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PDF of Konigreich Der Angst Gedanken Zur Aktuellen Politischen Krise 1St Edition Martha Nussbaum Manfred Weltecke Full Chapter Ebook
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Martha Nussbaum
KÖNIGREICH
DER ANGST
Gedanken zur aktuellen
politischen Krise
ISBN 978-3-8062-3875-4
Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
Nachwort: Bemerkungen zur Situation in Europa. . . . . . . . . . . . . . . 287
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2016: Trump wird gewählt und
bringt mich zum Nachdenken
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2016: Trump wird gewählt
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2016: Trump wird gewählt
Krise können die Gewohnheiten ändern, und in diesem Fall hatte ich
das freudige Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben. Ich dachte,
dass das Ergebnis dieses Aufruhrs möglicherweise ein gewisses Maß
an Einsicht sein würde, und – wer weiß? – es könnte eine Einsicht
sein, die auch andere auf gute Ideen bringen würde, wenn ich meine
Arbeit gut machen würde. Mit einem beruhigenden Gefühl der Hoff-
nung schlief ich wieder ein.
Am nächsten Tag stürzte ich mich – nach einem erfrischenden
morgendlichen Training – in die feierlichen Zeremonien. Ich zog
mein Abendkleid an und lächelte so gut ich konnte für das offizielle
Porträtfoto. Die Zeremonie auf der Bühne war ästhetisch anspre-
chend und daher ablenkend. Fasziniert lauschte ich den Lebensläu-
fen meiner Mitpreisträger und ihren kurzen Reden über ihre Arbeit,
da sie auf Fachgebieten tätig sind, über die ich wenig weiß (von selbst-
fahrenden Autos bis zu Grundlagenforschung in der Onkologie), und
ich war voller Bewunderung für ihre Leistungen. In meiner eigenen
kurzen Rede konnte ich einige der Dinge zum Ausdruck bringen, die
mir wirklich am Herzen liegen, und mich bei Menschen bedanken,
die mich während meiner gesamten Karriere unterstützt haben. Min-
destens genauso wichtig war mir, dass ich auch die Liebe zu meiner
Familie und meinen engen Freunden zum Ausdruck bringen konnte.
(Die ganze Rede hatte ich für den Dolmetscher im Voraus schreiben
müssen, sodass keine spontanen Änderungen möglich waren. Die
Gelegenheit, Liebe auszudrücken, war dennoch äußerst tröstlich.)
Bankette anlässlich von Preisverleihungen enden in Kyoto pünkt-
lich und extrem früh, sodass ich um 20.30 Uhr wieder in meinem
Zimmer war, und ich setzte mich an meinen Schreibtisch und
schrieb. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Ideen, die mir in der Nacht
gekommen waren, Gestalt angenommen, und indem ich sie nieder-
schrieb, entwickelten sie sich immer weiter und wurden (zumindest
für mich!) immer überzeugender. Nach zwei Abenden Arbeit hatte
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2016: Trump wird gewählt
nicht befolgen.) Ich habe schon immer gern gelesen, geschrieben und
Gedankengänge konstruiert. Außerdem gefielen meinem Vater die
von mir angestrebten Ziele, und er unterstützte sie. Er stammte aus
einer Arbeiterfamilie in Macon, Georgia, und hatte sich durch Bega-
bung und harte Arbeit zum Teilhaber einer führenden Anwaltskanzlei
in Philadelphia hochgearbeitet. Er glaubte und sagte das auch, dass
der amerikanische Traum allen offen stehe. Diese Überzeugung säte
in mir Zweifel. Er sagte immer wieder, dass Afroamerikaner in Ame-
rika nicht erfolgreich seien, weil sie einfach nicht hart genug arbeite-
ten; doch ich beobachtete seinen tiefsitzenden Rassismus, mit dem
er von Haushaltshilfen verlangte, dass sie ein separates Badezimmer
benutzten, und sogar damit drohte, mich zu enterben, wenn ich in der
Öffentlichkeit in einer größeren Gruppe (einer Theatergruppe) auf-
treten würde, zu der ein Afroamerikaner gehörte. Dadurch erkannte
ich, dass sein Glaubensbekenntnis der Situation der Afroamerikaner,
die durch Stigmatisierung und Rassendiskriminierungsgesetze un-
terdrückt und beleidigt wurden, nicht gerecht wurde. Der Abscheu
meines Vaters vor Minderheiten erstreckte sich auf viele, die (trotz
sozialer Hindernisse) durch harte Arbeit Erfolge erzielt hatten: ins-
besondere auf Afroamerikaner und Juden der Mittelschicht.
Er wusste, dass Frauen zu hervorragenden Leistungen fähig sein
können. Er freute sich über meinen Erfolg und ermutigte mich, unab-
hängig und sogar herausfordernd zu sein. Doch auch hier stellte ich
ein Problem fest, denn er hatte eine Frau geheiratet, die als Innenar-
chitektin gearbeitet hatte, und es verstand sich von selbst, dass sie zu
arbeiten aufhörte, was zur Folge hatte, dass meine Mutter für einen
Großteil ihres Lebens unglücklich und einsam war. Seine Einstel-
lungen waren äußerst widersprüchlich. Als ich sechzehn war, ließ er
mir die Wahl zwischen einem Debütantenball und dem Aufenthalt
bei einer Gastfamilie im Ausland im Rahmen eines internationalen
Programms (Experiment in International Living), und er freute sich
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2016: Trump wird gewählt
sehr, dass ich mich für Letzteres entschied – doch er selbst hätte eine
Frau, die sich nicht für Ersteres entschieden hätte, niemals geheira-
tet. Er war der Überzeugung, dass das Tragen gewagter modischer
Kleidung (bei Frauen und Männern) mit intellektuellem Anspruch
und Erfolg durchaus vereinbar sei; und der Spaß, den wir bei ge-
meinsamen Einkaufsbummeln hatten, wurde durch den subversi-
ven Plan, dass ich bei seinem Vortrag über „Ernennungsbefugnisse“
am Institut für juristische Praxis in einem leuchtend rosa Minirock
auftauchen würde, noch verdoppelt. Und doch fragte ich mich,
was er wirklich darüber gedacht haben mag, wohin all dies führen
würde – vor allem: zu welcher Art von Familienleben? Er ermutig-
te mich, genau mit jenen aufstrebenden, geschniegelten Männern
auszugehen, die – wie er – niemals eine berufstätige Ehefrau ge-
wollt hätten.
