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›Gefahr erkannt: Gefahr gebannt‹.

Kasuistiken zu ersten Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämpfung


von Sexualdelikten u.a. gefährlichen Straftaten.1

Ulrich Kobbé

In diesem Beitrag zum Thema des Symposiums 2 werden nicht die rechtsdogmatischen Aspekte oder
rechtspolitischen Implikationen der neuen Gesetzeslage behandelt werden, sondern die Frage, wie sich
d eren Auswirkungen auf die Gutachten- und Entlassungspraxis beschreiben lassen.
Hierbei werde ich angesichts der geringen Fallzahlen von lediglich 5 Patienten, für die im Zeitraum Janu-
ar bis Oktober 1998 die Entlassung angeregt wurde, auf einer rein deskriptiven Ebene bleiben 3.
Tabelle 1

Delikt Diagnose Alter MRV Beurl. Progn.


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schwerer Raub hebephrene 32 J. 6;4 J. 17 Mon. pos.
in Tateinheit Psychose a.d.
mit Körperver - schizophr.
letzung Formenkreis

Diebstahl, halluzinator. 40 J. 14;5 J. 7 Mon. pos.


vers. Diebstahl, Pychose a.d.
BtM -Erwerb und schizophr.
BtM -Konsum Formenkreis

sex. Mißbrauch Pädophilie 77 J. 14;3 J. 3 Mon. neg.


von Kindern
in 2 Fällen

vers. Verge- intellekt. Min- 45 J. 6;7 J. -- neg.


waltigung derbegabung,
chron. Alkohol -
mißbrauch, sek.
hirnorgan. Psy-
chosyndrom

vers. Totschlag paranoid- 47 J. 8;7 J. 20 Mon. pos.


