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Cusanus und Schleiermacher

Assistent Wolfgang Sommer, Berlin 37, Süntelsteig 27

Walter Dreß in dankbarer Verehrung

Auf der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit hat der Kardinal Ni-
kolaus von Kues in seinem alle Wissensgebiete der Zeit umfassenden Den-
ken Impulse ausgelöst, die mehr im Verborgenen und Anonymen, aber
doch durch die Jahrhunderte nach seinem Tode in der Geistesgeschichte
ihre Wirkungskraft bewiesen haben. Wenn die Stellung und Bedeutung
des Cusaners in der Philosophiegeschichte auch recht unterschiedlich beur-
teilt wird, wobei die jeweilige Sicht und Wertung der Leitgedanken des
cusanischen Denkens eine erhebliche Rolle spielt, so ist doch in der neue-
ren Cusanusforschung deutlich geworden, wie das neuzeitliche Denken
seit der Renaissance über Giordano Bruno, Leibniz, Descartes, Spinoza,
Schelling und Hegel mit den Grundlagen der cusanischen Philosophie zu-
sammenhängt1. Diese Verbindungslinien beruhen nicht auf einem unmit-
telbaren Aufgreifen und Weiterdenken des cusanischen Gedankengutes,
sondern sind nur in vermittelter Gestalt nachweisbar. Der Italiener Gior-
dano Bruno ist der Haupttradent der Philosophie des Kardinals an die
deutsche Geistesgeschichte. In Brunos Schriften aber hatte schon jener Um-
sdimelzungsprozeß des cusanischen Denkens stattgefunden, der aus dem
spannungsreichen dialektischen Bezug von Gott und Welt, wie er in den
beiden Hauptgedanken von der coincidentia oppositorum und der Lehre
von der complicatio und explicatio bei Cusanus erscheint, ein pantheisti-
sches Einheitsdenken entstehen ließ. Nur in dieser mittelbaren, durch
Bruno vermittelten Gestalt, in der die cusanisdie Philosophie ihrer charak-
1
Für die Stellung des Nikolaus von Kues in der Philosophie- und Geistesgeschichte
und als Wegbereiter neuzeitlichen Denkens sei als wichtigste Literatur genannt: E.
Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig u.
Berlin 1927; E. Hoffmann, Das Universum des Nicolaus von Cucs, Sitzungsberichte
der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-histor. Klasse, 1929/30; ders.,
Nikolaus von Cues, Zwei Vorträge, Heidelberg 1947; J. Ritter, Die Stellung des
Nicolaus von Cues in der Philosophicgeschichte. Grundsätzlichere Probleme der
neueren Cusanusforschung, in: Blätter f. Deutsche Philosophie, Bd. 13, 1939; P. Bom-
mersheim, Nikolaus von Kues und der religiöse Ursprung des Geistes der Neuzeit,
in: Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie (Neue Folge des Logos) 9, 1943; K. H.
Volkmann-Schluck, Nikolaus Cusanus, Die Philosophie im Übergang vom Mittel-
alter zur Neuzeit, Frankfurt a. M. 1957; E. Metzke, Nicolaus von Cues und Hegel,
in: Coincidentia oppositorum. Gesammelte Studien zur Philosophiegeschichte, For-
schungen und Berichte der evangcl. Studiengcrneinschaft, Bd. 19, Witten (Ruhr) 1961;
W. Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Pfullingen 1957; ders., Das Pro-
blem der absoluten Reflexion, Frankfurt a. M. 1962; J. Stallmach, Ansätze neuzeit-
lichen Philosophierens bei Cusanus, in: Das Cusanus-Jubiläum, die wissenschaftl. Re-
ferate, hrsg. von R. Haubst, Mainz 1964.

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teristischen Struktur entkleidet wurde, konnte sie in den neuzeitlichen


Systemen bis zum identitätsphilosophischen Denken in der Zeit des deut-
schen Idealismus weiterwirken. Vergegenwärtigt man sich die geistes- und
kirchengeschichtliche Entwicklung, die auf das Wirken des Cusaners in
Deutschland am Ende des 15. und im Verlauf des 16. Jahrhunderts folgte,
so wird die geringe Ausstrahlungskraft seines Denkens zumindest im kirch-
lich-theologischen Raum verständlich. Im Jahrhundert der Reformation
konnten die Grundmotive des cusanischen Denkens, die von einer letzten
inneren Harmonie zwischen Glauben und Erkennen getragen sind, auf
keinen fruchtbaren Boden fallen, weder auf evangelischer, noch auf ka-
tholischer Seite. Gegenüber Luthers theologia crucis scheint schließlich auch
Cusanus, der mit seinem Durchbruch durch die aristotelisch-scholastische
Welt des Mittelalters in so entscheidenden Problemstellungen der Theo-
logie Luthers vorgearbeitet hatte, noch immer im Bereich einer theologia
gloriae zu stehen. In ihrer spekulativen Intention auf Ausgleich in der
Spannung zwischen dem schlechthin Absoluten und der konkreten Einzel-
wirklichkeit vermochte die cusanische Theologie der Situation des Men-
schen vor Gott im lutherischen Sinn nicht voll gerecht zu werden2. Mit der
Wiederaufnahme aristotelischer Kategorien in der reformatorischen Theo-
logie war einer fruchtbaren Auswirkung cusanischer Impulse im protestan-
tischen Raum vollends der Weg versperrt. Und auf katholischer Seite wa-
ren die Fronten durch die Herausforderung der reformatorischen Bewe-
gung längst so verhärtet, daß die Positionen, die Cusanus vor anderthalb
Jahrhunderten zwar nicht ohne Anfechtung, aber doch im Dienste und mit
leidenschaftlicher Hingabe an die katholische Kirche entfalten konnte, in
ihrer Weiterführung und Anwendung bei Galilei und Bruno der Unter-
drückung durch die Inquisition zum Opfer fielen. Nur in Humanisten-
und Philosophenkreisen wurde der Name des Cusaners tradiert; sein gei-
stiges Erbe aber konnte sich erst über jene Vermittlung durch Bruno schöp-
ferisch-eigenständig bei Leibniz weiterentwickeln und erneuern. Im 18.
Jahrhundert war es dann vor allem Johann Georg Hamann, der das prin-
cipium coincidentiae oppositorum in seinem leidenschaftlichen Kampf
gegen den Rationalismus und Dogmatismus seiner Zeit wiederentdeckte
und der Schulweisheit jener erstarrten Systeme die »Weisheit des Wider-
spruchs« entgegenstellte, »woran der Adept scheitert und worüber ein
Ontologist die Zähne blockt«3. Auch Hamann führte das Koinzidenzprin-

2
Den Beziehungen zwischen Cusanus und Luther über die Mittlerrolle des Faber Sta-
pulensis ist besonders R. Weier nachgegangen: R. Weier, Der Einfluß des Nicolaus
Cusanus auf das Denken Martin Luthers, in: Das Cusanus-Jubiläum, S. 214—229;
ders., Das Thema vom verborgenen Gott von Nikolaus von Kues zu Martin Luther,
Münster 1967; vgl. auch den wichtigen Aufsatz E. Metzkes, Nicolaus von Cues und
Martin Luther (Aus dem Nachlaß) in: Coincidentia oppositorum, S. 205 ff.
3
Wolken. Ein Nachspiel sokratischer Denkwürdigkeiten. 1761. (Sämtl. Werke, hrsg.
von J. Nadler, Bd. II, S. 98, Wien 1950.

