philadelphia. Zu Burgh und der Wirkungsgeschichte
(1967), Kramnick (1992) und Kidd (1999) 261–279. seines Hauptwerks siehe Hay (1979) und Kramnick
56 [Obadiah Hulme,] An Historical Essay on the English Con- (1992).
stitution: or, An Impartial Inquiry into the Elective Power 58 Burgh, Political Disquisitions III, 313.
of the People, from the first Establishment of the Saxons in 59 Siehe Pagán (1999).
this Kingdom, London 1771, 6. Eine amerikanische Aus- 60 McLynn (2004) 35. Siehe zur Schlacht selbst, ihren Hin-
gabe erschien 1776 in Philadelphia unter dem Titel The tergründen und Folgen Kopperman (1977), Anderson
Genuine Principles of the Ancient Saxon, or English Consti- (2000) und Borneman (2006).
His vigilance, activity, and presence of mind, are worthy admiration; and he is perhaps one of
the bravest adversaries that ever met our legions in the field … yet, not all his bravery, nor all his
patriotism can justify his deceit to which he owes his first advantage … to undermine the great-
ness of a nation with whom you are at peace, to wear the mask of friendship till a favourable
opportunity is offered to annoy them, such a conduct, from whatever motive it may proceed,
degrades the hero and deliverer of his country.66
61 Siehe z.B. Edinburgh Magazine 3 (1759), 38f. 63 Ellis Cornelia Knight, Marcus Flaminius; or, A View of the
62 Siehe William Smith, Discourses on several Public Occasi- Military, Political, and Social Life of the Romans in a Series
ons during the War in America, London 1759, 121f., New of Letters from a Patrician to a Friend, 2 Bde., London
American Magazine (1759), 324f., und London Chronicle 1792. Deutsche Übersetzungen erschienen 1794 und
vom 17. 3. 1759. Siehe für spätere Parallelisierungen der 1803 in Dresden und Leipzig. Auch die englische Neu-
englischen mit der römischen Niederlage John Burk, auflage von 1808 wurde umgehend ins Deutsche über-
The History of Virginia. From its first Settlement to the pre- tragen. Zur Autorin siehe Luttrell (1965).
sent Day, Bd. 1, Petersburg 1804, 237f., William B. Reed, 64 Knight, Marcus Flaminius I, 3–5.
„Romance of Revolution“, in: Raleigh Register vom 65 Knight, Marcus Flaminius I, 180–186.
14. 1. 1840, Philip Henry Stanhope, History of England 66 Knight, Marcus Flaminius I, 162f. Ähnlich auch bereits
from the Peace of Utrecht to the Peace of Paris, Bd. 2, New die Wertung im Vorwort, S. x. Bemerkenswerterweise
York 1849, 366, Charles McKnight, Captain Jack, the entschuldigt sich Knight hier quasi für ihre ‚römische‘
Scout; or, The Indian Wars about Old Fort Duquesne. An Sichtweise auf den Helden der Varusschlacht und betont
Historical Novel, Philadelphia, New York u. Toronto 1873, ausdrücklich, dass die Deutschen a brave and patriotic
498–501 und Norris Stanley Barratt, Colonial Wars in people und, at present, incapable of a similar act of treachery
America, Pennsylvania 1913, 37f. seien.
Arminius erscheint hier als blutrünstiger Barbar, der sich nach seinem durch Hinterlist und Verrat er-
rungenen Sieg an den Demütigungen und Qualen seiner besiegten Feinde ergötzt. Leadbeaters eigent-
liches Anliegen ist jedoch keineswegs die Abwertung des Germanischen durch eine Perpetuierung
römischer Gräuelpropaganda, sondern eine allgemeine Verurteilung von Krieg und Machtstreben, wie
durch die emphatische Bekräftigung christlich-pazifistischer Werte am Schluss ihres Gedichts noch-
mals unterstrichen wird:
67 Elizabeth Hamilton, Memoirs of the Life of Agrippina, the 71 Mary Leadbeater, „The Interment of Varus and his Legi-
Wife of Germanicus, 3 Bde., London 1804. Zur Biogra- ons by Germanicus. From Tacitus“, in: dies., Poems, Dub-
phie Hamiltons siehe Kelly u. Applegate (1996) 110–123. lin 1808, 149–153. Zur Autorin siehe Hughes (2010).
68 Hamilton, Agrippina I, 14 u. 22. 72 Leadbeater, „Interment“, 150f.
69 Hamilton, Agrippina II, 23–26. 73 Leadbeater, „Interment“, 152.
70 Hamilton, Agrippina I, 21f. 74 Leadbeater, „Interment“, 152f.
Arminiusdramen um 1800
Was die englischen Arminius-Dramen der Jahrhundertwende zuallererst von ihren Vorgängern unter-
scheidet, ist – ähnlich wie in Deutschland – die Übertragung der römisch-germanischen Frontstellung
auf den zeitgenössischen Konflikt mit Frankreich. Die Erfahrung einer existentiellen äußeren Bedro-
hung ließ die Widersprüche und Ambivalenzen des Arminiusbildes zurücktreten hinter den patrioti-
schen Appell zum vereinten Kampf gegen den gemeinsamen Feind, der zuerst in Gestalt der Revolu-
tion, dann in der Person Napoleons auftrat.
Arthur Murphy, dessen Name heute nur noch einigen Literaturwissenschaftlern ein Begriff ist,
zählte zu den erfolgreichsten englischen Bühnenautoren seiner Zeit.75 Was ihn darüber hinaus für eine
dramatische Bearbeitung des Arminiusstoffes qualifizierte, war seine hoch gelobte Tacitus-Überset-
zung aus dem Jahre 1793, die er seinem Freund und Mentor Edmund Burke widmete.76 Burkes politi-
sche Philosophie bildet denn auch den ideologischen Hintergrund für die 1798 veröffentlichte Tragödie
Arminius: or The Champion of Liberty, der Murphy selbst wenig literarischen Wert, aber umso größere
politische Bedeutung zumaß.77 In einem außergewöhnlich langen und kämpferischen Vorwort erklärt
der Autor seine Intentionen: Die Widerlegung der abstrakten, geschichts- und gottlosen Prinzipien der
Französischen Revolution und die Bekämpfung ihrer Sympathisanten in England. Die in zahlreichen
Constitutional Clubs und Corresponding Societies organisierten englischen Jakobiner denunziert Murphy
als gewissenlose Umstürzler, Atheisten und Vaterlandsverräter.78 Ihren verderbten Lehren of the Rights
of Man, of Reform of Parlament, and Universal Suffrage stellt er die in der Verfassung verankerten, ge-
schichtlich bewährten Prinzipien einer mixed limited Monarchy entgegen, deren Ursprung schon Mon-
tesquieu in den germanischen Wäldern verortet habe.79 Die dramatische Veranschaulichung dieser
Prinzipien soll, wie Murphy hofft, all true Englishmen zum gemeinsamen Kampf against their enemies,
wether foreign or domestic, mobilisieren.80
75 Siehe auch zum Folgenden die Biografie von Spector Woods (1968) 500–503. Zum ambivalenten Germanen-
(1979). bild Burkes siehe Buchloh (1951).
76 Arthur Murphy, The Works of Cornelius Tacitus. With an 77 Arthur Murphy, Arminius: or The Champion of Liberty.
Essay on His Life and Genius, 4 Bde., London 1793. Siehe A Tragedy, with an Historical Preface, London 1798; Re-
auch die umfangreichen Rezensionen im Critical Review print in: Richard B. Schwartz (Hg.), The Plays of Arthur
8 (1793), 121–140 und im English Review 23 (1794), 1–16. Murphy, Bd. 4, New York u. London 1979.
Murphys Übersetzung galt über Jahrzehnte als Stan- 78 Murphy, Arminius, S. vi–viii u. xx–xxvi. Zum Kontext
dardwerk und wurde bis 1907 in England und Amerika siehe Cox (1998) 86.
ein gutes Dutzend Mal aufgelegt. Siehe auch das Dank- 79 Murphy, Arminius, S. vii u. xxvi.
schreiben Edmund Burkes vom 8. 12. 1793 in Marshall u. 80 Murphy, Arminius, S. xxix.
Der sterbende Arminius wird so zum Propheten der künftigen englischen Nationalgeschichte. Nicht
nur die Entwicklung der englischen Verfassung, auch den Import einer deutschen Herrscherdynastie
1700 Jahre nach dem Sieg im Teutoburger Wald sagt er voraus, und verpflichtet seine Nachfahren zur
ewigen Treue gegenüber dem Königshaus Hannover.82 Vor allem aber warnt er sie vor den Nachkom-
men der heimtückischen gallischen Heckenschützen, deren Verrat ihn das Leben kosten wird:
84 Siehe z.B. British Critic and Quarterly Theological Review stand mir leider nicht zur Verfügung; die Zitate stam-
12 (1798), 415ff. und Scientific Magazine & Freemasons’ men aus der von Benjamin Dudley Emerson herausge-
Repository 11 (1798), 415f. Allgemein wohlwollend ge- geben Textsammlung The Academical Speaker. A Selection
genüber dem politischen Anliegen des Autors urteilten of Extracts in Prose and Verse, from Ancient and Modern
auch der Monthly Mirror 6 (1798), 163f. und der Oracle Authors, Boston 1831, und den unten angeführten Rezen-
and Public Advertiser vom 24. 5. 1798. sionen. Zur Person Knights siehe Gray (2006).
85 Anti-Jacobin Review and Magazine 1 (1798), 191. Laut Mont- 90 Siehe Erbe (1995) und Hausberger (2010) zu den Anlei-
luzin (1988) 58 war Bisset one of the most fanatical Jacobin- hen Napoleons bei der römischen Herrschertradition
haters in der englischen Publizistik der Revolutionsära. und für die deutsche Arminiusbegeisterung zur Zeit der
86 Analytical Review 28 (1798), 81. Befreiungskriege Dörner (1996) 63–141.
87 Critical Review 24 (1798), 353 u. 356. 91 Zitiert nach der Rezension im Monthly Review 75 (1814),
88 Siehe etwa die ausgewogene Kritik des Monthly Review 214. Die Moral des Stückes fasst der Rezensent folgen-
27 (1798), 394–399, die Murphys patriotische Motive dermaßen zusammen: The proudest and most successful
würdigt, seine Dramatisierung des Arminiusstoffes conquerer will ultimately be foiled by a people bravely unani-
aber als deutlichen Rückschritt gegenüber den Her- mus in the cause of freedom and national independence (213).
mannsdramen Klopstocks bezeichnet. 92 Aus dem Schlussmonolog des Arminius, zitiert nach
89 Charles Knight, Arminius, or The Deliverance of Germany. der Rezension im British Critic, N.S. 1 (1814), 102f.
A Tragedy, Windsor 1814. Der Originaltext des Dramas
Unter den Poeten, die sich im 19. Jahrhundert des Arminiusthemas annahmen, befinden sich mit
William Wordsworth, Walter Scott und Percy Bysshe Shelley drei klangvolle Namen, die ihren festen
Platz in jeder englischen Literaturgeschichte haben. Allerdings widmen sich die Dichter der englischen
Romantik dem Sieger der Varusschlacht eher en passant, ohne den Charakter des Helden oder sein Han-
deln im Detail lyrisch auszudeuten. Die Geschichte, die sich mit dem Namen Arminius verbindet, und
93 Siehe die in Emersons Academical Speaker (1831), 69–73 temporary outburst of popular enthusiasm would ensure suc-
zitierten Passagen. cess to a poem, and especially to a drama, which, in the very
94 Vgl. zur politischen Semantik der Fremdherrschaft Kol- nature of its subject, must be little more than a vehicle for
ler (2005). rhetorical display. – Passages of a Working Life during half a
95 Monthly Review 75 (1814), 213. Century, Bd. 1, London 1864, 153.
96 British Critic, N.S. 1 (1814), 103. 98 Siehe Frenzel (2005) 75f. Nipperdey (1975) 13 schätzt,
97 European Magazine and London Review 66 (1814), 236f. dass zwischen 1750 und 1850 etwa 200 „Dichtungen
Ganz ähnlich urteilt Knight im Rückblick selbst: It is one und Opern zum Hermannsthema“ entstanden.
of he usual mistakes of young writers to believe that some
Ein Jahr später erschien Arminius in Scotts Gedichtzyklus Marmion in ähnlicher Funktion. Der dritte
Gesang erinnert an den Tod Herzog Ferdinands von Braunschweig und den seines Nachfolgers, der
1806 in der Schlacht von Jena starb. Den trostlosen Zuständen im besiegten und besetzten Deutschland
stellt Scott die Hoffnung auf das Erwachen eines new Arminius entgegen, der in der hour of Germany’s
revenge sein Schwert an Brunswick’s tomb wetzen und blutige Rache nehmen werde.101 Arminius er-
scheint hier ähnlich wie in den zeitgenössischen Schlachtgesängen Ernst Moritz Arndts und Theodor
Körners als deutscher Kriegsgott, dessen herbeigesehnte Inkarnation den Sieg über die französischen
Besatzungstruppen herbeiführen soll.102 Die Verknüpfung von braunschweigischen und germanischen
Geschichtsmythen zeigt dabei die Langlebigkeit der aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges stammen-
den Parallelisierung von Herzog Ferdinand und Arminius. Die historische Figur, die während der anti-
napoleonischen Kriege der von Scott prophezeiten doppelten Wiedergeburt der Sieger von Minden und
dem Teutoburger Wald vielleicht am nächsten kam, war der preußische Husarenmajor und Partisanen-
führer Ferdinand von Schill, in dem bereits Zeitgenossen in Deutschland wie in England einen „mo-
dernen Arminius“ sahen.103
Shelley hingegen beschwört zwölf Jahre später den Sieger der Varusschlacht nicht als nationalen
Unabhängigkeitskämpfer, sondern als revolutionären Geist, der das von der Reaktion um den Lohn
seines Freiheitskampfes gebrachte deutsche Volk von seinen fürstlichen Tyrannen befreien soll. Sein
199 William Wordsworth, „A Prophecy. February, 1807“, in: 101 Walter Scott, Marmion, a Tale of Flodden Field, Edinburgh
Poems in two Volumes, Bd. 1, London 1807, 107. Aufge- 1808, 121. Allein bis 1815 erschienen acht weitere Aufla-
nommen in zahlreichen weiteren Gedichtsammlungen, gen. Eine deutsche Übersetzung wurde 1857 in Darm-
z.B. Poems by William Wordsworth, Bd. 2, London 1815, stadt herausgegeben.
230, The Miscellaneous Poems of William Wordsworth, Bd. 3, 102 Vgl. Dörner (1996) 63ff., Kösters (2009) 195ff. und Tat-
London 1820, 236, The Poetical Works of William Words- ter (2009).
worth, Bd. 2, Boston 1824, 339, oder The Sonnets of William 103 Heinrich Laube, Reisenovellen, Bd. 7, 2. Aufl., Mannheim
Wordsworth, London 1838, 149. Eine erste deutsche Über- 1847 (1. Aufl. 1837), 107 und „Major Schill“, in: London
setzung erschien im Deutschen Museum 11 (1861), 940. Magazine 3 (1821), 509–514 und in Spirit of the English
100 Wordsworth, „Prophecy“. Die folgenden Zeilen wenden Magazines 9 (1821), 289–294. Vgl. zum Schill-Mythos
sich gegen die knew-born Kings von Napoleons Gnaden, auch Rink u. Velzke (2009).
insb. den mit Frankreich paktierenden bayrischen Kö-
nig – First open Traitor to [Germanias] sacred name!
Bei Shelley steht der Cheruskerfürst in einer Reihe mit Alfred dem Großen, Luther und Milton für
einen geistig-politischen Befreiungskampf, der sowohl nationale Konfliktlinien als auch historische
Epochengrenzen transzendiert. Die Revolution, der Arminius als Vorbild dient, ist keine nationale, son-
dern eine universale. Die Freiheit, für die er kämpft, ist die Freiheit der Menschheit.106 Shelleys Frei-
heitsode weist damit bereits voraus auf die revolutionären Erhebungen von 1848/49, in denen überall
in Europa die gebrochenen Verfassungsversprechen der Befreiungskriege erneut eingefordert wurden.
Die englischen Arminiusdichtungen der 1820er und 1830er Jahre haben dagegen weniger appel-
lativen Charakter. Ihr Thema ist nicht der Triumph der Varusschlacht, sondern die Zerrissenheit der
Sieger nach der Vernichtung des äußeren Feindes: der innergermanische Bürgerkrieg. Personifiziert
wird diese Schattenseite des Arminiusmythos durch Flavus, den Bruder des Helden, der auf Seiten der
Römer gegen seine eigenen Verwandten kämpft. Das dramatische Potential dieses Bruderkampfes
hatte schon Tacitus erkannt und in seinen Annalen als Dialog inszeniert. Das berühmte Streitgespräch
der verfeindeten Brüder über die Weser hinweg inspirierte Anfang des 19. Jahrhunderts mehrere Dich-
tungen, in denen der Konflikt zwischen Loyalität und Verrat verhandelt wird. Während der römische
Historiker jedoch beide Seiten gleichberechtigt ihre Motive darlegen und begründen lässt, ergreifen
seine modernen Epigonen einseitig Partei: Ihr Anliegen ist die Glorifizierung des germanischen Patrio-
ten und die Diskreditierung seines romanisierten Bruders.107 Spiegelbildlich zum Nachruhm des Ar-
minius steigert sich die Schande des Flavus, über dem der Fluch des Vaterlandsverrats liegt.
Ein Vorläufer dieser patriotischen Lehrstücke erschien bereits 1801 in Matthew Gregory Lewis’
Sagen- und Liedersammlung Tales of Wonder.108 Lewis hatte sich als Verfasser romantischer Schauer-
geschichten einen Namen gemacht – seine gothic novel The Monk aus dem Jahre 1796 wurde zum euro-
104 Karl Follen, Das große Lied (1815), zitiert nach Mehring of Percy Bysshe Shelley, hg. von Mrs. Shelley, London 1847,
(2007) 71. Vgl. das revolutionäre Pamphlet „Conduct 261–263.
of the German Governments“ eines anonymen deut- 106 Vgl. Rabbe (1888) 343f. und Guinn (1969) 76f.
schen Radikalen im Londoner Morning Chronicle vom 107 Vgl. als Kontrast die ausgewogene, eng an Tacitus ange-
1. 1. 1820, in dem auch Bezug auf den Freiheitshelden lehnte Darstellung bei Hamilton, Agrippina II, 45–48.
Arminius genommen wird: We have imitated Hermann 108 Matthew Gregory Lewis, „Sir Hengist“, in: ders., Tales of
(Arminius) our ancestor – we have served the enemy for Wonder, Bd. 1, London 1801, 17–20. Lewis’ romantische
three years, and yet preserved our love with fidelity in our Fabelsammlung wurde schnell populär – bereits im glei-
hearts. Auch in Amerika wurde der Hermannskult der chen Jahr erschienen weitere Auflagen in London, Dub-
radikalen deutschen Studenten registriert – so im Louis- lin, New York und Wien. Zusammen mit dem Folge-
ville Public Advertiser vom 13. 3. 1820. band Tales of Terror wurden die Tales of Wonder das ganze
105 Percy Bysshe Shelley, „Ode to Liberty“, in: Prometheus 19. Jahrhundert hindurch immer wieder neu aufgelegt.
unbound. A lyrical Drama in four Acts with other Poems, Vgl. Guthke (1979).
London 1820, 218–222; nachgedruckt u.a. in: The Works
Das 1827 entstandene Gedicht Arminius des englischen Politikers und Dichters Winthrop Mackworth
Praed schildert hingegen die direkte Konfrontation des Helden mit seinem abtrünnigen Bruder.111 An-
ders als bei Tacitus kommt Flavus hier überhaupt nicht zu Wort. Das Gedicht besteht einzig aus der
Wutrede des Arminius, der sich von seinem Bruder lossagt (No brother thou of mine), ihn im Namen
Germaniens, der germanischen Götter und der gemeinsamen Mutter verflucht und ankündigt, ihn in
der bevorstehenden Schlacht persönlich zu töten. Zum furiosen Ende dieses leidenschaftlichen Hass-
gesangs prophezeit er dem Römersklaven ewige Schande noch über den Tod hinaus:
Die Gegenüberstellung der Ehre des Patrioten und der Schande des Vaterlandsverräters ist auch das
Leitmotiv eines Arminius-Gedichts, das die britisch-kanadische Schriftstellerin Susanna Strickland
Moodie erstmals 1835 publizierte.113 Moodie, deren ‚Hinterwäldler-Memoiren‘ Roughing It in the Bush
heute als Meilenstein der kanadischen Nationalliteratur gelten, schrieb seit Anfang der 1820er Jahre
Kindergeschichten und Gedichte für verschiedene englische und amerikanische Journale. Viele ihrer
Texte aus dieser Zeit behandeln Geschichten des klassischen Altertums, die sich in romantisierender
Form und belehrender Absicht vorwiegend an ein jugendliches Publikum richten. Arminius wird von
Moodie als Inbegriff aller heroischen und patriotischen Tugenden vorgestellt. Sein Glaubensbekennt-
nis, das er Flavus über die Weser hinweg zuruft, lautet: Rather in freedom’s cause to die, Than live in splen-
109 Das Original findet sich in der von Christian Cay Lorenz Amerika bis in die 1880er Jahre ein knappes Dutzend
Hirschfeld herausgegebenen Anthologie Romanzen der mal neu aufgelegt. Arminius galt seit seiner Wiederent-
Deutschen, Bd. 2, Leipzig 1778, 175–177. Dort heißt der deckung durch Edward Creasy (s.u.) als eines seiner ge-
Ritter nicht Hengist, sondern Horst. Lewis’ Rückgriff lungensten Werke und wurde auch im Schulunterricht
auf den Namen des angelsächsischen Heerführers, der verwendet – siehe Blackwood’s Sixth Standard Reader,
im 5. Jahrhundert die Eroberung Britanniens anführte, London u. Edinburgh 1885, 193–196. Zum Autor siehe
lässt sich als Anglisierung des ursprünglich deutsch-pa- Kraupa (1910) und Hudson (1939).
triotischen Themas deuten. 112 Praed, „Arminius“, 245.
110 Lewis, „Hengist“, 20. Im Original lässt der Vater seinen 113 Susanna Strickland, „Arminius“, in: North American
Sohn auf das „deutsche Vaterland“ schwören (s.o.). Magazine 5 (1835), 403–406; nachgedruckt im Literary
111 Winthrop Mackworth Praed, „Arminius“ [1827], in: Garland 2 (1844), 61f. und in Belford’s Monthly Magazine
ders., The Poetical Works, New York 1854, 243–245. 1 (1877), 37–41. Zur Biografie der Autorin siehe Peter-
Praeds gesammelte Gedichte wurden in England und man (1999).
Die Folgen dieses Fluches für den Verräter hatte Moodie bereits fünf Jahre zuvor in ihrer Erzählung The
Son of Arminius literarisch verarbeitet.116 Hauptfigur der Geschichte ist Thumelicus, der in römischer
Gefangenschaft geborene Sohn von Arminius und Thusnelda. Nach dem Tod seiner Mutter wird er von
seinem Onkel Flavus adoptiert und römisch erzogen. Thumelicus, der als junger Mann ein ausschwei-
fendes Luxusleben führt, hält Flavus für seinen leiblichen Vater, bis dieser als gebrochener Mann von
einem Feldzug aus Germanien zurückkehrt. Die Wucht der Schuldvorwürfe, die ihm sein Bruder bei
ihrer letzten Begegnung entgegenschleuderte, hat ihn moralisch zerschmettert.117 Auf seinem Sterbe-
bett enthüllt Flavus seinem Adoptivsohn, wer sein wahrer Vater ist, und warnt ihn vor einem ähnlich
schmählichen Ende wie dem eigenen:
Oh! My son! Never raise your arm against your country; it is plunging a dagger into the bowels
of your mother, and imbruing your hands in the blood of her who bore you. If you would not
have your last hours resemble mine, endure with firmless slavery, tortures, and an ignominious
death, rather than draw your sword in so unhallowed a cause!118
Thumelicus besinnt sich daraufhin auf seine germanischen Wurzeln, kehrt dem dekadenten römi-
schen Leben den Rücken und tritt in das Heer von Arminius ein, ohne jedoch seine Identität preiszu-
geben. Seite an Seite mit dem champion of liberty kämpft er gegen die Römer und erwirbt sich durch Ge-
horsam und Tapferkeit die Achtung der germanischen Krieger.119 Der junge Held stirbt schließlich, von
einem Pfeil getroffen, in den Armen seines Vaters. Arminius erkennt seinen Sohn an einem Amulett,
das er einst Thusnelda schenkte. Stolz tritt er daraufhin vor seine germanischen Krieger: Behold and
envy the prize I have gained by this day’s victory – a son who died gloriously for his country!120
Die Opferung des eigenen Lebens auf dem Altar des Vaterlandes als höchstes Ziel, der nationale
Verrat des Vaters/Bruders als tiefste Schmach – dies sind die politisch-moralischen Werte, die mit den
patriotischen Arminiusdichtungen Praeds und Moodies insbesondere der Jugend in England und Ame-
rika vermittelt wurden. Das abschreckende Schicksal des Verräters Flavus dient dabei derselben natio-
nalpädagogischen Absicht wie die Verherrlichung des Freiheitshelden Arminius: Dem Leben in
Schande folgt ein schmachvoller Tod und die Verachtung der Nachwelt, dem selbstlosen Tod auf dem
Schlachtfeld hingegen die ruhmreiche Verewigung im nationalen Gedächtnis. Wie der deutsche diente
114 Zitiert nach Literary Garland 2 (1844), 60. 117 The repoaches of the patriot had broken the heart of the be-
115 Literary Garland 2 (1844), 61. trayer of his country. Zitiert nach der amerikanischen
116 Susanna Moodie, „The Son of Arminius. A Tale of An- Ausgabe im Juvenile Forget Me Not (1839), 168.
cient Rome“, in: Ackermann’s Juvenile Forget Me Not, Lon- 118 Moodie, „Son of Arminius“ (1839), 169f.
don 1830, 241–261; amerikanische Nachdrucke erschie- 119 Moodie, „Son of Arminius“ (1839), 173.
nen in: The Juvenile Forget Me Not, Philadelphia 1839, 120 Moodie, „Son of Arminius“ (1839), 177.
157–178, im Victoria Magazine 1 (1847), 77–82 und in The
Hyacinth, or: Affection’s Gift, Philadelphia 1850, 139–161.
Siehe zum Folgenden auch Thurston (1996) 35f.
Angesichts der parallel ansteigenden Konjunktur der englischen und deutschen Arminius-Literatur im
18. Jahrhunderts gibt es erstaunlich wenige Hinweise auf wechselseitige Wahrnehmungs- und Aus-
tauschprozesse zwischen beiden Nationalkulturen. Während man in Deutschland die englischen Adap-
tionen des Arminiusmythos anscheinend überhaupt nicht wahrgenommen hat,122 finden sich in der
englischen Publizistik nur wenige Bezüge auf die deutschen Hermannsdramen. Anders als in Frank-
reich wurde in Großbritannien keine der heute kanonisierten Bearbeitungen eines Schlegel, Möser
oder Klopstock einer Übersetzung für wert befunden.123 Einzige Ausnahme bildet das epische Helden-
gedicht des Freiherrn von Schönaich, das 1764 unter dem Titel Arminius: or, Germania freed in London
publiziert wurde.124 Allerdings geriet die Übersetzung so unglücklich, dass die Kritiken einhellig nega-
tiv ausfielen.125
Der Blick über den Tellerrand der eigenen Nationalliteratur weitete sich erst im 19. Jahrhundert.
Doch waren es nicht die bahnbrechenden Hermannsdramen Kleists und Hebbels, die das englische Pu-
blikum faszinierten, sondern zwei heute weitgehend unbekannte Bühnenwerke aus Italien und Öster-
reich, die in ihrer Zeit in ganz Europa große Aufmerksamkeit erregten und hitzige Diskussionen aus-
121 Vgl. Dörner (1996). Mirror Monthly Magazine 4 (1848), 444 und Odes of Klop-
122 Einzige mir bekannte Ausnahme ist der Roman von stock, from 1747 to 1780. Translated from the German by
Knight (s. Anm. 63), der mehrfach ins Deutsche über- William Nind, London 1848, 91f. u. 258–265.
setzt und von der deutschen Kritik wohlwollend aufge- 124 Christoph Otto von Schönaich, Hermann, oder, Das be-
nommen wurde; siehe Allgemeine Literatur-Zeitung (Juli freyte Deutschland. Ein Heldengedicht, Leipzig 1751; Armi-
1795), 78–80. Bemerkenswerterweise war dem Rezen- nius: or, Germania freed, 2 Bde., London 1764. Eine fran-
senten aber entgangen, dass es sich bei dem anonym zösische Übersetzung erschien 1769 in Paris, eine
publizierten Werk um eine Übertragung aus dem Engli- portugiesische 1791 in Lissabon. Vgl. Kösters (2009)
schen handelte. 140–146.
