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Die Prognoseberatende Fachgruppe im Westf.

Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt:


Eine deskriptiv-statistische Zwischenbilanz
Ulrich Kobbe
Der Artikel faß; die Lockerungspraxis im Westf. Zentrum für Fo- Eickelborn und Umgebung bzw. den Bereich außerhalb die-
rensische Psychiatne Lippstadt nach Neufassung der dortigen Lok- ses Gebiets eingeführt wurden. Für Patienten mit den Ein-
kerungsregelung sowie Prognose- und Entscheidungspraxis zusam- weisungsdelikten
men. In der Gesamterhebung zwischen dem 20.12.94 und a) versuchte oder vollendete Sexualstraftat (Exhibitionis-
20.02.96 werden 425 Lockerungsbögen mit 845 Lockerungs- mus, sex. Nötigung, sex. Mißbrauch, Vergewaltigung)
anträgen deskriptiv-statistisch untersucht. Neben Schlußfolgerun- und
gen über die Rolle und Funktion einer Prognoseberatenden Fach- b) versuchtes oder vollendetes Tötungsdelikt (Mord, Tot-
gruppe für die anschließende Lockerungsentscheidung lassen sich schlag, Körperverletzung mit Todesfolge)
Hinweise auf das institutionelle Lockerungsverhalten ableiten und sind seitdem im Ort Eickelborn nur noch l:l-begleitete Aus-
kntisch diskutieren. gänge möglich. Alle anderen Ausgangsformen (begleiteter
Schlüsselwörter: Maßregelvollzug, Gefährlichkeitsprognose, Gruppenausgang, Einzelausgang) können wie die spätere Be-
Progjwseberarung, Lockerung urlaubung für diese Patienten ausschließlich in ihrer Her-
kunfts- und Entlassungsregion durchgeführt werden. Auf die
The consultative group for the prediction of dangerous- Behandlung der therapeutischen und rechtlichen Implikatio-
ness in the Westphalian Hospital for Forensic Psychia- nen wird an dieser Stelle verzichtet (1): Die Beschreibung
try in Lippstadt: a provisional descriptive-statistical dient hier ausschließlich der Darstellung der institutionellen
appraisal Ausgangsbedingungen.
The article summarizes the practice of granting leaves in the West- Insbesondere die Ausgestaltung des Einzelausgangs unter-
phalian Hospital for Forensic Psychiatry öfter its recent nwdifica- streicht in einigen Punkten die auch zuvor bereits durchge-
non of the guiding principles for such measures. 845 applications führte Ausgangsregelung in Hinsicht auf die therapeutische
from paiients lüiih 425 questiotmaires from berween 20.12.94 and und rehabilitative Zielrichtung der Lockerungsmaßnahmen:
20.02.96 have been statistically examined. Besides conclusions on Der Einzelausgang dient ausschließlich dazu, therapeutisch
the röle and function of a consultative group for the prediction of indizierte Aktivitäten durchzuführen. Ausgangsplanung, -In-
dangerousness, suggestions for the institutional practice of granting halt, -ziel und -ort sind dementsprechend Teil der Behand-
leaves can be deduced and discussed. lungsplanung. Die jeweiligen Ausgänge haben sich im kon-
Key words: indefinite detemion, prediction of dangerousness, lea- kreten Fall hiernach zu richten. Der Einzelausgang wird nun-
ves from the forensic hospital mehr ohne Zeitbegrenzung genehmigt. Sem zeitlicher
Rahmen ist durch die definierte Aktivität und das Ziel vorge-
geben und jeweils kritisch zu prüfen, neu anzupassen, zu kon-
Ausgangssituation kretisieren und verbindlich mit dem Patienten zu vereinba-
Nach der Tötung eines Kindes in Eickelborn durch einen Pa- ren. Die Bewilligung einer bestimmten Zeit für eine bestimm-
tienten des Westf. Zentrums für Forensische Psychiatrie te Aktivität beinhaltet nicht, daß die restliche Zeit dem
Lippstadt während eines Einzelausganges im September Patienten zur freien Verfügung stünde, wenn diese Aktivität
1994 erfolgte zunächst für alle Patienten ein sog. „Lok- selbst nur einen kürzeren Zeitraum erfordert. Nach jedem
kerungsstop", um die Möglichkeit zur internen und externen Einzelausgang ist dessen Verlauf mit dem Patienten nachzu-
Überprüfung aller Lockerungsentscheidungen zu haben. Zu- besprechen. Dies Vorgehen impliziert auch, daß Änderungen
gleich wurden die Ausgangsformen neu präzisiert, sodaß dieser Ausgangsplanungen nur als neue Behandlungsziele
nunmehr vier Lockerungsstufen existieren: 1. Ausgangin 1:1- vorgenommen werden können und dann als neue Lok-
Begleitung, 2. begleiteter Gruppenausgang, 3. Einzelausgang, kerungsmaßnahmen beantragt und genehmigt werden müs-
4. Beurlaubung. sen.

