Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Auf der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit hat der Kardinal Ni-
kolaus von Kues in seinem alle Wissensgebiete der Zeit umfassenden Den-
ken Impulse ausgelöst, die mehr im Verborgenen und Anonymen, aber
doch durch die Jahrhunderte nach seinem Tode in der Geistesgeschichte
ihre Wirkungskraft bewiesen haben. Wenn die Stellung und Bedeutung
des Cusaners in der Philosophiegeschichte auch recht unterschiedlich beur-
teilt wird, wobei die jeweilige Sicht und Wertung der Leitgedanken des
cusanischen Denkens eine erhebliche Rolle spielt, so ist doch in der neue-
ren Cusanusforschung deutlich geworden, wie das neuzeitliche Denken
seit der Renaissance über Giordano Bruno, Leibniz, Descartes, Spinoza,
Schelling und Hegel mit den Grundlagen der cusanischen Philosophie zu-
sammenhängt1. Diese Verbindungslinien beruhen nicht auf einem unmit-
telbaren Aufgreifen und Weiterdenken des cusanischen Gedankengutes,
sondern sind nur in vermittelter Gestalt nachweisbar. Der Italiener Gior-
dano Bruno ist der Haupttradent der Philosophie des Kardinals an die
deutsche Geistesgeschichte. In Brunos Schriften aber hatte schon jener Um-
sdimelzungsprozeß des cusanischen Denkens stattgefunden, der aus dem
spannungsreichen dialektischen Bezug von Gott und Welt, wie er in den
beiden Hauptgedanken von der coincidentia oppositorum und der Lehre
von der complicatio und explicatio bei Cusanus erscheint, ein pantheisti-
sches Einheitsdenken entstehen ließ. Nur in dieser mittelbaren, durch
Bruno vermittelten Gestalt, in der die cusanisdie Philosophie ihrer charak-
1
Für die Stellung des Nikolaus von Kues in der Philosophie- und Geistesgeschichte
und als Wegbereiter neuzeitlichen Denkens sei als wichtigste Literatur genannt: E.
Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig u.
Berlin 1927; E. Hoffmann, Das Universum des Nicolaus von Cucs, Sitzungsberichte
der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-histor. Klasse, 1929/30; ders.,
Nikolaus von Cues, Zwei Vorträge, Heidelberg 1947; J. Ritter, Die Stellung des
Nicolaus von Cues in der Philosophicgeschichte. Grundsätzlichere Probleme der
neueren Cusanusforschung, in: Blätter f. Deutsche Philosophie, Bd. 13, 1939; P. Bom-
mersheim, Nikolaus von Kues und der religiöse Ursprung des Geistes der Neuzeit,
in: Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie (Neue Folge des Logos) 9, 1943; K. H.
Volkmann-Schluck, Nikolaus Cusanus, Die Philosophie im Übergang vom Mittel-
alter zur Neuzeit, Frankfurt a. M. 1957; E. Metzke, Nicolaus von Cues und Hegel,
in: Coincidentia oppositorum. Gesammelte Studien zur Philosophiegeschichte, For-
schungen und Berichte der evangcl. Studiengcrneinschaft, Bd. 19, Witten (Ruhr) 1961;
W. Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Pfullingen 1957; ders., Das Pro-
blem der absoluten Reflexion, Frankfurt a. M. 1962; J. Stallmach, Ansätze neuzeit-
lichen Philosophierens bei Cusanus, in: Das Cusanus-Jubiläum, die wissenschaftl. Re-
ferate, hrsg. von R. Haubst, Mainz 1964.
2
Den Beziehungen zwischen Cusanus und Luther über die Mittlerrolle des Faber Sta-
pulensis ist besonders R. Weier nachgegangen: R. Weier, Der Einfluß des Nicolaus
Cusanus auf das Denken Martin Luthers, in: Das Cusanus-Jubiläum, S. 214—229;
ders., Das Thema vom verborgenen Gott von Nikolaus von Kues zu Martin Luther,
Münster 1967; vgl. auch den wichtigen Aufsatz E. Metzkes, Nicolaus von Cues und
Martin Luther (Aus dem Nachlaß) in: Coincidentia oppositorum, S. 205 ff.
