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Wiedersehen in himmel OK FINAL.

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Polidoro, Osvaldo, 1910 - 2000


Wiedersehen im Himmel / Osvaldo Polidoro.
- São Paulo: Leitura e Arte Editora Ltda, 2006

1. Himmel 2. Spiritismus 3. Tod 4. Leben in der Zukunft I. Titel


02-1394 CDD-133.9013

Index der systematischen Katalogisierung


1. Himmel: Spiritistische Doktrine 133.9013
2. Leben nach dem Tod: Spiritistische Doktrine 133.9013

Umschlaggestaltung: dH21
Satz: Rui Nagae

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INHALT

Gott ..................................................................................04
Vorwort.............................................................................07
Einführung .......................................................................13
Was ich nicht getan habe...................................................21
Was ich hätte tun sollen ....................................................27
Neue Pflichten ..................................................................29
In Erwartung eines Auftrags..............................................35
Ende des Urlaubs ..............................................................39
Alte Freundschaften ..........................................................53
Tage der Arbeit und göttlicher Gnaden .............................69
Der Tod ist das Zeugnis des Lebens...................................81
Drei Tage später ................................................................91
Wiedersehen im Himmel..................................................95
Kontrast ............................................................................99
Eine Frau und ein Hinweis .............................................103
Ein Mädchen und ein Ausflug ........................................107
Erste Anzeichen...............................................................117
Bei Rogério zu Hause......................................................123
Am nächsten Donnerstag................................................129
Das Jüngste Gericht ........................................................145
Ein Mann in Verlegenheit ...............................................149
Am Tag ...........................................................................153
Stets das Gesetz ...............................................................155
Erledigt ...........................................................................161

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Osvaldo Polidoro

Gott

Ich bin das absolute Wesen, bin urnatürlich,


Allwissend und allgegenwärtig, der universelle Geist,
Ich bin der Urgrund, bin der allmächtige Vater,
Bin verschieden und bin das Ganze, doppelwertig.

Ich bin drinnen und draußen, oben und unten,


Bin das Ganze und der Teil, ich schließe alles ein,
Denn ich bin das in der Schöpfung offenbarte göttliche Wesen,
Ich atme in meinem Werk als Ganzer und als Teil.

Ich bin in euren Tiefen und dort erhalt ich euch,


Denn ich bin euer Dasein, euer Daseinsgrund.
Ich spreche in eurem Innern ebenso wie in eurem Äußern,
Bin im Kopf und im Herzen, denn ich bin der Herr.

Kommt also zu meinem Tempel, kehret zurück zu mir,


Ich bin in euch und im Unendlichen, bin der Anfang und das Ende.
Kinder seid ihr meines Geistes, Götter für alle Zeit,
Und auf dem Weg zur Wahrheit fallen eure Kreuze ab.

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Wiedersehen im Himmel

Gebt euch nicht Mysterien, Rätseln und Riten hin,


Was ich will, sind Wahrheit und Tugend, keine Ismen,
Denn die Gesetze stammen von mir, und wenn ihr sie befolgt,
Wachst ihr in meinen Fakten, damit ihr meine Ehre habt.

Ich geh und komme nicht, bin der Ewige und Gegenwärtige,
In euch war und werde ich immer die göttliche Wesenheit sein,
Eure Gegenwart ist in mir und ich will sie voll und ganz,
Über den Trugbildern sollt ihr in mir das ewige Leben verherrlichen.

Lasst die rückständigen, verfallenen Wege zurück,


Die nur an Götzendienst und verstaubtes Heidentum erinnern,
Und suchet in mir den inneren Tempel, in Tugend und Wahrheit,
Und vereint mit mir werdet ihr in mir herrliche Freiheit erlangen.

Immer war, bin und werde ich in euch die Quelle der Milde sein,
Und im umfassenden Bewusstsein eure Heiligkeit abwarten,
Denn ich will keine Formen, keinen Tand, sondern bewusste Kinder,
Die mit mir zusammenarbeiten für die Einheit unseres Geistes.

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Osvaldo Polidoro

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Wiedersehen im Himmel

Vorwort

Gott sei Dank gesagt!


Im Laufe seiner glorreichen Mission, die die Erneuerung
der Lehre vom Weg des Herrn zum Ziel hatte, brachte der
Verfasser Osvaldo Polidoro1 1949 u. a. dieses wertvolle Buch
Wiedersehen im Himmel heraus.
Es erzählt die Geschichte eines entkörperten Bruders,
der wegen seines Wirkens bei seiner letzten Verkörperung
sowie wegen seiner Erfahrungen und der Kenntnisse, die ihm
zuteil geworden waren, in den Himmel oder auf die ihm
entsprechende Ebene erhoben wurde, wo er sich all dessen
bewusst wurde, was er nicht getan hatte und was er hätte tun
sollen, denn es ist ein ernsthaftes Vergehen, bei einer Prüfung
zu versagen, wenn man alle Voraussetzungen dafür in Bezug auf
Kenntnisse, Mittel und Gegebenheiten mitbringt. Die göttliche
Gnade gab ihm jedoch Gelegenheit, sein Versagen durch einen
neuen geistigen Dienst wieder gutzumachen.
Während er seiner neuen Aufgabe nachging, wurde er
zu bestimmten Zeiten und an den entsprechenden Orten
von Arbeitsbrüdern aufgesucht, sodass es zu einem wahren
Wiedersehen im Himmel kam. Neben Lehren, Beispielen und
Dienstleistungen auf spirituellem Gebiet, die ihm von ihnen
im Laufe der Geschichte zukamen, offenbarten sie ihm später
ihren Grad der Freundschaft und sogar der Verwandtschaft
während seiner letzten Inkarnation.
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Osvaldo Polidoro hat das heilige Ziel erreicht und ist inzwichen vergöttlicht,
das heißt voll und ganz in das heilige Prinzip eingetaucht.

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Osvaldo Polidoro

Erschütternd ist zum Beispiel sein Bericht vom


Zusammentreffen mit seinem „Vormundschaftsengel” oder
„Schutzengel”, wie wir zu sagen pflegen. Dieser hatte ihm
zwar alle Mittel, Kenntnisse und Gelegenheiten zur Verfügung
gestellt, doch das Mündel war mehr am Wissen interessiert als
am eigentlichen Handeln, das heißt an der Pflicht, die sich aus
der Kenntnis ergibt.
Er musste die retrospektive Vision über sich ergehen
lassen, ein Vorgehen, das in der Spiritualität angewandt wird,
wenn der Geist Fehler aufweist und sich dessen bewusst
werden muss. So fand er sich wieder an der Seite seiner
Mutter, einer alten, unter der Last der Jahre gekrümmten Frau,
die ihn, den Leprakranken, der unbedingt geheilt werden
wollte, mit viel Mühe zum Propheten brachte, als damals
der planetarische Meister unter seinen minderen Brüdern auf
der Erde weilte. Wunderbar wird das Zusammentreffen mit
dem Propheten und das Gefühl der Linderung beschrieben,
die die Gnade der Heilung mit sich bringt. Hier ist es
wichtig festzuhalten, dass der Schmerz stets im Verhältnis zur
Verfehlung steht, auch wenn die Zeit vorübergeht und sich
die Umstände ändern; die Verantwortung bleibt bestehen,
denn die Liebe führt zum Frieden und der Hass führt zum
Schmerz. Gott erwartet von uns Liebe und dass wir begreifen,
was das Ziel des Lebens ist. Alle, die lieben sind schön, und
nur wer nicht lieben wil, liebt nicht, denn als Kinder der
Liebe sind wir für die Liebe geboren.
Drei Stellen des Buches hinterlassen einen besonders
tiefen Eindruck, denn sie zeigen uns, welche Vorbereitung
notwendig ist, um auf spiritueller Ebene den Plan des Höchsten
zu verwirklichen. Die erste berichtet von der Entkörperung

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Wiedersehen im Himmel

eines Bruders und von den Vorkehrungen, die von den


Arbeitsbrüdern getroffen werden, um ihn aufzunehmen und
in den Himmel oder auf die entsprechende Ebene zu bringen.
Ergreifend werden selbst die materiellen Details in Gegenwart
von Familienmitgliedern und Freunden beschrieben. Auch das
Wiedersehen im Himmel, wo der gerade erst Entkörperte
Freunde, Verwandte und seine Lebensgefährtin im Fleische
wiederfindet, die schon vor ihm diesen Übergang durchgemacht
hatte, erweist sich als überraschend und göttlich. Wir wissen,
dass niemand stirbt, sondern nach göttlichem Plan nur
das Fleisch verlässt. Das Buch gibt uns immer wieder
Gelegenheit, darüber nachzudenken, dass wir für die Richtung
verantwortlich sind, die wir unserem Leben geben, und dass
wir den sittlichen Sinn des Lebens entdecken müssen, der
sogar wichtiger ist als das Leben selbst.
Die zweite unvergessliche Stelle lehrt uns, wie ergreifend
die Vorbereitung und Durchführung einer spiritistischen
Versammlung sein kann. Der Bericht ist besonders rührend,
weil er sich auf eine Zusammenkunft im Hause von
Protestanten bezieht. Großartig ist die Beschreibung der ernsten
Vorbereitungen, die von Seiten der spirituellen Welt in Bezug
auf den Versammlungsort, die Teilnehmer, die ersten Anzeichen
medialer Fähigkeiten in den Medien, die zu unterrichtenden
und anzuleitenden Brüder, die Leitung und Entwicklung an
sich getroffen werden. Das ist ein Hinweis für Leiter und
Teilnehmer spiritistischer Sitzungen, dass es nicht einfach auf
die Praxis der Handauflegung und der Arbeit mit fluidiertem
Wasser beschränkte Veranstaltungen sein dürfen, sondern dass
sich jeder vor allem darum bemühen sollte, in sich ein
erhabenes Bewusstsein vom unitarischen Sinn des LEBENS,

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Osvaldo Polidoro

nach dem Gott wirklich in allem und allen ist, aufzubauen


beziehungsweise richtigehend zu erzeugen.
Die dritte Stelle spricht von der Verlegenheit eines
entkörperten Bruders, der sich in seinem fleischlichen Leben
von seiner Familie abgewandt hatte und aus freien Stücken zum
Bettler geworden war. Wunderbar ist die Arbeit der spirituellen
Welt zu nennen, die ihn aufsucht, zu einer spiritistischen
Sitzung führt, wo ihm die notwendige Orientierung zuteil wird,
und ihn schließlich in den entsprechenden Himmel geleitet.
Nachdem er seinen Auftrag im Dienste der
Wiedergutmachung auf der spirituellen Ebene erfüllt hat, ist
der Bruder dann bereit, die Nachricht entgegenzunehmen, dass
er wiederum in spiritistischer Umgebung reinkarnieren werde
und keinen magnetischen Reduktionsvorgang durchzumachen
brauche. Er wird als Mensch mit vollem Bewusstsein ins Fleisch
zurückkehren.
Lieber Leser, das vorliegende Werk ist unter allen
Aspekten als fantastisch anzusehen. Als Divinistenkandidat
habe ich seit jenem glücklichen und gesegneten Tag, an dem
ich Osvaldo Polidoro kennen gelernt habe, versucht, mir die
Lehre anzueignen. Ich muss zugeben, dass es fast ein Jahr
gedauert hat, bis ich in der Lage war, das erste Gespräch mit
ihm zu führen, denn ich wagte es nicht aus Respekt vor ihm
und vor seiner harten Arbeit im Dienste der Lehre und aller
seiner Gefährten. Ich habe stets versucht, seine Unterweisungen
im Relativismus meines Lebens soweit wie möglich in die
Praxis umzusetzen. Und nach einigen Jahren der Reifung, der
Erfahrung und Sicherung versuche ich nun im Rahmen meiner
Möglichkeiten, diese Kenntnisse an andere Brüder, die sich mit
mir auf dem Weg der Evolution befinden, weiterzugeben.

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Wiedersehen im Himmel

Es ist zwar keine leichte, dafür aber eine dankbare Arbeit.


Kostet die Lektüre aus mit all den Lehren, die der Verfasser so
klar und deutlich vermittelt, lernt von ihm und vor allem handelt
danach, denn der „Geist” des Buches ist die Praxis, das Wachsen
durch die „Werke”, durch die vorgelebten Beispiele, denn ohne
sie werden die notwendigen inneren Werte und Tugenden nie in
uns aufblühen. Und nach dem Grundsatz „Jedem nach seinen
Werken” wünsche ich euch, dass ihr in einem viel besseren
Zustand aus dem Körper heraustreten könnt als ihr in ihn hinein
gekommen seid, damit ihr ein entsprechendes, glorreicheres
Wiedersehen im Himmel verdienen möget.
Ich danke dem göttlichen Vater für diese Gelegenheit.

Juli 2002
Antonio Fernando Chester

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Osvaldo Polidoro

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Wiedersehen im Himmel

Einführung

Nach dem elemantaren Denken irdischer Gläubigen


gibt es eine gewisse Anzahl von Geistern, die unter der
Leitung des planetarischen Christus die Menschheit regieren.
Aber diese Zahl setzt sich zusammen aus den Heiligen ihrer
sektiererischen Schar. Sie können sich nicht vorstellen, dass es
selbst im demografischen Gesamtbild des Planeten Milliarden
und Abermilliarden von weit höheren Wesen gibt, Geschöpfe,
die zum Pflichtteil dieses kosmischen Teilchens gehören.
Für einen Christen zum Beispiel haben Christus und
einige Dutzend Heilige den Vorrang. Alles übrige ist Verneinung
und Minderwertigkeit. Und so ist es leicht eingänglich, dass
es ihm schwerfällt zu verstehen, was in der Sicht der Dinge
niedriger und - weniger noch - was höher bedeutet.
Trotz dieser leidigen Wirklichkeit gibt es ein Stückchen
der ganzen WAHRHEIT, das uns anrührt, und dieses Stückchen
ist das, was ist, wenn es auch als solches in dieser Hinsicht nicht
mit der Zustimmung der menschlichen Niedrigkeit rechnen
kann. Wir wissen, oder wir können es erfahren, dass wir zu
Recht die Kraft haben, die Wahrheit in ihrer Gänze mehr oder
weniger zu verkennen; der irdische Mensch, im Körper oder
außerhalb des Körpers, täte aber gut daran, dem unendlich
komplexen Sinn der WAHRHEIT seine Aufmerksamkeit zu
schenken, wenn von dieser in ihrer relativistischen Gestalt die
Rede ist.

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Osvaldo Polidoro

Niemand wird in Frage stellen, dass die WAHRHEIT,


da sie alles ist, unmöglich von unserem Verstand erfasst
werden kann, denn sie reicht weit über unser geistiges
Durchdringungsvermögen hinaus. Da der Mensch jedoch in
einer Art Kleinhandel Zugang zur WAHRHEIT hat, könnte
man doch wohl verlangen, dass jeder versucht, auf diesen
proportionellen Wegen wenigstens ein bisschen mehr den
gesunden Menschenverstand einzusetzen. Es ist schließlich kein
Gefallen, sondern die Pflicht aller, den Geist aufgrund eines
besseren Blickwinkels zu lüften.
Um so viele Dinge in Erfahrung zu bringen, reicht es
gewiss nicht, dass man einfach liest; Kenntnis verlangt ebenso
Härtung und Reife. Und diese sind bestimmt nicht allein
das Ergebnis von Denkvermögen und theoretisch bestimmten
Gesetzmäßigkeiten. So kann zum Beispiel der schlimmste
Triebverbrecher in einem gesunden Körper wiedergeboren
werden, weil ihm die höchste Gerechtigkeit die Gelegenheit
zur Wiedergutmachung schenkt. Natürlich reicht es nicht,
über die Weden, über Rama, über die Buddhas, über Krishna,
über Zoroaster, über Hermes, über Moses, über Christus,
über Kardec und über alles nur irgendwie Mögliche in Kunst,
Wissenschaft, Religion und Philosophie zu lesen, um praktisch
in allen Tugenden, Disziplinen und Techniken reif zu werden.
Die Theorie hat ihren Wert - niemand wird dies in Frage
stellen, doch auf der Waage der zu erlangenden Werte hat sie
allein das Gewicht, das ihr zukommt. Nie wird sie aber die
Lücken des gelebten Beispiels ausfüllen können, das sich
die Füße auf den steilen Wegen der Welt blutig läuft
und von den einen ausgepfiffen, von den andern verfolgt
wird, von den einen eine Ohrfeige, von den andern das

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Wiedersehen im Himmel

Kreuz und so weiter erhält. Die Kennzeichen unsterblicher


Errungenschaften werden niemals allein auf einige oder viele
Lektüren zurückzuführen sein.
Da seit etwa hundert Jahren auf Veranlassung Christi und
infolge zyklischer Umstände eine Reihe wissenschaftlicher und
spiritualistischer Erscheinungen auf die Welt gelangen, bildet
sich nach und nach eine große Anzahl von „theoretischen
Weisen” heran. Grundlegende Prinzipien, indiskutable Regeln,
ehtische und ästhetische Normen, alles was von einem
intellektuellen und moralischen Standpunkt aus unbedingt
schön zu nennen ist, wird frei und wohlklingend selbst aus
dem Munde von einfachen Jugendlichen beliebig in die Welt
hinausposaunt. Was aber infolge des wirklichen Beweises,
nämlich des Gesetzes der Entkörperung deutlich wird, ist die
Tatsache, dass es oft einen großen Abstand zwischen dem
Praktiker und dem Theoretiker gibt.
Wer also seinem Nächsten den herrlichen Himmel, die
glänzenden, wunderbaren Throne zeigt, auf denen gekrönte
Gestalten erscheinen, gibt, um ein bisschen Frieden zu
verdienen, nicht mehr von sich selbst weiter als den Mangel, der
dazu führen wird, dass er dunkle Gassen in düsteren Ländern
der astralen Lebensebene durchschreiten muss.
Hier zeigt es sich, wohin die einmal erworbene,
aber nicht in einen praktischen Zinsertrag umgesetzte
Theorie möglicherweise führt, wo die langen, hinreißenden
Trugschlüsse enden werden, die zwar schön und wortreich
daherkommen, denen aber der Sinn für die Wirklichkeit, für
musterhafte Gediegenheit abgeht. Christus hat nicht umsonst
angekündigt, dass von dem, dem viel gegeben wurde, auch
viel verlangt werden wird. Die Theorie, meine Freunde, stellt

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Osvaldo Polidoro

eine feierliche Verpflichtung gegenüber den Kausalgesetzen


dar. Die Theorie ist ein potenzielles Gut, das allein der
Tor nicht mit aller Kraft durch Weiterverarbeitung in ein
dynamisches Gut, in ein unveräußerliches, unverwelkliches
Besitztum umzuwandeln sucht.
Wer so zu euch spricht, meine Freunde, war zwar
auf Erden kein weiser Pergamentbesitzer, hatte jedoch
gute Kenntnisse über mancherlei Aspekte des menschlichen
Wissens vorzuweisen. Was den Spiritualismus angeht, besaß er
sogar einen große Menge theoretischer Kenntnisse. Vielleicht
war ihm das Wissen ebenso teuer wie er es verabscheute, dieses
in die Praxis umzusetzen. Die Fehler, das unausgewogene
Leben schrieb er der natürlichen Entschuldigung zu, die
in den Köpfen von Millionen herumgeistert: der dem
körperlichen Sinn des Menschen oder jedem biologischen
Wesen anhaftenden Schwäche.
Und so verlief das Leben, verliefen die Tage ganz normal.
Ich besann mich nicht einmal darauf, dass sich die Erde drehte,
ohne von mir Rechenschaft zu verlangen, und dass schließlich
jeder Tag einen Bruchteil der Gesamtetappe ausmachte, an
deren Ende ich ohne Recht auf Berufung über den Verbrauch
dieser Bruchteile Rechenschaft abzulegen hätte. Heute weiß ich
aus Erfahrung, dass alles Gute und alles Böse äußerst langsam,
nach und nach, erlangt wird. Und dennoch gibt es viele Fälle,
in denen man Zeit hat oder findet, über jede Minute, jede
Sekunde nachzudenken und sich vorzustellen, dass sie eine
weitere Verantwortung auf dem Konto darstellen, das vom
Menschen, vom Schicksal und von den eine relative Freiheit
gewährenden Gesetzen geführt wird.
Meine Freunde, es ist schön über das Leben oder das

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Wiedersehen im Himmel

Entwicklungsprogramm im Allgemeinen nachzudenken und


es zu verstehen. Im Grunde scheinen die Höhen und Tiefen
des Einzelnen, die die ganze Menschheit darstellen, bunte
Unebenheiten auf einer weißen Leinwand zu sein. Im Leben
eines jeden Wesens gibt es unebene Stellen. Und für mich,
der ich noch ein gewisser Utilitarist bin, ist es am besten,
günstige Unebenheiten zu schaffen, Seinsweisen, die uns
in unserem bewussten Wohlergehen weiterhelfen. Dies war
übrigens auch die Richtlinie, an die sich alle großen Lehrmeister
der Menschheit gehalten haben. Und die Logik liegt in der
inneren Kraft des Lebens, des Evolutionsprogramms selbst,
denn wir wissen sehr wohl, dass das Sein von unten nach oben
strebt, sozusagen von der Trägheit zur höchsten, bewussten
Dynamik. Die Verteidigung des Rechts, alle Augenblicke gut
zu leben, gehört unveräußerlich zum Individuum, ebenso wie
dieses die Pflicht nicht abweisen kann, von diesem Recht nicht
auf Kosten des Schadens anderer Gebrauch zu machen.
Ich sehe nichts als dieses, nichts scheint mir einfacher zu
verstehen und zu leben als ein ethisches Prinzip wie dieses, das
im Sein spontan als etwas ihm völlig günstiges gefühlt wird,
aber auch als etwas, was unmöglich als das Beste für das Wohl
des andern bestritten werden kann. Ich bin überzeugt, dass
die höchste Gerechtigkeit nur das eine von uns will, dass wir
einander glücklich machen, damit die glückliche Umgebung
wiederum auf uns selbst zurückstrahlt.
Heute sehe ich, dass mir dies geholfen hat, wenn ich
gut handelte, und mich unglücklich gemacht hat, wenn ich
schlecht handelte. Niemand hat mir deutlich gemacht, dass
kein Grundprinzip infolge meiner guten oder schlechten Werke
an sich hätte zu- oder abnehmen können; ich habe jedoch

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Osvaldo Polidoro

gesehen oder erfahren, dass ich durch das Einschlagen der


negativen Seite des einen oder anderen Gesetzes den Frieden
oder das Gut anderer beeinträchtigt habe und als Reaktion der
positiven Seite des selben Gesetzes die Folgen meines falschen
Tuns zu tragen hatte.
Ihr fragt mich nun sicher, ob die Gesetze denn zwei
Seiten haben, von denen man eine für das Gute und die andere
für das Böse gebrauchen kann. Ich bejahe dies, denn obwohl
das Gesetz in seinen grundlegenden Attributen immer ein und
das selbe ist, sind wir doch relativ frei, um mit seiner Hilfe
guten oder schlechten Gebrauch von unseren Möglichkeiten
zu machen. Der Hinweg ist derselbe wie der Rückweg. Das
Gesetz der Dialektik beherrscht alles, die Kraft der Gegenteile
verschönert das Universum. Sie befähigt uns zu prüfen und
zu unterscheiden, zu vergleichen und abzuleiten und so den
tiefen Mechanismus der göttlichen Gesetze lieben zu lernen.
Dank der Macht der Dialektik oder der Kraft der Gegenteile
können wir viel denken und vordringen und so zu entdecken
suchen, bis wohin der freie Wille reicht und wo der höchste
Determinismus aufhört wirksam zu sein. Wohlwissend, dass
alles Teil des höchsten Determinismus ist, sind wir dann besser
darauf eingestellt, strikt das machtvolle Recht einer relativen
Eigenmacht zu respektieren.
Nachdem ich so viel geirrt habe und alles wieder
gutmachen musste, habe ich genug Erfahrung gesammelt,
um zu wissen, dass ich beim Gebrauch des freien Willens
von vorneherein den höchsten Determinismus in Bewegung
setzte. Und obwohl die Macht meiner Selbstbeherrschung noch
brüchig ist, stelle ich mir immer vor, dass ich, wenn ich mit
diesem selben Quantum an Urteilskraft in die Welt der Formen

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Wiedersehen im Himmel

zurückkehren könnte, alles daransetzen würde, den Auftrag


des Lebens mit selten gesehener intellektueller und moralischer
Eleganz zu erfüllen. Alles lässt mich glauben und fühlen, dass
es nicht einen größeren Einfluss des einen Gesetzespols auf
den andern gibt, sondern dass die souveräne Macht dafür
Sorge trägt, dass einer den andern ergänzt und so alles unter
dem Prisma der notwendigen Bewegung zur Entwicklung hin
treibt. Es ist unsere Pflicht, den moralischen Sinn des Lebens
zu suchen, wenngleich dieses nach unaufhebbarem höherem
Gesetz ein existierendes, schwingendes Sein ist. Wir brauchen
also nicht erst das Boot des Lebens und das Meer des Daseins
herzustellen, denn sie sind schon von sich aus da. Unsere
Aufgabe ist es, so gut wie möglich zu lenken und den richtigen
Kurs einzuhalten.

*****

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Osvaldo Polidoro

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Wiedersehen im Himmel

Was ich nicht getan habe

Niemand ist für sein Leben verantwortlich, sondern


für die Richtung, die er ihm gibt. Für das Leben ist im
Wesentlichen Gott verantwortlich, der das Leben selbst in
seinem Wesen ist. Obwohl es noch zu früh ist, um die volle
Gegenwart des göttlichen Wesens zu spüren, kann ich doch
im Namen einer großen Reise zu einer höheren Ebene hinauf
sprechen, wo ich Gott ausgedrückt sah. Nachdem ich durch
die mit Hilfe eines großen Offizialen der höheren Ebenen
erworbene Steigerung der Vibrationskraft in einen äußerst
fortgeschrittenen Kontakt getreten war, begann ich in einem
undefinierbaren Grad das Höchste Wesen zu sehen, zu verstehen
und zu fühlen, das aus dem Innersten von allem und allen
heraus allem und allen Leben gibt und sie regiert.
Es wäre wohl sehr töricht zu versuchen, in vollkommenen,
endgültigen Worten eine einfache Version dessen zu bieten,
was ich erleben durfte. Ja erleben, denn Gott ist LEBEN in
seinem vollendeten Ausdruck, unstofflich, formlos und völlig
gegenwärtig. Im Einklang mit diesem Ausdruck der Gottheit
wuchsen meine Allgegenwärtigkeitskräfte derartig, dass ich
mich in mir selbst als eine andere Person fühlte und gleichzeitig
wusste, dass ich in allem und allen wie in einer Art allgemeiner
Unendlichkeit war und von jenem mächtigen Einfluss an
LEBEN, LIEBE und WISSEN bewegt oder getrieben wurde.
Ich wage zu behaupten, dass ich nun weiß, wessen ein Geist
fähig ist, der einen solchen Entwicklungsgrad erreicht hat. Die

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Osvaldo Polidoro

Wärme Gottes selbst treibt ihn in allen Vibrationsrichtungen


an, und daraus kann man schließen, wie ein relatives Wesen die
Macht Gottes auf pure Weise zu filtern vermag.
Was ich in der Welt der Formen nicht getan habe, war,
auf praktische Weise in mir oder in uns die Absicht Gottes
selbst zu verwirklichen. Angetrieben von einer von einem
brennenden Glauben entfachten lebendigen und bewussten
Flamme habe ich versucht, etwas über Gott und seine
unendlichen Erscheinungen zu erfahren, leider jedoch nur in
einem rein gedanklichen, intellekktuellen Sinn. Was mir vor
allem fehlte, um zum INNEREN HEILIGEN vorzustoßen,
war die Aufmerksamkeit für den moralischen Sinn des Lebens.
Ich war nicht in der Lage zu verstehen, dass dies eine wesentliche
Aufgabe des relativen Seins ist, weil es Attribut oder eines
der Attribute des Gesamtbildes ist, das den freien Willen
einschließt. Deshalb, und weil ich mich fleißig um Wissen
bemühte, hat mir einer der Führer eines Tages, nachdem ich
in der Astralwelt falschen Spuren gefolgt war, gesagt: „Alonso,
du warst zwar in deinem historischen Proviantbeutel einige
geistige Vorteile, bei deiner letzten Erfahrung im Fleische hat
sich jedoch der reiche Vorrat an Beschleunigungskraft allein
auf dem Feld gedanklichen Tuns ausgewirkt. Niemand wird
je den Wert eines guten Gedankengangs über die Dinge des
Herrn bestreiten, vor allem aber lässt sich auch nicht die Pflicht
der moralischen Verehrung des Wissens leugnen. Es war nur
schlecht von dir, mein Freund Alonso, gewusst und nicht
danach gelebt zu haben.”
Während ich über das Gesagte nachdachte, machte er
eine Pause, um dann fortzufahren: „Bevor du aber im Diesseits
neue Aufgaben übernimmst, mein Freund, ist es der Wille des

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Wiedersehen im Himmel

Höchsten, dass du eine Anschauung der höheren Dinge des


Lebens bekommst.”
„Mein Bewusstsein spiegelt alles Wirkliche darüber wider,
mein Herr, und wenn ich etwas bedaure, dann nur den
Schmerz, den ich jahrelang in den traurigen Ländern der
Verirrung ertragen musste. Ansonsten weiß ich wohl, mein
Herr, dass ich während des Aufenthalts an diesen Orten etwas
dazugelernt habe.”
Er gab mir daraufhin zu bedenken: „Das Wissen ist
eine Anhäufung von Erfahrungen, so wie die Heiligkeit die
Anhäufung von Tugenden ist. Niemand wird mit einem Mal
vollendet, und es ist absurd zu behaupten, dass irgeneiner seinen
Aufstieg geschafft habe, ohne unzählige Male gefallen und
wieder aufgestanden, geboren, gestorben und wiedergeboren
zu sein. Es freut mich daher, wenn du sagst, dass du deinen
Aufenthalt in den astralen Niederungen gut genutzt hast.”
Mit diesen Worten versetzte er mich aus einer ziemlich
traurigen Gegend, wo die Arbeit derb war, in eine andere,
fröhlichere Gegend, wo die Sonne des Wohlbefindens alle
Gesichter bestrahlte und auch noch das verborgenste Wesen
stärkte. Kurzum, Gott war deutlicher wahrnehmbar. Denn
Gott tut sich auf zwei Weisen kund: Auf eine manifestiert er
sich, auf die andere immanifestiert er sich. Und da die manifeste
Weise stets auf den Weg der immanifesten und wesentlichen,
das heißt vom Unteren zum Oberen führt, so bedeutet das, dass
man aufgehört hat, Gott auf eine schlechtere Art und Weise zu
sehen, zu verstehen und zu fühlen, um ihn nun besser zu sehen,
zu verstehen und zu fühlen. Niemand gelangt zu den besten
Ausdrücken des Lebens, ohne die schlimmsten durchlaufen zu
haben. Und da das Urteilsvermögen ein Produkt innerster oder

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Osvaldo Polidoro

moralischer-intellektueller Erarbeitung ist, wird der Mensch


von Gott dazu angehalten, sein eigenes hervorzubringen.
Nun werden einige Freunde bestimmt fragen: „Was stellen
denn dann die interstellaren Zonen, die höchsten ätherischen
Ebenen, die entfernteren Planetenbahnen oder ihre jeweiligen
Himmel dar?”
Darauf antworte ich: Gewiss verfügt jeder Planet, mag
er auch noch so niedrig sein und bei weitem nicht die
Voraussetzungen für ein organisiertes Tierreich bieten, über
seine Himmel, seine Bahnen, seine ätherischen Zonen, wo
seine von Christus, dem höchsten Herrn, geführten Leiter
leben; es ist richtig, dass die Himmel eines Planeten in einem
direkten Verhältnis zu dem hierarchischen Grad des Planeten
selbst stehen und dass die Himmel sich verändern, so wie
dies auch die Himmel der festen Planten tun. Wer aber soll
diese äußeren Himmelszonen bewohnen, ohne dies innerlich,
persönlich verdient zu haben?
Aus berufenem Munde wurde bereits kund, dass ein
innerer Vibrationsgrad stets einem äußeren Vibrationsgrad
entspricht und umgekehrt. Wenn daher, meine Brüder,
ein bestimmter Geist von sich aus den Körper verlässt,
gelangt er in den äußeren Lebensgrad, der ihm zusteht.
Einem bestimmten Lebenszustand im Fleische entspricht eine
bestimmte UMGEBUNG des Lebens außerhalb des Fleisches.
Jedem wird nach seinen Werken zuteil. Und vom Zentrum
der Erde mit seinem doppelten Äther bis zur entferntesten
ätherischen Ebene des Strahlenkranzes des Planeten wird es
nicht an Wohnstätten fehlen, mag der Mensch auch verdienen,
was er will, vom tiefsten Dunkel bis höchsten Glanz Gottes.
Niemand braucht aus sich selbst herauszutreten oder den

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Wiedersehen im Himmel

Planeten Erde oder irgendeinen anderen zu verlassen, um


auf dem Weg zur Ruhe oder zum Sturm alles Mögliche
anzutreffen.