Lockerungskonzeption seit Dezember 1994 Lockerungsentscheidungen


Angesichts der Forderungen einer Bürgerinitiative „Sicher- Hinsichtlich der Genehmigung von Urlaub wird in der neuen
heit vor Therapie" werden zusätzlich deliktspezifisch Ausgän- Lockerungsregelung darauf hingewiesen, daß die erste Dau-
ge innerhalb und außerhalb Eickelborns unterschieden, wo- erbeurlaubung zur Vorbereitung der Entlassung - auch nach
durch Patienten mit Wiedereinsetzung von Lockerungen bereits erfolgten Wochenendbeurlaubungen - der erneuten
(16.12.94) nach Deliktgruppen klassifiziert und hiervon ab- Vorlage eines Beurteilungsbogens, des Behandlungsplans
hängig unterschiedliche Lockerungsstufen für den Bereich und des entsprechenden Lockerungsantrages zur Genehmi-

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Robbe": Ptognoseberolende Fachgruppe Uppstadt - eine Zwischenbilanz

gung durch den Leitenden Arzt und die Leitende Pflegekraft


bedarf. Prognoseberatung
Hinsichtlich der Wiedereinsetzungen von Lockerungen Um die Lockerungsinhalte und -Voraussetzungen in ihrer
nach dem generellen „Lockerungsstop" und erfolgter inter- oben beschriebenen Komplexität des Zusammenhangs von
ner oder externer Überprüfung des Behandlungsstandes und Behandlungsplanung und aktueller Gesamtbeurteilung im
der Gefährlichkeitsprognose mußten die jeweiligen Ausgänge Einzelfall systematisch und detailliert zu behandeln, wurde
nach den oben beschriebenen Kriterien differenziert, d.h. im Dezember 1994 eine „Prognoseberatende Fachgruppe"
hinsichtlich Indikation und Ort geprüft, neu definiert, kon- eingesetzt. Aufgabe dieses Gremiums ist seitdem die kritische
kret beschrieben und entsprechend beantragt werden. Durchsicht der dem Leitenden Arzt und der Leitenden Pfle-
Für die Planung und Beantragung ist seit Dezember 1994 gekraft vorgelegten Unterlagen und die Erarbeitung einer
explizit nachprüfbar, wie Ziel, Art und Ort der Lockerungs- Empfehlung hinsichtlich der beantragten Lockerung. Dem-
maßnahme mit sozio-, milieu- oder psychotherapeutischer entsprechend sollen die Mitglieder dieser Fachgruppe mit
Indikaüon aus dem aktuellen Behandlungsplan abzuleiten den inhaltlichen (z.B. kriminologischen, psychodynami-
und konkret beschreibbar sind. Die individuellen Vorausset- schen), formalen (z.B. juristischen, administrativen), progno-
zungen des Patienten sind dabei anhand des im Westf. Zen- stischen und praktischen Aspekten der Behandlung wie der
trum für Forensische Psychiatrie gebräuchlichen Beurtei- Lockerung vertraut sein, was eine interdisziplinäre Zusam-
lungsbogens zu überprüfen (Pollähne 1992; Kobbe 1992). mensetzung nahe legt. Andererseits darf dieses Gremium we-
Der Beurteilungsbogen der mit patientenbezogenen Behandlungsaspekten des Ein-
• ermöglicht ein Gesamtbild des Patienten und dient bereits zelfalls befaßt sein noch sich in einer Entscheidungsverant-
bereichsintern der Entscheidungsfindung hinsichtlich Be- wortung bezüglich der jeweiligen Lockerungen befinden.
fürwortung oder Ablehnung dieser Lockerungsmaß- Entsprechend wurden ein Jurist, ein Diplom-Psychologe
nahrne; und eine Pflegekraft - alles Mitarbeiter im damaligen Arbeits-
• wird im Verlauf bereits genehmigter und durchgeführter stab der Betriebsleitung - als Mitglieder dieser Prognosebe-
Lockerungsmaßnahmen zur Überprüfung wiederholt, um ratenden Fachgruppe benannt und mit der Wahrnehmung ei-
