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Frühe Bauern und Tellsiedlungen


in Südosteuropa
Netzwerke, Bevölkerungsdichten und
Siedlungssysteme
Johannes Müller

Die Neolithisierung Südosteu-


ropas ist ein Prozess, in dem
verschiedene Kernregionen
Die Entwicklung Mitteleuropas ist in vielen Perioden her greifbar. Im Folgenden sollen verschiedene As-
der Ägäis und des Balkans v. a. der europäischen Geschichte stark von Prozessen in pekte der Entwicklung des südosteuropäischen Raums
ab 6100 v. Chr. besiedelt wer- Südosteuropa beeinflusst. Dies gilt insbesondere für näher betrachtet werden.
den. Dabei spielen sowohl den Zeitraum zwischen 6500 und 3800 v.Chr., in dem
agrarische Gruppen als auch
sich die wesentlichen Neolithisierungsprozesse voll-
Wildbeuter eine Rolle. Mesoli-
thische und neolithische ziehen. Um die Einführung von Ackerbau und Vieh- Von Anatolien nach Europa
Gruppen benutzen gemeinsa- zucht hierzulande besser zu verstehen, ist daher ein
me Netzwerke, z. B. bei der Blick in den Südosten unabdingbar: Dort ist Garten- Die neolithische Wirtschaftsweise und die damit ver-
Rohstoffversorgung mit Obsi-
und Landwirtschaft, Kupfertechnologie und eine bundene Weltanschauung gelangt nach ihrer Entste-
dian aus Melos oder Tokai
(blau). deutliche Zunahme der Bevölkerung wesentlich frü- hung im »Fruchtbaren Halbmond« (ca. 10 400–
8200 v. Chr.) zunächst nach Zypern und Anatolien,
wo sich bereits ab 8400 v.Chr. bäuerliche Siedlungen
entwickeln, die Gartenbau und intensive Viehhaltung
betreiben. Ausgehend vom Ursprungszentrum im
Norden Mesopotamiens, wo komplexe Formen ritu-
eller Bräuche auch in Monumentalbauten wie Göbe-
kli Tepe umgesetzt werden, lassen sich in Hačilar oder
Çatalhöyük Gemeinschaften fassen, die auf einer so-
Tokai liden Subsistenzbasis die neue Wirtschaftsweise und
neue soziale Verhältnisse etablieren. Siedlungen auf
Zypern wie Khirokitia besitzen eine eigenständige
Kultur mit hohem Anteil an landwirtschaftlicher Pro-
duktion. Bereits um 6500 v.Chr. erreichen Vorboten
der neuen Entwicklung an der Westküste der heuti-
gen Türkei den ägäischen Raum.
Dort finden wir zu dieser Zeit eine Bevölkerung
aus Wildbeutern und Fischern vor, die aufgrund ihrer
mobilen Lebensweise kaum archäologisch greifbare
Reste hinterlassen hat. Dennoch zeigt sich schon für
diese spätmesolithische Zeit mit der Verbreitung des
qualitätvollen Obsidians von der Insel Melos ein weit
verzweigtes, über Hunderte von Kilometern reichen-
des Austauschnetz. Es sind Seefahrer, die in kleinen
Booten für einen regen Küstenverkehr sorgen und
über die zumeist in Sichtweite liegenden Inseln eine
Verbindung zwischen dem anatolischen und grie-
Melos
chischen Festland herstellten. Auch auf Kreta gibt es
bereits um ca. 6800 v.Chr. eine erste bäuerliche Nie-
7200 v. Chr. 5500 derlassung mit Anbau von Getreide, die allerdings
bald wieder aufgegeben wird. Diese frühbäuerliche
16 | Frühe Bauern und Tellsiedlungen in Südosteuropa – Netzwerke, Bevölkerungsdichten und Siedlungssysteme

E N T W ICK LU N G N E O LIT H IS CH E R S IE D LU N G S S T R U K T U R E N

Westliches Südöstliches Westliches Östliches


Westbalkan Ostbalkan Ägäis
Mitteleuropa Mitteleuropa Karpatenbecken Karpatenbecken

