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PDF of Wahnsinnsfilme Psychose Paranoia Und Schizophrenie in Film Und Serie Martin Poltrum Full Chapter Ebook
PDF of Wahnsinnsfilme Psychose Paranoia Und Schizophrenie in Film Und Serie Martin Poltrum Full Chapter Ebook
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Martin Poltrum · Bernd Rieken · Ulf Heuner Hrsg.
Wahnsinnsfilme
Psychose, Paranoia und
Schizophrenie in Film und Serie
Wahnsinnsfilme
Martin Poltrum • Bernd Rieken • Ulf Heuner
Hrsg.
Wahnsinnsfilme
Psychose, Paranoia und Schizophrenie
in Film und Serie
Hrsg.
Univ.-Prof. Dr. Martin Poltrum Univ.-Prof. Dr. Dr. Bernd Rieken
Sigmund-Freud-Privatuniversität Sigmund-Freud-Privatuniversität
Wien, Österreich Wien, Österreich
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detail-
lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil
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Planung/Lektorat: Katrin Lenhart
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Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Wahnsinnsfilme
V
VI Wahnsinnsfilme
Da viele Spielfilme eine Liebeshandlung beinhalten, die oft sogar im Zentrum der fil-
mischen Erzählung steht, werden natürlich auch die Schattenseiten des Eros und die Pa-
thologien der Liebe porträtiert. Wahnsinnsliebe, Stalking, Eifersuchts- und Liebeswahn
finden sich in Filmen wie Eine verhängnisvolle Affäre (1987), Die Hölle (1994), Wahnsin-
nig verliebt (2002), Das Irrenhaus (2002), Enduring Love (2004), Lars und die Frauen
(2007) und Obsessed (2009).
Psychosen sind in der Realität sehr häufig extrem angstbesetzte und leidvolle Angele-
genheiten, unter denen Patienten und Angehörige fast zerbrechen. Sie eignen sich damit
für filmische Charakterstudien, wie z. B. Das weiße Rauschen (2002), Aus tiefster Seele
(2000), Die Summe meiner einzelnen Teile (2011) oder Hirngespinster (2014).
Der Wahn kann psychopathologisch auch als eine Form der Selbstheilung und Selbst-
medikation verstanden werden, das ist nicht nur ein Gedanke der frühen Paranoiatheorie
Sigmund Freuds, sondern auch eine Überlegung, die mittlerweile in einer Reihe ausge-
zeichneter Spielfilme angekommen ist – z. B. in Der König der Fischer (1991), Don Juan
DeMarco (1995), K-PAX – Alles ist möglich (2001) und Shutter Island (2010).
In diesem Buch werden anhand ausgewählter Spielfilme und Serien, die für den Be-
reich der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie einen besonderen Erkenntniswert
haben, die psychopathologischen, phänomenologischen und philosophischen Aspekte des
Wahns, der Schizophrenie und der Psychose reflektiert und problematisiert. Damit möch-
ten wir zur wissenschaftlichen Rezeption unseres Themas beitragen und wünschen viel
Freude bei der Lektüre.
1
Wahn und Wahnsinn im Stummfilm
Psychose im frühen Kino (1902–1929) ������������������������������������������������������������������ 1
Dennis Henkel
VII
VIII Inhaltsverzeichnis
8 Wahnsinnig begabt
A Beautiful Mind (2001) �������������������������������������������������������������������������������������� 115
Jan Philipp Amadeus Aden
9
Notwendig falsche Diagnose – Zeitreisende sind immer verrückt
12 Monkeys (1995)������������������������������������������������������������������������������������������������ 133
Ulf Heuner
Univ.-Ass. Dr. Jan Aden Jan Aden ist Psychologe und seit 2019
Leiter des Instituts für Statistik der Fakultät für Psychologie an der
Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Sein Arbeitsbereich umfasst
Lehrtätigkeiten zur quantitativen Methodenlehre und Differenziellen
Psychologie sowie die Durchführung und methodische Supervision
sozialwissenschaftlicher Forschungsprojekte.
Dr. med. Dirk Arenz Geboren in Bonn, dort nach dem Grundstu-
dium Germanistik und Philosophie Wechsel zur Medizin. Nach Lek-
türe von Kafka und den Expressionisten blieb nur die Psychiatrie als
ernstzunehmende medizinische Fachrichtung. Nach Stationen in
verschiedenen Kliniken in Bonn, Halle, Leverkusen, Köln und
Andernach erfolgte 2003 der Wechsel als Chefarzt an das
Marien-Hospital in Euskirchen. Spezielle Interessen liegen – neben
XI
XII Über die Autoren
Mag. med. vet. Mag. pth. Martina Heichinger Studium der Veteri-
närmedizin an der Veterinärmedizinischen Universität Wien, Studium
der Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniver-
sität Wien. Lehrbeauftragte der Sigmund-Freud- Privatuniversität
Wien. Eingetragene Psychotherapeutin (Individualpsychologie) sowie
Lehranalytikerin und stellvertretende Leiterin des Fachspezifikums
Individualpsychologie, berufliche Tätigkeit in eigener Praxis sowie im
öffentlichen Dienst der Stadt Wien.
Dr. phil. Ulf Heuner arbeitet als Verleger und Lektor in Berlin.
Studium der Philosophie und Theaterwissenschaft in Erlangen und
Berlin. 1999 Promotion an der Universität Leipzig. Buchpublikati-
onen u. a.: Tragisches Handeln in Raum und Zeit. Raum-zeitliche
Tragik und Ästhetik in der sophokleischen Tragödie und im grie-
chischen Theater. Stuttgart 2001; Klassische Texte zum Raum.
Berlin 2006/20084 (Hrsg.); Patzer, Pannen, Missgeschicke. Das
erste Überlebenshilfebuch. Stuttgart 2007; Wer herrscht im Theater
und Fernsehen? Berlin 2008; Ästhetik als Therapie. Therapie als
ästhetische Erfahrung (Hrsg. zus. m. Martin Poltrum). Berlin 2015.
XIX
XX Autorenverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Vorwort 3
Entflohene Irre, blanker Wahnsinn und die Neurasthenie 3
Schädelhirntrauma, hirnorganisches Psychosyndrom und Amnesie 8
Rahmensprengende Grenzfälle: Größenwahn und Mord 11
Wahn, Paranoia und Zwangsvorstellungen 12
Therapieansätze: Vom Irrenasyl zur Psychoanalyse 13
Resümee 16
Literatur 18
D. Henkel (*)
Wuppertal, Deutschland
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 1
von Springer Nature 2023
M. Poltrum et al. (Hrsg.), Wahnsinnsfilme,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-64178-1_1
2 D. Henkel
Filmplakat Schatten. (© absolut MEDIEN. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher
Genehmigung)
1 Wahn und Wahnsinn im Stummfilm 3
Vorwort
Im Jahre 1895, welches gemeinhin als Geburtsjahr des Kinos gilt, war die diagnostische
Verortung des Krankheitsbildes der Schizophrenie noch nicht etabliert (Filmplakat) bzw.
die Störung selbst eine im Wandel der psychiatrischen Terminologie begriffene Patholo-
gie. Die Nosologie hatte unterschiedliche Ansätze, bis der deutsche Psychiater Emil Krae-
pelin die bis dahin üblichen Krankheitskonzepte als Dementia praecox zusammenfasste
(Porter 2007, S. 514). Erstmals als Formenkreis der Schizophrenien präsentierte der
Schweizer Psychiater Eugen Beuler jenes Krankheitsspektrum in einem Vortrag der Jah-
resversammlung des Deutschen Vereins für Psychiatrie 1908 in Berlin (Hoff 2015). Ein-
gang in die klinische Diagnoseroutine erhielt die Terminologie allerdings erst in den
1920er- und 1930er-Jahren (Platzek 2014). Es macht daher wenig Sinn, im frühen Kino
nach der Schizophrenie als solcher zu forschen. Zielführend ist hier die Suche nach Kern-
symptomen, die als Wahn oder weiter gefasst als Irr- bzw. Wahnsinn umschreiben werden
können. Es sollen aber auch historische Krankheitskonzepte wie das der Hysterie und
Neurasthenie einbezogen werden, welche in schweren Verlaufsformen wahnhafte Symp-
tome zeigen können. Nicht beachtet wurden bei der Recherche hingegen die vielen For-
men des Deliriums; als prominentes Beispiel sei hier das Delirium tremens genannt, wel-
ches gerade im Suchtfilm der Zeit häufig in Szene gesetzt wurde, so z. B. in Die Opfer des
Alkoholismus (Italien 1902, Ferdinand Zecca) oder Narcotica (Österreich 1924, Leopold
Niernberger; Henkel 2019, S. 15 u. 90).