festzustellen, ob die bei der Genehmigung vorliegenden ner gefährlichkeitsprognostisch beratenden Funktion im Vor-
Voraussetzungen weiterhin Bestand haben oder Verände- feld der Lockerungsentscheidung beauftragt. Aufgabe der
rungen eingetreten sind. Prognoseberatenden Fachgruppe ist, in jedem Einzelfall an-
hand der o.g. Unterlagen eine erneute Kriterienprüfung i.S.
Daher wird ab Dezember 1994 auch unabhängig von Lok- einer distanzierteren Zweitsicht vorzunehmen, offene Fragen
kerungsanträgen versucht, sich mit Hilfe des Beurteilungsbo- zu benennen bzw. zu klären und eine entsprechende Empfeh-
gens mindestens alle 6 Monate parallel zur Vorbereitung der lung hinsichtlich Genehmigung/Modifizierung/Ablehnung
Behandlungsplankonferenz ein neues aktuelles Gesamtbild der beantragten Lockerung auszuarbeiten.
vom Patienten zu verschaffen. Durch Stellen- und Personalwechsel wurde die Prognose-
Unabhängig vom Beurteilungsbogen wird für die Lok- beratende Fachgruppe um einen Arzt für Psychiatrie und
kerungsentscheidung ein eigenständiger Antrag gestellt, in Neurologie erweiten und schied der Jurist Ende 1995 aus der
dem die beantragte Lockerungsstufe und die geplante Maß- Arbeitsgruppe aus. Bezüglich Gutachtertätigkeit und bereichs-
nahme/Aktivität benannt werden. Die geplante Maßnahme leitenden Funktionen werden die Beratungen so verteilt, daß
ist darzustellen nach: die Mitglieder der Fachgruppe in keinem Fall Lockerungs-
• Indikation gemäß Behandlungsplan, anträge ihrer eigenen Bereichsverantwortung oder Einwei-
• Ort und Inhalt der Ausgangs- bzw. Urlaubsmaßnahme, sungsbegutachtung bearbeiten. In der Wahrnehmung ihrer
• veranschlagter Zeitdauer der konkreten Aktivität. prognostischen Beratungsaufgaben haben die Mitglieder der
Fachgruppe keine Entscheidungs- und Weisungskompetenz.
Zusätzlich zu Lockerungsantrag, Beurteilungsbogen, Be- Ihrer Prognosestellung kommt in der institutionellen Ent-
handlungsplan - und seit November 1995 letztem Einwei- scheidungsstruktur eine Kontroll-, Korrektur- und Bera-
sungs- bzw. Prognosegutachten - ist ein Selbst- und Fremd- tungsfunktion zu: Die Mitglieder der Fachgruppe sind somit
bild-Vergleich mit Hilfe des Gießen-Tests vorzunehmen zur unabhängigen Urteilsbildung unter ausschließlich fach-
(Speier und Nedopil 1992) und mit einzureichen. und praxisbezogenen gefährlichkeitsprognostischen Ge-
Die bislang durch den Leitenden Arzt gemäß § 9 Abs. 4 sichtspunkten verpflichtet.
DV-MRVG allein zu verantwortende Lockerungsentschei-
dung wurde ab Dezember 1994 gemeinsam durch den Lei-
tenden Arzt und die Leitende Pflegekraft getroffen. Dies ver- Die Praxis der Prognoseberatung
ändert zwar nicht die gesetzlich geregelte Verantwortlichkeit, Zur Arbeit dieser Fachgruppe wurde für den Zeitraum von
unterstreicht jedoch die gemeinsame Entscheidungsbasis und 14 Monaten (20.12.94 bis 20.02.96) eine Gesamterhebung
-Zuständigkeit innerhalb der Leitungsebene und gleicht sie vorgenommen, um eine erste statistische Beschreibung des
der kooperativen Regelung innerhalb der Bereichsleitungs- Zusammenhanges von Lockerungsbeantragung, Prognosebe-
und Stationsebenen an. ratung und Lockerungsentscheidung vorzunehmen. Im o.g.
Zeitraum wurden insgesamt 425 Lockerungsbögen für 208
Patienten eingereicht. Beantragt wurden insgesamt 845 Lok-

