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INVESTITIONEN IN DIE ZUKUNFT

STATT SCHULDENBREMSE
WAS IST ZU TUN ?
INHALTSVERZEICHNIS
Frank Bsirske, ver.di-Bundesvorsitzender
VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
Referat von Dr. Ralf Stegner
GESTALTUNGSSPIELRÄUME DER BUNDESLÄNDER
NACH DER „SCHULDENBREMSE“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Referat von Dr. Ernst Wolowicz
WAS BRAUCHEN DIE KOMMUNEN –
EINE „SCHULDENBREMSE“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Referat von Dr. Dieter Vesper
SCHULDENBREMSEN – WOZU ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Referat von Prof. Dr. Gustav Horn
IST DIE SCHULDENBREMSE EINE WACHSTUMSBREMSE? . . . . . . . . 20
Referat von Prof. Dr. Hans-Peter Schneider
DIE HAUSHALTSWIRTSCHAFT DER LÄNDER –
VERFASSUNGSRECHTLICHE GRENZEN
EINER „SCHULDENBREMSE“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Impressum:
Herausgeberin: ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft
Frank Bsirske, ver.di-Bundesvorsitzender
Fotos: Patrick Voigt, iStockphoto.com
Gesamtherstellung: VH-7 Medienküche GmbH, Kreuznacher Straße 62, 70372 Stuttgart, www.vh7-m.de
Auflage: 5.000 W-2847-02-0509

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VORWORT

Wie auch immer auf den Gegenstand dieser Kontro-


verse geschaut wird, einig sind sich alle in einem: dass
es hier um eine Weichenstellung von grundlegender
Bedeutung geht, mit weitreichenden Folgen für uns
alle – so oder so.

Grund genug also für ver.di, das Thema eingehend


zu beleuchten. Und zwar aus landespolitischer Sicht
durch Ralf Stegner, dem Vorsitzenden der SPD-Frak-
Zinsen von 42 Milliarden jährlich beim Bund – tion im Landtag Schleswig-Holsteins, aus der Perspek-
das sind 76.000 Euro pro Minute – ohne damit tive des Kämmerers einer Großstadt durch Ernst
auch nur einen einzigen Euro zurückzahlen Wolowicz aus München, sowie aus wirtschafts- und
zu können: Die Staatsschuld hat sich zu einer finanzwissenschaftlicher Sicht durch Prof. Gustav
Hypothek für unser Gemeinwesen entwickelt. Horn und Dr. Dieter Vesper. Einen rechtswissenschaft-
lichen Akzent setzt Prof. Dr. Hans-Peter Schneider von
der Universität Hannover. Die hier dokumentierten
WAS IST ZU TUN? Beiträge wurden auf einer Veranstaltung in der ver.di-
Bundesverwaltung am 16. April 2009 vorgetragen.
Wir müssen uns entscheiden, sagen die einen: Wollen
wir den ungebremsten Marsch in den Schuldenstaat, Wie unterschiedlich auch immer der Zugang, so ein-
wollen wir ihn ungehemmter, als wir uns das je vor- deutig der Befund der Sachverständigen: Was da als
stellen konnten, um den Preis des Verlustes zukünfti- Schuldenbremse angekündigt wird, entpuppt sich
ger Handlungs- und Gestaltungsspielräume? Wenn beim näheren Hinsehen als Investitions- und Wachs-
nicht, so die Schlussfolgerung, dann gelte es für die tumsbremse. Nicht von Schuldenbremse sollte des-
Politik, sich selbst Ketten anzulegen. Dann sei es not- halb die Rede sein, sondern treffender von einer
wendig, dass die Parlamentarier sich und zukünftige Zukunftsbremse.
Generationen von Verantwortungsträger/-innen jetzt
zu Selbstdisziplin verpflichten. Schon heute befindet sich Deutschland, was den
Anteil der öffentlichen Investitionen am Bruttoin-
Ist es so, oder haben die Kritiker/-innen Recht, die vor landsprodukt betrifft, an vorletzter Stelle aller OECD-
einer Schuldenbremse warnen und sie als Investitions- Staaten, weit unterhalb des Durchschnitts. Bei den
und Wachstumsbremse ansehen, als Hemmschuh für Bildungsausgaben liegt Deutschland – gemessen am
die Bewältigung von Zukunftsaufgaben und als defi- Bruttoinlandsprodukt – auf dem drittletzten Platz der
nitiv verfassungswidrigen Eingriff in das Bundesstaats- Europäischen Union. Nur die Slowakei und Griechen-
prinzip. land geben – gemessen am Bruttoinlandsprodukt –

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noch weniger für Bildung aus als die Bundesrepulblik. benabbau nicht. Entsprechend einfacher ist es, Aus-
Zwei Beispiele für die enormen Handlungsdefizite. gaben einzusparen. Wo aber fallen Ausgabenkür-
Und das trotz einer zunehmenden Verschuldung der zungen relativ am leichtesten, wo schlagen sie am
öffentlichen Haushalte, die sich über Jahre in unse- meisten durch? Dort, wo auf Sachinvestitionen ver-
rem Lande aufgebaut hat, wobei sich das Ausmaß zichtet wird. So läuft es schon seit Jahren. Das erklärt
der Verschuldung freilich international immer noch im den im internationalen Vergleich extrem niedrigen
Mittelfeld bewegt. Faktisch ist der bundesdeutsche Anteil der öffentlichen Investitionen am Bruttoin-
Staat chronisch unterfinanziert – Folge insbesondere landsprodukt in Deutschland. Und so erklärt sich
einer Steuer- und Abgabenpolitik, die gegenüber auch, dass das Institut für Makroökonomie und Kon-
dem Jahr 2000 auf Einnahmen in der Größenordnung junkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung (IMK) in
von 500 Milliarden Euro insbesondere zugunsten der einer groß angelegten Simulationsstudie zu den Aus-
Kapitalbesitzer und Spitzenverdiener verzichtet hat wirkungen einer Schuldenbremse auf Beschäftigung
und dabei Defizite in der Aufgabenwahrnehmung bei und Wirtschaftswachstum zu dem Ergebnis gekom-
zugleich wachsender Verschuldung hinnahm. men ist, dass das BIP-Wachstum der Bunderepublik
zwischen 2000 und 2007 um zwei Prozent geringer
Die Befürworter einer Schuldenbremse argumentieren ausgefallen wäre und es zwischenzeitlich 500.000
an dieser Stelle, dass es ohne Schuldenbremse eben Arbeitslose mehr gegeben hätte, wenn es beim Bund
auch in Zukunft verlockender bleibe, in Zeiten guter in diesem Zeitraum schon eine Schuldenbremse nach
Konjunktur Steuergeschenke zu verteilen als Schulden dem Modell des Bundesfinanzministeriums gegeben
abzubauen. Weshalb der Hang zur Freigiebigkeit jetzt hätte: Acht Milliarden weniger Ausgaben beim Bund,
verfasssungsrechtlich eingebremst werden müsse. dafür zwei Prozent weniger Wachstum, 500.000
Arbeitslose mehr und sechs Milliarden Euro Steuer-
Das freilich hält gegenwärtig weder die CDU/CSU einnahmen weniger. So hätte das Ergebnis ausgese-
noch gar die FDP davon ab, für die nächste Legisla- hen. Das heißt, die Schuldenbremse hätte den Staats-
turperionde Steuersenkungen zu fordern, im Gegen- haushalt um zwei Milliarden verbessert, aber zwei
teil! Sie machen munter weiter und programmieren Prozent Wachstum gekostet und 500.000 Arbeitslose
unter Bedingungen der Schuldenbremse auf diese mehr nach sich gezogen – wahrlich eine eindrucks-
Weise nur umso unausweichlicher Entstaatlichung, volle Bilanz und alles andere als ein Argument für
Privatisierung und Sozialabbau. Was da zunächst als eine Schuldenbremse! Was an Negativeffekten hin-
Politikverzicht daherzukommen scheint – die Politik zugekommen wäre, hätte in diesem Zeitraum schon
nimmt sich Handlungsoptionen und legt sich Fesseln ein völliges Neuverschuldungsverbot für Länder und
an – entpuppt sich so schnell als Kanalisierung der Kommunen bestanden, ist da noch gar nicht einge-
Politik in Richtung Entstaatlichung und Sozialabbau. rechnet. Ein völliges Neuverschuldungsverbot – genau
Denn für Steuergesetze wird es auch in Zukunft der das soll nach dem Willen von CDU/CSU, SPD und FDP
Zustimmung des Bundesrates bedürfen, für Aufga- ab 2020 der Fall sein. Und das unter Bedingungen,

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wo die Länder über ihre Einnahmequellen nicht selbst Ernst Wolowicz weist zudem zu Recht darauf hin, wie
entscheiden können, ihnen alles Mögliche durch stark ideologisch verbrämt die Debatte über Schulden
Bundesgesetze vorgegeben ist und ihre wichtigsten geführt wird, je nachdem, ob es um Schuldenauf-
Ausgabenpositionen im Personalbereich – Lehrer/ nahmen in der Privatwirtschaft oder beim Staat geht.
-innen, Polizei, Justiz – langfristig festliegen, so dass Und das, obwohl mit den Schulden auch Forderun-
ihnen als freie Haushaltsspitze nur rund fünf Prozent gen weitergegeben werden. Den Schuldnern stehen
des Haushaltes zur freien Gestaltung verbleiben. Gläubiger gegenüber. Es handelt sich also nicht um
Auch für die Länder und Kommunen gilt deshalb: ein Problem zu den Generationen, sondern um eines
Am leichtesten beeinflussbar sind Sachinvestitionen, der Lastenverteilung in der jeweiligen Generation.
weshalb die Schuldenbremse als Investitionsbremse,
als Wachstums- und Zukunftsbremse wirkt. Wenn die Große Koalition jetzt mit der Schulden-
bremse im Grundgesetz ein Verschuldungsverbot für
Da nützen auch die vorgesehenen Finanzhilfen für die Länder und eine maximale Neuverschuldung des
die ärmeren Bundesländer nichts. Der Hansestadt Bundes von 0,35 % des Bruttoinlandsproduktes fest-
Bremen, dem Saarland und Schleswig-Holstein wer- schreiben will, versperrt sie dem Staat damit die Mög-
den sie ohnenhin nicht durchgreifend helfen können, lichkeit, kreditfinanzierte Investitionen für zukünftige
dafür sind sie längst nicht ausreichend, einmal ganz Generationen vorzunehmen. Peter Bofinger, Mitglied
abgesehen davon, dass sie von vorn herein an die des Sachverständigenrates, kommentiert dazu richtig:
Bedingung harter Sparauflagen geknüpft sind. „Aus der Perspektive einer schwäbischen Hausfrau
mag das eine gute Politik sein, eine schwäbische
Zu Recht spricht Ralf Stegner im Zusammenhang mit Unternehmerin aber wird kaum auf eine rentable
der sogenannten Schuldenbremse deshalb von einem Investition verzichten, auch wenn sie dafür einen
Verarmungsprogramm für die ärmsten Bundesländer Kredit aufnehmen muss.“
und ihrer Kommunen. Und zu Recht warnt Münchens
Stadtkämmerer Ernst Wolowicz davor, dass die Bun- In der Tat: Blickt man auf die Unternehmensstruktur,
desländer den auf sie zukommenden Druck beson- so gilt dort „Fremdfinanzierung“, ein ganz selbst-
ders zu Lasten der Kommunen zu mindern versuchen verständliches und völlig unumstrittenes Instrument
werden: Über Kürzungen im kommunalen Finanzaus- der Unternehmensführung. Schulden heißen da
gleich. All das wird die finanzschwächeren Bundes- „Fremdkapital“ und ihr Anteil liegt bei vielen deut-
länder und ihre Kommunen noch härter treffen als schen Unternehmen in der Regel zwischen 70 und
die anderen und wird das Auseinanderdriften der 80 %. Wichtig ist, ob die so finanzierten Investitionen
Lebensverhältnisse zwischen den Regionen forcieren. rentierlich sind oder nicht. Anders beim Staat. Da sind
Schulden und Schuldenmachen schlecht! Und da
haftet fremdfinanzierten Investitionen das Odium des
Vergehens an zukünftigen Generationen an, gerade

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so, als wäre es unzumutbar, an den Kosten produk- Wer das Bundesstaatsprinzip angreift, ist ein Ver-
tiver, in die Zukunft wirkender Investitionen anteilig fassungsfeind, pointiert Prof. Schneider zutreffend.
auch die folgenden Generationen zu beteiligen, Genau das aber tun CDU/CSU, SPD und FDP mit der
denen diese Investitionen mit zugute kommen. geplanten Schuldenbremse. Und genau das kann
nicht hingenommen werden. Deshalb muss die Not-
Es sind solche Argumente, die die Referenten einhel- bremse gezogen werden. Jetzt!
lig vor einer Verfassungsänderung in Sachen Schul-
denbremse warnen lassen. Gemeinsam plädieren sie Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft begrüßt
für eine aufgabengerechte staatliche Finanzausstat- daher die angekündigten Verfassungsklagen der
tung, für einen Politikwechsel in der Steuerpolitik und Landesregierung Schleswig-Holsteins und der Bundes-
dafür, Kreditaufnahmen ohne mechanische und zu tagsfraktion der Linkspartei. Gefordert sind darüber
eng gezogene Grenzen auch weiterhin als Instrument hinaus die Abgeordneten des Deutschen Bundes-
einer antizyklischen Finanz- und Investitionspolitik zu tages. Gefordert sind Landesparlamentarier/-innen
erhalten. und Gemeinderäte.

Dem schließt sich aus verfassungsrechtlicher Perspek- Gefordert sind aber auch wir Gewerkschafterinnen
tive auch Professor Schneider an. Der renommierte und Gewerkschafter, einen Beitrag zu leisten, um
Verfassungsrichter sieht im Kreditaufnahmeverbot für Verfassungsbruch und einer fundamental falschen
die Länder einen verfassungswidrigen Eingriff in das Weichenstellung entgegen zu treten und deutlich
Budgetrecht der Länderparlamente und damit in den zu machen, dass die Alternative zur sogenannten
förderativen Aufbau der Bundesrepublik. Schuldenbremse nicht ungehemmte Neuverschul-
dung ist, sondern eine Politik, die die Unterfinanzie-
Ein Land, das kein Budgetrecht hat, ist kein Staat rung der öffentlichen Haushalte beendet und zu
mehr, wussten schon die Väter des Grundgesetzes diesem Zweck Vermögens- und Erbschaftssteuern
bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat 1948. und die Besteuerung von Reichen und Spitzenver-
Die Handlungsfähigkeit der Länder ist Voraussetzung dienern mindestens auf internationales Durchschnitts-
des Bundes. Und eben dieser Aufbau der Bundes- niveau anhebt, um auf dieser Grundlage an die Be-
republik als Bund in ihrer Haushaltspolitik selbständi- wältigung der gesellschaftlichen Zukunftsaufgaben
ger und eigenverantwortlicher Länder. Eben dieses zu gehen.
Bundesstaatsprinzip steht unter der Einigkeitsgarantie
des Grundgesetzes. Und kann auch durch verfas-
sungsändernde Zweidrittelmehrheiten nicht ausge-
hebelt werden.
Frank Bsirske
ver.di-Bundesvorsitzender

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Referat von Dr. Ralf Stegner

GESTALTUNGSSPIELRÄUME
DER BUNDESLÄNDER NACH DER
„SCHULDENBREMSE“
Wettbewerbsföderalismus oder Angleich
der Lebens- und Arbeitsbedingungen

Heribert Prantl zieht in einem Kommentar in Kommentar den parlamentarischen Föderalismus als
der Süddeutschen Zeitung (26. März 2009) ein den Kern des deutschen Bund-Länder-Systems. Doch
trauriges Fazit der gesamten Föderalismus- die jetzige Reform würde die Haushaltsautonomie der
reform: „Im ersten Teil hat sie den Landtagen viele Landtage beenden, sie würde eine bemalte Schale
auch sehr umstrittene Kompetenzen gegeben“ – ausgeblasener Eier.
wir haben sie deswegen abgelehnt – „im zweiten
Teil versagt sie ihnen die finanziellen Mittel dafür“. Auch die SPD möchte den Haushalt konsolidieren
Ich glaube, damit berührt er den Kern des eigent- und die öffentliche Verschuldung zurückfahren.
lichen Problems: Die Länder – zumindest Schleswig- Doch eine Schuldenbegrenzung auf Null ist ein Ver-
Holstein und ein paar andere Länder – sind strukturell armungsprogramm für unser Land, ebenso wie für
unterfinanziert: Wir haben eine unterdurchschnitt- die anderen strukturell benachteiligten Länder, denn
liche Steuerkraft. sie bedeutet weniger Bildung, weniger Polizisten,
hohe Elternbeiträge für Kindertagesstätten usw.

Schleswig-Holstein hat ein strukturelles Defizit von


500 Mio. Euro, das mit einer Zuwendung von brutto
80 Mio. Euro, wie sie der Kompromiss der Föderalis-
muskommission II vorsieht, nicht abgebaut werden
kann. Gerade die aktuelle Situation mit der größten
Finanz- und Wirtschaftskrise in der Geschichte der
Bundesrepublik zeigt, dass wir flexible Regeln brau-
chen. Über jegliche Vorgaben zum Haushalt in den
Bundesländern, also auch über eine Schuldenbremse,
entscheidet selbstverständlich der Landtag und nicht
der Bund oder die anderen Länder. Deshalb muss es
eine Verfassungsklage gegen die Beschneidung unse-
rer Budgetrechte geben!