3
Wolken. Ein Nachspiel sokratischer Denkwürdigkeiten. 1761. (Sämtl. Werke, hrsg.
von J. Nadler, Bd. II, S. 98, Wien 1950.
zip nicht auf Cusanus, sondern auf Giordano Bruno zurück, aber wie
schon bei Leibniz lebte in Hamanns Denken der echte cusanische Geist.
Der charakteristische doppelseitige Aspekt des Koinzidenzgedankens bei
Cusanus, der einem selbstsicheren angeblichen Bescheidwissen über Gott
und Welt ebenso die Tür zuschlug, wie er für das Denken aus der Einsicht
in die Koinzidenz aller Gegensätze in Gott neue Wege wies, wurde durch
Hamann wieder neu zum Ausdruck gebracht. Nicht nur als Kampfmittel
gegen den Geist der Zeit, sondern auch als positiver Hinweis für die Mög-
lichkeiten lebendigen Denkens erscheint somit das cusanische Grundmotiv
in der neueren Geistesgeschichte, ohne daß man den eigentlichen Urheber
kannte. Bei dem Bemühen um eine Erneuerung des Denkens im umfassen-
den Sinne aber steht am Anfang des 19. Jahrhunderts ein Mann in vorder-
ster Reihe: Sdileiermadier. Es ist in vieler Hinsicht sehr aufschlußreich,
das anonyme Fortwirken cusanisdier Intentionen gerade bei Sdileier-
madier aufzuspüren, da die Hauptproblemstellungen seines theologischen
und philosophischen Denkens durch die Konfrontation mit Cusanus in
ein klärendes Licht gerückt werden. Eine bewußte Kenntnis der cusani-
sdien Philosophie hatte auch Sdileiermadier nicht und seine an Cusanus
anklingenden Gedankengänge werden gewöhnlich seinem »Spinozismus«
zugeredinet4. Doch wenn es echte, ursprüngliche Geistesverwandtschaft in-
mitten der einmaligen und unwiederholbaren Konstellationen der Ge-
schichte gibt, die unabhängig von literarischem Einfluß und bewußter
Kenntnis existiert, so besteht eine solche zwischen Cusanus und Sdileier-
madier. Im folgenden sollen einige streiflichtartige Erwägungen über die
Probleme ausgeführt werden, die sich mit dem »und« bei dem Thema:
Cusanus und Sdileiermadier stellen.
Die vielfältigen philosophisch-theologischen Bezugsmomente zwi-
schen Cusanus und Sdileiermadier bekommen ihr charakteristisches Ge-
präge und ihre innere Konsequenz von der Mitte ihres jeweiligen Den-
kens her. Es ist ein bestimmendes Merkmal der Verwandtschaft im Denken
zwischen Cusanus und Sdileiermadier, daß beide von einer Grunderkennt-
nis ausgehen, die sich wie ein roter Faden durch alle Gebiete ihres umfang-
reichen geistigen Schaffens hindurchzieht. Diese Zentralansdiauung ist
aber jeweils nicht als eine starre Formel, sondern als eine lebendige Kraft-
quelle zu verstehen, die sich in verschiedenen Variationen auswirken und
in gegensätzlich erscheinenden Positionen ihre Dynamik und Dialektik
bewähren kann. Bei Cusanus wie Sdileiermadier konkretisiert sich diese
Grundrichtung des Denkens am Verhältnis Gott-Welt. Wir vergegenwär-
tigen uns zunächst die cusanische Denkbewegung an den ersten beiden
Büchern von »De docta ignorantia«, in denen das Gott-Welt-Problem
4
Vgl. die kurzen Andeutungen über Cusanus und Sdileiermadier bei E. HofTmann,
Zwei Vorträge, S. 62 f.
erstmals klar entfaltet wird und das Fundament auch für die späteren
Werke des Kardinals gelegt ist.
