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Erstes Kapitel
Über Oskar selbst
In wahnsinniger Fahrt sauste Oskar Falk auf seinem Motorrad direkt durch die Stadtmitte. Die
blanken Teile der Maschine blinkten in der Sonne. Der Motor donnerte wie ein Düsenjet.
Oskars weißblonder Pony flatterte unter dem Sturzhelm.
Der Bürgersteig war voller Leute. Oskar umrundete elegant ein paar Pfützen, um nicht zu
spritzen. Vor dem großen Kaufhaus entdeckte er zwei Mädchen aus seiner Klasse. Anna, die
gerade erst 9 war, und Betty mit den Zöpfen. Oskar erhob die Hand in Stulpenhandschuhen
zum Gruß. Die Maschine brummte vorbei. Er sah im Rückspiegel, wie die Mädchen
bewundernd zurück winkten. Oskar dachte: Vielleicht sollte man mal mit einem Mädchen
reden...
Oskar erhöhte das Tempo, weiter über eine Brücke. Nun war er raus aus der Stadt. Er fuhr
über ein Feld und auf einen schmalen Schleichweg. Um ihn herum war dichtes Gebüsch. Wie
im Amazonasdschungel in Südamerika. Die Steinchen spritzten unter den Rädern.
Oskar hatte den Auftrag, seinen Kameraden Benny zu finden und aus der Gefahr zu retten.
Eine Wasserfläche breitete sich vor ihm aus. War das der Amazonas? Irgendwo hier war
Benny. Vielleicht gefesselt und geknebelt.
Oskar stoppte und versteckte das Motorrad in einem Gebüsch. Er bog ein paar Zweige
auseinander und guckte durch.
Da war Benny!
Er saß auf der Kante eines Bootstegs, zusammen mit einem anderen Jungen. Walter. Die
Jungen angelten.
Nun zog Benny einen Fisch raus.
Oskar wusste, was man hier fing. Kleine Rotaugen. Einen Fisch, den man zu nichts
gebrauchen konnte. Nicht mal, um ihn in einem Glas zu halten.
„Hej, Oskar“, sagte Benny. „Mann, wie sie beißen! Walter hat eine Super-Stelle gefunden!“
Oskar hatte ja die ganze Zeit gewusst, dass Benny nicht in irgendeinem Feindeslager
gefangen war. Der Klassenkamerad hatte es ihm ja schon auf dem Schulhof gesagt. Dass er
runter zum See gehen wolle, wenn er mit den Hausaufgaben fertig sei.
Oskar wünschte Benny wäre allein. Dann hätten sie schon etwas Spaßiges gefunden.
„Du hast keine Angel dabei, was?“ Benny warf einen Blick in Oskars Richtung.
Walter fädelte einen Wurm auf den Haken. Oskar sah, wie der Wurm verzweifelt dagegen
kämpfte. Walter sagte:
„Ich habe gehört, Oskar, dass du deine Eisenbahn mit Regenwürmern belädst!“
Wahr! Oskar hatte einmal zwei Würmer mit nach Hause genommen, die auf der Straße
gelegen hatten und leblos aussahen. Damit sie es noch mal etwas lustig haben sollten, ließ er
die Würmer ein paar Runden in einem Waggon fahren. Sie erholten sich tatsächlich wieder.
„Ja, klar“ sagte Oskar.
Das war nicht zu leugnen. Aber Oskar hatte es nur Benny berichtet. Und nicht gedacht, dass
der es weitererzählen würde.
Oskar ging den Weg entlang zurück. Nun war das Abenteuer zu Ende. Um ihn herum gab es
keinen Dschungel mehr. Einfach nur schwedisches Grünzeug. Kein Motorrad wartete im
Gebüsch auf ihn. Nur Oskars rotes Jungenfahrrad.
Als Oskar in die Wohnung kam, war niemand zu Hause. Das wusste er natürlich. Es war erst 4
Uhr. Seine Mama, Kerstin, arbeitete jeden Tag bis halb 6 in einem Zeichenbüro.
Einen Papa, der nach Hause kommen würde, hatte Oskar nicht. Mama und Papa waren
geschieden. Papa hatte wieder geheiratet und lebte in einer Stadt, weit weg. Oskar flog
manchmal dort hin.
Oskar war nachmittags oft allein. Aber er kam gut zurecht, bis Mama kam und Essen kochte.
Manchmal machte er sich eine Kleinigkeit, wenn er hungrig war.
Er fand immer etwas, was er tun konnte. Manche habe ja keine Fantasie. Aber er hatte keinen
Mangel daran.
Oskar hatte ein eigenes Zimmer mit einer ganzen Menge Spielsachen. Unter anderem der
elektrischen Eisenbahn.
Auf der Fensterbank stand in einem Topf Oskars eigener Zwergapfelsinenbaum. Er goss ihn
jeden Tag. Manchmal trug er weiße Blüten, die sich nach und nach in kleine, gelbe Früchte
verwandelten. Die waren sauer und nicht essbar. Aber das machte nichts. Es war lustig, sie zu
sehen. Man konnte sich weit, weit weg träumen, in ein Apfelsinenland.
Schon als er das Fahrrad abgestellte, hatte Oskar den Regen gespürt. Nun liefen die Tropfen
bereits die Fensterscheiben herunter. Aber es war immer noch ziemlich hell.
Oskar hatte nichts gegen ein wenig Regen. Er beschloss, noch einmal raus zu gehen. Er hatte
eine gute Regenjacke und Stiefel.
Als er nach draußen kam, schlugen ihm die Tropfen ins Gesicht. Das war schön. Und das
beste mit der Nässe war, dass er sich mit einem seiner Lieblingshobbys beschäftigen konnte....
Zweites Kapitel
Oskar spielt Held im Regen
Weit draußen auf dem Asphalt, mitten vor dem Eingang zur Waschküche, wand sich einer.
Der hatte den schmalen, roten Körper zu einem dünnen Band ausgestreckt. In einem
verzweifelten Versuche, von der kalten, undurchdringlichen Unterlage wegzukommen.
Oskar fasste den Wurm am Rücken. Dieser zog sich zusammen, schlängelte sich und
versuchte loszukommen.