123 Dies erstaunt insbesondere im Falle Klopstocks, der in 125 Siehe die Besprechungen im Critical Review 18 (1764),
England wohl bekannt war und intensiv rezipiert 353–360 und Monthly Review 32 (1765), 15–19. Sehr ge-
wurde – siehe Stockley (1929) 44–74. Erst Jahrzehnte schadet hat Schönaich auch das mitübersetzte Vorwort
nach seinem Tod erschien eine kleine Auswahl seiner seines literarischen Mentors Johann Christoph Gott-
Hermannbardiette in englischer Übersetzung – siehe sched, dessen anmaßender Vergleich des Werks mit der
„Three Odes“, in: Fraser’s Magazine 1 (1830), 273f., Wil- Ilias Homers und Miltons Paradise Lost von den eng-
liam Taylor, Historic Survey of German Poetry, Bd. 1, Lon- lischen Rezensenten ausgesprochen übel aufgenom-
don 1830, 294–300, John Oxenford, „German Poems, men wurde.
relating to the Defeats of the Romans in Germany“, in:
126 Ippolito Pindemonte, Arminio. Tragedia, Verona 1804. (1836), 233–248. Vgl. zur zeitgenössischen Rezeption
Bis in die 1830er Jahre erschienen in ganz Italien mehr und politischen Deutung italienischer Dramatiker in
als ein dutzend weitere Auflagen. In Wien veröffent- England Saglia (2005).
lichte Martin Span 1819 eine deutsche Bearbeitung un- 128 Mary Margaret Busk, „Horae Italicae Vol. I. Arminio by
ter dem Titel Hermann der Cherusker. Eine französische Ippolito Pindemonte“, in: Blackwood’s Edinburgh Maga-
Übersetzung erschien 1822 in Paris. Siehe zum Inhalt zine 8 (1825), 545–556.
und zur literaturgeschichtlichen Einordnung Barthouil 129 Henry Wadsworth Longfellow, The Poets and Poetry of
(1977) sowie Klein (1869) 20–37. Europe. With Introductions and Biographical Notices, New
127 Siehe „Italian Tragedy“, in: Quarterly Review 24 (1820), York u. London 1855, 610–612 (1. Aufl. Philadelphia
87; Felicia Heman, „Patriotic Effusions of the Italian 1845). Vgl. auch Florence Trail, A History of Italian Lite-
Poets“, in: Edinburgh Magazine 83 (1821), 513; „On Con- rature, Bd. 1, New York 1903, 117f.
temporary Italian Writers“, in: Knight’s Quarterly Maga- 130 Busk, „Horae Italicae“, 546.
zine 3 (1824), 406–432; „Critical Sketches“, in: Foreign 131 Busk, „Horae Italicae“, 546. Deutlich sind auch die Pa-
Quarterly Review 5 (1829), 325–328; und „Maffei’s His- rallelen zur republikanischen Tyrannenkritik Algernon
tory of Italian Literature“, in: Foreign Quarterly Review 17 Sidneys et al. (s.o.).
138 Vericour, „Preface“, S. viii. germanische Weltherrschaft vorhersagt: Rome, the proud
139 Vericour, „Preface“, S. vii. sanguinary Rome, falls in ruin! Million of German voices
140 Vericour, „Preface“, S. x. Das Zitat stammt von dem be- call out ‚Victory!‘ and I see the earth, the ocean (!), subdued
deutenden Theologen Nathanael Emmons, einem der by Germanic swords, and subjected to the ascendancy of Ger-
Gründerväter der amerikanischen Antisklavereibewe- manic genius (Halm, Gladiator, S. 142).
gung. Eine Seite zuvor zitiert Vericour bereits den aboli- 142 Auch bei Pindemonte ist Thumelicus der eigentliche
tionistischen Klassiker Uncle Tom’s Cabin von Harriet moralische Gegenspieler seines Vaters. Wie englische
Beecher Stowe. und deutsche Kritiker übereinstimmend bemerken, ist
141 Durchaus in Einklang zu bringen mit der Ideologie des die dramatische Handlung mit seinem Selbstmord
,angelsächsischen Teutonismus‘ (s.u.) ist hingegen die eigentlich bereits am Ende – siehe Knight’s Quarterly
oft zitierte Prophezeiung aus dem Schlussmonolog Magazine 3 (1824), 419 und Klein (1869) 30.
Thusneldas, in der sie den Fall Roms und die zukünftige
Englische Historiker, die sich mit Arminius und der germanischen Frühgeschichte beschäftigten,
schöpften hauptsächlich aus zwei Quellen: den Werken des Tacitus und der deutschen Geschichts-
schreibung. Wesentlich erleichtert wurde der Zugang zur germanischen Geschichte Anfang des
18. Jahrhunderts zunächst durch die ersten populären Übertragungen der Annalen und der Germania
ins Englische.143 Dass sich mit dem wissenschaftlichen meist auch ein politisches Interesse verband,
zeigt insbesondere die Übersetzung des berühmten Whig-Publizisten Thomas Gordon, der sich in den
1720er Jahren als Mitautor der Cato’s Letters einen Namen als radikaler Kritiker politischer Korruption
und gesellschaftlicher Dekadenz gemacht hatte.144 So wie Tacitus den politischen Niedergang des Kai-
serreiches auf den Verlust klassisch-republikanischer Tugenden zurückführt, die er zumindest teil-
weise bei den ‚barbarischen‘ Germanen wiederfindet, so verweist Gordon auf das taciteische Rom als
warnendes Beispiel für die zersetzenden Wirkungen von verschwenderischem Luxus und persön-
lichem Machtstreben im zeitgenössischen Großbritannien.145 Für oppositionelle Kräfte verschiedenster
politischer Couleur wurden die Annalen so zum Arsenal antiabsolutistischer Herrschaftskritik und die
Germania zur Projektionsfläche für die Ideale natürlicher Sittlichkeit und Freiheit. Gordons Bearbei-
tung blieb über Jahrzehnte die englische Standardübersetzung, bis Arthur Murphy 1793 seine bereits
erwähnte Werkausgabe veröffentlichte. In Murphys Widmung an Edmund Burke wird Tacitus bereits
explizit als Kronzeuge für die englische Tradition einer gemäßigten Regierungsform auf germanischer
Grundlage vorgestellt:
In the Manners of the Germans we have the origin of that Constitution which you have so ably
defended.146
143 Der antiquarischen Übersetzung von Richard Grenewey, schien, fand ebenso wie Gordons Tacitusübersetzung
The Annales of Cornelius Tacitus. The Description of Ger- besonders in den amerikanischen Kolonien weite Ver-
manie, London 1598 (fünf weitere Auflagen bis 1640) breitung und zählt zu den Inspirationsquellen der Un-
folgte zunächst die Gemeinschaftsarbeit The Annals and abhängigkeitsbewegung. Eine deutsche Übersetzung
History of Cornelius Tacitus; his Account of the Ancient Ger- erschien 1756 in Göttingen. Vgl. Barry (2007).
mans, and the Life of Agricola. Made English by several 145 Siehe v.a. Gordons der Übersetzung vorangestellte Poli-
Hands, 3 Bde., London 1698 (Neuauflage 1716). Wirk- tical Discourses, die 1742 in Amsterdam erstmals auf
liche Popularität erlangte aber erst Thomas Gordons The Französisch und 1764 in Nürnberg unter dem bezeich-
Works of Tacitus. To which are prefixed, Political Discourses nenden Titel Die Ehre der Freyheit der Römer und Britten,
upon that Author, 2 Bde., London 1728–1731. Bis 1778 nach Herrn Thomas Gordon’s staatsklugen Betrachtungen
erschienen mindestens sechs weitere Ausgaben von über den Tacitus auf Deutsch erschienen.
Gordons Übersetzung. Vgl. auch zum Folgenden Bena- 146 Murphy, Tacitus I, viii. Ähnlich präsentistisch urteilte
rio (1976), Zwicker u. Bywaters (1989) und Weinbrot bereits John Aikin im Vorwort seiner Germania-Überset-
(1993). zung A Treatise on the Situation, Manners, and Inhabi-
144 Thomas Gordon u. John Trenchard, Cato’s Letters. Essays tants of Germany, Warrington 1777, vii: the government,
on Liberty, Civil and Religious, and other Important Sub- policy, and manners of the most civilized parts of the globe …
jects, 4 Bde., London 1723/1724. Diese Sammlung poli- originate from the woods and deserts of Germany.
tischer Essays, die 1748 bereits in fünfter Auflage er-
147 Johann Jakob Mascov, Geschichte der Teutschen, Bd. 1, seines römischen Widerparts Germanicus, dem damit
Leipzig 1726, 76–103. Eine zweite Auflage erschien eine moralische Gleichwertigkeit zugesprochen wird.
1750; eine italienische Übersetzung des ersten Bandes 150 Mascov, History I, 123.
1732 in Venedig. Die englische Ausgabe wurde unmittel- 151 Mascov, History I (1738), „Dedication“ o.S. Neben der
bar nach Vollendung des zweiten Bandes 1737/1738 in Widmung an den Premierminister enthält der zweite
London und Westminster unter dem Titel The History Band eine Subskribentenliste, auf der neben zahlreichen
of the Ancient Germans veröffentlicht und noch im selben Notabeln auch Prinz William genannt wird, dem Pater-
Jahr erschien eine zweite Auflage. Die Vorreiterrolle die- son drei Jahre später sein Arminiusdrama widmete. Zu
ses heute weitgehend vergessenen Standardwerks war Lediard, der viele Jahre als Diplomat in Deutschland ver-
noch im 19. Jahrhundert unbestritten. Barthold Georg brachte und selbst eine Reihe historischer Werke ver-
Niebuhr, Vorträge über römische Geschichte, Bd. 1: Von der fasst hat, siehe den biografischen Abriss in Lee (1909)
Entstehung Rom’s bis zum Ausbruch des ersten punischen XI, 780.
Krieges, hg. v. M. Isler, Berlin 1846, 33 würdigt Mascov 152 Butterfield (1931). Siehe als prägnantes Beispiel neben
als „den ersten, der eine deutsche Geschichte geschrie- der klassischen Studie von Paul Rapin de Thoyras, The
ben hat“. Von Hofmann-Wellenhof, Geschichte III, 1 History of England, as well Ecclesiastical as Civil. Done into
nennt Mascovs Werk „die erste würdige, zugleich wis- English from the French, with large and useful Notes by
senschaftliche und im Grunde volksthümliche Darstel- N. Tindal, 15 Bde., London 1728–1731 (franz. Original Le
lung der ältesten deutschen Geschichte in deutscher Haye 1724–1736, fünfte Auflage der englischen Ausgabe
Sprache“. Der englische Historiographie-Historiker 1759, dt. Übersetzung Halle 1755–1760), auch Samuel
Thompson urteilt noch 1942: Because of his use of sources Squire, An Enquiry into the Foundation of the English
and his impartiality, Mascou’s history, though over two cen- Constitution; or, an Historical Essay upon the Anglo-Saxon
turies old, is still readable today (Thompson [1942] II, 110). Government both in Germany and England, London 1745.
148 Mascov, History I, 93f. Vgl. hierzu auch Trevor-Roper (1987), Okie (1991) und
149 Mascov, History I, 122f. Interessanterweise vergleicht Geyken (2003).
Mascov das tragische Schicksal seines Helden mit dem
Arminius had every Qualification requisite to conduct a conspiracy. Personally brave, indefati-
gable active, full of Life and Spirits, which sparkled his Eyes and Countenance; he was fertile in
Resources, dexterous, cunning, and knew how to seign or dissemble as he pleased. Such a Man
was by far an Over-match for Varus.156
Arminius’ Tugenden werden hier in erster Linie auf seine Bef ähigung zur hinterlistigen Verschwörung
gegen den arglosen Varus reduziert, während das einzige Verschulden des römischen Statthalters in
dem naiven Versuch bestand, die rude and savage manners of an uncivilized People durch Law and Justice
zu mildern. Die Schlacht im Teutoburger Wald wird als erfolgreicher Hinterhalt geschildert und die
detailliert beschriebenen Grausamkeiten nach dem Sieg dem insolent Barbarian Arminius persönlich
zur Last gelegt.157 Unmittelbare Folge der verheerenden Niederlage der varianischen Legionen war der
Terror in Rom, der Augustus zu seiner viel zitierten Klage: Restore my Legions, Varus! veranlasste. Mittel-
bar hingegen wurde der Rhein zur natural Barrier between the Roman Empire and the savage Nations on
the other Side of that River.158 Der römisch-germanische Konflikt erscheint typischerweise als Kampf zwi-
schen Zivilisation und Barbarei, und der klassische Philologe Blackwell lässt keinen Zweifel daran, auf
welcher Seite seine Sympathien liegen.
Das unbestreitbare Zivilisationsgef älle zwischen Römern und Germanen wurde von der Aufklä-
rungshistoriographie der zweiten Jahrhunderthälfte häufig angeführt, um das vorherrschende Ge-
153 Siehe die Rezensionen in Present State of the Republick of 330–332 (dt. Leipzig 1765–1767 und Troppau, Brünn u.
Letters 8 (1731), 13–17, und History of the Works of the Lear- Wien 1785–1805), Oliver Goldsmith, The Roman History.
ned 2 (1737), 52–66. Führende amerikanische Intellektu- From the Foundation of the City of Rome, to the Destruction
elle wie Benjamin Franklin und John Quincy Adams be- of the Western Empire, Bd. 2, London 1769, 112 u. 127f.
saßen Exemplare des Werks – siehe Wolf u. Hayes (30. Auflage 1853, dt. Leipzig 1774 u. ö.) und Adam
(2006) 27 und Morris (1974) 333. Ferguson, The History of the Progress and Termination of
154 Siehe Pocock (2007) 42 und Shine (1951) 103. the Roman Republic, Bd. 3, London u. Edinburgh 1783,
155 Siehe z.B. An Universal History, from the earliest Account 475–480 u. 520f. (dt. Leipzig 1784–1786).
of Time to the Present. Compiled from original Authors, 156 Thomas Blackwell, Memoirs of the Court of Augustus,
Bd. 13, London 1745, 460, 463, 532–558 (dt. Übersetzung Bd. 3, London 1763, 520. Die beiden ersten Bände er-
Halle 1744–1814), The Roman History under the first Tri- schienen bereits 1753–1755 in Edinburgh, weitere Auf-
umvirate, and the Reign of Augustus, Bd. 1, London 1748, lagen 1760–1763, 1764 und 1794/1795 in London; eine
365–367, Jean Baptiste Louis Crevier, The History of the französische Übersetzung erschien 1759, 1768 und 1781
Roman Emperors from Augustus to Constantine. Translated in Paris, eine italienische 1785 in Venedig. Vgl. Turner
from the French by John Mills, Bd. 1, London 1755, 308–323 (1993) 236ff.
(franz. Original Paris 1750–1754, dt. Dresden 1756– 157 Blackwell, Memoirs III, 522 u. 524.
1765), William Guthrie, A General History of the World, 158 Blackwell, Memoirs III, 530 u. 533.
from the Creation to the Present Time, Bd. 4, London 1764,
that they are at present under a much happier constitution than ever the ancient Germans experi-
enc’d. The art of government, as well as other arts, is capable of improvement; and why we should
be always appealing to the first rude draughts, and inculcating to the mob that we ought to imitate
only the first essays of this nature, that were made when there were no laws to ascertain the
Prince’s prerogative, or the people’s rights, in which our great happiness consists, shews a more
than ordinary perverseness, or a very great degree of ignorance in the history of the ancients.159
Weniger parteipolemisch, aber umso nachhaltiger demontierte zwei Jahrzehnte später der schottische
Historikerphilosoph David Hume in seiner enorm wirkungsmächtigen History of England die zentralen
Grundannahmen der Whig-Geschichtsschreibung.160 Seine Charakterisierung der angelsächsischen
Vorväter entwirft ein pointiertes Gegenbild zu den taciteischen Idealisierungen germanischer Sittlichkeit:
With regard to the manners of the Anglo Saxons we can say little, but that they were in general a
rude, uncultivated people, ignorant of letters, unskilled in the mechanical arts, untamed to sub-
mission under law and government, addicted to intemperance, riot, and disorder.161
Die hier zum Ausdruck kommende Distanzierung von den barbarischen Ursprüngen der eigenen Kul-
tur ist typisch für das Fortschrittsdenken der Aufklärung, das die Geschichte als einen aufwärts streben-
den Zivilisationsprozess from rudeness to refinement begriff.162 Für philosophische Geschichtsschreiber
wie Adam Ferguson und William Robertson, die die Entwicklung der Menschheit mittels einer univer-
sal vergleichenden Kulturstufentheorie bewerteten, lag deshalb ein Vergleich der von Tacitus beschrie-
benen germanischen Zustände mit denen der amerikanischen Indianervölker sehr viel näher als ein
Analogieschluss zwischen altsächsischen Stammesversammlungen und dem modernen britischen
Parlament.163 Die kriegerischen Horden aus den deutschen Urwäldern erscheinen in diesem Ge-
schichtsbild nicht als Verteidiger natürlicher Sittlichkeit und Freiheit, sondern als Bedrohung der auf
Besitz und Bildung, Recht und Ordnung gegründeten klassischen Zivilisation.164
159 Thomas Salmon, Modern History: or, the Present State of liam Robertson, The History of the Reign of Emperor
all Nations, Bd. 2, 2. Aufl., London 1739, 35. Salmons ins- Charles V., with a View of the Progress of Society in Europe
gesamt 31-bändiges Kompendium erschien erstmals from the Subversion of the Roman Empire, to the Beginning
1725–1738 und 1744–1746 bereits in dritter Auflage. Die of the Sixteenth Century, Bd. 1, London 1769, 12.
vier Bände zur History of England (1732–1734) sind expli- 163 Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society,
zit als Replik auf Rapin angelegt. Übersetzungen er- Edinburgh 1767, 128f. (vier weitere Auflagen bis 1782;
schienen 1739ff. in französischer, 1740ff. in italieni- dt. Übersetzung Leipzig 1768) und Robertson, History I,
scher und 1732–1752 in deutscher Sprache. Vgl. Okie 9, 205–212 (14. Auflage 1817, Neuauflagen das ganze
(1991) 99–108. 19. Jahrhundert hindurch, auch als Teil von Werkauf-
160 David Hume, The History of England from the Invasion of lagen, allein in Amerika mehr als ein Dutzend; vier
Julius Caesar to the Accession of Henry III., Bd. 1, London deutsche Übersetzungen zwischen 1770 und 1819;
1762, insb. 141–163; bis 1797 erschienen 17 Auflagen; Übersetzungen ins Französische, Italienische, Spani-
vier deutsche Übersetzungen erschienen zwischen 1767 sche, Russische und Niederländische). Siehe Kontler
und 1814 in Breslau, Leipzig, Lüneburg und Wien. Zur (1997), Bickham (2005) und Pocock (2005) 269–293.
Wirkungsgeschichte in den USA siehe Wilson (1989). 164 Weinbrot (1997) 952 beschreibt diese beiden Pole des
161 Hume, History I, 163. Germanenbildes pointiert: Good Goths are apparently
162 Siehe exemplarisch Gilbert Stuart, A View of Society in good Whigs – Bad Goths are the brutal killing machines of
Europe, in its Progress from Rudeness to Refinement, or In- civilization, liberty, and people. Vgl. zu den politischen
quiries concerning the History of Law, Government and Funktionalisierungen im 18. Jahrhundert Geyken (2002)
Manners, Edinburgh 1778 (dt. Leipzig 1779). Von einer 218–244.
Entwicklung from barbarism to refinement sprach Wil-
The free constitutions then established, however impaired by the encroachments of succeeding
princes, still preserve an air of independance and legal administration which distinguish the
European nations; and if that part of the globe maintain sentiments of liberty, honour, equity,
and valour superior to the rest of mankind, it owes these advantages chiefly to the seeds im-
planted by those generous barbarians.165
Eine ähnlich ambivalente Bewertung des Konfliktes zwischen germanischer Barbarei und römischer
Zivilisation findet sich auch in Edward Gibbons Meisterwerk The History of the Decline and Fall of the
Roman Empire.166 Zwar ist seine Beschreibung der wild barbarians of Germany weit entfernt vom Bild des
von der Zivilisation unverdorbenen, edlen Wilden im Sinne Rousseaus; doch zollt auch Gibbon der
Freiheitsliebe und den kriegerischen Tugenden der people of military heroes, die in einem signal act of
despair Varus und seine Legionen besiegten, seinen Respekt.167 Und obwohl er im klassischen Rom der
antoninischen Ära den noch nach 1500 Jahren nicht wieder erreichten ersten Gipfelpunkt mensch-
licher Zivilisation sieht, erkennt auch der romanophile apostle of rationality,168 im Einklang mit Mon-
tesquieu und den whiggistischen Tacitusexegeten, in den germanischen Sitten und Gebräuchen die Ur-
sprünge der modernen englischen Rechtsordnung:
The most civilized nations of modern Europe issued from the woods of Germany, and in the
rude institutions of those barbarians, we may still distinguish the original principles of our
present laws and manners.169
Selbst die kritische Aufklärungshistoriographie war, bei aller Betonung der politisch-sittlichen Distanz
zu den barbarischen Vorvätern, offenbar nicht bereit, die Vorstellung einer bis in die Gegenwart rei-
chenden germanischen Freiheitstradition aufzugeben. Insofern war es nur eine Frage der Zeit, bis erst-
mals auch das Arminiusnarrativ in eine bedeutende englische Nationalgeschichtsdarstellung einge-
bunden wurde.
Sharon Turners in der Übergangszeit zwischen Antiquarismus und Historismus, aufgeklärtem
Patriotismus und romantischem Nationalismus geschriebene History of the Anglo-Saxons gilt gemein-
hin als erster Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der angelsächsischen Frühgeschichte, der
165 Hume, History I, 141. 169 Gibbon, History I, 217. An anderer Stelle betont Gibbon
166 Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of die langfristig heilsamen Folgen der Zerschlagung des
the Roman Empire, 6 Bde., London 1776–1788. Gibbons römischen Imperiums durch die fierce giants of the north:
Buch gilt bis heute als Meilenstein und meistgelesenes They restored a manly spirit of freedom; and after the revolu-
Werk der englischen Geschichtsschreibung. Siehe zu tion of ten centuries, freedom became the happy parent of
Werk und Wirkung Porter (1988) und Lee (2007). taste and science (59). Diese Referenzen an das tradi-
167 Gibbon, History I, 218 u. 236. Eine weitere beiläufige tionelle Whig-Geschichtsbild werden in Francois Furets
Erwähnung des Arminius findet sich auf S. 259. Eine Abhandlung „Civilization and Barbarism in Gibbon’s
ausführliche Darstellung und Würdigung der Varus- History“ (1977) einfach unterschlagen, da sie offenbar
schlacht fehlt, da Gibbons Narrativ erst um 180 n. Chr. nicht in sein Bild vom konsequenten Zivilisationsapolo-
einsetzt. geten Gibbon passen – siehe insb. 164f. Vgl. dagegen Wo-
168 Lee (2007) 118. mersley (1988) 80–88 und Pocock (2007).
170 Sharon Turner, The History of the Anglo-Saxons, 4 Bde., 172 Turner, History I, 43. Es ist wohl kein Zufall, dass diese
London 1799–1805. Turners umfassende Darstellung Zeilen im Jahr des Ägypten-Feldzuges und des Staats-
wurde schon bald zum Standardwerk und bis zur siebten streichs Napoleon Bonapartes publiziert wurden.
Auflage 1852 regelmäßig neu bearbeitet. Eine erste ame- 173 Turner, History I, 41–44. Als Beleg für seine Arminius-
rikanische Ausgabe erschien 1841 in Philadelphia. In darstellung verweist Turner u.a. auf Mascov (s.o.). In der
deutscher Übersetzung erschien 1828 in Hamburg ledig- zweiten Auflage erklärt Turner, Germanicus habe seine
lich ein Auszug unter dem Titel Geschichte Alfreds des Strafexpeditionen for the express purpose of human
Grossen. Zur positiven Rezeption der ersten beiden Aufla- slaughter unternommen (History I [2. Aufl. 1807], 47). In
gen vgl. die umfangreichen Rezensionen im European Widerspruch zum betont defensiven Charakter der anti-
Magazine and London Review 43 (1803), 441–447, British römischen Allianz unter Arminius heißt es in der dritten
Critic and Quarterly Theological Review 26 (1805), 179–189, Auflage: His talents and ambition might have subdued the
Eclectic Review 3,2 (1807), 653–663 u. 775–786 und Annu- northwestern coast of Germany into one dominion; but he
al Review 6 (1808), 219–226. Siehe zu Werk und Person being killed, and his Cherusci weakened, no similar hero, and
Peardon (1933) 218–233 und Berkhout (1982) 150–166. no great kingdom, which such a character usually fonds, arose
171 Turner, History I, iv. Die Ausnahmestellung, die Turners in those parts (History I [3. Aufl. 1820], 151). Arminius’ viel
romantischer Anglo-Saxonism anfangs in der englischen kritisierte ,despotische Ambitionen‘ werden hier bereits
Historiografie seiner Zeit einnahm, verdeutlicht noch fol- positiv als nationales Einheitsstreben gewertet (s.u.).
gendes Zitat aus Benjamin Disraelis Debütroman Vivian 174 Turner, History I, 44. Überraschenderweise fehlt diese
Grey, Bd. 2, London 1826, 163: Sharon Turner, in his soli- Passage, die die Grundlage des Arminiuskults der späte-
tude, alone seems to have his eye on Prince Posterity; but, as ren Teutonisten à la Arnold, Creasy und Freeman um
might be expected, the public consequently has not its eye on Jahrzehnte vorwegnimmt, in den folgenden Ausgaben.
Sharon Turner. Twenty years hence they may discover that they Stattdessen ersetzt Turner die eher beiläufig eingefloch-
had a prophet among them, and knew him not. Im Vorwort tene geschichtsphilosophische Spekulation durch eine
zur dritten Auflage kann Turner allerdings bereits befrie- längere historische Argumentation, die erklärt, wie
digt feststellen: When the first volume appeared, the subject of durch den fortwährenden militärischen Konflikt mit
Anglo-Saxon antiquities had been nearly forgotten in Britain; Rom aus den anti-imperialistischen Germanen die Spar-
although a large part of what we most love and venerate in our tans of modern Europe und schließlich die Zerstörer des
customs, laws, and institutions, originated among our Anglo- römischen Imperiums und Begründer der mittelalter-
Saxon ancestors … His desire has been fulfilled – a taste for the lichen Feudalordnung wurden (History I [2. Aufl. 1807],
history and the remains of our Great Ancestors has revived, 143–150).
and is visibly increasing (History I [3. Aufl. 1820], vf.).
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog sich ein so radikaler Wandel im Verhältnis von deutscher
und englischer Geschichtswissenschaft, dass man beinahe von einer vollständigen Umkehrung des bis-
herigen Rezeptionsgef älles sprechen kann.177 Waren es im 18. Jahrhundert die Werke der britischen
Historiker, die in Deutschland übersetzt wurden und die Maßstäbe wissenschaftlicher Darstellung we-
sentlich mitbestimmten, so definierten nun Vertreter des deutschen Historismus wie Leopold von Ranke
und Barthold Georg Niebuhr zunehmend auch die grundlegenden methodischen und konzeptionellen
Standards der englischen Geschichtsschreibung.178 Damit verbunden war die Übernahme themati-
scher Setzungen, die auch die gemeinsame germanische Abstammung von Deutschen und Angelsach-
sen in neue national- und weltgeschichtliche Perspektiven rückten.179 Mit Hilfe des organischen Ent-
wicklungsbegriffs der Historischen Rechtsschule bestätigten deutsche und englische Gelehrte den
‚germanischen Charakter‘ grundlegender englischer Rechtsinstitutionen wie des Common Law, der Ge-
schworenengerichte und Parlamentsrechte.180 Die von den Brüdern Grimm begründete Germanistik
175 Turner, History I, 144: the successes of Arminius kept [Ger- citly racist interpretation of English history enthalten wa-
manien] from being too Romanised. Auch mit dieser ren, betont hingegen MacDougall (1982) 92.