v. Chr.
cal BC

3500
BEFESTIGTE
EINZELHÖFE,
ORGANISIERTE
ORGANISIERTE WEILER UND
SIEDLUNGEN
DÖRFER KREISGRÄBEN

4000

ar-Czőszhalom
Polgar-Czőszhalom DÖRFER MIT
ZENTRALBAU

4500 400 m

DÖRFER
FER MIT Petrivente
HÖFEN
N

5000

UPPENSIEDLUNGEN
U
UP
5500

EINZELHÖFE UND Gura Baciului


ului
GRUPPENSIEDLUNGEN

6000
EINZELHÖFE UND
20 m
GRUPPENSIEDLUNGEN

Die Siedlungskonzepte der


Siedlung war noch ohne Keramik und entsprach der legten Regeln: Während frühere Forschungsansätze frühen Bauern in der Ägäis
akeramischen Nahrungsmittelproduktion, -lagerung v.a. den Einfluss der ökologischen Grundbedingun- und Mitteleuropa unterschei-
den sich: In Südosteuropa er-
und -konsumption, wie sie damals für Anatolien ty- gen auf die Ortswahl betonen, können neuere Arbei- kennen wir die Entwicklung
pisch war. Von der Insel Kythnos ist eine Fundstelle ten für Thessalien eine politische Aufteilung des Lan- von planmäßig angelegten
bekannt, bei der sesshafte Jäger, Sammler und Fischer des wahrscheinlich machen. Die Herausbildung von Dörfern, während in Mitteleu-
unter zeltartigen, aber mit Steinen befestigten Hütten Besitzverhältnissen bei der Ressourcenausnutzung ist ropa zur gleichen Zeit noch
Einzelhöfe oder Weiler vor-
ihre Toten bestatteten. Auch hier dürften Einflüsse noch wichtiger als die natürliche Umwelt. herrschen.
aus dem neolithischen Osten sichtbar werden, die Um 6100 v. Chr. hat die bäuerliche Wirtschafts-
sich allerdings nicht in einer veränderten Subsistenz- weise weite Teile Griechenlands erfasst, und nun
wirtschaft widerspiegeln. greift der Neolithisierungsprozess in bemerkenswer-
Ab ca. 6400 v.Chr. entstehen im ägäischen Raum tem Tempo nach Norden aus. Innerhalb von wenigen
dann Dörfer früher Bauern und in Thessalien – eine Generationen entstehen im westlichen Karpatenraum
für Ackerbau und Viehzucht hervorragend geeignete die ersten Bauernsiedlungen.
Siedlungskammer des griechischen Festlandes – ers-
te Tellsiedlungen. Beispiele für diese schnell wach-
senden Niederlassungen sind Sesklo und Achilleion Auf zu »neuen Ufern« – die Ursachen
sowie Argissa und Otzaki Magula. Auch in Mazedo- der Ausbreitung
nien und angrenzenden Gebieten prägen kleine Sied-
lungen mit rechteckigen Lehmziegelgebäuden die Was ist die Triebkraft dieser dynamischen Entwick-
frühbäuerliche Landschaft. In Nea Nikomedia weist lung? Aus paläodemografischer Sicht finden sich kei-
ein etwas größerer Bau mit zahlreichen Figurinen- ne Anhaltspunkte dafür, dass aufgrund eines hohen
funden auf die soziale Entwicklung hin: Die Anlage Bevölkerungswachstums die ökologische Tragfähig-
der Feldflur erfordert gemeinschaftliches Handeln in keit bestimmter Regionen überschritten war und ein
weit größerem Maß als dies bei mobilen oder sess- Teil der Menschen abwandern musste. Deutliche Un-
haften Wildbeutern notwendig war. Emmer, Einkorn terschiede lassen sich jedoch in der materiellen Kul-
und Gerste wurden in einer Zweifelderwirtschaft an- tur dieser frühen Gruppen fassen. Während zu Be-
gebaut; Linsen, Erbsen und gesammelte Früchte bil- ginn der Neolithisierungsprozesse ein recht
deten zusammen mit Schaf/ Ziege und Rind als Haus- einheitliches Dekor- und Formenspektrum der in
tiere die Ernährungsgrundlage. Die Aufteilung der Haushaltsproduktion hergestellten Keramik vorliegt,
Landschaft, z.B. in Thessalien, geschieht nach festge- ändert sich der Charakter der Ware nach mehreren
Auf zu »neuen Ufern« – die Ursachen der Ausbreitung | 17

Menschliche Knochen in Ein-


hegungen neolithischer Sied-
lungen Südosteuropas kön-
nen auf gewalttätige Konflik-
te hinweisen, die im Zusam-
menhang mit zunehmender
Ungleichheit stehen (Beispiel:
Graben Okolište).