„Ruhig. Gleich bist du in Sicherheit, Wurm.“ Oskar hielt ihn sanft, so dass er nicht verletzt
wurde. Er trug ihn vom Asphalt weg und setzte ihn ins Gras. Der Regenwurm zappelte die
ganze Zeit und schien quietschvergnügt zu sein.
Oskar erinnerte sich an einen Morgen nach einer regnerischen Nacht, als seine Mama mal mit
nach draußen kam. Es war kalt geworden und dünnes Eis lag auf den Pfützen. Einige Würmer
lagen auf dem Asphalt und rührten sich nicht.
„Sind die tot?“ fragte er Kerstin.
Sie bückte sich und schaute genauer hin. Berührte einen Wurm. Nickte.
„Ja, sie sind tot.“
„Menschen sterben auch, oder, Mama? Warum macht man das?“
„Der Tod kommt, wenn der Körper schwer verletzt ist. Oder wenn man alt geworden ist und
das Herz es nicht mehr schafft,“ sagte Kerstin. „Die Würmer da sind wohl wegen der Kälte
gestorben..“
Oskar schaute zu ihr auf.
Ein Stück weiter auf der Fahrbahn lag noch ein Wurm, und noch einer. Oskar nahm sie
vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger am Rücken. Manchmal waren sie so glatt, dass man
sie fast nicht greifen konnte. Den ein oder anderen verlor er. Aber Oskar gab nicht auf. Er
packte noch einmal zu. Trug die Würmer einen nach dem anderen vom harten Asphalt fort. Er
suchte weiter. Ging und ging und vergaß Zeit und Raum.
Als sich der Junge einem großen, fetten Regenwurm näherte, bekam er einen Mitstreiter. Eine
Elster in ihrem schwarz-weißen Federkleid landete wie ein Hubschrauber genau neben dem
Wurm. Sie stieß den Schnabel wie einen Wurfspeer auf die Beute. Aber Oskar war schneller.
„Flieg, du hässlicher Vogel, flieg – gsch!“ schrie er. Die Elster flog erschreckt auf. Oskar
konnte ganz in Ruhe den Regenwurm retten. Ihn unter einen Busch legen, vor raubgierigen
Vogelschnäbeln geschützt. Er hoffte, dass er schnell einen Platz zum Reinkriechen finden
würde.
Ein dicker Wurm, dachte Oskar, musste es schwieriger als ein kleiner haben. Also, runter zu
kommen. Andererseits war er natürlich stärker. Wer wäre schneller, wenn ein großer und ein
kleiner in der Erde um die Wette kriechen würden?
Oskar wünschte sich, er wäre mit einem Wurm näher bekannt. So dass er ein wenig mehr über
deren Alltagsleben herausbekommen würde. Der Junge dachte daran, die Lehrerin zu fragen.
Aber die meisten Lehrer schienen sich nicht für Würmer zu interessieren.
Ob er einen Bauern fragen sollte? In Oskars Nähe gab es nur wenige Bauern. Die da waren,
gingen gar nicht aufs Feld und buddelten. Die meisten fuhren Trecker....
Irgendwie wollte Oskar mehr über Würmer erfahren.
Nun war es so dunkel, dass der Junge Würmer und kleine Äste nicht mehr unterscheiden
konnte. Der Regen nahm zu. Es trommelte auf seinem Südwester auf seinem Kopf.
Plötzlich musste Oskar zur Seite in die Büsche springen. Weil er nicht von einer Dampfwalze
überfahren werden wollte. Die donnerte den Weg entlang, mit Scheinwerfern wie große
Raubtieraugen.
Es war Zeit umzukehren. Mama war sicher schon dabei, das Abendessen zu machen.
Da hörte Oskar eine schwache aber deutliche Stimme. Sie klang wie die eines Mädchens.
Oskar war in der Nähe eines verkrauteten und mit Wasser gefüllten Grabens. Keine andere
Person war zu sehen. Ein Stück entfernt brummte der Autoverkehr. Das einzige Licht kam
von einer Leuchte, die an einem Draht hoch oben über der Straße hin und her schwang.
„Ich sitze fest, verdammt! Mach mich los!“ sagte die Stimme.
Die Wassertropfen glitzerten unheimlich im Licht. Etwas gruselig war es. Aber Oskar war
nicht bange. Ein Held kann sich nicht erlauben, im Dunkeln Angst zu haben.
„Wer bist du? Wo bist du?“ fragte er.
„Ich bin hier. Fast auf dem Boden des Grabens.“ piepte es irgendwoher.
Oskar überlegte, ob er das Wurmmädchen wieder erkennen würde. Unter anderen Würmern.
Ja, das glaubte er. Diese UllaCron von Sipprot 2 musste etwas ganz Besonderes sein.
Wenn sie nur den Mund öffnete und etwas sagte, würde er sofort erkennen, dass es gerade sie
war.
Oskar fragte sich auch, ob er sie wiedertreffen würde. Das Wurmmädchen bewegte sich
natürlich hin und her in Erd- und Laubhaufen. Sicher schwierig zu finden.
Als sie an die Rabatte kamen, hatte Oskar vor, die Sache anzusprechen. Aber stattdessen war
es UllaCron, die überraschte.
„Könntest du dir vorstellen, ein bisschen mit zu uns runter zu kommen, Oskar?“ fragte sie.
„Meine Mama würde sicher gerne denjenigen treffen, der ihrer Tochter das Leben gerettet
hat.“
„Ja... aber“, stammelte Oskar. „ Ich ... und du ... Wir...“
„Du denkst, wir sind zu verschieden. Du hältst dich für viel zu groß und lang für eine wie
ich“, fügte die Wurmprinzessin hinzu. „Das kann schneller als schnell gehen, Bursche. Habe
ich schon gesagt, dass wir Würmer recht gut im Zaubern sind?“
Oskar dachte nach und hörte nicht richtig, was das Wurmmädchen sagte.
„Aber Mama...und das Abendessen...?“ sagte er laut vor sich hin.