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Cusanus und Sdileiermadier 87

zip nicht auf Cusanus, sondern auf Giordano Bruno zurück, aber wie
schon bei Leibniz lebte in Hamanns Denken der echte cusanische Geist.
Der charakteristische doppelseitige Aspekt des Koinzidenzgedankens bei
Cusanus, der einem selbstsicheren angeblichen Bescheidwissen über Gott
und Welt ebenso die Tür zuschlug, wie er für das Denken aus der Einsicht
in die Koinzidenz aller Gegensätze in Gott neue Wege wies, wurde durch
Hamann wieder neu zum Ausdruck gebracht. Nicht nur als Kampfmittel
gegen den Geist der Zeit, sondern auch als positiver Hinweis für die Mög-
lichkeiten lebendigen Denkens erscheint somit das cusanische Grundmotiv
in der neueren Geistesgeschichte, ohne daß man den eigentlichen Urheber
kannte. Bei dem Bemühen um eine Erneuerung des Denkens im umfassen-
den Sinne aber steht am Anfang des 19. Jahrhunderts ein Mann in vorder-
ster Reihe: Sdileiermadier. Es ist in vieler Hinsicht sehr aufschlußreich,
das anonyme Fortwirken cusanisdier Intentionen gerade bei Sdileier-
madier aufzuspüren, da die Hauptproblemstellungen seines theologischen
und philosophischen Denkens durch die Konfrontation mit Cusanus in
ein klärendes Licht gerückt werden. Eine bewußte Kenntnis der cusani-
sdien Philosophie hatte auch Sdileiermadier nicht und seine an Cusanus
anklingenden Gedankengänge werden gewöhnlich seinem »Spinozismus«
zugeredinet4. Doch wenn es echte, ursprüngliche Geistesverwandtschaft in-
mitten der einmaligen und unwiederholbaren Konstellationen der Ge-
schichte gibt, die unabhängig von literarischem Einfluß und bewußter
Kenntnis existiert, so besteht eine solche zwischen Cusanus und Sdileier-
madier. Im folgenden sollen einige streiflichtartige Erwägungen über die
Probleme ausgeführt werden, die sich mit dem »und« bei dem Thema:
Cusanus und Sdileiermadier stellen.
Die vielfältigen philosophisch-theologischen Bezugsmomente zwi-
schen Cusanus und Sdileiermadier bekommen ihr charakteristisches Ge-
präge und ihre innere Konsequenz von der Mitte ihres jeweiligen Den-
kens her. Es ist ein bestimmendes Merkmal der Verwandtschaft im Denken
zwischen Cusanus und Sdileiermadier, daß beide von einer Grunderkennt-
nis ausgehen, die sich wie ein roter Faden durch alle Gebiete ihres umfang-
reichen geistigen Schaffens hindurchzieht. Diese Zentralansdiauung ist
aber jeweils nicht als eine starre Formel, sondern als eine lebendige Kraft-
quelle zu verstehen, die sich in verschiedenen Variationen auswirken und
in gegensätzlich erscheinenden Positionen ihre Dynamik und Dialektik
bewähren kann. Bei Cusanus wie Sdileiermadier konkretisiert sich diese
Grundrichtung des Denkens am Verhältnis Gott-Welt. Wir vergegenwär-
tigen uns zunächst die cusanische Denkbewegung an den ersten beiden
Büchern von »De docta ignorantia«, in denen das Gott-Welt-Problem

4
Vgl. die kurzen Andeutungen über Cusanus und Sdileiermadier bei E. HofTmann,
Zwei Vorträge, S. 62 f.

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erstmals klar entfaltet wird und das Fundament auch für die späteren
Werke des Kardinals gelegt ist.
Die Philosophie des Cusanus beginnt mit einer neuen, die aristote-
lisch-scholastischen Denkkategorien sprengenden Verhältnisbestimmung
zwischen dem sinnlichen und intelligiblen Bereich, zwischen Unendlichem
und Endlichem, Gott und Welt. Beide Bereiche werden jetzt durch einen
radikalen Trennungsstrich voneinander geschieden, so daß sie zueinander
nur noch im Verhältnis ihres gegenseitigen Ausschlusses stehen: »finiti et
infiniti nulla proportio«5. Die Bedeutung dieser cusanisdien Trennungs-
lehre im Rahmen des spätmittelalterlichen Denkens und die vielfachen
Konsequenzen, die sich aus ihr besonders für das Weltbild ergeben,
sind in der Cusanusforschung eingehend gewürdigt worden; sie sollen
hier außerhalb des Blickfeldes bleiben6. Unsere Fragestellung richtet
sich vornehmlich auf den Weg, auf dem Cusanus zu der mit den Termini
»docta ignorantia« und »coincidentia oppositorum« bezeichneten Grund-
einsicht gekommen ist. Schon die ersten Sätze von »De docta ignorantia«
zeigen, daß der Schnitt, mit dem das cusanische Denken die absolute Ein-
heit von der gegensätzlichen Welt der Erscheinungen trennt, auf einer er-
kenntnistheoretischen Reflexion beruht. Wenn man die Geschichte der
Philosophie der Subjektivität mit Cusanus beginnen läßt, so ist damit der
große Wendepunkt bezeichnet, von dem aus das Denken nicht mehr nur
nach dem Gewußten und zu Wissenden, sondern nach dem Wissen selber
fragt, d. h. sich seiner eigenen Voraussetzungen, Möglichkeiten und not-
wendigerweise auch seiner Grenzen bewußt wird7. Diese Verknüpfung des
Gott-Welt-Problems mit der Einsicht in die Bedingungen menschlicher Er-
kenntnis ist ein die Fragestellungen der nachfolgenden Zeit bestimmen-
des Vermächtnis cusanischen Denkens. Die Entrückung Gottes in eine dem
menschlichen Erkennen schlechterdings unzugängliche Ferne erfolgt nicht
in der Intention einer Selbstbemächtigung des Menschen anstelle der All-
macht Gottes, sondern liegt vielmehr in der Konsequenz des sich seiner
Endlichkeit bewußt werdenden Menschen. Gerade erst mit der Einsicht in
die dem Menschen unüberschreitbar gesetzte Grenze (docta ignorantia)
wird der Wirklichkeit Gottes Rechnung getragen, die alle unsere endlichen
Bestimmungen durchbricht. Am Schluß des ersten Buches von »De docta
ignorantia« wird die unfaßbare Mächtigkeit Gottes in der Weise einer
theologia negationis gepriesen.

5
Doct. ignor. I, l, 194 (zitiert nach der Studien- und Jubiläumsausgabe: Nikolaus von
Kues, Philosophisch-theologische Schriften, hrsg. von Leo Gabriel, Wien 1964. Bd. I.
Angegeben sind Buch, Kapitel und Seite.).
6
Vgl. besonders die Cusanus-Darstellungen von E. Cassirer und E. Hoffmann.
7
Auf die Stellung des Cusanus zum Erkenntnisproblem im Zusammenhang des neu-
zeitlichen Denkens verweisen vor allem E. Cassirer, E. Hoffmann, K. H. Volkmann-
Schluck und J. Stallmach.

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Cusanus und Schleiermacher 89

