Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
R S P 1 9 9 7 , 15. Jg. 95
Robbe": Ptognoseberolende Fachgruppe Uppstadt - eine Zwischenbilanz
8 5 P 1997, 15 lg
Picsnoseberaiende Fachgruppe lip:sfac: - eine 2 w t $ c h e n b i i
kerungen bzw. Maßnahmen, von denen in 822 Fällen von der die nur l D, l % der Anträge ausmachenden Beurlaubungen
Prognoseberaienden Fachgruppe Empfehlungen gegeben bezieht. Nicht entscheidbar ist allerdings, ob und inwieweit
wurden. Die Differenz von 23 Anträgen erklärt sich wie folgt: es sich um einen u.U. zu defensiven, übervorsichtigen Pro-
• In 2 Fällen war bei demselben Patienten eine eindeutige gnosestil handelt oder ob ein u.U. zu optimistisches Antrags-
Empfehlung nicht möglich: Die zu treffende Güterabwä- verhalten vorliegt, das durch ein Wissen um die nachfolgende
gung zwischen vergleichsweise geringen Straftaten bei Prognoseberatung mitbedingt wird.
Rückfalldelinquenz und indiziertem Lockerungsversuch
war eine Frage der Risikobereitschaft des Ltd. Arztes und
der Ltd. Pflegekraft, nicht der Prognoseberatung. Der Einfluß der Prognoseberatung
• In 14 Fällen erlaubten die beigefügten Unterlagen aus un- Tabelle 2 (s. Seite 98) stellt den Zusammenhang von Lok-
terschiedlichen Gründen keine qualifizierte Empfehlung kerungsempfehlung und Lockerungsentscheidung dar. Deut-
(fehlende oder widersprüchliche Angaben). lich wird, daß sich die Entscheidung in der Mehrzahl der Fäl-
• In 7 Fällen gelangten die Anträge nicht zur Prognosebera- le an vorhergehenden Empfehlungen orientiert:
tung, sondern erfolgte - z.B. an Feiertagen oder bei zeitlich • befürwortende Empfehlung wird in 96,5 % der Fälle ge-
dringend gebotenen Maßnahmen wie Operation m exter- nehmigt,
ner Klinik u.a. - eine Entscheidung direkt. • vorgeschlagene Modifikation zu 75,6 % ebenfalls nur mit
Änderung der beantragten Lockerung genehmigt,
Tabelle l gestattet eine Übersicht über die beantragten Lok- • abratende Empfehlung zu 80,9 % i.S. einer Ablehnung
kerungen und die jeweilige Empfehlung der Prognosebera- entschieden.
tenden Fachgruppe, wobei die Statistik um 4 Fälle bereinigt
wurde, da es sich nicht um Lockerungen im oben definierten Daß hierbei befürwortende Empfehlungen von den Entschei-
Sinne, sondern um Erweiterungen oder andere Maßnahmen dungsträgern fast immer positiv entschieden werden, er-
handelt (2 Verlegungen auf eine offene Station, 2 Verlänge- staunt nicht. Interessant ist vielmehr, daß knapp 17 % der
rungen der abendlichen Ausgangszeit). Fälle, in denen prognoseberatend von der Lockerung abge-
Deutlich wird an den Fallzahlen, daß die begleiteten Aus- raten wurde, mit (12,8 %) oder ohne (3,9 %) Modifikation
gänge (n = 518) mit insgesamt 63,4 % die Antragspraxis der der beantragten Lockerung genehmigt wurden: Hier geben
Institution charakterisieren. Hieraus dürfen jedoch keine die 4 Fälle, in denen (zunächst) keine Entscheidung erfolgte,
Rückschlüsse auf die aktuelle Lockerur.gspraxis gezogen wer- einen Hinweis auf die diskursive Entscheidungspraxis: Wie sie
den, da die Fälle der Patienten mit unbegleitetem Ausgang wurden alle zweifelhaften, d.h. alle 110 prognostisch proble-
oder Beurlaubung in diesen Zahlen der zuvor zu durchlau- matisiertern Fälle vom Leitenden Arzt und der Leitenden
fenden begleitenden Lockerungsformen mit enthalten sind. Pflegekraft in Rücksprachen mit den Bereichsleitern hinsicht-
Das Empfehlungsverhalten der Prognoseberatenden lich der deliktrelevant erscheinenden Gesichtspunkte disku-
Fachgruppen läßt sich anhand der Zahlen ablesen: Obwohl tiert, ggf. bezüglich aufgeworfener Fragen durchgesprochen
die unbegleitete Ausgangsform des Einzelausgangs nur knapp und geklärt. Das heißt, in 18 von 110 Fällen (= 16,4 %) wur-
ein Fünftel (21,5 %) der beantragten Lockerungen aus- den anschließend positive Lockerungsentscheidungen gefällt,
macht, erfolgten hier mit fast einem Drittel (30,5 %) die mei- da sich die Bedenken der Prognoseberater ausräumen ließen.