„Meinst du, dass deine Mama darauf wartet, dass du zu einer bestimmten Zeit nach Hause
kommst?“ UllaCron schüttelte sich vor Verwunderung. „Bei uns ist es genau umgekehrt. Je
länger wir draußen sind, um so vergnügter sind die Eltern. Wenn wir die ganze Nacht nicht
nach Hause kommen, sind sie sehr zufrieden. Anderen Eltern erzählen sie, wie froh sie sind,
dass ihnen die Kinder nicht dauernd am Rockzipfel hängen....“
Oskar kümmerte sich nicht darum, was UllaCron sagte. Vermutlich machte sie nur Spaß.
Kerstin ist vielleicht noch gar nicht nach Hause gekommen, dachte er. Manchmal musste sie
etwas länger arbeiten.
Nun bekam er eine unerwartete Chance ein wenig über Würmer zu lernen. Der Junge war
ziemlich neugierig.
„Also los“, sagte Oskar. „Ein Weilchen nur!“
Drittes Kapitel
Im Regenwurmland
Man hörte einige kurze, helle Knalle. Ungefähr so, als wenn man eine Knallpistole abschießt.
Eine Nebelwolke mit grünem Rand schwebte um den Jungen über dem Boden. Er kniff
erschreckt die Augen zusammen.
Nun befand er sich ganz woanders. In einem dunklen Erdgang. Das entdeckte Oskar, als er die
Augen wieder öffnete. Eine kleine Hand hielt seine und zog ihn mit sich. Ziemlich komisch
alles.
„UllaCron!“ rief er. „UllaCron, wo bist du?“
„Hier! Ich halte dich an der Hand. Wir sind in einem Tunnel des Schlosses. Bleib bei mir,
Oskar. Sonst verirrst du dich!“
Keine Lampen erleuchteten die Tunnel. Trotzdem konnte der Junge ein wenig sehen. Die
Feuchtigkeit tropfte an den Wänden herunter. Man spürte deutlich den Duft von Gras und
Erde in der Nase.
UllaCron hatte sich total verändert. Das hätte Oskar schon gemerkt und verstehen können, als
er ihre Hand in seine bekam.
„Du bist ja gar kein Wurm mehr! Komisch, dass du dich in ein Mädchen verwandeln kannst
und reden. Wie süß du bist!“, sagte Oskar scheu.
Das Wurmmädchen zog eine Grimasse.
Viertes Kapitel
Oskar trifft die Königin
Oskar fand, dass UllaCron ein ungewöhnlich intelligentes Mädchen war. Und mindestens
genauso hübsch wie die aus seiner Klasse.
Die Prinzessin merkte seinen bewundernden Blick und kicherte.
„Da staunst du, wie? Ich sagte doch, dass ich zaubern kann! Komm jetzt! Wir können hier
nicht den ganzen Tag auf unseren Ärschen sitzen.“
Aber, dachte Oskar, UllaCron hatte wirklich eine schreckliche Wortwahl!
Dieses Mal war es Oskar, der UllaCrons Hand nahm. Er zog sie hoch. Zusammen gingen sie
weiter den Tunnel entlang. Nun ging es bergauf, es wurde trockener und größer.
Ein großer Vorhang in gelbrotem Stoff versperrte den Weg. Auf jeder Seite des Vorhangs lag
ein riesiger Wurm zusammengerollt, mit dem Kopf in ihre Richtung weisend.
Als Oskar und UllaCron näher kamen, erhoben die Riesenwürmer ihre Köpfe genau wie
Schlangen und bewegten sie vor und zurück.
Oskar stoppte. UllaCron blieb ebenfalls stehen.
„Die haben nicht so gute Augen. Aber hören gut.“, sagte sie. „Das sind zwei von Mamas
Wächtern. Erschreck dich nicht!“
Oskar hätte nie gedacht, dass er mal Angst vor Würmern haben könnte. Das waren doch die
ungefährlichsten Wesen der Welt. Aber diese beiden hier sahen stark und drohend aus. Er
dachte, dass man das wohl musste. Als Leibwächter für eine Königin.
Nun gab UllaCron einen eigenartigen, kurzen Pfiff von sich. Die Würmer lauschten.
Vorsichtig sanken ihre Köpfe wieder runter.
„Sie haben mich nun wiedererkannt.“, meinte UllaCron. „Wir können in Ruhe vorbei gehen.“
Sie hob eine Ecke des Vorhangs. Mit offenem Mund stand Oskar da. Er staunte über das, was
er nun zu sehen bekam.
Aus der Badewanne erhob sich eine Frau. Sie war in einen Morgenmantel gekleidet, der mit
Goldschleifen und Barschen bestickt war. Sie war ungefähr in dem gleichen Alter wie Oskars
Mama Kerstin.
Genau wie die Tochter hatte die Regenwurmkönigin flammendes, rotes Haar. Und eine gelbe
Schärpe um die Taille. Das Band war mit Smaragden und Perlen geschmückt.
„Also – hier haben Wir Oskar, den Helden.“, sagte die Königin. Es hörte sich so an, als
spräche sie das Wort Wir mit großem W. Wie Könige und Königinnen und andere Herrscher
zu tun pflegen. Sie reichte ihm die Hand. „Das Gerücht war vor dir da. Willkommen bei den
Vermes!“
„Was ist ‚Vermes’?“, flüsterte Oskar.
„So heißt die Wurmfamilie auf Latein.“, antwortete UllaCron mit leiser Stimme.
Die Wurmkönigin schloss Oskar in ihre Arme. Ihr Körper war groß, weich und duftete nach
Heu.
Sie ließ den Jungen los und schaute ihre Tochter ganz genau an.
„Du scheinst das Ganze ja ohne eine Schramme überstanden zu haben, kleine Ulla. Sehr gut.
Und du, Oskar, - willst sicherlich eine Belohnung?“
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Das ist g...gar nicht nötig. Wirklich nicht, Ihre M.. Majestät....“, stammelte er. „Es ist genug,
dass ich herkommen durfte. Warum stehen hier so viele Vasen?“
„Damit niemand vergisst, dass Blumen Unsere besten Freunde sind.“ erklärte die Königin.
Sie unterbrach, als ein Diener kam. Dieser verbeugte sich und fragte, ob etwas zu trinken oder
zu essen gewünscht werde.
„Ich bin ausgehungert.“ sagte UllaCron.
