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Vorwort 7 Einführung 13
Anerkennung 187
Vorwort
Stephan Bodian,
Mill Valley /Kalifornien,
Juni 1996
Einführung
Als Menschen aus dem Westen, auf der Suche nach
spiritueller Transformation, müssen wir uns gegenseitig
unterstützen, indem wir über unsere Erlebnisse berichten. Da
sich unsere spirituellen Erfahrungen von denen der Menschen
im Osten unterscheiden, wäre es hilfreich, unsere Berichte über
die Transformationen zu sammeln, um damit neue «altertümliche
Texte» zu schaffen, welche als Landkarten westlichen Stils für
das Territorium der Spiritualität dienen könnten. Die
Geschichten unserer Vorfahren zeigen uns Wege auf, an denen
seit ihrer Entstehung immer wieder Neues errichtet worden ist.
Es ist genau wie auf unseren Straßen: Wenn wir glauben, wir
kennen die Strecke wie im Schlaf, wird eine weitere Tankstelle
gebaut, eine neue Ampelanlage oder ein Supermarkt errichtet, so
daß wir uns wieder aufs Neue orientieren, neue Wegweiser
benutzen müssen.
Die Geschichte in diesem Buch ist mein Beitrag für die neue
Version der altertümlichen Texte. Es ist der Bericht über die
vierzehn Jahre, die der vollständigen und unwiderruflichen
Zerstörung der persönlichen Identität folgten, der permanenten
Auflösung und dem Abblättern von allem, was ich bislang als
mein individuelles Selbst bezeichnet hatte. Diese tiefgreifende
Transformation ist in vielen der klassischen spirituellen Texte
des Ostens beschrieben worden. Ich jedoch habe diese
Transformation aufgrund meiner kulturellen Überzeugungen,
Erziehung, Werte und Ängste in einer speziell vom Westen
geprägten Weise erlebt. Die Erfahrung war so völlig anders, als
ich es mir bisher vorgestellt oder erwartet hatte, daß es mehr als
ein Jahrzehnt dauerte, bis sich die Auswirkungen integriert
hatten. Während dieser Zeit suchte
ich nach Berichten über ähnliche Erfahrungen, die mir vielleicht
auf dem Weg durch diese höchst herausfordernden und
beängstigenden Zeiten der Reaktionen des Verstandes auf diese
unfaßbare Leere der «Ich-losigkeit» hätten helfen können - doch
ich fand keine. Dieses Buch entstand aus dem Bedürfnis, einen
Kontext und einen Weggefährten für diejenigen zu schaffen,
deren Bestimmung es ist, die Leere des persönlichen Selbst zu
erfahren — eine Leere, die sich auf unvorstellbare Weise in
den Vordergrund schiebt.
Die Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, vernichtet jegliche
persönliche Vorgeschichte, löscht für immer die « Person » aus,
auf die sich diese Ereignisse beziehen. Die persönliche
Vergangenheit ist dann nur noch eine Erzählung ohne einen
Autor und von Ereignissen ohne einen persönlichen Bezug; sie
beziehen sich nicht mehr auf ein «Ich».
Im Westen herrscht die Meinung, daß man ein persönliches
Selbst haben muß, um in der Welt angemessen funktionieren zu
können - daß es das Selbst ist, das alles zusammenhält und für
all das steht, was man zu sein glaubt. Ohne ein Selbst, so lautet
die Überzeugung, ist man reduziert zur Idiotie oder zum
Wahnsinn, doch niemand würde es ernsthaft als das Erwachen
in die Wahrheit bezeichnen.
Als Westler kann uns die Vorstellung, daß sich das Selbst als
völlig leer herausstellt, nur mit Schrecken erfüllen. Schließlich
zählt das persönliche Selbst im Westen zu den allerhöchsten
Werten. Die Beschreibung dieser Geschichte macht deutlich,
daß ein Leben ohne persönlichen Bezugspunkt auf gar keinen
Fall einen Zustand von Unfähigkeit, von Nicht-funktionieren
bedeutet. Diese Chronik von einem «Leben jenseits des
persönlichen Selbst» ist eine moderne Version dessen, was die
Vorfahren beschrieben haben, doch sie bietet zusätzlich - was
die Vorfahren nicht eingeschlossen haben - die Erfahrung der
Reise selbst. Auch
wenn sie die Erfahrungen ihrer Reise beschrieben hätten,
wären sie sicherlich recht unterschiedlich ausgefallen, da die
Verfasser in einem Kulturkreis lebten, der ihre Erfahrungen
zu schätzen wußte, anstatt sie niederzumachen oder zu
pathologisieren.
Mein Herausgeber hatte mir geraten, die Geschichte mit ein-
zubeziehen, wer «Ich » war, bevor «Ich » nicht mehr war. Es
war eine Herausforderung für mich, über jene Person zu
schreiben, die einmal Suzanne Segal war, bevor das persönliche
Selbst abfiel. Die Geschichte über jenes Leben ist die Fiktion
einer Person, die nicht mehr existiert. Die Person hingegen, die
dieses Buch schreibt, ist ohne eine persönliche Identität, doch
sie lebt mit den Erinnerungen an eine Geschichte, die nicht den
traditionellen Vorstellungen dessen entspricht, was man
allgemein unter Erwachen versteht. Die Erkenntnis, daß
Erwachen vielleicht nicht den traditionellen Bildern entspricht,
ist einer der wichtigsten Punkte, den dieses bestimmte Leben
verdeutlichen kann.
Machen Sie nicht den Fehler, die Geschichte von Suzanne
Segal zu lesen, die in ihrer Kindheit nach Erlebnissen fahndet,
die «ursächlich» mit dem Abfallen des Selbst verbunden sind.
Hier gibt es keine linearen Kausalitäten. Der machtvolle Einfluß
der westlichen Psychologie in unserer Kultur hat viele Menschen
davon überzeugt, daß die Wurzeln aller menschlichen
Erfahrungen in der frühen Kindheit zu suchen sind und daß
psychologische Theorien jeden Punkt eines Kontinuums belegen
können. Die Ereignisse aus der Vergangenheit beziehen sich auf
das Persönliche, auf das individuelle Selbst, nicht auf das
Unpersönliche, das universelle Selbst. Es ist äußerst wichtig,
diese Geschichte mit einem offenen Bewußtsein zu lesen, um
beengende Kategorisierungen wie auch die Tendenzen der
Psychologie, Dinge zu pathologisieren, zu vermeiden.
Bitte vergessen Sie beim Lesen auch nicht, daß die
Formalitäten der Sprache es erfordern, persönliche Fürwörter zu
benutzen,
um eine Erfahrung zu beschreiben, die nichts Persönliches mehr
hat. Das «Ich», wie Sie es auf dem Papier finden, bezieht sich
auf niemanden, doch kann man unmöglich eine Geschichte
erzählen, ohne die Worte «ich», «mir» und «mein» zu benutzen.
Das Mysterium, dem alles unterliegt, ist unendlich groß.
Die frühen Jahre
Wer spricht die Worte mit meinem Mund? RUMIAls Kind meditierte
ich auf meinen Namen. Als ich sieben oder acht war, setzte ich
mich oft im Schneidersitz mit geschlossenen Augen auf die
lange, weiße Couch im Wohnzimmer meiner Eltern und sagte
immer wieder meinen Namen vor mich hin. Der Name hallte bei
jedem Mal in meinem Verstand wider, anfangs voller Stärke
und Intensität. Mein Name, wer ich war. Dann wurde er mit
jeder Wiederholung schwächer, bis eine Schwelle überschritten
wurde und die Identität mit dem Namen zerbrach, wie ein
Schiff, das plötzlich von seinem Anker losgelöst auf den Wellen
des Meeres dahintreibt. Eine unendliche Weite tat sich auf.
Der Name war nur noch ein Wort, eine Ansammlung von
Lauten, die in einer unendlich weiten Leere pulsierten. Es gab
keine Person mehr, auf die sich der Name bezog, keine
Identifizierung mit diesem Namen. Niemanden.Dann stieg
langsam die Angst in mir auf, mein Herz schlug bis zum Hals, ich
japste nach Luft, meine Lungen im eisernen Griff nackter Angst
gefangen. An diesem Punkt brach ich es immer ab, wanderte
umher, zwang mich zur Rückkehr aus der unendlichen Weite
und zurück in die Identifizierung mit diesem Namen. Für ein
kleines Mädchen meines Alters war es einfach zu beängstigend.
Doch später am Tage kam ich zurück, setzte mich wieder auf
die Couch und begann aufs Neue den Namen vor mich hin zu
sagen.
Ich werde wohl nie erfahren, was mich dazu trieb, auf
diese Reisen zu gehen, oder wie die Idee überhaupt entstanden
ist. Doch dieses Abfallen jeglicher persönlicher Identität, die
Auflösung des Ich-Gefühls während der täglichen Praktiken als
ein kleines Mädchen war nur eine Art Vorbereitung, eine
Vorandeutung auf den tiefgehenden und permanenten Zustand,
der zu meiner bleibenden Realität werden sollte. Die Reise
begann, als der Name verschwand und sich an seiner Stelle eine
immense Leere auftat. Und genau dort beginnt diese
Geschichte.
Ich war das zweite Kind und die einzige Tochter meiner Eltern,
die als Einwanderer in dieses Land kamen - mein Vater, als er
gerade ein Junge von fünf Jahren war und meine Mutter mit
acht-undzwanzig. Sie hatten beide sehr schwere Zeiten in ihrem
Leben durchgemacht, doch besonders meine Mutter strahlte
die schmerzliche Melancholie eines Menschen aus, der
Jahrzehnte menschlicher Grausamkeiten erleben mußte. Sie hatte
das Inferno der Judenvernichtung überlebt und trug eine
abgrundtiefe Traurigkeit in sich, welche auch die Zeit nicht
lindern konnte.
Mein Vater überstand die harten Anfangszeiten, indem er
nach außen hin härter wurde - eine Taktik, die dazu beitrug, ihn
zu einem der erfolgreichsten Geschäftsleute auf seinem Gebiet
zu machen. Als ein Mann der Tat stieg er aus einer Generation
von Einwanderern empor, die es praktisch ohne jegliche
Ausbildung zu immensem materiellen Erfolg gebracht hatten.
Sein Ziel war es, ein Imperium aufzubauen, und das hat er auch
erreicht. Er suchte sich eine Frau aus, die seinen Idealen von
Schönheit und Kunstverstand entsprach, und machte ihr schon
nach zwei Wochen einen Heiratsantrag. Sie war gerade erst aus
Italien in dieses Land gekommen, nachdem sie während des
Krieges aus einem polnischen Arbeitslager entflohen war.
Als ich vier Jahre alt war, wollte ich unbedingt lesen lernen.
Ich ging mit meiner Mutter in die öffentliche Bücherei und saß
mit ihr viele Stunden in der Kinderbuchabteilung, eines der
großen, bunten Bücher gegen meine Knie gelehnt. Ich starrte auf
die Schrift, diese schwarzen Zeichen auf dem weißen Papier,
und verwandte all meine Konzentration darauf, diesen
geheimnisvollen Kode zu brechen. Ich schaffte es, zwei oder
drei Worte zu entschlüsseln, und jedesmal, wenn mir das
gelungen war, überkam mich eine große Freude.
Meine Mutter mußte mir mehrmals am Tag aus meinen
liebsten Märchenbüchern vorlesen, übergroße, glänzende,
cartoonähnliche Ausgaben. Während ich auf ihrem Schoß saß
und sie genau beim Lesen beobachtete, prägte ich mir jedes
Wort ein und wußte genau, wann die Seite umgeblättert
werden mußte. Es machte mir ungeheure Freude, den
Freunden meiner Mutter mein Können vorzuführen, voller
Erregung mit meiner schönsten Erwachsenenstimme
«vorzulesen» und die Seiten genau im richtigen Moment
umzublättern. Immer wenn meine Eltern eine größere
Gesellschaft bei uns gaben, holte ich den Hocker aus der
Küche, kletterte darauf und rezitierte die Geschichten, die ich
mir eingeprägt hatte. Es machte mir unglaubliche Freude, diese
Geschichten zu kennen und ihr Erzähler zu sein. Auch heute
noch, immer wenn ich Freunde meiner Eltern treffe, erinnern sie
sich unweigerlich an die Zeiten, als ich in meinem
Rüschenkleidchen und den glänzenden Lackschuhen auf dem
Hocker stand, um Geschichten zu rezitieren.