Die Philosophie des Cusanus beginnt mit einer neuen, die aristote-
lisch-scholastischen Denkkategorien sprengenden Verhältnisbestimmung
zwischen dem sinnlichen und intelligiblen Bereich, zwischen Unendlichem
und Endlichem, Gott und Welt. Beide Bereiche werden jetzt durch einen
radikalen Trennungsstrich voneinander geschieden, so daß sie zueinander
nur noch im Verhältnis ihres gegenseitigen Ausschlusses stehen: »finiti et
infiniti nulla proportio«5. Die Bedeutung dieser cusanisdien Trennungs-
lehre im Rahmen des spätmittelalterlichen Denkens und die vielfachen
Konsequenzen, die sich aus ihr besonders für das Weltbild ergeben,
sind in der Cusanusforschung eingehend gewürdigt worden; sie sollen
hier außerhalb des Blickfeldes bleiben6. Unsere Fragestellung richtet
sich vornehmlich auf den Weg, auf dem Cusanus zu der mit den Termini
»docta ignorantia« und »coincidentia oppositorum« bezeichneten Grund-
einsicht gekommen ist. Schon die ersten Sätze von »De docta ignorantia«
zeigen, daß der Schnitt, mit dem das cusanische Denken die absolute Ein-
heit von der gegensätzlichen Welt der Erscheinungen trennt, auf einer er-
kenntnistheoretischen Reflexion beruht. Wenn man die Geschichte der
Philosophie der Subjektivität mit Cusanus beginnen läßt, so ist damit der
große Wendepunkt bezeichnet, von dem aus das Denken nicht mehr nur
nach dem Gewußten und zu Wissenden, sondern nach dem Wissen selber
fragt, d. h. sich seiner eigenen Voraussetzungen, Möglichkeiten und not-
wendigerweise auch seiner Grenzen bewußt wird7. Diese Verknüpfung des
Gott-Welt-Problems mit der Einsicht in die Bedingungen menschlicher Er-
kenntnis ist ein die Fragestellungen der nachfolgenden Zeit bestimmen-
des Vermächtnis cusanischen Denkens. Die Entrückung Gottes in eine dem
menschlichen Erkennen schlechterdings unzugängliche Ferne erfolgt nicht
in der Intention einer Selbstbemächtigung des Menschen anstelle der All-
macht Gottes, sondern liegt vielmehr in der Konsequenz des sich seiner
Endlichkeit bewußt werdenden Menschen. Gerade erst mit der Einsicht in
die dem Menschen unüberschreitbar gesetzte Grenze (docta ignorantia)
wird der Wirklichkeit Gottes Rechnung getragen, die alle unsere endlichen
Bestimmungen durchbricht. Am Schluß des ersten Buches von »De docta
ignorantia« wird die unfaßbare Mächtigkeit Gottes in der Weise einer
theologia negationis gepriesen.
5
Doct. ignor. I, l, 194 (zitiert nach der Studien- und Jubiläumsausgabe: Nikolaus von
Kues, Philosophisch-theologische Schriften, hrsg. von Leo Gabriel, Wien 1964. Bd. I.
Angegeben sind Buch, Kapitel und Seite.).
6
Vgl. besonders die Cusanus-Darstellungen von E. Cassirer und E. Hoffmann.
7
Auf die Stellung des Cusanus zum Erkenntnisproblem im Zusammenhang des neu-
zeitlichen Denkens verweisen vor allem E. Cassirer, E. Hoffmann, K. H. Volkmann-
Schluck und J. Stallmach.
Wahrheit für den endlichen Geist kann durch keine noch so lange Reihe
von Schlußfolgerungen und Denkschritten zugänglicher gemacht werden.