Von einer Begriffsbestimmung des empirischen Wissens ist Cu-


sanus ausgegangen. Die mensura ist das signum der mens. Der Er-
kenntnisvorgang schreitet vom Gesicherten zum Ungewissen voran,
indem das zu Erforschende auf das schon Erkannte bezogen wird. Das
Erkennen besteht also wesentlich in einem Vergleich, d. h. in einem
Messen des einen am anderen. Der Ermöglichungsgrund für dieses sich
nur in Relationen vollziehende Denken, diesem unaufhörlich fortschrei-
tenden discursus zwischen den empirischen Gegebenheiten und Bestim-
mungen liegt in der durchgängigen Proportionalität des endlichen Seien-
den. Alle Erkenntnisgegenstände im empirischen Bereich stehen mitein-
ander in einer Verhältnisbeziehung, auf Grund derer sie zugeordnet,
verglichen, gemessen, d. h. erkannt werden können. Mit der proportio als
Voraussetzung der menschlichen Erkenntnis ist aber zugleich auch ihre
Gebundenheit an das Endliche gegeben und somit die unserem Erkennen
unaufhebbar gesetzte Grenze. Die Trennung zwischen dem Endlichen und
Unendlichen, die Cusanus in immer neuen Wendungen beschreibt, ist we-
sentlich Erkenntnisschranke: in dem Begriffspaar praecisio - coniectura be-
kommt sie ihre erkenntnistheoretische Begründung. Der Vorgang des Er-
kennens wie das durch Vergleichen und Messen Erkannte trägt notwendig
den Charakter der Unabgeschlossenheit und grenzenlosen Bestimmbar-
keit. Denn der Vergleich bewegt sich immer in einer Gradabstufung zwi-
schen Übereinstimmung und Verschiedenheit; niemals ist das Verglichene
total übereinstimmend oder total verschieden. Etwas stimmt mit diesem
mehr überein als mit jenem, und zwar hinsichtlich der Gattung, des Ortes
und der Zeit, aber die Übereinstimmung hält sich in einem bloßen Mehr
und Weniger: »Et quoniam aequalitatem reperimus gradualem, ut unum
aequalius uni sit quam alteri secundum convenientiam et differentiam ge-
nericam, specificam, localem, influentialem et temporalem cum similibus,
patet non posse aut duo vel plura adeo similia et aequalia reperiri, quin
adhuc in infinitum similiora esse possint. Hinc mensura et mensuratum,
quantumcumque aequalia, semper differentia remanebunt. Non potest igi-
tur finitus intellectus rerum veriratem per simiJitudinem praecise attingere.
Veritas enim non est nee plus nee minus, in quodam indivisibili consistens,
quam omne non ipsum verum existens praecise mensurare non potest«8.
Im Bereich der empirischen Bestimmungen kann keine praecisio herr-
schen, da das per similitudinem zu Bestimmende immer auf der Ebene des
Mehr oder Weniger verbleibt. Die absolute Wahrheit aber ist weder mehr
noch weniger; als das schlechthin Größte — das Maximum 9 — ist sie der
Sphäre der comparatio und superlatio enthoben und entzieht sich damit
auch jedem Versuch, auf dem Wege der Vergleichung und Messung an-
näherungsweise erkannt zu werden. Die Unzugänglichkeit der absoluten
8
Doct. ignor. I, 3, 200 f.
9
Das Maximum ist nicht quantitativ, sondern als streng qualitativer Begriff zu ver-
stehen.

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Wahrheit für den endlichen Geist kann durch keine noch so lange Reihe
von Schlußfolgerungen und Denkschritten zugänglicher gemacht werden.
Cusanus unterscheidet klar einen progressus in infinitum, der nie den Be-
reich der comparatio und superlatio verläßt, von dem qualitativ als »An-
dersheit« bestimmten Unendlichen, zu dem keine Annäherung möglich ist.
»Intellectus igitur, qui non est veritas, numquam veritatem adeo praecise
comprehendit, quin per infinitum praecisius comprehendi possit, habens
se ad veritatem sicut polygonia ad circulum, quae quanto inscripta plu-
rium angulorum fuerit, tanto similior circulo. Numquam tarnen efficitur
aequalis, etiam si angulos usque in infinitum multiplicaverit, nisi in iden-
titatem cum circulo se resolvat«10.
Die unaufhörliche Bewegung zwischen einem So-Sein und Anders-
Sein ist das Wesensmerkmal des empirischen Bereichs, der gerade in die-
ser »Grenzenlosigkeit des Werdens«11 seine Bestimmung hat. In der an
kein Ende gelangenden Bestimmbarkeit der Erkenntnisgegenstände kann
es keine praecisio, sondern immer nur eine Mutmaßung (coniectura) ge-
ben. Die absolut in sich selbst bestehende Bestimmtheit ist das Zeichen des
Ideellen, in dem die endlichen Unterschiede und Gegensätze aufgehoben
sind.
Mit dieser scharfen Trennung zwischen finitum und infinitum ist aber
erst die eine Seite jenes Zentralgedankens erfaßt, der — von einer erkennt-
nistheoretischen Reflexion ausgehend — das Gott-Welt-Verhältnis bei Cu-
sanus charakterisiert. Die Trennungslehre ist der nie aufgegebene oder ab-
geschwächte Standpunkt in allen Schriften des Kardinals, jedoch darf sie
nicht isoliert, sondern nur im Bezug auf ein anderes Lehrstück12 gesehen
werden. Es handelt sich hier um die zwei Gedankenhälften eines sachlich
notwendigen Zusammenhanges. Wiederum gewinnt das cusanische Den-
ken diesen zweiten Aspekt aus der Reflexion über das menschliche Er-
kenntnisvermögen. Insbesondere ist es die mathematische mens, die für
Cusanus zur Signifikation jenes Grundbezuges wird, in dem alles End-
liche, Relative am Unendlichen, Absoluten partizipiert. Neben der Tren-
nung herrscht jetzt das Verhäknis der Teilhabe, und zwar so, daß beide
Gedanken sich nicht ausschließen, sondern vielmehr gegenseitig fordern.
Ein dem Kreis eingeschriebenes Vieleck wird als unendliches Polygon mit
dem Kreis identisch, jedoch geschieht solche Koinzidenz der gegensätz-
lichen geometrischen Figuren nur im mathematischen Gedanken. Mit der
10
»Intellectus igitur, qui non est veritas, numquam veritatem adeo praecise compre-
hendit, quin per infinitum praecisius comprehendi possit, habens se ad veritatem
sicut polygonia ad circulum, quae quanto inscripta plurium angulorum fuerit, tanto
similior circulo. Numquam tarnen efficitur aequalis, etiam si angulos usque in infini-
tum multiplicaverit, nisi in identitatem cum circulo se resolvat.« (Doct. ignor. I, 3,
202).
11
Cassirer a.a.O. S. 22.
12
Unter »Lehrstück« ist hier keine fest abgegrenzte »Lehre« gemeint, sondern ein
Hauptaspekt im cusanischen Denken.

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Cusanus und Sdileiermadier 91

Denkmöglichkeit des Unendlichen, die hier im mathematischen Begriff der


präzisen Gleichheit zum Ausdruck kommt, ist aber schon die Richtung
auf das Absolute angezeigt, von dem her erst das Relative in seiner Rela-
tivität erkannt werden kann, ohne jemals die Grenze zum Absoluten über-
schreiten zu können. So zeigt sich am Vorgang des menschlichen Erken-
nens, wie alles Bedingte und Endliche am Unbedingten und Unendlichen
teilhat, an jenem absoluten Maßstab, der zwar in seinem Wie, in seiner
Beschaffenheit der endlichen Vernunft unerkennbar ist und bleibt, den sie
aber dennoch als ein methodisches Prinzip in sich trägt, so daß er ihre ur-
eigene Funktion des Messens und Vergleidiens allererst ermöglicht. Erst die
bewußte Einsicht in die Begrenztheit menschlichen Denkens, indem es sich
als unwissend gegenüber dem Wie des Absoluten erfährt (ignorantia), ver-
setzt dieses in den Stand, sich der ihm adäquaten Erkenntnisstruktur zu
vergewissern, so daß es sich als echtes Wissen (docta) in dem ihm zuge-
messenen Bereich nach allen Richtungen frei entfalten kann und soll. Die-
sen charakteristischen Doppelaspekt der »docta ignorantia« in seiner er-
kenntnistheoretischen Grundlegung und Relevanz für das Gott-Welt-Ver-
hältnis formuliert Ernst Cassirer folgendermaßen: »Mit Rücksicht auf die
Gotteslehre besagt dieser Begriff den Gedanken des wissenden Nichtwis-
sens; mit Rücksicht auf die Erfahrung, auf die empirische Erkenntnis, be-
sagt er den Gedanken des nichtwissenden Wissens. Die Erfahrung birgt
echtes Wissen: — aber freilich muß dieses Wissen sich selbst darüber klar
sein, daß es, soweit es auch fortschreiten mag, niemals ein absolutes, son-
dern immer nur ein relatives Ziel und Ende erreicht, daß in diesem Ge-
biete keine wahrhafte Exaktheit, keine praecisio herrscht, sondern daß
jede noch so genaue Aussage oder Messung durch eine andere genauere
überboten werden kann und überboten werden soll ... Die eine, in ihrem
absoluten Sein ungreifbare Wahrheit kann sich für uns nur in der Sphäre
der Andersheit darstellen; aber ebensogut gibt es für uns auch keine An-
dersheit, die nicht in irgendeiner Weise auf die Einheit hinweise und an
ihr Teil hätte. Auf jede Identität, auf jedes Hineinragen der einen Sphäre
in die andere, auf jede Aufhebung des Dualismus müssen wir verzichten;
aber eben dieser Verzicht gibt unserer Erkenntnis ihr relatives Recht und
ihre relative Wahrheit . .. Die Trennung selbst ist es, die, indem sie den
Zusammenfall verhütet, indem sie das Eine im anderen, das andere im
Einen sehen lehrt, die Möglichkeit echter Teilhabe des Sinnlichen am Ide-
ellen gewährleistet«13.
Das cusanische Denken der Einheit in der Zweiheit haben wir uns
bisher aus der Struktur menschlicher Erkenntniserfahrung zu vergegen-
wärtigen versucht. Die Erfahrung erwies sich einerseits als Grenzerfah-
rung hinsichtlich der unfaßbaren Wahrheit des Absoluten, andererseits als
Erfahrung relativer Wahrheit und Freiheit innerhalb des dem mensch-