8 5 P 1997, 15 lg
Picsnoseberaiende Fachgruppe lip:sfac: - eine 2 w t $ c h e n b i i

kerungen bzw. Maßnahmen, von denen in 822 Fällen von der die nur l D, l % der Anträge ausmachenden Beurlaubungen
Prognoseberaienden Fachgruppe Empfehlungen gegeben bezieht. Nicht entscheidbar ist allerdings, ob und inwieweit
wurden. Die Differenz von 23 Anträgen erklärt sich wie folgt: es sich um einen u.U. zu defensiven, übervorsichtigen Pro-
• In 2 Fällen war bei demselben Patienten eine eindeutige gnosestil handelt oder ob ein u.U. zu optimistisches Antrags-
Empfehlung nicht möglich: Die zu treffende Güterabwä- verhalten vorliegt, das durch ein Wissen um die nachfolgende
gung zwischen vergleichsweise geringen Straftaten bei Prognoseberatung mitbedingt wird.
Rückfalldelinquenz und indiziertem Lockerungsversuch
war eine Frage der Risikobereitschaft des Ltd. Arztes und
der Ltd. Pflegekraft, nicht der Prognoseberatung. Der Einfluß der Prognoseberatung
• In 14 Fällen erlaubten die beigefügten Unterlagen aus un- Tabelle 2 (s. Seite 98) stellt den Zusammenhang von Lok-
terschiedlichen Gründen keine qualifizierte Empfehlung kerungsempfehlung und Lockerungsentscheidung dar. Deut-
(fehlende oder widersprüchliche Angaben). lich wird, daß sich die Entscheidung in der Mehrzahl der Fäl-
• In 7 Fällen gelangten die Anträge nicht zur Prognosebera- le an vorhergehenden Empfehlungen orientiert:
tung, sondern erfolgte - z.B. an Feiertagen oder bei zeitlich • befürwortende Empfehlung wird in 96,5 % der Fälle ge-
dringend gebotenen Maßnahmen wie Operation m exter- nehmigt,
ner Klinik u.a. - eine Entscheidung direkt. • vorgeschlagene Modifikation zu 75,6 % ebenfalls nur mit
Änderung der beantragten Lockerung genehmigt,
Tabelle l gestattet eine Übersicht über die beantragten Lok- • abratende Empfehlung zu 80,9 % i.S. einer Ablehnung
kerungen und die jeweilige Empfehlung der Prognosebera- entschieden.
tenden Fachgruppe, wobei die Statistik um 4 Fälle bereinigt
wurde, da es sich nicht um Lockerungen im oben definierten Daß hierbei befürwortende Empfehlungen von den Entschei-
Sinne, sondern um Erweiterungen oder andere Maßnahmen dungsträgern fast immer positiv entschieden werden, er-
handelt (2 Verlegungen auf eine offene Station, 2 Verlänge- staunt nicht. Interessant ist vielmehr, daß knapp 17 % der
rungen der abendlichen Ausgangszeit). Fälle, in denen prognoseberatend von der Lockerung abge-
Deutlich wird an den Fallzahlen, daß die begleiteten Aus- raten wurde, mit (12,8 %) oder ohne (3,9 %) Modifikation
gänge (n = 518) mit insgesamt 63,4 % die Antragspraxis der der beantragten Lockerung genehmigt wurden: Hier geben
Institution charakterisieren. Hieraus dürfen jedoch keine die 4 Fälle, in denen (zunächst) keine Entscheidung erfolgte,
Rückschlüsse auf die aktuelle Lockerur.gspraxis gezogen wer- einen Hinweis auf die diskursive Entscheidungspraxis: Wie sie
den, da die Fälle der Patienten mit unbegleitetem Ausgang wurden alle zweifelhaften, d.h. alle 110 prognostisch proble-
oder Beurlaubung in diesen Zahlen der zuvor zu durchlau- matisiertern Fälle vom Leitenden Arzt und der Leitenden
fenden begleitenden Lockerungsformen mit enthalten sind. Pflegekraft in Rücksprachen mit den Bereichsleitern hinsicht-
Das Empfehlungsverhalten der Prognoseberatenden lich der deliktrelevant erscheinenden Gesichtspunkte disku-
Fachgruppen läßt sich anhand der Zahlen ablesen: Obwohl tiert, ggf. bezüglich aufgeworfener Fragen durchgesprochen
die unbegleitete Ausgangsform des Einzelausgangs nur knapp und geklärt. Das heißt, in 18 von 110 Fällen (= 16,4 %) wur-
ein Fünftel (21,5 %) der beantragten Lockerungen aus- den anschließend positive Lockerungsentscheidungen gefällt,
macht, erfolgten hier mit fast einem Drittel (30,5 %) die mei- da sich die Bedenken der Prognoseberater ausräumen ließen.
sten negativen Empfehlungen bzw. fast der Hälfte (46,3 %)
der Modifikationsvorschläge. Ähnlich auffällig ist, daß sich
ein weiteres Drittel der Änderungsvorschläge (34,1 %) auf