Zwischenzeitlich verstärkte jener Auslandsaufenthalt meine
Zweifel am Credo meines Vaters. Ich wurde zu einer Familie von
Fabrikarbeitern in Swansea in Südwales geschickt und begriff, wie
Armut, schlechte Ernährung, schlechte sanitäre Einrichtungen (Au-
ßentoilette) sowie schlechte Gesundheitsbedingungen (vor allem
der Kohlebergbau, der die Gesundheit etlicher Familienmitglie-
der ruiniert hatte) den Menschen nicht nur ein blühendes Leben,
sondern auch ihre Sehnsucht und Kraft raubt. Meine gleichaltri-
gen Gastschwestern in dieser Familie wollten nicht studieren oder
durch harte Arbeit glänzen. Wie in den britischen Arbeiterfamili-
en, die in Michael Apteds „Seven Up“ 1 und seinen Fortsetzungen
so schonungslos dargestellt werden, sahen sie für sich selbst keine
Zukunft, die rosiger war als das Leben ihrer Eltern, und ihre größte
Freude war es, in Kneipen zu gehen und die legalen Spielkasinos in
1 Anm. d. Übers.: Die „Up“-Serie ist eine Reihe von Dokumentarfilmen, die von
Granada Television für ITV produziert wurden und das Leben von vierzehn briti-
schen Kindern von 1964 an, als sie sieben Jahre alt waren, begleiten.
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2016: Trump wird gewählt
der Nähe aufzusuchen. Ich erinnere mich daran, wie ich im Bett lag,
einen Roman über die britische Oberschicht las – in diesem Haus
mit einer Außentoilette im Garten – und darüber nachdachte, wa-
rum Eirwen Jones, die in meinem Alter war, nicht das geringste
Interesse am Lesen und Schreiben, ja nicht einmal am Lernen der
walisischen Sprache hatte. Die durch Armut aufgebauten Hinder-
nisse sind oft tief im Inneren eines Menschen verwurzelt, und viele
benachteiligte Menschen können dem Weg meines Vaters nicht fol-
gen. (Er erzählte, dass er ausreichend zu essen, viel Liebe, geistige
Anregung und eine gute Gesundheitsversorgung bekommen und
irgendwie eine erstklassige Ausbildung erhalten hatte. Dabei war
ihm nicht bewusst, was für riesige Vorteile ihm die Tatsache, dass
er weiß war, brachte. Außerdem lebte er, geboren im Jahr 1901, in
einer Welt mit größeren Chancen für sozialen Aufstieg als es sie
heute selbst für arme Weiße gibt.) So sah ich mich selbst in einer
neuen Perspektive: nicht nur als sehr kluges Kind, sondern als Pro-
dukt sozialer Faktoren, die ungleich verteilt sind. Es war nicht über-
raschend, dass ich dieses Verständnis viel später durch die Mitarbeit
in einer internationalen Entwicklungsorganisation und durch eine
enge Partnerschaft mit Gruppen, die sich für die Bildung und die
Rechte von Frauen in Indien einsetzen, vertieft habe.
Wie die meisten der Leute, die ich in Bryn Mawr kannte, war ich
damals Republikanerin, und ich bewunderte die Ideen von Barry
Goldwater, der die individuellen Freiheitsrechte betonte. Ich glau-
be immer noch, dass Goldwater ein ehrenwerter Mann war und
dass er sich voll und ganz für das Ende der Rassentrennung ein-
setzte – er hatte seine Prinzipien sogar auf mutige Weise in sein
Familienunternehmen integriert. Ich denke, er glaubte tatsächlich,
dass sich die Menschen dafür entscheiden sollten, gerecht zu sein,
sich gegenseitig zu respektieren und zu helfen, allerdings ohne den
Zwang der Regierung. Während ich noch in der Highschool für sei-
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nen Wahlkampf zu arbeiten begann, stellte ich jedoch fest, dass die
meisten meiner politischen Mitstreiter nicht von hoher Gesinnung,
sondern zutiefst rassistisch waren und den Liberalismus lediglich
in seiner Funktion als Schutzschirm für Ansichten unterstützten,
welche die Rassentrennung befürworteten. Die Hässlichkeit jener
Politik, welche die Vorherrschaft der Weißen zum Ziel hatte, stieß
mich ab und überzeugte mich davon, dass Goldwater naiv war und
dass allein die Gesetzgebung stark genug sein würde, die Rassen-
trennung zu überwinden. Mittlerweile (nach meinem Aufenthalt in
Swansea) hatte ich auch begriffen, dass wirkliche Gleichberechti-
gung gleichen Zugang zu einer guten Ernährung und Gesundheits-
versorgung erfordert. Ich begann, die politischen Ideale des New
Deal zu übernehmen, und mein Vater beschwerte sich bei meiner
Schule darüber, dass meine Geschichtslehrer mich „einer Gehirn-
wäsche unterzogen“ hätten – es war nicht das einzige Mal, dass er
die geistige Unabhängigkeit, die er so stolz gefördert hatte, unter-
schätzen sollte.
Ich erwähnte bereits das Theater: schon früh wurden die Künste,
insbesondere das Theater und die Musik, für mich zu einem Fenster
in eine weniger ausgrenzende Welt. Erstens war es eine Welt, die –
im Gegensatz zur weißen, angelsächsischen, protestantischen Kul-
tur („WASP-Kultur“) von Bryn Mawr – den Ausdruck starker Emo-
tionen unterstützte. Alle meine Lehrer förderten meinen Verstand,
aber der Theaterlehrer förderte meine gesamte Persönlichkeit.
Also fasste ich den Entschluss, Schauspielerin zu werden. Ich ar-
beitete für zwei Spielzeiten an einem Sommertheater, verließ das
Wellesley College nach drei Semestern, um eine Stelle bei einem
Repertoiretheater anzunehmen, und verfolgte meine Schauspiel-
karriere an der heutigen Tisch School of the Arts an der Universität
New York – bis ich einsah, dass ich keine sehr gute Schauspiele-
rin, dieses Leben zu unsicher und meine wahre Leidenschaft das
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Nachdenken und Schreiben über die Stücke war. Doch als Amateu-
rin spiele und singe ich nach wie vor (aufgrund meiner Lebenserfah-
rung bin ich nun besser), und es bereitet mir Freude. Ich ermutige
auch meine Kollegen zum Schauspielen (in Stücken, die im Zu-
sammenhang mit unseren Konferenzen über Recht und Literatur
stehen). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es die juristische
Fakultät menschlicher macht und intellektuelle Freundschaften
bereichert, wenn ich mit meinen Kollegen Gefühle teile.
Im Theater begegnete ich zum ersten Mal Menschen, die offen
homosexuell waren. Ja, im Alter von siebzehn Jahren war ich ver-
narrt in einen schwulen Schauspieler, und ich verfolgte sein Leben
mit der gesteigerten Anteilnahme einer enttäuschten Verliebtheit.