Ich halte die Entscheidung der Föderalismuskommis-


sion, eine Null-Komma-Null-Schuldenbremse für die
Um die Finanzfrage in den Griff zu bekommen, Länder ab dem Jahr 2020 einzuführen, für unverant-
braucht es aber die Solidarität aller und die Einsicht wortlich. Verfassungsrechtliche Bedenken, volkswirt-
in die Notwendigkeit, dass wir für einen handlungs- schaftliche Gründe und ganz besonders die Sorge
fähigen Staat auch die Mittel bereitstellen müssen. um die Zukunft der strukturell schwächeren Länder
Heribert Prantl bezeichnet in dem schon erwähnten sprechen dagegen.

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Der Grundsatz der Gleichwertigkeit der Lebensver- Schulden bauen könnten. Aber wer arbeitet schon in
hältnisse steht – wieder einmal – hintenan. Das wird einem Unternehmen, das ohne Kredite auskommt!
zu Lasten der ärmeren Bundesländer gehen und in Genauso und erst recht absurd ist das für einen Staat,
diesen Ländern wird es zu Lasten der ärmeren Bürge- der für Bildung und innere Sicherheit, für Kinderbe-
rinnen und Bürger gehen, der Menschen mit nied- treuung und Verkehrsinfrastruktur verantwortlich ist.
riger qualifizierten Ausbildungen, der Kinder aus
bildungsfernen Schichten. Mit einer Grundgesetzent- Sinnvoll ist eher eine Orientierung daran, ob ich die
scheidung werden Bundestag und Bundesrat massiv Zinsen zahlen kann, eine Orientierung an dem Ver-
in das Budgetrecht der Länderparlamente eingreifen, hältnis von Verschuldung zum Bruttoinlandsprodukt.
ja sie schaffen es de facto ab. Der Bund will mit Zwei-
drittelmehrheit eine Schuldengrenze für die einzelnen Ich möchte hier keinen falschen Eindruck erwecken,
Länder beschließen und der Vorsitzende, Minister- und keinesfalls ein Verhalten propagieren nach dem
präsident Oettinger, begründet diesen Weg ausdrück- Motto „was kostet die Welt“ und „nach mir die
lich verfassungspolitisch, d. h. verfassungsändernde Sintflut“. Der Weg, die Schulden des Staates zu redu-
Mehrheiten nicht in allen Ländern erhalten zu kön- zieren und für unsere Kinder und Enkel die Zinslast
nen. zu verringern, um so mehr politischen Gestaltungs-
spielraum zurück zu gewinnen, ist richtig. Die Bürge-
Seine Schlussfolgerung „also frage ich diese erst gar rinnen und Bürger haben ein Recht darauf, dass
nicht“, gehört aber in eine Zeit des zentralistischen sorgsam und weitsichtig mit ihren Steuergeldern
Absolutismus. Darf ich daran erinnern, dass die Bun- umgegangen wird. Darauf komme ich nachher noch
desrepublik ein Zusammenschluss von Ländern ist einmal zurück. Aber die vorgeschlagenen Konzepte
und nicht ein Zentralstaat, der huldvoll Rechte zuteilt? lindern nicht die Krankheit, sondern bringen den
Patienten um die Ecke.
Der Föderalismus wird doch zur Farce, wenn der
Bund derart in eines der wichtigsten Rechte der Ich weiß, dass Verschuldung Spielräume einengt, aber
Parlamente eingreift, das sog. „Königsrecht“, das wer gibt dieser Generation von Politikern eigentlich
konstitutives Element der Staatlichkeit ist. das Recht, den Abgeordneten von 2020 verfassungs-
rechtlich zu untersagen, was diese Generation keines-
Herrscht insoweit noch Einigkeit, scheiden sich dann wegs akzeptiert hätte?
bei der Frage, ob ein absolutes Schuldenverbot richtig
ist, die Geister. Ich glaube, dass hier wieder einem Die Grundsatzeinigung, die vorsieht, ein totales Neu-
theoretischen Konstrukt aufgesessen wird, nach dem verschuldungsverbot für die Länder zu vereinbaren,
es in den Ohren der Bürger natürlich schön klingt, nie halte ich nicht für vertretbar. Sie ist politisch und öko-
mehr Schulden zu machen. Praktisch wäre es schon, nomisch nicht verantwortbar. In einer Zeit, wo wir
wenn wir Autos bar bezahlen oder Häuser ohne als Staat mit Milliardengarantien und direkten Hilfen

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für das Marktversagen einstehen, wo wir endlich er- Die Problematik, mit wenig Mitteln eine gerechte
kannt haben, dass der Staat auch eine konjunktur- Gesellschaft zu gestalten, betrifft besonders die hoch
politische Verantwortung hat, eine höhere Arbeits- verschuldeten bzw. strukturschwachen Länder wie
losigkeit zu vermeiden und wo wir die Folgen der z. B. Schleswig-Holstein, das Saarland oder die Stadt-
Wirtschafts- und Finanzkrise noch gar nicht vollstän- staaten Berlin und Bremen. Eine Schuldenbremse ist
dig absehen können, kann doch nicht ernsthaft die daher nur möglich, wenn sie mit fairen Hilfen für die-
Handlungsfähigkeit des Staates präventiv für Jahre jenigen Länder verbunden ist, die aus eigener Kraft
im Voraus eingeschränkt werden. Eine solche rituelle eine durchgreifende Haushaltskonsolidierung nicht
Selbstfesselung von Parlamenten und die Delegation bewältigen können. Im Übrigen ist eine Schulden-
von Gestaltungsrechten an die Judikative entsprechen bremse ein erheblicher Eingriff in die Entscheidungs-
nicht der demokratischen Verantwortung, die Politik spielräume der Parlamente. Sie muss daher in jedem
für Bildung, Kinderbetreuung und öffentliche Infra- Fall mit einer Verfassungsänderung auf Bundes- bzw.
struktur hat. Länderebene verbunden sein, für die eine Zweidrittel-
mehrheit erforderlich ist.
Unsere Gesellschaft wandelt sich rapide, und der
Staat ist mit dafür verantwortlich, dass dies nicht zu Die Vertreter der Landtage haben ihre Zustimmung zu
Lasten derjenigen geht, die sich nicht selbst wehren einer Schuldenbremse klar von drei Voraussetzungen
können. Wir müssen Strukturen schaffen und finan- abhängig gemacht. (Erklärung vom 5. Februar 2009)
zieren, die Kindern aus bildungsfernen Schichten
helfen, die Unterstützung für Menschen mit geringer
Qualifikation bieten. „Die Vertreter der Landtage
sind einmütig der Auffassung, dass Schulden-
Der Politikwissenschaftler Franz Walter hat regelungen für Bund und Länder nur getroffen
sich immer wieder mit dem unteren Drittel der werden können, wenn sie gleichzeitig im Grund-
Gesellschaft befasst. In einem Artikel für den gesetz und den Länderverfassungen verankert
Spiegel am 2. April schrieb er: „Bedrückend ist die werden. Andernfalls würde das Budgetrecht
Bilanz, die von älteren Menschen der „Kleine-Leute- der Landtage einseitig durch den Bund einge-
Milieus“ gezogen wird. Sie haben in der Regel hart schränkt. Nur für den Bundeshaushalt kann der
gearbeitet, waren sparsam und nachhaltig. Sie haben Bund entsprechende Beschlüsse fassen;
Kinder in die Welt gesetzt und versucht, aus ihnen lehnen veränderte Abstimmungsregeln im
ordentliche Menschen zu machen. Sie haben recht- Bundesrat ab;
schaffen und fleißig gelebt. Aber irgendwann vor sind der Überzeugung, dass Schuldenregeln
rund 20 Jahren verloren ihre einfachen Bildungsab- für die Länder nur dann möglich sind, wenn sie
schlüsse, ihre manuellen beruflichen Fertigkeiten und begleitet werden von Konsolidierungshilfen und
ihre traditionell geprägten biografischen Erfahrungen einer fairen Altschuldenregelung, die alle Länder
an Wert, jedenfalls im Ansehen derjenigen, die gesell- mittragen können.“
schaftlich jetzt den Ton angaben und seither domi-
nant definierten, was als „Leistung“ zu gelten habe
und was nicht.“ Der deutsche Kabarettist Werner Finck (1902–1978)
sagte einmal, der Staatshaushalt sei „ein Haushalt,
Wir können und wir sollten es nicht darauf anlegen, in dem alle essen möchten, aber niemand Geschirr
diesen wichtigen Teil unserer Gesellschaft durch noch spülen will“. Dem kann ich mich anschließen und ich
mehr Kürzungen, durch noch mehr Leistungsorientie- möchte hinzufügen, dass in dem Haushalt zunächst
rung, durch noch mehr Wettbewerb und Ellenbogen einmal alle satt werden sollen, bevor es ans Spülen
noch weiter ins Abseits zu stellen. Wer über eine geht.
Begrenzung der Neuverschuldung spricht, muss auch
sagen, wie diese Grenze eingehalten werden soll. Schleswig-Holstein hat in der Föderalismuskommissi-
Vor allem, wie sie eingehalten werden soll, ohne on eine Altschuldenregelung vorgeschlagen, die die
dass die Lebensverhältnisse noch weiter auseinander Verbindlichkeiten alle Länder und des Bundes bündelt
klaffen und Werte wie Gerechtigkeit und Solidarität und gemeinsam abbaut. Das Zustandekommen
unter Leistungsdruck begraben werden. einer solchen Altschuldenregelung wäre die zentrale

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Voraussetzung dafür gewesen, dass sich fairer Wett- kommt, können wir über vieles sprechen. Das sollten
bewerb der Länder unter fairen Startbedingungen wir auch. Hierzu gehört die Verständigung auf eine
entwicklen kann. Das ist übrigens ganz unabhängig Begrenzung der Staatsausgaben, beispielsweise in
davon, wann genau welches Land sein Ziel eines Form einer Schuldenbremse.
ausgeglichenen Haushalts erreicht.
Hierüber sind sich die Vertreter der Landtage in der
Jetzt, da es nicht gelungen ist, eine fundierte, faire Föderalismuskommission auch immer einig gewesen,
Lösung der Altschuldenproblematik zu finden, wer- ungeachtet verschiedener Parteizugehörigkeiten, un-
den die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik geachtet der finanziellen Situation der Bundesländer,
weiter auseinanderklaffen. Und das wird nicht nur aus denen sie stammen.
Bremen, Saarland und Schleswig-Holstein betreffen,
sondern auch einige Länder, die derzeit noch vom Ein Auszug aus dem offenen Brief der Vertreter
Solidarpakt profitieren, sowie, perspektivisch betrach- der Landtage vom 1. April 2008 macht das deut-
tet, auch die Länder, die über den Länderfinanzaus- lich: „Schuldenregeln sind jedoch – was die Länder
gleich letztlich werden einspringen müssen. Deshalb angeht – wesentliche Bestandteile des Haushalts-
ist ein Altschuldenfonds kein Partikularinteresse rechts der Länder. Sie schränken das Budgetrecht, das
Schleswig-Holsteins, sondern liegt im Interesse aller „Königsrecht der Parlamente“, zentral ein. Neue
Länder und auch des Bundes. Und es liegt ganz be- Schuldenregeln bedürfen daher der konstitutiven Mit-
sonders im Interesse der Parlamente, die ihre Rolle als wirkung durch die Landesparlamente. Deshalb sind
Haushaltsgesetzgeber wahrzunehmen haben. Wenn Schuldenregeln in den Ländern den Landesverfassun-
es zu einer Lösung der Altschuldenproblematik gen vorbehalten. Eine freiwillige Einschränkung des

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sungsrechtlich bedenklich. Die Landesparlamente
können einen solchen Weg, der auf ihre budgetrecht-
liche Entmachtung hinausliefe, nicht mitgehen.“

Bereits Anfang März 2006 hatte übrigens der frühere


Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion Schleswig-Hol-
stein, Lothar Hay, gemeinsam mit den Fraktionsvor-
sitzenden Jüttner (Niedersachsen), Neumann (Ham-
burg), Schlotmann (Mecklenburg-Vorpommern) und
Sieling (Bremen) einen Antrag für die SPD-Fraktions-
vorsitzendenkonferenz gestellt. Die Vorsitzenden
hatten Korrektur der damaligen ersten Föderalismus-
kommission bei einigen wesentlichen Punkten gefor-
dert, dazu gehörten die Forderungen nach einem
einheitlichen Beamtenrecht und Strafvollzug ebenso
wie die Beibehaltung der Gemeinschaftsaufgabe
Hochschulbau und das bundeseinheitliche Heimrecht.

Was daraus geworden ist, ist bekannt: Die Antragstel-


ler haben sich in diesen wesentlichen Punkten nicht
durchsetzen können und die Länder stehen jetzt vor
der Situation eines eher konkurrierenden als solida-
rischen Föderalismus, der für die ärmeren Bundeslän-
der harte Konflikte schafft, die im Dreieck zwischen
Budgetrechts durch die Landesparlamente wird nur der Umsetzung unserer politischen Ziele und Vorstel-
in Betracht kommen, wenn ein in sich schlüssiges lungen, notwendigem Bestehen im Wettbewerb
Gesamtkonzept der Kommission vorliegt, das die mit anderen Ländern und der ebenso notwendigen
Begrenzung der Neuverschuldung durch die Bewäl- Haushaltskonsolidierung auszutragen sind. Umso
tigung der Altschuldenproblematik und die Entwick- wichtiger wäre gewesen, dass diese Situation mit der
lung einer aufgabengerechten Finanzausstattung Bundesstaatsreform II nicht weiter verschärft wird!
flankiert. Neue Schuldenregeln dürfen den Ländern
nicht durch eine Änderung des Grundgesetzes über- Wir stehen zur Neuordnung der Finanzbeziehungen
gestülpt werden. Der Weg einer einseitigen Grund- zwischen Bund und Ländern. Daran soll es überhaupt
gesetzänderung zu Lasten der Landesparlamente ist keinen Zweifel geben. Es ist aber aus unserer Sicht,
verfassungspolitisch nicht hinnehmbar und verfas- und jetzt spreche ich für die finanzschwächeren Län-

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der, zwingend erforderlich, dass die Konkurrenz mit ben die bestehenden Staaten der Länder unter dem
den wirtschaftlich stärkeren Ländern nicht weiter Dach des Reiches erhalten. Dieser bundesstaatliche
verschärft wird. Wir brauchen einen gangbaren Weg, Aufbau wurde nach dem Ende des Ersten Weltkrieges
der Verschuldungsgrenzen so festlegt, dass sie auch auch in der Weimarer Reichsverfassung verankert.
eingehalten werden können. Wir haben also viel Übung mit Föderalismus.

Ein Verschuldungsverbot birgt die Gefahr, dass die Diese Tradition sollten wir nicht dadurch konterkarie-
Entscheidungen von der politischen Ebene der Parla- ren, dass wir gegeneinander arbeiten. Wettbewerb
mente auf die juristische Ebene der Gerichte verlagert ist gut und richtig – aber er muss im Sinne der Bürge-
werden. Ob dies der Demokratie und der Erkenntnis rinnen und Bürger sein und sich nicht gegen sie rich-
förderlich wäre, darf bezweifelt werden. Auch daran ten. Wir können nicht wirklich wünschen, dass die
wird deutlich, dass wir, wie Berlins regierender Bür- Lebensverhältnisse immer weiter auseinanderklaffen.
germeister Wowereit einmal formuliert hat, keinen
Manchester-Föderalismus brauchen, sondern einen Es muss um mehr als einen Minimalkonsens gehen.
Kooperations-Föderalismus. Ich stehe dafür, einen solidarischen Föderalismus zu
stärken. Dazu gehört auch, Solidarität nicht als weite-
Die Interessen der Länderparlamente in der Föderalis- re Schwächung der armen Länder zu Gunsten der
muskommission werden nicht automatisch durch Reichen zu begreifen. Solidarität und Gerechtigkeit
die Landesregierungen vertreten. Die Bedeutung der sind Werte, die im Miteinander der Bürgerinnen und
Länderparlamente wird deutlich, wenn man davon Bürger wichtig sind, und auch im Verhältnis der Bun-
ausgeht, dass für grundlegende Änderungen in den desländer untereinander.
Finanzbeziehungen verfassungsändernde Mehrheiten
in allen Landtagen erforderlich sind – eine Auffassung, Ein System, das die Erreichung vergleichbarer Lebens-
die von der Mehrzahl der am vergangenen Freitag verhältnisse hintenanstellen würde, schadet uns allen.
befragten Sachverständigen geteilt wurde. Diese Auf-
fassung vertreten wir nach wie vor.