halluzinator.
Psychose a.d.
schizophr.
Formenkreis

Wie aus der Tabelle ersichtlich, handelt es sich diagnostisch


um eine hebephrene Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis,
um eine halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis mit sekundärem, multiplem
Substanzgebrauch,
um eine Pädophilie,
um eine intellektuelle Minderbegabung mit chronischem Alkoholmißbrauch und sekundärem hirnor-
gan ischem Psychosyndrom sowie
um eine paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis.
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Zum Zeitpunkt der Beantragung der Entlassung bzw. der Bestellung des Gutachters durch die StVK be-
fanden sich drei Patienten zwischen 6 und 7 Jahren, die anderen beiden Patienten 14 Jahre im Maßregel-
vollzug.
Vier Patienten waren zum Zeitpunkt der Anregung der Entlassung in Übergangseinrichtungen oder Dau-
erwohnheime mit entsprechender ambulanter Versorgung oder Behandlung beurlaubt, ein Patient war
stationär untergebracht. Zum Zeitpunkt der Anhörung durch die StVK dauerten die Beurlaubungen zwi-
schen 7 und 20 Monaten (konkret: 7, 13, 17 und 20 Monate).
In allen genannten Fällen erging nach der Anhörung des Patienten ein Beschluß der Strafvollstreckungs-
kammer, in dem neben der Fortdauer der Unterbringung ausgeführt wird, gem. § 463 Abs. 3 und § 454
Abs. 2 StPO in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten u.a. gefährlichen Strafta-
ten vom 26.01.98 sei anläßlich der Entlassung des Pat. aus dem Maßregelvollzug ein schriftliches Gut-
achten darüber einzuholen, "ob bei dem Betroffenen keine Gefahr mehr besteht, daß dessen durch die
Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht". Anschließend wurde ein externer Gutachter bestellt.
In welcher Weise wurde dieser Gutachtenauftrag beantwortet, den Ausschluß von 'Gefährlichkeit' fest-
stellen zu so llen?
Im ersten Fall wird vom Gutachter angesichts
einer "positiven Krankheitsentwicklung" im Laufe der letzten Jahre,
ausreichender Krankheitseinsicht,
im wesentlichen problemloser Beurlaubung in eine Rehabilitationseinrichtung ohne erneutes delin-
quentes oder in irgendeiner anderen Form unangepaßtes Verhalten
ausgeführt, aus psychiatrischer Sicht könne "derzeit nicht davon ausgegangen werden, daß die bei dem Be-
troffenen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht".
Allerdings könne diese Prognose nur unter den Bedingungen abgegeben werden,
daß eine gesetzliche Betreuung zur Gewährleistung umfangreicher Hilfe "bei weiteren Schritten der s o-
zialen und beruflichen Reintegration" eingerichtet werde,
daß der Patient bis zum Abschluß der beruflichen Wiedereingliederung in der betreuenden Wohn ein-
richtung bleibe und
daß die ambulante nervenfachärztliche Behandlung kontinuierlich fortgesetzt werde unter Beachtung,
"daß keine Medikamentenunverträglichkeiten auftreten, [...] daß das Medikament regelmäßig eingenom-
men wird" und im Falle einer Änderung der Medikation gewährleistet ist, daß - falls nötig - "eine psych-
iatrische Intervention bis hin zur stationären Aufnahme [...] rechtzeitig erfolgt und deren Notwendigkeit
erkannt wird."
In einem anderen Gutachten heißt es analog, "unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte"
könne "nur dann davon ausgegangen werden, daß bei dem Betroffenen keine Gefahr mehr besteht, daß des-
sen durch die Tat z utage getretene Gefährlichkeit fortbe steht", wenn im Rahmen der Bewährungshilfe
bzw. Führungsaufsicht sichergestellt sei,
daß der Betroffene weiterhin keine Drogen zu sich nehme,
daß eine regelmäßige ambulante psychiatrische Betreuung erfolge,
daß Finanzen und Wohnsituation weiterhin geregelt bleiben und
daß der gesetzliche Betreuer in Kenntnis dieser Bedingungen deren Einhaltung kontrolliere.
Im Fazit heißt es dann, unter den genannten Bedingungen könne nunmehr "derzeit mit an Sicherheit gre n-
zender Wahrscheinlichkeit (sic!) davon ausgegangen werden, daß bei dem Betroffenen die durch die Tat
zutage getretene Gefährlichkeit nicht mehr fortbesteht".
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Auch ein drittes, die Entlassung empfehlendes Gutachten bezieht sich darauf, daß unter Sicherstellung