Ich sah, dass er einen Lebenspartner hatte, der ihn besuchte und
mit dem er die Absolventenringe ausgetauscht hatte, dass sie jedoch
nur in der Welt des Theaters offen ein Paar waren und nicht in der
größeren Gesellschaft. Dies erschien mir völlig absurd und irrati-
onal. Er war sehr viel netter als die meisten Jungen, die ich kann-
te: Er zeigte mehr Verständnis und Respekt. Ich denke, ich hatte
mittlerweile verstanden, dass sich hinter Rassismus und Sexismus
oft ein abstoßendes Eigeninteresse verbirgt. Die Diskriminierung
aufgrund sexueller Orientierung, die mir – ebenso wie ihre Erschei-
nungsformen – bis dahin verborgen geblieben war, war ein weiteres
schlimmes amerikanisches Laster, das ich in der Folge auf meiner
Liste ergänzte.
Nachdem ich mich dagegen entschieden hatte, Schauspielerin zu
werden, wandte ich mich wieder dem akademischen Leben der Uni-
versität von New York zu und blühte dort auf. Bald darauf lernte ich
meinen späteren Mann kennen, verlobte mich und konvertierte zum
Judentum. Was mich am Judentum anzog und noch immer anzieht,
ist die vorrangige Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit. Außerdem
liebte ich schon immer die jüdische Kultur, in die ich eingetreten bin,
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2016: Trump wird gewählt
im Spiel sind. Und manchmal können zwei Menschen, die sich lie-
ben, einfach nicht zusammenleben. Aber ich bereue gewiss nicht,
mich in das Abenteuer begeben zu haben. Meine Tochter, die jetzt
bei Friends of Animals in Denver für die Rechte von wilden Tieren
arbeitet, gehört zu den großen Glücksquellen meines Lebens. (Ihr
liebenswerter und unterstützender Ehemann, der im Alter von acht-
zehn Jahren in der DDR zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, weil
er ein politisches Plakat aufgehängt hatte, das den Kommunismus
kritisierte, hat mir die Perspektive eines Einwanderers eröffnet, der
die Vereinigten Staaten von Amerika mit ihren Freiheiten und ihren
Traditionen des Willkommenheißens und der Inklusion liebt.)
Manchmal sind Akademiker von den Realitäten des menschli-
chen Lebens zu weit entfernt, um gute Beiträge zu dessen Struk-
turen leisten zu können. Das ist ein Risiko, das mit der akademi-
schen Freiheit und dem sicheren Arbeitsverhältnis – wunderbaren
Institutionen, wie sie die Philosophen der meisten früheren Epo-
chen nicht geschützt haben – verbunden ist. Mein eigenes Engage-
ment und meine Bemühungen haben mich immer dazu geführt,
der Philosophie das breite Spektrum der behandelten Themen
zurückzugeben, das sie in der griechischen und römischen Anti-
ke auszeichnete: die Analyse der Emotionen und des Kampfes um
ein gelingendes Leben in schwierigen Zeiten; das Bedenken von
Liebe und Freundschaft sowie der menschlichen Lebensspanne
(einschließlich des Alterns, das von Cicero so großartig untersucht
wurde); die Hoffnung auf eine gerechte Welt. Ich hatte zahlreiche
Partner auf dieser Suche nach einer menschlichen Philosophie
(und mehrere großartige Mentoren, darunter Stanley Cavell, Hil-
ary Putnam und Bernard Williams). Doch ich hoffe, dass mir auch
meine eigene Geschichte – sowohl in ihren unverdienten Privilegi-
en als auch in ihrem Bewusstsein für Ungleichheiten – bei meiner
Suche geholfen hat.
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1 Einführung: alles eine Frage
der Emotionen
In den USA gibt es heute sehr viel Angst, und diese Angst ist häu-
fig mit Zorn, Schuldzuweisungen und Neid vermischt. Angst blo-
ckiert allzu oft rationale Überlegungen, sie vergiftet die Hoffnung
und behindert eine konstruktive Zusammenarbeit für eine bessere
Zukunft.
Worum geht es bei der heutigen Angst? Viele Amerikaner füh-
len sich machtlos. Sie haben das Gefühl, dass sie die Kontrolle über
ihr Leben verloren haben. Sie fürchten um ihre eigene Zukunft
und die Zukunft der Menschen, die sie lieben. Sie fürchten, dass der
amerikanische Traum – die Hoffnung, dass die eigenen Kinder er-
folgreich sein und es besser haben werden, als man es selbst hatte –
gestorben und ihnen alles entglitten ist. Diese Gefühle haben ihre
Grundlage in realen Problemen, unter anderem in der Stagnation
des Einkommens der unteren Mittelschicht, in der alarmierenden
Verschlechterung der Gesundheit und im Sinken der Lebenser-
wartung der Mitglieder dieser gesellschaftlichen Gruppe, insbeson-
dere der Männer, sowie in den explodierenden Kosten der Hoch-
schulausbildung in einer Zeit, in der ein Hochschulabschluss für
eine Anstellung zunehmend unerlässlich ist. Aber wirkliche Proble-
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Arbeit viel Gutes bewirken können. Nicht nur werden auf linker wie
rechter Seite die Gefahren durch Panik übertrieben, sondern durch
diese Panik wird die Zeit noch viel gefährlicher, als es sonst der Fall
wäre, und dieser Umstand lässt wirkliche Desaster wesentlich wahr-
scheinlicher werden. Es ist wie in einer schlechten Ehe, in der Angst,
Misstrauen und Schuldzuweisungen sorgfältiges Nachdenken über
die wirklichen Probleme und ihre Lösung verdrängen. Stattdessen
werden diese Emotionen zu einem eigenen Problem und verhindern
konstruktive Arbeit, Hoffnung, Zuhören und Kooperation.