Das Vermächtnis meiner Mutter bestand jedoch nicht nur aus
Trauigkeit, sondern auch aus Angst. Als ich noch klein war,
hatte ich jedesmal unglaubliche Angst, wenn meine Mutter das
Haus verließ. Es war so beängstigend, daß ich sie oftmals anrief,
um die genaue Zeit zu erfahren, wann sie und mein Vater
wieder heimkommen würden. Ich stand dann an dem Fenster,
von dem ich die Einfahrt überblicken konnte, und starrte wie
ein Wachposten in
die Nacht, um auf ihre Rückkehr zu warten. Erst wenn ihr Auto
in die Einfahrt bog, ging ich schlafen. Die Angst von
Generationen war durch meine Mutter an mich weitergegeben
worden, und aus Liebe zu ihr übernahm ich sie, ohne weiter
darüber nachzudenken. Vielleicht hoffte ich, dadurch ihre
anscheinend überwältigende Last etwas leichter zu machen.
Während meiner Zeit in der High School war meine Mutter
sehr verzweifelt über meine Auswahl an Freunden. Sie war
überzeugt davon, daß ich in «schlechten Kreisen» verkehrte und
dies einen nachteiligen Einfluß auf mich hätte. Auch wenn sie
damit recht hatte, daß meine Freunde zu der Zeit die
«Revolutionäre» waren, so hat sie jedoch nie verstanden, daß ich
dabei immer nur die Rolle des Beobachters spielte. Ich
beobachtete die Gegenkultur der späten Sechziger und frühen
Siebziger lediglich, ohne wirklich daran teilzunehmen. Ich
suchte mir Freunde, die sich ohne jegliche Angst auf alle
Erfahrungen stürzten, die ihnen über den Weg liefen, doch ich
blieb in meiner eigenen Angst viel zu gefangen und konnte dem
nur zuschauen.
Als ich fünfzehn war, unternahm meine Mutter mit ihrer
Tante eine Reise nach Italien, um die Leute zu besuchen, die ihr
geholfen hatten, als sie sich nach dem Krieg dorthin geflüchtet
hatte. Während dieser Reise erlag sie den Monstern ihres
Leidens, und sie fiel in eine so tiefe Depression, daß sie nach ihrer
Rückkehr für zehn Tage eine psychiatrische Klinik aufsuchen
mußte. Während ihres Klinikaufenthaltes übernahm ich, so gut
ich konnte, in der Familie die Rolle der «Ersatzmutter» und
kümmerte mich um meine beiden Brüder und meinen Vater.
Meine Mutter und ich haben damals unsere Rollen getauscht und
sie nie wieder zurückgetauscht. Selbst nach ihrer Heimkehr fuhr
ich sie überall hin, wo sie etwas zu erledigen hatte, half ihr beim
Kauf ihrer Garderobe oder im Supermarkt und kümmerte mich
ganz allgemein um die Belange der Familie, sobald ich aus der
Schule heimkam.
Gleichzeitig bekam ich auch die Auswirkungen dieses
Rollenspiels zu spüren, die für heftige Stürme in meinen
Pubertätsjahren sorgten und sie mit Wut und Verzweiflung für
die Zukunft erfüllten. Diese brisante Mischung, gepaart mit den
weitgehenden kulturellen Umbrüchen, katapultierte mich, Angst
oder nicht, in eine Suche nach Trost oder eine Flucht aus den
Fängen der Traurigkeit, die in mir wie das Blut in meinen
Venen zirkulierte.
In dem Sommer, als ich meinen Schulabschluß machte, ging
ich in die Berge von Wyoming, um an einem Ferienlager
teilzunehmen. Die vier Jahre an der High School waren eine
Zeit der Aufruhr, der Verwirrung und der Experimente
gewesen - eine recht typische pubertäre Erfahrung -, und die
Vorstadtgegend, wo wir lebten, schien mich zu erdrücken,
schien meine Sensibilität zu ersticken und ein inneres Verlangen
abzutöten, das nach einem undefinierbaren Frieden suchte. Ich
meldete mich an, um sechs Wochen zusammen mit einer
Gruppe von ungefähr zwanzig weiteren jungen Leuten und vier
erwachsenen Führern in der Wildnis des Wind River Range zu
verbringen: wandern, in den Bergen zelten, Überlebenstaktiken
lernen, die Wildwasser befahren und Methoden lernen, der Erde
mit Respekt zu begegnen.
Ich sehnte mich nach einer Weite, die mir zwar sehr vertraut
war, die ich jedoch bislang in dieser Welt nie gefunden hatte. Ich
fand sie dort oben in diesen Bergen. Jede Nacht, wenn alle
anderen aus der Gruppe bereits schliefen, wanderte ich durch die
Umgebung des Lagers, über mir der unendliche Sternenhimmel,
und ich war zutiefst berührt und beeindruckt von der
unglaublichen Weite der Nacht. Dort in den Bergen habe ich die
Stille wiedergefunden. Ich wußte zwar nicht, wann ich sie zum
ersten Mal gefunden hatte, doch nur einen Moment diese Stille
zu kosten, war ausreichend, um mich trunken mit Freude über
die Heimkehr zu machen. Die Stille war meine erste große
Liebe.
Mit achtzehn begann ich zu meditieren. Ich beendete
gerade
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mein erstes Jahr am Lake Forest College, einer kleinen
Privatschule nicht weit von meinem Elternhaus. Eine
unausgesprochene, doch sehr tiefempfundene Vereinbarung mit
meiner Mutter hatte mich dazu bewogen, in der Nähe zu
bleiben.
Während der Osterferien erzählte mir mein älterer Bruder
Dan von der Transzendentalen Meditation. Man schrieb das Jahr
1973, und TM hatte unter den Studenten ziemliche Wellen
geschlagen. Zu der Zeit hatten die Beatles und Donovan gerade
Ma-harishi in Indien aufgesucht und damit für eine ganze
Generation seiner bestimmten Art der Meditation ein gewisses
Gütesiegel verliehen. Von Lake Forest aus lag das nächste TM-
Zentrum in einem kleinen Haus in der Nähe des Campus der
Northwestern University in Evanstone, nördlich von Chicago.
An einem milden Frühlingstag besuchte ich einen
Einführungsabend im TM-Zentrum, den zwei große, schlanke,
junge Männer gaben, die - recht unpassend für ihr Alter und die
damalige Zeit — einen Anzug mit Schlips und Lederhalbschuhe
trugen. Mit gefaßter, ruhiger Stimme sprachen sie von den
Vorteilen der Meditation, den wissenschaftlichen
Untersuchungen, die ihre Behauptungen untermauerten und von
der Logistik und den Kosten für einen Meditationskurs. Am
gleichen Abend schrieb ich mich für den nächsten Kurs ein, der
am darauffolgenden Samstagmorgen stattfinden sollte. Morgens
um neun sollte ich mich mit frischen Blumen, Obst und einem
sauberen, weißen Taschentuch im Center melden.
Ich erschien vor der angegebenen Zeit, und man reichte mir
einige Formulare zum Ausfüllen, damit mein Lehrer die nötigen
Informationen bekam, um ein Mantra für mich auszusuchen.
Der Lehrer, sein Name war ROSS, führte mich vom Warteraum in
ein kleines Zimmer mit einem Altar, auf dem ein großes,
goldgerahmtes Foto von einem streng dreinschauenden Inder
stand, welcher mit gekreuzten Beinen auf einem Tigerfell saß.
Meine Gaben, das
Blumen, die Früchte und das Taschentuch dem Mann auf dem
Foto dar, indem er sie der Reihe nach auf ein rechteckiges
Messingtablett zu seinen Füßen legte. Jede Gabe hatte ihr
eigenes Lied. Als er schließlich alle Gaben dargebracht hatte,
fiel ROSS vor dem Altar auf die Knie und legte seine Stirn für
einen Moment auf den Boden. Als er sich wieder erhob, wandte
er sich zu mir und begann zu singen. Ich hielt es zuerst für eines
der Sanskritlieder, doch bald wurde mir klar, daß er mein Mantra
sang. Er schaute mich feierlich an und forderte mich auf, das
Mantra mit ihm zusammen zu wiederholen, es immer wieder
mit normaler Stimme auszusprechen. Zustimmend nickte er mit
seinem Kopf und forderte mich auf, auf dem Stuhl hinter mir
Platz zu nehmen.
Ich wiederholte weiterhin das Mantra, bis er mich anwies, es
immer leiser zu sagen und schließlich nur noch im stillen zu mir
selbst. Ich schloß meine Augen und begann zu meditieren. Nach
wenigen Minuten wurde ich ruhiger, und nach ein paar weiteren
Minuten wußte ich, daß ich für den Rest meines Lebens
meditieren würde. Als ich dort auf dem Stuhl saß, das
Sanskritwort im Geiste wiederholend, sank ich auf sanfte Weise
in die Arme meiner geliebten Stille.
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mich eine überwältigende Angst, und ich habe dann das Gefühl,
daß ich augenblicklich tot umfalle, wenn ich die Meditation nicht
abbreche.»
Der Maharishi brach in schallendes Gelächter aus, eine
Reaktion, die ich absolut nicht erwartet hatte.
«Mach dir keine Sorgen wegen der Angst», sagte er unter
Lachen. « Es ist lediglich der Körper, der an der Welt festhält. Um
zu transzendieren, mußt du die Welt loslassen, doch der Körper
bekommt Angst, denn er glaubt, daß es außer der Welt nichts
anderes gäbe. Schenke der Angst deines Körpers keine Bedeutung
- laß einfach los.»
Da hatte ich nun endlich meine Antwort, auch wenn das
Loslassen viel zu sehr mit Angst beladen war, als daß es eine
akzeptable Lösung hätte sein können. Der Vorschlag des
Maharishi machte rein theoretisch Sinn, doch es sollte noch
viele Jahre dauern — viele Jahre voller Angst in einem Ausmaß,
wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte -, bevor schließlich aus
reiner Erschöpfung das Loslassen geschah.
Der dreimonatige Kursus war eine Fortsetzung des Kurses in
Hertenstein, nur noch viel größer. Das Hotel Pratjali in Arosa
war bis zum Bersten gefüllt: hundertachtzig Siddhi-Frauen, wie
wir genannt wurden, waren aus den verschiedenen Orten in
Europa angereist, wo sie gerade den sechsmonatigen Kurs
beendet hatten. Der große Ballsaal war in eine höhlenartige
Siddhi-Arena verwandelt worden, die von den Schreien und
dem Aufheulen der Gruppe widerhallte und das ganze Hotel
vibrieren ließ. Wir verbrachten täglich sechs Stunden auf
unseren Zimmern und machten unsere Runden und drei
weitere Stunden in der großen Gruppe mit den Siddhi-
Übungen. Die Kakophonie war ohrenbetäubend. Ich sehnte
mich nach meinen früheren Erfahrungen von tiefer Stille und
Frieden zurück, die mich in den Schoß von TM geführt hatten,
in einer Zeit, als das transzendentale Gewahrsein
f*
ratet hatte, die er nur schwer verstehen konnte und die
vielleicht versuchen würde, die Regeln zu ändern, um die
sie bei ihrer
lochzeit wußte und in die sie eingewilligt hatte. Er verstand
nicht, daß ich niemals einen konkreten Plan ausgeheckt hatte,
der darauf abzielte, seine Wünsche zu durchkreuzen. Ich wußte
nur zu dem Zeitpunkt ganz einfach, daß nicht die Zeit für ein
Kind war, sondern zum Reisen. Die Zeit für ein Kind würde früh
genug kommen.
1981 war das Jahr unserer Reise. Wir zogen durch Marokko,
Italien, Amsterdam und Südfrankreich, verbrachten Tage
voller
luße in malerischen Dörfern auf dem Lande, wo ich eine
Zeitlo-sigkeit erlebte, die mein Gefühl, gefangen zu sein,
schwächer wer-ien ließ. Ich fühlte mich freier, als ich aus Paris
herauskam, und
lein Herz wurde ruhiger, berührt von der Stille der Natur und
ihrer wunderbaren Palette der unendlichen Vielfalt der
Landschaften. Die Erinnerung an die Freude kehrte zurück.
Nach unserer Rückkehr von Sizilien im Januar 1982 teilte
ich Claude mit, daß ich bereit sei, ein Kind zu haben. Innerhalb
weniger Wochen, Mitte Februar, wurde ich schwanger und
damit augenblicklich in die zeitlose Übelkeit einer
Schwangerschaft gestoßen. Erfüllt von den kulturellen
Phantasien einer strahlenden Mutter in spe war ich nur schlecht
auf die physischen Herausforderungen einer Schwangerschaft
vorbereitet. Die Übelkeit und Müdigkeit von der ersten Woche
an markierten den Anfang vom Ende meiner Erfahrung einer
persönlichen Vergangenheit. Nach diesen ersten Monaten der
Schwangerschaft sollte nichts mehr so sein, wie es einmal
gewesen war, und ich steuerte auf den Zusammenprall mit einer
Kraft zu, so mysteriös und unbeschreiblich, daß niemand mich
auf die Auswirkungen hätte vorbereiten kön-
nen.