Cassirer a.a.O. S. 24 f.

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liehen Erkennen zugewiesenen Raumes. Der metaphysische Grund aber


für die Erfahrung der Teilhabe des Endlichen am Unendlichen, die die
Grenzerfahrung vor der Skepsis und die Freiheitserfahrung vor der Hy-
bris bewahrt und somit das Denken der Einheit in der Zweiheit erst kon-
stituiert, liegt in der Selbstmanifestation Gottes in der Welt, die eine
explicatio des Einen in die Vielheit, des Ewigen in das Zeitliche ist. Das
Gott-Welt-Verhältnis bekommt bei Cusanus mit dem Gedanken der ex-
plicatio und complicatio jene charakteristische Prägung, die der scholasti-
schen Auffassung von Gott als dem höchsten Seienden jenseits der Welt
ebenso widerstreitet wie einem pantheistischen Identitätsdenken. Der Zu-
sammenhang zwischen Gott und Welt besteht allein darin, daß die Welt
die explicatio Gottes ist, d. h. die Selbstdarstellung Gottes als des absolut
Einen in Form der immerwährenden Andersheit. Als das Universum ist
die Welt die Einheit in der Vielheit, die konkrete EinKeit, in der sich die
absolute Einheit Gottes manifestiert. Mit den Begriffen des maximum ab-
solutum (Gott) und des maximum contractum seu concretum (Welt)14 hat
Cusanus die grundsätzliche Unterschiedenheit im dennoch gegenseitigen
Bezug zwischen Gott und Welt zum Ausdruck gebracht. Das maximum
absolutum ist im maximum contractum seu concretum, d. h. Gott ist in der
Welt. Aber er ist in ihr eben nur auf absolute, nicht eingeschränkte Weise.
Er ist im Seienden ohne selbst zu diesem Seienden zu gehören, auch nicht
als dessen höchste Spitze, sondern als die lebendige Kraft, die alles Sei-
ende fortwährend erschafft und erhält15. Auf Grund dieser immer tätigen
göttlichen vis entificativa kann die Welt auch nicht als eine niedere Seins-
stufe in einem vom Ursprung her abgestuft gedachten Kosmos verstanden
werden, sondern die ungeteilte schöpferische Kraft Gottes offenbart sich
in einem ganzheitlichen Universum, das das sichtbare Abbild des in Gott
unsichtbaren Urbildes ist. Für das menschliche Denken bleibt Gott hinter
einer undurchdringlichen Mauer verborgen, aber darum braucht es nicht
bei der bloßen Negativität, der theologia negationis, zu verharren. Es
kann und soll die Einsicht gewinnen, daß Gott sich als der Sich-selbst-
Sichtbarmachende, der Offenbarende zu erkennen gibt.
In dieser Erkenntnis erfährt das menschliche Denken eine Befreiung
von allen Versuchen, von sich aus einen Zugang zum Transzendenten er-
14
Gottes explicatio in der Welt ist zugleich contractio, weil seine Selbstmanifestation
in der Einzelwirklichkeit konkret wird.
15
Gott ist »in mundo non mundialiter« (Doct. ignor. III, 11, 494), »absque confusione
et compositione« (Doct. ignor. III, 2, 434). »Quid ergo est mundus nisi invisibilis
Dei apparitio? Quid Deus nisi visibilium invisibilitas?« (Trialogus de possest, Stu-
dienausgabe Bd. III, S. 354).
le
»et cum esse ipsum divinum sit supremae aequalitatis et simplicitatis, hinc Deus, ut
est in Omnibus, non est secundum gradus in ipsis quasi se gradatim et particulariter
communicando.« (Doct. ignor. III, 4, 446). Vgl. W. Schulz, Der Gott der neuzeit-
lichen Metaphysik, der die Konsequenzen aus diesem Gott-Welt-Verhältnis für die
cusanische Schöpfungslehre zieht und auf die Differenz zum Neuplatonismus hinweist.

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Cusanus und Schleicrmadier 93

langen zu wollen. Der bei solchen Bemühungen in immer gleichbleibender


Ferne verweilende Gott bezeugt seine Gottheit aber gerade nicht durch
eine weltferne Jenseitigkeit, sondern durch seine Selbsterschließung und
Manifestation in der Welt. Nur von ihm selbst kann dieser Schritt erfol-
gen, der Welt und Menschen seine Gegenwart erfahren läßt, ohne daß da-
durch die Trennung zwischen Gott und Welt in irgendeiner Weise ver-
wischt wäre. So wie von der Seite des Menschen der Vorhang ewig zu-
gezogen bleibt, so bleibt es auch ein Geheimnis, auf welche Weise Gott sich
durch die sichtbare Welt manifestiert17. Cusanus hat diese Grundwendung
im Gott-Welt-Verhältnis, die die Wirklichkeit Gottes mit Hilfe der »docta
ignorantia« sehen lehrt, in seinem ganzen Werk mit immer neuen Formu-
lierungen zum Ausdruck gebracht. Die alles Seiende aus sich entfaltende
und ins Werk setzende Kraft Gottes wendet auch die nach Gott fragende
menschliche Vernunft, insofern sie die Einsicht gewinnt, daß der Erfragte
schon stets allem Suchen und Fragen vorausgeht und darum nur in seiner
actio, seiner Selbsterschließung zu erkennen ist. Ein solches um seine Gren-
zen wissendes Denken vermag nun auch nicht mehr in eine »theologia
affirmativa« zurückzufallen, die in der Sicht des Cusaners Gott zu einem
Objekt herabwürdigt. Denn wenn Gott auch »in respectu ad creaturas«
Benennungen zukommen mögen18, so lehrt doch die »sacra ignorantia«,
daß er unendlich größer ist als alles Nennbare19. Darum kann der Wirk-
lichkeit Gottes in Wahrheit auch kein Prädikat entsprechen; vielmehr er-
weist er sich in seiner Selbstmanifestation als das schlechthinnige Subjekt,
als die sich selbst bestimmende Wirklichkeit, die Cusanus später mit den
Termini des »non aliud« und des »posse ipsum« zu umschreiben versuchte.
Nachdem wir uns nunmehr die Hauptlinien des cusanischen Denkens
zu vergegenwärtigen versuchten, wollen wir im Blick auf Schleiermacher
prüfen, inwieweit er in den Grundzügen seines Denkens sich mit den In-
tentionen des Cusaners berührt bzw. weiter auf ihnen aufgebaut hat. Es
wurde eingangs betont, daß Cusanus wie Schleiermacher von einer be-
stimmten Erkenntnis ausgingen, die sich durch die ganze eigengeprägte
Komplexität ihrer Denkweisen als das bestimmende Kontinuum ihres gei-
stigen Schaffens hindurchzieht. Das sich in dem Gedanken der »docta igno-
rantia« aussprechende charakteristische Gott-Welt-Verhältnis bei Cusanus
soll nun im Gegenüber zu dem Zentrum des Schleiermacherschen Denkens
gesehen werden, um eine Antwort auf die Frage der geistigen Verwandt-
schaft und des spezifischen Anliegens beider Denker geben zu können.
Wenn man unter dem Zentrum des Schleiermacherschen Denkens we-
niger ein Prinzip, als vielmehr eine Denkstruktur 20 versteht, die auf phi-
17
»quo modo Dcus per creaturas visibilcs possit nobis manifestus ficri.« (Doct. ignor.
II, 2, 328).
18
Doct. ignor. I, 24, 282.
10
Doct. ignor. I, 26, 292.
20
S. W. Dreß, Simul — Zur Struktur des lutherischen Denkens, in: Jahrbuch der