Cusanus unterscheidet klar einen progressus in infinitum, der nie den Be-
reich der comparatio und superlatio verläßt, von dem qualitativ als »An-
dersheit« bestimmten Unendlichen, zu dem keine Annäherung möglich ist.
»Intellectus igitur, qui non est veritas, numquam veritatem adeo praecise
comprehendit, quin per infinitum praecisius comprehendi possit, habens
se ad veritatem sicut polygonia ad circulum, quae quanto inscripta plu-
rium angulorum fuerit, tanto similior circulo. Numquam tarnen efficitur
aequalis, etiam si angulos usque in infinitum multiplicaverit, nisi in iden-
titatem cum circulo se resolvat«10.
Die unaufhörliche Bewegung zwischen einem So-Sein und Anders-
Sein ist das Wesensmerkmal des empirischen Bereichs, der gerade in die-
ser »Grenzenlosigkeit des Werdens«11 seine Bestimmung hat. In der an
kein Ende gelangenden Bestimmbarkeit der Erkenntnisgegenstände kann
es keine praecisio, sondern immer nur eine Mutmaßung (coniectura) ge-
ben. Die absolut in sich selbst bestehende Bestimmtheit ist das Zeichen des
Ideellen, in dem die endlichen Unterschiede und Gegensätze aufgehoben
sind.
Mit dieser scharfen Trennung zwischen finitum und infinitum ist aber
erst die eine Seite jenes Zentralgedankens erfaßt, der — von einer erkennt-
nistheoretischen Reflexion ausgehend — das Gott-Welt-Verhältnis bei Cu-
sanus charakterisiert. Die Trennungslehre ist der nie aufgegebene oder ab-
geschwächte Standpunkt in allen Schriften des Kardinals, jedoch darf sie
nicht isoliert, sondern nur im Bezug auf ein anderes Lehrstück12 gesehen
werden. Es handelt sich hier um die zwei Gedankenhälften eines sachlich
notwendigen Zusammenhanges. Wiederum gewinnt das cusanische Den-
ken diesen zweiten Aspekt aus der Reflexion über das menschliche Er-
kenntnisvermögen. Insbesondere ist es die mathematische mens, die für
Cusanus zur Signifikation jenes Grundbezuges wird, in dem alles End-
liche, Relative am Unendlichen, Absoluten partizipiert. Neben der Tren-
nung herrscht jetzt das Verhäknis der Teilhabe, und zwar so, daß beide
Gedanken sich nicht ausschließen, sondern vielmehr gegenseitig fordern.
Ein dem Kreis eingeschriebenes Vieleck wird als unendliches Polygon mit
dem Kreis identisch, jedoch geschieht solche Koinzidenz der gegensätz-
lichen geometrischen Figuren nur im mathematischen Gedanken. Mit der
10
»Intellectus igitur, qui non est veritas, numquam veritatem adeo praecise compre-
hendit, quin per infinitum praecisius comprehendi possit, habens se ad veritatem
sicut polygonia ad circulum, quae quanto inscripta plurium angulorum fuerit, tanto
similior circulo. Numquam tarnen efficitur aequalis, etiam si angulos usque in infini-
tum multiplicaverit, nisi in identitatem cum circulo se resolvat.« (Doct. ignor. I, 3,
202).
11
Cassirer a.a.O. S. 22.
12
Unter »Lehrstück« ist hier keine fest abgegrenzte »Lehre« gemeint, sondern ein
Hauptaspekt im cusanischen Denken.
Cassirer a.a.O. S. 24 f.
28
»Jedes Leben ist ein beständiges Werden; es soll kein Stillstand darin sein, es soll
weiterkommen und in ununterbrochener Entwicklung fortschreiten.« (An H. Herz,
17. 12. 1803, Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd. I, 1858, S. 402).
29
Der Begriff »Oszillation« ist Schleiermacher von Schelling herangetragen worden.