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Osvaldo Polidoro

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Wiedersehen im Himmel

Was ich hätte tun sollen

Niemandem ist es verboten sein Leben in der Welt


entsprechend seiner Umgebung, seiner Natur und seinem
Entwicklungsstand voll auszuleben. Ich spreche von
Entwicklungsstand, denn obwohl alle bis zu einem bestimmten
Punkt gleich sind, beginnt sich doch jeder von da an wenigstens
zum Teil von den andern zu unterscheiden.
Die rettende oder aber belastende Logik, meine Freunde,
ist die, die uns die sittliche Art und Weise vorgibt, nach der wir
die gewöhnlichen Gesetze politisch, wirtschaftlich, bürgerlich,
künstlerisch, philosophisch, wissenschaftlich leben, oder wie
wir über uns selbst vom Gehirn zum Herzen, vom Geist zur
Materie, vom Moralischen zum Zumutbaren verfügen.
Als ich jenen Führer in die Gegend begleitete, wo ich
derzeit wohne, dachte ich nicht einmal im Traum daran, in
einer Dokumentarabteilung die Unterlage vorzufinden, in der
das Programm meines künftigen Lebens im Fleische angelegt
oder vorgezeichnet war. Natürlich ist alles, was Programm,
Gesetz oder herrschende Ordnung auf der Welt bedeutet, schon
immer in der Unendlichkeit des Werkes Gottes zugegen; da ich
aber die Vergangenheit vergessen hatte und mich nur meiner
selbst auf kaum empfehlenswerte Weise erinnerte, musste mir
das alles fremd und stark vorkommen. Und so habe ich denn
ein nicht erfülltes Programm, einen wenigstens zum großen Teil
nicht ausgeführten Plan gelesen. Was ich tatsächlich ausgeführt
hatte, war lediglich der Teil, der wohl oder übel vom Leben

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Osvaldo Polidoro

bedingt ist, so wie ein Regierender von Amts wegen immer


irgendetwas tun wird, wenn es auch noch so wenig und schlecht
getan sein mag.
Angesichts der im Christentum entfachten
Erneuerungsbewegung hatte ich mir vorgenommen, mich für
diese Sache einzusetzen und in dieser Welle der Erneuerung
Millionen von Menschen zu begleiten, die auf Geheiß Christi
unter dem Einfluss eines großen dazu bestimmten Führers
handeln würden wie sie handeln. Aber obwohl ich mir
die allgemeinen Kenntnisse schnell und leicht zu eigen
gemacht hatte, habe ich gleichwohl in der Ausführung versagt.
Das heißt, dass ich heute sehr wohl weiß, dass ich zwar
dazu ausersehen war, dass aber gerade das fehlte, was von
mir abhängen würde, nämlich besondere Anstrengungen im
Bereich der mit den möglichen und notwendigen Mitteln
durchzuführenden Propaganda. So habe ich also die Arbeit
wie ein Mensch ausgeführt, dem zwar die Fähigkeiten und
die Werkzeuge gegeben wurden, der aber nicht bereit war, die
Erde zu bestellen.

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Wiedersehen im Himmel

Neue Pflichten

Ich gab mich einige Tage dem Müßiggang hin, wanderte


durch die Gegend, meditierte, traf Freunde und Verwandte usw.
Ich war keineswegs überrascht, diese hier anzutreffen, denn das
Wissen um diese Wirklichkeit hatte ich mir schon auf Erden
angeeignet. Bisher war ich stets traurig und niedergeschlagen
gewesen, wenn ich der verlorenen Zeit gedachte. Ich konnte
schon nicht mehr glauben, dass die auf den Ebenen des Dunkels
geernteten Erfahrungen vielleicht ausreichen würden, so ein
schweres Versagen zuzudecken. In tiefster Seele schmerzte
mich der Rückblick auf das sträfliche Tun, denn ich sah ein,
dass viele im direkten Verhältnis zum Verlust hätten Gewinn
aus meinen Werken ziehen können. Ich fühlte mich daher
wie ein Verbrecher, denn ich war mir bewusst, dass meine
Nachlässigkeit die kollektive Ebene meiner Pflichten in einem
derartigen Ausmaß in Mitleidenschaft gezogen hatte.
Als ich mich nun eines Tages an einer Quelle aufhielt, wo
ich mich wegen der großen Ruhe, die an diesem Ort herrschte,
und wegen des Wohlgeruchs der Feldblumen der Meditation
hinzugeben pflegte, fühlte ich plötzlich einen stechenden
moralischen Schmerz, der mich zur Erde warf und mich meine
schlimmen Erinnerungen bitter beweinen ließ. Ich stieß kein
Bittgebet aus, ich betete überhaupt nicht, ich stöhnte nur vor
Schmerz, weil ich denen gegenüber so erbarmungslos gewesen
war, die ein Recht darauf gehabt hätten, etwas von mir zu
erwarten. In diesem Augenblick berührte aber jemand meine

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Osvaldo Polidoro

Schulter und sprach zu mir mit jener musikalisch und fromm


klingenden Stimme, wie sie allein ein reines, geschwisterliches
Gefühl hervorzubringen vermag: „Dein Gebet wurde erhört ...
Steh auf und begleite mich ...”.
Ich folgte nun einer Frau in schneeweißem Gewand, die
von einer berückenden geistigen Schönheit war. Ihr Haar, ihr
Blick, die engelhafte Geschmeidigkeit ihres Körpers, alles an
ihr schien aus Himmel, aus Licht, aus liebendem Herzen, im
rechten Wortsinn, angefertigt zu sein.
Ich weiß, dass ich in ihrer Gesellschaft viele vibratorische
Grenzen überschritt. Als wir schließlich eine Lebensebene
erreichten, die mir unerträglich vorkam, gab sie mir ihre weiße
Hand, damit ich sie festhalten konnte und durch sie ein hoher
Koeffizient an Kraft auf mich überging. Es war ein Ort, wo
das Leben in einem höchst göttlichen Grad entwickelt werden
musste. Alles strahlte eine unbeschreibliche Schönheit von
berückenden Farben, Tönen, Harmonien, Melodien, Liebe und
Intelligenz aus. Und es schien mir, dass im Hintergrund von
alldem allein die Schatten irdischer Landschaften schwebten:
Schlösser, Gärten, Blumen, Wasser, Plätze, Straßen, alles bestand
wie aus verzauberten irdischen Elementen, denn obwohl sie
der Natur nach sozusagen dieselben waren, schienen sie doch
zutiefst anders in ihrem Zustand oder in ihrer Seinsweise.
Für mich, der dank der Gnade Gottes in Kürze noch viel
mehr von der Allgegenwart Gottes sehen, erfahren und fühlen
sollte, schien die Läuterung bereits ihren höchstmöglichen
Grad erreicht zu haben.
Als wir gleich darauf eine Wohnung betraten, deren
Fußboden unter meinem Gewicht nachzugeben schien, weil
alles aus sehr subtilem Stoff war, stellte sie mich einem Mann

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vor, der aus Licht zu bestehen schien. Und nachdem dieser


Mann mich voller Güte begrüßt hatte, hieß er mich auf einem
Stuhl Platz nehmen, der ebenfalls unter dem Druck meines
Kontakts nachzugeben schien.
Der Mann lächelte und erklärte mir: „Es gibt einen
spürbaren Unterschied der spezifischen Dichte zwischen den
Bestandteilen deines Körpers und der Materie dieser Ebene, um
mich einmal so auszudrücken. Alles, was im unendlichen Werk
Gottes auf Unterscheidung hinausläuft, beruht auf spezifischer
Differenzierung durch Stratifikation. Was auf der materiellen
Ebene wegen seinem Bezug zur Materie im Allgemeinen oder
in irgendeinem Sinn seiner substantiellen Beschaffenheit so ist,
hat seine Entsprechung auf geistiger Ebene infolge moralischer
Gesetze. Es gibt daher unendlich viele Varianten auf beiden
Ebenen, auf der materiellen durch Stratifikation und auf der
geistigen durch Moralisierung. Da wir noch an beiden Ebenen
teilhaben, erlebst du, Bruder Alonso, der du im Vergleich zu
deiner sehr guten mit einer bedeutend höheren Ebene Kontakt
hast, das Fehlen von moralischem Gleichgewicht und die
Unstetigkeit der materiellen Elemente.”
„Ich glaube das vollkommen zu verstehen, lieber Herr”,
antwortete ich ehrfurchtsvoll angesichts der ungeheuren
Überlegenheit, die von diesem gütigen Mann ausging.
Ich spreche von Güte und möchte, dass ihr versteht, dass
diese sich nicht allein im Umgang mit mir äußerte, sondern
dass aus ihm selbst aus psychischen und strahlungsbedingten
Gründen ein tiefes Gefühl brüderlicher Liebe ausströmte, das
sowohl mich selbst als auch alles andere zu erreichen und die
ganze Umgebung zu beeinflussen schien.

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Osvaldo Polidoro

Danach begab ich mich mit ihm und der Frau in den
Garten, der sich vor der herrlichen Wohnung erstreckte. Hier
fuhr nun der Mann, indem er seine mächtige Hand auf meinen
Kopf legte, wie folgt fort: „Diese Lebensebene ist zwar schön,
doch das Schönste liegt im Innern von allem und allen, denn
es ist das GÖTTLICHE PRINZIP DES UNIVERSUMS, das
wir auf diese oder jene Art Gott nennen. Ich möchte, dass du
eine introspektive Übung wesentlich geistiger Natur machst.
Und ich möchte, dass du sie hier im Freien machst, denn Gott
ist nicht Sklave unserer Minderwertigkeiten. Denke also an
Gott und wir werden dir dabei behilflich sein.”
Und nun geschah mit mir das, was ich bereits vor
kurzem erwähnt hatte. Nach diesem beeindruckenden Ereignis
verabschiedete sich der Mann von mir, indem er mir Glück
wünschte. Er vertraute mich der Obhut jener glänzenden Dame
an und schickte mich zurück in mein Astralland, wo neue
Aufgaben auf mich warteten.
Die Frau brachte mich zurück zu der Quelle, wo sie mich
vorgefunden hatte, und als sie sich von mir verabschiedete, sagte
sie: „Vergiss nicht, Freund Alonso, dass neue Erkenntnisse auch
neue Möglichkeiten eröffnen und dass neue Möglichkeiten
neue Verantwortung mit sich bringen. Du siehst, dass höhere,
segensreiche Wesen über ihre weniger entwickelten Geschwister
wachen und für sie Sorge tragen. Jener Bruder, mein lieber
Freund, hat dein historisches Album in seinen Händen, das aus
ältesten Zeiten stammt, als er dein angebeteter Heiliger in einer
Kultur war, von der die Geschichte der Menschheit nicht die
geringste Kenntnis hat.
„Wie war denn sein Name”, fragte ich interessiert. „In
den Augen Gottes, sagen wir einmal so, wird das Wesen nach

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Wiedersehen im Himmel

seinem moralisch-intellektuellen Ganzen und nach seinen in


die Praxis umgesetzten Fähigkeiten beurteilt. Ein Name? Wozu
noch ein Name für einen, der schon so viele hatte, von denen
er einige geehrt und andere nicht geehrt hat? Ich sage nur, dass
er ein Akteur des planetarischen Christus war, der in jenen
fernen Tagen der Menschheit ordnungsgemäß und getreu seine
Aufgabe erfüllt hat. Und dass du ihn mehrere Generationen
und Inkarnationen hindurch als Christus verehrt hast.”
„Es ist sehr interessant, das zu erfahren”, antwortete ich
darauf. „Wäre es ein Fehler, ihn für den planetarischen Christus
selbst zu halten?”
Die glänzende Dame lächelte und von ihren sanften
Augen ging eine Art Einladung aus, zu tieferen Begriffen der
reinen Liebe vorzustoßen. Mit ihrer herrlichen Stimme aber
sprach sie: „Der sitttliche Sinn der Handlung macht ihre Würde
aus; wer also sein Denken auf einen höheren Punkt richtet,
muss das Gedachte auch zu leben versuchen. Keiner hat das
Recht, auf eine Weise zu erkennen und auf eine andere Weise zu
handeln, wenn es um grundlegende Verpflichtungen geht. Du
kannst sicher sein, dass du, als du ihn angebetet hast, als ob er
Christus selbst wäre, in dem Bruder Christus selbst angebetet
hast. Schlimmer sind diejenigen, die von Gott reden und
Christus persönlich anrufen, gleichzeitig aber aus sektiererischen
oder persönlichen Gründen usw. ihre Brüder beleidigen. Die
Erde der im Fleische Lebenden und die Erde der nicht im
Fleische Lebenden sind voller Wesen, die noch lange ihren
persönlichen Christus in der Gestalt vieler seiner Dienstboten
aller Graduierungen anbeten werden. Wichtig ist vor allem,
nie mit der reinsten Logik in Konflikt zu geraten, die der
WAHRHEIT selbst immanent ist oder sich von ihr ableitet.”

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Osvaldo Polidoro

Ich fragte nun: „Was ist die WAHRHEIT in diesem


Sinne?” „Gibt es etwa in einem Industrieunternehmen keinen
Unterschied zwischen dem sozialen Rang des Direktors, des
Chefingenieurs, der Untergebenen, der Arbeiter untereinander?
Natürlich gibt es ihn. Und doch, mein Freund, handeln alle
Beteiligten auf ein Ziel hin und bilden ein harmonisches
Ganzes. Alle verdienen sie Respekt bei der Ausübung ihrer
Aufgaben. Der Direktor und seine leitenden Angestellten
würden niemals selbst die Produktion übernehmen, während
die Arbeiter nicht in der Lage wären, den Sinn der Produktion
festzulegen. Daher verdient jeder seine Ehre je nach der Größe
seines kollektiven technischen oder administrativen Einflusses
usw. Unter Gott sind alle nichts als Angestellte und jeder
verdient unseren Respekt auf der normalen Ebene seiner
Aktivität. Auf den unteren Ebenen des Lebens, mein Freund,
fehlt dieser Respekt gegenüber dem Arbeiter; aus Gründen der
Zugehörigkeit zu einer Rasse, einer politischen Richtung, einer
Sekte, einer Religion, einer Hautfarbe oder wegen Grenzen
usw. werden Feldzüge gegen Menschen geführt, die das Gute
tun und alles im Namen Gottes und seines Christus ausführen.
Sieh dir doch nur mal genau an, was auf religiösem Gebiet
geschieht, mein Bruder.”
Und als sie dies gesagt hatte, entschwand sie meinen
Augen.

*****

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Wiedersehen im Himmel

In Erwartung eines Auftrags

Als die Frau aus meinem Blickfeld verschwunden war,


verließ ich die Quelle. Mein Kopf war voller erhabener
Gedanken. Nun wollte auch ich mit derselben Liebe und
Hingabe dienen, die ich empfangen hatte. Deshalb ging ich
mit der Absicht zu meiner Wohnung zurück, einen Auftrag
zu suchen. Da ich nicht den erwähnten Führer aufsuchen
wollte, fragte ich einen Mitbewohner, welche Aufgabe wohl
seiner Meinung nach die geeignetste für mich wäre. Und dieser
Freund sprach zu mir: „Offensichtlich wartet jemand auf deine
Äußerungen. Du kannst sicher sein, Alonso, dass dieser Urlaub
auch zum Programm gehört. Bleib also ruhig und verhalte dich
so einfach wie möglich.”
„Eigentlich möchte ich gern wissen, was ich am
besten tun sollte. Ich möchte nicht irgendeine Arbeit. Ich
möchte eine Aufgabe bekommen, die für mich eine Art
Wiedereingliederung bedeutet. Ich habe stets sagen hören, dass
die Wiedergutmachung dem begangenen Fehler entsprechen
muss. Wenn dies also dem Willen der höchsten Gerechtigkeit
entsprechen sollte, würde ich mich am liebsten in einem
moralisch-intellekktuellen Bereich betätigen.”
Darauf antwortete mir jener Mann: „Es ist stets
angebracht, für alle Zwecke gerüstet zu sein. Wie ich dir schon
gesagt habe, mein lieber Freund Alonso, da du bei einem
Auftrag versagt hast, bei dem es um die Zusammenarbeit
mit Millionen Menschen ging, die in einem Programm zur
Erneuerung des menschlichen Denkens tätig sein sollten,

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Osvaldo Polidoro

empfiehlt es sich, die Mitteilung von jemandem abzuwarten,


der dir auf der Spur ist. Ich bin sicher, dass dies geschehen
wird, denn du bist in die Pflicht genommen, du wirst deinen
Teil erledigen müssen. Die Tatsache, dass du auf den unteren
Lebensebenen gelitten hast, bedeutet noch nicht, dass deine
Aufgabe erfüllt ist ...”
„Daran hatte ich noch nicht gedacht”, erwiderte ich,
während mir andere Dinge durch den Kopf gingen. Und der
gute Freund erklärte mir weiter: „Eigentlich bist du, deiner
Sachkenntnis entsprechend, allein für das moralische Versagen
aufgekommen; die Wiedergutmachung des konkreten oder
technischen Versagens liegt aber über kurz oder lang in der
Ausführung des Auftrags. So ist es auch in meinem Fall
gewesen...”
„In deinem Fall”, warf ich ein und versuchte ihn
darüber zum Sprechen zu bewegen. „Ja”, fuhr er fort, „so
war es auch in meinem Fall, und ich habe nicht nur einmal
versagt, sondern zweimal. Aus Gründen, die mit der Welt des
Fleisches zusammenhängen, aus Fanatismus und Aberglaube
habe ich zweimal den Dienst an der geistigen Verbesserung
der Menschheit verweigert, und indem ich mit der Ebene des
Dunkels zusammengearbeitet habe, tat ich im Gegenteil alles
zugunsten der Stagnation. Du weißt ja, dass die neue Phase
des Spiritismus mit seiner Vorbreitungszeit bis in die Tage
der Jungfrau von Orleans zurückreicht. Und da ich mehrmals
zusammen mit anderen Gestalten der Revolution auf die Erde
zurückgekehrt bin, habe ich stets mein Möglichstes getan, die
Sache des Herrn zum Scheitern zu bringen, obwohl ich meinte,
damit dem Herrn zu dienen.”
„Dann befinde ich mich hier also in Gesellschaft eines

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Wiedersehen im Himmel

erfahrenen Meisters”, erwiderte ich darauf. „Und du kannst mir


also wahrscheinlich von großer Hilfe sein...”
„Wie denn, Freund Alonso, wenn ich selbst noch meinen
Dienst schulde?”, unterbrach er mich. „Noch habe ich selbst
nicht meine Aufgabe erfüllt. Ich warte noch auf eine Gelegenheit
... Ich denke, dass ich wieder auf die Welt zurück muss, um
dort meine Pflicht zu tun. Ich habe das Gefühl, dass es mir
unmöglich ist, meine Lage zu verbessern und in der Hierarchie
aufzusteigen, wenn ich nicht vorher meinen Beitrag zum Wohl
der andern leiste.”
„So ist es! So ist es!”, bestätigte ich freudig seine Worte,
ohne im Grunde zu wissen, warum ich es tat. „Aber wer hat
dir denn das gesagt?”, fragte mich der gute Freund. „Gott”,
antwortete ich darauf entschieden, so überzeugend wie nur
möglich. „Um seines heiligen Namens willen, mach bloß keine
Späße mit so ernsten Dingen!”, sagte der Mann darauf, der
zwar seine Schwierigkeiten im Leben hatte, sich mir gegenüber
jedoch freundlich erwies.
In meinem Innersten nährte ich die Überzeugung, dass
etwas Wichtiges bevorstand, dass irgendjemand in unserem
höchsten Interesse ein Erneuerungsprogramm vorbereitete. Ich
hielt es deshalb für angebracht, die Frage nicht weiter mit
meinem Freund zu diskutieren. Ich wollte mich ganz an die
Entscheidungen der Führung halten. Früher oder später würde
mir bestimmt jemand sagen, was zu tun sei. Ich würde bestimmt
nicht für immer ohne Auftrag und somit untätig bleiben, denn
ich wusste nur zu gut, dass ein Geist ohne Auftrag, ohne
Führung und ohne Programm weder glücklich sein noch sich
auf dem Weg zu höheren Ebenen befinden kann...
Da sich der Freund auf den Weg machte, um seinen
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Osvaldo Polidoro

Pflichten nachzukommen, begleitete ich ihn bis zu einem Platz,


wo sich abends Freunde und Verwandte trafen, Geschöpfe,
die sich wie auf Erden gegenseitig wohlgesinnt waren. Denn
die irdischen Sitten und Gebräuche herrschen auch auf dieser
Seite in viel höherem Maße vor, als es sich ein im Körper
lebender Mensch vorstellen könnte. Wie sollten wir auch allein
auf das Wissen gestützt höhere Ebenen ersteigen und wo und
wie könnten wir leben, wenn uns die entsprechende Umgebung
fehlen würde? Die göttliche Weisheit verfügt über alles mit
ihrem allumfassenden Wissen und gerade deshalb gibt es im
doppelten Äther der Erde so viele weitere Erden, sodass es nie
an Wohnungen für alle fehlen wird, die jeweils den Verdiensten
des Einzelnen entsprechen.
Was aber das Wissen, den Glauben an Gott und seine
Gesetze angeht, muss ich wiederholen, dass dies allein nicht
genug ist. Ohne praktische Zeugnisse macht es nicht mehr
als einen relativen Teil aus. Ich war mir deshalb sehr wohl
bewusst, dass ich zwar viele Kenntnisse über den Spiritualismus
besaß, dass mir aber die Praxis fehlte. Es war also an der Zeit,
dieses Material anzuwenden, denn sein Besitz allein würde
mir wenig nützen, nachdem ich diesen Zustand des Friedens
und Wohlbefindens zurückgewonnen hatte. Die Ebenen des
Schmerzes sind voll von Weisen, die die Dinge des Geistes
kennen. Mit allen religiösen Schattierungen der Welt betitelt
stöhnt jedoch ihr praktischer Undank in scheinbar endlosen
Abgründen. Ich selbst hatte Kenntnis von dieser Wahrheit und
brauchte daher nichts weiter als traurige Erinnerungen, um die
Wahrheit in diesem Sinne ganz zu meiner Verfügung zu haben.

*****

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Wiedersehen im Himmel

Ende des Urlaubs

Wie erwartet ging mein Urlaub nach zwei Wochen zu


Ende. Ein Mann, der zur Verwaltung der Stadt gehörte, suchte
mich auf, um mir Folgendes mitzuteilen: „Herr Alonso, das
leitende Organ hat mich mit der Einladung zur Übernahme
einer Aufgabe zu Ihnen geschickt. Sollten Sie diese annehmen,
verbleiben Sie weiterhin in dieser Gegend, lehnen Sie diese
jedoch ab, müssen Sie sich unbedingt von hier entfernen.”
Hatte ich damit gerechnet? Niemals! Da ich jedoch
meine geistige Kraft, die mich als einzelnes göttliches Teilchen
auswies, behalten hatte, musste ich mich wohl oder übel auch
dieser kühlen oder pragmatischen Lagebeschreibung stellen.
Wer sich als göttliche Emanation versteht und in sich die
himmlische Grundlage und die himmlischen Ziele anerkennt,
hat auch die Pflicht, mit entsprechender Distinktion zu
handeln. Den okkultistischen Büchern habe ich die Lehre
entnommen, dass alles, was auf der manifesten Ebene existiert
und von dessen Dasein wir praktische Kenntnis haben, genau
den göttlichen Gründen seines Ursprungs entspricht. Es war
demnach nicht mehr als recht, dass man mir sagte: „Arbeite
oder verlasse das Haus.”
Ich antwortete deshalb dem Gesandten der Führungsebene
mit diesen Worten: „Sehr wohl, mein Herr, ich gebe
zu, dass die Behörden ihre Gründe haben. Ich habe ein
bisschen ausgespannt, während ich als Geist, der versagt hatte,
in Wirklichkeit sofort und mit aller Entschiedenheit eine

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Osvaldo Polidoro

Anwendung meiner Fähigkeiten hätte suchen sollen.”


Da sich der gelassene Gesandte in Schweigen hüllte, hielt
ich es für angebracht in diesem Sinne fortzufahren: „Die Leitung
möge mir eine Arbeit zuweisen, denn ich fühle wohl, dass ich
handeln muss, ohne jedoch zu wissen wie, wann und wo.”
Der ruhige Mann schüttelte nun den Kopf und bemerkte:
„Es ist schlimm, wenn man bei einer Prüfung versagt hat, für die
man alle Voraussetzungen hinsichtlich der Mittel, der Kenntnisse
und der bedürftigen Umgebung mitgebracht hatte.”
Wieder einmal musste ich einsehen, dass das sittliche
Verständnis des Versagens zu ernsthaften Schwierigkeiten
führte, die es zu überwinden galt. Statt eines brüderlichen
Arbeitsangebots stellte man mich nun vor die Alternative,
zu arbeiten oder das Land zu verlassen. Da ich mir meiner
Fehler in der Welt bewusst war und die Last des Gesetzes
spürte, das einen gerechten Ausgleich verlangte, kam mir ein
heilsames Arbeitsprogramm in den Sinn, in dessen Verlauf ich
mit strengem persönlichem Fleiß jene mich belastenden Fehler
wieder gutmachen könnte. Allerdings wusste ich weder wie ich
mich anbieten, noch wie ich mich durchsetzen sollte.
„Wollen Sie einen Rat von mir?” fragte der Mann
schließlich, und da ich seine Worte mit Erleichterung vernahm,
antwortete ich umgehend: „Ihre Einladung ist für mich ein
Segen Gottes. Was immer es sein mag, ich nehme es an, denn
ich weiß, dass trotz der Strenge des Gesetzes allein die Erhebung
der Geschöpfe das Ziel ist.”
Nun gab er mir zu bedenken: „Selbst die Gerichte
auf Erden gehen bei ihrem Urteil von der Sachkenntnis des
Missetäters aus. Und Sie haben ihr großes Wissen nur dafür

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Wiedersehen im Himmel

genutzt, eitle Diskussionen mit Freunden und Gläubigen


anderer Glaubensrichtungen zu führen. Ihre Bildung hat nicht
nur im praktischen oder konstruktiven Sinn versagt, sondern
erwies sich geradezu als kriminell. Sie haben sie eingesetzt, um
das Wissen anderer herabzusetzen und die Schlichtheit jener
mit den Füßen zu treten, die oft weniger wussten, aber viel
mehr praktizierten.”
In diesem Moment fühlte ich mich, ehrlich gesagt, völlig
in der Luft schwebend. Das Gefühl eines sittlichen Schmerzes
drang tief in meine Seele ein. Ich fühlte ein Bedürfnis nach Halt,
Stütze, ja fast nach einem Almosen. Und deshalb antwortete
ich mit gesenktem Kopf: „Ich brauche Hilfe. Ich werde dankbar
sein für alles, was du im Sinne einer erlösenden Orientierung
für mich tust.”
„Dann ist es gut”, sagte der Mann, „Ich werde dich
mitnehmen und an den Zuständigen weiterleiten. Ich hoffe,
dass du dich nun dem Allgemeinwohl widmen und dabei
vor allem den bedürftigsten Brüdern beistehen wirst, denn
du weißt sehr wohl, dass nichts Gutes von oben nach unten
anfangen kann, sondern nur von unten nach oben. Vergiss
nie, dass der planetarische Meister zu den Kleinen der Welt,
zu seinen Brüdern allen gekommen ist, und dass er sich nicht
damit begnügt hat, eitle Lehren ohne praktischen Sinn zu
verbreiten.”
Ich wagte nun zu fragen, ob ich in Kürze wieder ins
Fleisch zurückkehren würde, worauf er mir erklärte: „Vorher
aber musst du etwa drei Jahre in edleren Diensten arbeiten,
denn ohne diese Vorbereitung würdest du auf der Welt von der
Last deiner Vergangenheit mitgerissen werden und nur noch
tiefer sinken. Um auf der Welt etwas leisten zu können, Freund

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Osvaldo Polidoro

Alonso, muss dem eine praktische psychologische Vorbereitung


vorausgehen. Einseitiger Intellektualismus, der nur weiß, was
gut ist, hat als konstruktive, glückvolle Antriebskraft keinen
Zweck. Vergiss also nicht, dass du vor deiner Reinkarnation
noch große Möglichkeiten zum Dienen haben wirst.”
„Werde ich dabei in Gesellschaft großer, körperhafter
Spiritisten arbeiten?”, wagte ich einzuwerfen. „Nein, du wirst
großen Leidenden zur Seite stehen, die aus den Tiefen kommen.
Mit deiner natürlichen magnetischen Begabung wirst du die
innersten Wunden der Brüder heilen.”
„Weißt du auch darüber genau Bescheid? Weißt du, dass
ich dafür geübt habe und dass es mir leicht fiel, die natürliche
magnetische Kraft nach außen strömen zu lassen?”
„Auf Erden war ich einst dein Führer oder Schutzengel,
wie andere dies nennen. Was mich angeht, Freund Alonso, habe
ich in allem korrekt gehandelt, habe dir stets die notwendigen
Mittel, Kenntnisse, Gelegenheiten usw. angeboten. So habe
ich meinen Dienst getan, wie es sein sollte, während du dich
im gleichen Maße dem Wissen zugewandt und vom Handeln
entfernt hast, von der Verpflichtung nämlich, der einmal
erworbenen Kenntnis auch zu entsprechen.”
In diesem Moment hatte ich nichts mehr oder nur wenig
zu überlegen. Ich hatte allen Grund, wie ein Tor dazustehen.
Und ich glaube, dass ich diese materielle und moralische Phase
gut überlebt habe, denn ich stand nicht nur irgendeinem
Bruder gegenüber, sondern dem unmittelbarsten, nächsten
Freund in Bezug auf den Austausch von Pflichten. Ich wusste
sehr wohl, dass es stets einen unsichtbaren oder manchmal
zum Teil sichtbaren Mittelsmann zwischen einem körperhaften

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Wiedersehen im Himmel

Wesen und den höchsten Lebensmächten gibt. Nie wäre mir


jedoch eingefallen, dass ich diesem eines Tages gegenübertreten
müsste, um von ihm Worte und Urteile zu vernehmen, die für
mich wie für ihn schmerzlich waren.
Ich vergoss Tränen des Schmerzes. Und auch ihm liefen
sie über das abgeklärte Antlitz, auf dem eine Falte Ausdruck
innersten Schmerzes war. Ich hatte gute Lust, mich vor ihm
auf die Knie zu werfen und ihn für so viel Undank um
Verzeihung zu bitten. Doch dann war er es, der mich bewegt
und nachsichtig umarmte und zu mir sagte: „Ich oder irgendein
anderer hätte vielleicht noch schlimmer gehandelt ... Ich will
nur, dass du siegst, denn dein Sieg wird auf mich und viele
unserer Brüder zurückstrahlen. Da im Leben alle Interessen,
auch wenn sie sich zum Teil unterscheiden, miteinander
verbunden sind, sind wir in Wirlichkeit stets Schuldner
untereinander. Keiner handelt allein richtig oder falsch ... das
ist die strenge Regel.”
„Woher auch immer ein mildernder Umstand kommen
mag, ich werde ihn nicht annehmen. Ich bestehe darauf, alle
mögliche Schuld auf mich zu nehmen, denn keiner hat das
Recht, so undankbar gegen einen Freund zu sein, der so nobel
und hingebungsvoll mit einem umgeht. Was immer ich bewusst
tun kann, werde ich tun, um Verzeihung zu verdienen. Gott
wolle, dass dem so sei!”
„Gott will immer nur das Gute, Freund Alonso,” erwiderte
der gute Mann. „Nur wir, denen das relative Recht zusteht,
gut oder böse zu sein, meinen, dass Gott, einmal hilft und
das andere Mal wieder nicht, uns jetzt einen Gefallen tut und
einen Augenblick später eine Zumutung bereithält. Ich kann
nicht den Höchsten anrufen und ihn bitten, wie es viele tun,