sten negativen Empfehlungen bzw. fast der Hälfte (46,3 %)
der Modifikationsvorschläge. Ähnlich auffällig ist, daß sich
ein weiteres Drittel der Änderungsvorschläge (34,1 %) auf
D S P 1 9 9 7 , 15. Jg. 97
Kcctt PiogncseDercienOfi focrigiuppe
keine 0 0 2 0 ! 0 2
Empfehlung ; 0,0 0,0 1,8 0,0 0,0 \3
0,0 0,0 100,0 0,0 i 0,0 i
Gesamt n 659 49 103 4 3 818 ;
80,6 5,9 12,6 0,5 0,4 i 100,0 [
98 t l f 1 9 9 7 , 15. lg.
Kobbe.- P r o g n o s e b e t o t e n d e F o c h g r u p p e L i p p s t a d r - eine Zwischenbilanz
ehe nicht nur in der Bevölkerung; sondern auch innerhalb lungen unternimmt bzw. welche kriminogenen Situationen er
der Einrichtung selbst herrschte. herzustellen oder aufzusuchen tendiert, falls er entweicht.
Ich habe zwar versucht, mich bei der Beurteilung der ein- Einschränkend muß für diese Praxis der Prognosebera-
zelnen Patienten davon nicht beeinflußen zu lassen, bin mir tung allerdings darauf hingewiesen werden, daß hier nur die
aber sicher, daß dies zumindest nicht durchgängig gelungen beantragten Lockerungen auf Schlüssigkeit, Indikation und
ist. Es ist daher davon auszugehen, daß ich bei einigen Pari- Übereinstimmung hinsichtlich des die verbesserte Gefähr-
enten, bei denen ich im Rahmen der jetzigen Untersuchung lichkeitsprognose ergebenden Standes der Behandlung ge-
die Aufrechterhalrung der bisherigen Lockerung nicht emp- prüft und perspektivisch beraten werden. Nicht einbezogen
fehle, zu einem anderen Zeitpunkt und unter anderen situa- und nicht hinsichtlich der stations-/bereichsimernen Be-
tiven Rahmenbedingungen durchaus zu einer anderen Beur- schlußfassung diskutiert werden aktuell die dort bereits in-
teilung gekommen wäre." tern abgelehnten, für nicht verantwortbar gehaltenen Lok-
Feststellbar ist auch ein differenzierter Umgang mit unter- kerungen, die dementsprechend nicht zur Beantragung ge-
schiedlichen Lockerungsanträgen, was sich vermutlich u.a. langen. Hier wäre i.S. einer tatsächlichen Prognoseberatung
auf anlaßbezogene Kriterien für aufeinander aufbauende zu fordern, auch diese Fälle darauf hin zu prüfen, ob - ab-
Lockerungsformen zurückführen läßt. In einer diskrimi- weichend von der Überzeugung der Behandler - die Voraus-
nanzanalytischen Untersuchung setzungen für eine Lockerung vorliegen. Denn: Nur durch
. von 57 Beurteilungsbögen mit Antrag auf begleiteten Aus- eine umfassende Prognoseberatung auch dieser Fälle ließe
gang (1:1 oder Gruppe), sich die - unbekannte - Anzahl falsch-negativer Prognosen
• von 43 Beurteilungsbögen mit Antrag auf unbegleiteten reduzieren und eine effektive Beratung durch Qualifizierung
Ausgang sowie diskursiver Urteils- und Entscheidungsprozesse wie diagno-
. von 44 Beurteilungsbögen von Anträgen auf Beurlaubung stisch-prognostischer Standards verwirklichen.