Generationen: Vielfalt und regionale Differenzierung Pioniersiedlungen in neuen Gebieten errichteten. Die
nimmt zu, was wahrscheinlich Abgrenzungsprozesse jeweiligen Gruppen tragen einen Teil der Traditionen
innerhalb der Gesellschaft widerspiegelt. Soziale und Erinnerungen mit sich. Aus ethnografischen
Spannungen (»social tension«) dürften insbesondere Beispielen wissen wir, dass der Umgang mit den kul-
jüngere Mitglieder der Gemeinschaften dazu veran- turellen Wurzeln für Männer und Frauen sehr unter-
lasst haben, »neue Ufer« aufzusuchen oder mit be- schiedlich sein kann und auch die Verbreitungsme-
Neolithische Feinkeramik in nachbarten Wildbeutern in Kontakt zu treten. chanismen des »Neuen« von Männern und Frauen
Südosteuropa war äußerst Der Übergang zum Neolithikum in Südosteuropa ganz anders gehandhabt werden.
qualitätvoll. Im Bild sind ein war vielfältig: von der Akkulturation einheimischer Ab ca. 6100 v.Chr. werden einzelne Kernregionen
Becher aus dem thrakischen
Sammler- und Jägergruppen über regionale Mobili- mit hohem ackerbaulichem Potenzial in weiten Teilen
Frühneolithikum und der
Theiss-Kultur zu sehen. tät »bäuerlicher« Individuen bis hin zu Familien, die der Balkanhalbinsel neolithisiert, und zwar entstehen
18 | Frühe Bauern und Tellsiedlungen in Südosteuropa – Netzwerke, Bevölkerungsdichten und Siedlungssysteme

die neuen Bauernsiedlungen in Regionen wie der Un- Impresso, Siedlungen


teren Donau, dem bulgarischen Hinterland, an der Impresso, Abris und Höhlen
Theiß, in Zentralbosnien oder in Siebenbürgen, die Dinarisches Castelnovien

naturräumlich Thessalien ähnlich sind. Kaum noch


etwas erinnert jetzt an die neolithischen Kulturen aus
älteren Zeiten: Die Keramikdekoration, die Hausbau-
und Siedlungsweise hat einen neuen, eigenständigen
Charakter, und nur die weiblichen Tonfiguren sowie
Haustiere, Getreide und Arbeitswerkzeuge lassen
noch die Wurzeln erahnen. Kleinere Rechteckhäuser,
oft giebelparallel angeordnet, prägen die Siedlungen,
die noch nicht als echte »Dörfer« bezeichnet werden
können. Sie sind zu klein, und es zeichnen sich keine
kommunalen Aktivitäten ab. Die Keramikgruppen
Starčevo, Criş und Körös in den unterschiedlichen
Regionen wirken – trotz mancher Unterschiede (be-
malt/ unbemalt, mit/ ohne Applikationen) – noch
recht einheitlich, und erst im Laufe der Zeit kommt es
zu einer stärkeren Vielfalt und Abgrenzung, wie wir
sie bereits Jahrhunderte zuvor in Griechenland beob-
achten konnten. Ab ca. 5700 v. Chr. setzt dann am
nordwestlichen Rand des Karpatenbeckens die nächs-
te Ausbreitungswelle der neolithischen Produktions- Im Adriaraum wird die Inter-
weise ein, und in Mitteleuropa formiert sich die Li- aus den frühen agrarischen Kerngebieten, sondern aktion zwischen Wildbeutern
nearbandkeramik. zumeist aus den für Landwirtschaft wenig geeigneten und ersten Bauern deutlich.
Die Sommerweide von Haus-
Rückzugsregionen. Als typisches Beispiel kann das tieren im dinarischen Hinter-
Dinaridische Castelnovien dienen, das im Dinari- land findet dort statt, wo
Ausbreitung entlang der Küsten schen Gebirge zwischen einerseits adriatischem und Wildbeuter ihre Siedlungs-
andererseits donauländischem Neolithikum noch areale haben. Entsprechende
Kommunikationsbezüge füh-
Im Gegensatz zum kontinentalen, donauländischen längere Zeit existiert. Offensichtlich werden unter- ren auf die Dauer zur Auswei-
Gebiet Südosteuropas verlaufen die Neolithisie- schiedliche ökologische Areale mit verschiedenen tung des neolithisierten Ge-
rungsprozesse im Adriaraum anders. Ab etwa 6000 v. Ressourcen durch die jeweiligen Gruppen genutzt: biets.
Chr. lassen sich hier in den fruchtbaren Flysch-Ebe- fruchtbare Terra-rossa-Böden durch die Bauern und
nen des Küstenlandes erste bäuerliche Siedlungen das Karsthinterland durch die letzten Wildbeuter.
nachweisen, die abweichend von der typischen mate- Tatsächlich haben die bäuerlichen Gruppen im Rah-
riellen Kultur des frühen balkanischen Neolithikums men einer Fernviehhaltung wohl in den Sommermo-
nur die mediterran geprägte Impresso-Keramik auf- naten Rinder, Schafe und Ziegen im Gebirge gehütet,
weisen. Zugleich fehlen Figurinen, und Beile bzw. sodass ein Kontakt entstand, der Schritt für Schritt
Mahlsteine sind sehr selten. Der Adriaraum bildet ei- zur Übernahme von Elementen der materiellen Kul-
ne Ökumene, in der es zwischen italischer Ostküste tur und später der gesamten Lebensweise durch die
und balkanischer Westküste offenbar durch Kontak- Wildbeuter geführt hat. Auch können wir feststellen,
te zur Verwendung gleicher Verzierungsmuster kam. dass entlang der Adria eine frühe monochrome, po-
Die Seefahrt orientiert sich wiederum an den sicht- lierte Keramik die erste Tonware ist, die aus dem Set
baren Inseln und prägt die mediterranen Neolithisie- an Gefäßen von Wildbeutern übernommen wird, was
rungsprozesse. für eine bewusste Selektion spricht.
Im Gegensatz zum Dinaridischen Mesolithikum
herrscht im Gebiet des Eisernen Tores der Donau ei-
Die letzten Wildbeuter ne ganz andere Situation: Mit der Lepenski-Vir-Kul-
tur erfassen wir hier ab 6500 v. Chr. Sammler, Jäger
Wie in weiten Teilen Europas ist der Fundnieder- und Fischer, die aufgrund des aquatischen Reichtums
schlag der späten Jäger, Fischer und Sammler, die vor der Donau sesshaft leben und über fest installierte
oder gleichzeitig mit den dörflichen Gemeinschaften trapezförmige Hütten mit organisierten »Dorfplä-
lebten, eher gering. Wir kennen einige wenige meso- nen« inklusive Dorfplatz verfügen (vgl. S. 29). Ein-
lithische Freilandstationen und Höhlen, jedoch nicht drucksvoll lassen bewegliche und fest installierte,
Bevölkerungsentwicklung | 19