Warum Irre, Wahnsinnige und Verrückte ein so beliebtes Sujet für die Filmemacher der
Stummfilmzeit waren (Tab. 1.1), lässt sich rasch verdeutlichen: Der Verlust der Zurech-
nungsfähigkeit, potenzielle Eigen- wie Fremdgefährdung und die nebulösen Ursachen
hüllten den Wahn- und Irrsinn in eine beängstigende Aura, die zahlende Zuschauer in die
Kinos strömen ließ. Ein Umstand, der sich bis heute in seiner Bedrohlichkeit kaum verän-
dert zeigt: Die aktualisierte klinische Leitlinie präsentiert ernüchternde epidemiologische
Fakten, allen voran die hohe Suizidrate von bis zu 15 % bei Schizophrenie-Kranken (Ärz-
tezeitung 2020). Auf die separate Darstellung des Suizids als häufigen Endpunkt der Er-
krankung wird aber verzichtet, da dieses häufige Motiv im frühen Kino an anderer Stelle
en détail analysiert wurde (Henkel 2020b). Diese Zahlen lassen nachvollziehen, warum
schon bereits 1904 die ersten kinematografischen Irren über die Leinwand flackerten und
den Einstieg in Wahn und Wahnsinn des stummen Kinos bieten.
Die Prognose von Geisteserkrankungen war um 1900 wenig ermutigend. Zwar wurden in
Folge von Phillipe Pinels Bemühungen, die Irrenasyle humaner zu gestalten, das Bild und
die Bedingungen von bzw. für psychiatrische Patienten menschlicher, doch ein Zitat eines
britischen Nervenarztes um 1900 propagiert wenig Zuversicht: „wir wissen viel und kön-
nen wenig tun“ (zit. nach Porter 2007, S. 514f).
4 D. Henkel
Dieses Gefühl der Hilflosigkeit drängte sich schnell in die Kinosäle, wo die Geistes-
kranken nicht nur den Asylen regelhaft entfliehen konnten, sondern auch die Bevölkerung
in Atem hielt.
Den Beginn macht The Escaped Lunatic (1904, Wallace McCutcheon), in dem ein
Umnachteter glaubt, er sei der französische Feldherr Napoleon. Amüsanter Weise trägt der
Patient ein Napoleon-Kostüm in seiner Zelle, was ihn aber nicht daran hindert, seine Wär-
ter zu überwältigen und die Flucht anzutreten. In Slapstickmanier folgt eine irrwitzige
Verfolgungsjagd durch Wälder und über Dächer, bis der Umnachtete gefasst wird. Das
hier gezeichnete Bild des Kranken ist ein gern genutztes Klischee (man denke an den „ir-
ren Napoleon-Onkel“) aus der berühmten Screwball-Komödie Arsenic and Old Lace
(Arsen und Spitzenhäubchen; USA 1944, Frank Capra), dessen Bedrohlichkeit hinter der
komödiantischen Fassade durchschimmert: Der falsche Napoleon wirft einen der Pfleger
während der Jagd von einer Brücke. Wie erfolgreich diese kleinen Verfolgungsfilmchen
um Verrückte waren, zeigt Maniac Chase (USA 1904, Edwin S. Porter) der Produktions-
firma Edison, der noch im selben Jahr ein nahezu identisches Werk produzierte und den-
noch Erfolg hatte. Der Regisseur ist mit dem Meilenstein The Great Train Robbery (USA
1903, Edwin S. Porter) in die Filmgeschichte eingegangen, schafft hier aber nur ein rein
kommerziell orientiertes Plagiat ohne Autarkie.
Origineller sehen wir den entflohenen Irren in Dr. Dippy’s Sanitarium (USA 1906,
Regie unbekannt) flüchten, der ohne Anwendung von Gewalt zur Raison gebracht werden
kann. Dies bewerkstelligt eine der ersten Arztfiguren der Filmgeschichte, die dem Proto-
typus des „Dr. Dippy“ entspricht. Diese Mediziner-Figur zeichnet sich durch eine leicht
kauzige, amüsante, aber kompetente Charakterisierung aus (andere Arzt-Prototypen sind
der „Dr. Evil“ und der „Dr. Wonderful“, Gross 2012, S. 11f.). Der Film endet mit Picknick
im Grünen.
Eine weitere, oft genutzte Stereotype des Irrsinnigen soll mit Crazy Like a Fox (USA
1926, Leo McCarey) vorgestellt werden: der harmlose Retardierte. Der Oscarpreisträger
McCarey inszeniert den Komiker Charlie Chase in der turbulenten Slapstickkomödie als
Blaupause dieses Figurentypus. Der Protagonist fingiert hier die Krankheit zwar, um eine
Heirat zu vermeiden, doch die Symptomatik wird beispielhaft mit kindlich-debilen Hand-
lungen des vermeintlich Kranken gefilmt. Im Verlauf des Films gibt ein Mediziner-
6 D. Henkel
Ratschläge, die den geringen Realitätsanspruch des Werkes unterstreichen: Die Anwesen-
den sollen sich ebenfalls verrückt verhalten, was in einem genre-typischem
Durcheinander endet.
Eine ernstere Darstellung brachte Professor Camillo Negro mit La neuropatologia (Ita-
lien 1908, Camillo Negro) auf die Leinwand. Das Werk zeigt eine Patientin, die in ihrem
Bett einen hysterischen Krampfanfall erleidet, der mit dem pathognomonischen Arc de
cercle endet. Die fehlende Handlung kompensiert der Streifen durch voyeuristische Ten-
denzen, illustriert aber, wie man sich die schweren Fälle der Hysterie und Neurasthenie
vorstellte. Eine Interpretationsgeschichte von Krampfanfällen – von den Anfängen der
mystifizierten Besessenheit bis zur modernen psychogenen oder somatischen Erklärung –
arbeitet Häxan (Schweden und Dänemark 1922, Benjamin Christensen) in semidokumen-
tarischer Manier auf.
Weitaus differenzierter imponiert die Darstellung der Neurasthenie in Bolnye nervi
(aka Neurasthenia; Russland 1929, Noi Galkin). Ein Arbeiter ist hier derart überlastet,
dass seine Frau ihm nach dem Heimweg ein „ … schon wieder die Nerven?“ zur Begrü-
ßung entgegnet. Ihn plagen Insomnie und Vergesslichkeit bis hin zur Verwirrung, sodass
ein Arzt prompt die Diagnose der Neurasthenie stellt. Nun werden neurologische Grund-
lagen, Pathologien und Präventionsmaßnahmen doziert; zur Genese werden Elektrothe-
rapie, Hydrotherapie (die „Charcotsche Dusche“) und Reizabschirmung präsentiert.
Eine moderne Darstellung des seltenen wahnhaften Stadiums des Krankheitsbilds, auch
wenn der Regisseur sich in der zweiten Hälfte zu sehr im dozierenden Aufklärungsfilm
verliert.
Der Filmpionier D. W. Griffith warf mit seinem erstklassigen The House of Darkness
(USA, 1913, D. W. Griffith) erstmalig Fragen zur Ätiologie auf. Die Protagonistin des
Films verliert sich nach dem Tod ihres Kindes in einem tranceähnlichen Zustand. Sie wird
in ein Sanatorium gebracht, wo ein gewalttätiger Mitpatient auffällig wird. Dieser ver-
sucht aus dem Krankenhaus zu flüchten und wird am Ende durch Pianospiel in Rekonva-
leszenz geführt – „The beginning of more musical therapie“ tönen die Zwischentitel. Ein
gelungener Film, der nicht nur Schicksalsschläge als Ursache thematisiert, sondern auch
neue Therapiemöglichkeiten auslotet und propagiert.