Sie setzten sich an einem Tisch, der aus einem Seerosenblatt gemacht war. Alle zusammen
bestellten sie Wasser und etwas gutes Gemüse dazu. Um genau zu sein ... Oskar, der
mindestens genau so hungrig wie UllaCron war, träumte von Limonade und einem Teller
Pommes frites. Aber ihm war klar, dass es so etwas hier absolut nicht gab.
Fünftes Kapitel
Oskar redet mit Mack und Mas Klärd
Oskar wachte von einem Bums auf. Jemand, den er nicht sah, stellte ein kleines Tablett mit
Gemüse und Wasser an sein Bett.
Oskar machte sich über das Essen her. Das war eigentlich richtig gut. Sogar im Vergleich mit
Pommes frites und Limonade. Es sättigte auch gut. Der gleiche Jemand zog die Gardinen auf.
Oskar fand sich zwischen ein paar Kissen, die mit irgendetwas Weichem und Duftendem
gefüllt waren, vielleicht mit Blumenflaum. Was es auch war, er hatte gut geschlafen.
Nun sah der Junge, wer ihn bedient hatte. Einen sehr mageren und trockenen Wurm. Der
bewegte sich flink im Raum und stieß ab und zu Laute aus wie „Oh!“ und „Ah!“ oder „Ih!“.
Das kam ganz darauf an, womit er gerade zu tun hatte. Plötzlich öffnete er den Mund und
redete. Konnten alle Vermes das?
Der Wurm erzählte Oskar, dass er der Kammerherr im westlichen Flügel sei. Dort lag Oskars
Zimmer. Sein Name war Mack, falls er gerufen werden musste.
„Sehr leckeres Gemüse.“ Oskar mampfte. „Was für Sorten können das sein?“
Mack servierte ihm mehr.
„Es handelt sich um verschiedene. Zum Beispiel um die Wurzel eines Zwiebelgewächses, das
Herbstzeitlose heißt.“ Mack rührte energisch mit einem Silberlöffel in der großen
Servierschüssel aus durchscheinendem Glas. „Das können die Blätter der blauen
Glockenblume sein.“, setzte er fort. „Das Dressing ist aus Öl gemacht, das aus dem gelben
Mauerpfeffer gepresst wurde. Und gewürzt ist es mit...“ Mack runzelte konzentriert die Stirn.
„...Thymian, Moosflox und Purpurglut. Als Nachspeise bekommst du gleich wilde
Stachelbeerhälften, gefüllt mit Walderdbeerwasser und Lavendelsaft.“
Oskar schmatzte.
„Das Essen ist so lecker. Mit diesen schönen Namen wird es noch besser. Zu Hause bekomme
ich so was wie Pfannkuchen und Hafergrütze.“
Mack berichtete, dass alle Gemüsesorten auf dem alten Schrebergartengelände wuchsen, das
die Würmer besaßen. Dort gab es einmal kleine Häuschen, Gärten und geharkte Wege. Nun
war es verlassen und zugewachsen. ‚Gute Wiese’ wurde es genannt und es war die wertvollste
Gegend des Wurmreiches. Es versorgte das Schloss und das halbe Wurmreich mit Gemüse.
„Hej, Menschenjunge. Wie geht es dir heute? Hast du gut geschlafen? Wie war das
Frühstück?“
UllaCron saß gemütlich auf Oskars Bettkante. Sie kaute an einem Stück Gurke. Heute trug
das Mädchen ein Kleid, enganliegend wie ein Strumpf, Karotten farbig. Auf dem Kopf hatte
sie einen kleinen, gelben Hut, der einer Pillendose ähnelte. Frech sah sie aus! Und hübsch,
fand Oskar.
Er räusperte sich. „Wo kommst du denn her, UllaCron?“
„Aus meinem Zimmer.“, sagte das Wurmmädchen. „Ich habe Hausaufgaben in Weisheitslaub
gemacht.“
„Weisheits... was für ein Laub?“
Das Wurmmädchen überhörte seine Frage und setzte schnippisch fort:
„Ich habe nicht im Bett gelegen wie du. Es ist ein Glück für euch Menschen, dass ihr fast 100
Jahre lebt. Sonst hättet ihr nicht die Zeit, überhaupt etwas mitzubekommen.“
„Äh du...“ Oskar wollte mit etwas Gemeinem antworten, über Würmer, die den ganzen Winter
über schliefen. Aber er bremste sich. Vielleicht kam ja am Ende heraus, dass sie gar nicht
schliefen. Vielleicht waren sie ja schwer beschäftigt – obwohl man sie nicht sah?
Er sagte:
„Ich möchte mehr über das Weisheitslaub erfahren, von dem du geredet hast. Ist das für euch
wichtig? Weißt du, UllaCron...“ Oskar lief eine Runde durch den Raum. Das machte er oft zu
Hause, wenn er Kerstin etwas erklären sollte. „Ich denke viel über euch Regenwürmer nach.
Wie könnt ihr nur so gut klarkommen?“
„Du fragst so viel, dass ich ganz wirr im Kopf werde.“ Das Wurmmädchen nahm eine kleine
Silberglocke vom Tisch und läutete fünf Mal. „Dann kannst du auch gleich mit Professor Mas
Klärd sprechen!“
Ein älterer, leicht buckliger Wurm in staubigem, schwarzem Anzug erschien. Er verbeugte
sich vor der Prinzessin. Sie nickte zurück.
„Habt ihr mein Vergrößerungsglas gesehen?“, fragte der Professor. „Ich habe es irgendwo
hingelegt und kann es nicht finden....“
Das Wurmmädchen zeigte in Oskars Richtung.
„Das hier ist Oskar, Herr Professor. Ein Mensch. Er fragt mehr als sieben Weise beantworten
können.....“
UllaCron blinzelte Oskar hinter Mas Klärds Rücken zu und fragte den Professor:
„Übrigens, wissen Sie zufällig, wie spät es ist?“
Der Professor blinzelte.
„Ich habe keine Ahnung. Ich will es auch gar nicht wissen. Aber was die Weisheit angeht, da
kann ich das ein oder andere berichten. Noch etwas Wichtiges: Mein Vergrößerungsglas...“
Oskar blinzelte zu UllaCron zurück. Offensichtlich war es in der Welt der Würmer genauso
wie bei den Menschen. Professoren waren sehr zerstreut!