Übertragung des aus den Sprachwissenschaften stam- 177 Siehe Oz-Salzberger (1997) 7ff.
menden Romanisierungsbegriffs auf das politisch-his- 178 Siehe auch zum Folgenden Dockhorn (1950), Messer-
torische Phänomen des römisch-germanischen ‚Natio- schmidt (1955), McClelland (1971), Maurer (1987),
nalitätenkonflikts‘ war Turner seiner Zeit weit voraus. Stuchtey u. Wende (2000) und Berger, Lambert u. Schu-
176 Vgl. das Urteil eines autoritativen Referenzwerks des mann (2003).
frühen 20. Jahrhunderts: Sharon Turner himself cannot 179 Zur geschichtsphilosophischen Aufladung des moder-
rank as a great historian; and it might, perhaps, be questio- nen Germanismus im deutschen Idealismus – nament-
ned, wether his proper place is among the historians at all. lich durch Herders ‚Volksgeist‘-Idee, Fichtes ‚Ur-Volk‘-
His early volumes are marred by a cumbrous method, a te- Hypothese und Hegels ‚Weltgeist‘-Philosophie – siehe
dious style and an antiquated philology; yet, a survey of their Kipper (2002) 53–62, der hier bereits die Ursprünge des
contents suffices to show the breadth of their author’s design ‚völkischen Denkens‘ verortet.
and the indefatigable industry expended upon its execution. 180 Vgl. die frühen Darstellungen des gebürtigen Englän-
His place in literature he owes, not to service or circumstance, ders George Phillips, Versuch einer Darstellung der Ge-
but to his courage and energy in research, which enabled schichte des Angelsächsischen Rechts, Göttingen 1825 und
him, first among English writers, to make his countrymen Francis Palgrave, A History of the Anglo-Saxons, London
aware of the elements of future national greatness revealed in 1831 (weitere Auflagen 1838 und 1867) mit den Klassi-
the life of their immigrant forefathers. – Adolphus William kern von Johann Martin Lappenberg, Geschichte von Eng-
Ward (Hg.), The Cambridge History of English Literature, land, 10 Bde., Hamburg 1834–1897 (engl. Übersetzung
Bd. 14, Cambridge 1916, 52–53. Dass in der Pionierstu- der ersten Bände unter dem Titel A History of England
die von Turner bereits sämtliche Elemente einer expli- under the Anglo-Saxon Kings London 1845, vier weitere
Auflagen bis 1894), und John Mitchell Kemble, The Sa- 184 Siehe bspw. Barthold Georg Niebuhr, The History of
xons in England. A History of the English Commonwealth Rome, 3 Bde., Cambridge 1828–1842 (dt. Original Berlin
till the End of the Norman Conquest, 2 Bde., London 1849 1811–1845, weitere Auflagen 1844 in London und in Phi-
(revised edition 1876, dt. Leipzig 1853/1854), die Turners ladelphia) und dessen Lectures on the History of Rome,
History of the Anglo-Saxons als Standardwerk ablösten. 3 Bde., London 1849/1850 (dt. Original Berlin 1844, fünf
Vgl. Busch (2004) insb. 95–103 und Reimann (1993) zur weitere engl. Ausgaben bis 1875); Heinrich Luden, Ge-
amerikanischen Rezeption. schichte des teutschen Volkes, 12 Bde., Gotha 1825–1837
181 Siehe bspw. John Mitchell Kemble, History of the English (Übersetzung der Arminius-Passage des ersten Bandes
Language, Cambridge 1834, Joseph Bosworth, The Origin in der Rezension des Monthly Review 11 [1829], 579–581);
of the English, Germanic, and Scandinavian Languages and Charles von Rotteck, General History of the World, 4 Bde.,
Nations, London 1848 (zuerst als Einführung zu Bos- London 1842 (dt. Original Stuttgart 1831–1833, sechs
worths Dictionary of the Anglo-Saxon Language, London weitere Auflagen bis 1869, erste amerikan. Ausgabe Phi-
1838) und Robert Gordon Latham, The English Language, ladelphia 1840/1841, drei weitere Ausgaben bis 1875);
London 1841 (5. Auflage 1862) sowie dessen sehr erfolg- Friedrich Kohlrausch, A History of Germany from the Ear-
reiches Lehrbuch A Hand-Book of the English Language, liest Period to the Present Time, London 1844 (dt. Original
London 1851 (9. Auflage 1875, amerikanische Ausgaben Elberfeld 1816/1817, 14 weitere Auflagen bis 1866);
New York 1852, 1864 und 1870). Vgl. Frantzen (1990). Wolfgang Menzel, The History of Germany, 3 Bde., Lon-
182 Siehe Nipperdey (1990), Colley (1992) und Cubitt don 1848/1849 (dt. Original Zürich 1825–1827, fünf wei-
(1998). tere engl. Auflagen bis 1889, amerikan. Ausgaben New
183 Siehe Leopold von Ranke, Geschichte der lateinischen und York 1899 und 1902); Georg Weber, Outlines of Universal
germanischen Völker von 1494 bis 1535, Leipzig u. Berlin History, London 1851 (dt. Original Leipzig 1847, ameri-
1824 (engl. Übersetzung unter dem Titel History of the kan. Ausgabe Boston 1853, 14 weitere Auflagen bis 1861).
Latin and the Teutonic Nations, London 1887, Neuaufla- 185 Siehe Weber (2008).
gen 1909 und 1915) sowie Rankes Englische Geschichte 186 Siehe zum persönlichen Verhältnis Kembles zu Grimm
vornehmlich im siebzehnten Jahrhundert, 7 Bde., Berlin Wiley (1971), sowie zum ideellen Einfluss Grimms auf
1859–1868 (engl. Oxford 1875). Vgl. zum Zusammen- Kemble und Rankes und Niebuhrs auf Arnold die detai-
spiel von juristischem, philologischem und histori- lierten Nachweise bei Dockhorn (1950) 125–140.
schem Germanismus Gollwitzer (1971) 287–301.
Far before us lay the land of our Saxon and Teutonic Forefathers – the land uncorrupted by
Roman or any other mixture; the birth-place of the most moral races of men that the world has
yet seen – of the soundest laws – the least violent passions, and the fairest domestic and civil vir-
tues. I thought of that memorable defeat of Varus and his three legions, which forever confined
the Romans to the western side of the Rhine, and preserved the Teutonic nation, – the regen-
erating element in modern Europe, – safe and free.187
Das Gefühl, in Deutschland das Land der Vorväter zu betreten und in den deutschen Wäldern des
19. Jahrhunderts noch den Nachklang des Schlachtenlärms von Römern und Germanen vernehmen zu
können, teilte Arnold mit vielen angelsächsischen Reisenden nach ihm.188 Bereits die ersten englischen
Reiseführer erinnerten Deutschlandtouristen daran, dass sie sich im land of Herman befanden und
empfahlen seit 1840 die Besichtigung der Baustelle des Hermannsdenkmals auf der Grotenburg.189 Die
durch diese Verörtlichung des Mythos beförderte Germanisierung (im Sinne von Verdeutschung) des
angelsächsischen Arminiusbildes zeigte sich auch in der zunehmenden Verwendung des deutschen
Namens Hermann anstatt des lateinischen Arminius in den englischsprachigen Darstellungen der Va-
russchlacht.190
Bestärkt wurde die romantische Germanentümelei junger Gelehrter wie Kemble und Arnold
nicht nur durch ihre deutschen Professoren, sondern auch durch die zeitgenössischen Rassentheo-
rien, die zu dieser Zeit in England und den Vereinigten Staaten zum wissenschaftlichen Durchbruch
gelangten. Gestützt auf anthropologische und philologische Studien, die von der (vermeintlichen)
Kontinuität sprachlicher oder institutioneller Eigenarten eines Volkes auf seinen gleichbleibenden,
historisch unveränderbaren ‚Rassencharakter‘ schlossen, wurde die reine teutonische Abstammung
zum Kern der nationalen Identität und zur eigentlichen Antriebskraft der angelsächsischen Welt-
machtstellung erklärt.191 Arnold selbst postulierte in seiner berühmten Oxforder Antrittsvorlesung
1841:
187 The Life and Correspondence of Thomas Arnold, hg. v, Ar- auch die Beschreibung der ersten Deutschlandreise von
thur P. Stanley, Bd. 2, London 1844, 362. Arnolds Schüler E. A. Freeman im Herbst 1865 in Ste-
188 Siehe z.B. die Artikel „Selections of Notes on Germany. phens (1895) I, insb. 301.
By a Tourist“, Preston Chronicle vom 16. 10. 1841, „Tour 189 A Hand-Book for Travellers on the Continent, London
on the Rhine“, London Journal 2 (1845), 185, Charles Ro- 1836, 317 und 1840, 361 (19. Auflage 1875). Vgl. zu den
ach Smith, „Notes from a Journal of a Fortnight’s Tour englischen Reiseführern des 19. Jahrhunderts Maczak
on the Rhine“, Gentleman’s Magazine 35 (1851), 46 und (2004).
„A Glimpse at Westphalian Cities“, Saturday Review 20 190 Auch hier spielte Arnold eine Vorreiterrolle. In seinen
(1865), 329, die sehr populären Reisebeschreibungen unten näher vorgestellten Vorlesungen zur römischen
des amerikanischen Rucksacktouristen Bayard Taylor, Geschichte spricht er vom young German chief, whose
Views A-Foot: or, Europe Seen with Knapsack and Staff, name the Roman writers have corrupted into Arminius, but
New York 1846 (24. Auflage 1859), 58f. und By-ways of to whom we may more properly give his true appelation Her-
Europe, New York 1869, 451–470 (Vorabdruck unter man – Thomas Arnold, History of the later Roman Com-
dem Titel „In the Teutoburger Forest“ im Atlantic monwealth, 2. Bde., London 1845, hier Bd. 2, 320.
Monthly 23 [1869], 40–49), sowie den historischen Ex- 191 Siehe hierzu die Studien von Horsman (1976 u. 1981),
kurs zur Varusschlacht in Katharine Burton, Our Sum- Stocking (1987), Hannaford (1996) und Hall (1997).
mer in the Harz Forest, Edinburgh 1865, 172–179. Vgl.
Wenn die Angelsachsen in England, Amerika und Australien tatsächlich, wie Arnold postulierte, Ger-
man more or less completely, in race, in language, or in institutions, or in all waren und aus dieser Abstam-
mung ihre Bef ähigung zur Welteroberung abzuleiten war,193 dann musste auch die bereits in der Tage-
buchnotiz von 1828 mit so großer Bedeutung aufgeladene Varusschlacht einen welthistorischen
Stellenwert erhalten. Möglicherweise hatte Arnold bereits damals die 1818 vom Whighistoriker Henry
Hallam formulierte These vor Augen, es gebe in der Geschichte einige wenige battles, of which a contrary
event would have essentially varied the drama of the world in all its subsequent scenes.194 In seinen posthum
veröffentlichten Vorlesungen zur Geschichte des römischen Kaiserreichs nahm er schließlich Turners
Gedankenspiel von 1799 wieder auf und erklärte: Hätten Augustus’ Legionen Germanien besetzt und
zivilisiert, dann wären die Teutonic tribes niemals in der Lage gewesen
to spread that regenerating influence over the best portion of Europe, to which the excellence of
our modern institutions may in great measure be referred. If this be so, the victory of Arminius
deserves to be reckoned among those signal deliverances which have affected for centuries the
happiness of mankind.195
Die Vorstellung, dass der Verlauf der Weltgeschichte von einigen wenigen militärischen Entschei-
dungsschlachten bestimmt wird, korrespondierte mit der zeitgleich von Thomas Carlyle formulierten
Great Man Theory – der Idee, dass große heroischen Führergestalten ganzen Epochen ihren Stempel
aufdrücken und den Gang der Geschichte verändern.196 Zusammengeführt wurden beide Konzepte
1851 in Edward Shepherd Creasys Megabestseller The Fifteen Decisive Battles of the World, der das angel-
192 Thomas Arnold, Introductory Lectures on Modern His- Metropolitana, Bd. 10, London 1845 und in William T.
tory, London 1842, zitiert nach der zweiten Auflage von Dawsons für den Schulgebrauch bestimmten Heads of
1843, 26 u. 23f. Arnolds teutonistisches Manifest wurde an Analysis of Roman History, London 1850 (3. Auflage
bis 1885 in sieben Auflagen gedruckt; eine erste amerik- 1861).
anische Ausgabe erschien 1849 in Philadelphia und 196 Thomas Carlyle, On Heroes and Hero Worship, and the
New York, eine zweite 1857 in New York. Heroic in History, London 1841. Bis zum Ende des
193 Arnold, Lectures (1843), 26. 19. Jahrhunderts erschienen in England und den USA
194 Henry Hallam, View of the State of Europe during the etwa zwei Dutzend weitere Ausgaben; eine erste deut-
Middle Ages, 2 Bde., London 1818 (zwölf weitere Aufla- sche Übersetzung erschien zeitgleich mit der ersten
gen allein bis 1868, dt. Übersetzung Leipzig 1820/1821), amerikanischen Ausgabe 1853 in Berlin und wurde bis
zitiert nach der 1821 in Philadelphia publizierten ers- zum Ersten Welkrieg ebenfalls ein gutes Dutzend Mal
ten amerikanischen Auflage, Bd. 1, 9. Hallams Fußno- nachgedruckt. Vgl. auch Carlyles History of Friedrich II.
tennotiz wurde 1851 von Creasy zum Leitgedanken sei- of Prussia, called Frederick the Great, 4 Bde., London
ner wegweisenden Schlachtengeschichte erhoben (s.u.). 1858–1864 (amerikan. Ausgabe New York 1858–1864,
195 Arnold, History II, 317. Die Beschreibung der Varus- dt. Übersetzung Berlin 1858–1869 u. ö.). Zu Carlyles
schlacht selbst und ihrer Folgen 317–325. Weitere Ausga- Germanophilie und Anglo-Saxonism siehe Horsman
ben erschienen 1849, 1857 und 1882 in London und (1981) 63–65, Ashton (2004) und Walker (2004). Zu
1846 in New York. Weitere Verbreitung erfuhr die Armi- der von ihm begründeten Great Man Theory siehe
nius-Passage durch den Nachdruck in der Encyclopaedia Hook (1950) und die Einführung in Segal (2000) 2–37.
Had Arminius been supine or unsuccessful, our Germanic ancestors would have been ensla-
ved or exterminated in their original seats along the Eyder and the Elbe, this island would never
have borne the name of England, and‚ we, this great English nation, whose race and language
are now overrunning the earth, from one end of it to the other,‘ would have been utterly cut off
from existence.202
Als Retter der nationalen Existenz Englands ist Arminius für Creasy deshalb truly one of our national he-
roes, denn it was our own primeval fatherland that the brave German rescued. Die Schlacht im Teutoburger
Wald ist folgerichtig the victory to which we owe our freedom.203 Bewegt sich Creasy mit dieser Deutung
197 Edward Sheperd Creasy, The Fifteen Decisive Battles of the einen eher gemäßigt teutonistischen Standpunkt. Zur
World. From Marathon to Waterloo, Bd. 1, London 1851, Biographie Creasys gibt es wenig Informationen; siehe
211–253. Eine erste Fassung des Arminius-Kapitels er- aber Walford (1862) 195f. und Cousin (1910) 101.
schien bereits drei Jahre zuvor in Bentley’s Miscellany 23 199 Creasy, Memoirs of Eminent Etonians, London 1850,
(1848), 384–391 und wurde umgehend nachgedruckt im 498f. Creasy zitiert das Gedicht auch in Battles I, 242ff.,
New Yorker Eclectic Magazine of Foreign Literature, Sci- zusammen mit einem Bardengesang aus Klopstocks
ence, and Art 14 (1848), 227–232. Die Buchfassung er- Drama Hermann und die Fürsten von 1784 (251ff.). Das
lebte allein bis 1886 32 Auflagen, erschien bereits 1851 Einflechten literarischer Quellen in die Geschichtser-
auch in New York und ist bis heute lieferbar. Das Buch zählung gehört zu den Stilmitteln, die Creasys Darstel-
gilt noch immer als populärer Klassiker der Militärge- lungen auch für ein nicht-akademisches Publikum les-
schichtsschreibung und hat einen eigenen Eintrag auf bar und verständlich machten. Im Kapitel über die
den englischen Wikipedia-Seiten, der acht weitere über- Varusschlacht dienen Lieder und Gedichte darüber hi-
arbeitete oder epigonale Fassungen des Titels auflistet. naus als Beleg für das Weiterleben von Arminius’ Hel-
In diese Reihe gehören auch Christian Friedrich Mau- dentaten in den Gesängen seiner Nachkommen, von
rers Entscheidungsschlachten der Weltgeschichte (Leipzig dem bereits Tacitus berichtet hatte.
1882), die ausdrücklich als Ersatz für die 1865 in Stutt- 200 Creasy, Battles I, 212, 214 u. 237. Vgl. Robert Gordon Lat-
gart erschiene deutsche Bearbeitung des britischen ham, The Germania of Tacitus. With Ethnological Disserta-
Bestsellers auf den Markt gebracht wurden. tions and Notes, London 1851, insb. seinen Kommentar
198 Creasy, The Rise and Progress of the English Constitution, zur Varusschlacht cxviff., wo er seinerseits auf Creasy
London 1853 (17. Auflage 1907, mehrere amerikanische verweist.
Ausgaben ab 1866). Ebenso wie in seiner weniger er- 201 Creasy, Battles I, 242, 236 u. 212.
folgreichen History of England from the earliest to the pre- 202 Creasy, Battles I, 212.
sent Time, 2 Bde., London 1869/1870 vertrat Creasy hier 203 Creasy, Battles I, 213 u. 251.
The idea of honoring a hero, who belongs to all Germany, is not one which the present rulers of
that divided country have any whish to encourage; and the statue may long continue to lie there,
and present too true a type on the condition of Germany herself.205
Damit gab Creasy durchaus den vorherrschenden Tenor der öffentlichen Meinung in England wieder.
Die britische Presse hatte das deutsche Denkmalsprojekt von Anfang an aufmerksam und durchaus mit
Sympathie verfolgt; ebenso wurde allerdings auch das zwischenzeitliche Ende der Bauarbeiten regis-
triert.206 Nicht nur Creasy sah in der Ruine auf der Grotenburg ein Symbol für das traurige Schicksal
der deutschen National- und Freiheitsbewegung nach der gescheiterten Revolution von 1848/49. Doch
mochten ihm wohl nur die wenigsten seiner Landsleute folgen, wenn er sie dazu aufforderte, das
deutschnationale Denkmalsprojekt zu ihrem eigenen zu machen und selbst die Initiative zu seiner Voll-
endung zu ergreifen:
Surely this is an occasion in which English men might well prove, by acts as well as words, that
we also rank Arminius among our heros.207
So reizvoll die Spekulation über den veränderten Symbolgehalt eines durch englische Finanzierung
und Propaganda vollendeten pangermanischen Hermannsdenkmals wäre, so wenig darf die Kuriosität
dieses Appells über seine praktische Folgenlosigkeit hinweg täuschen. Ansonsten war die Reaktion der
Öffentlichkeit jedoch überwältigend positiv.208 Grundsätzliche Kritik kam fast ausschließlich von kirch-
licher Seite, wenn von einem christlich-pazifistischen Standpunkt aus Bedenken gegenüber Creasys
204 Creasy, Battles I, 236f. Das ethnologische und philologi- 206 Siehe bspw. „Monument in Westphalia“, in: Gentleman’s
sche Beweismaterial, mit dem Creasy auf den folgenden Magazine 16 (1841), 71 und die Notizen im Boston Inves-
Seiten die direkte Abstammung der Angelsachsen von tigator vom 20. 10. 1841 und im Manchester Guardian
den Cheruskern nachzuweisen versucht, stammt vor- vom 4. 1. 1851.
wiegend aus den bereits erwähnten, z.T. erst wenige 207 Creasy, Battles I, 212.
Jahre alten Standardwerken von Latham, Palgrave und 208 Siehe die Rezensionen in Sartain’s Union Magazine of
Lappenberg. Ungeachtet der Frage, wie abenteuerlich Literature and Art 10 (1851), 98f., New Englander and Yale
diese Geschichtskonstruktion aus heutiger Sicht er- Review 10 (1852), 56–63, Dublin University Magazine 39
scheint, bleibt doch festzuhalten, dass Creasy sich 1851 (1852), 747–756, Methodist Review 34 (1852), 152f., Sout-
durchaus auf der Höhe des damaligen Forschungsstan- hern Quarterly Review 21 (1852), 243, Church of England
des bewegte, was zumindest einen Teil seines beträcht- Quarterly Review 34 (1853), 112–127 und Calcutta Review
lichen wissenschaftlichen Renommees erklärt. 23 (1854), 96–105.
205 Creasy, Battles I, 212.
Mit der rassentheoretischen Aufladung um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Mythos der ge-
meinsamen germanischen Abstammung von Deutschen, Engländern und Amerikanern einen neuen
Stellenwert im angelsächsischen Geschichtsdenken erhalten. Zwar teilten nur wenige Zeitgenossen die
These des Extremisten Robert Knox, that race is everything in human history,211 doch herrschte in der ge-
bildeten Welt beiderseits des Atlantik ein breiter Konsens über den engen Zusammenhang von Rassen-
und Nationalcharakter.212 Die von Arnold und Kemble entwickelte Synthese von deutscher und whig-
gistischer Geschichtsideologie, von romantischer Germanentümelei und rassischem Anglo-Saxonism
wurde in der zweiten Jahrhunderthälfte zum Paradigma der sogenannten Teutonic School in der engli-
schen Geschichtswissenschaft. Bekannte Teutonisten wie Charles Kingsley und John Richard Green,
Edward August Freeman und William Stubbs prägten durch ihre wissenschaftlichen Werke, öffent-
lichen Vorträge und politische Publizistik das Geschichtsbild einer ganzen Generation. Bereits 1866
stellte ein Kritiker resigniert fest:
There are probably few educated Englishmen living who have not in their infancy been taught
that the English nation is a nation of almost pure Teutonic blood, that its political constitution,
its social customs, its internal prosperity, the success of its arms, and the number of its colonies
have all followed necessarily upon the arrival, in three vessels, of certain German warriors un-
der the command of Hengist and Horsa.213
209 Universalist Quarterly and General Review 9 (1852), 96. 212 Of the great influence of race in the production of national
210 Christian Remembrancer 23 (1852), 213. Einzig das Organ character, no reasonable inquirer can now doubt urteilte
der Philosophical Radicals um John Stuart Mill bezwei- z.B. der programmatische Artikel „The Anglo-Saxons
felte, dass die Varusschlacht zu den weltgeschichtlichen and the Americans: European Races in the United
Wendepunkten gerechnet werden dürfe, da das degene- States“ im American Whig Review 1 (1851), 188.
rierte Rom den energies of the German race langfristig so- 213 Luke Owen Pike, The English and their Origins, London
wieso unterlegen wäre – Westminster Review 56 (1851), 1866, 15.
72. 214 Zu den besonders krassen Fällen Knox und Freeman
211 Robert Knox, The Races of Men, London 1850, 10. Knox siehe Horsman (1976) 406f. und Parker (1981) 832f. u.
trieb die rassistische Erklärung sämtlicher kultureller, 839f. Zu den Gegenentwürfen eines politischen Latinis-
nationaler und ethnischer Unterschiede soweit, dass er mus bzw. Romanismus im bonapartistischen Frank-
selbst einem Großteil der zeitgenössischen Deutschen reich siehe Panick (1978).
ihre germanische Abstammung absprach (230–235).
in the one race, we may detect the elements of a vigorous natural life – development, progress,
and dominion; in the other, the seeds of national death – corruption, feebleness, decay.223
215 Walter Copland Perry, The Franks, from their first Appea- und forderte Solidarität mit our Teutonic brethren in their
rance in History to the Death of King Pepin, London 1857, struggle for unity (544), so reklamierte er im Vorwort der
1 u. 36. Den Engländern schreibt der zwischenzeitlich achten Auflage von 1885 die moral dictatorship of the
an der Göttinger Universität lehrende Perry dabei das world, by ruling mankind through Saxon institutions and
Glück zu, to be more purely German in our institutions the English tongue allein für die Angelsachsen (viii).
than any other nation (445). 218 Charles Kingsley, The Roman and the Teuton. A Series of
216 Siehe als ein prägnantes Beispiel das Times-Editorial Lectures Delivered before the University of Cambridge, Cam-
vom 8. 7. 1856 zum 80. Jahrestag der amerikanischen bridge u. London 1864, 305. Bis 1912 erschienen zwölf
Unabhängigkeit: We Englishmen see in American energy, weitere Auflagen, 1891 erstmals auch in New York.
industry and indomitable spirit the tokens of the Anglo-Sa- 219 Edward A. Freeman, A History of Architecture, London
xon blood, and we feel proud of our race. The sight enspires 1849, 176.
cheerful and animated prophecy, and we see in this master 220 Kingsley, Roman, 8f.
race a powerful and dominant agent in the future history of 221 Perry (1857) 446f.
the world; nachgedruckt unter dem Titel „The Bonds of 222 John George Sheppard, The Fall of Rome, and the Rise of
Friendship between England and America“ in der New the new Nationalities. A Series of Lectures on the Connection
York Times vom 4. 8. 1856. Siehe auch zum Folgenden of Ancient and Modern History, London u. New York 1861,
Horseman (1981), Rich (1986), Hannaford (1996) und 134 u. 172. Eine zweite Auflage erschien 1862. Sheppard
Bell (2007). beruft sich explizit auf Arnold und Perry.
217 Charles Wentworth Dilke, Greater Britain. A Record of 223 Sheppard, Fall, 172. Bezeichnenderweise wählt Shep-
Travel in English-speaking Countries during 1866 and 1867, pard als Motto seiner Abhandlung das auf dem Titelblatt
Bd. 2, London 1868, 155f. Eine erste amerikanische Aus- abgedruckte Schiller-Zitat: „Die Weltgeschichte ist das
gabe erschien 1869 in New York. Betonte Dilke anfangs Weltgericht“.
noch die Verbundenheit mit our German ancestry (338)
Arminius, the bulwark of German independence, degenerated in the hour of his triumph from
the virtues of a patriot chief, and himself affected the tyranny over his countrymen which he
had baffled in Germanicus, and rebuked in Maroboduus. His people retorted upon him the les-
sons of freedom with which he had inspired them, and after a struggle of some length and
many vicissitudes, he was slain by domestic treachery.225
224 Sheppard, Fall, 169f. Days of Julius Caesar to the Time of Charlemagne, London
225 Charles Merivale, History of the Romans under the Empire, 1861. Über den Autor ist nicht viel mehr bekannt, als
7 Bde., London 1850–1862 (Zitat V, 182f.); vgl. auch dass er Mitglied der antiquarischen Camden Society
seine Darstellung der Varusschlacht in IV, 342–353. Me- war, seit 1838 einige unbedeutende Studien zur alteng-
rivales opus magnum erschien erstmals 1863 auch in lischen Geschichte publizierte und für seinen Arminius
New York und erlebte beiderseits des Atlantiks bis zur offenbar langwierige Quellenstudien in Heidelberg un-
Jahrhundertwende mehr als ein Dutzend Neuauflagen. ternommen hat.
Erfolgreich war auch sein einbändiges Lehrbuch A Ge- 227 Smith, Arminius, 179–189. Die Menschenopfer und Fol-
neral History of Rome from the Foundation of the City to the terungen nach der Varusschlacht schildert und beklagt
Fall of Augustulus, das 1875 bereits gleichzeitig in London Smith auf S. 110, ist aber bemüht, sie nicht als typisch
und in New York publiziert und ebenfalls mehrfach germanisch erscheinen zu lassen: the only excuse is the
nachgedruckt wurde. rudeness of the age and the sanguinary character of all
226 Thomas Smith, Arminius: A History of the German People heathen superstitions.
and of their Legal and Constitutional Customs, from the 228 Smith, Arminius, 10.
Diese ebenso umständliche wie spekulative Ehrenrettung des germanischen Freiheitshelden, die in der
Wortwahl wie in der gespreizten Detailversessenheit auch stilistisch ihre deutschen Vorbilder erkennen
lässt, verdeutlicht nicht zuletzt das Ausmaß ehrfürchtiger Bewunderung und bedingungsloser Identi-
fikation, mit der sich der englische Privatgelehrte seinem Untersuchungsgegenstand nähert. Ihren Hö-
hepunkt erreicht die romantische Arminius-Verklärung schließlich in Smiths Versuch, dem gewaltsa-
men Ende seines Helden einen tröstlich-versöhnlichen Anstrich zu geben:
He appears to us like a shooting star in the distant firmament, suddenly starting into life, and
suddenly extinguished, but the whole of his short course glitters with light and glory … Perhaps
his early death is scarcely to be lamented. He died in the bloom of life, in the fullness of his
strength, in the meridian of his fame, ere stain, disgrace, or weakness had flecked his glory,
with the consciousness of his benefits attending him. His work was done; his country delivered;
its freedom from foreign thraldom was for ever established. Why should he live longer?230
Die öffentliche Reaktion auf Smiths monumentale Heroengeschichte war gespalten. Während die einen
von einer beispielhaften Adaption deutscher Gelehrtentugenden sprachen,231 spotteten andere über ein
kurioses Exempel wissenschaftlicher Deutschtümelei: He is so utterly Teutonized he not only thinks like a
German, but writes English like a German, verwunderte sich der Rezensent des Saturday Review, der Smith
zudem die Übernahme deutscher national prejudices vorwarf und der historischen Figur des Arminius
jegliche Bedeutung für die moderne Geschichte absprach.232 Selbst wohlwollende Kritiker bemängelten
zudem die nachlässige Edition: Ohne Fußnoten und Index könne die lobenswerte Fleißarbeit dem
selbst erhobenen Anspruch eines autoritativen Standardwerkes nicht gerecht werden.233
Ein Universitätshistoriker, der Smiths Arminiusbegeisterung teilte und, wenn möglich, gar über-
traf, dabei aber eine ungleich größere öffentliche Wirksamkeit erzielte, war Edward Augustus Freeman,
der bis heute als das eigentliche Oberhaupt der teutonistischen Schule in Großbritannien gilt.234 Dieser
Ruf gründet sich nicht nur auf seine wissenschaftlichen Werke oder seine führende Rolle bei der
Etablierung der Geschichte als akademische Disziplin nach deutschem Vorbild in Oxford. Mehr noch
trug er durch seine äußerst rege und kämpferische historisch-politische Publizistik, öffentliche Vor-
träge und seine Tätigkeit als Verfasser und Herausgeber von viel benutzten Schul- und Lehrbüchern
dazu bei, die Glaubenssätze des teutonistischen Dogmas zu popularisieren und in die politischen De-
batten einzubringen.
229 Smith, Arminius, 182f. Ein kritischer Rezensent merkte praise. Beide Passagen bestehen großenteils aus z.T.
zurecht an, Smiths Versuch, aus Arminius einen barba- wörtlichen Übersetzungen aus Ludens Geschichte der
rian Hampden or Washington zu machen, habe den gro- Teutschen, Bd. 1 (1825), 327.