ließen sich für Entscheidungen der jeweiligen Lok-
kerungsstufen unterschiedliche Kriteriengerüste errech-
nen (Kobbe 1996b, 327-338). So ergab sich eine deutliche Schluß
Änderung der kriteriellen Entscheidungswahl von der be- Für den institutionellen Alltag muß insgesamt festgestellt
gleiteten zur unbegleiteten Ausgangsform: Für die eine werden, daß die therapeutischen Standards, Inhalte und
Lockerung werden primär persönlichkeits-/störungs-/ Schwerpunkte von der Bürgermaxime, Sicherheit müsse „vor
krankheits- und therapiebezogene Eigenschaften berück- Therapie" gehen, und der in Ausschnitten skizzierten Praxis
sichtigt, wogegen für die darauffolgende Lockerungsstufe von Prognosestellung und Lockerungsentscheidung nicht
ein Perspektivenwechsel vorgenommen wird, der eine unbeeinflußt sein können: Vor 10 Jahren stellte Rasch (1986,
Focussierung auf deliktspezifische Aspekte beinhaltet. Die- 100) kritisch fest, „die Konzentration der Teamdiskussionen
ser Wechsel des Fokus ließe sich unter Berücksichtigung auf das Thema Lockerungen bei der Beurteilung eines Un-
der Art der Lockerung Gmit Begleitung' versus ,ohne Be- tergebrachten" vermittle in den Maßregelvollzugskliniken
gleitung') auf zwei hierdurch bedingte unterschiedliche „mitunter den paradoxen Eindruck, daß die wegen der ver-
Fragestellungen zurückführen: muteten Gefährlichkeit angeordnete Freiheitsentziehung ei-
• In der Lockerungsstufe II (2) wird angesichts des ersten gentlich nur den Sinn hat, die Gewährung von Lockerungen
Ausgangs danach gefragt, ob der Patient entweicht, d.h. zu ermöglichen". Die Reformentwicklung seit Verselbständi-
wie kontroll-, beziehungs- und kommunikationsfähig er ist gung des Westfälischen Zentrums für Forensische Psychiatrie
und insofern die emotionale Bindung an den Begleiter auf- Lippstadt legte ausdrücklich den Akzent auf die Professiona-
rechterhält. lisierung der Behandlung (Psychotherapie, Sozio- und Mi-
• Für die Lockerungsstufe III spielt hingegen unter dem lieugestaltung, Schulunterricht, Ergotherapie, Ausbildung)
Aspekt der wegfallenden Begleitung eine Rolle, was der sowie auf die Ressourcennutzung bzw. -Schaffung von Reha-
Patient tut, wenn er entweicht, d.h. welche Delikte von bilitations- und Reintegrationsmöglichkeiten. Dies droht an-
ihm zu befürchten und welche Tatdynamik ggf. zu erwar- gesichts einer von außen forcierten Lockerungsdiskussion -
ten ist. besser wohl Sicherungsdiskussion - der Öffentlichkeit, der
• Der nachfolgende Schritt hin zur Beurlaubung führt bei Medien und der Politik nicht nur entwertet, sondern dann
den Beurteilern dazu, daß sie einerseits diese letzten Kri- einseitig ins Gegenteil umgekehrt zu werden, wenn das öf-
terien in einer verkürzten Auswahl mitreflektieren, daß fentliche Interesse „Sicherheit" zunehmend gegen „Thera-
zweitens die therapeutische Einbindung des Patienten und pie" ausspielt bzw. andererseits pauschal „Behandlung" für
drittens die persönlichkeits- bzw. krankheits- oder stö- alle Täter - ganz gleich, ob krank oder gesund - als Pflicht
rungsabhängigen Problembereiche beachtet werden. fordert.
l l t 1997, 15 Jj. 9?