fischartig skulptierte Stelen vor den jeweiligen Hüt- Wandel hingegen eher von einem Bevölkerungsrück-
ten eine besondere künstlerische Ausdrucksform er- gang auszugehen. Während wir also im südlichen
kennen. Die Lepenski-Vir-Kultur war und ist eine Mitteleuropa nach 4500 v. Chr. einen weiteren Ent-
Überraschung für die Archäologie, und sie zeigt, dass wicklungsschub beobachten, sehen wir in Südosteu-
eine wildbeuterische Lebensweise durchaus zu einer ropa eine umgekehrte Tendenz. Spiegeln sich hier un-
sesshaften, weitreichend organisierten Gesellschaft terschiedliche demografische Prozesse wider?
führen kann, die ab 6000 v.Chr. allerdings neolithi-
schen Einflüssen unterliegt: Hockerbestattungen wer-
den häufiger, frühneolithische Starčevo-Keramik be- Bevölkerungsentwicklung
ginnt zu dominieren, und spätestens nach zwei
Jahrhunderten lässt sich der Übergang zu einer agra- Entscheidend für die kulturelle Dynamik von Gesell-
rischen Produktionsweise feststellen. schaften ist neben der Wirtschaftsweise v.a. auch de-
ren Populationsdynamik. Lange Zeit war es äußerst
spekulativ, die absolute Größe der handelnden Grup-
Tellsiedlungen als neue Lebensweise pen und der realen Bevölkerungsdichte zu rekon-
struieren. Doch in den letzten Jahren haben sich mit
Während sich also ab ca. 6100 v.Chr. in verschiede- dem methodischen Fortschritt in der Archäologie
nen Kernregionen Südosteuropas die neolithische Le- neue Möglichkeiten ergeben, die Bevölkerungsgrö-
bensweise etabliert hat und die Akkulturation be- ßen von Siedlungen, Kleinregionen und ganzen
nachbarter Wildbeuter beginnt, ist ab 5700 v. Chr. Landschaften mit höherer Verlässlichkeit abzuschät-
eine verstärkte Neolithisierung des Inlandes zu beob- zen. Dazu gehört etwa die Hochrechnung ausgehend
achten. So erfolgt z.B. eine intensivere Besiedlung des von gleichzeitig existierenden Wohnbefunden oder
Bosnischen Berglandes oder die Neuanlage von Sied- die Kalkulation von Sterbewahrscheinlichkeiten an-
lungen in Transdanubien. Zu einer Zeit, als sich in hand der Bestattungen. Aber auch induktive Metho-
Mitteleuropa ab ca. 5500 v.Chr. die Linearbandkera- den wie die Tragfähigkeitsberechnung erlauben im
mik voll entfaltet, kommt es im südlichen Balkan zu Zusammenspiel mit völkerkundlichen Analogien, auf
neuen Prozessen: Die Kupfertechnologie entwickelt Populationsdichten zurückzuschließen.
sich, und mit der Vinca-Kultur entstehen neue sozia- In einer neuen vergleichenden Studie konnten
le Verhältnisse (vgl. S. 48). Grundsätzlich beobachten Modelle für die Bevölkerungszunahme im Nahen Os-
wir zu dieser Zeit weiträumige Keramikstilgruppen ten, in Südosteuropa und in Mitteleuropa ermittelt
(z. B. Vinča, Kakanj), die im Nordwesten auch den werden. Nach diesen Berechnungen erhöhte sich im
Übergang zur Linearbandkeramik einleiten. Nahen Osten zwischen 6500 und 2000 v.Chr. die ab-
In den von der neuen Kupfertechnologie gepräg- solute Bevölkerungsgröße von einer Million (0,5 Per-
ten Gebieten Südosteuropas markieren Tellsiedlun- sonen/km2) auf 14 Millionen Einwohner (6 Perso-
gen nun die neue Lebensweise, die auf die mitteleu- nen/km2). Schübe lassen sich jeweils bei technischen
ropäische Entwicklung vermutlich größeren Einfluss und sozialen Innovationen, wie z.B. der Einführung
hatte. So zeigt sich in den bulgarischen Siedlungshü- des Bewässerungsfeldbaus oder der Urbanisierung,
geln von Karanovo oder Poljanica eine Organisation erkennen. Dabei konzentrieren sich die Menschen
mit rechtwinklig geplanten Raumkonzepten, beste- immer stärker in eng besiedelten Kernzonen.
hend aus Quartieren, Häusern und Befestigungsan- Ein ganz anderes Bild ergibt sich für Mitteleuropa
lagen. Auch in Vinca selbst und im südlichen Karpa- und Südskandinavien. In den Lösszonen geht mit der
tenbecken lässt sich eine ausgeprägte Siedlungs- Neolithisierung ein steiler Bevölkerungsanstieg ein-
organisation erkennen. Doch ab ca. 4500 v.Chr. ist ein her, der mit einer Konzentration der Menschen in
Zusammenbrechen dieser Tellsiedlungen in weiten Kernzonen verbunden ist. Mit der »bandkeramischen
Teilen des Balkans zu bemerken, und es setzt sich wie- Krise« ist ein Bevölkerungsrückgang in diesen Kern-
der eine dispersere Siedlungsweise durch. Als Ursa- zonen zu beobachten, und erst ab 4500 v. Chr. und
che können u.a. soziale Spannungen in den sich un- nach 3800 v.Chr. lässt sich ein erneutes starkes und
gleich entwickelnden Gemeinschaften angeführt kontinuierliches Wachstum feststellen. Diese Bevöl-
werden. Im Karpatenraum ist die neu entstehende, kerungsdynamik steht in Verbindung mit sekundä-
disperse Siedlungsweise mit der Einführung der Kup- ren Landnahmeprozessen und neuen Neolithisie-
fertechnologie und der Anlage neuer Gräberfelder rungsschüben, die zum Ende des 5. Jt. v. Chr. den
(Bodrogkeresztur/ Tiszapolgar) verbunden. In den Norden Mitteleuropas erreichen.
ehemaligen Zentren der kupferzeitlichen Entwicklung In Südosteuropa verläuft die Entwicklung wieder-
(z.B. Bulgarien, Serbien) ist mit dem beschriebenen um anders: Auch hier ist der Beginn der Neolithisie-
20 | Frühe Bauern und Tellsiedlungen in Südosteuropa – Netzwerke, Bevölkerungsdichten und Siedlungssysteme