Filmbeispiel 1
Eine Seite des Wahnsinns (Kurutta Ippēji aka Kurutta Ichipeiji; Japan 1926, Kinugasa
Teinosuke) ◄
Der japanische Regisseur Kinugasa Teinosuke drehte mit Eine Seite des Wahnsinns die
Geschichte eines Familienvaters und Wärters einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt –
in der zugleich dessen Ehefrau in Behandlung ist. Eines Tages besucht die Tochter des
Paares die Mutter, um von ihrer Verlobung zu berichten. Nun stellt sich in Form von Rück-
1 Wahn und Wahnsinn im Stummfilm 7
blenden heraus, dass die Erkrankte durch die Schuld des Ehemannes das gemeinsame Kind
verlor und so in den Wahnsinn getrieben wurde. Der Vater bekommt daraufhin Probleme
mit der Ausübung seiner Wärterpflicht, nachdem er seine Schlüssel verliert und in eine
handgreifliche Auseinandersetzzungen mit einem Arzt gerät. Als wäre dies nicht genug,
beginnt er (wie seine Gattin) immer stärkere Tendenz zu Halluzinationen und Wahnvorstel-
lungen zu entwickeln, die ihm den Bezug zur Realität abhandenkommen lassen (Abb. 1.1)
Der Film hat keine Zwischentitel, wurde aber von einem japanischen Stummfilmerzäh-
ler – dem klassischen Benshi – begleitet. Für die Story zeigte sich der Nobelpreisträger
Yasunari Kawabata verantwortlich, daher wird das Werk der Kunstströmung des Shink-
ankakuha zugerechnet (Richie 2005, S. 86–90), die den deutschen Expressionismus und
europäische Literatur zum Vorbild nahm. Gleichzeitig rechnet man den Film aber auch der
filmhistorischen Strömung Jun’eigageki-undô an, die nach einer autarken japanischen
Filmsprache strebte.
Kinugasa lotete alle Möglichkeiten aus, die der Filmsprache der Zeit zur Verfügung
standen: Die Mise-en-scène der Anstalt ist düster und bedrohlich gestaltet, die nahezu
allpräsenten Schatten lassen an den Caligarismus denken und die furiose Schnitttechnik
scheint eine Reminiszenz an die sowjetische Montageschule zu sein. Revolutionär impo-
niert die Perspektive der Erzählung, denn der Filmemacher wählt wahnhafte Figuren in
subjektiver Erzählperspektive. Jenes ermöglicht die kinematografische Visualisierung der
verrückten Wahrnehmungswelt und versucht so, Irrsinn für den Rezipienten erlebbar zu
machen. Dies wird auf künstlerisch höchstem Niveau realisiert: Überblendungen,
Zeitraffer-Aufnahmen, Splitscreens, rasante Montagen und experimentierfreudige Kame-
raperspektiven erschaffen die gleiche Verwirrung im Kopf des Zuschauers, wie jene, die
im Kopf der Leinwand-Patienten tobt. Auch Ursachen präsentiert der Film: die Charakte-
risierungen der Figuren zeichnet sich durch Schuldgefühle und frühere Verluste aus, die
einer Stigmatisierung der Kranken durch das Publikum vorbeugen. Für Mediziner hat das
Werk kaum Platz, die kleinen Rollen für Ärzte und Pflegepersonal muten wie die Heil-
stätte eher düster, distanziert und kalt-professionell gezeichnet an.
8 D. Henkel
Als der verschollen geglaubte Film 1971 wiederentdeckt wurde, kam dies einer kleinen
filmhistorischen Sensation gleich – ein Urteil, dass man aus medizinhistorischer Perspek-
tive nur unterstreichen kann!
Schädelhirntraumata können zahlreiche Folgeschäden mit sich bringen, die den Geistes-
zustand beeinträchtigen. Das machten sich die Filmemacher der Stummfilmzeit zu Nut-
zen, um hochdramatische Handlungen zu entwerfen.
Den Einstieg in die filmischen Hirntraumata-Folgen macht der Komiker John Bunny in
Hearts and Diamonds (USA 1914, George D. Baker). Bunny ist heute in Vergessenheit
geraten, hatte zu seiner Zeit aber Einfluss auf den Komödianten W. C. Fields und erfreute
sich großer Beliebtheit (Kerr 1975, S. 56). Im Verlauf der Handlung beginnt ein umher-
schleichender, verrückter Baseballspieler die Nachbarschaft unsicher zu machen. Die Ur-
sache war ein Baseball, den der Sportler an den Kopf geschleudert bekam und „ … tem-
porarily demented“ wurde. Bunny kann den wahnhaft-umherirrenden (aber – wie in Crazy
like a Fox – harmlos erscheinenden) Irren letztlich stellen, als dieser in das Haus des Pro-
tagonisten einbricht.
Drei Jahre später erleuchtete The Great White Trail (USA 1917, Leopold Wharton u.
Theodore Wharton) die Kinosäle, in welchem zwei posttraumatische Amnesien mit wahn-
haften Begleitsymptomen zur Schau gestellt wurden. Die erste Amnesie erleidet eine Frau,
die der Untreue bezichtigt wird und daraufhin einen Nervenzusammenbruch erleidet, der
in einen wahnhaften Dämmerzustand übergeht. Sie halluziniert, bricht zusammen und
kommt in ein Sanatorium, wo sie – weiterhin amnestisch – zu einer Krankenpflegerin
ausgebildet wird. Ihr Kind wird unterdessen in Alaska großgezogen, wo die frischgeba-
ckene Krankenschwester Jahre später zufällig ihren neuen Beruf ausübt. Ihr Nachwuchs
stürzt im Schnee auf den Kopf und erleidet ebenfalls einen Gedächtnisverlust, allerdings
ohne wahnhaft-halluzinatorische Episode. Letztlich werden beiden Kranken Gegenstände
aus ihrer Vergangenheit gezeigt, die bei beiden Gedächtnisinhalte wieder erinnerlich ma-
chen. Die künstlerische Qualität des Werkes ist bescheiden, doch man sieht zwei Ätiolo-
gien der Amnesie inszeniert: das psychologische und das somatische Trauma. Auch in The
Struggle (USA 1916, John Ince) erleidet ein Schiffbrüchiger während einer Rettungsaktion
ein Schädelhirntrauma. Die Therapie bewerkstelligt hier aber ein Chirurg, der den Geistes-
zustand des Traumatisierten mittels operativen Eingriffs restituiert – wahrscheinlich durch
Hämatomausräumung (Henkel 2020a, S. 27).
Der Regisseur Max Mack gilt als einer der Schlüsselfiguren des frühen deutschen Au-
torenfilms. Dieser Begriff bezeichnet eine Strömung der 1910er-Jahre, die ihren Ursprung
im französischen Film d’Art hat. Beide Richtungen nutzen kanonische literarische Vorla-
gen und namhafte Besetzung, um den Film als Kunstwerk von Rang zu etablieren.
1 Wahn und Wahnsinn im Stummfilm 9
Im ersten Werk, Zweimal gelebt (Deutschland 1912, Max Mack), sehen wir gleich zu
Beginn eine Frau, die nach einem Sturz in ein Sanatorium gebracht wird, weil sie ein „ …
schwerer Nervenchok“ [Sic] malträtiert. Die Frau verliert ihr Gedächtnis und der (sich in
seine Patientin verliebende) Arzt nutzt seine Chance: Er gibt der Frau ein Scheintod-Me-
dikament und fingiert ihren Tod. Als sie wieder erwacht, redet er ihr ein, sie sei seine Ge-
mahlin und flieht mit ihr auf eine Insel. Als eines Tages die echte Familie der Traumatisier-
ten im Refugium des falschen Ehepaares Urlaub macht, fliegt der Schwindel auf und die
Betrogene begeht im Angesicht der beschämend wie verwirrenden Wahrheit Selbstmord.
Max zeichnet hier nicht nur die verheerenden Folgen von Kopfverletzungen nach, er ad-
ressiert auch die Gefahren ärztlichen Machtmissbrauchs.
Filmbeispiel 2
Der Andere (Deutschland 1913, Max Mack) ◄
Das zweite Werks Macks gilt als Meilenstein des deutschen Kinos und nahm sich
das Bühnenstück Der Andere von Paul Lindau zur Vorlage. Der Film soll als repräsen-
tativ für andere Filme mit Jekyll und Hyde bzw. Doppelgänger-Motiv gelten (Wulff
1995, S. 25–48), als interessante Verfilmungen seien Der Januskopf (Deutschland
1920, Friedrich Wilhelm Murnau, siehe: Lost Films 2020) mit Conrad Veidt in der
Hauptrolle und Dr. Jekyll and Mr. Hyde (USA 1920, John S. Robertson) genannt. Pas-
send zu den Prämissen des Autorenfilms wurde ein Star des deutschen Theaters, Albert
Bassermann, für die Hauptrolle engagiert, der nicht nur durch die Lehre der Thea-
ter-Ikone Max Reinhardt ging, sondern auch Träger des Iffland-Ringes war. Außerdem
zeigte sich zum ersten Mal der Autor der Vorlage (Lindau) höchstpersönlich für die
Adaption verantwortlich.