von Nachsorge und sozialem Empfangsraum "keine Gefährdung seitens des Betroffenen mehr zu erwar-
ten" sei.
Diese Diktion wird auch in den abgegebenen negativen Prognose der beiden weiteren Gutachten ersicht-
lich:
Im einen Fall spreche trotz Bemühen um Kooperation und weitgehend problemloser Führbarkeit in ei-
nem Seniorenwohnheim "mehr gegen als für eine bedingte Entlassung". Denn: Angesichts fehlender "Ein-
sicht in sein Fehlverhalten" stellten "die Stabilität und Kontinuität des sozialen Empfangsraums und die dar-
aus resultierende Vertrauensbildung zu den Mitarbeitern die wichtigste Maßnahme der Prävention dar".
Angesichts erst kürzlich erfolgten Wohnheimwechsels sei "die Wirksamkeit der [...] Kontrollmechanis-
men" noch nicht überprüfbar und angesichts des Wunsches des Patienten, nach seiner Entlassung an ei-
nen anderen Ort umzusiedeln, sei dies insofern prognostisch ungünstig, als die Heimunterbringung
"schon für sich genommen einen wirksamen Kontrollmechanismus in präventivem Sinne" darstelle.
Im zweiten Fall heißt es, "von allen aufgezählten, als prognoserelevant einzuschätzenden Bereichen läßt
sich, wie dargelegt, kaum einer positiv bewerten". Da "dem bis heute therapeutisch kaum zu beeinflusse nden
Alkoholkonsum besondere Bedeutung beigemessen werden" müsse, sei "speziell bei regelmäßigem Alkohol-
konsum" davon auszugehen, daß Herr B. "aggressives Verhalten" zeige und "auch wieder Straftaten" be-
gehe, denn: "Allen Versuchen, Kontrollinstanzen einzurichten, welche in der Lage wären, eine derartige
Entwicklung rechtzeitig zu bemerken und ihr effektiv zu begegnen, hat sich Herr B. stets entzogen. Es gibt
keinen hinreichenden Anhalt dafür, daß unter derartigen Umständen erneute Straftaten Herrn B.s heute un-
wahrscheinlicher sind, als vor Beginn der Maßregel."
Deutlich wird an den zitierten Textpassagen, daß hier "Gefährlichkeit" nicht als situationsunabhängige
oder zeitüberdauernde Eigenschaft bzw. Handlungstendenz des jeweiligen Patienten aufgefaßt wird, wie
die Formulierung der Anfrage der StVK nahe legen könnte. Hierzu hat Volckart (1998, 5-6) ja erst kürz-
lich dezidiert darauf hingewiesen, daß die Vorstellung "eine(r) menschliche(n) Eigenschaft namens «Ge-
fährlichkeit» [...] logischer Unsinn" sei.
Dementsprechend finden neben einer Zusammenfassung des Unterbringungsdelikts und des Unterbrin-
gungs-, Behandlungs- und Beurlaubungsverlaufs sowie der aktuellen Exploration und Befunderhebung
spezifische Stabilisierungs- und Integrationsvoraussetzungen bzw. Destabilisierungsbedingungen im
Sinne einer «conditio sine qua non» explizit Berücksichtigung.
Deutlich wird auch, daß neben der inhaltlich-sinnhaften Aus gestaltung des Alltags durch Arbeit, Fi-
nanzen und Gesellschaft Dritter eine kontrollierende Struktur interagierender Instanzen unter-
schiedlichster Art - zum Beispiel weiterbehandelnder Psychiater, gesetzlichen Betreuer, Bewährungs-
helfer, Mitarbeiter des Übergangswohnheims usw. - für die Aufrechterhaltung dieses Settings zur Bedin-
gung gemacht werden. Mit diesem konditionalen An satz eines "Unter der Bedingung, daß ..." entkommt
der Gutachter der Problematik, prinzipiell sonst niemals sagen zu können, die "Gefahr" der "durch die
Tat zutage getretenen Gefährlichkeit" bestehe nicht mehr fort.
Sehr schematisch ließe sich ein Behandlungs- und Unterbringungsverlauf zwar als wechselseitige Dyna-
mik von hoher zu abnehmender Fremdkontrolle mit entsprechend zunehmender Selbstkontrollfähigkeit
b eschreiben. Doch muß and ererseits in Betracht gezogen werden, daß Individuen nie als solche für sich
allein und isoliert vorstellbar sind, sondern sich als soziale Wesen immer in Interaktion mit ihrer Umwelt
b efinden. Zwar akzentuiert die Frage des § 67d Abs. 2 StGB, ob "zu erwarten ist, daß der Untergebrachte
außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird", den Aspekt einer
grundsätzlichen Bereitschaft und Fähigkeit des Individuums zu straffreiem Verhalten, doch wird - bei
sophistischer Interpretation der Formulierung - durch die Einschränkung "außerhalb des Maßr egelvoll-