Anmerkungen tens im reformierten Maßregelvollzug. Pabsi Science Pub!., Lcng::-
1 Zu rechtlichen Aspekte siehe Editorial der R&P-Redaktion in R&P rich 1996
13. Jg. (1995) H.2, 53-5-4; zu institutionellen und therapeutischen Leygraf, N. 1994: Überprüfung der Vollzugslockerungen im Westfä-
Auswirkungen siehe Dimmck & Kobbc (1995) und Robbe (1996a, lischen Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt. Institut für
128-130). Forensische Psychiatrie, Universität GH Essen. 01.12.94
2 Ah Lockcrungsstufc I wurde aus methodischen Gründen der Daten- Pollahne, H. 1990: Zur KalkuUcrbarkcit des Risikos bei Lockerungen im
aufbereitung die Verlegung von der Aufnahme- auf eine Behand- Maßregelvolizug. In: Boor, ^Ä'. De (Hrsg.): Zur Problematik von
iungsstanon bezeichnet; die Lockcrungsstufen II, III und IV bezeich- Y'oUzugslockerungcn und bedingten Entlassungen be: Aggressionslä-
nen begleitete Ausginge (II), unbeglcitete Ausginge (HI) und Beur- tem. VTicnand, Köln (1990) 41-67
laubungen (IV}. Pollahne, H. 1992: Lockerungen im Maßrcgclvolizug am Beispie! des
^"cstf. Zentrums für Forensische Psychiatrie Ljppstadt. Ergebnisse
eines Forschungsprojcktes aus juristischer Sicht. In: Schumann, V. et
Literatur al. (1992) a.a.O., S. 17-38
Beckmann, D. & Müller-Braunschweig, H.& Plaum, EG. 1974: For- Rasch, VT. 1986: Die Funktion von Lockerungen im .Maßregelvolizug. In:
schung m der Psychoanalyse. In. Schraml, \T.J. & Baumann, U. Pohlmcicr, H. & Deutsch, E. & Schreiber, H.-L. (Hrsg.): Forensische
(Hrsg.) 197-4: Klinische Psychologie II. Methoden, Ergebnisse und Psychiatrie heute. Ulrich Venzlaff zum 65. Gebunstag. Springer. Ber-
Probleme der Forschung. Huber, Bern.Sruttgart/VFicn (1974) lin'Heidclbcrg.New York (1986) 99-107
S. 168-207 Schumann, V. & Albrecht, P.-A. & Dimmek, B. (Hrsg.) 1992: Das Risiko
Dunmek, B. & Kobbc, U. 1995: Zur Instrumentalisierung von Psychia- kalkulieren ... Patientenbeuneüung und Lockerungsenischeidung als
trie und Psychologie durch Recht und Öffentlichkeit aus msntuti- implizite Gefahrlichkeusprognose. Werkstartschnft zur Forensischen
onsmiemcr Sicht: Das Beispiel Eickclborn. Vortrag. 10. Forensische Psychiatrie Nr. 4. Lippstadt-Eickelborn 1992
Herbsrtagung. Univ. München, 27.-28.10.95 Speier, R. & Nedopil, K. 1992: Abweichungen zwischen Fremd- und
Kaminski, G. 1970: Verhaltensthconc und Verhaltensmodifikarion. Ent- Selbstbild bei persönlictikeitsgestönen Sexualdelinquenten und ihre
wurf einer integranvcn Thcone psychologischer Praxis. Kien, Stutt- Relevanz bei Prognoseentscheidungen. In: MschrKrim, 75.Jg. (1992)
gart 1970 H.l, S. 1-9
Kobbe, U. 1990: Lockerungen im .Maßregelvollzug am Beispiel des Westf. Arbeitskreis ,.Maßregelvollzug 1991: Lockerungen im Maßregel-
Wesrf. Zentrums für Forensische Psychiatrie Lippstadt. Ergebnisse Vollzug (§ 63 StGB) ein kalkuliertes Risiko- In: NStZ. 11 Jg. (1992)
eines Forschungsprojektes aus therapeutischer Sicht. In: Schumann, H.2, S. 64-70
V. et al. (1992) a.a.O., S. 39-61
Kobbe, U. 1996a: Psychiatrie als Stundenhotel oder Das forensische
Subjekt als Zeitwaise. Autodafe zur Fragmentierung, Stigmatisie-
rung, Serialisierung im Maöregelvoilzug. In: WsFPP, 3Jg. (1996)
H.l, S. 117-142
Kobbe, U. 1996b: Zwischen gefährlichem Irresein und gefahrvollem Irr-
tum. Determinanten, (Kon)Texte, Praxis des Emscheidungsverhal-