Relative Bevölkerungsdichte
13 Europa Bevölkerungsentwicklung Europa/ Naher Osten
insgesamt agrarisch Europa
12 6 Mitteleuropa/Südskandinavien
Südosteuropa
11 Naher Osten

5
10
7
9
Millionen Einwohner

8 6 4

p/km2
6 5 3

4 3
5
Mitteleuropa/
4 Südskandinavien 2 2

3
6 5
1 1
2 4
1 Südosteuropa 1
3 1 0
0
1500 2000 2500 3000 3500 4000 4500 5000 5500 6000 6500 v. Chr. 1500 2000 2500 3000 3500 4000 4500 5000 5500 6000 6500 7000
v. Chr.

Die Rekonstruktion der abso-


rung zunächst von einem rasanten Bevölkerungs- einem Einbruch um etwa eine halbe Million Men- luten Bevölkerungszahlen für
wachstum begleitet, sodass ab 6000 v.Chr. eine Dich- schen kommt. Erst nach Jahrhunderten lässt sich Europa zeigt neben grundle-
te von etwa einer Person pro Quadratkilometer er- dann wieder ein Anstieg erkennen. genden Tendenzen einer Ver-
größerung v. a. auch Fluktua-
reicht wird, was insgesamt ungefähr einer Million Insgesamt zeichnet sich für Europa eine kontinu-
tionen und regionale Unter-
Menschen entspricht. Dabei nimmt die Konzentrati- ierliche Bevölkerungszunahme ab, wobei technische schiede. Die Veränderungen
on v. a. in den Kernzonen erheblich zu, was auf die und soziale Veränderungen zu leichten Schwankun- können mit verschiedenen
Tellsiedlungen zurückzuführen ist. In dieser Zeit rei- gen führen. Eine Ausnahme bildet der extreme Be- technologischen und sozialen
Neuerungen in Verbindung
chen die südosteuropäischen Bevölkerungsdichten an völkerungseinbruch in Südosteuropa um 4500 v.Chr.
gebracht werden:
die in Vorderasien heran. Das Populationswachstum Was sind die Ursachen für diesen Sonderfall? 1 Ackerbau und Viehwirt-
setzt sich fort, bis es um ca. 4500 v.Chr. schließlich zu schaft;
2 Beginn Tell-Gesellschaften;
3 Ende Tell-Gesellschaften;
4 Brandfeldbau im nördlichen
Europa;
5 Hakenpflug und Rad;
6 Paneuropäische Netzwerke;
7 Bronzetechnologie.

0 50 100m
1 0 50 100m
2 0 50 100m
3
Okolište entwickelte sich von
einer offensichtlich planmäßig
befestigten Großsiedlung
406,0 SW NO
(7,5 ha, 3000 Einwohner) um
3
Höhe ü. NN (m)

405,5 5200 v. Chr. zu einer normal


405,0 2 großen Siedlung ab 4800 v. Chr.
404,5 1 (2,5 ha, 300 Einwohner), die
404,0 nicht mehr befestigt war. Dar-
403,5 gestellt sind die Entwicklung
0 50 100 150 200 250 300 350m in Fläche und Musterprofil.
Mitteleuropa als »meltingpot« | 21

Balkan und Anatolien salien Siedlungen, die um 4900 v. Chr. eine starke
Innengliederung aufweisen: Mit Mauern und Durch-
Der Bezug zwischen balkanischem und anatolischem gängen werden Räume geschaffen, die eine klare Se-
Neolithikum ist ein lang diskutiertes Thema der For- parierung in unterschiedliche Bereiche markieren.
schung. Vor allem südosteuropäische Archäologen Ein Beispiel für eine solche Siedlung ist Dimini, das
sehen enge Beziehungen und sprechen von einem zwar nur ca. 1,5 ha groß ist, aber als Verarbeitungsort
»balkanisch-anatolischen Kulturkreis« des Neolithi- der Spondylus-Muscheln eine wichtige Rolle bei der
kums. Die zuvor erläuterten Kalkulationen zu den Be- Produktion und Distribution seltener Güter spielt.