Deutschland entwickelte sich aus machtpolitischen


Gründen zu einem föderalen Staat. Bei der Gründung
des Deutschen Reiches 1871 musste auf zahlreiche
einzelstaatliche und dynastische Interessen Rücksicht
genommen werden. Die seit dem Ende des Dreißig-
jährigen Krieges 1648 entstandenen kleinen Staaten
wollten im Reich fortbestehen und verhinderten die
Bildung eines deutschen Nationalstaates. Somit blie-

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Referat von Dr. Ernst Wolowicz

WAS BRAUCHEN DIE KOMMUNEN –


EINE „SCHULDENBREMSE“?
Referat auf der Veranstaltung von ver.di am 16. April 2009

Die deutschen Kommunen bringen über 60 % der nen für den Zeitraum 2006 bis 2020 704 Mrd. Euro
Investitionen der öffentlichen Hand in unserem Land beträgt. Im Vergleich zu diesem Bedarf investieren
auf. Sie sind damit im sehr stark verantwortlich dafür, die Kommunen jährlich 6 bis 7 Mrd. Euro zu wenig.
wie modern und bürgerfreundlich die öffentliche Viele Kommunen können wegen ihrer strukturellen
Infrastruktur und die Qualität der öffentlichen Dienst- Finanzschwäche kaum noch investieren und können
leistungen sind. In unserem föderalen System ent- sich nur mit Kassenkrediten, die von 1 Mrd. Euro
scheiden Bundestag und Bundesrat und die Länder- 1992 auf 29 Mrd. Euro 2007 stiegen, über Wasser
parlamente über die Steuergesetze und über die halten. Die Sozialausgaben der deutschen Kommu-
entscheidenden finanziellen Rahmenbedingungen nen sind v. a. als Folge der strukturellen und konjunk-
für die Kommunen. Da die Kommunen verfassungs- turellen Massenarbeitslosigkeit von 26,1 Mrd. Euro
rechtlich nur ein Annex der Bundesländer sind, ist ein 1998 auf 37,6 Mrd. Euro 2007 gestiegen. Die Perso-
formalisiertes Mitwirkungsverfahren der Kommunen nalausgaben stiegen in diesem Zeitraum nur wenig
und ihrer beiden Spitzenverbände bei sie berühren- von 38,7 Mrd. Euro auf 40,5 Mrd. Euro.
den Gesetzgebungsverfahren auf Bundesebene – im
Gegensatz zu Österreich – nicht vorgesehen. Sie sind Die meisten Kommunen müssen sich wegen ihrer
also eher ein Objekt dieser Gesetzgebung, auch dann strukturellen Finanzschwäche oder wegen stark weg-
wenn sie von ihr direkt oder indirekt sehr stark betrof- brechender Steuereinnahmen in Abschwungphasen
fen sind. in ihrer Investitionspolitik prozyklisch verhalten. Mün-
chen stellt hier eine Ausnahme dar. Wir praktizieren
Bei der Höhe des Anteiles der Investitionen der öf- seit 1990 eine antizyklische Investitionspolitik.
fentlichen Hand am Bruttoinlandsprodukt steht München hat z. B. in den Jahren 2002 bis 2005 neue
Deutschland mit 1,5 % unter den OECD-Ländern Schulden in Höhe von 1,27 Mrd. Euro aufgenommen
bekanntlich an vorletzter Stelle. In den 70er-Jahren und in den Jahren 2006 bis 2008 Schulden in Höhe
lag er noch bei über 7 %. Dieser drastische Rück- von 1,11 Mrd. Euro getilgt, und in den Jahren 2002
gang ging natürlich nicht an den Kommunen vorbei. bis 2008 ein durchschnittliches jährliches Investitions-
Tätigten die deutschen Kommunen 1992 noch In- niveau von über 700 Mio. Euro erreicht.
vestitionen in Höhe von 34 Mrd. Euro, so fielen diese
kontinuierlich bis 2004 auf 19 Mrd. Euro. Im Kon- In der jetzigen schweren Rezessionsphase sind auch
junkturaufschwung 2005 bis 2008 stiegen sie nur die Kommunen in einer sehr problematischen Situa-
auf 21 Mrd. Euro wieder leicht an. tion. Vor allem die Gewerbesteuereinnahmen bre-
chen ein, mit einer gewissen Zeitverzögerung wird
Dies liegt weder am fehlenden Bedarf an kommuna- dies auch bei den Einkommensteuer-Einnahmen der
len Investitionen noch am fehlenden Willen der Fall sein. In München rechnen wir 2009 mit Gewer-
Kommunalparlamente. Eine DIfU-Studie kommt zum besteuer-Einnahmen, die um 300 bis 500 Mio. Euro
Ergebnis, dass der Bedarf an kommunalen Investitio- geringer sein werden als die eingenommenen

12
1.700 Mio. Euro des Jahres 2008. In den meisten und Besserverdienenden können der Zusammenbruch
Kommunen droht wieder – der Not gehorchend – des internationalen Banken- und Finanzsystems ver-
eine prozyklische Investitionspolitik. Sie kann nur mieden und die Finanzierung der notwendigen Kon-
verhindert werden, wenn Bund und Länder den Kom- junkturprogramme sichergestellt werden. Prozyklische
munen durch massive Konjunkturprogramme zur Finanzpolitik würde die Rezession verstärken. Dies
Hilfe kommen. Das Konjunkturpaket II von Bund und zeigen u. a. die Erfahrungen mit der Politik der Regie-
Land, von dem die Kommunen mindestens 9,3 Mrd. rung Schröder 2002 bis 2005.
Euro erhalten, war ein Schritt in die richtige Richtung.
Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass Zu den Gründen warum derzeit die „Schuldenbrem-
nachhaltige Steuersenkungen und steuerliche Aus- se“ diskutiert wird und zur Kritik an diesem Vorschlag
wirkungen der Wiedereinführung der Pendlerpau- wird heute in den anderen Referaten vorgetragen.
schale und der steuerlichen Anrechenbarkeit der Ich nehme hier deshalb nur aus kommunaler Sicht
Krankenversicherungsbeiträge dazu führen werden, Stellung. Nur eine grundsätzliche Anmerkung sei mir
dass Berechnungen des IMK zur Folge bis zu 80 % vorweg erlaubt: Die neoliberale Heilslehre verdammt
des Konjunkturpaketes II „weg-kompensiert“ wer- Staats-Schulden als Teufelswerk. Dies ist konsequent,
den. München ist hier sicher ein Extrembeispiel. wenn man wie der rechte Flügel der Republikaner in
München erhält aus diesem Paket 70 Mio. Euro den USA offen das Ziel „starve the beast“ („Hungert
brutto für die Jahre 2009 bis 2011, verliert bei den die Bestie Staat aus“) verfolgt. Vertretbare Schulden
Steuereinnahmen aber im selben Zeitraum aus den von Privathaushalten und von Unternehmen (hier
genannten Gründen bis zu 300 Mio. Euro. Wegen heißt es ja Fremdkapital, das klingt weit besser als
der nachhaltigen Wirkungen der Steuerentlastungen Schulden) werden – zu Recht – nicht getadelt.
werden wir auch 2012 und 2013 Mindereinnahmen
von über 200 Mio. Euro haben. Warum sich viele Politiker in unserem Land, wenn
auch in gemäßigter Form der Geißelung von Staats-
Schon jetzt zeichnet sich immer mehr ab, dass die schulden verschreiben, ist schwer nachvollziehbar.
Konjunkturpakete I und II vom Volumen her nicht Große Teile der politischen Klasse in Deutschland sind
ausreichen werden. Es ist ein Konjunkturpaket III der einzige mir bekannte Berufsstand, der sich durch
notwendig, das v. a. der verbesserten Infrastruktur in Steuersenkungen für Unternehmen und Vermögende
den Kommunen dienen sollte. In der schwersten und durch die geplante „Schuldenbremse“ den
weltweiten Rezession der Nachkriegs-Weltgeschichte Handlungsspielraum für eigene Entscheidungen sys-
ist bei den Investitionen der öffentlichen Hand und tematisch reduziert.
der privaten Nachfrage ein Tritt auf das Gaspedal
notwendig, nicht auf die Schuldenbremse! Nur durch Sich in einer Situation, wo nur durch massive neue
Neuaufnahme von Schulden und – wenn politisch Staatsverschuldung und Staatseingriffe in die Wirt-
gewollt – durch Steuererhöhungen bei Vermögenden schaft der Kollaps der Weltwirtschaft zunächst und

13
hoffentlich auch nachhaltig verhindert werden konn- In der „kommunalen Familie“ wird bisher relativ we-
te und in einer Zeit, die empirisch zeigt, wie wenig nig über die „Schuldenbremse“ diskutiert, obwohl
vorhersagbar wirtschaftliche Entwicklungen sind, sich meiner Ansicht nach die Auswirkungen auf die Kom-
den Kopf über die Staatsverschuldung in den Jahren munen sehr negativ sein würden, wenn der Vorschlag
ab 2016 bzw. 2020 zu zerbrechen, mag zwar ehren- der Föderalismus-Kommission II in die Praxis umge-
wert sein, aber wenig zielführend zur Lösung aktuel- setzt werden würde. Für die Kommunen besteht kein
ler und zukünftiger Probleme der Finanzierbarkeit Grund zur Beruhigung, auch wenn sie selbst formal
der Aufgaben der öffentlichen Hand. Zielführender bei der „Schuldenbremse“ zunächst außen vor sind.
wäre sicherlich derzeit die von Prof. Bofinger vorge- Denn als „Annex“ der Bundesländer wären sie von
schlagene „Steuersenkungsbremse“, ich füge hinzu: den Folgen der Umsetzung dieses Konzeptes direkt
Für Unternehmen und Besserverdiener. Konjunktur- betroffen.
politisch wären Steuersenkungen für Niedrigverdiener
und Erhöhungen von Sozialleistungen z. B. bei Bund und Länder würden durch das enge Korsett der
ALG II-Beziehern sehr effektiv, da dies die Nachfrage Schuldenbremse zu einer eher prozyklischen Politik
sofort ankurbeln würde. veranlasst. Wo könnten Bund und Länder als erstes

14
sparen? Nun wohl nicht primär bei den relativ un- mutlichen Folgen der „Schuldenbremse“ auseinander
flexiblen eigenen Personal- und Sachkosten und zu setzen. Strukturell würde diese zu einer Aushöh-
(hoffentlich!) nicht bei den Sozialleistungen, sondern lung der Handlungsmöglichkeiten aller drei föderalen
da, wo es schnell greift: Bei den eigenen Investitionen Ebenen führen. Aus der „Schuldenbremse“ würde
und bei den Investitionszuschüssen an die Gemein- eine „Wachstums- und Investitionsbremse“ werden.
den und generell beim Finanzausgleich mit den Kom- Von welch zentraler Bedeutung ausreichende finan-
munen. zielle Spielräume des Bundes, der Länder und der
Kommunen sind, zeigt die aktuelle ökonomische
Der Bund darf zwar wegen der Ergebnisse der Föde- Lage. Die Politiker und Politikerinnen aller drei Ebenen
ralismus-Kommission I nicht mehr Aufgaben der sollten sich sehr reiflich überlegen, ob der Vorschlag
Kommunen direkt mitfinanzieren, aber er tut dies der Föderalismus-Kommission II zur „Schuldenbrem-
seitdem über die Länder (siehe Konjunkturpaket II). se“ in ihrem langfristigen Steuerungsinteresse ist und
Um ab 2016 das sehr ehrgeizige Ziel, dass der Bund ob er zudem in der Umsetzung überhaupt praktikabel
im langjährigen Durchschnitt sich nicht mit mehr als wäre.
0,35 % des BIP verschulden darf, zu erreichen, würde
sich der Bund nach dem Inkrafttreten der Schulden- Die Briefe, die der ver.di-Vorsitzende Bsirske an
bremse wohl sehr reiflich überlegen, ob er, ohne alle Bundestags- und Landtagsabgeordneten dazu
rechtlich dazu verpflichtet zu sein, Finanzhilfen an geschrieben hat, halte ich für inhaltlich richtig.
Kommunen gibt. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, Wenn ich mir eine Anregung erlauben darf (falls es
dass er – wenn überhaupt – allenfalls in Hochkon- nicht ohnehin schon geplant ist): Adressaten dieser
junkturphasen befristet dazu bereit sein könnte, nicht Briefe könnten auch Kommunalpolitikerinnen und
aber nachhaltig. -politiker sein!

Die Länder, die ab 2020 überhaupt keine neuen Abschließend zum Thema ein zeitlos gültiges Zitat
Schulden mehr aufnehmen dürften, würden schon von Lorenz von Stein aus seinem „Lehrbuch der
bei dem Weg, dieses Ziel zu erreichen, wohl nicht pri- Finanzwissenschaft“ aus dem Jahr 1871: „Je höher
mär bei eigenen Aufgaben sparen, sondern bei ihren sich der Blick hebt und je größer das Bewusstsein
Finanzhilfen an die Kommunen. Sie würden die Höhe des Staats von seinen Aufgaben wird, um so gewisser
ihrer Finanzhilfen für Investitionen der Kommunen als ist die Staatsschuld ein Theil der Staatswirtschaft –
erstes auf den Prüfstand stellen, und dann sicherlich ein Staat ohne Staatsschuld thut entweder zu wenig
das gesamte System ihres jeweiligen kommunalen für seine Zukunft, oder er fordert zu viel von seiner
Finanzausgleiches mit dem Ziel, ihre Ausgaben zu Gegenwart. Sie kann zu hoch, sie kann schlecht ver-
reduzieren, besonders in wirtschaftlich schwierigen waltet, sie kann falsch verwendet werden, aber vor-
Zeiten. handen ist sie immer – es hat nie einen civilisierten
Staat ohne Staatsschuld gegeben und wird, ja es soll
Die Gefahr wäre sehr groß, dass Bund und Länder nie einen solchen geben.“
nach dem Motto „Jeder ist sich selbst der Nächste“
handeln würden und damit die Kommunen unter
die Räder kommen würden. Dabei würden zudem
strukturelle Ungleichgewichte zwischen finanzstärke-
ren und finanzschwächeren Ländern ebenso eher
verstärkt wie die strukturellen Ungleichgewichte
zwischen den finanzstärkeren und den finanzschwä-
cheren Kommunen. Aber dies wäre in den Augen
der neoliberalen Vertreter des „Wettbewerbs-Föde-
ralismus“ wohl ein in Kauf zu nehmender Kollateral-
Schaden.

Meiner Ansicht nach besteht in den Kommunen und


in den kommunalen Spitzenverbänden noch die
Notwendigkeit, sich intensiver als bisher mit den ver-

15
Referat von Dr. Dieter Vesper

SCHULDENBREMSEN – WOZU?
Impulsreferat auf der Tagung von ver.di
am 16. April 2009 in Berlin

Die Diskussion um staatliche Schuldenbremsen wurde Krisensituationen eine Finanzpolitik zu erwarten, die
entfacht, als erstmals seit fast zwei Jahrzehnten die gesamtwirtschaftlich viel zu wenig Spielraum für ge-
öffentlichen Kassen mit Überschüssen abschließen gensteuernde Maßnahmen lässt. Eine Umsetzung des
konnten. Dies erstaunt. Die Entwicklung seit 2005 ist BMF-Vorschlags würde eine erhebliche Verschärfung
eindrücklicher Beleg dafür, dass eine Stabilisierung des Status quo, der ohnedies durch die restriktiven
oder gar Rückführung der staatlichen Schuldenquote Maastrichtkriterien geprägt ist, bedeuten. Es besteht
nur möglich (und aus gesamtwirtschaftlicher Sicht insbesondere die Gefahr, dass die Politik viel zu früh
sinnvoll) ist, wenn die Wirtschaft hinreichend, also auf einen Konsolidierungskurs schwenkt. Selbst die
mit einer Rate von 2 oder 3 %, wächst. Umgekehrt Hinnahme der automatischen Stabilisatoren ist nicht
sind hohe Defizite stets die Folge schwachen gewährleistet. Dies haben die Stagnationsjahre 2001
Wirtschaftswachstums, einer Rezession oder gar bis 2004 eindrücklich gezeigt. Der Grund liegt nicht
Depression. Dies gehört eigentlich zu den wirtschafts- zuletzt darin, dass es keine sicheren Verfahren zur
politischen Binsenweisheiten – nicht so jedoch in Trennung von konjunkturellen und strukturellen Defi-
Deutschland. Hier wird sich ja noch nicht einmal mit ziten gibt. Alle verfügbaren Berechnungsverfahren
den Gründen der gestiegenen Staatsschuld – Wieder- lassen fälschlicherweise aus konjunkturellen rasch
vereinigung, riesige Steuerentlastungen, die ver- strukturelle Defizite werden. Umso problematischer
pufften, und wirtschaftliche Stagnation – in politisch ist es, wenn für Wirtschaft und Gesellschaft sehr
ansprechender Weise auseinandergesetzt. Schulden- folgenreiche finanzpolitische Entscheidungen sich an
bremsen – um was geht es? Es geht um einen Weg, solchen zweifelhaften Verfahren orientieren. Proble-
den Anstieg der Staatsverschuldung nicht nur zu matisch ist auch die Vorstellung, die konjunkturbe-
bremsen. Nach den Vorstellungen des Bundesfinanz- dingten Defizite könnten im konjunkturellen Auf und
ministers soll der Schuldenstand des Staates wenn Ab in dem Maße abgebaut werden, wie sie zuvor
nicht absolut, so doch relativ – also im Verhältnis zum aufgebaut wurden. Eine solche symmetrische Ent-
BIP – zurückgeführt werden. Über den Konjunktur- wicklung ist Wunschdenken, die Wirklichkeit ist ge-
zyklus hinweg sollen im Prinzip keine neuen Schulden prägt von asymmetrischen Konjunkturzyklen. In allen
aufgenommen werden dürfen. Die Schulden, die Konjunkturzyklen der letzten drei Jahrzehnte waren
durch eine Rezession entstehen, sollen im Auf- die Abschwung- und Stagnationsphase wesentlich
schwung getilgt werden. Allenfalls sind Defizite in länger als die Aufschwungperiode. Und immer wie-
einer Größenordnung von 0,35 % des BIP erlaubt. der wurde – dies ist die Geschichte – viel zu früh mit
dem Abbau der Defizite begonnen.
Um es gleich vorweg zu sagen: Die Installierung von
Schuldenbremsen ist äußerst risikoreich, denn die Aber nicht nur der Blick in die Vergangenheit deutet
gesamtwirtschaftlichen Implikationen werden nur das Problem an. Noch mehr Rätsel gibt die Frage auf,
unzureichend berücksichtigt. Werden die geplanten wie der aktuelle Konjunktureinbruch, in Geschwindig-
Schuldenbremsen Wirklichkeit, so ist zukünftig in keit und Stärke beispiellos, mit dem Instrument der

16
Schuldenbremse finanzpolitisch bewältigt werden
könnte: Eine Defizitquote von 4 bis 5 % in diesem
Jahr ist wahrscheinlich, 2010 muss mit einer ähnli-
chen Quote gerechnet werden. In den Jahren 2011
und 2012 müssten, sollte die Schuldenbremse an-
gewendet werden, entsprechend hohe Überschüsse
in den öffentlichen Haushalten realisiert werden.
Dies wäre nur bei einem Aufschwung möglich, in
dem Wachstumsraten von mindestens 3 % generiert
würden. Oder es müssten (kontraktiv wirkende)
Steuererhöhungen beschlossen und/oder massiv die
Ausgaben gekürzt werden. Solche Maßnahmen wie-
derum würden die erforderlichen hohen Wachstums-
raten verhindern. Schließlich stehen die Fragen der
Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit im
Fokus.

