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Hans Magnus Enzensberger

Geboren am 11. Nov. 1929 in Kaufbeuren im bayrischen Allgäu, in Nürnberg aufgewachsen, 1944/45 zum Volks-
sturm eingezogen. 1949 bis 1954 Germanistik-, Philosophie- und Sprachstudium an verschiedenen Universitäten.
Arbeitete für das Radio, als Gastdozent und Verlagslektor. Seit 1960 freier Schriftsteller. Politische Lyrik und kul-
turkritische Essays. E. arbeitet auch als Übersetzer und Herausgeber (z.B. der Anderen Bibliothek). 1991 erschien
nach zehnjähriger Pause wieder ein Gedichtband mit dem Titel Zukunftsmusik. 1995 folgte Kiosk, Neue Gedichte.

Die Scheisse Der Unverwundbare

Immerzu höre ich von ihr reden In der Wissenschaft der Unterlassung
als wäre sie an allem schuld. hat er es weit gebracht.
Seht nur, wie sanft und bescheiden Blutrünstig die Verbrechen,
sie unter uns Platz nimmt! die er nicht beging,
Warum besudeln wir denn endlos die Heerschar der Fehler,
ihren guten Namen die er vermieden hat.
und leihen ihn Passende bemerkungen,
dem Präsidenten der USA, ungeschwängerte Mädchen
den Bullen, dem Krieg säumen seinen Weg.
und dem Kapitalismus? Seine Geruchlosigkeit
ist atemberaubend,
Wie vergänglich sie ist, sein Leumund
und das, was wir nach ihr nennen, macht jede chemische Reinigung brotlos,
wie dauerhaft! er ist weiß, er niest nicht,
Sie, die Nachgiebige er segnet uns, ist gesegnet.
führen wir auf der Zunge andere Lebenszeichen
und meinen die Ausbeuter. von seiner Seite
Sie, die wir ausgedrückt haben, sind nicht zu befürchten.
soll nun auch noch ausdrücken Warzenlos verschwindet er
unsere Wut? in seinem eigenen Foto.

Hat sie uns nicht erleichtert?


Hans Magnus Enzensberger, Zukunftsmusik, 1991
Von weicher Beschaffenheit
und eigentümlich gewaltlos
ist sie von allen Werken des Menschen
vermutlich das friedlichste.
Was hat sie uns nur getan?

1964
Zur Frage der Reinkarnation Haustier

Die Fliege stört mich. Meine Traurigkeit ist mein Goldhamster.


Ich betrachte die Fliege, Ich lasse sie nicht verhungern. Des Nachts
höre ich, wie sie scharrt, kratzt, wühlt
beschreibe sie,
in ihrem Verschlag. Am Morgen,
wie sie die Taster rührt,
wenn ich gut aufgelegt bin,
die dreigliedrigen, öffne ich manchmal das Gitter.
dicht gefiederten Fühler, Dann huscht sie auf rosigen Pfoten hervor,
wie sie sucht, saugt, schöpft sucht mich heim, sucht nach Futter,
mit den fleischigen Endlippen versucht mich mit bebenden Nüstern.
ihres Rüssels. Die Flügel, Sie schnuppert an meiner Hand,
aschgrau geädert, bis ich die Geduld verliere,
glänzend geschuppt, sie am gesträubten Nackenhaar packe,
flimmern im Licht. so, dass sie panisch die Augen rollt,
und setze die Quiekende nieder
Tarsen 1, Klauen, Borsten
in ihren Käfig. Mit einem Klick
zittern vor Energie.
lass ich den Riegel einrasten
Mit den zweimal viertausend Linsen hinter ihr und bin froh.
ihrer riesigen Augen
betrachtet sie mich.
Wie behaart sie ist! H. M. Enzensberger, Die Geschichte der Wolken, 2003
Es stört sie nicht,
dass ich sie beschreibe.

Der anderen Fliege, hier, Zur Frage der Bedürfnisse


auf meinem Tisch, im Bernstein,
die keinen von uns gestört hat, Unbemerkt ballt sich im Strandcafé
gleicht sie aufs Haar, aufs Haar. die Wut auf den Frieden
zur Faust in der Magengrube.
Wie ist sie zurückgekehrt,
Es braucht wenig, und der Möbelhändler,
nach aberhundert Millionen umzingelt von zentimetergenauen Raumteilern,
Geschlechterfolgen? zündet seine Matratze an,
Vollkommen unverändert vibriert der Banker kotzt auf dem Klo,
ihr schwarz gewürfelter Hinterleib. und der Fadenglas-Sammler zertrümmert,
in einem letzten Aufbäumen,
seinen unersetzlichen Alptraum;
Sie stört mich.
Ich verscheuche sie – während der junge Türke, erschöpft
diese, nicht jene Fliege. nach der Messerstecherei,
von einem schneeweissen Cabrio träumt,
Bei ihrer nächsten Wiederkehr der Nazi nach dem brüllenden Meeting
sein Hündchen zum Pudelsalon bringt
wird niemand mehr dasein, und der entkommene Terrorist
um zu beschreiben, sich niederlässt, aufatmend,
wie die Fliege der Fliege gleicht. in der Hollywood-Schaukel.
Es stört mich nicht,
dass kein Mensch dasein wird,
um sie zu verscheuchen.

Hans Magnus Enzensberger, Zukunftsmusik, 1991
Hans Magnus Enzensberger, Kiosk, Neue Gedichte,
Frankfurt a. M. 1995, S. 84 f.

Hans Magnus Enzensberger

1 griech. Fusswurzel (unterster mehrgliedriger Abschnitt der Extremitäten)


Der Krieg, wie

Er glitzert wie die zerbrochene Bierflasche in der Sonne


an der Bushaltestelle vor dem Altersheim

Er raschelt wie das Manuskript des Ghostwriters


auf der Friedenskonferenz

Er flackert wie der bläuliche Widerschein des Fernsehers


auf den somnambulen Gesichtern

Er riecht wie der Stahl der Maschinen im Fitness-Studio


wie der Atem des Leibwächters auf dem Flughafen

Er röhrt wie die Rede des Vorsitzenden


Er bläht sich wie die Fatwah im Munde des Ajatollah

Er zirpt wie das Videospiel auf der Diskette des Schülers


Er funkelt wie der Chip im Rechenzentrum der Bank

Er breitet sich aus wie die Lache hinter dem Schlachthof

Atmet
raschelt
bläht sich
riecht

wie

Hans Magnus Enzensberger, Kiosk, Neue Gedichte, Frankfurt a.M. 1995

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Stichworte: Metaphern / Kataloggedichte


vgl. Enzensberger, Innenleben / H. C. Artmann, Das Herz

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