Als ich mich in die Reihe stellte, fühlte ich plötzlich einen
Druck auf meinen Ohren, so wie in einem Flugzeug, wenn sich
beim Landen der Druck in der Kabine verändert. Ich fühlte
mich völlig vom Geschehen um mich herum isoliert wie in einer
Blase und konnte mich nur noch auf völlig mechanische Weise
bewegen. Ich hob mein rechtes Bein, um in den Bus zu steigen
und prallte mit voller Wucht auf eine unsichtbare Kraft, die wie
eine Stange Dynamit lautlos in meinem Gewahrsein
explodierte, die Türen meines normalen Bewußtseins aus den
Angeln sprengend und mich in zwei Teile zerspaltend. Was ich
bislang als «Ich » bezeichnet hatte, wurde mit Gewalt aus
seinem üblichen Platz in mir gerissen und an einen neuen
verlagert, ungefähr dreißig Zentimeter links hinter meinem
Kopf. «Ich » befand mich nun hinter meinem Körper und
betrachtete die Welt, ohne die Augen im Körper zu benutzen.
Von dieser nicht lokalisierbaren Stelle irgendwo links hinter
mir konnte ich den Körper vor mir und auch sehr weit entfernt
erkennen. Alle Signale des Körpers schienen recht lange zu
brauchen, um diese nicht lokalisierbare Stelle zu erreichen, als
ob es ein Licht sei, das von einem sehr fernen Stern ausgesendet
wurde. Ich war steif vor Angst und schaute mich um, ob irgend
jemand etwas bemerkt hätte. Doch alle anderen Passagiere
suchten sich einen Platz, und der Busfahrer forderte mich auf,
meinen gelben Fahrschein zu entwerten, damit wir losfahren
konnten.
Ich schüttelte mehrmals meinen Kopf und hoffte wohl,
mein Bewußtsein wieder an die alte Stelle zu versetzen, doch
nichts veränderte sich. Ganz entfernt fühlte ich, wie meine
Finger versuchten, den Fahrschein in den Entwerter zu stecken
und wie ich mich durch den Bus bewegte, um einen Sitz zu
finden. Ich setzte mich neben eine ältere Dame, mit der ich an
der Haltestelle geplaudert hatte, und versuchte, unsere
Konversation fortzusetzen. Mein Verstand war völlig zum
Stillstand gekommen durch den Schock
seins gefüttert wurde. Es war ein Gefühl, wie auf des Messers
Schneide zu sitzen, an einer Grenze zwischen Existenz und
Nicht-ixistenz. Der Verstand war davon überzeugt, den
Gedanken an die Existenz aufrechterhalten zu müssen, weil sich
sonst die Existenz selbst auflösen würde. Angefeuert von dieser
scheinbaren Frage von Leben oder Tod kämpfte der Verstand
verbissen darum, an diesem Gedanken festzuhalten, um
schließlich nach mehreren unruhigen Stunden erschöpft
aufzugeben. Unter großen Qualen versuchte der Verstand tapfer
etwas zu verstehen, was er niemals begreifen konnte, und der
Körper reagierte auf die Qualen des Verstandes, indem er aufs
Überlebensprogramm schaltete, Adrenalin produzierte, die
Sinne schärfte und auf die drohende Auflösung in jedem
einzelnen Moment eine Antwort fand.
Es tauchte auch der Gedanke auf, daß diese Erfahrung des
Be-}bachtens vielleicht jener Zustand des Kosmischen
Bewußtseins sin könnte, den der Maharishi vor langer Zeit als
die erste Stufe eines erwachten Gewahrseins beschrieben hatte.
Doch der Verstand verwarf augenblicklich diese Möglichkeit,
denn es schien ausgeschlossen zu sein, daß das Reich der Hölle,
in dem ich lebte, etwas mit dem Kosmischen Bewußtsein zu
tun haben könnte.
Das Beobachten setzte sich über mehrere Monate fort, und
jeder Moment war fürchterlich. Woche um Woche an der
Schwelle zur Auflösung zu leben ist unvorstellbar anstrengend,
und das Vergessen im Schlaf bot die einzige Ruhepause, in die
ich mich so oft wie möglich flüchtete. Im Schlaf hörte der
Verstand endlich auf, seine unaufhörlichen Schreckens-
Litaneien des Terrors abzuspulen, und der Beobachter konnte
lediglich einen bewußt-losen Verstand beobachten.
Nach Monaten dieses mysteriösen Beobachter-Gewahrseins
veränderte sich wieder etwas: Der Beobachter verschwand.
Dieser neue Zustand war noch wesentlich verblüffender als die
Erfahrung der vergangenen Monate, und somit
konsequenterweise
noch beängstigender. Man könnte eigentlich annehmen, daß die
Auflösung des Beobachters eine wesentliche Erleichterung mit
sich gebracht hätte, doch das Gegenteil war der Fall. Die
Auflösung des Beobachters bedeutete zugleich auch die
Auflösung der letzten Spuren einer persönlichen Identität. Der
Beobachter hatte zumindest einen Standort für das «Ich »
geboten, wenn auch einen sehr entfernten. Mit dem Beobachter
verschwand auch endgültig jede Erfahrung von einem «Ich».
Die Erfahrung einer persönlichen Identität wurde abgeschaltet
und kehrte niemals mehr zurück.
Das persönliche Selbst war verschwunden, aber es
existierten trotzdem weiterhin ein Körper und ein Verstand - nur
ohne jemanden, der sie bewohnte. Die Erfahrung, ohne eine
persönliche Identität zu leben, ohne die Erfahrung, jemand
Bestimmtes zu sein, ohne ein «Ich» oder «mich» ist äußerst
schwierig zu beschreiben, aber sie ist absolut
unmißverständlich. Man kann es unmöglich damit verwechseln,
einen schlechten Tag zu haben, eine Erkältung zu bekommen,
verärgert oder wütend oder entrückt zu sein. Wenn sich das
persönliche Selbst auflöst, dann gibt es im Inneren niemanden
mehr, den man für sich selbst halten könnte. Der Körper ist nur
noch eine Silhouette, entleert von allem, mit dem er bislang
erfüllt zu sein schien.
Verstand, Körper und Emotionen bezogen sich nicht mehr
auf jemanden - es gab niemanden, der dachte, niemanden, der
fühlte, niemanden, der wahrnahm. Trotzdem funktionierten der
Verstand, der Körper und die Emotionen weiterhin
unvermindert und von allem unbeeinflußt. Sie benötigten
offensichtlich kein «Ich», um weiterhin das zu tun, was sie
schon immer getan hatten. Denken, fühlen, wahrnehmen,
sprechen, alles geschah wie bisher und funktionierte mit einer
Reibungslosigkeit, die in keiner Weise die Leere hinter all dem
vermuten ließ. Niemand hegte auch nur den geringsten Verdacht,
daß eine solch radikale Verän-
für den nächsten Tag an und beschrieb mir den Weg zu Pauls
Praxis.
Die Erfahrung, einem Psychotherapeuten die Auflösung
der persönlichen Identität zu beschreiben, sollte sich in den
nächsten zehn Jahren noch oft wiederholen. Paul war gewiß ein
warmherziger Mensch, erfüllt von dem Wunsch, mit allen ihm
zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen. Er war jedoch
völlig verwirrt von dem, was ich ihm erzählte, und diese
Verwirrung schien ihm Angst zu machen - für mich sicherlich
keine hilfreiche Reaktion. Als ich schließlich sein Büro verließ,
war mein Körper vor Angst wie steif. Ich fuhr zurück in das
Haus meiner Mutter, zog die Vorhänge zu und schlief 13
Stunden lang.
Mir zu Ehren hatte meine Mutter für den nächsten Tag eine
Party arrangiert, zu der sie viele ihrer alten Freunde eingeladen
hatte, die mich seit meiner Kindheit kannten und ganz begeistert
davon waren, meine bevorstehende Mutterschaft zu feiern. So
traf sich eine Gruppe von ungefähr 30 Leuten am späten
Nachmittag in einem bekannten Vorstadtrestaurant. Während
jeder der Gäste auf mich zukam, um mir zu gratulieren,
versuchte ich, mich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Ich
schüttelte ihre Hände, lächelte und stellte Fragen über ihre
Gesundheit oder ihre Kinder. Woher kannte ich diese
Menschen? Wer erinnerte sich an ihre Namen und all die Jahre,
in denen wir uns gegenseitig besucht und Geschichten über
unser Leben ausgetauscht hatten? Die Person jedenfalls, die sie
bislang gekannt hatten, existierte nicht mehr, doch niemand
schien es zu bemerken.
erschöpft waren. Man legte mich auf ein Zimmer mit einer Frau
zusammen, die ihr Kind einen Tag zuvor bekommen hatte. In
Frankreich bleiben die Mütter nach der Geburt eine Woche lang
im Krankenhaus. Beide Babys blieben bei uns im Zimmer, denn
die Philosophie von Lamaze besagte, daß das Neugeborene nach
der Geburt nicht von seiner Mutter getrennt werden sollte.
In der ersten Woche schlief ich nie länger als zwei Stunden
an einem Stück. Eines der beiden Babys war fast immer wach,
und die Erschöpfung wurde immer stärker. Die Art und Weise,
wie der Körper die Erschöpfung erlebte, änderte sich auch
angesichts eines fehlenden Bezugspunktes nicht. Bis heute hat
sich das nicht geändert - die Funktionen des Körpers benötigen
auch weiterhin Ruhe, Nahrung und Pflege.
Das erste Lebensjahr meiner Tochter verlief sowohl
anstrengend als auch höchst aufregend. Anfangs schien sie, für
ein Neugeborenes durchaus normal, nicht allzuviel Schlaf zu
brauchen, doch für den Körper eines Erwachsenen schien es
manchmal unerträglich, so lange ohne regelmäßigen Schlaf
auszukommen. Je weniger Schlaf der Körper bekam, desto mehr
versteifte sich der Verstand auf die Überzeugung, daß die
Auswirkungen des Ereignisses an der Bushaltestelle tatsächlich
zum Wahnsinn geführt hatten - und dies um so mehr, weil sich
mit der wachsenden Erschöpfung des Körpers eine immer
krasser wirkende Leere auftat.
Trotzdem entwickelte sich die Beziehung zwischen meiner
Tochter Arielle und ihrer Mutter, die niemand ist, so wunderbar,
daß die Versuche des Verstandes, die Leere des persönlichen Selbst
zu pathologisieren oder als Wahnsinn abzustempeln,
unvermeidlicherweise fehlschlugen. Jeder, der unsere Beziehung
miterlebte oder mit Arielle irgendwie in Kontakt kam, bestätigte,
daß sie ein sehr ungewöhnliches Kind war und ganz gewiß keine
Anzeichen irgendeines Traumas zeigte.
Da nun niemand an äußeren Anzeichen feststellen konnte,
daß
Als meine Tochter acht Monate alt war, wurde mir klar, daß die
Zeit gekommen war, Paris zu verlassen. Claude versuchte alles,
um mich davon abzubringen, aber ich wußte, daß die
Rückkehr in die Staaten ganz simpel und klar das nächste war,
was zu geschehen hatte. Obwohl inzwischen etwas mehr als ein
Jahr seit der Zerstörung des «Ich», vergangen war, konnte gewiß
keine Rede davon sein, sich an die Erbarmungslosigkeit eines
Lebens ohne ein Selbst gewöhnt zu haben. Meine Beziehung zu
Claude hatte sich, während ich darum kämpfte, eine absolut
unfaßbare Erfahrung zu begreifen, ganz entscheidend
verändert, und ich konnte von Claude erst recht nicht erwarten,
das alles zu verstehen. Unsere if1 Beziehung hatte sich
inzwischen praktisch aufgelöst. Die Person, i die er geheiratet
hatte, gab es nicht mehr. Ich war unfähig, weiter-
hin «persönliche» Beziehungen zu unterhalten, und so sollte es
auch bleiben.