Die Handlung folgt der Vorlage weitestgehend treu: Der Staatsanwalt Haller erleidet
ein Kopftrauma bei einem Sturz vom Pferd. Als Folge zeigt sich bei Haller ein Krankheits-
bild, über das er zuvor noch skeptisch in einem Buch las:
Als „der Andere“ geht er nun in Kneipen umher, ohne sich an jene nächtlichen Eskapa-
den zu erinnern; eines Nachts bricht er sogar mit Ganoven bei sich selbst ein. Die
Einbrecher werden gestellt, ohne dass der wieder orientierte Haller als Täter infrage
kommt. Doch seine Haushälterin, die ihn in jenen Bars sah, erzählt Haller von seinen
nächtlichen Raubzügen. Sich seiner Taten nun bewusst, kann ein herbeigerufener Arzt ihn
durch psychologische Intervention heilen (Abb. 1.2).
Die Ursache des Traumas scheint klar: „Dämmerzustand … Nachwirkung des Rei-
tunfalls.“
10 D. Henkel
Dennoch zeigt der Film die Intervention als Gespräch, in dem der Kranke sich Einzel-
heiten seines Dämmerzustandes bewusst machen soll, welcher dann in einem katharti-
schen Weinanfall endet. Da eine Gesprächstherapie wenig Effekt bei somatischen Sturz-
folgen wie einer Blutung verspricht, scheint diese Erklärung unwahrscheinlich. Die
weiteren Empfehlungen des Mediziners stützen diesen Eindruck: „Ruhe, Einsamkeit, he-
raus aus der Großstadt …“ rät er. Sicher kann dieses Vorgehen auch eine potenzielle, er-
neute Blutung durch Blutdruckkontrolle verhindern (Stressreduktion), doch muss in Zu-
sammenschau mit der Therapiemethode ein psychischer Ursprung – analog zum
Schockgeschehen in Zweimal gelebt – angenommen werden. In der Schlussszene sieht
man den Staatsanwalt glücklich mit seiner Frau, bis die Mimik von Bassermann verrät,
dass sich ein Rückfall anbahnt. Haller fängt sich jedoch wieder und die Bedrohung scheint
gebannt – aber für wie lange?
Der Film versucht, das Kino salonfähig zu machen, allen voran für das gehobene The-
aterpublikum. Ein revolutionäres Vorhaben, welches ganz im Kontrast zu der recht konser-
vativen Filmsprache des Werkes steht: Die Kameraperspektiven sind häufig noch der The-
aterästhetik verpflichtet, es gibt wenig Groß- und Detailaufnahmen, der Schnitt ist ruhig
bis unsichtbar und das Schauspiel der „Verwandlungsszenen“ theatralisch überzeichnet.
Vergegenwärtigt man sich das Zielpublikum, scheint diese Stilistik intentionell. Die Bild-
sprache ist eindringlich, die nächtlichen Sequenzen erzeugen dezenten Grusel, ohne
jemals den Realismus der Fantastik zu opfern. Dennoch weckt die Mise-en-scène Remi-
niszenzen an die Romantik eines Arnold Böcklin und die Figuren wirken der literarischen
Romantik bzw. dem Sturm und Drang entliehen. Ähnlich den Protagonisten dieser Strö-
mungen – man denke an den ungestümen Ferdinand aus Schillers Kabale und Liebe – sind
die Figuren (die Arztfigur aus Zweimal gelebt und Bassermanns Rolle) in beiden Werken
ihren Leidenschaften und Trieben unterlegen und leben ihre moralisch zweifelhaften Ge-
lüste – bewusst wie unbewusst – aus.
1 Wahn und Wahnsinn im Stummfilm 11
Rezensenten und Filmhistoriker nahmen den Film ambivalent auf. Der Autor Franz
Kafka notierte in seinem Tagebuch, Bassermann habe „sich selbst missbraucht“ (Kafka
2015). Die Kritik urteilte gnädiger: Bassermanns Spiel steche durch „ … ins feinste
abgestufte Gesichtsmimik“ (Güttinger 1992, S. 236) hervor, an anderer Stelle wird der
Film „ … archaisch“ (Kracauer 1984, S. 40) genannt und das leicht versöhnliche Ende
mit dem Stempel „Mittelschichts Optimismus“ (Kracauer 1984, S. 132) versehen. Ein
gelungenes Werk, der dem Status eines Meilensteins des deutschen Films gerecht wird.
Zwei Sonderfälle, die den Rahmen dieses Beitrages sprengen würden, sind der größen-
wahnsinnige Superverbrecher und der wahnhafte Mörder. Zum Einstieg in dieses kom-
plexe Thema seien hier repräsentative Beispiele vorgestellt, die weiterführende Forschun-
gen ermöglichen sollen. Im ersten Falle seien Fritz Langs Filme um den manischen
Bösewicht Dr. Mabuse als Einstieg empfohlen (Dr. Mabuse, der Spieler I u. II; Deutsch-
land 1922, Fritz Lang). Einen beispielhaften Triebmörder präsentiert Alfred Hitchcocks
frühes Meisterwerk The Lodger (dt. Der Mieter; Großbritannien 1927, Alfred Hitchcock),
der in düsteren Raumkompositionen gekonnt die Angst visualisiert, die ein Frauenmörder
auslösen kann (Wulff 1995, S. 66). Ein skurriler Film sei in aller Kürze vorgestellt, der
einen wahnsinnigen Verbrecher und Mörder zugleich inszeniert, der zufälligerweise auch
noch ein genialer Chirurg ist:
Filmbeispiel 3
The Monster (USA 1925, Roland West) ◄
Der berühmte Chirurg Dr. Ziska, gespielt vom Stummfilmstar Lon Chaney, provoziert
an einer Landstraße mittels Spiegeltricks gefährliche Autounfälle. Die Verunglückten ver-
schleppt er in ein verlassenes Sanatorium. Dort versucht der irrationale Operateur an den
Opfern, falls sie überlebten, eine „ … most remarkable operation … “ zu vollbringen.
Doch der gewiefte Detektiv Jennings kommt dem Arzt auf die Spur und legt ihm das
Handwerk.
Chaney verkörpert den unzurechnungsfähigen Chirurgen in hoher schauspielerischer
Qualität, der Rest der Inszenierung kann die Sphären des Durchschnitts aber nicht über-
winden. Doch der Film verbindet die genannten Motive gekonnt und thematisiert den viel
strapazierten Topos „Genie und Wahnsinn“ im Umfeld der Arztprofession.
12 D. Henkel
Der früheste Film mit paranoider Wahnsymptomatik ist The Avenging Conscience; or
Thou Shalt Not Kill (USA 1914, D. W. Griffth), eine Adaption von E. A. Poes Kurzge-
schichte The Tell-Tale Heart. Nach einem Mord versinkt ein Täter immer mehr in Episo-
den paranoider Halluzinationen, die ihn in die Überzeugung treiben, er werde gefasst.
Obwohl ihn niemand verdächtigt, nehmen die Ängste zu, bis er unfreiwillig während einer
Sinnestäuschung gesteht. Als Folge erhängt sich nicht nur der Mörder, sondern auch die
Dame, für welche er den Mord beging.