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losophisch-theologischer Reflexion ebenso wie auf religiöser Erfahrung be-


ruht, so wird man den Gedankenhorizont des principium individuationis
als die bestimmende Mitte im Denken Schleiermachers anzusehen haben21.
Neben der Herrnhuter Frömmigkeit, in der der Individualitätsgedanke
besonders des jungen Schleiermacher seinen religiösen Wurzelboden hat22,
stellt darüber hinaus die Denkstruktur des principium individuationis
Schleiermacher in eine geistesgeschichtliche Tradition, die in der deutschen
Metaphysik mit Cusanus ihren Ausgang genommen hatte28. Nicht von un-
gefähr nimmt in dieser Tradition Leibniz eine besondere Stellung ein, bei
dessen intensivem Studium Schleiermacher die bekannten Worte wahr-
scheinlich niedergeschrieben hat: »Ich besinne mich . . ., daß mir schon bei
meinen ersten philosophischen Meditationen das principium individua-
tionis als der feste kritische Punkt der theoretischen Philosophie vor-
schwebte, nur daß ich meinen Anker nirgends werfen konnte«24.
Wie Cusanus die regula doctae ignorantiae aus den Strukturen unse-
rer Erkenntnis begründete, so liegt auch dem principium individuationis bei
Schleiermacher eine Reflexion über die Voraussetzungen und Möglichkei-
ten menschlichen Wissens zugrunde. »Wissen und Sein gibt es für uns nur
in Beziehung aufeinander. Das Sein ist das Gewußte und das Wissen weiß
um das Seiende«; »jedes besondere Wissen, und somit auch das Sein, des-
sen Ausdruck es ist, besteht nur in Gegensätzen und durch solche; und
jedes Wissen, das in Gegensätzen besteht, ist notwendig ein besonderes, das
neben sich anderes haben muß«25. In diesen Sätzen aus dem Grundriß der
philosophischen Ethik von 1812/13 ist die ganze Denkstruktur des prin-
cipium individuationis bei Schleiermacher klar erkennbar. Die immer auf
Seiendes bezogene Verstandestätigkeit des Menschen muß notwendig dem
sog. Satz vom Widerspruch folgen, d. h. sie vollzieht sich in Gegensätzen,
insofern Begriff und Gegenstand nur in Abgrenzung von einem je anderen
möglich ist. Solche Sonderung im Seienden aber schließt das Zusammen-
Kirchl. Hochschule Berlin 1965/66, S. 74 ff., der an Hand der Simul-Formel unter
dem Begriff der Denkstruktur gegenüber einem »Prinzip«-Verständnis die Eigenart
lutherischen Denkens herausarbeitet. In ähnlicher Weise gilt dies auch für die Mitte
des Schleiermacherschen Denkens.
21
W. Bartelheimer, Schleiermacher und die gegenwärtige Schleiermacherkritik, Leipzig
1931, hat überzeugend das principium individuationis als das Zentrum des Schleier-
macherschen Denkens aufgewiesen.
22
Vgl. S. Eck, Über die Herkunft des Individualitätsgedankens bei Schleiermacher,
Gießen 1908.
28
Darauf hat besonders W. Schultz hingewiesen: Das griechische Ethos in Schlcier-
machers Reden und Monologen, in: NZSTh, 10. Bd. 1968, Heft 3, S. 261 ff.,
bes. S. 269 und Die unendliche Bewegung in der Hermeneutik Schleiermachers und
ihre Auswirkung auf die hermeneutische Situation der Gegenwart, in: ZThK,
65. Jahrg., 1968, Heft l, S. 23 ff.
24
Vgl. W. Dilthey, Leben Schleiermachers Bd. I, 1922, 2. Auflage, S. 186.
25
Grundriß der philosophischen Ethik, hrsg. von A. Twesten, Berlin 1841, § 23 u. 27,
S. 8 f.

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Cusanus und Schleiermacher 95

sein von mannigfaltig-vereinzeltem Seienden ein, auf Grund dessen sich


das eine vom anderen unterscheidet. Das Unterscheiden, Vergleichen und
Messen, das die ratio unternimmt, indem sie das einzelne Seiende mitein-
ander in Beziehung setzt, ist jedoch nur möglich infolge einer aller Sonde-
rung zugrunde liegenden Einheit, von der sich alles Einzelne gesondert
hat. Das individuell geprägte Einzelding existiert darum nicht für sich,
sondern muß immer anderes, gleichfalls individuell gestaltetes Seiendes
neben sich haben, von dem es sich abhebt und zu welchem es nur im Gegen-
satz seine individuelle Struktur erhält. Der Gegensatz zwischen dem ein-
zelnen Seienden kann aber andererseits kein absoluter sein, da alle beson-
deren Dinge im Bezug zu der ursprünglichen Einheit stehen, von der sie
sich gesondert haben. Alle Gegensätze sind nichts anderes als die spezi-
fische Ausprägung einer Einheit, wie die Einheit sich nur in der Vielfalt der
gesonderten Dinge darstellt. Einheit und Mannigfaltigkeit sind somit die
beiden sich bedingenden Pole des principium individuationis.
Dieses Gegensatzdenken gilt es nun noch näher zu bestimmen. Denn das
Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit im principium individuatio-
nis liegt nicht nur allen entscheidenden Begriffspaaren bei Schleiermacher
wie z. B. dem Verhältnis von Natur und Vernunft, realem und idealem Sein
zugrunde, sondern prägt die gesamte Struktur des Verhältnisses von Gott
and Welt bzw. Mensch. Das bekannte »metaphysische Schema«26 aus der
l. Rede über die Religion, in dem Schleiermacher ein seiner geistigen Um-
welt nicht fremdes »unabänderliches Gesetz« verkündet, signalisiert schon
die wesentliche Grundrichtung seines Denkens, die auch in den späteren
Jahren zum Ausdruck kommt und sich besonders am Gott-Welt-Verhält-
iis konkretisiert: »Ihr wißt, daß die Gottheit durch ein unabänderliches
Gesetz sich selbst genötiget hat, ihr großes Werk bis ins Unendliche hin
:u entzweien, jedes bestimmte Dasein nur aus zwei entgegengesetzten
JCräften zusammenzuschmelzen, und jeden ihrer ewigen Gedanken in zwei
einander feindseligen und doch nur durcheinander bestehenden und unzer-
Tennlichen Zwillingsgestalten zur Wirklichkeit zu bringen« 27 . Die unend-
iche Vielfalt alles endlichen Lebens pulsiert in ununterbrochener Bewe-
gung, in einem ständigen Wechsel zwischen zwei gegensätzlichen Kräfte-
lentren, aus dem im spannungsreichen Durchdringen der beiden Urkräfte
(er Natur, des gegenseitigen Aneignens und Abstoßens, das konkrete, be-
timmte Dasein sich gestaltet. Schleiermacher sieht dieses Gesetz in allen
lereichen des Lebens wirkend, vornehmlich auch im Leben der Menschen.
1s ist das Gesetz des Lebens selbst, denn Leben gibt es nur dort, wo gegen-
sätzliche Spannung herrscht, wo es keine Erstarrung und keinen Stillstand

Vgl. P. Seifert, Die Theologie des jungen Schleiermacher, Gütersloh 1960, S. 58 f.