Claude entschied sich, mit mir zu gehen, um unsere Familie
zusammenzuhalten. Als französischer Arzt mußte er jedoch ein
Examen ablegen und für ein Jahr ein Medizinpraktikum
machen, um in Amerika seine Zulassung zu bekommen. In den
Monaten vor unserem Umzug begann Claude intensiv für das
Examen zu lernen, während ich anfing, unser Leben in Paris
aufzulösen. Claudes Familie war äußerst traurig über die
Neuigkeit von unserem Umzug, doch sie machten keine
Anstalten, uns umzustimmen. Ihnen allen war bewußt, daß mir
das Leben in Paris Schwierigkeiten bereitete, auch wenn sie
keine Ahnung davon hatten, warum. Insgeheim hofften sie
wahrscheinlich, daß eine Ortsveränderung mich vielleicht
glücklicher machen würde. Anscheinend waren sich alle einig
über mein Problem - ich hatte Heimweh und war deprimiert -,
und ich bin mir sicher, daß alle darum beteten, daß sich unsere
Ehe wieder bessern möge.
Meine Tochter jedoch konnte nichts verunsichern. Sie war
ein wunderbares, glückliches Kind, das jeden immer wieder mit
ihrer Frühreife beeindruckte. Sie hatte die Gabe, jeder
Herausforderung ins Gesicht zu lachen, ihre Grübchen zu
zeigen und ihre blonden Locken zu schütteln, bis sie schließlich
jeden mit ihrem Charme dazu brachte, seine Verstimmung zu
vergessen. Es war für mich eine ungeheure Erleichterung, sie so
glücklich zu sehen, denn ich hatte mich immer wieder
gewundert, ob der Terror und jener radikale Bruch in meinem
Bewußtsein während der letzten fünf Monate meiner
Schwangerschaft irgendwelche problematischen Auswirkungen
bei ihr hinterlassen hatten.
Aber was es auch immer für Auswirkungen gehabt haben
mag, es schien sie in keiner Weise traumatisiert zu haben. Auch
jetzt, da sie zu einem Teenager herangewachsen ist, strahlt sie
immer noch diese kluge Fröhlichkeit aus, die sie schon immer
ausgestrahlt hat,
seit sie geboren wurde. Indes hat sie tatsächlich öfter zu
verstehen gegeben, daß ihr sehr bewußt ist, genauso wie die
anderen zu sein - doch zugleich auch recht unterschiedlich.
Manchmal verwirrt sie das, doch meistens redet sie am liebsten
gar nicht darüber. Mindestens einmal jedoch hat sie gesagt:
«Weißt du, wie das ist, Mama, wenn Menschen dich anschauen
und glauben, du bist jemand, doch du weißt, daß du nicht diese
Person bist?»
«Ja, mein Liebling», antwortete ich, «dieses Gefühl kenne
ich sehr genau.»
Die entwertete Leere
Während dieser Zeit, als Claude und ich uns trennten, erzählte
mir mein Bruder Dan von einem spirituellen Lehrer, den er
kennengelernt hatte und der angeblich während einer
Ausbildung in der Schweiz zum TM-Lehrer erleuchtet worden
war. Robert Peter-sen war ein charismatischer Kanadier, dessen
Ruf als Rebell und Bilderstürmer große Aufmerksamkeit in der
TM-Gemeinde, besonders in Fairfield, Iowa, erzeut hatte - dort
also, wo sich die Internationale Universität des Maharishi
befand. Wir beide meinten, daß es mir vielleicht helfen könnte,
Robert kennenzulernen, und so arrangierte Dan, daß ich ihn
auf einem seiner Trips nach Fairfield begleitete.
Ungefähr 60 Leute hatten sich eingefunden, und sobald
Dan und ich den Raum betraten, bat mich Robert, zu einem
Dialog mit ihm ans Mikrophon zu kommen.
«Willkommen, Suzanne», sagte Robert voller
Enthusiasmus. «Erzähle mir etwas über dich und dein Leben.»
«Nun, ich bin gerade aus Paris zurückgekehrt, wo ich die
letzten dreieinhalb Jahre gelebt habe. 1975 habe ich die
Ausbildung zum TM-Lehrer abgeschlossen, doch die letzten
sechs Jahre habe ich nicht mehr meditiert. Man hat mir erzählt,
daß du mit Leuten arbeitest, die von Maharishis Lehren
enttäuscht sind.»
«Ich glaube, das kann man so sagen - doch viel wichtiger ist,
daß ich die Dramatik vom Licht des Bewußtseins zu allen
Menschen bringe. Ich muß dir sagen, daß es sehr eindeutig ist,
daß du etwas Besonderes bist. Ich fühle sehr deutlich, daß du
den Ort, an dem du jetzt lebst, verlassen solltest, um in meiner
Gemeinschaft in Victoria zu leben. Du bist tatsächlich etwas
ganz, ganz Besonderes. Bitte, Suzanne, kannst du zu mir
kommen?»
«Ich weiß nicht, Robert, doch ich werde gewiß darüber
nachdenken. Kanada? Vielleicht...»
Nachdem wir noch ein paar Minuten lang miteinander
gesprochen hatten, sah ich mich plötzlich von einigen seiner
Anhänger umringt. Sie versicherten mir, daß Robert noch nie
zuvor jemandem ein solch direktes Angebot, sich ihm
anzuschließen, gemacht hätte. Ich antwortete, daß ich mir sein
Angebot überlegen würde, denn nichts schien mich irgendwo
anders zu halten.
Auf unserem Heimweg am nächsten Tag nach Chicago
diskutierten Dan und ich ausgiebig diese neue Möglichkeit. Ich
wollte meine Mutter bitten, sich für ein paar Tage um Arielle
zu kümmern, während ich nach Victoria flog, um mir alles
näher anzusehen. Sie willigte gerne ein, und so flog ich zwei
Wochen später. Als ich in einem neunsitzigen Pendelflugzeug
von Seattle auf dem winzigen Flughafen von Victoria landete,
wurde ich von einem von Dans Freunden abgeholt. Er hatte
mich eingeladen, während meines Besuches in seinem Haus zu
wohnen. Am nächsten Morgen brachen wir frühzeitig auf, um
an dem Wochenendkurs von Robert teilzunehmen, den er in
einer Vorlesungshalle der Universität von Victoria gab.
Es war aufregend, Robert wiederzusehen. Die Gruppe von
Leuten um ihn war von seinem Charisma wie gebannt. Er
präsentierte seine Lehren mit einer solchen Kraft, daß ihr
eigentlicher Inhalt gar keine große Rolle spielte. William, sein
bester Freund und gleichzeitig auch seine rechte Hand,
begrüßte mich voller Enthusiasmus, und es wurde sehr schnell
deutlich, daß William und ich uns voneinander angezogen
fühlten.
Während des Wochenendes wartete ich gespannt auf eine
Möglichkeit, mit jemandem über meine Erfahrung, ohne ein
Selbst zu sein, zu sprechen. Obwohl dies das erste Mal war, daß
ich mich in einer spirituellen Umgebung aufhielt, seit sich die
Leere des persönlichen Selbst aufgetan hatte, schien hier nicht
der Ort zu sein, um eine Selbst-lose Erfahrung zu diskutieren.
Schließlich war Robert ein Anhänger von Maharishi Mahesh
Yogi, und der hatte niemals in seinen Lehren einen Selbst-losen
Zustand erwähnt. Der Verstand produzierte aufgrund der Leere
weiterhin eine unglaubliche Angst, die sich auch nicht
verringerte, als ich dem zuhörte, was Robert zu sagen hatte.
Während der nächsten fünf Monate pendelte ich zwischen
Victoria und Chicago hin und her. Da Claude und ich uns
mitten im Prozeß der Scheidung befanden, mußten die
Gespräche mit dem Rechtsanwalt in Chicago sowie Arielles
Besuche bei Claude arrangiert werden. Doch immer, wenn ich
keine derartigen Verpflichtungen hatte, flogen Arielle und ich
nach Victoria.
Nach einigen Wochen, in denen ich Robert näher
kennengelernt hatte, wurden William und ich ein Paar, und
man bot mir an, in sein Appartement im ersten Stock eines
wunderschönen Hauses einzuziehen, das einer Gruppe von
Roberts Studenten gehörte. Die Beziehung zu William ergab
sich aus derselben Leere, die nach wie vor als der nicht-
lokalisierbare Handelnde präsent war. Ein Paar zu werden, war
offensichtlich das Naheliegenste, doch es war nicht das
Ergebnis eines persönlichen Bedürfnisses
oder Wunsches. Die Funktionen, die in einer Beziehung
ablaufen, liefen weiterhin ab, auch wenn es niemanden gab, auf
den sie sich bezogen. Kein Ereignis basierte auf Gründen oder
Entscheidungen. Es gab nichts mehr, das in irgendeiner Weise
jemandem ähnelte, der die Entscheidungen traf, jemandem, der
die Entscheidung zu treffen schien, ob eine Beziehung
beginnen sollte oder nicht, oder ob die Person der richtige
Partner war oder nicht. Die Beziehung schien zwar eine
persönliche zu sein, doch das war sie nicht, und für den
Verstand war das verwirrend und beängstigend.
Robert hatte die Angewohnheit, seine Studenten zu «
konfrontieren», wenn er der Meinung war, daß sie etwas falsch
gemacht hätten. Nachdem ich öfter an seinen Gesprächen
teilgenommen hatte, wurde mir klar, daß er die Welt und alle
Menschen auf der Ebene von gut und böse betrachtete. Wenn er
jemanden konfrontierte, dann basierte seine Attacke darauf, daß
er diese Person als böse bezeichnete, und sie wurde unmittelbar
nach der Konfrontation aus der Gemeinschaft verbannt. Einige
von ihnen waren mehrmals konfrontiert und verbannt worden
und kehrten trotzdem im Laufe der Jahre immer wieder in den
Schoß der Gemeinschaft zurück. Andere wurden konfrontiert
und verließen die Gemeinschaft für immer.
Eines Tages traf eine Frau zu einem Wochenendkurs ein, die
Robert als «psychotisch» bezeichnet hatte. Sie war attraktiv
und sprach zusammenhängend und anschaulich über
verschiedene Themen. Niemand außer Robert hielt sie für
«verrückt», aber für Robert waren verrückt und böse das
gleiche. Die Frau wurde aufgefordert, vor die Gruppe zu treten
und ihre Erfahrung zu beschreiben. Sie war nervös und
erklärte: «Mein Problem ist, daß ich kein Selbst habe.»
Als ich das hörte, gefror mir das Blut in den Adern. Es war
die schlimmste Bestätigung, die ich jemals vernommen hatte,
daß die
Leere genau das war, wofür sie der Verstand hielt: Wahnsinn.
Robert antwortete auf die Beschreibung der Frau, indem er
behauptete, sie am Abend zuvor dadurch «geheilt» zu haben,
daß er ihr «ein Selbst zurückgegeben hatte». Sie bestätigte, daß
das tatsächlich geschehen sei und drückte ihm ihre grenzenlose
Dankbarkeit aus. Er lächelte nur und akzeptierte voller Stolz ihr
Lob.
Eine gewaltige Welle panischer Angst schlug über mir
zusammen. Drei Tage später blieben William und ich die ganze
Nacht auf und diskutierten darüber, welch schreckliche Angst
mir das eingejagt hatte (obwohl ich ihm niemals von meiner
Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, erzählt hatte). William
schlug vor, daß wir Robert aufsuchen sollten. Ich gab zu
bedenken, daß er um diese Zeit sicherlich nicht mehr wach sei,
denn es war bereits halb fünf Uhr morgens, doch William
bestand darauf, daß wir ihn anriefen. Robert meldete sich am
Telefon und forderte uns auf, ihn augenblicklich aufzusuchen.
Zehn Minuten später begrüßte er uns mit einem breiten
Lächeln. Unser Gespräch dauerte eine Stunde, und es drehte
sich hauptsächlich um das, was Robert gerade in den Sinn kam.
Danach verabschiedeten William und ich uns wieder.
Eine Woche später, William hatte für zwei Tage die Stadt
verlassen, rief mich Robert spät abends noch an. Er gab vor, sich
seit unserem Gespräch vor einer Woche seltsam gefühlt zu
haben, und er wunderte sich, was ich wohl mit ihm angestellt
hatte. Das war genau die Art von Anschuldigung, die er oft
gegen andere erhob. Immer wenn er sich in der Gegenwart einer
Person «abgetrennt, entrückt oder aufgelöst» fühlte, dann
schloß er daraus, daß diese Person böse sein mußte. William
hatte mir schon einmal etwas Ähnliches erzählt. Nachdem er
von einem späten Mittagsschlaf erwacht war, wunderte er sich,
was ich wohl mit ihm im Schlaf angestellt hatte, denn nach dem
Aufwachen fühlte er sich nicht wohl.