Auch nach der Zeit der Wirkung Schellings auf Schleiermacher bleibt er der entschei-
dende Ausdruck für die Wesensbestimmung aller Bereiche des endlichen Lebens. »Die
Oszillation ist ja die allgemeine Form alles endlichen Daseins, . . . ich habe in diesem
Schweben die ganze Fülle meines irdischen Lebens« . . . »Wir können einmal aus
dem Gegensatz zwischen dem Idealen und dem Realen . . . nicht heraus.« (Schleier-
macher an Jacobi, 30. 3. 1818, Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, II, 1858,
S. 343 f.).
30
Der Sachverhalt der oszillierenden Bewegung ist in der neueren Schleiermacherfor-
schung besonders von W. Schultz betont worden. Er weist hinsichtlich der harmoni-
sierenden Grundtendenz in der Oszillation auf die Nähe zu Leibniz und das grie-
chische Denken hin und sieht in dieser Denkstruktur Schleiermachers »die theologische
wie auch philosophische Grundformel seines gesamten Schaffens, die seiner Glaubens-
lehre wie seiner Ethik und Dialektik zugrunde liegt.« (W. Schultz, Die unendl. Bewe-
gung in der Hermeneutik Schleiermachers, in: ZThK, 65. Jahrg. 1968, Heft l, S. 26;
vgl. auch Das griechische Ethos in Schleiermachers Reden und Monologen, in:
NZSTh, 10. Bd. 1968, Heft 3, S. 284).
31
Monologen, hrsg. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1953. Seitenzahlen nach der Ur-
ausgabe 1800.
die auch unter den Bezeichnungen »das Eine«86, »der Weltgeist«87 und »das
Ewige«38 erscheint. Durch seine unaufhörliche Selbstindividualisierung
lebt dieses Unendliche in der Vielfalt des Endlichen und ist in allem Ein-
zelnen und Endlichen gegenwärtig. Als »Darstellung des Unendlichen«39
und »Teil des Ganzen«39 hat das Beschränkte eine festumrissene, konkrete
Gestalt und kann »innerhalb dieser Grenzen selbst unendlich sein und
eigengebildet werden«40. Dieser Gedanke der Individualität schließt aber
notwendig den Gesichtspunkt der Universalität ein, insofern das Indivi-
duelle als positive Darstellung des Unendlichen immer schon von diesem
herkommt und bestimmt ist, von dem Universum, das jedem Wesen »nach
der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt«41. Solche Sonderung in
ihrem Bezug zum Ganzen und Einen anzuschauen ist darum die Anschau-
ung des Universums, die »die allgemeinste und höchste Formel der Reli-
gion ist«42, »die unmittelbare Wahrnehmung von dem allgemeinen Sein
alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche, alles Zeitlichen
im Ewigen und durch das Ewige«43. An dieser Verhältnisbestimmung von
Unendlichem und Endlichem in den Reden nach der Denkweise des princi-
pium individuationis wird deutlich, welche zentrale Stellung dem Gedan-
ken der Individualität und Universalität bei Schleiermacher zukommt.
Das principium individuationis hat für das Denken Schleiermachers eine
ganz ähnliche Bedeutung wie die regula doctae ignorantiae für Cusanus,
insofern innerhalb beider Denkstrukturen an Hand der Bestimmung des
Verhältnisses Gottes zur Welt über Voraussetzung und Möglichkeit
menschlicher Erkenntnis Rechenschaft abgelegt wird. Auch bei Schleier-
macher stellt sich die Gott-Welt-Beziehung in einer eigentümlichen Dia-
lektik dar. Aus der starken Betonung des handelnden Gottes folgt not-
wendig die Bedingtheit von Welt und Mensch durch Gott: »Gott kann
in der Religion nicht anders vorkommen als handelnd, und göttliches Le-
ben und Handeln des Universums hat noch niemand geleugnet«44, wie an-
dererseits »Ihr keinen Gott haben könnt ohne Welt«45. In dieser gegen-
8
Reden, S. 128.