7
Reden, S. 5 f. (zitiert nach der Urausgabe 179'9, Philosoph. Bibliothek, Bd. 255, hrsg.
von H. J. Rothert).

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96 WolfgangSommer

gibt, vielmehr alles in unendlicher Bewegung begriffen ist28. An dieser Be-


stimmung des endlichen Lebens als einer unaufhörlichen Oszillation29 zwi-
schen Wahrheit und Irrtum, Gut und Böse, Freiheit und Abhängigkeit,
Vernunft und Natur, Besonderem und Allgemeinem, Idealem und Realem
usw. hat Schleiermacher zeit seines Lebens festgehalten30. Das Verständnis
des Lebens als eines lebendigen, dynamischen und in immer fortschreiten-
der Entwicklung sich vollziehenden Prozesses teilt Schleiermacher mit vie-
len seiner Zeitgenossen. Der besondere Akzent liegt schon hier auf der
zwar zielgerichteten, aber niemals zu Ende gehenden Bewegung, denn das
beständige Werden konstituiert das Leben, wie das Erstarrte und Gewor-
dene den Tod. Die Unendlichkeit dieser Bewegung schließt darum zugleich
die Unvollkommenheit in allen Bereichen des Lebens ein. Schleiermachers
Bekenntnis zum Geist der ewigen Jugend in den Monologen31 drückt dies
mit den Worten aus: »Es findet die Betrachtung keine Schranken, muß im-
mer unvollendet bleiben, wenn sie lebendig bleiben will«(24). »Ein ganz
vollendetes Wesen ist ein Gott, es könnte die Last des Lebens nicht ertra-
gen und hat nicht in der Welt der Menschheit Raum« (128/29). »Unend-
lich ist, was ich erkennen und besitzen will, und nur in einer unendlichen
Reihe des Handelns kann ich mich selbst ganz bestimmen. Von mir soll nie
weichen der Geist, der den Menschen vorwärts treibt, und das Verlangen,
das nie gesättigt von dem, was gewesen ist, immer Neuem entgegengeht.
Das ist des Menschen Ruhm, zu wissen, daß unendlich sein Ziel ist, und
doch nie still zu stehn im Lauf« (144/45). Vor allem aber ist es die leben-
dige Tätigkeit der Gottheit, die dem Leben seine unendliche Lebendigkeit

28
»Jedes Leben ist ein beständiges Werden; es soll kein Stillstand darin sein, es soll
weiterkommen und in ununterbrochener Entwicklung fortschreiten.« (An H. Herz,
17. 12. 1803, Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd. I, 1858, S. 402).
29
Der Begriff »Oszillation« ist Schleiermacher von Schelling herangetragen worden.
Auch nach der Zeit der Wirkung Schellings auf Schleiermacher bleibt er der entschei-
dende Ausdruck für die Wesensbestimmung aller Bereiche des endlichen Lebens. »Die
Oszillation ist ja die allgemeine Form alles endlichen Daseins, . . . ich habe in diesem
Schweben die ganze Fülle meines irdischen Lebens« . . . »Wir können einmal aus
dem Gegensatz zwischen dem Idealen und dem Realen . . . nicht heraus.« (Schleier-
macher an Jacobi, 30. 3. 1818, Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, II, 1858,
S. 343 f.).
30
Der Sachverhalt der oszillierenden Bewegung ist in der neueren Schleiermacherfor-
schung besonders von W. Schultz betont worden. Er weist hinsichtlich der harmoni-
sierenden Grundtendenz in der Oszillation auf die Nähe zu Leibniz und das grie-
chische Denken hin und sieht in dieser Denkstruktur Schleiermachers »die theologische
wie auch philosophische Grundformel seines gesamten Schaffens, die seiner Glaubens-
lehre wie seiner Ethik und Dialektik zugrunde liegt.« (W. Schultz, Die unendl. Bewe-
gung in der Hermeneutik Schleiermachers, in: ZThK, 65. Jahrg. 1968, Heft l, S. 26;
vgl. auch Das griechische Ethos in Schleiermachers Reden und Monologen, in:
NZSTh, 10. Bd. 1968, Heft 3, S. 284).
31
Monologen, hrsg. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1953. Seitenzahlen nach der Ur-
ausgabe 1800.

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Cusanus und Schleiermacher 97

verleiht. »Das Universum32 ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und


offenbart sich uns jeden Augenblick. Jede Form, die es hervorbringt, jedes
Wesen, dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt,
jede Begebenheit, die es aus seinem reichen immer fruchtbaren Schöße her-
ausschüttet, ist ein Handeln desselben auf Uns.« »Alle Begebenheiten in
der Welt als Handlungen eines Gottes vorstellen, das ist Religion«33. Der
Prozeß der Oszillation ist also ein unendlicher, weil bei seinem Stillstand
das Leben zu Ende ginge, in dem die Gottheit »ihr großes Werk bis ins
Unendliche hin« offenbart. Die Unendlichkeit dieser oszillierenden Be-
wegung ist aber vor allem auch dadurch bedingt, daß die endlichen Ge-
gensätze von einer letzten, absoluten Einheit umschlossen sind, die sich
fortwährend in der gegensätzlichen Vielfalt des Lebens entfaltet und so-
mit die Oszillation in Gang hält, jedoch als absolute Einheit von aller
endlichen Gegensätzlichkeit geschieden bleibt. Die Erstarrung zu einem
absoluten Gegensatz ist darum ebenso wie das Zusammenfallen der jewei-
ligen Pole, zwischen denen die oszillierende Bewegung stattfindet, für den
endlichen Bereich ausgeschlossen. Der Sachverhalt der unendlichen Oszil-
lation führt uns offensichtlich zu der Denkweise des principium indivi-
duationis, in der Schleiermacher das Verhältnis von Unendlichem und
Endlichem bestimmt hatte. Hier zeigt sich nun auch deutlich, daß Schleier-
macher zwei verschiedene Unendlichkeitsbegriffe kennt: Der in ständiger
Bewegung und Verwandlung fortschreitende Prozeß der Oszillation ge-
hört einer ganz anderen Ebene an als das Unendliche, das sich im Endlichen
darstellt, obwohl die Unendlichkeit des Lebens schon immer auf dieses Un-
endlich-Göttliche hinweist34. Die in der unterschiedlichen Bestimmung des
Unendlichen offenbar werdende Distanz zwischen Gott und Welt sowie
ihre gegenseitige Bezogenheit kommt in den Reden an dem komplexen
Begriff des Universums zum Ausdruck, den Schleiermacher sogleich in
zwei Hauptrichtungen gebraucht: in Richtung auf das irdische Leben in
Welt, Geschichte und Menschheit und auf den übersinnlichen Bereich, die
Ewigkeit. »Es ist Euch gelungen, das irdische Leben so reich und vielseitig
zu machen, daß Ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet, und nachdem Ihr
Euch selbst ein Universum geschaffen habt, seid Ihr überhoben an das-
jenige zu denken, welches Euch schuf«3 . Der Universum-Begriff fügt sich
der besonderen Struktur des Verhältnisses von Unendlichem und End-
lichem in den Reden ein, indem er in der Dimension des offenbarenden
Handelns das Unendlich-Göttliche, die Wirklichkeit Gottes, umschreibt,
12
Das »Universum» in seinem offenbarenden Handeln steht hier für das lebendige Wir-
ken Gottes. Über die Schichtungen im Universum-Begriff vgl. P. Seifert, a.a.O.
S. 77 ff.
;s
Reden, S. 56/57.
14
Vgl. W. Schultz, Das griechische Ethos in Schleiermachers Reden und Monologen
a.a.O. S. 266.
* Reden, S. 2.