Robert und ich beendeten unser Telefonat, und ich ging
schla-
fen. Am nächsten Morgen gegen sechs Uhr kam Roberts Frau
Tessa in mein Zimmer, weckte mich und sagte, Robert wartete
draußen im Flur und wollte mit mir sprechen. Sie erwähnte
jedoch mit keiner Silbe, daß Robert den anderen Studenten
im Haus bereits erzählt hatte, ich wäre böse, denn ich wäre eine
Jüdin. Eine Woche zuvor war er nämlich zu der dramatischen
Erkenntnis gekommen, daß alle Juden böse seien. Er traf sich
mit einigen seiner langjährigen Studenten in der Eingangshalle
und drängte sie, mich aus dem Haus zu werfen.
Ich traf Robert in der Eingangshalle, und er bat mich, ihm
in das Appartement einer seiner Studenten zu folgen, um
miteinander zu reden. Zwölf Leute hatten sich dort versammelt,
um unserer Unterhaltung beizuwohnen. Er begann mit der
Anklage, daß ich in der vergangenen Woche ein «seltsames»
Gefühl auf ihn übertragen hätte und fuhr fort, all die Dinge
anzuführen, die ich ihm angetan hätte. Schließlich eröffnete er
mir, daß ich sofort gehen sollte, denn alle Juden wären böse
und in diesem Haus, das für ihn ein heiliger Platz sei, nicht
mehr willkommen.
Man schickte mich zurück auf mein Zimmer. Ich sollte
meine Sachen packen, und man organisierte für Arielle und
mich die Wohnung eines anderen Studenten, der ein paar
Meilen entfernt lebte. Zwar wollte ich auf William warten, um
seine Reaktion auf diese Neuigkeit zu hören, doch ich durfte
nicht mehr länger als eine Stunde im Haus bleiben. Eiligst
packte ich meine Sachen zusammen, und zwei Männer
brachten mich in die andere Wohnung.
Bei seiner Rückkehr am nächsten Tag wurde William von
einem der Hausbewohner abgefangen und über die Ereignisse
vom vergangenen Tag informiert. William kam niemals
vorbei, um mich zu sehen, und rief auch nicht an, um
herauszufinden, wie es mir ging. Robert hatte ihn davor
gewarnt, mit mir in Kontakt zu treten.
Innerhalb einer Woche organisierte ich alles für meine Abreise
von Victoria. Noch während der Vorbereitungen für meine
Rückkehr in die Staaten hörte ich, daß Robert William
konfrontiert und beschuldigt hatte, selbst der Teufel zu sein.
Das Drama von Roberts Beziehung zu dem, was er als böse
bezeichnete, wertete der Verstand als überzeugenden Beweis
gegen die Leere des persönlichen Selbst. Da dies die erste
spirituelle Gemeinschaft war, mit der ich seit dem plötzlichen
Abfallen der persönlichen Identität vor drei Jahren in Kontakt
gekommen war, schloß der Verstand daraus, daß alle
spirituellen Lehren meine Erfahrung als einen pathologischen
Fall betrachten würden, so wie es Robert getan hatte.
Verständlicherweise bot der spirituelle Bereich keinen weiteren
Anreiz mehr, um bei der Suche nach einer Erklärung für diesen
mysteriösen Zustand hilfreich sein zu können.
Während meiner letzten Tage in Victoria erreichte mich die
Nachricht vom Tod meines Vaters. Seit meiner Rückkehr von
Paris hatte ich ihn des öfteren in der Privatklinik besucht, wo er
seit sechs Monaten untergebracht war. Seit zehn Jahren litt er an
Alzheimer, und sein unaufhaltsamer Verfall hatte das Feuer der
ständigen Angst des Verstandes weiter geschürt, daß in der
Leere des persönlichen Selbst alle Funktionen zum Stillstand
kommen oder zumindest eingeschränkt würden.
Denn schließlich war es ganz eindeutig, daß jegliche Form
von jemand zu sein sich aufgelöst hatte, und man konnte sehen,
welche Auswirkungen das bei ihm hatte: Er erkannte weder
seine Frau noch seine Kinder, und er wußte nicht mehr, wer er
war. Er sprach nicht mehr, und er las, fuhr oder ging nicht mehr.
Sein Anblick schürte die Angst, daß ich bald so enden würde
wie er.
Als ich von seinem Tod erfuhr, weinte ich. Es gab zwar
niemanden, der sich traurig fühlte, und dennoch erfolgte die
emotionale Reaktion genau wie zuvor und bezog sich
anscheinend auf je-
manden, obwohl das nicht der Fall war. Das Weinen fand statt
-nicht mehr und nicht weniger. Für andere schien es jemanden
zu geben, der traurig war, doch da war niemand.
Für den Verstand war es ungemein schwierig zu erleben, daß
die emotionalen Funktionen im Angesicht der Selbstlosigkeit
weiter abliefen, und er begann wiederum Beweise dafür zu
sammeln, daß etwas mit dieser Erfahrung nicht stimmte.
Gleichzeitig versuchte ich so zu wirken, als ob ich jemand wäre,
der in angemessener Weise auf den Tod seines Vaters reagierte.
Ich flog augenblicklich nach Chicago zurück und half meinen
Brüdern und meiner Mutter bei den Vorbereitungen für die
Beerdigung. In ihrer Anwesenheit weinte ich regelmäßig und
ausgiebig, wann immer wir von unserem Vater sprachen. Der
«Versuch, jemand zu sein», wirkte sehr überzeugend, und ich
sprach mit niemandem darüber, daß all diese Emotionen sich
für keinen einzigen Moment auf ein «Mich» bezogen.
Die Leere analysieren
Im Januar 1986 machte ich mich mit meiner Tochter auf den
Weg nach San Francisco. Wir mieteten eine Wohnung im
obersten Geschoß eines wunderschön restaurierten
viktorianischen Hauses in einem ruhigen Stadtteil und genossen
einen sehr angenehmen Tagesablauf: faule Vormittage, lange
Nachmittage im Park und Abende, an denen wir uns im
Wohnzimmer auf dem Sofa zusammenkuschelten und
Geschichten lasen. Auf diese Weise vergingen die ersten
Wochen wie im Flug und boten uns eine willkommene
Abwechslung von den vergangenen Monaten, die sich immer nur
um die Scheidung, intensive Konfrontationen und den Tod
meines Vaters gedreht hatten.
Arielle blieb nach wie vor eine wunderbare Gefährtin, deren
stets fröhliches Lachen alle Situationen in wunderschöne
Erlebnisse verwandelte. Ihre Präsenz linderte die Angst, die
meine Erfahrungen auch drei Jahre nach dieser schicksalhaften
Begegnung mit der Leere bestimmte. Ich wurde abhängig von
ihrem Lachen; es beruhigte meinen Verstand, wenn er voller
Enthusiasmus sein breitgefächertes Angebot angsterfüllter
Vorstellungen ausbreitete. Sie half mir damals und auch in den
darauffolgenden Jahren mehr
als jeder andere, mich daran zu erinnern, daß man sich auch
in den angstvollsten Momenten sicher fühlen kann, solange
man nicht seinen Humor verliert.
Der Prozeß, sich daran zu gewöhnen, kein individuelles
Selbst zu haben, setzte sich ohne Unterbrechung fort. Der
Verstand überwachte aufs genaueste, wie unterschiedlich die
Ereignisse im Leben aufgenommen wurden, und er registrierte
und kommentierte (wie es ein Verstand nun einmal tut) alles
Positive und Negative eines jeden Momentes. Da der Verstand
die Verschiebung im Bewußtsein bereits als negativ
abgestempelt hatte, gab es nur wenig Spielraum, um etwas
Positives wahrzunehmen. In diesen seltenen Momenten, wenn
die Leere scheinbar in den Hintergrund rückte (auch wenn das
nur ansatzweise geschah), ergriff der Verstand die Gelegenheit,
um eine Rückkehr zum «Normalzustand» des Bewußtseins
festzustellen. Diese Verlagerung der Leere in den Hintergrund
war das einzige, was der Verstand als positiv bezeichnete.
Die erhöhte Wachsamkeit des Verstandes war äußerst
anstrengend. Da er ununterbrochen damit beschäftigt war, die
Erfahrung der Leere abzuwehren, blieb wenig Aufmerksamkeit
für irgend etwas anderes übrig. Mein Leben war erfüllt davon,
die Selbst-lo-sigkeit zu erkennen, sie zu fürchten und zu
beurteilen, sie zu vergessen, sie abzulehnen, sich Sorgen über
sie zu machen und Fragen über sie aufzuwerfen. Selbst im
Schlaf setzte sich die Leere der persönlichen Identität
ungehindert fort. Keine Form mentaler Aktivität veränderte
jemals in irgendeiner Weise die Erfahrung, ohne ein Selbst zu
sein, und keiner der Versuche, sie zu begreifen, zu organisieren
oder zu bewerten, brachte jemals das Gefühl einer persönlichen
Identität zurück.
«Rufen Sie mich an, wenn Sie Ihre Meinung ändern», sagte sie.
«Vielleicht habe ich in ein paar Monaten einen freien
Platz.»Nachdem ich die Therapie bei Sam beendet hatte,
befand ich mich bereits im zweiten Jahr meines
Promotionsprogrammes in Psychologie. Im Herbst 1987, nach
meinem Jahr an der JFK-Uni, wechselte ich zum Wright
Institute, denn ich wollte meinen Doktortitel anstatt des
Magisters machen. Alle folgenden Therapieerfahrungen machte
ich während meines Abschlußexamens.
Das Wright Institute bot ein traditionelles,
psychodynamisch ausgerichtetes Psychologieprogramm, und der
überwiegende Teil des Lehrkörpers und der Doktorväter an
dieser Anstalt hatten eine rigoros analytische, theoretische
Ausrichtung. Meine Ausbildung zielte darauf ab, eine
Psychotherapie entsprechend des Freudschen Modells «leere
Leinwand» zu praktizieren, wobei der Therapeut so wenig wie
möglich sagt und gleichzeitig versucht, brillante, analytische
Interventionen aufzuzeigen, die das Leben seines Patienten auf
dramatische Weise verändern sollen.
Man ermutigte uns, «in der Übertragung zu arbeiten» und
«unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenübertragung zu
richten», um dieses Material im therapeutischen Prozeß zu
benutzen, denn alles in der Therapie «geschieht in der
Beziehung» zwischen dem Patienten und dem Therapeuten.
Wiederholt warnte man uns davor, jemals «den Patienten
zufriedenzustellen», was alles mögliche einzuschließen schien,
wie ihm nicht unser Alter zu sagen oder wie wir uns fühlten,
falls man uns danach fragen sollte, oder ihnen nach einer
besonders schweren Sitzung lediglich die Hand
zu schütteln, selbst beim Abschluß einer Therapie nach
vielen Jahren.
Die analytische Einstellung fühlte sich an wie eine
Zwangsjacke, und es war schwer zu verstehen, wie das für den
Patienten hilfreich sein konnte, denn dessen Bild von sich selbst
war in vielen Fällen nachher schlechter als vor Beginn der
Therapie. Ich jedenfalls übernahm Patienten gegenüber, mit
denen ich über das Wright Institute in Kontakt kam, niemals
diese Einstellung, obwohl ich das meinen Doktorvätern
gegenüber selbstverständlich nie erwähnte. Ich konnte einfach
die natürlichen, menschlichen Gesten meiner Klienten nicht
zurückweisen oder diese Gesten auf sie selbst zurückwerfen oder
gar ihre Fragen mit Schweigen beantworten.
Die analytische Einstellung geht davon aus, daß positive
Gefühle des Patienten dem Therapeuten gegenüber eine
Übertragung bedeuten und diese aufgearbeitet werden müssen.
Genauso bedeuteten negative Gefühle gegenüber dem
Therapeuten eine Übertragung und müssen daher ebenfalls
aufgearbeitet werden. Entwickelt der Therapeut dem Patienten
gegenüber Gefühle, dann wird das entweder als
Gegenübertragung oder projizierende Identifikation bezeichnet,
ein Abwehrmechanismus, durch den der Patient unterdrückte
Gefühle auf den Therapeuten projiziert und sie ihn fühlen läßt,
anstatt sie selber zu erleben.
Mir war es immer unbegreiflich, warum man einer Person
eine Menge Geld bezahlen sollte, die einem so wenig sagt, die
sich weigert, auch nur die einfachsten Fragen zu beantworten,
die irgendwelche Handlungen versteckte, negative Motive
unterstellt (« Die Tatsache, daß Sie zwei Minuten zu spät zur
Therapie erscheinen, bedeutet, daß Sie sich der Behandlung
widersetzen») und die seine Erfahrungen pathologisiert, indem
sie alles, was man tut, als Zeichen eines tieferen,
unterschwelligen Problems hinstellt. Die traditionelle
Psychotherapie scheint auf der ursprünglichen Angst vor
dem Mysterium zu beruhen, und diese Angst scheint dahin zu
tendieren, alle Manifestierungen des Bewußtseins, die nicht die
kulturelle Norm erfüllen, zu reduzieren, zu interpretieren oder zu
pathologisieren.