Wenn Menschen Angst voreinander und vor einer unbekann-
ten Zukunft haben, führt dies leicht dazu, dass ein Sündenbock
gesucht wird, dass Rachefantasien und ein giftiger Neid auf die
Bessergestellten (seien es die Wahlsieger oder die sozial und wirt-
schaftlich Mächtigeren) aufkommen. Wir alle erinnern uns an die
Aussage von Franklin D. Roosevelt, dass wir „vor nichts Angst
haben müssen, außer vor der Angst selbst“. Vor Kurzem hörten
wir den scheidenden Präsidenten Obama sagen: „Die Demokra-
tie kann zerbrechen, wenn wir der Angst nachgeben.“ Roosevelt
hatte unrecht, wenn wir seine Worte wörtlich nehmen: Obwohl wir
Grund hatten, Angst vor der Angst zu haben, hatten wir zu seiner
Zeit auch viele andere Dinge zu fürchten, wie etwa den Nazismus,
Hunger und soziale Konflikte. Die Angst vor diesen Übeln war ver-
nünftig, und in diesem Sinne brauchen wir keine Angst vor unse-
rer Angst zu haben, obwohl wir sie stets analysieren sollten. Doch
Obamas präzisere und bescheidenere Aussage ist sicherlich rich-
tig: Der Angst nachzugeben, das heißt, sich von ihren Strömungen
mitnehmen zu lassen und die skeptische Prüfung abzulehnen, ist
sicher gefährlich. Wir müssen genau über die Angst nachdenken
und darüber, wohin sie uns führt. Nachdem wir tief durchgeatmet
haben, ist es wichtig, dass wir alle uns so gut wie möglich selbst
verstehen, indem wir diesen Moment der Distanz nutzen, um her-
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Einführung
VA: Aber wir wollen die Angst doch nicht vernichten. Ohne Angst
wären wir alle tot. Angst ist nützlich, und sie treibt uns zu lebens-
rettenden Handlungen an.
MN: Sicher, da hast du recht. Doch Angst hat eine starke Tendenz,
von uns Besitz zu ergreifen und uns zu egoistischen, gedanken-
losen und unsozialen Handlungen anzutreiben. Ich werde ver-
suchen, dir zu zeigen, dass diese Tendenz aus der Geschichte
der Evolution und der psychologischen Struktur dieser Emotion
stammt. Mehr als andere Gefühle bedarf die Angst sorgfältiger
Prüfung und Eindämmung, wenn sie nicht giftig werden soll.
VA: Davon bin ich noch nicht überzeugt. Doch ich möchte jetzt
auch wissen, warum du sagst, dass die Angst für die demokra-
tische Selbstregierung besonders gefährlich ist. Sicherlich sind
Demokratien häufig gut beraten, die Angst zu befragen, wenn es
darum geht, Gesetzen und Institutionen eine Struktur zu geben.
Sind unsere Verteidigungsbemühungen nicht etwa eine vernünf-
tige Antwort auf die legitime Angst vor Fremdherrschaft? Und wie
verhält es sich mit unserer Verfassung? Wurden ihre Väter nicht
von Angst geleitet, als sie die grundlegenden Freiheitsrechte nie-
derschrieben? Schließlich schrieben sie über all die Dinge, welche
die Briten verletzt oder ihnen genommen hatten: Ihre Angst, dass
sich ähnliche Dinge in der neuen Nation ereignen könnten, gab
der Demokratie einen guten, keinen schlechten Rat.
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Ziele betrachte, werde ich mich vor dir schützen, und ich werde
geneigt sein, mich strategisch zu verhalten, ja, statt zu vertrauen,
mich sogar zu verstellen.
Entsprechendes gilt in der Politik. Diese Weigerung zu ver-
trauen durchzieht jetzt das ganze Land. Meine Studierenden
vertrauen niemandem, der Trump gewählt hat, und sie betrach-
ten solche Menschen als eine feindliche Macht – bestenfalls als
„bedauernswerte Menschen“, schlimmstenfalls als Faschisten.
Viele Trump-Anhänger erwidern das Kompliment und sehen Stu-
dierende und Universitäten als subversive Feinde „echter Men-
schen“ an.
Und es gibt noch eine andere Seite der Verbindung. Wenn Men-
schen sich ängstlich und machtlos fühlen, suchen sie gierig nach
Kontrolle. Sie können es nicht abwarten, zu sehen, wie sich die
Dinge entwickeln werden; sie müssen andere Menschen dazu
bringen, das zu tun, was sie wollen. Wenn sie sich also keinen
wohlwollenden Monarchen suchen, der sie beschützen könnte,
werden sie sich nur allzu wahrscheinlich selbst wie ein Monarch
verhalten. Später werde ich diese Tendenz auf die Art und Weise
zurückführen, mit der Babys versuchen, ihre Betreuungspersonen
zu Sklaven zu machen: Was können sie anderes tun als schreien,
wenn sie ihre eigene Ohnmacht erkennen? Auch auf diese Weise
untergräbt die Angst das gleichberechtigte Geben und Nehmen,
die Wechselseitigkeit, die für das Überleben von Demokratien
unerlässlich ist. Und das führt zu vergeltendem Zorn, der spaltet,
wenn es darum geht, einer ungewissen Zukunft auf konstruktive
und kooperative Weise zu begegnen.
VA: Du hast den Zorn erwähnt. Das führt mich zu einer anderen
Frage: Wozu diese Betonung der Angst? Gibt es nicht viele Gefüh-
le, welche die Demokratie bedrohen? Was hat es denn eigentlich
mit dem Zorn auf sich? Sollten wir uns angesichts seiner aggres-
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warten, bis die Menschen besser oder sich ihrer selbst besser
bewusst werden, um die Dinge, die repariert werden müssen, zu
beheben, und die Konzentration auf Gefühle kann uns sogar von
der strukturellen Arbeit ablenken, die geleistet werden muss.
MN: Ich stimme dir voll und ganz darin zu, dass Strukturen und
Gesetze von entscheidender Bedeutung sind. Die Positionen,
die ich bezüglich dieser Fragen vertrete, werden sich im weiteren
Verlauf zeigen. Doch Gesetze lassen sich nicht ohne die Herzen
und Köpfe der Menschen in Kraft setzen oder aufrechterhalten.
In einer Monarchie ist das nicht der Fall; alles, was der Monarch
benötigt, ist ausreichend Angst, um Gehorsam zu bewirken. In
einer Demokratie benötigen wir viel mehr: Liebe zum Guten,
Hoffnung auf die Zukunft, Entschlossenheit, die zerstörerischen
Kräfte des Hasses, des Ekels und des Zorns zu bekämpfen – die
allesamt, so behaupte ich, durch die Angst genährt werden.
VA ist nicht zufrieden und sollte es auch nicht sein, da bislang nur
Behauptungen aufgestellt, jedoch keine Argumente oder Analysen
angeboten wurden. Dennoch sollte VA inzwischen eine allgemeine
Vorstellung davon haben, in welche Richtung meine Argumenta-
tion zielt. Die gegenwärtigen Probleme – wirtschaftliche, soziale
und die Sicherheit betreffende – sind kompliziert und widersetzen
sich einfachen Lösungen. Wir wissen kaum, wie die Arbeitswelt
sich entwickeln und in den nächsten Jahrzehnten aussehen wird.