Mas Klärd unterbrach. Er sagte zu Oskar:
„Folge mir. Geh vorsichtig!“
UllaCron flüsterte:
„Bis später!“
Der Professor führte Oskar eine Menge Treppenstufen runter, die in den Berg gehauen waren.
„Welche Fragen waren es noch einmal, die du beantwortet haben wolltest, junger Mann?“
Sechstes Kapitel
Im Saal des Weisheitslaubes
Oskar hatte verstanden, was der Professor meinte. Er hatte etwas vom Professor gelernt. Aber
Oskar konnte ihm nicht in allem Recht geben. Würmer und Menschen unterschieden sich in
vielerlei Hinsicht. Viele Dinge, um die sich Würmer nicht im geringsten kümmerten oder die
sie nicht verstanden, waren für Menschen sehr wichtig. Und vielleicht auch umgekehrt.
Schaukeln ist zum Beispiel ziemlich lustig, dachte Oskar. Zumindest wenn man noch klein ist.
Und fliegen war auch schön. Da kam man schnell irgendwohin.
Nun sehnte sich Oskar nach der Prinzessin. Und danach, etwas mit ihr zusammen zu
unternehmen.
Falls sie nicht zu patzig war.
Wenn man sich vorstellt, man könnte alles über die Natur erfahren, indem man alte Blätter
studiert. Eine tolle Idee! Davon konnten die Menschen noch etwas lernen. Oskar beschloss
ernsthaft, ein Wurm- und Laubforscher zu werden. Er beeilte sich, UllaCron diese frohe
Nachricht mitzuteilen.
Er fand sie in einem Gang in der Nähe des Thronsaales. Sie kämmte sich vor einem
Wandspiegel und lächelte zufrieden ihr Spiegelbild an.
Oskar erzählte von seinem Besuch in der Laubbibliothek und von seinen Zukunftsplänen.
„Laub ist ein gutes Fach.“, sagte UllaCron. Und setzte so stichelig hinzu, wie nur sie es
konnte: „Wir werden ja sehen, ob deine Zeugnisse zum Forscher reichen, Oskar!“
Oskar wusste nicht, wie er sie ein wenig zurückärgern konnte. Irgendetwas musste er sagen,
dachte er. Damit UllaCron nicht immer das letzte Wort hatte.
Nun kam er drauf.
„Warum stehst du hier und kämmst dich, UllaCron? Davon wirst du auch nicht hübscher...!“
Oskar hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Denn UllaCrons Gesicht verzog sich. Es
sah aus, als ob sie weinen wollte.
„Du hast sicher eine Menge Mädchen im Laubsaal gesehen, Oskar.“
Die Prinzessin legte den Kamm weg und schaute ärgerlich auf ihn.
„Du durftest offensichtlich viel zu viel allein herumlaufen, Oskar. Damit ist jetzt Schluss. Du
fängst sofort an, als Forscher zu trainieren, zusammen mit mir.“
Siebtes Kapitel
Praktische Übungen
Nun führte sie das Wurmmädchen runter in das Netz von Tunneln unter dem Schloss. Sie bog
so oft nach rechts und links ab, dass der Junge ganz durcheinander im Kopf wurde. Nach
einer langen Wanderung blieb sie an einem runden Tor in der Tunnelwand stehen.
„Hier hinter,“ sagte UllaCron, „ liegt ein ganz großer Wurm-Arbeitsplatz. Den werden wir
besuchen.“
Sie öffnete das Tor einen Spalt. Aber zuerst machte sie einige schnelle Bewegungen mit den
Fingern zu Oskar hin. Und er hörte wieder das kräftige, knallende Geräusch.
Im nächsten Augenblick kämpfte er mit dem Gesicht voran gegen etwas, das sich überall um
ihn herum befand. Eine dicke Masse oben drüber, unten drunter und neben ihm. Oskar öffnete
den Mund, um nach Hilfe zu rufen. Er dachte, er müsse ersticken.
Aber nach einer Weile merkte der Junge, dass die Masse zur Seite floss, wenn er den Körper
bewegte. Er konnte dadurch vorwärts gleiten. Irgendwie bekam er auch Luft. Er begriff, dass
UllaCron ihn wieder verwandelt hatte. Diesmal zu einem richtigen Wurm. Und dass die
Masse, durch die er vorwärts schwamm, Erde war. Stolz stellte Oskar fest, dass es gut ging. Er
kam vorsichtig aber sicher voran. Dadurch dass er irgendwie die Schultern drehte. Die
Bewegung setzte sich durch den ganzen, langen, neuen Körper fort und brachte ihn vorwärts.
Aber plötzlich ging es nicht mehr weiter. Es schlug Funken, als Oskar mit dem Mund oder
Kopf – oder was es war, was er ganz vorn hatte – auf etwas Hartes stieß.
„UllaCron!“ rief er verschreckt. „Bist du da? Ich habe mich festgefahren!“
„Mach Platz!“ hörte er die wohl bekannte, dünne Stimme hinter sich. Oskar machte sich so
klein er konnte. In der nächsten Sekunde glitt UllaCron an seine Seite.
„Da ist gesperrt. Keine Chance weiter zu kommen,“ keuchte Oskar.
„Quatsch“, antwortete die Prinzessin. „Bis hier hin hast du dich ganz gut angestellt. Nun
überleg doch mal! Was kann wohl passiert sein?“
Der Junge dachte scharf nach.
„Liegt da irgendetwas im Weg?“
„Genau! Ein Bummelstein! Was kann man da machen?“
„Drum herum kriechen vielleicht,“ murmelte Oskar.
„Bravo!“ zwitscherte das Wurmmädchen. Sie krochen um den Stein. Das war keine Kunst.
Nun hörten sie einen grummelnden Laut vor ihnen. UllaCron stoppte und lauschte. Sie gab
einen neuen, seltsamen Pfiff von sich. Sofort verschwand das Grummeln.