zugs" durchaus implizit auf die zu berücksichtigenden Umweltfaktoren Bezug genommen ... So beinhal-
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tet auch die Formulierung, die 'Gefährlichkeit' sei "in der Tat zutage getreten", bei analoger Lesart diesbe-
züglich einen spezifischen konstellativen oder situativen Kontext.
Unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten thematisiert die gutachterliche Fragestellung das, was Rot-
ter (1975) 'locus of control of reinforce ment', zu deutsch 'Kontrollüberzeugung', genannt hat. Zwar geht es
- vereinfacht ausgedrückt - um Fragen nach internaler bzw. externaler Kontrollüberzeugung, doch ist der
Gegenstand durchaus komplexer: Wie aus den Gutachten ersichtlich, werden Kausalattributionen im
Sinne der Zuschreibung von Ursache-Wirkungs-Mechanismen vorgenommen, deren prognostizierte
Auswirkungen auf zukünftiges Handeln in Form entsprechender Kontrollattributionen unterstellt werden
(Flammer 1990, 34- 35).
Prognostisch problematisch ist, daß es sich sowohl um internale als auch externale Ursachen, um sowohl
stabile wie variable Kausalbedingungen handelt, die zudem oft relativ unspezifisch sind.
Darüber hinaus sind selbst als relativ zeitstabil anzunehmende Eigenschaften des Individuums als inter-
ner Ort der Kontrolle nur indirekt erschließbar und unterliegen auch besser operationalisierbare externe
Bedingungen dem Zufall (Flammer 1990, 42), wie dies ja auch in der Charakterisierung der Straftat als
"sozialem Unfall" durch Rasch deutlich wird.
In sozialpsychologischen Untersuchungen wurden daher die Variablen 'Stabilität', 'Ort' sowie 'Kontrol-
lierbarkeit' der Ursache zueinander in Beziehung und im Ergebnis die Kontrolldimension an die Stelle
der Stabilitätsdimension gesetzt (Perrig-Chiello 1983).
Hieraus eine 'Kontrollmeinung' dessen, was präventiv wirksam sein wird, abzuleiten, setzt eine soge-
nannte 'Kontingenz-Kompetenz-Analyse' mit dem Resultat bestimmter Ergebnis- und Wirksamkeits-
erwartungen voraus (Flammer 1990, 90-93). Entsprechend hat sich der Gutachter entschlossen, diese -
wie Stierlin (1992) sich ausdrücken würde - prinzipielle "Weichheit unserer Beziehungsrealität" dadurch
zu "härten", daß er primär konstante externe Kontrollbedingungen zu definieren und festzuschreiben
sucht. Damit fo lgen die Gutachten dem bei Göppinger (1987, 264-266) beschriebenen Standard, neben
einer allgemeinen und einer individuellen Basisprognose auch eine sog. Interventionsprognose ab-
zugeben, die rückfallverhindernde, präventive Maßnahmen spezifiziert.
Auffällig ist bei Betrachtung, daß die Strafvollstreckungskammer hier unterschiedslos bei jedem Patien-
ten ein Gutachten in Auftrag gibt, mithin dem verstärkten Kontroll-, Sicherungs- und Absiche-
rungsdenken der Öffentlichkeit Rechnung trägt und im Fall eines Deliktrückfalls sozusagen alle zur Ver-
fügung stehenden Erkenntnismittel genutzt hat. 'Gefahr erkannt, Gefahr gebannt ...', könnte man sagen,
doch liegt gerade hier der Unterschied zwischen den Formulierungen des § 67d Abs. 2 StGB alter und
neuer Fassung, zwischen "es kann verantwortet werden zu erproben" versus "es ist zu erwarten".
Der neue juristische, für Prognostiker in seiner Absolutheit problematische Terminus technicus scheint
insofern zu e iner bemerkenswerten Verschiebung zu führen, als nunmehr die Internalität der Selbstkon-
trollfähigkeit des Betroff enen weniger und die Externalität der Kontrolle akzentuierter zur Sprache kom-
men. Dies könnte einerseits in der ebenfalls existenten Absicherungsnotwendigkeit des Gutachters lie-
gen, dürfte andererseits aber primär darin begründet sein, daß derart konkret und 'sicher' erscheinende
Faktoren eines sozialen Bedingungsgefüges zwischen Gutachter und Strafvollstreckungskammer leichter
vermitte lbar sind. Denn die Argumentationsfigur muß mit Axiomen von möglichst linearen Kausal-
beziehungen versuchen, die mehrdimensionalen Kausalitäten komplexer intrapsychischer und interper-
soneller Wirklichkeiten so abzubilden und so transparent zu machen, daß hieraus eine ein- und nicht