87
Reden, S. 80, vgl. Erl. 12 zur 2. Rede in der Ausgabe von Pünjer, Braunschweig
1879, S. 140.
38
Reden, S. 295. Wie wenig Schleiermacher an diesen Bezeichnungen interessiert ist,
die er als pantheistische oder personalistische Gottesvorstellungen von der jeweiligen
Richtung der Phantasie abhängig sieht, zeigt der Schluß der 2. Rede, in der er die
Anschauung des Universums als jene Wirklichkeit Gottes beschreibt, die sich als
»ursprünglich handelnd auf den Menschen« zu erkennen gibt. (Reden, S. 129 f., vgl
auch Reden S. 256 f.).
39
Reden, S. 56.
40
Reden, S. 53.
41
Reden, S. 56.
42
Reden, S. 55.
43
Reden, in der Ausgabe von Pünjer, 2. Auflage, S. 47.
44
Reden, S. 130.
45
Reden, S. 129, s. auch S. 55.
zeitigen Bezogenheit von Gott und Welt kann aber nun nicht übersehen
werden, wie die lebendige Wirklichkeit Gottes sich in ihren Handlungen
ails eine Realität erweist, die mit dem Geschehen in Welt, Geschichte und
Menschheit niemals identisch werden kann. Der seit dem Urteil des Hof-
predigers Sack über die Reden nicht mehr verstummte Pantheismusvor-
wurf ging stets an Schleiermachers Denkvoraussetzungen vorbei. Er hat
i.hn darum auch zeit seines Lebens mit konsequenter Entschiedenheit von
s;idi gewiesen. Die dialektische Bewegung des Denkens nach dem princi-
pium individuationis schließt ein Identitätsdenken von vornherein aus,
da die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen zwar die Teilhabe des
Relativen am Absoluten bedeutet, so daß das Einzelne als Teil des Gan-
2en am absoluten Sein partizipiert, aber das Besondere ist nicht das Ganze,
das Endlidie nidit das Unendliche, Welt und Mensch nicht Gott.
Es ist nun von besonderer Bedeutung, die Konsequenzen zu beden-
ken, die sich aus der Unterscheidung der Begriffe Gott und Welt für Schlei-
ermadiers erkenntnistheoretischen Standpunkt ergeben. In der 2. Auflage
der Reden von 1806 gibt Schleiermacher eine Untersdiiedsbestimmung von
Gott und Welt, die sich dann später besonders in der Dialektik findet und
in unmittelbarem Bezug zu seiner Erkenntnislehre steht: »Ist nicht Gott
die einzige und hödiste Einheit? ist es nicht Gott allein, vor dem und in
dem alles Einzelne verschwindet? ... Sonst sagt mir doch irgend etwas
Anderes, wenn es dieses nicht sein soll, wodurch sich das höchste Wesen,
das ursprüngliche und ewige Sein, unterscheiden soll von dem Einzelnen,
Zeitlidien und Abgeleiteten!«48 Gott als die Unterschieds- und gegensatz-
lose Einheit und die Welt als die Totalität der Gegensätze — wie sieht
Schleiermacher innerhalb dieser Begriffsbestimmung Aufgabe und Mög-
lichkeit menschlicher Erkenntnis? In seinem Erkenntnisvermögen ist der
Mensch an die Welt der Gegensätze gebunden, aus der er niemals heraus-
treten kann: »Jedes Wissen ist, je kleiner dem Umfange nach, um desto
mehr durch Mannigfaltigkeit von Gegensätzen bestimmt, und je größer,
desto mehr der Ausdruck höherer und einfacherer Gegensätze. Das abso-
lute Wissen ist der Ausdruck gar keines Gegensatzes sondern des mit ihm
selbst identischen absoluten Seins. Als solches aber ist es im endlichen Be-
wußtsein kein bestimmtes Wissen . . ., sondern nur Grund und Quelle
alles besonderen Wissens«47. Was sich uns schon aus dem Grundgesetz der
Oszillation und der Denkstruktur des principium individuationis in den
Reden ergeben hatte, wird nun mit der Definition des Wissens in den ethi-
scien Entwürfen und der Dialektik ganz deutlich, daß für Schleiermacher
de Identität von Denken und Sein, die absolute Identität, niemals Gegen-
stind des wirklichen Wissens sein kann, sondern vielmehr dessen transzen-
1
Reden, in der Ausgabe von Pünjer, 2. Auflage, S. 122.