ßen defect of lacking the barest shred of historical evidence … 231 Daily News vom 2. 4. 1861.
to construct the theory that Arminius died a martyr to popu- 232 Saturday Review 11 (1861), 563. Ein anderer Rezensent
lar rights is an achievement which few of the modern school of lobte hingegen die Glorifizierung des greatest and noblest
historians have surpassed. – Saturday Review 11 (1861), 593. hero that Germany ever produced – London Review and
230 Smith, Arminius, 184f. Vgl. die ähnlich elegische Vor- Weekly Journal of Politics, Literature, Art, and Society vom
stellung des Helden auf S. 101: The name of Arminius has 20. 4. 1861, 447. Ähnlich auch die Daily News (s.o.).
pierced the darkness of almost twenty centuries, and still 233 Siehe British Quarterly Review 33 (1861), 548, Literary Ga-
shines a star in the night of time. Of all the Cheruscan Ade- zette vom 9. 3. 1861, 230 und Athenaeum vom 27. 4. 1861,
lings, he only is unstained by crime or weakness. He stands 560.
alone, like no one else in history; for no one in Grecian or Ro- 234 Zur Biographie und Ideenwelt des most enthusiastic of
man times has extorted as he has done, from unwilling and Teutomaniacs (Mandler [2006] 92) siehe Parker (1981)
supercilious foes, the meed of such disinterested and glorious und Burrow (1981) 155–228.
… for though he did not live in our land, he was our own kinsman, our bone and our flesh. If he
had not hindered the Romans from conquering Germany, we should not be talking English;
perhaps we should not be a nation at all.241
Im Gegensatz zu Kingsley und Smith gibt sich Freeman keine Mühe, den barbarischen Charakter der
germanischen Vorväter zu beschönigen. Im Gegenteil, denn gerade der gnadenlosen Ausrottung der
Römer und Kelten durch die angelsächsischen Invasoren verdankten die Engländer ihre rein teutoni-
sche Nationalidentität:
235 Freeman, The Office of the Historical Professor. An Inaugu- sieht Freeman ihre nachhaltige Unterminierung des
ral Lecture read in the Museum at Oxford, October 15, 1884, englischen Nationalbewusstseins, die sich am deutlichs-
London 1884, 8. Auch William Stubbs, Freemans Nach- ten in der Verklärung des keltischen Sagenkönigs Ar-
folger auf dem Oxforder Lehrstuhl für moderne Ge- thur zum national hero zeige; dagegen sieht Freeman
schichte, nannte Arnold den prime mover of this genera- seine Hauptaufgabe darin to make [Englishmen] feel as
tion – Seventeen Lectures on the Study of Medieval and they ought towards the heroes of their own blood, towards
Modern History and kindred Subjects delivered at Oxford Arminius and Theodoric, towards Hengest and Cerdic and
1867–1884, Oxford 1886, 6. Aethelstan – Freeman, History V, 597. Vgl. Burrow (1981)
236 Siehe Dockhorn (1950) 142f. 213.
237 Freeman, „Revolutions in English History“, in: Edin- 240 Freeman, Old English History for Children, London 1869.
burgh Review 112 (1860), 159; nachgedruckt unter dem Das Lehrbuch, das Freeman ursprünglich für seine eige-
Titel „The Continuity of English History“ in Freemans nen Kinder geschrieben hatte, erreichte 1876 bereits die
Historical Essays, London 1871, 40–52. Ähnlich sprach fünfte Auflage, der bis 1901 noch weitere folgten; meh-
auch Freemans Freund und Kollege John Richard Green rere Ausgaben erschienen zudem zwischen 1895 und
von den Engländern als the one purely German nation that 1911 gleichzeitig in New York.
arose on the wreck of Rome – A Short History of the English 241 Freeman, Old English History, 22. Vgl. Freeman, „Saal-
People, London 1875, 11. burg and Saarbrücken“, in: Macmillan’s Magazine 27
238 Freeman, „Continuity“, 40. (1872), 33: The history of the English, no less than the history
239 Freeman, The History of the Norman Conquest of England, of the German, people begins with the Teutoburg forest. The
6 Bde., Oxford 1867–1879 (3. Auflage 1877, amerikan. future destiny of our race became possible when Arminius
Ausgabe New York 1873–1876). Als schlimmste Folge smote down the legions of Varus.
(only and wholly evil) der normannischen Eroberung
Wie wichtig dem Historiker und Nationalpädagogen Freeman die Verankerung des Arminiuskultes im
englischen Geschichtsbewusstsein war, belegt die häufige Wiederholung seiner Ermahnung to honour
the name of the German hero Arminius in zahlreichen Lehrbüchern,243 Vorträgen244 und Überblickswer-
ken245 der 1870er und 1880er Jahre. Wie gegenwärtig ihm persönlich die Varusschlacht gelegentlich
war, verdeutlicht sein Bericht von Ausgrabungsarbeiten im hessischen Römerkastell Saalburg aus dem
Jahr 1872. Euphorisiert durch den Sieg der Deutschen (our brethren of the mainland) über Frankreich (the
Latin-speaking enemy) im Jahr zuvor (the days of vengeance) vermischen sich ihm Gegenwart und Vergan-
genheit so sehr, dass Freeman in den deutschen Ausgrabungshelfern die Inkarnationen von Arminius’
wilden Kriegern erkennt:
I at least never felt more truly that history is one thing, that the struggle of the Dutch and Welsh
from the first Caesar onwards is one thing, than when I saw the spot where Arminius had over-
thrown the fortress of Drusus trodden by men who had themselves played their part in that
mighty act of the great drama which has just been wrought beneath our eyes. … It was some-
thing to hear the deeds of Arminius told in his own tongue on a spot which had beheld them by
men who had their own share in the same work as his after eighteen hundred and sixty years.
I could not help saying to myself: ‚This is Geist‘.246
Diesen durch Arminius symbolisierten pangermanischen Geist, der die Schlachten von Sedan mit dem
Teutoburger Wald ebenso verband wie die deutsche mit der englischen Nationalgeschichte, beschwor
Freeman auch zehn Jahre später auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten. Wie ein Mantra
wiederholt er in seinen Reden an die English brethren in der neuen Welt immer wieder den Namen des
old Cheruskan hero, um an die geschichtliche Einheit der teutonischen Nationen in Deutschland, Groß-
britannien und den Vereinigten Staaten zu erinnern, die er als Old, Middle and New England bzw. als die
Three Homes der teutonischen Rasse bezeichnet:
242 Freeman, Old English History, 28. Auf den naheliegen- 243 Freeman, General Sketch of European History (Historical
den kindlichen Einwand that our forefathers were cruel Course for Schools 1), London 1872, 83 (etwa zwei dut-
and wicked men entgegnet Freeman, dass es unfair sei to zend Auflagen vor dem Ersten Weltkrieg, erste ameri-
judge our fathers by the same rules as if they had been either kan. Ausgabe New York 1876, fünfte kanadische Auflage
Christians or civilized men … But anyhow it turned out Toronto 1877). Siehe auch James Sime, History of Ger-
much better in the end that our forefathers did thus kill or many, hg. v. E. A. Freeman (Historical Course for
drive out nearly all the people whom they found in the land. Schools 5), London 1874, 13f.
The English were thus able to grow up as a nation in Eng- 244 Freeman, The Chief Periods of European History. Six Lectu-
land, and their laws and manners grew with them, and were res Read in the University of Oxford in Trinity Term, 1885,
not copied from those of other nations. Eine an ein erwach- London u. New York 1886, 64: We have our part in the
senes Publikum gerichtete Version dieser Rechtferti- great deliverance by the wood of Teutoburg; Arminius, ‚libe-
gung der Methoden des war of extermination im Rassen- rator Germaniae‘, is but the first of a roll which goes on to
kampf bietet die zweite Folge seiner Vorlesungsreihe Hampden and to Washington. Siehe auch The Methods of
„The Origin of the English Nation“, gedruckt in: Macmil- Historical Study. Eight Lectures Read in the University of
lan’s Magazine 21 (1870), 509–522. Bereits im ersten Oxford, London 1886, 33 und Four Oxford Lectures 1887,
Band der History of the Norman Conquest of England von London 1888, 90.
1867 schrieb Freeman: Our forefathers appeared at the Isle 245 Freeman, The Historical Geography of Europe, London
of Britain purely as destroyers; nowhere else in Western Eu- 1881, 69 (3. Auflage 1881).
rope were the existing men and existing institutions so utterly 246 Freeman, „Saalburg“, 35f; nachgedruckt im amerikani-
swept away (20). schen Living Age 115 (1872), 674–683. Vgl. zu Freemans
Franzosenhass und seiner prodeutschen Position von
1871 auch Kleinknecht (1984) und Simmons (1996).
Mit Freemans pangermanischer Agitation in den 1870er und 1880er Jahren erreichte der Arminiuskult
in der englischen Geschichtswissenschaft seinen unbestreitbaren Höhepunkt. Kein anderer britischer
Historiker des 19. Jahrhunderts vertrat die Idee einer Identität von Angelsachsen und Germanen, von
antiken und gegenwärtigen Konflikten mit einer derartigen Leidenschaft, ja geradezu Besessenheit wie
der renommierte Oxford-Professor. Freemans berühmtes Diktum History is past politics, politics is present
history248 spiegelt ein Geschichtsverständnis, das die Entwicklung der teutonischen Völker als eine un-
aufhörliche Folge von Aktualisierungen einer Grundkonstellation betrachtete, die ihren Ursprung
in der Teutoburger Schlacht hatte, sich durch alle folgenden Epochen fortsetzte und noch in der Gegen-
wart die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, Freund und Feind determinierte. Die halbmythi-
sche Heldenfigur Arminius stand dabei nicht nur für die siegreiche Behauptung des eigenen nationalen
Wesens, als es noch ursprünglich rein und unverdorben war, sondern auch für einen metapolitischen,
nationalstaatliche Grenzen transzendierenden Zusammenhalt aller teutonischer Stämme und Völker,
den es in der Gegenwart wieder zu erinnern und neu zu beleben galt. Während Freemans teutonische
Verbrüderungsrhetorik jedoch in Deutschland kaum Beachtung fand, fiel sie bei den Angelsachsen in
Amerika auf fruchtbaren Boden.
Da die amerikanische Geschichtswissenschaft um die Jahrhundertmitte von der englischen noch weit-
aus stärker beeinflusst war als diese von der deutschen, hatten die Angloamerikaner auch das Aufblü-
hen des Teutonismus im alten Mutterland aufmerksam rezipiert und teilweise adaptiert.249 Bereits 1843
hatte der einflussreiche Neuenglandintellektuelle George W. Marsh eine ungebrochene Kontinuität
vom germanischen Altertum bis zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg imaginiert: It was the
Spirit of the Goth, that guided the May Flower across the trackless ocean; the Blood of the Goth, that flowed at
Bunker’s Hill.250 Vier Jahre später behauptete der Journalist James Duncan Nourse: our American liberty
had its origin in the German forests und erwähnte bei seiner Beschreibung der rude independence [of ] our
ferocious ancestors auch Arminius.251 Dabei wurde die Rolle des Cheruskerfürsten anfangs noch durch-
247 Freeman, Lectures to American Audiences. I. The English sche Pointe von Marshs Gothism: Während die puritani-
People in its Three Homes. II. The Practical Bearings of Ge- schen Aussiedler und amerikanischen Revolutionäre als
neral European History, Philadelphia u. London 1882, Bewahrer der germanischen Freiheitstradition figurie-
116f.; vgl. auch 33, 34, 37, 201 u. 398. ren, übernimmt Großbritannien die Rolle des despoti-
248 Siehe Parker (1981) 826. schen und korrupten Rom. Siehe Kliger (1946) und Lo-
249 Siehe auch zum Folgenden Gossett (1963), Higham wenthal (2000).
(1963), Solomon (1972), Horsman (1981), Schulin 251 James Duncan Nourse, Remarks on the Past and its Lega-
(1991), Geary (2004), Hall (1997) und Clark (2005). cies to American Society, Louisville 1847, 73. Siehe Hors-
250 George Perkins Marsh, The Goths in New England, man (1981) 168–171.
Middlebury 1843, 14. Bemerkenswert ist die anti-briti-
teach your children – that the history and the freedom of America began neither with the War of
Independence, nor with the sailing of the Pilgrim Fathers, nor with the settlement of Virginia;
but 1500 years and more before, in the days when our common Teutonic ancestors, as free then
as this day, knew how
In den Deutschen Forsten
Wie der Aar zu horsten,
when Herman smote the Romans in the Teutoburger-Wald, and the great Caesar
wailed in vain to his slain general, ‚Varus, give me back my legions!‘258
252 Peter Fredet, Modern History; from the Coming of Christ 256 Siehe das Editorial „The Attitude of Prussia“ im New
and Change of the Roman Republic into an Empire to the York Herald vom 16. 9. 1870: And this Cossack nature ma-
Year of the Lord 1842, Baltimore 1842, 19–29 (22. Auflage kes itself felt in the name of the great, enlightened, intelligent
1867) und Samuel Eliot, The History of Liberty. Part II: German people, from whom, since the age of Arminius, the
The early Christians, 2 Bde., Boston 1853, 139–141. world has heard so much of its aspirations for freedom and
253 Eliot, History, 144. brotherhood. Zum Caesaren-Image Napoleons III. siehe
254 Henry Reed, Lectures on English History and Tragic Poetry, auch Gollwitzer (1952).
as illustrated by Shakespeare, Philadelphia 1855, 87–89 257 So das New York Times-Editorial „The Leading Races
(vier weitere Auflagen bis 1876, englische Ausgabe 1856 of the World“ vom 7. 4. 1871: During the next decade of cen-
in London). Reed war bereits 1849 Herausgeber der turies it is evidently the English-speaking and Teutonic races
amerikanischen Ausgabe von Arnolds Introductory which are to lead modern civilization and to govern the
Lectures on Modern History. world. Ausdrücklich wird in dem Kommentar Bezug ge-
255 Siehe z. B. die New York Times-Editorials „The New nommen auf Darwins Konzept des survival of the fittest.
Leader of Europe“ vom 16. 8. 1870, „Is France on its 258 Charles Kingsley, Lectures Delivered in America in 1874,
Deathbed?“ vom 31. 2. 1871 und „The Lesson of Paris“ London 1875, 23. Vgl. auch die Fassung im Daily Evening
vom 30. 5. 1871. Zur amerikanischen Perzeption der Bulletin (San Francisco) vom 30. 5. 1874. Das deutsche
deutschen Reichseinigung und des frühen Kaiserreichs Zitat stammt aus dem populären „Jägerlied“ von Hein-
siehe Moltmann (1991), Krüger (1992), Junker (1995), rich Joseph Kiefer (1826).
Mollin (1997) und Nagler (1997).
The tree of English liberty certainly roots in German soil … the numerous valleys and forest vil-
lages, which are to this day skirted with evergreen forests, dimly suggesting to his fancy the am-
buscades into which the Roman legions fell when they penetrated the Teutoburger Wald. In
such forests liberty was nurtured. Here dwelt the people Rome never could conquer. In this
wild retreats the ancient Teutons met in council upon tribal war and peace. Upon the forest hill-
tops they worshipped Wodan, the All-Father; in the forest valleys they talked over, in village
moot, the lovely affairs of husbandry and the management of their common fields. Here were
planted the seeds of Parliamentary or Self-Government, of Commons and Congresses. Here lay
the germs of religious reformations and popular revolutions, the ideas which have formed Ger-
many and Holland, England and New England, the United States in the broadest sense of that
old Germanic institution.260
Das von den englischen Teutonisten geprägte Schlagwort ‚Arminius‘ bzw. ‚Teutoburger Wald‘ wurde in
den folgenden Jahren von einer Reihe einflussreicher amerikanischer Historiker aufgegriffen, um den
germanischen Charakter der Herkunft und Bestimmung ihrer Nation zu betonen. Einer von ihnen war
der Althistoriker William Francis Allen, der nicht nur amerikanische Ausgaben von Tacitus’ Annalen
und der Germania edierte, sondern auch an den zeitgenössischen Diskussionen um den Ort der Varus-
schlacht teilnahm und in seinen Schriften die von Arminius gerettete mission of the Germanic race … to
preserve and develop the habits and capacity of self-government betonte.261 Auch der Historiker und Darwi-
nist John Fiske, der Anfang der 1880er Jahre in seinen sehr populären Reden in Großbritannien und
den Vereinigten Staaten die Idee einer angelsächsischen Weltmission predigte, berief sich dabei auf die
ungebrochene Kontinuität der amerikanischen Geschichte seit dem germanischen Sieg über die Legio-
259 Zu den wichtigsten Referenzwerken dieser Schule zäh- Saxon Law, Boston u. London 1876. Vgl. Reimann (1997)
len neben den frühen Werken von Kemble (1849) und und Brundage u. Cosgrove (2007).
Creasy (1853) v.a. Edward A. Freeman, The Growth of the 260 Herbert Baxter Adams, The Germanic Origin of New Eng-
English Constitution from the Earliest Times, London 1872 land Towns, Baltimore 1882, 13. Zu Adams siehe Cun-
(3. Auflage 1876, ab 1887 fünf weitere Ausgaben London ningham (1981).
u. New York bis 1898); William Stubbs, The Constitutio- 261 William Francis Allen, „The Place of the Northwest in
nal History of England in its Origin and Development, General History“, in: ders., Essays and Monographs, Bos-
3 Bde., Oxford 1874 (6. Auflage 1897); Henry Sumner ton 1890, 99. Siehe auch Allens Aufsätze „The Primitive
Maine, Lectures on the early History of Institutions, London Democracy of the Germans“, ebd. 215–230 und „The
1875 (6. Auflage 1896, 1. amerikan. Ausgabe New York Locality of the Saltus Teutoburgiensis“, in: Transactions
1875); und Thomas P. Taswell-Langmead, English Consti- of the American Philological Association 19 (1888), xxxv–
tutional History. From the Teutonic Conquest to the Present xxxvi sowie seine Editionen Tacitus: The Life of Agricola
Time, London 1875 (11. Auflage 1960, die 2. Auflage von and the Germania, Boston 1881 (drei weitere Auflagen
1880 erschien bereits gleichzeitig in Boston). Ein frühes bis 1913) und Tacitus: The Annals, Boston u. London
Beispiel ihrer Adaption in den Vereinigten Staaten sind 1890 (zwei weitere Auflagen bis 1899).
die von Henry Adams herausgegebenen Essays in Anglo-
262 John Fiske, American Political Ideas. Viewed from the 265 Charlton T. Lewis, A History of Germany, from the earliest
Standpoint of Universal History, New York 1885, 7: In the Times, New York 1874, 15. Bis 1900 erschienen fünf wei-
deepest and widest sense, our American history does not be- tere Auflagen.
gin with the Declaration of Independence, or even with the 266 Bayard Taylor, A School History of Germany. From the Ear-
settlement of Jamestown and Plymouth; but it descends in liest Period to the Establishment of the German Empire in
unbroken continuity from the days when stout Arminius in 1871, New York 1874, 26. Zwischen 1882 und 1916 er-
the forests of northern Germany successfully defied the might schienen sieben weitere Auflagen, eine deutsche Über-
of imperial Rome. Bis 1913 erschienen fünf weitere Aufla- setzung 1875 in Stuttgart. Zur Biographie Taylors siehe
gen, u.a. auch in London. Wermuth (1973).
263 Theodore Roosevelt, The Winning of the West. Part I.: The 267 Taylor, School History, 33f.
Spread of English-Speaking Peoples, New York 1889, 268 Vorlage für Lewis und Taylor war das Standardlehrbuch
18–23. Roosevelts insgesamt vierbändige Saga der Er- von David Müller, Geschichte des deutschen Volkes, Berlin
oberung des Wilden Westens erlebte zur Zeit seiner Prä- 1864, das noch 1919 in der 21. Auflage erschien und
sidentschaft drei Neuauflagen, die auch in England er- 1884 unter dem Titel A Popular History of Germany auch
schienen. Eine deutsche Auswahl erschien unter dem in New York publiziert wurde. Vgl. auch Wilhelm Zim-
Titel Im Reiche der Hinterwäldler 1907 in Berlin. mermanns A Popular History of Germany. From the ear-
264 Siehe zur Bedeutung des Anglo-Saxonism für die ame- liest Period to the present Day, 4 Bde., New York 1877/1878
rikanisch-britische Annäherungspolitik um die Jahr- (dt. Original Karlsruhe 1847–1853).
hundertwende Gollwitzer (1971) 322–327, Anderson
(1981), Martellone (1994) und Kramer (2003).
it is the history of our blood-relations. On their experience we have built, and to the light of their
example we look for guidance; in their triumphs we rejoice; to the grandeur of the genius of
their poets and prose writers, of their scientists and theologians, we look with pride and admir-
ation, congratulating ourselves that we, too, are Teutons. We stood with their Hermann, as he
said to the Roman Varus, ‚No farther!‘ just as we stood with the barons before King John on the
Field of Runnymede.270
Populäre Geschichtsdarstellungen, Lehr- und Schulbücher wie das von Baring-Gould und Gilman tru-
gen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhundert das von Arnold und Creasy, Kingsley und Freeman
entworfene Geschichtsbild über die akademischen Fachzirkel und germanophilen Bildungseliten hi-
naus und vermittelten den Mythos vom panteutonischen Nationalhelden Arminius/Hermann einem
großen Publikum von Schülern, Studenten und geschichtsinteressierten Laien.271 In England verwies
man auf die Magna Charta, in Amerika auf den Unabhängigkeitskrieg, um die geschichtliche Bedeu-
tung der Varusschlacht zu veranschaulichen. Manche Amerikaner stellten den Germanenfürsten sogar
mit ihrem nationalen Gründervater auf eine Stufe: Arminius is our first Washington, erklärte 1899 der
Literaturwissenschaftler Edward A. Allen,272 und im selben Jahr befand Augusta Hale Gifford in ihrem
populärwissenschaftlichen Deutschlandbuch: With no one can he so well be compared as with our Washing-
ton, denn Arminius was the first who conceived the idea of a United Germany and a consolidated Father-
land.273 Auch für Gifford sind dabei die vergangenen Heldentaten der embryo tribes which Arminius
fought for and died to save mit den großartigen Zukunftsaussichten der teutonischen Nationen in der Ge-
genwart verbunden:
269 Sabine Baring-Gould u. Arthur Gilman, Germany (The Events of All Nations and All Ages, 10 Bde., Philadelphia
Story of the Nations Series) London 1886, 420 (8. Auf- 1894, 76–82, Edgar Sanderson, John Porter Lamberton
lage 1906, 1. amerikan. Ausgabe u.d.T. The Story of Ger- u. Charles Morris, Six thousand Years of History, Bd. 1:
many, New York 1886, span. Übersetzung Madrid 1892). Ancient and Mediaeval History, Philadelphia, Chicago u.
In dem ihm gewidmetem Kapitel (15–23) wird Arminius St. Louis 1900, 264–266, Philipp Van Ness Myers,
the first vision of a united Germany zugeschrieben (20). Rome, its Rise and Fall. A Text-Book for High Schools and
Vgl. auch bereits Arthur Gilman, Magna Charta Stories. Colleges, Boston 1900, 322–324, Edward S. Ellis u.
World-famous Struggles for Freedom in former Times. Re- Charles F. Horne, The Story of the Greatest Nations, from
counted for Youthful Readers, Boston 1882, 139–155 (wei- the Dawn of History to the Twentieth Century, Bd. 2, New
tere Auflagen London 1885 und Boston 1897). York 1901, 508–513, Emily Hawtrey, A Short History of
270 Baring-Gould u. Gilman, Germany, iv. Siehe zur Rezep- Germany, Detroit 1903, 11–13, John Clark Ridpath, Rid-
tion dieser stilprägenden Darstellung die Rezensionen path’s History of the World, Bd. 3, Cincinnati 1907, 272f.
in Athenaeum vom 6. 10. 1886, 465, Practical Teacher 6 und Franklin James Holzwarth, German Students’ Ma-
(1886), 378, Time 15 (1886), 506 und die Würdigung der nual of the Literature, Land, and People of Germany, New
7. Auflage in Athenaeum vom 25. 8. 1906, 212. York, Cincinnati u. Chicago 1908, 21–24.
271 Siehe bspw. J. H. Beale (Hg.), Gay’s Standard History of 272 Edward A. Allen, „The Oratory of Anglo-Saxon Coun-
The World’s Great Nations, Bd. 2, New York 1884, 12–15; tries“, in: James D. Brewer (Hg.), The World’s Best
Hermann Lieb, History of the German People from the Ear- Orations. From the Earliest Period to the Present Time, St.
liest Times to the Accession of Emperor William II., Chi- Louis 1899, xiii.
cago, New York u. San Francisco 1889, 31–60, Charles 273 Augusta Hale Gifford, Germany, her People and their
Morris, Historical Tales. The Romance of Reality, Bd. 5: Story. A Popular History of the Beginnings, Rise, Develop-
German, Philadelphia 1893, 7–18, Ainsworth Rand Spof- ment and Progress of the German Empire from Arminius to
ford, Frank Weitenkampf u. John Porter Lamberton William II. told for Americans, Boston 1899, 16f.
(Hgg.), The Library of Historic Characters and Famous
Zum Symbol des gemeinsamen germanischen Erbes wurde auch in Amerika das deutsche Hermanns-
denkmal. Kaum eine Arminiuserzählung nach 1875 verzichtete auf die Erwähnung des ihm gewidme-
ten Monuments auf der Grotenburg, auf das auch seine angelsächsischen Nachfahren Grund hätten,
stolz zu sein.275 Englischsprachige Reiseführer empfahlen einen Besuch des Denkmals und des ver-
meintlichen Schlachtfeldes.276 Und während in der englischen Presse längst der Spottname Hermann
the German kursierte,277 wanderten amerikanische Reiseschriftsteller wie der presbyterianische Predi-
ger John Henry Barrows noch um die Jahrhundertwende voller Andacht durch die cradle of the liberties of
the English-speaking nations im Teutoburger Wald.278 Auch der Altphilologe Myron R. Sanford aus Ver-
mont sah bei seinem Denkmalsbesuch 1895 in Bandels Hermann mehr als nur a worthy ideal of all that
is strong and great in German unity and might:
Indeed the New Englander and American can never forget how direct and regular is the descent
of the liberties he enjoys from the old Teutonic liberties for which Arminius and the Cherus-
cans so sturdily stood there in the forest nineteen centuries ago.279
Angesichts dieser Popularität des germanischen Ahnenkultes unter gebildeten Amerikanern verwun-
dert es nicht, dass um die Jahrhundertwende auch von politischer Seite versucht wurde, aus dem ge-
meinsamen teutonischen Abstammungsbewusstsein Kapital zu schlagen. Am 30. November 1899 ent-
warf der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain in seiner berühmten Leicester-Rede die Vision
eines deutsch-englisch-amerikanischen Bündnisses: a new triple alliance between the Teutonic race and
the two great branches of the Anglo-Saxon race would be a potent influence in the future of the world.280 Bei der
Eröffnung des von Kaiser Wilhelm II. gestifteten Germanic Museum in Harvard im November 1903
schwelgten deutsche und amerikanische Festredner in pangermanischer Verbrüderungsrhetorik.281
Und als der einflussreiche amerikanische Staatsrechtler John W. Burgess 1906 seine Antrittsvorlesung
als erster Roosevelt-Austauschprofessor in Berlin hielt, nutzte er die Gelegenheit, um erneut die Idee
eines „großen germanischen Dreibunds“ zu propagieren, dessen Ziel nichts geringeres sei als „Friede,
274 Gifford, Germany, 584. Deutschland schreibt Gifford da- 278 John Henry Barrows, A World-Pilgrimage, Chicago 1897,
neben die Rolle des arbiter of the destiny of Europe zu, 32f. Vgl. auch John L. Stoddard, Stoddard’s Lectures,
dem es vorherbestimmt sei, a dominant factor in Christia- Suppl. Bd. 5, Boston u. Chicago 1909, 208f. (mit Foto)
nizing the world zu werden. Zur Rezeption siehe die und die literarische Schilderung eines Denkmalsbe-
wohlwollenden Rezensionen im American Monthly Re- suchs in der Erzählung „An Old Man’s Darling“, in: All
view of Reviews 19 (1899), 753, Public Opinion 26 (1899), the Year round 7 (Januar 1892), 108–114.
603 und National Magazine 11 (1900), 567. 279 Myron R. Sanford, „Germany’s Tribute to Arminius“, in:
275 Siehe z.B. Baring-Gould u. Gilman, Germany, 20f., Gif- New England Magazine 18 (April 1895), 168f. (mit Fotos).
ford, Germany, 16f. (mit Foto) und Ellis u. Horne, 280 „Mr. Chamberlain at Leicester“, in der Times vom
Greatest Nations, 513. 1. 12. 1899. Vgl. Kennedy (1982) 239.
276 Siehe Murrays Handbook for North Germany, London, 281 „Kaiser’s Gifts“ im Boston Globe vom 11. 11. 1903. Vgl.
Paris u. Leipzig 1877, 193 u. 198, Baedekers Northern auch die pangermanische Vision des Initiators und ers-
Germany, as far as the Bavarian and Austrian Frontiers, ten Museumsleiters Kuno Francke, „Deutsche Kultur in
Leipzig, London u. New York 1890, 93 und Bradshaw’s den Vereinigten Staaten und das Germanische Museum
Illustrated Hand-Book to Germany and Austria, London der Harvard-Universität“, in: Deutsche Rundschau 28
u.a. 1895, 78. (1902), 127–145. Siehe zur Gründung des Museums und
277 Siehe die Times-Artikel „The National Monument of den politischen Hintergründen Goldman (1989) und
Germany“ vom 29. 9. 1883 und „The Emperor William“ Prinz von Preußen (1997) 179–188.
vom 10. 3. 1888.