mehrdeutige Au ssage generiert werden kann.
Wenngleich der Gutachter in der Beachtung von Internalität und Externalität zweiseitig argumentiert, be-
inhaltet die Unterstreichung der externen Faktoren die Gefahr einer späteren Vereinseitigung, indem die
Grundbedingungen der Beurlaubung und späteren Bewährungszeit zum Selbstzweck werden könnten.
Hier macht beispielsweise Korff (1985, 13) darauf aufmerksam, daß in einer gesellschaftlichen Praxis,
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die "keine Zweifel mehr zuläßt" und Konflikte kasuistisch aufzuschlüsseln bzw. vorweg zu regeln sucht,
h ieraus das Risiko resultiert, daß der Betroffene zum - wie er sich ausdrückt - "reinen Funktionsobjekt
der G esellschaft" würde und ihm - so weiter Korff - der Weg zur "Selbs tverantwortlichkeit als Vor-
aussetzung a ller wirklichen Resozialisierung" versperrt wäre. Hierin liegt die Gefahr einer später unter
Umständen monokausalen Attribuierung.
Problematisch könnte sein, daß im Falle einer Generalisierung externer Kontrollüberzeugungen später
nicht mehr entscheidbar sein mag, unter welchen Voraussetzungen zu welchem Zeitpunkt eine Redu-
zierung oder ein Wegfall diese Fremdkontrolle denkbar ist bzw. verantwortet werden könnte. Denn dies
wird dem Bewährungshelfer übertragen, der sich auf eine bis dato bewährte Betreuungs- und Kontroll-
struktur stützen muß, die jedoch zwangsläufig prozeßhaft der Entwicklung anzupassen ist.
Problematisch ist die Betonung externer Kontrollen unter Umständen auch, da die hiermit implizit oder
explizit vorgenommene Attribution im Sinne eines Defizitmodells mißverstanden wird, insofern dauer-
haft zu einem negativen Selbstbild persönlicher Inkompetenz und Abhängigkeit führen, weitere Auto-
nomieentwicklung behindern kann. Unter psychodynamischen Gesichtspunkten lassen sich diesbe-
züglich fo lgende Anpassungsmodi skizzieren, deren Abwehrcharakter durch die rollenhafte Übernahme
von Verhaltenserwartungen und Normen verstärkt wird:
Einerseits kann die Aufrechterhaltung entverantwortender Kontrollstrukturen einen Interaktion smodus
fördern (Parin et al. 1983, 157), bei dem das Subjekt gelernt hat, spannungsfreie identifikatorische Be-
ziehungen zu Angehörigen bestimmter Bezugsgruppen - Bewohner des Übergangswohnheims, Mitar-
be iter von psychosozialen Diensten beispielsweise - herzustellen ( "Gruppen-Ich"). Problematischerwei-
se ist dieser soziale Anpassungsmodus in seiner Autonomie jedoch nur in diesem spezifischen Milieu,
dieser sozialen Nische, gewährleistet.
Des weiteren besteht das Risiko der Übernahme ich-dystoner Werte bzw. ÜberIch-Anteile bei gleich-
zeitiger Externalisierung, sprich: Delegation, dieser ichfremden Ideale, Regeln, Ver- und Gebote auf ge-
sellschaftliche R epräsentanten, z.B. den Bewährungshelfer, den gesetzlichen Betreuer usw. ( "Clange-
wissen"). Problematischerweise verhindert dies die Verinnerlichung dieser Normen, mithin auch Au to-
nomie (Parin et al. 1983, 158).
In ganz anderer Weise kann sich das Feld ggf. aber auch als derart überstrukturiert erweisen bzw. sub-
jektiv so erlebt werden, daß die intendierte Selbstwirksamkeitskompetenz der Verantwortungsübernah-
me nicht vergrö ßert wird. Stattdessen wird u. U. hierdurch gerade das dissoziale bis delinquente Agie-
ren als protestierender 'Au sbruch' aus einem normativen Korsett induziert, dem die Kontrollstruktur
zuvorzukommen sucht ...
Für die Fragestellung dieses Symposiums ist zugleich von Interesse, ob sich hieraus eine veränderte Ent-
lassungspraxis ergibt und welche Konsequenzen dies ggf. für die Patienten sowie für die forensisch-
psychiatrische Institution hat.
Aus den nur 5 Fällen, dabei 3 positiven Entlassungsempfehlungen und 2 negativen Prognosen, läßt sich
keinerlei allgemeine und verläßliche Aussage ableiten. Allenfalls läßt sich angeben, daß sich durch das
neue Procedere die Beurlaubung bzw. Unterbringung um ca. 4 bis 5 Monate verlängert, innerhalb derer
nach der Anhörung des Untergebrachten die Bestellung des Gutachters, die Gutachtenerstellung, die An-