Im Status quo dürfen zukunftsorientierte Staatsaus-


gaben, also Investitionen, über Kredite finanziert wer-
den, wobei der Investitionsbegriff allerdings eher eng aufgenommenen Kredite zu beteiligen. Dieser
gefasst ist; Bildungsausgaben zählen – zu Unrecht – investitionsorientierte, ökonomisch begründete Ver-
nicht hierzu. In späteren Perioden werfen diese Güter schuldungsansatz soll nun, im Konzept des BMF,
Nutzen bzw. Einkommen ab, in der Gegenwart er- zugunsten einer starren, willkürlich gegriffenen Regel
spart die Kreditfinanzierung dieser Güter ein höheres (0,35 % des BIP) aufgegeben werden.
Steueropfer und ermöglicht einen höheren Konsum.
Was immer wieder vergessen wird: Zukunftsausga- Die Verfechter führen zur Begründung einer Schul-
ben, also Investitionen in Sach- und Humankapital, denbremse immer wieder die Behauptung ins Feld,
erbringen eine hohe gesamtwirtschaftliche Rendite, dass Staatsschulden künftige Generationen belasten.
die in der Regel höher zu veranschlagen ist als die zu Doch negiert diese Sichtweise die Tatsache, dass die
ihrer Finanzierung aufgenommenen Kredite kosten. künftige Last primär vom Verhältnis von künftigem
Dies heißt auch, dass die Gegenwart nicht auf Kosten Wirtschaftswachstum und Zinssatz abhängt. Dies
der Zukunft lebt – von den Investitionen heute profi- bedeutet aber auch, dass jede Generation für ein
tieren vor allem künftige Generationen. Deshalb möglichst hohes Wirtschaftswachstum bzw. dafür zu
haben sie sich an der Finanzierung in Form von sorgen hat, dass die Voraussetzungen für ein mög-
Zins- und Tilgungszahlungen der zur Finanzierung lichst hohes Wachstum gegeben sind. Hierzu gehören

17
Steuerkraft herangezogen, auf die wiederum die
kommunalen Investitionen Einfluss ausüben. Der Be-
zug der kommunalen Verschuldung zur Investitions-
tätigkeit hat sich durchaus bewährt. Warum sollte
man diesen Ansatz aufgeben?

zweifelsohne öffentliche Investitionen in die Infra- Eine Einengung des Spielraums, wie ihn das Konzept
struktur, in das Bildungssystem oder in die Forschung, der Schuldenbremse vorsieht, indem Ländern und
die alle die Produktivität einer Volkswirtschaft erhö- Gemeinden in einer konjunkturellen Normallage kein
hen. Allein dies ist der Weg, Wohlstand in die Zu- Verschuldungsspielraum zugestanden würde, ergibt
kunft zu übertragen. Eine Volkswirtschaft insgesamt keinen Sinn, es würde ihre Handlungsfähigkeit nach-
vererbt der nächsten Generation nicht nur Schulden, haltig beschneiden. Betroffen davon wären vor allem
sondern auch Forderungen, und zwar im gleichen die Investitionsausgaben, die aber wiederum notwen-
Maße!! Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um dige Voraussetzung für höheres Wirtschaftswachstum
Schulden des Staates oder der Privaten handelt. Des- sind. Die Implementierung der Schuldenbremse be-
halb kann auch nicht die Rede sein von einem Vertei- deutet die Aufgabe der „goldenen Finanzierungsre-
lungskonflikt zwischen den Generationen, sondern gel“, wonach Investitionen, auch öffentliche, über
allenfalls von einem Konflikt zwischen (künftigen) Kredite finanziert werden sollen. Ohne Investitionen
Steuerzahlern und (künftigen) Gläubigern der Staats- gibt es keine wirtschaftliche Expansion.
schulden. Dieser Konflikt kann nur durch eine gerech-
te Besteuerung in der Zukunft gelöst werden. Unter den gegebenen Bedingungen stellt sich die
Frage nach der Eigenständigkeit der Länder. Welche
Problematisch ist der Plan der Schuldenbremse auch Möglichkeiten haben sie, eigenverantwortlich auf die
dann, wenn man die föderale Aufgabenverteilung regionale Wirtschaftsentwicklung einzuwirken? Auf
mit in den Blick nimmt. Die Gemeinden tätigen trotz der Einnahmenseite sind sie in ihrer Handlungsfreiheit
ihres eingeschränkten lokalen Aktionsradius den stark eingeschränkt, da steuerpolitische Entscheidun-
größten Teil der öffentlichen Investitionen, indem sie gen Bundesangelegenheit sind und die Länder nur in
in wichtige Infrastruktursektoren investieren. Nur fol- ihrer Gesamtheit via Bundesrat intervenieren können.
gerichtig ist es deshalb, dass auf kommunaler Ebene Der investitionsorientierte Verschuldungsgedanke hat
die Idee der investitionsorientierten Verschuldung den einzelnen Ländern einen gewissen Ausgleich
eine wichtige Rolle spielt. Die kommunale Kreditauf- für die fehlende Autonomie auf der Einnahmenseite
nahme findet ihre Obergrenze in den veranschlagten gegeben. Wenn der Befund stimmt, dass Wachstum
Ausgaben für Investitionen. Geprüft wird, ob die und Wohlstand in Deutschland durch zu geringe
Kommunen künftig ihre Schulden bedienen können. Bildungsausgaben gefährdet sind, dann stehen insbe-
Dabei werden vor allem die lokale Wirtschafts- und sondere die Länder vor großen Herausforderungen,

18
denn es sind sie, die in erster Linie für die Bereitstel- vestitionsorientierte Verschuldungsgrenzen eine sehr
lung dieser öffentlichen Güter zuständig sind. Diese viel höhere Rationalität als das nun vorgesehene
Aufgaben sind eindeutig zukunftsorientiert, und eine Verfahren. Im Übrigen sind die geplanten Schulden-
(teilweise) Finanzierung über Schulden ist durchaus diensthilfen für die finanzschwachen Länder nur ein
gerechtfertigt. Die Einführung einer Schuldenbremse Tropfen auf dem heißen Stein und ein viel zu geringer
würde die Handlungsfähigkeit der Länder in dieser Preis für die Aufgabe finanzpolitischer Souveränität.
Frage erheblich beschneiden. Eine alleinige Steuer- Ein Beispiel: Bei einem Schuldenstand von rund
finanzierung würde hingegen die jetzige Generation 60 Mrd. Euro erhielte Berlin lediglich 600 Mill. Euro
überfordern. als Finanzierungshilfe. Dies entspricht einem Prozent
seiner Schulden. Von einer „Sternstunde des koope-
rativen Föderalismus“ zu reden, ruft in diesem Zu-
WAS BLEIBT ALS FAZIT? sammenhang nur Staunen hervor.

Vor dem Hintergrund der schweren Wirtschaftskrise Was die Finanzpolitik tatsächlich in den nächs-
und ihrer Implikationen wird die Frage einer staat- ten Jahren leisten muss, liegt auf der Hand:
lichen Schuldenbremse zu einem merkwürdigen In Deutschland hat sich eine Infrastrukturlücke in
Zeitpunkt gestellt. Vielmehr sollten sich die Entschei- bedrohlicher Größenordnung aufgebaut. Dies betrifft
dungsträger auf die Frage konzentrieren, ob die nicht nur die öffentlichen Investitionen in der tradi-
Finanzpolitik hinreichend antizyklisch ausgerichtet ist. tionellen Abgrenzung, also Schulen, Universitäten,
In der Währungsunion ist die Finanzpolitik das einzige Straßen, Brücken etc. Wollte Deutschland wieder an
Instrument, welches der nationalen Politik für stabi- den europäischen Durchschnitt anschließen, wäre
lisierungspolitische Zwecke zur Verfügung steht. Will allein hierfür ein zusätzliches Investitionsvolumen in
sie ihren Anspruch auf Gestaltung nicht aufgeben, einer Größenordnung von 30 bis 40 Mrd. Euro pro
muss die Politik das Instrument der antizyklischen Jahr erforderlich. Dies betrifft auch die Bildungsaus-
Schuldenpolitik behalten. Tatsächlich ist das Gegenteil gaben; sie sind ebenfalls – gemessen am BIP – in den
zu befürchten: Die Aussicht auf wesentlich höhere beiden letzten Jahrzehnten merklich gesunken. Dabei
Defizite infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise dient geht es um mindestens 10 Mrd. Euro zusätzlich pro
bereits jetzt als neue Drohkulisse für die Forderung Jahr. Allein die Bewältigung dieser Ausgaben erfor-
nach ihrem möglichst raschen Abbau und dem Ein- dert also viel Geld. Bereits hier wird zweierlei deutlich,
satz der Schuldenbremse „danach“. nämlich dass zum einen für steuerliche Entlastungen
in den nächsten Jahren keinerlei Spielraum (und auch
Die Frage der intergenerativen Gerechtigkeit ist ein keine Notwendigkeit) besteht, zum Zweiten auch
Scheinproblem. Völlig unverständlich ist die geplante zusätzliche Staatsschulden aufgenommen werden
Aufgabe der regionalen und lokalen Verschuldungs- müssen. Da es sich um Zukunftsaufgaben handelt,
kompetenzen. Aus ökonomischer Sicht besitzen in- ist dies angemessen.

19
Referat von Prof. Dr. Gustav Horn

IST DIE SCHULDENBREMSE


EINE WACHSTUMSBREMSE?

In der aktuellen wirtschaftspolitischen Diskussion wird Zu berücksichtigen ist im Übrigen, dass die üblichen
wie selbstverständlich von der Notwendigkeit einer Begründungsmuster zur „Notwendigkeit“ des Schul-
Schuldenbremse ausgegangen. Dies ist aber keines- denabbaus wie z. B. das der Generationengerechtig-
falls so. Die letzten Jahre zeigen auf nationaler wie keit oft nur eine partielle Sichtweise der Problematik
internationaler Ebene eindrucksvoll, dass eine Kon- liefern. Zwar werden die finanziellen Lasten aus der
solidierung der öffentlichen Haushalte auch ohne Verschuldung tatsächlich auf die nächste Generation
Schuldenbremse möglich ist. In der Diskussion um vererbt, wenn nicht konsolidiert wird. Dies kann aber
Staatsschulden wird immer wieder die enge, teilweise gut begründet sein. Denn es gilt, dass zukunftsorien-
wechselseitige Abhängigkeit zwischen Konjunktur tierte Staatsausgaben in späteren Perioden auch
und Staatsfinanzen „vergessen“. In der Realität aber Nutzen bzw. Einkommen stiften. Was für eine Infra-
entwickeln sich die öffentlichen Haushalte geradezu struktur hätte die junge Generation in Ostdeutsch-
lehrbuchhaft antizyklisch. Insofern ist nicht die land geerbt, hätte es nicht die hohe finanzielle
Existenz einer Schuldenbremse notwendige Voraus- Aufbauleistung des Staates gegeben? Was würden
setzung einer Konsolidierung, sondern ein Konjunk- künftige Generationen über die Heutige denken,
turaufschwung. Richtig ist allerdings, dass ein Kon- würde sie in der gegenwärtigen Krise nicht mit massi-
junkturaufschwung zumindest in der Vergangenheit ven staatlichen Mitteln versuchen, die Wirtschaft zu
keine hinreichende Bedingung dafür war, dass der stabilisieren? Vielleicht das Gleiche, was wir heute
Strom konjunkturell bedingter Steuermehreinnahmen über die Generation Brüning denken? Es ist nun ein-
tatsächlich zur Konsolidierung der Staatsfinanzen mal so: Kreditfinanzierung in der Gegenwart einer
verwendet wurde. Tatsächlich gab es immer wieder Krise vermeidet ein konjunkturpolitisch kontraproduk-
politische Entscheidungen, die dies verhindert haben. tives höheres Steueropfer in der Zukunft und ermög-
In der aktuellen Debatte um Schuldenbremsen wird licht eine – in der jetzigen Krise, dringend benötigte –
aber suggeriert, die Staatsschulden seien aus dem höhere gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Dies heißt
Nichts entstanden bzw. daraus, dass die Politik nicht nicht, dass die Gegenwart auf Kosten der Zukunft
in der Lage oder Willens war, die Entwicklung zu lebt, denn von der Investition heute profitieren vor
verhindern. Doch die historische Entwicklung zeigt allem zukünftige Generationen. Deshalb ist es ord-
anderes, denn die Gründe für den Anstieg der Staats- nungspolitisch geboten, dass diese sich auch an der
schulden liegen auf der Hand: Lasten im Zusammen- Finanzierung in Form von Zins- und Tilgungszahlun-
hang mit der Wiedervereinigung, umfangreiche gen beteiligen. Ferner werden nicht nur Zins- und
Steuersenkungen, riesige konjunktur- und wachs- Tilgungslasten vererbt, sondern auch die zugehörigen
tumsbedingte Steuerausfälle. Dies gilt es für die Zu- Forderungen. Deshalb kann auch nicht die Rede sein
kunft durch ein adäquates Konsolidierungskonzept, von einem Verteilungskonflikt zwischen den Genera-
das primär in der Phase einer Hochkonjunktur greift, tionen, sondern eher von einem Konflikt zwischen
zu verhindern. Nur mit dieser Einschränkung kann (künftigen) Steuerzahlern und den (künftigen) Gläu-
eine Art Schuldenbremse überhaupt hilfreich sein. bigern der Staatsschulden. Aus diesem Grund ist eine

20
ausufernde Verschuldung auch kein wirtschafts- Ein weiteres Grundproblem der Orientierung auf die
politischer empfehlenswerter Weg. Im vorliegenden Defizitquote besteht darin, dass die Politik nur die
Gesetzentwurf wird versucht, obigen Überlegungen Höhe der Ausgaben, nicht aber die Höhe der Einnah-
durch Ausnahmeklauseln Rechnung zu tragen. Daher men – die kurzfristig weitgehend vom Wirtschaftsver-
wäre auch bei Existenz der Schuldenbremse ein Teil lauf abhängig sind – bestimmen kann. Damit gerät
der Schulden, die heute beklagt werden, gemacht die Politik allzu leicht in eine Glaubwürdigkeitsfalle,
worden. nämlich wenn sie im Aufschwung die Defizite „syste-
matisch“ höher plant als aufgrund der aktuellen Ent-
Ein grundsätzliches Problem der angestrebten Rege- wicklung wahrscheinlich ist und sie dies mit Risikovor-
lungen ist zudem die Fokussierung der Schulden- sorge begründet, aber auch im Abschwung, wenn sie
bremse auf die Nettokreditaufnahme. Die Netto- die Steuerausfälle stets unterschätzt, wodurch dann
kreditaufnahme ist kein guter Indikator für die heftige Anpassungen auf der Ausgabenseite erforder-
Belastungen, die durch staatliche Verschuldung lich sind, um die Defizitziele zu erreichen. Für Einnah-
entstehen, um die es im Kern ja geht. Dazu müsste menausfälle aus konjunkturellen Gründen kann aber
die Kreditaufnahme in Bezug zur Leistungsfähigkeit keine Regierung verantwortlich gemacht werden.
des Staatsektors gesetzt werden. Von daher sind Der vorliegende Gesetzentwurf versucht dem durch
Größen wie die Zins-Steuer-Relation, die die Schulden die Trennung in eine konjunkturelle und strukturelle
in Beziehung zu den Einnahmen des Staates setzt, Komponente, die nach dem Verfahren der EU-Kom-
oder die Schuldenstandsquote, die die Schulden in mission berechnet wird, Rechnung zu tragen. Damit
Relation zum Bruttoinlandsprodukt abbildet, geeig- werden aber neue Probleme geschaffen, die in der
neter. Wenn man Zielvorstellungen formuliert, so allenfalls beschränkt möglichen Berechnung dieser
wäre es adäquat, sie in Bezug auf diese Größen zu Aufteilung begründet sind. Das Problem entsteht
formulieren. Beim vorliegenden Gesetzentwurf wird bereits bei der nach dem EU-Kommisions-Verfahren
allzu leichtfertig der populistischen Irreführung durch erforderlichen Berechnung des Output-Gaps (der
„Schuldenuhren“ gefolgt. konjunkturellen Produktionslücke). Die richtige Ein-
schätzung des Output-Gaps (d. h. die Abweichung

21
der aktuellen Produktion von ihrem Potenzialniveau) Vor-Perioden zurückgeführt werden könnten, wurde
ist mit hoher Unsicherheit behaftet, insbesondere am vom IMK folgendes Vorgehen angewendet: Die revi-
aktuellen Rand. Eine Missachtung dieser Unsicherheit dierten Werte für 2008 und 2009 aus dem Herbst-
bei der Konzipierung einer fiskalpolitischen Regel, die Datensatz werden ceteris paribus, in den Frühlings-
sogar im Grundgesetz verankert sein soll, ist entwe- Datensatz eingesetzt. Damit ist sichergestellt, dass
der naiv oder gewagt, da damit eine Einschätzungssi- Unterschiede in den Schätzungen der Input-Faktoren
cherheit bzgl. der konjunkturellen Entwicklung sug- des Potenzialoutputs und somit des Potenzialoutputs
geriert wird, die in der Realität gar nicht möglich ist. selbst nur auf die Revisionen der Prognosewerte der
Input-Faktoren für 2008 und 2009 zurückzuführen
Um die tatsächliche Stabilität des EU-Produktions- sind. Mit den originären und den so modifizierten
funktions-Ansatzes zu untersuchen, wurde vom IMK Frühlings-Datensätzen wird der Potenzialoutput für
ein simples aber dennoch durchaus intuitives kon- Deutschland geschätzt. Das Jahr 2009 ist die letzte
trafaktisches Experiment anhand der von der EU- Schätzperiode und 2010 – 2015 die ergänzende mittel-
Kommission veröffentlichten Datensätze und Schät- fristige medium-term-Vorhersage. Dieses Vorgehen
zungen für Deutschland durchgeführt. Dabei wurde ermöglicht, zu untersuchen, inwieweit das Verfahren
die Tatsache ausgenutzt, dass die EU-Kommission auf der EU-Kommission tatsächlich robust gegenüber
halbjährlicher Basis Schätzungen der Potenzialoutputs Datenrevisionen am aktuellen Rand ist.
und der Output-Gaps der EU-Mitgliedsländer im
Geschätzte Wachstumsraten des Potentialoutputs
Rahmen ihrer Frühjahrs- und Herbstprognosen in der nach EU-Verfahren – Kontrafaktisches Experiment 2.4
Reihe European Economy veröffentlicht: Jede dieser mit Frühling 2008 Datensatz
2.0
beiden Prognosen basiert auf kurzfristigen von der
1.6
EU festgelegten Prognose-Werten der benötigten .1
Variablen für das laufende und das kommende Jahr. 0
1.2

In den Frühlings- und Herbstprognosen von 2008 also -.1 0.8


Prognosewerte für das Jahr 2008 und dieses Jahr, -.2 Differenz
wobei angemerkt werden sollte, dass das gewaltige -.3
Original
Modifiziert
Ausmaß der Krise zum Zeitpunkt der damaligen Prog- -.4
1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008
nose noch nicht abgeschätzt werden konnte.