Tabelle l: Verteilung der prognoseberatenden Empfehlungen

Beantragte Durchführung Durchführung Durchführung keine Empfehlung n Gesamt n


Lockerung der Lockerung mit Modifikation der Lockerung
befürwortet abgeraten
1 :1 -begleiteter 273 4 25 2 304
Ausgang 40,9 9,8 23,2 100,0 37,2
89,9 1,3 8,2 0,7
begleiteter 180 4 30 0 214 518
Gruppenausgang 27,0 9,8 27,8 0,0 26,2 63,4
84,1 1,9 14 0,0
Einzelausgang 124 19 33 0 176
18,6 46,3 30,5 0,0 21,5
70,4 10,8 18,8 0,0
Urlaub 90 14 20 0 124
13,5 34,1 18,5 0,0 15,1
72,6 11,3 16,1 0,0
Gesamt n 667 41 108 2 818
81,5 5,0 13,2 0,3 100,0

D S P 1 9 9 7 , 15. Jg. 97
Kcctt PiogncseDercienOfi focrigiuppe

Tabelle 2: Verteilung der Lockerungsempfehlungen und -entscheidungen


Entscheidung
Empfehlung Lockerung wie Lockerung mit Lockerung zunächst keine keine Angabe Gesamt n
beantragt Modifikation nicht genehmigt Entscheidung
genehmigt genehmigt
Lockerung wie 646 4 13 1 3 667
beantragt 98,0 8,2 12,7 25,0 100,0 81,5
genehmigt 96,5 0,7 2,0 0,2 0,6
Durchführung 9 31 1 0 0 41
mit Modifikation 1,4 63,2 0,9 0,0 0,0 5,0
empfohlen 22,0 75,6 2,4 0,0 0,0
Durchführung 4 14 87 3 0 108
der Lockerung 0,6 28,6 84,6 75,0 i 0,0 13,2
abgeraten 3,9 12,8 80,9 2,8 : 0,0

keine 0 0 2 0 ! 0 2
Empfehlung ; 0,0 0,0 1,8 0,0 0,0 \3
0,0 0,0 100,0 0,0 i 0,0 i
Gesamt n 659 49 103 4 3 818 ;
80,6 5,9 12,6 0,5 0,4 i 100,0 [

sichtlich der Untersuchung nicht „vorenthalten" wurden.