' Grundriß der philosophischen Ethik a.a.O. S. 246.
dente Voraussetzung ist, daß also das Wissen nicht zum absoluten Wissen
werden kann, sondern immer in der Unvollkommenheit und Ungenauig-
keit verhaftet bleibt48. Audi für den Erkenntnis Vorgang gilt das Gesetz
der Oszillation zwischen zwei voneinander unabhängigen Funktionen, der*
organischen und der intellektuellen, die zusammen die reale und ideale;
Seite des Seins ergeben. Die Annahme dieses höchsten Gegensatzes zwi-
schen idealem und realem Sein, ideal als Begriff in der Vernunft und reali
als Gegenstand in der Außenwelt, ist für Schleiermacher die Bedingung
der Realität des Wissens, wie andererseits diese Duplizität auf die allge-
meine Einheit des Seins hinweist, die sich in den beiden modi der Idealitätc
und Realität darstellt49. Entscheidend ist, daß die Identität jener höchstem
Differenz nicht zu wissen ist, »sondern wir setzen sie nur voraus zum Be-
huf des Wissens«50. Die Idee des Wissens gründet also in der Idee der abso-
luten Einheit, in der das ideale und reale, das wissende und gewußte Sein.,
eins sind. Diese das wirkliche Wissen begründende Identität bleibt die
transzendente Voraussetzung des Erkennens und kann nie zum Objekt des
Denkens gemacht werden: »Diese Einheit des nur in beiden modis seien-
den Seins ist das transzendente, d. h. dasjenige, was wir niemals unmittel-
bar anschauen, sondern dessen wir uns nur als eines notwendig anzuneh-
menden bewußt werden können, so daß uns die allgemeine Einheit des
Seins hier völlig hinter dem Vorhang bleibt«51. Dieser erkenntniskritische
Standpunkt Schleiermachers kann als eine Art theologia negationis gelten,
insofern aus seinen Denkvoraussetzungen konsequent die Nichterkennbar-
keit Gottes hervorgeht. »Nur in negativer Form konnten wir es (das Ab-
solute) aufstellen, und das ist unser Nichthaben«52. Da »ein vollzogenes
Bewußtsein Gottes durchaus nicht möglich ist«58, weil Gott nicht in das Ge-
biet des Gegensatzes gezogen und zu einer Gegebenheit neben anderen ge-
macht werden kann, deshalb sieht Schleiermacher »in allen Ausdrücken für
Gott etwas Relatives«54. Die grundsätzliche Unerkennbarkeit Gottes ist
darum auch der Grund für Schleiermachers Abneigung gegenüber einer
allzu selbstverständlichen theologia affirmativa, gegenüber den Anthropo-
morphismen in der Gottesvorstellung, »daß nicht etwas aus unserem Sein
48
Schleiermacher steht damit im klaren Gegensatz zu Sdielling, bei dem die absolu'.e
Identität als der Gegenstand wirklichen Wissens erscheint, das dadurch zum absolu-
ten Wissen wird. Vgl. H. Süskind, Der Einfluß Schellings auf die Entwicklung von
Schleiermachers System, Tübingen 1909, S. 274 f.