Geschätzte Wachstumsraten des Potentialoutputs


nach EU-Verfahren mit verschiedenen Datensätzen
2.4 Die Diskrepanzen zwischen den originalen 2008 Früh-
2.0 lings- und Herbst-Datensätzen führen für 2008 und
2009 nicht nur zu einer maßgeblichen Revision des
1.6
.1
Potenzialoutputs und des Output-Gaps für diese zwei
1.2
0
Jahre (wie es zu erwarten ist), sondern sie führt außer-
0.8 dem wegen der längerfristigen Wirkungen des
-.1

-.2 Differenz
verwendeten Verfahrens zu einer bedeutenden Revi-
-.3
Frühling 2008 sion dieser Zeitreihen nahezu acht Jahre zurück in die
Herbst 2008
-.4
Vergangenheit (vom aktuellen Rand aus betrachtet),
1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008
welche jedoch fern jeglicher ökonomischer Interpre-
tation liegt. In der Tat, wieso sollte eine Datenrevision
Der Vergleich der Zeitreihenpaare zeigt in einer klaren ausschließlich bei den 2008- und 2009-Werten einen
Weise auf, dass, obwohl Diskrepanzen zwischen bei- Einfluss auf die Einschätzung der konjunkturellen
den Datensätzen über die gesamte Schätzperiode Lage in, beispielsweise, 2002 haben? Dies ist jedoch
existieren, diese besonders am aktuellen Rand gravie- tatsächlich das implizite Ergebnis der Verwendung
rend sind. Das bedeutet, dass es eine erhebliche Revi- des EU-Verfahrens. Die Konsequenz dieser Prognose-
sionsanfälligkeit der Schätzungen gibt. Aufgrund der Revision ist, dass der 2008 revidierte Output-Gap
Tatsache, dass bei einem simplen Vergleich zwischen nach oben korrigiert wird, von + 0,95 zu +1,64 %,
den Potential-Schätzungen beider Datensätze nicht und dies, obwohl der 2008er-Prognosewert für das
ausgenommen werden könnte, dass eventuelle Dis- tatsächliche Produktionsniveau nahezu unverändert
krepanzen in den Einschätzungen der konjunkturellen ist. In der gleichen Weise, wird der für 2009 prog-
Lage u. U. auf die allgemeinen Differenzen in den nostizierte Output-Gap nur von + 0,85 auf + 0,16 %

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korrigiert, und dies, obwohl die Veränderung des turellen Defizite auf 0,35 % des BIP (Bund) bzw.
exogenen Prognosewerts für die Entwicklung des tat- 0,0 % (Länder) zurückgeführt werden sollen. In die-
sächlichen Produktionsniveaus –1,56 Prozentpunkte sem Zeitraum muss die Finanzpolitik unabhängig von
beträgt. Die Implikationen für die Gestaltung der der Konjunkturlage einen restriktiven Kurs einschla-
Fiskalpolitik sind dramatisch: Anstatt zu einem ge- gen – erneut mit dem Risiko einer prozyklischen,
schätzten Rückgang des Output-Gaps von – 0,2 Pro- Krisen verschärfenden Politik. In einem ähnlichen Ex-
zentpunkten in 2008 und –1,6 Prozentpunkten in periment wurde daher die Entwicklung nachgezeich-
2009 (unter der Annahme eines nahezu unveränder- net, die sich ergeben hätte wenn die Schuldenbremse
ten Potenzialoutputs in beiden Perioden) im Vergleich für den Bund schon ab dem Jahren 2001 gegolten
zu dem Baseline-Szenario der Frühlingsprognose, hätte. Die Berechnungen zeigen, dass bei einer rest-
führt die Anwendung der EU Methodologie zu einer riktiven Fiskalpolitik, wie sie die Schuldenbremse in
Einschätzung des Output-Gaps von +1,2 Prozent- jenem Zeitraum impliziert hätte, das Wirtschafts-
punkten in 2008 und – 0,6 Prozentpunkten in 2009 wachstum massiv reduziert worden wäre (IMK-Report
gegenüber dem Baseline-Szenario. Und obwohl der 29/2008). Das nominale BIP wäre um bis zu 50 Mrd.
geschätzte Rückgang zwischen 2008 und 2009 un- Euro bzw. um bis zu 2,4 % niedriger ausgefallen als
gefähr dem prognostizierten Rückgang der tatsäch- im Status quo, am Ende des betrachteten 8-Jahres-
lichen Produktion entspricht, macht es einen großen zeitraums hätte das nominale BIP 1,5 % unter dem
Unterschied für die konjunkturelle Beurteilung auch Status quo gelegen. Damit ist der BIP-Verlust deutlich
der Fiskalpolitik, ob dieser Rückgang bei einem höher als die Reduzierung des Staatsverbrauchs, der
höheren oder niedrigeren Potenzialwert erfolgt. Im (implizite) Multiplikator liegt bei 1,75. Auch das reale
ersten Fall müsste die Fiskalpolitik bei Existenz der BIP wäre deutlich gedrückt worden, und das Beschäf-
Schuldenbremse deutlich restriktiver angelegt sein, tigungsniveau hätte zeitweise um mehr als 500.000
als im Zweiten. Die Einschätzung der fiskalpolitischen Personen niedriger gelegen. Insgesamt hätte die An-
Notwendigkeiten wird somit zu einem politischen wendung der Schuldenbremse zu Beginn dieses Jahr-
Vabanquespiel. Die Schuldenbremse räumt damit der zehnts zu wachstumsbedingten Einnahmeverlusten
Finanzpolitik regelmäßig einen zu geringen konjunk- des Staates geführt, die einen nennenswerten Teil der
turellen Spielraum ein und führt systematisch zu einer intendierten Reduzierung der Nettokreditaufnahme
prozyklischen Politik. Im Abschwung sind die kon- zunichte gemacht hätten. Ausgabenseitige Konsoli-
junkturbedingt zugestandenen Defizite zu gering. dierungsversuche zum falschen Zeitpunkt gehen aber
Im Aufschwung ist die Schuldenbremse dagegen zu mit nennenswerten Wachstumsverlusten einher, wie
lax und behindert die Konsolidierung. die Modellsimulationen zeigen. Hinzu kommt noch,
dass gemäß dem Konzept der Schuldenbremse die
Ein weiteres gravierendes Problem ergibt sich für den durch die Finanz-politik ausgelösten Wachstumsver-
Übergangszeitraum von 2011 bis 2016 (Bund) bzw. luste und damit höheren konjunkturellen Defizite bei
2011 bis 2020 (Länder), in der die bestehende struk- Anwendung des EU-Verfahrens automatisch im Laufe

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der Zeit zum Teil als strukturelles Defizit identifiziert ihrem Portefeuille benötigen. Ihre Nachfrage könnte
worden wären, was; wie in Abschnitt 6 beschrieben, auf dem nationalen Markt nicht mehr befriedigt
bei der Aufstellung des nächsten Haushaltes zu einer werden, sie wären gezwungen, entweder in Anleihen
restriktiveren Finanzpolitik geführt hätte. Ein Circulus anderer Staaten zu investieren oder, wenn diese die
vitiosus zwischen immer restriktiverer Haushaltspolitik gleiche Strategie wie die Bundesrepublik verfolgten,
und sich abschwächendem Wachstum setzt ein. in riskantere Anlagen. Damit würde aber das Rendite-
Unter Einbeziehung der nun geplanten analogen risiko von lebens- und kapitalgedeckten Rentenver-
Regelungen für die Länderhaushalte würden die sicherungen merklich steigen.
Wirkungen noch weitaus stärker ausfallen.
Insgesamt weist eine mechanische Schuldenbremse
Die Argumentation, dass der Staat aus Gründen der gravierende Nachteile auf. Bedenklich erscheint dabei
Demographie kurzfristig enthaltsam sein muss, um vor allem, dass die politische Funktion der Finanzpoli-
zu einem späteren Zeitpunkt Spielraum nach oben zu tik, zu der auch eine angemessene Versorgung der
haben, hält einer näheren Betrachtung nicht stand. Wirtschaft und Gesellschaft mit öffentlichen Gütern
Diese Vorstellung geht von der falschen Annahme gehört, hierdurch zumindest in den Hintergrund ge-
aus, man könne heute vorab gesamtwirtschaftlich stellt wird. Das erscheint politikfrei technokratisch, ist
Geld sparen, um es morgen in sogar höheren Beträ- es aber nicht, da mit einer solchen Strategie de facto
gen ausgeben zu können. Es führt aber kein Weg wirtschaftspolitische Werthaltungen bedient werden,
daran vorbei, dass die Versorgung der Rentner immer die das Zurückdrängen von jedweder staatlicher Ak-
aus der Rendite der jeweiligen Periode geleistet wer- tivität in der Wirtschaftspolitik fordern. Welche Fol-
den muss, sei es im Umlageverfahren durch Abgaben gen dies haben kann, zeigt die gegenwärtige Krise in
auf das Lohneinkommen der Beschäftigten, sei es im dramatischer Form. Die notwendige Konsolidierung
Kapitaldeckungsverfahren durch entsprechenden Ver- der öffentlichen Haushalte ist eine politische Aufga-
brauch von Gewinn- und Vermögenseinkommen der be, derer man sich nicht technokratisch entledigen
Rentner. Wenn durch verstärktes staatliches Sparen, kann. Es bedarf hierzu des politischen Willens und
sei es durch verminderte Ausgaben oder durch erhöh- einer guten Konjunktur.
te Steuern, die wirtschaftliche Entwicklung gedämpft
wird, dann sinken sowohl die Rendite auf Arbeitsein- Generelles Urteil
kommen als auch die auf Vermögenseinskommen. Der Ansatz, Staatsverschuldung mittels der Mechanik
Es sei denn, man legt sein Geld im Ausland an, wo gesetzlicher Regelungen zu begrenzen, ist im Grund-
möglicherweise eine solche Strategie nicht einge- satz verfehlt, da diese in der Regel niemals aktuellen
schlagen würde. Dann aber betätigte sich Deutsch- wirtschaftlichen Gegebenheiten gerecht werden, son-
land als Trittbrettfahrer einer international vernünfti- dern wirtschaftliche Schieflagen zu verschärfen dro-
geren Entwicklung, was wohl kaum nachhaltig sein hen. Zudem basiert die Mechanik im Gesetzentwurf
dürfte. Der Renditeverlust mag dabei wegen der Er- auf einem Verfahren mit erheblichen Messungenauig-
haltung der Handlungsfähigkeit des Staates oder der keiten, die eine stetige Haushaltsplanung enorm
Vermeidung von zukünftigen Verteilungskonflikten erschweren. Ferner sind auf Dauer erhebliche Risiken
aufgrund zu hoher Staatsverschuldung gerechtfertigt für den Kapitalmarkt zu erwarten. In der Folge all
sein. dieser Effekte wird der Staat in seiner Handlungs-
fähigkeit enorm eingeschränkt. Wachstum und Be-
Ein weiteres Kapitalmarktproblem wird ebenfalls schäftigung werden leiden. Die Sanierung der Staats-
gerne übersehen. Würde die Schuldenbremse in der finanzen wird trotz der Regelungen kaum gelingen.
gegenwärtigen Form langfristig erfolgreich angewen- Die angestrebte Nachhaltigkeit wird somit nicht
det, sänke die Staatsverschuldung bei einem ange- erreicht werden.
nommenen durchschnittlichen Wachstum des nomi-
nalen BIP von 3 % pro Jahr im Durchschnitt der Jahre
auf gerade einmal 11,7 %. Damit fiele der Staat als
sog. Bester Schuldner weitgehend aus. Dies hätte
weitreichende Konsequenzen für Kapitalanleger, die
wie z. B. lebens- oder kapitalgedeckte Rentenver-
sicherungen einen hohen Anteil sicherer Anlagen in

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25
Referat von Prof. Dr. Hans-Peter Schneider

DIE HAUSHALTSWIRTSCHAFT
DER LÄNDER – VERFASSUNGS-
RECHTLICHE GRENZEN EINER
„SCHULDENBREMSE“

I. NULL-VERSCHULDUNG DER LÄNDER AB 2020 ? raus, dass das Finanzwesen im Bundesstaat ein Ge-
samtgefüge darstelle und die Haushaltsautonomie
„Bund und Länder sind in ihrer Haushaltswirtschaft den grundgesetzlichen Bestimmungen über die Steu-
selbständig und voneinander unabhängig“, so steht erzuteilung und den Finanzausgleich nachgeordnet
es in Art. 109 Abs. 1 GG seit 1949 noch geschrieben; sei. Unmittelbare Einschränkungen ergäben sich
doch die Zeit ist offenbar darüber hinweggegangen. zudem bereits durch die bestehende Bindung der
Bundestag und Bundesrat haben in Erster Lesung des Haushaltswirtschaften von Bund und Ländern an die
„Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grund- Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichge-
gesetzes“ beschlossen, nach Art. 109 Abs. 2 folgen- wichts. Der bisherige Absatz lasse insoweit auch weit-
den Absatz 3 einzufügen: reichende Einflussmöglichkeiten des Bundesgesetz-
gebers zur Abwehr einer Störung des gesamtwirt-
„(3) Die Haushalte von Bund und Ländern sind schaftlichen Gleichgewichts in Form von Vorgaben
grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszu- für Höchstbeträge, Bedingungen und Zeitfolge der
gleichen … Kreditaufnahme beziehungsweise zur Bildung von
Die nähere Ausgestaltung regelt für den Haushalt des Konjunkturausgleichsrücklagen zu. Die kreditbezoge-
Bundes Artikel 115 mit der Maßgabe, dass Satz 1 nen Vorgaben des Absatzes 3 gäben den Ländern für
entsprochen ist, wenn die Einnahmen aus Krediten diesen Teilausschnitt der Haushaltswirtschaft lediglich
0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen einen Rahmen vor, innerhalb dessen sie ihre Haus-
Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten. Die nähere halte selbstständig und unabhängig gestalten kön-
Ausgestaltung für die Haushalte der Länder regeln nen. Absatz 3 beinhaltete kein absolutes Verbot der
diese im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kom- Kreditaufnahme, sondern lediglich den Grundsatz
petenzen mit der Maßgabe, dass Satz 1 nur dann eines strukturell ausgeglichenen Haushalts. Kredit-
entsprochen ist, wenn keine Einnahmen aus Krediten aufnahmen aus konjunkturellen Gründen oder in
zugelassen werden.“ außergewöhnlichen Notsituationen blieben weiterhin
zulässig.
Begründet wird diese „Knebelungsvorschrift“ wie
folgt: Die grundgesetzlichen Vorgaben des Absatzes 3 II. VEREINBARKEIT DES VERBOTS STRUKTURELLER
zur Begrenzung der Kreditaufnahme in den Länder- KREDITAUFNAHME DER LÄNDER MIT IHRER
haushalten verletzten nicht den Wesensgehalt der HAUSHALTSAUTONOMIE (Art. 109 Abs. 1 GG)
durch Artikel 79 Abs. 3 geschützten Länderstaat-
lichkeit und ließen auch den Kerngehalt der durch Anzusetzen ist zunächst bei der zentralen These des
Absatz 1 geschützten haushaltswirtschaftlichen Entwurfs, der geplanten Schuldenregelung stünde in-
Autonomie der Länder unberührt. Das Grundgesetz haltlich noch nicht einmal die durch Art. 109 Abs. 1
gewährleiste die Autonomie der Haushaltswirtschaft GG garantierte Haushaltsautonomie der Länder selbst
nicht uneingeschränkt. Das ergebe sich bereits da- entgegen, womit praktisch suggeriert wird, dass dem

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Bund hierzu bisher eigentlich nur die Gesetzgebungs- Grundgesetzes“, wo es bereits heißt: „Bund und Län-
kompetenz fehlen würde, soweit man sie nicht be- der führen eine gesonderte Finanzwirtschaft“. Aus
reits in Art. 109 Abs. 3 als gegeben betrachtet. Eine dem dortigen Textzusammenhang ist zu entnehmen,
solch restritive Auslegung des Art. 109 Abs. 1 GG ist dass man sich mit dieser Formulierung einerseits von
jedoch weder mit seiner Entstehungsgeschichte (1) der Weimarer Verfassungslage, wo das Reich ein
noch mit seinem weithin unbestrittenen Regelungs- klares Übergewicht hatte, und andererseits von der
gehalt (2) vereinbar, den Einwirkungen des Bundes Praxis im Nationalsozialismus mit ausschließlicher
auf die Haushaltsgestaltung der Länder enge Grenzen Reichszuständigkeit nach Gleichschaltung der Länder
setzt (3). absetzen wollte.