Zusammenfassung und Kommentar „Kommt also der im WZFP für Lockerungsentscheidungen
Mit dieser Praxis läßt sich zunächst angeben, inwieweit es ge- verwandten ,Checkliste' keine Korrektiv-Wirkung in dem Sin-
lungen ist, neben der mittlerweile elaborierten Beurtei- ne zu, daß therapeutische begründete Entscheidungen auf-
lungspraxis über das Mittel des Beurteilungsbogens als stand- grund der Erkenntnisse aus dem Beurteilungsbogen revidiert
ardisiertem Fragenkatalog die in der institutionellen Praxis werden - und davon kann anhand der Zahlen kaum die Rede
sonst eher unberücksichtigten situativen und diskursiven Vor- sein -, so liegt der Verdacht nahe, daß eine solche ,Checkliste'
aussetzungen des prognostischen Urteils- und Entschei- im wesentlichen dokumentarischen und legitimatorischen
dungsprozesses zu berücksichtigen (vgl. Kobbe 1996b, 377- Charakter hat. Die eigentliche Lockerungsentscheidung ist in
379). Immerhin sind derartige Praxen durch eine dialektische aller Regel schon gefallen, bevor der Beurteilungsbogen aus-
Problematik logischer Überstrukturierung zur Herstellung gefüllt wird."
ausreichender Urteilsdistanz geprägt und andererseits von Diesen kritischen Anmerkungen war nachzugehen: Heute
personenabhängigen Konzept- und Sprachstrukturen in der läßt sich anhand der Untersuchungszahlen für die Lok-
Teamentscheidung für einen Lockerungsantrag geprägt (vgl. kerungspraxis seit Dezember 1994 feststellen, daß bei insge-
Beckmann et al. 1974, 174). Angebbar sind so die institutio- samt 845 beantragten Lockerungen, davon 818 beratenen, in
nellen Routinen und Bedingungen, unter denen im Kontext immerhin 103 Fällen (= 12,6 %) keine Zustimmung erfolgte
„taktischer Planung eingreifenden Handelns" das verbal- und weitere 49 Fälle (= 5,9 %) nur mit bestimmten Modifi-
sprachliche „Hinaus-Kommunizieren" von verschiedenen kationen genehmigt wurden (vgl. Tab. 2). Gleichzeitig läßt
Kognitionstypen (Mitteilungen, Beschreibungen, Einschät- sich auch ersehen, daß die institutionsinterne Praxis nicht
zungen usw.) dergestalt erfolgen kann, daß es subjektbezogen, von der ausschließlichen Vorstellung der Bürgerinitiative do-
inhalüich differenziert, institutionskritisch, ergebnisorien- miniert ist, Sicherheit müsse „vor" Therapie gehen. Inwiefern
tiert, verantwortungsbewußt, zeitökonomisch und praktika- der äußere politische Druck (vgl. Fußnote 1) die prognose-
bel bleibt bzw. wird (Kaminski 1970, 476). beratenen Empfehlungen und die Lockerungsentscheidun-
Deutlich wird auch, daß mit der aktuellen Praxis eine Ver- gen beeinflußt, läßt sich - wie oben bereits skizziert - aus den
änderung gegenüber früheren Prognose- und Lockerungs- Zahlen letztlich nicht ablesen. Daß derartige Einflüsse als
bedingungen bewirkt wurde: Bei einer Betrachtung von 202 vorurteilsbedingendes Apriori eine Auswirkung auf die gut-
untersuchten Lockerungsentscheidungen kam der Westf. Ar- achterlichen Einstellungen und prognostischen Empfehlun-
beitskreis ,Maßregelvollzug' 1991 für das Westf. Zentrum für gen haben dürften, wurde u. a. von Leygraf (1994, 13) an-
Forensische Psychiatrie Lippstadt zu dem Ergebnis, daß le- läßlich der Überprüfung von Lockerungen nach der eingangs
diglich in 6 Fällen (= 3 %) eine auf Bereichs- oder Teamebe- skizzierten Tötung eines Mädchens durch einen Patienten be-
ne befürwortete Lockerung durch die damalige Leitende Är- schrieben:
ztin abgelehnt wurde und in weiteren 5 Fällen (= 2,4 %) die „Die Ergebnisse einer solchen Beurteilung können aber
Beurteiler selbst zu dem Schluß kamen, die beantragte Lok- nicht nur interindividuell, sondern auch intraindividuell di-
kerung solle nicht durchgeführt werden. Hierzu wies bereits vergieren, und zwar in Abhängigkeit von der aktuellen Dis-
Pollähne (1990, 54) daraufhin, daß der Beurteilungsbogen position des Gutachters. Während meiner Untersuchung im
„nicht einmal eine Korrektiv-Wirkung" entfalte, wenn man WZFP Lippstadt stand natürlich auch ich unter dem Ein-
davon ausgehe, daß alle abgelehnten Lockerungsentschei- druck des schrecklichen Vorfalls vom 22.09.94 und der darauf
dungen in die damalige Gesamterhebung eingingen und hin- beruhenden Atmosphäre von Verunsicherung und Angst, wel-

98 t l f 1 9 9 7 , 15. lg.
Kobbe.- P r o g n o s e b e t o t e n d e F o c h g r u p p e L i p p s t a d r - eine Zwischenbilanz