Auch wenn mir sehr bewußt ist, daß nicht alle Therapeuten
auf diese Weise arbeiten, war dies das Modell, an dem sich
meine Ausbildung orientierte. Ähnlich erschreckend war es zu
erleben, wie analytisch orientierte Psychotherapeuten
untereinander über ihre Patienten sprachen. Selten vernahm ich
ein Wort des Mitgefühls, der Sympathie oder gar eines
menschlichen Verständnisses. Statt dessen bekam jeder Patient
ein ihrer Diagnose entsprechendes Etikett. «Sie können sich gar
nicht vorstellen, was mein Borderline Patient gestern gemacht
hat.» Oder: «Der Zwanghafte, der um zehn Uhr kommt, treibt
mich zum Wahnsinn.»
Gegen Ende meiner Ausbildung wurde mir klar, daß ich an
der falschen Stelle suchte, um die Erfahrung, ohne ein Selbst zu
sein, zu verstehen. Um es in der Sprache der Psychologie
auszudrücken, war nämlich diese Erfahrung etwas, von dem ich
geheilt werden mußte. Der Begriff «Heilung» beinhaltet, etwas
zu eliminieren, anzuhalten oder zu verändern, was man - oder
noch wichtiger der Therapeut — nicht als angemessen
akzeptieren kann. Offensichtlich war es völlig ausgeschlossen,
daß die Erfahrung einer individuellen Identität wiederkehren
würde, und es wurde auf erschreckende Weise deutlich, daß der
Bereich der Psychologie nicht die geringste Ahnung davon
hatte, was hier vor sich ging. Trotzdem beendete ich mein
Doktorat und erhielt meine Zulassung als Psychologin, denn es
war offensichtlich das Naheliegendste, was es zu tun gab. Ich
hätte nicht erklären können, warum ich es tat. Ich agierte niemals
auf der Basis von Gründen, die vom Verstand produziert wurden.
Selbstverständlich erzeugte die Angst weiterhin ihre eigene
Logik, die besagte, daß ich eine Karriere als Psychologin
einschla-
gen sollte, denn schließlich hatte ich die Rolle zu übernehmen,
je-
mand zu sein. Zu wissen, daß man niemand ist, paßt nicht in
un-
er kulturelles Bild. Leere ist in dieser Welt kein akzeptierbares
Ziel. Etliche Jahre später brachte mich mein Bruder immer
noch
zum Lachen, wenn er erklärte, daß ich die einzige in der Familie
war, die «etwas aus sich gemacht
hatte». Der Verstand hattesich
anscheinend mit Erfolg darum
bemüht, mich als eine Person wiealle
anderen auch erscheinen zu lassen.
Die Leere als die Weite erkennen
Eines der Bücher, das ich bei meinem Studium der spirituellen
Literatur entdeckt hatte, war eine Zusammenstellung von
Interviews mit verschiedenen zeitgenössischen spirituellen
Lehrern mit dem Titel: Timeless Vision, Healing Voices.
(Zeitlose Visionen, Heilende Stimmen, Anm. d. Übers.) Das
Buch war von Stephan Bodian verfaßt worden, einem
Therapeuten in Marin County, der auch ein sehr bekanntes
spirituelles Magazin herausgab. Besonders eines der
Interviews mit einem Lehrer namens Jean Klein schien meine
Erfahrung präzise zu beschreiben, und ich verabredete mich mit
Stephan zu einem Gespräch, wenn auch nicht ohne eine
gewisse Beklommenheit nach all den Erfahrungen, die ich mit
Therapeuten bislang gemacht hatte.
Stephan hatte eine gelassene, ruhige Präsenz, und ich fand
es verblüffend einfach, mit ihm zu reden. Ich beschrieb die
Erfahrung der Leere, so gut ich konnte, und erwähnte auch die
extremen Ängste und Sorgen. Er stellte mir einige klärende
Fragen und sagte dann etwas, was ich niemals von einem
Psychotherapeuten erwartet hätte: «Du hast offenbar ein
tiefgehendes spirituelles Erwachen erfahren. Dies scheint der
Zustand von Freiheit zu sein, der von allen spirituellen
Traditionen, besonders von der Advaita-Lehre (nicht-
dualistisch), beschrieben wird. Das ist phantastisch !»
Auf meine Frage, warum ich denn so schreckliche Ängste
erlebte, antwortete er, daß er es auch nicht wüßte, doch er
empfahl mir, seinen Lehrer Jean Klein aufzusuchen, der in der
kommenden Woche in Berkeley erwartet wurde, um einige
Vorträge zu halten. Er erklärte mir, daß Jean in der Tradition
von Ramana Ma-
«Du mußt den Teil des Vetstandes zum Stillstand btingen, der
ununterbrochen versucht, zu dieser vergangenen Erfahrung
zurückzukehren», erwiderte er. «Räume den Teil aus dem Weg,
und die Freude wird kommen.»
Niemand sonst im Raum konnte auch nur andeutungsweise
erfassen, wie treffend seine Worte waren. Es gibt also einen Teil
im Verstand, den man vielleicht als die selbstreflektierende oder
selbstbeobachtende Funktion bezeichnen kann, der immer
wieder zurückschaute, und dann, wenn er nichts als Leere fand,
die Nachricht aussendete, daß etwas nicht stimmte. Es war ein
Reflex, der sich über die Jahre eines Lebens in der Illusion von
einer Individualität entwickelt hatte, ein Reflex, den wir
allgemein als notwendig erachten, um uns selbst zu erkennen.
Immer wieder «schauen wir nach innen», um festzustellen, was
wir denken und fühlen, um uns selbst zu studieren und den
Zustand unseres Verstandes und unseres Herzens zu ermitteln.
Seitdem es nun kein «innen » mehr gab, «in » das man schauen
konnte, war der selbstreflektierende Reflex aus den Angeln
gehoben worden, obwohl er weiterhin nicht lockerließ. Er
wendete sich immer wieder nach innen, unfähig, sich auf die
Tatsache einzustellen, daß es kein «innen» mehr gab, nur noch
Leere. Was Jean mir an dem Abend vermittelte, war äußerst
wichtig, und ich bin ihm auf ewig dafür dankbar.
Nach der Gesprächsrunde ließ mir Jean durch einen seiner
Studenten eine Einladung zukommen, ihn in der
darauffolgenden Woche privat zu treffen. Ich fuhr nach Marin
County, und wir trafen uns im Garten seines Hauses. Er
begrüßte mich, als ich auf ihn zutrat, und deutete mir an,
neben ihm Platz zu nehmen. Dann bat er mich, ihm die
vollständige Geschichte von der Veränderung des Bewußtseins
zu erzählen. Er hörte mir aufmerksam und mit einem sanften
Lächeln zu und nickte ab und zu mit seinem Kopf, während ich
berichtete. Zum Schluß machte er noch
einige Bemerkungen darüber, wie rein und frisch meine
Wahrnehmung wäre und der Unmittelbarkeit dessen
entspränge, was
ist.
Unser Gespräch dauerte ungefähr 45 Minuten, dann
erkundigte er sich nach meiner Gesundheit. Ich sagte ihm, daß
meine Gesundheit ausgezeichnet sei, worüber er offensichtlich
froh war. Wir saßen noch weitere fünfzehn Minuten
schweigend beieinander, bevor ich mich zum Gehen erhob. Er
schüttelte mir die Hand und sagte, wie glücklich er sei zu
wissen, daß ich im «Wissen» lebte.
Nach dem Treffen mit Jean begann ich andere spirituelle
Lehrer zu kontaktieren, die in ihren Büchern oder Artikeln die
Leere des persönlichen Selbst beschrieben hatten. Ich schrieb
einige der bekanntesten buddhistischen und hinduistischen
Lehrer an, beschrieb ihnen detailliert meine Erfahrung und bat
sie um ihren Kommentar. Von allen erhielt ich wunderschöne,
interessante Briefe voller Lob und Begeisterung. Jeder von
ihnen machte auf eine eigene Weise klar, daß mein Erlebnis
etwas Wunderbares sei. Jeder einzelne Brief bestätigte die
Erfahrung als die Realisierung der wahren Natur der gesamten
Schöpfung.
Jeder der Briefe, die ich las, brachte mir eine unglaubliche
Erleichterung, obwohl die Erfahrung selbst immer noch
keine Freude erzeugte. Die Angst blieb auch weiterhin. Wie
konnte das nur sein? Ich korrespondierte und traf mich mit
mehreren Lehrern und bat sie um ihre Antwort auf die eine
zentrale Frage: «Wenn das, was ich erlebe, ein wirkliches
Erwachen bedeutet - wo bleibt dann die Freude, und warum
kommt immer noch soviel igst hoch?»
Christopher Titmuss, ein englischer Lehrer für buddhistische
/ipassana-Meditation, sagte zu mir, wie wichtig es sei, die
Sub-stanzlosigkeit des «Ich» zu erkennen. Bezug nehmend auf
meine igst, daß die Erfahrung bedeutete, ich wäre wahnsinnig,
schrieb
er mir: «Im spirituellen Sprachgebrauch bedeutet Wahnsinn die
Abwesenheit solcher Erfahrungen, wie du sie erlebst, denn diese
Abwesenheit überläßt der < Ich, Ich, Ich >-Kultur die absolute
Autorität. Der Wahnsinn dieser Überzeugung in unserer Kultur
hat persönliche, soziale und globale Konsequenzen.»
Des weiteren sagte er, daß der Grund für die Abwesenheit
jeglicher Freude oder tiefster Wertschätzung der Erfahrung
darin zu suchen sei, daß ich sie nicht wirklich verstehe. «Wie
könntest du auch?» schrieb er. «Du hast bislang keine
Anhaltspunkte für ein solches Geschehen. Wie kann das <Ich>
das < Nicht-Ich > verstehen?» Er empfahl mir, jemanden in
meiner Nähe aufzusuchen, der meiner Meinung nach «deine
Erfahrungen versteht, solche Erfahrungen selbst erlebt hat,
und der den Wert und die Freude der Erkenntnis der Leere des
<Ich> zu schätzen weiß.»
Während Christopher im Sommer in Nordkalifornien ein
Seminar gab, trafen wir uns zu weiteren Diskussionen. Er
erklärte mir, daß eine stille Akzeptanz der Erfahrung
unweigerlich zu einer Beruhigung der Gedanken und Gefühle,
die die Angst erzeugten, führen würde.
«Was du brauchst, ist Bestätigung», sagte er. Ich spürte
die tiefe Integrität, die aus seinen Worten sprach. «Die
Bestätigung wird die Angst abklingen lassen, und dadurch wird
sich die unendliche Fülle der Erfahrung eröffnen und auch eine
Vertiefung der Einsicht.»
Er fuhr fort: «Wenn jemand zu mir kommt und berichtet, daß er
die Leere verwirklicht hat, dann antworte ich normalerweise: <
Komm nach einem Jahr und einem Tag wieder zurück und laß
uns dann sehen, wo du stehst.) Wenn er dann immer noch das
gleiche zu mir sagt und sein Leben zutiefst davon beeinflußt
worden ist, dann sage ich: <Jawohl, das ist es.»> « Sind zwölf
Jahre genug?» fragte ich. «Ich würde sagen, du bist völlig
ausreichend qualifiziert - so-
gar überqualifiziert», erwiderte er, und wir lachten beide aus
vollem Herzen.
Was mir offenbar während der zwölf Jahre langen Reise
gefehlt hatte, war ohne Frage eine stille Akzeptanz. Zwölf Jahre
lang hatte ich keine Bestätigung bekommen, war völlig auf mich
selbst gestellt. Der Verstand wußte einfach nicht, was er damit
anfangen sollte, und er suchte ständig nach einem Sinn und
einem Verständnis der Ereignisse. Es dauerte fast elf Jahre, um
letztendlich zu akzeptieren, daß der Verstand ganz einfach nur
unfähig war, das Ausmaß der Erfahrung, ohne ein persönliches
Selbst zu sein, zu erfassen. Diese Akzeptanz ebnete dem
Verstand den Weg, um annehmen zu können, daß eine
unfaßbare Erfahrung nichts weiter ist als eine unfaßbare
Erfahrung. Sie ist weder falsch noch verrückt - sie ist lediglich
unfaßbar.
