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Wenn Einkaufen glücklich und süchtig macht

Die Zahl der Kaufsüchtigen steigt - Betroffene helfen sich selbst

29.01.2007

Lokales - Seite 17

Sabine Deckwerth

Gabi Keller* kauft per Katalog. Vor allem Spielzeug und Kleidung für ihre fünf Kinder lässt sie sich
schicken. Es kommt vor, dass sie zehn Kleider und drei Anoraks in Größe 110 für ihre Jüngste
bestellt. Rechnungen von bis zu 2 000 Euro im Monat sind für solche Einkäufe durchaus üblich.
"Die Kinder können das alles gar nicht abtragen", sagt die Krankenschwester. Aber wenn sie
aussehen, wie aus dem Ei gepellt, dann ist Gabi Keller zufrieden. Ihr rauschhaftes Kaufen erklärt sie
sich selbst so: Sie glaubt, dass sie so viel bestellt, weil sie Angst davor hat, wegen der vielen Kinder
als asozial zu gelten. Gabi Keller ist kaufsüchtig. Und sie weiß es. Sie weiß aber nicht, sich zu
helfen. Deshalb trifft sich jeden Dienstagabend mit anderen Kaufsüchtigen im Nachbarschaftsheim
Schöneberg. In einer von zwei Selbsthilfegruppen, die es in Berlin gibt.

Vier Frauen und zwei Männer sitzen dort bei Tee und Keksen um einen Tisch. Sie sind Ende 30,
Anfang 40. Sie wollen sich gegenseitig helfen, weil sie gezielte Hilfe sonst nicht erhalten, wie sie
sagen. Kaufsucht wird, anders als Heroinabhängigkeit oder Alkoholismus, als Suchterkrankung
nicht anerkannt, weil sie nicht toxisch bedingt und damit nicht stoffgebunden ist, wie es in der
Fachsprache heißt. Damit haben es Betroffene schwer, eine Therapie von der Kasse bezahlt zu
bekommen. Stoffungebundenen Süchten wurde in der Wissenschaft lange Zeit keine
Aufmerksamkeit geschenkt, sagt Sabine Grüsser-Sinopoli, Leiterin einer Suchtforschungsgruppe
am Institut für Medizinische Psychologie der Charité. Dabei sind gerade diese Süchte auf dem
Vormarsch. Nach wissenschaftlichen Untersuchungen waren 1990 ein Prozent der Erwachsenen in
den neuen und fünf Prozent der Erwachsenen in den alten Bundesländern kaufsüchtig. 2001 galten
dann schon 6,5 Prozent der Erwachsenen in den neuen und acht Prozent in den alten Bundesländern
als kaufsüchtig.

Die meisten in der Selbsthilfegruppe sind hoch verschuldet. Anne Behring* zum Beispiel ist
Unternehmerin und musste Insolvenz anmelden. Sie habe geschäftlich 200 00 Euro und privat 100
000 Euro Schulden, sagt sie. Sie kauft Kleidung und Schuhe. Sie ist so versessen aufs Kaufen, dass
sie Arbeit einfach Arbeit sein lässt, wenn sie etwa von Laden zu Laden geht und nach Schuhen
sucht, die farblich zum neuen Kleid passen. "Dann richten sich alle meine Gedanken nur auf dieses
Ziel, dann laufe ich stundenlang bis ich habe, was ich will." Um ihre Sucht in den Griff zu kriegen,
hat sie bei Gericht eine gesetzliche Betreuung für Vermögensfragen beantragt. Sie hoffte, dass
jemand ihre Ausgaben kontrolliert, weil sie kein Gespür dafür hat. Der Antrag wurde abgelehnt und
ihr zu einer Therapie geraten. "Alkoholabhängigen wird viel eher geholfen", meint sie.