völkerungsdichten scheinen zu bestätigen, dass die Dichte Siedlungen finden wir z.B. auch in Bulgarien,
Verhältnisse zwischen Anatolien und Südosteuropa wo die Strukturen sogar eine regelrechte Planung na-
sehr ähnlich sind, und auch in der materiellen Kultur he legen und die regelmäßigen Bestattungsplätze au-
und Architektur gibt es erhebliche Gemeinsamkeiten. ßerhalb der Ortschaften eine Inbesitznahme des Ge-
Neben technologischen Übereinstimmungen, wie ländes andeuten.
z.B. Benutzung von Löffeln, Anbau gleicher Getrei- In Bosnien existiert zu dieser Zeit mit Okolište ei-
desorten oder aber auch Nutzung gleicher Haustier- ne sehr große Siedlung (vgl. S. 22), die sich deutlich
arten sowie ähnlicher Bauweise der Häuser, lassen von denen in Mittelserbien unterscheidet: Hier findet
sich zugleich auch kulturelle Kongruenzen feststellen. sich eine giebelparallele Reihenhausbauweise eng ge-
Dazu gehören v. a. die häufig genutzten weiblichen stellter, kleiner Rechteckbauten, die im Gegensatz zu
Tonfiguren, gleiche Verzierungsmuster (»Phantastic Ortschaften mit größeren Gebäuden und Anbauten
Style«), identische Kleidungs- und Schmuckelemen- steht (z.B. in Divostin). Diese beiden unterschiedli-
te wie z. B. Gürtelschnallen aus Knochen oder Oh- chen Bau- und Flächenprinzipien bäuerlicher Sied-
renknöpfe, und auch im Hinblick auf die Hockerbe- lungen verdeutlichen eine Entwicklung, die im Laufe
stattungen innerhalb der Siedlungen bestehen des 5. Jt. v.Chr. zu einer Vergrößerung der Häuser mit
Gemeinsamkeiten. Somit deutet vieles darauf hin, zunehmendem Abstand dazwischen führt. Wie lässt
dass sehr enge Netzwerke zwischen den genannten sich diese Tendenz erklären?
Regionen existierten, die im Laufe der Zeit mit zu- Ein plausibles Modell geht davon aus, dass die eng
nehmender Regionalisierung an Bedeutung verloren. bebauten Siedlungen mit kleinen Einzelhäusern auf
eine Vererbungsregel durch »Erbteilung« zurückge-
hen. Aus mittelalterlichen und neuzeitlichen Beispie-
Häuser und Vererbung len wissen wir, dass Erbteilungen zu einer dichteren
und zugleich ärmeren Bevölkerung führen können.
Differenzen zwischen den
größten Siedlungen des Neo- Im Rahmen solcher Regionalisierungen erkennen wir Große Gebäude mit Anbauten, die in gewissem Ab-
lithikums in den verschiede- erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen bal- stand zueinander stehen, lassen sich hingegen als Hö-
nen Regionen Süd- und Mit- kanischen Gebieten. So entwickeln sich etwa in Thes- fe auffassen und sind wohl als eine Art »Anerbe«
teleuropas.
(Vererbung des Hofs an einen einzigen Erben) wei-
tergegeben worden. Hier ist mit einer weniger dichten
Besiedlung bei grundsätzlich reicherer Grundbevöl-
kerung zu rechnen. Zugleich müssen allerdings nicht
erbberechtigte Personen woanders »unterkommen«.
Neben einer zunehmenden sozialen Ungleichheit
innerhalb der spätneolithischen und frühkupferzeit-
lichen Gesellschaften Südosteuropas könnte der
erhebliche Bevölkerungsrückgang mit den hier skiz-
zierten Prozessen verbunden sein, da die lange dis-
kutierten klimatischen Bedingungen als Ursache für
diese Entwicklungen ausgeschlossen werden können.