„Ein Erdkäfer war auf dem Weg direkt auf uns zu.“ erklärte UllaCron. „Gefährlich für uns
Würmer. Es ist am besten, man legt sich nicht mit ihnen an. Also habe ich mein besonders
Signal gepfiffen. Und da dachte der Käfer, ich sei ein Dachs. Und verschwand schnell in die
andere Richtung.“
„Dieser Pfiff ist praktisch.“, sagte Oskar.
„Ich vermute,“ sagte das Wurmmädchen, „dass du ganz gerne meine Zauberkünste lernen
würdest.“
Oskar wiegte den Kopf hin und her. Dachte ein wenig nach und antwortete:
„Genau genommen, eigentlich nicht, UllaCron.“
Die Prinzessin schaute ihn ein wenig verwundert an.
Nun hörte man eine zornige Stimme irgendwo in der Nähe. Oskar schaute überall, konnte
aber niemanden entdecken.
Achtes Kapitel
Oskars weitere Heldentaten
Ein Stück von Oskar und UllaCron entfernt lag ein buschiger Tannenzweig. Das Geräusch
kam von seiner Rückseite. Sie sahen eine graue Schnecke mit schwarzen Augen. Die
Schnecke war umgestürzt und mit seinem schweren Haus unglücklich gefallen. Sie konnte
sich nicht wieder aufrichten. Die Fühler waren vor Aufregung ganz weit ausgefahren.
„Ich bekam einen Stoß von einer naseweisen Kröte. Ich werde ohnmächtig, wenn ich noch
länger so liegen muss.“, zischte die Schnecke. „Tut etwas!“
„Wie denn?“, sagte die Prinzessin hilflos. „Mit meinen Zauberkünsten kann ich keine
Schnecke wieder hochkant stellen. Und ... warum müsst ihr Schnecken ein hartes, schweres
Haus mit euch herumschleppen? Könnt ihr nicht ein Zelt oder einen Schlafsack stattdessen
nehmen?“
„Warte!“, Oskar rupfte einen trockenen Zweig vom Ast. Der war wie ein V geformt und hart
und stark. Er steckte die Spitze des Vs unter das Schneckenhaus und winkte UllaCron.
„Nimm das eine Bein des Zweiges. Dann nehme ich das andere. Wir müssen es hochhieven,
und zwar gleichzeitig.“
Die Prinzessin zog ein Gesicht. Aber sie gehorchte und fasste an.
„Soooo...!“ Oskar hob an. “Ohe! Noch einmal, anheben, halt fest – oho..!” Mit einem
Schwung kippte das Haus rüber und stellte sich aufrecht. Die Schnecke selbst flog durch die
Luft, mit verdrehten Augen.
„Von einem Wurm gerettet!“, rief sie. „Merkwürdig!“
Die Prinzessin warf Oskar einen bewundernden Blick zu.
„Mama hat Recht. Du bist tatsächlich ein richtiger Held! Zumindest wenn du keine Angst
hast!“
Oskar lächelte. Nun war UllaCron sicher nicht mehr länger sauer.
Die Schnecke machte sich bereit den Abhang rauf zu klettern.
„Warte mal!“, sagte Oskar. „Ist es nicht schwierig, diesen Weg zu nehmen?“
„Eine Kleinigkeit!“, antwortete die Schnecke. „Hast du uns Schnecken noch nie oben auf
einem Campingwagen sitzen sehen? Oder auf dem äußersten Zweig eines Himbeerbusches?“
So viele verschiedene Arten von Lebewesen zogen es vor, hier unten zu leben statt oben auf
dem Boden, überlegte der Junge. Er konnte sie sogar verstehen. Da oben war es manchmal
regnerisch und stürmisch. Außerdem trampelten dort die ganze Zeit Leute mit ihren großen
Füßen herum. Oder fuhren mit lebensgefährlichen Rädern.
Im gleichen Moment begann der Boden über ihnen zu schwanken und zu donnern. Neugierig
arbeitete er sich zwischen den Graswurzeln hoch, bis er den Kopf ins Freie stecken konnte.
Direkt über ihm rannte eine Horde Jungen hinter einem Ball her. Andere standen am Rand
und schrieen Anfeuerungsrufe.
Nun kam der Ball genau auf ihn zu. Geschwind zog Oskar den Kopf ein und kroch zurück.
„Nun weiß ich, was das für eine Wiese ist.“
„Was denn?“ sagte die Prinzessin. „ Warum rennen und springen die so viel herum?“
„Die spielen Fußball“, sagte Oskar.
Neuntes Kapitel
Libellenbrief
Oskar sah auf seiner Digitaluhr, dass es Freitag war. Sie waren nach der Studienreise zum
Schloss zurückgekehrt.
Er konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wie lange er nun von zu Hause weg war. Ob es
mehrere Tage und Nächte oder nur einige – sehr lange – Stunden waren. Er wusste nicht
einmal, wie lange er geschlafen hatte.
Kerstin vermisste ihn sicherlich. Hatte sie sein Verschwinden schon der Polizei gemeldet?
Waren bereits Suchtrupps draußen im Wald und suchten in langen Reihen nach ihm, mit
langen Stäben in den Händen?
Nun kam UllaCron in Oskars Zimmer, wo er gerade frühstückte. Wasser und Gemüse. Oft gab
es neue Geschmäcker, noch besser als die alten. Oskar hatte fast vergessen, wie Pommes frites
und Limonade schmeckten.
Wenn es auf seinem Teller eine Stachelbeerhälfte gab, stibitzte UllaCron diese.
Die Prinzessin sah genauso munter und frisch aus wie gewöhnlich. Obwohl sie behauptete,
dass sie niemals schlief, sondern die ganze Zeit über Hausaufgaben machte.
Oskar hatte sie ‚Streber’ genannt, um sie zu ärgern. Aber sie verstand überhaupt nicht, was er
damit meinte.
Und er hatte damit aufgehört. Eigentlich war er sogar ein wenig neidisch auf ihren Fleiß.
Kerstin Falk, Oskars Mama, schaute aus dem Küchenfenster. Wo in aller Welt steckte der
Junge?
Zuerst hatte sie gedacht, dass er sich bei dem heftigen Regen irgendwo untergestellt hätte.
Und dass er danach wieder auftauchen würde. Aber es waren inzwischen ein paar Stunden
vergangen, seit der Regen aufgehört hatte.