Zwei der vielleicht berühmtesten Werke, die wahnhafte Figuren im Zentrum haben,
sind Kollaborationen des Regisseurs Robert Wiene und des Schauspielers Conrad Veidt. In
einem der bekanntesten Stummfilme überhaupt, dem expressionistischen Das Kabinett
des Dr. Caligari (Deutschland 1920, Robert Wiene), spielt Veidt einen Psychiatrie-
Insassen, der sich als Opfer des verbrecherischen Institutsleiters Dr. Caligari sieht. Am
Ende bleibt offen, ob Caligari oder der Patient der Wahnhafte ist. Kaum ein Film weist
eine derart lebhafte Rezeptionsgeschichte auf, daher sei hier auf weiterführende Literatur
verwiesen (Haack et al. 2017, S. 129–140; Hurst 2015, S. 91 f). Ähnliches kann man von
Orlacs Hände (Österreich 1924, Robert Wiene) behaupten, in dem Veidt einen Pianisten
gibt, der bei einem Zugunglück beide Hände verliert. Daraufhin bekommt er die Hände
eines Toten transplantiert und glaubt fortan, die neuen Greiforgane seien die eines Mör-
ders und bemächtigten sich seiner Sinne. Der Operateur befeuert diesen Irrglauben, bis
sich herausstellt, dass der Spender kein Triebtäter war. Das Werk inszeniert den Wahn
nicht nur gekonnt in expressionistischen Bildern, sondern bietet auch Material zur Refle-
xion von Arztethik und Spenderschutz (Henkel et al. 2020, S. 1–12; Güttinger 1992,
S. 61–62; Eisner 1980, S. 137 u. 193).
Filmbeispiel 4
Wolf Blood: A Tale of the Forest (dt. Wolfsblut; USA 1925, George Chesebro und Bruce
Mitchell) ◄
Nach einem Unfall erleidet der Holzfäller Bannister einen derart großen Blutverlust,
dass der in Zeitnot herbeieilende Arzt kurzerhand Blut eines Wolfes zur Transfusion ver-
wendet. Fortan ist Bannister unter den abergläubischen Arbeitern ein Geächteter: „You
look out for hat Bannister – he’s half wolf now –.“
Das Gerede lässt ihn nicht kalt und auch er beginnt zu glauben, er habe nun die Wolfs-
natur in sich. Der Arzt, der den Wahn des Patienten zunächst absichtlich nicht aufklärt –
weil er ein Auge auf die Frau des Forstarbeiters geworfen hat – besinnt sich seiner Pflich-
ten, klärt den Wahnhaften auf und es kommt zum Happy End.
Das Werk strotzt nur so vor medizinischen Topoi. Neben dem Lykanthropie-Wahn se-
hen wir Bannister immer wieder seine Kollegen ermahnen, sie sollen nicht betrunken ar-
beiten, was diese wenig tangiert. Unvermeidlich folgt eine Armverletzung eines Volltrun-
kenen, die einen Chirurgen in das abgelegene Waldgebiet zwingt. Besonders interessant ist
1 Wahn und Wahnsinn im Stummfilm 13
auch die Transfusionsszene: Die Durchführung wirkt authentisch, obwohl das nächtliche
Setting einer Waldhütte unheilvoll düster inszeniert ist. Der Autor des Stoffes, ein gewisser
Dr. C. A. Hill, scheint medizin- wie filmhistorische Vorbilder gehabt zu haben: Jean-
Baptiste Denis, Arzt des Königs Ludwig XIV, transfundierte Tierblut in Menschen und
hatte damit punktuell Erfolg, bis erste Todesfälle auftraten (Bauer 2018). Transfusion zur
Initiation abnormer Charakterzüge war aber auch ein gern genutztes Motiv des (deut-
schen) Stummfilms, so sehen wir transfusionsbedingt charaktermodulierte Figuren in Die
Rache des Blutes (Deutschland 1915, Emil Albes), Dämon Blut (Deutschland 1920, Fred
Sauer), Madame X und die „Schwarze Hand“ (Deutschland 1921, Fred Sauer) oder Ver-
giftetes Blut (Deutschland 1921, Fred Sauer). Die Arztfigur erinnert in seiner fragwürdi-
gen Professionsausübung an jenen aus Orlacs Hände (Österreich 1924, Robert Wiene). Er
befeuert den Wahn des Kranken, initiiert ihn zum Teil sogar, besinnt sich aber im Gegen-
satz zum Kollegen aus „Orlac“ seiner Pflicht und stellt die Paranoia ins richtige Licht.
Auch die Figurenzeichnung wirkt streckenweise durchaus sympathisch und ist somit erfri-
schend ambivalent entworfen. Diese Charakterisierung reicht allerdings nicht aus, um die
Figur in die Schublade eines Dr. Evil oder Dr. Wonderful zu pressen, hier würde eher ein
intermediärer Prototyp des Arztes passen, den man „Dr. Failable“ taufen könnte.
Die filmische Qualität des Werkes ist solide, zeigt düster-romantische Anklänge, ohne
jemals Bemerkenswertes zu vollbringen. Er ist nicht nur der früheste erhaltene Film mit
Werwolf-Thematik (The Werewolf von 1913 gilt als verschollen), sondern zeigt auch, wie
man ein solch fantastisches Thema in eine plausible Rahmenhandlung einbetten kann.
Außerdem greifen die Filmemacher ein deutsches Motiv für den US-amerikanischen
Markt auf, das wesensverändernde Blutübertragungen in die internationale Filmgeschichte
expandieren ließ.
Zwei Grenzgebiete seien noch erwähnt, die entweder wahnhaften Charakter annehmen
oder als jene fehlgedeutet werden können: Die Hypochondrie und der Somnambulismus.
Der feste, aber nicht objektivierbare Glaube, an einer Krankheit zu leiden, wurde gerne in
Komödien genutzt, um die psychosomatisch Erkrankten auf der Suche nach Genesung
aberwitzige Abenteuer durchleben zu lassen. Nahezu immer wird dort in der Liebe auch
die Heilung gefunden. Prominente Beispiele wären Why Worry? (USA 1923, Fred C. Ne-
wmeyer und Sam Taylor) oder Oh, Doctor! (USA 1925, Harry A. Pollard). Aber auch das
nächtliche, desorientierte Umhergeistern lässt Filmfiguren wie Publikum gefährliche
Wahnzustände befürchten, was gekonnt in High and Dizzy (USA 1920, Hal Roach) aufs
Korn genommen wird (Wijdicks 2015, S. 105).
Die Frühphase der Filmgeschichte spiegelt die Evolution der Therapie psychisch Erkrank-
ter repräsentativ wie unterhaltsam wider. Erste Psychiatrie-Filme wie Maniac Chase pro-
pagierten noch simples „Einfangen und Wegsperren“ oder stellten – wie im verschollenen
Le système du docteut Gourdom et du professeur Plume (Frankreich 1913, Maurice Tour-
14 D. Henkel
neur) – das Irrenasyl als Horrorkabinett dar (Moving Picture World 1914). Doch schon in
Dr. Dippys Sanatorium (USA 1906, Regie unbekannt) sehen wir erste Ansätze einer Ge-
sprächstherapie, die man durchaus als frühe Darstellung freudianischer Therapiekonzepte
sehen kann. Eine weitere revolutionäre Therapiemethode, die ebenfalls als Vorwegnahme
moderner Filmtherapie gelten kann, findet man im medizinhistorisch viel beachteten Le
mystère des roches de Kador (Frankreich 1913, Léonce Perret). Hier werden Pinels „Mo-
ralische Therapie“ bzw. dessen Interpretation des ärztlichen Kollegen Joseph Gastaldy
(1741–1805) verarbeitet, welcher eine therapeutische Katharsis durch die Vorführung von
Theaterschauspiel bewirken wollte (Theatertherapie). In Perrets Film ist es aber das Me-
dium Film selbst, welches die traumatisierte Patientin heilt (Gross 2012, S. 12 f; Poltrum
2016, S. 111–114 u. 307–310).
Als Paradebeispiel des Psychoanalysefilms kann der ebenfalls viel rezipierte Geheim-
nisse einer Seele (Deutschland 1926, Georg Wilhelm, Pabst) gelten. Freud – der Meinung,
Celluloid könne seine Theorien nicht adäquat widerspiegeln – lehnte die Mitarbeit an dem
Werk ab (Wijdicks 2020, S. 122). Die Handlung dreht sich um einen Patienten, der neben
einer Messerphobie auch noch schreckliche Alpträume durchlebt, in denen er seine Frau
ersticht. Letztlich wird er in einer psychoanalytischen Sitzung geheilt. Künstlerisch gese-
hen verliert sich das Werk in der zweiten Hälfte mit vielen Zwischentiteln im Dozieren,
bleibt aber mit gelungener Bildsprache – besonders der Traumsequenzen – ein sehenswer-
tes Werk. Die Kritik nahm den Film ambivalent auf, von „Propaganda“ bis „outstanding“
urteilten die Rezensenten (Pratt 1973, S. 383–386) heterogen. Auch prominente Filmhis-
toriker waren geteilter Meinung: Siegfried Kracauer urteilt „ … saubere psychoanalyti-
sche Fallstudie …“ mit der „ … Kühle eines Experiments …“, das „ … weniger am eigent-
lichen Thema interessiert …“ (Kracauer 1984, S. 180) sei, und Lotte Eisner wiederum
hebt die „Aura“ hervor, die „ … allein der deutsche Expressionismus vermitteln könnte“
(Eisner 1980, S. 31). Ein kontroverser und durchwachsener Meilenstein des Psychiat-
riekinos.