«Laß uns in mein Büro gehen, wir können dort weiterreden»,
sagte Reb Anderson, der Abt des Green Gulch Zen Centers,
welches nicht weit nördlich der Golden Gate Bridge an der
Küste lag. Ich folgte ihm auf dem steilen Steinpfad den Berg
hinauf, vorbei an dem kleinen, hölzernen Gebäude, das als Büro
und Buchladen der Zen-Gemeinde diente. Wir traten hinaus
auf eine große Wiese, auf der riesige Eukalyptusbäume standen
und bunte Blumenbeete eingestreut waren. Wir setzten uns auf
eine niedrige, hölzerne Bank, die vom Licht der Herbstsonne
überflutet war. «Ein schönes Büro», bemerkte ich. Er lächelte
und fixierte mich dann mit seinem direkten, intensiven Blick.
Ich erzählte ihm meine Geschichte und bat ihn um seine
Meinung darüber, warum ich absolut keine Freude an dieser
Erfahrung finden konnte.
« Die Erfahrung der Leere des Selbst ist in sich selbst
Glückseligkeit, doch es ist nicht die gleiche wie die relative
Glückseligkeit. Für mich ist ganz eindeutig, daß du genau in
diesem Moment völlig in der Glückseligkeit bist.»
Er erklärte weiter, daß der relative Mechanismus der
Skandhas
nicht die Glückseligkeit der Leere wahrnehmen könne und es
somit durchaus verständlich sei, daß die Glückseligkeit, die
auftrat, sehr schwer als solche zu erkennen sei. Rebs Beschreibung
lockerte eine gewisse Verhärtung in der Interpretation des
Verstandes über dieses Ereignis.
Jack Kornfield, Vipassana-Lehrer und Mitbegründer des
Spirit Rock Meditation Center im Marin County, sowie Ram
Dass, ein sehr bekannter Autor, Redner und Schüler von Neem
Karoli Baba schickten mir ebenfalls hilfreiche und ermutigende
Worte. Beide gaben ihr Bestes, um mir Bestätigung und
Begleitung auf dem Weg zu bieten. Sie erinnerten mich daran,
daß es Jahre dauert, bis man sich an eine solch tiefgehende
Veränderung im Bewußtsein gewöhnt hat und sie integrieren
kann. Während eines Telefongesprächs sagte Jack zu mir:
«Dies ist eine wunderbare Erfahrung. Da ist absolut nichts, vor
dem man Angst haben müßte ... Im Osten benutzt man das
Wort Akinchina, um eine Person zu beschreiben, die völlig
erwacht ist. Übersetzt bedeutet das: Jemand, der nichts hat, sich
nichts wünscht, keine Bestätigung braucht und zu nichts
wird.»
Ram Dass äußerte: « Du hast das Ganze außerordentlich
gut gemeistert und warst fähig, ein Leben mit Familie und Beruf
aufzubauen und durchzuhalten. Das zeugt von enormer Kraft.»
Er fügte hinzu, daß wir «das Nicht-Selbst mit dem Maharaji
teilen» und daß es einen großen Wunsch für die Tibeter gibt,
den man zur Ehre des Gurus ausspricht: «Möge dein weiser
Verstand und der meinige untrennbar bleiben. Der weise
Verstand», sagte Ram Dass, «ist der Ort des Nicht-Selbst.»
Hameed Ali (A. H. Almaas), ein spirituell ausgerichteter
Psychologe, antwortete folgendermaßen auf meinen Brief: «Ich
erkenne deine Erfahrung als etwas Wahres, als ein spirituelles
Erwachen. Es ist auf keinen Fall etwas Pathologisches, und es
ist sehr bezeichnend, daß viele Leute es nicht verstehen können.
Ich hatte
ähnliche Erwachenserfahrungen als Teil eines fortlaufenden
Prozesses, und daher ist mir deine Beschreibung vertraut.
Die Art und Weise, wie es bei dir geschehen ist,
unterscheidet sich von meinem Prozeß des Erwachens und
davon, was ich in meiner Arbeit lehre. Die Tatsache, daß deine
Erfahrung Stufen und Entwicklungen durchläuft, ist ebenfalls
real und entspricht dem Prozeß des Erwachens, wie er vielen
anderen Individuen widerfahren ist. Ich glaube, daß dich deine
Kindheitserlebnisse darauf vorbereitet haben, und die
Meditationskurse, an denen du teilgenommen hast, haben
ebenfalls dazu beigetragen. Die Angst und der Terror, von
denen du berichtest, sind unter den gegebenen Umständen
völlig normal, und es erfordert ein tiefes Verständnis, um das zu
durchschauen und darüber hinauszugehen. Du scheinst auch
ohne die Führung eines Lehrers sehr gut damit
zurechtgekommen zu sein.»
Doch die klarste Bestätigung meiner Erfahrung erhielt ich
von einem spirituellen Lehrer, der nicht mehr am Leben ist. Als
mir Ramana Maharshi in den Dialogen mit seinen Schülern
«begegnete», wußte ich, daß ich meinen spirituellen Lehrer
gefunden hatte. Er beschrieb meine Erfahrung auf solch direkte
und einfache Weise, daß absolut kein Raum mehr für
irgendwelche Zweifel bezüglich meiner Erlebnisse blieb.
Mitternacht.
Keine Wellen,
kein Wind, das
leere Boot ist vom
Mondlicht
überflutet.
DOGEN
Da draußen,
jenseits der Vorstellungen von falsch und richtig,
gibt es eine Welt.
Dort treffe ich Dich.
Wenn sich die Seele dort im Gras niederläßt,
ist die Welt zu erfüllt, um über sie zu sprechen.
Ideen, Sprache,
sogar der Ausdruck »wir beide« machen keinen Sinn.
RUMI
für die Menschen zu sein - daß die unendliche Weite auf sich
selbst stößt, egal wohin sie sich auch wendet. Die Vorstellung
von persönlichem Wachstum oder innerer Entwicklung steht in
jeder Beziehung im Widerspruch dazu, wie die unendliche
Weite existiert. Das Streben nach dem Erwachen impliziert ein
Gefühl von Zukunft, welches ausschließt, sich in dem zu
sonnen, was jetzt in diesem Augenblick ist. Ich sehe keinen Sinn
darin, eine Methode zur Evolution anzuwenden, die beinhaltet,
irgendwohin zu kommen oder etwas anderes zu werden. Sobald
man sich auf den Weg macht, irgendwohin zu kommen, ist das
Überwältigende dessen, was ist - das Hier und Jetzt - nicht mehr
verfügbar. Und der noch wichtigere Aspekt dabei ist, daß dieses
Irgendwo, das Menschen zu erreichen versuchen, nicht
lokalisierbar ist, da es in jedem Moment überall zugegen ist.
Alle Vorstellungen darüber, das spirituelle Erwachen zu
erreichen, basieren auf der Annahme, daß es jemanden gibt,
ein Ich, das die Praktiken ausführen und somit das Ziel
erreichen kann. Doch dieser Jemand existiert gar nicht. Nehmen
wir zum Beispiel die weitverbreitete spirituelle Vorstellung, daß
wir « aus dem Weg gehen müssen, damit das Unendliche durch
uns hindurchfließen kann». Dies setzt einen nichtexistenten
Jemand voraus, der dann herausfindet, wie er sich hingeben
kann. Wir müssen erkennen, daß sowohl die spirituellen als
auch die psychologischen Praktiken, jede einzelne von ihnen,
auf Vorstellungen davon basieren, wer wir zu sein glauben.
Dieser Glaube geht dann als die Wahrheit durch, wer wir sind.
Die Vorstellung, wir seien der Handelnde, der unsere Taten
bestimmt, macht uns noch lange nicht zum Handelnden, egal
wie oft wir uns auch dazu verleiten lassen, sie als Wahrheit
anzuerkennen.
Dann gibt es noch die Vorstellung, daß wir unseren
Verstand zur Ruhe bringen müssen, um uns zu befreien. Doch
wer soll den Verstand zur Ruhe bringen? So wie alles andere ist
auch der Ver-
sie gar nicht sind. Irn Bereich des Verstandes werden Gedanken
und Vorstellungen als das verkauft, was wir tatsächlich sind. Im
emotionalen Bereich sind es die Gefühle, im physischen die
Körperempfindungen und im energetischen alle entsprechenden
Vibrationen oder Muster.
Die moderne psychologische Welt untermauert diese
Täuschung, indem sie Menschen darin bestärkt, zwischen dem
«wahren Selbst» und dem «unwahren Selbst» zu unterscheiden,
zwischen wahren Gedanken und unwahren Gedanken, wahren
Gefühlen und unwahren Gefühlen, wahren Empfindungen und
unwahren Empfindungen, sogar zwischen wahren und
unwahren energetischen Frequenzen. Wer unterscheidet
zwischen wahr und unwahr? Und wahr und unwahr für wen?
Gedanken, Gefühle, Empfindungen und energetische
Frequenzen sagen nichts über einen imaginären Jemand aus, sie
sind einfach, was sie sind.
Im Fahrwasser dieser Vorstellungen darüber, wer wir sind,
taucht gleich die nächste Verwirrung auf: Das Negative wird
normalerweise für die Wahrheit gehalten. Schließlich ist das
Negative sehr überzeugend und scheint so tief zu gehen. Das
Positive sehen wir als oberflächlich und zeitlich begrenzt an,
doch das Negative, oh ja! Wenn das auftaucht, glauben wir
wirklich, in der Gegenwart von Wahrheit zu sein.
In unserer westlichen therapeutischen Kultur bedeutet eine
Beziehung zu haben in den meisten Fällen, sich über Probleme
auszutauschen. Wenn sich jemand weigert zu offenbaren, was
für ihn in seinem Leben am schwierigsten ist, dann sagt man
ihm nach, daß er sich «zurückhält» oder sich «zurückgezogen
hat» oder «nicht vertrauenswürdig ist». Doch wenn er seine
Probleme enthüllt, dann glaubt man, daß er die Wahrheit über
sich selbst preisgibt.
Diese Überbewertung des Negativen ist in unserer Kultur
weit verbreitet. Fast jeder, der mir an meinem Schreibtisch
gegenüber-
sitzt und von seinem Leben erzählt, ist davon überzeugt, daß
das Negative in ihm der Wahrheit am nächsten kommt. Alle
sind davon überzeugt, daß in ihrem Innersten etwas durch und
durch Verdorbenes schlummert, daß sie ganz tief im Inneren
schlecht sind und sowieso immer wieder im Negativen enden
werden. Die Menschen halten ihre schlimmsten Ängste für die
Wahrheit, und niemand hat sie je daraufhingewiesen, daß
Ängste nicht mehr als das sein können, was sie sind - Ängste.
Die Pathologisierung menschlicher Erfahrungen,
aufrechterhalten durch die Über-Psychologisierung unserer
Kultur, ist ein weiteres Übel, das sich als Wahrheit verkleidet
hat. Wir haben uns
von der Psychologie davon überzeugen lassen, nur ganz
bestimmte Erfahrungen als angemessen zu betrachten. Wir
haben Worte übernommen, die unsere Erfahrungen mit
bestimmten Etiketten versehen, und wir haben ihnen gegenüber
dadurch eine ablehnende Haltung eingenommen. Die
unendliche Weite patho-logisiert nicht einmal ansatzmäßig,
denn sie kann absolut nichts als falsch wahrnehmen.
Es ist absurd zu glauben, daß wir bestimmte Aspekte unserer
Erfahrungen loswerden müssen, damit sie akzeptabel sind. Es
wäre genauso, wie ich bereits vorher erwähnt habe, als wenn
sich der Ozean darüber beschweren würde, daß er nicht der
Ozean sein kann, solange Seegras in ihm herumschwimmt. Der
Ozean bleibt der Ozean, egal was er enthält. Wir sind die
unendliche Weite, und wir beinhalten alles — Gedanken,
Gefühle, Empfindungen, Vorlieben, Ängste, Vorstellungen,
sogar Identifikationen. Nichts muß irgendwohin verschwinden.
Wohin sollte es auch?
Psychologische Anweisungen, die auf eine Heilung abzielen,
deuten damit an, daß bestimmte Gedanken oder Gefühle ein
Zeichen dafür sind, daß wir nicht akzeptabel sind.
Spirituelle Anweisungen, die als Ziel das Erwachen oder
eine Transformation haben, deuten damit an, daß
bestimmte Gedan-
ken oder Gefühle Hindernisse für die spirituelle Entfaltung sind.
Denn wie könnten wir, so behaupten sie, die unendliche Weite
sein und trotzdem Verwirrung oder Angst, Wut oder Traurigkeit
erleben?
Doch die Anwesenheit von Gedanken und Gefühlen
bedeutet lediglich, daß Gedanken und Gefühle vorhanden sind.
Wir interpretieren unsere Erfahrungen und glauben, daß sie
etwas (normalerweise Negatives) über uns aussagen.