Manchmal blieb Oskar länger bei irgendeinem Freund. Und vergaß die Zeit.
Nun hatte Oskars Mutter schon bei einigen Freunden angerufen. Aber keiner von denen hatte
Oskar gesehen.
Kerstin wurde immer unruhiger. Einmal, als er noch klein war, war Oskar ganz allein in einen
Zug geklettert, um seinen Papa zu besuchen. Weil er kein Geld für die Fahrkarte hatte, hatte
ihn der Schaffner der Polizei übergeben. Die hatte dafür gesorgt, dass Oskar wieder nach
Hause kam. Das hatte einen ganzen Tag gedauert. Eine sehr unruhige Zeit für Kerstin.
Die Polizei. Sollte sie bei der Polizei anrufen und Oskar als vermisst melden?
Kerstin ging zum Telefon und legte die Hand auf den Hörer. Genau in diesem Moment
schwebte eine blau schimmernde Libelle durch das offene Fenster in den Raum. Sie setzte
sich ungeniert auf ihre Hand.
Kerstin wollte die Libelle gerade verscheuchen. Da fiel ihr auf, dass deren Verhalten sehr
ungewöhnlich war. Sie schaute näher hin und entdeckte etwas Weißes, das unter dem linken
Flügelpaar steckte.
Ein kleines Stück Papier!
Gespannt machte sie den Zettel ab. Kerstin erkannte das Papier. Es war rot liniert. Das kam
bestimmt von Oskars Notizblock. Sie wickelte das Papierstück ab und las.
Hej Mama.
Ich bin auf Besuch im Wurmland. Keine Angst.
Komme bald wieder nach Hause.
Oskar
Zehntes Kapitel
Gerede über Worte
Elftes Kapitel
Der Kampf gegen die schreckliche Dampfwalze
In großen Mengen beeilten sich die Würmer durch die Tunnel rauf zur Guten Wiese. Sie
wurden immer mehr. In dem schwachen Licht sah man die entschlossenen Gesichter der
Würmer. Hier und da schallte der Ruf wieder durch die Gänge und wurde hundertfach
aufgenommen: Das darf nicht geschehen!
„Aber wie soll das Asphaltieren gestoppt werden?“ rief Oskar durch den Lärm UllaCron zu.
„Wie könnt ihr solche Riesenmaschinen besiegen? Die wiegen viele, viele Tausend Kilo. Und
sind aus Stahl!“
„Mama findet schon eine Lösung.“, rief UllaCron zurück. „Sie hat immer eine Idee!“
Nun hörte man ein starkes Prasseln und Platschen durch die Gänge. Die
Regenwurmprinzessin blieb stehen und schnüffelte nach oben.
„Ein richtiger Sturzregen!“
Sie waren da. Die Würmer krabbelten raus auf die Wiese. Dorthin wo so viele von ihnen
gewöhnlich arbeiteten, indem sie sich um Wurzeln, Früchte, Beeren, Blumen und grüne
Blätter kümmerten.
Über allem ging nun der Regen nieder. Ein Stück zurück stand die Teermaschine, noch ein
Stück weiter schwarz und drohend in der Dämmerung die große Dampfwalze.
Kein Mensch war zu sehen. Sie waren zum Wochenende nach Hause gegangen.
Die Regenwürmer versammelten sich mit ihren glänzenden Körpern vor der Dampfwalze.
Königin Margot war gerade aus den Gängen nach oben gekommen. Gefolgt von Wachen,
Hofleuten und hohen Beamten. UllaCron und Oskar gingen zur Seite, um nicht im Wege zu
stehen.
Oskar sah, dass UllaCron stolz auf ihre Mama sah. Der Junge fühlte ein Ziehen im Magen vor
Sehnsucht nach seiner eigenen. Aber gerade jetzt war keine Zeit an Kerstin zu denken.
„Wir müssen versuchen, die Maschinen zu verbrennen!“ rief ein kräftiger, schwarzer Wurm
mit Silberstreifen am Kragen.
„Wer ist das da?“ flüsterte Oskar.
UllaCron sagte leise: „Der Chef der Armee, General Vapor.“
„Wenn die Dampfwalze und der Teerwagen brennen, ist es eine Warnung an die Menschen,
von hier zu verschwinden.“, erklärte der General.
Ein kleiner, fast weißer Wurm rief verzweifelt:
„Gebt auf! Wir müssen fort von hier, bevor wir überfahren und platt gemacht werden. Wir
müssen uns eine andere Gute Wiese suchen!“
„Es gibt keine.“, hörte man eine bittere Stimme. „Die Menschen haben alles zerstört!“
Es war ein Schock für Oskar zu hören, wie enttäuscht sich die Würmer anhörten. Aber er
meinte auch, dass nicht alle Recht hatten. Noch gab es schönes und herrliches Grün an vielen
Stellen.
Ein anderer Wurm rief stolz als Antwort:
„Wir müssen nicht aufgeben! Wir sind stark. Die Menschen wissen sehr wohl, dass sie uns
Würmer brauchen. Sonst kann nichts wachsen. Lasst uns verhandeln. Und verlangen, dass nur
das halbe Feld mit dem schrecklichen, schwarzen Teer bestrichen wird.“
Nun schritt Königin Margot vor in den Kreis von Hundertausenden von Würmern, die dort im
Regen lagen und glänzten. Sie rief:
„Nein! Wir müssen eine List anwenden, keine Gewalt. Seht auf Uns. Und schaut euch ganz
genau den Kreis an, den Wir jetzt ziehen!“
Die Königin ringelte schnell in die Runde und markierte ein Gebiet von 4 bis 5
Quadratmetern vor der Dampfwalze.
„Geht hier unter diesem Kreis runter in den Boden, alle Meine Untertanen! Macht das!“ ,
mahnte sie. „Durchbohrt den Boden – so dass er löcherig wie ein Schweizer Käse wird!“
Die großen Wacht-Würmer übernahmen die Führung...
Dann folgten alle anderen. Da unten kauten sie, bauten Tunnel, wühlten und unterhöhlten. Der
Boden vor der Dampfwalze bestand später nur noch aus einer dünnen Lage aus Lehm und
Gras, wie ein Deckel über einem tiefen Loch.