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Osvaldo Polidoro

inkonsequent zu sein. Ich weiß sehr gut, dass Gott in allem auf
eine allgemeine, universelle Art ist, wie er ist. Und da er nach
Gesetzen regiert, muss er auch nach Gesetzen gesucht werden.
Alles andere, mein lieber Alonso, wäre unlogisch.”
„So muss es tatsächlich sein”, warf ich ein. „Wie
könnte Gott oder seine Gerechtigkeit im partikulären Interesse
handeln? Die Gesetze können höchstens auf partikuläre Weise
direkt sein, nie aber wird Gott den Fehler begehen, aus diesem
oder jenem Grunde manchmal die einen zu erhören und die
andern nicht. Wer nach Maßgabe der Werke gibt, hält sich
sicher an Gesetze, und diese Gesetze müssen festgelegt sein und
dürfen nicht in einem partikulären Sinne angewandt werden.”
„Genauso sehe ich es auch”, meinte der gute Mann.
Und erklärend fuhr er fort: „Im Bereich des selbsttätigen
Ablaufs der Reinkarnation und der damit zusammenhängenden
Ereignisse werden die Wesen von ihren eigenen Taten eingeholt,
wenngleich auch die Zeit den Anschein verbergen und die
Umgebung des Wirkens verändern mag. Betrachte einmal uns
beide, mein Freund, die wir seit Jahrhunderten durch ein
moralisch-intellektuelles Band und ernsthafte Verpflichtungen
aneinander gebunden sind, hier treffen wir uns wieder, um
Wege festzulegen und Probleme zu lösen. Vor scheinbar langer
Zeit war ich einmal ein großer Theoretiker, und du, mein
Freund warst mein fortgeschrittenster Jünger. Du hast gut
gelernt, vor allem, viel zu reden und wenig zu tun ...”
Hier hielt er inne, wie um die natürliche Reichweite der
Gesetze in ihren flexiblen, jedoch gerechten Möglichkeiten zu
erwägen. Dann fügte er nachdenklich hinzu: „Könntest nicht
du in deinem letzten Leben im Fleische das Motiv gewesen
sein, dessen sich die höchste Gerechtigkeit bedient hat, um

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Wiedersehen im Himmel

mich nachdenken und leiden zu lassen und auf diese Weise die
Lage wieder ins Gleichgewicht zu bringen? Und in deinem Fall,
Alonso, könnte es nicht sein, dass du zu dem Punkt gelangt
bist, an dem du durch Aufklärung und Leiden selbst wieder
ins Gleichgewicht kommen und dich so auf bessere Tage und
Verhältnisse vorbereiten kannst?”
Er unterbrach sich erneut und gab dann zu bedenken:
„Wer hätte gedacht, dass das der Grund war, warum ich nie
in dein Recht auf freien Willen einzugreifen vermochte, wie
es in anderen Fällen oft geschieht, wenn der Schützling auf
einen besseren Weg gebracht werden kann? Denn immer wenn
ich versucht habe, dich durch Schmerz oder irgendein anderes,
leicht anzuwendendes Mittel zu etwas zu zwingen, kam einer
dazwischen und sagte: ‚Greif nicht zu diesem Mittel ... Lass
ihm seinen Willen ... Gott weiß, was er tut ... Leide zusammen
mit deinem Schützling ... usw.’”
„Und deine Vorgesetzten, haben die dir nie eine
Anweisung gegeben?”, fragte ich darauf. „In der strahlenden
Gegend, wo du warst, hat man dir da je direkt gesagt, was du zu
tun hättest? Ist es nicht vielmehr so, dass sie zwar die Richtung
angeben, nie aber den Weg selbst bestimmen?”
„Wie weißt du das?” - „Ich verfüge über dein Dossier,
aus dem sich die Richtschnur zu deinem und meinem Wohle
ergibt. Doch mehr als ich bereits gesagt habe, weiß ich nicht.
Alles ist irgendwie verschleiert, verschwommen ...”
„Kannst du dich an niemanden halten, der dir
Orientierungen zu geben vermag?” - „Für morgen ist ein
Gespräch mit dem Leiter für Versetzungen angesetzt. Ich
habe jedoch nicht die geringste Ahnung über den Zweck des

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Osvaldo Polidoro

Gesprächs, ob es sich um etwas Persönliches handelt oder um


einen Auftrag, wie gewöhnlich.”
„Und zu wem sollst du mich bringen?” - „Das hängt
davon ab, ob du den Auftrag annimmst. Wenn nicht, musst du
auf eine andere Lebensebene mit schlechteren Voraussetzungen
umziehen. Ich bitte dich jedoch um Gottes willen, nimm den
Auftrag an. Es wäre schrecklich, wenn du es nicht tätest, mehr
für dich selbst als für mich, auf jeden Fall aber brächte es
schmerzhafte Folgen mit sich.”
„Ich verspreche dir größte Treue, mein Herr. Ich stehe
in deiner Schuld, wenngleich du behauptest, dass du zum Teil
direkt der Auslöser von all dem warst. Ich werde alles daran
setzen, ebenfalls zu siegen. Bring mich bitte so schnell wie
möglich zur zuständigen Behörde. Sofort, wenn möglich. Mein
brennender Wunsch ist es, zu arbeiten und zu siegen. Es ist mir
keineswegs unangenehm, in der Vergangenheit den Grund für
die schwierige Lage in der Gegenwart zu erkennen, es gefällt
mir sogar.”
Nun lächelte der Mann zufrieden und bekannte: „Wie
lange hab ich mich vor diesem Treffen gefürchtet! Ich machte
mir Sorgen wegen deines Denkens und wegen meiner Ignoranz,
wegen der vielen Kenntnisse, die mir fehlen. Das Dunkel,
das mir die Erkenntnis gewisser Wahrheiten verbirgt, ängstigte
mich. Jetzt aber, wo ich um deinen guten Willen und deinen
Wunsch zu siegen weiß, lösen sich die meisten Vorurteile auf
und werden belanglos.”
Ich gab zu bedenken: „Gott verschließt dem, der will,
nie den Weg.” Und er ergänzte: „Was mich betrifft, weiß ich,
dass Gott weder verschließt noch öffnet, denn in Gott und für

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Wiedersehen im Himmel

Gott, mit Gott und bei Gott ist alles, wie es ist, nach einem
unabänderlichen Grund. Wenn wir sagen, dass etwas durch das
besondere Eingreifen Gottes geschieht, handelt es sich lediglich
um Reaktionen auf unser Tun, die nach den geltenden Gesetzen
erfolgen, in die Wesen und Ereignisse eingreifen oder zum
Eingreifen veranlasst werden. Als das Heilige und als innerster
Akteur steht Gott weit über unseren falschen Vorstellungen.
Das zeigt sich allein schon daran, Alonso, dass wir äußerst
relative Gesetze und ihre Folgen verkennen. Wie wollen wir
dann das höchste Gesetz selbst erkennen?”
Ich erinnerte mich meiner auf der Erde erworbenen
Kenntnisse, die ich mir dadurch angeeignet hatte, dass ich alles
las, was Offenbarungen betraf. Und da ich Unstimmigkeiten
zwischen Theorie und Praxis befürchtete, stammelte ich: „Die
Glaubensrichtungen auf der Welt mögen in ihren großen
Zügen zwar stimmen, aber von hier aus betrachtet sieht das
praktische Panorama ganz anders aus ... Dein Fall zum Beispiel
gibt mir viel zu denken. Denn obwohl du relativ friedlich
lebst, auf einer Ebene der Gerechtigkeit wohnst und viele
Ursachen kennst, bist du weiterhin Sklave einer Situation,
die sich aus deinem Tun ergeben hat, weil du frei gedacht
hast, wie du konntest oder wolltest. Scheint es hinsichtlich
der Religionen auf der Welt, die alle mit Wundern, Vergebung
und Vergünstigungen ausgeschmückt sind, nicht, dass sich ein
solcher Geist, dem all dies bewusst ist, von so viel Selbstbetrug
befreien müsste? Wo ist denn nun der partikuläre Gott
der merkantilistischen Religionen mit ihrem hierarchischen
Aufbau? Wo sind die verkäuflichen Himmel? Wo ist die
Vergebung? Wo ist der Zorn Gottes, von dem die Alten
sprachen? Wo ist die totale Freiheit der Wesen, wie sie die

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Osvaldo Polidoro

Pantheisten des Ostens predigen? Wo ist die Macht des Geistes,


die über die grundlegenden Gesetze triumphiert?”
„Auf jeden Fall regiert Gott die Welt der Wesen und
Dinge nach Gesetzen”, warf der gute Mann ein. „Und nach
Gesetzen müssen die Menschen siegen oder scheitern. Nie
wurde mir Gelegenheit gegeben, anders als so zu denken, seit
ich mich auf dieser Seite des Lebens befinde. Gesetze und
immer wieder Gesetze, Gott sei Dank! Und nie habe ich
von einem Gesetz gehört, dass Gott als einen Partikularisten
offenbart hätte. Die Gesetze sind stets allgemeiner Natur, und
wer einem von ihnen entspricht, wird von ihm bestimmt.
Wer sich also verbessern will, sollte versuchen, besseren und
erhabeneren Gesetzen zu entsprechen. Der Rest ist Trug, nichts
als Trug. Der Mensch wird immer genau in der Umgebung
leben, die er sich bereitet hat, indem er nach diesen oder jenen
Gesetzen gelebt hat.”
Ich fühlte mich von einer fremden, hohen Macht zu
folgender Bemerkung angetrieben: „Glücklich sind die, die viel
lieben.”
„Gott sei Dank!” rief da eine junge, schöne Gestalt, die
neben uns sichtbar wurde. Und der gute Mann warf sich ihr in
die Arme, weinte vor Freude und rief aus: „Meine Schwester!
Lourdes! Wie bist du voller Gnaden!”
Nachdem der erste Schock vorüber war, stellte er mich
vor: „Das ist Alonso, ein Freund und Gefährte in Glück und
Unglück.” Und sie antwortete: „Ich weiß Bescheid. Ich stehe
schon lange hier bei euch. Außerdem weiß ich, wie es um uns
alle seit langer Zeit steht. Ich gehöre auch zu dieser Gesellschaft,
in Glück und Unglück. Und da Gott für alle das Beste will,

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Wiedersehen im Himmel

wird von heute an ein neuer, lichtvoller Tag für uns aufgehen.”
Meine Seele jubelte auf, mein ganzes Sein vibrierte
angesichts dieses erhabenen Ausdrucks von Spiritualität, die
in einem Wesen personifiziert war, von dem ich spürte, dass
es mir, meinem Schicksal und meinen tiefsten Interessen sehr
nahe stand. In jener Gegend voll himmlischen Glanzes, die ich
besucht hatte, war alles gut, größer, zu groß gewesen, sodass ich
mich eher übel als wohl gefühlt hatte. Und diese junge Frau mit
ihren faszinierenden geistigen Tugenden, schön wie ein Engel,
schien die Macht zu haben, die schmerzenden Wunden der
Seele zu lindern.
Man kann wohl sagen, dass der Himmel als Ganzes
unser Leben verwirren würde. Damit wir uns angesichts der
WAHRHEIT wohlfühlen können, ist es notwendig, dass sie
sich in kleinste Teilchen auflöst und sich uns in zarten Nuancen
darbietet, denn nur so können wir sie assimilieren oder in uns
aufnehmen. Und da Gott in seinen Gesetzen viel gerechter
vorgeht, als wir uns vorstellen können, stand hier nun diese
Gestalt, die unsere Wege erleuchten sollte. Schon lange war
mir bewusst, dass Gott oder andere hohe Instanzen nie direkt
eingreifen. Schon lange wusste ich, dass zwischen ihnen und
den von ihnen Geführten verzweigte Glieder ausgedehnter
Hierarchien liegen, Wesen, die sich auf dem Weg zu höheren
Lebensebenen befinden, und die dahin gelangen, indem sie
anderen dienen, so wie uns in diesem Falle. Gerade deshalb
stößt mich das ganze Gehabe auf der Welt mit ihren beiden
Ebenen ab, diese engstirnige Frömmelei, die Gott mit ekliger
Bigotterie zu vereinnahmen trachtet, während sie die Galle der
schlimmsten und unchristlichsten Verhaltensweisen über den
Nächsten ergießt.

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Osvaldo Polidoro

Ich erwartete also eine Welt von Dingen von jener jungen
Frau, die nichts anderes war als ein gut dosiertes Stückchen
Himmel. Sie sollte wie ein Stein auf dem Weg eines Franz
von Assisi sein ... eine Schwester, die einem dient und die
man bedient. Deshalb vernahm ich dankbar ihre Worte, als
sie sagte: „Begleitet mich!” Und noch ehe ich mich versah,
befand ich mich auf dem Weg in eine schöne Gegend, zu einem
einfachen Platz, verzaubert von himmlischer Ruhe. In die Luft
aufzusteigen, von höherer Kraft angetrieben zu reisen - allein
ihr Wille war genug, um dies zu veranlassen. Nicht dass mir
dies schwer fiele, aber dieses Mal geschah es, ohne dass ich es
gewollt hätte, und dabei atmete mein ganzes Herz reinen Trost,
süße Hoffnung und starkes Vertrauen. Sie war wie jemand, der
Gewicht hatte auf der Waage der alten Schätze meiner Seele.
Und ich spürte dies.
„Wie findet ihr diesen Ort?”, fragte sie, indem sie den
Blick rundum über die Erhebungen schweifen ließ und ihn
dann auf den weiten, von Tälern und Bergen eingerahmten
Horizont richtete.
„Allein schon die Landschaft spendet meiner Seele Trost”,
antwortete mein Freund entzückt. Und ich antwortete ihr:
„Hier herrscht ein Friede, der sich nicht mit anderen, die ich
kenne, vergleichen lässt, Frau Lourdes. Hier muss ich schon
einmal gelebt und geträumt haben, in dieser Wiege muss
ich geschlafen haben. Mein Sein scheint hier zu sich selbst
zurückzufinden, meine Seele scheint angesichts dieser Aussicht
zu ihrem natürlichen Zustand zurückzukehren. Du wirst mir
sicher erklären, was das bedeuten soll.”
„Ja, ja ...”, meinte sie zögernd. Und da ich sie besorgt
sah, räumte ich ein: „Wenn du es nicht sagen darfst ...” - „Alles

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Wiedersehen im Himmel

hängt nämlich von deinem Wunsche ab, von deinem Willen,


einen erlösenden Dienst anzunehmen”, fügte sie hinzu. „Du
hast trotz Sachkenntnis geirrt, und das bedeutet, dass du deine
Fehler entschieden und willentlich wieder gutmachen musst.
In dem Maße, in dem du Wiedergutmachung leistest, wirst
du es verdienen, dass sich die Vergangenheit vor deinen Augen
öffnet, bis du wieder ganz zu dir selbst in deinem optimalen
Zustand zurückgefunden hast.”
Ein Anflug von Traurigkeit und sittlichem Schmerz kam
über mich, als sie diese Worte sprach, die ja einem Urteil oder
eben seiner Überbringung gleichkamen. Und so sprach ich
denn ehrfurchtsvoll zu ihr: „Ich weiß, dass du gemäß der tiefen
Verkettung von Ursache und Wirkung die Mittlerin zwischen
der göttlichen Gerechtigkeit und meinen Verfehlungen bist.
Ich bitte dich daher, dieses mein gläubiges Bußbekenntnis zu
berücksichtigen: Ich will meinem Nächsten dienen, mag es
mich kosten, was es wolle, denn ich weiß, dass ich nur so, auf
diesem Kreuzweg, Gott dienen und mich von meinen Fehlern
freimachen kann. Nimm diesen Wunsch nach Erlösung an und
lass deine Ratschläge zu hohem Befehl für mich werden.”
„In dieser Gegend mit ihren sich ändernden
Umweltbedingungen, das heißt, mit ihrer geringsten und
höchsten Ausdruckskraft, hast du deine besten Tage als
bewusstes Wesen zugebracht. Wie du weißt, ist jeder Himmel
oder jede Schicht in vier Zonen aufgeteilt. Du kehrst also auf
jene Verdienstebene zurück, Alonso, von der du viele, viele
Jahre entfernt warst. Ich hoffe nur, dass du, wie du versprochen
hast und ich dir auch glaube, das durch Verdienst erreichst, was
dir im Voraus geschenkt wurde.”
„Ich fühle dies wohl, Frau Lourdes.” - „Nenne mich nur

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Osvaldo Polidoro

noch Lourdes, denn schließlich war ich schon einmal deine


Tochter und du mein übrigens äußerst guter Vater ...”
Ich will und brauche nicht zu erzählen, wie erhaben so
ein Wiedersehen ist, denn alle können sich dies vorstellen.
Unsere Seelen verschmolzen in einem glücklichen Weinen,
das unser jeweiliges Ich mit den zartesten, reinsten Gefühlen
einwiegte.

*****

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Wiedersehen im Himmel

Alte Freundschaften

Nachdem ich Lourdes in ihre Wohnung begleitet hatte,


die nun unsere geworden war, lernte ich dort ihre Eltern und
Verwandten kennen und schloss Freundschaft mit ihnen. Da
war auch ein junger Mann, der in Lourdes verliebt war und
im Hause verkehrte, während er an seiner Lebensgeschichte
webte und sich auf neue Wiedereintritte ins körperliche Leben
vorbereitete, wo seinen Träumen sicherlich der Segen von oben
zuteil würde.
Und da der Tröster auf beiden Ebenen weiter die religiöse
Einigung bewirkte, kam ihnen die Aufgabe zu, die Bitten
von Verwandten entgegenzunehmen, die in der Welt des
Fleisches lebten und in ihrer Not beim Spiritismus Zuflucht
gesucht hatten. Die Nachricht hatte die zuständige Ebene
erreicht und ihre Bitten waren erhört worden. Und die höheren
Instanzen kamen ihrer Pflicht nach, indem sie ihnen Mittel und
Arbeitsmöglichkeiten zukommen ließen, nicht ohne vorher
im intelligenten Bereich nach verwandten Wesen gesucht zu
haben, das heißt nach Geschöpfen, die historisch, moralisch
und intellektuell untereinander verbunden waren.
Gleich zu Beginn wurde ich in großen Zügen in diese
Umstände eingeweiht, und der ehrwürdige Mann, der während
seines letzten Aufenthalts auf Erden die Rolle des Vaters von
Lourdes innegehabt hatte, sagte zu mir: „Was du während
deines vergangenen Lebens geistig nicht getan hast, nämlich
informative Gaben zu verteilen, wirst du jetzt durch praktische,

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Osvaldo Polidoro

zuweilen durchaus harte Übungen zu leisten haben. Da es aber


in allem und für alles im Leben, hier oder anderswo, für diesen
oder jenen Zweck, stets ein natürliches Vorgehen gibt, bin ich
überzeugt, dass du mit einer gewissen Einfachheit alles gut
verrichten wirst.”
Als ich dann am nächsten Morgen aufwachte, konnte ich
ihnen einen herrlichen Traum erzählen. Doch Herr Rogério
lächelte mir verständnisvoll zu, als ob er das alles schon im
Voraus wüsste. Und als ich sah, dass auch die Übrigen alle mehr
oder weniger Bescheid wussten, schwieg ich lieber.
„Sprich ruhig, Alonso, denn aus deinem Bericht werden
wir auf den Zustand deiner Seele schließen können und
erfahren, wie es um deine seelische Bereitschaft steht, bestimmte
Pflichten zu übernehmen.”
Nachdem Herr Rogério dies gesagt hatte, berichtete ich
ihnen also Folgendes:
„Es war ohne Zweifel ein wunderbarer Traum, obwohl er
manchmal von merkwürdigen, leidlichen Ereignissen begleitet
war. Ich kann mich gut erinnern, dass ich von einem robusten,
großen Mann aufgesucht wurde, der ein fröhliches Gesicht
zeigte und einen durchdingenden Blick hatte; seine Stimme,
die von einem regelmäßigen, tiefen Klang war, drang mit einem
väterlichen Tonfall an mein Ohr. Dieser Mann sagte zu mir:
„Lass uns eine Wanderung durch deine Geschichte
machen! Da kannst du viele interessante Dinge erfahren.”
Angesichts seiner freundschaftlichen Haltung gab ich ihm zu
verstehen, dass ich einverstanden sei. „Tun wir dies! Aber wie
soll das geschehen, werden wir viel lesen müssen?”
Er lächelte und erklärte: „Nein, viel mehr als wir wissen

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Wiedersehen im Himmel

weiß Gott, oder meinst du nicht?” Ich antwortete: „Natürlich,


doch dürfen wir nicht das, was Gott weiß und kann, mit dem
verwechseln, was wir wissen und können. Wir können und
sollen höchstens Gott vertrauen ...”
„Meine Prinzipien sind anderer Art, lieber Herr Alonso
...” - „Kennst du mich denn?” - „Ja, ich kenne dich, doch geht
es mir mehr um die Prinzipien als um einzelne von uns. Die
Prinzipien erlauben uns, die ganze Menschheit zu erreichen,
und zwar viel leichter, als wenn wir versuchen, dies durch
eine Person, durch irgendeine Person zu bewerkstelligen. Ein
Leben im Vertrauen auf Gott, Freund Alonso, heißt das Leben
vergeuden. Das ist nicht die rechte Weise zu denken und zu
handeln, denn Gott will, dass wir genug wissen, um in der
Lage zu sein, in jeder Hinsicht als Kanäle oder Filter seiner
Unendlichkeit zu dienen.”
Während er so sprach, geschahen sonderbare Dinge,
denn die Umgebung wechselte in einem fort. Er aber sprach
weiter: „Die führenden Geister der Galaxien und Systeme,
der Planeten und der Völker zahlloser Welten gehören nicht
zu denen, die nur auf Gott vertrauen. Sie kämpften immer
weiter für mehr Kenntnisse und Vervollkommnung jeder Art.
Das Gottvertrauen hat zwar ein bestimmtes Gewicht auf der
Waage der positiven Tugenden, es ist aber nicht alles. Mehrere
Faktoren müssen da zusammenkommen. Unsere Aufgabe,
Freund Alonso, besteht also darin, mit Vetrauen zu arbeiten, zu
forschen und stets fortzuschreiten.”
Wir waren inzwischen an einen einsamen, öden Ort
gelangt, von dem aus man auch das Meer sehen konnte.
Überrascht sagte ich: „Mein Freund, das ist ja die physische
Erde! Diese dichte, neblige Atmosphäre ...”

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Osvaldo Polidoro

„So ist es! Na und ...”, meinte er, indem er seine breiten
Schultern einzog. - „Eigentlich nichts Besonderes ... Ich verstehe
nur nicht, wie wir hierher gekommen sind. Ich habe überhaupt
nichts vom Weg gemerkt.”
„Das ist auch weiter nicht wichtig”, erwiderte er. „Man
kann auf vielen Wegen und verschiedene Weisen hierher
kommen. Wichtig ist allein, dass man stets gut ankommt,
wenn man will oder kann.”
„Was ist denn das für ein Kontinent?” - „Asien. Die
materielle Heimat des göttlichen Meisters.”
„Darf ich fragen, warum wir hierher gekommen sind?”
- „Habe ich dir je verboten zu fragen, was du willst?” - sagte
er bescheiden. - „Nein, aber dieser Traum gefällt mir nicht
besonders”, gab ich zu bedenken und war mir dabei durchaus
bewusst, dass es an meinem außerkörperlichen Zustand lag,
wenngleich mein Körper ja der eines Entkörperten war, ein
perispritaler Körper.
„Weißt du, dass du träumst?”, fragte er überrascht. -
„Ich für meinen Teil bin mir ganz sicher, dass ich an dem
astralen Ort, von dem du mich hinweggeführt hast, einen
Körper im Bett zurückgelassen habe”, antwortete ich mit voller
Überzeugung.
„Kehren wir also unverzüglich in unsere Gegend zurück”,
sagte er darauf, „denn es gibt viel zu tun. Folge mir bitte!”
Er hätte nicht zu bitten brauchen, denn ich wollte sowieso
zurückkehren, und außerdem hatte er mich derart in seiner
Gewalt, dass ich ihm auch dann gefolgt wäre, wenn ich es
nicht gewollt hätte. Im selben Augenblick kehrten wir wieder
triumphierend an unseren Ausgangspunkt zurück. Da ich mich

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Wiedersehen im Himmel

frei, erhöhter, durchdringender und klarer fühlte, hielt ich es


für angebracht, ihm zu sagen: „So möchte ich mich immer
fühlen. Wäre das nicht möglich?”
„Im Augenblick weiß ich das nicht, mein Freund. Es
handelt sich nicht etwa um eine Unmöglichkeit, sondern es
hängt von deinen Verdiensten ab, das heißt, von dem, was dir
in diesem Turnus zusteht. Du weißt ja, dass unsere Körper
mehr oder weniger grob sein können. Und wenngleich es
unterschiedliche Mittel und Wege gibt, ist der Vorgang doch
immer der gleiche: die Rektifikation. Es gibt keine Wunder im
Werke Gottes, denn es sind immer die Gesetze, die alles lenken.
Du musst wieder in deinen dichteren perispiritalen Körper
zurückkehren und alles daransetzen, um ihn durch würdigende
Werke und höhere Bezeugungen zu sublimieren.
„Ich stimme dir völlig zu”, sagte ich. „Begeben wir uns
nun zu meinem Körper?”
„Nein, schlagen wir diesen Weg hier ein ...”, meinte er und
führte mich in ein großes Haus, das mitten in einer einsamen
Gegend lag und nur von ausgedehnten Seen umgeben war, auf
deren Wassern sich zauberhaft die Mondstrahlen spiegelten. Als
wir dort ankamen, stellte er mich einem Hausangestellten vor
und sprach zu mir:
„Dieser Herr, Freund Alonso, wird dir helfen, wenigstens
so weit in die Vergangenheit zurückzukehren, dass dir gewisse
Wahrheiten bewusst werden.” - „In welchem Sinn?”, fragte
ich halb neugierig, halb misstrauisch.” - „Es ist nichts als ein
Rückblick. Wir setzen diese Methode ein, wenn der Geist noch
nicht reif genug ist, um diese Erfahrung durch andere Mittel zu
erreichen.”

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Osvaldo Polidoro

„Wird er mich zum zweiten Mal einschläfern?”, fragte


ich und hatte gute Lust zu lachen, da ich daran dachte,
dass ich bereits einen auf mich wartenden Körper im Bett
zurückgelassen hatte.
„Nein”, antwortete er freundlich, schien aber doch etwas
vor mir zu verbergen.
„Dann tut, was ihr für das Beste haltet”, erwiderte ich.
„Ich möchte nur wissen, wohin das alles führen wird. Da ich
nicht weiß, was ihr vorhabt, kann ich euch auch nicht behilflich
sein, soweit dies überhaupt in meiner Macht stehen sollte.”
„Es handelt sich um einen noblen Zweck, wenngleich es
um innerste Dinge geht, die dich ganz bestimmt interessieren
werden. Lieber Alonso, du musst dich dieser Prüfung aus zwei
Gründen unterziehen wollen: Der eine geht das Gefühl an
und der andere ist technischer Natur. Zum einen wirst du
jemandem begegnen, der deinem Herzen teuer ist, zum andern
wirst du Gelegenheit haben, ein prophetisches Gesetz Christi
zu erfüllen, das heißt, einem bestimmten Sinn des Evangeliums
nachkommen.
„Ich? Ich habe doch nie etwas für das Evangelium
getan!”, war meine Antwort.” - „Aber doch, denn die einen
tun etwas für das Evangelium, die andern dagegen ...”, setzte
der Hausangestellte hinzu. „Und Christus hat gesagt, dass
alle durch den Tröster Zeugnis ablegen würden. Da du dies
nicht auf Erden getan hast, als du dich dort zum letzten Mal
aufgehalten hast, musst du dies dem Gesetze entsprechend jetzt
in der Entkörperung tun. Du wirst gewisse Dinge in Erfahrung
bringen und sie dann später so gut wie möglich erzählen.”
„Gut, da ich Gott nicht wissentlich dienen kann, tue ich

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Wiedersehen im Himmel

es im Vertrauen.”
„Dann begleite mich also”, sagte der Angestellte und
brachte mich zu einem komplizierten Gerät. Dann sagte er
zu mir: „Wenn du Schlaf bekommst, überantworte dich ihm
einfach.”
Und so geschah es. Ich habe erneut ein ganzes Leben
in jener Zeit durchlebt, in der der planetarische Führer unter
seinen in der Evolution zurückgebliebenen Brüdern lebte. Was
aber meine Aufmerksamkeit in ganz besonderem Maße erregte,
war ein gewisser Vorfall, bei dem ich zugegen war und leider
eine besondere Rolle gespielt habe.
„Welch wundersame Erinnerung!”, rief da der Vater von
Lourdes aus. Es waren seine ersten Worte, nachdem ich mit der
Erzählung meines seltsamen Traumes und dieser interessanten
Erfahrung begonnen hatte.
Da die anderen in ihrem Schweigen verharrten, fuhr
ich fort: „Zuerst entschwand ich mir sozusagen selbst. Dann
zog langsam eine herrliche Morgenröte herauf. Es war ein
herrlicher Tagesanfang im Palästina jener Tage, die für immer
im Gedächtnis der Menschen dieser Erde, das heißt all derer,
die zur demographischen Kolonne auf den zwei Lebensebenen
zählen, fortleben werden.
Ich lebte nun das Leben einer Person wieder. Das ist
wohl der richtige Ausdruck, denn ich war ganz und gar
wieder jene Person, ein dem Obskurantismus des Fleisches
verhafteter Mensch. An meiner Seite lebte eine unter der Last
der Jahre gebeugte alte Frau, die ich Mutter nannte und die
auch wirklich meine Mutter war. Die Straße, an der wir uns
befanden, führte zu einem entfernt liegenden Städtchen. Wir

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Osvaldo Polidoro

warteten gespannt auf den Propheten, der da vorbeikommen


sollte, denn ich erhoffte mir von ihm die Heilung meiner
Schwären. Ich befand mich nämlich in einem bedauernswerten
Zustand. Die Furcht, die die Leute vor mir hatten, empörte
mich mehr als mein Aussatz.
Nach stundenlangem Warten tauchte am Horizont
endlich ein Staubwölkchen auf, das langsam größer wurde.
Der Staub, den der Wind herantrug, bedeutete, dass sich
der Mann und die große Menschenmenge, die ihm folgte,
näherten. In jenen Tagen gab es nur leidenschaftliche Anhänger
des Propheten oder leidenschaftliche Gegner. Und die sich
nähernde Menschenmenge setzte sich wohl aus beiden Gruppen
zusammen.
Weitere Stunden vergingen, denn der Prophet hielt sich
vielerorts auf. Schließlich konnte man alles deutlicher erkennen.
Selbst der Wind schien die Richtung geändert zu haben. Dann
kam der Zug heran, der Prophet an der Spitze, einfach, gelassen,
scheinbar unbeeindruckt von all dem Lärm, der ihn begleitete.
Nie hatte ich so viele Menschen auf einmal gesehen, und alle
waren erregt und bestanden auf ihrem Für und Wider, während
der Mann, um den es dabei eigentlich ging, sich nicht im
Geringsten um das Alles zu kümmern schien. Das Oberflächliche
seines Wirkens, dem die Menge ihre Hauptaufmerksamkeit
schenkte, schien ihn überhaupt nichts anzugehen.
Als ich schließlich an die Reihe kam und der lang
erträumte und ersehnte Augenblick endlich gekommen war,
stand ich sprachlos staunend vor der machtvollen Persönlichkeit.
Wie tun mir heute all die leid, die da verkünden, dass Christus
nie existiert hat, dass er von Schriftstellern erfunden wurde!
Er war von mittlerer Statur, sehr schön von Angesicht und