N. Zeitschr. f. systemat. Theologie 12 7


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98 Wolfgang Sommer

die auch unter den Bezeichnungen »das Eine«86, »der Weltgeist«87 und »das
Ewige«38 erscheint. Durch seine unaufhörliche Selbstindividualisierung
lebt dieses Unendliche in der Vielfalt des Endlichen und ist in allem Ein-
zelnen und Endlichen gegenwärtig. Als »Darstellung des Unendlichen«39
und »Teil des Ganzen«39 hat das Beschränkte eine festumrissene, konkrete
Gestalt und kann »innerhalb dieser Grenzen selbst unendlich sein und
eigengebildet werden«40. Dieser Gedanke der Individualität schließt aber
notwendig den Gesichtspunkt der Universalität ein, insofern das Indivi-
duelle als positive Darstellung des Unendlichen immer schon von diesem
herkommt und bestimmt ist, von dem Universum, das jedem Wesen »nach
der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt«41. Solche Sonderung in
ihrem Bezug zum Ganzen und Einen anzuschauen ist darum die Anschau-
ung des Universums, die »die allgemeinste und höchste Formel der Reli-
gion ist«42, »die unmittelbare Wahrnehmung von dem allgemeinen Sein
alles Endlichen im Unendlichen und durch das Unendliche, alles Zeitlichen
im Ewigen und durch das Ewige«43. An dieser Verhältnisbestimmung von
Unendlichem und Endlichem in den Reden nach der Denkweise des princi-
pium individuationis wird deutlich, welche zentrale Stellung dem Gedan-
ken der Individualität und Universalität bei Schleiermacher zukommt.
Das principium individuationis hat für das Denken Schleiermachers eine
ganz ähnliche Bedeutung wie die regula doctae ignorantiae für Cusanus,
insofern innerhalb beider Denkstrukturen an Hand der Bestimmung des
Verhältnisses Gottes zur Welt über Voraussetzung und Möglichkeit
menschlicher Erkenntnis Rechenschaft abgelegt wird. Auch bei Schleier-
macher stellt sich die Gott-Welt-Beziehung in einer eigentümlichen Dia-
lektik dar. Aus der starken Betonung des handelnden Gottes folgt not-
wendig die Bedingtheit von Welt und Mensch durch Gott: »Gott kann
in der Religion nicht anders vorkommen als handelnd, und göttliches Le-
ben und Handeln des Universums hat noch niemand geleugnet«44, wie an-
dererseits »Ihr keinen Gott haben könnt ohne Welt«45. In dieser gegen-
8
Reden, S. 128.
87
Reden, S. 80, vgl. Erl. 12 zur 2. Rede in der Ausgabe von Pünjer, Braunschweig
1879, S. 140.
38
Reden, S. 295. Wie wenig Schleiermacher an diesen Bezeichnungen interessiert ist,
die er als pantheistische oder personalistische Gottesvorstellungen von der jeweiligen
Richtung der Phantasie abhängig sieht, zeigt der Schluß der 2. Rede, in der er die
Anschauung des Universums als jene Wirklichkeit Gottes beschreibt, die sich als
»ursprünglich handelnd auf den Menschen« zu erkennen gibt. (Reden, S. 129 f., vgl
auch Reden S. 256 f.).
39
Reden, S. 56.
40
Reden, S. 53.
41
Reden, S. 56.
42
Reden, S. 55.
43
Reden, in der Ausgabe von Pünjer, 2. Auflage, S. 47.
44
Reden, S. 130.
45
Reden, S. 129, s. auch S. 55.

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Cusanus und Schleiermacher 99

zeitigen Bezogenheit von Gott und Welt kann aber nun nicht übersehen
werden, wie die lebendige Wirklichkeit Gottes sich in ihren Handlungen
ails eine Realität erweist, die mit dem Geschehen in Welt, Geschichte und
Menschheit niemals identisch werden kann. Der seit dem Urteil des Hof-
predigers Sack über die Reden nicht mehr verstummte Pantheismusvor-
wurf ging stets an Schleiermachers Denkvoraussetzungen vorbei. Er hat
i.hn darum auch zeit seines Lebens mit konsequenter Entschiedenheit von
s;idi gewiesen. Die dialektische Bewegung des Denkens nach dem princi-
pium individuationis schließt ein Identitätsdenken von vornherein aus,
da die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen zwar die Teilhabe des
Relativen am Absoluten bedeutet, so daß das Einzelne als Teil des Gan-
2en am absoluten Sein partizipiert, aber das Besondere ist nicht das Ganze,
das Endlidie nidit das Unendliche, Welt und Mensch nicht Gott.
Es ist nun von besonderer Bedeutung, die Konsequenzen zu beden-
ken, die sich aus der Unterscheidung der Begriffe Gott und Welt für Schlei-
ermadiers erkenntnistheoretischen Standpunkt ergeben. In der 2. Auflage
der Reden von 1806 gibt Schleiermacher eine Untersdiiedsbestimmung von
Gott und Welt, die sich dann später besonders in der Dialektik findet und
in unmittelbarem Bezug zu seiner Erkenntnislehre steht: »Ist nicht Gott
die einzige und hödiste Einheit? ist es nicht Gott allein, vor dem und in
dem alles Einzelne verschwindet? ... Sonst sagt mir doch irgend etwas
Anderes, wenn es dieses nicht sein soll, wodurch sich das höchste Wesen,
das ursprüngliche und ewige Sein, unterscheiden soll von dem Einzelnen,
Zeitlidien und Abgeleiteten!«48 Gott als die Unterschieds- und gegensatz-
lose Einheit und die Welt als die Totalität der Gegensätze — wie sieht
Schleiermacher innerhalb dieser Begriffsbestimmung Aufgabe und Mög-
lichkeit menschlicher Erkenntnis? In seinem Erkenntnisvermögen ist der
Mensch an die Welt der Gegensätze gebunden, aus der er niemals heraus-
treten kann: »Jedes Wissen ist, je kleiner dem Umfange nach, um desto
mehr durch Mannigfaltigkeit von Gegensätzen bestimmt, und je größer,
desto mehr der Ausdruck höherer und einfacherer Gegensätze. Das abso-
lute Wissen ist der Ausdruck gar keines Gegensatzes sondern des mit ihm
selbst identischen absoluten Seins. Als solches aber ist es im endlichen Be-
wußtsein kein bestimmtes Wissen . . ., sondern nur Grund und Quelle
alles besonderen Wissens«47. Was sich uns schon aus dem Grundgesetz der
Oszillation und der Denkstruktur des principium individuationis in den
Reden ergeben hatte, wird nun mit der Definition des Wissens in den ethi-
scien Entwürfen und der Dialektik ganz deutlich, daß für Schleiermacher
de Identität von Denken und Sein, die absolute Identität, niemals Gegen-
stind des wirklichen Wissens sein kann, sondern vielmehr dessen transzen-