ehe nicht nur in der Bevölkerung; sondern auch innerhalb lungen unternimmt bzw. welche kriminogenen Situationen er
der Einrichtung selbst herrschte. herzustellen oder aufzusuchen tendiert, falls er entweicht.
Ich habe zwar versucht, mich bei der Beurteilung der ein- Einschränkend muß für diese Praxis der Prognosebera-
zelnen Patienten davon nicht beeinflußen zu lassen, bin mir tung allerdings darauf hingewiesen werden, daß hier nur die
aber sicher, daß dies zumindest nicht durchgängig gelungen beantragten Lockerungen auf Schlüssigkeit, Indikation und
ist. Es ist daher davon auszugehen, daß ich bei einigen Pari- Übereinstimmung hinsichtlich des die verbesserte Gefähr-
enten, bei denen ich im Rahmen der jetzigen Untersuchung lichkeitsprognose ergebenden Standes der Behandlung ge-
die Aufrechterhalrung der bisherigen Lockerung nicht emp- prüft und perspektivisch beraten werden. Nicht einbezogen
fehle, zu einem anderen Zeitpunkt und unter anderen situa- und nicht hinsichtlich der stations-/bereichsimernen Be-
tiven Rahmenbedingungen durchaus zu einer anderen Beur- schlußfassung diskutiert werden aktuell die dort bereits in-
teilung gekommen wäre." tern abgelehnten, für nicht verantwortbar gehaltenen Lok-
Feststellbar ist auch ein differenzierter Umgang mit unter- kerungen, die dementsprechend nicht zur Beantragung ge-
schiedlichen Lockerungsanträgen, was sich vermutlich u.a. langen. Hier wäre i.S. einer tatsächlichen Prognoseberatung
auf anlaßbezogene Kriterien für aufeinander aufbauende zu fordern, auch diese Fälle darauf hin zu prüfen, ob - ab-
Lockerungsformen zurückführen läßt. In einer diskrimi- weichend von der Überzeugung der Behandler - die Voraus-
nanzanalytischen Untersuchung setzungen für eine Lockerung vorliegen. Denn: Nur durch
. von 57 Beurteilungsbögen mit Antrag auf begleiteten Aus- eine umfassende Prognoseberatung auch dieser Fälle ließe
gang (1:1 oder Gruppe), sich die - unbekannte - Anzahl falsch-negativer Prognosen
• von 43 Beurteilungsbögen mit Antrag auf unbegleiteten reduzieren und eine effektive Beratung durch Qualifizierung
Ausgang sowie diskursiver Urteils- und Entscheidungsprozesse wie diagno-
. von 44 Beurteilungsbögen von Anträgen auf Beurlaubung stisch-prognostischer Standards verwirklichen.
ließen sich für Entscheidungen der jeweiligen Lok-
kerungsstufen unterschiedliche Kriteriengerüste errech-
nen (Kobbe 1996b, 327-338). So ergab sich eine deutliche Schluß
Änderung der kriteriellen Entscheidungswahl von der be- Für den institutionellen Alltag muß insgesamt festgestellt
gleiteten zur unbegleiteten Ausgangsform: Für die eine werden, daß die therapeutischen Standards, Inhalte und
Lockerung werden primär persönlichkeits-/störungs-/ Schwerpunkte von der Bürgermaxime, Sicherheit müsse „vor
krankheits- und therapiebezogene Eigenschaften berück- Therapie" gehen, und der in Ausschnitten skizzierten Praxis
sichtigt, wogegen für die darauffolgende Lockerungsstufe von Prognosestellung und Lockerungsentscheidung nicht
ein Perspektivenwechsel vorgenommen wird, der eine unbeeinflußt sein können: Vor 10 Jahren stellte Rasch (1986,
Focussierung auf deliktspezifische Aspekte beinhaltet. Die- 100) kritisch fest, „die Konzentration der Teamdiskussionen
ser Wechsel des Fokus ließe sich unter Berücksichtigung auf das Thema Lockerungen bei der Beurteilung eines Un-
der Art der Lockerung Gmit Begleitung' versus ,ohne Be- tergebrachten" vermittle in den Maßregelvollzugskliniken
gleitung') auf zwei hierdurch bedingte unterschiedliche „mitunter den paradoxen Eindruck, daß die wegen der ver-
Fragestellungen zurückführen: muteten Gefährlichkeit angeordnete Freiheitsentziehung ei-
• In der Lockerungsstufe II (2) wird angesichts des ersten gentlich nur den Sinn hat, die Gewährung von Lockerungen
Ausgangs danach gefragt, ob der Patient entweicht, d.h. zu ermöglichen". Die Reformentwicklung seit Verselbständi-
wie kontroll-, beziehungs- und kommunikationsfähig er ist gung des Westfälischen Zentrums für Forensische Psychiatrie
und insofern die emotionale Bindung an den Begleiter auf- Lippstadt legte ausdrücklich den Akzent auf die Professiona-
rechterhält. lisierung der Behandlung (Psychotherapie, Sozio- und Mi-
• Für die Lockerungsstufe III spielt hingegen unter dem lieugestaltung, Schulunterricht, Ergotherapie, Ausbildung)
Aspekt der wegfallenden Begleitung eine Rolle, was der sowie auf die Ressourcennutzung bzw. -Schaffung von Reha-
Patient tut, wenn er entweicht, d.h. welche Delikte von bilitations- und Reintegrationsmöglichkeiten. Dies droht an-
ihm zu befürchten und welche Tatdynamik ggf. zu erwar- gesichts einer von außen forcierten Lockerungsdiskussion -
ten ist. besser wohl Sicherungsdiskussion - der Öffentlichkeit, der
• Der nachfolgende Schritt hin zur Beurlaubung führt bei Medien und der Politik nicht nur entwertet, sondern dann
den Beurteilern dazu, daß sie einerseits diese letzten Kri- einseitig ins Gegenteil umgekehrt zu werden, wenn das öf-
terien in einer verkürzten Auswahl mitreflektieren, daß fentliche Interesse „Sicherheit" zunehmend gegen „Thera-
zweitens die therapeutische Einbindung des Patienten und pie" ausspielt bzw. andererseits pauschal „Behandlung" für
drittens die persönlichkeits- bzw. krankheits- oder stö- alle Täter - ganz gleich, ob krank oder gesund - als Pflicht
rungsabhängigen Problembereiche beachtet werden. fordert.