1. Entstehungsgeschichte Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee behielt


Artikel 109 Abs. 1 GG enthält mit der Trennung der in Art. 37 seines Entwurfs die Formulierung aus den
Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern eine für „Bayerischen Leitgedanken“ unverändert bei. An
Bundesstaaten eigentlich selbstverständliche, also dieser Fassung hielt auch der Parlamentarische Rat
letztlich sogar überflüssige Regelung. Dies mag auch im Finanzausschuss und im Hauptausschuss bei den
der Grund dafür sein, dass sich in früheren deutschen Beratungen über den späteren Art. 109 (damals Art.
Verfassungen hierzu keinerlei Vorbilder finden, ob- 121) lange Zeit fest. Es wurde lediglich erwogen, ei-
wohl dieses Prinzip in abgeschwächter Form bereits nen Vorbehalt „nach Maßgabe der folgenden Bestim-
in § 17 der Reichshaushaltsordnung vom 31. Dezem- mungen“ aufzunehmen, um zu verhindern, dass mit
ber 1922 (RGBI. 11 S. 17) enthalten war. Im Zuge der dem Trennungsgebot in Bezug auf die Finanzwirt-
Vorarbeiten für den Parlamentarischen Rat begegnet schaft auch die Erhebung von Gemeinschaftssteuern
der erste Hinweis auf die spätere Endfassung in den und der Finanzausgleich erschwert oder gar unmög-
„Bayerischen Leitgedanken für die Schaffung des lich gemacht werden könnten. Obwohl wegen gewis-

27
Dr. Schwalber dieses Ziel auf folgende Kurzformel:
„Ein Land, das kein Budgetrecht mehr hat, ist kein
Staat, und einer Volksvertretung, der das Budgetrecht
genommen wird, wird damit das Kernstück der Volks-
vertretung überhaupt genommen.“ Dem fügte der
ser Bedenken gegen den Begriff der „Finanzwirt- Abg. Dr. Binder auf der 7. Sitzung des Plenums am
schaft“ ein Änderungsantrag des Abg. Dr. Menzel mit 21. Oktober 1948 hinzu: „Ein bundesstaatlicher
der Formulierung: „Bund und Länder führen eine Aufbau unserer Verfassung wäre praktisch hinfällig,
voneinander getrennte Haushaltswirtschaft“, in der wenn die Länder nicht ihre selbstverantwortliche
14. Sitzung des Hauptausschusses am 2. Dezember Finanzwirtschaft haben würden“, gefolgt von Dr.
1948 zunächst abgelehnt worden war und lediglich Seebohm mit den Worten: „Wenn für einen födera-
eine Umstellung des Artikels im Anschluss an die len Staat die Staatlichkeit der Länder Voraussetzung
Regelung über die Finanzverwaltung in Art. 123 des Bundes bildet, dann ist die Bestimmung des
(später Art. 108) als Art. 123 a beschlossen wurde, Artikels 121 des Entwurfes, dass Bund und Länder
schlug trotz der Bestätigung des ursprünglichen eine gesonderte Finanzwirtschaft zu führen haben,
Wortlauts noch bei der 2. Lesung in der 41. Sitzung von wesentlicher Bedeutung für die Verfassung.“
des Hauptausschusses am 15. Januar 1949 erst der
Fünferausschuss nach seiner Klausurtagung vom 25. Dennoch gab es einige Zweifelsfragen, die bei den
bis 27. Januar 1949 unvermittelt vor, Art. 123 a nun- Verhandlungen im Parlamentarischen Rat geklärt
mehr wie folgt zu fassen: „Bund und Länder sind in werden mussten. Zunächst bestand Ungewissheit
ihrer Haushaltswirtschaft selbständig und voneinan- darüber, ob dem neuen Art. 121/123 a nur formelle
der unabhängig“. Diese Formulierung wurde im Par- Bedeutung zukommen soll, inhaltlich aber etwas
lamentarischen Rat bis zum Schluss beibehalten und Selbstverständliches gesagt werde, oder ob aus ihm
in die Endfassung des Art. 109 GG übrenommen. auch materielle Rechtsfolgen abgeleitet werden
könnten. Weil Letzteres offenbar eine Mehrheit im
Zwar war man sich sowohl auf Herrenchiemsee als Finanzausschuss erreichen wollte, fragten sich die
auch im Parlamentarischen Rat über den Sinn und Skeptiker, ob dann Art. 121/123 a nicht zu weit ge-
Zweck eines Artikels über die getrennte Finanzwirt- fasst sei und deshalb klargestellt werden müsse,
schaft von Bund und Ländern einig: Er sollte verhin- dass er nur nach Maßgabe der nachfolgenden Be-
dern, dass die Länder nicht – wie in der Weimarer stimmungen gelte. Andere wollten diese Vorschrift
Republik – zu Kostengängern des Bundes werden unter einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt stellen
(oder umgekehrt) und dass sie insbesondere nicht – und sie nur im Rahmen des geltenden Bundes- und
wie im Dritten Reich – vorwiegend auf Dotationen Landesrechts angewandt wissen. Dem folgte die
des Bundes angewiesen sind. Auf der 3. Sitzung des Mehrheit jedoch nicht.
Plenums am 9. September 1948 brachte der Abg.

28
Problematisiert wurde auch der Begriff der „Finanz- zum Beleg für die Staatlichkeit der Länder unverzicht-
wirtschaft“ selbst. Es sei unklar, ob er sich nur auf die bar sei oder in einer föderativen Ordnung als selbst-
Haushaltsführung beziehen sollte oder ob diese Be- verständlich gestrichen werden könne. Beide Positio-
stimmung zugleich die Einnahmen- und Ausgaben- nen verband aber die gemeinsame Überzeugung,
seite betreffe, was im äußersten Fall bedeuten könne, dass die Trennung der Haushaltswirtschaften von
dass Bund und Länder jeweils über eigene, von ein- Bund und Ländern zu den Wesensmerkmalen eines
ander unabhängige Steuerquellen verfügen müssten Bundesstaates gehört und Art. 109 GG somit das
und gemeinsame Steuern von vornherein ausge- Bundesstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG (zusam-
schlossen seien. Einige befürchteten sogar, dass die men mit Art. 104 a GG) für den Bereich der Finanz-
Vorschrift als Absage an jede Art von Finanzausgleich verfassung lediglich konkretisiert.
missverstanden werden könne und ihm zumindest
gewisse Schranken ziehe. Eine Mehrheit im Haupt- 2. Regelungsgehalt
ausschuss und später auch im Plenum erklärte sich Ähnlich sieht es auch die höchstrichterliche Recht-
daher mit der Aufnahme des Art. 121/123 a in das sprechung bei der Bestimmung des aktuellen Rege-
Grundgesetz erst einverstanden, nachdem der Begriff lungsgehalts von Art. 109 Abs. 1 GG. Schon 1952
der „Finanzwirtschaft“ durch den der „Haushaltswirt- entschied das Bundesverfassungsgericht im Zusam-
schaft“ ersetzt worden war. Ausgelöst wurden diese menhang mit der von Art. 79 Abs. 3 GG für unan-
Diskussionen unter anderem durch Äußerungen tastbar erklärten „Gliederung des Bundes in Länder“,
einzelner Sachverständiger bei den Anhörungen im die gegen jede Verfassungsänderung gesichert sei,
Finanzausschuss, die in Art. 121/123 a die zentrale, „dass Art. 109 GG die Selbständigkeit der Haushalts-
das gesamte Bundesstaatsgefüge beherrschende wirtschaft den Ländern noch besonders gewährleis-
Grundnorm sahen und vor allem die finanzielle Selbst- tet“, wobei mit dem Wort „besonders“ zum Aus-
ständigkeit der Länder sicherstellen wollten. Ihr Argu- druck gebracht wurde, dass Art. 109 GG eine Art
ment, Finanzmacht sei zugleich politische Macht, „lex specialis“ von Art. 79 Abs. 3 GG darstellt und
ließ sich kaum widerlegen. Daher stand hinter den somit an dessen Rechtswirkungen teil hat. Auch
Debatten um das Trennprinzip in Wahrheit ein Streit später hat das Gericht diese Sicht mehrfach bestätigt.
um die konkrete Ausgestaltung der bundesstaatlichen Im „Finanzausgleichs-Urteil“ von 1992 erblickte es
Ordnung insgesamt, wie er auch sonst außer im den „Sinn und Zweck der finanzverfassungsrecht-
Finanzausschuss zugleich in anderen Gremien des lichen Normen des Grundgesetzes“ darin, „die Vor-
Parlamentarischen Rates zwischen Föderalisten und aussetzungen dafür zu schaffen, dass die staatliche
Unitaristen geführt wurde. Selbstständigkeit von Bund und Ländern real wird,
ihre politische Autonomie sich in der Eigenständigkeit
Zusammengefasst kann festgestellt werden, dass und Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrneh-
der Parlamentarische Rat bei der Schaffung des Art. mung und der Haushaltswirtschaft (Art. 109 Abs. 1
109 GG zwar uneins in der Frage war, ob diese Norm GG) entfalten“. Diese haushaltspolitische Eigenver-

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antwortung der Länder hat das Gericht erst kürzlich liche Finanz- oder Staatswirtschaft bezeichnet wird,
im „Berlin-Urteil“ von 2006 erneut bekräftigt: „Ein also namentlich das Währungs-, Geld- und Münz-
Land hat auf Grund seiner verfassungsrechtlich ge- wesen, das Notenbanksystem, das einheitliche Zoll-
mäß Art. 109 Abs.1 GG verbürgten Haushaltsautono- und Handelsgebiet sowie die intergovernementalen
mie grundsätzlich alle haushaltswirtschaftlichen Maß- Finanzbeziehungen (Steuerverteilung, Finanzaus-
nahmen selbst zu verantworten“. Dieser Satz war gleich, Mischfinanzierungen). Hierbei handelt es sich
offenbar auf vorausgegangene politische Entschei- nicht um „Einschränkungen“ der Haushaltshoheit der
dungen gemünzt, die Berlin in die Schuldenfalle ge- Länder, sondern um Politikbereiche, die bereits tat-
trieben haben. In diesem Sinne hatte sich kurz zuvor bestandlich nicht in den Schutzbereich des Art. 109
auch schon der Berliner Verfassungsgerichtshof ge- Abs. 1 GG fallen. Die Garantie der Haushaltsauto-
äußert: „Bund und Länder sind in ihrer Haushaltswirt- nomie von Bund und Ländern ist daher den Bestim-
schaft, wozu auch die Kreditaufnahme gehört, selb- mungen der Art. 105 bis 107 GG auch nicht nach-
ständig und voneinander unabhängig (Art. 109 Abs. oder gar untergeordnet, sondern parallel dazu als
1 GG) und haben infolgedessen materiell eigenstän- „benachbart“ an- und nebengeordnet.
dige Entscheidungsspielräume (materielle Haushalts-
autonomie)“. Die Budgetautonomie von Bund und Ländern wird in
Art. 109 Abs. 1 GG mit den Worten begründet und
Diesem Grundverständnis des Regelungsgehalts von umschrieben, sie seien in ihrer Haushaltswirtschaft
Art. 109 Abs. 1 GG hat sich ein Großteil der Kom- „selbständig und voneinander unabhängig“. Unge-
mentatoren angeschlossen. Man geht zunächst von achtet der Frage, ob hier zwischen Selbständigkeit
einem weiten Begriff der Haushaltswirtschaft aus und und Unabhängigkeit noch zu unterscheiden sei oder
versteht darunter „die Gesamtheit der auf die staat- ob es sich schlicht um einen Pleonasmus handelt, ver-
lichen Einnahmen und Ausgaben bezogenen haus- birgt sich hinter dieser Formulierung zweierlei: Erstens
hälterischen Vorgänge, also die gesamte, im aufge- geht es um eine formelle Trennung der Haushalte in
stellten Haushaltsplan dokumentierte und auf seiner dem Sinne, dass beide Ebenen sowohl bei der Auf-
Grundlage sich vollziehende öffentliche Einnahmen- stellung als auch beim Vollzug ihrer Haushalte nicht
und Ausgabenwirtschaft von Bund und Ländern ein- nur unbeeinflusst und selbstbestimmt, sondern vor
schließlich der Rechnungslegung, Prüfung und Ent- allem auch unbeeinflussbar handeln (d. h. weder einer
lastung“. Völlig unbestritten ist weiter, dass zu diesen Genehmigung noch einer Mitwirkung unterliegen),
etatbezogenen Vorgängen als Teil der Einnahmen ja sogar das Haushaltsverfahren einschließlich der
auch die Aufnahme von Krediten gehört, sowie die Haushaltskontrolle und Rechnungsprüfung (im
damit zusammenhängenden Entscheidungen über Rahmen des Haushaltsgrundsätzegesetzes, dazu
Art, Umfang, Laufzeit und Tilgung der Schulden. unter III.), nach eigenen Vorstellungen regeln können
Hingegen zählt schon rein terminologisch nicht zur (sog. formelle Haushaltsautonomie). Zweitens ge-
Haushaltswirtschaft all das, was gemeinhin als öffent- währleistet Art. 109 Abs. 1 GG darüber hinaus Bund

30
und Ländern auch die Freiheit, alle Entscheidungen Kreditaufnahme, deren prinzipielle Zulässigkeit für
über ihre Einnahmen und Ausgaben dem Grund und die Länder in Art. 109 Abs. 4 Nr. 1 GG vorausgesetzt
der Höhe nach (im Rahmen sonstiger finanzverfas- wird) und zur aufgabenbezogenen Festlegung selbst
sungsrechtlicher Vorgaben), eigenverantwortlich zu zu verantwortender Ausgaben erschöpft. So gesehen
treffen (sog. materielle Haushaltsautonomie). Das gilt ist die geplante Schuldenregelung des Bundes mit
prinzipiell ebenso für Kreditaufnahmen, deren Um- ihrer strikten Kreditlimitierung und einer rigiden,
fang und Grenzen nur die jeweilige Gebietskörper- sanktionsbewehrten Ausgleichsverpflichtung bei
schaft, die sich verschulden muss, selbst festzulegen Überschreiten der absoluten Obergrenze mit Art. 109
und daher auch allein zu verantworten hat. Abs.1 GG nicht vereinbar, sondern erweist sich ge-
genüber den Ländern als Eingriff in deren Haushalts-
Wollte man hingegen mit der Begründung des Ent- autonomie. dessen Verfassungsmäßigkeit davon ab-
wurfs annehmen, Art. 109 Abs. 1 GG gewährleiste hängt, ob und inwieweit er sich rechtfertigen lässt.
die materielle Haushaltsgestaltungsmacht von Bund
und Ländern nur bis zu der durch die Gesamtheit der 3. Möglichkeiten und Grenzen
finanzwirtschaftlichen Regelungen gezogenen Gren- für Einwirkungen des Bundes
zen, würde man die Garantie einer selbstständigen Wenn demnach sowohl die finanz- und staatswirt-
und unabhängigen Haushaltswirtschaft zumindest schaftlichen Rahmenbedingungen, in die sich die
partiell unter einen – ihr selbst nicht zu entnehmen- Haushaltsautonomie der Länder einfügt, als auch
den – Gesetzesvorbehalt stellen, der ihre Reichweite andere finanzverfassungsrechtliche Normen des
von der jeweils einfach-gesetzlichen Rechtslage ab- Grundgesetzes zur Rechtfertigung von Eingriffen des
hängig machen würde und sie damit praktisch leer- Bundes in Art. 109 Abs. 1 GG nicht herangezogen
laufen ließe. Es ist deshalb ausgeschlossen, unter werden können, stellt sich die Frage, welche Möglich-
dem Begriff „Haushaltswirtschaft“ nur diejenigen keiten sonst dem Bund zur Verfügung stehen, um
Vorgänge zu verstehen, die den Ländern oder dem die von ihm favorisierte Schuldenregelung im Grund-
Bund (hinsichtlich seines eigenen Haushalts) nach den gesetz zu verankern, und wo die Grenzen für der-
jeweils geltenden Rechtsvorschriften zur eigenen artige Einwirkungen des Bundes liegen. Die Entwurfs-
Erledigung zugewiesen sind. Vielmehr fallen gerade begründung verweist in diesem Zusammenhang
umgekehrt alle nicht direkt mit der Haushaltsgestal- zunächst auf den Grundsatz des bundes- bzw.
tung im Einzelfall zusammenhängenden (finanz-) ver- länderfreundlichen Verhaltens (sog. Bundestreue).
fassungsrechtlichen Kompetenzzuweisungen und
-schranken schon von vornherein aus dem Schutz- Zwar ist richtig, dass dieses ungeschriebene Ver-
bereich des Art. 109 Abs. 1 GG heraus, so dass sich fassungsprinzip, welches Bund und Länder zur wech-
dieser in der Sicherung eines begrenzt autonomen selseitigen Rücksichtnahme und zu einem fairen
Zuständigkeitsraumes zur Begründung zugewiesener Umgang miteinander verpflichtet, auch für das Bund-
oder selbst generierter Einnahmen (einschließlich der Länder-Verhältnis im Bereich der Finanzverfassung