Die mit der Vollendung des Bandelschen Denkmals 1875 einhergehende Verörtlichung und inhaltliche
Festschreibung des Hermannsmythos als Symbol deutscher Nationaleinheit sollte sich für die angel-
sächsische Arminiusverehrung als zweischneidiges Schwert erweisen. Auf der einen Seite wurde es von
germanophilen Engländern und Amerikanern als sinnf älliger Ausdruck teutonischer Weltmacht
und Rasseneinheit gewürdigt. Auf der anderen Seite bot die in Metall gegossene Verknüpfung der pan-
germanischen Heldenfigur mit dem deutschen Kaiserreich Anknüpfungspunkte für Kritiker, die
den Grundannahmen der Teutonisten skeptisch gegenüberstanden oder zumindest das Verhältnis der
‚germanischen Brudernationen‘ Deutschland, Großbritannien und U.S.A. weniger optimistisch bewer-
teten.285
Bereits kurz nach der Reichsgründung erschienen in der englischen Publizistik erste Warnungen
vor einem preußisch dominierten Pan-Teutonism als einer Rechtfertigungsideologie für die Fortsetzung
der bismarckschen Eroberungspolitik by blood and iron.286 Insbesondere die ‚abtrünnigen‘ germani-
schen Kinder der Mighty Mother of all Teutons in Holland, Belgien und der Schweiz galten als potentielle
282 John W. Burgess, „Deutschland, England und die Verei- 284 Siehe Tacke (1995) 228–243, Bennhold (1996), Puschner
nigten Staaten“, in: Internationale Wochenschrift für Wis- (2001), Kipper (2002), See (2003) und Losemann
senschaft, Kunst und Technik 1 (1907), Sp. 154. Vgl. auch (2008).
Burgess’ „Germany, Great Britain, and the United 285 Vgl. Kleinknecht (1984) und Simmons (1996).
States“, in: Political Science Quarterly 19 (März 1904), 286 John Wilson, „Bismarck, Prussia, and Pan-Teutonism“,
1–19 und Germany and the United States. An Address De- in: Quarterly Review 130 (Januar 1871), 71–92; nachge-
livered before the Germanistic Society of America January druckt in: ders., Studies of Modern Mind and Character at
24, 1908, New York 1909. Zum Teutonismus von Bur- several European Epochs, London 1881, 423–444. Konkret
gess siehe Gossett (1963) 111–115 und Saveth (1965) bezieht sich Wilson v.a. auf Wolfgang Menzels alldeut-
42–51; zum deutsch-amerikanischen Professorenaus- sche Kampfschrift Unsre Grenzen, Stuttgart u. Leipzig
tausch Brocke (1981). 1868.
283 Zum politischen Germanismus und seinen Funktionen
im deutsch-britisch-amerikanischen Verhältnis siehe
allgemein Gollwitzer (1971) 323–341.
we claim, that our speech, in right of its Saxon descent, is the elder sister, so are we, on the
ground of our Saxon ancestry, the elder brethren, or rather cousins.289
In starkem Kontrast zur panteutonischen Verbrüderungsrhetorik eines Edward Freeman belegen be-
reits diese frühen kritischen Stimmen, dass die vielbeschworene Stammverwandschaft mit den German
cousins auch Konfliktstoff bot. Machtpolitische Interessengegensätze konnten in die Semantik eines in-
nergermanischen Familienstreits transformiert werden. In dem Maße, in dem sich die Spannungen
zwischen Kaiserreich und Empire zuspitzten, kamen ab der Jahrhundertwende sozialdarwinistische In-
terpretationen des teutonischen Rassencharakters auf, die einen kommenden Kampf der beiden füh-
renden germanischen Nationen um die Weltherrschaft prognostizierten.290 History teaches us how con-
stantly Teutonic tribes and nations have destroyed one another, konstatierte 1900 der britische Anthropologe
Nottidge Charles MacNamara noch bedauernd, da er in der unity and integrity of the great Teutonic race
die beste Gewähr für Fortschritt und Freiheit der Menschheit sah.291 Zwölf Jahre später sahen der ame-
rikanische Militarist Homer Lea und der Alldeutsche Friedrich von Bernhardi einen deutsch-englischen
Krieg bereits als unvermeidbar an,292 während englische Aristokraten noch auf die grundlegende Ger-
manisation of Britain und a record of 1,400 years of Anglo-German kinship and friendship als Friedensgaran-
ten verwiesen.293 Treffender als diese hilflosen Appelle an die teutonische Rassensolidarität beschrieb
der Historiker John Adam Cramb das Verhältnis von Engländern und Deutschen unmittelbar vor
Kriegsausbruch 1914 als das schicksalhafte Ringen zweier germanischer Heldennationen:
one can imagine the ancient, mighty deity of all the Teutonic kindred, throned above the clouds,
looking serenely down upon that conflict, upon his favorite children, the English and the Ger-
mans, locked in a deathstruggle, smiling upon the heroism of that struggle, the heroism of the
children of Odin the War-God!294
287 Wilson, „Bismarck“ (1881), 441. Vgl. dagegen die posi- gabe erschien noch im selben Jahr in London, die erste
tive Würdigung des deutschen Pangermanismus als Wi- amerikanische 1914 in New York. Nach Kriegsausbruch
derpart des russischen Panslawismus bei James Ken- wurden Dutzende von Nachdrucken auf den Markt
nedy Patterson, „Panslavism and Panteutonism – geworfen. Homer Leas The Day of the Saxon erschien
Europe’s next War“, in: Louisville Ledger vom 2. 9. 1871; in 1912 in New York und London, fand jedoch nur
dokumentiert in: Pollitt (1925) 224–227. wenig Beachtung. Die deutsche Übersetzung besorgte
288 [Anonym], „Pan-Teutonism“, in: Once a Week 11 (1873), 1913 der Alldeutsche Graf Reventlow. Siehe Bridgham
359–364. (2006).
289 [Anonym], „Pan-Teutonism“, 363. Explizit beruft sich 293 Sir Harry Hamilton Johnston, Views and Reviews from the
der anonyme Autor in seiner sprachgeschichtlichen Ar- Outlook of an Anthropologist, London 1912, 100–106 und
gumentation auf Latham und Creasy (s.o.). Lady Florence Phillips, A friendly Germany. Why not?,
290 Siehe zum Topos des German Cousin und seiner Um- London 1913, 49. Arminius, der Inbegriff des teutoni-
deutung zwischen Reichsgründung und Weltkrieg Man- schen Kriegerideals, spielt in diesen Versuchen, den
der (1974), Firchow (1986) und Dose (1986). Zur Ge- deutsch-britischen Konflikt zu harmonisieren, naturge-
schichte des Sozialdarwinismus siehe Koch (1973). mäß keine Rolle.
291 Nottidge Charles MacNamara, Origin and Character of 294 John Adam Cramb, Germany and England, London 1914.
the British People, London 1900, 223. Noch im selben Jahr erschienen mindestens neun Nach-
292 Friedrich von Bernhardi, Deutschland und der nächste drucke und die erste amerikanische Ausgabe.
Krieg, Stuttgart u. Berlin 1912. Die erste englische Aus-
The Teutonic tribes were in those days simply barbarians, who could only gain by an active
intercourse with a people building them highways, bridges, decent towns, and fortified places,
introducing laws and clothing, and teaching them the alphabet. To exchange all these advan-
tages for a savage independence was the height of folly … Eight centuries of stagnation was the
price paid for the gratification of giving a sound thrashing to a people whose presence conferred
lasting benefits.297
Auch in den Kommentaren der englischen Presse zur Denkmalseinweihung 1875 finden sich verein-
zelte Hinweise, dass der zivilisierende Einfluss Roms den Germanen durchaus nicht geschadet habe.298
Die Kleist-Biographen Francis Lloyd und William Newton gingen sogar so weit zu behaupten, die ver-
meintliche Sternstunde deutscher Geschichte sei in Wahrheit der Ausgangspunkt einer fatalen Fehlent-
wicklung gewesen:
It is amazing that it has never occured to the numerous narrators of the feats of Hermann in the
Teutoburg forest, that all the disasters of German history might with much show of reason be
traced to that unlucky victory … the Romans by their repulse were prevented from carrying out a
civilizing mission of inestimable value.299
Wie schon die Aufklärungshistoriker des 18. Jahrhunderts bezweifelten diese Kritiker den zivilisatori-
schen Wert des blutigen Triumphes heidnischer savages und barbarians über die führende Kulturmacht
der Antike. Andere wiederum stellten die anthropologischen Grundlagen der teutonistischen Lehre in
Frage, indem sie die von Freeman und anderen behauptete unverf älschte rassische Kontinuität von den
295 Siehe Symons (1955) 165 u. 181. 297 „Hermann’s Statue and the Fiftieth Anniversary of the
296 Die Formulierung wurde insb. von Freeman verwendet – Battle of Leipzig“, in: The Reader 2 (1863), 476.
siehe seine History of the Norman Conquest, Bd. 1, Oxford 298 Siehe z.B. das bereits erwähnte Times-Editorial vom
1867, 20, „The Origin of the English Nation“, in: 17. 8. 1875 (s.o. Anm. 7).
Macmillan’s Magazine 22 (1870), 46 und Lectures to Ame- 299 Francis Lloyd u. William Newton, Prussia’s Representative
rican Audiences, Philadelphia u. London 1882, 116. Vgl. Man, London 1875, 68. Vgl. die Replik von Karl Blind im
auch Max Müller, „Savages“, in: Nineteenth Century 17 Examiner vom 8. 5. 1875, 524f.
(1885), 126.
300 Thomas H. Huxley, „The Forefathers and Forerunners 304 Charles Waldstein, „The English-Speaking Brother-
of the English People“, in der Pall Mall Gazette vom hood“, in: North American Review 167 (1898), 223–238;
10. 1. 1870 und 14. 3. 1870; nachgedruckt im Anthropolo- nachgedruckt in: ders., The Expansion of Western Ideals
gical Review 8 (1870), 197–204. Dort findet sich auf den and the World’s Peace, New York u. London 1899,
folgenden Seiten (205–216) auch ein Teil der kontrover- 113–193, Zitate 138 u. 141.
sen Debatten um Huxleys Thesen. 305 Waldstein, „Brotherhood“ (1899), 142.
301 Als Lehre für die English political ethnology hält Huxley 306 Waldstein, „Brotherhood“ (1899), 146.
fest that the arguments about the difference between Anglo- 307 William D. Babington, Fallacies of Race Theories as
Saxons and Celts are mere sham and delusion – „Fore- applied to National Characteristics, London u. New York
fathers“, 203. 1895, 6 u. 183. Siehe die Rezension in den Annals of the
302 Henry H. Howorth, „The Ethnology of Germany. Part I. American Academy of Political and Social Science 8 (1896),
The Saxons of Nether Saxony“, in: Journal of the Anthro- 167–169.
pological Institute of Great Britain and Ireland 6 (1877), 308 Babington, Fallacies, 11. Neben Freeman richtet sich Ba-
364–378. bingtons Polemik v.a. gegen Theodor Mommsen, dem
303 Freeman, „Race and Language“, in: Contemporary Review er eine Abwertung der keltischen gegenüber der germa-
29 (1877), 711–741, insb. 722f. Vgl. Max Müller, Biogra- nischen Rasse vorwirft (s. 191–230).
phies of Words and the Home of the Aryas, London 1888, 309 Babington, Fallacies, 224–226.
88–91. Vgl. Parker (1981) 834ff.
To the Roman Empire alone belongs the credit of having in some measure anticipated the prin-
ciples on which the British Empire rests – that conquest is but a step to civilization and peace
and union among the nations. The Romans were ruthless conquerors … But they were civilizers
and administrators as well as conquerors. The ‚Pax Romana‘ gave comparative rest to Europe in
the first century, as the ‚Pax Britannica‘ gives to India in the nineteenth.315
Eine solche imperiale Genealogie stand im offenkundigen Widerspruch zu den germanischen Ur-
sprungsmythen der teutonistischen Schule und ihrer Imaginierung eines angelsächsischen Nationalhel-
den Arminius. Antirömische Rebellen erschienen in dieser Logik als Feinde der imperialen Friedensord-
nung.316 In der Übertragung der römisch-germanischen Frontstellung auf moderne Kolonialkonflikte
offenbarte sich deshalb ein bisher nur am Rande erwähntes Aktualisierungspotential der historischen
Erinnerung der Varusschlacht, in der nicht die Engländer, sondern ihre barbarischen Feinde mit den
siegreichen Germanen identifiziert wurden.
Zum ersten Mal erschien diese Variante des öffentlichen Gebrauchs des Arminiusmythos vermut-
lich in der zunächst publizistischen, dann geschichtswissenschaftlichen und literarischen Verarbeitung
der Braddock-Katastrophe während des Siebenjährigen Krieges. Ein Teilnehmer der Schlacht auf india-
nisch-französischer Seite war der Ottawa-Häuptling Pontiac, der wenige Jahre später eine große Allianz
indianischer Stämme vereinte und während der Belagerung von Detroit den Briten eine weitere Nie-
derlage zufügte. Schon zu Lebzeiten eine Legende, wurde er 1838 von der britischen Schriftstellerin
Anna Jameson als wilder hero par excellence mit dem germanischen Helden Arminius verglichen.317 Eine
ähnliche Anerkennung erfuhr wenig später auch der berühmte Shawnee-Führer Tecumseh, den der iri-
310 Babington, Fallacies, 203 u. 227. 316 Siehe als Beispiel die Darstellung von Arminius’
311 Babington, Fallacies, 202f. treachery und der Reaktion des Augustus (worthy of the
312 Siehe zum Celtic Revival Brown (1996) und zur historio- ‚Father of his country‘) in Arthur Hadrian Allcroft u. John
graphischen Neubewertung Augustus’ Turner (1993) Hampden Haydon, A History of the Reigns of Augustus
257ff. und Vance (1997). and Tiberius, London 1900, 42f. u. 73–77.
313 Babington, Fallacies, 179. 317 Anna Jameson, Winter Studies and Summer Rambles in
314 Siehe hierzu neuerdings die umfassende Studie von Canada, Bd. 2, London 1838, 294. Bereits 1839 erschie-
Parchami (2009) insb. 61–91. nen eine amerikanische Ausgabe in New York und eine
315 Times-Editorial vom 13. 9. 1898. deutsche Übersetzung in Braunschweig.
the philantrophic statesmen, who think it so easy, as well as so proper, to massacre poor savages
for defending their native land, might do well to refresh their memories by reading how it fared
with the Romans when dealing with the ancient barbarians of Germany.321
Diese Warnung vor einer Wiederholung der Varus-Katastrophe in den britischen Kolonien war mehr als
ein moralischer Appell, denn er rief zugleich Erinnerungen an das militärische Desaster des Afghanis-
tan-Feldzugs drei Jahre zuvor wach. Im Winter 1841/42 war ein von General William Elphinstone ge-
führtes britisch-indisches Expeditionsheer beim Rückzug aus Kabul von den Afghanen unter Akbar
Khan in einen Hinterhalt gelockt und vollständig vernichtet worden.322 Die verheerende Niederlage
wurde in der schockierten englischen Öffentlichkeit umgehend mit dem Untergang der römischen Le-
gionen im Teutoburger Wald assoziiert.323 Der Schriftsteller John Sterling schrieb konsterniert an sei-
nen Vater:
here we are dismally injured by mere barbarians, in a War on our part shamefully unjust as well
as foolish: a combination of disgrace and calamity that would have shocked Augustus even
more than the defeat of Varus.324
318 John Robert Godley, Letters from America, Bd. 1, London 322 Von den ca. 16500 Teilnehmern des Feldzuges entkam
1844, 151. Zitiert im Monthly Review 2 (1844), 103, im lediglich ein einziger dem Massaker – siehe zum Ereig-
Bristol Mercury vom 30. 3. 1844 und im Glasgow Herald nis und den Folgen Macrory (2002).
vom 1. 4. 1844. 323 Siehe „The Disasters in Affghanistan. Curious Parallel“
319 François Pierre Guillaume Guizot, General History of in der Times vom 20. 4. 1842 und „British Overthrow at
Civilization in Europe, 3 Bde., London 1837. Das franzö- Afghanistan“ im Museum of Foreign Literature, Science
sische Original erschien 1828 in Paris, die erste ameri- and Art 45 (1842), 626f. Vgl. auch „Désastres de la puis-
kanische Ausgabe 1838 in New York und eine deutsche sance Anglaise dans l’Inde“, in: Revue générale, biographi-
Übersetzung 1844 in Stuttgart. Bis Ende des 19. Jahr- que, historique et litteraire 10 (1842), 270f.
hunderts erschienen in England und Amerika mindes- 324 Brief vom 12. 3. 1842, zitiert nach Thomas Carlyle, The
tens zwei Dutzend Neuauflagen. Life of John Sterling, London 1851, 288. In späteren
320 [Anonym], „Armin, or the Civilized Romans and the Darstellungen wurde insb. die Reaktion des indischen
Barbarians of Germany“, in: Mirror of Literature, Amuse- Gouverneurs Lord Auckland, der beim Empfang der
ment, and Instruction 2 (1845), 7–9. Zu dem heute als Nachricht von Elphinstones Untergang einen Schlag-
Flagstaff War (1845/1846) bekannten Konflikt zwischen anfall erlitt, mit den Klagen des römischen Imperators
Briten und Maori siehe Belich (1990). über den Verlust der varianischen Legionen verglichen –
321 [Anonym], „Armin“, 7. Die folgende Erzählung der rö- siehe Samuel Phillips, „The War in Afghanistan“, Times
mischen Katastrophe im Teutoburger Wald stützt sich vom 25. 9. 1852; nachgedruckt in ders., Essays from ‚The
auf die bereits erwähnte Darstellung Heinrich Ludens – Times‘, London 1871, Zitat 264.
siehe Anm. 184.
dusky Arminius, who, if his complexion were only of a lighter tint, would be pronounced by his-
tory to be a hero and a patriot who waged a galant struggle pro aris et focis to defend his country
from unprovoked aggression.330
325 „Whence have come our Dangers?“, Blackwoods Edin- Time of Hannibal to the Period of the Indian Mutinity, Lon-
burgh Magazine 77 (1855), 124. Der Vergleich mit der don 1885, 66–96. Vgl. Colonel Mallesons Augenzeugen-
Varusschlacht findet sich u.a. auch in „The Outbreak in bericht The Mutiny of the Bengal Army, London 1857 so-
Cabul and its Causes“, Calcutta Review 14 (1850), 296ff., wie seine History of Afghanistan, London 1878 und The
„Our Indian Policy“, Bentley’s Miscellany 30 (1851), 635, Decisive Battles of India, London 1883. Zu seiner militäri-
John Lalor, Money and Morals, London 1852, 247, Archi- schen und publizistischen Karriere siehe Mittal (1996)
bald Alison, History of Europe from the Fall of Napoleon to II, 237–258.
the Accession of Louis Napoleon, Bd. 8, Edinburgh u. Lon- 328 Vgl. die Schilderung des deadly ambush und Hermann’s
don 1859, 79f., Louis Blanc, Letters on England. Second Se- treachery in Lewis Sergeants The Franks, from their Origin
ries, Bd. 2, London 1867, 210, Rudyard Kipling, „The Lost as a Confederacy to the Establishment of the Kingdom of
Legion“, Strand Magazine 3 (1892), 476–483, Charles France and the German Empire, New York u. London
Lowe, „The Queen’s Army“, English Illustrated Magazine 1898, 29 und bei John Benjamin Firth, Augustus Cæsar
166 (1897), 390 und James Bryce, „The Roman Empire and the Organisation of the Empire of Rome, New York u.
and the British Empire in India“, in: ders., Studies in His- London 1903, der die tragic story des Varus mit der tale of
tory and Jurisprudence, Bd. 1, Oxford 1901, 12. the Indian mutiny vergleicht: he trusted Arminius as impli-
326 Edward Spencer Beesly, „The Emperor Tiberius“, in: citly as the British colonels trusted their Serpoys (308f.).
Fortnightly Review 2 (1867), 647, nachgedruckt in Cati- 329 Newcastle Courant vom 21. 2. 1879. Siehe für einen nähe-
line, Clodius, and Tiberius, London 1878, 110. Arminius ren Vergleich der Varusschlacht mit Isandlwana und
wird hier als young chieftain von half-tamed savages vorge- Custers last stand am Little Big Horn auch „Modern Bar-
stellt. Zu Nana Sahib und seiner Rolle in der Indian barians“, St. Louis Globe-Democrat vom 20. 7. 1879.
Mutiny of 1857, die heute offiziell als ‚India’s First War of 330 Daily News vom 6. 3. 1879 und Freeman’s Journal
Independence‘ gewürdigt wird, siehe Shastitko (1980) (Dublin) vom 10. 6. 1879. Vgl. auch die Verbindung des
und Anderson (2007). Mahdi-Aufstandes gegen die britische Kolonialherr-
327 George Bruce Malleson, Ambushes and Surprises. Being a schaft mit der antirömischen Erhebung der Germanen
Description of some of the most famous Instances of the unter Arminius in „The Soudan Disaster“, Times vom
Leading into Ambush and the Surprise of Armies, from the 10. 12. 1883.
These are the very blood of Hermann, and they have kept it pure through eight generations of
propagation in a remote and alien land. They have a history of daring and suffering worthy of
the descendants of the conquerors of the Roman legions.333
331 Siehe die Artikel-Serie „Boers and Germans“ in der 334 Zu den innen- und außenpolitischen Ursachen und Fol-
Times vom 4., 7., 8., 9., 11., 13. u. 15. 1. 1896. Zur politi- gen des Krieges siehe Noer (1978), Anderson (1981),
schen Bedeutung dieser philologisch-ethnologischen Kennedy (1982) u. Kramer (2003).
Debatte siehe das Editorial „The diplomatic Potentiali- 335 „The War“, Times vom 21. 5. 1901. Siehe zur deutschen
ties of Philology“ vom 13. 1. 1898. Burenagitation zuletzt Bender (2009).
332 Bristol Mercury and Daily Post vom 30. 8. 1894 und Liver- 336 „A Historical Parallel“, Times vom 15., 18., 19., 23. und
pool Mercury vom 6. 3. 1900. Siehe zur Verortung der Bu- 24. 10. 1901. Ergebnis des Streits war, dass wohl am
ren zwischen Zivilisation und Barbarei auch „The Boer ehesten der Bataverfürst Civilis als antikes Vorbild der
Question“ des Anthropologen Harry H. Johnston im Burenführer in Frage komme. Vgl. die umfassende Aus-
Fortnightly Review 56 (1894), 161–169. Zum Topos der arbeitung dieser historische Parallele bei R. B. Townsend,
burischen white savages vgl. Gates (1986) 213. „Rome and her Dutch Rebels“, Westminster Review 155
333 „A Race of Warriors“, Morning Oregonian (Portland) vom (1901), 386–401.
19. 1. 1896; ähnlich auch das Editorial „Bravery of the Bo-
ers“ in der Washington Post vom 29. 10. 1899.
Diese antiimperialistische Wendung der Teutonic germs theory, die seit Jahrzehnten vorwiegend der Le-
gitimation angelsächsischer Superiorität und Expansion gedient hatte, verdeutlicht zum einen das op-
positionelle Potential, das die politische Berufung auf den germanischen Unabhängigkeitskampf noch
zu Beginn des 20. Jahrhunderts entfalten konnte. Smiths Hinweis auf den Keim der deutschen Kultur-
nation in den germanischen Wäldern und die Traditionslinie von Arminius zu Bismarck verweist je-
doch zugleich auf die verhängnisvolle Bruchstelle des teutonistischen Identitätskonstruktes. Seit der
Jahrhundertwende sank die angelsächsische Arminiusbegeisterung parallel zum Anstieg der deutsch-
britischen Spannungen. Und als ab August 1914 englische und ab April 1917 auch amerikanische Ge-
lehrte und Publizisten dazu aufriefen, die westliche Zivilisation vor dem Ansturm der barbarischen
Germhuns zu retten, gerieten auch der mythische Ursprungsort und der legendäre Gründervater des
deutschen Militarismus in das Kreuzfeuer der alliierten Kriegspropaganda.
Obwohl das Dogma der historischen Einheit von teutonischer Rasse und moderner Zivilisation seit
dem Burenkrieg deutliche Auflösungserscheinungen zeigte, blieb das Bewusstsein einer bis Arminius
zurückreichenden Abstammungsgemeinschaft von Deutschen, Engländern und Amerikanern bis zum
Ausbruch des Weltkrieges tief verwurzelt im angelsächsischen Geschichtsdenken.338 We are allied by the
ties of kinship, proklamierte 1913 Arthur William Holland in seiner von der British-German Friendship
Society herausgegebenen Short History of Germany und verglich den great German hero Arminius mit der
britischen Heldenkönigin Boudicca.339 Andere britische Darstellungen der deutschen Geschichte wür-
digten die Varusschlacht weiterhin als einen war of liberty und one of the great turning points in the history
of Europe.340 Im selben Jahr erinnerte der Publizist Price Collier Engländer und Amerikaner daran, dass
die angelsächsische love of independent self-government ihren Ursprung in den germanischen Wäldern
habe und die Grundlagen der modernen Welt von teutonischen Barbaren errichtet worden seien:
they saved what was best worth saving from the decline and fall of Rome, and made out of it
with their vigourous laws a new world, the modern western world.341
337 Goldwin Smith, Commonwealth or Empire. A Bystander’s from German History from Ancient Times to the Year 1648,
View of the Question, New York u. London 1902, 55. Vgl. London 1915 (amerikan. Ausgabe New York 1915), 24–26.
auch seine proburische Schrift In the Court of History, 340 Henrietta Elizabeth Marshall, A History of Germany, Lon-
Toronto 1902. Zur Biographie von Smith, der sich selbst don 1913, 17 u. 21. Das Buch schließt mit einer Betonung
als anti-Imperialistic to the core beschrieb, siehe Phillips des durch und durch friedfertigen Charakters des Deut-
(2002). schen Reiches unter Wilhelm II. (448f.).
338 Vgl. auch zum Folgenden Dose (1986) und Siak (1998). 341 Price Collier, Germany and the Germans from an Ameri-
339 Arthur W. Holland, Germany to the Present Day. A Short can Point of View, New York u. London 1913, 10f. Sowohl
History, London 1913. Zitiert nach der noch im selben die englische wie die amerikanische Ausgabe wurde bis
Jahr publizierten zweiten Auflage, S. 6f. Vgl. auch die 1914 wiederholt nachgedruckt; im selben Jahr erschien
Arminiusdarstellungen in Hollands Germany, London eine deutsche Übersetzung in Berlin.
1914, 9–12 und in Florence Astons Schulbuch Stories
we who are of Hermann’s own race and blood must rejoice that the victory was on the side of
freedom for our ancestors. By his victory the Roman empire was halted at the river Rhine, and
on the east of that great river our forefathers were free to develop their systems of law, which
preserved and gave to the modern world the chief glory of the Teutons, – the love of indepen-
dence, which is the foundation of all our law and government.346
Der in diesen Texten dokumentierte ungebrochene teutonische Ahnenstolz macht deutlich, wie hoch
die Fallhöhe war, aus der das Image der German cousins in England und Amerika nach dem Kriegsaus-
bruch im August 1914 ins Bodenlose stürzte. Innerhalb weniger Monate prägte die alliierte Kriegspro-
paganda das bis heute nachwirkende Bild des blutrünstigen deutschen Hunnen, des kriegslüsternen
preußischen Barbaren, der über Nacht den dünnen Firnis der Zivilisation abstreift, um mit Säbel und
Pickelhaube nach der Weltherrschaft zu greifen.347 German Kultur und Western civilization wurden von
beiden Seiten zu unversöhnlichen Gegensätzen stilisiert. Während sich deutsche Professoren und In-
tellektuelle in einem Überlebenskampf nationaler Eigenart sahen, den nicht nur alldeutsche Fanatiker
bis zu Hermann dem Cherusker zurückführten, mobilisierten britische Akademiker zur Verteidigung
der modernen Zivilisation gegen einen barbarischen Feind, der schon das römische Imperium in
Schutt und Asche gelegt hatte.348
342 O. H. Neland, The Crimson Fist, Boston 1913, 47. Ähn- 105f. Ähnlich auch Harmon Bay Niver, Old World Steps
lich kritisch zur militaristischen Indoktrination der to American History, Boston u.a. 1915, 140f.
deutschen Jugend äußerte sich später John Burnet in 345 Nida, Dawn, 19. Deutlich geringer bewerten den zivilisa-
Higher Education and the War, London 1917, 8. Dagegen torischen Einfluss der Teutonen hingegen Samuel B. u.
schwärmte der amerikanische Pädagoge Louis Richard Margaret S. Harding in ihrem weniger erfolgreichen
Klemm vor dem Krieg von einem deutschen Lehrer, der Konkurrenzprodukt The Story of Europe from the Times of
seinen Schülern von Hermanns Vernichtung der römi- the Ancient Greeks to the Colonization of America, Chicago
schen Legionen erzählt: How the boys’ eyes shone with u. New York 1912, 114.
patriotic emotion! – Public Education in Germany and in 346 Marion F. Lansing, Patriots and Tyrants, Boston u.a. 1911,
the United States, Boston 1911, 138. 18. In einem kurzen Anhang zitiert die Autorin als Auto-
343 William Lewis Nida, The Dawn of American History in Eu- ritäten Stubbs und Arnold und formuliert als pädagogi-
rope, New York 1912, 1–4. Nidas Darstellung, die mit dem sches Ziel ihrer germanischen Heldengeschichten: We
Kapitel „Our German Forefathers“ beginnt und mit ei- get from them a sense of the continuity of history and of the es-
nem Ausblick auf die Herrschaft der „Teutonic Anglo-Sa- sential unity of the race, – that we are indeed all of one blood
xons“ in Amerika endet, war immens erfolgreich und er- (175). Vgl Lansings ebenfalls in der Verlagsreihe Medieval
lebte bis 1917 acht Nachdrucke. Die gründlich von allen Builders of the Modern World erschienene Sammlung Bar-
teutonistischen Elementen bereinigte Neufassung von barian and Noble, Boston u.a. 1911, insb. 1–9.