1
Reden, in der Ausgabe von Pünjer, 2. Auflage, S. 122.
' Grundriß der philosophischen Ethik a.a.O. S. 246.

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100 Wolfgang Sommer

dente Voraussetzung ist, daß also das Wissen nicht zum absoluten Wissen
werden kann, sondern immer in der Unvollkommenheit und Ungenauig-
keit verhaftet bleibt48. Audi für den Erkenntnis Vorgang gilt das Gesetz
der Oszillation zwischen zwei voneinander unabhängigen Funktionen, der*
organischen und der intellektuellen, die zusammen die reale und ideale;
Seite des Seins ergeben. Die Annahme dieses höchsten Gegensatzes zwi-
schen idealem und realem Sein, ideal als Begriff in der Vernunft und reali
als Gegenstand in der Außenwelt, ist für Schleiermacher die Bedingung
der Realität des Wissens, wie andererseits diese Duplizität auf die allge-
meine Einheit des Seins hinweist, die sich in den beiden modi der Idealitätc
und Realität darstellt49. Entscheidend ist, daß die Identität jener höchstem
Differenz nicht zu wissen ist, »sondern wir setzen sie nur voraus zum Be-
huf des Wissens«50. Die Idee des Wissens gründet also in der Idee der abso-
luten Einheit, in der das ideale und reale, das wissende und gewußte Sein.,
eins sind. Diese das wirkliche Wissen begründende Identität bleibt die
transzendente Voraussetzung des Erkennens und kann nie zum Objekt des
Denkens gemacht werden: »Diese Einheit des nur in beiden modis seien-
den Seins ist das transzendente, d. h. dasjenige, was wir niemals unmittel-
bar anschauen, sondern dessen wir uns nur als eines notwendig anzuneh-
menden bewußt werden können, so daß uns die allgemeine Einheit des
Seins hier völlig hinter dem Vorhang bleibt«51. Dieser erkenntniskritische
Standpunkt Schleiermachers kann als eine Art theologia negationis gelten,
insofern aus seinen Denkvoraussetzungen konsequent die Nichterkennbar-
keit Gottes hervorgeht. »Nur in negativer Form konnten wir es (das Ab-
solute) aufstellen, und das ist unser Nichthaben«52. Da »ein vollzogenes
Bewußtsein Gottes durchaus nicht möglich ist«58, weil Gott nicht in das Ge-
biet des Gegensatzes gezogen und zu einer Gegebenheit neben anderen ge-
macht werden kann, deshalb sieht Schleiermacher »in allen Ausdrücken für
Gott etwas Relatives«54. Die grundsätzliche Unerkennbarkeit Gottes ist
darum auch der Grund für Schleiermachers Abneigung gegenüber einer
allzu selbstverständlichen theologia affirmativa, gegenüber den Anthropo-
morphismen in der Gottesvorstellung, »daß nicht etwas aus unserem Sein

48
Schleiermacher steht damit im klaren Gegensatz zu Sdielling, bei dem die absolu'.e
Identität als der Gegenstand wirklichen Wissens erscheint, das dadurch zum absolu-
ten Wissen wird. Vgl. H. Süskind, Der Einfluß Schellings auf die Entwicklung von
Schleiermachers System, Tübingen 1909, S. 274 f.
49
Dialektik, hrsg. von L. Jonas, Berlin 1839 in den sämtl. Werken 3. Abt. 4. Bd. 2. Tel,
S. 77.
50
Dialektik, a.a.O. S. 78.
« Dialektik, S. 78.
52
Dialektik, S. 153.
» Dialektik, S. 156.
54
Dialektik, S. 69.

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Cusanus und Schleiermacher 101

auf Gott übertragen wird, was für ihn, und wenn man es auch unendlich
setzt, doch nur eine Unvollkommenheit sein kann«55.
Aber wie schon Cusanus den Standpunkt einer theologia negationis
hinter sich gelassen hat und die Wahrheit Gottes nicht mehr im mysti-
schen Dunkel, sondern in der Fülle seiner Selbstmanifestationen sehen
lernte, so verhält es sich bei Schleiermacher ganz ähnlich. Die Einsicht,
daß Gott für unser Erkennen immer »hinter dem Vorhang« bleiben muß,
daß das alles bedingende und aus sich entfaltende göttliche Subjekt nie
zum Gegenstand unseres Wissens werden kann, ist durchaus eine »docta
ignorantia«. Denn für Schleiermacher ergibt sich gemäß der Denkweise des
principium individuationis aus der grundsätzlichen Unerkennbarkeit Got-
tes auch der andere Gesichtspunkt, wonach das Unendliche in seinen posi-
tiven Darstellungen, das Universum in der Fülle seiner Selbstindividuali-
sierungen anzuschauen ist. In der Anschauung des Universums wird Gott
nicht als ein Seiendes für sich, sondern als das alles bedingende göttliche
Subjekt, als das Sein in allem Seienden, angeschaut. Und dies geschieht, in-
dem alles einzelne Seiende als individuelle Darstellung des Göttlichen ge-
sehen wird, d. h. nicht vereinzelt für sich, sondern in seinem Zusammen-
hang mit ihm, die Individualität in ihrer Universalität.
Die Nähe des Schleiermacherschen Denkens zu den Grundintentionen
des Cusaners wollten wir an Hand einer Gegenüberstellung der Denkstruk-
turen der docta ignorantia und des principium individuationis zu veran-
schaulichen suchen. Das Gott-Welt-Verhältnis, an dem sich diese Denk-
strukturen konkretisieren, ist bei beiden Denkern nicht mit den überliefer-
ten Schemata von Transzendenz und Immanenz wiederzugeben. Das cha-
rakteristische Nebeneinander der Aspekte von Trennung und Teilhabe,
dtr Unerkennbarkeit Gottes und seiner Anschaulichkeit in den individuel-
le! Gestaltungen der Welt, von mystischen Elementen und kulturoptimi-
stsch-religiösem Weltgefühl, ist beiden Denkern gemeinsam. Die cusani-
scie Schrift »De visione Dei«, in der mit besonderer Deutlichkeit der Sinn
d« Individuellen als einer je eigenen unmittelbaren Beziehung zu Gott
becont wird, weist in erstaunlicher Verwandtschaft auf den Individuali-
tä-sgedanken Schleiermachers hin. In der Entfaltung des Besonderen und
Individuellen kommt ein echtes religiöses Anliegen zum Ausdruck, wie sich
andererseits nur in einer Einheitsschau, in einer Totalität der Gesichts-
pvnkte, der Sinn des Göttlichen erschließt. Daß Schleiermacher durch die
Dktion des Ganzen und seiner Teile im principium individuationis den
Ti3nnungsaspekt nicht mit solcher Schärfe durchzuhalten vermochte wie
Cisanus, darf nicht übersehen werden. Der religiöse Ernst seines Indivi-
duilitätsgedankens aber kann darum nicht in Zweifel stehen, jenes Ge-

55
Der christliche Glaube, 7. Aufl., Berlin I960, hrsg. von M. Redeker, 1. Bd., § 55,
1. Abschn., S. 292.

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102 WolfgangSommer

dankens, der am Beginn der Neuzeit von Cusanus in allen wesentlichen


Aspekten ausgebildet wurde.
Die Bezugsmomente zwischen Cusanus und Sdileiermacher könnten
noch auf vielen Gebieten aufgewiesen werden, so in der Christologie, im
Kirchenverständnis und in der Auffassung der Religionen. Es sollte aber
hier nur auf die geistige Verwandtschaft der Denkstrukturen bei Cusanus
und Schleiermacher hingewiesen werden.
E. Cassirer sagt über den Individualitätsgedanken des Cusanus: »Die
Welt wird zum Symbol Gottes, nicht indem irgendein Teil von ihr heraus-
gehoben und mit einem einzigartigen Wertzeichen versehen wird, sondern
indem wir sie in der Gesamtheit ihrer Gestaltungen durchlaufen und uns
ihrer Mannigfaltigkeit, ihren Gegensätzen frei hingeben. Daß Cusanus
diese spekulative Forderung, die er stellt, in seiner eigenen Gedankenent-
wicklung erfüllt hat, — und daß er sie im Kreise der Kirche erfüllen
durfte: das macht seine einzigartige Stellung in der Kirchengeschichte und
in der allgemeinen Geistesgeschichte aus«56. Man wird sagen können, daß
Sdileiermacher diese Forderung in breitem Umfang aufgegriffen und ver-
wirklicht hat.

56
E. Cassirer, Individuum und Kosmos, a.a.O. S. 38.

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