Mitteleuropa als »melting pot«

Neben den Einflüssen, die auch aus West- auf Mittel-


europa festzustellen sind (Weizenarten, Mohn, Kera-
mikgruppe La Hoguette), hängen insbesondere die
Neolithisierungs- und Konsolidierungsprozesse von
22 | Frühe Bauern und Tellsiedlungen in Südosteuropa – Netzwerke, Bevölkerungsdichten und Siedlungssysteme

Im spätneolithischen Bosnien
Okolište: eine Großsiedlung des bosnischen wie hier in Okolište ist eine
Spezialisierung unterschiedli-
Spätneolithikums cher Haushalte auf verschie-
dene Aktivitäten und auch ei-
ne Überproduktion z. B. im Be-
700 m 750 m 800 m 850 m 900 m 950 m 1000 m 1050 m
reich der Getreideverarbei-
tung erkennbar. Reichere
Haushalte enstehen. Mögli-
-20 nT 20 5 cherweise führten soziale Un-
1100 m

1100 m
gleichheiten zu Konflikten,
die das Siedlungssystem ver-
6 2 änderten.
1050 m

1050 m
4
10

1
1000 m

1000 m
3
7
950 m

950 m
900 m

900 m
Die Siedlung Okolište bestand
von 5200 bis 4600 v. Chr. und
850 m

850 m
zählte bis zu 3000 Einwohner.
8
9 Geomagnetik und Ausgra-
bungsergebnisse lassen eine
geplante Anlage aus kleine-
ren Häusern (5 m x 12 m) er-
800 m

800 m

kennen. Möglicherweise wird


Grabungsflächen min (nT) max
das Erbteilungssystem sicht-
700 m 750 m 800 m 850 m 900 m 950 m 1000 m 1050 m bar, bei dem der Familienbe-
sitz aufgeteilt wird.

Eines der wichtigsten Archive für das südosteuro-


päische, aber auch vorderasiatische Neolithikum und
Chalkolithikum sind Siedlungshügel: Durch Ortskon-
stanz von Bauwerken und klimatische Bedingungen
entstehen Siedlungsschicht für Siedlungsschicht »Tells«,
– also Siedlungshügel, auf denen sich die Bevölkerung
»nach oben wohnt«.
Oft sind sie eingebettet in Siedlungskammern und
nehmen manchmal zentralörtliche Positionen ein.
Nördlich von Sarajewo wurden an der Bosna mehrere
Tells mit einer Schichtmächtigkeit von mehr als 1 m aus-
gegraben. Besonders eindrücklich ist die Siedlung Oko-
lište: Ihre Größe von über 7 ha entspricht in etwa 15 Fuß-
ballfeldern. Die Siedlungsanlage war um 5200 v. Chr.
geplant und bestand bis ca. 4600 v. Chr. Bis zu
3000 Menschen lebten hier in giebelparallel angeord-
neten Häusern an rechtwinklig angelegten Gassen. Das
Dorf kontrollierte die wichtige Neretva-Bosna-Route
durch das Gebirge, einen der wenigen Verbindungswe-
ge zwischen Adria und mittlerer Donau. Kleinere Nach-
Mitteleuropa als »meltingpot« | 23