Herauszustellen ist bereits für die aktuelle Prognose- und


Lockerungspraxis, daß hier ein explizit gewollter Kriterien-
wechsel vorgenommen wurde: Ausdrücklich wird nicht
(mehr) die eher situations- denn persönlichkeitsabhängige
Frage erörtert, ob der Patient entweicht, sondern die Frage
danach gestellt, was der einzelne Patient an strafbaren Hand-

l l t 1997, 15 Jj. 9?
Anmerkungen tens im reformierten Maßregelvollzug. Pabsi Science Pub!., Lcng::-
1 Zu rechtlichen Aspekte siehe Editorial der R&P-Redaktion in R&P rich 1996
13. Jg. (1995) H.2, 53-5-4; zu institutionellen und therapeutischen Leygraf, N. 1994: Überprüfung der Vollzugslockerungen im Westfä-
Auswirkungen siehe Dimmck & Kobbc (1995) und Robbe (1996a, lischen Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt. Institut für
128-130). Forensische Psychiatrie, Universität GH Essen. 01.12.94
2 Ah Lockcrungsstufc I wurde aus methodischen Gründen der Daten- Pollahne, H. 1990: Zur KalkuUcrbarkcit des Risikos bei Lockerungen im
aufbereitung die Verlegung von der Aufnahme- auf eine Behand- Maßregelvolizug. In: Boor, ^Ä'. De (Hrsg.): Zur Problematik von
iungsstanon bezeichnet; die Lockcrungsstufen II, III und IV bezeich- Y'oUzugslockerungcn und bedingten Entlassungen be: Aggressionslä-
nen begleitete Ausginge (II), unbeglcitete Ausginge (HI) und Beur- tem. VTicnand, Köln (1990) 41-67
laubungen (IV}. Pollahne, H. 1992: Lockerungen im Maßrcgclvolizug am Beispie! des
^"cstf. Zentrums für Forensische Psychiatrie Ljppstadt. Ergebnisse
eines Forschungsprojcktes aus juristischer Sicht. In: Schumann, V. et
Literatur al. (1992) a.a.O., S. 17-38
Beckmann, D. & Müller-Braunschweig, H.& Plaum, EG. 1974: For- Rasch, VT. 1986: Die Funktion von Lockerungen im .Maßregelvolizug. In:
schung m der Psychoanalyse. In. Schraml, \T.J. & Baumann, U. Pohlmcicr, H. & Deutsch, E. & Schreiber, H.-L. (Hrsg.): Forensische
(Hrsg.) 197-4: Klinische Psychologie II. Methoden, Ergebnisse und Psychiatrie heute. Ulrich Venzlaff zum 65. Gebunstag. Springer. Ber-
Probleme der Forschung. Huber, Bern.Sruttgart/VFicn (1974) lin'Heidclbcrg.New York (1986) 99-107
S. 168-207 Schumann, V. & Albrecht, P.-A. & Dimmek, B. (Hrsg.) 1992: Das Risiko
Dunmek, B. & Kobbc, U. 1995: Zur Instrumentalisierung von Psychia- kalkulieren ... Patientenbeuneüung und Lockerungsenischeidung als
trie und Psychologie durch Recht und Öffentlichkeit aus msntuti- implizite Gefahrlichkeusprognose. Werkstartschnft zur Forensischen
onsmiemcr Sicht: Das Beispiel Eickclborn. Vortrag. 10. Forensische Psychiatrie Nr. 4. Lippstadt-Eickelborn 1992
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