Es war ganz leer und ruhig oben auf dem Boden. Alles, was man hören konnte, war das
Platschen des Regens und das dumpfe, schabende Grollen von unten.
Königin Margot drehte sich zu Oskar um. Sie lächelte verschmitzt. Was hatte UllaCons listige
Mama nun im Sinn?
„Hast du noch ein Stückchen Papier, Oskar?“
Das hatte er. Oskar zog den Notizblock aus der Hosentasche.
„Reiß ein Stück raus und schreib:
FAHR RÜCKWÄRTS – AUF KEINEN FALL NACH VORN!
Hast du gehört? Und dann,“ setzte die Königin fort, „befestigst du den Zettel am
Scheibenwischer der Dampfwalze!“
Der Junge sagte:
„Ich klemme noch ein Stück Plastik über den Zettel. Damit der Text nicht wegregnet.“
Er nahm seinen Bleistift. Er winkte UllaCron zu sich und drehte sie um. Er brauchte ihren
Rücken als Schreibunterlage.
Zwölftes Kapitel
Das meiste ordnet sich am Ende
Alle Regenwürmer waren in langen Kolonnen auf dem Weg nach Hause von der Guten
Wiese. Sie hatten den Boden vor der Dampfwalze fertig gegraben.
Oskar kroch näher an die Prinzessin.
„UllaCron, nun muss ich wirklich nach Hause gehen. Mama ist sicherlich schon krank vor
Angst.“
Das Wurmmädchen nickte: „Okej.“
„A... Aber“, setzte der Junge fort, und stammelte wieder ein wenig. „Du ...du verstehst ...
weißt du … das ist ja so, dass ich dich jetzt habe. Wen hast du?“
„Was denn?“ wunderte sich UllaCron. „Hast mich? Was meinst du? Und wen soll ich haben?
Kannst du dich nicht klar ausdrücken?“
Zusammen tauchten sie nach einer Weile in dem Erdhaufen am Anemonenweg auf. Der liegt
nur so ungefähr hundert Meter von Oskars Wohnung entfernt. Und dann...
Es blitzte und surrte in der Luft und vips! war Oskar wieder der alte Junge. Mit Regenmantel,
Südwester und allem. Das war ganz passend bei dem Sturzregen, der immer noch fiel.
Oskar bückte sich und hob das Wurmmädchen hoch.
„Ja, ich frage mich...“, sagte er. „Du verstehst ... ich würde eigentlich ... ganz gerne mit dir
zusammen wohnen, Ulla.“ Oskars Stimme klang belegt. Er war natürlich nervös.
„Du spinnst“, antwortete UllaCron. ”Ein Regenwurm und ein Junge. Und wo sollen wir
wohnen?“
Oskar schaute in seine Hand. Da saß das Wurmmädchen. Sie sah eigentlich schrecklich aus.
Schmutzig im Gesicht und an den Händen. Die Haare waren strubbelig. Sie brauchte wirklich
ein Bad...
Als Oskars Mama die Tür öffnete, stand der Junge da. Nass und lehmig natürlich. Kerstin
stieß einen Freudenschrei aus und schloss ihn in ihre Arme. Oskar umarmte sie ebenfalls. Die
rechte Hand hielt er geschlossen zur Seite.
Kerstin ließ ihn los, schaute ihn ärgerlich an und sagte:
„Eigentlich verdienst du eine gehörige Tracht Prügel. Wo bist du gewesen?“
„Draußen“, antwortete Oskar.
Während Mama ihm ein heißes Bad einließ und ihm gleichzeitig etwas zum Essen machte,
ging Oskar in sein Zimmer.
Als er sicher war, dass Kerstin nicht guckte, öffnete er die Hand und ließ etwas in den Topf
des Apfelsinenbaumes auf dem Fensterbrett gleiten.
Das war natürlich UllaCron, die Prinzessin des Regenwurmlandes. Als Kerstin rief, dass das
Badewasser klar war, nahm er sie mit.
Am Montagmorgen kamen die Arbeiter zur Guten Wiese. Um den Asphalt zu legen. Der
Fahrer der Dampfwalze setzte sich auf seinen Platz. Da entdeckte er den Zettel an der
Windschutzscheibe.
Er las:
FAHR ZURÜCK –
AUF KEINEN FALL NACH VORN
„Um so einen Quatsch kümmere ich mich nicht!“, sagte der Fahrer. Er setzte sich zurecht und
fuhr mit Vollgas vorwärts.
Den Tag danach kam eine Hummel in die Wohnung am Anemonenweg gebrummt. Sie landete
auf dem Apfelsinenbaum. Schien damit beschäftigt zu sein, Honig aus einer Blüte zu saugen.
Aber eigentlich warf die Hummel einen kleinen, weißen Zettel in den Topf. Der Zettel war
mit einem Birkenkätzchen zugebunden.
UllaCron und Oskar falteten den Zettel auf und lasen:
Oskar und UllaCron wohnen in dem Zimmer mit dem Apfelsinenbäumchen. Sie streiten sich
und lachen jeden Abend, bis sie einschlafen. Mama Kerstin versteht nicht, was da drinnen
vor sich geht. Redet Oskar mit sich selbst?
An den Tagen, an denen es regnet, gehen sie nach draußen und retten Regenwürmer.
UllaCron schimpft mit den Würmern. Sie sagt streng zu ihnen, sie sollten aufpassen, wohin
sie kriechen und nicht so dumm sein. Oskar nimmt sie dann zwischen Daumen und
Zeigefinger. Weg von der Straße und ab ins Gras.
Oskar geht in die Schule. Manchmal trifft er Benny. Wenn es UllaCron langweilig wird,
schlängelt sie sich eine Weile davon. Um mit ihren Freunden und ihrer Mama zu reden. Und
Stachelbeerhälften mit Himbeersaft und Lavendel zu essen.
Ihr Lieblingsgericht.
Oskar versucht jeden Tag, eine Nuss in einen Goldklumpen zu verzaubern. UllaCron hat
gesagt, dass das wohl gehen kann. Aber er schafft es nicht.
Zumindest jetzt noch nicht.