1919 wurde bis 1928 ebenfalls mehrfach nachgedruckt. 347 Siehe auch zum Folgenden Firchow (1986), Buitenhuis
344 James Albert Woodburn u. Thomas Francis Moran, (1987), Panayi (1991) und Pulzer (1996).
Introduction to American History, New York u. Chicago 348 Siehe hierzu Wallace (1988), Stibbe (2001), Hoeres
1916, 103f.; zu Hermann, the great Germanic chieftain (2004).
Two thousand years ago those arrogant invaders were the same as today … Its mental attitude
has not changed since that time, only its barbarity has become scientific.353
Scheinbare Evidenz bekam die Vorstellung vom ‚ewigen deutschen Barbaren‘ durch das harte Vorgehen
der deutschen Truppen gegen die Zivilbevölkerung im widerrechtlich besetzten Belgien, das von der
aliierten Propaganda weidlich ausgeschlachtet wurde.354 Mit der Versenkung der Lusitania durch ein
deutsches U-Boot im Mai 1915 erfasste die Hunnenhysterie erstmals auch die amerikanische Öffent-
lichkeit, die sich bis dahin mehrheitlich neutral verhalten hatte. Als bekannt wurde, dass die Torpedie-
rung des amerikanischen Passagierschiffes in Berliner Varietés in militaristischen Spottgesängen ge-
feiert wurde, fühlte sich selbst die New York Times an die barbarischen Gebräuche von Hermanns
wilden Kriegern erinnert:
349 Zum Wechselspiel von deutschen und französischen fleur, „International Law and the present War“ in der Ca-
Nationalstereotypen siehe Panick (1978), Jeismann nadian Law Times 35 (1915), 43. Vgl. auch die Herleitung
(1992) und Hüser (2000). deutscher Gewaltverherrlichung und Rechtsverachtung
350 Emile Boutroux, „L’Allemagne et la guerre“, in: Revue aus der Hermannsvergötterung bei Jacques Dampierre,
des deux mondes 23 (1914), 385–401. Englische Überset- German Imperialism and International Law, London
zungen erschienen unter dem Titel „Germany’s Civili- 1916, 26f. (franz. Original Paris 1915, amerikan. Aus-
sed Barbarism“, in: New York Times Current History of the gabe New York 1917) und Émile Hovelacque, The Deeper
European War 1 (1914), 160–169 bzw. „War and Sophi- Causes of the War, London 1916, 49–51 (franz. Original
stry“ in Boutrouxs Essaysammlung Philosophy & War, Paris 1915).
London u. New York 1916, 90–108. Vgl. auch zum Fol- 353 Camille Flammarion, „Germany always Ferocious and
genden Hanna (1996). Cruel in War“, Idaho Statesman vom 1. 6. 1915. Ähnlich
351 Boutroux, „Allemagne“, 163. Eine weitere Fassung die- lautet auch das Verdikt über Arminius und seine Nach-
ses Gedankens findet sich in Philosophy & War, 61. Vgl. fahren in Jules Toutain, Héros et Bandit. Vercingétorix et
auch die Wiedergabe von Boutrouxs Ideologiekritik der Arminius, Paris 1916. Zur symbolpolitischen Konkur-
German conception of the Teutonic idea im Lexington renz der beiden antiken Nationalhelden in Deutschland
Herald vom 16. 8. 1916. und Frankreich siehe Tacke (1995), Ungern-Sternberg
352 Siehe z.B. Louis Dimier, „Germanity and the Germans“ (2008) sowie C. de Gemeaux im vorliegenden Band.
in der New York Times vom 15. 4. 1915 und Eugene La- 354 Siehe hierzu Schramm (2007) 377ff.
Nachdem der uneingeschränkte deutsche U-Bootkrieg die Vereinigten Staaten im April 1917 zum
Kriegseintritt veranlasst hatte, sahen sich auch amerikanische Akademiker veranlasst, ihre Barden-
künste zu beweisen. So rief der ehemalige Leiter des German Department der University of Kansas,
William Herbert Carruth, seine Landsleute im Dezember 1917 in einem patriotischen Lied zur fröh-
lichen Wildschweinjagd im Teutoburger Wald auf:
… The boar the hardest is to tame of beasts that roam the field;
He can’t be trusted, even tamed, until his tusks are filed;
The lust of fight lays hold on him, how fat soe’er he’s stalled;
When he thinks of Saxon Hermann in the Teutoburger Wald.
… Let the lion roar, the panther yell, the Western eagle scream;
And all unite for lasting peace the racked earth to redeem;
When soon or late we have the Prussian terror overhauled;
We’ll pull his tusk and tame him in the Teutoburger Wald.356
Die Dämonisierung des Kriegsgegners als wilde Bestie aus den Wäldern, in denen man noch wenige
Jahre zuvor den Ursprung der eigenen Nationalität verortete, verdeutlicht das Ausmaß der Entwertung
der germanischen Freiheitstradition in den Propagandaschlachten des Weltkriegs. Der Teutoburger
Wald wurde von der Wiege der westlichen Zivilisation zur Brutstätte ihrer gef ährlichsten Feinde. Die
hinterlistige Überrumpelung und erbarmungslose Massakrierung der römischen Legionen wurde zum
Inbegriff der rücksichtslosen deutschen Kriegsführung.357 Aus dem panteutonischen Freiheitshelden
Arminius wurde der original Hindenburg, das Urbild des preußischen Militarismus.358 In einem Zei-
tungsartikel vom September 1918 wurde der gemeinsame Stammvater von Deutschen, Engländern und
Amerikanern schließlich zu Arminius the Hun, dessen Sieg über Varus die frühe Zivilisierung der deut-
schen Barbaren verhindert und damit den Keim zur Genese des modernen Weltkriegs gesetzt hatte:
if they could have conquered and colonized and governed Germany, that country might today
be in the civilized rank of France and England, and would have risen from iron barbarism cen-
turies earlier than it did. But this treacherous ambuscade and massacre satisfied Arminius’
bloodlust, and he made no efforts to establish a free and enlightened people, but kept on with
his wild forest and berserker career. Later the Hun was betrayed and murdered by his own
relatives. A true Hun trick and Hunnish ending of a lawless career.359
355 „Another Song of Hate“, New York Times vom 4. 8. 1915. Helden von Tannenberg mit den old Germans in the Teu-
356 „The Boar Hunt in Teutoburger Wald“, Kansas City Star toburg forest verglichen: His deeds, like theirs, will live until
vom 19. 12. 1917 (Nachdruck aus dem San Francisco Bul- the end of time, for they have impressed themselves upon the
letin). national consciousness as superhuman, and the lore of the
357 Siehe z.B. John Selden Wilmore, The Great Crime and its people has already woven a shimmer of legend above its hero –
Moral, London u. New York 1917, 265–267 und Samuel zitiert nach: „Sven Hedin on Hindenburg“, San Fran-
Turner, From War to Work, London 1918, der in der cisco Chronicle vom 30. 4. 1916.
Varusschlacht nicht nur den Ursprung von Germany’s 359 „Arminius, the Hun“, The State (Columbia) vom
method of warfare, sondern auch the beginnings of modern 8. 9. 1918. In Anlehnung an Walter Scotts Ruf nach
German Real-Politik verortet (96f.). einem new Arminius aus dem Jahr 1808 schließt der Ar-
358 Roland F. Andrews, „Battles which made the World. No. tikel: The ‚new Arminius‘, by the million, has come, and he
4 – Arminius’s Slaughter of the Romans“, Atlanta Con- has whetted his sword on the tombs of thousands of murdered
stitution vom 5. 8. 1917. In umgekehrter Wertung hatte Belgian and French women and children.
bereits 1916 der prodeutsche Schwede Sven Hedin den
that Germans in the State-aggregate are at the moral level of Arminius; and that if European
civilisation is to be saved or secured it will only be by rendering Germany impotent for further
evil.361
Auch in der angelsächsischen Historikerzunft beschleunigte der Weltkrieg die Ablösung von den eins-
tigen deutschen Vorbildern. Zwar war man im Allgemeinen weit davon entfernt, die rhetorischen
Exzesse der Hunnenhysterie zu unterstützen, doch war man deutlich bemüht, die lange gepriesenen
teutonischen Wurzeln der modernen Zivilisation herunterzuspielen. Die noch bis zum Kriegsausbruch
übliche Bedeutungsaufladung der Varusschlacht als one of the world’s decisive conflicts wurde nun offen in
Frage gestellt.362
In einer vielbeachteten Studie unternahmen 1915 die amerikanischen Althistoriker William Old-
father und Howard Canter den Versuch, to destroy a certain glamour which has been attributed to an early
period of German history.363 Mit Hilfe akribischer Quellenkritik und Kategorien der modernen Militär-
strategie argumentieren sie, dass die Schlacht im Teutoburger Wald alles andere als eine weltgeschicht-
liche Entscheidungsschlacht, sondern nur ein unbedeutendes Scharmützel an einer unsicheren Front-
linie zwischen dem römischem Imperium und den umliegenden barbarischen Stämmen gewesen
sei.364 Weder hätte Augustus die Absicht gehabt, Germanien zu erobern, noch wäre es den unter Armi-
nius geeinten Stämmen möglich gewesen, eine solche Eroberung zu verhindern, hätten die Römer sie
ernsthaft angestrebt. Ohne dem Cheruskerfürsten seinen Heroismus zu bestreiten, weisen Oldfather
und Canter nüchtern darauf hin, dass Arminius seinen Sieg über Varus allein seiner Überlistung des
arglosen und unerfahrenen römischen Generals verdanke und in den darauf folgenden Jahren dreimal
von Germanicus besiegt worden sei. Auch wenn die Autoren den Verdacht einer antideutschen Motiva-
tion weit von sich weisen,365 so zeigen die kontroversen Rezensionen von deutscher und englischer
Seite doch, wie sehr diese fulminante Mythenzertrümmerung als ein längst überf älliger Befreiungs-
360 Samuel Turner, From War to Work, London 1918, 96f. 226–236. Anlass für diese Radikalkritik waren die Über-
361 John M. Robertson, The Germans. I. The Teutonic Gospel höhungen der Hermannsschlacht anlässlich der 1900-
of Race. II. The old Germany and the new, London 1916, Jahrfeiern 1909, die in Deutschland stark von alldeut-
278. Zu Arminius’ treacherous ambuscade for which Ger- schen und völkischen Gruppen dominiert wurden.
man fatuity has raised him a modern monument siehe 102. 364 Dabei konnten sie sich auf kritische Studien europäi-
Zu Robertsons germanophiler Bildungsgeschichte siehe scher Koryphäen stützen, die bereits Jahre zuvor grund-
Dekkers (1998). sätzliche Zweifel an der Creasy-These geäußert hatten –
362 Hutton Webster, Ancient History, Boston, New York u. siehe Eduard Meyer, „Kaiser Augustus“, in: Historische
Chicago 1913, 443. Siehe auch Library of Universal His- Zeitschrift 91 (1903), 385–431 und Guglielmo Ferrero,
tory and Popular Science, hg. v. George Edwin Rines, The Greatness and Decline of Rome, Bd. 5, London 1909,
Bd. 4, New York u. Chicago 1910, 1389. 325f. (italien. Original Mailand 1902–1907).
363 William Abbott Oldfather u. Howard Vernon Canter, The 365 Oldfather u. Canter, Defeat, vi. Insb. Oldfather, der erst
Defeat of Varus and the German Frontier Policy of Augustus, 1908 in München promoviert worden war, galt als aus-
Chicago 1915, vi. Vgl. auch William Abbott Oldfather, gesprochen germanophil. Siehe zur Biographie Solberg
„The Varus Episode“, in: Classical Journal 11 (1916), (2004).
366 Vgl. die positive bis euphorische Resonanz im English 370 Ronald Syme, Rezension Kornemann (s.o.), in: Journal
Historical Review 30 (1915), 745f., Classical Weekly 10 of Roman Studies 25 (1935), 105 und The Cambridge An-
(1916), 47f., The Nation 102 (1916), 411f., Classical Philo- cient History, Bd. 10, Cambridge 1934, 374f. Mit seinem
logy 12 (1917), 105–107 und Political Science Quarterly 33 opus magnum The Roman Revolution, Oxford 1939,
(1918), 159 mit der totalen Ablehnung in den deutschen schuf Syme wenige Jahre später einen Klassiker der
Fachzeitschriften Neue Jahrbücher für das klassische Alter- Romgeschichtsschreibung, der den Aufstieg Octavians
tum 35 (1915), 673–678 und Historische Zeitschrift 115 zum Caesar Augustus mit deutlichen Anspielungen auf
(1916), 601–605. die Machtergreifung der faschistischen Bewegungen in
367 Vgl. Berger u. Lambert (2003), 79ff. Italien und Deutschland beschreibt.
368 Zur nationalsozialistischen Instrumentalisierung von 371 John Frederick Charles Fuller, Decisive Battles. Their In-
Germanenideologie und Hermannsmythos siehe Lund fluence upon History and Civilisation, Bd. 1, London 1939,
(1995) und Kösters (2009) 306–323. 103. Eine amerikanische Ausgabe erschien 1940 in New
369 Siehe Ernst Kornemann, Staaten, Völker, Männer. Aus der York. In der Neuauflage von 1954 endet die zitierte Auf-
Geschichte des Altertums, Leipzig 1934, 117–150, rezen- zählung nicht mit Sedan und dem Weltkrieg, sondern
siert in Classical Philology 29 (1934), 354f., und Hjalmar mit Wilhelm II. und Hitler (I, 253).
Kutzleb, Der erste Deutsche. Roman Hermann des Cherus-
kers, Braunschweig u.a. 1934, rezensiert in Books Abroad
9 (1935), 322.
Hitlerism is merely the revised, enlarged and more blatant version of the imperialism of
William II, the nationalism of Bismark, and the bandrity of Frederick the Great. It is, indeed,
only Prussianism in excelsis. And Prussianism … is only the essence of that unscrupulous
aggressiveness which has characterized the Teutonic denizens of Central Europe from time
immorial.377
372 Ernest Hambloch, Germany Rampant. A Study in Econo- 377 Hearnshaw, Aggressor, 282.
mic Militarism, London 1939, 7. 378 Robert Gilbert Vansittart, Black Record. German Past and
373 Hambloch, Germany Rampant, 117. Present, London 1941. Grundlage des Textes ist eine
374 Hambloch, Germany Rampant, 70. Vgl. die ablehnende Serie von Rundfunkansprachen Vansittarts, die die BBC
Rezension im Journal of Political Economy 49 (1941), 951. im Spätherbst 1940 ausstrahlte und von der Sunday
375 Harold Evans Hartney, Up and at ’em, London 1940, 31 Times nachgedruckt wurde. Als Broschüre zusammen-
u. 299. gefasst, wurde sie 1941 in Millionenauflage verbreitet.
376 Fossey John Cobb Hearnshaw, Germany the Aggressor Siehe auch zum Folgenden Später (2003) und Wolbold
throughout the Ages, London 1940, 26 (zur Varusschlacht (2005) 105–164.
16f.). Zur Person und Weltanschaung Hearnshaws, der
schon im Ersten Weltkrieg als antideutscher Propagan-
dist tätig war, siehe Soffer (2009) 51–85.
It is worth noting that the first German national hero to make himself a name for treachery was
Hermann in the year nine. The centuries have rolled by and gave us Hermann Göring.381
Das Geschichtsbild des Black Record war nur wenige Monate nach der siegreich überstandenen Battle
of Britain in der englischen Öffentlichkeit ebenso populär wie umstritten. Gegen den Vansittartismus,
wie der neue Anti-Teutonismus schon bald getauft wurde, meldeten sich vorwiegend liberale und linke
Intellektuelle zu Wort, die Vansittart und seinen Anhängern grobe Vereinfachungen und antideutschen
Rassismus vorwarfen, weil sie die modernen Deutschen umstandslos mit den germanischen Barbaren
der Antike identifizierten.382 Selten waren hingegen Stimmen, die gegen das Zerrbild des ‚Nazis im
Teutoburger Wald‘ protestierten und auf das freiheitliche Erbe der common ancestors von Angelsachsen
und Deutschen hinwiesen.383 Während die Nationalsozialisten in England weiterhin eine ‚germanische
Insel‘ sahen und noch während des Krieges einen Verständigungsfrieden mit den stammverwandten
Angelsachsen anstrebten, diente der Verweis auf eine fortlebende germanische Tradition in Großbri-
tannien der Markierung des unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Zivilisation und Barbarei, für
die man zwei Jahrzehnte zuvor noch das Etikett des asiatischen Hunnen gebraucht hatte.384
Resümee
Mit Vansittarts Behauptung einer Identität von Hermann dem Cherusker und Hermann Göring voll-
endete sich ein radikaler Umwertungsprozeß, der aus dem einstigen Vorbild des patriotischen Frei-
heitsretters schließlich das ultimative Feindbild des kriegslüsternen Urvaters der Nazibarbarei machte.
Projektionen waren beide Bilder, moderne Imaginationen eines idealisierten Eigenen bzw. eines dämo-
nisierten Anderen in einen vermeintlich reinen, von der Zivilisation noch unberührten Naturzustand.
Zwischen diesen beiden Polen eröffneten sich im Verlauf der zwei Jahrhunderte, über die diese Unter-
suchung die Konstanten und Transformationen des angelsächsischen Arminiusbildes verfolgt hat, eine
Fülle von literarischen Aneignungsmöglichkeiten und politischen Funktionalisierungen der germani-
schen Tradition und ihrer zentralen Symbolfigur.
379 Biographisch lässt sich Vansittarts antideutsche Grund- 383 Einzig der wenig bekannte Aubrey Edward Douglas-
haltung über die 30er Jahre und den Ersten Weltkrieg hi- Smith merkte an, Vansittart u. Co. begäben sich on dan-
naus bis in den Burenkrieg zurückverfolgen. Siehe gerous ground when they trace the vices of the German people
hierzu Rose (1978) 11. to the first Century A.D. or even B.C. For in doing so they are
380 Vansittart, Black Record, 16 u. 20. Vgl. auch Vansittarts really passing judgement on the common ancestors of Eng-
Rechtfertigung der Verwendung von Tacituszitaten zur lish, French, and German alike – Guilty Germans?, London
Charakterisierung der Deutschen im Dritten Reich in 1942, 26. Zu Arminius als Retter einer primordialen
Bones of Contention, London und New York 1945, 137ff. Freiheitsidee siehe 23f.
381 Vansittart, Black Record, 20. 384 Zur England-Perzeption des Dritten Reiches siehe
382 Siehe Später (2003) 136ff. Zur Debatte der deutschen Strobl (2000). Zum Verhältnis der asymmetrischen Ge-
Exilantenkreise über den Vansittartismus siehe Radkau genbegriffe Zivilisation und Barbarei siehe Koselleck
(1970). (1995).
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Ungewöhnlich war er schon, Wilhelm Hansens Beitrag zum Katalog der Ausstellung des Westf älischen
Landesmuseums in Münster über ‚Das Malerische und Romantische Westfalen‘ von 1974/1975. Zu Be-
ginn des Jubiläumsjahres der 100-jährigen Wiederkehr der Fertigstellung von Ernst von Bandels Her-
mannsdenkmal hatte der damalige Leiter des Lippischen Landesmuseums in Detmold zwei „Fieberkur-
ven der Arminiusbegeisterung“ für den Zeitraum von 1700 bis 1950 erstellt, aus denen das jährliche
Aufkommen von relevanten Veröffentlichungen hervorgeht, und diese dann in einem lesenswerten
Essay kommentiert.
Die erste Graphik war der Literatur über Arminius, die Varusschlacht und das Hermannsdenkmal,
die zweite dem Thema der Behandlung des Cheruskers in Dichtung und Musik gewidmet. Wenig über-
raschend ist wohl das starke Ausschlagen beider Fieberkurven nach oben in Jubiläumsjahren. Eine Fort-
führung dieser Kurven von 1950 bis in die Gegenwart dürfte zu keinem anderen Resultat kommen.
Die Jubiläen des Denkmals (1975 und 2000, verbunden mit dem 200. Geburtstag von Bandel) und
vor allem der Varusschlacht (2009) führten gleichfalls zu einem beträchtlichen Anstieg von Veröffent-
lichungen der verschiedensten Art, zu denen vor allem die Resultate der Grabungen in Kalkriese
seit 1987 beigetragen haben. Auch als literarische Figur ist Arminius noch lebendig. Was in Hansens
Zusammenstellungen jedoch fehlt, sieht man von Publikationen zum Detmolder Denkmal ab, sind Be-
handlungen des Stoffs in den bildenden Künsten.
Die Ikonographie des Arminius wartet kunsthistorisch noch auf ihre Bearbeitung. Einen Schritt
in diese Richtung unternahm der innerhalb des Ausstellungszyklus ‚2000 Jahre Varusschlacht‘
erschienene Band Mythos mit seinen beiden Kapiteln „Arminius, ein deutscher Theaterheld“ und „Ein-
heitstraum und Gründungsmythos“. Hier sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit Gemälde und Zeich-
nungen mit diesbezüglichen Themen gesammelt. Auf einige von ihnen, die hier nicht erneut abgebil-
det werden sollen, sowie auf weitere Behandlungen dieses Motivkreises sei zurückgegriffen und dabei
versucht, den Wandel im Bilde des Arminius von Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (1722–1789) bis hin
zu Anselm Kiefers (*1945) zwischen 1976 und 1980 entstandenem Bildzyklus zu verfolgen.
Überlieferungen vom genauen Aussehen des Cheruskerfürsten fehlen. Das antike Rom des Augustus
und Varus dagegen war dem deutschen Klassizismus nicht fremd. Archäologisches Wissen etwa über Klei-
dung und Waffen hatte sich die damalige Historienmalerei erfolgreich zu eigen gemacht und damit Mo-
tive der antiken Mythologie und Geschichte im Sinn der Zeit authentisch darstellen können. Es ging ihr da-
bei aber nicht um die historisch getreue Wiedergabe eines Ereignisses wie der Varusschlacht. Interessant
und inspirierend war deren literarische Behandlung geworden; „Arminius, ein deutscher Theaterheld“
heißt es treffend im Detmolder Ausstellungskatalog Mythos von 2009. Nicht gezeigt werden konnten dort
die zwei künstlerisch bedeutendsten Behandlungen dieses Bildkreises, die großformatigen Gemälde Jo-
hann Heinrich Tischbeins d. Ä. Die Trophäen Hermanns nach seinem Sieg über Varus (285 × 435 cm) von 1772
und Angelika Kauffmanns (1741–1807) Hermann von Thusnelda gekrönt (154 × 216 cm) von 1785. Beide Bild-
findungen waren aber in kleineren Fassungen vertreten. Gründliche Studien über beide Hauptvertreter
des Klassizismus machten eine schlüssige Interpretation dieses Themenkreises möglich.
Petra Tiegel-Hertfelder widmete in ihrer umfassenden Arbeit über den älteren J. H. Tischbein von 1996
dessen Behandlung des Hermann-Stoffes eine kluge Analyse. Ausgehend von dem sicheren Befund,
dass Tischbein das Motiv des siegreichen Cheruskerfürsten 1758 erstmalig (im Format 65 × 83 cm) ge-
staltet habe, fragt sie nach Unterschieden zu der späteren Fassung von 1772. Die Komposition beider Bil-
der ist nahezu identisch. Der siegreiche Feldherr steht – etwas isoliert von ihr – inmitten einer vielfigu-
rigen Gruppe vor einer (symbolträchtigen) Eiche. Die Bildidee ist offensichtlich der Schlussszene des
1743 veröffentlichten Dramas Hermann von Johann Elias Schlegel (1719–1749) entlehnt. Dieses Trauer-
spiel wird in Verbindung zu weiteren Texten der Zeit gesehen, die Arminius und die ihm zugeschriebe-
nen Tugenden wie Mut, Unbestechlichkeit und Milde zum Vorbild eines aufgeklärten und volksnahen
Regenten erhoben hatten. Auf die Aktualität solcher Vorstellungen zur Entstehungszeit des Gemäldes
während des Siebenjährigen Krieges wird zu Recht verwiesen und in der heute in Bad Pyrmont befind-
lichen und 2009 in Detmold gezeigten Erstfassung ein Ausdruck persönlicher Friedenssehnsucht des
Malers gesehen. Sicher ist dies spekulativ, aber sympathisch. Die monumentale Wiederholung von 1772
dagegen, die sich heute im Schloss Arolsen befindet, kann nur ein Auftrag des damaligen Fürsten Fried-
rich von Waldeck und Pyrmont (1743–1812) gewesen sein. Seine Züge sind in der Hauptfigur des Bildes,
in der des Arminius, identifizierbar und lassen es damit zum portrait d’histoire werden. Eine solche Deu-
tung wird durch dessen manifeste Affinität zu den Idealen der Aufklärung unterstützt. Zu ihnen zählen
etwa auch Kontakte zu Friedrich Gottlob Klopstock (1724–1803), dem in seinen Dichtungen wohl ein-
flussreichsten Propagandisten des Hermann-Stoffes neben Johann Elias Schlegel.
Auch Angelika Kauffmanns Behandlung des Hermann-Stoffes greift eine Szene aus einem Theater-
stück auf. An sie war in Rom im Dezember 1784 der ungewöhnliche Auftrag von Kaiser Joseph II.
(1748–1790) ergangen, für ihn zwei Bilder eigener Wahl auszuführen. Die Malerin entschied sich ein-
mal für ein Thema der antiken Mythologie, Pallas Evanders Sohn von Turnus getötet.1 Sodann wählte sie,
angeregt von Klopstocks Dichtung Hermanns Schlacht von 1769, die dem Kaiser gewidmet war, die dort
beschriebene Schlussszene der Krönung Hermanns durch seine Gattin Thusnelda. Mit diesem Stoff
hatte sich auch Tischbein wenig zuvor beschäftigt und sie in einem Gemälde, das sich heute im Hes-
sischen Landesmuseum Darmstadt befindet und auch in Detmold zu sehen war, behandelt. Beide
Gemälde unterscheiden sich aber beträchtlich: Die bei Tischbein wiedergegebene Szene erscheint als
ruhige Konversation eines sitzenden Paares, Angelika Kauffmanns Gemälde dagegen ist eine überaus
bewegte Darstellung voller Affekte der beteiligten Personen.
Vielleicht war die Malerin durch Klopstock, mit dem sie in den 1770er Jahren korrespondierte, über
Tischbeins Behandlungen des Hermann-Stoffes informiert. Künstlerisch beeinflusst hat sie dieser aber
sicher nicht. Erhalten ist Kauffmanns Bildpaar, das 1786 in Wien offensichtlich sehr positiv aufgenom-
men worden ist, nur in zwei Entwurfsskizzen im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck
(Format je 448 × 629 cm). Die endgültige Fassung des Bildpaares erlitt ein trauriges Schicksal. Auf Be-
fehl Hitlers war es 1944 von Wien nach Berlin überführt worden, wo es 1945 im Inferno des Kriegsen-
tiv in der Tat an Christi Auferstehung denken und gibt den Begriffen „Friede“ und „Retter“ eine zusätz-
liche Sinnschicht. Auch die ikonographische Deutung des gezeigten Landschaftsausschnitts und der da
wachsenden Vegetation mag eine derartige Interpretation unterstützen. Die Einbindung des Hermann-
Stoffes in eine solche Sehweise bleibt jedoch rätselhaft.
Der Blick auf Caspar David Friedrich hat die Chronologie gesprengt, in der die Behandlung des Mo-
tivs des Arminius in der deutschen Malerei bisher geschildert wurde. Hierfür kann ein sehr gravieren-
der Grund ins Feld geführt werden. Mit dem Gemälde Varus (Format 200 × 270 cm, Stedelijk Van Ab-
bemuseum, Eindhoven)3 griff Anselm Kiefer 1976 das Thema jener legendären Schlacht im Jahr
9 n. Chr. wieder auf und machte es zum Gegenstand einer zwischen 1976 und 1980 entstandenen
Werkgruppe. Zweifellos ist Kiefer ein profunder Kenner der deutschen Geschichte, Literatur und Kunst.
Dennoch ist es nicht wahrscheinlich, dass ihm Mitte der 1970er Jahre die malerische Ahnenreihe sei-
ner damaligen Arbeiten zum Thema der Varus-Schlacht bekannt war. Sicher wird er 1975 vom 100-jäh-
rigen Jubiläum der Fertigstellung des Hermannsdenkmals bei Detmold gehört haben. Doch war dies
nach eigener Erinnerung wohl eher ein Ereignis von regionaler Bedeutung. Ungleich anregender
könnte für Kiefer dagegen ein Besuch der im Herbst 1974 von der Hamburger Kunsthalle in ihrem Aus-
stellungszyklus ‚Kunst um 1800‘ veranstalteten Ausstellung über Caspar David Friedrich gewesen sein.