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Wiedersehen im Himmel

trug deutlich israelitische Züge. Seine Haar war in der Mitte


gescheitelt, wie es bei den Mitgliedern der Naziräer-Sekte üblich
war, und auch sein Bart war dunkelbraun und leicht gewellt.
Sein Blick schien alle Süßigkeit der Himmel, von denen
er kommen musste, in sich zu tragen. Auch die Farbe seines
Gewandes glich dem der Naziräer, der letzten Nachkommen
des hebräischen Prophetentums, die den sechsten und höchsten
Grad erreicht hatten. Allen war es übrigens bewusst, dass der
Prophet ein Naziräer war. An diesem Tage war er barfuß, nichts
schütze seine Füße gegen Sand und Hitze.
Als er anfing zu sprechen, lag ein Ton tiefen Mitleids
in seiner Stimme. Er richtete sich an meine Mutter: „Frau,
der gestern Gesteinigte ist heute dein Sohn. In Moses’ Tagen
hast du einen Bruder gesteinigt, der zwar gesündigt hatte, aber
trotzdem Unterweisung und Mitleid verdient hätte. Heute ist
dieser Sünder nun dein Sohn und du weinst als Mutter in
jenem Schmerz, in dem du damals als seine Schwester nicht zu
weinen vermochtest, weil dir das Verständnis abging.
Meine Mutter wollte ihm antworten, war jedoch nicht
in der Lage, dies zu tun. Sie ließ sich auf die Knie fallen und
stöhnte etwas mir Unverständliches. Dann stand der Prophet
gestützt von einem älteren und einem jüngeren Mann auf und
sprach zu einigen Frauen, die um ihn herum waren: „Der
Schmerz entspricht stets der Verfehlung. Die Zeit vergeht, das
Panorama ändert sich, aber die Verantwortung bleibt diesselbe,
denn Liebe schafft Frieden und Hass bringt den Schmerz
hervor. Ihr Mütter der Männer, lehret sie den rechten Weg,
damit Gesundheit und Frieden das Leben verschönern. Gott
will euch nicht auf den Knien sehen, das steht den Männern zu.
Von euch aber wünscht er sich Liebe und Verständnis für den

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Osvaldo Polidoro

Zweck des Lebens. Und wer kann dieses rettende Evangelium


besser lehren als ihr, Mütter der Männer. Reicht also euren
Söhnen die ewige Nahrung des geistigen Brotes; ohne Liebe
kann und soll man nicht leben.”
Er hörte auf zu sprechen, sah mich an und befahl:
„Vergiss deine Krankheit, aber vergiss nie das Reich Gottes zu
verkünden, das in den Herzen der Menschen, deiner Söhne,
errichtet werden soll.
Und er entfernte sich durch die Menge hindurch, die ihm
Platz machte. Ein Mann mit feinen Manieren trat an mich
heran und sprach: „Es wäre besser für dich leprakrank mit Gott
zu sterben, als durch die Kraft Belzebus geheilt zu werden.
Dieser Mann ist ein Diener Luzifers. Schwöre ihm ab!
Meine Mutter empörte sich gegen diese Worte und der
Mann spuckte ihr ins Gesicht, indem er sagte: „Elende, was
sollte Gott auch von dir erwarten?!”
Ich wollte es ihm heimzahlen, ihn schlagen, konnte aber
nicht aufstehen. Der Mann ging seines Weges und wiegelte
weiter gegen den Messias auf. Als sich meine Mutter von dem
Zwischenfall erholt hatte, nahm sie mich am Arm und wollte
mir helfen aufzustehen. Dies war jedoch nicht nötig, denn
eine eigenartige Kraft hob mich hoch. Meine Mutter lächelte,
wie ich sie lange nicht mehr hatte lächeln sehen. Was für ein
wunderbarer Tag! Was für ein Glück, dass ich leprakrank war,
dachte ich, denn nur so war es mir vergönnt gewesen, dieses
glückliche Zusammentreffen zu erleben.
„Und dann?”, fragte Lourdes fast gleichgültig, denn ich
war sicher, dass sie wusste, was ich ihr weiter berichten würde.
Über meine Seele aber glitt der Schatten einer schwarzen

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Wiedersehen im Himmel

Wolke, so schwarz wie mein Handeln, als Christus eine


Gegenleistung von mir erwartete. Alles war mir geschenkt
worden, was mich in einen Verkünder jener himmlischen
Dinge hätte verwandeln sollen, die durch Christus den
Menschen zuteil wurden und die unter seinem Einwirken von
anderen weitergegeben werden sollten. Ich aber habe nichts
unternommen, nicht weil ich nicht an die Richtigkeit dieser
göttlichen Güter und ihren heiligen Ursprung geglaubt hätte,
sondern aus Angst vor den Reaktionären.
Ich erklärte ihnen deshalb: „Ich habe das Böse vergessen,
wie der Herr geweissagt hatte, doch angesichts der Gegner
habe ich auch nichts Nützliches unternommen. Weder um
einer sittlichen Belohnung willen noch aus einfachem Respekt
gegenüber der erkannten Wahrheit, weder aus Klugheit noch
aus Mitleid mit den Menschen und mit mir selbst habe ich
etwas getan. Ich war ein totaler Versager!”
„Und am Tag der Kreuzigung?” frug mich ihr Vater
einfach.
„An jenem Morgen wurde ich von ein paar Männern
aus dem Volk und von zweien seiner Jünger aufgesucht, die
eine größere Anzahl von Zeugen zugunsten des Propheten
zusammenbringen wollten, um diese gegen die Verbündeten
der Priester aussagen zu lassen, die die Hinrichtung des Meisters
wegen angeblicher Zauberei und feindlicher Machenschaften
gegen den Staat verlangten. Ich wies die Entsandten mit der
Entschuldigung ab, dass meine Mutter im Sterben lag.
„Und danach?”, fragte der ehrwürdige Alte.
„Danach habe ich von weitem dem schrecklichen
Geschehen zugeschaut. Grausame Gewissensbisse begannen

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Osvaldo Polidoro

mich zu plagen. Es kam mir vor, als ob dieses Geschehen,


das traurig als sittliches Vergehen auf der Menschheit lasten
würde, wenigstens zum Teil meine Schuld sein würde. Es
kam mir auch so vor, als hätte mich der Prophet über
eine Entfernung von etwa dreihundert Metern erkannt; er
schien sein verwundetes, nach vorn geneigtes Haupt in meiner
Richtung zu schütteln. Vielleicht war es auch nur mein
anklagendes Gewissen, das mich dies sehen ließ. Jedenfalls
habe ich mich derart vor mir selbst geschämt, dass ich
jahrzehntelang, so schien es mir, vor Gott weglief. Da es
den Tod ja nicht gibt, habe ich in Wirklichkeit den Körper
verlassen und bin weitergerannt, als ob es nun gelte, vor mir
selbst zu fliehen und schon nicht mehr vor ihm.”
Inzwischen liefen mir Tränen über die Wangen. Alle
spürten meinen Schmerz, denn sie begannen, mit mir zu weinen.
Im Grunde aber fühlte ich mich glücklich. Irgendetwas sagte
mir, dass dies gut für mich war. Der ehrwürdige Alte aber sprach
nun mit seiner wohlklingenden, väterlichen Stimme zu mir:
„Daran kannst du erkennen, wie ein Vergehen seinen
Urheber auf verschiedenste Weise verfolgt. In jenen Tagen,
Alonso, hast du schwere vergangene Fehler eingelöst, die du
einst in Indien aus Kastenvorurteilen begangen hattest. Im
praktischen Sinne hast du dann im Augenblick der gemeinsamen
Zeugenaussage gefehlt. Später bist du immer wieder mit guten
Ratschlägen versehen ins Fleisch zurückgekehrt. Und obwohl es
dir oft nicht an Weisheit fehlte, war dein praktisches Verhalten
doch nie auf der Höhe deines theoretischen Wissens und vor
allem nicht auf der der notwendigen Rektifikation.”
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Nie hast du
absichtlich böse gehandelt. Dein Versagen war stets mit

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Wiedersehen im Himmel

Leichtsinn, Feigheit, Bequemlichkeit oder sittlicher Schwäche


gepaart. Du hast zwar nicht direkt das Böse getan, hast aber auch
nicht das Gute unter seinem notwendigsten und glücklichsten
Gesichtspunkt, nämlich dem moralisch-intellektuellen getan.
Solange nämlich dem Geist das Wissen und seine Ausführung
fehlen, fehlt auch alles Weitere, das nichts als eine Ergänzung
dazu ist. Wer reich ist an materiellen Gütern, aber nicht weiß,
wie man sie zu besitzen hat, verwandelt sich in einen Elenden;
und wer reich ist an Wissen und diesen Reichtum nicht
anzuwenden weiß, wird als Folge des Gesetzes eine traurige
geistige Beklemmung verspüren, in der er zwar keinen Mangel
an äußerlichen Dingen spüren wird, aber in seinem Innern
wird ihn das fehlende Gleichgewicht in einen Zustand der
Verzweiflung versetzen.”
Er seufzte tief, als ob er sich an traurige Ereignisse der
Vergangenheit erinnerte, und betonte dann: „Die moralisch-
intellektuelle Armut ist viel schmerzlicher als alle andern, ich
fühle es nur zu eindringlich ... Deshalb habe ich selbst darum
gebeten, dass du dieses Leben noch einmal erleben solltest.
Das ist stets ein wertvoller Besitz für den, der sich ehrlich
regenerieren will.”
Nun musste ich ihn wohl oder übel fragen: „Dann waren
Sie es also, Herr Rogério, der mir diesen Gefallen getan hat?”
„Gefallen?”, fragte der gute Alte befremdet. „In
Wirklichkeit stehe ich mehr in deiner Schuld als du in meiner.”
Alle lächelten. Ich aber konnte den Worten des Alten
nicht glauben. Diese Leute waren alle dermaßen gütig, dass ich
mir nicht vorstellen konnte, dass sie auf einer niedrigeren Stufe
stehen sollten. Um also dieser peinlichen Lage zu entgehen,

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Osvaldo Polidoro

die eine persönliche Wendung genommen hatte, leitete ich das


Gespräch auf das Gebiet des Theoretischen:
„Das ist aber ein toller Apparat, nicht wahr?” - „Was
für ein Apparat?”, fragte Lourdes lächelnd. - „Der, der den
Rückblick erlaubt.”
„Ach was, Alonso, der Apparat dient eigentlich zu
irgendeinem Zweck. Alles hängt nämlich von dem Betreiber
und seinen Fähigkeiten ab, die ihm für seine Aufgabe geschenkt
wurden”, erklärte sie und begleitete ihre Worte mit ihren zarten,
reizenden Gesten.
„Und wie bin ich eingeschlafen?”, riskierte ich zu fragen,
obwohl ich schon wusste, dass ein Körper, sei er nun perispirital
oder nicht, immer verlassen, das heißt durch einen zarteren,
sublimierteren ersetzt werden kann.
„Das ist etwas ganz Gewöhnliches”, sagte sie. „Um die
technische Leistung zu verbessern, hat der Ratgeber lediglich
versucht, einen störenden Faktor, das heißt den gröberen Teil
deines Körpers zu beseitigen. In einem feineren Körper und
seiner sublimierteren Form hast du in deinem psychischen
Zustand ungezwungener handeln können, und das hat auch zu
einer besseren Erinnerungsfähigkeit beigetragen.”
„Ich kann das einigermaßen verstehen”, antwortete ich.
„Und ich bedanke mich bei euch allen für das, was ihr für mich
getan habt ... Gott lohne es euch!”
„Wir nehmen deinen Dank gern entgegen”, warf Herr
Rogério ein, „damit du zufrieden bist. Für mich und für uns
alle kann ich jedoch behaupten, dass der Lohn Gottes schon in
der Möglichkeit, dem Nächsten zu dienen, enthalten ist.”
Da war aber noch ein Gedanke, der mich zutiefst

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Wiedersehen im Himmel

beunruhigte. Wer war und wo befand sich wohl jene liebevolle


Alte, die einst meine Mutter gewesen war?
„Ich bin diese Alte”, erwiderte Lourdes darauf, indem sie
mich umarmte und mir einen Kuss auf die Stirn drückte.
„Und ich bin jener grausame und schamlose Spucker, an
den du dich wohl erinnern kannst”, sagte nun der ehrenwerte
Alte. „Du wolltest mich schlagen und konntest nicht, gewiss,
weil der Prophet deine Absicht ahnte und dich deshalb nicht
sofort frei handeln ließ. Hier stehe ich nun vor dir, dem
Leprakranken von einst, und bitte dich um alle Verzeihung
der Welt.”
Jetzt wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte. Und
doch fühlte ich mich so sehr in der Schuld dieser Leute, dass ich
aus Mangel an eines aufgeklärten Verständnisses zutiefst fühlte,
wie vollkommen die göttliche Gerechtigkeit in ihrer gewaltigen
Maschinerie ist. Was mir zu denken gab, war ohne Zweifel die
Tatsache, dass jener grausame Mensch mit seiner immensen
Schuld nun offensichtlich hierarchische Höhen erklommen
hatte. Und noch bevor ich ihn danach fragen konnte, sprach er
bereits zu mir:
„Ich war tatsächlich ein großer Bösewicht, ein halb
verrückter, von dem damals als unrein bezeichneten Geist
belästigter Fanatiker. Mein verdorbenes Denken verband sich
aufs Beste mit dem meines Bedrängers und fühlte sich mächtig
von ihm angezogen. Moses war einst alles für immer, aber er
musste verschwinden. Das war mein einziger Gedanke und
meine Logik, so musste ich vorgehen und so ging ich auch vor.
„Trinkt doch ein Glas Saft!”, sagte da eine Frau, die auch
zur Hausgemeinschaft gehörte und die hier auf die Rückkehr

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Osvaldo Polidoro

ihres Mannes wartete, um wieder ein Heim mit ihm zu


gründen.
„Wie alt ist denn dein Mann im Fleische?” - „Um die
siebenundsechzig, glaube ich ... Wenn Gott will, wird er wohl
bald in unserer Mitte sein.”
Mir gingen sonderbare Dinge durch den Kopf, die mich
ihre Sicherheit in Zweifel ziehen ließen. Doch die Matrone
fuhr bereits liebevoll fort:
„Er trägt schon auf Erden eine Aureole, mein Sohn ...
Das Licht des Geistes täuscht sich nie.” - „Handelt es sich
um einen fleißigen Spiritualisten?” - „Ja, er ist ein regulär
aufgeklärter Pentekostist, doch stark von der christlichen
Liebe zum Nächsten im Allgemeinen gesalbt. Als er sich dem
Pentekostismus zuwandte, sagte er zu mir: „Ich kenne nicht
die tiefen Dinge Gottes, ich verstehe nichts von den religiösen
Auseinandersetzungen, aber ich weiß, dass Jesus Christus uns
befohlen hat, den Nächsten zu lieben, ohne auf Bekenntnisse
und Religionen zu schauen. Die Religion Christi war eine
Mischung aus Lieben und Wissen. Und da ich wenig weiß,
will ich so viel wie möglich lieben. Am Ende, Dalva, wird
die Gerechtigkeit, die die Weisen beurteilt, auch mich, den
Unwissenden, beurteilen.”
„Er versteht es, zu vetrauen ...”, sagte ich fast ohne
nachzudenken.
„Ja, aber indem er arbeitet”, fügte sie unmittelbar hinzu.

*****

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Wiedersehen im Himmel

Tage der Arbeit und göttlicher Gnaden

Jene edelmütigen Seelen hatten in der Welt des Fleisches


eine Reihe von Nachkommen hinterlassen, von denen viele,
wie ich bereits berichtet habe, im Spiritismus eine Lösung für
ihre Probleme suchen mussten. Ich fühlte mich wohl in dieser
Umgebung, denn sie schenkte mir Frieden, eine Familie, eine
günstige Atmosphäre; ich fühlte den Wunsch zu arbeiten und
an Gelegenheit dazu fehlte es keineswegs.
Mit dem Erscheinen des Trösters in der Welt gab es für
die Wesen dieser Gefilde genug zu tun. Diese Familie hatte
allein die Aufgabe, der Bewegung im weiten phänominischen
Reich in den Dingen zu dienen, die sie selbst angingen. An
drei Tagen arbeiteten sie im praktischen Bereich an Dingen, die
den Verkörperten unbekannt sind, und an den anderen Tagen
durften sie sich zur Belohnung ausruhen und Spaziergänge
machen, Freunde besuchen, Vorträge besuchen, an religiösen
Festen usw. teilnehmen.
Wenn ich von Dingen spreche, die den verkörperten
Menschen unbekannt sind, so meine ich damit Arbeiten, die
oft sehr ermüdend sind und mit Fragen über Gesundheit, über
dahingeschiedene Freunde usw. zusammenhängen.
So bat mich Lourdes an einem Tag, an dem ihr die
Leitung der Arbeiten zustand, sie an einen bestimmten Ort auf
Erden zu begleiten, wo sich jemand befand, der in Erinnerung
gerufen und für den gebetet worden war. Nachdem wir diesen

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Osvaldo Polidoro

angenehmen Auftrag erhalten hatten, der zu denen gehört, die


stets mit wichtigen Lehren verbunden sind, machten wir uns
also auf den Weg in eine große Stadt.
Zuerst suchten wir das Haus auf, aus dem der Ruf
gekommen war. Es war ein Appell, der sich Nacht für Nacht
zu einer gewissen Stunde wiederholte und speziell an Lourdes
gerichtet war. Eine alte Frau flehte darin um Hilfe für ihren
vor kurzem verschiedenen Sohn. In ihrer Gruppe hatte sie eine
Bitte gestellt und man hatte ihr aufgetragen, stets zu einer
gewissen Uhrzeit für den Geist ihres Sohnes zu beten.
Wir sollten sie nun ebenfalls des nachts aufsuchen und sie
mit uns auf die Suche nach ihrem Sohn nehmen, der bei einem
Streit umgebracht worden war. In diesen Streit waren übrigens
insgesamt drei Personen verwickelt. Und diese drei Wesen, zwei
junge Männer und eine Frau, schlugen infolge ihrer animischen
Verfassung weiter aufeinander ein, warfen einander zu Boden,
beschimpften sich gegenseitig und fügten sich Leid zu.
In einem solchen Falle reicht es nicht, einfach nur
einzugreifen; hier sind Verdienste vonnöten. Diese besitzt
man, und dann kann man sie einsetzen, oder aber man muss
versuchen, sie zu erlangen.
Nachdem sie ihren Körper verlassen hatte, hielt sich
die alte Frau ganz gut und war aufgeweckt genug, um uns
behilflich sein zu können. Mit ihrer üblichen Freundlichkeit
und Güte sprach Lourdes zu ihr: „Was denkst du von deinem
Sohn, Schwester?” - „Dass es ihm bestimmt schlecht geht, du
mitleidiger Engel.” - „Ich bin kein mitleidiger Engel, Schwester,
ich bin überhaupt kein Engel. Ich bin nichts als ein dem Guten
zugewandtes Wesen, das aus Pflicht handelt und nicht, um

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Wiedersehen im Himmel

einen Gefallen zu tun.” - „Und warum erstrahlst du dann in


diesem Licht und bist so schön?” - „Weil jeder, der liebt, schön
ist. Und nur, wer nicht will, liebt nicht, denn als Kinder der
LIEBE sind wir für die Liebe da.”
Ich weiß nicht warum, aber die alte Frau wusste nun
nicht, was sie darauf antworten sollte, während Lourdes
fortfuhr: „Deinem Sohn, liebe Frau, geht es sehr schlecht.
Vorerst verfügt er über keinerlei Verdienste, sodass wir ihm
helfen könnten. Ich möchte dehalb, dass du uns bei einer
vorbereitenden Arbeit hilfst ...”
„Ich tue alles, was ihr verlangt, auch wenn ich für den
Jungen leiden muss,” unterbrach sie die alte Frau weinend.
„Weinen hilft hier nichts, Schwester, denn auf der Welt
ist alles rational eingerichtet, sowohl die Dinge des Geistes
oder der Vernunft als auch die Dinge des Verstandes oder der
Moral. Unser Lebensplan gehorcht in allem der Vernunft oder
der Intelligenz, denn der Verstand lässt uns handeln, wie wir
handeln, lässt uns viel tun oder wenig, das Gute oder das Böse,
es sei denn wir sind geistesgestört oder wahnsinnig.”
Lourdes schwieg nun eine Weile und erhob mit ihrer
sanften Hand das verstörte Antlitz der gebeugten alten Frau.
Dann fuhr sie in ihren Erklärungen fort, stets bemüht, ihrer
Stimme einen freundlichen Klang zu verleihen:
„Niemand kann die Ebene des Bewusstseins überwinden,
ohne dass die Vernunft analytisch eingreift. Es ist also
alles eine Frage der Erziehung. Die Erziehung verlangt aber
Disziplin. Ohne Ordnung, ohne Richtschnur kann es kein
überströmendes Ziel geben. Von oben ist bestimmt worden,
dass du einen großen, edlen Anteil an dieser Arbeit haben sollst,

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Osvaldo Polidoro

sonst wären wir dir nicht einmal entgegengeschickt worden, als


du um Hilfe gefleht hast.”
„Der Vater ist sehr barmherzig zu mir”, stammelte die
Alte und wollte weitersprechen.
„Es ist besser, Schwester, du hälst dich an die göttliche
Gerechtigkeit”, unterbrach sie Lourdes eifrig. „Es ist die
Gerechtigkeit, die uns barmherzig oder sonst etwas sein lässt,
denn was bliebe uns ohne die Gerechtigkeit? Ich glaube an nichts
als an die Gerechtigkeit, wenn ich an Gott denke. Deshalb sind
mir diejenigen lieber, die hässliches Handeln vermeiden, und
nicht diejenigen, die es vorziehen, um Verzeihung zu bitten,
wenn sie bereits schlecht gehandelt haben.”
Sie schaute nun der Alten fest ins Gesicht und erklärte
ihr mitfühlend: „Das ist leider dein Fall, liebe Freundin. Du
und dein Sohn sind seit langem gegeneinander verschuldet. Du
musst dir nun alle Mühe geben, dass dein Sohn möglichst bald
aus dieser Lage befreit wird und du selbst beim Verlassen des
Fleisches dies unter angenehmeren Bedingungen tun kannst.”
„Ich weiß aber doch gar nichts davon ...”, erwiderte
die Alte unruhig.” - „Wir wissen das, und deshalb sind wir
hierher geschickt worden; wir sollen helfen, die fehlende Zeit
zu verkürzen. Es waren deine Gedanken, deine Almosen für
die Armen und deine Gebete, die dir ein Recht auf diese
Unterstützung verschafft haben. Folge nun unseren Ratschlägen
und du wirst sehen, dass du in weniger Zeit viel mehr erreichen
kannst, als du erwartest.”
„Ich vertraue euch. Was soll ich also tun?”, erbot sich
nun die Alte und schaute erwartungsvoll in Lourdes’ schönes,
strahlendes Gesicht. - „Du musst nächtelang auf deinen Sohn

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Wiedersehen im Himmel

einwirken, damit er gefügiger, zugänglicher, lernfähiger wird.”


„Das wird nicht leicht sein”, gab die Frau bedauernd
zurück und wurde traurig. - „Er hat es von dir gelernt,
ungehorsam zu sein. Die Lehren, die er mit der Muttermilch
in sich aufgenommen hat, waren nicht gerade empfehlenswert.
Ein ungehaltenes Leben voller Laster musste wohl oder übel
zu einem schmerzlichen Ende führen. Ich sage dir das, meine
Freundin, weil dies meine Aufgabe ist und es dir zu deinem
eigenen Vorteil gereichen soll. Du musst dir bewusst werden,
wie viel es zu tun gibt, um endlich den Sieg davonzutragen.”
„Ich habe euch versprochen, Vertrauen zu haben”, sagte
sie plötzlich, indem sie entschlossen aufstand. - „Dann komm
mit uns!”, entgegnete Lourdes darauf. Und mit ihrer eigenen
Kraft riss sie uns mit sich fort wie ein Sturm voller Wille
und Liebe. Wir kamen vor das Haus, wo die drei zu Boden
gegangen waren, zwei waren tot und eine schwer verletzt. Und
noch immer rollten die drei Täter ineinander verkrallt über
den Boden, schlugen mit den Fäusten aufeinander ein, stachen
nacheinander und beschimpften sich.
„Hilf meinem Kind!”, schrie die Alte, als sie ihren Sohn
in dem blutigen Knäuel sah, den der johlende Haufen ringsum
anstachelte.
„Hier sind alle Kinder”, antwortete ihr Lourdes und
schaute sie bedeutsam an. - „Aber er ist doch verwundet,
meine Beschützerin”, rief die Alte flehend. - „Sind es denn
die anderen nicht? Wie könnten wir das Gute tun und die
Liebe verbreiten, wenn wir, statt gegen alle vorzugehen, einen
einzigen begünstigten?”
Angesichts Lourdes’ unerschütterlicher Gelassenheit

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Osvaldo Polidoro

und ihrer Auslegung der Pflicht, verstummte die Alte


sichtlich verärgert. Lourdes aber spann ihren Gedankengang
zu Ende: „Abermillionen von Söhnen, Töchtern, Eltern,
engen Verwandten und Freunden schlagen sich mit sehr
viel schlimmeren Umständen herum, sodass sie vor lauter
Brutalität zum Teil bereits ihr menschliches Aussehen
eingebüßt haben und sich in jenen minderwertigen Formen
wälzen, aus denen wir alle hervorgegangen sind. Wir
müssen uns also mit großer Vorsicht, mit Meditation und
Nachdenken dieser Lage nähern. Wer sie nicht mit der
entsprechenden gesetzlichen Tiefe ermessen kann, sollte auch
nicht einzugreifen versuchen.”
„Was bleibt uns denn dann zu tun?”, richtete die Alte
sich nun an mich, weil sie meinte, dass ich vielleicht den
Alleswisser spielen würde. Da ich aber schwieg, wandte sie
sich wieder Lourdes zu und flehte sie an: „Um Himmels
willen, tu doch etwas für meinen Sohn!”
Darauf erwiderte Lourdes ruhig: „Das tue ich gern,
wenn du mir versprichst, dass du für die andern beiden
Wesen genau dasselbe tun wirst, was du für deinen Sohn
tun möchtest. Ich warne dich aber, falls du den andern
gegenüber den geringsten Unwillen zeigen solltest, kannst
weder du noch können wir das Geringste für ihn tun.
Es liegt nun an dir, Schwester, im Angesicht Gottes und
seiner Gerechtigkeit deine Größe zu zeigen, damit für deinen
Sohn etwas geschehen kann. Was uns beide angeht, sind wir
hier, um dir die Augen für die Wirklichkeit zu öffnen. Die
beiden anderen waren nämlich in einem noch nicht lange
verronnenen Leben auch Blut von deinem Blut. Damals waren
sie Cousins und so wie jetzt haben sie sich aus Leidenschaft

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Wiedersehen im Himmel

gegen das Gesetz vergangen.”


„Du lieber Gott!”, rief die Frau aus und warf sich zwischen
die sich voller Hass Balgenden. Ich wollte ihr in diesem
schrecklichen Kampf zu Hilfe eilen, doch Lourdes hielt mich
zurück und sagte: „Lass sie nur, Alonso, es ist gerade das, was
sie braucht. Einst war sie es, die die Streitenden gegeneinander
aufhetzte, was schließlich zum Verbrechen geführt hat. Viele
Nächte lang wird sie hier noch erscheinen müssen, denn so
ist es von oben bestimmt. Und wenn sie dann aufwacht,
wird sie sich an vieles erinnern und darum ihr Gebet und
ihr solidarisches Handeln um so ernster nehmen. Das Gebet
kostet keine Kraftanstrengung und Geld hat sie genug, um
denen Gutes zu tun, die auf der Welt Hilfe brauchen. Hat sie
erst einmal die notwendigen Verdienste angesammelt, werden
andere kommen und die Streitenden voneinander trennen.
Vorher aber bleibt nichts anderes zu tun.”
Sie schwieg einen Augenblick und belehrte mich dann,
indem sie mich langsam in köstlichen, segensreichen Runden
schwebend mit sich hinwegführte: „Ein Akt der Reue ist niemals
genug, so wie auch eine Fürbitte niemals ausreicht, einen
hierarchisch-psychischen Zustand unmittelbar zu verändern.
Für uns und scheinbar auch für alles Übrige ist das höchste
Gesetz die Grundlage aller reinen Gerechtigkeit. Wer von
der Barmherzigkeit Gottes spricht und dabei vergisst, dass sie
lediglich ein Aspekt seiner Gerechtigkeit ist, verbummelt sein
Leben, denn sein Geist wiederholt sich ständig in fehlerhafter
Eintönigkeit. In Gott ist alles Gleichgewicht, und ohne
dieses Gleichgewicht sind Glück und unvergänglicher Friede
unmöglich. Dieses Gleichgewicht kann aber niemals durch
Begünstigung oder Wunder erreicht werden.”

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„Ich für meinen Teil stimme dir völlig zu”, antwortete


ich ihr. „Doch der von kleinlichen Theologismen verdorbene
Mensch, der jahrhundertelang nur von einem Gott gehört
hat, der einmal nachtragend ist und dann wieder günstig
gestimmt ist, wird einen solchen Gottesbegriff kaum verstehen
können.”
Lourdes lächelte und schüttelte dabei ihr dichtes,
goldenes Haar mit der Anmut ihres engelgleichen Zaubers.
Dann schloss sie mit den Worten: „Im Laufe seines Lebens
wird er jedoch bis zum letzten Heller und Pfennig seine
Schuld begleichen, egal ob er davon weiß oder nicht, ob er
will oder nicht, ob es ihm gefällt oder nicht, ob er sich seiner
Vergangenheit und seiner Verschuldungen bewusst ist oder
nicht. Hat Gott, der alles in sich ist, je irgendeinen gefragt, ob
das Gesetz gut oder schlecht festgeschrieben ist? Wer wurde
oder wird berufen, den Wert der allem zugrunde liegenden
Rechtsprechung zu überprüfen? Der Mensch weiß nichts,
was ihn befähigen könnte, wenigstens mit Hilfe der Logik
gegen die Grundlagen des Weltgesetzes Einspruch zu erheben,
sei er selbst nun ein Heiliger oder der eingefleischteste
Triebverbrecher. Als Heiliger macht ihn schon das einfache
mystische Gefühl dazu unfähig, denn obwohl alles sinnvoll
ist und damit von der Vernunft bestärkt, wird er lieber
danach leben als sich auf eine Diskussion darüber einzulassen.
Ist er aber ein Triebtäter oder vertiert, ist seine Meinung
sowieso wertlos. Eben wie die des Heiligen, nicht wahr?”,
fügte Lourdes hinzu.
„Genau! Wie könnten wir auch im Dieseits diese
unendliche Fülle von Tugenden als Bekundung Gottes
begreifen, und das, obwohl wir wissen, dass das, was wir

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begreifen können, ein Nichts ist, denn wie soll ein noch so
großer Geist das unendliche Sein, die alles umfassende Synthese
verstehen können, wo er doch selbst nicht allumfassend ist
und keiner die Kraft der eingegossenen Erkenntnis besitzt?”
„Ich glaube”, sagte darauf Lourdes, „dass allein die
Kraft der eingegossenen Erkenntnis dies möglich machen
könnte, doch kenne ich kein menschliches Wissen, das nicht
auf relative, experimentelle, anstrengende, wenn nicht gar
schmerzvolle Weise erreicht worden wäre. Wenigstens bisher
kenne ich niemanden, dem Reinheit und Weisheit eingegossen
worden wäre. Von allen, einschließlich vom planetarischen
Meister weiß ich nur, dass alle so wie wir ihre Kenntnisse nach
und nach erworben haben.”
„Es gab einmal eine Zeit, in der die Vision eines
geläuterten, relativ weisen Menschen dazu führte, dass einige
in ihm die göttliche Wesenheit selbst in ihrer ganzen Fülle
offenbart sahen. Für mich ist Gott heute unendlich unfassbar.
Wenn ich auch jeden Wert respektiere, halte ich doch
das Verdienst eines jeden Teils in Bezug auf das GANZE
für unbedeutend. Ich habe bereits große Bekundungen
gesehen, habe ernsthafte Vergleiche angestellt, doch gerade
deshalb würde ich mich versündigen, wenn ich das Gegenteil
behaupten würde. Gott ist für mich das ALLES, während
alles Weitere nur Teil ist.”
„Deshalb ist das Begreifen des Lebenssinns das
Wichtigste”, fügte Lourdes ergänzend hinzu, „denn dieser
Sinn ist sogar wichtiger als das Leben selbst. Wenn wir so
denken und fühlen, Alonso, machen wir den Widerschein
Gottes in den Dingen und Wesen zum Geist der Religion,
und zwar einer reinen Religion, denn dann folgen wir dem

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vernunftmäßigsten Weg, der darin besteht, Gott mit aller


Kraft des Herzens und mit aller Macht des Verstandes zu
lieben.”
„Aber hat dies nicht schon Jesus gelehrt, Lourdes?” -
„War denn Jesus nicht stets rational, überlegen und sublimiert
rational? Es gibt eben mehr als einen Jesus auf dieser Welt.
Nicht, dass er selbst mehrzählig oder konfus ist, ich meine,
wie viele Jesus haben sich die Menschen zurechtgemacht,
jeder nach dem Geschmack seiner Überzeugungen, nach den
Ansprüchen seines Geldbeutels und seines Magens, ganz zu
schweigen von der Schwindelei ihres Verstandes. Christus, das
Symbol aller WAHRHEIT, wird also von allen angerufen, vom
Heiligsten bis zum Verkommensten. Wenn es um Spiritualität
geht, können Menschen aller Schattierungen und für alle
Zwecke dupliziert werden.”
Wir hüllten uns in Schweigen, während eine große
Anzahl erhabener Wesen in Richtung Erde an uns vorüberzog.
Unter ihnen befanden sich auch einige Bekannte. Sie luden
uns ein, mit ihnen zu ziehen. „Wohin geht denn der Zug?”,
fragte Lourdes. „Alle sind so fröhlich ... Ich habe gute Lust,
ihnen zu folgen ... Es ist die Befreiung Edgards.” Lourdes
drang leicht in die Emissionen geistiger Wellen ein oder
empfing sie ohne Schwierigkeit, weshalb sie oft über alles
informiert war, ohne dass ihr jemand etwas gesagt hätte. Als
ich den Namen Edgard vernahm, dachte ich sogleich an jenen
Protestanten, den Mann der bereits erwähnten Dalva, jener
Frau, die mit der Familie Rogérios zusammenwohnte.
„Genau der ist es”, rief uns voller Freude der Anführer
jener Gruppe zu. „Und wo ist Dalva?”, fragte Lourdes, weil sie
diese nicht im Kreise der anderen sah.