Auch die steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung stellen
jede Partei und jeden führenden Politiker vor unglaublich schwie-
rige Herausforderungen. Eine Hochschulausbildung, die für eine
dauerhafte Beschäftigung zunehmend wichtig wird, gerät für viele
amerikanische Bürger immer mehr außer Reichweite. Die verwir-
rende politische Situation im Nahen und im Fernen Osten sollte
zwar von allen verstanden werden, entzieht sich jedoch einer ein-
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Einführung
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zu behandeln, oder dem Ekel vor den Körpern von Menschen mit
Behinderungen. Wir haben das zugelassen, wir alle, und wir können
und müssen es rückgängig machen.
Kurz gesagt: Wir müssen uns selbst erkennen und Verantwortung
für uns selbst übernehmen. So ist es etwa die Aufgabe einer anstän-
digen Gesellschaft, darauf zu achten, wie der Hass auf bestimmte
Gruppen durch soziale Anstrengungen und institutionelle Entwick-
lungen minimiert werden kann. Selbst eine so einfache politische
Entscheidung wie die Entscheidung, Kinder mit Behinderungen in
„normale“ Klassenzimmer zu inkludieren, hat offensichtliche Fol-
gen für die Ausprägungen von Angst und Aggression. Wir müssen
die betreffende Frage untersuchen – in diesem und in vielen anderen
Fällen – und dann, auf der Grundlage dessen, was wir verstanden
haben, Richtlinien auswählen, die Hoffnung, Liebe und Zusammen-
arbeit bewirken, und solche vermeiden, die Hass und Ekel nähren.
Manchmal können wir nur besseres Verhalten hervorbringen, wäh-
rend unter der Oberfläche weiterhin Hass brodelt. Manchmal kön-
nen wir jedoch tatsächlich ändern, wie Menschen einander sehen
und emotional aufeinander reagieren – wie dies im Fall der gemein-
samen Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderungen mit
Sicherheit geschieht. (Es hilft, früh damit zu beginnen.)
Die Philosophie für sich allein diktiert nicht sehr viele konkrete
politische Entscheidungen, denn diese müssen in einem bestimm-
ten Kontext getroffen werden und das Ergebnis einer Partnerschaft
von Philosophie, Geschichts-, Politik-, Wirtschafts- und Rechts-
wissenschaften sowie der Soziologie sein. Doch die Philosophie gibt
uns ein Gefühl dafür, wer wir sind, welche Probleme auf dem Weg
vor uns liegen und in welche Richtung wir uns bewegen sollten. Und,
wie gesagt, ihre Methoden, die eine gleichberechtigte Teilnahme,
Respekt und Gegenseitigkeit umfassen, antizipieren auch einige
wichtige Aspekte des Zustands, auf den wir uns zubewegen sollten.
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Einführung
Sie ist Teil des Studiums unserer politischen Gegenwart, nicht das
Ganze, doch die Philosophie kann uns allen helfen, ein „geprüftes
Leben“ zu führen.
Die Philosophie ist, wie ich gesagt habe, eine sanfte Diszi-
plin. Sie nähert sich dem Menschen mit Respekt vor seiner vollen
Menschlichkeit und ist in diesem Sinne eine Form der Liebe. Häu-
fig kann sie unmissverständlich sagen: „Das ist falsch. Das ist keine
Art zu leben.“ Aber sie tut dies, ohne Menschen auszugrenzen; sie
verurteilt falsche Überzeugungen und schlechte Taten, behandelt
jedoch Menschen immer mit Aufmerksamkeit und Respekt. Ich
glaube, es ist nicht zu gewagt, die philosophische Herangehens-
weise an die Probleme Amerikas mit der Methode der gewaltfreien
politischen Veränderung zu verbinden, wie sie im Leben und Werk
von Martin Luther King Jr. beispielhaft zum Ausdruck kam. King
(der eine wichtige Person in diesem Buch sein wird) bestand auf
einer Haltung gegenüber anderen, die er Liebe nannte, auch wenn
er gegen ungerechte Verhältnisse äußerst heftig protestierte. Wir
müssen uns, so sagte er, unseren Gegnern trotz allem nicht mit
Wut, sondern mit Liebe nähern. Er betonte sogleich immer, dass
es sich dabei nicht um romantische Liebe handele, und sie erfor-
dere nicht einmal, dass wir die Menschen mögen. Die Liebe, die er
forderte, war eine Kombination aus Respekt vor der Menschheit,
gutem Willen und Hoffnung: Wir behandeln Menschen wie Men-
schen, die zuhören und mitdenken und die schließlich gemein-
sam mit uns etwas Schönes aufbauen können. Die Philosophie,
wie ich sie hier praktizieren werde, teilt diesen Vorsatz und diese
Hoffnung.
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Einführung
und uns dann den Rest unseres Lebens mehr oder weniger stark be-
stimmt. Diese Analyse wird uns bereits einige Strategien aufzeigen,
mit denen sich die Angst eindämmen und „entgiften“ lässt, obwohl
sie auch zu dem Schluss gelangen wird, dass wir uns von ihren Ge-
fahren nicht vollständig befreien können.
Im Anschluss daran betrachte ich dann drei Gefühle, die in unse-
rem privaten und im öffentlichen Leben zum Teil unabhängig von
der Angst auftreten, jedoch besonders destruktiv werden, wenn sie
von Angst durchdrungen sind: Zorn, Ekel und Neid. Zunächst ana-
lysiere ich jedes der drei Gefühle und zeige dann ihre negativen Aus-
wirkungen auf das politische Leben in einer Demokratie auf.
Ein eigenes Kapitel widme ich sodann den negativen politischen
Gefühlen gegenüber Frauen, die in unserem jüngsten politischen
Diskurs eine so große Rolle gespielt haben. Ich analysiere die Be-
ziehung zwischen dem Sexismus (den ich als eine Ansammlung von
Ansichten definiere, die behaupten, dass Frauen Männern unterle-
gen sind) und der Frauenfeindlichkeit (die ich als Durchsetzungs-
strategie definiere, als eine Art von virulentem Hass und durch Hass
gesteuerten Verhaltens, das darauf abzielt, Frauen in einer unter-
geordneten Position zu halten). Ich verteidige hier die Auffassung,
dass Frauenfeindlichkeit, die normalerweise, aber nicht notwendig
auf sexistischen Überzeugungen beruht, generell ein toxisches Ge-
bräu aus strafendem Zorn, körperlichem Ekel (der mit sexuellem
Verlangen nicht unvereinbar ist) und Neid auf den zunehmenden
Erfolg von Frauen im Wettbewerb mit Männern ist.