31
gilt. Danach darf keines der Glieder etwas unterneh- Im Übrigen stellt das Prinzip der Bundestreue keine
men, was den wohIverstandenen Interessen eines „Einbahnstraße“ dar, auf der nur Pflichten der Länder
anderen oder der Gesamtheit zuwiderlaufen würde, gegenüber dem Bund Platz griffen. Vielmehr hat
und diese insbesondere nicht an der Erfüllung ihrer auch der Bund auf die Interessen der Länder Rück-
Aufgaben hindern. Andererseits ist jedoch ebenso sicht zu nehmen, zumal wenn es wie hier um Ein-
unbestreitbar, dass der Grundsatz der Bundestreue schränkungen ihrer Haushaltsautonomie als einem
weder geschriebenes Verfassungsrecht (wie die Wesensmerkmal der bundesstaatlichen Ordnung
Garantie der Haushaltsautonomie von Bund und Län- geht.
dern in Art. 109 Abs. 1 GG) zu überspielen gestattet
noch verfassungswidrige Eingriffe in derartige Ge- Schließlich lässt sich der mit dem neuen Schuldenre-
währleistungen zu rechtfertigen vermag. Vor allem gime verbundene Eingriff in die Haushaltsautonomie
kommt ihm keine kompetenzbegründende Wirkung der Länder auch nicht mit den vielfältigen Wechselbe-
zu, so dass etwa für ein Ausführungsgesetz zur ange- ziehungen rechtfertigen, in denen Bund und Länder
strebten Schuldenregelung die dafür erforderliche auf dem Gebiet der Finanzwirtschaft zueinander ste-
ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit des Bun- hen. Denn diese Beziehungen, so eng sie auch sein
des, falls es sich nicht auf Art. 109 Abs. 3 oder 4 GG mögen, tasten sämtlich die Haushaltsautonomie als
stützen lässt (dazu unter III. und IV.), ohnehin durch solche nicht an; sie bestehen zusätzlich neben ihr und
Verfassungsänderung erst geschaffen werden müsste. sind ihr nicht vorgelagert, sondern beigefügt. Das

32
gilt auch für den Fall der extremen Haushaltsnotlage III. VEREINBARKEIT DES VERBOTS STRUKTURELLER
eines Landes, die ausnahmsweise Beistands- und KREDITAUFNAHME DER LÄNDER MIT DER
Sanierungspflichten des Bundes und/oder anderer GRUNDSATZKOMPETENZ FÜR DAS HAUSHALTS-
Länder begründen mag und zu deren Abbau oder RECHT (Art. 109 Abs. 3 GG)
Vorbeugung das Bundesverfassungsgericht den Bund
für befugt hält, im Rahmen des Haushaltsgrundsätze- Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesver-
gesetzes nach Art. 109 Abs. 3 GG Regelungen über fassungsgerichts über die Gesetzgebungskompetenz
Grundsätze für die Haushaltsplanung zu treffen, die des Bundes zum Abbau und zur Verhütung von extre-
gewisse vom Land zu beachtende Grenzen bei der men Haushaltsnotlagen eines oder mehrerer Länder,
Kreditfinanzierung und beim Schuldensockel setzen, die ausdrücklich auf Art. 109 Abs. 3 als geeigneter
verknüpft mit einem verbindlichen Sanierungspro- verfassungsrechtlicher Regelungsgrundlage verweist,
gramm, das die Haushaltswirtschaft dieses Landes wird mancherorts die Ansicht vertreten, ein für Bund
wieder in die Normallage zurückführen soll. Denn und Länder verbindliches Schuldenbegrenzungs-
erstens ist die neue Schuldenregelung nicht lediglich regime ließe sich auch schon nach geltendem Ver-
für den Einzelfall der extremen Haushaltsnotlage ei- fassungsrecht im Rahmen der Grundsatzkompetenz
nes Landes gedacht (auch wenn sie zu deren Vorbeu- des Bundes für das Haushaltsrecht (Art. 109 Abs. 3
gung geeignet sein mag), sondern für den Normalfall GG) etablieren, so dass dafür eine Verfassungsände-
und auf Dauer konzipiert. Zweitens handelt es sich rung eigentlich gar nicht notwendig wäre. Somit ist
bei der Schuldenregel nicht nur um „Grundsätze“, im Folgenden zu prüfen, ob und inwieweit diese
die für die Haushaltsplanung maßgeblich sein sollen, Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes, die bisher
sondern um verbindliche detaillierte Vorgaben zu nur die formelle Haushaltsautonomie der Länder
Kreditspielräumen, Obergrenzen und Ausgleichs- betrifft, auch die materielle Entscheidungsfreiheit zu
pflichten für jeden einzelnen Jahreshaushalt sämtli- beschränken gestattet.
cher Länder, unabhängig davon, ob sie bereits über
einen ausgeglichenen Primärhaushalt verfügen 1. Entstehungsgeschichte
und / oder wie hoch sie sonst akuell verschuldet sind. Die Haushaltsgrundsätzekompetenz des Bundes in
Wenn jene Vorgaben in der beschriebenen Form Art. 109 Abs. 3 GG wurde mit Wirkung zum 1. Mai
in das Grundgesetz ausgenommen würden, wäre 1969 durch das 20. Änderungsgesetz in das Grund-
angesichts der ohnehin schon durch Art. 105 und gesetz eingefügt. Die damalige Reform des Haus-
106 GG fest geschriebenen Steuerverteilung zu- haltsrechts war erforderlich geworden, weil das mit
mindest die Einnahmenautonomie der Länder aus Hilfe einer Globalsteuerung über die öffentlichen
Art. 109 Abs. 1 GG praktisch beseitigt. Haushalte angestrebte Ziel des gesamtwirtschaft-
lichen Gleichgewichts ohne eine begleitende Verein-
Damit führt zwar der Vorschlag der Föderalismus- heitlichung und Angleichung der Haushalte von
kommission II, die oben beschriebene Schuldenrege- Bund, Ländern und Gemeinden in Plan- und Rech-
lung im Grundgesetz zu verankern, in eine verfas- nungsaufbau sowie in den grundsätzlichen Verfah-
sungsrechtliche Sackgasse. Damit sind dem Bund rensweisen nicht zu erreichen war. Zwar war zu jener
jedoch nicht schon von vornherein alle Möglichkeiten Zeit in Bund und Ländern die Reichshaushaltsordnung
verschlossen, auf die Länder mit geeigneten Maßnah- von 1922 noch in Kraft, die – soweit sie verfassungs-
men zur Schuldenbegrenzung einzuwirken. Sie müss- konform war – als Bundesrecht fortgalt und bereits
ten allerdings im Unterschied zu jenem Vorschlag drei ein Mindestmaß an Etatkonformität sicherte.
Voraussetzungen erfüllen: Sie hätten sich erstens auf
wirkliche „Grundsätze“ oder allgemeine Zielbestim- Durch die Ausdehnung der bereits bestehenden
mungen zu beschränken, zweitens mit Verfahrensvor- Grundsatzkompetenz des Bundes für eine konjunk-
schriften statt materieller Regelungen zu begnügen turgerechte Haushaltswirtschaft und für eine mehr-
und drittens von einem verbindlichen Sanktionssys- jährige Finanzplanung auf das Haushaltsrecht sollte
tem zu verabschieden. Wer ein solch „weiches“ der verfassungsrechtliche Rahmen abgesichert wer-
Schuldenregime des Bundes für wirkungslos hält, den, in dem sich die Ermächtigungen zur Umsetzung
wird sich als einzige Alternative mit dem Lösungsweg der beiden anderen Kompetenztitel leichter verwirkli-
eines Bund-Länder-Staatsvertrags abfinden müssen chen ließen. Die Haushaltsgrundsätzekompetenz hat
(dazu unter VI.). also in erster Linie eine dienende Funktion, die sich

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auf die budgetmäßige Stützung der damals herr- dung mit dem Ziel ausgeglichener Haushalte „anzu-
schenden und auch heute noch festgeschriebenen streben“. Gelingt dies nach den Vorgaben des Finanz-
antizyklischen Wirtschaftspolitik beschränkt. planungsrates nicht, erörtert dieser die Gründe und
gibt lediglich „Empfehlungen“ zur Wiederherstellung
2. Regelungsgehalt der Haushaltsdisziplin. Damit handelt es sich hier
Hauptzweck der Haushaltsgrundsätzekompetenz in exakt um jene „weiche“ Regelung (soft law), die den
Art. 109 Abs. 3 GG ist daher das Ziel, dem Bund die Kern der materiellen Haushaltsautonomie von Bund
Befugnis zu verleihen, die beiden anderen Grundsatz- und Ländern unberührt lässt und sich deshalb prob-
regeln für eine konjunkturgerechte Haushaltswirt- lemlos mit Art. 109 Abs. 1 GG verträgt.
schaft in verfahrensrechtlicher Hinsicht zu ergänzen.
Demgemäß enthält das darauf gestützte „Gesetz Hingegen sind die inhaltlichen Budgetentscheidungen
über die Grundsätze des Haushaltsrechts von Bund im Einzelfall, wie sie bei der Aufstellung und beim
und Ländern – HGrG“ (kurz: Haushaltsgrundsätze- Vollzug des jeweiligen Haushaltsgesetzes im Jahres-
gesetz) vom 19. 8. 1969 (BGBI. I S.1273) im Wesent- oder Zweijahresrhythmus getroffen werden, vom
lichen nur prozedurale oder intentionale Vorschriften, Regelungszweck des Art. 109 Abs. 3 GG nicht er-
die zwar bindenden Charakter haben, aber in ihrer fasst. Sie gehören zum Kernbereich der Staatlichkeit
Allgemeinheit den Ländern noch ausreichenden Spiel- der Länder und genießen den besonderen Schutz von
raum zur eigenständigen Gestaltung ihrer Haushalts- Art. 79 Abs. 3 GG (Näheres unter V.). Daher kann
wirtschaft im Sinne von Art. 109 Abs. 1 GG belassen. nach herrschender Meinung insbesondere die Einfüh-
Dieser Rahmen wird neuerdings auch durch § 51 a rung verbindlicher Verschuldens- und Kreditaufnah-
HGrG nicht verlassen, der in Bund und Ländern megrenzen für die Länder nicht auf die Haushalts-
für die Einhaltung der Haushaltsdisziplin nach den grundsätzekompetenz des Bundes gestützt werden.
Bestimmungen des europäischen Stabilitäts- und Siekmann geht sogar noch einen Schritt weiter:
Wachstumspaktes sorgen soll. Zwar betrifft diese „Weder die Kreditaufnahmegrenzen aus Art. 115 I
Vorschrift nicht nur die formelle, sondern auch die noch sonstige Vorgaben für die Schuldenpolitik der
materielle Haushaltsautonomie, also die Entschei- Länder dürfen in das Gesetz nach Abs. 3 aufgenom-
dungsfreiheit über Einnahmen und Ausgaben. Den men werden. Sie gehört wohl schon nicht zum Haus-
Gebietskörperschaften wird darin jedoch lediglich haltsrecht. Jedenfalls geht Abs. 4 als detaillierte
aufgegeben, eine Rückführung der Nettoneuverschul- Spezialregelung für eine Reglementierung der Kredit-

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aufnahme vor“. Ähnlich argumentiert auch Hillgru- bliebe – da eine Kompetenz des Bundes aus der
ber. „Art. 109 Abs. 3 erlaubt dem Bundesgesetzgeber „Natur der Sache“ schon wegen des Eingriffscharak-
nicht, solche die Freiheit der Einnahmen- und Aus- ters eines solchen Gesetzes in die Haushaltsauto-
gabenwirtschaft über die bestehenden finanzverfas- nomie der Länder schon von vornherein ausscheidet –
sungsrechtlichen Bindungen hinaus inhaltlich ein- nur noch eine Gesetzgebungszuständigkeit aus
schränkende Verpflichtungen den Ländern als ge- Art. 109 Abs. 4 GG übrig, der dem Bund jetzt schon
meinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht gestattet, Vorschriften über „Höchstbeträge, Bedin-
aufzuerlegen. Dies geht auch aus Art. 109 Abs. 4 gungen und Zeitfolge der Aufnahme von Krediten
hervor, der selbst sachlich und zeitlich eng begrenzte durch Gebietskörperschaften und Zweckverbände“
Eingriffe in die Kreditpolitik der Länder aus konjunk- zu erlassen. Auch darauf soll der Vollständigkeit
turpolitischen Gründen von einer besonderen Er- wegen noch kurz eingegangen werden.
mächtigung abhängig macht. … Es widerspräche
dieser Regelungssystematik, wenn Art. 109 Abs. 3
seitens des Bundes als kompetenzrechtlicher Hebel IV. VEREINBARKEIT DES VERBOTS STRUKTURELLER
dazu benutzt werden könnte, die Länder als autono- KREDITAUFNAHME DER LÄNDER MIT DER
me Handlungsträger allgemein und dauerhaft in der KONJUNKTURKOMPETENZ DES BUNDES
Möglichkeit der Kreditfinanzierung zu beschränken“. (Art. 109 Abs. 4 GG)

Genau dies ist aber mit dem Vorschlag des Bundes- Schließlich ist noch kurz auf die Konjunkturkompe-
finanzministers für eine neue Schuldenregelung be- tenz des Bundes in Art. 109 Abs. 4 GG einzugehen,
absichtigt. Sie soll weder nur für den Ausnahmefall weil diese Norm als Einzige innerhalb der Finanzver-
gelten, noch ein begrenztes konjunkturpolitisches Ziel fassung dem Bund gestattet, den Ländern verbindli-
verfolgen. Vielmehr geht es ihm um eine dauerhafte che Vorgaben für Höchstbeträge, Bedingungen und
„Schuldenbremse“, die ähnlich wirken soll, wie Zeitfolge der Aufnahme von Krediten zu machen.
die Mechanismen im europäischen Stabilitäts- und Denn selbst wenn diese Norm für die neue Schulden-
Wachstumspakt. Deshalb wäre an sich Art. 109 regelung nicht unmittelbar gelten sollte, stellt sich die
Abs. 3 GG als Ermächtigung zur Regelung von „Nor- Frage, ob zumindest eine Analogie möglich wäre,
malfällen“ de constitutione lata die einzige Verfas- oder ob nicht eine ähnliche Vorschrift dazu durch
sungsnorm, auf die eine Schuldenregelung derzeit Verfassungsergänzung geschaffen werden könnte.
gestützt werden könnte, wenn man die oben ange-
führten durchgreifenden Bedenken der herrschenden 1. Entstehungsgeschichte
Ansicht in der Kommentarliteratur außer Acht ließe. Die Konjunkturkompetenz des Bundes in Art. 109
Folgt man ihnen, wofür nicht nur der Wortlaut des Abs. 4 GG verdankt ihre Entstehung ebenfalls dem
Art. 109 Abs. 3 GG spricht, sondern auch die syste- seit Mitte der Sechziger unternommenen Versuch,
matische Stellung sowie der Sinn und Zweck, dann mit Hilfe der öffentlichen Haushalte Wirtschaftspolitik

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zu betreiben. Sie ist zusammen mit den Absätzen 2 schlagene Schuldenregelung weder eine direkte An-
und 3 durch das 15. Änderungsgesetz vom 8. 6. 1967 wendung noch eine Analogie in Betracht; sie ist im
(BGB!. I S. 581) in das Grundgesetz eingefügt worden Übrigen schon vom Wortlaut des Absatzes 4 her aus-
und soll sowohl deren Ziele als auch deren Rege- geschlossen. Somit scheidet auch Art. 109 Abs. 4 GG
lungsgegenstände fördern sowie mit Hilfe konkreter als verfassungsrechtliche Grundlage für ein Kreditbe-
Maßnahmen (Kreditbegrenzungen, Konjunkturaus- grenzungsregime des Bundes aus. Die Frage ist aber,
gleichsrücklagen) zu verwirklichen und umzusetzen ob der Rechtsgedanke dieses Artikels als Kriseninstru-
erlauben. Um zu verhindern, dass der Bund perma- ment nicht in der Weise fruchtbar gemacht werden
nent in die Haushaltsautonomie der Länder eingreifen kann, dass ohne Verletzung der Haushaltsautonomie
kann, wurde ihr Anwendungsbereich von vornherein von Ländern durch Verfassungsänderung eine Norm
auf den Fall einer Störung des gesamtwirtschaftlichen geschaffen wird, die – ähnlich wie Art. 109 Abs. 4
Gleichgewichts beschränkt. Nur zu diesem Zweck GG – ausschließlich der Verhütung und Beseitigung
darf der Bund entsprechende Maßnahmen ergreifen, eines erheblichen Missstandes im gesamtstaatlichen
auch wenn er vorsorglich bereits von dieser Gesetz- Interesse dient, etwa der Prävention oder dem Abbau
gebungsbefugnis Gebrauch gemacht hat. einer extremen Haushaltsnotlage in einem oder meh-
reren Ländern, wie sie das Bundesverfassungsgericht
2. Regelungsgehalt zu Recht gefordert hat. Eine solche Vorschrift müsste
Mit Art. 109 Abs. 4 Nr. 1 GG wird der Bund ermäch- allerdings drei Voraussetzungen erfüllen, um derart
tigt, durch zustimmungspflichtiges Bundesgesetz Vor- weitreichende Eingriffe in die Haushaltsautonomie
schriften „über Höchstbeträge, Bedingungen und der Länder, wie sie Art. 109 Abs. 4 GG ermöglicht,
Zeitfolge der Aufnahme von Krediten durch Gebiets- zu rechtfertigen: Sie müsste erstens ebenfalls als
körperschaften und Zweckverbände“ zu erlassen. Ausnahmevorschrift konzipiert sein, zweitens nur
Auf diese Weise wird ihm ermöglicht, eine konkrete punktuelle und vorübergehende Restriktionen und
Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Beschränkungen der Haushaltsautonomie im Einzel-
durch gezielte Eingriffe in die Budgetgestaltung der fall gestatten, die sofort wieder aufgehoben werden,
Länder und Kommunen abzuwehren und vor allem sobald die Haushaltsnotlage beseitigt ist, und vor al-
ihre Anleihepolitik direkt zu beeinflussen. Gerecht- lem drittens an die materiellen Kriterien anknüpfen,
fertigt werden diese massiven Beschränkungsmög- die das Bundesverfassungsgericht im „Berlin-Urteil“
lichkeiten der regionalen und lokalen Haushaltsauto- für die Pflicht des Bundes, Sanierungshilfen zu ge-
nomie mit dem hohen gesamtstaatlichen Interesse währen, entwickelt hat (relative und absolute Not-
an der Wiederherstellung des Gleichgewichts von lage, Ausschöpfen aller verfügbaren Möglichkeiten
Geldwertstabilität, Wirtschaftswachstum, hohem Be- der Abhilfe, letzter verbliebener Ausweg). Davon ist
schäftigungsstand und ausgewogener Handelsbilanz das für die Normallage und generell für sämtliche
(„magisches Viereck“). Länder unabhängig von ihrem Verschuldensgrad vor-
gesehene Modell des Bundesfinanzministers jedoch
Während der Verfassungsgesetzgeber Art. 109 so weit entfernt, dass dem Weg zu einer speziell auf
Abs. 3 GG als „Normalkompetenz“ geschaffen hat, extreme Haushaltsnotlagen zugeschnittenen Verfas-
ist Absatz 4 als besondere „Krisenverhütungs- und – sungsnorm im Rahmen dieser Studie nicht weiter
bereinigungskompetenz“ gedacht, die lediglich eine nachgegangen zu werden braucht. Der Bund darf
punktuelle und temporäre Kontingentierung der sich jedenfalls nicht über eine möglicherweise zuläs-
Kreditaufnahme durch Gebietskörperschaften er- sige, neu zu schaffende Haushaltsnotlagenregelung
laubt, um konjunkturellen Schwankungen oder Ab- die „Eintrittskarte“ in ein allgemeingültiges, verbind-
schwungphasen auch mit fiskalischen Mitteln begeg- liches und dauerhaftes Kreditbegrenzungsregime für
nen zu können. Art. 109 Abs. 4 GG erweist sich die Länder erschleichen.
damit einerseits als Konkretisierung der konjunktur-
politischen Zielvorgabe für die öffentlichen Haushalte
in Absatz 2, andererseits aber auch als eng zu verste-
hende Ausnahmevorschrift von Absatz 1, die einer
erweiternden Auslegung etwa in der Absicht, auch
andere Sachverhalte darunter zu fassen, unzugäng-
lich ist. Deshalb kommt im Hinblick auf die vorge-