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Wiedersehen im Himmel

„Ihr werden wir eine schöne Überraschung bereiten ...”,


fügte ihr Freund hinzu.

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Der Tod ist das Zeugnis des Lebens

In seiner Synthese ist Leben TOTALES LEBEN, das


Tiefste, was der menschliche Verstand untersuchen kann. Ich
bekenne mich zu der These, die besagt, dass das LEBEN
ABSOLUT, Gott an sich ist; alles Weitere ist nichts als Ausdruck,
Seinsweise und Darstellungsform dieses GRUNDLEGENDEN
WESENS.
Auf der relativistischen Ebene erreicht es so viele
Varianten, dass es sinnlos wäre, sie in ihren unzähligen Details
unterscheiden und erkennen zu wollen. Gerade deshalb können
wir uns an der Einschätzung der Einzelheiten ergötzen und
uns mit Hilfe unzähliger Kontakte weiterbilden. Alles und
jeder weist von einem grundlegenden Gesichtspunkt aus die
gleichen Werte auf. Gleich sind sie auch im Hinblick auf ihre
Zwecke, obwohl sie in ihren statischen Seinsformen äußerst
unterschiedlich und oft sogar scheinbar gegensätzlich sind.
Es wird behauptet, dass die Philosophie mit ihrem
Nachdenken den Menschen zu einem Erforscher der Ursachen,
der Seinszustände und der Ziele, auf die alles ausgerichtet,
machen sollte. Ich aber meine, dass dies die Aufgabe des
TOTALEN LEBENS oder eben Gottes selbst ist, der sich auf
die ihm je eigene Weise und Bedingung im Menschen als
denkendes Wesen ausdrückt oder eben durch eine Schule oder
eine Wissenschaft, in der eine ganze Reihe von Faktoren zum
Ausdruck kommen, von denen viele vielleicht noch unbekannt
sind, alle aber als Manifestationen der EINEN URMACHT,

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Osvaldo Polidoro

des alles bestimmenden Grundes auftreten.


So habe ich gelernt, meine Freunde, das Leben und
seinen Relativismus zu sehen, seit ich hier angekommen bin
oder seit ich von diesem Leben Kenntnis erhalten habe. Ich
werde diese meine Denkweise auch kaum je ändern. Es ist ein
Gespür für die Einheit, das sich nach einer gewissen Zeit oder
in einem gewissen evolutiven Zustand unserer bemächtigt
und das uns aus welchem Grunde auch immer zwingt, so zu
fühlen - mehr als zu denken. Und dieser Art von Leben wohnt
ein Zauber oder noch etwas Besseres inne, denn in ihr liegt
etwas geistig so Sublimiertes, Vergöttlichendes, dass man es
leider nicht beschreiben kann. Wir spüren Gott in allem, einen
lebendigen Gott, der sich fühlbar im Dasein und im totalen
Sinn von allem offenbart. Auf diese Weise erscheint uns
die Gemeinschaft immer ausgreifender, vorausgesetzt, dass
wir uns durch den Sinn der Allgegenwart immer weiter
ausbreiten und immer tiefer ins Innerste des Seins und in
die Seinsfähigkeit all dessen, was uns umgibt, eindringen
können. Damit aber, Freunde, weitet sich die Denk- und
Aufnahmefähigkeit dermaßen aus, dass es zu einer allgemeinen
Bereicherung kommt.
Angesichts dieser fieberhaften Bekundung qualitativer
und quantitativer Nuancen müssen wir stets darauf achten,
was wir selbst dazu beitragen sollen und können, damit uns
die Streuung der Aufnahmekräfte nicht zum Schaden gereiche.
Viele denken, solange sie auf der Erde leben, dass der Himmel
eine Frage totaler Infusionsfähigkeit ist, die Wesen und die
Fragen miteinander vermischt. In Wirklichkeit geschieht gerade
das Gegenteil: Die Fragen nehmen zu, die Sinne weiten sich
aus, die Abläufe vermehren sich und die Mittel wachsen

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schwindelerregend an, sodass das Leben sich mit Fragen und der
Geist mit Verlangen füllt. Mehr als im körperlichen Leben mit
seinen Wechselfällen gilt es hier, die Richtung zu bestimmen
und danach zu leben.
Doch wenden wir uns nun dem Fall jenes Protestanten zu,
der da aus dem Fleische scheiden sollte. Wie ich bereits erzählt
habe, befanden wir uns auf dem Weg zu diesem Anwärter
auf Befreiung. Wir waren mehr als dreißig an der Zahl, alles
Freunde und ihre Begleiter. Ich selbst hatte den angehenden
Toten nie besucht und wusste von ihm nur das, was die Familie
und seine Frau von ihm berichtet hatten.
Als wir den Raum betraten, sahen wir viele Menschen um
sein Bett versammelt. Viele waren noch jung; wahrscheinlich
waren es seine Neffen und Enkel, die sich am Bett des Sterbenden
eingefunden hatten. Obwohl eine gewisse Traurigkeit herrschte,
war psychisch alles in bester Ordnung. Es befand sich in diesem
Kreise kein einziger minderwertiger Geist. Auch die von der
Erde stammenden hatten mehr zu geben als zu erbitten. Ein
Sinn für Glauben war allen gemeinsam, und eine Frau, die dem
Sterbenden sehr ähnlich sah, übertrug anziehende Fluida auf
ihn, indem sie ihm die Hand auf die Stirn legte. Der Alte selbst
war völlig geschwächt, denn sein Zyklus war abgelaufen. Man
bekam den Eindruck, dass das kosmische Fluidum ihn dazu
veranlasste, das vibrierendste Element, sein geistiges Wesen,
dessen Fortbestand keine Grenzen kennt, auszustoßen, statt
ihn zu beleben. Ohne dies zu wissen, versuchte Edgard seinen
Leib zu verlassen. Dies geschieht auch bei spiritistischen
Kommunikationen, wenn das Fluidum des Mediums erschöpft
ist, wirkt es nach Beendigung des Zyklus nicht mehr anziehend,
sondern stößt ab.

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Osvaldo Polidoro

Der spirituelle Edgard fühlte sich nicht mehr wohl in


seinem Körper und war oft nahe daran, ihn zu verlassen. Doch
der Augenblick war noch nicht gekommen und deshalb war
vom Zuständigen der Einschnitt noch nicht vorgenommen
worden. Und so kehrte er immer wieder zurück in einen
Zustand persönlicher Verwirrung. Doch spirituell gesehen
befand sich Edgard in guter Verfassung. Es war ein Leuchten
um ihn und sein Geist sandte Emissionen aus, die an Christus
gerichtet waren. In diesen Augenblicken umgab ihn ein
bläuliches, sanftes, trostvolles Licht.
Als Edgard gegen Mitternacht zu schlafen gedachte, zogen
sich alle nach und nach zurück. Bei ihm blieb allein ein Mann,
der sich mit der bereits erwähnten Frau am Bette abwechselte.
Minuten später, als der Geist anfing, den Körper gelinde zu
verlassen, stellte sich ihm einer der unsrigen vor, indem er
freundlich zu ihm sprach: „Edgard, lass uns aufbrechen zu
schönen Orten?” - „Ich sehne mich so nach Ruhe ... Ich
brauche Ruhe ...”, flehte Edgard, indem er sich mehr aus
mentalem Drang denn aus einem inneren Bedürfnis heraus
zusammenzog.
Der Mentor reichte ihm seinen Arm und Edgard ging
langsam inmitten freundlicher, erleuchteter Wesen hinaus,
ohne sich dessen bewusst zu sein, denn sein mentales Prinzip
informierte ihn nicht über die jetzt ablaufende Entkörperung.
Auf ein Zeichen dessen hin, der ihn führte, verließen wir
alle den Ort, an dem lediglich einige Arbeiter zurückblieben.
Hier würde es zu keiner animischen Rückkehr in den Körper
kommen, da mochte man noch so viel Adrenalin applizieren.
Die Schnur war zerschnitten, und die Verdienste sagen nichts
über die Befreiung aus.

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Wiedersehen im Himmel

Der Zug hielt auf einer Lebensebene an, wo der


gerade erst vom Körper getrennte Freund sich unbefangen
in vibratorischem Gleichgewicht wohlfühlen konnte. Später
würde er dann natürlich diese Gegend verlassen und an den
ihm zustehenden Platz weiterziehen. Beim Abschied sprach
sein Ratgeber zu ihm: „Edgard, du bist nun an einem Ort, den
man auf Erden Himmel nennt. Denke daran mit Glauben und
Liebe, damit du nach einem erholsamen Schlaf bereit bist für
den großen Tag lieblichen Wiedersehens.”
„Bin ich gestorben?”, fragte er verwundert und richtete
sich auf. - „Ja, du bist gestorben”, gab ihm sein Ratgeber zur
Antwort, indem er die Schultern einzog und lächelte, als wollte
er sagen: Was macht das schon aus?
Der Freund machte eine merkwürdige Geste. Er ging in
die Hocke, befühlte den Boden, vielleicht um die Intensität
des Kontakts zu spüren. Dann befühlte er den noblen
Betreuer und begann alles genau in Augenschein zu nehmen.
Als er sah, dass ihm aus jedem Gesicht eine aufrichtige,
bereitwillige Freundschaft entgegenblickte, sprach er schließlich
ehrfurchtsvoll: „Alles finden wir in Gottes Hand. Ihm bin ich
in meinem Innersten dankbar. Aber diese meine Dankbarkeit
erstreckt sich auch auf alle hier Anwesenden, die mich in ihrer
Güte aufgenommen haben.”
„Nicht wir haben dich hier aufgenommen, es waren die
Werke, die du in deinem Leben vollbracht hast.”
Edgard fuhr währenddessen mit seinen Händen über den
Körper, der mit einem Schlafrock bekleidet war. Alles an ihm
war nun ein Duplikat jener festeren Körper, die er auf der Erde
zurückgelassen hatte. Doch dann erwiderte er sogleich: „Es war

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Osvaldo Polidoro

mein Glaube an Gott und an den göttlichen Meister, Freunde,


der mir geholfen hat.”
Sein Betreuer aber unterbrach ihn: „Der Glaube allein
hätte dir wenig geholfen. Viele müssen sich auf der Ebene des
Dunkels für einen Glauben verantworten, der keine Früchte
getragen hat. Der Glaube selbst ist eine Verpflichtung, und
es wäre ziemlich oberflächlich, wollte man in ihm einen
unbestreitbaren, absoluten Wert sehen.”
„Wer rettet uns denn dann? Ist es etwa nicht der Glaube?”,
wollte der gerade erst Gestorbene wissen. „Was sich in Ruhe
und Frieden verwandelt ist die LIEBE, und was die Autorität
ausmacht ist das WISSEN. Außerdem, mein Freund, besitzen
neunundneunzig Prozent all derer, die sich an unliebsamen
Orten befinden, ihre Art zu glauben. Sie können dort
den Vorteil der einen Form des Glaubens über die andere
diskutieren, was aber wirklich wesentlich ist, ist die Frage, was
befreit. Und das ist die LIEBE. Wer sich brutalisiert, wird am
Ende brutal sein, wer sich sublimiert, wird sublim sein, wer
sich vertieren lässt, wird sich wie ein Tier fühlen. Glücklich
sind daher jene, die alles tun, was in ihrer Kraft steht, um
geistig zu wachsen und damit auch zur Vergöttlichung ihrer
Umgebung beizutragen”, erklärte der Betreuer.
„Was muss ich jetzt also tun? Wie habe ich zu danken?
Wenn ich alles, was ich bin, mir selbst verdanke, vor allem
religiös gesehen, wie und womit soll ich dann danken?”
Die Umstehenden traten nun näher heran, denn
offensichtlich war der gute Alte sehr lernbegierig. Mich selbst
interessierte vor allem die Frage an sich, das heißt, die
Behauptung des Verdienstes. Der Mentor selbst gab folgende

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Wiedersehen im Himmel

Antwort: „Alles, was ich im Glauben an Gott weiß und tue,


ist von grundlegender Bedeutung. Ich bin, was ich bin, durch
Gott. Und ich danke ihm dafür, indem ich dies fühle.
Ich lebe diesen Zustand. Was all die inhärenten Kräfte, die
wesenhaften Tugenden und alles, was man so Natur nennt,
Bedingungen, Arten und Weisen, angeht, weiß und fühle ich
sehr wohl, dass sie von IHM kommen, und versuche deshalb,
sie gut zu gebrauchen, damit meine Danksagung lebendig und
kontinuierlich zum Ausdruck komme. Jede andere Art von
Anbetung, mein Freund, wäre in meinen Augen Götzendienst,
Brechreiz hervorrufende Frömmelei, etwas, was weder Gott
noch irgendeiner seiner Beauftragten empfehlen könnte. Der
materielle und geistig der Idolatrie oder dem Aberglauben
verhaftete Sinn von Glauben muss ein Ende haben. Weit zurück
liegen die Tage stumpfsinniger Anbetung, als alles künstlich
wirkte, als man sich freikaufte durch Bestechung, den Zorn
Gottes zu besänftigen suchte, Rechte erwerben konnte, indem
man irgendwelchem Klerus eine Gebühr entrichtete. Christus
ist zu uns gekommen, um uns den unveräußerlichen Sinn der
LIEBE, dieser Antriebskraft des Friedens zu lehren, und die
natürliche Macht des WISSENS, das die Autorität ausmacht.
Die beste Religion aber, die wir praktizieren können, ist die
PFLICHTERFÜLLUNG.
Der Mann war zum Teil mit diesen Worten einverstanden,
fügte aber noch hinzu: „Ich dachte, dass der Gesang von
Kirchenliedern und gehaltene oder gehörte Predigten als
Ausdrucksformen des Glaubens großen Wert hätten.”
„Das leugnet auch niemand”, meinte dazu der Ratgeber.
„Alles ist relativ, alles trägt seinen Teil bei, alle Faktoren sind
edel zu nennen und tragen zum Allgemeinwohl bei. Gott aber,

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Osvaldo Polidoro

mein Freund, will vor allem, dass wir dem Nächsten Gutes
tun, das ist wichtiger als tausend Lieder oder theoretisches
Predigen über das Evangelium. Die so genannten religiösen
Handlungen sind es oft gar nicht, weil ihnen die Praxis abgeht.
Und was man als materielle, banale, alltägliche Handlungen in
den zwischenmenschlichen Beziehungen hinstellt, ist am Ende
von entscheidendem Gewicht auf der Waage der spirituellen
Stabilität.”
„Gut und schön”, meinte darauf der Alte, „das klingt
alles vernünftig und realistisch. Jedenfalls habe ich den
Glaubensakten großen Wert beigemessen ...”.
„Und diese haben sich in stimulierende Werte verwandelt.
Sie haben deinen Kopf mit schönen Bildern vom Himmel,
von der Liebe Gottes, den Gefahren der Hölle usw. angefüllt.
Unbedingt aufgeräumt werden muss allerdings mit all der
Abgeschmacktheit der Religiosismen auf der Welt, auf deren
Kosten schädliche Elemente, korrumpierende Akteure der
Rückständigkeit und Feinde der Evolution, wie etwa die
Klerikalisten jeder Couleur leben. Solange es auf Erden
Menschen gibt, die von der Religion leben, die sich ihres
institutionellen Adelstitels rühmen und auf diese Weise
Überlegenheit vorschirmen und Rechte beanspruchen möchten,
die weit würdigeren Menschen versagt werden, solange es so
etwas auf der Welt gibt, wird es eine Menge von Wesen geben,
die sich schnell und stetig auf die Abgründe des Schmerzes und
eine Reihe schmerzvoller Reinkarnationen zubewegen.”
Da rief jemand laut: „Edgard! Edgard!” an der Tür der
Einrichtung, in die der Alte sich für einige Tage zurückziehen
sollte, bis er den rechten Sinn erlangt hätte.

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Wiedersehen im Himmel

Der verantwortliche Betreuer überlieferte ihn also


und versprach, in drei Tagen zurückzukommen. Wir alle
verabschiedeten uns von dem guten Alten, der aus allen Poren
evangelisches Fühlen absonderte.

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Osvaldo Polidoro

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Wiedersehen im Himmel

Drei Tage später

Drei Tage später kamen wir fast alle wieder am selben


Ort zusammen, um Edgard nun zu der Ebene zu bringen, auf
der sich seine Dalva befand, die von dem ganzen Geschehen
bisher noch nichts erfahren hatte. Der Alte schien ein anderer
geworden zu sein, so lebendig zeigte er sich nun und so
wiederhergestellt. Er schäumte über vor Freude. Und als er uns
erblickte, kam er uns mit offenen Armen entgegen und vergoss
Tränen wie ein Kind.
Zuerst umarmte ihn der von oben bestimmte Betreuer
und anschließend kamen wir an die Reihe. Für jeden hatte er
ein Wort brüderlicher Zuneigung. Dankesbezeigungen nehmen
wir nie an, denn das dürfen wir nicht. Es ist oft schwer, den
Bitten irgendeines Wesens aus Gründen nachzukommen, die
ich zwar nicht erklären, aber sehr wohl fühlen kann. Es scheint
nie eine Rechtfertigung dafür zu geben. Wir fühlen uns immer
nur als Schuldner, nie als Gläubiger. Vielleicht ist dies die Art,
durch uns ein Körnchen der höchsten Liebe eindringen zu
lassen, indem sie in uns den Wunsch erweckt, nützlich zu sein,
denn dies ist ohne Zweifel der sublimste von allen Wünschen.
Nachdem er dem Leiter der Einrichtung die nötigen
Erklärungen gegeben hatte, rief uns der Betreuer zur Abreise
auf. Und so machten wir uns denn alle auf den Weg zu
besseren Penaten. Der Alte hatte Zeit genug zu spüren, dass wir
elektromagnetische, vor allem aber moralische Trennungslinien
überschritten, denn dies alles geschah mit Absicht. Die

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Osvaldo Polidoro

unterschiedlichen Schwingungen, die die Welten umgeben,


gehorchen selbstverständlich dem höheren Gesetz. Sie werden
von oben nach unten gefiltert und erfahren sozusagen
eine Abschwächung angesichts der gröberen Strahlungen der
Festkörperwelten. Dasselbe geschieht in entgegengesetzter
Richtung als Zunahme von unten nach oben infolge der
Abschwächung eben dieser vom Planeten ausgehenden
Strahlungen. Was also die Reihenfolge der Himmel ausmacht
ist die Emission planetarischer Strahlungen, in denen die
materiellen und mentalen Prinzipien zusammen eine Art
Einheit bewirken. Auch weit von den Planeten entfernt spiegeln
die Zonen noch deren Grade wider, die von hierarchischen
Standards bestimmt werden. In dem Maße, in dem man sich
also von einem Planeten entfernt, gelangt man fortwährend in
bessere Zonen. Die Tatsache, dass es sich um eine interstellare
Zone handelt, heißt noch nicht, dass diese einem universellen
Standard entspricht. Auf die planetarischen Ordnungen folgt
das Reich der Systeme mit seinen unterschiedlichen Ordnungen.
Dies mag einem zwar natürlich vorkommen, doch für viele
übersteigt dies die Vorstellungskraft. Der Erdbewohner kann
auch ohne dieses Wissen gut auskommen, denn die Erde
besitzt schließlich Himmel von unsagbarer Schönheit, die alle
Erklärungen und auch meine Verdienste weit überschreitet.
Ebenso gewiss ist es, dass sich selten einer zur Ersteigung
dieser Gipfel aufrafft, denn dies erfordert ein großes Aufgebot
an Bewusstsein, das aus reiner Spiritualität hervorgegangen
ist. Diese Informationen sind erst in jüngster Zeit bis zu
uns durchgedrungen, so etwa die Tatsache, dass es dieses
Realitätsbewusstsein gibt, das nach den Regeln der Dialektik
oder der Gegensätze die Antriebskraft sein sollte. Jedenfalls ist

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Wiedersehen im Himmel

das mit dem Intellekt ausgerüstete Gehirn in jeder Hinsicht ein


relativ fester Anfang, ein idealer Ausgangspunkt. Von diesem
versucht man auszugehen, wenn man zu gegebener Zeit die
kodifizierten Unterweisungen erhalten hat. Jetzt ist die Zeit
gekommen, meine Freunde, in dieser Richtung vorzustoßen.
Wer sich aber mit seinen informativen Kräften gegen diese Phase
stellt, wird schwerlich etwas Vorteilhaftes für sich aufbauen.
Die Routine wird nie die Innovation übertreffen, solange
diese sich im Bereich des prophetischen Geistes, das heißt auf
dem normalen Pfad der Evolution abspielt. Der Unglücklichste
von allen ist selbst im Rahmen des Glaubens derjenige,
der um der offiziellen Routine willen das Vorrücken der
Erneuerung zu verhindern sucht. Das Evangelium Christi ist
in seiner menschlichen Auslegung noch sehr dunkel, und auch
die Kodifizierung ist eine Synthese, die mittels tiefgehender
Analysen weiter fortschreiten muss.
Keiner ist ein Spiritist, nur weil er regelmäßig an
seinen praktischen Sitzungen mit Handauflegung und fluidem
Wasser teilnimmt. Viel wichtiger ist, dass er ein erhabenes
Bewusstsein des unitarischen Lebenssinns in sich selbst erzeugt
und entwickelt, das ihm sagt, dass Gott wirklich im Innern
von allem und allen ist und alles stets nach grundlegenden
Gesetzen leitet, nie aber mit dem Einsatz von Wundern und
Geheimnissen. Er muss sich von der Angewohnheit freimachen,
sich einen Gott im Äußeren vorzustellen und damit einem
anthropomorphen und moralisch verwerflichen Götzendienst
zu huldigen. Er muss sich ein für alle Mal davon überzeugen,
dass von Natur aus und nach göttlicher Bestimmung alle Kräfte
und Gesetze in ihm selbst sind, dass er sie also nur zu entfalten
und herauszustellen braucht, weil das die Summe einer jeden

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Osvaldo Polidoro

gesunden Denkweise hinsichtlich des Himmels ist, den es zu


erwecken gilt.
Der Geist muss verstehen, dass sich jeder seiner Brüder
auf einem bestimmten Niveau der Entwicklung befindet,
sodass er dessen dringlichsten Bedürfnissen durch eine gesunde,
konstruktive Erziehung entgegenkommen kann. Er selbst erhält
in der Person des anderen Hilfe von Gott, wie es auch mit uns
geschieht. Nach dem Willen Gottes leben, fühlen und wissen,
setzt den Austausch praktischer, konstruktiver, außerordentlich
humanitärer Brüderlichkeit voraus. Denn wir dürfen uns nichts
vormachen: Ohne Humanität gibt es keine Göttlichkeit! Daher
darf keiner einen Himmel erwarten, der am Guten, das wir dem
Nächsten tun, vorbei käme. Das wäre die reinste Aberration,
für die es im Werke Gottes keinen Platz gibt.
Wer auf Erden dem Klerikalismus huldigt, darf von
diesem kein Heil erwarten. Alles beruht auf den Werken, und
wir wissen, dass diese auf der Festigkeit der LIEBE beruhen,
die durch sie hindurch in die Welt einsickert. Der Glaube trägt
dazu nur in dem Maße bei, in dem er gelebt, erarbeitet, ja
sogar erblutet wird. Das ist der Glaube jener großen Gestalten,
die sich für ihre Mitmenschen geopfert haben. Alles andere ist
nichts als Irrlichterei und Anmaßung.

*****

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Wiedersehen im Himmel

Wiedersehen im Himmel

Als wir an den Ort kamen, wo sich Dalva befand, und wo


auch ich zurzeit bei Rogérios Familie wohne, fanden sich dort
noch viele andere Freunde ein, um dieser Frau im Rahmen eines
gemeinsamen Festes die geplante Überraschung zu bereiten.
Alle kamen im Vortragssaal einer wissenschaftlichen Institution
zusammen, wo sie die Rückkehr eines hier heimischen
Bekannten zu feiern und ein glückliches Wiedersehen
vorzubereiten gedachten.
Es ist interessant, dass Dalva mir gegenüber in einem
Gespräch von der großen Sehnsucht nach den Ihren, vor
allem aber nach ihrem Mann gesprochen hatte. Sie meinte,
dass wohl irgendetwas Ungewöhnliches geschehen sein musste,
denn hin und wieder spürte sie einen mentalen Schock, als ob
sie gerufen würde. Sie konnte sich auch nicht erklären, warum
die Führer zum ersten Mal einen Besuch bei den Ihren um Tage
verschoben hatten.
Als nun wiederum drei Tage später der große Tag
gekommen war, fand in dem genannten Saal eine große
Versammlung statt. Dalva pflegte an solchen Versammlungen
großen Gefallen zu finden. Und man kann sich leicht die
Emotion eines derartigen Wiedersehens vorstellen. Nichts
wollte ihr in diesem Augenblick wichtiger erscheinen. Noch
unter dem Einfluss dieser starken Emotion stehend bat sie,
dem uns allen vertrauten Heiligen Ich einen Gedanken des
Dankes entgegenzusenden. Und da ihr Gelegenheit gegeben

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Osvaldo Polidoro

ward, einige Worte zu sagen, begann sie also zu sprechen:


„Herrgott, ich weiß, dass es in deinem unendlichen
Herrschaftsbereich keine Geheimnisse für dich gibt. Ich weiß
auch, heiliges Fundament, dass du die über alles erhabene
WAHRHEIT bist und durch Gesetze das Universum von innen
nach außen regierst. Alles weißt du, Vater, vor allen anderen.
Deshalb danke ich dir, mein Herr und Herr aller Dinge, aus der
Tiefe meiner Fähigkeit zu fühlen. Dein Wille geschehe immer
und für immer, Herr.
Jesus, unserem planetarischen Christus, entbiete ich das
Unterpfand meiner Dankbarkeit und meines Gehorsams. Mit
Hilfe der gebenedeiten Anweisungen des von dir übermittelten
Evangeliums, Herr, erreichen wir das angestrebte Ziel, das heißt,
das Bewusstsein unseres Zustandes und geistige Ruhe. Synthese
aller Wahrheiten durch delegierte Macht, wir vertrauen auf deine
Weisheit und deine unendliche Liebe. Da wir uns der höchsten
Gerechtigkeit bewusst sind, Herr, bitten wir dich, dass uns
deine sublimierten Abgesandten würdige Gedanken, gesunde
Praktiken und vergöttlichende Gefühle eingeben mögen.
Auch allen meinen Freunden, mögen sie nun anwesend
oder abwesend, höher in der Hierarchie oder gleichgestellt
sein, möchte ich meinen Dank zum Ausdruck bringen. Ich
wünsche euch, dass die höher Gestellten euch die ungeheure
Zufriedenheit vielfach zurückzahlen, die ihr mir heute bereitet
habt. Gott segne euch!”
Alle klatschten Beifall, und als dieser abgeklungen war,
bat jemand, dass auch Edgard einige Worte sagen möge.
Erschüttert von so vielen Emotionen brachte der Alte jedoch
kaum ein paar Sätze über die Lippen:

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Wiedersehen im Himmel

„Die Dinge sind ganz anders, als ich mir vorgestellt hatte.
Die alten Lehren sind zu empirisch ... Ich hätte nie gedacht, dass
das Leben auf dieser Seite so wäre ... so natürlich, so liebevoll, so
viele edle Freunde, die uns mit ihrer Aufmerksamkeit umgeben
... Wie viele Dinge müssen die Menschen auf Erden noch
kennen lernen! ... Ich weiß auch nicht, wie viele von all dieser
Schönheit erfahren möchten ... Ich glaube, sie würden Christus
wieder töten, wenn er davon wie damals mitten auf der Straße
erzählen würde ...”
Erneut erklang Beifall zu seinen letzten Worten. Und
der gute Alte zeigte sich sehr fröhlich, gab aber trotzdem
nicht seine Nachdenklichkeit auf. In seiner der WAHRHEIT
verpflichteten Seele ging irgendetwas vor.
Bald darauf ging die Versammlung zu Ende. Arm in Arm
entfernte sich das Ehepaar und bezeugte mit seiner Haltung,
dass der Tod die Fortsetzung des Lebens ist. Sie waren auch das
beste Beispiel dafür, dass auf den höheren Ebenen des Lebens
die Dinge vielleicht anders sein mögen, dass aber auf den
unteren Ebenen noch viel irdisches Platz hat, wenn auch auf
eine relativ verfeinerte Art und Weise. Es zeigte sich auch, dass
keiner mit einem einzigen Sprung in jene Gefilde vordringt,
in denen die Liebe einen für uns unsäglichen und unfassbaren
Sinn erhält.

*****

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Osvaldo Polidoro

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Wiedersehen im Himmel

Kontrast

Was ist WAHRHEIT? Wie viele Pilatusse müssten


diese Frage noch stellen? Wie oft noch müsste ein Christus
mit der dröhnenden Stimme eines tiefen Schweigens darauf
antworten?
Fast einen Monat nach seiner Entkörperung stattete
Edgard seinen Abkömmlingen einen Besuch ab. Rogério,
Lourdes und ich begleiteten ihn in Gesellschaft einiger Freunde.
Auch Dalva hätte sich als Mutter und Großmutter nie die
Gelegenheit zu so einem Besuch entgehen lassen.
Im Kreis der Familie, die ganz nach protestantischem
Muster erzogen war, hätte niemals jemand zugegeben, dass ihre
Toten hier anwesend sein könnten. Für die einen konnten diese
nur im Himmel oder in der Hölle sein, für die anderen aber
warteten sie auf die Auferstehung zum Jüngsten Gericht. Der
Besuch durchlief rasch mehrere Räume. Man kam überein,
dass nach Möglichkeit am Abend ein Zusammentreffen von
Verkörperten und Entkörperten stattfinden sollte.
Und so geschah es. Doch die traditionelle Lehre sollte am
wahren Inhalt der Frage vorbeiführen. Wie bei der Kreuzigung
des göttlichen Meisters war die Tradition stärker. Einige
erzählten einen interessanten Traum, in dem der Vater und
die Mutter, der Großvater und die Großmutter in Gesellschaft
anderer Personen vereint waren. Andere erinnerten sich an
nichts. Sie hörten zu und dachten an Freud.

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Osvaldo Polidoro

Doch blieb uns ein Trost: Wenn auch der technische


Teil versagte, standen die Dinge auf moralischem Gebiet
doch durchaus gut. Obwohl sie Sektierer waren, hielten sich
alle mehr mit Taten als mit Worten ans Evangelium. Die
Herzen waren herrlich ausgeschmückt und die Köpfe lebten
voller schöner Hoffnungen. Das gute Beispiel des Vaters trug
bemerkenswerte Früchte.
Der gute Alte aber trug weiter schwer an einem sehr
ernsten Problem. Er zeigte sich zwar froh und glücklich, blieb
aber weiterhin nachdenklich. Als ich ihn eines Tages daraufhin
ansprach, sagte er zu mir: „Außer Dalva hat mir niemand
etwas von Pflichtübungen gesagt. Noch genieße ich eine mir
zugestandene Sommerfrische. Ich denke jedoch schon an den
Tag, an dem ich irgendeine Arbeit aufnehmen muss ...”
Er verfiel in tiefes Nachdenken, nickte mit dem Kopf,
und brachte endlich diese Worte heraus: „Wie finde ich den
Dienst der geistigen Aufklärung schön! Wenn der Vater mir so
eine Aufgabe übertragen würde ...”
Da ich mir vor Augen führte, wie viele Menschen in
der Welt der Formen ebenso denken und dennoch einen
abscheulichen Sektarismus und Exklusivismus vertreten und sich
parteiisch verhalten, den höchsten Ausdrücken der WAHRHEIT
jedoch kaum Gehör schenken, erwiderte ich ihm auf eine etwas
grausame Weise: „Ist man erst einmal in diesen Gefilden, in
denen der sektiererische Einschlag der Welt gewöhnlich nichts
als Unannehmlichkeiten schafft, verspürt man gute Lust, die
andern gut zu erziehen, Edgard. Mach dir nichts aus meiner
Bemerkung, wenn es dir aber recht ist, dann tue das, indem du
an die Fehler denkst, die ich dort selbst einst begangen habe und
die mir hier ernsthafte Schwierigkeiten bereiten.”