49
Dialektik, hrsg. von L. Jonas, Berlin 1839 in den sämtl. Werken 3. Abt. 4. Bd. 2. Tel,
S. 77.
50
Dialektik, a.a.O. S. 78.
« Dialektik, S. 78.
52
Dialektik, S. 153.
» Dialektik, S. 156.
54
Dialektik, S. 69.
auf Gott übertragen wird, was für ihn, und wenn man es auch unendlich
setzt, doch nur eine Unvollkommenheit sein kann«55.
Aber wie schon Cusanus den Standpunkt einer theologia negationis
hinter sich gelassen hat und die Wahrheit Gottes nicht mehr im mysti-
schen Dunkel, sondern in der Fülle seiner Selbstmanifestationen sehen
lernte, so verhält es sich bei Schleiermacher ganz ähnlich. Die Einsicht,
daß Gott für unser Erkennen immer »hinter dem Vorhang« bleiben muß,
daß das alles bedingende und aus sich entfaltende göttliche Subjekt nie
zum Gegenstand unseres Wissens werden kann, ist durchaus eine »docta
ignorantia«. Denn für Schleiermacher ergibt sich gemäß der Denkweise des
principium individuationis aus der grundsätzlichen Unerkennbarkeit Got-
tes auch der andere Gesichtspunkt, wonach das Unendliche in seinen posi-
tiven Darstellungen, das Universum in der Fülle seiner Selbstindividuali-
sierungen anzuschauen ist. In der Anschauung des Universums wird Gott
nicht als ein Seiendes für sich, sondern als das alles bedingende göttliche
Subjekt, als das Sein in allem Seienden, angeschaut. Und dies geschieht, in-
dem alles einzelne Seiende als individuelle Darstellung des Göttlichen ge-
sehen wird, d. h. nicht vereinzelt für sich, sondern in seinem Zusammen-
hang mit ihm, die Individualität in ihrer Universalität.
Die Nähe des Schleiermacherschen Denkens zu den Grundintentionen
des Cusaners wollten wir an Hand einer Gegenüberstellung der Denkstruk-
turen der docta ignorantia und des principium individuationis zu veran-
schaulichen suchen. Das Gott-Welt-Verhältnis, an dem sich diese Denk-
strukturen konkretisieren, ist bei beiden Denkern nicht mit den überliefer-
ten Schemata von Transzendenz und Immanenz wiederzugeben. Das cha-
rakteristische Nebeneinander der Aspekte von Trennung und Teilhabe,
dtr Unerkennbarkeit Gottes und seiner Anschaulichkeit in den individuel-
le! Gestaltungen der Welt, von mystischen Elementen und kulturoptimi-
stsch-religiösem Weltgefühl, ist beiden Denkern gemeinsam. Die cusani-
scie Schrift »De visione Dei«, in der mit besonderer Deutlichkeit der Sinn
d« Individuellen als einer je eigenen unmittelbaren Beziehung zu Gott
becont wird, weist in erstaunlicher Verwandtschaft auf den Individuali-
tä-sgedanken Schleiermachers hin. In der Entfaltung des Besonderen und
Individuellen kommt ein echtes religiöses Anliegen zum Ausdruck, wie sich
andererseits nur in einer Einheitsschau, in einer Totalität der Gesichts-
pvnkte, der Sinn des Göttlichen erschließt. Daß Schleiermacher durch die
Dktion des Ganzen und seiner Teile im principium individuationis den
Ti3nnungsaspekt nicht mit solcher Schärfe durchzuhalten vermochte wie
Cisanus, darf nicht übersehen werden. Der religiöse Ernst seines Indivi-
duilitätsgedankens aber kann darum nicht in Zweifel stehen, jenes Ge-
55
Der christliche Glaube, 7. Aufl., Berlin I960, hrsg. von M. Redeker, 1. Bd., § 55,
1. Abschn., S. 292.
56
E. Cassirer, Individuum und Kosmos, a.a.O. S. 38.