Abschließend wende ich mich Hoffnung, Liebe und Arbeit zu,
beziehungsweise wieder zu, denn jedes Kapitel enthält konstruk-
tive Vorschläge zur Eindämmung oder Überwindung der schädli-
chen Aspekte der jeweils analysierten Gefühle. Was unsere Zukunft
betrifft, bin ich vorsichtig optimistisch, und meine philosophische
Analyse der Hoffnung schlägt Strategien vor, um Hoffnung, Glaube
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Einführung
und die Liebe zur Menschheit zu fördern, gerade in einer Zeit, in der
es besonders schwer zu glauben scheint, dass uns diese guten Ge-
fühle leiten könnten. Obwohl ich einige aktuelle politische Beispiele
verwende, um meine Thesen zu unterstreichen, ist es mein Ziel, zum
Nachdenken, zur Selbstbeobachtung und zur kritischen Auseinan-
dersetzung einzuladen. Zu diesem Zweck gehe ich häufiger auf his-
torische Beispiele ein – vor allem aus dem antiken Griechenland und
Rom, mit denen ich mich in meiner wissenschaftlichen Forschung
lange eingehend beschäftigt habe. Wie ich in der Lehre festgestellt
habe, denken wir oft besser und treten besser zueinander in Bezie-
hung, wenn wir vom Alltag, in dem es um unsere unmittelbaren
Ängste und Wünsche geht, einen Schritt zurücktreten.
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2 Angst: Früh und machtvoll
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Angst: Früh und machtvoll
Wie der Schiffer, den rasende Wogen warfen an Land, liegt nackt es
am Boden, stumm und bedürftig jeglicher Hilfe des Lebens, sobald
in des Lichtes Bereiche es aus der Mutter Leib die Natur mit Wehen
geschleudert, füllt mit traurigem Schrein die Gegend, wie billig für
einen, dem soviel an Leid im Leben bleibt zu durchstehen.1
1 Zitiert nach: Lukrez, De rerum natura/Welt aus Atomen, übers. von Karl Bücher,
Philipp Reclam jun., Stuttgart 2008, 5, Zeile 222–227. Titus Lucretius Carus lebte
von etwa 99 bis 55 v. Chr., also zu Beginn des langen Abgleitens der Römischen
Republik in eine Tyrannei. Als Schüler des griechischen Philosophen Epikur (341–
270 v. Chr.) schuf er ein sechsbändiges episches Gedicht in daktylischen Hexame-
tern, um Epikurs Lehren über Angst, Aggression und den Aufbau des Universums
bekannt zu machen. Da Lukrez Zugang zu mehr Schriften Epikurs hatte als wir,
ist es schwer zu sagen, wie viel auf seinen schöpferischen Geist zurückgeht, doch
sicherlich stammen alle brillanten poetischen Bilder und zumindest ein Teil der
Philosophie (vor allem diejenigen Teile, die den Epikureismus mit römischen
Werten in Einklang bringen) von ihm. Es gibt viele gute Übersetzungen. In die-
sem Buch erstelle ich meine eigenen englischen Übersetzungen, die eher unbe-
holfen und wörtlich sind; meine Lieblingsübersetzung, die den Geist der Dich-
tung am besten einfängt, ist diejenige von Rolfe Humphries (Bloomington 2008).
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Angst: Früh und machtvoll
2 Eine brillante Nachbildung, die im Detail auf dem basiert, was wir heute aus der
Forschung wissen, ist das Tagebuch eines Babys des Psychologen Daniel Stern
(München 1990); eine prosaischere Version findet sich in seinem Buch Die Le-
benserfahrung des Säuglings, Stuttgart 2003.
3 Vgl. die Diskussion über Joseph LeDoux weiter unten.
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Angst: Früh und machtvoll
Tatsächlich wissen wir, was mit uns geschieht.4 Im Alter von einem
Monat kann ein Kind den Unterschied zwischen seinen eigenen Eltern
und anderen Menschen erkennen, obwohl es erst viel später eine Per-
son als Ganzes wirklich sehen kann oder versteht, dass die blinkenden
Bilder, die sich in sein Blickfeld und aus ihm heraus bewegen, stabile En-
titäten sind. Tatsächlich benötigt ein Kleinkind Monate, bis es den Un-
terschied zwischen Teilen seines eigenen Körpers (Füße, Hände) und
physischen Gegenständen außerhalb seines Körpers begreift. Klein-
kinder experimentieren ständig mit Gleichartigkeit und Äußerlich-
keit, greifen nach ihren eigenen Zehen, stecken sich Teile des eigenen
Körpers (Daumen, Finger) und äußere Gegenstände (das Ende einer
Decke, einen Schnuller) in den Mund. Doch all dieses Lernen entfaltet
sich – und bloßes Schreien wird allmählich zu halb artikulierten Sil-
ben – lange, bevor ein Kind selbstständig gehen oder gar krabbeln kann.
Normalerweise überleben wir diesen Zustand. Wir überleben ihn
jedoch nicht, ohne davon ge- und verformt zu werden. Die Angst,
genetisch gesehen die erste unter den Emotionen, bleibt als Unter-
grund aller Gefühle vorhanden. Sie infiziert sie alle und nagt an den
Rändern von Liebe und Gegenseitigkeit.
Es gibt aber auch gute Zeiten. Wie Lukrez weiß, ist diese Welt des
Schmerzes auch eine Welt der Freude. „An die Ufer des Lichts“ sind
wir gekommen, in eine Welt von bewundernswerter Schönheit und
voller aufregender Dinge. Das Licht verzaubert, und praktisch die
erste freiwillige Bewegung eines Kindes besteht darin, mit seinen
4 Meine Ansichten lehnen daher Freuds einfachen Hedonismus ab, der Säuglingen
nicht besonders viel an Objektbewusstsein zuschreibt; wie in anderen Arbeiten
auch, folge ich hier der Schule der „Objektbeziehungen“ von Denkern wie Wil-
liam R. D. Fairbairn und besonders Donald Winnicott, der in den USA heute der
dominierende Theoretiker in der Ausbildung von Psychoanalytikern ist. Melanie
Klein steht dieser Schule nahe, ist jedoch eine eigenständige Analytikerin, die
sich einer Kategorisierung entzieht. Detaillierte Diskussionen über die Ansichten
aller drei findet man in meinem Buch Upheavals of Thought: The Intelligence of
Emotions (New York 2001) in Kapitel 5.
39
Angst: Früh und machtvoll
Augen dem Licht zu folgen. Doch die beginnende Freude und Liebe
werden bald vom Schmerz der Not überwältigt.