hörung des Sachverständigen und erneute Beschlußfassung stattfinden. Dies muß Konsequenzen für Be-
urlaubungsdauern anderer Patienten und die Anzahl der Beurlaubten haben, da die Verlängerung der
Beurlaubung personell Mitarbeiter des Bereiches Rehabilitation und Nachsorge bindet, die deren Kapazi-
tät zur Betreuung und Begleitung anderer Patienten dementsprechend gebunden bleibt, das heißt, erst
zeitversetzt frei wird.
Unzweifelhaft deutlich wird aber auch, daß im Jahr 1998 trotz einer relativ hohen Zahl derzeit laufender
Beurlaubungen (n = 25) bei nur einer extrem geringen Zahl von Patienten die Entlassung aus dem Maß-
r egelvollzug angeregt (n = 5) und noch weniger Patienten entlassen wurden (n = 3). Dies ist kausal sicher
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nicht auf die Änderungen der Gesetze "zur Bekämpfung von Sexualdelikten u.a. gefährlichen Straftaten"
zurückzuführen, sondern ist - soweit beurteilbar - Ergebnis einer Interaktion von Strafvollstreckungs-
kammer und Maßregelvollzugsklinik: Wie oben bereits skizziert, wird jedwede Veränderung der Lebens-
umstände des Patienten in der Beurlaubung, z.B. Abschluß der Lehre und Aufnahme eines anderen Ar-
beitsverhältnisses, therapeutisch indizierter Umzug usw., mithin auch Fortschritte in Behandlung, Reha-
b ilitation und Resozialisierung, von der StVK mit einer Verlängerung der Unterbringung 'beantwortet'.
Es ist zu vermuten, daß hier Nachsorge- und Prognosestandards der Maßregelvollzugsklinik mit einer
d efensiven En tlassungspraxis der Strafvollstreckungskammer interagieren: Durch
ihre personalintensive Begleitung des Patienten während der Beurlaubung,
ihre differenzierte Umgangsweise mit Veränderungen während dieser Zeit und
ihre Dokumentation und Begründung in Stellungnahmen gem. § 67e StGB
haben die Behandler einen Standard geschaffen, der bei der StVK mutmaßlich zu zum Teil formal-
organisatorischen Beurteilungen und Schlußfolgerungen führt.
Dies muß insofern als eher überprotektiv beurteilt werden, als den einzelnen Lockerungsschritten, so
auch der Beurlaubung aus der stationären Unterbringung, differenzierte Entsche idungs- und Prognose-
kriterien zugrunde gelegt werden: So ließen sich in einer empirischen Untersuchung der Beurte ilungs-
und Lock erungspraxis im WZFP Lippstadt (Kobbé 1996, 307-338) für die jeweiligen Lockerungsstufen
Ausgang mit Begleitung,
Ausgang ohne Begleitung,
Urlaub
regressions- und diskriminanzanalytisch differenzierte Entscheidungsprofile mit unterschiedlichen Krite-
r iengerüste errechnen, anhand derer sich deutlich abgestufte kriterielle Entscheidungsstrukturen angeben
lassen (Kobbé 1996, 335- 336).
Während also in der Praxis
nicht Einzelkriterien sondern Kriterienmatrizen für die Entscheidung ausschlaggebend sind,
die statistischen Modelle belegen, daß das formale Wohlverhalten des Patienten als Anpassung an ge-
forderte "Ordnung und diszipliniertes Verhalten" (Rasch 1985, 316) nicht mehr ausschlaggebend ist
und
vielmehr Merkmalsvariablen der Persönlichkeit, der Krankheit bzw. Störung, des Behandlungsverlauf
sowie der Delinquenz und Tatdynamik berücksichtigt werden,
wird diese mehrdimensionale Beurteilungs- und Entscheidungsbasis jedoch in den o. g. Beschlüssen der
StVK eher eindimensional verengt: Dem Patienten wird - den auch sonst vorzufindenden juristischen
Erwartungen des festen Wohnsitzes, ordentlichen Aussehens und der regelmäßigen Arbeit entsprechend
- eine Regelhaftigkeit verordnet, bei der - wie oben bereits skizziert - mögliche Risiken vorweg zu regeln
versucht zu werden scheinen. Doch damit schrumpft die Selbstwirksamkeitskompetenz der Verantwor-
tungsübernahme des Patienten, reduziert sich das, was Korff (1985, 13) "Gewissenskompetenz" nennt,
auf "peinlich genaue Erfüllung" des von der StVK Geforderten. In gewisser Weise handelt es sich in Ein-
zelfä llen um eine Art Vorwegnahme und zeitliche Vorverlagerung der Bewährungszeit nach Entlassung
in die Beurlaubungszeit der Unterbringung, bei der sich unter Kooperationsaspekten "die Ambivalenz
von Hilfe und Kontrolle einseitig zugunsten des Kontrollaspekts auszuwirken" droht (Albrecht 1986, 66).