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Wiedersehen im Himmel

„Freund, ich erkenne den Imperativ deiner Logik durchaus


an. Es gibt nichts an ihr auszusetzen. Doch schätze ich mich
glücklich, dass mich der Vater so früh hier aufgenommen
hat, obwohl ich es nicht verdient habe. Ich bin mir meiner
Verfehlungen durchaus bewusst. Und ich werde versuchen,
diese wieder gutzumachen, indem ich mich der Reihe der neuen
Apostel anschließe, die vor einer der Gewohnheit verfallenen
Welt durch den Austausch zwischen dieser und der anderen
Ebene die Verehrung des Trösters predigen und bekennen.
Wenn ich dies verdienen sollte, Freund Alonso, will ich im
Kontakt mit den noch im Körper lebenden Brüdern arbeiten.
Ich will dafür sorgen, dass sie erfahren, was diesseits des Grabes
geschieht, wo sich das Leben auf eine ganz andere Weise formt,
als alte heilige Urkunden lehren.”
Er schwieg eine Weile und fuhr dann in seinen
Überlegungen fort: „Ich kann mich nicht auf mein Wissen
berufen, doch kann ich mit dem Frieden rechnen, den ich stets
gepflegt habe ... Alles Weitere hängt von Gott ab.”
Ich glaubte nun eingreifen zu müssen und sagte ihm: „Gott
stellt den einen in den Dienst des anderen. Der Beweis dafür
ist die Autorität der Führer, angefangen bei den planetarischen
Christussen. Auf allen Ebenen wird jedem befohlen und jeder
befiehlt im direkten Verhältnis zu seinen Verdiensten und der
diesen entsprechenden Investition. Such deshalb einen unserer
Betreuer auf und erkläre ihm dein nobles Streben.”
„Bravo! Und vielen Dank!”, rief der gute Alte aus und
lächelte mich dankbar an.

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Osvaldo Polidoro

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Wiedersehen im Himmel

Eine Frau und ein Hinweis

Auf Erden findet man häufig Menschen, die fühlen, dass


sie Inspiration oder Hilfe von einem uinsichtbaren Akteur
erhalten. Diese Regel gilt auch an dem Ort, wo wir uns
befanden. Oft spricht jemand so gut oder man hört jemanden
so gut sprechen, dass der Eindruck eines höheren Einflusses
abgeschwächt wird. In besonders erhabenen Momenten, wenn
der Schritt in die verschiedensten Richtungen gelenkt werden
könnte, taucht immer - oder fast immer - ein Inspirierender
auf, der wie auf Erden dem Beeinflussten die Wahl lässt, dies
oder jenes zu tun.
Nach dem oben beschriebenen Gespräch, in dem ich
Freund Edgard empfohlen hatte einen Führer aufzusuchen
und ihm seine Bestrebungen zu erklären, zog dieser sich in
seine neue Wohnung zurück und ich begab mich in eine
der Parkanlagen, um dort die Stille und den Kontakt zu den
Quellen, Vögeln und Blumen zu suchen, um so den Geist auf
meine Weise zu ergötzen.
Als ich nun so an einem murmelnden Bache stand und
dort einige interessante Vögel beobachtete, die wie Wildenten
aussahen, aber einen viel herrlicheren Federschmuck trugen
als die auf der Erde, grüßte mich plötzlich eine Frau mit
schlohweißem Haar, die bedeutende Werte in sich zu bergen
schien, mit den Worten: „Bruder Alonso, guten Tag!”
Ich erwiderte ihren Gruß und bewunderte ihre strenge

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Osvaldo Polidoro

Haltung, ihre edlen Züge, den weichen Ton ihrer Stimme,


die anziehende Intelligenz ihres Blicks, während sie zu mir
sprach: „Ich gehöre zu Edgards Familie, soweit man dies noch
behaupten darf, denn unsere Pflicht ist es ja, die edelsten
Gefühle allen Kindern des Höchsten zukommen zu lassen. Da
jedoch unsere Lebensebene noch so relativ ist und wir uns
immer noch auf dieselbe Weise angezogen fühlen, habe ich
mich zu dir, meinem verehrten Freund, auf den Weg gemacht,
um dich als seinen Freund zu bitten, ihn zu unterrichten
oder zu bewegen, er möchte doch eine Nichte namens Altair
aufsuchen, die den Namen einer Großmutter von ihm trägt.”
„Das wird er bestimmt gerne tun, Schwester. Eine
Großmutter halten wir stets in bester Erinnerung, und ich
nehme an, dass es sich bei der im Körper lebenden Nichte
um eine Person handelt, die offensichtlich die Begabung eines
Mediums besitzt. Ich sehe da angenehme Überraschungen
voraus, Schwester.”
„So ist es”, erwiderte sie, ohne sich überrascht zu
zeigen. „Ich schätze deinen Scharfsinn, dein vibratorisches
Anpassungsvermögen und deine Dienstbereitschaft. Wahrschein-
lich weißt du auch schon, dass ich die Großmutter bin, nicht
wahr?”
„Ich schätze Großmütter sehr. Schwester Altair, es wird
mir eine Freude sein, dir behilflich zu sein, als wärst du meine
eigene Großmutter. Welch angenehme Erinnerungen ruft das
Bild meiner geliebten Großmutter in mir hervor, die nichts als
Zuneigung, Süßigkeiten und Früchte für mich bereithielt und
mich nie geschlagen hat.”
„Wir alle”, sagte sie dankbar, „sind Großmütter, Großväter,

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Wiedersehen im Himmel

Väter, Mütter, Geschwister usw., denn die Umstände der


Evolution bringen uns in all diese Lagen und lassen uns
all diese Bedingungen erfüllen, um uns schließlich einem
unabdingbaren geistigen Wertzuwachs entgegenzuführen. Du
kannst daher sicher sein, Freund Alonso, dass so, wie du dich
aus diesem oder jenem Grunde von jemandem angezogen
fühlst, andere, von denen du nicht einmal weißt, wer und wo
sie sind, auf dich warten und Sehnsucht nach dir haben. Das
Leben zwingt uns, mein Freund, das heilige Band universeller
Brüderlichkeit auszustrecken und damit im engen Kreise der
Familie den Anfang zu machen. Wenn wir aber erst einmal in
der wahren Spiritualität gewachsen sind, werden wir auch in der
Lage sein, in allen und für alle Wesen Liebe zu verspüren. Und
indem wir die Einzelzellen lieben, lieben wir auch das Ganze.
Dann wird Religion die von innen nach außen strömende
LIEBE sein, die keine Konventionen mehr braucht.”
Während sie so sprach, gingen süßeste Emissionen von
ihr aus, die mein Sein durchdrangen und mich in einer
glücklichen, heimatlichen, ureigenen Umgebung fühlen ließen.
Schon wollte ich sie danach fragen, als sie selbst weitersprach:
„Es lohnt sich nicht, diese Frage zu stellen. Alles kommt zu
seiner Zeit. Am besten halten wir uns bereit und arbeiten in der
Hoffnung, Gott zu gefallen. Natürlich weben wir selbst unser
Schicksal, doch die höchste Macht überwacht und belohnt
alles. Versuche dein Pflicht zu erfüllen, damit deine Ansprüche
gewahrt bleiben.”
Dann nickte sie mir zu, verabschiedete sich und
verschwand vor meinen Augen. Ich aber wusste, dass mir ein
weiterer glücklicher Auftrag übertragen worden war. Ich suchte
also so schnell wie möglich Edgard auf, um ihm von dem

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Osvaldo Polidoro

Vorfall zu erzählen. Und da sie mich gebeten hatte, ihn zu


beeinflussen, nahm ich an, dass ich ihm nicht alle Details
mitteilen sollte. Ich erfand daher eine Art Abstieg auf die Erde
der Verkörperten in Gesellschaft weiterer Freunde; im Verlauf
der Reise habe sich Gelegenheit zu einem Besuch bei jemandem
angeboten, der die Namen ins Gespräch gebracht habe, die
ihm vertaut sind.
Als Edgard mich von seiner Großmutter reden hörte, war
er sehr gerührt und seine Gedanken wanderten weit zurück
zu entfernten Bildern seines Lebens, die seinem Herzen jedoch
sehr hahe gingen. Ich machte ihm nun deutlich, wie dringend
ein Besuch bei der Nichte sei. Er stimmte mir zu und wir
verabredeten uns für den Abend, wenn wir unsere Pflichten
erfüllt hätten.

*****

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Wiedersehen im Himmel

Ein Mädchen und ein Ausflug

Nach Mitternacht machten wir uns auf den Weg zur


Wohnung des oben genannten Mädchens, der Nichte Edgards.
Im Zimmer erwartete uns bereits Altair, die Großmutter
Edgards. Und wie zu erwarten erfuhr dieser ein weiteres Mal
eines dieser glücklichen und ergreifenden Erlebnisse, die das
Leben der vor kurzem aus dem Körper Geschiedenen so schön
machen. Es war ein erhebendes Bild!
Kurz darauf kehrte der Geist des Mädchens zurück, der
bis zu diesem Augenblick nicht in seinem Körper gewesen war.
Da er uns beim Gespräch an der Seite seines ruhenden Körpers
antraf, begann er sich nach einer allgemeinen Vorstellung mit
uns zu unterhalten. Anschließend machten wir zusammen eine
Runde durch befreundete Häuser. Es war ein Vergnügen zu
beobachten, wie ungezwungen und scharfsinnig das Mädchen
Altair außerhalb ihres Körpers war. Sie hatte nichts von einem
durch starke moralische und elektromagnetische Ketten an
einen hilflosen Körper gebundenen Geist an sich.
Das Mädchen dachte, handelte, sprach, überlegte, bewegte
sich, ergriff die Initiative mit einer solchen Spontaneität,
als wäre sie bereits ein entkörpertes Wesen und in bester
psychischer Verfassung.
Während ich so meinen Gedanken nachging, wandte sich
Altair, die Grossmutter, mit folgenden Worten an mich: „Es
ist eine Frage der Fähigkeiten. Solange sie lebt und ihren

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Osvaldo Polidoro

Auftrag erfüllt, der sie in einen Körper gebannt hat, verfügt


sie über diese Freiheit und Leichtigkeit. Und wir können mit
dieser medialen Energie und Willenskraft rechnen, wenn es
darum geht, Menschen, die nicht an die spiritistischen oder
prophetischen Wahrheiten glauben, zu überzeugen.
Edgard, der angesichts der Bekundung so vieler göttlicher
Gnaden überhaupt nicht mehr aus dem Staunen herauskam,
bemerkte dazu: „Wie gern würde ich etwas für die Meinen
unternehmen! Wie gut wäre es, wenn sie von so vielen Dingen
erfahren könnten. Sie müssen entdecken, dass die von Jesus
gelehrten und gelebten Wahrheiten des Christentums nicht
nur von himmlisch-mystischem Wert aufgeblähte Theorien
sind, sondern dass sie lebendig, praktisch und wirksam sind,
dass sie mit derselben Kraft, mit denselben Erwartungen, mit
demselben Zauber, mit denselben Freundschaften bis in das
Leben auf dieser Seite hineinreichen.”
Er schwieg einen Augenblick, sah seiner Großmutter in
das Gesicht mit seinen edlen Zügen und sprach in einem
ernsten Ton: „Ich fühle es, dass Gott alles zu einem glücklichen
Ausgang führen wird. Wer könnte auch gegen den Gott der
Liebe und der Wahrheit ankämpfen? Lassen wir ein für alle Mal
den Gott der Heere und des Opferfleisches, der israelitischen
Metzeleien beiseite, diesen Gott, der nur für Israel da war
und für sonst keinen. Legen wir ein für alle Mal all das ab,
was einen Vater betraf, der kein richtiger Vater ist! Gott ist
LEBEN, Gott ist LIEBE, Gott ist GERECHTIGKEIT, Gott
begünstigt niemanden; bei ihm ist weder Platz für menschliche
Zumutungen noch für sektiererische Anwandlungen der
Klerikalismen aller Zeiten. Wer zweifelt, wer nicht liebt, wer
besseres Wissen meidet, kann sich nicht religiös nennen. Der

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Wiedersehen im Himmel

Klerus hat die Lüge zur Religion gemacht, nur weil seine
Herren auf Kosten dieser Lüge essen und trinken wollen.”
Seine Großmutter unterbrach ihn an dieser Stelle und
ließ erkennen, dass sie über die Geschichte des Lebens - oder
der Leben - ihres Enkels sehr gut Bescheid wusste: „Wenn wir
selbst doch Kleriseien geschaffen haben!”
„Dann müssen wir eben unser Möglichstes tun, um die
Vergangenheit rückgängig zu machen!”, gab er ihr darauf zur
Antwort.
„Dies geschieht bereits, lieber Edgard. Alle großen
Gestalten, die bei der zyklischen Erneuerung etwas für den
Spiritismus getan und ihm eine organisierte Lehre gegeben
haben, waren dieselben, die in anderen Epochen in ihrer
Unterentwicklung Religionen auf festen Grundlagen geschaffen
haben, nur dass diese sehr grob ausgelegt wurden. Hat der
Meister nicht gesagt, dass Elias wiederkehren würde, um
die Dinge wiederherzustellen? Weißt du warum? Weil Elias
damals der Gründer des exklusivsten religiösen Prinzips
auf dem Planeten gewesen ist. Daher ist es die Aufgabe
eines jeden, der dem Herrn einmal als Werkzeug gedient,
aber dabei minderwertig gehandelt hat, sein Möglichstes für
die Abschaffung des Religiosismus und die Errichtung des
Wahrheitskults auf der Welt zu tun. So hat es nach dem Gesetz
zu geschehen, und so geschieht es auch.”
„Es freut mich, dies zu erfahren”, sagte Edgard darauf
voller Befriedigung.
„Die Religionsgründer wollen heute nur das Eine: Dass
sich auf Erden das Konzept Christi durchsetze, das da sagt „Die
Wahrheit wird euch befreien”. Denn jede geistige Frage ist eine

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grundsätzliche Frage der Moral oder der Wissenschaft. Das


Sein braucht also nichts weiter, um auf den Stufen der Reinheit
und der Weisheit emporzusteigen, als Liebe zur WAHRHEIT
und Abneigung gegen die klerikale Förmlichkeit.”
Nachdem die Großmutter Edgards dies dargelegt hatte,
folgte ein langes Schweigen, und ich weiß nicht, was sich ein
jeder von uns gedacht hat. Von mir aber weiß ich, dass ein
Strom von Gedanken der Erneuerung in meinen Kopf flutete.
Altair schaute mir nun in die Augen und bemerkte:
„Es ist schwer, allein das Unkraut aus dem Boden
auszumerzen. Der falsche Religiosismus ist ein ruchloses Laster.
Ohne die Hilfe bestimmter Gesetze wäre die Arbeit der
Erneuerung und Sanierung des Ichs unmöglich. Tun wir also
unser Möglichstes, doch ohne Verzweiflung und Ungestüm.
Wer keine Geduld hat, begeht leicht große Fehler und schamlose
Handlungen und muss sich schmerzlichen Reinkarnationen
unterziehen. Gott, der LIEBE ist, ist auch TOLERANZ.”
Angesichts dieses Gesichtsausdrucks, aus dem große
Erfahrung sprach, konnte ich dem nur beistimmen und
sagte:”Richtig! Wie freut es mich, dass die Gründer verschiedener
Glaubensformen sich jetzt für die Ausübung der gesunden,
makellosen Spiritualität einsetzen, der alle konventionellen
Überlegungen oder von Menschen geschaffene Regeln fremd
sind. Wenn die Ära des Trösters gekommen ist, Oma Altair,
dann bedeutet dies, dass für die Menschen dieses Planeten der
glückliche Augenblick da ist, in dem sie sich über die Ketten
und Fesseln der theologischen Ränke hinwegsetzen können, die
das Sein, das Gewissen und die Vernunft mit Füßen treten.”
Und die Großmutter fuhr nun fort: „Ich für meinen Teil

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freue mich, Edgard, dass du solchen Gedanken anhängst. Wenn


erst einmal das mentale Prinzip bewusst gemacht ist, können
alle latenten Kräfte für die gemeinsame Sache eingesetzt werden.
Ein vom Körper befreiter Geist bedarf zur Rückeroberung des
eigenen Selbst weiterhin einer großen Kampfeslust. Er war zwar
ein Evangelist auf Erden, aber er hat dennoch nicht alles getan,
was er für die Entwicklung selbst im Bereich des Eveangeliums
hätte tun können.”
Edgard war bei diesen Worten noch hellhöriger geworden,
sie aber sprach weiter: „Denn das Evangelium ist eine Schule
ohne Ende für uns, sowohl nach unten als auch nach oben.
In seinen Bereich, Edgard, gehören das embryonale Sein und
seine Umgebung, aber auch die Wesen der christischen Ebene
und ihre glänzende Wirklichkeit. Sieh und fühl einmal, wie
weit der Mensch noch von den tiefgründigen Lektionen des
Evangeliums entfernt ist. In diesem ist alles unendlich tief, denn
es ist sozusagen der ANFANG und das ENDE der göttlichen
Weisheit. Kein irdisches Wesen ist wirklich in der Lage, Gott
mit seiner ganzen Intelligenz und mit der ganzen Kraft seines
Herzens zu lieben, denn das erfordert eine derartige Heiligkeit
und ein derart tiefes Wissen, wie sie kein Geist ertragen könnte,
der an den Dichtigkeitsgrad des irdischen Körpers gebunden ist.
Das ist nicht einmal den Mystikern in ihrer Ekstase möglich,
von der wir wissen, dass sie das aus sich Heraustreten des Ichs
ist und daher auch noch andere, höhere Formen des Einklangs
und des Kontakts mit den höchsten Vibrationen erleichtert.”
Dazu hatte Edgard folgendes zu sagen: „Wer könnte auch
auf Erden behaupten, alles Wissen und alle Gefühlskraft zu
besitzen? Und selbst wenn es ihn gäbe, würde er bestimmt
nicht davon sprechen, denn wer am meisten ist und vermag,

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pflegt sich gerade deshalb schlicht und bescheiden zu zeigen.”


Altair pflichtete dem bei: „Unter dem Gesichtspunkt
persönlicher Hierarchie und als Exponent unbestreitbarer,
universeller Zustandssublimierung kam selbst Christus als
ein äußerst Geringer auf die Welt. Die Menschen, seine
minderen Brüder, hätten ihn anders auch gar nicht ertragen,
und nur so war es möglich, eine Verbindung zwischen der
Größe geistigen Glanzes und den rohen Bedingungen eines
physischen Körpers in einer derart dürftigen Umgebung
herzustellen. Zuerst musste also ein Reduktionsprozess
stattfinden und erst nach dieser Angleichung konnte das
große Ereignis eintreten. In einem kleineren Maßstab ist diese
Art von Reduktion übrigens keine Seltenheit unter Wesen,
die sich in regelmäßigen Abständen verkörpern.”
„Man sieht eben, dass alles nach weisen Gesetzen abläuft”,
meinte Edgard dazu.
„Natürlich”, bekräftigte dies seine Großmutter. „So wie
die vibrierende Kraft des Geistes Gesetz ist, ist es nicht weniger
auch die Dichte des Physischen, zu dem die Welt und die
materiellen Dinge gehören. Jedes Ding und jedes Element
unterliegt in seiner jeweiligen Verfassung dem Gesetz und wird
durch das Gesetz als Ausdruck einer höchsten Macht bestimmt.
Im Werke Gottes gibt es nichts, was nicht Respekt verdienen
würde, denn alles spiegelt einen höchsten Willen wider. Und
der Mensch darf auf der Stufe der Unterscheidungskraft auch
nicht das geringste der Dinge, die nach dem höchsten Willen
existieren, respektlos behandeln. Seine Pflicht besteht darin,
alles zu verstehen zu versuchen, an erster Stelle sich selbst.”
Die Nichte Altair hatte uns währenddessen für kurze Zeit

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verlassen und kehrte nun in Gesellschaft dreier Vettern zurück,


die ihren Körper ebenfalls im Bett zurückgelassen hatten. Beim
Anblick ihres verstorbenen Onkels, der nun lebendiger als je
vor ihnen stand und ihnen glücklich zulächelte, waren sie
natürlich etwas schockiert. Auf eine für alte Leute typische Art
und Weise wusste er aber die Jungen anzuziehen, indem er
liebevoll ihre blonden, reinen Köpfchen streichelte.
Gleich darauf strebten die Kinder auch in die Arme
der Großmutter Altair, und diese hätschelte sie und flößte
ihnen mächtige Lichtstrahlen ein. Nach einer angenehmen
Unterhaltung bat sie das Mädchen, die Jungen wieder in
ihre Körper zurückzuführen. Die Kinder verabschiedeten sich
daraufhin mit Wehmut von ihren lieben toten Verwandten.
Als die junge Altair zurückkam sprach ihre ehrwürdige
Urgroßmutter vor der versammelten Gruppe zu ihr:
„Meine Liebe, möchtest du nicht einen herrlichen Dienst
übernehmen?”
Das Mädchen voller Lebenskraft und geistigem Glanz
machte mit einer Geste ihr Einverständnis deutlich, ließ sich
aber gleichzeitig anmerken, dass sie alles nur mit dem Segen
Gottes und der Unterstützung und Anleitung der Ratgeber
ausführen könne.
„Überlege dir’s gut, meine Freundin. Mehr als meine
Urenkelin bist du eine große Freundin von mir aus anderen
Tagen, ein kämpferischer Geist, der keine Opfer scheute,
wenn es darum ging, gegen den Irrtum anzugehen und dem
Recht zum Sieg zu verhelfen. Wir erwarten viel von dir,
geliebte Tochter von gestern, denn für eine gute Saat bist du
ins Fleisch zurückgekehrt. Gott lässt nie diejenigen im Stich,

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die ihm in Liebe und Weisheit zu dienen suchen. Zuerst


wirst du die Fackel höhrerer Erkenntnis zur Erleuchtung der
Gewissen und zum Trost der Seelen im Kreise der Familie
erheben und dann auch in ihrer weiteren Umgebung. Damit
die Menschen die evangelische Wahrheit in sich selbst spüren,
ist es notwendig, dass sich edle Wesen dem Kampf widmen.
Damit die Umwelt erleuchtet werde, muss der Docht brennen
und das Wesen sich aufzehren.”
Das Mädchen schaute fest in das schöne Gesicht der
ehrwürdigen Frau, und als diese die Arme ausstreckte, netzte sie
ihr schneeweises Gewand mit glücklichen, dankbaren Tränen.
Ein Bündnis wurde damit besiegelt. Und nachdem sie noch
einige Worte getauscht hatten, begaben wir uns alle auf
Einladung der Urgroßmutter auf die Reise zu der Lebensebene,
die ihr zustand. Die Urenkelin Altair strahlte vor Glück.
Ihre schlanke Gestalt, ihr geistiger Glanz, alles an ihr schien
zuzunehmen, seit sie sich der hierarchischen Umgebung
gegenübersah, die ihr entsprach.
Die Gegend war tatsächlich weit fortgeschritten. Es
musste sich um den achtzehnten Himmel handeln; je nach
Verständnis oder Klassifizierung der Zonen, die die festen
Welten umgeben, könnte man auch von der achtzehnten
Schicht sprechen. Von oben oder unten zu sprechen ist
ja eine Konvention, die sich vom Gesetz der Schwerkraft
herleitet; in Wirklichkeit gibt es kein oben oder unten,
sondern immer erhabenere oder himmlischere Außenzonen, je
mehr sie sich dem höchsten Wesen, dem göttlichen Zustand
schlechthin nähern. Das besagt selbstverständlich, dass Gott
zwar allgegenwärtig ist, dass seine Manifestation jedoch nicht
absolut sein kann, wo die Materie oder die Materialität dies

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nicht zulassen. Und da dies alles nach seinem Willen und


Gesetz so ist, lieben und respektieren wir die Relativismen,
denn gerade sie haben die Aufgabe, das hervorzuheben, was am
erhabensten ist.

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Erste Anzeichen

Nach jenem schönen Tag begann Edgard eine


ausgezeichnete Arbeit zu leisten. Altair aber überkamen
plötzlich sonderbare Schauder, ein merkwürdiges Zittern und
Gefühllosigkeit in den Armen. Nachts sprach sie oft, wie wenn
sie sich mit jemandem unterhalten würde. Mehrmals fiel der
Name des Onkels.
Die Familie stellte sich tausend Dinge vor. Bis dann das
Mädchen seinen ersten Anfall hatte. Nun liefen sie eilig zum
Arzt der Familie, der zur selben protestantischen Sekte gehörte
wie sie. Dieser sprach verlegen von Epilepsie und verschrieb
Ampullen, Stärkungsmittel, Elektroschocks usw.
Etwas mehr als zwanzig Tage später nach dem ersten
Anfall erhielt die Familie den Besuch eines engen Freundes,
der praktisch ein Okkultist war. Er war ein Arbeitskollege
des Vaters von Altair, mit dem er seit über dreißig Jahren
zusammenarbeitete. Keiner von beiden hatte je vermocht,
den andern von seiner Lehre zu überzeugen. Dennoch
verband sie eine feste Freundschaft, denn ein jeder zollte den
Charaktereigenschaften des andern großen Respekt.
Nun hatte Gott es aber so eingerichtet, dass dieser Kollege
Paulo sich gerade wieder einmal mit Altairs Vater unterhielt, als
das Mädchen einen weiteren Anfall erlitt. Die ganze Familie lief
eilfertig herbei, man rieb sie ein, bewegte ihre Glieder usw. Der
Nachbar sollte ihr eine Spritze geben, aber das Mädchen ließ es

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seltsamerweise nicht zu und wehrte seine Hand ab.


Der Okkultist hielt nicht länger an sich und erklärte, dass
es sich ganz sicher um einen spirituellen Fall handelte. „Sie ist
von einem Geist ergriffen.”
Das ganze Haus stand nun Kopf. Man legte dem schwer
atmenden Mädchen die Bibel auf die Brust, andere rezitierten
Psalmverse. Alle dachten an Teufel und Teufelchen und
projezierten diese Bilder in den sie umgebenden Äther. Wir,
das heißt ihre Großmutter Altair, Edgard und ich, litten unter
diesen Reaktionen, denn diese traurigen Gedanken brachten
unseren Vibrationsstandard durcheinander.
Sie dachten, dass sie mit Christus im Bunde waren, aber in
Wirklichkeit bewirkten sie das genaue Gegenteil, denn sie waren
von Angst besessen und handelten gegen den höchsten Willen.
Deshalb beschloss die ehrwürdige Altair einen Lichtstrahl
auszusenden, um eine aus Arbeitswesen gebildete Kolonne
herbeizurufen. Als diese eintrafen, wirkten sie zuerst auf Edgard
ein, denn er sollte sobald wie möglich zu allen im Namen des
Vaters sprechen und ihnen klarmachen, dass sie das Mädchen
mit den starken Medikamenten verschonen sollten, die sie
anzuwenden gedachten.
Unter dem Einfluss dieser Wesen mit ihrem dichteren
Fluidum gelang es Edgard, das Mädchen in seiner medialen
Struktur völlig zu beherrschen. Man bekam nun die Worte
des Freundes zu Gehör und alle meinten, dass das Mädchen
selbst wieder zu sich zu kommen schien. Edgard aber ließ
sich mit sanfter, viel tieferer Stimme vernehmen. Nachdem
er sich vorgestellt und erklärt hatte, wer er sei und wozu
er hergekommen war, zeigten sich einige zufrieden, während

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Wiedersehen im Himmel

andere das alles für eine Hinterlist des Teufels hielten.


Urias, Altairs Vater und Edgards Bruder, wünschte wohl
als Vater vor allem die Genesung seiner Tochter und bat deshalb
seinen Bruder um Rat, was er denn tun solle, um seine Tochter
zu heilen. Nun mischte sich auch die Mutter des Mädchens ein
und verlangte ihre baldigste Heilung.
Da sagte Edgard: „Es geht nicht um Heilung, denn sie
ist ja nicht krank. Sie ist nur ein Medium, eine Prophetin, wie
man es einst nannte. Es ist eine Fortsetzung der Taufe durch
den Heiligen Geist im Gange, damit wie einst durch Jesus die
WAHRHEIT nicht nur in der Theorie verkündet werde. Wie
die Offenbarung den Messias begleitete, so muss sie auch seine
Apostel begleiten.”
„Wie gehts es dir denn, Edgard?”, fragte sein Bruder
im Fleische. „Gott sei Dank, sehr gut”, antwortete ihm der
entkörperte Bruder durch den Mund der jungen Nichte,
„Großmutter Altair lässt euch grüßen”.
„Und Dalva?”, fragte die Mutter des Mädchens. - „Dank
der Gnade Gottes geht es ihr gut. Sie arbeitet an einem anderen
Ort und konnte uns deshalb nicht begleiten.”
„Wer ist denn bei dir?”, fragte wiederum der Bruder
im Fleische. - „Großmutter Altair und ein Freund namens
Alonso.”
„Ist Großmutter glücklich?”, fragte auf einmal ein kleiner
Junge, der sich ohne Furcht in das Gespräch einmischte.
„Großmutter ist ein bedeutender Geist, mein Lieber.
Wir sind nicht alle in allem Gleich. Einige sind weiter
entwickelt als andere. Gott ist gerecht und in seinem Werk ist
kein Platz für den Irrtum. Es gibt so viele Dinge, die wir nicht

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wissen, und trotzdem gibt es Menschen, die es genießen,


noch weniger zu wissen.”
Während der Geist so sprach und in seinen Erklärungen
immer weiter ging, legte die ehrwürdige Dame ihre strahlenden
Hände auf das Haupt eines jeden Anwesenden. Edgard
schloss schließlich mit dem Versprechen zurückzukommen; am
nächsten Donnerstag sollten sich alle um einen Tisch herum
versammeln und ihre Gedanken auf Jesus konzentrieren.
Eunice, Altairs Mutter, bat um die Gesundheit ihrer
Tochter, und Edgard antwortete ihr, dass ihre Genesung von
ihnen selbst abhänge, da sie ja nicht krank sei. Im Herzen
der Mutter schien sich daraufhin eine unendliche Freude
auszubreiten, und ihr toter Schwager bat sie, auch seiner
Familie mitzuteilen, dass er lebe und sich in Gottes Frieden
befinde.
Nachdem sich der Freund zurückgezogen hatte, blieben
wir noch eine Weile in der Wohnung. Alle freuten sich über
die Maßen, als die junge Altair wieder zu sich kam. Und
sie überhäuften sie mit Fragen. Im Allgemeinen waren alle
zufrieden, dass sie sich in bestem Zustand befand und spontane
Freude ausstrahlte.
Paulo, der Okkultist, fühlte sich als Freund des Hauses
und der Sache über alle Maßen glücklich. Für die anderen,
die nichts von diesen Dingen verstanden, war das alles wie ein
Tabu. Er sprach nun zu ihnen von den hebräischen Patriarchen,
von Moses, von den Propheten, von Christus und den Aposteln
und machte ihnen klar, dass diese alle Medien oder Propheten
gewesen seien, das heißt Vermittler zwischen der Welt der
im Körper Lebenden und den Entkörperten, ein jeder nach

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seinen Fähigkeiten, dem Ausmaß seiner Möglichkeiten und


missionarischen Investitionen.