Hier waren erstmalig dessen Werke aus Museen der damaligen DDR und der Sowjetunion gemeinsam
Literatur
Nicht die historischen Persönlichkeiten von Arminius, Ambiorix und Vercingetorix sollen im folgenden
im Mittelpunkt stehen, sondern aus französischer Perspektive deren kulturelle und politische Bedeutung
in der Geschichtsschreibung und in einschlägigen comics vergleichend betrachtet werden. Die Unter-
suchung der représentations1 als mentale Modelle, als vererbte Vorstellungswelt der Nationen soll hier
über das Geschichtsverständnis, das kulturgeschichtliche Bewusstsein und den jeweiligen politischen
Hintergrund Aufschluss geben. Der Fokus wird auf die zeitgebundene Stilisierung der drei mythisier-
ten Feldherren gerichtet, wobei Vercingetorix im Vordergrund stehen wird.
Drei besonders bedeutsame Merkmale sind hervorzuheben. 1.) Das Augenmerk auf die Schlachten
gegen den römischen Gegner: Sie sind Erinnerungsorte, lieux de mémoire im Sinne von Pierre Nora,
d.h. „Augenblicke der Geschichte, die der Bewegung der Geschichte entrissen wurden, ihr aber zurück-
gegeben werden“.2 In der Gallia Belgica fand die erste Schlacht bei Atuataca, heute Tongern, 15 km nörd-
lich von Lüttich, am 21. Oktober 54 statt. Der eburonische König Ambiorix hatte sich gegen die römi-
sche Fremdherrschaft aufgelehnt. Atuataca ist der deutschen und französischen Öffentlichkeit weniger
bekannt. Die weiteren Schauplätze sind Gergovia in der Auvergne, wo die römischen Legionen im April
52 vor Chr. besiegt wurden, und Alesia in Burgund, wo den Galliern im September 52 v. Chr. die ent-
scheidende Niederlage bereitet wurde, sowie die nicht mit letzter Gewissheit verortbare Varusschlacht
(heute wird Kalkriese favorisiert). Alle vier Schlachten gelten seit dem 19. Jahrhundert als militärische
Gründungsakte des nationalen Widerstands und der Nation. So nimmt es nicht Wunder, wenn die eu-
ropäische Forschung diese drei letztgenannten Orte in einen Zusammenhang bringt3. Auf französi-
scher Seite räumt das Werk Noras Alesia4 einen besonderen Platz ein. Die Schlacht wird zwischen
den beiden wichtigsten Erinnerungsorten Lascaux5 und Vézelay6 auf ihre représentations hin analysiert:
Alesia mit der darauf folgenden Integration Galliens ins Römische Reich sei ein Wendepunkt der
Nationalgeschichte: ein magischer Ort, an dem sich die Lust der Franzosen nach Geschichte verankere.7
In der Hauptstadt der Auvergne, nicht weit vom Schlachtfeld Gergovia, sei diese ‚Lust‘ ebenfalls anzu-
treffen.8 In dem Asterix-Band Asterix und der Arvernerschild wird dies veranschaulicht, indem Alesia und
Gergovia dargestellt werden; in Asterix bei den Belgiern rühmt sich der gallische Chef ständig, bei der
Schlacht von Gergovia gekämpft zu haben. Was den deutschen Erinnerungsort angeht, gilt die Varus-
schlacht seit dem 19. Jahrhundert als Gründungsakt der deutschen Nation.9 Auf deutscher Seite sind im
Vorfeld des Jubiläums und im Jahr 2009 selbst zahlreiche Untersuchungen über die Varusschlacht,
ihre Rezeption und ihre Bedeutung als nationaler Gründungsakt erschienen. Rainer Wiegels zufolge
sind Alesia in Frankreich und der Teutoburger Wald in Deutschland „beide durch die damit verknüpf-
ten Ereignisse in den Protagonisten Vercingetorix und Arminius/Hermann personalisiert und seit der
Denkmalkultur im 19. Jahrhundert … monumentalisiert.“10
2.) Neben den Schlachten und ihren Schauplätzen sorgen Denkmäler für die Bündelung und Zu-
spitzung von représentations. Die Helden sollten im 19. Jahrhundert als symbolisch-personifizierter Aus-
druck des Nationalbewusstseins monumentalisiert werden.11 Deutschland (Arminius) und Frankreich
(Vercingetorix) haben in dieser Hinsicht offen rivalisiert: Zuerst wurde das Standbild des Arminius er-
richtet, dann wurde der Plan zu einem monumentalen Vercingetorix-Denkmal auf dem Hochplateau
von Gergovia nach dem Vorbild des Detmolder Hermannsdenkmals entworfen. Schließlich entstand
ein Reiterstandbild im Zentrum von Clermont-Ferrand auf der Place de Jaude.
In Alesia wurde ein weiteres, von Napoleon III. gestiftetes Denkmal errichtet: Es stellt einen sin-
nenden, besiegten Vercingetorix mit nach unten gerichtetem Schwert dar.
Doch tut in Frankreich die Niederlage seinem Ruhm keinen Abbruch. Dasselbe gilt für den besieg-
ten Ambiorix. In der belgischen Stadt Tongern befindet sich das stolze Standbild des lokalen Helden,
ein Standbild, mit dem die comic-Figur Asterix größte Ähnlichkeit aufweist.
3.) Seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich eine „Geschichte in Bildern“,12 die bis zu den heuti-
gen comics reicht und wesentlich dazu beitrug, nationale Identitäten zu prägen. Zeugnis davon liefert
eine rege Tradition, die in Frankreich um 1820 mit Illustrationen in Reise- oder Geschichtsbüchern be-
ginnt – beispielsweise mit dem Vercingetorix-Bildnis in den Voyages pittoresques de l’ancienne France, den
9 Le Bohec (2008) 35: Depuis longtemps, les Allemands se 10 Wiegels (2008) 28.
sont passionnés pour la ‚bataille‘ du Teutoburg, qui constitue 11 Tacke (1995).
pour eux un acte fondateur de leur nation. Vgl. auch K. Kö- 12 Goudineau (2008) 54 (histoire en images).
sters im vorliegenden Band.
Radierungen in der Histoire de France von Henri Martin und in dessen Histoire populaire sowie in sei-
nem Vercingétorix-Buch13 wie ferner in dem erstmals 1877 und bis in die Gegenwart immer wieder auf-
gelegten populären Schulbuch Le Tour de France par deux enfants:14 Vor dem Hintergrund des Kampfes
um die Provinzen Elsass und Lothringen war die Zeit zwischen 1870 und 1914 aus patriotischen Grün-
den an Bildern der gallischen bzw. germanischen/deutschen Vergangenheit besonders reich. Im
20. Jahrhundert lösten sich dann die Bilder immer mehr vom Text ab und begannen autonome Ge-
schichten zu bilden. Das neue Genre der Bandes dessinées wurde in der Jugendkultur Frankreichs zum
Erfolg.15 Es hob die gallische Vergangenheit in den Asterix-Bänden hervor, wobei ein Band sogar Tour de
France betitelt ist.
13 Henri Martin (mit Paul Lacroix), Histoire de France, tions France Loisirs, Paris 2006). Pierre Nora hat es in
19 Bde., Paris 1837–1854; ders., Histoire de France popu- seine Lieux de mémoire aufgenommen. S. hierzu Stenzel
laire depuis les Temps les plus reculés, Paris 1867–1865; (2012) und die Düsseldorfer Studienarbeit von Röders
ders., Vercingétorix, Paris 1865. (2005).
14 Das didaktische Schulbuch von G. Bruno (Pseudonym 15 Die offizielle Eröffnung 2009 in der Stadt Angoulêmes
von Augustine Fouillée als Verweis auf Giordano Bruno) eines ‚Musée de la bande dessinée‘, das mit dem jähr-
wurde 1877 in Paris aufgelegt. Es erreichte die beein- lichen ‚Festival‘ eine Einheit bildet, bestätigte die kultur-
druckende Auflage von beinahe neun Millionen Exem- geschichtliche Bedeutung der Gattung in Frankreich.
plaren und wurde zuletzt 2006 neu veröffentlicht (Édi-
Im 19. Jahrhundert entstand in Deutschland wie in Frankreich eine Geschichtsschreibung, die nicht
mehr der Geschichte von Dynastien verpflichtet war, sondern der Nationalgeschichte. Deutsche und
Franzosen begeisterten sich für die fernste Vergangenheit. Davon zeugen unzählige Zeitschriften,
mehr noch Romane und Theaterstücke, welche historischen Themen gewidmet sind. Es geht darum,
die Nation in einer weit zurückliegenden Vergangenheit zu verorten. So wird in beiden Ländern ein
Kontinuitätsparadigma konstruiert und – westlich des Rheins – die französische Nation als direkte Er-
bin der gallischen Völker dargestellt: „Frankreich ist das Kind, der Erbe Galliens. Gallisches Blut fließt
in den Adern der Franzosen … Dieses Blut erfüllt die Aufgabe, die Geschichte und Frankreich in einer
gewissen Anzahl von Helden zu verkörpern. Die Könige, die in dynastischer Ordnung aufeinander folg-
ten, werden von einer der am Aufbau und an der Einheit der Nation beteiligten Figuren ersetzt.“21
Bereits Ariovist, der 58 v. Chr. als Germanenkönig über den Rhein nach Gallien vordrang, wird im
Frankreich des 19. Jahrhunderts samt seinen Greueltaten als Paradigma für die germanische Gefahr
evoziert. Auch spätere „Kontakte“ mit östlichen Nachbarn konnten in einer ähnlichen Lesart dargestellt
werden. 22 In Asterix und die Goten, wo eine Auseinandersetzung zwischen Galliern und Germanen the-
matisiert wird, bereiten die preußisch-wilhelminische Pickelhauben tragenden Goten eine Invasion
Galliens vor. Sie werden als invasionsfreudig und militaristisch dargestellt. Demgegenüber wird in
Deutschland – insbesondere nach den napoleonischen Kriegen – Hermann/Arminius stets als Abwehr
gegen die ‚nach Osten lechzenden Franzosen‘ stilisiert. Vercingetorix und Arminius dienen zur ge-
genseitigen Abgrenzung. Die damalige Verehrung der Gallier in Frankreich bzw. der Germanen in
16 Graf Louis-Philippe de Ségur – pair de France und Mit- 21 Goudineau (2008) 54: La France est l’enfant, l’héritière de
glied der französischen Akademie – hat in seiner Hi- la Gaule. Le sang gaulois coule dans les veines des Fran-
stoire de France (1824) der gallischen Vergangenheit ein- çais …, c’est à lui que revient d’incarner l’histoire et la France
leuchtende Seiten gewidmet. en un certain nombre de héros. On remplace ces rois qui se
17 Fustel de Coulanges, Autor so einflussreicher Werke wie succédaient selon l’ordre dynastique par une des figures qui
La Cité antique (1864) und Histoire des institutions politi- ont œuvré à la constitution et à l’unité de la nation.
ques de l’ancienne France (1875–1891), war seinerzeit der 22 Ségur, Histoire, Introduction XIV: La Gaule pendant long-
berühmteste Historiker an der Sorbonne. temps plus tranquille, plus riche, plus florissante que l’Italie,
18 Goudineau (2001). la Gaule inondée par un torrent dévastateur de Goths, de
19 Rouvière (2006). Bourguignons, de Huns, d’Allemands, d’Alains et de Francs.
20 Peeters (2003).
23 Wilhelm Giesebrecht, Leopold von Rankes Schüler und 27 S. L’Alsace doit-elle être allemande ou française? Lettre à
Autor der berühmten Geschichte der deutschen Kaiserzeit M. Mommsen, Fustel de Coulanges [von nun an, wie in
(1888). Frankreich üblich, kurz ‚Fustel‘ genannt], Paris, 27. Ok-
24 Ulrike Egelhaaf, zit. in: Münkler (2009) 166. tober 1870.
25 Von Ungern-Sternberg (2008). 28 Ségur, Histoire 190: L’Auvergne voyait alors briller parmi
26 Un jeune guerrier distingué par sa force, par sa haute sta- ses guerriers un jeune Gaulois, illustre par sa naissance, par
ture, par son illustre naissance et par son courage audacieux, son crédit, par sa bravoure et par son génie.
Louis-Philippe de Ségur, Histoire universelle ancienne et 29 Amédée Thierry, Histoire des Gaulois, 3 Bde., Paris
moderne, Bd. 5: Histoire romaine, Paris 1821, 479. 1828–1845.
30 Il parla si éloquemment de son projet à ses compagnons que 32 Le Bohec (2008) 23.
tous jurèrent de mourir plutôt que de subir le joug romain 33 Fustel de Coulanges, Histoire des institutions politiques de
(„Er sprach so beredt von seinem Plan mit seinen Leu- l’ancienne France [Paris 1875–1891], hg. v. Camille Jullian,
ten, dass alle schworen, sie würden eher sterben als 6 Bde., Brüssel 1964, hier Bd. 1: La Gaule romaine, 58–59.
sich dem römischen Joch zu beugen“), Bruno, Tour de 34 Le Bohec (2008) 30: Arminius a joué dans l’imaginaire des
France, 40. Allemands, depuis le XIXe siècle, le rôle qui a été dévolu en
31 Bruno, Tour de France, 39: Il y a bientôt deux mille ans, un France à Vercingétorix, à cette différence près que le Germain
grand général romain qui aurait voulu avoir le monde entier a réussi là où le Gaulois a échoué. Il fut et il reste présent
sous sa domination, résolut de conquérir la Gaule … Un dans tous les manuels scolaires d’outre-Rhin. Son impor-
jeune Gaulois né dans l’Auvergne résolut alors de chasser les tance fut telle que deux villes, Münster et Osnabrück se dis-
Romains hors du sol de la patrie … [Ils] lui donnèrent le titre putèrent le privilège de lui ériger une statue pour commémo-
de Vercingétorix, qui veut dire chef. rer sa victoire.
Camille Jullian, der große Vercingetorix-Kenner,40 betonte bereits zur vorletzten Jahrhundertwende,
dass Vercingetorix der erste französische Widerstandskämpfer gewesen sei. Er sieht in dem Ausdruck
‚gallische Heimat‘ das Schicksal von Vercingetorix und sein Lebenswerk treffend zusammengefasst:
Der Arverner sei aus Liebe zur Heimat gestorben. Durch Caesar selbst werde nahegelegt, dass Vercin-
getorix keinen anderen Grund für sein Handeln gehabt habe als den Patriotismus.41 Dasselbe wird von
anderen Autoren für Ambiorix und Arminius behauptet. Diese Interpretation überwiegt auch in den
comics. Ambiorix, Vercingetorix und Arminius finden sich in vergleichbarer Situation wieder: Die Heimat
wird gedemütigt, organisierter Widerstand tut not. Entsetzt über die Überheblichkeit und Grausamkeit
der Römer, bereiten die drei ‚Barbaren‘ den Partisanenkampf vor. Die List wird zu ihrer ersten Waffe.
35 Pascal Ory, in: Rouvière (2006) XIII. 40 S. Camille Jullians Artikel „Vercingétorix“, in: La Revue
36 Jacques Martin, Vercingétorix, Tournai 1985. de Paris, 1. April 1901. Dieses Werk wurde zu einem gro-
37 Willy Vandersteen, Lambiorix roi des Éburons [zuerst nie- ßen Editionserfolg. Als Fustels Schüler gab er dessen
derländisch 1950, französisch 1954], in: ders., Bob et Bo- Histoire des institutions heraus.
bette, Anvers 1987, 1–58. 41 En définitive, c’est bien par ce mot de patrie gauloise qu’il
38 Vandersteen, Lambiorix, 4: L’histoire commence en l’an 54 faut résumer la rapide existence de Vercingétorix, son carac-
avant Jésus-Christ, à l’époque où Jules César, le général ro- tère et même son œuvre. S’il a combattu, et s’il est mort, c’est
main le mieux connu des écoliers était tenu en échec par les uniquement par amour pour cette patrie. Jules César ne
Belges! Vous savez bien, ces Celtes avec du sang germain qui nous laisse jamais supposer dans les actes de Vercingétorix
n’avaient peur de rien. un autre mobile que le patriotisme, Jullian, „Vercingéto-
39 Peeters (2003) 115 u. 150. rix“, 636.
48 La supériorité de la civilisation romaine et de sa discipline, traire étonné du peu d’efforts qu’il leur a fallu faire pour éta-
Fustel, Histoire I, 47. blir le gouvernement le plus absolu et en même temps le plus
49 Nous ne sommes pas de race latine, mais nous sommes solide que l’Europe eut jamais eu („Man hat den römischen
d’esprit latin … Nous nous sommes faits latins il y a dix-huit Kaisern eine sehr weise Politik und eine sehr geschickte
siècles; nous sommes restés latins pendant toute notre histoire Verwaltung zugeschrieben. Geht man aber auf die Sa-
(leçon 6, 118–119). che näher ein, so staunt man im Gegenteil darüber, wie
50 Ils ont aimé l’empire parce qu’ils ont trouvé intérêt et profit à wenig sie sich bemühen mussten, um die absoluteste
l’aimer, Fustel, Histoire I, 173; parallel zum Streit um das und festeste Regierung zu etablieren, die Europa jemals
Elsass argumentiert der Historiker mit einem anderen gehabt hatte“).
Nationalitätskriterium als dem der Sprache, wie dies 54 Fustel, Histoire I, 50–51: Les Gaulois n’étaient pas … une
seine deutschen Widerparte, etwa Mommsen, taten. nation: ils n’avaient pas plus l’unité politique que l’unité de
51 Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 5: Die Pro- race. Ils ne possédaient pas un système d’institutions et de
vinzen von Caesar bis Diocletian, 5. Aufl., Berlin 1904, mœurs publiques qui fût de nature à former d’eux un seul
44–45. corps. Ils étaient environ soixante peuples que n’unissait ni
52 Mommsen, Römische Geschichte V, 51. un lien fédéral, ni une autorité supérieure, ni même l’idée
53 Fustel, Histoire I, 169. S. auch 172: On a attribué aux em- nettement conçue d’une commune patrie. La seule espèce de
pereurs romains une politique très savante et une admini- patriotisme qu’ils pussent connaître était l’amour du petit
stration fort habile. A voir de près les choses, on est au con- État dont chacun d’entre eux faisait partie.
In den comics, seien es Asterix, Alix oder Lambiorix, König der Eburonen, geht es nie darum, eine Nation
zu bilden, sondern ein nicht-römisches Land – die gallische, gallisch-belgische oder germanische Hei-
mat – für sich zu bewahren. Der Ausdruck ‚kleine Heimat‘55 ist hier von besonderer Relevanz. Er nimmt
Bezug auf den Geburtsort, auf die Region, auf die Orte, an denen man lebt, Familie und Freunde hat:
„Auf der einen Seite ein lokales, primitives Milieu, das von seinen Erinnerungen und Sitten lebt. Auf
der anderen Seite ein modernes Reich, ein globales System, das das Territorium einteilt, den Raum ord-
net, ihn verwaltet; eine Kultur, die die Zeit archiviert und Geschichte erzeugt.“56 Die kleine Heimat ist
das lokal verwurzelte Milieu, das um Selbständigkeit und Ehre gegen die Zentralmacht, hier das Impe-
rium, kämpft.
Der Cartoonist Jacques Martin verfolgt mit der Fiktion der Rückkehr von Vercingetorix nach
Gallien denselben Gedanken. Er variiert Vercingetorix’ Geschichte: In Rom will Pompeius Caesars
Triumph mit dem gefangenen Vercingetorix verhindern. Er lässt den Gallier aus dem Gef ängnis fliehen
und beauftragt Alix, den gallischen Helden in die Heimat zurückzubegleiten. Sie landen in Massilia
(Marseille) und begeben sich nach vielen Abenteuern in das Land der Arverner. Bald beginnt aber deren
Verfolgung durch Caesars Truppen. In Gergovia angekommen, reitet nun Vercingetorix mit seinem
Sohn Edorix und seiner Frau Ollovia durch die dichten gallischen Wälder seinem geheimen Ziel entge-
gen: Alesia. In den Ruinen des oppidum gräbt er seinen Helm und sein Schwert aus. Als Anführer der
besiegten Heimat soll er jetzt die gallische Niederlage rückgängig machen. Die Römer umzingeln die
Gallier. Caesar beschließt, Vercingetorix’ Sohn – wie einst Astyanax in Troja – vor den Eltern, Alix und
den versammelten Galliern umbringen zu lassen. Wenig später entkleidet Vercingetorix seinen Ober-
körper, er bewaffnet sich und stürzt sich auf das römische Lager und auf Caesars Zelt. Er schwingt das
Schwert gegen den Imperator, wird aber im letzten Augenblick von hinten erstochen und stirbt. Bei
dem späteren Triumphzug in Rom ist Caesar gezwungen, einen anonymen Gefangenen als Vercinge-
torix auszugeben. Das letzte Bild des comics zeigt Vercingetorix’ Freunde, als sie aus Rom abziehen und
sich über die zukünftigen Generationen unterhalten. Ihre letzten Worte lauten: „die Treuen, die uns be-
grüßen, werden sich Deiner, Vercingetorix, erinnern“. Die vorbildhafte Geschichte der zurückeroberten
Ehre verweist auf die Möglichkeit eines zukünftigen Sieges über das feindliche Reich. Bekräftigt wird
die Vorstellung, dass die Verteidigung der kleinen Welt der Gallier – und der Germanen – das höchste
Ziel bleibt.
In Lambiorix – König der Eburonen erzählt Willy Vandersteen von dem Kampf des Ambiorix ge-
gen Caesar, wobei er den König ausdrücklich als ‚belgische‘ Vaterfigur und die ‚alten Belgier‘ als rauf-
und streitlustige, ja leidenschaftliche Würfelspieler und Bierbrüder präsentiert. Während Ambiorix’
Feldzug gegen die Römer hören die Belgier keine Minute auf zu zanken und um die Macht zu kämp-
fen. Analog beginnt auch der Band Asterix bei den Belgiern mit einer allgemeinen Prügelei. Es geht
wiederum um die gallische Ehre, denn Caesar habe befunden, dass von allen gallischen Stämmen die
Belgier am tapfersten seien (was aus De bello Gallico entlehnt ist). Bei Vandersteen ist der Gegenwarts-
55 Der Ausdruck ‚Die kleine Heimat‘ wurde letztlich für 56 Rouvière (2006) 5: D’un côté, un milieu local, primitif, qui
eine Tagung des französischen Germanistenverbands vit de sa mémoire et de ses coutumes. De l’autre un empire
zum Thema gewählt, s. Heimat. La petite patrie dans les moderne, un système global qui quadrille un territoire,
pays de langue allemande, Grenoble, Publications du l’aménage et l’administre, une culture qui archive le temps et
CEERAC, coll. Chroniques allemandes, Nr. 3, 2009. fabrique de l’histoire.
bezug besonders eklatant:57 Durch einen Zauber werden im Jahre 1973 die Kinder Bob und Bobette
sowie ihre Tante Sidonie in die gallisch-belgische Vergangenheit versetzt. Die Kontinuität der belgi-
schen Identität wird betont: Bob gilt als Ambiorix’ Nachwuchs in der 69. Generation! Bob, Bobette und
Sidonie helfen, geordnete Zustände in der Gallia Belgica zu sichern, bis der besiegte König in die Hei-
mat der Eburonen zurückkehrt. Das Schlusswort lautet: „Unter den kleinen Belgiern herrscht Einver-
ständnis.“58
Die ‚kleine Heimat‘ der comics hat letztlich mehr mit der Verteidigung einer Utopie – im Sinne von
Bernhard Schlink59 – als mit einer Glorifizierung der Nation oder einem gesteigert nationalistischen
Denken zu tun. Denn entgegen einer Parole von Philippe Pétain, wonach die Liebe zur kleinen Heimat
der Liebe zur großen Heimat keinen Abbruch täte, sondern sie noch verstärke,60 zeugen in den comics
alle nicht-römischen Feldherren von einem gegen das Imperium gerichteten Widerstandsgeist und von
einem Patriotismus, der nicht aggressiv ist.
In den comic-Reihen stellt dagegen Rom den Inbegriff des gigantischen, multikulturellen Reichs
dar. Rom wird oft als Chiffre für die Vereinigten Staaten, aber auch für Deutschland zwischen 1871 und
1945 verwendet: das Europa bedrohende Deutsche Reich. In Asterix und die Goten wird das wilhelmini-
sche Reich klischeehaft parodiert. Die Belgier bedienen sich ebenfalls der Parodie. In Lambiorix lässt
Autor Vandersteen zum Beispiel vor Lambiorix’ Angriff die römischen Soldaten singen: „Wir trocknen
57 Die Hinweise auf die Gegenwart sind zahlreich: So ist 60 Philippe Pétain, Qu’est-ce que la Révolution Nationale?,
zum Beispiel von der Grippe oder von der Arbeitslosig- secrétariat général à la jeunesse, direction de la propa-
keit die Rede, Vandersteen, Lambiorix, 57. gande, 1942, Archives du Mémorial de Caen, FQ72, zit.
58 Entre petits Belges, on se comprend vite, Vandersteen, Lam- in: Christophe Pecout, Les Chantiers de la jeunesse et la
biorix, 57. revitalisation physique et morale de la jeunesse française
59 Schlink (2000). (1940–1944), Paris 2007, 109.
61 Gemeint ist Deutschlands Westwall. Im Französischen: 63 … la seule fois où j’ai rencontré Goscinny, il me confia que la
Nous irons pendre notre linge sur la ligne Vercingétorix, s. „potion magique“, c’était de Gaulle, l’homme providentiel, le
Vandersteen, Lambiorix, 5. remède miracle. Donc, Astérix, Goudineau (2001) 190.
62 Maurice Agulhon, zit. in: Goudineau (2001) 190.
4. Fazit
Der gallische und der germanische Mythos haben vieles gemeinsam und die représentations der Helden
sind sich sehr ähnlich. Arminius, Vercingetorix und Ambiorix gelten in der jeweiligen Nationalkultur
als positive Identifikationsfiguren mit ähnlichen Merkmalen. Die Geschichte ihrer Rezeption ist jedoch
unterschiedlich und sprunghaft: Arminius ist heutzutage in Frankreich eine völlig unbekannte Figur,
Vercingetorix wird kaum noch gefeiert und kommt in den meisten Schulbüchern nicht mehr vor.64
Goudineau konstatiert, dass das Interesse der jüngeren französischen Historiographie ganz dem Mit-
telmeerraum als Geburtsort der französischen und europäischen Kultur gilt. Dies würde erklären, wa-
rum Vercingetorix in Vergessenheit gerät und warum die meisten Franzosen den Namen Arminius
schlicht ignorieren.
Die Mythen erlebten im Laufe der Zeit einen Wandel, entsprechend den historisch-politischen
Rahmenbedingungen. Der starke Nationalgeist im 19. Jahrhundert, das erwachende europäische Be-
wusstsein im 20. Jahrhundert und die europäischen Niedergangsängste im 21. Jahrhundert bilden den
Hintergrund für diese Entwicklung. Es hat heute den Anschein, dass Vercingetorix und Ambiorix eher
Republikaner seien, Gegner des imperialen Gedankens, Arminius dagegen eine deutsche Version des
Imperiums verkörpere, wobei das Reich als Modell deutscher kollektiver Identitätsstiftung erscheint. Es
f ällt auf: Die mythischen Figuren werden insbesondere dann auf die Bühne gerufen, wenn Zweifel er-
wachen, wenn die Nation sich Fragen stellt oder in Frage gestellt wird. Sie dienen immer zur Selbst- und
Fremdbestimmung; dies wurde vor dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges besonders deut-
lich. Nach 1871 hat Herfried Münkler zufolge der Kampf gegen Rom bezeichnenderweise an Bedeutung
verloren; Bismarck hat aber den Kulturkampf gegen den Ultramontanismus gerichtet, und wenn Armi-
nius überwiegend mit Vorsicht bemüht wurde, geschah dies aus dem Grunde, dass man „das Potential
rebellischer Ordnungsstörung“, das er symbolisiert, entschärfen wollte.65 Die welschen bzw. die süd-
lichen und westlichen Nachbarn bildeten in Deutschland noch lange die Gefahr par excellence und um-
gekehrt.
In Frankreich haben die heutigen comics-Autoren in der Überlieferung der mémoire die Histori-
ker zumindest in der Öffentlichkeit abgelöst. Die comic-Geschichten behandeln dieselben identitären
Themen wie die Geschichtsschreibung, aber mit erheblichem ironischem Abstand. Es wird – entgegen
der üblichen Meinung – weniger auf die Entstehung der Nation als auf die Verteidigung der (kleinen)
Heimat hingewiesen. Das Thema Nation, das im 19. Jahrhundert hochstilisert wurde, scheint heute
überholt, in der Geschichtsschreibung sowie in den comics, wo ein selbstbezogener Humor und eine
64 Goudineau (2001) 194: Vercingétorix n’est plus un héros 65 Münkler (2009) 175.
qui compte … Les manuels scolaires d’aujourd’hui citent à
peine Vercingétorix.
amüsante Suche nach der verlorenen Zeit hervortreten. So behaupten die Belgier mit Alix und
Lambiorix die belgische Besonderheit seit der Antike; so rühmt sich die Auvergne augenzwinkernd,
viele französische Herrscher hervorgebracht zu haben: Vercingetorix, das Haus der Bourbonen, die
Präsidenten George Pompidou, Valéry Giscard d’Estaing und Jacques Chirac aus dem benachbarten
Limousin.