Fußnoten
1. Vortrag während der 13. Forensischen Herbsttagung. Universität München 22.-24.10.98
2. Symposium "Erste Erfahrungen mit den Änderungen der Gesetze zum Schutz vor gefährlichen Rechtsbrechern".
3. Für die Überlassung der Daten und Unterlagen danke ich Herrn Dr. Bargfrede und den MitarbeiterInnen des Bereiches VI
'Rehabilitation und Nachsorge' im Westf. Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt.
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Literatur
Albrecht, P.-A. 1986: Prävention als problematische Zielbestimmung im Kriminaljustizsystem . In: KritV, H. 1/2 (1986) S. 55-82
Flammer, A. 1990: Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Einführung in die Psychologie der Kontrollmeinung . Huber, Bern
Kobbé, U. 1996: Zwischen gefährlichem Irresein und gefahrvollem Irrtum. Determinanten (Kon)Texte, Praxis des Entschei-
dungsverhaltens im reformierten Maßregelvollzug. Pabst Science Publ., Lengerich
Korff, W. 1985: Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik. Piper, München
Parin, P.; Morgenthaler, F.; Parin-Matthèy 1983: Aspekte des Gruppen-Ich. In: Parin, P. (Hrsg.): Der Widerspruch im Subjekt.
Ethnopsychoanalytische Studien. Syndikat/EVA, Frankfurt a.M. (1983) S. 153-174
Perrig-Chiello, P. 1983: Kausalattribuierung und Schülerbeurteilungsleistung durch den Lehrer. In: Journal of Personality, 31.
Jg. (1983) S. 22-36
Rasch, W. 1985: Die Prognose im Maßregelvollzug als kalkuliertes Risiko. In. Schwind, H.-U.; Berz, U.; Geilen, G.; Herzberg,
R.D.; Warda, G. (Hrsg.): Festschrift für Günter Blau zum 70. Geburtstag am 18. Dezember 1985. de Gruyter, Berlin (1985)
310-325
Rotter, J.B. 1975: Einige Probleme und Mißverständnisse beim Konstrukt der internen vs. externen Kontrolle der Verstärkung .
In: Mielke, R. (Hrsg.): Interne/externe Kontrollüberzeugung. Huber, Bern (1982) S. 43-62
Stierlin, H. 1992: Von den Möglichkeiten, die weiche Beziehungsrealität zu härten . In: Stierlin, H. (Hrsg.): Nietzsche, Hölderlin
und das Verrückte. Systemische Exkurse. Auer, Heidelberg (1992) S. 109-119
Volckart, B. 1998: Die Aussetzungsprognosen nach neuem Recht. In: Recht & Psychiatrie, 16. Jg. (1998) H. 1, S. 3-11

Verfasser
Dr. Ulrich Kobbé
Westf. Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt
Eickelbornstr. 21, D-59556 Lippstadt
eMail: ulrich@kobbe.de

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