Mindestens genauso bedeutend wie Freuds Therapiekonzepte war seine Traumdeu-
tung, die eine dem Traum immanente Logik und Symbolik verdrängter Pathologien de-
chiffrieren wollte. Der Traum war in seiner Rätselhaftigkeit schon immer ein beliebtes
Sujet für Filmemacher, allein zwischen 1895 und 1906 können sich im Deutschen Verleih
26 Filme mit Traumhandlung nachweisen (Martinelli 2006, S. 16), sodass hier per se nicht
von einem psychoanalytischen Thema die Rede sein kann. Wendet man aber Freuds De-
chiffrierung auf filmische Träume an, landet man unweigerlich – fernab der Intention der
Filmemacher – in einer medizinischen Symptomschau und potenziellen Symptomdarstel-
lung. Beginnen hingegen die Künstler selbst Träume mittels Interpretationsprinzipien ei-
nes Nervenarztes zu inszenieren, wird eine Patientenrealität bzw. Symptomwahrnehmung
für das Publikum greifbar gemacht und man befindet sich mitten im Medizinfilm. Dies
1 Wahn und Wahnsinn im Stummfilm 15
Filmbeispiel 5
Schatten (Deutschland 1923, Arthur Robinson) ◄
Ein wahnhaft eifersüchtiger Ehemann wähnt in jeder Handlung seiner Ehefrau einen
Beweis für ihre vermeintliche Untreue (Filmplakat). So auch bei einem abendlichen Din-
ner mit Gästen, wo der Eifersüchtige in Konturen eines Schattenspiels fremde Hände zu
erkennen glaubt, die seine Frau begrabschen. Ein anwesender Schausteller erkennt den
Trugschluss des Ehemanns und initiiert eine Massenhypnose mit kollektivem Schauspiel,
um den Anwesenden zu verdeutlichen, wie erotische Ängste und Wünsche ihr Handeln
bestimmen. In diesem Spiel wird eine vermeintlich untreue Frau hingerichtet, der eifer-
süchtige Verursacher daraufhin von den Anwesenden aus dem Fenster geworfen. Das
Spiel in Trance zeigt seine Wirkung und der Mann ist Dank später Einsicht von seiner
krankhaften Eifersucht geheilt.
Dem Titel entsprechend ist das Werk in düsteren Bildern inszeniert, Schatten scheinen
omnipräsent und die Mise-en-scène lässt sich treffend als expressionistisch umschreiben.
Gleiches kann man von dem Schauspiel behaupten, was die Darbietungen auf den moder-
nen Zuschauer streckenweise etwas exaltiert wirken lassen könnten. Dazu später mehr.
Medizinisch dreht sich alles um Trieb, Libido und Wahn, genauer den Eifersuchtswahn,
der klingender auch „Othello-Syndrom“ genannt wird. Wie der Film dies verwirklicht,
zeigt exemplarisch die „Hinrichtungsszene“: Eine Gruppe von Männern, die alle ein
Schwert in den Händen halten, umzingeln das Opfer. Nun sieht der Zuschauer nur noch
die Schatten der Schwerttragenden, deren Waffen nun deutlich an Phalli erinnern. Zwar
stechen die lüsternen Mörder in den Bauch der Frau, doch die erotische Penetrationsmeta-
pher ist eindeutig. Therapeutisch ist die Hypnosemethode die Wahl, und obwohl es ein
relativ häufiges Motiv im frühen Kino war (z. B. The Criminal Hypnotist USA 1909,
D. W. Griffith), ist Schatten der einzige zu eruierende Fall, in dem eine Hypnotherapie auf
Wahnpatienten angewendet wird (Abb. 1.3).
16 D. Henkel
Besonders bemerkenswert ist vor allem die Erzählstruktur, die gänzlich auf Zwischen-
titel verzichtet. Die Elimination von Textualität und Sprache zwingt aber, andere Kom-
munikationswege zu eröffnen. Hier greift das Werk auf Symbole, Gesten, Emotionen und
Archetypen zurück. So erschafft der Filmemacher eine Art Universalprache, die alles,
was die Menschen fernab von Sprache verbindet, visuell zusammenfasst – das alles, um
die damals neuartige Psychoanalyse zu propagieren. In diesem Licht erscheint auch das
expressive Schauspiel verständlich, denn der Verzicht auf Sprache macht klare, univer-
selle und unmissverständliche Gesten nötig. Das waghalsige Unterfangen ist trotz des
hohen Anspruchs an den Zuschauer erstaunlich gut gelungen, die Filmgeschichtsschrei-
bung urteilte: Ein „Triebfilm“ der „ein Musterfall psychoanalytischer Behandlung“ sei,
aber trotz Kritikerlob wenig Zuschauer in die Kinos locken konnte (Eisner 1980,
S. 122–123). Kurz: Ein kinematografisches Esperanto, anspruchsvoll, fordernd und alles
andere als kurzweilig – eine klare Empfehlung.
Fernab psychoanalytischer Therapieprinzipen brachte die Stummfilmepoche aber auch
Hydrotherapie, die Elektrotherapie (die streng genommen in utopischer Form schon
1910 in James Dawleys US-Produktion Frankenstein zu finden ist) und Ansätze zur Mu-
siktherapie auf die Leinwand.
Resümee
ferfigur bietet der Korpus einen repräsentativen Überblick über das junge Fachgebiet und
besonders deren populärer Rezeption. Psychoanalyse, Hypno-, Elektro-, Wasser- und sogar
Musiktherapie werden als alternative Ansätze zum vorherrschenden Bild der therapeuti-
schen Hilflosigkeit propagiert. So wird das in den Köpfen der Zuschauer vorherrschende
Bild des gefährlichen Irren, der in ein Asyl gesperrt werden muss, zu relativieren versucht.
Auch kinematografisch zeichnet sich der Filmkorpus durch mutige Experimente im Sachen
Filmsprache wie Erzählstruktur aus: Wir sehen erste Versuche, den Film als Kunstwerk von
Rang zu etablierten, ja sogar als universale Sprache zu inszenieren und wie der Filmtraum
durch die psychoanalytische Brille seine medizinische Unschuld verliert – doch vor allem
eins: Ein Motiv, das hervorragende Filme bereichert, die es lohnt, gesehen zu werden!
Originaltitel Schatten
Erscheinungsjahr 1923
Land Deutschland
Drehbuch Arthur Robison, Rudolf Schneider
Regie Arthur Robinson
Hauptdarsteller Fritz Kortner, Ruth Weyher, Alexander Granach, Max
Gülstorff
Verfügbarkeit Deutsche Code 2 DVD des Labels Absolut Medien
Literatur
Henkel D, Wijdicks EFM, Karenberg A (2020) Nicht nur Slapstick: Stummfilme als unterschätzte
Zeugen der Medizingeschichte. In: Dtsch Med Wochenschr 2020, Bd 145. Thieme, Stutt-
gart, S 1–12
Hoff P (2015) Der Begriff „Schizophrenie“: Geschichte, Gegenwart – und Zukunft? Universitätskli-
nik Zürich. https://www.pukzh.ch/default/assets/File/Vortrag%20Hoff.pdf. Zugegriffen am
24.11.2020.
Hurst M (2015) Im kinematographischen Kabinett des Dr. Caligari Fremdkontrolle und Ich-Verlust
im Film. In: Schetsche M, Schmidt RB (Hrsg) Fremdkontrolle. Springer, Heidelberg
Kafka F (2015) Briefe an Felice Bauer: und andere Korrespondenzen aus der Verlobungszeit. Fi-
scher Klassik, Berlin
Kerr W (1975) The silent clowns. Da Capo Press, New York
Kracauer S (1984) Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films.