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regel im Grundgesetz verankert werden soll, den
„Grundsatz“ der bundesstaatlichen Ordnung (1) und /
oder die Gliederung des Bundes in „Länder“ berührt.

1. Das Verfassungsstrukturprinzip des Bundes-


V. VEREINBARKEIT DES VERBOTS STRUKTURELLER staates (Art. 20 Abs. 1 GG)
KREDITAUFNAHME DER LÄNDER MIT DEN Zu den in Art. 20 Abs. 1 GG festgeschriebenen Ver-
GRENZEN DER VERFASSUNGSÄNDERUNG fassungsstrukturprinzipien gehört neben den Grund-
(Art. 79 Abs. 3 GG) sätzen der Republik, der Demokratie sowie des sozia-
len Rechtsstaats, wie sich aus den Worten „sozialer
Da der Entwurf von Art. 109 Abs. 3 GG – neu – mit Bundesstaat“ ergibt, auch das System der föderativen
der durch Art. 109 Abs. 1 GG gewährleisteten Haus- Ordnung. Selbst wenn im einzelnen streitig ist, wel-
haltsautonomie der Länder unvereinbar ist und auch che Elemente unabdingbar dazu gehören, besteht
die übrigen Absätze 3 und 4 weder selbst als Ermäch- jedenfalls darüber Einigkeit, dass den Ländern als
tigungsgrundlage in Betracht kommen, noch die mit Gliedstaaten ein Mindestmaß an substanzieller Eigen-
dem Vorschlag ermöglichten gravierenden Eingriffe ständigkeit verbleiben muss, die sich vor allem in der
in die Entscheidungsfreiheit der Länder über ihre Ein- Verfassungshoheit sowie in eigenen Gesetzgebungs-,
nahmen und Ausgaben zu rechtfertigen vermögen, Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen
steht zur Realisierung des Konzepts die Notwendig- äußert, aber auch auf unabhängigen Finanzquellen
keit einer entsprechenden Verfassungsergänzung, beruht, über deren Verwendung in Einnahmen und
d. h. einer ausdrücklichen Änderung des Verfassungs- Ausgaben jedes Land eigenverantwortlich entschei-
textes (Art. 79 Abs. 1 GG), die der Zustimmung einer den können muss. Diese substanzielle Eigenstän-
Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bun- digkeit darf weder durch Verschiebungen der
destages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundes- Kompetenzbereiche noch durch erweiterte Eingriffs-
rates bedarf (Art. 79 Abs. 2 GG), praktisch außer befugnisse des Bundes in Angelegenheiten, die den
Frage. Damit stellt sich jedoch zugleich das Problem, Ländern allein und zur autonomen Gestaltung vor-
ob eine solche Ergänzung des Grundgesetzes über- behalten sind, ausgehöhlt werden.
haupt zulässig ist oder nicht vielmehr an die Grenzen
der Verfassungsänderung stößt, wie sie in Art. 79 Unter die den Ländern zu autonomer Gestaltung
3 GG verankert sind. Danach sind insbesondere die übertragenen Kompetenzbereiche fällt auch die
Gliederung des Bundes in Länder sowie die in Art. 1 Budgethoheit. Die Befugnis, über den jeweiligen
und 20 GG niedergelegten Grundsätze, wozu auch Landeshaushalt mit den darin veranschlagten Ein-
das Bundesstaatsprinzip gehört, für „änderungsfest“ nahmen und Ausgaben nach eigenem Gutdünken
erklärt worden. Zu prüfen ist daher, ob und inwieweit entscheiden zu können, gehört zu den Grundvor-
eine neue Vorschrift, mit der die geplante Schulden- aussetzungen einer selbstständigen, unabhängigen

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die Haushaltsautonomie der Länder bereits unmittel-
bar aus dem Bundesstaatsprinzip selbst folgt und
deshalb an dessen Gewährleistung in Art. 20 Abs. 1
GG teilhat.

Zweifel sind auch gegenüber einem weiteren Argu-


ment angebracht. Bei Art. 79 Abs. 3 GG soll es sich,
wie das Bundesverfassungsgericht mehr unterstrichen
habe, um eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift
handeln, „die den verfassungsändernden Gesetzge-
ber nicht hindert, die positiv-rechtlichen Ausprägun-
gen dieser Grundsätze aus sachgerechten Gründen
zu modifizieren“. Selbst wenn man dem generell
zustimmt, muss zumindest die einzige Entscheidung,
die sog. systemimmanente Modifikationen unantast-
barer Verfassungsgrundsätzen bei einem Strukturprin-
zip des Grundgesetzes für zulässig gehalten hat,
näher in den Blick genommen werden. Es handelt
sich um das „Maastricht-Urteil“ von 1993, in dem
der unantastbare Gehalt des Demokratieprinzips
näher bestimmt wurde. Entscheidend sei, „dass ein
hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer
Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau,
Landespolitik und ist daher nicht nur ein Kernbe- erreicht“ werde. Übertragen auf das Bundesstaats-
standteil der bundesstaatlichen Ordnung, sondern – prinzip stellt sich somit vorliegend die Frage, ob bei
da es hierbei um das Budgetrecht der Landesparla- einer verfassungsrechtlichen Verankerung der vorge-
mente geht – zugleich ein Wesensmerkmal der schlagenen Schuldenregelung im Grundgesetz für
Demokratie auf Landesebene, das die Eigenstaatlich- die Länder noch ein effektives Maß an eigenverant-
keit der Länder unterstreicht und verstärkt. Deshalb wortlicher Haushaltsgestaltung, also ein bestimmtes
lässt sich die Haushaltsautonomie der Länder – Autonomieniveau, erhalten bliebe. Das ist offensicht-
auch ohne deren positiv-rechtliche Ausprägung in lich nicht der Fall. Denn da die Einnahmen der Länder
Art. 109 Abs. 1 GG – zugleich unmittelbar aus Art. fast ausschließlich von Steuergesetzen des Bundes
20 Abs. 1 GG herleiten. abhängen und ihre Ausgaben ebenfalls großteils
durch bundesrechtliche Standards determiniert sind,
Damit erledigt sich eines der Hauptargumente, mit bleibt ihnen als einziger finanzieller Handlungsspiel-
dem die Unanwendbarkeit des Art. 79 Abs. 3 GG raum und nicht selten sogar als letztes Mittel zum
begründet werden sollte. Art. 109 Abs. 1 GG (als Haushaltsausgleich die Kreditpolitik übrig. Würde
vermeintlich einziger sedes materiae der regionalen künftig auch dieser Ausweg durch Bundesregelungen
Haushaltsautonomie) vermöge – so heißt es auf versperrt oder verengt, wird man in Haushaltsangele-
Seite 3 –„den Anwendungsbereich des Art. 79 genheiten der Länder nicht mehr von einem hinrei-
Abs. 3 GG nicht zu erweitern“, da dieser lediglich chend effektiven Autonomieniveau sprechen können.
auf Art. 20 GG, nicht aber auf Art. 109 Abs. 1 GG Daher kann hier letztlich offenbleiben, in welchem
Bezug nehme. Dabei wird zweierlei übersehen: Umfang das Bundesstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG
Erstens gibt es gerade im Bund-Länder-Verhältnis durch Art. 79 Abs. 3 GG für unabänderbar erklärt ist.
Artikel des Grundgesetzes, die, obwohl in Art. 79 Jedenfalls würde eine Vorschrift, welche die Kern-
Abs. 3 nicht genannt, dennoch änderungsfest sind, elemente der vorgeschlagen Schuldenregelung im
weil sie – wie etwa Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG mit dem Grundgesetz verankern wollte, die bundesstaatliche
Homogenitätsprinzip – ebenfalls ein Strukturmerkmal Ordnung antasten und somit die dort festgelegten
der bundesstaatlichen Ordnung zum Inhalt haben. Grenzen der Verfassungsänderung überschreiten.
Zweitens kommt es gar nicht darauf an, ob Art. 109
Abs. 1 GG in Art. 79 Abs. 3 GG erwähnt wird, weil

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2. Die Gliederung des Bundes in „Länder“ führliche Regelungen über das Haushaltswesen sowie
Selbst wenn man jedoch annähme, dass durch eine insbesondere über die Voraussetzungen und Grenzen
Verfassungsänderung zur Aufnahme der vorgeschla- der Aufnahme von Krediten. Alle diese Vorschriften
genen Schuldenregelung in das Grundgesetz das würden entweder leerlaufen oder weitgehend ent-
Bundesstaatsprinzip als einer der in Art. 20 Abs. 1 GG wertet, wenn die vorgeschlagene Schuldenregelung
enthaltenen Grundsätze an sich nicht berührt wäre, mit ihren Begrenzungen und Sanktionen auf Bundes-
bliebe noch zu prüfen, ob dadurch nicht die „Gliede- ebene Verfassungskraft erlangen und mit Hilfe eines
rung des Bundes in Länder“, welche ebenfalls durch Ausführungsgesetzes des Bundes umgesetzt werden
Art. 79 Abs. 3 GG als unabänderbar geschützt ist, sollte. Es spricht also viel dafür, die Freiheit der
in Mitleidenschaft gezogen würde. Da unbestritten Haushalts- und Kreditpolitik zu eben jenen landes-
ist, dass den Ländern (Glied-)Staatsqualität zukommt, verfassungsrechtlich normierten organisatorischen
stellt sich damit die Frage, worin die Staatsqualität Grundentscheidungen zu rechnen, die den Ländern
der Länder besteht und was zu ihren unverzichtbaren unentziehbar verbürgt sind und deren Verlust ihnen
Elementen gehört, was also nicht hinweggedacht die Staatsqualität nehmen würde.
werden kann, ohne das die Staatsqualität der Länder
entfiele (conditio sine qua non). Das Bundesverfas- 3. Die Kreditautonomie der Länder als
sungsgericht hat bereits 1972 festgestellt, dass die Wesensmerkmal ihrer Staatlichkeit
Länder gegen eine Verfassungsänderung gesichert Demgemäß geht die herrschende Meinung in der
seien, „durch die sie die Qualität von Staaten oder ein Literatur auch zweifelsfrei davon aus, dass die Ver-
Essentiale der Staatlichkeit einbüßen“ würden, und schuldungsbefugnis (Kreditautonomie) der Länder im
den Versuch unternommen, diese Eigenstaatlichkeit Rahmen ihrer Haushaltshoheit zu den Wesensmerk-
der Länder näher zu bestimmen. Ihnen müsse als malen der Landesstaatlichkeit gehört und damit ge-
„Hausgut“ ein Kern eigener Aufgaben unentziehbar gen Verfassungsänderungen, die sie auszuhöhlen be-
verbleiben, wozu jedenfalls gehöre, dass „dem Land stimmt und geeignet sind, durch Art. 79 Abs. 3 GG
die freie Bestimmung über seine Organisation ein- geschützt wird. Einige Kommentatoren nehmen in
schließlich der in der Landesverfassung enthaltenen diesem Zusammenhang zwar nicht unmittelbar auf
organisatorischen Grundentscheidungen“ garantiert die Kreditautonomie Bezug, zählen aber die selbstän-
werde. In allen Landesverfassungen finden sich aus- dige Haushaltswirtschaft insgesamt zu den Wesens-

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merkmalen der Eigenstaatlichkeit eines jeden Landes, Garantie des Art. 109 Abs. 1 – prinzipiell, nicht ein-
die nach Art. 79 Abs. 3 GG nicht angetastet werden schränkungslos (vgl. Art. 109 Abs. 3) – verfassungs-
darf, und entnehmen die Befugnis eines Landes, sich änderungsfest“.
zu verschulden, bereits dem Begriff unabhängigen
Haushaltswirtschaft in Art. 109 Abs. 1 GG. So heißt Andere Kommentatoren gehen weiter und dehnen
es etwa bei Hillgruber: „Art. 20 Abs. 1 konstituiert jenen Kernbereich auch auf die materielle Haushalts-
die Bundesrepublik Deutschland als Bundesstaat. Die autonomie aus. So scheibt etwa Siekmann: „Die in-
Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 schirmt die Bun- haltlichen Budgetentscheidungen ... gehören zudem
desstaatlichkeit in ihrer Grundsubstanz auch gegen zum Kernbereich der Staatlichkeit der Länder und
eine Verfassungsänderung ab, und Art. 109 Abs. 1 genießen den besonderen Schutz von Art. 79 III“.
gewährleistet den Ländern im Besonderen die Selb- Deswegen lehnt er – worauf oben (unter III.) schon
ständigkeit der Haushaltswirtschaft … Zur Eigen- hingewiesen wurde – die Einführung verbindlicher
staatlichkeit der Länder gehört daher grundsätzlich Verschuldungs- und Kreditaufnahmegrenzen für die
auch die Haushaltsautonomie“. Sodann zitiert Hill- Länder, gestützt auf Art. 109 Abs. 3 GG, ab. Vismann
gruber einen Satz von Hans-Wolfgang Amdt: „Eine räumt den Ländern bei Haushaltsentscheidungen
bundesstaatliche Struktur ist ohne die prinzipielle wenigstens einen – durch die Ewigkeitsgarantie
Autonomie in der Haushaltspolitik nicht denkbar“, geschützten – politischen Ermessens- und Gestal-
und fährt selbst wie folgt fort: „Daher wird Art. 109 tungsvorrang ein: „Eine haushaltsrechtliche Einschät-
Abs. 1 auch als ein ,Grundpfeiler‘ des Föderalismus zungsprärogative steht den Ländern auf der Grund-
bezeichnet“. lage eines in Abs. 3 [von Art. 79 GG] garantierten
Kernbereichs der Unabhängigkeit zu, nicht jedoch
Später äußert sich Hillgruber noch ausführlicher und Art und Gestaltung der Einnahme- und Verteilungs-
differenzierter zum Verhältnis von Art. 109 Abs. 1 GG grundsätze von Steuern“. Zu ähnlichen Ergebnissen
zu Art. 79 Abs. 3 GG: „Die Bestimmung des Art. 109 bei der Gesamtdarstellung des Problems gelangt auch
Abs. 1 steht zwar als solche nicht unter dem Schutz Johannes Kramer in seiner Göttinger Dissertation
der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3. Sie hat über „Grenzen der Verfassungsänderung im Bereich
daran aber vermittelt durch das von dieser erfasste der bundesstaatlichen Finanzverfassung“. Damit kann
Bundesstaatsprinzip (,Gliederung des Bundes in Län- abschließend festgestellt werden, dass eine Verfas-
der‘; Art. 20 Abs. 1) Anteil. Die Eigenstaatlichkeit des sungsänderung, mit der die vorgeschlagene Schul-
Bundes und der Länder wäre ohne eine getrennte, denregelung im Grundgesetz verankert würde, als
selbstständige und unabhängige Haushaltswirtschaft „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ mit der sog.
der beiden Ebenen ein Torso. Die Selbstständigkeit Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar
und Unabhängigkeit der Haushaltswirtschaft der wäre, weil sie die Haushalts- und Kreditautonomie
verschiedenen Haushaltsträger darf daher nicht voll- der Länder als Kernbestandteil ihrer Eigenstaatlichkeit
ständig beseitigt werden. Jedenfalls die formelle berührt.
Haushaltsautonomie ist daher als Kernbereich der

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