Diese Auslegung verursacht Leiden, wenn sie als die
Wahrheit durchgeht. Wird sie aber lediglich als das erkannt,
was sie ist - eine Interpretation -, dann gibt es nicht das
geringste Problem; sie ist ganz einfach ein weiterer Teil der
unendlichen Weite.
Man sollte sich natürlich davor in acht nehmen, dieses «die
Dinge als das zu sehen, was sie sind» nicht als eine Technik zu
benutzen, um Gefühle oder Verstandeszustände loszuwerden,
die der Verstand als unerwünscht bezeichnet.
Keine Erfahrung ist ein Zeichen dafür, daß du nicht die
unendliche Weite bist. Deshalb muß auch nichts ausgemerzt
werden. Das Leiden wird nicht durch bestimmte Umstände oder
Erfahrungen verursacht, sondern einzig und allein durch die
Interpretation des Verstandes.
Wenn ich Leute dazu ermuntert habe, die Dinge zu sehen,
wie sie sind, gehen sie heim und praktizieren manchmal rigoros
diese «Technik» und folgern dann, daß sie versagt haben, weil
das, was erkannt wurde, sich nicht aufgelöst hat. Die unendliche
Weite jedoch zielt nicht darauf ab, etwas loszuwerden. Die
unendliche Weite, die wir in Wirklichkeit alle sind, leidet nie.
Deshalb erwartet sie auch nicht, daß etwas entfernt wird, um
das Leiden zu beenden.
Der Sinn des menschlichen Lebens hat sich offenbart. Die
unendliche Weite hat diese menschlichen Kreisläufe erschaffen,
um sich selbst aus sich selbst heraus zu erfahren, wie es
ansonsten
tun soll, damit er zur unendlichen Weite wird. Du bist sie bereits
— immer und ewig. Die Anweisungen, bestimmte Praktiken
auszuüben, basieren auf einem Bezugspunkt, doch ein solcher
Bezugspunkt existiert für die unendliche Weite überhaupt nicht.
Die Frage, wer was tun kann, um dahin zu kommen, wo man
bereits ist, ist absurd.
Ob es aus reiner Gnade geschieht, kann ich nicht sagen. Ich
stand ganz einfach an einer Bushaltestelle. Alles ist von einem
unglaublichen Mysterium durchwoben. Es gab niemanden, der
versuchte, so stark wie möglich zu vertrauen oder zu akzeptieren
oder sich vollkommen hinzugeben, damit dies geschehen
konnte. Ich wollte es noch nicht einmal. Ich kann dir also nicht
sagen, was man tun sollte, denn das würde sich auf jemanden
beziehen, der der Ausführende ist. Auf unendlich mysteriöse
Weise kümmert sich der nicht lokalisierbare Handelnde in
jedem Moment um alles.
Schau dir die Welt an und stell dir vor, die Bäume, die
Wolken, die Sterne und Planeten würden daraufwarten, daß
der Verstand sie begreift, damit sie existieren können! Oder
stell dir vor, der Körper würde darauf warten, daß der Verstand
begreift, wie ein Baby entsteht, bevor der Körper schwanger
wird. «Wie soll ich den Verstand konstruieren? Wo soll ich das
Herz hintun? Vielleicht sollte ich jetzt den Blutkreislaufin
Bewegung setzen?» Um all dies kümmert sich das, was so völlig
außerhalb der Wahrnehmungsfähigkeit des Verstandes liegt, so
daß dabei die Frage von Vertrauen erst gar nicht ins Spiel
kommt.
Daher gebe ich nur zwei Empfehlungen. Erstens: Erkenne
die Dinge lediglich als das, was sie sind, denn so sieht die
unendliche Weite immer alle Dinge. Gedanken sind Gedanken.
Gefühle sind Gefühle. Der Körper ist nur der Körper. Es ist die
Interpretation des Verstandes, die dazu führt, daß Leiden
entsteht - das Gefühl, daß da ein Problem ist, daß Angst,
Wut oder Traurigkeit Zeichen dafür sind, daß mit mir etwas
nicht stimmt, daß bestimmte Gefühle oder Erfahrungen
eliminiert werden müssen, damit ich in Ordnung bin, daß
etwas praktiziert oder erreicht werden muß, um die
unendliche Weite zu werden. Auf diese Weise interpretiert
der Verstand ununterbrochen, doch die unendliche Weite
erkennt mit einem Blick, daß alle Dinge nur das sind, was
sie sind.
Die zweite Empfehlung - eigentlich eher eine
NichtEmpfehlung - ist, dem Offensichtlichen zu folgen,
denn auf diese Weise enthüllt der mysteriöse Handelnde,
der hinter jedem einzelnen Leben steht, permanent die
Wahrheit eines jeden Momentes. Damit will ich nicht sagen,
daß man erst herausfinden muß, was das Offensichtliche
ist, bevor man ihm dann folgt. Der Verstand nimmt
normalerweise das Offensichtliche nicht wahr und wertet
gerne ab, was er nicht wahrnehmen kann. Nimm nur die
Redensart: «Das ist einfach zu offensichtlich.» Es ist
demnach nicht kompliziert oder schmerzhaft genug. Der
Verstand tendiert zu komplexen Gebilden und Kampf. Das
ist der Bereich des Verstandes.
FRAGE Wenn du das tust, was offensichtlich ist, woher weißt
du dann, daß dich der Verstand nicht ganz subtil in die Irre
führt und dich davon überzeugen will, daß du das
Offensichtliche tust, wenn das in Wirklichkeit gar nicht
der Fall ist?
ANTWORT Du beschreibst, wie der Verstand einen
Bezugspunkt aufbaut, den er dann entsprechend seiner
eigenen Standards nach dem Offensichtlichen abfragt:
«Woher weiß ich, daß ich dem Offensichtlichen folge? Ist
es wirklich das Offensichtliche, oder ist es das vielleicht
nicht? Wenn ich das wahrhaftig Offensichtliche finde, dann
werde ich ihm folgen.» Doch der Verstand kann das
Offensichtliche nicht identifizie-
ren. Und die unendliche Weite, die wir alle sind, erkennt den
Verstand als genau das, was er ist und genau tut, was ein
Verstand nun einmal tut.
FRAGE Ich bin mir nicht bewußt, einen Bezugspunkt zu
konstruieren. Ich fühle mich gezwungen, das zu tun, was
meine Intuition mir als das Offensichtliche anbietet, und in
dem Moment fühlt sich das alles sehr natürlich und gefällig
an. Doch ich weiß, daß ich manipuliert werde.
ANTWORT Du beschreibst, wie der Verstand als Empfänger der
Wahrheit hingestellt wird. Doch das Offensichtliche wartet
nicht darauf, daß der Verstand es wahrnimmt, damit es
gelebt werden kann. Der Verstand mag es nicht, wenn man
ihn übergeht, also produziert er Zweifel, ob das
Offensichtliche nun die passende oder die unpassende
Handlung wäre. War es das Offensichtliche, oder bin ich
hereingelegt worden? Das ist lediglich die Reaktion des
Verstandes auf etwas, das er nicht begreifen kann. Die
unendliche Weite verlangt nicht vom Verstand, in
irgendeiner Weise anders zu sein. Sie erkennt ihn lediglich
als das, was er ist — also gibt es keine Probleme. Nur wenn
die Zweifel, die der Verstand konstruiert hat, mit der
Wahrheit verwechselt werden - oder mit Problemen oder
Angelegenheiten, die man erst lösen muß, um zu wissen, was
offensichtlich ist - dann beginnt das Leiden.
FRAGE Sprichst du nicht nur von einem unendlicheren,
universelleren Verstand? Ich meine nicht, daß man den
Verstand ignorieren sollte.
ANTWORT Der Verstand muß als das erkannt werden, was
er ist. Er besteht aus der gleichen Substanz wie das
Unendliche -so wie alles andere auch. Die unendliche Weite
als den unendlichen Verstand zu bezeichnen, ist auch nicht
anders, als von einem unendlichen Körper oder von
unendlichen Gefühlen zu sprechen. Warum sollte man
unendlicher Verstand sagen?
Warum sagst du nicht einfach, daß es das Unendliche ist,
das den Verstand als das erkennt, was er ist?
Ich will damit auf keinen Fall sagen, daß man den
Verstand ignorieren sollte. Die unendliche Weite sieht den
Verstand nicht als ein Problem oder als ein Zeichen dafür,
daß etwas nicht in Ordnung ist oder verändert werden muß.
Der Verstand ist vorhanden, und er besteht aus der gleichen
Substanz wie alles andere. Für die westliche Welt ist es jedoch
sehr wichtig, den Verstand als das zu erkennen, was er ist,
denn man hat ihm beigebracht, das Steuerrad zu
übernehmen, um den Bezugspunkt herzustellen und daran
festzuhalten.
FRAGE Was hat dich dazu gebracht, nach einer solchen
Erfahrung Psychotherapeutin zu werden?
ANTWORT Eine der Aufgaben der unendlichen Weite, die
durch diesen Kreislauf geschehen, scheint zu sein,
Psychotherapeuten zu erreichen. Ich habe eine
Trainingsgruppe mit Psychotherapeuten ins Leben berufen,
weil ich all dies den The-rapeuten vermitteln möchte, deren
Beruf es ja ist, Leiden zu beenden. Es gibt so viele starre
Vorstellungen darüber, wie wir sein sollten und was gesund
oder ungesund ist. Anstatt Menschen dabei zu unterstützen,
die Dinge zu sehen, wie sie sind, hat dieser Berufszweig ein
Diagnose-Handbuch erstellt, das ein weites Gebiet
menschlicher Erfahrungen pathologisiert. Allem, was
entsteht, wird eine psychologische Bedeutung zugeordnet,
bestimmte Dinge werden als unerwünscht, abnormal oder
funktionsunfähig angesehen und müssen somit ausgemerzt
werden, damit eine « Heilung» oder « Gesundung» geschehen
kann. Doch wer soll sie ausmerzen und warum? Das
Unendliche erwartet nicht, daß irgend etwas ausgemerzt
wird. Die Präsenz von Gedanken, Gefühlen oder
Verhaltensweisen beeinflussen für keinen einzigen
Augenblick die Unendlichkeit des Unendlichen.
FRAGE Wie ist das mit dem Leiden? Gibt es unnötiges Leiden,
oder ist das Leiden genauso vollkommen wie alles andere
auch?
ANTWORT Wenn man Dinge nicht als das erkennt, was sie
sind, sondern ihnen eine andere Bedeutung gibt, dann
erzeugt das Leiden. Den negativen Bezugspunkt, das
negative Selbstbild für die Wahrheit zu halten, ist im Westen
weitverbreitet. Das Negative scheint wesentlich echter und
tiefer als alles andere zu sein. Wenn Menschen über ihre
Probleme reden, dann gibt es ihnen das Gefühl, sich
wirklich zu kennen. Die Verherrlichung des Negativen ist
unglaublich stark.
Wenn jedoch diese negativen Vorstellungen,
Überzeugungen oder Gefühle einfach als das erkannt
werden, was sie sind, dann gibt es kein Leiden. Doch wenn
sie für das gehalten werden, was ich bin, dann entsteht das
Gefühl, daß mit mir etwas nicht stimmt, und erst wenn ich
mich verändere und mich von der Negativität befreie, wird
mein Leben annehmbar sein. Ich nenne das die Anklage:
Man konstruiert negative Bezugspunkte, die dann alle
Beweise dafür liefern, warum sie die Wahrheit sind.
Die Leute sagen zu mir: «Selbstverständlich bin ich das.
Sieh doch nur, wie ich mich verhalte, wie ich mich fühle und
wie ich denke. Ganz sicher stimmt mit mir etwas nicht.» Sie
verweisen manchmal sogar auf Therapeuten, bei denen sie
waren, oder auf etwas, das sie in Büchern gelesen haben, um
ihren Fall zu untermauern. « Siehst du, ich verhalte mich
anders, als es der Autor beschrieben hat oder mein
ehemaliger Thera-peut für gesund oder spirituell hielt.»
Im Aikido lernt man, wie man beim Angriff des
Gegners sein Momentum dazu benutzt, ihn aus dem
Gleichgewicht zu werfen. Wenn man sich wehrt, schafft
man unnötige Konflikte. Das trifft genauso auf alle
Gedanken, Gefühle und an-
dere Erfahrungen zu, die im Ozean unseres Selbst auftauchen.
Der Ozean lehnt sie niemals ab, er schafft niemals einen
negativen Bezugspunkt und sagt: «Verdammt noch mal, das
Seegras ist immer noch da. Mit mir stimmt etwas nicht!» Wenn
sie auftauchen, dann nimmt sie der Ozean als das wahr, was sie
sind, und dann verflüchtigen sie sich wieder auf ganz natürliche
Weise.