Es gibt allerdings auch Zeiten einer ruhigen Behaglichkeit: Du
saugst an der Mutterbrust oder der Flasche. Du liegst auf einem
warmen Körper, der ein bisschen süß, ein bisschen salzig riecht.
Du wirst von tröstenden Armen umschlossen. Aber du selbst hast
das nicht herbeigeführt. Irgendwie ist es dir einfach zugestoßen,
und du hast noch keine Vorstellung davon, wie du es herbeiführen
kannst, wenn du es brauchst. Selbst wenn du zu entdecken be-
ginnst, dass dem Schreien (nach einer Pause) regelmäßig Nahrung
und Beruhigung folgt, ist es noch immer nicht so, dass du dich
selbst trösten oder ernähren könntest. Die einzige Möglichkeit,
das zu bekommen, was du brauchst, besteht darin, dass ein ande-
rer Teil der Welt es dir gibt.
Die Politik beginnt dort, wo wir beginnen. Die meisten poli-
tischen Philosophen waren Männer, und selbst wenn sie Kinder
hatten, verbrachten sie normalerweise keine Zeit mit ihnen oder
beobachteten sie nicht genau. Die poetische Fantasie von Lukrez
führte bereits ihn an Orte, an die er in seinem Leben wahrschein-
lich nicht kam. Doch die Philosophie machte große Schritte nach
vorn, als einer der großen frühen Theoretiker der Demokratie,
Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) – ein bedeutender Begründer
der revolutionären, anti-monarchistischen Politik des 18. Jahrhun-
derts – mit einem tiefen Verständnis der Psychologie der Kind-
heit und ihrer Gefahren für das demokratische Projekt über die
Erziehung von Kindern schrieb.5 Rousseau war das Gegenteil ei-
5 Rousseaus Ansichten sind nicht die meinen; sein Werk Der Gesellschaftsvertrag
(1762) schreibt unter der Überschrift „Zivilreligion“ eine zwingende Homogeni-
tät des Denkens und Sprechens vor, ohne Raum für die Rede-, Presse- und Verei-
nigungsfreiheit zu schaffen, die seinen amerikanischen Kollegen und britischen
Denkern wie John Locke und später John Stuart Mill so wichtig waren.
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Angst: Früh und machtvoll
6 Rousseau, Émile oder Über die Erziehung, Leipzig o. J., Buch I: „So entsteht gera-
de aus ihrer Schwäche, der zunächst das Abhängigkeitsgefühl entspringt, später
die Vorstellung des Befehlens und Herrschens.“ Übers. von Herrman Denhardt,
gemeinfreier Text verfügbar unter www.zeno.org/Philosophie/M/Rousseau,
+Jean-Jacques/Emil+oder+Ueber+die+Erziehung (abgerufen am 22.10.2018).
Rousseau glaubte, dass man sehr früh damit anfangen kann, sich dieser ängstli-
chen Abhängigkeit zu erwehren, indem man freie Beweglichkeit und eigenstän-
dige Sorge um das eigene Selbst fördert. Den Einzelheiten seiner Ansichten folge
ich nicht; vielmehr entwickle ich Rousseaus ursprüngliche Einsichten auf meine
eigene Weise weiter, beeinflusst von Psychologen wie David Stern und vor allem
von den Ansichten Donald Winnicotts.
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Angst: Früh und machtvoll
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Die Definition von Angst
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Angst: Früh und machtvoll
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Die Definition von Angst
nichts wert ist. Doch im Falle des disziplinierten Soldaten drückt sich
das Bewusstsein der Gefahr meist nicht als Zittern aus.
Wir können noch weiter gehen: In vielen Fällen haben die Men-
schen Angst, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Jeden
Tag sind die meisten von uns in vielem von dem, was wir tun, durch
die Angst vor dem Tod motiviert. Wir laufen nicht vor Autos auf
die Straße (es sei denn, unsere Smartphones sind uns lieber als un-
ser Leben!). Wir versuchen, auf unsere Gesundheit zu achten, wir
gehen zum Arzt und so weiter. Die Angst vor dem Tod ist oft sehr
nützlich, aber sie ist meistens unbewusst, genau wie der Glaube an
die Schwerkraft oder der Glaube an die Festigkeit physischer Ge-
genstände – sie sind unbewusst und doch ist das Vertrauen darauf
allgegenwärtig.
Wir benötigen keine psychoanalytische Doktrin der Verdrän-
gung, damit wir verstehen, dass die Angst häufig unter der Oberflä-
che des Bewusstseins lauert. Doch ich denke, dass wir noch weiter
gehen können und sollten: Es ist für ein friedliches Alltagsleben von
wesentlicher Bedeutung, dass wir diese Angst in den Hintergrund
unseres Bewusstsein drängen. Lukrez, der wahrscheinlich der ers-
te Theoretiker der unbewussten Angst war, merkt an, dass diese
Anstrengung manchmal zur Last wird. Statt zu zittern, haben wir
vielleicht das Gefühl, dass ein „großer Berg auf unserer Brust sitzt“.
Oder wir zeigen ein hektisches Vermeidungsverhalten, eine rastlo-
se Aktivität, die nur auf Selbstablenkung abzielt. Denken wir an das
Reisen mit dem Flugzeug. Manche Menschen haben eine bewusste
Flugangst. Wesentlich mehr Leute drängen diese Angst jedoch in
den Hintergrund ihres Bewusstseins, empfinden aber dennoch eine
innere Last oder eine Anspannung und ein stärkeres Bedürfnis als
sonst, sich mit E-Mails, Essen oder ziellosen Gesprächen abzulen-
ken. Andere sind vielleicht einfach nur gereizter als sonst oder we-
niger fähig, sich zu konzentrieren.
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The third illustration facing page 134 is interesting as
representative of a type of coasting steamer introduced about the
year 1855. She shows very well the simplest form of an iron ship
propelled with a screw, and evinces sufficient resemblance to the
dying sailing ship before the steamer had taken on a distinctive
character of her own. In a word, here is the steamship not in her
crudity, as in the case of the Clermont, but certainly in her
elementary form without any of those extra decks and houses which
were still to come, and which to-day give such distinct personality to
the steamship. It will be seen that she is just a flush-decked vessel,
with a central protection amidships for her engines and boilers.