Suhrkamp, Frankfurt am Main
LOST FILMS (2020) Eine Initiative der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen,
Berlin. https://www.lost-films.eu/films/show/id/21. Zugegriffen am 24.11.2020
Martinelli L (2006) Das Kino als Schlafraum. Traumpsychologien und früher Film. In: Ballhausen
T, Krenn G, Marinelli L (Hrsg) Psyche im Kino. Sigmund Freud und der Film. Verlag Filmarchiv
Austria, Wien
Moving Picture World’s April–June (1914) Dr. Gourdon’s System/The Lunatics. https://archive.org/
details/dr-gourdons-system. Zugegriffen am 24.11.2020
Platzek R (2014) 150 Jahre Pfalzklinikum. Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in
Klingenmünster. In: Keil G (Hrsg) Fachprosaforschung – Grenzüberschreitungen. Band 8/9,
2012/2013. Deutscher Wissenschaftsverlag, Baden-Baden, S 578–582
Poltrum M (2016) Philosophische Psychotherapie. Das Schöne als Therapeutikum. Parodos, Berlin
Porter R (2007) Die Kunst des Heilens: Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der An-
tike bis heute. Springer, Berlin
Pratt GC (1973) Spellbound in darkness – a history in silent film. New York Graphic Society,
New York
Richie D (2005) A hundred years of Japanese film. Kodansha International, Tokyo
Wijdicks EFM (2015) Neurocinema. When film meets neurology. CRC Press, Boca Raton
Wijdicks EFM (2020) Cinema, MD. A history of medicine on screen. Oxford University Press,
New York
Wulff HJ (1995) Psychiatrie im Film. MAkS Publikationen, Münster
Teil I
Mad or Bad: Schizophrene,
Mörder und Paranoide
Dr. Mabuse als Sinnbild des Schreckens
Das Testament des Dr. Mabuse (1933)
2
Maria Gren
Inhaltsverzeichnis
Handlung 26
Langs Filmästhetik 27
Der Wahn in der Individualpsychologie 27
Der Wahnsinn als Spiegel der Gesellschaft/des Zeitgeistes 28
Markante Szenen im Film 29
Versteckt hinter einer Idee? 29
Kollektiver Zwang 30
Die Figur des Dr. Mabuse 30
Mabuse – der Nazi und Tyrann 30
Mabuse – der Wiener Psychoanalytiker 31
Mabuse – der Doppelgänger 32
Mabuses Machtstreben 33
Die Rolle des Destrudo 33
Literatur 36
M. Gren (*)
Sigmund-Freud-Privatuniversität, Wien, Österreich
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil 23
von Springer Nature 2023
M. Poltrum et al. (Hrsg.), Wahnsinnsfilme,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-64178-1_2
24 M. Gren
Filmplakat Das Testament des Dr. Mabuse. (© Constantin Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert
Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
2 Dr. Mabuse als Sinnbild des Schreckens 25
In einem Interview berichtete der Regisseur Fritz Lang, dass ihn der damals neu ernannte
Propagandaminister Josef Goebbels – nachdem er eine Vorschau der Fortsetzung von
Langs berühmten Detektivgeschichten Dr. Mabuse, Das Testament des Dr. Mabuse (Film-
plakat), gesehen hatte – zu einem Treffen einlud und ihn gerne als Propagandaregisseur in
seinem Agitationsapparat gesehen hätte. Lang floh noch am selben Tag nach Frankreich
(Mangione 2014). Diese Erzählung ist zwar historisch nicht belegt, nichtsdestoweniger
wurde der Film Das Testament des Dr. Mabuse auf Anordnung Goebbels verboten und erst
in den 1950er-Jahren in den deutschen Kinos gezeigt. Dies mag für einen objektiven Be-
obachter eine eher merkwürdige Entscheidung sein, da der Film auf den ersten Blick keine
erkennbaren politischen Untertöne beinhaltet, bei näherer Betrachtung weist er jedoch
eine Vielzahl an politisch interpretierbaren Facetten auf (Guerin 2015).
Filmhistorisch symbolisiert Das Testament des Dr. Mabuse den Übergang vom Stumm-
film zum Tonfilm. Lang unterlegt die Figur des Prof. Baum bereits mit Ton, weshalb das
Publikum diesen sprechen hört. Dr. Mabuse hingegen bleibt bis auf eine Szene auf das
Medium des Schreibens beschränkt und zeichnet (hauptsächlich) wortlos Symbole und
Wörter auf Papier.
So erweitert Lang ein klassisches Thema in den Verfilmungen der 1920er-Jahre, näm-
lich das des Doppelgängers – Dr. Mabuse der Wahnsinnige, der nur mehr schreiben, und
Prof. Baum der Geniale, den das Publikum hören kann (Rossholm 2004). Die Figur des
Dr. Mabuse ist in die Filmgeschichte als Verkörperung des Bösen und der Gewalt einge-
gangen. Dabei bedient sich der Regisseur expressionistischer Stilmittel, mit denen starke
Stimmungen und tiefe Bedeutungsebenen erzeugt werden sollen, z. B. in den Inszenierun-
gen der Augen des Hauptcharakters (Dr. Mabuse), die als wesentlich für die Gedanken-
kontrolle und Manipulation eingesetzt werden (Abb. 2.1).
Auch das Wechselspiel von Schatten und Licht, Ton und Stille sind ein Merkmal ex-
pressionistischer Filme. Ferner hat der Zeitgeist der Weimarer Republik seinen Abdruck
im Film Das Testament des Dr. Mabuse hinterlassen. So ist die Zeit zwischen den beiden
Handlung
Der Film beginnt damit, dass ein Detektiv namens Hofmeister einen Drucker für ge-
fälschte Banknoten ausspioniert. Hofmeister wird von den Verbrechern, in deren Haus
er den Drucker erspähte, gefasst, kann jedoch entkommen. Doch bevor er seinem Chef
Lohmann das Gesehene berichten kann, wird er in seinem Haus von einer mysteriösen
Gestalt überfallen.
In der psychiatrischen Klinik beobachten Professor Baum und seine Mitarbeiter der-
weil den psychisch erkrankten Dr. Mabuse, der seit zehn Jahren hospitalisiert ist. Der ka-
tatonische Bösewicht zeigt lange Zeit kein Verlangen, mit der Außenwelt in Kontakt zu
treten, und verbringt seinen Tag damit, Hunderte von Blättern mit diabolischen Verbre-
chensplänen zu beschreiben. Als einer der Psychiater diese Notizen durchgeht, stellt er
fest, dass die Beschreibungen mit den in der Realität begangenen Verbrechen übereinstim-
men. Die Polizei steht hingegen vor einem Rätsel, da die Vergehen sinnlos erscheinen und
wie Akte einer unbändigen Zerstörungslust wirken. Auch erschließt sich hinter den ausge-
übten Straftaten das große Ganze nicht. Die ausführenden Personen erhalten ihre Aufträge
entweder über Zettel oder von einer stets nicht zu sehenden (scheinbar unsichtba-
ren) Person.
Eines Tages erhält Kommissar Lohmann die Information, dass Dr. Mabuse hinter all
den Verbrechen steckt. Da der Doktor zu dieser Zeit jedoch bereits verstorben ist und die
Pläne aus seinem Testament weiter ausgeführt werden, ergibt sich für den Kommissar ein
erneutes Rätsel.
Nachdem Lohmanns Spuren immer wieder in die psychiatrische Klinik führen, er-
kennt der Kommissar, dass der tote Dr. Mabuse von dem Leiter der Anstalt, Professor
Baum, Besitz ergriffen hat und durch ihn weiteragiert. Als die Verbrecherorganisation
zum äußersten Schlag ausholt und eine Chemiefabrik in die Luft jagen will, wird dank
Lohmanns Erkenntnis das Verbrechen zwar nicht verhindert, jedoch wird die Feuerwehr
rechtzeitig alarmiert und es können zumindest die Kesselwagen, welche mit chemischen
Substanzen gefüllt sind, aus der Gefahrenzone gebracht werden. Der Film endet mit ei-
ner Autoverfolgungsjagd – Professor Baum flieht, gejagt von Kommissar Lohmann, in
seine eigene Anstalt, in welcher er dem Wahnsinn vollkommen verfällt und selbst als
Patient endet, der in seiner Zelle sitzt und in seinem psychotischen Zustand Manuskript-
seiten zerreißt.