Flä barsiedlungen im Visoko-Becken waren sicherlich abhän-


E che Getreideverarbeitung
nv gig. Angebaut wurden im Hackfruchtbau die Getreide Em-
erz
ier F ell mer, Einkorn und Gerste – auch Linse und Lein (als Ölfrucht)
Geräte- un
g spielten eine wichtige Rolle. Die Bevölkerungsdichte in der
produktion
C agrarischen Kernzone betrug 30 Einwohner pro Quadrat-
G
W eben kilometer, was unter Einbeziehung der nicht besiedelten
Gebiete durchschnittlich zwei bis drei Einwohnern pro
- und Le is te nv
B ral e rz Quadratkilometer entspricht. Ähnliche Werte kennen wir
Ritus pi ieru
ng

S
Jagd nicht nur für thrakische Siedlungskammern aus der glei-
A chen Zeit, sondern auch aus völkerkundlichen Vergleichs-
F ell
beispielen.
Geräteproduktion Jagd
In Okolište lässt sich eine Spezialisierung einzelner
W eben
Holz Haushalte feststellen. Offensichtlich haben bestimmte Per-
sonen andere mit Getreide beliefert. Die internen Konflik-
Ritus te führten immer wieder zu Bränden und wechselnden
Geräteproduktion Siedlungsgrößen. Dabei veränderten sich die Bebauungs-
F
Holz dichte und die Anzahl gleichzeitiger Häuser.

Getreide

Jagd
D
Vermehrte Brandhorizonte ab 4900 v. Chr.
Geräteproduktion
im bosnischen Okolište verdeutlichen die
Zunahme sozialer Konflikte, was mit einer
Unterproduktion Überproduktion Veränderung des Siedlungsmusters ein-
Getreide hergeht.
²)
(m

r
se
e

n
öß

be
äu
gr

d)
rH

rG
us

ra
ge
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65
1,2
3 8 38 30°
100-120

46

7 28* ?
12 4850
6 55 40
55 1
2 5 27* 38 550-750 37°
5,6 1

4 ? 1mK
5000
1
3 36* ?
1
1 2 3 50°
7,0 36* ? 500-650
3
1 17* 16 ?
5200
* unsicherer Wert mK menschliche Knochen
24 | Frühe Bauern und Tellsiedlungen in Südosteuropa – Netzwerke, Bevölkerungsdichten und Siedlungssysteme

In der Siedlung Divostin ste-


hen um 4800 v. Chr. Häuser in
größerem Abstand zueinan-
der. Im Laufe von Generatio-
nen kommen Anbauten hinzu.
Möglicherweise zeigt sich
hierbei das Prinzip eines An-
erbes, bei dem der Hof an nur
einen Nachkommen weiterge-
geben wird, und zumindest
ein Teil der Bevölkerung die
lokale Umgebung verlassen
muss.

den »Rhythmen« der südosteuropäischen Entwick- vationen der Bandkeramik wie z.B. Langhäuser und
lung ab. Die existierenden Netzwerke werden schlag- Gräberfelder außerhalb der Siedlungen keine »Vor-
lichtartig an der weiträumigen Verteilung wertvoller bilder« in Südosteuropa haben und die östlichen Ele-
Gegenstände erkennbar. Hier sei an die Spondylus- mente wahrscheinlich von einer Mischung verschie-
Muscheln aus bandkeramischen Zusammenhängen dener Gruppen übernommen worden sind. Die hohe
oder die kupferzeitlichen Schwergeräte erinnert. Über genetische Variabilität der Population bei einer er-
paläogenetische Analysen (aDNA) wissen wir, dass staunlichen kulturellen Einheitlichkeit lässt das große
die frühen mitteleuropäischen Rinder und Schweine linearbandkeramische Gebiet eher als einen »melting
anatolischen Rassen entsprechen, diese daher als do- pot« erscheinen. Nach der »bandkeramischen« Krise
mestizierte Tiere über Südosteuropa nach Mitteleu- sind es dann im 5. Jt. v.Chr. andere Elemente wie die
ropa eingeführt wurden. Trotz dieser weit reichenden kleineren Häuser, die möglicherweise auf Anregung
Verbindungen bleibt herauszustellen, dass die Inno- aus dem südosteuropäischen übernommen werden.

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