There is no forecastle, no poop, and in the development of type she
stands at the beginning. She was built for the North Sea trade, and
in bad weather must have been a singularly wet boat. She was only
of 677 tons gross register, and the absence of any shelter would,
when steaming to windward in a bad sea, cause her to be swept
from end to end. Similarly, her stern being equally unprotected by
either poop or quarter deck, she would be at the mercy of a bad
following sea. It was not surprising that this elementary type soon
gave way to those modifications that we shall see hereafter. In
design of her body this present model illustrates again Scott
Russell’s system of obtaining a capacious ship combined with the
qualities of slipping through the water with the minimum of
resistance. This will be especially noticeable by regarding the long
straight middle body. She was propelled by oscillating engines, and a
two-bladed screw, having also sails on her three masts.
And so we come to that famous monstrosity and wonder of her
decade the Great Eastern, some idea of whose appearance will be
obtainable from a model of her, illustrated herewith. Here again will
be found a repetition of a curious rig with the half-dozen masts, of
which the second and third carried yards and square-sails, and the
others the usual fore-and-aft sails set on the gaffs here seen.
Although she carried one triangular headsail, yet this was a staysail,
and it is significant that in this notable ship we find the
disappearance of the bowsprit, a change that is so characteristic of
the modern liner. Much more than either the Great Western or the
Great Britain this epoch-making monster stands for something
altogether distinctive in the evolution of the steamship. Frankly, in
spite of her virtues, she was a creature born out of due time.
Historically, she exhibits in no uncertain manner the extraordinary
and almost incredible speed at which the development of the
steamship had progressed in fifty years, during which period
designers, ship-builders, and engineers had to feel their way in the
most cautious manner. No ship was built with such a length as hers
until the White Star Oceanic in 1899; no vessel ever had such a
beam until the coming of the Mauretania and Lusitania, and even
they only exceed the Great Eastern’s extreme width by a mere five
feet. But it is half a century since the latter was built, when all the
experience that we possess now was not yet obtained.
The period which follows after about the year 1862 is notable as
witnessing not only the gradual universal adoption of the screw in
steamships, but the more general appreciation of iron as the material
from which to construct a vessel’s hull. After the prejudices which
already we have seen arising at different stages of the steamship’s
history, it was scarcely to be wondered at that iron should come in
for its full share of virulent criticism and opposition. The obvious
remark made on all sides was that to expect iron to float was to
suppose that man could act exactly contrary to the laws of Nature,
and this notwithstanding that already, besides barges, a few ships
thus built had somehow not only managed to keep afloat, but to
traverse channels and oceans in perfect safety, carrying such heavy
weights as their own machinery, to say nothing of their cargoes and
human freights. But slowly the public prejudice began to wane.
Already the Cunard Company had given way to iron in 1856, and in
1860 the Admiralty were at last convinced that the new method was
just and sound. Within the limited scope at our command we have
not space here to enter into the elaborate discussion of matters
which have to be taken for granted before the building of the
steamship begins. But the plain answer to the natural inquiry, as to
how and why a vessel made out of iron does not immediately sink to
the bottom as soon as ever she is launched, is this: whereas iron in
itself is far heavier than water, yet the iron ship has not the same
specific gravity as the iron from which it is made. Therefore, the ship
of this material will be supported by the water in which it is placed.
In actual displacement, an iron ship is proportionately lighter
than a ship built of wood, and by “displacement” is meant the amount
of water which a vessel displaces through being allowed to float. Of
course, the quantity of water which a ship displaces (or pushes to
one side) depends entirely on the weight of the vessel, and is exactly
equal to the weight of the ship. Thus, suppose we were to fill a dock
with water up to the level of the quay and then lower down into it by
means of gigantic cranes a Mauretania or Lusitania, the water would,
of course, flow over on to the quays. Now the amount of water thus
driven out would be the exact equivalent of the liner’s displacement.
When we say, for instance, that the displacement of the Mauretania
is 40,000 tons, when loaded, we mean that her total weight when
loaded is this number of tons, and her hull when afloat puts on one
side (or “displaces”) just that amount of water.
Now, as compared with wooden ships, the use of iron meant a
saving in displacement of about one-third, taking the wooden and the
iron ships to be of the same dimensions. From this followed the fact
that the iron ship could carry a greater amount of cargo with
consequent greater profit to her owners. And, as I have already
indicated in another chapter, before it was possible to build ships of
great length iron had to be introduced to enable them to endure such
longitudinal strains. Again, a wooden ship must have her skin and
ribs made of a thickness far greater than an iron ship, for the clear
reason that one inch of iron is much stronger than one inch of wood;
in other words, to obtain a given strength the iron will take up less
room in the ship. Thus in an iron steamer there will be more space
available for cargo than in a wooden ship of the same design. We
could go on enumerating the advantages of iron, and quote
instances of iron ships, whose cargo had got on fire, arriving safely
in port and coming into dock where the assistance of the local fire-
brigade had enabled the vessel’s own pumps to get the conflagration
under. It is only as recently as December of 1909 that the Celtic, the
well-known White Star liner, during a voyage between New York and
Liverpool, had the misfortune to get on fire while at sea. By means of
tarpaulins and injections of steam it was possible to control the
burning until the Mersey was reached, when it was intended to flood
her holds. Had she been a wooden ship instead of steel, or even
iron, the Celtic would undoubtedly have ended her days in the
Atlantic.
The first Atlantic company to build all its steamers of iron was the
Inman Line, which had been founded in 1850, and until 1892 was
one of the foremost competitors for the coveted “blue ribbon” of the
Atlantic. Their first ships had been the City of Glasgow and the City
of Manchester, and these, inasmuch as they were built of iron, and
were propelled by a screw at a time when prejudice had not yet died
down, were entirely different from the prevailing type of steamer; and
this, it should be remembered, at a period six years before the
Cunard had built their iron Persia. This City of Glasgow was built by
a Glasgow firm of shipbuilders, and Mr. Inman had sufficient
confidence in her to purchase her and form a company. Barque-
rigged, with a single funnel, she was of only 1,610 tons and 350
horse-power. Under the command of Captain B. E. Matthews, who
had been on the famous Great Western, she had already crossed
from Glasgow to New York and back in 1850, and on December 11th
of that year began her regular sailings between England and
America. The City of Glasgow—all the ships of this line were named
after cities—was fitted up in a manner which at that time called forth
the greatest admiration. “One room,” wrote a correspondent in the
Glasgow Courier, about that date, “is being fitted up as an
apothecary’s shop, from which the surgeon will dispense his
medicines.” She was provided with five water-tight bulkheads, and
had a propeller whose diameter was 13 feet, with an 18 feet pitch. It
was in connection with the Inman ships that the custom was
inaugurated of carrying steerage passengers on the best Atlantic
liners, although hitherto they had been taken across solely on board
sailing ships.
THE “CITY OF PARIS” (1866).
From the Model in the Victoria and Albert Museum.