2 Dr. Mabuse als Sinnbild des Schreckens 27
Langs Filmästhetik
Lang setzt den Film so in Szene, dass er dem Betrachter die Freiheit gibt, bestimmte Er-
eignisse zu interpretieren. Es finden sich z. B. übernatürliche Elemente in der Handlung,
welche aber mitunter so subtil sind, dass man sie genauso gut ignorieren kann bzw. denken
könnte, dass sie sich nur in der Fantasie einer der Figuren abspielen. So ist bei der gezeig-
ten Geistererscheinung des Bösewichts Mabuse nicht klar, ob es sich um eine Wahnvor-
stellung oder um den „tatsächlichen“ Geist des Doktors handelt. In den spärlichen Szenen,
in welchen der teuflische Mabuse direkt in Szene tritt, geht es für diesen in erster Linie
darum, Chaos zu verbreiten und anderen seinen Willen aufzuzwingen. Die niedergeschrie-
benen Worte Mabuses haben einen ansteckenden Charakter und verbreiten sich in seiner
Abwesenheit epidemisch wie Viren. Mit ihrer Hilfe ist sein Wille quasi im Körper anderer
Personen lebendig (Guerin 2015). Im Film lassen sich drei Hauptgruppen an Akteuren
ausmachen: die ermittelnden Polizisten (angeführt von Lohmann), eine Bande von Krimi-
nellen, die die Befehle ihres mysteriösen Auftraggebers ausführen, und die Angestellten
einer psychiatrischen Klinik, die direkten Kontakt mit dem geisteskranken Mabuse haben.
Der wahnsinnig gewordene Doktor wird jedoch trotz Abwesenheit zum unsichtbaren
Hauptprotagonisten, welcher durch die Stimme eines Anderen und mittels akustischer
Aufzeichnungs- und Reproduktionsmedien operiert. Durch diesen Stilgriff werden Ereig-
nisse, Worte und Dinge mosaikweise zusammengeschaltet und es wird dem Zuschauer
erlaubt, all dies selbst miteinander zu verknüpfen und die Verschwörung nachzuvollzie-
hen. Auf diese Weise wird der Wahn nicht nur inhaltlich und motivisch in den einzelnen
Szenen und Figuren in Szene gesetzt, sondern auch in den narrativen Diskursen der Sze-
nendramaturgie selbst (Brenez 2015).
herbeifantasiert. Dies führt zur Konstruktion einer Vollkommenheit, die man nicht besitzt.
Kommt es zu einer Bedrohung dieses Größenselbst, werden destruktive und aggressive
Impulse aktiviert. Durch die Paarung der Angstabwehr mit dem Destruktionstrieb kann
eine Megalomanie bedingt sein. Dabei ist das Interesse an der reinen Machtausübung und
die Lust an der eigenen Zerstörungswut charakteristisch (Adler 1933).
Wird diese Theorie vom Individuum auf die Gesellschaft übertragen, lassen sich die
Folgen erklären, welche durch Kriegsschädigungen, Kriegstraumata, krisenhafte Moder-
nisierungs- und Deklassierungsschübe der Weimarer Republik entstanden sind. Diese bie-
ten einen Nährboden für narzisstische Krisen in der Gesellschaft und somit auch für den
destruktiven Charakter der Megalomanie, der sich symptomatisch äußern kann (Adler
1912). Bezugnehmend auf Langs Film kann der Bösewicht Dr. Mabuse, mit seinem ausa-
gierten Größenwahn die wohl bedeutendste Verbrecherfigur in der frühen deutschen Film-
geschichte, als unbewusste Fantasie des Weimarer Publikums und gesellschaftliches Sym-
ptom betrachtet werden (Widdig 2001).
Die von Lang verfilmte Tetralogie des Dr. Mabuse kann als Spiegel der Zeit interpretiert
werden. Die ersten zwei Teile (Dr. Mabuse, der Spieler und Dr. Mabuse, Inferno) entstan-
den im Chaos der Weimarer Republik, der dritte Teil (Das Testament des Dr. Mabuse) ist
in die Zeit der Naziherrschaft eingebettet und der vierte Teil (Die tausend Augen des Dr.
Mabuse) fällt in den Kalten Krieg (Elsaesser 2000).
Wird der historische Kontext betrachtet, in welchem der Film gedreht wurde, hatte die
Gesellschaft mit verschiedenen Ängsten zurechtzukommen. So lebten zur Zeit der beiden
ersten Mabuse-Filme viele Menschen inflationsgeschüttelt von der Nachkriegszeit in bit-
terer Armut und prekären Verhältnissen. Eine hohe Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen
hatten eine soziale Deklassierung zur Folge, welche unter der Bevölkerung Verunsiche-
rung auslöste. Dieser Zustand erleichterte es den faschistischen und antisemitischen Be-
wegungen, Aggressionen und Gewaltbereitschaft zu schüren. Und so wurde der öffentli-
che Raum zur politischen Zone, in der viele Unruhen herrschten. Bezugnehmend auf den
Film Das Testament des Dr. Mabuse wird deutlich, dass sich der Zeitgeist in diesem nie-
dergeschlagen hat. So spiegelt sich die Nachkriegsanarchie in den kriminellen Verbrechen
und dem Chaos wider, von welchen nur der Machtapparat Mabuses profitiert, da er diesen
für die Herrschaft des Verbrechens nutzt (Widdig 2001).
Die dämonische Figur des Verbrechers erscheint als potenzieller Urheber des Chaos in
der betreffenden Zeit – Wirtschaftskrisen, Aufruhr, Schreckensszenarien –, unter dem die
Bevölkerung grundlos leidet. Resignation und Armut herrschten in der Bevölkerung vor.
Es kam zu Straßenschlachten zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten. Dabei ist
vor allem der Aspekt des Schreckens ausschlaggebend. Der Suggestionskünstler Mabuse
zeigt sich dabei als triebhafter wie auch als logisch agierender Krimineller, dessen Gewalt-
tätigkeit und Destrudo (lat. zerstören) die Kraftentäußerung des Thanatos verkörpert, jeg-
liche Ordnung zerstört und sich im kalten Kalkül der Verbrechen widerspiegelt. Lang
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Roma peitti kasvonsa käsillään.
»Eiväthän asiat nyt ole niin pahat kumminkaan. Mutta ellei tuo
avioliitto ole mahdollinen ilman niitä seurauksia, joista puhuin, on
parempi, ettei siitä tule mitään. Lykkää se tuonnemmaksi. Älä sure
sitä, että kuulutus on julaistu. Avioliiton voi solmia milloin tahansa
sadan ja kahdeksankymmenen päivän kuluessa. Ennen parlamentin
loppua tuo mies vangitaan ja laki tekee tehtävänsä. Jätä loput ajan
huostaan. Aika parantaa kaikki meidän pienet sydänkipumme,
lapseni!»
Roman takana pääministeri, joka pyysi anteeksi, että hän oli näin
yht'äkkiä muuttanut tämän talon sisäasiainministeriöksi, puheli
poliisipäällikön kanssa.
»Olemme.»
»Ainoastaanko miehiä?»
»Entä sitten?»
»Hyvä!»
Silloin tyttö nosti hänet syliinsä ja kantoi häntä, kun taas Giuseppe
kantoi sauvaansa, ja hetken ajan molemmat olivat tyytyväisiä. Mutta
kun he saapuivat Via Tritonelle, huusi joku: »Halloo, tuolla tulee pyhä
lapsukainen», ja silloin Giuseppe taas tunsi arvonsa loukatuksi ja
tahtoi maahan.
Sitten hän muisti äitiään, ja pikku huuli venyi pitkäksi. Mutta hän
hymyili taas ajatellessaan, että tietysti äiti tuli joka ilta viemään hänet
levolle, kuten ennenkin. »Hyvää yötä, äiti, huomiseen asti», hän
sanoi aina, ja kun hän aukaisi silmänsä, oli aamu.
Häntä alkoi nukuttaa nyt, ja silmät tuskin pysyivät auki enää. Mutta
nyt hän oli jo Piazza di Spagnalla, ja pikku jalat alkoivat kiivetä ylös
lumisia portaita.
*****
»Haudat jo halkee
Kuolleitten.
Nousevat haamut
Marttyyrien.»
Elena oli tyynempi nyt. Hän istui lapsen vieressä silitellen sen
kylmää kättä.