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Bei Rogério zu Hause

Es ist traurig, einen Menschen zu sehen, der nicht


den Mut und die moralisch-intellektuelle Energie aufbringt,
gegebenenfalls seinen eigenen Überzeugungen zu widersprechen,
wenn diese reformbedürftig geworden sind. Nur ein krankes,
sektiererisches, ängstliches Gehirn ist zu diesem Schritt nicht in
der Lage, denn es ist unfähig, die Veränderungen des Lebens
und die unzähligen Nuancen der WAHRHEIT zu verstehen.
Das Gespräch in Rogérios Hause, wo Edgard und seine
Frau abgemacht hatten sich zu treffen, drehte sich um diese
Logik. Urias, der Vater der jungen Altair, hatte einen guten
Eindruck bei der Großmutter Altair hinterlassen, und sie
erwartete deshalb von ihm eine segensreiche Arbeit zugunsten
der Verbreitung des progressiven Evangeliums.
Nach einigen Minuten verabschiedete sich die ehrwürdige
Frau von uns und zog sich zurück. Dies tat auch das
Ehepaar Edgard, doch diese beiden unternahmen noch
einen gemeinsamen Spaziergang, um so das Vergnügen ihrer
gegenseitigen Gesellschaft zu genießen. Das Ende der Nacht
war kühl in der Gegend, in der ich in jenen Tagen wohnte. Ein
blasses Mondlicht breitete sich über die Dinge. Von weit her
war hin und wieder das Piepsen eines Vogels oder das Schwirren
eines Insekts zu vernehmen und man musste unwillkürlich
daran denken, wie ähnlich sich doch die Welt des Himmels
und die körperliche Welt sind. Aus einer Reihe von Gedanken
schälte sich mir die Frage heraus, ob es wohl einmal einen

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Anfang oder ein Ende gegeben hat. Wie hätte wohl Gott,
das VÖLLIG WESENTLICHE, oder irgendeiner seiner
Entsandten gehandelt, um den Wesen und den Dingen diese
Veranlagungen zu geben? Und wie könnte man einen Verneiner
dieser ganzen Pracht mit aller Heftigkeit kritisieren, wenn die
Majestät selbst den Geist manchmal zur Unterscheidung unfähig
macht? Mir scheint es sehr einfach, sich ein GEMEINSAMES
PRINZIP aller Dinge vorzustellen, aber es ist fast unmöglich,
die unzähligen Abstufungen zu erahnen, in die sich dieses
PRINZIP entfaltet.
Die Synthese ist leicht zu finden: Die Macht der Analyse
ist mangelhaft. Viel Synthese bedeutet viel Unwissenheit. Wenig
Analyse entspricht schon einer ganzen Menge Weisheit. Man
sollte vor allem dies vor Augen haben, dass wir der analytischen
Ebene angehören, dem sogenannten Werk Gottes, das viel
mehr mit der analytischen oder relativistischen Ebene zu tun
hat als mit der der Synthese. Was wir sind hat seinen
Ursprung in der HÖCHSTEN SYNTHESE; alles, was wir
brauchen, leitet sich von ihr ab. In Wirklichkeit sind wir gerade
deswegen bedürftig, weil wir uns im Bereich der Ableitungen
bewegen. Keiner von uns gibt oder empfängt von der
HÖCHSTEN SYNTHESE, weil wir nur ein Schmuckelement
im relativistischen Rahmen sind und deshalb unter keinen
Umständen die Pflicht zu brüderlicher Zusammenarbeit
entbehren können.
Gott über alles zu lieben und unseren Nächsten wie uns
selbst? Ich glaube, dass dieses Gebot des Dekalogs nicht dem
Geist der HÖCHSTEN WESENHEIT entspricht, denn diese
ist ja auf gar keinen Fall egoistisch, sonst würde sie doch stets
den reichlich belohnen, der ihr ewiges Lob spendet, ansonsten

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Wiedersehen im Himmel

aber seinem Nächsten das Leben schwer macht. Gott hat


nie verlangt, dass man ihn anbete. Das ist eine Erfindung
der Menschen, stammt aus den mittelmäßigen Köpfen nicht
entwickelter Wesen. Das astrale Dunkel ist voll von großen
Lobhudlern, von Geschöpfen, die Gott anbeten müssen, damit
sie nie das Recht ihres Nächsten zu achten brauchen.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es denen gut geht,
die für ihren Nächsten sogar ihr Leben geopfert haben. Gott
gegenüber, der über alle menschlichen Vorstellungen hinaus
hoch erhaben ist, reicht ein ehrliches Gefühl für das, was
ist, nämlich für den URSPRUNG aller Dinge, der uns
rein und weise will. Wenn die Menschen eines Tages rein
und weise geworden sein werden, wird es überhaupt keine
äußerliche Anbetung mehr geben und alle Frömmelei wird
dann zusammenbrechen. Im Herzen eines jeden Menschen
wird dann eine Fackel brennen als lebendiges Zeichen
moralischen und intelligenten Handelns gegenüber dem, der
das FUNDAMENT von allem ist. Um Gott zu dienen, ihn
anzubeten, ihn zu lieben, wird der Mensch mit allen Mitteln
nach einem Bruder suchen, dem er nützlich sein kann.
Außerhalb der LIEBE gibt es keine Seligkeit. Außerhalb
der LIEBE ist alle Anbeterei nur dummer, heuchlerischer,
käuflicher Ersatz. Im Reich der Dunkelheit habe ich manchen
zur eigenen Rechtfertigung rufen hören: Herr, mein Gott!
Jungfrau Maria! Jesus Christus! Ich habe so viel gebetet! Habe
mein Leben lang gebeichtet! Habe das Evangelium gelesen!
War katholisch! War Spiritist! War Protestant! usw. Doch ihr
Erbe waren allein Schmerz und Verzweiflung, denn ihr Tun
in der Gesellschaft hat sich bestimmt nicht durch besondere
Brüderlichkeit ausgezeichnet. Ich nehme an, dass Christus,

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Osvaldo Polidoro

der Überbringer des Evangeliums, dieses Freibriefes, wenn er


wieder in Fleisch und Blut auf die Erde zurückkäme, wiederum
sagen würde: „LIEBET EINANDER!”
Denn die Priestertümer der Welt sind wahrlich weit
entfernt von den Bestimmungen Gottes. Spiritualismus heißt
nicht Spiritualität, Religiosismus ist noch keine Religion. Ein
Etikett ist nicht das Wesentliche. Anschein ist nicht Wirklichkeit.
Anmaßung ist nicht Verdienst. Und die Titel dieser Welt halten
vor der höchsten Gerechtigkeit meist nicht Stand.
Auf den Tröster wartet noch viel Arbeit. Pflicht des
Menschen aber ist es, ehrlicher Herold des grundlegenden
Gesetzes zu sein, dessen ungeheure latente Kraft nichts
wäre ohne die modernen Apostel, die ihm menschliche
Ausdruckskraft verleihen. Die WAHRHEIT hat es nicht nötig,
dass man ihren inneren Wert bezeuge, sie braucht aber gute
Verkünder ihrer Vortrefflichkeit.
Ebenso darf der Mensch sich nicht der Routine überlassen.
Ein Punkt der Lehre ist nicht mehr als ein Punkt, er ist nicht
die ganze Lehre. Wer in den Teufelskreis gerät, sich als Apostel
Christi zu betrachten, wird zum Antichrist, das heißt, er dient
der Rückentwicklung. Wer meint, dass er schon viel über
das Evangelium weiß, weil er den Text auswendig gelernt
hat, stellt sich gegen das Evangelium. Nicht das Buch ist das
Evangelium, sondern das allgemeine Gesetz der LIEBE und
der WISSENSCHAFT, wie es vom LEBEN dargeboten wird.
Es war eine Synthese vonnöten, und auf die Welt kam ein
erhabener Übermittler. Die Menschen und die Priester aber
machten aus dem Überbringer Gott und aus dem Buch das
Evangelium.

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Wiedersehen im Himmel

Jeder trägt Gott und das Evangelium in sich, weil


er ein FUNDAMENT hat und Teil des ALLGEMEINEN
GESETZES der LIEBE und der WISSENSCHAFT ist.
Das ist der allgemeine Plan. LIEBE und WISSENSCHAFT
entdecken heißt, dem FUNDAMENT entgegengehen, sich
auf DIESES einstellen, seinen WILLEN vernehmen. Alle sind
wir zum christischen Zustand bestimmt. Und wer diesen
Zustand der Erhöhung erreicht, handelt als Entsandter des
FUNDAMENTS, des PRINZIPS, das wir Gott nennen.

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Wiedersehen im Himmel

Am nächsten Donnerstag

Wir sind alle an das Gesetz der Assoziierung gebunden.


Deshalb machte sich jeder mit mehreren Freunden auf den Weg
zu Urias’ Haus. Und da dies auch die Verkörperten taten, kam
am Ende eine große Anzahl von Leuten zu dieser spiritistischen
Sitzung zusammen. In einem relativ anderen Grad geschah also
das, was auch Christus auf dem Berge Tabor getan hat.
Als ich selbst zusammen mit vielen anderen ankam, hatte
sich die ehrwürdige Frau Altair bereits seit etwa einer Stunde mit
der jungen Altair als Medium beschäftigt. Auch Dalva gehörte
diesmal mit zur Gesellschaft, und ihr erster Wunsch bestand
darin, allen Nichten und Neffen einen Kuss zu geben. Nach
einiger Zeit ließ sich das junge Medium so vernehmen: „Ich
weiß nicht warum, aber ich fühle mich so glücklich, Mutter.”
„Natürlich”, antwortete ihr die Mutter darauf, „du hast
ja auch keine Anfälle mehr gehabt.” - „Nein, das ist es
nicht, Mutter, es ist irgendetwas Undifinierbares.” Ohne sich
dessen bewusst zu sein, spürte sie die wohltuende Nähe
der Urgroßmutter, die weiterhin ihr mächtiges, strahlendes
Fluidum auf sie überströmen ließ.
Als die Sitzung dann begann, wandten sich alle Blicke
zu dem Mädchen. Urias bat aber den Okkultisten, zuerst ein
paar Worte zu sprechen. Paulo ließ sich daraufhin eine Bibel
geben, und mit der Bibel in der Hand sprach er von den
Offenbarungen, die seit der Genesis und bis zur Apokalypse

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Osvaldo Polidoro

durch die Vermittlung von Geistern und Engeln erfolgte. Gott


habe die Menschen stets durch Engel und Geister unterrichtet.
Und da es nur einen Bericht über die Art und Weise
gibt, wie sich die Apostel zu versammeln pflegten, las ihnen
der Okkultist diesen Bericht aus Paulus’ erstem Brief an die
Korinther, Kapitel 14, vor. Am Ende fügte er dann selbst mit
aller Kraft seiner Begeisterung hinzu: „Nach diesem System
versammelten sich die Apostel, das heißt, sie hielten sich genau
an die Vorgänge des großen Pfingstfestes, als sie die Taufe
durch den Heiligen Geist empfangen hatten, denn dafür war
Christus ja auf die Welt gekommen, dass der Mensch durch
die Offenbarung Kenntnis von den Dingen Gottes erhalte.
Christus hatte die LIEBE gepredigt und die Offenbarung
versprochen. Und heute werden wir dank der Gnade Gottes
erneut Zeugen einer Verheißung Christi sein.”
Der ehrliche, mächtig vibrierende Ton des Okkultisten
weckte unsere Empfindsamkeit. Und die ehrwürdige Frau Altair,
Urias’ Großmutter und Urgroßmutter des jungen Mediums,
konnte nicht umhin, das Mädchen als ihr Sprachrohr zu
benutzen und alle Anwesenden zu dieser günstigen Gelegenheit
willkommen zu heißen. An erster Stelle bedankte sie sich bei
dem Redner des Abends für seine Worte und richtete sich dann
mit mütterlicher Zärtlichkeit an alle.
Die tröstliche Manifestation der Geister ruft unter den
leidenden Wesen das Bedürfnis nach Orientierung hervor,
denn damit entwickelt sich der Mensch auf ein größeres
Solidaritätsgefühl zu und hat dabei stets ein natürliches Handbuch
der Psychologie vor Augen. Daraus ziehen beide Ebenen Gewinn,
denn es profitiert davon stets die Menschheit selbst, die ja
diesseits oder jenseits des Grabes immer ein und dieselbe ist.

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Wiedersehen im Himmel

Nach einigen weiteren Betrachtungen kam die ehrwürdige


Dame dann der Neugier einiger Anwesender entgegen und
richte an den Okkultisten, der von allen, die sich hier
versammelt hatten, in solcherlei Fragen der Bewandertste war,
folgende Bitte: „Freund Paulo, ich wünsche, dass du einen
leidenden Bruder orientierst, der sich hier unter uns befindet.
Du weißt ja, dass Jesus uns gelehrt hat, dies zu tun, wenngleich
sich die Historiker mehr für andere Aspekte seiner Lehre
interessiert und aus den heiligen Schriften manche wahre und
nützliche Unterweisung entfernt haben.”
Nachdem sich der Mann bereitwillig dem erleuchteten
Wesen zur Verfügung gestellt hatte, entfernte sich die ältere
Altair von der jüngeren und machte drei andern Mitarbeitern
Platz, die einen Mann von trauriger Gestalt heranführten, der
sich unter schrecklichen Schmerzen wand.
Der Leidende nahm auch sogleich von der medialen
Struktur des Mädchens Besitz und ließ es seine eigenen
Regungen wiedergeben. Er krümmte das Mädchen zusammen,
weinte und stöhnte schmerzvoll und bat um Gottes Willen
um Hilfe. Nun war es an dem Okkultisten, dem Leidenden
klarzumachen, dass er bereits seinen Körper verlassen hatte
und dass er sich davon überzeugen musste, um endlich ein
Leben der Gesundung in Frieden und fleißiger Beschäftigung
führen zu können.
Wegen der quälenden Schmerzen konnte das Wesen
seine Stimme nicht vernehmen. Darum bat der Mann alle
Anwesenden, für es zu beten. In diesem Moment vergaßen
alle ihre Neugier und begannen zu beten. Es war ein
schöner Anblick, denn jeder richtete auf den Leidenden einen
ununterbrochenen Strahl heilenden Fluidums. Nach und nach

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Osvaldo Polidoro

beruhigte sich nun der leidende Mann und Wohlbefinden und


Friede kehrten bei ihm ein.
Als es ihm jetzt besser ging, erschien ihm die ehrwürdige
alte Dame und sprach voller Zuneigung auf ihn ein. Der
Mann wunderte sich, dass er zwar gestorben war, aber dennoch
einen Körper besaß, der ihn so leiden ließ. Die ehrwürdige
Frau musste ihm erst klarmachen, dass ein Körper in allen
Dichtegraden stets ein Körper bleibt, weil er ein relatives
Verhältnis zu dem Bewusstseinsgrad des geistigen Wesens
beibehält. Sie bat ihn deshalb, seine Gedanken zu Gott, dem
heiligen Prinzip, zu erheben, damit seine Heilung für diesen
Moment den bestmöglichen Erfolg hätte.
Der Mann fing also mit aller Inbrunst an zu beten, sodass
erhabenes Fluidum in ihn hineinströmen konnte. Er dankte
schließlich Gott und allen Anwesenden für seine Heilung,
während ihm Tränen übers Gesicht liefen. Als er dann fragte,
wohin er sich denn nun zu wenden habe, antwortete ihm
die ehrwürdige Frau, dass einer der Anwesenden eine Gegend
aufsuchen werde, die in etwa seinem Verdienst entsprach; dort
werde er lernen für das Gemeinwohl zu arbeiten.
Darauf entfernte sich der Mann.
Unter den körperlich Anwesenden befand sich auch
ein Mann, der, wie ich später erfuhr, an einer Hochschule
unterrichtete und mit den Bewohnern des Hauses verwandt
war. Dieser Mann vertrat ziemlich eigentümliche deistische
Ideen: Er glaubte an einen möglichen Gott, der für ihn jedoch
mehr imaginär als reell war, eine Art Symbol von allem. An
diesen Mann wollte sich nun eine farbiges Wesen richten, das
plötzlich in unserer Mitte aufgetaucht war.

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Wiedersehen im Himmel

Die Hautfarbe dieses Wesens stand ganz im Gegensatz


zu seiner Ausstrahlung. Der Schwarze besaß einen weiß
strahlenden Geist. Die ehrwürdige Frau gewährte ihm seinen
Wunsch, und der Schwarze richtete sich nun mit großer
Vertrautheit an den erwähnten Professor, der sich erhoben
hatte, um besser hören zu können. Das Wesen richtete folgende
Worte an ihn: „Ich bin Bento, der Gehilfe, Dr. Aníbal. Vor drei
Jahren habe ich meinen dichteren Körper verlassen und ihn
gegen einen leichteren, gefälligeren ausgetauscht.”
Man merkte, dass sich der Professor in einem ihm fremden
Milieu befand und Schwierigkeiten hatte, mit dem Geist des
alten Bediensteten ins Gespräch zu kommen. Doch dann, als ich
schon glaubte, dass er Angst habe oder nicht sprechen könne,
ließ er sich plötzlich so vernehmen: „Gut also, hast du mir etwas
mitzuteilen? Wie kann ich dir von Nutzen sein?”
„Erinnerst du dich noch, dass du zu den Studenten
sagtest: ‚Auch wenn ein tugendhaftes Leben nicht mehr als
eine Illusion vor dem Tod sein sollte, ist es doch die edelste
Realität des Lebens?’” - „Ja, ich kann mich erinnern, das gesagt
zu haben, und ich behaupte es auch heute noch ...,” antwortete
darauf der Professor dem erleuchteten Schwarzen, der ihm,
durch den Mund Altairs, vom Kontinent des Todes berichtete.
„Dann mache so weiter, lieber Professor, denn nichts ist
Illusion im Leben, vorausgesetzt, dass der Geist wenigstens
einen flüchtigen Augenblick lang beteiligt ist. Nur um dir das
zu sagen, bin ich hierher gekommen auf Bitten deiner Mutter,
Dona Francisca, die dir ihren Segen schickt, viel Segen ...
Auf Wiedersehn nun, lieber Professor ... Lebt wohl, meine
Brüder!”

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Osvaldo Polidoro

Mit einer ehrerbietigen Geste gegenüber der ehrwürdigen


Dame, die ihm Gelegenheit gegeben hatte, mit dem
verkörperten Professor zu sprechen, verabschiedete er sich und
verschwand in der Unermesslichkeit. Der Professor aber kehrte
zu seinem Platz zurück und im Schein einer nahen Lampe
sah man ihm die Tränen über das Gesicht rinnen. Wir alle
konnten feststellen, dass es sich um einen sensiblen, guten
Menschen handelte. Als ihm die Worte in die Seele gedrungen
waren, hatte ihn eine wunderbare, bläuliche Aura umgeben,
die wie eine Fackel leuchtete, und auf den ersten Wunsch hin,
der an ihn herantragen wurde, war er bereit, alles hinzugeben,
was er besaß.
Die ehrwürdige Frau Altair bat jetzt Edgard, dass er sich
durch den Mund des jungen Mediums äußern möge. Und er
tat dies auch sofort mit großem Vergnügen. Er sprach mit allen
und beantwortete bereitwillig, so gut er konnte, alle Fragen,
die man an ihn herantrug. Einem Neffen, der ihm eine Frage
gestellt hatte, die nicht zu beantworten war, sagte er folgendes:
„Ich verfüge nun zwar über etwas mehr Klarheit und kann
mich mit größter Leichtigkeit fortbewegen, aber allwissend
bin ich nicht ... Ich bin immer noch derselbe, der ich vorher
war, mit Ausnahme der erwähnten Vorteile, die jetzt dank der
Gnade Gottes meine Persönlichkeit schmücken. Ich kann dir
also nicht sagen, wo Christus heute wohnt oder was er in
diesem Augenblick tut. Ich möchte euch übrigens eine wichtige
Wahrheit ans Herz legen, denn sie ist von großem Nutzen:
Wer im Körper lebt, sollte sich unbedingt an Einschränkungen
gewöhnen, denn auch hier leben wir wie einst auf der Erde
in einer Umgebung, die sich durch beschränkende Gesetze
ausdrückt. Um diese zu überwinden, Freunde, müssen wir

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Wiedersehen im Himmel

vor allem erst einmal uns selbst besiegen. Ohne innere


Verbesserungen kann keiner das Äußere verbessern. Und das
Problem Gottes ist wie jedes andere Problem der hierarchischen
Ordnung auch hier von unendlicher Natur. Wenn die großen
Wesen zu uns kommen, um uns zu unterrichten, sprechen sie
mit uns über die tieferen Fragen auf relative Weise, um uns so
zu verstehen zu geben, dass jeder den interessanteren Teil selbst
lösen muss, denn es ist dies mehr eine Frage der Realisierung
als nur des theoretischen Wissens.”
Da er im Kopfe eines der Anwesenden eine gerade
aufkommende Frage wahrgenommen hatte, fuhr er fort: „Wie
könnte Gott einen zu sich rufen? Wie könnte es in Gott
unredliche Präzedenzfälle geben? Technisch gesprochen kommt
das einem schrecklichen Irrtum gleich, mein Freund, denn Gott
ist weder anthropomorph oder Einzelgestalt noch gibt es in
seiner Gerechtigkeit Platz für Ausnahmen. Gott ist das heilige
Prinzip, das in allem und allen das Fundament bildet. Wer sich
einen außerhalb seiner selbst existierenden Gott vorstellt, kann
sicher sein, dass seine Idee falsch ist. Und zum inneren Gott
kann niemand mit Gefallen und pseudoreligiösen Formalismen
gelangen, genauso wenig wie durch fanatische, intellektuelle
Auffassungen. Zu Gott gelangen wir nur, meine Freunde, über
die heiligen Wege der Reinheit und der Weisheit. Derlei Wege
sind jedoch immer innerer Natur. Alles andere aber, meine
Freunde, erschöpft sich in klerikalem Durcheinander, das mit
der Zeit aus den Köpfen der Menschen verschwinden wird.
Den Kopf leicht zu Eunice, der Mutter des Hauses,
geneigt sprach er andeutungsvoll: „Ja, meine gute Schwester,
die große, reine Lehre Christi besteht in sittlich geprägter
PFLICHTERFÜLLUNG. Alles weitere ist WISSENSCHAFT.

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Osvaldo Polidoro

Und wer Weisheit mit unangreifbarer Sittlichkeit verbindet


hat den besten Weg gewählt. Wer würde wohl ohne diese
Faktoren das LEBEN würdigen? Und wer das LEBEN, das
grundlegendste und unmittelbarste Phänomen, das uns betrifft,
verachtet, wie könnte der seinen Nächsten schätzen? Ohne
Nächstenliebe und ohne Verständnis dessen, was uns umgibt,
gäbe es aber keine würdige Verehrung. Der sittliche Sinn des
Lebens ist mehr wert als das Leben selbst, hat schon einmal
jemand gesagt. Wie könnte man ohne die genannten Faktoren
den sittlichen Sinn des Lebens respektieren?”
Die beiderseitigen Freunde dachten noch über diese seine
Worte nach, als der Gefährte zum Abschied noch hinzufügte:
„Das Reich Gottes wird nie zu uns kommen, denn in Gott
ist alles fundamental. Er hat uns geschaffen, wenn man so
sagen will, mit einer Natur für alles und mit dem Recht,
schneller oder langsamer zu gehen. Alle evolutiven Werte sind
uns angeboren, deshalb brauchen wir Gott nicht um das zu
bitten, was uns als Erbe bereits zusteht. Genug der törichten
Religiosismen! Genug der theologischen Lügen! Genug der
Auffassung von einem Geschäftsgott! Die alten spiritualistischen
Anschauungen stecken voller Irrtümer. Versucht mehr über die
WAHRHEIT, die in euch selbst ist und von der ihr ein Teil
seid, in Erfahrung zu bringen, und verwandelt euch in Tempel
der LIEBE und der WISSENSCHAFT. Lebt wohl!”
Damit kehrte die ehrwürdige Frau Altair zu ihrer
Urenkelin Altair zurück, die ihr nun wieder als Medium diente,
und empfahl, die Arbeiten fortzusetzen. Sie bat alle, im Stillen
liebevoll der leidenden Entkörperten zu gedenken und empfahl
schließlich, ernsthaft über das alles nachzudenken, was sie heute
gesehen und gehört hatten, denn dies alles hänge doch mit der

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Wiedersehen im Himmel

Verheißung Christi zusammen, dass er einen Tröster schicken


werde, der über alles Fleisch ausgeteilt würde.
Nach einer kurzen Pause schloss sie dann mit den Worten:
„Selbst wenn ihr nicht mit dem obersten Willen Gottes
übereinstimmen solltet, werdet ihr doch nicht den Triumph
der WAHRHEIT aufhalten können, denn sie enthält die
Dinge Gottes ... Gott ist in Wirklichkeit die WAHRHEIT, die
der Mensch zwar ignoriert, die er aber auf irgendeine Weise
am Ende doch kennen lernen muss. Liebe Brüder, Gott ist
URSACHE und WIRKUNG in einem ... Lebt wohl!”
Urias, der Chef des Hauses, stand nun auf und sagte
kurz: „Mein Gott, vor deiner Weisheit fühle ich mich wie ein
Analphabet, doch meine Seele läuft über von Zufriedenheit.
Du allein konntest so etwas veranlassen und deine Kinder
mit einer so angenehmen, heiligen Genugtuung überhäufen.
Dafür danken wir dir demutsvoll im Namen deines heiligen
Gesandten, Jesus Christus. Und wir bitten dich, Herr, dass
diese Gnaden in die Herzen aller deiner Kinder eindringen
mögen, vor allem aber derer, die sie am nötigsten brauchen,
das heißt derer, die noch auf der schmerzvollen Ebene
geistiger Unwissenheit dahinleben. Sende deine heiligen
Boten in jedes Heim, Herr, damit die ganze Erde von heiliger
Liebe erfüllt werde.
Dir Jesus, göttlicher Meister, danken wir heute für das
Beispiel deiner Liebe und für den versprochenen Tröster. Was
mehr sollen wir uns als Erben der Verheißung im Dienste der
Liebe erbitten? Herr, während deines Lebens hast du einmal
deinen Jüngern dafür gedankt, dass sie im Augenblick der
Prüfung an deiner Seite standgehalten haben, dass sie sich
bei der Erschließung der Wüsten des menschlichen Geistes

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Osvaldo Polidoro

hervorgetan haben. Und deshalb, Meister, wollen wir uns nicht


an eine Bitte, sondern an einen Segen erinnern: Mögen wir von
heute an das Evangelium so leben, wie du es uns mit deinem
Beispiel gezeigt hast.
Und bei den Boten des Friedens bedanken wir uns für
das angenehme Zusammensein. Stets waren Engel oder Geister
die Mittelspersonen zwischen dem Vater, dem Meister und den
Menschen guten Willens aller Zeiten. Wir wünschen euch,
liebe Freunde, dass euch Gott euren Edelmut belohne.”
Kristallklare Tränen liefen ihm übers Gesicht. Seine Seele
übermittelte uns intelligente, ansehnliche Lichtstrahlen voll
reiner Zuneigung. Der ganze Raum war psychisch geheiligt.
Und wir, eine beträchtliche Anzahl Unsichtbarer oder Toter,
sahen es als unsere Pflicht an, den oberen Ebenen des Lebens
Dank zu sagen, jenen Führern, durch die die heiligen Kräfte zu
uns gelangen.
Die ehrwürdige Altair legte ihrer Urenkelin die Hand auf,
damit sie wenigstens teilweise erkennen konnte, was um sie
herum vorging. Und der Herr des Hauses rief alle auf: „Beten
wir zum Abschluss!”
Nachdem dies geschehen war, fingen alle an, die Vorgänge
zu kommentieren. Fast alle Zweifel waren beseitigt worden. Wir
schenkten den wenigen Zweiflern weiter keine Aufmerksamkeit,
sondern warteten gespannt auf die Aussagen der jungen Altair,
die sich schließlich so äußerte: „Wie schön war das, was ich
am Ende der Arbeiten gesehen habe: Eine Frau strahlte wie
die Sonne. Und wie viele glückliche Menschen! In einiger
Entfernung aber sah ich auch traurige Leute. Sie waren gefesselt,
weinten und stöhnten.”

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Wiedersehen im Himmel

Die ehrwürdige Frau Altair zeigte sich zufrieden. Das sei


auch ihre Absicht gewesen: Einen allgemeinen Eindruck zu
vermitteln, damit alle sehen konnten, dass eine spiritistische
Sitzung etwas sehr viel Ernsteres ist, als viele glauben.
„Doch nicht alle können diese Art von Vision haben,
sodass die Kenntnis dieser Wahrheit einigen wenigen
vorbehalten bleibt”, bemerkte jemand aus dem Kreise der
regulär beteiligten Wesen.
Darauf antwortete die ehrwürdige Dame so: „Wer empfängt
je ohne Verdienste? Wer ernten will, muss zuerst einmal sähen.
Sehr viele, mein Freund, verdienen nur den Schlamm, weil
sie sonst nichts gesucht haben. Wie könnten wir über die
Rückksichtslosigkeit gegen sich selbst hinwegsehen und ihnen
schenken, was sie von Rechts wegen nicht angestrebt haben?
Denke an die letzten, an uns alle gerichteten Worte des Bruders
Edgard: ‚Alle evolutiven Werte sind uns angeboren; wir brauchen
also Gott nicht erst um das zu bitten, was uns von Natur aus
schon als Erbe zukommt.’ Du siehst also, mein Freund, das
Himmelreich ist eine Frage angewandter Erziehung.”
„Aber richten irrtümliche Lehren nicht großen Schaden
an, Schwester?” - „Keine Lehre wird dem Geist aufgezwungen,
wenn dieser sie nicht annehmen will. Das Richtige besteht
darin, Kind Gottes zu sein, und nicht in einer Lehre. Denn
sonst wäre der Mensch ja kaum mehr als ein Automat. Das
ist aber nicht die Absicht Gottes. Er hat ihn von Natur aus
mit grundlegenden Werten ausgestattet und ihm die Kraft und
die Freiheit des Unterscheidungsvermögens geschenkt, das es
ihm erlaubt, sich selbst eine Direktive zu geben. Da er sich
dazu auch noch vernünftig nennen darf, so liegt es an ihm, den
rechten Gebrauch von diesen Errungenschaften zu machen.