Die nationalen Klischees werden aber relativiert: un récit héroïcomique66 wie Asterix bringt humor-
voll die stets aktuelle Botschaft der Toleranz zum Ausdruck.67 Rainer Wiegels weist darauf hin, dass die
Ereignisse rund um das Jahr 9 v. Chr. bestenfalls „im populären Gedächtnis vom Bedeutenden zum
Merkwürdigen oder bloß Erbaulich-Amüsanten“ gerinnen würden.68
Wenn auch Vercingetorix offiziell wenig gefeiert wird, wenn auch das öffentliche Interesse nach-
gelassen hat,69 so bleiben die Gallier in den comics doch präsent: Es werden immer noch neue Asterix-
Filme mit bekannten Darstellern in komischen Rollen gedreht, während in Deutschland im Jahre
2009 auf ARTE ein Film über die Varusschlacht gesendet wurde, der eine historische Rekonstruktion
war. Daher stellen sich zum Schluss meiner Überlegungen folgende Fragen: Wird Vercingetorix in
Frankreich heute selten offiziell gefeiert, weil er in den comics genügend Echo findet, wiewohl dort
eher bagatellisiert wird? In Deutschland scheint es keine Arminius-comics zu geben. Die Arminius-Ju-
biläumsfeier 2009 wurde zu keinem nationalen Fest, sondern eines, bei dem man sich in erster Linie
belehren lassen und amüsieren wollte. Warum gab es so viele deutsche Veröffentlichungen über die
Varusschlacht? Über wirtschaftliche verlegerische Gründe hinaus kann folgendes naheliegen: Die Be-
schäftigung mit Arminius und der Schlacht bietet möglicherweise Deutschland in einer Zeit, in der
man über die atlantische Allianz, die neuen Weltimperien und Europas Zukunft neu reflektieren
muss, die Gelegenheit, sich der konstruierten Identität zu vergewissern und die Tradition noch einmal
66 Maguet u. Touillier-Feyerabend (1998). men veröffentlicht. Das Pariser Musée du Moyen Age
67 Nichtdestoweniger dient Asterix zu ethnographischen veranstaltete 2009 bis 2010 seinerseits eine Ausstellung
Recherchen über die französische Kultur. 1998 wurde ‚Astérix au Musée de Cluny‘ pour célébrer la dimension
eine Tagung der Société d’Ethnologie Française mit patrimoniale d’Astérix, s. Astérix (2009) 5.
einer Ausstellung des Musée National des Arts et Tradi- 68 Wiegels (2008) 41.
tions Populaires in Paris kombiniert. Der Aufsatz von 69 Eine große Ausstellung über Gallien fand 1980 in Cler-
Maguet und Touilliez-Feyerabend wurde in diesem Rah- mont-Ferrand im Musée Bargoin statt, s. Gaulois (1980).
Literatur
Im Jahr 2009 feiern Kalkriese, Haltern und Detmold, der Landesverband Osnabrück, der Landschafts-
verband Westfalen-Lippe, der Landesverband Lippe, der Kreis Lippe, die Bundesländer Nordrhein-West-
falen und Niedersachsen, ganz Deutschland und – wenn man einigen Reden Glauben schenkt – Europa
dazu die Niederlage des Varus oder auch den Sieg des Arminius im Teutoburger Wald vor 2000 Jahren.
Kaum ein historisches Ereignis findet derzeit mehr Aufmerksamkeit in der Wissenschaft, in den
Medien, bei berufenen und unberufenen Autoren, bei den einschlägigen Verlagen, bei den Veranstal-
tern von Kongressen, Tagungen und Bildungstouren als dieses. Und auch die Freie Universität Berlin
lässt es sich nicht nehmen, ihm eigens eine Ringvorlesung zu widmen.
So haben Sie in den letzten Monaten eine Vielzahl wissenschaftlicher Vorträge in der Sache höchst
kompetenter Kolleginnen und Kollegen zu den unterschiedlichsten Aspekten dieses Themas gehört.
Ich soll nun heute diesen Vortragsreigen beschließen.
Man hat mich gebeten, über „Varus im 21. Jahrhundert – zur kulturpolitischen Gestaltung des Va-
rus-Jubiläums“ zu sprechen. Wenn ich dieser Bitte nun nachkomme, dann können Sie kaum Wissen-
schaftliches erwarten, eher einen Bericht über die Mechanismen in Politik, Verwaltung, Wissenschaft,
Wirtschaft und Gesellschaft, die greifen, wenn man sich anschickt, ein Jubiläum und Ausstellungen wie
die für das Varus-Jahr 2009 zu planen, Rückhalt, Partner und Geldgeber zu finden, die Projekte zu or-
ganisieren und zu realisieren.
Ein solcher Bericht muss aber zwangsläufig subjektiv und lückenhaft ausfallen, erst recht, wenn
der Berichterstatter gewissermaßen zu den ‚Tätern‘ gehört und nur sektoral bzw. auf einer durchaus
komfortablen Ebene agiert, was nolens volens zu gelegentlichen Blickverstellungen, Informationsdefizi-
ten und auch Fehldeutungen führen kann.
Insofern mag während und am Ende dessen, was ich Ihnen heute vorzutragen gedenke, eine
durchaus nordrhein-westf älische Sicht der Dinge stehen, die sich im Wesentlichen aus den Erfahrun-
gen meiner langjährigen Tätigkeit als ehemaliger Leiter der archäologischen Denkmalpflege Nord-
rhein-Westfalen in den jeweils dafür zuständigen Ministerien und in zwei der drei Wissenschaftlichen
Beiräte, die die verschiedenen Ausstellungsprojekte zum Varus-Jahr begleitet haben, speist.2
Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen, bevor wir etwas konkreter in das Thema einsteigen, einige – um
es Neudeutsch auszudrücken – basics vermittele, die Außenstehenden möglicherweise nicht so präsent
sind, aber für das Verständnis dessen, was sich in diesem Jahr um das seinerzeitige Schlachtenereignis
bzw. das Protagonistenpaar Varus und Arminius/Hermann bereits getan hat oder auch noch tut – wie
1 Bei dem Beitrag handelt es sich um das lediglich durch 2 Es liegt in der Natur der Sache, dass für zahlreiche Fest-
aktualisierende Anmerkungen erweiterte Vortragsma- stellungen und Behauptungen in diesem Beitrag keine
nuskript vom 13. 7. 2009. Für Hilfe und Unterstüt- exakten Belege angeführt werden können. Vieles findet
zung habe ich vor allem zu danken: R. Aßkamp (Hal- sich lediglich in Form von Aktennotizen, Vermerken,
tern), S. Boedecker (Bonn), J. Kunow (Bonn), M. Meyer Vorlagen, Anweisungen, Erlassen, Schreiben und der-
(Berlin), T. Otten (Düsseldorf), G. Söger (Kalkriese), gleichen in den Akten der jeweiligen Akteure, die gege-
E. Treude (Detmold), R. Wolters (Tübingen), M. Zelle benenfalls einzusehen wären.
(Detmold).
3 Vgl. die Europarats-Ausstellungen ‚1648 – Krieg und 5 Vgl. Ausstellung ‚805: Liudger wird Bischof. Spuren
Frieden in Europa‘ in Münster und Osnabrück 1998 mit eines Heiligen zwischen York, Rom und Münster‘ 2005
ihren drei Begleitbänden Krieg und Frieden (1998). im Stadtmuseum Münster mit einem entsprechenden
4 Vgl. Ausstellung ‚Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Katalog Liudger (2005).
Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn‘ 1999 in 6 Vgl. Roots (2006). Dazu auch: Horn (2006).
Paderborn (Kaiserpfalz/Diözesanmuseum) und den
dreibändigen Katalog Karolingerzeit (1999).
7 Zum Für und Wider mag hier genügen: Kehne (2008). 8 So beispielsweise Bökemeier (2003). Zu den kaum
Zuvor auch schon Schwarzenberg (2007). Zur Schlacht- mehr überschaubaren Versuchen, den Ort der Varus-
platzarchäologie auch: Rost (2009). schlacht zu verorten: Berke (2009).
9 Hier taten sich vor allem der 2004 gegründete Verein These“ / dem Anspruch der Kalkrieser auf die Varus-
Arminiusforschung e.V. (Bielefeld) und zahlreiche sei- schlacht fehlt.
ner Mitglieder hervor. Zuvor auch schon der Naturwis- 10 Die besagten Schreiben befinden sich in den entspre-
senschaftliche und Historische Verein für das Land chenden Akten des Ministeriums für Bauen und Ver-
Lippe e.V., Ortsverein Lage: vgl. W. Lippek, Rundmail kehr des Landes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.
„To whom it may concern!“ vom 22. 11. 2003. Dazu ein 11 Vgl. Schäferjohann-Bursian (2003). Dazu u.a. die Erwi-
Nachtrag vom 6. 12. 2003 mit dem Betreff: Vermeidung derungen von Bérenger (2003) oder Springhorn, Treude
von Fehlentscheidungen politischer Gremien aufgrund u. Zelle (2003).
von Fehlurteilen durch Fachämter, denen die wissen- 12 Die Kooperationsvereinbarung wurde am 9. 2. 2006 ab-
schaftliche Qualifikation im Detail zur „Kalkrieser geschlossen.
13 Vorbild war das Wrack 1 des römischen Schiffsfundes von 15 Vgl. die Broschüre Unschlagbar – Strategien für die Varus-
Oberstimm. Der in Kooperation mit dem Historischen schlacht. Informationen für Förderer und Sponsoren.
Seminar der Universität und etlichen anderen Institutio- Imperium Konflikt Mythos; 2000 Jahre Varusschlacht. In:
nen gefertigte und auf VICTORIA getaufte Nachbau (Kos- LWL-Römermuseum, Varusschlacht im Osnabrücker Land
ten ca. 340000 r) lief am 30. 5. 2008, also ca. ein Jahr vor gGmbH – Museum und Park Kalkriese. Lippisches Landes-
Eröffnung der Ausstellung, unter starker Präsenz der Me- museum Detmold (Haltern am See 2007) mit dem plaka-
dien in Hamburg vom Stapel. Dazu auch: Schäfer (2009). tiven Hinweis auf die Schirmherrschaften der Frau Bun-
14 In den Abschlussberichten (s. Anm. 20) werden Kosten deskanzlerin A. Merkel, der beiden Ministerpräsidenten
von insgesamt 12693000 r (1850000 r durch Erlöse, von Nordrhein-Westfalen, Dr. J. Rüttgers und Chr. Wulff,
5000000 r Drittmittel und 5843000 r Eigenmittel) sowie des Präsidenten des Europäischen Parlamentes
ausgewiesen. Prof. Dr. H.-G. Pöttering.
16 Die mit Blick auf das Jubiläumsjahr getätigten Investitio- umfassenden Abschlussbericht vor (vgl. ebenfalls die
nen hatten ein Volumen von mehr als 5,3 Mio r . Vgl. Wirt- Evaluierung durch die Lippe Tourismus & Marketing
schaftsfaktor 2000 Jahre Varusschlacht (s. Anm. 20). AG „2000 Jahre Varusschlacht im ländlichen Raum am
17 In diesem Zusammenhang überrascht, dass von den Beispiel der Destination ‚Land des Hermann/Teutobur-
drei Ausstellungspräsentationen ausgerechnet die in ger Wald‘. Evaluation des Varusjahres 2009“, 2010).
Kalkriese mit dem durchaus angesehenen ‚Red Dot Dies tat auch das LWL-Römermuseum Haltern am
Communication Design Award‘ ausgezeichnet wurde. 30. 6. 2010 für IMPERIUM in der Sitzung des Kultur-
18 Das Gesamtmarketingbudget lag bei 1,5 Mio r . Vgl. Wirt- ausschusses der Landschaftsversammlung Westfalen-
schaftsfaktor 2000 Jahre Varusschlacht (s. Anm. 20). Zur Lippe am 30. 6. 2010. Zum Ausstellungsteil KONFLIKT
Presseresonanz s. Anm. 27–30. in Kalkriese vgl. insbesondere die Analyse der IHK Os-
19 Da dieser Vortrag bereits am 13. Juli 2009 gehalten nabrück-Emsland und des Tourismusverbandes Osna-
wurde, keine zwei Monate nach der Eröffnung der Aus- brücker Land e.V. und Varusschlacht im Osnabrücker
stellungen, können die nachfolgenden Überlegungen Land – Museum und Park Kalkriese GmbH „Wirt-
nichts anderes als eine Zwischenbilanz sein. schaftsfaktor ‚2000 Jahre Varusschlacht‘. Studie zu re-
20 Das Lippische Landesmuseum Detmold legte am gionalökonomischen Effekten der Ausstellung in Mu-
3. 2. 2010 der Verbandsversammlung des Landesver- seum und Park Kalkriese“ (Kalkriese 2010).
band Lippe für den Ausstellungsteil MYTHOS einen
21 Zu diesem Aspekt z.B. Löttel (2009). Besucher. Die Ausstellungsteile hatten unterschiedliche
22 Nach den vorliegenden Abschlussberichten (s. Anm. 20) Laufzeiten. Sie eröffneten alle am 15. 5. 2009. Haltern
wurden insgesamt ca. 480000 Besucher gezählt. Davon schloss am 11. 10. 2009, Detmold am 25. 10. 2009 und
entfielen nach eigener Zählung auf Haltern ca. 156000, Kalkriese erst am 10. 1. 2010.
auf Kalkriese ca. 220000 und auf Detmold ca. 99500
23 Die Stuttgarter Ausstellung ‚Die Zeit der Staufer‘ 1977 Die Berliner Preußen-Ausstellung 1981, gleichsam eine
hatte bei vergleichsweise kurzer Laufzeit ca. 675000 Be- ‚Fingerübung‘ für das spätere Museum der Deutschen
sucher. Der vierbändige Katalog wurde annähernd Geschichte/Deutsche Historische Museum, zählte ca.
150000 mal verkauft – ein bislang in Deutschland nie 550000 Besucher. Zur Alamannen-Ausstellung 1997 in
wieder erreichter Besucher- und Verkaufsrekord. Dies Stuttgart (über 150000 Besucher): vgl. das umfangrei-
war damals dem Spiegel eine eigene Geschichte wert che Begleitbuch Alamannen (1997).
(vgl. Der Spiegel Nr. 23, 1977). Es wundert nicht, dass 24 An den Ausstellungsorten in Haltern, Kalkriese und
jetzt 2010/2011 – also gut 30 Jahre danach – das Thema Detmold wurden zusammen 3322 Einzelkataloge und
wieder aufgegriffen wird: vgl. Ausstellungsprojekt ‚Die 4833 Schuber verkauft.
Staufer und Italien – Drei Innovationsregionen im mit- 25 Die inzwischen vorliegenden Abschlussberichte bzw.
telalterlichen Europa‘. Die Ausstellung ‚Die Bajuwaren‘ Analysen geben hierüber detaillierter Auskunft: s.
in Rosenheim besuchten 1988 ca. 180000 Besucher. Anm. 20.
Die Wittelsbacher-Ausstellungstrilogie 1980 in Lands- 26 Siehe dazu etwa die Veranstaltungskalender der Lippe
hut und München, der Der Spiegel (Nr. 27/1980) eine Tourismus & Marketing (Hermannbüro) AG Das inter-
ausführliche Rezension des Schriftstellers Carl Amery nationale Kulturprogramm Hermann 2009 oder auch der
unter dem Titel „Rote Fäden im weißblauen Labyrinth“ VARUSSCHLACHT im Osnabrücker Land GmbH.
widmete, wurde von ca. 480000 Menschen besucht.
27 Vgl. z.B. Die Zeit vom 30. 10. 2008: „Der Urmythos 31 Etwa: Beck-Verlag: G. Moosbauer, Die Varusschlacht.
der Deutschen“; Der Spiegel Ausgabe 51 (15. 12. 2008): Archäologie und Geschichte (München 2009), R. Wolters,
„Die Geburt der Deutschen. Vor 2000 Jahren: Als die Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und
Germanen das Römische Reich bezwangen“; Focus vom die römischen Germanen (München 2008); Bertelsmann-
2. 3. 2009: „Der Ursprung der Deutschen. 2000 Jahre Verlag: T. Bendikowski, Der Tag, an dem Deutschland ent-
Varusschlacht oder wie wir wurden, was wir sind“; Stern stand. Die Geschichte der Varusschlacht (München 2008).
(Nr. 44 vom 22. 10. 2009): „2000 Jahre Varusschlacht. Campen-Verlag: D. Husemann, Der Sturz des römischen
Archäologen entwerfen ein neues Bild unserer kriegeri- Adlers. 2000 Jahre Varusschlacht (Frankfurt a. M. 2008);
schen Vorfahren“. – Dazu auch: Lotta. Antifaschistische Deutscher Taschenbuch-Verlag (DTV): H. D. Stöver,
Zeitung aus NRW (Sommer 2009): „Mythos Varus- Der Sieg über Varus. Die Germanen gegen die Weltmacht
schlacht. Die Erfindung der deutschen Nation“. Rom (München 2009); Fischer-Verlag: R.-P. Märtin, Die
28 Es wurden insgesamt 10 Folgen. – Laut Abschlussbe- Varusschlacht. Rom und die Germanen (Frankfurt a. M.
richten (s. Anm. 20) gab es ca. 30000 Meldungen in den 2008); Imhoff-Verlag: B. Götte, Die Varusschlacht. Die
Printmedien und ca. 5000 Artikel in Online-Medien. List des Arminius (Petersberg 2008); Klett-Cotta-Verlag:
29 Vgl. etwa die vierteilige ZDF-Dokumentationsreihe Die B. Dreyer, Arminius und der Untergang des Varus. Warum
Germanen in Terra X (2009) oder auch die zweiteilige die Germanen keine Römer wurden (Stuttgart 2009); Krö-
Serie in ARD und ZDF Kampf um Germanien. Dazu ner-Verlag: M. Sommer, Die Arminiusschlacht. Spurensu-
zählt auch die Reihe Sturm über Europa, in der sich eine che im Teutoburger Wald; Propyläen-Verlag: C. Pantl, Die
Sendung ausführlich mit der Varusschlacht befasste. Varusschlacht. Der Germanische Freiheitskrieg (Stuttgart
Über die Lokalisierung, den Verlauf und die Bedeutung 2009); Reclam-Verlag; L. Walther (Hg.), Varus, Varus!
der Varusschlacht, aber auch über die ihrer Protagonis- Antike Texte zur Schlacht im Teutoburger Wald (Stuttgart
ten Varus und Arminius für Deutschland und Europa 2008); Thorbecke-Verlag: H.-D. Otto, Die Schicksals-
wurde auch in ernsthaften Talkshows immer wieder dis- schlacht im Teutoburger Wald (Ostfildern 2009); Philipp
kutiert. Den Abschlussberichten (s. Anm. 20) ist zu ent- von Zabern-Verlag: Varusschlacht im Osnabrücker Land.
nehmen, dass es insgesamt über 350 Fernseh- und Ra- Museum und Park Kalkriese (Mainz 2009).
diobeiträge gab. 32 So z.B. R. Gordian, Die Germanin (Mainz 2009); P.
30 Etwa Archäologie in Deutschland mit dem von R. Wiegels Harms, Arminius. Die Rückkehr (Berlin 2009); M. Hopp,
herausgegebenen Sonderheft Plus 2007 „Varus- Lübbings Varusschlacht (Kassel 2005); B. Löppenberg, Si-
schlacht – Wendepunkt der Geschichte?“; Damals 5, gurd der Brukterer im Kampf gegen die Römer (Gelnhausen
2009 „Varus contra Arminius. Roms Kampf gegen die 2009); H. Multhaupt, Varus. Von Herodes in die Schlacht
‚Barbaren‘“; Geo Epoche Nr. 34, 12/08 „Die Germanen“; im Teutoburger Wald (Leipzig 2009); M. Römling, Sig-
National Geographic Nov. 2007 „Arminius schlägt Varus. num – Die verratenen Adler (Münster 2009); U. Schmidt,
Kampf um Germanien“; P.M. History Special (Juni Die List des Arminius Bd. 2: Der überlebende Legionär
2009) „Im Reich der Kelten und Germanen – Gaius Flaminius berichtet (Frankfurt a. M. 2008).
2000 Jahre Schlacht im Teutoburger Wald“.
33 Man befürchtete auch, das Thema werde erneut von der Monatshefte 59. Jg. 2/2009: „Mit Arminius begann es:
Rechten Szene adaptiert, was allerdings ohnehin nicht 2000 Jahre deutscher Freiheitskampf“. – Dazu u.a.:
zu verhindern war. Vgl. z.B. Nation&Europa. Deutsche Losemann (2009); Lohmann u. Raabe (2009).
34 Inzwischen liegt die Dokumentation dieser Tagung vor: stellung IMPERIUM erhielt wesentliche Impulse durch
Killguss (2009). das Internationale Kolloquium ‚Varus und seine Zeit‘
35 Vgl. hierzu die Abschlussberichte und Analysen: s. am 28./29. 4. 2008 in Münster. Eine erste wissenschaft-
Anm. 20. liche Reflexion der Ausstellungen IMPERIUM KON-
36 Ein erstes wissenschaftliches Kolloquium in Vorberei- FLIKT MYTHOS anlässlich des Varus-Jahres leistete der
tung der im Varus-Jahr geplanten Ausstellungen fand Osnabrücker Kongress ‚Rom – Imperium zwischen Wi-
unter dem Titel ‚Die nördlichen Mittelgebirge im Span- derstand und Interpretation‘ (14.–18. 9. 2009), der sich
nungsfeld römischer und germanischer Politik um u.a. auch mit Fragen der Friedens- und Konfliktfor-
Christi Geburt‘ am 17./18. 6. 2004 in Detmold statt. schung in der Archäologie befasste.
Diesem Zweck diente auch das Internationale Kollo- 37 Vor diesem Hintergrund ist insbesondere der dreiteilige
quium ‚Rom auf dem Weg nach Germanien: Geostrate- Ausstellungskatalog Imperium (2009), Konflikt (2009),
gie, Vormarschstrassen und Logistik‘ vom 4.–6. 11. 2004 Mythos (2009) mit seiner Vielzahl an wissenschaftlich
in Delbrück-Anreppen. Vgl. dazu die titelgleiche Doku- fundierten Beiträgen zu den unterschiedlichsten Aspek-
mentation in: Kühlborn u.a. (2008). Die Halterner Aus- ten des Themas zu sehen.
Literatur
38 Die Ausstellung anlässlich dieses historischen Ereignis- 39 Die Vorbereitungen hierzu laufen bereits im LVR-Lan-
ses wird derzeit mit großem Erfolg im Rahmen der Eu- desMuseum Bonn, das den Oberkasseler Fundkomplex
ropäischen Kulturhauptstadt 2010 Essen (Ruhrgebiet) beherbergt, für eine umfassende Würdigung seiner Auf-
im LWL-Museum für Archäologie/Westf älisches Lan- findung vor dann 100 Jahren auf vollen Touren.
desmuseum Herne gezeigt. Vgl. den umfangreichen Ka- 40 In Nordrhein-Westfalen böten sich vor allem die Mu-
talog Ritter (2010). seumsstandorte Bonn, Köln, Xanten oder Haltern an, die-
ses Ereignis in 2016 gebührend ins Gedächtnis zu rufen.
Wolters – Abb. 1: Andreas Thiel, Die Römer in Deutsch- seum Bonn (Hg): Krieg und Frieden. Kelten – Römer –
land, Stuttgart 2008, Abb. S. 20. Germanen. Begleitbuch zur Ausstellung im Rheini-
schen Landesmuseum Bonn, ein Museum des Land-
Johne – Abb. 1: Nationalmuseum Neapel, Winckel- schaftsverbandes Rheinland: 21. 06. 2007–06. 01. 2008,
mann-Institut, Seminar für Klassische Archäologie der Darmstadt 2007, Abb. 155; 8. Johann-Sebastian Kühl-
Humboldt-Universität zu Berlin, Photosammlung; born, Schlagkraft. Die Feldzüge unter Augustus und
2: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbe- Tiberius in Nordwestdeutschland. In: L. Wamser (Hg.):
sitz, Antikensammlung Inv. SK 342. Foto: M. Hege- Die Römer zwischen Alpen und Nordmeer. Zivilisatori-
wisch; 3: Porträt des M. Vipsanius Agrippa, Staatliche sches Erbe einer europäischen Militärmacht. Katalog-
Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Antiken- Handbuch zur Landesausstellung des Freistaates Bay-
sammlung Inv. SK 1858; 4: Johne (2006), Seite 81. ern (12. 5.–5. 11. 2000). Schriftenreihe der Archäologi-
Karte von V. Vaelske nach Entwürfen des Verfassers er- schen Staatssammlung, Mainz 2000, Abb. 24; 9. Ga-
stellt; 5: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kul- briele Rasbach, Waldgirmes. In: Landschaftsverband
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penhagen, Inv. 1445; 8: Staatliche Museen zu Berlin, museum Bonn, ein Museum des Landschaftsverban-
Preußischer Kulturbesitz, Antikensammlung Inv. SK des Rheinland: 21. 06. 2007–06. 01. 2008, Darmstadt
1801; 9: Johne (2006), Seite 151. Karte von V. Vaelske 2007, Abb. 195; 10. © Römisch-Germanische Kom-
nach Entwürfen des Verfassers erstellt. mission, Frankfurt am Main.
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Textanhang. M. Meyer.
Baltrusch – Abb. 1: siehe Beitrag von Schnurbein,
Abb. 1; 2: Foto: Robert Stetefeld, Freie Universität Ber- Rost – Abb. 1–3; 6–7: Museum und Park Kalkriese; 4–5:
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Park Kalkriese; 8: Nach Horn (1987), Taf. 1b.
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2. © Römisch-Germanische Kommission, Frankfurt Hegewisch – Abb. 1: www.polona.pl.dlibra/doccon-
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Westfalens 42, Mainz 2008, Abb. 10; 4. Johann-Sebas- 6: Schuchhardt et al. (1926), Abb. 3–5; 7: Zeichnungen
tian Kühlborn (Hg.), Germaniam pacavi – Germanien M. Hegewisch; 8: Zeichnungen und Fotos M. Hege-
habe ich befriedet. Archäologische Stätten augustei- wisch; 9: Nach Harnecker/Tolksdorf-Lienemann
scher Okkupation. Westf älisches Museum für Archäo- (2004) Abb. 26–27; 10: Nach Harnecker/Tolksdorf-Lie-
logie – Amt für Bodendenkmalpflege, Münster 1995, nemann (2004) Auswahl der Taf. 3–7; 11: M. Hegewisch
Abb. 12; 5. Klaus Grote, Der römische Militärstütz- nach Neumann (1982), Abb. 24; 12: M. Hegewisch; 13:
punkt an der Werra bei Hedemünden. In: Landschafts- Neumann (1982), Taf. 6,B; Jørgensen (2003), Abb. 13;
verband Rheinland/Rheinisches Landesmuseum Bonn 14: Andersen 1993, Abb. S. 24 unten; 15: 1–3. Original-
(Hg): Krieg und Frieden. Kelten – Römer – Germanen. dokumentation, Archiv der Römisch-Germanischen
Begleitbuch zur Ausstellung im Rheinischen Landes- Kommission, Frankfurt am Main; 4. Grundlage Satelli-
museum Bonn, ein Museum des Landschaftsverban- tenbild: Google Maps; 16: Oben: Landesmuseum Han-
des Rheinland: 21. 06. 2007–06. 01. 2008, Darmstadt nover, Archiv. Umzeichnungen: M. Hegewisch nach
2007, Abb. 163; 6. ebd. Abb. 165; 7. Johann-Sebastian Originalzeichnungen im Landesmuseum Hannover,
Kühlborn, Das augusteische Hauptlager von Haltern. In: Archiv.
Landschaftsverband Rheinland/Rheinisches Landesmu-
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Michael Schwanthaler, München 1970, Abb. 30; 3: Das Jg. 22 (1875), Nr. 38; 9;11: Sammlung Wilfried Mellies,
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Nürnberg, Sign.: HB 50213, Kaps.: 131; 5: Bayerische Hermanns-Denkmal, Amtliche Festschrift, Detmold
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sches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Beyrodt – Abb. 1: Museum Schloss Pyrmont, Dauer-
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ebd. Tafel 57; 8: Schwanold, Heinrich, Arminius, die museum Ferdinandeum, Kunstgeschichtliche Samm-
Varusschlacht und das Hermannsdenkmal, Festschrift lungen, Sign.: Gem. 299; 3: Stadtarchiv Krefeld, Foto:
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king.com, Zugriff: 14. 12. 2011; 16: Bartels, Adolf, Rasse,
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Schutzvereine in Ostmitteleuropa, Marburg 2009, mons.wikimedia.org, Zugriff: 23. 1. 2012; Trenner 3: Rö-
S. 154, Abb. 5a; 18: Dahn, Felix, Armin der Cherusker, misch-Germanische Kommission, Frankfurt am Main;
Erinnerungen an die Varus-Schlacht im Jahre 9. nach Trenner 4: Sammlung Uwe Puschner. Foto: Stefan
Chr., Mit 17 Bildern nach Originalen von A. Hoffmann, Noack; Trenner 5: Collage M. Hegewisch. Titelbild: Ent-
München 1909; 19: Sammlung Wilfried Mellies, Foto: wurf M. Hegewisch. Foto Varus: Robert Stetefeld, Freie
J. Ihle, Lippisches Landesmuseum; 20: Bundesarchiv, Universität Berlin.
Bildarchiv, Bild 118–130; 21: Sammlung Uwe Puschner;
22: Sammlung Wilfried Mellies, Foto: J. Ihle, Lippi- Urheberrechtsinhaber, die wir nicht ermitteln konnten,
sches Landesmuseum; 23: Sammlung Wilfried Mellies, bitten wir um Kontaktaufnahme.
Foto: J. Ihle, Lippisches Landesmuseum; 24: Screens-
hots u. Collage: Stefan Noack; 25: www.zwermann.info,
Zugriff: 14. 12. 2011; 26: Sammlung Uwe Puschner.
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