Typisch weiblich

Vor allem Menschen mit Depressionen oder Ängsten sind anfällig für diese Sucht. Sie kaufen an
gegen Einsamkeit und Leere, um den deprimierenden Alltag zu vergessen, um beachtet zu werden.
"Man kauft, weil man sich besser fühlen will, weil man sich aufwerten will, weil man
Aufmerksamkeit und Zuwendung sucht", sagt Expertin Grüsser-Sinopoli.

Kaufen ist eher eine weibliche Sucht. Der Anteil der Frauen wird auf 80 bis 90 Prozent geschätzt.
Weil Frauen dazu neigen, innere Konflikte eher unauffällig zu lösen. Und dafür, so die Experten,
eigne sich Kaufsucht gut. Die Hausfrau Annette Bleiberg* hat zuletzt fünf Paar Filzpantoffeln
gekauft. Für 15 Euro das Paar. "Dabei hasse ich Filzpantoffeln", sagt sie. Sie wird sie sowieso nicht
tragen. Sie sind in einer Ecke ihrer Wohnung gelandet, zwischen all den anderen Dingen, die sie
ebenso wenig braucht. Ihre Wohnung ist so voll gestopft, dass sie niemanden mehr hinein lässt.
Schlimm wird es, wenn sich ein Handwerker anmeldet, weil etwas repariert werden muss. "Dann
bekomme ich schon Wochen vorher Panik, wenn ich ans Aufräumen denke", sagt sie.

Für Tanja Brühl*, freie Autorin, bedeutet Einkaufen "schnelles und einfaches Glück". Sie ist
kaufsüchtig, seit sich ihr Mann vor drei Jahren von ihr trennte. Sie richtet sich am liebsten ihre
Wohnung immer wieder neu ein. "Wenn ich in Geschäften unterwegs bin, erlebe ich etwas und
treffe Menschen." Als Kundin werde sie zudem geachtet. Die Verkäuferinnen sind freundlich und
sprechen sie inzwischen mit ihrem Namen an.

Der Lehrer Dirk Mayer* gibt 350 Euro im Monat für Porzellan aus. 7 000 Euro Schulden zahlt er
ab. "Ich kann mich bei der Arbeit nicht konzentrieren, denke an den Feierabend und daran, dass ich
einkaufen will." Dann setzt er sich aufs Rad und fährt Geschäfte nach Angeboten wie einem
Rosenthal-Teller für 45 Euro ab. Vor 20 Jahren, als seine Eltern starben, fing es an. In seiner
Fantasie stellt er sich vor, dass er mal eine Familie hat, den Tisch deckt und alle zusammensitzen so
wie früher zu Hause.

Daniel Müller*, der Abitur und zwei Facharbeiterabschlüsse hat, brachte seine Sucht nach
hochwertiger Kleidung ins Gefängnis. "Wenn ich von den Verkäufern hofiert wurde, ging es mir
richtig gut", sagt er. Um nachmittags am Kudamm shoppen zu können - an manchen Tagen für 10
000 Euro - ging er morgens auf Diebestour. Er fälschte Überweisungen, stahl Briefe mit EC-Karten
und passte die Geheimnummern dazu ab, um die Konten zu plündern. Der Schaden, den er in vier
Jahren angerichtet hat, liegt bei einer halben Million Euro. Er wurde zu siebeneinhalb Jahren Haft
verurteilt. Nun darf er das Gefängnis verlassen, um an der Selbsthilfegruppe teilzunehmen.

Dort reden die Betroffenen darüber, was sie warum gekauft haben. Sie nutzen Haushaltsbücher und
schreiben auf, was gekauft werden darf und was nicht. Gabi Keller zum Beispiel ist seit drei
Monaten in der Gruppe und sagt, sie sei seitdem "trocken". Wird sie es jemals ganz schaffen? "Ich
weiß es nicht. Ich habe große Angst, rückfällig zu werden."

* Namen geändert

http://www.berlinonline.de/berliner-
zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2007/0129/lokales/0005/index.html

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