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Osvaldo Polidoro

Wenn er jedoch nach Erlangung der Unterscheidungskraft aus


lauter Fanatismus nur ein Sektierer sein möchte, wer ist dann
schuld daran? Stimmt es andererseits etwa nicht, dass selbst
Kreuzigung, Scheiterhaufen und Martern im Allgemeinen
nichts gegen bedeutende Geister auszurichten vermochten?”
Sie schwieg kurz, um die große Zahl Leidender zu
sondieren, die den Raum umgaben, und richtete dann
ihre Worte ganz besonders an einen bestimmten moralisch-
intellektuellen Bereich: „Und auf dem Gebiet des Unglaubens?
Und über die spirituelle Verweigerung? Wenn es schon seit den
Weden weise Lektionen zur Spiritualität gab, wer hat dann
vom Menschen verlangt, dass er verrohe? Soll der, der verroht
und Opfer entwürdigender Animalismen wird, etwa nicht die
entsprechenden Konsequenzen tragen?”
„Das schlechte Beispiel der Priester, ist oft ...”, wollte
derselbe Bruder hinzufügen. - „Es überzeugt niemals
ausgeglichene Geister. Wenn einer irrt, so ist es sein Fehler, der
andere höchstens durch Derivation beeinflussen könnte. Wer
an den Irrtum eines anderen glaubt oder ihn ausnutzt, um seine
eigenen Fehler zu rechtfertigen, irrt noch mehr. Gute Herzen
finden keinen Gefallen daran, andere zu belasten, sie sehen
vielmehr über deren Fehler hinweg. Und vergiss auch nicht,
dass sie an ihrer eigenen Verbesserung in der Lehre arbeiten,
selbst wenn es sie das Leben kosten mag. Nun ist aber die Erde
zum großen Teil von Wesen bewohnt, die schwerstens belastet
sind. Sie verweigern sich, hängen Klerikalismen an, geben sich
entwürdigenden Gewohnheiten oder dem Animalismus hin
und dann wollen sie für all diese Vergehen auch noch einen
äußeren Verantwortlichen finden! Nicht selten schieben sie die
Schuld sogar auf die heiligen Schriften. Sie vergessen, dass diese

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Wiedersehen im Himmel

Bücher von relativ entwickelten Geistern niedergeschrieben


wurden und relativistische Informationen weitergeben, die oft
noch ziemlich Rückständiges zum Ausdruck bringen.”
„Es handelt sich um ein sehr komplexes Problem,”
meinte nun der Bruder verwundert. - „Nein, es ist ganz
einfach”, verbesserte ihn die erwürdige Altair. „Wer natürliche
Voraussetzungen mitbringt, um den guten Weg zu gehen,
aber lieber den schlechten benutzt, warum sollte der sich
beklagen?”
Während sie dies sprach, näherte sich ihr ein unglückliches
Wesen, indem es sich einen Weg durch die lauschende Menge
bahnte. „Verehrte Schwester, sei doch bitte so gut und kläre
mich auf! Sollte Moses nicht für mein Leiden einstehen? Ich
habe schließlich nur getan, was er befohlen hat und wie es im
Levitikus geschrieben steht.”
„Keinesfalls”, antwortete sie entschieden, indem sie in
Sekunden das Sein dieses Wesens erfasste. - „Warum denn nicht?
Was habe ich denn Böses getan? Ich habe amtiert, sonst nichts!”
Die ehrwürdige Dame erklärte nun mit sanfter Stimme:
„Moses hat drei große Dinge verrichtet: Er hat die Ankunft
Christi angekündigt, hat das Gesetz übergeben und hat auf
die Offenbarung zurückgegriffen, um in seiner Zeit genaue
Auskünfte zu erhalten. Der Schlüssel von allem war stets
die Offenbarung. Und wie oft hast du selbst, Freund, die
Formalismen, die Fehler des Moses beiseite gelassen, um
in Ehrfurcht vor der Offenbarung die WAHRHEIT zu
sondieren?”
„Er hat doch selbst den Austausch mit den Toten
verboten.” - „Ein weiser Mensch wird nicht die Dummheit

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Osvaldo Polidoro

begehen, theoretisch gerade das zu leugnen, was er in der Praxis


tut. Was Moses in der Versammlung der Siebzig bei jener ersten
Taufe im Geiste getan hat, lässt keinen Zweifel daran, dass das
Verbot nicht von ihm stammte. Aber selbst wenn es so wäre,
warum hast du deinen Verstand benutzt, um das zu betrachten,
was von einem Menschen kam, und nicht die Gnade Gottes?
Und außerdem, mein Freund, fällt dein Vergehen in die Zeit
nach Christus. Warum hast du dich an Moses gehalten und
nicht an Christus? Moses hatte einen Christus versprochen,
Christus aber hat den Tröster verheißen. Wer hat dich geheißen,
die mittelmäßige Lehre der besseren vorzuziehen? Selbst wenn
du gegen Christus sein wolltest, warum hast du nicht wenigstens
die Lehren der Offenbarung respektiert? Warst du denn
wirklich ein Mosaist? Hast du nicht etwa mit Moses dasselbe
gemacht, was viele mit Christus, dem Evangelium und der
Offenbarung machen? War es nicht einfach ein Vorwand zur
Verteidigung unmittelbaren Grolls? Der Beutel, der Magen, der
Adelstitel, das praktizierte Jakobinertum, nicht einzugestehende
Interessen, die wir im Leben verfolgen ... endlich sogar die
Respektlosigkeit gegen uns selbst - wäre nicht da der Grund
deines Scheiterns zu suchen anstatt in Moses?”
Der arme Bruder, ein Priester in zerlumpten Gewändern,
unrasiert und schmutzig, neigte sein Haupt und sagte nichts
mehr. Er wollte sich schon zurückziehen, aber als er sich schon
wieder seinen Weg durch die Menge zurückbahnte, rief ihn die
Ehrwürdige zurück: „Eleazar, mein Bruder, komm her zu mir!
Kind Gottes! Lass doch deinen Stolz fahren! Gib die vorgefasste
Meinung gegen deinen Nächsten auf! Allein die Liebe ist das
erlösende Gesetz.”
Der Mann blieb stehen und wandte ihr sein entstelltes,

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Wiedersehen im Himmel

trauriges Gesicht zu. Da ging sie zu ihm hin, gütig und leicht
wie eine Feder, und umarmte ihn mit den Worten: „Wenn es
mit Verzeihung zu tun hat, verzeihe! Wenn es um Buße geht,
tue Buße! Gott gegenüber können wir weder schlicht noch
stolz, weder tolerant noch nachtragend sein ... Unter uns aber
sollen gegenseitige Duldsamkeit und der Wunsch herrschen, in
Reinheit und Weisheit zu wachsen.”
„Halte dich fern von mir, siehst du nicht, dass ich voller
Schmutz und Ungeziefer bin?”, sagte der Priester, indem er sich
von ihr zu entfernen suchte. Sie aber drückte ihn an sich und
sprach zärtlich zu ihm: „Setze diesem Schmutz dein kraftvolles
Denken entgegen, aber tue es mit dem aufrichtigen Wunsch
der Rehabilitierung, dann wirst du es schaffen. Die Zeit deiner
Rehabilitierung ist gekommen, der Zyklus der Läuterung ist
nun abgeschlossen.”
„So helft mir bitte”, lallte der Mann und weinte viele
Tränen.
Die Ehrwürdige legte ihm die Hände auf den Kopf und
betete mit aller Kraft ihrer auf den Wegen der Liebe erzogenen
Seele. Und so erhielt in dieser Stunde ein weiterer Bruder,
der sich vergangen hatte, den Lohn dafür, dass er sich seiner
eigenen Fehler bewusst wurde. Es geschah eine Art Verklärung
im Kleinen. Die ehrwürdige Frau rief einen der Arbeiter heran
und übergab ihm den dankbaren Bruder. Dieser ging hinweg,
ohne ein Wort zu sagen, sein Antlitz aber drückte seine ganze
Dankbarkeit aus.
Nachdem einige Minuten vergangen waren, machten wir
uns auf den Weg zu unseren Penaten unter den Sternen, jeder
an den Ort, der ihm turnusgemäß oder wegen seiner Hingabe,

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Osvaldo Polidoro

aus Notwendigkeit oder wegen seines Einsatzes zustand, ob er


ihm nun als Heimat, Werkstatt oder Aufstiegschance dienen
mochte.

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Wiedersehen im Himmel

Das Jüngste Gericht

Ich bitte nicht um Entschuldigung wegen der folgenden


Behauptung: Entweder ist viel Dummheit in den Kopf der
sogenannten Kirchenhistoriker eingedrungen, oder viel klerikale
Korruption hat die großen religiösen Lehren in Misskredit
gebracht, oder viele hervorragende Wahrheiten haben durch
den Menschen konzeptuellen und interpretativen Schaden
genommen; oder viele schlecht informierte Wesen aus unseren
Gefilden haben dem Menschen Dinge mitgeteilt, die sie besser
für sich behalten hätten.
Keiner soll mir nun mit der Rede daherkommen, dass
jedes Zeitalter seine Wahrheit verdient, denn ich finde mich mit
dieser Ehrerbietung gegenüber dem Absurden einfach nicht ab.
Im Gegenteil, mir gefällt vor allem, wer bereit ist zu bekennen:
„Wie war ich gestern doch viel törichter als heute!” Oder: „Es
ist eine Freude für mich zu wissen, dass ich morgen besser
werde denken können als heute.”
Denn Dogmatisierung, meine Freunde, ist ein völlig
absurdes Unterfangen. Soweit ich weiß, besitzt keiner auf der
Erde Kenntnis genug, dass er in der Lage wäre, irgend etwas
zu dogmatisieren. Pascal, der große franszösische Denker, hat
zu Recht darauf hingewiesen, dass der Mensch eigentlich
nichts gründlich genug weiß. Alles bleibt im Oberflächlichen
stecken. Was weiß er denn schon an Praktischem über den
Ursprung oder über die höchsten Ausdrucksformen? Aus diesem
Grunde kann ich nur lachen, wenn menschliche Satzungen

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Osvaldo Polidoro

strenge Verfügungen über geistige Angelegenheiten erlassen


oder verteidigen. Eine schlichte theologische Anordnung gibt
vor, ein Dekret Gottes zu sein! Dabei haben so viele Menschen
allein deshalb ihr Leben verloren, weil sie das Gegenteil
behauptet haben. Und wie viele Schurken leben immer noch
davon, diese Anordnung zum eigenen Vorteil auszuschlachten?
Obwohl ich über manche Aussagen der Bibel nur schlecht
Bescheid weiß, wage ich zu behaupten: Sie enthalten so viele
Irrtümer, dass sie schreckliches Leid verursachen, wenngleich
von ihnen auch eine Reihe erhabener Anregungen ausgegangen
sein mag. Ich weiß nicht, wem die Schuld dafür zuzuschreiben
ist, ob den astralen Informanten, den verkörperten Auslegern,
Medien und Propheten, oder den möglichen Korrumpierern.
Ich weiß nur, dass gewisse Behauptungen von Grund auf
infiziert, virtuell unwahr und vollkommen irreführend in Sinn
und Anwendung sind. Soviel ich weiß, bedient Gott sich
ihrer nicht. Und sollte er sie doch irgendwann einmal benutzt
haben, dann ist es bestimmt schon viele tausend Jahre her,
eine Zeit also, von der meine höchsten Freunde und Bollwerke
der Spiritualität weder aus dem Gedächtnis noch wegen ihrer
Bildung je etwas erfahren haben.
Einer dieser Punkte ist das so oft angeführte Jüngste
Gericht. Es ist so jung, dass es in Wirklichkeit eigentlich noch
nicht angefangen hat. Hier, wo ich meinen Umgang pflege,
kann mir keiner jemanden nennen, der so etwas erwarten
würde, denn alle wissen sehr wohl, dass sich das Gericht im
Augenblick der Tat ereignet, die gut oder schlecht sein kann.
Das Gericht läge damit immer am Anfang. Wo gäbe es auch
nach dem Gesetz des Karma Platz und Zeit für ein Jüngstes
Gericht? Wer hat denn nur so etwas erfunden?

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Wiedersehen im Himmel

Wollen wir uns die Sache einmal näher anschauen! Das


höchste Sein, die grundlegende Wesenheit, hat nie jemanden
um Rat gefragt, wie alles seinen Lauf nehmen sollte, denn
das höchste Sein braucht keinen Rat, damit alles nach den
allgemein gültigen Gesetzen ablaufe, und alle Wesen brauchen
sich nur auf diese grundlegenden Prinzipien einzustellen, um
glücklich zu sein. Wichtig ist, stets daran zu denken, dass
es kein Glück aus Einzelgründen gibt. Dafür gibt es eine
Ordnung, ein Gesetz, das sich in unendlich viele Schattierungen
auflöst. Und die Wesen steigen Stufe um Stufe auf mit ihren
Untergesetzen auf, bis sie den Höhepunkt erreichen. Doch
jeder Ausdruck dieses Gesetzes hat universelle Reichweite, das
heißt, die GERECHTIGKEIT ist dieselbe für alle.
Diese GERECHTIGKEIT wird nicht an eine fremde
Macht abgegeben, sie appelliert nicht an andere Wesen, sie
geht nicht vor Gerichte, die mit Hilfe theologischer Ränke auf
der Welt geschaffen werden. Sie ist allem und allen angeboren
und wirkt stets von innen nach außen. Wenn sie in der
Materie ist, enthält sie in sich die wesentlichen Werte aller
Erscheinungen und möglichen Mutationen. Dasselbe gilt auch
für ihre Anwesenheit im Geist. Jede Handlung, die ausgeführt
wird, hat also ganz natürlich ihre sittliche Entsprechung,
und keiner würde je den Handelnden von seiner inneren
Verantwortung für das Getane befreien. Das ist das Gesetz des
Karma, der Ursache folgt die Wirkung.

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Wiedersehen im Himmel

Ein Mann in Verlegenheit

Edgard und seine Frau wohnten in der Nachbarschaft


von Rogérios Familie. Das Haus seines im Körper lebenden
Bruders Urias war als Konvergenzpunkt für seine Lehrtätigkeit
auf der Erde festgelegt worden. Jeden Donnerstag fanden dort
Sitzungen statt, und beide orientierten mit großer Genugtuung
alle, die von den Betreuern zu ihnen gebracht wurden. Damit
die Arbeiten erfolgreicher verlaufen konnten, bereitete Edgard
die Gemüter der Neuankömmlinge vor, indem er sie über die
Natur der Psychologie, ihres Zustandes oder mentale Standards
unterrichtete. Und die naturgemäß mit großer sittlicher Kraft
ausgestatteten Anwesenden taten dann das Bestmögliche für
die Leidenden.
In einem der Fälle griff ein noch junger Herr ein. Er
bat den gütigen Mentor, Nachforschungen über seinen Onkel
anzustellen, der ein verrücktes Leben im Fleische geführt,
sich von seiner Familie abgewandt und aus freiem Entschluss
angefangen hatte, von Almosen zu leben. Er sei von Tür zu
Tür gegangen und habe um der Liebe Gottes Willen um
irgendetwas gebettelt. Er sei jedoch viel ärmer im Geiste als an
Gütern dieser Welt gewesen.
Der Mentor bat den jungen Mann vor allem um Auskunft
über den Ort, an dem er gewohnt hatte oder sich regelmäßig
aufzuhalten pflegte. Dieser gab ihm das Haus eines Bruders an.
Dorthin begaben wir uns also, etwa zwanzig Arbeiter an der
Zahl, um mit den Sondierungen zu beginnen. Tatsächlich trafen

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wir in dem Haus auf einige entkörperte Familienmitglieder, von


denen es einigen gut, den meisten jedoch schlecht ging. Man
berichtete uns, dass der Onkel sich immer noch in Gesellschaft
eines verkörperten Bettlers herumtrieb.
Wir kehrten daraufhin ins Haus des Urias zurück und
versprachen dort, in Kürze eine Antwort zu geben. Der
Fall dieses Bruders, Etelvino, wurde inzwischen von unserem
Schreiber im Terminkalender festgehalten.
Einige Tage später machten wir uns in aller Ruhe zu zweit
auf den Weg, um den Bettler ausfindig zu machen. Edgard
und ich begaben uns zuerst zu der angegebenen Wohnung.
Dort nahmen wir einen seit langem entkörperten Bewohner
mit, der allein darauf aus war, das Leben eines Verkörperten
weiter zu führen und aus der Umgebung, das heißt aus den
Austrahlungen der im Körper Lebenden und aus dem Doppel
der Speisen usw. Elemente für sich selbst zu gewinnen.
Wir fanden den gesuchten Mann schließlich auf der
Treppe einer katholischen Kirche liegen. In seiner Gesellschaft
befand sich ein sehr alter, verkörperter Schwarzer, wahrscheinlich
der angeführte Bettler.
Mit Genehmigung der oberen Mächte wollten wir ihn
zur Wohnung des im Körper lebenden Bruders schleppen. Er,
der schlief wie irgendein Verkörperter, wollte uns aber nicht
freiwillig begleiten, als er wach wurde. Da aber sein Verwandter
es so wollte, zwangen wir ihn zum Mitkommen. Wir sagten
weiter nichts, denn der Relativismus bestimmt es so. Da sie zu
einer niedrigen Gesetzesebene gehörten, durften sie um nichts
Höheres belangt werden.
In der Wohnung seines Bruders murrte er zwar weiter,

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Wiedersehen im Himmel

war jedoch breit, uns anzuhören.


„Weißt du, dass du schon aus dem Körper geschieden bist,
Etelvino?” - Muss denn ein Entkörperter auch um Almosen
betteln?”
„Auf den Verstorbenen wartet stets eine identische, bessere
oder auch schlechtere Verfassung, Etelvino. Vergiss nicht, dass
es immer ein Doppel für alle Elemente, Mittel und Zwecke
gibt. Und dieses Doppel verfügt über eine unendliche Palette
von Nuancen und Schattierungen. Ein Toter kann sich daher
in einer gleichen, viel besseren oder viel schlechteren Lage
wiederfinden. Im Allgemeinen kommt es darauf an, wie er sich
vorbereitet hat.”
„Und die göttliche Gerechtigkeit, was macht die? Schläft
sie etwa?”, fragte der Mann, dessen Denken daran gewöhnt
war, von vornherein mit Wundern zu rechnen und sich
abergläubisch mit einem Leben der Begünstigungen und
Geheimnisse abzufinden.
Der ehemalige Protestant erklärte ihm aber: „Gott ist
LEBEN und das bezeugt er, indem er alles, was ist und wie es
ist, nach gerechten Gesetzen geordnet hat. Wenn die Kleriker
aller Zeiten Begriffe erfunden haben und vorgeben, dass diese
die WAHRHEIT selbst sind, was hat Gott damit zu tun? Der
Mensch hat das Recht, relativ frei zu sein. Wenn er diese Freiheit
nun schlecht benutzt oder sich der Mittelmäßigkeit unterwirft,
an wen soll er dann seine Klagen und Schmähungen richten?”
„Und was geht es mich an, dass sie die WAHRHEIT
durcheinanderbringen und Begriffe in die Welt setzen und
sie als WAHRHEIT ausgeben?”, versuchte sich der Bettler zu
rechtfertigen.

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„Diskutieren bringt nur Zeitverlust. Arbeite, um die


Situation zu begreifen. Wenn du dann Fehler auf der mentalen
menschlichen Ebene entdeckst, korrigiere sie!”, sagte ich etwas
barsch zu ihm, weil ich gemerkt hatte, dass er gern diskutierte.
„So so! Dann soll ich wohl die Welt reparieren?”, gab
er zur Antwort und kreuzte die Hände mit jener nur zu gut
bekannten Geste vor der Brust. „Auf jeden Fall sollst du deinen
Teil dazu beitragen”, erklärte ich. Und Edgard, dem der Mann
leid tat, fügte hinzu: „Wir helfen dir dabei.”
„Ich verspreche nichts”, gab er uns zu verstehen, mehr,
um damit seine Unfähigkeit zum Ausdruck zu bringen als
eigentlich Unwillen zu zeigen.
„Aber deinen Teil wirst du tun”, wiederholte Edgard.
„In diesem Sinne bitte ich dich nun, Freund Etelvino, bis
Donnerstag, das heißt bis übermorgen in diesem Hause zu
bleiben. Tue nichts Böses, denn ein entkörperter Geist kann den
Verkörperten mit seinen unheilvollen Ausstrahlungen großen
Schaden zufügen. Vergiss nie, dass die Liebe den Christen in
seinem Tageswerk auszeichnen soll.”
Das Männlein versprach, ganz bestimmt auf uns zu
warten. Wir aber machten uns auf den Weg zu einer Reihe
anderer Fälle.

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Wiedersehen im Himmel

Am Tag

Am Abend, der für die Arbeiten bestimmt war, holten


wir ihn ab und brachten ihn ohne Schwierigkeiten in Urias’
Haus, das inzwischen schon bis zum letzten Platz besetzt war.
Etelvino hatte die Zeit damit zugebracht, über seine Lage
als Entkörperter nachzudenken. Als er nun in den Raum
trat, konnte er wenigstens schon ahnen: „Das ist wohl eine
spiritistische Sitzung? Davon habe ich schon reden hören.”
„Nimm dich dieses Freundes an”, sagte Edgard zu einem
der Diener des Hauses. „Gern, denn schon lange wollte ich
erfahren, wie das ist.”
Im Verlaufe der Arbeiten, bei denen es vor allem
um die Orientierung von leidenden Wesen ging, musste
er auch durch einen Schmelztiegel hindurch, der die
Kommunikation erneuert. Auf diesem Wege gelingt es
uns oft, mit Hilfe des medialen Faktors, von Gebeten
und Einsatz der darauf eingestellten Intelligenzen eine
herrliche Erneuerungsbereitschaft auf körperlicher, mentaler,
intellektueller Ebene usw. zu bewirken.
Und man kann sagen, dass der Mann wenigstens geistig
erneuert wurde. Wenn die ehrwürdige Altair mitgekommen
wäre oder wenn der Mann dies verdient hätte, hätten noch
ander Dinge geschehen können, denn es ist von grundlegender
Bedeutung, dass jeder das tut oder beiträgt, was er kann.
Nach Abschluss der Arbeiten nahmen wir ihn mit uns,

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denn es war noch etwas an ihm herauszufinden und zu klären.


Der Befehl, den wir von oben erhalten hatten, ging in diese
Richtung. Wir zogen also mit dem Mann auf eine bestimmte
Ebene, auf der wir weitere Informationen und Aufgaben
erhalten sollten. Auf dieser Ebene gab es vor allem eine
komplette Ausrüstung zur Durchführung einer Retrospektive.
Mich interessierte vor allem diese.

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Stets das Gesetz

Ich hatte mich nicht getäuscht. Der Mann sollte in


den nächsten Tagen einer genauen Untersuchung mit jener
Ausrüstung unterzogen werden. Am festgesetzten Tag suchten
wir ihn also auf. Ich legte Wert darauf, unbedingt bei einem
Phänomen dieser Natur dabei zu sein, denn es ist besser,
Bescheid zu wissen als zu ignorieren, vor allem, wenn es um
Dinge psychologischer und himmlisch-juristischer Natur geht.
Man sieht daran, dass das erste Urteil über allem schwebt, weil
dies der individuellen Antriebskraft angeboren ist.
Es war eine herrliche Nacht, wie unsere Mondscheinnächte
eben zu sein pflegen. Und unser Etelvino wurde also mit der
Durchleuchtungsmaschine konfrontiert. Andere Faktoren sind
zwar genauer, aber sagen wir einmal, dass es die Maschine
ist ... Auf den unteren Ebenen kommt einem Formalismus
schließlich Gesetzeskraft zu.
„Du wirst zwei Leben sehen, Etelvino. Doch das ist nicht
sehr genau. Mit der Zeit wirst du dann einen Bericht erhalten”,
erklärte der Hausherr.
Vor unseren Augen war eine europäische Stadt zu
sehen, die alle gut kannten. Eine Familie erhielt in ihrem
Schoß ein neues Mitglied. Und dieses entwickelte sich unter
allen Aspekten. Als es groß wurde, las es viel über einen
großen Positivisten. Das Gift der Negation ließ seine anfangs
erworbenen Fähigkeiten verkümmern, besonders auch die

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Waffe, mit der er einst im Leben etwas leisten sollte.


Am Ende sahen wir einen gesunden, kenntnisreichen
Mann vor uns, der aber leider an nichts glaubte und seine
geistigen Fähigkeiten verschwendete. Er verbrachte sein Leben
mit fruchtlosen, verwerflichen Diskussionen und verbreitete
Kälte und Animalismus um sich. Und dann starb er.
Dann sahen wir denselben Mann wie einen Wicht
jahrelang in den astralen Ländern herumlaufen. Sein Zustand
erreichte schließlich bedauernswerte Züge. Doch eines Tages
klopfte er, wohl geführt von einer verborgenen, wohlwollenden
Intelligenz, an die Grenze besserer Gefilde. Er wurde
aufgenommen. Trat ein. Korrigierte sich zum Teil. Arbeitete.
Und dann beschloss er eines Tages, in die Welt der Formen
zurückzukehren.
Wieder begann er im Kristall als ein eigenwilliger
Säugling, der zum Weinen neigte. Er entwickelte sich mehr
und mehr und wurde zu einem starken Jugendlichen. Eines
Tages schloss sich ihm ein leidendes Wesen an, und da er selbst
ein Leidender war, zog er nun durch die Welt und bat die
Menschen um der Liebe Gottes willen um Almosen. Den Gott,
den er einst als Gesunder, der in Frieden lebte und eine gute
Bildung besaß, geleugnet hatte, den rief er nun als unwissender,
irrer, obdachloser Kranker an.
Er selbst wollte es so, ohne ein Jüngstes Gericht
abzuwarten, denn er hatte sehr wohl erfahren, dass das Gesetz
das erlösende, evolutive Ventil und nach dem höchsten Willen
eine Grundbedingung ist. Was hilft es da, andere Argumente
anzuführen? Wäre das nicht dasselbe, als wenn einer Gott
empfehlen würde, zuerst einmal die beschränkten Texte zu

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lesen und dann erst zu handeln? Würde das nicht bedeuten,


den Wagen vor die Ochsen zu spannen?
Leider denken viele Menschen, dass Gott erst einmal die
heiligen Bücher zu Rate ziehen soll, obwohl diese doch viel
Mittelmäßigkeit und bedeutende Widersprüche enthalten. Sie
möchten, dass er sich an den Symbolcharakter von Adam und
Eva, Kain und Abel, der Erbsünde, Lots Frau, des Turmes von
Babel, der Arche Noah usw. hält. Sie wollen unbedingt, dass es
einen von Herodes angeordneten Kindermord gegeben habe, so
wie sie auch darauf bestehen, dass der Vorläufer und Christus
auf wunderbare Weise in einer Umgebung erschienen sind,
ohne die für jedwede Missionsarbeit notwendige Vorbereitung
im Hinblick auf Ziele und Mittel erfahren zu haben.
Da sie an klerikale Verfälschungen glauben, schreiben
sie der einflussreichen hebräischen Prophetenschule nur
zweitrangiges Gewicht zu, jener Gruppe von Menschen, die
damals Nazirener genannt wurden und von denen die Bücher
des Neuen Testaments immer wieder sprechen. Dennoch
hatte dieses Wissen, das den Glanz des wahren hebräischen
Prophetismus ausmachte, in alten Tagen aus Indien nach
Westen gebracht. In ihm findet sich alles, was später kommen
sollte und er bestätigt auch das, was Christus verkündet hat,
was ist und werden soll. Er schafft und fordert stets progressive
Rechte, denn noch ist es zu früh, das letzte Wort zu sprechen.
Hier ist nun die Antwort, die der frühere Bettler auf
eine entsprechende Frage gegeben hat: „Ich danke der höchsten
Macht, von der ihr sagt, dass sie sich im INNERSTEN VON
ALLEM UND ALLEN befindet; was von IHR kommt, ist
einfach und gut. Und wenn jemand für all das verantwortlich
sein sollte, was ich an Gutem und Bösem getan habe, dann bin

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ich es selbst. Ich danke also dem absoluten Herrn aus ganzem
Herzen, weil ich weiß, dass meine relative Freiheit Teil seiner
höchsten Macht ist.”
Er schaute uns eine Weile an, um dann dankbar
fortzufahren: „Gott segne euch für euer Tun. Der Humanismus,
den ihr lebt, wird euch sicher in den heiligen Schoß des wahren
Christentums führen. Denn es gibt kein Christentum, ohne
dass ihm der Humanismus vorausgegangen wäre. Das ist von
unten nach oben gesehen der Inhalt des aufsteigenden Gesetzes.
Es irren all die, die den Himmel herausfiltern wollen, ohne
die Tränen, das Weinen, den Hunger, die Gefangenschaft,
das Witwentum, die Verwaisung, den Analphabetismus, den
Mangel an Krankenhäusern, Ärzten, Medikamenten usw. zu
berücksichtigen. Das Problem des Himmels ist das Problem
des Menschen, der einen Körper besitzt, der seine Intelligenz
entwickeln muss, der ein Herz hat, mit dem er den erhabenen
Glanz der Spiritualität erreichen kann, befinde er sich nun im
Fleische oder außerhalb desselben. Wer gegen diese Wahrheit
verstößt, leugnet die Gesetze Gottes.”
Ich war ganz begeistert von dem, was der ehemalige
Bettler da von sich gab. Mir ging dabei ein interessanter
Gedanke durch den Kopf. Jeder ist anders und denkt, so gut
er kann und nicht wie er möchte, und diese Vielfalt ist eine
Freude für unseren Geist, weil sie ihn bildet. Jeder gibt ein
bisschen von sich selbst, trägt seinen Anteil bei, und alles wird
ausgewogener auf dem Weg zur Vollkommenheit. Ich weiß
sehr wohl, meine Freunde, dass hier keiner für alle sprechen
kann, denn wir wissen noch sehr wenig. Aber ihr habt gemerkt,
dass selbst dann, wenn die Denkweisen aufeinanderstoßen,
wir in einer glücklichen, sehr glücklichen Stimmung leben.

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Habt ihr nicht selbst gesehen, dass elende Menschen aus der
Welt des Fleisches nach einer kurzen Einweisung Vorbilder des
Verständnisses und der Güte wurden?
Wir brachten nun den Mann zu dem Ort, der ihm
bestimmt worden war. Dann zogen wir durch die Räume
zurück zu unseren Wohnungen.

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Erledigt

So musste ich etwa drei Jahre arbeiten, um mich auf


ein neues Eintauchen in die körperliche Welt vorzubereiten.
Ich hatte äußerliche Aufgaben zu erfüllen, um innerlich an
mir zu feilen. Ich musste einen Unterbau schaffen, eine starke
Abschirmung, die mich vor den Stürmen des Fleisches und des
Stolzes der Welt schützen würde.
Und die Tage gingen zu Ende. Eines Tages setzte die
ehrwürdige Altair eine Versammlung im Hause von Rogério
an, ohne einen bestimmten Grund anzugeben. Als wir dann,
mehr als Hundert an der Zahl, zusammengekommen waren,
bat sie um das Wort und sagte: „Liebe Brüder und Schwestern,
wisst ihr, warum wir hier versammelt sind?” Und da keiner
die geringste Ahnung hatte, was das bedeuten sollte, fuhr sie
fröhlich und doch würdevoll fort: „Einer unserer Brüder, der
dieses Haus und die hier ansässige Gesellschaft schmückt,
muss uns verlassen und ins Fleisch zurückkehren, um seinen
Auftrag der Wiedergutmachung und der Evolution zu erfüllen.
Ich wollte, dass niemand davon erfährt, damit auch er selbst
bei diesem festlichen Ereignis diese Überraschung auskosten
könnte. Gleich wird in unserer Mitte die Frau erscheinen, die
die Mutter unseres teuren Bruders Alonso sein wird.”
Eine Welt merkwürdiger Gedanken ging mir durch
den Kopf, eine Mischung von Zärtlichkeit und Trauer und
vieler anderer Gefühle und Ängste. Alle blickten mich an,
und auf Veranlassung der Ehrwürdigen klatschten alle Beifall.

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Man beglückwünschte mich, ich empfing heilige Küsse und


hilfsbereite Wünsche wurden ausgesprochen.
Nun kam die ehrwürdige Frau auf mich zu und sprach:
„Dank deines Fleißes wurde vieles in deinem Arbeitsleben
verkürzt, mein Freund. Du wirst in einer spiritistischen
Umgebung reinkarnieren, denn meine Urenkelin Altair wird,
wie du ja weißt, in einem Monat heiraten ...”
Es war, als ob der Himmel auf mich herabstürzen würde.
Kaum hielt ich dem Stoß stand, der meine emotionalen Kräfte
zu übersteigen schien, und die Urgroßmutter des angebeteten
Mütterchens, diese erleuchtete Seele voller geistiger Gaben,
umarmte mich gerührt.
Edgard, Dalva, Rogério, Lourdes, das ganze Haus, alle
Anwesenden kamen herbei, um mir schöne Dinge zu sagen,
da sie nun erfahren hatten, dass ich Kind jenes bezaubernden
Mädchens sein würde, die als Dienerin die höheren Ebenen der
irdischen Himmel bewohnte.
Und nun kam der Augenblick, in dem die ebenfalls den
Namen Altair tragende Urenkelin Altair den Raum betreten
sollte. Ganz ihrer Wesensart entsprechend kam sie fröhlich
und sehr bewusst herein, umgeben von einem bläulichen
Fluidum, das ihrem hierarchischen Standard entsprach, und
einer ebenfalls fluiden Grundlage, die die Verkörperten auf
ihren Reisen zu astralen Kontinenten auszeichnete.
Die Ehrwürdige erklärte ihr alles und stellte mich als
Anwärter auf das Kind ihrer Liebe, ihrer Hoffnungen und
Pflichten vor. Und als frommer Geist antwortete sie nur:
„Ich stehe dem Höchsten zur Verfügung, indem ich auf sehr
schwache Weise jenen erlauchten Geist nachahme, der einst die

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Mutter des Erlösers war. Es geschehe an der Dienerin der Wille


ihres Herrn!”
Ich erhielt den Auftrag, einen Bruder bei den
entsprechenden Vorbereitungen zu begleiten. Dabei würde
ich keinen magnetischen Reduktionsprozess durchmachen. Ich
würde als bewusster Mensch reinkarnieren, und man erklärte
mir, dass jeder gute Sehende später einen Mann neben einem
Kind würde ausmachen können. Das ist ein großer Vorteil, der
nur relativ entwickelten oder entwickelteren Wesen zugestanden
wird. Nach der hier bekannten Überlieferung, mussten Jesus
und viele andere große Gestalten vor und nach ihm sich
nur von dem Moment an vollkommen mit ihrem Körper
identifizieren, wo das Gewicht des Auftrags dies erforderte.
Vorher sollen sie sehr frei gewesen sein. Doch lassen wir dies
beiseite, denn nicht alle möchten von diesen Dingen erfahren.
Lebt wohl! Der heilige Friede des Herrn sei mit euch,
damit ihr den Segen des verheißenen Trösters ernten und säen
könnt, denn durch ihn wird sich im Licht der WAHRHEIT
nach und nach die Einheit des Verstehens, des Fühlens und
also auch des Glaubens in der Welt verwirklichen. So lebt denn
wohl!

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ENDE

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